IN COMMEMORATION OF THE VISIT OF |

HIS ROYAL HIGH! PRINCE HENRY OF PRUSSIA

MARCH SIXTH 1902

ON BEHALF OF HIS MAJESTY THE GERMAN EMPEROR

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Baltifche

Monatsichrift.

Herausgegeben von

Friedrich Bienemann.

Siebenundvierzigiter Jahrgang.

LIX. Band.

Niga 1905. Verlag der Valtifhen Monatoſchrift. Nitolaiftraße Ar. 27.

Harvard College Library

APR 231909 Hohenzollern Collection Gift of A. C. Coohdge

Juhaltsverzeichnis.

Band LIX.

Seite

Was lieſt unſre Jugend und mas ſoll ſie Bon Ober · lehrer Ntarl Arnold B 1

Laiter und Leidenfhaft in J.M. 3 ser Fiarunn. on Rai db. Freymann . & 25 Bas du mid) gelehrt. Seide». von ©. v. © 40 Neerologinm balticum 1904 . a Am Ufer des Sebens. Gebicht von Ft. Drenmanı 55 Otto Peter v. Stadelberg. Yon O. M. v. Starelberg . 56

Sieben Vorträge über Germanifierung der Gerten. Gine Neminisgeng vom 9. 1819 .

Japaus Etbif. Bon R. v. Engelhardt

Siterariihe Schweitern. Yon €. dv. Cchrend. . . E3 Der Salon des Nigafgen Aunftvereins. Gin Midblid von

Woldemar Frh. v. Mengden au Am Kamin. Gedich von Eduard Fehre . . . 121 Cin Sangesleben. Ocict von Helene v. Engelhardt: ©. 122 Im welger Weile Fönnten die riefengroßen Gemeinden Lin»

Tande geteilt werden? Son P. . Memptlich-Gubmannsbah. 125 Inmitten. Gedigt von Eduard fehre. . - 140 Im Nigaer Gummalium und auf der Dorpater Uniserfüt

1859/02. Grinnerungen von Th. Bezold 141 Gine Umterrebung mit 8. %. Pobjedonasgem Im 2. 1885) 154 Die Grundlagen ber Bon N. Stat

hagen. . 182 bealismus und Nealismus in ben geifiigen Gtrömungen

der Gegenwart. Von Dberlehrer Elemend von Genfe . . 169 Die Ninimalı und Rarimal-Beflimmungen über ben bäuer-

lien Grundbejig in Fioland. Ion Alexander Tobien. 181 Aus Tiefen zu Tiefen. Gebidt von Ebuarb Fehre Die Urſaqen des Verfalis der Reformation in Polen. Bon

Dr. ft. d. Nurnatomwati . 212 Mein Lied. Gedicht von . d. Prepmann. . —— Aur Geimicte des Sehnsmelens in Sinland. Non ©. bon

Beniningk . . . . 5 22 Über Wolynstis „Der moderne Jhealismus und) Suhians“

Bon N. v. Freymann . « 2286 Wolynstis „Bud vom großen Zorn” Xon f. d. Mreumaun. 230 Über Urfprung und Gntwidiung des Dramas. Yon fl. Staven:

Hagen. —— 235

Kom nach! Gebiht von St. Stavenhagen . ©. 2... .. 2

Schiller im Spiegel der Zeus, Zeftfpiel._ Won Erich von Schrend

Die Runft als Evangelium bei Giilfer. Gin Glan. Lon Oberfehrer cand. then. E. Kröger. . . . 284

Night wie die Wellen bes Meeres. Bon Karl v. Frepmann. 303 Syilter und Livland. Yon Bernhard U, Hollander . . . 307

Schillers Seelenadel. Bon K. Girgenfohn . - . - 0 Zwei Schiller: Biographien (Aarl Berger und Dito Yarnad). Bon J St. Staveuhagen und E. v. Schrend . . . » Pe "|

Sieben Tage unter dem Kugelregen der Japaner. Grinnerung an die Vorpoftengefechte bei Siungiöfcjöng. (7.14. Juni 1904.) Sedichte von Ebward fehre. - : 0. ...... 3 Aus einem alten Tagebud. Yufzeinungen des Fräulein Mirite

von Zträk a. d. Hauje Palla ER Um die Kiufändifhe Voltsihule Bon g. von Freymann . Aum Wemoire ber Adelsmarfhälle vom November v. Bemerkungen zu . Tobiens Aufiap über die Minimal und

Marimalbeitimmungen über bem bäuerligen Grund-

bejig in Sivfand. Yon Charles v. Stadelberg:Abia . . 417 Soziate Berhältniffe in Finnland. Gindrüde und Velrad:ungen,

on TH. Benold . . . . . . . PIRFIEREFIIFERE :') Weitere Gedanfen zur Pfarrteilung in Sivland. on

9. Niethoft, Paitor zu End. Sy —— Das lenrijhe Bollslied. » . 0. 0.0.0. 0.0.0... 482 Eine Bittfhrift von Ho. 16W. . . 0... 0.0... 501 Vügeranzeigen:

». Egloffitein, Raijer Wilhelm I. und Leopold von Crlid. ©. Zanfen, Nordweitozutfce Studien. B. Denfe, Moraliice

Unmöglihfeiten. Chart. Niefe, Die Mabunferittabe . - - 96

9. Brug, Vismards Bildung. Bon K. Girgenfohn . . . 178

Schillers Sämtliche Werte m ES ...... 028 Heuerfhienene Biden. oo 75. . . . . 2 v0 om Tage:

Briefe vom Embad. Yon ff. .

In Spiegel der Profi Von PB. . . . . £

Cine turge Antwort auf den I. Orlef vom Embad, Won —e— 508

Nagwor. Bm een » R »

Beilage: Valtiſche Chronik vom 1. Sept. bis zum 23. Nov. 1904.

Bas lieſt unſre Jugend, und was fol fie Iefen?*

Bon Oberlehrer Karl Arnold. u

Motto: „Ein Buch hat {hen oft auf eine ganze Schenögeit einen Wenfcjen gebildet oder verdorben.”

Herder ir leben in einer ſtürmiſch bewegten Zeit. Es iſt nicht J nur die wilde Kriegsfurie, bie fern im Dften ihr

furchtbar blutiges Theater aufgeichlagen Hat, in das auch wir mit unfern teuerſten Empfindungen je länger je mehr Hineingezogen werden; es gibt daneben jo manche hochbedeutjane, unfer gejamtes heimatlihes Kulturleben betreffende Frage, die die Gemüter eines jeden Mannes, einer jeden Frau, die ſich nicht mit Gewalt der Welt um ſich verjchliegen, bewegen muß. Auf dem Gebiet der Religion, auf dem Gebiet der Kunjt, auf dem Gebiet der Bolitit haben fid) Gegenfäge gebildet, find die Meinungen auf einander geplagt, ringen Altes und Neues mit einander; Partei mird alles, Farbe muß jeber befennen, wenn anders er es ernſt mit feinen Pflichten gegen fi, feine Familie, fein Land nimmt, Da kann es nicht ohne Riſſe, zum Teil tiefe Riſſe, in unjrer Gejellihaft abgehen. Die einen verteidigen mit zähem Trotz jeden Jußbreit alter Anſchauungen und wollen der neuen Zeit nirgends Konzeffionen machen, und andere wiederum geben nur zu leicht die oft bewährten Güter unjrer Vorfahren auf, um fie gegen neue, wahrlich nicht immer beifere Münze einzutauſchen. Nun, meine Damen und Herren, id bin gewiß nicht für Stillftand, denn Stillſtand bebeutet Rückſchritt. Wir follen mit der Zeit vorwärtsitreben. Wir wollen friihe Luft auch in unferm ftillen Wintel, nur fo Tann manche Wolfe, bie in der Vergangenheit

*) Vortrag, gehalten im Gewerbeverein zu Mitau, im November 1904. Baltifije Monatofeieift 1908, Heft 1. ı

E) Mas ſoll unfee Jugend Iefen?

unfern Blick trübte, verfcheucht werben. Aber in gewiſſen Fragen müſſen wir fonfervaliv bleiben, fonfervativ im beften Sinne des Wortes, und gewiſſe Auſchauungen unſrer Altvorderen, gewiſſe Ideale alter Zeit in Neligion und Kunft, Sille und Eigenart dürfen wir uns nicht rauben laſſen, wenn wir bleiben wollen, wozu die Gefdichte ung hier ins Land geſetzt hat.

Diefen Anichauungen, diefen Idealen müfen aber nicht nur wir Alten treu bleiben, fondern wir müſſen fie aud in unjre Kinder hineinpflanzen; das ift unfre heilige Pflicht, denn fie find die Träger der Zukunft. Was hilft es, wenn wir noch fo feit, nod jo treu im wildflutenden Strome ber Gegenwart unfre teuerften Güter zu wahren fuchen, wenn die, denen wir dieſes Erbe unjrer Väter einft überantworten, leichten Sinnes fie wieder fahren laſſen? Und da frage id mun Sie, meine Damen und Herren, die Sie Väter oder Mütter, Lehrer oder Erzieherinnen find, ob Sie nie die Empfindung gehabt Haben, dah die heran- wachſende Jugend, die Ihrer Hut anvertraut ift, in jenen für unfre Eigenart wichtigen Fragen nicht mehr ganz jo denkt, wie mir; daß in beängftigender Weiſe ein neuer Geift ſich dieſer Jugend bemächtigt, der nicht mehr der Geift ift, der uns, unfre Väter und Grofväler jtark jein lieh? Haben Eie ſich noch nie bie Frage vorgelegt: Werden unfre Kinder, wenn auch fie einft Kinder zu erziehen haben, diefe in dem Geiſte groß werden lafien, in dem wir felbft unter den Augen unfrer Eltern hevangewacjen finb? Id glaube, daf jeder, der ſich ernſtlich ſolche Fragen vorlegte, antworten muß: Unſre Jugend ift fchnell, exrichredend ſchnell anders geworben, als wir «6 find. Und mander hat vielleicht in der Stille feines Herzens ſchon fampfesmüde mit dem alten Aiting- haufen gefprochen:

Unter ber Erde fon liegt meine Zeit; Wohl dem, der mit er neuen nicht mehr braucht zu leben!

Aber jo dürfen wir nicht Ipreden, das wäre ein Vers brechen an uns, an unfern Sindern, an unfrer Heimat. Im Gegenteil, wir müſſen uns ernftlih fragen: Tragen wir nicht wenigjtens zum Teil ſelbſt Schuld an diefem neuen Geift ber Jugend? Wie fönnen wir ihm Halt gebieten? Wie fönnen wir bazu beitragen, daß auch unfre Kinder die ftarfen Wurzeln ihrer Kraft dort Juden und finden, wo wir fie gefunden?

€s fann natürlich nicht meine heutige Aufgabe fein, die aufgeworfene Frage in ihrem ganzen Umfange zu beantworten, 6 würde das vor allem zu einer gewiljenhaften Prüfung führen,

Das fol unfee Jugend Iefen? 3

inwieweit mir etwa jelbit andere geworden und würde zugleich eine Wufrollung unferes gejanten Erziehungsweſens bedeuten !. Nur zwei Nebenfragen möchte ich beſprechen, die aufs engite mit dem eben berührten Thema zufammenhängen, und deren Grörtes rung ſich Fein Elternpaar, das es mit feinen Pflichten ernft nimmt, entziehen fan, id) meine die Fragen: „Was liejt unfre Jugend, und was ſoll fie leſen?“

Wer in feiner eigenen Jugend nachgräbt, ber wei Fülle von Freude einem das Leſen gebradtt. it H verſchlang man da all' die herrlichen Bücher, die Eltern und Ver— wandte einem auf den Weihnachts: oder Geburtstagsliſch gelegt Hatten, und es öffnete ſich eine Welt vor einem, fo groß, jo neu, fo wunderbar. Was Wahrheit war, was Dichtung, wir fonnten es damals noch nicht untericheiden, aber unfre Phantafie wurde mãchtig angeregt, das willen wir noch heute, und mancher ber Bände wurde 4, 5 mal oder nod) häufiger immer mit gleichem Intereffe, mit gleiher Spannung durchgeleſen. Und wenn wir unfre Kinder anfehn, fie machen's nicht anders, und es muß ſchon ein bejonders ftumpffinniges Weſen fein, das nicht gerne licft.

Alſo es jteht feit, daß wir in der Lektüre ein leicht zu ver» werlendes Mittel befigen, um den Gefichtsfreis des Kindes zu erweitern, benn Faulheit, Trägheit, jene böjen Feinde der Bildung, werben uns wenigitens bei jüngeren Kindern nur felten flören. Aber dieſes Mittel ift ein zweiſchneidiges Schwert, und wenn Montaigne Recht hat, da er die Bücher für das beſte Rüftzeug erflärt, das er auf feinem Lebenswege gefunden habe, jo it es beachtenswert, daß ein Rouſſeau behauptet, er ei vor allem durch ungeregelte Lektüre ein Spielball jäher Neigungen, ein Sklave einer zuchtlojen und unberechenbaren Phantafie, ein unglüdlidyer, mit fich felbjt zerfalfener Menjd) geworben. Es gilt eben die Leſeluſt unfrer Kinder richtig zu leiten, daf nicht das, was für das Kind zum Segen werden kann, ihm zum Verderben aus- ſchlage. Tun wir Eltern das? Tun mir das gewiſſenhaft auch nur bei unfern jüngeren Kindern, von benen hier zunächſt einmal die Rebe fein joll?

Nach meinen Erfahrungen Herricht in diejer Hinſicht vielfach ein geradezu fträflider Leichtfinn. Es iſt merkwürdig: während

%) Dberlehrer 2. Goery hat unlängſt in einem in der „Balt. Ronatsfchr.” (1904, Februardeft) abgebrudten Ariitel mandien fehe befersigenswerten Finger: zeig in biefer Richtung gegeben.

3—

4 Mas foll unfre Jugend leſen?

wir in Bezug auf den Umgang unſrer Rinder meift bie gröhte Sorgfalt walten laflen, tun mir bei dem Umgang mit Büchern nicht ein gleiches. Und dann wundern wir uns plöglid, wenn unfer Sohn ober unſre Tochter allerhand phantaftiiche, häßliche und verkehrte Einfälle befommt. Gerade in dem empfänglichften Lebensalter, wo Gutes wie Schlechtes am leichteften Aufnahme findet, überlajlen mir unfre Kinder in ihren geiftigen Eindrüden den unheilvollſten Zufälligkeiten. Wie viele Eltern, ich frage jeden auf fein Gewiilen hin, unterziehen jedes Buch, ehe es den Rindern im bie Hand gegeben wird, einer forgfältigen Prüfung? Ich rede hier nicht von folden Eltern, deren mangelhafte Bildung die gerügte Unterfaffungsfünde erffärlih macht. Ich ſpreche von ben Eltern, die ſich aus bloßer Bequemlichkeit um die Privat fektüre ihrer Rinder garnicht ober viel zu wenig kümmern, und fie oft leſen laffen, was dieſen in die Hände fällt. „Gut, daß der Junge lieſt, da macht er wenigitens Feine dummen Streiche“, denkt mancher Vater. „Wie ſchön, daß die Tochter ein Bud) vor fid) hat“, meint mande Mutter und freut ſich, daß fie nicht durch die ewigen Fragen der Tochter beläftigt wird, was fie nun wieder tun folle. Darauf wird mir nun mancher oder manche erwidern: „Ad bin garnicht fo fahrläffig. Ich ſehe mir ftets die Bücher an, die meine Rinder leſen wollen, und nur, wenn fie auf dem Titel ausdrüdlid als Jugendleftüre bezeichnet find, laſſe ich fie ihnen.” Nun aber bitte ich diejenigen, welche jo handeln, ſich doc) einmal der Mühe zu unterziehen, und einige jener zahlloſen bunten Heften durdzulefen, die unter dem Titel „Jugend⸗ bibliothel“, „Volkserzählungen“ und ähnlichen Aushängeſchildern zu faufenden ben Vüchermarkt überfhwenmen und für wenige Kop. feilftehen. Was ſteht da drin? Im beiten Falle ein Sammel: furium von Umwahrfcheinlichleiten und Unmöglichkeiten, die ledig: lich den Zweck haben, die Stoffgier der Lejer zu befriedigen, meiftens aber cine Häufung von Schilderungen, in denen Morde fgenen und heißhungrige Beſtien, blutrünftige Menſchen und unnatürliche Todesarten, jfalpierte Indianer und von Hunden zer: fleifhte Neger die Hauptſache bilden, alles nur berechnet, um in ber empfänglichen Jugend ein wollüftiges Sraufen zu erregen. Und dann wundern fid die lieben Eltern über die zunehmende Rohheit ihrer Kinder.

Aber hier Handelt es fi meiſt um zufällig den Kindern in die Hände fallende Lektüre, ſei es, daß fie diefelbe von guten oder ſchlechten Kameraden entlichen, oder, was aud nicht jelten der

Mas foll unfre Jugend leſen? 5

Fall ift, für ihr Taſchengeld gefauft haben. Wie machen es denn aber die Eltern, wenn fie ihren Kleinen die Bücher ſelbſt aus: fuchen? Da geht man zum Buchhändler und fragt etwa: „Ich möchte für meinen 11jährigen Sohn ober meine 12jährige Tochter ein paſſendes Geſchichtenbuch faufen; welches können Sie mir empfehlen?” Im günftigiten Falle wird der Buchhändler ſolche Sachen vorlegen, von deren Tauglichkeit er perſönlich überzeugt it, vor allem gangbare Ware. Wer fteht einem aber dafür, daß da nicht ein Buch mitunterläuft, das aud nicht den geringften inneren Wert hat? Ober der Käufer läßt ſich durd die Aus— ftattung der Bücher blenden, durch die buntbemalten Farbendeckel und die ſchönen Farbendrudbilder, oder endlih der billige Preis ift ausjchlaggebend. Und jo leichtfertig findet man ſich mit der geifligen Speife für feine Rinder ab, während man theoretiſch natürlich, dem allbefannten Grundſatz zuftimmt, daß für bie Kinder nur das Beſte gut genug it.

Ja, aber was ift denn nun diejes Vejte? Damit kommen wir auf die vielumfteittene Frage der Ipesifiihen Sugend- ſchrift. Um fie tobt gerade heute in Deutjchland ein heftiger Kampf, und noch auf dem letzten Kunfterziehungstage in Weimar ind bei Erörterung diefer Frage die Geijter mit bejonderer Schärfe aufeinandergeplagt!. Während nämlich die einen die ſpezifiſche Jugendſchrift überhaupt ausgemerzt fehen und den Rindern nur Bücher in die Hand geben wollen, an denen auch Erwachſene ein poetiihes Genügen finden, verlangen die andern durchaus eine Beibehaltung der Jugendſchrift als folder, die ihrer Meinung nad nicht ausfchließlich äfthetiichen Nückfihten Rechnuug zu tragen habe, jondern zugleich auch neben der zu bietenden Unterhaltung eine erzieherijche Tendenz verfolgen fünne, fei es eine belehrende ober moralifierende.

Der enge Rahmen meines Vortrages erlaubt es mir leider nicht auf dieſen intereijanten Streit der Meinungen genauer einzugehen, und id) kann daher nur auf das bahnbrechende Bud von Wolgait, Das Elend unjrer Jugend: literatur, binweifen, deſſen Lektüre ich allen Eltern und Erziehern aufs wärmjte empfehlen möchte? Wolgait, der Haupt:

3) Man vergleiche Gierüber Die „Ergebuiffe und Anregungen“ des zweiten Kunfterziehungstages in Weimar. Leipgig, 1904.

9. Wolgaft. Das Elend unirer Jugendliteratur, Hamburg. 2. Aufl. 1899. Vergieiche zu obiger Frage ferner die „Qugendic Barte*, Drgan der vereinigten deutſchen Prüfungsausicüfe für Jugend-

6 Was joll unfre Jugend leſen?

vertreter jener vadifalen Feinde jeder ſpezifiſchen Jugendſchrift, ſchießt meiner Anfiht nad) zwar vielfach über das Ziel hinaus, aber es gebührt ihm und jeinen Mitkämpfern das unftreitige Ver dient, uns bie Augen darüber geöffnet zu Haben, daß vieles, unendlich vieles, mas feit Jahrzehnten zum eifernen Bejtande unjrer Jugendbibliothefen gehört hat, wertlos ober gar ſchädlich iſt. Es iſt ein entjchiedenes Verdienjt jener Männer, manden befiebten Jugendichriftiteller, wie 3. B. Franz Hoffmann und Guſtav Nierig, in das rechte Licht gerüdt zu haben, indem fie die Trivialität, Flüchtigkeit, ja Nohheit in den Erzählungen berjelben nadjweijen. Id glaube, wer das betreffende Kapitel in dem Wolgaftihen Buche, das eine Fülle von Auszügen aus biejen Schriftftellern enthält, durchgelefen hat, ſchenkt feinen Kindern feinen Hoffmann oder Nierig mehr. Es ift ferner fraglos richtig, wenn von jener Seite energiih Front gemacht wird gegen die Überjlut von Indianergeſchichten, Sceromanen und Erzählungen aus den Kolonien, und zwar nicht bloß gegen jene von mir ſchon gefenngeichneten 25Pfennig-Heftchen, jondern aud) gegen die in vornehmem Gewande, denn aud fie bringen oft nichts als eine Fülle von Unwahriheinlichleiten oder Unmöglichkeiten und find daher wohl geeignet, den Bli ber jugendlichen Lefer für Wahr: heit und Wirklicteit zu trüben. Es muß ferner durchaus aner— Fannt werden, daß Bücher, „die den jugendlichen Geijt mit fröms- melnden Redensarten und jchmeichleriiher Gefühlsjeligteit ins Jenſeits entführen und von den Erdenpflichten entfernen“, eine ungejunde Speife für Kinder find. Wenn wir alle ſolche Aus: ftellungen der Männer wie Wolgaft u. a. anerfennen, jo brauden wir damit noch nit fo weit zu gehn, wie manche von ihnen, und die Jugendſchrift als jolhe zu verdammen. Den unwider: ftehlichen Neiz, den alles abenteuerliche auf den Knaben in einem gewiſſen Alter ausübt, fünnen wir ruhig durd) Vearbeitung des unſterblichen Nobinjon und die allbefannten, auch literariſchen Wert Geanfpruchenden Leberſtrumpfetgählungen befriedigen und fo prächtige Jugendicpriftitellerinnen, wie Johanna Spyri und Ottilie Wildermuth, um nur diefe zu nennen, werden wir unjern Kindern nicht vauben laſſen. Wohl aber jollen wir aus dem Kampf um

ſqhriften (Hamburg), in der die Geguer ber ſpezifiſchen Iugendichift zu Worte jomie die „BoLfs- und Jugendicriftene Hundicau“ ). in der diejenigen, die auf dem Gebiet der Jugendidjrift neben den wen Forderungen auc) die Päbagogif zur Geltung bringen wollen, ihre Anfichten. verfechten.

Bas foll unfre Jugend leſen? 7

die Jugendſchrift lernen, daß wir weit jorgfältiger, als das auch von gewiſſenhaften Eltern zu geichehen pflegt, ein jebes Buch, das wir unfern Kindern in die Hand geben wollen, auf feinen Wert oder Unwert Hin prüfen, indem wir cs, wenn irgend möglich, jelbft vorher durchleſen und uns weder auf den vielleicht befannten Namen des Verfallers, noch auf buchhändleriiche Reklame dabei verlaſſen. Es iſt mit vollem Necht darauf hingewieſen worden, daß das befte Jugendbuch dasjenige ift, das aud) Findlich gefinnte Erwachfene anfpriht. Wenn wir biefen Grundfag mahgebend ein fafjen und dabei zugleich die Individualität des einzelnen Kindes berüdfichtigen (deun alles ſchidt ſich nicht für jeden), ſo werden verſtändige Eltern und Erzieher in den allermeiſten Fällen aud) das Nichlige treffen. Haben wir aber dazu nicht die Zeit, oder trauen wir uns nicht fo viel eigene Urteilstvaft zu, um das Nichtige herauszufinden, nun jo gibt es Natgeber, denen man im allgemeinen vertranensvoll wird folgen Fönnen. Id möchte da vor allem ein Bud) nennen, das in Feiner Hansbibliothet fehlen dürfte, und das jeder Vater und jede Wintter, jeder Lehrer und jede Lehrerin nicht einmal, fondern immer und immer wieber leſen follten, das Bud) von Matthias: Wie erziehen wir unfern Sohn Benjamin!? Das Kapitel: Was joll Benz jamin leſen? ftellt jo beherzigenswerte allgemeine Gefichtspuntte auf, woraufhin ein jebes Jugenbbuch geprüft werden mühte, und gibt zugleid) eine große Ausfefe von empfohlenen Schriftitellern und Büchern und zwar nicht bloß Unterhaltungsleftüre, ſondern auch belehrende Schriften aus Länder, Völker: und Naturkunde, daß Eltern da reichlich und gut beraten find. Ferner verweile ih auf das von ben vereinigten dentihen Prüfungs: ausjhüffen herausgegebene Verzeichnis von „Empfehlens- werten Jugendihriften“ Es werden hier 400 Bücher angeführt, belchrende und unterhaltende, jedes mit einer furzen Inhaltsangabe verfehen und mit einem Hinweis darauf, für welde Altersitufe es ſich eignen dürfte. Das Verzeichnis ift freilich info: fern mit Vorſicht zu gebrauden, als es allzu einjeitig äfthetifchen Nüdfihten Rechnung trägt, jo dab Bücher zur Empfehlung gelangen, bie aus pähagogifhen Gründen lieber einer jpäteren Lebensitufe zu bieten wären. Berückſichtigt man aber diejen

') Dr. Wolf Matthias, Wie erziehen wir umſern Sohn Benjamin? Gin Buch für deutſche Vater und Mütter. 5. verbeff. u. ver. Aufl. Münden, 1904.

2) Seipjig, 1904; Preis 60 Piennig.

8 Was fol unjre Jugend leſen?

Umftand, jo fann es vortreffliche Dienfte bei der Auswahl der Jugendliteratur leiften.

Doc) ich möchte das Kapitel über die Frage: „Was follen unfre jüngeren Kinder leſen?“ nicht jchließen, ohne noch eindring- lid) gewarnt zu haben vor der Viellejerei. Lajlen wir ba einmal Matthias das Wort. Diefer jhreibt: „„Nicht viel leſen, fondern gut Ding viel und oft lejen, macht fromm und flug dazu“, hat Luther einmal gefagt. Das follten wir in unfrer Zeit mehr als je beherzigen. Vor schlechten Büchern braucht man nicht fo fehr zu warnen, wie vor zu vielen Büdyern. Wer zu viel liejt, tann nicht verbauen und geütig verarbeiten, was er lieſt. Eine Unmajje von Vorftellungen, die oft in gar feinem Zujammenhang ſtehen, verführt zur Oberflächlichkeit. Der Reiz leichter Lektüre ſchwächt den ernften Arbeitsfinn, den Schule und Leben für ihre Pilichten fordern. Auch das Gedädtnis leidet unter der Viel— leſerei, meil die Dienge der Voritellungen nicht eigene Gedanfen und erarbeitete Kombinationen, fondern fremde, raſch vorüber: gehende Zulammenjtellungen jind, zu deren Wiederholung und Übung dem Leier Zeit und Geduld fehlt. Kurz, wo Leſeluſt zur Lefewut wird, wo das Behagen, ſich immerfort auf müheloſe Weiſe ein Vergnügen zu verjchaffen, zu groß wird, da erzeugt ein ſolcher Zefemüffiggang Träume ohne Tatkraft, da gibt's Wider: willen gegen jede ernſte Veihäftigung, vorlautes und frühreifes Urteilen, ja Blajiertheit gegen einfache, kindliche Genüſſe.“ Wahr- lich, das find goldne Worte, die aufs wärmſte beherzigt werden follten.

Ich habe bisher nur von der Lektüre für das jüngere Kindesalter geiprochen; wie ftcht es aber nun mit der Leklüre der reiferen Jugend? Hier wird die Frage ungieich tompli: sierter, die Antwort ungleich ſchwerer. Hier verlaflen uns meift bie jonit treifliben Führer und cs ift in der Tat nicht leicht, für denjenigen Teil unjver Rinder pafienden Lefejtoif zu finden, für den die jog. Jugendjchriften feinen Reiz mehr Haben und dem für Die Yeftüre der Erwachienen Die Neife fehlt. Hier gehen aud die Anfihten der Eltern und Erzieher in Bezug auf das, was fich für die Jugend eignet, bejonders weit auseinander. Und doch verlangt gerade auf diefer Altersſtufe die Lektüre eine befonders jorgfältige Prüfung. In es doch der Frühling des Lebens, in dem die Saat ausgeftreut wird, wo der Boden am empfänglichſten it für Gutes und Schlechtes, für Heiljames und Unheilvolles; bildet jih doch in diejen Jahren der Entwidlung der reife Dann,

Was foll unſre Jugend lejen?

die reife Fran und zwar zum großen Teil an dem Gelefenen, durch das Gelefene.

Bevor ich auf diefen Teil meines Themas eingehe, ein Wort über den Begriff „reifere Jugend“. Natürlich iſt es unmöglich, ihm zeitlid) genau zu umgrengen; als den Anfangs: punkt fönnte man ja ungefähr das 14. Jahr aniegen. Weder das Alter des Kindes allein, noch auch die Schulklaſſe als ſolche fönnen maßgebend fein, jondern vor allem die Reife. Diefe wird bei dem einem Kinde langfamer, bei dem andern ſchneller fort- schreiten, je nad) der Begabung, den äußeren Lebeneverhältniffen, dem Umgange. Cs it ja befannt, daß ein Kind, das viel unter Krankheit oder trüben äußeren Lebensihidjalen zu tragen hat, ſchneller veift als ein ſolches, dem ähnliche Kümmerniſſe eripart bleiben. Ebenſo werden Kinder, die ſtets, und zwar nicht immer zu eignem Vorteil, in der Geſellſchaft Erwachſener weilen, früher die Kinderſhuhe abitreifen, als joldhe, die unter gleichaltrigen GSenoffen groß werden. Auf zweierlei fei dabei hingewieſen. Erftens ift zu warnen vor einem „Zufrüh“. Gin „Zuipät“ it lange nicht jo ihlimm, wie ein „Zufrüh”. „Lernt jemand eine wertvolle Jugendfchrift erft im Jünglingsafter fennen, jo iſt das feine Schande und fein Schade” (Matthias), lieſt ein andrer einen gehaltvolfen auch für die Jugend geeigneten Noman erſt als reiferer Mann, jo it das Unglüd wahrlich nicht jo groß, wie wenn er etwa bereits mit 12 ober 13 Jahren alle Schillerihen und Goetheihen Dramen „verarbeitet“ hat. Zweitens werden fich die Übergänge von der Kinderjtufe zur reiferen Jugend und von dieſer zu der Zeit, ba jede Lektüre freigegeben wird, natürlich nicht plötzlich, ſondern allmählich zu vollziehen Haben. Man wird, um ein Draitiihes Beifpiel zu wählen, einem Sinde, das eben noch den „Lederſtrumpf“ mit Genuß geleien, nicht gleich eine Novelle von Gonr. Ferd. Meyer in die Hände geben, jondern etwa mit Yauff's „Lichtenftein“ ober ähnlichen ſchlichten Exzähe tungen beginnen. Es it das ja eigentlid jelbftverfiändlid, joll aber der Vollitändigfeit halber hier auch ausgeſprochen werden.

Ferner will ich vorausichiden, dab id) im Folgenden, wenn id) von der Jugend rede, ſowohl die männliche als auch die weib- liche meine. Die im weiteren geſchilderten Zuftände beziehen ſich ja freilich hauptjächlid auf unſre heranwachſenden Jünglinge. An Mädden, die meift jorgiamer gehütet werden, treten Ver- indhungen und Gefahren, daß ihnen ungeeignete Bücher in die Hände fallen, wohl jeltener heran, obgleid das Milieu in mauchen

10 Was foll unfre Jugend Iefen?

unfrer heutigen Schulen gewiß feine genügende Gewähr bietet, daß nicht auch bei unſrer weiblichen Jugend gelegentlich Konter— bande mitunterläuft. Anderjeits jtehe ich auf dem vielleicht jehr altväterifchen und unmodernen Standpunkt, daß wir bei der Aus- wahl der Lektüre für unſre Töchter noch ungleich vorfichtiger fein müffen, als bei der für unfre Söhne. Gerade weil die weibliche Natur fo weit empfänglicher ift als bie männlide, wird gutes wie ſchlechtes bereitwilliger aufgenommen und faßt tiefere Wurzel. Manches, was der Jüngling im Geſchiebe des Lebens doch noch abjtößt, bfeibt bei der Jungfrau haften und raubt ihr etwas von dem Schmelz weiblicher Eigenart.

Und wie ſieht es nun mit der Lektüre unfrer reiferen Jugend? Hier ift zunächſt auf eine tiefbetrübende Erſcheinung unfrer Tage hinzuweifen, nämlich auf die zunehmende Intereſſe⸗ Lofigfeit eines großen Teiles unjrer Jugend aller und jeder Lek— türe gegenüber. Cs ift ſeltſam, gerade dasjenige, was im Kindes: alter den alfergrößten Neiz ausgeübt hat, verliert dieſen vielfach, ſobald der Knabe, das Mädchen die Kinderſchuhe ausgezogen haben. Eine geradezu erſchreckende Blafiertheit der Literatur gegenüber greift Platz, während fade Gefelligfeit, eitle Pugfucht üppig ins Kraut ſchießen. Mir find Fälle befannt, wo 16+ und 17jährige Jünglinge nicht zu bewegen waren, auch nur einmal einen ernftien Noman in die Hand zu nehmen, oder wo gute Bücher, die freundliche Verwandte geichenkt, verfaulten und vers moberten, um ſchließlich ungefejen zum Antiquar zu wandern. Das war früher anders. Der Trieb zum Lefen, ſchon um nicht „ungebilbet“ zu ericeinen, war vor 20, 30 Jahren ungleid, größer. Damals galt es als eine Schande, gewiſſe Bücher nicht gelejen zu haben. Man frage doch einmal heute bei feinen 16: und I7jährigen Söhnen und Töchtern nad, ob fie ſich auch ſchämen, wenn jie nicht einmal alle Schillerſchen Dramen gelejen haben, von irgend melden guten Nomanen ganz zu ſchweigen.

Doch fo jteht es ja nicht bei allen. Viele leſen, lejen ſogar reichlich; aber was leſen fie? Soweit ich in die einjchlägigen Ver: hältniſſe Habe hineinbfiden Können, jdeint es mir, daß aud auf biefem Gebiete von vielen Eltern unendlich viel gefündigt wird, von manchen vielleicht aus Überzeugung, von vielen aus Unfennt- nis und Unbildung, von jehr vielen aber wiederum aus Bequenz lichteit, weil fie ji nicht die Zeit nehmen wollen, ſich um die Lektüre ber Kinder zu befünmern, denn Zeit fojtet das, wie wir fehen werden.

Was foll unfre Jugend leſen? 11

Blicken wir doch einmal in die Bücher hinein, die ein Jüngling von 15--17 Jahren heute lieſt. Da finden wir neben dem Alter angemejjener Lektüre Bücher von Hauptmann, Suber- mann, Zbfen, Xeines „Slorentiniiche Nächte”, Tolftojs „Auf: erſtehung“, „Rreuzerfonate”, „Macht der Finſternis“, Zolas „Tot ihläger“, „Paris“, Mauries „Trilby“ und befonders häufig Maupaffants Novellen, von elenden Kriminalromanen oder Büchern wie „Die Berliner Nange*, „Der fleine Cohn“ und ähnlicher Schundware gar nicht zu reden. Ob diefe Bücher ftets mit Ein- willigung der Eltern geleſen worben find, weiß ich nicht; aus der Tatſache, daß ſolche Leftüre dem Lehrer offen eingejtanden wird, ſcheint mir jedenfalls Hervorzugehen, dab die Jünglinge nicht das Gefühl haben, von ben Eltern direkt verbotene Früchte genojien zu haben. Derartiges verihweigt man aud dem Lehrer.

Und mie jteht es mit den im Haufe gelefenen und gehaltenen Zeitungen und Zeitſchriften? Wenn erftere zu früh der heranwachſenden Jugend in die Hände gegeben werben, fo ſchaden fie mehr, als daß fie nügen, denn erfahrungsgemäß ſucht man in einem gewijlen Alter in der Zeitung nicht das wirklich) Belehrende, fondern das Pikante ans Stadt und Land, aus Polizeiberichten, Gerichtsverhandlungen und der chronique scandaleuse. Was aber die Zeitichriften anlangt, jo würde id ohne vorangegangene Prüfung meinem 15jährigen Rinde auch das bejte unfrer Familien blätter nicht in die Hand geben. Was fagt man aber dazu, wenn Zeitfchriften wie die „Jugend“ ober „Die luſtigen Blätter” offen auf den Wücjertiihen liegen, wo in unbewachten Nugenbliden ſelbſt 9- und 10jährige Kinder ihre Neugier an den doch wahrlich nicht für diefe Jugend geeigneten Bildern und Wigen befriedigen fönnen.

Sodann das Kapitel Leihbibliothek. Iſt es nicht geradezu jündhajt, wenn Eltern ihre Kinder ſich aus Leihbiblio: thefen Bücher nad) eigener Auswahl nehmen laſſen. Und das fommt vor. Oder jollten jolde Eltern wirklich nicht willen, daß bei derartiger Freiheit in der Wahl der Leltüre entweder Schund gefefen wird ober vieles, was für ein reiferes Alter geeigneter wäre, ober endlich auf Empfehlung fogenannter guter Freunde Vücher, für die nicht der innere Wert ausfchlaggebend ift, jondern gewiſſe pifante Situationen und Schilderungen.

Und nun endlih das Theater. Viele Eltern ſcheinen der Anſicht zu fein, daß der Beſuch eines ernſten Scaujpiels unter feinen Umjtänden der Jugend ſchädlich jein Tann. Bor unbekannten

12 Was foll unfre Jugend Iefen?

Operelten, vor der franzöfiichen Poſſe machen fie noch allenfalls halt, aber in das ernſte Drama fdiden fie ihre Kinder, aud wenn fie feine Ahnung vom Inhalte des Stüces haben. Und da haben wir denn in Dramen wie Dar Dreyers „Winterſchlaf“, d’Annun: 3108 „Die tote Stadt”, Ibſens „Wenn die Toten erwachen“ und jüngft noch in Hugo Marks’ „Lethe” und Brandes’ „Ein Beſuch“ unfre heranwadjjende Jugend mehr oder minder reichlich vertreten gefehen, mit und ohne Eltern. Ja, wie die Zeiten ſich doch Schnell geändert haben. Noch vor 10 Jahren wurde ich einmal bei Gelegenheit eines Gaitipiels der „Nigenfer“ eritaunt gefragt, ob ich wirflid) meine Fran in Sudermanns „Heimat“ mitnehmen würde, und jept führen Mütter ihre unerwachſenen Töchter in Hartlebens „Rojenmontag” und Halbes „Jugend“.

Ic habe bisher nur von folhen Tatſachen geredet, die ſich unter den Augen ber Eltern vollziehen. Ungleich jchlimmer ſieht es natürlich mit den Büchern aus, die Kinder heimlich hinter dem Nüden der Erzieher leſen. Wie viel bier Fahrläffigfeit und Unadhtfamfeit derjenigen Schuld trägt, denen die Obhut über das geiftige Wohl der Kinder obliegt, das wird in den einzelnen Fällen natürlich jehr verjchieden fein. Aber dag viele Eltern ſträflich leichtſinnig in dieſer Hinſicht verfahren und ſich vielleicht ie die Mühe nehmen, den Büchervorrat ihrer Kinder einer Durch— ſicht zu unterziehen, dafür jheinen mir allein die Proben elendejter Schund- oder gar Schmupliteratur zu ſprechen, die man wenigftens in den Knabenſchulen gelegentlih als heimliche Klaſſenlektüre Schülern abnehmen muß. Wie oft begegnet man da beifpiels- weile dem „Seinen Wigblatt”, dieſem ſcheußlichen Schmier- bfättchen, das verjenft werden jollte, wo die Waſſer am tiefiten find; das, für wenige Kopefen in den Buchläden käuflich, in Bild und Wort für die niedrigften Sinne beredinet ift umd die jugend» liche Phantafie geradezu vergiftet. Was durd) folde und ähnlide Lektüre an Schmut und Unrat in das Kind hineingetragen wird, was hier an Geiſt und Leib verderbenbringenden Keimen in das blühende Leben hineingepflangt wird, das iſt fpüter meift nicht mehr herauszureißen, das Übel nicht mehr gut zu machen. Wir jind heute jo leicht geneigt, die zunchmende Sittenlofigfeit unſrer männlichen Jugend dem Einfluß; schlechter, verdorbener Elemente in der Schule zuzuſchreiben. Gewiß können die unendlich viel Unheil anrichten und tun es reichlich und redlich. Aber die böle Saat, die da ausgejtrent wird und der wir unjre Rinder nicht ganz entziehen Fönnen, würde nicht jo üppig ins Kraut ſchießen,

Das fol unfee Jugend leſen? 18

wenn nicht durch unpafjende oder gar fchlüpfrige Leftüre der Boden nur zu gut vorbereitet wäre.

Mancher von Ihnen, hochgeehrte Anwefende, wird vielleicht jagen, das Bild, das ich eniworſem fei einfeitig und zu f—hmarz; unvernünftige Eltern habe es gelegentlich immer gegeben, und im. allgemeinen feien die Verhältniſſe damals, als wir jung waren, nicht beifer und nicht Schlechter geweien als heute. Darauf habe ich folgendes zu erwidern: Natürlich habe ich die Schattenfeiten der angeregten Fragen beleuchtet und will gene zugeben, daß es viele Eltern gibt, die forgfam die Lektüre ihrer Kinder bewacen. Daß aber die Verhältniiie diefelben geblieben wie früher, ftelle ich id) entſchieden in Abrede. Sie find nicht diejelben geblieben, fie find ſchlimmer geworben. Auch ich bin einmal jung gewelen und habe mich, wie das Schulleben das mit ſich bringt, in mancherlei Geſellſchaft, in guter und jcledjter bewegt, und dach iſt mir damals nicht fo viel Lejeitoff, der nach meiner jehigen Anficht der Jugend Thäblid it, zu Gelicht gekommen, wie ic ihn heute in den Händen von jungen Leuten gefunden, wo ich doch als Lehrer nur gelegentlich einen Einblid in die einichlägigen Verhältnifie gewinnen fann. Und das iſt auch garnicht anders möglich, ift doch das Angebot folder Bücherware infolge ber herrſchenden Literaturrichtung ungleich größer geworden, und die Anſchauungen über das, was der Jugend frommt oder nicht, haben ſich zugleich merflid) geändert. Und damit fomme id) auf den zweiten Teil meiner Frage: Was ſoll unfre reifere Jugend leſen?

Erwarten Sie nicht etwa, einen Kanon geeigneter Bücher aufgezählt zu hören, viel wichtiger erfeheint es mir, das wir uns einigen in bezug auf bie allgemeinen Gefichtspunfte, unter denen jedes Bud) geprüft werden jollte, che es der Jugend in die Hand gegeben wird. Meiner Anficht nad muß ein ſolches Buch fein: 1) fünftlerifh wertvoll, 2) jittlid rein, 3) frei von jeder Alterprobtes niederreißenden Tendenz. Damit fallen natürlich nicht nur alle unfanberen und faden Kol— portageromane, die in Maſſen den Büchermarkt überſchwemmen, und die vernünftige Eltern ja ohnehin ihren Kindern nicht in die Hand drüden werden, fort, jondern jo ziemlich alles, was der fog. „Moderne“ angehört.

Es ift noch im vorigen Semefter in diefem Saale von ver ſchiedenen Nebnern in fehr veridiedener Weile über Wert und Unwert des heutigen Naturalismus geurteilt worden, und ber Streit der Meinungen hierüber wird noch lange hin und her toben.

1 Bas ſoll unfre Jugend Iefen?

Gibt es doch noch heute Leute, die bei jedem modernen Dichter: namen ein gelindes Graufen empfinden und jeben Sudermann, Hauptmann und Halbe womöglich ungelefen zu den Toten werfen; und auf ber andern Seite jtehen folde, die in jenen Dlännern das Morgenrot einer neuen glänzenden Zeit erbliden, das einen Schiller, wenn nicht gar einen Goethe längft in den verdienten Schatten gerüdt. Tas Richtige wird, wie jo oft, wohl in ber Mitte liegen. Wir Haben, meiner Anficht nad), dem modernen Naturalismus fehr viel zu danken. Er hat den in Unnatur und Verwällerung verfallenen NAusläufern der Homantif, ſowie dem literariſchen Induftrialismus, der uns, wie Bertels jagt, „mit den Träbern fütterte, die die Säue der Parifer Boulevards übrig ließen”, ein Ende gemacht; er hat den Blid für die Wirklichfeit wieber geihärft; er hat den fait verloren gegangenen Zujanmen: bang zwiſchen Dichtung und Wahrheit, zwiſchen Kunſt und Natur wieder hergeftellt und damit das zertrümmerte Fundament wieder aufgerichtet, auf dem eine jede gejunde literariſche Richtung auf gebaut fein muß. Wir brauchen aber bei folher Anerkennung der unftreitigen Verdiente di Rodernen“ nicht blind gegen ihre Fehler zu fein. Wie alle ſchen Übergangsperioden ft auch fie vielfach über das Ziel hinausgeſchoſſen. Sie hat vor allem, ich möchte heute nur das eine hervorheben, als Kampfesrihtung, als Anklageliteratur in einieitiger Verblendung immer nur die Schattenfeiten des Lebens aufgeſucht und bargeitellt, als ob es" nichts Gutes, als ob es fein Licht mehr in der Welt gäbe, und damit iſt fie ein mächtiger Förderer des unfer Zeitalter beherrichen- den Peſſimismus geworden. Darum aber, vor allem darum müffen wir fie jo lange als möglid von unirer Jugend fern: halten. Der reife Mann, die erfahrene Frau fann durch viele Bücher moderner Richtung vieles lernen. Es werben hier ragen zur Diskuffion geftellt, Vrobleme erörtert, denen wir uns, die wir im Strome ber Zeit ſchwimmen müſſen, nicht entziehen können, und mander ift durch folh ein Buch zur Gelbftprüfung und Selbjterfenntnis gebracht worden. Wir werden uns aber dadurch noch nicht den Glauben an das Edle in der Menſchheit, unfern alten deutſchen Idealismus rauben laſſen. Wie wirft aber ein solches Buch auf die noch ungereifte Jugend? Da wird vor ihnen der Schleier gehoben von jo manch geheimnisvollem Dunkel, in das das Leben fie noch nicht Hat hineinbliden laflen, und daß gerade das Häßliche eine befondere Anziehungskraft auf den Menfchen, vornehmlich die empfänglide Jugend ausübt, ift ja

Das foll unfee Jugend Iefent 15

befannt. Dit wollüſtigem Behagen wird befonbers alles bie Gefchlechisliebe betreffende verſchlungen, das entweder in brutaler, bäßlicher Nadktheit oder, was noch ſchlimmer, halbverhüllt kaum einer modernen Dichtung fehlt; und was ehrliche Naturaliften geichrieben, um ben Finger auf jchwärende Wunden der Gefell- ſchaft zu legen, das wirft auf unreife Leſer mit pridelnden Reizen, Iodend, verführend. Wir tun unjern Naturaliften, die es ehrlich mit ihrer Runft meinen, gewiß Unrecht, wenn wir ihre Werke unmoraliih nennen. Unmoraliih in dem Sinne, daß fie bas Unfittliche billigen oder gar verherrlichen wollen, find fie natürlich, nicht. Verſteht das aber die innerlich noch nicht gefeftigte Jugend? Müfjen ſich ihre fittlihen Begriffe nicht in gefährlicher Weiſe ver- wirren, wenn fie ein Leben dargeitellt fieht, in dem der Moral faft nie zum Siege verholfen wird. Was fängt fie z. B. mit dem noch im vorigen Jahre auf unfrer Bühne gegebenen Ihbſen— ſchen Drama „Wenn die Toten erwachen“ au, das wenn man es des ſymboliſchen Gehalts entfleidet, die moraliihen rundfäge geradezu auf den Kopf ftellt?

Freilich, klug, überklug kommt ſich dann wohl ein joldhes Bürſchchen, eine ſolche höhere Tochter vor, aber mit der Harms Lofigeit der Jugend ift es dahin. Die Genuffähigkeit für wirklich Schönes, Reines ift vielfad verloren. Blaſiert wird über Ewiges, Wahres abgeurteilt, und man fann ſich dann nicht wundern, wenn man Ausſprüche Hört, mie fie einer meiner Kollegen unlängit aus dem Munde eines Sefundaners vernahm: „oethe, ja den läßt man fi noch vielleiht gefallen, aber wer wird heute noch Schiller leſen!“

Und damit hängt aufs engſte ein Zweites zuſammen. Man hat mit Recht die „Moderne“ eine Anklageliteralur genannt. In der Natur einer ſolchen aber liegt es, daß fie tendenziös iſt. Das hat ja die Naturafiften getrieben, einfeitig die dunklen Tiefen menſchlicher Gebrechen, gejelljhaftlicher Schäden aufzufuchen, hin zumeifen auf Zuftände, Verhältniffe, die nad Beſſerung, nad Heilung freien. Aber faſt feiner derſelben hat auf die in einer folden Dichtung unausgefproden liegende Frage: „Wie foll das beffer werben? eine Antwort gegeben. Daher das fähmende Gefühl, mit dem wir fo oft von einem derartigen Noman ſcheiden oder das Thenter verlajien. Kann es aber richtig fein, unfrer Jugend ſolche Bücher in die Hand zu geben? Kann es eine Pädagogik geben, die es verantworten will, in das ungefejtigte Gemüt unreifer Zünglinge und Jungfrauen hineinzutragen alle

16 Das fol unfse Jugend Tefen?

die heute auf uns einftürmenden, ber Löſung harrenden Fragen, alle die ungeflärten modernen Ideen, die zum Teil rütteln an altbewährten Grundfägen in Religion, Staatenleben und geiell- fchaftlicher Ordnung?

Ic würde über dieſe Frage nicht jo viel Morte verlieren, wenn ich nicht wüßte, daß es viele gibt, bie in der mobernen Literatur nit nur feine Gefahr für unfre reifere Jugend jehen, Sondern fie geradezu empfehlen. Mir liegt zufällig ein Zeitungs- ausſchnitt vor, in dem die Beantwortung der ſchon vor etlichen Jahren im Nig. Gewerbeverein aufgeworfenen Frage: „Melden Einfluß hat die moderne Richtung der Schriftiteller auf die Sefell- schaft, jpeziell auf die Jugend?” abgebrudt ift!. Der Beant— worter ift der Anſicht, daß wir „unfre bedeutenden modernen Schriftfieller bei der Jugenderziehung nicht entbehren fönnen“ und führt als ſolche Schriftiteller namentlih an: Zola, Tolftoj, Ibſen, Björnfon, Garbory, Strindberg, Hauptmann, Sudermann. Unter anderm jagt er wörtlid) folgendes: „Es fteht mit der geiſtigen Nahrung wie mit ber leiblichen. Nur fein Kapentiih und ja nicht zu wenig, denn gefunde Kinder haben guten Appetit. Und was die geiltige Nahrung betrifft, To haben fie, wenn fie gejund und normal entwickelt find, glücklicherweiſe eine Schupvorrichtung in ihrer Seele: die Naivität und den Enthujiasmus. Infolge defien nehmen fie die unpaffende, jtörende Nahrung meiſt nicht auf, fondern mit Vorliebe das Gute ja das Beſte und Schönfte.” Über den „Kahtzentiſch“ jpäter ein Wort. joviel als Erwiderung: Auch id glaube an die Naivität und den Enthufiasmus unſrer Jugend, jo lange ihr Geſchmack durch ihrem After nicht zufommende Speiſe noch nicht verborben iſi. Wenn fie aber erit mit der ſcharf gewürzten Koſt der Zola, Ibſen, Hauptmann u. a. gefüttert worden find, dann jhmedt ihnen eben eine alles Pifanite meidende, einfache und doch jo gefunde Nahrung nicht mehr, dann it es mit ihrer Naivität dahin und ihr Enthu— ſiasmus für das Neine und Schöne hat jenem Mangel an idealem Sinn, jener alttlugen Blafiertheit, jener untindlichen Pietätlofige feit Pla gemacht, über die die Pädagogen unjrer Tage io viel- fach mit Necht klagen. Man leſe dod nur heute mit Schülern der oberfien Klaſſen die Tramen unjrer großen Dichterheroen und achte dabei auf die offen oder veriteckt zutage tretende ſtumpfe Unempfänglidteit, das überlegene, ja ſpöttiſche Lächeln vieler

1) Dana · gig· 1809, Ar. 205.

Mas fol unfre Jugend leſen? 17

folder Yünglinge, die in ber Moderne bereits zu Haufe find und womöglich Hauptmann und Sudermann vor Schiller und Goethe gelefen haben. Und wie jollte das aud) anders fein. Muß nicht in ber Jugend, die vom Leben noch jo gut wie garnichts weiß, durch eine literarifche Richtung, mag fie und ihr Streben von noch fo edlen Motiven getrieben werben, bie immer und immer nur das Jammerlied der Menſchheit fingt, ein Zweifel rege werben, an allem was ihr fonit gelehrt wird: daß unjre Welt: orbnung gut ift, daß es einen Sieg der Wahrheit auch ſchon auf Erden gibt, daß wir ben Glauben an uns felbjt und das Gute im Menſchen nicht aufgeben dürfen u. a. Solde Ideen aber find die rechte Speife für unfre Jugend, nur fo gewappnet wird fie einmal all ben zerjegenden und zerfreilenden Elementen, die über furz ober lang ſich am fie heranidleihen werden, heilfamen Widerftand enigegenfegen fönnen und nicht Gefahr laufen, jenem alles nivellierenden, an Thron und Heimat, Altar und Che rüttelnden, internationalen Zeitgeifte anheim zu fallen. Mit einem Worte unfre Jugend braudt Idealismus, nicht modernen Bejlimismus!

Ich Höre hier den Einwand: „Auch wenn wir die Schäblich: feit der Moderne für unſre Jugend erkannt haben, fönnen wir diefe body nicht mit einer chineſiſchen Mauer umgeben. Unjre Töchter noch allenfalls, unjre Söhne nun ſchon garnicht. Der Trieb, gerade derartige Erzeugniſſe der Literatur zu leſen, ift fo groß, daß fie, aud) wenn wir ihre Lektüre überwachen, das Ver: botene eben heimlich leſen und vielleihyt dann um fo begieriger, weil verbotene Früchte befanntlich befonders ſüß ſchmecken. Und fie lefen dann noch weit Schlimmeres, als was ernite Naturaliften geidrieben haben.“ Sie haben ganz recht, meine Damen und Herren, wir fönnen eine ſolche chineſiſche Mauer nicht aufrichten, ebenfo wenig wie wir ihnen die Augen verbinden können, daß fie ſich alle die lüſternen Titelbilder und noch Tüfterneren Auſichts- poftfarten, die vielfad) öffentlid; ausliegen, anjehen. Könnten wir unfre Jungen dann doch in feinen Friſeurladen ſchicken, wo jenes „Reine Wigblatt”, von dem ich vorhin ſchon fprad), ausliegen darf, fo daß jeder 10jährige Bube fi daran ergögen kann. Wohl aber fönnen und jollen wir einerfeits derartiges, jo weit es in unfern Kräften fteht, von unfrer Jugend fernzuhalten juchen, andernteils für ein geſundes, heilſames Gegengewicht in genü- gendem Maße forgen. Wo das Verhältnis zwiſchen Vater und Sohn, zwiſchen Mutter und Tochter ein richtiges ift, da muß

Voltiftye Monatsfeift 1005, Gelt 1. 2

18 Das fol unfre Jugend leſen?

bie ernfte Mahnung der Eltern an ihr Kind, nichts ohne vorher ergangene Erlaubnis zu leſen, genügen. Und Hilft ſolche Ermab- nung nicht, jo muß das zweite Mittel allein wirken, die von ben Eltern ausgemählte, für den Jüngling und die Jungfrau geeignete Lellüre. Und ſolche gefunde Koſt wird nicht nur eine Schutzwehr fein gegen bas Leſen unpafiender Stribenten, fie wird auch heilend, fräftigend wirken, wie die friiche Luft in Wald und Feld, im Garten und auf dem Gpielplag neben der bumpfen Stidatmofphäre in Stube und Schule, auf Markt und Straße.

Waren meine Ausführungen bis jegt im weſentlichen nega— tiver Art, fo muß ich num auch wenigitens in gebrängtefter Kürze Vofitives bieten. Ich ftellte vorhin die Forderung auf, daf; bie Jugendleftüre fünftlerifh wertvoll, ſittlich vein, frei von Tendenz fein müſſe. Nun, id) follte dod meinen, daß man noch lange nicht zu einem „Katzentiſch“ greifen muß, und unſre heranwachfende Jugend elwa mit Guſtav Nierig, Franz Hoſſmann ober Thella Gunpert abzufpeifen braucht, wie der Beantworter jener im Rig. Gewerbeverein aufgeworfenen Frage mit völlig ungerechtertigtem Spott meint. Unſte deutſche Literatur ift fo reid an Erzeug- niſſen, die jenen Forderungen entiprechen, dab unfre Kinder wahr- lich nicht zu darben brauchen. Da ſiehen in eriter Linie unfre Klaffiler, deren Wert als beftes Bildungsmittel für die reifere Jugend ja wohl niemand wird beitreiten wollen. Beſitzen doch gerade fie das, was unfrer Jugend ihrer Natur nad) eigen ült, und was wir ihr nicht vauben laffen dürfen, jenen Jdealismus, der an das Gute im Menſchen, an den Sieg des Edlen glaubt. Nächſt den Klaſſilern dürfte vor allem der Hiftorifhde Noman eine geeignete Lektüre bilden. Das Ichhafte Intereffe, das die Jugend meift der Geſchichle entgegenbringt, ſchafft für die Auf: nahme folder Dichtungen den fruchtbarften Boden, beſonders wenn das Leſen derfelben Hand in Sand mit ber Durchnahme bee betreffenden gefchichtlichen Stoffes in der Schule geht. Natürlich barf es ſich bloß um Romane handeln, die einerjeits hiſtoriſch treue Bilder liefern, anderfeits nicht in den Fehler einer aufdringe lichen Gelehrfamfeit verfallen. Da könnte wohl als eriter Noman Hauffs „Lichtenftein“ den Rindern in die Hand gegeben merden, fodann Freylags „Ahnen“, Scheffels „Ekkehard“ und die beften Nomane von Willibald Aleris. Auch Walter Scott wird trag feiner Breite auch heute noch von der Jugend gern und mit Nugen gelejen. Aber wir fönnen dieſe Jugend nicht bloß mit Hoffiihen Dramen und hiſtoriſchen Romanen abipeifen, fie will

Was ſoll unſre Jugend Iefen? io

auch in der Zeit und mit der Zeit leben, und auch an folhen für fie daſſenden Schriften fehlt 6 nicht. Da wäre beiz jpielsweife zu nennen Freytags „Soll und Haben“, Storms, Riehls Novellen, Roſeggers Erzählungen, einzelne Nomane von der Ebner-Eſchenboch, wie z. B. das prächtige „Semeindefind“, ausgewählte Sachen von Conr. Ferd. Meyer und Gottfr. Keller, endlih Lilienerons Nriegsnovellen. Und daß auch die neueſte Zeit immer wieder dazwiſchen Romane zutage fördert, die wir unſrer reiferen Jugend nicht vorenthalten follten, das beweiſen z. B. Dichtungen, wie Frenſſens „Die drei Getreuen“, Heers ¶Joggeli oder der erfi kürzlich erfhienene Noman von ©: A. Rrüger „Soltfried Kämpfer”. So wird der Kreis fi) immer mehr und mehr weiten, bis man die Zeit für gekommen evachtet, fein Kind allmählich vorzubereiten auf die Freiheit, die dem Erwadjienen die Wahl der Lektüre jelbjt überläßt. In diefe Zeit der reifften Jugend würden Paul Heyſes Novellen, die beften Spielhagenſchen Nomane, Clara Viebig „Die Wadt am Nhein”, Sudermanns „Frau Sorge” und vieles, vieles andre gehören, vor altem die Romane von Pantenius, von bem auch unfre Jugend lernen Tann, warme Heimatsliche mit offnem Sinn für die Wahrheit zu paaren. In danfenswerter Weile iſt in neuefter Zeit mehrfach der Verſuch gemacht worden, das Beſte, was die ältere und neuere erzählende Literatur hervorgebradjt, in billigen Volfs- bibliothefen zu vereinigen. Eine der trefflichſten find jebenfalls die „Wiesbadener Volksbücher“, die neben den ſchon genannten Schriftftellern Erzählungen von Etifter, Hans Hoffmann, Adolf Stern, Ienjen, Wilbrandt, Hermine Bilfinger und vielen andern bringen, Dichtungen, die. ſich wohl ſämtlich auch für die reifere Jugend eignen dürften.

= Was ich hier an Namen genannt, find natürlich nur Bei— fpiele und fönnen auch nicht im entfernteften Auſpruch auf Voll- ftändigfeit machen. Leider fehlt, foweit mir befannt iſt, noch immer ein einigermaßen genügendes Verzeichnis von belletriſtiſchen Werfen für das reifere und reiffte Jugendalter. Hier kann id) eine Warnung nicht unterdrüden. Man darf in feiner Vorſicht

4) Das oben ſchon erwähnte von ben vereinigten deutſchen Prüfungsauss fhüffen heraudgegebene „Werzeichnis empfehlenswerter Jugenbjcwiften", das viele Befehrende Wücer geichichtlichen, Fulturgeichichtlicen und biographüiden Indalıs, die fi für die zeifere Jugend eignen, aufweit, führt für dies Atter paffende Werte aus der Ichönen Literatur feider nur in recht befchränfter

Zahl an.

20 Was ſoll unſre Jugend leſen?

natürlich auch nicht zu weit gehn; beſonders ſind es manche Mütter, die ihre Töchter womöglich bis zur Konfirmation nur mit dem „Töchteralbum", mit „Backfiſchchens Leiden und Freuden“ und Ähnlichen Erzeugniſſen füttern möchten. Das iſt ein fchweres Unredt. Auch unfre heranreifenden Mädchen wollen und follen durch Lektüre in das Leben eingeführt werden, und ein gefunder Realismus ift ihnen heilſamer als die verlogene Welt vieler Zugendfchriftftellerinnen. Auch das Thema „Liebe“, vor bem manche Mutter eine faſt ranfhafte Angſt hat, darf wahrlich nicht ſchrecken, fofern fie in reiner Form auftritt, wenn wir nicht ein zippes und unnatürliches Geſchlecht großziehen wollen.

Vor allem vergeffe man nicht, der Jugend auch Humoz viftifches zu bieten. Die Lebensfreude ift dem Sonnenlichte zu vergleihen, in dem jedes organiſche Wejen am bejten gebeiht. Diefes Sonnenlicht, dieſe Lebensfreude wollen wir unfern Rindern aber in recht reichli—hem Maße zufommen laſſen, fie ftärft fie zum Lebensfampf, der ihmen allen einmal bevorjteht. Und wie bereit: willig wird von der Jugend das Heitere aufgenommen. Nie ſchnell ift ein Kind imſtande, Schmerzvolles zu vergeffen, wenn ihm eine luſtige Geichichte erzählt wird. Wie jtrahlen die Augen von Schülern und Schülerinnen auch älterer Altersjtufen, wenn ihnen ber Lehrer am Schluß der Stunde einmal etwas Heiteres zum beiten gibt, was bie Lachmuskeln orbentlid, in Bewegung jeßt. Freilich, ſoweit wie Heinrich) Dart möchte ich nicht gehn, der auf dem letzlen Aunfterziehungstage Wilhelm Buſch als „Jugendkunſt- erzieher” große Erfolge prophezeihte. Aber es gibt in unſrer Literatur doch ernftere Humoriften. Groß ift die Zahl ja nicht, aber nod) haben wir einen Naabe, deſſen „Horader“ z. B. fo recht ein Buch auch für die reifere Jugend iſt; noch haben wir einen Heinrich Seidel, vor allem aber unfern unfterblihen Fritz Reuter. Es hat mich immer aufrichtig betrübt, wenn ich bei Nundfragen in den oberjten Klaffen von Knaben: und Mädchenſchulen feititellen mußte, wie viele deutſche Jünglinge und Jungfrauen von diefem köſtlichen Dichter nichts gelefen haben. Oder jollte auch ſchon in einer älteren Generation das Intereſſe für dieſen prädtigen Erzähler von der Menſchen Freud und Leid im Schwinden begriffen fein? Das wäre jedenfalls lief bedauerlich, denn ich wüßte wirklich nicht viele Dichter, die fo wundervoll zu predigen verftänden, wie reich das Leben an Schönem, Preiſenswertem ift, wenn man nur im Saften und Jagen des Alltags den offenen Blick dafür behält. Es ſcheint, daß die geringe Schwicrigfeit des plattdeutſchen Dialefts

Was ſoll unſte Jugend leſen? a

mandyen abhält, fih an Frig Neuter zu machen. Nun, ich kann jedem die Verfiherung geben, daß er nach den erſten 20—30 Seiten in der mit reichlichen Worterklärungen verfehenen Volfsausgabe feinen Neuter lieft wie jeden andern Schriftitellee und für bie feine Mühe des Sichhineinarbeitens taufendfah belohnt werben wird! Daß die Jugend auch diefe geringe Arbeit ſcheut, iſt cher verftändfich, hier muß eben eintreten, wovon zum Schluß nod) zu reden lt, das Zufammenlejen mit Erwachſenen. Es gab eine Zeit und fie liegt nicht gar zu weit zurück, wo 88 in zahlreichen Familien eine Feitftunde war, wenn der Vater Abends beim trauten Schein der Lampe die Seinen um ſich verfammelte und ihnen ein gutes Buch vortrug, oder die Mutter an Sonntagnachmittagen mit ihren Kindern ein Majfiiches Drama mit verteilten Nollen las. Ob das heute noch vorfommt? Dan wird mir dagegen erwidern: Ja, die Verhäliniſſe find in den legten 30 Jahren weientlih andere geworden. Unter dem Drud einer immer lajtender werbenden Verufsarbeit, eines immer heftiger werbenden Kampfes ums Dafein hat aud) das Familien: teben feiden müjlen. Und wenn man einmal ein Mußeſtündchen hat, jo nimmt man die Zeitung oder leichte Unterhaltungsleftüre vor, oder auch ein modernes Buch, nicht aber immer nur ein folches, wie es der Jugend zufommt. Ich verftche diefe Einwände vollauf, aber für unſre Kinder mühjen wir Zeit übrig haben, fo lange wir nod) Zeit zu vegelmähigen Rartenpartien und Kaffee: fränghen finden. Die Zeiten find andere geworden. Ja, freilich find fie andere geworden, aber nicht bloß für uns, jondern auch für unfre Kinder. Matthias fagt*: „Die beiten Schüler pflegen Hauspflangen, feine Schufpflangen zu fein.” Sit das ſchon in Deutichland der Fall, fo gilt das in noch ungleich höherem Mahe bei uns. Denn es ift fein Geheimnis, daß ein großer Teil der Aufgaben, die wir früher ruhig der Schule überlajjen konnten, heute der Familie zufällt. Und hierzu gehört vielfad) aud) die Pflege der Haffiihen Dichtung. Dieſe überläßt man freilich heute nur zu gerne den Leſeabenden der Schüler und den Leſekränzchen Nun, ih will gegen diefelben nichts Tagen,

3) lEs darf hier auch darauf hingewieſen werden, dab eine ſehr große Menge plattdeutjcper Wörter ſich in unfeen baltijcen Deutich Iebendig erh Haben, aljo uns ohnehin ganz geläufig find. Miehiw muß gerade uns das ftändnis der Sprade Neuters vielfad) leichter fallen, als etwa einem Süd oder Wittelbeutichen. D- Med.)

2) Peaftifce Bidayogit, 2. Aufl. Münden, 1903, ©. 20.

2 Was joll unſre Jugend lejen?

wenngleich das Leſen auf ſolchen Abenden oft nur ein ſchönes Aushaͤngeſchild für allerhand Geſelligkeit Nur eines erideint mir dringend wünfchenswert, daß nämlich die Jugend mit jolden Leſeübungen nicht zu früh anfange und daß bei der Wahl des zu lejenden Erwachſene zu Nate gezogen würden, damit nicht, wie ich das beifpielsweife erlebt Habe, dreizehnjährige Jungen ihren Leſeabend mit der „Braut von Meſſina“ eröffneten, bie fie nati fich nicht verftanden, und fünfjehmjährige Sünglinge fid) bereits an den „Kauft“ machen, den fie wohl noch weniger verjtanden haben werden. Erſetzen Fönnen derartige Veranftaltungen aber das Zuſammenleſen mit Erwachſenen in feiner Weife. Schon daß dieſe durch beſſeres Lejen (und Übung macht aud) hier den Meifter) vorbildlich werden, wirkt belebend; ſodann wird mauch erflärendes Wort das Verftändnis des Gelejenen fördern, ja ich möchte jagen, die einfache Tatſache, daß auch die Eltern teile nehmen, gibt dem Ganzen erſt den rechten Schwung, eine höhere Weihe. Und wenn dann etwas von der ſchönen Begeifterung, deren die Jugend noch fühig iſt, auch auf die Alten übergeht, ſchaden mird’s ihmen wahrtid) nicht, Yeute, wo die Rlafliter in ihren Pradteinbänden oft jahrzehntelang in den Bücherfchränfen unbenutzt zu fiehen pflegen. Übrigens brauchen ja garnicht nur die Klaſſiker gelejen zu werden, haben wir doch gejehen, wie mandes Buch, das Vater und Mutter jelbit nicht fennen werden, ein prächtig Buch aud) für die Kinder Und dann ein Weiteres. Ich Habe ſchon vorhin darauf hingewiejen, wie die Intereſſeloſig- feit unfrer veiferen Jugend einer jeden Lektüre gegenüber in beängitigendem Wachſen begriffen it. Nun, jollte es ein wirt: fameres Mittel dagegen geben, als wenn gerade die Eltern den anfangs vielleicht leije Wiverjirebenden altınählih in den Bann: treis des wahrhaft Schönen ziehen. Es wird heute vielfad) über eine frühe Entfremdung zwiſchen Eltern und Kindern, beionders den Knaben gekfagt. Wer it daran ſchuld? Die Kinder, die in ihren Freiſtunden ſich felbft übertafien bleiben und ihre eignen Wege gehen dürfen, oder die Eltern, die ihre Sinder zwar mit fen und Trinken, mit Kleidern und Schuhwerk, mit Schulgeid und Geld für Konzert, Theater oder Zirkus reichlich verjorgen, aber Zeit für fie nicht haben? Nun, id) jollte meinen, gerade fold) demeinſame Beſchäftigung mit der Kunſt, das gemeinfame Schöpfen aus dem Born des Schönen muß Eltern umd Kinder einander nahebringen, Die gemeinfame Yeltüre fanı Veranlafung zu manch ernſter Ausſprache werden, kann dadurch mand auf

Was ſoll uuſre Jugend leſen? 2

tauchenden Schatten verſcheuchen, kann jtärkend, fordernd, klärend, befebenb die Bande der Familie feiter ſchmieden, und das, was anfangs eine Laſt ſchien, wird bemen zum Segen, die auf Erden unjer Teuerftes find.

Ih ſtehe am Schluß meiner Ausführungen. Bolltommen bewußt bin id mir, daß das, was id) vorgebradht, nur jehr Unvolljtändiges war, daß id) das Thema, das ich mir gejtellt, bei meitem nicht erſchöpft habe und in einer Stunde wohl auch faum erihöpfen fonnte. Ich habe auch oft Ausgeiprochenes, viel jelbit- verſtändlich Erjcheinendes nur wiederholt, id) werde bei einem ober dem andern gewiß Widerſpruch gewedt haben, und ich werde vielleiht mandem mandes gejagt haben, was ihm nicht angenehm zu hören war. Ich bittte mir um der Sache willen biefes nicht zu verargen. Eins aber hoffe ich erreicht zu Haben, nämlich eine Frage zur Diefuffion geftellt zu Haben, die gerade bei unſrer heutigen Jugenderziehung von der allerernfteften Bedeutung ill, Und wenn diefe Diskuffion aud nicht in öffentlicher Verfammlung vor ſich geht, im fleinen und Meiniten reife, das wünſchte ic), wird vielleicht weiter darüber geredet, wird mandes neue Material Hinzugetragen, wird manche Lücke, bie ic gelajien, ausgefüllt, manche Anſicht gellärt werden. Um ſolch eine Ausſprache zu erleichtern, laſſen Sie mic) das, was ich gejagt, in folgende + Süße zuſammenfaſſen:

1) Der häuslichen Lektüre der Jugend iſt eine größere Sorgfalt zuzuwenden, als dies im allgemeinen bei uns gejcieht.

2) Wir follen unfre Kinder nichts leſen ober, wenn es ſich um eine Theateraufführung handelt, fehen laſſen, was wir nicht kennen, oder was ums nicht von vertranensiwürdiger Seite als jür die Jugend geeignet empfohlen iſt.

3) Für bie jüngeren Kinder jtehen Muſierkataloge zur Ver: fügung, für die reifere Jugend fann als Grundjag gelten, daß wir ihr nur bieten follen, was a. fünftleriid wertvoll, b. fittlich rein, €. frei won jeder Alterprobteß niederreißenden Tendenz ill.

4) Die gemeinjame Leklüre der Erwachſenen und der Kinder ift dringend zu empfehlen.

Dieine verehrten Damen und Herren! In wenigen Dionaten wird, jo weit die deutjche Zunge reicht, ein ernfter Gedenllag begangen werden, der Tag, an dem vor 100 Jahren unjer großer Stiller nur zu früh jein Auge für immer geſchloſſen bat. Auch unter uns rüſtet man fich bereits, diefen Tag würdig zu begehen und damit den Beweis zu liefern, daß der große Tote trop all

2 Was foll unſre Jugend leſen?

des modernen Sturmes und Dranges auch unter uns noch lebendig ift. Da wird mand) ſchöne Rede gehalten, da wird mand) geilte voller Toaft geiproden werden, da wird etwas wie Schwung in die Brofa unjres Lebens hineintommen, wir alle werden wenigitens auf Tage unter dem Zeichen des großen Dichters jtehen. Aber wird das alles jein? Wird man fi begnügen mit einer ſchuldigen Verbeugung vor dem gewaltigen Genie, wird das Ganze nur einem Raujche gleichen, der, flüchtig erzeugt, ebenſo flüchtig ent: weicht? Hoffen wir, daß dem nicht jo jein wird. Wahrlich, es täte not, daß aus ſolchen Tagen der Vegeijterung etwas für unfer Alltagsleben übrig bliebe, daß Schiller wieder wird, was er bei den meilten aufgehört hat zu fein, einer unfrer Führer, Bildner, Erzieher. Aber nicht bloß für uns, jondern vor allem auch für unſre Jugend. Einen beiferen Jugenderzieher fönnen wir uns doch wahrlich nicht denfen, als den Dann, von dem fein großer Freund gefagt hat:

Denn Hinter ihm, im weſenloſen Scheine

Lag, was uns alle bändigt, das Gemeine.

Möchten uns die Scillertage, die vor uns liegen, das wieder einmal jo recht flar madyen; möchten wir als getreue Haushalter des uns anvertrauten wertvolliten Gutes, und das find unfre Rinder, an dieſen arbeiten und fie mit Hilfe unfrer herrlichen Literatur erziehen zu Bemwunderern, Pflegern, Nahahmern alles Wahren, Guten, Schönen.

Laller und Leidenihaft in J. R. R. Lenz’ Dihtung.

Von

Karl von Freymann.

N 9% meiner Wiege ftand das Ichredliche Gericht Gottes!.

Wie maffiv und faftend fällt diejes Mort in die Wag—

ſchale der Gedanfen, einem ſchweren Blode gleih. Die Scale ſinkt zu Boden, der Zeiger der Wage weijt ins Unmeßbare, denn in biejen Worten ift eine Weltanſchauung enthalten; ein großartig herber Pejiimismus, wie ihn Hebbels Werke atmen. Aus dieſer Anfhauung heraus iſt menichliches Leiden und Elend fein Zufall, und obgleich unfer Tun das Werk göttliher Fügung üt, bleiben mir dennoch verantwortlid. Unire Verfhuldung it unausbleiblicd, aber die innere Notwendigkeit unjres Handelus vermag den rnit bes Urteils, dem wir alle entgegen gehen, nicht zu lindern. Wir werben geboren, wir blühen und gedeihen zum Gericht.

Id) erinnere mic eines alten indiſchen Spruches, daß ben, ber da Iebt, Kummer und Eorgen wachen ohne fein Zutun, naturgemäß und ftetig, wie das Gras auf der Wiefe. Notwendig ift das Leben:

Nur der bleibende Himmel kennt,

Wos er den ſahwachen Sterblichen gönnt, AU ihr Glüc erftohlen in Qualen; Hiuter Wolken zitternde Strahlen;

Was ihr Herz ſich geiteht und verhedft, Alles hat er ihnen zugezaͤhlt; Unerbittlicht.

„Betenutnifie einer armen = " Hanbjhriftlih in P. T. Falcks

Senzacain, Vgl. Zald, Der Dichter 3. DR. Yeny in Yioland (Winterthur 78), Eine Paralelitelle dazu in cincın Briefe Lenz’ an Herder vom 28. Auguit

Obgebr. bei Gruppe, Reinhold Lenz. Leben und Werte. Bein. B1.):

feibit ein Exempel ber Berichte Gun x

% „Zroft.” Gedichte von 3. M. Di.

1891). ©. 181.

(eng. Ordg. von Weinhold (Bein.

26 Laſter und Leidenſchaft in Lenz’ Dichtung.

Unerbittlich iſt ber Ratſchluß Gottes, unerbittlich iſt das Gericht Gottes; was bleibt uns armen Menſchen übrig? Das Xeben bfeibt uns übrig. Tun und Leiden, Hoffen und Verzagen bleiben uns übrig, und wenn das Leben ein Tranerfpiel ift, ift es deshalb minder wert gelebt zu werden?

Es ift von Lenz gejagt worden, daß er mit viel Geſchick luſtige Tragödien ober fhaurige Komödien zu dichten wußte, aber er dichtete das Traneripiel des Lebens. Er konnte mit gutem NRecht feinen Stüden ein verfäßnlices Ende aufzwingen, denn der endgültig tragiihe Schluß jedes Lebens verftand ſich bei ihm von jelbjt. Nicht im Tode beruht ja die Tragik der Dienfchen, jondern darin, daß wir mitten im Leben gebrochen werden, und bie Trümmer unſres MWollens gleihgültig zu Grabe ſchleppen. An jer Tragif aber fehlt es feiner der Lenzſchen Figuren. Es iſt ein ernites Leben, welches Lenz uns jdildert, ein Leben, in dem ſich jede Verſchuldung rät.

Die breitefte Grundlage des Lebens iſt der geſchlechtliche Trieb, deſſen mannigjaltige Geftaltungen wir unter dem rätfel Haften Worte Liebe zulammenfaflen. Bon den zahllojen in ein: ander hinübergreifenden Formen der Liebe fünnen wir doch zwei Formen klar von einander jdeiden. Wo der geieploje Trieb, dus Körperliche und eine gewiſſe Unbejtinmtheit des Objekts vorwalten, wird die Liebe zum Lafter, wo das reine Wejen ber Liebe, das geiige Moment am jchärfften hervortritt, wird die Liebe zur Leidenſchaft. Laſter und Leidenichaft find die beiden Brennpunkte der Liebe, das Laſter der intenfiofte Förperlihe Genuß, die Leiden: Schaft die höchjfte Steigerung des geifligen. Den unentwirrbaren Knoten aber, in welchem gemeiniglih Siunlichfeit und Geiſt, Triebe und Streben verfnüpft werden, durchſchlug Lenz, und während er die Liebe bejang, geitalteten fid unter feinen Händen Laſter und Leidenſchaft in ſcharf geidiedenen Zügen. Während er die Zeidenjihaft in den Himmel emporheb, jtieß er das Laſter hinab zur Hölle. Er riß dem Lafter den gligernden Dedinantel von deu Schultern, an dem alle Zeit jo viele mit großem Fleiß gearbeitet haben, und zeigte es nackt und häßlich; er befreite die Leidenichaft von dem Zuſatz des Gemeinen. Das Yafter iſt ſchwächlich und ziellos, bie Leidenſchaft gibt uns ein einiges Ziel, dem alle Sträfte zugewandt find. Gleich Bleigewichten zieht uns das Later hinab

Laſter und Leidenſchaft in Lenz' Dichtung. BJ

in einen. planlojen Vergnügungsfumpf, bie leidenſchaftliche Liebe gibt unjerm Geiſte Flügel, wenn nur der Gegenjtand diefer Liebe fi) hoch und rein genug über dem Wünfchenden emporhebt. Eine Anſchauung, die ung die trefilihite Deutung gibt, daß unglückliche Xiebe den Menſchen veredle.

Wir jollen das Lajter verachten, wir jolfen unfer Fühlen und Leben vertiefen, um Raum und Kraft zu gewinnen zur Leiden shaft. In einem aber bleiben ſich Lajter und Leidenfchaft völlig gleich, beide bedingen das Unglüd. Un unfrer Wiege fteht das ſchreckliche Hericht Gottes. Cs wäre uns freilid) wohler zu Mute, wenn wir berufen wären mit dem Schickſal zu rechten, wenn wir abwehrend die Hand ausſtrecken fünnten und rufen: Nühre uns nicht an, gehe vorüber, denn du bift unverdient! Aber wir können es nicht! Denn auch demjenigen, der Stumpfheit und Laſter ver- achtend, mühjelig zum Lichte jtrebt, ja vornehmlid) dem, der ij rauhen Sturinlauf zur Höhe emporzufteigen meint, fommt ein Augenblict, in dem er begreift, warum auch er gerichtet wird. Es kommt die Stunde des Lebens, in der wir ſprechen.

Von mun an die in Trauer, Von nun an finfter der Tag,

Dis Hunmels Tore verfhlofien! Wer ift, der wieder eröfnen,

Dir wieder eniſchließen ſie mag?

Hier ausgeiperret, verloren,

Sipt der Verworfne und weint, Und kennt im Hinnmel, auf Erden Gehaſſiger nichts als ſich jelber, Und ift im Himmel, auf Erden Sein unverfögnlichiter Feind. . .

Die Büte Voltaives trägt auf der Flaren Stirn, in den tiefliegenden, fehenden Angen den Stempel eines nimmermühen eiftes, um die feingeichnittenen Lippen aber fpielt ein jonderbares Lächeln ein vergnügtes Lächeln. Ein weiter Abſtand iſt zwiſchen diefem Geficht und den zergrübelt müden Zügen eines Gerhard Hauptmann, ein weiter Abjtand gleichfalls zwiſchen jener Vüfte und dem begeiſtert flammenden Prophetenfopf Schillers. Der Kopf Boltaires iſt von einer harmlos jelbjtzufriedenen Lebensheiterkeit durchſchienen, und wenn-dieje geiſtreichen Lippen 16 öffnen follten

lid.” Lenz’ Gedichte. ©.

2 Zajter und Leidenſchaft in Lenz‘ Dichtung.

und die geheimiten Gebanfen bes fubtilen Kopfes verrieten, fo prägen fie vielleicht mit leifem Spotten: Ein Schäferfpiel it das Leben!

Erft in der Revolution, die recht eigentlich mit dem Leben Ernſt machte, verſchwindet der vergnügte Zug in ben Geſichtern der führenden Geifter. Und dieſe Vergnügtheit hatte ihre Kehr— jeite. Die Aufllärung machte in aller Stille eine zierliche Neverenz vor dem ſchöngeiſtigen Lafter, und das Spiel mit Liebe und Sinn- lichteit war Mode unter den Leuten von Verſtand. In Deutich- tand zum mindeften war es nicht ſchwer, in den klingenden Verſen Wielands, hinter den wehenden Schleiern feiner behenden Grazien, den Altar zu erfennen, um den fie tanzten. An der Lebensans ſchauung, welche dieſe Verſe geboren, galt es die Kräfte zu meſſen, ſollie ber Tritt des Dichters wieder, wie einit, ben Boden erſchüt— teen und jein Wort Die Gemüter bewegen. Es ift ein beſchwer— liches Geſchäft, die Menjchen aus dem trägen Schlummer behag: licher Sinnlichkeit emporzurütteln und den Lachenden über die Minderwertigkeit feines Lachend aufzuklären; doch war dieſe Auf: gabe eben groß genug, um Lenz’ ganze Seele zu faſſen, „denn Vefjeln vorweg zu hauen war von Jugend auf jein höchſtes Ver⸗ gnügen gewejen“!. Er war bereit ben Kampf ‘mit der laſziv harmlofen Weltanfhauung aufzunehmen, und follte dieſer Kampf fo ausfihtselos jein, wie weiland die Rieſenkämpfe des Edlen Don Quichotte. Von Fälterer Überlegung aber als jener, erfannte er das Mißliche eines Kampfes gegen abſtrakte Anfchauungen und Windmühlenflügel und wählte ſich einen Gegner von Fleiſch und Blut. Sein ſatiriſch-literariſcher Angriff richtete ſich vor allem und zuerft gegen Wieland. In ben Briefen an Lavater jchreibt Lenz über bie Wolfen; „Es iſt Gegengift, Lavater! Das mir lang auf dem Herzen gelegen und wo ich nur auf Gelegenheit gepaßt, es anzubringen. . .“

„Geradezu läßt das Publitum jeiner Sinnesart, feinem Geſchmack nicht gern wiberipreden, man muß einen Vorwand, eine Leidenihaft brauden, font nimmt es nimmer Anteil. Und meine Kunft, meine Religion, mein Herz und meine Freude, alles

3) Zoren&glof, 5 = R. Lenz u. feine Schriften (Baden 57). Briefe an Yavater, Nr. 4, S. ») Ebenda. Pr. 3.8 18.

Safter und Leidenſchaft in Senz' Dichtung. »

fordert mich jegt dazu auf jetzt ausgelafen, auf ewig ausge laſſen! Wer erjegt mir den Schaden? Wer erfept ihn euch?... Es muß einmal ein Ende Haben oder wir arbeiten alle vergeblich und die Toren rufen laut: es iſt fein Gott!" ...

„Ihr wollt die Wolfen Wieland zuſchicken? Liebe Freunde, wo iſt euer Verftand, wo iſt eure Freundfchaft für mich? Was hab ih mit Wieland zu ſchaffen? Kennt ihr bie fühlächelnde Schlange mit all ihren Krümmungen noch nicht? Und Wieland, der euch allen im Herzen Hohn ſpricht, die Achjeln über euch zuckt unb lächelt mit dem wollt ihr Vertraulichkeiten machen, ſobald es wiber ihn geht. Liebe, liebe Freunde, überlaft mich wenigftens mir allein. Unfre Feindichaft ift jo ewig alt als bie Feindſchaft des Wafjers und Feuers, bes Todes und des Lebens, des Himmels und der Hölle... Wieland, der Menjch, wird einft mein Freund werden, aber Wieland, der Schriftiteller, d. h. der Phlloſoph, der Socrates nie!" ! Lenzs Angriff und Forderung treten uns klar entgegen in ber Gegenüberjtellung nachſteheuder Zeilen aus „Menalk und Mopfus” * und ihres Widerfpiels, der „Poeliſchen Malerei”.

Menalt: Rur Möpschen ſeid ihr doch ein wenig zu verfteft. Mopfus: Das ift daS Heiligtum der Aunft. Nur das ermedt Begierden in dem Vaud), die meine Leſer brauchen, Soll all mein Wig für fie, wie Riechſalz nicht verraugen. Da, da ſtectt das Gcheimmis. Nur geminft Wie Fügelt's ifren Stolz, Einbildungsteait, Initinft, Sic Sachen, die mein Pinfel nie kann maplen, Seldſt zu erſchaffen, mir dann zu bezahlen. Ho ha ha ha.

Poeliſche Malerei’. Ad. ihr jungen Roſen, du beblahmies Gras, Die fein Blick behauchte, ſeid ihr num jo blaf! Weffen Aug’ und Herz nicht vein, Kann der euer Maler jein?

Lenz halte das Lajler, noch mehr aber die Beſchönigung des Lafters, jene Ecjilderungsweile, die unfre Triebe als harmlos reizvolles Vergnügen, als Folgen der Unmoral, als wohlgelungene Überrajdjungen in dem jtillen Einerlei des Lebens daritellen will. eEbenda. Kr. 7, ©. 180,

2) „Menalt und Mopfus. Eine Etloge.“ (Brauff. u. %p5. 1776.) ©. IP, 3) Dorer-glofi. S. 134.

30 Laſter und Leidenſchat in Lenz‘ Dichtung.

Gr forberte als Grunbbebingung des Schaffens die Reinheit des Wollens und die Terfchmähung des Lafjiven. Der poctifche Wert des Yafeiven it gering, fein Schaden aber unberechenbar. Unſer Wünſchen und Handeln wird zum größten Teil bedingt durch den Standpunkt, welchen wir dem Laſter gegenüber einnehmen. Kein Standpunkt aber wirft anjtedender, als die Verwechslung von Lafer und Nomantif, benn diefer Standpunkt ift banal. Die Meinung, daß die heiteren Liebesſünden der Schmuck des Lebens find, findet ftets Verehrer; ftels und die Toren rufen laut: Es ift Tein Gott!

Unter dem verichnörfelten Zierrat einer genußbefliſſenen Lebensanſchauung verſchwimmen Tugend und Lajter zur Halbheit, eriticht jedes ganze Wollen, verliert ſich das Leben ino Puppenhafte. Am feinfühligen Teetiih wird das Leben zum ſchalen Noman, bar der Schalten und Schmerzen.

Ach, fo machten's wit unfre Norfahren,

Die fchwer zu Füsche und ilüetlider waren. giebien ewig, hahten fchiwer,

Hatten das Herz nie Dürfiig uud Kerl.

Weiter:

Bei euch wird die Liebe jo geiſtlich beteichen, Vlato jcbit wird tonfus bei eurem Lieben, Ar pfeift ſieis feiner uno höher hinaus,

Und pfeift fie am Ende zum Schornftein raus. Der falte Wohitend darüber bed,

Wien Schornfteinicger mit Nuß bedeckt,

Denn er weils forglam abzufhaben,

Und überläffet das Feuer den Stnaben . . 4.

Das Feuer den Anaben; die weilen Leute aber flattern den ES chmetterlingen gleid) von Blume zu Blume, fie nippen und genießen. Die Verdeutlichung diejes ſchöngeiſtigen Epiluräismus zeigt die Figur Rothes im Waldbruder?:

„Söre mich, Herz, ic) gelte ein wenig bei den Frauenzimmern, und das bloß, weil ich leihtjinnig mit ihnen bin. Sobald id in die hohen Empfindungen fomine, ij’s aus mit uns, fie vertehen mic) nicht mehr, fo wenig als id fie, unſre Liebesgeſchichtgen tige Auf ſäte von Lenz. Hrsg. von Sayfer. (Bürid 1776.) 1

„Day Side” &. >) Coenda, ©. 3) „Der Walobruder." I. 5. u. 7. Brief. Gedr. bei Zroißheim, zeng und Öoeihe (Stutig. DL) im Anfang.

Laſter und deidenſchaft in Lenz’ Dichtung. a

haben ein Enbe. Siehſt du, To bin ich in einer beftändigen Unruhe, die ſich endlich in Ruhe und Wolluſt aufföft und dann mit einer reizenden Untreue wechſelt. So wälze ich mich von Vergnügen auf Vergnügen, und da fommen mir beine Briefe eben recht, unfern eingejchrumpfien Gejelli haften Stoff zum Lachen zu geben. Es fticht alles fo ſchrecklich mit unfrer Art zu lieben ab. ... Man nötigt mich überall Hin und ich bin überall willtommen, weil ich mid, überall hinzupaffen und aus allem Vorteil zu ziehen weiß. Das lege muß aber durdaus fein, fonft geht das erte nidt. ... .

„Ich war heute in einem Beinen Yamilienfonzert, das nun vollfommen elend war und in dem du dich ſehr übel würdeſt befunden haben. . . . Und weißt du womit ich wid, entichädigte? Die Tochter war ein freundlich rofenwangigtes Mädchen, das mich für jede Schmeichelei, für jede herzlich falſche Lobeserhebung mit einem feurigen Blick bezahlte, mir aud oft dafür die Hand und wohl gar gegen ihr Herz drüdte, das hieß doch wahrlich gut gekauft. . . . So gut würde dir's auch werben, wenn du mir folgtejt; wäre doch beſſer, unter blühenden und glühenden Mädchen in Scherz nnd Freude und Pieblofungen ſich herumwälzen, als unter beinen glafirten Bäumen auf der gefrorenen Erde.”

Eine artige Satire einer artigen Denkweiſe; aber das Leben iſt nicht avtig!

„Zauffer: Im der ganzen heutigen vernünftigen Welt wird fein Teufel mehr ftatutert. . . .

Wenzeslaus: Darım wird auch die ganze heutige vernünftige Welt zum Teufel fahren. Tut nicht Böſes, tut recht, und dann fo braucht ihr die Teufel nicht zu ſcheuen!. ..“

Wer aber Böfes tut, der foll die Teufel fürdten. Mit zitlernder Hand ſchrieb Lenz die beiden glühenden Dramen des Leſters: den Hofmeifter und die Soldaten, Dramen eines Lajters, welches nicht von Papier und Pappe, jondern von Fleiſch und Blut, eines Lafters, das ſich rächt. In Nomanen und in den Köpfen der feinen Leute mögen Laſter und Größe, Laſter, Ent: ſchloſſenheit und Mul nah beieinander wohnen; bier heißt es gemäß dem Ausſpruche Rehaars: „Wer Kurage hat, der iſt zu

?) „Der Hofmeifter.” V. Mt, 9. Szene Lenz’ Geſammelie Schriften, Hebg. von Lied. Bd. I.

3 Laſter und Leidenfehaft in Sen’ Dichtung.

allen Laftern fähig.” Im der wirklichen Melt aber iſt das Laſter nicht groß, jondern niedrig, nicht ſchön, fondern häßlich, nicht ftark, fondern fraftlos. „Wenn der Kopf leer iſt, und faul dabei, und+ niemals ift angeſtrengt worben“ !, wenn der Bauch fatt it und ber Herzſchlag träge, iſt dem Lajter der Boden bereitet. In folhen: Sphären jpielen die Romane des Lafters, die nur in ihren Folgen erichükternd wirken. Held und Sphäre des Hofmeifters werben verftänbfich in den wenigen Zeilen (1. Akt, 3. Ezene):

„Die Majorin: Sie willen, da man heutzutage auf nichts in der Welt fo fehr ficht, als ob ein Meuſch fid zu führen wiſſe.

Zauffer (der Hofmeiiter). Ich Hoff’, Euer Gnaden werden mit mir zufrieden fein. Wenigftens hab ich in Leipzig feinen Ball ausgelajfen, und wohl über die fünfzehn Tanzmeijler in meinem Leben gehabt.“

Auf dieſer Grundlage entwickelt ſich die Schuld mit erichte- denber Selbitverjtändlichteit. Der neue Hauslchrer, der von allen Seiten geftoßen und gequält iſt, erwedi das Mitleid der jungen Tochter. Er verführt fie, fait ohne es jelbit zu merfen, während ihr Herz noch voll ift von der Liebe zu ihrem Vetter. Wie Elend und Schuld gereift find, flieht der Lehrer, die Tochter verläßt allein bas Elternhaus, und ihre Spur geht verforen. Aber die Erinnerung an den Kummer Ihres Vaters nimmt fie mit ſich; noch matt und erichöpft von ben überitandenen Schmerzen, macht fie fih auf, um feine Verzeiung zu erfleen. (V. Aft, 4. und 5. Sgene):

Gufihen (liegend, an einem Teich mit Geſträuch umgeben. Soll ic) denn hier fterben? Mein Vater! mein Vater! gib mir die Schuld nicht, daß du nicht Nachricht von mir befömmit. Ic Hab meine legten Kräfte angewandt fie find erſchöpft. Sein Bild, o jein Bild ftcht mir immer vor den Augen! Er iſt tot, ja tot, und vor Gram um mid. Sein Geift ift mir dieſe Naht erſchienen, mir Nachricht davon zu geben, mich zur Rechenſchaft dafür zu fordern. Ich fomme, ja ich komme.

Glafft ſich auf und wirft jid in den Teich.)

Major (vom weitem. Geheimer Kat und Graf Wermuth begleiten ihn)

Hey! hoh! da ging's in den Teich. Ein Weibsbild war's, und

1) Ebenda. IV. At, 3. Siene.

Softer und Leidenſchaft in Senz' Dichtung. 38

wenngleich nicht meine Tochter, doch auch ein unglüdlich Weibsbild.

Nah, Berg! Tas ift der Weg zu Guftchen ober zur Hölle! (Springt ihr nach.)

Geh. Rat (kommt). Gott im Himmel! was ſollen wir

anfangen?

Graf Wermut. Ich kann nicht ſchwimmen.

Geh. Rat. Auf bie andre Seite! Mid) deucht, er haſchte das Mädchen. . . . Dort dort Hinten im Gebüſch.

Sehen Sie nit? Nun treibt er den Teich mit ihr hinunter.

Nach! (Eine andre Seite des Teiches. Hinter der Szene Geſchrei:)

„Hülfe! '6 ift meine Tochter! Saderment und all das Meter! Graf! reicht mir dody die Stange: dab Euch die ſchwere Not.” (Major Berg trägt Guſtchen aufß Theater. Geheimer Rat und Graf folgen.)

Major. Da! tiegt ſich nieder. Geheimer Rat und Graf ſuchen fie zu ermumtern). Werfluchtes Kind! habe id) das an bir erziehen müſſen! (niet nieder bei ifr.) Guftel! was fehlt dir? Halt Wailer eingeſchluckt? Biſt noch mein Guſiel? Gottloje Ranaille! Hätiſt du mir nur ein Wort vorher davon geſagt; ich hätte dem Lauſe— jungen einen Adelsbrief gekauft, da hättet ihr können zuſammen kriechen. Gott behüt! To helft ihr doch; fie ift ja ohnmächtig (Springt auf, ringt die Hände. Umbergehend.) Wenn ich nur wüßt', wo der maledeite Chirurgus vom Dorf anzutreffen wäre? Iſt fie noch nicht wach?

Gujthen (mit ſchwacher Stimme). Mein Vater!

Major. Was verlangit du?

Guſtchen. Verzeihung.

Major (geht auf fie zw. Ja, verzeih dir's der Teufel, un geratenes Kind. Nein, (niet wieder bei ihr) fall nur nicht Hin mein Guftel mein Guftel! Ich verzeih bir; ift alles vergeben und vergeiien. Gott weiß es: ich verzeih dir. Verzeih du mit nur: Ja, aber nun iſt nichts mehr zu ändern. Ich habe dem Hundsfott eine Kugel durch den Kopf gefnallt.

Seh. Rat. Ich denke, wir tragen fie fort.

Major. Laft ſtehen! Was geht fie Euch an? Iſt fi doch Eure Tochter nicht. Bekümmert Euch um Euer Fleiid und. Bein daheim. (Er nimmt jic auf die Arme) Das Mädden id

jollte wohl wieder nad) dem Teiche mit dir (oehwentt fie von den Baltifce Monatsfgrift 1906, Heft 1.

34 Lafter und Leidenſchaft in Lenz' Dichtung.

Teich zu) aber wir wollen nicht eher ſchwimmen, als bis wir's Schwimmen gelernt haben, mein’ id. «(Drüdt fic an fein Herz.) O bu mein einzig teuerfter Schag! Daß id) did) wieder in meinen Armen tragen kann, gottlofe Ranaille!” (Trägt fie fort.)

Wir jehen: „wer eines Mannes Kind verlüberlicht, der hat ihn an feinem Leben angetaftet!.“

Die Grenze der Lüberlichleit aber kann nicht ſcharf genug gedacht werben, es genügt ber Wunſch.

„Prinz. Rechenſchaft, Rechenſchaft, blutige Rechenſchaft. Nehmt euren Degen. . . .

Graf. Was habe id getan? ...

Prinz. Euch der Glorie der Schönheit unheilig genähert, die Draden und Ungeheuer in cehrerbietiger Entfernung würde gehalten haben. Ihr feid mehr als ein Raubtier?. . . .“

Die Gefahr des Lafters liegt nicht allein in ben äußeren Wirkungen, jede unmoraliihe Handlung beeinflußt zugleich unfer Denken. „Wie der erfte Schritt zum Lafter, jo mit Roſen beftreut er auch fein mag, immer andre nad) ſich zieht, fo ging es auch bier. Zerbins hohe Begriffe von ber Heiligkeit, aufgeiparten Glüdeligkeit, von dem Himmel des Cheftandes verſchwanden. Die Augen fingen ihm wie unfern Eltern aufzugehen: er warb vernünftig®. ...“

Unter uns gejagt, wir find alle Kenner. Wenn wir in offenen Stunden einander ins Auge fehen, wiſſen wir nur zu gut, wie bie Entzauberung der Welt vor ſich geht. Wie ber geichehene Genuß unfre Wertihägung vergröbert, wie bas unterbrüdte Wünſchen, einen bitteren Nachgeſchmack hinterläßt, ein Gefühl ber fauren Trauben, welches das grobe Vegehren mit der Glorie des Unerreichten verflärt. Jeder Schritt ein Schritt talabwärts: immer fleiner der Maßſtab, immer grauer die grünenden Bäume, immer niedriger ber Flug ber Gebanfen, immer enger und felbft- verſtãndlicher das Leben, bis mir vernünftig find und ohne Illu—⸗ fionen; bis ber ewige Funke in unten Augen erfofden ift und unfer Laden breit und behaglich ſchallt, wie das Laden ber Philiſter am Biertiih. „Dies Gelächter über edlere und feinere

1) „Der neue Menoza.“ IT. AL, 4. Szene. (Gef. Werke. Bo. 1)

2) Ebende. 3. Spene. 9) „Zerbin ob. die neuere Pilofophie." Ge. Werte. Bd. IL, ©. 150.

Laſter und Seibenfcaft In Seng’ Dichtung. 35

DVergnügungen ift ber höchfte moraliiche Verderb, und wenn id) fo fagen darf, bie höchſte Verzweiflung. Laßt euch dadurch nicht irre machen, glaubt nidt, daß bie Leute vergnügt find, wenn fie ihr Zwergfell zum Laden erſchüttern, fie fühlen den Abſtand eures Glüdes von dem ihrigen zu qut!. ...“

Niemals aber werben wir uns über ben Pöbel erheben, wenn nicht die Ziele uns von der Maſſe ſcheiden. Das Leben ift fein Wettlauf, in welchem die größere Schnelfraft der Beine ben Ausihlag gibt, es ift ein Suden und Tajten auf vielverfchlun genen Wegen, und bie Richtung des Wollens, die Ziele ſcheiden die Leute. Mer nicht ſtillſchweigend den Sa unterſchreibt, tut nicht Böſes, tut recht; wer nicht von vornherein barauf. verzichtet, feinen Lebensdurft in den trüben Fluten bes finnlichen Genujjes zu löſchen, der trete feitab zur Maſſe. Ihm gilt der Wahlſpruch der Menge?: „Et, trinkt und fchlaft, euer Lohn iſt figer!” Und ewig wird ihm zur Antwort eine Stimme aus reineren Regionen fallen: „Euer Lohn ift Hein!” Die Stimme des Schickſals ift es, die aus den Wolken tönt, bie Stimme bes Nichters, der ihn richtet nad) feinem Werte.

Im Frühling des Lebens gleicht die Seele des Menſchen ber aufgeworfenen Erde, unaufhaltfam fteigen die gährenden Kräfte aus der Tiefe empor, und wie das Feld der Saat, harrt die Seele der Befrudtung. In diefer Zeit der Gärung entjteht der Entſchluß, unjer Leben ganz zu geitalten, die höchſtdenkbare Forz derung an bas Leben zu ftellen, nur nad) dem einen vollen Lohn bes Lebens die Hand zu erheben; erbebt die Seele unter einer heißen Lebensinbrunft, unter dem ftarfen Wollen, „das Xeben nicht zu laſſen, es bejelige uns denn?” Wir fühlen das Geheimnis alles Seienden, wir fehen unfer Leben vom Dunkel bes Tobes rätfelhaft beſchattet, wir begreifen, daß ein unerflärlices Etwas inmitten des Alltagsgetriebes dem Leben Sinn und Gehalt ver- leiht. Wir begreifen in gleicher Weife, baß in uns ein Meer von Leben verſchloſſen liegt, wir wollen den Damm zerrreißen und bie braufenden Wogen, die in jungfräulider Gewalt aus dem Kerzen

1) „Die Aleinen.” Cbenda. Vo. HIT, ©. 258. 2) „Pandaomonium germanicum.* Hrög. v. E. Schmidt. (Brin. 90.)

Seite 38. ʒ Auwils geiles Lieb." Geſ. Werte. Do. ILL, S. 27. 80

86 Laſter unb Leldenſchaft in Lenz’ Dichtung.

emporquellen, über unfrem Haupte zufammenfchlagen laflen. Mir fpüren es!:

Lieben, haffen, fürdten, zittern,

Hoffen zagen bis ins Mark,

Kann das Lehen zwar verbiitern,

Aber ohne fie wär's Duarl. .. .

Scheuen Auges bliden wir um uns, es geht uns wie Zerbin: „Er ftand wie ein Saul unter den Propheten, fobald er in eine Gefelichaft von Damen trat. Er ſah lauter überirdiſche Weſen außer jeiner Sphäre in ihnen, für die er, weil er fein einziges ihrer Worte und Handlungen begriff noch einjah, eine jo tiefe innerliche Ehrfurcht fühlte, daß er bei jeder Antwort, die er ihnen geben mußte, lieber auf jein Angeſicht gefallen wäre und ange betet hätte ?.*

Der Boden ift bereitet, die wache Seele harrt der Befruch— tung, Die Befruchtung unjrer Seele aber find Liebe und Leidens ſchaft. Das Bewußtſein unfer Schickſal aus der Hand einer Frau zu empfangen, vertieft das Verhältnis von Dann und Weib. Nicht ein Schmud des Lebens ift die leidenjdaftliche Liebe, fondern fein Inhalt. Die Idealiſierung iſt die notwendige Folge dieſes Glaubens. Zugleich wird die Hoffnung, in veiner Leidenſchaft die Erfüllung des Lebens zu finden, die Liebe vorjihtig und prüfend geftalten, denn eine Täufhung im Xiebesfpiele macht das Leben zur Niele.

„Der Ged weiß fih aus einer folchen Verſchiebung jehr geſchwind herauszufinden, an dem edlen anne aber friht fie mie ein Wurm an ber inneren Harmonie feiner Kräfte?”

Die Angſt, daß ſich die Göttin des Herzens zur banalen Sterblichen und das Gold der Liebe zu Stroh und Aſche wandeln onnte, zwingt den ernſten Menſchen den Trieb zu unterdrüden, aber täglich und ſtündlich wird er ſuchen in fiebernder Ungedulb, je weiter ver Zeiger des Lebens vorrüdt; und doch langſam und vorſichtig, quallvoll vorfihtig, benn er ſucht nicht Licht und Wärme, er fucht die Flamme. Seine Kräfte find gebunden, und einem Nachtwandler gleich geht er durchs Leben, bis ber Funfe von Menſch zu Menſch herüberfpringt:

1) „An dos, Herz.“ —X Serie. Ss.

2) „Zerbin." U. a. 9) Ebend. ©. 164.

Safter und Leidenſcheft in Lenz’ Dictung. 3

Und feine hörte meine Bitte,

Berftand mein Sehnen, meine Pein,

Mir fiebenswert, mir mas du bift zu fein. Jedt hab ich dich und ſoll did) Lafjen Et möge mic, bie Hölle faften!!

Dieſe Liebe entjpridt dem Ernſt des Sudens, fie ift uns mwanbelbar und unverlierbar :

Und will mein Herz für andern Reiz entbrennen, Und meine Liebe Freundſchaft nennen,

So itürm die Leidenſchaft wie heut bie Larv ihr ab Und jtoß wid, einen Schritt voraus ins Grab*.

Die Leidenſchaft verzehrt, fie ähnelt in nichts der ſanft⸗ gleitenden Liebe Fühler Naturen. Die tropiſch üppigen Gewächſe, die fie in phantaſtiſcher Fülle hervorbringt, find anders als Blumen und Früchte, die in den wohlgepflegten Gärten des Beſitzes wachſen glühender, duftender, ſinnloſer. Die Leidenfchaft zerreißt bie Feſſeln der Gewohnheit, die Bande der Vernunft, die flarfen Machen des täglichen Lebens, als wären es Spinngewebe, und die Worte der Leidenfchaft flingen wie Töne einer fremden Welt. So flingen die Worte Strephon’s, der fern von der Heimat feiner Liebe nadhjagt.

Strephon: „Vetter, das flille Land der Toten ift mir jo fürdhterfic und öde nicht, als mein Vaterland. Sogar im Traum, wenn Wallungen des Blutes mir recht angjthafte Bilder vors Geficht bringen wollen, jo deucht mich's, ich fehe mein Vaterlandẽ.“ Mer liebt, hat nicht Heerd noch Heimat, nicht Sippe noch Freund— ſchaft. Aber die Leidenichaft, die ihm die Außenwelt vernichtet, erfegt ihm die Freuden der menſchlichen Gefellichaft, und was mehr ift, auch die Schmerzen. Sie wert ihm in der eigenen Bruft eine neue Welt, reicher und intenfiver, vielgeflaltener in allen Empfindungen, als das reale Leben. Sein Bolt if bie Geliebte, jeine Kirche die Wildnis!

Verzeih den Kranz, den eines Wilden Hand Um dein geheitigt Bildnis wand;

Hier, wo er unbetanut der Welt,

In dunffen Wäldern, die ihn ihügen,

3) An W. Yeny’ Gedichte. ©. 190.

2) bende. ©. 107.

3) „Die reunde maden den Philviopher. Eine Komödie.“ (1776.) &. 29.

38 Laſter und Leibenfchaft in Lenz Dichtung.

Im Tempel der Natur e8 heimlich aufgeftelft. Und wenn er davor nieberfällt,

Die Götter felbft auf ihren Flammenfigen

Für eiferfüchtig Halt.

Die Kraft ber Leidenſchaft entipricht der Tiefe der Empfin- bung unb der Höhe bes geliebten Gegenflandes. In reiner, voll: blütiger Leidenſchaft wird der Gegenftand zum unerreichbaren Ideal, die Leidenſchaft zum nie gelöſchten Durft. Vor der Größe des Gewollten. verftummt das Begehren. Nicht der Befig der Geliebten, fondern das Bewußtſein ber Liebe, ber bloße Gedanke iſt Reichtum und Schidfal des Liebenden. Auf diefer Grundlage erhebt ſich die dramatiſche Phantafie „Der Engländer”, ein Stüd, das grablinig und trogig in den Himmel Gineinragt, wie ber Turm zu Babel. Es iſt eine Monographie ber Leidenschaft, die mit Liebesraſerei beginnt und ſich fortlaufend fteigert, der erbitterte verzweifelte Kampf einer großen Leidenſchaft gegen bie minzige ſchleichende Vernunft, gegen die erbärmlide Lebensweisheit, gegen Spott und achſelzuckende Teilnahme der Verftändigen. Wie Feuer und Waſſer aufeinander treffen, kämpfen in dieſem Stüde Leiben- ſchaft und Alltag. Der Engländer Robert ift ein Najender, der feine Naferei verteidigt. Die fleinen Wergnügungen follen jeinen Geift zerftreuen, in Wolluſt und Behagen foll feine Leidenſchaft erſticken:

Lord Hamilton: „Wenn nur ein Mittel wäre, ihm den Geſchmack an Wolluſt und Behaglichkeit beizubringen; er hat fie noch nie gefoftet; und wenn das fo fortjtürmt in feiner Seele, ann er fie auch nie koſten lernen?.“

Aber auch dieſes äußerſte Mittel, weldes Roberts Vater anmendet, um feinen Sohn zur Vernunft zu bringen, zerbricht an der ſpontanen Kraft der Liebe. Während die ſchöne Buhlerin Fognina Nobert das Bild der Geliebten vom Halje löjen will, entreißt er ihr die Schere und durchſticht fi die Gurgel.

Robert: „Iſt's denn fo weit! (Breitet die Arme aus.) Ich fomme, ich fomme! Furchtbarſtes aller Weſen, an deſſen Dafein ich jo lange zweifelte, daß ic zu meinem Troſt leugnete, ich fühle did).

1) „An Henriette." 2. Leny' Gedigte. ©. 204. *) „Der Engländer. Eine dramatiiche Phantafie.” (1777) IL. tt, 1. Syene.

Laſter und Leidenfcaft in Lenz’ Dichtung. 39

Du, der bu meine Seele hierher gefegt! du, der fie wieber in feine graufame Gewalt nimmt. Nur nicht verbiete, daß ich ihrer nicht mehr bdenfen darf. Cine lange, furchtbare Ewigkeit ohne fie. Sieh, wenn ich gefünbigt Habe, id) will gern Strafe und Marter dulden, Höllenqualen dulden, wie du fie mic auflegen magft; nur laß das Andenfen an fie, fie mir verfüßen!.“

Auch unmittelbar an der Schwelle bes Todes weigert er ſich das Gebenfen feiner Liebe preiszugeben. Der Beichtvater beugt ſich über ihn®:

Beichtvater: „Unter Bedingungen! Bedenken Sie, was Sie verlangen Bebingungen mit Ihrem Schöpfer ? (Robert hält ihm die Hand, er reicht ihm das Ohr noch einmal hin.) Daß er Ihnen erlaube, Armiden nicht zu vergeijen? O lieber Lord Robert! in ben legten Augenbliden! Bedenken Sie, daf der Himmel Güter hat, die Ihnen noch unbekannt find; Güter, bie die irdiihen fo weit übertreffen, als die Sonne das Licht der Kerzen übertrifft. Wollen Cie denen entjagen, um einen Gegenitand, den Sie nicht mehr befigen fönnen, zu Ihrer Marter auf ewig im Gedächtnis zu behalten.

Robert (hebt das Bild in die Höhe und drüdt es ans Geſicht, mit äußerfter Anftrengung Halb zödelnd): Armida! Armida! Behaltet euren Himmel für euch.“ (Er ftirbt.)

Die Flamme der Leidenjhaft reinigt unfer Weſen von ben Schlacken des Alltags, Schnörfel und Beiwerk ſchmelzen in ihrem Tiegel, und der Menſch wird ganz. Ja, eine Flamme ift bie Leidenſchaft! Eine zitternde Flamme, aus Wille und Sehnen geboren, und auf ihren brennenden Flügeln trägt fie die Seele des Menſchen empor zu den Gejtirnen.

Je Höher der Flug, defto tiefer der Sturz, die Götter bulden feine Genofien?. Die Leidenſchaft, die uns über Zeit und Naum hinwegfegt, die uns in jtolger Selbſiherrlichteit an die Seite ber Götter ſieilt, ift zugleich unfer Verderben. Das ſchwache Gefäß vermag die Glut nicht zu ertragen. Darum lachen die Götter der Toren, ber fi) ihresgleichen dünkt, nur weil er ganz iſt und feine Furdt mehr fennt. Sie ſpotten und vernichten.

1) Gbenda. V. At, 1. Epene. *) Ebenda. %) Dal. „Tantalıs." Lenz’ Gerichte. S. 1-13.

40 Laſter und Leidenſchaft in Lenz’ Dichtung.

Es iſt aber beijer eine kurze Zeit ſich einen Gott zu bünfen, als fein febelang den Kopf zur Erde zu hängen. An unfrer Wiege fteht das ſchreckliche Gericht Gottes. Mögen wir dieſem Gericht verfallen, nicht weil wir zu flein gedacht, fondern weil wir zu groß gewollt. Das entipridht der Würde des Menſchen.

Wenn es von Lenz fo häufig heißt, dab er ſich nicht zu zähmen wußte, jo jollten wir des Spruches gedenfen: Im Kriege ſchießt man mit Abſicht auf Leute.

Er wollte ſich nicht zähmen. Er vergötterte die ſchrankenloſe Leidenſchaft. Und tatjächlid” war ihm das Leben Leidenſchaft, und die Leidenschaft fein Leben. Zugleich mit der Liebe zu Henriette Waldner verſank aud) fein Dichten in Nacht:

Wenn die ſchoͤne Flamm' erlöſchet, Die das all’ gegaubert hat, Bleiben Rauch und Brände ftehen Yon der föniglicen Stadt.

Rauch und Brände! Aber noch glimmen unter der Aſche die Kohlen; und wem cs falt und froftig zu Mute ift in unſrer ſchlaffen Zeit, der möge herantreten und ſich wärmen. Sein Blut wird ſchneller wallen und jein Haupt ſich jtolzer heben, wie einft Senz wird er veräghtlich herabbliden auf dieje graufig fpießbürger- liche Welt, er wird... .

Indeſſen, dem iſt nicht jo! Ich leje im Leffing: „Peterfens Stimmen find gar bald verachtet und vergefien worden. Denn Veterjen war ein Schwärmer !“

So iſt es.

1) geng' Gedichte. ©. 120.

Bas du mid gelehrt.

u

Liebe iſt Verſtaudenſein,

Kraft und Stolz in Demut,

It ein für Vorhandenfein

Von Unruh, Ruh and Wehmut

It ein wortlos fühlend Sein, Suchen und jtet3 Finden,

Iſt ein Herzichlag tief zu zwei'n, It das Gleichempfinden

Fit ein leidenſchaftlich Glüct, Nein and Feufeh Ergtühen,

It ein Vorwärts, ein Dit ein Eöftlih Mühen

It ein Jauchzen ſel'ger Luft, Iit ein froh Entjagen, Lächelud Dulden, ftill, bewußtt, voffnung · freudig Tragen Iſt ein Stab in bittrer Not, Inmergrün anf Erden,

In ein Wachfen bis zum Tod, Sit ein Reifertwerden

Fit ein heil'ger Hoffuungsreit Trauenleicht im Herzen, It ein Glaube fetfenfeit Über Grab und Schmerzen. ©... ©.

ecrologium balticum 1904.*

Agtde, Edmund Aug. Behſuchte das Nig. Polytegmifun, Frat. Balt. War Direktor der Stahlwerle in Ditrowieee, in den lepten Jahren Ingenicure Chemiter in ga. +8. (21) Mai in Mentone,

Loaltenau in &., 48/56 Gymn. zu Witau, ſtud.

61 in Dorpat (FOIT), dann in Petersburg u. Mostau.

Vuchhändter in Mitau. Hat fidh als Verleger vieler let. Bücher,

3. %. aud, als Überfeger um die Iextifce Literatur verdient gemacht. F 14. De.

in Diitan.

Anders, Friedtich, Dr. med., *69 in 2., ftud. feit 88 an der Sanbesuniverfität (13,665), jeit 95 praft. Irzt in Riga. } dajelbit 23. Nov.

v. Audreae, Nilolai, *23 in Poltama, ftud. Dec. 43/9 (4456). Seit 54 Befiger von Müplengof in 2. + 6. Febr. in D.

Armitend, John Williom, ehem. Groffaufmann u. Induſtrieller. *20. oo. 20 in Miga, übernahm mit feinem Bruder James 48 die Firma Mitdel u. Ko-, begründete Ende der 5er Jahre mit demjelben eine eigene Sägemühle und Varquetfabrit; Mitgründer u. Direftor der 9.Ö. Nig. Wapierfabrifen u. der Diünaburg-Witebsler Eiienbahn. Seit SL Befiyer des Gutes Hindieln in 8. +2. Juli in Dubbeln,

Auning, Otto, stud. jur. Liv., Sept. 81, 4 27. Sept. in D.

Auzeneek, Andreas, Dr, med., [it einigen Jahren Sandart in Apriten und Umgegend in 8. 28 3. a, } 28. Mal.

v. Bad, Eduard. 733. F 18. Jan. in Riga.

Baekmann, Woldemar, Oberlehrer *38 zu Cremon-Pait. Alban fule in Engelhardshof, Virlenzub; ftud. Phil. u. Ifeof. 56/00 Yehrer der beuticen Sprache und jeit di Infpetiorgepllfe an der Peirifule in Wetersburg. F 20. Gebr.

Baelge, pur, Dr. med., *51 in Neval; ev. Oymn., ftub. 70/5 (81 Eston.), dann in Wien. "Seit 70 praft. Arzt in Neval. + 26. April in Riga.

Bah der, Joh. Friedr., Stavtiekcerär zu Goldingen. } 16. Juli in Riga.

Bahflad, Grit, Goldſchmiedemeiſter in Riga. } 20. Aug-

2

*) Die im Rekrologium angeführten Daten find in möglichit abgelürgter Geitalt wiedergegeben, fomeit fie im Album acad. zugänglich find. Die in Nammern ftehende Zahl it die beir. Nummer des Alb. and. Das * bedeutet: geboren. %.=&ivland, E.=Eitland, 8. = Kurland. D.= die Univerfitäts, ftabt. Der Sterbeort üft nur bei denen angegeben, die nicht an ihrem Iehten Wohnort itarben. Das Jahrhundert üt bei den Qabresjahlen nicht angegeben.

Necrologium balticum 1904. 43

Walter, Friedrich, ehem. Telegraphencheſ. 55 3. t 22. Gebr. in Kiga.

Baumann, Karl, befannter leiuſcher Romponift, * 29. Upril 35 in Heinrichshof bei Wiltenhof (2); Lemfalfche Kreisfhule, Paroialleprerieminar in Walt; 56 Qauslehrer; feit 58 Lehrer in Petersburg, (Reform. Kirhenfgule, Emolna: Iaftitut). Qebte nad; feiner Benfionlerung in Semfal. Cr ift der Romponiit des Iett. Rationallicdes „Deeiws mehti Satwiju“ u. and. ſehr populärer Lieder. +38. Dez. in Lemfal.

Baumbad, Ritolai, Dr. med. StR., *31 in R., ſtud. 52/57 (6887). Marine arzt, zulegt in Aronitabt. + 4. Mai in Mitau.

Behrmann, Theodor, *36 in Hg, ftub. 01/8 (7392), Cand. chem. Seit: 68 tedn. Direktor der Zementfabrif in Poberaa bei Rige, der erften Rublande. Tai, —* Jehireicher Dereine, Begründer des Nig. Pagtklubs. 17. April.

Dr. med., *65 zu Nerft in R.; Birtenruh und Gymn. zu D.; ve like (12,955. Car.). Sandarzt in &., ftub. dann im Yusfande; fcit 75 praft. Wrzt in Riga. } 13. April,

BeAdorn, Wilhelm Ferdinand, Bughändler. *8. (20) Oft. 28 in Hamburg, erlernte den Buchhandel bei Yofimann u. Campe in feiner Zaterftadt; AT Sehitfe, dann 50 Affoifie von Karom in D.; übernahm 57 die Repperfche Bucdandlung in Ditau, bie er endlich nad) Ljähriger Tätigfeit feinem Rad: folger 3. Wafjermann übergab. $ 6 Febr. in Mitan,

van Beuningen, Nitolai, Fähnric im 8. fiir. ofatentegiment, fiel 20. Aug. in der Schlamt bei Liaojang während des Nüdzuges des Generals Orlom bei Jantai.

BittenBinder, Kacl Johann, Urvendator des Kronögutes Gehen in K. } 17. Juli.

Dteffig, Alegander, *59 zu Piel in 2.; Privatanftalt in Virlentuh: ftud. Died. 8/80 (10,352. Liv.); 83/4 Sorftafademie zu Iyarand; 84/90 Oberförfter. Benirtfcaftete feitdem das väterlide Crögut Namelspof bei Menden. + dafelbit 8. Sept.

Zstaßn, Sa, Dr. med. "12 in Witan; Gym. zu Ditau, fu. 315 (2000,

Car.). 37/92 Arzt in Mitau, 40/74 au) Brunnenarzt in Baldohn. 1886 Ehrenmitglied der Kurt. Gef. f. Lit. u. Kumit. + 7. Dit. in Mitau.

v. Bodisco, ——, Rittmeifter bes 51. Tſchernigow. Drag Reg. F am Typhus in der Manbicurei,

Boenke, Ernſt, weil. Bevollmädtigter der gefl. Kreubſchen Güter im Gouvern. Komno. + 12. Yug. in Siban.

Boetier, Bernhard, Dr. med. *70 in D., Cohn des Prof. Arthur B.; Rollmannfches Oymn., ftud. 88/94 (13,777. Cur.). Sieh fich nach weiteren Studien in Magdeburg, Leipzig u. Wien als Arzt in der Wateritadt nieder. Vegab ſich mit der von Prof. Zoege geleiteten Kolonne der Kaiferin Maria auf den Rriegsichauplag, von wo er überaus (ebendig geidrehene Kriegäbriefe an die „Dünasig.” fandte, die dann auch, in Buchform erfcienen. F am Tophusin Jmanpo in der Manbfehurei.

». Boelticer, Theodor Phil, feit 59 Befiper von Spirgen in K. 71 J. a. + 14. Juli in Spirgen.

v. Bod, Wilhelm, Dr. WER, *24 zu Vornhuſen in 2., flub. Med. 43/8

(4531), Dr. med. pt im Ctaatsdienit in verjdied. Stellungen, 57/80 in

Wariau. Rahm 80 jeinen Aofcied und lieh ſich in D. nieber, mar hier

Präjes der täblijden gegen. Feucrafieturanz-Cei. und 91/8 Stadtyaupt.

+20. April.

BraunfGweig, Mori, Dr. med., *10. Sehr. 70 zu Riga; Stadtgymn.;

ftub. 91 1/93 1 in D., dann an der milit.nmed. lad. in Petersburg. Nahm

99 teil au der Betämpfung der Tpphusepidemie im ‚Conv. Wjatla. Kurze

4 Neerologium balticum 1904.

Zeit Ordinator eines Dragomerregiments, ſodaun Marincarzt, zuerft in Aron .

dt, dann In Wladimoitof. ‚iel auf dem Kreuzer „Rurit“ 1. Ang. in der Scejcpladht bei Ulfan.

Brieger, Heinr. Aolj, Ül. der Rig. St. Johannißgifde, Begründer der Seifen: und, Borfümeriefabrit. Stabioerorbueter; 2% 3. Tang Vermaltungsglich und

der 2. Bel. gegen). Verficerung gegen Feuer; lied. der

m des Nig. Onporhetenvereins. SU. a + 18. Mal.

v. d. Brinden, Mar Bu. *50 in R., ftub. Jur. 73/82 (10,308), Cand.

3,6 Setr. des furl. Oberhofgerichtb. Befiger vom Neumaden in R., bis 94 Kurator des Stiftsgus DBrind-Pedwahlen. + 19. Mai in Mitan.

v. Budderg, Leonhard Bn., Majoratsherr auf GarpenGrüggaln-Valtenfee in g. #20. Jan. ÖL, Juli zu Garden.

Earoe, Anton Ferd. Arel, Kaufmann, *49 in Dänemark, kam in den TOer J. nach ige, jeit 82 bei der Firma Helmfing u. Grimm, deren Witteilhaber feit 96. Direftor der Huff.balt. Dampfihiffahrtsef. u. der Nig. Scmells danıpfer-Oel... die auf jeine Jnitiative begründet wurden. Cr war aud) der meitbfidende Schöpfer einer der größten Unternehmungen des ig. Dandels des Exporis fibirilper Butter im Tranfitverfehr AurganCondon. F 18. Juni in Riga.

Eonradi, Moriy, Paſtor emer., *21 zu Sallgaln in A. Gymn. zu Mitau, ftud. 415 (4177). Vauslehrer in Petersburg. 47 Bator-Aoj. in Amboten, Sept. 48 Gorde-Div.rPrediger und %. an der Kchufiegie in Petersb., 0/92 iett. Preb. an der Yunenlicche in Mitau. + dajelbft 27. Mai.

v. Eube, Yitolai, Marinelutmant. ?76. Abjutant des Geoßfärften Airill. + auf dem Panger „Petropanlonst” 31. März vor Port Arthur.

Padier, Sitolai, chem. Lehrer an der ig, ftöerifhen Sohannisjanile. 63 3. +25. Mai in Kige.

If, Epriftian Joh. *39 in Neval, ſchwed. Aitammung; Rev. Gymn.; wurde

eemanm. Gründer und 30%. Seiter der Navigationsichule zu Yaynalcı, feit_93 Direftor der Jlavig.-Scule in Libau, die unter ihm bedeutenden Aufihmung nahm. Berf. eines Lchrbuds für Ravig.-Scjulen, des eriten im ruf. Neich. 7 27. Aguit in Cibau.

Danziger, Alexander, Befiper einer 60 von ihm begründeten Dampffärberei, in der er zulegt über 200 Mrbeiter beicäftigte ept. in Berlin.

v. Dedn, 4%, Kapitän im 2. Dageitanfchen Regiment. F I Oft. in Charbin.

r. Deutſch, Woldemar, *37, itub. Med. mit Unterbrechungen 58/00 (8020). Praft. Mizt in Moslau. dajelbjt 2d. Kon.

v. Pilfmann, Woldernar, Dr. med., *43 in %, ftub. 91/6 (7313). Praft. Arzt in Peleröburg. F dafelbit 20. Juli

Podbert, Julius, WS, *32 in 2., jtud. Jur. de ed.Äuth. Gen.Konfiitoriums, aud des Peı +31. Mal in Dubbeln.

v. Dunten, Paul Graf. *33, jtud. Ram. 62/5 (5958). Belleidete vericiedene diplomazifche Poften. Gutsbefiger in Livland, Rurmis, Zoegenhof, Taubenhof deit 91) und jeit 94 Majoratsherr auf Schloß Kartus. + 20. Auguft in Zoegenbof.

Engelmann, Guſtav Adolf, ebem. Vuchhändler. 65 J. 20. Oft. in Riga.

Faßrdab, Job. Georg, *1. Oft. n. St. 28 in Heidelberg; jeit 40 in Riga. 66 Dodmann, feit 03 Nlteiter Groier Gilde; Generalagent des Huffifcen Mopd in Kiga. | 28. Jan. in ige.

Falk, 2, Baur, Dr. med. W *12 in Neval; Rev. Gymn., jtud.

tan.; war der älteite noch lebende Bhilifter der Gt.) Arzt

im Stansvicft im Sunern des Reis; EU/SB ci. Mebizinalinipektor- in

Reval, wo er ſeudem als Privatmann lebte. } 8. März.

/6 (5011), Cand. Setr. henvats in Petersburg.

Necrologium balticum 1904. 45

Deöf, Karl, *53 in C.; Revaler Gymn., ftud. Med. 749 (M546). Wurde Geichäftsführer der eitl. Gouv.Negierung, jeit 85 einige Jahre ftello. Rebatieur der SER GonneBig.” Yehte dar als irivtmanıı, Mierarfe tätig, In Hera, # dafelbit 21. Nov.

v. Ferfen, Hermann Bn., Oberſt. 71 I. + im Auguft in Shitomir.

Fiedfer, Alfred, Abteilungschef des kurländ. Kameralfofs. 88 I. F 4. Des. in Diitan.

v. Firds, Olga Boronefic, *16, in weiten Kreifen Aurlands, namentlich in Diitau befannt durch ie außerordentlicks und Gingebendes Mieten auf dem Gebien der Mopftätigkeit. F 13. Dez. in Mitan.

v. Firds, Emil Bin, feit 5) GErbherr auf Strasden in Aurl. F 1. April in

traßden.

wetin, Anl, *

in Sedemannsbof (2.); Privataymn. in Birkentuh; * Bhit. u. Theol. 57/00 mit mieheſahe Unterbrechung (6707. Lin); Daustehrer in Ute, 69/75 Lehrer am den Kreisfaulen in Wenden und Malt, 75,8 Kreisichulinipeftor und 79,92 Leiter einer Privattöhterihule in Fellin. Lebie feitdem als Borjtcher einer Anabenpenfion und Lehrer in Riga. +26. Juli in Walt.

Srederking, Alcrander, SR, *41 in 2, Pharmazeut, jtud. 62/4 (7457), 6/92 Befiger der Schwanapothete in Hige. Cchte feitdem in Or. Sichterfelde bei Berlin. F dafelbit 2. (15.) Oft.

Premmert, Hugo, Dr. nied., geb. cn. 32 in €., Neo. Cymn., fhub. in Mostan, wo er einer längit micht mehr beitehenden deutichen Studentenforporation angehörte. Dann prakt. Arzı in Perersbucn. + dafelbit

Streymann, Oster, praft. Arz lud. fit 88 1EBST). +2. Non. in dis

Steymulh, Ewald, Älierm. Bir. pr. 16 in Sapfal, wurde Kaufmann in D., wo er Anfang der 70ce 2. sin eigenes Manufafturgejchäft begründete; über 30 3. Altermann Or. Gilde; Stadiverordneter; viele Jahre Tirchtor der „Dorpater Banl“. Hodwerdient durch feine unermüdliche Arbeit auf fommu« mafem Gebiet. F 8

Fromm, Johann Yeinr., #14. Aug. 12 in Thula in E. Kreigſchnle in Rev«.

2 Hauslehrer, 33/86 Schrer der AronssElementarihule in Nige. Murt nal Umwandlung der Anitult in eine ruffüice Rarocialfdule mit 90 3t Venfion entfafien. In ungemöhntichem Make philanthropiüch, tätig. folanze feine Kräfte nur vorgielten. Ehrenmitglied der fit.praft. Bürgeroerb., de Vereins gegen den Vettel und des Diafoniffenvereins. 73. April.

v. Frand, Georg In. ; 22. Sept. in ige.

Gaeldgens, Karl, *62 zu Stomerjee in 2. Pirtenrub; ſtad. 82/0 (11,470. Liv), Cand, oee. Zandmiet in %, fe HH Obervermalter von Mojel und Zreppenhof. ; 14. April bei Treppendof. Lernnglücie durch einen Sturz mit dem Wagen.

». Gernet, Nitolai, } 3. De. in Reval.

Haile, Andrcas, ftud. Math. 80 ff. (11,04%), Cand. Witarbeiter der „Norblivt. 3” 483. +4. Jam. in T.

v. Gersdorfl, Ferdinand, } 8. März in Peiersbun

Hirpenfohn, Mielm, Dr. med. WS, *

Darincargt im verfd. Stellungen, feit —* in Nifolajem. Rahm 51 den Abich +10. April.

Goch, Hugo, SR. vraft. Arzt, *30 in Riga; Nig. Cow.-Cpmr., find. 50/54

. 59/02 rzt in Mostau, jeirvem in Peiersburg. F duielbit

„u D., stud. ABEL 3 Medizinalapef der amd iebie jeitocun

31, Auguil.

460 Neerologlum balticum 1004.

d. Goht, Doler Wilh, GehR. 60 I. F 3. Auguſt in Reval.

Hräßner, Ferdinand, Dr. med., *54 in Weißenftein; Nev. Domfdule, ſtub. 74/81 (0576. Eston.), dann im Ausland. pt in Moslau, Peteröburg 85/91), Jalta, Cannes. Juli in Odeffa.

Hroh, Aug. Wilhelm Fr, 73-03 Beamter der Rigaſchen Steuervermaltung. Rolf. 73.3. FR. Dog. in Nige,

Hueride, Hermann, Dr. phil., ehem. Lehrer an der Stabttöchterfchufe zu Riga. + dafelbit 24. Febr.

». Hufen, Mor, Chemiter, * in 2cal, ftub. in Deuilchland, war in veric. Sabriten Sübrußlands tätig, dann Direktor der Shufomichen Lafelinfabrit in Petersburg; feit 08 auch Direftorfand. der Typographie-Aftiengef. „Derold". +22. Nuguft in Seal.

». ——— in Mosfau; Mffeffor des Grobiniden Kreißgericts, dann 30 Jahre lang Friedenrichter des Schaufenichen Rreifes. CEhrenfriedensrichter des Mitaur Bausteihen Kreifes. Seit O1 Direftionsrat des Furländifcen Arcbitvereins. + 15. Roo. in Mitau.

v. Kahn, Ernft veonhe Aler. 50 I. + 20. Juli in Reu-Loewel auf Defel.

v. Hahn, Gugen, Bn., Dberitleutn. der Artilerie 0. D. + 30. Nov. in Rign-

v. Hahn, Rudolf, Mlziiebeamter, ält. Gehilfe des Beyirfsinfpeliors in Riga. 51.3. +28. oo. in Kige.

v. Handtwig, Rob. Magnus. *27. März 30. f 26. Jan. in Reval.

v. Sarten, Eduard, Gen-Major. + 20. April, beerd. in Keval.

Hartmann, Wilfelm Sudwig, *24 in D., ftub. Phil. u. Tfeof. 44/8 (4659), Borp. VogteigerichtSardhivar bis 86. Lebte verabihiebei in D. + 25. März,

Saſenduſch, Balthafar, *34 in E.; Pharm., ftub. 57/0 (6750). Yrovifor in Heval. + 2. DA. in Orel.

Safenjäger, Robert, Raltor erucr., #34 zu Kofenhof in 2.; Rig. Goup. Gymm. Yauslchrer; ftud. 55/8 (6394. Fr. Rig.); feit 80 Infpeftor, 66/70 Direlior des Wiedemannfeien Gynmofiums in Velersburg. Seitdem dafelbit Baftor, 75 biß Sept. 1900 an der Natharinentirde. Blieb aud als Emer. gemein,

nüig tätig, fo mod) zulept al8 Sefr. deß enang. Felblagaretis. Seitele auch, bie Snieina der Kinder des 1902 + Bringen Albert von Sadhfen-Yltenburg +2. Behr.

v. Helmerfen, Ludmig, *43 in Breft:Litomst, ftub. 05/7 Mincral. u. Pol. Det. (7979 [Liv.)); feit #8 Direktor der balt. Bahn-Gejellfhaft, HofR. + 29. Day.

Senrich, Emanuel, *44 in 2, Pharm., ftud. 08/72, 74/7 (8500). Provifor. Seit 81 Aporheler in Salismünde. + dafelbit 2. Yuli.

». Sepking, Paul Sehr, Kapitän im 11. Oftfibir. Schühentegiment. 38 3. Fiel in Bort Arthur.

». SepRing, Alfred Pn., GehR, *13 in A; Schufoforta; ftub. in Berlin und 33/6 in Petersburg Jur. Ging 37 als Cupertargo eines Schiffes der tufl.samerif. Rompagnie am die Nordweitfüfte Nord«ttmeritas; 30 Glied der Kommilfion zur Überführung der Aronsgüter ins Domänenreffort in Mitau; 41 Setretär der Hol. Gouv.-egierung für die ruff. Abteilung; 44 ftelloertr. tiot. Gouv.‚Profureur; 58/85 Lige:Couscrneur in X. Lebte jeitber in Riga. + 15. Roo.

Hirſchhauſen, Leonhard, Dr. med., *56 in E., ftub. 706/84 (9089). Seit ca. 86 Arzt im Wefenberg. + 7. Behr.

Hirſchowit, Salomon, feit 52 Rabbiner in Goldingen, auch, als Gelehrter tätig. 88 3. }4. Mai in Golbingen.

‚Necrologium balticum 1904. 47

Soedtbaum, Konftantin. Profefjor Dr., #49 in E; ftud. Geſch. 68/0 (8305), dann 6i8 71 in Göttingen. 71/85 Bearb. bes” Hanfifchen Urkundenbuchs, 75/80 Privatbogent in Götlingen, 80 Stablarhivar in Köln, fpäter Prof. in Gießen. Xervorragender Kenner der Hanfeatifchen Gefchichte und vieljach verbient auch um die baltifche Gefcichtsforfcung. F 20. April (3. Mai).

Soffmann, Hugo, Bropft, *48 bei A. StMarien in E.; Rev. Gymn.; ftub. Zheol. 63/8 (7723. Eston.). Ceit 70 Paitor zu St. Jatobi in E., feit 91 Propft in Wierland. f 15. Jan, wurde ermordet.

v. Kofl, Hermann, Prof. Dr., *41 in Fellin, Schmidtfee Anftalt, ftud. bei. Geich. 60/3 (7277. Liv.), dann im Ausland. 67/72 Journalift in Rew-ort. 72 Prof. in Strafburg, feit 74 in Freiburg i. ®. 80 forreip. Mitglied der preuß. Aad. der Miffenfh. Bekannt durd) feine Studien über ameri. Gedichte. } 20. (7.) Jan.

v. Soffi, Balentin, Dr. med., *39 in Fellin; Schmidiſche Anjtalt; ftud. 57/83 6651. Liv.), dann in Wien und Berlin. Geit 69 praft. Arzt in Riga, Spegialift für Nervenheiltunde. geiter der 84 von ihm begründeten Nerven: Heifanftalt, der erften im ruff. Reich. Überaus rege beteiligt an gemeimüßiger Hommunaler Mebeit; Iange Jahre Ofied de8 engeren Arcijes der liter.‚praft, Vürgerverbinbung, endlich deren Ehrenmitglied; Glied der ftädt. Santtäus: tommiffion und des Direftoriums der Ferienfolonien. War au an den Arbeiten für die Gründung der of. Zentralirrenanftalt beteiligt. Siterarifc)

+ 24. Juni (7. Juli) zu Seis in Tirol.

SKöpker, Heinrich Euard, Alt. Or. Gilde, *35 in Mitau; Vetersb. Kommerz: fchule; begründete 82 in Riga die Firma ©. Höpfer u. Xo.; war 30 9. lang Vorfteher der Johannistiche, 25 I. Tircttor des Rig. Ges. u. Wafferweris, 12 9. Direftor der Dißfontodant. F 24. Sept. in Kiga.

v. Hufen, Auguft, chem. (lebter) Bürgermeifter von Aeval, *7 Nov. 23 in Reval; Domfchule; ftub. Zur. in Petersburg; Wdvotat dajelbit, zog in den 0er I. nadı Reval, 69 Natsherr, 78 Stadirat, dann Vürgermeifter; firdelte 85 nach Graz über. + dafelbit d. Juli a. St.

v. Zgelllroem, Julie, Gräfin, geb. v. Baumgarten, feit 76 Äbtiſſin des adligen Fräufeinftifts in Sellin. *6. Oft. 27, #3. Dez. zu Sellin.

v. Iung -Stiing, Clife, *9. Auguft 29 in Riga, Tochter des Cono.Pofts meifter8 Sriedr. d. JSt. und Enfelin des befannten Scheiftitelers Yeinric) Zung-Stilling. Vildete in Dredven ihr Zeidentalent aus, unterrichtete dann lange an verfch. Rig. Mädchenfchulen und begründete 73 eine eigene Zeichen, fhufe, daneben unermüdlich im Jungfrauenverein wirtend, wo fie feit 82 dem Vorftande der Gemerbefchule präfidierte. + 10. Juli in Petersfapelle.

Zürgenfoßn, Bruno, *58 zu Koblhaufen in 2. Dorp. Gumn., ftud. Zool. u. Med. 77/83 (10,204. Liv.) Ging 84 nad) Amerita; befuchte die Arztichule in Chicago. Seit 87 Aryt in Pirtsoille, feit DO in Manawa (Wisconfin). Mitglich verfch. miffenfch. Vereine. + 19. 6) Dig.

Anehldrandt, Karl Aug. Walter. 22 I. 22. März in Cholm.

Kadn, Heinrich, chem. Ältermann des Furländ. Müleremts. + 28. März in Gr..Edau.

Katterfetd, Heinrich, Dr. med. 85 3. + 15. Oft. in Tucum

Kerkovins, Ludwig Wilg., dim. Rig. Stadthaupt, *21. Febr. 3 71 Kaufmann 1. Gilde. 74 Natsherr, befleidete als folder eine große Zahl von Xmtern. 78/90 Gtadihauptfolfege, feit 19. Juni 90-02 Stabipaupt. +5. Jufi in Riga.

v. Keyſerling, Heincich Graf, Erbhere auf Groeſen in st. FR. Apr. in Groeſen.

Alemm, Karl, *11. April 21 in Reval; in Deutjchland Vegründere

5 mit feinem Bruder Otto in Higa eine Unftalt für Turnen und Heil,

48 Necrologium balticum 1904.

die erfte in ihrer Art, die er (bis 70 mit dem Bruder) bis 99 itbegründer der Freiwill ‚Feuerwehr und des criten Aonfumpereind.

v. Anoreing, Lijubim (orth.), Marineleutnant, *77 zu Uddewa in Eftl. 96 Widipipman, O1 Leutnant, feit 03 Artifferieoffizier auf dem Panzer „Retro pawlowst", auf dem er ſchon feit 99 in See war und an den Kämpfen in China Anteil genommen Hatte (god. Säbel für Tapferleit). + auf dem „Petropamlowst" 31. März vor Port Arthur.

Arorpfh, Abert, #20. Auguſt 27 in Mittenwalde, feit 64 Inhaber der alt: tenommierlen Neitauralion und Konditorei „A. Arocpfd vorm. Gaviczel“ in Riga. + 19. Jan.

Arufe, Wilhelm cannot, Lehrer der ig. Iafobi + Kircenihule. 24 9. alt. 414. Nov. in Bullenhof,

dv. Aügefgen, Yaul, Redakteur der „Ct. Peteröb. Zug” “43 in Weſenberg. Sohn des Malers Konftantin v. .; Revaler Tomichule, Perrifhule in Peters: burg, Dorpater Oymu.; ftud. Thcof. 1. Aur. 63/70, Cand. (7005. Esten.). Sournalift; 70 an der „Rev. tg." TH/TE Ned. der „Nord. Brefie”, feit 74 Rev. und f Petersburg.

Kühn, star, * (6386. Liv.) Rreisichulinfpeftor in Wolmar, Seitdem Privarın. in Hige. + 5. Sept.

Aüßert, Heinrich, Oberförfter. + 17. Jan. in Neval.

Kurrißoff, Andreas, #48 bei Fellin. ftud. Theol. 00/74 (8015). T5/ML Paitor zu Turgel in ©. Lebte jeirdem als Privamann in D. Cr wur einer dir erften bewulst national gefinnten Ejten umd gehörte zu den Begründern des Nereing ftudierender Eften. Macte fih um Die eitn. Literatur durd Überjegung von Gocthes „Hermann und Dorothea” verdient. 13. Ju

Kuppit, Johannes, Yandwirt, Veſiher von Neu-függen in & *11. 2 #7. April in ReurRüggen.

Aursk, Sconhard, Kapitän des rufiiich-baftiicen Vergungsvereins in Neval. #13. April in Port Arthur.

Ausmanoff, Theodor, chem. Dorp. Stadtverordneter. 74%. F 11. Yan. in D.

Saafand, Johannes, *34 in &., jtud. Med. 56/62 (0495). Azifebenmter. + (bereits a. D.) 5. Auguft in Grodno.

Saiming, Nifolai, DOberit, #47 in 2. im Walkichen Kreife, leit. Rationalität, Ggmn. zu Neval, Wurde Offizier, nahm tcil an der Erpedition gegen die Sorzen im Tergebiet, und die Ayaltetinzen, 1900 Cberjt, 0 Kommandeur des 11. Oftfibir. Schügenregimenis. Siel 18. April in der Scplacht am Jalır.

Sandefen, Robert, Paitor, * 03 in Torma in 2., Gymn. zu Dorpat, jtud. 84/9 (12,439). Hilfspsed. in Hauge, dann in Zellin; jeit 91 Paltor in Zurgel.

+3. Mai.

Langer, Mobert Herm. el, *35 in &., Pharm, ſiud. 60/1 (7209). 67/91 Apotfeter in Higa. 7 1. Dez. in Riga.

Sanfenfeldt, Ariebric, *61 in Kabillen (R.), Gyuin. zu Goldingen, ftud. Ned. u. Eyem. 82/9 (11,712. Car). Scbte eine zeitlang in Yigat (%.), nahm D4 an einer Walffiichfängererpdirion von Yammerfeit aus, I an der des Ötafen Heyferling im Vehringsimeer weil. Lebte jeirdem in den oftafiat. Hafenjtädten, leitcie eine Tranfiederei auf Saalin, war zuleht Inhaber einer Drogerie in Dalny. F dafelbit im Januar.

Aichteuſtein, Karl Gottl. Ludw. *27 in #., Pharmazeut, ftud. 56/86 Apotpefer in Pajenpoth. F 15. April in Goldingen.

78 au) Herausgeber der „St. Peteröb. Big” 7 5. Oft. in

ſtud.

mit mehrjähr. Unterbrechung, . im Junern des Reichs; 73,77 ipmu.Xchrer in Kiga und Pesfan.

12

Necrologium balticum 1904. 4

Kleven, Conftance Fürftin, *30. Oft. 37, Leiterin der von ihr gegründeten Vorbereitungsfchule des Sig. Jungfrauenvereind. + 9. Jan. in Riga.

v. SifGewitfh, Matthias, vercib. Rechtsanwalt. 51 3. } 3. Non. in Riga.

v. £oewentfaf, Friebr., Journalift; 85 f. Rebatteur ber „Land- u. forftmirtfch. 3ig."; feit ca. 95 im Ausland, Herausgeber der „Deutihen Marie“ in Berlin, Mitarb. der „Preuß. Jaheb." ufm. + 8. Febr. (26. Jan.) in Nizpa-

Aoff renz, Frau Olge, geb. Aſcharin, Direltrice in Real. + 25. Mai.

Koßrens, David Lubi... Ültefter der St. CanutisBilbe in Reval. + 28. Aug.

Aorch, Friedrich, Kaufmann, Ältefter Gr. Gilde, ſtammte aus Deutfchland, kam ca. 80 ins Sand und übernafm in Riga die von feinem Bruber begründete iema ©. Lord) u. Ro, bie er bald durch feinen Unternefmungsgeift zu großer Blüte brachte. f auf einer Reife in Moslau 15. Oft.

v. Füdingfaufen-WBolff, Eugen Bn., Dberft. War Zögling des Pagenforps; begann Jeine milit. Saufbahn im 2..©.Neg. zu Pierde, war dann lange Yabre M ale in Peieröburg. Kommandeur der Marfchauer Gendar- merie

ifion. + 29. Dt. in Warſchau.

v. Tuttau, Joh, HofR., Telegrapgenbeamter. + 28. Jan. in Riga.

Magawfg, John Graf, Dr. med., GehR., *31 in Cummingshof bei Riga; Arümmerfe Anftalt und Birkeneuß; fud. 49/55 (5340. Lir.). Seit 59 Xugenarzt in PelerSburg, 61/78 Orbinator, feildem bis 1000 Direhtor des Augenhofpitals. Seit 74 rl. Leibotulift. 85/95 Sehr. des „Vereins Petersb.

Ärzte.” Mitbegründer der „Blefigihen“ Blindenanftalt 79. Seit 82 Mit

glied bes Medizinalrats. Giebelte 1900 Frankbeitshalber nad) Zautich bri @eipgig über. + 16. (29.) Auguft in Salzungen i. Th.

Margraf, Michael, Gutäbefiger in C., Wredenhagen (feit 71) und Pajat (feit 92). #26. März zu Pajal.

Martens, Guftao, WSUR., *37 in Riga; ſtud. Jur. 57/81 (8641), Cand, 61/83 im Juftigvienft in Riga und Petersburg. 83/01 Glied der Bioilabt. bes Begirfögerichts und feitden Not. publ. in Wilna; mar aud 17 Jahre Präfes des dortigen ev. Nirchenrats. + 12. Juni.

Waurad, Friedrich, prakt. Arzt, *59 in Oberpahfen, Schmibtfche Anftalt in Sellin, ftub. 76/85 u. 89/98 (10,031. Liv.). Sandargt in Gamby- + bajelbft 5. Of.

u. Mapdell, Alfred In. + 5. Ian. in Reval.

Meder, Eduard, HofR., *20. Nov. 39, f 4. April in Neval.

». Mengden, Karl Bn., *27 in®., ftub. Kam. 46/51 (4987). Gutßvermalter- dann Gutsbefiger (Rüffel). F 1. März zu Rüffel in 2.

». MerAlin, Karl Gugen, Aabemifer, Geh. Dr hotan., *21 in 2. ftub Bot. 40/4 (4030), bann in Paris u. Jena, 47—65 Dozent am Forjtinftitut 64—77 Prof. der Botanit an ber meb.-chirurg. Alademic in Petersburg, ; Dafelbft 26. Nov. i

Miram, Friedr. Hermann. } 29. Juli in Petersburg.

Müpfentfak, Aerander, *55 in 2., ftub. Det. 76/79 (0054). Seit 70 Arren« vater von Saisholm in 2. und Obersermalter ber Mannteufelfchen Güter. +5. Mai in D.

MMälverkedt, Wilhelm Drgelbauer. 70 J. F 2. Auguft in D.

Heander, Grin, Dr. phil. 30 3. +3. Jan. in Hige.

AiRitin, Merander, Oberförfter. F 29. DM. in Wenden.

®. Holden, Hermann Bn. + 5. April in Rig-

fen, Georg Bn. + 12. Sept. in Riga.

orkin, Sonftantin, Dr. med, Sirhfpielsargt in Lais. 30 9. +. Nov. in Saisgotm.

”BatsrgejoRsmatnjärift 1908, Heft 1. 4

50 Neerologiam baltieum 1904.

Nowigkt, Simon, Stadt-Efementarfciulichrer, *52 in Jatobftabt; bef. 69/72 daß crfte Dorpatiche Schrerieminar. Lehrer in Jatobftadt, feit 74 Lehrer an verfch. Eiementarfchufen in Hige. Hat ſich um das Mufum bes ig. Tett. Vereins verbient geman, beflen Ynfpetar er fit DI war. edenfo 08 Bei ber Aeranfatung der Tetifhen etbnograph. Ausftellung. 28. Auguft in Bab

auheinm.

v. Belfen, Julius Fthr, Arrendator auf Schloß Pürkeln in 2. + 14. (27.) Deg. in Königsberg.

Mine, Karl Chuard *52 in 2., Pharm., ftud. 76/7 (0877). Seit 78 Prov. Aue, Inhaber der Sömenapothefe in ige. } 28. Jan. in Mehramalb (Baden)

Ofen, Jakob Eberh., *2. Juli 35 in Libau. Erpogen im borligen Waiſen . Haufe; wurde Kaufmann, 60 felbftänbig, 67 Itefter Gr. Gilde. Gtabtoer: orbneter. Seit 93 Stabtwrafer in Sibau. } 30. Mai.

Vppermann, Georg Hugo, *31 in Riga. Schule in Pernau; Apotheter; ftub. 56/8 (6556). ®roviler (bis 76), und Xerendator der Bienerifcen, fodann ve ſier der ehem. Hactgefhen pothefe in Reval. + 13. Kuguft.

Orgies von Aufenderg, Konrad Bn., + 31. März in Nitau. WRourke, Eugen Graf, Generalmajor a. D., F 27. Dep. in D. ander, Viktor Yugo, *42 in Reoal, fhub. Zur. 62/8 (7547. Eston.). sn

Geichäftsfüßeer der ef. Goun--Regierung, 77/89 Selr. ber Keiminalabt.

Neo. Rats, dann bis Ende 02 Gefr. der Hanbelödeputation, feit_ 91 "nd Gebitfe des Not. puhl. Glödner in Neval. Korreip. ber „DünasZig." und Mitarbeiter der „ev. Big" F 11. April.

Paurker, Karl Georg, praft. Arzt in Gimferopol. 33 I. + bafelbft 20. Sept.

Saudier, Tieodor, 47 X. } 18. Jan. in Peteräburg, beerd. in St. Gimonis in Eftland.

Peterfon, Alerej, Stabsfopitän, *3. Mai 67 im Gouv. Tambom, ftammte aus Mige. _Gymn. zu Riga und Reval, Abitur. 87. Murbe Offizier, verbrachte dann 7 Jahre ala Topopraph in Riga, wurde 03 ins Woborgide Regiment yeriet un fiel 30. Cpl, O8 im eier ber Sihlahen. zu hen Yantel und

ufden.

Weterfon, Karl, chem. Parochiallehrer in Rodenpois. 57 J. +2. DM. in Riga.

Pezofd, Karl Auguft, *26 in Welenderg; Gymn. in Dorpat; ftub. Kam. und Theel. 46/52 (4030. Fston,). 58/95 Paftor zu Merjama in €, 90/5 aud Propft der Sandwiel. + 0. Dez. in Leal.

Ffaft, Julius, Dim. Revaler Ratsherr, *30. Juni 27 in Reval; Gaflnbädice Schule; wurde 44 Kaufmann, übernahm 37 die väterl. Brauerei in Reval. 67/89 Ratsherr, Oberfämmerer, bis 88 Kirdhenvorfteher, aud) Kircifpielsrichter zu St. Jürgens. Übergab 89 das Geihäft den Söhnen, blieb aber in verſch Tommunalen Ämtern tätig. + 20. Auguft.

Pfeiffer, Julius, Urditelt, *47 in Warfhau; Gynm bafelöft, Rig. Polgtehn., Baufgule des Minift, des Innern. Seit Juli 77 jüngerer Ingenieur, feit Febr. 90 jüngerer Ariiteft der Linl. Goup.Regierung. Sein Ickter Bau war 308 neue Roftgeböube in ige. } 9. Apr

v. Pfeifiger-Frand, Rudolf Bn., Majoratsherr auf Frand-Sehfeu u. Oglen, Erbhere auf Tonnerhof in A. } 11. Dez. in Mitan.

v. Pistoßfkors, Alexander, * 51; ftud. Jur. 72/4 (0200). Landwirt, Eröherr auf Kolgen und Ehiaſch (fit 87), Beliper von Ahfel (feit 88) in Linlanb. +31. Juli in Kolgen.

Poßrt, Eduard, Paftor, *42 in Pulkowa; Rig. Gou.-Gymn., hub. Theol. 62/6 (7570. Fr. Rig.). Seit 78 Paltor zu Nobenpois in 2. 70/80 geiftl. Sapılzoibent, fit AD Tot, Sculeat. Tätig auf) Auf dem Gebiet der It Zoltsliteratur. + 10. Sept.

‚Necrologium balticum 1904. 5

Voorten, Ernft Ludwig, } 15. März in Moslau.

Fraetorkus, Karl Gabriel, *30 in Riga; Rig. Gono.gmn., ſtud. 52/8 (5880. Fr. Rig.), Cand. 61/89 Gefr. bes furl. Oberhofgerichts; feit 89 Glicb der Direktion der Mitauer Gtabtiparkaffe; bekleidete daneben aud) mencheriei Ehrenämter. + 22. Juni.

Yurin-Swißguf, Johann, Oberlehrer am II. Wilnaſchen Gpmnafium, f 4. Oft. in Pintenbof bei Riga.

Naade, Arnold, Mag. pharm., *52 in 2, ftub. 74/6 (9643). Apotheler in

teröburg. + 8. Dit.

Waedfeiu, Karl, Zeichenlehrer an der Zaubftummenanftalt in Fennern (Sivl.), Sohn des feinerzeit al8 Direktor des Hephata-Bereins verdienten Torgelichen Paitors Rarl Rachlein. 23 I. f 28. Oft. in gennern.

». Hamm, Ernft, *5. Dei. 37, Erbhert von Maltüll in Eftland. + dafeibft 11. Kuguft.

». Hautenfetd, Georg Eug., *60; Rig. Stabtgymn., ftub. Jur- B1/5 (11,208). Seit 95 Mitbefiger von Ringmundshof in 8. eltl. Affefior im Linländ. Konfiftorium. + 20. Juli zu Ringmundshof.

v. d. Zege, Karl Fehr, *60 in Weiß-Plonian (Gowv. Kowno). 74/81 Gymn. du Mitau, ftub. 81/5 Jur., Chem, Det. (11,338. Cur.). Ceit 86 Befiyer don Schafgotn (Gouv. Aoıno). + 20. Oft., wurde von einem feiner Anechte ermordet.

*30. April 79 in Zelin, flud. 2 9. an der

Beendete fein Studium in Münden O4. fütent om igafepen Gtadttrantengaufe. } 20. Ron.

Riggont, Eduard, Afabemiter, Zeichenlehret an ber Rigaſchen Stadircalfchue. 715. Roo.

v. der Hopp, Friede. Frht, Erbhert auf Radwilan. F 29. Jan. in Riga.

. Roschus, Karl, Generalleutn. a. D., *32 in Schrunden in K. War Brigaber Tommandeur im Raufafus und Ichte zuleht al8 Privatmann in Frauenburg (Kurl). + 25. Ron. in Riga.

v. Mofen, Woldemar Baron. *15. Fehr. 63, + 7. Fehr. in Aurst.

ofenderg, Woldemar, Geſchäftsführer der Hevaler Filiale der Attiengeſellſch. Gerhard u. He. + 9. Dt. in Revat.

Radiger, Theodor Graf, bim. Garbe-Kitt Majoratsherr auf Zublin-Dojlidy (Go in Dojlidg.

Sallmann, NXarl, Dr. phil,, ehem. Oberlehrer an der Revaler Domichule, *20. (&. Jan.) 37 in HelfensKaffel, fud. Theol. u. Bhilol. in Berlin, Marburg, Göttingen. 60/86 Oberlehter der Neligion und beutfchen Sprade an ber Domfcule. Sodann Religionslehrer in Kafiel und feit 91 Stadtpfarer in Kirchhain bei Kaffel. Begründer bes „Deutichen Mopltätigfeitsvereing” in Reval. Bielfad) literarifch tätig; Forefp. Mitglied der EtL. Yiterar. Gejeltich. +2. (12) Juni.

Säabert, Johann Albert, StR., *4. Juli 32 zu Mitau; Mi. Gymm. Wurde Behrer, 87/0 an ber Babriffufe in’Sintenfof (8), 00/9 Eiementarlehrer in Srobin, 70/8 am Oymnn. zu Goldingen; Darauf Sehrer, dann Jnipeltor an der ig. Areisfchule; feit Aufgebung Diefer Anftalt Oberfehrer ber deutfcen Spradie an ber Peler-Realfhule in Rige. + 11. Zufi.

Scheps&y, Karl, Küfter und Drganift zu Frauenburg, bereis feit 44 im Dienft. 78 3. + dajelbit 20. Sept.

Säcch Kuga, Stornfeinfegermiter, *23 in Hige, ft O1 in hau; fit 92 Ültermann X. Gilde. + 14. April. x

4

Beſiger von Schloß Ah in E. und Srodno). 819. a. + 17. Sept.

2 oerolociam balticam 1904.

v. Shling, Gneomar Bn., *14. ug. 74 in Jüh —* (€), feit 02 Beamter der zuff-hinef. vant in Schanghai. + dalelk Hu8 27. Auguft, Shmaeßfing, Molf, *43 in 2., ſtud. Jur. 08, 2 ‚mit Biäbe Unterbeehung (179). Banfbeamter in Riga und Wine (Priv. Handelsbant), feit

Direktor der Börfenbant in Sibau. + 18. Febr.

Schmidt, Eduard, Dr. med., WEIR., #32 zu Dideln-Paft., ſtud. 51/5 (5697. Frat. Rig.). Militärargt, Hauptfäglic im Aaufajus, feit 96 praft. Urzt in Kifdinem. + 22. Jan.

Schmidt, Karl Georg Guibo, Prof. emer., *17 in Petersburg; Petrifchule, Dorp. Gymn., ftud. bei. Chem. in ben 9. 37/45 (3684. Liv.), bann im Ausland. Sirettor DeB hem. Saboraloriumd an der Ingen.Meb., Gfemiter bei den Anftalten der Kaiferin Mario. Lchte penfioniert in Marburg. +12. Sept. n, St.

Schnadendurg, Robert, Ingenieur, SIR. FIR. Nov. in Dilna.

SGönfeld, Dao. Wilhelm, chem. Mufikichrer, *26 in Chemni, feit 45 über 30 3. 2. Violinift im Rigaer Theaterordheiter. } 20. Jan. in Riga.

v. Shöpping, Jur. Bn. Neifte, nachdem er chen die AczanderMilitärfcule in Mostau abjolviert Hatte, im Auguft d. J. auf den Ariegsihauplah, wo cr ins 22. Dftfibi a eintrat, und fiel in den Kämpfen vor Wufden am 2

v. Shufk, Fonflonim, Kapitän 2. Ranges (* 64, Oymn. zu Reval), murde bei der Ernennung Admiral Wataroıos zum Kommandeur des Oftafiat. Gefhmabers biefem als Winenoffigier des Stabes unterftellt. F auf dem Panzer „Petro: pamlowst" 31. März vor Port Arthur.

Schufgen, Wolbemar, Dr. med., *07, ſtud. feit 88 (1 NitofaisKomitee-Vofpital in Peiershurg. + dafelbft

SGutom, Ignatius Aler., Kaufmann, Direltor ber 3. fi "gegenfeit. Arebits, Herausgeber des „Nijhstij Wieftnit“, bis vor furzem aud, Stadtverordneter und a18 folher einer ber Führer der ruf: Wählergruppe: 70.9, } 2. Dit in Riga.

Shwark, Craft, *50 in 2., ftub. Zur. 75/8 (9641). Archivar am lipl. Hofe geriont; vermaltete 85/0 daS väterl. Out Hollershof; 86 wieder Hofgerichtd: beamter. Seit 89 Selr. des Niga-Wolmarfipen adl. Bormundfcaftsamts, aud, Gehilfe des Ser. des fiol. Konfifteriums. März.

Schwark, Wilhelm. Oberpajtor emer., *25 in Nitau; Mit. Oymn., ftub. 45/50 44780. Our). 59/02 Dberpaftor an St. Johannis in Dorpat, See feilem dort als Emer. } 17. Jan.

Semet, Georg. 983. + 24. Ian. in Schloß Mojahn.

Siewert, Alerander, *42 in Gr. Ellen; ſtud. 64/8 Dipl. u. Jur, (7890. Cur.). Cand. jur. See. der Steuerverw. in Mitan. } 21. Dez. in Mitau.

Simon, Eduard, dim. el. ruff. Kammermufer, *13. De. 22 in Leippig; 45/86 eriter Biofinift am Kigafchen, fit 58 an den Tel. Lhentern in Peterse burg, zulegt 2. Dirigent u. Ronzertmeifter am dortigen Beutfen Hoftheater. Penfioniert 3og er 87 als Privatmann nad, Dorpat.

v. Sivers, Aug. Oregor, *26 zu Morne in Sivl. Anftalt in Berto; ftub. 46/50 Rhyfit u. Det. (4973. Liv.), dann im Ausland. Land» wirt. Seit 59 Befiper von Kerjell in Siol, 62/80 Mitglied ber Livl. Det. Sozietät, 90 Ehrenmitglied. Begründer des Merrojcen Iandwirtid. Vereins. Sehe 88/03 in Oray, fiber in’Sige, wo cr auc) Präfs der Yauermenten, bank war. + 20. Roo. in Riga.

Spondofj, Gruft, prakt. Arzt, *32 in Edwahlen (R.), Privatgyımn. in Hafenpoth, ftud. 51/6, 59 (5665. Cur.), Sandarzt in R., feit 86 Arzt in Römershof. + bafelbit 31. Day.

Fan); chrim am

Necrologinm balticun 1904. 58

v. Stadelderg (a. d. Haufe Röal), Kurt Bn., Marineleutnant, fiel auf dem Rreuger „Rurit” in der Seefchladt bei Ulfan 1. Kuguft.

v. Stadelderg, Kacl Bn., Erbherr auf Lilienbach bei Nawa. + 18. Rop. in Litienbad.

Stamm, Heine. Tfeodor, stud. rer. ing. am Nig. Polyiechnitum (Rubon.).

Fiel’ 27. Oft. im Piftolenduel.

Stenboh, Hermann Graf, Generalleutn., Kommandeur des Grenabierforps. 56 3. +8. Mai in Petersburg.

SticinsRy, Friedrich, Mag. jur., *26 in Dorpat; Gymn. daſelbſtz ftub. 45/9 (4729. Fr. Rig.). 51 Oofger.Ado, in Dorpat, feit 54 Protonotar u. 65/89 Setr. bes Kol. Hofgerichts, melde Stellung von beionderer Bedeutung war bei der Einführung des zum erften Dat "engeren Provinz. Privatreht8. Sebte feitdem al3 Privatmann in Rige. tiftmard, Mar, Mag. jur., #30 in Dorpat; in Werro, ftub. 57/60 (6634. Eston.). 61 Poligeiaffefior, 78/94 Staotfefretär in Dorpat. +21. Jan.

Stoll, Karl Friedrich Paftor emer., *03 zu Zürgensburg-Pajtorat; Rig. Goub- Gymn., ftud. 24/27 (1919. Fr. Rig.). 27/78 Paitor zu Sifjegal-Altenmoge. gebte jeitdem emer. in Niga- + 10. April.

». Strand, Mar, Dr. med., *50 in 2., ftub. 76/81 (9910). Ceit 82 pratt. Aryt in Mostau; Dozent an der Most. Univerjität; feit 03 Direltor des ewang. Hofpitals. 20. Febr.

Strunke, Hermann, SIR., *42, ftub. Geid. 62/6 (7597), Cand. Lehrer am May’icien und 0. Gymn. in Petersburg. + 26. Juni in Bentental bei Bolmar.

Strupp, Konſtantin Louis, Grofindufteieler in Sibau, Gründer der Mafdinen- fabrit „Behuo“, Tangjähr. Stadtverordneter und Glied bes Sihauer Börfen: tomiteeß, zuiebi auch Präfes des Handelsamts. 46 3. + 9. Sept. in Riga.

v. Talderg, Carlos, SIR. 78 3. +19. Mai in Riga.

Taraszkemich, Eduard, Dr. med., *4 zu Niga; Rig. Gous.gmn.; flud. 65/72 (7907). Aififtengargt an der Univerj.Abt. des Stadthofpitals; Marine: arzt, feit 86 in Sronitadt. + 12. Sept. in Petersburg. Wurde, obgleid) Aatfolit, auf feinen Wunfe; aus der St Yetriicce auf einem Luth; Rirchhofe beerdigt.

Tempel, Karl Friedt. dim. Gymnaſiallehrer. + 9. Nov. in Libau.

Toms, Henry, ehem. brafilian. Konful. F 20. Mai in Riga.

». Tobien, Mor, *57 in Dorpat, ſtud. Zur. 79/84. Cand. (10671). 84/5 Stadte, dann Tandger..Eekr. in Sellin. Seit 89 Sekretär ber Orundbuchabt. de Bernau » Sellinfhen Friebensricterplenumg in gellin. F 16. Oft. zu Emdof bei gellin.

v. Trentovius, Georg. *18 in Rurl., Inge Jahre als Landwirt, Beamter, Gymn.Lehrer im Innern des Reiches tätig; lebte idhlichlich penfioniert in Benfa. In der Iepten Zeit reifte er fait Abel, in Die Geimak, um Gier den Geibenbau zu fördern (Gafenpoth, Goldingen, Arensburg, Gemauerts Boniemon); war Ehrenmitglied der Most. Seidenbaugefellichaft u. Präfident der Balt. Seidenraupenzucht:ßej. + 6. Nuli in Gemauert-Boniemon.

Treumann, Ferdinand; Arzt, *67; ftud. Med, feit 89 (13,549). Fiel in der Schlacht bei Siaojang (11.720. Auguit).

Herküß von Gäfdendand, Fedor Bu. F 31. Jan. in Eitland.

Akstin, Karl. Begründer und Redakteur des „Latweeiis“ (feit 1882) und Mit: begründer fait jämtlicer ttifchen Vereine in Sibon. + 18. Jan. in Sibau,

54 Necrologium balticum 1904.

v. Angern-, Steraberg, Bunt Sehr, Dr, phil, 88 in Sefile in Gitland. Ken Domtcue, fd. Cheat. u. Geld. 06/7 (6388. Eston.), dann im Aus: land. Wurde elite Und Joumatit. Seit 83 in Berlin, fändiger Kit arbeiter der „ARreugpeitung“, daywildien audı der „Ronfervatisen Korrep.” u. der „Ronfervativen Monatsichr. [7 beutfchfonfervat. Reichstagsabgeordneter (Bahltreiß Bielefeld). Berf. ber 02 erffjienenen „Erinnerungen eines alten Eftländer8“, von denen er nachher nod; eine Fortfepung „Irejahre” in der „Monatsfcir. für Stabt u. Sand“ veröffentlichte. + 25. Nov. in Berlin.

Bogel, Johann Martin, Hl. der St. Johannis. Gilde in Riga. } 8. Mai

Bol, Wilhelm, Prof. DDr., *18. (6.) Nov. 35 in Nürnberg. Stud. Theol. 53/9 in Grlangen, 61 bajelbit Privatdozent. 62 Dozent, 63 ao. und 64/98 Srof. für Temitfge Spraden u. alteftam. Eregele in Dorpat. Im Juni 93 im Amte nicht wieder beftätigt, wurde er jum auberetatmähigen ord. Prof. nach Greifswald und 1000 zum ord. Brofs nad) Softod berufen. Cr war

feit 97 auch Chrenppitifter

mit feiner zweiten Heimat auf innigfie verwahfen; der Sivonia. f 10. (29.) Mai in Roftod.

Borkampff-£ane, Arthur, Dr. med., *64 in 2. ftud. 84/9. 10. Augut in Voromitfchi.

v. Wahl, Ostar, *64 in Aſſit in Eitl. Gymn. Felin; ſtud. Nat.Det. 84/8 (12,283). Beamter im Finangminifterium. f 14. März in Petersburg.

v. WaplPajus, Nitolai, *33 zu Pajus in 2.; Schmidtfche Anftalt in Fellin, tu. am. 52/0 (8835. Liv.). Landwirt, Befiger des väterl. Gutes Bajus. Velleidete mehrere Landesimter, 62/8 Kirchipielßrichter, 82/7 Kreißbeputierter. { 8. Roo. in Pajus.

v. Walfendurg, Paul, StR, *24. Juni 44; wurde 63 Telegrophift; 87 Chef der Vote u. Telegr..Stat. in Benfa, 89 in’Ufa, 96 in Jurjew (Dorpat), feit 1900 in Reval. } 20. Mai in Reval.

Waftger, Julius, Mag. pharm,, *22. Oft. 71 in A. Jungiernhof bei Ri Nig. Stadigymn., 87 Apotheferlehrling, {tud. 93/4; feit 97 Chemiter bei der rufl. pharmazeut. Gefelih. in Petersburg. } 1. Oft. in Oger.

Warrikoff. Dar Rene, * 59 in 2.; Oymn. zu Dorpat, jtud. Med. 80/6 (10,842). Seit 86 Mitarbeiter, bann Mebafteur der „Lodger Big” F 19. März.

Beeltmann, Marin, Jnfaber der ehem. Araufefhen Maike in Aiga- 38 3.

7. Okt.

Benfdan, Johann Julius, Kommandeur des Libauer Leuchtſchifes. + 28. Nov.

BWerndte, Aerander, Kaufmann und Stadtverordneter in Fellin. } 7. Mai in Niga.

Wiegand, Emanuel Magnus, HofR., + 4. April in Riga.

Winkler, Ostar, ſeit 54 Obervermalter auf Schloß Kartus in 2. + 12. Juni. Wittmann, Karl, Sidi, *44 zu Berfohn in. ig. Oymn., ftub. Med. 00/70 (8137. (Liv.). Qehrer der deutfpen Sprache in Petersburg. } 8. Zeh. Wofdemar, Johann Mric, Kaufmann, chem, Ratsherr und langhäbt. Dieltor

folfege der Gemeindebanf in Mitau. 75 I. } 20.

u. Wolfeldt, Albert, *53 in Narlsbad bei Riga; 5 ttud. Jur. 74/82 94193. Liv.). 83 Affefior des 7. Wenden-Waltfpen Rirchipielägerichts, 86 Rircpipielsrichter in Gilfen, feit 90 Rendant der lol. Nitterfcaftsrentei in ige. + 18. Sehr.

u. Wotgrefat, Abe, dim. Sanbridter, 30 in Menden; ig. Gym. Ib Tipt. u. Zur. 50/4 (6511. Liv.); 54/08 U. u. Sehr. ’des Yandger., 03/89 Sandriciter in Wenden. Seitdem Gefdäftsführer der Wenden-Waltichen adel. Vormundichaftsbehörde. + 1. Auguit in Wenden.

v. Wrangel, Eduard Bn., *8. Mai 54 zu Raid in E. Revaler Domfgule. Beamter an der Balt. Bahr. + 2%. Märy in Reval.

Necrologiun balticum 1904. 55

». Wulf, Adoli, Erbherr auf Schloß Schwegen (jeit 84), *57; Gymnaf. in Wiesbaden; Birfenruh; ftud. Zur. und Rat.Deton. 70/83 (10,594. Liv.). +25. März (7. April) in Wien.

v. Zimmermann, Rarl, Dberft a. D. 87 3. } 9. Nov. in Tudum.

v. Zwingmann, Bitter, *46, Gymn. zu Riga, ftud. Zur. 63/7, Cand. (7724). 68/78 Affefjor des ig. Sanbvogteigerichts, 78/89 Natsherr (Bige-Ennoit Oberwettherr). Berdient um die heimifde Rechtsforfäung durd die Yeran gabe mehrerer Bände Pröjuditate des Rats. Seit 89 Chef der Grundbuch: abteil. des RigaWolmarfchen Zriebensrichterplenums. Dozent für Handels, tet am Rigalgen Polptecjnifum. + 17. Rov. in Riga.

Am Ufer des Lebens.

Am Ufer des Lebens, wandelnder Träume voll, Steh ich verſunten in Lanfchen dernher Hör ich, fernger und lebenstoll Die Wellen raufchen. . . Dem Liebenden gleich, ftill will ich niedertnien, Die Hände erheben: Willft du mich ewig fchlafenden Anges fliehn? Dffne die Augen mein Leben! Du follft mich anfehn, Antwort und Rede ftehn, Dich ganz mir fagen! Cieh mich an, wie einft du mich angefehn In träumenden Tagen! ..

Ko. Freymann.

Kullurgeſchichkliche Kiszellen. mem Otto Peter von Stadelberg.

(Eine mertwürbige Gpifobe hat biefer Gtadelbeg in, feinem Leben zu verzeichnen. Gadebuſch jagt von ihm, er fei „ein wunderlich toller Menſch geweſen, von dem man ein Buch ſchreiben fönnte. In Schweden habe er ſeltſame Händel ange- geben und ben damaligen franzöfiihen Botſchafter auf das ärgite beleibigt 1.”

Dtto Peter war ein Cohn Karl Adam von Stadelbergs, des ſchwediſchen Generallieutnants, der im nordiſchen Kriege an den Schlachien von Kaſeritz, Rauge und Erreitfer teilnahm, bes Verteidigers von Dünaburg, Stade und Stralfund, 1714 ſchwedi— fcher Freiherr, aus befjen britter Che mit Ufrife Gleonore von Nbedyll*,

Früh Ariegsbienite nehmend, war Otto Peter 1735 Volon— tair bei der failerlihen Armee gemefen, 1738 Abjutant bes öfter- reichiſchen Feldmarſchalls Prinzen Karl von Lothringen, dann in ſchwediſchen Dienften 1741 Rittmeifter in General Niglens Negi- ment und Abjutant des Grafen Löwenhaupt °.

Über jene „Händel“ mit bem framöſiſchen Botſchafter gibt uns das „Archiv Woronzow“ einigen Aufichluß %.

Im Dezember 1743 hielt ſich Stadelberg in Königsberg auf. Er muß damals etwa 30 Jahre alt gewejen fein, eine hohe, männtiche Erideinung. Hier traf nun Stadelberg im Wirtshaufe zur „Stadt Riga“ mit drei aus Rußland nach Frankreich reifen« den Franzoſen zufammen. Beim gemeinfamen Abendeſſen entjpann ſich ein politisches Geſpräch. Ctadelberg äußerte feine Unzufrieden- heit mit den augenbliclichen Zuftänden in Schweden, die auf die Dauer unhaltbar feien. Anfnüpfend an die Meinung feines ver-

1) Friedr. Konz. Gadebuſch, Sandigriftl. Gefdjichte d. livländ. Adels 1785. 2) Ardiv der Familie v. Stadelberg. Bd. II, ©. 12 fi. ®) Familien» Archiv. *) Archiv des Fürften Woronzom (ruff. vd. Lu. IV. G. v. Brevern, Zur Geſad Fam. v. Brenern. A. II, ©. 77, Anm. 5.

Rulturgefictliche Miszellen.

ftorbenen Proteftors, des Grafen Löwenhaupt, und an vermeint- liche Ungerehtigfeiten, die feinem Schwager, dem General Guftav Reinhold von Buddenbrock auf Schujenpahlen wiberfahren jeien, tam GStadelberg auf Rußland und die auch dort herrſchende Unzufriebengeit mit ber Regierung zu fprecen. Rußland, meinte Stadelberg, rühme fi, Schweden einen Thronerben, Adolph Friedrid von Holftein-ottorp, gegeben zu haben, doch fei diefes nur gejchehen, um ber Wahl des unliebfamen däniſchen Kronprinzen vorzubeugen; der einzig gewünſchte fei der Prinz von Zweibrüden:Birtenfeld, der augenblidliche Thronerbe werde nie- mals regieren. Er, Stadelberg, fenne die maßgebende Meinung in Schweben jehr gut; die 10,000 Diann ruffiicher Truppen unter dem Feldmarſchall Keith würden ihre Heimat nicht wieberfehn, es wäre ein Leichtes, fie unfhäblid zu machen, ohne daß Schweden auch nur einen Mann verlöre, er jei überzeugt, baf noch vor Ablauf eines Jahres ein neuer Krieg gegen Hußland ausbredien werde. In ſchwediſchen Regierungstreiien fei genugſam befannt, wie groß die Unzufriedenheit in Rußland fei und daß in furger Zeit dort eine neue evolution in Auoficht ftände. Stackelberg ſei oft in früheren Jahren gegen Rußland gebraucht worden, wes— Halb jeine, in Livland befegenen Güter, die ihm 2000 Rth. ein- trugen, konfisziert jeien.! Die ſchwediſche Regierung habe ihm jedoch für feine ihr geleiteten Dienſte eine Penfion von 1500 Rth. ausgelegt. Nun fei er gemwillt, anderweitig Kriegsbienft zu ſuchen, er wiſſe jedoch noch nicht, wo.

Sole und ähnliche Neben veranlaßten bie Franzoſen, Stadelberg näher auszuforiden. Cine Aufforderung zum andern Tage zum Kaffee, wies Stadelberg jeboch ab, ba er mittlerweile durch den Diener ber Franzofen erfahren, daß einer derjelben, der im Geipräd ftets die Partei der Kaiferin genommen, noch ruffi- ſcher Offizier fei, man möge ihn entſchuldigen, er ſei unmohl. Obgleich die Franzofen feinetwegen nod) zwei Tage in Königsberg btieben, befamen Sie Stadelberg nicht mehr zu ſehen.

Die Franzofen waren: der Chevalier de Reignac, beurlaubter Kapitän des Ismailowſchen Leibgarbe-Kegiments und feine Reife gefährten der alte Abbé Lefeore, ben der franzöfiiche Gefandte Marquis de la Chetardie vor 5 Jahren als Beichtvater mit nad) Rußland genommen, und ber Kaufmann Torin. Der Chevalier de Reignac fah ſich veranlaßt, in Berlin den Inhalt feines Geſprächs mit Stadelberg dem ruljiihen Geſandten Grafen Peter Tſchernyſchew zu berichten, da ihm die Giderheit der Zarin

%) Die Albedylſchen Erögüter feiner Mutter, Woidoma und AltıCarrol in Livland, hatte Otto Peter v. ©t. am 23. Sehr. 1734 für 31,000 Al. dem Drdnungsrichter Moriy Baron Bofie verfauft. (Steyf I, ©. 341.) Im Eitland fol Stodelberg Ottenküll und Wahaft befefien haben,

58 Aullurgeſchichtliche Miszellen.

gefährbet eridiene, auf Tſchernyſchews Wunſch dieſen Bericht ſchriftlich einzureichen und von feinen Gefährten, bem Abbe Xefeore und M. Torin mit unterjchreiben zu laſſen; dann reiften die Franzofen nah Paris weiter. Am 10. Dez. 1743 melbet Graf Tſchernyſchew bie Angelegenheit in Petersburg!.

Nun beginnt das unvorfichtige Geſpräch in Königsberg für Otto Peter von Stadelberg gefährlich zu werben. Am 20. Januar 1744 befahl die Naiferin, ber Geſandte folle die preußiſche Regierung um Arreit und Auslieferung Stadelbergs erfuchen, was der Minifter Podewils dem König unterlegt. Friedrich, dem gerade um gutes Einvernehmen mit Rußland zu tun war, erließ ſogleich einen Befehl an ben fommandierenden General in Königs: berg, und Stadelberg, der Schwede, und nidt ruſſiſcher Untertan war, wurde inhaftiert, nachbem er vergeblich feinem Hauswirt eine bedeutende Summe geboten, um ihm zur Flucht zu verhelfen. Seine Effelten und alle feine Papiere wurden verz fiegelt und mit iym an ber Grenze ausgeliefert *,

Die drei Franzofen find unterbeffen in Paris angelangt und werden jofort in die Baftille abgeführt. Ludwig XV., fo wie er durch den ruffiihen Gefandten Fürften Kantemir von bem Stadelbergihen Geplauder in Königsberg erfahren, wollte auch feinerfeits ſich Rußland angenehm erweifen. Die Kaijerin befahl jedod ihrem Gefandten, dem König von Frankreich für feine Liebenswürdigfeit zu banken, mit der Bitte, die drei Gefangenen in freiheit zu jegen?. Am 15. Februar wurden dieſe nod von Amelot, dem franzöfiichen Dliniter des Weußeren, und feinem Sekretär M. Flouſet vereidigt und einem fchriftlihen Verhör unterzogen. Sie fagten aus, mas fie in Berlin bereits Tſchernyſchew berichtet, woraufhin fie freigegeben und ihnen ihre Dokumente zurückerſtattet wurben *.

Otto Peter von Stadelberg wurde durch Vermittlung bes preußiihen Gefandten Baron Marbefeld, ber fich ſeinerſeits direft brieflich an ben General de L'Hopital in Königsberg wandte, an die ruffifche Grenze geleitet, wo er von einem fpeziell ihm ent- gegengejhidten Kommando ber Rigaer Garnijon empfangen wird.

Nun nimmt Stadelbergs Sade einen . diplomatiiden Cha— rafter an, denn dies alles geihah auf Anraten des frangöfiichen Gefandten Marquis de la Chetardie?. Diefem gewandten Welt- mann, ber damals die Kailerin ganz beeinflußte und mit Leftocq®

%) Arch. Wor. VI, ©. 50-53. 2) Ebenda, ©. 24. °) Ebenda, S.87. t) Chetardie hatte in feinem Schreiben an Amelot 22. Märzj?. April betont, bie betreffenden Musiagen hätten ſig unter einander jomohl, als auf mit denen Stadelbergs am den rulitien Gejandten in Berlin zu Dede %) Ghetarbie an Amelot 17,728. Jan. 1744, . 508.

©) Jog. Herm. Graf 2., Günitling der Kaiferin, geb. 1692 in Gelle im dannober. da Peter L., leitete bie Palaftrevolution, durch melde am 5. Der, ru Elifabeh anf den Tran pefangte. + 1707 in Porershurg.

aulturgeſchichtlicht Mishellen. zo

gegen die antifranzöſiſche Partei intriguirte, war die Stackelbergſche Angelegenheit eine willkommene Gelegenheit, die Monarchin gegen die Brüder Grafen Beſtuſhew mißtrauiſch zu machen und ihr von Verſchwörungen zu ſprechen aber vergeblid, wie er am 24. Mai (4. Juni) 1744 dem Minifter Duteil mitteilt!. Am 11. (22.) Febr. ſchreibt Chetardie dem franzöſiſchen Geſandten am Berliner Hof, Volary, daß Stadelberg nun ſchon auf dem Wege nad Moskau fei und bald dort glüdlich eintreffen werde.

Stadelberg wurde wirklich auf Befehl der Kaiferin am 2. März dem befannten Inquifitor in politiſchen Sachen, General Andr. Im. Uſchakow, zur Unterfuhung in der geheimen Kanzlei übergeben ?, wo in folden Dingen die Tortur jtets in Anwendung mar? 2a Chetardie berichtet weiter, die zur Unterſuchung der Stadelbergichen Sache ernannte Kommiffion werde dieſem nicht gerade mwohlgefinnt fein und wenn er, Chetardie, den Tod des Sünders auch nicht erftrebe, jo wäre es boch wünſchenswert, dab Stadelberg hanbfeft bleibe. Am 1. (12.) März 1744 iſt Gtadel- berg in Moskau angelangt‘. Chetardie verjtand es fogar, ſich in die Angelegenheiten der geheimen Kanzlei hineinzumiſchen, er will den Generalprofureur Fürften Nikita ZTrubezloi dem Generaf uſchakow zur Seite ſtellen. Er bemüht fi, der Kaiferin barzu- legen, daß die gehäſſigen Ausfagen Stadelbergs gegen Rußland nit Der Ausdrud ber ſchwediſchen Nation, jondern bloß die Anſicht der Föniglihen Partei fei”. Der eitle und ſchlaue Geſandte verjäumte aud) nicht die Gelegenheit, bie Gewogenheit und Freundſchaft Ludwig XV. der Kaiferin zu unterbreiten ®,

Am 26. Mai (6. Juni) endet der Marquis Lanmarie aus Stodholm an Chetardie die Kopien der Ausfagen des Chevalier de Reignac und feiner Genoffen; der Marquis bebauert, daß Stadelbergs Arretierung fo fruchtlos geblieben, d. h. feine wirt: fame Handhabe gegen Beſiuſhew geworben fei”.

So waren die Worte, die Otto Peter v. Stadelberg vielleicht in Weinlaune an der Wirtstafel zur „Stadt Riga” in Königsberg geſprochen, zu einer Affaire geworden, die die Kabinetle Europas beidäftigte und ihm felbft übel mitſpielte. Seine Unter: ſuchung in Moskau dauerte fort. Im Laufe derſelben muß aud) die Ratafteope der Negentin Anna zur Sprache getommen fein.

3) Rorefporbens der Tramöfkten n Diplomatie Ach. Wor. 4, ©. 491 bis 891. ©) Ad. Wor, ©. Die geheime Kanglei für Unters fudungen politifcher Verbredien, on’ be aim Anna 6. April 1731 eingee richtet, war unter Ufchefows Leitung mit umbeichränften Vefugniffen auch, den Beigätollgien gegenüber, Die geheime Ranylei murbe sit vom ter TIL. abge Yeti, 5) Ar. Bor. I, ©. 533. Chetardie un Amelot 1 Wär, 1744. %) Arch. Wor. I, 538, 539, 541. ?) Anh. Wor. I, 573. lege Petrowirfc) Grof Beftufhem-Rjumin, geb. 1802, f 1766; unter Elifabeih Reichstangler.

oo Kulturgefichtlige Mishellen.

Am 26. Juli befahl die Kaiſerin, es möge der in Mitau anweſende Oberſt Wojeitom den früheren Braunjchweigiichen Gefandten in Petersburg, Kapferlingt, wenn er hinkäme, heimlich aufheben, ba feine Befragung von Wichtigkeit!. Am 15. Oftober murbe ber Raijerin berichtet, der preußiſche Gefandte Mardefeld habe erklärt, es feien durchaus alle bei Stadelberg gefundenen Papiere fogleich ausgeliefert worben, während Uihafom noch nach einem Tagebuch) Stadelbergs foriht?. Wie der Prozeß endet, bleibt unbefannt, jedenfalls erhielt Otto Peter feine Freiheit wieder und lebte jpäter bei feinem Bruder, dem Landrat Adam Friedrich Freiherrn von Stadelberg zu Merhof. Geheiratet hat er nicht, war aber ein- mal mit dem YHoffräulein Maria Aurora von Mengen, ber nach— maligen Gemahlin des berühmten Günftlings der Kaiferin, Grafen Zeftocq, verlobt; vielleicht war Stadelberg mit ihr verwandt, da feine Großmutter, Elifabeth Eleonore von Albedyll, eine geborene Mengden war. Sein Schickſal, jagt Gadebuſch, Hat ihm nicht gebefiert. Er iſt ca. 1770 mohl in Mexhof geitorben‘; uns gewähren aber feine Erlebniſſe einen Blid in jene längit ver- gangene, durch Willfür und Intrigue beherrichten Zeiten.

O. M. v. Stadelberg-Kiwidepäh.

FE

1) Ach. Wor. VI, S. 119. 2) Ebenda, ©. 148. ?) Bol. auch Archiv der Fam. v. Gtadelberg IT, Was der Herausgeber Herr Gottlieb Dlaf Yanfen da über Otto Peter v. St. berichtet, fan füglid durdgeftricen werden, wie leider fo manches in feiner Ausgabe des IT. Bandes des Stadelberg: fchen Archivs. CS wäre wohl dringend im Jntereffe genealogifch « biftorifcher Forihung zu wünfden, daß verr ©. D. Hanfen fid nie mehr an familien» geibightligie Arbeiten madht. Der I. Band des v. St.Arhivs foll bald unter Zeitung des Herrn Stadtardjivars Dito Greiffenhagen ericheinen; e& jei audı an biefer Stelle an die Lefer der Baltiichen Monatsicrift bie Bitte gerichtet, dieſes Unternehmen der Familie durch Materialiennadweis zu fördern jeder Hinweis, jede Notiz wird danfend entgegengenommen durd) mid oder durd Herrn Otto Greiffenhagen-Reval, Stabtarchivar.

Sieben Vorträge über Germanifierung der Letten. Cine Reminisgeng vom 9. 1819.

Kerige Jahre nad der Aufhebung ber Leibeigenfchaft in ben

Oftfeeprovinzen fand in den Sipungen ber Rurländiiien Gefell- Schaft für Literatur und Kunft in Mitau, anfnüpfend an eine ganze Reihe von Vorträgen, eine angeregte und lebhafte Crörterung ber Frage ftatt, ob bie Herbeiführung einer allmählihen Germani- fierung der Leiten wünſchenswert fei, ober nicht. Die Vorträge, ihrer Reben an ber Zahl, find leider weder in vollem Umfange zum Abdruck gelangt, noch auch haben fie ſich handſchriftlich erhalten. Wir befigen nur ziemlich furze Referate davon, die fih in den „Zahresverhandlungen“ der Gefellſchaft finden!. Aber ſchon biefe Auszüge find interefjant genug, um aud) hier einmal vollitändig® miebergegeben werben zu bürfen.

Die Diskuffion begann am 5. Febr. 1819 mit einem Vor- trage des Sallgallnſchen Paftors Adam Conradi: „Wäre bie Metamorphofe der Letten in Deutiche zu beklagen?“, in dem er ar und bejtimmt, nicht aus politiihen, fondern aus £ulturellen Gründen, für eine allmähliche Ummandlung der Letten in Deutfhe eintrat. Gegen ihn erhoben dann in den folgenden Gigungen ſechs andre Nebner ihre Stimmen, die famt und jonders aus vielen Gründen ſich ebenfo bezidiert für bie Erhaltung bes lettiſchen Volfstums ausipraden.

Freilich in der Form, wie es hier geichicht, ift die Frage der nationalen dauernden Forteriiten; des lettiihen Volks heut: zutage garnicht mehr disfutabel, nur von den großen Geſichts— punkten univerſalgeſchichtlicher Entwidlung aus fönnte barüber geredet werden, und mander Sag fowohl im erften wie in den übrigen Vorträgen wird heute nicht mehr aufrechterhalten werden fönnen und findet feine Erklärung in den philojophifchen aber fonfigen wiffenichaftlichen Anfchauungen jener Zeit. &o begegnet uns glei) in P. Gonradis Vortrag die Meinung, es wäre für den Leiten beffer, wenn ein dichter Nebel ihm die Gedichte ver— Berge, u feinen Groll zu erzeugen gegen feine Überwältiger“ u Das find Äußerungen, aus denen uns die Luft der „Auf

TTS. U (Miteu 1829 ©. 16 fl.

2) Unlängit hat aud, Pajtor D. Aug. Dielenftein in jeiner Selbftbiographie „Ein glüdlicys Zehen" (Higa 1904) an dieſe Porträge erinnert,

e Rulturgefhlitliche Misgelten.

Härungszeit” entgegenweht, bie nur aus ihr heraus möglich waren, unter dem Einfluß jener Philofophie des 18. Jahrhunderts, die ein fo geringes hiftorifches Veritändnis hatte, ber alles geſchichtliche Werden und geſchichtlich Gewordene nur etwas „Unmejentliches, Zufälliges, ja fogar Störendes” war, die in ihrer „Natur- und Vernunftgemäßheit”, mie ein großer Forſcher unfrer Tage fagt, „bie Geſchichte überhaupt nicht mehr mötig hatte.” Und wenn uns aud) Heute noch einmal gelegentlid) geihichtlihe Betrachtungen und Urteile entgegentreten, die von bdemfelben Geifte getragen werben, jo find fie nur möglid) bei jolhen Schwärmern, für die die Wiſſenſchaft bes 19. Jahrhunderts garnicht zu eriftieren ſcheint und feine geiftige Arbeit, zu deren größten und bebeutfamften Errungenſchaften eben bie hiftorifche Denkweiſe gehört, das Verftändnis für die geihichtliche Entwidlung.

Wenn ferner P. Watſon in feinem Vortrage das Lettiſche aus einer Verſchmelzung des Gothiſchen und Slaviſchen entitehen läßt, fo ift das Iprachmiilenfchaftlih eine ganz falſche Anſchauung und darnach ift dann wohl aud fein Ausiprud) zu beurteilen, daß es am natürlihften wäre, wenn die Letten ſchließlich wieder zum Slaventum zurüdtehrten. Wir heutigen willen, daß aud jet noch, nad) einem Jahrhundert der Entwidlung, bie weſentlichſten Fermente lettiſcher Kultur und Bildung dem geiftigen Boden beutfcher Kultur und Bildung entftammen. Unb wenn berfelbe Rebner meint, die Neigung der Letten deutſch zu lernen jei „bloßer Hochmut“ zc., fo find wir natürlich nur erftaunt über ben Mangel an Zerftändnis für fogiale Entwidlung, die in diefer Hukerung zutage tritt.

Aber es joll nicht unfre Nufgabe fein, auf alle Eingelheiten einzugehen. Es fommt uns hier darauf an, ben Inhalt ber Vor- träge felbft zur Mitteilung zu bringen. In ihrem Kern find fie ein intereilanter Beweis für eine Humanität, die jedes Volkstum achtet, für die ganz bewußt liberale und mohlwollende Gefinnung, bie weite Kreiſe der beutichen Gefellihaft dem lettiihen Volke gegenüber hegten.

* * *

1 „Wäre die Metamorphofe ber Letten in Deutfhe zu beklagen.” Vortrag von Paltor Adam Gonradi. 5. Februar 1819.

Der Redner ftellt das Prognoftifon, ba ber durch Auf: hebung der Leibeigenihaft herbeigeführte Standpunft ber Letten, mädtig auf deſſen Nationalität einwirkend, höchſt wahrſcheinlich den allmählichen Untergang ber lettiſchen Sprache zur Folge haben werde. Denn:

Aulturgefeflätliche Misgellen, os

Die Sprache allein ſcheide den Letten vom Deutſchen; ſie hindere eine ſolche ſoziale Verſchmelzung, wie ſie Genoſſen einer Glaubensform und eines Vaterlandes gezieme. Die neue Ver— faſſung führe die Annäherung beider Nationen herbei; man müſſe daher nicht den Gang der Natur hemmen. Der Lette, gewohnt, das Deutſche als das Beſſere zu ſchätzen, werde ſich gern fügen in das, mas ihm das Beilere deuchte; das Deutſche werde fich finden und, das Lettiſche verbrängend, fih mehren. Dem heutigen Zetten könne ber Hinblid auf feine Urväter nichts Erhebendes barbieien. Beſſer für ihn, wenn ein bichter Nebel ihm ihre Geſchichte, die wohl feine reihe Nusbeute liefern würde, verberge, um feinen Groll zu erzeugen gegen feine Überwältiger. Much der Lette würde in den Rang ber übrigen zivilifierten Völfer Europas verfegt fein, wäre nicht die Eelbitändigfeit diefer Nation verloren gegangen; dieſe fei auferwedt, mithin müſſe aud das lepte Hindernis gehoben werden, um frifches Leben und rege Tatfraft auf den Schaupla dieſes Volkes zu bringen.

Was beredtigt uns aber, jo entgegnet der Verfafler ſich jelbjt, eine Sprache untergehen zu fallen, die jo mühlam zu einer Stufe der Kultur gediehen it? An der lettiſchen Sprache fei ihrer Dürftigfeit wegen, ba fie bisher unter das Joch ber Willfür gezwängt gemwejen, nichts verloren. Cie beftehe aus fremdartigen, von Deuticen hineingetragenen Beftandteilen; fie habe feinen nationalen Autor aus früherer Zeit aufzuweilen; nähme man alle Germanismen hinweg, wieviel echt Lettifches bliebe übrig? Die lettiſche Literatur habe bis jegt nur mit lettiihen Wörtern bem Deutihen, und zwar dem Gelehrten, etwas geboten. Bis jept habe noch fein in biefer Abficht gebichtetes Lied, als Volkslied, den gehofften Eingang gefunden. Durch Hinwegräumung ber lettiſchen Sprache würde aud) der Nationalität ber Letten fein Eindrang gejchehen, indem es mit ihr nicht viel auf fid) habe, weil ſich unter dem bisherigen Drud der Willfür und der Knecht- ſchaft fein Volkocharalter, fein Volksgeiſt Habe bilden können. Auch habe die neue Verfaſſung nit den Leiten als jolden, fondern nur den Bauernſtand im Auge.

Gewonnen wäre durch Hinwegräumung der lettiſchen Sprache: 1) Der ungehinderte innere Verkehr der Bürger des Landes, zu denen nach der neuen Verfaſſung auch der Bauernſtand werde

Aulturgeföictliche Miszelle.

gezählt werben Fönnen. 2) Ein fiheres Bildungsmittel für den jenigen Zeiten, der, heller ſehend, ſich zur geiftigen Veredelung erheben wolle; ebenfo ficher, wie es die Erlernung der lateinischen Sprade für den Deutſchen iſt.

Die deutſchen Ofifeeprovinzen bürften nicht aufhören, deutſche Provinzen zu fein; baher müßte, um dem etwaigen Raufche undeutfcher Volkstũmlichkeit vorzufommen, zur geiftigen Veredelung der deutfchen Sprache beigetragen und der Grunbfag fanktioniert werden: Keine Letten mehr!

1. Vortrag von Karl Wild. Erufe, Oberlehrer am Gymnafium und Paſtor an der reformierten Kirche in Mitau, am 5. März:

Zei der durch ben Monarchen und die Grundherren herbei— geführten Bauernverfaſſung fei es jetzt Sache aller Deutihen, den nicht mehr unfreien Unbeutf—hen zu ber Stufe ber Bildung zu führen, bie ihm Bebürfnis fei. Die Sprade des Letten reiche nicht mehr aus für fein Bebürfnis als Freien fie müſſe fort: gebildet werben. Was bisher darin geſchehen, fei deutſcher Geilt gewefen, der ber Sprache angebildet worden. Das Bebürfnis, aus der Sprache des Sklaven eine Sprache bes Freien zu bilden, liege in ber neuen Verfaflung felbit, da die oberfte Verwaltung des Landes, wie bes Vauernftandes nächſte Appellationsinftanz, beutiche Alten führe. Diefem Bedürfnis könne nur durch Schulen abgeholfen werden, in melden ber Xette zwar lettiſch gelehrt würde, aber auch zugleich Gelegenheit fände, Deutſch zu lernen. Ob dadurch die Nationalität oder Volkstümlichkeit des Letten ſich anders geftalte, ober gar verloren gehe, und mit ihr aud) die Tettifhe Sprache, bies fei nur Sade ber Vorfehung, nicht bes Menſchen, der nur, die Zeichen der Zeit beachtend, mit Gerechtig« feit bie Erziehung bes Einzelnen übernehmen joll.

II. Vortrag von Dr. Ernft v. Trautvetier, Ober: lehrer am Gymnafium zu Mitau, am 5. März:

Um bas Verhältnis ber lettijchen zur deutſchen Sprache im deutſchen Dftieelande auszumitteln und zu begründen, ftellt ber Verfaſſer zwei Grundſätze auf, die ben fireitenden Teilen einen natur: und vermunftgemäßen Pereinigungspunft bieten follen.

Aulturgefäiätlige Tisgellen. 65

1) Jedes Volt muß bie Sprache behalten, die ihm von ber Natur, von Gott gegeben worden. 2) An einem und bemfelben Orte fönnen nicht zwei Sprachen zugleich herrſchen.

Um den ſcheinbaren Widerſpruch biefer beiben Säpe zu löfen, erklärt fi) ber Verfaſſer näher über den Nusdrud Ort. In dem deutſchen Oftfeelande müfje das Deutſche gelten feines Orts, und das Umbeutfche (Lettifhe und Eſtniſche) ſeineq Orts. Aus ber Benennung „deutſche“ Dftfeelande ergebe ſich Schon, daB hier die deutſche Sprade bie herrfchende fein müffe, im natürlihen wie im ftaatsbürgerlien Sinne, als Sprache der Gebildeten in ber Stadt und auf dem Lande; bie lettifche, die gebuldete, bie Bauern: ſprache. Hierin fei auch das künftige Verhältnis beider Spraden zu einander enthalten, indem man die Dinge nur ihrem natürs lichen Gange zu überlafen brauche. Um bem erften und zugleich oberſten Grundſatz jein volles Licht zu geben, zeigt der Verf., daß ber echte Meltbürgerfinn mit der Liebe zum Artgemäßen im ſchönſten Einflange ftehen, ja daß die deutihe Sprade nur in Beihügung alles Stammartigen ihr eigenes Dafein verbürgt ſehen fonne. Alle pro et contra vorgebraditen einfeitigen Gründe verfängen daher nichts im Lichte dieſes oberſten Grundſahes. Weber die Bequemlichkeit, die die deutſche Sprache, als alleinige, herbeiführen folle, noch die Armut und Umbebeutendheit ber letti— ſchen, Tönne einen rechtlichen Grund zur Vertilgung der letzteren geben. So wie bei Unterfuhung einer Mordtat nicht gefragt merbe, ob der Ermorbete arm oder reich, gebilbet oder roh geweſen, jonbern nur das Menſchenleben in Anſchlag gebracht werde, jo bier das Stammesieben. Eben diefer Gefichtspunft gelte auch für die deutſche Sprache: bie Heiligkeit des Volksartigen allein entfcheide ſowohl auf der einen als ber andern Seite, nur ziehe dem Deutfhen Pflicht der Selbſterhallung und Selbftverteidigung bie natur und vernunftgemäßen Schranken.

Habe der erfte Grundjag feine notwendige Stelle gefunden, fo gehe aus demjelben auch die richtige Anwendung bes zweiten Grunbfages hervor, und beiden Teilen müſſe daran gelegen fein, dem Undeutfchen, daß die für ihn zum Recht erhobene Duldung nicht verfümmert werde, dem Deutichen, daß ihm als Schöpfer alles höheren Lebens aud) Hierin jein erworbenes Recht unbe: ftritten bleibe.

Baltifde Momatgrejift 1908, Heft 1. 5

ss aulturgelchlchtllche Miszellen.

Der Verf., dem, bei aller zu Recht beftänbigen Feſtſtellung feiner beiden Grundjäge, dennod bie Träne bes jetzt nur noch Gebulbeten nicht enigeht, führt in feiner Nutzanwendung einige Trofigründe für den Undeutſchen auf: den heilenden Balfam ber Gewohnheit; das ähnliche Schickſal der deutſchen und wenbifchen Sprade im öftlichen Deutihland, das hinſichtlich des herrfchenben Teils deutſch, Hinfihtlich der Bauern wendiſch geweſen fei; ben allmählichen Übergang ber platten Mundart in die hochdeutſche als Schriftſprache; die Erfahrung, daß ja auch bie beutiche nur vermittelt ber rujfiihen Sprade in ben allgemeinen Kreis bes Reiches wirkſam treten könne; ben ermunternden Umftand, daß wenn nun einer von den befonders ausgezeichneten Köpfen ber Unbeutfchen fid zur höheren Bildung hinaufarbeiten wolle, er (bie Univerfität des Landes habe einen eigenen Lektor der lettifchen Sprade) am Ziele eine miljenfchaftlihe Bildung feiner Mutter ſprache finde.

Für den deutſchen Oftfeeländer aber fiege in dem Angeführten eine Aufforderung zur Heilighaltung ſowohl ber allgemein menſch⸗ lichen als der volfsartigen Pflichten und Rechte, damit hier nichts von ben fchönen Dentmalen deutſchen Lebens und deutſcher Geiftes- tätigfeit untergehe, ſondern damit bie geiftige Verwandlung, durch welche bie deutſche Kirche, als ber Vereinigungspunft aller deutſchen Herzen, Selbſtändigkeit und Artgemäßheit erringt und ber Pro- teftantismus zum Ziele gelangt, natur- und vernunftgemäßen Schritt halte.

IV. Vortrag von Karl Friedr. Watſon, Paftor zu Leften!, am 5. März:

P. Watfon erflärt fi beftimmt gegen bie Umbilbung ber Letten zu Deutſchen und das Aufgeben ber lettiihen Spradıe. Er fei feft überzeugt, baß ein jebes Volk nur burch feine eigene ange borene, von ber Gottheit ihm als Wächterin feiner Nationalität erteilte Sprache gebildet werden könne. Um über biejen Gegen: ftand richtig zu urteilen, mühe man tiefer in ihn einbringen und

1) Paſtor Watfon Hatte ben größten Anteil an ber lettifchen Überfegung, der „Aurländifchen Bauerverordnung“ gehabt; er hatte auch einen Plan ausge» arbeitet „über die Art und Meife, wie auf bie Aultivierung des Iettifen Land» volfS eingewirft werben fönne“ (Jahresverhandl. der Furl. Gef. N. I) und war nadimals Herausgeber der erften Tettifcgen Zeitung, der „Latweefchu Amifes“.

aulturgeſchichtliche Misgellen. er

ihn in ethymologiſcher, Hiftoriicher und religiöjer Hinſicht beleuchten. Die lettiiche Sprache fowie das Lettenvolf feien „aus ber Ver: fchmelzung der Gothen in die Slaven“ entitanden; dies gehe deutlich aus ber Sprache felbft hervor, deren Murzelwörter zum größeren Teil jlavifh, zum Meineren Teil gothiih wären. Sie vereinige aud wirklich ben ganzen Reichtum ber ſlaviſchen mit ber Biegfamfeit und Kraft ber beutfchen Sprade. Dan müſſe fie ftudieren und fi völlig aneignen, um einzufehen, daß fie feineswegs arm und roh, fondern reich und geſchmeidig und in firhlicher Hinficht bereits gebildet, folglich in juriftiiher und poli- tiſcher ebenfo bildungsfähig ſei. Sie befäße ganz eigentümliche Vorzüge, jo z. 3. bezeichne fie durch eine beftiimmte Form ben Unterſchied der tranfitiven und intranfitiven Zeitwörter. Bon Duldung derjelben könne garnicht die Rede fein, da fie die eigent: liche Landesſprache wäre und da fi die Letten in Kurland zu den übrigen Bewohnern wie 6 zu 1 verhielten. Die Geſchichte lehre, daß Ausrottung von Sprachen durch menſchliche Anftalten nicht bloß höchſt ſchwierig, fondern auch höchſt ungeredt und ſchädlich ſei. Die Wenden in Meflenburg hätten dadurd wahrlich nicht gewonnen, daß fie Deutfche geworben. In Preußen fei nad) Ausrottung und Verjagung der fettifchen Urbewohner eine ganz neue Population durch Einwanderung entftanden, und ber gröhere Teil von Oſlpreußen fei ja nod) litauiſch, mithin letliſch, weil die Litauer das Hauptvolf der Leiten feien. In Aurland ſpräche das Heine Häufchen Liven am Popen Dondangenſchen Strande feit 800 Zahren feine angeitammte Sprache, und ein Blick auf das benad)- barte Litauen, wo man, jeitden Jagello König von Polen warb (alfo jeit mehr als 400 Jahren), die Landesſprache vernachläffigte und durch das Polnische zu verdrängen fuchte, zeige deutlich, was der Erfolg folder naturmibrigen Beſtrebungen fei. Diejes had): herzige und tapfere Zettenvolf, die Titauer, habe zwar noch feine Spradje, wiewohl nicht mehr echt, aber ganz und gar feine Liter ratur; ber Boden fei in Litauen fruchtbarer, die Frohne geringer, und bennod) ftehe ber Litauer unferm Letten an wahrer geijtiger Bildung um ein Jahrhundert nad). Überhaupt fei das Entjtehen und Verſchwinden der Völker und ihrer Sprachen Gottes Sadıe. Er habe die Lettenvölfer zwiſchen die Slaven und Germanen geftellt, und ihre Sprache fei, wie fie felbft, das Verbindungsmittel, 5

es Rulturgefiiätlicie Risgeflen,

ber Übergang. Wohnort, Volt und Sprache bemwahrheiteten bies und ftänden im Einflange mit biejer höheren Beftimmung. Es jei unmöglid) die Leitenvölfer, die (wenn man ihr Hauptvolf, bie Litauer, mitrehne) no aus 4—5 Millionen Individuen beftänden, zu Deutſchen zu machen. Gutes fönne alfo durch eine jolde Metamorphofe nicht geftiftet werden, wohl aber Schaden, indem diejenigen, welche ihre Talente unb ihren Fleiß dem Studium und ber Kultivierung ber eigentlichen Landes: und Volkoſprache wibmeten, bavon abgejchrect würden; indem ferner der allerdings ſehr ſichtbare Hang ber Leiten, die deutſche Sprache zu lernen, bie eigene aber fahren zu laſſen, zu ihrem Nachteil befördert und genährt würde. Dieſe Neigung der Letten gehe übrigens aus nichts weniger als aus Vorliebe für deutſche Sprade und Aultur hervor, fonbern jei bei den Wohlhabenden bloßer Hochmut, bei allen andern bie Anficht, daß fie mit Erlernung des Deutſchen zum Herrenftande übergehen würben. Schliehlid) erinnerte P. Watfon, daß die natürlichite Metamorphofe, wenn ja eine ftattfinden follte, diejenige wäre, daf die Letten gum Slavenftamm zurückkehrten.

V. Gin Wort über das Germanifieren ber Seiten. Portrag von Georg Bened. v. Engelhardt, furl. Oberhofgeritsrat , am 2. April:

Der Rebner fpricht ſich beftimmt gegen alles dasjenige aus, was bazu beitragen fönne, der lettiſchen Sprache Eindrang zu tun. Die Sprache der Eltern fei es, in welcher ber Menſch benfe und fein eigenes individuelles Leben lebe; fie vorzüglich Tonftituiere eine Nation und fondere fie von allen andern Nationen. Über ben Vorzug der Sprachen laſſe ſich bloß disputieren; jede werde ſich zu verfeibigen willen, benn dieſe Mannigfaltigfeit liege im Plan der Schöpfung, bie immer eine Stufenfolge in ihrer Weltordnung beobachte. Die perfönliche Freiheit jei nicht an die Sprache ges bunden, fonjt müſſe den Setten, Ejten, Polen und Litauern, ſobald fie frei geworden, ihre Spradje genommen werben. Auch zeige die Gedichte, wie nachteilig es fei, einer Nation ihre Eigentüm- lichkeit nehmen zu wollen. Beim Germanifieren fei nichts gewonnen, denn was ein Bauer willen müſſe, bas könne er in feiner Mutter

1) Gr war ber Hauptrebafteur ber 1817 entworfenen „Rurlänbifchen Bauerverordnung“ geweſen

Kulturgefeichtlige Misgellen. . 2

ſprache erlernen. Der Menſch müſſe erſt eriftieren, ehe er ſich geiſtig ausbilden könne. Der Bauer fei von Natur an mechaniſche Arbeiten gemwiefen, man müſſe ihm daher nicht feinen Pflug und feine Senfe verleiden; das wichtigite, was dem Letten jept not tue, jei die Erklärung des ihm gegebenen Gejegbuches, nicht aber der Unterricht in der deutichen Sprache.

VI. Für die Erhaltung der lettiſchen Sprade. Vortrag von Dr. Karl Elverfeld, Paſtor zu Tudum!, am 2. April:

Der Rebner geht von dem Geſichtspunkt aus, daß, wer dem Letten feine Art zu reden nehme, ihm aud) zugleich feine Art zu fein nehme, was aud) nicht ſchaden würde, infofern diefe Art zu fein, durch ihre Schledhtigfeit verwerflich wäre. Da nun aber niemand dem Letten etwas abjolut jchlechtes zum Vorwurf machen tönne, feine Volkstümlichkeit dagegen gut ſei und durd die erworbene Freiheit trefflih werden werde, jo dürfe und möge niemand einen geijtigen Mord gegen ihn intenbdieren! Dem Ein: wande, als wolle ber Lette jelbit fich jeine Sprache nehmen, begegnet ber Nebner, indem er diefen unbeiligen Drang nur den vom traurigen Zeitgeiit befangenen, den nahe an den Städten wohnenden und daher verborbenen Letten zufchreibt, die echten Letten aber von dieſer Züiternheit freiipricht, deren Befriedigung ihnen jo ſchwer, ja in einem Grade der Vollfommengeit fait un möglich werde. Auch könne das Bedürfnis die Letten nicht dahin bringen, ba alle Gefühle, alle Begriffe, die dem freien Landmann eigen und nötig jeien, wenn auch nicht immer in abstracto, doch aber in conereto, nicht bloß lettiſch ausgeiproden werden fünnen, fondern auch von dem mit einem ſchönen, natürlichen Verftande begabten etten wirklich jo gebraucht würden. Das beweiſe die nicht unbedeutende lettiſche Literatur, in diefer vorzugsmweife die treffliche Bibelüberfegung, die nit einmal einen Nationalen zum Verfaſſer habe, das bemeilen bie oft jo ſchönen, richtigen, cum grano salis geäußerten, oft garnicht deutſch miederzugebenden Bemerkungen bes Letten. Die deutſche Sprade werde ihm gar feinen Erſatz bieten, da er im ihr meder frei nod) richtig feine Er ſowohl wie aud) fein Vater, der Paſtor in Apprifen war, haben

mehrere lettijche Schriften herausgegeben, der Iegtere unter andrem die Gedichte des blinden ieniſchen Naturdicters Jndrit (Mitau 1306).

© ulturgeſchichtliche Miszellen.

Gedanken auszufprechen imjtande fein könne. So verſchieden die beutiche Bücherſprache von der Alltagsiprahe im Munde des unger bildeten Mannes, jo ganz aus feinem Leben, aus feiner Art zu zu denfen und zu ſprechen, fei die Schriſtſprache ber Letten.

Darum bleibe der Lette, deſſen Sprache ben jo mächtigen Unterfchied zwifchen geiftigem und feiblihem Freifein (ſwabbadiba un brihwiba) zu machen wiſſe, ein echter Lette und werde ja nicht zu einem Deutſchlein (mahzeteelis) verunftaltet.

VO. Würdigung der Frage, ob die Metamor- phoje der Letten in Deutfhe zu beflagen wäre. Vortrag von Dr. jur. Gerhard Chr. ©. u. den Brinden, Kreismarfchall, am 21. April:

Der Redner tritt in direfte Oppofition gegen bie Ausfüh- rungen bes erfien Vortrages und ſucht im Cingange, auf zwei Millionen Letten hinweiſend, das Intereſſe für die Erhaltung ihrer Sprade zu eregen, unb geht nun, nad) Vorausfhidung der Hauptmomente jener Frage, in bie widerfegende Entwidlung ber felben ein.

Nicht die Verſchiedenheit der Sprade, jondern die Abftufung und Verfhiedenheit der Bildung, Verufsbeflimmung, ber Sitten, Gebrände und Beihäftigungen wäre als Hindernis bes fozialen Lebens und Wirfens zweier Nationen zu betrachten, wie joldes die volfreichiten Städte bartäten. Die Letten, deren Beruf als Zandbewohner der Aderbau ſei, hätten und behielten ihre foziale Beſtimmung unter Leiten und bedürften vielleiht gerade der Spracverichiedenheit und Suborbination in Begriffen und Bebürf- niffen, um den hohen Zweck diefes älteiten göttlichen Inftituts zu erfüllen. Die Metamorphofe der Sprade würde aud eine ber Sitten und Gebräuche erzeugen, dem Letten aber feine wahre Entichädigung bieten, ſondern dem Charakter und der Eigentüm- lichleit diejes Volkes höchſt nachteilig fein. Die Verſchiedenheit der Sprache ftöre feineswegs in dem Genuß einer Glaubenoform, wie ſchon die Glaubensgenoffen der katholiſchen Kirche jene Be— Hanptung widerfegten. Dagegen fühle ſich eine Nation gemütlicher angezogen und angeiprochen für Neligionswahrheiten, wenn ihr diefe in ihrer angeborenen Sprache mitgeteilt würden. Ebenſo wenig fäme aber auch das Water: oder Mutterland dabei in

aulturgeſchichtliche Miszellen. 7

Gefahr, indem die Weltorbnung jelbit uns hierin ein Vorbi.u gebe. Die Nationalität bilde ſich nicht durch ber Übereinftimmung ber Sprache, ſondern aus ber Übereinftimmung und Einheit der Negie- rungsverfaflung. Aber jelbit für die Sicherheit eines folojjalen Staatsförpers ftänden mehrere diplomatiſch-politiſche Gründe der Spracdvereinigung entgegen: divide et impera! Den ältejten biftoriihen Beleg ftelle dafür der babyloniſche Turmbau auf.

Die lettiiche Sprache ſelbſt, bie eine verhältnismäßig bedeu- tende Literatur aufzumeiien Gabe, dürfte um jo weniger verurteilt werben, da die lettiſche Nation nichts verfhuldet, fondern vielmehr in ihrer Sprade, in moraliſcher wie in politiſcher Hinficht bisher alles geleiftet habe, was von ihr zu erwarten gemejen wäre. Das Recht auf die Erhaltung der Sprache fei, mit dem Recht auf das Leben, als das erfte angeborene Bürgerrecht anzufehen. Der Über: tritt einzelner Letlen in die deutſche Klaſſe könne als Schluß a minori ad potiorem ebenjo wenig beweilen, als die Majorität der Letten einen Beltimmungsgrund für die Deutichen abgeben Eönne, ihre Sprache anzunehmen. Denn Sprade und Intelligenz der Landleute fönne feine andre fein, als die, in der fie geboren und eryogen worden für den Setten bie Agrifulturfpradhe. Die Aufhebung der Leibeigenichaft habe den Leiten keineswegs das Ende ihrer Geſchichte herbeigeführt, fondern mit ihr hebe eine neue, höchſt wichtige, erfreuliche Periode derjelben an. Daher auch der Rückblick in ihre Vorwelt feine bittere Empfindung, fonbern nur dankbare Gefühle und Herzerhebende Vorfäge für ihren Nationale geift hervorrufen fonne. Die von dem Zeitgeift hiezu aufgeforderten Letten beweilen fich auch durdy ihre und in ihrer Spradye wert, für die Aufklärung und Einficht ihrer Pflichten und Rechte als Untertanen diejenige höhere Bildung und Weihe zu empfangen, melche fie dereinft fähig machen wird, ſich die Freiheit einer ver- fahungsmäßigen Negierung mit Geiitesreife anzueignen. Der Redner ſchließt mit dem liberalen Ausruf: Es lebe die Sprache

und in ihr der Geift!

Kiterarifche Rundichau.

—— Japans Ethik.

2: Kampf um die oftafiatifche Vorherrſchaft Ienft Aller Augen auf fih. Die voreiligen Stimmen, die den ruffiihen Waffen einen ſchnellen Sieg verhießen, find verftummt. Sogar die ruſſiſche Preſſe hat im Laufe der zehn Kriegsmonate einjehen gelernt, daB Rußland für die unverantwortliche Unterihägung feines Gegners blutiges Lehrgeld zahlen mußte. Und in Europa fragt man eritaunt, morin eigentlich dieje überrafhende Kraft Japans liegt, wie es in kurzer Zeit eine Stufe der Entwicklung erreichen fonnte, bie es befähigte mit einer Großmadt, wie Rußland, einen nicht ausfichtslofen Kampf zu führen?

Es unterliegt wohl feinem Zweifel, daß unter jonft fait gleihen äußeren Bedingungen diejenige friegführende Partei als die Ahiſch ftärfere anzufehen ift, die ihre vitalften Intereſſen ver- teidigt, die in gewiſſem Sinne um Leben und Erijtenz kämpft. Japan ift bei dieſem Kriege in wirtjchaftlicher Hinſicht ſtärker intereffiert als Rußland, das durd) die Offupation der Mandſchurei und Befipnahme Port Arthurs Japans Einflußiphäre in China und Norea fehmer bedrohte. Ob Rußland diefe Erweiterung feiner Machtſphaͤre dringend nötig hatte, mag dahingeftellt bleiben, jeben- falls handelt es fih von Seiten Rußlands nit um eine Vertei- digung feiner Eriitenzbedingungen, wie bei Japan, deſſen Induitrie wohl ihr vornehmites Abjapgebiet in dem Rachbarreich erblidte. Mag aud) der rujfiihe Politiker die Frage in umgefehrtem © Sinn enticheiden, aus der Tatſache allein, daß der Krieg in Japan wie ein Nationaltrieg geführt wird, läßt ſich der Schluß ziehen, deß bier Futoven mitwirfen, die nit nur die hohen Sphären der Diplomatie berühren, jondern dem Wolfe felbjt die Lebenswurzel bedrohten.

Literariſche Rundſchau. 73

Es ift befanntlid eine prefäre Sache, in ber Politik von Recht und Unrecht zu fpreden: auf diefem Gebiet, das den Staats: egeismus, mag er nun al Eroberer oder Terteibiger jeiner Rechte auftreten, recht eigentlid als vornehmites Prinzip aufftelt, kann von Moral in gewöhnlihem Sinne nicht die Rede fein, wenn man nit den Vorwurf alberner Sentimentalität oder gar eines lauen Patriotismus auf fi laden will.

Eine andre Frage foll uns hier beichäftigen, eine Frage, die faum in das politiiche Gebiet hineingehört, aber doch zur Beur- teilung bes Volkes, mit dem Rußlands Armeen fih im blutigen Kampfe meilen, von weſentlicher Bedeutung ift.

Weldes find die ethiihen oder veligiöfen Elemente, die den Unterbau für Japans Nufitieg bildeten, die Japan zu bem gemacht haben, mas es heute ift: zu einem Kulturſtaat, ber mit jeltener Einmütigfeit und bewundernswerter Opferbereitſchaft ſich feine Unabhängigkeit jedem gegenüber zu verteidigen bereit ift, ber fie anzutajten wagt, nicht zu einem Konglomerat heterogenjter Elemente, die durch den Willen eines Einzelnen zu widerwilligen Handlungen geführt werden, ſondern zu einem organiſch gegliederten Ganzen, dem nur das gleiche Streben feiner kleinſten Teile die nötige Gmergiemenge zuführen fonnte, um fie in eine einbeutige Tat umzuſetzen.

Wir wollen dieſe Frage an der Hand eines Werkes zu beant- worten fuchen, das unter dem Titel „Unjer Vaterland Japan“ von Japanern auf Initiative des Engländers Steab verfaßt wurde und ein großartiges Sammelwerk baritellt, bas uns über das ferne Infelreid) bie intereflanteften Aufſchlüſſe geben fann. Der Japaner gilt in Europa für eitel und ruhmredig, feine Wahrheitsliebe wird bezweifelt, jo daß ein Buch, das offenbar in Europa für Japan Stimmung machen foll, dem Mißtrauen begegnen bürfte, dak es die japaniſchen Berhältniffe in tendenziöfer Färbung ſchildere. Benn nun ſchon ein fo allgemeines. Urteil ober Vorurteil, wie das oben

verdanft, und wenn aud de warmer —— überall durch⸗ tlingt, wenn auch der Wunſch, kulturell dem Weſteuropäer nicht nachzuſtehen, aus jeder Zeile blickt, jo liegt doch wiederum jo viel ſpezifiſch Nicht-Europäiiches in ihrer Auffaſſung der tiefiten Fragen, daß es nur ungerecht erideinen würde, in diefem Merk nur eine politijche und infofern unredliche Abficht zu erfennen. Die ruhige und befonnene Kritik der eigenen Verhältniſſe, die uns fuit in jedem Kapitel entgegentritt, jheint eher ben Glauben zu redtfertigen, daß hier das Wort doch Ausdruck des Gedantens iſt und daß die

[7 Literariſche Rundſchau.

Wärme der Empfindung die Ausſagen deshalb nicht zu unglaub- würdigen ftempelt. Einem zweiten Einwand möchte ich bier begegnen: wenn von Frauenerziejung, von Kunft oder von Moral die Rede ift, fo wäre eo unbillig zu verlangen, baß der Verfaſſer fid) des eigenen Urteils in dem Sinne enthalten jollte, daß er nur von den realen Eriheinungen diefer Gebiete reden, nicht aber feine eigenen Wünjde äußern dürfte. Tut er das aber, jo hängen dieſe unmittelbar mit der Kulturftufe einer bejtimmten Bildungs- tlaſſe zufammen, zu welcher der Verfaffer gehört. Yon diefem Gefihtspunft aus wird er auch bie Erideinungen werten, die in einem niedrigeren Niveau entjtehen, und leicht wird der Wunſch, bier pſychologiſche Motive zu finden, den Verfaſſer dazu verleiten, aus ben Dingen mehr herauszulefen, als fie in Wirklichfeit bieten. Diefe Gefahr liegt aber jedem derartigen Thema nahe, und wenn heute jemand eine hriftliche Ethit ſchreiben würde, jo wird es fich nit darum handeln, zu fchildern, welche Vorbedingungen und Kompromifie fie ih im praftiihen Leben gefallen lajjen mußte, Sondern was fie im Grunde will, was fie von uns fordert. Wenn alfo von japaniiher Ethif geſprochen wird, io handelt es ſich nicht um eine Darftellung des Japaners, wie er it, fondern wie jein Moralgeieg ihm zu fein vorihreibt, das bedeutfamite Moment allerdings, um die Lebensquellen eines Volkes Fennen zu lernen. Wie wenig man im allgemeinen gewillt ift, den Motiven Japans in diejem Kriege gerecht zu werden, wie man ſich dagegen fträubt, den piydologiihen Gründen für die unzweifelhafte Tüch- tigfeit der japaniihen Soldaten nachzugehen, beweiſt das eine Wort, das heute in jedermanns Munde ilt, das Wort, mit dem alles erklärt wird: der Fanatismus der japaniihen Raſſe.

Die Berechtigung diejes Yorwurfs denn in dem Wort „Fanatiomus“ liegt ein ſolcher zu motivieren, dürfte ſchwer fallen. Zum Fanatismus gehört in jedem Falle Einjeitigfeit, Enge des Urteils und Undulviamfeit dem Andersartigen gegenüber. Veides trifft für Japan nicht zu, es iſt heute vielleiht der tole— tanteite Staat der Erde, und fein Fortichritt Hat uns gezeigt, daß ihm Enge des Urteils nicht vorgeworfen werden darf. Pofitio ausgedrüdt, muß der Fanatismus, um als Naffeneigentümlicjteit bezeichnet zu werden, einen unbeugjamen, gemeinfamen Glauben an irgend etwas zur Grundlage haben, die Naffe muß an gewiſſen Wertungen unumjtößlic) feithalten, aljo zum mindeflen eine eins heitliche Neligion oder ein für die Gejamtheit bindendes Moral- gejeß haben aber beides fehlt den Japanern.

Von einem deuten Gelehrten hörte ic die Anfiht, Japan befige weder eine Religion nod) eine einheitlide Moral, feine Weltanihauung oder die des gebildeten Japaners jei im weſent⸗ lien eine äfthetijche.

uerariſche Rundſchau. 0

Was heißt im Gegenfag zu einer ethiſchen eine äſthetiſche Weltanihauung?

Wenn dieſe Frage beantwortet werden fol, fo müſſen wir von ber heutigen modernen Auffaſſung abfehen, bie dazu neigt, die ſchroffen Gegenfäge auszugleihen und beide Syſteme mit ein- ander zu verbinden. Die äjthetiiche Weltanſchauung verpflichtet den Einzelnen, eine harmoniſche Ausgeitaltung feiner Perfönlichkeit anzuftreben, etwa im Sinne Goethes, während die ethiihe von ihm ein Unterdrüden des Natürlichen, Fleilhlihen zu gunften des Geijtigen, Jdeellen verlangt. Diefer prägnante Gegenfag tritt uns überali entgegen, wo Kunſt und Moral fid) berühren. Die Moral will aus einem Naturweien ein geiltiges jchaffen, das natürliche Material, in biblifhem Sinne das fleisch, ſoll ertötet werben, um ben Geiſt lebendig zu maden. Die Kunft, richtig vertanden, ſchafft aus totem Material lebendige Weſen, Kunitwerte, die nur dann lebensfähig find, wenn der Schöpfer dem Material Rechnung getragen hat, jeine Natur nicht vergewaltigt hat, ſondern fie mit feiner Idee zum Ganzen, zum Aunftwert verihmolgen hat. Cine äfthetiihe Weltanihauung rechnet mit der Natur des Menichen, fie will diefe Eigenart nicht verbiegen, fie will fie zur weiteſteu, edelſten Entfaltung bringen, aus der Naturanlage des Menſchen ein Kunſtwerk bie Perfönlichkeit ſchaffen.

So ſchafft die äjthetiihe Weltanſchauung Individualitäten, während die ethiſche, wenn fie fi jemals realifieren liche, gleich⸗ förmige Typen hervorbringen müßte, die ſich ohne Unteridieb einem einzigen Gejeg fügen würden.

Japan hat jeine uralte pantheiſtiſche Naturreligion nicht ver geilen und begegnet dem Naturweſen mit einer gewiſſen Ehrfurcht nicht nur der Kirfchblüte, fondern aud) dem Menjden. Cr ült Träger eines göttlichen Funkens, ein Teil ber Offenbarung bes Söttlihen, das jid in der gungen Melt manifeitiert. Dieje Aufs faſſung läßt den Japaner fein Leben ala Geſchenk, jeinen Körper als Gefäß anfehen, für deſſen Beitand und Inhalt er verantwortlich ift; Kraft, Gefundgeit und Ausdauer, nicht Aſteſe oder Ertötung des Fleildes, jucht er durch ftete Übung zu gewinnen. Er ift ſich deſſen bewußt, daß dem Höttlihen die tieriiche Natur des Menſchen wiberjtrebt und in diefem Sinne glaubt er an ein Böſes in ung, nicht an den Böſen außer uns. Ju diefem Dualismus fieht Prof. Inazo Nitobe, der Verfaſſer des Abichnitts, der unſrer Darlegung zugrunde liegt, feinen Wideripruc. Nitobe it Chriit und fagt: „Nus der paufinifchen Lehre, in der als Geſeb beiteht die Sünde zu offenbaren, geht hervor, daß je zwingender und je bindender das Geſetz iſt, deſto augenjcheinlicher die Sünde“, mit andern Worten, die Sünde iſt die logiſche Konfequenz des göttlichen Gejepes in uns und nur durch diefen Gegeniag it uns eine Entwidlung

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zum Höheren, Beſſeren gewährleiftet. Beftände biefe gegenfeitige Bedingtheit nicht, fo wäre das Böfe als ein von aufen hinzu- gefommenes zu betrachten, von dem mir durch eine erlölende Kraft befreit werben fönnten ober welches wir aus eigener Kraft vollig überwinden müßten. Beide Möglicpfeiten ſind unvereinbar mit einer ſtufenweiſen Entwiclung, denn mit der Befreiung vom Bölen wäre das Ziel erreicht und ein Gutfein gäbe es nicht mehr für den Menſchen, der nicht mehr bie Möglichkeit hat böfe zu fein. Wenn Nitobe Hier nicht unter bem Einfluß moderner wefteuropäifcher Denkweiſe fteht und wirklich die japanische Auffaſſung ber Doppel- natur des Menſchen mit diefem Ausſpruch vertritt, jo dürfen wir um fo mehr darüber erjtaunt fein, als dieſe einzige Grundlage für die Möglichkeit einer fteten Entwidlung zum Guten nicht auf dem Wege des Chriftentums, fondern felbjtändig auf Grund ber japanifchen Weltanſchauung gefunden wurde.

Wenn der Japaner jein Leben und feine Fähigfeiten als ihm verliehenes Geſchenk betrachtet, fo ift fonfequenter Weile die Darkbarkeit denen gegenüber für ihn Pflicht, die ihm das Leben geihenft haben. Den Eltern und Voreltern in erfter Linie fühlt er ſich verpflichtet, und nächſt ihnen dem Vaterlande, das ihm die Möglichkeit gab, feine Fähigkeiten in Taten umzufegen. In biefen Momenten, der Verehrung der Natur und dem Ahnenkult, Die beide dem Ehintoismus entjtammen, ift noch heute die Grundlage der japaniſchen Moral oder der Buſhido zu ſuchen. Diefes Wort bedeutet eigentlih „Kämpfender Nitter Art“ und ermeiterte fi zum Begriff der Nitterlichfeit überhaupt, zu einer Art ungeſchriebenen Ehrenkoder für den Samurai, den Ritter, von dem in eriter Linie Diannhaftigfeit, Vlännlichfeit verlangt wurde. Da das Buſhido nicht in gleichem Mafe für den Kaufmann oder Arbeiter galt, jo dürfen wir in ihm eine Art Klaffenmoral erbliden, in der ein ariftofratifhes Element zum Ausdrud gelangte, das bie ſtufenweiſe Entwidlung der Moral bei allen Völtern begleitet hat. Ihr fehlt der höhere Uriprung im Einne einer Offenbarung, fie erhebt nicht den Anſpruch abfolut zu fein, daher ift fie entwidlungsfähig. Und wie fehr fie das war, beweiſt die Tatſache, daß das Buſhido Elemente der chriſtlichen Moral in fih aufnahm, ohne feinen Charalter dabei einzubühen.

In feinfinniger Weile zeichnet Nitobe die Gegenjäge zwiſchen Buſhido und chriſtlicher Moral, und obgleich felbit Chrift, hängt er voller Pietät am Buſhido, und es koſtet ihm fichtlich einen Ent: ihluß, dem Ghrüftentum uneingeichränft den Vorrang einzuräumen. „Ih befenne, daß ich, ohne fähig zu fein es zu erklären, einen Unterfchied empfinde zwiſchen der Liebe, die Chriftus lehrt, und dem Wohlwollen, der Güte, die Buſhido nie aufhört zu verlangen. Liegt es in ihrem inneren Charakter? Liegt es in dem Grad

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ihrer Stärle? Liegt es darin, daß ber eine demokratiſch, ber andre ariſtokratiſch ift? Liegt es an der Art der Offenbarung? Iſt es, meil das eine ewig weiblid, das andre ewig männlich iff? Ober liegt es baran, daß es vom Himmel ftammend göttlich it, und das andre von ber Erde irdiſch ift? Ich weiß nicht, wie ich bieje und andre Fragen beantworten fol, bie in jchneller Aufeinander⸗ folge aufiteigen, während meine Feder über diefe Blätter gleitet, aber das glaube ih, dab die Buſhido-Lehre, durds drungen von dem Lit, weldes jeden Menden bei feinem Eintritt in die Welt empfängt, eine herrlichere Offenbarung ber Liebe vorausjah.” Und in den Schlußmworten entfdheidet fi Prof. Nitobe noch unzmei- deutiger für bas Chrijtentum: „Aber der Samurai iſt nicht mehr und Buſhido wird dahinſchwinden; und wie fein Stolz verſchwunden ift in dem leuchtenden Glanz einer aufgeflärten Bevölkerung, fo wird bie Lehre, die wir Buſhido nennen, aufgehen in einem größeren, höheren Moralgeie.” Dieje finnvolle Gegenüberftellung läßt den Unteridieb der hrütlihen und japaniſchen Moral deutlich bervortreten: bie legtere ijt eine Durch und durch national gefärbte und arijtofratiich begrenzte Vorihrift für Gefinnung und Handeln bes Japaners, während unire chrütliche Vloral mit ihrem efoteriihen Element nur ein fernes Ziel darftellt, das unfrem Denfen und Tun bie Richtung geben foll und deshalb mie auf eine einzelne Klaffe oder auf ein einzelnes Volt bejhränft fein fann. Wenn wir Die einzelnen Forderungen prüfen, jo dürfte die Berechtigung bes jo formulierten Gegenfiges nicht bezweifelt werben.

Ehriftus fordert Liebe beim Nächten gegenüber, das Buſhido Wohlwollen und Mitleid. ine gleiche Liebe für Alle gibt es nicht und wird es nie geben: es iſt eine andre Art Liebe, Die uns mit bem fulturell Gleichſtehenden verbindet, als die, melde mir dem niedriger Stehenden zollen, fie wird hier mehr den Charafter des Wohlwollens annehmen, während fie im erften Falle auch ſchon bas Gepräge bes Forderns tragen darf. Verſucht man das Gebot Ehrifti ohne jede Einſchränkung in die Tat umzufegen, fo üt bie KRonfequenz eine Toljtojiche Lehre, die von dem Haffenden Wider ſpruch zwiſchen dem driftlihen Gebot und unjern irdiſchen Lebeno- formen erfüllt, bie legteren von Grund aus verurteilt. Mag er damit aud Recht haben, er ift über die Kritit noch nicht hinauss gefommen und feine „Auferftehung” bedeutet nod) nicht ein Reform: programm, auf Grundlage deſſen das Chriftentum ohne Bruch in einer neuen Gejellihaftsordnung aufgehen fönnte. Pier rechnet der Japaner mit realen Verhältnifien, jeine Forderung entſpricht ber Gliederung ber Gejellihaft in ein Oben und ein Unten und noch verjteht er ſich nicht zu der Idee der Gleichheit Aller und zu ibeellen, unerfüllbaren Forderungen. Dem Buſhido fehlt jedes

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eſoteriſche Element, bie praktiſche und zugleich ariſtokratiche Begren⸗ zung feiner Moral verlangt vom Japaner nie Unmögliches, ſondern gerade das, was im Rahmen ſeiner Stellung, ſeiner Familie und feines Vaterlandes möglich und erwünſcht it: äußerſte Aufopferung ſeiner Perſönlichkeit im Dienſt der Pflicht, Anſpannung aller feiner Kräfte im Dienſte feines Monarchen und das alles, um ſich in legter Linie feiner Vorfahren würdig zu erweiſen und feine Ehre, die zugleich die des Vaterlandes ift, rein und unbefledt zu erhalten. Man ficht, wie begrenzt das ganze Gebiet ift, es be> fehränft fic auf Japan, auf das Vaterland und bie Heimatgenoflen und wird zu einem Hebel von unvergleihlic ftarfer Wirkung. Ein Naumann wäre in Japan nicht denkbar: wenn feine ehrliche Religiofität von ihm verlangte, fein ganzes Leben mit dem Geift bes Chriftentums zu burchtränfen und er als warmfühlender Patriot, als heigblütiger Politiker beftändig mit ber moralifchen Forderung besfelben in Konffitt geriet, weil bort fein Raum vorhanden war für Nationalitätenfrage, für politiiche Intereffeniphären, für Flotten⸗ vermehrung und ähnliches, fo müſſen wir ihm Hecht geben. Er zog ehrlicher als viele andre die Konſequenz und erklärte rundweg: Chriftentum und Politif, ober driftlihe Ethit und die Pflicht des Staatsbürgers haben wenig mit einander gemein, die Praris des Staats: und Parteilebens fordert andre Geſehe, als die der Krifl- lichen Ethit. Japan fennt dieſen Gegenfag garnicht: Patriotismus und alles, was dazu gehört, ift ethiſch, iſt moralifd, denn ber Japaner hat feinem Monarchen und feinem Vaterlande zu dienen. Man mag theoretijh aus dieien Verhältniffen die Konſequenz sichen, daß das Bufhido in feiner eng-nationalen Faſſung jedem Fortſchritt hinderlich fein mußte und nur eine fonfervativ-pietätvolle Stellung zu Thron und Staatsidee von bem wohlgefinnten Untertan verlangte; aber bie legten dreifig Jahre haben uns darüber belehrt, daß e& Männern, wie Marquis to und andern gelang, ben Begriff des wahren Patriotismus in dem Sinne zu vertiefen und zu erweitern, baf nicht ber Stillftand, fondern der Fortſchritt nad) wefteuropäifchen Dufter Japan allein die Zukunft fichern fonnte. Wie jede Abkehr vom eng:nationalen zum weiten fosmopolitiichen Standpunkt mit Gefahren verfnüpft iſt, zugleid aber die einzige Gewähr für eine Entwidlung zu freiem Menjchentum bietet, jo mußte auch für Japan ber Schritt zur parlamentariichen Verfailung nad wefteuropäiihem Mufter ein gemagter genannt werben. Wurde nicht durch die in das Staatsleben eingreifende Volfs- vertretung der Glaube an das unumichränfte, burd die Götter geheiligte Necht des Herrſchers untergraben, wurbe nicht in jebem einzelnen, der zu politifcher Betätigung berufen wurde, das Be— wußtfein rege, nad) eigenem Urteil, nach eigenem Interefie das Ruder des Staates zu lenfen? Das tief eingermurzelte Pflicht

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bewußtſein des Japaners ſcheint ihn davor bewahrt zu haben, die Ehrfurcht vor der im Monarchen verkörperten Staatsidee ließ ihn das eigene oder Parteiintereſſe vergeſſen und im Dienſt für Kaiſer und Reich feine vornehmſte Aufgabe erblicken. Dieſes Pflicht: bewußtſein iſt ſogar ſtark genug, um ber Stühzen von feiten einer Staatsfirche zu entbehren, die von jeher in Europa als Fundament jedes Thrones gegolten hat. Der Gehorfam gegen die Obrigkeit, gegen das Staatsoberhaupt ift bei uns zu einem integrierenden Beſtandteil der Staatsreligion geworden, und überall, wo ſich diefer Zufammenbang zu lodern droht, erſcheint das Herrſchertum von Gottes Gnaden gefährdet.

Nach diefer Abihweifung auf das politiihe Gebiet, die geboten erichien, um zu zeigen, welche lebendigen Rräfte bas Buſhido hier ins Leben gerufen hat umd wie fehr es dazu beitrug und wohl noch beiträgt, ben unbebenffihen Patriotismus als wahrhaft moralischen Wert anzuſehen, alfo jeden Zwieſpalt aus dem Mege räumt, tehren mir zu den von Prof. Nitobe erwähnten Wider: fprüchen zwiſchen chriftlicher Ethit und Buihido zurüd. Wenn bie Hriftlihe Moral eine geoffenbarte, abjolute, in gewiſſem Sinne himmliſche ift, fo muß das Vergehen gegen diefelbe einen völlig andern Charafter tragen, als ein Verſtoß gegen bas Buihido. Der Chriit begeht ein Unrecht Gott gegenüber, er jündigt, und teine Macht der Erde kann ihn von dieſein Makel befreien. Hier

ift das Tonma non der Erls'ung, der Nechtfertigung direkt religiös wirffam ein, us das reile Band zwichen dem Wollen und Handeln einerſeits und dem EGlauben zu nüpfen. An Stelle des Begriffs „Sünde“ tritt die „Schande“ beim Japaner: er ilt feinen Ditmenichen, feinem Vaterlande und vor allem ſich ielbit Rechenſchaft fchuldig für das, was er tut. Ihm liegt der Gedanke an eine Crlöfungsbedürftigfeit völlig fern, und fo ſcheint auch das Shriftentum, foweit das aus dem Mbichnitt hervorgeht, feinen dogmatiſchen Charafter in Japan verloren zu haben, es ift mehr Moralprinzip, ein vertichtes Bufhido geworden.

Raftan unterfcheidet in einem geiftvollen Aufiag über das Weſen des Chriftentums zwei Typen von Religionen: der eine geht von der Idee der Erlöjungsbebürftigfeit der Welt aus, der anbre von ihrer Fähigfeit beifer zu werden, und betont baher bie moralische Forderung. Ein Beiipiel für die reine Form des erſten Typus ift der Bubbhismus, für die zweite die Lehre des Konzfustie. Das Chriftentum jteht auf dem Kreuzungspuntt der beiden Ent midfungstinien biefer Typen und will_beiden gerecht werben. Je nad) den Strömungen innerhalb der Chrilten prävaliert bald bie eine, bald die andre Idee, und mit Recht macht Kaftan darauf aufmertjam, daß das Ghrijtentum in der Auffaſſung Harnacks feinen Charakter als Erlöfungsreligion ſtark eingebüßt habe, die

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ethiſche Forderung aber um ſo mehr in den Vordergrund gerückt ſei. Sobald Chriſtus Vorbild, nicht mehr Erlöfer ſei, höre das Chriftentum auf, feinem Doppelcharakter gerecht zu werden. Man braudt nur an die Phaſen der Entwidlung zu benten, bie bas Chriftentum in Aſteſe, Weltflucht und ähnlichen Ericheinungen durchgemacht hat, um aucd die Gefahr, die in ber eimfeitigen Betonung des Erlöfungscharafters liegt, nicht zu überfehen. Als ſpezifiſches Element ber Exrlöjungsreligion muß ber Begriff „Sünde“ angejehen werden; fie ift das Attribut der unerlöften Welt, im Gegenſatz zur Geredjtigfeit der erlöften, d. h. des Reiches Gottes. Von Sünde fann baher nicht im Zufammenhang mit einer Moral; lehre geiprohen werden und dem Japaner ſcheint biefer Begriff fremd geblieben zu fein.

Der Japaner hat von Indien ben Buddhismus übernommen, aber bie religiöfen Elemente find nicht vollftändig fein Eigentum geworben, nur bie „Methode der Betrachtung” hat der Buddhismus ihn gelehrt; das metaphyſiſche Clement enliprad) zu wenig feiner optimiſtiſchen Xebensbejahung, das Kontemplative lag feiner Natur fern. „Der wohltätige Einfluß diefes Lichtes Afiens, das unjre Bivilifation erhellte, war die Einführung der metaphyfiichen Elemente, die uns teilweiſe die Löfung des Geheimnijies unfrer Natur Lehrte, Gutes und Böſes, über Leben und Tod, Dinge, mit denen ber prattiſche Sinn unfrer Krieger ſich wenig beidäftigte, aber auf die jeder normale Menſch von Zeit zu Zeit, wenn er in beihau: licher Etimmung ift, jeinen Blid wendet. Mir Fönnen fagen, dab dieſe ariiche Religion unfern Sinn mehr zur Betrachtung anleitet, während Shintoismus trog feiner Anbetung ber Natur uns mehr zum Denfen veranlaßt. Was wir alfo vornehmlich in moralifcher Richtung gewonnen haben, ift die Methode der Verachtung, ein

‚modus operandi geiltiger Neife, und nicht fo ſehr jeine Philoſophie oder jein Dogma.“ Dagegen mußte bie von eſoterifchen Elementen gänzlich freie Lehre des Kon-fustie dem auf das Praftifhe gerichteten Sinn des Japaners entipreden, und auf biefer Grundlage baute fid) die Buſhidolehre auf. Dennoch müfjen wir vermuten, daß die Moralfehre des Chriftentums in Japan einen geeigneteren Boden finden dürfte, als das Dogma von der Erlöjung, und die furgen, oben angeführten Vergleiche Wwiſchen Bulhido und Chriftentum, bie Nitobe angeftellt, redıt: fertigen biefe Vermutung. Das Bushido wird ſich eher dem modernen Chriftentum affimilieren fönnen im Ginne einer allge meinen, nicht mehr auf eine Safte bejchränften Moral, und wird fi vielleicht davor hüten, in den Fehler zu verfallen, abfolute Begriffe aufzuftellen, die jeder Entwidiung der Dioral hinderlich werden fönnten. Es iſt ungemein lehrreich, daß ein Volt, deſſen jüngfte Vergangenheit fid) in einer Periode vapiden inneren und

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äußeren Wahstums abipielte, auch in den tiefften Grundlagen feines Wejens, in feiner Weltanſchauung und in feiner Moral biefen aktiven Trieb jur Geltung gebracht hat. Seine Welt: anſchauung ijt Dank für fein eigenes Dafein, als Grundlage jeder Tätigkeit, iſt freudige Lebensbejahung, und feine Moral fordert von ihm, feine Kräfte in ben Dienft des Allgemeinmwohls, des Staates zu ftellen: Beides hat die finmvolle Betätigung zum Ziel, nicht den eigenen Vorteil, wohl aber die eigene Ehre, den guten Namen und Kuf.

In engem Zujammenhang mit bem ausgeiprodien biesiei- tigen Charafter der japaniſchen Moral jicht der Selbitmord. Das Harakiri erfdeint als eine Art Selbithinrihtung eines Menihen, der feinen Mitmenſchen etwas ſchuldig geblieben ift; er hat ſich durch irgend ein Vergehen entehrt und vollzieht nun felbit Die Strafe an ſich, oder er will mit dem Tode feine Unfchuld beweifen: „ich will euch meine Seele zeigen, auf daß ihr jelbjt urteilen möget.” Nitobe jagt Sehr fein zu dieſem für unjer Verſtändnis fo ſchwierigen Punkt japaniſchen Ehrgefühls: „Es iſt die Geſchichte, die den blafien Tod verflärt, es iſt das Leben, das der Verblichene überftanden hat und das dem Tode die Pein und Schmach nimmt. Wenn es nicht fo wäre, wer wollte den Schierlingsbecher mit PHitofophie zujanmenreimen, oder das Kreuz mit dem Evangelium? ... Wir fönnen über Yeibaufihligen jagen, was Garlyle über teligiöfe Bettelei gejagt hat, daß es weder eine ſchöne Beſchäf⸗- tigung war, noch eine chrenvolle, bis der Edelmut derer, die fie übten, fie zu einer ehrenvollen machte.” Die eigentümliche Art des Selbfimorbes beruht auf der Vorjtellung des Japaners, daß der Sig der Seele in ber Bara, der vorderen Numpffläche, zu ſuchen ji Dieſe Anfhanung hat eine gewiſſe Verwandtidaft mit der griechiſchen Vorſtellung von dem Gig ber Seele im Ywerdhfell, und die Phyſiologie hat uns gelehrt, day die großen jpmpathiichen Nervengeflechte, die in ber Tiefe des Leibes figen, zu unfrem ganzen Gemütsleben in nächſter Beziehung ftehen. Die Art des Setbftmorbes erfordert, da jie im höchſten Grade ſchmerzhaft iſt, Put und fühle Überlegung und ift daher nicht fo leicht zu voll: stehen, wie fein Leben durd) einen Piſtolenſchuß zu enden. Nitobe verteidigt den Selbjtmord nicht, aber er erklärt, „daß der Tag ein trauriger für Japan werden wird, an den feine Söhne die Wert ihägung ber Ehre einbüßen follten (ich meine damit nicht Seppufu oder Haratiri) felbft), die dieſes furchtbare Verfahren in fi ſchließt.“

„Ehre iſt das einzige Band, das den Japaner mit der ſitt⸗ lichen Welt verknüpft.“ Das Wort erfceint auf den erjten Blick dürftig, aber wenn die Ehre nicht nur ein nad) außen hin fauber gehaltenes Gewand bedeutet, jondern ſich auch auf die Gejinnung

Baltiihe Manatafgzift 100%, Seit 1. 6

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erſtredtt, jo liegt darin viel beſchloſſen. Und bie Buſhidolehre verlangte vom Samurai, daß er fich über ſich ſelbſt Rechenschaft zu geben habe. „Das Gewilfen, bei uns verftändlich unter ber Ber zeichnung Noforo (mas Sinn, Geiſt und ebenfo gut Herz bedeutet), mar ber alleinige Maßſtab für Recht und Unrecht. Aber wir wifjen, da das Gewifien eine Macht des Bewußtſeins ift, und da das ganze Wejen von Bushido Tätigkeit bebeutet, To iſt uns . . . gelehrt worben, da Gedanke und Tat ein und dasfelbe if.” „Cs war die Urſache, nicht der Ausgang, bie dem Verhalten Gerechtigfeit angebeihen lich” —— das find Worte, die dem tieffien Sinn jeder Moral gerecht werden, daß nicht die Handlung als ſolche ſchlechtweg, fondern nur in Bezug auf ihre Viotive fittlicd oder unfittlih genannt werden fann.

Durch welche Kluft ift dieſe Auffaſſung von ber äußerlichen Gefegeserfüllung des wahren Scmiten, bes Juden, getrennt, der in einem fiachen Phariiäertum feine Verriebigung fand. Dem Arier wird aber aud) die japanifhe Wioral dürftig und äußerlich erideinen, weil ev gewohnt iſt den Wert der fittlichen Forderung an der höchften nur denkbaren Stufe des Dioralgefeges zu meilen. Diefe Stufe ift dem Japaner erreichbar, und weil fie erreichbar hat er nicht, wie wir, die Veriuhung zu Rompromiffen zwiſchen füttlicher Pflicht und Handlung. Mir erſcheint es unwahrſcheinlich, da ein Loft, defjen ethilche Forderung jo ganz dem praftifchen Bebürfnis, jo ganz dem fulturellen Wachstum Rechnung trägt, innerlich, verlogen fein fol, ein Volt, beifen Moral den Stempel der Ehrlichleit an der Stirn trägt. Man braucht doch nur an den chriſtlichen Engländer zu benfen, dem es jo ungemein leicht gelingt das, was ihm poliliſch unzweckmäßig erſcheint, als unchriſtlich und unmoralifd zu flempeln! Auf weilen Seite liegt mehr Ver— logenheit? ber der Auf des Japanerd ift in Bezug auf Wahrs heitöliebe fein guter, und mir ſcheint deu Grund dafür nicht fern zu liegen: Jedes Volt, das ſich in jahrhundertelanger Abgefchlojjene heit entwidelte, deſſen oberſter Grundſaßz der Aufbau und die Erhaltung des eigenen Staates war, wird bei der Berührung mit andern Völfern ſich eines gewiſſen Wihtrauens nicht erwehren Tonnen, das zugleich mit jenem Hochmut gepaart fein mag, der im Andersarligen das Minderwertige erblidt. Erſt ſpät lernte der Japaner fremde Kulturen mit lernbegierigen Augen anjehen, und das Gelernte forgjam für eigene Zwede ausgeftalten. Dieſe ganze Situation verlangte eine gewiſſe Vorſicht und_diefe Vorſicht ſcheint von bem Europäer mißbentet zu werben. Gie erideint ihm als Verftedtheit, als Falſchheit, während jic dod nur die moderne Form für die politiihe Lift, für den eigenen Selbfterhaltungstrieh ift, den der hocjfultivierte Staat ebenjo nötig hat, wie der auf: ftrebende. Ein anderes Moment liegt dagegen in der Kejerve, die

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ber Japaner in Bezug auf jein Gefühlsteben überhaupt beobachtet. Man ſpricht von dem ftets lähelnden, Iuftigen Völlchen, und dieſe Epitheta haben dem Japaner den Ruf ber Oberflächlichteit einge: tragen. Nitobe weiſt diejen Vorwurf als umberechtigt zurüd: es fei ein wejentliher Zug der Buſhldolehre, daß fie völlige Selbftz beherrihung verlange, einen Stoiziomus, ber nicht nur eine nad) augen zur Schau getragene Ruhe, fondern aud) ein inneres Yewäl tigen ber Zeidenfchaften verlangt. Diefe Forderung ift dem Japaner fo in Seil und Blut übergegangen, dab er fic nicht bazır entichließen wird, dem Fremden einen Blid in fein Inneres zu geftatten, er wird mit dem Lächeln ber Höflichfeit den eigenen Schmerz zu masfieren ſuchen. Das wird für Mangel an Wahr: heitsliebe gehalten und doch liegt in diefer Verſchloſſenheit ein ftarfer männlicher Zug, den flüchtige Beobachter nur. falich gedeutet haben.

Aus allen diefen Einzelheiten ift erfichtlih, welche Schwierige feiten fih dem Europäer beim Studium des Japanertums entgegenz ftellen. Es wird ihm nur felten gelingen, in den Kern ſeines Weiens einzudringen, und bie Veſchreibung des Gejehenen und Schörten wird Häufig das wahre Bild fälihen und dem Weſen bes Japaners nicht gerecht werben. Ebenſo energiſch verwahrt ſich Prof. Nitobe gegen das in Europa hertſchende Vorurteil, das die japanische Frau vorzugsweiie als Geiihatypus kennt. Se zeugend fagt er: „Es gibt wohl faum eine irrigere Au als den Charakter der Samurai: rauen mit dem Typ der Gi zu vergleichen; es mar tatfächlih der Gegenfag zwiſchen beiden, der ben Geilhas die Dajeinsberechtigung verihaffte, denn die Samnrai⸗ Frau war ein gejegtes, ernfics, ja felbit jtrenges „haus: badenes Geſchöpf“ mit fehr wenig Geſchmack für Unterhaltung und noch weniger für Vergnügungen, beſſer bewandert in der Poeſie des Altertums 20.” Und es erſcheint auch im höchſten Grade unwahrſcheinlich, daß die Frauen, in deren Hand doch vor allem die erite Erziehung der Kinder lag, ſo tüchtige Männer ihrem Qaterlande erzogen haben jollten, wenn fie nicht auch bie nötige ethische Qualififation für dieſe Aufgabe befeſſen haben ſollten. Allerdings ſcheint das Verhältnis der Ehegatten zu einander nicht jene grundlegende Bedeutung gemonnen zu haben, wie in Europa, mo diejes Verhältnis in ideellem Sinn den Wertmeſſer für bie Höhe der erreichten Kulturſtufe bejtimmt. „Das Chriſtentum“, ſagi Nitobe, „lehrte, daß der Kernpunkt wohlgeordneter Geſellſchaft auf dem ehelichen Zuſammenleben der eriten Eltern beruhte und dab folgerichtig ein Dann Vater und Mutter verlaſſen und feinem Weide anhangen joll; eine Lehre, die an und für id nicht leicht verſtãndlich und, wie ſchon Paulus zugibt, jehr zweifelhaft in ihrer Anmendung ift und einem unreifen Jüngling geitattet, den Willen

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ſeiner Eltern mit Füßen zu treten, wenn er ſich in ein leichtfertiges Mãdchen verliebt. Chriſtus hat ſelbſtverſtändlich dieſe Auslegung nie befürwortet, auch enthalten die zehn Gebote nicht den Wortlaut Dur follft dein Weib mehr lieben, als du deinen Vater und beine Mutter ehrft.'” Nach der Buſhidolehre beitand „die kindliche Liebe als die erſte aller Tugenden“, und wieder berührt ſich hier dieje Anſchauung mit den Ideen des Ahnenkults. Es ift die Danlbar— feit für das Daſein, die das Kind feinen Eltern ſchuldet und auch die Gattenliebe darf nicht in Konflikt mit ber findlichen Chrfurdt geraten. Es ift nur eine Konfequenz diefer Auffaſſung, die offenbar allen orientalijchen Volfsftänmen gemeinjam ift, daß die Gattin erſt die ihr gebührende Stellung einnimmt, wenn fie Mutter geworden it, wie denn auch Unfruchtbarkeit der Frau in Japan alö anerkannter Sceidungsgrund gilt. Aber aud) auf diefem Gebiet hat der wejteuropätiche Einfluß ſchon vieles geändert und 6} der ungemein jtarfen Aifimilationsfähigfeit des Japaners wird © nicht lange dauern und die Emanzipation der Frau wird dort bereis jene maßvolle Grenze erreicht haben, welche die übers Ziel hinausfchießenden Beſtrebungen in Europa erit nad) längerem Pin und Hevichwanfen feitftellen werden.

In Envopa hat man die Nachahmungslunſt Japans oft ver: jpottet, aber wenn diefe Kunſt oder Anlage mit Aritit_und dem Vermögen, richtig auszuwählen, verbunden it, jo muß man fie wohl als die Grundbedingung jeder Selbiterziehung anfehen. „Welche vorwärtsichreitende Nation hätte fie nicht befeilen und nut? Man braucht mr zu bedenken, wie wenig griechiiche Kultur auf helleniſchem Boden entſtand. . . Mir jcheint, daß das originellfte, d. h. das wenigit nadahmungsfi Voll die Chinefen waren, und wir jeben, wohin ihre Originalität fie eführt J Wir ſchaudern bei dem Gedanken an unſer Schickſal in dieſem tannibaliſchen Zeitalter der Nationen, wären wir immer das gleiche Driginaf geblieben.” MNitobe.

Vor nicht langer Zeit blätterte id in Burkhardis „Kultur: geſchichte der Griechen“ und von Seite zu Eeite fteigerte ſich mein Intereſſe für die eigenartige Darttellung, ja die faft neue Beleuch- tung der griehiihen Geididhte, die durd) 9. St. Chamberlains „Örundlagen des 19. Jahrhunderts“ auch in weiteren Kreifen befannt geworden iſt. Aber zugleich fiel mir eine überraichende Parallele auf: unwillfürlid viefen Burkhardts Schilderungen des griechifchen Febens Crinnermgen om die Verhältniiie in Japan wach. Diele Frage follte wohl von berufener Geite eine forg- fättigere Bearbeitung erfahren, denn cs gibt eine Neihe interefjanter Vergleichspunkte.

Wenn wir vom Shintoismus ausgehen, fo finden wir in Griechenland ebenjo eine Naturreligion, eine Verehrung perjonis

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fizierter Naturgewalten, die fpäter vielleicht jchon zu Euripides’ Zeiten einem weitverbreiteten Skeptiziomus der Götterwelt gegenüber weicht und in dem jofratij—en „Erfenne did) jelbit” und jeinem Daimonion bereits die Grundzüge dev Buſhidolehre enthält. Die Kalofagathia, die vornehmite Tugend der Griechen, war ein ethiſches Schönheitsgefeg, das jeinen Ausdruck in einer harmoniſchen Lebensführung fand. Männlichkeit, Tapferkeit durften nicht den Sharatter der Leidenichaft annehmen, fie mußten durch die Sophroſhne (das weile Maßhalten) gedämpft werden. Die erjte Pilicht galt dem Staate, der Polis. Ihr Wohl jollte fein vornehmjtes Streben jein und der Füngling wurde in erfter Linie zum Patrioten e Burkhardt betont es beſonders jtark, wie wenig die Idee der Polis dem einzelnen, der zu ihr gehörte, feine Freiheit ließ, er wurde unfrei durd) die Verpjlichtungen,. die ihm Staat und Gemeinde aujerlegte, und das jehlimmite, was den Griechen: treffen Fonnte, war die Verbannung, das hieß mit andern Worten moraliſcher Tod, denn nur in der Vateritadt durfte er feinen religiöfen Kult verrichten, dort jtand das Heiligtum der Vausgötter und mit dem Verlaifen jener wurde auc das Band zerriſſen, das ihn mit feinen Vorfahren verfnüpfte. Das war derielbe Patriotismus, berielbe Anen= und Hersenfult, den Japan noch heute beiißt.

Gbenfowenig wie der Japaner fannte der-Grieche den Begriff „Sünde“ und fonnte ihn in unſrem Sinne nicht fennen, wohl aber war ihm „das Bewußtſein der Schande” ebenio geläufig wie ienem. Schon die homeriichen Helden weinten vor Scham, und die erichütternde Verzweiflung, hie Ajar in den Tod treibt, it us allen von der Schulbank her befannt. Dieles ausgeprägte Ehr- gefühl läßt ihn den Tod aufiuchen, ja den Selbitlmord, wenn fein Same, jein Auf beifett war. Merfwürdige Beiipiele erzählt uns Burkhardt, wie ältere Menſchen fi das Leben nehmen, weil fie fürdhten, durch ter und Gebrehlichfeit fütig zu werden. Da ipielt ein, älthetiihes Moment hinein, was vielleicht auch dem japanijchen Harakiri nicht fehlt, wenn Schuldloſe, um ihre Unſchuld zu beweiſen, fi) den Tod geben.

Die Parallele dürfte noch intereffante Vergleichspunkte auf: deden: fo das Hetärenweien in Athen, das im Perikleiſchen Zeit: alter einem ägntichen Bedürfnis entjprad, wie das G

at heute in Japan. Die gejellihaftlih enge Stellung der Ehefrau ſchuf eine Mittelftellung des Weibes, der der freiere geiftige Ver— fehr mit Männern nicht allein gejtattet, ſondern zur Pilicht gemacht wurde.

As liſtig und verichlagen galt der Grieche bei fremden Völfern, bejonders bei feinen diplomatiihen Miffionen, und Vurt— hardt bezweifelt feine Wahrbeitsliebe auch dort, wo er vaterländiſche Geigichte jhried. Die Tatfahen feien von Kegendenbildung und

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Ruhmredigkeit durchwebt, fo daß es ſchwer ſei, Tatſache und Dar- Km zu fichten. Das erinnert an die enropätichen Urteile über Japan

Zum Schluß möchte id) noch auf einen wejentlichen Unter: ſchied hinweijen, der fid auf dem Gebiet der Kunſt geltend madıt. Die antife griechiſche Kunſt fah ihre tiefiten Ideen verkörpert in vuhenden Gejtalten, fie fand in dem Harmonifchen Gleichgewicht der Linien und Formen ben ſchönſten Ausdrud. Das Ornamentale gab aud der Varjtellung der Menſchen, nit nur der Götter, jenen tiefen, jtillen Wohllaut, der uns noch heute vor den großen Merten jener jeltenen Zeit jtille jtehen läßt. Erſt ſpäter, wohl beeinflußt durd) die Nunjtbewegung in den joniſchen Städten Rlein- aſiens, wandte fie ſich einer realiitiicheren Auffaſſung zu und prägte anjtatt der Typen Charattere. Wer vor einem Prariteles’ichen Kopf oder der Milonijchen Venus fteht, wird vergeblid) nad) irgend: welchen Anhaltspunkten für den Charakter der betreffenden Gejtalten ſuchen fie find Schönheitsideale. Ganz anders jtellte ſich der Japaner dieſem Problem gegenüber: der Menſch, den er daritellt, das Tier, der Vogel, die Pflanze, jedes einzelne darakterifiert er ſcharf, er gibt ihnen Stellungen und Ausdrud, die nie vollkom— mener Ruhe entlehnt find, jondern immer ein Bewegungsmotiv enthalten. Der Vogel, der auf dem Aite figt, jtredt ben Hals, um nad) einem Jufeft auszuichauen oder er läßt feinen Ropf tief im Federkleid einfinfen, um ſich zum Schlaf zu Leben bedeutet dem Japaner Bewegung, Tätigkeit und er jicht die Natur als eine bejtändig bewegte, und er begreift den Sinn diejer Bewe— gung, wenn er in feidenen Stidereien oder Elfenbeinjchnigereien Neiihen an Äſichen und Blüte an Blüte fügt, nie einen Fehlſtrich, nie einen Mißgriff int, ſondern überall das geiegmäßige Walten innerer Naturgejepe durdichaut und die Erideinung in ihrem Einn, d. h. in ihrem Charakter veritanden hat. Als die eriten japanifchen Arbeiten nad) Europa famen, da hielt man die fonderbar verfürzten Gejtalten, die eigenartige Flugftellung der Vögel für unnatürlid), bis die Vlomentphotographie uns darüber belehrte, daß der Japaner richtiger und jchneller gefehen hatte, als der Europäer, der ſich die Antworten auf dieje fünftlerifhen Fragen bisher „unr aus der Tiefe feines Gemütes konſtruiert“ hatte. Und wie ſchnell überhofte der Japaner jeinen chineſiſchen Lehr: meilter in der Anwendung der Farbe: die - bleichen Broncetöne des Herbſtes jo fein abſſufen kann nur cin Japaner; ſeine Neghaut nicht allein auf Linien, ſondern ebenjo auf Farben feiner gieren, als die unfrige. Intereſſant wäre es zu erfahren, ob in der Wufit Japans auch, die Tonintervalle geringer find, als bei uns und der Japaner beim Anhören einer europäiihen Secunde vielleicht den Wohllaut einer Terze zu hören glaubt.

Literariſche Rundſchau. 87

Wie in der Buſhidolehre die Moral den Geſetzen des Lebens entnommen und ſeinen Bedürfniſſen angepaßt war, jo eutſprach auch die Kunſt dem eigentlichjiten Lebensnerv des Japaners, fie war Charalteriſtik finnvoller Bewegung, d. h. der gejegmäßigen Tätige teit, die das Buſhido aud) vom Menſchen verlangte. Das hödjfte Ideal war dem Japaner bie Leiſtung/ die Arbeit, dem Griechen die götterähnliche Ruhe, jenem das Tun, dieſem das Sein, Nur der Gott felbit, Buddha, ſibt ſinnend und bewegungslos auf ſeinem Thron, ihm genügt das Sein er kennt fein Tum und jo hat Japan ihn dargeftellt

So gehen scheinbar friedlih Moral und Kunſt in Japan nebeneinander her, ohne in unfruchtbarer Zwietracht, wie bei uns in Europa, einander zu befchden, und erjt die Zufunft kann uns zeigen, ob diefe beiden Gegenfäge im legten Grunde eins find, mie ein jeltenes Geſchick uns die Vereinigung beider im. Genie zeigt. Das Genie ift individuell ſchöpferiſch, im weitejlen Einne des Wortes Künitler, aber es erfüllt das höchſte Gefeg ber Moral, wenn auch „jenjeits von Gut und Böle“, indem es ſich jetbjt bejaht und dem Geſetze feines zur Welt erweiterten Ichs— gehorjam iſt.

Der Weg dahin wer weih ob er gelehrt werden kann -- dahin, wo der Menjd das Recht hat, wieder Herr zu jein, jein jetbjteigener, führt durch Dienjt und Hingabe des eigenen Selbſt. Es jcheint richtiger, diefen Meg zu wählen, wenn aud) mandes „Selbſt“ darüber zugrunde gebt, als den umgefehrten und mit dem „Herr fein“ anzufangen. -- Vor bald taufend Jahren fang ein japaniiher Dichter die Strophe:

Bezwinge du, zuerſt dein Dann deine Freunde, endlich deine 2. Das find drei Siege, und vereint fo ftart, Dapı fie des Siegers Namen lang verleihn. und vor hundert Jahren hörte Europa aus dem Munde feines größten Dichters die Worte: Doc) wenn ein Maun von allen Lebensproben Die fauerite beiteht, ſich felbit bezmingt,

Tan iann man ihn mit Feeuden Andern zeigen, Und jagen: Das üt er, das ift fein eigen.

Dr. R. v. Engelhardt.

Ghabarowst, Nov. 1904.

Literariſche Schweitern.

Kir leben in einem Zeitalter, das der Kunſt wieder eine herr:

ſchende Stellung einget t hat. Nachdem mehrere Jahr: zehnte fang das Anterefje für die Naturwilfenihaft im Vorder: grunde gejlanden hat, iſt mun die Kunſt in den Mittelpunft getreten. Es ill, als ob ſich der Gebildete erholen wolle von all liedern, Trennen und Kaffifizieren, das ein entwidelter Betrieb mit ſich bringt. Er will in eins fallen, zufammenicauen, intuitiv den Sinn des Ganzen ergreifen, am Gleihnis, am Bilde, am Eymbol genug haben kurz, fih ein wenig vom Denfen erquicen im Gefühl.

Der lebhaft erwachte älthetifche Trieb tritt mannigfadı in die Erſcheinung. Cs ift nicht zu verfennen, daß er mit einem andern, heute aufs Neue angeregten Triebe zufammentrif dem fozialen. Der Strom, zu dem fich biefe beiden vereinigen, it durch ein Echlagwort unfrer Zeit gefennreichnet: Aunit und Volk. Mo fid) älthetiihe und foziale Antereffen jo vermählen, da fiegt die Gefahr einer einjeitigen Ueberihägung und Ueherfpannurg des Mefihetiichen nicht vor. Anders liegt die Sadıe, wo das (eithetifche ohne dieſen Zufammenhang mit den Intereſſen der Gejamtheit gepflegt wird. Hier tritt das art pour Part auf. Gewiß. man kann auch dieſes Wort fo deuten, da es uns berechtigt erſcheint: die Kunſt um ihrer ſelbſt willen! Aber es laßt ſich dod) nicht leugnen, daß wir es hier mit einer ganzen nicht unbebentenden Richtung unjrer Zeit zu tun haben, deren Tendenz wir am beften bezeichnen mit dem Worte: Nefthetifierung des Lebens. Alſo nicht bloß: mehr Kunjt Ins Leben, mehr Leben in die Runft; jondern das ganze Leben zum Kunſtwerk! Es werden io ſchließlich alle Yebenswerte umgewandelt zu äſthetiſchen. Der aͤſthetiiche Geſichtspunkt iſt der einzige, von dem aus das Leben zu betrachten ift. Es bringt das nicht uur eine Vernachläffig: der Winſenſchaft, jondern vor allem eine völlige Xerachtung der oral mit fih. Dah der cigentlichre Xater diefer Richtung Niebſche it, Scheint mir faum zweifelhaft. Die Schlagwörter jyat er nicht geprägt vom Yeben als Kunſtwerl, von der Aeiihetifierung uſw. Aber feine Verachtung der herridenden Wiſſenſchaft und der driftlihen Moral, fein Eintreten für bie Herrenmoral, für die „Blonde Beſtie“ und den Uebermenſchen bedeutet doch nichts anderes als bie Inthronifierung des äjthetiichen

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Urteils. Der gewaltige Künftler Niegihe denn das ijt er doch vor allem geweſen fiellt die Genialität, die Araft, die Herrſchergewalt als das Höchſte hin, meil fie im gefällt, weil fie fo wunderſchön üt. Gr reißt falt fönnte man Tagen eine junge Generation mit ſich, die ſchon angebeuteten Zeiteinflüſſe treten Hinzu, und es entiteht jene vein heine Meltanihauung, die Aeithetifierung bes Lebens.

Es dürfte nicht ſchwer fein, in der Literatur diefe Gejamt- fümmung nachzuweiſen und fie braucht nicht immer ausgeſprochen zu fein, fie kann aud als Duft über den Werfen ausgebreitet fein, wie das z. B. bei den Dichtungen des feinfinnigen Huyo v. Hofmannsthal und der talentvollen Nicarda Huch der Fall üit. In andern Fällen verdichtet fi die Stimmung zum Gedanken. Sudermanns „Heimat“, vor allem aber Hauptmanns „Verfuntene Glocke“ bietet ein gutes Beifpiel.

Um jeine Miſſion erfüllen zu können, muß Heinrich mit Geſetz und Sittlichfeit in Konflitt geraten, fein Weib verlaſſen und Nautendelein freien. Was der Staatsbürger und Ehemann verliert, gerwinnt der Künjtler. Heinrich hat freilich nicht bie Kraft, den bejchrittenen Weg bis zu Ende zu gehn, er geht unter, aber fterbend hört er Sonnenglodenllang. Es gibt eine Möglich— feit, jein Leben ganz zum Kunſtwerk zu machen, unbeirrt um das Dazwiſchenfahren einer hindernden Moral, ganz äſthetiſch, ganz Nünftler zu werben.

Eins freifih ift dazu nötig: die volle ungeſchwächte Ent— widlung des Gefühlslebens, Weg mit den Alügeleien des Vers ftandes, mit ber Dreifur des Willens in einer aufgezwungenen Moral! Heinrichs Gefühlsteben kann ſich nur frei entfalten an der Brujt der Natur. Daher die Vereinigung mit dem Naturs wejen Nautendelein. Diefer Punkt führt ‚uns auf das zweite Sharafteriftitum der literariſchen Richtung, ‘von der wir reden. Der reine Xeithetiter muß das Gefühlsieben vor allem betonen taisthesis = Empfindung). Schauen, farbenfroh, gefunde Sinn lichkeit und Aehnliches find heute Echlaqwört: Von der bildenden Runt_ her wirft ein Genie wie Böcklin fräftig in biefer Richtung. Und ſo wird denn verſtändlicherweiſe die Natur befeelende, Geftalten ichaffende, Auge und Ohr, kurz die Sinne erfreuende Phanrafie verherrlicht. Gegenüber der Betonung des Verjtandes und des Gewiſſens die freie herrliche Phantafie. Won hier ift nur ein Schritt zur Anerkennung des Phantaſtiſchen, Abenteuerlichen, Geheimnisvollen, ja Wunderbaren und Zanberhaften. Märe dihtungen, wie die „Verſunkene Glocke“ und „Die drei Neid: federn” weilen in dieſe Nichtung. Und ebenjo die dunkle Lyrik des Eymbolismus und Ampreffionismus. Dehmel, Bierbaum, Schautal, Schlaf, Holz und viele andere haben unter dieſem

so uerariſche Rundfejau.

Zeichen geichrieben. Und man irrt wohl nicht, wenn man annimmt, daß die erfreuliche Betonung der Vollsmärchen und Xolfslieber, wie jie in andern lilerariſchen Kreifen, 3. B. denen des Kunſt- warts, fo heiter erblüht ift, auf einem ähnlichen Boden erwachſen it. Die Schäpung des Gefühlslebens bringt auch die Märchen: und Wunderluſt bes Toltes mit ſich.

Wo aber die äfthelihen Werte A und O find, wo man ſich im Dämmerlicht des Symbolismus "bewegt, da ift es ſelbſt— verjtändlich, daß eine Dichtung, die im hellen Mittagslicht daliegt, die zugleid) von einem jtarfen ſittlichen Pathos getragen ift, ein beftiges Unbehagen erregt. Es iſt einfach naturwibrig, daß ein Dichter wie Schiller auf die ganze literariihe Gruppe, von der mir veden, wo nicht abjtohend, jo doch erfäftend und ernüchternd wirft. Er iſt ihr geiftiger Antipode. Im hefliten Sonnenſchein eben feine Geftalten da, ſie behalten nichts Schwantendes, nichts Tämmerhaftes, find in großen Linien gezeichnet und fo hell beleuchtet, daß die zarten, vermwöhnten Nugen des modernſten Aeſthetiterd ‚regelmä 9 zu ſchmerzen anfangen, wenn fie fie betrachten. Sie vermilien den „Duft“, die interefiante Linie. Und dann das fittlicde Pathos! Das ijt nun ſchon einfad) uner— laubt. Statt der fein nuancierten Stimmung, jtatt der intereje fanten, geheimnisvollen Fragezeichen große und fo unendlich ein- face Wahrheiten! Wozu die Selbjtveritändlichfeit?

Wir wollen hier nicht darüber urteilen. Die Abneigung gegen Schiller follte hier nur angeführt werden als Synptom einer Nichtung, die das Aeſthetiſche zur Alleinherrſchaft erheben, bus Gefühlsfeben vor allem eutwideln, in geheimnisvoller, phans taſtiſcher Dämmerpracht ſich ergehen will.

Die Entwicklung des Gefühlolebens, das Bewußtinachen des Vnbewußten. jene oft beſprochene Differenzierung und. intime iancierung ber Empfindungen hat eine wichtige Konfequenz, die tonung des Subjektiven. Es ift bekannt, welche Rolle in ıafrer Zeit die „Individualität“ fpielt. Sehr begreiflid. Der Intelleft muB nad) objektiven, allgemein gültigen Regeln operieren, der ſittlich gerichtete Wille fügt ſich objektiven Normen und handelt nad) ihnen. Das Gefühl läßt ſich nicht Fommandieren. Es iſt oder iſt nicht, unbefimmert um die orderungen ber ußenwelt. „Mir iſt fo“ daran läßt ſich durch die ganze objektive Welt mit ihren Gejegen und Forderungen nichts ändern. Es ift veritändlih, daß eine Kunſt, deren Ziel vor allem in der außeriten Verfeinerung des Gefühlslebens befteht, jubjeftivijtiich wird. Stimmungspoelie.

Diefe literarische Nichtung iſt nicht etwas ganz neues. Viel: mehr erinnert fie in vielen meientlihen Zügen an die vorige Jahrhundertwende, 1900 an 1800. Auch der Ausdrud für die

Siterarifche Rundſchau. 9

gegemmoärtige Richtung ift im Hinblid auf die ältere Echweiter jeprägt worden: Neuromantif. Denn es liegt in. der Tat eine an, wenn auch eigenartig ſchattierte Nehnlichleit vor mit jener berühmten Romantik, die durch die Schlegel-Tied ins Leben trat. Die eigentümliche Betonung und Entwialung des Gefühls- lebens, das Beilrehen, immer „aus dem Innerſten zu reden“, das Vetajten und Zerfajern der eigenen Gefühle das Unbewußte foll ja bewußt werden alles das find Dinge, die wir in der älteren Nomantif ausgeprägt wiederfinden. Wie jehr bie Roman— tifer eine Poetifierung des ganzen Lebens angejtrebt haben, it befannt. Friedrich Schlegels „Lucinde“ ftellt uns den freilich mißglüctten Verſuch einer ſolchen Gejtaltung des Lebens zum Kunſtwerk dar. Die Moral wird verachtet, während die Wiſſen— ſchaft für den Nomantifer eine ganz eigentümliche Ver— bindung mit der Kunſt eingeht. Heißt es doch: „Alle Aunit ſoll Winſenſchaft und alle Wiſſenſchaft ſoll Kunſt werden.“ Endlich der Subjeitivismus der Romantiker. Cs iſt viel über ihn geredet worden. Daher genüge Hier die Erinnerung daran, daß nad Friedr. Schlegel „Das oberite Geſetz der Poeſie iſt, daß die Mille für des Dichters fein Gejeg über ſich erkennt.“

So die Hauptzüge. Im einzelnen kann man ſich mannige jach darüber orientieren. Richard M. Meyer gibt im erſten Kapitel jeiner „Deutichen Literatur des 19. Jahrhunderts“ mit ein paar Strichen einen hübſchen Beitrag zu der beſprochenen Parallele. Ricarda Huch blidt in ihrem wundervollen roman— tich-fongenialen Bude „Blütezeit der Romantil“ (2. Aufl. 1901) immer wieder auch auf unire Zeit hin. Georg Tanß— ſcher hat dieſem Thema eine beiondere Studie gewidmet: „Sriedrih Niegihe und die Neuromantif” (1900). Freilich könnte man jagen, daß wir fhon manche Schritte getan haben, dieſe neue Nomantif zu überwinden. Symbolismus und Impreifionismus machen bereits weniger von ſich reben, ein Freniien erzielt die größten Erfolge, und der wandelt nicht in ber Dämmerung, ſondern im hellen Eonnenlicht.

Gleichwohl iſt es vielleicht nicht überflüſſig geweſen, daß ich auf dieſe Parallele eingegangen bin. Sie drängt ſich einem auf bei der Lektüre moderner Schriftftellev, auch ohne dal; man die betreffenden fiteraturgeichichtlichen Bücher und Studien kennt. Auch iſt es mir nicht auf eine Verfolgung der Parallele in alle Einzel: beiten angefommen. Wer da mehr Belege haben will für unfre Zeit, dem jei Tangichers Büchlein warn empfohlen; wer fid) über die alte Nomantit orientieren will, jei beionders auf Hicarda Huch verwiejen, die ihrem fchon erwähnten Buche ein zweites über „Ausbreitung und Verfall der Romantik“ (1904) hat folgen laſſen.

giterarifche Rundſchau.

Man Eönnte hier in der Tat auf wichtige und geraberu erſtaunliche Einzelheiten eingehn, die die Achnlichteit zwiſchen neuer und alter Nomantit dartun. Was ließe ſich nicht allein fagen über die weiblidromantijhe Empfänglichteit und Anſchmiegungs- fähigfeit, wie fie ſich ſowohl jegt als vor hundert Jahren in der Stellung zur Voltspoefie und zu frembländiiher Kunflpoeſie gezeigt hat. Es würde uns am diefer Stelle doc} zu weit führen. Denn die Aufgabe diejer Zeilen ift nicht geweien, die Entwidlung der beiden Schweitern um 1800 und 1900 zu verfolgen, jondern nur darauf hinzuweiſen, wie fie der inneren Anlage diefer Schweitern entfpredend jo ähnfic hat ausfallen müffen. Die verführeriſch prädtige und doch jo gefährliche Erhöhung und bejtändige Beachtung des jubjeftiven Gefüglsiebens bildet den gemeinjamen Ausgangspuntt.

Sobann aber galt es, darauf hiuzuweiſen, wie lehrreich ſolch eine Wicberholung einer literariihen Nichtung werden fanı. Sie {enft unfern Blid auf den notwendigen Kreislauf in der äſtheti— schen Entwiclung der Menichheit hin. Es treten diefelben Urſachtn auf und erzeugen diefelben Wirkungen. Van fan die Nomantik nit ihrem Gefühlsfeben, ihrem Subjeftiviomus, ihrer Phantaitik, igrer Anpafjungsfähigkeit und der Sucht zu verbinden, zu ver ichmelzen, wobl dem weiblichen Prinzip vergleichen. Yon dem Feminismus der neueiten Zeit iſt häufig die Rede geweſen. Aber vegt nicht gerade in folder Charakteriſierung auch der Hinweis auf das berechtigte Moment in alter fowie neuer Nomantif? Muh richt gerade die Lorif aus dem Ewig-Weiblichen Nahrung gemin: zen? Und zeigen uns nicht die Lieder Uhlands, Eichendorffs, Heines, Mörikes, wie fruchtbar ſolche romantiſche Anregung geweſen ift? Mir fdeint, bei Erwägung diejes Umftandes, wird anfer Urteil über die romantiſche Richtuug milder ausfallen müſſen, als wie es Otto Harnack z. 3. in feinem Eſſai „Klaſſiker und Nomantiter“ gefällt hat (Eſſais u. Studien 1899).

Anbderjeits freilid) hätten die Uebertreibungen und bie Jrı- ie der alten Nomantifer unfrer Zeit rechtzeitig ein warnender egel fein ſollen. nterefiant find in der Richtung die man- cherlei Charafterifierungen, Hinweiſe und- Proben, die Tanpjcher zur neuen Nomantit bringt. Das find die Bahnen des ſchranten loſen Zubjeftivismus, die Gefahren des Schwelgens im Rauſche des Gefühls, die Ertravaganzen des Echönheitsfultus. Tanbſcher fept im Schlußwort mit Hecht darauf noch bejonders den Singer, ‚ch nimmt ſich m. E. daneben jein Schlußurteil über die U tigung und die Verdienfte der Neuromantik ein wenig zu günftig und optimiftiich aus.

Endlich verdient die Stellung, die die Nomantif zu Schiller einnimmt, bejondere Veachtung. Es ijt oben mit ein paar Strichen

Siterarifche Rundſchau. 08

gezeichnet worden, mie fi die Moderne. zu Schiller geftellt bat, ja ihrem ganzen Wejen nad) hat jtellen müſſen. Iſt dieſe Eiellungnahme:neu? Ganz und gar nicht. Unfer Publifum lebt vielfah des Glaubens, daß Schiller unbeftritten ein Jahrhundert lang geherrſcht habe, da er aber der verfeinerten PBiycologie, ben gefteigerten Kunſtanſprüchen unfrer Zeit nicht mehr genüge. Wer and nur ein wenig näher zuficht, findet eine ganz andre Sechlage Cs ift geradezu amüfant, wie die abfäligen Urteile über Schiller, die um 1900 gefällt worden find, übereinftimmen mit den ablehnenden Stimmen um 1800. Höchſtens unterſcheidet fich diefer nene Tadel” von dem alten dadurd, daß er doch mit etwas mehr Reſpekt ausgeiproden wird. Cs iſt alſo nicht modernjte Piychologie, ber Schiller nicht genügt, fondern es iſt eine beitimmte Richtung, die fid an ihn ſioßen muß. Zein fittlicher Ernft, fein ideales Pathos, jein redneriſcher Schwung, die Mittaghelle feiner Zeichunng, die Ginfachheit feiner Problenme feine klar und ſchlicht geſchilderten Charaltere können ben Roman— tiler alten und neuen Schlages nicht befriedigen. Aber es iſt doch eine jehr bemerfenswerte Tatſache, daß Schiller nicht etwa als Anfänger oder während des Xenienfampfes (1796), ſondern auf der Höhe feines Nuhmes, nad Vollendung feiner dramatischen Meifterwerfe, als er tatjächlid) ſchon der erſte deutjche Dramatiker war, von der herrihenden literariihen Richtung grenzenlos veradtet wurde. Man bedenke, was das beißt: es waren nicht Dugenditenichen, inferiore Leute, die ich an Iffland und Kotzebue erfreuten und Schiller ablehnten, jondern «8 waren führende Geifter, bie eigentlich Schöngeiftigen Deutfch- lands, Männer, die große literariſche Verdienfte halten. Wie bie Geſchichte darüber geurteitt hat, it befannt. Trotz des romanti— ſchen Verdikts wuchs ſich Schiller aus zum Licblingsdichter, ja zum eigentlichen Erzieher des deutichen Volkes. Die Dichtungen der Nomantifer wurden vergeifen. Und jo icheint auch dns Mölt- lein der Neuromantif, das Schiller verdunelte, im Vorübergehen zu fein. Schillers Denfmal aber ift unverändert, und wenn wir's anbfiden, meinen wir die Worte eines alten Dichters zu bören:

Nun ftchet es da Und fpotter ber Zeit und fpottet Eiwig gewähnter Dale Weiche fchon jet dent Auge, Das ficht, Trümmer find.

Damit fei der flüchtige Hinweis auf die Stellung der Romantik zu Schiller geſchloſſen. Wen aber ſpeziell Diele Frage intereffiert, der jei nachdrücklich verwieſen auf das umlängit erſchienene Buch unſres Yandsmannes, des Privatdozenten an der Techniſchen Hochſchule zu Darmjtadt Dr. Karl Alt: Schiller

[1 Aterarifge Rundſchau.

und die Brüder Schlegel. (Meimar, H. Böhlous Nad;- folger, 1904. ME. 2,50). Dieje wiſſenſchaftlich gehaltene, aber . dabei gut leobare Schrift Tann über den Entwidlungsgang der Schlegels, ihre wachſende Abneigung gegen Schiller und zugleich über die Grundgedanten ber Romantik gut orientieren *,

* *

Die obigen Aufzeihnungen find fo kurz gehalten, daß fie eine ansführlichere Begründung nicht bieten konnten. Daher iſt es vielleicht nicht wertlos, wenn nun ala Nachwort die Beſprechung des Romans erſcheint, der wohl beanſpruchen dürfte, dev bedeu⸗ tendjte der neuromantifchen Hichtung zu fein. Ich meine Ricarda Hund, Grinnerungen von Zudolf Ursleu dem Füngeren (3. Aufl. 1901. Ich habe dieſe Beſprechung bereits vor einigen Jahren unter dem unmittelbaren Eindrud der Lektüre bes Romans geichrieben, zunächſt ohne die Abſicht der Veröffent- lichung. Meine Kenntnis der einſchlägigen Literatur war Damals noch lüdenhafter als heute. Dennoch glaube ich mit der ver— ſuchten Parallele im wejentlihen das Nichtige getroffen zu haben. Deshalb mögen die Gedanken, die unter dem frifchen Eindrud der Lektüre entitanden, hier eine Stätte finden, zugleich eine Begrü dung bietend für die obigen Grörterungen und eine Aufforderung an ben Lefer, zu forſchen, ob es ſich alfo verhielte. Ich würde heute vielleicht mandıes anders anfaiien, lajie aber, weil ich im ganzen übereinſtimme, alles unverändert.

®) Bereits nachdem ich meinen Nrtifel völlig abgeſchloſſen. fält mir cin ängit erichieneneß Bud) in die Hand, das ic doch wenigftens erwähnen möchte, weil es fih mit dem von mir behandelten Tea berührt: Osfar Ewuld, Die Probleme der Nomantit als Örundfengen der Gegenmart. (Berlin 1904. ME. 4,50.) Das Buch erieint als 1. Yand eines Wertes: Romuntif und Gegenwart. mald hält unjre Zeit für eine Seit der Nfetbftändigkeit. „Abhängig find wir und abhängig find unfre Probleme: won denen ber Noinantif.“ Als Grundproblem erfujeint ihm der Individualigmus. TDieies finder er in Äedem einzelnen der ier Probleme wieder, die cr in feinem Yuche behandelt und fo für die Nomantit wie für die Gegenwart havafteriitiih zu ſein im Problem des Staates, der Kunit, der Religion und der Crotit. ‚Jedes diefer Probleme behandelt er zufanmen mit einem Aeprüfcntanten. Tas Staatsproblem wird augeſchloſſen an Friedr. Gentz, das ber Kunſt an Grabbe, daS der Religion am Yenau, das der Eroif an Aleiit. Diele Methode iit böchit bedenklich. Drum critlich find Diele vier Männer garnicht charafteriftiiche Xertreter der Nomantif, ſondern baben mr Vezichungen zu ige. Sodann aber üft 68 irvefüßrend, fie von einem fo cinfeitigen Gejichtspunft aus zu_ betrachten. Endlich aber bringt der Gedanke, ragen der Vergangenheit als Fragen der Gegenwart zu behandeln, cine ſolche Unruhe im die Arbeit, man Idaufelt inmer von 1800 zu 1000, —— dal; die Koftüre wenig Befeiedigung bietet. Der Terf. mag guie Abjicten haben, er weilt auf jo manden Schaden der Moderne hin. Aber er leidet felber ar einem Gebrochen unfrer Tage: cr hat feine Zeit. Wieviel fruchtbarer wäre cine zulammengängende und in die Tiefe gehende Tarı Ütellung der Probleme der Nomantit geweien. Die hätte dann auch einen beffer beazbeiteien Boden abgegeben für die Probleme der Ösgenmart,

Stterarifhe Rundſchau. 85

Ricarda Huchs „Qudolf Ursleu“.

Dies it eine neue Nomantif. Freilich feine Wunder, keit Zauberer und Fcen kommen barin vor, nicht in eine ferne ei gangenheit werben wir verfegt, und das geheimnisvolle Gebiet des Religiöjen Scheint der Verfaijerin ein fremdes zu jein. Nicht die Requiſiten der Nomantif wird man hier finden, aber ihre Stimmung, nidt romantiſche Manier, aber romantiſchen Duf‘. Schönheitgetränft ift die Dichtung, alfein mit diefer romantischen Schönheit hängt ein anderes zufammen. Co flar die Geftalten angeihaut, fo deutlich fie gezeichnet find, fie behalten ſchließlich doch etwas Husgebachtes, und fo lebendig die Ereigniife vor unjer Auge treten, bisweilen haftet ihnen etwas an, was uns nicht verht überzeugen will. So hoch im „Lubolf Urslen“ ſeine dichleriſche Schönheit, ſo edel fein Stil, jo blendend feine Gleichniſſe, jo groh- artig und jelicht feine Kompofition ift, e6 fehlt ihm ein Elmas, das ich Tele innere Wahrheit nennen möchte. Co bleibt hier doch zu vieles nad), was nicht frei gewachſen und geworden, ſondern mas gemacht iſt. Gewiß, Funftvoll gemacht, fein und geihinacvoll, aber doch gemacht. Daher das Abentenerfiche auch in_der Pſychologie, jenes Abentenerliche, das von ben criten Yicbes- affären Lubolfs über die unwahrſcheinliche Epiſode mit Flora bis zu der Verhexung Gelindens durch Gaspard und zu ihrem frei— willigen Sturz aus dem Fenjter immer wieder auftaudt.

Uns folder Vorzüge und um folder Epradje willen, bie bie Dichtung Hat, entſteht die eigentümliche Stellung, die wir zu ihren Geſtalten einnehmen: dieſe Eugen, ſchönen, unglücklichen, teils Gwachen, teils frevelhaften Menſchen haben es auch uns angetan. Wenn wir das Buch ausgeleien, jehnen wir uns zurüd nad) den Geftalten, die unfre Teilnahme gewonnen. Man will nach mehr von ihnen hören, und das will was fagen. Aber die Licbe, die wir zu ihnen gefaßt, hat doch eiwas von der Liebe für Märchen- geftalten und wir haben aud) die entjeglichften Ereigniſſe, Die fie betroffen, leicht ertragen Rönnen, weil eim fein ftilifierender Schleier fie gemildert und uns gleichfam entrüdt hat.

Daher das Wort von der nenen Homantif. Ich lege Fein Gewicht darauf, baß pradjtvoll gejhilderte Träume and) in „Yudolf Ursleu“ eine Nolte fpielen und daß der Held ſchließlich katholiſch wird. Das find Einzelheiten, die ans Romautiſche anklingen, aber noch feine Nomantit machen. Nicht an Einzelheiten denfe man, jondern an das Ganze, an die Sehnſucht nad) Leben und und die Flucht ans dem Leben, an die ftarfe Stimmung und bie unbeimliche Schwüle, die auf allem laſtet. Auch das dinfle man als romantiich aufpredjen, daß; bei jo viel und jo itarfem Gefühl dod das eigentlich fehlt, was wir Gemüt nennen,

96 Literariſche Rundſchau.

„Ludolf Ursleu“ iſt intereſſant als das echte Kind ſeiner Eltern, wie es gegen Ende des 19. Jahrhunderts entſtehen konnte: die Moderne hat es geboren, nachdem fie von dem Geiſt ber Romantik befruchtet war. Hieraus erflärt ſich, was die Dichtung hat und was fie nicht hat. Alle die Formſchönheit, der Stim: mungszauber, die Feinfühligfeit und gleichſam der Duft einer wunderbar ſchimmernden tropifchen Pflanze. Aber auch der Mangel an einfältigem Vertrauen, an Frömmigfeit und innerer Geſund— heit. Man wird ſich nicht darüber wundern, dab Romantif und Moderne ein jo ihönes und fo fränfliches Kind erzeugt haben. Und beshalb wird das Kind auch ſterben müſſen. Lieben werden es viele, befonders die feinen und ariltofratiichen Seelen. Als Denfmal einer Epode bleibt es intereifant und verdient mehr Teilnahme, als ihm entgegengebradt worden. Freilich, zu den großen und glüdlihen Kindern der Kunit, denen dauernde Jugend o.« dem Auge leuchtet, gehört cs nicht, dazu iſt es nicht ſiart genug. Und deshalb iſt eo doppelt notwendig, dab ihm eine innere Geſundheit entgegengebracht werde, die nicht in Gefahr ſteht, ſelbſt anzufränfeln.

E. v. Schrenck.

Hermann Areihert von Eglogaein, gaiſer Withelm T. und Leopold von Srlich. Veln., Schr. Pactel, 1904. 93 ©. mit 2 Bid. Preis M. 3. In den Hahmen einer furzen Biographie Leopolds von Drlich gefaht, werben bier einige Briefe (im gangen 24) des Bringen Wilhelm von Preuben, fptteren Kaifers Wilgelm I, an diefen mitgeteilt. Leopold von Crlich. geboren 1801, geftorben 1800 in London, erfreute fid) feiner Zeit -al8 mifenichaftlicher Scriftfteller eines gewiffen Aufes. Er gehörte zu jenen preußiicien Militärs, dis, wie auch fein ‚jeitgenoffe Roon, durch Karl Ritter zum wiffenfchaftligen Subium der Geographic angeregt wurden; die Kefultate einer Reife nad, Britiich- Inpien hat er in einer wieberhoft aufgefegten Reifebefchreibung und einem fyiter fc darftellenden Werte „Hudien und feine Hegicrung“ wiedergelegt. Dem zungen Wilhelm üt er wohl ſchon früher mahegeireten; feit dem Jahre 1848 bis zu feinem Tode ſiand er mit ihm in einem tenen Driefmedhfel, im dem politiiche und perfönliche Berfätniffe mit freundichaftlicher Ofienheit beiprochen mueden. Die Briefe Orlichs find nicht erhalten; wie aus den Antworten des Wangen zu erfegen, enthieften fie pofitifdie Stinumungsberidpte aus den von ihm bereiten Cändern, aber aud; Meinungsäußerungen und Naticläge, die innere

oiterariſche Rundſchau. 97

Bolitit Preußens beirefiend. Die in vollem Umfang mitgeteilten Briefe des Pringen bilden ben .merioolliten Beftanbteil des Buches; denn fic gemähren mannigfadhen Einblid in die Zeit von ber Rüdtehe bes Prinzen aus England bis in die eriten Jahre feiner Regentihaft und fhäbares Material zur Beurteis fung feiner Perjönlichfeit und politifcen Tätigfeit. Das Urteil über den alten Kaifer Wilbelm wird ja noch immer durch zwei einander enigegemwirfende Ten, denjen beiret, einerfeil4 unb vor allem baburch, dah feine Regierung mit der ftaatSmänniichen Laufbahn Bismards zufammenfält und felbftverftändlih niemals iſoliert von dieſer betradytet werden kann; es wird darum bergebrachtermeiie an ihm von vornherein ein Mahftab gelegt, der faft jeden herrfcher Hein erſcheinen ließe. Anderſeits wird aber auch eine gerechte Würdigung feines Berdienites abgejtumpft durch ben bnzantinifchen Kuftus, ber neuerbings mit feinem Namen getrieben wird und der in Fritiflofer Mpothrofe alle Attribute auf ihn bäuft, die hofiſche Rhetorit und Aunſt zur Berherrligung von Fürſten erfunden. hat, II 68 doch eine Berunglimpfung des ſchiicht ehrenwerten Mannes, der noch jo vielen Ichenbig vor Augen fteht, wenn er ung jept immer wieder in fo bombaitifci, aufgeblafener Geftalt vor Augen geftet wird! Das beite Korreftin jolcher nd, oben und unten ſawantenden Beurteifung bildet bie Beröffentlichung unmittelbar au uns fpredenber Dofumente, wie c$ auch diefe Briefe an Leopoih von Orlich find. Hier tritt er uns wieder einmal entgegen mit den Gigenfcaften, die ihm ſteis verehrungsmwürdig machen, dem gefunden, freifid; jo gar nicht genialen, aber auch von feiner Doftein verblendelen Sinn für bie Tatſachen und Forderungen des Lebens, der anfpruchSlofen Geracndgüte und mafellos vornehmen Gefinnung. Wem jene Zeiten fern gerüct find, dem wird dag Meine Buch nicht viel fonderfich Intereffantes bieten; wer ihnen eine treue Erinnerung bemahrl bat, ınlın ſich aud) an ben Mleinen Zügen erfreuen, durch die iht Wild Gier bereichert wird.

8.6.

Gunlher Janfen, Norbmeitbeutiche Sludien. Berlin, Gebr. Paclel, 1904. 308 &. Preis N. 5.

Unter -biefem Titel iſt eine Reihe von. hiſtoriſchen Auffäßen vereinigt, deren Mittelpunft daß Crohberzogtum lbenburg bilbet, die aber bei ben wechfefnben Schidfalen diefes Xandes und den meilnerzmeigten Beziehungen jeiner Donaftie einen recht ausgebefnten Umfseis umfaffen. Sic führen nad Däneımort und Rublanb Sinüber, mit denen Oldenburg zeilmeilig vereinigt war. nad) Griechenland, deffen erfte Königin eine oldenburgifche Prinzeffin war. ‚Zum Teil beruben fie auf Forfdningen, zum Teil auf perfönlicjen Erinnerungen des Ner« fafiers, mie 3. 8. das unterhaltende Stu Autobiographie: „Das Jahr 148 aus der Schülerfpeftive.* SJanfen ift Stantsminifter feines Heimatlandes hemeſen unb durch Familientraditionen mit feiner Gefepichte im ichten Saprjundert genau vertzaut, - Er tritt uns als ein feingebifbeter Mann vom nicht gerade fehr aus» geprägter, aber ipmpothifcher fchefiftelerifcher Jubioiduafitär entgegen. Sein Buch bemeift wieder einmal, welde Mannigfaltigfeit des geiftigen Lebens Deutfch« land bern politifch verfängnisvollen Mleinftaateneben verbantt. Auch das abge, legene, fille Oldenburg iit teils vorübergehend, teils dauernd die Wohnftätte mandyes bedeutenden Mannes geworden; Im 18. Jahrhundert lebte Gier der jet von den Literorhifteritern mieberentbedte Belfrich Peter Sturz, einer ber geilt« vollfien Profaiften feiner Zeit, im 19. Jahrhundert Julius Mofen und NAbolf Stahr. Roch berägmtere Männer find gelspenllich im Beziehungen gu Ofbenburg

7

Ei Literariſche Nundſchau.

getreten, jo Graf Reinhard, der franzöhſſcze Diplomat und Freund Goethes, Wilpehn von Humboldt, Yerder u. a. Ein umfangreides Negifter ermöglicht fmelle und genaue Orientierung, tu aber des Ghiten etwas yu viel, wenn. wir 3 8. eine ganze Reihe griechiſcher Namen aufgezählt finden, bloß weil Athen einmal die Stadt genannt wird, in der Perities ujm. gelebt hätten.

8.

auf Hepfe, Moraliiche Ummöglichteiten. 3: Aufl. Stuttgart, 3: ©. Gotta Nachf. IM.

68 gibt Sente, bie Paul Yeyie ſchon jegt zu den Toter geworfen haben und über den noch in blühender Kraft unter uns miefenden Künftler mit einem eicpten Wehielgucten hirtwegiugehen und Hinmegyufehen fidr beveshtigt“ glanben. Damit geichieht bem Dichter ichwerss Unrenht. “en aud) der Dramatifer Henie vorausjltlich einmal vergeifen merden mid und dem NRomanfehwiftiteler fein hervorragender Play gebührt, der Kovelliit Heyie iſt einer unfrer Beiten. Des beweiit auch jeine legte bereits 1901 und 1902 autitandene Novellenfammm: lung „Dioraliiche Unmögliceiten”. Scharf arbeitet er, wie Die Novelle e& ver« Tangt, „arte Silhuetten heraus, Orundriffe, die fich mit irgend einer auffälligen Eingelheit dem Debägtnis einprägen.“ Freilich, feine Dorliebe für: ungewöhnliche Gejtalten und Probleme beweiſt er auch bier. Es ift, als ob es dem erfahrenen Menichenbeobachter und „Menfchenforfcher" (S. 244) geradezu Freude mad, feitene Ausnahmefälle zum Bormmf zu wählen und feine Meifterichaft darin zu zeigen, dab er and dieſe glanbfat macht. Und Da gelingt ihm im vollem Made, denn wer ſich durch das Geſuchte mander Sitnation, das gefogentlich Spseifende „tidifche Spiel der Verhäftwiffe” (S. 188) nicht, verftimmen Läht, der wird die Reinheit der Cinienführung, die zwingende Kraft, mit der felbt ungewöhnliche Geitalten wahricheinlich gemacht werben, bewundern müffen. Dabei verleuguet der jhönbeitsduritige Dichter feine natürliche Scheu vor allem Häaß Gichen auch bier nicht, und auc, auf Diefen Vand feiner Novellen paht das Wort Adolf Sterns: „dajt alle feine Charaktere tragen eime unveräuherliche Seibjt- adtung in ihrem Bujen, die nicht vor Jrrungen und Kämpfen, aber nor dem Semeinen bemahrt.”

Ra

Ebarlotte Niefe, Die Alabunkerſtrahe. Lpz. Grunow. 1904. Die feinfinnige Darjtelerin holſteiniſcher Jutimitäi, Charlotte Rieſe,

bat ſich lüngit einen jo rühmlichen Namen unter den deutichen Schriftftellerinnen erworben, dab man ein jede neue Bud) von ihr mit Freude in die Hand in. Auch in ihrem legten Noman „Die Stabunterjtraße” wird man vieles Ünnen, was an das Veſte gemahut, was wir die ſer liebenswürbigen Dichterin verdanten. Mic febendig wird vor ung. die alte Klabunkerſtraße in Hamburg nie üren winfligen Giebelhänfern und ihren derben und doch jo warmiherigen Menſchen geſchildert; wie ſcharf verſteht es die Verfafferin, die charakteriitiiden ge ihrer Perfonen zu erfaffen, dalı Viele vor uns Fleiſch uud Ar werden; wie beweiit jo and tweilende Bemerfung, dah jie tief ins Menichenberg zu blicten gelernt Hat; wie bligt dazwiſchen jener goldige, fait an Frig Neuer gemabnende Humor hindurch, der und das Leben zeigt, wie «6 lacht uud meint. Und dann endlich die Ainderijenen! Dieſe prächtigen, gelegentlich eingeſtreuien Genrehildigen jid jo wunderbar neu des Wirklichfeis abgelaufcht und Dabei mit

Siterarifie Raundſchau. ob

fo ſchatſem Griffel gezeichnet, daß fie vielleicht das kürnſtlichfte find, wes ung das Bud) bietet. I all diefen tleinen uttd ffeinften Zügen ift Charlotte Nieje Brifterin, fhr den Roman großen Suls ſreitich jeptt ihr die Kraft. Nicht nur das das Problem, die allmählice Entfremdung zweier Ehegatten ud dag Sich- wiederfinden ber beiden, troß erfolgter Scheidung, nicht [af genug. heraus: gearbeitet und dis in die Bleinften Details glaubhaft dargeitellt it, &$ verfdwwinbet fait unter dem üppigen Ranfenwert al. der Rlahumaleret, wie: ein Bild, das man neben ber. reden Ornamentif’ bed Hahmens faunf moch-beimestt. Wuc-iit zu Fügen, dab Die Werfaffeeln doch allnwiel aus der Rumpelammer verftanbter Romantif hervorgeholt Hat und ben Gott „Zufall“ arg herumrumoren lüht. Ober follte eine ieie ohne ben abgenupten BRomanapparat von unerwartet begtädenben Exbihaften, Hinter zerbrödienen Bildern zum Vorſchein Fonunenden Teitamenten u. &. nicht außtommen fünnen? Trog Diefer Ausftellungen wünjgen wir. dem. Büchlein echt viele Beier. Ele werden über all dem Schönen. und Gerzerfriicenden die gerügten Mängel vergefien und den Geſamieindruc empfangen, dab: ihnen hier mehr. ald Dlohe: Unterhaltungsfeftäre: geboten wird. 8%.

Reuerichienene Bücher. Jeromias, Dr. A, Babylonisches im Nonen Testament, Lpa. 182 8. 8.

Bayer, Brof. DDr. €. B., Chriftentum und Kultur. E. Beitrag zus dräl. eihit. Ben. 3 S. M. 1,40,

Braals, Supeint. D. 4. ©. Die vehalöien Strömungen ber Begenmart us Nature u. Geifteswelt. Bd. 60) Lpy. 146 ©.

. Niedjen und Sekten der Okgemvart. Unter Birke Gerfiebener wang. Tfeologen Hrög. Stuttg. 570 5. M. 4.

frof. D. O., Yredigtprobteme. Saupfragen der heutigen Edan⸗ geliumsverfündigung. 155 5. Tübingen. M.

». Bismard, des Fürften Otto, Politiſche Neben. Hiit.trit. Geiamtausgade beforgt won Horit Kohl. Bd. 18 (Heben u. Anipraden 1890-7) u. Bb.14 (Sachträge umd Gefamtregifter), Gtutig. 484 u. 232 ©. M. 8 u. 4,50.

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Ehronberg. R. Grose Vormngen, ihre Entstehung nnd Bedeutung,

4 Wi: Das Wans Parich in Hamburg, Jen. 150 5. mit & Abbild,

Sunplawien, L., Geschichte der Staatstheorien. Innsbruck. 392 8.

*

irerzitütskalender, begründet von Prof. Dr. Ascherson, Tod wit amtlicher Unterstützung brag. von Dr. TI. Schetfor und Dr. G.Ziegler. 1. Bd.: Die reichsdeutschen Universititen, M. 1,00. 2. Bd.: Die ausländischen Universitäten, M. 1,20. Leipzig, K. G. Th. Scheffler.

Wolynski, Der moderne Idealismus in Russland. E. I. Melnik. Frankl. 125 5. M. Stein, Prof. Dr. 2, Der fogiale Optimismus. Jena. 267 S. MW. 5

udie. Übers. von

100 Literarifche Rundſchau.

Baumgarten, Prof. D. ©., Serders Lebenswert und bie relig. Frage der Gegenwart, Tübingen. 105 1,50.

Fontane's, Lheod., Yriefe an jeine Familie. 2 Bo. 318 u. 342 S. Dein. Fontane. M. 2. 3

Harder, Chr., Homer Fin Wegweiser zur ersten E und Odyssee. Mit 98 Abbild. und 3 Karten. 282 M. 4,60.

Sangmelfer, Zug. Gone Seh, ger, Sein Scbe, feine Werte und fein Nachlah. 596 S. m. Bildn. Bel. Wiegandt u. Grieben. M. 6,0.

Lothar, Rud., Das deutsche Drama der Gegenwart. Mit 25 Bildn. und 117 Textiintret. Duchschmuck von Joh. Satler München.

I. 10.

Scillerbuc, Warbachet. Fur 100. Wicderleht von Schillers Todestag breg-

vom jhmwäb. Schillerverein.” 3RD ©. Eiutig. MR. 7,0.

führung in die Tli Lpz. und W

Wahl, Adalb., Vorgeihichte der franzöſiſchen Revolution. Ein Verſuch. 1. Br. „370 ©. Tübingen. D. 7.

Hiximfeld, Dr. M., Berlins drittes_ Geflecht. Steg. vön Hans Djtwald. Bd. 4) 775. Brln. M. 1.

v. Harsetzky. Feldzeugmstr. (en. Ad., Kriegsgeschichtl. Übersicht der wichtigsten Fehlzüge in Burapu seit 1792. Mit Atlas von 38 Taf. 6. noubearb. Aufl. 718 8. Wien. M.

Groffladt- Dokumente.

der &n

n des Rigafhen NAunftvereins.

Ein Rüdblid von Wolbemar Freiheren v. Mengben.

|

r Salon bes Rigaſchen Runftvereins, ber am 5. Dezember

1898 feierlich eröffnet und am 21. Dezember 1904 ftill

geichlofien wurde, hat jein Dafein in einer Diietwohnung im Erdgeichoß des Engelmannjchen Hauſes, Bafteiboulevarb Nr. 9a, jechs Jahre lang fill gefriftet und ift gewiß nur einem verhältnis: mäßig geringen Teil ber 300,000 Bewohner Rigas befannt geworben. Daß er aber für den gebildeten, bildungsfähigen und bildungsbebürftigen Teil eine nicht zu unterſchätzende Rolle gefpielt hat, ja noch mehr, daß er ein Aulturfaltor geworden, das zu erweilen foll die Aufgabe dieſes Rüdblids fein. Wehmütig, wie einen lieben Freund, haben viele, und nicht die Schlechteſten, ben Salon aus ihrem Leben ausfcheiben fehen, einem bewährten, lieben Freunde will aud) diefer Nachruf gerecht werben.

Die Betrachtung der Lebensumftände des Rigaer Kunſtſalons führt unfern Blick zurüd zu feiner Entftehung.

Der am 22. Mai 1870 auf Initiative ber Literärifch-praf- tiſchen Bürgerverbindung ins Leben gerufene Runftverein in Riga bezwedit laut feinem am 14. Januar 1870 erftmalig und am 26. Januar 1872 modifiziert beftätigten Statut: „die Förberung der Kunft ſowie bie Belebung und Verbreitung des Kunftfinnes in Riga”, und veranftaltet zur Erreihung feines Zweckes:

a) eine permanente Nusftellung ber bem Verein angehörigen

Sammlungen, ſowie neuefter Kunfterzeugnifie;

vainqe Monatafgrift 1005, deſt 2.

102 Der Salon des Rigafhen Kunftvereing.

b) temporäre Ansftellungen von Erzeugniffen ber Künſtler aller

Nationen;

©) periodiſch wiederkehrende öffentliche Hauplausſtellungen von bergl. Runftwerfen; d) Vorträge über Kunſtgeſchichte und Äſthetik.

8 5 befagt ferner: „Die Wirkfamfeit des Vereins wird durch keinerlei Rüdfihtnahme auf Malerſchulen oder Nationen beſchränkt, und foll dieſer Grundfag, wenngleid den Werfen vaterländifcher Künftler Rußlands eine befondere Beachtung vorbehalten bleibt, namentlich bei der Auswahl der für die Vereinsfammlung zu erwerbenden Runftwerfe maßgebend ſein.“

Wie ſchwer es dem Kunftverein wurde, diefen Aufgaben zu genügen, erhellt aus der Gefchichte der eriten 25 Jahre feines Beftehens, über die im Jubiläumsjahr der damalige fhriftführende Direktor Herr dim. Ratsherr Nikolai Röpenad in einer feſſelnden und verbienjtvollen Feſiſchrift berichtet !.

Die größte Schwierigkeit, die dem Kunftverein bei feinem Beftreben begegnete, den ihm vorgezeichneten Zielen entſprechend zu wirken, fand bie Direktion in der Lolalfrage. Der dem Verein zu Beginn bewilligte Raum im Nealgymnafiun, wofelbjt bie permanente Nusflellung untergebradht wurbe, genügte nur für eine ganz furze Zeit. Schon die zu Beginn des zweiten Gefchäftsjahres 1871 veranftaltete große Gemälbeausftellung fand in der Aula bes Baltifhen Polytechnikums ftatt, die dank dem Entgegenfommen bes darin heimiſchen Technifchen Vereins fowohl als namentlich des Verwaltungsrates des Polytechnifums dem Runftverein dauernd ein Aſyl bot. Als fih dann im J. 1878 erwies, daß der der ftäbtijchen Gemäldegallerie und den Sammlungen des Kunſtvereins im Polytechnikum zur Verfügung geftellte Raum abfolut nicht mehr genügte, aud andre Unzuträglicfeiten immer dringender bas Bebürfnis nad) einem eigenen Lokal erwiefen, dabei aber die feit Jahrzehnten immer wieder angeregte Frage ber Erbauung eines eigenen ſtãdtiſchen Kunſtmuſeums abermals vertagt wurbe, wurde endlid) am 1. Januar 1879 zur Unterbringung der gemeinfamen Sammlungen das Lokal im NKerfoviusihen Haufe, Tobleben-

1) eitrag zur Gefcichte des Aunftvercins in Riga, zur Feier des 22. Mai

1895 bem Aunfioerein gewidmet von Nilolai Röpenad. ige, M. Schefiers. 77 Seiten.

Der Salon des Rigaſchen Runftvereins. 108

boulevard Nr. 4, gemietet. Mußte in jenem Zeitpunkt eine ſolche Löfung der Zofalfrage mit größter Genugtuung begrüßt werben, mit ben fteigenden Anfprüchen, namentlih aber mit ben ſietig wachſenden Sammlungen von Runftwerlen, mußten aud) die damals hinreichenden Raumverhältniſſe biefer Lofalität weit Hinter ben befcheibenften Anfprücen zurüdbleiben, bie billigerweile an die Darbietungen des Runftvereins geftellt werben konnten und geftellt mwurben. Die permanente Ausftellung verblieb während der ganzen Zeit von 1879 bis 1905 in dieſem Lofal, wogegen ber Veran- ftaltung periobifcher, ftärfer befuchter Ausftellungen fowohl feitens ber Gallerieverwaltung, als namentlich des Hausbefigers ftets bie größten Schwierigeiten entgegengefegt wurben. Won ben größeren wurben bie umfangreicheren in ber jedes Mal wieder in liebens- würdigfter Weile zur Dispofition geftellten Aula des Polytechnikums veranſlaltet, fo die von ca. 10,000 Perfonen befuchte Ausftellung bes Kunfivereins No. 1871, bie im 9. 1875 veranftaltete Aus— ftellung von Kunſtwerken im Privatbefig, ebenfo fanden zwei Ausftellungen des Petersburger Vereins für fünftleriihe Wander: ausftellungen Ao. 1873 und 1875 im Polytechnikum ftatt. In der Folgezeit hat der Runftverein ſich fat zwanzig Jahre lang mit den ganz unzureichenden Räumen bes Gallerielokals begnügt, in benen außer der permanenten etwa zwölf von ihm und eine von ber ſtãdtiſchen Gallerievermaltung (1888 ruſſiſche Künſtler) veranftaltete Ausftellungen ftattfanden.

Das frifche Leben, das mit einer Reorganifation ber Direktion im 9. 1893 in ben Runftverein einzog, machte ſich aud) in feinen Ausftellungsveranftaltungen geltend. In den Jahren 1894 und 1895 fanben vier, größtenteils ber Initiative bes fchriftführenden Direftors Dr. med. Baron Engelhardt entiprungene größere Aus- ftellungen ftatt, eine von „Petersburger Rünftlern und Aquarelliften” und Herrn Paul v. Tranfehe in Niga zufammengebradhte, zwei von Gurlitt aus Berlin bezogen und eine von ruſſiſchen, polnifchen, ſchwediſchen und baltijchen Künftlern zujammengeftellte. Die brei erftien, von denen die letztgenannte als Jubiläumsausftellung das 25. Jahr des Beftehens des Kunftvereins feiern wollte, fanden abermals im Politechnikum ftatt. Aber bei allem Entgenenfommen jeitens des Verwaltungsrats mußte der Runftverein ſich ftets mit den Weihnachts- ober Ofterferien begnügen, da eine uͤberlaſung

104 Der Salon bes Rigaſchen Aunftoereins.

der Aula während des Semefters der Verwaltung des Polytechni- kums allzu große Schwierigkeiten bereitet hätte.

Unerträglih wurde die Situation, als im September 1896 für die zweite von Gurlitt zufammengeftellte Kollektion fein Lokal ausfindig zu machen war. Trotz der peinlichen Lage des Kunſt⸗ vereins verweigerte die Verwaltung ber ſtädtiſchen Gallerie ſtrikt, ihre Genehmigung, die Ausftellung im Gallerieſaal aufzuftellen, zu erteilen, die Aula des Polytechnilums war nicht zu haben, und wäre nicht die Kompagnie der Schwarzhäupter, wenn auch wider willig, in letzter Stunde eingejprungen, der Kunftverein wäre in die beſchãmende Sage geraten, mit ber ſchönen Kollektion „auf ber Straße” zu bleiben. Da mußte Wandel geihafft werden und wurde gefchafft. Einer verdienftvollen Anregung der „Kunſtecke“1 entfprungen, mehrfad in Heinen Verfammlungen erwogen und beſprochon, trat der Plan der Anmietung eines eigenen Ausftel- lungslokals für den Kunftverein auf der Generalverfammlung am 23. Oftober 1898 als Direftionsantrag an die Offentlichfeit.

Der Antrag, „eine Lofalität in Riga als „Salon“ zu per= manenten Yusftellungszweden zu mieten, und zur Ausführung dieſes Kommiſſums einen erforderlichen Kredit bis zum Betrage von 2000 Nbl. pro Jahr der Direktion zur Verfügung zu ftellen“, von Baron Engelhardt und vom Staatsrat Johannes Edardt warm befürwortet, wurde von der Generalverjammlung mit großer Majorität angenommen. Diefer Beſchluß wurde raſch in die Tat umgefeßt, und am 6. Dezember 1898 der Salon mit einer großen baltifchen Austellung dem Publifum geöffnet. Schon auf der folgenden Generalverfanmmlung des Kunftvereins, am 8. November 1899, fonnte die Direktion berichten: „Unfer Salon Hat freilich nod nicht Zeit gefunden, uns finanziell Freude zu machen, im Gegenteil, er ift uns ein rechtes Sorgenfind gewefen und wird es vorausfihtlih nod einige Zeit bfeiben. Der Kajlaberiht wird Ihnen in Zahlen jagen, wieviel der Salon uns eingebracht und wieviel er uns gefoftet hat. Aber wenn auch die legtere Summe die erftere bedeutend übertrifft, jo braucht das dod nicht allzu ſehr uns zu befümmern. Die Tatſache, daß der Kunftverein der uner—

1) Der Rigaſche Berein „Runftede*, eine gefellige Vereinigung von Künft-

fern und Aunftfreunben, die fgon Teit mehr als 10 Jahren in Kiga befteht, hat am 11. Mai 1904 die minifterielle Veftätigung erlangt.

Der Salon des Rigaſchen Kunſtvereins. 105

träglid) gewordenen Zwangslage in ber Gemäldegallerie entwachſen, ſich frei und auf eigenen Füßen hat entwideln und betätigen fönnen, dieſe Tatſache ift erfreulich genug. Und daß unjer Kunft- feben, dank dieſen fo günftig veränderten Verhältnifien, einen regen Aufſchwung genommen hat, daß es uns möglich geweſen ift, im Laufe eines Jahres fieben Ausſtellungen zu veranftalten, das ver- danfen wir in erjter Linie dem Kunſtſalon. Seit dem Beftehen des Vereins hat die Direktion nod) fein Mal über ein fo ereignis— reiches Jahr berichten fönnen. Dafür werden am Schluß meiner Rechnungsablage Zahlen ipredhen.*

Jawohl, Zahlen ſprechen. Auch hier fünnen wir der Sta— tiftif nicht entraten, und nichts ift beffer geeignet, uns ein deuts liches Bild der Leiftungen des Salons zu vermitteln, als ein Rückblick auf feine Darbietungen, feine Beſuchsfrequenz von Mit gliedern und zahlendem Publikum, feine Einnahmen aus Eintritts- geldern und aus ber Werkaufsprovifion, die Beeinflufung bes Jahresbudgets dur die Saloneinnahmen und -Ausgaben, bie Diitgliederfrequenz feit feiner Eröffnung ufm.

Aber ehe wir, freundliches Wohlwollen für den Salon bei allen unfren Leſern vorausfegend, auf feine Darbietungen im ein zelnen eingehen, wobei es im Wejen der Sache und in unfrer Abſicht liegt, „gutes von von ihm zu veden und alles zum beften zu kehren“, ericheint es als ein Gebot der Unparteilichfeit, auch das anzuführen, was ſich gegen den Ealon jagen läßt nnd was auch wir fennen unfre Feinde gefagt worden ift.

Unjer Salon, nunmehr jeligen Andenfens, war alles andre eher, als ein Ausftellungslofal. Seine für eine bejcheidenfte Familienwohnung allenfalls ausreichenden Räume mit vier Zimmern mit je 1, 2, 2 und 1 Fenfter zur Straße und einem ganz finfteren, nur fünftlih zu erleuchtenden größeren SHinterzimmer konnten feinem gerechten Anjpruch genügen, fowohl was bie Licht, als was bie Naumverhältniffe betraf. Nur wenige Wandjlähen ließen ein Anſchauen ohne ftörende Lichtreflerwirfung zu, der zum Anjehen eines größeren Bildes notwendige Abftand war bei ber Kleinheit der Zimmer unmöglich, endlich waren die Wanbflähen und nment- lich die Türöfnungen für größere Bilder total unzureichend. Die trübe Witterung, die bei uns faſt den ganzen Herbſt anhält, bot in ber Hodparterrewohnung oft nicht das nötige Licht, obgleid) dieſe,

106 Der Salon des Rigaſchen Kunfivereins.

am Stadtfanal belegen, immer noch mehr Licht hatte, als es in ben Straßen ber inneren Stadt der Fall ift, wo die gegenüber befindliche Hausmauer das Erdgeſchoß erheblich des Lichtes beraubt. Bei der in Riga üblichen Lebensweile, die die Stäbter für zwei, aud) drei Monate, beffer Situierte oft für noch längere Zeit aus der Stadt entführt, fann nur eine verhältnismäßig kurze Zeit als Ausftellungsfaifon gelten, und um ben Mietzins für das ganze Jahr einzubringen, müſſen ſich die Darbietungen mehr oder weniger drängen, was mehrfach als Mangel empfunden und gerügt worden iſt. Aber trop all diefen Mängeln war ber befcheidene Salon doch befler als garnichts.

Bei den im Salon veranjtalteten NAusftellungen wurde es als Grundfag beobachtet, einesteils einzelne Kollektionen geſchloſſen in vorherbeftiimmten Terminen auszuflellen, andernteils einzelne Kunſtwerke, wenn bies aus irgend welchen Gründen notwendig oder wünſchenswert erſchien, auch außerhalb der Gruppe zuzulaiien. An geichlojjenen Ausftellungen haben im Salon während der ſechs- jährigen Dauer feines Beſtehens 47 jtattgefunden !.

Betrachten wir fie nad) den Ausjtellungsgegenftänden, jo ſluden wir, daß neben ben jelbftverjtändlid) bei weitem vorherr- ſchenden ca. 35 reinen Gemälde-Ausftellungen, 4 Ausftellungen funftgewerblicher Arbeiten ftattgefunden haben, und ferner 1 Aus— ftellung von Erlibris und Plakaten, 1 Ausſtellung von graphiſchen KRunftwerten, darunter namentlich Erlibris, 1 Ausftellung von orientaliſchen Teppichen, mehrere Darbietungen künſtleriſcher Photo— graphien (Präraphaeliten, Rembrandt, Amateurphotographie), 1 Ausftellung von Gypskopien nad Skulpturen von Baron Elodt, 1 Ausftellung von deforativer Malerei, 1 Ausjtellung ver ſchiedenartiger Neproduftionen von Werfen Andrea del Gartos, 1 Ausftellung ſüdamerikaniſcher Landfhaftsbilder, 1 Ausſtellung von Neproduktionen nad) Handzeichnungen alter Meijter, 1 Aus— ſtellung von Kopien und Reproduftionen von Meiſterwerlen ber italienijchen und ſpaniſchen Kenaiffance, endlich 1 Ausitellung fünftlerifcher Arbeiten früherer Schülerinnen von Frl. Elije von

1) Drei dieſer Darbietungen verdankt der Kunfiverein der Vermittlung de8 am 8. Oftober 1899 minifterielf beitätigten, baftifchen „Wereins zur Förderung der Aunftintereffen durch Wanderausftellungen“: die Petersburger und Valtifche Kolleltion, die Ausftelung der Münchener Luitpold Gruppe und die zmeite Boländifche Ansitelung.

Der Salon des Rigaſchen Aunftvereins. 107

Jung-Stüllng. Die Gemäldeausitellungen waren meiſt Gruppen— follettionen, hier oder auswärts zufammengeftellt, teils, in 18 Fällen, Sonderausjtellungen eines oder zweier Künftler, in benen 20 Rünjtler ausitellten.

Was bie Herkunft der Erponate betrifft, jo war es ſiets das Beſtreben ber Direktion des Runftvereins, im Salon Mannige faltiges zu bieten. Betreffend die Frage, ob ber Rigaſche Kunſt- verein insbefondere die Aufgabe hat, das Publikum aud mit Kunſtwerken nicht einheimiichen Uriprungs befannt zu madjen, ift es von bejonderem Intereſſe, an der Hand des oben zitierten Nöpenadihen Beitrages zur Geſchichte des Kunſtvereins fid) deſſen zu erinnern, wie ber urjprünglide, im J. 1845 entjtandene Plan der Begründung eines Kunſtvereins in Niga einen jolden für Lio:, Ejt- und Kurland ins Auge faſſen und „nur einheimiſche, in den Baltifchen Provinzen geborene oder lebende Künftler berüd- ſichtigen“ jollte. Die bis zur Beſtätigung des heutigen Kunſtvereins vorgenommenen Abänberungen: einesteils die Beſchränkung bes Vereins für Liv, Ejt- und Rurland auf einen Nigafchen Verein, anbernteils die ftatutenmäßige Feſtſtellung, daß „feinerlei Nüdfichte nahme auf Malerſchulen oder Nationalität des Künſtlers“ gelten folle, waren alfo wohl überlegt und vorbedacht. Die Zeiten und Gefihtspunfte find hoffentlich längjt überwunden, die im J. 1845 der Direktion des in der Bildung befindlichen Kunftvereins die Hand führten, als fie auf eine Münchener Ausftellungsofferte zu antworten beliebte: „jelbjt wenn die Beſtätigung der Statuten erfolgte, würde fid) die Wirkſamkeit des Vereins ftatutenmäßig nur auf Leiftungen jolher Künftler ausdehnen, die in den Dftfeepror vinzen geboren find oder in benfelben leben, mithin würde die Direktion des Kunftvereins als ſolche auf die Vorſchläge der Münchener Herren Maler wahrſcheinlich nicht eingehen. Solch rüdjtändige Anfichten und Gejhmadsrihtungen find hoffentlich jest, ein halbes Jahrhundert fpäter, nicht mehr anzutreffen.

Es iſt natürlid, das die Beſchaffung einheimiſcher Ausftel, lungen in allen Fällen bedeutend leichter fiel. Nicht allein der Fortfall der Transport: und Verſicherungskoſten, oder dod) deren geringere Höhe, vor allem die perſönliche Bekanntſchaft mit ben einheimiſchen Künftlern und ihren Werken, ſpricht für deren Bevor zugung, insbejondere die Schwierigkeit, ohne Vertrauensperjonen

108 Der Salon des Rigaſchen Aunfoereins.

ſchöne und wertoolle Erponate von auswärts zu erhalten, erſchweren die Beſchaffung ausländiſcher Kollektionen; fo hat auch die Diref: tion des Kunſtvereins nicht immer eine glüdliche Hand gehabt. MWieberholt find auswärtige Kollektionen, die hohe Transportkoften erheiſchten, eingetroffen, die die Erwartungen bitter enttäufchten. Da galt es immer wieber zu verjuchen, alle privaten Beziehungen ausjunußen, um ber vornehmften Aufgabe eines Kunſtvereins in der Lage bes Rigaſchen zu genügen: das Publitum über das auf dem Laufenden zu erhalten, was in ben Rulturländern, wo reges Runftleben pulfiert, die Geijter bewegt, die Runjtfreunde erfreut.

Trogdem haben neben 10 einheimifchen Gruppen-Ausftel: ungen auch 11 auswärtige ftattgefunden, davon 7 ausländiſche. Die einheimifhen waren:

1. Große Baltiſche (136 Werfe von 15 Künſtlern, vorherr- ſchend Wilhelm Purwit). II. (Wiemer, Richard Müller, Aerandra v. Sivers, Elfe Rudolff, Otto Lindenberg.) III. (73 Werte von Iohann Walter, Johann Lieberg, Julius Maderneet, Richard Sarring.) IV. (114 Werte von Eva Margarethe Schweinfurth, Martha und Anna Hellmann, Frida Neumann, Thella Stahl, Hildegard Hafen.) V. (75 Werke von 60 teils Petersburger, teils Baltiſchen Künftlern), 4 kunſtgewerbliche Ausftellungen und eine Ausftellung früherer Schülerinnen von Frl. Eliſe v. Jung.

Die auswärtigen waren:

1. Internationale Kollektion aus Petersburg (Dialjawin, Gionglinsty, Alerander Benois, Levitan, Neſterow, Purmit, Järnefelt, Nuftihig, Nepin, Lagarde, Aman Jean, Menard, Yans Hermann, Dill, Bartels). II. eine von Gurlitt bezogene Kollektion (Leibl, Hoffmann, Ury, Klinger, Kunz, Thoma, Wengel, Moras, Leiftitow, Harburger, Langdammer, Brandenburg, Dettmann, Schweminsfi, Crane, Sfarbina, Scoebel, Erter, Hartmann, Niethe, Sperl, Horodam, Feuerbad, Hermann, Thiem, Lilljefors, Keller, Reutlingen, Uhde, Baer, Bürgel, Hendrit, Vrancaccio, Hellen, Zimmermann, Rabes, Ankarkrona, Alvarez, Kaiſer, Engel). III. eine Petersburger und Moskauer Kollektion (Sarring, Purwit, Levitan, Paſternack, Wasnezow, Winogradow, Iwanow, Maljutin, Marie Dücker, Repin, Serow, Perepletſchikow, Moritz). IV. eine Petersburger Kolleltion (Acker, Bakat, Alerander Bénois, Alerander Bonois Konsky, Albert Benois, Bras, Levitan, Serow, Lanceray,

Der Salon des Rigaſchen Kunftvereins, 109

Stepanow, Somow, Baron Roſen). V. eine finnländiiche, von Profeſſor Tiffanen zufammengebrachte Kollettion (31 Werfe von 15 Rünftfern). VI. eine bolländiihe Gruppe (71 Werfe von 51 Künftlern). VII. eine von Keller und Neiner beforgte Kollektion (19 Werke von 13 Künftlern, darunter Leffer, Ury, Slevogt, Liebermann, Hendrich, Leiſtikow, Mackenſen, Vogeler, Hofmann). VII. eine zweite finnländifche Gruppe, zufammengeftellt mit Hilfe von Axel Gallen (56 Werke von 13 Künftlern, darunter Blomftedt, Albert Edelfelt, Arel Gallen, Eemil und Pekka Halonen, Zärnefelt, Weſterholm). IX. eine von ber Münchener Luitpoldgruppe her- geiandte Kollektion (95 Werke von 40 Künſtlern). X. eine von Keller und Reiner beforgte Kollektion (19 Werke von 17 Künftfern). XI. eine zweite holländiſche Kollektion (54 Werke verſchiedener Künftler).

Die Sonderausftellungen verteilen ſich folgendermaßen: 13 einheimifhe: Siegfried Bielenſtein 2 Mal, Wilhelm Purmit 2 Mal, Bernhard Borderbt 2 Mal, Jan Nofenthal, Johann Walter, Siede, Baranowoly, Gerhard Baron Nojen, Friedrich Moritz, Martha Unverhau, Karl Kahl, Mar Wulfahrt, Eva Margarethe Vorderdt-Schweinfurth, und 7 auswärtige: Saſcha Schneider, Ludwig Scheuermann, Ludwig v. Hofmann (nebjt einigen Werfen von Walter Leiftilow), Arel Gallen, Ludwig Dettmann, Arnold Bödlin, Hans Thoma.

Daß die Ausftellungen nicht immer den Abfichten der veran: ſtaltenden Vereinsbireftion entſprachen, ift nur zu begreiflih. Der hier zur Verfügung ftehende Raum bürfte nicht genügen, um alle vergebfichen Verſuche, alle geicheiterten Vorverhandlungen und enttäufchten Hoffnungen zu erwähnen. An diefer Stelle fei aber nicht verfchwiegen, wie ſchwer dem Rigaſchen Kunjtverein bie Beihaftung ruſſiſcher Kunſterzeugniſſe gemacht wird. Wieder und wieder hat die Direktion fi) an die verſchiedenen Kunftvereinigungen in Petersburg und Moskau, an die Afademie der Künfte, an ruſ⸗ ſiſche Mufeen, an einzelne ihr perfönlid) befannte kunſtfreundliche Würdenträger in der Nefibenz gewandt. Die finanziellen Miß— erfolge, die erfahrungsmäßig ftets der Erfchließung eines neuen Bildermarkts vorausgehen, haben die ruſſiſchen Vereinsleitungen jo gründlich abgejchredt, daß der Schaden in abjehbarer Zeit nicht wieder gut zu machen iſt. Namentlich verhält ſich die Leitung des

110 Der Salon des Rigaſchen Kunftvereind.

Nuſſiſchen Wanderausftellungsvereins, dem wir einige ſehr ſchöne Ausftellungen in Riga zu verbanten gehabt Haben, feit Jahren, und neuerdings auch der „Bund ruffiicher Künſtler“ in Moskau, auf alle Einladungen des Rigaſchen Kunftvereins ablehnend. Es fei daher hier fefigeitellt, daß der auffallende Diangel an Dar: bietungen der in ſchönſter Entwidlung begriffenen nationalruffifchen Kunft in den legten Jahren nicht dem Kunftverein und nicht der hiefigen deutſchen Gejellihaft aufs Schuldfonto zu jepen ift. An redlichen, häufigen Verſuchen hat es nicht gefehlt. Auch find auf den drei vorbenannten Petersburger und Mostauer Ausftellungen im Salon Bilder für im ganzen ca. 1100 Rbl. verkauft worden. Das mag für Petersburg wenig fein, für Riga iſt es viel.

Ziehen wir nod) die im Galleriejaal veranftalteten Aiwaſowsky— Ausftellungen, die daſelbſt vom öſterreichiſchen Kunſthändler Galvagni ausgejiellten italienifchen und jpanifhen Gemälde, den Napoleon- Eyelus von Rex, bie fübamerifaniichen Landſchaftobilder von Auguſto Ballerini in Betracht, jo läßt fi) eine nod) kosmopolitiſchere Aus- wahl der Erponate faum denken. Vermißt werden darin nur bie nordijhen Länder, namentlich die hochſtehende ſtaudinaviſche Kunft, ein Mangel, dem, nun da er erfannt if, hoffentlich in Zukunft abgeholfen werben wird.

Gehen wir nun auf die Befuhsfrequenz ein. Der Salon murbe im Ganzen! von 12,000 Mitglievern des Nunflvereins® und 34,000 zahlenden Perfonen, alfo im Ganzen von 46,000 Perſonen befugt. Die Eintrittsgelder ergaben brutto ca. 11,000 Nubel. Die Tagesfrequenz beträgt ungefähr 8 Mitglieder und 22 zahlende Beſucher, zufammen 30 Perſonen täglich, die Bruttor einnahme 7 Rbl. Piel weniger günftig ſiellt ſich das ſcheinbar glänzende ftatijtiiche Ergebnis aber bei der Unterfuchung der Frage nad) der Frequenz der einzelnen Ausftellungen, wobei es niemanden Wunder nehmen wird, daB auch die beiten einheimiichen Ausftel- tungen, gegenüber ben ausländijden, recht ſchlecht abſchneiden. Das Beſtreben, bei auswärtigen Kolleftionen, deren Beſchaffung

ſtets foftipieliger ift, nur Erjtklafjiges fommen zu laſſen, während

1) Ich gebe bier und im Folgenden ſteis möglichft abgerundete Zahfen.

%) Diefe Zubl ift infofern etwas Ju verändern, als nach einer beitchenden Vereinbarung die Mitglieder des Wanderausitellungsvereius für die von dielem Lerein beigjofiten Ausitellungen diejelben Vorzüge geniehen, wie Mitglieder des Runftoereins.

Der Salon des Rigafchen Runftoereins. au

bei einheimischen Künftlern der Wunſch, den Künftler zu fördern, auch bei geringerer Qualität feiner Probuftion mitbeftimmend iſt, bietet faum eine genügende Erklärung für die Erfheinung, daß die auswärtigen Ausftellungen jo fehr viel beijer beſucht wurden, als bie einheimiichen. Vielmehr beweiſt biefe Tatſache überzeugend den in unjrem Publifum vorherridenden Wunſch, die Werke der in aud) in Niga vielfad; gehaltenen ausländiſchen Kunſtzeitſchriften oft genannten und allgemein befannten Künſtler durd) eigene Anfhauung fennen zu lernen.

Am beften beſucht waren die Purwit:Ausftellungen, jowohl die von dieſem großen baltifhen Künftler gelieferten Sonderaus- ftellungen, als aud) die Kollektionen, an denen er hervorragenden Anteil Hatte. Die Purwit - Ausjtellung vom 3. Dezember 1900 bis 8. Januar 1901 wurde an 36 Tagen von 2217, aljo täglich von durchichnittlih 60 Perfonen befucht, die vom 16. Januar bis 26. Februar 1904 an 42 Tagen von 3240, alſo täglich burd- ſchnitllich von 81 Perfonen, die große Baltiſche Ausftellung vom 6. Dezember 1898 bis 17. Januar 1899 an 43 Tagen von 2688 Perjonen, alfo täglid) durdignittlid von 62 Perfonen; bei biejer legteren, der Salon - Eröffnungsausftellung, deren überwiegender Teil aus Purwit:Werken bejtand, fiel auch die Zugkraft des neuen Salonunternehmens ins Gewicht. Auf die befonderen Gründe des hervorragend ſtarlen Beſuchs Purwitſcher Ausitellungen kommen wir an andrer Stelle noch zurück.

Es folgen in der Beſuchsfrequenz, wobei wir nach ber Tages— frequenz orbnen, weil die allgemeine Frequenzziffer durch ungün- ftigen Zeitpunft (Sommer) oder allzu kurze oder allzu lange Dauer der Austellung beeinflußt fein fann.

Ludwig v. Hofmann . . . . im Ganzen 2077, täglich 73 Perf.

Arnold Böcklin (nur bisher unver tauft gebliebene, unvollendete

und Jugendwerfe) . . ». 1865. 4.005 Saſcha Schneider (7 Rartons) Er RE Ar Hans Thoma. . » 170 „6

Peleraburger Internationale Aus:

fellung. oo 22 e Ludwig Deltmamn . 2 2 20m „14 „8, Ael Gallen.» 22cm BE. Hu

12 Der Salon des Rigaſchen Kunſtvereins.

Dann erjt folgen: Bernd. Vorcherdt u. Fran B. Schweinfurth i. ©. 1114, tägl. 40 Perf.

Münchener Luitpoldgruppe . . - 1208 „36 Holländer (I. befjere Sendung, April 1901) 1061 „36 Baron Rofen und Friebrid Mori . . 1068 33 Petersburger und baltifhe Künftler . . „991 3 m

Bernhard Vorcherdt und Jan Rofenthal. 1116 32 Holländer (II. Sendung, Märg 1904) . 1082 32 Keller und Reiner (11. Koll. Febr. 1902) 704 „29 Finnländer (I. —— ——— —— Martha Unverhau. . . —— Reller und Reiner (IT. Koll, Kon. " 1903) "690 2% Walter Sarring, Siebert, Netenneen

Rofentbal >. - . ni, Frau Schweinfurth, Hellmann I. u. In,

Siahl Haten Neumann . . PR?) Ba Bu Siegfried Bielenftein allein. . » un 55,23 Finnländer (II. beſſere Koll.! Sommer 1902) 1619 22 Müller, Wiener, Fr. v. Sivers . . . „568 „2 Johann Walter . . . RER. ee Gurlitt Nolleftion . » 2 2 2 2 0m 1268 „18 Petersburger und Mosfauer Dialer . . 1135 18

Ludwig Scheuermann, Münden . . . „m 627 1i u Siegfried Bielenftein und Karl Winkler. 625 14

Karl Kahl. . - B „393 17 Benois-Koll. aus Peterobe (Sommer 1900) 1200 8 Mar Wulfeht. . > or Un Siede und Baranowslh. un IB. 2 u

Suchen wir aus diejen Zahlen einen allgemeinen Überblid zu gewinnen, fo finden wir, daß das Publikum den auswärtigen Darbietungen mit einer allgemeinen Frequenz von 1172 Perſonen und einer Tagesfrequenz von 40 Perfonen, gegenüber den eins heimifchen mit 1074 Perjonen und einer Tagesfrequenz von 31 Perſonen, unzweifelhaft den Vorzug gibt, ebenſo den Sonderaus- ftellungen mit 1126 Perfonen, täglih 41 Perſonen, gegenüber den

1) Diefe Kolfeftion, eine der beroorragenbiten Darbietungen des Salons, tam allmählich zur Hufitellung, und zu ungünitiger Zeit, daher ihre bedauerlid, und unerwartet ſchwache Bejucsfrequeng.

Der Salon des Rigafchen Kunſtoereins. 118

Gruppentolleftionen mit 1120 Perfonen, täglih 30 Perſonen. Der Durchſchnitisbeſuch der vier kunſtgewerblichen Ausftellungen betrug 855 Perfonen, täglih 31 Perfonen.

Werfen wir zum Schluß dieſer Betrachtung noch einen Blick auf die Schwankungen ber Beſuchsfrequenz im Salon in den 6 Jahren feines Veftehens:

1899: 1468 Ditgl. 1895 Nigtmitgl. Summa: 6363

1900: 1458 „3540 u "1908 1901: 1920 „4554 7 4474 1902: 2110, 5239 m 7354 1903: 2817 „8194 * 1100 1904: 1679 „5098 „8778 Täglich: 1899: 7 Mitgl. 22 Nichtmitgl. Summa: 29 1900: 7 17 5 24 1001: 11 „035 PN „8 1902:9 1 Pr 286 19085: 9 „97 „5 1904: 7 17 = 24

Zieht man die beſondere Zugkraft der den Rigenſern noch ganz neuen Einrichtung einer ſtändigen, häufig wechſelnden Gemälde⸗ ausftellung im erſten Salonjahr in Betracht und würdigt man die Schwierigfeiten, die fi im Kriegsjahr 1904 der Beichaffung her: vorragender Kunſtwerke aus dem Auslande entgegenftellten, die es auch bedingten, daß in diejem legten Salonjahr nur eine aus— lãndiſche Bilderkollektion, die minderwertige holländifche, zur Aus: ftellung gelangte, fo ergibt die Überfiht der allgemeinen Beſuchs- frequenz eine flelige Steigerung. Findet diefe audy Hinfichtlid der Mitglieder eine Erklärung in dem Anwachſen der abjoluten Mit: gliederzahl bes Runftvereins vor Eröffnung des Salons ca. 300, im legten Salonjahr ca. 500 —, fo beweilt die Zunahme der Zahl ber zahlenden Beſucher um jo mehr die Verbreitung des Intereſſes an ben Darbietungen bes Salons.

Wenden wir uns nun dem finanziellen Nejultat zu, das das Salonunternehmen dem Kunftverein gebracht hat. Das Vermögen des Kunftvereins betrug bei Begründung des Salons 4591 Nbl. und betrug zum 1. Oftober 1904 1883 Nbl. Cs hat ſich fomit in dieſer Zeit freilich) um ca. 2700 Rbl. gemindert; es haben aljo

na Der Salon des Rigafejen Aunftsereins.

die marnenden Stimmen, die auf ber Generalverfammlung am 23. Oftober 1898 aus der Anmietung des Salonlolals erwachſende pefuniäre Verlufte befürdteten, Recht behalten. Aber gewiß hat and die andre Auffaffung nit minder Recht behalten, bie Die Aufgabe des Kunftvereins nicht in der Anfammlung und Ver: größerung feines Rapitalvermögens, jondern in ber Vermittlung fünftlerifcher Anregung, in der Darbietung von Kunftausftellungen, unbehindert durch äußere, die Selbjtändigfeit des Vereins beengende Feſſeln erblidte.

Die Salonmiete betrug 1100 Nbl. jährlid).

Wir finden in den Jahresfafjaberichten folgende Poften, die ſich, was zu beachten iſt, nur auf den Salon beziehen:

Einnahmen: Ausgaben: Verluft:

1898/1899 2148. R. 60 8. 3336 R. 40 8. 1187 R. 80 R. 1899/1900 1170 20 2483 97 1313 77 1900/1901 2197 43 3244 „23 1046 80. 1901/1902 1735 öl 2219, 98 44, 1902/1903 2783 68 3970 30 1186 32 1903/1904 2368 24 2860 59 492 35.

Während aber die Gejamtverluftjumme aus bem Salon für 6 Jahre 2 2 2 22020. 59118. 508. betragen follte, beträgt die Rapitaleinbuße aljo weniger als bie Hälfte, ein Beweis dafür, daß die Raffenverwaltung bes Runit- vereins imftanbe geweſen it. auf andrem Wege, b. h. durch ander: meilige wachſende Einnahmen, den Schaden zum Teil einzubringen.

Eine abermalige Vergleihung der Zahlenergebniije bei Berechnung der Bruttoeinnahmen aus den einzelnen Ausftellungen würde wieber recht intereifante Reſultate ergeben. Mir wollen indeffen unfre Zefer nicht ermüden und begnügen uns hier mit einigen Durchſchnittszahlen: 17 baltiihe Ausftellungen ergaben eine Durhfchnittstageseinnahme von 6 Rbl. 17 auswärtige Aus- Stellungen ergaben eine durchſchnittliche Tageseinnahme von 8 Rol. 82 Rop. NKorrigieren wir diefe Statiftit, indem wir bei den bal- tiihen Ausftellungen die zwei Purwit:Ausftellungen, deren größere Veſucherzahl zum Teil auf andre, als auf künſtleriſche Intereſſen zurũckzuführen ift, und bei den auswärtigen Ausftellungen bie ganz mißglückte und wertlofe Scheuermann:Ausftellung und die

Der Salon bes Rigaſchen Aunftvereins. 115

den ganzen Sommer (1900) über, in ber saison morte ausger ftellte Benois-Rolleftion aus Petersburg fortlaflen, jo ergibt ſich folgendes Rejultat: 15 baltifche Ausftellungen brachten eine Durch⸗ ſchnitistageseinnahme von 4 Rbl. 18 Kop., 15 auswärtige Aus: ftellungen bradten eine Durchſchnittstageseinnahme von 9 Rbl. 73 Rop., alfo fait 2'/2 mal fo viel. Kann angefichts biefer Zahlen dem Nunftverein der Vorwurf gemacht werden, er vernachläſſige bie einheimifchen Künſtler gegenüber den auswärtigen ?

Nah dem Beilpiel ausländiider Kunitvereine erhebt auch der Nigafche beim Verfauf von Kunftwerken aus feinen Ausftelz lungen eine Provifion, und zwar in der in Deutfchlanb meift üblichen Höhe von 10 pCt. Die Statiftif dieſer Vereinseinnahme unterliegt den größten Schwankungen, und ift nicht geeignet, beftimmte Schlußfolgerungen zuzulaſſen. Bei ber Schätzung, bie unfre einheimifchen Künftler bei uns genießen, einem ausge: ſprochenen baltiſchen Lofalpatriotismus einerjeits, dem Umſtande anderfeits, dab die Preife ohnehin anſpruchsvoller ausländiſcher KRünftler durch die Verkaufsprovifion bes vermittelnden Kunft- hãndlers meiſt noch erhöht werben, und dem meilt ganz unber gründeten Mißtrauen gegenüber ausländiihen Ausftellungspreifen überhaupt, fällt die Verfaufsftatiftif für unfre einheimiſchen Künftler ungleich günftiger aus, als für die auswärtigen.

Geben wir nun einige wenige Zahlen zur Illuftration ber Frage, ob die Ausftellungen im Salon nur dem Runftverein zugute gefommen find, oder ob auch die ausftellenden Künſtler ihren Vorteil dabei gefunden haben. Auf der zur Eröffnung des Kunſt- falons veranjtalteten Ausftellung baltifher Künſtler, die dem Kunſt- verein eine Bruttoeinnahme von 805 Rbl. bradjte, wurde für 1547 Rol. verfauft, alſo faft für den doppelten Betrag; davon entfielen auf Herrn Wilhelm Purwit, dem das Hauptverdienft am Erfolge der Ausftellung gebührt, 810 Rbl., alfo mehr als bie Gefamteinnahme des Kunſtvereins. Im Ganzen hat Purwit auf diefer und auf jeinen zwei Sonberausftellungen (feine Beteiligung an der Internationalen, an ber Belersburger und Moskauer und an der Petersburger und Baltiſchen Ausftellung zählen hier nicht mit), die zujammen dem Kunſtverein eine Bruttoeinnahme von 2250 Nbl. bradten, für 2750 Rbl. verkauft. Von andern ein: heimiſchen Malern verkauften;

116 Der Salon des Rigaſchen Kunftvereins.

Baron Gerhard Rofen: für 680 Rbl. (die gejamte Bruttoeinnahme aus ber von B. R. und Moritz im November 1902 veranftal- teten Ausftellung betrug 267 Rbl.).

Karl Kahl: für 550 Rbl. (Bruttoeinnahme feiner Ausftellung : 80 Rbl.)

Bielenftein: für 510 Rbl. (Bruttoeinnahme feiner 2 Ausftellungen : 250 Rbl.)

Bernhard Borcherdt: für 330 Rbl. (Bruttoeinnahme feiner mit Jan Roſenthal und mit Frau B. Schweinfurth veranftalteten Ausftellungen: 495 Rbl.)

Frau Borderdi:Schweinfurth: für 225 Rbl. (Bruttoeinnahme Der von ihr mit Heren B. B. veranftalteten Ausftellung: 250 Rbl.)

Frl. Martha Unverhau: für 325 Rbl. (Bruttoeinnahme ihrer Ausftellung: 152 Rbl.)

Johann Walter: für 290 Rbl. (Davon 118 Rbl. auf feiner Sonderausftellung, die dem Kunftverein 220 Nbl. brutto ein— brachte.)

Karl Windler: für 280 Rbl.

Richord Earring: für 83 Rbl.

Um den ben Ausitellern erwachſenden Vorteil zu würdigen, ift ferner zu beachten, daß eine große Anzahl von Verfäufen fich nicht auf ber Ausftellung, fonbern erjt jpäter realifiert, ein Vorzug, der in Niga ausjchliejlih den einheimifhen Künftlern zugute kommt. Es ift nicht felten vorgefommen, daß Verkäufe unmittelbar nah Schluß der Ausftellung perfeft wurden, folde find hier natürlich nicht berüdfichtigt, es iſt freifih and) oft vorge: kommen, daß die Künftler bereits verkaufte Bilder ausftellten, alſo nicht zum Verkauf, fondern zur Anficht oder Reklame.

Ehe wir weiter gehen, feien hier nod) zum Vergleich die von einigen Sonderausitellungen auswärtigen Urſprungs erzielten Verkäufe vegiftriert. Es verkauften:

Ludwig v. Hofmann für 1225 Nbl. bei einer Brutioeinnahme von 508 Nbl.

Ludwig Dettmann für 400 Nbl. bei einer Bruttoeinnahme von 435 Nbl.

Hans Thoma für 360 Nbl. bei einer Bruttoeinnahme von 435 Rbl.

Xevitan für 250 Rol.

Der Salon des Rigaſchen Aunftvereins. ur

Diefen Zahlen gegenüber hat es nicht viel auf fi, wenn einzelnen weniger glüdlihen Nusftellern feine nennenswerten Ver⸗ fäufe gelangen, wie Moritz, Rofenthal, Siedle, Baranowsky.

Denfelben Zahlen gegenüber fann aber wohl auch bie Auffaſſung nicht aufrecht erhalten werben, als hätte ber Rigaſche Runftverein ber felbftlojen Hilfe der ausftellenben baltiſchen Dialer jeine Forte eriftenz zu banken. Im Gegenteil, e8 ift nur gerecht anzuerfennen, baß bie Künftler Rigas ebenfofehr dem Kunftverein für bie Diög- lichfeit, unentgeltlich deſſen Ausftellungslofal zu benugen, zu Dan verpflichtet find, wie biejer ihnen für die Beteiligung an ben von ihm veranftalteten Ausftellungen.

Es erübrigt an dieſer Stelle auf die vom Kunſtverein durch Beihaffung ausmwärtiger Kunſtwerke den Künftlern gebotene Ans tegung, auf die ben ausftellenden Borträtmalern zugeführten Beftel- lungen feitens bes Salonpublitums, auf bie von ber Leitung des Runftialons gegebene Anregung zu Atelierftunden ber Künſiler, die manche Beftellung veranlaft, manden Bilderfauf eingeleitet haben, hinzuweiſen; es fei auch z. B. an Folgendes erinnert: Nach einer befonbers erfolgreichen Ausftelung Purwiticher Arbeiten im Salon berichtete die Schriftleitung des Vereins darüber nad Berlin, und Purwit, welder gerade damals über bie Miete eines Privatlofals in Berlin zu Ausftellungszweden verhanbelie, wurde durch eine Einladung ber Kunſthandlung Keller und Reiner überraſcht. Die von ihm daraufhin nach Berlin geſandte Kollektion bahnte ihm dann den Weg zu den bedeutendften Kunftftäbten und Ausftellungen Deutfchlands und Frankreichs, auf denen er ſeitdem zu ben befannteften Ausftellern gehört. Dies fei hier nidt als Verbienft angeführt, fondern nur erwähnt, um zu zeigen, baß bie Leitung bes Kunftvereins ftets bereit ift, ihre Pflicht zu erfüllen, den einheimifchen Rünftlern jebe in ihrer Macht liegende Forberung zuteil werben zu laffen.

Hat der Salon infofern ben an ihn billigermeife zu ftellenden Erwartungen genügt, als er an feinem Teil bazu beigetragen hat, die Bekanntſchaft zwiſchen Maler und Publilum anzubahnen und zu entwideln und Verfaufsgelegenheiten zu vermitteln, fo hat jeine Zeitung dieſe Verpflichtung noch weiter faſſen zu müflen geglaubt. Außer ben geſchloſſenen Gemäldeausftellungen Haben im Salon immer wieder aud) andre Gegenftände Aufftellung und Beadhtung

deitiſche Monatolchriſt 1905, Heft 2.

118 Der Salon des Rigaſchen Runftvereing.

gefunden: plaftische Werke, Reramifen, Kupferſtiche, Photogravüren, bie erſte künſtleriſch veranſtaltete Ausftellung von Teppicen, 2 Erlibris Ausftellungen, die Lehrausftellung für die Jugend, mehrere Ausftellungen künſtleriſcher Photographien, endlih die 4 funfigewerbli—en Nusflellungen, die bem aufmerfjamen Beob- achter einen beutlihen Aufichwung bes lokalen Nunfigewerbes zeigten, ber fi) aud) in der fteigenben Verfaufsftatiftit barftellt. Es murbe im Jahre 1809 (März) für 90 Ab. verkauft, 1902 (Dezember) für 591 Rbl., 1903 (Dezember) für 659 Rbl. 1904 (Dezember) für 500 Rbl. Hier fei aud an bie fhönen im 3. 1900 ausgeftellten Golbplafettarbeiten franzöfifher und beutfcher Künſtler erinnert.

Endlich ift e8 dem Salon als Verdienſt anzurechnen, daß er oft jungen, aufitrebenden Dileltanten bie erjte Möglichkeit bot, wenn auch in äußerlich kenntlicher, befdeibener Form, öffentlich auszuftellen; namentlich haben einige junge Maler lettifher Natio- nalität hieraus Nugen gezogen und Hoffentlich eine moralifche Stüge und Grmunterung zu fleißigem Meiterarbeiten gefunden, fo Johann Sehfilter, Alerander Strahls, Johann Selting.

Bir kommen hiermit zu einer Frage, die in unjrem Lande und unfrer Stabt als eine brennende, auch hier nicht umgangen werben fann, zur nationalen. Daß hier in Riga nationale Gegenjäge beftehen, wird niemand leugnen, ja, ihre Aktualität it zur Zeit bie allergrößte. Die Leitung des Aunftvereins, deffen Gtatut ihr ausbrüdlich die Bevorzugung irgend einer Malerſchule oder Nation unterfagt, hat ſich hinſichtlich ihrer Ausftellungen ftets auf den Standpunkt zu fiellen bemüht, daß die Kunſt international ift. Auch iſt fie ſich hinſichtlich ihres Publitums ihrer Verpflihtung voll bewußt, als Vertreterin bes einzigen beſtehenden Kunſtvereins und Inhaberin des einzigen Ausftellungslofals allen vorhandenen, wahrhaft künſtleriſchen Bedürfniſſen entgenzulommen, und den Bewohnern Rigas, ohne Nüdficht auf ihre Nationalität, fünftlerifche Anregung zu bieten. Wohl feiner Zufammenfegung wegen denn über 90 pGt. ber Vereinsglieder find deutſcher Nationalität gilt der Runftverein aber den andern mit Recht als beuticher Verein. Mit welden Ralamitäten bie Direftion des Runftvereins bei Beſchaffung wertvoller ruffifcher Runjterzeugnifie zu . fämpfen bat, ift oben gezeigt worden. Vereinsglieder ruffiicher Nationalität

Der Salon des Rigaſchen Kunftvereins. 119

find kaum vorhanden, die ruffiihen Kataloge müſſen zu jeber Ausftellung gebrudt werden, aber eigentih unnüger Weile, ba fie fait garnicht verlangt werben. Etwas anders liegt die Sache mit ben Leiten. Der Salon hat bei der häufigen Veranſtaltung von Gemälbeausftellungen letliſcher Dialer meift viel Publitum lettiſcher Nationalität angelodt. Jedoch die Haltung biefes Publifums im Salon, noch mehr aber bie Tatſache, daß bie Bejucher und angeblichen Bewunderer 5. B. Purwitſcher Erponate gefliffentlih dem Salon fern blieben, jobald ein Rünftler anbrer Nationalität. und wäre es ein Bödlin oder Thoma, zu Worte fam, liefern ben betrübenden Beweis, daß ihre Beſuche des Salons teineswegs ihrem Kunſtintereſſe, fonbern nationalen Belleitäten und landsmãnniſcher Eitelfeit entjprangen.

Die Direftion des Kunftvereins, zu ber jahrelang Wilhelm Purwil gehörte, die eine große Anzahl lettiſcher Künftler wiederholt zu Nusftellungen eingeladen Hat, den Verein, deſſen lettiiche Mit gliederzahl aber nicht 5 pCt. erreicht, fann der eventuelle Vorwurf der Vernachläſſigung lettifcher Intereffen nicht treffen. Solange die örtliche ruſſiſche und lettiſche Preſſe ihre kulturfeindliche und verftändnislofe Behandlung diefer Frage nicht ändern, ift eine Änderung des 3. 3. beftehenden Zuſtandes top aller Verſuche feitens des Kunſtvereins freilich nicht zu erwarten.

Wenn es ein oft zutreffendes Urteil ift, von einem Manne zu jagen, er jei mehr wert, als die Summe feiner Leijtungen, fo fann das mit nod höherem Recht von einem Inſtitut gejagt werben, das ein lebendiger Faktor im Leben einer Gefellichaft geworben. Die Leijtungen laffen fi) eben nicht aufzählen. Bei der feierlichen Eröffnung des Salons äußerte der hiezu geladene damalige liofändihe Gouverneur Surowzew zum Schreiber biefer Zeilen, es jei nicht das erfte Dial, daß er eine Gemäldeausftellung fehe, fon ein Mal in feinem Leben, in Tiflis, habe er das Ver— gnügen gehabt, eine folde zu befihtigen. Da erfcheint die Ans nahme wohl nicht allzu unmahrfcheinlih, das unter ben 46,000 Beſuchern des Salons eine nicht geringe Anzahl nicht einmal in der glüdlihen Lage des Gouverneurs Surowzew geweſen ift, ſich ein zweites Dal im Leben in einer Gemälbeausftellung zu befinden. Und wenn auch nur eine Meine Anzahl von wirklichen Kunfifreunden, dant dem Salon, der Kunſt zugeführt warden if

120 Der Salon des Rigaſchen Runftoereind.

und in ihm Genuß unb Belehrung gefunden bat, fo ift damit viel gemonnen.

Die mittelbare Einwirkung bes Runftfalons auf das große Publitum läßt fih an manderlei Zeichen erweifen. Sehen wir von bem Aufihwung ab, ben bas innere Vereinsleben gewonnen, von ber zunehmenden Mitgliederzahl, in welches Verbienft ber Salon ſich zudem wohl mit ber Einrichtung ber Bortragsabende zu teilen hat, von ber dank ben Darbietungen bes Salons ermög- lichten, nad) vielen vergeblichen Verſuchen in früherer Zeit im 3. 1901 einflimmig befchlofienen Erhöhung des Mitgliebsbeitrages von 3 auf 5 Rubel, von der wiederholten Weiterſendung hiefiger Salonausftellungen nah Mitau, einmal auch nach Helfingfors, dank feinen erfolgreiheren und häufigeren Veranftaltungen hat das allgemeine Intereſſe am Rigaſchen Runftverein in Stadt und Land in breiteren Schichten Boden gefunden. Der vormals nur einem beihränften Kreife bekannte Verein findet num gebührende Ermäh- nung in unfrer Preffe ſowohl, als gelegentlih aud in ber aus— länbifhen; bem Verein ift ferner im J. 1903 bie Gnabe einer Taiferlichen Schenkung durch Allerhöchlten Befehl vom 19. Dezember 1902 zuteil geworden.

Dem erftarften Kunftverftändnis und Aunftbebürfnis ift es wohl aud zu verbanfen, wenn bie Rigaſche Stabiverordnetenver« fammlung im J. 1904 zwei für das Aulturleben ber Stadt über: aus wichtige Beſchlüſſe gefaßt hat:

Die im J. 1871 aus bem Schoß des Runftvereins erftmalig ergangene Anregung zur Begründung einer Zeichenſchule, die in ber Folge immer wieder und wieder zur Sprache gebracht worden mar, ift endlich einer gebeihlichen Löfung zugeführt worden, indem die Stabt nunmehr die am 15. Januar 1873 von Frl. Elije von Jung:Stilling begründete, durch den Tob ihrer Gründerin verwaiſte Zeichenſchule als ſtädtiſche Kunſtſchule übernahm.

Wenige Wochen ſpäter, am 22. November 1904, beſchloß die Stadtverordnetenverſammlung mit der ausdrücklichen, in der Verſammlung ausgeſprochenen und veröffentlichten Motivierung, daß der Kunſwerein ein ſolches Vertrauen ſich durch ſeine bisherige Tätigleit verdient habe, ihm die Ausſiellungsſäle im neuerbauten ftädtifhen Mufeumsgebäude nebjt einigen erforderlichen Vereins»

Der Salon des Rigafchen Kunftoerein, 121

räumen zu überlaffen, und übertrug ihm damit die Führung im Kunſileben ber Stadt.

So hat ber Salon als Vorläufer des Kunftmufeums auch in höherem Sinne gewirft und den fünftigen, größeren Dar- bietungen bes Ausftellungslofals im Muſeum ben Boden bereitet. Der eine beſcheidene Salon am Bafteiboulevard wird nad) wenigen Jahren vergefjen fein, aber was er gewirkt, wird nicht verloren gehen. Dan fann bank ihm in Riga nicht mehr ohne ein Aus- ftellungslofal leben. Und je höher unfre Kulturanfprüche werben, um fo reidjer wird unfer Leben.

Anmerkung deß Berfafiers. Cine tünftlerifce Würdigung der Ausitel- Tungsobjefte habe ic mir mit Abficht verfagt. Wem die bier gebotenen Ungaben nicht genügen, der finbet in den aufbewahrten Katalogen weitere Anhaltspunkte.

Cine Sammlung diefer Kataloge werde id) in der Vibliothet der Geelihaft für Geichichte und Altertumslunde der Oitjeeprovinzen niederlegen.

Am Kamin,

Bas du mir, Aramme, doch aes eryäßfa! We du mid fefig mach, wie du mid quäfk!

Bas 14 in Afde gefunken wermeint, Fahr du an und es jußelt und weint!

Saenden Mundes, mil früdem Brik Grüßt meiner Jugend Beh und Gfük . . .

Aaugſam verlodert Scheit auf Sheit ieh’ mit dem Schatten, afte Zeit!

Eduard Fehre.

Gin Enngeöleben.

Bon Helene von Engeldardt - Yadt*.

IL

Über eines Aindes Ziege

War auf Nlderweifen Säwingen Einf ein Engef Hingeflogen Unter dettem Harfenkfingen,

ainderaugen Seherangen! Yon dem Simmelsglanz ummwoßen, Hat das Kind die Blide Mannend 3u der Sißtgehaft erfoden.

And am gäfd’nen Saltenfpiele Bfied entzaat fein Auge Bangen, Zaugzend reMt’s die Afeinen Armden, Raqh der Harf? empor zu fangen!

And mit ew’ger Sie? im Anttif Beugte id gar Hofd und Finde Gottes fel’ger SinmelsBote

Zu dem armen Erbeukinde;

Breitet aͤber'm Bfelnen Köpfen Segnend aus die Sifderföwingen, SHaudt, die Sippen ihm Deräßrend: „Was du Feb, das ſotta du fingen!“

*) 68 find juft, 35 Jahre ber, feit Helene von Engelhardts Name zum eriten Dal in der heimiichen Preffe erwähnt wurde, im Sebruar 1870: durz vorher, zu Weihnachten, war ihr erftes Wüchlein „Worgenrot“ erfdienen. Heur ift ihr Name allerwärts bei uns gefamnt und man weiß ihre Lieder zu idägen. Wenn wir gerade jet unfren Yefern biefe neuen Perle unfrer Tichterin bringen dürfen, fo ift uns das eine bejondere Sreude. Cie find wie eine poetüfche Konleliion, die der rücihauende Bid an diefem Schensmeilenftein ihr uf die Lippen gedrängt. Die Red.

Ein Sangeöleben. 123 u.

Taufend Adendröten fanken, Taufend Morgenfonnen loßten, Shlafend in der jungen Seefe Sag das Wort des Simmelsdoten.

Dog almäprih Mohn die Rebet Bor dem Haud des Morgenmindes, And wie Dämmerndes Erwachen Wegt Aih’s in der Beruf des Alndes.

Fremde, unverfaud’ne Kräfte Sadtt es nah Entfaltung ringen . . . Adnungsvol Begeßrt’s nah Worten: Bas es fedte, wol’ es fingen!

Seine Träume wurden Sleder

Seine Wounen feine Tränen Seiner Kindheit Ku und Schmerzen Seiner Jugend Gfük und Sehnen

Scönfeltstrunk’ne Shaffensfreude Banderfaßrt in Wind und Sonne . Sturm und Kampf und Seldengröhe Zicht und Glang und Siedeswonne . . .

Was fein glüßend Herz begeiaert, Mupt? im Liede wiederhfingen: Denn 08 feiner Wiege raufhten Sarfenfhlag und Engelsihwingent

II.

Sinnend mit geßfeihten Soden

Über Herönriäwelke Bfätter

Shritt ein greifer Sangesmeiller, SÜD umtoßt von Sturm und Better.

Säritt dapln auf wunden Satzen, Schritt dahin auf Dunkeln Wegen . . . Sehnend dod er feine Zficke,

Sang ein Sied dem Licht enfgegen.

„Greiſer Tori“ fo riefen Stimmen, wÜräumf du noh mit weißen Kanaren? Zoitta du Bent noch Sieber Angen, Sieh, und wund, und fGmerjerfaßren?1«“

Gin Sangetleben.

ud es wanbfe A der Alt, Wandie Fägelnd Ad zur Menge, And empor, wie feimfid Jaudıen, ‚Stiegen feiner Harfe Klänge:

„Oos des Sedens Bee Aräfte 36 and Rämfend aufgerieden: Me Kämpfe aberdauernd

3# mir eine Arafl gedfiedent

Sordert niht, dap mir Im Bufen Meiner Kieder Born verfiege: Engefsparfen, Sifderfgwingen Hauften üder meiner Wiege!

95 mein Auge Tränen weinet,

O6 16’s froß zum Siht erdede Bis die Sonne mid Befgeinet,

Mup id fingen, was id feßel Bis ih ſetba auf Sißerfäwingen Einf entrült der armen Erde, Anders leben, auders fingen,

Andre Sonnen grüßen werdeli

In welder Weije könnten die riefengrogen Geme Livlands geteilt werden? P. Franz

m Reformationsfefle 1901 wurde ein Flugblatt in der

IN, beuticien Gemeinde verteift, welches in jeinem legten Abſchnitte von „unerträglihen Zuſtänden“ handelte.

Dort wurden 5000 Seelen als Norm für die Größe eines Kirch- ſpiels angejegt und an dieſer Norm bie beftehenden kirchlichen Verhältniffe gemefjen. In Anfehung legterer müſſe man heißt es im Flugblatt „das Angefiht vor Schmerz verhüllen, weil es bei uns noch viele Kirchſpiele mit 8, 10, 12, 15, ja fogar 20 Taufend Geelen gibt, bie von einem einzigen Paſtor bebient werben. Diefe Pfarren müßten unbedingt geteilt werden, unb war iſt jedes Jahr Verzögerung Verſchlimmerung. Wenn ber Staat verlangt, daß ein Lehrer nicht mehr als 60 Kinder unter richte eine fehr gerechte Forderung —, wie kann bie Kirche zulaſſen, daß ein Paftor 300 Konfirmanden unterrichtet. Ich würde mein Rind auch nicht eine einzige Stunde einer folden Lehre beimohnen laſſen.“ Dieje Worte des Flugblattes beziehen Äh auf jämtlihe 5 Konfiftorialbezirfe Rußlands. Seitdem uns nun bie „Mitteilungen unjres Generalfuperintendenten über bas Kirhenmwefen 1902” nebft dem Verzeichnis ſämtlicher Gemeinden zugegangen find, ift ein jeber von uns in der Lage, bie kirchlichen Verhältniffe Livlands daraufhin zu unterſuchen. Das Refultat diefer Unterjuhung ift aber ein erjdütterndes: Unter ben 145 Gemeinden Livlands finden fih 57 Gemeinden, bie über 8000

126 Teilung der Landgemeinden Livlands.

oder volle 8000 Seelen enthalten, das find falt 40 pCt., bie nach den Worten bes Flugblattes unbedingt geteilt werden müßten Dann gibt es weitere 30 Gemeinden, deren Eeelenzahl bereits über 5000 geftiegen ift und bie fomit aud) bereits über bie Norm Dinausgegangen find. Wenn wir endlich die Normalgemeinden zählen, bie 5000 volle und unter 5000 Seelen enthalten, jo hat Livland beren bereits 58, das find genau 40 pCt. Es find mithin nur */s ber Gemeinden Livlands normale, überjehbare Gemeinden, ebenfalls ?/s find Niefengemeinden und "/, befinden ih auf ber Grenze beider. Bei den auf der Grenze befindlichen ift natürlich die Frage diskutabel, ob fie alle unbedingt geteilt werben müßten ober nit. Die Einen werben es nicht einfehen, daß Gemeinden von 8000 Eeelen geteilt werden müßten, während die Andern bereits Gemeinden von 7000 und 6000 Seelen für teilungs- bedürftig erflären werben. Ich glaube aber, daß man mir ohne Widerſpruch zugeben wird, daß 10,000 Seelen für einen Paſtor zuviel find, als daß er am ihnen in ausreichender Weile Seelſorge treiben und Zucht üben fönnte. Ich habe es jedes Dal wie eine Ironie empfunden, wenn in den Zeitungen vom „Eeelforger“ Der Raugeſchen Gemeinde oder der Marienburger Gemeinde geſchrieben ſtand. Sehen wir uns nur die Sprengel einzeln an. Da fteht der Rigaſche Stabtiprengel vornan, da er die abnormjten Ver— hältnine aufweift: die 14 Kirchengemeinden Rigas enthalten 228,000 lutheriſche Seelen, d. h. die Durchſchnittsgröße ber Nigafchen Stadtgemeinden beträgt 16,000. Diejes Reſultat wird durch das unheimliche Anwachſen der lettiihen Gemeinden hervor— gerufen, unter benen St. Gertrud mit 52,000 und St. Johannis mit 42,000 Seelen obenanftehen. Da e8 fi) hier um eine Groß- ſtadt handelt, deren Verhältniſſe mir fremd find, fo enthalte ich mid) eines Urteils darüber, wie man biefem Niejennotitand wirffam begegnen fönnte. Nur meine id, daß es durchaus noch nicht genügt, daß an St. Gertrud 5 und an St. Johannis 3 Paſtoren angeftellt find, da in den lettiihen Gemeinden biejer Kirchen 13—14,000 Seelen auf einen Paſtor fommen.

Wir wenden uns jept zu den 9 Landiprengeln, als zu unſrem eigentlichen Thema. Unter dieſen ift ber Dörptihe Sprengel der ſchwärzeſte, denn hier beträgt die Durchſchnittsgröße der Gemeinden fait 9500, obſchon fi darunter eine Univerfitätsgemeinde mit-

Zeitung ber Sandgemeinden Livlands. 127

1000 Seelen befindet. Allerdings ift hier die Hohe Zahl durch das ungefunde Wachſen zweier Stabtgemeinden hervorgerufen: St. Marien mit 20,000 Seelen und St. Petri mit 17,500 Seelen. Außerdem enthält der Dörptſche Sprengel noch 3 Riefengemeinden: Torma-Lohufu mit 16,000, Kobdafer mit 10,600 und Marien Magdalenen mit 10,400 Seelen, fämtlih Pfarren mit Filialen, bei denen bie Pfarrteilung leichter zu bewerfjtelligen wäre.

Danad) ift der Fellinfche Sprengel ein fehr ſchwarzer Sprengel, da feine Durchſchnittsziffer faft ebenio hoch ift, wie im Dörptſchen: 9400 Seelen pro Gemeinde. Er enthält 6 Gemeinden, die einer Teifung dringend bedürftig find: Sellin-Land ohne Köppo 15,300, Helmet 14,000, Pilliftfer 12,400, Groß-Johannis 12,000, Ober: pahlen 12,000 und Tarwaſt über 9000 Seelen.

Ferner ift der Werrofche Sprengel ein fehr ſchwarzer Sprengel, da die Durdjichnittsziffer 9000 Seelen beträgt. Hier find 9 Ger meinden teilungsbebürftig: Nauge mit 20,100 Ceelen, baraus müßten + Gemeinden gebildet werden; dann Pölme mit 16,100, daraus müßten 3 Gemeinden entitehen; ähnlich Wendau mit 14,000 und Neuhaufen mit 13,000, dann Rappin 11,400, Anzen 11,000, Kanapäh 10,100, Kamby 10,000 und Obenpäh mit 9200 Seelen.

Endlich ift der Walkſche Sprengel ein fehr ſchwarzer Sprengel, denn die Durchſchnittsgröße der Gemeinden beträgt 9000, und er enthält 7 Niefengemeinden, von denen eine in 5 Gemeinden zer: ſchlagen werden müßte: Marien-Magdalenen ohne Geltinghof 25,000, Schwaneburg 16,000, Smilten 11,500, Tirſen 10,500, Trifaten 9300, Palzmar 9100, Oppefaln 9100 Seelen.

Im Wolmarfhen Sprengel finden ſich ſchon etwas normalere Gemeinden, da fie im Durchſchnitt 7000 Seelen groß find, immers bin find aud bier 3 Niefengemeinden: Süd-Rujen 12,000, Salie- burg 11,800, Nord-⸗Rujen 10,000 Eeelen.

Im Wendenſchen Sprengel beträgt bie durchſchnittliche Größe der Gemeinden 6300 Seelen, immerhin find auch hier 5 Riefen- gemeinden: Ronneburg 10,400, Wenden-Land 10,300, Neu-Pebalg 9400, Seßwegen 9000, Lubahn 9000 Seelen.

Im Rigaſchen Landiprengel iſt die Durchſchnittsziffer ber Gemeinden 5600, und es findet ſich Hier nur eine Niefengemeinde: Schlock mit 12,600 Seelen.

128 Teilung der Landgemeinden Liolands.

Im Pernaufhen Sprengel haben die Gemeinden im Durch⸗ ſchnitt 5400 Seelen, doch find in meinem Sprengel noch 3 ſchwarze Buntte erfennbar: Pernau⸗St. Eliſabeth 17,000, Hallift 11,700 und Saara 10,000 Seelen. Die Elifabeth-Gemeinde follte ſchon längft geteilt werben, allein man ift dort erſt jomeit gefommen, daß dem Adjunkten bie Landgemeinde als felbftändiges Arbeitsfeld zugeteilt iſt.

Der ibealfte Sprengel Livlands ift der Defelfche, in welchem nur eine Gemeinde, Kielfond, mit 7600 Seelen als das normale Maß von 5000 überſchreitend erjdeint.

Nachdem wir fo einen Überblid gewonnen haben, treten wir an bie hiitorijche Frage heran, wie es denn zu dieſem unerquich- lien Zuftande gefommen ift, daß bie lutheriihe Kirche Livlands ihren weiteren Ausbau hat zum Stillitand kommen laſſen, nachdem fie einmal gegründet war. Diefes erklärt fih vor allem aus ihrer Verfaſſung als Landeskirche. Die Funbierung der Pfarren mit Land und die Sicerftellung ber Pfarreinnahmen durd Die obrigfeitlich beftätigten Regulative haben in älterer Zeit nad) Gottes Vorjehung ber livländiſchen Kirche eine jeite Rechtsgrundlage ver- liehen. Dank und Ehre gebührt allen den Gliedern der livländiſchen Ritterfhaft, die in den Gründungsjahren einen bedeutenden Land- befig der Kirche geftiftet haben; ebenfo den Männern, bie alles Sand als der lutheriſchen Kirche fteuerpflichtig erklärt und dadurch bie Iutherifche Kirche zur Landeslirche gemacht haben. Ja, bamals find große Opfer ber Kirche bargebracht worden, während in ber Folgezeit diefe Form der Opfermilligfeit ganz aufhörte.

Die erften Schwierigfeiten erwuchſen dem Landestirhentum im J. 1845; von Bebeutung war ſodann aud) bie Beſtimmung- daß orthobore Landinhaber zu feinerlei Abgaben für bie lutheriſche Kirche herangezogen werden bürjten. or allem aber wurde Die lutherijche Kirche an ihrem weiteren Ausbau dadurch gehindert, daß Neubauten oder größere Umbauten lutherifcher Kirchen von ber Zuftimmung bes orthoboren Biſchofs abhängig gemacht wurben. Ein weiteres Moment bildete bie Inhibierung der ſtädtiſchen Kommunen, zum Unterhalt der lutheriſchen Kirchen beizufteuern. Die Gouvernementsregierung wiederum hat durch den Modus und bie Handhabung ber Nepartition bei NKirdipielsbauten manchen formaliitiihen Hemmſchuh geſchaffen. So haben manderlei geſetz⸗

Teilung ber Landgemeinden Siolande. 129

liche Veftimmungen bie lutheriſche Kirche an ber Entfaltung ihrer Kräfte gehindert.

Abgefehen von äußeren Gründen haben noch viel ſchwerer⸗ miegenbe innere Gründe biefe Umbeholfenheit der livlänbifchen Kirche hervorgerufen. Da ift vor allem die Tatſache zu Fonflar tieren, daß die LZutheraner Livlands ſich deſſen nicht bewußt find, daß es ihre Chriftenpflicht fei, ihre Paftoren und das ganze Kirchenwefen zu erhalten. Man hört ganz allgemein bie Rebensart: „ber Bauer will nicht zahlen.“ Ja, das ift leiber bisher auf ber ganzen Linie der Fall geweſen und der Dualismus ber Höfe und der Bauerſchaft Hat es mit ſich gebracht, daß die Bauerſchaft nad Möglichkeit neue Anforderungen von ſich auf bie Höfe abzumälzen gefucht hat, und umgefehrt. In einer eftniihen Zeitung habe ich freilich geleſen, daß das Wolf deshalb berechtigt fei, mancherlei Anforderungen an feine Paſtoren zu fiellen, weil es fie ja bezahlt. Aber mit diefer Bezahlung ift es fo traurig beftellt, daß bie meiften Paſtoren Hungers jterben würden, wenn fie nur auf bie freimwil- tigen Zeiftungen ber Bauergemeinden angewiefen wären. Es wäre wohl fehr erwünjcht, wenn die nationale Preſſe die Loſung aus- geben würde, daß ber Bauernſtand in erjter Linie die Erhaltung feines Kirchenweſens auf fid) zu nehmen verpflichtet fei, denn das Verlangen nad) größeren Rechten würde auf dieſe Weile gewiß feine Befriedigung finden, wenn man zuerft die Pflichten erfüllt, aus denen jene Rechte fließen. Wenn es aljo nad) der Lehre Jeſu und feiner Apoftel undeftreitbare Pflicht der Gemeinden ift, ihre Prediger materiell zu erhalten, fo fragt es fid, warum ber baltifche Bauer jo unlujtig if, diefe Pflicht zu erfüllen. Bon alters her war aber der foziale Unterfchieb zwilchen dem Bauer und feinem Prediger ein klaffender. Während der letztere vielfach gelelfchaftlich mit dem Gutsherrn rangierte, ſtand der Bauer in unterwürfiger Stellung entblößten Hauptes vor dem Kirchenherrn, wie fie ben Paftor, entſprechend der Bezeichnung Gutsherr, tilu- lierten. Darum war ber Paſtor in ben Augen des Bauern ber reiche Dann, jo bag ber Bauer mehr auf die Unterjtügung bes Paftors angewiejen zu fein glaubte, als umgekehrt, wie das nor= male Verhältnis geweſen wäre. Dieſes Verhältnis beftcht leider vielfach auch heute noch, wo der Paſtor als Inhaber des Paftorats: gutes vielen Gemeindegliedern als Pachtherr gegenüberfteht.

130 Teilung der Landgemeinden Lidlands.

Das find feine gejunben kirchlichen Verhältniffe: die livländiſchen Paſtoren haben ſich dadurd) von ber Nachfolge des armen Lebens Jeſu weit entfernt. Das ift zwar hiſtoriſch geworden, hat auch mandes Gute mit ſich gebraht und den Paftorenftand fozial gehoben, aber ein geiftlicher Gegen ift e8 nid, weder für die Paſtoren noch für ihre Gemeinden. Die Apoftel des Herrn erflärten dem Lahmen (ct. 3), der ihre materielle Hilfe beanſpruchte: „Gold und Silber haben wir nicht.” Da war es nalürlih eine fetbftverftänbliche Pflicht der chriſtlichen Gemeinde, ihnen Speife, (Matth. 10, 10) und Lohn (Luc. 10, 7) barzureichen. Ja, in der apoſtoliſchen Gemeinde hatten fie alle Dinge gemein. Cs iſt gut, wenn wir uns befien bewußt werden, wie weit wir vom apojto- liſchen Vorbilbe abgefommen find. Cs ift ja einerfeits nicht ſchrift- midrig, wenn die Diener am Worte fo geftellt find, daf fie fich nicht in Händel ber Nahrung zu flechten brauchen, allein anberjeits ift es ein Verberb, wenn die Kirche und ihre Diener reich find. Es ift nicht gut, daß wir einige Landpfarren mit Jahreseinnahmen befigen, wovon bei mäßigen Auſprüchen wohl aud) zwei Familien eriftieren fönnten. Solche Paſtoren follten mit Freuden auf eine Pfarrteilung eingehen und fi deſſen getröjten, daß Gott ihren Ausfall mit geiftlihem Segen deden wird. Ja, es ift ein ſchreiendes Mißverhältnis, wenn der Hirte leiblich alles vollauf hat und die Herde geiftlih barbt und verfümmert. Nur dann darf ber Hirte jein Einfommen mit gutem Gewiſſen verzehren, wenn er feiner Gemeinde fein fann, was er fol, nämlich Hirte und Seelſorger. Wenn er fih aber jagen muß, daß fein geiftlier Einfluß durch die abnormen Größenverhältniiie ganz unterbunden ift, fo dürfte er wegen ber jchweren Verantwortung in einer folden Situation nicht verbleiben und die Pfarreinfünfte ruhig weiter beziehen. Was ift das für ein Knecht, der ſich für die Bearbeitung einer verabrebeten Aderflädhe feinen vollen Jahreslohn zuhlen läßt, dieje Aderflähe aber nur zum Teil und ſchlecht bearbeitet. Ja, wir müffen Mittel und Wege ſuchen, unfer Arbeitsfeld fo einzurichten, daß wir es auch bearbeiten fönnen. Ich bin überzeugt, daß bei gutem Willen mande Pfarrteilungen durd uns Paftoren vorge: nommen werden fönnten.

Wir müfjen aljo fonftatieren, daB es gerade die reihbotierten Pfarren find, die den Bauer unwillig machen, das Kirchenweſen

Zellung ber Landgemeinden Siofanbs. 181

zu erhalten. Ferner aber liegt auf unfrer Seite die Verfäumnis vor, da wir vielfach die Bauern nicht zum Beifteuern für kirchliche Zwecle erzogen haben. Ja, das fann nicht geleugnet werben, daß für alle möglichen mwohltätigen Zwede Kollekten veranftaltet worden find, aber die Jnitiative zur Selbjthilfe ift ganz abhanden gefommen. Denn irgend etwas gebaut ober neue Schulen gegrünbet ober neue Arbeitskräfte angeftellt werben jollten, jo fchrie die Gemeinde zuerſt nach ber Unterftügungsfaffe und dann nad) der Landes: und Nitterfaffe. Unfre großen Gemeinden müſſen für ihre häuslichen geiftlihen Bedürfniſſe voll und ganz auflommen, und dazu foll jedes fonfirmierte Gemeindeglied angehalten und erzogen werben, bie firhlichen Laften zu tragen. Dieje Forderung kann geftellt werben, benn ber Bauernftand ift nicht mehr fo arm, mie etwa vor 40 Jahren, als er noch um feine Eriftenz kämpfte. Durch Gottes Gnade haben wir hier in Livland einen arbeitfamen unb zum Teil recht wohlhabenden Bauernſtand, ber Inechtiiche Sinn ift vielfad einem überpannten elbftbewuhtfein gewichen, wie es fteis bei jungen Völkern in ihrer Sturm und Drangperiode zutage Iritt. Diefes erwachende Selbjibewußtfein follte von der lutheriſchen Kirche flug benugt werben, um bie neuen Kräfte dem Evangelium bienft- bar zu machen. Hier iſt für die firebjamen Gebildeten, die aus dem Bauernftande hervorgehen, ein Felb der Täligkeit dargeboten, wie es nicht ſchöner und begeifternder gedacht werden kann, nämlid) bie Neuorganifation der livländifchen Kirchen nach geſund evangeliſchen Grunbfägen. Zu dieſer Arbeit möchte ih alle Stände Livlands aufgerufen fehen, Hoch und Niedrig, Reich und Arm, Deuticher, Eite und Lette, fie alle jollen bei diefer Arbeit in den Wettbewerb eintreten, und denen, die die größere Selbftverleugnung und die größere Opferwilligkeit betätigen, fol der Siegespreis. zuteil werden, ja biefe werden bie Krone ber Gerechtigkeit erlangen, die der Herr, ber gerechte Richter, am Tage jeiner Erſcheinung geben wird.

€s find aber auch äufere Nötigungen vorhanden, die uns zur Pfarrteilung drängen, das ift die Schwierigkeit der Pfarr: befegung in ben Niefengemeinden. Die Skandale, die bei biejer Gelegenheit vorgefommen find und bie Lutherifche Kirche mit Schmach bededt haben, follten uns doch veranlafien, die Urſachen derfelben zu erforſchen. Bei ber Belegung kleiner und armer Pfarren find feine Skandale vorgekommen, und können feine vor-

192 Xeilung der Sanbgemeinden Siolands.

fommen. Es handelte fi jedes Mal um Riefengemeinden, und zwar um gutdotierte Niefengemeinden. Wie fommi es, daß bie Zahl ber Bewerber um foldhe Pfarren eine fo große if? Wie kommt es, daß fich viele bereit finden, das große und ſchwere Kreuz einer Riefengemeinde auf ſich zu nehmen, mo man ſich als gewiffenhafter Menſch zu Schanden arbeiten müßte? Id fann es mir nur erklären durch ben Wunfch, materiell fidergeftellt zu werben. Wir leben in einer Zeit, wo die Bauergemeinbden Paftoren ihrer Nationalität bevorzugen und die Kandidaten deulichen Blutes nad; Möglichkeit fern zu halten ſuchen. Dies ift ein Zeichen gefteir gerten nationalen Selbfibewußtfeins, und wir können ſolches begreifen, aber wir beflagen ben Schaden, den bie nationalen Inftinkte ber Kirche zufügen. Wer trägt nun Verlangen, in eine national geipaltene Gemeinde hineinzulommen, wo ber Paſtor deutſchen Blutes beim Gros jeiner Gemeinde verſchloſſene Herzen vorfindet und wo der Paftor eſtniſchen ober lettiſchen Blutes gerade bei den einflußreichiten Leuten des Kirchſpiels verſchloſſene Herzen vorfindet. Ich behaupte, wer das Herz auf dem rechten Filed hat, wird fi auf folche ungemütliche Pfarre überhaupt nicht berufen laffen, fo daß ſolche Kirchipiele von ihrem hohen Pferde herab» fteigen und den Glauben aufgeben müßten, als ob es das größte Glüd wäre, dort Paftor zu werben.

Hier wende id) mid; bejonders an meine jungen Brüder, Vilare, Abjunkten und Kandidaten, und fordere fie auf, ſich für folibarifch zu erflären, daß fie ſich nicht auf valant werbende Niefengemeinden berufen laſſen, es jei benn, daß fie einmütig non beiden Parteien gewählt werden und daß ihr Arbeitafeld derartig abgegrenzt würde, daß fie den geiftlihen Anforderungen genügen Tonnen. Wenn wir die jchweren Schäden unfrer Kirche empfinden, und die Gottesgerichte, bie über fie ergehen, zu Herzen nehmen, fo müflen wir den Ruf nad einer neuen Art von Ranbidaten ertönen laſſen, die da genügfam find und mit einen Pfarr- einnahmen fih begnügen, die da arm fein wollen, damit bie Gemeinden geiftlih reich würden, denn fie find feider furdtbar arm an geiftliher Erkenntnis. Das zeigen uns heute nod bie vielen Mifchehen und der herrſchende Materialismus, ber ſich durch diefe Fälle ſymptomatiſch fund tut. Ja, hier rufe ich Euch auf zum Konfurrenzlampf, Ihr deutjchen, eſtniſchen und lettiſchen

Teilung ber Sandgemeinden Siolands. 138

Amtsbrüber: „Laßt uns Fonfurrieren in ber Anfpruchslofigfeit bes Lebens, in der Willigfeit, ſchwach dotierte Pfarren zu übernehmen, dann iſt die Schwierigkeit der Pfarrteilungen zum größten Teil überwunden. Wie groß ift dafür die innere Befriedigung, an einer Heinen Gemeinde arbeiten zu Fönnen, wo man einigermaßen das Gefühl hat, geiftliher Leiter und Berater feiner Gemeinde zu fein. Ja, id fann nur Gottes Freundlichkeit gegen mic) rühmen, daß er mir eine Feine und arme Gemeinde anvertraut hat, hat er mich body überaus gefegnet auf meiner jogenannten Hungerpfarre. Darum rate ih meinen jungen Brüdern, bie. nod) feine Pfarre haben: Bittet den Herrn, daß er euch gnädig fei und euch eine fleine Gemeinde anvertrauen möchte, wo ihr wirklich als Geiftliche arbeiten könnt und nicht als bloße Kultus: beamte ben ſchweren Kirchenwagen in ben alten Geleifen meiter- ſchiebt.

Wir ſind uns über die Gründe klar geworden, warum es in Livland ſchwierig iſt, Pfarren zu teilen; dennoch aber könnten Mittel und Wege gefunden werben, Die uns einen weiteren Aus- bau der livfändiihen Kirchen ermöglichen. Offiziell anerfannte Parrteilungen werden wir möglicerweife nicht zuftande bringen, barüber wollen wir uns von vornherein Mar fein. Aber etwas ähnliches, was in Norblivlanb, beifpielsweije bei Sellin und Köppo, oder in Süblivland, beifpielsweife bei Lemfal und Katharinen, geihehen ift, kann in Hundert andern Fällen ebenfo geſchehen. Nur follen wir nicht wähnen, daß wir mit den bisherigen Hilfss mitteln dieſe große Firchliche Neform verwirklichen werden, benn nad) den bisherigen Anſchauungen wollte die Einzelgemeinde ihre Neuorganifation immer nur auf Koften ber Geſamtkirche vornehmen und wagte fih nit früher an die Pfarrteilung heran, als bas nötige Jundationstapital vorhanden war. Wollten wir nad) diefer alten Methode diefen Riefennotitand befeitigen, fo Hätten wir allein für Livfand 10 Unterftügungsfaffen nötig. Ich berechne, daß gegenwärtig, abgejehen vom Rigaſchen Stabtiprengel, alfo in den neun Sandiprengeln, auf einmal 50 neue Kirchſpiele gegründet werden müßten: im Werroſchen zwölf, im Wallſchen elf, im Dorptſchen neun, im Fellinſchen fieben, im Wendenſchen fünf, im Pernauſchen vier, im Wolmarſchen drei, im Rigajchen Landſprengel

eins; in Dejel wäre feins nötig. Zur Junbation von 50 ad: Baltifche Monatöfhrift 1006, Heft 2.

134 Teilung ber Landgemeinden Lielands.

firchfpielen wäre aber bei ben mäßigften Anfprüchen ein Kapital von ca. 2 Mill. Rbl. erforderlich. Und innerhalb ber nächften 20 Jahre müßten weitere 50 Neugründungen von Kirchſpielen ftattfinden, wenn wir auf normale Verhältnifie herausfommen wollen. Soll aber auf bem Mege foliber Napitalifierung das Kirchenweſen reorganifiert werden, jo werben wir im Schneden- fchritt vorwärts kommen, währen der Notftand uns mit Riejen- fcpritten über den Kopf wachſen würde. Daraus ziehe ih nun bie Folgerung, daß ber bisherige Modus bei Pfarrieilungen radikal verlaffen werden muß, wenn wir aus dem Notitande heraus und nicht immer tiefer hineinfommen wollen. Die neuen Mittel aber, die uns zum Ziele führen könnten, wären: ber Grundſatz ber Selbſthilfe und bie freiwillige Selbftbefteuerung. Unter dem Grundſatz ber Selbfthilfe verjtehe ic) dies, daß eine Riefengemeinde, die eine Teilung unter Beihilfe der Gefamtlirche vornehmen möchte, energiſch angehalten werben foll, ſich felbft zu Helfen. Ich habe Veranlaſſung gehabt, auf ber Generalverjammlung bes Norbliv: ländiſchen Bezirkskomitees darauf Hinzumeifen, daß die Unter: ftügungsfafien = Kolleften beim Wolfe unbeliebt geworben find, weil das gefammelte Gelb im Lande jelbft verwandt wird. Die Landgemeinden geben gern, wenn ihnen bie geiftliche Not ber Glaubensbrüber im fernen Rußland gefchildert wird, aber wenn fie erfahren, daß fie zum Unterhalt einer Nahbargemeinde zahlen folfen, die vielleicht mwohlhabender iſt, als fie felbft, fo wollen fie von der Unterftügungsfaffe nichts mehr wiffen. Und was jpegiell Nordlivland anlangt, fo hat e8 3. B. im Jahre 1900 2225 Rbl. mehr verausgabt, als es Tollektiert hat. Das ift ein ungefunder Zuftand, denn unfre fompaften lutheriſchen Gemeinden jollen doch die lutheriſche Diaſpora im weiten Rußland unterftügen und nicht noch dazu die Überihüffe andrer Bezirtofomitees aufbrauchen. Wenn alfo die Unterflügungsfaffe hier im Lande ihre Kollekten nicht ganz unmöglich machen will, fo foll fie wohlhabenden Gemeinden die Unterflügung verweigern, „fie dadurch zwingen, ſich jelbft zu helfen. Den Gemeinden aber, die fie bisher unterftügt hat, jollte fie nad jedem Triennium bie Subvention verringern, je nad) BVerüdfichtigung der konkreten Verhältniffe. Die Leiter der Bezirks: fomitees der Unterftügungsfaile würden bei ber Erziehung ber Gemeinden zur Selbfihilfe eine wejentlihe Rolle jpielen, denn

Zeilung ber Sanbgemeinben Siofanbs. 135

fofange eine Gemeinde ganz gemütlich auf fremde Koften leben Tann, wozu foll fie ſich felbft anftrengen. Ja, wir werben es auch nicht vom betreffenden Amtsbruber erwarten können, daß er eine Verminderung feiner Subvention felbft beantragt, denn wenn bie eigene Gemeinde ſolches erfährt, fo wirb fie über ihren Paſtor erbittert fein, daß er neue Laften feiner Gemeinde auferlegen möchte. Ich fann in diefer Sache aus Erfahrung fpreden, da ich nad) Möglichfeit mic bemüht habe, meine Gudmannsbachſche Gemeinde zur Selbfthilfe anzuleiten, damit fie für den Fall, daß die Unterftügungstafje ihr einft bie bisherige Subvention entzieht, durch bie freinillige Selbftbeftenerung den Ausfall felbit zu beden imftanbe jei. Es find aber viele in meiner Gemeinde, die es mir nicht glauben, daß die Unterftügungskaffe einmal aufhören könnte, uns zu fubventionieren. Diefe können von ihrer ſchädlichen Mei nung nur dadurd geheilt werden, daß ein Vertreter der Unter: ftügungsfaffe es ihnen durd) eine Tat Far macht, nämlich durch Verringerung der Subvention und durch die Ankündigung, daß wieder nad) einer Reihe von Jahren eine weitere Verringerung ftattfinden werde. Wenn auf folde Weife Summen freimerden follten, dann wäre ich nicht dagegen, daß fie bei der Teilung ber Riefengemeinden mithelfen. Denn wenn auch der Grundfag felt: gehalten werden muß, daß die Niefengemeinden mit ihren Niefen- fräften fi) felbft helfen, fo wollen wir uns boch nicht verhehlen, daß foldes nicht gleich zu Beginn der Pfarrteifung geſchehen wirb, da fie noch garnicht zur Selbftbetätigung erzogen find. Zu Beginn der Pfarrteilung alfo möge immerhin die Unterftügungsfafle ange rufen werden, damit Kirche und Paſtorat ſchneller aufgebaut werben. Nach den Gründungsjahren aber follten bie Leiter ber Unterftügungstaffe durch Verfagen der Subvention die Gemeinden zur Selbftbetätigung zwingen. Das Hauptmittel aber zur Reor— ganifation unfres Kirchenweſens wäre die Erziehung der Bauer— gemeinden zur freiwilligen Selbjtbejteuerung. Letztere ift ja in den Städten feine neue Sache mehr, und fie bewährt fih an manden Orten ausgezeichnet. Will num etwa jemand behaupten, daß eine folde Selbftbefteuerung höchſtens bei Gebildeten denkbar, bei Bauern aber eine Unmöglichkeit jei, jo muß ich dem entjchieden widerſprechen. In Zintenhof und in Gudmannsbach ift fie ein- geführt worden und berechtigt zu der Hoffnung, daß fie fi) ein- 3“

188 eifung ber Landgemeinden Siofanbe.

bürgern werde. Natürlich muß das Bedürfnis von ber Bauer gemeinde Mar erlannt werden, bann werben fie ſchon zahlen. Aber in einer Gemeinde, wo der Paftor eine große Pfründe Hat, wäre es natürlich ausfichtslos, die freimillige Selbftbefteuerung einzuführen. Erſt mit dem Dloment, wo eine Gemeinde einer bisherigen Einnahmequelle plöglid) beraubt wird, ober wo eine neue geiftliche Hilfsfraft angefiellt werden foll, oder namentlid, mo ein Teil ber Gemeinde fih als felbjtändiges Kirchſpiel fon: ftitwiert, wird mit dieſer Eelbftbefteuerung einzufegen fein, mobei das Sprüdwort „Aller Anfang ift ſchwer“ fi oft in unangenehmer Weife geltend machen wird. Nehmen wir beifpielsweife eine Normalgemeinde von 5000 Seelen, bie gegründet werben foll, und fuchen wir uns anſchaulich zu machen, wie dieſe 5000 Geelen für ihre kirchlichen Bedürfniſſe auflommen follen. Da erhebt ſich zuerft die Frage, wie man den Hauptpoften ber Jahreseinnahmen bes Paftors zufammenbefommen könnte. In der Gudmannsbad: ſchen Gemeinde find wir vom Grundfag ausgegangen, daß bie mãnnliche Fonfirmierte Bevölkerung das Kirchenweſen zu erhalten verpflichtet fei. Cs ließe ſich aber andy dagegen nichts einwenden, wenn fämtlide mündige Gemeinbeglieber, ſei e8 männlichen, fei es meiblihen Geſchlechts, zu einer jährlichen Kirchenſteuer heran gezogen würden. Dod) da die männlichen Seelen bie leiftung® fähigeren find, fo läßt ſich auf diejer Bafis leichter eine Berech—⸗ nung aufftellen. Es fommen nämlid) nad) meiner Berechnung auf 100 Gemeindeglieder 30 Tonfirmierte männlide Seelen, es madt bei einer Gemeinde von 5000 Seelen 1500 Steuerzahler aus. Wenn wir nun joweit fämen, daß jebes männliche Tonfirmierte Gemeindeglied durchſchnittlich 1 Rbl. jährlich beiträgt, dann wäre das Problem gelöft. Ich fage durchſchnittlich, denn wenn bie Selbftbeiteuerung wirklich eine freiwillige fein fol, fo werben wir es nie erreihen, daß jeder einzelne zahlt, fondern nur ein Bruchteil derfelben wird feine Chrifienpflicht erfüllen und zahlen. Wenn mir uns die Verhältniffe der ſchottiſchen Freifirche daraufhin an- fehen, fo werden wir fogar dort, bei ben geradezu idealen Ver hältniffen, Die Beobachtung machen, daß nur "/s ber Kommunilanten für die Erhaltung der Kirche Opfer bringt. Aber diefer Bruchteil tut es fo reichlich, daß nicht nur alle Bebürfniffe befriedigt, ſondern auch die Miſſion äußere wie innere kraftvoll betrieben

Teilung der Landgemeinden Livlands. 137

werben fünnen. In meiner Gemeinde, wo bie freiwillige Selbft- beſteuerung erft feit zwei Jahren befteht, find Gaben von 1 Rol. und 50 Kop. bie häufigften, es fommen aber auch Gaben von 5 und 10 Rbl. und anderfeits Gaben von 10 und 15 Kop. vor. Wen es intereffiert, der möge erfahren, daß die Gudmannsbachſche Gemeinde in zwei Jahren 270 Rbl. an freiwilliger Selbjtbefteuerung aufgebradt hat. Sie ift aber nur halb fo groß wie eine Normals gemeinde und hat zwei ſchwere Jahre Hinter ſich. Vor allem aber hoffe ich, daß ſich das Geſetz fenflornartigen Wachstums in biejer Sache herausftellen wird, wenn anders bie Sache richtig angefaßt und gejund organifiert it. Denn man fann aud durd einen gewiſſen moralifhen Zwang gleich von vornherein eine ziemliche Höhe ber Kirdenabgaben erzielen, bod) wird ſich in dem Falle fein jenfornartiges Wadstum herausſiellen. Wenn wir in diefer Sade von der Erfahrung andrer lernen wollen, fo ftellt uns die Miffion Hier reichliches Material zur Verfügung. Syſtematiſch zufammengefaßt finden wir es im 5. Bande der Warnechſchen Miffionslehre, wo im 46. Rap. die finanzielle Selbjtunterhaftung der heidenchriſtlichen Kirchen behandelt wird. Auch hier fonftatiert Warned, ganz wie bei uns, daß das Hindernis zur Erreichung nürchlicher Selbftändigfeit zuerft in einer Verihuldung ber Pliffion ſelbſt befteht, die e8 in den Anfängen verabfäumt hat, die einge borenen Chriſten an eine geordnete finanzielle Selbftleiftung zu gewöhnen. Die Frage ift eben brennend auf allen älteren Miſſions— gebieten, denn es iſt nicht möglich, wenn Volfsfichen entftehen follen, daß fie nad) wie vor durch die Liebesgaben der jendenden Chriftenheit aufrecht erhalten werden. Darum erteilt der ergraute Miffionstenner Warned in Bezug auf die Erziehung zur kirchlichen Selbjtunterhaltung. den Milfionaren drei Natjchläge, die mutatis mutandis auf uns ihre volle Anwendung finden: 1) verfucht fie, 2) verfucht fie fofort von Anfang an, und 3) verfucht fie mit feftem Willen.

Ich bin der Anficht, daß gerade an diefer Frage die Zukunft der Kirche Livlands hängt, denn wenn ber livländiſche Bauer es nicht einjehen jollte, daß er verpflichtet fei, das Kirchenweſen zu erhalten, und wenn wir es nicht zujtande bringen, normale geiftz liche Arbeitsgebiete zu ſchaffen, jo wird die Erfaltung der Volks: maſſen ftetig zunehmen und zu einem Abfall führen, ber einjt den

138 Zeifung der Sanbgemeinben Livlands.

Hirten der Kirche die Augen öffnen wird, aber dann wird es zu fpät fein. Über den Modus der Pfarrteilung ließen ſich noch mandjerlei Natichläge erteilen. Den Anfang mit ber Teilung einer Niefengemeinde könnte man am beften bei einer Neubefegung der Pfarre machen. Wenn der Kirchenvorſtand nod nicht die Einſicht von der Notwendigkeit der Teilung befigen follte, fo müßten die vozierten Kandidaten der Neihe nad) die Annahme der Vakation von der Zufage der Teilung abhängig machen und jo auf das Kirchſpiel einen Drud ausüben. Der vozierte Paftor önnte dann fofort beim Antritt einen oder zwei Abjunften zu Hilfe nehmen, mit diefen feine Pfarreinnahmen teilen und mit der Erziehung der Gemeinde zur Selbjtbeftenerung fofort einfegen. Ich habe vor der Generalverjammlung des Norblivländifchen Bezirks: fomitees über dieſe Sache folgende Thefe aufgeitellt: Bei ber Belegung von Niejengemeinden follten diejenigen Bewerber bevor- zugt werden, die zu einer Pfarrteilung bereit und mit geringeren Einnahmen zufrieden find. Gerade die legten Worte wurden von den Amtsbrübern damals ſtark belacht. Sept, feit dem Erſcheinen des 5. Bandes der Miffionslehre, bin ich in der Lage, obige Theſe durd ein Zitat aus Warned zu jtügen: „Soll die Selbftunter- haltung durdjgejegt werben, fo ift ein folder Lehrſtand unentbehrlich, der mit dem Verftändnis für die Notwendigkeit berfelben bie groß: herzige Genügfamfeit verbindet, mit einem Gehalt zufrieden zu fein, das im Verhältnis zur finanziellen Leiſtungskraft der von ihm bedienten Kirchen ftcht, eine Forderung, die zu dem allger meinen finanzöfonomiihen Grundjaß der Proportionalität der ver— langten Leiftung zur vorhandenen Leiftungsfähigfeit erhoben werden muß.” Der fioländifche Paftor muß aljo von feinem hohen Pferde herabjteigen, um ein volfstümliher Mann zu werden, damit bie gejchilderten Normalgemeinden feinen Unterhalt beftreiten können und wollen. Wenn aljo der Paſtor einer Niefengemeinde ſich mit der nötigen Anzahl von Adjunkten verſehen Hat, fo joll er fie in der Peripherie feines Kirchſpiels zu poftieren verſuchen. Bei Filialen und bei bereits vorhandenen Vethäufern ift das leicht zu bewerf- ftelligen, da dann nur ein Quartier für den Adjunkten zu beſchaffen wäre. Hat fid nun die um die Filialficd)e Herummohnende Bevöl- ferung mit dem jungen Paftor eingelebt und ihn womöglich lieb: gewonnen, fo verſuche ber Ortspaitor feinen Adjunften zeitweilig

Teilung ber Landgemeinden Liolands. 139

zurüdzuziehen. Die Folge davon wird im der Regel ein um jo ftärferes Begehren biefer Bevölterung nad dem Adjunkten jein. Den Leuten wird man dann erklären, daß fie den Adjunkten nur dann jtändig für fid) haben können, wenn fie die Verpflichtung übernehmen, den Unterhalt desjelben wenigjtens teilweife zu bes ftreiten. Ich proponiere diejes Verfahren nicht im Sinne eines Sceinmanövers, um etwa nur auf den Geldbeutel zu brüden, bin vielmehr der Anfiht, daß man denen, bie hartnädig am Alten feithalten wollen, die veichlichere Wortverfündigung entziehen, ja event. Kirchſpiele eingehen laſſen foll, wo die Leute nicht Vernunft annehmen. Denn warum foll etwa bie Unterftügungs- oder Pfarr- teifungsfajfe bleibend gewiſſen gleichgültigen Gemeinden das Kirchenwejen unterhalten, damit ein Freiihludertum großgezogen werde zum Schaden armer Gemeinden, die die Unterftügung mit Recht beanspruchen fünnen. Judeſſen die Zurüdziehung einer paftoralen Arbeitsfraft von einem bereits bejegten Poflen barf nicht kurzerhand geſchehen, ſolch ein folgenjchwerer Entichluß darf nur nad) einer langen Geduldsgeit und reiflichfter Erwägung gefaßt werden, denn auf dem meuzubefegenden Poſten wird zuerſt das Bedürfnis nad) dem Worte Gottes wenig vorhanden fein. Wenn aber die Leute das Wort Gottes liebgewinnen, dann wird ihnen kein Opfer zu jchwer fein, um ben Segen des reinen Evangeliums fih zu erhalten. Mit Gebuld alfo und mit einer freundlichen Behandlung des Volkes dürfte man wohl in den meilten Fällen zum Ziele fommen, da uns bie Verheißung gegegeben ift, daß Gottes Wort nicht leer zurüdkommen joll. Wo aber eine ganze Gemeinde forigefegt und hartnädig Gottes Wort geringihägt und ſich fomit nicht des ewigen Lebens wert achtet, ba ſoll ſchließlich der Prediger des Evangeliums den Staub von jeinen Füßen ſchütteln zu einem Zeugnis über fie. Hat nun ber Ortspajtor feinen Ads juntten von einem Punkte jeines Kirchſpiels zurüdgezogen, fo ſoll er ihn anderswo zu pojlieren verfuchen, wo die Leute dankbarer find und die auf fie verwandten Koften durch erhöhte Selbjtbetätir gung zurüderjtatten. So werden hier und da neue Kirchſpiele entjtehen und neue Herdfeuer geiftliden Lebens die Glaubensiwärme wieber anfadyen. Dann wird Die geiftlihe Not ein Ende haben, dab Kranke es nicht wagen, ihren mit Amtsgeſchäften überhäuften Baitor zu ſich rufen zu laſſen, und daß junge Leute wie eine Herde

140 Zeifung ber Sandgemeinben Liofanbs.

Schafe, ja mandesmal wie eine Räuberbande fonfirmiert werben, ohne baf eine eingehende individuelle Behandlung berfelben möglich geweſen wäre. Sind doch ſchon Stimmen laut geworben, die die Ronfirmandenlehre in den Niefengemeinden abſchaffen möchten, da ber Satan unter einer fo großen Schar geſchäftiger iſt, feinen böfen Samen auszufäen, als der Paftor guten Samen. Diefe Zuftände enthalten den ſtärkſten Anſporn, diefe monitröfen Niefen- gemeinden zu teilen. Der Segen normaler geiſtlicher Arbeitsfelder wird ſich dann in jeder Richtung geltend machen, wir werben nicht mehr über fehlendes Gemeindebemwußtjein zu Magen brauchen, der Paſtor wird ben Mittelpunkt feiner Herde bilden und es wird jebes Glied feinem Einfluß erreichbar fein, ja ein Steigen ber Olaubenswärme im ganzen Lande wird die unausbleiblihe Folge fein. Gudmansbach, Juli 1903.

A

Jumitten.

Dos in der Simmet, aber Höher uoch,

Bief Hößer Meigt des Menfgenferzens Wonne.

Tief in der Adgrund, ader fiefer noch,

Biel Hefer Rlaft des Menfhenferjens uat.

Himmel und Abgrund! inter, üder dir

Bießt ih ein fämafer Bergpfad hin: das Sehen. Eduard Fehre.

Im Rigaer Gymnafinm und auf der Dorpater Aniverität 185962.

Von Th Pezold. nn

Feritemesu, durch den Tod meines Vaters bedingt, führten mid) 1859 nad) Riga, wo id, der Obhut meines Oheims anvertraut, im Gymnafium, dem einzigen, das damals bort vor: handen, meine Schulbildung vollenden ſollte. Die Stabt hatte zu jener Zeit noch durchaus ihr altes ſchlichtes Gepräge, die monumentalen Baulicjkeiten von heute, wie das Theater, die Gildens häufer, bie ftändige Dünabrüde fehlten, dagegen jtand bie alte ftäbtifche Autonomie noch in vollem Flor und gab es eine Gejell: ihaft ſcharf ausgeprägten örtlichen Charakters, deren männlide Jugend, von wenigen Polen, Litauern, Juden abgejehen, in der Secunda des Gymnafiums, wo id) eintrat gab es fonderbarer- weiſe feinen. einzigen Ruſſen, bie Gymnaſialklaſſen füllte, dem Schulganzen ein durchaus deutſch-bürgerliches Gepräge aufr drüdend. Der Kontrajt Rigas mit Petersburg war jelbftverftänd- licherweiſe damals nody unendlich größer als heute und mußte hier das baltiihe Stillleben dem zur Zeit jo erregten Nejidenztreiben gegenüber auch dem jungen und unreifen Anfömmling in hohem Grade auffallen. Was die Schule betrifft, jo fann ich nicht jagen, daß das Nigaer Lehrerkollegium von damals, wenn man bie ein- zelnen Perjönlichfeiten in Betracht zieht, befondere Vorzüge vor dein ber Petersburger Petriſchule aufzuweifen gehabt hätte, die Pädagogen beifpielsweife, denen der beutiche und Gejdichtsunterricht anvertraut mar, fanden in Petersburg ungleich höher, in ber Mathematik und im Neligionsunterricht mochte fein wejentlicher Güteunterfgjied zu verzeichnen fein, in den alten Sprachen war

12 TH. Pehold, Erinnerungen.

Niga allerdings in mancher Hinfiht überlegen. Bei alledem war wohl an legterem Orte ganz ungleich mehr fittliher Schulernft vorhanden, und dieſer refultierte, wie mic dünft, in höherem Grade noch aus ber Beſchaffenheit der Schüler, als aus ber der Lehrer. Die Jugend wird immer ein treues Abbild deſſen fein, was die Eltern find, wie bas Werden die ftreng bedingte Folge ericheinung bes Geworbenjeins, und die Mehrheit der Petersburger Schuljugend war eben, wenn ich mid) fo ausdrüden darf, nicht fowohl geworben, als gemadt. Die Sage Hleidet die fittlihen Mächte, die den Menſchen durchs Leben begleiten und feine Schritte lenten, gern in die Gejtalt von Feen und Schugengeln, in Wirt: lichkeit find es die feftgefügten Traditionen bes Elternhaufes, die nicht jowohl bewußtermaßen den Menſchen maden, als fein Werden behüten, und Niga hatte in biefer Hinficht jeine großen Vorzüge. Der deutjche Petersburger Handiverfer, nachdem er die Heimat verlaffen und ſich zuvörberjt weiblich in der fremden ruſſiſchen Welt herumgetummelt, konnte ſich ſchwerlich nad) eigenem Geſet entwideln, mit andern Worten, konnte ſchwerlich werben, und mußte fi, wohl ober übel, von den taufenderlei Dingen machen laſſen, die zufällig an ihn herantraten. Und wenn er dann zu Geld gelommen und behufs fünftigen Univerfitätsftudiums jein Söhnden in die Petriichule jhidte, jo gab er ihm wohl nur in jeltenen Fällen die Fähigkeit bes Werbens mit, und das Söhnchen war eben genötigt, ſich wohl oder übel damit zu begnügen, daß er weiter gemacht wurde, eine Mühmwaltung, deren fid) am Vor: mittag die Schaufenfter bes Newsfi-Projpefts, am Nadhmittag vieleicht irgend ein Balagan, am Abend das Ballet gern und mit einer gewiſſen Gewiſſenhaftigkeit unterzogen. Jeder Menſch wird zum Teil, zum Teil wird er gemacht, mir aber will es ſcheinen, als hätte der alte Nigenjer, wenn er jung war, mehr Anwartſchaft für das Werden, der Petersburger mehr für das Gemachtwerden bejefien, und daß in erjterem, fofern es, wie uns ftreitig in dem damaligen Riga, auf im ganzen gejunder Bafis erwuchs, eine beijere Vorbedingung für das Gebeihen der Schule vorlag, wäre wohl faum zu bezweifeln.

Den Poften eines Oberlehrers der Geſchichte und Geographie am Nigaer Gymnafium hatte damals ber ſchon jehr betagte K. inne, ein herzensguter Mann, der aber, wie man mir ſchon vor meinem Eintritt in die Schule erzählt, die Marotte hatte, immer wieber, mochte es nun pailen ober nicht, auf das Dlarburger Religionsgelpräd zwijden Luther und Zwingli zurüdzufommen,

29. Pepofb, Erinnerungen. 143

ein Umjtand, ber geradezu etwas krankhaftes am jich hatte und bei dem, wie ich glaube, Niga jelbjt entftammenden K. auf gewiſſe einer älteren Zeit angehörige Konflikte zwiſchen den beiden vor- herrfchenden Konfeſſionen der Stadt hätte hindeuten fönnen, wenn dieſer Deutung nicht bie Herrſchaft bes, Tonfejfionellen Reibungen jo wenig zuneigenben Nationalismus in bem älteren Riga zu wider⸗ ſprechen ſchien. Die Schüler hatten ſich bei derartigen Wieder- holungen daran gewöhnt, der Sache eine praktiiche Seite abzu- gewinnen, man nahm in aller Ruhe jeine mathematijche Aufgabe, feinen deutſchen Aufiag vor und der arme K., der in jeinem Eifer über Luther und Zwingli nichts davon merkte, bozierte in gutem Glauben, dab man ihn wirklich anhöre, den vier nadten Wänden. K. wurde jehr bald nach meinem Eintritt in die Schule penftoniert, ihm folgte als Lehrer der Gejdichte und Geographie ein junger Kandidat der Hiſtorie T., feiner Herkunft nad) Ejtländer und daher kraft des damals ungemein regen Antagonismus ber Provinzial geifter von den Schülern anfangs nicht ohne ein gewiſſes Miß- trauen und Übelwollen aufgenommen. Soweit id T. fennen lernte, glaube ich nicht, daß ihm gerade eine hervorragende Lehr: befähigung zu eigen war, dennod wirkte er durd den Kontraft mit jeinem Vorgänger und durd) das Intereſſe, das fein Gegen ftand bei der Mehrheit der Schüler naturgemäß wachrufen mußte. Dan fing an mit geipannter Aufmerfjamteit feinem Vortrage zu folgen, und wer in überlieferter Weile es nicht laſſen konnte, während T’s Unterrichtsſtunden ſich nah wie vor mit Präpara- tionen für den deutſchen oder Mathematiklehrer zu befaſſen, der hatte es ganz ſicherlich mit der Dajorität feiner Mitſchüler zu tun, denn das baltiihe Selfgovernment wurde in ſolchem Falle auch in der Schule gewiſſenhaft erefutiert, ba mo guter Ton und ſchul⸗ gemäßes Verhalten durch die Situation felbft gefordert ſchienen. Ein ftämmiger Pajtorenfohn vom Lande, K., jo etwa jiebzehn- ober achtzehnjährig, erhebt fih in aller Gemächlichkeit von feinem Pla und geht gelafjen, als ob es eben garnicht anders fein könne, durch den ganzen Klaffenraum auf einen von ber alten, üblen Gewohnheit aud) jegt nicht laſſenden Mitſchüler zu, bemächtigt ſich, ohne irgend Widerfiand zu finden, feiner nicht hingehörigen Hefte und Bücher und jtapelt ie, wit gleicher Ruhe wieder zurücgefehrt, vor feinem eigenen Pult auf. Als er dem verblüfften Blid T’s begegnet und eine Motivierung unumgänglid, folgt diefe benn auch in K's phegmatifchgelafiener Weile: „Entſchuldigen Sie, Herr T., die Heine Störung, es it das eine alte ſchlechle Gewohn—⸗

144 26. Pepolb, Erinnerungen.

heit, die wir ſelbſt balb abftellen werden.“ T. war Hug genug, mit bloßem Stillihweigen zu antworten, und dem reuigen Günber murben in ber nächitfolgenden Unterrichtspaufe gegen das aus: drückliche Veriprechen, daß er ſich fünftig in der Geſchichtsſtunde nicht hingehöriger Beichäftigung enthalten werde, feine Hefte und Bücher wieder zugeftellt.

Die K., fo zählte auch unfer Lateinlehrer W., von ben Schülern gemeiniglid „ber alte Spieß“ genannt, zu ben recht bejahrten Herren, was übrigens feinem gewiſſenhaften und gründ- lichen Unterricht faum auzumerfen war. Eine Objervanz indeß, die wohl faum von W. ſelbſt herrühren mochte und die mir jeine Unterrihtsftunden in hohem Grade verleidet hat, möchte ich hier als auf notorifchem Unverftande beruhend hervorheben, die nämlich, daß bie zwei Abteilungen, in welde bie Klaſſe zerfiel, infofern verfchiebene Berüdfihtigung zu finden pflegten, als der aus ben vorgerüdteren Schülern zuiammengefegten erften Geftion aus- ihlieglih das Recht der erftmaligen mündlichen Überfegung bes iateiniſchen Autors zujtand, während die zweite ſich auf möglichjit getreue Wiedergabe des jo Vorüberfegten und von W. jelbjt Kor: rigierten zu befchränfen hatte. Ob eine derartige, dem mechaniſchen Wiederfauen in verhängnisvoller Weile Rechnung tragende Ans ordnung jih damals auf das Rigaer Gouvernementsgymnafium beſchränkte ober überhaupt in ben Staatsgymnafien üblid) war, weiß id) nicht, auf jeden Fall mußte fie dem Kopfe eines erklärten Jugend: und Bildungsfeindes entiprungen fein, denn fie lähmte ganz offenbar bei den weniger Vorgerüdten den guten Willen und die Luft am alt-Flaffifhen Unterricht. Die jo Häufig bemäfelte Bebeutung des Latein als VBildungsmittel dürfte gerade darauf beruhen, daß feine jtiliftiichen Schwierigkeiten bei Wahl des abä- quaten Ausdruds in der Dlutterfprahe dem Willen und ber Vhantafie eine ähnliche Triebtraft verleihen müſſen, wie etwa ber mechaniſche Drud fie dem als Fontaine aufmwirbeinden Quell ver= leiht. Auf diefen insbejondere gerade dem willens- und gedanfen- ftarfen Latein innehaftenden Segen mußte nun der Schüler während feiner fid) mindejtens auf ein Semeſter erftredenden Zugehörigteit jur zweiten Abteilung verzichten, er gewöhnte fid) daran, aus— ſchließlich mit dem Gedächtnis zu arbeiten, und hatte, wenn er in die erfte verjegt wurde, ein gut Teil jener Luft fid) in fpontaner Weife quafi ſprachbildneriſch zu betätigen eingebüßt.

Dem Individuellen bei weitem mehr Nechnung tragend war der Unterricht unjres Neligionslehrers, bes waderen Paſtor⸗Diakonus

26. Peold, Grinnerungen. 15

J., einer ftattlihen Erſcheinung mit einem Gefichtstypus, ber bem bes Doktor Martinus in feinen jpäteren Lebensjahren, als Frau Katharinas Kühe und Keller von Kurfürft, Nitler und Bürgers: mann reichlich verfehen war, etwas ähnlich fehen mochte. J's Lehrbuch war die damals approbierte Chriftlihe Religionslehre von Kurz, ein wenig ſcholaſtiſch und mit manderlei philoſophiſchem Aufpug, wie das ja dem Zeitgefhmad entiprah und beren nicht immer gleich einleuchtende Säge feitens der ja allzeit rationaliſtiſch angehauchten Schuljugend manden Widerſpruch wachriefen, melden ſich der gute J., der eigenen dialektiſchen Überlegenheit wohl bewuht, auch recht gern gefallen ließ und in gejiemender Rede und Gegenrede mit den reiferen Schülern fieghaft zu widerlegen verftand.

Wohl die bedeutendfte Perſönlichkeit im gefamten Lehrerfolleg des damaligen Rigaer Gymnafiums war ber Lehrer der ruſſiſchen Sprache und Literatur Sch., und dod) glaube id), duß bei allem Glauben an die unifizierende Miſſion Nußlands und einer nicht unbeträchtlihen Zehrbefähigung dieſer Pädagoge, was den Effelt feiner Mühmwaltung anbetrifft, ganz weſentlich in Richtung der Steigerung bes baltifchen Sonderbewußtfeins gemwirft hat. Es machte ſich eben die Parabel vom Mantel des Wanderers und vom Winde in feiner Art zu verfahren befonders geltend. Sch. gab unjtreitig vortrefflihen ruſſiſchen Unterricht, wenn er aber, wie beijpielsweile hier erwähnt fei, auf fein Stedenpferd: bie Konfrontation des ruſſiſchen und deutſchen Sprichworts fam und anläßlih der Kritik diefer naiven Schöpfungen der Volksmoral und des Volsverftandes die ſchlichte Folgerichtigkeit ruſſiſcher Dent- weiſe deutſchem Halb: und Umverjtand gegenüber hervorhob, fo war die Wirkung der von ihm ſelbſt angeftrebten gerade entgegengefekt. Sch., der noch dazu in Mosfau, der Hodburg für das Streben nach genuin:organiiher Entwidlung Rußlands ftudiert hatte, hätte aus ber bamals jhon zu nit unbeträchtlihem Umfang anges wachſenen ruffiichen Literatur, die nad) Grimm’s und Savigny's Vorgang den Begriff des Organiſchen auf das Volksleben anzus wenden gelernt, wiſſen müffen, welde Nolle das anthropomorphis fierende Element von jeher und überall in Mythologie, Volksgefang und Sprichwort gejpielt; dennoch fonnte er dem Kigel nicht widers ftehen, diefem Clement, fofern es im beutichen Spridwort ſich geltend madıt, mit ziemlich billigem Spott zu begegnen und z. B. der deutſchen Morgenſtunde, bie ja befanntlid Gold im Munde tragen foll, allen Ernſtes den Prozeß zu machen. „Aber, erbarmen

148 25. Pebold, Erinnerungen.

Sie fi, feit wann hat denn bie Morgenftunde einen Mund?” und mas dergleichen Dinge mehr waren.

Beruhte Wefen und Charakter der deutſchen Schuljugend Petersburgs, foweit ich fie aus der Petriſchule kennen gelernt hatte, auf ganz ungemein bisparaten Einflüffen, fo trat, mindeſtens mas bie oberen Klaſſen betrifft, bei den Schülern des Nigaer Gpmnafiums eine gewiſſe Einheitlichleit des Sinnesweife zutage, die, dem bebdeutendjten ſtädtiſchen Zentrum baltiſchen Lebens ent— ſprechend, als die fpezifiich bürgerlich baltiſche zu bezeichnen wäre. Im großen Ganzen glaube ich nicht zu viel zu fagen mit der Behauptung, daß hier neben einer gewiſſen, dem Baltentum nun einmal tief einwurzelnden Neigung zu derbem Lebensgenuß, doch ein gejunder ſittlicher Geift vorwaltete, welchen aufrecht zu erhalten ſich namentlich die Söhne des Rigaer Literatentums und Patriziats angelegen fein lichen, was angefichts der zahlreichen Gelegenheiten zur Verführung, die gerade dns damalige Niga bot, ſchwet genug ins Gewicht fiel. Der Geift kameradſchaftlicher Kontrolle, deſſen hinſichtlich der eigentlichen Schule bereits Erwähnung geſchehen, beſchränkte fich eben nicht auf diefe legtere, und war aud, mas das Verhalten der Schüler außerhalb derjelben betrifit, nicht ohne fegensreichen Einfluß, den Eltern, Vormündern und der Schul- obrigfeit, die doch nicht überall ihr wachfames Auge haben konnten, gar mande Sorge abnehmend. Diefen kameradſchaftlichen Geiſt zu fördern bepwedte u. a. aud) eine Verbindung unter den Schü- lern der oberen Klaſſen, die freilich nah Schülerart fi allzufehr in Nahäffung ſtudenliſchen Weſens gefiel, dod) aber meines Glau- bens mehr Gutes als Schlimmes gezeitigt hat. Ein wohlwollender geiftliher Herr, zu den Spigen der damaligen Nigaer Paſtoren— Schaft zählend, hatte uns, wohl der eigenen Jugendjahre in jovialer Weiſe gedenfend, aus freien Stüden eine recht ftattlihe Räums lichkeit zu gebote geftellt, die im alten romantiſchen Niga unweit des Herderplages am Domesgang gelegen, eine ganze Waffen— fammer ſtudentiſchen Rüſtzeugs in ſich ſchloß, über was alles wir, ohne jede Einmiſchung in unfer Tun und Treiben, nad) freiem Ermefien verfügen fonnten. Sich hier in ben Freiftunden, die nicht gerade der häuslichen Arbeit gewidmet waren, nach Herzens: luſt auszutummeln, war cin Hochgenuß, freilich nur denjenigen Schülern zugänglich, die von den eigentlichen Stiftern in den harmlofen Bund aufgenommen waren. Cs verfteht ſich wohl von jelbjt und war durchaus der baltischen Art jener Tage entiprechend, daß das Politiſche bei unjern Gejprächen fo gut wie gar feine

25. debold, Erinnerungen. 17

Nolfe fpielte. Don den großen Dingen, die fih im Innern des Reichs vorbereiteten und von benen aud) bie beutiche Schuljugend Petersburgs nicht ganz unberührt geblieben war, mußten wir damals in Riga fo gut wie garnichts; es wurde wohl bisweilen mit Sympathie oder Antipathie, wie eben bie Beichaffenheit bes Elternhaufes derartiges bedingte, der Jtaliener und ihrer Einheilss beftrebungen gedacht, doch waren das Ausnahmen und ftand nächſt den Burſchenidealen des uns allen ja nahe bevorftehenden Dorpat, das Literariſche an erſter Stelle, welches durch das eben damals auch von den Schülern feſtlich begangene Scillerfeft wie durch einen Lefenbend mit verteilten Nollen, an dem viele ber jungen Genofjen ſich beteiligten, fid eines ziemlid) eifrigen Kultus erfreute. Ans Ungefunde grenzend, aber freilich tief in den damaligen bal- tiſchen Verhältniffen begründet, war der Fenereifer, mit dem alles, mas das Dorpater ſtudentiſche Rorporationsleben betraf, von biefer Rigaer Jugend als das A und O menſchlicher Glüdjeligfeit ger priefen, ja angebetet wurde, lauter Dinge, deren Herrlichfeit ihre Antizipation in allmonatlid) wiederkehrenden Sympofien fanden, welche in irgend einem der Stadt benachbarten Etabliijement von befonberen Feftordnern arrangiert, uns in Tabaksdampf, Burſchen⸗ lied und Bierfeidel fchon die umfägliche Seligkeit des fünftigen Dorpater Treibens wie eine Fata Morgana vors Auge zauberten. Derartige Genüfe waren im Grunde ziemlich befcheidener Art, mie fie denn nie mehr als etwa einen Nubel pro Kopf zu ftchen famen. Einer gefeftigteren Natur mögen fie nichts geſchadet haben, verhãngnisvoll aber dürften fie für den allzu Impreſſionabeln und den Eraltierten allerdings gewelen fein, wie mir denn ein Fall in trauriger Erinnerung geblieben ift, wo ein reichbegabler Jüng⸗ ling, deſſen Verhalten im übrigen auf der Schule ſchon einen bedenflihen Defekt inneren Gleichgewichts verriet, als er nach feiner Überfieblung nad) Dorpat feine Hoffnungen, in Bälde ben rot-blau-weißen Dedel tragen zu dürfen, enttäufcht ſah, notoriſchem Irrſinn verfiel.

* *

Der wohlwollend putriaralifhe Charakter des damaligen Dorpater Univerfitätsregiments machte ſich ſchon vor der eigent- lichen Immatrifulation in den warmen Worten geltend, mit denen der Syndikus Beife uns das Nefultat der Prüfung mitteilte und in denen der wohlwollende alte Kerr es nicht unterließ, einiges an gutem Troſt und Aufmunterung an die Adreſſe derjenigen mit

18 26. Pehold, Grinnerungen.

einfließen zu laſſen, benen das Mißgefchid begegnet mar, im Examen einfach durchgefallen zu fein. Weniger jagte mir trop der achtung⸗ gebielenden Erfcheinung des damaligen Rektors Bidder die eigent- liche Immatritulation zu; es war furz vorher noch am Kneiptiſch der älteren Studenten allzuviel von ber bei biefem Anlaß her⸗ kömmlihen Wendung: „Sie treten jetzt aus dem Leben der Schule in die Schule des Lebens“ die Nede gewefen, als daß, da der Paſſus wirklid den Lippen des würdigen Mannes entichlüpfte, ſich meiner nicht ein gewiſſes Unbehagen hätte bemächtigen follen.

Aber zum Denken kam Schreiber biefes in jenen erften Tagen nad) glüdlich überftandenem Aufnahmeeramen faſt garnicht, ber: geſtalt dicht hatte bie Phantafie das Schlingpflanzengewirr ihrer Vorftellungen aufidießen laſſen, welche das Geftern und Morgen verbargen, um einzig und allein das Heute oder beffer noch ben Augenblid in ftrahlendes Hofinungsgrün zu Heiden. Derartige Stimmungen find weber vernünftig noch ſittlich, fie find einfach jugendlih, und wohl dem, der fie bei Zeiten zu überwinden vers ſteht, ihr Gegengewicht aber follten fie, zumal für den, welchem in der ungebundenen Stubentenzeit fein fittlichendes Heim, fein mirflich bildendes und reipekteinflößendes Philifterium an Stell und Ort fhügend zur Seite fteht, in einem von vornherein ftreng geregelten und konſequent fortgefegten Beſuch der Hörſäle finden.

In gewiffer Hinficht wäre ich zum Theologen nicht ganz un: geſchickt geweſen, denn ethijche und metaphyſiſch-theoſophiſche Pro: bleme begleiteten mic) auf Schritt und Tritt, aber die eigentliche Frömmigfeit, jo gut ic) fie auch vom lieben Elternhaufe her kannte, mar nicht meine Sache. Die jog. Allgemeine Weltgeichichte hatte mid) auf ber Schule am meiften angezogen, aber fie fam mir zu grengens und gejeglos vor, ein Urwald von Baumriefen und niederem Geſträuch, wovon lepterem vielleicht, trotz feines beſchei⸗ denen Wuchſes, eine nod wichtigere Rolle in der Olonomie bes Ganzen zufallen mochte, als jenen Niefen, in deren Wipfeln der Sturmwind des Herrn ſauſte. Auch Schopenhauers häßliches Wort über das Geſchichtliche, welches man in ben Parerga nad: leſen mag, imponierte dem halben Knaben weit über Gebühr. Ein Zufall hatte mir Roſcher's vielgerühmtes Bud in die Hände gefpielt; hier ſchien der Menſch in feiner Eigenſchaft als politiſches Wejen doch quafi dem Gefep unterworfen und obendrein nod) dem hiſtoriſchen, und Gedichte war ja immer mein Stedenpferd gewejen. Im Tert über dem Strid das Gejeg, und fei es auch zuvörderſt nur das wirtjchaftlie, in den Anmerkungen unter bem

75. Vehold, Erinnerungen. 19

Strih, mie ein organifch dem Leiter verbundenes Feuilleton, bie hiftorischen Belege, ober wenn ein Bild geftattet ift: dort der archi— teftoniich vollendete Aufbau, hier das rohe Geftein, aber farben prädtig und in feiner Mannigfaltigfeit unſäglich anziehend. So ungefähr urteilte das Anabenverftändnis. Zudem war die politiiche Dfonomie ja das A und O ber Zeit, man fonnte an ihrer Hand mitreden, ja vielleicht gar dereinft miltun in Geftaltung der großen Dinge, von denen mic; während meines Petersburger Aufenthalts ein leijes Ahnen überfommen. Wie oft Hatte ich ben Sap geleien, die Jurisprubenz lehre lediglid) das Wie, die politiſche Ofonomie erft das Warum, und der jugendlihe Hochmut will num einmal nichts vom Tehnifhen um feiner ſelbſt willen willen, denn hinter diefem Techniſchen jtedt doch immer noch etwas anderes, das wilfenswerter und gewichtiger ift, wie hinter dem Mafchinenbau bie Mechanik und hinter bdiefer wiederum Phyfit und Mathematik. Kurzum, ich war in der Wahl meines Studiums allmählich ſchlüſſig geworden und lieh mic als Stubiofus der politiichen Okonomie, wie es in ber Matrikel hieß, oder ber Kameralia, wie das Publifum die Sade zu nennen beliebte, inffribieren, fpäterer Entideidung vorbehaltend, ob ich denn nicht doch zum Studium der Geſchichte übergehen folle. Die Profeffur für ben einftweilen von mir gewählten Wiffenszweig befand fi damals in ben Händen von Theodor Graß, einer ſehr achtbaren und jehr beachtenswerten Perfönlichkeit, die, wie mich dünkt, lange nicht nach Gebühr von unſrer heimifchen Prefje gewürdigt worden ift und auf die deshalb geftattet jei, hier etiwas ausführlicher einzugehen.

Dieſer außerordentliche Profeffor der Kameral-, Finanz: und Handelswifienihaft, wie die etwas zopfige Bezeichnung im akade⸗ mifchen Kalender lautete, hatte mit nihten eine im engeren Sinne afabdemifche Karriere hinter ſich und war erſt in veiferem Lebens: alter zum afademifchen Lehramt gelangt; ob er etwas nennens- mwertes, oder überhaupt etwas gejchrieben, weiß id) nicht, und den- nod glaube id, daß er das Zeug zu einem ganz vortrefflichen afademifchen Lehrer in fih trug und unter günftigeren Verhälts niſſen, namentlich bei größerer Anerkennung feitens der Studenten auch trog feiner vorgerüdten Jahre ein folder geworben wäre. Einer angefehenen Rigaer Familie entjtammend und nid! ohne Glückogũter hatte ſich Graß nad) Vollendung feiner Studien und langandauerndem Aufenthalt im europäijhen Weiten, zumal auch in England, praftiihen Zebensaufgaben, wie namentlich der Bewirt⸗ ſchaftung größerer Landgüter zugewendet, wobei Mißerfolge, die

Baltilie Monatsfceift 1905, Yeft 2. 4

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mohl zu großem Teil ihren Grund in dem bei ihm ganz ungemein entwidelten philanthropiichen Sinn und der Hinneigung für ein» ſchlägige Erperimente gehabt haben mochten, ihn ſchließlich verans laßten, dieſem Tätigfeitsgebiet Valet zu fagen und es mit bem eines alademiſchen Lehrers zu verlaufen, deſſen wiſſenſchaftlicher Aufgabe Graß eine ſtark ausgeſprochen filtliche beigefellte. Schon der breitfrämpige Hut und der einfahe Schnitt der Kleidung gaben ihm etwas vom Quäfer, welder Einbrud durch ein gewiſſes Sich: befcheiden im Verfchr, das bisweilen an Befangenheit grenzen mochte, noch gefteigert wurde. Die Studenten erzählten fih, Graß habe einmal im Nolleg als die eigentliche Aufgabe der politiſchen Ofonomie bie Verwirklichung des Neiches Gottes auf Erben bezeichnet, und es iſt wohl möglich), daß er etwas ähnliches gefagt hat, benn die Richtung, die er in feiner Miffenfhaft vertrat, war etwa bie, welche heutzutage als die katheder-ſozialiſtiſche oder befjer noch als die chriftlich-fogiale bezeichnet wird, eine Richtung, bie damals unter der breiten Menge, zumal aber unter ber jo jehr vom Schlagwort beflimmten Jugend, um fo weniger Adepten finden Tonnte, als die Politit des zweiten napoleoniſchen Kaiſerreichs ben der alten englifhen Schule entnommenen Grundjag bes laissez faire, laissez aller weit über Deutfcland und Rußland hin ver- breitet hatte. Das damals ganz in Vergefienheit geratene, jeit den achtziger Jahren des vorigen Sälulums wiederum mil fo großem Eifer gelejene und befolgte Buch von Friedrich Liſt über das nationale Syftem in ber politiihen Okonomie bildete recht eigentlid) den Ausgangspunft von Graf’ politifd - ölonomifcher Anfhauungsweife, und er bemühte ji, wie mir ſcheint meiftens vergebens, feine Schüler zum Studium gerade diefes Buches anzu leiten. Was Graß in zweiter Linie anftrebte, war tunlichſte Gegenftändlichfeit, das Beſtreben feine Zuhörer quafi zum Gehen der wirtſchaftlichen Prozejie und Vermaltungsafte zu bringen. Syftematif, wie fie nad) Adolph Wagners Vorgange heute noch fo ſehr im Schwange it, eine Methode, die ſicherlich aud die Fehler ihrer Tugenden hat, war nicht nad) Graß' Geſchmack und entſprach durchaus nicht feiner Geiftesanlage, die dem Schematifieren und dem Runftwort in Art bes faritativen Syſſems uſw. durchaus abhold war. Diefer Abneigung gegen das Syſtematiſieren und Schematifieren mochte es zum Teil zuzuſchreiben fein, daß es Grab nur felten fertig friegte, den zu behandelnden Stoff felbft in einer recht ausfömmlich zugemeſſenen Zeit aud wirklich zu erledigen. In der Finanzwiſſenſchaft gelangte man etwa nur bis zur Steuer-

25. Pegolb, Grinnerungen. 151

lehre inklufive und befam vom Staatsfchuldenwefen, das ber überaus gemilienhafte Graf aller Wahrfcheintichfeit nach befonderer Betrachtung vorbehalten hatte, nichts zu hören, dafür aber waren die ungemein betaillierten Exkurſe über bie verfchiedenfien Ver— mwaltungsmaterien, zu denen das Kapitel von den Stantsausgaben Anlaß gab, nicht nur in bes Wortes üblicher Bedeutung ganz ungemein belehrend, fie zeigten einem die Dinge aud in einer Weiſe, wie das jonft vom Katheder aus nicht eben zu geſchehen pflegt; und wenn Graß u. a. ũber das Gefängnisweien, das er in vieler Herren Länder durch eigene Anſchauung genau kennen gelernt und beifen ganze Literatur er beherrfchte, ſprach, fo mochte es dem Zuhörer mohl zu Mute fein, als werde er von einem edel und human gefinnten Führer von Zelle zu Zelle geführt und über die pſychiſche Beſchaffenheit jedes einzelnen Verbrechers wie über die etwaigen Mittel zu feiner Beſſerung unterrichtet. Was ber Wirkung jener jo außerordentlich gewifienhaften und einen warmen Herzen entquellenden Lehrtätigfeit von Graß ganz weſentlich hin dernd im Wege fland, war ein in bem Grade wohl felten anzu: treffender Mangel an Nebegewandtheit, der zum Teil auf feine natürliche Schüchternheit zurüczuführen war, zum Teil aber auch aus einer übertriebenen Gewiſſenhaftigkeit refultierte, die allzu ängftlich darauf bedacht war, baf jedes Wort den Begriff auch vollftändig dede und zugleich dem Verftändnis der Zuhörer anger paßt fei. Man fonnte von dieſem Profeijor wie von feinem andern vorausfegen, dab er ſich gründlich für feine Vorträge prär pariere, und dennoch verging felten einer ohne den peinlichen Moment, wo er inmitten einer langen Periode innehielt, um fie mit ber flereotypen Wendung: „Deine Herren, ich habe den Faden verloren und muß von neuem anheben“, auch wirklich aufs neue zu beginnen. Es war bas wohl der wefentliche Grund, weshalb fein Kolleg von vielen gemieben und belacht wurde, die ungleich feichterer Belehrung, wenn fie nur fließend und ohne Stoden dem Munde des Profeſſors entquoll, das höchite Lob zu zollen nicht unterliegen. Anläßlid des ſoeben berührten Defekts von Theodor Graf fei Hier einer Szene gedacht, die ein wenig an das vors erwähnte Beijpiel fchülerhaften Selfgovernments im. Rigaer Gym: nafium erinnert und dazu das Pifante hat, daß der hier bie Lokalpolizei im öffentlichen Intereſſe Ausübende jenes refoluten Gpmnafiajten jüngerer Bruber war, der fi, wie hier Hinzugefügt fei, im fpäteren Xeben durch ein hervorragendes Buch über bie bäuerlichen Verhältniffe Rußlands befannt gemacht hat. Auf der jr

183 29: Pegoß, Erinnerungen.

erften Banf von Graß' Auditorium pflegte ein junger Pole ober Ruſſe Platz zu nehmen, wir wußten felbft nicht welcher Nationalität er eigentlid) ſei, denn er ſprach nur franzöſiſch, eine Sprache, bie, nebenbei bemerkt, in bem alten Dorpat nur von menigen ver- ftanden, geichweige denn geſprochen wurde. Dieſem jungen, elegant gelleibeten Herrchen, von dem es hieß, daß er ein brillanter Poſtolenſchũtze fei, ſchienen nun bes guten alten Graf’ Wieder holungen von bereits Geſagtem fehr auf die Nerven zu gehen und er bebiente fi, um feinem Unwillen darüber Nusdrud zu geben, eines nicht eben ſehr rüdfichtsvollen Mitlels, welches darin befand, daß er das Gummiband feiner für die Kollegenhefte beftimmten Mappe in gewillen Intervallen ftramm an ſich zog, um es bann wieder auf den Harten Dedel zurüdichnellen zu laſſen, ein Zeit- vertreib, der, wie ſich leicht benfen läßt, unfer aller Mikbilligung unb dann und mann einen verlegenen, ftrafenden Blick des guten Profeſſors zur Folge hatte. Aber die Nemefis follte zum Glück den Frevler fofort ereilen. Raum hatte Graß den Hörfaal ver— faffen, als auch ſchon der Meine K. mit energiihem Schritt auf den übermütigen Geden zuging und ihm in berber deutſcher Rede laut und allen vernehmbar das Flegelhafte feiner Handlungsweiſe vorhielt. Cine Forderung auf Piftolen war natürlich die Folge, ob fie wirklich zum Duell geführt, erinnere ich mich nicht mehr, auf jeden Fall war ber Übeltäter jeitbem aus Graß' Auditorium ſpurlos verſchwunden und zugleich ein warnendes Beifpiel ftatuiert für alle, die, mit den Dorpater Bräuchen unbefannt, fi fünftig ähnliches hätten herausnehmen fönnen.

Es muß für den guten Graß eine überaus betrübende Wahr: nehmung geweſen fein, trop reblichiten Bemühens feine irgend nennenswerte Zahl von Schülern um ſich verjammeln zu können, denn und das war der eigentliche Kern und Stern dieſes hoch⸗ achtbaren Mannes er glaubte wirklich an feine Sache, eine Sache, bie leider Gottes jo oft lediglich Gedanfenequilibriftit ober Mittel in ber Hand des Parteiftrebertums if. Graf war durch und durch Balte, die große Polilik zog ihn wenig an und mag für feine wefentlih innerlihe Natur und zu Gewifiensfkrupeln neigende Neflerion etwas beängftigenbes gehabt haben. Deſto feiter haftete er am Kreife derjenigen gemeinnügigen Aufgaben, die das Selfgovernment in Provinz, Landſchaft, Gemeinde zu erfüllen vermag und nicht nur techniſch wohl ausgerüftete, fonbern vor allem auch human gefinnte Selbftverwaltungsmänner für bie fofalen Aufgaben in Stabt und Land Heranzubilden, mochte ihm für die

76. Peold, Erinnerungen. 153

baltifhen Lande als eine um fo gewichtigere Miſſion erjcheinen, als es hier die mannigfaltigen Antagonismen zu überwinden galt, die der damals noch im großen Ganzen ziemlich latente Raſſen— gegenfag bedingte. Cs lag im Weſen ber Sache, daß einem ber: artigen Streben perjönlihe Fühlungsnahme zwifhen Lehrer und Schüler in erfter Linie als wünfchenswert erſcheinen mußte, und Groß unterließ nicht, eine ſolche nach Kräften anzubahnen. In feinen fameraliftiihen Praftifum, wo es ſich vorzugsweife um volfswirtichaftlihe Fragen der baltischen Heimat handelte, fand er Gelegenheit, am gemütlichen Teeliſch feinen Studenten aud) innerlich näher zu treten, und manden von ihnen hat er nicht felten auf feiner ſtudentiſchen Burg jelbit aufgeſucht. Cs war viel Lebens: ernft, viel Liebe und Treue in dieſem Mann, der doch nur felten Anerfennung fand und an dem ein großer Teil derjenigen, benen er mit fo großem Wohlwollen begegnete, doch mit einem wenn— gleich gutmütigen Lächeln zur Tagesordnung überzugehen pflegte. So weit ich ermeſſen fann, waren es nur jehr wenige und unter ihnen vor allem der obenerwähnte K., die Graß im ipäteren Leben die jhulbige Dankbarkeit bewahrt haben.

Es gab eine Zeit, wo man dem alten Dorpat nachſagte, eine vortreffliche Tameraliftiiche Schule gemacht zu Haben, und neben PHilologen und Diedizinern waren es vorzugsweife Rameraliften, die, von ruffifchen Univerfitäten dahin geſchickt, dort ihre Ausbils dung vollendeten. Theodor Graß aber fann als der legte eigent: lie Kameraliſt Dorpats gelten, denn dieſe Richtung mit ihrer ins einzelnfte gehenden Betrachtung der konkreten Eriheinungswelt mar bad) fehr vericjieben von der Wehanblungsweife fpäterer Dorpater Öfonomiften. Ein weſentliches Bindeglied, dus Grab mit manden unter ben leßteren verband und ihn von den älteren KRameraliften unterjcied, war das lebendige Verſtändnis für den geſchichtlichen Entwidlungsgang der Dinge, ein Verftändnis, bas ihn, bei aller jonftigen Verſchiedenheit, Roſcher und feiner Schule in gemwifem Sinne näherte.

Kine Unterredung mit 8. P. Bobjedennszem im J. 1885.

3" Jahre 1885 hatte ein baltijcher Edelmann eine Unterrebung mit 8. P. Bobjedonoszem, dem Profureur des Heil. Synode, über eine Frage der Gewifiensfreiheit. Den Ansgangspunft bildete die Lage der Konvertiten, doch wurden im Laufe des Geſpräches aud allerlei andre Materien berührt. Die Unter redung wurde unmittelbar danad) jhriftlih in ruſſiſcher Sprache firiert und ift dann natürlich auch andren an der Frage interejr fierten Nreifen in Abfchriften zugänglich geworben. Wir teilen fie nachſtehend in einer wortgetreuen Überjegung mit. * * *

3. Ich habe die Ehre mid Ew. hohen Erzelleny vorzuftellen und Sie zu bitten, Ihre Aufmertfamkeit geneigteft auf unſer bebrängtes Gebiet zu richten. Durd die Aufhebung des Aller- höchſten Befehls vom 19. März 1865 ift eine ſchwierige Lage geſchaffen, vornehmlich für unfre Vevölferung, die in den legten 20 Jahren fid) gewöhnt hat an den Befig der Gewiliensfreiheit, die jeit altersher auf der Juſel Oeſel wie in allen Baltifchen Gouvernements beitand. Wir find bereits einmal in einer ähn: lichen bebrängten Lage geweſen, haben die Sittenlofigfeit gelehen, die wilden Ehen, den Unglauben, die eine unausbleiblidhe Folge der Ruechtung der Gewiſſen find. Alles das haben wir im bem fünfziger Jahren unfres Jahrhunderts durchlebt, bis dem zulept durch den Allerhöchſten Befehl vom 19. März 1865 ein Ende gemacht wurde, und darum wende id) mid an Ew. hohe Ercellenz mit der ergebenften Bitte, uns Ihre einflußreihe Mitwirkung zu gewähren zur Befeitigung des Gewillenszwanges, der dur bie Aufhebung des Alerhöchiten Befehls vom 19. März 1865 wieder eingeführt ift.

Eine unterredung mit R. P. Pobjebonoszem. 155

P. Im diefer Hinficht kann id Ihnen feinerlei Hoffnungen maden, weil durch bie Aufhebung des Allerhöchjiten Befehls vom 19. März 1865 nur das allgemeine Neichsgefeg wiederhergeftellt it, da6 für ganz Rußland die Einforderung von Reverſalen bei Schließung gemiſchter Ehen feitjegt, und weil beshalb für die Baltiihen Gouvernements feine Ausnahme gemacht werden fann. Endlich ift dieſes Gefeg ein kirchliches, das auf dem Beichluß eines oelumeniſchen Konzils beruht, fo daß die weltliche Gewalt es auf⸗ zuheben ober abzuändern fein Recht hat.

3. Mber ſchwerlich hat doch das oekumeniſche Konzil eine Beſſimmung über Neverjale bei Schliegung gemiſchter Chen getroffen

P. Nun, nidt über Neverfale, aber es hat die Chen mit Andersgläubigen verboten, wie ja aud) die katholiſche Kirche ſolche Ehen nicht zuläßt.

3. Dann verbieten Sie doch die Schließung gemifchter Chen, wenn ihre Zulaffung, fei es auch mit Neverfalen, eine tatſächliche Verlegung der Veftimmungen des oefumenifihen Konzils bedeutet.

P. Nun, das fanı man doch in unfrer Zeit nicht mehr fun, aber mögen doch bie Lutheraner feine Nedhtgläubigen mehr heiraten. Überhaupt liegt gar fein Grund vor, ſich fo aufzuregen, die Bewegung zur Drthodorie iſt eine temporäre Bewegung, fie wird von felbjt wieder nachlaſſen. Die Leute aus dem einfachen Volk gehen ja nicht deshalb von einem Glauben zum andern über, weil fie die Dogmen der einen oder der andern Lehre höher ſchätzen. Es iſt eine fulturelle Erſcheinung, bier wirfen pſychiſche Einflüffe mit, der Neiz in der protefiantiihen Kirche Hymnen zu fingen u. dgl.

3. Da ich feine religiöien Fragen berühren möchte, jo will id) nicht darüber rechten, was elma vorzuziehen wäre, Hymnen zu fingen, wie Sie ſich auszubrüden geruhten, oder aber id) erlaube mir nod) einmal auf Die bejtehende Tatſache hinzuweijen, daß bie zur Orthodorie Übergetretenen ihrem Wunſche Auodruck gegeben haben und mod) geben, wieder zur evangelijchen Kirche zurüdzu- fehren, und dab die Unmöglichkeit ihren Wunfch zu befriedigen jenen traurigen Zuftand ber bedrängten Gewiſſen und des jer- rüttelen Familienlebens erzeugt, der in jeder Hinſicht verderblich it. Zudem ift das Necht der Gewillensfreiheit ein altes Necht bes Baltiſchen Gebiets, es beiland ſchon vor feiner Vereinigung mit Außland, und wenn id aud weiß, daß man uns jeden Hinz

156 Cine Unterrebung mit 8. P. Pobiebonoszew.

weis auf die Konditionen, unter denen die Einverleibung Defels ftattfand, zum Vorwurf madıt, fo ift es doch unzweifelhaft, daß wir nicht irgendwie von ungefähr ruffiiche Untertanen geworden find, fondern daß dieies auf Grund des Nyftäbter Friedesvertrages geihehen ift, und daher berufe ic) mich auf jene durch eidliches Veriprehen Kaiſer Peters d. Gr. befräftigten Beitimmungen, die ſchon vor 160 Jahren dem Baltiſchen Gebiet das Recht ber Gewiſſensfreiheit gewährleijteten, ein Necht, das fie auch während der verfloffenen Regierung genoffen haben. Wenn in einem wohl: geordneten Staate die Geſetze durch geheime Befehle nicht aufge hoben werden fönnen, jo liegt nunmehr, wo diejer Befehl befeitigt iſt, feinerlei Hindernis vor, jenes alte Recht der Gewifjensfreiheit wiederherzuftellen, jonft erjcheint die legte Aufhebung als eine ebenfo verderbllche Mafregel, wie das einſt die Aufhebung des Edilts von Nantes war.

P. Was war nicht alles vor 160 Jahren! Im den legten 35 Jahren ift vieles Unzuträglice geſchehen; man kann das nicht alles erhalten, fondeın muß es im Gegenteil befeitigen. Der Allerhöchſte Befehl vom 19. März 1365 war eine Kränfung für ganz Rußland. Sie müſſen ſich daran erinnern, daß Eie unauf löslich zu Rußland gehören, und daß in Rußland die orthodore Kirche die herrſchende iſt. Der Adel und die Pajtoren verteidigen den lutheriſchen Glauben mit Fanatismus, treiben aus politifchen Gründen Propaganda und verfolgen fanatiih ben orthodoren Glauben. Id) erinnere mid), daß, als ich vor einigen Jahren in Hapfal war, der dortige Paſtor, ein Jdiot, ein totaler Idiot, vom orthodoren Glauben als einem Hundeglauben jprad).

3. Es ſcheint mir nicht glaublich, daß irgend ein Luthe— raner, geſchweige denn ein aftor, ſich derartig über einen Hriftlichen Glauben hat äußern fönnen, weil das dem ganzen Geifte des Proteftantismus wideripricht, der fi durd Glaubens: dufdung auszeichnet. Aber jelbjt wenn auch irgend ein Paſtor, wie Sie jelbjt jagen, ein totaler Idiot, fid) einen ſolchen Ausfall erlaubt haben follte, jo kann man dod) aus der Handlung eines Einzelnen nicht die Schlußfolgerung ziehen, daß Fanatismus und Verfolgung der Orthoboren in ben Battifchen Gouvernements für den Adel darakteriftiich find. Ic fann Ihnen verſichern, daß in den legten 20 Jahren auf der Injel Dejel in kirchlicher Hinficht vollftändige Nuhe geherricht Hat. Beim Abſchluß der Arrende: fontrafte auf ben der Nitterichaft gehörigen Gütern ift es z. B. niemand in den Sinn gefommen, danach zu fragen, welden

Eine Unterredung mit 8. P. Pobjebonosgem. 157

Glaubens die Pächter jeien. Würde der Adel mit Fanatismus und aus politiihen Gründen das Luthertum verteidigen, fo würde er ſicherlich einen Unterſchied zwiſchen orthodoren und lutheriſchen Pächtern machen. Indeſſen kann ich Ihnen verfihern, daß ich pofitiv nicht weiß, mie viele von dem bäuerlichen Arrendatoren zum einen oder zum andern Bekenntnis gehören; und auch auf den Privatgütern verhält man fi ebenjo. Auch von meinem eigenen Gute weiß ich nicht, wie viele von den 48 Pächtern Zutheraner und wie viele Orthodore find.

2. Sie jpreden von fi und id) glaube Ihnen vollfommen; aber nicht alle verhalten fich jo. Mir find auch aus Defel Fülle von Verfolgung zur Orthodorie übergetretener Perfonen befannt.

3. Ich bin nicht befjer als andre, und wenn ic) in meinem Namen ſprach, To geihah das deshalb, weil id ber Verwaltung der ritterjchaftlihen Güter nahe ſtehe und mir alfo, wenn Die Nitterichaft einen Unterſchied zwiſchen den bäuerlichen Pächtern nad ihrem Glaubensbekenntnis machte, jolches befannt fein müßte. Was ober die Fälle von Verfolgung Nechtgläubiger ‚anlangt, fo Tann ich Ihnen fühnlich verfihern, daß das eine abſcheuliche Ver: läumdung it. Zeigen Cie mir einen Fall. Ic wiederhole Ew. Ere,, es ift eine Verläumdung, wenn man Ihnen von ſolchen Füllen berichtet. Ich weiß, daß Klagen vorgefommen find, aber dieſe Klagen find ebenfo unbegründet wie z. B. die Klage des orthodoren Priejters, der 3 Werft von mir wohnt, daß angeblich der Paſior bes Kirchipiels, in dem mein Gut liegt, zwei zur ortho— doren Kirche gehörige Perfonen getraut Habe. Der Bräutigam wie die Braut Hatten dem Paſtor ſchriftliche Zeugniſſe von zwei verfchiedenen Pajtoren vorgeftellt, daß fie Kutheraner feien, und deshalb Hat er fie auch getraut; folglich ift dieſer Paſtor ganz im Recht. Ich begreife aber, dab gerade dieſer Fall dem ortho- doren Priejter äußert unangenehm war, mweil der Bräutigam vor feinem Übertritt zum Luthertum Lehrer an der orthobogen Schule war. Wenn wir uns fo fanatiid) mit der Propaganda beicäf- tigten, jo müßte dieſer Lehrer belohnt werden. Indeſſen weiß ich pofitiv nicht, wo dieſer zum Luthertum übergetretene Lehrer geblieben iſt.

P. Nun ja, aud zur Orthodorie treten Lutheraner aus innerer Überzeugung, aber verlangen, daß dort eine Gmonatliche Frift zur Vorbereitung eingeführt werde, das iſt unnütz. Ich habe auch Tiejenhaufen und Schulg Sie haben doch dort bei. fi fo einen Superintendenten, nicht? davon geſprochen. Würde

188 Cine Unterrebung mit R. P. Pobjebonosger.

man uns beide jegt über die Dogmen eraminieren, weiß Gott, welde Nummer man uns ftellen müßte. Cs genügt, daß fie ihren Wunſch zum Übertritt kundgeben, nun, jo hindert fie nicht. Wenn jemand von ber Orthodorie zum Luthertum übergeht, jo verfolgen wir ihn ja auch nicht. Wen verfolgen wir denn? Niemand ver folgen wir dafür, daß er übertritt.

3. Aber Sie verfolgen die Paftoren, die folde zum Abend⸗ mahl annehmen oder ihre Kinder taufen.

P. Ja, die Pafloren muß man verfolgen, weil jie damit eine geſetzwidrige Handlung begehen.

3. Wie fönnen fie denn von der Orthodoxie zum Luthertum übertreten, wenn Sie dafür ben Paſtor verfolgen, wenn Sie ihnen die Möglichteit nehmen zum Abendmahl zu gehen. Darin liegt ja das ganze Elend.

P. Ya, das weiß ih nun nit, wie fie da übertreten follen. Mögen fie in die lutheriſche Kirche gehen, wenn ihnen das gefällt; aber ihnen den Übertritt geftatten, das fönnen wir nicht. Da hat der General Nichter mir zwei Bittfepriften aus dem Wendenſchen reife übergeben wegen Erlaubnis zur lutheriſchen Kirche zurüc- zufehren. Gott weiß, wer die dort geidhrieben hat; forſcht man nad, fo erweiſt es ſich, daß die Bittjteller von einer Eingabe ihrer Bitte nichts willen. Aber einerlei, ſelbſt wenn es wirkliche Bitten wären, fo ift es durchaus unmöglich, ihnen den Übertritt vor ganz Rußland zu gejtatten. Erbarmen Sie fid, was wäre das für ein Beiſpiel, da würdet ihr alle übertreten wollen. Wenn Sie aber dort Unglauben befürchten, jo haben Sie ja aud) Eelten, die Baptiſten uſw. Das beweilt, dab die lutheriſche Kirche die religiöfen Bedürfniſſe nicht befriedigt.

3. Auf Dejel gibt es Gott fei Dank weder Vaptiften noch anbre Selten; daß aber die Geftenbildung ein Beweis für die Nichtbefriebigung der religiöjen Bedürfniſſe ſei, läßt ſich doch nicht fo unbedingt behaupten; aud) in ber orihodoren Kirche gibt es ja den Raskol und verjchiedene Sekten, wie die Sfopgen, die Springer uſw.

P. Für mid iſt es vollfommen verftändlid), weshalb ber Abel den lutheriſchen Glauben fo hartnädig verteidigt, er bildet für Sie ein KRulturelement, Sie wünſchen die Bevölkerung als ein Ganzes, unzerteilt zu erhalten. In Ihnen ijt viel Gutes, das muß man anerfennen; Sie figen alle auf Ihrer Scholle und Sie verteidigen Ihre Rechte und Sitten, das verdient alle Achtung. Aber immerhin bilden Sie einen Teil Kußlands und deshalb

Gine Unterrebung mit 2. P. Pobjebonoszem. 159

mũſſen bei Ihnen dieſelben Einrichtungen jein wie im übrigen Rußland. Die Baltiſchen Provinzen bilden ja eine vollftändige Anomalie, wie fie in Europa nirgends eriftiert. Sehen Sie, was Frankreich, was Preußen mit den einverleibten Teilen gemacht haben, fie Haben alle Sondergefege vernichtet und alle Provinzen unter dem ganzen Staate gemeinfamen Gefegen vereinigt. Bei Ihnen aber gelten unendlich verſchiedene Sekten, jebe Stadt hat ihr befonderes Geſetz. Der Staat darf fold ein Amalgam von Gejegen nicht dulden, es ift notwendig das zu befeitigen. Ein Gejeg muß für ganz Rußland gelten und für alle feine Gebiete.

3. Preußen hat den Staat in der Tat durd allgemeine ſtaatliche Geſetze geeinigt, aber das hat ja ſchon längjt Geltung aud) bezüglich des Baltiſchen Gebiets. Die Gefege von ſtaatlicher Bedeutung, wie über die Steuern, die Wehrpflicht, die Gouver— nementsregierungen ufw., find in den Baltifchen Provinzen dies felben, wie in ben übrigen Gouvernements. Nur die Gejege, die eine rein lofale Bedeutung haben und die Selbjtverwaltung betreffen, unteriheiden fi) ein wenig, gemäß ber geſchichllichen Entwielung ber einzelnen Orte, jowohl von einander wie von denen der inneren Gouvernements. Und folde Unterichiede finden ſich audy in Preußen, auf das Sie ſich berufen. Die Kreis: und Provinzialinftitutionen in Oftpreußen find ganz andere als die in Hannover, und von beiden unterſcheiden fid) wiederum die in der Rheinprovinz und in Heſſen-Naſſau. Indem wir die in Iofalen Verhältniffen und in der gejdichtlihen Entwidlung begründeten Bejonderheiten ber Gejege, die nur eine lofale Bedeutung ohne ieden Schaden für den Staat befigen, zu erhalten wünſchen, erfennen wir vollfommen an die Untrennbarfeit vom Heide. Und dieje Verbindung wurde aud) ganz richtig geftärkt, als unter Raijer Nitolai Pawlowiti die beiten Kräfte der Baltiihen Provinzen in den Staatsdienſt gezogen wurden. Wenn dieſe Perfonen dann in die Heimat zurüdfehrten, fo hielten fie die Verbindung mit den Staatsinftitutionen aufrecht, fie vereinigten uns mit dem Staat, indem jie beilen gedachten, daß fie mit ihrem Blut und ihrer Arbeit im Dienfte des Herrſchers und des Staates gejtanden hatten. Sept eriftiert ſolch eine vereinigende Verbindung nicht fie iſt geſchwunden. Das hat I. Samarin bewirkt, indem er einen durch nichts gerechtfertigten Antagonismus hervorrief.

P. Je nun, Samarin, wenn nit er, dann hätte eben ein andrer bie Frage angeregt, weil fie auf einmal eine zeitgemäße geworben war. Sie wiſſen jelbit, daß die Nationalitätsfrage in

180 Eine Unterrebung mit N. P. Pobjebonoszem.

ganz Europa plöglid ein andres Ausſehen erhielt, fo Hat fie fich aud) im Baltiſchen Gebiet zugeipigt. Cie ſprechen von der Politik des Kaiſers Nifolai Pawlowitſch fie ift heute nicht anwendbar. Nehmen Sie z. B. die Bauernfrage, fie hat ja alles im Staate verändert; bei Ihnen jedoch, da figt fie allein noch mit bem feu- dalen Hecht und man tut mit den Bauern, was man will. Über: haupt herrichen bei Ihnen vollitändig ber Abel und die Paftoren.

3. Der Mel herrſcht nicht, aber er hat tatjädlid ben vorwiegenden Einfluß in allen Fragen der Selbjtverwaltung des Gebiets, und mir ſcheint in einem fonjervativen Staate joll es aud) fo fein. Nehmen Sie dem Adel diefen vorwiegenden Einfluß, wem werden Cie ihn benn einräumen? Bürger in weiterem Einne gibt es da nicht, mit Nusnahme der „Bürger“ in den Städten Riga und Neval, teils aud in Ditau und Dorpat. Wollen Sie denen den vorwiegenden Einfluß geben?

P. Ad) was „Bürger“, ber vormwiegende Einfluß foll beim Adel bleiben, jedoch nicht die Herrſchaft. Bei Jhnen herrſcht der Adel, das ift die Herrihaft eines Standes über alle andren. Gewählte Richter, Abminiftration, Polizei, alles it in den Händen des Adels, und jo erhält eine ftändifche Einmütigfeit die Herrſchaft der jtändifchen Intereſſen überall aufrecht, und Dies eben muß unbedingt vernidhtet werden. Alles das muß in bie Hände der Regierung übergehen.

3. Wenn Sie es für notwendig halten, ben vorwiegenden Einfluß des Adels aufrecht zu erhalten, fo wird es unumgänglid fein, ihm bie erfte Stimme bei allen Wahlen zu fihern; die Ans wendung des MWahlprinzips bei allen Inftitutionen ift aber mit ihnen allen fo verwachſen, daß man es jchwerlic wird aufgeben Tonnen. Die Vernichtung alles Bejtehenden wird ber allgemeinen Verfolgung entipredyen, die man jetzt über die Eingeborenen bes Baltiſchen Gebiets ergehen läßt.

P. Wo ift die Verfolgung, ich bitte Cie? Da hat ber eine Dies, ber andre das getan id) würde fie entlailen, aber fie bfeiben im Dienft, niemand verfolgt fie. Um jedoch zu ber Frage zurüdzufehren, von der wir ausgingen, fo wieberhole ich, daß es nicht möglich ift, das Gefeg von dem Reverjal vor der Trauung aufzuheben, das wäre eine Beleidigung für ganz Ruß— land. Es follte doc leicht eriheinen den Kalender abzuänbern, den alten Stil durch den neuen zu erjegen, aber willen Sie, das tönnte eine allgemeine Revolution hervorrufen. So kann aud) die Verlegung diejes Geſetzes ebenſolche Folgen haben. Es beruht

Cine Unterrebung mit 2. P. Pobjedonoszem. 10

auf der Beftimmung eines oekumeniſchen Konzils und muß feine volle Geltung haben, da auch überhaupt alle Gefege für alle Gebiete Ruflands die gleichen fein müflen.

3. Alfo, Ercellenz, Sie einverleiben die Daſe Merw, ver: fprechen ihr Wahrung der Belenntnisfreiheit und bringen fie dann zur Orthoborie mit Hilfe des Strafgeſetzbuchs.

P. Wie fönnen Sie fi mit der Dafe Merw vergleichen ?

3. Ganz im Einklang mit ber von Ihnen geäußerten Ans fit von der Gleichheit der Geſetze für alle Gebiete Rußlands; das Normalreglement ber politischen Entwidlung, das Normal reglement für das Gewiſſen und die Neligion ift das gleihe für die Daje Merw wie für das Baltiſche Gebiet.

P. Sie haben feinen Grund, haben feinen Grund, ſich mit der Oaſe Merw zu vergleichen.

3. Ew. hohe Ercellenz, ich) habe mir nicht mit der Hoffnung geihmeichelt, daß ich die herrſchenden Vorurteile werde zerfireuen fönnen; ich habe meine Pflicht erfüllt, indem ich Sie in Anſpruch genommen habe. Wir haben aud) das jchon erlebt, daß man uns fagte: Man hätte rechtzeitig damit einfommen follen. Und des— Halb habe ich es für meine Pflicht gehalten, Sie von ben unver- meiblichen Ralamiläten in Kenntnis zu feßen; für die Folgen aber tönnen wir feine Verantwortlichfeit auf uns nehmen.

a

Fiterarifche Rundfchau. Die Grundlagen der Hebbelſchen Tragödie.

D- iſt Tragif? Eine vielumftritiene Frage, anders beantwortet zu verfchiedenen Zeiten und von verfchiebenen Individuen, anders auch häufig von berfelben Perfönlichteit in ihren verjchier denen Entwidlungsftadien und in ihrer fünftlerifchen Theorie und Praris. So veridieden aber auch die Antworten ausfallen mögen, in dem einen, wonad) gefragt wird, ſcheinen alle einig zu fein. Die Frage nad) der Tragik iſt eine Frage nad) der Weltanſchauung. Eben deshalb fällt ihre Yeantwortung fo verihieden aus, anders bei den Griechen, anders bei Shafefpeare, bei Goethe, bei Schiller; denn die Weltanfhauung ändert ſich mit den Zeiten und Ver— hältniffen, ja jedes einzelne Individuum hat im Grunde genommen feine eigene und ganz befondere, die fih faum mit ber irgend eines andern in allen Punkten dedt. Gilt es aljo feitzuftellen, welche Auffafjung ein Dichter vom Tragiſchen hat, fo gilt cs, feine Weltanſchauung feitzuftellen feine Weltanfhanung in einem wefentliden Punkt, nämlih in dem, in weldem Verhältnis das Individuum zum Univerfum, der Einzelwille zum Weltwillen fteht, wie weit der Einzelwille frei oder im Weltwillen gebunden iſt; denn darum handelt es fih am legten Ende in jeder echten Tras gödie. Soich eine Feitftellung ift in feinem Falle leicht, und fie wird um fo ſchwerer, je reicher und vielgeftaltiger die Dichternatur ift, die in Frage fommt. Erſchwert wird fie auch in dem Falle, wo wir die Weltanjchauung des Dichters nur im Bilde, d. h. im Spiegel jeiner Dichtung, nicht aus theoretiihen Ausführungen fennen fernen fönnen. Liegen letztere vor, ſo gelingt es ficherer, ſelbſt wenn Theorie und Praris fid nicht immer deden. So find wir über die Weltanjchauung Schillers und feine Auffaſſung des Tragifchen vollfommen orientiert. Anders liegt es Schon bei Goethe, der eine viel fompligiertere Natur ift und feine theoretifchen Anz ſchaunngen mehr gelegentlich, nicht ſyſtematiſch zufammengefaßt gibt.

Sterarifche Rundſchau. 168

Noch ſchwieriger geftaltet ſich bie Unterfuhung bei Shakeſpeare, da er uns feinen Buchftaben Theorie, an dichteriſchen Erzeugniſſen aber eine ſolche Mannigfaltigteit Hinterlaiien hat, daß aus dieſer Vielheit und Vielgeftaltigfeit mit Sicherheit die Einheit zu gewinnen faum möglich ericheint. Daher gehen denn aud die Anſichten über die Meltanihauung Shakeſpeares weit auseinander. Die einen fehen in ihm den Dichter proteitantijher Willensfreiheit za: Zoyie, bie andern fo z. B. Mar Marterfteig in feinem jüngft erfhienenen großen Werk „Das beutjche Theater im 19. Jahr⸗ hundert” halten ihn für den größten und itrengiten Verfünder menſchlicher Willensunfreiheit. Ebenſo weit abweichende Meinungen find hinſichtlich der griechiſchen Tragifer zu Fonftatieren.

Ein Dichter, der neuerdings wieder zu bejonderen Ehren tommt, iſt Friedrich Hebbel. Seine Dramen gewinnen auf ber beutihen Bühne immer mehr an Boden, und die gelehrte Kritik bat ſich daran gemacht, ihn zu ergründen. Sein Geiltesverwandter und Nachfolger, Joſen, hat ihm bie Bahn gebrochen. Lin Fremder mußte fommen, um den Dentichen über einen der ihrigen bie Augen allmahlich zu öffnen. Der Prophet gilt nichts im eigenen Baterlande, namentlich wenn diejes Vaterland ein deutſches iſt.

Bon Hebbel gilt wie von feinem andern deutſchen Dichter das Wort: Wer zum Verſtändnis feiner Dichtung fommen will, muß ſich mit feiner Weltanfhauung vertraut machen. Denn erftens iſt feine Weltanschauung eine ſcharf ausgeprägte und eigen: artige, und zweitens it alle Hebbelſche Dichtung der bewußte und oft zum Schaden des Kunftwerfs gewaltſame Verſuch, dieſe feine Veltanfhauung zu verfinnbildlihen und dadurch zu veranihaus lichen. Dennoch war Hebbel feineswegs in erfter Linie Philofoph und erjt in zweiter Dichter. Im Gegenteil, der Dichter iſt es, der in ihm den Philojophen, joweit er überhaupt diefen Namen verdient, wedt. Wohl ſucht er fid) ſyſtematiſch mit Philofophie zu befehäftigen, aber es bleibt bei den Verfucen und Anläufen, fie bringen jein Gehirn gar bald, wie er felbit erzählt, „in einen Zuftand, der mit der Drehfrankheit der Schafe die bedauerlicjite Aehnlichkeit hat“, und er ſchleudert feinen Hegel und Schelling zu Boden und tritt fie ergrimmt buchſtäblich mit Füßen. Die wiſſenſchaftliche Philofophie bleibt ihm ein verſchloſſenes Buch, „ein blinder Gaul“. Seine Weltanfhauung ift Erlebnis, das Produkt feiner Beanlagung und Erfahrung, und fie kommt ihm plöglich und intuitiv zum Bewußtjein. Dann baut er fic aus, modell an ihr umher und preßt mit ſtarrer Konſequenz ſich und die Welt in fie hinein, um dann mit derjelben ftarren Ronfequenz fein ganzes Dichten ihr dienſtbar zu maden, indem er immer neue Spiegel bilder von ihr zu entwerfen fucht.

Und wie jieht nun dieſe Hebbelihe Weltanidauung aus?

164 Literariſche Rundſchau.

Obgleich er ſich ſein ganzes Leben lang abmüht, ihr dich- terijche Geftaltung zu geben, gewinnen wir ein ficheres Bild von ihr nicht fomohl aus feinen Dichtungen, fondern aus jeinen Vor: reden, Tagebüchern und Briefen, in denen er umablälfig beitrebt iſt, fie theoretiſch anseinanberzufegen. Freilich, auch hier muß, man zu leſen verftehen, muß man Entwidlung, Wandel und vor— übergehende Stimmung unterfcheiden. Immerhin aber gelingt «8, zu feiten Nefultaten zu kommen. In der Dichtung felbft bleibt in diefem Punkt das Können hinter dem Wollen zurüd. Wir glauben bem Dichter nicht, jo eifrig er uns aud durch Dichtung und Kommentar zu überreden ſucht. Die Probe auf das Erempel ergibt uns ein andres Reſultat als ihm jelbit.

Ein junger Philologe, Franz Zinkernagel, hat neuer dings in einem Werf „Die Grundlagen der Hebbelichen Tragödie”* mit Verftänbnis und viel Sorgfalt den Verſuch gemacht, die Welt: anſchauung Hebbels in ihrem Entjtchen und ihrer Entwidlung bis zu ihrer Epige feitzuftellen, um dann zu prüfen, wie weit es dem Dichter gelungen üft, ihr überzeugenden Ausdrud in feiner bramas tiihen Produktion zu geben. Das Wert Zinternagels gibt uns die Anregung zu folgenden Ausführungen.

Schon früh empfindet Hebbel fein eigenes Leben und das der Menjchheit als eine große Diijonanz, und dieſe von ihm überall wahrgenommene Diffonanz zeitigt in ihm bie Idee des Dualismus. Der Dualismus ift ihm die legte, höchſte, die Grundidee. Nun fehlt Hebbel gänzlich das Verantwortlichteitsgefühl und damit das Vewußtſein der Sündhaftigfeit. Und dieſes Manko in feiner Natur führt ihn bei feiner bualiftifchen Auffaffung der Welt, im Gegenſatz zu der gleichfalls dualiftiihen chriſtlichen Anſchauung, notwendig und geraden Weges zum Pellimismus. Kampf, end- fofer Rampf ift alles Leben. Und in welchem Verhältnis ſteht in dieſem Kampf der Einzelne zum Ganzen, das Individuum zum Univerfum? Aus bichteriicher Intuition heraus empfängt Hebbel plöglich und entwirft er fein Weltanihauungsbild. Der Weltprozeß entiteht dadurch, daß ſich das Individuum, feines Urjprungs ver: geſſend, in unbegreiffiher Freiheit vom Univerfum losreißt und nun in wnabläffigem, fruchtlofem Kampf gegen das Univerfum fteht, bis cs enblid von dieſem wieder verfhlungen wird und zurückſinkt in das allumfaifende Element, aus dem es fam. Diejer Prozeß ift ohne Anfang und ohne Ende, er iſt, wie Hebbel fagt, „die Rontinuation des Schöpfungsaftes, eine ewig werdende, nie fertige Schöpfung, die den Mbichluß der Welt, ihre Exftarrung und Verſtockung verhindert.” Der Weltwille bedarf diefes Pro: zeſſes, um ſich zu verwirklichen und zum Bewußtſein zu kommen,

*) Berlin, Georg Reimer, 1904. 189 S. M. 3.

Siterarifeje Rundſchau 165

und fucht doch unabläffig, was er ſchuf, zu zerftören. Anberfeits ftrebt das Geichaffene, das Individuum, raftlos in das All zurüd, und fucht ſich doch wiederum, getrieben von feinem Individual⸗ egoismus, ber ihm als Erbteil des Univerfalegoismus wurde, als es ſich vom Al losriß, in unabläjligem Rampfe als Individuum zu behaupten. Es unterliegt aber ununterbroden in dieſem Kampfe, da feine Freiheit nnr eine fcheinbare ift, da es im Grunde genoms men immer opponierend, immer dody nur den Weltwillen vollzieht, bis es feine Miffion erfüllt hat und ins Univerfum zurückkehrt. Der Menſch alfo ift unfrei im weitelten Sinne, und das, was wir Geſchichte nennen, iſt ein Produft von Naturgefepen. Cs ift Mar, daß bei einer folden Weltanfhauung fein Raum für Ideen wie Gott und Sittlichfeit ift. Und doch operiert Kebbel fort während mit ihnen, indem er einfach, Univerfum, Notwendigkeit, Weltwillen, Gott, fittliche Idee identifiziert, und dann ohne Bedenken den öden Himmel feiner Naturnotwendigteitsiehre mit allen Sternen einer theifliichen und ethüfchen Weltbetracptung fehmüct. So gelingt es ihm aud) in fein Syftem eine Schuld Hineinzubringen, die bad) wieder eigentlid) feine ift. Sie beruht in der Mahlofigleit, mit der fi das Individunm gegen den Weltwillen durchzujegen ſucht. Aber da ber Egoismus, ſich zu behapten, wie gejagt, ein Erbteil üt, das das Individuum als Bedingung feines individuellen Seins aus dem Univerjum mitbefam, fo fann es dafür nichts, daß es ihn zur Geltung bringt, ja, je ſtärker es ihn betätigt, um fo deul⸗ licher befundet es feinen Urjprung, um jo vorzüglicher ift es alſo im Grunde genommen. Und fo fommen wir ſchließlich dahin, daß wir fagen: Je gottwibriger, um fo gottähnlicher. Das wäre Zucifer_ in Hebbeliher Auffaſſung. Und in der Tat fagt Hebbel, dab „ih das Göttliche gegen Gott auffehnt, weil es feines- gleichen. iſt.“

Aber befriedigt den Dichter diefe Art der Weltbetrachtung? Keineswegs. An einer Stelle heißt es: „Ich frage: mozu bie Ueberhebung? wozu diefer Fluch ber Kraft? Nur wenn fie dadurch gefteigert, wahrhaft verebelt würde, würde ich mid; damit aus— gelöhnt fühlen. Und doch fonnte man jelbjt dann noch fragen: wozu ift diefe Grabation nötig? Warum dieſe auffteigende Linie, die jeden höheren Grad mit fo unfäglihen Schmerzen erfaufen muß?” Das Bedürfnis nad Erlöfung macht ſich geltend, und die glaubt Hebbel ſchließlich in der Refignation gefunden zu haben: „Wenn ber Menſch fein individuelles Verhältnis zum Univerfum in feiner Notwendigfeit begreift, fo hat er eine Bildung vollendet und eigentlich auc ſchon aufgehört Individuum zu fein, denn ber Begriff dieſer Notwendigkeit, die Fähigkeit, ih bis zu ihm durch- äuarbeiten, und die Kraft, ihn feitzuhalten, loͤſcht allen unbered: tigten Egoismus aus und befreit den Geift vom Tode, indem er

Valtifge Monatsfheift 1905, Heft 2. 5

186 Siterartfcie Rundſchau.

biefen im weſentlichen antizipiert.“ Diefer Gedanke gewinnt immer größere Macht über Hebbel und wird von ihm in fein Spitem gebracht, obgleich er da nicht hineingehört, nicht hineinpaßt. Hier iſt bie Inkongruenz in dem Hebbelſchen Weltanſchauungsbilde. Wenn der Menſch, aus der Naturnotwendigkeit entſprungen und ſelbſt ein Stück von ihr, naturnotwendig gegen den Weltwillen anfämpfen muß, wie foll er dahin gelangen, von dieſem Kampfe aus eigenem Antrieb abzulalien? Ja, wie fann er, wenn Oppo— fition gegen den Weltwillen die Bedingung feines Dafeins als Individuum ift, wie fann er dann auch nur, folange er als Indi— viduum noch eriftiert, den Gedanken fallen, vom Kampfe abzuz ftehen? Heißt das nicht, die Willensunfreiheit in das Gegenteil umbiegen und damit das aufgeführte Gebäude mit eigener Hand wieber zerftören?

Ich vermiffe in den Ausführungen Zinfernagels ben beul= lichen Nachweis, daß der Areis bes Hebbelihen Meltanfchuungs- bildes nicht gefchloffen ift. Er gewönne aber diefe Geſchloſſenheit, wenn Hebbel nicht über ber einen Eigenichaft des Individuums die andre vergäße, Das Jnbivibuum hat als Erbieil aus dem Univerjum nicht nur die Eigenschaft erhalten, ſich behaupten zu wollen, jondern aud die andre, zum Univerfum zurüdzujtreben, und feine Aufgabe iſt es, in diefem Widerſtreit den Ausgleich zu finden, jo zu finden, daß der Univerfafegoismus in ihm ben Indi— vibualegoismus überwindet. Hebbel fieht den Dualismus nur in dem Verhältnis des Individuums zum Univerfum, er ift- aber ebenjo wirffam im Individuum felbit, ja er hört dort in bemjelben Augenblid auf, jobald er hier überwunden ift. Es ift jenes Manfo in Hebbels Natur, das Fehlen des Schuldbewußtjeins, das ihn behindert, dies zu erfennen und dem andern Ich in dem Indi— viduum, das dem Umiverfum zuftrebt, in feinem Syſtem bie gebührende Geltung zu geben. Hier und da bligt bei Hebbel dieſe Erfenntnis wohl auf, aber fie iſt nicht ftarf genug, um ihn von feinem Pelfimismus Ioszureißen, und anderfeits vermag er doch auch wieder nicht, ſich auf feiner ausſichtsloſen peſſimiſtiſchen Höhe zu halten. So fommt das fremde in fein Spitem, die Verbin dung von jlarrer Naturnolwenbigfeit, die jeben freien Willen aus: ſchließt, und Selbjterlöfung, die auf freiem Willen beruht, und unter diefer Inkongruenz feiner Weltanjhauung leidet auch feine dramatifche Produktion.

Denn alle feine Dramen find, wie ſchan beiont wurde, Ver— fuche, feine Weltanfchauung zu verfinnbilblihen. Er will in feinen Dramen zeigen, wie das Leben die Schuld mit Notwendigfeit aus ſich erzeugt, wie alfo die Schuld in Wirklichfeit feine Schuld it, und wie der Menjch, frei jcheinend, doch unfrei ift. ein Freund Bamberg ſchreibt an ihn, als er „Herodes und Mariamne” gelefen:

Siterarifege Rundſchau. 187

„Ich glaube, je länger Sie dichten werben, deſto mehr werben Sie die Unſchuld in der Schuld daritellen.” Das ift durchaus zutreffend für Hebbels Art. Er geht meijt genau den umgefehrten Weg wie die Griechen. Dieje verfegen den Helden in eine Zwangs: fituation. Er muß die ſchwere Tat vollführen, bie ihn ins Ver⸗ derben reißt (Dreit, Dedipus, Antigone), und weil er muß, erfcheint er ſchuldlos. Die Kunſt des antiten Dichters aber beiteht aun darin, die Handlung fo zu führen, daß dem Zuſchauer doch zur Gewißheit wird, ber Held ftürgte legten Endes troß der Ziwangs- fituation nicht durch dieſe ins Verderben, fondern durch fid) felbit, feinen Charakter. Der antife Dichter fucht alfo in der Unichuld die Schuld zu erweijen. Hebbel dagegen geht in ben meilten Fällen von dem „Ideinbar fchuldig” aus und ſucht durch den Verlauf ber Handlung ein „doch nicht ſchuidig · darzutun. Zinfernagel weilt an mehreren feiner Dichtungen nad), wie ihm das feineswegs immer ich möchte fagen, eigentlich nie über» zeugend gelingt, wie der unbefangene Lefer das Gegenteil von dem heraushört, was Hebbel in Dichtung und beigegebenem Kom⸗— mentar oft jchreiend zu beweiſen ſucht. So heifit es bei Zinfer- nagel u. a. über „Maria Magdalena“: „Ihn (Gebbel) trieb fein innerjtes Bedürfnis, jede fittliche Schuld in dem Fehltritt Klaras auszumerzen. Er wollte nachweiſen, wie das Leben ohne inneren Anteil des Individunms die Schuld mit Notwendigkeit aus fich ſelbſt erzeuge, und glaubte feine Abficht dadurch zu erweifen, daß er einem talſächlichen Fehltritt berechtigte ſittliche Motive unterſchob. Wir aber mögen uns noch fo ſehr quälen, dem Dichter auf dieſem Wege zu folgen, es wird uns ſchwerlich gelingen. Wir werden nie aufhören, in Klara eine Schuldige zu fehen, alle Verwirrung ber Motive wird uns über ihren Fehltritt nicht hinwegtäuſchen. Der- ſelbe Mangel an fittlichem Gefühl, der uns in der Konzeption ber „Öenoveva” überraichte, fällt auch Hier wieder unangenchm auf. Wie iym dort Siegfried als ber ſchuldigſte erihien, fo Hier Meilter Anton. Aber feltfam genug: all dies Sonderbare offenbart uns nur der Kommentar, den uns ber Dichter gibt. Nichts in der Dichtung felbjt verrät uns eine Spur von des Dichters Jntentionen. Ein Bild göttlicher Gerechtigkeit entrollt fi uns. Wir fehen die einzelnen Geftalten Schuld auf ſich laden und fie büßen. Nein Schidjal kann trotz aller Furchtbarkeit gerechter jein als das, welches über dieſe Menſchen hereinbridt. Kein Dichter hat mit wuchtigerer Kraft in den Geitalten jeiner Kunſt die Welt zurecht: gerüdt, als gerade Hebbel in feiner „Maria Magdalena”.”

In feiner Schlußbetrachtung ftellt Zinfernagel den Theoritiker Gebbel über den Dichter. Er meint, Hebbel habe theoretiſch „eine Kunſtform geſchaffen, die völlig in der Richtung unirer modernen, die Schranken des menſchlichen Willens refigniert aner—

dr

168 Siterarifche Rundſchau.

Tennenden Weltanſchauung liegt“, und er habe mieber theoretiſch „ben Weg gewieſen, auf bem bas Drama unfrer mobernen Zeit fi einzig und allein entwideln kann.“

Ich möchte im Gegenfag zu Zinfernagel glauben, Hebbels dramatiſche Theorie iſt anfechtbar, weil fein Weltanſchauungsbild nicht geſchloſſen iſt. Der Dichter in Hebbel war joviel jtärfer als ber Theoretifer, daß er häufig injtinftiv gegen die jo eifrig vers fochtene Theorie und Weltanjhauung das Nichtige traf. Hebbel fagt felbit, das Drama fei Darjtellung des Lebensprozeſſes; ber Lebensprogeß aber ijt ein fehr komplizierter, für den Menſchen niemals Mar zu erihauender. Niemals ijt geleugnet worden, daB der Wille des Menſchen Schranten hat, ebenfo wird nie geleugnet werben, daß der Menſch innerhalb gewiſſer Grenzen frei ift und deshalb der Verantworllichkeit unterliegt. Die Grenzen zwiſchen „frei” und „unfrei” auf fleinen Gebieten können durd miljen- Aoaftfice Forſchung verfhoben werden, niemals aber wird bie

liſſenſchafi die Frage von „frei“ und „unfrei” rejtlos laſſen, denn das wäre gleichbedeutend mit der Löjung bes Lebensrätfels. Diefe Löſung gibt fo oder fo allein der Glaube, wo aber ber Glaube anfängt, da Hört die Wiſſenſchaft auf. Das Drama ijt Die Darjtellung des Lebensprogeiies, nicht, wie ihn die Wiſſenſchaft analytiſch zergliedert, fondern wie und foweit ihn die Geele des Künftlers fyntHetiih im feiner Ganzheit erſchaut erſchaut ganz ohne Wiſſenſchaft in ber Lebenserfahrung und im Glauben. Lebenserfahrung lehrt beides, das „frei“ und das „unfrei”, der Glaube entfcheidet fih für das eine oder andre. Der wirkliche Dichter, der das ganze reiche Leben gibt und nicht nur ein mageres Erempel zu einer Theorie, wirb in feiner Dichtung aud immer das „frei“ und „unfrei” zugleich darjtellen und feinen Glauben über den Zufammenhang von ‘Freiheit und Unfreigeit nur wie burd einen Schleier durchſchimmern lafjen.

R. Stavenhagen.

A

Idealismus und Realismus in den geiftigen Strömungen der Gegenwart.

Unter den deutſchen Philojophen der Gegenwart nimmt Euden eine ganz befondere Stellung ein. Geht bas Yauptftreben der erfteren vor allem dahin, die in den pofitiven Wiſſenſchaften bemährte erafte Methode auch auf die philofophijche Forſchung anzuwenden, mit ihrer Hülfe die einzelnen Erfenntnisgebiete genauer durchzubilden und einem fireng wiſſenſchaftlichen Betriebe duzuführen, jo betont Euden im Gegenfag dazu als vornehmfte und dringende Aufgabe einer Philofophie der Gegenwart, bie neue Orundlegung einer Weltanfhauung, in der UWeberzeugung, daß unfer Kulturleben nicht nur einzelne Probleme in Hülle und Fülle enthalte, fondern daß es aud, und ganz bejonders ale Ganzes, einer energiihen Nevijion und einer gründlichen Erneues rung bebürfe. Die Voranftellung diejes allgemeinen Problems findet ſich in fait allen bisher veröffentlichten Arbeiten Euckens. Der Ermweis und Ausbau eines neuen Lebensfuftems, eines felb- ftändigen, weltumfpannenden Geifteslebens bleibt der ftete Mittel- und Zielpunft feiner Forſchung. In fraftvoller, energijher Weiſe bringt er die Notwendigteit eines jolden immer wieder dem modernen Menſchen zum Bewußljein und fordert ihn auf, den Kampf um jeine geiftige Selbfterhaltung aufzunehmen und eine Entfheidung für oder wider zu treffen. Nicht abſtrakte Ideen und ausjchlieglid, theoretiſche Geſichtspunkle dienen ihm dabei ale Ausgangspunft und bejlimmende Faktoren, fondern auf das Ganze bes Lebens felbit und die in ihm hervortretenden geiftigen Ten: denzen ift vielmehr fein Hauptaugenmerk gerichtet. Hier Märend zu wirfen, einen allumfaljenden Zufammenhang aufzufinden und damit den Grund zu einer charafteriftiihen Weltanſchauung zu legen, läßt ev ſich wie in feinen früheren Werken (befonders: „Die Einheit bes Geifteslebens in Bewußtiein und Tat der Menſchheit“ und „Der Kampf um einen geiltigen Lebensinhalt“), jo ganz beſonders im feiner neueſten Veröffentlichung: „Geiftige Strömungen der Gegenwart“ ! angelegen fein.

1) Zeipzig 1904, Leit u. Ro. 3. umgearbeitete Aufl. 898 S. Preis M 8

170 Literarifche Rundſchau.

Auch diefes Bud) wendet ſich wie feine früheren (außer den genannten find hier noch zu erwähnen: „Die Lebensanidanungen der großen Denker“ und „B Wahrheitsgehalt der Religion“) an alle Gebildeten und verdient im beiten inne bes Wortes zeitgemäß genannt zu werden. In wahrhaft univerfaler, hiſtoriſch-kritiſcher MWeife werben wir hier über die tieften Beſtrebungen der Zeit und über die fie bewegenden Fragen auf allen Gebieten orien- tiert. Alle Probleme, bie in irgend einer Form unjer Leben beherrſchen, zieht er in den Kreis feiner tiefgründigen Unter- ſuchung; überall tritt aus dem Streit widerjpredhender Meinun: gen, aus dem Schwanken zwiiden entgegengelegten Beſtrebungen das eine Grundproblem zutage, ob das Leben und Streben des Dienichen lediglich die Bewegung der Natur fortführt, oder ob in ihm eine neue Stufe der Wirklichkeit auffteigt.

Von der eminent praftiichen Vebeutung dieſes Buches für jeden ernjt Strebenden iſt der Schreiber diefer Zeilen aufs tiejite durchdrungen. „Tua res agitur“, heißt es auch hier. Hoffentlich gelingt es, auch den Leſer davon zu überzeugen, ihm zu einer näheren Veſchäftigung mit der Philofophie Eudens anzuregen, wenn wir im im folgenden verfuhen, ihm den Gedanfengehalt eines jo bedeutenden Buches zu übermitteln, oder vielmehr nur einen Teil jeines Gebanfenreichtums, der ſich in einem furzen Neferate nicht erihöpfen läßt: Eudens Ausführungen über Stel- fung und Bedeutung des Fdealismus und Nealismus in den geiftigen Strömungen der Gegenwart.

Eine große Verworrenheit, eine jtarfe Unficherheit über legte und gemeinjame Ziele, agt Euden in der Einleitung, ift ein Merkmal unfrer Zeit. Dieje verworrene, unfichere Lage erſcheint zwar zunächſt als Wirkung der geichichtlichen Ueberlieferung, die uns mit grundverſchiedenen, ja entgegengejegten Strömungen umfängt, Veſonders hat das 19. Jahrhundert die eingreifendjten Wandlungen durdgemadt, die bei aller äußeren Zurüddrängung uns innerlich nod) feithalten und nad) widerftreitenden Richtungen siehen. Aber die Schuld an biefer Verworrenheit trägt deshalb nicht die Geſchichte, jondern unjre Unfelbjtändigfeit ihr gegenüber, unfer Mangel am Konzentration und geiſtiger Ueberlegenheit. Dabei iſt, bei aller Zerriijenheit und Zwieipältigfeit das Vewußt— fein von der Unhaltbarfeit der älteren anthropijtiihen Denfweije, die den Menſchen als den Mittelpunkt des Als und die Wirklich- feit als ein Reich menſchenähnlicher Größen anſah, in der mober: nen Menſchheit lebendig geworden und damit iſt zugleich ein glühendes Verlangen nad) einem weiteren, gehaltvolleren Sein, ein heißer Durjt nad) einem eben mit der Unendlichkeit und Wahrheit des Als erwacht. In diejer Lage eröffnen ſich zwei Möglichkeiten, die ung ein einziges Entweder Oder vorhalten :

Literariſche Rundſchau. 171

Führt die Bewegung gegen das Beharren beim Bloßmenſchlichen dazu, den Menden als ein bloßes Naturweſen zu begreifen und all jein Tun dem Rahmen der Natur einzufügen, und damit alles auszeichnend Menſchliche als einen verderbliden Wahn auszus treiben? Oder befagt jene Bewegung das Aufiteigen einer neuen geiftigen Welt, eine neue Stufe der Wirklichkeit, deren Aneignung und Yusbildung von innen her beim Menſchen erfolgen muß? Trog der Unerläßlichfeit der Entfcheidung für dieſes oder jenes, geigt bie Seit infolge jener Schwäche des Einheitsjtrebens ein Schwanken bald hierher, bald dorthin und einen Mangel energie iher Gegenwirfung gegen das Kleiumenſchliche, ein Sinten des Lebens ins Profane, Ordinäre, eine innere Verarmung inmitten überftrömenden Neihtums an ber Peripherie des Lebens. So befinden wir uns in einer ſchweren g riſe, die Folge und Ausdrud einer weltgeſchichtlichen Lage it. An Verſuchen, dieſer chaotiſchen Lage eine einheitliche Geflaltung des Lebens und der Wirklicheit entgegenzufegen, fehlt es mit. ber das Streben zur Einheit geitaltet ſich meiltens jo, daß bie einzelnen Gebiete die Sache an ſich veißen und das Bild vom Ganzen lediglich nad ihren bejonderen Erfahrungen entwerfen; ihr Gebiet wird ihnen zum beherrichenden Dlittelpunft der Wirklichfeit. So bildet ſich die Religion, die Kunfl, jo erzeugt die foziale Bewegung eine bejondere Weltanichauung; namentlich erweitern fid) die Natur: wiſſenſchaften oft zu einer umfaſſenden Philoſophie. Die dadurch entjtehenden eigentümlidien Durdblide fönnen jedod) immer nur zeitweilig befriedigen, da ihr viel zu fnappes Maß der Wahrheit der Dinge gegenüber nur zu bald erkannt wird. Dabei verfehren ſich oft die Teilwahrheiten mit ihrer Ueberſpannung zur Gefamts wahrheit in Unwahrheit Und jo zeigen uns jene Bartialbewegungen in ihrem Widerjtreit mit einander, daß ſich von den einzelnen Punkten her nichts ausrichten läßt, duß es eine der Verwirrung überlegene Einheit zu fuchen gilt. Das fäht fh jedad night erhoffen ohne eine Erhebung über das Ganze der Zeitlage und ein Exgreifen neuer Anfänge. &s gilt daher eine Berufung von der bloßen Zeit an das Ewige, was die Zeit trägt, vom bloßen Menihen an die überlegenen Gewalten, die den Menſchen über fid) felbit Hinausheben, indem fie ihm ein geifliges Sein verleihen. Für dieſes Ziel der Vertiefung des Lebens und der Erneuerung der Kultur hat jeder nad dem Maße jeines Könnens zu wirken.

Um feiner Aufgabe alljeitig gerecht zu werden, will der Verf. fo vorgehn, daß er die der Zeit charakteriſtiſchen Yaupttendenzen, foweit dahinter Yebensbewegungen aus dem Ganzen jiehen, heraus- hebt, um uns zu einem Bilde der Zeit jenjeit ber Gegenfäge zu verhelfen. Dabei wird die Unterſuchung zeigen, daß ein und das: felbe Hauptproblem durd alle Vianigpaltigfeit wirft und überall

172 oiterariſche Rundſchau.

um das Ganze gekämpft wird. Die einzelnen Strömungen und der in ihnen ermittelte Lebensprozeß ſollen hierbei ſtets an der Frage geprüft werden, ob fie ein jelbjländiges Geiſtesleben über⸗ haupt ermöglien und was fie dafür leiften. Gerade hier bürfte zugleich mit der Einficht in die Eigentümlichfeit der Zeit eine Befreiung von den Irrwegen der Zeit erreichbar ſein. Um die geiftige Art der Gegenwart heller zu beleuchten und abzugrenzen, ſoll die geſchichtliche Betrachtung herangezogen werben. Dabei leitet die hellere Beleuchtung des Tatbejtandes an der Hand ber Geſchichte ſchon eine kritiihe und abjolute Behandlung ein. Nicht nur die Behandlung der Gegenwart, jondern auch die Geſchichte als Ganzes_verwandelt fi) bei Aufdeckung des in ihr wirkſamen Lebensprozeijes in ein Problem und unterliegt der Frage nad) ihrer Wahrheit. Erſt dieſe Verwandlung der Geſchichte in bie Entfaltung eines zeitlojen Seins ermöglicht es, ihrem Ganzen irgend weichen Sinn abzugewinnen. So joll die Behauptung der Zeit an dem weltgeſchichtlichen Stande ber geijtigen Evolution geprüft werden. Dat die Geſchichte mehr Tiefe und Geiſt erjchlofien, als jene, jo wird das Streben notwendig über fie binausgetrieben. Auf dieje Weife ift die hiſtoriſche Kritit nicht bloß zurückſchauend, ſondern auch probuftiv, und vermag die Weiterbewegung, die fie fordert, felbit zu fördern. Wohl ijt ſich der Verfailer der Gefahren und Schranken des von ihm ein geichlagenen Verfahrens voll bewußt; insbejondere empfindet er aufs jtärkite die Unfertigfeit der hier dargebotenen Gedankenwelt, wie es ja nicht anders fein fan, wo wir mitten im Streben und Suchen jtehen und es neue Ausblicde zu gewinnen gilt. Aber die Ueberzeugung, daß der Kreis ber Möglichfeiten noch nicht erihöpft iſt, und wir nicht zu bloßem Epigonentum verdammt jind, läßt ihn troß aller Unfertigfeit getroit ans Werk gehn.

Der Gegenjag zwiſchen Jbealismus und Realismus liegt an der Frage, ob dev Menſch mit feinem ganzen Leben und Streben ein bloßes Stüd der natürlichen Welt, oder ob er diejer Welt innerlich überlegen ift und ihr gegenüber ein meues Neich aufzu— bauen vermag. Je nachdem die Antwort fo oder jo ausfällt, ge ftaltet fich das Leben vom Größten bis zum Steinften, im Denten wie im Handeln, grundverſchieden und ſchließt alle Vermittlung aus. Erſt das 19. Jahrhundert hat dem Idealismus, der bis dahin ſaſt ausſchließlich das Kulturleben beherrichte, ein eigenes Lebensiyitem des Nealismus entgegengejept. Soldyes Unternehmen ſchöpft feine Hauptfraft aus ber Taiſache, daß die unmittelbare Welt in ihrem natürlichen Dafein der Menichheit unendlich mehr geworden ift, daß fie einen viel reicheren Inhalt entwidelt hat, als je zuvor. Zur Steigerung der nachſen Wirklichfeit verbinden fi im 19. Jahrh. die mannigfadjten Bewegungen und Erfolge

Literariſche Rundſchau. 173

anf allen Gebieten bes Lebens. Nun zuerft gelangt beſonders bie Macht der materiellen Lebensbedingungen zu beutlicer Anſchauung und voller Anerkennung. In folhen Leiſtungen wächſt aud der Träger der Arbeit, die Menfchheit, und zwar die Menſchheit, wie fie leibt und lebt, nicht wie fie in der Verklärung durch eine Gedankenwelt erſchien. Und du fie alle praftiihe und ethiſche Beteiligung des Menſchen an fid) zieht, fo ilt es fein Wunder, wenn fie zum Gegenjtand der Verehrung und bes Glaubens wird. So ift es ein Verlangen nad Wahrheit, ein Durjten nad) echter Wirklichkeit, das hier alle Lebensbewegung trägt und treibt, wobei a älteren ibealiftiichen Lebensgeftaltungen für immer zu verjinfen einen.

Aber die ganze Wirklichkeit bes Menichen könnte das iche Syitem nur werden, wenn alle jelbftändige Annerlichfeit mehr und mehr vernichtet, und der Menſch ganzlich in ein Wert: zeug ber Arbeit verwandelt wäre. Statt deſſen hat ber Fortgang der Arbeit deutlich genug gezeigt, baß ber Menſch nicht in bie bloße Arbeit aufgeht. Schon die Leidenfchaften des Kampfes uns Dajein zeigen deutlich genug, daß hinter der Arbeit empfindenbe und wollende Weſen voller Glücksdurſt ſtehen. Außerdem ent wickelt die Arbeit immer nur einen Teil der menſchlichen Kräfte und zwar einen um jo Hleineren, je mehr fie fid) differenziert. Solcher Verziht auf den ganzen Menſchen muß dem Realismus gleichgültig fein, denn ihm entipringt alles Leben ja erit aus der Berührung mit der Umgebung; der wirkliche Menjch aber empfindet ihn als einen ſchmerzlichen Verluſt. Alſo ift in ihm mehr wirfjam, als ihm ber Realismus zuerkannt.

Weiter richtet die Arbeit den Menſchen auf die Leiftung und damit alles Sinnen nad) außen. Das Streben nad) Wirkung und Anerfennung muß immer mehr den ganzen Menſchen abjor- bieren und alles felbitänbige Geelenleben unterdrüden. Doch wir empfinden bie tatſächliche Zurüddrängung des Annenlebens als peinliche Leere, die uns die Befriedigung an der Arbeit raubt und alle ihre Erfolge jeeliich in bie Ferne rüdt. Überbliden wir dabei das Menjcenleben als Ganzes, fo entipricht jener fortichreitenden Verwandlung des Dajeins in Arbeit ein Zurücktreten eines geiftigen Lebensinhaltes und einer gemeinfamen Geiſteswelt. Damit aber geht ein Stück Leben verloren, und zwar dasjenige, das aller übrigen Betätigung erſt den rechten Wert zu verleihen ſcheint, das umentbehrlid iſt zu einem Zelbftwerte, einer Seele alles Lebens. So erweilt ſich nicht nur der einzelne Meunſch, fondern auch die Menichheit mehr, denn ihre Arbeit.

Daß das alles nicht Erwägungen grübleriicher Reſlexion, fondern vielmehr Erlebniſſe, Erfahrungen der Menichheit find, zeigt fi in dem Auflommen und Umſichgreifen einer tiefen Uns

17 Literarifche Rundſchau.

äufriebenheit, einer peſſimiſtiſchen Lebensſtimmung trog aller glänz genden Triumphe ber Arbeit. Der Fehler in ber Rechnung bes Nealismus bejteht eben barin, daß er die Seele eliminieren wollte, diefe ſich aber nicht eliminieren läßt, die Verneinung ſelbſt hat die Seele wieber ftart hervorgetrieben. Duß aber das Verlangen nad) voller Wirklichteit des Lebens eine ſolche Macht im Realismus erlangt hat, lag daran, daß die überfommenen ibealiftiichen Lebens: formen eine folde Wirklichkeit vermiſſen ließen und feinen ficheren Boden mehr im Gefamtwejen des Menichen hatten. Es waren folder vornehmlich zwei: eine veligiöfe, die zu uns vom Ghrijten- tum, und eine fünitleriiche, die vom Griechentum her wirft.

Die religiöfe Lebensgeftaltung mit ihrer Erhebung von der Zeit zur Ewigkeit, von allem Außenleben zu einer veinen Innerlichteit, behanptet trog aller Verdunklung eine große Wirkung und bleibt ſelbſt bei direfter Ablehnung die unentbehrlide Vorausfegung der modernen Kulturarbeit. Ihre unmittelbare Nähe und ſichere Überzeugungstraft aber hat jie für den mobernen Menſchen ver toren, ſchon deshalb, weil zwiſchen ber überfommenen Gejtalt der Neligion und der modernen Gedanfenwelt eine tiefe Kluft ent ſtanden iſt; mehr aber nod) deshalb, weit fie dem modernen Mens ſchen nicht mehr in derfelben Weife aus eigenen Erfahrungen her: vorgeht, wie dem Chriften der alten Zeit. Ihr entiprang die Wendung zur Neligion aus ftärkiter Empfindung menſchlicher Ohn: macht und aus einer Erfahrung unüberwindlicher Schranfen und Widerjprüce. Der Neuzeit hingegen iſt ein jugendlices Kraft: gefühl, ein ſtarker Lebenstrieb eigentümlich; ihr verwandelt ſich die Welt in eine unermeßliche Aufgabe, in deren Bearbeitung der Menſch ſelbſt wächſt. Vielleicht mag aus der Sraftentfaltung ſelbſt jchließlih eine Erfahrung der Ohnmacht hervorgehen, aber einftweilen herricht das Berwußtfein der Stärke, und es fehlt zu: gleich ein eigener, unmittelbarer Antrieb zur Religion. Damit droht fie ihre zwingende Kraft und Wahrhaftigfeit zu verlieren.

Noch jlärter iſt die Gefahr eines Unmahrwerbens beim künſile⸗ riſchen Idealismus. Er fuchte die Welt nicht von einem überlegenen Standort_her, fondern burd ein in ihr gelegenes Wirfen zu voll enden. Die in der Berührung von Seele und Welt erfolgenbe Geftaltung ſchien mit ihrer Formgebung alles zu harmoniſchem Ebenmaß zu verbinden. In der Tat hat die künſtleriſche Lebens: form mit jolder Leiſtung das menſchliche Dafein gehoben und ihre Unentbehrlichfeit zur geiftigen Durchbildung bes Lebens vollauf erwielen. Aber bedarf es nicht einer bejonderen Naturbegabung, um hier den Schwerpunkt des Lebens finden zu können? Muß ferner nicht ein Menich, ein Volt, eine Zeit eine Tiefe der Seele befigen, um fie in jene Geftaltung hineinzulegen? Wer fie nicht bejigt, dem ſinkt jenes fünjtleriiche Leben leicht zu einer Tändelei,

Literariſche Rundſchau. 175

einem unwahren Scheinfeben. Wird endlich die Kunſt den An— fvrud) behaupten fönnen, bie fchweren Verwidlungen und bie unheimlichen Abgründe bes menſchlichen Daſeins von ſich aus zu heben und in Licht und Freude zu verwandeln? Und wenn jie es nicht kann, jo wird leicht die Neigung entjlehen, das Dajein nad) Kräften ins Schöne zu malen, zu idealifieren. Das erwedt den Widerſpruch des Wahrheitsjinnes, deſſen Dolmetſch ber Realismus wird. Noch augenfcheinlicer ift fein Necht, gegen den landläufigen Jdealismus, der das Allgemeine der Richtung feit- hält, ohne es irgend näher zu beflimmen und zu begründen. Er begeijtert ſich für alles „Höhere“ und preift das „Gute“, „Wahre“, „Scöne”, ohne ſich über ihren Inhalt Rechenſchaft zu geb

So it es verfländlid, daß die überfommenen ibeali Lebensformen dem neuerwachten Wahrheitsbrange nicht genügen. Ob freilich der Realismus ihn ebenjo glücklich befriedigt, wie er ihn energiſch vertritt, das ijt eine andre Frage. Die Verfettung des Tuns mit der fichtbaren Umgebung, in der dem Realismus bie MWirflichfeit des Lebens beiteht, ergibt zwar Leiltungen, nid)t aber damit Erlebniſſe, und um folde fann es ſich doch nur hans dein, wo Wirklichkeit für den Menſchen entjtehen foll. Zum Er: lebuis wird die Leiſtung erſt, wenn fie auf eine Einheit zurü bezogen und von einem Ganzen des Seelenlebens umjpannt wird. Ein ſolches Ceelenleben aber fann der Realismus aus feinen Mitteln unmöglich aufbringen und doch bedarf er defielben für feine eigene Lebensgeftaltung aufs dringendſte; denn erſt unter der Vorausſetzung eines Subjelts ber Erfahrung, das zu den Dingen in Beziehung tritt, läßt jid dartun, daß die MWeltumgebung für den Mienſchen weit mehr bedeutet, als der Durchſchnittsidealismus zugeſtand. Dann aber wird tatjächlid der Nealismus von einer Gedanfenwelt des Jdealismus umjpannt. Auch in anderer Ber siehung zeigt ſich das; jo fehen wir z. B. bei Comte, dem größten Philoſophen des Nealisinus, daß er die Schäben der Zeit burdaus im Sinne des Jdealismus empfindet und fie jo tief faht, dab ohne eine Möglichkeit durchgängiger Erneuerung alle Gegenwirtung verloren jcheint. Was er aber im Sinne des Realismus als Heilmittel bringt ift höchſt dürftig; von zufammenfafjenden Formeln und Veränderungen in ber äußeren Organifation bes Menſchen wird jene Ummälzung erwartet. Der Widerfpruch zwiiden der Größe der Aufgabe und der Kleinheit der Mittel iſt dabei doch zu handgreiflid.

Sollte nun eine derartige zwieipältige Welt die Bedürfniſſe des Geijteslebens jamt dem erlangen nad) Wahrheit voll befriedigen fünnen? Das läßt ſich nur erwarten von einem neuen Idealismus, der den Wahrheitsgehalt des Neulismus be ſonders in zwei Bunften anerfennt. Cinmal wird er im Gegenjug

176 iterarifce Rundfcau.

zu den älteren Formen des Idealismus die nächte Welt mit ihren Verwidlungen nicht von ſich ſchieben, fondern mit voller Mannhaftigfeit in den Kampf mit der Unvernunft des Dafeins eintreten. Denn daß der Lebensprogeß ſich nie von ber Melt zurüclziehen darf, das hat ber Realismus mit Recht zur Aner- tennung gebracht.

Diefes mutigere Eintreten in ben Weltfampf ift aber ohne eine durchgehende Kräftigung mad; innen nicht möglid. Die vollere Wirklichkeit und Wahrheit des Lebens, die der Realismus mit Recht fordert, kann nicht von draußen zufallen, jondern ver: langt vor allem eine Weiterbewegung im Innern. Die Geiftigfeit darf nicht einen bloßen Zuwachs, eine Wereiherung eines dor⸗ handenen Seins bilden, fondern das Sein felbft muß in volles Leben verwandelt werden. Das aber fann nur geſchehen, wenn unter Abhebung von aller bejonderen Tätigkeit eine allumfaſſende, in fid) jelbft ruhende Tätigkeit entfteht und eine eigene Wirklich- feit entwidelt. Ohne eine jolhe Vertiefung der Tätigfeit bis zum legten Grunde wird immer eine jtarfe Kluft zwiihen einem dunfeln Sein und einer abgelöften Tätigkeit bleiben, die das Leben unmwahr macht, indem fie das Eingehen bes ganzen Wejens in das Wirken verhindert. Zum Aufbau einer neuen Welt gegen- über der ſichtbaren fann alle geiftige Tätigleit nie gelangen, wenn fie nicht mehr bedeutet, als eine Eigenſchaft, ein Streben des bloßen Menfchen. Denn dann fönnte fie fid) der Abhängigkeit und ber Widerfprüche ber menſchlichen Lage nie entwinden.

Ohne eine dem bloßen Menichen überlegene (eifteswelt fehlt daher dem Idealismus aller Halt. Ein Aufbau einer Welt von innen ber iſt nicht möglich ohne eine Teilnahme an einer übermenfchlihen Ordnung der Dinge, einer neuen Stufe der Wirklicjfeit. Damit erft wird bie Forberung Platos erfüllt, daß die Größen und Güter der neuen Welt unabhängig von allem Mögen und Meinen der Menichen gelten, daß nicht fie ihre Wahr— heit vom Menſchen erhalten, fondern daß ſich die Wahrheit feines Xebens nad der Teilnahme an ihnen bemißt. Dit der Preis— gebung biefer Überzeugung mußte felbit das Streben nad) Wahrheit zuſammenbrechen.

Much ber Begriff des Guten iſt undenkbar ohne eine Überlegenheit gegen alle menjchlihen Zuftände. Damit tritt zur gleich der Hauptgegenfag deutlicher hervor, der durd) alles menſch⸗ liche Handeln geht und feinerlei Abſchwächung duldet. Entweder findet die geijtige Entwidlung nur ber menſchlichen Wohlfahrt halber jtatt, ober das menſchliche Leben gewinnt nur einen rechten Sinn, wenn es der Verwirklichung einer in ſich jelbjt gegründeten Geifteswelt dient, entipredend der Überzeugung Kants: „Wenn die Geregptigfeit untergebt, jo hat es feinen Wert mehr, daß

Siterarife Rundſchau. am

Menſchen auf Erben leben”. Jene Denkweiſe richtet alles Streben nad) außen, macht e8 abhängig und unfiher; bei dieſer allein fann innere freiheit und Seitigfeit beitchen. Bei jolher Gegens wort einer neuen Welt im Menfchen bildet fi ein weiter Abjtand zwiſchen feinem unmittelbaren Befinden und den geiftigen Mögliche feiten feines Wejens, den zu verhüllen nicht im mindeflen zur Aufgabe werden fann, wo bas Geiftesteben die Anerkennung jeiner Selbftändigfeit gegenüber dem bloßen Menſchen gefunden hat. Solange jenes allein auf den Menſchen geltellt jdien, lag bie Terfuhung nahe, dieſen in möglichft günftigem Lichte erjcheinen zu laſſen, ihn fünftlich zu heben, um die „Ideale“ zu reiten.

Gegenüber einem folden unwahren Idealismus hat der Realismus mit ber unverblümten Hervorfehrung aller Schwäche des Menfchen und der Unvernunft ber menjchlichen Lage vollfommen redht. Nur dann gerät er ins Unrecht, wenn er das zur Leugnung alles echten Geifteslebens wendet. So geidieht es heute bejonders oft bei der Erklärung geichjichtlicher Vorgänge. lan zeigt, wie wenig auch große Ummwälzungen, felbft religiöje Schöpfungen, wie das Chriftentum und die Neformation aus rein geiftigen Berweg- gründen hervorgegangen, wie allezeit kleinmenſchliche Intereſſen, fetbftijcheo Glücverlangen bei der Wienfchheit ausfehlaggebend waren. Dieſe realiftiiche Seite der Bewegung iſt durchaus anzus erfennen, aber gerade dadurd) ericheint die in jenen Schöpfungen wirfjame geiftige Macht nur noch größer. Die Menjchen wollten jene nicht, und doch mußten fie ſchließlich ihnen Huldigen. Sie wollten ihren eigenen Vorteil, aber warum muhten fie fi immer ben Schein geben, jenes Große feiner jelbft wegen zu wollen? Je Heiner in dem allen der bloße Menſch ſich zeint, defto größer erz ſcheint Die Macht des Geiltes, bie trog aller Widerjtände der Geſchichte einen geiftigen Inhalt und den einzelnen Epochen einen unterfcheibenden Charakter verleiht.

So gewährt die Anerkennung eines ſelbſtändigen Geiftes- lebens dem Idealismus eine Befeftigung gegen den Realismus. Es handelt fid) bei ihm um den Aufbau einer neuen, allein ehten Wirklichkeit; infofern muß er fubftantieller Idea— lismus fein. Diefer Aufbau erfolgt zwar im Bereich des menjch- lihen Dafeins unter befonderen Bedingungen und Erfahrungen, nur muß das Befondere der einzelnen Erfahrungen in ein Ganzes der Erfahrung eingetragen und von ba aus beridtigt werben. Infofern muß der Jdealismus univerfaler Art jein. So gewiß endlid das Geiſtesleben als tiefiter Kern unferes eigenen Wefens in unferm Sein angelegt fein muß, zu vollem Beſiß ge: langt es erjt durch die Aufnahme in unfer Wollen. Dazu bedarf es einer unabläffigen Tat. Inſofern muß der Jdealismus einen ethifchen Charakter tragen,

178 Literariſche Nundſchau.

Natürlich können ſolche Begriffe und Erörterungen nie ein lebendiges Sein erzeugen oder aud nur entwerfen. Nur durch neue Entfaltungen, bie den Tatbejtand erhöhen, find Stodungen des Yebens, wie wir fie heute erfahren, zu überwinden. Erſt bann wird, für ben Menſchen ſchwerlich ohne ſchmerzliche Erſchütterungen, wieder ein lebendiger und Tonfreter Idealiomus erftehen, ben wir heute nur taſtend fuchen.

©. v. Henke.

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Hans Pruh, Bismards Bildung, ihre Quellen und ifre Iuberungen. Berlin, G. Neimer. 1904. M. 3.

„Bismards Bildung“ ein vielverheihender und verlodender Titel, denn wenn ung auch Vismard vor allem als Mann der Zat, als virtuofer Beherricher realer Mächte bewundernswert iſt, der Zuuber der genialen Perſonlichteit drängt uns doc immer wieder die Frage nach der Gcdanfenmeit auf, der dieſe Taten entfprungen find.

Den Beitrag, den Prup in feinem Vuche zur Löſung dieler Frage gibt, bezeichnet er ſelbſt als einen Verſuch: „Es iſt ein Verſuch und will und Tann zur Zeit nicht mehr fein, als ein folder. Denn nod) Ficgt für die Beantwortung der damit geitellten Frage das nötige Material nicht entfernt volfjtändig vor, das aber, was vorliegt, ift in feinen einzelnen Veſtandiciien fehr ungleihwertig.” Diefe Gründe beweiſen doch wohl zu wenig oder zu viel. Daß cin Hiftorifer, ber ſich eine einigermahen Fomplisierte Aufgabe geitellt hat, mit ungleichwertigem Material arbeiten muß, ift nur felbitverftändlic; und ebenſo wird ja much, jeder Diftorifer, der ſich mit jüngft verffofenen Zeiten beichäftigt, mit der Wohrſchen ũchteit reden möüffen, dab fein Material weiterhin noch vervolitändigt wird. Aber die Schwierigieiten, mit denen Brut es zu tun hat, fönnen doch weder in der Dürftigfeit mod, in dem geringen Wert der Quellen liegen. Über welche gefchichtliche Perjönlichteit haben wir denn cin reicheres und cin wertvolfereh Quellenmaterial, als das in Bismards Reden und Briefen, in den „Bedanten und Erinnerungen” und der Maſſe von Verichten ihm Naheitehender enthaltene? Wenn wir auch auf viele und wichtige Ergänzungen Hoffen dürfen, daran fan man doch nicht zweifeln, daf; an feinem Cbaratterbilde, wic es jet vor ung teht, im mefentlichen fid dadurd) nichts verändern wird. Aber anderjcits Tann gern zugeflanden werden, dab die inneren Schwierigleiten einer jolden Aufgabe bedeutende find, die nicht bloh die Sammlung eines umfaffenden, weit zerftreuten Materials erforoert, fondern vor allem au) eine fongeniale Fähigteit des Nach, empfindens, und wir Fönnen es daher niemand verargen, wenn cr fidh hier mit einem blofen Verſuch begnügen will. Sehen wir alfo zu, was hier im Hahmen einer jolden Stisge geboten wird, welches Ziel der Verfaſſer fih geftedt und wie weil cr es erreicht hat,

iterariſche Nundſchau. 170

Das Wort „Bildung“ faht Prut in dem landlaufigen Sinne als einen „elernen Beftand“ von Aenntniffen und Ynfhauungen, der in den Sehrjahten in Haus und Schule, auf der Uninerfität und in ber Verſuchszeun ber Berufs tätigleit erworben wird und der dann in den Jahren der Heife einen in der Hauptfache abgeichlofienen Befig bilde. Die Bildung Vismards foll nun in ihrem Umfang und ihrer Eigenart „dur; die Zufammenftellung der von Bismard gebrauchten Zitate, Bilder und Anfpielungen“ darakterifiert werden. Wir fehen alfo, daß; der Begriff der Bildung jowohl als der Umkreis deffen, was der Titel „ihre Hufierungen“ nennt, von vornherein elmas eng genommen ifl. In der Yauptjache tiefert uns Prug denn auch) einen Zitatenfhag aus Bismard, nad) Quellen geordnet, zum Zeil im Anjhlub an Büchmanns „Geflügelte Worte” und Hofimanns von Fallersicben „Unjre volfstümlichen Lieder.“ Mo ihm dieſe Gemwährsmänner im Stic) laffen, tut cr unficere Tritte, und gelegentlich zitiert ex auch fie ungenau, fo wenn cr 3. B. (S. 586) als Dichter des Liedes „Morgen, morgen, nur nicht heute” Chriftian Weile anftatt Chrütion Felie Weihe nennt, wie der Siteraturfundige weiß, zwei wohl zu unterlcheibende Perfonen. Käufiger find die Jrrtümer, die Pruß auf eigene dand begeht. Unter den Vergleichen, die Bismard dem Sagentreiſe der Herafles entichnt Habe, zählt er auch den Ausdrud „Profruftesbett“ auf (S. 70 f.. Eine Anfpielung auf die „Raben vom Anfihäufer" führt Pruy (S. 114 f.) auf das „Uhlandiche” Gedicht „von dem im Kyffhäuſer ſchlaſenden Kaiſer Fricdtich“ zurüd; gemeint iſt natürlich, das Rüdertjche „Der alte Barbarofin". Die Morte: „Gefährlich, iit cs deshalb, den Schanfwirt zu zeigen“ bezeichnet Prud (S. 133) als die Parodie einer Stelle aus dem „Handichuh”! Cine gelegentliche Huberung Bismards „Le roi Samuse” nem Prup (S. 17:3) eine Anfpichung auf das befannte Scribefche Drama; jtatt „Scribe" lies „Victor Hugo“! Wand) andere Zumeilungen von Zitaten find mindeitens zweifelhaft. Der Ausorud „materia peecans*, der ais technilcher phitofophifiher Ausorud angeführt wird (S. 23), gehört heute doch wohl dem mebizinihhen Sprachgebraud an; „pretium afectionis“, das unter den „Wendungen, die feinem befonderen Wiffensgebiet eigentümlicd zugehören“, genannt wird (S. 30), Hätte feine Stelle unter den technifden juriftiichen Aus. drüden erhalten ſolle

Die zZufammenftellungen der Zitate werden durch Vetrachtungen des Autors über den Bildungsgang und Umfang und Richtung der Bildung Bismards verbunden, Vetramtungen, die fic im allgemeinen auf der Gedanken» höhe der Fewilletong bewegen, die Aolf Tohut und Genoſſen zu 1Mjährigen Geburts. und Zodestagen ufw. unfern Lageblättern liefern. Dur zweierlei indeffen unterfheiden fie fid non jenen Feuilleton, und nicht zu ihrem Vorteil.

Das in zunädjit eine oft zutage Iretende Philiftrofität, die gelegentlich gar an den Ion von Viedermepers großer Yiteraturbalfade jtreift. So zitiert Brut (S. 100) einen Brief vom 6. Juni 1850, in dem Bismard von feinen Abalif Dmarſchen Gelüften zur erftörung der Wider auher dem chriftlichen „Roran“ fpricht und die Buchdruderfunft „des Antichtiſts anserlejenes Hüftzeng” nennt, und fügt ängittid begütigend Hinzu: „Wie jo manche ihm damals cnt- fahrene Äußerung darf man aud) diefe, zumal ſie Halb fayerzend gelan iſt, nicht au ernſt nehmen.“ Wen glaubt Prug belehren zu müffen, daß man cine „halb ſcherzend· getane Äußerung „nicht eenft” nehmen müfle, und wer möchte ſich folche Krafijpräche, die Bismard „mit der ihm eigenen überftürzten Cffenherzig« keit” (Prag) ausaeipromen, gern verwäflern laffen! Gin andermat zeigt Prup um Vismards fittliche Nepulation bejorgt. Er fapt: „Xon modernen

180 iterorifge Rundſchau.

franzöfifchen Dichtern ſcheint ihm Beranger befonders zugefagt zu Haben“, Aufert aber ſogleich auch die Vermutung oder Hoffnung, dab er „an einzelnen feiner Lieder Anftoh” genommen habe (3. 172). Mag gehen und denn hier, bei den böchft harmlofen Berangerzitaten Bismards, feine „Loderen Lieder“ an?

Das zweite Unterfcheidungsgeichen der Prupichen Profa bildet der Stil. Ich bin weit davon entfernt, die Sprache der Journaliſtit mit ihrer oft liederlichen und oft affeftierien Rahahmung der bequemen Umgangsiprache al Mufter aufzus ftelfen, aber immerhin hat fie den Vorzug, da fie für Auge und Ohr leicht vers ftändtich it. Ein jo papiergeborner Stil dagegen, wie ihn Prut fchreibt, üt ieht alüclichermeife auch in der wiffenihaftlicen Literatur felten geworden. Säge von inge und dem verzwidten anatomifchen Bau eines Jchtbyolaurus fommen m häufig vor; das Auge vermag ja wohl vor, und zurüdgreifend die Sapglieder zufammenzulefen, am Ohr würden ſie unverftanden vorüberraufchen.

Durch ein tiefere Eindringen in die Sache zeichnet fid das Ichic Aapitel „Bismards hiſtoriſche Anfdauungen” aus, in dem Prub fich auf dem Boden feines Speialfadyes bewegt. Nicht ganp überzeugend aber iſt hier das, mas über die Gleichgültigkeit Vismards gegen die alte Geſchichte geſagt ift. Prut meint, dafı Bismard der römiſchen Gefchichte nur „Eiftorifce Anctvoten“ ent, nommen babe; doc jchon feine eigenen Anführungen ftimmen nicht ganz zu dieſer Behauptung, vor allem aber iſt auffallenderweiſe unerwähnt geblicben, dak Vismard mehrfach fic in Parlamentsreden auf Mommens römische Gefchichte berufen Hat. Mommfen zitiert er als Kronzeugen gegen die Freihandelspolutif feiner freifinnigen Parteigenoffen, jo am 8. Jan. 1885, mo cr non der Schude . rung fpricht, die ein Mommſen nach 2000 Jahren nom Niedergang der deutichen Lan dwiriſchaft machen würde, und am 14. Febr. IH, mo er fich für die Per Hauptung, daß die Latifundienbildung durch den Ruin der Candwirtfchaft, durch au mohlfeile Preife begünftigt werde, auf Mommien beruft.

8. Girgenfohn

die Minimal: und Warimal- Beflimmungen über den bänerlien Grundbeit in Livland.

Bon Alegander Tobien!.

Ye, allen Probuftionsmitteln, die dem Menſchen zur y Betätigung jeiner Arbeitskraft verliehen find, ijt ber Boden. ber wichtigfte. Weil der Boden ein Produktions: faftor monopoliftifcher Art, d. h. nur in beſchränktem Maße vers fügbar ift, geftaltet ih das Problem feiner Verteilung um fo ſchwieriger, je mehr die Zahl derer wählt, die auf die Nuganwen- dung dieſes wichtigften Produftionsmittels angewieſen find, oder aber Anſpruch erheben. In Zeiten fortichreitender Entwicklung eines Volles gewinnt das Agrarrecht, das die Bodenverleilung regelt, immer höhere Bedeutung, zumal die politiſche Verfaſſung der Staaten im wejentlihen auf ihrer Agrarverfajiung beruht. Je fhärfer die Wechſelbeziehungen zutage treten, die zwiſchen bem Agrarrecht und allen übrigen, die Volkswohlfahrt bedingenden bürgerlichen NRechtsverhältnifien beftchen, um fo gefährlicher find Eingriffe der Gejeggebung in hiſtoriſch ausgebildete Befigver: hältniffe *.

Seitdem bie franzöfiihe Nationalverjammlung in der Nachts figung vom 4. Auguft 1789 den Grundjag des unbeſchränkten Brundeigentums proflamiert und die Napoleoniſche Gejeggebung dieſes Prinzip weit über die damaligen Grenzen Frankreichs zur

3) Ein Teil digjes Aufſates wurde vom Berfaffer der Raiferlichen Livl. Gemeinnügigen und Ofonemiicen Sopietät in ihrer öffentlichen Sihung vom 21. Januar (6. Fehr) 1008 porgenaen.

Dr. 4. 8e Die Verteilung des Grundeigentums im Zufammen« mg a der Geicjihte der Befepgebung und den Volfszujtänden." Berlin 1858,

—— Bereit 1005, Heft 3. 1

182 Pinimum und Marimum beim Bauergrundbefig.

Geltung gebracht hatte, ift bie Frage: ob und miemeit bie Ver— äußerlichfeit und Teilbarfeit des Grundeigentums zu beſchränken ober aber zu fördern feien, eine ber wichtigſten ſozialpolitiſchen Probleme geblieben!. Am lebhafteflen wurde hierüber um bie Mitte des 19. Jahrhunderts gejtritten?, und als Ergebnis der vielen Erörterungen kann nach Nofcher die Anfiht als die damals vorherrfchenbe betrachtet werben, daß eine Miſchung von großen, mittleren und Meinen Gütern, mobei die mittleren überwiegen, das national und wirtichaftlich Heilfamfte Verhältnis fei?. Diefe Größenbegriffe find freilich feineswegs fejtitehende, denn zweifellos vermag bie geometriſche Flädenausdehnung an ſich fein Kriterium für die Einteilung ber Güter nach Größenklaffen abzugeben.

Im allgemeinen barf jedoch gefagt merden, daß als große Güter folhe zu gelten haben, beren Mirtfchafter ſchon mit ber bloßen Direftion bes Betriebes vollauf beichäftigt ift, während als Güter mittlerer Größe diejenigen bezeichnet werden können, bei benen ber Befiger nicht ausichließlid durch die Leitung bes Be— triebes in Anspruch genommen wird, fondern an ben auszuführen ben Arbeiten fich unmittelbar felbft beteiligt. Won Heinen Gütern dagegen ſpricht man gemwöhnlid dann, wenn fie der Negel nach ausfehließlih von dem Wirt felber und deſſen Angehörigen bear» beitet werden und gerade Hinreihen, um bem Cigentümer einen ausfömmlichen Unterhalt zu fichern. An biefe reiht fih ber Par— zellenbefig, auf denen landwiriſchaftliche Tagelöhner, Kleinhand- werler zc. zu figen pflegen, deren Unterhalt durch den Ertrag bes Grundftüdes nicht fihhergeftellt ift.

Je nad Klima, Bobenbeihaffenheit und Lage find natürlich bie als große, mittlere und Meine Güter geltenden Grundftüce ganz verfhiedenen Umfanges, und die Mafregeln, die in einzelnen Staaten im Sinne einer zwedmäßigen Vobenverteilung getroffen mwurben, bifferieren daher erheblich in ihren Größenbeftimmungen. Zwar find in ben meiften Staaten Europas alle Teilbarfeits- befchränfungen befeitigt, feitbem bie franzöfiiche Revolution das Prinzip ber Freiheit des Grumbeigentums zur Herrſchaft brachte, allein vereinzelt gibt es doch noch Vorichriften aus älterer Zeit, die gegen bie Dobilifierungsfreiheit gerichtet find. Zu dieſen

%) Bruno Hildebrand, „Die ſoziale Frage der Berteilung des Grund» eigentums im is Jahrbücher für Nationalöf. und Statiftik.

17. Jahrg. 1808, N Roicer, „Nationalöfonomit des Aderbaucs.“ 13. Aufl., bearbeitet

don Heinrich Dade.” Stuttgart 1903, ©. 221. Dr. Karl Yen, „Die var

sellenmirtfchaften im Königreich Sacfen." Tübingen 1903, &. 3 ib ®) Rofger-Dade a. a. D. ©. 238

Winimum und Magimum beim Bauergrumbbefig. 183

gehören bie Beflimmungen, welche die Verkleinerung ber einzelnen Grunbftüdparzellen unter ein gewiſſes Maß verbieten, nicht etwa um eine Befigzerfplitterung zu verhüten, fondern um zu verhindern, daß bie landwirtſchaftlich genugten Parzellen unter eine Nrealgröße finfen, die eine rationelle Beſtellung erſchweren !,

Solche Vorschriften über Barzellenminima haben ihren Wert dort, wo Streubefig vorherriht, d. h. wo nicht geſchloſ⸗ fene Höfe die Negel bilden, fondern wo die ein Beſihßtum bildenden Grundſtücke zerftreut und im Gemenge mit Parzellen liegen, die verfchiebenen Eigentümern gehören.

Von weit größerem Intereſſe für uns find diejenigen weſt⸗ europãiſchen Vorjchriften, die darauf abzielen, durch Beftimmung eines Befigminimums mittlere Güter, in ber Hauptfache Bauergüter, vor einer unwirtſchaftlichen Zerftükelung zu bewahren. Beitimmungen biefer Art find am fchärfiten in Baden ausge bildet, wo gegen 5000 Bauerhöfe des Schwarzwaldes im J. 1888 ſchlechtweg als geſchloſſen erklärt worden find. Der Hof darf nur in jeinem ungeteilten Beftande von einem Inhaber auf den andern übergehen, und Abtrennungen von Parzellen find nur in befon- deren, vom Geſetz vorgefehenen Fällen geitattet ?.

Im Königreih Sachſen, in Sachſen-Altenburg, Schaumburg« Lippe und Lippe-Detmold, in Neuß ä. L., Echwarzburg:Sonders- Haufen und in Medlenburg finden ſich Verordnungen, bie das Zerjtüdeln von Landgütern unter ein gewiſſes Mindeſtmaß ver- bieten ?.

Unter all diefen, bie freie Teilbarfeit einfchränfenden Ber ftimmungen iſt für uns von bejonberem Intereſſe das für das Königreih Sachſen erlaffene Gejeg vom 6. November 1843. Ebenſo wie bei uns bilden bort Rittergüler, d. h. mit bejonberen Vorrechten ausgeftattete Landgüter, und geſchloſſene Bauergüter das Fundament ber politiihen Verfaſſung. Trogdem in Sachſen

') Dr. 4. v. Miastomsty, „Das Erbreht und bie Grunbeigentums verhäftniffe im Deutfcen Neic.” 1. Abt., Leipgig 1882, ©. 115 (Band IX der Schriften des Lereins für Sopialpolilit).

>) Adolf Buchenberger, „Agrarwefen und Agrarpolitit”, 1. Band, geipiig 1882, ©. 454; Miastomsti a. a. D. I, ©. 150, 367; Buchen: berger, „Das Verwaltungsrecht der Landwirtihaft und die Plege der Lond wirfihaft im Grohherrogtum Baden", &. 606 f. 1887. Georg Kol, „Die geieplich geihloffenen Yofgüter des badifen Schwargwaldes.” 4. Band 1. Yet der Rolfswirtfej. Abhandlungen Badifcer Hociculen. Tübingen 19.

3 Bugenberger a. a. D. ©. 15; Dr. Karl Namroth, „Die Ber

fehräntungen der. Parzellierungsfreibeit in Sachfen,

fenAltenburg und Mürt« temberg.“ Jahrbücer für Nationalöfon. und Ct ©. 72 fl.

, 3. Bolge, 8. Bd., 1894,

*

184 Pinimum und Morimum beim Bauergrundbefig.

Induftrie und Handel vorherrſchen und der Aderbau nad) der Zahl der Perfonen, denen er Beihäftigung gewährt, weit in den Hinter: grund tritt !, fo ift man doch befliſſen, den Bauerſiand vor Zer- brödelung zu bewahren und die Nittergüter, „den Herd der Kultur für das platte Land“, in ihrem Beſtande und in ihren Vors rechten? zu fchüßen.

Wie in Livland, nahm auch in Sachſen zu Beginn der 40er Jahre des 19. Jahrhunderts eine Periode agrariſcher Heformen ihren Anfang, bie dort jebod, im Gegenfag zu Livland, eine durchgreifende Regulierung der Grundfteuerverhältniffe zur unmit- telbaren Folge hatte. Als die Reform ber Grundfleuer Sachſens vor 60 Jahren ins Auge gefaßt worben war, mufite fi bie fächfiiche Regierung mit der Frage beidhäftigen, ob die bisher in Geltung gemefenen Verbote zu weitgehender Teilung ber Landgüter aufrecht zu erhalten feien oder nicht‘ Der ſächſiſche Landtag entſchied ſich für die Aufrechterhaltung, jebod zeitgemäße Ausge- ftaltung ber alten Teilungsverbote, nicht etwa weil vorhandene ſchlechte Zuftände zu befeitigen waren, fondern weil für die Zufunft einer gefunden Grumdbefigverteilung die Wege geebnet werben follten. Das in diefem Sinne ausgearbeitele, am 30. November 1843 erlaffene Geſetz unterſcheidet „Nittergüter” und „übrige Grundftücde”. Von einem Nittergut darf auf einmal ober nad und nach nur joviel abgelrennt werben, daß */s des Steuerwertes, nad Ausichluß des Wertes der Gebäude, beim Stammgut ver- bleiben. Diefer Beichränfung find aud) bie „übrigen Grundftüde” unterworfen, foweit fie als geſchloſſene gelten, denn neben den geſchloſſenen gibt es fog. „walzende” Grundſtücke, die dem Geſetz vom 3. 1843 nicht unterliegen. Für die Nittergüter find keinerlei Ausnahmen von biejer Regel zugelaifen, während für bie „übrigen Grundſtücke“, d. h. ben Rleingrunbbefig, dann weitergehende ZTeis tungen eingeräumt werben dürfen, wenn e8 gilt zum Zwecke des Betriebes einer Handelsgärtnerei, zur Erbauung neuer Wohnungen, zur Anlage von Fabrifen fleinere Parzellen abzuzweigen. Über die Zuläffigleit der Ausnahmen Haben die Verwaltungsbehörben zu entſcheiden.

In Libland iſt der land: und forſtwirtſchaftlich genuhzle Boden dem freien Verkehr in einem Maße entzogen, wie abgeſehen von unſrer Nachbarprovinz Eſtland und der Inſel Oeſel in keinem Lande der Welt.

Hy g. g. D.©. 35 fl. ?) Mamroth a. a. O. ©. 76.

3) Dr. 8. Dofmann, „Die Niere bed Aänigserid Sndfen.“ Dresden Blajewig 1901. *) Mamroth a. a. D. ©. 7.

Minimum und Marimum beim Vauergrundbeſitz. 185

Der beliebigen Veräußerung des Hofslandes fteht bie pro— vinzialrechtlich beſſimmte Minimalgröße der Kittergüter entgegen!, und wenn diefe aud) für unfre Verhältniffe niebrig, d. h. auf mur 900 Lofftellen 335,14 Heltar Gefamtareal bemeilen ift?, jo gibt es body unter ben 701 Nittergütern 53, die das zulälfige Mindeft- maß bereits erreicht und daher als geichloilene Güter zu gelten haben. Rechtüch gebunden, d. h. unverfäuflich, find ferner bie 9ofs- und Quotenländereien der Nitterihaftsgüter, der Fideikom— milje und aller Paitoratsländereien

Vor einem Jahrzehnt durfte über die Quotenländereien ders jenigen privaten Nittergüter, bie nicht fideilommiſſariſch gebunden find, frei verfügt werden. Das proviforiiche Ouotengeſetz vom 18. Februar 1893 beichranft jedoch bie freie Verfügung aud) über bieje Ländereien, indem es den Verfauf von Stüden der Quote nur dann erfaubt, wenn die zu veräußernde Parzelle die Größe von 10 Talern nicht überjteigt und der Käufer weder Eigentümer nod) Pächter eines VBauerlandgefindes it‘.

Die ftrengen Schutzmittel, die das große Gebiet des Bauer: landes dem freien Verkehr entrüden, verbieten dem Gutsherrn das Bauerland anders zu mugen, als durd Verpachtung ober

3) Yet. 602 des Prodingialrecis III. Teil.

*) In Eitland muß jedes Mittergut mindeftens 150 Defjätinen Hofes. Aderland nebft den entiprechenden Wielen und Weiden umfafien; auf der Zufel Celet_ ift das Mindeftmah eines Nittergutes auf 120 Sofitelen der in“ den Hoisfeidern feitgelegt, wogu noch 4 Deleliche Hafen Vauerlandes gehören müflen; in Ausland bürfen Sitierghier nur fomeit geile werden, daß in jedem Yale das dem Yaupigut verbleibende Gtammland für cine Wuslaat von minbeltens 3 Tiperwert = 69, Peltoliter Hoggen hinreiche; Art. GL, 603 und 616 es Prooinjiaeehts TIL. Zei.

%) Die Bauerländereien der Nitterfchaftsgüter durften bis zum Erlah des Alerhöchiten Befehls vom 3. März 1886, der den Verkauf vorläufig inbibierte, vertauft werden (ogl. %. v. Kiejeripfy, „Die Sol. Bauerverordnung“, I. Hälfte, Petersburg 1900, ©. 18, und €. v. Bodisco, „Die Eitl. Bauerverorduung", Real 1904, ©. 60, Anmerk. 3. Die Vauerländereien der Sideifommibgüter dürfen verfauft werden, wenn die Alerhödite Erlaubnis hiergu erlangt üt (rt. 87 des Wrovinyialrehts IT. Teil; vgl. Vodisco a. a. O. ©. &; jener: Patent der liol. Gouvernementöreg. Ar. 103 vom I. 1866 und Nr. 3 vom J 870 u. a). Die Bauerländereien der, Pajtorate find yur eit unverfäuflich (Ge für Die ang huberiice Rinde iu Kuhn, Sammduig der Neisgeiee Band XI Zeil I, Ausg. v. 1806, Art. 715 und Yet. 887 des Wrovinialredhis III. Zeil), doc Yat der fol. Sandtag vom I. 1899 ihren Berfauf beichlafien. infolge weifen ein Entwurf von Kegeln für den Verfauf diefer Yändereien am 15. ‚ebr. 1900 dem Kul. Gouverneur zur Erwirtung jtaatlicer Genehmigung übergeben wurde; bis hierzu iſt die Erlaul „sum Verfauf mod) micht erteilt worden. (Alte des Yipl. Yandratstolleg. Nr. 273/B.)

9 Rieferipty a. a. ©. ©. 14. Hür Eitlaud und die Infel Defel find ahnliche Yeitimmungen’erlafien, die das Lerfügungsrecht über die Quote, dort „Seciitel“ genannt, weientlich beicränten; vgl. Bodisco a. a. O. ©. 14.

186. Dinimum und Marimum beim Bauergrundbefig.

Verfauf!, wobei das Vertragsobjeft nicht unter eine Mindeſtgröße geteilt werden barf (Minimumgefeg)* und Pächter wie Käufer Glieder einer Landgemeinde jein müfjen®. Der bäuerliche Eigentümer hingegen ift weit weniger behindert, denn er darf fein Grundſtück ſelbſt bewirticafien, natürlich auch verpachten und ver- faufen, und ift beim Verkauf, nicht aber bei der Verpachtung an das Teilungsverbot des Minimumgeſetzes gebunden *.

An diefen Einfhränfungen des freien Verkehrs findet das geltende Gejeg noch fein Genüge, denn es jept dem bäuerlichen Grundeigentum aud) eine obere Grenze, indem es vorſchreibt ?, daß niemand innerhalb eines Gemeinbebezivfes mehr als einen Hafen Bauerlandes zu eigen haben dürfe. Alle dieſe rechtlichen Qualifie tationen, Bejchränfungen und Verbote entziehen fait */s des Betandes der livländiſchen Nittergüter und Paſtorate dem freien Verkehr 6,

In Livland gibt es 701 Nittergüter, von benen 7 ber liv⸗ Kivfänniichen Nittericaft, 18 livländiſchen Städlen gehören und 79 fibeifommiflariich gebunden find. Sonad haben wir 104 rechtlich) gebundene Nittergüter, zu denen noch 100 Paftoratswibmen zu züblen find, und 597 ungebundene Kittergüter. Mille Nitter- güter und Paftorate umfafien 9,399,312 Lofitellen 3,492,786 Heftar Gelamtareal. Hiervon find, dank den vielfachen Rechts— befchränfungen, denen einerjeits die 25 Güter der Korporationen und die 79 Fideikommißgüter, anderſeits die 3 rechtlich geihiedenen Bobenfategorien: Hofsland, Quote und Bauerland aller Nitter- güter und Paſtorate unterliegen :

1. unverfäuflich: 1,726,804 Sofjl 2. zur Zeit noch unverfäuflich: 77,808 . bedingt verfäuftich: 4. frei verfäuflich : (gt. die Beilage.)

641,832 Heftar od. 18,37 %,,, „083%

vom IB.U.$

Fichtlicher Darftellung, bei Rielerigfy, „Die Lioländifche Beueroerordnung” 2c. S. XXXTIE ff. (Macıträge) und ©. 2 fi.

Minimum und Warimum beim Bauergrunbbejig. 187

Wenngleich das Gefüge der rechtlichen Hemmnilfe, die ben Bobenverfehr einengen, tief in das Wiriſchafloleben Livlands eingreift und einen burenufratifhen Kontrollapparat notwendig macht, deſſen Inftanzenzug kennen zu lernen allein ſchon ſchwierig genug iſt, wird wohl kaum jemand in Livland für die Beſeitigung aller dieſer Schranken eintreten wollen.

Das Mindeſtmaß der Rittergüter iſt notwendige Voraus: fegung ber ſtaats- und privatredhtlihen Vorrechte, die den Ritter— gütern eigen find. Zu den Vorzügen ftaatsrechtliher Natur gehört das Recht der Landſtandſchaft, d. h. die Landtagsfähigfeit, während das ausſchließliche Recht des Branntweinbrandes und der Bier brauerei, fowie das Recht der Anlage von Krügen und bas Abhalten von Märkten auf dem Gebiete des Nittergutes! bie privatredhtlichen Vorrechte ausmachen. Wiewohl ſonach die nod heute beftehenden Vorrechte der Nittergüter, namentlich im Vers gleich mit der Vergangenheit ?, nicht erhebliche find, iſt die Minimal- größe ber Nittergüter doc, und zwar im Intereſſe ber Lande ſtandſchaft, unbedingt aufrecht zu erhalten.

Die ftrengen Schugmittel, die das große Gebiet des Bauer- landes jeit 50 Jahren wngeben und die Cigentumsredhte ber Gutsherren jo ſehr bejdränfen, daß im Grunde nur noch von einem gutsherrlihen Obereigentum am Bauerlande die Rede jein fann, dieſe Schugmittel bilden jo fehr das Welen unfrer Agrar verfaffung, daß ihre Aufpebung eine radikale Ünderung bebeuten würde. Freilich, ber „rote Strich“, wie wir fagen, der „Leihes zwang“, wie man in Deutichland die Verpflichtung ber Gutsherren nannte, den als Bauerland ausgeidiedenen Teil der Nittergüter fediglich bäuerliher Nugnießung zu überweiſen, biejes eigenartige Rechtsverhältnis ift in Wefleuropa Längit befeitigt® und beiteht im Often von uns, im Innern Rußlands, nicht in der ausfchlieh- lien Strenge wie in Ziv: und Ejlland und auf der Infel Dejelt.

9) Provinziafreht Zeil TIT, Art, 883. Die Jagd iſt ein echt jedes Grundeigentüners, mit Ausnahme des Eigentümers von Yauerlanpjtellen. gl. Boof. Dr. Karl Erdmann, „Syftem bes Privatzeats der Oitieprovinzen Liv, &f- uno Kurland“, 2. Band, Wign 1801, &,8 fh; DM Stiltmart, „Being dur Cehre vom Japdreiit“, Yalt, Wonatsicrift 45, Band, 18

2) ler. Tobien, Die Mgrargeiehgebung Liolands im 19. Sabehunen*,

1. Band, Berlin 1809. ©. 4 fi. Fuc8, „Vauernefreiung” im Wörtehuch der Boltamiifäut, bg. 1. 30., Jena 1908, fi; Yeinrid Brunner, 1er Yeihegwang in der Bauen Mgrarpoliit", Sede jur Bebäiiniafeier Nonig Briebridh Wülgelm III. Berlin 189°.

4) Der Yrt. 165 des Wblöfungsgelepes vom 19, Febr. 18061. lieh die zechtliche Möglichkeit zu. dah Bauern mat Tilgung des auf ihrem gandanteif

138 Minimum und Marimum beim Bauergrundbeji.

Und bdennod werben wir, die wir für die Kontinuität der Ent: wicklung einzuftehen gewohnt find, nicht gemwillt fein, den „roten Strich“, weil er einf—hränfend wirft, zn verwilchen.

Ganz anders jedoch als mit den gejeplichen Beſtimmungen über bie Unantaftbarfeit des Bauerlandes würden wir mit bem Quotengefeß von 1893 verfahren, wenn uns die Macht zuftünde; denn diejes Geſetz, das unvermittelt in das Gefüge unſrer felbite geichaffenen Agrargefege hineingezwängt worden ift, entbehrt der Berechtigung völlig!. “Die Staatsregierung beſchäftigt ſich daher zur Zeit mit einer Umwandlung diejer fruchtlofen und zugleich, förenden Beitimmungen, bie wir am liebjten ſpurlos verſchwinden fehen "würden.

Eine mittlere Stellung it dem Minimumgefeg zuzuweiſen, deſſen geichichtliche Berechtigung ebenjowenig wie feine Neform- bedürftigfeit bezweifelt werben kann.

Vorfchriften, die darauf -abzielen, die Bauerhöfe vor einer zu weit gehenden Teilung zu fügen, find mehr als 200 Jahre alt. Schon die ſchwediſchen Agrargefege beitimmten, daß fein Gefinde weniger als Y/ Hafen zähle? Da nun der Hafen in ſchwediſcher Zeit in 60 Taler geteilt wurbe?, war !/s Hafen TYe Talern gleih. Auch im berühmten Acheraden » Römershofihen Bauerrecht, das Karl Friedrich Baron Schoulg im I. 1764 zur

ruhenden Betrages der Ablöfungsfapitalfcjuld, die Ausiceidung der von ihnen erworbenen Sandparzelle aus dem Lerbanbe des Gemeindebefihes erzwingen konnten; das ausgefcpiedene Sandjtäd durften auch Perfonen erwerben, Die der Bauerngemeinde nicht angehörten. Das Gejeh vom 14. Dezember 1893 verbietet ywar im allgemeinen den Werkauf von Teilen des Bauerlandes an Perjonen, die nicht Glieder ber Bauergemeinde find, läßt jebod die Ausnahme zu, dab mit Genehmigung des Minitters des Jnnern Stüde des Bauerlandes zu gewerbs licyen Zwerten jedermann verfauft werden dürfen. Dr. Johannes v. Neuhler, gun Öefite und Ari des binerligen Gemeinbebefies in Aupland“. 3. Zei Weteröburg 1897, ©. Derjelbe: „Die eriten Schritte zur Sicherung bäuerlichen Orundbefigeg und insbefondere zur Organifation bes Semeineicihee u Wodenferift 1901, © O1. Wlabimir Or. Simtpomitid, „Tie Aelögemeinfehaft in Rubland." Jena 1808, ©. 386 fi. Derfelbe: Bauernbeireiung in Auhland.” Handwörterbud) Fr Staatswiffenichaften dena 1890, 399 % Alex. Tobien wo., 1808, ©. 358

„Memorial über die Quotenfrage”, Balt. Monatsihr. 9. v. Broeder, „Zur Quotenfrage in Livland“,

önigt Rvfionß Qtuftion vom 7. Aebr, 1087, $ 7 u. 8; Heviionß: memorial vom 30. Jan. 1688, $ 16 u. 18 in Guftan Johann v. Budde: brods „Sammlung der bee melde das heutige fol. Sandredit enthalten”, iga 1821, II. Zeil, ©. 1214, und fiche auch Aitaf v. Tranfehe-Hofened, „Gutsherr und Bauer in Sioland im 17. u. 18. Jahrh.” Straßburg 1890, ©. 61.

%) Aler. Tobien, „Die Agrargefepgebung Liolands im 19. Jahrdundert.“ J—

Vinimum und Marimum beim Bauergrundbefig. 189

Hebung der mwirtichaftlichen und rechtlichen Lage feinen Bauern verlieh, finden wir bie Beftimmung, daß bei Teilung bes Gefindes im Erbgange unter die Nutznießer die Erbportion nicht weniger als Ys Haken ober 7'/. Taler groß fein bürfe!. Die Bauerverordnung vom J. 1804 jegte die Minimalgröße eines Bauerlandgefindes auf 6 Taler feſt?, während die mit ben alten Polizeiverboten brechende liberale Bauernerordnung vom I. 1819 lediglich vor ſchrieb, daß bei Teilung eines Grundftüdes unter Erben jedem mwenigitens 12 Lofitellen Ader zufallen müflen®. Das in vielen Beziehungen zu den beichränfenden Normen der Bauerverordnung vom %. 1804 zurüctehrende Agrargefeg vom J. 1849 verbot jegliche Teilung unter das Mindeftmaß von Yız Hafen oder 6%s Taler, gleichviel ob es ih um Hofe- oder Yauerland, um Ber: pachtung oder eigentümliche Übertragung handele‘. Als zeitweilige Ausnahme von biejer Veitimmung wurbe bie Bildung von fog. Xostreiberftellen in der Minimalgröße von 5 Lofftellen aderbaren Landes zugelaifen ®. J

In der heute noch geltenden Bauerverordnung vom J. 1860 finden wir die 1849 geſchaffenen Vorſchriften mit eingen Abände— rungen wieder. Die Diinimalgröße ift auf "/s Hafen oder 10 Taler erhöht®, gilt jeboch nur für Bauer, nicht aber aud) für Hofsland. Das Geſetz begründet das Verbot weiterer Teilung damit, daß Ya Hafen das" Dlinimum für das felbjtändige Beſtehen einer auf Land figenden Familie bilde?, verführt jedoch im diefer Hinficht nicht fonfequent, denn das Verbot, da das Bauerland niemals, weber zum Zwed der Verpachtung nach zu bem der eigentümlichen Übertragung in Grundftüde, bie Heiner als !/s Hafen find, par- zelliert werben dürfe, richtet fid nur gegen den Gutsherrn als Eigentümer des Bauerlandes. Iſt aber nicht ein Gutsherr, fondern ein andrer Eigentümer des Bauerlandes, fo gilt das Minimum—

4) „Afceradenfches und Römershofſches Bauerrecht. gegeben von Karl Friedrich Schoult im . 1764 nach Chrüfti Geburt“, in deuticher Überfegung abgedruct in Reinhold Johann Ludwig Samjon v. Himmelftjerns „Hüte: tüfdger Berfud) über die Aufiebung der Yeibeigenfhaft in den Dftjeeprovingen in befonderer Beziehung auf das Herzoptum Sioland.” Beilage zur Wocpenichrift „Das Inland“, Jahrg. 1838, Spalte 198, Buntt

2) Vaueroerordmung vom 0. ijebt. 1804, $ 58, Vuntt 1.

%) Bauerverordnung vom 20. März IB19, $ 418.

9) Siof. Ngrar- und Bauerverordnung vom D. Juli 1849, $$ 180 u. 255.

5) S$ 140 und 616-618.

®)_Dieje Erhöhung if einer direlien Ginwictung deg cneralgouverneurs Fürften Sumorom yuzufajreibe 1 ice

der linl. Mgrargefehgebung", Balı. Wonatsfcr. Bd. 29, Jahrg. 1ösd. ©. a0. SU u. 1849 9130, 3.8. 0. 1860 $1

190 Minimum und Marimum beim Bauergrundbeſit.

geieg nur für den Fall des Verkaufs, nicht aber für ben ber Verpahtung!. Das Gefeg geltattet alio auf bereits durch Verkauf abgelöften Bauerhöfen die Bildung von Pachtfiellen, die weniger als Haken groß find, wiewohl es ausbrüdlid hervor» hebt, daß Grundftüde dieſer Art die Selbftändigfeit einer Land wirtſchaft treibenden Familie nicht fihern®. Ausnahmen von ber Hauptregel läht das Gefeg dann zu, wenn ein Bauerlandftüd zur Errichtung ſtãdtiſcher Wohnhäufer verkauft wird und wenn es ſich um bie Anfieblung von Lostreibern handelt. Solden Leuten darf auch ber Yutsherr von dem Bauerlande Parzellen zumeilen, deren Umfang geſehzlich nicht normiert ift®, die daher Heiner als !/s Hafen fein Tonnen. Hervorgehoben mag noch werben, daß zur Errichtung tommunaler Baulichteiten, wie Schulen, Grundftüde ohne Rüdficht auf das Minimum ausgeſchieden werben dürfen! und daß, ba das Teilungsverbot nur freiwillige Veräußerungen trifft, unfreiwilige Veräußerungen, wie 3. B. Erpropriationen von Bauerland, i find, auch wenn das Objekt weniger als A Hafen wert ijt?.

Diefe den freien Grundſtückverkehr weſentlich hemmenden Vor: fchriften wurden bald nachdem die Bauerverordnung vom J. 1860 in kraft getreten war, heftig angegriffen. Damals regte es ſich hei uns allenthalben auf wirtfcaftlihen, wie auf geiftigem Gebiet. Die alte Frohne hatte 1865 aufgehört zu erijtieren, die Freigebung des Rechts zum Erwerbe ber Nittergüter war auf die Tagesord- mung geſetzt, die Landgemeindeordnung in Angriff genommen worden; Stadt und Land hatten allen Grund auf eine unferen Bedürfniſſen entſprechende Juſtizreform hoffen zu Dürfen. . Die geiftig lebhafte Strömung jener Zeit trat namentlid in ber erweiterten Publizitit zutage. Der 1859 begründeten „Baltiſchen Monatsichrift” waren 1863 das meifterhaft vom heute noch lebens

1) 3.8. 0.1849 $ 258, 8.8. 0. 1860 $ 223. Der maßgebende $ 223 der BB. d. 1860 lautet: „Dem Eigentümer eines Bauergrundftüdes ſteht die

freie Dispofition über dasfelbe zu und fann er e& nad) belieben ganz oder teils weile verfaufen oder verpachten, injofern mur der alienierte Teil nicht Meiner als das für ein Vauergrundjtüd überhaupt vorgeicriebene Minimum von Yg Yaten it.” Dito Müller, „Die lioländ. Uprargeiehgebung”, Riga 1892 ©. 58 u. 82 nimmt irrtümlich am, daß aud) dem bäuerligen Eigentümer ver« boten jei, jein Grunbitüd in Stücen, bie kieiner als 1/, Hafen find, zu verpachten. 2) 8.8. v. 1860 $ 114. >) 9.8. 0. 1800 $ 114, Anmert, u. $$ 559 fi- 9 Yatent vom &, Sum 1905 Ar. 118, >) Müller a. a. D. ®) Publiyiert it die liol, vom 13. November 1860 am 10. Januar ISÖL, aber in fraft trat fie erit am 24. Juni 1863, nadjden die deutfche, lettijihe und eitnifche Überlegung von der livl. Gouvernementsregicrung veröffentlicht worden mar (Patent 1883 Nr. 53).

Minimum und Marimum beim Bauergrundbefig. 191

den Profeſſor Karl Schirren geleitete „Dorpater Tageblatt” und die von Profeſſor Auguſt v. Bulmerincq begründete „Baltifche Wochenschrift” gefolgt !.

Das in jenen Tagen vielumitrittene Thema bes Perfonen bürgerlihen Standes zu gewährenden Befigrechtes an Nittergütern gab Veranlajjung zur Behandlung ber Frage, ob bie durch das Parzellierungsverbot beichränfte Nutzungsweiſe der Bauergüter noch zeitgemäß fei. Man war um fo geneigter fi Zweifeln über den Bert diefer Feſſel hinzugeben, als zu Beginn ber 60er Jahre eine bedenkliche Auswanderungsluſt das Landvolk erfaßt hattet. Aus Erjter griff der heute noch unter uns lebende Hermann v. Samfon-dimmelftiiern das Minimumgefeg in der Bal— tiſchen Monatoſchrift an?, indem er nachzuweiſen ſuchte, daß die Freigebung des Grundſtückverlehrs an ſich nur Vorteile bringe und keinerlei Nachteile mit ſich führe. Das Minimumgeſetz wolle verhindern, daß den Eigentümern zu fleiner Grundftüde aus ihrem unzulänglihen Yefigtum Schaden erwachle. Wiewohl im einzelnen Fall Mißgriffe geſchehen könnten, jei es doch im höchſten Grabe unwahrfceinlid, daß die bäuerliche Bevölkerung ſich maſſenhaft auf die Parzellierung des Bodens verlegen würde, wenn bieje nit Vorteil brädhte, ebenjo unwahrſcheinlich, wie daß die Gewerb⸗ treibenden eines Landes ſich anhaltend einer nicht lohnenden Fabri- fation hingeben würden. Anderſeils begünſtige der völlig freie Vodenverfehr die Heranbildung eines feßhaften Tagelöhnerjtandes, deſſen Exiſtenz für die Landwirtſchaft immer notwendiger werde. Ähnlich äußerte ſich zur felben Zeit der fpäter als Profefjor des Baltiſchen Polytechnikums verjtorbene Jegoör von Sivers- Raudenhof ?,

Nachdem Samfon und Sivers die Aufhebung des Minimum— geleges zur öffentlichen Diskuſſion gebracht hatten, blieb dieſe Trage mehrere Jahre hindurch ein oft behandeltes Thema. Mit dem Frühling 1868 jullten die legten Überbleibfel der Frohnpacht aufhören rechtlich zu bejlehen® und hierdurd wurde ein erhöhtes

) Siehe Raheres in Julius Edardt, „Livländifche Frühlingsgedanten“ und Aler. Tobien, „Rüdblid auf die GUcr Jahr Baltifche Wonatsichrift 13. Band, 1808, ©. 240 ff. und 3). Band, 188, ©. 121 ff.

2) Atte des üng Sandratstolfegiums Ar. 4.

» 9. o. Samfon, „Ad deliberandum 42 des lioländifchen Landtags von 1364*, Baltifhe Wonatsfcrift 11. Band, 1805, ©. 350 fi., und „Über bie Breiheit, deß Berfehrs mit Orumdjtäden” ebenda I. Band, 1805, ©. 3

% Jegör v. Sivers, „Die Teilung des bäuerlichen Grundbefiges. Ein Bort zum Naddenfen.“ Niga 1865.

3) Pate ninom 14. Moi 1805 Nr. 54.

102 Minimum und Merimum beim Vauergrundbeſitz.

Bedürfnis nad) freien Knechten und Tagelöhnern machgerufen. Diefes Bedürfnis glaubt man am beiten durch Anfieblung von Arbeiterfamilien befriedigen zu fönnen, und verlangte, bie Geſetz⸗ gebung jole ben Weg Hierzu durch Befeitigung des Minimum: geſetzes anbahnen. In ſolchem Sinne ſprach ſich die Livländiſche Gemeinnühige und Okonomiſche Sozietät in ihrer Sitzung vom 17. Januar 1868 einflimmig aus! und das Organ ber Sozietät, die Baltiſche Wochenſchrift, trat in einer Neihe von Artifeln aus der Feder ihres damaligen Redafteurs Hermann v. Samfon lebhaft für den Sozietätsbeichluß ein *.

Um zum Ziele zu gelangen, beburfte es aber vor allen Dingen der Mitwirfung bes Landtages. Schon im I. 1865 hatte Jegör v. Sivers-Naubenhof ber Nitter- und Landihaft die Auf Hebung des Minimumgejepes vorgeichlagen® und vier Jahre fpäter waren Hermann v. Samfon-Urbs und Peter v. Sivers - Happin mit Anträgen gleichen Inhalts hervorgetreten®. Allein ber Landtag lehnte alle dieſe Vorſchläge mit der Motivierung ab, daß bie im Gefeg vorgefehene Schranke der Parzellierung fih nur auf das Bauerland beziehe, die freier Teilbarfeit offen ftehenden Hofe ländereien aber hinreichen, um Sandarbeiter in genügender Zahl anzufiedeln, und praftifcpolitiiche Erwägungen eine Abänderung der fürzlid herausgegebenen Banerverordnung verböten®. Der unterdeß fi immer mehr geltend machende Arbeitermangel, den die Ausmwanderungsluft der Landbevölferung fleigerte, vermehrte jedoch anfehnlich die Gegner des Minimumgefeges, und als im I. 1872 Guido v. Samjon:Kawershof ben völlig freien Bodens verfehr abermals im Landtage zur Sprache brachte“, ging der Landtag auf den Antrag injofern ein, als er eine Kommiilion aus 3 Perſonen bildete, die alle aus der Bejeitigung des Minimums geiepes folgenden Konfequenzen, ſowohl in Bezug auf die hypother fariiche Belaftung, wie auch auf die Sicherſtellung der Neallaften und Grundftenern ins Auge faſſen follte. Die aus den Kreisdepu— tierten Edward von la Trobe-Bajusby, Guido v. Samjon-Kawershof

') Balı. Wochenfärift 1603 Ar. 14, Sp. 200; „Bur Tagelöhnerfrage" ebenda Ar. 2.

2) „Über bie Zreifeit des Vodenverfehrs“, Walt. Wochenſche. 1509 Pr. 1; „Qualififation de$ Bodens“, 1870 Ar. 33/34, Sp. „»odmalß über das Winimum“, 1873 Ir. 6/7, Sp. 43; „Immer nod) über Rinimum“ a. a. ©. 4.

) Alte des liol. Tandratsfollegiums, Band Lit. B, 258, Yol. I, ©. 10.

Fr a. D. ©. 187 und 294.

3) Yandtagsrejeh vom 11. Sept. 1865 und vom 24. März 1809, a. a. O. ©. 127 und ©. 30%.

*) Antrag vom 12. Mai 1872, Akte Sitt. B, 258, Vol. IL, ©. 11 fi

Winimum und Morimum beim Bauergeundbefig. 198

und Alfreb Baron Engelhardt beitehende Kommiſſion ftattete einen eingehenben Bericht ab!, der dem Februar-Landtage des Jahıes 1877 vorgelegt wurde. Die Kommiſſion befürwortete die Aufs hebung des Minimumgefeges warın, ba fie in ihr eine für das wirtſchaftliche und fittlihe Leben ber Zandbevölterung fegensreiche Maßregel erblidte. Um jedoch ſoweit als möglich ben Befürch- tungen über ungünftige Folgen völliger Parzellierungsfreiheit zu begegnen, beantragte fie eine beſchränkte Teilungsbefugnis in dem Sinne, daß entweder die von einem Bauerhof abgeteilte ober die in der Hand des Veräuferers zurüdbleibende Parzelle die Größe von mindeftens 10 Talern aufweifen müſſe?. Unüberwind⸗ lie Schwierigfeiten rechtlicher oder freditwirtihaftliher Natur, die der Neform etwa entgegenjtünden, erfannte die Kommilfion nit an und ſchlug vor: die durch Vefeitigung des Minimum— geſetzes Hinfällig werdenden Beitimmungen der Bauerverordnung über die Anfiedlung jog. „Lostreiber” ? aufzuheben.

Die Kommiffionsvorichläge riefen im Landtage eine ſeht leb⸗ hafte Meinungsverichiedenheit hervor, wobei Glieder der Kreis— beputiertenfammer für die Kommiljionsvorichläge, Glieder ber Landratsfammer gegen, fie eintraten. Die Mehrzahl der Kreis beputierten hatte eine Änderung der Rommiffionsvoridläge in dem Sinne beantragt, daß auf je 30 Taler Landwert die Abtrennung nur einer Parzelle bis zum Maximum von 4 Lofitellen geftattet fei, wobei jedoch das nachbleibende Stammgruudſtück mindejtens 10 Taler groß bleiben müſſe“. Hiergegen war wohl mit Hecht eingewandt worben, daß dieje Beichränfung eine mechaniſche fei, die weder nach wirtihaftlicen Gefegen zweckmäßig bemefien, noch den örtlichen Bedürfniſſen angepaßt werden könne und baher leicht dahin führen werde, bie von der Aufhebung des Dinimumgefepes erwarteten Vorteile zu vereiteln®.

Gegen die Kommiſſionsvorſchläge halte ſich die Rammer der Lanbräte einmütig erklärt, und zwar namentlich deshalb, weil die Erleichterung der Parzellierung die Ableitung der kirchlichen Reallaften in Frage jtelle und die Aufbringung der öffentlichen Grundlaſten und Grundjteuern erſchwere. Für dieſen Geſichts-

Als Manufteipt im Juli 1875 gedrudt, der genannten Atie S. Ida einverleibt.

2) Nommiffionsbericht betreffend Aufpebung des Marimum und Minimum der Größe Säuerlicer Omunbitüde. S. Bund S- 20.

285 BS1--540 der Yauermesanung von 1080. 4) Yandlagstejeh vom 3. 1877, ©. 402.

5) Sentiment des Nahladeputierten 9. Baron Tiejenhaufen-Jnjcem und des Kreisbeputierten 2. Baron Meyendorjf:Namlau.

19 Minimum und Marimum beim Bauergrunbbefit.

punkt mar namentlich bie Beſtimmung bes Rrovinzialredts! maß: gebend, daß bei Teilung eines reallaftpflichtigen Grunbftüds bie Reallaſt dann auf allen Zeiten haften zu bleiben habe, wenn ber Berechtigte nicht in die Teilung der auf dem Grundftüd ruhenden Laſt willige. Eine folde Einwilligung von feiten ber Kirche zu erlangen hielt das Landratskollegium für unwahrſcheinlich, weil die Teilung ber pflihtigen Grunbjtüde bie regelredte Ableiftung der Neallaften gefährde, die folidarifche Verhaftung der Parzelleneigen- tümer für die ganze Reallaft aber in vielen Fällen undurdführbar fei, da griechifch:orthodore Grundftüdbefiger von ihr ausgenommen werben müßten?.

Dem Vedenfen der Lanbräte ſchloß ſich der Landtag an und lehnte die Anträge auf Mobifizierung des Dinimumgefeges mit 96 gegen 61 Stimmen mit ber Begründung ab?, daß die Ummanb- lung ber kirchlichen Neallaften noch nicht entichieben fei und mögr lichexweiſe durch bie Aufhebung des Minimumgeſetzes präjubiziert merden könnte; daß ferner die Frage wegen Ableiſtung der auf dem Boben ruhenden öffentlichen Yaften feitens der Barzellenbefiger noch feine Löfung gefunden habe, daß anderjeits aber die umfang reichen Hofsländereien groß genug feien, um zur Zeit bem Bedürfnis nach Anfiedlung von Landarbeitern zu genügen.

Seitdem ift ein Menjcenalter Bahingegangen und ber Yandtag hat fich nicht veranlaßt gejehen, auf die vor faft 40 Jahren auf geworfene Frage der Freiheit des Bodenverfehrs zurüdzufommen. Das nächſte Jahrzehnt war eine Periode landwirtichaftlicen Gebeihens; der Bauerlandverfauf nahm, dank den förberlichen Maßnahmen ber Kreditſozietät, einen erfreulihen Aufſchwung“, die Preife landwirtſchaftlicher Erzeugniſſe ftanden relativ hoch’, an Arbeitskräften mangelte es nicht, jo daß weder die Gutsbeſitzer noch die Großbanern ein Bedürfnis empfanden, Yandarbeiter durch auferordentfiche Mittel an fid) zu feileln. Überbies waren bie Bauerhöfe erft fürzlic in erheblichem Maße durch Verfauf abgelöft worben, ober im Begriff, in bäuerliches Eigentum überzugehen, weshalb ber heute zutage tretende begünfligende Einfluß bes bäuer- lichen Erbredits auf die Nealteitung der Bauerhöfe fid noch nicht

Vrobingialtecht III. Zeil, Art. 1304.

) Kommiljionsberiht S. 13 und IH

#) Yandlagsrejeß v. 11. Febt. IN’ Itte Liu. B, 258, Vol. II, &. 158.

*) Yaron Hermann Engelyardt, „Zur Geſchiche der Liol. adeligen Gürerfreoitfogietär“, Miga 13, S. 210 fi.

Mn. Wache, „Die Candıwirtfhaft in Aurland“, Ritau 1809, ©. 04;

&. Baron GampenbaujensLaddiger, „Kin Nüdblid auf die Getreidepreiic", Yalt. Wogenfrift 1904, Ar. 52.

Pırimum und Maximum beim Bauergeundöeftg. 105

in nennenswerter Weife geltend gemadjt hatte. Diefe Verhältniffe haben ſich im legten Jahrzehnt weſentlich verändert und feinen zu einer Nevifion bes Minimumgefeges zu drängen. In jedem Fall wird eine formale Ergänzung ber bezüglichen Beftimmung erfolgen müſſen, denn die Grenze, bis zu der ein Bauerhof geteilt merben barf, ift befannilih in einem Bruchteil des MWertbegriffes „Haken“ ausgedrüdt und biefer veraltete Maßſtab für bie Be— loftungsfähigfeit des Bodens mit fommunalen und ftaatlihen Auflagen! wird durch bie im Gange befindliche Neufhägung ber Liegenfchaften bejeitigt werden müſſen?.

Ebenſo wie das Königreich Sachſen vor 60 Jahren? iſt alſo Livland gezwungen infolge einer Grundftenerreform feine geſetz⸗ lichen Teilungsverbote wenigitens einer formalen Prüfung zu untere siehen. Es liegt jedoch ber Gedanle nahe, in diefem Anlaß zu erwägen, ob diejenigen Vorausſehungen, bie vor falt 50 Jahren zur Formulierung des heute geltenden Minimumgeſetzes führten, nod zutreffen und die Erhaltung diejes Kindes der Frohnzeit und ber Unjetbftändigfeit des Bauerſtandes nocd weiter wünſchenswert erſcheinen laſſen, ober ob nicht vielmehr die rechtlichen und mirt- Ihaftlichen Lebenebedingungen unfre® Landvolls und bie Bedürf- niffe der auf Veranziehung von Kanbarbeitern angemwiefenen Guts- und Bauermwirtichaften aud) eine materielle Nevifion des Dinimum- geiees erheiſchen.

Zunächft gilt es ein Bild von ber Gliederung unfres bäuer- lien Grunbbefiges zu gewinnen.

Eine genaue Gruppierung aller 24,887 Banerlandgefinde i zulegt im %. 1892 durchgeführt worden, wobei ſich ergab, daß:

1274 oder 5,12 ”/a weniger als 10 Taler umfaßten*, 12,213 49,07% 10—20 Taler groß waren, und 11.400» 45,1% mehr als 20 Taler aufmiefen.

24,887 ober 100,00 %o.

9 Zobien, „Die Mprargefebgebung Lirlands" ic. &. 60 fi

2) Derfelbe. „Die Notwendigfeit einer Reform der Iiol. Grunbfteuern und detz Of vom 4. Yunl, 1901°, al. Wachen. 12. Sr. 8.

Siche oben &. 181.

5 Die verfchwinbenb geringe Anzahl Bauerhöfe, die das geiepliche Minimum nicht erreichen, entftammmt der Zeit wor der Geltung des heute mafigebenden Gefeges. Die Yauerverordnung vom 13. November 1800 wurde vom Senat am 10. Juni 1861 veröffentlicht, trat jedod laut Patent vom 7. Juni 1863 Nr. 53 erit am 24. Juni 1868 in Traft. fe bi6 dahin vorhandenen Bauerhöft, die das Minimum von JO Zulern nicht einbielten, durften meiter beitehen; $ 114 der 8.8. 1800.

106 Dinimum und Marimum belm Bauergrundbefig.

Faſſen wir die Gliederung unfres bäuerlichen Grundbefiges näher ins Auge, fo wäre von den allgemein giltigen Erfahrungs: fägen auszugehen, daß als große Bauergüter ſolche zu gelten haben, deren Wirlſchafter fon mit ber bloßen Leitung des Betriebes vollauf beichäftigt ift, während als mittlere Bauergüter diejenigen bezeichnet werben können, bei benen ber Veſiher fih an ben aus äuführenden Arbeiten felbjt beteiligt, als feine Bauergüter dagegen diejenigen, die in ber Kegel ausſchließlich von dem Wirt felber und beijen Angehörigen bearbeitet werden und gerabe hinreicien, um durd ihren Ertrag dem Cigentümer einen auskömmlichen Unterhalt zu gewähren.

Es liegt auf der Hand, dab die Meinen Bauergüter, alio diejenigen Gefinde, die einer bäuerlichen Familie die Führung ihrer Eriftenz fihern, für das Landvolk die wichtigften find und bie Grundlage einer gefunden Agrarorbnung bilden.

Wie groß muß nun ein folcher Bauerhof bei uns in Liv land fein?

Ein Gutachten!, das der chemalige Präfident der Olono— miſchen Sozietät, Landrat Eduard v. Dettingen: Jenjel, dem ouverneur von Livland General Sinowjew auf deſſen Bitte im Mai 1895 überreichte, führt den Nachweis, daß die Selbſtän- digfeit und das wirtſchaflliche Gedeihen einer bäuerliden Familie, beitehend aus dem Wirt, jeiner Frau und 4 Kindern verfdjiebenen Alters, bei unferen klimatiſchen und ökonomiſchen Verhältniſſen durch einen Hof gewährleiftet wird, der bie Kraft zweier Pferde in Anfprud nimmt und daher etwa 40 Lofftellen Ader?, 24 Lof⸗ ftellen Wiefe und 50 Lofitellen Weide, im ganzen 114 Xofitellen im Landwert von ca. 20—24 Talern umfaflen muß *.

Jenem Gutachten zufolge, deſſen VBeweisführung faum be— zweifelt werden dürfte, ilt ein halb jo großer Vauerhof, der alio dem Lanbwert von 10 bis 12 Talern gleichtäme, nur dann öfonomijd ausreichend, wenn fi dem Wirt die Möglichfeit des Nebenverdienftes, etwa durch Fuhrenleiftung, darbietet. An ſich gewährleiftet aljo ein Gefinde im Landwert von 10 Talern bie landwirtſchaftliche Selbftändigfeit ihrer Nußnießer nicht, und die Schöpfer unjreo Minimumgefepes, die den Zwed ver« folgten, die bäuerlihe Familie durch Bodenbefig allein ſicher zu ſtellen, taten von dieſem Geſichtspunkt aus wohl daran, die Größe

1) Are des Landratstollegiumg &it. B 1, Sal. XII, 301. 14-140.

?) Eine livländifhe Lofitelke 0,

%) Das Öutachten des Yandrals &- v- Segen iſt im Augzuge abger drudi in 9. d. Vrocder, „Zur Quotenfrage in Kivland“, S, 03

Winimum und Marimum Beim Bauergrunbbefig. 197

von 10 Talern als das Minbeftmaß eines bäuerlihen Grundſtücks zu firieren. Die naturgemäße Folge diefer Beſtimmung ift nämlich die, daß Bauerhöfe, die weniger als 20 Taler umfaſſen, nicht geteilt werben dürfen, weil fonjt ber eine Teil Meiner werben würde, als 10 Taler, was eben geſetzlich unftatthaft if. Da nun von allen Bauerlandgefinden 13,487 Heiner als 20 Taler find (fiehe oben), müſſen alle dieſe als gejchloffene Bauerhöfe gelten, deren Zerſtückelung verboten if, es fei denn, daß bie von ihnen abgeirennten Parzellen mit andern Bauerhöfen vereinigt werben. Von biefen 13,487 Geſinden erreichen, wie wir fahen, 1274 bas Dinimum von 10 Talern nicht, während 12,213 einen Landwert von 10—20 Talern haben. In Wirklichkeit wird der Neinerirag diefer 12,213 Gefinde ein erheblich höherer fein, als er nad) dem regiftrierten veralteten Talerwert erſcheint, und wir werden in ber Annahme nicht fehl gehen, daß dieſe Döfe, melde bie fait genaue Hälfte aller Banerfandgefinde ausmaden, bie wichtige Kategorie der Meinen Bauergüter bilden, bei denen das Gedeihen ihrer Wirtjhaft durch den Bodenertrag allein fidergeftellt ift. Die andre Hälfte aller unjrer Bauerlandgefinde, nämlich 11,400, gehört der Klaſſe der mittleren und großen Bauergüter an, und zwar dürfen 8342 Gefinde, die 20—30 Taler groß find, den mittleren und 3058, bie mehr als 30 Taler landwirtihaftlic genupten Landes umfailen, ben großen Yauergütern beigezählt werden.

Als Ideai der Cigentumsverteilung wird jener Zuftand bezeichnet, wo Befiggrößen der verſchiedenſten Abſtufungen vertreten find, und zwar fo, daß die landwirtihaftliden Anweien, bie eine ausfömmliche wirtſchaftliche Lebensweiſe und dementfprechend eine fefte ſoziale Stellung fihern, vorherrfchen!, jedoch Eleinfte Lande itellen reichlich vorhanden find, bamit die Landarbeiter, deren bie größeren Wetriebe neben bem Xausgefinde unbedingt bebürfen, nicht landlos feien.

Eine Eigentumsverteilung bagegen, bie nur ſelbſtändige Grundeigentümer aufweift, kleinſte Yandftellen jedoch vermiſſen täßt, entſpricht, nad dem Urteil Sachverſtändiger, ſelbſt den Intereffen der größeren Beſitzer keineswegs, fondern überträgt bie fozialen Gegenfäge, die das ſtädtiſche Leben fo Häufig vergiften, auch auf das flahe Land. Es ift in Weſteuropa immer mehr der Erfahrungsfa zur Anerkennung gelangt, daß es unbedingt notwendig fei, den auf Arbeit in fremden Dienften angewiefenen

3) Dal. hierüber Buchenberger, „Agrarweſen und Aprarpolitit", ©. 420; th. v. d. Goly, „Agranvejen und Agrarpolüit”, 2. Aufl. Jena 1904. S.154 fi.

Baltifehe Tonatsfceift 1905, Heft 3. 2

198 Pintmum und Darimum beim Bauergrundbeftg.

ärmeren Glementen auf bem Sande die Möglichfeit bes Grund: befigermerbes zu gewähren, um ben Landarbeitern in arbeitslojer Zeit einen Nüdhalt zu bieten, in guten Jahren in ihnen bie Hoffnung auf weiteres Vorwärtsfommen zu beleben und bamit ein wahrhaft fonfervatives Selbitgefühl in ben Kreifen bes länblichen Prolelariats wachzurufen!.

Auch in Livland hat ſich dieſe Notwendigkeit in ben letzten Degennien immer mehr geltend gemacht. Der Zug der Lanbbevöl- ferung zur Stadt, unter dem Wejteuropa jo ſchwer leibet, hat auch bei uns einen, namentlich in ben Jahren 1898 und 1899 febhaft empfundenen Mangel an Sandarbeitern hervorgerufen, der ebenfo dort wie hier vielfach öffentlich behandelt worben iſt?.

Wenn nun aud in Livland neuerdings bie Landflucht ber Arbeiter nicht mehr fo ſtark wie früher zutage fritt, weil bie Indujtriefeifis, in ber wir uns befinden, bie Städte meniger anziehend erfcheinen läßt, wie vor 5 Jahren, fo fann doch der Arbeitermangel in ber Landwirtiſchaft bei ermeutem Aufblühen ftäbtifchen Gewerbebeiriebes ſich wieder fühlbar machen.

Es würde ben Rahmen meines Themas überfchreiten, wollte id bier bie vielbehandelte Lanbarbeiterfrage, ihrer Bedeutung entiprechend, eingehend erörtern. Unbeftritten ift, daß der Fortzug der Sanbarbeiter nad) den Stäbten, wie in Wejteuropa® fo auch bei uns, zeitweilig einen epibemifchen Charakter angenommen hatte und miebergewinnen kann. Wird auch diefe Bewegung oft durch reale Motive geleitet, fo liegt ihr doch gewiß vielfach ber Geift der Unruhe und Umbefriedigung zugrunde, ber ebenfo wie in andre Volkslaſſen aud unter bie Landarbeiter gefahren ift. Um mit den Worten eines der auf diefem Gebiet erfahrenften Männer Deulſchlands, bes Freiheren v. d. Golg zu reden, ift dieſe foziale Epibemie in ber Gefchichte ber Wölfer nichts neues“. „Wie fie gekommen ift, fo pflegt fie auch allmählich zu verſchwinden; um fo rafcher, je jchneller und gründlicher den tatſächlichen Mißſtänden, die bei ihrer Entftehung mitgewirkt haben, Abhilfe geſchafft wird.”

Zu den Maßregeln, die geeignet erſcheinen, die Lanbarbeiter ihrem Beruf zu erhalten, ift an erſter Stelle bie Schaffung ber Möglichkeit des Erwerbes einer Eleinen Lanbdftelle zum Eigentum zu rechnen. Gehört die Mehrzahl ber Yandarbeiter zu ben Grund» befigern, bann ftehen ihre Interefien denen der Großbauern und

1) Bolg a. a. D. ©. 155. 2) Balt. Morenfchr. 1808, Sp. 517 u. 537; 1809, Sp. 240 u. 370. ”) Bolg.a.a. 0. ©. 150. 4) Golpa.a. ©. ©. 180.

Minimum und Maximum beim Bauergrunbbefig. 19

Großgrundbefiger viel näher, als ben Intereſſen aller übrigen Erwerbs: und Berufsklaſſen, und fie find alsdann weit unzugäng- licher den trügerifchen Lodungen ftädtifchen Wohllebens und ben gefährlichen Verheißungen fozialpolitiiher Propagandiſten!.

Man wird nun vielleicht ber Meinung fein, daß menigitens die recht liche Möglichkeit des Erwerbes Heiner Landftellen in Lioland genügend gefihert fei, weil das fälfchlich immer noch Ihapfrei genannte Hofsland und die Quote zur freien Verfügung flünden, da auf dieſe beiben Bobenfategorien, im Gegenfag zum Bauerlande, das Minimumgejep feine Anwendung findet. In ber Tat find auf denjenigen Nittergütern, deren Umfang bie provinz siafrechtlich vorgefehene Mindeftgröhe von 90 Lofftellen überfchreitet, und das iſt bei weitaus ben meilten Rittergütern ber Fall, Hofsländereien wohl genügend vorhanden, um Landarbeiter dauernd anzuftellen, und aud) bie Quote, wiewohl vielfach an Großbauern verfauft ober verpachtet, bildet ebenfalls einen namhaften Land» fonds, der zur Anfieblung von Landarbeitern bort verwandt werben fann, wo foldes wirtſchaftlich begründet ift. Allein biefe Talſochen find feineswegs fo beruhigend, daß die Frage überflülfig wäre, ob nicht auch) das Bauerland durch Einſchränkung oder Befeitigung bes Minimumgefeges der dauernden Anfieblung von Landarbeitern mehr und vor allem beſſer, als bisher, dienſibar gemacht werden müſſe?

Vor allem ſei daran erinnert, daß nicht nur der Nitterguts- befiger, jondern aud) der Großbauer Landarbeiter für feinen häufig recht umfangreichen Betrieb in erheblicher Zahl braucht. Diefe bäuerlichen Landarbeiter aber auf bem Hofslande oder auf der Quote anzufiebeln ift vielfah um fo weniger angezeigt, als bie topographiſch entfernte Lage ber Bauerhöfe vom Hofskompler ben wirtſchaftlichen Nupen einer ſolchen Anfiedlung auf Hofsland für die Großbauern illuſoriſch machen würde. Bisher ift man meift befliſſen geweſen das Problem der Beſchaffung genügender Arbeits: fräfte für die Landwirtſchaft lediglich vom Standpunkt der Nitter: gutsbefiger aus zu behandeln. Mit Unrecht jedoch, denn ber Bedarf der 25,000 auf Bauerland errichteten Wirtfchaften an Landarbeitern ift gewiß in Summa nicht Meiner, fondern wohl größer als der Bebarf unfrer 900 Nittergüter, Domänengüter und Paſtorate zufammengenommen.

Von biefem allgemeinen Standpunft aus fann aber die Landarbeiterfrage nicht durch den Hinweis auf das verfügbare

) Goly a. a. D. S. 163. a

20 Vintmum und Marimum beim Bauergrundbefig.

Hofsland, wie es früher oft geſchehen, kurzerhand erledigt werben. Es muß vielmehr mit befonderer Schärfe bas Problem ins Auge gefaßt werden, wie die bem Großbauern notmenbige Rnechtsbenäls ferung zu konſolioieren wäre.

Rechtlich fteht der Anfiedblung von Lanbarbeitern auf bem Bauerlande als Pächter nichts im Wege, ba das Gefeh bie Verpachtung von Parzellen bes Bauerlandes, bie weniger als 10 Taler groß find, zwar dem Nittergutsbefiker, nicht aber bem bãuerlichen Eigentümer verbiefet!. Wer num ber Anſicht ift, daß in ber rechllichen Möglichkeit, Pächter auf Bauerland werben zu fönnen, ben Zanbarbeitern alles das geboten ift, mus vernünftigers meife von ber Gefepgebung zu ihren Gunften verlangt werben darf, der wirb an unfrem Dlinimumgefeg Genüge finden, das zwar nicht das Parzelleneigentum, wohl aber die Parzellenpacht auf Bauerland zuläßt. Allein es muß doch die Frage geprüft merden, ob nicht ber Parzelleneigentümer auf Yauerland eine größere Sicherheit für die Stabilität unfrer Landarbeiterverhältniſſe bietet, als der Parzellenpächter.

Die Anfihten darüber, ob bie in Weſt- und Oft- Europa gleichermaßen brennende Arbeiterfrage zwedmähig durch Verkauf von Grundftüden oder durch bloße Verpachtung an Arbeiter zu loſen fei, find noch fehr geteilt.

Roſcher Hält die Zwergpäditer, d. h. die Pächter Heiner Landparzellen, für weit fchlimmer als Zwergeigentümer, weil fie viel heimatlofer, viel cher durch einen Unfall ins Elend geſtürzt werben, als jene?. Auch bie befannten Agrarpolitifer Buchen: berger und v. d. Bol geben dem Grundeigentum unbebingt den Vorzug? vor der Pacht. Andre vertreten Dagegen bie Meir nung, daß der Gigentumsbefig in Gegenden, wo es an Neben: verdienft fehlt, den Arbeiter zu fehr an die Scholle binde und, ftatt ihn felbftändig zu machen, nur mehr in eine Abhängigkeit von dem Arbeitgeber bringe, bie beiden Teilen gleich läftig werben könne“. Daher fei bie zweckmäßigſte Löſung der Arbeiterfrage in der Arbeiterpacht zu juchen®, weil fie dem Arbeiter die freiere

1) Bauewoerorbnung von 1860 $ 229.

9) Rofcer, „Rationalötonomit des Aderbaucs", S. 69.

®) Bucenderger a. a. D. ©. 508; Golh a. a. D. ©. 157.

4 Dr. Dito Raabe, „Die vollswirtſchaftliche Bedeutung der Pacht“, Berlin 1891, ©. 76 und 91.

5) Georg Stieger, „Aur Sanbarbeiterfrage”, Jena 1808, ©. 4 fi.; Prof. Dr. Otto Gerlad, „Die Sandarbeiterfrage in den öfffichen Proninzen Sreußens“, in der geitfariit "für Sopiahoifenitult 3. Jahrg. delt 7/8. 100, ©. 544.

Ninimum und Marimum beim Bauergrundbefig. 201

Bewegung fihere und ein nicht gebundener Arbeiter dem miber- willigen und beshalb unzufriebenen vorzuziehen jeit.

Wie verjchieben nun aud die zahlreichen deutſchen Agrar politifer, die fi) über die Landarbeiterfrage und deren Löfung vernehmen ließen, das wichtige Problem der Seßhaftmachung der Arbeiter beurteilen mögen, in 3 Punkten find fie faft alle einig:

1. Innerhalb bes Guts- oder, wie wir jagen würben, Hofbezirts, ift die Verleijung von Grundeigentum nicht zweck— mäßig, weil fich das Kleineigentum nur im engjten Zujammenhang mit dem bäuerlichen Grundeigentum und ber Bauergemeinde als lebensfähig erwieſen hat?. Daher ift auf dem Hofstompler die Pacht dem Grundeigentum im Intereffe beider Teile vorzuziehen.

2. Innerhalb des Gebiets der Landgemeinden foll der Kern aus felbftändigen kleineren oder größeren Bauerhöfen bejtehen, an den ſich Arbeiterſtellen unlehnen, die im Eigentum der Nutznießer befindlich find.

3. Eine zwedmäßigere Änderung der hinderlihen Geſete hat innerhalb ber Bauergemeinde einer Stufenfolge von Grund- eigentümern den Weg zu ebnen, die es ermöglicht, daß der Knecht zum Häusler, der Häusler zum Rleinbauern und dieſer zum Voll- bauern aufzufteigen imitande fei. Und diejen Kategorien der Lands bevöfterung muß die Möglichleit gewährt werben, ihre Stellen zum vollen Eigentum erwerben zu fönnen?.

Ausdrüdlih fei jeboch betont, daß die in Deutichland auf dem Gebiet der Agrarpolitif zutage getretenen Bejtrebungen nicht darauf abzielen, daß ein jeder Landbewohner fein eigenes Heim aud wirklid habe, fondern darauf, daß jedem die rechtliche Mög— fidjfeit geboten werbe, ſich Grundeigentum zu erwerben *.

Denn wenn aud heute vielfad die Behauptung aufgeftellt wird, daß der den Landarbeitern eigentümliche Hunger nad Grundeigentum vollfommen geftillt werden müſſe, jo iit, abgefehen von der Unmöglichfeit alle Landarbeiter zu Grundeigentümern zu machen, nicht zu verjtehen, weshalb gerade nur ber Landarbeiter

3) Proffler Dr. Mar Sering, „Die innere Rofoniftion {m ätihen Deutfchland“, Yeipig 1893, Band LVI der Schriften des Vereins für Sogials politt, S. 146 und 148,

2) Sering a. a. ©. ©. 137 u. 146; Gold, Agrarweſen. S. 157.

%) Bucenberger a. a. ©. ©. 43%. Goly, „Die Landarbeiterjrage im mordöftfichen Deuticland“, in Sohn Zufunft der Yandbevölterung”", Gt, fingen 1886, ©. 257. Sering a. a. ©. ©. 148. Dr. Ulrich Dinge, „Die Sage der ländlichen Webeiter in Medienburg", Noftod 1894, ©. 85 fi.

% dinge a... 0. S. 92. Golg, „Die ländlige Arbeiterklafje und der preußiiche Staat”, Jena 1893, ©. 210.

202 Winimum und Marimum beim Bauergeundbefih.

und nicht aud) jeder andre Menſch Anſpruch auf dieſe angebliche Grunbbebingung des Lebensglüdes erheben bürfe?.

In Weitenropa ſucht der Staat die Anſiedlung der Land- arbeiter zu fördern; man iſt jedoch weit entfernt davon, zu wünſchen, daß irgend ein Zwang ausgeübt werde, und alle ftaatlihen Ver- ſuche, die auch nur dem Scheine nad) darauf hinausliefen, in bie Grundbefigordnung Momente des Zmanges hineinzubringen, würden zweifellos jcheitern®. Nur das Zujammenwirten der Arbeitgeber mit den ſtaatlichen Organen wird ins Auge gefaßt, jedes einfeitige Vorgehen aber als unheilvol unbedingt verworfen?.

Ähnlich wie in Weiteuropa, namentlic) in Deutfchland, drängt aud in Livland die Entwiclung ber Landarbeiterfrage dazu, bie rechtlichen Pinderniffe, die dem Erwerbe von Grundeigentum ent— gegenfiehen, zu befeitigen oder einzufchränfen. Nehmen wir bie Erfahrung Deutſchlands zur Richtſchnur, ſo müßte bei uns die Anfiehlung von Pachtern auf dem Hofslande und die Anfähig: machung von feinen Grumbeigentümern auf dem Bauerlande gefördert werben. Da der Verpachtung des Hofslandes feinerlei Hinderniffe rechtlicher Natur entgegenftehen, bliebe nur zu erwägen, ob bas den Erwerb von Grundeigentum am Bauerlande einſchrän— fende Minimumgejeg aufzuheben ober abzuändern wäre? Wollte man das Minimumgefeg gänzlich befeitigen und den Grundftüd: verfehr völlig freigeben, wie es in Kurland ber Fall ift, fo würde die Gefahr, daß unfre Vauerlandgefinde zu Zwerggütern herab- jänfen, um jo mehr entjtehen, als das bäuerliche Erbredt eine Gleihteilung des Wertes der Grundjtüde unter die Vliterben geftattet. Aber felbjt wenn das fehr mangelhafte Bauererbredt ivlands reformiert würde, worauf fpäter zurüdzufommen fein wird, dürfte die Befeitigung des jeit 200 Jahren eingebürgerten Diinimumgefeges nicht rätlich erideinen. Die „Mobilifierungss freiheit“ ift, wie Buchenberger richtig jagt, „wie alle Freiheiten eine zweifchneidige Waffe und fann von der Bevölkerung nur dann ohne Nachteil ertragen werden, wenn der allgemeine Zuftand der Bildung auf dem flachen Lande jene Tugenden ber wirtihaftlihen Vorliht, der Bedachtnahme auf die Zufunft, der Vorjorge aud für die tommenden Generationen zur Neife bringt, weld)e lehren, von der Freiheit einen mafvollen Gebraud zu maden‘.“ Ob unfer Laudvolk ſchon die Tugenden der wirtſchaftlichen Vorſicht

» ger, „Zur —S— S. 22.

2) Sering a. a. ©. ©. 144.

®) Bolg, „Die ländlige Arsietife” 1, S. 20. 4) Buchenberarr a. 0. 0. S. HM.

Minimum und Marimum beim Bauergrunbbefig. 203

erworben habe, bürfte doch füglich zu bezweifeln fein, und die befonnenen Elemente im Bauerftande würden die rabifale Fort: ichaffung des Diinimumgefeges ſicherlich nicht gutheißen. Es fann ſich fonach meines Eradjtens nur um eine zeitgemäße Neform dieſer gefeglihen Beſtimmung handeln, wobei an bie kommiſſariſchen Vorfchläge anzufnüpfen wäre, bie dem Landtage vom I. 1877 eingereicht wurben. Jene Vorfhläge befürworteten eine beichränfte Teilungsbefugnis in dem Sinne, daß entweder bie von einem Bauerhof abgeteilte, oder die in ber Hand des Veräußerers zurüd: bleibende Parzelle die Größe von mindefiens 10 Tulern aufweilen müfle. Der Landtag trug damals Bedenken, auf diefen Vorſchlag einzugehen, weil die Erleichterung ber Pargellierung das Aufbringen der öffentlihen Grundluften und Grundfteuern erſchweren würde und es blieb beim Alten. Heute jedoch dürften dieje Einwände nicht mehr ins Gewicht fallen, da die in Augriff genommene Grunbjteuerreforin, die ja dem äußeren Anlaß zur Nevifion des Minimumgefeges gibt, auch dazu nötige, die bisher übliche Erfül- lung ber Reallajtenpfliht neu zu regeln.

Dem Vorſchlage vom Jahre 1877 mödte id) mid grund- ſätzlich anfchließen, der darauf Hinausläuft, das Dinimumgele nicht zu befeitigen, aber doch im AJutereife eines erleichterten Grumbjtüdverfehrs umzuformen, und zwar dergejtalt, daß ein uns antajtbares Stammgrundftüc, groß genug, um an fih die Eriftenz einer Bauerfamilie zu gewährleiiten, ftets erhalten bleibe, daß die Größe dieſes Stammgrundſtücks überjteigende Plus aber beliebig geteilt werben dürfe.

Zunächſt wäre zu beſtimmen, wie groß das Stammgrundftüd fein muß. Die Kommiifionsvorichläge vom J. 1877 bemafen den Landwert bes Stammgrunditüds, in Anlehnung an den Wortlaut des geltenden Gejeges, auf 10 Taler. Ich glaube jedoch, gejtügt auf Das mitgeteilte Outadhten bes Kunbrats v. Dettingen-Jenjel, befürworten zu jolfen, daß nicht 10, fondern 20 Taler die Grenge zu bilden hätten, vor der die Teilungsbefugnis Halt zu maden habe. Die Folge einer ſolchen Beftimmung wäre heute die, daß etwa die Hälfte aller unfrer Banerlandgefinde als geichloffene, d.h. als foldje zu gelten hätten, von denen feine Parzelle abge- zweigt werden dürfte. Vorausſichtlich wird jedoch die Zahl der- jenigen Bauer die lediglich die Größe des Stammgrundjtüds erreichen, aljo als geſchloſſene behandelt werden müßten, nad Beendigung der Grundjteuerreform geringer werben, dba der Lands wert der Bauerhöfe zweifellos geitiegen it, mithin Die mittleren

204 Rinimum und Marimum beim Bauergrundbefig.

und großen Bauerhöfe, die Barzellen abzugeben vermögen, anſehnlich zugenommen haben, während die Zahl derjenigen Bauerhöfe, bie in die Kategorie der gejchloffenen neu einzureihen wären, faum jehr groß jein dürfte.

Ich empfehle alfo: nach, wie vor einen Typus Meiner Bauer güter durch ein Teilungsverbot vor Atomifierung zu ſchützen, diejen Typus aber fo zu getalten, daf er zweifellos im landwirtſchaft⸗ lichen Betriebe allein die Grundlage feiner Lebensfähigfeit finde. Das Größenmaß wird daher, nad) unfren heutigen Wortbegriffen, faum unter 20 Taler zu firieren jein, in Zukunft jedod in Steur- rubeln ansgebrüdt werben müſſen, da ber Begriff Taler dem Ausiterben überantwortet ift. Nach den bisherigen Ergebniſſen der im Gange befindlichen Bodenbonitierung wird vorausfichtlicd, 1 Taler 6 Stenerrubeln fein. Der Lanbwert des Stamm- grundjtüds wäre mithin für die Zukunft auf eiwa 120 Steuer: rubel zu bemeilen, d. h. auf eine Wertgröße, die ſicherlich die landwirtſchaftliche Lebensfähigfeit garantiert, da die in Angriff genommene Schägung der Liegenfchaften vorfichtig zu Werke geht und den Neinertrag der Grundflüde eher zu niedrig als zu Hoc bemißt.

Iſt in dieſer Weiſe für die Erhaltung des Meinen bäuer- lien Grundbefiges geforgt, To darf meines Erachtens unbedenklich die freie Parzellierung des außerhalb der Grenze des Stamm- grundftüds verfügbaren Bodens zugeftanden werden. In biejer Veziehung dem freien Verkehr Echranfen auferlegen zu wollen, halte ich nicht für empfehlenswert. Etwa vorzuichreiben, daß von jedem Stammgrundftüd nur jo und fo viele Parzellen abgezweigt werden dürfen, käme einer öden Schematiſierung glei, die ſich das öfonomifche Leben ſchlechterdings nicht gefallen läßt. Die Beſtimmung über Zahl und Größe der Parzellen aber etwa in jedem einzelnen Fall von adminiftrativer Einfiht abhängig zu macyen, wäre gänzlid) verfehlt, weil eine ſolche Maßnahme bedeuten würde, daß die Verwaltung beſſer wiſſe, als der Landwirt felbit, wie zweckmähig im eingelnen mit jeinem Grundftücd zu verfahren ſel!. Das durd) den Ausbau unjres Eifenbahnneges und unſrer Chauſſeen im Fluß befindliche Verkehroweſen ruft hier und dort eine Nochfrage nach kleinen Parzellen hervor, die von der Adminie ftration ſchwerlich vorausgeſehen, überwacht und geregelt werben fann. Daher ift meines Erachtens der ungehinderten Barzellierungs: freiheit in den vorgejchlagenen Grenzen unbedingt der Vorzug

1) Buchenberaer a. a. O. ©. 449.

Binimum und Marimum beim Bauergrunbbefig. 205

vor einer abminiftrativen Negelung des Parzellenabverfaufs einzus räumen.

So empfehlenswert nun auch dieſe Diaßnahmen im Intereiie eines erleichterten Grundftücverfehrs find, jo wäre mit bem Schuß der Stammgrunbftüde durch ein polizeiliches Teilungsverbot noch nicht das erreicht, was zur Siderftellung unfres Bauerftandes notwendig iſt. Mehr als durch merfantile Spekulation wird ber Zerteilungsprogeß, dem ber Grund und Boden nad und nad) anheimfällt, durch das Erbredjt gefördert, unb es ift daher das Zufammenhalten der Befipeinheiten im Erbgang erfirebenswert. Teilungsverbote allein fihern diefen Zufammenhalt nicht, es muß als Korrelat ein Inteſtaterbrecht geichaffen werben, das Die unger teilte Vererbung der Bauergüter an einen Erben herbeizuführen trachtet. Eine gejeglihe Maßnahme dieſer Art ift für Livfand um fo mwünfchenswerter, als unfre Vauerverordnung zwar den männlichen Erben ein Vorzugsredht am Naturalbefig ber Immo— bifien gewährt, leider aber ‚nur eine Gleichteilung des Wertes ber Grundftüde zwiſchen Brübern und Schweitern kennt!. Beſteht mun eine bäuerlihe Familie aus vielen Köpfen, fo wird der Hof durch Erbforderungen über feinen Ertragswert verſchuldet, oder die Erben teilen ſich in ihn ideell, weil das Minimumgefeg bie Nealteilung verbietet. Da nun aber der Bauer das Redtsinftitut des Eigentums zu ibeellen Teilen ober das Miteigentum meiſt nicht verfieht, werden in Wirklichkeit die ideellen Anteile in reale umgewandelt und damit Zuſtände geſchaffen, bie durch das Mini- mumgefeg verhütet werben jollten?. Zwar jteht das Minimum: gejeg der Ausfcheibung der einzelnen Teile aus ber Yypothefen- einheit entgegen und nur das ideale Eigentum ber Parzelle darf forroboriert werden, allein die Realleilung wird tatjächlid doch vollzogen, und es entſtehen wirtſchaftlich getrennte Teilſtücke ver- ſchiedener Befiger, die nur zwangsweiſe Hypothelariih vereinigt bleiben. Die Sachlage führt, abgejehen von wirtſchaſtlichen Unzus träglighfeiten, zu rechtlichen Wirrniſſen mancherlei Art, namentlich auf bem freditwirticaftliden und dem ſieuerrechtlichen Gebiet, weil der für die Zahlung der Hypothekenzinſen und Grundfteuern haftende Eigentümer fih, dank der mitunter großen Zahl von Dliteigentümern, häufig nicht feitftellen läßt.

1) Bauerverorbuung von 1860, $ 1000.

#) Nobert Scöler, „Aus dem Gebiet des baltijcen eivairechts und de8 Zivilprogefies”, Walt. Wonatsicie. 39. Band, 1892, ©. V5ö. Derielde: „Über das Giolänbiiche Bauerprioatredt", ebenda 54. Band, 1902, ©. 1 ff.

206 Binimum und Maximum beim Bauergrunbbefig-

Um bie hieraus hervorgehenden Mißſtände zu heben, müßte das bäuerliche Erbrecht felbit zwedmäßig abgeändert werden, wobei vielleicht bie in Eſtland geltenden Beſtimmungen vorbildlid) jein fönnten. Dort find die männlichen Erben weit begünjtigter als in Livland, weil fie zwei Teile aus dem Nachlaß an unbemeg- lichem Vermögen erhalben, die weiblichen Erben bagegen nur einen Teil, und zwar in Geld, nicht aber in natura!

Eine foftematifche materielle Abänderung des bäuerlichen Erb- rechts wird aber jegt faum durchführbar und wohl auch nicht empfehlenswert fein, ba unfer bäuerliches Privatrecht überhaupt jo viele Mängel aufweilt, baß es von Grund aus reformbedürftig eripeint?.

Und wenn an die Nevifion bes bäuerlichen Privatrechts gegangen werden joll, dann läge es nahe, die ganze livländiſche Bauerverordnung zu revidieren, denn aud ihre agrarrechtlichen Beftimmungen, bie in ber Hauptiahe den Schutz des Bauerland- pächters bezwecken, find von der Entwidlung unjrer Agrarverhält niſſe längſt überholt und genügen heute, wo faſt 90 pCt. des Bauerlandes verkauft find, nicht mehr. So jehr aber auch die in vielen Stüden veraltete, von neueren Bejtimmungen durchlöcherte Bauerverorbnung einer gründlichen Durdfiht und Ergänzung bedürftig if, jo darf doch faum gehofjt werben, daß ein neues Gejeg bald an die Stelle treten werde. Unterdeß aber machen ſich die üblen Wirkungen des däuerlichen Erbrechis immehr mehr geltend, und es ift tief zu bedauern, dab die Bemühungen bes kivländifhen Landtages um bie Einführung eines büuerlichen Anerbenredhts in Livland bisher rejultatlos geblieben find. Bereits im I. 1893 beantragte Alexander v. Stryf-Palla in einer eingehenden, ber Ritteridaftsrepräfentation übergebenen Dentirift?, dem Vorbilde Deutſchlands zu folgen und bas bort zur Anwendung gelangte fog. bäuerliche Anerbenrecht“ aud bei uns zur Geltung zu bringen. Diejes Sonderrecht bezwedt bie ungeteilte Vererbung der Bauergüter an einen Erben, den Ans erben, durch ein entſprechend geftaltetes Anteftat:Erbredt, d. h. durch ein Erbrecht, das dann einzutreten hat, wenn ber Eigen tümer eines bäuerliden Grunbftüds ohne Hinterlaſſung eines

%) €. o. Bodisco, „Die eftlänbifce Bauerverordnung vom 5. Juli 1856 und die die Vaueroerordnung abändernden und ergäugenden Gefepe und Berorbs

nung jeval 1004, 2, rt. 1153; gl. Arel u. Gernet, „Befcice und Spitem des bauerlichen Agrarredits in Wenal 1801, &. 178 . D.

”) Schöler >) üfıe Sandraistolegiums Archid 421, Sit. B,Vol. I, Fol. 60 f. 4) Bol. M. ng, „Läublies Erbrecht” im Wörterbuch der Volls-

wirtihaft, von nein I Bond, S. 659 ff.

Vinimum und Marimum beim Bauergrunbbefit. 207

giftigen Teſtaments ftirbt. Das Anerbenrecht will das Bauergut in der Familie ungeteilt erhalten, weil es aus wirtfchaftlichen und politiichen Gründen wünſchenswert iſt, daB ein innerlich geſunder, leitungsfähiger und nicht hochverſchuldeter Bauerſtand bejtehe und gebeihe. Auf das Weſen des Anerbenrechts hier näher einzugehen gebricht es uns an Zeit. Es fei nur hervorgehoben, daß der von einer ritterfchaftlihen Rommijfion ausgearbeitete Ent: wurf eines geſehlichen bäuerlihen Anerbenrechts für Livland, dem Gouverneur im Dezember 1895 behufs Erwirkung ftaatlicher Veltätigung überfandt, bisher aber leider von ben ftaatlichen Organen nod immer nicht erledigt worben ift.

Wird das Diinimumgefeg in dem von mir befürworteten Sinne reformiert und ber Entwurf bes Anerbenrechts beflätigt, fo gewinnen wir fräftig wirkende Schugmittel, die das Stamm- grundjtüd, den fleinbäuerlihen Befigitand, das Nüdgrat einer gejunden Agrarordnung vor unheilvoller Zeriplitterung ſchühen. Auf der andern Seite gewährt die unbeichränkte Teitbarkeit des außerhalb der Stammgrundjtüde frei verfügbaren Bodens die Diöglichfeit, daB die aus verfchiedenen Verufoklaſſen zuſammen⸗ gejebte, unbeſißliche Landbevölferung leichter als bisher in den Eigentumsbefig eines Meinen Grundftüds gelangen fann. Hier durd) wird die Entjtehung einer, für die Geftaltung gefunder ſozialer Verhältniffe wichtigen, Stufenleiter von dem Heineren GSrundbefiger bis zum Großbauer gefördert, bie Zahl der in ihrer wirtſchaftlichen Exiſtenz Gefhügten, mit ihrer Lage Aufriedenen erhöht, dadurch die Menge ber zu propaganbiltiihen Bewegungen Geneigten vermindert! und endlid die Zunahme ber Bevölkerung des jladhen Landes belebt und ber verhängnisvolle Zug zur Stadt unterbunden.

Es erübrigt noch kurz die Frage zu erörtern, ob auch unjre Beſtimmung über die Maximalgröße des Banerlanbbefiges einer materiellen Ünderung bedarf. Die Feftfegung einer oberen Grenze für das bäuerliche Grundeigentum in der Gejtalt „eines Hafens“ ijt weit jünger als das Minimumgefeg, denn wir finden das Verbot, daß das bänerlihe Grundeigentum eines Einzelnen innerhalb einer Gemeinde die Größe von einem Hafen überfchreite, zum erften Mal in der Agrarorduung vom Jahre 1849°. Diefe Veltimmung wurde damals im Zujammenhang mit ber Regelung des Yauerlandverfaufs getroffen, weil der Landtag befürdtete, daß

A Igrarmejen und Ygrarpofiit“, ©. 114 fi Bu. 257 der Liol. Agrar und Vaueroerordnuen v. 9. Juli 1849,

208 Winimum und Marimum beim Bauergrunbbefig.

ſtädtiſche Rapitaliften fi auf den Erwerb von Bauerland legen und ben Bauerftand, den die Agrarverordnung mit allen Mitteln zu erhalten ſich beftrebte, depoſſedieren fünnte" Diefe Befürch-⸗ tungen haben ſich bisher als grundlos erwiejen und werden wohl aud) fobald feinen Nährboden finden, denn jtäbtifhe Kapitaliften werden aus fozialen Gründen dem Erwerb von Nittergütern ben Vorzug vor dem Ankauf von Bauerhöfen geben, und bis Die Inbuftrie darauf ausgeht, dermaßen auf dem flahen Lande Fuß zu fallen, daß die Anhäufung von Bauerland in gemerblicen Händen zu bejorgen wäre, dürften viele Jahrzehnte vergehen. Übers dies jteht der Auflaugung des fleinen Grunbeigentums durch das große, die in Großbritannien, in Medlenburg und in Oftpreußen zur Latifubienbildung geführt hat?, bei uns der „rote Strich“ ent— gegen, der das Bauerland zu einem bäuerlichen Geſamtfideikommiß geitaltet hat und die Verfhmelzung von Bauerland mit Hofsland verbietet. Bauerland aber etwa allein aufzufaufen und baraus ein Nittergut zu bilden, aud) das verhüten die Gejege, denn zum Begriff eines Nittergutes gehört in erjter Linie ein Minimal beitand von Hofsländereien®. Gomit wäre aljo die Marimal— beftimmung über das bäuerliche Grundeigentum eigentlich entbehrlich), allein für ihre Vejeitigung ſprechen anderſeijs feine zwingenden Gründe, und ein Antrag, der bie Aufhebung diefer immerhin mehr als ein halbes Jahrhundert beftehenden Schranke in Vor— Schlag brächte, würde ben Verdacht erregen, als jollte die Schuß: wand, mit ber unfer Bauerland umgeben iſt, in kapitaliſtiſchem Intereſſe burdlödert werben. So erfdeint denn lediglich bie formale Revifion des Marimumgejeges in Anlaß der Orundfteuer- reform rätlid, und e8 wäre an die Stelle der objolet werdenden Größenbefiimmung „ein Hafen” ein entiprechendes MWertmaß, in Steuerrubeln ausgebrüdt, zu fegen. Da, wie wir jahen, ein Taler wahrſcheinlich 6 Steuerrubeln gleich fein wird, fo hätte man das Marimum jtatt auf 1 Hafen oder 80 Taler, elma auf 480 oder 500 Steuerrubel zu firieren.

Ih bin am Schluß.

Wird, meinem Vorſchlage entiprehend, das Minimumgefeg materiell geändert, jo haben wir ber Freiheit im Bodenverkehr, die von vielen als ber jtaatsöfonomiid und privatwirtſchaftlich

2) 9. v. Samjon, „Ad deliberandum des liof. Sandtags von 1304” a. a. ©. ©. 353. ®) Dr. Hermann Levy, „Entftehung und Küdgang des Iandwirtfch. Großbetriebes in England“, Berlin 1904. Miastomsti, „Das Ürbrt und Die Örumdeigentumsoereiung” ıc, I Band, &. 9 fi. und 34

3) Art. 600 des Provingiafreghts IF. Zeil.

Pinimum und Marimum beim Bauergrunbbeftg. 209

befte Zuftand gepriefen wirb, nur ein fehr geringes Opfer gebracht. Dit Neid werden die Anhänger des entfeflelten Grundbeſitzes auch ferner auf das uns benachbarte Kurland blicken, wo nad) erfolgter Ablöfung des Bauerlandes durch Verkauf, der Grundftüd- verfehr fich ungebunden entwideln fann. Kurland fennt nur eine gefeglihe Minimalgröße der Nittergüter!, aber weder ein obligas torifches Minimum, noch ein Maximum für Bauergüter, vor allem aber nicht einen „roten Strich“, der über ben Zeitpunft der voll zogenen Ablöſung des Bauerlandes hinaus wirkſam bleibt. Iſt das Bauerland einmal abgelöſt, jo darf es vom Gutsherrn zurück⸗ erworben und mit dem Hofslande beliebig verfhmolzen werben. Ganz anders in Livland. Hier ift der Bauer im Grundftüd- verfehr weit unbehinderter als der Gutsherr, denn er darf mohl vom Gutsheren Hofsland erwerben und in jeber Beziehung frei nugen, aber umgefehrt darf ber Gutsherr von dem ihm gehörigen Bauerland auch felbft dann nicht beliebigen Gebrauch machen, wenn es bereits den Ablöfungsprozeß durchgemacht hat und aus dritter oder vierter Hand zurüderworben wird.

Wollten wir jedoch den Verſuch wagen, bie kurländiſche Freiheit im Vodenverfehr auf Livland zu übertragen, fo würde es einen Sturm der Entrüflung unter jenen irregeleilelen Agrar: politifern der Tagespreife und der Flugihriften geben, die ihre Angriffe merkwürdigerweife mit Vorliebe gegen Livland richten, wiewohl hier den Bauern ein Agrari—hug gewährt wird, wie, ‚mit Ausnahme Eſtlands und Defels, nirgendiwo. Angriffe dieſer Art werden wir jedoch um fo cher, nad) wie vor, mit Gleichmut ertragen, als in neueſter Zeit ruſſiſche Gelehrte, bie fi der kritiſch⸗ vergleichenden Methode bedienen, nicht aber beflifien find, einfeitig die Mängel unfrer Agrarverfaſſung herauszufinden, zu dem Ergebnis gelangt find, dah das Gedeihen bes livländif—hen Bauerſtandes offenſichtlich und in erſter Reihe den Agrargefegen zu danfen ift. Eine ſolche objektiv wahre Anſicht finden wir in einem kürzlich erfchienenen umfangreichen Druckwerk vertreten, das alle jene Unterfuhungen tritiich beleuchtet, die auf Baiferlichen Befehl im ganzen Reich 1902 veranftaltet wurden, um bie Gründe des Notitandes ber ruſſiſchen Landwirtihaft Harzulegen *.

3) Propinzialrecht Zeil TIL, Art. 616. Die noch heute in Aurland gel» tenbe Bauerverordnung vom $. 1817 verbietet im Art. 123 nur: Bouerhöfe bei Exbteihungen unter ein. beitimmtes inbeitmaß zu parzelficren, unterfagt aber nicht Beläge Teilungen in andrer Veranlaffung.

1. Tower»): „Pycosan nurermrenn n speersanerno. Kpurn- IKAAXb CEIBCKO-KOBAN-

Ammann TPFAOBT WHOrNXn KOnnTeron» 0 1 ergensoll nponumaennveru“, Mocksn 1904, ©. 68 fi.

a0 Dinimum und Marimum beim Bauergrunbbeftg.

Die ſich aber auch immer bie Beurteifer unjrer Agrarver⸗ faſſung vernehmen laſſen mögen, wir find deſſen gewiß, daß die Livländifche Ritters und Landſchaft, die Schöpferin unfres Agrar rechts, unbeirrt burch Lob oder Tadel und ungeachtet ber Schwie- rigfeiten, bie ihr eine eiferiüüchtige Bureaufratie in den Meg legt, die livländiſche Agrarverfaflung, bie, mie jedes menfchliche Wert, ihre Schwächen hat, weiter ausbauen wird, ſiets eingebenk bes Wahlſpruchs unfres bebeutenditen Agrarpolitifers, Hamilkars von Fölferfahm :

„Nicht die Rechte, melde jemand ausübt, fondern bie Pflichten, bie er fi) auferlegt, geben ihm den Wert.”

Beilage.

Bon dem Geſamtareal (9,399,312 Sofitellen = 3,492,788 Hektar) der Rittergüter und der Paftorate in Livland find: L unverfäuflic: 1. die Hofsländereien: Lofſt. Geſamtareal Hektar

der 48 allodialen Privat » Nittergüter, deren

Umfang das provinzialredhtlich vorgelchrichene

Windeftmab von PO Lofitellen nicht erreit = 20,089 . ber Teil der Hofsländereien von 549 allodialen Privat-Sittergütern, der durch das Mindejtmaf

von 900 Lofft. begrenzt wird (DH Et. mal 540) = 494,100 = 183,808 . die Hofs: und Cuotenländereicn . der ber. Liof. Ritterfhaft gehörigen 7 Güter ‚362 2 . der den lidl. Städten gehörigen in Güter . der Tiol. evangel,luther. 100 Paitorate der Kol. evangel.-luther. Schulen 1c.

der 79 Sideitommihgüter .

11,032

E2

»

Bars»

U. zur geit nod unverfäuflid:

. die bißber noch nicht vertauften Bauerländereien der 7 Ritterfehaftsgüter - . -

. Die Yauerlänbereien der Paltorate, Schulen

28,936

*

. die verfauften Cuotenlänbereien aller 701 Rilier.

Minlmum und Morimum beim Bauergrundbefig. au

IM. bedingt verfäuflig: Sofft.Gefamtareal Heltar die Bißher noch unverfauften Quotenlänbereien der 597 allobialen Privat-Rittergüter . do8 gefamte abgelöite, oder noch nicht abgelöfte Bauerland ber 676. privaten Riltergüter (die 70 Sibeifommihgüter eingefijloffen) und der 18 Stadigller . . » . = 3581,61 = 1,330,945 die nor dem Jahre 1890 erfauften Bauer: ländereien der der Hitterfchaft gehörigen 7 Güte

= 520= 158.012

._ 30,984 4,037,875

IV. unbedingt verfäuflic:

das unnerfaufte Hofsland der allodialen 549

Privat,Rittergüter, daS das Mindeftmah der Ritter»

güter (900 Lofft.) überfteigt, und zwar: 3,648,541

2offt. minus 494.100 Soft... . - = 3,154.441 = 1,172,180 (Siehe oben 11.)

die verfauften Hof9länbereien aller 701 Rittet

güter 198,021 = 71,0

güter 71,534

Aus Tiefen zu Tiefen.

Kar das, was aus den Tiefen ward gedoren, Zu Tiefen geigt es wieder. Was der Aünffer Aus fämerjerriffnen, fißiverkfärten Stunden Hefhaffen aus dem Argrund feines Welens: Mur das wird dir ein Bleidend Eigentum.

In liefgeheime Schwingung fehl es feis

Die Seefe dir, und traumhaft zilterl’s nach; Anwiderfehfih zwingl’s dich mehr und mehr In feinen Bann, Bis du zufeht es fpärf, Dafı es ein Stü geworden von dir feld.

Eduard Fehre.

Die Utſahen des Berfals der Reformation in Polen*.

Von Dr. 8. v. Aurnatowati.

he Behandlung kirchengeſchichtlicher Stoffe hat meiſt Prekares an fih. Die Stellungnahme des Kirchenhiſtorikers zur Konfeſſion, ober driftlichen Religion überhaupt, feine nationale, oft durd eine gewiſſe Fonfeifionelle Kirchlichleit in die Erſcheinung tretende Eigenart bürfte mehr oder minder die Objet- tivität ber Darftellung beeinfluffen. Während die Geſchichts- wiſſenſchaft, geftügt auf ſoziale, lebendige Hilfsmittel, heute in hohem Anjehen fteht, wird der „Kirchengeſchichte“, die als wichtiger Zweig des gejamten „Geſchichtswiſſens“ einen erhöhten Pla eins nehmen follte, noch immer nicht das gebührende Intereſſe gefchentt. Doppelt undankbar wird die Aufgabe des Kirchenhiſtorilers fein, wenn er die Geſchichte einer konfeſſionellen Partei ſchildert, bie einft im Gtaatoleben feines Volles eine Nolle geipiell, die gleihfam als Angelpunft der Frage des Seins oder Nichtfeins des nationalen Staatsgedankens angefehen werden darf, die heute auf den Ausjterbeetat gefegt, dahinvegetiert, ein Stein bes Anftoßes und des Ürgerniiies für die noch immer Vielen, über deren geifligen Horizont es geht, Nationales von Konfeſſionellem zu unterfd;eiden, dann fteigt der vom Egoismus diltierte Gebanfe in ihm auf, ob es nicht beffer wäre quieta non movere. Diefer, jeglicher freien Forſchung und aller Wahrheit tot- feinbe Grundfag hat, ich Tage leider, tiefe Wurzeln gefehlagen in der polnifch : evangelifdden Geſellſchaft, die mur ganz vereinzelt

*) Vorgelegt einer ebangeliſch reſormierten Paftorenfonferenz zu Riga am 25. Muguit 1904. x

Verfall der Reformation in Polen. 213

Männer hervorbrachte, die mit Liebe und mit Ofjeftivität fid mit der Vergangenheit ihrer konfeſſionellen Kirche befchäftigten, fonfi waren es Ausländer und Angehörige fremder Kirchengemein- Ihaften, die das bradfiegende Feld polniſch-evangeliſcher Kirchen: geſchichte nad) ihrer Eigenart und nad) ihrem fpeziellen Bebürfnis bearbeiteten und verarbeiteten. Grit in jüngfter Zeit erwachte innerhalb der polnifch = evangelifhen Kirche das Bedürfnis, bie Geſchichte ihrer Vergangenheit Tennen zu lernen, und ich glaube das Erwachen dieſes Bebürfniffes als ſchönes und verheißungs- volles Zeichen eines Erwachens von einer hundertjährigen Lethargie begrüßen zu dürfen, denn fobald die Frage „Was waren und bedeuteten wir einſt?“ aut wird, darf man auch erwarten, daß diefelbe Geſellſchaft ſelbſibewußt ſich wird zu fagen willen, was fie jegt iſt und einft zu bedeuten haben wird inmitten ihres Landes.

In feinem Lande Europas, vielleicht mit Ausnahme Spaniens, wo die Inquifition das ihre gelan, ift die Reformation bes 16. Jahrhunderts jo fpurlos und völlig zugrunde gegangen, wie in den Ländern, welde einft die „Republit Polen“ ausmachten. Höchftens 10 bis 15, durch fatholifche Mifchehen in ihrer evan« gelifchen Exiſtenz gefährdete polnifhe Adelsfamilien und 12—15 Taufend litauifche Bauern find alles, was von der einft jo mächtige Bellen ſchlagenden Neformation in Polen übrig geblieben. Das Übrige, was fid) heute „polniſch- evangeliſch“ nennt, find polonifierte ausländiihe Elemente, vor allem bdeutfcher Provenienz, bie ſich nach ber befannten deutſchen Eigenart ber neuen Heimat jchnell affimilierten und in der zweiten Generation ſchon national polniſch fühlten.

Fragen wir uns jegt, wie fam es, daß bie reformatorifche Idee, die im 16. Jahrhundert dreiviertel des polniſchen Gefamt- adels umfaßte (reformiert) und in den Städten zu hoher Blüte gelangte (lutherifch), die befruchtend auf Schrift und Drud wirkte und die erfte Glanzperiode der polniſchen Literaturgeſchichte inau— gurierte, wie fam es, fragen wir, daß biefe Bewegung fo völlig dahinſchwand? Könnten wir nicht vielleicht ſchon in der Entftehung Keime des Verfalls finden? Diefe Frage führt uns zu der nad) der Art der Ausbreitung der Neformation in Polen.

Battifcie Monatsfeheift 1906, delt d. 3

214 Berfal der Reformation in Polen.

Polen, „das zu allen (scil. religiöfen) Neuheiten geneigtefte Sand“, wie ein alter Chronift ſich ausdrüdte, war von jeher ein ZTummelplag ſchwärmgeiſteriſcher und fektirerifcher Gemeinfchaften. Fratricellen und Flagellanten fanden neben Waldenfern und ben überall ausgeitoßenen Juden gaftlice Aufnahme. Das Polen ber Piaſten und Jagellonen war tolerant, „bie hochenlwickelte ſtändiſche Freiheit fand auf religiöfem und kirchlichem Gebiet fo ihr Gegenbild.“

Als in Böhmen das Verlangen nach einer nationalen und Volfskirche die große Bewegung des Huſſilismus zeitigte, griff diefe auch nad Polen herüber, und obgleich bie nationalen Gegenfäge hier nicht vorhanden waren, gewann dad) ber Hufft: tismus viele Anhänger. 1435 taten fid) einige Diagnaten, Abraham gbasli, Spylel von Melsztyn und Johannes Strasz zu einer politifdereligiöfen Ronföberation zufammen, bie ver- ſchiedene Mißftände der königlichen und vor allem hierarchiſchen Gewalt befeitigen wollte. Der König Wiadislaus Jagiello ſoll ſelbſt einen Hang zur Xehre des Hus gehabt haben, mas mir jedoch wollen dahingeſtellt fein laſſen. Das Bedürfnis einer ftaat- lichen und kirchlichen Reform wurde aud) in Polen, wenn auch nicht in dem Maße wie im NWeften, empfunden. Der liber baro Johannes Oftrorog jtellte bem Neichstage von 1459 eine Reform- Schrift vor, in der er unter andrem für die völlige Unabhängigkeit der Föniglichen von der päpſtlichen Gewalt eintrat, ja lebierer ſogar jegliches Hecht, fich in ftaatliche Angelegenheiten zu mijchen, abſprach. Und wie Oftrorog fo empfanden fajt alle maßgebenden Elemente Polens. Die Unabhängigkeit des Staates von der Kirche und die Bildung einer nationalen Kirche waren bie leitenden Ideen des feinem Ende entgegengehenden 15. Jahrhunderts.

Die Neformation des 16. Jahrhunderts fand in Polen einen vorbereiteten Boden. hr wandten fi vor allem die Magnaten und der großgrundbeſitzliche Adel Kleinpolens und Litauens zu. Es war hier die Lehre der ſchweizeriſchen Neformatoren, die ftarf und ſchnell um ſich griff, während in Großpolen und Preußen vorwiegend bie Iutherifche Lehre Wurzel faßte.

Die Motive, die wir bei der Ausbreitung ber Reformation in Polen zu ſuchen haben, find leider nicht immer religiöje gewefen; veligiöfe Momente jpielen in ber erjten Generation, bie

Berfall der Reformation in Polen. 215

fih der neuen Lehre zugewandt, beinahe eine untergeordnete Rolle, obgleich damit nicht geſagt fein will, daß viele ſich aus wirklicher, tiefer Überzeugung ber evangeliihen Kirche zugewandt hatten. Modeſache wird es vor allem geweien fein, bie der Nefor- malion den Eintritt in Polen erleichterte.

Der rege geiftige Austaufch zwifchen Polen und dem Weiten, die zahlreich auf ausländiihen Univerfitäten Studierenden brachten es mit fi, daß die Reformation in Polen „modern“ wurbe, ein Umftand, ber beweift, daß gerade bie Kreife, die die Mode mit machen können, Großgrumbbefiger und Stabtpatrizier, fi derſelben zuwandten. In Mafovien, wo der Großgrumdbefig fehlte und nur der Meine, ungebildete Landadel zahlreid, ausgebreitet leble, blieb ber Katholizismus in voller Kraft.

Dogmatifche Streitfragen bejchäfligten im 16. Jahrhundert die Gemüter, und wie im 3. Jahr). n. Chr. auf den Märkten Griedenlands die Lehre vom Logos aud) von verhältnismäßig einfadjen Leuten ventiliert wurbe, fo dachte jegt aud) ber polnifche Sanbedelmann über Ubiquität nnd erfonenlehre nad, ſich in einschlägigen Büchern feiner Zeit Auſſchluß holend. Das lag jo in ber Reit.

Die reformatorifche Idee konnte nad) allevem in Polen nicht allzu tiefe Wurzeln geichlagen haben, was aud) beweift, baß bie polnifchen Magnalen von den Grundfag: eujus regio ejus religio nur Außerft vereinzelt Gebrauch machten.

Die evangelijche Kirche Polens war im Werben begriffen, und nod) hatte fie nicht Zeit gehabt in der neuen Heimat warm zu werden, als ein gefährlicher Feind in ihrem eigenen Lager eritand, der Socinianismus, ober wie er in Polen genannt wurde ber Arianismus.

Bedeutende Socinianer, wie Stancarıs, Blandrata, Petrus Gonefius machten (vor allem) der reformierten Kirche großen Abbruch. In Wilna, diefem Zentrum der polnifd;reformierten Kirche, trat der Prediger der Gemeinde Czechowicz nebft mehreren vornehmen Gemeindegliedern zum Socinianismus über. Viele reformierte Kirchen, wie in Biala, Brzesc Litewsfi, Morby, Zask u. v. a. wurden in focinianifche umgewandelt, viele Magnaten- familien Hatten fid) ber Lehre des Socinus zugewandt. Anftatt ſich innerlid zu feſtigen und der römiſchen Kirche Trop zu bieten,

3*

216 Berfoll der Reformation in Polen.

befchäftigten ſich evangeliſche Synoden mit Angelegenheiten der Arianer, polemifierten gegen fie, zeriplitterten auch ihre Kräfte in gegenfeitiger Bekämpfung. Freilich hatte das im 16. Jahrh. noch nicht fo traurige Folgen: das Magnatengefchleht ber Radziwills, vor allem der Wilnaſche Wojewode Nikolaus Radziwill, genannt der Schwarze, hielt feine mächlige Hand über der reformierten Kirche, alle Über: und Eingriffe des Katholizismus erfolgreich abwehrend.

Dem durch mehrere ſich befehdende Denominationen ger ſchwãchten Proteftantismus in Polen entjtand bald ein neuer Feind in bem nad) Polen eingeführten Jefuitenorden, ber 1570 feine erfte Schule in Wilna gründete und durch feine befannte Propa- ganda bald das Erziehungsweien, zuerft das öffentliche, in jeine Hand befam.

„Öeleitet von ber Erfenntnis, wie wichtig für die römijche Kirche ein ſicheres Herrſchafisgebiet zwiſchen dem proteflantifhen Deutfchland und dem ſchismatiſchen Rußland fei“, einheitlih und vorzüglich organifiert, fand diefer, nur zum Kampf gegen ben Proteftantisinus ins Leben gerufene Orben, leßteren zerfplittert und uneinig vor, ein Umftand, ber ihm jein Wirken wefentlich erfeidhterte. Wenn aljo die Tätigfeit der Jeſuiten in erfter Reihe daran ſchuld war, daß die Reformation in Verfal geriet, fo muß anderſeits ber polniſche Proleſtantimus reumülig an bie eigene Bruft ſchlagen und befennen: die eigene Schwäche und Zerfplit- terung habe ben Jeſuiten die Arbeit erleichtert.

Als ber legte Jagellone auf polniſchem Thron, Sigismund Auguft, 1572 jeine Augen ſchloß, war die proteftantifhe Partei «oder wie fie in Polen genannt wurde „die Diffidenten“) noch fo mãchtig, baf; fie beim nun folgenden Wahlfönig Heinrich Valois eine Betätigung aller ihrer religiöfen Freiheiten und Privilegien durchſetzen konnte. Nah dem nur wenige Donate regierenden Valois, wurde ber Fürft von Siebenbürgen Stefan Batory, für den Thron Polens gewählt, ein Mann, dem bie Republit ihre Iegte Glanzperiode verdankte, der glüdlid) in feinen Kriegen, auch für die Volfsbildung Sorge trug, fid) Hier leider vollftändig ber Jefuiten bebienend. Er gründete Jefuitenfollegien in Riga, Polopt, Grodno u. dv. a, freilich nicht ohne auf Wiberftand bei ben Diffidenten zu ſtoßen.

Verfall der Reformation in Polen. 217

Intolerant darf man Batory nicht nennen; einen Blandrata neben anberen Dijfidenten bei ſich habenb, hielt er dem ihm zu religiöfer Intoleranz anfpornenden Jeſuiten das Wort entgegen, „nicht über die Gewiſſen, fondern über fein Volk wolle er herrſchen“. Seine Vorliebe für die Jeſuiten läßt fih daraus erffären, daß diefer Orden ihm durd feine ausgezeichnete Organijation und Ordnung Achtung einflößte und er durch ihm auch feinem Wolfe ben Geift der Ordnung und der Gejegesachtung einzuflößen ger dachte. Die Brüder von ber societas Jesu verftanden es auch ausgezeichnet, durch ſchöne Vorträge, bie fie vor dem König hielten, wie j. 3. „de potestete et dignitate regia*, in ihm den Jrr- tum, als feien fie die Träger des monarchiſtiſchen Gedanken und Zerftörer der Anarchie, aufrecht zu erhalten. Geſtüht durd bie Huld des Königs, waren die Jefniten imftande, mit ben ger lehrteſten Männern ihres Jahrhunderts ihre Kollegien zu befegen, ich nenne nur Namen wie Starga, Brand, Fabricius, den Portugifen Vega u. v. a., die den Kampf mit den Dilfidenten aufnahmen, die nicht mehr über folche bedeutende Prediger wie zur Jagellonen- zeit verfügten. Der mühlam zuftandegefommene „Consensus Sendomiriensis 1570°, ber gleichfam eine Union der Evangelif—hen in Polen war, worin fie ſich gegenfeitig Schuß und Unterſtützung fiherten, aljo politijch und religiös, bejtand nur bem Namen nad. Der geiftige Urheber des „Consensus* Johannes a Lujco war ſchon längft tot, ohne die Vereinigung ertebt zu Haben; ihm folgte bald, 1565 der mächtigſte Proteftor der evangelijchen Sache, der wilnajche Wojewode Nikolaus Radzimill, ber Schwarze. Trap der Ermahnungen, die ber Vater auf feinem Sterbebette an feine Söhne gerichtet, treu ihrem Glauben zu bleiben, traten Diefelben in die katholiſche Kirche zurüd, und wenn der Vater viel Mühe und Koſten verwandt, die erite polniſche Bibel überſehen und drucen zu lailen, jo icheute der Sohn feine noch größeren, fie zu verbrennen und zu vernichten. Komplete Eremplare der „Breiter Bibel“ find heute eine bibliographifhe Seltenheit.

Wenn während ber Negierung Vatorys auch hin und wieder Verfolgungen der Dijjidenten vorfamen, fo wurden fie jedesmal mehr oder minder vom Könige geahndet und 1581 den 26. Sept. ertieß der Mönig aus feinem Feidlager bei Pilom ein Chift, weldes jegliche Verfolgung der Tiffidenten aufs jtrengite unter

218 Verfall der Reformation in Polen.

ſagte. Es war dies das legte Toleranzebift eines polnifchen Königs.

Trop heftigem Wiederftande der proteflantijhen Parteige: noffen, an deren Spige Zborowsfi jtand, wurde im Auguft 1587 der „Jeſuitenkönig“, wie er ſich mit Vorliebe nennen ließ, Sigis- mund III. Waja zum König von Polen gewählt. Die Negie: rung dieſes Königs fann als eflatantes Beiſpiel dafür dienen, wie weit herunter die Jefuitenherrihaft ein blühendes Land bringen ann. Polen, eine freie Adelsrepublit, nahm jegt in ſich papiftiich- jeſuitiſche, und dadurch abjolutiftiiche Elemente auf, trat alſo in einen Gegenfaß zu feiner eigenen Idee, und wurde fo ein Wider iprud) in ſich felbit; und das rächte ſich, rächte ſich fo furchtbar, dab das ganze polniſche Staatswefen mit Naturnotwendigkeit zugrunde gehen mußte, denn die Weltgeſchichte duldet feine Staatengebilde, die in ſich ein Widerſpruch, ihrer Beſtimmung nicht entiprechen.

Als Sigiomund III. während des berühmten Aufruhrs des Zebrzydowsti 1605, der ein Proteſt gegen das herrſchende politiiche und religiöfe Spftem war, den Proteftanten die Hand zu Ver: föhnung reichen wollte, er hat es damals nicht ans Neigung für die Proteftanten, vielmehr von ihnen in die Enge getrieben getan, da hielt ihm fein Veichtvater, der Jeſuit P. Skarga das Wort entgegen: er jolle es nicht tun, wenn aud) das Vater: land darob zugrunde ginge, das himmlische Valerlaud würde ihnen doch erhalten bleiben. Eigismund II. ſchlug damals den Aufjtand nieder; aud das irdiſche Vaterland war gerettet, doch nur fcheindar: wir fliehen am Anfang des Endes der Gefhichte Polens und inmitten des Niederganges der reformaz torifchen Idee.

Hierauf begannen religiöfe Verfolgungen. Wir können an dieſer Stelle auf die Einzelheiten nicht weiter eingehen. Die Ber- folgungen find immer gleipartige geweſen und untericheiden fid) auch wenig von ben in anderen Ländern; wir fonftatieren hier ur: große und häufige Verfolgungen fanden jtatt, die in Polen deshalb um fo fchweier getragen wurden, als anderomo, weil hier der polniiche diffidentifche Gdelmann von dem ihm ganz gleichitehen- den fatholiihen Standesgenoſſen Verfolgungen erlitt, und dies in einem Lande, das fh ital 9 nannte,

Verſall der Reformation in Polen. 219

Die Zahl der Evangeliſchen ſchmolz gewaltig zufammen, wiederum ein Beweis, daß die Neformation nur loje Wurzeln in Polen gefaßt und die Volfsjeele unberührt gelafien hat. Inner lich ſchwache fielen ab, die Einen verlodte hohe Karriere, die von jest ab Diffidenten verichloffen blieb, Andere wurden infolge von Mifhehen dem väterlichen Bekenntnis unten. Jeſuitenkollegien, jejwitifche und focinianiihe Hauslehrer trugen das Ihrige bei, die Neigen ber Evangeliichen flart zu lichten. Voller Sorge be: ſchäftigte fid) eine Synode zu Wilna 1611 mit der Frage: woher nehmen wir Prediger? Die ſchwere, ja gefahrvolle Lage des Proteftantismus in Polen ſchreckte die jungen Kandidaten von dem damals mit Selbftaufopferung verbundenen Predigerberufe zurück. Diefer Mangel brachte es auch mit ſich, daß jeder erſte Befle, der ſich zu diefem „dornenvollen Amte“ meldete, aufgenommen wurde, oft ungebildete, untaugliche Denen, die vom evangelifchen Ber fenntnis feine blaſſe Ahnung hatten, zum großen Nachteile der proteſtantiſchen Kirche.

Eine bis jegt entihieden zu wenig gewürdigte Taifade, die aber für den Niedergang der Neformation in Polen von allers größter Vebeutung war, finden wir in ber Verlegung der Negierung und der Reſidenz von Krafan (lein— polen) nad Warſchau (Majovien).

Der Jefuitenfönig fühlte fich wohler unter feinem majoviichen, rein fatholifchen Landadel, als im dem von diſſidentiſchen Or grundbefigern bewohnten Kleinpolen. Maſovien wurde jept St und Zentrum der Regierung Sigismund III., wodurd die Diſſi— denten geſchwächt wurden.

1622 ſtarb Sigismund III., bis zufegt mit der Bekehrung der Diffidenten bejchäftigt, taub für ihre Klagen und Beichwerden. Obgleich fich vieles unter jeiner Negierung in Lande gelodert hatte, obgleich er die Auwarticaft auf die Throne mächtiger Nachbar: reihe (Schweden und Nußland), dank jeinem religiöfen Fanatismus, verſcherzt hatte, er ging rubig zu Grabe, es war ihm gelungen die Reformation aufzuhalten, ja nad) mehr, mindeſtens die Hälfte bes diſſidenliſchen Adels der römiihen Kirche wieberzugewinnen.

Nicht einen Fontinnierlihen Bericht über den Verfall der Re— formation in Polen will id) hier geben; id) ſchteite darum zur nädjten Urſache ihres Falls

220 Verfall der Reformation in Polen.

Sigismund III. folgte fein Sohn Wiabiflaus IV., unter deſſen Regierung bie Lage ber Evangeliſchen die gleiche blieb. („Colloquium Charitativum Thoruniense 1644*.)

1648 folgte biejem fein Bruder, ber Kardinal Johann Rafimir. Unter deffen Regierung müſſen wir ein neues Moment des Ver: falls der polniſchen Reformation hervorheben. 1655 brach ber polniſch ſchwediſche Krieg aus; ein Teil der litauiſch polmiſchen Magnaten, darunter der reformierte Janusz Radziwill, ſchloß ſich den Schweden an, hauptjädhlih aus dem Grunde, um Schuß vor der vordringenden mojfowitiichen Macht zu juchen, denn von der durch friegerifche Mißerfolge gei—hwächten Nepublit war nichts mehr zu erwarten. Zu den auf ſchwediſche Seite Übergetretenen gehörten feineswegs bloß Proteitanten, jondern aud) Katholifen, auch hatten die Evangeliihen ſich abſolut feiner bejonderen Proteftion der Schweden zu erfreuen, die gleichermaßen katholiſche wie evan- gelifche Vefigungen zerftörten. Der Krieg endete für Polen glüd- lich; weniger glüdfid) jebod für die poiniſchen Proteftanten, die als Urheber des Krieges angefchen, den Sündenbodt ftellen mußten. Der Friede zu Oliva 1660 drachte ihnen nichts. Die „pax dissi- dentium* war in Vergejienheit geralen. 1668 wurde ein Edift erlaffen, worin der Übertritt zur evangeliihen Kirche verboten, ja mit der Verbannung bejtraft wurde.

Man beihuldigt oft die polnifhen Proteftanten, mit aus: ländiſchen Mächten Iandesverräteriiche Beziehungen gehabt zu haben. Doc ift dies ungeredt. Im Zeitalter ber Gegenrefor: mation, wo politiiche und religiöje Motive eng verbunden, über den nationalen jtanden, wo Philipp II. feine Armada ausfandte, und bie englifhen Katholiken deshalb noch keineswegs als Landes- verräter bezeihnet wurden, in dieſem Zeitalter muß auch der polnijche Proteftantismus mit demjelben Maße, wie die im Weiten, in der Dinorität ſich befindenden religiöfen Parteien feien es Ratholifen oder Proteitanten gemeljen werden. Won ihren offiziellen Negierungen im Stich gelajfen, waren die polnifchen Evangeliichen auf fremden Veiftand angewiefen. Vielen Nugen hatten fie von auswärtigen Interventionen nie gehabt. „Der übermägitige Zwang ber politiſchen Verhältniſſe Hinderte jebes mwirfiame Einareifen“. (Molf).

Verfall der Reformation in Polen. 321

Soviel über die Haupturfachen des Verfalls der Reformation in Polen. Die fähfiihe Zeit bringt feine neuen Momente, der Niedergang dauert fort, unaufhaltſam verringerten ſich die Ge- meinden und die einft fo mächtige Neformation mußte es erleben, daß in manden Gemeinden „der Paitor am Grabe des legten feiner Gemeindeglieder jtand“. Was von der gemeinen Nefor- mation in Polen übrig geblieben, wird in althergebradjter Art und Weiſe von der Wilnaſchen Synode, der Hepräfentantin biejes großen Erbes der Reformation, verwaltet. Ob fie diefen Neit, der die Feuerprobe der Verfolgungenüberftanden, zu erhalten wiſſen wird, muß die Zukunft beweilen.

Zum Schluß falle ich das Geſagte in drei kurze Thefen:

1. Die reformatorifche Idee Hatte in Polen nur oberjlädjliche Verbreitung gefunden, die Vollsſeele blieb unberührt.

2. Die Zerjplitterung der polnifchen evangeliihen Kirche in fid) befehdende Denominationen, jhwächte die Einheit berjelben und erleichterte dem Jeſuitismus den Sieg.

3. Unglüdlide politifche Ronftellationen verfegten ber Neformation in Polen den legten Schlag.

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Nein Lied,

Mes id grüßend meines Weges ping, Stand ein Fenfer offen an dem Wege, Hört is eine weiße Wädgenfimme, Die meln Lied Hinausfang In den Abend. Seife faufhend Mand Ih MIT am Fenfler, War 05 dof, als wär Ih fängfl gelorden And als jöge meines Lebens Seele Mit der Stimme, die mein Lied hinausſaug . Kv. Fregmann.

Citerariſche Rundjchau. gr Zur Geſchichte des Lehnsweſens in Livland.

18 erites Heft des achtzehnten Bandes der von der Geſellſchaft

für Geſchichte und Altertumsfunde der Oftfeeprovingen heraus: gegebenen „Mitteilungen aus der livländiſchen Geſchichte“ erſchien zu Ende des Jahres 1903 der erfie Teil einer groß angelegten vechtsgeichichtlichen Arbeit, die „Zur Gejhidte des Lehns- wefens in Livland“ betitelt ift und Aftaf v. Tranjehe- Rofened zum Verfaſſer hat.

Wenn wir es als befremdlich bezeichnen, daß die baltiſche Preſſe von einer fo bedeutenden wiſſenſchaftlichen Leiftung bisher feine Notiz genommen hat, jo wird vorausfichtlich eingewandt werben, daß die Beſprechung fachwiſſenſchaftlicher Arbeiten füglich den Fachzeitihriften überlaſſen bleiben muß. Diefen Einwand fönnen wir jedody nur infofern gelten laſſen, als dabei die eigent- liche wifjenfhaftlihe Kritik in Frage fommt und dem dergeftalt eingeichränften Zugeftänbnis folgt der Selbftworwurf auf dem Fuße, daß wir unfre einzige Fachzeitſchrift, die Dorpater „Zeitichrift für Rechtswilienihaft” und deren Fortiegung, die „Dorpater juriftiichen Studien“, dem befannten großen „Orab der Wiſſenſchaft“ haben verfallen laſſen. Unter ſolchen Umftänden it es wohl erſt redt Sache der Preife, ihre Leſer auf die Früchte baltiiher Wiſſenſchaft aufmerffam zu machen. Solder Früchte gibt es ja nur noch wenige, und daß uns folde überhaupt noch beſchert werden, iſt dod wahrhaft herzerfreulich.

Die vorliegende Arbeit führt uns freilid weit ab von alles dem, was heute die Geijter bewegt und vielfach verwirrt. Das aber iſt ſicherlich fein Schade, vielmehr dürfte es ſich in Zeiten der Unraſt und politiiher Erregung vorzüglid empfehlen, dem Gemüt zeitweilig in winenfdaftlicer Einfehr einen Nuhepunft zu bieten. Weltjludht bedeutet das nod) lange nicht! Seltiamerweile jedoch will „der Parteien Gunjt und Haß“ fpeziell den Gegenjtand,

Literariſche Rundſchau. 228

der uns hier beichäftigen foll, nicht unbebingt als einen ſolchen Nuhepunft anerkennen. Denn wo volllommene Unwiſſenheit oder das noch gefährlicere Halbwiſſen ihrer inftinftiven Abneigung gegen alle mitlelalterlichen Gebilde Ausdrud geben wollen, da lautet das Wort, das für die fehlenden Begriffe zur rechten Zeit fich einftellt, wohl unfehlbar „feudal”. Ebenfo muß das ame Wort herhalten, wo irgend ein Prop dem Gegenjtande feines ftumpffinnigen Behagens gern den Anftrid der Vornehmheit geben möchte. Auch hier berühren ſich die Gegenfäge.

Die uns nunmehr gebotene Unterfuhung der geſchichtlichen Entwielung des Lehnsweſens in Livland ift jo breit und tief an— gelegt, daß fie in dem vorliegenden Hefte nicht wohl zum Abjchluß gebracht werden konnte, fie erſchöpft aber dad, indem fie bie Sejchichte des „Mannlehens“ oder Nitterlchens bis zum Untergang der politiichen Selbftändigfeit des Landes erledigt, den wichtigſten Teil, ja im Grunde alles, was man, wenn von Lehnrecht die Nede ift, gemeiniglidy ins Auge zu failen pflegt. Von dem in Ausficht geftellten zweiten Teil, der fid) mit dem Lehen zu minderem Hecht, ohne Mannſchaft, beichäftigen foll, dürfen wir uns die Aufhellung eines bisher völlig vernadhläffigten Gebiets unſrer Nechtsgejchichte verſprechen. Das gilt auch vom dritten, abſchließenden Teile, ber aus der Geſchichte des Lehnswejens die polnifche, ſchwediſche und ruſſiſche Periode behandeln wird, und zwar, wie es in der Natur der Sache liegt, hauptſächlich in öffentlich- rechtlicher Beziehung. Meiſt begnügt man fih mit einer oberflädliden Kenntnis des ſcheinbar epijodenhaften Wiederauflebens der Lehnrechtsfrage zur Zeit der berüchtigten Güterreduktion Karls XL., auch weiß man ſich allenfalls des Ufafes oder Manifeſts vom 3. Mini 1783, als des Abſchluſſes diefer mehrhundertjährigen Gejdichte, zu erinnern. Ein Ufas mußte es natürlich fein, denn ein folder bezeichnete nunmehr im Nechtsleben Anfang oder Ende aller Dinge.

An dent jept vollendeten Teite fei zunähft die in logiſcher Folgerichtigfeit gegliederte Dispofition, auf die bei der Daritellung von Necdtöverhältnifien natürlich bejonders Gewicht zu legen iſt ühmend hervorgehoben. Diejer Vorzug würde durch Seitenüberz ihriften mod) mehr zur Geltung gelangt jein. Cie halten dem Leſer das ſpezielle Beweisthema, auf das man fi bei vielfacher Hliederung des Stoffes andernfalls erft befinnen muß, erwünfchter- maßen bejländig vor Augen.

Von überfommenen Lehrmeinungen hat ſich der Verfaſſer vollfommen frei zu halten gewußt amd demgemäß jeine Arbeit durchweg auf eigene Quellenforihungen gegründet. Die Polemik gegen frühere Anfdanungen war unter jolhen Umftänden in vielen Einzelfragen unvermeidlid), aber dem Yefer wird durch gewifene haftes Anführen der Quellen, deren Wortlaut in wichtigen Zülen

224 Literarische Rundſchau.

eingeichaltet ift, regelmäßig die Möglichkeit geboten, felbft zu prüfen. Die meiften Schriftiteller pflegen der Polemik ein fanftes Hinweg- gleiten über wiſſenſchaftliche Gegenjäge vorzuziehen und ſich mit der Begründung ber eigenen Anjhauung zu begnügen, nicht felten jedod zum Schaden der Sade, indem der Lejer fich gelegentlich garnicht jo recht defjen bewußt wird, hier ober dort an einem wiſſenſchaftlichen Scheidewege angelangt zu fein. Dem wird durch Gegenüberjtellung von Theſe und Antithefe am wirkſamſten vor- gebeugt; daraus folgt die Notwendigkeit der Polemik von ſelbſt. Nächſt dem jorgfältigen Quellenjtudium und der ausgiebigen czung der neueren rechtsgeſchichtlichen Literatur Deutjchlands, erſcheint als Vorzug der Arbeit der überall beobachtete enge Zufammenhang der politiihen und vor allem jozialpolitiichen Geſchichte des Landes mit den zu behandelnden Gebieten der Nedtsgejhichte. Gleich die im Abſchnitt „Allgemeines“ gebotene Überfiht, für die der auswärtige Leſer bejonders dankbar fein wird, ftellt die Arbeit unter dieſen Gefichtspunft. Wie ganz anders entwidelt ſich nicht gegenwärtig die Eniſſehung der jogenannten Jungingenien Gnade von 1397, jenes. für weitere Ausge: ftaltung des Lehnrechts jo bebeutungsvollen Privilegs, jeitdem fie, mie gehörig, aus den politiiden Worgängen ihrer bewegten Zeit abgeleitet worden ift.

Dasselbe gilt von dem befannten Silveſterſchen Gnadenrecht von 1457 und vollends von den legten, unter dem Drud der für die Machftellung der geiltfihen Sandesherren verhängnisvollen Tonjeffionellen Wandlungen, den Prälaten von ihren ajallen abgerungenen Zugejtändnifjen.

Vorzüglid) diefe Abſchnitte wird auch ber Nichtfachmann mit Vergnügen und Vorteil lefen. Unter den Rechtsinſtituten, die duch v. Tranfehe eine weſentliche Klärung erfahren haben, fei das Geſamthandrecht befonders hervorgehoben. Es beanſprucht in der Gejchichte des Lehnrechts injofern erhöhtes Intereffe, ale in der gegen die Gejamthandfamilien innerhalb der Nitterihaft des Erzftifts Riga in Lemfal zuitande gefommenen Einigung u. a. ein „Proteſt gegen die Vebrohung durch die, einen pluto: fratiihen Charakter annehmenden Gejamthandfamilien, alſo gegen die Adhäfionsfraft des Kapitals und gegen die Gefahr einer wateriellen und fozialen Differenzierung der Ritterſchaft“ erblidt werden fan. Während fonit regelmäßig die Vajallenichaft durch gemmeinfames Intereife ihrem Lehns- und Landesherrn gegenüber jolidariich verbunden erjcheint, erbliden wir bier eine bedeutende Gruppe der Nitterfhaft in doppelter Frontſtellung. Durch ein andres Nechtsinftitut, die Weiterverlehnung oder Afterleihe, war, wie man von vornherein meinen jollte, die Gefahr einer „Differen- zierung“ erjt recht nahe gelegt. Die Kluffe der Aftervajallen war

Olterarlſche Rundſchau. 225

wenig befannt und beachtet. Sie ift eigentlich erſt durch v. Tranfches Studie „Die Afterlehen in Livland“ (im „Jahrbuch für Genealogie, Heraldif und Sphragiftit” 1896 und 1899) in unfre Nechtsgeichichte eingeführt worden. Obgleih nun das Neditsverhältnis zwiſchen Vaſall und Aftervajall in jeder Hinficht dem zwifchen dem oberen Zehnsherrn und Bajall analog war, hat gleichwohl, wie v. Tranfehe tonftatiert, ein fozialer Niederſchlag jo wenig ftattgefunden, daß uns nicht wenige Glieder der angefehenften und mächtigſten Adels: geſchlechter unter den Aftervafallen begegnen. Wer die Geſchichte der ftändifhen Entwidhung der baltiihen Nitterfhaften bis in bie neuere Zeit hinein forgfältig verfolgt, der wird fi) Tauım dem Eindruck verſchließen fonnen, daß die glüdlice Vermeidung einer Differenzierung innerhalb der forporativen Verbände in uralten Rechtsboden wurzelt, an den ja wohl auch unſer Iandtägliches „Virilſtimmrecht“ erinnert. Keinen geringen Anteil am einheit- lichen Charakter des übländiſchen Lehnredts und der danıit zufammenhängenden feften Fügung der vajalliichen Verbände wird man der Abwehr des Eindringens dienftrechtliher Normen beizu— meſſen haben. Im Gegenfag zu der von C. Schilling in feiner befannten Studie „Die Ichn: und erbrechtlichen Sapungen bes Waldemar Cricjichen Nechts“ vertretenen Anjchauung Hat vom Tranſehe, wie uns ſcheint, überzeugend nachgewieſen, daß eine Verquickung lehn- und bdienftrehtliher Normen hier keineswegs ftattgefunden hat, daß vielmehr das altlivländifche Lehnrecht durch: aus auf ſächſiſchem Lehnrecht beruht, wobei in deſſen Ausgeſtaltung fchon früh die Neigung zu landrechtlichen Normen hervortritt.

Entfprehend dem Arbeitsplane mußte ſich dv. Tranjche im weſentlichen auf die eigentliche Ichnrechtliche Entwidlung beichränfen. Und doch iſt durd die vorliegende Studie unfre Kenntnis auch darüber hinaus in mehrfacher Beziehung erweitert worden, u. u. in betreff ber VBehördenverfaflung und des Juflanzenzuges. Den Landtag in der Eigenihaft einer höchſten Iuftanz binnen Landes fernen wir jept erft als einen Ausſchuh von 21 Nicytern Fennen. Damit läßt ſich ſchon etwas anfangen, zumal da wir erfahen, daß dieſe Oberinftanz in landlagslofer Zeit mindejtens alle drei Jahre zufammentreten jollte. Den älteren Rechtshiſtorilern war auch das unbekannt.

Möge es v. Tranſehe gelingen, jeine ſchöne Arbeit jo durd- zuführen, wie fie geplant ift. Wer bie livländiiche rechtogeſchicht- liche Literatur fennt, wird gern anerfennen, dal in ihr das uns jegt gebotene Buch als die weitaus bedeutendite willenidaftliche Leiſtung an erfter Stelle jtcht.

H. v. Bruiningk.

Über Wolynskis „Der moderne Idealismus and Rufzland.

orte Morte Worte ein Meer von Worten! Und hin

und wieder wie fanzende Kähne auf wogenden Wellen hier ein Gedanfe dort ein Gedanke! Aber immer wilder entbrennt das Meer die Kühne jdlagen um und der Leſer, der dem fhwanfen Gedanfenfahn vertrante, greift ins Leere. Dennoch wird das Bud) Wolynofis* Aufiehen erregen, denn bie elwas derſchwommene/ indefien feineswegs feichte Myftit wird der Moderne jufagen. Es lohnt daher der Mühe, den Gedanfengang Wolynotis darzulegen. Es iſt nicht leicht, denn was Wolynsfi gibt, iſt Dffenbarungsphilofophie, angewandt auf bildende und dichtende KRunft, modernen Nbenlisimus und Rußland. Hören wir: Körper und Seele des Menſchen bilden in unteilbarer Vereinigung Die menſchliche Perfönlichfeit. Im Zwieſpalt mit dieſen beiden Ele— menten trägt der Menſch ein drittes in ſich den Geiſt. Dieſer Geiſt entjpricht dem ſolraliſchen Dämon, jeine Äußerungen (z. B. das Gewiſſen find dem perjönlich-egoifliichen Element entgegen: gefegt. Die Perjönlichfeit iſt jubjetiv, der Geift objektiv. Dem Unterfchied zwiſchen Seele und Geift entipricht in der Kantſchen Philoſophie der Unterjchied zwiſchen Vernunft und Verſtand (sieh. Auch Körper und Ceele fiehen im Gegeufah zu einander. Beide aber find beherrſcht vom egoiftiichen Willen. In feiner Lörperz lichen Auodrucksforin ftrebt der Wille nad) Befriedigung feiner unerfättlichen Gelüfte, er iſt grob und gewaltjam, in feiner feelüichen Ausdrudsform unterdrüct der Wille den Körper, er vers achtet die Nealität, ift aber wicht weniger egoiſtiſch. Der Wille in Seele und Körper hängt am „Ih“, aud die Seele mit allen ihren Feinheiten gehört der ſinnlichen Welt an. Der Geiſt indefien entjtammt der maß: und grenzenlojen Welt und vermittelt uns ihr Verſtändnis, er iſt unperfönlic, univerjell und ideal, wie die Welt, aus der er fommt. Die Berührung des Menſchen mit der überfinnlichen Welt durd den Geift wirft auf jeine förperlich- feeliſche Individualität, indem es fein Denten umgeflaltet. Aus dem empirifchen wird ein ideales Denlen, den realen Bildern der Gegenſtände ſtellt der Menſch die idealen Urbilder gegenüber.

) A. 8. Wolynsti, Der moderne Idealismus und Nufland. Frantf. a. M. Lit. Anft. 1005,

Literariſche Rundfehau. ar

Das Perftändnis ber Melt vollzieht fih nun in zwei Phafen. In der erften Phaje fieht der Menſch den Ziwiejpalt ber realen Bilder und des Urbildes, biefer Zwiefpalt erfheint tragifch und ift die Wurzel des Pejlimismus. In ber zweiten Phaſe fieht ber Mensch die Bewegung des Bildes zum Urbilde, der Zwieſpalt ſchwindet und in der Ertafe bes Geiftes fieht er die Bewegung als vollzogen, das Bild zum Urbilde geworden. Solch eine elſtatiſche Durchgeiſtigung des Menfchen zeigen z. B. die Märtyrer, nicht allein die chriſtlichen, ſondern auch die der Wiſſenſchaft. In den ibealen Urbildern alles real Erijtierenden denken, bedeutet ibealiftiich denfen, jein eigenes ideales Urbild verwirklichen, und zur Nerwirflihung der idealen Urbilder des Lebens überhaupt beitragen, bedeutet idealiſtiſch fein.

Die ganze menſchliche Tätigkeit kann in eine theoretiihe und praftifche eingeteilt werden, fünftleriihes Schaffen und folide Arbeit, wiilenichaftliches, philofophiiches und religiöfes Denten. Wiſſenſchaftliches Denken ift bie Erforſchung ber förperlich:feelifchen Welt, philoſophiſches Denken iſt das Denfen des menschlichen Vers ftandes über den Geilt und die Welt durch metaphyfiihe Ideen des Geiltes, das einheitliche Denfen über Menſch und Welt ift das religiöfe Denken, welches von dem unmittelbaren Empfinden der Gottheit ausgeht. Durch das Prisma der Gottheit betrachtet, zeigen fid) die Ericheinungen des Lebens in fonfreter Deutlichfeit auf moftifch:grenzenlofem Hintergrunde, die ſinnliche und überjinn- lihe Welt, welde das profune Denfen fcheidet, erjcheinen im igiöfen Denfen verichmolzen. Dieje Kraft gewinnt das myftiich- igiöje Denen hauptfächlich durch den Begriff Golgathas, durch „bie Idee der freiwilligen Rreuzigung des perfönlichen „Ih“ im Namen des Geiftes, der Beraufhung an der Gottheit, der Meta: phofit, ber himmlifchen Wahrheit, die in die nüchterne Welt ber Lebensbeziefungen durd) das Blut Golgathas hinabfteigt." Dod) unterliegt das myſtiſche Denken der Kontrolle der Mernunft. Diefes nun, das myſtiſche, veligiöfe Denen, das Erfaſſen ber Welt aus der Empfindung der Gottheit heraus it das Ziel und wird das Nefultat der modernen ibealiftiichen Woge fein. Obwohl nun Rußland Hinter ben bejtändigen wiſſenſchafllich philoſe Errungenſchaften Europas bedeutend zurüdgeblieben iſt, „ilt es unmöglich nicht zu ſehen und zu fühlen, daß gerade in der idea» liſtiſchen Bewegung Rußland eine wichtige Rolle fpielen wird. Bei ber Abweienheit alter fultureller Aufſchichtungen fann der ruſſiſche Menſch in vieler Hinficht in einer günftigeren Lage fein“ (sich. In der Kunſt treten die großen Rontrafle der empirifchen und ber mpjtiichen Welt nod) greller als im Leben ſelbſt hervor. Die Kunjt an und für ſich unterjtreiht dieſen Zwieſpalt, bie Höchfte, geiftige Kunft aber verjöhnt ihm, jie ſchreiter von bem

2 iterarifche Rundfean.

Empiriſchen zum Realen fort, „von den realen, korperlich-ſeeliſchen Bildern der umgebenden Welt zu den flammenden Urbildern der Wirflichfeit in ihren neuen, frifchen, edlen Verförperungen.“

ie Darftellung der Dinge in ihren Urbildern durch die bildende Kunst bezeichnet Wolynsfi als Ikonographie, welche das Weien der Dinge darftellt. Diefen Anforderungen entſprechen die Kunſt der italieniſchen Nenaiffence und die öſtlich-byzantiniſche Ikonographie „mit ber herrlichen Variante des grichiſch-byzantiniſchen Schaffens auf dem Gebiete der ruſſiſchen Heiligenmalerei”. Beide haben den Höhepunkt ihrer Entwiclung erreicht. Im ber meta- phyſiſchen Darftellung der Welt erſcheint indeffen die byzantiniſche Ilonographie vollendeter und tiefer. Doch ift aud fie in ihren Formen befhränft. Die neue Kunft, die neue moderne Jfono- graphie wird die ganze Welt vergöttlihen, eine Syntheſe der realiftiihen Malerei und der Ikonographie im engen Sinne des Wortes. Diefe Syntheie iſt das Streben der modernen Malerei mit all ihrem Jmpreffionismus und ihrer Dekadenz. Sie leidet noch unter dem Subjeftivismus, fie fteht in der eriten Phaſe, dem Zwiefpalt zwißchen Bild und Urbild, aber all dies iſt heilig - ift Die Konvulſion des entitchenden künſtleriſchen Idealismus. Wenn bie ibealifüfche Malerei zur Sonographie hinneigt, „io muß und joll die künſtleriſche Literatur zu einem gewiffen neuen, göttlihen Worte werden, in dem alle Wahrheiten, die irdiſchen und die himliſchen, alle Wiederſprüche der menſchlichen Geſchichte, alle ihre tragifchen Zwiefpälte mit ihren ihriſchen Löfungen gegeben find“. Das Beftreben der Literatur zum göttlichen Worte zu werben fällt befonders beim Etudium der modernen Literatur anf. „Sie ſucht den neuen Menſchen unter dem Weſen des neuen Geiſtes“. Ihre Krankheitserſcheinungen rühren daher, daß fie den Individualismus, die Herrſchaft des ſeeliſch körperlichen noch nicht überwunden hat, auch fie üt ned) in der erfien Phaſe, aber fie wird den Individualiomus abftreifen. In ihrer Eelbftanalyje be- gegnet die Defadenz dem Empfinden der Goltheit, daher die U fehr zum Idealismus, Es folgen Beilpiele, zuerſt Niepich „Wirklich, was ift die ganze Philojophie Nigiches anders, als ein fammender Traum vom Uebermeniden, vom neuen Menſchen“. Er ſucht ihn indeh fehlerhaft in der Nichtung eines Ultraindivis dualismus. „Aber diefes Suchen felbit, diefer Tranfhafte Ekel aegen das Alte, Abgelebte, gegen den alten Körper und die alte Seele, die Gramdpfeiler einer jeden Nechtgläubigfeit im Xeben, macht ihn zum echten Philoſophen der neuen Geſchichte.

Auch die ruſſiſche Yiteratur iſt mit dem Suchen der neuen Menſchen, der neuen Schönheit beichäftigt. Yon den folgenden, zum Teil recht feinfinnigen, Beſprechungen will id) nur einen Sag herausheben: „Unwillkürlich jagt man fi, das Tolitoj ein

Auterariſche Rundſchau. =

ruſſiſcher Luther fei, vielleicht noch ein größerer und tieferer, als der beutjche Luther 20.” Wolynsfi fließt mit der Ausficht auf ein neues freies Gottesreich, in weldem es feine Beleidigten und Beleidiger mehr geben wird. „Es weht ein neuer, neuer Geilt, und auch Rußland, ein lebendiger Teil bes lebendigen Europas, eilt . . mit verheißendem Blick voran“.

Genug! Uebergenug von biefem umgefehrten Niepiche! Genug von einer Philofophie, die im Freißenden Wirbel uns gezählter Syfteme geboren, nur allzuſehr den Gindrud eines Findelfindes hervorruft! Die Auflöfung des Dualismus_ durd einen Trealismus it mir allerdings new, übrigens wäre es mit bem Willen ein Quartualismus. Welch eine Unters ſchäzung bes alten Dualismus, ber ein Dualismus nicht etwa der Wolgnsliihen Seele und bes Körpers, fondern des Geiftes und des Körpers it! Und die Seele ſelbſt, wenn fie nicht dem grenzenlofen Reiche, nicht dem Geifte entitammt iſt, woher ift fie und welde Bedeutung hat fie? it fie nicht mehr als der Begriff des Egoismus, der Geilt aber des Altruismus? Fit diefe Philofophie, welde die Kernfragen umgeht, nicht mehr als eine Paraphraſe des Wortes: Und Gott ſchuf den Menfchen fih zum Bilde? Iſt die körperlich-ſeeliſche Individualität finnlich und vergänglich? Iſt auch die Seele Körper? Wie, wenn fie nicht Geift, jondern Körper ift, wenn fie ber finnlihen Welt an— gehört, wie fann der Geift auf fie wirfen? Wenn aber in uns der Geiſt das ewige Element üt, die Seele aber ſinnlich und ver— gänglich, ift die Seele in dieſem Falle nicht nur Attribut bes Körpers und ber Geift bie eigentliche Seele? Alles dieſes und taufendmal mehr werden wir willen, wenn bie neue Erde und der neue Menſch entitanden find. Dann werden wir aud willen, woher wir fommen und wohin wir gehen, was Wolynski zu ers örtern nicht für nötig befunden hat. Und die Künjtler werden fie uns jchaffen, diefe neue Welt! Sie werden jo lange bie Welt durch das Prisma der Gottheit betrachten, bis die Welt ganz und gar vergöttlicht it! Jawohl das werben jie tun, die heiligen Künftler der Moderne! Wenn mir die Gottheit die Wahrheit böte in der einen Hand und in ber anderen das ewige Suchen der Wahrheit, id würde das Suden wählen, fo etwa fagt Leſſing. Das iſt Wolynsfis Geſchmack nicht!

Der Gefährte der Unflarheit ift die blinde Ueberhebung, bie Ueberfhägung des menjchlichen Geiftes im allgemeinen, des Volks— geiftes im befonderen. Blinde Ueberhebung und maßloſe Ueber: treibung! Jeder Größenunterichied verſchwimmt vor dieſen pro phetiihen Augen! Aus welchem Grunde follte Tolftoj ein ruſſiſcher Luther fein? Weih Wolynfti nicht was Luther getan hat? Er hat das Mittelalter aus den Angeln gehoben!

Beltiihe Monataiärift 1906, Heft 2. 4

20 Literarifche Rundſchau.

Aber mir ift, als wäre ich diefer Art bes Philiſophierens unb biefem Idealiomus ſchon einmal begegnet; eine ftodenbe, aber unendlich beharrlide Etimme flingt mir in ben Ohren. Ich erinnere mich bes Vorfalles, es war in Dorpat im Nejtaurant KAubramzem. Ein junger ſchmächtiger Dann, im grauen Studenten rof hielt einen älteren beleibten Herren am Knopfloch und redete heftig auf ihn ein: „Das Princip“, fagte er, „verfiehen fie, das Prinzip das Prinzip ift das Grundlegende verftehen fie das Grundlegende !”

„Warum regen fie ſich auf Afaki Porfiritih”, fagte der bide Herr „wir wollen lieber einen Schnaps trinfen !"

„Das Princip”, wiederholte der Student „das Princip ift das Grundlegende verfichen fie, das Grundlegende !"

Sollten wir dieſe Idealiſten nicht fennen und ihre neue Erbe, diefe Jbealiften, die in einem Aemzuge von Menfchenredhten und rembflämmigen reden? Ic brede ab ben Net des Artikels freiht den Fremdſprachigen ſowieſo der Zenfor.

Karl v. Freymann.

Wolynski's „Buch vom großen Zorn“,

„Die Haarfarbe ſcheint bei Toftojewsfi dem Grabe ber Intenfität des perjönlihen menschlichen Elements zu entipreden, und fozufagen dem Grade feiner Offenheit für vegenerierende, gnadenvolle Ginwirfungen des Himmels. ..“ Ich fas anfangs in aller Ruhe über biefen Say hinweg. Rach einigen Plinuten verfpürte id) ein Unbehagen, id) fand auf unb ging ein wenig bin und ber, dann feßte ich mich wieder und verjtichte zu leſen, aber die Buchſtaben blickten mich jo jonderbar ſchwarz und gleich förmig an und fie ſchienen mir feinen Sinn zu geben. Ich ſah auf und überlegte. Sollte wirklich Doftojemsti Der Stadel des Sapes fah mir im Fleiſche. Doch verfuchte ich wiber den Stachel zu löfen. Ach was, dachte ic) in ralionaliſti⸗ ſchem Leihtfinn, aus welchem Grunde follte wohl diefes der Fall fein? Nach einer halben Stunde begriff ich, daß id) den Gap von ber Haarfarbe nicht ungeftraft gelefen hatle. Er faß tief im Fleiſch und bohrte, er bohrte fill aber ſchmerzhaft. Die Frage, ob bei Doftojensfi die Haarfarbe dem Grade der Intenfität des

Literartfie Rundſchau. 231

perfönfich-menfchlichen Elements entſpräche, begann für mic, hren- nenb zu werben. Die Löfung ber Frage aber ermies ſich fo ſchwierig, daß ih mit Satz, Stachel und ungelöfter Frage zu Bett ging. Mir räumte, mein Haar wäre ſchwarz und ein boshafter ſchwarzer Teufel jtieße mic) mit einer langen, langen DOfengabel in den jhwärzeften Wfuhl der Hölle. NYaarfarbe, Haarfarbe, Yaar- farbe! rief er höhniſch und beugte ſich ſchadenfroh über den Rand des Höllenpfuhls. Diefer Traum ftimmte mid doch bebenfli. Ich äußerte meine Zweifel einem guten Freunde, den ich zufällig auf der Strafe traf. „Blöbfinn”, fagte er kurz, und betrachtete mid) mißlrauiſch von ber Seite. Abwarten, dachte ih. Und ich hatte recht. Als ic) ihm nad) einigen Tagen abermals begegnete, fam er haftig auf mic) zu. „Weißt du“, fagte er, „ich Habe mir deine Bemerkung von vorhin überlegt; es ift doch jehr wohl möglich, dafs bei Doftojewsti die Haarfarbe” „Siehft du”, entgegneie ich triumphierend. - Es war wie mit Markt Twains Liede vom grünen und voten Scjein; feit id den Sag weiter gegeben, war mir die Bedeutung der Haarfarbe gleichgültig geworden. Aber Wolynskis Say wandert nun wohl auf meine Reichnung.

Wer fid) über diefen Sag näher orientieren will, findet ihn in Wolynsfis „Bud vom großen Zorn“*. Diejes Werk enthält die kritiſche Unterfuhung dreier Doitojewstiiher Nomane (Teufel, Hot, Chuld und Sühne) und gibt an ber Hand biefer Romane eine Kritif der Kunſt Doftojewstis. in weiterer Band über, das Neich der Karamaſows wird demnädjit gleichfalls in deutſcher Über- fehung_ eriheinen. (Literarifche Anftalt, Franfurt a. M.) Die Gefchichte des Sapes habe ich nicht zum Scherz erzählt.

Die kritiſche Analyſe Wolynffis ift reich an ähnlich quafvollen Sägen und Behauptungen, fie it Iharf, aber von der Art der Schärfe, die leicht hartig wird. Wolynsti faht die Darftellungs- weiſe Dojtojewsfis als ſymboliſch-myſtiſche. Doftojewsti zeichnet „nicht mit einfach Fünftlerifchen, ſondern mit küuſtleriſch ſymboliſchen Zügen.” Uın Doftojeiwsfi zu verftehen, bebürfen wir eines Er- ſorſchens jeiner Gedanken, „jozujagen vermittels des Fleiſches feiner Helden, weil dieſer Künftler felbit, bei der erftaunlichen Höhe jeiner Aufſchwünge, in die Abgründe des Lebens durch die beweglichen Linien und Formen des Fleiſches in ihren launen- haften Verknüpfungen und ihrem myſtiſch-ſinnlichen Spiel ſchaut. Eine folde ift die ſymboliſche, man kann wohl fagen, apofalyptifche Schreibart Doftojewstis. . ..“ Wolynsti will den Begriff des Symboliſchen nicht in der Bedeutung der Erhebung des Bejonz deren zum Allgemein:menfchlicen verjtanden willen, fondern als eine Art onventioneller Zeichen, die einen gewiſſen Gedanken des

*) A. 2. Molynsti, Das Buch vom großen Zorn. Frantf. a. M. Liter, Anftalt. 1905.

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Künftlers ſymboliſieren. Die Schreibart Doſtojewslis iſt „nicht die echt fünftleriihe Schreibart, die die Ideen in bildlichen und plaſtiſchen Formen wiedergibt, in natürlichen, nicht angeſpannten, die von dem Künſtler nicht förmlich erfunden ſind und geradezu das Leben ſelbſt abbilden, ſondern eine wiſſenſchaftlich-phiſophiſche Chiffre, die man erraten, in die Sprache der gewöhnlichen Vor—⸗ ftellungen und Begriffe mit Hülfe der logiſchen Analyfe überfegen muß.“ Bon diejem Gedanfen ausgehend, bedjiffriert Wolynski Zug um Zug die Doſtojewskiſche Daritellung. Cr verfällt dabei, wie leicht erflärlih, im einzelnen ber Uebertreibung. Er faßt Einzelheiten als ſymboliſch, die nicht ſymboliſch find. Er ſucht der Darftellung eine ſymboliſch-myſtiſche Deutung zu geben, auch dort, wo fie nicht myftifch-jgmbolifche Offenbarung, nicht Zeichens ſprache, jondern naturgemäße Pſychologie ift. Ein Beiſpiel für viele: wenn Stawrogin, aus tiefen Gedanken ermadend, bes harrlich und neugierig nad) einem in ber Ede des Zimmers ihn verblüffenden Gegenftande hinſchaut, jo bezeichnet Wolynsfi biefe gedanfenvolle Zerftreutheit als Verflandeshypnofe, und benupt diefen Vorgang als Beleg dafür, daß Stawrogin ein Verfiandess hypnotifer fei, ein Menſch, der ausichlieglih unter dem Einfluß des abftraft formellen Denkens fieht und feiner Beeinflufjung durd Gefühl und Geift zugänglid ift. Es ift aber fein Beleg, denn dergleichen fann jedem pajjieren. Die Definition der Doftos jewskiſchen Darſtellungsweiſe, wie fie Wolynsfi gibt, iſt zwar geiftreih und treffend, indeſſen nicht fo erſchöpfend und in allem zutreffend, daß ſich auf ihrer Grundlage eine in allen Einzelheiten fehlerloje Unterſuchung aufbauen liche. Allerdings iſt Doftojewstis KRunft Ipmbolifh. Won der Idee ausgehend ſchafft Doſtojewski die Welten feiner Nomane, und die Figuren biefer Romane find vor allem Jbeenträger. Doch ift die gejtaltende Kraft Doftojewstis jo groß, fo fehr felbit feine Verftandestätigfeit überragend, daß die Jdeenträger unter feiner Hand zu lebendigen Dienfchen werben, bie von Fleiſch und Blut find, und feine Chiffern. Ihre ſym⸗ bolijche Bedeutung erhalten fie erſt durch ihr Zufammenmwirken, dadurch, daß fie ſich allefamt nad) den Gefegen einer Welt bewegen, deren Gejege ber Idee entipreden, die biefe Welt aus dem Nichts bervorbradhte. Cs iit daher fehlerhaft, fie einzeln genommen als Chiffern zu betrachten, in ihrer Welt find es Menichen. Die Auffaſſung Wolynsfis wäre demnad) zu eng. Diefelbe Enge erzeugt einen weiteren Fehler: Die einzelnen Perſonen, jogar die einzelnen Nusfprüche der Berfonen überfchatten in Wolynsfis Auf faſſung das Gefamtbild. Er fieht Erleudhtungen, Offenbarungen mojtiihfymbolifder Natur in Einzelausjprüchen, die nicht fo und nicht einmal fo beabfichtigt erf—einen, und er wirft burd) bieje Uebertreibung geheimnisvoller als der Tert, den er kommentiert.

Literariſche Rundſchau. 233

Er fucht die Vorftellung zu erweden, als berge ſich Hinter ben geheimnisfchwangeren Gebanfen Doftojewstis, aufer dem Geheim- nisvollen, das wir ahnen, nod ein weit tieferes, weit unergründ- licheres Geheimnis, welches wir auch nicht ahnen. Aber biefer Supperlativ des Geheimnifjes gehört Wolynsfi allein, und er zer rinnt ihm unter den Händen. Wie vorauszujchen, denn in der Kunjt Doftojewstis birgt ſich das ewige Geheimnis des Lebens, und biefes iſt eines, feiner Steigerung fähig und gerade geheim: nisvoll genug.

In der kritiſchen Analyſe des Doftojewsfiihen Dichtens bis zu feinen geheimften Triebfedern fortichreitend, gelangt Wolynsti dazu, als den innerjten Kern diefer Dichtungsweile den Gegeniag zwiſchen Gut und Böje, zwiihen Himmel und Hölle zu bezeichnen. Und das ift in der Tat fehr richtig. Doftojewsfi ift Dualift. Er iſt fo ſehr Dualift, daß er feinen Anftand nimmt den Gegenjag zwiſchen Gut und Böſe, den er in der Bruft des Menſchen vor findet, zum Ausgangspuntt feines gefamten Denfens zu machen. In genialer Logik ergänzt er dieſen Gegenjag durch Himmel und Hölle, denn der Miderftreit zwiihen Gut und Böſe ergibt nur dann einen klaren Sinn, wenn ihm ein wirklicher vealer Himmel und eine tatjächlice Hölle entſprechen. Doftojewsfi glaubte an Himmel und Hölle in Sinne der heiligen Schrift, und dieſer Glaube gibt jeiner Tragit die furdtbare Wucht, die Hölle feiner Schriften, die nicht von dieſer Welt iſt, it Das padende Seheimnis Doftojewstifcher Kunit. Wolynsfi dagegen qlaubt nicht an Himmel und Hölle, zum minbeften nicht an die Hölle, fondern an den Gegenfag des geiſtigen und perfönlichen jeelifhen Elementes im Menſchen, was etwas wejentlic anderes ift. Der auf der Bafis einer realen Hölle und eines realen Himmels geichaffene Gegenjag Doſtojewskis erſcheint ihm daher verzerrt, die Auffaſſung ſelbſt dogmatifh, ftarr, in bhzanmiſ hen Vorurteilen befangen. Er teilt die Auffaffung Doftojerwstis nicht, er will und faun fie nicht teilen, auch nicht einen Augenblick lang, auf dem Boden der Kritik. Wolynsfi fieht daher die Gejtalten Doitojewsfis mur von einer Seite und fie erſcheinen ihm unproportioniert. Die Doftojewstiiche Dichtung endigt ihm gegen die Hegeln aller Kunſt in Disharmonie und entbehrt der fünjtleriichen Einheit. Dies iſt aber nicht der Fall, jobald wir den Widerſpruch gegen die Anfchauung, aus der diefe Kunft entitanden ift, aufgeben. Das Umgefehrte it ſodann der Fall. Wenn die Welt aus Himmel und Hölle beiteht und bem Zwiſchenreich der Erde, fo iſt der Gegenjag zwiſchen Gut und Böje real und unlösbar, und die irdiſche Harmonie würde die Harmonie des Ganzen zerſtören. Wolynsfi aber ift trog feines Ibealismus, trog Symbolismus und Viyitit ein Optimiſt und Rationalijt und ein ernithafter Yölenglaude erjpeint ihm abjurd

234 Literarifche Rundſchau.

und kindiſch. Da er an Doflojewstis Verftand und Genie nicht zweifelt, jo bleibt ihm nur ein Nusmweg: die Auffaffung Dofto- jewskis zu Doftojewstis größerer Ehre zu forrigieren. Und ob- gleich von dieſem Geſichtspunkte betrachtet die Geftalten Doftojewstis zwar übermenfchlic groß, aber proportioniert erſcheinen, obgleich aus dieſer Auffaſſung her der Geiſt bes Grenzenloſen in die Merfe Doftojewstis gebrungen ift, vollzieht MWolynsfi die Korrektur, mit jachter Hand, doch er vollzieht fie. In einem Falle ift die Koreftur fehr fichtbar._ Doftojewsti fagt über Etawrogins Erziehung: „Stephan Trofimowitfd) verftand e8, in bem Herzen feines Freunbes (Stawrogins) bie tiefiten Saiten zu berühren und ihm die erjle noch unbeftimmte Empfindung einer ewigen heiligen Sehnſucht hervorzurufen“ . . . Hierzu bemerkt Wolynsfi: „Das ift es eben, daß diefe „ewige, "eilige Sehnſucht“ Stawrogin fremd iſt Diefe Stimme bes Geiſtes, die Stimme des Himmels i im Menſchen jelbjt*. Wolynsti fann bie ewige Sehnjudht in einem durchweg Gott: lofen nicht zulaſſen, Dojtojewsfi der an Himmel und Hölle glaubt, fann den (Sottverlafjenen, trog dieſer ewigen Sehnjudt, vom Böfen übermannt zu Grunde gehen laſſen. So trägt zum großen Gegenſatz bes Guten und Boͤſen der Kommentator noch jeinen eigenen, geringeren Gegenſatz in ben Text.

Id bin den Beleg für Wolynstis optimiſtiſch gefärbten Nationalismus ſchuldig: Nach Wolynskis Anficht fann fein Meuſch, in dem noch das Streben nad dem ewigen lebendig iſt, durch Selbftmord endigen und große Menſchen bejahen ftets das Leben. Wir denen dabei an Kleiſts jtillfeierlihes Grab in ungemeihter Erde. Mit dem Maßſtabe, den ein durch myſtiſche Begeifterung emporgehobener, im Grunde aber _rationaliftiicher Optimismus erzeugt, kaun Doſtojewsli nicht gemeijen werden, denn er ijt tiefer.

Id möchte nicht den Eindrud hervorrufen, als dächte ich gering von Wolynsfis Können. Doftojewsti ift der König eines weiten Reiches; was zwiſchen Himmel und Erde ift, und ein wenig mehr gehört feinem Schaffen. In diejem Neiche weilen der Sonnenjdein und das Grauen nahe bei einander, in Schlucht und Abgrund waltet ein beffemmendes Dunkel -— jo wollen wir an der Hand Wolynsfis in dieſes Dunfel hinabfteigen. Keine

Sanne trägt unſer Führer in feiner Nechten, fondern eine ſchwählende Facel; bisweilen wenn der Mind den Hauch zur Seite treibt, ſehen wir flar, bisweilen jchlagen uns Naud und Qualm jeiner myſtiſchen Philoſophie ins Geſicht und wir erfennen nichts mehr. ber es ijt eine Fackel, die er trägt, und fein Stearinlicht.

Karl v. Freymann.

Über Urſprung und Entwielung ded Dramas.

„Im Material und in der Art ber Nachahmung unteriheiden fie fi, das Ziel aber iſt beiden gemeinfam.”

Dbiges Wort ſtammt von Plutarch, und befanntlidh hat Leſſing den Vorderſatz als Motto für feinen Laokoon gewählt. Er laͤßt ben Nachſatz fort, weil es fi bei jeinen berühmten Unterfugungen im Laofoon in der Tat zunädft nur um den Unterſchied zwiihen ben beiden Runftreihen, der räumlichen (Plaſtit, Malerei, Arhiteftonif) und zeitlidien (Tanz, Poefie, Muſik) nad) Material und Art der Nachahmung handelt. Aus diejem Unter ſchied des Muterials und ber Art der Nachahmung jucht Leifing die unterfcheidenden Merkmale und bie verfchiedenen Aufgaben der beiden Kunſtgruppen nachzuweiſen. Dabei atjeptiert er ohne weiteres die Meinung ber Alten, daß alle Kunſt Nachahmung it, ohne fi) auf eine Unterfuchung darüber einzulaſſen, mas unter folher Nachahmung eigentlich zu verftehen fei. Diefe Unterlaflung führt ihn zu einem Endrejultat, das wir heute als ein zu äußer- liches dad) nicht mehr ganz gelten laſſen wollen. Er jagt: die eine Runjtreihe ahme Körper, die andre Handlungen nad).

Käme es auf die bloß äußerlihe Nachahmung, auf die mögfichft deutliche äußere Aehnlichteit an, jo mühte die Photo— graphie das vollendetfie unter allen maleriſchen Kunſtwerken fein. Und bad) ziehen wir die wirklich fünjtleriiche Daritelung aus freier Hand ber Photographie vor. Unzweifelhaft ill, daß das Moment ber rein äußerlichen Nehulidyfeit auf ber primitivften KRunftftufe feine geringe Rolle ſpielt. Schon die Erkenntnis „dies it das“ Löft hier äſthetiſche Freude aus. Aber bald macht ſich ein Anderes geltend. tan beobachtet ebenfo bei den Kunjtübungen von Naturvölfern wie von Kindern, daß Nachahmungen abweichenditer Art dem wohlgelungenſten nicht felten vorgezogen werden. Es ijt oft nur ein Zug an dem fonjt ganz unähnlichen Gebilde, der an das Driginal erinnert, diefer Zug ült aber ein beſonders caratteriſtiſcher. €s ift der, an bem die Seele des Beſchauers den Gegenſtand erfaßte, ber ihr gewiſſermaßen jein eigentlichſtes Wejen offenbarte und ben fie in der Nachahmung feitzuhalten ſucht, um die Erin nerung an das Weſen des Gegenjtandes bei fih und andern zu weden. Die äſthetiſche Freude beruht alfo auch hier auf ber Aehnlichteit, aber nicht mehr auf der äußeren, körperlichen, ſondern der inneren, jeeliihen. Und je weiter und höher fi die Kunit

20 Literarifche Rundfehan.

entwidelt, um fo mehr fpielt dieſes Moment des cdharafteriftiich Seelifhen eine Rolle. Alle Kunft ift daher im legten Grunde nicht Nachahmung von Körpern und Handlungen, fondern von Seelenleben durch Körper und Handlungen. Damit wird der zweite Teil des oben zitierten griechiſchen Wortes, den Leifing fortließ, afzeptabel: „Das Ziel aber iſt beiden (Nunftgruppen, der räumlichen und zeitlichen) gemeinjai, denn das Ziel bedeutet: Darftellung von feeliihem Leben.

Jedes Kunftwert hat nach dieſer Auffaſſung von dem Wejen ber Kunſt ein doppeltes Element, ein objektives und ein fubjektives. Der Künftler fucht das Wefen feines Gegenftandes zu ergründen und darzuftellen, er jhöpft aus ihm Heraus, und foweit ift er objektiv; anderjeits aber trägt er doch auch wieber fein Weſen, feine Auffaſſung in den Gegenftand hinein, und jtellt dann dieſes fein Weſen in dem Kunſtwerk dar; foweit iſt er jubjeftiv. Es iſt Seele des Gegenftandes und Seele des Künitlers, die ung jedesmal im Kunſtwerk geboten wird. Ebenſo tritt aud der Laie mit objeftiv-fubjeftivem Erkenntnisvermögen dem Kunſiwerk gegenüber, und je mehr fid) diejes mit bem bes Künftlers bedt, um jo mehr Verftändnis findet das Kunſtwerk. Der Künftler hat aber meilt viel Schärfere feeliihe Augen als ber Kaie, und fo wird das Kunſtwerk auch in jeinem rein objektiven Element Häufig vom Laien nit erfannt und verworfen, bis nad Jahr und Tag es hat zumeilen ſchon Jahrhunderte gedauert ein Sehender fommt, der bann aud den Blinden bie Nugen auftut. „Das Mort faſſet nicht jedermann, fondern nur die, denen e6 gegeben iſt.“ Das Wort fann aud) ein Kunftwert fein.

Der Reiz der Außenwelt wirkt als ein Seeliſches auf die Seele des Menichen, und das Kunſtwerk ift das Echo, in dem fie biefen Reiz auslöft und zurüdgibt. Das Ziel aller Aunft it dasjelbe, und auch der Ausgangspunft aller Kunit iſt derfelbe. Aber auch die Darjtellungsmittel ſcheinen fo verſchieden fie im Lauf einer ſchier enblofen Entwidlung geworden urſprünglich die- felben gewejen zu fein. Die Gebärbenipradie, Pantomime, ijt, wie Wilhelm Wundt in feiner „Völkerpfychologie“ dartut, nicht nur als die Urform der Sprache das ältejte Darjtellungs- und Verfiändigungsmittel und deshalb die Grundlage aller Rultur, jondern auch die gemeinfame Mutter aller Künſte. Im ihr ihlummern wie im Neim alle fünftlerifchen Anfänge, und aus ihr iöſen ſich allmählich bie eingelnen Künfte los und wandeln ihre geionderten Bahnen. Das merkwürdige aber iſt, daß fie auf ihrem Höhepumft ſich wieder nähern und zur Einheit, aus der fie hervorgingen, zuſammenzuſchließen fcheinen, jo in der griechiſchen Tragödie, wo zur Erzielung der Geſammtwirkung die poetiſchen, mufifalifchen, orcheſtiſchen, bildneriihen, maleriſchen und arditef:

Literarifce Rundſchau. 237

toniſchen Elemente harmoniich zufammenflingen, fo als Ideal er: jtrebt, wenn auch nicht vollfommen erreicht, in dem „Wortton: drama“ von Richard Magner.

Dramatiichen Charakter aljo haben die Anfänge aller Kunſt und auf eine dramatifhe Spige läuft wieder alle Entwidelung der Kunft heraus. Die Anläſſe aber, bie die Pantomime als Verftändigungs- und Kunftmittel erjt verſtändlich machten, waren Tozialer Art. Das, was alle gemeinfam und gleidartig in Luſt und Schmerzen empfinden, fam durch bie Pantomime zum Aus- drucd und wurde veritanden, weil es eben gemeinfam und gleid): artig empfunden wurde. Und fo zeigt die dramatiſche Kunft ſchon in ihren erſten Anfängen ein joziales Geſicht. Sie beruht ſchon bier auf dem Gemeingefühl, fie wird durch basfelbe, und fie wãchſt mit ihm aus Meinem Keim zu einem gewaltigen Baum, fie ändert fih mit ihm, und fie fhrumpft zufammen und wird nur fünftlich über Waller gehalten, wo dieſes Sozialempfinden un: deutlich wird.

Das dramatiſche Agens aber, das die theatraliiche Schau—⸗ ftellung erjt zum dramatifchen Spiel, zum Drama macht, eriheint erit in dem Nugenblid, wo in diefem alle beherridjenden Gemein— gefühl eine Spaltung der Art eintritt, daß fi einzelne Perfonen, Gruppen ober ganze Stände gegen das bisher Giltige aus Leiden: ſchaft, oder um einer neuen, höheren, aus einer tieferen Ethik herausgeborenen Gerechtigkeit willen auflehnen. Jetzt wird die Szene zum Tribunal, in dem das pro und contra erörtert und das Verbitt von ben znichauenden Volksgenoſſen gefällt wird. Das Publikum aljo iit der Nichter, es wirft als folder mit, daß die Veranftaltung ihren Zwed erreiche. Es befeitigt durch jeinen Wahrfpruh den Zwieipalt. Man hat immer wieder gefagt, Kunſt habe mit der Dioral nichts zu tun, und bas trifft ficher zu, ſoweit es fi) dabei um die philiftröfe Alltagsmoral handelt. Aber wie das Geimeingefühl im Wefentlihen auf ber Uebereinftimmung in ethiſchen Fragen beruht, fo ift gerade die Erörterung ethiſcher Fragen im höchſten Sinne das Lebenselement ber dramatiichen Volfsfunft. Dieje dramatiſche Volkskunſt lebt und flirbt mit dem Jutereſſe der Dienge für ſolche Fragen. Sie hängt an der ſittlichen Broduftionsfraft bes Volkes und wird durd) fie erit Weltanfchauungs: und damit Ewigkeitokunſt. Freilich gehören auf die Bühne der Volkstunſt nur folche ſittliche Fragen, die die ganze Maſſe ber wegen; fonft hört der Kontakt zwiden Bühne und Publikum auf. Ferner erhellt, daß troß des ſich geltend machenden Neuen bas Gemeingefühl jo ftark_jein muß, daß in Bezug auf bie Ent- fcheidung über bie erörterten Fragen bei der großen Mehrheit fein Zweifel auffommen fann; im andern Fall würde der Spruch fein Volfsiprud) fein.

238 Literariſche Rundſchau

Selten und immer nur vorübergehend werben in der Ent: wicklung ber Völfer biefe Bedingungen, die für eine Volksbühne im wahren Sinn des Wortes notwendig find, eintreten. Die ſich mwiberftreitenden fittlihen Tendenzen, die der Lebensobem des nationalen Dramas find, folange das Volk national d. h. aus dem Gemeingefühl heraus entfcheidet, führen nur zu bald eine bauernde Spaltung und Zerflüftung herbei, bie Sfepfis und Gleichgültigkeit für fittlihe Probleme zeitigen, und damit ift dem nationalen Drama ber Todesſtoß gegeben.

An Stelle der Volfekunft tritt Gefellihaftstunft oder gar bie Kunſt literarifcher Cliquen und faufmännijchen Spekulanten: tums, die bem Volk fremd und gleichgiltig ift. Das Drama, das auf jeiner Höhe als Volkskunſt Ewigkeitoprobleme behandelte und Weltanichauungsfunft war, wird der Tummelplag für Kuriofitäten, Tagesfragen, flingende Phrajen ober der Diener des Einnenfipels.

So läuft die Geſchichte ber dramatiſchen Kunft der Geſchichte der Völfer parallel, und wer fie darjtellen will, nad) Urfache und Wirkung darftellen will, der muß fie aus dem Gang der ganzen weitverzweigten ſozial⸗ethiſchen Entwidelung barzujtellen ſuchen.

In diefem Sinne hat Dar Marterſieig eine Geſchichte bes beutjchen Theaters im 19. Jahrhunderts geiriehen*. Es ült bas ein hervorragendes Bud), ein monumentales Werk, in dem ein geradezu ungeheurer Stoff in bewundrungswürbiger Weile ger jammelt, gefigtet, gruppiert und mit Meiſierſchaft daritellend ver- arbeitet worden iſi.

Mit einer gewiſſen Wehmut gedenft man beim lejen biejes Buches daran, daß der Verfailer, eine fünitleriihe Kapizität allere erjten Ranges, einmal der Xeiter unjerer baltiihen Bühne war und hier dem Anjturm einer kurzſichtigen Kotterie, deren Bes ftrebungen mit Kunft nichts gemein hatte, weichen mußte. Biel: leicht wird eine Geſchichte des rigiichen Gtadttheaters dereinft fonjtatieren, daß mit biejem Moment ber Verfall des rigiihen Theaterweſens begann.

R. Stavenhagen.

*) Mar Marterfteig, Das deutihe Theater im 19. Jahrhundert. Eine tuturgefionlige Darjtellung. Leipzig, Breitfopf u. Härtel, 1904. 135 ©. Pris M.

Bom Tage. Briefe vom Embach.

1. Februar 1905.

D: Arbeiterbewegung, die in Niga weitere Dimenfionen annahın und nod immer nicht ganz zur Ruhe kommen will, hat ſich bei uns in Norblivland auf ziemlich enge Grenzen bejchränft. Weder die Maſſe der Streifenden, noch Umfang und From der Erzeſſe haben die in einigen Kreiſen gehegten ſchweren Befürch- tungen gerechtfertigt. Die Teilnehmer am Ausftand oder an der ohne Arbeitseinjtellung verfuchten Überrumpelung der Arbeitgeber zwecls Erzwingung günftiger Arbeits: und Lohnbedigungen find zu trennen von jener durch auswärtige Emiſſäre haranguierten Dienge in der Mehrzahl halbwüchfiger Rowdies, welde die dra— matijche Ausgeſlaltung der Situation durch Skandalmachen, Fenſter⸗ und Laterneneinwerfen ꝛc. ſich augelegen fein ließen. Polizei und Koſaken waren zum Schutz der öffentlichen Ordnung auf dem Plap. Zu Bufammenftößen it es nicht gefommen. Zelbjt diejemgen Elemente unter den Arbeitern, denen cs nicht um Inſzenierung von Kravallen zu tun war, die vielmehr lediglich ihre Unzufrieden- heit zum Ausdrud zu bringen ſuchten, jpielten mehr oder weniger die Rolle von Marionetten in einem Stüd, das fie nichts anging und deſſen Fäden von fremden Händen regiert wurden. Die Ver— quicung mit fozialiftifden und anardiftiicen Tendenzen ſpricht für die Mache außerhalb des Landes und außerhalb der Kreife der arbeitenden eſtniſchen Vevölferung. Zwar würde der Umſtand, daß die Eaat nicht einheimifcher Provenienz, fondern Import ift, an der Tatſache, daß fie nun einmal mitten unter uns ift, nichts ändern. Aber, joviel man fehen kann, hat fie feinen oben gefunden und iſt garnicht aufgegangen. Cs bejteht ein Unterſchied dwiſchen dem gelegentlichen Operieren mit halbverjtandenen jozia:

210 Bom Tage.

liſtiſchen Schlagwörtern und dem bewußten Betätigen einer jozia- liſtiſchen Gefinnung. Erſteres hat gelegentlid) des Streifs hier und da ſich geltend gemacht; leteres it entfchieben als ganz ver- ſchwindende Ausnahme unter unfrer Arbeiterbevölferung zu ber tradhten. Immerhin hat ber Gedanke ber Solidarität zwiſchen den Arbeitern Livlands und denjenigen im inneren Rußland bei diefem Anlaß Triumphe gefeiert, die in mehrfader Rückſicht jehr nachdenklich ftimmen müſſen. Dan vergegenmärtige fih ben Zu— ftand, der eintreten würde, wenn zur Zeit ber dringendften land» wirtſchaftlichen Arbeiten die Candarbeiter einen allgemeinen Ausftand organifierten. Die Folgen wären garnicht zu ermeijen. In Südweitrußland, in Polen 2c. wird mit dieſer Möglichkeit für das laufende Jahr geredinet. Daß die Bewegung dann Die Grenzen ber Djtfeeprovingen überfpringen würde, ift ſehr wahr: ſcheinlich.

Doch dies iſt Zukunftsmuſik, wenn auch keine anmutige. Mitten in die augenblickliche Situation führt uns die Betrachtung der Vorgänge an der hieſigen Univerſität. Schon längſt geben ja nicht· baltiſche Studenten den „akademiſchen“ Ton an, ber bie Mufit mat. Ob er baburd) gewonnen, fteht dahin. Talſache iſt, daß die eingeborenen Elemente, bie auf ein Viertel ber gefamten Studentenſchaft reduziert find, in jeder Hinſicht gänzlich in den Hintergrund gedrängt worden find, einen Staat im alademiſchen Staat formiert haben und, wie die Verhältniſſe nun einmal liegen, froh fein müflen, wenn fie ungeichoren bleiben und in ihrer ſchon ftart verfümmerten Freiheit nicht noch mehr beſchränkt werben. Diefe Neferve gegenüber den eingewanberten Slommilitonen ift ihnen jüngft von ruffiiher Seite tabelnb vorgehalten worden. Allein, abgefehen von der Erwägung, daß die Verfchiedenheit der beiden Gruppen benn doch zu groß ift, um eine intime Annäherung dentbar zu machen, märe eine joldje überhaupt wünfcenswert? Die Maſſe brüdt, und es ift nicht anzunehmen, daß bie ruhigen, loyalen Anfhauungen der baltijchen Studenten jänftigend auf den wilden Fanatismus der Übrigen einwirken könnten. Cp- läge im Gegenteil die Gefahr vor, daß die zerfegenden Anfichten der rul- ſiſchen Intellektuellen auch unfre Jugend ergriffen. Mit einer Anglieberung in dieſer Richtung bürfte aud der begeiftertfte Uni- formift faum ſympathiſieren. Was unjre Studenten im übrigen von ihren Kommilitonen lernen ſollten, ijt nicht abzufehen. Viele leicht die Fähigfeit, für eine Idee bis zur Siebehipe ſich zu ber geiſtern. . . . Das wäre ſchon etwas. Eine kleine Anwärmung

Vom Lage. zu

ber in den Sonventsquartieren herrſchenden Temperatur fühler BlafiertHeit und Langweiligfeit Fönnte nicht vom Übel fein.

Ein eigentümliches Bild bot die große, von den nichtkorpo— rellen Stubenten berufene Verfammlung, die zur frage ber eventuellen Schließung der Kollegia Stellung nahm. In ber alten Univerfitätsaula, wo einit ein erlefenes Publitum den muſikaliſchen Dffenbarungen gottbegnadeter Künſtler lauſchte; wo eine Atmofphäre ber Würde und Wohlanftändigkeit Herrichte, die jebe ftilwidrige Störung als Profanierung empfinden ließ; wo gefeierte Univerſitäts- lehrer in gefälliger Form die Nefultate ihrer Forſchungen einem meiteren Kreife von Gebilbeten vermittelten und die Achtung vor dem Redner bie leifefte Veilallsäußerung verbot in denſelben Räumen brängte ſich jegt eine turbulente, aufs äußerjte erregte Menge junger Leute, ſchwirrten in leidenſchaftlicher Rede, die vor dem jtärfiten Ausbrud nicht zurüdichraf, die Dialelte von gan Rußland durcheinander. Der äußere Verlauf der Verſammlung ift in allgemeinen Umriſſen aus den Zeitungen befannt. Das Typifche und Intereſſante an dieſer Verſammlung, oder, wie Die ruſſiſche Bezeihnung lautet, „Sochodka“ war die Glut ber Ber geifterung, die völlige Hingabe an die Idee der fchrankenlofeiten politiſchen und perſönlichen Freiheit. Man Hatte die Empfindung, diefe jungen Männer würben imftande fein, für ihre Überzeugung gegebenenfalls ihr Leben zu laſſen. Mit afabemiihen Fragen freilich halten die heftigen Neden nichts zu tun, die den hohen Saal durKbrauften. Nur äußerlich und loje blieb der Zujammen- bang mit bem einzigen Punkt der Tagesordnung, der eventuellen Schließung der Kollegin gewahrt. In dieſen Nahmen ließ fich eben alles prefien. Mit rein alademiſchen Angelegenheiten hatte eigentlich auch die Frage felbit nichts zu ſchaffen: die allgemeinen öffentlichen Werhältnifje Hatten den Ausfchlag zu geben, und fie waren es, die ben Gegenftand der Grörterungen bildeten. Eine politifche Verfammlung unter alademiſcher Aegide. Es iſt befannt, daß die Studenten zu dem gleichen Reſultat gelangten, wie einige Tage vorher ihre Lehrer in der Gigung des Univerfitätsfonfeils: daß es ihnen nämlich angefichts ber Aufregung, die das ganze öffentlid;e Leben beherride, nicht möglich fein würde, fi mit den Wiſſenſchaften zu befallen.

Auf der Stubentenverfammlung war eine Schrift ber im Chargirtenfonvent vertretenen jindentifchen Verbindungen verlefen worden, die aljo damit aus ihrer jog. Neferve heraustraten. Der Tegt ült ja aud) in die Preffe gelangt und dadurd) für die Disr

2 Som Tage.

fuffion freigegeben worden. Das Schriftftüd nimmt notgebrungen Stellung zu Verhältniffen, denen feine Abfender innerlich völlig fern ftehn. Die afademifche Freiheit, die fie meinen und die in vergangenen Zeiten hin und wieder bei uns zu finden gewelen, ift eine andre als diejenige, welche die heuligen Wortführer des biefigen Stubententums auf ihre Fahne gefchrieben haben. Mit ſolchen Beftrebungen hat das baltiſche Studententum nichts zu ichaffen und will es nichts zu ſchaffen haben. Es liegt in der Natur der Sache, daß die Schrift einerjeits nicht alles ausfprechen fonnte, was zu bemerfen gewejen wäre, und daß anderjeits das Menige, was fie enthielt, dem Mihverftändnis ausgefegt mar. Das ift denn auch nicht ausgeblieben. Es iſt behauptet worden, die forporellen Studenten hätten fid) bereit erflärt, die Kollegia zu bejuchen, wenn fie die Sicherheit hätten, daß fie gegen even tmelle Angriffe ihrer ftreifenden Kommilitonen geſchüßt werden würden im praftiihen Fall etwa durch Militär. Das ift ihnen natürlich garnicht eingefallen. Sie haben im Gegenteil erflärt, daß fie bereit fein würden, die Vorlefungen zu befuchen, wenn dies ohne Zufammenftöße nad) irgend einer Richlung hin möglich fein würde. Bon einem Schutz durch Rofafen oder etwas Ahnlichem it nigends bie Aebe. Eine derartige untollegiale Stellungnahme und Erflärung ift dem Ghargiertenfonvent felbitverfländlich garnicht in den Einn gefommen. Es ift vielleicht nicht nur VBöswilligfeit, die dieſen Paſſus in dem betr. Echriftftüd jo falſch interpretiert hat. Die Faſſung desjelben ift in der Tat recht unglücklich. Die bei uns beliebte Vianier, diejenigen Ausdrüde ängitlid) zu um: gehen, welche die Sache mitleidslos auf den Kopf treffen würden, hat bei ber Nedaftion der Stundgebung mitgelpielt und ihrer Klarheit und Verftändlichkeit geſchadet. Der fraglide Satz ift jo allgemein und andeutend gehalten, daß wie naturgemäß fofort geihehen Alles und Jedes herausgelefen werden fonnte. Die Zeiten, da eine geheimmisvolle Vieldeutigfeit der Aften als der politifhen Weisheit legter Schluß bewundert wurde, jollten aud) bei uns doch endlich einmal überwunden jein.

Was die in der Kundgebung aufgeftellte Behauptung an langt, daß es lediglich die Wiſſenſchaft fei, die den Studenten am Herzen liege, fo richtet fie ſich jelbft. Wenn dem wirklid fo wäre, dann hätten die ſtudentiſchen Verbindungen nicht den leifejten Schimmer von Eriftenzberechtigung. Denn mit der Wiſſenſchaft Haben dieſe weniger als nichts gemein. Es find vielmehr Ver: einigungen, deren Mitglieder der Pflege der Gefelligfeit und

Som Tage. 43

Anmerabfchaftlichfeit, der Hütung bes guten Tones, ber legalen Erledigung von Chrenhändeln und der Betätigung verwandter Intereifen leben. Dies find die Kormen, in denen ftubentifcher Geift, ohne in das politifhe Fahrwaſſer, ber Domäne ber ruffiihen Stubenten, geraten zu müſſen, auch außerhalb ber Fachſtudien zur Geltung gelangt.

Vielleicht wäre es am beiten gewejen, bie ganze Kundgebung zu unterlajlen, zumal feine zwingende Notwendigfeit zu ihr hin- drängte. Einen entſcheidenden Einfluß auf bie Entwidlung ber Dinge kann diefe Erflärung einer verichwindenden Minderheit unter feinen Umftänben haben. Die einzige Folge find Mifver ftändniffe gewejen. Zwar werben wir unter ihnen nicht zufammen- brechen, denn das Herumtappen in einem Nebelmeer von Miß- verftändniffen hüben und brüben ift uns allgemad zur zweiten Natur geworden. Immerhin ift ein unfreundlihes Echo unerfreur lich für ben, ber es gut gemeint hat.

Im Zufammenhang mit der in Nede jtehenben Angelegenheit ift ruffifcherfeits darauf Hingewiefen worden daf dank ber Erlaub- nis bes Farbentragens die forporellen Studenten geneigt feien, mit der Regierung burdy Did und Dünn zu gehen, und ſchon aus dieſem Grunde ein Sympathifieren mit freiheitlichen, oppofitionelfen Beftrebungen perhorreszieren müßten. In MWirklichfeit befteht goifhen dem einen und dem andern fhlehterbinge fein Yu: fammenhang. Die Erlaubnis des öffentlichen Farbentragens ift den Korporationen entzogen worden, ohne ba fie irgend eine Veranlaffung zu dieſer Mafregelung gegeben hätten. Sie ift ihnen wiedergegeben worben, ohne daß fie ſich irgend welcher Verbienite in biefer Richtung bewußt geweſen wären. Die Entziehung ihrer Rechte beruht auf einem Willfür-, ihre Neftitwierung auf einem Gnadenaft. Weder in dem einen, no im andern Fall haben unfere Studenten das Geringfte dazu getan. Ihre prinzipielle Stellung tonnte hierdurd) feineswegs erfhüttert werden, und biefe verbietet eben eine öffentliche Beteiligung an der Erörterung politifher Tagesfragen. Dah bie Wiederheritellung des Farben« tragens in ben betreffenden Kreiſen lebhafte Freude erregte, wird jeber verftehen, ber als Züngling eine farbige Mühe gelragen. In diefer Etimmung nüchtern zu erwägen, ob in Anbeiracht all’ deſſen, was hinter und vor uns liegt, ber Feitjubel eine innere Berechtigung habe, kann einem aktiven Studenten nur derjenige zumuten, der felbjt nie jung gewefen. Wohl aber dürfen wir die Verordnung hinnehmen, wie fie gemeint war als einen freund:

Er Som Lage.

lien Schein in dunkler Zeit. Durch hämifche Randbemerkungen brauchen wir uns unfere Freude hierüber nicht verfümmern zu laffen. . . .

Es ift viel von Studenten und jtubentifhen Angelegenheiten die Rede gewefen. Warum auch nidt? Sind fie bod ein Teil von uns. Und beſſer ift es wahrhaftig, diefe Dinge offen zu ber ſprechen, als fie der Sphäre bes Alatfches zu überlailen. Nein ftubentifche Angelegenheiten gehören gewiß nicht vor das Forum der Öffentlichkeit. Sie follen dort erledigt werden, wo fie hinge- hören. Xier handelte es ſich aber um eine nur ſcheinbar afaber

mifche Frage. Fr

Ihm nad!

Getnict zerbrochen in den Vlütenjahren, Zur Maienzeit dem Siechtum preisgegeben Was war für ihn, für ihn das Leben?

Ein Wink hinab zu finftern Todesſcharen. .

Gr aber ringt fich auf in mächt gem Willen, Durchmiht die Weiten bis zur fernften Berne Und Holt herab fich alle Sterne;

Ihr Licht mufr feines Herzens Sehnſucht ftillen.

*

Ein Riefe wäcjft er, und es finkt bie Schwere, Das Siectum weicht ihm wintet ew'ger Friede; Sein Leben wird zum Siegesliede, Und was er fang, ift tieffte Menſcheitslehre.

*

Mir nah! ruft er, verflärt von Morgenftrahfen, Mir nach, mein deutfches Volt, willſt du gefunden! Ich habe deinen Grund gefunden Und feite dich zu deinen Idealen.

A. Stavenhagen.

X

FIR

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Schiller im Spiegel der Briten. defſpiel

zu Schillers hundertjährigem Todestage 9. Mai (26. April) 1905.

Erich von Schrend.

(Gelangt am Rigaer Stabithenter zur Aufführung.)

Perfonen.

1. Gregorio, Gnmnafialprofefior a: D. Anfelmo, Maler. Die Zeit.

m. Goeihe.

Veintich Meyer, Profeffor an der Beichenatademie in Weimar. Chriftiane Vulpius.

u.

Harıy,

Grid, ) Dunrlaner.

roch,

Andere Oortaner als Darftelfer ber Rütliigene (Melchthal, Baumgarten, Winfelrieb, Weier von Sarnen, am Bühel, Sewa, von der Flüc, Stauffacher, Hebing, auf der Mauer, im Hofe, Konad Yunn, Uteich der Schmied, Meiler, Walter Fürft, Röffelmann, der Sigrift, Auoni, Werni, uodi u. 0.)

Einige Sehundaner. F—

W.

Heinrich, Vürgermeifter einer größeren Stadt. Der Genius der Pocjie,

Die Drbmung,

Die Aunft, Traumgeftalten.

Die Religion,

Seinrig. Gregorin. Anfelmo. Die Zeit. Männer, Frauen und Kinder.

Die Zeit der Handlung ift der 9. Mai (26. Aprif) 1905.

Verwertet find außer Dichtungen Schillers:

Goethe, Cpilog zu Schillers „Glode“.

Goethe, Fragment aus der „Adhillis”.

Goethes Gelpräde mit Edermann.

9. Voß jun, Erinnerungen an Goethe und Schiller.

Mörike, Nantale zue Enthüdung des Schilerdenfmals („Dem heutern Himmel... .*).

©. 8. Meyer, Schillerd Beftattung („Ein ärmlich büfter brennend .

Die vermerteten, größtenteils mörtlich angefügzien Pichtermorte find fo dabfreich und fo eng mit dem Tert verbunden, dab von Anfügrungsgeicen fteiß Abjtand genommen ift.

Erfte Szene.

Die Bühne ift geteilt. Gin vorderer fcmaler Raum ift dem Publikum gegen:

über offen. Er iit wie eine altertümliche Wirtsftube Hergerichtet. Can rechts

ein Tijch mit Stühlen. Cine Kanne Wein mit Gläfern fteht darauf. Den

Hintergrund bildet ein Vorhang. Es treten auf Gregorio, ein etwa fiebzige

jähriger Gymnaflafprofeffor emeritus, und Anfelmo, ein Künitler, etwa

47 Jahre alt. Sie ſeben ſich un den Tifh und jcpenten fid Bein ein, find in tebhaftem Gefpräd, begriffen.

Gregorio. Daß ic) das erleben jollte, ich hätte es nimmer geglaubt. Er war ber erflärte Liebling, nicht eines Standes, nicht einer Gruppe, einer Klaſſe, der Liebling des Volles. Was wir alle empfanden, ſtärker oder ſchwächer, bewußt oder unbewußt, er hatte es auszufpredhen verfianden, und unjer tiefes Sehnen war nicht ftumm mehr. Das Volk hatte feinen Sprecher. Unſre verborgenjten Schäge hatte er aus dem Schachte gehoben. Wir meinten für immer. Aber es find nicht mehr viele, die mod jo empfinden.

Anfelmo. Cs ift eine andere Zeit.

Gregorio. Das iſt's, was mid kränkt. Wer von uns hätte gebacht, daß Schiller ein Mann einiger Jahrzehnte jein follte. Er hatte große Worte gerufen wie in die Ewigkeit hinein, man hat faum angefangen, fie in Leben und Tut umzufegen, und man iſt jein fon müde. Man glaubt über ihn hinaus zu fein. Das ift die neuefte Errungenfchaft. O wie anders war es, als wir feinen hundertiten Geburtstag feierten! Wie anders 1859 als 1905!

Anfelmo. An Feiern fehlt es auch heute nicht. Kaum eine Anjtalt, faum ein Verein will zurücbleiben. Es find Unter nehmungen ins Werk gelegt, To zahlreich und glänyend wie noch mie. Und die Flut der Feitferiften ift eine Sturmflut.

Gregorio. Und doch iſt's was anderes als 1859. Du tannſt did) beilen nicht erinnern, du warit damals ein unmün diges Kind. Ich lebte meine friicheiten, meine beiten Jahre. Es war damals nicht eine Sache des Anjtandes, Schillerfeſie zu ver: anjtalten, es fam aus ber tiefiten Seele. Es wurben nicht herz gebrachte Schlagworte wiederholt, an die nur bie Hälfte glaubt, fondern der Mund ging über, wes das Herz voll war. Nicht

230 Sailler im Spiegel der Zeiten.

fremde Worte wurden nachgeſprochen, es gab jeder fein Eigenites. Und alles ftrömte zufammen in einen Grundakkord: die Nation feiert ihren Dichter. Das iſt's heute nicht.

Anfelmo Mas ihr Scilerenthufiaften auch Haben wollt ! Freilich, e8 find andre Gedanken, andre Ideale, andre Stimmungen aufgefommen und haben viele ergriffen, Aber ein gut Teil hat ja noch die alte Begeifterung.

Gregorio. Das iſt's, was ich fage: ein Teil. Es brödelt ab. Immer mehr und mehr, mas fann ſchliehlich nadbleiben? Unfie Jugend ift angefränfelt, fie hat feinen Schwung, fein Feuer. Sie firedt ſich nad) einer neuen Kunſt, und es iſt eine Scheinfunit. Was fünnen mir von der Zufunft hoffen?

Anfelmo. So follteit du nicht reden. Und du würdejt es nicht, wenn bu noch mit der Jugend lebteſt. Du haft dic) zu früh zurüdgezogen, hätteſt noch Schulmeilter bleiben follen. Ich ieh’& in meinem ad, in den bildenden Rünften: da gibt's Kampf um eine neue Schönheit umd neue Kunſt. Wir wachſen über die Alten hinaus. Und doch ein Dürer, ein Nembrandt, ſolche Meiſter fterben nid.

Gregorio. Du gehit mit vollen Segeln, id) bin nicht zuverſichtlich geftimmt. Wir wil’s oft feinen, als wirkten unjre größten Dichter nicht recht mehr. Die Jugend will andre Nahrung. Und fo friften wir Schillers Dafein fümmerlid in den Schulen, aber was tun unfre Jungen und Mädchen jelber, ihn fennen zu fernen? Was geidieht aus eigenem Antrieb? Mas ift Schiller unfern Gebildeten? Cine Neihe von Bänden, im Bücherſchrank aufgeltellt. Hübſch eingebunden, aber verftaubt.

Anjelmo. Und wenn es fo wäre, mie du ſchilderſt, wir dürften nicht Magen. Hat nicht jede Zeit ihre eigenen Gedanken, muß fie alſo nicht ihre eigenen Worte finden, ihren eigenen Sprecher haben? Wenn Schiller nicht mehr recht wirkt, nun jo iſt er eben nicht mehr für unfre Zeit. Er hat eine große Miſſion erfüllt, und wir danfen’s ihm alle. Er erfüllt fie noch weiter, aber in tleineren Kreifen als früher. Cs gibt zunehmende Lichter und abnehmende. Das it auch der Größeren Schidjal. Das iſt bie natürliche Entwicklung.

Gregorio (heftig. Nein, das ift ſie nicht. Was ift natür- licher, als daß das Große bleibt? Uud was iſt unnatürlicher, als daß man ſich vom Großen abkehrt und dem Kleinen zuwendet?

Unfelmo. Vergiß nicht, daß auch das Bedeutende ver- braucht werden kann.

Schiller Im Spiegel der Zeiten. 251

Gregorio (immer heftiger werbend). Das iſt eben der Grund: irrtum. Nicht Schiller ift verbraudt, aber mir find verbraudt. Ein frühzeitig alterndes Geſchlecht fann feinen jugendlichen Idea—⸗ lismus nicht mehr aufnehmen.

Anjelmo (it aufgeftanden, hat beiden Wein eingeſchenkt. Cr klopft Gregorio auf die Schulter und lächeli). Ih fühle mid jo alt nicht, und ein-„Tell“, ein „Wallenftein“ paden mid; noch heute. Vielen geht’s anders, und die meiften brauden eine andre Sprade. Dan foll- feine Zeit nicht jchelten, man ſoll auf jie achten und fie fennen lernen. (Gr jegt ſich wieder.)

Gregorio. Ich glaube fie wohl zu fennen. Ich habe die Zeichen der Zeit verfolgt, und fie find trübe. Ich hoffe wenig.

Wauſe.)

Anſelmo. So lebſt du wohl ſiark in der Vergangenheit?

Gregorio (lebhaft). Das tue id. Und welder Tag wäre dazu mehr angetan, als der Heutige. Ich bin ganz in Weimar und ganz in der alten Zeit. Heute vor hundert Jahren. Ich jehe mid) in Weimars engen Gaſſen, id) trete in Schillers Haus, die teuren Züge noch einmal zu jehen, ehe der Tod fie entitellt. Die bejcheidenen Dadjtübchen! Ta das Sopha, wo Schiller und Goethe häufig zulammengefeilen, ins Gelpräd) verfunfen. Nun öffne ich die Tür zum Schreibzimmer, ſachte, ſachte, denn das Rranfenbeit ift ja da Hineingetragen aus der Schlaflammer. Da fiegt er, noch atmend, nod) fühlenb für bie Seinen, ein legter Abſchied. Auch das Schöne muß fterben! O wie habe id) heute dieje Augenblide mit dem geliebten Dichter burchlebt !

Anſelmo. Eolde Tage verbinden uns feiter mit unjern großen Toten.

Gregorio. Das erlebe ich heute. Cs iſt ein dunkles Band, das jold ein Todestag Mnüpft, aber ein feiles. Mir it's, als wäre id bei Schillers Begräbnis. Cine kalte Mainacht. Mitternacht iſt vorüber, da tönt die Totenglode, und der Meine Zug naht. Der ſchmuckloſe Sarg, von den paar Freunden ger tragen. Nachtigallen fingen ben Abſchiedoſang, und der duftende Flieber ſende feine legten Grüße. Kalt und unfreundlich legt ſich den Trauernden der nächtliche Wind um die Glieder. Das war Schillers Beftattung.

Anfelmo. Fand feine kirchliche Feier flatt?

; Gregorio. Dod, aber erſt am Tage nach dem Begräbnis. Es war eine große Verjammlung, und der Generaljuperintendent

252 Stiller im Spiegel der Zeiten.

ſprach. Aber die Tränen der größeren Kinder Schillers und das heitere Lächeln feiner Kleiniten, der faum Einjährigen, rührten die Anweſenden mehr als bie Worte des Predigers. Dlir. it es faft, als ob ich dabei geweſen.

Anfelmo. Sic fo lebhaft in die Vergangenheit verfegen zu Tonnen, das it aud) ein Glück.

Gregorio. Aber fein volles. Ich wollte, ich könnte bie großen Augenblicke einer fernen Zeit nicht nur denken, nit nur empfinden, jondern ſchauen, ſchauen. Wir helfen nach mit unfrer Phantafie, aber wir find nicht wirklich drin. Und mander unter uns gehörte doch mehr in eine entidiwundene Zeit hinein. Was gäbe ich drum, könnte ich nur einmal in Goethes Stube treten und ihn jehen und reben hören. Er ſpräche über Schiller, wie alle in Weimar vor hundert Jahren. Aber er war doch ber Einzige, der ihn ganz zu würbigen verfland. Weniges fpricht fo für die Größe Schillers, als ber Cindrud feines Todes auf den gemaltigen Freund. Goethe unter diefem Eindrud, er war wie ein Himmel nad) Sonnenuntergang. Diefen Himmel möchte id nur einmal ſchauen.

Anſelmo. Es iſt uns verſagt.

Gregorio. So unerbittlich, wie den Schleier der Zufunft zu lüften. Wir fönnen nur ahnen, und ich ahme nichts Gutes. Wir fonnen uns nur zurüdfehnen, und id bin nicht befriedigt. Der Augenblid aber entſchwindet, wir fühlen ihn faum, wir fennen ihn nicht.

Dreifach ift der Schritt der Zeit:

Zögernd kommt bie Zukunft hergezogen,

Pfeilfcjnell ift das Jegt entflogen,

Ewig ftill fteht die Vergangenheit.

Keine Ungebuld beflügelt

Ihren Schritt, wenn fie verweilt,

Reine Furcht, fein Zweifeln zügelt

Ihren Lauf, wenn fie enteilt.

Keine Reu, fein Zauberfegen

Kann bie Stehende bewegen.

Keine Neu, kein Zauberfegen

Rann die Stehende bewegen. Es tritt ein kurzes Stificnveigen ein. Beide greifen gedanlenvoll nach ihren Gläfern. 68 it dunel geworden. Plöplich erfcheint die Zeit, eine Frauen geitolt in weitem wallendem Gemwande. Sie iit mit einer Sanduhr geichmüdt

und Hat in der Wechten einen goldenen Stab.)

Schiller im Spiegel ber Zeiten. 238

Die Zeit. Und doch, wenn fid) in biefer Hand ber Gtab,

Höchft königlich regiert, beginnt zu regen, Quillt neues Leben aus der Zeiten Grab, Ya auch die Stehende muß ſich bewegen. Und was mit Windesflügeln von uns geht, Der Augenblid, das Jetzt, es muß verweilen. Was fi nur zögernd naht, im Nahen fteht, Die ſcheue Zukunft, mir muß fie fi eilen. Vernehmt, ich bin die Zeit, und meinem Wink Erſcheint was war und wird, entidhleiert jedes Ding.

Und biefes Szepters ichnelle Wundermacht, Ihr follt fie heut mit frohen Augen merfen, Die Fülle der Geitalten joll heut ſacht Des Zweiflers ſchwachen Glauben freudig jtärten. Was groß und mächtig war, von neuem treibt In jugendlicher Kraft es frühe Sproſſen, Vorbei! ein dummes Wort; was lebt, das bleibt, Und was da ftirbt, hat Leben nie genoflen. Iſt and ein ewig Fluten um uns her, Die Großen ftehn wie Felſen in dem Meer.

(Zu Gregorio) Du ſchauteſt trüb in die Vergangenheit, Die fich dem Sehnſuchtoblick nicht will entrollen, Glaubſi nicht an deine, nicht an künſt'ge Zeit, Vermißt ein kräftig Fühlen, feftes Wollen. Du fennft mid nun, darum fo folge mir, Zu hellen Bildern will ich dich geleiten, Was war und ift und wird, das zeig ich dir: Den großen Mann im Spiegel ber drei Zeiten. Und bift du recht geftimmt, did) lehrt ber (eilt, Was wirfungsfräftig, was lebendig heißt.

Drum auf nad) Weimar! Cs find Hundert Jahr, Daß dort ein Großer aus ber Welt gegangen, Was er den Freunden, was dem Freund er war, Ihr dachtet dran mit jehnendem Verlangen. Ihn ſchaut ihr nicht, er geht zu früh hinab Ins dunkle Reich, wo Schatte wohnt bei Schatten, Doch was er üft, finft nicht mit ihm ins Grab, Sein Geift wirft, wie er lebte, ohn’ Grmatten. Ein großer Zeuge deſſen bleibt nicht aus: Auf, folget mir in unſres Goethe Haus!

(Sie bewegt ihren Stab und verjgwindet.)

254 Schiller im Spiegel ber Zeiten.

Zweite Szene.

Der Vorhang gebt auf. Wan ſieht Goethe in feinem Arbeitszimmer in einem

Lehnftubl figen. Das Zimmer hat recht ein Fenfter. Diefem gegenüber an

der Wand ein vild Scllers. Das Zimmer it einfad), nur mit einigen Antifen geihmüdt. Goethe befieht Kupferitiche.

Goethe (nadenttid). Das ift heute der achte Tag, daß fein Übel fo ſchlimm geworben. Wie heiter begegnete er mir noch am erften Mai auf dem Wege zum Theater. Aber da brad) aud die Krankheit fo plöglich und gemwalttätig herein, wie es niemand erwartet hatte. (Pauje) Und id) bin aud) ans Zimmer gefeilelt. Es find böfe Tage. Dazu quält mic, der Gedanke, daß man ſich ſcheut, mir bie volle Wahrheit über Schillern zu jagen. Heute jähe ich gern einen Freund, dem id) voll vertraute, und mit dem ich mid) ganz ausſprechen lönnte. (Goethe greift wieder nach den Kupfern und beginmt fie zu befehen. Nach kurzer Zeit legt er fie beifeite.) Es fehlt mir heute das ruhige Gemüt, dieſe Schönheiten aufzunehmen. (Gs Hopft.) Herein!

roſeſſor Heinrich Meer tritt auf.)

Meyer. Guten Abend, Herr Geheimer Nat.

. Goethe. Der liebe Freund Meyer! «Steht auf, drüdt Meyer ſehr Herzlich, beioe Hände.) Guten Abend, mein lieber Profeſſor. Es iſt eine Freude, Sie zu jehen. (bPlatlich jehr ernit.) Bringen Sie Nachrichten von unferm Freunde? Lebt Schiller?

Meyer. Noch lebt er.

Goethe. Wir müſſen auf alles gefaßt fein. Erzählen Sie

mehr. (Sie jegen ſich.) "Meyer. Schiller hat geſtern viel phantafiert. Gegen Abend wacht er von feinen Fieberphantafien auf, er fühlt ein lebhaftes Bedürfnis, die Sonne zu ſehen, man öffnet den Vorhang und gewährt ihm den Anblid der untergehenden Sonne. Da tritt feine Schwägerin herzu und fragt, wie es gehe. Er antwortet freundlid: „Immer beijer, immer heiterer.“

Goethe. Es iſt wie ein Lichtblid aus glücklicher Zeit. Wie hat er die Nacht zugebracht?

Meyer. Er hat viel phantafiert, namentlih über den Demetrius. Und dann hörte man ihn ausrufen: „Du von oben herab, bewahre mid) vor langen Leiden!” Gegen Dlorgen hat er die Befinnung verloren und unzujanmenhängend geſprachen, meijtens Latein. ls die Schillern feinen Kopf in eine bequemere Lage bringen will, da erfennt er fie, lädelt fie an und füßt fie.

Sgiller im Spiegel ber Zelten. 236

Goethe. Das ift immer nod ber alte Schiller. Sein Körper mag dahinkranken, jein Geiſt nicht.

Meyer. Meil jeine Liebe jo ſtark ift, it das Scheiden fo ſchwer. Vor ein paar Tagen ließ er ſich jein jüngites Kind bringen. Er wandte ſich mit dem Kopfe um, nad) dem Kinde zu, faßte es an ber Hand und jah ihm mit unausſprechlicher Wehmut ins Gefiht. Die Schillern erzählte, es wäre gewejen, als ob er das Kind habe jegnen wollen. Dann fing er an bitterlich zu weinen und ftecfte den Kopf ins Kiſſen und winfte, daß man das Kind wegbringen möchte. Da mag er gefühlt haben, daß er eigentlich noch nicht aufhören mühte, diefem Kinde Vater zu fein.

Goethe. Es ift Hart, ſehr hart. Leiden ift die Beſtim— mung aller. Wo aber eine Natur befonders zart organifiert iſt, damit fie jeltener Empfindungen fähig jei und die Stimme der Himmlifchen vernehme, da iſt fie im Konflikt mit der Welt und den Elementen nur allzuleicht verlegt, wo nicht zerjtört. Das ijt Schillers Schickſal. Ich kenne ihn nicht anders als leidend.

Meyer. Erinnern Sie fid, Herr Geheimer Nat, des Wer fuches, den wir Scillern im Oktober 1791 in Jena machten?

Goethe. Unfer Freund war damals überaus elend. Ich glaubte, er lebte feine vier Moden mehr.

Meyer. Sein Gejiht glich) dem Bilde bes Gekreuzigten. Es prägte fih mir tief ein, denn id) jah es damals zum erften Dal. Wer hätte zu jener Zeit hoffen dürfen, dab ihm die Jahre feines bedeutenditen Schaffens noch bevorftänden! Und bod war es jo.

Goethe. Ya, aud Schillers Natur hat eine gewiſſe Zäheit. Aber es ift hier mod) etwas anderes im Spiele. Schiller hätte bei jeiner Rränflidjfeit nimmer jo viel hervorbringen können, wenn er nicht ganz und gar von einer Idee beherrſcht würe, es ift Die- Idee der Freiheit des Geiſtes. Sie gab ihm aud) die Kraft, den ſchwächlichen Körper zu beherrichen und fid) zu erneuten, immer großartigeren Leiftungen anzujpannen. Ich fürdte nur, es wird die Idee der Freiheit ihn ſchließlich getötet haben.

Meyer. Wie it das zu verjtehen?

Goethe. Cs iſt diefe Idee, die ihn. zu übermenſchlichen Anſtrengungen getrieben hat. Der Körper jollte ihm nichts anhaben fönnen. So zwang er fih auch am ſolchen Tagen und Wachen zu arbeiten, in denen er nicht wohl war; jein Talent follte ihm zu jeder Stunde gehorchen und zu Gebote chen. Es it das ein Hauptunterſchied feiner Arbeitsweiſe von ber meinigen. Ich dichtete nur, wenn mir danach zu Mute war, er tat ſich Gewalt an.

256 Schiller im Spiegel ber Zeiten.

Meyer. Liegt in feiner Natur nicht überhaupt etwas Gewaltfames?

Goethe. Durdaus. Wie überhaupt bei ben Denfchen, die nad) einer vorgefaßten Idee handeln. Daher ift aud ein Torgfältiges Motivieren bis ins Ginzelne ber Dichtung nicht feine Sache. Er greift in einen großen Gegenjtand fühn hinein, er fieht auf das Ganze, auf die Gefamtwirfung, und ba geht er denn freilich fiher vormärts, von der Idee getrieben. Schillers eigent- liche Probuftivität liegt im Idealen, und es läßt ſich jagen, daß er fo wenig in der deutſchen als einer andern Literatur feines: gleichen hat.

Meyer. Ya, und die große Wirkung feiner Werfe hängt äufammen mit feinem großartigen Charakter.

Goethe. Ohne Zweifel. Schiller ericeint eben immer, ob er handelt ober dichtet, im abfoluten Beſitz feiner erhabenen Natur; er it fo groß am Teetiſch, wie er es im Staatsrat geweſen fein würde. Nichts geniert ihn, nichts engt ihn ein, nichts zieht den Flug feiner Gebanfen herab; was in ihm von großen An- fichten lebt, geht immer frei heraus ohne Rüdjiht und ohne Be— denfen. Das iſt ein rechter Menſch, und fo follte man auch fein. (Während diejer Worte find die Strahlen der untergehenden Sonne auf das Bild Schillers gefallen und haben es vergoldet. Der Sonnenſchein dauert an.) Was habe ich doc diefem Freunde alles zu danken! Denn fo verichieden unſre beiberfeitigen Naturen aud find, fo gehen unſre Nichtungen doch auf eins; welches denn unfer Verhältnis fo innig gemacht hat, daß im Grunde feiner ohne den andern leben Tann. Das ift jegt mehr als ein Jahrzehnt, daß wir all unfre dichteriſchen Pläne und Gedanken austaufhen. Ich fühlte mid von neuem jung und friſch werben, als er mein Freund wurbe, und er erlebte etwas Ühnliches. Was die poetijche Kultur der Deutſchen dadurch gewonnen, bas läßt ſich noch nicht abjhägen. Aber, will’s Gott, jo gibt’s eine Ernte, beren Früchte nie ausgehn. Daher hat aud der alte Streit feinen Zweck, wer größer jei, Schiller oder ich: die Leute follten fi freuen, daß überhaupt ein paar Kerle da find, worüber fie jtreiten fönnen.

Meyer. D, es will einem das Herz abdrüden, dag ein jo {herrliches Band jo früh zerichnitten werden ſoll.

Goethe. Das Schickſal iſt umerbittlih und ber Menſch wenig. (Rad einem Heinen Stillſchweigen.) Aber das Band wird nicht zerichnitten, es fann gar nicht zerſchnitten werden.

Edrigiane erjgeint an der Tür.)

Seiler im Spiegel der Zeiten. 257

Chriftiame (ohne Goethe anpufehen). Darf id Herrn Hofrat Meyern auf einen Augenblick herausbitten.

Meyer (mit einer Verbeugung gegen Goethe). Ich kehre zurüd,

Goethe allein. Er bleibt einen Augendlick figen. Dann ficht er auf und geht ein paarmal auf und ab. Vor Schillers Bild bleibt er ftehen. Im felben Augenblid verfdmwindet der Sonnenftrahl piöhlich. Das Zimmer wird bämmerig.)

Boethe (gedanfenvolt). „Untergehend fogar iſt's immer bie: felbige Sonne.” Das ift ein großes Wort der Alten, wie gemahnt mid’ an Schillern. Dir ift Heute fo eigen zu Mute. Ich habe nit leicht einen Tag gedrüdter verbracht, als gerade biejen. Aber es liegt doch ein ftarfer Troft im Gebanten an den menſch⸗ lien Geift, der fortleuchten muß wie die Sonne. Wenn ich das erwãge, wie anders erſcheint mir der Tod. Er läßt mic in völ- liger Ruhe, denn ich habe die feite Überzeugung, daß unfer Geift ein Wejen ift ganz unzerſtörbarer Natur, es ift ein Fortwirkendes von Ewigkeit zu Ewigkeit, es iſt der Sonne ähnlich, bie bloß unfern irdifchen Augen unterzugehen ſcheint, bie aber eigentlich nie untergeht, fondern unaufgörlich fortleudjtet.

(Goethe Hat ſich wieder in feinen Lehnſtuhi gefeyt. Chrigtiane tritt ein. Sie ift

verwirrt und Hat ein untuhiges, verjtörtcs Meien, meidet es, Goethe anzuichen.

Sie macht fich an einem Schranf zu ſchaffen Goethe ficht fortwährend nad) ige hin. Im Zümmer üt es inzwiſchen dunkel geworden.)

Goethe. Es iſt finfter, wir müſſen Licht haben.

(Cpriftiane geht zu einem Nebentifch und zündet eine Lampe an. Sie ftcht mit dem Nüden zu Goethe. Darauf jtellt jie die brennende Lampe auf den Tiſch, ohne Goethe anzufchen.)

Goethe. Sie meidet meinen Blid, es will mir nicht recht gefallen. (Raufe) Wo bod) der Meyer jein mag? Er wollte zu mir zurüdfehren, und nun ijt Chriftiane allein hier. Er ift fort: gegangen, ohne ein Lebewohl zu fagen. Ich merke es, Schiller muß ſehr frank fein. (Paufe) Es Hat mid; lange nichts jo erregt, wie diejes Verſchwinden Meyers.

Es tritt wieder eine Paufe ein, während melder Goethe die Chriftiane ſcharf anſieht. Darauf redet er fie mit Entſchiedenheit an.) Nicht wahr, Edjiller iſt heute fehr frank? (Shriftiane wirft ſich auf einen Stuhl, ftügt das Geficht in die Hände und foluchpt Taut auf.)

Goethe (et). Er iſt tot?

Chriftiane. Sie haben es felber ausgejproden.

Goethe (langiam). Er ift tot.

(Er wendet fich ab, bededt ſich die Augen mit den Händen und weint. Vald Hat ex ſich gefaßt und jprict wieder zuhig und feit.)

258 Schiller im Spiegel ber Zeiten.

Als mid im letzten Winter die Krankheit jo heftig gepadt hatte, da dachte ich mich jelber zu verlieren, und nun verliere id) einen Freund und in bemfelben die Hälfte meines Dafeins. Er hinter läßt ein großes Vermächtnis. (Paul) Wann hat er ausgelebt? Ehriftiane. Schon vor einigen Stunden, es war um fünf Uhr. Nun ift es fchon bekannt in der Stadt. Ich war auf der Straße, da war's den Leulen anzufehen, dah was deſchehen ift in Weimar. Ich habe felbjt geringe Leute weinen fehen, den Friſeur und Barbier und den Logenichließer im Theater. Goethe. Es werden viele weinen. Ja, Wehmut ergreift mid, und die Seele biutet, Daß Irdiſches nicht feiter ſteht, das Schickſal Der Wienſchheit, das entfepliche, jo nahe An meinem eignen Haupt vorüberzieht. Es find Schillers Worte, ic) hatte nicht geglaubt, daß ich fie auf ihn würde anwenden müfjen. Aber Gott fügt es, wie er es für gut findet, und uns armen Sterblichen bleibt weiter nichts, als zu tragen und uns emporzuhalten, jo gut und jo fange es gehen will. (Baufe. Goethe ergreift einen Band Schillerjeher Gedichte, der auf bem Tiſch Tiegt, blättert darin und lift für fich-) Da leſe ih wieder jeine Nänie. Es hat doch niemand eine fo ergreifende Klage über den Tod des Schönen gejproden, wie Schiller jelber. „Aud) das Schöne muß jterben" (Die Nührung überwältigt ihn, jo dab er abbricht und Chriſtiane das Puch gibt. Diefe lieſt mit feiter Stimme.) Chriftiane. Auch das Schöne muß jterben! Das Menſchen und Götter bezwinget, Nicht die eherne Bruſt rührt es des ſiygiſchen Zeus. Einmal nur erweichte die Liebe den Schattenbeherricer, Und an ber Echwelle noch, ſtreng, rief er zurüd fein Geſchenk. Nicht ftillt Aphrodite dem ſchönen Knaben die Wunde, Die in ben jierlichen Leib graufam der Eber geriht. Nicht errettet den göttlichen Held die unfterblihe Mutter, Wenn er, am ſtäiſchen Tor fallend, fein Schickſal erfüllt. Aber fie fteigt aus dem Meer mit allen Töchtern des Nereus, Und die Klage hebt an um den verherrlichten Sohn. Siehe, da weinen die Götter, es weinen die Höttinnen alle, Daß das Schöne vergeht, dal; das Tolltommene jtirbt. Auch ein Klaglied zu fein im Mund der Geliebten, ift herrlich, Denn das Gemeine gebt Fanglos zum Drfus hinab.

Stiller im Spiegel der Zelten. 259

Goethe. Ja, fo weit nur ber Tag und bie Nacht reicht, fiehe verbreitet Sic) dein herrlicher Ruhm, und alle Völker verehren Deine treffende Wahl des kurzen rühmlichen Lebens. KRöftliches Haft du erwählt. Wer jung bie Erbe verlaſſen, Bandelt aud) ewig jung im Reiche Perjephoneias, Ewig erjheint er jung den Künftigen, ewig erfehnet. Stirbt mein Vater bereinft, der graue, reifige Neftor, Ber beklagt ihn alsdann? und jelbft von dem Auge des Sohnes Wälzet die Träne ſich kaum, die gelinde. Völlig vollendet Liegt der ruhende Greis, der Eterblichen herrliches Muſter. Aber ber Yüngling fallend erregt unendliche Sehnſucht Allen Künftigen auf, und jedem ftirbt er aufs neue, Der die rühmlihe Tat mit rühmlichen Taten gekrönt wünfcht. - (88 entfteht eine Paufe. Goethe reicht Chriftiane bie Hanb, fie beupt ſich teil: nehmend zu ihm, ex ſtreichelt ihe Haar und fagt:) Geh, mein gutes Kind, forge fürs Hauswejen. Id will ein Stündchen allein fein. (Ehriftiane ab. Goethe verfinkt in Nachdenken. Dan hört aus ber ferne cin dumpfes Glodengeläute. Goethe fährt zuerſt auf, finnt noch einen Yugenblid und fpridht dann das Folgende Iangfam, wie gerade dichtend, mit Heinen Paufen. Das Läuten verfallt allmählich, während er jpricht.) Da hör’ ich ſchreckhaft mitternächt'ges Länten, Das dumpf und ſchwer die Trauertöne ſchwellt. Iſt's möglich? Soll es unfern Freund bedeuten, An den fid) jeder Wunſch geflammert hält? Den Lebenswürb’gen joll der Tod erbeuten? Ah! wie verwirrt fold ein Verluft die Welt! Ah! was zerftört ein folder Riß den Seinen! Nun weint die Welt, und follten wir nicht weinen ? Denn er war unfer! Mag das ſioize Wort Den lauten Schmerz gewaltig übertönen ! Er mochte fid) bei uns im fihern Port Nah wilden Sturm zum Dauernden gewöhnen. Indeſſen fchritt jein Geift gewaltig fort Ins Ewige des Wahren, Guten, Schönen, Und Hinter ihm in weſenloſem Scheine Lag, was uns alle bändigt, das Gemeine. Es glühte feine Wange rot und röler Ton jener Jugend, die uns nie entfliegt, Don jenem Mut, ber, früher oder ſpäler, Den Wiverjtand der ftumpfen Welt befiegt,

260 Sgiller im Spiegel der Zeiten.

Ton jenem Glauben, der ſich ſiets erhöhter Bald fühn hervordrängt, bald geduldig ſchmiegt, Damit das Gute wirfe, wachle, fromme, Damit der Tag dem Edlen endlich fomme. Auch manche Geiiter, die mit ihm gerungen, Sein groß Verdienft unwillig anerkannt, Sie fühlen ſich von jeiner Kraft durchbrungen, In feinem Kreife willig feiigebannt : Zum Höcften Hat er ſich emporgeihwungen, Mit allem, was wir fhägen, eng verwandt. So feiert ihn! Denn, was dem Mann das Leben Nur halb erteilt, fol ganz die Nachwelt geben. orhang.) Gobold der Vorgang gefallen, ertönt Glodengeläute, etwa wie bei einem Vegrabnis aus einer Dorflicche. Die vordere Wühne bleibt mod) bunfel. Sobald das Geläut verſtummt, wird es heller, und es erſcheint die Zeit.) Die Zeit. Ein ärmlich büfter brennend Fadelpaar, das Sturm Und Negen jeden Augenblick zu löſchen droht. Ein flatternd Bahrtuch. Ein gemeiner Tannenfarg Mit feinem Kranz, dem färgjten nicht, und fein Geleit, AS brächte eilig einen Frevel man zu Grab. Die Träger hafteten. Ein Unbekannter nur, Von eines weiten Diantels fühnem Schwung ummeht, Schritt diefer Yahre nah. Der Menſchheit Genius war's. Wauſe.) Und es verging die Zeit. Der Trauer Stunden, Wie ftark fie ſchmerzien, wurden überwunden. Der gute Genius aber, der geſchritten An Schillers Sarge, blieb in eurer Mitten, Er führt euch ftets aufs neue zu dem Meiſter, Veredelt und erhebt in ihm die Geiſter. Starb Schiller gleid), fo ward gegeben Im deutichen Haufe ihm ein neues Leben: Der Tell, die Jungfrau und der Wallenftein, As Hausgenoffen ziehen fie ba ein. Wie Brungild und Kriemhild in alten Zeiten, Sieht man Britanniens Königinnen ftreiten. Don Carlos, der Marquis, der Brüder Braut, Geftalten find es, jedem fo vertraut. AU feine Lieder leben ftets aufs neue Bon Freiheit, Frömmigkeit und Freundestreue,

Schiler im Spiegel der Zeiten. 281

Von mut’gem Ritlerkampf, von zartem Lieben, Ballaben find’s, bie ewig jung geblieben. Und mit der Glode ahnungsvollem Läuten Durchs ganze Leben mag er euch) begleiten. Ja, feines Geiftes Kraft läßt Herzen flammen Und fchmiedet wie zur Kette fie zufammen, Und zu des Himmels ewig heller Wahrheit Erhebt er fie mit feines Geiftes Klarheit, Läßt fie das Schöne, Wahre, Gute jehen, Und auc) die Jugend fann ihn ſchon verjtehen. Und es bewährt fid fo durch Hundert Jahr, Wie echt die Perle feiner Dichtung war.

Drum wendet nun von ber Vergangenheit, Die id) euch wies, den Blick auf eure Zeit. Führt ich euch ein in Weimars hohe Welt, So feid zu unjern Kleinen nun geftellt. Hab des Vergangnen Tor id eud) entriegelt, Seht, wie er fid in Knabenherzen fpiegelt, In Heitern Knaben aus ber Gegenwart, Die forglos bliden auf bes Lebens Fahrt.

Und wer die jungen Herzen höher fhwellt, Zum Spielen anzieht und im Spiel gefällt, Wer Mut und Liebe nährt, wer Sehnfucht wedt, Daß kühn der Knabe ſich nad) Taten ftredt, Wer ſtill verborgen lebenskräft'ge Saat Zum Wachstum in die jungen Herzen tat, Wer ftets aufs neu dem Guten Jünger wirbt, Der tat ein Werk, das nie und nimmer ftirbt. (Die Zeit tut einen Schwung mit ihrem Stabe und verjchmwindet.)

Dritte Szene,

Einen Augenbliet ift alles ſtil. Darauf Unruhe, es ertönt aus dem Hintergrunde

folgender Gefang:

Drum friſch, Kameraden, den Rappen gezäumt,

Die Bruft im Gefechte gelüftet !

Die Jugend braufet, das Leben ſchäumt,

Friſch auf, eh’ der Geift noch verbüftet!

Und feget ihr nicht das Leben ein,

Nie wird euch das Leben gewonnen fein.

Baltifie Wonatalchriſt 1900, Heft 4. 2

202 Stiller im Spiegel der Zeiten.

(Der Refrain wird vom Chor erft laut, dann leiſer, endlich aus ber Ferne gefungen. Sobald die Töne verhalft find, gebt der Vorhang auf. Lebhaft ftürmen drei Quartaner hinein: Harry, Erih, Arved.)

Harry. So, die Terlianer find glücklich fort. Erid. Und wir Quartaner haben das Wort. Arved. Was für ein Lieben jangen fie vor? Erid. Weißt du nicht, 's war ber Eoldatenchor

Aus dem Lager des Wullenftein,

Übten fid) das zu morgen ein. Arved. Möchle bei uns nur alles gut gehn

Und wir morgen das Rütli verftchn.

Daß wir's uns jelber ausgewählt,

Dir dabei doch am beften gefällt. Harry. Und wenn die Jungens fih morgen blamieren,

Heißt es, den Ordnern fie fchledht parieren. Erid. Ja, wir find dann an allem jchulb! Darry. Und wir übten mit vieler Geduld,

Da doch an Schillers Todestag

Niemand gerne zurücftehn mag.

Wollten es auch nicht ſchlechler machen,

As die Quintaner ihre Saden. Eric. Denft doch, was die ſich ausgebacht:

Führen die Ölode auf mit Macht,

Selber ſah id), wie fie die proben. Harry. Nun, das ſcheint mir doch ſehr zu loben. Erid. Hielt mir beinah den Bauch vor Lachen. Arved. Glaub nicht, daß fie's jo übel machen. Erid. Solche Knirpfe, drei Käſe had,

Preiſen der Liebe Glück und Jod),

Hoffen, daß ewig grünen bliebe

Ihnen die Zeit der erften Liebe.

(Erich und Harry lachen laut auf, Aroed bleibt ernft.)

Arved. Ad, um fih an Schiller zu freun,

Braucht man nod gar nicht groß zu fein. Harry. Wahr ifl's, als Onfel die Näuber geleſen,

Bin ich aud) mal dabei gewejen,

Hab fo Hinten im Dunfeln gejeifen

Und die Welt um mich rings vergeffen.

Und als id) Franzens Traum vernommen,

Da hab ich Gänfchaut befommen. Erich. Will’s faum glauben, iſt das jo ſchaurig?

Stiller im Spiegel der Zeiten. 288

Arved. Weift bu, die „Jungfrau“ machte mich traurig,

Hab im Theater fie mal gejehen,

Konnte alles famos verftehen.

Und was jo ſeltſam, id) bild’ mir’s nicht ein,

Daß es fo ſchön war, traurig zu fein.

Denn da war mir das Herz fo voll,

Wußt’ nicht, wo ich mic) laſſen foll,

Tät alle Menſchen noch einmal fo lieben,

Weiß nicht, was mich dazu getrieben.

Eric), wir hatten doch oft gejtritten,

Hat’ es noch ungern jüngft gelitten,

Daß du mir Schillers Gedichte genommen,

Die ic) damals zu Weihnacht befommen.

Aber nun hat mich's nicht mehr gefräntt.

Erid. Und dann haft du fie mir ja gefchentt. Arved. Ja, nun war mir's am liebften jo.

's fam nur deshalb, id) war jo froh,

Hätte did) damals umarmen Fönnen.

Erich. Ad, Hans Wunderlich biſt du zu nennen. Harry. Doch was jdwapt ihr, verliert die Zeit,

Die Sefundaner find gar nicht weit,

Um Halb acht fie ſchon aufmarfchieren

Und die Braut von Meſſina probieren.

Seht, daß die Zeit nicht nußlos vergeht

Und uns morgen das Rütli mißrät.

Auft nach Ginten:) Iſt num beifammen die ganze Schar? Stimme von hinten. Nein, es fehlen noch immer ein paar. Harry. Weiß nicht wer da fo tröbelig. Erich (u Harry). Find’ft du nicht, Arveb ift wunderlich. Arved. Was foll id machen, es rührle mic.

Nur wenn ih Schiller gefehn und gelefen,

Iſt mir fo ſeltſam zu Mut geweſen. Erid. einer Dichter, das ift ja wahr,

Solde gibt's alle paar Hundert Jahr.

Gab man neulich den Wallenftein,

Wollt’ für mein Leben gern da hinein,

Hätte mein Taſchengeld gern gelaffen,

Aber den Eltern wollt’ es nicht paſſen.

Immer noch es mich Fränfen tut.

Harry. Schad't nichts, der Tell ift ebenfo gut. Und nun fpielen wir jelber den Tell. >

204 Schiller im Spiegel der Zeiten.

Stimme von hinten. Nun fehlt niemand. Harry. Heran denn ſchnell! Jungens, fangt an mit dem Probieren! Und wir wollen fie lontrollieren. (Er zieht ſich mit den beiden andern Jungen hinter eine Auliffe zurüd. Die Vühne bleibt einen Augenblid Teer. Darauf beginnt das Spiel. Die Spieler find einfach foftümiert. Sie führen aus Schillers „Wilhelm Tell“ die 2. Szene des 2. Altes auf.)

Merhtdat, Baumgarten, Winkelried, Meier von Sarnen, Burkfart am üßef, Arnofd von Sewa, Alaus’von der Ffüe und no) vier andre Sandfeute, alle bewaffnet.

Met6tfat (uoch Hinter der Sync). Der Bergweg öffnet fi, nur frifd mir nad. Den eis erfenm' ich und das Krcuylein drauf; Wir find am ziel, hier it dus Mali. (Lreten auf mit Windlichtern) Winfefried. Herd! Sewa. Ganz leer. Meier. 's üt noc fein Landınann da. ir find Die Exften auf dem Mat, wir Unterwalbner. Melötfat. Wie weit it's in der Rad? Haumgerien. Der Feuerwäcter Vom Selisberg bat eben zwei gerufen. (Man hört in der Ferne Läuten.) Meter. Sit! Nord! Am Bäßel. Das Meitenglödlein in der Waldlapelle Mingt heil berüber aus dem Echwpyerland. Bon der Flüe. Die Unft iſt rein und trägt den Schall jo meit. Melätfal. Gehn einige und zünden Neisholy an, Dais c8 Ioh brenne, wenn die Männer Tommen. (Zwei Zanbleute gehen.) Sewa, 's ift eine fchöne Mondennact. Der See Liegt rubig da, als wie ein eher Spiegel. Am Bügel. Sie haben eine leichte Fahrt. Winderried (zeigt nad) dem See). 9a, feht! Seht derlbin! Scht ibe nichts? Meier. Was denn? Ja, wahrlich! Ein Regenbogen mitten in der Rad! Meißlfat. Cs it das Licht des Mondes, das ihm bildetn Fon der Ffüe. Das it ein feltfam wunberbares Zeichen! &5 Ichen viele, die das nicht gelehn.

Sewa. Cr it doppelt; jeht, cin bläfferer ficht drüber. Baumgarten. Cin Naden führt fucben drunter weg.

Meththal. Das ift der Stauffader mit feinem Kahn, Der Biedermann läht fih nicht lang erwarten. (Geht mit Baumgarten nad) dem Ufer.) jeter. Die Urner find es, die am längiten fäumen. m Zahet. Sic müfen weit umgehen durchs Ocbirg, Daß ſie des Landvogis Kundſchafi hintergehen. (Unterbefien haben die zwei Landlente in der Mitte des Plahes ein Feuer angezündet.) WMelhtfaf (am Ufer). Wer iſt da? Geht das Wort! Stauffader (von unten). Freunde des Landes.

Sqhiller Im Spiegel ber Zelten. 205

Alle gehen nach ber Tiefe, den Kommenden entgegen. Aus dem Kahn fteigen Stauffader, Itel Meding, Sans auf der Mauer, org im Hofe, Konrad Huun, Alrih der Schmied, Jon von Weller und noch drei andre Landleute, gleihjals bewaffnet. Ale (rufen). Willtommen ! (Indem die Übrigen in der Tiefe verweilen und ſich begrüßen, kommt Melchthal mit Staufiadher vorwärts.)

Melätdaf. O Herr Staufjaher! Ich hab’ ihm

Geiehn, der mich nidıt wiederfchen fonnte!

Die Hand Hab’ ic; gelegt auf feine Augen,

Und glühend Radıgefühl Gab’ ich gelogen

Aus der erlofchnen Sonne feines BlidS. Stauffaher. Sprecht nicht von Rache. Nicht Geſchehnes rähen,

Seproptem Übel wollen wir begegnen.

Jept fagt, was Ihr im Unterwaldner Land

Gejpajit und für gemeine Sach’ geworben,

Wie die Landleute deufen, wie Jr felbit

Den Striden des Verrats entgangen jeid. eräthal. Durd) der Surennen furdtbares Gebirg,

Auf weit verbreitet öden Eijcsfeldern,

Wo nur der heifte Cümmergeier Frächzt,

Gefang ith zu der Alpentrift, wo ſich

Aus Uri und vom Engelberg die Dirten

Anrufend grüßen und gemeinfam meiden,

Den Durft mir flilend mit der Gfetjcher Milch,

Die in den Runfen fdäumend niederquillt.

In den einfamen Sennhükten ehrt ich ein,

Dein eigner Wirt und Gaft, bis dab ich kam

Zu Wohnungen geiellig lebender Menfchen.

Exfejollen war in diefen Tälern Jchon

Der Huf des neuen Greuels, der gefchehn,

Und fromme Ehrfurcht ſchafte mir mein Unglüd

Vor jeder Pforte, wo id) wandernd Mopite.

Entrüftet fand id) dieſe graden Serlen

Db dem gewaltfam neuen Negiment;

Denn jo wie ihre Alpen fort und fort

Diefelben Kräuter nähren, ihre Brunnen

Öteichförmig fliehen, Wolten felbit und Winde

Den gleichen Strich umvandelbar befolgen,

So hat die alte Sitte Yier vom An

Zum Enfel unverändert fort beitanden.

Wcht tragen fie verwegne Neuerung

Im afıgewohnten gleiden Gang des Lebens.

Die harten Hände reichten fie mir dar,

Von den Wänden fangten ic die roffigen Schwerter,

Und aus den Augen bliyte freudiges

Gefühl des Muts, als ich die Namen nannte,

Die im Gebirg dem Sandmann heilig find,

Den eurigen und Walter Fürits. Was euch

Hecyt würde dünfen, ſchwuren fie zu tun,

Euc; ihwuren fie dis in den Tod zu folgen.

&o eilt id) ficher unterm heil’gen Schiem

Des Gaitred1s von Gehöfte zu Gchäfte.

Und ats ich Tam ins beimatliche Tal,

Wo mir die Vettern viel verbreitet wohnen

Als 10) den Vater fand, beraubt und blind,

206 Schiler im Spiegel der Zeilen.

Auf fremdem Stroh, von der Varmberzigteit Mildtät'ger Menſchen lebend Stauffader. Herr im Himmel! Welstgaf. Da weint ic nicht! Nicht in ohnmächt gen Tränen

Sol id) Die Araft des heiden Schmerzes aus,

In tiefer Bruft, wie einen teuren Schab,

Verfchloß ich ihn und dachte nur auf Taten.

IC) froch durch alle Krümmen des Gchirgs,

ARcin Tal war jo veritedt, ich jpäht' c5 aus;

Bis an der Öterjcher eisbededien Fuf

Erwartet‘ id) und fand bewohnte Hütten,

Und überall, wohin mein Fuß mid) truy

Zand id) den gleichen Hal der Tyranı

Denn bis an diefe feyte Grenze jelbit

Velchter Schöpfung, wo der ftarre Boden

Aufbört zu geben, taubt der Wögte Geiz

Die Herzen alle diejes biedern Bols

Erregt' ih mit dem Stadrel_ meiner Warte,

And unfer find fie all mit Herz und Mund. Staufader. Großes habt ihr in furzer Frit geleiftet. Merätdaf. Ich tat noch mehr. Die beiden Feſten find's,

Hofberg und Sarnen, die der Yandınann fürdtet;

Ten hinter ihren Felfenmällen {cirmt

Der Zeind fid) leicht und fhtdiget das Lund.

Wit eignen Augen wollt" id && erfunden;

Ich war zu Sarnen und befah die Burg. Stauffader. hr wagtet cud) biß in des Tigers Höhle? Zieltgat. Zah war verfleidet dort in Pilgerstract,

Id) fah den Landvogt an der Tafel jhmelgen

Ürteilt, ob ic mein Herz bezwingen Tann;

3% fab den ‚Feind, und ich erihlug ihn nicht. Stauffader. jührwahr, das Glüd war eurer Rühuheit hold.

(Unterdefjen find die andern Candleute vorwirts gefommen und nähern ich den beiden.)

Doc jego jagt mir, wer die Freunde find

Und die geredyten Männer, die euch folgten?

Mat mic) betannt mit ihnen, dab wir ung

Butraulich nahen und die Hergen öffnen.

Weler. er fennte end nicht, Herr, in den drei Yanden?

Ic, bin der Meier von Sarnen; dies hier iit

Wein Schweiterjohn, der Struty) von Wintelried. Stauffader. Ihr nennt mir feinen unbefannten Namen.

Ein Winfelried war's, der deu Drachen flug

dm Sumpf bei Weiter und fein Leben lieh

‚Su dieſem Strauß.

Winfiefried. Das war mein Ahn. Herr Werner. Meththaf (geigt auf zwei Landleute).

Die wohnen intern Wald, find gloſterleute

Won Engelsberg. -- Ahr werdet fie drum nicht

Verachten, weil fie eigme Leute find

Und nicht, wie wir, frei ſihen auf dem Erbe

Sie tieben’s Yand, find fonit auch wohl berufen.

Stauffadher (zu den beiden. Geht mir Die Hand. 8 preiſe ſich, wer feinem

Bit feinem Yeibe pflinyig üft auf Erden;

Doch Nedlichteit gedeiht in ſedem Stande.

Stiller im Spiegel der Zeiten. 27

Honrad Hunn. Das ift Herr Neding, unfer Altlandanmann. eier. 3) fenn’ ihm wohl, er iſt mein Widerpart, Der um ein altes Exbftüd mit mir vedhtet, Herr Roding, wir find Feinde vor Gericht; Hier find wir einig. (Schüttelt ihm die Hand.) Stauflader. Das ift brav geiprochen. Winkefried. Hört ihr? Cie kommen. Hört das Horn von Mei! (Heds und lints ſieht man bewaffnete Männer mit Winblictern die Felſen herabfteigen). Auf der Mauer. Seht! Gteigt nicht jelbit der fromme Diener Gottes, Der wärd'ge Pfarrer mit herab? Nicht jcheut er Des Weges Mühe und das Oraun der Nacht, Ein treuer Hirte für das Wolf zu jorgen. Baumgarten. Der Sigeift folgt ihm und Herr Walter Fürit; Doch nicht den Tel erblict' id) in der Menge.

Bafter Fürf, Röfelmann, der Parrer, Pelermann, der Cigrift, Kuoui, der Hirt, Wermi, der Jäger, Muodl, der Bilder umd noc) fünf andere Sandfeufe. le zufammen, dreiunddreihig an der Yahl, treten vorwärts und iteffen fic um das Jeucı Wafter Türk, So müfjen wir auf unferm eignen Erb’ Und väterlichen Boden uns veritohlen Qufammenfchleichen, wie die Mörder tum, Und bei der Nacht, die ihren Ichwargen Mantel Nur dem Verbreden und der fonnenjcheuen Verfgwörung leihet, unfer gutes Mecht Uns bolen, das dodh lauter iit und Mar, Steicywie der glanzuoll offne Schoß des Tages. Wetäläat. Lahr’s gut jein. Was die duntle Yacht geſponnen, Soll frei und fröhlich) am das Yicht der Sonneı Höffelmann. Hört, was mir Gott ins Herz gibt, Wir itehen bier ftatt einer Sandspemeinde Und fönmen gelten für ein ganzes Toll. op fait und tagen nad) den alten vräuchen Des Lands, wie wir's in rubigen Zeiten pflegen; Was ungefeplich ift in der Berfammlung, Entfuldige die Not der Zeit. Doch Gott Yit überall, wo man das Neht verwaltet, Und_unter feinem Himmel jtehen wir. Stauffager. Wobl, laht uns tagen nad) der alten Sitte; Sit. e6 gleich Nacht, fo Teuchtet unfer Red. Weräthat. In gleich die Zahl nicht voll, das Herz iſt bier Des gangen Volis die Weiten jind zugegen. Kunn. ind audı die alten Bücher nicht zur Vand, ie jind in unfre Herzen eingeſchrieben. Aöpelmann. Wohlen, jo jei der Hiny jopleid gebifbet. Ban pflanze auf die Schwerter der Gewalt Auf der Mauer. Der Sandesammann nehme feinen Blap, Und feine Waibel fteben ihm zur Sigrin. &s jind der Wöller dreie. Weldhem nun 9

ögenofien!

Kon

Melhtdat. Wir itchn zurüd; wir jind vie lebenden, Die Hilfe deiſchen von den mädy'gen Freunden.

288 Stier im Splegel ber Zeiten.

Stauffader. So nehme Uri denn das Schwert; fein Banner ‚Zieht bei den Römerzligen uns voran. Walter Fürfl. Des Schweres Ehre werde Schwyg zuteil; ‚Denn feines Stammes rühmen wir uns alle. Wörelmann. Den edein Wettftreit laht mich freundlich ſchlichten: Schwyb joll im Nat, Uri im Felde führen. Watter Fürf (reiht dam Stauffacher die Sawerter). So nehmt! Staufader. Nicit mir, dem Alter ſei die Ehre. Sm Hofe. Die meiiten Jahre zählt Ulrich der Schmied. Ruf der Mauer. Der Mann ift wader, dod) nicht freien Standes; Kein cigner Mann fan Richter fein in Schunp. Stauffager.. Sieht nicht Herr Neding hier, der Mtlandammann? Was _juchen wir noch, einen Würdigern? Warter Für. Er jei der Anımann und des Tapes Haupt! Wer dazu ftimmt, erfebe jeine Hände, (Alte heben die rechte Hand auf.) Weding (tritt in die Mitte). Ih kann die Hand nicht auf die Bücher legen, So jchmör" ich droben bei den em’gen Sternen, Daß id) mid) nimmer will vom Necht entfernen. (Man richtet die zwei Schwerter vor ihm auf, der Ring bildet ſich um ihn ber, Scywoyy hält die Mitte, reis ftelt fid Uri und linfs Unterwalden. Cr fteht auf jein Scyladhtfchwert geitägt.) Was iſt's. das die drei Wölfer des Gebirge Hier an des Sees unwirtlichem Geftabe Zufammenführte in der Geiſterſtunde? Was foll der Inhalt fein des neuen Bunde, Den wir bier unterm Sternenhimmel jtiften? Stauffader (tritt in den Wing). Wir fiften feinen neuen Bund; es it Ein uralt Bündnis nur von Väter Zeit, Das wir erneuern! Wiffet, Eidgenojfen! Ser, ob uns die Berge {heiden, fidh jelbit zegiert, So find wir eines Stammes doch und Bluts, Und eine Heimat fs, aus der wir zogen. Winkefried, So it cs wahr, wies in den Liedern fautet, Dah wir von fern her in das Sand gewallt? D, teilt’ ung mit, was Cud, davon befannt, Doh fic) der neue Yund am alten ftärte, Staufaher. Hört, was die alten Hirten fid ergählen. 68 war ein großes Volk, hinten im Lande Nach Mitternadt, das litt von fchwerer Teurung. In diefer Rot bejchloh die Sandsgemeinde, Dal je der zehnte Wrger nach dem Los Ter Väter Sand verlafje. Das geicah! And zogen aus, wehflagend, Männer uud Weiber, Ein großer Heerzug, nach der Mittagsionne, Yiit dem Schwert jid) Ichlagend durch, das deutfche Sand, Ris an das Hochland dieſer Waldgebirge, And cher nicht ermübdete der Zug, Wis dab fie famen in das wilde Tal, Wo jegt die Kuotta zwiſchen Wiefen_rinnt. Nic Menfchenfpuren waren hier zu fehen, Nur eine Hütte jtand am Ufer einfam, Tu jah ein Mann und wartete der Fähre Doc heftig wogete der See und war Nicht fahrbar; da beiahen fie das Sand

Schiller im Spiegel ber Zeiten.

Sich näher und gemabrten ſchöne Fülle Des Holges und entdedten gute Brunnen u

meinten, fid, im lieben Vaterland

finden. Da beichloffen fie zu bleiben,

Örbaueten den alten Fleden Ehwyt,

Und hatten mancyen jauren Tag, den Wald,

Mit weit verichlungnen Wurzeln ausjuroden.

Drauf, al$ der Yoden nicht mehr Onügen tat

Der Zahl des Volts, da zogen jie hinüber

Au jchwarzen Berg, ja, bis and Weihland hin,

Wo, hinter ei’gem Cifeswall verborgen,

n anbres Voll in andern Zungen fpridt.

n Sleden Stanz erbauten fie am Kernwald,

Den Slerten Altorf in dem Tal der Reuh

Doch blieben fie des Urfprungs jtets gedent;

Aus al den fremden Stämmen, die feitden ihres Sands fid angeiiedelt,

hiogyer Männer ji Heraus,

&8 gibt das Herz, das Blut jich zu erfennen.

(Reicht lints und rechis die Hand Lin.)

Auf der Mauer. Xa, wir find eines Yerzens, eines Bluts! Alte (ficy die Hände reichend). Wir find ein Volt, und einig woln wir Handeln.

Stauffader.

Die andern Völfer tragen fremdes Joch,

Aöffelmann,

Sie haben fi dem Sieger unterworfen.

&$ leben jelbit in unfern Sandesmarfen

Der Safjen viel, die fremde Pflichten tragen, un ihre Knechtfcjaft erbt auf ihre Rinder. wir, der alten Schweizer echter Stamm, ae Haben jteıs die reieit ung bewahrt. Nicht unter Füriten bogen wir daß Snie, Freiwillig wählten wir den Schirm der Raijer.

So iteht's bemerft in Naljer Friedrinjs Brief.

Stauflader. Denn herrenlos it aud) der Freiile nicht.

Ein Oberhaupt muß fein, ein höchiter Nichter, Wo man das edit mag jhöpfen in dem Streit. Drum haben unire Väter für den Boden, Den fie der alten Milonis abgewonnen, Die Ehr' gegönnt dem Kaifer, der den Herrn Sich nennt der deutfden und der welſchen Erde, Und, wie bie andern Freien feines Neid,

iym zu edelm Waffendienit gelobt; ft. der Zreien einy’ge Bid, Das Reich zu Ichirmen, dag fie Jelbit beichiemt.

ierhldat. Was drüber Üt, üt Mertmal eines Anechts. Staufader. Sic folgten, wem der Derib

erging, Dem Reichspanier und ſchlugen feine Schlachten. Rad) Weljcpland zogen fie gewappnet mit,

Die Hömerkron’ ihm auf das Yaupt zu jegen. Daheim regierte fie fidh fröhlich jelbit

Nadı altem Proud) und eigenem Geley;

Der höcfte Blutbamı war allein des Kaifers. Und dazu ward beitellt ein großer Graf,

Der hatte jeinen Sit nicht in dem Kande.

Wenn Bluiſchuld kam, jo rief man ihn herein,

Frei wählten wir des Heiches Schup und Schirm;

209

270 Schiller im Spiegel der Zeiten-

Und unter ofinem Himmel, ſchlicht und Far, Sprach) er da echt und ohne Furcht der Menicen. Wo find hier Spuren, dab wir Ancdhte find? ‚Zt einer, der es ander& weiß, der rede! Im Hofe. Mein, jo verhält ſich alles, wie ihr fprecht, Sewalterrjcjaft ward nie bei ung geduldet. Stauffader. Dem Sailer jelbit verjaglen wir Gehorfam, Ta er das Hecht zu Gunft der Mlaffen bog: Denn als die Ceute von dem Gotteshaus Einfiedeln uns die Ap in Anfprud nahmen, Die wir beweidet jeit der Wäter Zeit, Der Abt derfürgog einen alten Brief, Der ihm die herrenfofe Wüfte fchenfte Denn unfer Dafein Hatte man verheflt Da fpracien wir: „Erihlicyen iit der Brief! Kein Kaifer fan, was unfer iſt, vericenfen; Und wird uns Recht verlagt vom eich, wir fönnen In unfern Bergen aud) des Heide entbehren.” So fpraden unfre Väter! Sollen wir Des neuen Jodes Scändlichfeit erdulden, Grleiden von dem fremden Knecht, was uns In feiner Macht fein Raifer durfte bieten? Wir haben diejen Yoden uns erichaffen Durdh unfrer Hände ‚lei, den alten Wald, Der fonft der Bären wilde Wohnung war, Zu einem Sip für Menfchen umgewande Die Brut des Drachen haben wir getötel Ter aus den Sümpfen güftgeicwollen fig; Die Nebeldeete Haben wir yerriffen, Tie ewig grau um diefe Wirbnis hing, Den harten dels geiprengt, über den Abgrund Dem Wandersmann den ficern Steg geleitet; Unier iſt durch taufendjährigen Beſit Der Boden und der fremde Herrenfnecht Sol tommen bürfen und uns Ketten jhmieden Und Schmad, antun auf unjrer eignen Erde? Hit feine Hilfe gegen jolden Drang? (Eine große Bewegung unter den Sandleuten.) Nein, eine Grenze hat Tprannenmacht. Wenn der Gebrüdte nirgends Kedht Tann finden, Wenn unerträglich wird die Laft greift er Hinauf getroften Mutes in den Hinmel Und Holt herunter feine eigen Neihte, Die droben bangen unveräuberlich Und ungerbredjlich, wie die Sterne felbit Der alte Uritand der Natur tehrt wieder, Wo Menid dem Vienſchen gegenüberfteht Zum Iepten Mitel, wenn fein andre8 mehr Verfangen will, it ihm das Schwert gegeben Der Güter höcites dürfen wir verteid’gen Segen Gewalt. Wir gehn für unier and, Wir ftehn für unfre Weiber, unfre Kinder! Alte (ar ihre Schwerter jcpfagend). Wir ftehn für unfre Weiber, unfre Kinder! Böffelmann (irit in den Ring). (&h' ihe zum Schwerte geeitt, bedenft es wohl! Ihr fönnt es friedlid mit dem Kaifer jHlichten.

Schiller im Spiegel der Zeiten.

Es toſtet euch ein Wort, und die Tyrannen,

Die euch jegt fhmer bedrängen, fchmeicheln eud).

—- Ergreift, was man euch oft geboten hat,

Irennt euch vom Heid, ertennet Lftreids Hoheit

Auf der Mauer. Mas jagt der Parrer? Wir zu witreid, fhwören! Am Büßel. Hört ihm nicht an! Windefried. Das rät ung ein Verräter, Ein Feind des Landes! Weding. Hubig, Eidgenoffen! Sewa. Wir Oftreid Hulbigen, nad) folder Schmach Bon der Für. Wir uns abtropen lafen durch Gewalt, Was wir der Güte weigerten! Meier. Dann wären

Wir Stlaven und verdienten es zu fein!

Auf der Mauer. Der ſei geitohen aus dem Hecht der Schweizer,

Wer von Exgebung fpridt an „terreich!

Sandammann, id) beitche drauf, dies fei

Tas erfte Landögeich, das wir bier geben.

Welälhal. So Wer von Ergebung fpricht an Eftreich,

Soll retlos jein und aller Ehren bar,

Kein Landmann nehm’ ihn auf an feinen Feuer.

Alle (heben die rechte Hand auf). Wir wollen es, das jei Geſetz! Beding (nad) einer Paufe). Es it's. Höffelmann. Jeyt jeid ihr.frei, ihr ſeid's durch dies Geſet.

Nicht durch Gewalt foll Diterreich ertropen,

Was 8 durd, freundlich Werben nicht erhielt

Ion von Weiler. Zur Tagesordnung weiter! Heding. Eidgenofien !

Sind alle janften Mittel auch verjuct?

Vielleicht weiß «8 der König nicht; e& iſt

Wohl gar fein Wille nicht, was wir erdulden.

Auch dieies Lepte jollien wir verjuden,

Exit unfre stlage bringen vor jein Ohr,

&h' wir zum Schwerte greifen. Schredlic, immer,

Auch in gerechter Sache, ift Gewalt.

Gott Hilft nur dann, wenn Menfchen nicht mehr beifen. Stauffager (zu Konrad Hunn). Nun it's an euch, Bericht zu geben. Konrad Hunn. dh war zu Aheinfeld an des Kaifers Pial,

Biber der Vögte harten Drud zu Hagen,

Den Brief zu holen unfrer alten Freiheit,

Den jeder neue König fonft beftätigt.

Die Voten vieler Städte fand ic) dort,

Vom ſchwäd ſchen Yande und vom Lauf des Rheins,

Tie all’ erfielten ihre Pergamente

Und teheten fteubig wieder in ihr Land,

Bid, enren Voten, wie man an die Näte, ie entfiehen mid mit leeren Troft:

„Der Kaijer habe diesmal feine Zeit;

„Er würde fonit einmal wohl an uns denten.” Und als ic, traurig durch die Säle ging Der Aönigsburg, da fah ich Herzog Haufen einem Grfer weinend ftehn, um ihn

ie edveln Herrn von Wart und Tegerfeid.

e riefen nie und fagten: „Helft eud jelbit! „Gereshtigfeit erwartet nicht vom Stänig. „Beraubt er nicht des eignen Bruders Kind,

arı

Redet!

Sciller Im Spiegel der Zelten.

. Und Ginterhäft ihm fein gerechtes Erbe? „Der Herzog fleht' ihm um fein Mütterliches, „Er habe feine Jahre voll, e8 wäre Run Zeit, aud, Sand und Leute zu regieren. „Was ward ihm zum Belceid? Ein Aränlein jept' ihm „Der Raifer auf: das fei die Bier der Jugend.” Auf der Mawer. Zhr habı's gehört. echt und Gerechtigkeit Erwariet nicht vom Haiſer! Helft euch jelbit! Heding. Nichts anders bleibt uns übrig. um gebt Nat, Wie wir e6 flug zum rohen Ende leiten. Wafter Hürfl (tritt in den ing). Abtreiben wollen wir verhahten Zwang; Die alten Rechte, wie wir fie ererbt von unfern Vätern, wollen wir bewahren, Nicht ungezügelt nach dem Neuen greifen. Dem Kailer bleibe, was des Kaiiers lt, Wer einen Herrn hat, bien’ ihm. pflichtgemäb. Meier. Ich trage Gut von Ljterreich zu Lehen. Wafter Fürf, hr fahret fort, Oftreich die Pflicht zu leiten. Iof von Weiler. Ich teure an die Herm von Happersmeil. Watter Fürh. Ihr fahret fort, zu zinfen und zu jteuern. Aöpelmann. Der groben Frau zu Zürich bin id) vereid Balter Fe Ihr gebt dem Kloiter, was des Softers ilt-

Stauffaher. Ich trage feine Sehen, als des Heidhs. Walter Fürk, Was fein muß, das geſchehe, doch nicht drüber. Die Vögte wollen wir mit ihren Sneten Verjagert und die feiten Schlöfier bredien; Doch, wenn es jein mag, ohne Blut. (8 fehe Der Kaifer, datz wir notgedrungen nur Der Ehrfurit fromme Pflichten abgeworfen. Und fieht er uns in unlen Schranfen 6 Vielleicht befiegt er ftaatsklug feinen Zorn! Denn bil’ge Furcht erwedet id, ein Lolt, Das mit dem Schwerte in der Fauſt fih mäßigt. Beding. Doc; laffet Hören, wie vollenden wir's? €5 hat der Zeind die Waffen in der Hand, Und nicht fürwahr in Srieden wird er meiden. Stauffader. Er wird's, wenn er in Waffen ung erblidt; ‚Wir überrafchen ihn, ch’ er fich, rüftet. Meier. Jit bald geiprochen, aber fchwer gelan. Uns ragen in dem Land zwei jeite Cchlöffer, Die geben Schirm dem Zeind und werden furdtbar, Wenn uns der König in daS Sand folt’ fallen. Hoßberg und Sarnen muß, bejwungen fein, Eh’ man ein Schwert erhebt in den drei Landen. Stauffader. Säumt man jo lang, jo wird der Zeind gewarnt; ‚du viele find’s, die das Geheimnis teilen. WMeler. In den Walvftätten find’t jich fein Verräter. Zogelmann. Der Eifer auch, der gute, fann verraten. Walter Für. Sciebt man es auf, jo wird der Twing vollendet In Altorf, und der Vogt befeitigt fi. Meier. hr denft an euch Sigrif. Und ihr feid ungerecht, Meter (auffahrend). Wir ungereht! Das darf uns Uri bieten! Deding. Yei eurem Cide, Hub! Meier. 3a, wenn fih Schwyy Verfteht mit Uri, müffen wir wohl ſchweigen.

Stiller im Spiegel ber Zeiten. 273

Reding. Ih muß euch weiſen vor der Sandegemeinde, Daßz ihr mit heft'gem Sinn den Frieden ftört! Stehn wir nicht alle für biejelbe Sache?

Windefried. Wenn wie's verſchieben dig zum Feſt des Herrn, Dann bringt's die Sitte mit, dab alle Saffen Dem Bogt Gefchente bringen auf das Schloh. &o fönnen zehen Männer oder zmölf Sieh unverbächtig in der Burg, verfammeln,

Die führen heimlich fpig’ge Eifen mit,

Die man geigwind fan an die Stäbe jtedten, Denn niemand fommt mit Waffen in die Burg. Zunächft im Wald hält dann der große Haufe, ind, wenn die andern glüdlich fi des Tors Ermäctigel, fo wird cin Hom aeblafen,

Und jene brecen aus dem Hinterhalt.

‚So wird das Sıploß mit leichter Arbeit unier. Metätfat. Den Rohberg übernehm’ ich zu erfteinen, Denn eine Dir’ des Schlofies iſt mir hold,

Und Leicht betör' ich fi, zum nächtlichen

Veluc, die fcpwante Yeiter mir zu reichen;

Bin ich droben erft, yich' ich Die Freunde nach. Reding. Js aller Wille, dab verichoben werde?

(Die Mehrheit erhebt die Hand.)

fauffaher Gählt die Stimmen). Es iſt ein Mehe von zwanzig gegen zwolf! alter Für. Wenn am bejtimmten Tag die Burgen fallen, So geben wir von einem Berg zum andern Das zeichen mit dem Hauch! Der Landiturm wird Aufgeboten, jdnell, im Hauptort jedes Landes! Denn dann die Wögte jehn der Waffen Ernil, Glaubt mir, fie werden fid) des Streits begeben Und gern ergreifen. friebliches Gelcit Aus unfern Yandesmarten zu entweichen ffader. Nur mit dem Gehter fürdht' id jhmeren Stand, Furdtbar ift er mit Heifigen umgeben Nicht ohne Blut räumt er das Feld, ja, jelbit Verteichen bleibt er furchtbar mod) dem Land. Schwer it's und fait gelägrlich, ihn zu fchonen. Baumgarten. Wo's halsgefährlich it, da ftellt mich hin! Dem Zell verdanf” id) mein gerettet Yeben. Gern feplag' ich's in die Schanze für das Land, Mein Chr’ Hab id, beichüt, mein Herz befriedigt. Mebing. Die Zeit bringt Rat. Ermartet’s in Geduld, Man muß dem Kugenblic auch was vertrauen. Doch jeht, indes wir wächtlich hier noch tagen, Stellt auf den höcjften Bergen [con der Morgen Die glüg'nde Hochwadht aus. Kommt, lat uns jcheiden, &y' uns des Tages Leuchten überrafht. Balter Für. Sorgt nicht, die Ract weicht laugſam a8 den Tälern. (Aue haben unwillfürlich die Hüte abgenommen und betrachten mit ftiller Sammlung dic Morgenröte.) Nöffelmann. Bei dieſem Licht, das uns zuerſt begrüht, Yon allen Völfcen, die tief unter uns Sawer atzund wohnen in dem Cualm der Yabı ung den Eid des neuen Bundes jwören.

I,

ar Stiller im Spiegel ber Zeiten.

Bir wollen fein ein einzig Bolt von Brüdern, Im feiner Not nns trennen und Gefahr. (Ale ſprechen es nach mit erhobenen drei Fingern.) Bir wollen frei fein, wie die Väter waren, Eher den Tod! als in der Ancchtfchaft Icben. (Mic oben.) Wir wollen trauen auf den höriten Gou Und uns nicht fürchten vor der Macht der Menfhen. (Wie oben. Die Landlcute umarnıen einander.) Stauffader. Jeht gehe jeder feines Weges till Zu feiner Freundſchaft und Gcnohfame. Ber Hirt iit, wintre ruhig feine verde Und werb’ im Stillen Freunde für den Bund. Was not bis dahin muß erdulbet werden, Erdulders! Labt die Hechnung der Iyrannen Anwacen, bi cin Tag die allgemeine And bie befondre Schuld auf einmal zahlt. Bezägme jeder die geredite Mut Und Ipare für das Ganze feine Hadıe; Denn Raub begeht am allgemeinen Gut, Wer felbit ſich Hilft in feiner eignen Sucht.

Wahrend die Spieler in der größten Ordnung abzichen, ftürzen die drei Qnartaner und mit ihnen \chon Sehumdaner yincin. le fatjchen und rufen laut: Brano ) Erich (zu Arved). Brav war's, gefiel’s div ebenfo? Arved. Herrlich, herrlich! Ich bin fo froh!

(Während Arveb den Erich) umarmt, immer neue Sclundaner auf bie Vuhne itrömen, und das Orchefer mit einem prachtvollen Schwunge einicht, fällt der Vorhang.)

Die Zeit (riu auf). Aus junger Rnaben frohbewegtem Munde Vernahmt ihr ſchwerer Dinge leichtes Spiel, Und heiter zeigten fie zu guter Etunde End) eines jtarfen Volkes ernites Ziel. Doc) auch von unfrer Jugend gab es Aunde, Und was darin von Herzen kam, gefiel, Daß an das Schöne ihren feſten Glauben Des Zweifels jpige Yümmer nicht zerflauben. Die Jugend hat den Glauben, doc) es laden Sie taufend Stimmen lodend in die Welt, Sie gaufeln blauen Dunſt und bringen Schaden, Mo ihr Belrug dem Herzen, ad), gefällt. Drum gilt’ im Meer des Schönen neu zu baden, Damit die Seele fi) gejund erhält, Und auch den Wann die Dichtung nod) beglüdte, Die eint den Anaben aus der Welt entrüdte. Was wird die Zukunft bringen? Bange Frage, Die in manch frommes Herze traurig klingt.

Schiller im Spiegel ber Zeiten. 275

Statt froher Hoffnung ift es herbe Klage, Die aus des Zweiflers Munde zu uns dringt. Drum dieſer Stab aus eurer Zeit euch trage Hin zu der Zukunft Pforte, die ba fpringt, Sobald mein mächtig Zauberwort ergangen: Da mögt ihr Offenbarung felbft empfangen. (Die Zeit bewegt ihren Stab und verfchwindet.)

Vierte Szene.

Der Vorhang gebt auf. Man ficht ein geſchmackooll eingerichtete Zimmer. An den Wänden Gemälde. Rechts cin Feniter, das verhängt ift. Sins ein Zifeh mit Yüceen und Schreibwtenfilien. Daneben ein Hoher Lehnftuhl. Auf dem Lifch brennen zwei heruntergebranmte Kerzen. Auf dem Lehnituhl figt der Vürgermeiiter Helnrih. Cr Hat auffallende Ahnlichleit von Grsgorio, ift aber viel jünger und ſchöner. Cr üt einfach, aber mit Gefchmad gefleidet. Es ift Nacht.

Heinrich. Wie habe ih mid) auf diefen Tag gefreut, und nun er anbricht, bangt mir. Mas hat es für Arbeit und Sorge gegeben, bis diefer Augenblid erreicht ift und wir unfer Volkshaus eröffnen. Es hat lange gedauert, daß Die Saat gereift if. Das war doch ſchon am Anfang unfres Jahrhunderts, daß die ideen auflfamen von Hunt und Voll. Man iſt Schritt vor Schritt vorwärts gegangen, und ber Weg war weit. Nun neigt fid das zwanzigſte Jahrhundert dem Ende zu, und der beſcheidene Anfang hat einen herrlichen Fortgang genommen. Wie haben ſich die Stätten gemehrt, ba die Künfte ein Heim gefunden aud fürs Voll. Nun find es nicht mehr einzelne Diufeen und Theater in den großen Städteu, es ſprießt und wächſt allenthalben. Ya, Kampf und Arbeit hat's freilid) gegeben, bis aud wir fo weit gefommen. Aber es iſt gelungen, die Willigfeit der Menge ift nicht erlahmt, das Haus ftcht errichtet, und jede edle Kunſt foll dort Pflege finden. Schon höre id) die Oratorien, die dort vor Taufenden von Arbeitern gegeben werben, id) ſehe die Volksſchau— fpiele, ich wandle in der Halle großer Meifter.

Und auch ich hab nicht gefeiert. Ich bin ruͤſtig dabei geweſen, manch ſchlafloſe Nacht hat's mich gefoftet. Aber es ift doch mas dabei herausgelommen, und das Vertrauen bes Volfes ijt mir ein ſchoöner Lohn. Ich darf es mir geftehen: nicht mein Amt, meine Stellung, ſondern diefes Vertrauen hat mic) zum Redner des feſt— lichen Tages beftimmt. Stolz darf id es fagen.

278 Sghiller im Spiegel der Zeiten.

Und dennoch bangt bir? Dennod) bangt mir. Wohl fteht das Haus gejimmert und gefügt, Doch ad) es wanft der Grund, auf bem wir bauten.

Ein andres if’s, der Kunſt ein Haus zu bauen, ein andres, ſtill und jtetig der Kunft zu dienen, der großen und echten. Wird die Menge das fönnen? Und wenn nicht, was nüßt all unfre Mühe? Ich bin, weiß Gott, mein Tage fein Kopfhänger geweien, aber das Geſpenſt unfrer Zeit hat auch mid) geichredt. Mir it's manchmal, als fähe ich's feibhaft mit diefen meinen Augen: eine gleikende Frauengeſtali mit ftolzem Gang, üppigen Lippen und verführerifhen Augen. Aber mit frecher Stirne und läjternder Zunge. Cie trägt eine Fadel, die erregt einen Brand von der Erde bis in den Himmel, und jterben joll daran alle göttliche und menſchliche Autorität, nur das Ich foll bleiben und der Genuß. Und will man das Heer diefes Weibes zählen, jo iſt's Legion. D, es gibt Stunden, da will's mich dünfen, daß die guten, fried- lichen Mächte entflohn find auf immer und der alte Gott gejtorben. Wird auf folhem Boden nicht aud die Kunft erſticken müſſen? Fortſchritt, Fortſchritt, wie weit haft du uns gebracht! Was gäbe id) um bie fete Zunerficht, dal; du uns die allen Ideale der heiligen Ordnung. der hohen Kunft, der ewigen Neligion nicht vauben fannjt! Um cin Zeichen, daß fie nod) walten in unſrer Mitte. O daß ich fie heraufbeſchwören fünnte und fic nimmer von uns wichen !

Ja, wer das erlöfende Wort fände für unfre Zeit, wer die Macht hätte, fortzureißen und zu erheben! Es müßte gewaltig geredet werben zu dieſem Geſchlecht, fie würden’s vernehmen. An einem Feſttag wie morgen, ad), ba drückt's mid, daß fein Gröferer fpreden Tann als id. Wie wird mein armer Mund ein Wort der Kraft finden, Funken fprühend, die in Taufenden zur Flamme werben.

(Er fpringt auf und geht zum Vordergrund.)

(Schr lebhafi) O wär uns ein Prophetenmund verlichn,

Daf feine Zunge, dröhnend Erz geworden,

Das Volk zur großen Wahrheit machtvoll rief!

Wir brauden Wahrheit.

Jept gib uns einen Vienfchen, gute Vorſicht

Du Haft uns viel gegeben. Schenke uns

Den jelt'nen Mann mit reinem, offnem Herzen,

Dit hellem Geift und unbefangnen Augen,

Der uns fie finden helfen kann ich ſchütte

Stiller im Spiegel der Zeiten. a7

Die Loſe auf; laß unter Taufenden Den Einzigen mid) finden! (Ex Hält inne. Darauf in ganz veränderten Tone.) Doch ſtill, mein Herz, bie Großen find entflohn. (Er fept ſich.) Beſcheide dich und horche auf ben Wink, Den dir ein guter Geift, das Volk zu meilen, Zur rechten Stunde häufig hat gegeben. Dod nun genug der einfam ftillen Zwieſprach, Der mübe Leib verlangt ein Stünbden Ruhe! (Sr ſchlaſt ein. Aus dem Hintergrunde ertönt eine fanfte, einfcgmeichelnde Muſit. Hierauf erfcheint der Gentus der Poefe, im Arm eine Leier.) Genius. Mic hält fein Band, mich feffelt feine Schranke, Frei Schwing ich mich durch alle Räume fort. Mein unermeßlich Reich iſt der Gebante, Und mein geflügelt Werkzeug iſt das Wort. Mas ſich bemegt im Himmel und auf Erden, Was die Natur tief im Verborgnen |dafft, Muß mir entfchleiert und entfiegelt werben, Denn nidts beſchränkt die freie Dichterfraft; Doch Schön’res find’ ich nichts, wie lang ich wähle, As in ber ſchönen Form bie jchöne Seele. (Der Genius teitt zum Schlafenden und berührt feine Lippen. Während defien fpricht ex:) Du ftehft in des größeren Herren Pflicht, Du gehordjit ber gebietenben Stunde. Wie in den Lüften ber Sturmwind faujt, Dan weiß nicht, von wannen er kommt und brauft, Wie der Quell aus verborgenen Tiefen, So des Sängers Lied aus dem Innern fallt Und wedet der dunkeln Gefühle Gewalt, Die im Herzen wunderbar fchliefen. (Gr geht ab. Aus dem Hintergrunde ertönt ein ®elang:) Beſchwichtigend naht euch, ihr guten Gewalten Und ftärfet bem Guten die Zuverfiht; Ob mächtige Kräfte die Feinde entfalten, Ihr bleibt, ihr feid da, ihr entſchwindet ihm nicht! Eine Frauengeftalt mit einem Palmenzweige tritt auf, die friedliche Ordnung darftellend.) Die Ordnung. Sieh mich hier, die Segenreiche, Sieh die Ordnung, die das Gleiche Frei und leicht und freudig bindet, Baltilie Monatafcrift 1008, Heft & 8

278 Schiller im Spiegel der Zeiten.

Die ber Städte Bau gegründet, Die herein von den Gefilden Nief den ungefell'gen Wilden, Eintrat in der Menſchen Hütten, Sie gemöhnt zu fanften Sitten, Und das teuerfte ber Bande Wob, den Trieb zum Vaterlande. Meinen Pfab begleitet Segen, Taufend fleiß'ge Hände regen, ‚Helfen fid in munterm Bund, Und in feurigem Bewegen Werben alle Kräfte fund. Meifter rührt ſich und Gefelle In ber Freiheit Heil’gem Schub; Jeder freut ſich feiner Stelle, Dietet dem Verächler Trug. Arbeit ift des Bürgers Zierde, Segen ift der Mühe Preis: Ehrt den König feine Würde, Ehret uns ber Hände Fleiß.

(Sie neigt ihren Palmenzweig gegen den Schlafenden und gebt in den Hinter: grund. Dierauf tritt eine Frauengeftalt auf, die Auf darftellend. Sie hat

ein buntes und fChönes Gewand. In ber Hand eine Statuette.)

Die Kunſt. Wie ſchön, o Menſch, mit beinem Palmenzweige

Stehft du an des Jahrhunderts Neige In ebler ſtolzer Männlichkeit, Mit aufgeichloinem Sinn, mit Geiftesfülle Boll milden Ernfts, in tatenreiher Stille, Der reiffte Sohn der Zeit.

Berauſcht von dem errungnen Sieg, Verlerne nicht, die Hand zu preifen, Die an des Lebens ödem Strand Den mweinenden verlaßnen Waifen, Des wilden Zufalls Beute, fand, Die frühe ſchon der fünft'gen Geiſterwürde Dein junges Herz im Stillen zugefehrt Und die befledende Begierde Von deinem zarten Buſen abgewehrt, Die Gütige, die beine Jugend In hohen Pflichten fpielend unterwies Und das Geheimnis der erhabnen Tugend In leichten Rätjeln did) erraten ließ.

Schiller im Spiegel der Zeiten. 29

Im Fleiß kann dich die Biene meiftern, In ber Gejcidlichfeit ein Wurm dein Lehrer jein, Dein Wiffen teileft du mit vorgezognen Geiſtern, Die Kunft, o Menſch, haft du allein. Nur dur das Morgentor des Schönen Drangft du in ber Erfenntnis Land. An höhern Glanz ſich zu gewöhnen, Übt fi am Neize der Lerftand. Was bei dem Saitenklang der Mufen Mit fühem Beben did) durchdrang, Erzog die Kraft in deinem Bufen, Die fid) dereinft zum Weltgeift ſchwang. Was erſt, nachdem Jahrtaufende verfloſſen, Die alternde Vernunft erfand, Lag im Symbol des Schönen und des Großen Voraus geoffenbart dem kindiſchen Verftand. (Sie geht in den Hintergrund. Cine Frauengeftalt tritt auf, die Tetigion darfteilend. Sie it äußerft ſchlicht gekleidet, nur mit einem Stern geimüdt, den fie auf dem Haupte trägt.) Die Religion. Drei Worte nenn’ id) euch, inhaltſchwer, ie gehen von Munde zu Munde; Doc) ftammen fie nit von außen her, Das Herz mm gibt davon Kunde. Dem Menſchen ift aller Wert geraubt, Wenn er nicht mehr an die drei Worte glaubt. Der Menſch ift frei geihaffen, üft frei, Und würd' er in Ketten geboren, Laßt euch nicht irren des Pöbels Geſchrei, Nicht den Mißbrauch rajender Toren! Bor dem Sklaven, wenn er die Kette bricht, Vor dem freien Menſchen erzittert nicht! Und die Tugend, fie ilt Fein leerer Schall, Der Menſch kann fie üben im Leben, Und ſollt' er auch ſtraucheln überall, Er fann nad) der göttlichen jtreben, Und was fein Verſtand ber Verſtändigen fieht, Das übet in Einfalt ein kindlich Gemüt. Und ein Gott ift, ein heiliger Wille lebt, Wie auch der menfchlihe wante; Hoc über der Zeit und dem Raume ıwebt Lebendig der höchſte Gedanke,

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280 Schiller im Spiegel der Zeiten.

Und ob alles in ewigem Wechſel kreiſt, Es beharret im Wechfel ein ruhiger Geift. Die drei Worte bewahret euch, inhaltſchwer, Sie pflanzet von Munde zu Munde, Und ftammen fie gleich nicht von außen her, Euer Innres gibt davon Kunde. Dem Menſchen ift nimmer fein Wert geraubt, Solang er noch an bie drei Worte glaubt. (Sie reicht den beiden andern Geflalten die Hände, und fic gehen, mie grühend, einmal um deinrich herum und dann ab, während aus dem Hintergeunde fols gender Gefang ertönt:) So halte den Glauben an gute Gewalten, Es wachſe dem Guten die Zuverficht; Ob mächtige Kräfte die Feinde entfalten, Wir bleiben, wir find, wir entſchwinden bir nicht! Heinrich Erwacht). Mie herrlich hat der Sorgenlöfer Schlaf Die fummervolle Seele leis beſchwichtigt Und von der Stirn des Unmuts ſchwere Falten Mit fanften Händen freundlidy mir geglättet. Ein Genins hat die Lippen mir berührt, Der Glaube ift ins Herz zurüdgelehrt, Daß uns die gulen Mächte nicht verlaſſen, Die Friede bringend uns zum Höchſten leiten. Id) bin bereit zu jedem großen Werke, Das Aug’ ift hell, der Mund ift aufgelan, Das Ohr vernahm die Botlſchaft, die zu bringen. Löſch aus das Licht der Nacht, der Tay ift ba. (Gr Löfcht die Lichter aus, geht zum enfter, ſchlagt den Vorhang zurüd und öffnet das Fenfter. Ein Strom von Licht flutet Herein.) Sei mir gegrüßt, du glängend Taggeitirn, Das Licht und Luft zu neuen Taten gibt, Wie jubelnd ſchlägt mein Herze dir entgegen! Ein Strom von Glück quillt frifh mir durch die Adern, Und wo ich eben noch im Dunfeln zagte, Da ftellt ſich mir fo dufts und lichtumfloſſen Nun eine Welt von Wundern vor das Auge. Mi Freuden blid ic) auf das Volfshaus drüben Und ahne drin, gleichwie in blauer Ferne, Erfüllung meiner Hoffnungen und Wünſche. (Er Ichnt ſich aus dem Fenfter.) Doch feh ich richtig, wo nod) jüngſt die Säule Der Büſte aus des Volkes Hand erharrte,

Stiller im Spiegel der Zeiten. E11

Da ift der Pla befegt. (Ex fieht genauer hin und fährt lebhaft fort.) Ih täufch mich nicht. Sie find es, unfres Schillers traute Züge, Das Volt hat ihn zum Helden felbft erwählt, In ihm ehrt es die alten großen Güter. (Man hört aus der Gerne Stimmengemirr.) Und wogenartig hör ich's näher braufen, Da nahn fie ſelbſt in buntem Feftgedränge, Dit Kränzen und mit Zweigen ausgerüftet. Wie heiter jung und alt zujammenftrömen, Die frohe Stunde würdig zu begehn. Schon find fie da, fie haben mid) erblidt, Sie ſchwenken ſchon die Mützen, wehn bie Tücher, Sie mahnen mid), die Feier zu eröffnen, Schon drängen fie fih um den teuren Dichter. Und Seitesflänge höre id} von fern. (Gr lehm fi aus dem Fenfter und mie faut zur Menge. Diefe verftummt völlig. Mitbürger, Freunde, Dank euch, taufend Dank! Wie macht mich eure Freude boppelt froh, Wie bin id) jtarf und glüdlic, eud) verbunden, Wie treibt’s mich, an des treuen Volles Spitze, Den großen Zielen jugendlich entgegen! (Er tritt vom Fenſter zurüd, in die Mitte der Bühne. Das Folgende ſpricht er freudig bewegt, anfangs finnend, zum Schluß lebhaft.) Die Zeichen der Zeit bedenke, Wem Kummer das Herze plagt, Gen Morgen die Blide er lente, Woher es noch immer getagt. Und ſchöpfe neues Vertrauen Zu mut’gem Vorwärtsgehn, Wer nur verjteht zu ſchauen, Der wird auch Wunder fehn. Und wo ihm Alter geſchwanet, Da fprieen die Knofpen aufs neu, Wo Wanfelmut er geahnet, Da ſchlagen bie Herzen treu. So warb der Zweifel beſchworen, Er war nicht wohlgetan, Was echte unit geboren, Zieht ewig die Herzen an.

282 Schiller im Spiegel der Zeiten.

Drum auf zum feitlihen Rreife, Wo man Großes und Schönes genießt, Da jei denn in feſtlicher Weiſe Der Große nod einmal begrüßt !

(Während er raſch abgeht, fült der Vorhang. Aus dem Hintergrunde ertönt Buüit, die feierlich anjgwilt. Darauf hört man folgenden Geiang:) €s reden und träumen die Menden viel

Von beijern fünftigen Tagen;

Nach einem glüdlihen, goldenen Ziel

Eieht man fie rennen und jagen.

Die Welt wird alt und wird wieder jung,

Doch der Menſch hofft immer Verbefjerung. Die Hoffnung führt ihn ins Leben ein,

Sie umflattert den fröhlichen Knaben,

Den Jüngling lodet ihr Zauberidein,

Sie wird mit dem Greis nicht begraben;

Denn beichlieht er im Grabe den müden Lauf, Noch am Grabe pilanzt er die Hoffnung auf. Es ift fein leerer, ſchmeichelnder Wahn,

Erzeugt im Gehirne des Toren.

Im Herzen fündet es laut ih an:

Yu was Beljerm find wir geboren;

Und was bie innere Stimme jpridht, Das täuscht die Hoffende Seele nicht.

Fünfte Szene.

Der Vorhang geht auf. Man fieht von Sorbeerbäumen umgeben Schilets Büte. Männer, Frauen und Kinder ftehen in digpter Schar herum. Die Männer Halten Lorbeerzweige, Die Frauen und Kinder Ylumen. Kart an der vaſte jteht Keinrich, einen Lorbeerkrang in der Hand. Heinrid) (zur Büſte gewandı). Dem heitern Himmel ew'ger Kunjt entjtiegen, Die Jüngerſchar begrüßejt du, Und aller Augen, alle Herzen fliegen, O Herrlicher, dir zu! Frauen (fingen). Des Lenzes friihen Segen, O Meijter bringen wir, Vetränte Rränze legen Wir fromm zu Männer (fingen). Der in die beutiche Leier Mit Engeljtimmen fang,

Schiller im Spiegel der Zeiten. 288

Ein überirdiſch Feuer In alle Seelen ſchwang; Der aus der Muſe Blicken Selige Wahrheit las, In ew'gen Weltgeichiden Das eigne Weh vergab; Frauen (fingen). Ad, der an Herz und Eitte Ein Sohn der Heimat war, Stellt fih in unjrer Mitte Ein Hoher Fremdling dar. (Der Geſang bright plöglich ab.) Heinrid. Dod) jtille! Hoch! Zu feierlichen Lauſchen Verftummt mit eins der Feſtgeſang: Wir hörten deines Adlerfittiche Rauſchen Und deines Bogens ſiarken Klang! (Einen Augenblic ift alles ſtil. Darauf nähert ſich deinrich der Büfte Schillers und fpricht Selig, welden die Götter, die gnädigen, vor ber Geburt ſchon Liebten, weldien als Kind Venus im Arme gewiegt, Welchem Phöbus die Augen, die Lippen Hermes gelöfet, Und das Siegel der Madıt Zeus auf die Stirne gebrüdt! (Bei den lebten Worten befrängt Heinrich die Vuſte. Im felben Wugenblic werfen alle ihre Zweige und Blumen vor die Büfte Cautes Rufen erfalt.) Alle. Heil! Heil! Schillers Andenken! Heil! Heil! Gregorio und Aufefmo find aufgeitanden; Gregorio, ſichtlich gerührt, Hat Anfelmo die Hand gedrüdt, fie haben ſich der Bifte genähert. Wenn alte ih beruhigt Haben, ruft Öregoriv laut :) Gregorin. Gr fehl jnt, umeulöcl Anfelmo. Unvergefi Wahrend der lehten Worte ift die Zeit, aus dem Hintergrunde fommend, durch Die Menge gefchritten. Cie ftellt fid) ganz voru hin, neben die Vüfte gegenüber Yeineich, und fprit die Scylupworte, zum Publifum gerichtet:) Die Zeit. So bleibt er uns, der vor jo vielen Jahren Schon hundert find’s! von uns ſich weggefehrt! Wir haben alle jegenreid erfahren, Die Welt verdank' ihm, was er jie gelehrt; Schon längft verbreitet ſichs in ganze Scharen, Das Eigenfte, was ihm allein gehört. Er glänzt uns vor, wie ein Komet entſchwindend, Unendlid) Licht mit feinem Licht verbindend. (Während der Vorhang fült, jept das Orcheſter prachtvoll ein.)

die Kunit als Guangeliun bei Sthiller.

&in Efiay von Oberlehrer cand. theol. E. Kröger.

u Motto: Ernſt ift das Leben, a heiter iſt die Aunit. 5 hoher fittlicher Ernſt und reinfte Freude einander nicht ausichließen, zeigt uns ein Blick auf die Religion. Hier tritt uns, wie ein Negenbogen auf bunfeln Wolken, das Evangelium ala eine beglücende Macht entgegen, als die „frohe Boticaft” von dem Anbruch eines neuen Tages nad) langer Nacht. Wie aber einem Paulus und Luther, fo ift es allen großen Befreiern auch Schiller Heiliger Ernit damit gewefen, den Menihen zum wahren Glück zu verhelfen. Da nun Glück ohne Freiheit nicht recht denkbar ift, fo iteht bei Paulus, Luther, Schiller auch die Idee der Freiheit im Mittelpunkte ihrer Lebensanſchauung- und wie bei Luther von ber „Sreiheit eines Chriſten— menſchen“, jo darf bei Schiller, wie wir fehen werden, von ber Freiheit eines Mufenjüngers geredet werden. Denn es wäre eime äußerſt einfeitige Veurteilung, wollten wir ben Begriff der Freiheit bei Schiller vorzugsweile politifch fallen, wozu uns der Don Carlos mit der Gejtalt eines Marquis Pofa ober Wilhelm Tell ein Recht zu geben diene. Wie Luther ijt Schiller vielmehr tief davon durchdrungen, daß Glück und Freifeit etwas vein Innerlihes bedeuten: Es ift nicht draußen, dort ſucht es ber Tor, Es in in dir, du bringft e$ ewig hervor. „Der Glüdjeligfeitstrieb if ber Trieb der Triebe”, jagt Feuerbad, und Schopenhauer meint offenbar dasſelbe, wenn er

Die Kunſt als Evangelium bei Schiller. 285

von dem „Willen zum Leben” ſpricht. Diefem Triebe nad) Glück und Leben entipredhenb fehen wir den Menſchen wie jebes andre Lebewefen die Freude dem Schmerz, die Luft der Unluſt, bie Freiheit der Gebunbenheit, die Heiterkeit dem Ernft, kurz das Gtüd dem Unglüc vorziehen. Was ift nun aber Glück? Offenbar in erfter Sinie Freiheit, Unabhängigkeit von Zwang und Bebürfnis finnlicher und geiftiger Art, aljo Wunjchlofigfeit, ein Zuftand, in dem wir weber förperlid) mod) geiltig zu etwas genötigt werben und doch auf beide Arten tätig find, um uns als volle, ganze Menſchen zu fühlen. Diefem Glückstrieb fommt das wirkliche Menſchenleben nur unvollfommen entgegen. Dis Lebens ungemilchte Freude Ward feinem Irdiſchen zu teil. Dazu ift es mit feinen ſchwierigen Mufgaben und unberecenbaren Wechſelſällen zu ernft. Den Einzelzweden des Dafeins entſprechen auch nur Eingelfräfte im Menſchen, bie, einfeitig angeſpannt, andre Kräfte ungenugt, brad) liegen und verfümmern lajlen. Tiefe Einfeitigfeit wird vom Menſchen als Drud und Einengung empfunden, die ihn düſter ſtimmt und fein rechtes Glücksgefühl auffommen läßt. Machtig. jelbit wenn eure Sehnen ruhten, Neibt das Leben euch in feine Fluten, Euch die Zeit in ihren Wirbeltang. Dazu fommt die Abhängigkeit des Menſchen von Scidjal und Natur; auch die Kluft zwilhen Neigung und Pflicht ſcheint oft unüberbrüdbar : Nein Erſchaffner Hat das Biel erflogen; Über diefen grauenvollen Schlund Zrägt fein Naden, feiner Brüde Bogen, Und fein Unter findet Grund, €s ift aber oft nicht etwa ein Mangel an Erkenntnis, was den Menſchen hindert, feine fittlihe Beitimmung zu erreichen, denn „es iſt bir gefagt, Menſch, was gut iſt“, fondern vor allem eine Verkehrung des Willens, wodurd) bie Kraft zum Guten gelähmt und der Weg zum wahren Glüd verfperrt ſcheint. Der Menſch fühlt fih ohnmädtig, als ein Sklave und Anecht feiner Triebe, wie joll er frei werden? Iſt der Zwieſpalt ein fo tiefer, dann veicht die blofe Kenntnis des Geſetzes nicht mehr aus; unſre

286 Die Kunft als Evangelium bei Schiller.

Sefinnung wird damit nod) nidt umgewandelt. Dazu bebarf es einer Erneuerung unjres Wejens, ber Kern unfrer Perjönlichkeit, Herz und Gemüt, muß für das Gute gewonnen werben. Dem bloß gebietenden jtarren Gefeg als foldem wohnt aber feine gewinnende, erwärmenbe Kraft inne. Unſer Herz bleibt verſchloſſen und falt. Perſönliches Leben kann ſich aud) nur an perfönlichem Leben entzünden, und das gejchieht durd) das Evangelium. Damit betreten wir ben Boden ber Religion.

Sowohl bei Paulus wie bei Luther bebeutet das Evangelium mehr, als der unmittelbare Wortfinn „frohe Botſchaft“ zu beſagen ſcheint: es ift nicht bloß die Verfündigung eines neuen Lebens, jondern dieſes neue Leben jelbit, das Hereinbrehen einer andern Welt mit Beweifen des Geiftes und ber Kraft, die den Menſchen zu ſich emporhebt, beglückt und dadurch frei macht. Dieje Freiheit des Evangeliums erſcheint aber als Aufhebung bes Gefeges durch Verwandlung feines Inhalts in Geil und Reben, d. h. in per- ſönliche Araft, wie fie in Chriftus ſich offenbart.

Das Gefeg vermag das widerfirebende Menſchenherz von fid) aus nicht zu gewinnen. Don Moſes bis Kant hat die Ver— fündigung des Gefepes mit feinem ftarren „du jollit!” wohl Un: ruhe, aber feinen Seelenfrieben gebradit.

Zwiſchen Sinnenglüd und Seelenfrieden

Dleibt dem Menſchen nur die bange Wahl, heißt e8 zu allen Zeiten für den unter dem Geſeh Stehenben. Er empfindet diejes als eine ftrenge Feilel, wo nicht als eine richtende Macht. Denn das Gejeg fordert ja nicht bloß Leitungen und Werke, fondern Gefinnungen, wie fie bem gewöhnlichen Denicen durdaus fern liegen. Auch berghoch aufeinandergehäufte Leiſtungen machen nod) feinen guten Menſchen. „Und wenn id) alle meine Habe den Armen gäbe und hätte der Liebe nicht, jo wäre ich nichts“. So durdhaut ein Luther, wie einit vor ihm ein Paulus, den unlösbaren Knoten der Gejepesreligion, indem er den Cap umtehrt und jagt: der Menſch brauche feine Werte, um felig zu werben, er müffe vielmehr erit jelig fein, damit die Werfe aus ihm hervorgingen, wie gute Früchte aus einem guten Baum.

Was hindert den Menſchen nun mehr ober weniger zu allen Zeiten, dem von Xernunft und Gewiſſen vieleicht jelbit

Die Kunft als Evangelium bei Schiller. 287

gebilligten Geſebe Folge zu leiften? Wohl der dem Menſchen mit jedem Lebewefen gemeinfame „Wille zum Leben“ und der damit verbundene Durit nad) Olüd, den wir oben mit Feuerbach den Trieb der Triebe nannten. Wäre bie Sinnenwelt die einzige, fo bliebe dem Menfchen faum etwas übrig, als biefer alle feine Affefte zur Verfügung zu ftellen und mit Fauſt zu rufen:

Aus diefer Erde quillen meine Freuden

Und diefe Sonne ſcheinet meinen Leiden!

Um nun die Allgewalt der natürlichen Lebenstriebe mit den auoſchließlich auf die Sinnenwelt gerichteten Affekten zu brechen, heißt es noch jtärfere und nachhaltiger wirfende Affekte ins Feld zu führen: Glaube, Liebe, Hoffnung. Dieſes geſchieht durch das Evangelium, durch die Eröfinung einer anderen Welt, durd) das Auffteigen einer neuen Wirflichfeit perjönliden Lebens aus unge— ahnten Lebenstiefen. Die Sinnenwelt mit den dazugehörigen Affeften verichwindet feineswegs vor jener, aber fie tritt in deven Dienjt und liefert bloß Farben und Bilder zu Stimmungen, vie auf die neue Welt bezogen, ſich ihrerjeits zu Gefinnungen erweitern und vertiefen. Diele Haben ihr eigentliches Heim in jenen Seelen- tiefen, die wir als den Sitz ber innigjten, allem finnliden Intereſſe enthobenen Affekte: Glaube, Liebe, Hofinung, mit dem Ausdrud Gemüt bezeichnen. Diefes bedeutet den Kern des perfönlichen Lebens und den einzigen Durchbruchspunkt für jene neu aufs steigende Welt, die das Evangelium verfündigt: „Mache dich auf, werde Licht! Denn dein Licht fommt und die Herrlichkeit des Herrn geht auf über dir!" Diejes Licht, von den tiefiten Geiſtern der Vorzeit bereits geahnt und aus der Ferne geſchaut, offenbart ſich erſt in voller Marheit in der Erſcheinung Chrijli, die unter der Knechtſchaft des Geſetzes finfter und falt gebliebenen Herzen erleuchtend und erwärmend, wie die Sonne die fie umfreifenden, an ſich lichtlofen Himmelsförper. Und bei Paulus heit es im 2. Korintherbrief: „Der Gott, welcher ſprach: Aus der Finiternis ſoll leuchten das Licht! iſt es, der es in unſern Herzen tagen lieh zum jtrahlenden Aufgang der Erfenntnis von der Herrlichkeit Gottes im Antlige Chriſti.“ „Wir alle aber, die wir uns von der Herrlichteit des Herrn beipiegeln laſſen, werden in dasfelbige Bild verwandelt von einer Klarheit zur andern, als von dem ‚Herrn des Geijtes aus.“ „Der Herr ijt der Geilt, und wo Geiſi

288 Die Kunft als Evangelium bei Schiller.

bes Herrn ift, da ift Freiheit!" Es iſt, als wenn ber Apoftel exit dem Bilde Chriſti in Wahrheit die Wirkung zugefteht, welche die Hellenen von dem berühmten Zeusbilb des Phidias zu Olyınpia ausfagten: es vereinige in feinem Ausdruck die höchſte Macht mit der höchſten Güte, und niemand fünne mehr unglüdlich werben, der dieſes Bild geihaut. Im echt hellenifcher Weiſe faßt bier Paulus das Schauen als ein Vefpiegeltwerben, ein myſtiſches Eins- werben bes Schauenden mit dem Geſchauten.

Damit hat der unftillbare Trieb des Menſchen nad Glüd und Leben einen überfhwänglihen Inhalt gewonnen, in einer allem ſinnlichen Sein enthobenen Welt des Gemüts, in einem Reid) Gottes, einem Wandel im Geift. Die Unruhe der an bie Sinnenwelt gebannten animalishen Affefte ift aufgehoben in den Frieden, höher als alle Vernunft ; das ſelbſtiſche Glücdsverlangen iſt verihlungen von jener Seligfeit, die den Sieg in allen Kämpfen behalten muß. Erweiſt fid jo das Evangelium als eine beglüdende, ia befeligende Macht, jo iſt der tote Buchſtabe zu lebendigem Geift geworden. Der im Geſetz bloß verkündete Wille, das „Wort“, iſt Fleiſch, d. h. perfönliches Leben geworben in Chriftus, dem „Eritgeborenen unter vielen Brüdern.“ In feinem Herzen ift das Gefeg zuerit aufgehoben, und zwar in doppeltem Sinne, d. h. einerfeits als toter Bucjftabe vernichtet, anderfeits jeinem Inhalte nach erhalten und bewahrt als lebenipendende Macht. Göttliche und menſchlicher Wille find in Chrijtus eins geworden, wie jeine Jünger eins werben jollen mit ihm durch Glaube, Liebe, Hoffnung, indem fie fein Bild in ihr Herz aufnehmen ober, wie Paulus fagt, fi von jeinem Bilde bejpiegeln laſſen, um in bas- ſelbe Bild verwandelt zu werden von einer Nlarheit zur andern. Dadurd) werden fie aus Knechten Freie: bas Gefeg wird ver- ſchlungen vom Evangelium. Denn das Cvangelium ift ja nichts anders als das in der Perſon Chrifti erfüllte, d. h. Geift und Leben gewordene Gejeg der Freiheit. Der freie Wille aber giebt ſich felbft das Gejep.

Um nun jene im Evangelium ſich erfchließende neue Welt dem Menſchen ſeeliſch nahe zu bringen, jein ganzes Mejen davon zu erfüllen, bedarf es intuitiver Anſchauungen, wejenerhöhender Stimmungen; die ja mehr als alle bloßen Begriffe auch geſinnung⸗ verebelnd zu wirfen vermögen. Dieſe Stimmungen ſchafft jene

Die Kunft als Evangelium bei Schiller. 289

Religion und Kunft gemeinjame Seelenkraft, die wir Phantafie nennen. In ben Propheten und Pfalmen, in ben Reden Chriſti wie bei Paulus maltet eine machtuolle, weltumfpannende Phantafie, welche in ben jtimmungsvolliten Bildern jene unſichtbare Welt wie in einem Epiegel erſchauen läßt. Das fein Auge geichaut, bas ewige Licht, im farbigen Abglanz zu veranſchaulichen, haben zu allen Zeiten Maler und Dichter was fein Ohr gehört, Ton: künſtler zu erahnen gewetteifert.

Sind wir nun aber beredtigt, von einem „Evangelium“ auch dort zu reden, wo es fid,, wie in dem meiten Neiche ber KRunft, feineswegs nur um die phantafievolle Gejtaltung rein religiöfer Ideen und Stimmungen handelt? Vielleicht doch.

Der Kunft die ihr gebührende Stellung als einer felbitändigen Lebensmacht für die Folgezeit erobert zu haben in Kunſtwerk und Runitlchre ift in erfter Linie das Verdienjt unferer Klaſſiker, insbejondere Schillers, fo daf feine eignen Worte für ihn felbit mie für Goethe gelten: „Die Gipfel der Menichheit werden glängen, wenn noch feuchte Nacht in den Tälern liegt."

Danach hat die Kunſt nicht die Aufgabe, „die Menſchen zu befjern und zu befehren” ; auch läßt fie uns nicht „erkennen, was bie Welt im Inneriten zufammenhält.” Ihr Zweck liegt vielmehr in ihr felber: bie Menſchen zu beglüden und dadurch frei zu machen.

Wenn Goethe fagt: Alles, was uniern Geift befreit, ohne uns bie Herrſchaft über uns ſelbſt zu geben, fei vom Übel fo fann man ebenjo gut jagen: Alles, was unfern Geijt befreit, ohne uns die Herrſchaft über uns felbft zu rauben, ift ein hohes Gut, ein Glück, ein Evangelium. Sollte fid) die Kunft auch wie die Neligion als eine beglüdende und befreiende Macht erweiien durch Eröffnung einer andern Welt, fo wäre der Ausdrud „Evangelium“ wohl nicht zu hoch gegriffen, obwohl es in der Runft nicht wie in der Religion unmittelbar auf eine Veredlung der Gefinnung, eine Läuterung des Willens, fondern bloß auf Beglückung abgejehen iſt. So nennt Schiller jelbft bas Schöne und bie Kunſt einen Gegen- ftand, „ber mit dem beiten Teil unfrer Glüdjeligfeit in einer un—⸗ mittelbaren und mit dem moralifchen Adel der menſchlichen Natur in feiner jehr entfernten Verbindung fteht." Das foll heißen: Trachtet vor allem nad) der wahren Schönheit, fo wird euch auch anderes von felbit zufallen !

20 Die Kunft als Evangelium bei Schiller.

Die Aunft ein Evangelium zu nennen, berechtigt uns folgen: der Ausipruch Goethes: „Die wahre Dichtung (Kunſt!) kündet fi dadurch an, daß fie als ein weltliches Evangelium durd) innere Heiterkeit, durch äuferes Behagen uns von den irdiſchen Laſten zu befreien weiß, die auf uns ruhen; daß fie uns in höhere Negionen erhebt und die Irrgänge des Lebens zurüdläßt“. Freude und Freiheit find hier für Goethe die echten Gaben der Dichtung, wor für wir ohne weiteres aud) „Aunft” ſeben bürfen. Damit flimmen folgende Morte Schillers ſachlich im Wejentlichen überein, obwohl er das Wort „Evangelium“ nicht direft nennt: „Ale Runft iſt der Freude gewidmet, und es giebt feine höhere und feine ernii- haftere Aufgabe, als die Menſchen zu beglüden. Die rechte Aunft ift nur biefe, welche ben höchſten Genuß verſchafft. Der höchſte Genuß aber ift die Freiheit des Gemüls (der Seele!) in dem lebendigen Spiel aller jeiner Kräfte.“ Alſo fein Zweifel: bie Aunſt iſt ſowohl für Goethe als aud) für Schiller eine beglücende und befreiende Macht, ein Evangelium, und diejes damit ein Grundbegriff der ganzen Äſthetit Schillers. Und zwar fieht auch bier die Idee ber Freiheit im Miittelpunft des Ganzen, wie bei Paulus und Luther. Der wahren Kunſt ift cs „Ernit damit, ben Menſchen nicht bloß in einen augenbliclichen Traum von Frei heit zu verfegen, jondern ihn wirflih und in ber Tat frei zu machen.“ Ob in ähnlicher oder aber in ganz anderer Weile, wie die Heligion, foll die weitere Unterſuchung ergeben.

Auch Schiller fragt fih: wodurd wird unfere Freiheit inner- halb ber gegebenen Wirklichkeit auf Schritt und Tritt bebroht? Wodurch anders, als daß unſere Wünſche und Neigungen ent- weder auf etwas für uns Unerreichbares gerichtet find, oder aber mit unfern Pflichten in Widerftreit geraten Daher flagen mir mit Fauft: „Entbehren jollit du, ſollſt entbehren!” Es find die ‚zwei Seelen in unjerer Bruft, „die eine will fih von der andern trennen!" Wie ift diejer Zwiefpalt zu befeitigen? Im Cinne Schillers zunädhjjt dadurd, daß in der Eeele des Menſchen „eine Kraft erwedt, geübt und ausgebildet” wird, die ihn befähigt bie „ſinnliche Welt, die ſonſt nur als ein roher Stoff auf uns laftet, als eine blinde Macht auf uno drüdt, in eine objektive Ferne zu rüden, in ein freies Werk unferes Geijtes zu verwandeln“. In— dem fo die ganze ſinnliche Erfheinungswelt mit ihrer maffiven

Die Aunft als Edangelium bei Schiller. 201

Greifbarkeit in bloßen Schein, in ein bloßes Bild verwandelt wird, ſoll zugleich damit allem ſtofflichen Begehren ber Voden ent⸗ zogen werben. Dieſes geſchieht tatſächlich allemal dort, wo bie fünftlerifpe Phantafie tätig ifl, fei es nun in der wirflichen ober in einer bloß vorgefellten Welt. Denn bie Phantafie befigt bie Fähigfeit das Sinnliche, Körperliche zu bejeelen, und wiederum das Seeliſche, Geiftige zu verfinnlichen und zu verförpern. Damit leiht fie bem Toten Leben, dem Unbewegten Bewegung, dem Ge bundenen, Gedrücten Freiheit. „Freiheit in der Erigeinung” ift denn aud für Schiller das Kennzeichen aller Schönheit und Kunſt. Dana) ift das Runftwerf lebende Gejtalt oder geftalletes Feben, mobei von ber flofflichen Exiſtenz irgend welcher Art vollitändig abgejehen wird. Schon Kant befiniert als ſchön alles das, mas durch feine bloße Form gefällt, d. h. als reiner Schein auf uns wirft.

Wenn wir uns j. B. an einem Flammenbilde meiden, fo fommt bie Frage nad bem Stoffe, ber da brennt, für den ſeſſelnden Eindrud des Schaufpiels als ſolchen garnicht in betracht. Wie etwa beim Sonnenuntergang oder einem Norblicht handelt es fih um etwas in feinem Einne des Wortes Greifbares. Ebenſo ift jedes Kunſtwerk elwa einem Regenbogen, einer Fata Morgana ober einer Vifion, einem Traumbild vergleichbar.

Einige Beiſpieie mögen noch die Eigenart ber künſtleriſchen Phantafie veranfchaulichen, deren Wefen das deutſche Wort Ein- bitdungsfraft am beften darint. Denn jebe Kunft mutet uns zur, uns etwas einzubilden, d. h. jo zu maden, als ob... ...... In ber Arditeftur bilden wir uns ein, bie Säulen hielten freiviflig das Dad), die Pfeiler firebten wirklid empor u. a. In der Plaſtik ſchauen wir den Marmor an, als ob er lebte; in ber Malerei die Fläche, als wäre fie peripeftiviih. In ber Dice tung bilden wir uns oft ein, die Scheidewand zwiichen Natur und Geift fei nicht mehr vorhanden, ſodaß wir jene gleichſam in Mitleidenſchaft ziehen mit unferen menfchlihen Affellen. Im Drama jehen wir die eingelnen Künfte zu reiher Gefamtwirfung vereinigt. Die Aulifien erfcheinen uns als maffive Bauten, mögen fie auch noch jo ſehr zittern. Herrn jo und fo ftellen wir uns als Wallenftein, Frl. jo und jo als Maria Stuart vor ufw. Die dargeftelllen Erlebniſſe empfinden wir mit wie wirkliche, ob⸗

202 Die Aunft als Evangelium bei Schiller.

wohl alles nur „geipiell” und im Bilde erfheint. In der Mufit tritt dasfelbe ein, nur daß wir ftatt zu ſchauen zu hören glauben. Die einzelnen Töne als ſolche hört der Unmufifalifche cbenfo wie der Mufifaliiche. Aber mur diefer verbindet das Einzelne zu einem Ganzen und leiht den Tönen eine Seele, daß fie zu jauchzen und zu klagen ſcheinen, mas fie an ſich doch nicht tun.

Judem die fünftleriiche Einbildungsfraft uns befähigt, etwas als reine Form d. h. ohne Rüchſicht auf feine Erijtenz auf uns wirken zu laſſen, erregt fie in uns, nad) dem Worte Kants, ein unintereffiertes Wohlgefallen. Natürlich ſoll uns das Runfigebilde „interejfieren“, aber wir follen dabei nicht „intereſſiert“ fein. Diefes find wir immer dort, wo wir irgend etwas um feiner Griftenz willen wünfden oder begehren. Die fünftlerifche Bhantafie aber entrücdt uns, wie Schiller jagt, in jene „Heitern Regionen, wo bie reinen Formen wohnen“, wo alle Affelte zwar in reger Tätigfeit fein können, jedoch ohne etwas wirklich zu wünſchen oder zu begehren, weder etwas Sinnliches noch etwas Sittliches. In der Kunſt verhalten wir uns nur ſchauend,

Wie man die Sıerne ſieht. wie man den Mond ſich beichaut, Sich an ihnen erfreut und innen im ruhigen Bufen Rich der entferntejte Wunſch fie zu befigen ſich rent. Goethe).

Ein deutlicher Beweis, wie ſehr das Künſtleriſche bloß in ber Form liegt, iſt die fchranfenlofe Bewunderung der poeliſchen Schönheiten der Bibel aud) von ſolchen, für die der Inhalt mit feinem ganzen religiöfen Hintergrunde Taum vorhanden. Ich erinnere mr an Heinrich Heine.

Im wiefern erweift fid) nun aber bie Kunſt als ein Evan- gelium in einer der Religion aud) mur ähnlichen Weile? Mir tönnen antworten: durch Aufhebung bes Gefeges, d. h. durch Freiheit, wobei wir allerdings im Ange behalten müſſen, daß biefe in ganz anderer Weile zuftande kommt, als in der Neligion. Hier war der Juhalt des Geſetzes durch die Kraft des Evangeliums zum Gegenftand einer „freien Neigung“ geworden, bie aus nicht Willigen Willige macht; damit war das Geſetz felbit als toter Yuchjtabe aufgehoben. So fagt auch Schiller: „Hält man fich an den eigentlichen Charakter des Chriltentums, jo liegt er in nichts anderem als in ber Aufhebung des Geſetzes, des Rantichen Imperativs (du ſollſt!), an deijen Stelle das Chriftentum eine

Die Kunft als Evangelium bei Schiller. 203

freie Neigung gelegt haben will.” In ber Kunft ift das Gefeg auch aufgehoben, nur in anderer Weiſe, und zwar dadurch, daß alle wirklichen Objekte, ſowohl finnlicher als geiftiger Art, als Stoff in Fortfall geraten. Denn mo es feine Welt mehr gibt, auf die wir fchädigend oder fürdernd einwirken können, ift auch nicht mehr von Übertretung die Rede; wo aber feine Über tretung möglich, da ift aud fein Geſetz. Dieſes ift alfo mit dem Stoff zugleich aufgehoben.

Aufgelöft in zartet Wechfelliche,

In der Anmut freiem Bund vereint,

Auhen hier die ausgefößnten Triebe

Und verſchwunden ift der Feind.

Nicht im Leben, wohl aber in der Kunſt find wir daher bes rechtigt von einem „Jenfeits von Gut und Böſe“ zu reden, fofern beides nicht inhaltlid, ftofflih, jondern nur als Form, d. h. als Schein in Frage fommt.

Im Reiche des Schönen verhalten wir uns alfo weder bes gehrend noch wollend, fondern nur ſchauend und ſchaffend. Lepteres, jofern wir vermittelit unfver Phantafie die vom Künftler ins Leben gerufene formvollendete Gejtaltenwelt unfrerfeits nachſchaffen. Denn wir empfangen dabei fo, wie wir jelbjt Hervorgebrad)t hätten, während der Rünftler fo hervorbringt, wie unfer Sinn zu empfangen trachtet (Schiller). Diefes Nachſchaffen geſchieht dadurch, daß wir mit dem Künftler den Stoff überall nur ſoweit gelten laſſen, als er bereits reine Form geworben, d. h. als ſchönen Schein, unabhängig von jeiner mehr ober weniger finnlid) ober geiftig greifbaren Eriftenz. Damit verſchwindet der Stoff allerdings nicht tatfählih, aber er Scheint im feiner Erdenjchwere aufgehoben und iſt dadurch in einer Welt, wo ber Schein alles bedeutet, aud tatſãchlich aufgehoben. Diefe Aufhebung des Stoffes durch die Form veranfcjaulicht Schillers anmutiges Gedicht „der Tanz“, wo es u. a. heißt:

Sch ich flũchtige Schatten, befreit von der Schwere des Leibes ? Schlingen im Mondligt dort Elfen den Iuftigen Reihn?

Schönheit war ja nad) Schiller „Freiheit in der Erſcheinung“. Indem nun die Einbildungsfraft dem an ſich Maſſiben, Schweren, Gebundenen Freiheit und Leichligfeit leiht und bamit den Stoff nicht nur formt, fondern zu einem lebenden Gebilde verwanbelt,

Boltifce Monatefchift 1006, Heft d. 4

204 Die Aunſt als Cvangelium bei Schiller.

iſt jener durch die „ſiegende Form“ ſcheinbar vertilgt, d. h. jeder Selbftändigfeit beraubt.

Aber dringt bis in der Schönheit Sphäre,

Und im Staube bleibt die Schwere

Mit dem Stoff, den fie beherrſcht. zurüd.

Nicht der Maffe qualvoll abgerungen,

Schlank und leicht, mie aus dem Richts entfprungen,

Steht das Bild vor dem entzüdten Blic.

Alle Zweifel, alle Kämpfe ſchweigen

In des Sieges hoher Sicherheit;

Ausgeſtohen Hat es jeden Zeugen

Menfchlicher Bebürftigteit.

Indem die Phantafie das Nörperliche befeelt ober das Seelifche verkörpert, verjegt fie Sinne und Geijt zugleich in Wirk: jamfeit und erzeugt dadurch jene Harmonifhe Stimmung, die wir als Freiheit empfinden.

Beim Genuß bes Schönen verhalten wir uns zwar ſchaffend, doch zugleich auch betrachtend: beides fällt hier zufammen. Denn indem wir nachſchaſſen, ſchauen wir und freuen uns am Spiel unfrer Einbildungstraft, jo daß alle Stimmungen und Affefte, welche wir felbft unfern Geitalten geliehen, auf uns wieder zurückwirken und dabei jenes an ſich fo zweckloſe und dod) jo wohltuende Abr und Aufwallen ber Gefühle, jenes Gleichgewicht der Stimmung erzeugen, die jebem Spiel eigentümlich it. Wir weiden uns mit ganzer Seele an einem Neid) der Schatten und Träume, das mir unter Leitung bes ſchaffenden Künjtlers ſelbſt hervorgezaubert haben. Denn

Der allein befipt die Mufen, Der fie trägt im warmen Buſen; Dem Vandalen find fie Stein.

Damit genießen wir in vollen Zügen jene Freiheit, von der Schiller jagt, fie wohne nur im Neiche der Träume.

Wenn Sciller die in der Aunſt herrſchende freie Stimmung eine fpielende nennt, fo muß man fid) vergegenwärtigen, was das Spiel im gewöhnlichen Leben bedeutet. Allen Spielen, die biefen Namen verdienen, ift mit dem Kunſtgenuß ein unintereffiertes BVohtgefallen an zwediofer Rraftentfaltung gemeinfam, und mie das Kunſtwerk fo beſteht and) jedes Spiel bloß für die Phantafie, für die Einbildungskraft. Die meiften Spiele bedeuten Schein— fämpfe: man bildet ſich nämlich abſichtlich ein, es fei wirklich etwas

Die Kunft als Evangelium bei Schiller. 205

daran gelegen, daß ber eine Teil den andern befiegt etwa ben Ball weiter wirft, mit feinem Pferbe fchneller rennt ala der andere um. um dann alle Kräfte auf biefes bloß eingebilbete Ziel bin in Bewegung zu jegen. Den äußern Scheinfämpfen entiprechen die innern der Affefte und Gefühle, bie wir im Kunftgenuß frei fpiefen laſſen, wobei oft die Luftgefühle erit durch Untufigefühle hindurch Die Oberhaub gewinnen, d. h. ſich durchtämpfen müfjen. Den Scheinfämpfen im Tanz, im Drama und in der Mufit entipricht auf feiten des Zufchauers oder Hörers die ganze Stufenleiter der Affelte, mit denen er jene Rampfbewegungen mitempfinbend begleitet. Wenn die Kunſt nah Schiller die Aufgabe Hat, der Menicd-

heit ihren möglichſt volljtänbigen Ausdruck zu verleihen, jo bedeutet das zugleich, daß wir im Runftgenuß dazu berechligt find, alles das nachznerfeben, was ein Fauft in fitanifhem Übermenfcentum im wirklichen Leben erjtrebt, wenn er ausruft:

Was der ganzen Menfchheit zugeteilt ift,

Will id) mit meinem innern Selbſt genichen!

Mit meinem Geift das Yörhfte und Tieffte greifen,

Ihr Wohl und Weh auf meinen Bufen häufen,

Und fo mein Selbſt zu ihrem Selbſt erweitern.

Seit Ariftoteles Spricht man befanntlid von einer Neinigung der Affelle im Drama. Es ſcheint aber, daß in jeder Kunſt übers haupt von einer Neinigung der Stimmungen und Gefühle gerebet werben fann, indem das Schöne „den Strom ber ſtockenden Empfindung flutend macht“ (Geibel).

Lieben, Hafien, Fürdhten, Zittern,

Hoffen, Bagen bis ins Mart

Kann das Leben zwat verbittern,

Aber ohne fie wär's Qunrt! ruft der Dichter Lenz in ber Sturm: und Drangperiode aus. Im wirklichen Leben jollen wir allerdings Haushalten mit allen Gefühlen und Leidenſchaften, weil fie uns leicht unfrei maden. In ber Kunſt hingegen können wir allen menſchlichen Etimmungen und Affekten freien Lauf laſſen, unbeichadet unjrer Freiheit, weil diefe dann ja fein wirkliches Begehren, Wollen, Fürchten ꝛc. in ſich Schließen, ſondern als „Scheingefühle” bloß zum Spiel in Bewegung gelegt und damit auf eine Scheinwelt bezogen werden, bie wir

felbft Hervorbringen halfen. r

296 Die Kunſt als Evangelium bei Schiller.

Aber der, von Klippen eingefchloffen, Wild und fhäumend ſich ergofen, Sanft und eben rinnt des debens Fluß Durdy der Schönheit fllle Schattenlande. Mo die reinen Formen wohnen, da ift auch die ganze Stimmung eine reine, weil völlig freie. Aber in ben feitern Regionen, Wo bie reinen (Formen wohnen, Raufcht des Jammers rüber Siurm nicht mehr. . . - Licblich, wie der Iris Farbenfener Auf der Donnerwolte daftgem Tau Scyimmert durch der Wehmut büftern Schleier Hier der Ruhe heitres Blau Durch die reine Form des Kunſtwerls iſt Die Seefe ſelbſt reine Form geworben und hat teilgenomen an jenem Ideenteiche PB atos, welches Schiller in feinem don mehrfach) angeführten Gedichte „das deal und das Leben“ (früher „das Reich der Schatten“, „das Neid) der Formen“ betitelt) poetiſch im Auge Hat, wenn er fagt: Aber frei von jeder Zeitgemalt, Die Gefpielin jeliger Naturen, Wandelt oben in des Lichtes Fluren Goulich unter Göttern die Geitalt, (d. 5. bie reine Form) Jagendlich von allen Erdenmalen rei, in der Vollendung Strahlen Scwebet hier der Menſchheit Götterbit, Wie fie ftand im himmliſchen Gefild, Ehe noch zum traur gen Sartophage (dem Körper) Die Unfterblichfeit herunterfticg. Diefe reine Form foll der Menſch aud im wirklichen Leben zu wahren juden: Wollt ihr {chen auf Erden Göttern gleichen, Brei fein in des Todes Reichen. Vrechet nicht von feines Gariens Frucht! An dem Scpeine mag der Vlic fi, weiden. . -

Doch betont Schiller: es erfordere nod) einen ungleich höheren Grab der ſchönen Kultur, im dem Lebendigen (Mirklichen) ſelbſt nur den jdönen Schein zu empfinden.

Die bisher verfuchte Charalterifiit follte dartun, daß bei aller formalen Übereinftimmung, wie fie ſich in den Begriffen : Freude, Freiheit (Aufhebung des Gejeges!), Eröffnung einer andern

Die Aunſt als Evangelium bei Schiller. 27

Welt fundgibt, das religiöfe Evangelium eines Luther und bas künſtleriſche Schillers zwei ganz verſchiedene Welten bedeutet, bie ſich nicht einfad) ineinander ſchieben oder für einander fegen lafjen. Schon deswegen nicht, weil die Welt der Religion eine im Glauben erfaßbare wejenhafte Wirklichkeit (objeftives eben), die Kunjt das gegen nur eine von der Phantajie geichaffene Scheinwelt (ſubjek- tives Leben) offenbart. Und wenn aud) die Neligion eine hoch— gradige Beteiligung der Phantaſie nicht entbehren Tann, jo verhält fich diefe, die doch der Kunſt unumjchränft herrſcht, hier mehr dienend. Die religiöfe Phantafie jhafft ihre Bilder in eriter Linie zur Verdeutlichung und Veranſchautichung überſinnlicher Wahr— beiten, wobei der Geſichtspunkt der Schönheit zurüdtritt.

In der Kunft iſt die Freude, die Beglückung mehr eine Ber jtimmtheit des ſittlich indifferenten Gefühls, ein bloßes Gleichge- wicht der Stimmung, ein „heiteres Behagen“. In der Neligion dagegen vertieft ſich die Smmerlichfeit des Gefühls zur Innigteit des Gemüts Glaube, Liebe, Hoffuung! die Stimmung zur Gefinnung, die bloße Betrachtung zum energiichen Wollen, das heitere Vehagen zum Seelenfrieden, höher als alle Bernufl”. Der Vefreiung von der Alltagsprofa entipricht hier Die Errettung des Selbjt, der Perfünlichfeit, durch die Erlöfung von dem Übel, von Sünde, Schuld und Tod. Der Begriff des unmittelbaren zeillichen Glüds wandelt und vertieft jid zu dem des ewigen Heils, der Wonne und Geligkeit.

Wenn Schiller jagt: „Ernſt ift das Leben, heiter iſt bie Kunſt“, jo fteigert fich jener Ernſt in der Neligion um fo mehr, als es fich dabei um ein wirflides, nicht bloß gejpieltes Leben mit VBerüdfihtigung aller wirklichen Leiden, Schmerzen und Kämpfe des Dafeins handelt. Denn obwohl das religiöje Evangelium als eine beglüdende, ja befeligende Macht empjunden wird, fo ift die damit gewonnene Freiheit doch nur eine fittliche, ohne Rückſicht auf ſinnliches Behagen, zumal in der Neligion aud) Geſialt und Schöne mr finnbildlice Vedentung haben. Ih jügle „mur fittlige” mit Anſchluß an Schiller, wenn er fchreibt: „Mit dem Angenehmen, mit dem Guten, mit dem Vollkommenen (Neligiöien) ift es dem Menden nur ernit; aber mit der Schönheit jpielt er.“ Und weiter: „Der Wienſch ſoll mit der Schönheit nur

298 Die Kunft als Evangelium bei Schiller.

ipielen, und er foll nur mit der Schönheit ſpielen.“ Alſo nicht mit dem Sittlid:Neligiöien.

Wir würden aber fehlgehen, wollten wir in den bisher ffiggierten helleniſchen Stimmungen, für welde bie „reine Form“ das Entfcjeibende, den ganzen Schiller wiederfinden. Das Hellenen- tum Schillers wird vielmehr in deutlicher Weile von andersartigen, mehr ober weniger romantiihen Stimmungen durchkreuzt, die wir mit Heinrid) Heine „nazarenijche” nennen fönnen, wodurd) das „Evangelium“ bes großen Runftapoitels etwas Schwebendes erhält-

In feiner Schrift über Börne äußert Heine, daß ſich bie Menſchen aller Zeitalter nad) der Grundrichtung ihres Wejens in zwei Gruppen ſcheiden ließen: in fogenannte Nazarener und Hellenen. Zu den erften rechnet Heine alle diejenigen, welchen eine mehr oder weniger weltflüchtige, finnenfeindliche, tiefernfte, „vergeiftigungs: füchtige“ Betrachtungoweiſe eigen; zu den Hellenen dagegen alle weltfreudigen, lebensheitern, „entfaltungsſtolzen“ Naturen. Damit treten die Bezeichnungen Nazarener und Hellenen weit über den Rahmen hinaus, wie er geſchichtlich betradytet bie femitifch-chriftliche Geiftesart einerfeits, das Griedentum andrerjeits umfaßt. Cs handelt fih vielmehr um immer wiederfchrende Geiftestypen gegen: fägficher Art. So fehen wir auf helleniſchem Boden einen Plato mit feiner grunbjäglichen Nbwendung von ber ihn umgebenden Wirkligleit und feinem Aufſchwung zu einer unfichtbaren Ideen⸗ welt nazaveniiche Stimmungen nicht verleugnen. Dagegen ver- förpert Ariftoteles mit feinem ganz auf das Tieofeits gerichteten Forichergeift das jpesifüch „helleniiche” Naturell.

Der mehr oder weniger weltflüchtige Ernſt der nazareniichen Stimmung findet fi naturgemäß am meilten ausgeprägt bei den giöſen Gemütern, vor allen bei den führenden Geiflern ber Religion: fo bei den altteftamentlihen Propheten und Pialmijten, jo im chriſtlichen Zeitalter bei einem Paulus, Auguftin, Luther.

Dagegen erſcheint die finnenfreudige, auf eine harmonijche Geſiallung der gegebenen Welt gerichtete Hellenifche Grunbflinmung als die eigentlich fünjtlerifche.

Dem Nazarener erfgeint eine Welt des Geiles, womöglich wie bei Blato und allen Vertretern des Idealismus ein Ddeenreich als hie mahre Heimat der Seele, der Leib dagegen mit

Die Runft als Evangelium bei Schiller. 299

jeiner Vannung an die Sinnenwelt ein Kerfer aus weldem jene Erlöjung erfehnt.

Diefe Zwiejpältigfeit it nun bem Hellenen von Haus aus fremd; ihm Tennpeichnet vielmehr jene reine Ginfalt, bie ohne einen Brud) mit der gegebenen Natur, deren Kräften die richlige Bahn weit, ſodaß es nicht mehr heißt Weltverneinung, jondern Welts verflärung. Ich erinnere an Homer, Sophotles, Raphael, Mozart, Soethe. Zuſammenfaſſend können wir fagen: wo der Nazarener nad) Ideengehalt, ftrebt ber Hellene nach Form.

Wenn fid auch eine große Anzahl von Geftalten anführen läßt, in welden ber eine oder andre dieſer beiden Typen fi) mehr oder weniger rein ausprägt, wie etwa in Auguſtin oder Luther der Nazarener, in Mozart und Goethe ber Hellene, jo dürfen wir doch nicht außer Acht laſſen, dab es z. B. auf rein künſtleriſchem Gebiete Typen giebt, bei welchen troß alledem eine nazarenijche Grundſtimmuug mächtig durchbricht, wie etwa bei Äſchylus, Dante, Michel Angelo, Veethoven, Schiller kleinerer Geijter wie Ktopito nicht zu gebenfen. Bei allen biefen iſt eine finnenfeind liche Stellungnahme naturgemäß ausgeſchloſſen, da fie jonft übers haupt feine Künſtler wären; doch ift ihnen allen ein mädjtiges ſittliches Pathos gemeinfam, das fi bier und da zur religiöfer Höhe fteigert. Die Sinnenwelt mit ihrem ganzen Reichtum an Leben und Gejtaltungen kommt babei weniger um ihrer ſelbſtwillen in betrat, als um bdeijentwillen, was fie für bie Welt des Geiftes bedeutet als Verförperung von Ideen. Die damit gegebene Stellung zur Natur ijt e8 befanntlih, was den „naiven“, d. h. mitten in der Natur ftehenden Dichter und Künftler vom „jentiz mentalen“, d. h. von been ausgehenden unterſcheidet, wie etwa Soethe von Schiller jelbit, den Hellenen vom Nazarener. Schillers fo vielfad; ausgeſprochene elegiſche Cehniucht nad) einem ver: lorenen Paradiefe, einer goldenen Zeit, feine für ein Neich bes Ideals unmittelbar werbende flammende Begeifterung das alles atmet eine durchaus religiös gefärbte Stimmung, welde den Dichter ſelbſi als einen Priefter und Propheten, ihn im edeljten Sinne als einen Prediger am Coangelium der Wahrheit und Schönheit erz ſcheinen läßt. Danach wäre Schiller ein Hellene mit nazareniſchen Stimmungen, wie etwa Klopſtock ein Nayarener mit helleniſchen. Es find zwei Seelen in Schillers Dichterbruſt, die ſich nicht fo

300 Die Kunit als Evangelium bei Schiller.

ohne weiteres ineinanberfhieben laſſen. Die eine hält ſich echt künſtleriſch „an bie Welt mit Hammernden Organen“ und findet in der ſittlich gleichgiltigen, rein äjthetiihen Stimmung der ewig heitern olympiſchen Götterwelt das Ideal des Glüds ver: förpert. Die andere Seele hebt ſich gewaltfom „zu den Gefilden hoher Ahnen“, zu den tiefernften ſittlich-religiöſen Stimmungen der großen Nazarener, für melde das berühmte Wort eines der größten von ihnen gilt: „Unſer Herz it unruhig, bis es Ruhe findet in „Dir“, Dies findet fih vielleicht am beutlichiten ausgeprägt in Schillers vollendetjtem und tieffinnigitem Gedicht „Das Ideal und das Leben“, wo das deal bald als die reine Form der Antike, bald wenn auch fünjtleriich vermittelt als ein Neich ſittlich religiöjer Ideen erſcheint. Damit eröffnet uns ber Dichter einen Ausblid in zwei Welten: in eine äſthetiſch unperſönliche und eine ſittlich perſonale, die fid) beide wohl nebeneinanderjtellen, aber ſchwerlich organiich verbinden laſſen, die Ideenwelt Platos einer jeits, die Kants andrerfeits. Die erfte entjpricht der fünjtleriihen Grundanſchauung der Griechen, die zweite der fittlic.religiöfen bes Chriftentums. In der einen tut fid) vor uns die ganze Schein- weit des Olymps auf mit ihrer heitren Schöne, in der andern glauben wir wie aus bämmernder Ferne den Dann zu hauen, der auf dem Berge ſaß und das Volk lehrte. Es ift der Gegen- fag einer verjunfenen, nur noch poeliſch lebendigen und einer neu—⸗ aufjteigenden wejenhaften Welt. Denn in ber Zertrümmerung der bloß äjthetiichen Jdeenwelt Platos und dem Aufbau einer neuen ſitluůch perſonalen liegt ja gerade die weltgeſchichtliche Größe Kants des Philoſophen, deſſen begeijterter Jünger Schiller war.

Jener zwiefache Ausblid kennzeichnet am eheften die Doppel- natur Schillers und bedingt feine Mittelſtellung zwiſchen äfthetiiher und jittlicher Freiheit, zwiſchen künſtleriſchem und veligiöjem „Gvanı gelium“. Er it eben in einer Perſon Künftler und Prophet, Vellene und Nazarener, dazu einer der größten Denter, fo daß eines dem andern oft den Hang jtreitig macht. Daher der nicht fetten unruhige Wechſel zwiſchen dem Rhetoriſchen des propheliſchen „Sängers“ und dem Echtpoetiſchen des helleniſchen Künftlers, den Sciller befanntlih am glänzendjten in Goethe verkörpert ſah. Co hören wir oft bei Schiller den erhabenen Ernſt des Lebens in das heitere Spiel der Dichtung hineinflingen :

Die Kunft als Evangelium bei Schiller. 301

Wie wenn auf einmal im die Areife Der Freude mit. Gigantenfchritt, Geheimnisvoll, nad) Geifterweile

Ein ungeheures Schiejal tritt;

Da beugt fich jede Exdengröhe

Dem Frembling aus der andern Welt, Des Jubels nichtiges Getöfe Veritummt, und jede Larve füllt.

Sein Schaffen wird zugleich beherriht von dem Ernjt des Gewiſſens wie von dem Spiel der Phantafie:

Wie mit dem Stab des Götterboten Veherrſcht er das bewegte Herz;

Er taucht es im das Neid, der Toten,

Er hebt «6 ftaunend himmelwärts

Und wiegt es zwiſchen Ernit und Spiele Auf ſchwanter Leiter der Gefühle.

Wie der Ideenwelt Kants, jo fehlt auch der Schillers der bewußte religiöie Hintergrund; aber wie von jenem großen Geiſt, jo gilt aud) von dieſem: nicht er hat bie Ideen, fondern bie Ideen (d. h. die objettiven unfihtbaren Lebensmächte) haben ihn. Beide ſchöpften fie, ohne cs zu willen, lebendiges Wailer aus dem Strom religiöjen Lebens, den einft Luther wieder flutend gemacht, und der, wenn and) in befcheidenen Grenzen, aud das 18. Jahrhundert, wie alle Zeiten, durchrauſchte. Wie jehr aber dem „bewußten“ Schiller die Neligion zur Kunft geworden, zeigt feine Beurteilung des Chrijientums, das in feiner „reinen Form“ Darftellung ſchöner Sittlichfeit oder die Menſchwerdung des Heiligen, und in dieſem Sinne die einzige „äfthetifche Religion“ jei. Wir dürfen aber nicht vergeilen, daß für Schiller jelbit die reine Form eine Scheinwelt bedeutet, die den Grundbegriff der chriſtlichen Neligion aufheben würde, wenn ber Hellene, der Künftler Schiller der ganze wäre. Denn eine „älthes tiſche Religion“, entipräche etwa der kalokagathia dem „Schön: guten“ der Griechen, eine Anihauungsweile, die mit ber Welt Matos fieht und fält. Das Chriftentum fragt aber bekanntlich nicht nach Geftalt und Schöne und dürfte in feinem Weſen wohl vom greifen Goethe tiefer erfaßt worden jein als „die Ehrfurdt vor dem, was unter uns ill.“

Der Künjtler Schiller verfdwindet naturgemäß hinter feinen Werke, aber feine große Perfönlichfeit verlieren wir nicht aus ben

302 Die Kunft als Coangelium bei Schiller.

Augen, wenn er als prophetiicher Sänger und Eeher eine höhere Welt des Geiftes nicht nur begeifternd verfündet, ſondern fie in dem Gefinnungsabel jeines eignen Weſens felbit offenbart, jo daß ein Goethe von ihm fagen mußte: „Das war ein rechter Menſch, jo follte man auch fein! Ihm war eben dieje Chriftustendenz eingeboren: er berührte nichts Gemeines ohne es zu veredeln.“ Somit haben mir neben dem mehr oder weniger künſtleriſchen Evangelium jeiner Werke zugleid) eine Art fittlich:religiöfen, be glüdenden und befreienden Gvangeliums in feiner erhabenen Perſonlichleit. „Er war ein Baum, gepflanzet an den Waſſer— bädjen, der feine Frucht bringet zu feiner Zeit, und feine Blätter welten nicht.“ Trog der hundert Jahre jeit feinem frühen Hinſcheiden

ihmebt er uns vor, wie ein Komet entſchwindend,

Unendlich Sicht mit feinem Sicht verbindend.

Und je mehr wir die farbenreihe Bilderwelt Schillers gegen jenes „ewige Licht” halten, befto burhfichtiger wird fie, und duch „der Dichtung Schleier” leuchtet uns bie Welt ber Ideen entgegen, „wie durch des Nordlichts bemweglide Etrahlen ewige Sterne ſchimmern.“

MR

Nitht wie die Wellen des Meeres.

Ion Karl v. Freymann.

Des Menicen Taten find Gedanten, wibt, Sind nicht wie Meeres blindbewente Wellen. (Walleniteins Tod, 2. Aufzug, 3. Auftrüt.)

icht wie die Wellen des Meeres wäre unfer Leben? Mer

bieje Worte prüft, muß glauben oder verwerfen. Ich

prüfe mein Leben und id) verwerfe. Wenn meine Gedanken die Grenzen des Konfreten überfchreiten, jo beginnen fie zu wirbeln. Es ijt fein Denten mehr, jondern ein toller Schnee- flodentang. Es erſcheint mir nicht, als ob meine Gedanken Beltand hätten. Dit jedem neuen Tage verſchiebt fid ber Ansgangspunft meines Denfens, mein Heute jteht meinem Geftern fremd gegenüber. Meine Gedanken find Einfälle, die feine Summe ergeben. Eie gleichen den Klängen der Holsharfe, Wind, Wetter und Zufall find die Mufifanten, fie jpielen ohne Tert und Noten. Wahrlich, meine Gedanken find wie bie Wellen des Meeres, blind und bewegt vom Winde.

Ein loſe gelnüpftes Gewebe ſchweben meine Taten in ber Luft. Sie bilden eine Kette von Nugenblidshandlungen, Glas- perlen am bünnen Faden meines Ich gereit, können fie fo und aud) anders fein. Wenn der Tod ben Faden durdjichneidet, rollt das Spielzeug auseinander. Daß ic überhaupt handle, entbehrt des rundes, aber obgleidy id) weiß, daß meinen Taten nicht ein Groſchen abjoluten Wertes zukommt, bin id) dennod) beitrebt fie durch eine zwedloje Geichäftigfeit zu vermehren. Aber foviel ihrer aud) jein mögen, auch jie ergeben feine Summe. Sie gleichen den Wellen des Meeres.

304 Nicht wie die Wellen des Meeres.

Das Facit meiner Überlegung ift die Lebensweisheit eines moquanten Lähelns. Die Einnlofigfeit meines Lebens ift zu einem vielverjprechenden und nichtsjagenden Lächeln gefroren. Zu meiner Senugtuung lebe ich inmitten einer Geſellſchaft, wo taufend Köpfe das gieiche Erempel mit eben berfelben Löfung angeftellt haben, und das Lächeln, weldes ich jelbft lächle, grüßt mid von ben Geſichtern meiner Bekannten. Welch ein entfeplices Unglück wäre es, als Enthufiaft unter diefen Leuten geboren zu jein der einzige Narr unter fo vielen Gefcheiten! Ein Ydealift und Schwärmer würde in unfrem Lande mehr Auffehen erregen, als ein Menſch, der barhaupt über bie Straße geht. Ich aber fühle mich wohl in unjrer Mugen Augurengejellichaft.

Die Beſten unter ums leben jenem müden Lächeln. Sie balten ſich nicht für ewig. Cie beginnen ihre Tage mit einem nadhläffigen Achfelzuden, und wenn fie ein Symbol ihres Lebens in dem Bilde eines Gottes aufjtellen würden, jo wäre es ein Geſicht, dem die Augen fehlen. Unter bem Einfluß dieſes leeren Gefichts haben wir es verlernt an das zu glauben, was wir tun, oder zu glauben, daß wir etwas anderes wären, als etwa ein ſchwimmender Korf auf der blind bewegten Fläche des Meeres.

Der Lebensweg jedes Deutſchen führt an der Geſtalt Schillers vorüber und viele fehlagen bei biefer Begegnung die Mugen zur Erde. Wenn ich heute an ihm vorübergehe, jo will ich ihm ins Geſicht fehen.

Zwiſchen zwei Welten ftand Schiller und jeine Werfe fallen in unfer Leben ein Schatten der Welt, bie jenfeits des Todes liegt. Sein Dichten ift der Schatten einer Welt, die id) täglich und ftündlid) verleugne.

Es wäre kindiſch, wollte id) mich vor dem Schatten eines toten Dichters fürdten. Seine Poeſie ift nicht mehr als ein wenig Druderfhwärze und id) bin wirflid. Wirklich bin id, von Fleich und Bein geſchaffen, geboren, getauft und erzogen, und wenn id) begraben werde, fo werben die Schollen handgreiflider Erde über meinen Sarg poltern. Kommt hervor aus eurem papierenen Grabe ihr Geftalten bes Scheines id) werde euren Anblick wohl ertragen !

Und vor meinen Augen ziehen die Schiffe ber Grieden

Nicht wie die Wellen des Meeres, 305

heimmärts von Troja. Über den Nand ber Schale flieht ber periende Wein, während der Sieger dem Beſiegten zufrinft. Goldig gelb bligen feine Tropfen auf bem dunklen Laube. Ruhevoll iſt das Scidjal der fonnigen Hellasföhne und Freude und Leid einen ſich in ewiger Schönheit. Mit dem Grauen feiner Taten ringt Franz Moor, umvernichtbar wie das Grauen empfindet er feine Taten, in zähnefnirichender Angit fühlt er fid) als Träger des Ewig Vöſen und er betet: ich habe mich nie mit Kleinigfeiten ab- gegeben. Den fengenden Blid zur Erde geheftet fteht Don Garlos vor mir, zögernd und prüfend, ben Schritt bes Lebend aus den Freifenden Sternen leſend, wandelt Wallenftein die Bahn bes Todes, finfter it die Stirn des Mannes, der mit dem unabs änderlichen Schickſal zu Hate gefefien. . -

Die Geftalten drängen ſich zu mir in enblofer Neihe und wollen nicht weichen und jede von ihnen ein Zeuge aus jenem Leben und feine unter ihnen, die nicht erfüllt wäre vom Hauche der Ewigkeit. Lauter Wienſchen, die nicht fterben Fönnen, un— fterblid) aus dem Nichts erichaffen! Jeder einzelne von jeinem Schöpfer begabt mit einer unfterbli—hen Seele. In das grundlofe Leben hineingejtellt, den Grund des Lebens in ſich tragend.

Iſt mein Leben ein Poſſenſpiel, jo kann id mit biefen Leuten zuſammen nicht fpielen! Cie verderben mir meine Nolle! Ich fann nicht lächeln in einem Spiele, das für die Ewigfeit geipielt wird. Ich will abtreien fönnen, wenn der Vorgang fällt, und es foll fein, als wäre nichts gewefen. Aber ich jehe es wohl, bieje Helden werden nicht abtreten bie Bretter der Bühne zittern unter ihrem Tritte.

Das Spiel wird Ernſt id) will nicht hinüber in Die Ewigkeit mit bem faden Lächeln des Pojjenhelden! Wenn das Leben Ernſt if, will id aufhören zu lächeln! Ich will nicht daſlehen unter den Unſierblichen ohne Seele! Lieber will id) glauben! Ich will die nichtige Alltogserfahrung verleugnen und an bie Welt Edjillers glauben, die ewig fittlidhe Welt Schillers und feiner Menſchen, die nicht vom Zufall regiert werden, jondern vom Gotte, der in ihnen wohnt. Nichts andres aber ijt diefer Gott, als die Kraft der Vegeiflerung, und nichts andres iſt uns die Seele Schillers, als eine lodernde Flamme dieſes ewigen Feuers.

806 Nicht wie die Wellen des Moeres.

Oh! das ein Funke nur auch in uns erglimmen würde, denn wir fiehen dahin an unfrem trodenen Rechnen! Unſre Arbeit iſt hählich und unſre renden find ein abgejchmadtes Luftigtun. Und jeder Tropfen Edjillerichen Blutes und jeber Hauch feines Geiftes it uns ein Urteil der Vernichtung.

Längft find wir es falt durchs Leben zu gehn ohne Ziel und ohne Sache. Uns bürftet danach, an eine Sache zu glauben und im Drange ber Begeifterung zu jchaffen, uns verlangt danach, baß der Geift Schillers wieder mächtig werde in den Enfeln feiner Zeit. Auf daß auch mir es begreifen, ba wir fein Gpiel- ball der Lebenswellen find, fondern wagende Menſchen!

Sähiller und Linland.

Vortrag* von

Bernhard A. Hollander.

it dem geſamten deutſchen Volke weit über die Grenzen des Deutfchen Reiches hinaus rüften fih aud die Deutfchen unfres baltiihen Heimatlandes das Andenfen Schillers am Hundertjährigen Gedenktage feines Todes zu ehren. Freilich drüden gerade augenblidlich mandjerlei ſchwere Sorgen bie Gemüter nieder und halten uns davon zurüd, uns ganz zu vers fenfen in die Gedanfenwelt unfres großen Dichters, aber wenigitens ben kurzen Stunden, die ber Erinnerung an ihn geweiht jein follen, mag gleichſam als Motto vorangeſiellt fein bie Mahnung: Werft die Angit des Irdiſchen von euch! Fliehet aus dem engen, dumpfen Leben In des Ideales Reich!

Mehr als irgend wo anders tut es hier bei uns not, daß wir uns aus ber Wirrjal der Zeit erheben zu ber geiftigen Höhe der großen Männer unjres Volles. Dort atmen wir, entrüdt ber ſchwülen Luft, in der wir unfer Alltagsleben zu führen genötigt find, wie in reiner Vergluft erleichtert auf. Dort gewinnen wir den rechten Ausblid auf die legten Ziele und Zwede aller unfrer Arbeit und Mühe, und mehr als jemals tritt an uns die Forber tung heran, bie geiftigen Waffen zum Rampfe für die Erhaltung unfres Volfstums zu holen von jenen Männern, zu denen wir als

*) Der Vortrag erſcheint hier in eiwas erweitertem Umfange. Es it mir ein dringendes Bedürfnis, an Diejer Stelle meinem lieben ‚Freunde, dem Stadt» bibtiorhefar Nik. Bujch einen warmen Dant ausjufpregen für Die entgegen» tommende Liebe igfeit, mit der er mir die Schäße der im unteritellien Vibliotheten zugänglich gemacht Hat.

808 Schiller und Sioland.

zu ben Führern und Bahnbrechern echten bdeutihen Volfslebens bewundernd emporfhauen. Wir dürfen bie uns drohende Gefahr einer geiftigen Iſolierung nicht unteridjägen, daher Haben für uns die Gedenktage unfrer deutichen Geijtesheroen eine erhöhte Bedeu— tung, und unjre Schillertage müſſen das aud) für uns geltende Wort: „Er war unfer“ erweitern zu dem Gelübde: Er foll es immer bleiben! Ja, Schiller war und ift unfer. Wie er uns Älteren ein Begleiter gewefen iſt auf allen unfren Lebens wegen von unfrer Jugend Tagen an, jo laſſen feine unvergäng- lichen Dichtungen auch unfrer Kinder Herzen höher ſchlagen. Daher iſt es wohl erklärlich, daß ſchon oft die Frage aufgeworfen worden iſt, ob nicht auch bei des Dichters Lebzeiten Beziehungen zu unfrem SHeimatlande oder deren Söhnen vorhanden geweſen feien, benn wir hoffen, daß er uns durch ſolche menſchlich näher gerüdt werde. An Beantwortungen diefer Frage fehlt es nicht gänzlid, aber bisher hat noch niemand den Verjud) gemacht, das recht zerſtreute Material zufammenzufafen. Gerade an diefem Orte und in unfter hiſtoriſchen Geſellſchaft, die ſich die Erforihung der baltifchen Vergangenheit zum Ziel ihrer Arbeit gejtelli hat, mußte aber an einem Schiller-Gedenttage an die Löſung diefer Aufgabe heran- getreten werden.

Schillers Wiege Hat in einem Teil Deutſchlands gejtanden, mit dem Livland weniger Berührung gehabt Hut, als mit den norbbeutfchen Ländern, daher hat er während feiner ganzen Jugend- zeit faum irgend welche Beziehungen zu Perfonen baltijder Her: funft gehabt. In die hohe Karlsſchule find wohl Söhne baltiſcher Edelleute eingetreten, aber fie waren alle jünger als Schiller !, und nur einer, Johann v. Benckendorff, der fpäter ruſſiſcher General geworden ift, war ein halbes Jahr mit igm zugleich Karlsfchüler, hat aber faum mit dem fünf Jahre älteren, am Ende jeines Studiums ftehenden Kameraden in Verbindung geftanden. Ver:

9) AS Karlsfcüler werden folgende Valien genannt: Guſtad Aeinboto v. Aerlab (21. Sep. 1751 bis 1D. gebruar 17821, Johann vo. Vendendorff (19. Juli 1780 bis 19. Dez. 781). Eberhard umd Georg Wilbchn v. Gobr 2 bis 14. Sept. 1783), ©. Auorring (28, April 1708), Starl Juli 1792), Otto und Karl v. Kippart (12. Juli 1792), Georg ihrer 121. Wpril I Johann —* eiherre vo. üngern Sierndeig Sept. 1781 bis ih ‚ehr. 1782). gl. weiteres bei Th. Schön, Anger

Barige adeliger Gefiplechter aus Au und Eitland in Württemberg. Jahrbuc, für Genealogie, Peraldif und Sphragiftit 1903. Mitau 105.

Sciller und Lidland. 308

folgen mir aber die Einflüſſe, die ſich auf die Entwidlung des jugendlichen Dichters während diefer Epoche geltend machten, dann begegnen wir dem Namen eines Mannes, ber auch für unſre Heimat eine Bedeutung gewonnen hat. Es war Friebrid Marimilian Klinger, ber Dichter von „Sturm und Drang”, der nad) manchen Wandlungen in feinem Schidjal und in feiner Lebensführung von Kaiſer Alerander I. zum Kurator ber neuen Univerfität Dorpat ernannt worden war und als folder fait 1% Jahrzehnte (1803--17) gewirkt Hat. Freilich nennt Wilhelm Peterfen, ber Jugendfreund Schillers!, unter ben Lieblingsichrift- ftellern, die auf feinen Nusdrud, jeine Sprade und Darftellungsart eingewirft haben follen, den Namen Klingers nicht, aber fein Ein: ſluß ift unverkennbar und wird von Schiller felbft beftätigt. Im 3. 1803 ſchreibt er an Wilhelm v. Wolgogen: „Sage dem General Klinger, wie fehr ich ihn ſchäßze. Er gehört zu denen, welche vor 25 Jahren zuerjt und mit Kraft auf meinen Geift gewirkt haben. Dieſe Einbrüde der Jugend find unauslöfhlid?." finger wird gewiß über diejen Gruß des von ihm hochgeſchätzten Dichters auf- richtige Freude empfunden haben. Zwei Jahre fpäter vernahm er mit tiefer Rührung bie Nachricht vom frühzeitigen Tode Schillers?,

Zwei Jahre nad) Abfolvierung ber Karloſchule entzog ſich der Regimentsmebifus und Dichter „ber Näuber” dem unerträglich gewordenen Drud, der auf ihn ausgeübt wurde, durch die Flucht. Es folgte eine ſchwere Zeit voller Enttäufchungen, erfüllt vom Ningen nad) eigner Vervolllommmung und Ankämpfen gegen äußere Not, aber auch wiederum verſchönt durch Beweife echter, opfer⸗ williger Freundſchaft. Eine edle Frau, Henriette von Wolzogen, hatte dem Heimatloſen eine Zuflucjtsflätte im friedlichen Bauerbach geboten und ihm bie Döglichfeit ruhiger Arbeit gewährt. Freunde, die er fi allein durch feine Dichtungen gewonnen, hatten ihm Freundſchaftsgaben gefandt und ihm fpäter in felbftlofer Weife die Wege nad) Leipzig und Dresden gebahnt. Nicht unerwähnt bürfen gerade in dieſen Tagen die tiefempfundenen Worte bleiben, die Schiller damals (1784) an Frau von Wolzogen richtete. Er ihrieb ihr*: „So ein Geſcheuk von ganz unbelannten Händen

2) Zu. Sertmann, Säens Jugnbfrcunde. 100. & 100. ) 3. Jonas, Seiles Briefe, VL. 99.0. Bradel im 1. Sieh, &to0. Beltifche —— 1908, Heft 4. 5

810 Schiller und Sioland.

durch nichts, ala die bloße reinfte Achtung hervorgebracht aus feinem andern Grund, als mir für einige vergnügte Stunden, bie man bei Leſung meiner Produkle genoß, erfenntlih zu fein ein ſolches Gefchen? ift mir größere Velohnung, als der laute Zu: fammenruf der Welt, die einzige fühe Entſchädigung für taufend trübe Dlinuten. -- Und wenn id) das nun weiter verfolge, und mir denke, daß in der Melt vielleicht mehr ſolche Zirkel find, bie mid) unbefannt lieben, und fi freuen, mid) zu Fennen, daß viel- leicht in 100 und mehr Jahren wenn aud mein Staub ſchon lange verweht if, man mein Andenken jegnet und mir noch im Grabe Tränen und Bewunderung zollt dann, meine Tenerfte, freue ich mid) meines Dichterberufes und verföhne mic, mit Gott und meinem oft harten Verhängnis.” Es ift uns ein ſchoöner Gedanke, dah es aud in unferm Heimallande an folhen „Birkeln“ nicht gefehlt hat jeit dem J. 1765 haben bie Scjillerfhen Dramen ihm treue Anhänger in Riga erworben und daß jein Andenfen auch heute noch bei uns gefegnet wird. Zu den bitterften und fchwerften Prüfungen, die Schiller in diejen Jahren durchzumachen halte, rechnele er die Unmöglichkeit jeinen pefuniären Verpflichtungen Frau von Wolzogen gegenüber nachzukommen. Die befle Zeit feines Lebens jei ihm dadurch ver⸗ bittert, mande Stunde zu einer Marterjtunde geworden. Als er den Ton Carlos vollendet hatte, jollte das von ben Theatern zu erwartende Gelb zur Tilgung der ſchwer auf ihm laftenden Schuld benupt werben, daher die befonbers eifrigen Yemühungen, jein neues Wert an verfchiedene Thenter zu verfaufen!. Das brachte ihn aud in Verbindung mit Eigfried Gotthilf Rod Edardt?, der damals mit Meyrer an der Spige des Rigaſchen Theaters ftand und es zu einem wahren Kumftinftitute enmorger hoben halte. In Dresden hatte er im Frühjahr 1787 perfönlich den Kauf mit Schiller abgefchlofien und follte für 100 Reichstaler das Manujfript erhalten. Schiller hatte, wie er fchreibt?, eine zweifache Edition fürs Theater entworfen, eine in Jamben, bie andere in Proſa. Dieſe nicht für ben Drud beflimmte Bearbei- tung erflärt Schiller für das Befle, was er „in Nüdficht theatra- liſcher Wirkung (ohne Hilfe von Speftafel und Opernbeforation)

2) Val. 4. 8. Briefe 1, S. 368 fu: „llufteierte Beilage“ der Hg. Nundfchan 19

350. ?) Bal. über ihn die ir. 1. 9) Briefe 1, 334.

Schiller und Siolard. su

hervorgebracht Habe.” Es iſt dieſe Äuberung um jo interefianter für uns, als das von Koch erworbene Manuffript des Don Karlos in Proſa noch heute auf unferer Stadibibliothet als ein teures Vermãchtnis unferes Dichterfürften aufbewahrt wird. Befonders wertvoll iſt es aber, weil Schiller das Perfonenverzeihnis und einige Korrekluren mit eigner Hand eingetragen hat. Am Schluß diefer Bearbeitung bezeugt Rarlos bie Unſchutd der Königin und gibt ſich felbft den Tod.

Leider müffen wir aus feinen Briefen! erfehen, daß der fo gelbbebürftige Dichter ungefähr ein Jahr auf das Honorar Hat warten müffen. In dem einzigen uns erhaltenen Schreiben, das Schiller in der Don Karlos-Angelegenheit am 1. Juni 1787 an Koch felbft richtete, finden wir übrigens eine kleine, Halb im Scherz gehaltene Anfpielung auf eine Licbesaffaire, die damals vorüber- gehend Schiller in Aniprudy genommen Hatte?. Ihn Hatte damals die junge Gräfin Henriette von Arnim durch ihre klaſſiſche Schönheit gefeflelt, aber unerfreulihe Familienverhältnifie und wohl aud) das Verhalten der jungen Dame ſelbſt veranlaßten Schiller die Beziehungen abzubreden. Cs war etwa ein Monat ſpäler, daß er Koch ſchrieb: „Also wir uns bier von einander trennten, ift mir von einem Mädchen, das Sie gefehen haben, der Kopf fo marm geworden, daß ich Ihre Adreſſe in Berlin darüber vergefien habe. Wir find ja allzumal arme Sünder, und Sie werden ja wohl aud; an die Zeit zurüddenfen, wo Cie von einem paar Augen aus dem Konzept gebracht wurden. Alſo verzeihen Cie mir.” Nach dem Ton des Briefes zu urteilen, muß dem Dichter die Trennung nicht ſehr fchwer gefallen fein. Es dauerte auch nicht allzu lange, da ihm vom Scidjal bie Frau zugeführt wurbe, die ihm fein Leben lang eine treue Gefährtin fein ſollte. Doch um das Glüd eines eignen Hausfiandes zu gewinnen, bedurfte er einer gefiherten Stellung, wie fie ihm ein öffentliches Amt dar: bieten konnte: Schiller wurde Profeffor der Philojophie in Jena, follte aber Geſchichte vortragen.

1) Briefe 1, ©. 3 wird außer aoch aud) Bo folgen hat cs m. W. nicht gegeben. Die Namen Bondini und Koch aus Riga itchen wohl in einem Briefe neben cinander als folde, die den Don Karlos

erworben haben, aber nur lehterer war aus Nign. 2 Briefe 1, S. 344. D. Harnad, Sqhiller, 2. Xufl,, 1005, ©. 154 f.

Fr

; VER &.258 f. In dem Segifter zu den Briefen i als Schaufpieldirefior in Kiga bezeichnet. Einen

312 Schiller und Livland.

Wenn bie Arbeit am Don Karlos wohl die Veranlaſſung mar, daß Schiller ſich in die Geſchichte des niederländiſchen Kreis heitöfrieges verjenkte und als Reſultat feiner Studien ung fein glängendftes Geſchichtowerk darbot, jo kamen aber auch dieje Studien wieber feiner Dichterifchen Produftion zu gut. „Die Leidenſchaften des öffentlichen Lebens, die Kämpfe um ber Menſchheit große Gegenstände, um Herrihaft und um freiheit, jene mächtigen Schickſalswandlungen, die über Völferleid und Völtergröße ent— fcheiben, boten feinem dramatiſchen Genius den natürlichen Boben !.“ Es hat viel Werlodendes an fi, den Spuren bes Hiftorifers Schiller zu folgen und zu beobachten, wie er mit feinem Ver- ſtändnis und weitem Blick die Vorgänge von weltgeſchichtlicher Ber deutung ins rechte Licht zu rüden wußte. Wir baltiihen Hiftorifer Tönnen auch viel von ihm lernen, indem wir immer mehr dahin ftreben, auch unjre Provinzialgefdjichte von einem großen univerfal» heſchichtlichen Gefichtspuntte aus zu beandeln. Heute müffen wir uns aber eine Vertiefung in ſolche Gedanfengänge verfagen, ber Hiftorifer muß vor dem Profeſſor Schiller in Jena zurüdtreten.

Jena weld) ein eigentümlicher Zauber ummeht body dieſen Namen! Welch ein buntes Bild entfaltet ſich vor unfern Augen, gebenfen wir des Jena, im dem num Schiller feine Wirkſamkeit beginnen follle! Cs war eine Stätte hervorragender wiljenidaft- licher Arbeit, regen geiltigen Stecbens, aber and ein Tummel- plag fröhlichen burfchifojen Treibens und echter, oft überjhäumenz der Jugendluft. Wir verftchen wohl die Mahnung jenes würdigen Paſtors: „Dein Eohn, id würde doch nad) Jena gehn.” Wir Balten? fühlen uns aber vielleiht ganz bejonders zu Jena hinge⸗ sogen, benn noch find bei uns die Traditionen nicht erloſchen an jene Zeit, in der beim Mangel einer eigenen Hochſchule neben Königsberg namentlid) die Saale-Stadt unfern Vätern ihre Tore gaftlih öffnete. Noch erinnert man ſich defien, daß manche ftubens tifchen Gebräuche ſich gerade von Jena her zu unſerm Embadhs Athen verpflanzten. „Eingerechnet die Kurländer“ erzählt ein alter Jenenfer aus Livland vom 3. 1797° „waren wir unjer

?) Treitichke, Deutſche Gefhichte im 19. Jahrh. 1879, ©. 201. 2) Im Jahre 1809 hielt Nil. Buſch einen Vortrag „über die Beziehungen ber Balten zur Univerfität Jena in den beiden Ieyten Jahrzehnten des vorigen Jahr« junderts", in deifen Manuftript cr mir freundlichit Cinficht geftattet dat.

) Jenaer Studentenleben 1797-98 in „Erzählungen meines Orofvaters” von Zul. Edordt). 1883.

Schiller und Livland. 313

80-90, und ich faun verfihern, daß wir feine üble Rolle jpielten. Im Trinken taten es uns die Pommern zuvor, im übrigen aber hatten wir feine Meiſter.“ Won anderer Seite wird den jungen Livländern nachgerühmt, daß fie ſich vor ben übrigen Muſenſöhnen durch Feinheit und Adel des Benehmens auszeihneten!. Mehr: fach haben fie führende Noflen in der Burſchenwelt geipielt, aber aud) in der wiſſenſchaftlichen Arbeit, die fie Ipäter im Dienfte bes Heimatlandes vermwerteten, ſich betätigt. An Anregung dazu fehlte es nicht, denn in den Auditorien ber Univerfität lehrten damals nicht wenige hervorragende Gelehrte. Zur ihnen gehörten auch zwei angejehene Balten, ber Mediziner Juſtus Chriſtian v. Loder und der Chemiter Alerander Nikolaus v. Scherer. Scherer war damals nod) recht jung; erit im J. 1794 eröffnete er als 23jähriger Dr. der Philofophie feine alademiſche Zaufbahn?. eine Vorlejungen, die er in Jena mur furze Zeit hielt, aber fpäter als Bergrat in Weimar fortjegte, follen recht bejucht geweſen fein, doch ſcheint er feines Charakters wegen bei Schiller wenig Gnade gefunden zu haben. Am 31. Juli 1798 ſchreibt dieſer au Boethe?: „Bei Scherern, den ich geitern ſprach, ift mir eine Bemerkung wieder eingefallen, die Sie mir voriges Jahr über ihn machten. Es iſt eine ganz gemütlofe Natur, und jo glatt, dah man fie nirgends ſaſſen fan. Vei ſolchen Naturellen ift es recht fühlbar, daß das Gemüt eigentlich die Menfchheit in dem Menſchen macht, denn man ſich, ſolchen Leuten gegenüber, nur an Sachen erinnern, und das menjchliche in einem: jelbft ganz und gar nirgends hintun (ann). Echelling ift doch fein folder Menſch, dent ih.” Wie weit Schiller bei diefer Charafterifierung Recht hatte, entzieht fid) meinem Urteil; ich möchte nur bemerfen, daß Scherer in Dorpat und namentlich in Petersburg als Alademifer eine recht verbienitvolle Tätigkeit entfaltet hat. Ein Biograph fagt von ihm, daß er viel gearbeitet und gekämpft habe und daß er fi durch feine natürliche Heftigfeit und unbieglame Streilſucht 1) Viftor Hehn, Karl Peterſen. Valt. Monatsice. Bd, IT. 1860. 2) Sqerer ift A771 in Petersburg geboren, befuchte die: Wigniche Domfchule und ftudierte in Jena zuerit Theologie, van Naturwifienicaften. Nachdem er in Jena und Hale afademiid) tätig gewelen, wurde vr 1803 rofejior der Chemie a der meubegründeten Univerftät Dorpat, von wo er bald nad Petersburg berufen wurde. Hier ift er als ordentlicher Aademiter am 16. Cftober 1824

getorben. Bgl. NeteNapieröty IV, S. 53 und Ag. deutfe Biograpfie 0-31. 3) Briefe V, &. 413.

314 Schiller und Lioland.

viel Feinde gemacht habe. Hatte Scherer es hiernach jedenfalls nicht verſtanden, ſich das Wohlwollen jeines berühmten Kollegen zu erwerben, jo jdeinen mir auch die Beziehungen Schillers zu Loder eigentlid) nicht das Gepräge einer befonderen Herzlichteit zu tragen. Freilich bin ic) bei der Beurteilung derjelben zumeiſt an⸗ gewiefen auf flüchtige Briefnofigen, eine direlte Rorrefpondenz ſcheint nicht ftattgefunden zu haben. Dan gewinnt aber doch den Einbrud, daß zwiſchen ben beiden Profefiorenfamilien wenigitens ein durchaus freundichaftlicher follegialer Verkehr itattgefunden habe. So ſchreibt Schiller wiederholt von feinen Beſuchen im Loderihen Haufe und bei jedem Anlafje werden freundliche Grüße überjandt. Wer war aber Loder? Wie wenige Nigenfer wird es geben, denen biejer Name mehr iſt als bloßer Rauch und Schall? Und doch gab es eine Zeit, wo man bei uns ſiolz war auf diefen Sohn unſerer Vaterjtadt.

oder iſt 1753 in Niga geboren. Sein Vater war der an- geiehene hochgelehrte Neftor des Lyeeums und Diafonus an der Iafobi-Riche, Johannes Loder. An dem vom Vater geleiteten uftitute erhielt Loder feine erite treffliche Schulbildung. Darauf ftubierte er in Göttingen und wurde Profeſſor der Anatomie und Chirurgie in Jena. Hier hat er 25 Jahre lang (1778—1803) gewirkt und wurde ein berühmter Dann. Mit andern Profefioren verließ Loder im I. 1803 Jena und fiebelte nad) Halle über. ALS diefes aber von den Frangofen bejegt wurde, ging er nad) Königsberg, wo er Leibarzt der föniglihen Familie wurde. Im 3. 1809 fehrte er nad) Ruhland heim und hat noch viele Jahre hin⸗ durch in Moskau in jegensreiher Meife gelehrt und gewirkt. Ausgezeichnet von der Negierung und hochgeehrt von Ruſſen und Deutfcen, ift oder als Greis von über SO Jahren geftorben!. Garlieb Merfel?, der ihn 1797 in Jena befuchte, ſchildert Loder als einen Mann, der mit dem vielfeitigiten Wiſſen und tiefem Studium feiner Wiſſenſchaft noch eine fait jugendliche Lebhaftigfeit im Sprechen und Handeln verband. „Dabei war fein Benehmen das eines in feiner Geſellſchaft geichliifenen Weltwannes und edel- finnig, jeine Unterhaltung geiftvoll -- und fein Haus das glän- zendſie in Jena.“ Hier jammelten ſich die berühmten Gelehrten,

3) Mg. beuige Liografie Di; 19. 3) „Lurflungen und Carat terititen" ILS. #0. „Stun“ S. 34.

Schiller und Livland. 315

bie „ben Hohen Ruf diejes Städichens veranlaßten“ und unter denen oder nad) Merkels Urteil der geiftreichfte, gebilbetjie und fiebenswürdigite war. In dieſem gaftlichen Hauje, in dem aud. gerade Livländer jtets freundliche Aufnahme fanden, werden ſicher mande unferer Landsleute mit Schiller in Berührung gefommen fein, wie and, beiläufig bemerft, Garlieb Merkel hier zuerſt mit. Goethe zujammengetroffen ift eine Begegnung, die allerdings für die fpäteren Beziehungen biefer beiden Männer verhängnisvoll geworden ift. Wir befigen in unferer Stadtbibliothet ein wohl nur wenig bekanntes Büchlein, das ein verdienter rigaſcher Schulz mann, Heinrich Karl Laurenty!, dem von ihm hochver—⸗ ehrten Loder zu deſſen 50jährigem Doftorjubilium im Jahre 1828 gewidmet hat. Obgleich) drei Jahrzehnte feitben vergangen waren, daß er unter Loders Proreftorat immatrifuliert worden war, ſchildert er doch mit nad) jugendlicher Begeiiterung, wie er „Augen: und Ohrengeuge geweien jei des großen, ſieis wachienden Ruhms, ber allgemeinen Liebe, des ungemefienen Beifalls, wodurch jein Verdienit in jeder häre feiner vielfachen, raſtloſen Tütigfeit als Arztes, Naturforihers, akademiſchen Lehrers, Ehriftitellers, Vorſiehers der Univerjität belohnt wurde.“ Er Hat oft in feinem Hörfaal neben Jünglingen aud Männer von jehr bedeulenden Namen gefehen, und es ijt bekannt, daß auch Goethe damals oft fon am frühen Morgen durd den Schnee in die Vorlefungen wanderte?. In dem Büchlein Laureuty's hat mid) aber ein Ab- fchnitt beſonders gefeilelt; er ift der Erinnerung an die erite Piccolomini- Aufführung in Weimar am 30. Ian. 1799 geweiht. Ich kann es mir nicht verjagen, ihn hier wiederzugeben:

„An jenem feitlihen Abend, als die erſte Darjtellung von Schillers Piccolomini (damals noch ungedrudt alle Gemüter auf die glorreiche erite Ericheinung hoch fpannend) in Weimar gegeben wurbe, umfaßte ber nicht jehr beträdtliche Umfang des Theaters in leicht überjehbarem, heil erfeuchtetem Raume fait ohne Ausnahme

%) Saurenty, Erinnerung, Urfunde und Dant. Blätter zum Kranz der fünfigibrigen Jubelfeier Juftus Chriftians von doder, Med. Dortoris. Yiga 823. Yaurenty it geb. zu Nayla im Mitenburgiihen am 19. Mpril 180, in Jena und Göttingen und tam 1810 als Yauslehrer nad, Yitauen. Madden er dann in Kurland Lehrer geweien war, hat er von 1820-38 am Rig. Gymnafium als wiſſenſchaftlicher Lehrer und Oberlehrer der Geſchichte und lateiniicien Sprache gewirkt. Hede-apierafy TIL, ©. 28. Befhicte des ou. Gymnajiums. 1888. *) (Gdasdı), Grzäplungen meines Grobvaıs. S. 48.

316 Schiller und Livland.

alles, was damals in einer jelten reichen und glüdlichen Zeit Weimar, Jena, Gotha, die ganze Umgegend biejer Städte Grofies, Ansgezeichnetes, Geift: und Kunſtreiches, Gelehrtes und Treffliches an Lebenden befahen. Nicht Auguſtus, niht Ejte und nidt der jtolge Ludwig ſahen je fo glänzenden Hof um fi) verfammelt, als Karl Auguft, ber wahrhaft beutiche, feines Namens werte Mufaget, an dieſem Abend. Diefes reiche, lebensoolle Bild muß ficher in dem Gemüt jedes unbemerkt Schauenden, die Bedeutung der einzelnen Geftalten und des Ganzen zu faſſen nur einigermaßen Fähigen in der Gegenwart ein erhebendes, unvergleichlihes Gefühl erregt und eine freubige, unverloſchliche Erinnerung hinterlaffen haben. Doch wen aud), wie mid) da, das wiederholte ernfte Überihauen, die freudige Betrach- tung jener bewunderungswerten Neihe vor dem Aufzug des Vor hangs und in den Zwiſchenakten angelegentlich beichäftigt hat, der müßte dennod) ein Virtuos in der Dinemonif fein und viel mehr leiten fünnen, als Eimonides, der Erfinder jener Kunſt felbit .. ., wenn er nad) fat 30 Jahren aus dem Gedächtnis ein Verzeichnis jener Verühmten liefern wollte, ohne im Auviel oder Bunvenig beträchtlich zu fündigen. Doch will id) verfuchen, einen Entwurf, einen Schattenriß des Gemäldes zu geben, feft überzeugt, daß wohl in meiner Umgebung, unter ben Leſern biefer Dlätter mehr als einer fein werde, der jenen Abend dort mit mir feierte und fo meine lüdenhafte Darftellung zu ergänzen, zu verbefern vermag.

Was aber an jenem hellgeftirnten Himmel, am Xogen: firmament, Sterne der erften, zweiten und dritten Größe waren, mag Jeder nad) Maß und Art feiner aſtronomiſchen Kenntnis jelbit beurteilen. Dort, wo, wie am wahren Sternenhimmel, alles Leuchtende, große und Heine Lichter, bunte Neihe machte, friedlich und auſpruchslos, alle von einer Zentralfonne der Freude und Feftlichfeit höhern Glanz empfangend, dachte Niemand an ſolche Hangordnung. Daß nun die eigentlichen Sonnen, die gefeierten Häupter und Glieder des Weimarſchen Finftenhaufes, hier ohne Ausnahme alle erſchienen Eine!, alles mild belebende, ers leuchtende, erfreuende, war damals noch nicht an jenem Horizont

') Wohl die Großfürftin Maria, die 1801 als neue Erbpringeffin im

Weimar ibren Ginzug Yielt und der zu Ehren Schiller „die Quldigung der Künite“ als Fetipiel dichteie.

Schiller und Livland. 37

aufgegangen, zwei find glorreich untergegangen daß jede berfelben von einem befondern Nimbus leuchtender Trabanten umringt war, barf nicht erft bemerft werben. Im Focus ber Mittelloge ftand neben dem Stuhl der regierenden Herzogin, der Netterin ihres Landes, Schiller, der König und Wirt bes Feites, häufig und freundlich von der edlen Fürftin begrüßt, viel mit ihr im Geſpräch, fait verlegen ſcheinend, immer und überall, wenn und wohin er auflah, fo vielen Blicken zu begegnen, hödjt jelten fo fihtbar Vielen. In der Nähe des großen Herzogs, von ihm ausgezeichnet, als Leibarzt, Liebling und Ne: präfentant der Univerfität, der Gelehrten, Loder, in ber Blüte und auf der Höhe bes Lebens. Herder und Wieland, wie unähulid) einander, gepaart durdy Freundſchaft und gleiche Gunft der Hergogin- Mutter Amalia, der Weimar ben Anfang jeines poetiſchen Glanzes durch jene verdankt, in ihrer Umgebung. Unter den fürftlihen Eternen meine ih aud Dalberg, damals Coad- jntor von Mainz, und den genialen und guten Ernft Augujt, Erbherzog von Gotha, den vorlepten Fürft jeines Etanımes und Landes, gefehen zu haben. Veide gehörten gewiß dahin als geiftreiche Schriftfteller und gelichte Fürften. Jean Paul Fr. Richter, ftill verborgen, bod) von Vielen freudig begrüßt und aufgefucht, ſchien eine feltene Erſcheinung hier zu fein, wie der ſchon alternde Arijtippus Th ü mm el, der füblidje. Vom deutſchen Barnaflos waren noch hier anmefend: A. MW. Schlegel, 2. Tied, Gries, die Mufen A. Imhoff, Fr. v. Wolzogen, Soph. Mereau-Vermehren und Falk, meniger als Dichter, als, mas dod) gewiß eben jo viel wert ijt, als vortrefflider Waijenvater berühmt. Und Goethe? Der war nidt am Himmel zu finden, fondern auf Erden d. h. im Parterre, dicht an den Parfet-subselliis der Studenten alfo ganz gefondert von dem Glanz des Hofes, auf feinem Lehnftuhl, feinen Eohn auf dem Schoß haltend, ſichtbar heiter den hohen Triumph feines Freundes mitfeiernd, und nur zuweilen, wenn bie Schaufpieler es ihm nit recht machten, fein Mißfallen halblaut äußernd. Da auch war er ein großer und erfreulicher Ruhepunkt ber geblendeten, er- mübdeten Blicde, und nicht übel jagte Einer damals, Goethe oben fuchend und unten findend: „Weil er doch nirgend unter feines Gleichen figen fann, jo gilt es ihm gleich, wo er figt, wenn auch unter Creti und Pleti.“ Unter weldem Ehrentitel benn jo

318 Schiller und Livland.

hießen ja die Trabanten des poetifchen Königs David ber Wipling wahrſcheinlich uns Studenten verftand. Noch waren, Schillers Felt mitzufeiern, von Jena gefommen jeine ſchwäbiſchen Landsleute: der ehrwürbdige Gries bach, zugleich fein Hauswirt, ber geiftreihe Paulus, ber geniale Schelling, und wohl feiner fehlte der Jenaer Choragen und Meifter, den fehr gelehrien, doch ftets in feinem Haufe verſchloſſenen, um die poetifhe Welt wenig fih fümmernden Gruner ausgenommen. Es mar ein Feſt, zu ſehen und zu hören, wie bie Gommilitonen im Parket ſich umjdauenb, einer dem andern die Anweſenheit jeiner Idole und fiebfien Lehrer bemerkbar macyenb, begeiftert leiſe zuriefen: Eich da! mein Hufeland! Mein Starf! Unfer Loder! Da mein Feuerbad! Dort Fichte! Und wie viele freuten ſich, die Oberpriefter aus Hellas und Latium, Shüg, Jacobs, Boettider, Eichftäbt da vereint zu jehen. Unter ben Kommilitonen jelbjt war mander ſchon damals geiftig ausgezeichnet, wie der Tag und Nacht über Entdedungen brütende, ſhon ber rühmte Phyſiler Ritter, wie Koſtner, Sroriep, Winkel— mann, Brentano, Trorler, Schelver, Wit, Krauſe, Banner. Doch wer vermag, wie gelagt, nad) 30 Jahren eines folchen Pantheons und Pandämonions im guten Sinn, denn böje Geijter Habe ich nicht bemerft Katalog vollitändig zu liefern. Wer fönnte die deos minorum gentium aus allen Tempeln und Fakultäten alle merken und aufzählen, die doch auch alle ihre Anbeter hatten. Wer fönnte auch manden trefflichen Dann, des Mitzählens wert, nicht vergeffen, von jo viel Glanz geblenbet. Freute fih doch mander, den Schöpfer feines ger liebten Rinaldini aud) da zu jehen; nos poma natamus!

Auf der Bühne felbjt erſchienen in den Hauptrollen, derfelben würdig, Graff, Shall, Vohs, Dem. Jagemann. Die Studien und Proben hatte Goethe geleitet.

Und wie mag dem gefeierten Schiller zu Mute gewejen fein an jenem Abend, bei ben oft wieberfehrenden, gewaltig rauſchenden Etürmen des Beifalls, des Entzüdens, vor ſolchen Zeugen, von ihnen ausgehend, von ihnen erneuert, geleitet! [Ks folgt ein längeres Gedicht.]

Gewiß verließ an jenem Abend jeder Züngling den geweihten Tempel der Runft, ſchied von dem Feite bes Hochgenuſſes jeder

Schiller und Livland. 319

freudetrunfen, begeiftert und fühlend, er fei gewachſen plöglich, um viel, an Mut und Kraft, entjchloffen, nun auch zu verſuchen, was jein Flug zu erreichen, feine Schultern zu tragen vermöchlen, um einjt vielleicht in ſolcher Neihe eine würdige Stelle einzunehmen, vielleicht jolden Triumph zu feiern I”

Der Abend endete übrigens, wie ber begeijterte Laurenty weiter berichtet, mit einem kleinen Etrife der Jenaer Wagenlenker, die des langen Wartens müde fid) weigerten beim frijchgefallenen Schnee die Heimfart anzutreten. „Durch diefen Kutſchertroß wäre denn beinahe eine unjäglihe und heilloje Unordnung in den ger lehrten Studien des folgenden Tages entitanden, denn fait alle Katheder wären ohne Lehrer und bie Hörſäle leer von Zuhörern geblieben.“ Loder aber fegte die Fahrt doch durd) und gebot feinem Wagenlenter, „das zu fein und zu tun, was er jelbit, frei—⸗ lich in andern und höhern Regionen, war und tat, nämlich der der erite zu jein und die Bahn zu brechen.“ Ihm folgte dann die ganze fröhliche Karawane.

Ich muß geftehen, mir hat diefe Schilderung viel Freude bereitet und ich kann es mir nicht anders vorjtellen, als daß der Verfaſſer als Lehrer gewih auch oft der aufhorchenden Jugend im Nig. Gymnaſium aus dem reihen Schag feiner Erinnerungen von jenen Tagen erzählt haben wird, die er in Weimar und Jena hatte erleben dürfen. Welche reiche Anregung muhte aber damit dem heranwachſenden Geſchlecht in Niga geboten werden!

Die Verehrung, die Laurenty für Schiller hegte, wurde von der ganzen Studentenſchaft geteilt. Das „Bivat“, das man ihm am Tage feiner Antrittsvorlefung gebracht hatte, leitete in bejter Weiſe die jtets freundlichen Beziehungen zu den Ienenfer Burſchen ein. Als Schiller zum erften Mal nach Jena kam, erklärte er!: „Daß die Studenten hier mas gelten, zeigt einem der erjte An: biid, und wenn man jogar die Augen zumadte, fönnte man unterjcheiden, daß man unter Studenten geht, denn fie wandeln mit Schritten eines Niebefiegten.” Wie ſchon aus diefer Außerung hervorgeht, Hat Schiller den burjdjifofen Übermut der Jenaer Studenten damals und fo bat er es auch ipäterhin getan mit einem gewillen überlegenen Humor betradjtet, und wenn er aud den allgemeinen

2) virfe J. ©. 901.

320 Schiller und Lioland.

Studentenangelegenheiten fein beſonderes Inlereſſe widmete, fo mußte er doch die Herzen ber Jugend für fid) zu gewinnen. Hatte Schiller ſchon durch feine Werke die Vegeifterung der Jugend erwedt, jo vermochte er fie auch gerade im gefelligen Verkehr durch hinreißende Liebenswürdigfeit zu gewinnen. Noch aus feinen legten Lebensjahren ſchildert Heinrich Voß der Jüngere eine Feillichleit, an der er teilgenommen, und ſchreibt von Schiller!: „Du glaubft nicht und fannft es aud) gar nicht begreifen, mie liebenswürbig der Mann war, wie ein Jüngling von zwanzig Jahren, fo ausgelailen fröhlich, fo unbefangen in feiner Freude, fo offen, teilnehmend. Der Champagner fegte ibn gerade in die Etimmung, in der er das Lied an die Freude muß gemacht haben. Gin foldes Wohl- wollen und inniges Freunbidaftsgefühl, eine ſolche Treuherzigfeit tannſt Du Dir gar nicht vorjtellen. Ich wollte, daß ich Dir eine gewiſſe Miene von Schiller beichreiben fünnte, die ihm in herzlichen Augenbliden eigentümlih iſt und den Abend gar nicht verließ. Ein eignes Gemiſch von Schalkhafligkeit, Wohlwollen und das mit unendliher Aumut verbunden. Doch wer beſchreibt fo etwas!" Wenn Voß einmal erklärte: als Dichter liebe er den Dann, aber als Menſch jei ihm Schiller nod unendlich lieber, fo fand das Wort bei allen denen, die dem Dichter in feinem Fumilien- freife näher getreten waren, einen Widerhall. Diefes Glück it aud zwei jungen Lioländern: Guſtav Behaghel von Adlerskron und Karl Graf zuteil geworden.

Guſtav Behaghel von Adlerstron war feineswegs eine beionders hervorragende Perfönlichfeit, und fein Name ift, wie Oberlehrer H. Diederichs, der alle ihn betreffenden Nachrichten forgfältig gelammelt hat, wohl richtig Hervorhebt?, nur deshalb der Vergeffenheit entrifien worden, weil „ein günftiges Geſchick ihn eitweilig mit einem Unſterblichen in Berührung gebracht hatte.“ Adlersfron, ber 1767 auf bem livl. Gute Friebrichshof geboren iſt, war im ruſſiſchen Militärdieuſte bereits zum Kapitän der Garde avanciert, als er 1788 auf einer Reife in Deutichland den Ent— ſchluß fahte, feine bisherige Laufbahn aufzugeben und fid mit wiſſenſchaftlichen Stubien zu beihäftigen. Während er 1Y/. Jahre

1)„Gvethe und Schiller in Briefen von Heinrich Voß dem jüngeren“, brög. von Dr. Huns Gerhard Gräf. Leipzig. Neclam. *) „Ein Yivländer aus Schillers Freundestreife.” iga 190]

Schiller und Lioland. sa

in Sena, wo er den Namen Le Bon annahm, lebte, war er nicht nur ein eifriger Zuhörer Schillers, fondern wurbe aud) ein treiter Freund des Haufes, der während einer ſchweren Erfranfung bes Digters fi jo eifrig an der Pflege beteiligte, daß bie ganze Familie ihn liebgewann. Als er fpäler nad) Stuttgart überfichelte, hat er bort aud) mit den Eltern Schillers in jreundihaftlidiem Ver: fehr geftanden. Adlerskron jah in Schiller fein Mufter und feinen Meijter, er nennt ihn den Wohltäter feiner Seele und fann nicht orte genug finden, um Cdiller und feiner Gattin zu banfen, daß fie ihm ihrer Freundfchaft gewürbigt Hätten, aber aud für Karoline, die Schwägerin Schillers, hatte er eine ſchwärmeriſche Neigung gefaßt. Als er auf feinem jpäteren Lebenswege, den wir hier nicht weiter verfolgen fönnen, von manchem Mißgeſchick betroffen wurde, da fand jeine treue Anhänglidjfeit Vergeltung. Schiller und die Eeinen bemühten fi eifrig darum, ihm eine Stellung zu verſchaffen. So hat er ihn z. B. auch jeiner Freundin Charlotte Kalb als Hofmeijter für ihren Sohn empfohlen (1793). Aus der Anjtellung wurbe nichts, aber Charlotte Kalb hatte doch lebhaftes Intereſſe den jungen Xivländer gewonnen und ers fundigte ſich nod) 1—2 Jahre fpäter nad ihm. Da Adlersfron ſich in Deulſchland nicht halten Fonnte, kehrle er zu Fuß in bie Heimat zurüd. Hier föhnte er ſich mit feiner Familie, mit der er fi) überworfen halte, aus und trat in den Landesdienit. Sein weiteres Leben ijt in Wohlftand und Behagen verlaufen und erft im hohen Alter von 75 Jahren ijt er im J. 1842 in Friedrichs: hof geitorben. Leider haben wir gar feine Nachrichten darüber, ob er aud von ber Heimat aus bie alten Beziehungen zum Schillerſchen Haufe unterhalten habe.

Adlerstron wurde geiftig bei weitem überragt von Karl Gotthard Graß, ber 1786—90 in Jena Theologie ſtudierte, aber viel mehr Hinneigung zu fünftlerifchen Beſchaftigungen Hatte, als zu feiner Wiſſenſchaft, der er ſich nur äußerem Drude folgend gewidmet hatte. Man hatte die auf die freie Entfaltung ber Perfönlichkeit gerichtete Geiftesbewegung der Sturm: und Drang: periode in Livland noch nicht erfaßt. „Daß es ein von Stand und Beruf unabhängiges, rein Fünitleriihen Beſtrebungen aus» ſchliehlich ſich widmendes Dafein geben fönne und dürfe, blieb den Männern in Amt und Würden, dem Adel und den Patripiern

E77 Schlller und Sioland.

der Etädte hier fange umbegreiffich!." Auch in das Leben bes zum Rünftler geborenen, aber zu einem paftoralen Yeruf gebrängten Graß war dadurch ein Zwiefpalt hineingetragen, bis er ben mann- haften Eutſchluß faßte, bie bereits angetrelene Pfarre aufzugeben und feinem inneren Berufe zu folgen. Vielleicht hängt es dad) mit diefem feinem Entwicelungsgange zufammen, baß er in feinem Charakter und in feinem Wirfen etwas unftät gewejen fein foll und daß er dazu neigte, feine Kräfte in zu verjchiedene Richtungen zu jerfplittern.

Es iſt unmöglich, inzelheiten aus dem Leben dieſes intereffanten Mannes, den Grotihuß „als einen ber vornehmiten Vertreter der klaſſiſchen Literaturepoche in den baltiſchen Provinzen“ bezeichnet, bier anzuführen®, aber daß er deſſen wohl wert wäre, acht ſchon aus Schillers Urteil über ihm hervor. Am 10. April 1791 ſchrieb diefer an Körner’: „In eben diefem Sommer werbe id) Dir noch einen andern jungen Mann jchiden, der dich als Künftler intereffieren wird. Es ift ein Livländer, Namens Grab, der ſich einige Jahre in Jena aufhielt, um da Theologie zu ftubieren. Darin hat er es nun micht weit gebracht, aber deito weiter im Zeichnen und Landſchaflomalen, wozu er ganz aufer- ordentlich viel Genie befigt. Goethe hat ihn Fennen lernen* und er verficherte mir, daß er die Anlage zu einem vortrefflichen Maler in ihm finde. Im vorigen Sommer machte er eine Erfurfion in die Schweiz, von mo er ganz begeiftert zurüdfam. Cr wird Dir einige Schweigerlandſchaften zeigen, die er aus der Erinnerung hinwarf, voll Kraft und Leben, obgleich nichts weniger als ausge> führt. Dabei hat er große Talente zur Poefie, wovon Du im nächſten Stüd der Thalia eine Probe lefen wirft. Er iſt ein herzlich attadhirtes Weſen, wo es ihm wohl it, fein Äußerliches verrät in jebem Betracht das Genie.“

Nicht ohne Interefie iſt es, daß Schiller in diefem Briefe von der ſich in Wort und Bild äußernden Begeifterung ſpricht, die Graß für die Schweiz hegte. Der erite Band der „Neuen

9) (Diederidhs), Briefe von Karl Grab, dem Water und Dichtet. Riga 1809. I pl. über ihn Allg. deutfche Biographie Bb. IX. Sivers, Deutfche er in Aufsland. Berlin Neumann, Baltifce Maler und Vild- bauer des 19. Jaheyunderis. ga 1902. Fr. Bienemann jun, Aus Tager büchern und Yriefen des Malers Sarl Grab. Balt. Mon. 48. Bd. 1800.

%) Briefe III, &. 142. 4) Bgl. die Schilderung des veſuches, den Graß bei Gcihe made, bei Yienemann a. a. ©. ©. 3.

Schiller und Lioland. 323

Thalia” (1792) bradjte zwei Gedichte „eines jungen Malers”, in dem mir Karl Graß erfennen: „Der Rheinfall“ und „Erinnerung an bie Schweiz”. In dem letzleren preift der Dichter voller Enthufiasmus die Schönheit und Freiheit „des Landes ber Telle und ber Winlelriede”. Sollte Schiller, als er viele Jahre fpäter von neuem auf die Schweiz und ihren Nationalhelden hingelentt murbe, ſich nicht auch erinnert haben ber jugendlich begeifterten Schilderungen feines Freundes Groß?

Grab hatte bereits 1786 Schiller in Dresben fennen gelernt und war fpäter um feinetwillen länger, als er beabfichligt hatte, in Jena geblieben. Er wurde wohl bald, ebenfo wie Ablersfron, ein echter Hausfreund der Schillerſchen Familie und Hat an Leid und Freude berfelben Anteil genommen. Auch er hat, wie bie andern Freunde, bei der Pilege des leidenden Schillers, „der wie ein Sofrates auf feinem Aranfenbette mit mir auf Wiederſehen anitich und mic; bis ins Junerſte dadurch bewegte,“ mandje ernfte, aber auch erhebende Stunde durchlebt, die ihm unvergehfich blieb, und aud) er hat es freudig bezeugt, dal; Schiller in nachhaltigfter Weile fein ganzes Leben beeinflußt habe. Plan braucht nur die Briefe zu fefen, die Graß zum Teil noch nad) jahrelanger Trennung an den Dichter und deſſen Gattin richtete, um zu begreifen, welch ein mächtiger Zauber von biefer Perfönlicjfeit ausgegangen fein muß. Bald nachdem er Abſchied genommen hatte, um in bie Heimat zurüdzufehren, ſchrieb er (3. Juni 1791)!: „Ich fühle es mit gerührtem Herzen, wie viel id Ihnen zu danken Habe, und wie von Ihnen erwärmt und ermuntert meine Scelenfräfte höher ſich zu heben ftrebten. Daher fann ich fagen, daß Ihr Verluft mir unerſetzlich ift, weil nie ein Menſch bas über mid vermochte und das in mir wirfte, mit biefem hohen Gefühl für jede Ver- eblung mic) bejeelte, wie Cie, tenerfter Hofrat. Daher werde ich aber auch nie die Stunden vergeijen, in welden id, wenn auch furchtſam, Ihnen nahte, und die Mehmut, die mid ergriff, als ich zum legten Dial auf dem Stuhl gelehnt Sie ſtumm betrachtete, wird noch oft mein Auge feuchten." Und alo er in Livland ſchwere Gewifjenstämpfe durchzumachen hatte, da wandte er ſich (1795) wieder an feinen Freund und bat ihn: „Wenn es Ihnen

) „Charlotte von Schiller und ihre Sreunde”, IlII. Bo., 1865, S. 131. 200.6. 136.

34 Schiller und Lioland.

nicht zu viel Zeit raubt, fo antworten Sie mir nur etwas, das auf mein zulünftiges Leben Beziehung Hat. Es wird ein Feuer- funfe meiner Seele jein.“ Voller Begeifterung erflärt er ihn: „Sie vermögen unenblid) viel über mid) und meine Liebe für Sie ift eine Art Schwärmerei. . . Ich werde und fann Sie nie vergeffen. Im ber Geſchichte meines Geifles und Herzens und meiner ganzen Qumanität fomme id) immer auf Sie zurüd.“ Diefe Worte waren feine leeren Phrafen; fie famen aus einem übervollen Herzen, und die warme Empfindung, die fie hatte laut werben laſſen, blieb unaustilgbar. Noch 9 Jahre fpäter jchrieb Graf (1805) an Charlotte Sdiller!: „Es ift doch für mid) gewiß und ausgemacht, daf feines Menſchen Worte und Gedanfen jo fühlbar meine Seele leider ann ich nicht fagen meinen Geift aufgeregt hätten, wie die feinigen [Schillers]. Hätte ein lebendigerer Funle in mir aufgeregt werben können, jo hätte es in feiner Nähe gejchehen müſſen. Aus biefer Liebe und unbegrenzten Adtung für Schiller fann ich's mir aud) erklären, warum id) nie Vedenfen getragen hätte, mit allen meinen Ylöhen vor Schiller zu erſcheinen. Selbſt mein Tobesurteil hätte mic aus feinem Munde nicht erſchreckt.“ Und wie hergbewegend ift Die Rage, in die Graß ausbrigt, als er die Nadhriht vom Tode Schillers erhalten hatte?: „Ih bin ſtumm und meine Brujt ift wie dev lautlofe Stein. Die Welt ift mir verödet und jo gleich gültig, daß ich mitten unter der Unruhe der Menſchen beinahe fuccht- und gedanfenlos umherwandle. .. Cie wiflen, wie ich ihn liebte, und jelbjt meine Alage um ihn wird Ihnen tröftlich fein. Kann man etwas anderes fun als Klagen, daß auch das Lortrefflichite hienieden nicht dauern fann? Aber fanft und melodiſch fei die Rlage um ihn, deſſen Scele jo ganz Harmonie war. Entweihung jeines Andenkens dünkt mid) jede zu laute Äußerung des Schmerzes über fein Vorübergehen.” Cine weh mütige Freude bereitete es Graß, daß er kurz vorher einen Brief Schillers erhalten hatte, dev mit den Worten ſchloß: „Ih ums arme Sie mit der herzlichiten Licbe und jehe einem Worte bes Andenfens mit Sehnſucht entgegen.” Ihm erſchien es fo, als fümen diefe Worte aus einer andern Welt herab. Diefer Brief

j a. a. O. S. 148. Yan. O. S. 152.

Schiller und Lioland. 325

Schillers vom 2. April 18051 bemeift, mit melcher Treue und welchem teilnehmenden Herzen er die Schidjale feiner Freunde ver- folgte. Da er meines Wifjens bei uns noch wenig befannt ift, möge er hier im Wortlaut folgen:

Wie ſehr fürchte ich, mein werter, teurer Freund, daß mein langes Stillſchweigen auf Ihre lieben Briefe, die von einem fo werten Andenten begleitet waren, Ihnen eine feltfame Meinung von mir möchte beigebradyt haben. Aber da ich Ihr Paket mit ber Zeichnung erhielt, war ich gefährlich krank und meine Frau lag eben in Wehen, fo daß ich für alles andere unfähig war. Und fo war e& leider auch den größten Teil des Winters, unter deſſen Strengigfeit meine ſchwache Natur bald erlegen wäre. Jetzt mit eintretendem Frühjahr kommt bie Heiterkeit und der Lebensmuͤt zurüd, und fo wie die Erbe der Sonne, öffnet ſich auch die Seele der Freundfchaft wieber.

Ich fange alfo damit an, Ihnen aufs berzlichfte für Ihr Andenfen an mid, für Ihr fortbauerndes Vertrauen zu mir zu banfen. Wahrlich, Ihr Andenken ift immer friſch und lebendig unter uns, und innig rührt es uns, daß aud Sie unſrer benfen. In diefer Zeit hat fich freilich viel bei uns verändert, mein Haus ift febenbig geworben, und Cie würden fidh wunbern, wenn Gie meine Söhne fähen, davon der älteite jegt bald zwölf Jahr alt it.

Viel Freude Habe id in diefen 12 Jahren erlebt, wiewohl auch viel durd) Krankheit gelitten, aber ber Geift ift doch immer frifch geblieben.

Ihre Zeichnung hat uns einen fehr angenehmen Beweis Ihrer Fortf—hritte in der Kunſt gegeben, und gewiß würde es nur von Ihrem beharrlicen Willen und von der Entfciebenheit Ihres Entfchluffes abhängen (ber jetzt noch zwiſchen Poefie und Malerei hin und her zu jchwanfen fcheint), es in ber Kunft zur Meifter- ſchaft zu bringen. Eine ſchöne Phantafie belebt Ihr Werk, es hat Geiſt und Anmut, und vielleicht mangelt es ihm weniger an ben höheren Eigenfchaften, welche die Natur allein gibt und der Fleiß nie erwirbt, als an gewiflen mechaniichen, die ſich durch anhaltenbe Übung erwerben laſſen. Ich fann von Zhrem Gedichte ohngefähr das nämliche in Abſicht auf die poetiſchen Forderungen jagen, Seele und Gefühl atmet barin, wie es in allem ber Fall jein wird, was Sie machen. Aber der Sprache fehlt es an Bellimmt- heit, Sicherheit und Korrektheit und dem Ganzen noch bie lepte Hand. Ihr Aufenthalt in Jtalien, der Ihren malerifchen Fort: {hritten günftig ift, wird Ihren poetiſchen Arbeiten nachteilig fein,

1) Briefe VIL, S. 222. Bienemann gibt an (S. 307), daß er verloren gegangen fei. Es war damals diefer Band der Briefe iypm noch nicht befannt. Baltifee Monatefäicift 1008, Heft & 6

326 Schiller und Sioland.

weil Eie in biefer Entfernung mit unfrer Dichteriprade nicht wohl gleichen Schritt Halten fönnen, die in beftändiger Beftaltung und Umftaltung begriffen ift. Ich würde alfo, wenn ich mid, in Ihre Seele verjegte, raten, Ihre Partie zu ergreifen, und entmweber, wenn Sie in Jlalien bleiben, ganz und ausicliehend ber Land- ſchaftsmalerei fich hinzugeben, oder wenn zu der Poefie die Neir gung ftärfer ijt, Italien zu verlaffen und in Deutichland deutſche Poeſie zu treiben. Zwiſchen beiden aber, glaube ih, müffen Sie eine Wahl treffen, weil jowohl die Malerei als die Poeſie ihren Mann ganz fordert, und hier feine Teilung möglich ift. Faſſen Sie bald Ihren Entſchluß, und unwiderruflich, denn das Leben hat einen durzen Lenz und die Kunft ijt unendlich.

Laien Cie mic) willen, ob ich Ihren „Fels von Felfenftein” etwa zum Drud in den Gottaifchen Ralender geben barf, an bem au id) arbeite. Ich denfe, daf man gern ein annehmliches Honorar dafür bezahlen wird.

Wie gern, mein lieber Freund, verfegte ich mich zu Ihnen unter Ihren ſchönen Himmel, in Ihre herrliche Natur und an Ihr eigenes liebenbes Gerz, wenn ber Aörper fo leicht den Münfchen folgen fönnte. Aber ein unermehlicher Raum liegt zwiſchen uns und id) fann mit meiner Gejunbheit feine ſoiche Probe madyen.

Ich umarme Sie mit der herzlichften Liebe und jehe einem Worte des Andenfens von Ihnen mit Sehnſucht entgegen.

Ewig der Ihrige Schiller.

Außer Behaghel von Adlersfron und Karl Graß wird nur noch gelegentlih von lepterem ein Noltibeck als Beſucher des Schillerichen Haufes genannt!. Es muß das Nikolaus Berm hard von Nottbed, ber in jenen Jahren in Jena Mebizin ftubierte und fpäter als Arzt in Nußland gelebt hat?, gewefen fein. Auch Garlieb Merkel, der 1796 nad) Jena gefommen mar, hat damals als Überbringer eines Briefes von Karl Graß, Schiller aufgefucht und dann fpäter noch einmal biefen Beſuch wiederholt. Cr ſelbſt Hat über diefe einzige perſönliche Berührung, bie er mit dem großen Dichter gehabt hat, im 9. 1812 in ben „Stiggen“ und im 9. 1840 in ben „Darftellungen und Charak- teriftifen“ Vd. II. Bericht erftattet. Das erjte Mal fand Merkel Schiller Frank, erjchöpft und mißlaunig, beim zweiten Beſuch ver- brachte er mit ihm eine halbe Stunde im lebhaften Geſpräch in feinem Garten. Diefe einfache Tatſache gibt Merkel in bem

1) Bienemann a. a. D. ©. 300. >) Aede-Napiersty III, S. 329.

Seiler und Livland. 327

„Skizzen“ Veranlaffung zu einer, wenn aud nicht einwandfreien, fo doch ſehr anerfennenden Charalterifierung bes Dichters, während er 28 Jahre jpäter die Gelegenheit nicht vorübergehen laſſen Tann, ohne recht gehäffige Bemerkungen gegen Schiller und Goethe ein- äuffechten. Auch bier bewahrheitet fi, mas ſchon im J. 1887 ein Kritifer ausfprah!, daß bie früheren Niederfchriften Merlels unbefangener find, während bie fpäteren immer flärfer alle Schatten» feiten jeines Weſens kundtun. Erſt im zweiten Bericht fieht ſich Merkel gemühigt, bie körperliche Erfhöpfung Schillers in Zur fammenhang zu bringen mit feiner unregelmäßigen Lebensart, mit nãchtlichem Kartenſpielen, Begeilterung durch Wein ꝛc. Trotdem verwahrt er ſich gegen ben Vorwurf, er habe eine feindſelige Ger finnung gegen Schiller gehegt, und erllärt, daß er den Dichter bewunbert habe, daß aber der Menich ihm gleichgültig geweſen fei. Wie anders badhten doch alle diejenigen, bie unter dem Zaubers bann ber Perfönlichfeit Schillers gejtanden haben! Wie wurde doch gerade der Menſch Schiller von fo Vielen und mit Recht geliebt! Ueber Merkels Stellung zu den Geiftesheroen feiner ‚Zeit ift bereits fo Häufig geichrieben worden, daß ich mir wohl erlauben barf, über biefes unerquidliche Thema an bem heutigen Gebenftage hinwegzugehen, zumal die Zeit es nicht erlaubt, dasfelbe auch nur einigermaßen erſchöpfend und in einer beiben Teilen ger recht werbenben Weiſe zu behandeln. Wie irreführend das Urteil über Schiller in dem Merlel'ſchen Kreife war, dafür nur einen Beleg.

In demfelben Jahr (1804), in dem Schiller ſchreiben Eonnte®, daß „felbft Merkel, der immer mit mir im Streite lag, ben Tell mit vollen Baden angefündigt habe*”, duldete biefer es war wenige Dionate vorher in der von ihm herausgegebenen Zeil- ſchrift „ber Freimüthige oder Ernft und Scherz” eine —dt ger zeichnete Anzeige ber Schillerſchen Gedichte, in welcher der Dichter in möglichit falſcher Weife beurteilt und als Einer, ber ben Höhe⸗ punft feines Ruhmes längft überfchritten habe, bezeichnet wurde*.

d Rigafche Zeitung 1887, Ar. 93. 2) Briefe VIL ©. 170. 3) Bol. die in der Tat „von Entgufinsmus erfüllte” Aritit im „gSreimütigen" 1804, Ar. 135. ) 1804 Janor—ebruar, Rr.20, 21, 24. In der Ar. 06 leſen wir folgende Bemerkung: „Wan hat von vielen fhäpbaren Seiten her dem Aedatteue verbindliche Sarpen über die Beurteilung ScilerS und ein paar andere mit „dt.“ unterzeicnete Muffähe seht, weil man ihn für den Serfaffer der« felben hielt. So angenehm igm aud) eine folde Vermedslung üt, fo glaubt er doch feinem Zreunde die Erklärung jhuldig zu jein, daß man fich irre. Here

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328 Schiller und Liofand.

„Auch Schiller verliert” jo heißt es daſelbſt „wenn man ihn mit fich ſelber, das Jet mit dem Einft vergleicht. Schon im J. 1795 fing bie Blüte feines Geiftes an zu wellen, mit jedem neuen fanfen einzelne Blätter, und nun! Es liegt am Tage, daß Schiller ſich von dem Augenblid an, wo er feinen Ruhm völlig gegründet fah, zu vernachläffigen anfing, feft ver trauend: man werde nunmehr felbft feine Fehler preifen, wie benn ‚and wirklich von einigen Zeitfchriften lächerlicher Weife gefchehen iſt.“ Mer Schiller nur einigermafen fennen gelernt hat, wirb eine ſolche Beurteilung des rafılos vorwärts firebenden und bis zulegt an ſich arbeitenden Dichters nur als ein Ruriofum betrachten. Was fol man aber dazu jagen, wenn Frau Karoline Herder da- mals gerade an Merfel ſchriebi: „Mie hat ſich der Freimüthige unter Ihrer Hand gehoben! Das Urteil über Schiller ift wahr, das fagen auch fogar feine Anhänger: Wer ift diefer Dann voll Geift und Verſtand?“

Auch mit zwei in unferm Heimatlande oft genannten Frauen ift Schiller, wenn auch nur in flüchtige Berührung gekommen. Im I. 1802 machte er „in ber Komödie” die Belanniſchaft der anmutigen Herzogin Dorothea von Kurland, nadbem. er fat ein Jahrzehnt früher mit ihr bereits Grüffe ausgetaufcht hatte?. Er bezeichnet fie als ein fehr „angenehmes und reigenbes Geſchopf.“ Weniger ſympathiſch feheint ihm bie Schwefter der Herzogin, Elife v. d. Nede, geweſen zu fein, die er übrigens perfönlid) kaum gefannt haben wird, obgleich fie im 9. 1788 allerdings 2 Tage in Weimar war. Sie war damals mit ihrem bisherigen Freunde Pavater in Folge ihrer Schrift über Caglioftro ganz anseinandergefommen und Hatte mit ihm einen heftigen Briefwechſel gehabt. Schiller urteilt über benfelben in recht ſcharfen Worten?. Ein Jahrzehnt fpäter unterzieht er ſich offenbar nicht mit großer Vegeifterung ber Arbeit, ein „voluminöfes Echau- ſpiel“, das ihm Eliſe v. d. Nede „mit ber Plenipotenz zu ſireichen

ein junger Mann von ausgezeichneten Talenten, der in Sachſen Iebt.” . Jahrgang des „Freimütigen“ (1804) foll in Deutfchland nur fchmer aufgutzeiben fein. So erllätt 3. 9. Roberitein (Grunbeih, ber Gef, der beuticen Na. Lit. II, Wo. 1806, S ex habe ihn fich nicht verfchaften An 16. Sehr. 1601. Alt. Qu, Caard, Saite Kulturen . 3) Briefe IIL, 5. 812. VL, 303. 9) Briefe II, S. 148, 159.

Schiller und Lioland. 328

unb zu gerflören“ zugeſandt hatte, für bie Xoren umzuarbeiten. „Daß jo moraliſche Perſonen“ ſchreibt er Goethe! „ſich ung Kepern auf Gnade und Ungnade übergeben, befonbers nad) dem fo lauten Xenien-Anfug, ift immer eine gewiſſe Satisfaftion.” Nod eine andere Perfönlidfeit, die zu Kurland in Beziehung treten follte, hat Schiller in jenen Jahren fennen gelernt. Cs war der von ber Herzogin als Profeffor der Geidichte in Mitau angeftellte Friedrid Schulg, der in Kurland aud eine poůtiſche Nolle gefpielt hat. Er wird von Aug. Seraphim als ein geiſtreicher, aber unjleter und lüberliher Mann bezeichnet. Schillers Urteil jtimmt mit dem Seraphims ganz überein. Er nennt ihn einen Menſchen von Kopf, ſatiriſchem Beobachtungsgeiſt unb vieler aune, einen amüjanten Geſellſchafter und gewanbten Vielſchreiber. „Schult weiß“ fo ſchreibt er einmal, „sehr unterhaltende Partikularitälen von dem Aufruhr in Paris zu ers sählen, gebe der Himmel, daß alles wahr it, was er fügt! Ich fürchte, er übt ſich jegt im Vorlügen jo lange, bis er die Sachen jelbft glaubt und dann läßt er fie drucken?.“ Über einen weiteren jungen Gelehrten, den Profeifor Karl Morgenilern, der 1802 in unjer Land berufen wurde, um an ber neubegründeten Univerfität Dorpat eine erfolgreiche Tätigfeit zu beginnen, liegt ein allerdings nur jehr gelegentlices Urteil Schillers vor. Er nennt ihn eine jeinem fpez. Kollegen „Woltmann ähnliche Natur, aud) jo fofelt und elegant in feinen Begriffen, und der die philor ſophiſch Fritiiche Kurrentmünze ganz gut inne hat.”

Ich weiß nicht, ob es mir gelungen ift, alle nennenswerten Perfönlichkeiten aus unſerer Heimat ausfindig zu maden, bie zu unjerm Dichterfüriten in Beziehung geitanden haben. Doch mir (ag auch nicht am abfoluter Voljtändigfeit; eo war mir nur eine Freude gerade heute hinzuweiſen darauf, daß aud) Balten der Perſon und dem Herzen Schillers nahe gejtanden haben und daß mande Söhne unjeres Landes, heimgefehrt aus ber Ferne, auch Hier die Liebe für Schiller, die ſchon durd) feine Werte wad- gerufen war, noch weiter gepflegt und verbreitet haben.

1) Briefe V, ©. 209, 318. 2) Briefe I, ©. 431; II 352; III, 01, 115 ulm. Lgl. Über Shaly ein günttigers Uxeil bei Nederilupieiäty IV, ©. 141, und Dannenberg, Zur Gelyige und Sigtiſtur des Gymnajtums zu Diitau. 1875.

330 Sgiller und Lioland.

Im I. 1785, alfo 3 Jahre nach der eriten Aufführung ber „Räuber“ in Mannheim, haben die Nigenfer zum erjten Mal ein Schillerſches Schaufpiel, „Rabale und Liebe“, tennen gelernt. Die Zuftände im damaligen Riga find bei Gelegenheit des Herders Gedenftages (1903), deſſen Feier noch unvergeſſen ift, mehrfach geſchildert worden, fo daf ich hier nur darauf hinweifen will, daß in unferer Vaterſtadt der richtige Nährboden, auf dem bas Interefle für die großen Dichter des beutjchen Mutterlandes ſich entwideln und emporwachſen konnte, durchaus vorhanden war. „Die Teils nahme an den geiſtigen Bewegungen Deutihlande war in ben leitenden Kreifen von Stadt und Land erwacht.“ Die Gefellihafts- freife, in denen Herder feinem eigenen Zeugnis gemäß bie glüd- lichſien Stunden feines Lebens verbracht hatte, beitanden nod. Allerdings war in den 17/. Jahrzehnten feit feiner Abreife (1769) mancher Wechſel in den Perfonenverhältnifien vorgefommen, aber gerade am Ende des Jahrhunderts traten nicht wenige geiltig hervorragende Dlänner in den Dienſt unjeres Gemeinwejens. In einer wahrſcheinlich nad) Berlin gerichteten Nig. Theater:Korres ſpondenz v. I. 1788 heißt es freilich: „Hier weiß man im ganzen genommen von ber Güte des Flachſes und des Getreides mit weit fihererm Geſchmack zu urteilen, als von ber Güte der Stüde und bes Spiels, und ift in der Literatur bes Hanfes und der Maſien weit bewanderter, als in der Literatur bes Theaters. Glückliche Menſchen!!“ Ein ſolches Urteil war aber ſicher ein- feitig und verbiffen und kann jedenfalls nur für einen Teil des Nig. Publikums zutreffend gewefen fein. Die Gefdjichte des ig. Theaters belehrt uns eines Beileren.

Im I. 1782 war das neue Theater im Haufe der Muſſe an ber Rönigitraße, das man dem Geheimrat Baron Vietinghof zu verdanken hatte, mit der Aufführung von Emilia Galotti eröffnet worden. „Eine Direktion, bloß aus Liebe zur Kunſt, uneigennügig, aus eigenen Mitteln die ſchwerſten Opfer bringend, ein Publikum, enthuſiaſtiſch für das neue Inſtitut intereſſiert, ein Schauſpielerperſonal, aus Individuen bejtehend, welche ſchon bie Bierden der bedeutendjten Bühnen Deutfhlands ausgemacht hatten

?) Ein eingefne® Blatt in der Vibl. der Gef. f. Geſch. u. Altertumstunde.

3) Geiedrig Biedert, Beigicte des Theaters gu Wiga 1760-1827 im Almanach für Freunde der Schautpiellunit auf d. J 1823. ig 1828.

Schiller und Lioland. 31

was konnte da noch fehlen?” Und als Baron Vietinghof, ber zwei Jahre lang das Theater jelbit geleitet hatte, bie Direftion den Schaufpielern Meyrer und Koch-Eckardt übergab, fam man ihnen von allen Seiten mit Unterjtügung entgegen. „Unter glüd- licheren Aufpizien“ fo fagt der Geſchichtsſchreiber des Theaters „hat Hier nie wieber eine Direktion ihr Werk begonnen. Schiller, Goethe, Zifland traten in diefer Zeit als bramatifche Schriftfteller und Mozart als Komponiſt auf. Mit weld einer Menge von dramatischen und mufifalifchen Dleijterwerfen wurde jegt die deutſche Bühne beihenft! Nein Wunder, daß bie ſchon erwadhte Neigung zur Schaufpielfunit beim Publikum endlid) in enthuſiaſtiſche Liebe ausbrach.“ Schiller gegenüber iſt biefe Liebe nie erfaltet. Zum Beleg dafür fei es mir geftattet, hier einige freilich etwas trodene Daten in betreff der Aufführungen Sdjillerfher Dramen an unſrem Theater anzugeben !. Wenn einzelne Schaufpiele erft ſpät oder längere Zeit hindurch nicht auf die Bühne gefommen find, fo ver mute id) dabei äußere Hindernifje, die im Einzelnen allerdings ſchwer nachzuweiſen find.

„Rabale und Liebe“ wurde 1785 zweimal aufgeführt und dann mit ziemlich regelmäßigen Unterbrehungen im Ganzen 106 Dal bis zum I. 1902. Ei

„Die Räuber“ wurden am 28. und 29. Dezember 1786 zuerſt aufgeführt. Won 1794-1808 fehlten fie auf dem Nepertoir, find aber doc) am meiften von allen Schillerſchen Stüden, 116 Dal aufgeführt worden.

„Die Verſchwörung bes Fiesko“ iſt im J. 1787 (2. Februar) 5 Mal, im Ganzen bis 1900 30 Mal zur Dar- jtellung debracht worben.

„Don Karlos“ wurde zuerjt am 9. November 1787 und dann am 10. November „auf lautes Begehren“ nochmals gegeben. Nach mehreren Wiederholungen in den Jahren 1787—88 blieb er auffallenderweife von der Bühne fern bis zum Todesjahre des Dichters (1805), in dem er viermal aufgeführt wurde, um dann erit nad) längerer Unterbrechung vom J. 1832 an regelmäßiges Nepertoirftücd zu werden. Er it bis 1905 im Ganzen 75 Val gegeben worden. An die Erwerbung des Danujfripts zum „Don

3) Nach den Aufzeichnungen im Theater /Archio.

332 Schiller und Lioland.

Karlos“, von ber ich früher berichtet habe, erinnert die Mitteilung an bas Publitum a. d. J. 1787: „Da wir biefes Meiſterſtück nicht anders als mit Aufwendung beträchtlicher Koſſen haben erhalten Fönnen, jo wird das hodjgeehrte Publikum den erhöhten Preis bei jedesmaliger Aufführung zu erlegen ſich gütigft gefallen laſſen.“

„Maria Stuart“ iſt am 30. April 1803 zuerſt aufger führt und dann im felben Jahr 8 Mal ſo oft wie fein andres Drama wiederholt worden. Es iſt bis 1904 im Ganzen 108 Mal gegeben.

„Wallenfteins Lager“ kam zuerft am 13. April 1811 auf die Bühne und wurde in diefem Jahr und 1812 5 Dal gegeben, dann aber fange Zeit hindurd nur in einzelnen Jahren (1824, 1833, 1842), bie es von 1852 an regelmäßig vorfommt. Im Ganzen ift es bis 1903 50 Mal gegeben worden.

„Die Piccolomini“ find am 31. Oftober 1813 zuerit, dann aber nad) einmaliger Wiederholung bis 1863 garnicht mehr, bis 1903 im Ganzen 19 Mal aufgeführt worden.

„Wallenſteins Tod“ iſt vom 14. November 1813 an bis 1903 49 Dial gegeben worden.

„Die Braut von Mejfina“ ift vom 9. Dezember 1813 an mit ziemlich regelmäßigen Unterbredungen nur von 1818 bis 1827 und von 182940 find längere Lücken im Ganzen 40 Dial aufgeführt worden (bis 1904).

„Die Jungfrau von Orleans“ ift vom 27. Mai 1814 an bis 1905 77 Mal gegeben worben.

„Turandot“ murbe zum eriten Mal 1820, dann erft 1869 wieder aufgeführt und ift Dis 1898 im Ganzen 18 Mal, ſeitdem aber nicht mehr gegeben worden.

„Wilhelm Tell“ ift zuerit unter dem Titel „Tells Geſchoß und Geflers Tod” am 27. November 1821 auf die Bühne gefommen und ift mit einer Unterbrechung in ben Jahren 1827-59 im Ganzen 58 Mal aufgeführt worden.

„Das Lieb von ber Glode*, dramatiſch-mimiſch ein- gerichtet von Goethe, wurde am 12. Dezember 1822 aufgeführt und bis 1896 22 Mal wiederholt.

Schiller und Livland. 333

„Demetrius” wurde am 25. und 28. Dezember 1823 und am 1. Februar 1824 gegeben und wird erit jegt wieder von neuem zur Aufführung vorbereitet.

Von allen dem zahlreichen Kotzebueſchen und Ifflandſchen Stüden, die zur Zeit Edillers noch die Bühne in Deutichland und aud) bei uns beherridhten, Habe ich in bem neueren Repertoir unfrer Bühne mur zwei entdecken fönnen: „Menſchenhaß und Neue", weldes zulegt 1873, und bie Jfflandſchen „Zäger*, welche 1885 gegeben mworben find.

So wie die Aufführung eines neuen Schillerihen Stüdes ein Ereignis war, jo riß man ſich geradezu um bie neu ange tommenen Eremplare eines jeden jeiner Werke. Das Manujkript des „Don Karlos“ ging, wie Merkel erzählt, raſch, laum von einer Hand zugejchlagen, in eine andere; er habe es nur auf eine Naht, die größtenteils dabei durchwacht wurde, erhalten. Und ein Dorpater Mufenfohn ſchreibt im J. 1804°: „Mit Deinem Schillerſchen Tell kommſt Du zu jpät. Gejtern befam ihn ein Student von Hartmann aus Niga zugeididt, aber er war auch feines Lebens nicht froh, alles bejtürmte ihn, alles wollte den Tell leihen, doch ich und meine Stubenfameraden waren die Sieger, wir befamen ihn vom Befiger geliehen. Geftern Abend alſo, nachdem die Kollegia gefchloffen waren, verjammelte ſich eine Dienge von Studenten bei uns und einer (as ben Tell vor; er Hat uns viel Vergnügen gemacht.“

Das Geipräd über Schiller und jeine Bedeutung geitaltete ſich oft im den geiftig angeregten Kreiſen Nigas zu förmlichen Debatten. So mußte Merkel? einmal in dem fog. „Propheten tlubꝰ, einer Gefellihaft junger Literaten, die ſich beim Schaufpieler Grohmann zu verjammeln pflegte, mit diefem darüber disputieren, wer größer fei: Voltaire oder Schiller. Merkel trat für fein „ver: ehrtes Diufterbild” Voltaire ein und ging natürlich feiner. Mei nung nad) als Sieger aus dem Nedelampf hervor. Von einer andern Debatte erzählt uns (1792) der damalige Hofmeifter, nach— herige Profeflor Krauſe!. Cr traf beim Konreftor Brohe zum erſten Dal mit jeinem fpäteren Freunde Kurl Graß zufammen.

1) Merkel, TDarftellungen und, Sheraierititen L 1830, & 10.

Roſch.

2) Zuitrierte Beilage der Mi 8 - Ya0.0. 8.140. —_ h Ralı. Mon, IH0L, Br.

334 Stier und Sivland.

Auch hier berührte das Geſpräch gleid das literariſche Gebiet. „Schiller war” fo berichtet Krauſe „fein Ideal, Herder und Goethe palfierten jo nebenbei. Dies reiste mich, der ich auf beide in manden Sadıen mehr hielt, und wir gerieten in heftigen Etreit. Der alte Broge hatte fein Gaudium an ber Hepe.” Id) dente, daß dieſe paar Beilpiele uns dod ein Bild davon geben, mit weldem regen Interefje man fi bier die aus Deutſchland dar gebotenen geiftigen Schähe anzueignen ſuchte. An und für fi von feiner großen Bedeutung, charakteriſieren ſolche Meine Züge vielleicht doc) die damalige Situation in Riga!.

Und als die Nachricht vom Tode Schillers die Beſten unjres Volfes tief erjchüitterte, da wurde aud in unfrem Lande ber Vers luft tief empfunden, und man bemühte ſich, das Andenfen des zu früh Dahingefhiedenen zu ehren. Im Dftober 1805 erließ ber Schriftfteller Rudolf Zadharias Beder in Gotha einen Aufruf, in dem er den Vorſchlag machte, aus den Beiträgen der deutſchen Scaubühnen für die Nachkommen Schillers ein Landgut zu faufen, das feinen Namen tragen und aud zur Pflege ber Erinnerung an ihn dienen follte. Der Rigaer Thenterdireftor I. Meyrer machte ſich jofort an die Nealifierung dieſes Planes und fünbigte zum Beten biefes Zwedes bie Aufführung des Don Karlos in einem warm geſchriebenen Jirkular an?. Nachdem er darauf hingewieſen, daß „der deutſche Dichter, auf welden feine Nation vor allem ftolz ein durfte, der jeden Deutſchen, der für

3) Dan war in Sioland auch jehr bald darauf bedacht. die Sgillerſchen Dichtungen durch Übertragungen unfren lettifhen Sandesgenoffen zugänglich zu machen. So wurde bereits 1804 daß „Lied an Die Freude“, 1826 Die „Ölode“, „Der Taucher“, „Das Mädeen aus der Fremde" ins Leitifhe überfept ulm. Heute find die meiften Schilerjcpen Dramen und zahlreiche Balladen und Gebicpte in leitiſchen Überfeyungen vorhanden.

In tettijcer Sprace aufgeführt wurden zum erften Mal „Die Räuber“ 1885 in Mitau. Das Wigafche Lettifche Theuter Hat dann bißher noch folgende Dramen in Spene geleht:

„Rabale und Liebe . . . zum erſten Mal 1389. „Die Räuber . 0 2. Paare 7% „Die Jungfrau von Orleame" un. IN. Mario Stuart” . . nen 1. „Don Carlos"... 2... 1900.

Über die eftnifcen Überfepungen Schilterfcer Dichtungen find uns im Augenbfid die nötigen, Dale nich Dur Sand,

) Bat. Gruft Müller, Schiller. Jntimes aus feinem Leben ıc. 1905. ©. 248. 2) Dasielbe üjt in der Sammlung von Iheaterzetteln in der Bibl. der Sei. f. Bei. u. Allertumstunde enthalten.

Schiller und Livland. 835

das Große, Wahre und Schöne Gefühl hat, jo unzählig oft er- wärmte“, jegt nur noch in feinen Werfen und in dem Dank ber Welt und Nachwelt lebe, jagt er weiter: „Ich würde an einem Publikum, wie das rigiihe, ein Verbrechen begehen, wenn ich diefem ebelmüligen Publifum bie Veranlaſſung rauben wollte, nicht nur feine Hochſchãtzung Schillers öffentlich zu bezeugen, ſondern auch einer Unternehmung beizutreten, welche bie ſchöne Runit, melde bie Menſchheit ehret.“ Die Aufführung fand gegen ein beliebiges Entree jtatt, das ganze Unternehmen aber fcheiterte in Deutſchland an manderlei Hinbernijien. Unfere Bühne ließ es ſich aud) fpäterhin angelegen fein, das Andenfen an den großen Toten durch bejondere Aufführungen am Tobestage zu ehren. So wurbe im 9. 1811 die vom Grafen Chr. E. Bengel! verfahte „Schillers: Feier, feinen Manen durch feinen Geift,” bie vorher nur ein Mal in Regensburg am 1. Febr. 1806 aufgeführt war, zur Darjtellung gebracht. Vorher bereitete ein Verehrer bes Dichters durd ein „Programm“? auf den Inhalt des Werfes, das nur in Abſchriften furfierte, vor. Unferm Geſchmack würde basjelbe wahre ſcheinlich kaum mehr zufagen, ber Verfafler des Programms aber nennt es ein, „genialiſch ausgeführtes Kunftwerf.“ „Es iſt dus Ganze” jo jagt er „ein aus dem innigiten Vertrautſein und aus der näcjlien Geijtes-Vermandtichaft mit dem großen Dichter bernorgegangenes Gento in dramatiider Form, ein biographifdjes, poetiſches Dufjiv-Gemälde vom Leben und Wirken unferes Dichters aus dem unerſchöpflich veichen Nachlaſſe Schillers und namentlich aus jeinen vermifchten Gedichten und aus feinen dramatifchen Werken.“ Der Gedanfe, die Aufführung jährlich zu wiederholen, wurbe nicht vealifiert.

Wenig befannt iſt es, baß unjer Heimatland fid rühmen fann, das ältejte Denkmal zu befigen, das Schiller zu Ehren erridtet worden iſt. Wohl wurde gleich nad) dem Tode des Dichters in feiner Geburtsjtabt Marbach der Gedanfe erörtert, ihm ein Denkmal zu fegen, aber erit 1830 iſt auf ber Scillerhöhe in Volkſtädt die De Büfte aufgejtellt und 1839 zum erjten Mal in einer

1) Bengel, geb. 1707, war damals Minijter in Baden. 2) Xgl. daslelbe in der Bibliotgel der Geſeuſch für Geſchichte und Alters tumshunde.

336 Schiller und Livland.

Stuttgart, ein Schillerdenfmal enthüllt worden!. In unferm Lande ijt bereits 1813 von Jrau Wilhelmine v. Helwig, geb. v. Helwig auf der Injel Pucht (Schloß Werder) dem Andenken Schillers eine 1,28 Met. hohe Gebenfjäule geweiht worden?. Die Säule trägt die Inſchrift: DEM ANDENKEN FRIEDRICH VON SCHILLER TEUTSCHLANDS ERHABENEN DICHTER UND LIEBLING DER MUSEN GEWIDMET 1813. Auf der andern Seite jtehen die Worte: Die Dichtkunst reicht dir ihre Götterrechte, Schwingt sich mit dir den ewgen Sternen au, Mit einer Glorie hat sie dich umgeben, Du schufst fürs Herz, du wirst unsterblich leben.

Von jener Zeit an ift die Verehrung für Schiller nicht ers loſchen, wenn auch die Flamme ber Vegeifterung, ähnlich wie in Deutichland, mitunter nur langſam fortbrannte, dann aber wieder hell emporfoberte. Groß war der Enthufiasmus auch bei uns in dem berühmten Schillerjahre 1859. Die politiſchen Vergältni geftalteten die Erinnerungsfeier an ben Dichter zu einem „National feite, wie Deutichland noch feines erlebt hatte.“ Mir nahınen regen Anteil an den Schickſalen des Mutterlandes, aber die Ver: hãlimiſſe unjeres eigenen Landes, die fid damals befonders freund: lich zu geftalten dienen, trugen wohl befonders dazu bei, daß bie Feſtlichleiten mit frifhem Mut und fröhliden Herzen gefeiert werben fonnten. Wenn die Scillerfeier, zu der wir uns jegt rüften, wohl einen ernjteren Charakter tragen wird, jo liegt das nit nur in der Verjchiedenheit der Veranlaffung: Geburt und Tod des Dichters, begründet, ſondern aud) in den fo wefentlich andersartigen Zeitumftänden damals und jept. Tropbem aber tönnen wir hoffen, daß bie Frucht der Gebentfeier eine gejegnete fein werde. Theobald Ziegler hat einmal geſagt? „Das Schillerfeſt war ein Belenntnis des deutſchen Volles zum Idealis— mus und damit zu allem Beiten und Höchſten, was in ihm lebte und zu Luft und Licht empordrängte. Diejer Schillerſche Idealismus

33 Vgl. über Schiller-Dentmale O. Weddigen, Den Manen Cciilers. 1905. Ernit Müller a. a. D. &. 248 ff. 2) Nach einer liebenswürbigen Mitteilung des gun St u. Voemis of Wenar, der augenblidlic für die Neitaurierung d:8 Denfmals Sorge trägt. 2) Hiegler, Die geitigen und jozialen Stro« mungen de9 10. Jahrhunderts. 1800. ©. 971.

Schiller und Sioland. 837

mar aber in feinem tiefiten Kern als ſittlicher durch und durch gefund, war männlich ftarf; die Herfunft vom kategoriſchen Imperativ Kants hatte ihn geftählt, „das Gebiet der Männer kãmpfe im öffentlichen Leben“ war diefem Dichter des Wallenjtein und des Wilhelm Tell nicht verſchloſſen, und fo lag im Bekenntnis des Volfes zu ihm ber Appell an den Willen des deutſchen Volkes, etwas wie ein männlicher Entfchluß und wie der Anfang zu feöftiger Tat."

Heute tritt an uns die Frage heran, ob aud mir bereit find, ein ſolches Befenntnis zum männlich jtarfen Idealismus eines Schiller abzulegen, wie es unfere Väter vor einem halben Jahr: Hundert getan Haben. Können wir es, dann brauchen wir an unferer Zukunft nicht zu vergagen, dann wirb fein rajtlojes Streben auch uns und der Zufunft unferes Landes zu gute fommen, bann gilt auch uns das Wort:

Seine durcgemachten Nächte Haben unfeen Tag erhellt.

Citerariſche Rundfchau.

u Schillerd Seelenadel.

Ketöen, die den 100. Todestag Schillers mit einer eier Miller, anbächtiger Erinnerung begehen wollen, fei ein Buch empfohlen, ba6 zwar nicht ausdrüdlich auf ben bevorfiehenden Wedenftag Bezug nimmt, aber doch wohl nicht zufällig kurz vor ihm erfchienen it: Srip Jonas, Schillers Seelenadel. Cs hat ſich eine ähnliche Aufgabe geftellt, wie die im gleichen Verlage erfchienenen Goethebreviere Wilhelm Bode’s, nämlich ein Bild der Periön- tichfeit Schillers aus jeinen eigenen Hußerungen und denen ihm Naheftehender zujammenzufügen, das an fommentierendem Beiwerk nur foviel enthält, als zur Ginheitlichfeit und Anſchaulichleit des Bildes erforderlich iſt. In der Darftellung bes inneren Lebens bat Jonas feine Hauptaufgabe geliehen, wie diefes im perfönlichen Verkehr, im Kreife der Familie und der Freunde ſich offenbarte; aud die Werte Schillers betrachtet er vor allem als Quelle zur Kenntnis des Menſchen, der hinter ihnen fteht. Die Eigenart Schillers faht Jonas Hödjft treffend in zwei Worte zufammen: Willenskraft und Freiheitsbrang. „Alle andern Dinge müffen; des Menſchen ift das Wefen, welches will." „Diefes Mort aus Schillers Abhandlung über das Erhabene trifft in den Mittel: punkt feines eigenen Denkens und Handelns.“ Wie es im Leben und Schaffen Schillers, wie es in feinen Hauptdichtungen fich bewährt, hat Jonas im einleitenden Kapitel in Kürze ſtizziert. Die folgenden ausführliceren Kapitel gehen vom äußeren Leben aus, um immer tiefer ins Innere zu dringen und dann wieder mit einem Wusblid auf die Werfe zu enden, in denen Schiller aus der Tiefe ſeines Gemütslebens an bie Außenwelt tritt. Die „änfere Erſcheinung und der Eindrud der Perfönlich: teit“ iſt der nächſte Gegenjtand feiner Schilderungen. Daß auch

*) Verlin, Mittler und Sohn. 1904.

ouerariſche Rundlchau. sso

bie äußere Erſcheinung in einem dem Seelenadel Schillers gewid- meten Buche eingehende Erwähnung findet, ift mwohlberechtigt. Die Übermacht der idealen Perfönlichfeit in Schiller hat ſich doch aud) darin gezeigt, wie alles Unſchöne und Unbeholfene, das bie Natur ihm in die Wiege gelegt, durch die Energie des geiftigen Zebens, wenn aud) nicht überwunden, doch durdjleudptet und verflärt wurde. So fonnte er and) äußerlich denen, die ihm nahe ftanden, als Idealgeſtalt erſcheinen, in deren Gefihtsbildung und Körper haltung fie ein Spiegelbild feines Seelenlebens erfannten. Während feine Erfeinung auf Fremde wohl gar einen abftogenden Eindrud madjte, war es für den Bildhauer Danneder eine Quelle künſt- leriicher Freuden, als er die Rolojjalbüfte Schillers ſchuf. Auch im gejelliaftlihen Verlehr ericheint Schiller Fernjtehenden in einem gang andern Lichte, als den Vertrauten. Die Gabe, ſich leiht und anmutig mitzuteilen, war ihm verſagt, und ſchon feine Rränklichfeit zwang ihn, feinen Umgang auf einen feinen Kreis zu beichränfen. Wer ihn nur oberflächlid) fannte, fonnte wohl den Eindrud_einer falten Natur gewinnen, wie Jcan Paul, der ihn „ben felfigten Schiller” nennt und von ihm jagt, er jei voll Eveljteine, voll ſcharfer, ſchneidender Kräfte aber ohne Liebe. Seine Freunde aber fühlten ſich gerade durch bie Wärme feines Herzens unwiderſtehlich an ihn gefeilelt. „Du warmer Mann“, redet ihn Danneder in einem Briefe an, und Heinrich Voß fagte von ihm: „Das ift die fortdauernde Stimmung feines Gefühle: Liebe und Hingebung für jedes mitfühlende Herz.“ Cinitimmig find die Urteile über die reiche geiflige Anregung, bie Schiller in Gefprägen zu geben muhte, die dur—dringende geiftige Schärfe, ben Flug der Gedanfen, ben nicyts herabzieht, die Fähigkeit, alles in die Sprade der Ideale zu erheben. Goelhe fühlte fi durch die Geftalt Chrifti an den dahingeldiedenen Freund erinnert: Jedes Auftreten von Chriftus, jede feiner Sußerungen gehen dahin, das Höhere anfhaulid zu machen. Immer von dem Gemeinen fteigt er hinauf, hebt es hinauf. —- Ich will nicht zu fagen unterfaffen, was mir gerade einfällt. Schiller war aber diefe Chriftustendenz eingeboren, er berührte nichts Gemeines, ohne es zu verebeln.”

Das nãchſte Kapitel behandelt die äußeren Lebensumftände Schillers. Es trägt die überſchrift „Not und Sorge”. Don feinen Zünglingsjahren an war Ethiller in peinüche Gelpforgen verwidelt, und niemals, auch nicht in den Tagen feines Yuhmes hat er ſich in materiell unabhängiger Lage befunden; in weitgehendem Maße bat er die Unterftügung hochherziger Freunde annehmen müllen. Aber nie hat er ſich dadurch herabgiehen lafen, ftets, bei aller Dankbarkeit, feine Freiheit und feine Würde bewahrt. Ju der Zeit, wo Edjiller den Höhepunkt feines Glüdes erreicht glauben

30 Siterarife Rundſcheu

durfte, ala eine fefte Stellung es ihm ermöglicht Hatte, den Lebensbund mit Charlotte von Langefeld zu jchliehen, da Iraf ihn jene tücijche Krankheit, die ihn dann in den lehten vierzehn Jahren nicht mehr verlaſſen hat. Sein größtes Werk hat der Geil in faft beftänbigem qualvollem Rampfe dem Körper abringen müllen. Wie in Not und Sorge ſich Schillers Willenoftärke und Freiheils- drang jtählten, fein Seelenabel fid) zu milder Hoheit fäuterte, fo find fie auch mit Recht als Züge in fein Charafterbild eingetragen morben.

Tiefer in das Innenleben führen uns die folgenden Seiten, die der „Freundſchaft“ und der „Liebe“ gewidmet find. Es hat wohl faum ein andrer jo viel in der Freundſchaft empfangen und fo viel zu geben gewußt, wie Edjiller. In ihr hat ſich fein Ge mütsleben am reichten entfaltet, Drei Freunde ftanden ihm befonders nahe: Körner, Wilhelm v. Humboldt und Goethe, Mie in jedem dieſer Freundſchaftoverhältniſſe der Austaufd von Ge: fühlen und Gedanken ſich eigenartig geitaltete und wie jedes ihm in feiner Eigenart wertvoll war, hat Jonas in feinfinniger Charaf- teriſtik ausgeführt. Auch bie Yiebe war Schiller im weientlihen eine Art idealer Freundſchaft. Das naive Liebesgefühl oder wenigſtens der naive Ausdrud dieſes Gefühls war ihm fremd. Aber das Ideal der Liebe, das ihm von jeher vorſchwebte, war bas höchfte und reinite. Ex erfehnte eine Zeelengemeinichaft, bie die verbundenen Scelen zu immer höherer Vervollfommnung emporführte. Und diefer Wunſch ift ihm in vollſtem Maße erfüllt worden. In Charlotte von Xangefeld erhielt er eine Lebensge- fährtin, zu der er jagen durfte: „Unerfhöpffich ift in ihren Ge— ftalten bie Liebe, und die unjrige glüht in dem ewigen, ſchönen Feuer einer ſich immer mehr veredelnden Seele,“ Mie mürdig Charlotte feiner war, das zeigen nicht bloß die Aeußerungen Schillers und feiner Freunde über fie, das zeigen vor allem die Worte, in denen fie nad Schillers Tode fein Bild niederlegte, wie es vor ihrer Grinnerung itand. Cie ericheint hier mit jenem heiffehenden Scharfblid der Kiebe begabt, von bem Kingsley einmal ſchon gefagt hal, daß er den geliebten Menichen ſchon auf Erben fo jehe, wie er einit in der Civigfeit vor dem Auge Gottes ſtehen werde.

„Auffaſſung der Natur" und „Religiöfe Anſchauungen“ bilden das Thema der folgenden Kapitel. Die Naturpvefie jpielt bei Schiller eine untergeordnete Nolle. Jonas erflärt das zu⸗ treffend aus feiner didyteriichen Cigenart, hat aber doch wohl nicht ganz Net, wenn er dieje Eigenart mit der der des fenlimenta- kichen Dichters nach Schillers Definition ſchlechthin ibentifiziert. Die Naturpoefie, wie etwa in Goethes Lied „An den Mond“, ift ja gerade ein Produft der jentimentaliihen Kultur; dem naiven

Literariſche Rundſchau. 341

Dichter, Homer z. B., der felbit Natur ift, ift fie fremd. An feinen Naturchilderungen ift nur finnliche Anſchaulichkeit, feine Stimmung, feine Beleelung. „Empfindfamfeit für die Natur” dagegen nennt Schiller jelbit unter den Gharafterzügen bes Sentir mentalifchen. Aber allerdings ift das richtig, daß bie mächtig ergreifende Schönheit der Naturpoefie Goethes auf der Verſchmel⸗ zung bes Naiven mit dem Sentimentalifhen beruht, darauf, daß in ihr ein naiver Dichtergeift einen fentimentalifhen Stoff geitaltet. Bei Schiller dagegen, dem ftets der handeinde Menfch ber eigent- liche Gegenftand der Dichtung war, tritt gerade in ber Nuffallung und Darftellung der Natur das Naive gänzlich hinter dem Sentir mentalijhen, die Anfhauung Hinter ber Neflerion zurüd. Hier ericheint ihm alles Vergänglihe nur als ein Gleichnis und die Ausbeutung dieſes Gleichnifies als Aufgabe ber Dichtung. Da aber, wo es gilt, einer bedeutenden Handlung auch einen bedeu— tenden Schauplap zu geben, wie im Wilhelm Tell, bewährt Schiller auch der Natur gegenüber die naive Geflaltungsgabe, in der er ſelbſt das eigentliche Kennzeichen dichteriſcher Genialität ſah. Das Rapitel „Neligiöfe Anſchauungen“ zeigt uns einerjeits die tiefreligiöfe Grundlage Schillers und anderjeits feinen Gegenſatz gegen die beſtehende Neligion und Kirche. Ueber feine religiöjen Anschauungen hat fih Schiller in feiner Gedankenlyrik und jeinen philoſophiſchen Schriften jo beftimmt ausgeiproden, daß Jonas bier nur die Aufgabe Hatte, Vefanntes überfictlich zulammenzur ftellen. Auch hier find es die am Eingang genannten Grundzüge in Schillers Scelenleben, die vor allem hervortreten: Willensftärte und Freiheitsdrang, der unbedingte Glaube an die Willensfreiheit, „an bie Freiheit des Menichen, aus fid) jelbit Heraus der Voll- fommenpeit zuitteben zu fönnen“, eine Ueberzeugung, deren lebendige Verkörperung Schiller jelbit war.

Die legten Kapitel find dem Schaffen Schillers gewidmet. Zunãchſt wird bie „Arbeitsweife” geichilbert, die verzehrende Energie, die ihn zu fortwährender Tätigkeit, zu immer erneuter Umgejtal- tung des Gejchaffenen trieb. Die Werke, die, von der Perſon des Schöpfers gewiſſermaßen losgelöft, jetzt ein eigenes geifliges in führen, betrachtet Jonas nur nad einer Eeite hin, in lußkapitel „Sprache und Stil“, wohl mit etwas zuviel philologiſchſtiliſtiſchem Detail. Aber mag uns das eine oder andre in diefem Buche vielleicht entbehrlich ſcheinen und anderes vielleicht wieder fragmentarifch, jein Hauptziel hat Jonas jedenfalls erreicht; er hat ein gutes Volksbuch geihaffen, das, ohne Verflahung und ohne Ueberichwänglidjfeit, in die Tiefe dringen und dad) Mar und verjtändlich, das Bild bes Dichters vor uns erneuert, der, bei all feinem Huhm, dod in vielen Stüden dem Epigonen merkwürdig und unverdient fremd geworden ij. Möge es in unfrer Zeit, in

Battifcie Monatofceift 1905, Qeft & 7

92 Siterarifche Rundſchau.

ber fo oft prinzipien- und zielloſe Aritiffucht fih mit dem Namen ber freiheit dedt, zur Grmwedung des Gefühls beitragen, bas Stiller, feines Terhältniffes zu Goethe gedenfend, in den Worten ausfprad, „daß es dem Vortrefflichen gegenüber feine Freiheit gibt, als die Liebe.”

8. Girgenfohn.

Zwei Schiller - Biographien.

Ben hat geſagt: Goethe dichtele, was er leble; man Fönnte ſagen: Schiller (ebte, was er dichleie. Neich und glüdlid) find die Verhältniiie, in die Goethe hineingeboren wird, mb in denen er lebt, überaus glüdlid) und reich ift aud) jeine Yeanlagung. Wohl fehlen aud) jeinem Yeben die Echmerzen nicht, aber es find dad) meift Schmerzen, die er fih als irrender Meuſch ſelbſt geichaffen hat. Wie anders das alles bei Schiller! Engbegrengt, innerlich und äußerlich, it das Feld, auf dem er fid in jeiner Kinderzeit bemegt, armjelig und ezwängt find feine Yünglingsjab: einziges Schmerzenolager in Dannesalter. Auch in ji geilligen Beanlagung erjcheint er weit weniger verſchwenderiſch von der Natur ausgeftattet, als fein großer Nivale und Freund. Und nun das Echaufpiel! Goethe wächſt wie ein lebendiger Organismus, wie ein Baum, der in fruchtbares Erdreich geſetzt wurde und immer verzweigtere, mannigfaltigere Sproffen treibt, er wädjft an und aus fid) jelbit, fajt unbewuht; Schiller entwidelt ſich wie ein bewußt entworfenes und auf öde Plan hingejtelltes Kunſtwerk. Bei dem einen treibt die Naturanlage, bei dem andern ſchafft die Macht des Willens. So wird ber eine Lyrifer und Epifer, der andere Dramatifer, und fo lebt und fingt der eine in der Freiheit, in die er getellt wurde, Natur, während der anbere aus dem Zange heraus fih bie Freiheit erft erobert und dann fie lebt und fie verherrlicht. Wer ift größer? Goethe hat bereits auf dieſe Frage die mögliche Antwort gegeben. Aber wer ift der Dann unirer Da hat man immer wieder auf Goethe gewielen, Schiller Be abgetan. Ich glaube, Goethe ift ihr Prophet geweien, Schiller wird ihr Arzt fein. Er muf es werden, wenn anders das deutiche Volt auch in Zulunft gedeihen fol. Es muß zunächſt auf künſtleriſchem Gebiet wieder Schillers Glaube all: gemein werden: „Alles, was der Dichter uns geben kann, ift

Literarife Rundfehan. 343

feine Individualität, diefe muß es alfo wert fein, vor Welt und Nahmelt auogeftellt zu werben.“ Leben muß der Deutſche wie Schiller wieder Poefie, große Poeiie, danu wird er jie auch wieber dichten fönnen, und lebt er fie erft wieber, jo wird er groß fein, auch ohne fie zu dichten. So wird Schiller nicht nur auf literariſchem Gebiet, jondern ganz allgemein der Wegweiſer feines Volfes. Zurüd zu Schiller! Wohl if er der Dichter der Jugend, aber nicht jo wie man wähnte, weil er bem Daun dem heutigen Dann —— nidyts mehr zu bieten hätte, fondern in dem inne, dal) für die Jugend der Belle, das Aller: hödjjte nur gerade genug üt. In diefem Sinne jprudelt_ auch heute noch für das reifere Alter aus Schillers Werfen eine Quelle lebendigen Waflers. Das haben die Beſten und Größten unfrer Zeit_bewiejen, Fürſt Bismard erbaute ſich in jeinen Lepten Jahren an Chillen, der achtzigjährige Weile, der Größten einer, chöpfte aus den Werfen des Vierzigjährigen Weisheit. Bon allen Werfen Schillers aber ift das größte —- fein Leben, es iſt ein „ariuz«: ein Wert für die Cwigfeit. Überaus reizvoll iſt es, Goethes Leben nachzugehen, aud) fehrreid wird es fein in den Einzelheiten. Wer vermöchte aber diefer wunderbar fomplizierten, gewiſſermaßen naturz notwendigen Ganzheit als Ganzheit nachjuleben? Echillers Leben, geworden aus der Macht des Willens, ift und bleibt uns ein eiwiges Vorbild.

Daß Schiller in diejem feinem größten Werk, feinem Leben, wieder aftuell wird, beweifen die zahlreichen Nenauflagen ältererer Schillerbiograpgien und in jüngiter Zeit erichienene, zum Teil noch nicht einmal vollendete neue Darjtellungen feines Lebens. Unter ben neueren möchte ich als ein Bud) eriten Nanges den „Schiller“ von Karl Berger* hervorheben. Das Werf il berechnet auf zwei ftarte Bände. Bisher ift mur der erfte erfchienen, ber mit der ig Schillers nad) Jena, alſo ſeiner erſten Dichterperiode abſchließi. Feine Kritik und ſchöne Darſtellung gehen hier Hand in Sand. Das Wert hat in gleidem Maße Glanz und Fülle. Wie kaum in einem andern find hier Leben und Dichten in licht- volle Beziehung gebracht. Turhiichtig Har erſcheint die Beſprechung der Dichtungen, zumal der Dramen. Wunderbar nahe aber tritt ung die Perſon, der große einzigartige Menſch Schiller.

Es fei geitattet zum Schluß einige Worte aus der idönen Einleitung des Vergerſchen Buches herzuſetzen. Berger weiſt auf die Macht hin, die Schillers Perjönlichteit auf Goethe ausübte. Es war „wie ein neuer Frühling,“ fügt Goethe jelbit. Dazu Schreibt Berger: „Dieje verjüngende Lenzesfraft faun heute noch jeder aus geiftigem Verfehr mit Schiller für fich gewinnen, aus

“Karl Berger, Schiller, jein Leben umd feine Werte. Vand I. Wünsen, €. 9. Bet, 105. 030 &. Preis D. 6.

3 Literariſche Aundigjau.

deifen Leben und aus deilen Werken. Dieie Kraft heißt: Ver tranen in das Jdeal, Glaube an die geiſtigen Mächte in uns, die uns zu Herren der Verhältniffe und der Natur, aud) der eigenen machen, die uns das ruhige, ſichere Gefühl innerer Überlegenheit in allen Lebenslagen geben fönnen ; die Zuverficht ferner, daß die Stätte der menichliden Seeie einer ımermehlichen Steigerung daß eine Menjchwerdung nad) dem göttlichen Urbild unfer Teptes Ziel und möglich jei. Wer möchte nicht gerade der heutigen Generation ſolche Energien, ſolche Erhöhung der Lebensziele wünjhen, diejem Geſchlechte, das einerjeits vielfach noch in materialiſtiſcher Befangenheit überall nur Zwang und Notwendigfeit zu jehen und an fittlicher Freiheit und fittliher Verantwortlichteit zu verzweifeln allzu geneigt ift, während andererjeits gerade heute die Ahnung eines neuen, das fommen will, die Zeit in allen Tiefen erregt.”

R. Stavenhagen.

„Vom Ecdimmer der Vegeifterung verflärt, fteht Schillers Geftalt vor ums. Die Dankbarkeit feines Volfes Hat ihn zur Idealgeſlalt erhoben, wie es zuerft fein großer Freund im „Epilog zur Gtlode“ getan hatte. Gr glänzt uns vor wie ein Komet ent- ſchwindend, Unendlich Licht mit ſeinem Licht verbindend. Im diefem Lichtmeer verſchwimmen bie individuellen charalteriſtiſchen Züge, und wenn fie aus den hiſtoriſchen Quellen, die uns vorz liegen, wiederernenert und feſtumriſſen emportauchen, jo erſcheinen fie wohl fremdartig und überrajchenb.” Mit diefen Worten beginnt Otto Darnad_jeine Gchillerbiographie*, deren 1. Auflage, 1898 erfchtenen, bereits in 5000 Eremplaren Verbreitung gefunden hat. Nun liegt uns das ſchöne Bud) in neuem Gewande, ver: beffert und mit veicherem Bildfchmude verjehen in 2. Auflage vor. Aber diefelben Worte leiten das Werf ein, befonders charalieriſche Worte, Denn dieſe Worte zeigen uns, wie es dem Biographen gerade auf jenes „Individuelle” angelommen ift, das fo leicht im allgemeinen Glanze verjehwindet, der fih um Schillers Namen gelegt bat. Schillers Idealismus, Schillers Pathos, Schillers fitte licher Gruft, das find die Vorjtellungen, die jedermann geläufig find, und die ſich wie ein Schleier über feine Geftalt gebreitet haben, Der Schleier ift glänzend, aber er läht die verhüllten Formen nicht deutlich und greifbar genug bervortveten. Es iſt ſchon mandem jo gegangen, daß die gefälligen aber uninterefjanten Julten dieſes Schleiers ihnen die Teilnahme genommen haben für die herrlichen und marfigen Züge, die darunter find.

*) Otto Harnad, Sailer. Bit 10 2. verbefj. Aufl. Beln., Ernft Gojmann u. Ro.

und, eier Soldrit

1905. 448 ©. Geh. D.

Literarifche Rundſchau. 345

Otto Harnad zieht den Schleier weg, er zeigt ein individuelles Bild. Wenn jo mander überrajcht und befremdet ift, fo iſt dus großer Gewinn. Frage und Verwunderung find ja befanntlic) Unfang der Weisheit. Und daß man in viel höherem Pape, ale etwa vor 10 Jahren, nad) Schiller fragt und über ihm zu ftaunen wieder anfängt, läßt fi nicht leugnen. Harnads Biographie aber ift für folche der bejle Führer. Ich muß mit großem Dant bezeugen, daß jeiner Zeit die 1. Aufl. dieſes Werkes mir dem individuellen Menſchen Schiller jchenfte, den Mann des hohen Selbſtgefühls, dabei mit den realen Verhältniffen praktiſch rechnend und jie beherrichend, den ausgeſprochen männlichen Charakter, dem das Verjländnis für die Frauenſeele erſt ſpät aufgeht, den heiteren Geſellſchafter kurz den Menfchen mit all feinen Befonderheiten, der nicht durch allgemeine Schlagworte zu begeidhnen ift, fondern unter Goethes Wort füll

„Wer tiefer fieht, geftcht ſich frei : Es ift mas Anonymes dabei.“

Es ſoll natürlich Hier nicht geleugnet werben, daß auch andere Biographien diefes individuelle Bild vermitteln fönnen, aber dieſe tuts fiber, und das jei ihr zum Nuhme gejagt.

Und aud zu Schillers Merken wird fie ein engeres Ver: hältnis bei den Leſern anbahnen. Dito Yarnad ift gewiß ein Krititer, der etwas Kongeniales mit dem Dichter hat, wie wir das ja von einem gutem Kritiker ftels verlangen müjlen. Das ſhlieht aber eine ftrenge, jo mandjes verwerfende Kritif nicht aus. Und daß Harnack eine ſolche nicht ſcheut, zeigt fein beinahe hartes Urteil über die „Iungfrau von Orleans" und „Fiesfo*. Cs it aber unferer Zeit mit ſolcher Kritik hundertmal mehr gedient ale mit einfeitiger VBerhimmelung. Gewiß, in die Schule gehört die Kritit gar nicht oder doch nur in allerbeſcheidenſtem Maße. Weh uns, wenn wir uns eine alttluge, überweile und kritiſche Jugend heran erziehen. Ganz anders aber jteht es mit den Erwachfenen : fie werden gerade durd) die Kritik hindurch mit erneutem Intereſſe an Cdjiller herangehn. Und da ein jo ausgeiprodener Ediller: freund wie Harnad die Kritif nicht ſcheut, wird vielen Xejern das Zutrauen zu ihm ftärfen: ed fteht aljo doch nicht jo, daß) Schiller nur gelobt und in den Himmel erhoben werden darf!

Die neu eridjienene 2. Aufl. hat manden Zufag erfahren, namentlich bei Veipredung der älthetiihen Schriften Edjillers. Sie if im ganzen füft um > Drudbogen jtärfer uls bie erite. Die Bereiderung, die das Wert an Bildniſſen Schillers aus allen Lebensaltern gefunden hat, il jehr erfreulich). Dögleich die Biv- graphie auf den gründlichiten Etudien beruht umd duch den Kejer zu fieferem Erfaſſen Schillers anleitet, muß fie dod) knapp genannt werben. Für eine ausführlide Analyſe der Dichtungen ijt fein

346 Literariſche Rundſchau.

Naum vorhanden, desgleichen verſagt ſich der Verfaſſer die Mit— teilung mander Schilleranekdote. Aber an der Hervorhebung kleiner harafteriftifcher Züge fehlt es trotzdem durchaus nicht. Und im gangen tut uns gerade eine foldhe fnappere Edjillerbiograpfie not.

Das 6.—8. Tauſend der Harnack'ſchen Schillerbiographie zieht mit dieſer 2. Nuflage in die Welt. Wie viele von dieſer Ntattlichen Anzahl werden in’s baltiiche Land fommen? Wir be: gehen in biejen Tagen die feierlichen Gedenkfeſte. Sie bringen weihevolle Stunden, bergen vielleidht ſchöne Erinnerungen. Aber nicht mehr? Nönnten fie nicht Anveger werben, daß auf bie geräufdvollen Schillertage folgte ein Schillerſommer mit ruhiger Vertiefung? Folgten Schillerjahre, in denen uns der Große ohne Schleier wieder nahe träte? Ic) glaube wir haben manches nach:

zuholen. E. v. Schrenck.

Schillers Sämtliche Werke. Sätular-Ausgabe in jehsehu Vanden. Stuttgart und Perlin. J. ©. Cotta Nahf. 4. Band. Don Carlos. Hrsg. von Nic. Meihenfels. 6. Band. Maria Stuart. Jungfrau von Orleans. Hrsg. von Julius Peterſen. 9. 10. Bd. Überfegungen 1. 2. Hrsg. von Aldert Köfter. 14. 16. Band. Piitorifdhe Schriften 2. Hrsg. von Hich. Zeller.

Zu feinen hiſtoriſchen Dramen hat Schiller meiſt fehr mannigjaltige Quellen bemupt, fo dab die Nommentatoren genug damit zu tun haben, diefe Anlehnung im Ganzen und im Einzelnen nachzuweiſen ober zu 'erflären, mie und warum Schiller aud wohl von der Tradition abweicht. Auch die Einleir tungen und Anmerfungen zu den drei vorliegenden Stüden geben ausführlichen Vericht Über des Dichter Verhältnis zu feinen hiſtoriſchen Grundlagen und bie Verwertung derfelben. Auher diefem Einblie in die Voritudien und die Wertitatt des Dichters gewähren aber die Einfeitungen auch fritifdie Winfe, wonad) der dramatifche Wert der Stüde zu beurteilen it. om Don Carlos und der Jungfrau von Orleans (wie noch viel mehr von den brei Profabramen Schillers) gilt da8 durd lange Erfahrung beitätigte Urteil der Vorrede zu Band 6 (S. XXVIID: „Gerade in dem Mangel an pſychologiſcher Motivierung fiegt nicht die Schwäche, fondern die Macht des Wotios, und Scilfers Dichtung in diefem Yunkte als ein auf die Bühne berechnetes Stüd. Auch e am die poetiſche Geitalt, an den fortreißenden Schwung der Gedanken und der Sprache läht die Bedenten nicht auffommen.” Ju der Tat trägt die

Literariſche Rundſchau. 347

Darſtellung auf der Bühne über ale Zweifel Finmeg, welche man gegen die Baprfheinlichfeit fo mander Wendungen in Schillers Dramen hegen ann.

Auch der politifche und patriotifche Gehalt und die entfprechende Wirkung der Stüde ift gebührend gewürdigt, wie 3. B. die Jungfrau von Drlcans mit „leifer Jronie” den Erfolg gehabt Hat, „dab vie politifce Wirkung des Gtüdes ffieplih gegen Sranfreic zur Geltung fam“, und zwar nicht nur 1813, fondern auch noch 1870. Ferner aus Don Carlos* ſpricht der ganze Schiller: „der Teibenfihaftlich empfinbenbe Menfch, der freiblidenbe Hiftorifer, der Philofoph, der die Glüfeligleit des Menſchengeſchlechts ermog.” Hier ftchl ja Schiller auf feinem fosmopolitifcjen Höhepunkt. Maria Stuart aber, noch vor dem Don Carlos zu Bauerbad) ins Auge gefaßt, iſt 18 Jahre Ipäter „die planvolffte dramatifche Dichtung Schillers geworben.”

Sqhillers Überfegungen find belannilich meiſt dramatiſchet Art, innerhalb diefes Rahmens ſreilich von ſehr verſchiedenem Weſen und Gehalt. Zunachſt Macbeth und Luramdot, freie Umdichtungen, da Schiller fich weder in die gigantijche, aber dramotiſche Anappheit Shaleſpeares. noch in bie geiſtreiche, aber witlfürliepe Seliſamleil Gozzis zu fügen vermochte. Da bot nich alfo dem Herausgeber Gelegenheit, eingehend alte bie Umgeitaltungen nadıyus weifen, durch welche der Dichter ſich von den Originalen enifernt hat. Tas wichtigite it zulammenhängend in den Einleitungen dargelegt, während einelne Züge in den Anmerkungen analyfiert werden. Alle Abänderungen Legen Zeugnis ab von Schillers Buhnenkenntnis und / technik; hat cr doc dem einheimiſchen Theater zugfräftige Bühnenjtüde geliefert und damit wenigitens dem augenblics lichen Dangel an guten deutſchen Dramen abgeholfen, wenn auch fpätere Gener tationen den Macbeth wenigſtens Lieber in einer geireueren Überfehung ſchähen mögen. Turamdot dagegen hat nachweislich durch Schillers Bearbeitung bedeutend gewonnen; auch ſtammen aus diefem Stüde Schillers klaſſiſche NRätfel, deren fhöner Form wir es verdanfen, dahß dieſes geiftreiche Spiel ſich jaſt als eigenartige Dichtung bei und eingebürgert hat.

Aus Zeiten, wo der Dichter „in Leiden bangte, kümmerlich genas", ftammen die beiden Luftpiele, welche er Picard nachbildete: Der Parafit und Ber Neffe als Onfel, leichte Ware, weiche allenfalls einen heiten

*) Eine erwünfchte Veigabe der Anmerkungen zum Don Carlos bildet der Bauerbader Entwurf der panilcen Samilieniragsdie und die uriprünglice Faſſung der eriten Szene zwifchen dem Prinzen und Domingo aus der dihein ſchen Ayalio vom März 1785. Überhaupt bot diejes Drama den reigiten Ynlah zu interefjanten Vcmertungen, 3. d. (Einleitung S. XXXVI) zu dem Yinmweis auf „008 vortreffliche Alccblatt” Nathan, Iphigenic, Don Carlos: „durd) alle drei fehreitet das Yumanitätsideal“; dieje drei Dramen beyeichuen zugleidh „den Übers gang von der Brofa zum fünffühigen Jambus; der für das Drama unjrer llaſſiſchen Literaturperiode baratierilige Vers gelangte damit zur Serrichaft." Endlich ift «8 cine glüdlice Beobachtung, dab im driten Alt des Nathan jowohl wie des Don Carlos „eine große Zcenfzene in den Mittelpuntt des Stürdes gerüdt” üit; fel hat Leifings Worbilo auf Schiller gewirkt. Umd 13. XXXIX) eier bramatijder Pocjic, Die unwirerjtehlich in ihren Yanır zieht“, Ül die Szene des Prinzen mit der Eboli, „eine ipannende Tragödie für fig.”

348 Literarifche Rundſchau.

Abend ſchaffen mochten. Es mar eben mur Aranfenbeichäftigung. welche fonit verforene Tage und Wochen zu benugen muften. Einem ähnlichen Intermezzo, einer „Schmerzenggeit“, entiprang die Überfegung von Racines Phaedra, Schillers Scpwanengefang, den er nur kutze Zeit überlebte. „Cr übte bier mebr Zurückhaltung und fam dem Focal einer Überfepung näher.“ Aber felbjt durch die glängendfte Bearbeitung war die franzöfifde Tragödie bei den Deutſchen nicht wieder zu beleben.” Auf dieſe lettte überſehung foigt in Band 10 die der Zeit mach erfte, bie Umarbeitung von Guripivrs‘ Iphigenie in Aulis; ikr Terälinis zum Ceiginal Üt in der Einleitung erörtert, während bie Anmerr Tungen „and, eine Reihe von Healerläuterungen, die wohl bei ſchwindender Haf- ſiſcher Vildung dern heutigen Leſet erwünſcht fein merden”, enthalten. An dieſes „auf ein empfindfames weibliches Publilum“ berechnete Unternehmen fchloh jich im felben Herbit 1788 die Hälfte der Phönizierimnen de Euripides der Tepte diamatiſche Verſuch vor dem Wallenitein und ber vollen Reihe eigener Entwürfe.

Während ber Nefonpalelzenz nach der fehweren Aranfheit 1791 überteng Sihiler die beiden Bücher von Virgils Mencis (2 md 4) in adhtzeilige Strophen, deren willfürliene Tarintionen an Wielands Vandhabung der Stanzc erinnern. Gine intereffante Zugabe bilbet eine Jugendarbeit Schillers in Hera mstern, die Übertragung des Sturmes auf den Tytrhener Meer. (Lirg. Aen. T, q. .)

Der erfte Band Hiftoriihe Schriften ift noch nicht erichienen; cs fehlt alfo noch die Einleitung dazu. In den beiden vorliegenden Pänden fin enthalten Der Abfall der Niederlande (mebit ven befannten Meineren Epifoden) und Ter dreibigiährige Krieg. Die Anmerlungen dazu nehmen einesieiis Vezug auf Schillers Werhältnis zu feinen Cuellen, teils auf Abweichungen der gegenwärtigen Zaffung vom früheren Texte; auch fehlt es nicht om Rachträgen aus der urfprünglichen ‚Form, weiche der legten Nedaftion fepten. So gewinnen wir einen Einblit in Schillers Verfahren als Hiterifer. wozu freilich eine zufammenhängenve Ergänzung durch die Einleitung voraus gelegt werden muß *.

*) Beim Abſchluhz vorftehender Beiprechung Ingen uns noch nicht fümtfiche 10 Bünde der Säfularausgabe vor, die im Kain. &t. vollitänvig vorliegen folltc.

Sieben Inge unter dem Kugelregen der Japaner.

Grinnerung an die Borpoftengefechte bei Siungiötfchöng. 7.14. Juni 1904 0. St)

In F. M.

enn jemand von den verwöhnten Weſteuropäern über

die Mandichurei etwas lieit, jo fcjüttelt er fid) größten: T teils vor Entjepen und gedenft mit Bedauern jener,

bie gezwungen find, dort ihr ganzes Leben zupubringen: er weiß babei aber nicht, wie wenig fein ganzes Bedauern hier am Plage iſt. Es mag dort vor dem Bau der Oſichineſiſchen Bahn wohl nicht ſchön geweſen fein, dod) heute ift die Mandſchurei ein Land mit allem Komfort Wejtenropas und reid an Naturs jchönheiten, die von Europa nicht übertroffen werden. Darum ift es auch nicht wunderlih, wenn man von Menfchen hört, die nur auf 3 Jahre dorthin gegangen find, aber dann doch nicht mehr äurücfehren wollen.

Unfer Standort Siungjötichöng, am gleichnamigen Flüßchen gelegen, 4 Werft von der Ljaotong-Bucht und umgeben von hohen malerifhen Bergen, wurbe nicht umfonft die Mand— ihwifce Niviera genannt, wo gar auch das Noulette -mit feinem nervenfigelnden Rollen nicht fehlen durfte; es wurde bei unferm Gsfadronsichef, Nittmeifter W., häufig genug gehandhabt. Und wie friedlich lebten wir dort, felbjt nad) dem Ausbruch bes Krieges. Mit den ummohnenden Chinefen und den Einwohnern der Stadt lebten wir ſogar recht freundſchaftlich, und der Tifan— guan (Gouverneur), fowie der chineſiſche Esfadronschef ſaßen fait täglich mittags oder abends bei uns. Nuch der Chundufen wegen brauchten wir uns nicht zu fürchten, da die Chinejen uns jedesmal vor ihrem Erſcheinen warnten, che fie nod) einen Plan ausführen

Battifce Monatefcheift 1906, Heft 6. 1

350 Unter dem Augelregen der Japaner.

Tonnten, ber dann immer vereitelt murbe. Überhaupt waren wir feit davon überzeugt, dah die Japaner nicht bis zu uns verbringen merben, fo daß mir, das heißt ein Ramerab und ich, unſere Zimmer plünderten, um alle Wände ber großen Veranda unfrer Wohnung mit Teppichen zu behängen, eine Hängematte bort anbradjien, einen großen Divan aufftellen ließen, um dort ber Hihe wegen zu nädhtigen. Auch was den wirtſchaftlichen Teil unfres Lebens betraf, richteten wir uns ganz häuslich ein. Wir Fauften ſechs friich- milchende Kühe, und mein Burſche, ein beuticher Kolonift, ber den Hangvollen Namen „Theodor“ führt, fpielte den Farmer, melfte die Kühe, ftellte die Mith zum Sauerwerden auf, die allen vors trefilic mundete. Co gingen einige Moden Hin. Wir hörten nur von Durdreifenden, daß die Japaner bei Tafufhan gelandet feien, um nad Norden vorzubringen. Dann fam bie Nachricht, daß mir den Süden räumen, was mit großem Ärger und mit Trauer aufgenommen wurbe. Faſt gleichzeitig mit diefer Botſchaft, traf Leutnant Jelkin und Unteroffijier von Aramer, ein Nigenfer, von den Primorfcen Dragonern ein, welde in einem feinen chineſiſchen Boote (da der Süden ſchon abgejchnitten war), nad) Port:Arthur gelangt waren und von dort diffrierte Depefchen an General-Adjutant Kuropatkin von General Stöfiel gurübrachten. Die von ihnen überbradhten Nachrichien waren für uns fehr wenig erfrenliher Natur. Seit dieſen Tagen war unjer Estadronschef von einem unheimlichen Dienteifer befallen. 300 Chinefen mußten antreten, um nad) meiner Anweifung eine hohe Schanze nebſt Graben um die Rafernen herum aufzuwerfen, wobei mir mein breimonatliches Kommando bei den Baranomiticher Sappenren jehr zu ftatten fam. Außerdem wurden wir täglich und vor allem nächtlich ollarmiert, vorderhand nur zur Probe. Unfre Leute erreichten die Ferligfeit, in 10 Minuten nad) dem erften Signal marjchfertig auf gelattellem, mit Gepäd beladenem Pferde anzuiprengen.

So vergingen nod) einige Woden, bis eines Abends unjer gemütliches Mbendbrot durch das Eiſcheinen eines chineſſſchen Geiſtlichen mit glattrajiertem Kopfe und einem Reifebündel in der Hand geftört wurde. Wir wollten {don unfren Ordonanzen ben Befehl geben, ihn wieder an die friiche Luft zu erpedieren, und ihnen einen Nüffel erteilen, weil fie die vorderen Türen geſchloſſen hatten, ald diefer vermeintliche Bonze uns in gebilbeter rujfifcher Rebe anfprad), fih) feines Roftüms wegen entfchuldigte, um einen Schnaps nebſt Imbiß bat und fi als Fürſt Gantimurow,

Unter dem Rugelregen der Japaner. 351

Rejerneleutnant der Schügen aus Port-Arthur, vorftellte. Unfre Freude und unfer Gelächter waren natürlich groß. Weniger Freude mag wohl der Kamerad beim Paffieren ber feindlihen Borpoften empfunden Haben; doch ber Umjtand, daß er der Sohn eines Burjatenfürften if, daher nach jeinem Erterieur den Chinejen gleicht, daß er aud) bas Chinefiſche fliefenb ſpricht, war ihm jehr uſtallen gefommen.

In derſelben Naht kam auch bie Nachricht, daß unſre Koſaken bei Wafangkou zwei Esfadronen der kleinen Gelben voll- fändig aufgerieben hätten. Das war die Sübel-Aitade ber fibiriichen Koſaken am 17. Mai, wobei zum erfien Mal während dieſes Krieges die Pifen in Arbeit genommen wurden, Die ſich als außerordentlich tauglihe Waffen erwiejen. Trotzdem oder vielmehr eben beshalb, ſprachen die Japaner ihre Meinung über bie Waffe dahin aus, daß fie vollfommen infommentmäßig wäre, denn es fam in dieſem Gefecht vor, daß ber Major, der bie 2 Esktadronen führte, unjren Leuten in gutem Ruſſiſch zurief: „Surüd, ihr abgeriffenen Hunbejöhne, wohin wollt ihr mit euren verfluchten Stöden!" Der Major wurde von unjren braven Jungen, welche mit dem Nufe „Nimm did) in acht, Euer Wohl geboren“ aniprengten, aus Anerfennung für fein gutes Ruſſiſch, auf zwei diejer Stöde geipießt und aus dem Cattel gehoben; bie eine Pife war durch das Auge gedrungen, die andere durch den Bauch. Es war derjelbe Offizier, der vor 2 Jahren von Japan nad) Blagoweictichenst zu den Schügen fommandiert war. Doch mit dem Ansdrud „abgerifien” hatte der Mann mehr oder weniger Net. Man muß es den Japanern Laffen, die feinen Kerls find immer wie aus dem Ei gepellt, fo dab unfre Leute oft einen recht merfliben Gegenſatz zu ihnen bildeten.

Während weiter im Süden der Krieg im vollen Gange war, fo begann es jet aud) bei uns lebhafter zu werden. Es trafen 2 Esfadronen Primorſcher Dragoner ein, welde die Dörfer am Strande, 4 Werft von uns, befeglen. Auch ein Marineleutnant K. R. wurde hergeſchickt, der von einem verfallenen Turm aus auf vorbei fahrende Echiffe Signale zu richten hatte. Auch erhielten wir Nachricht, daB 15 Werft von uns jid eine fouragierende japanifde Patrowille, 18-—20 Mann ftark, gezeigt hatte. Ich wurde mit 10 Koſaken ausgejandt, um diejes Gerücht zu kon— trolfieren. Auf der 2oſten Werft füb-weitlic fand id) einige Arben (dinefiihe große zweirädrige Karren) mit Stroh beladen und einige verdächtig ausſehende Chineſen, die id durdy 2 meiner Leute nach

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352 Unter dem Kugeletgen der Japaner.

Haufe estortieren fie. Auf mein Befragen antworteten bie Chinejen, baß „Ipen” wohl geftern dagewejen jeien, aber mieber fortgeritten wären. Da ich nur Befehl hatte, 20 Werft zu reiten, fo mußte ich wieder umfchren. Später erwies es fi, daß bie Chinefen im legten großen Dorfe Ortafon die Japaner unter Führung eines „Heinen Rapitäns”, d. h. eines Unteroffiziers, vers ftedt hatten. Wieder floſſen die Tage ruhig und friedlich dahin. Wir wurden zur Militär-Felbpoflen verwendet, baf heißt wir vers banben durch Poften unſrer Sonja bas Korps bei Mafangfou mit ben Norden. Yon Süben famen immer beunruhigenbere Nach- richten, während von Norden her Privatbriefe und Glückwunſch- telegramme unfre Poftenfetten pajlierten.

Mitten unter biefen unfren friedlichen Beſchäfligungen plaßte eine japaniihe Bombe am 26. Mai redt früh am Morgen in ber Nähe unfrer Kaſerne und mahnte uns beutlih an ben Krieg. Sofort fattelte die Sotnja und wir ritten im Trab zum Strande, aus welcher Richtung biefer ungebetene Gaft gelommen war. Am Deere verftedlen wir unfre abgefeffenen Leute und die Pferde hinter den Hügeln und wir Offiziere kletlerlen den Hügel hinauf. Leider maren wir in weißen Kitteln und müſſen daher ben japanifhen Marineoffizieren der 4 Kreuzer, bie 4 Werft vor ber Bucht lagen, ein gutes Ziel geboten haben; denn fofort ging eine Granale über unfre Köpfe. Wir lichen uns nicht weiter fören und fo fchoffen die Herren noch 3 Granaten ab aus den elfzölligen Kanonen, bie nur das geringe Reſultat hatten, mich an der Hand zu ftreifen, jedoch ohne daf die Hand aud nur einen Tag nicht ger brauchsfähig gewejen wäre, und ein Pferd im Werte von fechzig NbL. zu töten. Uns belehrie aber dieſes fleine Intermezzo, baß ein dunkler Chafifittel im Ariege zwedentfprechender ift als ein weißer. Nührend war es, wie nad) der zweiten Granate ein alter Rofat auf mich zutrat und mid) zur Fenertaufe beglücnwünjchte, babei mußte ich einen tiefen Schlud aus feiner Feldflaſche tun, nad altem Rojafenbraud).

Unfre Station wurde damals 2 Tage lang bombarbiert, doch fügten bie Granaten nur den armen Mandihu (Ehinefen) Schaden zit; denn die Abficht war wohl den Bahnhof und die Aaferne zu treffen, doch fielen alle Granaten in ein Chinefendorf, das dicht beim Bahnhof lag, fo daß wir der Meinung waren, daß in den Quadraten der Japaner (nad weldyen fie Ichoffen) ein Heiner Fehler gewefen fein muß. Trotz des jehr jtarfen Schießens er» reichten fie nicht ihren Zwed. Sie hemmten auf feine Minute

Unter dem Rugelregen ber Japaner. 353

den Zuzug der Truppen und Artillerie nad) Wafangkou, was ja augenfheinlih ihre Hauptaufgabe und ihr Veftreben war. Die Züge famen ebenjo regelmäßig wie fonjt an, nur langjamer, damit feine hohe Dampfwolfe den Meg bezeichnen und dem Feinde ein gutes gewünfchtes Ziel bieten Fönne. Ebenfo wie fonit fchlenderten wir zur Station, um friſche Nachrichten aus der fernen Heimat durch Briefe oder alte Zeitungen zu erhalten. Won lepleren be- famen wir leider jehr wenige zu Geficht und mußten froh fein, wenn ein durchreilender Kamerad oder Korrefpondent uns ein uraltes Eremplar, das ihm ſchon zu anderen Zwecken gedient, wie 3. B. um eine gebratene Ente darin einzuwickeln ujw., aus Liebens: mwürdigfeit überließ.

So vergingen wieder einige Tage, wo bie einzige Abwechs- lung die durdfahrenden und durchmarſchierenden Truppen waren, als am 2. Juni morgens mid) mein Esfadronsdef nad) Süden abfommandierte, die Feldpoſtenlette zu fontvoflieren. Ich ritt am frühen Vlorgen aus und munderte mich ſchon unterwegs über die vielen Depejhen, die mir entgegenfamen, aud hörte id bald ſtarken Kanonendonner. Ich beichleunigte daher foviel als möglich meine Rebiſion und fan gegen Abend in Wangtfialing an, wo ich Görte, daß bei Wufangfou eine größere Schlacht im Gange fei. Das meldete ic) jofort nach Ciungjötihöng und befam die Vor fchrift bis auf weiteres in Wangtfialing zu bleiben. Um nädjten Tag gegen Mittag hatte ich alles in Wangtfialing erledigt und machte mid) mit meinem Trompeter auf, um mir die Schladt aus nädhjjter Nähe anzujehen. Wir famen gerade auf dem linten Flügel an, als den Japanern das Pulver ausgegangen mar und General Gerngroß das Kommando zum Vajonettangriff gab und man ſchon nad) der Mufit rief um vorzugehen. Da Iprengte eine Ordonanz auf ſchweißbedecklem Pferde an General Gerngroß heran, der felbft am Halſe bfutete, ſich aber nicht verbinden fie, übers reichte einen Befehl des Generals Baron Stadelberg und jofort bliefen alle Trompeter und Eignaliften das Eignal „Zurüd“. So mußten wir mit jehr ſchwerem Herzen zurüd nad Wangtfialing. Gern tat es niemand, aud) waren die Verlufte auf dem Rüdck- mariche größer. Hervorheben möchte ich hier noch das heldenhafte Aufleren und Verbinden der Werwunbeten unter dem ſtärkſten Kugelregen durd Frau Cbderjt Woronow, der Gemahlin bes Kommandeurs der Yrimorfhen Dragoner.

As id) wieder auf der Station Wangtfialing anlangte, war fic zu einem grofen fliegenden Feldlazaret umgewandelt. Es waren

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ſchon viele Verwunbete vorhanden und einige Operationen hatte befonders Prof. v. Zöge-Manteuffel vorgenommen, und immer neue Neihen von unverbundenen Soldaten und Offizieren trafen ein. Sehr gut und eraft arbeitete aud die Kolonne vom Stall- meifter Cr. Majeftät Rodfianko, der nur baltijche Ärzte hatte. Es wurde fieberhaft verbunden. Die ganze vorige Naht Hatten die Schweitern und Ärzte nicht geichlafen, ſondern die immer neu anfommenden Echaren von Vermwundeten abgefertigt. Leider vers Ipätete der Sanitätszug, und viele mußten in einfahen Waggons und Plattformen (die did mit Stroh belegt waren) weggebradht werden, damit für bie Nadfommenden Plag geſchaffi würde. Es war ein Bild, das man nicht jo leicht vergißt, dieſer Verbandplag auf dem Bahnhof mit ben Vergen im Hintergrunde, auf beren vorderjien ſchon tiefe Gräber für bie gefallenen Kameraden gegraben waren. Erhebend war es anzujehen, mit welcher Aufopferung unire Kameraden gepflegt, doch auch mit welch ſtoiſcher Ruhe die größten Schmerzen ohne lagen uud Stöhnen ertragen wurden. Gegen Abend traf endlich der mit Ungeduld erjehnte Canitätszug ein und mit ihm unjer fommanbierenber General der Grenzwache, Generalleutnant Tſchitſchagow, welder mir jofort befahl, die Feldr pojtenfette einzuziehen und mit den Kojafen nad) Siungjötihöng abzureiten. Auf dem Wege dorthin überholte id) ben Profeilor v. Zöge-Danteuffel und den Prinzen Bourbon. Beide Herren mußten noch) nicht, wo fie ihr Haupt niederlegen follten. Darauf: hin forderte ich fie zu mir auf und veriprad ihnen fie nad) dieſem heißen Tage mit ſaurer Milch zu erfriichen, auch ein faltes Bad fonnte ich den Herren in Ausficht jtellen, da meine Douche noch funktionierte und eine Badewanne vorhanden war. Was für eine Wohltat Baden und reine Wäſche iſt, das kann nur der veritehen, den die Umftände ein Dal gezwungen haben, wochenlang in Kleidern zu fchlafen. Leider Fonnten fich die Herren der Nuhe nicht lange hingeben, da fie ſchon am naͤchſſen Tage fort mußten und id) in dergelben Nacht einen Nefognogzierungsritt auf der rechten Flanke am wWieere vorzmehmen hatte, Ich Fonitatierte bald, daß bie Japaner langſam Wangffialing bejegten und unfre Pollen am Vieere bedrängten. Denn id) traf ſchon bald den Unteroffizier

Poljafow von der 43. Zolnja mit ſeinem Kommando, worunter auch ſchon Verwundete waren, der in der Nähe von Wangtfialing geitanden.

Ich ritt daher retour, wm über alles Gejehene und Ger hörte (mas man mebenbei gefagt fchr anseinanderhalten muß,

Unter dem Nugelregen ber Japaner. 365

da bie Chinefen uns oft nicht fehr geneigt ſind) Meldung abyu- ftatten. Ich fand unſer liebes, ruhiges Eiungjötihöng in ein tiefiges Feldlager umgewandelt, jo dal es ſchwer war ben Meg bindurdyufinden. Auch fand ich ſchon den Vefehl vor, da; alle Truppen bie Station räumen jollten, bis auf 3 Sotnjen von unfrer Abteilung, die nur unter dem jtärfjten Druc der Japaner das Recht haben follten, die Station zu verlaifen. Wir zogen alſo 3 Sotnjen ſtark, unter Kommando des DOberftleutnants Tſchewjatinsti, auf Vorpoſten. Unterwegs trafen wir die andern, ſchon nad Norden ziehenden Truppenteile. Wir löjten auf ber 5. Werjt füblid von Siungjötihöng 3 Esfadronen der Primorſchen Dragoner ab, die uns glüdfelig den Plap überliefen, da fie ſchon ganz nervös von ben fchlaflofen Nächten und den ewigen Neibereien und Geplänfeln mit den Japanern waren.

Vor uns, im Nücken und in der Flanke des Feindes, war nur nod ein jtarfes Aufklärungspifett unter Oberleutnant Baron Prittwig von den 4. Kojafen. Won ihnen liefen alle zwei Stunden immer beunrubigendere Nachrichten ein. Auch in der Front wurden wir immer mehr gedrängt, und um dem Feinde nicht unjre Lage zu vervaten, fonnte natürlich von Abkochen nicht die Rede fein und wir mußten uns daher mit etwas Brot oder Zwiebad und falten Konferven begnügen.

So rüdte der Abend des 7. Juni heran. Schweigend und abgeipannt lagen wir neben unfren gejattelten Pferden, als wir es auf der vorberen oitenfette krachen hörten. Unjer zwei, meine Wenigfeit und Leutnant Poltoragfy wurden fommanbiert, mit je 10 Mann die Vorpoftenfelte an den gefährbeiiien Stellen zu vers ftärfen. Wir famen noch zur rechten Zeit, denn wir fahen gerade, wie eine Gstadron Japaner unfer Zentrum durchbrechen wollte und hörten dabei auch gleichzeitig auf der rechten Flanfe jcießen. Wir ſaßen jelbftverjtändlid im Augeublick ab und ein paar Salven waren nicht ohne Efjelt. Das gute Schießen fiel uns leicht, ba die Diftanzen vor unfrer Linie abgemefjen waren und wir fomit die Entfernung ganz genan abjhägen fonnten. Daher lieben die Feinde e8 beim Verjud) bleiben und drangen nicht eruftlich vor. Doc) leider wiederholten fie diejes Minnöver die ganze Nacht, io daß von Schlaf unter diejen Umſtänden nicht die Nede jein kounte. Kaum graute der Morgen, als wir ſchon den Befehl des Generals Samſonow erhielten, in dem er ums firift befahl, bis zur Station Ciungjötjchöng zurüdzugehen. Um Leutnant Baron Prittwig jolten wir uns nicht fünımern. Langſam, immer wieder beſchoſſen

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von den anrüdenden Japaner, gingen wir über den Fluß, dicht vor Siungjötfhöng. Hier berief Oberitleutnant Tichewjafinsfi die drei Eofadronschefs und alle Offiziere zu ſich und teilte ihnen mit, daß I Oberoffizier mit 30 Dann hierbleiben müſſe, um den Rück- zug der 3 Sotnjen zu beden, jo wie unfre 3 Eskadronen den Nüdzug des ganzen Korps des Generals Baron Stadelberg bis jept gededt hatten. Er wandte ſich an uns DOberoffiziere und fragte, wer wohl gewillt jei zu bleiben. Natürlich wollten es alle. Daher lojten wir und zu meinem Glüd traf mid) das Los. Id) fuchte mir 30 alte Koſaken aus und blieb frohbewegt zurüd, war es doch die erjte größere und ernitere Aufgabe, die mir während des Krieges zufiel. Das eiſte war, daß ich meinen Wachlmeiſier Petrow mit 4 Dann auf das andre Ufer fandte als vorgeſchobenen Poſten, der von einem fleinen Hügel aus bie ganze Gegend über jehen ſollte. Selbſt richtete ic) mich häuslid ein, d. h. ich lich die Mauer ber einen Fanſe nad) Süden einſchlagen, jtellte die Pferde mit 5 Mann hinter die Fanjen und lag num mit den andern 20 Dann raudend Hinter der halbzerflörten Mauer, die ih nun als Wall benugen wollte.

Wir tonnten ruhigen Blutes dem Feinde entgegenfehen, da die Diſtanzen vor unfrem improvifierten Wall wiederum ganz genau abgemejjen waren nnd unfre redhte Flanke durch Leutnant Baron Prittwitz geſchützt war. Wir brauchten aud) nicht lange zu warten, als der Wachtmeiſter Petrow mit jeinen Leuten heranjprengte und mir meldete, daß ihm auf dem Fuße eine ruſſiſche Aufklärungs- patronille der Kofaten (fenntlic an ihren Pilen) und hinter diejen ein Regiment (d. 9. 3 Eofadronen, da die Japaner nicht wie bei uns ſechs haben) Japaner folge. Ich itellte jeden meiner Keute an jeinen Plag und wartete mit jarfflopfendem Herzen der Dinge, die da kommen jollten. Alsbald iprengte die Patrouille in guter Ordnung heran, mit einem ſchlanken Offizier an der Epige; das war, wie id) ſogleich erfannte, Oberleutnant Baron Prittwig von den Gardeulanen; er rief uns zu, daß die Japaner ihm auf den Feiſen fein. Raum war er hinter dem Cijenbahndamm vers ſchwunden, als auch ſchon die Vorhut der Feinde aniprengte. Ich ließ; fie ungeichoren, da id) gerne mehr auf einmal mit ein paar Salven niederjireden wollte. Bald famen aud) die 3 Esfubronen in mufterhafter Ordnung, wie auf der Parade, im jcharfen Trab angeritten. Da fie doch niemand mehr in Siungjötidjöng angur treffen hofften, jo ritten ſie nicht in Schlachtordnung. Ich ließ fie auf 1400 Schritt heranfommen, gab dann die eriie Salue.

Unter dem Augelregen ber Japaner. 357

6 Pferde mit Neitern gingen fopfüber. Darauf fegten fie ſich in Salopp und ich brachte nur noch zwei Salven an. Dann hatten fie die fhügende Stadtmauer erreicht und es dauerte nicht lange, bis wir auch ihre Schüffe in die rechte Flanke befamen. Ich kommandierte nun „an bie Pferde“, wir faßen auf und vitten mit Sejang ab, was der Feind uns jehr verübelte, da er uns durch Chineſen jagen ließ, es wäre unfein angefichts des Feindes, be drängt von ihm, zu fingen. Uns nahm jofort ber ſchühende Eifen- bahndamm auf, dennoch hatte ich zwei Verwundele und 3 ange: ſchoſſene Pferde. In jchlantem Trabe holte id) die Unjrigen ein, die auf der 5. Werft abgejeffen waren und jih aus dem Dorfe Tee holen ließen. Ich Hatte mich kaum gemeldet, als wir ſchon aus dem nächſtliegenden Dorfe beſchoſſen wurden. Der Oberitz feutnant foinmandierte jofort die eine Cofabron in die Feuerlinie und ein paar gutgezielte Salven genügten, den Feinden zu zeigen, daß fie es nicht mehr mit einer Patrouille zu tun Haben. Nebenbei bemerkt, lieben die Japaner nicht unſre Salven, da fie nur das wilde Schnellfeuer kennen. Unterdejien war es ſchon Mittag geworden und wir ließen uns in diejem Dorfe häuslich nieder, d. b. im genau abgemeifenen Entfernungen wurde zwijchen zwei Ppflöcken ein Strid ausgezogen und jeder der 4 Züge der Esfadron band die gefattelten Pferde, immer Kopf gegen Ropf, an. Die Leute zündeten kleine, zum Feinde hin abgeblendete Feuer an und tochten in ihren kleinen Feldkeſſeln ihr frugales Mittagsbrot. Während des Mittageiens wurde auf japaniihem Pferde, deſſen Sattel ganz blutig war, ein Chinefe eingebracht, ber jedad) fließend ruſſiſch ſprach. Nachdem er jeinen Strohhut mit daran- hängendem Zopfe abgenommen, erfannten wir in ihm den Trom— peter Wolfow von der 6. Esfadron des Primorichen Dragoner: tegiments. Er war als Spion vor zwei Tagen abgeididt und das Pferd eines von meinen Leuten erſchoſſenen Japaners rettete ihn, da er font gefangen und wohl nad) dem Feldyejeg gehängt worden wäre. Er jtärte ſich bei unjver Csfadron und ritt dann jeefenvergnügt zu den Ceinen. Unterdefien hatte mein Burjce einen Daulbeerdaum im cinejiihren Garten ausfindig gemacht, war Hinaufgeffetlert und warf uns die wohlidimedenden Beeren herunter. Während wir die Beeren auflafen, fielen wieder Schüſſe und 6 mußten zwei Züge abfommandiert werden, um die Japaner aus dem mächjten Dorfe gu vertreiben. Unier Gefabronschef meinte, eine befiere Diufif zum Deifert fönne man ſich garnicht wünfgen. Yeider war an dieſem Nachmittag an Griolung für

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mic nicht zu denken, denn durch Wolkow hatten wir erfahren, daß die Japaner viele Arben in der Stadt Eiungjötidöng gemietet hatten und an das Meer ſchickten. Ich mußte daher wieder aufs figen und auf die rechte Flanke reiten, um von der Bergipige zu beobachten, was jie mit den Arben am Meere wollten. Kaum war ich auf einen hohen Berg hinaufgellettert, als eine Granate über unfre Köpfe ging und 60 Schritt hinter uns liegen blieb. Zum Glück frepierte fie nicht, und da wir feine Artilleriftien zum Gutladen hatten, befahl ich eine Grube zu graben und ließ durch vier Mann bie Granate vorfichlig aufheben und hineinlegen. Von diefem Berge aus fah ich and), woher die Granate gefommen war. Es lagen wieber einige Kreuzer in der Bucht und 8 große Trans: portſchiffe entluden Proviant auf die Arben aus der Etadt.

Bis zur anbrechenden Dunkelheit mußte ich auf meinem Bolten bleiben und fehrte dann hundemüde ins Viwak zurüd. Das Proviantladen war natürlich dem General Samſouow gemeldet worden und er befahl mit Dorgengrauen zwei Csfadronen in Lava (jedermann vom andern 3 Schritt entfernt, die Dinterreihe von der Vorberreihe 6 Schritt, im ausgezogener Front) vorzureiten, um zu erfahren, wie jtart die Belegung von Siungjötidöng fei, d. h. wir jollten den Feind zwingen, ſich zu entwideln und jeine Streitkräfte fonjtatieren. Um et Uhr morgens waren wir marjch- bereit und idwärmten aus. ESchon nad) den eriten Schritten jahen wir feindlide Neiterpatrouillen, die in wilder Flucht in der Rich-⸗ tung nad Siungjötihöng bdavoneilten. Wir ritten in guter Ordnung im Schritt weiter. Bald wurden wir von mörderiſchem Rleingewehr: und Viaſchinengewehrfeuer empfangen. Ich ließ fofort meine zwei Züge abfigen und eröffnete in einem Wäldden ein Salvenfener auf herausreitende vier Esfadronen Japaner, die das Feuer annahmen, abjigend aud) ihrerfeits uns beſchoſſen und ſich dabei langſam auf die Stadt zurüdzogen. Dadurd) waren die vier vor uns liegenden Dörfer frei geworden, da aud) von den Bergen die 10 Majdhinengewehre nad) der Stadt zu abgefahren waren. Ich ſchickte davon Meldung und befam den Befehl, mit 5 Koſaken die rechte Flanke zu vefognoszieren. Nad) 2 Werjt gelangte ich in eine tiefe Schlucht; von dort aus jah id, daß die eine der Gofadronen der Meinen Gelben abgeſeſſen war und die Pferde unter ſchwacher Bedeckung jtanden, während die übrige Mannſchaft wohl zu Fuß einen Umgehungsverfud unfrer rechten Flanke durch die Yerge machte.

Meine Anſicht beftätigte fi, da ich aufſchauend im Weiten

Unter dem augelregen ber Japaner. 350

auf den Berghöhen die marjdierenden Leute ſah. Schnell veritedte ich meine paar Leute in der Schlucht und fprengte ſelbſt in raſender Eile zu meiner Eskadron zurüd, um Verſtärkung herbeizuholen und die abgejeilene Eskadron bes Feindes zu vernichten. Ich befam noch 25 Dann, die fi freiwillig gemeldet hatten und ritt in befchlennigtem Tempo retour. In der Schlucht empfingen mich, die Leute mit ber beruhigenden Nachricht, daß die feinen Japaner nod) da feien, doc) ſah id) durch das Fernglas, daß das Dorf parallel mit uns von einer feindlichen Esfadron bejegt worden war, was naturgemäß nicht zur Erleichterung unfrer Lage beitrug. Dennoch ließ ich raſch entſchloſſen meine Leute abfigen und ſchlich mit ihnen die Schlucht hinauf, durd) ein Gebüſch gededt, bis auf 509 Schritt von den Tee trinfenden Japanern mit der Esfadron teiterlofer Pferde. Mir gaben 8 Salven ab und richteten natur- gemäß mit unfren 23 Flinten ein Majjenblutbad befonders unter den Pferden an, doch auch ca. 25 Japaner blieben tot oder jtarf fädiert auf dem Plage. Leider fonnte id) niemand aufnehmen, da bie feindliche Esfabron, auf bie ich ſchon vorher mein Augen: merf gerichtet hatte, heranjprengte. Ic) ließ 20 Mann auffigen und mit den übrigen 10 gab id) zwei Salven auf bie anveitende Esfadron. Dann ritten wir, durch die Schlucht gedeckt, in ſchlankem Trabe davon, nicht Gulopp, denn «6 ilt jonderbar, daß der Menſch bei jchneller Gangart nicht mehr Herr feiner Nerven ijt und aus dem Galopp fofort in Karriere verfällt. Der Oberitleutnant T. hatte biefem Vlanöver aus dem Fernglafe zugefehen und begrüßte mid) mit lautem Hurra. Ebenfolde Dvation wurde ung von feiten der Sotnja zuteil. Auch die Chinejen begrüßten mich mit freund: lichem Lächeln, da id) fie durch meine acht Salven für einige Tage mit. frijchem Pferdefieiſch veriehen hatte.

Unterdeijen war es auch ſchon Spätnachmittag geworden und Pferde und Leute ermatlet von ben Strapagen der lepten Tage. Daher befahl der Dberjtleutnant unjre Eskadron in die nahe Heferve zur Erholung auf einen Tag, um den Pferden zugweile die Sättel abzunehmen und dadurch) die Mögligjleit zu geben, die Nüden fid) ein wenig erholen und auch die Mannſchaft etwas ichlafen zu laſſen. Sofort braben wir auf und vitten auf die Pofitionen von Pitfiwo, wo wir in der Nähe im Dorſe Santfi den General Samjonow mit feinem Stabe, den Primorſchen Dra- gonern und den 4. Kojafen worfanden. Den ganzen Abend war es uns vergönnt, uns zu erholen, welche Zeit wir fofort benugten, uns reine Wäſche anzuziehen und von Kopf bis Fuß zu waſchen.

300 Unter dem Kugelregen ber Japaner.

Doch muhten wir um 2 Uhr nadjts wieder in die Sättel, um den Vorpojtenesfabronen zu Hilfe zu eilen. Der Feind Hatte ſich bie dunkle Nacht zum Überfall ausgejucht. Der Mond ging in jenen Nähten um 12 Uhr unter und erft gegen 4 Uhr dümmerte der Morgen. Wir famen noch zur rechten Zeit, um eine jchneibige Sübelattace der Japaner abzuwehren. Wieder entſprach bieje Atade nicht den neueſten Lchrbüchern der Taktik, da dort gejagt it, daß es heute nicht mehr vorfommt, daß Kavallerie ineinander hineinreitet, fondern der eine oder der andre muß vorher durch den Anprall wenden. Wir ritten ganz orbentlid ineinander hinein und hatten viele Verwundungen, bejonders der Hand, denn da unfer Säbelgriff ohne Korb, fo ift die Fauft ungefhüßt, und der Feind, der jede Kleinigleit zu feinen Gunften ausnupt, nahm auch bier naturgemäß die Gelegenheit wahr, fo viele wie möglid) ohne Mühe fampfunfähig zu machen durch Abichlagen der Finger. Noch eine jehr ſchlane Art dem Gegner viel Schaden zugufügen, ohne dabei felbit in große Gefahr zu geraten, lernte ic) hierbei fennen. Die Japaner warfen ſich nämlich mit Vorliebe wie tot von den Pferden, und ſchlugen, am Boben liegend, die Feilelgelente der ruſſiſchen Pferde mit dem Säbel durch. Sie können es mit Sicherheit tun, da ja ein Pferd befanntlich mr im höciten Note fall auf einen liegenden Menſchen tritt. Gegen Morgen fehrten wir mit einigen Verwundelen zurüd und legten uns ſchlafen. Am Diorgen, den 10. Juni, wurde id zum General Samjonom befohlen, um mündlich den Bericht über den Hinterhalt vom Tage zuvor abzuftatten. Der General fragte mid) jeherzend, ob es mir als Kavallerift nicht ſchmetzlich geweſen wäre, fo viele Pferde nieberzufnallen? Ich mußte ihm alles genau erfläven, und vor allem, warum es mir unmöglich war, einige der Pferde abzufangen. Bei ihm traf ic auch meinen früheren Vefannten, den einen DOrdonnanzoffizier des Generals, Nittmeifter Prinz Bourbon. Bei dem verbrachte ich den Nejt des Tages und er revanchierte ſich großartig für das Abendbrot mit fanrer Milch in Siungjötichöng, denn er hatte die verfhiedenften Konjerven mit. Auch lernte ih bei diefer Gelegenheit den Negimentsfameraden des Prinzen fennen, den Stabsrittmeifter Tretjafow von den Grodnojden Gardehujaren. So verlebte ich den Tag in Üppigfeit, denn fo gut zu eſſen hatte ich ſchon lange nicht befommen. Abends, wie id einen feinen Spaziergang durch das Dorf machte, traf ich den Nigenjer von Gramer, Unteroffizier im Primorſchen Dragonerregiment, der mir frewdeitrahlend erzählte, daß er für das Depeſchenbringen nad)

Umter dem Augeltegen ber Japaner. 361

Port Arthur und zurüd mit Leutnant Jelkin das Soldatentreuz 4. Alaſſe des heil. Georg erhalten. Leider war das Areuz bisher mod) nicht eingetroffen, was ihm großen Nummer bereitete. Doch tröftete ich ihn, da er ja im Tagesbefehl geitanden, alio feiner Sade Schon fiher war. Auch fief mir am felben Abend ein zweiter Nigenfer in ben Weg, freiwilliger Strenge aus bemfelben Regiment, mit feiner unvermeidliden Hurnonifa unter dem Arm, mit der er uns fon öfter bie Zeit verfürzt hatte. Auch er erzählte mir mit Stolz, daß er einen jelbjtändigen Aufklärungsritt gemacht, der gut abgelaufen war. Leider konnten wir den Abend nicht zufammen verbringen, da die Dragoner weiter ab in einem Mätdchen fanden und die Freiwilligen abends bei ihren Esladronen fein mußten. So veriloh diefer Tag ohne Störung.

Des Morgens ganz früh mußten mir wieder auf die Vor— poften. Mir fiel das Los zu, auf der linfen Flanke einen vorge jchobenen Poſten einzunehmen. In der Nähe (1500-2000 Schritt) von uns war eine Tränfe des Feindes. Ich hatte nur 12 Dann bei mir und follte mur Obacht geben auf die Japaner. Daher ließ ich fie die Pferde ruhig tränfen unb verhielt mic) mit meinen Leuten ganz fill. Dod leider verriet uns gegen Mittag bas Wiehern eines unfrer jungen Pferde, und eine Esfabron ritt an, um und aus unfrem Verſieck zu vertreiben. Die Infanterie über: fjüttete uns unterdeffen mit Kugeln (es iit ja befannt, daß japa- nifche Ravallerie fi nie von ihrer Jufanterie auf weiter wie 4 Werft entfernt), doch ohne Schaden anzurichten, da wir durch Gebüſch gededt waren und fie die Entfernung nicht genau ab— ſchatzen fonnten. Daher ſchlugen die Kugeln ſämtlich vor uns ein, zum größten Gaudium meiner Leute, Wir zogen uns dann auf unfre Vorpojtenlinie zurüd und nahmen in der Nähe einer Kumirnja (chineſiſches Bethaus) Aufitellung, an der eine Vergitraße vorbeis führte. Ic) hatte mid) eben etwas zum Ausruhen hingejtredt, als mir der Poſten einen Zug Chinefen meldete. Durch das Fernglas erkannte id) eine Schar chineſiſcher Mädchen und Frauen mit Rindern auf dem Nüden und an der Bruſt, welde ſich uns näherten. Ich lieh fie bis an uns heran, hielt fie dann an und fragte, was und wohin fie wollen. Es waren alles weibliche Weſen zwiſchen 12 und 30 Jahren. Sie fagten, daß fie vor den Japanern in die Dörfer flüdhteten, die mod) von den Ruſſen befegt feien, da fie ſonſt von den Japaneın aufgegriffen und für 15 bl. pro Kopf (ausgezahlt an die Angehörigen) in den Train geftedt worden wären. Sie baten mid), fie paſſieren zu laſſen und ich jdidte fie

32 Unter dem Rugeleegen ber Japaner.

daher unter Bedeckung ins nächlte große Dorf, wo fie von Ver- mandten oder Freunden mit großer Freude empfangen wurden. Bald darauf mußte ich zur Verjlärfung des Nebenpoſtens vor, ber von einer halben Esfadron Japaner attadiert wurde. Dabei jhoß ich mit dem Nevolver einen Japaner vom Pferde, der fich zu weit vorgemwagt, oder beffer geiagt deſſen Pferd durch gegangen war und ihn zu nah an ung herangebracht hatte. Nach: dem die halbe Esfadron gewendet und ihre Toten und Verwundeten in der Eile anfgelefen, aufer dem von mir Erlegten, ba er zu mah an unfrer Fenerlinie lag, gingen wir heran und fahen zu unfren großen Erſtaunen, daß es garnidt ein Mann, jondern ein Rnabe von ungefähr 12 Jahren war. Wir beerdigten ihn mit allen militäriſchen Ehvenbezeugungen und machten uns dann an das Verbinden unfrer Verwundeten, deren es dieſes Mal, Gott fei Dant, nur zwei leichte gab. Ju der Nacht injpisierte unjer Oberſtleutnant unſre Poltenfette und forderte mid) auf, nachdem er bei mir etwas lauwarmen Tee getrunfen, ihn zu begleiten. Es dämmerte ſchon, als wir, nur von unfren Neitfnedhten und einem Trompeter begleitet, aufs freie Feld, das zwiihen uns und bem Feinde lag, heransfamen. Wir wollten gerade in das Dorf Salon hineinreiten, das unfrer Weinung nad) von einem Zuge der Primorſchen Drugoner unter Leutnant D. befept fein mußte, als uns ein Augelvegen empfing, und id) hatte jet Gelegenheit bie Raltblütigkeit unjres Oberftleutnants zu bewundern, ber im Schritt umfehrte, und dem Feinde immer die Eeite jeigend, damit wir feine Schüffe in den Rüden befämen (eine Verwundung, die nicht jehr Hochgeijägt wird), ruhig ins näcjfte Dorf abritt, welches jegt von dem aus Eufou vertriebenen Zuge des Leutnants D. beiegt war. Sonderbarer Weile hatten die fleinen Gelben feinem von uns Schaden zugefügt. Im Dorfe, wo wir beim Kameraden D. einen feinen Imbiß einnahmen, beitchend aus Nabieschen, grünen Zwiebeln und Zwicbad, hieß mid) der Oberft- feutnant 15 Mann auswählen und unfre linke Flanfe hinunter reiten, und dann in ſüdöſtlicher Nichtung weiter, bis id) auf den großen Weg von Eiungjötfjöng nach der Zeitung Sijang füme, um zu fonjtatieren, ob viele feindliche Truppen und weiche Waffen gattungen am meijten dorthin ziehen. Ich machte mich jofert auf und fam am Nachmittag in die Nähe dieſes großen Weges; es dauerte jo lange, da es beſchwerlich war, durch die Berge dorthin zu gelangen, troß der Ausdauer der Fleinen mandſchuriſchen Pferden, die in der Ebene 90-100 Werſt täglid) ohne Überan:

Unter dem Rugelsegen der Japaner. 383

firengung maden fünnen, was ihnen fein Vollblutpferd nachmacht. Auch durften wir feine eigentlichen Wege benupen, fonbern nur auf Fußpfaben vordringen, um weniger ber Gefahr ausgelegt zu fein, von Spionen ober Patrouillen entbedt zu werben. Ich vers fette num Mannschaft und Pferde in einer durch Gebüfch gebeten Aumirnja auf einer Bergipige und fonnte nun mit Muße durch das Fernglas die vorbeiziehenden Japaner zählen, ohne von ihnen in meinem Verflet bemerft zu werden. Ich fah gerade, wie zwei feinbliche Rompagnien bas Dorf mir gegenüber befepten, um dort wohrſcheinlich abzufochen und zu nächtigen, als ein Poſten mic) barauf aufmerkiam machte, daß von unfrer Seite eine Esfadron nahe. Ich befam einen großen Schred, da ich dachte, daß es eine feindliche fei, doch fofort beichrten mich die Pifen, dah es unfre Leute waren. Ich ſchictte fofort einen Dann entgegen, um bem Gsfabronschef zu melden, daß er nicht weiter fönne, da er fofort von zwei Kompagnien beichoffen würde. Der Chef muß biefe Warnung nicht richtig verftanden haben, denn er ritt ruhig weiter. Einige Minuten darauf wurde er von einem mörderiſchen Klein: gemehrfeuer empfangen und muhte wenden. Um jeinen Nüczug du deden, beſchoh ich don meinem Verited aus die Rompagnien und erreichte es, daß Sie unſre Kumirnja zu beſchießen anfingen, doch ohne Schaden, da fie ums nicht jahen und wir von den Steinmanern gut gededt waren. Die abreitende Esladron halte unterbeifen den nächiten hohen Very erreicht und beſchoß nun erfolgreich das Dorf mit den zwei jnpanif—en Kompagnien. Diefen Moment benuhle ich, um unbemerkt mit meinen Leuten zu vers ſchwinden und ſchloß mich jofort der Esfadron an. Da ſiellte ſich denn heraus, da meine Warnung nicht verjtanden worden und der Rommandeur den Befehl vom General Samſonow hatte, gerade das Dorf, welches jhon von zwei Rompagnien bejept mar, einzunehmen und von dort aus gleich mir die Beobachtung des großen Weges zu übernehmen, da ja im Quartier des Generals nicht befannt fein konnte, wo ih mit meinen 15 Wiann jede. Zu unfrer großen Freude hatte diefe Eofadron nur ein Pferd vers loren, und der Koſat hatte fogar den Sattel mit Gepäd gereltet. Gleich darauf erreichte mid) der Vefehl des Oberitlentmants, zur Sotnja zurüdzufehren, da vom Quartier des Generals eine Solnja fommanbiert worden, meine Aufgabe auszuführen. Der Zufall hatte es gewollt, daß ich mit ihr zufammengetroffen. Spät in der Nacht traf id) im Biwat ein. Wir hatten den ganzen Tag nichts in den Magen befommen und befamen auch jept nicht einmal Tee,

384 Unter dem augelregen der Japaner.

da bie Japaner jo nahe herangerüct waren, daß man fein noch fo Meines Feuer anmachen konnte. Wir ſchnallten alfo die Band: tiemen enger, zündelen uns ein Pfeifen chinefiihen Tabads an, der uns an bie Kinderzeit gemahnte, wo man noch Nofenblätter tauchte, gaben den Pferden etwas Gerite und Stroh und legten uns zum Schlummer nieber.

Es dämmerte erit, als ic) von meinem Esfadronschef gewedt wurde mit ber Nachricht, dah cin Unteroffizier Popow van der 53. Rompagnie aus der Gefangenichaft retourniert jei. Er war bei Wafangfou gefangen worden, war einige Tage von den Japanern ſchlecht gefüttert im Biwal gewejen, bis er vor einen Japaniſchen General geführt wurde, der ihn über einzelnes aus- fragte, und da er feine befriedigende Antwort erhielt, jeiner Um gebung einige japaniſche Worte fagte, und felbft mit der Suite fortging. Sofort führte man den armen Popow in eine andıe Barafe, die eine Schmiede war, band ihm die Hände feit und ſtach ihm glühende Nadeln in die Gelenke, um ihn zu Yusjagen zu bewegen. Doch da er ſtumm blieb (er fonnte auch wirklich nicht unfre Artillerie-Bofitionen bezeichnen), fo wurde er mit den laidierten Händen wieder abgeführt. Dod) bezengte auch er, daß, folange auoländiiche Dititäragenten zugegen find, die Japaner jehr menſch- lich mit ihren Gefangenen umgehen. Doch beitritt er auf das bejtimmtefte, daß cs verfleidete Chundujen gewejen feien, ſondern es feien reguläre jopaniihe Truppen geweien. Dadſelbe bejtätigle ja aud) nachher der von den Japanern mißhandelte Koſakenleulnant Tofmarow, über den id) Ausführlices in der Nr. 399 des „Beil. Tagedl.” brachte. Glüclicjerweife enttam Popow feinen Peinigern, wurde von den Ghinefen verjtedt und mit Yebensmittelu verjehen und gefangle zu uns, von wo er ins nächite Feldlazaret abgefertigt wurde, da jeine Hände ſchredlich ausfahen.

Während wir noch über dieſe Grauſamkeiten jpraden und den Wunſch äußerten, lieber tot als verwundet und gefangen im bie Hände unfres Gegners zu fallen, fan der Befehl, daß 3 von uns mit je 20 Dann vorreiten jollten, je einer rechts, Linfo und geradeaus. Hinter uns jollten 3 Zotnjen in Yava folgen, um den Feind wiederum zu zwingen, jeine Kräfte zu entwideln, da wir Verdacht hatten, da er Verjtärfung erhalten habe. Daher brachen wir drei auf, meine Wenigfeit auf der linten Flanfe, Leutnant P. vor dem Zentrum den Eiſenbahndamm entlang und Yeutnont T. auf dev rechten Flaule am Meere entlang.

Unter dem Rugelregen ber Japaner. 365

Bald ftieß ich aud in den Bergen auf eine größere Abs teilung Japaner, die ich auf eine ganze Estadron tarierte. Doch irrt man fi öfter, da fie über das freie Feld ober eine Schlucht, felbft wenn fie ſich unbeobachtet wähnen, immer in Heinen Trupps von 3-5 Mann hinüberjprengen. Diefe feindliche Abteilung retirierte, fo wie fie meiner anfichtig wurde. Ich melbete biejes Zufammentreffen und nahm die Verfolgung auf. Nachdem ich ihnen bereits ftundenlang gefolgt war, ſah id von einem hohen Berge aus, baß bie vermeintliche Esfabron nur eine ftärfere Auf⸗ Märungspatronille von 30-35 Mann war. Dieldete aljo biejen Irrtum, und jah aud bald zu meiner Rechten eine Patrouille meines Rameraden von den Primorſchen Dragonern, bes Leutnants Nilſchitz (ein ferbifcher Ulanenoffizier, der in Rußland Dienfte ger nommen und fchon das Georgenfreuz erhalten), welcher auch dieſe 30 Dann verfolgte.

Wir hatten uns die ganze Zeit nicht gejehen, da Berge uns trennten, doch müſſen die Feinde den Kameraden eher erblict haben, weil fie fo ſchnell vor mir zurückwichen. So kamen wir bis an ben hohen Felskegel mit einem Denkmal, welder von ben Shinefen die „iteinerne Jungfrau“ genannt wird, woran fid eine chineſiſche Legende knüpft, die auf ein Haar ber Sage von ber. Heldenmutter Niobe gleicht. Da fing es mir an aufzufallen, ba die japanijhen Dragoner ihr Tempo verlangjamten und id) machte meinen Kameraden darauf aufmerfjam. Der ſchlug nun einen Umgehungsverfuh vor, ritt nad) Weften ab und ich ritt in alter Richtung vorwärts, bis mir einige 800 Schritt vor mir ein Ger büfch auffiel, das früher, ſoviel ih mid erinnern konnte, nicht dort geitanden. Kaum waren bie roten Hoſen ber japaniſchen Ravallerijten hinter diefem Gebüjch verſchwunden, als es dort von grauen Beinfleidern der japanijhen Infanterie zu wimmeln begann. Wir wurden von drei Seiten auf einmal beihoffen. Ich ließ fofort meine Leute abfigen, die Pferde Hinter ein einfams ftebendes Haus verfteden, bie Leute fi Hinlegen und ein paar Salven als Antwort geben, um vor Allem zu verhindern, baß ie zur Attade auf mein Häuflein Menſchen vorgingen. Beim Abfigen merfte ich, daß der eine meiner jungen Soldaten am Schenfel ſtart verwundet war und befahl ihm, nicht abzufigen jondern bei den Pferden zu bleiben. Doch hörte er nicht, ſondern kroch in, die Feuerlinie (da er nicht mehr gehen fonnte) und meinte, er. müfje ſich doc) erjt revanchieren. Leider konnten wir nur 3 Salven anbringen, von benen bejonders eine brillant faß, da fie gerade

Baltifäe Momataltrift 1908, delt 5. 2

388 Unter dem Augelregen ber Japaner.

einſchlug, als ber Feind zum Bajoneltangrifi vorgehen mollte, und den fcügenben Wall, ber ſich Hinter dem verbächtigen Gebüfch be- fand, verlafen Hatte. Wir ſaßen fchnell auf, warfen bie Ver— mwundelen auf ihre Pferbe und ritten nad Weften ab, auf ein Dorf zu, wo ich ben Leutnant Nilſchitz zu treffen hoffte. Diefe Seite war auch außerbem die einzige, wohin ich mid wenben Tonnte, da mir ber Rückzug durd eine abgefefiene halbe Esfabron abgefchnitten war. Raum mar ich im Dorf, als wir ſeitwärts durch die Meinen Gäßchen eine Menge Rothoſen bemerkten, bie verzweifelte Anfirengungen machten, zu uns zu gelangen. Unſre Lage wurbe mehr wie kritiſch. Jetzt maren wir nur noch durch einen Häuferfompler getrennt, als mir mein Zugunteroffijier Gurin, ein in ben verſchiedenſten Abenteuern ergrauter Koſal, zurief, daß mohl feine Rettung und das Beſte wäre, in einem ber Höfe ab» zufigen unb fein Leben fo teuer wie möglich zu verkaufen. Go fprengten wir in ben nächften Hof, um dieſe Abficht auszuführen, als ſchnell nach einander zwei Salven, bie ja nur ruffilche fein Ionnten, bei ben Japanern einfhlugen. Die Verwirrung bes Feindes benupend, ritt ich, eine Hinterthür bes Gehöfts benugend, bie ins freie Feld führte, in ber Richtung ber Salven davon. Natürlich ſchoſſen mir bie Meinen Gelben nad, doch maren wir gerettet und Gott fei Danf ohne Tote und mit nur 5 Bere wundeten und einigen bfeffierten Pferben. Wir ritten über ben Eifenbahndamm und trafen bort meine Kameraden P. und NiMig, die mir durch ihre gutgejielten Salven aus ber Klemme geholfen.

Auf unfrem rechten Flügel war aud ſchon ein hübſches Hanbgemenge im Gange, bas leider für uns mit einem Rüdzuge enbete, ba der Feind in großer Übermadht war. Wir Fonftatierten 12 Batallione, 12 Esfabronen und ca. 4 Batterien, außerdem bie u ben Batallionen gehörenden Maſchinengewehre. Diefe große Übermacht beruhigte einigermaßen unfren eben erft eingelroffenen Regimentsfommanbeur Oberſt von Winning, ber ungern mit feinen 3 Esfabronen (halbes Negiment) zurüdging, Von ihm befam ich Vorſchrift auf den Feind zu achten und dort zu bleiben, mo id) war. Da Leutnant Nitſchitz denſelben Befehl erhielt, To ließen wir uns in einem Wäldchen nieder. So gingen einige Stunden hin unb wir wurden mur von Zeit zu Zeit von einigen Kugeln der Japanern begrüßt, bie wahricheinlich zeigen ſollten, dab die Feinde unfer Verſteck erraten. Auf einmal merften wir große Bewegung in bem Dorfe vor uns und 2 Gofadronen ritten in

Unter dem Rugelregen der Japaner. 387

Schlachtordnung heraus, mahricheinlih um uns zu vertreiben und zu fehen, was hinter unfrem Rüden vorging. Wir ließen unſre Leute zufamentreten und beſchoſſen ben Feind, unfren 2 Trompetern befahlen wir unaufhörlich umherzureiten und bald hier, bald ba Signale zum Sammeln zu blafen, damit ber Feind getäufcht würde und benfen follte, daß eine größere Macht das Wäldchen befeht halte. Der Feind ließ fi) auch wirklich durch diefes Scheinmanöver täufgen und zog ſich mit Verhuften zurüd, wir aber hatten Ruhe bis zum Abend, wurden dann abgelöft und fehrten jeber zu feinem Regiment zurüd.

Als ich mich beim Regimentstommandenr meldete, fagte er mir viel Schmeidhelhaftes über meinen gelungenen Hinterhalt vom 9. Juni, und teilte mir mit, daß General-Adjutant Kuropatlin es Sr. Majeftät gemeldet. Außerdem überreichte er mir etwa 15 Briefe ans ber Heimat (mir befamen auf Vorpoften jelten Briefe, doch menn ſchon, bann gleich in größerer Anzahl) und ein Päckchen von meiner Mutter mit einigen Hemden und Chofolabe. So endete der Tag, ber fo jhlimm zu werden drohte, pradtvoll! Auch die andren hatten Briefe aus der Heimat erhalten und daher verlief das Abendbrot, wozu Kamerad Tretjafow die meiften feiner Kon ferven geopfert, ſehr Iuftig, trog mangelhaften Bejteds, da nur 3 Gabeln und ebenfoviel Mefjer aus dem eleganten Necejlair T.'s und einige finnifche Meſſer und Holzlöffel vorhanden waren. Es murde viel gefhergt und gelacht, and; gab P. mein heutiges Abenteuer zum beiten, in ftart humoriftiiher Färbung, worauf ich mein Glas falten Tee erhob und meinte, ih könne mich jeßt mit Recht als Mitglied der „unfterbliden” Sotnja betrachten. Unfre Sotnja ıwar nämlid) Schon in größeren Schlachten im chineſiſchen Nriege aktiv gemejen unb hatte immer wenig Verlufte zu ver- zeichnen. Unjer Kommandeur erwiberte lachend, daß es wohl bie faufende Nummer unfrer Esladron fei, die uns Glück bringe wir führen nämlich die ominöfe „Nr. 13“, das muß alfo doch wohl nicht jo durchaus eine Unglüdszahl fein.

Der Abend wurde erft recht urgemütlih, denn Tretjakow griff noch tiefer in feine Satteltaſche und holte eine Flaſche guten alten Cognac hervor. Nun fonnten wir uns nod) ein feines Glas fteifen Grog brauen. Während unfres Beilammenfeins wurbe ber Nittmeifter Tretjakow zu General Samſonow gerufen, und über brachte bald darauf unfrem Negiments-Rommanbeur Oberft von Winning ben Befehl bes Korpokommandeurs, Generals Baron Stadelberg, daß er mit feinem halben Neiter-Regiment auf Siung:

308 Unter dem Rugelregen ber Japaner.

jötihöng vorrüden fole, als Vortrab der beiden Regimenter bes Generals Samfonomw, um diefen Ort, wenn möglich, wieder einzu⸗ nehmen, und zwar follten wir [on um 1/23 Uhr losreiten. General Samfonow mollte um 3 Uhr mit ben andren aufbrehen. Oberſt v. Winning wurde vom Staberittmeifter T. noch perſönlich gebeten, ihm bie eine Vorhutpatrouille zu geben, der Oberjt war damit einverftanden, zum Unglüd T.'s, der, feiner Kurzſichtigleit halber, bei diejer Affaire audy blieb, zerhadt von den Japanern. Mir gab er wieder bie Aufflärungspatrouille bes linfen Flügels, und legte mir ans Herz, auf einen etwaigen Umgehungsverfuh des Feindes zu achten; Oberleutnant P. ritt im Zentrum (weil wir beibe doch ſchon zufammen gearbeitel hatten und das Terrain gut kannten) und ber Gtaböriltmeifler T. auf der reiten Flanfe.

Da wir brei ſchon um 2 Uhr aufbrechen follten, legten wir uns fofort nieder, um doch noch ein paar Stunden Ruhe, ober wenn möglich, Schlaf zu geniegen. In der Dämmerung mwedte mic punkt Y/.2 Uhr der Unteroffizier und id ließ meine Leute vom vorigen Tage antreten, erklärte ihnen unfre Aufgabe und ritt frohgemut los. Als der Morgen eben graute, famen wir an der „fteinerne Jungfrau“ an, trafen dort einen Chinejen und fragten, ob „Ipen“ in ber Nähe jeien. Er bejahte und zeigte auf das nädjte Dorf. Stauım waren wir bort Bineingeritten, als meine erften Vorreiter Schüffe abgaben und id einige Japaner mit Hühnern unter dem Arm flüchten fah. Es waren ihrer 15 Mann, 3 bavon blieben auf dem Plage, der vierte, ſchwerverwundet murde fofort von zwei feiner Rameraden aufgehoben, einem dritten über die Schulter geworfen mit fo gewandtem und ſchnellem Griff, daß es unbedingt vorher eingeübt gewejen fein muß, und flüchteten in die Berge. Wir fonnten uns aber nicht länger mit ihnen ber Ichäftigen, da wir in ber rechten Flanke beſchoſſen wurden, von einer abgefeffenen Aufflärungspatrouille der Japaner. Wir mußten nun auch abfigen und hinter Gräbern verjiedt verfuchen den Feind (d. h. die Patrouille der Japaner) zu vertreiben. Das dauerte einige Stunden, da fie in ber Übermadht waren und gerne an mir vorüber wollten, um zu ſehen, was bie Unfrigen hinter mir treiben. Zu gleicher Zeit hörte ich auch in der Gegend bes Eifen- bahndammes jtarfes Schießen, und ſchloh daraus, dah dort Ramerab P. auch ſchon mit dem Feinde in Fühlung gefommen fei. Da fih das Schiegen immer mehr näherte, jo 309 es mein Gegner vor, ſich zurüdzugiehen. Ich verfolgte ihn, fam dabei über einen Hohen Vergrüden und ſah durch das Fernglas zu meinem Cr:

Unter dem Rugelregen ber Japaner. so

ftaunen, daß die Schlucht ca. 2 Werft von meinem Standpunkte von Infanterie und Artillerie wimmelte, welche nach norbzöftlicher Richtung marfdierten. Es mar fofort Mar, baß es ſich Hier nur um einen Umgehungsverfuch handeln fonnte, und id) wollte eine Eftafette an den Negimentsommanbeur ſchicken, als id unter mir einen japaniſchen Kavallerieoffizier dahinfprengen fah, nur von 2 Soldaten begleitet, welder augenſcheinlich eine Botſchaft nad ber Stadt Siungjötihöng zu bringen hatte. Sofort ſchnitten meine Leute ihm ben Weg ab und umringten ihn. Der Offizier, der fid) in der Nähe als Gecondeleutnant von etwa 19 Jahren erwies, fuchtelte wilb mit dem Säbel um ſich, als ich heranritt, meinen Zeuten bebeutete von ihm abzuftehen und ihm japaniid „Damane“ zurief, d. h. „ergeben Eie ſich“. Dod er antwortete fo etwas wie „je ne veux pas“ und glei darauf kreuzten fi) unſre Sübel. Doc focht er ſehr fonderbar, er fuchtelte immer nur mit der Klinge und verfuchte zu ſtechen. Ich traf ihn quer durch das Geſicht und befahl dem Koſaken Maslow fein Pferd am Zügel zu nehmen, um ihn zum Verbandplag zu bringen. Doc) da er ſich verwundet auch noch zur Wehr fegen wollte, jo mußte er nieder gemacht werden. In demfelben Augenblid befamen wir von lints und von vorne einen Hagel von Nugeln. Mein Pferb brach jofort zuſammen und ich jelbjt befam einen Knieſchuß, auch ber linfe Arm verjagte (auch Folge eines Echußes.) Gleich darauf hörten wir auch den Schlachtruf: „Banfai” und „Tarraba“ und über mid) ging eine Esfadron hinüber. Dennoch gelang es meinen braven Jungens mich herauszuhauen und auf ein freies Pferd zu werfen. Wir ritten nun hinter den Berg und jaßen ſchnell ab (d. h. meine Leute, ich jelbft fonnte nicht) und beſchoſſen mit Schnellfeuer den herannahenden Feind, der jegt wohl meinte, dat; er es mit herbeigeeilter Infanterie zu tum habe und ſich langſam, feine DVerwundeten mitnehmend, zurückzog. Wir hatten 4 Ber wundete außer mir. Ich ſchickte fie zum Verbandplag, ſelbſt wollte ich dem General Samfonow über den Umgehungsverjud; Meldung eritatten. Dabei mußte id) ein freies Feld paſſieren und wurde fofort von den Japanern beſchoſſen. Die Mühe wurde mir vom Kopfe gerifien und ich fühlte einen Schlag auf den Wlagen und war nun überzeugt, daB ich einen Bauchſchuß weg habe. Nachher aber erwies es fid), daß der Säbelgrifi die Kugel aufgehalten. Mein Knie brannte und ſchmerzte ſtark, aud) flo das Blut reichlich. Da hörte ich hinter mir (vom den Meinen war id) nad) 1/e--2 Werſt entfernt) Pferdegetrappel, drehe mid) um und jehe einen

30 Unter dem Rugelregen ber Japaner.

japanifchen Leutnant mit 2 Dann mid) verfolgen. An dem ſchwanlenden Sig im Sattel muß er wohl erkannt haben, daß ich idwerverwundet bin und wollte mid) wohl gefangen nehmen. Im erſten Augenblid war ih zu apatiſch, um etwas zu denken und vitt ruhig im Heinen Trab weiter, bis mid) einige japanijde Schimpfworte aufrüttelten. Ich hörte, wie ber Verfolger mich, mit dem blanfen Säbel fuchtelnd, anſchrie: „Kakoe koi inu* (ſteh' fill, Hund!) Diefe fein ausgewählte Anrede vertrieb mir fofort jedes Gefüfte auf eine nähere Beanntfhaft mit ihm. Id) hielt nun das Pferdehen an und wartete mit dem gejpannten Revolver in ber Hand, bis ber ſchon freudig erregte Herr (ber glaubte, ih habe angehalten, um mich zu ergeben) auf ungefähr 50 Schritt heranfommen, dann ſchoß ich zwei Dal furz nadeinander und der junge Mann fiel rüdlings vom Pferde, ich ſah nur noch, wie feine beiden Begleiter abiprangen, wandte mein Pferd und ritt, fo ſchnell das Tierden laufen fonnte, davon. Doch nod) eine Kugel, viel- leicht eine von den abgejeijenen Begleitern des japaniſchen Leutnants, erreichte mein Pferd, dieſes ftolperte, und ich viel fopfüber aus dem Eattel, wurde aber gleid) darauf von einer Rojafenpatrouille aufgelefen und befam ein friſches Pferd, auf dem ich ben General Samfonow auffuchte und mich bei ihm als verwundet abmelbete, nachdem id) ihm den Umgehungsverfuch der japanifcen Infanterie und Artillerie gemeldet. Leider Hinderte mid ein Ohnmachtsanfall, in Folge ſtarken Blutverluftes und langen Neitens nad) der Ver— wunbung, die Antwort Sr. Erellenz zu hören. Als id zu mir tam, hatte ich das nieberfchlagende Yewuhtlein, jept für einige Donate fampfunfühig zu fein, und nur die Hoffnung, bald wieber- hergeftellt aufs neue in die Reihen meiner Kameraden eintreten zu fönnen, gab mir neuen Lebensmut.

a

Gediäte

von

Eduard Fehre.

Bon einem Sommer,

Das mar ein alter Herrenfig!

Einſt hatten Seivenfhleppen

Ein ſchimmerndes Parkett gejtreift Run brödelten bie Treppen;

Das Dedenbild, gefallen war's

Der ftrengen Zeit zur Beute

Des Sommers, ben ich dort verlebt. Wohl dent" ich fein noch heute.

Der Gartenpart! In farb'gem Tanz Sprangen der Sonne Lichter,

Im Straucwert Halb verborgen, quolf Die Himbeer dicht und dichter.

Der Linde Blüten lockien an

Der Bienen frohe Scwärme,

Und alles was da Iebte, (chien Getaucht in Licht und Wärme. . .

Zu Ende ging ein fwiler Tag, Die Sonne war im Sinten;

Der Garten wollte noch vor Nacht

Die epten Strahlen trinten.

Da haben Klänge jeltfam fremb

Der Beuft fi mir entrungen;

Da hab’ ich jelber fahr’ ichs kaum Wein erſies Lied gefungen.

32

Gediäte

Der Garten.

Du Garten Hinterm Haufe, Der meine Kindheit fah, Wie fiegit du traumverfunfen Im Sonnenfimmer da! Wir bedte oft den Himmel Ein graues Einerli Dos) über dir, mein Garten, Leuctet ein ewiger Mai!

Ganz leiſe Inarrt die Pforte Seh’ ich und Hör ich vet?

Ihr Bäume, Lauben, Berte,

Ihr febet und ihr ſprecht

Von goldnem Lachen hallt «8,

Bon froßen Liedern Hingts,

Bon Zauberblumen dufter's,

Bon Märgen raunt und ſingrs. -

Schweiterlein.

Scweiterlein, Scweiterlein! Wie gingft du früg zur Ruß! War’s doc) blauer Zrühlingstag: Sonne über den Wegen lag; gergyen fangen aber bu Schloffeit till die Augen zu.

Scweiterlein, Schweſterlein !

Dos ift mit dir geldehn?

Brüder und Schweern famen zubauf Aber dich weit miemand auf-

Sollen fie wieber nach Haufe gehn, erde nicht hören, Sonne nicht fehn?

Einem Frühvollendeten.

Die Luft durhicmirrt" ein Pfeil: er traf; Du fanteft Hin zu frAhem Schlaf.

Sie brad) bir an, die lange Radıt,

Rod; eh‘ die Ernte eingebracht.

Gedigte 378

Den Ader, ber dir anvertraut, Die haft du treulich ihn bebaut! Dir ſahen reiche Frucht erblühn Aus deiner Hände heißem Nühn. 2 ift eine Zeit, bie Männer braudt!

Du haft für ſolche Zeit getaugt.

Ein Sreier, feiner Clique Stlan

Die Luft durdigwiret’ ein Pfeil: er traf. . .

Blüte und Feucht.

Wie bald verweht der Frühfingstraum! Vereinſamt ſchweigt der Garten. Rur wenige Früchte trägt der Baum Hundert der Blüten eritarrten.

Spätlanb.

DS Sommers Glut, du falbes Laub, dat lange über dir geglommen Run fintft du, eines Hauches Naub: Dein Spätherbit it herangelommen.

Doc fl! Im Maienfonnenblid Wird ſich die neue Anofpe weiten Ergieb did, drum in bein Gefciid, Das Feld der Zufunft gu bereiten!

Nur ſelten ...

Beiß nichts von Luſt, weiß nichts von Leide Weit Hinter mir liegen fie beide, beide. Die Wogen famen längit zur Hub’, Und Gifeseinbe dedt fie zu. . - Rur felten fpät nad Witternadt, Wenn id; mein Tagewert volbradit Und müb und matt Gefunten auf die Sagerftatt:

3

Bebigte

Tritt vor mid) bin eine hohe Geftalt, Don langem jchworzem Schleier umwallt, Dit Flügeln gewoben aus Duft und Glanz, Im Haar den Immoriellentrang Und fireicht mir über die Stine Find, AUS wär" ich ein armes, krantes Kind, Und raunet leiſe Diefe Weile: „Haft du denn ganz und gar nergefien, Dah du mein befteß Teil beieffen? Rur fromme Sage Sind jene Tage, Da du des Menfgtums quälende Fragen Mit heiligem Ernft in der Seele geiragen; Da du dem Herziclag nachgeſpürt, Der ſich in allem Leben rührt; Da dir bei Morgens und Abendſchein Des Meeres Welle, der ftille Hain Ihr Urgefeimnis zugeraufcht; Da du mit Sternen Grüße getauidt . . . Und weißt du noch? zu Wonn' und Qual Veiß traf auch dich der Siebe Strahl. Da Haft du gejauchtt. da Haft du gebebt Da haft du gelebt!”

Und ſchaut mich an mit trautem Blid: „Rennit du mich mod? Ich Bin’s, das Glüd!“

Und fehnend fahr’ id dann empor:

Ein dahnenſchrei trifft rauf mein Ohr; Durch's Fenſter bricht ein mattes Rot Her, lebit Du mod? Herz, bift bu tot?

Das alte und dad neue Haus.

Im Morgendãmmerſchein Mich ſprechen Hör’ ich laut: „Dos alte Haus fült ein, Gin neueß wird gebaut." Das war im Fibelbud) Bein erftes Lefeftüt Wie dünft’ ich da mid) Hug In jungen Bauens Glüd!

Gedichte. 876

„Das alte Haus faut ci Ein neues wird gebaut In Sturm und Weiterfcein Rief ich die Lofung laut.

Id) warf, was morfeh und well, Mit ranher Yand Ginans.

Aus ftärterem Gebält

Gritand ein neues Haus,

Des Lebens Haus wird alt,

Schon zittert leiſ' der Grund;

Auch ihm wer weiß, wie bald? Kommt eine lebie Stund‘.

Ein Abenddammerſchein. Dann aber ruf’ ichs Iaı „Dos alte Haus fiel ein Gin neues ftcht erbaut!"

Aus ei

Aufzeignungen des Sräulein Wirite don Stryt a. d. Haufe Palla *.

u

alten Tagebuth.

Ao. 1748. Den 1. Januari.

Das aue gahr it Bin, ein neues tritt herein,

Ach Laß mich, hödhiter Gott, auch neu und befier fein In diefem neuen Jahr. Lab mid bie Sünde fliehen, 2a mid) in Deiner Lob nur jugen mein Vergnügen. Nichts Gutes wohnt in mir, daS iſt Dir Herr bemußt, Ad) Andre doch daS Herz, rei jelbft aus meiner Bruft, Was Dir zumider ift. Ad fah mich Dir nur leben Und ganglich fterben mic, iaß meine Seele ftreben

Nach Deiner Gnad und Huld. Etrhalt ic; dieſes mur, ©o wünfd) id) weiter nidht8, ich hab alsdann bie Kur Zu meinem engen Wohl. Run Golt, Du tannit es geben. So wohne denn in mir unb fa mid in Dir leben. Ic bitte ferner auch, erbarmungsooller Gott,

Nimm diefes ganze Haus, Almächtiger Zebaoth,

In Deinen ftarfen Schuß; laf uns fein Unfall rühren, Und wos uns jept betrübt, Daraus molit Du uns führen. Erhalt uns alfefammt in Deiner Gnad und duld.

Ach iteh und fräftig bei, ach ſchent uns doch Gebuld, So uns viel Ruten ſchafft in allem areug und Blagen. Herr, wenn Du mas auflegit, jo belf auch ſelder tragen. Sieb, dab wir uns mit Ernft um unfer Heil bemühn Und ung von Deinem Geift zum Guten laffen ziehn. Zah Deine reine Sehr noch ferner bei uns blühn

Und alle Heuchelei von unfrer Grenze fliehn.

Beichüg das ganze Sand, erfalt den edlen Frieden,

Ein jeder jei vergnügt mit dem, was ihm deſchieden.

*) Das Wanuſtript dieſes in kulturgeſchichtlichet Oinſicht night uninterefe ſanten Tagebuches befindet ſich auf dem Gute Palla in Livland.

Aus einem alten Tagehuch 377

Freytag den 1. Ianuar. Die liebe Mama hat biefe Nacht ſchlaflos zugebracht und befindet ſich auch recht übel. Wir fangen alfo das neue Jahr ſehr betrübt an. Gott helfe uns meiter. Bruber Berend feine Reife nach Narva ift, weil bie liebe Mama fi) fo ſchlecht befindet, nachgeblieben. Sander ift hingegen heute nach Narva erpediret worden.

Montag den 4. Heute hat uns ber Herr Paſtor Ude das Heil. Abendmahl gereicht. Der Allerhöcjite gebe, daß wir es mürdiglid) möchten empfangen haben, daß es zu unferer Seelen Heil gebeihen möchte.

Mittwod ben 6. ala Heil. III Könge. Recht früh machten wir uns auf und fuhren nad Sarenhof, in dem daſigen Krug erhielten wir die Nachricht, daß bie Herrichaft ſämmil. nach ‚Aubbing verreifen würbe, die Taufe des Jüngfigeborenen Söhnchens des Herrn Nittmeifters Eſſen beizuwohnen. Wir hielten aljo alle drei Conjilium und beſchloſſen endlich, daß Bruder. Berend vorbei nad) Dorpat fortfepen, wir aber einfehren follten, was auch geſchahe. Wir fanden Ihnen allerjeits ganz reifefertig. . . Indeſſen hatten wie bod das Vergnügen, Ihnen eine Stunde und was darüber zu ſprechen, auch untericjiedt. foftbare Zeuge und Estoffen zu fehen, die der Herr Ordnungsrichter v. Boct aus Dorpat gebracht, aus melden feine Todıter, die verlobte Braut des Herrn von Platers, ſich zwei Kleidung wählen follte. Ihr Wahl war auch ganz gut, denn zum Brautkleid halte Sie fi auserlefen ein franz. Estoffe, weißer Grund mit allerhand farbigte Nanfen, und zur Adrienne roth Greset, welches vermuthlid) mit Silber bejegt wird ıc. Die vermittibte Frau v. Cronmann trafen wir auch allda an, welde uns verfprach, mit ums zu fommen. Wie Sie alle nach Kubdin, las ich den Ueberbleibfel von unferer Geſellſchaft die Predigt vor, worauf wir aßen, Thee drunfen und ſodann zu Haufe fuhren, allıvo wir en compagnie ber Fr. v. Cronmann vor einer Etunde gladlich angefommen find.

Donnersstag d. 7. Der Herr Paſtor Ude gab an Mama von einer Medizin, die der Tormaſche Paſtor Eiſen labo— tiret, etl. Tropfen, biefes wollte Schweſter Ann:Lieschen heute Morgen Mama eingeben, indem Sie aber in dem Löffel tröpfelt, ſchlug das Feuer von dem babeiftehenden Lichte in dem Glaſe und jerbrad) es in hundert Stüde. Co iſt doch fonderbar, daf bie

38 Aus einem alten Tagebuch.

l. Mama fein Medizin genießen fann, indem allerhand Fatafitäten ihr daran hindern.

Frentag b. 8. Bruder Berend fam aus Dorpat nad hauſe. Er bat fich graulich Laden zum Kleid ausgenommen, besgl. ronforoth Griget zur Weite, mit gülbner Spipe bejegt. Der Schneider hat auch angefangen heute barauf zu arbeiten.

Sonnabend d. 9. TDie Frau Ordnungs-Richterin Neb- binder ift zu hauſe gefommen mit einer großen Suite von Gäſten, Ihre Mutter bie Landräthin und beren Töchter, Schwieger-Sohn und ꝛc., welche fih Heute hier gemeldet, daß fie morgen her lommen wollen.

Sonntag b. 10. Gegen den Gattesdienft famen unfere Säfte hier an. Näml. bie Fr. Landräthin Eſſen mit Ihre drei Töchter, die Fr. Ordnungs-Richter Nehbindern, die Fr. Aſſeſſorin Wrangeln und die Frl. Effen, besgl. Ihr Sohn ber Lieut. Eſſen und Schwieger:Sohn ber Aſſeſſor Mrangel. Sie blieben hier bis Abend, das Frauen-Zimmer fuhr früher weg, die Cavalier fpeiften aber nod) den Abend hier.

Montag d. 11. Gegen Abend famen bie beiden Brüber Guſtav und Otto unvermuthlich hier an und verurſachten bahero befto größere Freude.

Donnersetag b. 14. Heute find wir beſchäftigt, uns zu der morgendigen Reife zum Jahrmarkt zu prepariren.

Freytag d. 15. Heute um 8 Uhr ging unfere Reife nach Dorpat vor ih. Die l. Mama blieb mit Schwefter Beatchen zu haufe. In ber Iggaferſchen Poftirung fpeiften wir und hielten uns etl. Stunden bar auf. Um 4 Uhr trafen wir hier in Dorpat ein, bie erfte Viſite, fo wir befommen, ift von einer fehr lieben Freundinn, nämlich die Majorin Sievers, gleich darauf fam auch der Herr Major Sievers und ber Hufarenmajor zu uns. Ihnen folgten ber Lieut. Mündhaufen, der Bereuter Weberg und ber Aſſeſſor Paikul von Türbfal, welche, ba fie Thee getrunfen, zum L’ombre:Spiel ſich fegten; fie fpeiten den Abend bei uns unb fchieben um 12 Uhr.

Sonnabend b. 16. Sobald wir uns angefleibet hatten, gingen wir nah bem Markt und hanbelten in Klopkens und Fürftenmu Bude. Nachmittag waren wir wieber mit Cronmanns, die Gavalier gingen darauf nad) dem Markt. ... Um 7 Uhr

Aus einem alten Tagebuch. 3

„aber wurden wir von bem Herrn Major Sievers und feiner rauen, die bei uns waren, in fein Quarlier gebracht, ohnerachtet mir uns fchon abgekleidet hatten. Wir zogen uns alfo in Eil wieber an und gingen dahin. Die Major Maltitz und den Bereuter Weberg fanden wir dort vor. Der Schatten:Spieler, ber auch ſchon geſtern bei uns agirt hatte, wurde hingebracht. Wir fpeiften darauf zu Abend. Wie groß war unfere Vewunberung, da mir während bem Eſſen eine Muſikanten-Bande eintreten fahen, welche auf Antrieb des Majoren Sievers von Herrn Weberg bahin ber ftellt waren? Gedachter Herr Weberg wurde darauf zu Herrn Lient. Münchhauſen gejandt, ihm und feine Gemahlin zum Tanz zu invitiren. Wie biefer die vier Frl. von Albediel da gewahr wird, nöthigt er fie aud und fie erſchienen alle. Darauf ging ber Ball an, welcher bis 2 Uhr in der Nacht währte. Wir waren recht vergnügt und gingen auch redt vergnügt auseinander.

Donnersstag d. 21. Heute reißlen wir aus. .... Eronmann und jeine Frau famen aud aus der Stabt eine halbe Stunde nad) uns im Kruge an, ba trafen wir den Aſſeſſor Gulden⸗ ſchmidt mit feinem Sohne. Wir jpeilten zufammen, trunfen Thee und fuhren jodann unfere Straße, bis wir nun eudlich hier in Valla angelangt und herzlich vergnügt find, bie Jahrmarkts-Zeit hinterlegt zu haben.

Sonntag d. 24. .. . Meilen der Major Sievers mit feiner Gemahlin ganz aus Livland aus und nad) Finnland reiſt, auch fobald nicht zurückkommen möchten, fo nahmen wir von ihnen beweglichen Abfchied und wünjchten auf ihrer weiten Neife viel taufend fältiges Glüd.

Sonntag b. 31. Heute ijt ein betrübler Tag vor uns gewejen, indem die Abreife von Bruder Guſtav noch im Andenken, und vor's andere reifete auch Ottchen weg, welcher von uns gleich mie auch wir von Ahm, recht jchmerzf. Abſchied nahm. Der Aller: böchfte nehme fie beide in feinen allmächtigen Schuß und gebe und nimmer andere als gute Nachricht von Ihnen.

Donners-Tag d. 4. Febr. Vormittag fam bie Nitter- ſchaftshauptmännin Stafelberg in Begleitung der Fran Drbnungs: richterin von Nehbindern angefahren, wir empfungen Ihnen und gaben Ihnen alle Dierfmale, wie angenehm uns Ihre Visite wäre.

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Sie jpeiften hier, trunfen auch Koffée und Thee und fuhren fobann weg. ...

Sonntag d. 7. Heute marſchirte das Narviſche Regiment aus fein bisherige Quartier nach Riga.

Mittwod d. 10. Februar. Weil die Frau v. Plater von Faldenau ſowohl als ihre Mutter Schweiter Anlischen haben bitten laſſen nach Faltenau zu fommen, fo hat bie liebe Mama erlaubt dahin zu fahren, wohin ich ihr begleiten werbe. Morgen haben wir G. ©. entſchloſſen bie Neije anzutreten.

Donners-Tag d. 11. Um 9 Uhr fuhren wir von bier ab, wir funben einen weiteren Weg, als wir uns vermutheten. Kojafer, Ellififer, Saadjerw und das Ehlſche Pajtorat mußten wir paffiren und um 4 Uhr langten wir in Faldenau an. Wir fanden icon allerfeits beim Theetiſch, die Wirthin, die Frau v. Platern empfung uns, die Frau Landräthin Budbergin und ihre unver heirathete Tochter, deogleichen ihre Schweiter bie Fräul. Plater fanden wir da, welche fid) über unjere Ankunft herzl. freuten. Der Herr von Plater fam ſodann aud) und grüßte uns. Die Fräuf. erzählten num jodann von ihrem Vergnügen, jo fie auf der Sarenhoficen Hochzeit genoffen. Die darauf folgende Nacht habe ich ganz ſchlaflos zugebrocht, denn e8 waren dar eine gar große Dienge Nupen und Mänfe, die jo breijle waren, daß fie auch auf dem Bette frochen, welches verurſachte, daß id) aus Furcht vor fie meine Nugen nicht zuthat.

Freitag d. 12. Der Lieut. Krüdner von Werder war geftern Abend nad Faldenau gekommen, er wollte nad) Mittag reifen und faß auch ſchon im Schlitten, als bes Herrn v. Plater von Koenhof fein Bebienter hinkam und feine Herren und jungen Frauen anmeldete, desgl. deren Eltern, den Ordnungsrichter Bock und die Frl. Wilhelmine Bol, wie aud) den Herrn Landrath de la Barre und feine Töchter und Schwiegeriohn, ben Major von Ungern; hierauf rejolvirte Krüdner zurüdzubleiben. Um 5 Uhr fam biefe Suite an, es wurde mit einem Dial alles lebhaft, da hörte man nichts als fingen, lachen und ſcherzen, womit man for lange continuirete, bis ein jeder ſich zur Ruhe legte. Es wurde in der Stube ein jogenanutes Vrahbette aufgemacht, worauf fich die Frl. und aud) die Frau Landr. Budbergin und ihre Tochter, unjere Wirthin legten. Der Wirth fam und ftörte uns in unferer

Aus einem alten Tagebud;. 381

Ruhe, indem er mit einer großen Peitſche par raillerie uns drohte, auch von feiner Schwiegerin bie Dede abriß. Endlich ging er weg und wir fcliefen ein.

Sonnabend b. 13. Den Morgen, wie wir faum erwacht waren, kam ſchon ber Major Ungern ein und machte uns allerhand Poſſen. Wir befamen feine Zeit uns anzufleiben, und es ging alles in der größten Eile. Um 8 Uhr reifte der Landr. la Barre mit feiner Familie weg und wir folgten ihnen fogleih, nahmen aber einen ganz anderen Weg, als fie, indem fie nach bem rigiſchen und wir nad) haufe reiften. ... .

Freytag d. 19. Heute wurde wegen einen Diebitahl von Branntwein eine große Inquifition gehalten und die Schuldigen mit Ruthe bejtraft. . . -

Sonntag b. 21. Früh Morgens befamen wir einen Zu: ſpruch von Herrn Neenhorn, der uns die Beſſerung feiner Frau Schweiter verjiderte. Auch kam die Kommiljairin Prens von Nennal her.

Mittwoch d. 24. Schweſter Annlieschen und ich fuhren nad Sarenhof, es waren da vor ung ber Kerr Landr. Stafelberg mit feiner Gemahlin, beögl. der Herr Nitimeifter Liphard mit feiner Gemahlin, lepterer fpielte Rarten mit den Ordnungsrichter Bock und beijen Schwiegerjohn Plater, die übrigen faßen beim Goffeetifch, an welchen, wie wir fie ſämmtlich gegrüßt hatten, wir uns aud) fegten. . . .

Donners:Tag d. 25. Wir jpielten den Vormittag Karten, den Nachmittag bejuchten wir die junge Platern in ihrem Schlafzimmer. Den Abend jpielten wir L'hombre.

Freytag d. 4. Diefen Abend befand ich mid) befonders ſchwermüthig, welches id auch Schwejter Ann-Lieschen entdedte, die Nacht fchlief ich aber doch gut.

Donners-Tag d. 10. Den heutigen Tag bin id) recht wohl und zufrieben gewejen, wir waren bie Sarenhofigen hierher vermuthen, fie blieben aber aus.

Mittwod d. 16. Morgen werden wir mit ber lieben Mama nad) Dorpat reijen. . . .

Donners:Tag d. 17. Wir braden um 10 Uhr von hier aus nad Dorpat und famen um 5 Uhr nad) der Stadt.

Unfer Quartier war bei dem Scufter Pofles. .. . Auf dem Battifhe Woneielqriſt 1006, delt bi 3

882 Aus einem alten Tagebuch.

Markte entitand ein graufamer Tumult von den Grenadiers des Waroniſchen Regiments. Unterſchiedliche Perfonen, als die Raths— verwanbterin Beufer, ber Cammerir Planert, der Handſchuhmacher Friedrich wurden entfeglid von ihnen zugerichtet,. indem man fie als tobt nad) Haufe getragen, andere aber, als der Aſſeſſor Nennen- tampf, ber Inipector Rehan mußten gleichfalls derbe Schläge davontragen. Um 8 Uhr legte ſich diejer Aufitand durch Wermit- telung bes Second-Majoren biefes Regiments. Das Graufamite bei dieſer Sache war, daß die Soldaten ohne Strafe blieben, ja noch von ihren Oriften mit 7 Faß Vier und 1 Faß Branbtwein recompenfiret wurben.

Freytag b. 18. Bruder Berend beſuchte ben Majoren Naundorf und fuhr mit ihm nach Techelfer zu den Grafen Roman Hoff, der vormals von ihm ein Freund geweſen und fid) auch jetzo nicht anders bezeuget. . . .

Sonnabend d. 19. Der Doctor Paulfohpn mar zur Mahlzeit gebeten und er verſprach Midicamenten zu verorbnen. . . Der Major Naundorf befuchte uns und verhörte unterſchiedlich die über die Woroniihen Soldaten ihre Exceſſe klagten, gab ihnen auch endlih Satisfachion durch dem, daß er zwei von den lirhebern naddrüct. abftrafen ließ. Nach der Mahlzeit beſuchte uns der Paſtor Plajhnid und unterhielte uns mit feine fo geiftreihe als erbaul. Discurjen zwei Stunden, währender Zeit fam bie Frau Orbnungsrichterin Nehbinder unvermuthl. nach Dorpat und jtieg bei uns ab, fie war jego jo wie allemal uns redt angenehm und mir waren recht vergnügt.

Sonntag d. 20. Um 9 Uhr gingen wir nad) der Kirchen.

. Die 5. T. Nehbindern war ſchon den Morgen früh von uns gereifet. . . .

Dienstag d. 22. Wir jollten ausreifen, aber das Wetter war nicht darnach, alfo mußten wir noch biefen Tag einbleiben. Nach der Mahlzeit gingen wir nad) die Kirche, denn ber teutfche Küfter wie Vater unferer Wirthin wurde begraben. . . .

Mittwoch db. 23. ... Um 19 Uhr fuhren wir mit die Frau von Kehbinder aus der Stadt, unterwegens befuchten mir die Glashütte zu Warrol, welche gewiß fünftlih genug ift. Wir ſchieden aus der Fran von Nehbinder Gefellihaft und trafen um 5 Uhr gut und wohl zu haufe. Allhier erfuhren wir das Unglüd,

Aus einem alten Tagebuch. 23

fo bier in unferer Abweſenheit pajfiret, baf ſich nämlich ein Bauer Edro Peter erhangen und zwar in ber Hofes-Heu-Scheune. Gott erbarme fi) feiner Seele.

Donners:Tag d. 24. Heute Habe ich angefangen zu mebiciner, Gott wolle feinen Segen zu biejem Gebrauch geben. Der Herr Paftor fam um 9 Uhr ben Morgen hierher, wegen ber unglüdlichen Leiche ſich mit uns zu bejpreden; es wurbe rejolviret einen Expreſſen nad) Dorpat zu fenden und die Sache den Nichter zu übergeben.

Mittewod d. 6. April. Dom Landgericht kam Order megen ben unglüdl. Selbſt-Mörder, aus der Heufchenne heraus und in den Wald begraben zu laſſen, welches aud) fofort ins Werk geftellet wurde.

Dienstag d. 19. Meine Medizin, fo der 9. Paitor Ufe verordnet und zurecht gemacht, erhielt ich heute, welches ih um 12 Tage zu brauchen anfangen muß. Die liebe Mama befiel diefen Abend fehr ſchwer krank.

Mittewodd. 2 Die ganze Nacht ift die liebe Mama ſehr ſchwach geweſen und Heute Morgen noch unverändert, daher wir um 5 Uhr nach dem H. Paſtor geſchickt haben, der ihr das Heil. Abendmahl reichen ſoll. Um 8 Uhr kam ber Prieiter, er fand aber die liebe Mama leider wegen Leibes:Schwwachheit in jolhen Umjtänden, daß er ihr die Heil. Communion nidyt reichen konnte. Der Herr Ordnungsrichter Nehbinder mit feiner Gemahlin famen her. . . Gegen Abend fuhr der H. Paſtor weg mit Ver— ſprechen, morgen frühe wieder hier zu fein. Die gute Freunde aber von Kockora und Allagkiwwi blieben hier und wachten die Nacht.

Donnerstag d. 21. Heute früh kam ber Herr Paſior. Der I. Gott gab Gnade, daß die liebe Mama, welche noch immer krank auf einer Art ift, das Heil. Abendmahl bei völligem Ver— itand und Andacht empfing. Gott laß es ihrer Seelen zum Heil und Wohl gereihen. Der S. T. Ordnungsrichter fuhr mit feiner Fran weg, Nadhmittag fuhr auch der Prieſter nad) Haufe. Diefen Abend wurde die Liebe Mama jo ſchwach, daß wir alle Augen: Blick ihren Tod befürdhteten.

Freytag d. 22. Die Naht ift die liebe Mama fehr ſchwach geweſen und den Morgen früh gleichfalls, jebennad Tefal;

354 Aus einem alten Tagebuch.

vireten mir uns nad Doctor Paulfohn zu jenden. Aber ad, wie famen uns doch folde Meinungen im Einne, da wir fie doch ſchon leider mit bem Tode ringen jahen. Um 8 Uhr fand ſich endlich der vor uns fo unglüdl., vor der von uns fo geliebten Patientin aber felige Moment ein, daß der I. Gott die Seele unjrer lieben Mutter zu fid nahm und ihr von allen Schmerzen befreite und zweifelsohne fein herri. Erbe theilhaftig machte, uns Nachgebliebenen aber in einen Wehmuthsvollen Zuftand nachließ. Gott richte uns auf und fei unfer Troft und Veiftand in unjerem ganzen Leben. Wir fandten fogleih nad Rodora und auch nad dem Priefter, fie famen unb legten ihre Gonbolen; mit vieler Aufrichligkeil ab. Die Frau Ordnungsridterin Rehbinder nahm darauf mit ber Frau Fähnrichen Cronmann die Beforgung der Seligen Veritorbenen, ihren Körper als auch ſonſt Anjtalten zu machen, auf ſich. Nach— mittag fam ber 9. Heenhorn her, der Paſtor fuhr wieder weg.

Sonnabend db. 23. Unſere lieben Nachbarn find noch Hier. Die Frau von Cronmann fuhr gegen Abend nad) Haufe, ihr 9. Sohn fam aber mit feiner Gemahlin wieber her.

Sonntag, d. 24. Cronmann und feine Frau fuhren weg. ihre Mutter aber fam wieder ber, die Briefe zum Begräbniß wurden gefehrieben. Die Beerdigung foll am 2. Mai jein, an die Brüder nad Reval ſchrieb von unfere betrübte Umflänbe, doch melbete noch (nicht?) von ihren Tod.

Montag d. 25. Der Ordbnungsrichter Rehbinder fuhr mit feiner Gemahlin nad) Haufe.

Dienstag d. 26. Der Herr Ordnungsrichter Nehbinder lam Vormittag mit feiner Gemahlin wieder her, dagegen fuhr gegen Abend die Frau Fähnrichen Cronmann nad) Haufe. Der 9. Paftor Ule war hier auch auf ellihe Etunden, der Sarg fam aus Dorpat und die liebe Leiche wurde von bie gute Freunde eingejargt.

Mittewochen d. 27. Heute Morgen reifete ber Ord— nungsrichter nad Haufe, jeine Gemahlin aber blicb bei uns. Nachmittag wurden jtarfe Präparatorien zum Begräbniß angefangen zu maden. Ein Lient. vom Perm. Dragoner:Regiment, Waller: mann Namens, kam her. H. Neenhorn, welder hier viel Mühe gehabt und fid) wie ein rechter Freund, glei wie aud) die andern Nachbarn, ſich bezeiget, fuhr gegen Abend weg, mit Verfprechen

Aus einem aften Tagebuch. 885

bald wieberzufommen, der Lieut. fuhr auch Heute Mbend meg. Nach dem Abendeſſen fuhr die Frau Ordnungsrichterin nad) Haufe und die Tochter, die Frl. Charlotta fam wieder her.

Donners-Tag d. 28. Die Frau Ordnungsr. fam Vor— mittag wieder her und ihre Tochter fuhr nad Haufe, den Abend fpät fam der H. Ordnungsrichter Rehbinder mit feinem Schwager Lieut. Effen zu uns, und wie wir ben Abend fpeijeten, traf die Frau Fähnrichen Cronmannin hier ein.

Freytag d. 29. Vormittag ritt ber H. Ordnungsrichter nad Haufe. Won Teyliz befamen wir auf unfere betrübte Noti— fication eine aufridhtige Condulence, gleicherweiſe auch auf unfere Invitation eine Veriprehung, daß der 9. Ordnungsrichter Bock mit feinem Sohn und Schwiegerjohn Plater, ih zum Begräbniß einfinden wollen. Nachmittag fuhr die Frau Orbnunger. Rehbinderin mit ihrem Bruder Eſſen nad Haufe.

Sonnabend d. 30. Nachmittag kam die Frau Orbnungs- richterin Nehbinder mit ihrem Bruder Eſſen wieder her, fie fuhr aber wieder am Abend nad dem Tiſche wieder nad) Haufe. Herr Neenhorn fam den Abend wieder her.

Sonntag d. 1. Mai. Nach dem Eſſen fam bie Frau Lieut. Neiher zu uns, fuhr aber den Abend wieder weg, mit Verſprechen morgen wiederzukommen. H. Neenhorn fuhr auch nach hauſe.

Montag d. 2. Mai. Morgen iſt der betrübte Tag, an welchen das Leichen Begängniß geſchehen ſoll. Heute aber ver— muthen wir bie Gäfte hierher. Den Morgen gang früh fam die Ordnungsr. Nehbinderin zu uns, Nachmittag fam der Herr Ordnungsr. Nehbinder, welcher zum Priitav erbeten wurde, jodann tamen die Lieut. Neiher und danı der H. Aſſeſſor Cronmann mit jeiner Gemahlin hierher, wie auch der junge Baron Roſen aus Gaiter, 9. Neenhorn folgte diefen und dann der Capitain Bubben- brod mit feiner Gemahlin. Um 7 Uhr fam endlich die große Suite, nämlid der 9. Ordnungor. von Bol mit feinem Sohn und Schwiegerjohn, wie aud) des fepteren Bruder Plater von Fulfenau und der Rittmeiſter Eſſen, un ',28 Uhr famen bie Herren von Skohge nebjt den Lieut. Neiher, fie condulirten uns jämmt:- lich zu uujerem großen Verluſt. Gronmann mar jehr frank und mußte fi zu Bette legen.

38 Aus einem alten Tagebuch.

Dienstag d. 3. Cronmann befindet fich recht Fran, daher mußte er nad) Haufe reifen. Um 16 Uhr kam der Lanbrath Stadelberg von Elliftfer her. Ueber der Mahlzeit, welde früher angerichtet war, famen die beiden Offizier vom Permichen Dragoner- Regiment, der Gapitain Reiher und der Lieut. Wallermann. Um 1 Uhr waren fie alle fertig nach ber Kirche zu fahren. Die Leiche, welche in der jeligen Diama eigenen ehemaligen Schlafjimmer lag, murde von denen dazu erbetenen Trägern herausgetragen, melde 8 an ber Zahl waren. Nämlich der junge Bock und ber junge Roſen, jodann der Lieutenant Waflermann und der Lieutenant Neiher, dann ‚der Herr Neenhorn und der junge Herr v. Stohge, daun der Lientenant Carl v. Blater, dann ber ältejte Herr v. Skohge; voraus (: . . vor ihnen) ging ber 9. Priſtav von Nehbinber, hinter der. Leiche gingen Bruder Verend mit Orbnunger. Bol, Landrarath Stacelberg mit Nittmeifter Eſſen, Capitain Neiher, Leutnant Eſſen mit Plater von Fallkenau. . . Diefe formirten den ganzen Zug und wurden mit viel Hundert Thränen von ung ber gleitet bi8 an ber Thüre. Die Leiche wurde auf dem Trauer— wagen gelegt und jodann fuhren fie fort. Gott laſſe dieſe liebe Leiche, welde, da fie nody von ber edlen Seele bewohnet wurde, vor ms jo grofe Sorgfalt geheget, in ihrem Grabe in Ruhe liegen, bis fie dermaleinjt wieder auferjteht und das ihr bereitete Neich ererbet. Der Leicen-Tert iſt befindl. im Evang. Math., 6 Gap.: Selig find bie da hungert und bürftet nady der Gerechtige feit, denn fie follen gefättigt werden. Welches von dem H. Buftor Ufe vortreffl. ausgeführt worden. Um 6 Uhr waren fie alle zu— rüd, da jie den Coffee und Confeeturen zu ſich nahmen. Um 8 Uhr gingen fie eſſen, die Offizier fuhren den Abend um 11 Uhr weg.

Mittewoden d. 4. Heute iſt ein Jeder beſchäftigt wege zufahren, zum Eſſen blieben feine mehr als die Nachbarn und Reiher und feine Frau, die beiden Skoghen und Lieut. Eſſen. . .

Donners-Tag d. 5. Der 9. Lieut. Neiher fuhr nad Hauſe . . . num find wir mieder allein und im Stande unſern betrübten Gedanfen nachzuhängen.

Sonnabend d. 7. Früh um 6 Uhr fam unjer Wetter der Fähnrich Wilhelm von Stryk unvermuthlid hierher. Weilen Bruder Berend feine Wirthſchaft auf Alt-Allatztiwwi beſuchen und

Aus einem alten Tagebuch. 387

einrichten will, jo hat er fid) entichloffen heute dahinzureifen, ung mitzunehmen und ſich einige Zeit dort aufzuhalten. Unjer Vetter veifet mit, um 10 Uhr fuhren von Palla ab, weldes wir Gottes allmãchtigen Schuges empfahlen. Auf Kodora fehrien wir ein, allwo wir auch zu Mittag ipeilelen. Schweſter Ann Lieschen hatte ſehr große Kopfſchmerzen. Nachmittag fuhren wir von da weg und kamen nad) einer Stunde hier in Alt-Allapfiwiwi an, wo wir von ben biefigen Verwalter Sander empfangen wurden. Es iſt hier noch alles in Unordnung, es wird aber bald. ordentlich fein, das Gebäude iſt ziemlich geräumig, die Gegend aber jo ſchön als es jein kann, das Häuschen liegt auf einen Berg, den Peipuſt fann man fehen, drei Väche aber liegen unter bie Fenftern, fleine und große Berge und Hügeln fieht man hier, die Diengde, wo— unter der alte Schloß Verg der größte. Man findet hier die Rudera von einer alten Feſtung. Neu-Allahtiwwi liegt ungefähr 300 Schritt auf einem großen Berge von uns, welches unjere Gegend einen jchönen Anjehen giebt. Wir ergögen uns mit Spayier: Gehen. Bruder Bernd ging mit dem Vetter nad Neu- Allapkirwi, nachdem wir uns bei der Gronmannjden Familie melben laffen und dieſe hierauf uns insgefammt, zur Abendtajel invitiren laſſe, weil Schweiter Ann Lieshen frank ift, fo blieben wir Schweſiern zurüd, zu malen es auch nöthig thut es hier etwas nad) der Ordnung einzuridten. « Sonntag d. 8. Schweiter Ann Lieschen iſt Gottlob beſſer Sobald wir uns angefleidet hatten, gingen wir nad) Neu-Allag- tiwwi. Wir mußten einen fleinen Ummeg nehmen, auf der Kirche und ber Hiefigen Mühle zu, weldes 1 Ruſche Werft ausmacht, weilen wir gerabe über den Weg nicht gehen fonnten. Die Frau Reiher empfing uns auf dem halben Wege, wie auch die junge Frau von Cronmann und deren Gemahl. Wir gingen folgendes weiter und im Haufe, wo uns die Wirthin, die verwittibte Fran Fähnrichin Cronmann, empfing. Nach dem Gottesdienſt kam ber Herr Paſtor Uke aus der Kirche dahin, das Mittagsmahl mit uns‘ einzunehmen, nad Tiſche aber fuhr er nad Haufe. Wir ſpeiſten noch ben Abend allda und famen jodann in unjere Appanage. Montag d, 9. Die Allabtiwwiſchen werden heute Hier pojjiren. Vor dem Mittagseſſen famen fie hierher, ſpeiſten hier und blieben aud) den Abend-Ejjen hier und gingen jodann nad) Hauſe.

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Dienstag d. 10. Es ift graufam ſtürmiſch Wetter, dem ohngeachtet fuhr Schweiter Beathen nad Palla, um bie dalige Wirthſchaft zu überfehen. Unfer Vetter ritt von uns weg nadı feinem Haufe im Pernauſchen. Schwefter Beatchen fam den Abend wieber zurüd.

Mittwod d. 11. Wir find nad Neu-Allapfimmi zum Dlttags-Efien genöthigt worden, wohin wir audh um 11 Uhr gingen, um 2 Uhr famen wir wieder zurüd. . .

Donners:-Tag d. 12. Nadmittag gingen wir nad) Neu-Allapfimwi, wir funden bie Frau Fähnrichen meinend bei einem geiftlihen Buch figen, wir blieben bei ihr. Es gewitterte ſtark. . . Die Frau von Cronmann und ihr 9. Bruder ſpeiſten bier... . hernach fpielten wir Brett. . .

Sonnabend d. 14. Heute früh ſchickte die Frau von Eronmann ihren Wagen nad mir, wie id nad Neu⸗Allatzliwwi hin fam, jo fuhr fie mit mir nad) einen Hoflager, jo ihr gehört, Ninnat Namens. Diefes Beigut reiht an den Peipuft. Es iſt nicht weiter bebaut als mit einer Riege, Viehitall und Klöte, auch ein Krug, bie ruffiihe Bauern aber haben ihre Hüttchens als eine Schlabodde an den Strand gebaut, es find da aud) hiefige Bauern, die Ruſſen haben aud) ihre Kirche all da. Wir waren da vier Stunden, die Frau von Cronmann ließ fiſchen, es wurde aber nichts gefangen. ... Morgen werden wir nad) Palla alle reifen, es gefüllt uns zwar hier auch recht gut, die dafige Wirthihaft aber will auch Nachſicht haben.

Sonntag d. 15. ... Auf Kockora trumfen wir alle zus fammen Thee und beurlanbten uns jodann aus der Geſellſchaft. Wir fanden, dem Höchſten jei Danf, Palla im vorigen Stande, worinnen ber liebe Gott es erhalten wolle,

Mittewoch d. 18. Weil Schweiter Ann Lieschen ſich ſchon eine ganze Zeit her übel befindet, fo reiſte Schweiter Beatchen Nachmiltag nad) Koddafer mit dem H. Paſtor wegen ihrer Krank: heit zu ſprechen. Sie fam bald zurüd und brachte einige Pulvern, wovon jie eines gleich einnahm.

Donners-Tag d. 19, als am heil. Himmelfahrtstage. An Bruder Adam ging heute ein Brief mit der Poſt weg, worin ihm das Abjterben der lieben jeligen Mama kund gethan wurde.

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Freytag d. 20. Heute Abend fam ber Schufter Poſſes aus Dorpat hierher.

Montag db. 23. Heute Morgen fuhren wir, Schwefter Ann Lieschen, Bruder Berend und id nad Allaßkiwwi, zuvor aber ſchafften wir ben Scuiter Poſſes nach) der Stadt. Wir fpeiften zu Mittag auf Kodora, gleich darauf fuhren wir nad) Alt⸗Allatzliwwi, allwo wir ung um die Umftände ber bafigen Wirthſchaft erkundigten. . .

Dienstagd. 24. Mittewod d. 25. Nachmittag wo wir uns nichts weniger als eine vornehme Vijite vermuthen waren, idicte die Frau Landr. Stadelberg ihren Bedienten her und ließ ſich melden, nach einer halben Stunde fam fie aud) jelber her. Wir liefen die Frau Ordnungsr. Nehbindern auch nöthigen, fie tam auch, fuhr aber den Abend fpät wieder nad) haufe, mit Ber ſprechen morgen wieder zu kommen.

Donners:-Tagd. 26. ... Nach der Mahlzeit fuhr die Frau Landrätin Stadelberg von uns weg, deren Erempel die ©. T. Nehbindern folgte.

Sonnabend d. 28. Ten Abend waren wir ausipaziert längs dem Felde, ba wir zurüctehrten friegten wir einen ganz unvermutheten Vefuch von H. Zeumern vom Genjel, welder her: getommen bie heil. Pfingitferien hier zu paſſiren.

Sonntag d. 29., als am Iften heil. Pingittage. Wir fuhren ſämmilich, 9. Zeumern mit eingejchloffen, in die Kirche und nachdem mir bei dem Paſtorath bei ber Frau Pajtorin ausge: itiegen, auch all da die andern Eingefahrten diejes Kirchſpiels ab: gewartet, gingen wir in die Kirche und höreten die jehr erbauliche Predigt des 9. Paſtor Ufe mit andächtiger Aufmerkſamkeit an. Darauf wollten wir Jeder nad) Haufe fahren, wir wurden aber von dem 9. Paſtor und Frau Pajtorin allefammt zur Tafel da behalten. Danach zog ein Jeder feine Straße.

Sonnabend d. 4 Juny. Wir haben heute gebadet.

Sonntag d. 5. Der Koch Jahn wurde gejtern vom Hofe demittiret und auf Land geieget. . . Klein-Johann wurde nad Sarenhof gelanbt, weil wir vernahmen, daß ber Orbnunger. Bor gefommen und ben Landmeſſer mit fi hätte, der bie Grenze zwiſchen Sarenhof, Kudding und Palla reguliven jollte, hiervon Toll Johann uns die Gewißheit holen.

3x0 Aus einem alten Tagebuch

Montag d. 6. Johann kam zurüd mit der Nachricht, daß die Grenziheidung vor ſich gehen joll, zu dem Ende Bruber Berend fid) nad) dem Seroſchen Kruge begeben foll, wo die Andern auch Morgen fein werben. Nadjmittag fan die Frau Orbnunger.

Dienstagb. 7. ... Nahmittag kam Johann zurüd und beftelete Fische nadı dem Kruge, dann folgte Peter, welcher Bettzeug, Coffee und Thee und deren Geräthſchaft von hier dahin brachte.

Mittewoch d. 8. Heute früh brachte Johann Bier und Brod nad) Tuhha, allwo die 9. Landmeſſers heute fpeifen werben, die Frau Ordnungar. Nehbindern ſchickte her und ließ bitten man möchte die hiefige Babe-Stube higen, fie wollte mit ihre Kinder ſich deijen bedienen. Die Frau Ordnungsr. wird nicht heute her- tonmen, weil fie von Koddafer Nachricht erhalten, daß die Frau Paſtorin frank geworden und fie dahin muß. Won Koddafer fam jego ein Kerl mit der Nachricht, daß der liebe Gott bie Frau Raftorin heute Morgen mit einem jungen Eohn entbunden.

Donners-Tagd. 9. ... Nahmittag fuhren Schweſter Ann Lieshen und ic nad Kobdafer zu die Frau Rajtorin zur Gratulation, wir legten dieſes bei beiberjeits Eltern ab. Die Frau Fähnrigen Eronmann fam aud dahin und glei darnach aud die Frau Orbnungsr. Rehbindern. Wir fuhren ben Abend nad) Haufe. Der H. Rittmeiſter Eſſen kam mit dem Landmefjer und Bruder Verend hier zu ſpeiſen und zu näctigen.

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Um die Kivländiihe Voltsjgnle*.

Bon Kt. von Freymaun.

x r fittlihe Einfluß gemeinſchaftlichen Bäumepflanzens und 45 populärmoralifcher Nebelbitder auf die heranwadjiende

Jugend ift in jüngfter Zeit vielfach beftritten worden. Selbft diejenigen fachmäuniſchen Kreiſe, denen nod) unlängſt Bäume- pflangen und Nebelbilder als das A und O aller Päbagogif erichienen, find von ber Unfehlbarkeit dieſer Mittel nicht mehr überzeugt. Die Schülerftreits der legten Monate waren der Bankrott diefer Pädagogik und des offiziellen Schulgedanfens, die Unbildung bes ruffiihen Bauern dofumentierte von jeher bie Ohn- macht des burenufratiihen Volksbildungsweſens. Heute pfeifen das öffentliche Geheimnis unferer Staatsſchule die Spagen vom Dadye, und jeder empfindet die Jronie des Schidjals, weldes diefer Schule des Scheines das Symbol der Nebelbilder in die Hand gegeben hat. In ihrem ganzen Weſen einem außerhalb des Unterrichts liegenden Zwede bienend, war fie als Bildungsanftalt in der Tat nicht mehr als ein Blendwerk. Der ftaatlide Uniforz mierungsgebanfe, welder die treibende Kraft dieſer Schule war, ftedte ihr im Innern des Neiches das Ziel der MWohlgefinntheit, an den Grenzmarfen das Ziel der Verjchmelzung aller Sonder— formen mit den Formen des Neichsinnern. Im Innern des Reiches im gewiſſen Sinne fonfeljionell und national, war jie an den Grenzmarfen konfeſſionslos und antinational. Während fie im Innern des Neiches nie über eine allzu große Lebenskraft ver

*) Tiefem Aufiog liegen die „Alta des livländiſchen Sandratstolegiumg betreffend: Bauerihulen" (1884-1901) zugrunde.

302 Um die llolandiſche Voltsſchule.

fügte, verdoppelte fi ihre Kraft an den Grenzmarfen, wo fie zugleich mit dem Staatsgedanfen der panſlaviſtiſchen Herrſchafts- idee diente, Der bureaufratiihe Charakter war ihr im Innern des Reiches und an ben Grenzmarken in gleicher Weile eigen- tümlich. Der Natur der Dinge entipredend zeigten die niederften Schulformen bie ausgeprägteiten Tendenzen, ber Jbeengehalt der Staatoſchule mußte im Elementarunterriht am jdärfiten hervor— treten. Mit dem- Prinzip bes bureaufratiichen, konfeſſionsloſen und antinationalen Elementarunterrichts war es ber livländiſchen Landvolkoſchule beſtimmt zu fümpfen und in dieſem Kampfe zu unterliegen.

Auf dem Boden der Eelbitverwaltung in jahrzehntelanger gemeinfamer Arbeit der gejamten Bevölkerung erwachſen, war bie livlãndiſche Landvolkoſchule ein feitgefügter lebendiger Organismus, der mit bem Leben und Weſen des ganzen livlänbiichen Selbſt- verwaltungsförpers aufs engite verfnüpft war. Unter ben Gliedern diefes Körpers aber war es vornehmlich die Landeskirche, der ſich die Bauernſchule in natürlich hiſtoriſcher Entwidlung angeſchloſſen hatte. In lückenloſer Fortentwidlung war hier der urjprünglice Zufammenhang zwiſchen Kirche und Schule gewahrt worden. In Verwaltung und Leitung befand fih die Schule in natürlicher Abhängigfeit von der futheriihen Kirche. Das Kirchſpiel und die Kirchengemeinde, die natürliche Einheit des Landlebens, war auch die wichtigſte Einheit des Volkoſchulweſens. Die Schuleinheit bes Kirhjpiels umfaßte die niederen Gemeindefhulen und die ihnen übergeordnete Parochialſchule. Im ganzen Jwaren e8 in den 80er Jahren fait 1100 Landvolfsfhulen mit 1400 Lehrern und Lehrerinnen, fo daß auf eine Schule im Durchſchnitt 45 Schüler entfielen. Der Unterhalt der Gemeindeihulen war Pflicht ber betreffenden Bauer gemeinben, der Unterhalt der Parochialſchule fag als Neallajt auf dem Grund und Boden des Kirchſpiels. Das örtliche Verwaltungs: vrgan war die Kirchipielsidulverwaltung, Die unter dem Vorfig des vom Kirchſpiel defignierten Kirchenvorfiehers, aus dem Ortspaflor, dem Parochialſchullehrer und einem von ſämtlichen Kirchenvormündern und Schulälteften erwählten Kirchſpieloſchulälteſten gebildet wurbe. In -diefem unkomplizierten Körper waren alle Elemente des Kirch: fpiellebens, ſoweit dieſes mit dem Leben der lutheriſchen Sirhens gemeinde identiih war, enthalten, und waren das geijtliche und

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weltliche Element; die wirtfchaftlihen und die Schulintereffen im engeren Sinne, das beutjche und nationale Element zu gleichen Teilen vertreten. Der den Bauern im täglichen Leben gewohnte - und vertraute Begriff des Kirchſpiels ermöglichte der bäuerlichen Bevöl- ferung eine bewußte Teilnahme an ber Verwaltung. Der: Kirch- jpielsihulverwaltung entſprach in Zufammenfegung und Weſen in in ber höheren Einheit bes Areifes die Kreislandſchulbehörde, in legter Inſtanz für das ganze Land bie Oberlandfchulbehörbe *. Indem ftels ein Teil der niederen Vermaltungsglieber in dem höheren Verwaltungsförper Aufnahme fand, konnte mit der Wahrung des direften Zujammenhanges der höheren und niederen Iuſtanzen das Zirfular- und Vorfehriftswefen zu gunjten der perfönlichen Wirkſamleit zurüdtreten. Der Schwerpunkt fiel in die dem Schul leben am näcjlten ſtehende Kirchſpielsſchulberwaltung, und diefe Verlegung des Schwerpunftes in die Fleinfte Verwaltungseinheit gab der Volksſchule die denkbar breitefte Bafis. Wie der Bau der Schulverwaltung in letzter Hinſicht auf das Leben der örtlihen ; Bauergemeinde gegründet war, jo rubte ber Unterricht ſelbſt auf dem weiten Fundament des bäuerlichen Hauſes. Die unterjte Stufe der Volfserziehung bildete der von Schullehrer und Paftor überwachte häusliche Unterricht, dem ſich die Gemeindejchule un—⸗ mittelbar anſchloß. Cine weitere Fortbildung bot die Parochial⸗ ſchule für diejenigen Kinder, welche die Parochialſchule nicht bes fuchten: ber. in jedem Jahre regelmäßig wiederfehrende Nepelitions: unterricht an den Gemeindeſchnlen. Der Beſuch der Gemeindeichule und der häusliche Unterricht waren obligatoriſch. Das Ziel des Unterrichts war bie Xorbereitung zum Gemeindeleben und zur Konfirmation, zur Wirffamfeit in der geiftigen und praftiicen Lebensiphäre des Bauern; den Weg aus diefer Lebensiphäre hinaus in bie ritterfchaftlichen Yehrerfeminare und die jtädliiche Kreisſchule bot die Parochialſchule.

In den Formen des Volfsihulwejens ift bis heute fein Wechſel eingetreten ber Geift, der die dormen beſeelte, iſt getötet worden. Das charakleriſtiſche Merkmal der livländiichen

#) Die Krcislandfchulbehörde beitand: aus dem Cberlirdienvoriteher, zwei weltlichen von der Ninterichat, und zwei geütlichen vom Provinpialfonjiitorum ernannten Hevidenten, audh zwei Sirdhipielsichulälteiten. Die Oberlandfepulbchörde beitand aus: den A Oberlirpenvorjtcheen, dem Ocucralfupsrintendenten und eincn von der Nitterihaft ernannien Schulzat.

8 Um die Koländifche Voltsſchule.

Volfsihule war die Dreiheit von Haus, Eule und Kirche, untrennbar verbunden durch bie unzähligen Lebensfäden einer gemeinfamen Arbeit und eines gemeinfamen Tentens. Diefelbe Sprache und diefelben Gebete, die im Haufe der Bauern gefprochen wurden, ſprach und lehrte Die Schule, fie war daher national und fonfejfionell. Die beiden Eigenjchaften bedingten einander. Denn die Aultur der Ejten und Letlen mar von proteflantiihem Geifte. Aus diefem Grunde war die lutheriſche Geiftlichfeit der berufene Reiter der Vollsſchule, und aus diefem Grunde wäre eine fonfelr fionslofe Schule nichts andres gewejen, als eine Schule ohne Lebensanjhauung. Ein ruffiiher Publiziſt hat unlängjt erkannt, daß ber hohe Stand der livfändiihen Landvoltsbildung fein Vers dienft der beutichen Kulturarbeit, jondern allein der futheriichen Kirche geweſen wäre nehmt es, wie ihr wollt! Cs ift feinem von uns eingefallen, feine Kultur vom Glauben zu trennen. Durch den Allerhöchſten Befehl vom 28. November 1885 murben bie livlänbiihen Landvolfsihulen dem Miniſterium der Volfsaufflärung unterftellt. Der Befehl war dem Kurator des Dorpiſchen Lehrbezirks Kapuſtin perfönlich mitgeteilt worden und war ohne ein feſtes Programm als ein allgemein vorbereitender Schritt erfolgt. In der Faſſung, in welcher ihn der Gouverneur Sinowjew dem Landratskollegium übermittelte, war als Ziel des Erlaſſes die Vereinheitlichung der Aufſicht über die Lehranſtalten und die einheitliche Leitung des Unterrichtsweſens bezeichnet. Eine höchſt unbeſtimmte Erläuterung, die nicht mehr als die Abſicht einer Anderung beſagte, und auch dieſes nicht, wenn die beab- ſichtigte Änderung als durch den Neſſortwechſel vollzogen aufge: fat wurde. Der Miniftersgehilfe Fürſt Wolkowoky ſprach von einem bloßen Nefjortwechjel, von anderer cite hieß es, daß der Kuralor Rapuftin beauftragt wäre, feine Vorſchläge zn Negelung der neugeihaffenen Beziehungen zu unterbreiten. Der Kurator jelbſt fprad) dem Kandrat v. Dettingen gegenüber von einem Neorganifationsprojeft, das er in den nächſten 14 Tagen abzu— ſchließen gedenfe, er ofjenbarte in dieſer Unterredung einen großen Ideenreichtum, indefien nur eine geringe Kenntnis der bejtchenden Volksſchulverhällniſſe. Die Ausarbeitung bes Neformprojeftes unterblieb einjtweilen. Dem Kurator war zwar die Tendenz der Neform, nicht aber ihr Weſen Klar. In der Überzeugung, dab

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das Staatsprinzip die unmittelbare Verfügung der Staatsgemalt über die Schule in allen Zweigen und zu jebem Zwede erforbere, hatte er den Wunfch, einen diefem Prinzip entiprechenden Zuftand in Livland herbeizuführen, ohne ben Weg recht zu überbliden und ohne recht zu willen, an weldem Punkte des geſchloſſenen Selbftverwaltungsförpers er den Pebel anſetzen follte. Er begriff nach kurzer Orientierung, daß er einem fomplizierien Organismus gegenenüberftand, deſſen Funktionen ihm fremd waren. Die in engem Anſchluß an das Leben erlangte Formenfülle widerſetzte fi der papierenen Kanzleiherrſchaft. Wei der Ablöſung des Selbftverwaltungsprinzips durch das bureaufratifche Prinzip mußte es überaus ftörend empfunden werden, daß der Gedanfe einer Vereinfachung der Lebensformen zur größeren Bequemlicjfeit bes leitenden Beamtenperſonals den Schöpfern biefes Organismus fern- gelegen hatte. Der Kurator beklagte fi) über die Menge ber Kirdjipielsihulverwaltungen, er fönne fie unmöglich durch feine Inſpelloren beauffihtigen laſſen und wünſche ihre Zahl zu ver— ringern. Indeſſen ber Hinweis des Landmarjdalls, daß gerade in den örtlichen Schulverwaltungstörpern die Geele einer gebeih- lien Eutwicklung des Volksſchulweſens zu fuchen jei, ließ ihn von biefem Wuniche Abjtand nehmen. Der Oberlandfchulbehörbe überfandte ber Aurator den Entwurf eines Neformprojefts, das, abgejehen von dem radifalen Bruch mit allem Veftehenden, in den einzelnen Bejtimmungen vein zufälligen Charakters war. Schwerlich maß felbft der Kurator diefem Entwurf einen praftifhen Wert zu. Um .fo ausgefprochener betonte er im Prinzip die unbedingte Machtbefugnis der jtautlichen Organe und das Aufhören jeder Sonberftelung der livländiſchen Volksſchule, als Konſequenzen des Allerhöchſien Willens. Cr beftritt den fonfefjionellen Charakter der Vollsſchulen mit der Begründung, daß fie nicht Kirchenſchulen wären. Nach der Art ihres Unterhalts und ihrer Verwaltung firierte er ihren Charakter als ben Landſchaftoſchulen bes Reichs- innern entjpredend, und erklärte fie durch den Reſſorlwechſel allen Gefegen und Vorjchriften unterworfen, die für das Neichöinnere erlajjen waren. Durch perfönliches Eingreifen in bie Wirfungs- fphäre der Oberlandidutbehörde bemühte er ſich dieſer Auffaſſung Geltung zu verihaffen. Er genehmigte fraft feiner Mactvollfom- menheit die Umwandlung der Neu⸗Schwaneburgſchen Siltas Hemeinde ⸗-

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ſchule in eine zweiffaffige Minifterihule mit ruſſiſcher Unterrichts- ſprache in der 2. Klajie, obgleich diejer Akt die Aufhebung der nach den geltenden Gefegen zu Recht beitehenden Gemeindejchule involvierte. Auf Grund des für das Neichsinnere erlaſſenen Zirkulars vom 10. Nov. 1879 wurde ber Oberlandſchulbehörde eine Anfrage über bie poli— tifche und moraliihe Zuverläjligleit der Lehramtsfandibaten zur Pflicht gemacht. Das der Oberlandſchulbehörde zuſtehende Era minationsrecht aber wurde auf ein moraliſches Prüfungsrecht beſchränlt. Es fiel fomit ber Oberlandſchulbehörde die wenig dankbare Nolle einer doppelten Buchführung zu.

Die Heformpläne des Kurators gewannen feitere Gejtalt, nahbdem er den Gedanken einer Neufchöpfung aufgegeben und fich für den weniger fojtipieligen Weg einer feinen werfen ent— Iprechenden Umwandlung des Selbjtverwaltungsförpers entſchieden hatte. Dem Adelsfonvent vom April 1886 lag ein Schreiben des Kurators vor, weldes einen vorläufigen Entwurf der zur Erfüllung des Allerhöchſten Willens notwendigen Mußnahmen enthielt. Das Projeft war nad) den Worten des NKurators mit möglichiter Schonung der beftehenden Echulverwaltung entworfen, Es ftatuierte die Mitgliedfchuft des Volkoſchuldirellors in der Oberlandſchul- behörbe, ber Volksſchulinſpeltoren in den Kreistandihulbehörben, außerdem follte in diejen Behörden die Negierung durch ein zweites, vom Gouverneur ernanntes Glied vertreten fein. Falls die Regie: rungsvertreier eine vom Mojoritätsbeichluß der Behörden abweiche nde Meinung vertraten, entjchied bezüglid) der Kreislandſchulbehörden der Nurator, bezüglih der Oberlandidulbehörde der Miniſter der Volfsaufklärung, ebenſo folften Magen gegen ſamtliche Behörden, auch die Kirchipielofhulverwaltungen, direft durch den Ruvator oder den Minifter entichieden werden ein Inſtanzenweg, der die Kreis: landſchulbehörden und bie Oberlandihulbehörde außer Kraft jepte. Die Machtbefugniſſe der Selbftverwaltungsorgane wurden gemäß den praftifchen Konſequenzen des Projelts auch dem Kurator und jeinen Infpeltoren übertragen, wobei durch den erwähnten Injtanzenweg in jedem einzelnen Falle den Negierungsorganen das Übergewicht gewahrt war. Die fonfeifionelle Frage war als belanglos offen gelaſſen, die Sprachenfrage war nicht berührt. Indeſſen die Auf: hebung des obligatoriihen Unterhalts für die Parochialſchulen, welche ihre Erijtenz in ‚Frage ſiellte und die örtlidien Mittel zu

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Neugründungen frei machte, ſowie das Recht der Ummandlung der Gemeinde: in Minifterfchulen auf Wunſch ber Gemeinden oder einer am Unterhalt der Schule beteiligten Perſon, verrieten, wie dieſe Frage entihieden werden follte. Die Oberlandſchulbehörde fritir fierte das Projeft dahin, daß es wohl beftimmt fein könne, die Art an die Wurzel bes livländiichen Volksſchulweſens zu legen. Den: noch riet die Oberlandfchulbehörbe um ber Sadje willen auch unter den ſchwierigſten Umftänden auf Zeitung und Unterhalt der Volls— ſchule nicht zu verzichten, folange nur ber innerlich konfeſſionelle Charakter, die Mutterfprade und die Möglichkeit einer ehrenamt- lien Wirkſamkeit gewährleiftet wären. Won der Erhaltung ber- felben Grundprinzipien hatte bie Paftorenkonferenz in Dorpat bie Mitarbeit der Paſtoren an der Volkoſchule abhängig gemacht.

Die Nitterfchaft Fonnte in dem Schreiben des Kurators die Garantie einer gebeihlichen Entwidlung des Volksihulwefens nicht erbliden. So beſchloß der Abelsfonvent in der Erwägung, daß die Vorfchläge des Kurators die radikale Umgejtaltung des Volls- ſchulweſens bedingten, daß der Eonfeffionelle Charakter der Volks: ſchule nicht verbleibe und der Schwerpunkt der Verwaltung in die Negierungsorgane verlegt werde, in der Erwägung ferner, daß es den Anschein gewinnen fönne, als ob bie Ritterſchaft ſelbſt die Hand biete, das Volt feiner Sprache und jeines Glaubens zu berauben, bem Kurator zu erwiebern, daß fie auf feine Intentionen nicht eingehen fönne. Sie vertrete nad) wie vor die Auffaſſung, daß die Volfsihule in ihrer jegigen Organijation dem Wohl und Segen des Landes gedient, und vermöge es nicht einzufehen, wie durch einen Reſſortwechſel bie beftehenden Gefege, Verordnungen und Injtitutionen unzwedmäßig und veränderungsbedürftig geworben feien. ie hoffe daher, daß der Kurator, dem die fittlihe und intelleftuelle Entwidlung bes Volles am Herzen liege, feinen Ein: fluß zur Erhaltung des Bejtehenden geltend machen werde. Cine organifche Veränderung der Volksſchule müßte die fernere Mit— arbeit der Ritterſchaft für alle Zukunft in Frage ftellen.

Die Ablehnung der Nitterichaft blieb nicht ohne Wirkung auf den Rurator. Er fragte, ob das Schreiben das Ultimatum der Nitter- ſchaft enthalte. Er erklärte fi zu neuen Vorſchlägen bereit und verſprach bis auf weiteres feine Schritte in legislativer Hinficht zu

tun. Im September desjelben Jahres ſchien der Kurator feinem Baltifhe Monatsfcrift 1906, Heft 5. 4

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Neformprojeft endgültig entjagt zu haben. Er meinte, er wolle ſich Zeit nehmen und hoffe in ein bis zwei Jahren fi ein ein— gehendes Urteil über die Volfsihulen zu bilden. Inzwiſchen handele es ſich darum, mit den bejtchenden Organen einen ver— ſöhnlichen modus vivendi zu finden. In der Tat hatte ſich durch die fortgefegten Eingriffe des Aurators in bie Machtiphäre der Oberlandſchulbehörde eine Neihe von Konfliklen ergeben, die eine Lerfländigung wünjcenswert eriheinen lieh. Überdies hatten bie Inſpeltoren Meves und Orlow die Herbftmonate zu einer Infpeftions- reife benupt, bie den herrſchenden Gegenfag in die breiteften Schichten getragen hatte. Während der Schulinfpeftionen, die meift mit Um: gehung der örtlichen Schulbehörden und ohne deren Willen Hattfanden, hatten ſich die Infpeftoren Änderungen zu gunften einer Verftärfung des ruffiihen Sprachunterrichts erlaubt. Ihre Änderungen wurden allerdings gleich nach ihrer Entfernung durd) bie örtlichen Schul- autoritäten wieder zurechtgejtellt, nicht fo leicht aber ließ ſich ber verlegende Eindrud ihres unerwarteten Erſcheinens verwiſchen. Vielfach beihwerten fi die Schulvermaltungen über das Bor: gehen der Infpektoren, ein Paſtor ſandte der Oberlandihulbehörde fhriftfid) feine Weigerung, die Jujpeltoren als Kollegen zu afzep« tieren.

Die fremde Gewalt, die ſich zwiſchen die Schule und ihre Verwallung gedrängt hatte, hatte eine allgemeine Ungewißheit und Unficherheit der Stellung ber Volfsichulautoritäten im Lande hervor: gerufen. In Saden der Siltagemeindefchule hatte die Oberland: ſchulbehörde gegen die Wefipergreifung des Immobils zweds Eröff- nung ber Minifterichule vemonjtriert, und cs ift vielleicht begeid- nend für die Stimmung des Kurators, daß es ihn Wunder nahm, mie man um einer Schule willen jo viel Lärm machen fönne. Die Oberlandjchulbehörbe und der Kurator verfehrten faft aus— ſchließlich auf dem Beſchwerdewege durch den “Minifter der Volksaufflärung oder auf adminiftrativem Wege durch den Gou- verneur, da die Oberlandſchulbehörde nach ihrer Auffaſſung der beftehenden Rechtsverhältniſſe fih nicht in der Lage fah, ben Weifungen des Kurators Folge zu leiften. Der dringende Wunſch bes Aurators, ſich mit der Oberlandfchnlbehörde in Relation zu Tegen, war daher zeitgemäß. Cs ſchien, als ob eine Einigung zu: ftande fommen würde. Am 28. September fonferierten ber Land»

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marjchall, der Präfes der Oberlandſchulbehörde und der Kurator über die jchwebenden Fragen. Im Zufammenhang mit der Silta- gemeindeichule fam die Frage ber Minifterihulen überhaupt zur Beſprechung. Der Landmarjchall und ber Präjes der Oberlands ſchulbehörde hatten gegen bie Gründung von Miniſterſchulen im allgemeinen nichts einzuwenden, nur bürfe fie nicht auf Roten ber bereits geſetzlich beſtehenden Schulen geſchehen. Der Kurator blieb bei der Meinung, daß die neue Schule die alte erjegen jolle. Zum Schluß einigten fi der Präſes der Oberlandichulbehörbe und der Kurator, da eine allgemeine Negelung der Beziehungen zur Zeit nicht möglid) fei dahin, in jedem einzelnen Falle Vereinbarungen zu treffen. Am Tage darauf wurde der Siltaſche Gemeindelehrer ohne vorhergehende Anfündigung und ebenſo ohne Willen der Ober- landſchulbehörde gemaltfam mit jeiner Familie und feinem Mobiliar ermittiert; am 1. Otober durch den Inſpektor Speſchkow feierlich die Miniſterſchule in jenem Lokal eröffnet. Es lag nicht in ber Abſicht des Kurators oder nicht in feiner Macht, den vereinbarten modus vivendi aufrecht zu erhalten. So dauerte ber Kriegs: zuftand fort. Ein Zuftand der Verfügungen und Erlaſſe, während, wie bie Oberlandſchulbehörde in vielfahen Schreiben betonte, „bie auf Grundlage der beſtehenden Gefegbeitiimmungen herrſchende Ordnung noch feiner legislativen Aufhebung oder Neform unter zogen worden.“ Die Kreierung (durch Neichsratsgutachten vom 12. Ian. 1887) eines Volfsfchuldireftors und vier neuer Inipek toren, denen die Landſchulen „aller Benennungen“ unterftellt wurben, ſchuf in dieſem Zuftand feine Anderung.

Die Einführung der ruffiihen Unterrichtsfpradye auf dem Wege einer fchrittweilen Verdrängung ber alten Volkſchule durch die Minifterfchule, konnte nur fehr langlam vor fid) gehen. So war der Kurator genötigt den Ummeg abzukürzen. Er fnüpfte in diefer Angelegenheit an die bereits pendente Lehrerfeminarsfrage an. Am 27. Januar 1885 hatte er ber Nitterfchaft die Reor— ganifatiou der Ritterfchaftlihen Seminare auf der Grundlage des Kurskſchen Lehrerfeminars vorgefchlagen, die Nitterihaft Hatte in: beffen nad) diefem Statute fein Verlangen getragen. Im Juli 1886 erſuchte der Kurator die Oberlandſchulbehörde den ruſſiſchen Sprachunterricht in den Lehrerjeminaren foweit zu verftärken, daß bie Abjolventen der Anjtalt fähig würden, den Unterricht ir den

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Volksſchulen ruffiih zu erteilen. Im November ftellte er diefelbe Forderung als Bedingung eines Meiterbeftehens der Seminare. Auf den Hinweis der Oberlandfdulbehörbe, daß folange ber Unters richt in ben Volkoſchulen im eſtniſchen und lettiſchen erteilt werbe, ben Lehrern eine folde Kenntnis nicht von Nöten fein könne, antwortete der Kurator, daß der Gemeindeſchule allerdings bie Mutterſprache belaſſen werden müſſe, ber Unterricht in ben Parochialſchulen aber in der ruffiihen Sprade zu erteilen jein werde. Obgleich anzunehmen war, daß der Kurator einen fo eindeutigen und folgenſchweren Ausſpruch nicht gänzlich auf jeine Hand getan hatte, bewog die Wichtigfeit der Sache den Landmar: fall, dem Staatsſekretär Deljanow die ſchädliche Wirkung diefes Schrittes und feine überflüffige Härte darzulegen. Diefe und alle übrigen feit langem ſchwebenden Fragen, fanden ihre ũberraſchende Löfung in den temporär ergänzenden Negeln vom 17. Mai 1887,

Die temporären Regeln verrieten eine nahe Verwandſchaft mit ben Maßnahmen vom April 1886. Durch die Hegeln waren die den Maßnahmen innewohnenden Möglichkeiten verwirklicht, die in ihnen enthaltenen Unklarheiten zu bewußtem Dualismus gefteigert, die von dem Aurator geübte Praris bes willfürlihen Eingriffes legaliſirt. Der Dualismus und das Fehlen jeder feſten Kompetenz: beftimmung entiprechen bem Zwed bes Gefepes, die unumſchränkte Machtvollkommenheit der Negierungsorgane mit ber Ausnugung ber örtlihen materiellen und geiftigen Kräfte zu vereinigen. Cine Charafterifiit des Geſetes geben im weſentlichen die nachſtehenden Befliimmungen. Vehufs einer gemeinſamen Verwaltung ber Volt» ſchulen durch die Negierungs: und Selbftverwaltungsorgane traten in die Oberlandſchulbehörde der Direktor der Vollksſchulen, in die Kreisſchulbehörden die VBolfsihulinfpeftoren als ftändige Glieder ein, ebenfo in jebe diefer Behörden ein zweites vom Kurator ernanntes Glied des Unterrichtsreiforts. Der Einfprud eines Regierungs- repräfentanten inhibierte Die Majoritätsbeſchüſſe und überwics fie der übergeordneten Inſtanz. Klagen gegen die Behörden gelangten an den Minifter der Volsaufflärung. Den Jnſpektoren fiand die vorläufige Anjtellung und Abfegung der Lehrer zu, welche ben Inſpekloren direkt unterftellt und zu unweigerlicher Erfüllung der infpeftorialen Anordnungen verpflichtet waren, Die Inſpekloren waren ferner berechtigt von ſich aus Verbeſſerungen und An»

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derungen in den Schulen vorzunehmen. Die den Selbſtver⸗ waltungsbehörden zugeſtandenen Bejtätigungsrechte waren praktiſch ohne Bedeutung, da bie vorläufigen Verfügungen durd) feine Zeit: grenze beichränft waren. Die Umwandlung von Parochial- und Gemeindeſchulen in Miniſterſchulen erfolgte auf Wunſch ber Ge meinde ober einer am Unterhalt ber Schule beteiligten Perſon. Der Unterhalt der neuen Schule erfolgte in derſelben Meile, wie der Unterhalt der Schule, an deren Stelle jie trat, erfolgt war. In den zwei unteren Rlafien der Gemeindeſchulen wurde ber Unterricht je „nad Bedürfnis” in lettifcher, efinifcher oder ruſſiſcher Sprache erteilt, für die dritte Klaſſe der Gemeindeſchulen und die Parochialſchulen war die ruſſiſche Unterrichtsiprade obligatoriſch. Die ftändifchen Organe waren verpflichtet, die Tätigfeit des Volte- ſchuldirektors und feiner Iufpeftoren in jeder Weiſe zu fördern. Die Nitter- und Landidaft, die im Juni 1887 verfammelt war, mußte zu ihrem tiefjtem Vebauern ber Überzeugung Raum geben, daß die neuerlaffenen Negeln alle und jede Hoffnung auf eine fernere frudtbringende Teilnahme der Nitter- und Landſchaft an der Verwaltung des Vollsſchulweſens ausſchloſſen. Sie erfannte in dem meuen Gejege ein das Volksſchulweſen in feinen Grund: feilen erihütterndes Prinzip, weldyes die jeilherigen Xeiter bes livländiſchen Volksſchulweſens fi anzueignen füglih nicht ver- möchten. Die Lahmlegung der Celbjtverwaltungsorgane, die Trennung der Schule von Haus und Kirde und die Verbannung der Voltsipragen aus ber Schule, mußten jedes Intereffe der Nitter: und Landſchaft an der foldergeftalt entnationalifierten Schule vernichten. Der Landtag verfügte die Schließung der ritterihaft- lien Lehrerieminare in Walt und Dorpat und beauftragte den Landmarſchall: dem Dlinijter der Volksaufllärung zu deflarieren, daß- die Ritterſchaft auf ihr durch die betveifenden Paragraphen des Provinzialrechts gemährleiitetes Net, an der Errichtung, Er- haltung und Verwaltung ber Landvolkoſchulen Teil zu nehmen zu verzichten fid) genötigt jehe, und folglid) den Diinifler erjuche ers wirken zu wollen, da in Ergänzung der emanierten Negeln die faktiſch lahm gelegten Organe der Landſchulverwaltung förmlich aufgehoben würden. Am 20. Juli überreichte der Landmarſchall dem Miniſter ber Volksaufllärung die Deukſchriſt der Ritterſchaft. Die Dentihrift betont die jpwere Kränfung, die durch bie Ein:

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führung ber ruſſiſchen Unterrihtsiprache in die Schufe eines Volfes, das ſich als folches fühle, der bäuerlichen Bevölkerung zugefügt werde, und ſchloß mit der Bitte um Liberierung der Nitter- und Landihaft von der Verwaltung. Der Minifter ber bas kurze Begleitſchreiben ſogleich durchleſen hatte, fagte, er begreife bie Ritterſchaft und diefen Schritt nicht. Die Angelegenheit ſchien ihm Sorge zu bereiten, und nad) längerem Befinnen fragte er: „Was foll ich feiner Majeſtät vorſchlagen?“ Der Landmarſchall erflärte dem Miniſter, wie die Nitterichaft ſich wohl bewußt fei, daß dieſer Schritt mit vielen übrigen in ſyſtematiſchem Zuſammen⸗ hange jtände, indefien wenn ©. Majeftät Kenntnis erhalte von der Tragweite des gegen bie Nitterichaft eingehaltenen Verfahrens, fo hoffe jie von Seiner Gnade Nemedur zu erhalten. Der Minijter verfprad daraufhin die Denkfchrift vorzulegen.

In jeder Beziehung übertrafen die temporären Negeln die Erwartungen ihrer Schöpfer. Soweit fid) diefes aus dem Rund» i&reiben des Kurators vom 6. November erjehen läßt, war er über das neue Gefep ber Meinung geweſen, „daß feine Anwendung feine Schwierigkeiten bereiten fan, wenn man die Sache wie fie wirklich ift anfieht, ſich nicht vermeintliche Hinderniſſe ſchafft und nicht künſtlich Schwierigkeiten hervorruft. Es iſt nur nötig, ſich dem Gefep und denjenigen Intereſſen von hervorragender Wichtig- teit gegenüber, bie es berührt, mit Achtung zu verhalten, es iſt nur nötig, alles der Schule Fremde zu bejeitigen uud das eine Ziel im Auge zu haben: die ſittliche und geiflige Entwidlung der Kinder, welche die Eltern mit Vertrauen in die Schule ſenden.“

In jeinen Wirfungen unabhängig von ber Anfiht des Kurators, hatte das neue Gefept eine Stockung des Voltſchullebens zur Folge gehabt. Die Oberlandidulbehörde hatte den Beginn des Unterrichts in den Parochialſchulen bis zum äußerjten jtatthaften Termin hinausgefchoben, da fie feine Möglichkeit jah dem Geſetze ger mäß den Unterricht in einer Sprache erteilen zu laffen, die weder Lehrer uoch Schüler veritanden, im übrigen hatte fie ſich darauf beſchränkt jeden Konflitt mit den Negierumgsorganen zu vermeiden. Die örtliden Echulautoritäten ſchlugen vielfad den Ausweg der Schulz ihliegung ein, 32 Parochialſchulen waren aus den verſchiedenſten Diotiven, zumeiſt aber in Velorgnis um das Cigentum ber Kiche an den Schulen, und im Hinblid auf bie Forderung

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der ruſſiſchen Unterrichtsipradhe geichlofien worden. Auch bie Kinder, welche die Eltern mit Vertranen in die Schule fenden, begannen weniger vollzählig zu erideinen. Durch wiederholte Ers laſſe, deren ervegter Ton unter andrem eine Injurienflage der Nitter- ſchaft bedingte, fuchten der Gonverneur und Kurator die Schulver lungen zu regeln. Die durch dus neue Geſetz geſchaffene Frage des Eigentumsrechtes an den Parochialſchulen bemühte ſich der Gouverneur dadurd) zu präjudizieren, daß er den Ordnungsrichtern vorſchrieb, den Parochiallehrern Neverjate des Inhalts abzunehmen, daß fie im Amt eines Kirchſpielsſchullehrers jtehend, die Gebäude und Ländereien der Schule namens der Schulverwaltung, nicht aber namens der Kirche oder einer Privatperſon beſäßen. Im DWeigerungsfalle jollten ihnen Gebäude und Ländereien abgenommen und einem Gliede der Schulverwaltung überwiefen werben. Diejer Verfuh die ſchwierige Nechtsfrage gewiſſermaſſen durch ben Scyiedsipruc der Parechiallehrer zu löfen, jcheiterte an der faft einmütigen Weigerung der Parodjiallehrer den Revers zu unters zeichnen und der Sirdjpielsigulverwaltungen bas ihrer Anſicht nad) der Kirche gehörige Laud zu übernehmen.

In vieler Hinfiht war der Gouverneur eine zwar neue, „aber weſentliche Eriheinung des Schullebens geworden. Er jegte auf adminijtrativem Wege Lehrer ein und verhinderte auf demjelben Wege ihre Abjegung. Die Druderei, in der die Oberlandſchul— behörde den Landtagsihluß in Sachen des Volkoſchulweſens hatte druden laſſen, wurde geſchloſſen, die übrigen Drudereien erhielten Weiſung für die Oberlandſchulbehörde nicht ohne Zenjur zu drucken. Ebenjo waren ber Vollsſchuldireltor und die Inſpektoren in fieberz hafter Tätigkeit ; fie jegten Lehrer ein und Lehrer ab, ohne Das durch den ruhigen Gang des Schulweſens wejentlid zu fördern.

Cine Folge ihres Eifers war das Auftreten von Lehrern mit Gage ohne Amt, und mit Amt ohne Gage. Dem einzigen Verſuch, der gemacht wurde, die ruſſiſche Unterrichtsſprache prak— niſch durchjuführen, bereitete die gänzliche Verftändnislofigfeit der Schüler ein ſchuelles Ende. Die Negierung ſah fih genötigt zu paftieren, der Gouverneur verzichtete auf jein Neverjalverfahren und trat wieder in den Hintergrund, der Kurator erklärte, daß feine Reform mit einem Schlage durchgeführt werden könne; durch einen minijteriellen Erlaßz wurde die Einführung der ruſſichen

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Sprache in jedem einzelnen Falle dem Ermeſſen des Rurators an— heimgeftellt und bie endgültige Durdführung des Prinzips auf drei Jahre hinausgefchoben. Zugleich wurde die Eröffnung fänt- licher Parochialſchulen anbefohlen. Danad) jegte fid der gewaltige Mechanismus des Volkoſchulweſens langſam wieder in Bewegung nad) dem Geſetz der Beharrlichfeit, nad) weldem er fid) während der ganzen Zeit in aller Ruhe in ben Orten bewegt hatte, wo die Inſpektoren nicht hinfamen, und ihre Schriftjtüde als unverſtänd⸗ lich bei Seite gelegt wurden.

Hunbertfünfzig Snipektoren wären, nad) den Worten bes Kurators, nicht im jtande die Arbeit der Voltsihulverwaltung ohne die ſtändiſchen Organe zu leiften. Gegenüber den Lebensan- forderungen bes Schulorgauismus ‚hatten fi) die geringen bureau— tratiſchen Kräfte als unzureichend, erwieſen. Nachdem die tem— porären Negeln jede Dlachtbefugnis der Eelbitverwaltung ver— nichtet hatten, ſah fid) die Vureaufratie außer ftande das Erbe anzutreten. Es galt daher durd) einen Rompromiß den ſtörrigen Selbjtverwaltungsförper gefügig zu machen, und ber Nurator ber mühte ſich abermals und aus volljter Übergeugung um eine Ver- föhnung. Die Liberierung der Nitterfchaft von der Mitverwaltung des Schulwejens, meinte er, würde einen unmöglichen, das Schul- weſen ſchädigenden Zuftand ſchaffen. Schon das verfloifene Jahr, während deſſen die Ritterſchaft der Volkoſchulverwaltung fernge— ſtauden, müſſe als ein verlorenes Jahr betrachtet werden und das Schulweſen ſei bedeutend unter das frühere Niveau herabgeſunken. Er lehnte jede Verantwortung für das Zujtandelommen der tem: porären Negeln ab, und veriprad), da das Geſetz jo bald nicht ab- geändert werben könne, eine Handhabung bes Geſetzes, die in der Praris alle Bedenklichkeiten bejeitigen würde. In Petersburg jelbit herrichte in den maßgebenden Kreifen des Miniſteriums ber Volks— aujflärung eine gewiſſe Natlofigfeit, die Antwort auf das Geſuch der Yitteridaft wurde hinausgefchoben. Der Landmarſchall drang auf eine Abänderung der temporären Negeln und die Aus arbeitung eines befinitiven Gefegeo mit Berückſichtigung ber ritter- ſchaftlichen Vorſchläge. Indeſſen jo allgemein vie Unvolltommen- heit der temporären Regeln zugegeben wurde, ebenfo allgemein war der Wille den getanen Schritt nicht zurüdzutun. Offiziell fand dieſer Wille dahin jeinen Ausdrud, dab man die Wirkung

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ber temporären Negeln genau zu beurteilen im ftanbe fein müſſe, ehe ein definitived Gefeg entworfen werde. Von diefer Wirkung, wie fie fi) nad) dem Ablauf der erften jtürmijchen Zeit zu äußern begonnen hatte, fonnte fi) der außerordentliche Landtag vom Dftober 1888 an der Hand des Berichts ber Oberlandſchulbehörde übergeugen. Laut diejem Bericht bedingte das Gejeg bie abjolute Gefeglofigteit und beichränfte die Machtbefugnis der Selbfiver- weltungsbehörben auf genau das “Maß, welches der Kurator und feine Untergebenen ihnen zugeftehen wollten. Bu irgend einer pofitiven Arbeit waren fowohl die jtändiichen Behörden, mie bie Negierungsorgane, allerdings aus veridiebenen Gründen, unfähig. Es bejtand nicht mehr als der Schein der alten Ordnung, der ges ſchont wurde, um unter der alten Flagge mit neuer Ware zu jegeln; die Organe der Selbjtverwaltung dienten nur dazu durch ihren guten Ruf die neue, konfeſſionsloſe Sprachſchule und deren Verwaltung zu deden und das Landvolk über die vollzogene Ummwälzung zu täufhen. „Die livländifche Landvolksſchule, welche die Nitterjhajt und Geijtlifeit als kirchliche Anjtalt bes gründet und geleitet haben, fie exiſtirt nicht mehr.“

Angefichts diefer traurigen Erfüllung feiner Vorausſicht uns in der Erwägung, daß das Geſuch der Ritters und Landſchaft um Liberierung von ber Verwaltung noch immer unbeantwortet war, beauftragte der Landtag den Landmarſchall dahin zu wirken, daß die temporären Negeln durch ein definitives Geſeß erjegt würden, weldes eine gedeihliche Mitarbeit der Ritterſchaft und ber Geiſi⸗ lichteit ermõgliche. Die Antwort, die auf diejes Gejuc erfolgte, beließ der Ritterſchaft die Laft einer fremden Zwecken dienenden Voltsichule und die Hoffnung auf eine beijere Zukunft. Es wurde ihr mitgeteilt, daß ihre Teilnahme an der Volksſchulverwaltung aud) fünjtighin nicht anders als auf Orundlage der durch das Geſet vom 17. Mai jeitgejegten Negeln erhalten werden könne, daß fie aber, wenn fie rechtzeitig ihren Wunſch einer weiteren Teilnahme äußern jollte, jeiner Zeit mit den Nitterfchaften der Gouvernements Ejt: und Kurland zur Teilnahme an der Auss arbeitung eines definitiven Gejeges aufgefordert werden würde. Durd) diefen Beicheid und die Ablehnung jämtlicher Eigentume: und Rechtoklagen in Sachen des Vollsſchulweſens war der Regierung der materielle Beſiand der neuen Volksſchule joweit gefihert, daß die

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Regierungsorgane ſich ausſchließlich der Fruchtbarmachung dieſer Schule für ihre Zwecke widmen konnten. Die Wirkſamkeit und das Intereſſe der Inſpektoren richteten ſich vornehmlich auf die Hebung der ruſſiſchen Spradjfenntnis und die Einbürgerung der Vorſchrifts- mäßigen Gefinnung in der Volkoſchule. Nicht immer wurden ba- bei auch die nächitliegenden übrigen Intereſſen der Schule berück- fihtigt. Ein treffendes Beiſpiel hierfür bieten die Sommerkurfe, deren Beſuch zweds Erlernung der ruffifchen Sprache den Lehrern zur Pflicht gemacht wurde, und die, in die Erntezeit fallend, das Brot der Lehrer in gleicher Weile wie den Nepetitiong- und Haus— unterricht jchmälerten. Diejer fonnte, als dem Programm ber neuen Schule gänzlich fernftehend, die Sympathie der Negierungs- organe nicht beanfpruden. Die Beurteilung des päbagogiihen Rönnens ber Lehrer aus denſelben Gefichtspunften hatte die, Ab— jegung der alten Lehrer, und das Auftreten junger, vielfah unge- iulter Kräfte zur Folge, trogdem begann danf den malienhaften Verabſchiedungen der Lehrermangel chroniſch zu werden. Der Ein— fluh der ftändiihen Schulautoritäten wurde zu unten eines direften Verkehrs der Iuipeftoren mit den Schullehrern zurüdges drängt ; der Neligionsunterriht auf die Rolle eines Nebenfaches herabgedrückt und gelegentlid, trogdem feine Leitung offiziell ber lutheriſchen Geiftlichfeit verblieben war, von den Juſpektoren in etwas befremblicher Weife infpiziert. Wo noch die Beziehungen der althergebradhten Tradition fortwirften, mar ein Einfluß des Predigers auf den Lehrer und ben Neligionsunterricht vorhanden, doch war er rein perfönliher Natur. Das Wahlreht ber Ger meinden wurbe von einigen Inſpektoren berüdjichtigt, von andren je nad) Belieben auch unberüdjichtigt gelaſſen. Die Kreislandidul: behörden und bie Oberlandjchulbehörde erfuhren nur gelegentlich von den Plänen wıd Handlungen ber Negierungsorgane, da die Injpeftoren, jeitdem,ihre Schriftitüde translatiert und geleien wurden, und nachdem fie ſich über ihr Wirkungsgebiet im großen und ganzen orientiert hatten, mit ihren Schreiben zurüdhaltender ges worden waren. In manden Fällen mußte bie Löſung bes Bandes zwiſchen Schulverwaltung und Schule von den Inſpektoren ſelbſt als jlörend empfunden werden. in Juſpektor beflagte ſich bei der Areislandichulbehörde, daß zahlreiche Lehrer ohne jegliche Legi- timation unterridteten. Die Behörde beauftragte die Schulver-

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waltungen, berartige ungeſetzliche Zujtände nicht zu bulben, doch erklärten ſich diefe außer jtande folden Unfug zu befeitigen, ba fie nicht einmal erfuhren, wer als Lehrer berechtigt fei, noch auch die Dlittel bejähen, ſolche zu befeitigen. Es läßt ſich bezweifeln ob bei der großen Zahl der den Inſpektoren unterftellten Schulen, dieſe felbjt eine genaue Kenntnis dev von ihnen angeftellten Lehrer befajen. In jebem Falle waren bie Inſpekloren gänzlih außer ftande eine die Grenzen des Unterrichts überſteigende Kontrolle über die Schulen zu führen, welde in ben langen Infpeftionspaufen, nachdem ben örtlihen Schulautoritäten die Macht genommen, unb nur der Schein geblieben, tatjächlic ohne jede Auffiht waren. Die Schulverſäumniſſe nahmen erſchreckende Demenfionen an und machten den obligatorifchen Schulgzwang zur Phrafe, ebenfo be: gannen die Gemeinden, der altgewohnten Kontrolle entrüdt, die Subfültenzmittel der Schule zu jhmälern, mit jteigender Tendenz je mehr das Änterefje der Gemeinden an der Edjule erfultete, und feine Autorität, auch nicht der Jnipektor, war im jtanse folches zu hindern.

Auf den Allerhöchſien Entſcheid vom Februar 1889, betref⸗ fend das Geſuch der Niterihaft um Abänderung der temporären Regeln, hatte der Landtag vom März 1890 beſchloſſen, zunächſt feine Schritte zu unternehmen, da die Nitterihaft bie Unmöglid: feit, unter ber Herrichaft der temporären Negeln an der Verwal tung in erjprießlicher Weiſe teilzunehmen, bereits konſtatiert und deklariert habe. Doch wurden die Oberfird;envorfteher beauftragt, den Entwurf eines definitiven Gejeges für die Verwaltung des Volkoſchulweſens als Vorlage für den nächiten Adelskonvent aus— juarbeiten. Der Entwurf, welder dem delsfonvent vom Januar 1891 vorlag, ſuchte bie Anfprüche der Regierung mit der Möglich: feit einer ehrenamtlichen Wirkſamkeit zu vereinigen. Die unmit: telbare Leitung und Kontrolle der Schulen ſollte den Schulverwals tungen wieder übertragen werben, da bie direkte Aufficht der Schulen durch die Injpeftoren ſich bei ihrer geringen Zahl als undurdführbar erwiejen hätte. Den Inipeftoren follte Dagegen ein weitgehendes Aufſichtsrecht über die MWirffamfeit der Selbftvers maltungsorgane zugeſtanden werden. Dem Neligionsunterricht jollte die gebührende Stellung eingeräumt, die Mutterſprache bes Zandvoltes in allen Parochial- und Gemeindeſchulen als Unter

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ridıtsipradje verbleiben, bei ber Erlernung ber Reichsſprache nach Maßgabe der vorhandenen Kräfte. Das Wahlrecht der Gemeinde follte betont, ber obligatoriſche Unterricht durd) zweckentſprechende Maßnahmen wieder realifiert werben. Der Landmarfchall wurde beauftragt, eine Einigung mit ben Nachbarprovinzen auf Grund des Entwurfs anzuftreben und gemeinfam mit ihnen, oder allein mit ben Organen ber Staatsregierung, in Verhandlung zu treten. Nachdem der Landmarſchall fih mit den Vertretern der Ritters ſchaften von Ejt- und Aurland in Einvernehmen gefegt hatte, über: gab er bie auf Grundlage bes Entwurfs ausgearbeitete Denlſchrift dem Kurator Lawrowskij zur Begutachtung. Der Kurator wollte die Angelegenheit bis nad) der Semitwoeinführung, bie damals wie heute in der Luft ſchwebte, verſchieben. Der Landtag vom Februar 1893, dem ein fo gemächliches Verfahren nicht wünſchens— wert erſcheinen fonnte, beauftragte ben Landmarſchall, eine baldige Prüfung der ritterſchaftlichen Vorſchläge zweds eines definitiven Volfsichulgefeges zu veranlafjen, mit der Begründung, daß bie Ritterſchaft die Verantwortung für den rapiden Verfall der Volks: ſchule nicht länger tragen Fönne. Am 11. November übergab ber Landmarſchall das Diemoive in dieſer Angelegenheit dem Miniſter ber Bolfsaufklärung und nahm mit dem Departementschef Anitſchkow darüber Rüdiprahe. Doch waren die Auslalfungen beider über den Gegenſtand fo wenig ſachlicher Art, daß fi) aus ihnen über ihre Stellung zum Neformprojeft nichts entnehmen ließ. Auch der Kurator hatte mittlerweile ein Reformprojeft ausgearbeitet und es dem Minifterium ber Volksauftlärung zugleih mit dem ihm jeinerzeit übergebenen Projekt der Nitterjchaft überjandt.

Im Herbft 1895 trat darauf im Minifterium ber Volfsaufs Märung unter dem Vorſitz des Petersburger Kurators Kapuſtin eine Kommiſſion zujammen, der bas Projelt Lawrowekijs zur Veprüfung übergeben wurde. Am 19. Dezember wurde das von der Kommiffion überarbeitete Projeft im Auftrage des Minifters des Innern dem refidierenden Landrat zur Begutachtung überfandt. Diefes Projeft war in allen Punften eine Berfchärfung der tem- porären Regeln. Indem es den Zonfejlionellen und nationalen Charakter der Schule bis auf den legten Schein zerjtörte, und nicht einmal dem Neligionsunterricht unzweideutig die Mutterſprache beließ, drüdte es zugleid die ſtändiſchen Kräfte auf das Nibeau

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eines bfoßen Yandfangerdienftes hinab, und nahm gleichwohl bie materiellen Mittel derſelben in verjhärftem Maße in Anſpruch. Es wurde daher der Landmarſchall vom Landtage des Februars 1896 beauftragt, mit allen Mitteln für das Ausarbeiten eines neuen Projefts unter der Hinzuziehung ritterfchaftlier Delegierter zu wirken, indem ber Lonfeffionelle Charakter, ber Unterricht in ber Mutterfprache, wenigitens in den Gemeindeſchulen, und ein maßgebender Einfluß der Nitterfchaft, der Landgemeinden und ber Geiftlichfeit auf die Verwaltung der Volkoſchulen gemwährleiftet würbe.

Wie fhwerwiegende Gründe es waren, welde bie Sorge der Rillerſchaft um die Sade der Volkoſchule nicht ermatten ließ, möge bie gleichzeitige Bitljchrift ber Schulälteften von Fellin-Land veranſchaulichen. In ihr heißt es: „Mit Herzihmerzen müffen wir zuſehen, wie die Volkoſchulen, welde mit jo großen Opfern feitens des Volkes unterhalten werden, mit jedem Jahre ſich verſchlechtern. Obgleich die Schulkinder mit bitteren Tränen ihre Bücher benegen, jo fönnen fie doch feinen Nutzen aus denfelben ziehen, weil bie Sprache der Schulbücher ihnen fremd iſt und der Lehrer fie in einer unverjtändlihen Sprache unterrichtet. In feinem Lehrgegen- itande fönnen die Kinder ſolche Fortſchritte machen wie früher. An Stelle der früheren regelmäßigen Aufſicht von feiten der Schulverwaltung der örtlichen Autoritäten der früheren Organi- fation, erſcheint jegt nad) Jahren der Schulinipeftor zur oberfläch- lichen Nevifion der Volfsichulen und verlangt mit der größten Strenge mehr und mehr ruffiih. Kaum Hundert Tage im Jahre, abzüglidy der Kirchen- und Kronsfeiertage, beſuchen unſre Kinder die Schule; die 11jährigen Kinder müſſen drei Winter die Schule beſuchen. Solchen Kindern ift dringend nötig die Mutterſprache beizubringen, bevor ber Lehrer einen ſyſtematiſchen Unterricht ans fangen kann, aber jegt fordert der Volkoſchulinſpeklor, man darf die Kinder nur in ruſſiſcher Sprade lehren! Nad dem Schluß des Unterrichts kehren fie in die Familien zurüd, wo ruſſiſch weder verjtanden nod) geiprodyen wird, und vergejien die wenigen auswendig gelernten ruſſiſchen Wofabeln und Phrafen und vers ſiehen weder ruſſiſch mod die Mutterſprache, noch fonft was. Unfer Volt läßt fehr gerne die Kinder jremde Sprachen lehren, befonders aber die ruſſiſche Sprache, fie ift in Zukunft den

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Kindern notwendig, aber mit ſolcher Strenge und auf Koſten andrer Lehrgegenjtände und ber allgemeinen Bildung, mie es gegenwärtig in unfren. Schulen projeftiert wird, das ift unſren Eltern und unfrem Volle unausſprechlich ſchwer und traurig, und das Volk drüdt feine Unzufriedenheit gegen die Schulen auf ver: fchiedene Meile aus: z. B. die Kinder werben unregelmäßig zur Schule geſchickt, die Beiträge zur Erhaltung der Schulen zahlt man ungern und änßerjt unregelmäßig, die Gagen der Schul» lehrer werben unaufhörlich herabgefept, die Schulen werden ge- ſchloſſen, die Liebe verihwindet und die Schule wird in Zwangs- maßregeln umgewandelt, und all das Nefultat in nächſter Zukunft ift: Mangel an guten Schullchrern und Lafterhaftigleit der jungen Generation. ...“ (Zitiert nad) dem Translat, 18. Feb. 1896).

Das Schreiben ſchließt mit der Bitte um Einführung ber Mutterſprache und einer evangeliſch-lutheriſchen Schulobrigleit. Am 17. Mai 1896 wurde das ritlerſchaflliche Memorial mit der ausführlichen Kritit des Gefegentwurfes, und mit gleichzeitiger Mitteilung des Yanbtagsichluffes, dem Gouverneur zur Vorftellung an den Minifter des Innern zugefandt. Milllerweile war bereits dns Neformprojeft in den Alten des Miniiteriums der Vollsauf- tlärung verjunfen, das Memorial der Nitterihaft aber verblieb, ſoweit es ſich fonitatieren lieh, bei ben Akten des Gouverneurs.

Die Qualität des Yehrermaterial® war feit dem November 1885 ftelig gejunfen, endlich wurde durch einen minifteriellen Erz {aß vom April 1897, welder die Altersgrenze der Lehrer von 21 auf 17 Jahre herabfepte und ihren Vefähigungsnadhweis allein auf die Kenntnis der ruſſiſchen Sprache beſchränlie, der nach und nad) eingetretene Tiefitand offiziell ſanktionirt. Dieſer Erlaß ber wog die Nitterichaft unverzüglich alle zu Gebote ſiehenden Mittel in Anwendung zu bringen, um an Allerhöchjfter Stelle für die Dar- ftellung der in Betreff der Vollsfchule geſchaffenen Zuftände Gehör zu finden. Im Auftrage des Adelsfonvents vom Mai 1897 übers reichte darauf der Landmarſchall Er. Majeſtät die Suplik der Ritter: und Laudſchaft, welde Die Bitte einer Eriegung ber temporären Regeln durch ein befinitives Gefeg, mit den leitenden Grunbfägen des konfeſſionellen Charakters, der Mutteriprade und der Ermöglidung einer nugbringenden Tetlnahme der Selbjtverwaltungsorgane, aus: drücte, jowie, daß die gegenwärtigen geltenden temporären diegeln

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von 1887, welche die religiös-ſittliche Erziehung des Volkes nicht fiherfteflten, die livländiſche Nitterichaft der Möglichkeit, an ber Verwaltung teilzunehmen, beraubten. Der Landmarſchall fand am 1. November bes Jahres Gelegenheit, Sr. Dajejtät in gejonderter Audienz bie Bitte der Nitterfchaft auszufpreden. Am 10. Dezember 1897 wurde dem Landmarſchall durch den Dirigierenden der Kanzlei Sr. Majeftät der Allerhöchſte Entſcheid übermittelt, das Geſuch der Ritterſchaft ohne Folge zu lafjen.

Nachdem dergeftalt der Ritterſchaft dort, woher fie fo Tange Zeit die Hülfe erhofft hatte, feine Hülfe geworben, beſchloß ber Landtag vom März 1898 jdweren Herzens abermals um die Liberierung von der Verwaltung nachzuſuchen, und die Oberfirchen- vorjteher und Kirchenvorſteher, denen ein tätiges Intereſſe an der Voltsihule nicht mehr zugemutet werden fonnte, aufzufordern, ſich im Verein mit der Geiſtlichleit um die Förderung des Haus und Konfirmationsunterrichts in jeder Weije zu bemühen.

In einer zweiſtündigen Unterredung fegte der Landmarſchall dem unlängit ins Amt getretenen Minijter der Volksaufllärung bie Lage der livländiichen Volfsihule und den Wunid) der Nitter- haft, von der Verwaltung diejer Volkoſchule befreit zu werden, auseinander. Mit dem Hinweis auf Armenien und Polen begrün- dele der Miniſter die Unmöglichfeit, von ben ſeither vom Staate vertretenen Grunbjägen abzumeichen, meinte aber gleidwohl, daß die Liberierung der Nitterichaft von der Teilnahme an der Volfs- ſchulverwaltung ſchwerlich fonzediert werden Fönne. Auch im Oftober und November des Jahres gelang es dem Landmarſchall nicht, eine definitive Antwort zu erlangen. Der Gefepentwurf von 1895 war wieder aus den Alten erjtanden und auf jeiner Grund— lage beabjichligte der Mlinifter ein neues definitives Wejegesprojekt ausarbeiten zu fallen. Er wollte Sr. Majejlät die Frage zur Entfcheidung vorlegen, ob es nicht zwedmähig wäre, bei der Abe faffung des Projekts ritterfchaftliche Delegierte hinzugugiehen. Das Geſuch um eine formelle Befreiung der Nitterfchaft von der Teil- nahme der Vollsihulverwaltung wurde der Landmarſchall gebeten bis zur Fertigitellung des Geſetzes zu verjdieben. Im Juni 1900 war die Wejepfommiffion in Tätigkeit. Cine fonfidientielle Ber ratung, mit den Vertreiern der baltifchen Nitterfchaften war in Yusfit genommen, aud) war der Kurator Schwarz beauftragt,

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das Projeft wit ben Dertretern ber Nitterfchaften zu beſprechen. Die Meinung des Kurators ging dahin, Daß es unter ben befter henben Verhältniffen am zwwedmäßigften wäre, wenn bie ritter- fchaftlichen Organe aus ber Verwaltung auoſchieden.

Der neue Gefegentwurf trug in gleicher Weiſe wie bie tem+ porären Regeln und das Gejegesprojeft von 1895 ben bereaufra- tiſchen, konfeſſionsloſen und antinationalen Stempel, und unterfcied fi von feinen Vorgängern lediglich durch den ſchärferen Ausdruck diefer Tendenzen. Auch diejes Projeft blieb indefien in ben Alten, unb bie 1893 erweiterten und fobifigierten temporären Regeln herrſchten nad) wie vor.

Während all dieier Zeit waren Volfsihuldireftoren und Ins fpeltoren, deren Zahl langiam geitiegen war, in der Pflege ber Landvolloſchule nicht ermattet, wie wir Diefes aus nachſtehendem Zirkular vom 1. März 1901 entnehmen fönnen, in dem eo heißt: Punkt 6. Die Schulmuſeen mũſſen jedes Jahr vervollftändigt und die Reichsſprache demgemãß grünblicher gelernt werben. Beſondero muß die veraltete Überſezungoweiſe ganz abgeſchafft und nur die natürliche Zehrweife benugt werden, dabei muß darauf Gewicht gelegt werden, daß das Kind ſich vom eriten Vetreten des Schul- zimmers an an das lebendige Nuffich gewöhnt. Für die Sauberfeit der Schulzimmer muß bejonders Eorge gelragen werden. Der Lehrer muß den Inſpektor rechtzeitig davon in Kenntnis ſehen, wenn er feine Stelle wechſeln will. Berichte über feine Befoldung muß der Lehrer jedes Jahr dem Gemeindebevollmächtigten ſchrifllich einreihen und dabei für die Erhöhung feiner Gage felbjt Sorge tragen. Dazu darf er aber feine gefegwibrigen Mittel anwenden, ſondern muß ſich nad) den örtlichen wirtſchafilichen Verhältniſſen einriten. (Dünazdtg. vom 1. März 1901*.)

Gleich der livländiſchen Landvolksſchule liegt heute auch der Gebante einer allmächtigen Bureaufratie, dem fie im Kampfe unterlegen it, in den legten Zügen die freie Entfaltung des Lebens ift auf der Tugesordnung. Am 22. April 1905 ift bem Präfidenten des Pliniiterfomitees Staatsjefretär Witte die Dent- ſchrift der Livl. Ritterſchaft, betreffend die Vollsſchule, überfandt

*) Einzelne Iettifche und eitnifche Blätter, ſowie di ſt. Wedomofti” Gaben ſich in Leyter zeit um die Verbreitung einer Kenntnis des jegigen volis.

fyulwefens verdient gemacht, «$ in daher en näferes Eingehen auf Dicfe Frage faum vonnöten.

Um bie Koländifche Voltsſchule. 48

morden. Die Denkichrift fchließt mit den Worten: „Noch einmal macht die linlänbijhe Nitterichaft im vollbewußten Intereſſe bes Neiches wie auch ber geſehlich ihrer Fürforge anvertrauten engeren Heimat, unter Vorftellung bes herrſchenden Notftandes in ber Voltserziehung, ih mit ber Bitte an die Staatsregierung um MWieberaufrichtung ber Zebensbebingungen ber evangeliſch-lutheriſchen Lanbvolfsichule: Gewährung der Schule als kirchliche Einrichtung, Gebraudy der Mutterſprache als Unterrichtsmittel und fommunale Verwallung bes Voltsfhuhwefens in gemeinfamer Mitarbeit ber Nitterfchaft, Geiftlichfeit und Verlrelung des Bauerftandes.”

Re

Baltiige Monatsleift 1908, Heft 5. 5

Zum Nemoire der Melömarfhälle vom November v. J.

W- befannt, Hatte die Verſammlung der Gouvernements:Ndels- marfcjälle, die vom 15.20. November v. I. in Moskau tagte, auch über bie innere Lage bes Reiches beraten und die Majorität die Ausarbeitung eines Memoires befchloffen, mobei fie fih im Allgemeinen von denſelben Motiven leiten lieh, die auch Fürft Trubepkoj in feinem befannten Briefe an den Minifter bes Innern vom 2. Dezember ausgefproden hat. Dieſes Memoire, zu dem nach und nach 22 Adelsmarjchälle ihre Unterfhrift gaben, murbe dem Minifter des Innern überreicht und gleichzeitig auch den übrigen noch fehlenden Adelsmarjhällen zur event. Mitunter zeichnung überfandt. Dei der Bebeutung folder politifhen Altionen wird es von bejonderem Intereſſe jein, das Antwortichreiben fennen zu lernen, das der livländijche Landmarſchall am 7. Dezember 1904 an ben St. Petersburger Adelsmarſchall, den Grafen Gubomitich gerichtet hat und das er dann am 15. Dezember aud) bem Miniſter bes Innern mitteilte. Das Schreiben lautet:

Hochgeehrter Graf!

Ihr am 2. Dezember in meine Hände gelangtes Schreiben nebft Beilage enthält fo wichtige und ernfte Angelegenheiten, daß ich bereits mittels Telegramm vom 3. Dezember mir Zeit erbitten mußte, und erft jet imjlande bin, Ihnen meine Meinung mitzu teilen, melde, wenngleich nicht auf einem Auftrage ober einer Inftruftion der Livl. Ritterfchaft beruhend, dennoch den Intens tionen berfelben entiprechen dürfte.

Die Wirlungen bes übermäßig angelpannten bureaufratiihen Spflems haben ſich in Livland, gleichwie in den übrigen Teilen des Reiches, in unheilvoller Weiſe geltend gemacht, die ſeit altersher geſchulten Kräfte der Selbitverwaltung lahıngelegt, fowie

Bum Memoire der Adelsmarſchalle. 415

die heranwachſenden jüngeren Elemente zurüdgeftoßen, und endlich das gegenfeitige Vertrauen zwiſchen der Regierung und ben Regierten erfhüttert. Die dem bureaufratiihen Syftem innewohnende Sucht der Heglementierung und ber Uniformität hat insbefondere ſchwer auf Livland gelaftet und zerftörend gewirkt, weil gute und ſegens— reihe Elemente, bie jeit früheren Zeiten exiſtierten, erſtickt worden find.

Diefe traurige Lage ber Negierung bekannt zu geben halte ich für eine Pflicht jedes Gouvernements:Adelsmarjchalls, und in biejer Pflicht fühle ich mich vollitändig einig mit meinen Kollegen, bie aus verfchiedenen Teilen des Reiches ihre Stimmen zu erheben für gut befunden haben, um in biefer ernten Zeit der tiefgehenden Bewegung feinen Zweifel darüber auffommen zu lafien, dab der Adel bes Reiches nicht beifeite zu treten gejonnen ijt, fondern es für feine Heilige Pflicht erachtet, als Erfter darauf hinzuweiſen, was dem Mohle des Volkes dienen fann.

Diefe hohe Aufgabe des Adels beiteht hauptſächlich in der Erziehung aller Bevölferungsidjichten zur Selbftverwaltung, begin: nendb mit ber gewillenhaften und treuen Arbeit im Gut und im Dorfe und aufiteigend 6is zur Wermaltung aller provinziellen Bebürfniffe, und bis zur Wahrung deſſen, was das Wohl ber Provinz erheiſcht. Das ift ein großes Gebiet, das vollftändig zu beherrſchen jehr große Anforderungen an die uneigennügige und geihulte Arbeitskraft aller Beteiligten ftellt. -— Hierin liegt der Kernpuntt jeder weiteren Entwidlung.

Die provinzielle Selbjtverwaltung muß vollftändig angepaßt fein den Vedürfniffen des Landes, und fie muß über ein aus reihendes Material perſönlicher Kräfte zur Ausübung ber öffent» lien Verpflichtungen verfügen, damit eine feite und gefunbe Unterlage für die Gefamtorganifation des Reiches geihaffen werde.

Um diefen Anforderungen zu genügen, gehört fid) der Erlaß von Geſetzen, welde die provinzielle Selbitverwaltung in ihrer Wirkſamkeit unterftügen, ihr freien Spielraum gewähren, damit fie innerhalb der ihr vom Gejeg gewährten Grenzen jelbjtändig ihre Funktionen erfüllen fönne, und vor allem, damit fie geichügt fei vor einer Vevormundung und vor willfürlihen Eingriffen feitens der Regierungsorgane.

Unter Beobachtung diefer allgemeinen Grundfäge lann allein eine gefunde Verwaltung ſich entwideln, und ich fühle mich darin einig mit Ihnen und Ihren Kollegen. Als Dindernis dürfte dabei nicht angefjehen werden, daß verſchiedene Teile des Neiches eine gefonderte Entwidlung genommen haben, bie, unbejchadet ber Neichseinheit, aud) eine bejondere Form der Selbjtverwaltung erheifhen. Noch mehr, dieſe Eigenarten müſſen zur lebendigen Geftaltung des Reichsganzen beitragen, weil die Uniformität der

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416 Bum Memoire der Adelsmarſchalle.

Tod jebes jelbftänbigen Kulturfortſchritts ift. Ganz beſonders muß betont werben, daß der Ausbau ber provinziellen Gelbftver- maltung, ber Schu berfelben vor unberechligten abminiftraliven Eingriffen und bie Ausftattung der Selbitverwaltungsorgane mit den nötigen Machtvollfommenheiten zur felbjtändigen Erfüllung ihrer Obliegenheiten, unerläßlid) erſcheint, um gejunde Zuftände zu ſchaffen. n

Wenn in Vorfichendem bas politifch:adminiftrative Gebiet umgrenzt ift, das einer dringenden Neform bedarf, fo gibt es noch allgemeine Rechte, deren Verwiklichung mit der Sehnſucht bes Voiles zufammenfällt, das ift die Freiheit bes religiöien Ge miljens, ein Poſiulat, welches außerhalb aller politischen Ermär gungen liegen müßte und längit als reif anzujehen ill, ber Schug der Perfon durch Gefege, welche die Beamten in privat rechtlicher und krimineller Hinſicht durch richterlihen Spruch für ihre amtlichen Handlungen haftbar machen, und endlich die Frei heit ber Lehr: und Lerniprade, welche, unbeſchadet ber Anforbe- rungen, die bie Neichsfprade ſtellt, den Eltern geftattet, ihre Kinder in der Mutterſprache zu_ erziehen.

Hier wäre die Grenze deſſen, was von der Staatsregierung erbeten werden könnte; was jenfeils liegt, berührt die Pilichten der oberiten Siaatsgewalt: der eigentlihe und hauptſächlichſte Wirkungsfreis des Adels, der fi bewußt ift feiner Aufgaben und feiner Kraft, die provinzielle Gelbjtverwaltung, als Trägerin eines meiteren Stantsausbaues, jegensreih zu führen, und von biefer Erfenntnis geleitet ſich felbft die Grenze jeiner Wünſche ſetzt, unb bort das allgemeine, autoritäre Neihöprinzip, von bem auf Grund der Traditionen und auf Grund ber großen Verantwortung, welche ihr des Reiches Wohl auferlegt, erwartet werden muß, da es die Initiative zu richtiger Zeit ergreifen wird.

Ih bitte Sie die Mitunterzeichner der von Ihnen dem Herrn Minifter des Innern übergebenen Denkſchrift, ſowie auch die Teilnehmer der allgemeinen Moskauer Adelsverfammiung von diefer meiner Darlegung in Kenntnis zu fegen, und beehre mich binzuzufügen, daß bei meiner bevorftehenden Anweſenheit in der Reſidenz ich dem Herrn Wiinifler bes Innern von dieſem Schreiben Mitteilung machen werde.

Genehmigen Sie uſw. (Folgt die Unterfchrift.)

Bemerkungen zu A. Zobien’s Aufſaß über die Minimal und Marimalbeilimmungen des bänerliden Grundbeiges in Livland.

3" Märgheft biefer Monatsſchrift hat Alerander Tobien Die Minimal: und PDlarimalbeitimmungen über den bäuerlichen in Livland in feſſelnder und anregender Form einer Kritik unterjogen, in wieweit fie bei der bevorfiehenden Grund» iteuerreform in Livland veformbebürftig jeien. Der Verfafler wendet ſich hauptſächlich gegen bie Bejtimmungen der livländiſchen Bauer- verordnung von 1860 (Et. 114 u. 223), welche die Teilung eines Bauerlanbgrunbftüdes in Parzellen, die den Tarıvert von Y/s Hafen 10 Talern nicht erreichen, verbieten. Hiergegen jchlägt er vor, das zu firierende Minimum eines Bauerlandgrundſtückes nur auf das Stammgrundjtü zu beſchräukrn, den Überſchuß aber zur beliebigen Parzellierung freizugeben. Da es fid hier um eine wichtige Frage der agraren Entwidlung unſres Bauernftandes handelt, fo fei es mir geitattet, zumal ich unter einer großen Bauerſchaft lebe, zu diejer Frage, vom Gefichtspunfte der realen Verhältniiie aus, Stellung nehmen zu dürfen.

Tobien Hat in feiner Abhandlung hauptiächlih die Frage der Anfieblung von Landarbeitern auf dem Bauerlande ins Auge gefaßt, und ich fan dieſem Gedanfen umſomehr beiftimmen, als die jüngite Vergangenheit wohl gezeigt hat, daß den Ausführungen Tobiens über ein ſich bildendes landiſches Wroletariat die ernſteſte Aufmerffamfeit zuteil werden muß, zumal gerade die in dem Bauerwirtichaften übliche Yaltung von jog. Sommerlingen (Sailon- arbeitern, die gewöhnlid nur für das Sommerhalbjahr engagiert, im Winterhalbjahr auf den fi gerade bietenden Verdienſt anger wiejen find) leicht zu jolden Wligitänden führen fan, bejonders wenn im Winter feinerlei Arbeitsgelegenheit vorhanden iſt. Jedoch

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aud) in einer andren Beziehung unſeres bäuerlichen Lebens find die bisherigen Beitimmungen über das Minimum Hinderlich. Wie befannt Hat fich die hauptſächliche Ablöfung des Bauerlandes in Livland während einer Zeit landwirtichaftlihen Gedeihens dieſer Provinz abgefpielt, wodurch nicht nur dieſe Ablöfung ſich vers bältnismäßig ſchnell vollzog, fonbern auch in weiterer Folge, be— fördert durch die Gunft der Zeiten, eine Generation wohlhabender Grunbeigentümer entjtand. In ben jüngiten Zeiten aber, wo ſchon eine neue Generation als Erben biefer erjten Käufergeneration an bie Stelle getreten iſt, macht fi eine immer jtärfer werbende Verſchuldung der Banerlandgrundflüde geltend, veranlaßt durch Erbteifungen und verfchärft noch durch eine Neihe von ſehr uns günftigen Erntejahren.

Um fi den hieraus entjlehenden Kalamitäten möglichit zu entziehen, glauben ſolche verſchuldete Nleingrundbefiger vielfach beifer zu fahren, wenn fie die Wirtihaft in eigener Regie auf löjen, ihr jämtliches landwirtſchaftliches Inventar verfaufen und ihre Srundjtüde auf Geld- oder Halbfornpadht vergeben, wobei wohl ber Gedanfe maßgebend iſt durd den nicht unbedeutenden Erlös für das verkaufte Inventar vielleicht die läftigiten Schulden abjtoßen zu fönnen. In den meilten Fällen behält nun ein foldyer Kleingrundbefiger foviel Land zurüd, als er mit einem Pferde be arbeiten fann. Der in Pacht vergebene Teil des Grunditüdes wird nun nicht auf längere Zeit verpadjtet, wogegen burdaus nichts einzumenben wäre, fondern meiftenteils auf nur ein Jahr, wodurch biejer Teil bes Grunbftüdes ein Objeft des Meiſtbotes je nad) ben betreffenden Ernte: und Preisfonjunfturen wird und durd) den hierdurch verurſachten bejtändigen Wechſel der Pächter bald vollftändig deterioriert ift, da ſchon im wohlveritandenen eigenen Intereſſe und gezwungen durd das Unfichere feiner Zufunft der jeweilige Pächter beftrebt ift den größtmöglicen Nugen mit dem geringiten Aufwande aus der fremden Scholle zu ziehen. Kommen num ſchlechte Zeiten und finden fid) entweder feine Pächter für das uusgefogene Sand mehr, ober zu jo umvorteilhaften Bes dingungen für den Befiger des Grundftüdes, daß dieſer feinen Verpflichtungen nicht mehr nachkommen kann, jo wirb er fein ererbtes Grundftüd mohl aufgeben müflen. Käufer für ein ſolches Grundſtück fann aber nur ein fapitalfräftiger Mann fein, nicht nur weil ber Kaufpreis bes Grundſtückes und des erforderlichen Inventars einen Aufwand von Taufenden von Hubeln beanſprucht, ſondern weil in einem ſolchen Falle der Verluft einer mehrjährigen

Bemerkungen zu U. Tobiens Auffap. 419

Rente und der Aufwand für Nemeliorationen zu tragen iſt, fo daß ber Kreis der Käufer ein fehr begrenzter iſt. Meiſtenteils find diefe Käufer wohlhabende Grundeigentümer aus der eigenen Gemeinde, da dieſe vielfad) die Hauptgläubiger find. So ent wickelt ji ganz allmählig ein Projeh der Auflaugung, weldem, wenn ihm aud Grenzen durch die Bellimmungen über das Marimum in der VBauerverordnung gezogen find, bad) Bedenken fozialer Natur entgegenitehen müßten, umſomehr als- unfere Agrar geieggebung nicht dahin intendierte, daß eine zahlreiche Klaſſe ſolcher Großbauern entjtände, fondern daß ein Bauernftand geſchaffen würbe, der im wahren Einne bes Wortes ein Landbauer ifi und ber durch feiner Hände Arbeit ſich und feiner Familie eine geficherte Eriſtenz ſchafft.

Betrachten wir den oben angegebenen Fall, daß der Inhaber eines bäuerlichen Grundſtücks nur einen Teil ſeines Landes zur Eigenbewirtihaftung ſich vorbehält, jo joll diejer Teil des Grund: ftüdes dem Beſitzer und feiner Familie den Lebensunterhalt ge: währen, während der andre Teil dazu dienen joll, für Zine- und andre Geldverpflichtungen aufzufommen. Erjteres wird, wenn ber vorbehaltene Ader nicht zu flein it und da es gewöhnlich ber befte Boden iſt, wohl fait immer ber Fall jein, ob aber lehteres nad den oben dargelegten Pachtverhältniſſen den Grundbefiger, aud) für alle Zufunft, bezüglich feiner Verpflichtungen ficherjtellt, ift mehr als zweifelhaft. Iit es daher nun nicht einleuchtend, daß es in foldem Falle, ſowohl für den bäuerlichen Grundbeſitzer, als aud für die in praxi bereits alienierten Teile des Grund- ftüces beijer wäre, wenn dieje aud) faktiſch abgelöft werden fönnten. Nicht nur würde hierdurch der betreffende Grundbeſitzer bares Kapital ſich beſchaffen fönnen, um jeine Verpflichtungen abzuſtoßen, iondern er würde aud bei Verkauf fleinerer Parzellen einen viel höheren Preis für fein Land erzielen önnen, als bei Verkauf des Geſamtgrundſtückes, umjomehr als der Kreis der Intereiienten ſich naturgemäß vergrößern würde. Daß eine immer mehr fleigende Nachfrage nad Kapitalanlagen in Grund und Boden bei ber landloſen Vevölferung vorhanden iſt, beweiſt fchon der Umijtand, daß die Bildung Heiner Siedlungen, ſog. Flecken oder Hackelwerke, auf dem flachen Lande immer mehr zunimmt, eine Erſcheinung, die für unire Landwirtſchaft dusjelbe beventlid)e Moment hat, wie ber Abzug der landijchen Vevölferung in die Stäble, da aud) die Bewohner dieſer Siedlungen, welche vielfad in der Nähe der Eifen- bahnjtationen liegen, ſich bald der Landwirtſchaft zu entfremden

0 Bemerkungen zu A. Tobiens Aufjaf-

pilegen. Hierbei muß auch des Umftandes Ermähnung geſchehen, daß derartige Gieblungen aud auf das Bauerland überzugreifen beginnen, welder Umftand, da nad) ben bereits zitierten Be— Stimmungen unfrer Bauerverordnung über das Minimum ſolche höchſtens eine Lofſtelle (0,90 Hektar) große Parzellen nur auf Zeitpacht vergeben werben fünnen, für die Erbauer von Häulern auf ſolchen Parzellen in Zukunft zu ben gefährlichiten Konfequenzen bei Beſihzwechſel im Hauptgrundſtück führen kann.

So reformbebürftig jomit, nad) den oben bargelegten Fällen aus dem praktiſchen Leben, die Beſtimmungen unfrer Bauerver- orbnung hinſichtlich des Minimums bäuerlichen Befiges fein mögen, und jo jehr ich daher mit Tobien in biefer Beziehung überein: ftimme, Tann ich jedoch nicht umhin, mic; gegen ben Vorſchlag Tobien’s, das Minimum bes bäuerlihen Grunbbejiges, entgegen den Beitimmungen ber livländiſchen Yauerverorduung, auf das doppelte Maß, d. h. auf 20 Taler Landwert feitzulegen, au: zujprechen.

Tobien jtügt ſich hierbei auf ein Gutachten, das ber ehe: malige Präſident der Olonomifhen Sozietät, Landrat Eduard v. Dettingen zu Jenſel, auf Bitte des veritorbenen Gouverneurs von Kivland General Sinomjew im J. 1895 verfaßt hat und das den Nachweis führt, dab die Selbftändigfeit und das wirtichafiliche Gebeihen einer bäuerlichen Familie von ſechs Köpfen durch ein Grundftüd von im Ganzen ca. 114 Lofftellen Areal mittleren Bodens im Landwerte von ca. 20 Talern am beften gewährleijtet wird. Gegen das hier gewonnene Reſultat kann um fo weniger etwas eingewandt werben, als es übereinitimmt mit bem, wenigitens für Nordlivfand, tupiihen Bauerlandgrundftüd, das fogar in Folge der fait durchgängig niedrigeren Taration an Landareal größer üt. Jedoch muß hierbei im Auge behalten werben, daB zur Zeit, in der diefes Butachten verfaßt wurde, die ökonomiſchen und ſozialen Grundlagen der Landwirtichaft in einem großen Teile Livlands andre waren, als fie es heute find. Damals hatte der ſtarke ins induftrielle Aufſchwung Rigas ſich noch nicht bis weit hinein in das flache Laud durch den bald darauf eintretenden Abitrom von Arbeitskräften bemerkbar gemacht ; nod waren die Eijenbahnlinien von Walt nad Bernau, Sellin, Reval, Mariendurg, Stodinanna hof nicht erbaut worden und daher Arbeitsfräfte für die Land- wirtſchaft reihlid und billig vorhanden.

Infolge der durch die Eifenbahnen erleichterten Freigügigfeit iſt häufig mander bäuerlice Grundeigentümersfohn nicht mehr

Bemerkungen zu A. Tobiens Aufſah. au

gewillt in alter patriarchaliſcher Weife dem Vater koſtenlos bei ber Bewirtſchaftung des Grunditüdes Arbeitsbienite zu leiften, zumal wenn er nicht der zukünftige Erbe iſt und Stellungen mit höherem Gehalte und leichterer Arbeit in den Städten oder auf den Eifen- bahnen zu finden find.. Zur Vewirtſchaftung eines bäuerlichen Grunbftüdes von 20 Talern Landwert find incl. Tierhaltung minbeitens vier Perſonen erforderlid. Stehen dem Beſitzer eines ſolchen Grundftüdes feine arbeitsfähigen Familienglieder zur Vers fügung und ift etwa jeine Frau durch Meine Kinder an einer Arbeitsbetätigung verhindert, jo müflen drei bezahlte Lohnarbeiter oder Arbeiterinnen gehalten werden. Zieht man hierbei in Be tracht, daf der Lohn der von den Bauern fait ausnahmslos ger haltenen unverheirateten Arbeiter (wenigſtens in hiefiger Gegend) um fait hundert Prozent geitiegen ift, jo liegt es auf der Hand, bah ber für eine ſolche Wirtſchaft errechnete Überfhuß kaum aus reichen dürfte, bieje Ausgaben zu deren. Diejes wird auch viel- fach als Grund angegeben, daß ſich der früher beſchriebene Modus der Verpadtung immer mehr ausbreitet und zwar gerade auf größeren bäuerfihen Grundſtücken, die naturgemäß bei ber Eigen bewirtichaftung gagierter Arbeitskräfte nicht entbehren bürften. Indem ich mid) nun wieder ber Frage des Feiljegung des Dinimums bäuerlichen Grundbefiges zumende, jo muß zunächſt nad) ber von Tobien gegebenen Tabelle über bie Größe ber bäuerlichen Grundjtüde Tonftatiert werden, daß es doch in Livland 1274 Grundjtüde unter dem Landwerte von zehn Talern gibt, eine Zahl, welche, trogdem dieſe Orundjtüde nur 5,12 pGt. ber Gejamtfumme ausmaden, durd ihre relative Größe dafür ſpricht, daß ſolche Grundjtüde ihre Lebensfähigkeit erwieſen haben. Duß die im Landwerte größeren Grundſtücke überwiegen, liegt meiner Auſicht nad nicht nur in ihrer eine günjtigere dkonomiſche Brund- lage gewährenden Größe, fondern weit eher in ihrer hiltoriichen Eutwicklung begründet. Während der Frohne war jeder Nupniefer eines bänerlihen Grundjtücs beſtrebt, eine möglichit große Anzahl von Arbeitern auf jeinem Grundjlüde noch den Gehorch für das Nittergut zu leiten hatte; mithin hatte der Frohnbauer gegenüber den heutigen grundbefiglichen Bauern das doppelte an Arbeitern und Arbeitötieren zu unterhalten, und dieſer Umitand jchloß es fait aus, daß ſich MWirtichaftseinheiten bilden fonnten, die nicht mindeftens einer größeren Familie die Eriftenz ermöglichten. Die Tatſache, daB es unter ben heutigen Verhältnifien durchaus mög- lich iſt, auf Grundftüden unter 10 Talern cine gefiderte Exiſtenz

g°>} Bemerkungen zu A. Tobiens Aufſah.

zu führen habe id} auf meinem Gute ſ. z. ſ. beftändig unter den Augen. Don bem Hofeslande des Gutes Abia find in ben ſechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts 26 Hofeslanbparzellen durch Verfauf in bäuerliche Hände übergegangen, von denen die kleinſten einen Landwert von fünf Talern haben, bei einem Areal von ca. 50 Xofitellen. Trogdem nun dieſe auf minderwertigem Boden (verbrauchten Bufchländereien) feinerzeit fundiert worden find und ihren Beſihern feinerlei Nebenverbienfte durch die Nähe größerer Waldfomplere ꝛc. gewähren konnten, find fie faſt ausnahmslos iduldenfreier Befip (menigitens dem Hauptgute gegenüber) ber zweiten Generation.

Nach dem oben dargelegten glaube ich wohl die Berechtigung zu haben, mich jirift gegen bie Vorihläge Tobien’s ausipreden zu dürfen, das bisherige Minimum des bäuerlichen Grundbefiges, noch weiter zu erhöhen, indem id) Hierbei mir erlaube die Meinung zu vertreten, baß es angebrachter und bem bäuerlichen Verftändnis angepaßter jei, bei der bevorftehenden Grundfteuerreform das Minimum bes bäuerlichen Grundbefiges nicht nach dem Tarwerte feſtzuſetzen, sondern, nad Analogie der Beilimmungen unjres Provinzialredts für bie Minimalgröße der Nittergüter, im Areal zu beſchräuken. Als ſolches würde id) 60 Kofitellen vorzuſchlagen mir erlauben, wobei der Acker mindeftens ein drittel, 20 Lof⸗ itellen, umfaſſen müßte.

Hierbei fann ich nicht umhin aud) das proviforijche Quoten» gefeß von 1893 in meine Betrachtungen hineinzuziehen, da meine Darlegungen vielleicht geeignet jein fönnten, die praftiiche Ver— wertbarfeit desfelben für unjre agraren Verhältnile zu unter fügen. Wenn Tobien in jeinem Auflage eine möglihite Ver- miſchung verfdiedenfter Grundbefigtupen als Ideal der Eigentums: verteilung bezeichnet, fo ftimmen mit ihm hierin aud die be- deutendften Autoritäten Wejteuropas auf agrarem Gebiete überein. Aud ic glaube das Gedeihen der von mir oben angeführten Heinen verfauften Hofeslandparzellen gerade dem Umſtande zur ſchreiben zu müſſen, daß fie mitten unter den größeren Bauerlands grundftüden verteilt liegen, wobei id nur hinweiſe auf bie Dadurch gegebene Möglichteit des Sichergänzens zwiiden Kleinbauer und Großbauer, einerfeits durch Arbeitshilfe, anderfeits durch verbeilerte Adergeräte. Das Gejeg von 1893 bezwedt aber gerade das Gegenteil, indem es bieje Nleinbetriebe möglichſt auf eine Land: tategorie, die Quote, beihränfen will. Welche Folgen aber eine von ähnlichen Gejihtspunkten geleitete Lundverteilung für die

Bemerkungen zu A. Tobiens Auflat- 423

bäuerlihe Bevöfterung in den inneren Gouvernements gehabt Hat, braucht hier nicht weiter erörtert zu werben. ebenfalls muß fonitatiert werden, daß dieſes Geſetz bisher hier feine praftiiche Erfolge erzielt hat, was um jo weniger wunder nehmen Tann, als frühere Verſuche nad dieſen Gefichtspunften einen Teil ber Domänenländereien zu verteilen, als jog. Seelenländer, in jeber Beziehung unbefriedigende Nefultate ergeben haben.

Gleichzeitig möchte id} noch hervorheben, daß das Gejeg von 1893 in einer Beziehung leider hemmend in unfre agrare Ent- widlung eingegriffen hat. Aus ber von Tobien am Schluſſe feines Auffages gegebenen Tabelle erjieht man, daß in Livland außer 208,703 &offtelien Quotenland nod 198,621 Lofitellen Hofesland meiftenteil® in bäuerlichen Befig übergegangen find. Eine Abdition ergiebt, daß fomit die Summe biejer beiden Poften faft gleich ift dem unverfauften Quotenlande. Nachdem nun durch das Gejeg von 1893 der Verfauf der Quotenlänbereien ben bes fannten Beſchränkungen unterworfen worden, wird biefes mohl aud auf das Hofesland bezüglich feiner Verkäuflichkeit zurückge— wirkt haben und jomit einen fi) vollziehenden Ausgleih zu Sunjten bes Kleingrundbefiges, zum mindeften in ber Zeit feiner Geltung, verhindert haben.

Charles v. Stadelberg. Abia, April 1905.

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Von Tage.

Briefe vom Embad.

I. Mai 1905.

Wir in unjrer Stadt der Streif ſich ziemlich zahm gebührdete und, von einigen unvermeidlichen Ausjchreitungen abgejehen, in den gehörigen Grenzen blieb, haben fi auf dem flachen Lande Zuſtände entwidelt, auf die der Name „Streit“ von Nechtswegen nicht mehr angewendet werden follte. Es iſt unglaublid, welch eine Verwirrung der Begriffe bei einem Teil der Yanbbevölferung Plap gegriffen hat. Ein abfoluter Mangel an Rechtsgefühl läßt dieje Leute nicht nur ſchwer oder garnicht zu erfüllende Forderungen aufjtellen er verleitet fie au zu Drohungen und Gemalttätig- feiten, ja ſelbſt zu diveft verbrederiihen Handlungen. Eine all- gemeine Unficherheit herricht im Lande, die fi hier und da in gerabegu anarchiftiihe Formen fleide. Unwillfürlicd brängt ſih die Frage auf, ob hier überhaupt nod eine Obrigfeit waltet, die für Ordnung und Scup eintritt, oder ob jenen zügelfofen Ele menten das Feld überlaſſen werben fol.

Selten ift der Uriprung einer Bewegung fo klar nachzu⸗ weiſen gemefen. Selten hat es ſich ereignet, daß fie fo gejahr- drohende Dimenfionen annehmen fonnte, ohne aus den gegebenen nationalen ober joziafen Tiefen emporgewachſen zu fein. Die Tat: ſache muß fejtgeftellt werden, daß den Vorgängen, die ſich in unfren Provinzen und fpeziell in unfrer Gegend abipielen, dieſe nationale oder ſoziale Baſis durchaus fehlt. Cs handelt ſich einer- ſeits um eine fünftlich hervorgerufene Erregung, für welde Agi— tatoren, die mit unſren provinziellen Verhäitniſſen meiſt nichts zu tun haben, bie Verantwortung tragen; anderfeits lediglich um die Wirkung des Eos, das von den Creignifien im Innern Nuß: lands zu uns herübergetragen wird. Nicht in den Zuſtänden bei uns zu Lande ijt alſo die Schuld und die Erflärung für Das zu fuchen, was wir in der legten Zeit durchlebt haben. Auch nicht

Bom Lage. 425

der kleinſte organiſche Zufammenhang beiteht zwiſchen ben allge: meinen baltischen Agrarverhältnifien und dem Auffladern einer gegen alle Ordnung ſich auflehnenden Empörung. Es ift vielmehr alles Mache, alles auf Zwecke zugeihnitten, benen unjre Bauern vollftändig fremd gegenüber ftehen und deren Kenntnis fie bedeutend ernüchtern würde ſchon weil die erftrebten Ziele mit ihrer Wohlfahrt und der eventuellen Beſſerung ihrer Lage garnichts gemein haben. Die Formen, in denen der fog. „Streil” ſich bisher bewegt hat, find meift derart, daß es durchaus verfehlt ift, im feinen Vertretern eine gleihberechtigte Partei zu erbliden, mit der man unter Umſtänden paftieren fann. Es liegt im Intereſſe des eſtniſchen Volkes felbit, daß jene Unrubeitifter von ihm abgejondert, daf die einen mit den andern nicht zujammengeiworfen werden. Die Bauernfchaft als jolhe ift mit den Anjliftern der Tumulte durchaus nicht zu identifigieren. Zwar gehören die Schuldigen ihr an, doch darf die Bauernſchaft als Geſamtheit nicht verantwortlich gemacht werden. ine ſolche reinlihe Scheidung entipridyt den Tatſachen und muß den ruhigen Elementen unter der Landbe⸗ völferung ſympathiſch jein. Damit fallen aber auch alle fentimen- talen, pjeudopofitiichen Erwägungen, die nur zu ſchwächlichen und halben Maßregeln führen fönnen. Da die elıwa vorhandenen nationalen und jozialen Gegenjäge nicht den Ausgangspunft bilden, werben fie auch von der Art, wie die Unruhen beurteilt und bes handelt werden, tatſächlich nicht berührt. Nichts iſt falſcher als die Annahme, daß derjenige, der für die energie Bekämpfung des graffierenden Ummwefens eintritt, an der Verichärfung jener Gegenfäge arbeite. Wenn dem jo wäre, dann bürfte konſequenter⸗ weile fein eſtniſcher Dieb eingeiperrt, fein eſtniſcher Verbrecher abgeurteilt werden. Dann jtände die ganze Verwaltungsmajcine fill. Schon jept herrſcht in den von den Agitatoren beſchwahlen Kreiſen des Landvolfs vielfach die Anſicht, die Negierung billige iht ungefegliches Vorgehen, ja fie ftche auf die Seite der Uns rubeftifter. Wenn man fieht, wel ein geringes Maß von Schneidigfeit die Erefutivorgane bei der Bekämpfung der Unruhen aufwenden, dann kann das Entjtehen und das hartnädige Fort: leben folder Anſchauungen feineswegs wunder nehmen.

Die Angegriffenen jelbft find in einer höchſt prefären Lage. Der einzelne Gutsherr oder Verwalter ift eben nicht imftande, nach— drüdlid) und mit Erfolg die Zumutungen einer zu Allem fähigen Dienge abzulehnen. Es ift daher dringend notwendig, daß in irgend einer Form eine Einigung herbeigeführt wird, bie einerjeits gegenfeitigen Schuß verbürgt, anberfeits ein Maximum für Die etwaigen Zugeſiändniſſe feitfegt, über das fchlechterdings nicht Hinausgegangen werben darf. Cine einheitliche Negelung für bie ganze Provinz erſcheint nicht realifierbar, weil die agraren Ver:

126 Som Tage

hältniffe in den einzelnen Teilen des Landes zu weit von einander abweichen. Durchaus möglich aber und bei einigem guten Willen ganz entjchieden durchzuſehen wäre eine Vereinbarung ber Einge feflenen eines jeden Kreiſes für fih. ‚Sie haben die gleichen Kontrafte mit ben Landarbeitern; ihre Bezichungen zu den Leuten ruhen im weſentlichen auf der gleichen Bafis furz, es märe nicht zu ſchwierig, auf dieſer gemeiniamen Grundlage ein energiiches Vorgehen in Szene zu ſehen. Die Schwäche bes Einzelnen fie fei entichuldbar ober nit wirft mit dem Schwergewicht eines Präzedenzfalle auf die ganze umliegende Gegend und zieht Konſequengen nad) ſich, die bei veritändiger, fyftematijder und eins belliger Marſchroute vermieden werden könnten. Wie die Der: hältnifie im Augenblid bei uns liegen und angefihts der nächſten Zutunft, müßte ſich die Durchführbarkeit einer fo abfolut notiven- digen Mafregel von felbjt veritehen. Mus ber einzelne etwa opfert, verſchwindet vor dem gewaltigen Vorteil, den bie Allge-⸗ meinheit davon hätte und ber dem Einyelnen doch wieber zugute fäme. Hier wäre eine Gelegenheit, einen Beweis von Stärke zu geben, ber über bie traurige Veranlajjung hinaus nad) Außen und Innen Frucht tragen dürfte.

Die erfte Vorausjegung beim Anfaffen der ganzen Frage it die Mare Einfiht in den Urjprung und das Weſen der Be wegung. Sobald vorſichtige Politif getrieben, Hier nicht verlegt, dort nicht angeſtohen werden joll, dann ift jedes weitere Wort überflüffig. Von einer Zujpigung innerer Gegenfäge darf dort feine Nede fein, wo cs ſich einfah um Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und um den Schug von Yeben und Eigen- tum handelt. Die Leute, gegen die man fi wendet, fönnen natürlich nicht als bie Vertreter ihres Volles gelten, und werden nicht als ſolche befämpft. Cs iſt die Geſetzloſigkeit, bie Millkür, das gemeingefährlihe Verbrechen, das befämpft werden muß. . .

In der legten Zeit hat der oftimees” die politiichen Wünfce jeiner Partei veröffentlicht. Cie bilden ein buntes Ge- milch radifaler und nationaler Färbung. Im einzelnen ſoll hier nicht auf fie eingegangen, ebenfowenig ber Verfuh unternommen merben, den berechtigen Kern aus der üppig wuchernden Um— hüllung herauszufchälen. Nur die intereffante Tatſache fei fon- ftatiert, daß bies Programm der eftnifchen radikalen Partei auch infofern lebhaft an das der entiprechenden lettifchen Gruppe er⸗ innert, als bie Eriiten; eines beutfchen Elements im Lande voll: ständig ignoriert wird. Cs ift einfach nicht da. Das ift natür- lich fehr bequem, aber fortgeichaft wird Dies Element dadurch denn doch nicht. In der Tat: eine Löſung von verblüffender Einfachheit !

Bom Tage. 47

Nur jchade, daß hiſtoriſch gewordene Zuftände durch eine eher: ftrich nicht vernichtet werben fönnen. Die ejtnijche Intelligenz, die das baltiſche Deutihtum zum Tode verurteilt, wird nad mie vor mit dieſem zu rechnen haben. ‘Möglich, daß fie einmal in bie Lage kommt, ihre Haltung gerade in biejer Frage als politiihen Fehler zu bebauern. Vielleicht wäre es klüger vom „Poſtimees“ gewefen, bie Weröffentlihung Diefer „Wünſche“ zu unterlaffen. Wie es Icheint, hat er ihre Publizierung für feine journaliſtiſche Pflicht gehalten.

Die Anfihten über die Pflichten ber Preife gegen bie Öffentlichfeit find eben verſchieden. Ich bin ber Meinung, daß unfre deutſche Zeitungen ihverfeits nicht übel daran täten, ihr Arbeitsfeld weniger ängitlich zu beichränfen. Gegenftände, bie in weiten Kreiſen lebhaft beiprochen werben, erwerben dadurch ben Anſpruch auch von ben Zeitungen beadjtet und durch fie der öffent» lichen Diskuffion zugeführt zu werden. Zumal wo es fih um öffentliche Dinge handelt. Ich habe diesmal etwas beftimmtes im Auge. Seit einiger Zeit wird allgemein behauptet, und zwar von Perfonen, denen eine gewiſſe Orientiertheit zugetraut werben barf, daß der Plan beitehe, auf den hiefigen Domanlagen, in ber Nähe der Nuine und des Heinen Erfriidungshänschens mit andern Worten: im jdönften und befuchtejten Teil der Anlagen den Neubau einer Alinit aufzuführen. Die Zeitungen haben bisher darüber geſchwiegen. Und dad) ift hier zweifellos die Veranlaſſung zu einer _öffentliden Veipredung gegeben. Nicht nur jeder Bürger unjrer Stadt, nicht nur jeder, der als akademiſcher Bürger Die ſchönſten Jahre feines Lebens in ihren Mauern verbracht hat, ich möchte jagen: jeder Sohn unfrer Provinzen, der je zu Küßen der alten Domruine geftanden und in den jchattigen Gängen ges wandelt, deren prächtiger Schmud fie ift, muB es als eine ‘Mine derung jeines moralijchen Beſitztums empfinden, wenn er hört, daß bieje während eines Jahrhunderts jorglam gepflegten Anlagen aufs pietätlojejte eingeengt, ja geradezu zerftört werden follen. Was bleibt denn ſchließlich vom ganzen ſog. „Dom“ nah? Dan er- midert: ein kliniſches Gebäude dient der Wiſſenſchaft, feine Auf: führung liegt im wiſſenſchaftlichen Inlereſſe, es ift daher billig, biefem wiſſenſchaftüchen Iutereffe andre etwa entgegenftchende Iniereſſen unterzuordnen. So ift die Sade num feineswegs anzufehen.

Eine Klinik dient gewiß der Wiſſenſchaft. Daß fie aber gerabe bort erbaut werben joll, wo fie andre, durchaus gleichber rechtigte Intereifen aufs ſchwerſte fhädigt, daran kann der Wiſſen⸗ ſchaft garnichts gelegen fein. Der einzige Sefichtspunft, ber dafür angeführt werben fann, ift ein rein finanzieller: die Koſten für den Baugrund fallen fort, da er jchon jept der Univerſilät gehört,

208 Bom Tage.

Dadurch mirb bie Situation mil einem Schlage geklärt. Dieſes Erfparniies wegen ſoll uns die nächſte Umgebung ber Ruine felbft verbaut, der beliebtejle und menigitens innerhalb der Stat fo gut wie einzige Spazierweg verfümmert werben. Wahrlich ein jeichen, mit welcher Nücfichtslofigfeit und mit welchem winzigen ufwand von Verjtändnis für die Imponderabilien unfrer Heimat bei uns vorgegangen wird. Sollte das Projelt zur Tat werden, bann wäre es bas glänzendſte Bravouritüd jener am grünen Tiſch dominierenden Yureaufratie, der in der legten Zeit fo viele freund: liche Worte gewidmet worden find. Schon mandes ift ja bei uns vorgelommen, was einen mit gelindem Graufen erfüllen konnte. Id erinnere nur an die Krönung der Domruine mit bem freitich gotiſch ftitifierten! hölzernen Aufbau im Dienfte der Wafjerleitung. Die Sache fieht hauberhaft aus und bas Gerz wenbet ſich einem angeſichts dieſer Verunitaltung des ehrmürdigeit Doms im Leibe um. Und dod läßt fi der Mißbrauch und die äfthetijche Mißhandlung des alten Mauerwerls vom praftifchen Standpunfi aus gewiſſermaßen rechtfertigen. Es murden nicht nur bedeutende Gelbmittel eripart, jondern bie wichtige Einrichtung hätte wahrſcheinlich unterbleiben müfen, wenn man auf dies Aus: funftsmittel verzichtet hätte. Davon it jet nicht Die Rede. Die KAlinit wird auf jedem Fall gebaut, der finanzielle Aufwand mag geringer oder bedeutender fein. Und fie fann natürlich auf jedem Beliebigen Pla in der Etabt gebaut werden, während in jenem Fall die Brauchbarfeit des Baues von jeiner Lage und vor allem von feiner Höhe abhing Erwartungen, die bei dem projeftierten flinifchen Gebäude nicht ins Gewicht fallen. Es wäre eine ftarfe Leiftung bureaufratiiher jagen wir: MWeltfremdheit, wenn der Plan in der beabfichtigten Weile realifiert würde. Vielleicht wird der Zeitpunft hierfür durd die auf dem ganzen Reich laftenden, jcweren Zuftände hinausgeichoben, in denen größere Ausgaben für andre als Kriegszwede fich von ſelbſt verbieten. Erwogen aber wird das Projelt in den betreffenden Kreiſen ſchon feit einiger Zeit. Es ſchwebt drohend über uns, und Alle, denen die Er— haltung bes „Doms“ am Herzen liegt, fönnen nicht nachdrücklich genug ihre Stimmen erheben, um, wenn irgend möglich, die Vers wirflidung diejes verderblihen Anſchlags auf feine Integrität zu verhindern.

Im Spiegel der Preffe. April / Mai.

12. April,

D: „Peterburgsfija Webomofti” erflären die Gleichgültigkeit der ruffifchen Geſellſchaft gegegenüber ben vielfachen Neformprojeften der leitenden Organe für ein Zeugnis ber polilifchen Reife biefer Geſellſchaft. Diefem Ausſpruche liegt wohl der Gedanle zugrunde, daß die ruſſiſche Geſellſchaft, die augenblidlihe Handhabung refor- matorifcher Ideen für Spiegelfechterei haltend, ein erneutes Gr: eignis, welches das jegige reformatoriſche Spiel wieder in Ernſt verwanbele, abwarten will, um auch ihrerfeits den geziemenden Ernft aufzuwenden. Das Mißtrauen, weldes die ruſſiſche Gefell- ſchaft der Regierung entgegenbringt, überträgt fi) auf jede refors matorifche Technik, die, ohne mit dem alten zu brechen, bauen will. Diefe Technik ift durch den Gebraud) ber Regierung zu der ruffiihen Geſellſchaft unbekannten Zwecken bisfreditiert. Die Diofreditierung ber fogenannten ſchrittweiſen natürlichen Fortentwichlung ift bis zur Perhorresgierung jeder Art von Ordnungspartei gebiehen, und im Gegenfag zu den Ausführungen der G. T.:Artifel des „Rig. Tagebl.” iſt es unter biefen Umftänden feine Empfehlung, zu ver ftantserhaltenden Elementen zu gehören. Auf weite Sympathie hat allein das uneingefchränft liberale Schlagwort zu rechnen. In der uns feindlich gefinnten ruffiichen Preſſe, die aud) im Wechſel der Strömung an dem Gebanten des Panflavismus feitgehalten hat, verbindet fih daher Liberalismus und Deutichen haß in ebenfo zwanglofer Weife, wie ſich den Ausführungen des G. P.Artikels gemäß Sozialismus und Nationalismus in ber eftnifchzlettifchen Preſſe verbunden hatten. In den „Birſchewyja Wedomofti” ift eine Yeuilletonreihe erſchienen, welche das Land der realtionären Baronenherrſchaft fhildert. Die „Now. Wremja” bemerkt anläßlich ver Hiefigen Bauerunruhen, daß die deutſche Preſſe, nicht ohne Grund, dieſer Frage ungemeijene Spalten weihe. Die baltifchen Deutiden fepten alle Hebel in Bewer gung, um bie Negierungsgewalt zur Schwädung ihrer sefähr: Baltifche Monatafdift 1005, Seft 5.

40 Som Tage.

lichſten Gegner, der Ejten und Letten, benugen zu fönnen. Vorübergehende Erfolge laſſen fie die Einnahme ber alten Pofitionen erwarten. Der politiihe Schachzug wäre indeſſen nicht weitſichtig genug angelegt, bei aller Mühe werde es ihnen diesmal nicht gelingen, bie Reform der örtlichen Selbjtverwaltung zu hintertreiben oder in eine Scheinreform zu verwandeln. Werde doch gerade die Einberufung der Volfsvertretung mit den übrigen Segnungen auch den Tod bes beutjchen Separalismus bringen. Der „Rihskij Weſtnik“ ift von diefer Anſchauungsweiſe beeinflußt, fein Vorkämpfer- tum für die Intereffen eines ruffiichen Beamtenpublifums ift dieſer Tendenz nicht hinderlich. Cr ftellt die Deutichen als reaflionär und undulbfam, als Polizei, Partei: und Gewaltmenfchen dar, er erhebt den Vorwurf der Untätigfeit gegen die livländiſchen Selbjt- verwaltungsorgane und ben der Harlherzigleit gegen die deutſche Preſſe. Den Grund ber Bauerunruhen ſieht er in ber wirt— haftlihen Lage, den Grund der mißlichen wirtichaftlihen Lage in der Lanblofigfeit der Bauern und der Lieblofigfeit der Deutfchen. Den Vorwurf der Hartherzigfeit und des Polizeiſyſtems erhebt in verftärftem Maße die eſtniſche Preſſe. Auch fie ficht den Grund der Unruhen in der wirtihaftlihen Lage. Sie verurteilt die ftatt- gehabten Verbrechen, ebenjo aber die Haltung der deutſchen Preſſe, welde nichts als auf Polizei und Gewalt gejtügte Ruhe fennt und fennen will, Roch ausgeprägter ift bie Betonung des wirt- fchaftlichen Grundes in der lettiichen Preffe, die in jedem einzelnen Falle darauf hinweift, daß Unruhen nur unter der fchlechtgeftellten bäuerlichen Bevölferung ftattgefunden haben, die Zurüdführung der Vollserregung auf die Wirkſamkeit betrunfener Arugsbrüder zu- rückweiſt, und die Verquidung der Unruhen mit der nationalen Frage in ber deutjchen Preſſe höchſt unftatthaft findet. Die ruſſiſche Preſſe und die Petition der lettiſchen Intelligenz geben dem Adel und ber Landjchaflsverwaltung an den böjen Verhältnifien die größte Schuld, und find nicht gewillt, ihnen eine auf das Wohl bes gejamten Landes gerichtete Tätigkeit in Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft zuzugejtehen Die Landesvertretung wird von ihnen nicht als ſolche anerkannt. Landesvertretung, Deutſch- tum und deutſche Prefje find ihnen identiih, und nicht eben ber befte und zur Herrſchaft berufene Teil ber Einwohner Livlands.

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Das Intereffe der ruſſiſchen Reſidenzpreſſe an baltischen Fragen und Verhältnifien, weldes einige Zeit ganz erloſchen war, ift neuerdings wieder erwacht und zwar veranlaßt durd) die Bauer: unruhen im Zufammenhang mit ben Gerüchten über die bevor: ftehende liberale Verfaſſungsreform des livländiſchen Landtages.

Bom Tage. 431

Darin ift die ganze ruffiihe Prefie einig, daß hierzulande Reformen befonders notwendig find, einige der größeren Blätter haben es ſogar für notwendig gehalten, ihre Berichterftatter hier- her zu ſenden, um über bie hiefigen Verhältnifie aufgeklärt zu werben, damit der Boden für ruffifche Reformen und Verbeflerungs- vorfchläge gewonnen werde.

Einer der ruffiichen Berichterftätter, ein gemiffer Herr Alf, ber feine mangelhaften Renntniffe geſchickt unter leichtem Wig zu verbergen jucht, fommt in allen jeinen Ausführungen zu ben wiberfprechendften Nefultaten, die einzige Löfung aus allem Wider» ſprüchen des baltifchen Lebens erfdeint ihm die Semftwo. Seine Gemwährsleute find neben dem livländifchen Gouverneur, den er gerabe in großer Beforgnis über die Angriffe, welche feine Bauerfomifiare erfahren haben, vorfindet, junge Leiten, Die etwas ruſſiſch radebreden. Ueber den Wohlſtand hierzulande gerät er, Herr Alf, in große Verwunderung; er meint, ein ruffiiher Guts- befiger werde gern mit einem Bauernwirt hier taufchen. Die Sadjfenntnis auch des einfahen Mannes fept ihn in nicht geringes Erftaunen. Laut flagt er über die Fülle verſchiedener Yebens: formen, die von bem ruſſiſchen Gleichhelisideal allerdings weit ent: fernt ift, und bie alle feine Bemühungen, ſich zu orientieren, zu Schanden madıt.

Im „Rihstij Weftnit” wird das Projekt der Landtagsreform beſprochen; er fann fid) mit der Heranziehung ber Rleingrunbefiger zum Landiage nicht befreunden, da bei 780 Nittergütern und 219 Gemeinden der Schwerpunkt nad) wie vor beim Großgrundbeſih bleiben würde. Der „Balt. Weſtn.“ meint, dem wäre leicht abzu: helfen, man braudt nur die Stimmen der Einzelgemeinben bei ihrer Verſchmelzung zu fonfervieren. Die lettiſche Preſſe ift mit dem „Rifhst. Weſinik“ einig, daß es vor allem auf eine Betei- ligung ber nichtbefigenden Intelligenz anfommt. Hierher gehört aud der f.-1.Artitel in der „St. Pet. Ztg.“: „Landtag oder DVerfammlung von Grumbbefigern?“, der in verfürzter daſſung ohne Kommentar auch in dem „Balt. MWehjtnefis“ erſchien.

Der „Balt. Wehjtnefis“ bringt in dem Artifel: „Die baltiſche Selbftverwaltungsreform” angeblih das im Schoße ber ritterfchaftlichen Kommiſſion disfutierte Reformprojeft: Danad) wäre die -Selbftverwaltungseinheit 3—-5 zufammengezogene Kirchſpiele, mit einem Konvent an ber Spipe, in weldem alle Großgrundbe- figer und alle Gemeinden vertreten find; dieſer Konvent beihidt den Landtag, die Hälfte der Landtagsvertreter müfjen Großgrundbefiger fein. Der Vorfig im Landtage bleibt dem Großgrundbefig (dem Landmaſchall) erhalten, ausführendes Organ bleibt das Landrats- follegium im alten Beftande, neue Landräte werden abwechſelnd aus dem Großgrundbefig und dem Kleingrundbeſitz gewählt. Zum

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Schluß heißt es wörtlih: „Der Gedanke ift uns fympatigich, daß die Reform auf einer Grundlage ausgeführt werben joll, Die ſich ſchon in unferm Lande vorfindet. Dennod muß man ſich der oben vorgeichlagenen Neorganifalion ber Selbftverwaltung ſiark wider: fegen, weil erſtens dem Knechtsaudſchuß gar feine Stelle ange miefen, wie e8 ebenfo in unfrer jegigen Gemeindevermaltung der Fall ift, zweitens die Kompetenz des Landlages und bes Landrats- follegiums nicht klar gefaßt ift; der größere Teil der baltifhen Ein- mohner fann fich mit derartigen Reformen niemals begnügen. Zum Schluß fei noch zu erwähnen, daß das Neformprojeft, an dem eben gearbeitet wird, jo wichtig für unfer Land ift, daß es barum nicht irgendwo im Geheimen verhandelt werben darf, vor einer Meinen Zahl von Nepräfentanten. Falls die Vergrößerung der ritter- ſchaftlichen Kommiſſion aus gewiſſen Gründen nicht möglich ift, jo wäre es jedenfalls jehr erwünscht ihre Gedanfen und Erwägungen zur Beſprechung zu publizieren. Es müßte bad) endlich die Zeit vorüber fein, ıwo man von einer Kommiſſion alle Weisheit erhofft.

Zum Schluß fei die in den rujfiihen radikalen Blättern ver- öffentlichte Petition von 200 Leiten erwähnt. Sie enthält folgende 8 Punkte: 1) Die Lage ber lettiichen Preſſe betr. 2) Vers fammlungsfreigeit. 3) Schulfrage. +) Lelliſche Sprache. 5) Auf hebung des Landlages. 6) Aufhebung der bänerlihen Auffichts- behörbe. 7) Geſchworene und gemählte Friedensrichter. 8) Fabrik arbeiterfrage. |

Der „Riſhsl. Weſtnik“, welder zuerjt der Petition einen längeren Artifel mwibmet, ift bejonders mit Pt. 5 einverftanden. Die übrigen Forderungen find ihm aber für's erfle zu ertrem rabifal und auch national.

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19. Aprit.

Der Allerhöchſte Erlaß vom 18. Februar des Jahres erfüllte die ruffiiche Geſellſchaft mit der Erwartung einer unmittelbar ber vorftehenden Zeit der Freiheit und des Glüdes, ein in gewiſſem Sinne goldenes Zeitalter ſiand ihr greifbar deutlich vor Augen. Die Monate, die jeitdem verfloſſen find, haben die Erwartung nicht gedämpft, jondern gefteigert. Die Ungebuld des Wartens if durch die Furcht vor dem Fehlſchlagen der bereits in Fleiſch und Ylut der Geſellſchaft übergegangenen Hoffnung erhöht worden. „Die Gefahr des Zögerns periculum in mora“, ſchreibt der „Weſtnik Jewropy“, „wird mit jedem Tage Elarer empfunden, immer zweifels lojer wird es, daf die Nuhe dem Lande weder durch bie Tätig: feit materieller Kräfte, noch durch die Anwendung der gewohnten bureaufratiichen Mittel gegeben werden Fann, weder dur halbe

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Schritte, die niemand befriedigen, noch durch Verfprehungen, bie allzulange unerfüllt bleiben.” Halbe Schritte alfo werden niemand befriedigen. Das Rad der hoffnungsvollen Glücksmaſchine iit am toten Punkt angelangt, die Gefahr, daß dieſes Rad ſtille ftehe und zurüdfalle, erfüllt die ruſſiſche Gefellihaft mit nervöſer Haft; diefe Gefahr beherricht die Köpfe und. beftimmt die Nichtung und das Maß des ruffiihen Liberalismus. Unter ihrem Einflufie ftehen aud die Parteibilbungen. Die Preſſe rechnet mit dieſer Stimmung als mit einer Tatſache. Nach den Ausführungen Schipows in ber „Rusj“ vom 15. April wünſchen jo manche Vertreter eines endgültigen Bruches der ruſſiſchen Stantsftruftur, Dielen Bruch weniger in der Hofinung, einer Sicherſtellung der Volte- interejjen in nächſter Zukunft, als weil ein folder Bruch die Wiederkehr der alten Zeiten unmöglich machen würde bie befannte Triebfeder der radikalen Nevolutionspartei in Frankreich oder vielmehr der Stadel, mit der fie den faumjeligen Liberalismus eilig vor ſich hertrieb. Das Schredbild der Vergangenheit verfehlt auch auf den ruffiihen Liberalismus feine Wirkung nicht. Jede konſer— vative Etimme läuft Gefahr mit dem Wuniche einer rüdläufigen Nadbewegung identifiziert zu werden. Allerdings erheben ſich auch in der ruſſiſchen Geſellſchaft fonjervative Stimmen, bod) ift es zu beachten, daß es bereits eine Grenze des Konſervativismus gibt, deren Ueberjhreitung den einmütigen Abſcheu der gejamten ruffiichen Gefelljchaft hervorruft diefe Grenze aber ift jehr hoch gezogen. Hält es doc fogar der „Niſhskij Weſinik“ für angebracht, mit diejer Anſchauung zu rechnen. Auch er jpricht voll Abſcheu von den Neaktionären, welde die Nüdkehr zu ben Zeiten des „Domojtroi” ober zum mindejten den feudalen Zeiten der Leibeigen: ſchaft fordern. Hierher. gehören nad) der Parentheſe des „Riihetij Weſtnit“ die „Moskowſtija Wedomoſti“ und die Mehrzahl der biefigen deutſchen Blätter. Auch diejes bleibe in Parentheſe. Eine Antwort der „Rusj” an Uwarow leugnet einen Geſin— unterfchied zwiſchen Nadifalismus und Liberalismus in ber ruf Geſeliſchaft. Zwiihen den Radikalen und Gemäßigten fein weſentlicher Unterſchied der Neberzeugung, jondern allein eine Verichiedenheit des Wärmegrades bei ‚gleichem } le. Die Anhänger der Novemberminderzahl wären, wie es weiter heißt, schwerlich zahlreicher geworden, es wäre beadjtenswert, daß die Novembers refolution der Landſchaftovertreter in Petersburg allen Landſchafto— verhandlungen nicht al Marimum, fondern als Minimum zus grunde gelent worden jei. Der Jonrualiſtentag in Petersburg hat nad dem „Weſtnik Jewropy“ das allgemeine, geheime Stimmrecht für die einzige zuläffige Verhandlungsgrundlage erflärt. Diefes iſt die Borbedingung jeder Verſtändigung, gemiilermaßen die vor läufige Legitimationsfarte jeder liberalen Tenkweiſe.

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Der Fürft Trubegkoj und die Landſchaftsvertreter Haben ſich zur Beurteilung ftaatlicher Fragen für imfompetent erflärt. Ihnen antwortet Golowin in der „Nusj“ vom 14. April: Mit welchem Nechte haben ſich dieſe und jene Landſchaftsvertreter während des Novembers in Petersburg verfammelt und wollen ſich jetzt im April in Moskau verjammeln? Sind diefe Fragen nicht müjiig? It es jegt die Zeit, fih mit ſolchen Fragen zu befallen? Cs wäre die Pflicht jedes Bürgers nicht zu ſchweigen, jondern laut feine Meinung über die Maßnahmen zur Abwehr der dem Staate drohenden Gefahr zu äußern, da er bieje Gefahr nah und far vor ſich fieht. Die Novemberverjammlung in Petersburg habe fich nicht jelbjt den Namen einer Alllandichaftsverfammlung beigelegt, jondern ihn fraft ihrer Refolutionen, die ganz Nußlands Schmerzen Worte verliehen, erhalten. In kurzem: er meint das Necht der Nufer im Streite.

Unter biefen Umftänden ift e8 von Intereſſe, das Partei- programm Schipows fennen zu lernen, das ſich etwa an ber Grenze des geduldeten Konfervatismus befindet. Schipow iſt fonjervativ. Jedes Volt und jeder Staat haben nad) feiner Ueberzeugung ihre eigene Geſchichte und ihre eigenen Ent: widlungsgelege. Daher fei es fehlerhaft Inftitutionen, die dem einen Volfe billig find, ſchlechthin auf ein anderes zu übertragen, und zu hoffen, daß fie ihm recht fein werden. Diejen Fehler begingen die Konjtitutionaliften Rußlands. Cine Konftitution würde Rußland weder das gehofite Glück noch die Sicherrung der anger borenen Mtenicheniechte bringen. Kein Bruch mit dem Prinzip der Selbjtherrichaft, welder der Idee des ruffiihen Staates wider: ſprechen würde! Das Neue joll dem hiſtoriſchen Leben des ruſſiſchen Volles entnommen werden, feine Nevolution, fondern eine Refor— mation jein. Die ruſſiſche Gefdjichte gewähre in der Tat eine der Ronftitution gleiwertige Einrichtung —- den freien Zutritt zum Zaren! Zu dieſem Behufe wäre der jegige Reichsrat durch ge- wählte Volksvertreter zu erjegen. Die Kompetenzen besfelben find den Barlamentsfompetenzen der fonjtitutionellen Staaten entſprechend. Auch. der Wahlmodus müßte den geidichtlichen Zufammenhang mit dem ruſſiſchen Leben wahren und die Wahl ber Vertreter müßte ſich an die bereits vorhandenen Landſchaftsinſtututionen anſchließen. Die Semſtwo iſt aber reformbedürftig. Der Schwerpunft der lofalen Gelbftverwaltung wird darum in die allitändiidre Selbfte verwaltungseinheit verlegt. In zwangloſer Stufenfolge von ber Kreis: zur Gouvernementsſemſtwo ift die Brücke zum Reichsrat geſchlagen. Dabei wird nad und nad) durd den Wahlmodus das zur Grundlage genommene territoriale Prinzip eliminiert und ſchließlich zur Stärkung des tonfervativen Prinzips dem boden-

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ftändigen Bauern die Mitgliedfchaft auch im Reichsrat durch ent⸗ ſprechende Diäten ermöglicht.

Die Verkündigung der Glaubensfreiheit wird von allen Zeitungen als ein AR hochherziger Menſchenliebe gefeiert hinſichtiich der Hochherzigkeit it die Preſſe einig. Im übrigen mißt der freifinn dem Mlanifeit nicht allzuviel Bedeutung zu. Die „Nuffija Medomofti” urteilen: „Wenn vielleicht irgend jemand überzeugt gewejen iſt, daß die projeftierten Daß: nahmen Nubland von dem Wege der Hechtlofigkeit und der Will für auf den Meg des Mechtes und ber Freiheit führen würden, fo wird nad) wie vor dieje Jllufion durd die Tatſachen bes fort: ſchreitenden realen Lebens zunichte gemacht. So verhält es ſich wenigjtens mit der heute jo laut verfündeten Glaubensfreiheit.“ Im Änſchluß hieran werden einige dem Manifeſt widerſprechende Uebergriffe einzelner Lofalgewalten angeführt. Der Nefrain dieſer böfen Lieder aber iſt feine Manifeſte, fondern Garantien! feine Gnadenerlaſſe, jondern die Macht! Im Gegenjag zu all dieſem befindet fi der Landhauptmann des dritten Bezirks des Koratiſchen Kreiſes im Gonvernement Drel. Dieſer hat in feinem Zirkular in bündiger Weiſe die Urſachen der Zeitgährung aufge: dedt: Alle Unruhen kommen vom Teufeld

Unfre_ nationale Preſſe jegelt teilweije ungeachtet der lehten munter im radifalen Fahrwaſſer weiter. Wenn auch die „Rig. Awiſe“ es für gut befand, bei der Desavouierung der lettiſchen Petition dieſen „Raditalismus der lettiſchen Intelligenz” zu leugnen, jo iſt unter Nadifalismus, mit den Mugen Diefes Blattes gefehen, nur bie ertveme Form diefer Geijtesrihtung zu veritehen.

Die Petition der 200 Letten hat nun die Runde durch alle Blätter gemacht. Bei den deutſchen Blättern muß man zwiſchen den Artiteln unterideiben, die vor und nad) der Desavouierung durch die „Nig. Awiſe“ gefchrieben find. Anfangs legte die deutiche Preſſe der ‘Betition eine zu große Bedeutung bei; jo jchrieb die „St. Bet. Zig“: „An den baltijden Deutſchen wird es daher liegen, ben eventuellen ſchlimmen Folgen diejer Petition vorzubeugen, und, indem fie die gegen fie jelbjt erhobenen ungerechten Anjchuldigungen zurückweiſen, aud) jene unzweifelhaften Rechte ihrer Heimatgenofjen zu vertreten, Die von den 200 genannt werben, aber durch die Nachbarſchaft der andern Forderungen völlig fompromittiert werden müflen.” Nachdem aber bie „ig. Awiſe“ bie Autorſchaft der lettiſchen Intelligenz beitritten, mache fih ein Umjchwung in ber Yeurteilung geltend; befonders milde urteilte jept bie Rigaſhe Rundſchau“. Ihr erſchienen ſehr viele der aufgeitellten Forde— tungen jehr ſympathiſch, nur die Schilderung der Agrarverhältnijie und der Tätigfeit des Yandtages fund jie wiſſentlich falſch dar—

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geftellt. Die radikalen fettifchen Blätter (Deenas Lapa und Balt. Meftn.) nahmen gleich Notiz von dieſer Beſprechung, mit der „Rig. Awiſe“ geriet die Rundſchau in einen Wortitreit, es handelte fih dabei um die Behauptung der „Rig. Awiſe“, das lettiiche Volt fei nicht radikal und revolutionär. Die Rundſchau glaubte dies jo veritehen zu müflen, daß es unter ben Letten gar feine Nadikalen gebe. Am Ofterfonntag erjchien dann der G. T.-Artitet im „Rig. Tageblatt”. Hier wurde die geringe Bebeutung der Petition nachgewieſen, der lettiſch-ruſſiſche Radikalismus gehörig beleuchtet und aud der Abwehr einzelner Angriffe zuerit einige Zeilen gewibmet.

Der in ber lettiihen Petition hervorgetretene Rabifalismus hat aud in einigen eſtniſchen Blättern ſich bofumentiert. So ſchreibt in der „Teataja“ ein Herr Tamm aus Rußland: „Er freue fi über den Nevaler Sieg nicht als fanatifcher Nationalpolititer, fondern weil eſtniſch und fortjchrittlich gefinnt bei uns zu Lande ein und dasjelbe bedeute.” Und der „PBostimees“ kommt zu dem Schluß, daß die Deutſchen nicht liberal feien, wenn auch das Gegenteil die „Rev. Ztg.“ verfihere und behaupte, denn der Grund: ton des baltifhen Programms fei ein auf gejchichtliher Grundlage ftehenber, das Reich aufrecht erhaltender Liberalismus. Die ruſſiſche Semſtwo tue mehr für bie Volksbilbung, als der eſiländiſche Landtag. Ihr Deutichen, ruft er, ſeid erzlonfervativ. Ihr wider: ftrebt allen Neuerungen, die auf Hebung der Lage der breiteren Volfsichichten adzielen und habt nur eure engen Privatinterefien im Auge.

Die deutſche Kulturarbeit bei ben Letten wirb in der „Deenas Lapa“ in einem längeren Artikel einer gründlicen Unterfuchung gewürdigt. Hier handelt es ſich wohl in erfter Linie um eine Auseinanderfegung mit der deutſchen Preſſe, um dieſer gründlich bie Luft zu nehmen, mit der Vergangenheit zu prahlen. Diele Abfiht zufammen mit dem vaditalen Doftrinarismus des Verfaſſers geben ein ganz entftelltes Bild unfrer Vergangenheit. Zum Schluß meint ber Verfaſſer, daß es jetzt nicht an ber Zeit jei zu prahlen und miteinander zu rechten, jondern ben Forderungen ber Jeit nachzukommen. Derjelbe Ton erklingt auch im dem Artikel des „Olewit“: „Was fie erſtreben.“ Im Anichluß an eine baltiiche KRorreipondenz im „Berliner Zofalanzeiger” meint er, das der Libe- ralismus der Deutichen nicht von weitem her jei, daß fie noch im Grunde nach den Ausführungen der „Düna-Ztg.“ auf die Stellung des Lehrmeiflers prätendieren.

„Was in der Vergangenheit zwijchen ben hiefigen Völfern‘ und den Deutſchen vorgefallen iſt, deswegen darf weiter fein Groll gehegt werben, fo daß wir ber Vergangenheit wegen Freunde jein tönnten, wenn nur bie Gegenwart gegenfeitige Liebe und Achtung

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zuläßt. Wir müſſen in unirem gegenfeitigen Verhältnis baran denten, baß es meber uns noch den Deutjchen möglich war, unjre Vorgänger zu wählen, fo daß ein feindliches Weſen der Vorfahren wegen Verftortheit wäre. Weder der Chriftenglaube noch der Mare Blick des gebilbeten Menſchen geitatte eine Feindſchaft auf dieſer Grundlage. Wenn aus dem früheren Feinde ein wahrhafter Freund geworden ift, ob durch die Zeit oder den Einfluß befonberer äußerer Ereigniſſe, jo darfı man fein Herz nicht verſchließen.“

Allerdings mahnt auch er zur Vorficht. Vielleicht wird jegt KRomöbie geipielt? Vielleicht mollen die. Deutihen nur Flickwerk bei der bevorjtehenben Zandtagsreform? Um aber bie Bebürfnifie des Volkes zu befriedigen, wäre ein Gebäude erforberlih, das auf ganz neuer Grundlage fteht.

Die in leter Zeit vielfach angegriffenen Bauerkommiſſare, ſoweit fie im Muftrage des Gouverneurs handelten, werben im „Riſhskij Weſinik“ warm verteidigt. Die lettifhe Prefje bringt ſowohl die Angriffe als auch die ruffiiche Verteidigung, aber ohne Kommentar.

Schließlich wäre noch der geiſtliche Feldzug gegen die Bauer— unruhen in Rurland zu erwähnen. Den warmen Bielenfteinfchen Aufruf: „Lettiiches Volk erwache“ bringen die lettiihen Blätter, nur die „Tehwija” wagt es dabei ſchüchitern dem verehrten Herrn Bajtor aufmerffam zu machen, daß nicht das ganze lettiihe Wolf an den Unruhen. jhuld fei, fondern der Sozialismus, der dasfelbe vergifte. Hierher gehört aud das Sendſchreiben des furländifchen Generaljuperintendenten Band, das allerdings zum größten Teil nur aus Bibeljtellen bejleht.

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26. April.

Die Neformeinfälle Schipows, bie Zentrallandicaftsuer- faſſung und der volfstümliche Reichsrat, finden feinen Beifall, den Meiften ift zu wenig, Wenigen zu viel des Guten: Der „Now. MWrem.“ mißfällt das Projekt aus einem Höchft. eigentümlichen Grunde fie möchte ben Reichsrat nicht miſſen. Wenn, urteilt die „Now. Wrem.“, die Volksvertreter den Reichsrat erjegen, jo iſt der Meichsrat weg, und wenn der Neicherat weg ift, wer wird nachher die Obliegenheiten des Reichsrats erfüllen, das Reich ber raten und die Reſormprojelle lejen? Beſſer iſt es, die Volfsver- tretung berät das Neid) und ber Neichsrat die Volfsvertretung. Wenigen, wie gejagt, bringt das Schipowſche Programm zuviel des Guten. Die „Most. Wed.” halten Schipow gleid) den übrigen Konjtitutionaliften für einen Nevolutionär, mit ber die einzige monarchiſch gefinnte Partei der „Most. Wed.“ feine Gemeinſchaft

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haben fann. Ihrerſeits fiellen fie das monardiftifhe Programm auf, deſſen einzelne Punkte nicht weientlid und eben ſchlechthin monarhiih und ein negativer Wunfchzettel find. Im Zur fammenhang mit ihren Beftrebungen aber erwähnen fie einer Partei der Ndelsmarjchälle, deren Programm fie bereit find zu unterſchreiben, und mit denen jie allein in ber Motivierung bes Programms nicht übereinjtimmen. Dieje Motivierung, die den feſten Willen einer Aenderung des alten Negimes verrät, hebt die Partei der Adelsmarichälle aus dem bureaufratijch:monardiihen Rahmen der „Most. Wed.” heraus. Und diejer fonfervativen Partei, bie fih mehr durch ihre Sefinnung als dur ihr Programm von ben Anhängern der „Most. Wed.” unterſcheidet, gehört augenfcheinlid der offene Brief eines rufjüichen Edelmannes an. Der Schreiber des Briefes teilt mit: Im November vorigen Jahres fand in Mostau eine Verfammlung einiger Adelsmarichälle ftatt, in der die Petition bes Grafen Trubepfoj von vier Adelomarfhällen unterzeichnet wurde, eine zweite Nejolution, die von 13 Adelsmarjcjällen unter: zeichnet wurde, zu unterzeichnen erlaubte ihm fein Eid nidt. Da mals drang er auf die Einberufung einer außerordentlichen Adels: verjammlung, welche indeilen die Adelsmarihälle für überflüſſig hielten. Das Gejeg verjtattet den ruſſiſchen Edelleuten ein Zur fammentreten nur auf den Ruf der Adelsmarfchälle, die Einbe- rufung der Adelsverſammlungen erwartet er von ben Mdels- marjcjällen, die ſchwerlich berechtigt find ohne Einwilligung ber Edelleute Nefolutionen zu fallen und zu veröffentlichen. Er ſchreibt: In Nußland wohnen taujende von Edelleuten auf ihren Gütern, die ſchlecht von dem unterrichtet find, was bei uns vorgeht. Jeder: mann fagt jeine Meinung, nicht ber Adel. Der hiltoriic natürliche und der erite Stand Rußlands verharrt bis jet tatenlos. So frage id) meinen Adelsmarſchall: wird dieſer Zufland mod) lange dauern? Und ich frage weiter mit dem Rechte des Edel— mannes: Können die Adelsmaridälle druden und veröffentlichen ohne die Einwilligung und die Sanftion bes Adels? Ich frage weiter: Hat der Adel feine Marſchälle bevollmädtigt, von ein- ander abweichende Nefolutionen zu verkündigen? Was hat fie davon abgehalten, wenn fie übereingefommen waren fid) privatim zu verfammeln, die Adelsverfammlungen ganz Rußlands einzu berufen? Ich warte mit den übrigen des lang erwarteten Tages, der uns die Möglichkeit gibt, zugleid und in Webereinitimmung wit allen Adelsverfammlungen, als die legten in der Reihe, die Meinung des eriten Etandes, der Edelleute zum Ausdrud zu bringen! Der Ton diejes Briefes erinnert ein wenig an bie Gejtalten Turgenjews.

Nackt und bloß, wie der Menſch zur Welt kommt, ift ihm dod) ein hohes Gut angeboren das allgemeine, geheinte, gleiche

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und direkte Wahlrecht. Das mag in mancher Beziehung unbequem fein, aber es iit fittlih. Dieſer Meinung find die „Birſh. Wed.“ und der ruſſiſche Echriftitellerbund, deſſen Reſoluiionen in der „Rusj” veröffentlicht find. Der Schriftftellerbund beſchloß, das allgemeine Wahlrecht ohne Unterſchied der Nationalität, des Glaubens, der Bildung und des Geſchlechtes, Freiheit jeder Kulturs entwicklung und Autonomie aller frembftämmigen Völfer, bie Bil- dung eines Agrarfonds zum Auffauf des privaten Grundeigentuns und feines allmählichen Uebergangs in den Belig der Nation, und in bie Nupnießung ausichlielich der Landarbeiter, bie politijche und wirtſchaftliche Befreiung des Proletariats und bie Vergeſellſchaft- lichung aller Produftionsmittel. Stets find Voltsbeglüder frei- gebig mit den Menſchenrechten geweien, aber biejes ijt vielleicht mehr plaudite amici!

Die in der „St. Pbg. Ztg.“ veröffentlichte Artifelierie unter dem Titel: „Die baltifhe Preile und wir vom Lande“ enthält, neben einer zutreffenden und fadhgemäßen Schilderung der revolu- tionären Bewegung auf dem Lande an der Hand ber eſiniſchen Preſſe, hauptſãchlich ſchwere Angritfe gegen Die deutſche Preſſe. Cie habe bie Bewegung nicht richtig erkannt, weil fie nur vom nationalen Standpunfte aus urteile und überhaupt feine Fühlung und fein Verftändnis für das Land befige. Diefer Angriff it wohl daran Schuld, daß der Artikel wenig Beachtung von den deutſchen Blättern erfahren. Die „Rev. Zig.“ und die „Düna- tg.” allein haben die undankbare Aufgabe der Verteidigung übers nommen. Die „Rev. Ztg.“ damit, daß fie dem Verfafler einen Irrtum, die Preſſe ſei eine Großmacht, nachzuweiſen beftrebt iit. Die „Düna-Zig.” holt zwecks Verteidigung die glänzende Vers gangenheit ber deutſchen Preife hervor. Veide Blätter weiſen den Gedanken, fie hätten wenig Fühlung mit ben ritterſchaftlichen Selbjtverwaltungsbehörden, weit von ſich. Die beite Würdigung brachte bie „Norblivl. tg." Die „Nühst. Web.“ begrüßen ben Artitel als ein Novum in der deutfchen Preſſe, er ift ihnen eine Sewähr für das Erwaden neuer Strömungen in der deutſchen Gefellihaft, dafür, daß in ben leitenden Rreifen die nationale Frage in den Hintergrund getreten, da fie für die Beurteilung ber neuen jozialen Probleme und Reformideen nicht ausreicht.

Die in dem „Poſtimees“ veröffentlichten Wüniche der Eſten an das Dinijterfomitee find nicht ‚beicheidener, als die ihrer radi— taten leitiſchen Brüder, nur Die gehäſſigen Angriffe gegen den baltiſchen Adel fehlen, fürs erfte iſt der Wunfchettel nod nicht abgeichictt, da mod) die nötigen Unterichrijten fehlen. Yierher ger hört wohl der Auflag des „Boitimees": „Warnung vor Zrres führungen und Irreführern“, eine Animierung zu Petitionen.

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Die Wünfhe der Eften haben beim „NRihst. Meftn.“ einen Entrüftungsiturm hervorgerufen. Er identifiziert dieſelben mit denen ber deutich-Iutheriichen Kreiſe, bie ſich ja auch immer allen heilſamen Neformen widerfegten. Die Verfajler der Wünſche wollen den Einfluß der Adminiſtration in ber Gejtalt des Gouver- neurs, ber Bauerfommiljare, der Volfsichulinipeftoren bejeitigen. Wir wollen dabei bloß. bemerken, fügt er hinzu, daß diefer Antrag zu einer Zeit geſiellt it, wo gerade das ganze Ditleegebiet danf der aufopfernden Tätigfeit gerade biejer Organe, bie ihre amtliche Stellung dabei aufs Spiel jegten, vor ſchweren Erſchütterungen bewahrt ift. Solde Petitionen, find wirklich imftande die Auf- merfjamfeit ber Regierung von den wirklichen Bebürfnifien der Bevölferung abzulenken. Soweit ber „Riihst. Weſtn.“. Zu ber jog. Petition der lettiſchen Intelligenz iſt jegt eine Petition des Kavershofichen landwirtſchaftlichen Vereins getreten, veröffentlicht in. der „Beterb. Awiſes“, fie wiederholt dasſelbe rabifale Programm und.. rüdt nur die agraren. Parteiforderungen mehr in den Vordergrund.

Zu den Bauernunruhen in Livland jchreiben die „Ruſſt. Webom.”: „Ungeachtet der materiellen Folgen dieſer Streits, iſt ihre fittliche Bedeutung für die Arbeiterklaſſe dieſes Gebiets ent- ſcheidend. Diefer Streit führt unabwendlic zur Bildung ftarter, richtig organifierter Verbände der Landarbeiter. Diefe werden offen oder geheim fein, je nad) dem allgemeinen Lauf der Dinge in Rußland. Im jedem Fall find die Arbeiterverbände des Oſiſee- gebiets auch jegt ein Machtfaftor, mit dem bie Regierung ernſtlich rechnen muB. Das Selbjtbewußtjein der Angehörigen der arbeiten den Klaſſe iſt erwacht und hat fich zu laut und offen ausgelprochen, um es jegt noch mit Nepreiialien und verſchwommenen Der: ſprechungen erftiden zu fönnen. Der Arbeiterftand des Gebiets verlangt offen und fühn biejelben Reformen, welde das benfende und freiheitsliebende Rußland erftrebt. Man kann bieje mächtige Bewegung nicht ignorieren, die Augen ſchließen und ihr Entfiehen einem Häuflein bösmwilliger Agitatoren zujchreiben: das wäre ein unverzeihlider Fehler, eine unerlaubte politifche Taktlofigfeit, die nur zu neuen Schwierigfeiten und Verwicklungen des öffentlichen Lebens dieſes Gebiets führen würde. Die Arbeiter jelbjt find offen in die Arena des öffentlichen felbjtänbigen Lebens getreten, feine Gewalt wird fie zum Weichen bringen. Die Arbeiterbe: wegung wird im Gebiet unabwendlich wachſen und ſich ausbreiten, unabhängig davon, wie ſich die übrigen politifchen Parteien zu ihr verhalten werden. Wenn dieje Bewegung in ber Gegenwart öflers ausartet, einen rein fonipirativen Charakter trägt und fih im Kampf mit den Bindernifien- auf Schritt und Zritt ericöpft, fo find die Arbeiter hieran am. wenigſten Schuld, weil fie ja am

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meijten an einem friedlichen Verlauf bes öffentlichen Lebens in» tereffiert find.”

Mir erſcheint diefer Artifel in mehr als einer Richtung bes beutfam, bie Furdt vor politischen Taktiofigfeiten und der Wunſch bier .eine organifierte Kandarbeiterfchaft zu fehen, wie fie meines Wiſſens nody nirgends geglückt ift, da die Organijation der Land⸗ arbeiter wenigjtens bis jept wie es ſcheint aus inneren Gründen, die in der Art diefer Arbeit und dem Lanbleben liegen, jceitert, deden bie nahen Beziehungen des Verfailers zu ber hiefigen Ber megung auf und werfen ein gutes Echlaglicht auf den Zufammens bang der ruſſiſchen Arbeiterbewegung zu ben analogen Vorgängen in den Oftjeeprovinzen.

Die Gründe, die zu den Bauernunruhen hier geführt haben, merben in allen Blättern eifrigft disfutiert. Die ruffiihe und bie fettifch:eftnifche Preſſe ſucht die Urfachen in den ungenügenden Anechtsverhältnifien, den niedrigen Löhnen 2c., die deutiche Prefie bloß in der fozialdemofratiihen -Agitation unter den Landleuten. Es gibt auch vermittelnde Anfichten, -wie ein Brief aus Groß grundbefiper-Rreifen, ben der „Walgus” veröffentlicht, beweiit, ber beide Urjachen zugibt.

Der „Poftimees“ bläjt ſchon in zwei Artikeln zum Rückzuge. In dem erjien „an die Yandarbeitr”, fagt er, daß im Vergleich zu früher in der Lage des Landarbeiteritandes in jeder Beziehung ein großer Fortichritt zum Beſſeren zu fonftatieren jei. Man rede oft im lepter Zeit von ungünftigen MWohnungsverhältniffen der Landarbeiteridaft; dieſe Frage ſpiele auf dem Lande nicht Die wichtige Nolle wie in der Stadt. Die Gefindesinhaber durdyleben eben eine ſchwere Notlage, man könne darum nidt mehr für die Arbeiter tun, als hier und da beijere Koft, befjere Behandlung, bier und da mehr Sonntagsruhe und noch etwa dies und jenes, das wäre aber aud) fait alles, was man fofort tun fönnte. Sicher iſt, daß unfre Gefindesinhaber zur Zeit unvermögend find, höhere Xöhne zu zahlen. Der Artitel fließt: „Wenn die Kandarbeiter zur Beſſerung ihrer Lage etwas zu unternehmen gedenfen, fo mögen fie nüchtern abwägen, was und auf welche Weije ſolches zu tun ſei.“

Ebenfo in einem zweiten Artikel: „Nur ein wenig davon, was wir zu jagen hätten.” Hier jagt das genannte Blatt, daß die Vebertreibung der Unruhen durch die deutichen Blätter politiichen Zweden dienen joll. Das ſoll man bedenken und ſich davor hüten, durd) Unruhen und Gewalttaten den deutſchen Politifern und Zeitungen die Möglichkeit zu geben, dank ihres Konfervativismus die Freundſchaft dev Negierung zu gewinnen. Es fei zu befürchten, daß es den Deutjcen gelänge, die Negierung zu einem Schuß: bündnis mit ihrer fonjervativen Nücichrittlichfeit zu bewegen. Dann kämen jchwere Tage für unfere Heimat, Der Artitel

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fchfießt mit den Worten: „Auch der geringfte Arbeiter, der legte Anecht müßte bedenfen, daß er nicht allein in der Welt, fondern Glied des Ganzen ift, daß jein wirklicher Vorteil mit dem Vorteil bes Volles und Landes eng zufammenhängt und daß er dem Un— glüc nicht entrinnt, in das feine Handlungsweiſe das Ganze ger ftürzt hat.”

Schließlich meint noch ein Rorreipondent der Parifer „Temps“, wie die „Birſh. Web.” zitieren, daß die Urfache der Bauerunruhen in Rußland die mangelhafte Volfsichule jei. Das Volfsichulmeien fonne fid) nicht entwideln, weil die Adminiftration jede landſchaft-⸗ fihe und private Initiative verhindere. Mie foll diefes un- wiffende und ungebildete Voit, fragt er, fremdes Eigentum achten, wie foll es nicht den Legenden von höheren Befehlen, welche die agraren Verbrechen billigen tollen, glauben biejen Legenden, welche die Agitatoren mit befannter Abficht unter ihnen verbreiten.

Wenn wir an der Hand der lepten Enquele der Knechts- löhnung von 1599 —1900 das Bild ber Unruhen in Livland be traten, fo fönnen wir feiftellen, daß die Gebiete des niedrigeren Lohnftandes, die Etrandgegenden md der Pernan- dellinſche Kreis des eſtuiſchen Livlands, nicht die der Unruhen find, fondern gerade die Umgebung ber Städte, wo das Niveau der Löhne am höchſten war, vorzugsweife von den Unruhen heimgefucht wurden , das dürfte wohl für fremde Einflüfe, die hierher am leichteften dringen fonnten, ſprechen.

Von mirtfchaftlichen Fragen wird neben ber Landarbeiter- frage aud die der rationelliten Srundbefigverteilung in den lettifchen Blättern behandelt. In einem Aufſatz des „Balt. Wein.” unter dem Titel: „Wieviel_ Land braucht der Lanb- mann ?” fommt der Verfaiier zu dem Schluß, daß der Landmann 30 Lofitellen braucht, ein mehr oder weniger ift vom Uebel. Dieje alferdings überrafchend einfache Yöjung der beiten Grundbefigver- teilung wird nicht ohne Widerſpruch hingenommen; die „Deen. Lapa“ bringen in einem Aufſaß über den landwirtſchaftlichen Groß: und Nleinbetrieb, der eine gute Bekanntſchaft des Verfaſſers mit der einfchlägigen Literatur verrät, den Nachweis ber Berechti— gung bes Großbetriebes, zeigen auf melden Gebieten der land» mwirtfchaftlichen Kultur die eine Form der andren überlegen, ob- gleich bei uns zu Lande auf vielen großen Gütern die Viehzucht, die Domäne des Nleinbetriebes, höher fteht, als bei ben Ger ſindeswirten.

Die eſtniſche Preſſe wiederholt noch den Ruf der Ruſſen nad) Landverteilung an die Landloſen; zu dieſem Ziveck wird bie Ausdehnung der Tätigkeit der Vaueragrarbanf auf die Oſiſee- provinzen befürwortet, ob das Rreditfgitem wirklich billiger und vorteilhafter it, würde dann bei der Konkurrenz zutage treten.

Bom Tage. 448

8. Mai.

Wenn jede Idee eine Macht ift, mit ber Gedichte und Leben zu rechnen gezwungen find, weld eine Macht repräfentiert ein Ideenſyſtem, das in möglichfter Vollzähligfeit alle Ideen ver- einigt? Augenſcheinlich bie Summe aller Kräfte, bie ben einzelnen Ideen innewohnen.

Diefe Erwägung ift man verfucht den Refolutionen des Petersburger Schriftitellerfongrefies zugrunde zu legen, ber es für gut befunden hat, ſämtliche zeitgemäßen Ideale auf feine Fahne zu ſchreiben. Die Ideen, die im Laufe des verflofs jenen Jahrhunderts in den Köpfen der Ritter vom Geifte geboren murben, die trotz jahrzehntelanger erbitterter Kämpfe nirgends voll verwirklicht wurden, jondern überall im Kompromiſſe eritidten fie alle find unter dem Banner bes Petersburger Schriftſtellerbundes zum imponierenden Ideenkomplex vereinigt. Im ganz Nußland werben heute Programme entworfen und Plattformen gezinmert, mie der techniiche Ausdrud für dieſe Tätigkeit lautet. Unter ihnen ift die Plattform beo Zournaliftentages zweifellos die breitefte. Im paradifiihen Stande der Unſchuld stehen auf ihr die Gedanken nationalüjtiicher und ſozialiſtiſcher Nichtung nebeneinander und tun ſich nichts. Cine Friedfertigfeit, die um fo paradifiiher ift, als nur die fräftigften Gremplare der Gattung einer Aufnahme in das Syſtem gewürdigt find und die Auswahl nad dem Grundfag erfolgt zu fein fcheint, daß cs weniger darauf anfommt, worin die Gedanfen radikal find, als daß fie radikal find. Diefer Orundfag iſt bei näherer Betrachtung weniger befremdlid, als es ben Anſchein hut.

Der Wunſch, alle radikalen Waſſer auf eine Mühle zu leiten, erflärt ihn zur Genüge. Denn in der Tat find die radikalen Elemente der verichiedenften Richtung durch das gemeinſame Intereſſe an einem Bruch mit ben bejtehenden Verhäliniſſen ver- bunden und für den Augenblick veripricht eine Vereinigung der Schlagworte faſt denjelben Dienſt zu leiften, wie eine reale Vers bindung der lebendigen Ideen und ntereffengruppen die Schlagworte haben dabei den Vorzug der größeren Verträglichkeit und Handlichfeit. Und mit den Worten Tolitojs zu veden: „Dan muß vereinigen, es iſt Zeit zu vereinigen“, ſoll nicht der Bruch mit dem Beftchenden auf ungemwifje Zeiten verichoben werden. Die öffentliche Meinung ift träge geworben und bedarf an manchen Orten der Nachhilfe. In Tiraspol, einer ruheliebenden Stadt, muß nad) dem Bericht der „Now. Wrem.“ die ganze öffentliche Meinung von einigen wenigen Rorreipondenten bejorgt werden, die Einwohner bringen es höchſtens zu einem gelinden Staunen über den rapiden Kulturfortichritt. In der Nedaktion der „Mosk. Wed." ift ein monardhijdies Yurcau errichtet worden, wo bie

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Glieder dieſer Partei nach Poftfarten gezählt werden. Cine Roft- farte mit Namen, Stand und Adreſſe und ber ftaatserhaltende Aft ift vollzogen. Irgend welche Parteiverjammlungen find als ungefeglich nicht in Ausficht genommen.

in.den Spalten der „Most. Wed.“ äußert „ein fchlichter Ruſſe“ feinen Unmillen über die Freiheitsbeftrebungen der Intel: ligenz, ein Mitarbeiter bäuerlichen Standes weiſt darauf hin, daß dem Bauer ſchon aus wirtichaftlichem Grunde eine unumſchränkte felbftherrliche Gewalt unenlbehrlich fei, da feine Eriftenz ohne zeit⸗ weilige Gnadenerlaſſe nicht bdenfbar wäre. Er verweilt daher ber Intelligenz ihr müſſiges Gerede über PVolfsrepräfentation und KRonftitutionalismus. Auch in der nationalprogrefiiven Partei Schipows ift nach dem „Mir Bolhij” der Maſſe bes Volkes ein gefährlicher Gegner erftanden, fie ilt eine Partei des Großgrunds befiges, die ihre wirtichaftlichen Intereflen niemals verleugnen und mit der Freiheit nie Ernft maden wird. In romantiiher Um büllung birgt ihr Programm die Formel Atlſakows und Katkows: dem Zaren die Araft ber Herrihaft dem Volke die Kraft ber Meinung!

Mohin fih der Blick des Schrififtellerfongrefies wandte, überall ſah er die einft geſchloſſene Phalanx der Freiheit in zügelr fofer Differenzierung begriffen. Cs galt daher diejenigen, denen die Freiheit und allein die Freiheit am Herzen lag, unter einem Banner zu ſcharen, alle aber, die neben der Freiheit noch andern fonfreleren Göttern dienten, dem Bund ber Freiheitstämpfer ferne zuhalten. Der „PBostimees” fonnte den Nachweis eines ausſchließ · lien Freiheitsdienites unter allen Umftänden nicht erbringen, fein Freiheitsdrang verfagte bei der „Uudiſed“ und ber freien Liebe, beibe erſchienen ihm nicht liebenswert. In feiner Weile aber fonnten die beutichen Blätter dem Kongreß als Bundesgenoiien erideinen. Ihr Freiheitsidenl war das des Bundes nicht. „Ihr Fortſchritt“, heißt e8 in der „Ruoj“ vom 23. April, „mündet in dem Gedanken, daß es ſchön wäre, in die baltiſche Heimat: Heil und ganz die Kultur des deutſchen Vaterlandes zu übertragen. Das ift ein enger Fortfchrittsbegtiff. . . . Das ill der Fortichritt bes baltischen Feudalismus, für den die ruſſiſche Geſellſchaft feine Spmpathien fühlen fann. Die rujfiihe Preije hat weder Grund noch Anlaß, die Vertreter einer fo engherzigen und unzureichenden Auffaffung auf ihren Tag zu laden. Geduld, Maß und Diplomatie find die Ratſchläge der deutſchen Preſſe, die in der Tat nicht mit der tiefen Ueberzeugung der ruſſiſchen Geſellſchaft übereinftimmen, daß nur durch ſchnelle, umfaſſende, einichneidende und entſchloſſene Reform des geſainten Staatsbaues Rußland gerettet werden könne. Auh die Semjtworeform wird dieſer Preſſe als radikal und utopiſtiſch erſcheinen. Noch hundert Jahre Geduld, Maßhalten

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und Verhandeln der Letten und Eften mit dem baltifhen Feuba- lismus ift diefes Programm fortfchrittlih oder ift es teaftionär !*

Auch die Programmlofigkeit wurde in demſelben Artikel ber beutichen Gejellihaft zum Vorwurf gemacht, und es ift in ber Tat in einer Zeit, wo jedermann fein Programm hat, nicht opportun, ohne Programm einherzugehen. Ein Mißverftändnis hat uns mittlerweile zu einer Art Programm verholfen. Die „Norblivl. tg.” veröffentlichte eine Dentſchrift der eſtländiſchen Ritterſchaft von 1870, gerade zur Zeit, wo das Programm: und Petitionsver- fallen an ber Tagesordnung war, ihre Veröffentlihung wurde baher von vielen für das lang erwartete Programm der Deutfchen genommen. Die „Riſh. Web.” haben an dieſes Programm, das gewillermaßen gefpornt und geiliefelt aus den Akten erjtanden war, Betrachtungen über die Unfruchtbarkeit des baltijch: poiiliſchen Ge⸗ dankens gefnüpft. Und der Tat, fie hätten ja jo Unrecht nicht, wenn das, was in jener Denlſchrift von 1870 gejagt war, bie politijchen Gedanken der baltischen Deutichen von 1905 erſchöpfte. ae biefe Veröffentlidung war fein Gedanke, fondern ein Einfall.

Noch immer ftehen wir im Zeichen ber Petitionen. Das Organ ber fozialbemofratichen Partei, die „Pelerb. Awiſe“, Hat drei veröffentlicht: die Petition der Iettiichen Intelligenz, bie Petition des Kavershofihen Landbwirtichaftlihen Vereins und ber Odenſee⸗Fehtelnſchen Gemeinde. Der „Poſtimees“ ſammelt noch immer die Wünfche der Eften und wird nicht müde, immer von neuem zu fleißigem Petitionenſchreiben anzuregen. Leider fteht die jelbftändige Erfindungsgabe in feinem Verhältnis zu der Zahl der Nefolutionen.

Die Akten der Petition der lettiſchen Intelligenz ſcheinen noch immer nicht gefchloffen, die Angriffe auf ben baltijchen Abel haben zu zwei Entgegnungen in ber „Peterb. Ztg.“ geführt, bie erfte, W. R. N. gezeichnet, ftammt aus KRurland, die zweite aus Zivland, dieje hat wieder eine Erwiberung in einem B. H. H. ges zeichneten Artifel befjelben Blattes gefunden. Herr B. H. H. glaubt ber lettiſchen Petition Feine geringe Bedeutung beilegen zu dürfen, weil fie, in den ruſſiſchen Blättern aller Parteirichtungen verbreitet, die öffentliche Dleinung der ruffiichen Geſellſchaft be— einfluffen wird. Dann fommt er auf den Wert biefer ‘Meinung für uns zu ſprechen und auf die Wege, die wir einſchlagen müſſen, um fie zu gewinnen. Ich bin weit entfernt diefen Teil feiner Ausführungen zu beanftanden, nur glaube id), daß die Wege, die er uns weit, nicht neu find, und wie weit fie gangbar, jteht dahin.

Baltifde Monatefcrift 1906, Heft 5, 7

u⸗ Som Tage

Unfre deutſche Preffe ſchenkt Herrn B. H. H.'s Ausfüh rungen uneingefchränftes Lob, und klagt babei, daß fie von ber ruffiichen. Preſſe totgeichwiegen wird. Diefe Klage will ich blok regiftrieren. Die Pelilion ber Leiten haben nur ber „Sſyn Dtjeticheftwa” und die „Birkh. Wedom.“ gebracht; dieſe beiden Blätter kaun man wohl kaum als die Vertreter aller Parteir richtungen auffafien. Ich würde Herrn B. H. H. vorfchlagen, den Aritel: „Die ausgeſchloſſenen alten“ in der „Rusj“ vom 23. Aprit aufmerkſam zu lefen; nad) dieſem werben unfre Blätter wohl geleien, aber um die Eympathien zu gewinnen, wäre es nölig fi ein recht radifales Programm anzulegen, an fertigen Schematen üt eben fein Mangel, fonit Heißt es unerbittlih: „Die baltifchen Deutſchen jehen ben Wald vor lauter Bäumen nicht. Ihnen ift nicht zu helfen! Cs wäre zwedlos geweſen Leute mit ſolchem Horizont auf den Petersburger Kongreß und in ben allgemeinen ruffüchen Verband zu laden. Gering mag die Courtoiſie fein, es fommanbiert eben der falte gejunde Verſtand.“

Die ruſſiſche Agrarfrage ift in den legten Tagen wieder alut geworden. Die Gorempfiniche Konferenz foll diefe und bie mit ihr_zufammenhängende Frage ber Vergrößerung bes bäuerlichen Befiges löfen. :

Bei der Frage nad) der beiten Grunbbefigverteilung gehen ruſſiſche Agrarpolitiler von der Worausfegung aus, bak jeder Arbeiter, ber feine Arbeitskraft im Landbau zu betäligen wünſcht, ein Stüd Land zur freien Verfügung erhalten joll.

Diefe Idee liegt der ruſſiſchen Gemeindeverfaffung zu Grunde, die, wie befannt, bei ber fteigenden Vevöllerungszahl notwendig dazu geführt hat, daß bie Landteile der Bauern fohließlich unmirt- ſchaftlich Mein geworden find. Uan diefem Agrarübel zu ſieuern, wird in ber „Now. Wrem.“ 'vorgeihlagen, zum SHofigitem über zugehen, wie es fi von felbit in dem Weichſelgebiet und den ans grenzenden litauiſchen Gouvernements bildet. Die notwendige Folge wäre aber Aufhebung des Gemeindebefiges und Anerkennung des bäuerlichen Privateigentums an Grund und Boden. Dann müßte ſich der ruſſiſche Agrarpolitifer von der oben genannten DVorausfegung losfogen und fih mit einer landloſen Bevöllerung ausföhnen, die neben der landbefigenden als ihr notwendiges Rorrelat befteht.

Im Anſchluß hieran bürfte es von Intereſſe jein, das agrare Programm der Lonjtitutionellen Partei, das am 28. und 29. April in Moskau beraten wurde, fennen zu lernen. Es fordert eine große Agrarreform, verzichtet im Augenblid auf die Rationalifierung des Grundes und Bodens, weil es praftiih undurchführbar fein dürfte. Den Landmangel der Bauern will es befeitigen, und ba bie bisherigen Mittel, Rolonijation und Baueragrarbanf, nicht ver⸗

Bom Tage. [4

ſchlagen, durch Anfauf des nötigen Bodens durch den Staat und Zuteilung zu ben Landleilen ber Bauern. Der Anfauf der Private güter bürfte auf feine großen Schwierigkeiten itoßen, da ja bie meiften tief verjhuldet find. Um dieje Maßregeln durchzuführen wären Landverteilungsfommiffionen zu bilden, aud müßten bie bäuerlichen Pachtverhältniffe gefeglich geregelt werden.

Bei den „Most. Wedom.“ hat diejes Programm wenig Bei- fall gefunden; fie fchreiben: „Wahrhaftig, die Gedankenarmut unfrer gegenwärtigen ruffiichen Intelligenz it groß. Dabei wie unlogiih:: einmal wollen fie das Land ben Grunbbefigern nehmen, dann wieber die Landanteile der Bauern zum Gegenftand des freien Verkehrs maden damit dieje wieder in die Hände der Aufkäufer geraten.”

Die baltische Selbjtverwaltungsreform wirb in ber lettiſchen Preſſe auch weiterhin einer eingehenden Unterfuhung gewürdigt. Das ruffiihe ceterum censeo in Bezug auf die Semjtwo findet immer weniger Anklang. Die „Nig. Äwiſe“ ſchlagen vor, ben Mittelweg zwiſchen den Forderungen der Nadifalen und der Konſer⸗ vativen zu wählen, den neuen Landtag auf dem Prinzip des Grundbeſites zu baſieren. Die „Balt. Weſtn.“ ſchwankt zwiſchen der verbeſſerten Semſtwo und dem verbeſſerten Landtag. Von der Semſtwo, wie ſie ſich der reife Fortfehritt denkt, willen wir zu wenig, um barüber zu urteilen, für den Ausbau des Yanbtages jpricht das Inftitut des Kirchjpielsfonvents, das leicht zu einer ge: ſunden Selbjtverwaltungseinheit entiwidelt werden kann, welche wir gerade bei ber Semſtwo vermiſſen. Es fommt aber nad) der Meinung des Blattes darauf an, wie weit in der neuen Landes— vertretung die Interefien der Pächter und Arbeiter ſich vertreten finden. Die „Peterb. Mvije“ lehnt natürlic) Das ganye Neform- projeft ab, der „arijtofratiihe Duft“, der an ihm lebt, it ihr zu ſiark. *

Soziale Verhältnife in Finnland,

Einbrüde und Beratungen von

Th. Pettold. —*

'er in ber guten Jahreszeit, ſo etwa im Sommer oder

Frühherbft, nach Helfingfors kommt, der far . fi,

wenn er in einem Hinterhaufe Wohnung gen mmen und aus feinem Fenſter hinausblidt, bisweilen eines Anblicks erfreuen, wie er fi außerhalb Finnlands im Zentrum einer großen Stadt wohl faum irgendwo bieten bürfte. Soeben hat man das jommerheiße Straßenpflaiter, hat man das Geflingel bes eleltriſchen Tram und Gedränge des flanierenden ober geihäftig Hin und ber eilenden Publitums Hinter fich gelaffen, um es ſich in kühler und ftiller Häuslichfeit bequem zu machen, und benft vielleicht, wenn man ans geöffnete enter tritt, ben Genuß friiher Luft mit dem Anblid eines fimpeln großftäbtiihen Hinterhofes erfaufen zu müjlen, aber wie groß und erfreulich ift ba die berraſchung. Denn was man vor fi hat, ift ber ungebrodene Granit, die Steinwildnis bes finniihen Bodens, wie fie ſich urs wũchſiger und fraftitrogender auch tief im Lande drinnen nicht zeigen könnte; gewaltige Blöcke, auf deren Riſſen und Spalten die blaue Glodenblume im Winde fchaufelt, wie auf Goldgrund auf einem Teppich grellgelber Blütenſterne gebettet, eine wilde Flora, anmutiger und lieblicher, als bie in Finnland fo jehr gepflegte Gartentunft fie zu ſchaffen vermödte, und wenn ein warmer Luftzug fie ftreift, vol würzigen Aromas. Vor biefem

Geftein mit feinem wilden Blumenzauber hat die ſtädtiſche Yauwul

Baltifge Monatafchrift 1006, deſt 6. I}

459 Soziale Berältniffe in Finnland.

wohl oder übel Halt machen müffen; man hat hier ganz ungemein viel, ganz ungemein großartig und modern gebaut, und bod, mo der Erfolg die Koſten eben nicht bedie, mohlmweislih innegehalten und ſich befchieden, folange ber Preis von Grund und Boden nicht diejenige Höhe erreicht, die Spreng- und Wegſchaffungskoſten ermöglichte.

Eid in Symbolen zu ergehen und bei ihnen zu verweilen, iſt nicht nach jedermanns Geichmad, und mande bürften faum mit meinem Vergleiche zufrieden fein, aber fo oft ich Helfingfors auffuche, erſcheinen mir jene allmählid immer mehr von ber Bilb- fläche verſchwindenden Hinterhöfe finniſches Granits als eine Art Sinnbild und Gleichnis für den alt überlieferten Geſellſchaftsſtatus bes Landes, der, wenigen nur recht wahrnehmbar und vor der fieghaften Mobernität im fteten Weiden begriffen, doch bie Grunds lage alles wirklich Gefunden abgegeben hat, was diefe leptere in ihrer Entwidlung zu leiften vermochte. Dem Durchſchnittsſchlag ber Beſucher will Finnland und vor allem Helfingfors als eine Art Prototyp der Modernität erfcheinen. Die Tonriftenwelt pflegt ben biefigen Hotels alles nur erdenfliche Lob zu fpenden, es jei alles da fo ungemein mobern, bequem und fomfortabel; ber commis voyageur preift bie geſchmackvollen und Iururiöfen Eta— lagen an ben Schaufenitern; der fremde Ingenieur ift höchlich erbaut über die Präzifion bes finnländiſchen Eifenbahnbetriebes und bie ben beiten weſteuropäiſchen Muftern in nichts nachſtehende Ausnugung der Elektrizität; ber Arditeft Hat feine helle Freude an ber in unglaublidy raſchem Tempo fortichreitenden Bautätigleit; der Sozialpolitifer endlich lobt den Finnländer höchlich bafür, dab er der Frau reichlicher als anderawo Mittel und Wege an bie Hand gegeben, um fi eine jelbjtändige Eriftenz zu ſchaffen, und Tourift, Architelt, Ingenieur, Sozialpolititer und wie fie fonjt noch alfe heißen mögen, die mobernen Menfchen, bie hierher nach Helfing- fors fommen, vergeſſen in hundert Fällen gegen einen, daß ſich hinter jener vor aller Melt ſich entfaltenden Wirklichfeit der „Moberne” eine andre Wirklichfeit verbirgt, die, hier und da zwar verwittert und zerbrödelnd, wie jener Öranit des Hinterhofes, doch den Nährboden abgegeben hat und zu gutem Teil noch heute ab» gibt für die durch den Flugſamen aus dem Weften dem Boden Finnlands einverleibte Wiodernität. Wer fönnte fie alle nennen,

Soziale Verhaltniſſe in Finnland. 451

die: Mächte des Beharrens und der Tradition, die nod auf biefem Boden murzeln: Volksbrauch, Volfsgefang und Volkspoefie, die alte ſtändiſche Ordnung mit ihren Landtagen, die Iutherifhe Kirche mit ihrer eigenartigen Verfailung, den Bauerſtand mit feinem zähen Ronfervativismus.

Was hier als Diodernität und überlieferte Mächte einander gegenübergejtellt wurde, es ift, zwar nicht in allen Stüden, aber doch im wejentlien ber die Meltgefchichte immer und überall bewegende Gegenſatz bes bemofratifchen und ariftofratiichen Prinzips. Man weiß aber, baß jede gefunde Entwicklung auf Ausgleich und Rompromiß beruht, nach bes alten Goethe, dem mandje ben Sinn für das Weltgefchichtliche abjprechen wollen, allbekanntem Worte: „Ülteftes bewahrt mit Treue, freunblid) aufgefaßt das Neue.” Und fo werben ſich denn mohl auch Modernes und Überliefertes zu Erſprießlichem einen Fönnen, wenn und fofern beide willens und imftande find, fi gegenfeitig zu durchdringen, jedes Beſte willfährig eines aus bes andern Hand entgegenzunehmen. Nach leidiger Menſchenart fpielen hier Leidenfhaft und Egoismus be fanntlid) die Rolle der Spielverderber, wem aber die jchöpferiiche Kraft des Lebens nicht gänzlich unbekannt ift, dem dürfte aud das Vertrauen auf bie Zeit und ihre ausgleichende Wirkſamkeit nicht abgehen. Der wenigitens ſcheinbar unüberbrüdbaren Gegenfäge gibt es in Finnland freilich vielleicht mehr als fonftwo; es jei geftattet, ſpäter ihrer zu gedenfen und ben Leſer zuvörderſt auf ein Gebiet finnländifchen Lebens hinzuweiſen, wo Modernität und Tradition fi willig die Hand reichen.

Amerifanifhen Urjprungs und durchaus unter dem Zeichen der Modernität ins Leben gerufen iſt bie in Finnland von Jahr zu Jahr mehr Raum gewinnenbe fog. Samſtola oder Geſamiſchule, eine Schule, in der Knaben und Mädchen von ben unterften Schulz Hafen an bis zur Univerfität ober dem Betreten des praftifchen Lebens ben Unterricht gemeinfchaftlic und gemäß im wefentlichen gleichen pädagogiihen Grunbfägen genießen. Auf diefem Schulgebiet nun zeigt fid) in Finnland eine überaus erfreulihe Durchdringung des Neuen durd das Alte, und anderswo, wie z. B. in Frankreich, wo die Verzärtelung des heranwachſenden Geſchlechts bekanntlich eine typiſche Erſcheinung des Familienlebens abgibt, würde eine derartige Schule gewiß nicht die gleiche Frucht tragen. Strenge

452 Soyiale Verhaliniſſe in Finnland.

Zucht im Haufe, zumal den Kindern gegenüber, war, ala bie erfie Samſkola das Licht des Tages dort erblidte, im alten Finnland eine typiſche Erſcheinung und fie bildet recht eigentlich die uner- täßliche Vorausfegung eines derartigen Schultypus, welcher zugleich ein etwas von ben fittlichen Gepflogenheiten des ftrengeren und in feiner Lebensführung und Weltanſchauung nüchterneren Familien- lebens älteren Datums nur durch andere Mittel zu bewerffielligen imftande if. Nach faft einftimmigern Zeugnis, welches das Urteil des irgend Lebenserfahrenen ſicherlich erhärten wird, bewahrt jene Samffola, bei aller Unbefangenheit im Verkehr der beiben Ger ſchlechter mit einander, die Jugend am beiten vor vorzeitiger Liebelei und vor ben im modernen Leben nun einmal überall zutage tretenden erotiihen Einflüffen, einer Grotif und Liebelei, deren Pflege, gewiß ohne es ſelbſt zu wollen, unfre höheren und mittleren Gejellichaftsigichten durch Kinderbälle und Dekollel leider fo oft Vorjchub feiften. Man täufche ſich darüber nicht, bie vor: zeitige Entwidlung bes Gejchledjtstriebes pflegt recht eigentlich die Rippe zu fein, an der fo oft gerade bie phantajiebegabten Veran— Tagungen, bie bichteriich und gemüllich reich ausgeftattete Perfön- lichfeit in einer Zeit ſcheitert, wo Wille und Urteil nod fo gut wie garnicht vorhanden find und daher von eigentlicer Zuredj- nungsfähigfeit nicht wohl die Nede jein fanı. Für den Anaben egiftiert der verführerifche Reiz des Weibes an fich faum, was auf ihn verführerifch wirft, pflegt der befondere Aufpug des Weibes zu fein, und das Wort „dem Heinen iſt alles rein“, welches belanntlich jo gern gebraucht wird, um eine Diskuffion über dieſe unliebfamen Dinge furzweg abzufchneiden, fann im Grunde nur fo lange ftichhalten, als die indiskrete Frage: „Aber wo ift denn der Reine?” verpönt bleibt. In der Samffoln aber tritt das junge Mädchen ohne allen phantafieerregenden Apparat in fehlichter Häustichleit dem Anaben und Jüngling entgegen, und zwar in einem Betätigungsrevier, das in erfter Stelle der Arbeit und ihrem Ernſt gewidmet ift. Alles phantafieerhigende Grübeln liegt fern ab, bie Gewohnheit läßt den Knaben überhaupt mit andern Blicken auf das Mädchen fehen, als fonjt wohl in dem ſchon etwas heran- gereiften Alter gang und gäbe, und find einmal bie fritifchen Lebensjahre überjtanden, ift das Urteil gereift, der Mille gejtärkt, nun, id benfe, dag Männlein und Fräulein auf dem einmal

Soziale Verhättniffe in Finnland. 453

betretenen, zwar nüchterneren, aber würdigeren und beijere Anwart« ſchaft auf Erdenglück gebenden Pfade eine gute Strede weiter tommen werben.

Gegen die Berechtigung des jungen Mädchens, meben ber männlichen Jugend Univerfitätsftudien obzuliegen, find, von allem andern abgejehen, audı vom moralifhen Standpunft aus Bebenten erhoben worden, die jedoch, was Finnland betrifft, um fo leichter ins Gewicht fallen dürften, als lange ſchon bevor die Samſtola ſich hier zu einem allverbreiteten Schultypus geftaltet hatte, ber finnländiſche Stubent in einer jo harmlos unbefangenen Meije mit den Töchtern des Landes zu verkehren pflegte, wie fie anderswo wohl zu den Seltenheiten gehören mag. Dem Finnländer, ins— befondere aber dem Finnländer fchwedifcher Herkunft, Haftete von altersher ein ſtark entwidelter Sinn für Familienleben und Häus— lichkeit inne, ein Einn, dem es wefentlic zu verdanfen ift, dab man ſich jo außerordentlich wohl und behaglid) im Skandinaviſchen Norden und in Finnland felbit an Orten fühlte, die, mie das Wirtshaus, Hotel oder gar der Bahnhof, ſonſt nicht eben Stätten befonderer Gemütlichfeit zu fein pflegen. Es it hier überall bie orbnende Hand ber Frau zu fpüren, und aud) das Studentenleben in Helfingfors und auf den ſchwediſchen Univerfitäten ift ftets weit davon entfernt geweien, weiblicher Beeinfluiiung aus dem Wege zu gehen. Zumal die Doktor und Magiſterpromotionen hatten ſich hier zu wahrhaften Familienfejten geitaltet, an denen alle weibs lichen Angehörigen des Promovenden, jamt der ihnen naheftehenden Damenwelt Anteil nahmen, ein Brauch, der heutzutage leider ſehr im Schwinden begriffen zu fein jdjeint. Man fuhr mit blumen: geihmüdten Karoſſen zuſammen durd die Stadt, beim üblichen Feſteſſen wurde bunte Neihe gemacht und es war eine weibliche Hand, die dem jungen Gelehrten den Doltorhut oder Lorbeerkranz darreichte. Man fieht, daß es cben feine allzu breite Kluft zu überwinden galt, als mit der Zuerkennung des alademifchen Bürgerrehts das junge Mädchen im SHelfingforfer Auditorium neben dem jungen Manne Platz nahm.

Die Samffola und der gemeinihaftlihe Belucd der Vor: leſungen fonuten nicht ermangeln, der wechleljeitigen Beeinfluſſung beider Geſchlechter ihre ganz bejondere charakteriſtiſche Richtung aufzuprägen Konnte man dem Heljingforier Etudenten aud)

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früher nicht eigentlich nachfagen, daß er mehr als etwa ber Deutiche den altüblichen Kneipgewohnheiten nachging, jo fpielten doch ber heiße Grog und kalte Punſch hier früher feine ganz unbeträchtliche Rolle, und dürfte das Abjtinenzlertum, das heute unter ben finn⸗ ländiſchen Studenten jo jehr verbreitet ift, auch zu großem Teil auf die gleich au berührende Beteiligung ber afademifhen Jugend am Gemeinleben bes Landes zurüdzuführen fein, ein gut Teil davon, zumal aber bie erite Anregung dazu, iſt ſicherlich auf Rechnung weiblicher, Einflüſſe zu jchreiben. Und wie die Aktiva Mäßigkeit und geordnetere Lebensgeitaltung bei der männlichen Jugend auf Weibliches zurüddeuten, jo verdankt bie weiblide ihre oft bewunderungswürbige Nüjligfeit in förperligen Übungen und die damit zujammenhängende Friſche und Gefundgeit ben männ- lichen Einflüilen, die ihr auf der Samjlola und Univerfität zugute gefommen. Dan gehe nur in den Helfingforjer Kaiſanemi-Park und jehe ſich den zum großen Teil von jungen Mädchen geübten Auberiport an, wie er auf einem ftillen Dieeresarm, der biejen Bart im Norden begrenzt, von jlatten geht. Den bunten Filzhut ſeemänniſch verwogen auf fonnverbrannter Stirn, führen die jungen Wilingerinnen, je ſechs und ſechs auf einem Boot, ihre wirklich nicht feidhten Nubderftangen mit einer Kraft und Präjifion, wie fie der beſtgeſchulten Marinemannſchaft Ehre machen würde, während ein fünfgehnjähriger Backfiſch, gelaſſen und nicht ohne eine gewiſſe Wichtigkeit im blühenden Kindergefiht, den verantwortlichen Bolten am Gteuerruder einnimmt. Nicht ohme Grund hat Finnlands hervorragendfier Maler, Edelfeld, in Genre und Landidaft, wie mid) bünft, bedeutender als in der Hiltorie, fid) als Sujet mit Vorliebe die jungen Mädchen Finnlands beim Rudern auserkoren, zumal auf jlillem Landjee und in der Tagesjtunde, wo das herein: bredjende Zwielicht den Gegenfag von zielbewußter Tatkrajt und träumeriſchem Dämmerſchein jo ſchön hervortreten läßt.

Was dem jtudierten Balten, wenn er nad) Finnland fommt, in hohem Grade auffallen muß, iſt die hier allenthalben zutage tretende Unbefangenheit, ja Vertraulichkeit, die man im Verhalten der unteren Volfsklafjen zur ſtudierenden Jugend wahrzunehmen in der Lage if. Die Mehräeit der Heljingforfer Studenten refrutiert fi eben aus jehr beideidenen gejellihaftlihen Kreifen und zu diefem Umftande kommt noch cin andrer, bei weitem mehr

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ins Gewicht fallender Hinzu. Das, mas mir Deutjche wohl das Sinnige, der unintereffierten Rontemplation und Neflerion Zuge wandte zu nennen pflegen und was während unjrer klaſſiſchen Literaturperiode als eine Eigenheit bevorzugter Geiſter galt, pflegt dem mobernen Finnländer in ber Negel ebenfo fern zu liegen, wie jene Art geiftigen Nrijtofratismus, der, unbefünmert um das momentane Zwedliche, jein „Ih“ auch infofern vor feindlidyen und widerwärtigen Verührungen auszuhüten jirebt, als dieſe ihn in Kontaft mit dem Gemeinen, das Wort hier keineswegs in feiner übelften Bedeutung gebraucht, zu bringen drohen. Der moberne Finnlänber iſt durd) und durch Praftiter und als folder ion in der Jugend dem örtlichen Zweckleben zugewenbet, mag biefes auch hier und da äfthetifch veranlagte Naturen zurückſchrecken. Im Durchſchnitt genommen pflegt er feine Studienzeit länger aus— zubehnen, als das anderswo der Brauch, aber man würde ſich fehr irren mit der Annahme, daß er nun auch wirklich dieſe Studienzeit, vom fameradidaftlihen Treiben abgejehen, ganz dem Yörfaal oder der häuslihen Arbeit widmete. Der hiefige Student unterbricht fie wohl auf Donate, ja auf Jahre, um auf jeine Weiſe und foweit feine Kräfte reichen, zu Nug und Frommen des Volkes oder Staates zu wirken, denn überall, zumal in dem un— Bultivierten Norden Finnlands, findet ſich Arbeitsgelegenheit und überall fann man ja fein Scherflein beitragen, um jenes Wohl wirflid ober vermeintlich zu fördern, umd es ijt bei weitem nicht immer der flingenbe Lohn des leidigen Geldes, es iſt in erſter Linie der Patriotismus und aud wohl der Hang, ſich möglidjjt früh an praktiſchen Aufgaben meſſen zu fünnen, was die Veran faflung zu ſolchen Erfurfionen abgibt. Der Philologe ober ber Naturwiſſenſchaft Befliſſene unterbricht jeine Univerſitätsſtudien, um zeitweilig da ober dort als Hilfslehrer an irgend einer Mittel⸗ ſchule gu wirfen; der Nameralijt wird auf feinen Wunſch hin einer Gefängnisverwaltung ober einem Zollamt attadiert; der Juriſt man jdlage einmal das Helſingforſer Hufvudſtadoblad vom 14. Mai e. auf ließ fid) früher wohl man höre und ſtaune in die Zahl der einfaden Konjtabler aufnehnten, um vom Weſen der Polizei und ihren etiwaigen Mißſtänden fid) eine recht deutliche Vorſtellung zu machen, ein Umitand, der das oben Geſagte wohl begreifliher machen dürfte, uls es manchem Lejer

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zuerſt ericheinen mag. Man fieht, an Stelle jenes Hauslehrertums, das ber zeitweilig aus dem alten Dorpat ſcheidende baltiiche Student jo gern zu ergreifen pflegte, gibt es hier eine zahlloje Menge wenn auch nur beſcheiden remunerierter Poften, die noch vor allendlicher Beendigung feiner Studien den Helfingjorjer Stu: denten in alle nur irgend erdenklichen Lebensverhältniiie und bis- meilen in die entlegenjten Wintel des Landes führen.

Eine anbre, gleichfalls dem praftijhen Leben und feinen Aufgaben zugewandte Tätigkeit, die er mit Vorliebe aufjucht, obs gleich er hier nicht immer auf Nemuneration rechnen fann, it die in den zahllojen Vereinen, die der Volfsbildung ober andern philanthropiichen Zwecken dienen; da werben Vorträge an ſog. Volfsuniverfitäten gehalten, Kaſſen im Intereſſe aller nur irgend denfbaren Aufgaben verwaltet, Reben im Sinne der Enthaltfanteit von geiltigen Getränfen an die Volfsmenge gerichtet oder wird das Feftordneramt bei Volfsfeiten und Beluftigungen übernommen. Bisweilen geht man wohl auch feine eigenen Wege, ohne daß ein Verein mit feinen Mitteln Hinter einem ftände. So durchquert der Helfingforjer Student wohl Finnland von Süd nah Nord, von Djt nad Weit, um Flora und Fauna zu erforihen, Sprich- wörter unb Lieder zu ſammeln, oft aud) bringt er einen ganzen Schatz örtlicher Volkstrachten mit heim, die er in den verfchiedeniten Teilen des Landes aufgejpürt und käuflich erjtanden hat, wie denn ein jpeziell zum Behufe finnländiſcher Koſtümkunde in Helfingfors errichtetes und noch heute fi immer mehr bereicherndes Mufeum feinen Beſtand an bäuerlihen Trachten weſentlich derartiger jiuden: tiücher Mühwaltung verdankt. Es mag bei jolden Streifzügen nicht ohne finnomanifche Propaganda abgehen, die dem Helfing- forfer Studiojus um fo leichter fallen muß, als er ſich gemeiniglich ganz als Kind des Volkes und nicht als junger Herr zu fühlen und zu geben pflegt, ein Umjtand, der natürlicherweiſe feine Popu- larität ganz ungemein jteigert.

Nichtung und Fülle jenes großen Stromes, den man als die jogiale Entwidlung eines Landes bezeichnen fann, werden befannt- lich durch unzählige Quellen und unzählige Widerftände bejtimmt, und ich glaube die Vebeutung ber Frauenemanzipation finniichen Schlages nicht eben zu überſchähen, wenn ih in ihr eine jener Quellen jehe, aus denen eine charalteriſtiſche Eigentümlichfeit des

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geiellichaftlichen Lebens in Finnland fließt, das ungemein humane Verhalten nämlich der. befigenden und politiſch maßgebenden Kreiſe dem eigentlichen Wolke gegenüber. Es foll hier ja feineswegs überjehen werben, daß bie nationalen Gegenfäge, ber Antagonismus von Schweden: und Finnentum, bei dem zufehends zunehmenden Erjtarten des legteren, die dod noch immer Wohlhabenheit und Intelligenz in hervorragendem Maße vertretenden ſchwediſchen Bevölferungsbeitandteile, insbefondere der größeren Stäbte, zu ſozialen Konzeffionen drängt, und doc dürfte jeder Kenner ber biefigen Frauenivelt und ihrer Beſtrebungen zugeben müſſen, daß jene Frauenwelt, ganz unabhängig von dem eben erwähnten Drud, foweit ihre Stellung und Mittel es geitatten, das ihrige an fozialer Beihilfe zu tun feinesmegs unterläft. Daß bie nächſten Jahrzehnte die Mühwaltung, die unter dem Namen der Sozialreform von Staat und Gefellihaft Wefteuropas in Angriff genommen. ift, energiſcher noch als bis jept geichehen, fortjegen werden und daß eine zwingende Notwendigkeit hiefür vorliegt, darüber werben wohl nur verhältnismäßig wenige unter den Gebildeten ſich einer Täu— ſchung hingeben können, und als einer ber wichtigiten Bundes- genojien für alle einschlägigen Beitrebungen will mir bie Frau der Zufunft ericheinen, deren Einjag bei dem großen Werk, außer ber Güte und Barmherzigfeit, vor allem noch jener Sinn für das Einzelne und Individuelle fein dürfte, welcher der mehr in Baufch und Bogen und im gewiſſen Sinne doch immer ſchablonenhaft arbeitenden Männerwelt nicht in gleichem Mafe innezuwohnen pflegt. Ein unerläßlides Erfordernis, um fi an diefer großen Aufgabe zu beteiligen, bleibt hier freilich für das Weib die Kenntnis des Lebens, wie es ſich im größeren Stil zu entfalten pflegt, und jene Bildung,. die allein hier die Direltive zu geben vermag. Ungemein daratteriftiih für Finnland ift, daß hier ein Frauentypus, dem man .in Weſteuropa und Rußland nod) vet häufig begegnen kann, offenbar im Ausfterben begriffen ift, ber Typus der Dame nämlich, deren gefamtes Wünſchen und Tun darauf herausläuft, ein Idol für die Männerwelt abzugeben. Das flärkere Vorwalten der Mittelklaſſen, die allgemeine Gepflogen: heit einen Beruf zu ergreifen, vor allem das rings umher rajtlos arbeitende Zwedleben drängen eben jenen Typus der Dame zurüd. Statt feiner jehen wir hier, immer mehr und mehr bie werftätige

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Frau, die Frau, melde durch eigene Erfahrung oder durd bie Erfahrung ihrer Nächſtſtehenden und Freundinnen Kenntnis ger nommen hat von dem Pflichtleben beiheideneren und größeren Stils, und ber allgemeine Bildungsdrang bringt es mit fi, daß babei Vernunft, und oft jehr viel Vernunft und richtiges Ver- ftänbnie mit im Spiele it. Wer fich von diefer Tatſache über: zeugen will, dem rate ich die auf alle Gejellichaftstreije ſich erjtredenbe und eine unglaubliche Fülle von Aufgaben in fich faſſende Tätigkeit des hieſigen Martha-Vereins zu jtubieren, was leicht durch Leltüre der jährliden Necenjchaftsberichte dieſes Vereins geſchehen fann. Schon ber bfoße täglihe Augenſchein belehrt uns über das humane Verhalten ber hiefigen Hausfrau ober Labeninhaberin ihren Untergebenen gegenüber, und wer von ihnen etwa durch Veranlagung und Erziehung weniger humanem Zwedleben zugeneigt fein dürfte, auf die übt auf bie Dauer Beiſpiel und Urteil der gelamten Umgebung eine Art moraliihen Zwanges aus, ber fie ſich der allgemeinen Sitte und Gepflogenheit fügen läßt. Wie häufig, um nur ein Geringes heranzuziehen, ift es mir hier begegnet, daß ich auf meine beim Vermifjen eines befannten Geſichts unter den aufwartenden Mägden und Verkäuferinnen erfolgte. Frage von der Hausfrau oder Inhaberin des betreftenden Ladens die Antwort befam: „D, die habe ich für einige Wochen aufs Land geididt, damit fie fi dort erhole, denn fie fränfelte leider ſchon lange.”

Was foeben in betreff kleinerer und inbividuellerer Ver— hältniſſe herangezogen, es gilt in gleichem Maße für bie Arbeiter- verhältnifie größeren Stils, deren Ordnung dem Staat, ber Kommune oder inbivibualifierter Zweckgemeinſchaft obliegt. Der Ladenſchluß, für die verſchiedenen Geſchäfte auf verſchiedene Tages: ftunden fallend, erfolgt hier durchſchnittlich zu einer bedeutend früheren Zeit als anderswo; bie Vorbereitungen für eine Alters: und Invalidenverjiherung bilden foeben den Gegenſtand lebhafter Diokuſſion in einem’ zu diejem Behuf niedergejepten Komitee, und es bürfte für den ferner Stehenden nicht ohne Intereile fein, die Art und Weiſe kennen zu lernen, in der derartige Angelegenheiten hier gemeiniglid behandelt werden. Vor wenigen Tagen wurde hier feitens zweier Vereine, dem der Handelsgehülfen und der Geichäftsbedieniteten, eine Petition an die örtliche Handelsgilde

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gerichtet, in ber bie beiben Vereine, unter Hervorhebung bes ihnen wohl befannten Gemeingefühls und Wohlmollens ihrer Prinzipale und auf das Bebürfnis der Gehilfen hinweiſend, abends an ben zahlreichen Fortbildungsvorträgen finnifher und ſchwediſcher Zunge teilnehmen zu fönnen, um einen auf alle Gefdäftszweige biefer Art auszudehnenden Ladeuſchluß für fieben Uhr nachmittags baten. Nach längerer Debatte ging die Gilde bedingungsweife auf das Anjuchen ein, ber Ladenſchluß für fieben Uhr nachmittags wurde einitweilen für ein Jahr, mit Ausichluß der Weihnachtszeit, ben Gehilfen zuerfannt und zugleich ein aus den hervorragenbilen örtlichen Gejhäftsmännern zuiammengejegtes Komitee niebergejegt, das fid) anheiſchig machte, durch moralifhe Einwirkung auf die eventuell renitenten Kollegen in Nichtung ihres freimiligen An- ſchluſſes zu wirken, was, da die Dlitglieder des Komitees eben die angejehenjten faufmännifden Firmen ſchwediſcher und finnischer Zunge an Stelle und Ort vertraten, an einem jpäteren allgemeinen Intraftjegen jenes Beſchluſſes nicht weiter zweifeln läßt.

Auch der perfönliche Verkehr zwiſchen Herrihaft und Dienft- boten, Arbeitgebern und Arbeitern, wie überhaupt ber oberen Geſellſchaftoſchicht, ſobald diefe in Berührung mit ber unteren fommt, nähert jid in Finnland einer Vertraulichkeit, wie man fie bei uns in ben Baltiihen Provinzen nur jehr felten antreffen dürfte, und man fann wohl mit Recht Hinzufügen, baß in ber Regel der Heine Mann hier durchaus nichts von jener Dreiftigfeit und jenem zubringlihen Weſen dabei an ben Tag zu legen pflegt, wie es leider jo oft bei dem entiprechenben Verfahren bei uns zu bemerfen iſt. Hier und ba begrüßen fich wohl ein Stubent und ein einfacher Arbeiter mit freundlichem Händedruck auf der Straße, es find eben Verwandte, ober fie haben in irgend einem Verein, der ja jedermann hier zugänglid, vorher Belanntſchaft gemagı. As id vor einigen Jahren aus einer Art jugendlicher Bewun- derung für die derbe Plaſtik Bürgerfcer Dichtung bes Dichters ehemaliges Heim in dem Göttingen benachbarten Altengleihen auf ſuchte, hatte ich Gelegenheit in einem Kreiſe jugendlicher Referen-⸗ dare und Ausfultanten, lauter ehemaliger Böttinger, Aufnahme zu finden, die eben im Begriff waren, ſich über die Autorſchaft ber. Unterſchrift von Klinferfuß’, des berühmten Aſtronomen, Bildnis : „&s irrt der Menſch fo lang er jtrebt“ zu itreiten, wobei einige

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ber übrigens fehr freundlihen und in ihrer Jurisprubenz gewiß wohl befchlagenen Herren auf Uhland, andere auf Heine rieten. Ein junger Mann, befjen Obliegenheiten in dem übrigens urgemüt- lichen Wirtshaus fih nur wenig über die eines gewöhnlichen Kellners erheben mochten, fchlängelte ſich dabei in äußerfter Ber fangenheit rund um einen überaus ftramm und felbftbewußt brein- ſchauenden Jünger des höheren preußiichen Staatsdienftes, der bei der Disfuffion durdaus auf feinem Heine beharrte und bem ihn umfreijenden Trabanten hin und wieder einen freundlich verlegenen Blid zuwarf. Als bie Herren nad dem üblichen Frühſchoppen ſich wieder aufs Amt begeben hatten, teilte mir ber foeben noch hart Vedrückte nicht ohne Stolz mit, der Herr Neferendar, neben dem ich joeben geſeſſen, jei fein leiblicher Bruder, dem gewiß, banf feiner glänzenden Fähigteiten, eine gute Karriere .bevorjtehe, und, fügte er mit befonderer Lebhaftigkeit hinzu, „es wird ganz gewiß Deine gewefen fein, das fünnen Sie mir ſchon glauben.” Diefe alte Geſchichte ift mir in Finnland mehr als einmal in den Sinn gefommen.

Die friedliche Nüceroberung Finnlands durch das auch kul—⸗ turell immer mehr Raum gewinnende genuine Finnentum muß wohl uns Balten als ein, Prozeß erjcheinen, der uns nidt eben anheimeln fann, und diefe Nüceroberung liegt fo klar zutage, daß jedes Sichhinwegtäuſchen über fie zu den Illuſionen zu zählen iſt. Zängit ſchon ift nichts mehr von jener früheren Gepflogenheit bes Finnen, wenn.er es zu Vermögen und Bildung gebradit, für einen Schweden gelten zu wollen, fpürbar, und wer die faihionabeln Stadtteile von Heljingfors verläßt, um ſich in den ganz unver häftwismäßig umfangreideren Nevieren der Stadt, die ber Fremde nur jelten. betritt, umzufehen, hört fait ausſchließlich und allein finniſch fpredhen, und fann, wenn man ſich in ſchwediſcher Sprache verflänbigen will, in zehn Fällen gegen einen, ficher jein, nicht verſtanden zu werden. Wie eine Art trogiger Yerausfo-berung gegen. bas früher allgewaltige Schwebentum ragt ſchon jeit ein poar Jahren das finniihe Theater dem älteren Kunjtmujeum Finnlands gerade gegenüber, ein wirklich gigantiiher Bau, ein wenig ans Enflopenhafte erinnernd und in feiner robujten Ger ſchloſſenheit wohl auf ein Jahrtaujend berechnet. Sollte der Tempel der mimiſchen Kunſt nad Richard Wagner wirflih das Zentrum

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fein, in dem alle Rünfte, harmoniſch vereinigt, durch ihre Gejamt- mirfung jenes xaRov x ajadov ber Griechenfultur einem zu jungem Selbjtbewußtfein kommenden Volle einzuflößen hätten, nun, fo würde ber inne fierlid mit den Unfummen, die er für feinen Theaterbau ausgegeben, ſich feiner Verſchwendung ſchuldig gemacht haben; ob aber und inwieweit die Perle der genuin finnifhen Kunſt ber Großartigfeit ihres Gehäufes entiprechen bürfte, ja, darüber wagt Schreiber dieſes ſich Fein Urteil beizumeifen. Ein Gutes mindeftens fann dem langjährigen und noch fange nicht zu Ende geführten Antagonismus zwiſchen Schweden: und Finnentum in Finnland mit vollem Recht nachgeſagt werden, und das ift, daß diefer Antagonismus dem Lande eine ganz ungemein rührige ſoziale Gefchichte gefchentt hat, die die von Haus aus vielleicht etwas trägen Bolfsgeifter gewaltſam aufrüttelte und, wie mir ſcheinen wil, bie gegenwärtige Kultur Finnlands im Bunde mit ber Wiederbelebung ber Kandtagstätigfeit in ben fechziger und bem ungewöhnlichen materiellen Aufſchwunge in ben fiebziger Jahren bes vorigen Jahrhunderts recht eigentlich zuwege gebradt hat. Tem Welteifer auf dem Gebiete fozialer Tätigkeit, welder ganz weſentlich als eine Folgeeriheinung jenes Antagonismus zu be trachten üft, entſpricht nun namentlich das Daß der Anteilnahme aller Geſellſchaftsklaſſen am Wohl und Wehe der Gefamtheit, welche Anteilnahme, je nad) dem politifchnationalen Standpunft des Einzelnen, ja allerdings oft von einer Art Fanalismus dikliert, in die Irre gehen kann, im Großen Ganzen genommen jedoch das bürgerliche Bewußtfein in hohem Grade geitärft und gereift hat. Es fei bier nur auf ein der jüngften Vergangenheit angehöriges Beiſpiel hingewiefen, weldes zwar bei uns fehr verfdiebene Ber urteilung finden wird und das ich, ohne irgendivie Partei ergreifen zu wollen, lediglich als haratteriftiich für die Art anführen möchte, in der jegt, da bie Wogen bes Parteitampfes in Finnland wieder höher zu gehen beginnen, diejer Rampf geführt wird. Ganz vor furzem, id) glaube es war noch im Vai, hatte ſich in dem fleinen finnifchen Städtchen Kajana, wo fi ein Volkoſchullehrerſeminar mit finnifher Unterrichtoſprache befindet, das Folgende zugetragen. Die fogenannte fonjtututionelle Partei der Spelomanen und Jung-Finnomanen hielt in dem Orte ein Meeting ab, an dem der örtlihe Seminardireftor, ohne eine Einladung erhalten zu

42 Soyiale Berhältnifie in Finnland.

haben, teilzunehmen ſich gemüſſigt fühlte, obgleich er zur fonfer- vativen Partei ber Alt-Finnomannen oder Suomelarianer, wie fie nach ihrem Preßorgan jet bier genannt werden, gehörig, laum auf einen befonders wohlwollenden Empfang feitens ber Verſam— melten rechnen konnte. Mas vorauszufehen war, geſchah, benn der übrigens vielleicht ſehr tüchtige Pädagoge wurbe ausgeziicht, wichtiger aber war, daß er bei der Gelegenheit ſechs von jeinen Seminariften in ber verpönten Verfammlung antraf und ihnen allen das consilium abeundi erteilte, was zur Folge hatte, dat fämtliche Seminariften ihren Austritt aus dem Inftitut erflärten. Bei uns zu Lande würde man von einer ähnlichen Sache wohl nicht viel Aufhebens machen, anders hier, mo der freiwillige Austritt jener Seminariften und das Verhalten des Direklors in der liberal-foefomaniichen und jung-finnomanüchen Preſſe und Gejell- ſchaft einen Sturm der Entrüitung ober ber Bewunderung wach: tief, der an bie berufenen Göttinger Sieben und ben König Georg Auguft von Hannover erinnern kann. Eine ganze Woche lang wurde ber Fall in den beiden Helfingforfer Zeitungen eingehenditer Behandlung unterzogen, ein von hunderten Volfsfchullehrer beiuchtes Dieeting in Helfingfors legte feierlich Proteit ein gegen das Ver— fahren des Direftors, eine ähnliche Protejtäußerung fam von Hangö und bie Seltion ber fogenannten Ojterbottuinger unter ber hiejigen Stubentenichaft beglücwünfchte durch ein Telegramm bie Semina- riften für ihr ftandhaft patriotiches Verhalten.

Eine der in Petersburg zur Stunde fo häufig tagenden Ver— fammlungen, in denen ber rufiiiche Radikalismus jeinem Glaubens- befenntnis und feinen Defideraten Ausdrud gibt, hat fi jüngithin in der Richtung ansgeſprochen, man folle rufjiicherfeits ben Finn: länbern bie Geſtaltung ihrer eigenen Dinge durdaus anheimgeben, vorausgeſetzt, dab die fünftige Nepräfentation des Landes auf dem allgemeinen, bireften und geheimen Wahlrecht beruhen würde. Dan fieht, jenem Radikaliomus iſt die heutige ſtändiſche Ver— faſſung Finnlands ebenfo wenig fympathifch, wie es ihm früher das ariftofratiiche Selfgovernment der Balliſchen Provinzen war. So fehr Hier nun and) früher die alte jtändiihe Ordnung in ihrer tulturförbernden Bedentung, wenn aud nur andeutungsweiſe, ge: würdigt wurde, daß ihr noch eine lange Dauer beichieden fei, dürfte doch mehr als fraglich erſcheinen. Dem gewaltig ſich

Sopiale Berhäftnifie in Finnland. 463

tedfenden und ftredenden Körper des Sozialen mil, wie mich bünft, das ſtramm zugeſchnillene Gewand bes überfommenen heimifchen Staates mit feinem Ständelum, das ber Modernität fo fehr miberfpricht, nicht mehr ganz entſprechen. Zieht man bie Familienvertretung des zwar fehr feiftungsfähigen, aber zufolge feines nur jehr mäßigen Landbeſihes namentlich örtlich wenig bedeutenden Adels, das nad der Rommunalfteuerpflicht bemeijene Pluralitätsftiimmrecht ber ftäblifchen Bürgerfhaft und den Wahl⸗ mobus, mie er bei Priefter und Bauer vorhanden ift, zieht man das alles in Betracht, fo wird deutlich, daß im Grunde nur ein ſehr kleiner Teil ber Vevölferung an der Bildung des Gefamt- willens, wie er auf dem Landtage, wenn aud unter ſtändiſchen Formen, zum Ausdrud fommen fol, partizipieren fann. Stellt man biefer Tatfahe den ftarfen Pulsfchlag öffentlichen Lebens, die Intereffen, Ansprüche und Beftrebungen, mit einem Wort bas- jenige gegenüber, was wir hier bei Ermangelung einer andern Bezeihnung ſchon mit dem etwas ſchulmäßig laufenden Terminus „ſozialer Faltor“ bezeichnen müſſen, fo dürfte es ziemlich deutlich fein, daß die alte ſtändiſche Vertretung über kurz oder lang hier einem auf andrer Bafis errichteten Vertrelungsmodus Plag machen wird. Was in betreff des fepteren, man möge ihm durch einen Zenfus und indirefte Wahlen einen noch jo fehr fonfervativen Interefjen Rechnung tragenden Charakter geben, zu ſchwerwie genden Bebenfen Veranlafjung geben muß, wäre wohl die Frage, in wier weit durch einen derartigen Schritt bie fpaltenden Gegenläge zwiſchen Finnen: und Schwebentum ausgeglichen, gefteigert oder gar im Sinne der Aleinherrihaft jenes erfteren entichieden würden, denn bei bem alten jtändifchen Qertretungsförper war, folange der Wahlmodus der Städte intaft blieb, wenigitens Parttät zwiſchen beiden Stämmen gefidhert, indem dem finnomaniichen Bauer- und Prediger, oder wie man hier fagt, Priejteritande der ſwekomaniſche Abel und das fwelomanifche Bürgertum die Wage hielten. So mandje Beforgnis ſich bei derartigen Fragen geltend machen mag, einen Troft fann man dem fdhwediihen Element in Finnland geben: das finnijche nämlich, fo jehr es aud bisweilen das örtliche Schwedentum prinzipiell zu negieren liebt, ift, fofern es zu Bildung und Wohlſtand gekommen, dur eine lange Geſchichte fo durch und durch in Yebensgewohnheiten, Glaube, Staats: und

464 Sopiale Verhaliniſſe in Finnland.

Rechtsanſchauung von ſchwediſchen Fermenten durchdrungen und geſältigt, daß wenn einmal bie völlige ſoziale Gleichheit beider Elemente, aus denen das Volf Finnlands ſich zufammenfegt, der- mafen zur Gewohnheit geworden ift, daß biefe ſich als altera natura ausweilt, bas Defiderat des frieblihen Neben- und Ins einander wohl zur Wirklichfeit werben dürfte.

Beitere Gedanken zur Pfarrteilung in Livland.

Von 9. Riekhoff, Paſtor zu Torgel.

I Februar⸗ Heft biefer Monatsſchrift ift ein Vortrag von Paftor Rechtlich Gudmannsbach über die Pfarrteilungsfrage erſchienen. Gin jeder Leſer wird ſchon vorher den berührten Noiſtand unfrer Landeskirche gekannt haben, liegen doch die Tatſachen jedem Landeskinde täglich vor Augen. Es ift eine förmliche Reife von einem Paſtorat zum andern. Auf das livfändiihe Durchſchnitts- tirchſpiel entfallen nicht weniger als rund 350 Duadrat-Rilometer, ein Flähenraum, an ben mander deutſche Kleinjtaat nicht heran— reiht. Derielbe Flähenraum umfaßt in Preußen jtatt einer ca. 10, in Sachſen 20 Parodien uſw. Freilich haben Skandinavien und Finnland noch manche ausgedehnte Parochien, aber in biefen Ländern iſt entweder die Bevölkerung nach jehr dünn gefät, ober es arbeiten bei größerer Seelenzahl mehrere Geiftlihe, manchmal 4—5, an einer Gemeinde. Bei uns trifft Beides zu— fammen: der riefenhafte Umfang mit ber riefen» haften Seelenzahl. Die Livländiide Kirche hat in biefer Beziehung einen Weltrekord erreiht. Nur die von aller Welt abgeſchiedenen und aus diefem Grunde nicht zum Vergleich geeig- neten Wolgafolonien können ſich mit Livland meljen, ebenfo ein Teil der wirklichen Diafpora in Rußland durchaus nit bie ganze, wieberum fein Vergleihspuntt. Neben die ganze übrige evangelifhe und aud) die katholiſche Kirche geftellt, hat die Livlän- diſche demnach Die menigiten geiltlihen Kräfte. Je mehr nad Djien, um fo ſchlimmer wird es damit, denn bie Führung haben der Werroſche, Dorpater, Fellinfhe und Wallſche Kreis. Nur bie Infeln bieten ein erfreulicheres Bild. Unire Schwejterprovinzen, Eitland und namentlich Kurland, find ſchon etwas beſſer Beer: Battifce Monatafärift 1905, Heft 6.

186 Zur Poreteifung im Sioland.

bennod) « bfeibt bie kirchliche Niejengemeinde als erſchreckendes Charatteriftilum ber ganzen baltiſchen Erde beftehen.

Wenn alfo der Auf zur Abhilfe aus Livland zuerſt ertönt ift, war das ben Verhältniſſen entiprechend, doch ift es eine fo große Angelegenheit und Aufgabe, daß fie durchaus allſeitiger Beſprechung bedarf, wenn fie werben folle. Deshalb möchte ich in biefem einige ergänzende Bemerkungen zu Paftor Rechtliche Ausführungen bringen, mit bem ich mid in allem Wefentlichen natürlich eins weiß. Was ih vorbringen will, iſt in der Haupt» ſache dasfelbe, worüber ich mid auch fchon auf Synoden auszu⸗ fprechen Gelegenheit gehabt habe. Die weiteren Bemerkungen follen fi) beziehen I. noch auf den Notſtand felbft, II. auf feine geſchichtlichen Urſachen, III. auf feine Abhilfe.

I Weitere Bemerkungen zum Notſtand ber Riefengemeinden.

Hier möchte ich verfuchen Marzulegen, daß der Notſtand noch um ein Stüd größer ift, ala bisher gezeigt worden. ch darf zugleich fagen, daß es aud in dem nun folgenden Punkte zu einer völligen Verftändigung zwiſchen Paſtor Redtlih und mir gefommen if. Weshalb nun iſt der Notftand nod ein Stück größer, als gezeigt worben? Weil es nicht angeht 5000 Seelen ſchlankweg noch für eine Normalgemeinde zu erflären. Diefe Zahl bezeichnet gewiß nur bie äußerte Norm, während das wirklich Normale erſt in der Lage von 3000 beginnt, noch weiter hinunter liegt dann das Ideale. Auf das Ideal fann man, ob» wohl mit Wehmut, verzichten, aber vor der Forderung bes Nor: malen gibt es fein Ausweichen. Bricht fih alfo in Livland alle mãhlich bie Überzeugung Bahn, daß die Fünftaufendgemeinde feine Heine Gemeinde, jondern vielmehr die eben gewordene Niejen- gemeinde ift, wird es ebenfalls klar werben, daß ſchon eine ſolche fo bald als nur irgend möglidy geteilt werden muß. Dann jeboch mädjit der Prozentſatz ber teilungsbebürftigen Pfarren Livlands noch um ein beträchtliches; der Notjtand iſt, wie gejagt, noch größer, als bisher gezeigt worden.

Die aber nun, wenn die hier aufgeftellte Norm disfutabel wäre? Wenn andre, wie Paſtor Rechtlich andeutet, der Meinung find, daß auch 7000—8000 Seelen noch von einem Paftor feel: ſorgeriſch bedient werben können, andre 5000 für feine übermäßige Aufgabe halten womit will Schreiber diefes das von ihm genannte Maß als das einzig richtige erweilen? Gibt es über-

Zur Pforrieilung in Lioland. 487

haupt ein einheitlich geltendes Maß? Nun, ein bis auf bie Seele genau befiimmbares ſelbſtverſtändlich nicht, aber doch eine ungefähre Richtſchnur, wie bei allen Dingen. Wo ift aber jegt ber ftringente Beweis, daß gerade zwiſchen 3000 und 5000 ſich das übergangsſtadium von Normalem zum Unnormalen befindet, ober mit andern Worten, daß von 3000 Seelen an aufwärts bie ſeelſorgeriſche Arbeit auf Schwierigkeiten zu ftoßen beginnt? A priori einen ſolchen Beweis auszuredinen ift gewiß ſchwierig und dazu undanfbar, da derartige Voranfchläge nur wenig Glauben finden. Aber die Erfahrung muß wohl gelten, eine jahrer, jahrzehnter, ja jahrhundertlange Erfahrung? Und nun erſcheint als Erfahrung der ganzen evangeliſchen Kirche eben die oben angeführte Norm. Deshalb muß fie richtig fein. In Deutfchland, um mit unfrem geiftigen Mutterlande anzufangen, fteht die durch⸗ ichnittliche Seelenzahl für ganz Deutihland gerechnet eher unter 2000 Seelen pro Pfarrer, als barüber. Ein unbedeutender Reft von Parochien in Oftpreußen, bie an unfre Verhältnifje ger mahnen, iſt Berntungsgegenftand der legten preußiſchen General ſynode gewejen. Dan hat mit herzbeweglichen Worten die fofortige Verkleinerung berfelben verlangt. Faſt die Hälfte davon waren Gemeinden von nur 5000 Seelen, nad) unjrer Nedeweife geſprochen. Alfo fieht man dort bei 5000 bie marimale Grenze bes Mögliden bereits überfhritten. Wenn ferner in ben großen Induftriegentren urplöglid) ebenfalls Hiejengemeinden entjlanden find, ſteht man auch dort nicht der Tatſache indifferent gegenüber. Ohne das Ziel der Pfarrvermehrung aus den Augen zu laffen, hilft man fih nur einjtweilen mit dem Injtitut ber inneren Miſſion. Diejes die beutfche Auffajjung unjrer brennenden Frage. Auf anglofähjifhem Boden (England, Schottland, Nordamerika, Auftralien) finden wir durchgängig noch kleinere Gemeinden, als auf deutſchem, jedoc auch in den ſtandi— naviſchen Ländern (Schweden, Norwegen, Finnland) kommen weniger als 3000 Seelen auf einen Geiftliden. Der Biſchof von Finnland Guftav Johannjon hat die Güte gehabt, mid, über dortige Verhältniffe zu orientieren. Unter andrem heißt es in. dem betreffenden Schreiben wörtlich: „Bei uns ijt man ber Meinung, daß ein Pfarrer nicht die Seeeljorge bejorgen fann, wenn die Parodie mehr als 3000 Einwohner hat!“

So ift es denn eine Erfahrung aller, daß die Normal gemeinde ſich zwiſchen 2000—3000 Seelen befindet. Haben wir

Pr

488 Bur Pfarrteilung in Siolanb.

es aber mit einer Zebenserfahrung aller zu tun, dürfen mir bier felbe unbedenklich auch a priori annehmen? Wird es fernerhin durch Gottes Gnabe zu bebeutender Vermehrung der geiftlihen Kräfte und damit zu ausgebehnterer Seeljorgemöglichleit für dem Paſtor bei uns fommen, wird nicht weniger unfre eigene Erfahrung immer entfchiebener ber allgemeinen recht geben? An Anzeichen für die wachſende Erfenntnis fehlt es ſchon jet nicht. Diele gewichtige Perfönlichleiten unter unfren Landpajtoren verlangen feit längerem Heranziehung von Laienhelfern für bie paftorale Arbeit, gewiß doch nur, weil fie merfen, daß die eigene Kraft nicht genügt. Es find darunter auch folde Geiſtliche, welche Gemeinden von 5000 Eeelen vorjtehen. Dies ift nun doch Die Einfiht, daß ſchon ein ſolches Kirchſpiel mehr nötig hat, als einen einzigen Paſtor. Es ſcheint nur der beichriebene Weg fein gang» barer, mas ſchon daraus erfichtlid, daß die betreffenden Männer fo wenig Schule machen. Die an fi jo löbliche Abſicht hat aber ein „Aber"! Wird in einer größeren Stadt fold ein Helferdienſt organifiert, finden ſich nicht nur leichter paſſende Helfer, jondern unter ber Anzahl der Paftoren immer auch folde, die durch fpeziell organifatorifche Begabung geeignet find, die Seele der ganzen Ein- richtung zu werben. Unter ber unmittelbaren Führung dieſer vermögen dann auch die übrigen Brauchbares hervorzubringen. Wie anders verhält es fih auf dem Lande? Die Jioliertheit des einzelnen Predigers, bie bei uns jtets außergewöhnlich groß bleiben mirb, bringt es mit fih, daß jeder für ſich ausgejprochener Orga» nifator jein müßte, wenn der Helferdienſt gedeihen joll. Weil aber eine ganze Kirche von Paſtoren dieſe bejondere Gabe nie befigen wird, gehört es meines Erachtens einfach zu den phyſiſchen Unmöglidfeiten, daß ein für unſre Niefengemeinden genügender Diafonat über ganz Livlanb Verbreitung finden follte. Deiner Meinung nad ift dies der einfache Grund, weshalb jene Dlänner nit Schule machen, obwohl es ihnen gewiß nicht an Anjehen und Anerkennung fehlt. Es hat aud), wie wir fahen, feine andre evangeliihe Landeslirche bei entitehenden Niejengemeinden dem Diafonat, fondern immer nur die Pfarrteilung ins Auge gefaht. Natürlich foll damit nicht behauptet werden, daß ein jeder Helfer⸗ dienſt verpönt wäre. Auch in der Normalgemeinde wird ber Paſtor immer Helfer haben müſſen. Er wird aber dort die Hauptarbeit perjönli ausführen, fo daß für die Helfer nur Ergängungsarbeit in Frage kommt. Beides it forreft. Ganz anders in ber Niefens gemeinde, hier müßte wegen Nichtlönnens auf Seiten des Predigers

Zur Pfarrteifung in Siofand. 489

die Hauptarbeit den Helfern verbleiben, der Paſtor hätte gleichſam nur ein bifchöfliches Auffichtsamt. Allein, da lag ja ber Fehler! Ein jeder treue Chrift mag bei genügender Vorbildung ein guter Seelenhirte werben, zum höheren Auffihtsbeamten jebod gehört eigentümliche Veranlagung.

Hiemit darf wohl das Kapitel über den Notjtand geſchloſſen werben. Derſelbe iſt alfo, mit dem Maßſtabe aller übrigen Kirchen gemeilen, noch etwas größer, als nad) ben bisherigen Schilderungen, der Diafonat aber bietet fein paſſendes Nemedium. Wir brauchen für jeden Full die nötige Zahl von Paftoren und Kirchen. Es iſt gut fo, wenn wir uns jofort anfangs bie ganze Notlage vergegen- märtigen. Nur wer die ganze Gefahr überblidt, rüftet ſich voll. Endlich geht es aus rein organifatoriihen Gründen nicht an, das Land zuerft in Kirchjpiele von 5000 Seelen zu teilen, ‘um dann jpäter einmal vielleicht auf 3000 überzugehen. Die kirchlichen Mittelpunkte müfjen doch bei dem einen Plan ganz anders gewählt werden, als beim andern. Wie will man fie denn fpäter vers jegen, da wir doc wohl feine fliegenden Kirchen und Paſtorate zu bauen gebenfen?

U. Beitere Bemerfungen zu den geſchichtlichen Urfahen des Notitanbes.

Bejondere Wirfungen haben auch befondere Urjahen. Die außerordentlid) betrübende Erideinung, daß das livländiiche evan- gelifhe Volt nad vierhundertjähriger Entwicklung kirchlich noch fo überaus ungenügend verjorgt ift, muß aud eine außerordentlich traurige Geſchichte hinter fich haben. Nun, von den drei baltischen Provinzen hat Livland als Lieblingsipielball ber Völler die ſchwerſte Vergangenheit. Es wird aber in diefem Zufammenhange erfordert, im bejonderen darzulegen, welche Schädigung das kirchliche Leben durch die allgemeine Lage erlitt. Paitor diechtlich Hat den geichicht: lichen Teil nur kurz berührt, deshalb möchte id) eine etwas eins gehendere Beleuchtung verjuchen.

Kaum war die Neformationsfirhe motdürftig organifiert, entlud ſich auf diejelbe ſchon der wilde, finnlofe Polenfturm. Gottes Gnade verkürzte, wie immer, aud) dieſe Zeit äußeriter Bedrängnis, dennoch lagen ſchon unzählige Kirchen in Aſche und Staub. Es folgte nun die ſchwediſche Zeit, wahrlid) wie heller Sonnenſchein nah dem Gewitter! Selbſt feit und warm im lutheriſchen Glauben jtehend, hatte die ſchwediſche Negierung ein

470 Zur Pfarrteilung in Siolan.

Herz für unfre Wunden. Sie begann fofort mit dem Mieber- aufbau der zerftörten Kirchen und Neuinftallierung ber Geiſtlichen. Sie machte fi aber aud an den MWeiterausbau ber Kirche. Sie ſchuf die Negulative und Grundgefege einerjeits, anderſeits jedoch aud neue Kirchen und Pfarren. Nah Buſch find in ſchwediſcher Beit nicht weniger als 20 Kirchen gebaut, wo früher feine waren, und 19 Pfarrteilungen ins Werk gelegt. Das war bamals fein geringer Progentfag. Danad) unterliegt es wohl feinem Zweifel, daß fie es ſich angelegen fein fieß, unſre Verhältniſſe nad) der eigenen, ber Norm Schwedens, zu geitalten. Aber die gegebene Zeit war zu furz, um das gejegnete Werk zu vollenden, es blieb ein begonnenes. So ift denn der Grund, daß unſre kirchliche Entwidlung zum Stillftande fam, rein hiſtoriſch betradtet eben die Kürze der Ehmedenregierung. Da in der nachſchwediſchen Zeit, obwohl fie ſchon boppelt jo lang geworden, nur 7 neue Kirchen (gegen 20) gebaut und 14 Pfarrteilungen (gegen 19) bewirkt find (alfo nur 3/ reip. 7 verhältnismäßig). ift diefer Beweis wohl erbracht. Doch ift noch mandes an inneren Gründen zu nennen. Die nachſchwediſche Zeit des 18. Jahrhunderts fülten allgemeine Armut infolge der vielen ſchweren Kriegsläufte, Leibeigenſchaft und ſchließlich auch der Nationalismus, --- drei Verbündete, gegen bie es meuſchlich geredet fein Auftommen gab. Mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts freilich verzogen fi Die Wolfen raſch eine nad ber andern. Ein neuer wirtihaftliher Aufſchwung machte ſich bald bemerfbar, das Jod) der Leibeigen— ſchaft fiel, von der Kanzel verſchwand bie öde Vernunftpredigt allmählich, das einzige und allein Jebenfpendende Evangelium kam von neuem zu Ehren. Dennod jehen wir auch dann nod nicht, dab das filtierende Pfarevermehrungswerf mieber in Angriff genommen wäre. Was waren die Gründe?

Ein andauernd anormaler Zuftand pflegt ſchließlich Apathie gegen denfelben hervorzurufen. Aud) bei verbeilerten Verhältniffen dauert 8 dann meilt immer eine Zeit, ehe fid der Menich aus der Apathie weden läßt. Dieje allgemeine Urſache wird gewiß aud mitgewirkt haben. Allein es zeigen ſich noch bejondere Ur— ſachen. Auf Seiten des Volkes find es die von Paſtor Rechtlich geltend gemachten Gründe. Gar zu wenig perfönlices Verhältnis zum entfernten, unerreihbaren Prediger, der, wie es jich bei Riejengemeinden von felbjt ergibt, in bie Erfcheinung bes einzelnen nur dann tritt, wenn er ihm wegen jchwererer oder ſchwerſter Delikte vor fich zitiert, ein oberfter Direftor der Kirchenpolizei.

Zur Pfarrteilung in Lioland. 4a

Dazu ift er in den Augen des Volkes ſchwer reich, endlich mehr oder weniger aud) ein fremder, ber wenigitens im 18. Jahrhundert faum feine Sprache verfteht. Es wurden ja damals die Prediger noch meijt direft aus dem Auslande berufen. So viel Gründe, fo viel Grade der Erfältung gegen ben Paſtor im -Vollsherzen. Wahrlich, es ift fein Wunder, wenn vom Bolfe feine Initiative zur Baftorenvermehrung ausging, fein Wunder, wenn ein Bolt, das nichts befjeres gejehen, den Fehler zu ſehr in den Perfonen, ftatt in den Inftitutionen juchte, ja noch heute teilweife in biefem Irrtum befangen it.

Allein, weshalb fehlte die Jnitintive zunächſt auch auf Seiten ber führenden Kreife? Weder auf dem Lundtage, noch unter ben Nädjjtintereffierten, den Paftoren, ertönt ein energiicher Wedruf. It es, zu Anfang wenigjtens, die oben erwähnte eingetretene Apathie? Iſt es für die Gutsbefiger aud der Umijtand, daß fie Die Prediger, die meijt rege in ihren Häuſern verfehren, perſönlich nicht vermiſſen? Sind es von außen kommende Hemmniſſe, bie die Schaffensfreudigfeit lähmen? Sind es andre Pflichten und Aufgaben, bie von der Pfarrteilung abziehen? Zit es unfre Volks— ſchule, die zu gründen war und tatjählid” in andauernder Arbeit geichaffen wurde? Da in der Tat die livländifhe Volks— ſchule das Lieblingstind des 19. Jahrhunderts genannt werden darf, ift e8 wohl möglich, daß ihretwegen zum .großen Teil der Weiterbau an der Kirche länger aufgehoben wurde, als es gut war. ebenfalls iſt die Tatſache begeichnend, daß nad) genügender Ausgeltaltung der Schule in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts die Pfarrvermehrungsidee doch Schließlich wieder mehr hervortritt. Es wird der Pfarrvermehrungsfond gegründet. Mehrere Pfarr— teilungen entwideln fih. Alſo es jheint, daß, wenn aud nad langem Warten, unjre Kraft doch eud— lih für das große Wert frei geworden iſt. Nach einem Anfangsftadium der erjten zaghaften Schritte im legten Abſchnitt des verfloffenen Jahrhunderts wird die volle Arbeit ſich nun gewiß entfalten fönnen. Das erfte Menfhenalter des neuen Jahrhunderts wird auf kirchlichem Gebiet der Pfarrteilung in eriter Linie gehören dürfen. Noch viele andre Bedingungen jdeinen erfüllt, noch viele andre Reime bereits zu ſprießen. Im Folgenden wird davon mehr die Rede fein. An diejer Stelle will id nur nod) auf das jüngjte große kirchliche Greignis, die uns gewährte Glaubenofreiheit hinweiſen. „Laſſet uns wirfen, folange es Tag iſt!“ Die nägjjte Aufgabe aller aber, die für unfre teure Kirche und

17 Zur Bforrteifung in Siofand.

unfern Herrn Jeſus Chriftus wirken wollen, it, über Mittel und Wege zur normalen Organifation der livländifchen Kirche nachzu— denten. Es iſt bie rechte Stunde! Je mehr guter Nat geſucht mird, um fo beffer. Daher bitte ich meine nun folgenden Bemer: tungen zur Abhilfe fachlicher Prüfung unterziehen zu wollen.

1. Weitere Bemerfungen zur Abhilfe.

Paſtor Rechtlich fordert zur Abhilfe zweierlei: auf der einen Seite größere Genügſamkeit der Pajtoren, auf ber andern frei- willige Selbftbeftenerung der Gemeinden! Zunädjit ift der erftere Wunfh nicht unberedhtigt. Die verhältnismäßige Meite unfrer Verhältnifie hat eine relative Großartigkeit unfres allge— meinen Lebenszujchnitts erzeugt. Der Huf zu größerer Einfachheit iſt daher wohl für alle gebildeten Stände mehr oder weniger berechtigt. Nicht zum mindeften hat er Geltung für die Land» paftoren. Die Einzigartigleit unjrer Pfarrwidme, verbunden mit ber ftarfen perſönlichen Beteiligung des Geiſtlichen an ihrer Ver: waltung, maden ihn nit nur in den Augen des Landvolfes zum großen und reihen Dianne. Auch bei ganz objektiver Beur- teilung behält er diefen Anjtrid und in vielen Fällen nicht ohne folide Unterlage, denn wir haben faktiſch eine Reihe über bas Maß des Notwendigen erklecklich hinausgreifender Pfründen. Voritellungen von livländiſchen Landpfarrern mit Miniftergehältern von 10—12,000 Rubeln entjtammen ja natürlid) der Phantafie, aber e8 gibt dody ein paar Pfarren, Die an 5000 Rbl. Netto: Einnahmen tragen, und eine Anzahl ſolcher, die fi) um 4000 bewegen, jebenfalls zum Schaden der Gemeinden, wo es fid um große Kirchſpiele handelt. “Freilich muß ebenſo nachdrücklich gejagt werden, baß bie Mehrzahl der Paſtorate gegenwärtig nicht mehr, als zur beſcheidenen Lebensunterhaltung gerade nötig ift, abwirft. Von 108 Landpfarren, über die mir die Angaben zu gebote jtehen mb das find fait alle —, tragen 60 weniger als 2500 Hbl. Netto ein. Viele Pajtoren kämpfen fogar, fobald die Frage der Kindererziehung an fie herantritt, mit der Eriftenz. Das Schlimme aber iſt, daß auch in ſolchen Fällen der Schein des großen Pfründen- inhabers vielfach bleibt. Auch in ſchwachen Pfarren gibt es häufig größere Ländereien, auch auf folden muß der Paſtor feinem aus: gebehnten Bistum zuliebe oft 3-—4 Pferde halten, wie foll da das Volt ihn von jeinem beſſer fituierten Nachbarn unterſcheiden?

Meines Erachtens wäre num ein Doppeltes anzujtreben, um die Geftalt des livländiihen Paſtors von dem Unpaſſenden zu

Zur Pfarrteilung in Lioland. 473

befreien. Zunãchſt müßte allerdings die gar zu große Ungleichheit der Einnahmen allmählich befeitigt werden zu gunften eines Ein- heitsfages, der dem gegenwärtigen Durchfhnitt nahe fommt. Über die Art, wie das geſchehen könnte, laſſe ih mic) an biefer Stelle nicht weiter aus, Sodann müßte darauf hingewirft werben, baß unfer Baftor mit ber Verwaltung der Bfarrwidme nihts mehr zu Schaffen Hätte. Außer einem Landftüc im Umfange eines Meineren Gefindes, weldes burch einen Knecht, der zugleich Kutſcher ift, bewirtſchaftet werden kann, follte er nichts in Händen haben. Alles übrige Land müßte vom Kirchjpiel jelbit verwaltel wenden, womit ich aber nicht fagen will, daß der Konz vent in feiner jegigen Geſtalt die pailende Gemeinbevertretung wäre. Dieje beiden Ziele müßten jtetig bis zur Erreichung ver- folgt werden. Soviel fönnte getan werden, um ber Forderung größerer Einfachheit entgegen zu kommen.

Was ift es nun aber mit -der Forderung der Selbſtbe— ftenerung? Wir jehen jept deutlich, daß wir zur Pfarrteilung weit mehr bedürfen, als größere Genügfamfeit ber WPaftoren. Welche Kräfte fönnten ba nun wirtjam gemacht werden? Iſt die freiwillige Selbjtbejteuerung ber Gemeinden eine foldhe Kraft und zwar die ausidlaggebende? Cs gibt bereits viele Kirchen: törper, die mit diefem Mittel der Erhaltung allein ausfommen ! England, Schottland und Norbamerifa jtehen hier an der Epige, jedoch auch unfre lutheriſchen Diafporagemeinden in Rußland haben nit wenig durch diefes Prinzip geleiftet. Selbit livländiſche Städte haben von ber Not gedrängt die Selbjtbejleuerung einge führt, und mit gutem Erfolge. Soviel ijt jedenfalls daraus zu eriehen, daß dieſe Art der Kirchenerhaltung auch auf lutheriſchem Boden moͤglich iſt. Rein prinzipiell betrachtet iſt die freiwillige Selbſtbeſteuerung der Gemeindeglieder natürlich der beſte Exhal- tungsmodus. Sie ſichert der Kirche die Unabhängigkeit und ſtimmt allein zum Geifte des Neuen Teftaments. Sonach müßte fie eines der Entwidlungsziele aller kirchlichen Gemeinſchaften bilden. Grundfäglid einen Zwangsbeiteuerungsmodus vorziehen if alio ohne Frage vom Übel. Wenn es bei uns Anhänger desjelben gibt, mögen fie nod) bedenfen, was fie von der Regierung an Stelle unfver bisherigen Negulative verlangen müßten, um die unaufſchiebbare Pfarrteilung ins Leben zu rufen. Bei Verwendung des Zuſchuſſes aus den Pfarrländereien hätte, je nad) der Größe und Güte berjelben, eine Gemeinde von 3000 Seelen immer nod) ein jährliche Budget von 2000—3000 Rol. zu bewältigen, um

4 Zur Pfarrleifung in Lioland.

die Kirche und ihre Diener nebit den Gebäuben zu erhalten. Glaubt man nun eine ftaatliche Zwangsbefteuerung zum Beſten unſrer Kirche in diefer Höhe erportieren zu fönnen? Mir aller: dings icheint dieſe Dlöglichfeit fait ausgeſchloſſen. Deshalb gejelle ich mich nicht nur aus prinzipiellen Gründen, fondern auch wegen praftifher Bedenken, zu denen noch mande anbere, als bas genannte fommen, den Rufern nad) der Gelbjtbefteuerung zu. Gegen die Selbftbeiteuerung wird nun in eriter Linie angeführt werden, daß eben unſer Lanbvolt ganz und gar nicht daran gewöhnt ift, etwas freiwillig für die Kirde zu tun. Paſtor Rechtlich und ich, wir jelbjt haben ja dieſe Tatjade erwähnt. Man wird jagen: in den deutſchen Gemeinden unfrer Städte hat die Gewohnheit, für Firdliche Amtshandlungen größere Akzidenzien auszuwerfen, bie Gemeindeglieder zu weitergehender Selbftbejteuerung gut vorbereitet. Deshalb ging es damit vorwärts, als die Not— wendigfeit herantrat. Auf dem Lande dagegen iſt eitel ungepflügtes Land in dieſer Beziehung, was joll da wachſen? Wir leugnen nun, wie erfichtlid, feineswegs, daß unfer Landvolt hierin noch ungepflügtem Lande gleicht. Es wird darum gewiß mehr ober weniger Zeit und Geduld erforderlich fein, um die Grasbede mürbe zu maden. Das joll uns aber nicht von der Arbeit ab» halten, wenn wir anders nur nicht überhaupt an unjrem Volke verzweifeln müſſen. Hiezu ift aber ganz entidieden feine Veran- lafjung! Gewiß haben aud) die Ejien und Xetten ihre großen und einen Fehler, allein wer wollte behaupten, daß fie feine entwidlungsfähige Nace wären? Gerade die Gegenwart überzeugt uns vom Gegenteil. Wird der gährende Moſt auch mandesmal unbequem, fo zeugt er doc) von werbendem Wein. Iſt aber ber Betätigungstrieb auf allen Gebieten erwacht, darf mit Sicherheit angenommen werden, daß ebenfalls der Trieb zur kirchlichen Akti— vität ſchon lebendig geworden iſt. Die rege Beidäftigung der nationalen Preije mit den einihlägigen Fragen bejtätigt dieſe Annahme ohne weiteres, Cs müſſen nur die Hinderniſſe hinweg- geräumt werben, dann wird ber Trieb hervorbreden und es wäre dod) jammerſchade, wenn wir gerade die Zeit des jungen Triebes für die kirchliche Selbjterpaltung ungenügt vorübergehen ließen. Das Haupthindernis, das vor allem abgeidafft werden muß, ift die Niejengemeinde ſelbſt. Gie it gegenwärtig der Hauptfaftor zur Erjtidung bes aktiven Gemeindes lebens. Cie läßt fein Gemeindebewußtiein, fein perſönliches Ver— Hpältnis zum Paſtor auffommen die Grundbedingungen der

Zur Pforrteifung in Siolanb. 45 Selbfterhaltungswilligfeit. Die Teilung hat biefe legtere zur Vorausfegung, aber fie fördert dieſe ebenjo fehr. Ferner wird eine den Verhältniffen und der Aufgabe entiprehende Gemeindes organifation nad) erprobten Mujtern als andre Stütze der Selbſt- bejtimmung zu ſuchen ſein. Selbjtverfiändlid) werden wir in mandem wohl auch ein Übergangsfadium durchzumachen haben. Wo zum Veijpiel die Wirte durch die alten Regulative ſiark belaftet find, wird man, folange dieſe noch gelten, mehr oder weniger nur bie Gemeindeglieder zur Selbjtbeiteuerung heran: ziehen, welde nicht Wirte find. Es wird alfo Altes und Neues zunãchſt noch nebeneinander bejtehen. Das ſchadet nichts! Uner- läßlich iſt nur, daß allen erwachſenen und felbjtändigen Gemeindegliedern ihre Pflicht, an der firdlihen Unterhaltung teilzunehmen, nahe gebracht wird. Freilich werden dann ebenfalls auch die Nechte allmählich ſich etwas verjchieben.

Wenn ic) fomit der Selbſtbeſteuerung entidieden das Wort geredet habe und von ihr Bedeutendes erwarte, fann ich dennoch nicht an diefem Punkte ſchon ftehen bleiben. Ich glaube, daß dieje beiden Mittel relative Genügſamkeit ber Paſtoren und Selbjtbejteuerung die Anjprüde zunächſt doch nidt voll befriedigen werden. “Für ein Jdeal, wie in Schoit- fand, wo fattiſch die Selbjtbejteuerung alles macht und zwar in faſt Iururiöjer Weile, wird eine Landestirche, die zum eriten Dial in dieſer Hinſicht ſich movieren will, nod) nicht veif jein. Um jo weniger dürfen wir ſolche janguinifche Hoffnungen hegen, als bei uns nicht nur Erhaltung des Beitehenden, fondern durd die all« meine Teilungsnotwendigfeit geradezu Gründungsarbeit in Frage tommt. Unſre Aufgabe iſt nit nur ungewohnt, fondern auh ungemwöhnlid!

Deshalb bin ich der Überzeugung, daß vorerjt für eine jede alte wie neu zu gründende Pfarre ein gewiſſes Firum ber Einnahmen unerläßlid jein wird. Das Fehlende nur wird von der Selbjtbefteuerung erivartet werden Dürfen. Wenn id num danad) Umſchau halte, woher dieje für uns unumgänglich Icheinende Ergänzung hernehmen, glaube ic) zu jehen, daß Gott auch dafür gejorgt hat. Wie es Gottes Leitung ift, daß die Fähigkeit der Gemeinde zur Selbttätigfeit ji unbemerft vorbereitet hat, erblide ich aud) darin Gottes Fürjorge, da; er uns ein bedeutendes Kirdenvermögen für diefe Tage erhalten hat. Das ift aber nun wiederum unjre mit andern Ländern verglichene unverhältnis: mäßig große Pfarrwidme. Hat diefe und die Art ihrer Verwal

478 Zur Pfarrteifung in Lidland.

tung im Verlauf der Gedichte aud) einigen Schaden gebracht, erſcheint fie jetzt doch wiederum als rettende Yanb, denn id meine mit Nechtlich, daß wenn auch nicht anders, jo doc) bei Neubefegung zu großer Pfarren, die Einfünfte aus ben Ländereien als eim grundfegendes Firum unter foviel Pajtoren, als notwendig find, verteilt werden fönnten. Das Kirchſpiel beruft in dem Falle eben gleich mehrere Paſtoren. Es fagt einem jeden Prediger ben auf ihn entfallenden Anteil des Pfarrwidmenertrages als feites Gehalt zu, ebenfo die Intraden eines bei jedem Paftorate befindlichen tleineren Grunbjtüdes plus Wohnung. Gleichzeitig organifiert das Kirchſpiel aus eigener Initiative die Selbftbejteuerung und verweiſt die anzujtellenden Geiftlihen für ihre weiteren Bedürfniſſe auf diefe. Iſt jo der Untergalt der verfchiedenen Paftoren einigermaßen gefihert, können fie fofort ihre Tätigkeit beginnen. Mögen auch nit alle von ihnen gleich zu Anfang ein eigenes Pajtorat und Kirche befigen, eine etwas hergerichtete Mietwohnung ober ein Schul: oder Bethaus tun es für die erjte Zeit ebenfalls. Cs ſteht eben ferner ganz feit, daß eine Gemeinde normaler Größe, wenn fie fid) erit daran gewöhnt hat, einen eigenen Paſtor zu haben und zu erhalten, nicht früher ruhen wird, als bis auch die eigene Kirche nebſt Paitorat entitanden iſt. Wo der Paſtor feiten Fuß gefaßt hat, fommt das Übrige wohl fpäteftens in einem Menjchen- alter von jelbjt, während das Umgekehrte durchaus nicht Regel ift. Mo eine Filialfirhe erbaut ijt, verlangt die Gemeinde deshalb nod) lange nicht Pajtorat und eigenen Prediger, quod exempla docent! Wie viele Filialen gibt es nicht bei uns feit Jahrhuns derten, die nicht die geringften Anftrengungen in dieſer Richtung gemacht haben. Iſt man erft geordneter pajtoraler Pflege ent: möhnt, geht es auch jo: bloß Filiale, bloß Stieffind zu fein. Dan ijt dann ſchon zu abgeftumpft, um biejes recht zu empfinden. Darum glaube ich, daß bei fommenden Pfarrteilungen gerade bie alten Filialen trog der vorhandenen Gebäude mehr Schwierigfeiten bieten werden, als völlige Neugründungen. Ganz ohne Beweije ſcheint dieſe Meinung aud nicht mehr dazuſtehen. Deshalb iſt fiber, daß es die Sache vom verkehrten Ende anfallen hieße, wenn man aud in Zufunft bei Einrichtung neuer Pfarren in eriter Linie nach Kirche und Paltorat rufen würde, in der Meinung, vor Sicherſtellnng diefer garnicht an die Teilung gehen zu dürfen. Auf diefem Wege würde die Sache überhaupt meift ad calendas graecas vertagt werden, weil ſich gleich im Beginn ber Unter: nehmer die Verzagtheit bemächtigen würde. Viel mehr Mut wird

Zur Porrteifung in Siofanb. a7

man bemeilen, wenn die ſchier unerreichbar eriheinenden Pflichten als unauſſchiebbare gelten. Man beginnt dann in guter Zuverficht mit dem Leichteren zuerſt, und fiehe, durch Gottes Gnade wird fpäter auch das Unmögliche möglich! Die jchottiihe Freifiche iſt durchweg fo gegründet worden, daß juerft nur die Pajtoren ba waren. Später erjt erwuchlen dem jegt fruchtbar gemachten Boden die Paftorate und Kirchen und diefes Wachstum war ein wunderbar fröhliches.

Wir müſſen nun von biefem notwendigen Seitenjprung wieder auf ben Weg zurückkommen. Es war von ber Verteilung der Widmeneinfünfte als Fira für die einzelnen Prediger die Rede. Diejes erfhien als erjte Grundlage der Pfarrteilung unvermeidlich. Deshalb muß diefes Fundament auch jtark genug jein, d. h. ich meine ein jedes Firum dürfte nicht weniger als 1000-1200 Nbl. betragen, außer Wohnung und dem feldftbewirtidafteten Gefinde. Es müßte aljo, wenn die Teilung vor fid) gehen joll, die Widme wenigjtens jo viele Taufende aufzubringen imftande jein, als das Kirchſpiel Geiſtliche braucht. Diejes Ziel muß irgendwie erreicht werben.

Am Ziele, oder ganz nahe dabei, befinden fich bereits 22 teilungsbedürflige Gemeinden unfres Landes ohne Oeſel, das ült, da nur die Rieſengemeinden mitzählen, fujt ber vierte Teil. Eine weitere Reihe von Pfarren hat annähernd das Erforderliche, doch viele find auch nod) weit, manche ſehr weit dahinten. Wie fönnten womöglich alle auf die Norm gebracht werden? Es gibt, jo viel ich fehe, zwei Wege, die dahin führen, und jeder muß betreten werden. Der eine heißt „zeitgemäße Melioration der Pfarrländereien!” Fur diefen Gedanfen iſt auch Paſtor Warres-Wendau im verfloiienen Jahr auf der Provinzialſynode eingetreten. Das Zeichen „Melioration“ ijt über dem ganzen Sande aufgegangen. Man wird es deshalb geundjäplid nicht befremdlich finden, wenn die Forderung aud für Paſtorate aus— geſprochen wird, um jo weniger, als a priori anzunehmen, daß bier in dieſer Beziehung noch weniger geſchehen iſt, als auf Gütern. Ein kurzer Hinweis wird für lepteres den Veweis liefern.

Wenn in einen jo fleinen Lande, wie Livland, die Menge des Heinertrages von der Kofftelle des Gejamtarenls zwiſchen 50 Kop. und 5 Nbl. ſchwankt, obwohl die Pacht pro Xofitelle Feld nur geringe Abweichungen aufweiſt, it eo unmöglid, das nur auf günftigere oder ungünftigere landwirtfchaftliche Lage zu ſchieben; es muß bier auch die beſſere oder ſchlechtere Ausnutzung des Landes

478 Zur Pforrteilung in Livland.

eine bedeutende Rolle fpielen. Die nähere Beichäftigung mit ber Art der Sandverteilung und behandlung auf unfren verfchiedenen Pajtoraten beftätigt dieje Annahme.

Unfer fiegendes Kapital ift aljo durch rationelle Behandlung des Bodens vergrößerungsfähig. In welchem Maße diefes zutrifft, läßt ſich natürlich nicht für jeden Ort genau vorher beftimmen, nur im allgemeinen jcheint gewiß, dab burd die Melio: ration viele neue Pfarren als teilungsfähige zu den bisherigen hinzufommen würden. Cs muß daher zunãchſt dafür geforgt werden, daß die einzelnen Widmen von paſſenden Kommiſſionen auf ihre Dieliorationsfähigleit genau unterfucht werben, die zweite Frage wird dann die Art der Melio— rierung bilden.

Allein, gejegt nun auch den Fall, daß alle livländiſchen Paftorate wefentlich zu verbefjern wären, was gewiß nicht zutreffen wird, wäre ein Verſuch zur Pfarrteilung immer noch nicht allent⸗ halben möglid. Cs find eben unfre Bfarrländer doch gar zu ungleihmäßig. Cs gibt nicht nur große, fondern auch ganz Meine Widmen. Die größefte befipt an Hofesland, das ja für die Melioration in erjter Linie in Betracht kommt, gegen 3000 livl. Lofitellen. Daneben aber ftehen ſolche, die fih in den erſten Hundertern bewegen, einige jind auch ganz ohne Hofsland. Ebenſolche Verſchiedenheiten zeigt das Bauerland. Die geringen Widmen finden fi nun häufig gerade in den grojen und größten Kirchſpielen. Es liegt auf der Hand, daß hier feine Melioration etwas für die Wfarrleilung austragen wird. Hier Hilft nur ein einziges Mittel, und weil cs das einzige ift, kann es nicht unge nannt bleiben. Es üt die Vergrößerung der unge— nügenden Widmen.

Man möge über diefen Ausipruc nicht erichreden. Damals in der erſten Gründungspeit haben ſich hochherzige Werfonen zu vielfach wirflid) bedeutenden Landitiftungen bereit finden laſſen. Die Gründungsarbeit ift dann aber durch die Ungunjt der Ver: hältniffe unterbrochen worden. Jebt foll und kann fie fortgeführt und beendet werden. Dazu gehört dann doch auch die Fortführung nnd Beendigung damals unvollendet geblicbener Landichenfungen, damit ſich der Landbeſitz der Kirchſpiele doch wenigitens annähernd ausgleihe. Die gar zu große Ungleichheit desfelben iſt eben ein bedeutendes Übel und Hindernis. Aber, wird man hierauf viel: leicht erwidern: „Was bedeutete Land damals und was iſt es jept?” Gewiß. Iſt aber der Wert des Yandes jet nicht ein viel höherer,

Zur Pfarrtellung in Livland. 49

hat das Sand eben auch für bie Kirche einen entſprechend höheren Wert. Ein Meineres Landſtück bietet ihr jeßt basfelbe, wie ein um fo größeres damals. Hielt man damals in mancher Parodie eine Stiftung von Taufenden Lofſtellen für nötig, werden wir jegt mit Qunderten ausfommen. Und noch ein weiterer Um: ftand, der heutige Schenkungen weſentlich erleihtert! Damals im Anfange der Gründung wollten ſich die Stifter das Patronatsrecht vejervieren. Deshalb mußten fie die ganze Stiftung auf bie eigene Schulter nehmen. Neue Patronate erftrebt jegt wohl nier mand, es iſt deshalb nicht mehr erſte Vorausfegung, daß bie Kirhenländereien in den Grenzen eines einzigen Gutes belegen find. Einem jedem Gute des Kirchſpiels wäre es heute unbe nommen, ihre noch ungenügende Widme ergänzen zu helfen.

Der im legten Abſchnitt ausgeſprochene Gedanke kommt gewiß unvermittelt, dennoch wird man, das barüber Gefagte zufammenhaltend, wohl einfehen, daß er fein phantajtiicher üft. it er aber im Plane des Ganzen gleid notwendig, wie zeitgemäß zugeſpitzt, wird er nicht in Dunit vergehen. Gott wird auch diefem Geftalt und Wirklichfeit geben, da er für feine Kirche gewiß neue Liebe und Opferfinn wirken wird.

Damit hätte ih nun in der Hauptſache aud) alles gejagt, worin meiner Überzeugung nad) die Möglichkeiten unjrer Pfarr— teilung ſchlummern in dem allmähliden Breden mit dem Pfründenjyitem, in der freiwilligen Selbſtbeſteuerung der Gemeinden, in ber Melio— ration der Pfarrländereien und in der Vergrö— Berung der ungenügenden Wibmen.

Zum Schluß nod einige Worte über unfre hierher gehörigen Kaſſen. Cs find das „die Unterſtühungskaſſe für die evang.luthe riſchen Gemeinden Rußlands“ und der „PBfarrvermehrungsfond“, der zwar aud) von den Bezirkskomitees der erfteren verwaltet wird, aber von ihr doc) völlig gefonbert ift. Zunädjjt möchte ich bemerken, daß die Unterjtügungsfaffe felbjt für unjre Bfarrteilung une wenig in Betracht kommt. Infolge der Beitimmung, daß die Hälfte ihrer Einnahmen dem Zentralfomitee in St. Petersburg zufteht, it es eo ipso fchon feine Zandesfaffe. Bei unjern Landgemeinden iſt fie auch durchaus nicht als ſolche, ſondern nur als Unter- ftügungsfaife für arme lettiiche und eftnijche Gemeinder der Dia: ſpora populär. Darum dürfen die nad Petersburg gelangten Gelber garnicht anders als für die Diajpora Verwendung finden. Wir dürfen fie eigentlid unter feinen Umjtänden für unfre eigenen

480 Zur Pferrteilung in Sioland.

Bedürfniſſe zurüdverlangen, wie bas vielfach geihehen ift, mit ber uns rechtlich gehörenden Hälfte ift aber fo wenig anzufangen, dab es bei einer fo großen Frage, wie ber fivländifchen Pfarrteilung, nicht mitfpriht. Für biefen Zwed brauden wir eine Kaffe, die eigens dafür vorhanden iſt; das ift num allein der Pfarr: teilungsfond, nur diefer wirb daher eine Rolle fpielen. Es fragt ſich nur, welche ihm zugeteilt werben foll. Ich meine keines— falls biefe, ein Niefenfapital zu gründen, aus beifen Zinfen dann die ganze livländijche Kirche zu erhalten wäre. Das wäre ein ganz verfehltes Unterfangen; ich jtüge wieder Paſtor Rechtlichs Gedanken. Hälte ein großes Kapital unfrer Kirche Rettung und Ruheliſſen werden jollen, wäre der Anfang mit dem Sammeln mindeftens vor einem Jahrhundert zu madjen gewejen. Jetzt, wo das Feuer ſchon aus allen Offnungen hervorſchlägt, ift es zu fpät für Feuerlöſchmittel zu folleftieren. Das Haus iſt längſt nieber- gebrannt, ehe die Kollefte reicht. Kapitalien wachſen allerdings Schließlich ins Nieienhafte, aber es iſt ein jehr fpäter Termin, wo dieſes Tempo einjegt. Auch iſt das Intereſſe für Nolleften, die erit Kindern und Sindesfindern zugute kommen follen, ohnehin viel zu gering, um etmas Großes hervorzubringen. Die Rettung brädte dann eben nur die Zeit, die endlos lange Zeit, die auch einen Kopefen zuguterlegt zu Millionen macht. Da jedod eine ſolche Neltung für uns feine würe, ſpreche ih mich unbedenflich gegen alle Verſuche aus, bie die Kapitaliſierung der Pfarrteilungss tajle fo zur Haupthoffnung bei unjrer Aufgabe madjen wollen. Die Hauptpfeiler der Pfarrteilung bleiben die hitorifch gegebenen: Melioration der Wiomen, Vergrößerung der ungenügenden Widmen, Selbitbefteuerung! Die Kafie hut nur ergänzende Arbeit. Cie muß zunächt für die Fälle eintreten, wo der eine ober der andre diefer Faktoren trog aller Mühe durch irgend weiche Umftände nicht zur Wirkung gelangen fann und dod Teilung unerläßlid iſt. Es wäre zweitens jchön, wenn fie aud) bei Paſtorats- und Kirchens bauten eine Beihilfe zu bieten vermöchte. Es wäre jomit aller- dings wünjcenswert, wenn iht Beltand um das Zehnfache erhöht würde, denn das gegenwärtige Kapital von 100,000 Nbl., ober etwas barüber, bedeutet für ein ganzes Land und die gefilderten Aufgaben doch gar zu wenig. Ich erkläre mic) deshalb wohl ein: veritanden, wenn als Einleitungsaftiva für die ganze Pfarrteiz tungsarbeit eine allgemeine Sammlung mit einem derartigen Ziele vorgenommen würde. Es wäre das freilid) aud ſchon ein bad: geiteddtes, allein ſcheut man ſich vor diefem, wie mag man dann

Zur Marrteilung in Libland. 481

an bie Aufbringung des Hundertfachen denken, mas für bie gefamte Pfarrteilung, wenn man von den oben vorgefchlagenen Dingen abfieht, wohl aufginge. Das mag fih ein jeder nad) rechnen.

Und nun komme bes Herrn Kraft über unfre Meinungen und Gedanken, über unfre Entſchlüſſe und Taten, dann mwird fich alles klären und alles machen. or feiner Stärfe ift auch das Große und Unerhörte ein Kleines, ja nur eine feine Kraft des Allmãchtigen genügt für das Allerhöcjite. Unjre fivländifhen Kirchen haben in letztes Zeit Unglaublides, ja fat Einzigartiges erlitten. Sollte diejes vorzeitige Antihriftentum an heiliger Stätte nicht ein neuer Stachel für uns werben, dafür Sorge zu tragen, daß unfre Völfer die ewigen Güter der Kirche in dem Mahe genießen Fönnten, wie bie übrige evangeliiche Welt?

Baltifce Monatefhrift 1005, Heft 6. 3

das Tettiihe Boltslied*.

ie lettiſchen Vollslieder find größtenteils ein Erbe aus 5 grauer Vergangenheit. Von Mund zu Mund, von Geſchlecht zu Geſchlecht übertragen, haben fie fih bis zum heutigen Tage erhalten. An gelehrten Männern, bie bem Gedãchtnis ſchriftlich hätten zuhülfe fommen fönnen, mangelte es unfrem Volke, und erit in fpäteren, neueren Zeiten begannen Männer andrer Nationalität fi für das Vollslied frember Völfer zu intereffieren. Man hat daher allen Grund anzunehmen, bak viele Volfsgefänge, namentlich zu der Zeit, ba der Übergang vom Heidentum zum Chrijtentum ftattfand, verloren gegangen find. Danach ift unfer ererbter Liederfhag ein fo großer, wie ihn nur jelten ein andres Volk hat.

Die erfien als ſprachliche Beiſpiele gebrudten Volfslieberchen finden fi in ber lettiſchen Grammatif des alten Stender Braunſchweig 1761). Ein lebhaftes und erfolgreiches Sammeln der lettiſchen Volkslieder beginnt mit dem 19. Jahrhundert. Da find ehrenvoll zu erwähnen Guftav v. Bergmann, Paſtor zu Rufen, der zwei Sammlungen „Lett. Sinn: und Stegreifs Gedichte“ (1807 und 1808) erfcheinen ließ, und fr. Daniel Wahr, Paltor zu Palzmar, der im Jahre 1807 eine Sammlung Palzmarſcher Lieber herausgab. Erft 36 Jahre jpäter (Mitau 1843) erſchien nach obigen fleinen unb nur in wenigen Eremplaren herausgegebenen

*) Nachftchenbe Abhandlung bildet. eine teils mehr oder meniger freie und verfürgte Micdergabe, teils wörtlice Überfepung der Einleitung, die Chr. Baron zu der von ihm und 9. Wiffendorff Herausgegebenen, mirtmehr im zwei Bänden fertig vorliegenden monumentalen Sammlung lettiicher Voltslieder, Latwju dainas“ (Mitan 1894 ff.) gefchrieben hat. Rach dem Urteil von Pajtor Dr. U. Bielenftein in feiner Selbitbiographie (3. 539) ült e& das Befte, mas über das Tetifche Volkstied gefchricben worden it. Die Ned.

Das lettiſche Vollslied. 483

Sammlungen das hochbedeutſame Werk des Paitors Büttner zu Rabillen unter dem Titel: „Latweeſchu lauſchu dſeeſmas un finges.” Es enthält 2854, in allen Gauen Lettlands gefummelte Lieder, und Paftor Büttner ftellt fih als ein verftändnisvoller Kenner, Beurteiler und Ordner dar. Auch in fprachlicher Hinficht Tann man ſich auf feine Terte vollftändig verlafien. Das alles hat er freilich nicht allein erreicht; fein Haupimitarbeiter war Ulmann, Paſtor zu Cremon, der fpätere Profefior und Rektor in Dorpat. Schon feit dem Jahre 1830 fammelte legterer Volks- lieder, regte auch andre dazu an und übermittelte das Gefammelte ben Händen Büttners, der übrigens nur die Hälfte davon in fein Bud) aufnahm. Die andre blieb als Manuffript liegen. Büttner hatte vor allen Dingen das deutihe Publifum im Auge und berüdfichtigte daher viele Lieder nicht, bie für die Letten felbft und die Sprahforicher von Bedeutung gewejen wären. Nach diefer bedeulfamen Arbeit Büttners trat ein längerer Stilljtand ein. Nur Paftor Bielenitein, ber chrenvoll befannte Erforicher der lettiſchen Sprache und Ethnographie, hörte nit auf im ftillen fettiiche Lieber zu ſammeln.

Endlich kam bie Zeit, da die Letten ſelbſt Hand ans nationale Werk zu legen begannen. Die erfte Anregung dazu gab der un: vergeßlihe Chr. Waldemar in den damaligen „Peterburgas Awiſes“ und als erfte Sammler betäligten fid, wenngleich in beichränften Grenzen, Neumann, der eine Sammlung Euhrsjcher Lieber druden lieh, und Spohgis, der in Wilna eine Samm- fung aus der Stockmannshofſchen Gegend herausgab. Neue Anz regung brachte die große ethnographiſche Ausftellung in Moskau im 3. 1867. Mit Feuereifer machte fi) an die Arbeit Brihw— ſemneeks (Treuland), der als Mitglied der faiferlihen natur wiſſenſchaftlichen, anthropologiichen und ethnographijchen Geſellſchaft Lettland bereifte, manche Landbewohner auch zum Sammeln anz fpornte, und als Frucht feiner Yemühungen wurde ein ſchönes Bud, welches 1118 Volkslieder enthielt, von obiger Geſellſchaft herausgegeben. (Cs erichien in ruffiichen Leitern, mit ruſſiſcher Überfegung und mit ruffiihen Erklärungen.) Im J. 1874 faßte die Lettifch-literarifhe Geſellſchaft den Beſchluß, zum Gedäghtnis ihres 5Ojährigen Beftehens eine neue Sammlung herauszugeben, in die die von Paftor Bielenſtein wie auch, von

484 Dos Tettifche Vollslied.

Büttner gefammelten Lieber Aufnahme finden follten. Sie mar auf vier Hefte mit 9—10,000 Liedern berechnet; es erſchienen jedoch leider nur zwei (1874 und 1875) mit 4793 Liedern. Ale obigen Sammlungen aber brangen, da es an billigen Ausgaben fehlte, wenig ins lettiſche Publifum und die jüngere Generation entfremdete fi mehr und mehr den ſchönen Volfsliedern. Seichte Überfegungen aus fremden Literaturen oder nad) fremdem Mujter verfertigte Gebichte verdarben mehr und mehr deren Geſchmack. In Berüdfichtigung beffen regte im Jahre 1878 wiederum Waldemar in Mosfau und mit ihm Brihwſemneels eine Neu- belebung bes lettiſchen Bolfsliedes an. Sie brachten Gelbopfer bar zur Herausgabe eines Buches, welches die [hönften, für das größere Publifum pailendften Lieder enthalten ſollte. Menn es zur Ausführung dieſes Vorhabens auch nicht fam, fo mar doch das Intereſſe dafür von neuem angefacht worden und biejes erwies fih in dem Sammeleifer, der ſich in allen Schichten ber Bevöl- ferung bemerkbar machte. Bon allen Seiten jtrömten Lieberfamm: lungen den Herren Baron und Brihwſemneels zu, das Material wuchs riefengroß an und mit ber Abſchrift und vorbereitenden Arbeiten verging manches Jahr. Als ſich beim Nigafchen fettifchen Verein eine wiſſenſchaftliche Kommiſſion und beim Neuen fettiichen Verein eine Abteilung für Literatur gebildet hatten, nahmen fih dieſe der Sache an und allmählich und ganz naturgemäß wurden fie die Zentralftellen für die Sammlung, Bearbeitung und Heraus gabe des Materials. Hauptſächlich aber hatten fic noch zu fammeln, und als einziges Merk, welches das Publikum erfreute, erſchien in jener Zeit der fchöne Liederkranz, gewunden vom ftreblamen Volfs- genofjen Aronu Matifs, welchen er zum dritten Sängerfejt bem lettiſchen Volfe darbrachte („Muhfu tautas dſeeſmas“, Niga 1858). Mit Weglaffung mander, wenn auch interefjanter Einzel- heiten, fei endlich des wichtigen Umftandes gedacht, der die Heraus: gabe des gewaltigen gejammelten Materials ermöglichte. Im Januar 1892 überrafchte mich (Baron) nämlid ein freundliches Schreiben des Herrn Wiſſendorff in Pelersburg, der mir feine Beihilfe bei ber Herausgabe anbot und damit bie finanziellen Schwierigfeiten bejeitigte. Zugleich überlichen die wiſſenſchaftliche Kommiſſion und die Literaturabteilung mir ihre reihen Samm— lungen. Nachdem Herr Wilfendorff noch die feinigen, gejammelt

Das lettiſche Vollslied. 485

von ben von ihm ausgejandten Reifenden Ludis und Robert Behrſin, mir übermadt hatte, ftanden mir zur Verfügung über 150,000 Lieder, unter denen fi) freilich viele Varianten und Wiederholungen befinden, die jedod), gejammelt in den verſchiedenſten Gegenden, des ſprachlichen Intereſſes nicht entbehren. Ausgeſchieden wurden bei der Herausgabe nur Lieder anſtößigen Inhalts, wie fie zuweilen bei Hochzeitsfeiern und zu Johannis gejungen wurben, Lieber, die nicht den Stempel der Echlheit tragen und endlid) die weit ver: breiteten jentimentalen deutjchen Lieder und Romanzen in ſchlechter lettiſcher Überfegung, wie fie unſre Landſchönen von ben deutſchen Jungfern in den Höfen, dazu angereist durd die befonderen, neuen Dielodien, ins Volk gebracht haben.

* *

Aus dem oben Geſagten geht hervor, daß wir ſchon im Beſitz mehrerer Liederſammlungen ſind. Eine jede geht von einem beſtimmten Geſichtspunkt aus, hat ein beſonderes Ziel; eine jede hat daher auch ihre beſondere Ordnung und Einteilung. Das bezieht ſich freilich noch nicht auſ die von Stender, Bergmann und Wahr geſammelten Lieder, denn erſterer nahm, wie ſchon früher bemerft worden, nur einzelne in feine Grammatik als ſprachliche Beifpiele auf, letztere verfügten noch über ein zu kleines Material, um an irgend eine Ginteilung gehen zu fünnen. Sie nahmen in ihre Sammlungen Lieber auf, wo und wann fie fie fanden, ohne irgend einen Plan dabei zu verfolgen.

Büttner, im Befig eines recht großen Liederſchahes, iſt der erjte, ber nad) einem bejtimmten Plan arbeitete. Sein Haupt: augenmerf war, das deutiche Publifum mit dem bis dahin wenig befannten lettiſchen Volfsliede, deſſen Geiſt, Eigentümligfeiten und Schönheiten vertraut zu machen; als zweites Ziel ſchwebte ihm vor, den Sprachforſchern einen reinen lettiihen Sprachquell zu eröffnen; als drittes endlich, den Letten felbft den nad) feiner Meinung einzigen geiſtigen Schag, der durch die Ungunft der Zeiten verloren zu gehen drohte, zu erhalten. Schon zu jeiner Zeit fei an vielen Orten das Volfolied fall ganz verflummt. Die Erreihung auch diejes noch nicht jehr weit geſteckten Zieles war feine leichte. Einerjeits fand jo manches Xied, das für den

486 Das leitiſche Voltslied.

Sprachforſcher von Bedeutung geweſen wäre, keine Aufnahme, weil es nicht dem Geſchmack der deutſchen Leſer entſprochen hätte, anderſeits trat auch wieder das Entgegengeſetzte ein, d. h. den Sprachforſchern zuliebe wurden Lieder aufgenommen, die die Leſer langweilten oder zurückſchreckten. Da Büttner ſein Hauptziel, das Interefie der Deuticen für ‚das leitiſche Vollolied zu erweden, nicht aus dem Auge ließ, fo ordnete er die Lieder nicht nach dem Inhalt, jondern brachte die jdhönften in bunter Neihe. Eine Ordnung wurde nur eingehalten je nad) der Gegend, aus der fie ftammten, und wenn aus einer eine reihere Sammlung eingefandt worden war, wurden die Lieder auch nad dem Inhalt, Tauf, Hochzeits:, Begräbnislieder 2c., zufammengejtellt. Jedenfalls hat Büttner feinen Zwed erreicht. Er hat es verfianden die ſchönſten Lieder auszuwählen und feine Sammlung mad noch immer den allerbeiten Eindrud. Zu bedauern ift, daß ein großer Teil jeines Manuffripts, weil feinen Abfichten nicht entſprechend, nicht gedruct worden und daher wohl verloren gegangen iſt.

Nach Büttner iſt der erite Vearbeiter und Ordner der let: lieder Sprogis, der ein umfangreiches, ſtreng abges fationsiyftem in 5 großen Abteilungen mit Fleineren Unterabteilungen zufammengeftellt hat. Aber es ift leichter ein DOrdmungsfgftem mit genauen Unterabteilungen hinzuftellen, als die eigenfinnigen Lieber in fie einzufügen. So finden fid) in dem drei erften Abteilungen Lieder, die in ganz andere hineingehören, und forihen wir nad) den Gründen, warum fie nicht mit dem Klaſſi— fitationsfoftem übereinftimmen. warum Begriffe wie Eiche und Linde, Habicht umd Nebhuhn, die in dem Liede erwähnt werden, dennod) deifen Überjhriften nicht jein dürfen, To find fie nicht ſchwer zu finden. Sie bilden eben nicht den eigentlichen Inhalt des Liedes, fondern dienen bloß zur dichteriihen Vergleihung, ats poctijches Bild. Das eigentliche Objeft, das bejungen wird, iſt der Menſch in irgend einer Lebenslage. Lieder, die ganz eigentlich die Natur zum Objeft haben, find fehr gering an Zahl, und auch diefe mußten andern Abteilungen, 3. B. den Kinder: und Wiegen liedern, den Fabel- und Hirtengedichten eingefügt werden.

Um Mifverfländniffen vorzubeugen, müſſen an dieſem Orte jedoch noch einige Worte gejagt werben. Tatjache ift, daß in den lettiſhen Volkaliedern bie Natut und ihr Leben. die verschiedenen

Das leitiſche Vollslied. 487

Naturereigniſſe fo verſtändnisvoll und charakteriſtiſch geſchildert werden, daß die Lieder auch gerade in dieſer Hinſicht würdig erſcheinen, als Hilfsmittel zur Erforſchung des Vollsgeiſtes zu dienen. Aber das iſt eine beſondere Aufgabe. Wer die Auſchau- ungen der Letten über die Natur ergründen will, welde Eigen- ſchaften fie dieſem oder jenem Tier, diejem ober jenem Baum zugeichrieben, wie fie deren Natur und Wefen mit der menſchlichen Natur und dem menjhlihen Sinn in Zufammenhang und Bezug gebracht haben, welchen Eindrud bie Natur auf fie gemacht hat, der muß zu biefem Zwed fid) das nötige Material ganz befonders zufammenjuden. Finden wird er es reidlid, wenn aud als Nebenſache erwähnt in einem Liebe, welches ganz eigentlich ein Tauf:, Hochzeits:, Beerdigungs: uſw. Lied iſt. Und vergeblich wird dieſe Arbeit für den Forſcher auch nicht fein, denn fie wird ihm fehr fördern in dem rechten Verjtändnis der Lieder, im der Würdigung des Zujammenhanges, den fie mit dem Volksleben gehabt haben. Ähnliches läßt ſich von den mythologiſchen Liedern fügen. Auch fie find durchaus nicht fo felbftändig und von dem Leben ber Leute unabhängig, daß fie ſich leicht von andern Liedern ablöjen und in eine beiondere Abteilung bringen ließen. Außer einigen einigermaßen felbftänbigen Liedern, die auf Sonne, Mond, Götterföhne, Sonnentöchter Vezug haben, gehören in biejelbe Kategorie, die mythologiſchen, auch verſchiedene Feier: und Feitlieder, Lieder, die an Chrentagen wie bei der Arbeit gefungen wurden. Desgleichen finden ſich viele Luime- (Mahra) Lieder zerfireut in allen andern Abteilungen, in welde fie auch naturgemäß mehr Hineingehören. Der Ordner einer Xieberjammlung fann daher den Erforfhern der Mythologie, Ethnologie und Sprache ihre Arbeit nur durch befondere am Ende des Buches angebrachte Regifter, nicht aber durch ein jtreng eingehaltenes Aaffififations- ſyſtem erleichtern.

Diefelben Mängel, und zwar in noch größerem Maße wie in dem Buche des Orbners Sprohnis, finden ſich in der von der wiſſenſchaftlichen Kommiſſion herausgegebenen Samme lung. Bripwiemneef (Treuland) wandte fih mit jeiner Liederfammlung an das ruffiihe Publifum im allgemeinen und an bie ruſſiſchen Ethuographen im bejonderen. Er verfolgte wohl zweierlei Ziele. Einerjeits, indem er gleich Büttner die ſchönſten

488 Das lettiſche Vollslied.

Volkolieder in ſeine Sammlung aufnahm, wollte er Leute fremder Nationalität mit der Schönheit und Beſonderheit der lettiſchen Muſe befannt machen, anderfeits wollte er der Ethnographie dienen. In beiderlei Hinfiht hat Brihmſemneel feine Abſicht wohl erreicht und wir bedauern nicht den Wiangel eines fünftlihen Klaſſifika— tionoſyſtems, das diefer nur hinderlich hätte fein können.

Noch weniger ift von einem Nlajfififationsigitem in ber Sammlung des Aronu Matifs die Rede. Es beiteht nur in Überichriften feiner Ziedergruppen, die größtenteils in bunter Reihe einander folgen. Mit um fo größerer Liebe iſt die Sammlung für das letliſche Volt felbit bearbeitet, dem er die allerſchönſten Lieder barzureihien weiß. Wenn auf irgend etwas, fo fagt er ſelbſi, fann das lettiſche Volt auf feine Volkslieder jtolz fein, die fo ſchön, fo tief, jo bilder- und lehrreich find, daß die andern Nationen fie faum erreichen.

So viel von den Sammlungen, bie gebrudt worden find vor dem Erſcheinen unfres Buches. Eine jede von ihnen, geleitet von einer bejtimmten Abficht, hatte eine ihr angemefjene Ordnung und wählte aus ber Fülle der Lieder die für fie pafendjten aus. Sie alle betrachten gewiilermaßen das Leben des Volkes einfeitig, idea: lifieven das Leben. Das Volk jelbjt aber hat fein geiftiges und zeitliches Leben in feinen unzähligen Liedern weit vollitändiger, freier, unverhüllter dargeitellt und eine vollftändige Samm: tung muß feinem Beiſpiel folgen. Nichts darf als unnüg und unwürdig angejehen werden, was das Voll, als zum ganzen Leben gehörig, uns in feinen Liedern aufbewahrt und vor Augen geitellt hat. Daher wünjhen wir eine Sammlung, die fo vall- ftändig wie nur irgend möglid ift, nicht taujend und ein paar taufend, fondern 20 taufend und mehr Lieber mit allen ihren verschiedenen Varianten aufzumeifen hat.

Unfer Vorgänger in diejer Hinficht it der Verein let» tiiber Freunde, ber im 9. 1874 alle feine, ober richtiger gejagt, Paſtor U. Bielenfteins geſammelte Lieber, ca. 10,000 an ter Zahl, herauszugeben begann. Das Ordnen nad Gruppen übernahm Paſtor K. Ulmanı. Die Sammlung erſchien nur zur Hälfte. Ein Hauptvorzug beſteht darin, daß der Ordner einfach dem menidlihen Leben ſich anzuſchliehen ſucht, indem er deſſen charakteriſtiſchſten Seiten, hervorragendſten Geſchehniſſe aufzuſuchen

Das lettiſche Vollslied. 489

ſtrebt. Das Volkslied bezieht fih eben auf irgend ein Moment im menſchlichen Lebenslauf ober im fozialen Leben. Ein fehler dagegen iit, daß Ulmann, indem er bie Lieber in befondere Abteis lungen brachte, zu wenig deren Gehalt und Bedeutung abwog, zu wenig barauf Rückſicht nahm, zu welder Zeit, an welchem Ort, unter welchen Verhältnifien fie gelungen worden find.

Indem wir auf die Fehler und die Vorzüge obiger Samm-— fung und deren Orbnung hier nicht näher eingehen, wollen wir nur nod) in Kürze fagen, welhe Hauptgrundlagen die unfrige hat, damit fie gleich einem großen Gebäude ſich auf ihnen frei und ftattlid) erheben fünne. Diejes Fundament fann nur fein das Leben des Volkes in materieller und geiftiger Hinfiht. Das lehrt das feine Lieder ſingende VBolf jelbit. Ein jedes Liedchen jteht in einem realen, feiten Zujammenhange mit diefem Volfsleben; es iſt zu fingen zu feiner Zeit, an feinem Ort, in einem beflimmten Lebensfalle. Das auf diefen Grundlagen zu erbauende Gebäude muß daher nach einem Plan, der dem Volksleben gebührend ange: paßt iſt, eingeteilt werben, damit es einem warmen Wohnhaufe, nicht einem Diufeumszimmer gleihe. Die Hauptabſchnitte und Hauptabteilungen werden folgende fein:

I. Ber menſchliche Lebenslauf, das Familien: und Ver— wandtidaftsleben. 1) Die Rindertage. Geburt, Taufe, Erziehung und Lehre. 2) Das heranwachſende Kind. Eltern und Kinder, Bruder und Schweiter. 3) Das Jünglingsalter, die Zeit der Liebe. 4) Verlobung und Hochzeit. 5) Das Leben unter andern Völfern. 6) Das ehelihe Leben. 7) Tod und Beerdigung.

U. Das Zufammenleben der Leute im weiteren Sinne des Wortes und ber foziale Standpunft.

III. Arbeiten und Bejhäftigungen. 1) Allgemeine häusliche Arbeiten. 2) Arbeiten, bie ſich nad) den Jahreszeiten richten.

IV. Feſte und Feiertage, zu feiernde Lebensmomente. Mythos logiſche Lieder.

V. Allgemeine Lieder ohne beſtimmte Hingehörigkeit.

Das wird die Hauptordnung fein, eine jede Abteilung wird aber in viele Meine Unterabteilungen zerfallen, dazu nötigt bie Dannigfaltigleit und Fülle des Materials.

* * *

490 Das letiſche Vollslied.

In die Abteilung „über Lieder und Geſang“ find diejenigen Volkslieder aufgenommen, in benen das Volt jelbjt bireft ober indireft bezeugt, daß Lied und Gejang eines feiner höchiten geiftigen Güter, fein Schußengel an allen Orten und in allen Dingen fei, der es vom Mutterihoß an in allen Lebenslagen, bei ber Arbeit, in Freude und Leid, in guten unb böfen Tagen geleitet; der Schugengel, der es fräftigt in der Tugend, itraft, ſobald es von ihr abgewiden ift; der den Xaflerhaften beſſert, ſich bes Schwachen erbarmt und ihn freundlich auf den rechten Weg zurück⸗ bringt kurzum fein Begleiter ift bis zu der Etunde, da man ihn ins fühle Grab. ſenkt. Wollen wir das Volfslied recht ver« ſtehen und mit Herzensfreude und Erhebung fein genießen, fo müffen wir uns auf jenen Stanbpunft des Volkes jtellen, in feine Gefühle und Anihauungen, fein Herz und feinen Geijt vertiefen. Es iſt demnach die Aufgabe diefer Abteilung, den Leſer auf alle nachfolgenden vorzubereiten. Wir wählten diefen Weg, weil wir den Lefern nicht unfre fubjelliven Gedanfen und Anſchauungen aufbrängen wollten. Der Mund bes Volfes felbjt möge ein gerechtes, ungetrübtes Zeugnis von den Zeiten, da Lied unb Geſang nod im Volt feine ungejdhmälerte Kraft bartat, ablegen. Diefes Zeugnis gewinnt noch an Bedeutung, wenn wir in ſpäteren Zeiten die Lieder gewiſſermaßen vernachläſſigt, ja verachtet jehen. Das Volt jelbft, als ob es fid) ihrer ſchämte, begann auf fie wie auf etwas Törichtes zu biiden und ftellte ihnen geiſtliche, auf Gott bezũgliche Lieder gegenüber. Das war der natürliche Einfluß des chriſtlichen Glaubens, ber alles, was am die heidnijche Ver: gangenheit erinnerte, befämpfen mußte. Die Zeiten Haben, Gott fei Dank, zu gunjten des chriſtlichen Glaubens entſchieden, aber auch der ethiſche Gehalt der Volfslieder hat mit der Zeit alle Vorurteile überwunden und von neuem fönnen wir ungeltört deren Schönheiten genießen, Freude und Erhebung aus ihnen ſchöpfen.

Aber noch ein anderer Grund trug zur Schmälerung der Bedeutung des Volksliedes bei. Die äußeren Grundlagen des: ſelben, das Volksleben und der Kulturſtandpunkt änderten ſich allmählich mit der Zeit. Der Fortſchritt in der Entwidlung und Bildung in materieller und geiftiger Hinſicht ſtimmte nicht mehr mit den früheren einfaderen und engeren Rulturformen überein.

Das ettifche Vollslied. 4

Die neuere Kultur ftieß allmählich die alte beifeite, ftellte fih an deren Stelle, was jelbjtverjtändfich nicht zu beklagen ift. Aber in der erjten Zeit bes Rampfes pflegt man nur die ſchwache Seite bes Gegners in Betracht zu ziehen und erſt, wenn bie Leidenſchaft im Abnehmen ift, beginnt man deffen gute, lobenswerte Eigen- ſchaften zu würdigen. Solch ein Los wurde auch den Volfsliedern zuteil. Ein großer Teil von ihnen erwies fid) als veraltet, aber indem man den guten Kern aus ihnen herausſchälte, ftellten ſich die beiten idealen Beftrebungen bes Menſchen, die ebelften und tiefiten Gefühle, die niemals veralten, vor Augen. So nehmen beilpielsweife unfre Jungfrauen wohl niemals mehr eine Mahl: mühle in die Hand, biefe ſchwere Arbeit wird jegt von Wind-, Waſſer- und Dampfmühlen bewerkjtelligt. Deſſenungeachtet vers lieren unſre Dahllieder, die fo jhön den Wert der Arbeit preifen, die Faulheit tadeln, die Ausdauer und die Heiterfeit des Geiſtes auch bei ſchweren Verrichtungen empfehlen, in dieſer ihrer eigente lien Bedeutung nicht ihre Kraft, fondern behalten ſie für ulle Zeiten und in allen, audy den entwideltiten Verhältniffen. Und ſolch einen unvergänglihen Kern finden wir in allen unfern Vor: bildern, und er ift gehüllt in einfache, aber Herzliche und bedeu- tungsvolle Worte, die das Herz tief berühren. Das ift die Eigen- tümlichfeit des echten Vollsliedes.

Dieſe lobenswerten Eigenſchaften unjres Volfsfiedes haben ſchon Tängit die Aufmerkſamkeit hochgebildeter Männer - fremder Nationalität auf fie gelenkt. Ich gedenfe bloß Herders, Berg: manns, Ulmanns, Ratterfelbs und ganz bejonders Büttners, biejes io feinen Kenners unfrer Volkslieder. Endlich haben ſich unſre eigenen gebildeten Volfsgenoijen für fie erwärmt und jo famen fie wieder zu den ihnen gebührenden Ehren, was uns nur zum Segen gereihen fann. Yüttner, der beſonders bie Schönheit unfrer Volfslieder hervorhebt und fie mit funkelnden Tauperlen vergleicht, jagt wohl aud) einmal (Latw. Awiſ. 1890): „Dance von diefen Tantropfen bleiben ohne Glanz und Echönheit, man mag fie anjehen von welcher Seite man wolle. Manche Gleichniſſe find schief, ohne irgend einen poetifchen Wert. Wo ein jeder, dem es einfiel, ein Lied dichtete, fann man nicht erwarten, daß es jedem gleichermaßen gelingen werbe, nicht jeder befigt dichteriſches Fein- aefühl.“ Dazu märe nur zu fagen. daß in biefem Ausſpruch das

492 Das lettiſche Vollslied.

Wort „Vollkolied“ nicht richtig gebraucht iſt. Zum Volloliede kaun nur ein ſolches werden, welches durch eine lange Volkszenſur gegangen und endlich vom Volke als fein allgemeines Eigentum, ganz abgefehen von feinem Verfailer, anerfannt worben iſt. Wenn das Lieb feinen gefunden Kern hatte, fo verfiel es ber Vergeifens heit. Der Glanz des Tautropfens, jein Schimmer in verfdiedenen Farben, hängt von dem Standpunft ab, welden der Beſchauer einnimmt. Wie das Voltsleben jelbit, jo find aud) die Volfslieder, welche biejes wiederipiegeln, jehr vielſeitig. Es genügt nicht fie nur nad) ihrer Schönheit zu beurteilen. Das recht verftandene Volfsleben, deſſen Schidjal, Herz und Geift geben ihnen das rechte, volle Licht, und der fie beurteilt, nimmt nur dann einen ridhligen Standpunkt ein, wenn er ſich die Volfsgefühle in ben Augenbliden, bei den Ereigniſſen und Verhältniffen zu eigen macht, ba das Volt feine Lieder jang; wenn er teilnimmt im Geifte am denjenigen, die die Lieder fangen und hörten. Solch ein Standpunft iſt größten: teils Leuten fremder Nationalität ein fremder, ungewohnter; jo mandes Lied, das jeinerzeit Sängern und Hörern die Augen feuchtete oder ihr Herz in Freude jchlagen ließ, betrachten fie fühl, ja verächtlich. Auch wir jelbjt im Wandel der Zeiten find gewiſſer⸗ maßen Fremdlinge im eigenen Haufe geworden, auch wir müflen, um zur Gemütlichkeit zu gelangen, uns erſt in ihm einleben. Die oberflächlich betrachteten Lieder reden aud zu uns eine frembe Sprade; je ernſtlicher wir aber uns in fie vertiefen, mit ihnen befreunden, deſto mehr ziehen fie uns an und feileln fie uns. Aneinanbergereihte Lieder (Djeesmu wirfnes). Faſt alle unfre Volkslieder find kurz, bejlehen nur aus zwei län» geren Zeilen, die man auf bie Hälfte zu teilen und in vier furzen ‚Zeilen zu fchreiben pflegt, weil foldes dem Auge wohlgefälliger ift und ein fo geſchriebenes Lied mehr dem heutigen gleicht. Jedoch möchten wir gern längere Lieder ſehen, und freuen uns, wenn wir zuweilen auf jolde mit ſechs oder acht kurzen Zeilen flogen. Doch auch diefe find nad unjrem heutigen Geſchmack furz und der Sefang muß zum Leidweien der Sänger und Hörer bald ver ſtummen. Längere ſchöne Lieder erzählenden Inhalts gibt es nur äußerft wenige. Auch das Bolt empfand mit der Zeit diejen Diangel und mit der Veränderung der Lebensverhältnifie ver: itummten allmählich die alten furzen Lieder. Daher hat man fid

Das lettiſche Volkslied. 498

nicht darüber zu munbern, daf durch Vermittlung der Hofesmädchen und Hofesjungfern viele längere, fremdartige Liebeslieber ſich bei uns einjchlichen. Somohl dem Inhalt wie der Sprache nach jehr mangelhaft, hatten fie doch den Vorzug, daß man fie zu jeber Zeit und an jedem Ort fingen und der Geſang lange Zeit fort- gejegt werben fonnte. Außerdem war die Melodie neu und nicht fo einfach wie bie früheren Volkslieder. Aus folhen Gründen nahmen unfre Dorf: und Gefindesihönen das Unfraut gern bei fi) auf. Die mehr gebildeten Letten wie auch andre Lettens freunde beachteten anfangs das Volkslied wenig. Entweder über fegten fie deutſche Lieber oder ſchmiedelen ſelbſi einige feichte nad) fremden Mufter und in ſchon befannter Melodie zufammen. Die wurden benn aud in ber Ecjule den lettilchen Rindern gelehrt. Im Voltke konnten fie nicht Wurzel faſſen, zu ſehr gehörten fie einem fremden Gejhmad an, zu wenig waren fie poetiſch anziehend. Nur vereinzelte, bejonders vom alten Stender im Vollsgeſchmack gedichtele Lieder fanden beim Wolfe Beifall.

Es kam endlich die Zeit, da die gebildeten Letten den vers nadjläffigten Volfsliedern ihre Beachtung zu fchenfen anfingen und einige von ihnen fi für fie enthufinsmierten, Aber gewöhnt an längere Runftlieder, erſchien ihnen deren Kürze unbegreiflic. ie tam es, daß ber bewundernswerte dichterifche Geift, der fo ums endlich viele ſchöne und poefievolle Liederchen geſchaffen hatte, fich nicht auch in längeren Liedern offenbart hat? Dan nahm an, daß er es wohl vermochte und daß die früheren längeren Lieder mit ber Zeit zu den jegigen Heinen zerbrödelt fein. Man meinte, daß längere Lieder ſchwerer im Gedächtnis feitzuhalten und ſich fortpflanzend von Mund zu Mund in Heinere Teile zeriplittert feien, von denen ber eine hier, der andre dort ſich im Volle erhalten habe. Das fchien aud) aus dem „inhalt der Lieder her— vorzugehen. Ein und basfelbe Thema war vielen Liedern gemeinfam, nur wurde es bald von der einen, bald von der andern Seite betrachtet und behandelt. Indem man nun diefe Lieder zu einen Strauß zufommenwand, hoffte man zu einem großen Liede zu gelangen. Auch die Sängerinnen ſchienen diefe Idee zu befür— worten, denn fingend faßten fie gern die Lieder zu einem Strauß zufammen und mandesmal ganz geſchickt und ſachgemäß. Eolde Liederſiräuße Hat die Schriftabteilung des Mitauſchen lettiſchen

404 Das lettiſche Vollslied.

Vereins im ihrer erſten Sammlung 1890 herausgegeben. Nicht immer aber gelang folh ein Zujammenreihen der Lieder, und zuweilen, wenn nicht mit großem Geſchick vorgenommen, war das Nefultat ein heillofer Wirrwarr. Im großen ganzen kann man ihm daher nicht das Wort reden. Fragt man aber nad) ber Xeranlaffung, wie diefe aus dem Munde ber Vorjängerinnen ſtammenden und von ben Liederſammlern aufgejchriebenen Lieder: fteäuße entjtanden find, fo iſt fie folgende: Eine rechte Sprecherin ober Torfängerin muß Taujende von Liedern im Kopf haben, und zwar fo geordnet, daß fie in jedem Falle nad) Erforbernis das für ihm pafiende Lied oder den für ihn paſſenden Liederſtrauß zur Hand hat, wie es denn auch in einem Liede heißt: „noch hat fie das eine nicht beendet und ſchon ftehn ihr 9 andre im Sinn.” MWährend die älteren Mädchen und die Frauen zu gegebener Zeit und am rechten Ort die Lieder jangen, wurden fie von ben mit: fingenden jungen Mädchen gelernt; ba das aber nicht genügte, jo " waren bejondere Zeiten und Arbeiten bejlimmt, die zur Erlernung ber Lieder dienten, fo im Sommer beim Hüten des Viehs, im Winter beim Spinnen oder andern Handarbeiten. Der Inhalt ber Lieber war ein überaus bunter, aber um dem Gedächtnis zu Hilfe zu kommen, wurden fie äußerlich, befonders durch ein wich: tiges Wort im Liebe, mit einander verbunden. Kam beiſpielsweiſe im Liede das Wort „Eiche“ vor, fo folgten mehrere auf dieſen Baum bezügliche Lieder. Beſonders „Kranz“, „Pferd“, „Braut“, „Gerede der Leute” ꝛc. waren Worte, die ein Band zu den nad): folgenden Liedern bitdeten. Cie wurden auf diefe Weife in einem „Körbchen“ (mahzelite) aufgeipeihert, zu einem „Rnaul“ aufge: wunben. Zu rechter Zeit aus dieſem Gefäß zu ſchöpfen, dieſen Knaul abzuwideln, war eine befondere, ſchwierige Kunft, die nur von den allerbejten Sängerinnen gelernt werben fonnte. Im Grunde jedoch, noch einmal ſei's gejagt, behalten die Meinen Liederchen ihre Selbjtändigkeit, fie mögen noch jo ſehr mit andern zu einem größeren Ganzen verbunden fein. Ein jedes hat jeinen beſtimmten runden Kern, ber umhüllt ift von einer glatt anliegenden runden Form, und mur ein wahrhafter Dichter fann der Urheber eines jolchen fein. Sie find auch nicht Splitter früherer größerer Lieder, Sondern felbjtäudige, den früheren Yebensverhältnifien angepaßte, für fie gedichtete. Wir find auch nicht das einzige Volt, das ſolche

Daß Iettifche Vollslied. 495

befigt, denn alle ſlaviſchen Völferfchaften find ebebfalls reich an ſolchen kurzen Volksliedern. In grauer Vergangenheit, damals als fie noch mit den Nadjbarvölfern zu fämpfen hatten, werben die Letten wohl auch im Beſitz längerer epiſcher Geſänge geweſen fein. Nicht Frauen, fondern Männer werden naturgemäß fie gelungen haben, denn in ihnen handelte es fi) nit um tägliche und häusfihe Dinge, fondern um längjt vergangene Zeiten, um die Toten und Kämpfe berühmter Vorfahren. Mit dem Hierher⸗ fommen der Deutjchen, mit der Unterjohung und Knechtung der Leiten hörte die Pflege der epiſchen Gefänge auf und Antlänge an fie haben fich vielleiht in unjren Sagen und Erzählungen erhalten. Auch einige epiſche Hochzeits-, Kriegs: und mythologiſche Lieder haben ſich lebensträftig erwiefen, denn wenigitens einige Bruchjftüde diefer leben nod im Gedächtnis des Volles fort.

* *

In neuerer Zeit ift ber Gefang ber Volfslieder jehr felten geworden, ja in einigen Gegenden iſt er falt ganz verftummt. Anders war es in ber Vergangenheit, der große Liederfchap legt Zeugnis davon ab, daß in grauer Vorzeit die Letten große Eänger und Würdiger des Gefanges waren. Noch unfre Väter und Großväter, richtiger gejagt Mütter und Grofmülter, haben weit mehr gefungen, und die meijten Lieder und Nachrichten über ben Volfsgefang erhalten wir von uralten Lentchen. Im nachſtehenden wollen wir in Kürze von ben wichtigſten Gejängen reden.

Früher hatte jede Jahreszeit, jedes Feſt, jeder Ehrentag, die Arbeits: und Erhofungszeit ihre befonderen Lieder, aber auch ihre befondere Geſangsweiſe, bejonderen Melodien. Nach der Jahres» jeit wurde vornehmlich unterichieben :

Die Jubellieder (Gawileſchana). Sobald die warme Frühlingsfonne und die weichen Weſtwinde die weiße Schneedede vom Angeficht des Mütterdens Erde genommen hatten, die Natur aus dem Winterfchlaf erwacht war, Die Lerchen jubeld fih zum Himmel jdwangen, erhalten auch Jubellieder an allen Orten aus der Dienfhenbruft. Diefe erſten Jubelnden waren Hirten, befonders Schafhirten, denen fpäter ſich auch die Ninderhirten gefellten. Gejubelt wurde übrigens den ganzen Sommer hindurd-

496 Das Tettife Vollslied.

Chorlieber mit Brummftimmen (Notafchana). Die Erde hat fich mit friihem Grün bededt, die Bäume haben ihre duftenden Blätter entfaltet. Nun ftrömen auch aus ben benadj= barten Gefinden an ſchönen, lanen Frühlingsabenden bie jungen Mäbchen herbei und fammeln ſich auf dem ſchon in alter Zeit dazu auserfehenen Hügel. Schon längjt war die Sehnjucht in ihnen erwacht, wieder einmal in größerer Schar zufammenzufingen. Wohl wiſſen fie auch, daß ſolche Abendlieder weithin jchallen und weithin bie Leute ergögen. Und wahrlich, mit ihren ſchönen Liebern und mit der gemwanbten, beutlihen Ausſprache ber Worte ließen fie weithin die Mare Frühlingsluft erzittern, erjcütterten fie jo mandes Menſchenherz. Mancher Züngling laufchte entzüct bem Gejange und erſah fih aus dem Schwarm ber ſchönen Sängerinnen bie Braut. Daß er wohl baran getan hat, bezeugt jo manches Liedchen, welchee eine gute Sängerin aud als tüchtig in allen Arbeiten, als tugendfam im Wandel preift. Diefe Gefänge wurden geübt vom Beginn bes Frühlings bis zur Zeit, da fid) die Natur völlig entfaltet hatte.

Wie murden dieſe Lieder gejungen? Man ermählte zwei ber beiten Sängerinnen, die eine mit einer hohen, bie andre mit einer tiefen Stimme, welche imftande waren, die Worte laut und deutlich beim Gefange auszusprechen. Alle andern Sängerinnen ſprachen die Worte nicht mit, jondern begleiteten fie nur mit Brummftimmen. Am meiften hing von der Sängerin mit ber hohen Stimme ab, denn dieſe mußte laut, klar, weithinſchallend fein. Außerdem war biefe Sängerin hauptfählih bie Trägerin ber Melodie und auf deutliche Ausſprache der Worte hatte jie insbefondere acht zu geben. Traf das alles zu, dann war bieje Art des Gejanges eine ber ſchönſten, denn fie erinnerte an mehr: ftimmigen Geſang. Leider wird er fait garnidt mehr erefutiert.

Die Lihgolieder (Lihgofhana). Der Sommer mit feiner Blütenpradt ijt gefommen, Blumen allüberall, die Roggen: felder wogen gleich einem See. Das iſt die Zeit ber Lihgolieder, bie fih bis zum Tage Peter Paul, da der Tele Kuckusſchrei gehört wird, hinzieht. Der Krauttag, der Johannis:Abend und Yohannis-Tag werden befonders durd) fic ausgezeichnet, an ihnen werden die Lihgolieder im engeren Einne des Wortes, die Johannis: lieder gefungen. Die Lihgogeſetze werden jet nicht mehr jo fireng

Das lettiſche Vollslied. 497

wie früher eingehalten, man hört Lihgolieder bald zu dieſer, bald zu einer andern Zeit und in einigen Gegenden erſchallen fie bis zum Eintritt fälterer Abende.

Wie werben die Lihgolieder gefungen? Die Schar ber Sängerinnen erwählt aus ihrer Mitte die Anfimmerin, bie nicht allein eine ſehr hohe, flare Stimme haben, fondern aud über einen großen Liederſchatz verfügen muß. Diefe beginnt jedes Lieb und fingt allein den erſten Vers; dann fallen alle andern ein, inbem fie nicht allein benjelben Vers fingen, jondern aud ben jiweiten, ben fie dann wiederholen. 3. B.: Die Anſtimme fingt allein: Lihtinſch lija ſahlu deenu, lihgo, lihgo! Alle zufammen fingen:

Lihtinſch lija fahlu deenu, lihgo, lihgo! Lihtinſch jahnu wakaraä, lihgo! Lihlinſch jahmu wakara, lihgo! Die Anſtimme ſingt: Jahna behrni nomirkuſchi, lihgo, lihgo! Alle ſingen: Jahna behrni nomirkuſchi, lihgo, lihgo! Jahna ſahles laſidami, lihgo! Jahna ſahles laſidami, lihgo! (Deutih: Cs regnete am Krautlage, lihgo! lihgo! Es regnete am Zohannitage, lihgo! lihgo! Durchnäßt wurden die Johannis- finder, lihgo! lihgo! Eifammelnd Johannisfraut, lihgo!)

Gefang bei den Felbarbeiten. Nac dem Peter: tage beginnt Die Zeit der ſchweren Feldarbeiten, die Heu, die Getreibeerntezeit, die vieler andern anflregenden Arbeiten. Jede Arbeit hatte ihre auf fie bezüglihen Lieder. Mit Gefang ging man zum Heuſchlage, zum Felde, fingend fchrte man zurüd. Auch bie Erholungspaufen wurden durch Gefang verfüßt, ja, wenn die Arbeit es zulieh, wurde aud) währen diefer gelungen. So ver: ging ber ſchöne Frühling, fo der fötliche, wenn auch arbeitsreidhe Sommer, bis zur Beendigung aller Arbeiten im Herbſt, kurzum, Gefänge veridiedener Art begleiteten und idealifierten jegliche Arbeit.

Lieder bei Nbendmahlzeiten. Cs fommt der Herbit, ber Minter mit feinen manderlei häuslichen Arbeiten heran. Auch diefe werden durch befondere Geſänge verfhönt. In einigen Gegenden, wo die Zeiten nit in weit auseinanderliegenden

Baltifce Monatsidieilt 190, Heft 6. 4

498 Daß Tettifche Bolfslied.

Gefinden, fondern in Dörfern wohnten, richteten bie Mäbden ſog. Abendmahlzeiten (mafarajchana) aus. Sie verfammelten fich am Sonnabend in einer Badſtube und jedes brachte etwas mit, das eine Fleifch, das andre Grüße, das britte Milch 2c., je nach— bem mas ein jedes von feiner Wirtin hatte erbitten fonnen. Aus ſolchem Material bereiteten fie dann die Abendmahlzeit, zu ber nicht felten die Wirtin und mandje Jünglinge eridienen. Nach dem Abendeſſen wurde dann gefungen und unter fröhlichen Scherzen mit den jungen Leuten verlief der Abend aufs beite.

Außer obengenannten Liedern, die mehr oder weniger an die Jahreszeit gebunden waren, gibt es noch eine Menge allge: meinen Inhalts, die zu jeder Zeit gelungen werden fonnten, und wenn in befonderem Mafe, mie aus Obigem hervorgeht, das weibliche Geſchlecht den Gefang pflegte, jo ftand das männliche ihm doch durchaus nicht fern, fondern beteiligte ſich reichlich daran. Dan pflegte zu fagen, der Jüngling hat fid) feine Braut erjungen. In der Nacht beim Pferbehüten ließ er jein Lied meit- hin erſchallen, fein Pferdchen (famelinu) wußte er ebenjo zu preiſen mie das Mädchen fein Kränzchen (mainadfinu). Inter den Liedern, bie gerade ben jungen Leuten in ben Mund gelegt waren, finden fi) viele, die durch ihren ſchönen poetiſchen Gehalt heruorragen. Hervorgehoben feien die Lieber, welche gefungen wurden bei

Feſteſſen und Gelagen, am benen in gleicher Weile fih Frauen und Mädchen, Männer und Jünglinge produzierten. Zumeilen fangen fie alle gemeinfam, lieber aber führten fie gleichſam einen Sängerfrieg auf, indem eine Partei gegen die andre fang. So ftellten fi als Gegnerinnen einander gegenüber die Frauen und die Mädchen. Beſonders angezeigt waren ſolche Parteien, wenn bei Verfammlungen, Gemeinfchaftsarbeiten, feitlichen Gele: genheiten, befonbers Hochzeiten, ſich Gäſte aus verfchiebenen Dörfern, Gebieten, ja fogar aus einem andern Gouvernement eingefunden hatten. Da ftellte ſich ein Haufe dem andern gegenüber und man begann einander zu befingen. Das geſchah ftreng nad) ber Ord- nung. Erſt wenn die eine Partei ihr Lied beendet hatte, fang bie anbre antwortend dns ihrige und fo immerfort abwechjelnd. Mangel an paijenden Liedern trat nit ein, man mußte nur die rechten anzumenden willen. Darin waren aber die Hauptan— ftimmerinnen Meifterinnen, Lied gegen Lied Happte, als wäre es

Das Tetttiche Voltslied. 499

für dieſen Fall ganz befonbers gebidhtet. Welche Partei bie beiten Anjtimmerinnen hatte, die behielt die Oberhand, wurde Siegerin, unentjdieden blieb ber Kampf, wenn beide Parteien gleich gute hatten. Defjenungeadjtet war dieſer Wettftreit nicht die Hauptſache, von größerem Gewicht war der Reichtum an Liedern, bie Schönheit ber Stimmen, das richtige Singen. Leichteres Spiel hatten die Sängerinnen, wenn fie nicht alle Gäſte zugleich, jondern einen nah dem andern zu befingen hatten, obgleich fie auch dann zuweilen bittere Antwortsfieber zu hören befamen. Mädchen ermählten zum Objeft ihrer malitiöfen Lieder befonders gern bie Jungen, einerlei ob fie folde Strafe verdient hatten oder nicht. Vielleiht auch nad) dem Spridwort: „Was fid) liebt, nedt fi.”

Tifhlieder der Männer. Im einigen Gegenden beitand folgende Sitte: Zwölf auserlefene Sänger ſetzlen fih um einen eichenen Tiih, auf den der Wirt einen großen, mit Bier gefüllten Spann ftellte, ber die AſtKanne genannt wurde, weil er an einer Seite ein Aſtloch hatte, durch welches man das Vier in Meine Trinfgefäße fließen laſſen konnte. Alle Gefäße waren auch aus Eihenholj. Ein jeder der zwölf Männer mußte nun der Neihe nad) 12 Lieber fingen, die alle von ber Eiche hanbelten. Die andern begleiteten den Geſaug. Nachdem er die 12 Lieder beendet Hatte, leerte er jein Trinfgefäh und alle andern taten des— gleichen, auf jein Wohl trinfend. Darauf jang ber zweite, ber dritte ufw., bis zuletzt aud der zwölfte feine 12 Lieder gefungen hatte, die Eiche mithin 144 Dal bejungen worden war. Das Lied, welches einer ſchon gelungen hatte, durfte ein andrer nicht mehr anftimmen; wenn er es aber dennoch tat oder nicht imftande war 12 Lieder von der Eiche zu fingen, fo mußte er mit Schmach den Ehrentiſch verlaflen und ein andrer trat an feine Stelle, um in dem Rundgeſang mit neuen 12 Eichenliedern darzutun, daß er folher Ehre würdig fei.

Unanftändige Lieder, Lieder der Unehre, wurden nur auf Hochzeiten, feltener zu Johannis gebuldel. Da fie eine uralte jeremoniale Bebeutung hatten, verlegten fie das Keufhheitsgefühl weniger. Sie wurden ftets nur von Männern und rauen, nie mals von jungen Mädchen ygejungen. Andere Lieder, die uns jegt ordinär und anftößig eriheinen und von jungen Mädchen daher ungern gejungen werden, waren es in bamaligen toben

500 Das Iettifche Vollslied.

Zeiten durchaus nicht. Manche von dieſen find fogar ganz poetiſch und weiſen dem flüchtig auf fie Vlickenden ein ganz harmlojes, unſchuldiges Gefiht entgegen.

Zum Schluß fei bemerkt, daß bie andre Tonkunſt, die inftrus mentale, nur von Männern gepflegt wurbe. Schon fleiner Hirten liebfter Zeitvertreib war Flöten und Hörner aus Ninde zu vers fertigen, auf denen fie dann nad) Herzensluft fid übten. Das beliebtefte Saiteninitrument der Zeiten in früheren Zeiten war die Zither, deren Klänge in den Volfsliedern hoch gepriejen werden.

Kulkurgeſchichkliche Kisʒellen.

Eine Bittſchrift von Ao. 1699.

Prod. Riga d. 17. Martii 1699.

Erlãuchteter, Hochwohlgebohrner Herr Graff, Königl. Naht, Feldmarſchall nnd General Gouverneur, Snäbigfter Herr.

Die unter unzehlich viel andern Ew. Erl. Hochgr. Excellence meitgepriefenen Heroiſchen Tugenden hervorleuchtende Liebe und experience in denen Mathematiihen willenichaften, durch welche ſich vormahls Griechenland und jelbit das Stolge Nom bey der gangen weldt formidabel gemadet und Numa Pompilius, Empedocles und Seipio über andre Helden ihrer Zeit, in admi- ration gejeget, encouragiret und vertröftet mic) demühtigft fuh- fälligen Mechanieum aud), daß wie vormahls Archimedes am Marcello, Vitruvius an Vitellio ihre jonderbahre Mecoenates gehabt, ich ebenfalls bey Ew. Erl. Hochgr. Excell. einen gnädigen Patronum und Schug Herren finden werde. Ich muß geitehen, daß meine gringe eonnoissenee, der Vortreffligfeit obiger wellt berühmten Künjtler bey weiten nicht das waſſer reichet, iedoch da id) durch viele speeulation und fait gänpliche ruin meiner felbjt eignen Saabfeeligfeit nad) 205Jäl v unterfuhung ein nicht gringes Kunft-itüd und Handgriff der Mathematique, das per- petuum mobile nehmlich, deſſen Nuten und Fruchtbarkeit die übrigen Theile berjelben, wo nicht gäntzlich über trifft, ihnen dennoch gar nidis madhgiebet, erionnen, und joldes fünfftig in völliger faubern perfection, fo mohl Ihrer Rönigl. Maytt. als aud) Ew. Erl. Hochgr. Excellence, vor augen jtellen will, als

502 Kulturgefehictliche Miszellen.

lebe ber gewiſſen Zuverficht, daß Em. Er. Hochgr. Excellence reifffinnige experience felbjt judieiren wird, wie diejes Aunit- Stüds vortrefliher Nupen fih nit allein in ber Civil und Militair Architeetur, fondern aud) in allen andern in vita Civili bey Kriegs⸗ und Friedens Zeiten höchſtnöhtigen wiſſenſchaften extendire. Zu geidweigen andere jo wohl in Mechanieis als Statieis Hydrotechnieis und uhrwerden höchſt nöhtige wiſſen— haften, die mir bisher die Mißgunſt benachbahrter Höffe darzu— zeigen verhindert hat und ich mit der Zeit zu jonderbahrem Nupen und eontentement Ew. Erf. Hochgr. Excellence vorjtellen will. Dem nad jo falle Ew. Erl. Hochgr. Excellence id in unter thänigjter submission hiemit fußfällig an, fie geruhen mir unter dem Schutz Ihrer Königl. Maytt. und gnäbiger Schirm haltung Ew. Ertl. Hochgr. Excellence als dem Vater diejes Vaterlandes, nad) arth jenes Chananeischen weibleins die brohfamen, die von andrer reichen handwerfer und Künſtler Tiiche fallen, durch meinen unermiedeten Fleiß und handarbeit, auf hiefiger burg:Freyheit mit auf zu jamlen, gnädigjt zu verftatten, in regard daß doch ohne dem die fonderbahren Künſtler laut aller orten Schragen und gewohnheit von denen andern handwerds zünfften separiret und befreyet zu fein pflegen. Vor welche jonderbahre Gnade ich Lebens lang Bott den allmächtigen umb reiche Belohnung anzuflehen nicht ermieden werde, der id) in aller unterthänigfeit verharre

Ew. Erl. Hochgr. Excellence bemühtigit Fubfäliger Diener Johann Biermann.

Bon Tage.

Briefe vom Embach.

IN. Juni 1905.

D: Chroniſt Hat zwei hodhbedeutjame Negierungsmaßnahmen zu verzeichnen. Die Wirfung der einen eritredt fid) auf das ganze ruffiiche Neid, die dev andern iſt auf die baltiihen Provinzen bejchränft. Bei beiden handelt es ſich um die Erweiterung der den fog. Fremdſtämmigen zugemeſſenen Rechte. Während das Zolerangedift die Lage ber fremden Konfejiionen nad neuen Gefihtspuntten regelt und ihr Verhältnis zur griechiſch-orthodoxen Staaiskirche einigermaßen verſchiebt, eröffnet der Beſchluß des Miniftertomitees, die deutſche Unterrichtsiprahe in. den Privat ſchulen ber Dftjeeprovinzen wieber zuzulaiien, ber deutſchen Bevöl— ferung unfrer Heimat die Ausficht, ihren Kindern eine beutiche

Erziehung gewähren zu fünnen. Zwei Tatfachen von man follte meinen epochemachender Wichtigkeit! Auffallenderweiſe

aber hat die zunächſt auffladernde Stimmung lebhafter Freude und Genugtuung einem jtarfen Peſſimismus Play gemacht, ber, auf zahlreiche trübe Erfahrungen geitügt, die Hoffnungen auf das denkbar tiefite Niveau hinabdrüdt. Der Beſchluß, betreffend die Privatjchulen, bedarf noch immer der faijerliden Bejtätigung; die Einzelheiten des Erlaſſes über die Glaubensfreiheit befinden ſich nod im Stadimm der Ausarbeitung und Kommentierung feitens der hierzu eingejegten Kommiſſion. Beide ſchweben aljo fürs erite in der Beide Fragen find nicht endgültig erledigt, vielmehr allen möglihen Schwanlungen und Yenderungen unterworfen. Die ruififde Bureautratie fämpft offenbar auf Xeben und Tod gegen den humaneren Geiſt des fniferlihen Erlaſſes. Wie fie ſich zu demfelben jtellt und in welcher Richtung fie ihn zu interpretieren geneigt ift, das hat der Generalgouverneur von Warſchau, Herr Marimowitid, mit vollendeter Offenheit und Harnılofigfeit der Welt verfündet. Seiner Auffaſſung nach ift der Erlaß dahin zu erflären: ihr dürft jegt übertreten, uber gnade euch Gott,

0. Vom Tage.

wenn ihr es tut! Es gibt gewiß wenige unter feinen Kollegen, die nicht Bedenken trügen, in den überwältigend ſtaatsmänniſchen Ton dieſes Altenſtücked einzuftimmen; aber ebenjo gewiß fehr wenige, die nicht bereit wären, ihm grundjäglich beizupflichten. Auch die Kommiſſion, die mit dem Ausbau der Gefepest mungen betraut it, wird es ſich fraglos angelegen fein laſſen, für die gute Sache der Unduldjamfeit in Glaubensſachen zu retten, was zu retten ill. Im den Augen des Fanatifers ift das Vater: land in Gefahr, wenn die Polizei der heiligen Prärogative beraubt wird, dem Staatsbürger vorzufchreiben, was er zu glauben und was er nicht zu glauben hat. Daß die Beltrebungen folder Ele: mente den faiferlihen Intentionen direft eutgegenarbeiten, ijt eine Erfenntnis, über die jene felbft mit einem geiltigen Saltomortale hinwegſeden.

In anbetracht dieſer und vieler ähnlichen Erwägungen it die Stimmung gerade bei uus, wo die tonfeſſionelle Frage ſchon feit längerer Yeit auf eine geredhte Löſung unabweisbar hindrängt, nicht allzu gehoben. Auch die Privatidulfrage iſt nicht dazu angetan, ungeteilte Freude zu erweden. Wir wollen davon ab: fehen, daß bie ganze Sadye ungewiß und die Allerhöchſte Entjdei- dung noch nicht gefallen it. An und für fih ift es gewiß ein Gewinn, daß das Recht der Eltern, beim Unterricht ihrer Kinder die Mutterſprache anzuwenden, prinzipiell anerfannt wird. Der praftiichen Durchführung dürfte ſich jedech manches Hindernis eutgegenſtellen. So ſoll das Abiturienteneramen in ruſſiſcher Sprade und an einem jtaatliden Oymnaſium abfolviert werden. Iſt es icon unter normalen Verhältniffen ein gereaptea Erperi: ment, in einem jo fritiihen NAugenblid fremde Lehrer, die der Entwidtung des Schülers nicht gefolgt find, über deſſen Echidial entiheiden zu laſſen, jo wird die Schwierigfeit natürlich noch erhöht, wenn der ganze während der Schulzeit aufgenommene Lehr: ftoff von Eraminanden in eine andre Spradhe übertragen werden joll. Voffentlich gelingt ber Veriuch tropdem zu beiderfeitiger Zufriedenheit. Die Befürchtung indeß fiegt nahe, daß nicht alle, die gern von der Ver ung bes deutſchen Unterrichts Gebrauch machen würden, hierzu in der Lage fein werden. Denkbar wäre eo, daß mit der Zeit eine andre Regelung der Angelegenheit ver: ſucht würde, etwa in der form, daß die Schüler in deuticher rache eraminiert, nebenbei aber einem Kolloquium zur Prüfung ihrer Kenniniſſe im Nuffiicen unterzogen werden. Damit fönnten beide Teile Negierung und Publitum -- fi) zufrieden geben, und die ganze Frage gewönne ein fowohl praftiiheres als auch gerechteres Anjehen.

Im Zuſammenhang mit der Zulafjung der beutjchen Unter— richtsſprache in Privatanftalten iſt fofort die Frage der Berechtigung

Bom Tage. 505

eftnifch- reſp. lettiſchſprachiger Schulen in der Preſſe zur Diskuffion gelangt. Unfre Zeitungen haben dieſen Beltrebungen einmütig ihre Sympathie ausgeiproden. Die Zukunft muß lehren, ob ber Gedanke lebensfäjig und durchführbar ift. Natürlich mißfällt die in der Nefolution des Minifterfomitees enthaltene Konzeſſion an das Deutihtum in dem baltiſchen Provinzen denjenigen ruffiichen Bolitifern, denen Negieren und Nufjifizieren in den Grenzgebieten ibentifche Begriffe find. Die liberalen Blätter fünnen nicht gut dagegen auftreten, wenn anders fie ihre prinzipielle Stellung nicht Lügen jtrafen wollen. Dagegen hat die „Nowoje Wremja“ nicht gezögert, ihrem Mißfallen unzweideutigen Ausbrud zu geben. U. a. bringt fie in ihrer Nummer vom 29. Mai d. J. eine Kor- reipondenz aus Niga unter dem Titel: „Die erfle balliſche Kontre- reform.” Die Entiheidung in der Schuͤlfrage wird hier als Ins tonfequenz gegenüber dem bisherigen 2Ojährigen Vorgehen ber Negierung bezeichnet. Im Anſchluß daran erfährt die Stimmung in den baltiichen Provinzen, der freiere Haud), der durch das baltiſche Geiftesleben gehe, eine eigentümliche Würdigung. Die hiefigen Zournaliften feien ganz aus dem Häuschen geraten. Zeir tungen, die ſich ſonſt auf Nadbrud beſchränkt hätten, brädhten plöplid) jpaltenlange, jelbftändige Artifel mit neuen politischen Gedanfen. Das alles beweile, daB aud) diesmal wieder die neuen Ideen, gewillermaßen Die Befreiung der Geijter, aus Often Tommen ei: „ex oriente lux!“ Das wirft geradezu toi Alſo die „neuen“ Ideen in Sachen der Verfaflungsreform uſw. ftammen bdireft aus Oſten? Sollten die Verhältnifie nicht eher jo liegen, daß all diefe Ideen, die uns feineswegs unerwartet fommen, ſchon lange herangereift waren, und zwar auf heimijchem Boden und in heimiſcher Luft; daß aber durd das gewaltfame Nieder: halten jeder Bewegung, vor allem durch die Zenſur, bie erjt in allerlegter Zeit in verjtändnisvollerer Weile gehandhabt wird, ihre öffentliche Erörterung garnicht zu reben von ihrer Umjegung in die Praris hintangehalten wurde? Ueber den Import von Ideen aus dem Djten fönnen wir freilid quittieren. Mit der Wohlfahrt unfres Landes haben fie aber ſchlechterdings nichts zu ſchaffen. Es find die Ideen der Zügellofigfeit und Anardie, die durch eine gewiſſenloſe Agitation von Dften in die Kreiſe unjrer Land und Arbeiterbevölferung hineingetragen worden find und unfre Heimat in innere Wirren geſtürzt haben, die fie bis dahin nie gefannt hat. Eine jonjtige Befruchtung unfres Geifteslchens durch die öſtiiche Jdeenwelt läßt fid nicht nachweiſen.

Nach der weiteren Darjtellung des Rigaſchen Korrefpondenten der „Nowoje Wremja“ verlangen „die Deutiden eine deutſche Autonomie, die Letten eine lettiiche, die Ejten eine eſtniſche; nur die Ruſſen verlangen nichts.” in beweglices Bild ruſſiſcher

506 Vom Tage

Selbſtentäuherung und Beſcheidenheit: Die Ruſſen jtehen in den Dftieeprovingen traurig und machtlos abfeits. ie jehen, wie die Andersgläubigen und Andersftämmigen ein Privileg um das andre erhalten, und es bleibt ihnen nichts übrig, als der heiße Wunich, ihre eigene Religion und ihr eigenes Volfstum vor der drohenden Ueberflutung gerettet zu jehen! Neu ijt die Entdeckung, daß bie Deutichen eine deutiche Autonomie verlangen. Alles, was bisher über die geplante Verfajjungsreform in die Deffentlichfeit gedrungen üft, zeigt Märlich, daß der ganze Entwurf auf dem Fundament einer alle einheimijhen Nationalitäten umfaffenden Organifation ruht. Celbit bei ben Verhandlungen der Provinzial: und Kreis: tage foll völlige Sprachenfreiheit herrihen, d. h. jeder in jeiner Mutterfprache reden dürfen. Mas will man eigentlich noch mehr? .. Mögen“, jo ungefähr ſchreibt ber Gewãhrsmann der „Now. Üremja“, „die baltiihen Journalijten von einer Reorganiſation auf deutſcher Bafis träumen; die Vlänner, die im praftiihen Leben jtehen, denlen nicht daran.“ Wenn mit der „deutſchen Bajis“ das Ignorieren der eſtniſchen und lettiſchen Elemente gemeint ift, dann fann der Herr verfichert fein, daß auch die baltiſchen Jour— naliiten „nidyt daran denfen.” Ein Blick in jede beliebige Zeitung hätte den Korreſpondenten jehr bald hiervon überzeugt. Aber das wäre natürlich ein jehr unbequemes Eingeftändnis und paßt ihm fozufagen nicht in den Sram. Angeſichts eines foldjen Vorgehens wird man ummwillfürlih an das Wort eines baltiihen Hiltorifers erinnert: „Seit einem Menſchenalter und länger bringen wir bie Hälfte unfrer Tage damit hin, nichts Kängenswertes zu begehen, die andre mit dem Nachmweije, nichte Hängenswertes begangen zu haben.” ... Als ein Symptom des unfre Geſellſchaft betreffenden Peſſi— mismus, von dem oben die Nede war, zugleich des mangelnden Vertrauens zur Zufunft und wohl auch zur eigenen Kraft it ein Beſchluß der legten Generalverjammlung des hiefigen Handwerker: vereins anzufehen. Es handelte fi um den Erjag des im vorigen Jahr niebergebrannten Sommertheaters, jpejiell um bie Alternative: Holz: oder Steinbau. Die Verfammlung bat fi in ihrer Majo— vität für einen Holzbau entichieden. Das it aufs lebhajteite zu bedauern. Sollte die deutſche Gefellichaft wirklich nicht imftande fein, die Mittel für ein danerndes, würdiges Theatergebäude auf: zubringen ? Leider ſcheint das Verſtändnis für die Bedeutung eines im Dienfte der Kunſt jtehenden Injtituts noch nicht alle Kreiſe durchdrungen zu haben. Die banguſiſche Anſchauung, daB ein Theater ein Vergnügungslofal fei, das feine ernftere Aufmert: famfeit verdiene und hinter „gebiegeneren“ Gegenjländen zurück- zutreten habe, läßt ſich aud) unter dem gebildeten Publilum nicht volitändig ausrotten. Erſt die unzureihende finanzielle Unterz

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ftügung rüdt die Gefahr nahe, daß das Theater auf bies Nivea hinabfintt. Es follte eine Ehrenpflicht jein, für die Eriftenz eines wirklich guten deutichen Theaters zu forgen. Die erite Bedingung hiezu ift die Schaffung von Näumlichteiten, an denen nicht der Fluͤch der Alltäglichleit und Trivialität haftet. Es iſt ein Unter ſchied, ob edle Kunſtgenüſſe in einer Umgebung geboten werben, die an und für fid) erhebend wirft, oder ob dieſe Umgebung eine Stimmung hervorruft, die den Darbietungen eines gewöhnliden Vergnügungsetablifiements fongenial ift. Das Theater in jeiner Eigenſchaft als Kultur- und Bildungsfaftor wird nicht genügend erfannt. Das liegt am Publikum ſelbſt. Daran ift garnicht zu zweifeln. Die Bemühungen der verſchiedenen Theaterdireftionen, die jeit Jahren unſre Stadt beſuchen, haben redlich das ihre getan, dies Vorurteil zu zeritreuen. Um fo deprimierender wirkt der ent fagungevolle Beichluß des Vereins, als unfre ejtniihen Mitbürger im Begriff ftehen, fid) ein anſpruchsvolles Theatergebäude zu ers richten mit dem ein mehr ober weniger ad hoc erbautes Sommer- theater in feiner Weiſe fonfurrieren fann. Die deutiche Geſellſchaft jollte ſich jtart genug fühlen, um aud auf biefem Gebiet ihre Opferfreubigfeit zu zeigen. Alle möglidien Bedenten in erjter Linie finanzielle haben fie veranlaßt, firh einen Vorzug zu vers lagen, auf den fie vollen Anſpruch hat und den fie ſich felbit ſchuldig iſt. Bei vielen andern Gelegenheiten hat der Handwerter- verein ein tiefes Verjtändnis für feine Aufgaben bewieſen und durdaus auf der Höhe der Situation gejtanden. Es wäre unge: recht, zu behaupten, daß er nun plöglid von jeiner Höhe hinab- geſtürzt ſei. Leugnen läßt ſich aber nicht, daß Beſorgniſſe den Sieg davongetragen haben, die nicht etwa ignoriert, wohl aber mit vereinten Kräften aus dem Wege geräumt werben müßten. Daß es unjrer Gefellichaft Teineswegs an Opfermut fehlt, bafür liefert fie ja fortwährend glänzende Belege. Neben den ver- ihiedenen Vereinen, die vorzugsweife gefelligen Zweden dienen unb die ganze Skala vom zwangloſen Beieinanderjein bis zum vor— nehmiten Kunftgenuß umfpannen, beiteht in unſrer Stadt ein Inftitut, das, äußerlich auf dem kameradſchaftlichen Prinzip auf bi ein prattiſches Ziel verfolgt, das tief in unſer Leben ein: det. Ich meine die Freiwillige Feuerwehr und ihre felbit- verleugnende Tätigkeit im Dienjte des Gemeinwohls. Noch in den legten Tagen hat ein Mitglied diefer ehrenwerten Geſellſchaft die treue Arbeit zum Velten feiner Mitbürger mit dem Tode bejiegelt. Intereffant ift es, in Anbetracht der heutzutage in unfrer Heimat vorherrſchenden Verhãltniſſe, die imponierende Einigkeit zu beob- achten, die im Kreiſe der Feuerwehr zuhauſe iſt. Hier gibt es feinen Klaſſenhaß und feinen Raſſenhaß. Dieſe Männer tun ohne überflüfiige Redensarten ihre Pflicht, indem fie beijen eingedent

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bleiben, was fie eint, bemjenigen aber, was fie trennen könnte, bie Tür verſchließen. So bieten fie ein fchönes Bild einmütiger, freudiger Wirkſamkeit auf ber gefunden Grundlage des Zujammen- ſchluſſes aller Bürger, denen es mit dem Wohl ber Stadt Ernit iſt und bie nicht gefonnen find, in dieſen Tagen allgemeiner Vers bhegung die Idee, in deren Dienſt fie ſich freiwillig geftelt haben, im Stid zu lafien. Dies ift ein Beweis, daß ein Zufammen- wirfen aller Bevölterungskreife zu einem gemeinnügigen Zweck in der Praris jehr wohl bei uns durdführbar ift. Wir haben daher allen Grund, in diefer Beziehung nicht ganz ohne Hoffnung in die Bufunft zu bliden. Wenn erit die Herrichaft ber Phraje debrochen und jeder an feine tägliche Arbeit zurücgekehrt ift, dann läßt ſich manches Nügliche leiten mit einander und für einander. Unfre Freiwillige Feuerwehr ijt ein Zeugnis für die überwältigende Kraft des Gemeinintereijes und des Gedanfens der Solidarität aller Heimat- oder Stadtgenofien gegenüber den Tendenzen egoütis icher Separierung der einzelnen, in unſrer baltüchen Heimat ein. gefeilenen Nationalitäten.

Zum Schluß möchte idy einen Fehler berichtigen, den mein voriger Brief enthält. Auf dem „Dom“ foll nicht eine Klinik, fondern ein Gebäude für Nörfäle, Laboratorien 2c. aufgeführt werden. An dem Gefihtspunft ber Verunglimpfung der Dom: anlagen und der Domruine ändert dieſer Unterjchied natürlicd nichts. Das Etadtamt wird die erforderliden Schritte tun, um die Aus: führung des Planes womöglich zu verhindern. uch die Tages- preſſe hat ſich feitben mit der Angelegenheit beichäftigt *.

Eine kurze Antwort auf den I. Brief vom Embach.

Es fei mir hier geftattet auf einiges, was bie Korreſpondenz vom Embad), enthalten im Märgheft der „Balt. Monatsichrift“, anbetrifft, eingehen zu dürfen, namentlid) in Yezug auf die Beur- teilung und die Aeußeruugen über das afademijche Leben und die Geiſtesſtrömungen in den Korporationen. Den in Dorpat ſiudie⸗ renden baltijden Studenten wird ein Vorwurf der Unregjamfeit des geiftigen Lebens gemacht, welcher als zu jchroff hingejtellt

B

Wugwiſchen fit von Fompetenter Seite die Erklärung abgegeben worden, dab ei jeilen am die Errichtung dieſes Gebäudes aus finanziellen Gründen nicht gedaght werden fönne, Die Red,

Som Tage 509

werden muß. Im Anſchluß an eine Schilderung ber Begei— iterungsfähigteit des nicht-baltiihen Studenten ber Embadjitadt im allgemeinen wird ber freunblice Wunſch ausgeiprochen, daß eine Heine Anmärmung der in ben Ronventsquartieren herr= ihenden Temperatur fühler Blafiertheit und Langweiligfeit nicht von Uebel fein würde. Wenn diefer Satz wirtlih ein Bild des augenblidlihen geiftigen Lebens gäbe, fo könnte man mit Recht die Frage aufwerfen, ob nicht die Bedeutung des engen Zufam- menjchluifes junger Menſchen, bie, wie ausgedrüdt worden iſt, „der Pflege der Gefelligfeit und Kameradſchaft, der Hütung des guten Tones, der legalen Erledigung von Ehrenhändeln und ber Betätigung verwandter Intereſſen leben“, doch eigentlich eine fehr geringe ſei. Auf dieſes fei erlaubt Folgendes zu bemerfen: Da ſich die Forporelle Studentenſchaft fait ausiglieklic aus bal- tiſchen Kreifen refrutiert und in allem mit bem baltiichen Lande eng verwachlen ift, jo muß es als eine natürliche Erfcheinung angefehen werben, wenn die Strömungen der Geſeliſchaft und des Landes in ihr ſich mehr oder weniger wieberjpiegeln. Herrſchte im Lande eine ftarfe Depreifion, fo mußte dies ſelbſtverſtändlich aufs eindrudsvollite auf junge Gemüter eine Birfung ausüben. So hat es benn auch Zeiten gegeben, wo ähnliche Empfindungen auf die Entwidlung mander einen nicht bebeutungsloien Drud ausübten. Von einem eriltierenden Charafterzug der Blafiertheit aber fann überhaupt nicht Die Rede fein.

Wenn der Verfafer des Artifels gleichfalls die Frage gelöſt zu haben fcheint, weshalb die baltifche Studentenihaft in das politische Fahrwaſſer der ruffiihen Kommilitonen nicht hineinzus geraten brauche, jo ift diefe Art von Löſung zu einfach und darf wohl nicht als dem wirklichen Grunde entipredhend angefehen werben; bie von jeiten bes Ch! G! veröffentlichte Kundgebung bat von den außerhalb des Ch! E! ftehenden, nicht fraß-radifalen Elementen der Stubentenjhaft richtiges „Veritändnis gefunden. Wie Schreiber diefer Zeilen genau befannt, iſt das wichtige und bei bdiefer Frage nie außer Acht zu laſſende Moment, daß ein aktives Eingreifen in die Löſung politischer Probleme aus dem Grunde nicht Sache der baltiihen Studentenſchaft fei, weil diefe Frage älteren, erfahrenen und das Vertrauen ber Geſellſchaft genießenden Männern überlaſſen wird, total richtig gewürdigt und anerkannt worden. Das Vertrauen auf die Tätigkeit älterer Pers fönlichfeiten ift ber Grund, weshalb bie Politit in das Studenten- leben nicht aftiv eingreift, und nicht berjenige, daß Korpos rationen ſich nur mit der Pflege von Gefelligfeit und Hütung des guten Tones befaſſen.

Ferner habe nad Anfiht des Herin Rorreipondenten das Schriftitüd notgedrungen Stellung zu Verhältniſſen genommen,

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denen feine Abfender innerlid völlig fern ftehen. Nun ift es jedoch von feiten des Ch! E! richtig zu betonen, daß er einen ganz beftimmten Teil der Studentenſchaft vorftelle und deshalb in alfgemein-ftudentiihen Angelegenheiten fi) auch zu äußern habe. Wenn ruffiicherfeits darauf hingewieſen worden, daß dank ber Erlanbnis des Farbentragens die forporellen Studenten geneigt feien, mit der Negierung durch Did und Dünn zu gehen, jo iſt aud von berjelben Seite in für die allgemeine Studentenſchaft überaus maßgebenden Kreifen bald nad) Nejtituierung des Farben: tragens die Meinung verbreitet worden, die baltiiche Studenten- ſchaft hätte ihren Standpunkt ber Bolitif gegenüber verändert. Es muß alſo wohl die Kundgebung als berechtigt angejchen werden; fie wurde zudem wie von der Univerfitätsobrigfeit jo auch von ber fonjtigen Studentenfchaft direft erwartet.

Weiterhin wird der Fallung ein Vorwurf der Unflarheit gemacht, fie als abfichtlich gewollt hingejtellt und dabei eine quaft abſichtlich gewollte Unpräzifion als faliche politiſche Weisheit vers urteilt. Den Vorwürfen gegenüber möge bemerkt jein, daß an eine abfichtlich gewollte Unpraͤziſion und jelbige noch aufgefaßt als politifche Meisheit garnicht gedacht worden und weder in der Faſſung noch jonſt irgendwie dem ähnliches herauszuleien iſt. Dann wird noch weiter gemeint, daß die Schrift durch das Betouen lediglid) der Wiſſenſchaft ſich ſelbſt richte, da die jtudentiihen Ver— bindungen mit der Wiſſenſchaft weniger als nichts gemein hätten. Der Verfaſſer des Artikels vertritt eben die Anjicht, daß Rorpora: tionen bloß Gejelligfeitsvereine Seien; es fann aber aud die andre Anficht vertreten werden, daß die in Dorpat eriftierenden ſtuden⸗ tüchen Verbindungen ohne das Fundament dev Wiſſenſchaft über: haupt nicht denkbar feien, es jei denn, man jtudiere in Dorpat einfad) Rorporationsfeben. Derartige Erjdeinungen find im Aus: lande befannt: die jungen Menſchen find 2—4 Semefter Korps: brüder, verlaffen dann das Korpsieben ganz und befdäftigen ſich auf einer andern Univerfität mır mit dem Studium. Dorpat fennt derartiges nicht. Der Ch! E! hätte auch dann nur die Berechtigung, die Korporationen in Fragen, die nur auf das Sejelligfeitslcben derſelben Bezug haben, der Univerjitätsobrigfeit gegenüber zu vertreten.

Der Grund, welhalb zu einer Erwieberung geſchritten worden, beiteht darin, daß Verfaſſer dieſer Zeilen vie Empfindung hatte, der Artifel vom Embach fönnte gleichfalls zu Mißverſländniſſen Anlaß geben, was ja in jedem Fall ſchade wäre, denn, mit den Worten des Herrn Norreipondenten der Valtiihen Monatsichrift: immerhin iſt ein unfreundlices Echo unerjreufich für den, der eo gut gemeint hat.

Be

Bom Tage. ö

Nachwort.

Zu der kurzen Antwort auf meinen erſten Embachbrief möchte ich bemerfen, daß ich dem baltiſchen Studententum nicht den Vor— wurf mangelnder geiftiger Negjamkeit habe machen wollen. Was den von mir behaupteten Zug von Vlafiertheit anlangt, jo wäre der Ausdrud „Müdigkeit“ vielleicht treffender. Ueber das Vor— bandenfein diefes Zuges läht fih gewiß ftreiten. In jedem Fall würde ich foldhe Stimmungen, wie der Herr Einjender es auch tut, aus der allgemeinen Etimmung im Lande ertlären.

Aus welchem Grunde das baltifhe Studententum ſich nicht mit Politif befaßt, habe ich nicht erörtert, vielmehr nur erwähnt, daß es fid) fo verhält. Am allerwenigiten made ic) ihm daraus einen Vorwurf.

Ich bin der Anfiht, daB unjer geiftiges Leben und damit dasjenige des baltiichen Studententums mit den Beftrebungen der ruffüichen Intelleftuellen, fein dies nun Studenten oder andre Elemente, nichts zu jhaffen habe. Daher das Unvereinbare zwiſchen hüben und drüben und daher auch das ganz naturgemäße Mike glüden der Aeußerung des Chargiertenfonvents zu Fragen, bie angeblid einen akademiſchen, tatlächlich einen ruſſiſch-politiſchen Charakter an fid) trugen.

Was die ſiudentiſchen Verbindungen betrifft, jo bfeibe ich dabei, daß fie als jolche mit der Wiſſenſchaft nichts gemein haben. Dah das einzelne Mitglied wilfenfhaftlich arbeiten fann und foll, ift jelbjtverftändlich, ändert aber an jenem Faktum nichts. Um der Wiſſenſchaft willen ift wahrhaftig fein Menſch in eine Korpo— ration eingetreten. Ein um jo beileres Zeichen ift es für den einzelnen wie für die betreffende Korporation, wenn tüchtige Männer aus ihr hervorgehn, die den Nachweis liefern, daß das Eine das Andre feineswegs ausſchließt. u

Im Spiegel der Preffe.

18. Mei.

„Das gefchriebene Geſez muB bem Leben vorausgehen, jeinen Weg beleuchten, nicht aber hinter’ ihm zurüdbleiben. Im entgegen- gelegten Falle wird es feinen Einfluß haben und feine Achtung genießen.“ (Birſh. Wed.) Wenn es nun ſchwer if, das Geſetz zu einer fo unbilligen Hurtigkeit zu bewegen, fo ift es doch minder jchwer, dem Leben durch Rejolutionen und „Plattformen“ den Schmand vo:wegzuichöpfen. Zwei neue in jchärffter Konkurrenz mit den Wegen der Voriehung gearbeitele „Plattformen“ find fertig -—- die „Plattform“ des Bundes der weiblichen Gleichberechtigung und Des alruffüichen Bundes der Techniker und Ingenieure. Sogleid nach der Fertigftellung der „Plattform“ find beide Vereinigungen in den „Bund ber Bünde” eingetreten, ber fid) die Vereinigung aller radifalen Strömungen zur Aufgabe geitellt hat. Der Frauenbund hat die Organifation eines Bundes aller Arbeiterinnen in Ausficht genommen, dem Bunde ber Techniker und Ingenieure blieb die Negelung ber männlichen Arbeiterverhältnilfe vorbehalten, das ſtaatlich politifhe Leben Rußlands regeln beide in freiem Wett: eifer. Der Bund der meiblichen Gleichberechtigung fordert die fofortige Einberufung einer fonjtituierenden Verfammlung auf Grundlage des allgemeinen, direkten, gleichen und geheimen Wahl- rechts, ohne Unterichied der Nationalität, des Glaubens und des Geſchlechts, die bürgerliche und politiiche Gleichberechtigung ber Frauen auf allen Gebieten der öffentlihen und ftantlihen Wirk— jamfeit, die Teilnahme der Frauen an allen Wohltaten der fünfs tigen Agrarreformen und die gemeinfame Erziehung der Rinder beiderlei Geſchlechts in den Lchranftalten jeden Grades. Der „Siewernyj Rraj“ iſt ſeht für eine unverzügliche Anteilnahme der Frauen an den politischen Nechten, da fid) bei längerem Zögern der Unterſchied des politiichen Niveaus der Männer und Frauen fchnell vergrößern würde; die „Ruoj“ dagegen rät dem Bunde fich mit Geduld und viel Energie zu wappnen. Der Bund der Ingenieure und Techniker tut es gleich) dem Frauenbunde in Ntaatlicher Beziehung nicht unter dem allgemeinen direkten Wahl: recht ohme Unterfchieb des Glaubens, der Nationalität und des

Bom Tage. 8

Geſchlechts. Als Rampfmittel zur Durchführung feiner” Ideen wählte ber Bund bie Boyfottierung derjenigen Perſonen und Inſti—⸗ tutionen, die den Zielen des Bundes zumiderhandeln. Einzelnen Ingenieuren, die von ihren Arbeitgebern entlaifen worden waren, wurden in berfelben Sigung Unterftügungen aus ber Bunbestafje bewilligt. Um 6 Uhr abends wurde die Verfammlung aus von dem Bunde unabhängigen Gründen gefchloffen, die Veranlaſſung hierzu war der Wunfc des Gaftwirts, die von dem Bunde der Ingenieure und Techniker gebrauchten Stühle zu andern Zwecken zu benugen, Da in diefem Falle das Gebot des Gaſtwiris tat ſãchlich dem Leben vorauseilte, fo fand es allgemeine Achtung.

Bei dem Verſuche, fi in den taufendfältigen Schattierungen unfrer öffentlichen Meinung zurechtzufinden, könnte der oben: erwähnte Slaubensfag der „Birih. Wed.” als das innere Merkmal bes gemäßigt radifalen Flügels dienen, ein gutes äußeres Merkmal wäre das Wahlrecht ohne Unterfchied des Geſchlechts, während das gewöhnliche allgemeine Geheime beiler als Merfmal einer fortfchrittlich liberalen Gefinnung zu verwerten wäre, die Liberalen ohne das allgemeine Geheime fielen füglich unter ben Begriff ber Konſervativen, die nicht einmal Eonjtitutionell, fondern nur beratend gefinnten Konjervativen unter den Begriff der Reaftionäre, wo fie gezwungen wären fi) mit der abfolutiftiich-reaftionären Partei der „Post. Wed.“ im furchtbaren Anäuel unauflösbarer Widerſprüche zu verwideln; aber biefe legte Partei ift fo reaflionär, daß fie eigentlich feine Partei mehr iſt, fondern eine freiadminiftrative Vereinigung zur Aufhebung ‚ber Parteien und aller liberalen Ver— fügungen und Gefege. Ihre MWirffamteit ift nad den Ausfüh— rungen Ranidins notwendig, da Polizei, Armee, Geiſtlichleit und Beamten ihre Obliegenheiten zur Wahrung des abſolutiſtiſchen Prinzips nicht mehr zu erfüllen imftande find. Die Partei nennt fid) die monarchifche, -- Franfreic) Hat eine monarchifche Partei und feinen Monarchen, Rußland, das einen Monarden und eine monarchiſche Partei hat, ift nach ber Anſicht der „Most. Web.“ beſſer daran, das Beltehen einer monarchiſchen Partei zur Vers hütung etwaiger monarchlofer Zeiten ift logiſcher und zeitgemäßer, als eine monarchiſche Partei gewiſſermaßen nad) Tiſche. Schon jegt ift der Zuftand höchſt unerquidlich. „Wie fol ich”, heißt es in einem Briefe ber „Most. Wed“, „in der Geſellſchaft meiner Belannten fagen, dab id Monardift bin, daf ich ein Ruſſe bin und ein rechtgläubiger Chriſt, wenn mid) fogleic ein frecher Jude überjchreit, ber die Konftitution fordert was werbe ic) für einen Monardiften abgeben in der Anarchie.”

So haben fich denn die treuen Untertanen unter dem ftürmifchen Gebahren der Intelligenz jeufzend an das Volt gewandt, als den altbewährten Hort des Reiches. „Im Laufe

Baltife Monatslcrift 1905, Heft 6. 5

514 Bom Tage.

weniger Monate, meinen die „Most. Wed.“, ift die einft fo volfs- liebende und volfstümliche Intelligenz über dieſes Doll andrer Anficht geworben, die Intelligenz läuft vor dem Volle davon und verftedt ſich vor ihm, fie ſchreit über feine Dunkelheit, Unwiſſen⸗ beit, Wildheit und Barbarei, fie rettet das Volk nicht mehr von abminiftrativem Drud und polizeiliher Gewalttat, im Gegenteil, fie ruft nad ftrengen abminiftrativen Maßnahmen, fie will fich felbft gegen das Wolf bewaffnen und brängt bie Polizei zum ſchärfſten Vorgehen, um ungeftört vom Bolfe die Revolution zu madjen.” Ihre Hoffnung iſt micht mehr das Volk, fondern das Ausland und die Engländer bejonders die Engländer. Kauf: mannſchaft und Bauer haben fid) als vorzügliches Material zur monarchiſtiſchen Propaganda erwieſen, barum heißt es weiter: Gebt uns billige, der Konkurrenz gewachſene Zeitungen, öffnet die Spalten der Preffe den erdentitammten Kräften des Volkes und unfre gut ruffiihe Sache wird unerhörte Nejultate haben.” Auch bie freie adminiſtrativ monarchiſche Partei ift zur Propaganda der Tat übergegangen.

Die „Birih. Wed.” behaupten, daß die monardiftiiche Partei im Bunde mit den Dunfelmännern und Mefierhelden ſtehe: In Shitomir erklärten die Mefjerhelden (Hooligans), daß fie Studenten, Intelligenz und Juden totichlügen, da dieſe gegen Kirche und Staat und überhaupt Sozialiften wären. Die böfe Formel, die Radikalismus und Judentum vereinigt, ift gefunden, und nicht allein von den „Most. Wed.“, auch liberale Blätter beginnen vom jüdifhen Nadifalismus zu reden.

Im Ortchen Jufom aber, im Jefaterinichen Gouvernement, wurde ein Keller voll Proflamationen gefunden; die Proflamationen brauchten nicht vernichtet zu werden. Die Polizei verfah fie mit dem fchlichten Vermerk: „von den Juden” und verteilte fie unter —5 So iſt die Sache der Freiheil buchſtäblich geſtempelt worden.

Unter dem Titel „Privilegien und Verfaſſungsreform“ bringt die „Düna-Zig.” einen längeren Artifel, ber zum eriten Mal in Umriffen ein Bild eines Neformprojetts aus den reifen baltiiher Edelleute gibt. Der Verfaſſer (v. S.) unterfudt die Privilegien der Rittergutsbefiger und kommt zu dem Schluß, daß eigentlich die nod) bejtehenden Nefte derjelben von feiner materiellen Beden- tung find, und das wichtigſte Privileg, allein über die Verwendung der Landespräſtanden zu beraten, durch bie in Rede ftehende Reform befeitigt werben foll.

Am eingehendften ift diefer Artikel in ber „Deenas Lapa“ beſprochen worden; fie wendet ſich beſonders gegen die Säpe, bie

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Iettifchzeftnüiche Intelligenz fcheine nad) ihrem Verhalten zu ben Unruhen der legten Zeit noch nicht reif zu fein, an der Beſprechung von Reformfragen teilzunehmen, und ber Adelskonvent jei allein Tompetent zu entfdjeiben, mas eine eigentliche Reform und mas eine Pfeudoreform genannt werden fann. Die Ausführungen Herrn v. S., daß feine materiellen Privilegien mehr bejtehen, juchte fie im einzelnen zu entfräftigen. Daneben weilt das Blatt auf die von Herrn v. ©. übergangenen Privilegien hin, die dem Abel und dem Großgrundbefig nach ruſſiſchem Neichsrecht zuſtehen, daß auf privatrechtlichem Gebiet bei den Kaufverträgen mit dem Kleingrundbefig ſich die Gutsbefiger wichtige Vorrechte gewahrt haben, und dann, daß die Höfe von den Gemeindelajten erimiert feien, fpeziell an den Ausgaben für Schule, Armen: und Invaliben- verjorgung nicht teilnehmen.

Die „Rigas Awiſe“ lehnt von vornherein jede Diskulfion über die Verfalungsreform ab, ihr ertrem nationaler Standpunkt fügt fie vor jedem Kompromiß. Sie will nicht das freimillig gebotene Geringere, um nicht das Größere, das ſie von ber Regierung erwartet, in Frage zu jtellen. Nur äußere Umjlände fönnen den Konvent zu Reformen gedrängt haben, daher fol man nicht dieſe Neformen, die bloß ritterihaftlice Interefien im Auge haben, begünftigen, zum Schaden der einzig heilfamen Reformen, bie die Negierung verwirklichen fann, Reformen, die das Inlereſſe des Landes, d. h. bes lettiſchen Volfes vertreten.

Diefe Stellungnahme des gouvernementalen lettiihen Blattes iſt der ruſſiſchen Preſſe eine Gewähr dafür, daß eine Einigung zwiſchen den Letten und Ejten einerjeits und den Deutichen nicht möglid) ift. Die ejtnifch-tettiiche Volkskraft, ſchreibt die „Now. Wremja”, entfaltet ſich täglich und jtünblich, Schon haben bie Deutichen viele Pofitionen verloren, find aus vielen Stadtverwal- tungen verbrängt worden. Jept fangen die Teutjchen an Schutz bei der öffentlihen Meinung Rublands zu fuchen, bald werden fie ſich von der alten Anfchauung Iosfagen, daß ihre Pofitionen im Gebiet hauptſächlich duch uns Ruſſen bedroht find. Dann wird der Moment eintreten, wo wir Ruſſen wieber als die Vertreter der Geredtigfeit eingreifen werben, aber nicht mehr zu gunſten der Eſten und Letten, wie bisher, jondern zu gunften der Deutichen. Es ift eben unfre Aufgabe, in den Grenzmarfen im Kampfe ber Nationalitäten die Schwächeren zu fügen.

Durch unfere Blätter ging vor kurzem die Notiz von dem Erfcheinen einer neuen ejtnijchen fozialiftiichen Zeitichrift „Der Fortjhritt” in der deutſchen Reſidenz. Die Mai-Nummer, die mir eben vorliegt, enthält das Programm derjelben. „Fortſchritt, Wahrheit und Tugend ftehen höher als alle Geſetze und Keligionen“, lautet die Parole ber Zeitfchrift; fie bedeutet: „Unire Zeitichrift

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16 Vom Tage.

nimmt zum Ziel ihrer Beitrebungen und zum Maßſtab ihres Wirfens den Fortſchritt, die Wahrheit und die Freiheit, welch letztere in natürlidier Weile ans der Entwidlung der Kultur— geibichte und aus der geiftigen Natur des Menichengeichlechts ſich ergeben. . . ." Meiterhin heißt es: „AL unfer politisches und wiſſenſchaftliches Streben wird ſich gründen auf eine natürliche Moral oder Lehre vom Guten, mit deren Syſtem wir unire Leſer fernerhin von Grund aus befannt machen werden. Alle Pro: gramme, Pläne, Verbejferungen und Reformen, die fih auf das Gemeinwefen und die Politit beziehen, müſſen auf moraliſchen Grunbfägen und Verbefjerungen bafiren. Unfre Moral aber trägt feine religiöfe Färbung, jondern fie ift die Sprache der Naturgeſehe von der geiftigen Natur des Menſchen ſelbſt.“

Es ift verfrüht, nad) diefer Einleitung das Blatt ein fozias Hiftifches zu nennen, man warte die Naturgefege ab, bie es von der geiftigen Natur des Menſchen abzuleiten gedenkt.

38. Mai.

Die Ereigniſſe der legten Zeit haben die Parteienbildung in Rußland beichleunigt. Die Gruppierung des rechten Flügels, durch die befannte Aktion des Fürften Trubegfoj eingeleitet, iſt zur Zeit nad den „Birhh. Wedom.“ etwa folgende: Ganz redjts jtehen Gringmut und der Stab der „Most. Wedom.“, dann folgt ber „Örafhdanin” mit dem Fürften Meſchiſcherskij, hieran ſchließt fich die ruſſiſche oder national-progreifive Partei bes Grafen Scheremetjem, dann folgt Trubepfoj mit jeinen Anhängern, den 22 Adelsmar- ichällen und ihrem Programmadjer Schipow ihr Organ iſt die „Nowoſti dnja“; weiter lints ftehen Golowin und Golizyn mit ihrem Anhang und die ſog. „ehrlichen Konfervativen“, von denen man nur weiß, daß fie feine Gemeinfhaft mit dem ganz rechten Flügel der Adelspartei haben wollen. Zujammengehalten wirb die ganze Adelspartei durch ben gemeinjamen Wunſch, organische Neformen zu verwirklichen, dabei jtreng auf gefeplihem Boden. Die „Birih. Wed.“, die eigentlich wenig Grund haben, das Lob der Mdelspartei zu verkünden, erfennen diefen Neformeifer an; anläßlich der agraren Frage fagt fie: „Zur Ehre der Edelleute fei es gejagt die Mehrzahl it für eine unaufſchiebbare Befrie- digung des bäuerlichen Landhungers!”

Ein Neformeifer, der jegt ganz Rußland befeelt, genügt nicht, um bie Rechte von den übrigen Parteien des Reiches zu trennen, jondern ihre nationale Färbung. Beſtimmend hiefür ift einmal die Tradition Moskaus als Zentrum der Adelspartei, der ſchroffe Gegenjag zum liberalen bureaufratiichen Petersburg. Als

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Beleg hiefür zitiere ich folgenden Paſſus aus dem Briefe des befannten Edelmanns Pawlow an den Herausgeber der „Nowoje Wremja*: „Organiice Umwandlungen als Äusfluß organifcher Forderungen des rufiiichen Landes, um es zu heilen von allen fremben Prinzipien, die das 18. Jahrhundert und das regime imperial bureaueratique in unfer Leben getragen, die unjern zariſchen und volfstümlichen Weg verunftaltet, zum Biel desfelben die Konftitution gefegt find aber etwas anderes als Neformen im Geifte diejes regime imperial bureaucratique, von dem der Wetersburger Liberalismus ebenſo jegt wie früher träumt!

Diefe liberalen Hirngeſpinſie Peteroburgs find ein untrügliches Symptom der geiftigen Erfranfung unfrer intelligenten Geſeüſchaft und bilden den Hauptgrund fehadenfroher Hoffnungen unfrer Japano- philen, wie derjenigen der ganzen Erde!

Das Petersburger Blatt, die „Birih. Wedom. , erlennen Mosfaus Vorherrſchafi an: „Wirklid, Moskau wird immer mehr zum Zentrum bes ruſſiſchen politiichen Gedankens. Hier it die politifhe Plattform für die Beziehungen ber Ruſſen und Polen ausgearbeitet und feitgejegt worden. Hier haben ſich der Bund der Bünde, die wichtigiten Kongreife und Organifationen zujammens getan. Hier iſt der Sig der ganzen rechten Oppofition, die Ans hänger Scharapows, Schipows und Scheremetjews, die alle auf Gott und ihre Kräfte vertranend, das Allumfaſſende zu erfaſſen hoffen und vor allem die Aufgabe der rufjiihen Staatsordnung entgegen dem Erfahrungsfag der Weltgeihicdhte auf dem Boden ruſſiſcher Eigenart zu lölen gedenken.“

Zu den beiden Merkmalen, Neformeifer und nationaler Eigen: art, fommt als drittes der Gegenjag und Kampf mit den revo ären Parteien des Reiches hinzu. So ſchreibt der „Mir : „Alle politifchen Gruppen der Nechten find eins in einem rührend ähnlichen Motiv: dem Kampf mit den Unruhen, vevolu- tionären Strömungen ꝛc. Die Einen verkünden „ſchiagt jie auf den Kopf“, andre raten zu bewaffneten Widerjtande, andre wieder zu „geſetzlichen Mitteln“, einige begnügen ſich mit aun erſöhn— licher Stimmung”. Weiter folgen als Wittel: Semofij Sſobon, politifche Reformen ufw. In den Mitteln kann man natürlich aus: einanbergebn. .. Es ſcheint, als ob alle Schattierungen der Rechten bloß für die Unruhen da find und weil dieje eriftieren. Darum iſt aud die Rechte in ihrer augenblicklichen Bildung als politiſche Kraft durchaus nicht ernit zu nehmen, fie ericheint jogar lächerlich in der Rolle einer getreuen Oppofition zu den Unruhen. . . Die heutige Nechte ijt durd die Umruhen und für diefe entitanden. Schon aus diejem Grunde allein joille fie danfbar fein und weniger lärmen. Aber wir haben uns ſchon zuviel mit ihr befaßt, da ja nit einmal die nächſte Zukunft ihr gehört.“

518 Vom Tage.

Co hätte aljo ber „Mir Boſhij“ die unbequeme Rechte mitfamt den Unruhen von der Lifte geſirichen.

Die lettiſche, deutſche und ruffiiche Preſſe hat von der in der „Baltiichen Monatsichrift” veröffentlichten Antwort des liv- ländiihen Laudmarſchalls an den Grafen Sudowitich fofort Kenntnis genommen. Die letliſche und beutiche Preſſe begnügen ſich mit der Wiedergabe des Briefes, die „Deenas Lapa“ hebt hervor, daß die lvländiihe Nitterfhaft nad) dieiem Briefe ſich nicht mit Fragen, die das ganze Neich betreffen, beihäftigt habe. Dieſe Tatiahe bringt fie in Zufammenhang mit der offiziellen Vitteilung, dab die baltiiche Zelbtverwaltungsreform auf Initiative der Ritterſchaft in Angriff genommen it. Die „Niet. Wed.“ und ihr getreues Echo der „Rilhanin“ in der „Nowoje Wremja“ meinen, daß die lipländiſche Nitterihaft in der Frage der Selbjtvermaltungsreform befonders geidiett verfahren fei, aus dem Briefe des livl. Lande marſchalls glauben fie entnehmen zu können, „daß durch weiles Maßhalten in ihren Wünfchen“ fie ihren alten Wunſch, die Jui— tiative der baltüchen Selbitverwaltungsteform zu ergreifen, erreicht habe. Anfnüpfend hieran meinen fie, daß das ritterichaftliche Neformprojeft augenſcheinlich noch nicht jeititche, da nad) den deutichen Zeitungsnachrichten (Düna-Ztg. und Nordlivl. Ztg.) eine progrejfive Partei mit der fonfervativen um die Gerrfhaft ringe; die „Nusj” meint, dab die progreifiven Stimmen jedenfalls nur ganz vereinzelt fein Fönnen. Die „Nijhst. Wed.” machen vor allem für ihren Gedanken Propaganda, daß die im öjſentlichen Leben wirfenden Glieder des lettifch-eftniihen Volkes entweder zu den Vejtrebungen des Neformprojekts hinzugezogen werden oder wenig: ſiens getrennt ein jelbjtändiges Projeft ausarbeiten mühlen, dann wäre die Negierung imftande, das ritterſchaftliche Projekt beſſer beurteilen zu fönnen.

Das Programm des Herrn dv. ©. hat eine Ewieberung in der „Nordliol. Ztg.“ gefunden, hier wird die Vertretung der Nicht: beiiglichen, darum Mahl der bäuerlichen Delegierten für die Yezixts- verbände durd) die Gemeindeverſammlung und Heranziehung der ländlichen Intelligenz gefordert, bie Vertretung des neuen Yand: tages durd die Ritterihaft wird verworfen. Die lettiſche und rujltiche Preffe erflären ſich mit dieſem Projelt für einverſtanden, auch in der „Zt. ‘Pet. ‚St. it von einem Anhänger diejes Projekts, einem Herrn y, ein Artikel erfchienen; hier wird alleı- dings das Hauptgewicht nur auf die Beteiligung der X Snteligeng zweds Löſung politiicher Fragen gelegt, in der Weile des f.-l. Kocvefpondenten diejes Blattes.

Vom Tage. 519

Im Rio Tagebl.“ belämpft Herr G. v. V. gleichzeitig Herrn v. ©. und den Herrn der „Nordlivl. tg." es handele ſich beim ganzen Neformprojeft nicht um einen politiichen Körper, ſondern bloß um eine Steuerverwaltung, was beiden Herren uns befannt fcheine. Von einem Wlitvertretenfein „aller Welt“ könne feine Nede jein, aud auf der Baſis einer Eintommenjteuer ſei das nicht möglid, da diejer im provinziellen Haushalt niemals eine zentrale Stellung zufommen fönnte.

Schließlich hat in die Diskuſſion der Landtagsreform ein Vertreter des geiftlihen Standes eingegriffen und für Die Betei— ligung feiner Amtsbrüder plaibiert.

Den Vorwurf mangelnden Konfervatismus hat ſich das Projelt des Herrn v. S. in einer d gezeichneten Zuſchrift der „Düna:Ztg.“ zugezogen. Gier wird vom Schirrenſchen Standpunkt aus der Örundbejig als einzige Vorausjegung politiiher Beteiligung gefordert, im Gegenjag zur Präftandenleiftung. Auch ift der Ver— falfer geneigt Rleingrundbefig und Großgrundbeiig in der Landes- verwaltung ſãuberlich zu jcheiden, etwa nad) dem Vorſchlage des Herrn ©. v. V. Für gelonderte Landtage und Bauerntage it aud) in der „Et. Vet. Zig.“ Herr ©. eingetreten, um Hader und Zwieipalt, Verichärfung nationaler Gegenjüße zu vermeiden. Die gemeinjame Arbeit würde dann in den vereinigten vitterfchaftlichen und bäuerlichen Auoſchüſſen jtattfinden, wo bei der beichräntten Anzahl den Gliedern Gelegenheit geboten würde, fid) gegenfeitig fennen und lieben zu lernen.

Die vielverjprehende Judenfrage iſt in enger Verbindung mit der Frage der Fremdſtämmigen dem panilavi lawophilen Ideenkreiſe in überraſchend einfacher Weile entſtiegen, indem bie in Rußland wohnenden Hebräer den Fremdſtämmigen zugezählt wurden. Nachdem laut der „Now. Wr.” der „Sſyn Stjetſcheſiwa“, faut dem „Siyn Ofjelicieitwa“ die „Now. We.” ben hebräiiden Urfprung des ruſſiſchen Radikalismus an feiner Abneigung gegen die hebräiichen Siedelungsgefepe endet hatte, bejtritt ein Artifel der „Now. Wrem.“ die Stimimberehtigung der Hebräer, nicht als Menſchen, fondern als Huilen und rechtgläubige Chriften. Ja, die Neputation des allgemeinen geheimen Wahlvechts jelbjt wurde durd die Behauptung, daß fid bei den Wahlen in der Provinz doch hauptſächlich nur Juden einjtellen würden, weſentlich geihmälert. Aus der „Nowoje Wremja“ ftel der Gedanke in die Hände der „Most. Wed“, die ihm in einer glücklichen Kombination mit ber Julelligenz und den altbewährten japaniichen Millionen der ſtaats- erhaltenden Propaganda der Tut übermittelte. Leptere verteilte

520 Vom Tage

ihn in ber populären Form des Plafats für ein Geringes unter das Volk, wobei ihn der Polizeimeifter von Juſow erhafchte und ihn zur bequemeren Handhabung in epigrammatifcher Kürze in feinen Stempel jchneiden lieh.

Die parallel mit ben Hebräern erörterte Frage ber übrigen Fremdjtämmigen war indeſſen noch nicht ftempelreif und bie An- ſchaffung eines Stempels mit der analogen Aufichrift „von dem Fremdjlämmigen“ wurde von ber Kanzlei des Polizeimeiiters in Juſow bis auf weiteres nicht für notwendig erachtet. Dagegen ift aud) diefer Gedanke bereits in den „Most. Wed.“ angelangt. Die radifalen Bünde und Parteien, mit denen die Stempelung der Judenfrage begonnen Hatte, haben im allen Nefolutionen und „Plattformen“ ein menjchliches Nühren, wie mit ben Juden, fo auch, mit den übrigen Fremdftämnigen gezeigt, bem Begriff der bürger- lichen Freiheit die Autonomie und freie nationale Entwicklung aller fremdjtämmigen Völkerſchaften auf den hiſtoriſch gewordenen Grundlagen ihrer Kultur einverleibend.

Leider dürften die Segnungen der radifalen Anſchauuugs- weife bei der praftiihen Durchführung ihrer Orundjäge für bie fremdftämmigen Völferjchaften ohne Bedeutung fein, da die Radi— falen zunächſt eine ausgibige Neform aud des fremdftämmigen Volkolebens nah dem Prinzip des Wahlrechts ohne Unterſchied der Geichledhter in Auoficht nehmen, wobei den Fremdjtämmigen nur ſpärliche Ueberreſte des hiſtoriſch Gewordenen zur weiteren Pflege ihrer nationalen Eigenart verbleiben dürften. Ohne Edjo verhallend erflingt unter diefen Umitänden die Stimme Alexej Poroſchins in der „Nusj“: „Deine lieben ruſſiſchen Brüder, Taßt ab, idy bitte euch, von eurer efenden und unverftändliden Torheit der Ausrottung und Schuhriegelung ber Fremditämmigen nier mand werdet ihr ausrotien! Alles Starle, das eure Befürd- tungen wedt, findet fein Leben, dasjenige aber, was in dieſem Starten euch ſelbſt zum Halt dienen fönnte, wird, den Dornen gleich euch ins Fleiich dringend, euren Leib zerreißen, und auf diefem Dornenlager werdet ihr, glaubt mir, weit entfernt fein, Sieg oder auch nur Ruhe zu finden, von der jtündlichen Erwar— tung irgend eines plöglichen Ereigniijes beunruhigt. Kein Verſtand ift darin, jondern eitel Blindheit und Schaden. Die fremde Indie vidwalität unterdrüdend geht ihr auf Meſſern einher, weit werdet ihr auf diefem Wege nicht gehn.”

Vom Tage. 521

10. Juni. iſtiſche Partei hat, Schritt vor Schritt den Ereig- jen Lebens folgend, den Weg von den grund: fegenden VBorausjegungen ihres Beſtehens bis zu den legten Kons fequenzen dieſer Grundjäge zurücgelegt. Sie wollte beharren und ift genötigt zu reorganifieren. Seit ben Zeiten Karamfins und darüber hinaus, feit den erften Regungen des rufjiihen Staat: gedanfens ruht Rußland auf der unteilbaren Dreiheit Volle: tümlicjleit, Nechtgläubigfeit und Selbſtherrſchaft. Durch diefe Dreiheit und ſomit durd) das Wejen des Staates felbft iſt alles Neformieren dem Staate verderblich, denn jede Eriheinung bes ruſſiſchen Lebens ift aus einer diefer Wurzeln erwachſen, deren organiihe Verbindung alle Cinzelveform vereitelt. „Daher find den Feinden Nußlands alle drei Prinzipien gleich verhaßt und die Heformbewegung richtet fih gegen die Grundlagen des rujfiihen Reiches und auf die Aufhebung des ruffiihen Staates.” Mo immer die Feinde des alten Regimes den Spaten anfegen, bedrohen fie das Leben der Wurzeln Nuflande. Die liberale Intelligenz führt Nußland der Vernichtung entgegen. „An die Etelle ber zariſchen Selbſtherrſchaft wird die Despotie der parlamentariſchen Mehrheit, d. h. der radital-fremdftämmigen Intelligenz und ber jüdiihen Geldherripaft treten, an die Stelle der Recigläubigfeit nidts! Denn alle Religionen werden gleichberechtigt fein und feine führend! An die Stelle des ruſſiſchen Volfsgeiftes werden alle übrigen Volkoſtämme treten, denen Rußland nicht gehört und die dennoch gemeinjam mit der wurzelloſen und finnlofen Intel- ligenz Rußland Ienfen werden! Das ruffiiche Volf aber wird, auf feine ethnographiichen Grenzen beicränft, an der Führung des Landes allein durch jene Jutelligenz beteiligt jein, folglid von der Leitung und Verwaltung des Landes gänzlich ausgeſchloſſen und feiner pofitiihen Rechte verluftig fein... . Augenſcheinlich wird durch dieſe Reform Rußland jeines ftaatlihen Gedankens und überhaupt jedes Sinnes beraubt und nichts mehr als ein leerer Schall!" (Miost. Wed.)

Das find die Früchte der Intelligenz, die ein Fremdlörper im ruffiihen Staat ift, erwachſen und genährt auf dem Boden des weſteuropäiſchen Imperialismus. Soll Rußland genejen, jo heißt es mit dem Übel der Intelligenz auch den Grund des Übels zu bejeitigen. „Enticieben und feit müllen wir ber Politit des Imperialismus entjagen und zur patriarhaliihen Form der Selbft: herrſchaft zurückkehren, die der Struktur des ruſſiſchen Lebens eut⸗ ſprechend und natürlich iſt.“ (Mosk. Wed.) Der imperialiftiihe Staat gelangt, mit ber Beſchränkung bes jelbftherrlihen Willens durch die Miniſter beginnend, unrettbar zur Konjtitution, mit der.

522 Vom Tage.

die Auflöfung des Staates felbft beginnt. Rußland aber ift aller: dings beim Miniſterſyſtem, aber nod nicht bei der Konjtitution angelangt, daher ijt e& nod) Zeit mit dem Imperialismus zu brechen und den patriarchaliſch volfstümlihen Staat in feiner ur— ſprünglichen Neinheit wieder herzujtellen. So jteht denn „unter den Reformen, deren das heutige Rußland nad) der Meinung der monardjifchen Partei. bedarf, eine größere Feltigung ber unum: ſchränkt monarchiſch jelbftderrlihen Gewalt obenan.“ Cs täte vor allen Dingen not, den Staat im Staate das Juſtizreſſort aufzu— heben und die Teilung der Gewalten zu bejeitigen. Aus der Afche des Jmperialiomus wird vermittels ſolcher und ähnlicher Reformen der Phönir des ruſſiſchen Staates neu erjtehen und ſich body über feine Feinde erheben! Wer aber bürgt für den Sieg der guten Sade, wer wird den Jmperialismus zermalmen und die Unmtriebe der Intelligenz zu Schanden machen, wer ijt der Heros der Abjolutijten? Und wir erhalten zur Antwort das ruſſiſche Volt!

Hunderttaufende von Nöpfen find, wollen wir anders ber rodifalen Prefje Glauben ſchenken, augenblicklich in Rußland mit der Verwittlichung der jozialijtifchen Sdeale beihäftigt, mit der Nealifierung diefer Ideale nicht allein, fondern ebenjo mit ihrer Ergänzung und Erweiterung. Zum Ruhme Rußlands wirb die Loſung der Aufgabe alle Erwartungen weit übertreffen, und wenn die Sopialdemolratie des Wejtens ein goldenes Zeitalter hat ſchaffen wollen, jo wird jedenfalls das Zeitalter des rujfiihen Radifalismus um vieles goldener und, ſozuſagen, ein unerhört goldenes Zeitalter fein. Nur das weitgejtecte Ziel lohnt der Mühe, und der ruſſiſche Radilalismus ift in der mühevollen Arbeit der Selbjtorganifation begriffen. Nach dem Referat des „Mir VBofhij” beginnen ſich bereit feit einigen Monaten Perſonen der verſchiedenartigſten Berufe zu profejlionalen Genoſſenſchaften zuſammenzuſchließen. Profeſſoren, Lehrer und Voltsjdullehrer, Advofaten, Ingenieure, Aerzte und Schriftiteller, Pharmazeuten, Beterinäre, Handwerfer und Techniker, die Frauen aller Berufe vereinigen ſich zu politiich- profefjionalen Verbänden. Einzelne biejer Genojlenihaften find nod) örtlid) beſchränkt, viele find bereits zu allruſſiſchen Bünden geworden. Als Viufterprogramm diefer Bünde fann in politiſch⸗ ſozialer Hinficht das Programm des allruſſiſchen Bundes der Ted: nifer und Ingenieure, das wir bereits erwähnt haben, dienen.

Alle allruſſiſchen Genojienichajten, ſchreibt Archeſchow in „Naſcha Shisuj“, find aus Urtögruppen entjianden und haben ih vermittels allruſſiſcher Delegiertenverfammlungen und dur) die Tätigfeit provingialer Jentralbureaus endgültig organifiert. Gemeinjam ijt ihnen allen die Errichtung einer vorlänfigen politiſchen „Plattform“, als erſte und nächſtliegende Aufgabe,

Bom Tage. 523

und das Bejtreben, bie Nealifierung diefer „Plattform“ mit ben Miitteln ihres praftiihen Verufes zu erreichen. Die Annahme der pofitifchen „Plattform“ mit allen in ihr enthaltenen Freiheiten legt jedem Gliede die moralijde Verpflichtung auf, nad) Möglicjfeit die in ber Einigungsformel enthaltenen Ideen in feiner unmiltel: baren praftiichen Tätigkeit zu verwirklichen. Landau im „Sſyn Otjetſcheſtwa“ definiert die profeffionalen Bünde als „das Surrogat einer freien Geſellſchaft“, die tatjächlich die Freiheit ſchafft und die gewaltige Arbeit einer geſellſchaftlichen Wiedergeburt vollzieht. Nach den Auslaſſungen des Profefjors Miljufow it der negative fritiihhe Teil der Yundespluttformen volljtändig gleihlautend, ihr politicher Gehalt nicht weſenllich verſchieden, erjt bei den ſachlichen Einzelheiten beginnt die Meinungsvericiedenheit. Es fönnen daher die Glieder der profeffionafen Bünde nicht beanipruchen, unmitz telbar die reorganifierte Geſellſchaft zu repräjentieren, und nichts mehr als eine Brüde zur Schaffung des fozialiftiihen Staates bilden. Dementiprediend bezeichnet Profeſſor Miljukow als die Aufgabe der Binde „die Dis bahin untätigen Glemente zur Artioität zu bewegen.“ Während die Bünde ſelbſt nichts mehr uls der Sauerteig find, der langiam in die paſſive Maſſe binabdringt, üt die endgültige Verwirklichung des radikalen Programms einer andern und größeren Straft vorbehalten. Wer aber, fragen wir, wird den Bau der morichen Geſellſchaft zerihmettern, der Sache der Gleichheit, der endgültigen Vereinigung der Männer und Frauen und der gerechten Werteilung von Arbeit, Macht und Genuß zum Liege verhelfen? Und wir erhulten zur Antwort das ruſſiſche Volt!

In der Beurteilung der deutihen Geſellſchaft hat fich bei der ruſſiſchen Preſſe eig Umſchwung vollzogen. Die alte Anz ſchauung, der man überall begegnete, die baltijchen Deutichen jeien allen Neformen abhold, die nicht die Rückkehr zur Vergangenheit ermöglichen, findet immer weniger Boden. Vor allem Fonitatieren die ruſſiſchen Blätter eine neue Strömung, die ſich in dem beutfchen Tagesblättern äußert. So ſchreibt ein Korreipondent der „Nom. Wremja”: „Es it ſchwer zu jagen, was im Augenblid in den Spalten unferer Tagesblätter ſich entwidelt. Bis vor kurzem faft ganz ohne eigene Artifel nur auf den Abdrud angewiejen, find dieſe Zeitungen plöglic voll von jelbitändigen Yeitartifein und Auffägen über Neformen für das Cüteegebiet. Gierher rechnet bie he Preſſe die Aufiüge über die Yandtagsrefori, bie Dis- fujfion in der Patronatsjrage, endlich hauptſächlich die Schulfrage im Zufammenhang mit dem von der „Dünastg.” angeregten

524 Vom Tage.

Gebanfen der Parität. Die Anſchauung daß das Erlernen der lettiſchen und ejtnifhen Sprache als notwendig von ber beutichen Geſellſchaft erachtet wird, hatte bie ruſſiſche Preſſe fehr überrajcht.

Die Möglichkeit einer nationalen Einigung noch bis vor kurzem von der gefammten ruffiihen Prefie als unmöglich hin geitellt, wird jetzt befonders von der „Riſhol. Wedom.“ immer mehr in den Kreis der Betrachtung gezogen.

„Es ift Mar“, ſchreiben die „Riſhokija Wedom.”, „daß bie

baltiſchen Deutſchen ernithaft mit den veränderten Verhältnifien im Gebiet und dem Wachen der ejtniich:fettifchen Rulturkraft zu vedjmen anfangen. , . . Vielleiht find diefe neuen Strömungen in der deutſchen Geſellſchaft unvermeidlich und ſogar garnicht ungünftig für geregeltere Beziehungen zwischen den Grenzmarfen und dem Neide. . . .* Das freiere el der gefellichaftlihen Kräfte nad Ber feitigung des adminijtrativen Drudes, welches jegt den neuen ruſſiſchen Anfhauungen konform der Gejellichaft zugeitanden werden muß, wird in Zufunft eine nationale Einigung nicht mehr ver: hindern Fönnen. Da drängt fi) den ruffiihen Blättern unwill: fürlich der Gedanke auf, dah eine Verdrängung des ruffiihen Elements zu befürdten iſt. Die „Nihst. Wedom.“ fallen in die bittere Klage ein, daß gerade die ruſſiſche Burcaufratie in eriter Linie die ruffiihe Geſellſchaft hier in den Grenzmarken vernichtet babe, jo daß jept wo im ganzen Gebiet alles eine vege Tätigkeit entfaltet, die ruͤſſiſche Gefellihaft tatenlos verharrt.

Die „Now. Wremja“ jdreibt: „Obgleid die Zahl der ruſſiſchen öffentlichen Organifationen im Oftieegebiet bedeutend gewachſen war, iſt dennoch der geſellſchaftliche Geiſt vollitändig geſchwunden. Die Formen find da, aber ihnen fehlt das Leben. Die ruſſiſche Geſellſchaft eriftiert fozulagen nur auf dem Papier, nicht in Wirklichkeit. In dem Augenblid, wo fie ihre Stimme erheben müßte als Gegengewicht allen möglichen fremdſtämmigen Umtrieben, zeigt es fi, daß Diele Gefellihaft garnicht eriftiert. Und wir haben nichts, was wir den realen ortseingefeilenen Gejell. ichaftofräften entgegentellen können, die in letzter Zeit unter dem Einfluß neuer Strömungen zum Leben erwacht, die Neorganijation aller Beziehungen des Oſtſeegebiets ihren Anſchauungen gemäß verlangen.

Die Polemit zwiſchen ber deutſchen und lettiſchen Preſſe wegen der Bauerunruhen auf dem Lande iſt in lepter Zeit vers itummt, nachdem die Unruhen immer mehr einen antificchlichen Charakter angenommen haben. Die Kirchenſchließungen durch das KRonfiftorium und der Appell an die Gemeinden zur Selbſihülfe gegen die Unruhejtörer hat in der „Rig. Awiſe“ und einigen

Som Tage 535

anderen fettijchen Blättern ein Echo gefunden. Die „Peterb. Amwife” bringt ebenfalls einen hierher gehörigen Artikel mit ber Meberfchrift*: „Fort mit der Politit aus der Kirche.“ Hier heißt es: „Wir find bereit, wir vufen jedem Leiten zu: ort mit der Politif aus der Kirche! Rührt das Heiligtum nicht an, laßt um geringften einen Ort des Friedens übrig, wo bie Muͤden fich ftärfen und erholen fönnen von den Stürmen des Lebens. Aber wir willen aud, daß dieſem Auf nur dann wird Folge geleiftet werden, wenn Ihr deutſche Herren Euch losfagt von der bisherigen Ordnung, die Kirche als politiiche Arena zu betrachten. Wollt Ihr das? Mir zweifeln. Ihr wollt nod mit den alten Mitteln die Kirche und die Perſon des Predigers jhügen. Ihr liebt Scyelte und Strafen, Ihr ſeht nur das Heil in Nagaifen, Schwertern und Zlinten, wir dagegen glauben daß beijer die Kirche und der Prediger durd) die Liebe und das Vertrauen der Gemeinde geihügt wird. Wenn Ihr dasfelbe wollt, jo find wir auf dem: jelben Wege, dann wird unfrer Arbeit das Gedeihen nicht fehlen, wollt ihr dagegen nicht, fo find unfre Wege geidieben, dann könnt Ihr über uns läftern foviel Ihr wollt, wir werden bei unirer Auffaffung und unfrer Ueberzeugung bleiben.“

Das „Rig. Tagebl.” plädiert für Schliefung der Kirchen auch vor dem Ausbruch von Kirdenitörungen, damit Geſundheit und Leben der Paftoren nicht von der Laune roher Tumultanten abhängig bleiben und für feine Soldatenpifetts, die mit ſtrengſten Vollmachten ausgejtattet den jonntäglihen Gottesdienit zu bewaden haben. Die rufftihe Preife hält diefe leptere Mafregel aus rein praftifchen Gründen für nicht durchführbar, bedauert, daß die beutichen leitenden Kreife nur für Gemaltmafregeln find. Cs wäre intereffant die Meinung der deutſchen Preſſe darüber zu vernehmen, warum es die deutichen Paſtoren nicht verjtanden haben, im Verlauf einiger Jahrhunderte die Liebe der Bevölkerung zu erwerben, fo dah fie jept ihre Verteibigung übernehmen fönnte. Es ift beachtenswert, daß ſolche Unruhen in orthodoren Kirchen nicht vorgefommen find. Soweit die ruſſiſche Preſſe.

Der „Poſtimees“ widmet einen längeren Artifel der mit ber proflamierten Glaubensfreiheit verbundenen Uebertrittsfrage. ©r meldet, daß die geiftlihien Oberen der cevangelijchen Kirche den Veſchluß gefaßt hätten: Der Uebertritt zum evangelihen Giauber foll vermittels Polizei gefchehen. Wie man hört, habe dir intheriſche Kirchenobrigfeit um fold eine jonderlidhe Ordnung und poligeilice Vermittlung beim Glaubenswechlel in der Befürchtung

*) Diejer Ariel ift vom Redakteur der „Valid“, Paftor omor. Olaws gefehricben; bie Mevaftion ber „Peterb. Amiie“ fügt Hinzu, dah der Artifel vom Nigaichen Zenfo« einer leihen zeitung geftricen jei. Pald darauf crichien tie Mel Dennac) pleidgeiig im „Bat Aeplin.“ und im „Bulfer,

326 Som Inge.

gebeten man fönnte „Oben” bocd meinen, bie evangeliiche Kirche arbeite darauf (06, Menſchen aus ber Staalskirche wegzu— Ioden. Man hat ſich jonjt in Wahrheits: und Geiftesfragen von der Menſchenfurcht nicht fo augenscheinlich leiten laſſen.

Wenn das Salz der evangelischen Kirche tatlählih dumm geworben ift, heißt es weiterhin, jo möge man mit firdlichen Dingen die Ordner des bürgerlichen Lebens nicht beläftigen ſie haben ohnehin viel zu ſchaffen.

PB.

Baltiſthe Chronik.

September 1904 September 1905.

1. Sept. Die Ernennung des Fürften Sfwjätopolt-Dirfli zum Minifter des Innern wird von der gefamten ruſſiſchen Preſſe mit großer Sympathie beiprochen, die fich immer mehr fteigert, je häufiger ber Minifter in Anſprachen und bei Interviews feinen liberalen Anſchauungen Ausdrud giebt.

Ende Auguft erklärt der neue Minifter einem Dit: arbeiter des „Echo de Paris“, er werde fih an das Mani: feit vom 26. Febr. 1903 (f. Balt. Chr. von dem Datum) halten, werbe ſich aber „bei jeinen Handlungen von einem wahrhaft liberalen Geift durchdringen“ laſſen; er erklärt fich für einen „entjchiedenen Anhänger ber Selbjtverwaltung” und will den Semſtwos moͤglichſt umfaſſende Befugnitie zuweiſen, ſoweit es ſich um die Schule, die landwirtſchaft⸗ lichen Intereſſen, das Straßen- und Eiſenbahnweſen u. a. m. handelt. Für den Parlamentarismus indeilen ſei Rußland „nicht veif”. Hinſichtlich der Toleranz gegen nichtorthodore Chriften und Juden äußerte ber Minifter: „Ich perhorres: ziere alle religiöfen Verfolgungen und befürmorte größts mögliche Gewiitensfreiheit, aber mit gewiſſen Vorbehalten.” Den Juden gegenüber will er ſich ſehr wohlwollend zeigen und das 2o8 der armen Juden verbeffern.

Als der Fürft fih nad) der am 10. Sept. vollzogenen Enthüllung des Denkmals für bie Kaiſerin Katharina II. am 11. von den Beamten und ben Vertretern der Stände und Berufsgenofienfchaften in Wilna verabſchiedete, hielt er Eindrud madende Anſprachen an die Prefvertreter und an die Juden. In der erjteren erfannte er den „enormen” Nugen einer den tatlählihen Bedürfniffen der Bevölkerung dienenden Preſſe an, und befonders ber Provinzialprefie; auf bie Adreſſe der Juden erwiberte er u. a., er hoffe, langjam aber ficher einer glüdlihen Löfung ber Judenfrage

I

Baltiſche Chronit 1904/5.

fi zu nähern, da er das Glück haben werde, nahe dem Quell der Gerechtigkeit zu ſtehen.

Nah der Dentmalsweihe Hatte der Minifter eine Unterredung mit dem Vertreter der amerikaniſchen „Affociated Preß“, Howard Thomfon, in ber er in Abrede ftellte, ſchon jegt ein feftes Programm zu haben, ebenfalls fein Ber trauen zur Semftwo auoſprach und Hinfichtlih der Juden als jeinen ernitlihen Wunsch bezeichnete, ihnen die meit- gehendite Wahl der Eriftenzmittel und Arbeit zu über: laffen. Als Grundprinzipien feines Minifteriums nannte er, unter Bezugnahme auf das Manifeſt vom 26. Febr. 1903, Toleranz und Dezentralifation.

Beim Empfang ber oberften Beamten bes Minifteriums am 16. Sept. fagte Fürft Sſwjätopolk-Mirski u. a.: „Die abminiftrative Erfahrung hat mich zu ber tiefen Überzeugung geführt, daß die Fruchtbarkeit ber Negierungsarbeit auf einem wahrhaft wohlwollenden und einem wahrhaft ver- trauensvollen Verhältnis zu ben fommunalen unb ftändi: ſchen Inftitutionen und zur Bevölkerung überhaupt beruht. Nur unter diefen Arbeitsbedingungen läßt fich gegenfeitiges Vertrauen erzielen, ohne das ein bdauernder Erfolg im Staatswefen nicht erwartet werden Tann.”

Gleich darauf äußerte er einem Korreipondenten bes „Berl. Lofalanzeiger” gegenüber über die Nationalitäten: frage: „Für mid) gibt es feine Nationalitäten und Anders: gläubige in unſrem Vaterlande, für mid) find das alles Rufen. Wie fehr fie alle gute Ruſſen find, hat der jeige Krieg gezeigt. Lutheraner, Juden, Mujelmänner, alle, alle ziehen hin, um ihr Leben einzujegen für die Ehre bes Vater: landes. Soll man da nod von Juden und Armeniern reden? Ihnen allen foll und muß Gerechtigkeit zu teil werben, find fie doch alle Ruffen. . .” Und über die Preß— verhältniffe fagte er u. a.: „Die Luft ift dort recht eritidend und dicht. Die Preſſe iſt eine meiner größten Aufgaben. Hier tut Wandel wirklich not. Freili darf man ſich bie Löſung diefer Aufgabe nicht in unbeichränfter Prekfreiheit denfen. Das ift nicht möglich. Dod vorwärts müfjen wir, dovon bin id) tief durKdrungen. . .“

Derartige wieberhofte für die Öffentlichkeit beftimmte Kundgebungen riefen nicht nur in der Preſſe, fondern auch in ftäbtiihen und landſchaftlichen Selbitverwaltungsorganen die lebhafteften Oegenäußerungen hervor. Die Moskauer Stadtduma begrüßte den Viinijter, der der Selbftvermaltung fein Vertrauen ausgeiprodhen hatte, am 21. Gept. mit einem Telegramm, in dem es hieß: „In ber Verbindung

Baltifcje Chronik 19045. 3

ber Regierungstätigfeit mit der öffentlichen Meinung fteht die Moskauer Kommunalverwaltung den einzig richtigen Weg zum Wohle des Volfes ...“ und mit ähnliden Kund- gebungen ber Zuftimmung wandte ſich eine große Neihe von Städten und Semitwos an ihn.

Den Worten des Miniſters folgten bald Taten. Eine der eriten war die Aufhebung des Zirkulärs des Minijters Plehwe, das den weiteren Anſchluß von Landicaften an die allgemeine landſchaftliche Organiſation zur Ausrüftung von Sanitätsfolonnen für den Krieg verboten hatte.

1. Sept. Windau. Die Stadtverordnetenverfammlung wählt den Stadtverordneten Paul Schulg, dem der Gouverneur von Kurland die Beſtätigung als Stadthaupt verjagt hatte, zum Vorfigenden fämtlicher ftädtiihen Rommiffionen (11 an der Zahl). Der Gouverneur bejtätigt auch diefe Wahl nicht.

1. Sept. Niga. Ein von der Stabtverwaltung nad weil: europäiſchem Muſter begründetes Bureau für Arbeitsnad;- weis tritt ins Leben. Cs it zunädit für gelernte und ungelernte Arbeiter, Handwerker und Dienftboten beider Geſchlechter bejtimmt.

1. Sept. Die Ejtländiihe Bauerverordnung vom 5. Juli 1856 und die die Bauerverordnung abändernden Gefege und Ver- orbnungen erſcheinen im Drud in einer von Eduard v. Bodisco bearbeiteten Ausgabe.

1. Sept. Für die adminiftrative und gerichtliche Organifation der Kolonie auf den Kronsgütern Hirihenhof und Helfreichs- hof im Wendenjchen Kreiſe Livlands wird ein am 31. Aug. Allerhöchſt beftätigtes Reichsratsgutachten publiziert. Die Kolonie bildet einen Gemeinbeberichtsbezirt. Der Vorfigende bes Gemeindegerichts muß night nur ruſſiſch, ſondern auch deutſch und lettiſch leſen und fchreiben Fönnen. In der Gefhäftsführung und für die Abfaſſung fehriftliher Akte iſt neben der ruſſiſchen Sprache die deutiche zuläffig, aller— dings nur bis zum Erlaß bejonderer Beſtimmungen. Bei der Enticheibung von Streitigkeiten der Koloniften hat ſich das Gemeindegericht nicht nad} der livländiſchen Bauerverorbnung, fondern nad) dem Proninzialveht zu richten. Das Schul— weſen der Kolonie joll allmählich nach ben für das liv- ländijche Landſchulweſen geltenden Bejtimmungen organifiert

4 Baltifde Chronit 1904/5.

werben, doch fol in den erſten brei Jahren die Haile ber Kolonie nicht mit neuen Ausgaben für die Schule belajtet werden. Als Mutterſprache der Schüler wird das Deutihe anerfannt ; ſoweit ber Unterricht in ben übrigen Landſchulen lettifch oder eſtniſch erteilt wird, foll er hier deutjch erteilt werben. (Regierungsanzeiger Nr. 201.)

2. Sept. Yurjew (Dorpat), Die Stabtverorbnetenverfammlung beichließt, eine 6. Stadt-Elementarjhule zu gründen und bemilligt für fie 2000 Abt. lic) und 500 Rbl. einmalig; die Schule jol dem Gedächtnis der Geburt des Groffürften- Thronfolgers gewidmet fein. Der Stadtverordnete Tönis- fon beantragte, dab das Stadtamt in Zufunft einen genaueren Rechenſchaftsbericht vorftellen folle. Die Prüfung des Antrages ſoll einer Kommiſſion überwiejen werden, für die Tönisfon vier eſtniſche Stabtverordnete proponierte, da bie von anderer Seite in Vorſchlag gebrachten Herren, Tönisfon, Roſenthal, v. Bröder und Lieven einer Partei angehörten, die nad) Tradition, Bildung und Anfhauungs- weile fo weit von feinem Gtandpunft und demjenigen anderer Stabtverordneten entfernt jtände, daß er darauf bejtehen müſſe, auch Herren einer andern Richtung in ber Kommilfion zu jehen. Tönisfons Kandidaten werden abge: lehnt.

Alfo aud) bei Kommiffionsberatungen, bei denen erfafrungsgemäß bisher fachliche Gründe allein den Ausfchlag gegeben haben, da hier dod) eine ganz andre Prüfung der Materie möglich iſt. als in groben Ber: fammfungen, glaubt Tönisfon nidt mit dem Gewicht ber von ihm vorzu: bringenden Gründe allein durchdringen zu fönnen! Das ift für ihn begeichnend, aber für die Qualität feiner Gründe nicht ſehr fchmeichelbaft.

. Sept. Zum Kollegen des Miniſters der Volksaufflärung wird

der Geheimrat Iwan Karlowitſch Nenard ernannt, der diefen Poften zu Zeiten bereits interimiſtiſch verfehen hat.

Sept. Zum Präfidenten des Rigaſchen Bezirksgerihts iſt der

bisherige Präfident des Kiſchinewſchen Bezirksgerichts Klopow ernannt worden.

. Sept. Die Bauerlommifjare des Waltſchen Streifes haben den Gemeindever« mwaltungen vorgeſchrieben, die Bevöfferung auf jede Weiſe zum Abo

ment auf daS Bauerjowrnal bes Fürften Mefchticersti , Freundeswor Drifwefiia Rh) angeln. (ib Prod)

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Valtiſche Chronit 1904/5. 5

4.—5. Sept. In Werro findet die landwirtſchaftliche Ausftellung ber fünf in der Umgegend der Stadt beftehenden eſtniſchen landwirtſchaftlichen Vereine ftatt. Sie ift in diefem Jahre ſchwäãcher beſchickt als fonft, namentlid) an Pferdes und Vieh: material. 2000 Befucher.

6. Sept. Reval. Zum Präfidenten bes eftländifchen landwirt- ſchaftlichen Vereins wird an Stelle des zurüdtretenden langjährigen verdienjtvollen Präfidenten Landrats v. Grüne: wald-Orrifaar Herr v. Samjon-Thula gewählt.

6. Sept. Betreffend die Kompetenzen der Gouvernementsbehörden für bäuerliche Angelegenheiten jegt ein am 6. Juni 1904 Allerhöchſt beftätigtes Reichsratsgutachten in Abänderung bes Art. 13 der am 17. April 1893 Allerhöchſt beftätigien Regeln für die Oouvernementsbehörden für bäuerliche Ange- legenheiten in ben Dftjeegounernements feit: Die Ent- ſcheidungen ber Gouvernementsbehörben für bäuerliche Ange- legenheiten gelten als endgiltig in folgenden Saden: 1) Zuerfennung von Unterftügungen feitens der Gemeinden an unbemittelte Gemeinbeglieber und Gewährung von Ver günftigungen bei der Zahlung ber Gemeindeabgaben; 2) Aus- gabe und Nüderftattung von Verpflegungsbarlehen aus den Gemeindemagazinen; 3) Honorierung ber Gemeindebeamten, die gemäß Wahl oder mietweije bienen, falls das Honorar durch ben Gemeinbeausfchuß feitgefegt wird; 4) Beitimmung der Zahl ber Gemeinderichter durch den Gemeindeausſchuß ober ben vereinigten Gemeindeausſchuß, Honorierung des Vorfigenden und ber Beifiger des Gemeindegerichts, Aus- reichung von Fahrgeldern an den Vorfipenden, Repartition ber Ausgaben für den Unterhalt ber Präfidenten und ber Kanzleien ber Oberbauetgerichte auf die Gemeindefteuer: zahler; 5) Ausreihung und Abnahme von Aufenthalts ſcheinen; 6) Beahndungen, die gemäß $ 24 der Land: gemeindeordnung vom 19. Februar 1866 vom Gemeinde älteften auferlegt werden; 7) Beitreibung von Gemeinde⸗ fteuern und Magazinrüdftänden; 5) Verlegungen der Wahl: ordnung; 9) Entlajjung von Gemeindegliedern und ihre Zufchreibung zu anderen Gemeinden; 10) Veahndungen, die von den Bauerfommiffaren gemäß $ 34 ber Landgemeindes

6 Baltiſche Chronik 1904/5.

ordnung Gemeindebeamten auferlegt werden und Beſtätigung und Enthebung der Gemeindebeamten vom Amt, Übergabe derſelben und der Glieder des Gemeindeausſchuſſes an die Gerichte; 11) Geſuche von Gemeindebeamten und Ausihuß: gliedern um zeitweilige Befreiung ober um Entlaffung vom Amt. Diefe Beftimmungen find mit ihrer Publifation in der Geſetzſammlung in Kraft getreten. (Regierungsanzeiger Nr. 203).

8. Sept. Niga. Die Ernennung bes Profureurs bes Pleskau—⸗ ſchen Bezirksgerichts Chriftianomwitih zum Profureur bes Rigaſchen Bezirksgerichts an Stelle des an ben Peters burger Appellhof als Profureursfollege verjegten Heſſe wird publiziert.

10, Sept. Reval. Auf den am 10. Sept. geſchloſſenen Sep: temberfigungen bes Ritterihaftlihen Ausſchuſſes iſt u. a. beichloffen worden, in Sachen ber unterflügungsbebürftigen Familien einberufener Referviften für jeden Kreis brei Kom— miffionen zu bilden, bie unter bem Vorfig bes betreffenden Nreisbeputierten tagen follen.

11. Sept. Auf der Generalverfammlung des Hephatavereins in Reval kommen niederträhtige Angriffe des „Teataja” gegen die Taubftummenanftalt zu Fennern zur Sprade, die bie in der Anftalt zur Anwendung fommende körperliche Züchtir gung zum Ausgang nehmen. Der Präfibent des Vereins, Baron Hoyningen:Quene zu Selle, erklärt, der Verein fei in fo unmürbiger Weife von einer anonymen Zuſchrift im „Teataja“ angegriffen worden, dab für das Direktorium eine Polemik ausgejgloiien war und nur ber Weg ber Kriminalklage offen blieb. Der Präfident führt ferner aus, daß jene eitnifche Korreſpondenz zunãchſt die nationale Seite der Taubitummenanftalt in den Vordergrund geftellt habe. Tatfählih it aber nichts an dem Wohltätigkeitsinftitut national, als bie national-eftniihen Kinder, die dort aus hülfsbedürftigen Weſen oft zu Ernährern ihrer Familie geworben find. Auf das Erziehungsmittel der körperlichen Züdtigung kann die Anſtalt nicht verzichten, doch bleibt jede derartige Züchtigung ein Ereignis in der Anſtalt, das allen befannt wird, Zeugnis für die Liebe und Gebuld, die in

Baltife Chronit 1904/8. 7

der Anftalt Herrichen, gibt Die herzliche Fröhlichkeit ber Kinder und das ſichtlich gute Verhältnis zwiſchen Kindern und Direktor.

Die Generalverfammlung votiert dem Direktor Hörſchel⸗ mann und feiner Gemahlin Dank für die Liebe und Gebulb, mit ber fie ihres Amtes walten. (Rev. Beob.).

11. Sept, Ein Allerhöchiter Befehl ernennt den Rommandierenden des Wilnafchen Militärbegirts Generaladjutanten Grieppenderg zum Befehlshaber einer zu bildenden 2. mandſchurijchen Armee.

13. Sept. Der Herausgeber des eſtniſchen Wocenblattes „Olewik“, Koppel, Hat die Erlaubnis erhalten, fein Blatt zweimal wöchentlich erfcheinen zu lafjen.

15. Sept. Wall. Der St. Petersburger Appellhof verurteilt die Walkſche Stadtverwaltung, dem ehemaligen Stabthaupt v. Dahl die ihm nad dem früheren, inzwiſchen von ber jeßigen lettiſch-eſtniſchen Stabtverordnetenverfammlung aufs gehobenen Penjionsftetut zufommende Penfion von 400 Rbl. jährlich, gerechnet vom Tage feiner Amtöniederlegung mit den Progeßloften auszuzahlen. (Norblivl. Ztg.).

AS bie jegige Stadtverwaltung ans Ruder fam, mar fie vor allem beftrebt, dem bisherigen langjährigen Stabt- haupt v. Dahl die Penſion, die er laut dem ſtädtiſchen Venfionsftatut zu erhalten hatte, zu entziehen. Zu biefem Zweck ſcheute die Stadtverwaltung nicht davor zurüd, das Venfionsitatut ganz aufzuheben, mobei als Grund der Vor— wand diente, da bie Stabt nicht im Stande fei, die im Venfionsftatut feitgefegten Penfionen zu zahlen. Da biefer Aufpebung bes Penfionsftatuts in betrefi bes bisherigen Stadthaupts von ber Stadtverwaltung rückwirkende Kraft beigelegt wurde, mußte Herr v. Dahl den Klageweg beſchreiten, um zu feinem Recht zu gelangen (f. Balt. Chr. vom 26. Okt. unb 29. Nov. 1902).

15. Sept. Jurjew (Dorpat). Das biefige Rronsgymnafium begeht fein 100jähriges Beſtehen. Am Abend des 14. findet in der St. Johannisfirhe ein beutfcher “Feftgottesdienft ftatt, eine eindrudovolle Feier, an der der größte Teil des Lehrers tollegiums mit dem Direktor an der Spitze, das Gros ber Schüler und die deutſchen Kreife der Stadt teilnahmen.

8 Baltifehe Chronik 1904/6.

Am 15. Sept. wird ein Aktus im Beifein bes Kurators Uljanow, des kommandierenden Generals unb anderer offir stellen Autoritäten abgehalten.

Der Feſtredner iſt der Geſchichtslebrer der Anſtalt R. A. Gftrjabin. Er trug in sftündigem Vortrage einen Auszug aus einer Denffdrift über die Gefdjichte des Oymnafiums vor. Gleich eingangs bemerkte er, daß bie ganze 100sjährige Befcihte des Biefigen Gymnaflums im wefentligen cine Geſchichte der Verftärfung der ruffifgen Sprade und der Anpaffung diefes Gymnaſiums an die übrigen Gymnafien des Reiches barjtelle. Bon biefem Gefichtspunfte aus beleuchtete er dann die Geſchehniſſe der verfloffenen 100 Jahre, indem er, nad) einem Hin- weiſe auf das alte ſchwediſche Oymnafium, ald Anfangspuntt feiner biſtoriſchen Darlegung die Tatfaie markiert, dab das Gyimnafium in der erften Zeit feines Beſtehens nur 3 Stunden wöchentlich im Ruſſiſchen hatte und daßz biefes Lehrfach nicht einem Oberlehrer, fondern nur einem Lehrer anvertraut war; er führte danm auf, was im Laufe der Jahre zur Einbürgerung ber ruſſiſchen Sprade an diefem Gymnafium geihehen fei, bis unter dem Nuratorium M. N. Kapuſtins bie Aufgabe der Gleichmachung des Unterrichtsganges in biefem Gpmnafium mit dem jenigen ber andern Gyinnafien des Reiches in allem Mefentlien durch: gelegt war. Im jener Zeit fei aud das Heiligenbild, auf welches Redner hinwies, im Aftusfaal des Gymnafiums aufgeſtellt worden. (Rorbliol. Big.)

16. Sept. Niga. Auch das Nigafhe Kronsgymnafium (jegt Gymnaſium Kaifer Nikolai 1.) fann am 16. Sept. auf ein 100jähriges Beſtehen zurüdbliden. Cine Feier unterbleibt, weil in einigen Klaſſen die Mafern ausgebroden find.

16. Sept. Die ‚Enthebung der Kollegen des Mlinifters des Innern Sinowjew und Stifhinsfi vom Amt und ihre Ver: fegung in den Reichsrat wirb publiziert.

16.—21. September. Ditau. 69. Kurländiſche Provinzialſynode, geleitet vom Generalfuperintendenten Band und beſucht von 70 Mitgliedern und 10 Gäften. Von den Berichten unb Referaten jeien folgende hervorgehoben: Schulrat Pater Bernewip Neuenburg berichtete über die Schulſache ins- befondere über bie Entwidlung des häuslichen Unterrichts und feine Kontrollierung durch die Pajtoren und über ben Neligionsunterricht in ſolchen Schulen, die der Oberſchul⸗ direftion nicht unterftellt find; Propft K. Seefemann hielt einen wiſſenſchaftlichen Vortrag über Bedeutung und Wert ber neuteſtamentlichen Apokryphen; Paftor Schiling-Edmahlen

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ſprach über bie Monopolbuden in Kurland und ftellte die Forderung auf, daß folde Buben nicht in ber Nähe der Kirche inftalliert werben dürften; Paſtor 2. Geefemann- Kurfiten referierte über eine Enquète über Rechte und Pflichten der Küfter und Organiften; Paftor Grüner Salgaln machte bebeutungsvolle Vorſchläge für bie Ein- richtung ber Kirchenarchive und Führung von Kirchen chronilen; Paftor Külpe machte Bemerkungen über bie Kon— firmandenlehre und Paſtor Beuningen beſprach eschatologiiche Themata.

17. Sept. Neval. Ihre Majeſtät die Kaiſerin Darin Feodorowna befucht mit der Königin von Griehenland, ber Großfürftin Xenia Merandrowna und dem Großfürſten Aerander Michai— lowitſch die hier anfernden Schiffe des 2. Geſchwaders des Stillen Ozeans. Vom ftellv. Stadthaupt Hörichelmann wirb den Dojeftäten nad ihrer am Morgen erfolgten Ankunft auf dem Bahnhof nah ruffiiher Sitte Salz und Brot über- reiht. Nah Belihtigung der Schiffe nahmen bie hohen Herrſchaften ein Dejeuner auf dem Flaggſchiff „Fürſt Suworow“ ein, hielten nach einer Hundfahrt in der Stabt auf dem Bahnhof einen Empfang ab unb verließen Reval um 41 Uhr. Die Kaiferin Maria Feodoromna begab ſich über Kiga ins Ausland, bie übrigen Fürftlichfeiten nad St. Petersburg zurüd.

17. Sept. Pernau. Die Stadtverorbnetenverfammfung beſchließt, über Anordnungen der Gouvernementsbehörbe für ftädtiiche Angelegenheiten, durch die die Stadt Pernau verpflichtet wird, für die Poſtbeförderung zwifchen dem Bahnhof unb dem Poftfontor und für die Abholung der Briefihaften ans den Poſtkaſten Fahrzeuge und Kutſcher zu ftellen, beim Dirigierenden Senat Beſchwerde zu führen.

17. Sept. Wall. Die Stabtverordnetenverfammlung beſchließt den Neubau eines Stadtkrankenhauſes, und zwar nad dem Mufter des Fellinfchen Kranfenhaufes. In der Preife wird darauf aufmerffam gemacht, daß die Anlage diefes Krankenhaufes (Mitteltorridor) den Erfahrungen bes modernen Rrantenhausbaues nicht entipreche.

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Die Stadtverorbnetenverfammlung jchreitet fodann zur Abftimmung über die Lage des neuen Marftplaes, über bie man ſeit mehr als einem Jahr (vgl. Balt. Chr. 1903, Mai 23.) nicht hat einig werden können, da jeder Stabt- verordnete den Markt bei feinem Immobil haben möchte. Es wird über neun Pläge abgeſtimmt und die erforderliche Zweibrittelmajorität fällt jchließlih auf einen an ber Peri- pherie der Stadt gelegenen ſtädtiſchen Plag, der erit durch den Anfauf bes Jerumfchen Grundftüds vergrößert werden muß, aber trogdem nicht ausreicht, um den Marklverkehr aufzunehmen; es muß baher für ben Handel mit Holz und Heu ein zweiter Marktplag beim ſtädtiſchen Krankenhaus eingerichtet werben. Die Verwirklihung diefer Marklanlage mirb ber Gtabt auf 20,000 Rbl. zu jtehen kommen.

Diefes Projeft ift von der Mehrzahl der Stabtverord: neten bevorzugt worden, obwohl ber Stadt im Zentrum ein geeigneter Plag unentgeltlid angeboten wurbe, deſſen Her« richtung ber Stadt nicht mehr als 3000 Rbl. geojtet hätte (Rig. Rundihau Nr. 220 u. a.). Der Beſchluß der Stadt: verordneienverfammlung ſchädigt bie Geſchäfts- und Haus befiger ber inneren Stadt, die größten Steuerzahler, in unerhörter Weije, und die gefamte Einwohnerſchaft bes Zentrums der Stadt erſucht den Gouverneur um Aufhebung bes Beſchluſſes. Nach einer von dem liebe ber Gouver nementsbehörbe für ftäbtijche Angelegenheiten Tſchulkow vorgenommenen Lofalbefichtigung erfolgt am 10. Dezember eine Verfügung der Behörde, durch die ber Beſchluß der Stabtverorbnetenverfammlung vom 17. Sept. aufgehoben und dem Stablhaupt vorgefhrieben wird, die Marktplagfrage der Stabtverorbnetenverfammlung in Verbindung mit den zu biefer Materie eingereichten Beſchwerden bes Kirchen: vorftehers Dahlberg, der Wallſchen Einwohner G. Bohl, D. Raue, K. fomanow u. a. und ber des Aler. Bohl nochmals vorzulegen. Die Aufhebung des Beichluffes ber Stadtverorbneten ift erfolgt, weil zur Verlegung des Markt: plages nad) der von ihnen gewählten Stelle ber Ankauf von drei Grundftüden erforderlich ift, von bem in dem betr. Beſchluß überhaupt nicht die Nebe ift. (Wal. Anz. Nr. 2, Jan. 1905.)

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Am 21. Januar 1905 ftimmt bie Stabtverorbnetens verfammlung wieder über bie vorgefchlagenen Marftpläge ab und wieberum erhält ber am 17. Sept. gewählte Ort die meiften Stimmen (20 gegen 10).

Der „Walk. Anz.” bemerkt zu diefem Beihluß: „Somit hat alſo lebteres Projekt bie nötige Majorität erlangt, unbelümmert um bie Ber ſchwerden und die gerechten Wunſche eines großen Teils der fläbtifchen Einwohner. Diefe Majorität iſt dadurch zuftande gefommen, dab der Zeil der Stadtverordneten, deren Immobilien in der Nähe des Stadtfrantenhaufes belegen find, ihre Stimmen, bemogen durch das Zugeftändnis eines Holz. und Heumarlies, wie auch einer Straße zur Pebbel, durch welche zu ihren Häufern die Zufuhr bireft geleitet wird, dem Ichteren Projelt zumandte.”

Die Penfionsaffaire Dahl wie bie Marktplahwahl zeigen, jebe in ihrer Art, wie unfähig bie ejtnilchzlettiihe Stadtverwaltung ift, mit ihren moraliihen und Verſtandes— qualitäten die wahren Interefien ber Stadt zu erfennen und zu vertreten. So wird fi) Walt mit der Zeit zu einem livländiſchen Abdera ausmachen fönnen. Immerhin auch ein Ruhm.

18. Sept. Der „Teataja” und nach ihm der „Riſhſkij Weftnit” beichäftigen ſich feit einiger Zeit mit bem verſuch, ihre Lefer glauben zu machen, man gehe in Livlanb barauf aus, die Frohne wieber herzuſtellen. Die „Rigafche Rundſchau“ (Nr. 210) führt mit Hecht die Darftellung diefer Blätter auf Unkenntnis der Verhältnifje und Gefege und auf Ten- denzlügen zurüd. Speziell auf dem vom „Teataja“ ange führten Gute Woiſek könne es fih um bie vom Geſet unterjagte Frohne auf Bauerland nicht handeln, da dort das Bauerlanb bereits verkauft ift; es fei anzunehmen, daß die fropnenden Bauern die fogenannten Landknechte feien, deren ganzer Zwed bekanntlich darin befteht, gegen Nuhung einer Landparzelle auf dem Hofe Arbeit zu leiften. Die „Rigaſche Rundſchau“ Führt daran anknüpfend aus, daß es bei ben jegigen ſchwierigen Gelb: und Erwerbsverhältnifien oft im Interefje der Pächter ebenfomohl als der Verpächter liegen Könnte, in gewiſſen Fällen die Geldpacht in Naturalleiftungen zu verwandeln, um Nüdftände zu vermeiden. „Weldes

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Geſchrei“, fragt fie, „würde aber wohl der „Teataja“ erheben, wenn feine Perhorreszierung der „Frohne“ mit einer maſſenhaften Exkluſion der rüdftändigen Pachten beantwortet werben würde?!

20. Sept. Die „Norblivl. Big. (Rr. 211) referiert über eine Artikelſerie des

ZTönisfonfchen „Bostimecs“ unter dem Titel: „Gibt c8 eine Verföhnung?, bie zu dem Schluß kommt, dab die eftnifche Partei ſchwerlich mit ben Teitenden deutfchen Areifen wirflic zu einem Rom promiß gelangen Tan, folange an der Spihe der beutichen Areife ſoiche Perfonen verbleiben, welche den natürligen Fortichritt mit Gemalt aufzus halten ſuchen, damit nur bie Macht und Gewalt in ihren Händen ner» blieben.

Dazu bemerkte die „Rordl. Zig.“, dah von den Eiten und Leiten in Wolf, nachdem fie ſich durd ein Bündnis den Sieg geficert hatten, nicht ein einziger Deutſcher in bie Stadivertretung gewählt worden fei, mährend in der Univerfitätsftadt die deutſche Randidatenlifte ſtets auch Eiten, darunter Voltsmänner wie Grenzſtein und Hermann enthalten habe.

Eine ſchatfe Abfage an das „Iopialdemofratifche” ejtnifce Blatt erläht darauf Arnold v. Tiveböhl in der „Rordl. Zig.” Nr. 212, indem er darauf hinweiſt, daß die fonfervativen Wähler, wie eine Umfrage ergeben Habe, ben bloßen Gedanken an eine Wiederholung des Rompros miffes vom J. 1902 mit Entfehiedenfeit perhorresgieren.

Die mit aufrichtig verföhnlicen Tendenzen von den beutfchen Wählern bei den Icten Wahlen betriebene Kompromihpolitif hat in der Tat nicht die gewünſchten Früchte gezeitigt. Die unfruchtbare, nörgelnde prinzipielle Oppofition des „Fortfchritismanns" Zönisfon trägt bie Schuld daran, ohne für das Wohl der Stadt etwas geſchaffen zu haben.

22. Sept. Ein Zirfular des Gouverneurs von Livland an die

Kreischefs vom 26. Auguft c. sub Nr. 1120 wird in ber „Livl. Gouv.Zig.“ publiziert, laut welchem in Zukunft bie Anlage neuer Anfiedlungen auf Vofsländereien ber Nitter- güter und der Wiederaufbau folder Anfieblungen nad) ver- heerenden Bränden ufw. nur nad) Plänen geftattet iſt, bie von der Bauabteilung der livländifhen Gouvernements- regierung beftätigt worden find. Gleichzeitig follen von den Gutsbefigern, auf deren Gütern Unfieblungen (Sleden, Hafelwerfe u. dergl.) beftchen, Bebauungspläne einverlangt werben. Das Zirkular ftügt fih auf $ 231 des Bauuſtaws (Ausg. v. 1900), nad) dem die Pläne von Anfieblungen der präventiven Beſtãligung durch ben Gouverneur unterliegen.

Baltifhe Chronik 1904/5. 18

Durch diefe Verordnung wird aud) eine gewiſſe Kontrolle über bie Bebauung des an bie Städte angrenzenden landiſchen Terrains hergejtellt, das faltiſch ſchon ſtädtiſch befiebelt iſt und auch die Vorteile der Stadt genieft, ohne daß bie von dem Grundeigentümer willfürlih angeordnete Bebauung den Sanitäte:, Feuerſicherheits⸗ und Verkehrsanforderungen einer Stadt angepaßt wäre. In Jurjem (Dorpat) find bie miß- lichen Folgen folder Anfiedlungen bereits mehrfach empfunden worden, namentlich die dem Stadtgebiet durch fie drohende Feuersgefahr. Natürlid) wäre es angezeigter, die Baupolizei bier der Stadtverwaltung umd nicht der ſchwer zu erreichenden Gouvernementsregierung in Riga zuzuweiſen.

23. Sept. Libau. Das Libaufche Lazarett des Noten Sreuzes tritt die Reiſe nach dem Kriegsihauplag an. Als Oberarzt fungiert Dr. P. Kelterborn, als Ärzte die DDr. Vogel, Falf und Jankowski, als Infpeltor Ude. Das Perfonal beſteht ferner aus 8 Schweitern und 15 Sanitären.

24. Sept. Die „Livl. Gouv.Ztg.“ (Nr. 103) publiziert ein am 6. Juni 1904 Allerhöchjt bejtätigtes Reichsratsgutachten in Sachen ber Entihädigung ber Nittergutsbefiger Liolands für den Verluft des Handels mit den im I. 1900 monopolis fierten Getränfen. Die Kategorien ber entſchädigungsberech-⸗ tigten Rrugsbefiger werden normiert und injomeit erweitert, als eine Entfhädigung aud für diejenigen Krüge gezahlt werden foll, in denen der Getränfehandel in der Zeit vom 1. Juli 1898 bis zum 23. April 1900 aus von den Krugs⸗ befigern unabhängigen Gründen eingejtellt werben mußte. Bisher waren nur bie Krüge in Rechnung gezogen, in denen bis zum 28. April 1900 der Handel mit Branntwein ꝛc. beitanden hatte.

24.—26. Sept. Neval. II. eſtländiſcher Ärztetag, befugt von 47 Üryten. Außer wiſſenſchaftlichen Fragen beſchäftigte den Arztetag auch die Lage des landiſchen Sanitätswefens. Dr. Rupfer: Kuba erjtattete einen Rommilfionsbericht über die Heorganifation des Sanitätsweiens auf dem Lande, Dr. v. Nottbed-Weipenjtein behandelte die Impffrage. Zur Ausarbeitung und Prüfung von Volksfchriften über Fragen der Voltshygiene wurde eine Kommiſſion niedergejegt, eine

1 Baltiffje Chronit 1904/5.

andre zur Bearbeitung der Frage der Gründung eines Vereins zur Bekämpfung der Tuberkuloſe.

25. Sept. Ein Allerhöchiter Befehl wird publigiert, durch den dem mit dem Kommando des Gendarmenkorps betrauten Kollegen des Minifters des Innern unter Oberleitung des Minifters das gefamte Polizeiweien unterjtellt wird. Zum Minifterfollegen für das Polizeiweſen wird der jtellvertr. Kabinetishef Sr. Maj. Generalmajor Rydjewsti ernannt, welche Ernennung am 29. Sept. bekannt gemacht wird.

26. und 27. Sept. Neval. Ihre Diajeftäten der Kaifer und die Raiferin mit dem jungen Großfürften-Thronfolger jtatten in Begleitung des Generaladmirals Großfürjten Alerei Aleran- drowitſch, der Miniiter des kaiſerlichen Hofes und der Marine u. a. Würdenträger dem vor Neval anfernden 2. Geſchwader der Flotte des Stillen Ozeans einen Beſuch ab. Am 26. um 10 Uhr morgens trifft der faijerlihe Zug auf bem Bahnhof ein, in deſſen Saal die Stände und Vertreter der Adminiftration und Kommunalverwaltung den Majeſtäten ihre Begrüßung darbringen. Der Nitterjhaftsyauptmann bemerkt in feiner Anſprache, daß der ejtländiiche Adel jtolz darauf fei, daf die Söhne der Heimat auch in diefem Kriege in ber Flotte und Armee berufen find, Kaijer und Vaterland zu dienen. Im Namen der Stadt Neval überreicht das ftellv. Stadthaupt E. Hörfhelmann, im Namen ber Bauer: ſchaft eine Abordnung von Ültejten mit wenigen Worten Salz und Brot. Ihre Majejtäten begeben fid) jogleid auf die Yacht „Standart”, von wo aus die zum Geſchwader gehörigen Schiffe befichtigt werden. Am Nadmittag bes 27. beſuchen Ihre Mojejtäten die orthodore Kathedrale und die Nitter- und Domliche, wo Sie von Paſtor Winkler mit einem Segenswunfd) empfangen werden. Am Abend begaben ſich die Allerhöchiten Herrihaften auf den Bahnhof, wo Sie ſich von den bort verjammelten Vertretern bes Landes, ber Stadt und der Negierung verabjchiedeten und alsdaın nad Petersburg zurücklehrten.

28. Sept. Jurjew (Dorpay), Das Friebensrichterplenum vers handelt über eine für die Stadtverorbnetenwahlen nicht unweſentliche prinzipielle Frane. Der Art, 24 der Städte:

Baltiſche Ehronit 190475. 16

ordnung beftimmt u. a., daß denjenigen Perfonen, welche ftäbtifhe Immobilien im Cigentum ober lebenslänglichen Belig innehaben, das Wahlrecht bei den Stadtverordnetens wahlen zufteht. Die Grundbuchabteilung hatte nun in einem ſpediellen Falle die Übertragung eines jtäbtiihen Immobils zu lebenslänglichem Befig an eine dritte Perfon verweigert, weil im oftfeeprovinziellen Privatrecht eine derartige Über tragung nicht vorgefehen fei. Die dagegen vom Rechtsanwalt Sſudakow vertretene Beſchwerde betonte, daB das hieſige Privatrecht die von Reichsgeſetz jtatuierte Form der Befig- übertragung keineswegs ausichließe, doch fprady fi das Friedensrichterplenum im felben Sinne aus, wie die Grund- budabteilung. Gegen dieſen Beſcheid wirb eine Rafjations- beſchwerde an den Divigievenden Senat eingereicht. (Nordl. tg. vom 30. Sept.)

Im der baltifcjen Preſſe meifen mehrere Juriften bie Zufäffigfeit ber in Frage jtehenden Übertragung zu lebensiänglichem Befig nad, u. 0. aud eine Autorität wie Prof. Dr. Engelmann in einer Zufgrift an die „Norbliol. Big.” :

Da es ſich in cnsu um die Übertragung des Befiyes an einem Immobil auf die Gattin des Eigentümers handelt, fo ſucht der „Postis mee6“, der eine ausſchlaggebende Vermehrung der deutſchen Wahlſtimmen fürchtet, dieſes Verfahren als illoyal zu disfrebitieren. Mit vollem Rest macht dagegen Profefjor Engelmann in der erwähnten Zuſchrift geltend, dap jeder Yausbefiger beredtigt jei, auf geſehlichem Wege ſich den größte möglichen Einfluß auf die jtädtiihen Wahlen zu ſichern.

23. Sept. Der Hofmeifter Stürmer, befannt durd) feine Nevifion der Twerſchen Londjchaftsoerwaltung, wird als Zireftor des Departements für allgemeine Angelegenheiten im Winifterium des Innern durd den Gouverneur von Chartow Batazzi erfet.

29. Sept. Neval. Ein neuerbauter Flügel der biefigen Filial- fire des Püchtigihen orthodoren Kloſters wird durch ben Prieſter Joann Sjergiem aus Kronftadt gemeiht.

30. Sept. Auf Defel wirb ein von ben Landgemeinden begrün- betes und für ihre Rechnung zu unterhaltendes Leproforium eröffnet. Der Gouverneur aus Livland fpridt in ber „Sivl. Gouv.Ztg.“ (Nr. 116) dem Dejelfchen Bauerkommiſſar Sander jeinen Danf aus, da die Idee zu dem Leproſorium und die Förderung und Überwachung ihrer Ausführung ihm allein angehöre.

16 Baltifdje Chronit 1904/6.

30. Sept. In Ar. 173 des „Teata ja“ war eine Betrachtung über bie ver- meintlijen Vorteile enthalten, welde dem bäuerlichen Grundbeſit in Lioland aus der Einführung der ReichSbaueragrarbank in den baltifchen Goudernemenis erwachlen würden. Da unwahre und unrichtige Angaben diefer Vetradhtung geeignet eriheinen, das Mnfehen der livländifchen abligen Güterfreditfogietät im bäuerlichen Kreifen zu ſchadigen. erläßt die Dberdireftion der Sogietät im „Teotaja” eine Erklärung, die folgende Säge näher begründet: Es ift nicht wahr, 1) daß bie Großgrundbefiger einen Anteil an dem Gewinn der Arebitfozietät haben; 2) da die Soyietät zu ungünftigeren Bedingungen als die Heichsbauer: agrarbant Pfandbriefdarlehen erteilt; 3) dab bie Bauern nicht das Hecht hätten, die auf ihr Land bei der Sozietät gemachten Anleihen in Anleihen eines andern Kreditinſtituts zu verwandeln; 4) dab die Sopietät in irgend welcher Hinficht parteiifch verfährt; 5) daf die Gopietät vorzugeweiſe den Interefien der Großgrundbefiger dient. (Der deutſche Tert in der Düna- ig. Ar. 24.) = Leider iſt bei der Rolle, die die Reichsbaueragrarbank als Agita- tionsmittel in der indigenen Preſſe fpielt, micht zu erwarten, daß dieſe Erklärung bei einem großen Teil des Meingrundbefiges ihre Wirfung nicht verfehlt.

1. Oftober. Riga. Die Zeitungen bringen einen Aufruf des Liv länbifchen Sandratsfollegiums an alle Adergutsbefiger und Paſtoren Lilvands mit der Bitte, ihnen mitteilen zu wollen, ob fie geneigt feien, Sranfe und Verwundete, die vom Kriegsichauplag hierher evakuiert werben, unentgeltlich auf- zunehmen und zu verpflegen. Eine Publikation des Land- ratsfollegiums vom 28. Dft. befagt, daß es zahlreiche Be— veitwilligfeitserflärungen zur Aufnahme franfer und ver wundeter Krieger erhalten habe; im Hinblick darauf, dab viele Perſonen Geldbeiträge zu diefem Zwed im Ausficht geitellt haben, beabfidhtigt das Lanbratsfollegium ein größeres Lokal für Eranfe Krieger in geeigneter Lage einzurichten, und bittet um Stiftung von Freibetten.

1. Oft. Sellin. Die Stadtverordnetenverfammlung bevollmäctigt das Stadthaupt, darum nachzuſuchen, daß der Stadt das Recht gewährt werde, in Fellin eine Privatknabenſchule 1. Drdnung zu eröffnen.

1. Oft. Die griechiſch-orthodore Baltifche Bratjiwo hält in St. Petersburg eine Sahresverfammlung ab unter dem Vorfig dem Staatsfetretärs Galkin-Wraſſtoi. Die Bratſtwo hat im Jahre 1903 eingenommen 15,279 Rbl. und aus

Valtiſche Chronik 1904/5. 17

gegeben 15,184 Rbl. Der Beſitzſtand betrug zum 1. Ja— nuar 1904 238,748 Rbl. Teſtamentariſch waren ber Bratſtwo im Berichtsjahre von einem Kollegienrat Titow 5000 Rbl. und von einer Witwe Zemſch 500 Rbl. zus gefallen.

1. Oft. Riga. Das deutſche Stadttheater hat in der Saiſon 1003/4 bei 274 Aufführungen einen Aufwand von 240,289 Abl. erfordert, wovon 29,073 Rbi. von den Garanten und der Großen Gilde zu deden waren.

1. Oft. Die landwicttſchaftliche Abteilung des Rigaer Iettifgen Bereins hat die erfolgreie Anregung zur Bildung von vier bäuerlichen Kontrolfvereinen für bie Milchviehhaltung nad der dänifhen Methode in Süpfivland gegeben. Diefe weitere das Wadjstum von Einfiht und das Fortichritts: bedürfnis in unfrer bäuerlichen Landwirtſchaft iuftrierende Tatſache wird in der „Yalt. Wocenfchrift" mit Anerlennung beſprochen.

3. Oft. In Saden der Anſprüche des Tarwaſiſchen Kirchen: tonvents auf das von der Tarwaſtſchen Schule genüpte Küfterland entichied der Senat auf eine Beſchwerde des Pernau⸗Fellinſchen Oberkirchenvorſteheramts nad) Analogie früherer Fälle (f. Balt. Chr. 1904 Febr. 2), daß die Ver- fügung des Dinifters der Volksaufklärung, wonach die Schule im Beſitz des ftreitigen Landes zu laflen fei, ber rechtigt ſei. Die Eigentumsfrage am Lande aber jei auf dem Wege eines Zivilprogefes zum Austrag zu bringen.

4. DM. Der Dinifter ber Volfsaufflärung Generalleutnant Glaſow beginnt eine Rundreife durd) das Reich und trifft zunächſt in Reval ein, wo er bie Schulen revidiert und zum Abjchied auf dem Bahnhof eine Nede hält, aus der erwähnt fei, dab die Zahl der Gymnafien nicht reduziert werben fol, neu— gründen wolle man aber hauptſächlich Realſchulen, beren Abiturienten der Bejuc) der Univerfitäten geftattet werden wird.

Am 5. Oft. morgens traf der Minifter in der Univerfitätsjtabt ein und ließ fih um bie Mittagszeit bie Profefforen und Beamten der Univerfität in der Aula vorftellen. In einer Anſprache jagte Minifter Glaſow, er fei hocherfreut, in den Räumen biefer Univerfität zu weilen, deren Vergangenheit ein fo glänzendes Blatt in der Geſchichte ber Aufklärung in Rußland Bilde. Nusgezeichnete Profeſſoren Hätten hier gewirkt und aud für die anderen Univerfitäten bes Neiches Nugen geſchaffi, indem meift begabte ruifiihe Tünglinge hier

Baltiſche Chronik 1904/5.

für den afabemifchen Beruf ausgebildet worden feien. Der Minifter {hloß mit dem Wunfche, daß die jegigen Univer- fitätslehrer ihr Beſtes daran jegen mögen gemäß ber früheren Höhe ihres Amtes zu walten! Am Adend empfing ber Diinifter im Komventsquartier ber Ejtonia bie Chargierten ber jtubentifchen Rorporationen und eröffnete ihnen im Aller: bödjiten Auftrage, daß Se. Majeftät der Kaiſer ihnen Aller: gnãdigſt geftattet habe, die Farben wiederum öffentlid zu tragen. (Diefe Verordnung wird fpäter in Nr. 114 ber „Livl. Gouv.gtg.“ vom 25. Dit. publiziert.)

Am 7. und 8. Oft. weilt der Minifter in Riga, wo er im Poly:

technikum bie Vertreter des jtubentiichen Chargiertenfonvents burd) eine bejondere Anfpradje auszeichnet, er ſpricht von dem guten famerabidaftlihen Geift in ben Korporationen und von ihrem günftigen Einfluß auf die wiſſenſchaftlichen Studien ihrer Glieder, und bemerkt, daß die Haltung der Rigaſchen Stubentenverbindungen mit befiimmend geweſen ift für die Wiedergewährung des Farbentragens an die Dor: pater Korporationen. Am 9. ift der Dinifter in Mitau und am 10. in Libau.

Die deutſche baltiſche Preſſe nimmt, wie die gelamte gebildete Geſellſchaft der Provinzen, mit großer Freude die Nachricht auf von der den Studenten gewährten Berechtigung, die Farben wieder iragen zu dürfen. Auch ruſſiſche Blätter (.Vitſhew. Webom.“) äußern ſich zuſtim mend u dieſer Entfehliehung. Es handelt fih zwar mur um eine Kongeffion in etwas Außerlichem, aber der Minifter hat doch aud den Geift der Korporationen gelobt, und deffen Grundlage iſt beutfch-proter ftantiich.

Am 7. Dft. abends bricht im Konventshauſe der „Lioonia” Feuer aus, das bald gelöfcht wird. Der Fewerigaden iſt zweifellos auf Brandftiftung zurüdzuführen, doch bleibt der Zäter unermittelt.

4. DM. Riga. In der Stadtverorbnetenverfammlung gibt Stadt:

rat Dr. Heerwagen auf eine {interpellation die Auskunft, daß das Stadtamt noch nicht zum Bau bes flädtiichen Sanaroriums für die Opfer ber Krieger in Kemmern (fiehe Balt. Chr. 1904 Febr. 9.) Habe ſchreiten können, da es noch feinen Plag in Kemmern für dieſen Zwed Habe erwerben fönnen. Im Dlai habe es die erforderlichen Schritte beim Domänenminifterium und ber Rurortverwaltung getan, aber

Valuiſche Chronit 1904/5. Rt]

nod) feine Antwort erhalten, nad) mehr als 5 Monaten! Die Stabtverordnetenverfammlung beichließt, dem Gtabt: Rranfenhauje einen Krebit von 20,000 Rbl. zur Aufnahme und Verpflegung vom Kriegsſchauplatz evakuierter Militärs (50 Soldaten und 5 Offiziere) anzuweiſen.

In Sacen des Kemmernfchen Sanatoriums teilt daS Stadthaupt der Stadtverordnetenverfamminng am 8. Nov. mit, dah der Domänen« minifter ben Berfauf des von ber Stadt gewünfchten Grunbjtüd genehmigt babe. Die Verzögerung diefer Angelegenheit ift der Kemmernfden Kurortverwaltung zuzufchreiben, die dem patriotiſchen Unternehmen der Stadt merfwürbigerweife Hindernifie bereiten zu müffen glaubt. Erit das Gutachten einer auf Erfuden des Domänenminifteriums vom Gour erneut von Lioland eingefehten Spezialtommiffion bradite die Sache um Abichluf.

5. Oft. Riga. In Gegenwart einer zahlreichen Verſammlung wird der Grund« ftein zum ftattlichen Neubau des ebangeliſchen Marien-Diafoniffenvereins gelegt.

6. Oft. Reval. Die Stabtverordnetenverfammlung bewilligt auf ein Geſuch des Gouverneurs von Ejtland weitere 1000 Rbl. für die Heilung franfer und verwundeter Soldaten und erhöht den Krebit zur Verpflegung von Referviftenfamilien von 2000 auf 4000 Rbl. Die Verſammlung beſchließt ferner dem Edelmann ©. v. Peetz den zwiſchen der Karri— pforte und dem Neuen Markt befegenen ftädtiihen Play von 740 Quabdratfaden zur Erbauung eines beutfchen Theaters auf Grundzins zu vergeben und zwar im weſentlichen unter den gleichen Bedingungen, unter welden dem Verein „Eftonia” am 2. Juni ein jtäbtifcher Play für ein ejtniiches Theater überwiefen wurde (ſ. Balt. Chr. 1904 Juni 2). Herrn v. Peeh wird anheimgegeben, bis zur gerichtlichen Zu— zeichnung bes mit ihm abzuſchließenden Grundzins-Kontrakts diefen Kontraft anderen Perfonen oder einem Verein zu übertragen. Der Play fällt an die Stadt zurüd, wenn er im Laufe von 6 Jahren nicht einem in gefegliher Grund⸗ lage beſtehenden Verein zugegeihnet worden il. Ein Geſuch der I. Zufuhrbahn-Sejellihaft um grundzinsliche Konferierung eines Grundftüds wird abgelehnt, da ſich die bei Gründung der Felliner Bahn auf die Geſellſchaft gefegten Hoffnungen nicht erfüllt Haben und die Tätigfeit der Ges felichaft den Handel und bie Induftrie in Stadt und Land

6. Dt.

Baltifhe Chronit 1903/5.

in feiner Weile fördert. Die Stadtverordnetenverfamm: lung fucht um die Umbenennung des zum Bahnhof führenden Boulevards in „Boulevard des Thronfolgers-geſſarewitſch“ nad, weil der „Sroßfürjt-Thronfolger Alexei“ bier den Weg zum neuen Hafen zurüdgelegt hat. Die Verfamm: tung überläßt einem orthodoxen Wohltätigfeitsverein unent- geltlich einen Grunbplag für ein Armenhaus.

Reval. Ein Verleumbungsprogeß, den Baron Ernſt Ungern-Sternberg: Zeh beim Revalſchen Bezirksgericht gegen die Redakteure des „Tentaja“, den perfönf. Ehrenbürger Konit. Päts und den Dberpahlenſchen Bauer Pung, angeftrengt dat, endet mit der Verurteilung der Angeklagten. Das eftnifge Blatt Hatte feinen Leſern die ebenfo alberne wie böswilige Erzählung aufgetifcht, da einer der um Wefenberg angefefienen Barone, der zugleich, Schulrevident und Ehrenfriedensrichter fei, einem Bauern eine von ifm ausgeftellte Duittung über 100 Rbl. betrügerifcierweife geraubt und vernichtet Habe, infolge weſſen es zwiſchen dem Baron und dem Bauern zu einer Schlägerei gefommen wäre. Baron Ungern hatte geklagt, weil er als einziger im reife angefeffener Outsbefiger gleicheitig beide genannten Poſten bekleidet. Die Angeklagten wurden zu je 100 Rbl. Strafe reſp. zu einem Arreſt vom je 2 Monaten verurteilt.

7. Ott. Für die Übertritte von der futheriihen zur griechiſch-

9.—1

orthodoren Kirche in Livland im Jahre 1903 gibt der Bericht bes livländijhen Generalfuperintendenten die Zahl 294 an (gegen 269 im 3. 1902, die Durchſchnittozahl für bie legten 10 Jahre ift 339); auf Süblivland famen 83 (1902: 75), auf Nordlivland 211 (1902: 194). Won den Übergetretenen find 113 männlichen, 181 weiblichen Geſchlechts. An Mil: ehen find 640 notiert (1902: 656); in Südlivland 332, in Nordlivland 308. In 231 Füllen war der Bräutigam lutheriſch, in 409 die Braut (f. Balt. Chr. 1904 Aug. 19.) Der Bericht des Generaljuperintendenten erwähnt ferner, baß einige ablige Herren infolge rühriger Propaganda zur römiſch⸗ latholiſchen Kirche übergetreten jeien.

4. Oftober. Konferenz der 17. livländiſchen Bauerkommiſſion in Riga. Die Verhandlungsgegenjtände find in 8 Gruppen geteilt: 1) Agrarwejen. 2) Gemeindeiteuern und ihre Er- hebung. 3) Geichäftsführung der Gemeinbeverwaltungen. 4) Fürforge für die Armen. 5) Gagierung ber Gemeinde: beamten. 6) Paßweſen. 7) Wegebaupflicht. 8) Diverje. In Agrarangelegelegenheiten beſchließt die Konferenz, es ſei

Baltiſche Chronit 190475. 21

darum nachzuſuchen, daß bie $$ 219 und 101 ber Bauer verordnung dahin abgeändert werben, daß Bauerland nur an Perjonen bäuerlihen Standes verkauft oder verpachtet werben bürfe. (Nah $ 219 fann Bauerfand an Mitglieder der Bauergemeinde oder an andre Individuen verkauft werben, bie bei Requiſition des Landes in die betr. Bauer» gemeinde eintreten. Nah $ 101 fann Bauerland aud) an Perſonen, die nicht bäuerlihen Standes, aber Glieder ber Bauergemeinden find, verpachtet werben.) Ferner wünſcht die Konferenz, daß für Verlegung der Beftimmung, daß zwiſchen Gutsherr und Pächter ſchriftliche Kontrafte abge— ſchloſſen werben müſſen, Straffanktionen fejtgefegt werben. In Saden der Armenpflege ſprach fi die Konferenz dahin aus, daß der Vauerfommiljar in Unterftügungsfragen berechtigt ift auf Grund des $ 689 eine Verfügung zu treffen, wenn ein Gemeindeausſchuß trog zweimaliger Vorhaltung feine ausreichende Unterftügung für einen Bedürftigen befchlicht. Der Konferenz; wurde eine Denfichrift des Kommiſſars Grödinger vorgelegt, die die Einrichtung eines Irrenaſyls in jedem Kommiſſariatsbezirk empfiehlt. Die Konferenz fand das Projeft jehr zwedmäßig, obwohl man benfen follte, daß die Unterbringung ber Irren in der bereits in Angriff genommenen Lanbdesirrenanjtalt noch zwedmäßiger wäre. In der Frage bes Modus der Neparlition ber Gemeinder ausgaben befürwortele die Konferenz, ftatt ber üblichen nad ber Seelenzahl ber Steuerzahler, eine Mehrbelaftung ber Steuerzahler mit größerem Einkommen nad dem Vorbild ber in einigen Gemeinden Kurlands eingeführten Steuers verteilung. In Sachen des Landſchulweſens Fonzentrierten die ungeordneten Zuftände ber griechiſch-orthodoxen Kirchen— fchufen die Aufmerkjamteit auf ſich, die Konferenz ber Bauer⸗ fommiljare fam aber zum Refultat, daß fie die Maßnahmen, die von ben mit ber Verwaltung diefer Schulen betrauten Nefforts gegenwärtig eriwogen würden, abwarten müßten und nur dahin wirken fönnten, daß die Gemeindeausſchüſſe Bewilligungen für die Schulen beihließen. In Wege: angelegenheiten beſchloß bie Konferenz um die Nieberjegung einer Kommiſſion nachzuſuchen, die die ‘Frage der meift in

8

Baltiſche Chronit 1904/56.

miferablem Zuftande befindlichen Nebenmwege zu behandeln hätte. In der Frage des Honorars ber Gemeindebeamten beichloß die Konferenz die Gouvernementsbehörbe für bäuer: liche Angelegenheiten um die Verdoppelung der jehr niedrigen Normen (Patent der livländ. Gouvernementsregierung vom 2. Dez. 1868 Nr. 130) anzugehen. (Nach den Referaten des „Riſh. Weſin.“)

9. DM. Windau. Die Privatknabenſchule 1. Ordnung, bie bie

Stadtverwaltung interimiſtiſch bis zu der im Auguſt 1905 zu erwartenden Gröffnung einer Kronsrealichule ins Leben ruft, wird durch Anſprachen eines orthoboren Priefters und des Paſtors Aleinenberg geweiht und alsbann eröfjnet. Das Lehrperjonal beficht aus lauter Ruſſen, mit Ausnahme des Direftors Th. Aederle, bisher Lehrer ber alten Spraden in Grodno, und zwei Damen, die im Franzöfifchen unters richten.

10. Oft, Der eftnifche Iandwirtfchaftlide Verein in Jurjem (Dorpat) befchlieht

auf Antrag feines Präfes Tönision, im Januar oder Februar nachſten Jahres einen Kongeeh; der eftnifchen Iandwirticheftlichen Vereine zu deran talten. Die Beteiligung der ejtländifchen Vereine wurde als ſehr mün ſchenswert bezeichnet, aber darauf hingedeutet, von „gegneriicher Seite” werde man bann bemüht fein, dem Kongreh eine politiiche Färbung beie zulegen und feiner Genehmigung Schwierigfeiten zu madjen, die dann nicht vom Gouverncur, fondern vom Landwiriſchafisminiſter abhängt. Es wurde daher dem Vorſtand anheimgegeben, ben Rongeri je nach den ſich ergebenden Schwierigfeiten mit oder ohne Deranzichung Citlands einzuberufen.

10. Oft. Cine Exderfcütterung, deren Zentrum in Norwegen liegt, wird um

die Mittagszeit au an vielen Punkten der Oftfeeprovingen derſpürt.

12. DOM. Vom Konfeil der Jurjewſchen Univerfität wird dem

Dr. med. Paldrod die einmal verfagte venia legendi als Privatdozent erteilt. (S. Balt. Chr. 1904 Jan. 20.)

14. DOM. Libau. Die Stadtverordnetenverfammfung beſchließt auf

Antrag des Stadtamts, als einzige von den baltischen, dem Miniſter des Innern Fürften Sſwjatopolk-Mirſkij tiefempfuns denen Dank in Anlaß des von Sr. Durchlaucht ausgeiprochenen Vertrauens zu den Kommunalinjtitutionen auszubrüden.

14. Oft. Bernau. Eine auf dem lag vor dem Gymnafium

neuerbaule griechiſch-orthodoxe Kirche wird vom Erzbiſchof Agathangel eingeweiht.

Baltiſche Chronik 1904/5. 23

15. Oft. In dem Marienburgſchen Brandſtifterprozeß vermirft der Dirigierenbe Senat bie eingereichle Raffationsflage und beftätigt das vom Rigaſchen Bezirksgericht und vom Peters burger Appellhof gefällte Urteil, doch wird die Strafjeit auf Grund des Gnadenmanifeftes vom 11. Auguft um ein Drittel verfürzt. (S. Ball. Chr. 1903 Dft. 2 und 1904 Mai 10.)

15. Oft. Nad) dem „Perfonal ber Jurjewſchen Univerfität“ beträgt die Zahl ber Studierenden 1909 (mit Ausnahme ber Phar- mazeuten) gegen 1849 im Vorjahre. Die Zahl der Stu benten ber Theologie ijt von 145 auf 145 gejtiegen, die ber Studenten in der hiſloriſch-philologiſchen Fakultät von 181 auf 188, in ber phyjifo:mathematifchen Fakultät von 294 auf 351; die medizinifche Fakultät hat wieder eine Abnahme zu verzeichnen von 733 auf 726, auch die Zahl der Juriſten ift gefallen, von 490 auf 478,

Aus dem Innern des Reiches flammen 1404 Stu— dierende, gegen 1396 im Vorjahre. Die Zahl ber aus ben Dftfeeprovinzen gebürtigen Studenten iſt wieber, wie in ben legten Jahren, regelmäßig geftiegen, und zwar von 447 auf 498. Aus Lioland ſtammen 326 (gegen 294), aus Eftland 82 (gegen 73), aus Rurland AO (gegen 80).

Evangelifcher Konfeffion find 508 (gegen 461), griedhifch- orihoborer 1170 (gegen 1157), römifchzatholif—her 64 (gegen 72), Juden gibt es 137 (gegen 132).

Die Zahl ber Pharmazeuten beläuft fid) auf 79 (gegen 94); bavon flammen aus den Oftfeeprovinzen 40 (gegen 52), aus dem Innern des Neichs 39 (gegen Evangeliſch⸗ lutheriſcher Konfeſſion find 36 (gegen 46) griechiſch-orlhodoxer 8 (gegen 9) römiſch-katholiſcher 22 (gegen 24), moſaiſch find 12 (gegen 15).

Diefen Zahlen ftellt die „Rordl. Ztg." die einſchlägigen Ziſfern aus dem Jahre 1RA0 entgegen, in welchem die Unioerfität Dorpat mi 1812 Studenten die höchſte Frequenz erreichte. Damals ftammten aus girland 648, aus Aurland AD und aus Eftland 144 Studierende, aufammen alfo I111. Selbft mit Einfchluh der Pharmazeuten in die Zahl der jehigen baltifhen Studierenden mehr als doppelt jo gering als vor 14 Jahren. Die Zahl der Theologen betrug damals 281, jet 185!

18, Oft. Zum Neformationsfeit flattet die Unterftügungsfaile der evangelijch = lutheriſchen Kirche Rußlands den Jahresbericht

a Baltifche Chronit 1904/8.

für 1903 ab. Die Gefamtausgaben der Kaffe beliefen ſich auf 118,294 Rbl., um faſt 8000 Rbl. weniger als im J. 1902.

19. DE. Die bisher dem livländifhen Generalfuperintendenten direft unterftellten Prediger an der St. Jakobifiche in Riga, an ber St. Nikolaikirche zu Bernau, und an der Univerfitäts- fire, der St. Johannis: und der St. Pelrificche zu D. find auf obrigfeitliche Anordnung den örtlichen Pröpften unter: georbnet worden, und zwar die Prediger ber genannten Kirchen in Pernau und der Univerfitätsftadt ben dortigen Sprengelspröpften, bie ber St. Jatobilirche zu Riga aber dem Rigaſchen Stabtpropit.

21. Oft. In Jurjew (Dorpat) hält ber vor längerer Zeit ange fündigte eſtniſche gegenfeitige Arebitverein unter dem Prä— fibium des Redakleurs Tönisfon jeine Fonjlituierende Sigung ab und vollzieht verjchiedene Wahlen. Der Verein wird feine Tätigfeit aber erjt im nächſten Jahr beginnen. Seine Aufgabe foll befanntlic) jein, den Pfandbriefen des von den Eſten offupierten livl. Stadthypothefenvereing einen Markt zu Schaffen.

23. Oft. Jurjew (Dorpat). Cine Delegiertenverfammlung des in eſtniſche Hände übergegangenen livländiſchen Stabthypothefen- vereins beſchloß die vom Finanzminifterium beantragte Feit- fegung eines Minimalbetrages, von dem an ein Darlehn: nehmer des Vereins Stimmrecht bei der Delegiertenwahl haben joll, und bejtimmte als folden Minimalbetrag des Darlehens 300 Rbl. Das Finanzminifterium hatte 1000 Rbl. vorgejhhlagen, dann hätten aber von den 1105 Darlehen nehmern 306 ihr Wahlrecht verlieren müfen und auf die Keinen kommt es ja der jegigen Direftion fehr an. Bei einem Minimalzenſus von 300 Rbl. wird nur 13 Mitgliedern das Stimmrecht entzogen. Die von einem Delegierten an die Direktion gerichtete Frage, weldre Maßnahmen getroffen jeien, um den Wfandbriefen wieder einen feſten Kurs zu verſchaffen, blieb auf Beſchluß der Verfammlung unbe antwortet.

24. Oft. Cine Korrefpondenz der „Nowoje Wremja“ über den guſtand der griehbifhrorthodoren Kirchenſchulen in den Ditiecpros

Baltife Chronit 1903/4. 25

propinzen wird in den baltiſchen ruſſiſchen Blättern viel beſprochen. Die Mögliche Sage biefer Schulen wird zum Zeil auf den Mangel an Mitteln äurüdgefüßet, zum Teil auf bie Organifation. An 489 Schulen find 846 Lehrer und Lehrerinnen befchäftigt, von denen 414 feine Lehrberech . tigung Gaben. Bon 18,333 Zöglingen fonnten im Schuljahr 1902/38 nur 485 das Eramen im Aurfus der Elememarſchuten beftehen.

25.—27. DM. Riga. Eine Seffion des St. Petersburger Appell- bofes, beftehend aus bem Präfidenten Maximowitſch und vier Gliedern des Appellhofs, verhandelt eine Reihe von politifchen Prozeffen (vergl. Balt. Chr. 1904 Juli 2). Zum Gericht find als Nepräfentanten der Stände hinzugezogen der Landmarfchall von Livland Baron Meyendorff, das Stabthaupt von Riga Armitftend und der Bolderaafche Ge- meinbeältefte Schmidt. Die Verhandlungen werden bei ger ſchloſſenen Türen geführt. Angellagt find 19 Perſonen, darunter der Stubierende des Rig. Polytechnilums Wulf Friedmann wegen öffentlicher gegen die Gtaatsgewalt ge: richteter Neben, die übrigen wegen Verbreitung aufrührericher Schriften, teilweile auch wegen Aufbewahrung von folchen und ein Arbeiter aud wegen aufrührerifcher Reden. Unter den Ungeflagten, bie im Alter von 14—32 Jahren ftehen, befinden fi) eine Frau, ein zweiter Volytechnifer und brei Schüler einer Wolmarſchen Privatfchule, die übrigen find Bauern, Kleinbürger und Arbeiter. Zwei von den Arbeitern find ſchon im Innern des Reiches in politiiche Prozeſſe vers widelt gewefen. Elf von den Angeklagten, darunter aud) bie beiden PVolytechniter und die 3 Wolmarſchen Schüler werben wegen mangelnder Beweiſe freigefprochen, bie übrigen acht zu Feltungsfirafen von 4 bis zu 12 Monaten ver- urteilt.

Wiederholt war es in der Tepten Zeit zu Demonitrationen auf den Straßen Rigas und zu Zufammenftöhen zwiſchen den Demonftranten und der Polizei gefommen am 15. Auguft war bei einem Kramall vor dem Gefängnis der Gehilfe des Poligeimeifters Lifhin lebensgefährlich und ein Schugmann tötlid verlegt worden und auch am 24. Dftober follte aus Anlafı diefer poiitiſchen Prozeſſe eine Demonitration vor dem Vegielsgericht veranftaltet werden. Da die Polizei Mafregeln zur Ver . binderung des Vorhabens an diefer Stelle ergriffen hatte, fo zeritreuten ſich die Demonftranten ſcheinbar, ſammelten fid dann aber ploblich wieder, zogen zum Yoligeigebäude und demolierten hier durch Steinwürfe und Revolverihüffe die Fenſter. *

3 Baltifde Chronit 1904/5.

26: Oft. Finnland. Der Hochverratsprozeh gegen ben früheren Senator und Generalmajor Schauman, in bem ber Profurator Johnſon die Anklage vertritt, wird vor dem Hofgericht in Abo verhandelt. Die Anklage ftügt ſich hauptſächlich auf die bei einer Hausſuchung bei Schauman gefundene, dor Fahren flüchtig hingeworfene Sligge zu einem Aufeuf zur Gründung von Schüengilden, in denen fid die finnländifhen Männer mit der Waffe vertraut machen follten, um nicht im Gefühl der Wehelofigteit Selbitvertranen und Lebensmut einzubüßen ufm. Schauman erklärt, daß er diefe Gedanten, bie das Schidjal feiner Heimat angeregt Habe, ber Eingebung eines Nugenblids folgend zu Papier gebracht habe, af fie aber weiter feine Folgen gehabt hätten. Das Zeugenderhör ergab nichts Gravierendes. Da ber Profurator die Verteidigung Schaumans ſchriſtlich widerlegen mil, wird der Projeh vertagt, doch beichlicht das Gericht, Schauman auf freien Fuß zu fegen.

26. DM. Neval. Der erſte in Reval erbaute Dampfer, ein Leuchiſchiff „Wultſchur“ von 415 Tons Waflerverdrängung, läuft vom Stapel.

26. DM. Riga. Nach Fertigftellung der Pump- und Falun: anlagen auf Bellenhof beginnt bie Verforgung bes Mafjer- leitungsneßes ber Stadt mit dem dort gewonnenen Grund- waſſer. Niga ift nun mit einem Waſſer von vorzüglicher Qualität verforgt. Für die Anlage waren 3 Millionen Rbl. angewiefen worden, bod) gelang es der Stadtverwaltung 429,000 Rbl. von biefer Summe zu erfparen.

27. Oft. Wall. Die Stabtverwaltung verfegt bie Bäume einer alten, ber Stabt zur Zierde gereihenden Allee aus ber Plesfauerftraße nad) dem neuzugrünbenden Stabtparf und entrüftet durch diefen Vandalismus die Bewohner der Stadt. Die Idee mit dem neuen Stadtpark wird auch als eine ver⸗ fehlte bezeichnet, denn er liegt fo weit von der Stabt ent- fernt, daß er nie zu einer Erholungsftätte ber Bevölkerung werden fünne. Außerdem verurfacht feine Anlage der Stadt bedeutende Koſten; die Ausſcheidung eines Aders aus bem Siadtgute Obfelshof bedeutet allein fon eine Einbuße von 120 Rbl. an Pachtgeldern (f. „Norbl. Zig.“ v. 31. Oft.)

28. DM. Riga. Das Perfonal des Rigaſchen Polytechniſchen Inftituts gibt die Zahl der Studierenden auf 1675 an. Von ihnen find 850 Iutherifcher Ronfeffion, 365 orthoborer und 230 vömifch-fatholiiher; Juden gibt es 165. Der Lehrlörper befteht aus 21 Profefforen, 6 Adjunkt-Profeſſoren, 29 Dozenten und 15 Aififtenten.

Baltiſche Chronik 1904/5. 27

29. Oft. Eine bemerkenswerte Aenderung in der Praxis des Zuftizminifters befteht darin, daß die Unterfuchungsrichter wieber in ihren Stellungen „beftätigt” werben.

Einen beftätigten Unterſuchungsrichter fommen alle Prärogative eines Richers zu: er darf nicht verfept werden, darf ohne feine Einwit. figung night auf einen anderen Boften berufen werden und fann feine Stellung nur durch richterlichen Spruch verlieren. Er iſt daher bedeutend felbitändiger, namentlich der Profuratur gegenüber, als ein jag. „tel: vertretender“; die Iepteren gehören daher zu den normalen Erſcheinungen in Rubland. Betätigte Unterfuchungsrichter gab es nur in den erften Jahren nad) ber Einführung der Juftigreform. Dann wurben fie auf den Ausfterbeetat gefeßt und zu Beginn des Jahres 1904 gab es in gang ARubland ihrer nicht mehr als ca. 10, während die Zahl der „ftellver: tretenden" ungefähr 1500 beirug. Mit dem Herbit d. I. Hat das Quftize minifterium wieder begonnen, Unterfuhungsrichter zur Allerhöchſten Betätigung vorzuftellen, und mun gibt es ſchon gegen 100 beitätigter. Ein weiteres Anwachſen ber Zahl ift wahrſcheinlich. (Düna-Zig. Ar. 240.)

31. Oft. Goldingen. Die neuerbaute lettifche Kirche wird durch den Generalfuperintendenten von Rurland geweiht. Seit ca. 350 Jahren benupten die deutſche und die lettiihe Gemeinde gemeinfam bie deutſche Stabtlirdde. Der Initiative des ver: ftorbenen beutjchen Paftors Naeber iſt die Sammlung eines Fonds von 35,000 Rbl. für den lettiſchen Kirchenbau zu banfen, zu dem die kurländiſche Nitterfhaft 10,000 Rbl. und das Kirchſpiel 7000 Nbl. Hinzufügten, während die Stabt den Grundplag hergab. Der Bau wurde im J. 1899 nad den Plänen des Nigafhen Arditelten Dr. W. Neumann begonnen.

31. DM. In Warfhau wird bei der katholiſchen Allerheiligenfirhe auf dem Gribnyplatz eine ſozialdemokratiſche Demonſtration verantaltet, zu deren Unterbrüdung Wititär aufgeboten wir. Bei einem Zufammenftob gibt das Militär eine Salde ab, durch die 9 Temonftranten getötet, 20 vers wundet werben. Schon in dem vorhergehenden Wochen waren vereinzelte Demonitrationsverjuce gemacht worden.

1. Rov. Riga. Die „Nigas Awife* des Herrn Weinberg weiſt (Nr. 247) nachdrũclich auf die bevorfteenden Stadtverordnetenwahlen bin. Sie fonitatiert, da in der fog. Einmütigfeitsirage unter den gelten feit den Iepten Wahlen eine bedeutende Veſſerung eingetreten jei. Nicht in dem Sinne, als ob bie Zwietradt der Fetten unter einander an und für ſich abgenommen hätte; in mancher Hinficht fei dieſe noch größer geworden ais früher. Aber diefe Zwielracht berühre nicht die Frage der Stadtwahlen. Ale perſonlichen Interefien, ale ſozialen Differenzen

In

20 Valtiſche Chronit 1004/6.

müßten zurũctireten, ſobald es die erfolgreiche Durdjführung des Kampfes gegen daS Deutſchtum erfordert. Bei den lehtverflofienen Wahlen konnten mod) bie Leiten über „Kompromifje“ im eigenen Lager ftreiten. Das fei jegt unnötig, die Eintracht unter den lettijchen Wählern fei jegt genügend, gelicert.

Sehr beredtigt iſt in dieſen Säyen die Konftatierung der zur nehmenden Scheidung der Geiſter unter den Leiten. Daß diele Scheidung dor den Gtabtverorbnetenwahlen jept noch Halt macht, erideint wohl alaudlich in Zutunft wird aber der fogial vorgefdhrittenere Teil der Letten zu der Erfenntnis ommen, dab eine Stadt wie Kiga ih gerehtereife nicht auf nationaliftiicer Baſis verwalten läßt.

2. Nov. Den „Peterburgifia Wedomofti* des Fürften Uchtomsti wird aus dem Nordweitgebiet über das alte Kapitel von den Hinderniffen geſchrieben die „Andersgläubige” zu überwinden haben, wenn fie in der Heimat in Krond: oder Kommunalbepörden Stellung ſuchen, und dabei folgendes Veifpiel angeführt: Im einer Kreisitadt wurde kürzlich das Amt eines Stadthaupis vafant. Unter den Kandidaten befanden ſich eine Reihe von Gutsbefigern mit Univerjitätsbildung und Männer von Ehre; betätigt ader wurde ein ganz obffurer, fait zu den Analphabeten gehörender Gemüfegärtner nur weil er orthodor war. Kann ein ſolches Spitem, io fragt das Blatt, ein Spitem, das alle anftändigen Leute ignoriert, nur weil fie Katholiten find, in einem Gebiet, das längit aufgehört hat „zu meutern“, mehr als Ärgernis und Erbitterung hervorrufen?! (Düna-dig. Nr. 250.)

Und erft in einem Gebiet, daS nie angefangen hat zu meutern?!

6. und 7. Nov. Werro. eier bes 100-jährigen Beſtehens einer griechiſch orthodoren Kirche in Werro, Der Erzbiſchof Aga- thangel und zahlreiche Priefter fommen zu dem Feſte nad) Werro. Auf einem Abendeſſen, das ber Ortsgeiftlihe Sepp veranftaltete, verlas der Bauerkommiſſar des 2. Werrojchen Diftrifts Milhardt Namens der Vauergemeinden feines Diftrifts eine Adreſſe an den Erzbiihof, in der die Bauern ohne Unterjchied der Konfeffion, Orthodore und Lutheraner, den Wunſch ausbrüden, ihrer Sympathie für das freubige Ereignis im Werrojchen orthodoren Kirchſpiel durd die Stiftung eines Evangeliums an die Kirche Ausdrud zu geben. Der Wunic der Bauern erfreute den Erzbiſchof jehr, er dankte dem Bauerfommiljar und bat den Gemeinden feinen Segen zu übermitteln.

7. Nov. Riga. MWührend des Gotlesdienjtes werden in ber lutheriſchen Johannis- und Paulskirche miederum ſozialdemo—

Baltlfe Chronit 1904/5.

kratiſche Proflamationen ausgeworfen. Es gelingt der Polizei einige von den Übeltätern in flagranti abzufafen.

T. Nov. In Petersburg find über 100 Verireter der Lanbicaftsverwaltung aus allen Gouvernement8 zur Beratung ber innerpolitifchen Sage zulammen: gefommen. Es verlautet, der Minifter des Innern werde auch einen von ben Kommunalverwaltungen von Sfaratom, Mostau u. a. in Ans tegung gebradten Kongreß aller Stabthäupter geftatten, der für das tommende Jahr projeftiert wird. -- Am 5. November hatte der Miniiter Sfwjatopolt:Mirsti and eine Abordnung der Zioniften empfangen und ihnen mitgeteilt, dab den Zioniften feine Yinderniffe mehr in den Weg gelegt werden würden.

8. Nov. Wenden. Bei dem Transport ber Rekruten auf der Eifenbahn nad) Niga fommt es auf den Stationen diesmal zu groben Ausjchreitungen, Demolierung der Buffets, Fenfter x, wie es auch anderwärts in dieſem Jahr beobachtet werben fonnte.

8. Nov. Niga. Die Stabtverorbnetenverfammlung beſchließt, eine ſtädtiſche Kunſtſchule zu errichten, die wie alle berartigen Injlitute dem Minifterium des Kaiſerlichen Hofes unterftellt fein foll; der Statutenentwurf wird afjeptiert und ber An- tauf des Inventars der Zeichenſchule des + Frl. v. Jung für das Jnſtitut beſchloſſen. Ferner beſchließt die Ver— jammlung die Baupolizei als ein ſelbſtändiges Erefutivorgan aus dem Bauamt auszujcheiden und für die Leitung desjelben einen neuen Stadtratpoften, den achten, zu ſchaffen.

8. Nov. An der Jurjewſchen Univerfität wird der Affiftent ber piychiatrifchen Univerfitätsflinit Luiga zum Doktor der Medizin promopirt. In der Einleitung zu jeiner Diſſerlation: „Die Fürforge für die Geiftesfranten im baltijhen Gebiet“, ver: tritt Luiga die Anfiht, daB die Irrenfürſorge in den bal— tischen Gouvernements nicht nur Hinter derjenigen Weit- europas, jondern auch hinter derjenigen Inner-Rußlands weit zurüdgeblieben ſei. „Die Schuld hieran trage bie höhere" Gefellichaft, der Adel, die Geiftlichteit. Die Luge der Geiftesfranfen der Bevölkerung“, ſchreibt Luiga, „war tim 18. Jahrh.) nicht fchlechler als die der Gejunden, aus dem einfachen Grunde, weil eine ſchlechtere Lage nicht denkbar it" uf. (gl. Balt. Monatoſcht. 1904 Heft 6,

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vom Juni, wo dieſe Schrift bereits einer ſachkundigen, wohl verdienten Kritit unterzogen worden war.)

Nachdem fon ein ruffischer Profeſſor Jaropfi, als ordentlicher Opponent, diefe Darftellung als parteiiſch be- zeichnet hatte: die Verdienfte des Adels um das Volk jeien größer, als der Doftorand zugebe; bie Behauptung, in ben inneren Gouvernements fei für die Bildung und die Kultur des Volfes jtets mehr gethan worden, als in den baltiiden, Tonne ſchwerlich bewiefen werden, nahm Prof. Dr. Dehio das Wort und erklärte, da die in ber Einleitung ausger ſprochenen Beihuldigungen feinen wiſſenſchaftlichen Wert Hätten, fondern nur politiichen und fozialen Hader zwifchen Nationen und Ständen wachrufen ober verjchärfen fönnten. Es ſei eine Schande, daß der Doktorand dus alte Katheder, das ſeit 100 Jahren ausſchließlich zur Verteidigung der Wahr: heit und wiffenſchafilicher Taiſachen beftimmt war, zu einer Tätigfeit mißbraude, die nie und nimmer in den Aftusjaal der Univerfität gehöre.

Der Poſtimees-Redakteur Tönisfon wandte fih aus der Rorona wider alle afademifche Gepflogenheit mit An- griffen gegen Prof. Dehio, was ihm vom Dekan verwieſen wurde, und nötigte dann den Doktoranden zu ber Erklärung, daß er bei feiner Darftellung bleibe. Den Ausführungen Prof. Debios ſchloß fih Prof. Körber an. So find denn die verleumberifchen Irrtümer, die unter der Approbation der Jurjewſchen Univerfität in die Welt geihidt werben, nicht ohne Proteft geblieben.

10. Nov. Dorpat. Die Reichenberg-Mellinſche Heilanftalt und Pflegerinnenſchule begeht ihr 10jähriges überaus ſegensreiches Veftehen. Die Anftalt Hat 3—4000 Kranke verpflegt und 134 Wflegerinnen aufgenommen, von denen nur Y/ıo ben Kurfus nicht abjolviert hat, Möge diejer Erfolg dazu beir tragen, aud in anderen baltiſchen Städten den gebildeten Frauen das Gebiet der beruflichen Kranfenpflege zu eröffnen und dieſe ſelbſt dadurd auf ein angemefjeneres Niveau zu heben.

10. Nov. In Sadyen der jtaatlichen Mäßigfeitsfuratorien ift vom Finanzminifterium die Erläuterung erfolgt, das dieſe Kura—

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torien nur zu ſolchen Maßnahmen greifen bürfen, die uns mittelbar im gegebenen Moment zur Verringerung ber Trunffucht beitragen; Maßnahmen aber, die nur mit größerer ober geringerer Wahrſcheinlichkeit in der Zufunft eine ſolche Wirkung haben können, gehören nicht in das Programm ber Ruratorien. (Rurl. Gouv.-Btg.)

10. Nov. Die Kurländiſche Gouvernementsregierung macht in der „Kurt. Goub.-Ztg.“ befannt, daß den Wirten von Krons⸗ gefinden durch das Onadenmanifeft vom 11. Auguft c. nur die bis zum 1. Januar 1904 angelaufenen Rückſtände ber Auskaufszahlungen erlaſſen worden find und zwar nur dann, wenn fie bis zum 30. Juli 1904 noch nicht bezahlt waren.

Diele Bekanntmachung iſt dadurch veranlaßt worden, duß viele Wirte fih unter Berufung auf das Manifeft weigern, die Ausfaufszahlungen für das 1. Halbjahr 1904 zu leiften. Es will eben den Bauern nicht einleudhten, ba nur den ſchlechten und ſäumigen Zahlern durch das Manifeſt Vorteile zugewandt werben.

11. Nov. Der Verkehr auf der nenerbauten über Mitau führen. den Strede Tuckum⸗Kreutzburg der Moskau-Windau-Rybinsker Bahn wird eröffnet und damit Die direfte Linie Mosfaus Windau.

12. Nov. Reval. Der neue eſtländiſche Generalſuperintendent D. Lemm trifft nad) erfolgter obrigkeitlicher Beſtätigung in Neval ein und übernimmt die Amtogeſchäfte. Die feierliche Introduktion findet am 12. Dezember in ber Nitter- und Domfirde jtatt. Zu ber am 16. Nov. beginnenden Herbit- juribif des eſtländiſchen Konſiſtoriums melden ſich nad) längerer Zeit wieder einmal zwei Kandidaten zum Konſiſtorialexamen.

12. Nov. Gine betrübenbe Erſcheinung nennt das eftnifde Blatt „Uudifed“ von ihrem fogialpolitiichen Gtandpunft aus die Tatlace, dab der Nationalitätenhaber aud ſchon in den Schulen unfrer Univerfitätsftadt ſich gu einer brennenden Frage entwidle: „Sogar die Zöglinge der unteren Alafien, obgleich ihnen der Begriff der Rationalität kaum aufgegangen jein Tann, berichten mit grobem Eifer, wieviel Giten, Rufen oder Deutiche fie in der Mafie Haben, wie ſioig und feindlich fie fid, gegenüberftehen, mit welchen Schimpfuamen jie ſich gegenfeitig ber denten ı. Wenn es jo weiter geht und Die kleinen Rationaliften einmal grob werden, jo wird der Nationalitätenitreit wohl alle übrigen Fragen

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Baltife Chronik 190478.

zu Grabe tragen. Anſtatt dieſen Drang in vernünftiger Weile zu mäßigen, ſcheinen einige Lehrer ſich aftiv an der Sache zu beteiligen, moburd) die Rinder nur noch mehr aufgereigt werben. Es ift nicht gut, wenn ſchon das Kind auf der Schulbanf im Näciten nicht einfach den Menfcyen, fondern den Angehörigen eines andern Bolfstums erbliden lernt. Wenn bei den Eiten noch vor kurzem bie Berleugnung ber eigenen Herkunft eine Alliagsſache war, während jet an Stelle befien das Prunfen mit feiner Abftammung tritt, fo beweilt das ein mangelhaftes Veritändnis für die Grenzen des nationalen Ber wußtfein®. . .“ In den Ländern mit mehrfach gemiſchter Benöl- ferung iſt allzu febhafte® Rationafitätsbemußtjein mie ein böfer Geiſt, der Feindſchaft fät und feinen Frieden walten läht. Dft disfutiert und tampft man in Bagatellen, mährend der gemeinfame Feind ber Strei- tenden mittlerweile feine bejonderen Biele ungeftört verfolgen kann. (Ro. 319.)

Auch wer den Nationalitätsbegrifi höher ftellt, al das eſtniſche Blatt mit feinem internationalen Standpunkt, wird die Berechtigung feiner Ausführungen anerfennen müffen.

15. Nov. Reval. Der ritterfchaftlihe Ausſchuß hat bie ber

Nitterfchaft gehörenden Gebäude ber früheren Poltitationen Runafer in Harrien und Söttfüll in der Wied als Ver pflegungsftationen für die Aufnahme verwundeter und kranker Krieger zur Verfügung geitellt.

18. Nov. Libau. Die Stadtverorbnetenverfammlung beichließt auf

Antrag des Stabtverorbneten Dreyersborff beim Dirigierenden Senat Beſchwerde zu führen über die Verfügung der kur— länbijchen Gouvernementsbehörde für ftädtifche Angelegenheiten vom 7. Nov. c. sub Nr. 44, durch welde das Verfahren gegen das ehemalige Stabthaupt 9. Adolphi in Sachen ber Eröffnung eines Kontos ber „Libau-Hafenpother-Eifenbahn“ eingeftellt worden iſt. Es hanbelt fi in der Sache weſent⸗ fi darum, ob Abolphi dafür zu belangen fei, daß er als Stadthaupt dem -Eijenbahnunternehmen, deilen Nupen für die Stabt von der Stadtverorbnetenverfammlung bereits an» erfannt worden war, vor ber offiziellen Beftätigung einen Kredit auf die Stadtkaſſe eröffnet Hatte. Die Gouvernements- behörbe, ber das Material zur Prüfung überwieſen worden war (Balt. Chr. 1903 Febr. 20), hat das Verfahren ein- geitellt, da, aud) wenn eine Kompetenzüberſchreitung Adolphis vorliegen jollte, eine Verfolgung derjelben durch ein in: zwiſchen erichienenes Gnadenmanifeſt niedergeſchlagen werde.

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Die Gefdäftsleitung Abolphis in Sachen der Straßenbahn, bie gleichfalls zur Prüfung vorgejtellt worden war, hat Die Souvernementsbehörbe in Ordnung befunden.

In der Stadtverordnetenverjammlung vertritt ber St. V. Dreyersborff den Standpunkt, das jeder, ber für die Ueber: gabe des Materials an die Gouvernementsbehörde geſtimmt habe, ſich nunmehr logiſcherweiſe für die Beſchwerde über fie entſcheiden müſſe. Der St.V. Hejmowsfi befämpft die Bejchwerbeführung Schon aus formellen Gründen: nad) Art. 85 der Städteverordnung darf die Stadtverordneten- verfammlung nur über ſolche Entideidungen der Gouver: nementsbehörde beim Senat Beſchwerde führen, durd bie ein Beſchluß der Stadtverorbnetenverjammlung als ungejeps lich aufgehoben worden ift. Im gegebenen Falle hat nun die Gouvernementsbehörbe feinen Beſchluß ber Verſammlung aufgehoben, jondern im Gegentheil der von der Verſammlung erfolgten Anregung zur Prüfung der Angelegenheit entſprochen. Mehr als die Anregung ftehe der Stabtverordnetenver: ſammlung in diefer Sache nicht zu, da die Entfcheidung über bie effeftive Heranziehung der Stadthäupter zur gerichtliden Verantwortung für Amtsvergehen laut Art. 148 ber Etädte: ordnung ausjchliehlid der Gouvernementsbehörde zukommt.

Der Antrag Dreyersdorif wurde mit 29 gegen 13 Stimmen angenommen.

19. Nov. Neval. Der Dirigierende Senat trifft die endgiltige Entſcheidung in der Nevaler Gottesfaftenfrage. Der Nevaler Nat hatte am 5. Dezember 1877 beſchloſſen aus .dem in feiner Verwaltung befindlichen „Gottesfajten“ die Güter Iohannishof und Kautel und ein Kapital von 48,300 Rbl. zum Velten der Revaler ſtädtiſchen Kirchen, der St. Nitolaiz, St. Dlai, St. Johannis, St. Michaelis und der Heiligen: geiſt Kirche auszufchreiben und diefen Kirchen als Eigentum zu übergeben, indeſſen die Güter Nehhat, Fäht und Roitjärw als jrädtiihes Eigentum anzuerfennen, da der „Gottesfaften“ auch zu Schul: und Wohltätigfeitszweden bejtimmt war. Diefer Beſchluß wurde jedoch vom eſtländiſchen Gouverneur und vom Minifter des Innern aufgehoben, weil das ger

Baltiihe Chronik 1904/56.

famte DBermögen bes „Gotteskaſtens“ jtäbtiiches Eigentum und nicht zu firhlihen Zweden verwendbar wäre.

Die genannten fünf Revaler Kirchen flagten gegen die Stadt, die jo Eigentümerin des Gottesfaftens geworden war, auf Herausgabe bes ihnen zufommenden Teils am „Gotteslaſten“ beim ejtländiihen Oberlandesgericht, bei dem auch die Nevaler katholiſche St. Petri-Pauli-Kirhe uner- marteterweife Aniprüche auf einen Teil des Gotteskaſtens geltend machte. Das Oberlandesgericht entichieb am 2. No. 1889 dahin, daß die genannten Güter mit Ausnahme von Koitjärw und eines Teils von Fäht den Kirchen zu über: geben, die Kupitalien des „Gotteskaſtens“ aber und das Gut Koitjärm nebit jenem Teile von Fäht ber Stadt zu ber laſſen feien und es außerbem legterer anheimzujtellen jei, von dem Kirchen aus ben Einnahmen ber ihnen übergebenen Güter einen Erfag zu verlangen zu Gunſien der ſtädtiſchen Wohltätigfeitsanftalten, joweit deren Ausgaben nadıweisbar aus ben Einnahmen der Güter bejtritten worben waren; zugleich wurden die Anſprüche der fatholijhen St. Petri: Pauli⸗Kirche abgemiejen.

Gegen biefe Entfcheidung appellierten an den Senat: die Stadt Neval, die lutheriſchen Nevaler Kirchen, die fatholifhe St. Petri-Pauli-Kirhe und der Profureur bes Revaler Bezirfsgerichts, der als Nachfolger des früheren Gouvernementsprofureurs bie Zuerfennung bes gefammten „Öottestajten“:Vermögens an bie Stadt verlangte.

Die am 19. Nov. c. erfolgte Senatsentiheidung be fteht nun in folgendem :

Der Proteſt des Profureurs wird ohne Folgen gelaſſen, und ebenfo iſt die Klage ber katholiſchen St.Betri-Paulie Kirche abgewieien worden. Im übrigen find die Güter Johannishof, Kautel und ein Teil des Gutes Füht (ent: ipredjend dem früheren Dorf Hirwen), ebenjo aud bie Rapitalien und außerbem uoch breiunbfiebgig tädtifhe Grund: sinsbefiglichfeiten als „gemeinjames Eigentum“ der Stabt Neval einerfeits und der St. Nikolai, St. Dlai:, St. Michaelis-- St. Johannis und der Heiligengeiſt-Kirche andererfeits anerkannt worden, die Güter Koitjärw, Nehhat

Baltife Chronit 1904/6, 5

und der übrige Teil bes Gutes Fäht aber als aueichlehliches Eigentum der Stabt Reval.

Die Entfheidung ber Frage im Senat ift alfo im Weſentlichen ebenjo ausgefallen wie bie bes Revaler Rats und dadurch die von ber Aominiftration verfudhte Beraubung ber Intherijchen Revaler Kirchen verhindert worben.

20. Nov. Die Ernennung bes Direftors des Deparlements für birefte Steuern im Finanzminifterium mirfl. Staaterats Coutler zum Kollegen bes WMinifters bes Innern wird publiziert.

20. Nov. Dem „Baltijas Weftnefis" ift biefer Tage ein er- meitertes Programm beftäligt worden, bas ihm wieder die Möglichfeit, Leitartifel und Feuilfetons zu bringen, gemährt, bie ihm feit dem Dezember 1903 genommen war. (Balt. Chr. 1903 Dez. 27.)

Das Blatt danfı den Leſern, bie ihm trogdem freu geblieben waren, und fleift fofort die Alinge gegen die „Rigas Amife” :

„Bugleih mit uns wurde aud) einer andern Zeitung („Deenas Lapa*) bie Feder aus der Hand genommen und die allein verbliebene tonnte mit jchlecht verhehlter Genugluung verfündigen, daß fie nun bie einzige fei, die größere Nechte behalten Habe und daß fie demgemäß um fo eifriger den Leiten den „rechten Weg“ weilen werde. Mit bewunderns⸗ merter Ronfequeng blieben jedoch die Zelten taub ſolchen Hinweifungen gegenüber.”

21. Nov. Die Petersburger vereibigten Rechtsanwälte improvifieren, da ihnen das Gerichtögebäude zu diefem Zwect verweigert wird, im Stadthaufe eine Verſammlung anläßlich des 40jährigen Beſtehens der Gerichtsinftitutionen Kaifer Alexander II. und ſaſſen eine ſehr weitgehende Reſoimon, die ſich mit den gefamten inneren Verhäliniſſen Rußlands befchäftigt.

22.Nov. Niga. Die Stabtverorbnetenverfammlung beftätigt einen Vertrag mit dem Runftverein, durch ben fie dem Runftverein gewiſſe Räume für Vereinszwecke und die Ausjtellungsjäle im nenerbauten Runjtmufeumsgebäude auf 10 Jahre über- läßt, während der Verein fich verpflichtet, feine Kunſtſchätze mit ben Sammlungen ber Stabt gemeinfam im Muſeum aufzuftellen und Austellungen und Vorträge zur Hebung bes Runftverjländniffes zu veranjtalten. Die Verfammlung beichließt, daß die Stadtverorbnetenwahlen im nächſten Jahre vom 13.—-18. März vollzogen werben jollen. Die Vers ſammlung beichließt ferner eine Beſchwerde beim Senat

ss ZBaltide Chronit 19045.

megen Eigenmãchtigleit bes Militärreiforts bei ‘Bauten in dem inneren Teil der Stadt Niga. Das Militärreffort hatte nãmlich zwei ihm gehörige alte Speicher im inneren Stadt: teil an Privatperfonen (Mendel, Blumes) verpachtet und in den Jahren 1903 und 1904 von dieſen zu Geichäftshäufern umbauen laffen, nad ‘Plänen, die von der Wilnaer Militär⸗ Ingenieurdiſtanz beftätigt, den Hiefigen Bauaufſichtobehörden aber nicht vorgelegt worden waren. Da die Bauten ben Anfprüchen der ftäbtiihen Bauordnung in bezug auf Feuer: ficherheit offenbar nicht entſprachen, erfuchte das Stadtamt bie Gouvernementsobrigkeit, zu veranlajien, daß die betr. Pläne der Stadtverwaltung vorgeftellt würden. Diefes Er- ſuchen wurde abſchlägig beſchieden, nachdem das bautechniſche Komitee des Miniſteriums des Innern, anſtatt die Inlereſſen der Kommune zu vertreten, bahin refolviert hatte, dab dem Militärreſſort nad) $ 146 des Militärgeſetzbuches bie alleinige Kontrolle über Vauten auf feinem Grunde zufiche. Der & 146 fagt aber ausdrüdlich in vier Punkten, welche Bauten auf Grundftüden des Militärrefforts bloß der Veftätigung durch dieſes Reſſort bedürfen, und ba das lauter ſpeziell militärische (Feitungen, Kaſernen) find, jo iſt Mar, daß bie übrigen der Kontrolle der örtlichen Baupolizei unterliegen. Die StV. V. beſchließt daher einftimmig über die Nefolution des Bautechnifchen Komitees beim Senat Veſchwerde zu führen.

23. Nov. Die Arbeiten für die livländifhe Grunditeuerreform werben biefer Tage von dem „Riſhſkij Weſtnik“ in ebenfo unwahrer wie gehäffiger Weife angegriffen. Er behauptet, daß die Inſtruktion für die Landihägung von dem Landrats- kollegium „im Geifte der Interefien der großen Grundbeſiher und zum offenbaren Nachteil der Kleinen“ entworfen fei, und verherrlicht den Einfluß des früheren Rameralhofspräfiz denten Waffiljew auf die Abänderung der Inftruftion. Nach der abgeänderten Inſtrultion werde jegt die Schägung voll- zogen, aber von Leuten ohne Spezialfenntnifie, und Vertreter der Bauern würden gewöhnlich nicht Hinzugezogen oder zur Rolle ftummer Zuſchauer verurteilt; die Schäßungsarbeiten trügen daher einen „Ipaßhaften“, „komiſchen“, „vaubeville: artigen” Charakter.

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