Die Kin der fehler

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Die UerWer.

Zeitschrift für Einderforschung

Dr. med. J. L. Koch und Ptof. Dr. Iheoi. et phiL Zimmer

herausgaben von

Institutsdirektor J. TrÜper und Rektor Chr. Ufer.

Seohster Jahrgang.

mit 1)eeonderer BerQeksiditigiing '

der pädagogischen Pathologie.

Im Verein mit

Langensalza,

TerUg Ton Hermann Beyer Böhne, 1901.

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Inhalt.

A, Abhandlanygn; Seite

ÜFER, Chk., Über Kindcrspiol nod Kinderspielflachen 1

j'BCHER, O., Der Blinde. Kino physio-psycholofd-sctK; Betrachtung. . . 14 49

PRtyzDTQ, Dr. tK.y Die Kindorsterblii likeit auf dein J^audi) und in der ^tadt . Gl AoAHD, KoNRAi), Ein Schritt vonvarta. Zur Reich^statistik Uber die Kinder-

arl)eit in Deutschhind 64

ZncoLER, K., Unser Erziehungsberuf an Schwachsinnigen 97

EöLL£, K-, Der erste Unterricht bei SchwachBinnigen 101

JoNCKHKERK, ToBiE, Über den Einflufs der MusiI auf die Bewegungen bei

schwachsinnigen Kindern 113

WiKprarRo. Dr. med.. Die Chorea im Kinde?«iItor 145

i>E Viü». Der Bewe^oings- und Darsteiluuj^ätrieb des Kindes und seine Be-

rücksichti^^unf; im rnterrichte . 157

HoFTA, Prof. Dr. Ä., Die medizinisch -pädagogische Behandlung gelähmter

Kinder . " . . 193

FoHNELLi, Prof. N., Getäuschte Erwartungen. Gedanken eines Schulmannes

iiber das Seelenleben der Schüler. Aus dem Italienischen übersetzt von

Prof. P. E. LoRKNZ-Neapel 208 241

3litteilungeat

Ein problematischer Knabe. Von IIkrm.vvn GnfSKWALn 19

Schularbeit und Schulzucht in ihrer Bedeutung hinsichtlich der Kiitstehung von Chorea. Von Dr. med. Oetavius Sturges, Arzt am Westmiuster- Hospital und am Jlnspital für kranke Kinder. In der Übei-setzung mit- geteilt von Dr. med. Wikiikiu ro 22

Tagesordnung für den '\. Verhaiidstag der Hilfsschulen Deutschlands .... 31

Unser Ven-in für Kinderforschnng. Von TjU'i'KR ■^^

Zur Psychologie und Psychopathologie des Losenleniens. Von .]. Ti{ttkk 34 Das LeixMis- und Pefsonalbuch im Dienste der Pädagogik und der Schulhygiene.

Yoü Fr. Fhk.vzf.1 71

Ein neuer Verein für Kinderforschung in Frankreich. Von Ukkh . . . 78 Dritter Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands zu Augsburg am 10., 11.

u l'J. April l'.K)l 78

Ein ai'ztliches Zeugni.s. Von Ukkh j^O

Stoffe des Kinderspiels. Von Emu. Wkukk

Gartfeiib:tu in lTilfs.s< hulen. Von Alwin Scukn-k 1-1

Die Ltnd*-sheil- und Pflege - Anstdt Ucht.springe und ihr Schulgarten. Von

J. Trüpkr 123

Frühreife und ETitartung. Von Lüpwio Crrkkj 129

Norni.'de Schlafzeit der Kinder Von Ukkr 13!^

Der gegeriwiu-tige Stand der Heilerziehung in Italien. Von Ufer. . . . . 132

III- Verltandstag der Hüfsscliulen Deutschlands. Von Hexze . . .134 IVi -JiO

Die Ideale franzosischer Kinder. Von Ufkk 13t^

III. VersainmluDg de.s Allgcm. Deutschen Vereins für Kinderforschung . 140 188

Zur Ent Wickelung der Sprache des Kindes. Von Dr. AVqltiuRT . . . . . I V<>

170097

IV

Inhalt

Sdts

Einige Resultate der KipderforschuDg in den Cbicagoer Schulen. Von Dr.

Maximilian \\ E. Grossmaxx 181 229

Zum Stande der Ikälury.irhun^^ in Italicu. Von Majua Gua^si 18Ö

Bericht Ubor die Vertiaiiunlung des Vereins für Kindurforschung am 2. XL 3. Aogost

1901 in Jena. Von Dr. med. Sthümkyk.h und W. Stlkxvbf.rg . . ZT9 259

in. Schweizerische Konferenz für das Idiotenwcsen. Von H. Gr.\k .... 2^^

Erlals des preufsisohen Ministers der Medizinal- etc. Angelegonhoiten vom

trz lOUl an siiintliche Königliche Kefflerungspnisidenten . . . 237

Haarkranklieiten bei Kindern 2^

Ein KorLschritt in der Lebrerbildtmg. Von üfkr ^77

Gesellschaft zum Schutze anormaler Kinder in Brüssel. Von Stukkxhkho . . 278 Eine internatiunaie Gesellschaft für das Studium der Epilepsie und die Fürsorge

und Behamilung Epileptischer . 279

Znr Attsf ühmng des Fürsorge - Erziehungsgesetzes. Von Trüpeh 280

£rfolge der Rethmgshauserzichung . 281

Ein Ruch für unsere Leser. Von üfer 281

Psychische Ansteckung 281

An unsere Leser im Auslande. Von Ufer 282

C. LItteratar:

Kemsies^ Dr. F., Arbeitehygiene der Schule auf Grund von Erniüdungs-

mesJ^uuge^■ Von Dr. Da_n'k Warth . 37 Manheimer. Dr. Marcel. Ix'S Trouhles mentaux de l'enfanse, Pröcis de Psy-

chiatrie infantile avec les applications pedagogi(iues ed medico- legales . 41

Froinmel, Dr. Otto, Das Frommel - (»edenkwerk. Von Tultkr 43

Laqner. Dr. med. Leopold, Die Hilfsschulen für schwachbefäbigte Kinder. Von

TRt^F.n . 46 86

Bulletin de l'lnatitut psychigue international. Von Tuikmk 89

Demoor. Dr. Jean, Les enfants anormaux et la criminologio. Von Tuif.mf. . . 90

Zur Besprechung eingegangen 9ü^

Holländisch -belgische Arbeiten I. Von A. J. Scurkvokr 141

Straufs, P.. Kinderschutz vor und bei der Geburt. Von Tiüeme 143

Stimpfl, Dr. ■]., Stand der Kinderpsychologie in Europa und Amerika . . . 144

Erdmann, Benno, Die Psychologie des Kindes und die Schule. Vuü II. Grünkwald 189

Stimpfl. Dr. J., Wert, der Kinderpsychologie für den Lehrer 191

SuUy. Prof. Dr., Handbuch der Psychologie für I^hror 191

Janke, Otto, Grundrifs der Schulhygiene. Von Fr. Frenzel 192

Sydow, Paul G. A., Wider den Kindt-rgarten 192

Wintcrmann, Die Hilfsschule in Bremen 192

Zur Besprechung eingegangene Schriften 192

Natorp, Paul, Pädagogische Psychologie in Leitsatzeu zu Vorträj^en. Von

Hk.rmanx Gri nkwali) . . . . . . 238

Cbamberlain. A. F., The Child. A Study in the Evolution of Man. Von Ufer 282

Pieyer, Die Seele des Kindes. Von Ufkr 284

A. Abhandlungen.

1. Über Kinderspiel und KinderspielBaoben.

Vortrag, gehaltoE am ELtenabeiide der GebrOder Beichenbach« Sohuton in

Altenburg den 7. Detember 1900

von

CJu>. Ufer.

Schon TOT langer Zeit soll ein weiser Mann gesagt haben: »Es giebt nichts Neues anter der Sonne«, und dasselbe sagen wir heute mit den weniger schönen Worten: »Alles schon dagewesen.« Wenn das nnn andi nicht immer ganz richtig ist, so gilt es doch von sehr fielen Dingen, und zu diesen gehört ganz sicher das Kinderspiel

Von jeher hat das Kind gespielt Ich kenne ein fast dreihundert Jahre altes Bild,^) auf dem spielende Kinder dargestellt sind. Wenn man es genauer betrachtet, so findet man dieselben Spiele, die man bei den Kindern heute noch tagtB^ch sehen kann. Da giebfs Puppen und Puppenwagen, da werden hölzerne Pferdchen an der Leine g»- föhrt, da sieht man Trommehi, Beifen, Kreisel, Stelzen, Ballschlagen und Kegelschieben : da bückt sich ein Knabe und Ifibt einen andern über sich wegspiingen, da belustigen sich zwei mit dem Aufblasen einer Schweinsblase, andere finden ihr Vergnügen im blo&en Umher^ q^ringen und so fort

Gehen wir noch weiter zurück, so ist die Sache nicht anders. Vor fünfhundert Jahren Tergnügten sich die Knaben mit der Schweins- blase genau so, wie sie es jetzt besonders auf dem Lande tbun, wenn

*) Wiedexgegeben in OwafiBis, Das Spei und die Spiele der Jugend. ntelndirfaU«. YLJaittgaQg. 1

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A. AbbaiidlungeQ.

f^eschlacbtet wird. Fin Prediger aus jener Zeit sagt: »Wenn man eine Sau metzget, so nehmen die bösen Knaben die Blatter (d. i. die Blase), blasen sie auf und tiiun drei oder vier Erbsen darein und machen ein Gerümpel, und ist ilinen die Blatter lieber, denn zwo Seiten Speck.« Eines unserer gebrauchlichsten Spielzeuge, die Kinder- klapper, reicht bis in die ältesten Zeiten zurück, wenn sie früher auch etwas anders ausgesehen hat, als jetzt. In Deutschland kannte man sie schon lange vor Christi Geburt. In Heidengriibern hat man Thonkugeln getiinden, die wie aneinandergewachsene Birnen aus- sehen und inwendig Klappersteinchen enthalten.*) Ebenso spielten viele hundert Jahre vor Christi Geburt im alten Griechenland und Koui die Kinder mit der Klapper. In Peru in Südamerika fand man die uralte einbalsamierte Leiche eines kleineu Kindes. Die Eltern hatten ihrem Liebling eine Klapper mit ins Grab gegeben. Was meinen Sie wohl, wie die aussah? Es war ein Sehneckenhauschen, das kleine Steinchen enthielt, die beim Schütteln ein Uerauscii machten.

Wenn wir in dieser Weise alle Spiele und Spielsachen unserer Kinder durchgehen wollten, so würden wir finden, dals die meisten uralt sind. Bei allen menschlichen Thätigkeiten aber, die so tief in das graue Altertum zurückreichen, handelt es sich nicht um eine Kleinigkeit, und so mufs auch wohl das Spiel der Kinder, dem wir oft vergnügt, bisweilen auch etwas geringschätzig zusehen, und das uns nicht selten lästig wird, eine grol'se Bedeutung haben, einen tiefen Sinn, wie der Dichter sagt. Worin der tiefe Sinn besteht, da-, haben die Gelehrten bis jetzt vielleicht noch nicht gründlich erforscht, aber vieles weifs man schon, und von dem Vielen möchte ich llmeu einiges nütteileu.

Ich möchte jedoch nicht mit den Thätigkeiten des Km Jos be- ginnen, die man gewöhnlich als Spiel bezoielmet, wie etwa mit dem liaudiialien der Puppe bei den Mädchen oder des Steckenpferdes bei den Knaben. Es giebt noch viel einfachere Spiele, uii l die.se werden uns am besten den Weg zeigen, wenn wir die Bedeutung des Spieles verstehen lernen wollen.

Zu den cinfaelieren Spielen, denen sich das Kind frühzeitig hin- giebt, gehört das Hantieren mit der Kinderklapper, wie jede Mutter weifs, aber das eiufachste ist auch dies noch nicht. Lange bevor das

') Geiler voa Kaisersberg. Siehe Zimqkkle, Deutsches Kinderspiel iia Mittelalter.

*) BoomoLz, AleiuiilUfldieB Kinderlfed imd Xiiideiiviei,

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üm: Ül>er Klndexapiel und Kindenptelsaoheu.

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Kind selbst spielen kann, wird von den Anf^ehürif^en mit ihm ge- spielt, und zwar sobald es anfangt zu hören und zu sehen. Icli sage, sobald es anfängt zu hören und zu sehen, denn vom ersteu Tage an kann es dies noch nicht

Das Ohr des Säuglings ist in den ersten Wochen meist noch wie ▼erschlossen, und von allem, was um ihn vorgeht, hört er keinen Laut. Wenn Mk das nim aaoh sehr bald ändert, so hört das kleine Kind doch noch lange nicht so wie wir. Zuweilen läfst schon ein zwei oder drei Tage altes Kind seine Lieblingsbeschäftigung, das Schreien wenn man dicht neben ihm zu pfeifen anfängt, ein Zeichen, dals es das Pfeifen bereits merkt, aber gegen die Worte der Matter, die zu ihm qjnricht, oder gegen das Gerftosch, das man im Zimmer macht, ist es noch tanb, nnd selbst von dem Pfeifen weils es sogar viel später noch nicht, von wem es heirahrt, ja nicht einmal ob es laut oder Idse ist, ob es tot, hintar oder neben ihm, ob es in der Stube, im Nebenzimmer oder auf der Stra&e geschieht Es molk das vollständige Hören erst nach nnd nach lernen, gerade so, wfe es das Gehen lernen mnls, nnd Yater und Mntter, Brüderchen nnd Schwesterchen sind ihm dabei behilflich, ohne dafs sie es meistens selber wissen. Sie merken sehr bald, dals es an allem, was es hOren kann, Irende hat, und nun bringen sie ihm zu Gefellen allerlei Laute, Töne und Geräusche her- vor durch Pfeifen, Sprechen, Singen, Klopfen und ganz besonders durch das Schttttoln der Kinderklapper, die schon ihre Dienste leisten muß, ehe noch die zarten Hlbidchen des Kindes sie zu halten und zu bewegen Tennögen. Je mehr und je häufiger das Kind solche Laute, Töne und Geiäusohe hört, um so besser lernt es hören, nnd bald ▼emimmt es sogar das leise Ticken der Taschenuhr, die ihm der Täter ans Ohr hält, oder es folgt aufmerksam dem Tone der Klingel, der immer schwächer wird und sohlielklich ganz aufhört

Wenn das Kind älter wird, so begnügt es sich nicht mehr mit dem Hörspielen, die andere mit ihm treiben, sondern es sucht selber allerfei Laute und Geräusche hervorzubringen. Sobald es seine eigene Stimme entdeckt hat, zeigt es grolke Freude dsian. Manche Leute, die die Kinder genan beobachtet haben, glauben, diese schrieen oft, um t&chtig schreien zu hören, also zum Vergnügen, und in der That schreit das Kind in der Wiege oder auf dem Scholl der Huttor bis- weilen recht laut, ohne ein schmerzlich bewegtes Gesicht zu machen. Hau kann dieses Schreien für ein behagliches Schreien, für ein Schrei- Spiel halten.^) Boch wollen wir nicht Unger dabei verweilen.

*} OomfatbI, Ebtvidnlniig der Kmdessede. Dontadi von üm.

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4 A. Abbandluiigea,

Siclior ist aImt, dafs die Kinder in ganz anderer Weise mit ihrer Stiuimo spielt-n. Oft lieirt (ia< K'ind gmiz ruhig in der Wiege irnd starrt an die Decke, wahrend seinem Munde allerlei Linte entschlüpfen, die man als Papeln otler Kfüieln hezeichnet. Nicht selten geht das über eine Viertelstunde lang so fort, und wenn man sein Gesicht be- trachtet, so merkt man, wie gut ihm seine Beschäftigung gefällt Bald jauchzt PS-, bald brüllt es, bald zwitschert es, bald kriilit es, bald summt es, bald schmatzt es, bald hält es ganz lange K nl« n, die kein Mensch versteht, nicht einmal es selbst, die aber seinem Ohre wohlthun. Später schüttelt es recht tüchtig die Kinderklapper, wirft sie auch "W'ohl auf den Boden, was wieder ein anderes Geräusch macht: es raschelt mit Papier, patscht in die Hände etc. Wenn man ihm Steinchen oder Holzklötzchen in die Hände giebt, so schlägt es sie zusammen, dafs sie (i Tiiusch machen.

Diese Freude am derausch, am Liirm, setzt sich bis in lio späteren Kmderjuhn- fort, wie jede Mutter weifs. Die Kinder klatsclieii in die Hände, schnappen und trommeln mit den Fingern, trampeln im i wippen mit den FüJsen, schleifen Stöcke im Sande oder auf dti Diele hinter sich her, lassen Thüren knarren, schlagen auf hohle Gegenstände, klirren mit Schlüsseln, klappern mit Tellem, lassen Gläser klingen, Ruten sausen und freuen sich am Geräusch des Zerreüsens und Zerbrechens. *) Dafs die Kinder nur zu gern alles entzwei machen, rührt zwar, wie wir nachher noch sehen werden, nicht allein von der »ende am Geränsch her, aber diese Freude wirkt doch sehr mit, und was die Erwachsenen leicht als Böswilligkeit und Ungezogenheit ansehen, beruht in vielen Fällen wenigstens zum guten Teil auf dem Wohlgetallon am Gehitrspiel. Ich kann hierzu ein Beispiel aus meiner eigenen Erinnerung erzählen. Kino unserer Nachbarinnen, ich war damals etwa vier Jalire alt hatte einen grofsen irdenen T ^pf, der gesprungen war, auf den Hausflur gestellt, von wo er, damit er wieder benützt worden könne, zum Binden abgeholt werden sollte. Ich weifs es noch wie heute, wie ich an den Topf herantrat und zimär hst an ihm klopfte. Aber das Geräusch, das dadurch entstand, genügt ' mir nicht. Doch bald hatte ich einen Erfolg, der meine kühnsten Erwartungen übertraf : ich hüb den Topf in die Höhe und schleuderte ihn mit Macht zu Boden, dafs er in tausend Stücken über die Steinfliesen prasselte. Es gab einen Spektakel, als wenn der Himmel einstürze, viel zu viel für ein blolses Spiel, und ich machte ganz erschreckt, dals ich fort

') Preyer, Seele des Kindes. *) Oiioos, Spiele der Hensoheii.

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Ufer: Über Emderspiei uud Riuderspielsachea.

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kam. Als meine Mutter von dieser Unterhaltung hörte, setzte es noch ein anderes Geräusch ab, das mir aber nicht wie Gehürsspiel vorkam; es war bitterer Ernst. Die hier anwesenden Mütter werden Ahn- üches bei ihren eigenen Kindern beobachtet haben, wenn es ihnen auch vieiieicht nicht so sclilimm ergangen ist wie der Mutter Goetuks, der ihr kleiner Woifgang eines Tages fast das gesamte irdene Küchea- geschiiT ausgeräumt und auf die Strafee geworfen hatte.

Die Lust der Kinder am Geräusch kann dem Ohr der Erwachsenen bisweilen recht lästig werden; selbst wenn nicht gerade eine Trommel bearbeitet wird, versteht man oft kaum sein eigenes Wort. Aber auch der Spektakel hat seinen Nutzen. Das Kind lernt durch diese Art des Spiels immer besser hören, und wenn es den wichtigsten Teil der Lehrzeit durchgemacht hat, wenn es, wie man zu sagen pflegt, aus dem Gröbsten heraus ist, so nimmt die Freude am Lärm wesentlich ab, am meisten bei den Mädchen, sodann aber auch bei den Knaben, 1) und es stellt sich immer mehr das Vergnügen am eigentlich WohlkUngenden, am Musikalischen ein. Doch hört das gröbere Hörspiel niemals vollständig auf. Auch viele Erwachsene Temehmen gern das Knistern und Knattern des Holzfeuers im Ofen, das Krachen des Donners, das Heulen des Sturmes, das Gerassel der türkischen Trommel, das Klirren des Säbels, das Rauschen seidener Kleider und dergleichen. Völlige Stille ist uns auf die Dauer fast ebenso unerträglich wie den Kindern. In dieser Beziehung legen ivir das Kindliche oder Kindische nie völlig ab.

Soviel vom Hörspiel. Ich sagte aber vorhin nicht nur, dafs das £ind anfangs nicht oder doch nicht ordentlich hören könne und dies eist lernen müsse, sondern anch, daCs es nicht zu sehen yl9imöge, wie wir, und wie es eine ganze Menge von Hörspielen giebt, so giebt es auch zahlreiche Sehspiele, die dazu beitragen, dais es snm ordent- lichen Sehen gelangt Ich will in dieser Beziehung nur einen Punkt besonders hervorheben, das ist die Wahrnehmung bewegter Körper.

Sie wissen, dafs das Kind in der ersten Zeit bewegten Gegen- ständen noch nicht mit dem Auge folgen kann. Wenn man ihm in einiger Entfernung eine brennende Lampe gerade gegenfLber hält, so sieht es sie; rückt man sie aber audi nur ein wenig zur Seite, so hat es sie, wie man sagt, aus dem Auge Yerloren und weifs sie nicht wiederzufinden. Aber allmählich lernt es, einen Körper, der sich langsam bewegt, im Auge behalten, und es hat daran seine Eceude. Die Mütter tragen ihre Kleinen zum Spiel wohl Tor die Stubenuhr,

') Mom», Die Satwiokeluiig dea sozialeii Bowu&teeiaa des Kinder.

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A. Abhandlangen.

und es folf^ dann bald mit aufmerksamem Blicke der lanj^^samen Hin- und Herbeweg:uni? der glänzenden Pendelseheibe, indem es da- bei nmntere Geban]* n tniicht und vergmüf^liche Laute iuis<tr»rvt. Der Vater bereitet dem Kinde niclit fj:eringe Freude dadurch, dals er beim Hauchen kleine Dampfwölkcheu aufsteigen läfst, und wenn er es gar noch versteht, hübsche Ringel zu blasen, so mnfs er das Spiel öfter wiederholen als ihm selber lieb ist Auch am IIani])olmann gefallen dem Kinde ganz besonders die langsamen Bewegungen, die man ihn marlien läfst, und bei der Kinderklapper, die man ihm vorhält, ist (larchans nicht das Geräusch allein, das ihm Vergnügen bereitet, sondern auch das Hin und Her macht ihm Fit udo.

Bald aber ist ihis Kind mit den Bewegungen, die man ihm zeigt, nicht mehr zulrn il^m, sondern es bringt selber welche hervor. Es handhabt selbst Kinderklapper, zieht selbst am Hampelmann, ver- leiht in einem unbewachten Augenblicke auch wohl dem Pendel der Stubenuhr eine schutliere Gangait und beschleunigt den Lauf der Zeiger. Alles, was sich bewegt, soll sich noch .schneller bewegen, und was unbeweglich ist, wird, wenn irgend möglich, beweglich ge- macht, selbst wenn es darüber in Stücke geht. Auch in diesen St'hspielen haben wir wieder eine Ursache der Zerstürungssucht, über die bei den Kindern so häufig geklagt wird. Selbst manche Tier(piälereien gehören hierher. Ich erwähne nur das Spiel mit dem Maikäfer, dem man einen Faden ans Bein bindet, ihn dann, wenn er nicht gleich fliegen will, durch ein bekanntes Liedcheu zum Fliegen auffordert, ihn wieder zurückzieht und alsdauu von neuem fliegen läfst. Ein derartiges Spiel mit Tieren scheint überall getrieben zu werden, wo Kinder sind. So sah ein lieisender in Brasilien zwei eingeborene Knaben, von denen der eine eine Biene, der andere einen Schmetterling an einem Faden flattern liefs.») Das Spiel ist aber auch .sciion sehr alt Der vorhin erwähnte Prediger beschreibt es so: Wenn ein Knab ein Spätzlin gefacht, so l)indt er es an einen Faden etwan ein Arms lang oder zweier, und läfst das Spüty.lin fliegen und behält den Faden in der Hand; so fleugt es auf und meint, es woll hinweg, so zeucht der Knab den Faden zu ihm, so fällt das Spätzlin wieder ab.* ') Bei den alten Griechen band man den Gold- käfer an einen drei Ellen langen Faden, befestigte auch wohl ein Stückchen Holz an seinen Füfsen und zog ihn nun unbarmherzig in der Luft umher.

*) Groo.s, Spiele der Menschen.

*) RocimoLZ, Alemaniüscbes Kiudeilied und KiuUerspiäl.

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Urb: Über Kimleniai«! und RipdeiqpwlBacben.

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Dafs die Kinder an den Sehspielen grofees Vergnügen haben, dürfte schon durch die wenigen Beispiele, die ich anführen konnte, bewiesen sein, dafs es aber, wenngleicli in viel geringerm Grade, auch noch bei Erwachsenen so ist, liifst sich ebenso leicht darthun. Wer von uns hatte sicli beispielsweise nicht schon dabei ertappt, als er die Quaste eines Fenstervorhangs hin- und herschwingen liefs? Wer hätte niclit schon mit Vergnüf^en den Rauchwölkchen zugesehen, die von der Zigarre aufsteigen? Wer jemals in einem Seebade ge- wesen ist, der hat unfehlbar bemerkt, dafs ernste, nicht selten alters- graue Männer Viertelstunden damit zubriugen. aus der hohlen Hand Sand zur Erde riüiiou zu lassen oder das Spiel der Meereswogen zu beobachten, wie denn auch der »Wanderer in der Sägeniühle« dem Räderspiele und den herabstürzenden Wassern zusah. Wer von Alten- burg nach Bei im in die Friedrichsti'afse oder unter die Linden, ja schon nach Leipzig auf den August usplatz koaiiiit. kann sich eine Zeillang un dem Durcheinander der Menschen und Fuhrwerke nicht satt sehen. Der Tauz Jbt nicht nur für denjenigen interessant, der dabei beteiligt ist sondern auch für den, der freiwillig den Zuschauer macht. Hier wirkt allerdings aucli noch das Hürsj)iel mit; man sieht die Bewegungen und hört gleichzeitig die Musik und die schleifenden Ti itt*' Eiii besondei.-> luibsches Beispiel von Hör- und Sehspiel haben wir am Schuhplattler, bei dem nicht blofs getanzt uud gespielt, son- dern auch gejauchzt, gestam})ft und geklatscht wird. Wenn die Kinder ihn sehen, so sind sie aufser sich vor Vergnügen, aber auch den Erwachsenen ergötzt er ungemein, nicht blofs bei uns, wo er etwas Seltenes ist, sondern auch in den Alpendörfern, wo man ihn sehr häufig sieht

Kun giebt es aber auch bei Kindern wie bei Erwachsenen Spiele, bei denen nicht oder doch nicht allein das Huren und Sehen Freude macht, sondern bei denen in hohem Mafse oder ganz allein das körperliche tiefühl beteiligt ist, und die wir deshalb Gefühlsüpiele nennen können.

Em auierikanisches Kind (Laura Bridoman) war blind und taub, brachte aber doch allerlei Laute hervor, gerade wie ich es vt)rhin bei andern Kindern beschrieben habe. Hören konnte sie davon nichts, aber die Bewegungen des Kehlkopfs, der Zunge, der Lippen und der Kinnbacken thaten ihr wohl. Das l'apeln, Brüllen, Jauchzen und Krähen unserer Kleinen ist also wenigstens zum grofsen Teil auch ein Gefühlsspiel. Indem sich das Kind ihm hingiebt, werden die Sprach Werkzeuge gelenkig und geschickt gemacht, und auf diese Weise lernt es besser das Sprechen. Aber auch wenn es sprechen

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A. Abhanfflmigen.

kamif hören diese Spiele nicht ganz aal Sie wissen alle, mit welchem Eifer sich die Kinder noch später in schwer anasusprecdienden Sätzen und Wörtern äben, z. B. »seohsimdseoh2dg Schock sächsische Schub- zwe<^n« oder >Der Kutscher patzt den Postkatschkasten«, und wie ich gehört hahe, soll sich selbst mancher Erwachsene ni<^ wenig daräber freuen, wenn er bisweilen noch »Lerchelchenc sagen kann!

Auch der Elapper bedient sich das Kind durohaas nicht nur zu HÖr^ und Sehspielen; es steckt sie gern in den Mund und beifet darauf, und zwar nicht blofe zu der Zeit, wenn die Zähnohen kommen wollen und das Zahnfleisch juckt, sondern auch sonst Zum Kauen ist daher auf manchen Klappern ein St&(^<dien weiches Holz an- gebracht Das Gefühl des Knabbers thut dem Kinde in den Kinn- backen wohl und hieran liegt es zum Teil, dals die knusprige Brot- rinde bei ihm so beliebt ist Aus diesem Grunde stecken auch die Kinder später noch manches in den Mund, was gar keinen Geschmack hat, und beifsen darauf. Das kann sogar zur grolaen Unart werden, z. B. wenn sie Gummi kauen oder die Fingernägel abbei&en. Es ist sonderbar, aber es lä&t sich nicht bestreiten, dafe sich auch diese Kauspiele noch bei den Erwachsenen finden. In RuDsland hat ein Beisender beobachet, daTs im Sommer auf den Stra&en Kerne von Sonnenblumen massenhaft feilgehalten werden. Kinder, sowie arme Ijcute, die nicht Tiele Genüsse haben, beifsen diese Kömer mit den Schneidezähnen auf und kauen ununterbrochen das nach gar nichts schmeckende Mark. Überall auf der Stra&e und in allen Ecken liegen die Halsen der Kerne herum, wie in und um unsere Schulen das F^hstückspapier und die Obstreste, falls nichts streng auf Bein- licbkeit gehalten wird. Doch brauchen wir gar nicht nach Buls- land zu gehen, wenn wir derartiges beobachten wollen* Das Kauen am Federhalter oder an der Heifenspitze und am Zigarrenrohr, das bei vielen Erwachsenen eine starke Gewohnheit ist, bedeutet gleich- falls ein Spiel der Kinnbacken.

Bei andern Bewegungsspielen, die viel weniger gesehen und ge- hört, als gefühlt werden, bedient sich das Kind der Beine und Arme. Wenn es noch klein ist und in der Wiege oder auf dem Teppich in der Stube liegt oder auf dem Scho&e der Mutter sitzt, so strampelt es vergnüglich. Bald fängt es an zu rutschen und zu kriechen, sich aufzurichten und die ersten Gehversuche zu machen. Wenn es noch älter wird, so sucht es für seine Geh- und Kriechspiele mit Yorliebe die Treppen aul Ein liebenswürdiger Mann, der die Kinder genau

*) JciBS Lbobab. Angefühlt bd Oboos, Spiele der Henachen.

Ufer: Über Kinderspiel and KInderspielsaoheiL

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kannte, hat gesagt, ein paar Stufen rückwärts hiuabzukriechen oder eine Treppe auf allen vieren zu erklimmen, sei (ieiii Kinde ebenso lieb, wie manchen forsclien Heitern das Übersetzen über Hecken und Gräben, freilich auch ebenso gefährlich.*) Auch die Schulkinder klettern noch sehr gern. Wer davon ein gutes Prübchen haben will, der braucht blols kurz bevor die Thüren geöffnet werden, an der Roichenbach- Schule vorbeizugehen, und er wird bemerken, wie Knaben sowohl als auch iladchen an dem Gitter herumklottem , ohne jeden Zweck, nur weil ihnen die Thätigkeit der Arme und Beine Vergnügen macht Als kürzlich vor dem Haupteingange die Strafse aufgerissen war, er- stiegen die Blinder fast mit Leidenschaft die aufgeschütteten Erd- haufen, sprangen in den Graben hinab, kiociien wieder heraus und stiegen auf den zum Übergang dienenden wackeligen Brettern hinnn. Es wollte wenig helfen, dafs wir dieses Treiben verboten; wir niufsten, um Unfälle zu vermeiden, den Ein- und Ausgang nach der Lindeuau- strafse verlegen, und gleichwohl übten die Erdhaufen auf einzelne eine so grol'se Anziehungskraft, dafs diese nun um die Schule herum und doch in die Friedriclistralse gingen. Einmal begegnete ich einem kleinen Knaben, der die Schule noch nicht besuclite. Mit grofsem Wühl^cialli Ii knetete er in dem nassen Lrlim iierurn, obwohl er die Beinchen kaum loabringen komue. Als ich ihm das verwies, machte er zuerst ein etwas venv und ertes Gesicht knetete aber da;iii niliig weiter.

Ich könnte noch stundenlang reden, wenn ich diu zahireicheu Bewegungsspiele, bei denen Beine und Füfse, Arme und Hiinde be- teiligt sind, alle aufzählen und beschreiben wollte. Mein Vortrag würde noch viel länger werden, weiui ich ausführen wollte, wie die Kinder in spielender Weise an allem herumfühlen und alles mit den Fingerspitzen, ja mit den Lippen prüfen. Ich will das nicht thun, aber darauf muLs ich doch ganz ausdrücklich hinweisen , dafs alle diese oft nicht ungefährlichen Spiele dem Kinde dazu dienen, dafs es seine Glieder immer besser gebrauchen lernt

Nehmen wir hinzu, was ich vorhin über den Nutzen der Hör- und Sehspiele gesagt habe, so ergiebt sich, dafs das Kind vielleicht überhaupt nicht, sicher aber erst viel später werden würde, was es wird, wenn ihm das reichliche Mals spielender Thätigkeiten fehlte.

Der Men.«^h, der in seiner späteren Ausbildung alle anderen lebenden Wesen, auch die befähigtesten weit übertrifft, ist in der ersten Zeit das hilfloseste Geschöpf, das man sich denken kann. Das junge Hühnchen, das eben aus dem £i gekrochen ist, kann schon laufen,

*) Bmnmot Kind und IVelt Aiug. von Vwtk,

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A. Abhaadlmigtti.

und wenn man es auf Sand setzt, so scharrt es bereits wie ein ausgewachsenes HobxL Der Mensch maJb das Gehen, überhaupt den Oebraoefa seiner Beine ganz allmählich lernen. Bas Hühnchen bemerkt bereits in den ersten Lebenstagen mit grol^r Qenauig- keit anf d&m Erdboden das Sdmlein oder das kriediende Insekt und weils es mit unfehlbarer Sicherheit anzupicken. Der Mensch sieht anfangs weder die einzelnen Dinge deutlich, noch Teimsg er sie zu greifen, auch wenn sie ihm nahe genug sind. Er mufe diese und andere Fähigkeiten nach und nadi erwerben, und zu dem Zwecke hat der Schöpfer ihm eine viel längere Jugendzelt verliehen sls den Tieren, selbst denjenigen, die am höchsten stehen, und einen greisen Teil der Jugendz^t, vom Kindesalter sicher den größten, nimmt das Spiel in Anspruch, indem es den Menschen für das spätere Leben, für die Zeit der Arbeit yorbereitet

Eben weil die Arbeitsthätigkeit des erwachsenen Menschen eine Tiel nmfsngreichere und veEBohiedenartigere ist als die Thitigkeit der erwachsenen Tiere, unsere Uflgsten Haustiere nicht ausgenommen, deshalb hat er auch eine grölsere Torbereitnngszeit nötig, und eben des- halb sind auch schon die Spiele der jungen Menschen viel mannig- faltiger als die Spiele der jungen Tiere. Das kleine Kätzchen spielt ja auch, und sein Spiel ist ebenfalls auf die künftige Th&tigkeit ge- richtet Es spielt mit dem Zwimsknäuel oder mit einer am Boden roUenden Kartoffel, wie es spater die Mfinse erhascht, aber was ist die einfache und einförmige Belustigung des Kätzchens oder Hünd- chens gegenüber der gro&en Menge von spielenden Thäti^eiten, die wir beim Kinde schon erwähnt haben! Und doch bilden diese nur einen sehr geringen Teil, sozusagen das Abc des Kinderspiels. Dieses wtirde uns noch bedeutend umfangreicher und mannigfaltiger er- scheinen, wenn wir auch alle die einzehien höheren Fähigkeiten des Kindes mit Bezug auf das Spiel betrachten könnten, was aber heute ganz unmöglich ist Ich will nur zwei derselben herausgreifen, und selbst diese kann ich blofe andeutungsweise behandein.

Die eine Fähi^^eit habe ich in meinem Yortrage vor zwei Jahren schon einmal erwähnt Ich sagte damals: »Das Kind hat die Neigung, nachzumachen, was es an andern, namentlich an Erwachsenen sieht Die Mutter hält das Kind auf dem Schofse und nickt ihm zu; es nickt gern wieder. Sie macht eine Bewegung mit der Hand gegen sein Gesicht; es versucht dasselbe gegen die Mutter. Sie bläst ihm ins Gesicht; es bemüht sich, auch zu blasen, Sie spricht ihm ein Wort oder einen Laut vor; es ahmt das Gesprochene, so gut es kann, nach. Wenn es älter wird, thut es wie der Vater, der die Zeitung

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Ufer: Über Kinderspiel and Kinderspielsachen.

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liest, setzt es des Vaters Hut auf, nimmt es den Stock wie der Vater, wenn er ausgehen will.« In diesen Beispielen haben wir aber wiederum nur die Anfänge, das Abc des Nachahmespiels. £8 dürfte kaum eine emsthafte Beschäftigung der Erwachsenen geben, auf die die spielende Nachahmung der Kinder nicht verfiele. Die Knaben machen dabei mit Vorliebe die Thätigkeit der Männer nach, z. B. die verschiedenen Handwerke, Jagd- und Soldaten wesen ; die Mädchen hingegen folgen in ihren Spielen meistens der Mutter bei ihrer Beschäftigung im Hause, beim Kochen und bei der Kinderpflege. Die Beispiele hier- für sind so zahlreich und 80 bekannt, daC» ich keine besonders an- zuführen brauche.

Einzelne derartige Spiele versetzen tms in längst vergangene Zeiten zurück, i) Wenn die Knaben gegenwärtig mit Schleuder, Pfeil und Bogen spielen, so erinnern sie uns an die Zeit, wo es noch kein Schiefspulver und keine Gewehre gab, und wo sich die Erwachsenen jener Dinge als Waffen bedienen mufeten. Die damals lebenden Kinder ahmten das nach und haben es auf die nachfolgenden Kinder- geschlechter vererbt, und unsere Zeit wird es weiter vererben, bis es vielleicht erst nach vielen Jahrhunderten ganz verschwindet gleich einem wertvollen Erbstück, das von Familie zu Familie aufbewahrt wird, bis es endlich doch za Grunde ^eht Oder sollten etwa die genannten Spiele vegen ihrer Einfachheit immer wieder von den Kindern aufs neue eifondra werden?

Bei den Nachahmungsspielen handelt es sich aber in den meisten Fällen nicht um blolse Nachahmung, sondern das Kind versetzt sich wirklich in die Rolle dessen, den es nachahmt, und damit kommen wir zu der andern Fähigkeit, die ich noch erwähnen wollte, nämlich zur Einbildungskraft oder Phantasie.

Dem kleinen Jungen, der am Sedantag oder zu Weihnachten mit Helm und Degen einherschreitet, «eht man es an, dafs er nicht nur wie ein Soldat thut, sondern sich auch als ein solcher fühlt Eine derartige Einbildung ist den Kindern so lieb, dafs sie sich gar nicht gern darin stören lassen Ein kleiner Schwabe, der Louis hiefs, spielte gern Hund« kroch auf allen vieren umher, leckte die Hand u. s. w. Als man ihn wShrend des Spiels beim Namen nannte, rief er ganz unwillig in seiner schwäbischen Sprache: tSag doch nit Louis, ich bin ja e Hundle!«^)

Bei den Mädchen ist die Einbildungskraft wohl am stärksten

') RociflioLz, Alemannisches Kinderlied und Kindftispidi, *) HxTTSbDEB, Die Kindheit des MensoheDu

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A. AbhaiidiiDgen.

beim l'uppenspiel beteilijj,! Sie üben mit ganzer Seele ihre Mntter- pflichtcn aus. Da wird geliebkost, gestraft, uns- und angezogen, ge- waschen, gekännut, gefüttert und sogar für eine zeitige Verlobung Sorge getragen. ^) Am rührendsten ist die Krankenpflege. Nicht selten nimmt sich das Kind die vermeintliche Krankheit der Puppe so zu Herzen, dafs es selbst beinahe krank wird und weder ruhig schlafen, noch ordentlich essen kann.

Und was weifs das Kind alles zur Puppe zu machen ! Es ist ein grofser und auch schädlicher Irrtum, wenn man meint, eine Puppe, die dem Kinde gefallen solle, müsse beinahe so grofs sein wie es selbst und gekleidet sein wie eine Modedame ersten Ranges. Es kommt viel weniger darauf an, wie die Puppe aussieht, als auf das, was sich das Kind bei ihr hinzudenken kann. Zwei amerikanische Gelehrte haben eine grolse Untersachung daiHber angestellt , was alles als Puppe benatzt wird, nnd fanden dabei unter anderen Dingen auch Kissen, Stöcke, Flaschen, Besen, Stiefelknedito und dergleich^.^ Die Mütter sollten das wohl bedenken. Sie branohen ihrem Töchtereben za Weihnachten ja nicht gerade einen Stiefelknecht zu schenken; sie mögen ihm immeihin eine wi^dte Pappe geben, aber doch ^ne solche, mit der ea wirklich etwas anfangen nnd bei der es etwas hinzudenken kann, sonst können sie es leicht erleben, dAls die neue Hodedame sehr bald in die Schublade gethan und eine alte Puppe herrorgesueht wird, der Tielieioht längst Kopf und Glieder fehlen.*)

ünd was ron der Pappe gilt, das gilt auch Ton allen anderen Spielsachen, mögen sie nun für Knaben oder für Mfidehen bestimmt sein. Solche, die so pifiobtig sind, dalk man sie nicht anfassen darf, oder die schon entzwei geh«i, wenn man sie schief ansieht, haben für die Kinder wenig Wert, nnd das Geld dafür ist so gut wie weg- geworfen. Die einfachsten und haltbarsten sind die besten, und am allerbesten ist es, wenn sie die ^der erst selber völlig fertig machen müssen, wie das Mftdchen eine halbfertige Puppe oder der Knabe eine Peitsche, zu der er nur die einzelnen Teile erhält^) Jemehr sich die Kinder mit ihren Spielsachen wirklich beschäftigen können, desto mehr dient das Spiel zur Ausbildung nicht nur ihrer Sinne und der Bewegungen, sondern auch der NachahmungsfUiigkeit und der Einbildungskraft, die gleichfalls im späteren Leben von so grofeer Bedeutung sind, was ich leider hier nicht weiter ausführen kann.

CoLozzA, PsTcholope und Pädagojj;ik dns Kindci-spicls. Deutsch ?on Ufkr. *) Ellis-Hall, A 6tudy of DoUs. Pedagogicai öeminary lüW. ■) Jbax Padl, Levant S. 48.

iMja, Gedanken üW Enieliiing. DeotBoh Ton SaUwfIrk.

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Tucbwr: Der Blinde.

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Ich muJs moinea Vürtrair schliefsen, und doch habe ich vom Einderspiele noch lange nicht alles sagen können^ was eigentlich nötig gewesen wäre. Soviel aber dürfte sich deutlich ergeben haben, duü» das Spiel nicht eine Sache ist, auf die nichts ankommt nicht ein blolser Zeitvertreib, soudera eine sehr wichtige Vorschule für das ernste Leben. Xiuder, denen das Spiel fehlt, kommen in der Regel auch in der Schule und im Leben nicht so gut fort als andere. Der Nutzen, den das Kind aus dem Spiele zieht, ist gar nicht zu er- mejfsen. Das gilt nicht nur für die Fähigkeiten und Kräfte, die wir bespruchen haben, sondern für alle und auch für den Verkehr der Erwachsenen untereinander. Durch das Spiel lernen die Kinder ein gut Stück von dem, wie Menschen miteinander umzugehen und aus- zukommen haben. Die Spielgesellschaften der Kinder sind das Abc der Jienschengesellschaften. Des Kindes Spiel ist das Abc des Lebens.

Heefwirieri empiehlBSumerte I4tteratiir.

JfnL OounzA, Psychologie uid Fädagogik des Eiodeispiels. Aas dem ItaUenisdten übenettt m Ufer. (Bd. n der Litenialioiialeii Fidagogischeii Bibliothek.)

Altenburg 1900, 0. Bonde. Preis 5 M, geb. 6,50 M. Prof. K. Gnoos, Die Spiele der Menschen. Jena 189R, Fischer. Prri^ 10 Pml IL RixBcxtLE, Das Spiel der Kinder in seinem Erziehungswert. £Äa Vortrag. Göttingen 18d7, Yandenhoeck und Ruprecht. Preis 0,90 M.

2. Der Blindai)

Eine pbysio-peiychologische Betrachtung

fi, FMir» Diniktor der BlindenanBtalt ia Bmuuohweig.

L

Wer ist blind? Die Antwort auf diese Frage h»utot verschieden. Im wissenschaftlich medizinischen Sinne ist derjenige blind, dem jede Lichtempfindung fehlt, der hell und dunkel nicht mehr unterscheidet, also auch nicht mehr den geringsten Grad von Sehkraft, die quanti- tative Lichtempfindung, besitzt. Jn Hinsicht auf das praktische Lebens-

') Bisher ist m aa.serer Zeitbcbiüt das Pathologische des Gesichtssinnes n bin gekommen. "Wir weiden fortan diesen Eraeheinungen mehr BechniiDg tngen. Diese AUhandlnng soll unsere Leaer zonichst im al^semeinen mit den

Fol^n der schwersten Sehstorung bekannt machen. Später werden wir die einzelnen Fehler und Schwächen des GesiohtsaiDnee und ihre Folgen für die soelisohe Eutwickelong näher ins Auge lassen. Tr.

L.icjui^L.ü cy Google

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A. AUttndlttngaiL

bedüiCnis ist aber auch derjenige blind nennen, dessen Sehkraft 80 geschwächt ist, da& sie ihm nichts mehr niltzt» mag sie ihm immer- hin im Terg^ei<^ zur TöUigen Blindheit noch als wertvoller Besitz erscheinen. Im pädagogischen Sinne gelten diejeuigen als blind, deren Sehvermögen zu einer erfolgreichen TeUnahme am Unteniöhta der YoUsinnigen nicht hinreicht Diese letztere Anslegong des Be- griffes »Blindheit« amfaJst denmacfa alle, welche des Blindennnter- riohtes in einer Blindenanstalt bedfirfen. Eine genanere Begriffis- bestimmung der Blindheit giebt UniTersitStsprofessor Dr. GsuF-Berlin in seinem auf dem letzten Blindenlehrerkongrosse in Berlin gehaltenen Tortrage ^) »Über Ursachen und Terfafitang der Blindheit«. Er nnter^ scheidet Blinde und Schwachsichtige. Letztere sehen von etwa Vi» der normalen SehschSrfe bis Eingerzühlen in 1 m Entfernung, erstere unteischeiden Fmger nur noch in dieser oder in geringerer Entfemmig, oder sie sind völlig blind. Soldie Kinder, weiche ttber Vio normalen Sehkraft . wenn auch nor anf einem Auge ~ besilasen, sind nicht mehr bUnd resp. schwachsichtig, da sie noch größeren Druck lesen, frei umhergehen, ein gröberes Handwerk und lesen und schreiben lernen können, w&hrend solche unter Vio Sehkraft des Blind^unterricfatea bedürfen.

Folgende Betrachtuug erstreckt sich nur auf diejenigen, welche nach vorstehender BegrifEBbestimmung als blind bezeichnet werden miissen, und schlie&t die Schwachsichtigen aus, weil deren geistige Entwickelung nicht ganz unbeeinflulst bleibt von Mitwirkungen des Sehorganes, hier aber lediglich der unter dem Einflufs der Blindheit stehende Entwickelungsgang des Eindes gezeigt werden soll; aus demselben Grunde bleiben auch Sp&tererblindete hier unberücksichtigt. Auch soU hier nur der normale bildungs- fähige Blinde, wie er sich in unseren Blindenanstalten vorfindet, ge- zeichnet werden, nicht aber der unter dem Normaltypus stehende, der im engeren Sinne psjehopathisch minderwertige, sowie der schwach- oder blödsinnige Blinde, über welch letzteren auch s. Z. noch wenig £rfahrungsmaterial zur Verfügung steht Hier handelt es sich nur um die naturgemäfs sich ans dem Gebrechen der Blind- heit ergebenden leiblichen und seelischen Mängel und Regelwidrig- keiten und deren heilpädaf^ogischo I^eliandlung. Medizinische Mit- teilungen über Ursachen, Verhütung und Heilung des Gebrechens kommen hier nicht in Betracht, weil wir es hier nur mit abgelaufeneu

Siehe den Kongreüsberir-lit vom Jahre 1898, herausgegeben vom Kougreb Komitee ia St^Utz-BerUa (Kuuigl. Blinden- Anstalt^

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FEBcm: Dir Blinde.

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Kraakheitsprozessen zu thun haben. Mit der P^inlieferung des Zög- lings in die Anstalt ist dessen augenarztliche Beiiandlung in der Regel abgesclilossen, wenn aucli eine regelniafsige aiigeniirztliclio Kon- trolle der Zöglinge gefordert werden mufs und in dou meisten An- stiilton auch stattfindet. Die meisten Augenkrankheiten, welche Blind- heit zur Folge haben, sind insofern, als sie das Centraiorgan nicht betreffen, äufserer, peripherischer Natur: sie schädigen mithin als solche auch nicht die geistigen Fälligkeiten des Blinden. Die körper- lichen und seelischen Eigen tüiiilichkeiten und Auuuialieu sind daher nur auf den Mangel des iLii die geistige und leibliche Entwickeiung überaus wichtigen Sehorganes zurückzuführen ; sie stellen sich bei jedem normalen Men.schen, der frühzeitig erblindet oder von Geburt an blind ist, ein; ebenso würden sie sich aber auch im Falle einer während des entwickeluugsfähigen Alters erfolgteu glücklichen Augen- operation bald verlieren.

Es mag hier nicht unerwähnt bleiben, dafs infolge der Fort- schritte, welche die Augenheilkunde in den letzten Jahren gemacht hat, die Zahl der Blinden im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung be- ständig im Rückschritte begriffen ist. Nach den Angaben, welche Ministerialdirektor Geh. Oberregierungsrat Dr. Küoler auf dem letzten filmdenlehrerkongresse in Berlin i. J. 1898 mitteilte, kamen i. J. 1871 auf 100000 Einwohner in Preufeen 93 Blinde, i. J. 1895 nur 67. Die Oesamtzahl der Blinden betrug 1871 22 978, sie ist trotz der Beyölkeningszunahme bis auf 21442 im Jahre 1895 zurück- gegangen. Dieser Bückgang ist um so erfreulicher, als ein besonders grolser Anteil desselben auf die jugendlichen Blinden unter 10 Jahren ftUt Die Zahl der letzteren betrug i. J. 1871 1222, dagegen i. J. 1895 828. Blindenzählongen in anderen Staaten lassen gleiciifiEdlg einen bedeutende Rflokgang der Blindheitsfälle erkennen. Bei der letzten yolkscihlong am 1. Dezember y. J. sind auch die Blinden und Tanbstummen berAcksichtigt worden; hoffentlich konstatiert dieselbe einen weiteren Bttckgang der Blindheit Eine Blindenzählung im Herzogtum Bramischweig ist bereits im Weil[e, aber noch nicht ab- geschlossen.

Es ist bekannt, dafs etwa */io t^Uer Sinneswahmehmnngen dem Bereich des Sehorganee angehören. Das Auge wird daher als der wertvollste und wichtigste Sinn angesehen, der Verlust desselben als das giölste Unglück. »0, eine edle Himmelsgabe ist das licht des Auges, alle Wesen leben rem lachte, jedes glückliche Geschöpf. Die

^) Kongrsbbericht

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A. Abhandlungen.

Pflanze selbst kehrt freudig sich zum lichte. Und er mala sttzen^ fühlend in der Nacht, im ewig Finetem; ihn erqnidkt nicht mehr der Matten warmes Grün, der Blumen Schmelz, die roten lünien kann er nicht mehr schauen. Sterben ist nichts, doch leben und nicht sehen, das ist ein Unglück. Ich hab' zwei frische Augen und kann dem blinden Tater keines geben, nicht einen Schimmer tou dem Meere des Lichts, das ^anzvoll blendend mir ins Auge dringt« (Schiller.) HiumoLTz sagt: »Unter allen Sinnen des Menschen ist das Auge immer als das lieblichste Geschenk und als das wundeibarsta Er- zeugnis der bildenden Natmkraft betrachtet worden. Dichter haben es besungen, Bedner gefeiert, Philosophen haben es als Malsstab für die Leistungsfähigkeit organischer Kraft gepriesen, und Physiker haben es als das unübertrefflichste Vorbild optischer Apparate nachzuahmen ▼ersucht Als der härteste Verlust nlchst dem des Lebens erst^eint uns der Verinst des Augenlichtes.« Unter allen Sinnesotgiaien wird das Auge am meisten in Anspruch genommen; durch das Auge steht der Mensch bestSndig in Verbindung mit der AuCsenwelt, er gebraucht es Tom frühen Motten bis zum spfiten Abend und kann es nie ent- bohren. Das Gebiet des Sehorganes reicht weiter als das jedes anderen Sinnes; es Termittelt der Seele Eindrücke aus den ver- schiedensten, auch weiten Entfernungen durch seine Atiamxh dationsfittiigkeit « es durchmiM infolge seiner Beweglichkeit in kürzester Zeit gro&e Bäume und weite fliehen und nimmt Gegen- stände von kleinster sowie Gesamtbilder von grölster Ausdehnung auf; durch optische Hilbmittel (Mikroskop, Femrohr) wird seine Leistungs- fähigkeit noch erheblich gesteigert Der unendliche Beichtum an Ponnen, Farben und Gestalten der uns umgebenden Werke der scbaftoden Natur und des schöpferischen Menschengeistes, die reiche Mannigfaltigkeit der Schöpfungen der Katar und Kultur ist nur dem Auge wahrnehmbar. Unaufhörlich und ungesucht ziehen in buntem Wechsel die Bilder der Aulisenwelt in unerschöpflicher Fülle an dem Auge des Sehenden vorüber und führen der Seele einen Reichtum an Empfindungen und Wahrnehmungen zu, der auf das ganze Seelen- leben befruchtend einwirkt Unsere heutige Kultur in intellektueller, moralischer und Mathetischer Hinsicht verdanken wir zum grölsten Teile nnserem Auge; auch an unserer köperüchen Entwickelung hat das Auge einen hervorragenden Anteil, indem es uns ein freies Be- wegungsfeld eröffnet für die unserer körperlichen Entfaltung unent- behrlichen Bewegungen unserer Glieder. EiR normales Auge setzt uns in den Stand, die erforderlichen Körperbewegungen an anderen Menschen kennen zu Jemen und nachzuahmen. »Kur wenn die Augen eine

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Fischer: Der Blinde.

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gL*nu<r('n(le Leistunp^sfähip^koit besitzen, sind wir befähigt, uns mit der nötiiren Loiclitiß-keit, Gefälligkeit und Sicheriicit zu bewegen ; ist da- *reiren die Thiitigkeit der Augen irgendwie in crhebliohnrer Weisf^ bo- cintraclitigt, so spricht sich dies auch sofort in einer nicht zu ver- kennenden Ängstlichkeit und Unbeholfenheit aller Bewegungen des betreffenrien Individuums aus.« (Maont s, das Auge in seinen ästhetischen nnd kultnr- [i'f^^^eliiplitlicben Beziehungen.) So weckt und leitet das Auge den Br wegungstrieb und fördert dadurch indirekt körperliches Wachstum und Gedeihen. Schon aus vorstehenden kurzen und zu- sammenfassenden Worten sehen wir die unschätzbar hohe Bedeutung des Aucrenlichtes für unser Erkennen (WahrnLlinien, Reproduktion, Gedaf'litnis, Phantasie, Begreifen. Urteilen uiid Schliessen), unsere sinnüchen und iiöheren Gefühle, unser Begelii rn. Wollen und charakter- niäfsig-es Handeln, wie auch für unsere körperliche Entwickelung. Bei den folgenden Ausführungen über den Tastsinn kommen vnv de«? näheren auf die hier nur kurz angedeutete Wirkung des äehorgajxes zurück

Mit dem Verlust des Augenlichtes gehen dem Blinden 7io ^^^^r Sinneswahmehmnngen verloren, es verbleibt nur ^/jq, welches- ^ich auf die 4 noch vorhandenen Sinne verteilt. Es fehlt dem Bünden die Anschauung, die Grundlage aller Erkenntnis; seinem Denkon fehlt oft der reah» Untergrund, seinen Worten und Gedanken das rechte Verständnis. Unterricht und Erziehung sind aber ohne den realen Untergrund der Anschauung nicht denkbar: darum kann auch die Blindenschule nicht darauf verzichten, dem Zöglinge einen hinreichen- den Fonds sinnlicher, stofflicher Anschauungen zu übennitteln. Der Blirdt'nnnterricht will den Zögling dem normalen voilsinnigen Menschen im Erkennen. Fühlen und Wollen mögliclist ähnlich gestalten, dem nachteiligen Einflüsse des Gebrechens auf Körper und Geist durch spezifische pädagogische Mafsnahmen entgegenwirken und schliefülich für das praktische Leben und den P>werb befähigen; er will das Seelenleben bauen durch Zuführung von Sinneseindrücken. Da aber die Hauptpforte der Seele, das Auge, verschlossen ist, so hält sie die übrigen Pforten beständig weit offen, indem sie die vier verbliebenen Sinne so viel als nur möglieh übt und bildet. Der Tastsinn, welcher beim Vollsinnigen eine nur untergeordnete Bedeutung hat, wird ganz besonders kultiviert; er tritt an die Stelle des Auges, indem er die räumliche Anschauung vermitteln soll. Bis zu rinfm gewissen Grade vermag er auch diese Aufgabe zu lösen, doch kann er niemals vollen Ersatz bieten für das fehlende Auge, sollte er auch noch so gut ent- wickelt sein. Die Arbeit des Tastsilms ist bei dem Blinden eine sehr

Die Klndatisbler. YL JahiBMg. 2

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A* Abhamdliingoii.

umfangreiche und z. T. schwierige, daram bedarf dieaer Sinn be- sonderer Schulung und Übung. Der Blinde kommt nicht etwa mit dem »feinen Gefühl« auf die Welt, sondern die Not zwingt ihn, den Tastsinn oft zu gebrauchen, nnd hXafiger Gebrauch erhöht die Leistungsfähigkeit des Organes. Das oft gerühmte feine Gehdr der Blinden ist ebenfalls nicht angeboren, sondern durch Übung erworben, dasselbe gilt Tom Gerndi und GeschmaciL.

Manche iütere Blinden sind mit der Ton den heutigen Blinden- schulen eingeschlagenen Untetrichtsprazis nicht einverstanden; sie protestiereü gegen eine »übertriebenet Einschfitznng des Wertes der Tastrorstellungen für das Seelenleben, wie auch gegen »einseitige« Kultur des Tastsinnes; sie bezweifehi den awischen Auge und Ge- tagt bestehenden Parallelismus und behaupten, der Blinde denke nicht in Bildern, auch nicht in TastbUdem, sondern in sogenannten Sun ogat- Tozstellungen, die so unanschaulich seien, dafls sie an die abstrahierten Begriffe der Sehenden erinnerten; sie rerlangen daher, dafs die Blinden- Pädagogik auf diesen Thatsachen entsprechenden Grundsätzen sich aufbaue und dals der Blinde seinen »natürlichen Tendenzen« geroäfs, nicht nach dem Muster des Sehenden, erzogen und gebildet werde. Bie Anhänger dieser pädagogischen Richtung entstammen der älteren Blindenschule, in welcher es in Bezug auf Anschaulichkeit des Unter- richtes bei dem Mangel geeigneter Lehr- und Unterrichtsmittel schlecht bestellt war und der Tastsinn nicht zur Entwickelung kommen konnte. Blinde mit ungeübten, unbeholfenen und ungeschickten Bünden haben in der Kegel keine Neigung zum Tasten, ihnen ist auch die äullBere Gestalt und Form der Dinge gleichgiltig. Ihre Totstellungen (Surrogat-- Vorstellungen) setzen sie aus Gehdreindrücken eigenartig zusanmien; meist sind es wohl nur Wortvorstellungcn, Vorstellungen deren Sinn sie sich aus dem Zusammenhang mit anderen und aus den Be- ziehungen derselben, welche sie den Beden ihrer sehenden Mit- menschen entnehmen, klar machen. Trotzdem bei derartigen Blinden das Denken jedes konkreten Inhaltes entbehrt, entwickelt es sich nicht selten zu grofser logischer Schärfe; da zudem solche Blinden sich durch Umgang und Lektüre häufig einen reichen Wortschatz und groDse sprachliche Gewandtheit aneignen, setzen sie ihre Umgebung durch ihre Dialektik in Erstaunen. Dir sachliches Urteil kann jedoch bei dem Mangel konkreter Begriffe selten ein selbständiges oder richtiges sein. Bünde mit schwachem Tastsinn zeigen schon in der Blindenschule Neigung und Anlage, durch Bedekünste die innere Unklarheit der Vorstellungen zu ▼erdeokeu. Die Beschreibung eines betasteten Gegenstandes geben sie wortgetreu wieder, ohne die

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Ein problematiacher Knabe,

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emzelnea Merkmale mit dem Tastsinn gesucht oder erkannt zu haben. Junge f angehende Blindenlehrer lassen sich nicht selten dadurch täuschen. Es gehen auch heute noch Zöglinge durch die Blinden- schule, welche in ihrem Tastvermögen hinter ihren MitsdiOlem zurAck- bleiben. Der Grund liegt entweder darin, dafs der betreffende Zög- ling za spät in die Anstalt eintritt oder in einer völligen Yemaoh- lässigung und Yerkümmerung der Bünde durch Terkehrte Behandlung im Elternhause. Wie jedes Organ, welches nicht gebraucht wird, allmählich verkümmert, so ist auch die Hand dieser TTnf^üc^chen durch Jahre lange Unthätigkeit zu den einfachsten Hantierungen un- fähig geworden. Solche Blinde liefern den deutlichsten Beweis, dals der feine Tastsinn, das feine Gefühl, nicht angeboren ist, sondern nur erworben werden kann. (Sohloto folgt)

B. Mitteilungen.

Ein problematiBolLer Knabe»

Von Hsraasa Arlsswald, Herboni.

In meinen Sommerfer len , welche ich in meinem Heimatsorte E. bei W. verlebte, hatte ich Gelegenheit, in der Elementarklasse der Volksschule daselbst einen Knaben beobachten zu können, welcher mir in mehr denn «mer Besiehung als ein Rfttsel eracbien. Ein Lehrer betnu»htete ihn nur als ednen »verwohnten« Burschen, emem anderen ersofaien er stark patho- logisch. Nachdem ich den Knaben verschiedenfach beobachtet hatten glaubte ich ihn mit Recht als »psychopatbisch -minderwertig'^ iK^zeichnen zu müssen: denn der Knnbe zeigte besondere, ihn in seinem TVrsonrn- leben beeirifliiRsende. psvdiisi l p Regelwidrigkeiten, welche zwar nocii kerne ausgeprägte Geiätetikrauklieit durstellten, welche ihn aber nicht als im YoUbesitz geistiger Nonnalitit oder Ldstungsfahigkeit ersiMnen Ueben.

Heiiir. E. wurde sm 21. Okt 1894 sn E. geboren. San Yater ist Steinhauer, Heinr. K. hat 6 Oeeohwister, von welchen 2 im Alter von 1 und 2 Jahren an den Masern gestorben sind. Der Vater wird als ein aufbrausender Mann bezeichnet. Über die Yer haltungsweise des Heinr. K. im olterlichen Hause wurden mir von den beiden älteren, die hiesige bciiuie besuchenden Kindern einige Mitteilungen gemacht. Danach ist Heinr. sehr durt-li Krämpfe geplagt. Dieselben treten periodisch nach mnim Vierteljahr auf und zwar in der Regel nachts. Yor einer solchen Nicht wurde Heinr. am Abende unruhig und verlangte» frQh ins Bett zu gdiea. IHe Efampfanf&Ile wiederholten sich sehr oft; er nenne dabei QftoB Namen von bekannten Personen. Am TSge ftthle er sich dann sehr

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B. Mitteilongea.

schwach. Ich sah don Knabrn 7,um erstenmalG anf der Strafse, wo er eifrig andere Knaben mit Steinen bombardierte - - und zwbi mit der linken Hand. Heinr. ist auch zu Hause linkshändig. Als er in die Schule kam, benahm er a.tk sehr naiv. ESr stand nftml^ in im Stunde auf, packte seine Bücher suaammen und erkUrte: er woUe heimgehen; der Kaffee sei gar. Als der Lahrer gegen seine rebellisohe Haltung Front machte, drohte er demselben. Man legte diese sonderbare Verhaltungs- weise dPH Knaben als Eigensinn und »Verwöhnung« aus. Ich liörte von dem sonderbaren Knaben und beobachtete ihn, um zu einem auf eigene Beobachtung beruhenden Urteil zu gelangen.

In der ersten Stunde hatten die Kleinen Religion. Sie standen am Anfange der Stande andAohtig auf, weil dar Heer Lehrer ein Oebet sprechen wollte. Nur Heinr. kauete noch an einem BiQtohen und faltete erst die Hände^ sls man ihm sein Efswerk abgenommen hatte. Der Lehrer erzählte den Kindern die schöne Paradios^oschichte ; alle lauschten und hörten gespannt zu, nur Heinr. nicht. Er war nur damit beschäftigt, Schiefertafel, Lesebuch und Griftolkasten bald auf, l>ald unter die Tisch- platte zu legen. Bald lachte or heftig, bald war sein Gesichtsausdruck tiefernst Auf die BnBblung des Lehrers hlkte er gar nicht Plfllalioh stand er auf» biÜB die Zfthne susammen, ballte die Faost und sagte su mir: »Wartt nur, wenn wir draus sind; dann ich dich gdiage.«

In der zweiten Stunde hatten die Kleinen Schreiblesen. Hier zeigte er sich für den Unterricht zugänglicher. Er blickte an die Wandtafel und benannte von den angeschriebenen Buchstaben nur s, f und r richtig. Mit dem Buchstaben f sympathisierte er förmlich. Durch das Lesen wurde er so erregt, da& er sich auf die Bank stellfe und ausrief: »Ja, du lache Qott ja, war sehen lang«. Ich glaubte^ hintsr dieser sengenden Gtedanken folge des Knaben foJgende Gedanken lesen sn können: »Du brauchst nicht zu lachen; ich kann das f schon lange lesen.« Das sind ja immerhin Vennutungen; allein andere Beobachtungen an dem Knaben, welche bei demselben eine sehr grofae Empfiinglichkeit für Lob entdeckten, bestärkten mich in meiner Annahme. Er bezeichnete so- dann alle weiteren, ihm en^ogentretenden Buchstaben als f. Dann zog er wieder plOtzlioh in groTser Unruhe sein Tasofaentuoh heraus und fiagle den Lehrer: »Wem is«? Als dieser ihn wieder surechtwies, ballte er die Ikust und sagte drohend m seinem Lehrer: »Da nehm* ioh die Faust kommst da nur heraus; dann giebts dir gehage!« Wenn die anderen Kinder den J^'mger hoben, streckte er ihn auch. Besonders auffallend er- schien mir die übergroise Zärtlichkeit, welche er 5 bei ihm sitzenden Knäbleln gegenüber an den Tag logto. Ev umarmte einen nach dein andern, streichelte ihnen die Backen und sagte: »Das ist ein lieber Kerl; der lacht auch.« Darauf streichelte er ihnen die Hlnde in der- selben Weise. AUe anderen Kinder waren ihm ziemlich gleichgültig. Im Elternhause ist sein sympathetischer Kreis auch sehr eng begrenzt; der- selbe umfafst daselbst nur einen Bruder, dem er aber auch in groJjaer Liebe zugethan ist.

Als CS au das Schreiben gmg, zeigte er sich noch mehr rege deua

län piobleinatisoher Koabe.

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heim Leheu. Von allen Fui listalcn luifuiniert© ihm auch hier das f. Er schrieb 68 in groTseii Ziigeu aul die Tafel. Dabei äurserte er: ^etzt Uei du froh; das irftr* sehoii lang!« Fortwfthreiul lOaohte er den Bochstabeii wob und schrieb ihn mit aditUcfaem Wohlgefiülen in noch gxiliSnran Ztigen wieder hin. Als ich ihn lobte, Anl^erte er, vor Freude strahlend: »Ja das ist grofs.« Darauf spndEte er auf die Tafel und beobachtete, wie der Speichel an der Tafel ablief. Auch wischte er mit groleem Vergnügen in dem Speichel herum; er ist also sehr unreinlich. Kaum war er mit seinen Spuckgeschichten fertig, so umarmte er wieder die neben ihm sitzenden Knaben mit den Werten: »Hol* dich der Teufel.« Als er dies geäußert, geriet er in grofse Wut und sagte Unt: »Es giebt nie aufgehört«

An einem anderen Tage war das Verhalten des Knaben ähnlich so, wfe es soeben geschildert worden ist. Heilos Lachen wechselte mit finsterem Drohen, inniens sympathetisches Umarmen seiner Kameraden mit AVu tansbrüchen. Merkwürdig ist etj, daiö der Knabe sich uufäliig zeigte, auch nur eine Zahl aufzufassen. Unzweifelhaft haben wir es doch hier mit einer pathologischen Natur zu thun. Eigen- sinn und Verwöhnung sind unstreitig nicht im SpieL Wie ich in £r- üütrung gebrsoht, wird der Knabe zu Hause strenge gehalten; doch geben ihm die £ltem tflglich ein Flfisofalein Bier, ein hierselbrt beliebtes Kinder- getränk. (!) Fs ist Torcrst ganz gewifs, dafs das Lmnzo Verhalten des Knaben charakteristische Merkmale psychischer Abnürmitfit zeigt. Stig- mata der II» leditat, z. B. Mifsbildungen der Ohren, der Zähne, des Kopfes etc. konnte ich nicht bemerken. Auch das steht fest, dalä d.io abnormen Xrsofaeinungen des Seetenlebeiis dieses Knaben in einer loink* liaflen Bescbaffianheit seines Nerrensystams sum Teil bsgrflndet sind. JSa erscheint mir jedoch noch nicht ganz gewifs, ob man den geschilderten pathologischen Charakter als Manie bezeichnen kann. Das Seelenleben des Knaben ist noch nicht so scharf ausgeprfigt, daüs man dne derartige be- stimmte Einreihung vornehmen könnte.

Das Kind ist uns im gesunden Zustande ein Problem; aber ein noch Tiel schwierigeres Problem ist das seelisch -kranke Kind. Empirisches Material ist nun stets besser als abstraktes BSsonnement, welches des an- sdhauliohen Thatbestandes entbehrt Dieserhalb erschien es mir an- gemessener, unter der Aufschrift »FroblematiBcher Knabe« eine auf That- Sachen beruhende Beschreibung einer pathologischen Natur zu bieten, als unter einer hochklingenden technischen Phrase mich in einen Nebel ab- strakter Spekulationen zu verlieren, die aber gerade in der Kinderpsycho- logie am allerwenigsten am riatzo siml.

Nachschritt der Redaktion. Nach der obigen Charakteristik leidet der Knabe wahrschemüch

1. unter erblicher Belastung,

2. an epileptischen Krämpfen,

3. an Schwachsinn mittleren Grades,

4. an krajikhafter affektiver Erregtheit, die sich meistens bei dieser Form Ton Epilepsie einstellt

üiyiiizeQ by GoOgle

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B. Hitteiluugcn.

5. Die LiokshüDdigkeit im Verein mit den übrigen krankhaften £r- Bcheinungen l&Cst auf Kinderlähmung schliefsen.

6. Diese konstitationelleii Fehler und Gebrechen werden vahrscbeinlioh noch verschlimmert daroh fehlerhafte Ersiehung und Pflege, vor allem durch die tägliche Dosis Nervengift in Fofm voa Kafliee wie alkohol- und hopf'^nhaltlu'on Bieren.

7. r>er Knabe gehört um seintt- wie vor allem um der Mitsoh&ler willen nicht in eine öffentliche Schule für Gesunde.

Trüper.

2. Sohnlarbait und Sohnlnioht in ihrer Bedeutung hinsiohflioh der Bntslehnnff von Chorea.

VoD Br. med. Octavius Sturges, Arzt uui WesUninater- Hospital uüü aio Hobpial

für faranke Kinder,

in der l'bersctzuug mitgeteilt von Dr. med. WleilelMr|*£lgersbuig. *)

L

Unter 200 Fällen von Veitstanz, die während der letzten 10 Jahre Ton mir behandelt worden sind, befinden sich 121 Fälle, bei welchen entweder gar keine Entstehungstirsache nachzuweisen ist, oder, und das ist liäutiger, bei denen man streiten könnte, welche von verschiedenen Ursachen als eigentliches ätiologisches Moment zu beschuldigen ist, so dab man auch bei letstoran nach dieeer Richtung hin sweifelbaft sein kann. Es bleiben alao 7d EUle mit feetsusteUender Uraache bezw. Ver- anlassung und unter diesen waren 14, an welchen die Schule allein die Schuld trfigt Mit anderen Worten: eine fortgeeetxte Beobachtung einer

') Aus der Zeitüchrift »The Lancet? vom 3. Januar 1.SS5.

') Vielleicht erbchciot manchem Leser die Aiitteilung der beiden folgenden Stnrges'Bchen Artikel nach dem Abdrucke meines im Yeroin für KindeTforschnng gehaltenen Yortarages m den tBeitiSgen tor Kinderforsdrang« (Heft YI) als Pleonasmus,

Aber ich glaube doch, dals einmal gerade die deutschen pädagogischen Kinder» foi"scher diese ongÜ'^ch -nr/.tlirhf Stimme in dor Fnm. wie sie gesprochen ist, interessieren wird, zumal uei iahiUt der Aitiiul uiue grote Beihe aus der Praxis sUmjucnder Illustrationen zu meinem Voilrage liefert Zorn zweiten kann von ärztlicher Beite ans nicht genng daraof hingewiesen werden, welchen NerrenscbSdigangen (einschl. Schädigungen des Oehiroes) die Kinder in der Sdinle unter T'nistiinden ausgesetzt sind. In diesem Sinne mögen die Herren Piidagogen hinsi iitlii h di sson, was von Hturges und mir über die hulschüdigungen beim Entstelieu \uu Chorea gesagt ist, unter Hinzunahnje von Liystene, Neuiastheoie etc. den Begriff Chorea zu einem allgemeinen Begriffe der ven>chiedeDSten Erkrankungen des OesamtnervenBystems erweitern; denn es kann dieselbe Schnlsohfidigang ver- schiedene Nervenerkrankungen erzeugen lesp. aaslösen, Je nach der vorhandenen AllgemeinanJage von Körper nn l l'>y. he, je nach besonderen Krankheitsdisi" nfi* nen und je nach Uiusatreteu and Mitwirken anderer von aolsen wirkender Faktoren.

Dr. W.

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Sdiolaibeit n. SchUmciit in ilurer Bedentong binsidhtiiclL d. Entetehung d. CShoieft. 28

^'luisen Anzahl vou Fälleu (uach Ausäclilurs äoleher, deren Ursache un- gewilk oder zweifelhaft ist) findet, dafs «ner von 6 FAUen direkt auf ümetftnde rarQQkztiführan ist, die mit dem Schulleben der Kinder an- sammenhAngen. Gewifs ist dieser Prozcnt^iaf/ nicht abflolat genau. Einer- seits mflsscn wir lierficksichtiscn, dals niclit alle von den 200 Fällen an Schülern beobachtet wurden, andororsoits, dafs die der Sdmlo odor, um einen landläufigen Lieblingsausdruck zu gebrauchen, der »Schulüberüiirdung« zur Laht zu legende/ Chorea >virkiich auf diese Schädigungen zurückzu- fahren ist, w&hrend die anderswie entstehende Chorea oft scheinbar ganz spontan auftritt So sollte man die j4 Patienten, die ich eben erwähnt habe, als Prozentsatz einer gröfseren Anzahl als 79 annehmen, indessen, wegzuleugnen sind sie nicht. Das Schulleben mufs in sehr beträchtUcfaem Mafse für Chorea verantwortlich gemacht werden. Aber es wird gesagt, dafs nicht so sehr das Schtdlcben zu tadeln sei, als vielmehr die schlechte Ernährung der meisten Schüler. Und diese Ansicht könnte unterstützt werden durch die Erfahrung, daJs die Chorea öfter bei den Armen, als bei den Beioben auftritt Doch ist sie nicht vorherracbend eine Krank- heit der ganz armen Klassen. Niemand mit ausgedehnter Erhhmng in Kinderkrankheiten würde Chorea zu der Gruppe jenor Obel rechnen, die wir gewöhnlich mit äufserster Armut oder Veinachiässigung in Beziehung briii^ren. Die Chorea ist eine Armen krankheit, weil die Armen übeiliaupt "vseniper sorgfältig sind, weniger auf sich acliten, sich mehr dem Zufall überiaöbeu, als die bevorzugten Klassen, sowoid für sich, als auch für ihre Kinder. Sie findet sich bei den Londoner Armen, weil verkehrsreiche StraDBOi, dicht bevölkerte Wohnhftuser hAufiger V^nlassnng geben an nervOsen Sdiccks, und weil das Londontt* Kind körperlich schwächlicher und einem plötzlichen Eindruck gegenüber widerstandsloser ist, als das Landkind. Wjlhrend der letzten G Monate öiud 18 weitere Falle von Chorea in dem Hospital für kranke Kinder in meine nohandlnng go- komoicn. In 9 Fällen wurden verschiedene Ursachen für die Kranklieit angegeben, die bei weiterem Forschen sich als wirkliche Erzeuger der Krankheit erwiesen. Von diesen werden 6 durchaus der Schularbeit zur Last gelegt Zwei betrafen Mädchen, die wegen eines bevorstehenden Schalexamens aufgeregt und schlaflos gewesen waren. Eine von ihnen war für Zuspätkommen körperlich gezu'titiL'^t worden, so dafs noch Tage nachher die Spuren zu sehen waren. Von einem dritten Mädchen, cii^cm bieichen, stumpfen Kind von 11 Jahren in der 6. Klasöo (würde unserer 4. oder 3. entsprechen. Dr. W.)» die seit einem Monat Ober Kopf und HerzBchmerzen geklagt hatte, wurde gesagt, dals sie jeden Tag bis 9 Uhr an den Arbeitstisch gefesselt worden war und monatelang keine Zeit zum Spielen gehabt hatte. In einem 4. Fall bekam ein Knabo von 10 Jahren in der Scliule selbst ^nnz plötzlich Chorea nach eini^ii-en Rohrstock pchlftgon at!f die Hand, Es war sein zweiter Anfall. Don ersten hatte er be- kommen, nachdem ein betrunkener Mann auf ihn gefallen war. Die beiden noch übrigen waren durch Schularbeiten, namentlich Rechonexempel ge- quält worden, und einen von dies^ werde ixAi sofort Angebender be- sprechen. Wir haben anfserdem ein Kind, das auf der StraTse fiberfahren

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B. ICtteäiuigen,

▼Orden war» eins, das eraohreckt vordea war, weil es geeebeo hatte, wie ein toUer Hund ersohoesen wurde, und ein Midchen von 11 Jahren, die aUerdings schon choreatiech war, tntidem aber auf war und umherlief,

df^iv'ii Zustiind sich sehr verschlimmerte, als sie sah, wie ein Knabe ein Kätzchen aut sehr grausame Art tötete. Diese Statistik soll den schäd- lichen Einüufö dartliuii, dem arme Kinder ausgesetzt sind, nicht nur durch fibermärsiges Arbeiten in der Schule, sondern auch dadurch, dafs Bie den Gefahren und den Roheiten einer bevölkerlea Stadt ausgesetst aind. Es iat bemerLenawert, dafa alle diese Patieaten, mit einer Ausnahme, Hfidchen sind.

Und nicht allein kann die Schule schädlich auf die Kinder wirken, ganz abgesehen von irgend einem Kesonderen MirsgrifT oder von Mängeln in der Ernäiirung, es ist sogar ?nöt;lich, den Schaden, der iu dieser be- öonderen Weise verursacht wiid, zu klassillzieren und zu rubrizieren. Da wftren: die Erregung und geistige Anspannung, die durch den Wetteifer herTorgerofen werden, ferner die Furcht vor Schnlatrafe und die Wirkung derselben auf die kindüdie Seele und scliliefslich der Ärger, die Enttäuschung und die Verzweiflung über Aufgaben, die zu schwer und deren zu viele sind. Solche Ursachen erzeugen zu- weilen an sich Ciiorea ; zuweilen auch, und dies vielleicht häufiger, er- zeugen sie eine nervöse Schwache und Widerstundblütiigkeit, die bei der geringsten, noch hinautretenden nervCeen Erregung oder Enofatttterung sich als solche seigt Der sohwerate und am schnellsten verbängniavoll ge- wordene Fall von Chorea, den ich je beobachtet, war bei einem MMchen, einer pupil-teacher (Mittelding zwischen Schülerin und Lehrerin, viel- leicht unseren Sominaristinncn entsprechend. Dr. W.), die, auf dorn Wege zu einem Examen, dem sie mit aulserordentliciier Erregung entgegen sah, noch mehr gestört wurde durch einen an sich ganz harmlosen \\'ag6u- unfoU.

Abgesehen von Doppelursachen dieser Art, welche uns hier nichts angehen, ist es nun die Frage, welche Ton den Härten des Überarbeitens in der Schule am häufigsten Chorea erzeugt. Wenn ich diese Frage mit einem Worte beantworten sollte, so ^v^lrde ich der Erfahning gemäl'a sagen: Rechenaufgaben. Bei den zwei oben erwähnton Patienten, bei denen die Quälerei mit den Schularbeiten aU EnUiitehungsursache kon- statiert wurde, ist es besonders das Rechnen, das an der Entstehungs- ursache herronagenden Anteil hatte. Einer von diesen FAllen kenn* zeichnet in der Tbat so klar die Art, wie die Krankheit in unzähligen Iftllen entsteht, dafs er, wenn auch in der Ausfflhmng der Details an- scheinend unbcdeufend. doch lehrreich ist, und man mCge mir dalier ver- zeihen, wenn ich ihn hier anffihre. Dieses Mnd^hen. 0 Jahr alt, gesund und kräftig, aber erregbaren Temperaments, wurde nach Aussago ihi-er Mutter unruhig und schlaüos durch ihre Schulaufgabeu, und bebonders durch ihre Itechenaufgaben. Die choreatisdien Bewegungen bei ihr sind gering, aber am ganzen EOrper zu konstatieren, und die willkOrlicho Muskclthätigkeit wird noch beherrscht. Einige Tage nach der Aufnahme, als das Kind zuerst Über Rechenaufgaben befragt wird, bricht es bei der

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Sehnlarbdt u. Sdralzuofat in ibier fiedeatung hinaiöhtlidi d. fintstohiiiiK d. Ghoiea. 25

ErwäliDUDg des Wortes »R^hoDaufgaben« sofot-t iu Thiäucu ans. Diene Art innerer Enrßgang, das mag nebenbei bemerkt weiden, ist ein ans- gewtchnetee Eriterinm bei Feetstellimg der Chorea. Kinder werden bereit- willig das bestätigen, was ihrem eigenen Urteil entspricht, und Mütter sind aufserordontlich schnell und gewandt im Auffinden von Ursachen bei einer Affektion solcher Art, deren Kenntnis bei den Unwissenden noch dazu durch Ahorcrlauben verdunkelt wird. Aber wenn die blofse Er- wähnung irgend eines wirklichen Voriallö, einer Züchtigung, eines dunklen SohnnkeB, eine» fremden Hundes oder irgend einer Schul- QuSlecei eine Klnt von Thittnen Temrasoht, so brauoht, denke ich, kein Zweifel xu sein, dals wir die wirkliche, wenn auch natfirlich nicht notwttidigerweise einsige Quelle der Krankheit gefunden haben. Bei dem gegenwärtigen Fall war das Kind, sobald der erste Ausbruch vorüber Var, bereit, auf einzelne Momente der Krankengeschichte einzugehen. Was sie besonders schwer alteriert hat, war die »lange Division«, oder wie sie einfach sagte, die Division. Kurze Division hatte sie nie gekannt, diese war übersprungen worden. Und es mag sehr wohl der itJü jgswesen sein (was audi vom Kinde ssLbst angenommen wurde), dsfs der ubergang von der Subtraktion snr langen Division, der irgend einem unerklärten Zufall zuzuschreiben war, den Anfang der Erregung bildete. Als Beweis für seine Fähigkeit rechnete uns das Kind ein Exempel solcher langen Division vor, im IJett sit/.cnd. Der Vorgang ist, vermute ich, Lehrern bekannt genug. Die Art und und Weifte aber, wie ein nervOöeö chöreatischcb Kiud rechnet, ist iuterebsant und bedeutungsvoll genug. Die Methode, die angewandt wurde, war sweifelloe die, die gelehrt worden war. Es war die folgende: Der linke Arm wird fest um die Schiefertafel gelegt, die Finger der linken Hand umklammem die rechte obere Ecke der Tafel, und die Tafel wii-d in der Schreiblage gehalten dadurch, dafs sie gegen die Magengrube geprefst wird. Gesiebt, Lippen und Zunge helfen der rechten Hand bei der Arbeit, die zu machen ist. Der Sehieferstift wird tief gefafst und da die Spitze des Zeigefingers immer feucht ist, so sind die Zahlen, in deren nächster NShe gerade geeehrieben wird, immer in Qelhhr, sufUlig au^sdOscht zu werd^ Dies ist besonders der Fall in dem Augenblick, wo, um lu bezeichnen, dafs eine Zahl vom Dividendns benintergeholt worden ist, gerade Aber der Zahl ein kleines Kreuz gemacht wird. Bei der perinfj;sten Ahnung eines Fehlers wird die Arbeit unterbroclien , der Finger wieder nafs gemacht und die zweifelhafte Zahl ausgelöscht. Von der Uäuiigkeit solches Aus- löschens und der Art wie es bewerkstelligt wird, wird die Oberfläche der TM so nab und kleberig, dafs sie sehUefslich den Schieferstift beim Anfsetsen gsr keinen festen Halt mehr gewfthrt. An den schlechten Stellen ist, dank den häufigen Verbeaeerangen, eine solche Mischung von Speichel und GrifTelspiircn , dafs man ebensowenig darauf schreiben kann wio auf einem Überzug von Firnis. Der Ernst und die Ausdauer, mit weichen das Kind al! diesen Schwieritrkeiten begegnet, dii^ i;ewis8euhalLe VoIlenduDg jeder Zalü und das pi-ompic Nalsinaclien des Fingers, um sie ansKulQsohen, die Heiterkeit und Freudigkeit, die entfaltet wird, wenn irgend eine mechanische, äuüserliofa notwendige Handlung an die Beihe

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Bb Hitteiliuigeii.

kommt, wie wenn Linien gezogen oder Erenze geseüet werden, die Art, wie sidi die Intensitftt geistiger Anstrengung eeigt durch festeres Fassen

der Tafel und stärkeres Drflcken gegen den Magen, all dies giebt ein Bild, das für den Uneingeweihten halb komisch, halb rührend ist Dies Kind rechnete sein Divisionsexerapel im Bett und vor nachsichtigen Kritikern. Man sagt mir, dafs es in einigen Schiden Sitte sei, in der Klasse umher zu stehen nnd Exeiupel zu rechnen nach Taktieren. Man denke bicii ein Sind, wie dieser unser Patient, schon durch Zahlen und Stempel be- unruhigt, geängstigt nnd an den Band der Chorea gebniGht, Binde und Fufse nnruhig und nervQs. Man denke sich ein solches Kind tot der Klasse stehend, Hacken zusammen und in der ersten Position, rechnend.

Kann man sich eine Arbeit denken, dio obonao wunderbar geeignet wäre nnscrc Krankheit zu entwickeln, wie die Arbeit, die eben besprochen? Von diesem üesichtijpunkt aus ist es nieiit der Patient, den wir bemit- leiden müssen, es ist das arme Kind, das sich in diesen Zustand hinein- arbeitet^ das durch tägliches Dulden, MiMingen und Ertragen der Cborsft den Boden bereitet Dsr nachlftsstge Sohfller wird der nadhslohtig be- hendste Patient, glücklich gemipr, wenn er nur der ihm nötigen Ruhe überlassen wird, und ihm nicht durch Gleichstellung und Gleichbehandlung mit den anderen ^'cschadet wird. Die Chorea kommt als Fre\ind. Dem- nach ist es erbtaunlich, wie lange sie unerkannt bleibt, wie last immer die charakteristischen Zuckungen einer Aifektion, welche jedem Lehrer, alten mtem, bekannt sein stdlten, suerst irrtQmlioh fflr üngesohiokliohkeit und üngesogenheit gehalten werden. Und dies bringt mich aum Zweck und Ziel dieses Aufsatsee. Wir schreiben Aber diese Dinge, aber wir können nicht viel an ihnen ändern oder bessern. Erempel werden ge- rechnet werden im neuen Jahre so viel wie im alten ; Kinder werden ver- früht in die lange Division eingeführt werden; die Last der Schularbeiten wird schlecht verteilt sein, hier zu wenig, da zu viel: Lehier werden ungeduldig und unbillig sein oder schlaff und nachlässig, gerade, wie ▼orher. Wir mflssen nicht su viel erwarten* Dennoch, was für eine Welt des Leidens k<3iinte ers|MUt werden, des Leidens, das im höchsten Grade grausam und ungerecht ist, wenn man von jedem Schiülehrer, besonders von denen in London, verlangte, dafs er die augenfälligeren Zeichen des Veitstanzes kennte, sie kennte, nicht, wie wir sie kennen, aber genügend, um Kinder, die bedenkliche ö^iuptome zeigen, zur weiteien, genaueren Untersuchung auszusondern. Alle Kinder sind unruhig, aber nicht alle Unruhe ist Chorea, dmnoch sollten alle Zeichen von besondrer Unruhe, irgend besonderer Ungeschicklichkeit der Hftnde Chorea argwöhnen lassen und zur Untersuchung und Nachfrage führen. Dies ist noch besonders der Fall, wenn da«; Kind gerade in eine höhere Klasse versetzt worden ist, oder in eine n-ue Spezies des Rechnens eingeführt wird, oder wenn es in der Vorbereitung fflr ein Examen steht. Wenn das sore:föltige Kind sorglos wird, das geschickte ungeschickt, wenn die Schritt sich plötzlich ▼erschleditert, oder das Kind häufig herunterkommt in der Klasse, wenn es oft Tafel oder Bttcher &llen ÜLTst, oder wenn es beim Lesen oder Schreiben vielfach augenfUlig das Gesteht bewegt oder venterrt, in all

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Schdarbritti, Sohidziicht in ihrer Bedeutung hinsichtlich d. Entstehung d. Chorea. 27

diesen Fällen sage ich nicht, dafs schon Chorea vorliegt, denn natürliche Ungezogenheit und iVu>peraraent müöseu aucli in Kechnung gezogea ««■den, aber, ich sage, dafs Qrond nun Argwohn vorliegt, besondo« bei Hadohen und bei solchen, die die Krankheit schon vorher gehabt haben* Han hurt oft Äufserungen des Bedauems darüber, dafs eine Krank- heit ihren Lauf hat nehmen dflrfen bis zu einem verhängnisvollen Ende^ und dals der Arzt zu spät hinzugezogen wurde. Freilich müssen wir zu- geben, dafs bei der Natur mancher Krankheit zuweilen auch eine ärztliche Hilfe von keinem wirklichen Nutzen gewesen wäre. Bei der Chorea liegt das anders. Gefahr ist wenig genug dabei im Spiel, aber die Gefahr, die da ist, entsteht aus der Thatsaohe, dafs hilflose Kinder, die unfflhig sind, sich auszudrücken, und die sogar noch halb und halb glauben, dafs ihre Tinfreiwilligcn Ungeechiokliohkeiten wirklich Ungezogenheiten sind, dafs solche Kinder für eine unbegrenzte Zeit all dem Elend, all den Verweisen ausgesetzt sind, die ihr Zustand nach sich zieht. All dies könnte ver- mi^ien und eine unendliche Menge von Leiden den Kindern erspart werden, wenn wir nur die Lehrer lehren könnten, scharf zu beobachten.

n.

Ein Rttckblick auf das yergangene Jahr.^)

Seit Bwd Jahren ist mir gestattet wordw, die Spalten »des Lanoet« an benutzen, um am Ende des Jahres gewisse Quellen fOr Chorea auf- xndecken, die wir unter den Kindern unserer Londoner Armen häufig genug entdecken können und die bei einiger Sorgfalt und Einsicht, weniger von Seiten der Armen selbst als vielmehr der höheren Klassen, ganz und gar verschwinden würden. Es ist wenig Neues darüber zu sagen; doch dürften die Umstände eine Wiederholung rechtfertigen Guita cavat saxum, man vi ud $aepe tadendo. Das Jahresende giebt uns Hoffnung, da(b das Publikum anftngt, diesem Gegenstande und andern damit su- sammenhängenden emstliche Beachtung zu schenken. Die häuslichen Sciiulnrboitou, der Mifsbrauch, der mit denselben getrieben wird, das billige, den Kindern verabreiclile Mittagessen (zu 10 Pf.), körperliche Züchtigungen sind neuerdings vielfach im Interesse der Schulkinder erörtert worden und zwar in ruhigei"er und einsichtsvollerer Weise als Irühcr, wo das Wort »überbftrdung« in Jedermanns Munde war und die Menschheit in zwei Feldlager spaltete. Ich weifs sehr wdil, daüs jede Obertreibung in Be- hauptungen durchaus den Zweck verfelilt.

Ich gebe von vornherein zu, dafs Veitstanz weder eine gefahrlicho noch eine «ehmerxhafte Krankheit bei Schulkindern ist, und dafs l^» ii ni abgewoLTcne Anordnungen, die einerseits UberLürdiing, andrerseits \ er- weichlichurig ganz vormeiden, praktisch ein Ding der Unuiögüclikeit sind. Doch mOssen wir daran fest halten, dafs die Chorea, so lange sie nicht als solche erkannt ist, dem Kinde in mancherlei 'Weise schaden kann,

>) Aus der Zeitschrift »The Lancet« vom 18. Januar 1887.

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während die Bliudlieit der Beobachtenden, die so oft diese Erkenntnis ver- eitelt, geradesa eratennlioh ist loh mOohto in wenigen Worten seigen, dafs ein grofeer und siemlioli beständiger Proientsats von Chorea direkt

anf unverstftndige Schularbeit zurrickzuführen ist ; zweitenSi dab die so er*

zcii|:rto Chorea sich leicht klassifizieren läfst sowohl in Roznp auf die ge- naue Art ihres Ursprungs als auch ;nif das Temperament der davon Er- griffenen: und drittens, dal's die Verordnungen, durch welche bei Scliul- kiüdern Chorea Terhütet werden kann, einfach und selbstverötäud- lioh sind.

VAhrend dee letzten Jabree Bind in meinein Hoapital in Oieat-Qnnond Street 23 FftUe von Chorea (16 M&dchen und 7 Knaben) znr Behandlung gekommenen die Wiederaufnahmen früherer Patienten nicht gerechnet was im ganzen mit früheren Jahren übereinstimmt Neun wenigstens von diesen Fällen müssen der Schule zur Lost gelegt werden. So war z. B. ein Knabe von elf Jahren, dessen Nerven einige Wochen vorher durch einen Fall erechfittert vorden waren, sehr mit SchiUarbeiten gequält und Ofler in der Schule gezOohtigt worden. Ein anderer Knabe, ein mageree, sartea Kind von 8 Jahren war wegen gingen Yersebens in der Schule gezfichtigft worden. Er war seitdem sehr verängstigt, hatte unruhige Nächte, redete im Sclilaf von seinen Schularbeiten etc. Dann entwickelte sich Veitstanz. Ein dritter Knnbo war 12 Jahre alt. (Ich erwähne vor- zugsweise Knaben, weil sie weil weniger zu der Krankheit neigen.) Die Familie hatte Unglück gehabt und war in Armut geraten. Dann kamen Klagen von der Sdhule »dab seine Handschrift sich sehr TecBohlechtere und diaSk er unaufmerksam wäre.« Bald zeigte es sich, dafs diese Nadi- lässigkeiten in beginnender Chorea ihren Grund hatten. Ein Mädchen von 11 Jahren hatte ihren ersten Anfall, dorn bald ein zweiter folgte, ^nach einem Scillae in die Hand. Ein Kind von 5 Jahren, das von der Mutter al.s ; sehr erregbar« geschildert wird, bekam Veitstanz nach Versetzung in eine hübcre Klasse, wo sie schwerere Aufgaben zu bewältigen hatte. Em elfjähriges, nicht sehr aufgeweoktee Mädchen wurde sehr reizbar während der Vorbereitung zum Examen und bekam Veitstanz.

Man mufs nicht vergessen, dafs diese verschiedenen ätiologischen Fest- stellungen und andere ähnliche als Ursachen darauf folgender Chorea hin- gestellt worden sind, weil jede andere Erkl.lning absolut fehlte. Kein Beispiel ist an<:;efrihrt, wo man unter verschiedenen möglichen Ursachen hätte wählen können.

Und als weiteren Beweis, daDs solche Erscheinungen sich wiederholen und sidi leicht in Gruppen Tereinigen lassen, mir gestattet eein^

den Bericht aus einem andern Hospital zu oitieren^) und von einem andern Berichterstatter. Im Jahre 1885 wurden 19 FäUe von Chorea im Westminster Hospital V^ehandelt fnur ein Teil von diesen in meiner eigoiinn Abteilung). Fünt wenigstens waren durch die Schule erzeugt, und werden von dem medical registrar in folgenden Worten geschildert.

') ßeri<^t ttbsr Chorea von Dr. Syrs, medical r^istrar p. 248. vd. II. West- minster Hospital RepQvts.

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Scbultfli^ IL Sdhulzoobt in ihrer Bedeatiang hinaohtlich d. Entstehung <L Chorea. 2 9

»Ein zehnjähriger Knabe wurde durch Schläge in der Schule nervös «?o- macbt.« >Ein ^lädchen vod 12 Jahren muläte eine Woche lang jeden Tag w^gen icblecbter Sobrifl naohUeiben.« Bin dreiaeho^hriges Mädchen, das snm sweiten Ifda aufgenomaifln wnide^ hatte »den ersten AnfiUl durch la •diwere Arbeit in der Schule bekommen.« Ein Junge von 9 Jahren (ein sehr schwerer und langwieriger Fall) war »kurz vorher durch ein Schul- examen in groüie Aufregung versetzt worden,'- Ein andt-rrr Junge des- selben Alters (auch ein schwerer Fall), der »als immer sehr nervOsx go- schüdert wird, hatte bioh sehr mit seinen häuslichen Arbeiten gequält und abge&ngstigt and >lag nachte wach im Bett, seine Biempel flbecdenkend.« Der AsliU von Veitstans kon nachher folgte nnmittelbsr auf eine körper- liche Züchtigung. Die Gesamtheit der FftUe (in Westminaler und Great Ormond Street), beläuft sich aal 42 f AUe jibrlidi, von denen 14 in der Sdiole ihren Ursprung haben.

Das eben citicrte Beispiel erinnert mich an ein Kind, das ich jetzt in meinem Hospital habe und das gleich dem vor 2 Jahren be- aohriebenen MUdciheo, «das eeine Ezempel nicht rechnen konnte« sehr deatüdi die Art nnd Weise Teransdhaalicht, wie die Faktoren sieh Ter- einigen, um endlich Chorea zu erzengen. Die Patientin kommt von einer benachbarten Volksschule; sie ist 11 Jahre alt, blaCs, mager, das ver- kümmerte Grofsstadtkind. Es sind noch 6 Öeschwister zu Hauso b<^i der Mutter, oiner Witwe, die Aufwarteetellen übernimmt. Die« Kind muläte zum Lebensunterhalt der Familie beitragen, indem sie nacii den Schul- stunden das Kind einer Nachbarin wartete. Sie war damit oft bis 11 Uhr abends besofaftftigt Dann mnüBte sie ihre Soholarbeiten maohen, sodals sie «nt am Mitteniaoht zn Bett kam. Höngens hatte sie swei der jOngeien Eänder zu waschen, anxoklelden and zur Schale zurecht zu machen, so- dafs '510 oft in ihrer eigenen Schule zu spät kam und sich Schalte, auch wohl Strafe zuzog. So abgehetzt, wahrsrheinlich schlecht genährt und da- zu von Natur zart und schwächlich bekam das Kind Veitstanz und zwar eine Axt, die obwohl nicht heftig, doch sehr hartnäckig ist

Und selbst wfthrend ich dies aohreibe, kommt sn mir in Behandlung ein sehr kleiner Knsbe^ vienehn Jahre alt, mit sehr eohirerer Ohorea, die ihm geradesn ang^rOgolt worden ist. Seine Eltern ediUdern ihn mir als »solir nerv?5s, sodafs er nicht ohne Licht schlafen kann.« Er litt auch sehr an Kopfweh, hatte aber nie Rheumatismus gehabt, ebensoweiiii,' wie die andern Famihentdiedor. Er sollte in der Schule geplaudert haben und bekam dafür 4 Schlage auf die rechte Hand, von denen einer den Danmen traf nnd gans besonders sohnienteL Er kam in giOfoter Anf* tegnng nach Banae^ wiederholt beteoemd, dab er die SchUge nicht Ter* dient habe. Den folgenden Tag hatte er Veitstans in der rechten Hand und dem rechten Ann und bald darauf am ganzen Körper. Die Zuckungen sind jetzt sehr heftig nnd schrecklich anzusehen. Er kann ge- rade noch ein paar abgerissene Worte hervorstoi'sen , ist sehr abgemagert und kann nur mit grofser Schwierigkeit gefüttert werden.

So sohliefaen wir denn * nicht nur aus den Fällen, die ich er- wihnt habe, sondeni anofa aus vielen andern Ahnlichen da& wir fflr

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B. Mtteilungen.

eine grofse Anzahl von ChoreafäUen weiiigijteu6 der Getiamtzahl die Söhlde ▼eiaatwortlioh maehen mllineii. Wir k<Jiuien die aofaAd- lidien ESaflllsfle in folgender Weise Muflaiflcieten; I. Obentrbeitimg, weno die Stunden zu Ung und die hftoaliolien Arbeiten besonders Recbea- exempel zu schwer sind; 2. aervOse Aufregung: besonders durch das Examen; 3. hrmsliehe Arbeiten, wenn das Haus weder Oolegenheit noch Mufsc da7.n bietet; 4. körperliche Züchtigung Qod andere Strafen be- eonUerb wenn sie unverdient sind.

Diese Ursachen werden in den einzelnen Fällen mehr oder weniger wirlnam gemaeht durch den nur aehwachen Widerstand einet adikoht genflhrten KOrpers, durch natflrlicbe Reisbarkeit, durch frOhere AnflUle der- selben Erankbeit, durch Geschlecht oder aartes Alter. So geht es weiter von Jahr zu Jahr, ohne Veränderung, immer sich gleich bleibend, und es wäre sehr wonig angebracht, diesen Gegenstand jetzt zur Weihnachtszeit zu erörtern, wenn ich niclit überzeugt wilre, dals gerade dieses Ijeiden den armen schon so niedergedrückten Londuuer Kindern erspart bleiben kUnnte^ Es gicbt ja noch andere Ursachen für Chorea: Streit und Ge- walttfanten in der Familiei brutale Qmuaamkeiteu betrunkener Eltern, TOllige Yerwahrloeung, StrafsenunfUle u. a. v. In dieaer Hinsicht mttssen wir uns darauf beachrlnken, solche Ursachen am Ende des Jahres zu» sammcnstcllen und mÜPKon trauernd bemerken, wie die statistischen Tabellen sieh immer gleich bleiben. Aber für die Schulchorea macheu wir die Freunde und Beschützer der Kinder verantwortlich, die Lehrer und Erzieher, die ihre moraliscJbe und physische Wohlfaliit fördern sollen und wollen und doch so oft die eigentiiohen Urheber ihrer Leiden sind <— meiat aus reiner Oedankenlosigkeit

Meiner Cberzeugung nach kommt das Obel nur davon her, daJs die Lehrer nicht individualisieren, nicht Rücksicht nehmen auf die Verschieden- heit der Temperamente und Natumnlat^en, auf körperliche Gesundiieit, hSn?- lichö Einflüsse u. s. w. Sie behandeln die Kinder nach zu strengen und allgemeinen Kegeln. Sie könnten alle von uns Ärzten etwas lernen und sich die Familiengeschichte und die rersonalien ihrer Schüler sorgfältig notieren, wie wir es mit unseren Patienten thun. Dann wflrden sie den Kindern nicht hftusllohe Arbeiten aufgeben, wo die hftuslidien YerbAltniese dem entgegen sind, wQrden nicht krankhaft nervöse Kinder als böswillig bestrafen und würden vor allen Dingen nicht die schüchternen und sen- sitiven knrpcrlich züchtigen. Die Herren Lehrer sagen uns, dafs es ohne Prügel in keiner Schule abgeht. Das mag ja richtig sein. Wir wollen ja körperliche Sti-afen nicht absolut verwerfen, obgleich sie mehr Unheil an- tiöhten ala man gewöhnlich glaubt, wir tadeln nur, daCs die Lehrer bei solchen Strafen nicht Rttofcsioht nehmen auf Temperament, Charakter- anläge u. s. w. Selbst in ein und derselben Familie kann die Strafe, die dem einen Kinde nfltzlich und heilsam ist, dem andern geradezu schaden. Ich glaube es ist Maryrat, der erzüblt, wie verschieden der Abschied von der Heimat auf zwei Brüder wiikte. Wahrend das Taschentucii des einen 80 von Thränon durclinäitst war, dafs er es nicht mehr henutzr'n konnte, hatte der andre trocknen Auges dagestanden und konnte dem Bruder sein

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Tagesordnung für den 3. Verbandstag der Hilfsschulon Deutschlands. 31

Taschentuch reichen mit den Worten: ?^Nimm das, es ist nicht gebraucht.« Solche üegeusätze kommen oft vor, und die Lehrer sollten sie beachten und berücksichtigeD. Es ist durchaus zu wünschen, dafs fähige Päda- gogen auch dieser Seite der SdmldiaMplin ihre AufmerkBamkeit sawenden mischten.

lob weifs, dafs gerade in dieser Zeit, in der Weibnsohtszeit, die

kranken und elenden Kinder der Armen ganz besonders Gegenstand der allgemeinen Symi>athie sind. Nun, die Kinder, von denen ich gesprochen halM?, verdienen und brauchen diese Sympathie in ganz besonderer Weise. Wie geduldig tragen sie ihr Leiden, wie dankbar sind sie für jede Er- leichteruDg, jede kleine Freude. So sind denn meine Worte vor allem an die Fraande der Sinder gerichtet an Lehrer und Enidier. damit sie den Cbamktereigentflnüichkeiten Bechniing tragen und nioht mehr blindlings nach starren Gesetzen strafen. Dann werde ich künftig keine Venmlassung haben, die Weiimacfatsfreode durch meine Jeremiaden zu stOren.

3. Tagesordnung für den 3. Verbandstag der Hilfs- schulen Deutschlands.

In der Hauptversammlung des 2. Hilfsschulverbandstages Ostern 1898 zu Cassel wurde auf Vorschlag des Herrn Stadtschulrat Bauer in Augs- burg diese Stadt zum Versammlungsort für den 3. Verbandstag bestimmt. Die Versammlung liels sich dabei vor allem von dem Gesichtspunkte leiten, dab dordi diese Wahl vielleicht euie weitere Yerbreitong der Hilfs- sehnlen anch im Süden Deotsclilands angebahnt und gefMert werden könne. Der B. Yerbsndatag wird am 11, und 12. April 1901 ab- gehalten werden und zwar dergestalt, dafs am Mittwoch, dem 11. April nV^Tids eine VorversammlnnL-- und nm Donnerstag, dem 12. April vor- mittags die Hauptversammluiig stattündet.

Beztkglich der Tagesordnung hat der Vorstand des IliUsschulverbandes nach längeren eingehenden Verhandlungen in einer am 15. Sept d. Js. in Bremen abgehaltenen Sitsmig folgendes Mgesetxt:

L VorTersammlnng.

A. Das HilfsschnUesebnch. Refeieiit: Lehrer Kurt Ehrig-Leipzig.

B. Die Hilfssohnlflbel Referent: Hauptlehier Kielhorn- Brann- schweig.

C. Der Knaben -Handfertigkeitsunterricht in der Hilfsschule. Eeferent: Lehrer Basedow- Hannover.

D. Bericht tlber die neue Hilfsschulstatistik. Referent: Hilfsscbul- Idter Winteimann-Bremen.

S. fiechnungsablage. F. Statotenftnderong. 0. VorstandswahL IL Hauptversammlung.

A. Die Hilfsschule nach ihrer pädagogischen und volkswirtschaft-

Digrtizeo Ly <jOOgle

32

B. lOtteUimgen.

liehen Baleutung. Referent: Hauptldirer Hanke, Leiter der HillMHilft in OörUtz.

B. Über den khidJidifiii Sohvaoliabiii. BeHsreiit: Dr, med. Fried r. Wilh. UQ 11 er> Augsburg.

C. Beratung Ober die dem 2. Yerbandstage Tom Haupflehrer Eiol- horn-Brauuschweig Toigelogten LeitsBtze.

A bis E. fiber die OrganiBation der HUfnebule. Bericht Ober

den 2. Yerbaadfitig Seite 25 ff.) Dieselben eiud nach mehr- facher Erörterung in den Vorstandssitzung^on und auf Gnmd von Verhandlungen mit verschiodenon in der Hiifsschularbeit stehen- den Personen von dem Heferenten umgearbeitet und haben nun- mehr folgende Fassung erfahren :

A. Der Name. HiUsBohnle (fllr sdtwacbbefUiigte Kinder).

B. Allgemeines.

1. Die Hilfsschule ist als öfTentliehe selbständige Schule anzuerkennen. Nebenklassen, welche die schwach befähigten Kinder zum weiteren Besuche der Volks- bezw. Bürgerschule vorbereiten sollen sowie Nachhilfe- abteilungen, in denen die schwachbefähigten Kinder nur in einaefaiea PAdiem unterwiesen werden können die Hilfseohule nicht ersetsen.

2. Dem entsprechend gelten für sie die Schnlge^etzo und die Schul- ordnung, imter welchen die Volks- bezw. Bürgerschulen des betreffoGiden Ortes stehen. NOtigenlalls sind fOr sie besondere Verordnungen zu er- lassen.

3. Es sind gesetzliche Best immuneren erforderlich, um a) Kinder, welche zur Aufnahme in die Hilfsschule bestimmt sind, aus den Volks-, bezw. Bürgerschulen ausweisen zu können, b) Kinder, welche für die Hilfsschule nicht geeignet sind, aus diraer entlassen zu kOnnesi.

C. Das Scbfilermaterial

Die Hilfsschule ist für diejenigen Kinder bestimmt, die derart geistig

geschwächt sind, dafs sie an dem Unterrichte in einer Volks- bezw« Bürgerschule nicht mit Erfolg teilnehmen können. Abzuweisen sind :

1. Kinder, die an Schwachsinn höheren Grades sowie an Blödtuun leiden ;

3. blinde und taubstumme Kinder, sowie schwerhörige, wenn deren Schwerhörigkeit so grofs ist, dafs sie an dem Unterrichte fQr hOrende Kinder nicht teilnehmen können;

3. epüeptiflche £nder;

4. geistig normale Kinder, welche wogen nngpflnstiger Schulverhält-

nisse, wegen mangelhaften Schulbesuches oder we^en Krankheit in der Ausbildung zurückgeblieben sind und solche, welche nur in einzelnen Unterrichtsfächern schwach sind;

5. sittlich verkommene Kinder.

TTiwer Yeidn für Eioderfondnmg.

33

D. Die Aufnahme.

1. Die Aufnahme in der Hilfsächule geschieht in der llegel erst nach eineiii ein- bis sweijährigen Besoohe einer Volks- besw. BflrgerBchiile. Etne fr&hero Aufnahme Ist statthaft

2. Die Aufnahme voUaieht ein PrQfungsaussohufs, bestehend am einem

Schulaufsichtsbeamten , einem psychiatrisch gebildeten Arzte hozvr. dem Schularzte und dem Leiter der Hüfssohule. Das Urteil dieses Ausschusses ist malsgebeud.

3. Die AufuahmeprüfuDg linJut vor Beginn des Schuljahres« die Auf» nähme in der Regel nur bei Beginn desselbeii statt

4. Die ünwUligmig der Eltern (besw* deren Verteeter) snr Ober- ftthnmg der Kinder in die HÜfssohoIe ist thnnlicbst auf gQtUdiem Wege zu erlangen.

5. Solche Kinder, über welche bei der Aufnahmeprüfung das Urteil schwankend ist, ob sie schwachboiähig^t oder hohem Grades schwachsinnig sind, sind zur B^utachtung in die Ililfsschule aufzunehmen.

E. Die Entlassung.

1. Die Entlassung der Kinder aus der Hilfsschule geschieht in der Regel den Landesgesetzen geinäfs nach Beendigung der Schulpflicht Doch ist dahin zu streben, dafs die Kinder je nach Bedarf über die gesetzliche Soholpflioht hinaus die Schule besuchen.

2. Kinder, die sich in der Hiläschule auTserordentlidb entwickelt haben, hOnnen in die Volks- bezw. Bfligenefatde znrflok versetzt weiden, wenn sie noch mehrere 8chn]|jahre ^or sich haben.

3. Kinder, an denen Schwachsinn höheren Grades festgestellt ist, sind auf Grund eines von dem Prüfungsansschusse auszufertigenden Outachtens zu entlassen, und in Anstaltserziehung zu führen. Die Entlassung ist um 80 notwendiger, wenn ungesunde häusliche Verhältnisse vorliegen.

Hannover. Hense.

4. Unser Verein für Kinderforschong.

Das Programm unserer diesjährigen Versammlung, die voraussichtlich wieder in den ersten Augusttagen stattfinden wird, werden wir in einem der n<^hsten llefte dieser Zeitschrift mitteilen. Anmeldungen von Vor- trägen sind an den Unterzeichneten zu richten.

Der Bericht der letzten Versammlung ist auch im Sonderdroflk er- sohieaeD und kann gegen Einsendung einer Zebnpfennigmarhe in einem oder mehreren Ezemphu^n vom Untenteichneten oder auoh doroh den Bnoh- handel bezogen werden.

¥ni unsere neucin getretenen Mitglieder bemerken wir infolge mehr- facher Antragen noch, dai's nach dorn Entwurf der Yereinssatzungen, über die in der nächsten Versammlnnr^ erst endgiltig beschlossen werden wird, der Beitrag jähiiioh 4 M betrageu soll für ordeutUche Mitglieder und 50 Pf. Ar anberordentliche. Diese erhalten dafQr Zutritt zu den Versammlnngen und den Yeroinsberidit, jene anfserdem die Zeitschrift und sonstige Mit-

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^4

6. MitteOnngoii.

tailQttgeii des Vereins. Gegen vorlierige Einseudnns von 4 M an den unterzeichneten Oesohflftsffthrer des Vereins wird also dem Betrsffianden

von der Verlagsbandlung diese Zeitsdmft ragelmäfsig zugesandt. Die

frnheron JahrgSngc der Zeitschrift können neueingotretene Mitglieder uud Leser dagegen nur durch den Buchhandel oder direkt vom Verlage be- ziehen, uud zwar kostet der letzte Jahrgang 4 M und die früheren jo 3 M.

1 i ii p e r.

5. Zur Psychologie und Fsyohopathologia des

Lesenlernens.

Von J. TrOpsr.

Meine Bemerkungen in Nr. 5 v. J. dieser Zeitschrift gegen den Ver- balismna im. ersten Leseanterrloht und in den vielgepriesenen Le6d> flbeln haben einen lieben Freund und Mitarbeiter unseres Blattes Terstimmt.

Er meinte sogar, es sei ein Unrecht an tQcbtigen llftnnem damit begangen. Den Verfasser der einen Fibel kenne er als einen sehr tüchtigen Schul- mann und die Fibel sei aus einer langjährigen Praxis eines mit tiefem Verständnis arbeitenden Mannes herangewachsen und musterhaft ge- schrieben. Andere haben vielleicht eben ao gedacht, es aber nicht gesagt. Darum ein Wort zur AufkÜUung wie zum weiteren Nachdenken über eine wichtige Frsga

Selbstverständlich hat es mir ▼oUstflndig fem gelegen, irgendwie die persönliche Tflditigkeit der betreffenden Verfasser anzuzweifeln und an- zugreifen, noch 7m bezweifeln, dafs von ihrem Standpunkte aus ihre Arbeit Anerkennung verdiene. Ich habe nur den Standpunkt angegn^iffen und die dringende Verpflichtung gefühlt, es zu thun. Dieser Standpunkt ist aUerdiugä mehr oder weniger in allen unseren landläufigen Fibeln ▼ertreten, und so viel neue Fibcdn erookeln«!, so gering ist der Fortschritt naoh der inhaltlichen Seite der Fibel. Die Fibeln kranken aUe mehr oder weniger an dem Fehler, den s. B. Herr Eölle-Begensbcrg auf der letzten Konferenz für Idiotenwesen in Breslau gegenüber den herrschenden Methoden in dnr Sprachheilkunst tadelte und den er in seinem kleinen von uns wiederholt empfohlenen Schriftchen über Sprachgebrechen nach Möglichkeit zu meiden sucht, so dafs es hier in der That einen erfreu- liehen Fortaohritt vertritt, den ich aber fOr den Spraohunteiriobt scUeeht- hin erstrebe.

Wogegen ich mich wend^ wollte, das ist der Verbalismus in den herrschenden Leselehrmethoden, der nicht den Schwachsinn und die Ideen- flucht hei Schwachsinnigen bessert, sondern sie vermehren mnfs.

Diese Homerkung möchte ich vorläufig zur Anfklärung geben. Im übrigen halte ich bereits im Jahre 1803 in meiner Schrift »Psycho- pathische Minderwertigkeiten im Kindesalter«, S. 23 f. mit ebenso scharfen Worten diesen geisttötenden Verbalismus im ersten Schreib* leseunterricht gegeifsdt; allerdings, wie jede neuerscheinende Fibel lehrt,

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Zur Psychologie und Psychopathologie des Leseaieraens.

35

olme Erfolg. Da die Schrift vergriffen ist, 80 darf ich meine Ausführungea

wohi hier wörtlich wiederholen.

»Der Schwerpunkt der überbürduiigäfrage ich füge jetzt inuzii» woh der gelfitrerbOdenden Methoden li^ an einer Stelle^ wo er 80 selten geeuoht irird. Er liegl in dem Ton DOrpfeld so vor- trefflich gegeifselten didaktischen Materialismus, der unsem öffentlichen Erziehungsgeist beseelt und durch alle die zahllosen Prüfungen imd Berechtigungen von oben her pyRtematiseh gopfle^ ■wird: in jener oberflächlichen pädaffopfisrhon Ansi; lu, welche den Wissensstoff und die technische ierti^ii.üit als aolcuo für seelische Enft und geistigen Zuwachs halt und niobt begreifen will, dab Geist und Wille nicht von dem leben, was sie essen, sondern nur von dem, was sie verdauen, und daJs dämm alles, was mehr hinein- gestopft wird, nicht nur nicht nützt, sondern schadet.

»Diese Haus, Schule, Kirche, Staat und geselliges Leben leider allzusehr beherrschende Anschauung wird dadurch noch gefahr- drohender für Geist und Nerven der nachwachsenden Generation, dafs sie sich mit dem Yerbalismus assooüert^ der das Bibelwort: »Der Buchstabe tOtet, der Oeist aber ist es» der lebendig machte in sein Gegenteil verkehrt »Lerne nur die Worte, das Yerstftndnis wird dir schon im späteren Leben kommen«, das ist nicht blofs eine gefähr- liche Afterweisheit der Theologie bis auf den heutigen Tag, wir kennen sie in jedem Salon, in politischen Wahlreden, auf Kanzeln, in Schulstuben, in jeder Lesefibel und jedem Lese- und Lehr- buch praktisch angewendet finden. Man nehme den Stundenplan einer beliebigen Klasse, namentlich der hfiheren Schulen und addiere, wieviele Zeit auf die Spraohform, auf Lesen, Sohieiben, Grammatik, und wieviel auf die Bildung saohlicdifflr Vorstellungen verwendet wird ! Am meisten trägt sogar das erste Schuljahr bei, nicht blofs den Geist, sondern auch nach des Physiologen Preyer Ansicht das Gehirn zu verbilden: das Schreib- und Lesezentrum entwickelt sich hypertrophisch auf Kosten der übrigen Gehirnteile.

»Auf ruf reif aietst maust reist rast feist saust lau laut lauf mal Ihul weü.«

»Die Gitrone ist eine weiche, saftige Frucht Der Chor singt einen Choral. Ich habe heute meine Censtir bekommen. Die Cigarre glimmt. Der Cylinder ist rund.« »In unserm G^arten ist eine Laube. Freuet euch des Lebens. Die Lerche schwebt in den Lüften und singt ein Lied dabei. Leget die Lügen ab. Die Luft ist lau. Gehorchet euren Lehrern und folget ihnen. Der Landmann bestellt den Acker. Liebet euo Feinde. Die Leinwand wird aus Flachs bereitet Die Linde vor der Thür ist schon sehr alt«

»Diese Proben sind aus einer LeseELbel, dem einzigen Lern- buche für das erste Schuljahr, entnommen. Weder die Fibel noch die Stoffe sind besonders ausgesucht worden. Man findet solche Öden, heterogenen Stoffe in jeder anderen amtlich konzessionierten Fil-ol. Man schlage das landläufigste französische oder lateinische Lehrbuch

3*

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B. MitteiluDgen.

auf un l man findet genau dasselbe Bild. Desgleichen, wenn man die Oberscanlten in den behördlich eingeführten oder par monopolisierten Lesebüüliera zusatumeastellt. Fibeln, Lesebücher und sprachliche LehrbAcher, welohe sasammenhängende, Gebt und Gemflt nicht stampf maohende Stoffe bieten, sind bis heute meines Wissens noch in keiner öffentlichen Schale der dentscdien Lftnder eingeführt Es ist das amt- lich nicht gestattet.

r>ilit diesen Stoffen mufs sich nun aber das arme Schulerhirn •während der meisten Unterrichtszeit und der meisten Hausarbeits- stundcn tagaus tageiU) jahraus jahrein schriftlich wie mündlich bc- aofa&ftlgea. Darf es uns da wandern, wenn der Geist dabei w- krüppeit?

»Hinzu kommt noch, dafs dio landläufigen Leitftden fQr den Saobuntemcht auch nur Knochen ohne Fleisch bieten, an welchen keiner nagen wird, der es nicht notgedrungen mufs.

»So führt man den Schiller überall auf dflrre Ileide, und rings- umher li^t schöne grüne Woide. Obendrein klagt man ihn an, dafs 61 zerstreut, zerfahren, unaofiDerksam, stampf und faul ist Armer SchOlertt

Das schrieb ich 1893.

Wenn ich Zeit finde, werde ich selbstverständlich auch meinen

kritischen Romerkungcn positive Vorschläge folgen lassen. Di<-'se Fibel- frago hat mich bei'eits 25 Jahre beschflftigt. Was mich bisiier abgehalten hat, war u. a. die Abneigung, dio Unzahl der Fibeln noch um eine weitere zu vermehren und sodann der Gedanke, dai's man mit einer Reform bei der bnreanknttlsdhea Verwaltung des Schulwesens sehr schwer Eingang findet

Herr Prof. Zimmer hat sich über meine Ansicht zur Frage des

ersten Leseunterrichts eingehend zu informieren gesucht und meine Ideen schlicfslich in dem bekannten Preisausschreiben des Ev. Diakonie- V eroin s mit benutzt. Ich möchte nun abwarten, inwieweit die IVeisarbeiten den psychologischen und geisteshygienischen Anforderungen entsprechen werden. Xn meiner demnMebsl erscheinenden neuen Umarbeitung der tPsychopathischen Minderwertigkeitent werde ich auf alle Edle eine ein- gehendere Psychopathologie des Lesenlemens geben und darnach auch meine positiven Anforderungen an eine gute Leseßbel näher darlegen, in der Hoffnung, damit ein Kreuz des ersten Leseunterrichts bei geistig ge- sunden wie geistig schwachen Kindern erleichtern zu helfen.

C Zur littentor.

87

C. Zur Litteratur.

L Bar litteratur der Arbeitsfähigkeit der Kinder. (Fortsetz UDg. *)

Dr. F. Kensies, Arbeitshygiene der Schule auf Grund von Ermüdnngs- messungen. Reuthei & Keicheri Berlin. 64 a 1,60 M. K e m s i e 8 ßechenvemushe unter- scheiden sich von den vor ihm ange- wandten ganz wesentlich. B u r g e r s t e i n, dessen Methode wohl als bekannt ange- adien werAm kann, und nadi aeinem BeisiMtile dne Reihe anderer Untersacher Uelsen aus 1 stelligen Zahlen gebildete Additionsau fg:i1 ILM und Multiplikationsauf- gaben rechueu und grimdoten ihr Urteil aQSSchlieCslich oder doch fast aus- scblietalicli auf die Schwankungen der Zahl der gelösten Aufgaben, also auf die Quantität der Ixistungen, indem sie der Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Lösungen mehr als höchstens sekundären Weit nicht beilegten* ~> Anders Kero- Biea. Er meint, «die mlSglidiste Über- einstimmung in den Versuchabedingungen« sei mehr als bisher zu betonen, und dazu gehöre in »erster IJnie dio Arbeits- geschwindigkeit« Diese zu regeln ist aetne Hauptsorge. Für Toiqpraafam der Angabe durch den Lehier und awei- maliges Kaofasprechen derselben durch die Schüler im Chore werden 10 Sekninden, für die Lösung durchschnittlich 20 Se- kunden angesetzt; dann folgt Niederschrift des Eigebniaaea nnd eine koize Arbeits- pause, und genau nach 60 (bei späteren Versuchen nach 7ö, 90 oder 120) Sekunden wird das folgende Exeiupel genannt. Was ist dadurch erreicht ? Innerhalb eines genau nomiieTten Zeitabechrnttes haben aDe am dem Tetsoch teilnehmenden Schüler dieselbe Aufgabe zu lösen: 1. die vorgesprochenen Zahlen in das Gedächt- nis aufzunehmen, 2, die Zahlen selbst

^ YgL Jhig. 1900. Heft T, & 229 ff.

und ihre Bedeutung in der Aüf^^abe gdatig zu erfassen, 3. die Kechenoperation aus- zuführen, 4. das Ergebnis festzuhalten und 5. dasselbe niederzuschreiben. In dem Berichte ist nieht gesagt, ob ein Zeiohai der Slasae die Zeit des Nieder- schreibens angab oder ob jeder Schüler, nachdem er mit rechnen fertig war, aein Resultat niederschrieb. Im ersten Falle wäre die zwischen Niederschrift und Nennoi^ der nAchsten Anfgabe liegende Arbeitspause für alle Schüler annähernd gleich gewesen, jedocli liiitten die schnelle- ren Kechner das fertige Ergebnis länger im Gedächtnis festhalten müssen was aooh oidit gans bedentangak» geweaen wAte im anderen Falle hHtten die schnelleren Rechner länger ausnihen können. Al>er seliwt im ersten Falle ist die Arbeitsgeschwindigkeit nicht für alle Schiller gleich. Gleichheit ist nicht damit erreicht, dab innerhalb derselben Frist alle Schüler eine Aufgabe lösen (oder lösen sollen; es findet sich keine Angabe im Berichte, ob stets alle Schüler mit der Lösimg fertig wuren oder ob unter den als Fehler gezählten auch fehlende Lasongen mitbegriffen sind). Das Tempo im Ablauf der geistigen Prozesse ist da- durch nicht uonniert Es ist praktisch nicht gleichgiltig, oh ein Oewäs*!er, das auf lU üi Lauf 2 m Gefälle liat, auf gleiohmälisig geneigter fliehe hetaUlie&t, oder ob es die 2 m Oefille auf einer Länge von m verliert und dann 9 '/g m eben daliinströmt. Doch ich will das Gleichnis, das natürlich an dem Fehler aller Gleichnisse auch krankt, nicht weiter ansfühien; vidleicht Tennag ea aber« recht durchdacht, zu dem Bekenntnis m führen, da£s die Versuchsanordnung von Kemf^ies Gleiehmäfeigkeit der Arbeits- geschwindigkeit nicht gai'antiert, und zwar gerade deshalb, weil die Aufgabe in f^eicfaen Zeitabafinden an alle Bchnler

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CS. Zv Xattenktor.

hmugebtacht werden, d. h. gleidter^

weise ausgedrückt, weil zwar das gleiche Gefälle rrnf pleichfr Strecke zu durch- laufen ißt, aler dir Neigung der Bahn Sülir versübiedeuartig gestaltet sein kann.

Q V Nennung der Aufgabe.

|> Wiederholung der Aufgabe *7' im Cltoro.

lAuäfährang der Bechen - I openfbon«

I FesChaUsD des Ergebnisses. Fixieren des SinebiuBaea.

Atbeiteptnae.

ISne Ifethode, welche jedem Schüler die

neue Aufgabe unmittelbar nach Erledigung der alten darbieii't, Icann allerditif^ erst redit nicht gleiche Arl»<'itsge»ch\vuidigkeit aller Schüler zu gleichen Zeiten gewähren; daffir vermag äe aber ana dem Schwanken derselben beim einzelnen Schüler zu ver- schiedenen Zeilen Schlüsse zu ziehen, wie das Burgerstein und andere getlian haben. Auch Kern sie s hat diebo Schwan- kungen der Arbeitj»gesch windigkeit sor Beorteihuig benntst, und swar in den »Versuche TT' über.sclinebeucn (Seite 25 bis 29). T'ntenstehende Tabelle 1 fafst kurz die Ergcl misse der Tabelle IX (a. 0. S. 2G) zuüamuien. ')

Tabelle 1.

Aufgabengruppe

I

U

UI

IV

V

VI

vn

VLLi

IX

Summe

Durch- schnitt

Arbeitazeit (^iu.>

6

3

ö

3

3

Cl*/4)

a) Fehler. . .

3

2

1

1

1

1

1

1

2

13

IV,

Versehen . .

1

1

1

1

4

Korrektoren .

1

1

1

1

1

5

Ii

b) Arb. Zeit. .

6

10

6

8

6V,

7

a V.)

Fehler. . .

5

5

5

1

2

3

3

24

3*/.

Vorsehen. .

Korrekturen .

1

1

1

1

1

1

6

1

c) Arb. Zeit. .

10

7

7

7

10

9

50 (ö)

8V.

(1)

Fehler. . .

2

3

2

7

1

Yeiaehen . .

1

1

2

Korrektoren .

1

7

4

t>

'3

') Die Ziffern in Klammem geben die Pausen (Summen ders. nnd Dnrcdi-

schnirt) an.

Es scheint mir sehr gewagt, aus diesen Bei<?pic!en zu schliefsen. -dafs langsames Arbeiten bessere Arbeitswerte zur Folge hat« (a. a. 0. S. 27). Tabelle 2 falat die Eiigehniase der Tillen X, XI n. KII (a. a. 0. & 28) über Vexaaohe ÜB an 2 iiiüprn zusammen.

Zunächst scheint mir aus dieser I bcr- üicht hervorzugehen, dals Subtraktions- anlgaben für üntersudinngen dieser Art nicht recht geeignet aind. Tabelle 2c xeigt mehlfache »Oscülationen in der Arbeits-

geschwindigkeit-. Eigene Erfahrungen haben mich gelehii. dafs die Schwierig- keiten der Subtraktionsaufgaben weit mehr untereinander differieren als die ent- sprediender AdditiODsaufgaben. Es dürfte nicht zu gewagt sein, aus dem im all- geraeinen übereinstimmenden Verlauf der

M Der dort aufgeführte 4. ?>chüler ist wegzulassen, da er verschiedene Rechen- Methoden (Kopfrechnen nnd sohziftliohe Form) angewendet hat

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(X Zur littezater.

39

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auf- und abäteigüuüim Kurve bei beiden Sdiülem ra v«iiniiteiif dab z. B. Serie 5 aus verhiltnigmlftttg leiofaten Auf^bea gebildet gewesen sei, kurz dafs der Wollen- gang von der gröf^oren rxJer pnringeren Schwierigkeit der Aufgaben stärker be- stimnit woiden sei als von anderen Yer- hültnissen; infolgo deesen moA Ennfidniig»' wirkoDigeil, weil verdeckt, nicht heraus- zuerkouncn. Tabello 2a schfint mir n-eht dentÜch vor Augen zu fuhitii. dal^i weit luulir die Sohwankungen in der Arbeits- geschwindigkeit als die der LeiBtnogsweite Beträoksiohtigiing venlienea bei Beur- , teilung der Ermüdung. l\ibelle 2b zeigt j für di'U Rchülor K oinige niclit leicht er- klärbare Schwank Liii;^'«'!) in der Arbeits- geschwiudiijkeit, bestätigt aber duch das eben Gesagte. Die Schwanbuigen der Arbeitsqualität würden weder bei K noch bei S zu irgeudwelelu n bestimmten Schlüssen berechtigen. Da fur die in jedem Versuche zu redinenden lU . 6 Auf- gaben inügesamt 30 Hinnteii Terwendet wmden, so blieben dem SchQler K bei a) über 700, dem 8 nmd 700; bei b) dem K mnd 1050, (b-ni S niud 11 :.0 Sekunden Arbeitspausen. Der schnellere Iv ebner K hat stets den Vorteil lange i-er i'auseu, daher a. B. bei a) die atetige ^ahme der Arbeitaqnalität.

Ich will nicht weiter in Einzelheiten eindrinfren ; ich glanbe, da^ das Ange- führte f,'<'nügi. iiK iue Beliauptung zu stützen, d.dij die ilethode, die Arbeits- geschwindigkeit gleich zu erhalten, wie sie hier versucht worden ist, nit bt den gewünschten Zweck erreicht hat 'iafs >]<■ eher »die möglichste t'boreinstimmung in den Versuchsbediagungeu« lH?eii.träditigt hat und darum unzweideutige Eligebniaae nicht hat liefern können. Denn hat aidi in den genau betreffs Arbeitszeit und Arbeitspausen kontrollierten Einzelver- suehen ergeben, dafs die Arbeitsqualitiit keijien Anhalt zur Beurtedung der Ei- müduug bietet so gilt das offenbar für die Klassen versuche ebenfalls; auf keinen Fall durfte es sich aber empfehlen, »swei

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GL Zar littentor.

]iebeneinando]:)iegeiuleT6ic8aohstage,welche m«k dwk die Zeitlago der V«rBttdie er- gänzen, raebervolletändigen Tagesreihe zu kombinioren« und sogar »fehlende Stunden- weite durch IntfTjwlation zu fixieren«, um »aus Uea ivoinbiuatioueu Duioh- acbnittszalilea hertostellen«. Ich veiv fioge es nur daher, auf die so gewon- nenen »Ärbeitstypen« u. dgl. wcitei ein- zugehen; denn, von manchem andern ab- gesehen, ist oa doch wohl die Zeitlage der Vennche allein nidit, welche ihre 'Werte beeinilabt Die Unterriobtsfikdier sind sicher wichtige Falctoren, nnd bei den Ergogi-aphenniessuDgen sind sie auch ^ranz besonders eitu^ehend behandelt woitieu. Überhaupt !>iud dieüo in viel ausgedehn- terem Mikbe und an viel systematisoherer Weiw aiugefülurt worden als jene Rechen- versuche, und es will mir scheinen, als ob ihre Ergebnisno nicht ohne Einfluls auf die Deutung der Rechenversuche ge- blieben siod. So liüiüit es (a. a. 0. S. 13): »Der erste und «weite Wochentag aeiohnen Bich vor den anderen durch ein anderes Arbeitsgesotz aus; der am Sonntag erworbene Vorrat an geistiger Frische und Widerstandskrafthat eine Arbeits- anregnng nnd Aufbesserang des Arbeitswertes am Montag and Dienstag zur folge. Der angeeig-

netste Arbeitstag ist der Sonn- abend.« Unter den Versachen (s. Tab. 3)f

aus deren Ergebnissen dieser Satz nT><;eleitet wird, ist aber nur je ein Monta^r uud ein Dienstag. Auf Gi-und dieser Tabelle lalst sich aber darüber streiten, ob Mittw. 6. U nicht ebenso günstig ist als Dienst 5. IL Und wenn mau Mittw. 13.11 mit Sonn, f). ir ver^loielit, winl man sicher den Mittw. für iiiigün.stiger halten als den Sorm. Sowdlil aus Beobachtun^gen in meiner Lehrpra-xi-s, als auch auf Grand mdner ^genen Untersndiangen mSdtte ich die Allgemeingiiltigkeit des citierten Satzes anfeehten. Der Montag\'orinittaf^ i.st für viele Grofs-stadtkinder keine gün- stige Zeit lui geistige Arbeiten.

Meine voistehenden Ausfuhiongen be- zwecken kemeswegs, das Verdienst Kem- sios', das er auf dem Gebiete der Unter- suchung der Arbeitsfähigkeit der hiil- kinder besitzt, anzufechten. Erstens ist sehr wichtig, dalis die Ergographcn- messnngen, die von anderer Seite bereits angestellt worden waren, durch seine Er- gebnisse b(?*it;itigt worden sind; es wäre nur zu wünschen, dafs sich noch recht viele Nacharbeiter finden möchten. Zwei- tens ist es sein Verdienst, ftber die Ton Bargerstein sueist benotste, in Labo- ratorien zuvor erprobte Methode fort- geschritten za sein und eine der Eigen-

Tabelle 3 (a. a, 0. Tabelle I, S. 10) aulser Do. 21. n. »)

8^ 10« II« 12"

12 gemischte Aolgaben

Do. :n. I. 95

So. 2. II. 95 Mo. 4. II. 95 Di. II. 95 All. t). II. 95 Do. 7. II. 95

30,3 42 42,5

50,2 37 35,6

35 35 45.3

35,2 38,3 42 38 30 46,7 - -

für jede (30 Sek. Arb. Z.

F. 8. II. 95 So. 9. II. 95 Mi. 13. 11. 95 Do. 14. II. 95

27 2

30,3 27^ 32

- 28,2 40^ - 39,5*) 29») 36«) - 36,5»)

1 für jede 90 Sek. Arb. Z.

») 60, •) 76, "0 90, «) 120 Sek. Arb. Z.

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C. Zur Litteratur.

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artigkeit vou £]assea>, d. b. MasseD- mtBiBaclniiigeD angemeSBeiieTe gesucht QiMl praktisch mit Teischiedsnen Ysm-

tionen durchprobiert za haben. Sie hat sich dabei meiner Meinung nach als nicht feinfühlig genug erwiesen für die man- cherlei Kinflüsse, denen die psycliiiäche Ihatigkeit der Schüler angesetzt ist Wer Kemsies' Methode grOndlich stndiert und untersucht, ^i-ird sich damit for pijrpne spätere Torsuche manchen Stein aus Uejn Wege räumen. So ist es also wohl als das Hauptverdienst des bc- aprodienra Baches za betaiehoeii, dab Sl dem Fortschritt den Weg zu bahnen redlioh geholfen hat. Dankwartb. (Forts, folgt)

S. Bnr BiyvlilatH» das XindM. Or. Hiraal ■uMmt, Les Tronbles

mentaux de l'enfanse, Prdeis de Psychiatrie infantile avec les applications pödagogique«? et ui^dico-legales. Paris 1^9. Bureau des fraUioalioiui aeientifiqties. WUireiid einer rohig veilaiifeDen Ünterrichtslektion war ich damit beschäf- tigt das Unterrichtsergebnis iiin li ne%vi.lin- heit an der Schultafel zu fixioren, als kdl hinter mir ein Gepolter vernahm, wie es das Herab&lleii eines Schfileis an den lUbboden herrorrafen kann. Hein so- sofortiger ^ßdk dahin überzeugte mich, 'Jaf* dem so war. Der Knabo stand, wie >oiiit' KlassengenoSvSt'u, im 11. Lebensjahr und hatte mich mit denselben von An- fing SD zom Lehrer gehabt Zwischen Lehrer und Schäbr mur das Verhiltnis im Verlaufe der Zeit ein solches ge- worden, ilafr Pin Abweichen von dt^r T^'ahr- heit auch buh Furcht vor Stiufe nicht mehr vorkam, insbesondere hatte der ab- geftDeoe Sch&ter noch keinen Anlalis zn seblrferera Tadel gegolien nnd hinsichtlich der Aufmerksamkeit war er einer der besten, der beste überhaupt in Dnnlc- leistnngen. Und nun safs derselbe KnaUe, den ich soeben aui seinem Lackiothschen BItxe sich wieder hatte snreoht rücken

sehen, vor mir, ohne zu wissen, was ihm geschehen war. Der Knabe wobts that- sichlich nidit, dab er am Boden gdegen hsMe, nnd sein Eratannen schien ein gröfser^'s als da^^ meinige , als alle in seiner Nabe Sitzenden von dem wahr- genommenen Falle belichteten. Zur nähe- ren Kennzeichnnng des Yoifalles sei noch erwälint-dalis sich bei dem Knaben spftter im 7. und 8. Schuljalire Unsiclier* hoit in den Zungenbewegungen beim Sprechen einstellten und dafe sein Vater, lange Zeit ein aufgeregter Manu, an Himerweiohiing verstarb.

Natüilich ist dieser ganze Vorbll mit dem Knaben ein Beweis von einem Trouble mental, dem man in Schulen leider nicht zu selten begegnet. Was aber seltener so genau beobachtet werden kann, das ist das absolute Nichtwissen des Anfalles seitens dos Betroffenen, der, wie schon enivähnt, durchaus p;laul>\vüidig war. Es ist ein schrecklicher (JeHlanke, sich beim Lehrer Unkenntois vom Vor- kommen derartiger Oostssstörungen tor< sttstdlen; schreoklioh im HinbBck auf die ungerechte Beurteilung des Vorfalles, auf die nn^erfchte Behaudlun;; des Knalien und auf die daraus sieh cr^^eljeriden Folyeu; schrecklich zuletzt, wenn mau jahrelang ein Kind einen bestimmten Teil des Tages unter Angen hat ohne Eltem, bei denen man noch weniger Keimtnis und Ver» st.nndnis von derartigen Zustiitiden i^eistiger Siöruiigeu voraussetzt, darauf aufmerk^ia machen zu kuuneu.

An Mitteln und Gelegenheiten, sich mit den abnormen Oeistssznständen der Kindheit vertraat zu machen, matigelt es dem erziehenden Lehrer bereife nirht mehr. Das Beoba'htiuigi>ol>jeict hat er alltäglich in UinÜiugüch verschiedener Lage and Verfassung rot sich, und er braucht es nur darauf hin zu lieobachten, Was Lehr- und llandbücher neben f^schzeit» feil riftpn darüher bieten. Für den er- ziehenden Lehrer erhält dann die alte Foiderang Ton der Berücksichtigung der Individualitiit zum guten Teil einen ganz

L.icjui^L.ü cy Google

42

C. Zur Litteratur.

neuen Inhalt, und die Frage nach dem Verhältnis zwischen Individual- undSozial- püdnfrogik dürfte von daher niuht Wöni^^ Klärung erfuhren.

Za den Torhandenen eioschlägigen Weiten, wie Dr. P. Moreau, der Irr* sinn im Eindesalter yeae^ darin den Ali^chnitt: Historisches, iu der Ein- leitung — , und I>r. E in in i II Kilians, die Jisj'chischen btüiuugen de» Kindesalteit», hat sich neuerdings nnter dem oben an- geführten Titel eins hinzugescUt von einem in der ärztlichen Welt Frankreichs hfrr>it« hnVannten Arzte, fr^'^Tf nwürtic: Chef der medizmuschen Fakultät in i^aris und tJnterbesirksarst für den Seinebezirk da- eelbst

Wie hei Moreaunnd Emminghaus

findet sich der cinf^anj«? darbest fllfo» Vor- Inst der Erinnerung an den orlittenen xVniidi auch l'ei Alauheirnnr als eine Folge der Epilepsie fär den Oeiat Wib- rend nanh Höre an »die Epüepde einen sehr ungünstigen Einflufs auf die intellek- tuellen Fähif^keiteii ausübt indem sie die- selben entweder vernichtet« etc., »ou Toit, nach Manheimer p. 53, daus Tepilepeie la perte oomplete dn sonrenir de l'accee.« »Ftast immer zeigt sich zu- cr^r als psychische Störung der kind- lichen K])ileptikor »Gedächtnisschwäche« . . . Emminghaus.

fiB Iconunt hier nicht darauf an, die Yonfige der Worte gegen einander ab- zuwägen. Unter den Vorzügen des Man- h'MmerKchen llu( h?s verdient (]rr ]ier- vorgeliubfü zu \veiden, dafs es das reiche Material lu einer wohlthuend bündigen Kürse darstellt; daher man darin anch keine Besdiireibiing einzeber Krankheits- fälle an Kinderindividueo findet. Die ein- eohondfTon S<hiId'M*(in;:»»n der tausend- faltigon Krankheitstunnea huid ja ohnehin keine anziehende Lektüre; aber doch sind in einem 1. Teile die Ursachen, in einem 2. die Symptome und in einem weiteren die einzelnen Geistes-ttnuni^i^n mono- graphisch-systematisch zur Darstellung ge»

kommen, so dafe sich das Buch einem aufmerksamen Beobarliter al> zuverlässiger

j Fulirer erweisen w ird. Ein 4. Teil des Buches behandelt die Fragen nach der VerantwortU<^eit der Kinder, nadi ihrer Strafbatkeit, naoh dem Werte ihrer Aus- sagen in riditerlichem Sinne und nach der Erklärung des Kinder>ell'stinoi-des. Erfreulicherweise steht der Verf. nicht auf selten der italienischen Schule mit ihrer Behauptung vom absolut geborenen Verbrecher »uul erwartet also amh in sehr schlimmen Fällen von der Erziehung und dem Unterrichte prophylaktische und therapische Wiikungen. Im übrigen em- pfiehlt TerC. auch alle sonst angeführten Mittel nnd Wege der Behandlnng, allein dings und das dürfte bei der- artif^en Büchern neu sein mit reich- Ücher Zuhilfen:üune der buggestion als psychologischem Besserungsm Ittel , wie überiianpt der Qegenstand den BucÄiea in dar Art der Betraditung einm mehr psychologischen Anstrich trägt, welcher Umstand es dem Pädagogen desto mehr empfehlenswert erscheinen läiät. Schade, dals er nicht allgemein zugänglich ist.

I So werden, zum wdteren Beispiele daf&r, die geistigen Störungen an dem Fliden der klas.siselien Einteihing:< von den Seelüuveruiögen der Keihe nach beti-achtet, nicht etwa, als ob Verfasser die Ver- mögeustheorie als nodtzaBecht bestehende betrachtet, »sondern weil mit diesen ge- läufigen Ausdrucken die seelischen Vor- gänge heiiucm «Tnippiert. überblickt, aus- einander gehalten werden können, ohne dies aber die Lehre von den Störungen ins ünendlidie zersplittert weiden wfiiden.« So werden der Reihe naoh einer gründ- lichen Untersuchung unterworfen die Störungen des Gefühl'^lrbens, des Intellekts und die der Aktivität als dem Gebiete des WottenSf woran sich eine Betrachtung rerwickeltorer undallgemeinerer Stomngen anschliefst, die aus einer primären Altorar tion des BewuJstseins entspringen.

Ihiemo.

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C. Zat IjttBifttiir.

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8. Biographieen als Qnellen nur

liabeo nrar den Nachteil, daiB die Jn^nd- erinnoniiigeii immer nur Erinnerungtin

und Voine 'üretten Bonb;i(lituii^'S{'ri:.'h- Disse sind und sie iJunli die Hufh-xiuiifu des ausgereiften Manne» uiclit unbeein- fltibt hindiirchgingeii. Deimodi bieten me fär den Kinderpsychologen immer ■»ieder Anregungen fürTotalbeobachtungen und Zn5iainmenfa5fsun£ton. die meistens ein reiches Leben und nicht der flüchtige Augenblick gemacht hat; sie bieten Ur- teile» die Aolab m Denen ESitselbeabech- tnngen werden können, und die vor allem auch zur Berichtigung der einseitigen Er- gebnisse der experimentellen psyohologi- üchen Forschung wertvoll sind.

Jfiagrt ist der 1. Band eisohienen von dem LebensbOde des am 27. Apnl 1806 verstorbenen, als kaiserlicher Ratgeber, weit mehr abi^r noch als Volksprodiger und als Soniit-nsrlicin verbreitender Volks- schriftsteller bekannten liofpredigersEmil Fromrael unter den Titel:

Das Frommel-Gedonkwerk. Erster Band: Fromm eis Leben tsbiM. Ei-ster Ihind (M? Tt,): Auf dem Heimatboden. Von Dr. Otto Frfil, Ptener. £. & Mittler k Sohn, XQnjgL Hofbudihai^nng, B<rlin, 1900. VV ir möchten un.sere Leser auf dit He interc&äaute, zumeist aus Briefen ge- schöpfte DanteUimg des seelisoh inhalt- reicfaea Lebras empfehlend anfinericaam machen nnd fühxen als Probe wie anr Ergänzung zn frithemn Artikeln unserer 2ieitschrift ui^jr juu't üilli he Eigenart Hn paar Au&sprüdie und Urteile Fromm eis an, der ohnehin sich dorch feine pqrcho- If^gische Beobsohtangi^e anazeichnete.

AVas ist*B doch wert Oeeohwistor zu haben tind nieht <las einjrij^e Kitid') im Hause zu sem ! i^AU einziges lüud i^t

Vgl. Zieglcr, Über den Egoismus einziger Kinder. Zeitschr. 1 Kdf. 1900

eben doch ein Soigenkind und wie ein einziges Ange; erliscbt das, so wird es

finster im Hause. Aber so ein halb Dutzend Bubm und Mägdlein in einem Hauso uud auch noch mehr, das giebt wubJ Ivupfzerbrechea für den Vater und Strümpfestopfen ffir die Matter, dafnr aber ist Leben da, Siieg und Frieden, wie's kuimnt. Vornehmlich aber giebt eines das Rasiermesfjer, die Put/,^(•hero und den Schleifstein für das andeio ab; denn die Geschwister wissen am besten, wo das eine nnd andere seine Hühner- augen hat ond tritt ihm darauf und aocht sie ihm wegzutreten oder wegzuoperieren, und wo bei einem der Doelit m ^rofs brennt, hilft das andere mit der Putz- adiere nach, und wo die ranhen Kanten sind, wild weggesoihli^n frisohweg, ohne Komplimente und Umstände, ünd das ist ein Segen, denn später sauren einem die Leute wohl auch noch die Wahrheit, aber wie! „Eine Mutter zieht sieben und siebeneilei Kinder**, heifit's un Sprioh- woii, sind sie doch verschieden wie die Vo^ji'l unterm Himmid und wie die BInmen auf dein Felde. Wir waren es auch.« (.8. 16 f.)

Als einen selbatftndigen Charak- ter sobildeit Fromm el «einen Bruder

Karl. Die Schwester Bianca zeichnete sich durch gewissenhafte treue Pflicht- erfüllung aus.

»Dag^en wai' Bruder Kail eiu an- derer Oeist £in Bild ans sefner Kindheit zeigt Um als ein rechtes Bubcngosicbt, frisch und unternehmend in du; \\'o\t blti kenfl mit seinen braunen Augen und den dicken roten Paasbacken, einen Ur- wald Uaaie auf dem Kopf, dtmih den der Kamm mühsam wie eine LokomoÜTe mit verschiedwen Haltestationen und 8> Iirnr-rzons-pfiffcn von Seiten des Be- sitzers durciidraug. Ging einer seine eigenen Wege, so war er es. Er hielt sich meistens bei den Alten auf, und so stecirte hinter der eobt bubenhaf ten Schale ein wundersamer, fast altväterlicher Kern. Die Lust zum Lernen und zu toUen

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C. Zar liitentar.

Streichen, der Wissenstrieb eines Natui- loradiera and der Spflisiiui eines ünter^ sadmngsrichterB, der Sammeleifer einee

BaritStenkräuiei's und der üntemehmuiigs- geist ein*»« rroschriftHinannes, das alles giug bei ihm Uaiid in Hand oder viel- mehr in buntem Gemisch duicheinander. Kit Tiersehn Jahren trat er als Bedakteor einer Zeitung ani, die er »Vorzeit und Gegenwart« nnnntp. Ah Jütarboiter fungierten Emil und die Vetteni, während er selbst die Illustrationen dazu zeichnete, deren erste der Trifels» Ridianl Löwen- herzens Oeflngnia, war. Ebne kurze Be> schreibun;,' tlor Bui^' und ein selbstver- faf-stos (irdi lit beschlofs diesen Aiiikel, dem noch einige andere folgten. Im Schweilse ihres Angesichts schrieben die Bruder es dann zwanzigmal für die zwun/.!g Abonnenten ab, die sie in den Ju'eisoii (h'r Onkels und Tanten gefunden.

»Für sein innerliches Leben, so schreibt der Bruder von ihm, bedurfte er eigent- lioh niemandes, um n^ücUiob zu sein, weil er sieh eine eigene Udne Welt auf- gebaut, die andere nicht zu verstehen brauchten; freilich stiefs er darum mit der wirklichen rauben "Welt immer zu- sammen. Sie puffte ihn und er sie, übenül war er fOr sie zu kurz nnd zu lang. Vor lauter Gedanken konnte er keinen einzigen recht crfasson und durch- führen, nnd seine Lehrer n eissa^en ihm deshalb alles mögliche Unglück, oft war er nahe datnn, es seihst zu glauben, dooh dann schaute er sie wieder mit den grol^n braunen Augen an, als wollte er sagen: »Ihr voi-steht mich doch ni( lit'« Si liliefs- lich sank er doch bisweilen in Scln\ enniit und Traurigkeit, zu der sein ein-saines Grübeln die Vorstudien gab. Jeder herz- liche Blick, jedes gütige Wert thnt ihm dann wohl. Nach allerhand Umwegen kehrte er zur Kunst zurück, die er zuerst gepflegt hatte.» (S. 18.)

Frommel gehörte gleich vielen be- deutend«« Hännem nicht zu den mustere haften Nonnalsebiilem. Er hatte daram auch Mitleid mit den Schwachheiten der

Jugend. U. a. sagt der Sohn: »Wer mit liehendem Versündnis den Knaben be- obachtete, der erkannte schon früh etwas von seiner Eigenart und Begabung: das träumende Insichaufnehmen von Bildern und Eindrücken, das instinktartige Er- fassen der Natur, auch der Menschen- natnr, und das intensive Siohhineinver- ^enknn in alles, was iigend Macht hatte, ihn anzuziehen.'

\'iv\ i'v sellist gedenkt wohl seiner eigenen Jugend, wenn er schreibt: »Man sagt wohl, was ein Dörnchen weiden will, das Bpittt sich beizeiten, aber nicht alle Dömlein spitzen sich früh. Und auch nicht alles, was m]\ spitzt, wird darum schon ein Dönilein. Der Heiland hat's einst seinen Jüngern verboten, ins Un- kraut zu fahren und es auBznreii^en vor der Zeit, dieweil auch nianche.s wie Un- kraut au.SBieht und doch nicht ist und manche«? sieh wie Weizen gebärdet und doch als Unkraut sich erweist Ich denke da an so manches Bühlein, das wShrend seiner Schulzeit zumeist sein Brot mit Thränen afs und seinen Cornelius NefWS nebst Julius Cä.sar und andere Tjateiner benmtenvürg^te wie einen Kolben (Thmber- salz oder aiii Tüfäleiu Baldrian theo. Da helfet es oft: »Aus dem wird sein Lebtag nichts und wird einmal ein Zuchthäusler«, aber item: Das Büblein hat sich sieben- mal gehäutet und ist ein braver Mann, ein tüchtiger Amtmann oder geschickler Arzt oder ein guter Pfarrer geworden. Ein Bnbenkopf entspricht aber ni(ht immer dem »Norm aUojif«, den sif^ im Ohe rstudieu rat haben, in welchem alles hübsch egal zusammen- pas.sen soll. Gelernt aber habe ich trotzdem und stille Freuden gaVs neben dem Ihx9nenbroL« 8. 31.

Ebenso: »Eigenartige Schüler sind unbequem und sitzen nicht auf l^ut^cu; schlielslich strecken sie das Ge- wehr, sie crlabmea und es eigreift sie die SchulmeianchoUe.« 8. 68.

Rs ist bitter hart, wenn in einem grofsen Lehrkörper nur ein £in-

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G. Zur Litteratar.

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ziger eiaeu Schüler versteht uud ihm ins Hen flcbani Bieber einzige am brisniher Lyoeum war der Professor

Zandt. Von ihm heilst es (8. 31):

>Kiii Zug der Sympathie verband durch das ganze Lyceum hindurch den treff- lichen Mann mit Eniii Aber er blieb auch voi^l^ der Sinzige, der sieh für ihn intereaaieite. Im allgemeinen fand der Knabe wenig Emninterung hei den Lehrern; ja es kam '^n it. inf einer unter ihnen Vater FroDuin'l den liatgab: »Lassen 6ie doch Iluren äohn lieber Hand- werker werden.«

»Ben ersten Plaia belim er nie; er hielt äch immer mehr in der goldenen Mitte, wie er von sich selber sagt, ja er wird nicht selten n(jeh unter diesen Sti^ch geäonkea nein. Von ihm t>eibtit mag wohl gelten, was Frommel einmai Ton seinem fiterlichen Freunde Henhofer gesagt, »sonderiich brillant ist's auf der Schule nicht gegangen und von meinen Mitschülern hat keiner geahnt, was» aus ihm wurde. Es gieU nicht lauter Schnelliäufer uud Wim- dertinder. Schwere Wagen fahren langsam, das gilt auch von den Kmdem, und je reicher der Stoff, je \ielseitjger die Anlaf'en, die eines in sich zu ver- arbeiten hat, desto mehr Zeit braucht es da- zu.« — So kam es, dals es dem jungen Emil, dem frfih die Aogen täat die Wunder der Welt imd Ohren für die tausend Stimmen um ihn her geöffnet waren, schwer wurde, das alles mit den; trockenen Öchui- stoff zu verarbeiten und die Gedanken beim Unterridit ansammenzuhslten, um an leisten, was von ihm verlangt werde. (S. 28.)

Weil den Kollegen am Gymnasium die zukünftigen Führer der Nation an- vertraut sind, so ist es geradezu eine nationale FfUoht für sie, sich mit dem Kndentnfinm sa hesohJlftq;en, wie ich frfilia*) bei Besprechung der Alten- burgschcn Schrift schon betonte. Leider aber kümmern sich noch immer nur sehr

') Jahxg. 1900 8. 134.

wonige um dassell)e. Miichte doch diese unbeabsichtigte bittere Kritik Frommeis ihr Ohr erreichen, das uns bisher mit wenigen rühmlichen Ausnahmen ver- sehlosRon gobüoben ist!

(ilücklich danuu ein Kiud, wenn es nicht auKschlieüülich oder vonviegcnd auf die Schule angewiesen ist, sondern seine Nflhrwuneki für die Bedürfnisse des Ociätes und des Herzens tief in den natür- lichen Boden des Elternhauses und der Heimat schicken darf und kaim, Frommel war dieses Glück in hohem MaJse be« schieden. Treffend b«nerkt er dämm auch (8. 804) über die Bedeutung der Heimat und des Elternhauses für die Entwickelunf^ des Menschen:

'Hat die Fremde auch am Manne ge- schliffen und das Uerz geweitet, das Beste hal man dcch als Sind in der Heimat empfangen und unbewuiat ein- geatmet. Seine Eigenart (wenn man den Mut hatte, sie zu bewahren) erapfi?!'^ man aus dem mütterlichen Boden, wie jeder echte Wein aus dem ISoden et>;ras an sich haben mub, dem er entwachsen ist.«

Hier gedeiht anch nwA. ein anderer bedeutsamer Erziehungsfaktor in ur- wüchsiger Weise: die Freundschaft.^)

Darüber heilst es S. 44: ^Für ein Er- ziehungsmittel, im schönsten Sinn Pflioh- ten und Freuden vereinigend, gelten der Mutter Frommel die Freundschaften ihrer Kinder. Wie die Eltern es ver- standen, die Geselligkeit im Hause zu einer harmonischen zu machen, so wählten sie auch soigssm und mtt der unbewn&tea Weisheit liebender Herzen den Verkehr für ihre Knaben unter den Alters- und Schulgenossen aus. »Buben, die ihr nicht mit nach Hause bringen könnt, mit denen lauft ihr auch nicht herum«, hatte die Mutter gesagt, und ffinder haben ja ein feinea Oeftthl daf&r, mit wem oder was sie etwa der Mutter nicht unter die Augen kommen dürfen. Die Vorsicht war

*) VgLDelitsch, CberSchülerfreund- Bchaften. Edl 1900 & 150—163.

Digrtlzeü Ly <jOOgIe

46

a Znr litterator.

besonders bei Emil geboten, der »ich MhneUer and lüddialtsloeer täs dor ndug und beoliflchteDd abwägende Karl und der

mehr in sich zurücicgezogene Max an andere ansrhlofe. Wo er ein gleicb- geritiinuitcs üerz fand oder zu finden glaubte, übentrömia das seine in liebe und Yertnneot eine EigeDsohaft, die er immer behielt trotz \ k-ler Enttäuschungen, die natuigenUUb im ihn dann» ent- standen.«

»Mehr noch, Höheres, 6tand aber der Matter mit den Söhnen im Sinn. Nicht Mianer nur, nein, ganse, entBohiedene

Christen sollten sie weixicn, das war ihre einzige Soi-ge, seit sie in der Mitte der dreifsiger Jahie den inneren Um- schwung erlebte ^voo welchem das fünfte Eapitel entthlt). hat dabei iraUoh die Erfahrung machen müssen, dafs sich auf religiösem Cehiet ebensowenig wie auf ethischem etwas erzwingen lä&t, was uiciit aus der Eigenart des An- dern organisch, wachstümlioh hervor- gehti and dab anoh hier e ine a nicht fiir alle sich schickt » da& vielmehr unser Gott mit einem jeden die eisjenen Wi'f^e geht: genug, wenn sie nur, aei es auch auf Umwogen, zum gleichen Ziel führen, an dem Einen, was not tirat So ist es auch hier gewesen.« (S. 51.)

Doch das mögon der Stichprnh.-u ge- nug sein. Es sollte mich freuen, wenn ich umiere Leser damit veranlassen wüixle, das Bach selber zu lesen, nnd awar nicht Unl^ ala ein vortreffliches bellefaristisdies Eneugnis, auch nicht blols aus Inter- esse für den vortn-f fliehen Mann, der als jalirehmger Naehbar und Freund Doriilelds auuii der Volksschule mit seinem Herten nahe stand,') sondern anter dem p^ohdcgiacheii Geeidits-

^) Vgl. dazu die gleich treffliche, au.^ gleichen Gründen oira in gleicher Weise zu empfehlende Biographie: Friedrich Wilhelm Dörpfeld. Aus seinem Leben und Wirken. Von seiner Tochter AnnaCarnap, geb. Dörpfeld. «iüters- Joh, 1897. 664 iS. Prais geb. 6 M.

punkte des Studiums einer werden* den eigenartigen Seele. Traper.

4. Hilfsschulen und Schularztlra^e. Die Hilf«? schulen für schwaeh be- fähigte Kinder, ihre ärztliche und Boaisle Bedeutung. Von Dr. med. Ut- püd Lmmt, Nervenant in Frank- fort a. H. Mit einem Geleitwort tob Dr. med. Emil Kraepelin, Profefssor der Psychiatrie in Heidellierg. ^^'ies- baden, Verlag vuu J. F. Ber^maim, 1001. d4 & Preis 1,30 U. In den letaten Jahrni hat sich die Litteratur über das Studium schwach- hefilhijjter Kinder und deren Erziehung, iusjbeöoudere auch über die Hiltsschulen, erfreulicherweise vermehrt Lehrer nnd Irate sind gemeinsam an dieser Arbeit beteiligt Erfreulich ist auch, dab jft länger je mehr eini^ Vci'ständigung zwi- schen Arzt und Lehrer zustande kommt. Während auf dem Gebiete der Ariatalts- erziehang der Idioten die Heerlager nodi geteilt smd nnd namentüch Oeiatlidie nnd Ärzte sich um die Leitung streiten, darf di" ArheitsteiluQg in den nilfs><:hulen fast SU gut wie pp'n^fjelt gelten. Di« ge- ringen strittigen Grenzgebiete werden ge- wiß» schwinden, sobald Ärzte and Lriirer noch mehr als bisher nicht blols an dem ^meinsamen Werke arh'iien, sondern auch gemeinsam über diese Arbeit beraten, wie wir ee in unserem Ver- ein für Kindexforachang Ihnn.

Die Toriiegende Schrift, ein Tortra^ des Hemi Dr. Laquer, auf der 25. Wan- der>'ersnmmluug der südwestdeutschen Neurologen und Irrenärzte in Baden- Baden am 27. Mai 1900 gehalteu. ist ebenfalls als ein Beitrag ^ diese Ver^ stindigang wie f&r die Fördenmg der ganzen Frage freudig zu begrülscn, und unter diesem Oesichtspunlcte wollen wir deu Voitiii^ eiuer Betrachtung unterziehen.

Herr Prof. Kraepelin in Heidel- berg giebt der Schrift in Form eines * Briefes ein Vorwort Treffend sagt er u. a. : l »Kein Arzt nnd kein Lehrer, aber auch

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C. Zur Littorator.

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loin frebildeter Mensch üborluun>t , dorn die Zukunft unseres Volkes aui Horzuu li^, wird sicli der A Deicht verechliefcen IdhiiieD, dab die Intlidk übenrachteo Hilfsschulen, wie sie von Ihnen ge- schildert werden, für d;vs heranwach- sende Geschlecht eino f;anz aursernrdent- liehe Wichtigkeit besitzen, ich wüi gar nicht eifunal ytm der Belbetreistandlieheii Vlikmig reden, da& in den Hilfssohnlen dar geistigen und körperlichen Vorküm- menin«:: zahlreicher Kinder cntgefjen- gearh*vit<'t wird, dafs KrSftc zur P^itfaltuufj gebracht und 2u uui;&licher Thutigkeit er- sogen werden, die sonat biadi liegsn oder gar in gefiUbirKciie Balinen gdenkt werden würden. Nicht minder wertvoll erscheint mir die Entlastung der Schulen von (j. in Bleigewichte der Unbegabten und Zujuck- bleil>eDd«n. Die Aoforderusgeu an die Leiahingen der Sohole Bind offenbar in flkrtbchreitendem Wadisen begriffen und werden sii )i voraussichtlich immer weitrr steigern. Eine Lösung der sich daraus iiatai;gemijUs ergebenden Schwierigkeitcu ist aber nnr dnrch Trennung der Sdiüler nadi ihrer Bogabnng mdglicb, wie es dnich die Hilfsschulen angebahnt wird.

zweifle nicht danin, dafs man 8i>äter hu<:b weiter aof diesem Wege fortschreiten wild.

»Die bei weitem grö&te Bedeutung der

Hilfsschulen aber durfte darin liegen, dafs durch sie da> Augenmerk der Lehrer uii'l weiterhin aueti der Bevölkerunir auf die krankhaft veranlagten Kinder gelenkt und daa Teretandnis für ihre Eigenart gewedrt wird. Sebr antreffend haben Sie ge- schüdeit. wie jene ISnticlltnDg zu einem erfreuli' hen Znsammenarb^^iten der Lehrer und Ärzte fuhrt. da.s nicht nur fiir diese bei- den Tcnle. AuuJeru uauieutiich auch fux' ihre Pfle^befofaJenen segensreich werden mnb. D i es e s Z u s a m m enarbei ten aber ist die Quelle, aus der uns endlich einmal eine genaue Kenntnis jener Icrankhaften Zu- stande flielsen wird, die w ir heute unter dem Schlagwoite »Entartung« zusammen- bfisen. Vor allem werden wir aus der

ärztlichen Thätigkeit an den Hilfsseliulea alimählieh ein tieferes Verständnis für die Ursachen der Eutartuug gewinnen, über denen jetzt nocih ein so tiefes Dunkel schweht. Damit aher eröffnet Sich una vielleicht au« Ii die Möglichkeit, an diesem oder jenem Punkte dem Niederpinge unseres Geschlechtes entgegenzuarbeiten.

»Zu meiner gro&en IVeude haben 8ie die hier angedeuteten Wege bereits su ; beschreiten angefangen. Dir Beispiel Wird ; gewiCs aurh andere Fach-Genossen dnzu ' anrecren. an dem ausgezeiehneten Bfoh- achtuugsmaterial der HilfaAchuleu die Frigen nach der Bedeutung des Alkohols, der Syphilis, der ErbUchkeit einerseits, der erworbenen körperlichen Gebrechen andererseits für die Erzeugung der geisti- gen bchwücLezustande näher zu prüfen. Aus diesem Grunde namentUdi wünsche ich dem Buche von Hencen die Bfaohtung tind den Erfolg, den es wogen seines reielien und wertvollen Inhaltes bean-

sjiruchen darf.«

Da.s sind Gedanken, die auch wii- im grolhen und ganzen an diesem Orte fünf Jahre hindurch vertreten haben.

Über die Art dieses Zusammonarbeitons sagt Uerr Dr. Laquer selbst auf Seite 19 f.:

»Wir sollten als schulärzÜiche Berater in den Hilfasohulen nur gewisse allgemein ärztliche oder hygienische Fordörungeu an stellen bestrebt .sein, gestützt auf unan- fechtbare klinische Erfahrnnpen in der Neurologie und Psychiatrie, vor allem aber aaf dem Gebiete der Anstaltsbe- handlung von verschiedenen Formen des SchwachsinoB und der Idiotie. Wenn irijeniwo, so ist gerade in der Hilfssehuli) ein Schularzt nötig, wie aneh Ziehen iim betont. Nach der \V iutermano- schen Statistik von 1897 haben aber von den 56 deutschen Hilfsschulen nnr 11 Schulen aosreichondc schulärztliehe Auf- j sieht, 17 ungenügende, 20 Sr Inilon gar keine ärztliciic Beratimg. ^^ enu sich die Mitwirining einzelner Ärzte nur auf die Aufnahme, höchstens noch auf einen all-

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G. Zar Litteratur.

jährlich ein- oder zweimal stattfindeoden Besuch der Xlaasen beschränkt, so kann ich daa «b eine eraprieMiohe äntUche

Thätigkeit an einer Schule ffir echwach- ainnigo Kindor nicht ansehen.

»In Fnuikfurt ;i. M. findet der Dienst- ordnung gemuT» von Seiten dns Schul- anteB neben, der «dion erwShnten Teä' nähme an der Braaohnlung neu ange« meldetet und der Ausschulung bildungs- fähiger Kinder jfdo zweite Woche inner- halb zweier Stunden mi Besuch sämt- licher Klassen, eingehende Besprechung mit den Lehrern über f ortschiitte und L' isfiuigen, Schulversäumniase, hfiusliche ViThältnisst^ dor Zrjglinge, sowie über rnt- rrichtsmuthodik, endlich eine beson- dere ü ntersuchung frisch erkrankter Kinder, aiatt. Die Behandlung wird den Hana-, besw. SaaaMiiIrzten, aowie den aUgememen und Spezialistischeu Pohklinikcn übt?r- lasson. lu den bisherigen drei Halbjahren habe ich ;£Uineist aus persöniiehcm \vi<«sen- schafthchen Interesse die Schule viel iifter besucht und näntlidie Kinder., nicht hlofs die Neuaufgenommenen, auf ihr kiW iieiiiches und seelisches Verhalten ge- prüft. Die Siihulhehörde hatte mich dazu besonders ermächtigt, weil sie aus ad- mlniatfaftiTen Gründen die Feststellung deijenig»n Kinder vQnsohte, welche etwa für die Unterbringung in der Idioten^ anstalt sich eigneten.

»Beim Vt'ikobr und Ge<lanten;iustausch zwischeii Arztc'ij und Lehrern vuu iSch wach- ainnigen gilt es meines Eraohtena nicht 80 sehr, hohe philosoidiiache Fragen zu- sammen zu lösen, Streitfragen über das Verhältnis zwischen »Köq>er und Seele« aufzui'oUen, hier auf ärztlicher ^eitu immer nur den anatomischen Standpunkt, dort bei den Pftdagogen den psychologi- schen Staadpunkt zu wahren, »um zu vereinen, was owirj sieh flielit <, .-sondern wirkliche Eriahj'unpsthatsurhtMi einander mitzuteilen. Das Gebiet der Unterrichts- Metboden für Imbecille nnd Idioten hat so Ansiehendes für den Psydiiater,

Geister so uahe, dais er mit dem ihm berufsverwaudten Erzieher der schwachen Omster gern ans dem Schatie seines TVissens von der klinischen Auffassung

krankhafter Seeleiizustände, von ihrer Ent- wickelung im Kindes-, im Jünglings- bezw. Jungfjrauen-Alter, von ihrer Unterschei- dung und Abgrenzung IMiArung gegen Belehrung tansohen wird. Nicht rast in der Hilfeschale, schon in der Volks.scluile ist eine der vornehmsten und wiclitigsten Aufgaben des Schularztes die Früh -Dia- gnose der Imhecillität Gerado um ihret- willen ist die allgemdne Bmfühnmg yon S( hulärsten in den VolksadLulen one drinf^cndc Notwendigkeit.«

Wenn ein Schtilarzt sich mit dem warmen Interesse und dem Verständnis der Sache widmet wie Herr Dr. Laquer, so wird die Ton ihm geschilderle Zu- sammenarbeit ein grofser Segen nicht bli/r-< für die Schule, .Mjudern auch für den Lehrer und den Äizt sein. Wir dürfen es aber nicht vergessen, daüs diu uiedi- sinischen Kenntnisse, aof welche es hier ankommt, die Psychiatrie, ebensowenig ein Prüfungsgegenstand für Lehrer wie für Är/.to ist, dafs der Schulai'zt also unter Umständen nicht viel mehr davon Verden wird als der Lehrer an Hilfs- schulen. Ist das aber der Fallf so wird der Arzti wie es ja auch gerade die päda- gogisch unwis'?end<?ten thfolfigischeu Sohul- j in>pektorou thiin, iiidit die Kolle des ! kollegial Aliüeruüudeu und Aiiuu heilenden spielen, sondern die des »Überwachenden«, luspizierenden, Kommandierenden und Dekretierenden, und dann wird der Schul- arzt die Arbeit in der Schule nicht fordern, sondern eher lähnjen. Es ist darum notwendig. daJs in der Schularzt- tngfi eine Formel gefunden weide, wdche den Schulaizt verpflichtet, die von Dr. Laquor geschilderten Dienste zu lei.><ten, ohne sich i'ben'-ifft' ♦Tlaulten zu können. Dann werden uucii ui Lehrerkreisea die hier nnd da leider noch vorhandenen Be- denken gegen die Institution des Schal- arzt, s sehwinden. (Schlufs f I t )

Dmek tod

Btycr 4 SOtaM in

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A, Abhandlungen.

1. Der Blinde. Eine phyaio-psyoliologische Betrachtung

von

9L Fleohar, Direktor der Blindenanstalt iu Brauuschweig.

(Sohiols.)

n.

Die Armut an realen Begriffen der Körper- und Formenwelt und die Abgeschlossenbeit von der Aulsenwelt lenken den Qeiat des Blinden naturgem&fe nach innen, auf rein geistige, abstrakte, vom sinnlichen Untergrunde entblöfste Denkarbeit. So bildet sich schon früh beim Blinden die Denk- und Urteilskraft, die später bei gebildeten Blinden 7A\r hervorragenden Anlage und Neigung für philosophische Betrachtungsweise und fOr abstrakte Wissenschaften Rieh entwickelt. Schon im Altertum gaben geistig hervorragende Bünde Veranlassung zu der Ansicht, dafe Menschen, welche ron einem höheren geistigen Lichte erfüllt wären und gewissermafsen in nähorom Verkehr mit den Göttern ständen, blind sein müfsten. Homer und Tiresias, manche Barden und Propheten werden daher als blind gedacht. Cicero erzählt, dafs sich der Philosoph Demokrites aus Abdera in Thracien selbst geblendet habe, um die Schärfe seines Geistes zu steigern, der, durch keine Reize des Lichtes abgelenkt, nun gründ- licher und tiefer forschen könne. Nach der Ansicht der Alten ist das Sehvermögen nicht nur einer höheren Entwickelung des Geistes hinderlich, sondern es stört auch die klare Erkenntnis des Rechts lind der Gerechtigkeit Darum stellten Maler und Bildbauer die Themis, die Göttin des Rechts, mit verbundenen Augen dar. Auch

Ui KintefBli]«. YLJahiBUg. 4

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A. Abhandluageu.

heute noch suchen die Menschen den Geist zu scliarferom Nachdenken zu konzentrieren, indem sie die Auo^en schliefsen. Das Auge hindert in der That häufig durcli beständig; ihm zuströmende, ja sich auf- drän^'ende Gesichtseindrücke die Sammhinp: und Konzentration des Geistos auf einen bestiaimteu Puukt. Das Auge zei^streut und lenkt ab. Daher erscheint denn auch ein sehendes Kind gegenüber eiuem blinden als flatterhaft uud unbeständig, während dieses einen be- ständigeren, verstän'ü teeren und reiferen Eindruck macht Diese friili- reife Entwickeluug des blinden Kindes ist aber keineswegs eine ge- sunde. "Wohl wird das sehende Kind beständii: in seinem Gedanken- lauf durch die Thätigkeit des Auges abgelenkt: das Auge zerstreut wohl und bewirkt dadurch jene geistige Unhostiindit^kcit und Flatter- haftigkeit, die wir an allen lebensfrohen gesunden Kindern der ersten Jugendjahre bemerken. Die beständige Anregung durch Gesichts- bilder, welche in ruheloser Hast auf die Seele der Kleinen ein- stürmen, befördert aber die geistige Beweglichkeit und Vielseitigkeit: sie ist eine heilsame Gymnastik der Geisteskräfte und liefert zugleich den konkreten Fonds für späteres abstraktes Aibeiteu und ein ge- sundes Urteil in den verschiedenen Lol^ nslagen. Der von der Aufsen- welt mehr oder weni^nT ab^^eschlossene tieist des Blinden entbehrt dieser Geistesgymnastik, welche das reiche Anschauungsmaterial beim sehenden Kinde veranlafst; er wird leicht einseitig, starr und un- gelenk. Dem Urteil des Bünden, so tolgerichtif; und klar es auch erscheinen mag, fehlt der geistige weitere Gesichtskreis, die geistige Beweglichkeit, die sich den verschiedenen Verhältnissen und Um- ständen anzupassen vermag. Blinde sind daher oft scharfe, aber eng- herzige und unduldsame Kritiker. Nicht selten wird über die unan- genehme Schroffheit und Lieblosigkeit des Urteils liliuder geklagt.

Dafs auch das Gefühls- uutl AVillensh ben des Blinden bei dem Mangel konkreter Anschauungen grofse Einbufse erleidet, mag hier schon im voraus angedeutet werden, während eine genauere Erörterung dieser Seite des Seelenlebens weiter unten folgen wird.

Wie gestaltet sich nun die körperliche und seelische Eutwiekelung des Blinden unter den heilpädagogischen Einwirkungen, welchen er in einer Blinden-Erziehungs-Anstalt ausgesetzt ist?

Wie schon hervorgehoben wurde, gründet auch die Blindenschule ihren Eizieliungsplan auf das Fundament der Anschauung. Unter den 4 Sinnesorganen des Blinden haben für die geistige Entwickelung Gehör und Getast die höchste Bedeutung, Geruchs- und Geschmacks- emptiiidungen haben weniger Wert, werden aber, wo sie sich bieten, zur Vervollständigung der Wahrnehmungen herangezogen. Während

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Fiscukr: Der Blinde. 51

die Vorraitteiung räumlicher Wahrnehmungen beim VolUinni'jRi durch Gesicht und Tastsinn j^eraeinsam geschieht, fällt beim Blindeu diese Aufgabe allein dem Getast zu. Das Haiiptorcran dos Tastsinnes ist die i^e«rliederte Hand : das feinste Tastvermögen hat die Zungenspitze. Da dov Spielraum der letzteren aber ein sehr bescliränktor ist, so hat sie nur Bedeutung als Minimalniarsstab für kleinere und zartere Formen und Gebilde. Oas Zusammenwirken t)eiiler Hände beim Tasten hat eine ähnliche Bedeutung wie das binooulare Sehen. Die Ta>iapparate >ind, wenn wir von der Znnj::enspitze und den Lipporn absehen, am zahlreichsten an der ]^and, sie verbreiten sicli jedoch auch über die ,1,'anze Haut. Bau, Gliederung, Beweglielikcit der Hand und deren reiche Ausstattung mit Tastapparaten macheu a'iQ zum hervorragenden Tastorgan. Der Verlust der Hände würde für einen Blinden uik i jjet:^lich .sein. Die Empfindungen des Tastorganes sind Druck- und Temperaturempfiadungen. sie vereinigen sich mit Muskel- oder He- vvegujigsempfindungen. Aus dieser Assoziation entstehen riiiiitiliuhe Anschauungen von Punkten, Linien, Winkeln, Flächen und K rpr rn. Der Bau der gegliederten Hand gestattet den Fingern und Hand- flächen , beim Betasten eines Gegenstandes den ven>chiedenarti gen Linien, Winkeln und Flächen desselben zu folgen und oiu Gesamtbild zu peizipieren. Es wird nur die nackte Form walirgenommen, welche sich mit verschiedenen Intensitätsempfiudungen des Harten, Weiciieu, Rauhen. Ghitten etc., in manchen Fällen auch mit den Temperatiir- emptindungun des Kalten und Warmen in den verschiedensten Ab- stufungen oder Intensitäten verbindet. Farbenempfindungen fehlen vollständig, ^vie viel auch darüber in fiüheren Zeiten gefabelt sein mag. Es ist dem Tastsinn unmöglich, auf Farbenreize zu reagieren. Die Tasteindrücke sind Simultan- oder Successiveiudrückc, je nachdem sie auf einmal oder nacheinander erfolgen. Successiveiii l nicke sind immer mit Bewegungsempfindungen assoziiert- Simultaneindrücke sind abhängig von der reicheren oder geringeren Anzahl der Tast- apparate einer Uaut[)artie. Neuere Physiologen, wie Weber u. a. haben auf verschiedenen Hautpartieen Untersuchungen bez. der Raumschvvelle angestellt. Man hat die Entfeniung konstatiert, bis zu welcher zwei der Haut aufgesetzte Spitzen eines Zirkels noch als getrennte Eindrucke wahrgenommen werden, und diese Entfernung als Rauraschwelle bezeichnet. Zahlreiche Untersuchungen eigabon, dafs z. B. die Zungenspitze zwei Eindrücke noch als getrennt em- pfindet bei nur 1 mm p]ntfernung der aufgesetzten Zirkelspitzen, die Fingerspitzen unterscheiden zwei Eindrücke bei 2 mm Entfernung, während die Kaumschwelle beim Handrücken -i 5 mm beträgt Das

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A. AbtuuMÜmigaii.

stumpfoste Tastpefühl iiat die Riickenhaut, welche selbst bei einem Abstaud der Zirkelspitzen von 4 5 cm beide Eindrücke nicht unter- scheidet, sondorn nur als einen einzigen wahrnimmt. Dennoch können zwei Reize nur dann untei*schieden werden, wenn sie auf zwei distincte Nervenendigungen ti-effen. Daraus erklärt sich, dafs sehr geringe Uimensiuneu, weil sie unter Uli Kaumschwelie liegen, vom Tastssinn nicht mehr erkannt werden können. Durch die Ruumschwelle ist dem Tastsinn also die Minimalgrenze gesteckt. Die Maximalgrenze liegt in dem bei den einzelnen Blinden verschiedenen Vermögen der einheitlichen Beziehung einer gewissen Menge von Successiveindrücken. Nacli den physiologischen Untersuchungen Webers und Feceeners über den eüier merklichen Empfindungszunahme entsprechenden Reizzuwachs (WEBERSchos Gesetz) ist das Verhältnis der einzelnen Sinne folgendes: Ldchtempfindung ^/iqq^ Muskelempfindung Yi?^ Druck- und Schall- empfindung Y3. Die Empfindlichkeit des Auges ist demnach BSYg izial stärker als die des Tastsinnes. Professor Lachmakk, Gründer des Braunschweiger Bünden-Institates, giebt im Jahre 1841 sogar ein Yerbältnis von 150 : t an. Diese Zahlen berücksichtigen jedoch nur den ungeschälten und unentwickelten Tteteinn. Je ausgedehnter die Flächen und je komplizierter die Körper, desto schwieriger gestaltet sich die «nhcdtliche Beziehung der Tasteindrücke. »Der Blinde mag noch so oft die Ifauer eines Hauses, den Boden einer Wiese be- tastet haben, er kann aber niemals behaupten, er habe diese Gegcn- stttnde durch den Tastsinii wahrgenommen, d. h. ein Gesamtbild perzi- piert MitMem Worte Doif, Stadt, Wiese, Wtld, Feld etc. Terbindet der Blinde keine Yorstellung, auch keine antastliche.« (Hitschmaiin, Prinzipien der Blindenbildung.)

Für die Qewinnung der BaumvoiBtellungen sind also 2 Elemente bedeutsam: 1. Der Baumainn der Haut, der sensiblen Flfiche, 2. die Beweglichkeit des Taatorganes. Der Baumsinn der sensiblen Flüche lokalisiert die Tastreize an ihrem Entstehungsorte und bringt sie in eine extensive Ordnung (Simultaneindr&cke), die Beweglichkeit des Tkstorganes bringt die Lageverhältnisse der einzelnen Teile des be- tasteten Gegenstandes zum Bewufiitsein (Suocessiveindrüoke). Das Gesteht nimmt die Baumvorstellung gewissermafsen in einem Akte auf, beim Tasten sind mehrere Akte ezfoiderlich. »Der Blinde falst daher ziemlich einfache räumliche VqrhIiltDisee bei weitem nicht mit der Schnelligkeit auf, mit der der Sehende auch die verwiokeltste Figur aufninmit Tast- und Muskelempfindungen mOssen ihm vielmehr den G^nstand aus seinen Teilen allmfihlioh konstruieren.« (Wum», Menschen- und Tierseela)

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Iteomi Der Bünde.

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Wie der Tastsinn relativ sehr kleine wie auch sehr grofse Dimensioneu vou Flächen und Körpern nicht mehr erkennt, so ist er auch noch anderweitig in seiner Lei8tung8fiUiif,'keit beschränkt Während das Auge in die Feme schweifen kann, reicht der Tastsinn nicht weiter, als wir die Tastorgane ausstrecken können. Aus weiterer Entfernung erhält der Tastsinn keine Kunde von dem Vorhandensein der Gegenstände, es mufsten sich denn diese durch Töne oder Ge- rüche anzeigen. Der Tastsinn kann nur durch unmittelbare Berührung wirken, er ist kein Femsinn wie Auge und Ohr. Es entgeht also dem Tastsinn des Blinden alles, was er nicht zufällig: findet, was ihm nicht zufällig in den Weg kommt oder was ihm von anderen nicht zur Betast un«j' Iierbeigebracht oder zu welchem er nicht hingeführt oder hingewiesen wird. Aufserdem bleiben dem Bünden alle die Dinge nnd Lebewesen fremd, die sich der Betastung entziehen (Tiere), oder die eine solche nicht vertragen (z. B, Pflanzenteile) und solche, deren Betastung mit Gefahren für die Haut oder für das Lehen verbunden ist Auch eine ganze Reihe von Thiitigkeiten und Handlungen eignen sich nicht zum Betasten, da sie so sclmell verlaufen, dafs der Tastsinn nicht folgen kann; das Gleiche gilt von inneren Seelenzuständen, weiche sich im Mienen- und Geberdenspiel kundgeben.

Wir sehen, dafs dem Tastsinn Grenzen gesteckt sind, die für den Gesichtsinn nicht bestehen. Die Blindenschule sucht die Grenzen des Tastsinnes zu erweitern durch planmafsige Übung und Verfeinerimg der Sensibilität des Raumsinnes der Haut und durch Steigerung der Be- wf't'lichkeit der Tastorgane; es gelingt ihr auch dadurch, dib Leistungs- f iiiiL^keit des TasLMimes der Blinden bedeutend zu erhöhen. Die Lese- fertigkeit der Blinden sowie die Arbeiten derselben liefern hierfür den besten Beweis. Weiter sucht dir Blindenschule dem Tastsinn auch solche Gegenstände zugänglich zu niachen, welche entweder wegen ihrer minimalen Gröfse (Krystalle, kleinere Lebewesen, Pflanzen- teile etc.) nicht erkennbar sind oder wegen zu grofser Dimensionen und zu verwickelter Formen (Landschaften, Gebirge, Flüsse etc., Türme, Schiffe, Uhren, Maschinen etc.) keinen Totaleindruok fiestatten. Im ersteren Falle bedient sie sich vergröfserter Nachbildun-i n, im letzteren Falle verkleinerter oder vereinfachter, nur mit den w srntlichsten Be- standteilen versehener Modelle. (Tier- und Pflanzen luodelle, zerleg- bare physikalische Apparate etc.) Ebenso verwendet sie zRhlreiche andere Modelle von Objekten, welche in natura nicht zu liul t n sind oder aus irgend welchen Gründen nicht betastet werden können. Ob aber bei allon l^limlen die Phantasie imstande ist, die Vergröfserungen und Verkleinerungen auf die wirklichen Ausdehnungaverhaitnisse

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A. AUiatidiiiig0ii.

zurückzufahren, ist iniudestens zweifelhaft Jodeufalls entfernen sich derartig erworbono Vorstelluni.^on von den entsprechenden der Sehen- den weiter alo für ^^ewöhnlich der ünterscliied zwischen Tast- und Gesichtsvorstelhingen beträgt.

Als eine groTsc Krrungenschaft für den Tastsinn ist dio heutige Blindenschrift, nach ihrem Erfinder die BRAnj.E'sche Punktschrift genannt, anzusehen. Sie ist durchaus den physiologischen Bedingungen des Tastorgans angepafst und hat ein Beweis für ihre allgemeine Anerkennung heute internationalen Charakter. Die Schriftzeichen .sind in den verschiedenen ^Sprachen gleich. Ebenso ist die auf den- selben Prinzipien beruhende Musik-Blindenschrift international. (Näheres über die Blindenschrift s. in ükln's Encjklopädie, Artikel : Blinden- anstalt und Blindeu-Erziehung.)

Ist das Gebiet dos Tabtiiinnes nach vielen Richtungen hin be- schränkt, ist er infolge dessen auch bei weitem nicht imstande, das fehlende Auge zu ersetzen, so liefert er doch für das Erkenntnis- vermögen des Blinden wertvolles Material; je ausgiebigeren Gebrauch der Bhndc von seinem Tastsinn macht, desto reicher wird sein Geist an konkretem Begriffsinhalt Leider liegt es aber auch in der Natur des Tastsinnes« wie auch in der Blindheit selbst begründet, dafs viele Blinde nicht den wünschenswerten Gebrauch von dem Tastorgane machen.

Es fehlt nämlich dio unmittelbare Einwirkung des Tastorganes auf das Gefühls- und Willensvermögen und damit das unmittelbare Interesse an den Tastwahrnehmnngen. Was der Tastsinn empfindet, sind physiof()gisch Bruck-, Temperatur- und Bewegungsempfindungen, ps3'ehologisch sind es reine geometrische, plastische Gebilde ohne joden TAdikt- und Fkrbenreiz, dio das Gefühlsleben fast unberührt lassen. In der Tastwahrnehmung ist nichts enthalten, was der Wirkung des Idohtas und der Farbe auf das Gemüt gleichkäme. Zudem fehlt den Tastvorstellungen der Ausdruck, das Leben, die Bewegung, welche ZustSnde nur dem ieuier organisierten Gesiobtssinne zugänglich sind; sie sind auch nicht so korrekt and genau, sondern gröber. BezQglich der Genauigkeit der limnliohen Tastvorst^lungen glaubt Wükdt, dalk sie ungefähr mit dem indirekten Sehen der Seitonteile der I^etzhaut verglichen werden kdnne. Er sagt weiter: »Wenn man das, was man greifbar in den Händen hat, für eiue sicherere Wahrnehmung hfilt als das, was man ans der Feme mit den Augen wahrnimmt so bedenkt man nicht, daGs das Eine sowohl wie das Andere nur ein Eindruck auf empfindende Nerven ist, der an sidi, ohne daran geknüpfte psycbisdhe Prozesse über seine Ursache nichts aussagt« Erhält der Blinde durch seinen Tastmnn auch eme Menge der Tersehied«ifiteii

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FiflcHBR: Der Hindfl.

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FormToistellimgen, so sind ihm doch gerade jene Eindrücke ▼er- schlossen, Tveiche am intensivsten anf das Geroflt einwirken, die Schönheiten der Natur und der Kflnste, die Musik ausgenommen. Von den landschaftlichen Schönheiten, welche den Wanderer ent- zücken und erheben, hat der Blinde keine Ahnung; die Natur im Fröhlingsgewande, die Farben- und Formenpracht der Pflanzenwelt und der Mineralien, das Leben und Treiben in Gottes freier Natur, Ton alledem merkt er nichts oder doch sehr wenig. Unzählige 6e- roütserregungen gehen ihm damit verloren. An den Freuden und Leiden seiner Mitmenschen mufe er, sobald sie sich nicht hörbar kundgeben, teilnahmlos vorübergehen. Den stummen Schmerz, die verborgene Tbrane seines Bruders erkennt er nicht, das stille, zu- friedene Glück seiner Umgebung kommt ihm nicht zum Bewulstsein, ihn bekümmert nicht das sichtbare Elend und die augenfällige Not einer uoglöcklichen Familie, er schaut nicht in das sittliche und soziale Glend, unter welchem weite Kreise unseres Volkes leiden und vor welchem ihn eine wohlorganisierte Blindenfürsorge bewahrt Aller- diogs bewahrt Ihn auch sein Geschick vor dem Anblick des Widern liehen, Häfeliohen, Bohen und Gemeinen, welchem sich der Sehende nicht immer verschlielsen kann.

Das Mitgefühl wird also selten bewegt und erregt; darum er- scheint der Blinde kalt und teihiahmlos. Nicht besser steht es um die Bildung seines ästhetischen Gefühls. Der Schönheitssinn wird in erster linie durch das Auge gebildet. Das Auge ist als Ver- mittler ästhetischer Empfindungen weder durch den Tastsinn noch durch das Gehör zu ersetzen. Ein ästhetisch gebildetes Ohr ist eine sehr schätzenswerte und seltene Gabe, die aber, weil sie nur einseitig sich auf musikalische Formen erstreckt, für eine allgemeine ästhetische Bildung weniger bedeutsam ist Die Druck-, Temperatur- und Be- wegungsempfindungen des Tastsinnes vermögen in ästhetischer Hin- geht nichts oder nur wenig zu sagen. Starke Beize, Rauheit, Härte, Kälte, Hitze werden wohl auch vom Tastsinn als unschön oder un- angenehm empfunden, ebenso fällt dem geschulten Tastsinn mangelnde Proportionalitit und Symmetrie unangenehm auf, während mildere Intensitäten der Ttotempfindungen, Proportionalität und Symmetrie be- friedigend und beruhigend wirken. Andere ästhetische Empfindungen smd für den Tastsinn nicht vorhanden. Wie unendlich reich ist da- gegen das ästhetische Material, welches der Gesichtsina zuführt I Die niannigfachen Schattierungen und Abtönungen des Lichtes und der Farben, die Wirkungen der verschiedenartigsten Farbenzusammen- stellungen, das unendlich feinere Eindringen des Sehorganes auch in

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ö6

dio kompiizierteston Formen, deren Anordnunp^on nnd Kombinationen^ die Wirkungen der Lichtempfindungen aus den verschiedenen Ent- fernungen, die ungleich girifsere Reichhaltigkeit der Empfindungen überhaupt, der Totaleindruck, der nur dem Auge sofort möglich ist, während der Tastsinn denselben erst mühsam zusammensetzen mufs, fiben insgesamt die intensivste Wirkung auf das ästhetische Gefühl ans. £s bleibt dem Blinden unmöglich, ein geschmackvolles Blumen- arrangement, gärtnerische Anlagen, landschaftliche, mensch liolie und tierische Schönheiten und andere den Schönheitssinn der Menschen erfreuende Gestalten und Gebilde ästhetisch zu erfassen. Die mensch- lichen Künste, für den Sehenden eine reiche Quelle isthetischer An- regungen, sind ihm verschlossen, die Musik ausgenommen, welche er uneingeschränkt gcniofsen kann. Wohl kann der Blinde die Sch«'ii)fimgen der Bildhauerkunst betasten, doch erkennt der Tastsinn nicht die feineren Unterschiede der Formen, Verhältnisse und Dimensionen^ welche den Kunstwerken erst Leben, Ausdruck und Bewegung ver- leihen und ästhetisch wirken; diese Feinheiten sind nur dem voll- kommner organisierten Sehorgan bemerkbar. Die Malerei ist ihm eine gänzlich unverständliche Kunst, deren ästhetische Wirkungen ihm völlig entgehen. Selbst von den Werken der Poesie hat er nur beschränkten Oenufs, da diese oft Schilderungen der Naturschönheiten, der Farben- pracht, der Anmut und Grazie etc. enthalten, von welchem der Blinde keine Kenntnis hat; die Freude an der Poesie, die ja oft bei Blinden l)emerkt wird, liej^t wolil zum gröfsten Teil an dem Wohlgefallen am Kliytlunus und Keim der f^ehundenen Rede, zum Teil wohl auch an dem musik'iHsehen Moment ^^uter Deklamation. Die Werke der Bau- kunst sind tur (h'n Tastsinn zu grofs; wolil sucht man dem Blinden l)eriihnite Baudenkmaler dui'eh Modolle en niiniature zum Verständnis zu bringen; wird auch der Vorstelhmgskreis dadurch erweitert, so ist doch der ästhetische Wert solcher Versuche minimal und keinesuefrs zu vergleichen mit dem Ein ! ruck, den solche Kunstwerke auf den Sehenden ausüben. Der Sinn tür Anstand, Sauberkeit, Heinlichkeit, Anmut nnd Leieliti^^keit heim Gehen und heim Gebrauch der Glied- mafsen ist beim Blinden schwer zu entwickeln, da ihm der Anblick solcher ästhetischen Erschein unirf^n verschlossen ist und ilun damit auch das V^erständnis dafür und der Trieb zur Xacliahmung dcr-^elhen abgeht. Hingegen zeigen alle die Bewef];ungen, welche der Bünde aus sich selbst heraus, dhne das erzieiiende Auge und ohne die Korrektur seiner Eltern und Erzieher, entwickelt, das Gepräge des Unnatürlichen, Häfsiichen, AufFälli^^cn : sie sind dem Blindenerzieher als »üble Angewohnheiten die schwer auszurotten sind, bekannt

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FmoBERi Der Blinde.

57

Vorstehende Ausführungen niöj^en genügea, um zu zeigen, dafs das ganze Gebiet des höl»eren Gefühlslehens, soweit es an dem Vor- stellungsleben haftet, durch das Gehn i hdi dor Blindheit ungemein beeinträchtigt und vermindert wini. Die BUndlieit wirft ihre duukien Schatten auf die intellektuellen, die raoralisciiea und itsthetischen Gefühle, und der Tastsinn allein ist solbst bei vollkummenster Aus- bildung nicht imstande, sie zu verscheuchen. Zum Glück besitzt der Bünde in seinem Gehör ein Mittel, welches diesen Mangel zum Teil wieder aujigleicht. Das Geiior ist dalier des Blmden vornehmster Sinn; es giebt ihm das Hauptmittel aller Geistesbildung, die Rpraehe. Durch den Besitz der Sprache hebt sich der Blinde in ^eistiii« r Beziehung weit über don Taubstummen, dem die Erlernung der ihm von Natur uulM kunnten Spraclif dieselben Schwierigkeiten be- reitet wie dem Diinden die Kenntnis der üim von Natur un- bekannten Aufsenwolt. Der Taubstumme hat V ursteil ungen ohne Sprache, der Blinde hat Spracfn ohne konkrete Vorstellungen. Die Er- gänzung des fehlenden lät in beiden i^'üiien Aufgabe des spezifischen Unterrichts.

Das Gehör bietet dem Blindeu gegenüber dem Tastsinn grofse Vorzüge. Mit dem Gehör tritt der Blinde am unmittelbarsten in Verkehr mit der Aufsenwelt Ungesucht uud ohne Vermitteluni^ Sehender nimmt er die Eindrücke des Gehörs aus den verschiedensten Entfernungen auf; sie bieten seinem Geiste weit mehr Abwei ii> lung und Mannigfaltigkeit als die Druck- und Bewegungsemptindungen des Tastsinnes. »Die Herrlichkeit der Natur ist ihm eine undurchdring- liche Finsternis, die in ungewöhnlicher Weise ihm zu wogen und zu wallen scheint sich klingend, brausend, knarrend und knatternd vor ihm ausdehnt und zu ihm hinbewegt und ihn von allen Seiten mit üie empfumlcni n Eindrücken bestürmt. M Das Gehör zeigt ihm die Nähe, die Euttemung und die Richtung an; mit tausend Stimmen spricht die Natur durch das Gehörorgan zu seinem Geiste. Die Stimmen der Natur, die Sprache der Menschen, die Töne der Musik- iustrumentp. die Musik als das vollkommenste Ausdrucksmittel mensch- licher Seelenregungon sind seinem geübten feinen Ohre eine be- ständige Quelle mannigfacher Gemütsbpwegungen, daher denn auch sein Interesse weit mehr an den Eindrucken des Gehörs haftet als an denen des Tastsinnes. Bedenken wir nun noch, welche Schwierig- keiten und Muhe dem Blinden das Erkennen komplizierter Formen durch den Xastsioa bereitet, die gespannte Aufmerksamkeit, welche er

') Komumma, Der blinde Musiker. Eedams n. Meyem VoUmbibhothek.

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B. Ißttetliiiigeii

dem l^tvorgang \vidiii6a ma&, so ist leicht sa veisteheii, wamm der Blinde sein Auffassungsvermögen immer mehr nach der Seite des Gehörs hin entwickelt Das un^dlicbe Reich der Geräusche, Klänge, Laute und Stimmen tritt in den Mittelpunkt seines Geistes, alle anderen Sinneewabmehmiingen, also auch die des Tastsinnes sind gleichsam nur Krgäuzungon su den Gehörrorstellungen, welche in seinem Geiste die Herrschaft führen. Den Tastsinn ttbt der Blinde meist nur unter einem gewissen Zwange von selten des Lehrers und Erziehers. Fehlt diese Nötigung zum Tasten, dann beschränkt sich der Blinde zum gröl^ten Teile auf die Wahrnehmungen seines Gehörs ; dies ist in der Kegel der Fall während der ersten Lebensjahre des Blinden, vor seinem Eintritt in die Blindenanstalt. Gar leicht gewöhnt er sich daran, den plastischen, konkreten Tastbildera Gehörvorstellungen zu substituieren. Bei den betreffenden Wörtern reproduziert er nicht etwa ein Tastbiid, sondern ein Klangbild. Das charakteristische Merkmal für den Begriff Eisenbahn ist bei ihm nicht etwa die dampfende Lokomotive, die Beihe der sich bewegenden Wagen etc., sondern das Bollen der Wagen, das Pfeifen der Lokomotive. Bei dem Worte Hund fiLllt ihm wohl zuerst das charakteristische Gebell, nicht die Gestalt des Tieres, ein etc. »Der Begriff Tiefe besteht in dem Klangbilde von leise am Fufse eines Berges murmelndem Wasser und von herunterrollenden Steinchen, Entfernung ist ihm ein allmählich schwächer tonendes und dahinsterbendes Lied, reitende Kosacken rufen in ihm die Vorstellung eines verworrenen Getoses von Pferdehufen wach.« (Korolemko, Der blinde Musiker. Beclams n. Meyers Yolksbibliothek).

Eine hervorragende Bedeutung hat das Gehör für die Bewegung und Orientierung des Blinden im Räume; als SchaUleiter ermöglicht es ihm die Teilnahme am gemeinsamen Bewegungs* und Unterhaltungs- spiel. Es warnt ihn schon von weitem vor Gefahren, welche der freien Bewegung in die Feme entgegenstehen. Gerade nach dieser Richtung hin ist das Gehör sehr entwickelungsfähig. Es übt damit auch einen heilsamen Einflufe auf das körperliche Wohlergehen des Blinden aus. Der Blinde leidet, falls nicht eine zweckmäTsige Er> Ziehung einsetzt, körperlich am meisten durch den Mangel an freier und leichter Bewegung, der seine körperliche Entwickelung hindert Das sehende Kind, welches sich im freien, leichten, ja wUdem Spiel fleilsig in der frischen Luft tummelt, entwickelt eine weit intensivere Atmungs- und Herzthätigkeit, einen rascheren und voUkommneren Stoffwechsel und damit ein viel kraftigeres Wachstum als das blinde Kind, welches meist still sitzt und träumt, oder sich höchstens auf einem engen Baume unsicher und ängstlich bewegt Die Blinden-

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FiscitKR: Der Blinde. 59

erzieh img sucht Riich die^eui Mangel durch heilpädagogiscbe Mass- nahmen zu bogeinien.

Wir seheu, tlals flio Opfühlsbolebung dt s i^linüen durch Gehör und Sprache crfolirt, (lals das («ehor aber auch die körperliche Ent- wickolung des Hliiideu begünstigt. Wir schliefen uiisero Hotrachtnng mit einem kurzen Blick auf die Willens- und Charakterbildung des Blinden.

Auch hinsichtlich dieser erebührt unter den Sinnesürgunou dem (iehur, vor allem als dem Vermittler der Sprache, der oi-stc Platz. Da das Wollen stets mit dem Vorstellen und Fühlen verbunden ist, so kann man auch im allgememen behaupten, dafs das Gebrechen der Blindheit in dem gleichen Mafse das Willensleben bonachti ilii^t wie f.v das Vdrstollcn und Füiden beeinträchtigt. Thatbachlieh /i'ij^en nun auch viele Blinde eine jrewisse Flnoreiolosifrkcit und Schlaffheit, die wohl teilweise in körperlicher .Schwäehe begründet sein maer. Nicht s. lten fiuflet man bei Blinden Hang zur Trägheit, Gleichi^nltiL^keit und Nachlam fit. UiiUist zur körperlichen Arbeit. Wir stellen aber auch an seine Willeiiskiaft weit höhere Anforderungen als an die des »Sehenden, da wir Leistungen von ihm verlangen, \veh'h(> er bei seiner weit unvollkummueren Organl^aUu^ nur mit gröfster Kraftanstrongung bewältigt. Die Hindernisse, welche das (»ebrechon seinem Streben beständig in den Weg legt, und das Bewulstiiein seiner bedauerns- werten Lage nehmen ihm leicht den Mut und das Selbstvertrauen. Das Vorurteil, welches <lie Sehenden seiner Leistungsfähigkeit trotz der besten Leistungen der Blinden immer wieder entgegenbringen, ermüdet sein Streben und seine Arl)«'ifsfrt'udigkeit ; die beständige er- höhte Anspannung seiner Kräfte und seiner Sinne, besonders des stets wachsamen Gehörs, fördert nicht selten eine gewisse nervöse Über- reiztheit, die ihn bei seiner Umgebung nicht immer im besten Lichte erscheinen läfst. Der Mangel an sinnlichen Eindrücken nötigt den Blinden, sich vorwiegend mit sich selbst zu beschäftigen, er wird dadurch /.um Kguisten, durch die Einsamkeit wird dieses Übel noch verschlimmert, er wird zum Sonderling. ^Dio Menschen fürchtet nur. wer sie nicht kennt, und wer sie meidet, wird sie bald verkennen. Nicht selten wird auch der Blinde von seiner mitleidsvollen Um- gebung von Jugend auf verwöhnt; die ihm entgegenbrachte Rücksicht und Hilfeleistunf, \urd dann von ihm als ein Keeht beansprucht; er wird emptindlieh und iimingcnehra, sobald er die geringste Unauf- merksamkeit oder Vernachlässigung seiner werten Person bemerkt. Oft findet man bei dem Blinden eine gewisse rücksichtslose und ver- letzende Offenherzigkeit, welche darin ihren Grund hat, dafs er die

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A. Alihttidliuigeii.

Wirknng seiner Worte, welche sich meist nur im Mienen- und Ge- berdenspiel des Beleidigten ausdrackt, nicht erkennt und dafe die äußeren ErscbeiQungen des Banges, Standes und der Würde dessen« der sich mit ihm unterfafilt, auf ihn keinen £indrack machen. Er trägt gewissermaliaen sein Herz auf der Zunge, da er keiu warnendes Zeichen zur Behutsamkeit und Mäfsigung versteht Hat er aber des öfteren die Kachteiie seiner Offenherzigkeit erfiihren müssen, so ver- Cillt er leicht in das andere Extrem des Miistrauens gegen jedermann^ auch gegen den, der es nidit verdient Die Blindenendebung hat auch hier prophylaktisch einzugreifen.

Jeder Blinde aber, dem es gelingt, sich selbstSndig zu emShien, und der sich mit Ehren in der mensohlicfaen Gesellschaft behauptet, ▼erbraucht als der organisch Schwächere ein weit grCfseres Hafo von Willenskraft als sein sehender Standes- oder BerufBgenosse; er ver^ dient daher die Hochachtung seiner Mitmenschen. Eine grofse Zahl von blinden Gelehrten, Künstlern und Handwerkern geben der sitt- lichen Willenskraft des Blinden das ehrendste Zeugnis. Ünter den hervorragendsten Blinden der verschiedenen Zeiten mögen folgende hier genannt werden: Homer, Tiresius, Ossian, Milton, Saunderason (Mathematiker an der üniversitftt Cambridge), Ffeffel, Dülon (EaiserL Kammermusiker in Petersburg, hervorragender Musiker), Therese V. Paradies (hervorragend in verschiedenen Wissensgebieten und Künsten, besonders als Yirtuosin in der Musik), Schönberger (be- rühmter Gelehrter und Philosoph in Königsberg), Baczko (Professor der Geschichte in Königsberg, Verfasser der Schrift : Über mich selbst und meine ünglücksgeffihrton 0. Kummer, Leipzig 1807) und der neuzeitliche, durch seine philosophischen und sozialpolitischen Schriften bekannte Professor Eugen Dühring in Berlin, n. a. m. ünter den genannten verdienen besonders diejenigen unsere Hochachtung, welche schon im frühesten Eindesaltor erblindeten und ihre ganze Entwicketung unter dem Einflnfs der Blindheit zurücklegten, als besonders der Mathematiker Saundersson, der Musiker Dülon, Therese v. Paradlea in Wien und Schönberger. Der blinde Bettler ist heute eine seltene Erscheinung geworden, trotzdem der Bettel sehr einträglich und daher verführerisch ist Die meisten aus der Blindenanstalt hervorgegangenen Blinden sind beute arbeits- und erwerbsfähige nützliche Glieder der menschlichen Gesellschaft

Über die praktischen heilpädagogiscfaen Veranstaltungen, welcher die Blindenendehung bedarf, um den nachteiligen EinfluJs der Blind- heit auf die körperliche und geistige Entwickelung des Menschen zu heben, ist es mir vielleicht in einer späteren Arbeit zu reden gestattet

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PRXNZiKe: Die KindenterblioJikeit auf dem Lande und in der Stadt

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2. Dio Xindeniterbliclikeit auf dem Lande und in der

Stadt.

Dr. F^. Priutm in Ulm.

Dig Kindersterblichkeit ist abhängig von der Art der Ernährung, der Sorgfalt der Pflege nnd der Wohlhabenheit der Eltern. Die Art der Ernährung ist weitaus der wichtigste Faktor; nur da, wo viel und lange gestUlt wird, ist die Kindersterblichkeit klem. Wir müssen daher immer zuerst auf die Ernährung zurflckkommen, wenn wir Unterschiede in der Höhe der Säuglingsmortalitttt richtig deuten wollen. Wir werden daher audi bei einer Untersuchung der Kindersterblidi- keit in Stadt und Luid der Frage der Ernährung unsere Hauptauf- meiksamkeit zuwenden mttssen.

Im allgemeinen war bisher die Anschauung herrschend, da& das Leben des Säuglings in den Städten mehr gefährdet sei als auf dem Lande. Dies war früher auch zweifellos der Fall. Aber die grofsen Fortschritte der Hygiene haben zu einer ganz bedeutenden Verbesse- rung der Sterblichkeitsverhältnisse in den Städten geführt, und zwar vor allem besüglich der Kinderwelt Das Verhältnis der Säuglings- sterblichkeit in Stadt und Land wurde Ton mir zum Oegenstand einer eingehenden Studie gemacht^). Dabei zeigte es sich, dals hente in einem grolsen Gebiet© Mitteleuropas in den Städten eine kleinere Kindersterblichkeit gefunden wird als auf dem Land. Dasselbe dehnt sich im Westen bis zum Rhein, im Norden bis zum unteren Main und nach Ausgreifungen nach Thüringen und Braunschweig bis zur Nordgrenze Sachsens aus und umfafst noch einen Teil Schlesiens. Süddeutschland und Österreich- Ungarn bilden die Hauptmasse dieses Gebiets. Auch in Preufsen haben sich die Vorhältnisse gegen frühere Jahrzehnte ganz erheblich versclioben, und in vielen Kreisen ist heute die Kindersterblichkeit in den Städten kleiner als auf dem Landa In Frankreich und in der Schweiz ist sie in Stadt und Land an- nähernd gleich, in England und in den skandinavischen Staaten ist sie in den Städten gröfser.

Die Säuglingsmortalität ist in den Städten vor allem da gröfser, wo das Stillen üblich ist. Denn in den Städten wird fast durch- gehends seltener gestillt als auf dem Lande, weil die Mutter, wenn sie dem Erwerb naoligoht, daran verhindert ist, dem Säugling die

') Fa. PanizDio, Die Kindoisterbliolikeit in Stadt und Land. Conr. Jahrb. f. Nat md Stat Bd. XX. 1900. 8. G93.

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A. AlifaaBdluQgen.

iiiii<;t m reichen. Wo (laj^egen die Neugeborenen mit künstlicher Nahrung aufgefüttert werden, ist ihre Sterblichkeit in den Städten kleiner, da die stadrijsche Bevölkerung viel leichter zu einer rationellen Ernährung der Säuglinge anzuhalten ist als die läudliche, die nur schwer mit alten Vorurteilen briclit. Allerdings kommen auch Aus- nahmen vor, so z. B. in Prag gegenüber den umgebenden Krei.shuuptmaun- schaften, wo die Kinder fleifsig gestillt weiden. In diesem Fall müssen wir die Ui"Jiache der besseren Verhältnisse in den Städten in einer sorgfältigeren Wartung und Pflege der Säuglinge suchen. Wir finden da auf (ieni Lande vor allem eine sehr grofso Sterblichkeit der Kindel im 1. Lebensüionat. Biese ist überall auf dem Lande giöfser uJs in den Städten, auch da, wo die Gesaintsäuplingsmortalität sich um- gekehrt verhält. Den Kindern des 1. Lebeiismonuts ist die Winter- kälte, namentlich aber rauher Wind viel gefährlicher als die Sommer- hitze, vor allem natürlich da. wo die Woimun^M n hygienische Mängel haben, oder wo die Kinder ohne Rücksicht aut Wind und Wetter schon in den eisten Lebenswochen ins Freie gebracht werden. Dies kann so weit gehen, dafs der monatliche Verlauf der SäugUngssterh- lichkeit dadurch vollständig geändert wird. Während wir überall m Deutschland in den Sommermonaten eine viel höhere Säuglingssterb- lichkeit haben als im Winter, finden wir an der Ostküste von Ober- und Mittelitalien das umgekehrte \'eihältnis. Die Ur.sache hiervon ist allein die grofso Sterblichkeit der einmonatlichen Kinder in den WinteiTOonaten, in welchen die Ostküste sehr häufig von rauben Winden heimgesucht wird. Wir finden ferner auch in Deutschland zuweilen da, wo das Stillen üblich ist, wie in Bamberg, eine gröfsere Kindersterblichkeit als auf dem Lande, die hier auf die grofso An- zahl von Erkrankungen der Atinungsorgane zurückgeführt werden

Der Sommer ist den Säuglingen auf dem Lande viel weniger gefährlich als denen in der Stadt. Es ist dies nicht überall in gleichem Malse der Fall, und man hat gefunden, dafs besonders in den Städten, in welchen die nächtliche Abkühlung sehr gering ist, wie z. B. in Berlin and Leipzig, der Sommer den Säuglingen besonders geffihrlieb wird. Die Erhitzung während desselben ist in den Städten^ wie aU> gemein bekannt, viel intensiver als auf dem Lande, wo wegen deß ungehinderten Zutritts der Luftströmungen za den Häaseni, wegen der benaobbarten Wiesen und Felder, der Temperatarrückgang bei Nacht viel gröber ist als in der Stadt Die Hauptursache der hohen Sommersterblichkeit der Säuglinge sind die Dannkatairiie, die meist diireh Zeisetzungs Vorgänge in der Milch veranlaDst werden. Zur Ver-

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PftLNzcic: Die Iviudersterbliclikeit auf dem Laode und ia der Stadt

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hütuug derselben dient neben einer tt: ri.gen Milchkontrolie die Sterili- sierung: der Milch oder wenigstens eine peinliche Reinlichkeit bei ihrer Behandlung, die aber nur bei ausreicliender Wasserversorgung und Kanahsieinn'j der Städte möglicii ist. Geratie durch diese Assa- nierun<jsarljL4ten wird daher in flon Stiidten die Herabmindern n^: der Sterblichkeit der Neugeborenen am l)esten ':'ef'')rdert. Denn eine ge- nanorf Untersuchung zeigt, dafs die Abnalime derselben sicii nur auf die ^ornmersterblichkeit und auf die Sterblichkeit an Maj;en- und Darmkatarrhen beschränkt. Es star})(Mi z. B. in Berlin von 1000 Lebond- .«jeborenen an Krämpfen, Breciidurchfaü, Diarrhöe und Atmphie 1875— 77 19B.8 und 1895 nur 118,9, die übrigen Todesursachen da- gegen sind steil an Zahl gl eich geblieben. Jj'emor starben durchschnitt- lich pro Tag Säuglinge in Berlin:

1876-80 1892-<>U im Juni 66,4 32,6 Juü 75,2 52,1

In den anderen Monaten zeigen sich nur geringe Unterschiede.

Entferntere Gründe des Unterschieds der Kindersterblichkeit in Stadt und Land sind die kleineren Geburtenzahlen in den Städten im Verhältnis zu den vorhandenen gdtärfähigen Frauen und die all- gemeinen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse. Unter den letz- teren kommt die Armut und die Überfüllung der Wohnungen in den Städten in B* traciit. Für Wien wurde nachgewiesen, dafs mit der Zahl der überfüllten AVohnungen in den einzebien Stadtteilen die Höhe der Kindersterblichkeit steigt. Beim engen Zusammenwohnen ist es viel schwieriger, die nötige Heinlichkeit bei der Behandlung der Milch walten zu lassen, außerdem kühlt sich im Sommer die Loft in überfüllten Wohnungen viel weniger ab als in geräumigen, 80 dafs die Gärung der Alilch uucli dadurch beschleunigt wird. Da EUgleicb das Zusammenwohnen in überfüllten Gelassen ein Zeichen von Armut ist, so wiid die Kindersterblichkeit in ihnen auch deshalb so hoch, weil hier die Mutter mehr mitverdienen mufs. So wird die Abnahme der Mortalität der Neugeborenen in den Städten auch durch die Zunahme der allgemeinen Wohlhabenheit und durch die Sorge für gesunde Arbeiterwohnungen daselbst erklärt.

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A. Abhandlungen.

3. Ein Schritt vorwärts. Zur Beichsstatistik über die Kinderarbeit in Deutschland.

Von

Kfirai A|aM>Rixdorf.

Wer wollte <iaiaii zweifeln, dals die Frage der Kinderarbeit, der <lie deutsche Lehrerschaft seit einer Reihe von Jahren ihr besonderes Aup:enmcrk zns^ewandt hat. zu jenen f^ehurt, die gleiclimaisi<: Politiker, Ärzte, l'Hrlariii nte, Koiiinmnen und Kef^iorunpen interessiert? Ist das immer iler ImH irewesen? 70 rlalue harter Kampf ge.i^en Unvorstiind, Wettbewerb und Not iiaben dazu gehört, die Kinderarbeit aus der Fabrik zu entfernen, und wer die Geschichte der preufsischen Fabnk- i;esotzgebimg kenut, iiiufs zugeben, dafs die Kinderfreunde keinen giiü.stigeü Stand in der Bewegung liatten, dafs Pausen in der i.nt- wickelung der Frage eintraten, die sehr lang waren. Schwierig ist die politische Behandlung der Materie immer gewesen, aber wenn der gute Wille da war (es bedeutet das in der Politik dasselbe wie »Beweis zwingendster Notwendigkeit«), dann kam man vorwärts, lang- sam zwar, aber doch eben vorwärts; Rückschläge sind nicht einge- treten. Als solch einen Schritt vorwärts darf man auch die (in den Viorteljahrsheften zur Statistik des Deutseben Reiches 1900, III) er- folgte Herausgabe des Berichts über »Die gewerbliche Kinderarbeit auÜ^rbalb der Fabriken auf Grund der Erhebung vom Jahre 1898« besseichnen, nachdem im Reichstage von mafsgebender Stelle erklärt worden ist, daTs die Statistik Veranlassung geben werde, aut gesetz- lichem Wege den Auswüchsen der Kinderarbeit entgegenzutreten. Es ist anerkannt worden, dafs die Ergebnisse zum Teil »recht trau- riger Art« seien. Sieben Jahre haben dazu gehört, wieder und immer wieder mufste neues IKaterial gebracht werden tod unserer Seite, Vereine wurden mobil gemacht, Pariamentarier gewonnen, Schmähungen zurückgewiesen , um endlich mit diesem Eingeständ- nis jene behördliche Zusage zu erhalten, dals etwas geschehen werde. Wir Lehrer dürften demnächst unsere Forderungen zu präzisieren haben. MaJsgebend bleiben selbstredend die Beschlüsse von 1898, welche die deutsche Lehrerversammlung in Breslau falste. Ob man ihnen bei der gesetzlichen Begulierung ganz Rechnung tragen wird, ist sehr fraglich; eines aber mufs gesagt werden: Schon jetzt hat sich an dem Erlais von etwa 60 Polizeiverordnungen gezeigt, dafs die Arbeit der Lehrer auf diesem Gebiete nicht vergeblich war. Und die Lehrer haben ein gutes Werk gethan an den Kindern, und ein not-

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AaAHo: Ein Schritt vorwärts.

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wendiges an der Frage der boutigen Erziehung der Kinder der breiten Volksschichten überhaupt Daran könnte nämlich niemand mehr zweifehi, so sollte mnn an nehmen, dafs die Er- ziehnnf]^ in den Volksschulen boi der Unkenntnis der sozialen Lage der Kinder seitens der Lehrer in vielen Fällen nicht in der Weise geleitet werden kann, wie es besonders m don (Trofsstädten und In- dustriezentren notwendig wäre gerade im Hinblick auf die völlig ver- änderten Erwerbsverhfiltnisse und deren Folgen oder auch meinet- halben deren Ursachen als Wohnun^mot, Kinderarbeit, Fabrikthätigkcit der Mütter, politische Anschauungen des Vaters u. dgl. Naohdem ich jahrelang diese wirtschaftlichen Verhältnisse der Eltern der Kinder studiert habe, ist es mir oft schwer auf die öeelo gefallen, dals der Lehrer bei der Unkenntnis der sozialen Verhältnisse im besten Falle einen Unterricht zu erteilen imstande ist mit dem er vor seinem ihm amtlich vorgesetzten Kevisor bestehen kann, nicht aber vor seinem pädagogischen Gewissen, welch letzteres dem amtlichen ]{ visor als Re- visor übergeordnet ist Wer da weifs, wie viele verborgene Miterzieher die Sehn le hat, wird ohnebin schon den Erziehungsfaktor Sdiulo nicht 2U hoch einschätzen; wie soll er Macht entfalten, bestimiin nd be- einflussen, wenn jene Unkenntnis weder ergänzende (im gimstitren Sinne) noch Schäden parailjsierende Mafsnahmcn notwendig erscheinen läfst Dafe die Überfttllung der Schulkla^en die solciierweise sche- liian-che Bethätigung der Lehrerpersonen begünstigt und der furtgesetzte alljährliche Wechsel sie erhöht, versteht sich von selber; dennoch bleibt als Fazit: Di-' Kenntnis der häuslichen Vor- hältnisse des Kindes ist jetzt mehr a! s je not wendige Voraus- setzung einer erspriefslichen erzieiilichen Beeinflussung.

Man hl lumpte nur nicht, dafs dieser Satz eine längst bekannte Tbatsacbe uiediihole; also gewissonuLilsen aus der Rumpelkammer einer Schulkunde hervorgesucht sei. Woher wissen wir es, dafs heute Deutschland allein »gewerblich« thätig sind 544 2S3 Kinder? Welcher Lehrer hat sich früher nm die auiserhalb der Gewerbeschutz- gesetzgebung stehenden Kinder bekümmert? Warum sieht sich die Lehrerschaft gezwungen, die Frage der Haiishaltimgsschulen zu einer pädagogischen zu niHcliüü? Kann sie bei der ungeheuren Zunahme tler Beteiligung verheirateter Frauen an der Sachgüterproduktion weiter stillschweigen? Es ist bald gesagt: »Der Schwerpunkt der Erziehung mufs in der Familie liegen«, aber wo haben wir denn in abertausen- den von Fällen noch diese Familie? Es wird abzuwarten sein, in welchem Geiste das neue Jugendfürsorgegesetz (iurchgeführt wird, doch ist mit Freuden zu begrüfsen, dals endüch auch hier der Satz An-

Di« Kiadedeiüar. YL Jahtgaog. 6

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A. AMigafHnngen.

erkenniing gefunden hat: Vorbeugen ist besser als Heilen. Doch das nebenbei; für den Lehrer müssen Elternbesuche einen obligatorischen Teil der Erziehungskiinst bilden, und sie dürfen nicht nur ^gelegentlich ausgeführt werden. Notwendig wäre, um den Yorsciüag ideal durchzuführen, eine Verminderung der Schüler- zahl und die gesetzliche Bestimmung, dafs Lehrer in der Ausübung dieser ihrer Berufsthätigkeit Beamtenschutz geniefseu. (Beauiieueigen- schaft.) Leider hat ja dio Schule der Gro&stadt die Verbindung mit dem Hause schon so sehr verloren, dafs es Eltern giebt, die dem Lehrer die Thür vor der Nase zusehlagen sollen. Mir persönlich L^t es allerdings noch nicht passiert im Uegenteil !

Der vorehrto Leser scheint zu der Frage berechtigt, warum ich uiclit endlich zu meinem Thema »Kinderarbeiti käme. Verzeihung! Ich stehe mitten darin, denn die Erörterung dieses Kapitels war es, welche der Lehrerschaft neue Bahnen vorzeichnen half, einen mäch- tigen Schritt aus der alten .Scliulmeisterei vorwärts zu thun sie zwingen mufs. Die Gesamtheit stellt erhöhte Anforderungen au die Schule; Pflicht der Lehrer ist es, ebeusowohl nach aufsen darauf hinzu- arbeiten, dafs die Oesamtlieit ihnen die Wege ebene, als und darin beruht ihre Haupttliätigkeit dem Individuum ihio gaiizu Kialt /.u schenken, Strenge oder Nachsicht, Lob oder Tadel, Liebe oder Abweisung. Man hat unsere Grofsstadtschulen 'Bildungsfabriken« genannt, und mich will bedünken, die Schablonencrziehung treibe da ilir Unwesen, und die Erziehung müsse so werden, weil selten ein Lclirer sich Einblick verschafft in jene Verhältnisse, die dem Zögling den Stempel der Individualität aufdrücken. Jede Kindesseele will einzeln studiert sein, und unter Klassenunterricht hat man nicht die üniformierung von 50 bis 70 Kinderseelen zu verstehen

Welche Einderfehler können sich bei der Erwerbsthätigkeit ent- wickeln? Welche Beobachtungen beweisen den thatsäch liehen Zu- sammenhang zwischen Kinderarbeit und Kinderfehlem? In der Be> antwortong dieser beiden Fragen dürfte schlielslich der Hauptwert im Sinne der Leser dieses Blattes liegen. Da& die Erhebongen der Beicfafistatistik viel weniger zur Benutzung herangezogen werdw können als das von der Lehrerschaft beigebndite Hatertal, liegt auf der Hand. Ohne auf eine besondere Kritik der amtiichen Erhebungen, selbst auf ihren gesetzgeberisdien Wert hin, einzugehen, muts gesagt weiden, dafe sie insofern von Bedeutuag sind, als sie tiotz ilirer grotoi ün- ToUkommenheiten für alle fraglichem Schiden körperlicher, sittlicher und intellektueller Art durch die Feststellung der Massenzahl wir- ken. Wenn die Statistik anfahrt als Bescbftnigte in:

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AoAiio: Ein Schzitt Torwärts.

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Industrie 306 823 Kinder

Handel 17 623

Verkehr 2691

Gast- und SchankwirtBobaft 21620 ^

Austragedienst 135880

LaufdidDSt 35909

Sonstig 11787

•ber nicht mitgezählt sind die in sogenannten häuslichen Diensten erwerbfithätigen Kinder, sowie die in der Landwirtschaft und Gärtnerei gegen Lohn arbeitenden, so kann man bei der mit gutem Recht an- zunehmenden Zahl Ton IVs Millionen erwerbsthätiger Kinder über- haupt wohl von Tomherein auf Milsstände schJielsen, die hinter sol- chen Zahlen sich verbergen.

So oft wie darauf liin^ewicson wird, dals nur in einem gesunden Leibe eine gesunde Seele wohnen kann, so oft wird an allen den Kindern gesündigt, deren Beschäftigungsweisc der kindlioben Kraft nicht entsprach oder überhaupt in zu frühem Alter begann, deren Beschäftigung durch zu lange Dauer die Nacht- und Sonntagsruhe und die Spielzeit der Kinder kürzte, sie den Unbilden der Witterung aussetzte oder in Bäumen geschah, die jeglicher Hygiene Hohn sprechen, nicht zu vergessen noch eine Art der Beschäftigung, die das Mafs kindlicher Arbeitsleistung künstlich steigert: die Akkord- leistung. Der amtliche Bericht hält von den »gewerblichen« Arbeiten ungeeignet »wegen der nicht selten damit verbundenen grofsen K i rperanstrengangen« das Steineklopfen, die Marmor-, Stein- bruch-, Steinmetz- und Steinhauerarbeiten, alle Ziegelei- und Maurer- srbeiten, Schmiede- und Schlosserarbeiten, das Brettersägen, -tragen und -packen. > Gesundheitsschädigend werden angeführt das Glasieren, die Gerberei, Tabak- und Zigarrenfabrikation, das Griffelmachen, die Perlenstickerei, das Bemalen von Porzellan. »Gesundheitsgefährlich« seien die Beschäftigungen in der Hausindustrie als Korbflechter u. dgL, in der Spielwarenfabrikation, Knopf- und Glasindustrie. Die Folgen der »übermäfsigen Kiuderbesch&ftigung« werden in das rechte Licht gestellt durch die Angaben aus Greiz. Nach den ach so unvoll- kommenen — Berichten »fehlt es auch nicht an günstigeren Urteilen über die industrielle Kinderbeschäftigung«. Wir müssen an dieser Stelle auf eine Entgegnung verzichten imd verweisen auf unsere friihcren Arbeiten im Socialen Archiv von Braün (Heymanns Terlag, Berlin) und ähnliche Arbeiten in einer Beihe von pädagogischen und sozial wissenschaftlichen BlUttom. Man vergleiche auch SmLicn: >Die Spielwaren-Industrie des Meininger Oberlandes« (Fischer, Jena)

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und eine Reihe von Keuchten der Gewerbeaufeichtsbeamten. ^) In dem Enquete-Bericbt heifst es: >ln vielen Fällen machen sich die Folgen der übermäfsigen Ausnutzung der Jugendkraft im späteren Leben durch vorzeitigen Eintritt körperlicher Schwäche und Er- werbs Unfähigkeit geltend. c Wieder und immer wieder müssen wir auch darauf hinweisen, dafs man unter den »gewerblich« beschäftigten Kmdern nicht allein die iiausindustriell thätigen verstehen darf und dafs die angeführten körperlichen Schädigungen ebenso nahe liegen und vielfach nachgewiesen sind bei: Hausierern (schwere l acken Bücher!) .... 3524 Kinder

Verkäufern (lange Arbeitszeit?) 13052

Kegelaufsetzern (dasselbe und jugemilichos Alter!) 12748 ^ Backwarenausträgem (dasselbe und Treppensteigen !) 42 837

') Auf bt sotidereu Wunsch des Herausgebers führen wir noch folgende Arbeiten 230 dem 13iema au:

AgAhdrEÖMWcial-pädagogisoiieStadie» OiuadlqgsBdo Aibdt Ild.Zeilg;. Nt.47. Jahig. 94. BerJixL (Anfaaiig 19.)

Bd. Zeitung Nr. 27 und 28. Jahrg. 1897. (Vorschlage zur Bearbeitnng des

Verbrindthcma«? und Statistisch'^^ )

Schlcsischf Schulzeihmp. Neue Mitteilungen. Priebatsch-Breslau 1895. Zeitschrüt der Centraktelle für ArbeiterwohÜahrt Nr. 13 u. 14. Jahrg. 1886 mil Mi 1897.

»Kloine Sklaven« oder »Wer hilft ?c Pr. Lehrerzeitung. Nr. 67. 70. 73.

Jahrg. ISOO und umfiLssendc 'FrpLnziiii'^pn in Nr. 1G6 und 108. Jahlg. 1897*

Vi«r Boitriigo zur Sozialpädagogik. Fr. Schulzoitun^'. Liognitz 1897.

»Bäcker-, Kegel- und Zeitungsjunge« oder: »Was soll daraus werden (KvangeL Axlieitorbote 1895.)

Oer Umlaiig der KiDderarbeit in BeniMdilaiMl. Sosiale Fkuds. VL labig.

Seite 1055. Heymann, Berlin.

"Welchen sittlichen Gefahren sind die Scliultinder auf dem Lande bei ihrer häuslichen und landwirtschaftlichen neschäftitrung ausgesetzt, und was kann von Seiten der Schale geschehen, diesen Gefahren vorzubeugen? Blätter für die SainlpniiB 1896. Bopf, Spaaden.

annahmg pid. Tortilge. Heft 9 a. la Die &werletUU:«Mt «to* OfTeM Anhang mit Tabellen, Fkitgebcgen iud aosffihiliclieiii Solirifteniiaobweie. Soennectcns Verlag, Bonn.

Zeitschrift f. Philosophie u. Padago^nk. I^'iugcnsalza, ü. Beyer Söhne. 1899.

Soziale Praxis: Zur kritischen Würdigung der Statistik etc. (X. Jahrg. Xr. 3). Feeh&er: Beridit aber die Denhwhe LetoerTOnmininlnng 1896. Kfinkbetdt, Leipzig. 'Weifs: Gewerbliche Kinderarbeit Deutsche Schule. Mai- n. Septemberiieft 1897«

Bezüglicli weiterer Schriften verweise ich auf die angeführte »Senunhugc etSiii deren Hauptinhalt auch ins Russische übersetzt wtirdc. Zettschrift für Kinderforschung 1900: Über Kinderfroa u. Kindersohutz. 8. 32 tL VereiA mm Sehnts der Kinder tot Anenutzung und Milshandlung. & 36 it QewerUieb beadiiftigte Emder ia DeatooUaiML a 280.

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AoAHDi Ein Schritt vorwärts.

•9

Zeitimsrsträgern (cf. die vorigen!) Lauft in schüu (dasselbe!) . . .

Artisten

. 45Ü03 Kinder . 35909

835 f?l

Wir tibergelien hier, wie wenig im Bericht die Grunde für Itorper- liehe Schädigungen herausgestellt sind, da nur drei Staaten das Alter für einen Teil der gezählten (Preulsen für 4,04 7oj Hessen mit der Gruppierung 6 10 und 10 14 Jahre) Kinder berücksichtigen, die Arbeitsdauer nicht genau herausgestellt haben, spezielle Nachweise für die Nachtarbeit nur ein Staat bringt u. s. w. Der mit dem Referat über die qu. Gefahren betraute Herr Gebeime Sanitätsrat Jacoby dürfte aus dem von den Lehrern gesammelten Material erschöpfendere Schlüsse ziehen kuuncn.

Für uns ist es ebenso klar, dafs die Kinderarbeit zur körperlichen EütwK kelung notwendig ist so mufs sie eben gestaltet werden! , alü diiis sie degenerierend wirkt, wenn sie zur Ausbeutung kindlicher Arbeitskraft wird, worunter wir jede Arbeit verstehen, welche die von ans am Eingang dieses Abschnittes gezeichneten Eigenschaften trägt.

Dafs ein körperlich geschwächter und dazu noch in der £nt- wickelung begriffener Mensch wenig Widerstaiid gegen schlechte Ein- flüsse besitzt, ist erwiesen. Die Statistik überhaupt gewährt uns leider nur die Thatsache, dafs von 100 jugendlichen Übolthätem der Straf- anstalt Plötzensee bei Berlin 70 in der Jugend erwerbsthätig waren. Dieser SaLi^ spricht Bände. Ich habe wiederholt angeregt, solche Züiiluügen doch auch an Zwangserziehungsanstalten, Rettung-shausüia und Gefängnissen vorzunehmen vorgeblich. Es hilft nun einuial nicht, den Thatsachen aus dem Wege zu gehen j es mufs mit Offen- heit von ihnen gesprochen werden.

Im idlgemeinen mui's zunächst gesagt werden, dafs Lohnarbeit der Kiiiiler immer etwas Gefährliches ist, und besonders dann, wenn die Höhe des Lohnes nicht kontrolliert werden kann. Die Versuchung ist zu grofs für tin kürperlicii. mattes, hauli^ f^t-iiug für ein daneben in wenig vorbildln licr Umgebung aufgewachsenes Kmd geradezu un- widei*stehlich. Mir lallt hier die Aufserung eines Musikalienhändlers ein, welcher erklärte, dafs er 14 16jährige Laufbui-schen nicht ge- brauchen könne, weil ihm zuviel »gemaust* werde. Sollten Kinder nicht noch weniger geeignet sein?

"VN'ir klagen über die zunehmende Autoritätslosigkeit der Jugend. Hier, im Erwerbsleben des Kindes, ist die Vorschule der ünbot- mälisigkeit der unbeaufsichtigten und, mehr als jeder andere Mensch freien, volksschulentlassenen Jugendlichen. Du Kind ist selbständig, der Nachschulpflichtige fiühreif und unverschuuiL »iiuiueif«

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70

B. MitleUungen.

das sagt alles. Bekanotächaft mit unsittlichen Dingen (z. B. Giimmi- warenfabrikation), unsittlichen Reden (l)ci dem Zusammenarbeiten mit erwachsenen Fremden beiderlei GoscUlochts in Landwirtschaft und Hausindustrie), unsittliche Vorgänge (Handel in Lokalen) das fiilirt

zur geschlechtlichen Frühreife Frühzeitiger Alkoholgenuls und

Nikotin verbrauch, leicht erhältliche schlechte Ijektüre dazu und ein Jahr später liederliche Gesellschaft als Vorbild; Einer ist wieder reif für das Gefängnis.

Ich bin ^veit entfernt jedem lohiiaibeitenden Kinde dieses schreck- liche Prognostikon zu stellen, aber ich stelle es Tausenden. 0 Menschen, wie seid ihr hurti Wie seid ihr so schwer, ach so schwer zu jxe- winni ii für Kinderseclsor^e in dos Wortes wahrster Bedeutung! Wcmi üir nicht Christen seid, seid doch Menschen,

Zwölf mal tausend und siebenhundertachtundvierzi«^ Kinder (Hessen allein flieht 30') im Alter von 6 10 Jahren an) liei^en, zum Teil bis in die spiite Xachtistunde, auf den ivcgclbaimen und lernen >trinkhare ^liinncr« werden; 42 837 Australier von Backwaren, 4-5603 Zoitungsträger, 35 909 Laufburschen und Laufmädchen, meist ohne Aufsicht, ohne Konti-olle des Lohnes (Trinkgelder bei Einkassierung!), 13 052 Kinder im Handel die gestattete geschüftliche Lü|2;e erlernend als Hausierer, Verkäufer u. dgl., 835 als Artisten (die Zahl ist viel zu niedrig!), Strafsensänger , Begleiter von Drehorgeln, Beihilfe beim Schlachten: Ich kenne keine Beschäftigung gegen Lohn, die nicht für viele dieser Kinder mit schweren sittlichen Gefahren ver- knüpft wären. Sie »können«, wie der Fabrikinspektor des Herzog- tums Sachsen-Coburg-Gotha mit Recht sagt, »zum Flache werden« , zn oft werden sie es leider. Soll ich noch ausführen, welche Beobachtungen den tliatsächliohen Zusammenhang zwischen Elndeiy arbeit und Kinderfehlem zeigen? Erinnert sei nor endlidi an das Simulieren, an den Hang zur Lüge und Verschwendung, an Neigung zum Faulenzen nach der Schulzeit, an Znchtloaigkeit der Hirtenknaben infolge ungestörter Beobachtung der GlescbleclitSTorglinge der liere und des häufigen Zuaaammenschlaf^u oiit dem Gesinde.

Zweierlei freillcfa scheint Einderarbeit, selbst Lohnarbeit, zu recht- fertigen:

1. a) Förderung der Arbeitsamkeit und b) Bewahrung vor Müasig-

gang,

2. die wirtschaftliche Kotlage der Eltern.

Bezüglich des eisten Punktes bemerken wir, dalh die Einderau»> beutung^d a häufig genau das Gegenteil bewirkt, ad b zum späteren Müssiggang führt; bezüglich des zweiten Hinweises ist zu entgegnen.

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Dis Lebens und Penonalliodi im Dienale d«r BUitgogik und SdbnUijfigM&o. 71

da& dort, wo wiiklioher hdohster Notstand (cB. for<;gesetzto Aibeits- losigkeit) die Umche ist, Mittel bereitgeetellt werden müssen, bei Torttbergehendem Notstände der gesetzliche Bchatz dringend erweitert werden sollte (worfiber wir an anderer Stelle Yorachllige machen werden) nnd dab so der Standpunkt der deutschen Lehrerschaft die Lohnarbeit der Kinder im Prinzip zu verwerfen ist »Bttcksichten auf den Terdienstc, so bei&t es auch in dem Krlaä des Heiin Reichs- kanzlers (28. Februar 1898), tnnd die Untersttttzung der Eltern zur Bestreitung der Kosten des Haushalts werden nnr in besonderen Aasnahmefällen eine gewerbliche Beschliftigang der Kinder recht* fertigen«. Höge die Gesetzgebung des Wortes eingedenk sein: »Wer ein Kind rettet, rettet ein Geschlecht« Und du lieber Leser ^ gehe hin nnd thue desgleichen.

B. Mitteilungen.

1. Das Lebens- nnd Fersonalbnoh im Dienste der Pädagogik nnd der Sehnlhygiene.

Von Fr, Frenzel in StoJp i. F.

Es wird von verschiedenen Seiten immer mehr nnd z\rar mit Recht betont, dafa fortlfinfende Reobai^li t n n «^en der schnlpnichtij^en Kinder, namentlich der Ut^onders gearteten, über den Zustand ihrer gei>tigen nnd körpeilichen BeöühatTtiuheit , über ihre Bildäamkeit und Gesundheit nOtig Baien. Dabei -w&xen sehriftliohe Fixierangen unerläßlich. Fflr die 2«Qit bis som EiDtritte in die Schule müTste das Eltemhaus die nötigen Auf- zeidmungen in dem Lebensbuche des Kindes besorpjen, und dann W^e es der Schule ob, ein Personalbuch für ein jedes Kind nach einem be- stimmten Schema anzulegen und darin die gemachten Beobachtungen nach den vorhin angedeuteten Gesichtspunkten einzutragen. Um jedoch Haus and Schule damit eine nicht allzu grofse Belastung aufzubürden, würde es nch empfehlen, Lebens- und Pers<nmlbnch so einfach als mOglieh auszuge- Blalten. Fflr die Anlage beider mOgen im folgenden einige Richtlinien ge- geben werden, die Ausgestaltung der Bficber kann den mannigfachen Be- dürfnissen entsprechende AbftiMierangen erfahren. Die folgenden Zeilen vollen auch nur weitere Anregungen in der Sache bieten und zu ferneren £r(hterungon Veran hissung geben.

Das Lebensbuüh soll einen Abrils der Lebensgeschichte dos Binzeinen bieten; in ihm werden die Marksteine der körperlichen und geisHgeQ Entwicklung des Eindes von der Geburt an aufgezeichnet Ein- richtung, Form nnd Inhalt des Lebensbuohes mflssen sehr einfach gehalten ■ein, damit die Anschaffung und Fflhrung desselben auch den untersten

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72 B. Müteai^.

ToUnschiehteii ohne erheUiohe Konten« imd MlllMiiaiiMade omOgliobt verda Eio Oklavhefitefaen, 8 BJAttar stark, dOrflB für die AnfseiGliBiiDgeD, -wie sie unser Lebensbuch ToraaBsetzt» voUatSitdig genOgea. Bs ampfehlen Bich folgende Cberschriften:

1. Allgemeine Bemerkungen. (1 Blatt.)

2. Das Säuglingsalter. 1. Lebensjahr. (1 Blatt.)

3. Das Spieialter. 2. G. Lebeusjahr. (2 Blätter.)

4. Das Lernalter. 6. 14. Leben^hr. (2 BUttter.)

5. Das Jflnglinga- resii. Jungfraiienalter. (9 BUtter.)

Bei den allgemeinen Bemerkungen ist der Name des Kindes, s-^in Geburtstag, das Alter der Elitern, ihr Beruf, sowie die Zahl und das Alter der andern Kinder anzugeben; auch sind NotizoTi über etwaige Bchädigondo Einwirkungen auf die Mutter während der Scliwangerschaft, Bemerkungen über soobtige ungünstige Familienverhältuibse und Umstände, Bowie Angaben Aber andere augenfJUlige Bradieinongen and Wahrnehmungen emratragen. Allea Aurseigevöhnliche, Regelwidrige an dem Kinde, wie z. B. ein auffallend grorser Kopf, schlecht entwickelte Glieder, Mutter- male etc. mag auch Vermerkung finden.

Das Säuglingsaltcr bietet dem Beobachter gar oiheblicho Schwierig- keiten, denn alle Entwiukhuig des leiblichen und seelischen Lebens voll- zieht sich in dem kleinen Organismus des Kiudcs nur in geringem Fort- achritle und in oft kaum morkUofaen Begungen. Die Attfaekdinungen mflgen eich hier auf die Ernfthrongfweiee (Mutterbruet oder Flaache), Schlaf- und Wachzeiten, Krankheiten und ihre Behandlung, Sitz-, Steh-, Geh- und Sprech versuche, Abweichungen in der Gestaltveränderung, Wachs- tum und andere wichtige Ereignisse erstrecken. Sie können in kurzen und ganz einfachen Ausdrücken gehalten werden, wie etwa: Das Kind er- hielt die Brust; es scidief viel und ruhig. Nach 4 Monaten lächelte es Bcbon die Mutter an; mit 6 Monaten vermochte es den Kopf zu heben und mit seinen Augen die Bewegungen manoher Personen au Terfolgen. Mit 7 Monaten bekam es den ersten Zahn, ee litt dabei llngere Zeit an geringen krampfartigen Zuckungen. Nach 10 Monaten machte es deut- liche Sprechversnrho im 11. lernte es allein stehen und sich rutschend bewegen. Nach einem Jahr wnrfb-» es entwöhnt u. s. w.

Nach denselben Gesichtspmikien sind auch die Aufzoiclinungen während des Spiel-, Lern- und Jünglingsalters zu bewirken; die B^bachtungen aber mOssen nunmehr auch das Spiel des Kindes, seine anderweitige Be- sohftftigung, sein» Umgang, seine beoondern Triebe und Neigungen, sein Verhalten, Bo\vie die Fortschritte in seiner gesamten körperlichen, geistigen und sittlichen Entwicklung berücksichtigen.

Das Kind tritt bereits im Spielalter mit der Aufsenwelt in Berührung und nimmt au ihrem Leben teil; damit entzieht es sich mehr und mehr der elterlichen Beobachtung. Allein das Mutterauge sieht scharl, liim ent- geht eine VerSnderung des kindlichen Wesens nicht so leicht. Die Mutter veisteht es auch in der Bogel, daa Kind aur Oßenbarung etwaiger geheimen Vorgänge und zur Erschliefsung seines Herzens zu bewegen. Immerhin doch wird die Aufsenwelt dem kindlichen Weeen, oft in betiflchtlioher

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Lebens- mid Feiaooalbaoh im Dienste 4er PUegogik und Bohnlhygiene. 73

Tragweite, eine andere, vun der frühem Eigeiiart mehr oder weniger ab- weidhonde Pifigung Terleihen.

Innerhalb des BnhmenB dieser AnsfObrangen rnnfii tob «mter tu er> Orternden fragen Abstand genommen werden. Bs dürfte fOr die Söhnle

hinlänglich genügen, wenn das Elternhaus die Aufzeichnungen in dttn Lebensbuche des Kindes nach den gegebenen Gesichtspunkten bis gegen Ende des Spielalters besorgen würde, darüber hinaus beginnt dann die Schule ihre Aufzeiciinungea. Selbst dürftige Notiz«i sind mit Daai^ anzu- nehmen. ^)

Der Wert, irolcheB ein rioihtig gefHbrtss Lebensbuoh fflr den Azrt und FSdagogen bedeutet, ist keineswegs zu imtersobfltsen; die Auf-

aeidmungen können beiden ungemein wertrollo Aufschlüsse geben. Der ganze Verlauf des bisheritren Lebens eines Kindes liegt darin als ein deutliches Individualbild klar gezeichnet. Pathologische Zustän le lassen mit Leichtigkeit ihre Erklärung linden, und wirksam und zweckentsprechend vermag die Behandlung einzusetzen.

Peraonalbücher, beaw. Peraonalakten, Individnalhefte, Br- siehnngeliaten oder Eraiehnngsberiohte führen wohl schon die »eisten Schulen und Anstalten für Erziehung und Unterweiinog schwach- begabter (schwachsinniger, geistesschwacher) Kinder und zwar auf Veran- lassung der vorgesetzten Behörden. Die Erfahrungen, weiche bisher da- mit im Interesse einer zu kmäfsigeren Erziehung»- und Unterichtsweiso gemaciit worden sind, bcinedigen voll und ganz und bieten mithin die beste Gew&br ihrer Zwecdtm&ioigkoit

Das Titelblatt dea PetaonaUmdMe (Heftformat hoch qoart, 10 BUtttec Eoniqitpafier) erbllt etwa nadutebende Anfsobrilt:

de . . .

SeiilOer ... der

No. . . . . 1. Seite. Kopf:

Vor- und Zuname:

geboren am Name, Beruf

oder Stand der Eltern, resp. der sonstigen Verpflichteten

eiBgeaefanlt am

Neulich lieüi Rektor Henok aus Rotenditmold bei Cassel sioh von den

Eltern über die neu aufgenommenen Schüler einen Personal boi^cn ansfüllen, am dadurch Anhaltäponkte für eine richtige individuelle Buhaadiiuig der bcbul- neulinge zu gewinnen. "Wo die Eiufübrung des Lebensbuches sich nicht ermögüohea lilät, wild andi der Psisonalbogeu gute Dieaete titan.

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Unter dem Kopfe: Bemerkungen über die gemaobten Beobachtnagea.

1. Das Wc8en des Eindes

2. Sein Auf f aBsnng'Svcrraögeil

3. Sein SpraohTermÖgen . '. . .

2. Seite.

4. Sein Gedächtnis

5. Etwaige besondere Neigungen und Triebe

6. EArperliche Entwicklung, Gebrechen, beiw. MüjBbildmigen . (LShmnngea, Erkrankungen der Tetachiedenen Organe, hereditire Be*

lastung etc.)

7. Elterliche Auskunft, Familion Verhältnisse u. s. w

(Familienverhältnisse, Krankheiten des Kindes, seine hftuslicbe Beschäftigung,

Führung etc.) ,

Zwieohen den einseinen Nummern mub der nßdge Baum für die AuMdmnngsn Qbrig Udben. Über Punkt 6 entaofaeidet der Arst d. h. nur in solchen Fällen, wo ein Erankheitsbild vorliegt, oder wenn Zweifel bezOglich der Persönlichkeit des Kindes obwalten. (Defekte der Sinnes- organe, Sprachwerkzeuge und seelische Mängel.) Das vorstehende Schema berücksichtigt den geistigen und körperlichen Zustand des Kindes, seine sonstigen Eigentümlichkeiten, seine Krankheiten, sein Milieu und ver- langt die Mitwirkung von Haus, Schule und Arzt; es dürfte somit den Forderungen der Gegenwart in ansreiohender Weise entsprechen.

Da es stets dner lAngem Beobaofatong bedflrfen wird, um ein Kind genügend erforschen zu können, so empfiehlt es steh, die Bemerkungen an den einzelnen Punkten erst kurz vor Schhifs dos er'^tm Schuljahres ein- zutragen. Man wird dann wohl nur in den seltensten F'illon fehl gehen, während in einer kürzern Zeit der Beobachtung sich Irrtümer leicht ein- sohleicheu könnten. Das Lebensbuch ist bei den Aufzeichnungen als Unter- lage, besw. snr Vergleiohung der elterlichen mit den in der Schule ge- machten Wahrnehmungen heiansuzieben; wo sich die Ei^bnisse der Be- obachtungen des Lehrers mit den Aufzeichnungen der Mtera nicht decken, wird noch lAngere Beobachtung erfolgen müssen.

3. Seite u. n'. Halbjährlich einzutragende Notizen. (Ostern und Michaelis.)

1. Das Betragen des Kindes

2. Sein Fleifs und seine Aufmerksamkeit

3. Seine Fortschritte (in den einzelnen Unterrichtsdisziplinenj

4. Angaben über etwaige besondeis hervortretende Beffthigungen, sowie über die körperliche Entwicklung

Zwischen den einzelnen Zeilen ist wiederum gehörig Baum für die

') Die Aufzeichnungen für diesen Punkt erfolgen auf Grund des Lebons- buches, oder falls kein» vorliegt, nach Bückapraohe mit dem Eltam. Überhaupt Wörde es der Bchnle nur zom Vorteile gneicbeo, wenn sie öfters Besiehnngen sum EltenihaDse anknüpfen und pflegen wollte.

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Das Lebens- uod Personalbuch im Dienste der Pädagogik und Scholhy^ene. 75

Bemerkungen zu lassen. Da das Buch 20 Seiten enthält, und jede Ein- tragung Dur 1 Seite beansprucht, so genügt es lur 8 volle Schuljahre uud dirfibar hinaas. Die N(itizen> ia der angedeuteten Weise fixiert, gefaea gtelehseitig eine Zettgnisliste ab; es kSonte deshalb die sonst gebräuch- liche Zensurenliste inFortlUl kommen, fiel Umschulungen ist das Personal- buch nebst der Überweisungsliste an die neue Schule dos Kindes zu senden; die dortigen I^hrkräfte vf-rm^gen sich durch Konntnisnahme des Personal- buches sofort ül)er das bolroirende Kind im wesentlichen zu orientieren. Die Bemerkungen des Personalbuches bieten aufserdem ein schätzbares Material rar Kritik der Charakteristik des Kindes und liefern interessante Beiträge zur Kinderforsohung. Ans ihnen vennag der erfahrne Psychologe schon etwaige Anfänge und Keime der Psychopathologie des Verbrechens zu konstatieren. Somit würde das Personalbuch eine groCse Bedeutung für die Beurteilung der Strafharkeit eines Menschen ge- winnen und auf diese Weise mittelbar Interessen der Sociologie su Diensten stehen.

Was soll nun in das Personalbnoh eingetragen werdeii?

Zur BeeeiebnuBg des Wesens des Kindes mOgen folgende Aasdräoke Verwendung finden: lebhaft, rahig, sntianlioh, Tefschloesen, bescheiden, drast, zänkisch, freundlich, geschwätzig, stumpfnnnig, mitteilsam, eigen- sinnig, leicht gereizt boshaft, p-leichgiltig etc.

Das Auffasßun gsvet III " ijon kann normal funktionieren, oder in seiner Bethätiguiig durch Kuiv-.-^ichtigkeit, Schwerhörigkeit, physische und psychische Trägheit, geibtige Schwäche, sprachliche Mängel behindert er^ seheinen. Der Wahroehmungsprozefe ToUsiebt sieh bei manohen Kindern nur oberflächlich, oft ohne peyehisehen FarallelvorgaDg; bei andern wiederum bcschiftnkt er sich unter Verwendung von spezidlen konkreten Vor- tftellungen nur auf Wiedererkennen und Unterscheiden. Dabei gelingt ihnen die gewünschte Konzentration auf einen Gegenstand selten. Bis zur nor- malen AutTassungsfäbigkoit giebt es noch mehrere Abstufungen. Es Ällt deshalb dem Lehrer oft recht schwer, in einigen Fälleu zu einem richtigen Urteile va gelangen. Manche Kinder sind eben so gesrtet, dafs man aus ihnen nie recht klug werden kann, während wiederum andere wie ein aufgeschlagenes Bach erscheinen, in dem man nnr au lesen braucht.

Bei dem Spra c h vermögen ist anzugeben, ob das Kind in seiner sprachlichen Entwicklung normal vorgeschritten ist, bezw. in welchem sprachlichen Hfickstando es bich befindet, resp. wodurcii dieser etwa herbei- geführt wurde. Hierbei kommen auch die Sprachstörungen und ihre mntmafslichen Drsaohen, sowie etwa ▼orhandene Anomalien der Sprach- eiKane nnd des GehOrs zur Vermerkung. Zur Konstatierong der leUteren irt der Arst sn konsultieren.

Die Angaben beim Gedllchtnisse mögen die verschiedenen Orade seiner Ztiverlüssiekeit (treu, oberflächlich, un:^uvorl?i'^?ig), sowie seino be- sonderen Fähigkeiten {Namengediichtnis, Zaiiiengedaelitnis) näher bestimmen.

Bei den besondem Trieben und Neigungen werden Notizen tiber etwa sich äufsemde Stehlsucht, Verlogenheit, Unsittlichkeit, Pyromanie, Vagsbondage^ Tierquälerei, ZeratOrungssoebt, Neoklust etc. gemacht

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Nftbere Angaben m den Funkten 6 und 7 dürften eich wohl er- ftbrigen« bei 6 hat der Arzt ein Wort mitniredeii, und Funkt 7 drückt klar und deatlioh atn» worauf es ankonunt Der ümatand einer genauen

Kenntnis der hAnsliehen Verbftitniese des Kindes wird gewöhnüdi beiderseits, dem Lehrer und dem Schüler, Vorteile bringen. Wenn man weiA-, dafs ein Kind kaum ein Heim besitzt, wo es seine häuslichen Auf- gaben erledigen kann, oder dafs es früh und spät beschäftigt ist. um den leidigen Lebensunterhalt miterwerben zu helfen, so wird man maiigeibaftc Leistungen mit NadiBioht beurteilen. Das Kind bat vielleicht das geleistet, -waa ihm unter den obwaltenden Umetlnden lu leisten mSgrlich war. Sollte man aioh in solchen Fällen aufregen und Härte walten lassen? Nein, das wäre onmenechlich. Man wird vielmehr dnroh milde Beurteilung der Leistungen sich das oft verbitterte Herz eines solchen Kindes zu ge- winnen suchen und ihm, wo es nur möglich ist, wirksam mit Bat und That zur Seite stehen.

Die Eiotragungen der halbjährlich zu machenden Notizen sollen am Sohlusse eines Semesters geschehen; eine kOrsere Zeit wftrde fOr die Beobachtungen nicht ergiebig genug erscheinen, wfthrend nach einem halben Jahre audi schon geringe Veränderungen in der einen oder der andern Richtung der ?of!i?^chon oder körperlichen Beschaffenheit des Kindes sich deutlicher ilulsern und besser nnsgci>rägt hervortroton. Hei Punkt 4 des Schemas ist auch wiederum iiücksicht auf die körperliche Ent- wicklung genommen; bei ungünstiger Entwicklung muls selbstverständlich die Hitwirkung des Arilea in Anspruch genommen werden. Es dflrfte sich auch empfehlen, diesen in solohan Fällen, wo aufsergewOhnliohe Vop- kommnisse dem Lehrer entgegentreten, an konsultieren.

Bei Kindern, die in ihren Leistungen nur unerhebliche Fortschritte nnnrh'^Ti, wird man die UrsacViPn davon zu eiTorsrhon snrhr-n, nrn ihnen die rettende Hand reicheu zu können. Besonder?* liervortreteude Fähigkeiten, wenn sie sich nicht gai zu einseitig äufsern, verdienen eine gewisse Pflege^ schädigende und krankhafte ISrsoheinungen dagegen mflssan womöglich schon im Keime unterdrOokt und beseitigt werden.

Die Führung des Person albuches Tersnlafst den Lehrer, sich mehr und mehr in das Wesen des Kindes zu vertiefen; dieses erscheint ge- eignet, ihn vor mancher Übereilung und das Kind vor manchem Nachteil und Schaden zu bewahren. Die fortlaufenden Beobachtungen fördern auch seinen psychologischen und pädagogischen Scharfblick und e> Schnelsen ihm ein interessantes Arbeitsfeld auf dem Gebiete der Kinderpsyohologie.

Es mag hier noch darauf hingewiesen werden, dab die Penonnl- bücher auch geeignet erscheinen, den Schulaufsichtsbeamten ein« dpiitliche üliorsicht über den Bildungsgrad sowohl eines jeden einzelnen Kindes, als auch über den Stand einer ganzen Klasse, resp. Schule zu verschaffen. Der Revisor erhält mit den Personalhüchern eine zweck- mälsige Handhabe zur bessern Kontrolle der Schularbeit und einen sichern HaTsstab für die Beurteilung derselben.

Unsere Bestrebungen aut dem Gebiete der Eniehung und des üntsr-

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Dm Lebens- und JPenonalbooh im IKeint» der Fidagogik und Seholhyglcne. 77

richta verlangen volle Berücksichtig ung der Individualität des Kindes; dieser Forderung werden wir um so mehr nachzukommen ver> mOgen, man. wir, wie es umer Peraonalbnoh erheischt, praktisohis Psychologie unter Hit Wirkung von Arst nnd Familie treiben würden.

Idttiratur*

1. Dr. iiuhuer, Das Lebensbuch. Kinderfehler 1897. 5. Heft

2. J. Tr tiper, Schema zur FestateUnng des kibUoben nnd eeeUsoban Znstandes eines Kindes. Kinderfehler 1897. 6.-6. Heft^)

3. J. TrÜper, Psychopathische Minderwertigkeit^ im Kindesalter. C. Bertekmann. Gatersloh. 1803. (1. Aufl. vergriffen.) 8.64^69.

4. , Tagebneh für Unterricht und Erziehung.

5. , Zur Theorie eines Unterrichts- und ErziehuQgsplaaes (Begleit- wort zum Tagebuch). Gütersloh 1893.

6. R Scheibe, Der Schulscbein im Dienste der Pädagogik und Schul- hygiene. Pidagogischo Zeitung 1699.

7. Dr. Michel, Personalbogen. Adorf L V. 1900.

8. R. Seyfert, Klassonchroniklogen. Adorf i. V. 1900.

9. Personalbuch für die Hilfsschulen der Städte Breslau undStolp i. P.

10. Halbjährlicher Lehrberioht der firziehungsanstalt für Geistessokwache zu Leschnitz 0. S.

11. Erziehungsliste der Kömglichen Erziehungsanstalt zu Walbern. Die Eintragungen erfolgen am Schlosse jeden Monats.

>) loh Mb den Lesern hier daen Aotehlnfe BchoMig. Diini^ioberd Fragen Uehen mich bis jetit ab» diese Arbdit lortznsetsen. Anbeidem Btielb ich auf eine Lücke in der Litterator, die erst ausgefüllt sein will, wenn das von mir gedachte Personalbnch rechten Nutzen stiften soll. Es fehlte an einer pädagogisch brauch- baren Arbeit über die EIntwickeluiig des Kindes und oameullich aa eioer aus dar Erlahrang stammenden pädagogischen Psychopathologie des Kindes. Meine Schrift über die F^ychopathiBohen Mbderweitigkeitefl im Ißudeaalier, die seit 3 Jahren ver- gnüg ist, hat zu meiner Freude zwar manche Anr^ping gegeben und Beifall in der ärztlichen wie pädagogischen Welt gefunden. In Bayern war sie sogar anitlicher- seita den Bezirkskonferenzen als Gegenstand der Besprechung zugewiesen worden. Meinen Aufordenrngen genügte sie aber nicht mehr, ond da ich keine Zeit zn einer foUrttndigea Umarbeitung fand, so habe ich ee nidifc lOienniiden fc&men trete nelir* nitigen Diingens aie mit gelingen Verbessenngen wieder som Abdruck m bringen, irsB ich den L^iu anf ^eUadies Anfragen hin hiermit erklären möchte. Ich hoffe aber bald die 2. Anflage oder vielmehr eine vollständig neue Schrift über das ab- norme Kind und seine erziehliche Behandlung in den Druck geben zu können. Dann wird auoh mein Schema oder Personalbach für abnorme J&inder mit ersdbeinen. BastweOen aber veidieBt die* obige Arbeit des Kollegen Frensel ftr das nicfast- hagande pnklisalie BedflifniB wie eis eine QaeOenfaBBOiig für Cnderkande ToBe Besobtong nnd praktisohe TerwiAHofaimg. Trüper.

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B. ]fillieiliuig0iL

2. Ein neuer Verein fftr Kinderforschong

in Frankreich,

die »Soci6t6 libre pour Tötude psyohologique de l'enfant^ hnt sich kflrzlich in Paris j^bildet, und zwar unter dem Vorsitze dos i'iol - ssors Buisson. Er erstrebt den Zusammensohluijs aller Personen (l'rotessoron, Gelehrte, Lehrer, Väter und Mütter), die die Natur doa Kindes zu er- forschen suchen, um auf diesem Wege zu einer angemessenen Erziehungs- wttse zu gelangen.

Die GeaellBchaft Tmiiigt sioh monatlieh sa ihren Ariwiten in dem vorläufigen Vereinslokal Ruo Oay-Lussac 41, Paria. Zum Vbnteildd ge- hören eine Anzahl wohlbekannter französischer Psychologen und mehrere Damen, letztoio gomäl's der Rn^timninTiiT, dafs mmdestfias eia Drittel der Vor8tandsmil|zlif der aus Damen bestehen mufs.

Die Gescii Schaft will sich der Psychologie des KmUes annehmen:

1. Darob pqrohologiaclid Fragebogen, die aie anfirteUt und unter den Ifttgliediarn in Dmlanf aetat (die erate Nummer dea »Bulkün« ent- hSlt drei aehr interessante Zusammenatellnngen von Fiagen Aber den Zorn, fiber das Gefühl der un^horsamen und widerspenstigen Kinder und ilbor die abaichtliohea oder unabfiiohtUohea Veiatöiae gegen die W'ahrln'it.)

2. Durch wibseiisclialiiiche Auskünfte, Katschh'lgc und Studienpläne, die der Vorstand der Gesellschaft nach Mafsgabo der zur Verfiitjuüg Btehenden Mittel den Mitgliedern auf Verlangen flbeiaendet

3. Darob p^yohologiaolie MitteUnngeOf die in den monatliohen Arbeita- sitzungen gemacht und alsdann im »Bulletin« veröffentlicht werden. Die Gesellschaft ist allen zugänglich, die sich für die Erziehung

interessieren. Anmeldungen aind XU nohten an Mme Fuater, 34, Boule- vard des Invalides, Paris.

(Revue philosophique, Dezember 1900.) Ü.

8. Dritter Verbandstag der HIUiniohiaen DeutBohlandB m Angsbnrg am 10., 11. und 12. April 1901.

"Wir verweisen nochmals auf diese Vorsammhinir , deren reiclihaltigo Tagesordnung wir bereit» m Heft I mitteilten. Zum Vorstände des Vor- baadea gehOrm: Stadtsohulrat Dr. Wehrhahn- Hannover, 1. Vorsitzender, Hauptlehrer Eielhorn-BraonaclLweig, 2. Vorsitzender, Hauptlehrer Grote- Hannover, 1. Scbriftfflhrer, Haoptlebirer Herne- Hannover» 2. SchriftfOhrer, Lehrer Bock-Braunschweig, 1. RechnongsfOhrer, Hilfaachalleiter Winter* mann- Bremen, 2. Rtx;hnung8führer.

Er richtet in einer Einladung »au alle hohen staatlichen und kom- munalen Behörden, Schulbehörden, Ärzte, Geistliche aller Konfessionen, an die Leiter und Lehrer der üillsöchulen und der Schulen überhaupt, sowie

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Dritter Yerbandstag der Hil&schnlen Deutschlands zu Augsburg etc. 79

an allo Feraöiilichkeiton, die von Interesse und MitgefQhl für die geistes- schwachea Kinder eriüiit sind und denen die Förderung unseres Liebes- irarkeB am ^im liegt, die ebenso höfliche wie diingeode Bitte, durch TeUnahme an der Angaburger Yenamiiüiui{r besir. durch Ebtsendung Ton Delegierten zum Oeliogea des DL Verbandstagee vnA m gedeihUdien Weiterentwickelung unserer Sache beizutragen.«

Und der (Msausschufs, an deren Spitv^n der Augsburger Oberbürger- meister Wolfram steht, '>heirst willkommen alle, die sich die ebenso schwierige als verdienstvolle Aufgabe stellen, die ungiiickiichen Schwach- sinnigen zu erziehen und zu bilden; wilUtommen aber auch alle edlen Menaehenfteande ohne Untetaefaied dea Standea, welche Wille und Kiaft bedtMO, daa harte Loa der geistig Minderwertigea bessern an helfen.

»Es liegt zwar in der Natur des Uensohen, dafs er seine hilMohe Hand mehr den mit augenflUUgen körperlichen Gebrechen Behafteten za> wendet, und doch ein<l die geistig Schwachen nicht minder unseres Kit- leides und unserer Barmherzigkeit würdig und bedürftig! Ja, die Er- fahrung lehrt, dafs die SchwachBiniugou wohl am meisten unter der ü-e- fühllosigkeit roher Mitmenschen zu leiden haben, dai's sie, denen selbst in unserer fiffiBntUoben elementsran Erziehnngsanstalt, in der Volksscbnle, nicht die nOtige Anfanerksattikeit gewidmet werden kann, infolge ihrer ge- floliwacbten Willenskraft nur zu leicht das Selbatrertrauen verlleren und so als gefügige Werkzeuge herzloser Verführer gar oft auf abschüssige Bahnen tr^raten. Die Kriminalstatistik übermittelt uns die betrübende WahrnehmuiiL, lafs sich ein grofser Prozentsatz der gewohnheitsmäfsigen Verbrecher aus dem Kreise dieser unglücklichen Geschöpfe rekrutiert; der Armenetat grofser Gemeinwesen aber belehrt uns darüber, welch' bedentende Anfwendungen an machen sind, fttr die ohne die schätzende Hand einea ge« «gneCen Bnieben nur sa fr&he den Familien, den Gemeinden nnd dem ßäate zur Last fallenden Schwachen.

>Schon haben 90 deutsche Städte mit nachweisbarem Erfolge der Hilfsschule eine Heimstätte bereitet, und wir croben uns der freudigen Hoffnung hin, dafs der III. Verbandstag in Augsburg, d^sen Tagosordnuntr ja über die wichtigsten Fragen des Hilfsschuiwesens Aufklärung veröcLiaÜi, neoe Eraise für dieses wahrhaft smiale Erziehungswerk begeistern wird. Und 80 mOgen denn nicht nnr alle Lehrer, Lehrerinnen nnd Leiter der Hütecshulen für ihre Samariterarbeit dahier sich Bat und Eialt erholen, mOgen auch recht viele Schulmänner überhaupt, Juristen, Ärzte, Vertreter hoher staatlicher und städtischer Behörden, edle Monsclion- uu I Volksfreundo an den Vrrhandlungen teilnehmen und so mi FüideiUiig des emporblühenden deutschen Hilfsschulwesens bei- tragen. Vertrauensvoll wenden wir uns besonders auch an die hohen Behl^rden nnd Yeiehrlioben Stadtmagistrate mit der Bitte, Detegierten nnd Lehrern entsprechende BeisedlAten an gew&hten.

»Die Lage des Yersammlnngsortes l&lkt erwarten^ dafs wir, wie aus allen Teilen Deutschlands, so auch aus unseren Naclibarstaaten Öster- reich und der Schweiz Freunde und FOrderer der Hüfsschole au be- grü£sen die Ehre haben werden.

Dlgrtizeü Ly <jOOgIe

80

B* HittsiliiiigoiL

»Der Ortsausechuls bemüht tiicii, aucli die ftulseren Yeranstaltungea io »1 treffan, daliB Bi6 inohttgen Sacho wflrdige und dem Bofe Aog^ burgs ab gasüleimdliohe Stadt entspraolieiide eeia irerden.

»Der am 10. April abends atattfindendon Yorvereammlang wird am 11. April Tormittags die Hauptvereamroloiig folgen, welcher sich ein ge- meinsames Mittagessen im Hotel »3 Mohren« anreiht; am gleichen Tage veranstalten -wir zu Ehren unserer Gästo einen Festabend im Saal- bau »Schiefsgraben«. Der 12. April vormittags soll der Besichtig^Dg der b^onders in historischer Hinsicht hochinteressanten Sehenswürdigkeitea der Stadt Augsburg gewidmet aein, vStarend Baohmittags ein Anafliig ia das Pslmenhaus der ireltbekaanten orthopidiaohen Fnr Anstalt Hessing in Göggingen bei Augsburg geplant ist

»Falls sich eine genügende Anzahl von Teilnehmern findet, wird für «lieselben eine Tnpr'^spartie zum Hesucho (!er Kretinen- und SchwachF;nm"c:en- Anstalt Ursberg m Schwaben arrangiert. Wir bitten, bei der Anmeldung einem Wunsch in dieser Beziehung Ausdrucii geben zu wollen.

»Festbeitrftge werden nicht erhoben.

»Anmeldungen nimmt entgegen and ist su weiteren Auskflnften ia Richtong des Yerbendstages genie befsit der Vorsttsende des Ortskomitees, Oberlehrer und Landtagsabgoordneler J. B. Schubert (Angsburg^ Yelkbait* stialse 11).«

4. Bin äratliolies Zeugnis

wird uns vom Verfasser sum Abdruck giltiget zur Yeifilgung geeteUl Bs bat folgenden Wortlaut .

>Mittwoch den 9. Januar 1901 kam der Arbeiter X. zu mir mit der

Bitte, seinen Sohn zu untersuchen. Derselbe sei in der Schule heftig ge- schlagen worden, und es sei ihm (dem Vater) unmöglich, wenn dem Sohne Schläge drohten, ihn in die Schule zu bringen. Er verschwinde einfach Yon zu Hause und komme nicht eher wieder, als bis er dSchtOj es sei allse Tefgessen. Dies komme sohon seit Jahren vor und sei ihm in jeder Schule passiert, zDerat in der Schule an der X. . . . stnbe^ dann in T. und jetzt in der Z. . . . aoihule. Der Junge habe vor den Sohligen eolshe Angst, dafs ihm Urin und Stuhl abgehe, und wenn er dann nach solchen Schlägen die Schule besuchen solle, bes'^nders wenn ihm neue Rchlftge drohten, wehre er sich mit Händen und Füfsen, beifse sogar. Dies dauere 80 lange, bis durch milde Behandlung sein Zustand sich beruhigt habe. Im 8omm«r sei es schlimmer, denn dann kfime noch hinzu, dala er furchtbare Lllgen macdie^ s. B. ssgte er, er habe einen Ssok Geld vergraben. Als man dann nadk der bezeidhueten Stelle ging und nichts imd, machte er ein verdutztes, dummes Gesicht und lachte. Oder er ssgte, er hebe eiaso Sack Patronea gesammelt und im Keller verborgen n. b. w. Im Ganzen sei der Junge gutmütig und gel;e sich Mühe, alles criit tu machen. Seinen Zustand führt der Vater zurück auf einen schweren Fall, len derselbe in seinem 3. Jahre gethan hubej aus dem 3. Stock der Wohnung sei er aui den Hof geiuilon,

üigiiizea by GoOglc

Ein ärztliches Zeugnis.

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Blat sei aus Muntl xmd Nase gekommen (iJhrcnkur), die Zfthne habe er sich aus dem ünterkieier geschlagen, und besonders die Gesäfsgegend sei furchtbar durch den Fall mitgenommen worden. Blut sei überall durch die Haut gedrangea, und über V4 Jahr habe der Knabe kraak gelegen, besonders soll er wfthrend dieser Zeit beim Stuhlgang und Wasserablassen arge Schmeraen gehabt haben. In der Schule fUle den. K i aben besonders (las ßeclinen schwer, dabei bekomme er einen roten Kopf und reibe die Stirn; andere Erkrankungen habe er nicht j^ehfibt.

Die Untersuchung ergab nun folgendes: Der Knabe stammt von ge- sunden Eitern and hat gesunde Geschwister; die Familie ist eine kern- gesunde Arbeiterfoniiüe; sein Aussehen ist gesund und kräftig, der Kopf regdmS(big>, Umfang 62 cm, Toa der Nasenwurzel bis zum Hinterhaupt ge- messen 33 cm. Er Uagt Uber reehtseitigea Kopfsofamers; Nase gerade, gut für die Atmung dundlgftngig, secemiert bestfindig; die Ueinen Augen blicken listicr nnd verschlagen unruhig hin und her; hebt man plötzlich die Hand, fährt er zusammen und duckt sich; Pupillen vorschieden groTs, will auf dem rechten Auge schlechter sehen als auf dem nndern, Mund normal; die Qaumensegei verschieden, rechts höher als iini^ä, Zähne regelmälsig mit Ausnahme des 3. und 4. Sohnttdeiahns am xediten Unterkiefer; Zunge wild genide herausgestrecki Die innersn Organe der Brust und des Bauches gesund. Beim Gehen durch die Stube ist die rechte Schulter und HQfte ein wenig erhöht; mit zugemachten Augen geht er unsicher, schwankend und tastend vorwärts; Knieereflexe konnte ich nicht nach- weisen. Beim Beugen des rechten Schenkels klagt er über Schmerzen im Hüftgelenk; er kann den Oberschenkel nur mit Gewalt und unter vielen Schmerzen bis zur Bauchfläche bringen, links frei. Schmerzempfindung hat er bei Druck in der Ijeistengegend (Ovariolgcgend), rechts mehr als links. Drflsen in der Leistengegend von HaselnufagrCito; auf dem GesSGse 4^6 Stiiemen von Flcgerdicke im Verbkssen begnlÜBn; Penis für sein Atter zu entwickelt. Rechnen geht gut, aber etwas langsam.

Fafst man dies nllrR zusammen, so sehen wir hier einen Knaben, der von gesunden Eitern stammt, gesunde QeschwiKter hat, selbst körper- hch gut entwickelt, aber geistig minderwertig ist Er lügt und weifs nicht warum. Seine Angstzustände sind schon eher erklärlich, denn wenn ein Uhler von riesiger Gestalt einen 10 jährigen Jungen um die Ohren sobllgt, ao hat auch der Normsle Angst» und es vergehen ihm die Sinne; der aber, der rdlht aus, schlägt mit Händen und Beinen um nch, beifst sogar, wenn er runlckgebracht werden soll; kommt er nur vor seinen Richter, so zittert er und bebt er vor Angst. Bei guter Behandlung und wenn ihm keine Schläge drohen, geht er wieder zur Schule; im anderen Falle weifs er auf die geschickteste Weise derselben sich zu entziehen. Ob er onaniert, kann nioht mit Sicherheit nachgewiesen werden, doch ist es wafarachmn- lieh, da sein Penis fOr sein Alter zu entwickelt ist, und bei dem grflnd* liehen und rsgabnftßgen Verhauen seines Hinterteiles wire es auch kein Wunder.

Zu diesem allen kommen noch die korperliclien Defekte (Kopfschmen» Auge, Gaumen, Zäline und rechte HQfte und Schulter).

Die KimtefeUa. VI. Jahigan«. 6

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B. MitteUuDgeD.

Di^e körperlichen Fehler sind wohl mit Sicherheit auf den schweren Fall znröckziiführen, aber dieser Fall hat auch eine solche Erschütterung des NerveusysteiüB und der grofsen Centralorgane desselben bewirkt, dafs derselbe wohl anoh den Grand sn dar Entwicklung der geistigeii Mindeiv Wertigkeit dea Knaben hat 3Can kann diese Erkrankung xur tran-

matiscfaen Neoroee rechnen oder auch in das weite Qebiet der Hysterie verweisen. Nach dem Gesagten ist es fflr den Lehrer aorserordentlich schwierifr, einen solchen Jungen in der Schule haben: er mufs sich demselben mehr akkomodioren als den andern. Kann der Lehrer das, wird es für einen solchen Jungen zum grofsen Vorteil gereichen. Am besten wäre wohl ein solcher Junge in einer Erziehungsanstalt unterzubringen, denn bleibt er so, wie er jetst ist, so wird er wobl bald nach dem Yer- lasaen der Schnle mit dem Stmfnchter ooUidieren und der wird vietteicht noch weniger als seine jetzigen Lehrer VerattndniB für seine Hindei^ Wertigkeit besitzen. A. Dr. med. F.c ' U.

5. Stofte des Kindenpiela.

In der Unterhaltungsbeilage der ▼onllglioh geleiteten »Täglichen

Rundschau«^ (Nr. 287—292) veröffenUicht Prof. Colmar Sohumana in Lübeck eine Abhandlnng über »Ursprung und Bedeutung nnsrer Volks- und Kinderspiele^ , die eine Reichhaltigkeit an Beobachtung aber auch ein warmes Verständnis dieser Erscheinungen im Leben unsres Volkes und untrer Kinder beweist. Nach dem Vorganpre von Kochholz, F. M. Böhme u. a. untersucht er uusre Volks- und Kinderspiele auf ihren kultiu> historischen Wert und findet die Wiege dea echten Spielee im alten Volke- glauben und in Volksgebiflxichen; sie sind die Sltesten und wichtigsten Zeugen germanischen Geistes. Er ^ürt den Veränderungen und Ent- stellungen nach, welche die Zeit an den Spielen hervorgebracht, und würdigt dio durchgreifende Wandlung, welche die katholische Kirche mit allem sinnlichen und geistigen Eigentume unserer Vorfahren vollzogen hat. Damit ist fQi ihn der Gesichtspunkt gegeben, von welchem aus er die 8piele betrachtet Er schreibt: »Der weitaus grOi^teTeil aller unserer Kinder- apieie wuneit in der mythischen AulBusung des Jahreelaufes und vortOg« lieh in der altgermanischen licht- und FrQhUngsfeier.« Der alte Feuer- gott Donar (Wodan, Odin, Thor) vermählt sich mit der HimmelsgOttin Frija (Freia, Fricka); diese ist in ihrem TVsprunge die Yorleiblichung der dunklen Wolke, die das befruchtende Himmolswasser in ihrem Schofse birgt. Der Blitz- und Gewittergott, dessen flammendes und dW5hnendes Wirken zuerst die Aufmerksamkeit der Naturkinder wecken muiste, spaltet sie mit seinem laubermAcbtigen Wurfhammer und trinkt die Eide. Spifter mischt sich die BegengOttin mit der Sonnenjungfian cur einer Himmels- frau. Wie im Märchen von BotkAppchen, ao tOtet der Himmelskon ig den Wolkenwolf, der die Sonnenjungfrau lobendig verschlungen hat Die Himmels- königin ist mit dem Himmelskönig Donar f^h^lich verbunden und beherrscht mit ihm die Welt. Als Hochzeitstag gilt der erste Mai. Das l^aheu

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Stoffe des Kinderspiels.

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des Frühlings wurde mit allgeinemom Jubel bef^lfst und ai8 Befreiung ans hartf^r Not gefeiert. Hierin liegt auch der geschichtliche Grund, wes- halh die Kixider im Frühjahr am meisten den Spielen obiiegeu [rj. Die Knt- viok«liiiig cl«B JahreB mid aeiiMr Zeiten betriff man unter dem Bilde aenaoUicfaer VerblltnieBe. 0er kuchliofae Eifer jedodi verwies spiter die Gestalten der QOtterhochzeit in die Hölle und machte ans der Walpurgis- Dacht den Hexensabbath. Mit dieser Sage vermischt sich auch später die von der Seelen Wanderung. Unter Fflhning Frau Helles durchzogen die Seelen segenspendend die Welt Der Eiuüufs der Kirche machte aus don Seelenlande das Paradies, die Himmelskönigin und SonnengOttin wurde zur heiligen Mutter Gottes. Allein die alte Frija lebt in vielen Spielvereen fort eis »MSdofaen im Inmton nnd roten Rook,c mit »goldnen Biuen,« als »Wetterheze« n. a. Zahlreidh sind die lÜken ihres Oe- nahls, er kommt als Fachs, Wolf, Hahn, roter FUlirmann u. a., sein Reich heifst Babylon, Ninive u. s. f.. Die üimmelsburg wird zum goldnen Schlofs, 7,um Wirtshans, Fffias Wintergefängnis zum Turm und Kloster. Die Seelen kindcr Holdas betlügeln sich zu Engeln, und in den Spielen kämpfen die himmlischen Heerscharen um Befreiung und Erlösung. Die reiche Phantasie hat eine ungezählte Menge von Spielen erdacht; sie bringt Colmar Sohnmann in awei groCae Qmppea: die ante nimmt die ELr» lOsung und Vermihlnng Fryas som Verwuife, die nraito ihr Reich nnd dag Schicksal seiner Bewohner, der SeeleiL

Die ErlOsnng wird am ansohanliohsten dargestellt im MSdchenreigen nm der »vermauerten Königstochter«, der »Prinzessin im Turm«, »Domrös- eh&n*. Denselben Stoff behandelt dns Spiel vom »Gänsedieb«. In einem anderen Spiele werden die Göttergestalten zum Edelmann, Schäfer oder zur Schülerin. Femer gehören in diesen Kreis alle Singweisen mit der Zahl 7, wie:

»Hingel, Bingel, Rosenkranz,

Wir binden eine Kette,

Klar wie ein Haar.

Siebeii Jahr and um,

Anna dreht sich mm.

Anna hat sich rumgedreht,

Bekommt den schönsten Kranz gedreht.« u. a

Dieses Umkehren geht auf die WintenonneniraDde oder auf die volle

Erscheinung der Himmnlagöttin im Mai, wo si^ dem gesprengten Kerker hervortritt. Auch hier lassen sich die wunderiichsten Gestalten und Namen finden. Wer würde z. B. in dem Spielvene:

»ZiokBi Ziok», Zsgen«

m der »Zicke« so ohne weiteres die Sohlferin Frija yennnten? Andi die PhaapeadDipiels gehören hierher, sowie das Höttcherspid.

Legen die erwähnten Stficke das Hauptgewicht auf die Erlösunp* Krijas, so bringen andro mehr das Liebesverhältnis zum Ausdruck. 59 sind alle diejenigen, bei denen ein Kind inmitten des fiinges steht ^d

üiyiiizeQ by GoOglc

04 B. Mittnloiigen*

ein anderes zum Tanze wählt, eo daa Kloeterspiel oder der Reigen: »Tritt in den Kreis, da meine Bo8a.c Di« Biautworbung in dtamatiaehar B0- handlung bietet: »Der Herr von Ninive«. Eine Naohehiniing der Hoditeit ist »Faachonieok« , »Dritten abeohlagen« 0. b. w. Auch »Haferschneiden« und »Amorspiel« gehören hierher, ebenso das Spiel von »Ulriob and Ann- oben«, wo die Kinder im Kreiae um ein Kind stehen und singen:

»Die Alma sab am breiten Stein

Und kSmmte sidi ihr goldaes Kur« u. s. w.,

da kommt ein Bitter, Jäger oder Ffthnrioli und erstiobt sie. Der ümsiaad, dafo fdr Anna oft Üuia, die Erbin Frijaa^ für den Bitter aber Wolf, der

Vertreter des Teufels und der Biesen genannt wird, verstftrkt die Ahnung

mythischer Grundzüge. Einen Gegensatz zu dieser tief poetischen Wendung bildet der Einderreigen vom »Kirmesbauer< : Es fuhr ein Bmwr ins Holz«. Selbst aus dieser dürren Schale blickt der ewig frische Kern ; ist doch Donar besonders gerade der Bauerngott. Auch alle Spiele, bei denen es etwas zu suchen und zu raten giebt, sind mythologischen Ursprungs; der Drgedanke ist: Donar sucht Frija. Colmar Schumann erwShnt »Blindekuh, VogeUftnger, die gemeinsamen Speie, Jiskob wo bist du? Thaler, Thaler, du mulst wandern u. a«. Der Donner drs Tlamraers, schallt an nnser Ohr im Rollen der Kugel und iiu Gepnissel der fallenden Kegel. Hier erwähnt der Verfasser die Kegel-, Kugel und Ballspiele. Der Hammerwurf wird femer geübt, wo man glatte Stc iti lien so auf eine Wasserfläche schleudert, daOs sie möglichst viele Sprünge machen. Diese Sprünge gelten als Jungfern. Jungferawerfen, BrautlOsen führt er darauf aurflck. Selbst das Steigenlassen von Drachen, das Eranistechen, Bingreiten, ZielschieTsen sind nach des Verfkssers Ansicht Ausführungen der Frfihlings» sage. Das Gänseziehen« ist sum Gänseauskegeln verkfimmort und der »Katzen- oder Halmen firhkL'-' ?.nm blofsen Topfschlagen abgeschw<ächt.

Bei der zweiten Abteilung der Spiele, die sich mit Holda und den Seelen beschälligcn, erwähnt Schumann den Ringelreigen. Die Verschcm geben eine kindliche Schilderung des himmlischen Gartens. Die kindliche Phantasie bringt es freilich Aber Qinsei&hlen, Weiihbroteesen und Kutaeb^ fahren kanm hinaus. EAufig sinelt auch der »bimbambolsche Brei«, die Lieblingsspeise der Kinder, eine Rolle. Wenn sich dann der Kreis auflöst, und die Kinder in langen Reihen herumgehen, so sind damit die Seelen gemeint, die am ihrem Wolkenschlosse hervorkommen und auf die Erde ziehen. Die Seelen verlassen ihr friedliches Heim und kommen entweder in mensciiliche oder in elbischo Körper. Dio ohristUohe Ansicht lielB den T/ers singen:

»Wer lacht, der wird e Teufel©, Wer nicht lacht« wird e Kngeie.«

Dieser Gedanke wirkt nach in dem merkwürdigen Spiele von »Mutter Maria , »Frau Roce oder Rosenmutter«. Holda -Maria weidet ihre Seelen ak Lämmer, iiüiiner \i. a. Der B5se naht und will ein Lammchen haben. Verwandt mit diesem Spiel ist »Frau Hahuewinkel« und »der

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Stoffe des Kindeisplels.

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bofinaiiii 811B Pariss ^^^'"3 Waren anbietet ; keiner aber darf ihm mit ja und nein antworten. In einem anderen Spiele wollen die Seelen wieder ins Hiinrnelreich zurück, nach «England oder »Holland«. Allein die Thür ist ver&clilossen und der Schlüssel zerbrochen, ein Blitz erst kann sie ößnon. An dieser Stelle erwähnt Schumann noch das Brückenspiel: »Wir ziehen dnrob, wir ziehen durch, durch die goldne Brücke«. Der letsta wird als ZdO gefangen. In vielen Spielen, die hieriier gehArra, tritt Donar aber auch als Bteer anf, ala Bliiber imd MQrder, der den Engeln den Eingang in den Himmel verwehren will. Diesen Vorgang schildern das »Leinwand- messen«. der -Yogelbandol«, ^Wolf und Schaf-^. In allen lauert der l?öso an der Üimmelspforte und späht nach Raub aus an Marias Schutzbcfutüe- nen. Als ältesten Kern indes, meint Schümann, dürfen wir Douaid Kampf gegen die Winterriesen vormuten, diu liiu nicht zu Frija empor- dringen imd daa alle nrOhlingswonne entfUtende SeeloüiaAr nicht bot IStde berabkommen laaeen wollen. In all den Spielen, wie »Eatae nnd Mause, »Nix in der Qmbe«, »Hase im Eobl«, »das bOee Tier«, wird daa Jagen uud Fangen Torgeführt Eigenartiger noch ist der »Bftrenschlag« oder »Fnchs ans dem Loch«, wo das Hinken des Gottes auf seinen leidigen Kachfolger mit dem Bocks- oder Pferdefufs hinweist

Im letzten Teile seiner Arbeit bescbältigt sich Schumann mit den Spideo, die zumeist aui der Nachahmung der Thätigkeit eines Vor- qnslen oder Vottfinzers bemben. So sohwer es nnn ist, aus der ter^ wirrenden Fülle den ricbtigen Keim zu finden, sowenig Icsnn docb der urgermanische Einflufs geleugnet werden. So ist z. B. im Pfänderspiel mit dem Ofen, der angebetet und um einen guten Mann ersucht wird, der Herd gemeint, dessen Beschützer Donar ist, der Gründer von Haus und Familie. Selbst in den volkstümlichen Spieleu, wie Bäuber und Soldat, PoÜzeispiel, Kriegöspiel, klingen die urgerraanischen Licht- und Frühlings- gottheiten an. Auch mit den Spielen, die eine blolse Bewegung bezeich- nen« wie Hfipfen und Hinken, ist ein myihiseber Sinn verbunden. Als sdritosteB Beispiel erwflhnt Sobumann das Hfipfen in der Schnecken* tmd Ereisform. Die Scimeckenlinie , als Darstellung der stets kleiner werdenden Bogen der Sonnenbahn im hohen Norden, ist nach der Zahl der Wintermonate duivh Striche in 7 Teile zerlegt. Hüpfend , mit oder ohne Steinchen, wird bis zur Mitte vorgedningen , und das Spiel eröffnet den Ausblick auf da^ Eindringen Dunam in Frijas und danach Siegfrieds in Brunhüds Kerkergemaoh. Den heidnischen Chankter modelte die Kirche bald um, sie schuf aus den 7 Stufen die »Himmelsleiter«. Das Laufen auf der SchneokeDlinie darf den Stammbaum von uralten Qebildai herleiten, es ist die letzte Spur vom »Frühlingsschwertertanz« der Oermanen, welchen auch die sclischen Priester in Rom alljährlich vollführten, um die Befreiung der Sonncngöttiu aus dem Labyrinth des Winterdiinvnis /u verherrlichen. Ein ebenso tiefer Sinn liept im Kreisspiel des »Woclien- höpfen.s<^. Es wird in den 7 Krei&en, welche die Woche darstellen, vom Montag zum Sonntag gehüpft, wobei man auf dem Donneratag ausruhen darl Hier stofiMm wir, wie Schumann hervorhebt, unerwartet auf die alte GOtterdnaheit Sonne, Donnar und Mond. Die 7 Eieise und Tage

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C. Litteratur.

stellen dio 7 Wintoimonate vor: dorn Gotte Donar ist die GCttiii Soaike geraubt woideii, er sucht ihr wieder n'thpr zu k( ri.;in n.

Hier endet die Betrociituug. Coituur Sckumaua ixat sich ein Ver- dienst erworben bei «11 denen, die Freade am kindliohen Spiele habea. Darob die Znrilokfttbraiig aller Erdgnieee im Spiele auf das mythologiflohe Prinzip erhalten die Spiele eliieii tiefen Sinn. Die schöne Anordming mid Einreibung aller Spiele unser einen Gesichtspunkt helfen dem Leser auch über das Gefühl hinweg, das sich beim aiif merksamen DTirchlo^on flor Ab- handlung einstellt, über das Gefühl nilmlieh, als würde man Inn il dem Prinzip zu Liet^ dem einen oder dem anderen Spiele einiger Zwang an- getban. Eine groJse Reihe kindlicher Spiele ist otTenbar nur eine mehr oder weniger glOcUiohe NaohahmuDg der Tbitigkeit Erwachsener.

jatenboig. Emil Weber.

C. Litteratur.

I. Dr. med. Leo|Nild lJU|aer, Die Hilfs- tobnlen ftr scbwaobbefftbigte

Kinder, ihre ärzthche und sociale Bedeotong. Hit einem Geleitwort vou Dr. med. Emil Kraepelin, Professor der Psychiatriö üeidelberp. Wies- baden, Verlag von J. F. B'^iguiaun^ 1901. 6i 8. Preis 1^ M. (Schlufe.)

Es kommt nicht darauf an. dio Grenz- gebiete de» ärztlichen und erzielieriischen Wirkens in der Hilfsschule^ die Herr Dr. Laquer eifreiUidierweiBe so be- sondeiB betont sobaif absogranzen. Um des guten Zweckes und des frendigen Zu- sammen arbuiteus willen sdlltc abor dio Grenze der Kochte noch Schürfer ab^'c- grenzt werden, als es hier in dem Vur- trage geschehen ist, «od dann aoUte ancfa diese Abgrensnng auf die Anstaltea für Schwachsinnige, Idioten u. s. w. übertragen werden. Ich würde darum z. B. statt wie Kraepelin, »ärztlich überwachte« lieber wie Laquer sagen, »anstlich be- ratenst Hiltehulsn.

Anaobsmend sind das ja Ueias Neben- sachen, und mit beiden Herren hL£st sich gilt reden über diese Frage. Aber die OrenzregoUeningen spielen swisohenNaoh-

barea eine wichtige Rolle. Ist hier alles in Oidaong, so gehört die gnts Nachbar- schaft nach Lnther sogar znni »tägUchen Brote«. Jede Handreichang ist dann will- kommen, wäJirend sie im andern Falle Mifstrauen erregt Auf dem Berufs- gebiete ist diese Frage zugleich eine Frage derBsniftshrSt nndbieriSt jede|r Stand empfindUch. Den Namen »Kur- pfuscher* hat z, B. die Rcnifsehre der Arzte geprägt. Oerade während ich dieses schreibe, geht mir aus der Anstalt in Idstein, die Herr Dr. Laqaer so sebr lobt, ein Abdmclc von einer Eingabe der nielitär/tJiehen Anstaltsleiter an das prsn» fvist liö Kultusministcrinm zu, die zum wiederholten Male sich über die durch die niim'stcriello Verordnung vom 20. Sept. 1895 getEoMaM nnberecbtigte Grens> verrflckong beaobwert Der bedaneiüche Streit i.st also noch immer nicht belgele^. T^nd g'erade weil Kraepelin und T.aquer mit uns ein Gemeinsanu's erstreben, kann ich die Frage bei dieser Bespreohuug berühren, ohne mibventanden sn wer- den, da wir nicht gegen ebander, sdq- dem Hand in Hand in dieser Fngp arbeiten.

Herr Dr. Laquer spricht in seinem

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a Ltttemtiir.

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Vortrage aneli mitgatemTflntliidiiia fiber

die pädagogisohd Seite der Endehnng

Schwachsinniger, und im Gegensatz zu manchen anderen Ärztin, di»' ü)>er die Frage gt'ücliriebea baWu, veitraut mit 4tt pädagogischen lätteratur über dienen OcgoiatiiDd. Übezfaanpt irt «ein ganzer ytakng im Sinne unserer Zeitschrift und nnsercs Tfreins für Kindeiiorsthuuf^ gehalten , deren; JBestrebungen er auch in jeder Beziehung unterbtutzt. So citiaii er 8. 22 die Worte Kraepelins anf der TIIL (HeidelbeiiKer) Konleieai für Miotrawesen 1896, welche nicht Uob för Idiotenansfalten, sondere für alle Schulen, in welchen Schwachsinnige zu unterrichten smU, Geltung haben.

»Die Pflege, der Unterricht, die Erziehung in den Idioten- Anstalten gehört in die Hände der Pädagogen, dagegen, wenn es sich darum handelt, die Ursachen der Idiotie zu untersuchen, die eigent- Itehen Krankheitsxnstftnde, die kSrper Hellen and die geietigen zu behandeln) die Analogien der Er- scheinungen der Idiotie mit den Zuständen d e r Ge i stesk rnn kh ei ten festzustellen und die Heilmittel der Idiotie sn finden, so sei dies Stehe des Arztes.«

Und Herr Dr. Laquer fügt unter Zustimmung von Herrn Prof. Kraepelin noch ergänzend hinzu:

»In diesem Siime friedlichen Zusammen- uheiteoe iet die jüngst sn Jena erfolgte BegründiUDgdeS»Yereins für Kindcr- f rs« hung«, welcher unter Direktor Trupers Führunf? Ärzte, Seelsorger und Lehrer zu g e m e i n b a ni ti r Arbeit sammeln will, mit Freuden zu begrülsen. Diese Ver- amgaof wird holfentlioh neben der Er- ecUielrang des kindlichen Seelenlebens die f raktisehen Frag:en der Erziehung von Minderwertigen, zu denen in erster Keihe ditr Ausbau von HiUsschuleu gehört, nicht wm dem Aoge veilieien.«

Ich kann Herrn Dr. Laquer ivie der södvwtdeutBchenWandervenianunhing der

Neupogen ond IzreninEto die Veiaidie- rong gebeoi dab dieser Wunsch den Kern- punkt unseres Programms bildet, und ich möchte darum an dieser Stelle die süd- westdeutscheu wie überhaupt alle Arzte einladen, sich an imseren Bestrebuiigeu eifrigst sn beteiligen. Wir haben vor, im nächsten Jahre auch die Boholanctfrage auf die Tagesordnung zu setzen, damit die noch etwa vorhandene, aber schon sehr verringerte Grenzstrwitigkeit vollends beseitigt und das Zosammeoarbeiten snm Wohle der sohwaohbefilhigten Jqgeod um so eifblgreicher sich gestalten kann. I Man unterschätzt zu leicht tl'> Be- deutung dieser Fnige. Auch Herr Dr. Lac^uer thut es hin und wieder. So hat er t. B. meine Ansführangen zn den Preolkisohen Oesets der Zwangs- oder Färsoigeendehung nach dieoer Seite hin nicht ganz vesstaadeni wenn er GL 41 f. schreibt :

»Erwähnt das Gesetz in der Begrim- dong andi einen weeentlidien Fsktor nioht, der ebenfsltB üiaache der Terw

Wahrlosung von Kindern ist: »Das pa- thologische im Verbrechertum« den Schwachsinn als Ursache der zunehmenden Krim in alitut der Jngend, so aweifeln wir doch keinen Augenblick daran, dals, wie Trüper das in seiner ausführlichen Besprechung des Ptesetzentwurfes *) gefordert hat. hei der FürsorgeerzJehung Minderjähriger die pädagogisch - psychiatrische Arbeit an dieeen psydiopalhisch Belasteten sn erster Stelle stehen wird. Schon der An- trag der duidi Gesetz dazu berechtigten Behörden auf Zwangserziehung wird sich im wesentlichen nur auf das sachver- ständige Urteil von Arsten, Geistlichen und Lehrem stätsen kdnneo. Aber sndi die Auswahl der Anstalten, deren Führung ond Beaafisiohtigiingi ja deren Nengrün-

') Zur Frage der Erziehung uusi^rcr sittlich gefährdeten Jugend. »Beiträge zur KiDderfoiBchnng€ Heft T; 1900 und »Zeitsohr. für ^tderlc 1000 Heft 17.

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C. Litleratiir.

dang und event ümgestaltimg, weiden

Ton den Grandsätzen rationeller Seel- ßorge, Pädagogik und Seelenheilkunde geleitet werden müsson. Vom Charakter der Strafanstaiteu werden die Orte, wo die Erziehung moralisch schwacher Kin- der und Jongünge« bezw. Jungfriaen vor Moll gehen soll, TüUtg frei «a halten sein.*

Thatsächlicli kann 1>»'i »'ioer ver- nünftigen Handiialnm^' die Sache sich kaum anders ^taiton. Rechtlich be- trachtet ist aber die Mitarbeit der eigent- lich SaohTersttndigen, der ibztei Geist- lichen und Lehrer, der Willkür der Jaristeu anheimgegeben:

»Das alles kann ja der Jurist, Weil er kein Fachmann ist.«

Hier ist zufällig auch der Arzt mit rechtlos. Der Lehrer, namonflic'h dt^r Vülksschullehrer, steht iu verschiedeueu Staaten aber in seiner ganzen Bemfis» arbeit reohtloB da. Seit 1817 arbeitet auch Preulseu noch veiigeblich an einem Schulgesetz. Um ho vorsichti<7or müssen darum die Lehrer bei jeder neuen Berufs- frage sein, dalä sie nicht noch mehr der Willkür Ten Aufsiditabeaniten preis- gegeben werden und dab Mitarbeiter am "Werke der Erziehuug nicht Aufsicht s- benmte werden, von welchen die Schule sonst ailmählich mindestens em Dutzend bekommen wird. Eben darum wünschen die Lehrer wohl einoi beratenden Schularzt, aber keUu u ärztlichen Schul- au f seh er. Es mufs deu Lehi. iti virl daran liegen, dafs die Arzte das recht Tcrsteheu, und ich bin voll überzeugt, dab Herr Dr. Laqner und Herr Prof. Kraepelin es auch werden.

Herr Dr. Laqner fabt nach semen

Erfahrungen die hauptsächlichsten »ärzt- lichen und sozialen Oc.^i« hfs- jjunkte auf dt.'ni »jcliietr ciesHilfs- 8 chui Wesens, welche auch für weitere Kreise Bedeutimg haben und Beachtung Terdieuenc, in folgende &tse susammen: 1. Jkr angeborene oder früh enearbene

S^teaeheüm 4^ die Onmßage vieler aekuerer^ omeM tmkei&arer .Nerwn-

und OdistessCörungen^ sowie schtcer rer-

besserlieher Nfigwigm xum Verbrechen.

2. Die EiurichtuiKi von llilfsschiilrn für schmultbefahigte Kinder der Mmder- bemiUdkn iet noheenüff xur frühen Br- kemmmg der vereehiedenen Orade de»

Schwachsinns^ xur richtigen Erxiehtmg

und Bcliandhituj der Srhirarlisi/niigcn und '^mn S>//i(lxr (Irrsrll/rri ror nittlicketn Verfali uml ror Verarmung ditrch Er- werhtunfähigkeit.

3. Die gegcnicärfige Verfassimg der mehrkktee^en eelbetändigen EiifeeehtUe»

ist im wesentlichen aufrecht zu erhalten; sie ist durch Hilfsklassen, die an die Nommlschnlr nirh nnfjlirdrni, nicht \u ersetxen, aber durch Anfügung ton Inter- naten mü S^eieung und BeeeMftigung der Kinder in den Nadmnttagettimden vfeiier atnsuibauen.

4. Das Zusanimenunrken von Lehrern und Schtäärxtcii ist qrriqnet, die Schwach- sinniffcn rou den nur mal Dfftihigte^ srhon in der Volksschule rechiuitig xu sondern und nur die bildungsfähigen BnbeeiUen der BHf$eekide MtsMführen^ auch die Bedcututig der körperlichen Veruttde- mngm für die Eydmchdungdee Schwach' sinns /cbtxustdh n.

5. Alle Scku'uclisinniycny tceichc die Klassenziele der Hilfsschule niclU er- reichen^ sind auex4uehtden tmd den

Idiotenanetaäen mit systctnatieehent Un- terrichte XU übertreiscn. Alle nwralisch Prftkten, Fpifeptiker und mit srhirerrtt uniieilbaren iSinnesgebrcchcn BeJiafteten gelüMren in besondere AnetetUen.

6. Nur durch mehjährige weitere Vereorgttng und ünteretiUxung der aue

der nUfsschulc entlassenen Zöglinge wird ihre Selbständigkeit und Krncrdafiüiigkeit im späteren F.rben getcüitrlei.^tft. Stell- f*- nachweiSf Zahlung von LeJtr- und I'jkge- gcldem eind «ftiroA prieede WMhäiigkeit oder öffentUehe Mittel *u ermögliehen, LeiehU Bandwerke tmdländUehe Arbeilen

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C. littoratar.

89

aU berufliche Ziele für Schicach-

7. Dm Militär- und Juttixbehörden sind genaue Berkhtc. über die Schul- Instwngen umi über das sittliche Vcrhnlim der Hiifssehüier xuyUiiyliih xu maeiteH^ imnü bei Vergehtmgen gegen das Oeseix ihn UhxiiinekmmffifälUgkitft betfietm oder tcenig.stens «kr« Be^irofimg gemü- d$rt tccrdcti kann.

Diese ärztlicUeii Gebichtspunkte üiud, wie Herr Dr. Laquer selbst in seinem Toxtnge dai]gelegt hat, auch zugleich naoh jxumt Anaiflht die fSr dto Individnal- wie Sozial pädtgogik malsgebeudea. 'Wir empfebien darum auch deu Lehrern dio B?<rmnilung dieser Sätze zum anregenden Studium. Trüper.

X BdMfei it riMHfiit pqrsMqM iilir-

ntfoML Nr. 1. Faii» 1900. Bue de

rT'nivorsite 19.

iii l'arui if>t am 30. Jiiui vori^'on Jaiircs ein internationales Institut fiu l'sycholugie ina Leben gerufen wotdeiif eine CMndnng, die in ihrer breiten Onindlage, wie eioh aus der Liste der Gründer erkennen lälst, sowie in ihrer T'^mfäii glich fccit dem gjofs angelegten Charakter unserer Zeit put- ^richt lind ihr zur Ehre gereicht allem gdHni durch ihr Dasein.

Die Schöpferin dieses Institutes, eine iotemationale Gesellschaft, setzt sich zu- sammen aus Gönnern und Titularmit- gliedem. Die ursteren beteiligen sich an der Schöpfung mit einer Gabe von inindMtens 10000 Fn., die anderen mit wenigstens lOOO Fre. oder einer jähr- lichen Beisteuer von 100 Frs. und mehr. Zu der dritten Gruj)po prehoren solche, die von der ersten bitzung der Oesell- tchaft an den Plan daa Inatitnts ndt be- trialini haben oder in den feigenden Sitzungen ausdrücklich zu solchen ernannt woiden sind; dirse zahlen zum Gründuntrs- lutpitale 2')(i Fi>. oder eine jährliche Beisteuer vun mindestens 25 Frs.

Seine terllofige HeimsUrtte hat daa Intiliit Rae de rGniTeraiid 19 in Paria.

Ein Pariser hat ihm das» iiauü mit eiiier anaehnliohen KbUothek znr Verfügung gestellt lüglioh 2 6 Uhr steht ein S('kretär dem besuchenden FabUkam xn

Diensten.

Am 30. Juni hat der konstituierende Anaadialii seine erste Versammlnng da- aelbat abgehalten. Ea handelte mch mn

die "NValil eines Orgiinisatiönsrates von 12 Mitgliedern, der um des Zweckes des In- stitutes willen ansdnu'klKih international sein soll; der deutsche Vertreter ist Dr. Fteiherr von Behreaek>Notsing in Mnndien. Dieaem Bäte wnide ein ans- führendes Komitee von 3 Mitgliedern, ein Generalsekretär mit 4 Ililfsekretären und 2 Schatzmeister zur Seite gegeben.

Überzeugt, dafs ein jeder an seinem Ptatie and nadk aeinem Tenndgen dem Zwecke des Inatitatea aioh widmet, hofft man (Iure Ii Gegenüberstellung der ver^ schiedensten M i tliofit n, durch Vergleichung der verschieden ea Arbeiten unter Be- nutzung von Laboratorien und Einhaltung veiechiedener Yerfahrnngsweiaen auf dem Gebiete der Psychologie einen wirklichen und unl)e8treitbaron Fortschritt herbei- /:uführen und mehr Licht über so viele noch dunkle Probleme zu verbreiten.

Sobald als möglich soll dieses Wissen aneh in den Dienst der leidenden Mensch« heit geetellt werden. "Eb wird auf ge- eignete Räume, auf notwendige Kliniken gedacht, wo Geistes- und Nervenkranke dank der festgestellton Wissenschaft Er- leichterung finden sollen, und wer einen Wegweiser nötig hat, dem aoll süUiohe UnteratiitBaDg werden.

Nclicn umfänglithen rntei Buchungen in Laboratorien und wcilvoUen Beobach- I tungen soll das Institut kimische Dienste leisten. Besondere glaubt es äoh uner- l&KUohe 8ympothieen durch Ansübnng der Theraine in allen Formen ra ge- winnen.

Indem das ünfernehmen übor die nötigen Hilfsmittel verfugt, die vun Männern, deren Charakter und wiaaenwnhafttiohe Wahrheitaliebe über jeden Zweifel er-

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liaben ist» nach streng experimentellen

Me&oden benutzt verdeo, hofft es eine

zuverlässige Operationsbas*!«? zu s'^haffen für den Eintritt in das Gebiet der noch unbekannten Kräfte und Erscheinungen, wie des animsleii Msgnetisiiiiis, der Ttfe- fjathie, des Ilellsebens u. a. m. Die Arbeiten suUcn in einem ivgrhnafsif,' cnsrlioiricnden Bulletin, dem Organe des Institutes« ver- öffentlicht werden.

Im iMsondereii wül das IntÜtat 1. in einsdr BiUiotlMl: and eioem Hn- seum ansammeln alle Bücher. Arbeiten, Broschüren, Apparate nnd I)(>kumentc, die bich auf psydiisohe Wissenschaft be- ziehen,

3. diese Instrumente, B&cher und

Dokwnente je nach Umständen gesell eiik- oder leihweise den arbeitenden Mit- ^iedern zur Verfüguiif^ stellen,

3. Laboratorien und Forscher im Be- dsifsfalle mit Mitteln nur Fonahiiqg oder VeiQffBOjdiebmtg Tersoigen,

4. ünteraaofauitireu und Nachforschnn- gen vcran)ft.^<ien über Objekte, die deren wert erachtet werden,

5. Soviel als möglich ständige Labora- toriem und eine jOnik einriditeD, wo von mehreren Hitj^edem für wert emdhtete T^nttrsiu Hungen tfaataäohlioli Toigeiiom-

men w.^nl.'ti,

0. Auuaien des internationalen luhti- tates für P^yehdogie veiQffentiichen, weiche alle Arbeiten nrnfsssen sollen« die zur Fordemsg der Wiasensohaft bei- tragen.

Der Zusammenschlufs der Oesellschaft und die Gründung ihres Institutes ent- stammt der ErwXgong, dab die Er- forschung des menschlichen Geistes in dem soeben abgelaufenen Jahrhundert weit hinter den Wisscnsfhaft<*n der Materie zurückgübiiebt!u ist, sowie der Über- aeugung, daHs jene ebenso nütslidi, wenn nicht noch kostbarer ist oder sein kann, sei es, dafs sie die Gesetze der Gesell- schaft klar legt und wesentlich zur Be- leuchtung der sozialen Beziehungen bei- tragen kann; sei es, dals ihre Ej'gebnisse

eine Bolle in der StniQnsliz spielen imd

in ihrer Anwendung dem Verbreclion vor- beugen können. P.sv' holi.'jische Unter- suchungen müssen unsere lijrziehung^- und Unterrichtsmethoden verbessern; im- bersfllienbarsn Dienst kfinnsn sie bei Be> handlung von GeisteAmnkheiten leisten.

Nach den EIrfolgen zu urteilen, die manche wissenschaftliche Ejn?ncht in das Wesen desSomuambulismuis der bugg^tion nnd andeisr sdiwersr StSrongsn bei dnien therapentiecher Behandlnng ermdgÜQfat hat, sind eine grofee Zahl von Neurosen heute nur wegen unserer Unkenntnia ua- heilbar.

Wenn auch zuzugeben ist, dab in dsv sweiten fllUle dieses Jahdranderte die

Psychologie nioht unwesentlich gefördert worden ist experimentelle und induk- tive Methoden für die Entfaltung der physi- schen Wissenschaften so furdmhch, sind anf die Pqrdiologie angewandt worden; bei Nachforsdinngen der Psychophysik und Psychometrie ist die mathematische Messung in Dienst genommen worden; iinter dem Einflüsse neuer Methoden haben Anatomie und Physiologie des Nervensystems andere Osatett angenom- men; Somnamboliamiis, Suggestion und Dehrien f^ind tranz genanen Analysen unterworfen worden so mofs doch auch zugegeben werden, daÜH diese For- Bchungeu in vielen Ponkten onvoll- ständig geblieben sind; sie haben die positiven Resultate noch nicht aufgezeigt, die «ie aufweisen können, sobald sich alle Forscher, alle Mittel und W^e, alle Methoden vereinigen. Und das will die Internationale Oeaetlsobaft für Psychologie. Dazu sei ihr von Herren vaiöhster Erfolg gewün^^eht. Alteuburg. Tbieme.

3. Dr. Imm DMMtr, Lea enfants anor- maux et la orimiaologie. Brüssel

1900.

Dem ärztlichen ly^iter der Hilfsschulen zu Brüssel, dem gruudlichen Kenner und scharfen Beobachter, verdanken wir be-

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GL littmAnr.

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reits wertvolle Aofsclüüäse über die Tän- eohimgeii in den Mnsketenipfiiidiingen and Um BadeutoDg für Diagnoae anf

Idiotie, sowie erprobte Anweistingen zur Erziehung auormaler Kinder. Dem vor- liegenden äonderabdracke aus der Revue de r Uiiiv«nit6 de Bnixelles dürfen wir enasqgnreiae folgendes entnehmen.

Unter den anormal Geborenen giebt es solche, die infolge piner Krankheit .schon im Mutterleibe Schaden gelitten xiuDou. Grü&er iat die Aozalii der Kinder von syphilitisdhen Bteia nnd AJkohflfikera. Diaee Kinder heben ein onToUkommenee NervenayBtem , sind Idioten, Schwach» sinnijsre nivl Kj ileptiker. Sie Sind IrSger eine^ angeborenen l'beLs.

Bei nuimaleu Kinderu können wüluend Ihrer esrten LBbensjahie Tenohiedene Slonmgen nemeDnigfaohen Ursachen ein- treten. Die Wirkung derselben gefährdet namentlich den Nervenapparat. Dieser, in seinen Elementen au^ü^nifea, in beiner Fonktionsweiso weit abweichend, bleibt von dnab in seinem inneren Ueahamsmns ver- derbt. Das Uetne» gestern noch gesunde Kind kann moigen ein schwachsinniges, epileptisches oder idiotisches Kind sein, bein (Jtbrecbeu ist ein erworbenes, und Lage ist oft eine viel ernstere als engeborene, Das sind nim nicht diu einzigen Anormalen. Die repeltvc lite Kutwickelung erh«. is<jht in der That ein Zusammentreffen vuD mancherlei günstigeu Umständen. Uo^&cküdierweiae stiibl sie mnlUdist in der Umgebong oft anf ganz und gar ungünstige Lebensumstände. Wie oft wird das Kind von seiner Umgebung schlecht abj^ewartet! Wie oft verdirbt eine schlechte oder mangelhafte Lrziehuog den Cbarakterf lenkt sie eine vagen einer sobweren oder leichteren eiUiohen Belastung ohoe- fain schon schwierige Entwickelung vollends vom Wege ab! 80 stellt sich eine grofse Ktilu- .^normaler heraus, für deren be- sonderen psychischen Zustand die wesent- ßefaeUteache in den tufteienffindenissen der EntwM&elung geeacbt werden mnls.

Solcherlei Unglückliche haben wir viele um uuSf viel mehr als man glaiubi Die BQder, die ich von ihnen entweifen will, sind trübe. Ich werde den Finger auf die Wunde legen, mich frei aussprechen und die Sorglosigkeit aufdecken, in der wir in dieser Hinsicht leben. Um uns leben bejammernswerte Oesohöpfe, die unsere Hilfe beanspruchen; es ist eine ünteriassungssiinde. ein Terbreohen fa.st, an ihnen voritber zu gehen, indem man die Meinung zu erwecken sucht, ihre Lage sei nicht 80 «n^fbokUeh, wie man

Das betrubendste Kapitel in der traa- rigen Geschichte der Kranken ist das über d&s anormale Kind. Der uioder- I druckende Charakter dieses Kapitels und die relative Maohtlosigkeit der Therapie erschweren sogar das Studium, and so bleibt dieses Kapitel der Psychiatrie un- bekannt oder wird nur unvollständig be- kannt. Von welelier Seit».' die Frage nach den Anormalen auch betiachtet werden mag, sehr schnell ist man damit fertig, festzustellen, dals sie von allen aufgegeben wird, und doch man siebt die unheilvollen praktischen Folgen von dieser gewollton Vemachhbsigung ein, davon zeugen die oft gehörten Äufserungen: »Wozu will man anf diese Fragen näher eingehen? Das ist verlorene Mühe. Widmen wir lieber Zeit und Müht; der Untersuchung der krankhafteu Zustijulo. die die Wissen- schaft heute schon beiaimpien kann.« Dieae Auffassung darf nicht vorwi^o. Zunllohat ist die Behandhmg der Anor- malen, wie die Statistik der Idioten^^ehnlen ! nachweist, nicht erfolglos. Nach 7 jährigem ! Aufenthalte in i öchulo des Asyls zn Laucaster konnten 10% Hause zorilekkebreiif in den Sland gesetzt, ihr Brot m erwerben, 6% konnten suhause zum Lebensunterhalt ein Handwerk bo- treiben, 3,5% konnten ihr Da.«?ein fristen in Stellungen, für die man .sie s|M'ziell herangebildet hatte, wuitien mit

eotBohiedener Besserung ihren Familien sorüokgegeben, 22 % wurden unvexindeit

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C Eittentnr.

zurückgegeben, 29<>/o kamen m AiMtB- hioser üir Idioten, 8,5% starben.

Diese Ziffern zeigen, daTs 40,5% der Kranken durch die Behandlung gebessert worden siji*i. Da.s ist eine heilsame Wirkuntr. und dio Bedeutung dieser Schulen iät um 80 gröfeer, als man behsapten kann, da& ihnen allein diese Besserung und wirk- lichen Heilerfolge sEogesclirieben wanton mü&sen.

Übrii^'t'iis ist folg^emJc Enviigurif: noch wicht^r: Die Behandlung der Auurujaleu drängt sidi gebietorisch suf , weU sie zum Zwecke einer wahren sozialen Veriifitimg mid Vorbeugung gefordert wird. Der Anor- mal'- is* : i' h selbst gnfährlich, für seine Umgebung wird ei ein Schädling und zu- weilen ein bedrohliches Geschöpf. Wenn wir ihn nun in seinem eigenen Intoresse and in dem der öffentlichen Wohlfahrt erziehen, wie sollten wir ihm nicht alle Sorgfalt widmen, die seine Lage erfordert!

"Wan soll uns bewegen, uns der Auor- ornlen anzunehmen?

Betnohton wir sor Beantwortnngdieser Frage die verschiedenen (irade, in welchen h'ich die ]<syehi8ohe A"*^"^*'*** beim lünde zeigen kann.

Da sind zunächst die Idioten der niedersteii Stufe, jene bcklagonswertoi Oesohopfe mit muregelmSbigem, beständig bewegtem Kopfe, asymmetrischem Gesichte, trübem Bh'i ke und schwerfälligem Körper; gleichgiitig j^e^^en ullesv, entschlüpft ihrem geiferaden Muudc oft ein Schrei, der weder vim Zorn nooh von Ftende zeugt An den BeLneii geUÜunt, bleiben sie an ihren StuliI gefesselt, während oft alle Muskeln in Bewpt'utip^ sind. Verfügen sie über ihre Glieder, so ^ehen sie mit un- sicherem Schritte. Jeglichen psj'chischen Lebens bar, stehen sie an! tiexischer, ja anf noch tieferer Stufe und scheinen nur zu lel)en, um die ihnen gebotenen Speisen fri^rifr zu verschlingen. Schmutzig und wderwärtig trotz der Pflege, die man ihnen schenkt, sind sie ein Gegenstand des Absdiens für alle, dmen sie in den Weg kommen.

ObSdiioii setten, sind solohe IdioteD für ihre Familien eine bestindige Qnal

nnd schliefslich eine beträchtliche Last. Ein solches Kind, dem joder Liebreiz und jede Liehenswürdigkuit des kindlichen Weäeut<i abgeht, hat Eltom, die uft sehr lieben. Welch tEBorigens Leben ahi das soloher dtem, dss sie an der Seite eines Idioten verbrini^'^on, der be- ständif^e Pflege erfoi^ert und ohne Hoff- nung die Thätigkeit seiner menschlichen Umgebung erschöpft! Und wenn dieser Unglüddiohe gar nooh Epileptiker ist, so kann er wirklich gefährlich werden; ganz bestimmt aber ist er für .seine Geschwister ein gefährliches Beispiel: denn nachge- wiesenermafsen ist bei Kindern die An- steckung durch Nachahmung in derartigen Itilen hiofig. (?Tr.) Ohne Zwdfel mvb man suchen, diese Idioten zu bessern. Aber die bei diesen Unglücklichen erl;tngten Erfolge sind uufsei-st gering, und wir vor- stehen dio Entmutigung, die den Arzt und den Pädagogen überkommt, denen solche Avi^gaben suge&llen smd. Soll man hier den Tod herbeiwün.schen? Gewiis kann man e-, d -nn ihr Da.sein wird ein elendes und ihr £iuflurs ein heilloser sein. Können wir aber weiter gehen, und soll man, wie unter anderen es der Arzt De Henry neuerdings in seinem Bn<^e veriangt ba;^ über sie das Kecht der Tötung bean- spruchen? Daiauf antworteten wir mit einem klaren und entschie<U'nen Nein!

Die Medizin wiiti von dem Prinzip der Aohtung vor dem Lebm behensoht In AtianahmeflÜlen davon abweichen, das hiefso, dio Kunst der "Willkür ausliefern, zalillose Schwierigkeiten henmfbeschwören und Wege uhue Ausgänge hctn-tcn, denn wer wiU dann genau den Giud des geistigen Verfalles beim Idioten bestimmen, und wer will eine Grenze feststellen in der ununterbi-ochenen Reihe von Degene> rierten von dem untersten Idioten Ins zum noruiali'u Kinde? Wo .^soUto dio Tötung beanstandet werden, wenn die Ge- sellschaft dem Arzte das Recht daranf einrftomte?

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C. Littentar.

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Vit der PormolieruQg dieser Fragen imd auf das GefiÜuüohflb auf das aufeer- «idenflioh Bemurah^geade in deseik Voi^

Schlägen hingewiesen, die im übrigen von den lautersten Of^fühlen und dem edelsten WnnFscho fiir das Oemeiowohl eiog^ebeu sein mögen.

INiM TJn^toUiohan pflegen, heiM, äe vor BellMteebIdigaDg sioheni, in ihrer Umgebung die besten hygienischen Um- stände schaffen, sie aus der Familie ent- fernen, damit sie di^^^elbi* nicht vollständig verderben, sie in blondem Häusern unter- bringen, ive sie Quem Weeen entspiediend tberwaeht und geleitet werden. Fast immer wird es möglich sein, dem AusfluTs des Speichels Einhalt zn tliun. r nhn I^iute abzugewöhnen, den Schliefemuuskelü oiuo eolche Spannkraft zu geben, daüs eine vedifiltniBTOibige Bebhaltimg 1>eolMK)htet ^vird. den ^T i kein eine Oeschmeidig- ieit und Energie zu verleihen, die die Nachiiasigkeit des Körpers einigenualsen hebt

lawn fHr jetsi die Idioten nreiten GiadM ins Ange, die »einfiltigenc Kinder,

die von allen Schulen zurückgewiesen werden und ihr trauriges T)a.sein in Hinter- zimmem dahin leben, jene Amiseltgen, die man auf den Straüsen der Dörfer und in den Gassen der Stadt sidit, wo sioli die Ctanenjnngen fiber sie lustig machen. Meistens Ueiben sie geistig unempfänglich, bis eines Tages plötzlich eine gewaltsame, unwiderstehliche I>eidenschaft in ihnen ei wacht, die ae zur Flucht aus dem Eitemhanse und xun Landstreiohen, zum Metde und rar Bnndstiftong treibt.

Nach Restins Urteile kann kein öffentliches Ver^-altiin-rspoMet mit mehr Nutzen für lierabnimdurung des Ver- brtKiheus und des Elendes bebaut werden abdie FBxeoigelttr die idiotasohem, snittok- gehliebenea und sdhwaQliBinnigen Kinder, und was die Gesellschaft an der ersten Erziehung dieser aufgegebenen Kinder er- spart, das giebt sie später zehnfach für PoUzei-, Rechts- und Gefangenenpflege wieder ans. Sa sehen wir s. B. jene

ruhigen und fast artigen Idioten, die zu Hsnse hei aHtlgbohen Oesohifteo hehOf- Ucih sind» nnd die plStsÜdi, dnvoh dne Bemeitnng des Vaters oder der Mutter ergrimmt, sich mit der ersten hosten Waffe auf dieselben «stürzen. Die Be- deutung ihrer Handlung wissen sie nicht absosehfltsen. Ein Idiot ssh ein Schwein sohlachten, ^ng ins Haus nnd schnitt der Magd den Hals durch. (Heider.) län idiuti'i'^u's Mädchen von 16 Jahren sollte in ila-ssachu-setts eine Idiotensehule be- suchen; im letzten Augenblick wurde es von der Hntter sorficl^hslten* die sidi mit dem Gedanken nicht vertraut machen konnte. Zehn Jahre darauf ward sie der Oesellsehaft zur Last da .sie 6 uneholicho Kinder geboren hatte, von denen die 4 noch lebenden idiotisch sind. Fast aUe solche Kinder l^Bimten in Asylsdkolen wesentlich gebessert werden, wo die ihrem nnvoU» kommenen ITim so nötige T?uhe und die mannigfaltigen Erziehungsbedingungen be- schafft werden, unter denen ihr Geist gewedit nnd entwiokrit weiden kann.

Und nnndie stttiieh verdorbenen Kinder« die Diebe, LQgner. Onanisten u. s. w., die Kategorie, aus wek'her das Verbrechen besonders seine Armee nimmt, und an der die Therapie doch mit Erfolg arbeitet Die Ghaiakterisienmg ifieeer heterogenen Ge- sdlsohaft ist schwer. BaUagteinKinddax^ über, dafs es kein Menschenfleisch zu essen habe ; ein anderes sieht beim Bruder die Nase bluten und will ihn toten, um seine Hände in dem Blute baden zu können; wieder ein anderea hilt sieh ncoh für xa sohwaoh rar IMiQSselmig der Matter, hofft aber, es später leisten ra ISnnen. Wir haben's hier mit Kindern zu thun, bei denen der Intellekt vorhanden ist; ihr Gehirn ist nicht normal, liire Sittlichkeit verderbt, sie beeitsen aber eine ganze Reihe von oft biffig entwiekeUen Hinunodalltiten, in denen die Möglichkeit zur VerÜbung fehler- hafter und schlechter Bandlungen be- , giündet liegt, deren logischer Zusammen- I hang aber doch merkwürdig dunkel bleibt I Da ist ein Junge von 10 Jahren. 7on

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LittonitBT.

aeinen Adoptiveltam ist er oft whon beim Gelddiebsiahl ertappt worden, Klein- geld, für welches er kleine Einkäufe

machen sollte, vernaschte er; nra Geld zu gewinnen, verkaufte er seine Kleider, und alles das wiederholt trotz der Strafen seitens de« Vaters. Emes Morgeos ver> lälst er das Haus und vagabundiert 48 Stunden. Einif^es Geld hat or mit- genommen. Bei der Kückkehr am 2. Tage bringt er eine Uhr und bietet sie seiner Mutter an; aeinem Täter, ebem IHibr- nuniie» bringt er eme FKtsöhOt die er von einem auf der Stralse stehenden Wagen weggenommen hatte; er stellt einen Mikh- knig auf den Tisch und erklärt, Uhr und FeitHche habe er mit dem g^tohlenen QeMe eAenft Mit diesen betden Ob- jekten werde er su Herne Freude bereiten, und 80 werde er der Strafe entgehen Von einer Milchfrau hatte er einen Kmg mit Milch und damit Proviant während seines Land^treichens, uaa obendrein buchte er einen nütilidien Gogenetaad mit heim. »Was krämen da meme Eltero noch einwenden?« Welche Findigkeit und welche Geschicklichkeit! Das ist keine Augenblickshandlung mehr, das ist mo- raLiüch verirrte Überlegung.

Noch ist die lotste Klaase der Unglück- lichen ins Äuge zu &S8en, es sind die pas- siven Naturen mit stumpfer Intelligenz, bei denen Aufmerksamkeit und Wille fast oder ganz fehlen, die von den Öchiauun und Schelmen verhäoselt und daher leicht die Wertseqge des Terbreobens, die VoU- führer der von anderen snsgedaohten Missethaten werden.

Was die Passiven unter dieser Klasse von Kindern aulaugt, so muis eine Be- handlung angewandt werden, die das sohltunmeinie Him zur Arbeit erweokt, die träge Anfmerkaamkeit und den **f»*fl»'«^f Willen reizt; man mafs die verborgene Pforte ausfindig macheu. um zu dem noch rudimentären Denken zu gelangen; i&ng- aam nnd metfaodisdi, ndft Oedidd imd obae HXite mii& man sie an die Anafühmi^ immer venrickelterer und ISagerer Arbeiten

gewShnen. Für die BSaartigen nntor

diesen iündem ist eine wohlgesbnte und gesunde Umgebung heilsam, wo das böse Beispiel fehlt und normale Daseinabeding- ungen wirken.

Der »Sohool Board« in London hat für dieee Kinder ob bewmidemewürdigee ESr- ziehungföystem eingerichtet, ein Werk, das in London allerdings möglic.-h war kraft des Gesetzes, das dem Erzieher Waffen in die Uand giebt gegen solche Kltürn, die sioh ihrer Ffiidit ihren Kindern gegenüber ent- siehen wollen. FDr die paaaiven Naturen unter diesen Kindern besteht die »School for feeble minded«, die eüoe Zwischenstufe zwischen den gewöhnlichen und den An- stalten für Idioten ersten Grades bildet. Für die fibrigen Kinder sind die Sohnko verschieden: das Kind mot» aor Yolks- schule gehen; fügt aioh's nicht, iat der Fortschritt von Klasse zu Klasse nicht regelmälsig, oder ist ei» zu ungehoi-sam. so wird es der Industriescliuie überM itnseu. Daa Leben ist da halb intern; das £nd hält sioh von 8 Uhr moigens bis 6 Uhr abends darin auf, es kann aber auch schon 6',', eintreten und bis 8 Uhr abends bleiben. Der uuheildrohende Umgang ist durch den mt^chht familiären der Schule er- setxt Die Kinder genieDwn Ünteoidit uQd werden dabei mit allen hbislidien Be- schäftigungen vertraut gemacht, sie haben freie Erholungspausen und verschiedene Werkstätten, wo sie unter Anleitung voa fiaudwerlEsmeistem arbeiten. Die Schule ist gemischt; die Znoht veihiltnisnillhig mild, obschon die Überwachung nicht unterbrochen wird. Zweck der Anstalt ist, dem Kiude den Aufenthalt angenehm zu machen. 6 oder 12 Monate verbleibt das Kind in deiaelben, um dann wieder der gewäm- lioben Sohnle «urüdkgegeben an wnden. Wenn alte Unarten von neuem auftreten, so wird das Kind einer »Truaut schooU, einem Internat, übergeben. Ein solches Kind hat die Freiheit mifsbraucht, und mit demn Emsduinkong wird es ge- atralt fia mob 3 bis 6 Monate dort verUdben. Auf Kommando betritt es

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C. litterator.

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Unterriciitarautn , Werkstatt und Hof. Unter StiUsohweigen mnfii es an der Seite seiner XMUnendm den gfSfirten Teil des Tages leroeodt arbeitend und in

MaskelübuDgen ▼erbrin^n. Die Anstalt besitzt grofse, geschJHÜekto Sä!p, lichte 8chlafniuine,geniumi{$e W erkitätteu, weit«, mit Baumen und Bltimen bepflanzte WM». Musik, Oynmaatik und lautes Yorlesen seitens des Lehrers sind häufige Unter- haltungsweiscn. Die Zucht in der Traant school muis so sein, dafs das Kind sie nicht auf die Dauer wünscht, und doch daif sie in dem zaglinge Iwine Vorintterung erregen. Nach 3 oder d Monaten kehrt der ZögUng in seine gewohiil: ho Schule zurück. Wenn er rückfäliif^ wer- den sollte^ so wird er in moe 4. Schule genommen, deren Typus das Training ship ist Dea Kind niid iDteraiert; das Ge- lidit gnifi «in, obaohon kein Vergehen vorliegen mag. und verurteilt die Eltern 'i'iTjy . ihre Nachkommenschaft ? bis 4 Janre über die normale Zeitdauer hmaus i der Söhlde n fiberiaasen. Das Kind ist abo in der 4. Soiinle; die Foliaei iriifct unmittelbar auf es ein. Der Aufenthalt in der Anstalt ist möglichst angenehm ge- macht. Der Zögling wird unterrichtet, lernt ein Handwerk und seine physische Eniehung wird besonders gut geleitet AOer 6 oder 14 1^ hat er frai und darf einen Tag in der Stadt (London) ver- leben. In jeder Woche hat er einen halben Tag zu allerhand athletischen Spielen zu i freier Verfugoug.

üntenritft aioh daa Kind niaht gut- wfllig^ ao wird ea geavungen. Aus allen diesen Soholen für Anormale mufs der Epileptiker aus verschiedenen Oründen fem gehalten werden. Wie der Hysteriker, ist er für die andern ein gefährhcher Nadibar. Der Anbliok einee epileptischen AnfaUea TerBetzt daa normale Kind in einen psychischen Zustand, der sich bei ihm oft j in ähnlicher Weise äuDsert. Übrigens ist der ' wirkliche Epileptiker ein Wesen, bei deml der iutellekt taut immer zurückgehtj es wurde alao ein Fdiler sein, ihn mit den |

normalen oder anormalen Kindern zu- sammen zu thon, bei denen doch die MoRtiohkeit einer anfste^endeu Ibttwit^*

]:u^l; vorhanden ist Die Psychiater fordern fast alle einstimmig die absolute Trennung der Epileptiker von den anderen. Aller- dings ist es l^lioht, für ditiäülben be- Bondere Anatalten «nsuriobten.

Ist denn die Sdiule nun aber wirUich nützlich für die Anormalen? »Wer eine Schule eröffnet, schliefst ein Gefängnis« (V. Hugo). »Je mehr Schulen, desto weuiger Gefängnisse.« (Fouillde.) Muüs man dagegen mit Lasoaaaagne, Bertillon, Lombroso u. a. nicht be- haupten: der Unterricht vermindert das Verbrechen nicht, er ändert nur seinen Charakter. Die Gewalttbütigkeit nimmt ab, aber die Schlaaiheit wichst Wenn das wahr tat, ao mn& man darana die Folge- rung ziehen, dab alle unsere Veimiche und Bemühungen vergeblich sind. Diese Schlufsfolgening ist betrübend, aber glück- hcherweise irrig, wie sich leicht nach- wetssn liibt

£Ss ist nicht wegsuleognen, dafo die Hast unserer Zeit, die aufreibende Thätig- keit unserer Städte, die tausenderlei mit dem Fortschritte verknüpften Degeuerations- ursachen sdiwer auf unserer Gesellschaft lasten und hier vecfaingnisvoUeKnmkheiten und Yerbreohen aum Kennen bnngen. (Quetelet) Dagegen steht aber auch fest, dafs die Wirksanikeit einer günstigen Umgebung ein Wesen tief umwandelt und völlig umgestaltet Dio italieuiächeu anthit)- pologisoben Tbeorieen als Wiaaensohaft sind in jenem Zeifpnnhts anligelEommen, wo in der Biologie der Erblichkoitsfaktor in seiner ganzen Bedeutung und mit seiner ganzen Wirksamkeit in den Vordeigruud gerückt wurde; es iöt also nicht zu ver- wundern, wenn sie dieaerMacht einen über- wiegenden Einflub auf die £ntwiokelung des Menschen einiftumen. Andere Faktoren schlössen sie ans. That^^ächlich hat die Biologie aber auch den groisen Einfluls der Umgebung auf die Eut^^'ickelung der Wesen gezeigt; es wird also richtig sein,

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C. Iitl«x«tiur.

wenn doa Udlerigen Lehren der Senologie der »uBoUiebande und deher felileyliefte Gbanfctor genommen xind der Sniehungs-

wis8on?'ohaft dio Ideen von dem Fort- schritte «iiirf'h Ail t'it und von dem liyü- samen Kiuhusüo passender Lebensbe- dingungen zugefahrt werden. Es li^ doch etwas INTahvee in dem Anedinoke: »Dae ist ihm nioht an der Wiefe ge- sungen worden.« Gewifs: Hören wir als "Wiegenkiiider Gutes, so werden wir prut; iahten Anomalien auf dem Kinde, die edüeoht und dumm naohen, so laOrt es QDB mit einer anderen, einer guten nnd intelligenten Welt umgeben, nnd es wird ein besserer Mensch werden. Dieser tlnn- retiscben Argumentation fügen wir prak- üsohe Beweise hinzu.

Dazu genügt, was die Befpsler der londoner Hilfssohulcn feststellen, dafs .ille Zöglinge der Training ships mit nahezu seltenen Ausnahmen gute, brave und mutige Seeleute, Soldaten oder Arbeiter geworden sind. —> Wenn man auch sagen rnnO^ daib der englisdie Begriff »gnter Soldat« sich nicht unbedingt mit dem unsrigen declcen mufs, so wird dem Segen der Hilfsschulen damit doch Iceiuerlei Ab- bruch gcthaii. Welcher Thatsaohe soll man den g^nwärtigen Znstand der Kinder snschreibeii, woon meht der, difo sie mit Gewalt der Umgebung entrissen wurden, in d»'r sie vpgotierten, um in ideale Lebens- und Krziehungsverhältnisse ver- pflanzt zu. ^ve^düü. In der Gefaugenen- sohnle sn Bmirs in den yeretnigten Stetten werden die Jnii^ge nnd £r- wneiuenai dem Sohnlrsgimeiite nnter-

worten; sie erhalten ünterricht, arbeMem in der WeriEstatt, tarnen o. s. w. Die Be- richte der Anstalt sind entscheidend mid

heweison deutlieh, dafs diese Lebenfrweise tief auf die bereits dem Verbrechen ver- faileue uud wegen des Alter» in der Besserang des Ghacsklen behinderte Be- Tölkerang einwirkt In Belgien, wo msa in dieser Hinsicht nach Bemoors eigner ÄuCserung gegen andere Staaten noeh 3?nrücksteht, hat sich der Verein von Ineü- ärzten mit folgenden Anträgen an die Gesetzgebung gewandt

1. Die idiotischen Kinder, mögen sie epi- leptisch sein oder nicht, worflon Kolonieon übergeben, sobald sie auf keinem anderen Wege mehr erziehbar sind. Die idiotischen Kinder, deren Intelligenz mdiinentär, je- doch Üs SU einem gewissen Grade der Entwickelung noch fähig ist, aber zu einem erfolgi'eichen Teilnahme am ünterrichte in llilfsschulcn nicht zureicht, wenleu gleich- falls in Kolonieen behandelt, wo ein sehr elementarer Aittohaoangsanterriclit f&r sie eingerioliiet wird, epileptische Idioten in- des nicht zugeLvssen werden.

2. Für jede Kategorie von zurück- gebliebenen erziehbaren Kindern werden Hilfsschulen eingerichtet, gesondert für eittfadhe andepileptisdieZarückgebliebene.

3. Wnnsolienswert ist es, dab die öffentlichen Behörden Hilfsschulen für Konvulsivische aller Art einrichten, in die

' Epileptiker. Hysteriker und an V»'ifstaDZ leidende Kinder aus den gewuimiichen Scholen bei den eisten Anseichen ihrer Krankheit an^genommen werden. Alteaburg. Thieme.

Zur Besprechung eingegangen:

Zeitschrift für pädagogische Psychologie und Pathologie. II. Jaiirg. (1900). Heft VI. Inhalt: William Stern, Die psychologische Arbeit dos 19. Jahxh. n. y. Henk, Ober den Unterricht im ersten Sehnljahr. Karl Löschhorn. Über einige schwierige Punkte im Unterrichte. H. Wegen er. Die psychischen Fähigkeiten der Tiere. II.

JkwA TOB ttmane Bafor * Stitm Lngaonla.

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A. Abhandlungen.

1. TTnaer SriiehimgBbenif an Sohwaohaiimigen.

▼ob

K. Ziegler -Idstein.

>Was haben Sie docli für eine iiarte, schwere Aufgabe! Wo nehmen Sie nur die Geduld und Ausdauer her, um jeden Tag mit (iemseiben riesigen Aufwand von Kraft und Mühe im eine solch auf- leibende und unbefriedigende Arbeit zu gelien, ohne dabei den Mut und die Schaffensfreudigkeit zu verlieren ?< so etwa lautet eine der stereotypen Redensarten, die gelegentlich fremder Besuche an uns Anstaitslehrer gerichtet werden. "Was soll man darauf erwidern? Leicht und angenelim ist unser Beruf gewifs nicht; aber er ist auch nicht j^o schwer, dafs wir unter seiner Last klagen und seufzen niüfsten. Man sehe sich nur einmal so ein kleines, munteres Völkchen an. wie es in freien Augenblicken, da der Lehrer ausruiiend die Hand vom Pfluge lalst, den väterlichen Freund umdriiugt und ihm in oft rührender Unbeholfenheit die Gefühle kindlicher Zuneigung zu erkennen giebt: ob das ein harter, aufreibender Beruf ist?

Freilich sind jenes nur kurze, flüchtige Lichtblicke wiihrend einer langen, entsagungsvollen Arbeit; einzelne liebliche Oasen auf einer l>eschwerlichen Reise durch öde Wüstenstrecken. Dafs die An- stalts- und Hilfsschulen das unterste, tiefste Stockwerk in dem grofson Gebäude des öffentlichen Erziehungswesens einnelimen, wer möchte es leugnen? Unscheinbar liegt unser Berufsfeld abseits der grofsen Heerstrafse, und ehrgeizigem Strebertum und selbstsüchtigem Haschen Dach glänzenden Erfolgen bietet es schlechten Aufenthalt. Aber wir blicken darum nicht scheel nach oben. Wenn auch in jenen mitt-

Oio Kiodorfefalv. VI. Jahigang. 7

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A. Abhandlmige».

leren, hohen und höchsten Schulen mehr IA<At und Olaius herrscht, gewissenhafte Pflichterfüllung und treue Hingabe fordert unsere Ar- beit nicht minder, und das Zeugnis aufopfernder Liebe und stiller Selbstverleugnung trägt sie als besonderen Zierat auf ihrem Ehren- schilde.

Femerstehenden mag es allerdings als etwas Langweiliges, Mono- tones und Geistloses erscheinen, sich Tag für Tag in dem beschränkten, nicueiün Gesichtskreis geistesschwacher Kinder bewegen zu müssen; aber in Wirklichkeit ist es doch nicht so schlimuL Wie gewinnt diese äufserlich so unscheinbare und schlichte Unterrichtsarbeit so- fort eine viel farbenreichere und inhaltsvollere Perspektive, sobald man sie vom Standpunkt des psychologisch beobachtenden Erziehers anfaföt und sie dazu benutzt, um an ihrer Hand in das versclileierte kindliche Seelenleben einzudringen. Da ist kein geisttötender Meclm- nismus, keine gedankenlose Schablonenarbeit mehr, da erhält auch das Nebensäohlieliste Interesse und Bedeutung un<l 'unter der Decke einer Uurserlich spröden Unterrichtsbesprechung kann sich dem Auge des Lehrers das Bild regsten psychischen Lebens kund üiun.

Leicht ist unsere Erzieh uugsauf gäbe allerdings nicht. Denn arbeiten, hart arbeiten nmfs man. wenn ni.ai (lein mageren Boden, den zu bebauen die gewinnsüchtige Menge unserer hastenden Zeit kaum der Mühe wort halt, einige Früchte entlocken will. Der Kampf mit der geistigen Stun^itheit und Schwäche unserer Schüler, nament- lich aber auch mit ihren oft krankhaften Charaktcrerscheinungen er- fordert nicht nur einen hohen Grad psychologischer Einsicht und methodischer Geschicklichkeit, sondern vor aJieu Dingen ein Riesen- quantum nie ermüdenden Flcifses, unverwüstlicher Geduld und zäher Ausdauer. Aber dieses Bewufstscin, das uns einerseits immer wieder zu höherem Eifer und neuem Vorwürtsstreben anspornen soll, darf es uns andererseits nicht auch mit berechtigtem Stolz erfüllen? Stolz natürlich nicht im Sinne des Hochmutes und falscher Selbstüber- hebimg, sondern im Sinne mannlicher Selbstachtung, aus der Berufs- ftreudigkeit und Berufsbefiiedigung entspringen.

Dafs unsere bescheidenen und kümmerlichen Erfolge in den Augen der »grofsen Welt« nicht viel Beachtung und Ansehen finden, dessL-n sind wir uns von vornherein bewufst. Wir dürfen ims nicht zu jenen Bevorzugten recimen, die sich rühmen können, an der (irol'se und Herrlichkeit eines zukünftigen starken Geschlechtes mitzuarbeiten. Wir haben nicht die Hoffnung, einmal auf tüchtige, geistig hoclistehende und sittlich hervorragende Männer zeigen und sagen zu dürfen: Das sind die Früchte unserer Aibeit Ist uns abor

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Zuxjlek: Uuser ErzitihungbbenJ au Schwachsinnigen.

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auch nicht »der Menschheit Würde in die Hand ^e^rben«, so träj^ Qnsoro Arbeit doch redlich dazu bei, eine der düsteren Nachtseiten des menschlichen Lebens zu mildem, und wenn unsere Erfolge äulser- lich auch noch so perine: schi infMi, s i sind sie doch bedeutend ercnujif, um denjenigen, dtnion sio /.u <:utü kanniien, die Möglichkeit eines glücklicheren und menschenwürdigeren Daseins zu yerschaffen. Wer möchte überhaupt dio Tragweite und den Einflufs unserer Arbeit auf das öffentliche Volksleben völlig ermessen? Wie mancher sittlichen Entgleisung, welche ein zertrümmertes Menschenglück zur Folge hat, wie manchem grärsliciien Verbrechen, dius die ganze Öffentlichkeit in Aufregung setzt, wie manchem Pro/esse, der mit Gefängnis oder Todesstrafe endigt, mag gerade unser suUes Thun vorbeugen, indem es sieh an die geistig und sittlich Schwachen, Kranken und Defekti u wendet Und dieser geheime Segen, der so unbewufst uud uakun- trollierbar auf die tiefsten Schichten des Volkes ausströmt, wäre der etwa kein Erfolg? Sollte aber auch diese Bedeutung unserer Arbeit versagt sein, so brauchen wir uns deswegen noch hinge nicht durch kleinliche Erfolgsberechnungen an unserer Thätigkeit irre machen zu lassen. »Der Erfolg ist nur der That Gepräge, nicht ihr Wert.« Unsere Arbeitsfreudigkeit soll durch andere Gefühle genährt werden als durch diejenigen eines befriedigten Strebertums. Mag unsere Zeit in einseitiger Verkehrung den materiellen Wert der Aibeit nuch so sehr hochschätzen und überschätzen, so wollen doch wir auf unserem Gebiete wenigstens uns das Verständnis fiir die sittliche Be- deutung derselben nicht rauben lassen. Und kt)nnen wir auch nicht an den Fingern und mit statistischen Zahlen grofse Erfolge unserer stillen Arbeit aufzählen, so dürfen wir doch au den Ewigkeitsgehalt derselben erinnern.

Eiiien Lohn findet unsere Arbeit aber auf alle Falle: die dank- bare und oft rührende Anhänglichkeil und Liebe unserer Kinder. Das Verhältnis zwischen Lehrer und Schülern kauu sich in der Schwachsinnigenschule zu einem viel herzlicheren und innigeren go- stalten, als dies bei normalen Kindern im allgemeinen der Fall ist, wo eine straffere Disziplin, welche durch die höhere Schülerzahl be- dingt wird, und der intensivere Arbeitszwiing, den der vorgeschriebene Lehrplan erfordert, w enig Raum zu einem mehr gemütlichen Verkehre gestatten. Wie ein Vater kann bei uns der Erzieher unter seinen Zöglingen stellen, und es sind immer erhebende, feierliche Momente fttr ihn, ^vonn die unschuldigen Kinderherzen ihm die Gefühle ihrer Liebe in der ihnen eigenen zutraulichen und unbefangenen Weise zum Auädrack bringen. ♦*•,;•«

-.' ' 7*

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A. AlHiaiidliiDgeii.

Doch es kommen auch wieder Stunden stiller UnzuMedenheit, da ini Herzen das Verlangen luich einem freieren, weiteren Wii'kunfi^- kreise erwacht wo dem Streben mein gw^q Grenzen gezogen sind nnd wo das ruamiliche Kraftbewufstsein und der Schaffensdrang sich unbehindert entfalten und ausleben können. Man möchte wieder einmal im Vollen wiik u, aus dem Vollen schöpfen un l das Kapital seiner Fähigkeiten auf liöhere Zinsen anlegen, als es m der Schule Schwachsinniger der Fall ist. -Liebes Herz! Fühlst Du dich zu grofs lind zu bedeutend, uui mit diesen ;iiinen Kindern zu verkehren? Siehe die Sonne an! Unverdrossen sendet sie ihre Strahlen allen Ge- schöpfen, den gesunden und kranken, den grofsen und unscheinbaren. Und der Strahl, der auf das Verkümmtrtu lullt, ist er darob mürrisch nnd unzufrieden? Mit der vollen Kraft, die ihm seine Mutter Sonne verliehen, küfst er auch das Schwache und freut sich, dazu für würdig befunden worden zu sein. Was bist Du aber melir als ein solch kleiner, vergänglicher Strahl, den die Scliupfersonne des Weltalls, die ewige Liebe des himmlischen Vaters, ihren Millionen und Aber- millionen verlassenen Kindern zusendet?«

Es mag allerdings gröfeere Lust und süfsere Befriedigung ge- wäliren, als Uiirtner in einem üppigen Garten zu wiiken, wo gesunde Blüten in voller Frühlingspracht sich unter unserem Schutze entfalten und im Herbste uns von den Ästen und Zweigen goldene Früchte ent- gegenlachen. Aber auch das ist etwas Schönes, schwächliche Pflanz- chen mit liebevoller Hand zu pflegen, sie mit sorgender Vorsicht vor Wind und Wetter zu schützen^ die harte Erde um ihre Wärzeichen zu lockern und sie zur rechten Zeit den warmen Sonnenstrahlen und dem milden Regen aussetzen. Es waren grofse Augenblicke, als Jesus einem heilhungrigen Volke seine unsterblichen Lehren ver- kündete und dieses staunend zu dem grofsen rropheten emporschaute, aber noch gröfser war der Meister, da er sich in unendlichem Erbairaen zu den Verstofsenen und Zerschlagenen herabneigte und zu den Bünden, Tauben und Stummen sein allmächtiges »Hephata« sprach.

Schwillt uns da nicht das Herz, diesem göttlichen Vorbild im Dienste der Ärmsten unter den Armen nachzueifern? Mü.ssen wir uns nicht glückhch fühlen in einem Berufe, der sich so sehr auf flie höchsten Gefühle, deren die menschliche Seele fällig ist, auf Liebe und Er- barmen gründet? Können wir da noch darnach fragen, welches An- sehen unsere Arbeit geniefst, welche Bedeutung unsere Erfolge haben? Freilich, wir wissen es nur zu gut, dafs gerade in dieser Hinsicht unser Beruf die höchsten Anforderungen stellt, und dafs gerade das das Schwerste ist, >u?: aeibstioser Liebe und nicht aus eigennützigeiu

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Köllk: Der erste Untenicht bei Sch wachs innigen.

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Streben zu wirken, immer nur das Glück und Wohl unserer Kinder, nie aber das Lob und die Anerkennung der Welt im Auge zu haben. Wie oft ist unser Herz kalt, wie oft die Hand lässig, wie oft das Streben ungeduldig, und wie oft haschen auch wir nach gleifsnerischem Flittergold 0. mit dem wir die Unscheinburkeit unserer Arbeit zu ver- brämen suchen ! Aber wir wollen wenigstens aufrichtig darnach ringen, dafs unser Werk immer mehr vom Geiste jenes grofsen Menschenfreundes durchdrungen werde, wir wollen in ernstem Ar- beiten an uns selbst immer eifriger nach jenem Kleinod streben, das der Segen unserer Sciiuio und daa Glück unseres Iiebens sein wird geduldige, selbstlose Liebe.

2. Der erste Unterricht bei SchwacliBinnigen. Yortng, gehalten bei einem fieeucbe von Lehrern an Hüfskiaesen.

VOD

K. Kölle, Regensberg -Zürich.

In der Litteratur finden sich nach und nach sehr viele Schritten, die .Anleitung geben, in welcher Weise ein schwachsinniges Kind unterrichtet werden soll. Vertieft man sich in diese Anleitungen, so zpiirt sieh gewöhnlich, dafs sie füi' höher stehende Kinder geschrieben sind und nur selten findet sich eine Anleitung für die Behandlung eines ganz tief stehenden Idioten, der doch noch bis zu einem ge- wissen Grade bildungsfähig ist Man nimmt sich auch selten die 3Iiihe, solche Kinder speziell zu behandeln. Man nimmt an, das Kind Averde oder müsse sich zu einer bestimmten Stufe entwickeln, ehe ein Erziehungs- oder UnterriohtSTersach mit ihm gemacht werden dürfe. Höchstens giebt man so viel zu, dafs nine Kinderwärterin sich mit dem Kinde beschäftigen dürfe. Nachdom aber Pestalozzi schon erklärt hat, dafe die Mutter in der Kinderstube schon als Lehrerin auftreten müsse und nachdem die ErObel sehen Ideen allgemein an- erkannt sind, wird es auch immer mehr zugegeben, dafis das idiote Kind, das ohne Sprache, ohne UaterscheidangBTermögen, ohne jede bewaXste Thätigkeit ist, angeregt werden mlbse, um psychisch sn erwachen.

Stellen wir ans einmal ein solches idiotes Kind vor. Nehmen wir einen günstigeren Fall. Dieses Mädchen, das ich Ihnen zeige, ist ein apathisches, schwachsinniges Kind ohne körperliche Be- lekte^ mit einfacher psychischer Schwäche. Dieses Kind hat

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A. Abhandlungea.

sich köq)erlicli entwickelt wie jedes andere normale Kind. Es ist allerdings etwas uubeholfen, langsam in seinen Bewegungen, aber sonst wird man ihm äufserlich niclit viel anmerken. Die Ernälining ist eine gute, zum Stolz der armen Mutter, die das Kmd gfinastet hat wie ein Milchschweinchen, da sie nichts anderes zu tluin wufste. Wahrscheinlich war das Kind den ganzen Tag über oirtgosclilossen in Gesellschaft seines ebenfalls schwachsinnigen Schwesterchens. Und so wenig als ein Scliweinchen, dem sein Koben zur recliten Zeit ge- füllt wird, Unruhe zeigt, ebenso wenijr dieses Kind, wenn es seme Milch zur rechten Zeit bekam. Es vegetierte fort, wie eine Pflanze und man mufs sich unwillkürlich frairen, hat oin solches üeschöpfclien ein psychisches Leben, ist es nicht ein seelenioses Dhig, wie eine Pfliinze, die bei guter Pfipfro gedeiht? Das Kind ist von proportioniertem Wuchs, hül schein desicht, es sieht aus wie Milch und Blut, hat eme griechische Nase, freie Stime und lebhafte blaue Augen.

Nun, die ersten Bedingungen eines Seelenlebens, nämlich die Organe, welche das Subjekt in Wechselbeziehung zum Objekt setzen, sind vorhanden. Die fünf Sinne sind intakt. Freilich sind diese auch bei allen höheren Tieren vorhanden und Hkiihakt fühlt sich dadurch zu eineiji etAvas unpassenden Vergleicli aufgefordert, wenn er in seiner empins( licii Psychologie im ersten Kapitel sagt: ^ Der wilde Mensch und das neugeborene Kind geben uns weit weniger Gelegenheit, den Umfang ihres Geistes zu bewundern, als die edleren unter den Tieren. f Dieser Vergleich ist in''nforn unpassend, als man sich einseitig auf die Beobachtung eüizelner instinktiven Thätigkeiten edler Tiergattunsreu beschränkt und diese scheinbai* geistig hochstehenden Handln ngeu in Gegensatz stellt zu den Leistungen eines ganz unentwickelten mensch- lichen Individuums. Der Ausdruck »schwachsinnig sollte eigentlich für unsere geistig tiefstehenden Zöglinge nicht gebraucht werden. Es führt vielfach irre, da man annimmt, die Sinne .seien schwach und durch Übung der Sinne an und fiir sich, müs.se eine Besserung bei diesen Kindern eintreten. Man findet demgemäfs auch vielfach in Anleitungen für die Behandlung Schwachsinniger die Angahe, daTs der Reihe nach alle Sinne angeregt und aiisgehiidet werden müssen und es werden besondere Übungen für das Gesicht und das Gehör, ja auch für das Gefühl, den Geruch und den Geschmack aus- geführt.

Seqüin legte grofsen Wert darauf und Sollier pfliclitet ihm bei und von Paris aus ist diese Ansicht auch in die deutschen Hilfs- klassen für Schwachbefahigte eingedrungen. Im ganzen haben al)er diese Übungen nur geringen Wert und die vielen Anschauungsmittel,

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E5lu: Der erste üatenioht bei SchwadLBiimigeo.

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welche mehr df>n Zuschauer bei einfm solchen Ünterrioi^t blenden, fördern den ScliiUer in ganz bescheulenem Mafse. In dem vorlief^enden Fall sind alle Sinuesorgaue gut and dennoch ist ein normales Geistes- ieben nicht vorhanden.

Am deutü Ii t( n und klarsten ist dieser Unterschied wohl von Schopenhauer betont worden, wenn er in seiner Abhandlung »Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde* schreibt {Ausgabe von E. Grisebach, Reclnm Seite 65): »Man niufs von allen Göttern verlassen sein, um zu waiinen, dals die anschauliche Welt da draufsen, wie sie den Raum in seinen drei Dimensionen füllt, im unerbittlich strengen Ganc^p der Zeit sich fortbewegt, bei jedem Schritte durch das ausnahmslose (resetz der Kausalität geregelt wird, in allen diesen Stücken aber nur die Gesetze befolgt, welche wir, vor aller Erfahrung davon, angeben können, dafs eine solche Welt da draufsen ganz objektiv real und ohne unser Zuthun vorhanden wäre, dann aber, durch die blofsc Sinnesemiifuidung, in unseren Kopf hineingelangte, woselbst sie nun, wie da draufsen, noch einmal da- stünde. Denn was für ein Ürmlichos Ding ist doch die blofse Sinnes- empfindung. Selbst in den edelsten .Sinnesorganen ist sie nichts mehr, als ein lokales, spezifisches, innerhalb seiner Art einiger Abwechselung fähiges, jedoch an sich selbst stets subjektives Gefühl, welches als solches gar nichts Objektives, also nichts einer Anschauung Ähnliches enthalten kann. Denn die Empfindung jeder Art ist und bleibt ein Vorgang im Organismus selbst, als solcher aber auf das Gebiet unter- halb der Haut beschränkt, kann daher, an sich selbst, nie etwas ent- halten, das jenseits dieser Haut, also aufser uns läge. Sie kann angenehm oder unangenehm sein, welches eine Beziehung auf unseren Willen besagt, aber et^vas Objektives liegt in keiner Em- pfindung. Die Empfindung in den Sinnesorganen ist eine durch den Zttsaramenflufs der Nervenenden erhöhte, wegen der Ausbreitung und der dünnen Bedeckung derselben leicht von aufsen erregbare und zadem irgend einem speziellen Einflufs, Licht, Schall, Duft, besonders offen stehende: aber sie bleibt blofae Empfindung, so gut ^e jode andere im Innern nnsere» Leibes, mithin etwas wesentlich Subjektives, dessen Yei&nderungen unmittelbar bloDs in der Form des inneren Sinnes, also der Zeit allein, d. b. snccesiv zum JBewufstsein gelangen. Erst wenn der Verstand, eine Funktion, nicht ein- zelner, zarter Nervenenden, sondern des so künstlich und rätselhaft gebauten, drei, ausnahmsweise aber bis gegen fünf Pfund wiegenden <^chims, in Thätigkeit gerät und seine einzige und alleinige Form, das Gesetz der Kausalität, in Anwendung bringt, gebt eine mäcb-

üiyiiizeQ by GoOglc

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A. AlibaadliiDgeii.

tige Verwandlung vor, indem aus der bubjektivea Empfindung eine objektive Anschauung wird etc.*.

Ich möchte hier nun nicht näher eingehen auf die Sinnosthätig- keit, sondern weiter gehen bis zu dem Punkt, wo durcli die Sinnes- organe und den zugehörigen nervösen Apparat eine Auslösung im Zentralorgau stattfindet. Aber aucli bei diesen physiologischen Vor- gängen können wir nicht länger verweilen, ich möchte nur fragen: wie beginnt der erste Schritt des seelischen Leliens? Welches ist die erste Thätigkeit, die uns das Erwachen der Psyche erkenn^m läfüt? Um nicht zu weit ausgreifen zu iim^son. sollen die Ansichten einiger bekannter Männer über diesen Punkt angeführt werden.

SoLUER sagt in seinem Buohe »Der Idiot und der Imbecille« Seite 170 ff.:

»Über die Intelligenz der Idioten sind sehr oberflächliche Urteile g'efiUlt wonieii ....

»Was meiner Ansicht nach zuniichst zu betrachten ist, ist die Unvollkommenheit der Sinne, die jede Begriffsbildunj^ stört. Dann kommt der Mantrel der Aufm« ! k-nmkeit, der trotz der Vollkommen- heit der Sinne, in gleicher Weise störend wirkt, aber doch gebessert werden kann, schlieislich die Unfähigkeit, zu generalisieren und zu abstrahieren.

Die eif^entiiche Intellic:enz schliefst vielerlei Denkthiitigkeiten in sich, die wir der Roiho nach durchgehen wollen: Er%vL'ri)ung von Vor- steilun^'en, Association und Produktion der Vorstellungen.

Wir erwerben Vorstell un^^ren und Begriffe auf zweifache Art Die konkreten Begriffe oder Vorstellunc^en werden durch die Sinne vermittelt, und zwar im Anfang' und vor dem Erscheinen der Sprache auschliefslicli durch sie. Die Sprache ihrerseits liefert uns die Vor- stellunf^en, uikI sie allein ist imstande, uns <lie abstrakten Vor- stelhmi'on zu geben. Wenn sie uns konkrete V()rst«>llnri-en vou einem Gegenstande liefert, so geschieht dies nur durch Inanspruch- nahme des Gedächtnisses und der Fähigkeit des Ver<!:Ieichens. Wir sahen bereits in dem Kapitel über die Sinneswahrnehniungen, in welchem Zustande sich die Sinne bei den Idioten und Imbi i illen be- finden; dals bei den niedrigsten Idioten keine Sinneswalirnehnumg vorhanden ist, dafs sie erst mit der Entwickelnng der Aufmerksamkeit beginnt und zuuimmt und bei den Imbecillen fast die Norm cmncht. Diese letztor'^n sind in viel höherem Grade als die Idioten fähig, dio verschiedenen Objekte zu erkennen. Um einen Gegenstan»! gut zu erkennen, bedarf es in der Tiiat der Anwendung verschiedener Fähig- keiten, wie des Vergleichens, Überlegens, Urteiiens. Man muDs (Ue

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Kqum: Der eiste Untenicht bei ScbwadiainnigeD.

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Aimiicliküiten und Unterschiede herausfinden, die zwischen irgend einem und einem diesem anuJogen Objekte bestehen. Nur können die Idioten scIien utiu nicht immer verstehen, was sie sehen, oder der viirhei>;i'iiende Eindruck erlisclit vor dem neuen lebhafteren I jHiinick. Die Übung des Gesichtssinnes, des Gehörs, aller Sinne ist zur Idioten- Erziehung unerliifslich und mit ihr iniils man beginnen, um ihnen die ersten liegnife beizubringen. Auf diu Idioten pafst das Wort des Psalmisten: sie haben Au^^eu und seilen nicht, sie haben Oliren und hören nicht. Die Erziehung der Sinne ist also das erste. Skguik, der diesen Gegenstand beherrschte, hat sich darin niclit getiiu.scht, und alle diejenigen, welche ilim gefolgt sind, haben diesen Grundsatz ange- wandt.« SoLi.iEK .stellt liier Behauptungen auf, die wir vorhin be- stritten haben und es iäfst sich gewifs nicht leugnen, dafs Solueb über die ersten Punkte, die uns gerade besonders interessieren, nämlich das erste Erwachen der Psyche, ganz leicht wegschrcitet und nur die oberflächlichen Behauptungen alter Psychologen wiederholt. Grofsen Nutzen können wir von diesen Ausführungen nicht haben. Er macht den ganz unpassenden Unterschied, dafs Begriffe durch die Süme vermittelt werden und dafs, um Gegenstände gut zu erkennen^ das Vergleichen etc. notwendig sei. Er ist also der Ansicht, die Sinne an sich können Vorstellungen erwerben, um aber diese Vor- stellungen deutlicher zu machen, müsse erst das Vergleichen, Über- legen, Urteilen hinzukommen. Dies ist aber nicht richtig. Das primäre ist das Unterscheiden und um dieses zu können, braucht es die Sinne als Organe. Diese Organe sind aber heim Idioten in vielen Fällen intakL Und umgekehrt giebt ee IndiTiduen, die nicht im Besitze aller Sinne sind, denen z. 6. gerade Gesicht und Oeh(^r mangeln (wie Laura Bridgeman und Helene Keller) und die sich doch ganz anfeerordentUch gut entwickelten. Wir können denmadi nicht damit einig sein, wenn behauptet wird, beim Idioten müssen in enter Linie die Sinne geübt werden. Wir verwerfen sogar alle diese formellen Sinnesflbungen. Bas Vergleichen und UntersoheidQn mufo geübt werden und dies ist freilich nicht möglich, ohne dafo die Sinnesorgane in Anspruch genommen werden.

Interessant ist in dieser Hinncfat die Ansicht Hebbabib in seiner Psychologie (Ausgabe von Hartenstein, Band V, Absatz 194—95). Ich möchte hier besondexs aufmerksam machen auf die deuflicfae Aus- führrmg, dafs dem Verstände zunfichst nur Eines d. h. eine Einheit vorgeführt wird, die er analysieren mofs, um zu einer Wahrnehmung ZQ kommen.

In ganz Hhnlicher Wdse spricht sich Hjelmholz aus, der als

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A. AbbanduDgeQ.

Philosoph ganz auf dem Boden von Kant steht. Er sagt in seinem Vortrage »Die Tliatbache der Wahrnehmung«:

Suchen wir uns auf den Standpunkt eines Menschen ohne alle Erfahrung zurückzuversetzen. Ein solcher Beobachter befinde sich zunächst einmal einer Umgebung von ruhenden Objekten gegenüber. Dies wird sich ihm erstens dadurch zu erkennen geben, dafs, solange er keinen motorischen Impuls giebt, seine Empfindungen unverändert bleiben. Giebt er einen solchen (bewegt er z. B. die Augen oder die Hände, schreitet er fort), so ändern sich die Empfindungca; und kehrt er dann durch Nachlafs oder den zugehörigen Gegenimpuls in den früheren Zustand zurück, so werden sämtliche Empfindungen wieder die früheren.'-

Noch deutlicher spricht sich Phkyeh aus in seinem Buche »Die Seele des Kindes.« Er sagt dort in dem Abschnitt über die Aus- bildung des kindlichen Verstandes Seite 27-1:

»Das Gedächtnis nimmt der Zeit nach die erste Stelle ein. Ohne Gedächtnis ist kein Verstand mödich. Das einzige Material, welches dem Verstände zur Verfügung sieht, erhält er von den Sinnen. Es ist nur aus Empfindungen ihm zugeflossen. Nun kann aber eine Empfindung für sich allein, als ein unzerlegbares fundamentales, ursprünglich auf doa Empfindenden Eindringendes, mciit (n i^iMistand irgend welcher Verstandesoperation sein. Es müssen, um diese xu ermöglichen, mehrere iunpfindungen, zwei ungleichartige, ungleich- starke derselben Art, in jedem Falle zwei ungleiche Empfindungen vorliegen, wenn die uiedricrstc Verstandesthätigkeit, das V^ergleic hen, l)eginnen .soll. Weil aber die Empfindungen, welche verglichen werden, nicht alle zugleich sein können, so ist die Erinneiüng an die früheren zum Vergleiche notwendig, d. h. das pei*sönliche Gedächtnis.^

Kehren wir nun wieder zu unserem sprachlosen Kinde zurück und fragen: Wie bringen wir es dazu, dafs es zu einer Wahmeiimung kommt? Die Antwort darauf ist die, daf^ wir sa^en: Wir müssen das Kind unterscheiden lehren. Und warum dies.-' Einfach aus dem Grunde, weil das Kind alles, was es an geistigem Besitz hat, eben- falls auf keine andere Weise erhalten hat, als durch Untoi"scheidungen. Hier ist das Buch von Prever zu empfehlen j-Di*^ Seele des Kindes.« Dort weist er nach, in welcher Weise die einzelnen Sinne zur Thätig- keit kommen bei dem neugeborenen Kinde. Und es ist besonders wichtig, dafs fliese j)h3'siologischen, streng wissenschaftlichen Unter- suchungen zu dem gleichen Resultate kommen, wie die empirische Psychologie sie aufweist. Die ersten wahrnehmbaren Eindrücke sind durch den Gefülilssijm und den Geschmackssiim vermittelt, letztere

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Kölle: Der erste Unterricht bei Schwachsinnigen.

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verbunden mit Geruchseindrückon. Eindrücke, durch Glicht und Oehör vermittelt, sind erst später niöglich.

Yorsüchcn ^vir nun einmal, uns eine Vorstellung von einem ersten Gefühls» indnick zu machen. Nehmen wir an, dafs alle unsere Ge- fülilsnerven unter einem bestimmten Eindruck stehen, d. h. dafs sie in den Ganglienzellen dieselbe Gefühlsempfindung hervorbringen, so wird dieses Gefühl gar nie zum Bevvufstsein kommen können Ein einfaches Beispiel maj^ dies klar machen. Legen wir z. B. unsere Hand auf einen fremden (rep^enstand und lassen sie auf diesem so lange ruhen, bis kein Wiirmeunterschied mehr vorhanden ist und auf alle Teile der Hand der gleiche Druck stattfindet, so haben wir von (\(^m Gegenstand keine Empfindung Der >Siniif's<Mndnick ist pin voll- !-i<milig gleichartiger, sowohl räumlich als zeitlieh, im Bewufstsein ist eint' sich ^rlpirhhlpibend© GeiühlsstimmaQg vorhandoDf die zu keiner Wahnicliiiumg kommt.

Tritt nun aber eine Veränderung ein, bleibt also dieser Zustand des Gleichartigen nicht fortbestehen, oder, wenn wir uns knapper aus- drücken wollen: bleibt dieses >Eins« das bis iotzt gleichmäPsig auf das Bewuf?tsein sich bezog nicht länger, somit in tritt eine Veränderung so ein, dafs die Sinne räumlich oder zeitlich anders affiziert werden, als dies bis jetzt der Fall ^var, so tritt das Geistesleben in Eunktion. Der erste gleichartijTp Gefühlseindruck, der die Ganglienzellen in doichmäfsiger Weise affizierte, bleibt haften (Gedächtnis). Aber indem dieses Eins« festgehalten wird, macht sich ein zweiter P^indruck, der nicht mehr diesem »Eins« angehört, fühlbar, den wir der Kürze wegen einfach Nicht-Eins« heifsen. Es soll dies nur ausdrücken, dafs etwas anderes, als das erste «Eins^ mit seinem gleichartigen Ein- drucke sich auf das Centralorgan bezieht. Die ganze Sache ist etwas schwer deutlich zu machen, namentlich deshalb, weil Erscheinungen, oder vielmehr geistige Vorgänge, die gleichzeitig stattfinden und wo- von das eine überhaupt nie auftreten kann, ohne das andere, aus- einander gehalten werden müssen, und weil dadurch leicht der Ein- druck entsteht, dsda diese Vorgänge nacheinander selbständig auftreten könnten.

Wird nun dieser Fortschritt von »Einst zu »Nicht-Eins« gemacht, so muTs das Gedächtnis in £raft treten. Das Gedächtnis ist also a priori Bedingung jeder geistigen Thätigkeit! Dieser erste Fortschritt ^f^n ^Eins« zu »Nicht-Eins- ist aber nur ein ganz kleiner, aber er ist der einfachste und elementarste geistige Vorgang und eben aus diesen kleinen Fortschritten baut sieb das ganze Seelenleben auf. Es zeigt sich hier, dals die eiste TMtigkeit der Psyche eine analytische und

L.icjui^L.ü cy Google

108 AblwMiliiiigen.

Ireine aynthetisdie ist Eakt nimmt das letztere an und sagt, die sjDthetiBche EiDbeit des Mannigfaltigen in der Eiaoheinung sei die eiste Bedingung jeder Wahrnehmong und er mnfete zn dieaer An> nähme kommen, weil er Zeit und Baum als apriorische AnschaniuigB» formen bestimmt.

Wemi wir aber der Annahme folgen, dafs erst der Fortschritt von »Eins« zu »Nicht-Einsc eine psychische Thätigkeit erweckt, dann wird uns auch klar, dafs erst mit diesem Schritt die Yorstellung von Zeit und Baum entstehen kann.

Doch wollen wir uns auf diese Erörterungen nicht weiter ein- lassen. Für den Lehrer folgt aus den seitherigen Ausführungen, dafs er stets an dem festhalten mufs, was das Kind bis jet;^t als geistiges Eigentum besitzt und von hier aus kann er weiter gehen. Es sind dies dieselben Ansichten, die Hkkuaht klar legt, ja die formalen Stufen des Unterrichts sind nichts andoies als dieses strenge psycho- logische Fortschreiten. Eine Association kann nnr stattfinden, wenn auf dem vorhandenen Boden analytisch-synthetisch vorgoj:anpen wird.

Der Boden, auf den wir uns bei unseren schwachsinnigen Kindern stellen müssen, ist sehr beschränkt und hart. Wir suchen sie deshalb dadurch zu Unterscheidungen oder zum ersten primitivsten Urteil zu zwingen, indem wir von ihnen verhm^^en, sie sollen vorgemachte Be- wegungen nachmachen. Diese Aiisiclit hatte schon Landenberger und er arbeitete deshalb eine eingehende, sot^enannte Blüdengyumastik aus. Sie sollen Farben und Formen voneinander unterscheiden. Des- halb sind uns die Farben- und Formenbretter so wichtige Hilfsmittel für den ersten Unterricht. Nicht weil sie, wie schon gesagt wurde, das Kind blofs zur Tliuugkeit veranlassen, sondern weil sie es zwin-xn, zu unterscheiden, d. h. Eins« und »Nicht-Eins zu einander in Be- ziehung setzen. Dadurch wird der Verstand gezwungen, zu iimk- tionieren; diese Übungen bleiben nicht leere Übungen der Sinne, blülso Heize, welche die Sinne affizieren, sondern es sind wichtige, eleraentare Versuindesübungen.

Ein klarer Beweis für die Richtigkeit dieser Annahme ist eigent- lich die ganze Mathematik. KajsT läfst sich daher bestimmen, zu sagen, die Mathematik sei eine Wi.ssenschaft, die sich auf reine An- schauung a priori giünde, nicht auf empirische. Die Ansicht von Kant läfst sich eben dadurch begiiinden, dafs wir nie zu einem »Eins« kommen, ohne ein ^Xicht-Eins« und umgekehrt Nehmen wir »Eiui>^ als Zahlengroise bei gleicliartigen Erscheinungen, so ist »zwei« ein »Nicht-Kins«.

Beobachten wir uns nun einmal ganz genau, dann finden wir^

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Kullk: Der erste Unterricht bei SchwachsiDuigen.

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(lafs wir ^-Eins« d. h. eine Orofse und »Zwei d. Ii. zwei Oröfsen leicht auffn^son können, ja dafs wir sie aiifta.sseu müssen, eben weil sie im Gi'i;eusatz zu einander stellen und Eines nur aus dem andern lief^riflen werden kann. Es sind dies eleniontnro Anlagen, die a priori vorhanden sind. Stellen wir un.s drei Kinlieiten vor. so ist schon ein pr<ter Schritt, d. h. es ist schon ein Urteil notwi ni!i<^, eine Assu- uiation, die auf einer analytisch-synthetischen Wahrneiimunj? beruht. Eine reine Anschauunp^ ist Drei schon nicht mehr, obgleich wir im- stande sind, auf einen Blick drei Einheiten aufzufassen und sie uns vorzustellen. Damit aber sind wir am Ende unserer Anschauung angelangt. Der gewandteste Mathematiker ist nicht imstande, vier Einheiten auf einmal zu überblicken und sie sich vorzustellen. 4 ist üim 2 4- 2; 3 -f- 1, 1 + ^her niemals 4 an sicli

Wir wollen aus diesen psychischen Wahrnehmungen die Lehre ziehen, dnfs wir mit schwachsinnigen Kindern zunächst nur :Eins< und »Nicht-Eins« d. h. zwei üben und iiüehstens bis H pehen. Und wir wollon bei vorgeschrittenen Kindern nicht vergessen, dafs sie leicht mit eins und zwei, vielleicht noch niit drei, addieren und sub- trahieren können, dafs aber die Operationen mit höheren Zalilon ihnen verhältnismiirsig viel gröfsere Mühe machen. Es ist ihnen gewifs schon oft aufgefallen, dafs schwache Schüler, wenn sie einmal mit 4 und 5 addieren und subtrahieren sollen, dies viel weniger gut können. Ich machte di(>se Beobachtung häufig und es war mir früher unbegreiflich, warum Kinder, die docli sonst gute Fortschritte machten, gerade im Rechnen nicht weiter zu bringen waren und immer an dieser Schnmke stellen blieben. Wir können dies leichter verstellen, wenn wir sehen, dafs es psychologisch begründet ist.

Auch die Thatsache, dafs die Schüler wohl einzelne Buchstaben lesen, aber keine Wörter, bilden können, erklärt sich aus dem bis- herigen.

Noch ein Gebiet ist es, welches von diesem Standpniikt aus eher verstanden werden kann. P3s ist dies das Gebiet der Sprache. k)i denke hier an unsere hörstummen Kinder. Das Gehör kann mit den anderen Sinnen ganz normal sein und doch kommt das Kind im normalen Alter nicht zum Sprechen. Die Elteni schieben die Sprach- losigkeit den Defekten der Sprachorgane zu. Die Hebamme hätte sollen die Zunge lösen, oder das Halszäpfchen beschneiden; oder die Zunge ist zu dick, der Kehlkopf nicht in Ordnung u. s. f. Wir wissen, dalis viele Defekte vorbaDden sein können, allein nur in wenigen, seltenen Fällen ist ein organischer Fehler der Sprach Werkzeuge daran schuld, dafs ein Kind nicht sprechen kann. Freilich tragen solche

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A. Abhandlungen.

Defekte dazu bei, dafe die Sprache eine mangelhafte ist und nament- lich die Stammler and Liepler haben daran za leiden« doch auch diese nicht immer.

Der Kehler der Sprachlosigkeit liegt tiefer. Wir müssen sagen: Die menschliche Wortsprache ist der Ansdmck von Begriffen durch artiknlierto Lantrerbindungen.

Sollen nnr Begriffe ausgedrückt werden, dann müssen sie vor- handen sein. Und die Anatomie und Physiologie belehrt ans, dals im Centraloigan BegrifEscentren seien. Am weitesten geht wohl bis jetzt in dieser Hinsicht Flbchsiq in seinen Schriften »Oehim and Seele« and tLokalisation der geistigen Vorgänge«, wo er von Asso- ciationsoentren spricht, die sich streng von den Sinneecentren trennen und schon in ihrer Struktur ganz anders gestaltet seien.

Die I'li} siuiügiü mufig, um die thattöcfalichen Vorgänge erUfiren zu können, ein Bewulstseinsc^tram annehmen, in welchem sich die Bogriffe bilden.

Um diese Begriffe bilden zu können, auf lautliche Anregung hin, muft der Oehörapparat fonktionieren und der Laut mulb im Centraiorgan sich geltend machen können; das heükt, er muls gehört werden. Hierfür müssen wir ein bestimmtos Gebiet annehmen, das wir Lautcentram nennen. Ist der ganze Oehörapparat gut, das Laut- centrum aber nicht affiüsierbar, dann ist eine centrale Qehörschwiche vorhanden, die allerdings mit der Zeit vielleicht durch viele Übung gehoben werden kann. Diese Gehörlosigkeit findet sich bei allen Neugeborenen. Es ist ja b^Eannt, wie namentlich von Wien aus seit einigen Jahren grofse Hoffnimg auf diese Methode gesetzt wird, und man annimmt, man werde imstande sein, Gehörsschwicbe, ja vollstänUigü Taubheit zu heben.

Die ganze Methode beruht auf nichts anderem, als auf der That- sache, dalh noch tEins« von »Nicht-Einsc unterschieden werden solle. In das »Eins« der Gehörlosigkeit soll durch starken Kervenreiz etwas anderes kommen. Und wenn man imstande ist, diesem ersten starren Eins im Lautcentrum etwas anderes entgegon zu setzen, dann ist der Anfang gemacht und fortgesetzte Übung soll dazu dienen, das Laut- centrum hören zn lehren.

Doch anch dieses Lautcentrum kann noch intakt sein und die durch den Hörapparat ankommenden Laute erwecken in normaler Weise einen Reiz, der ausgelöst werden mufs, dann kann wieder zweierlei eintreten. Entweder der Reiz wird in das Bewulstseins- oder Begriffscentruni geleitet, löst sich normal aus und es entsteht ein Begriff. Oder, die Leitimgsbahn funktioniert nicht und das Be-

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K&Li: Der «nte TJnteiriolit bei SofawaohBfnni'gMi.

III

griffscentrum kann nie vom J-»autcüntrum aus affiziert werden. Dann haben wir es mit einer Seeientaubheit zu thun, das Kind bleibt taub für jedes Wort.

In diesem Falle darf man sich nicht dadurch beirren lassen, dafs das Kind oft einzelne Laute, ja sogor einzelne Worte und Satz- aüsdrücke von sich giebt Diese werden durch den Gehörapparat ins Lantcentrum geleitet und von hier aus direkt durch den motorischen Apparat ganz mechanisch den Sprechorganen übermittelt. Es ist dies die vereinfachte Leitungsbahn, die wir auch boi den Idioten annehmen müssen, die .Mil Hlien ohne Verständnis singen und welche wie bei den Tieren in 1 unktion treten, die Melodien und Worte liören lassen, von denen sie kern Verständnis haben.

Und deshalb trete ich auch ganz entschieden ein gegen jene Methode des Sprachunterrichts in Tdiotenanstalten, wie sie in unge- höriger Weise <ch(m lange geübt wurde und wie sie in neuerer Zeit als exakte Methode aufgestellt werden will. Es ist nämlich die Me- thode, die analog dem Unterricht bei Taubstummen, Diute einüben und auf diese Weise ein idiotes, hörstummes Kind zum Sprechen bringen will. Es ist nicht schwer, dem bliklestou Jundc auf dieso Weise einige Laute, Worte und Sätze zu entlocken, aber es ist ko'm Unterricht, der psychisch richtig ist, sondern es ist eine Dressur, die für Staren und Papageien pafst. Wenn einiger Erfolg dabei zu Tage tritt, so ist nicht die Methode der Grund hiervon, sondern die ange- borene Fähigkeit der Seele, jede Anregung zu verwerten.

Wir müssen also dem Kinde eine artikulierte Lautverbindung zu III* m Begriff bieten und dieser ersten eine zweite gegenüberstellen. MdB. wird sich wundern, wie rasch horetumme Kinder, nachdem sie einmal zwei bis drei Begriffe gewonnen haben, vorwärts schreiten.

Unter den verschiedenen Verwicklungen, die noch eintreten können, ist eine der nächstliegenden noch die. dafs die motorische Leitung vom Begriffscentrum zn don Sprachorganen defekt ist und deshalb vorhandene Begriffe niciit durch artikulierte Lautverbindungen ausgedrückt werden können, sondern nur durch schriftliche Zeichen.

Taubstumme oder Individuen, deren Lautcentrum defekt ist, oder bei denen die motorischen Leitungsbahnen nicht funktionieren und die sich dnshidh der Lautsprache nicht bedienen könnou, zeigen häufig eine Gewandtheit im Gebrauche von Zeichensprachen.

Es ist ja auffallend, wie leicht eiTcgbar die Sprachorp'nne sind und wie sie bei Lust und Schmerz, bei Zorn und irrende unwillkür- lich affiziert werden. Fast ebenso leicht erregbar sind alle Muskeln des Geeichtes und deshalb ist das Mienenspiel bei iündern und Natur-

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A* Abhaodltiiigeii.

menschen, die nicht durch Endehnng gewöhnt wurden, sich Zwang «nzuthuD, sehr lebhaft Aber anoh die Bewegung der Gliedmaßen,

des Kopfes und des ganzen Körpers ist oft eine impulsive, eine Aus- lösung jedes centralen Reizes. Auf dieser Thatsache beniht der Aus- druck durch Geberden. Und es ist wunderbar, wie rasch sich die blödesten Kinder, denen die Wortsprache mangelt, durch Oeberden ausdrücken können. Unsere sprachlosen Kinder bedienen sich alle der Gebordensprache und können sich dadurch untereinander ver- standlich machen. Es wfire eine sehr dankbare Aufgabe, diese Ge- berdensprache einmal zu fixieren. Hier setzt nun Noih6 und mit ihm Max Müller ein, um zu erklären, wie die Lautsprache überhaupt zu- stande kam. Beobachten wir uns genau, wenn wir z. B. in Zorn geraten. Der Kehlkopf fühlt eine Beklenlmun^^ einen Druck, den man nicht verhüten kann. Er zwingt zu einer Auslüsunj; und es ist ja bekannt, wie mancher erzürnte Bauer sich durch tüchtiges Fluchen erleichtert und behauptet, nur dann seine Ruhe wieder finden zu können, wenn er recht ausgetobt habe. In gleicher Weise macht sich Freude und Lust geltend, der fröhliche (Jesani;, das Juchzen der Glücklichen sind impulsive Auslösun^a-n, denen dov normale Mensch folgen niufs. Pkeyeij nennt die Laute, die der Säuglinir in dieser Weise Ii ervorbringt. Urlaute und es ist sehr interessant il i u folgen, wenn er zeigt, wie das Kind zum iSprecheu kommt. Im ist schon mifsverstanden worden, indem man annalmi. er verstehe mit diesen Urlauten einfacli lias rohe Material, aus dem die Sprache sich auf- baue. Nein, für PRKvra sind die Urlaute schon Sprache. Anders tafst es Darwin und mit iliia auch Höckel auf, wenn sie annehmen, dafs die zulalüge ZusammensiizuiiLr dieser Laute zur Bilduns; von Suhbtaiiüven gedient hätte. .M.v.v Mülleu hat nachgewiesen, dafs alle Sprachen aut verbale \\ uizcln zurückj^uführen sind und dafs jeder Ausdruck impulsiv zustande Ivuni, Uurcli (iie AusKisung der motori- schen Spannung nn Kehlkopfe, diu jeder psychische Eindruck hervor- bringt (cf. Max Müllku: Das Denken im Licht der Sprache).

Nach dieser Theorie würden wir wiederum niciits erreichen, wenn wir das Kind zwingen wollten, Laute auszus])reclien, um dann Wörter zu bilden, es würde nur ein mechanisches l*la|)pem zustande kommen. Es sollen vielmehr die geübten Thätigkeiten benannt werden, so dafs Thun und Reden zu einem Begriffe verschmilzt, so wird es (laiHi auch möglich sein, ein begriftiiches liedon zu erzielen.

Damit möchte icii scldiefsen, vielleicht ist es doch für den einen ■oder andern eine Anregung mehr, direkt die Verstandesthatigkeit zu üben, anstatt mit einer formalen ätnnesübung zufrieden zu sein.

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JoHCEHBBt: Über dam Ernflnb der Husik.

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3. Über den BinflußB der Hnsik auf die Bewegungen bei

eehwachalnnigen Kindern.

Von Tobie Jonckheere,

Lehrer an der >School voor Bijzonder Ondorwijs« (Ecole d'^nseigncmeut special),

Brüssel (Belgien).

Wälirend früher die Schule sich darauf bescbränkte, den Kindern ein beschränktes ^lafs von Wissensstoffen einzuprägen, die unrichtipfer- Htise ^^ruiul legende genannt wurden, hut sich die moderne Schule < inc höhere Aufgabe gesetzt: die Vorbereitung der Kinder fürs ganze Leben.

Diese Vorl)ejeitung: umfafst: die kürperiiche oder physisclie, die g-eistiere und handlich -technische Krziehung oder »Erzieliung durch die Hand«, die moralische und i)ürp:erlicho, endlich die astiie- tische. Doch ist dies nur eine rein theoretische Einteilung für ein methodisches Verfahren; die Erziehung ist ein zusammengesetztes <hmzes, dessen Unterabteilungen nicht streng f^eschieden und neben- tinander gereiht sind; sie sind untrennbar, ganz abhängig von ein- ander, solidarisch in einem unteilbaren Ganzen; sie ist eine vollstän- dige Erziehung, da sie auf das ganze Leben vorbereitet durch die harmonisrh" Entwicklung ailer Fähigkeiten des Kindes,

In der physischen Erziehung lassen sieli zwei Seiten unter- Nclieiden : Die allgemeino hygienische Kegierung, die zum Ziel hat die normale Entwicklung und das harmonische Gleichgewicht der Organe und ihrer VerrichtuD^ifm. das wir Gesundheit im niudernen Sinne des Wortes nennen, und die spezielle Erziehung der Organe als Werkzeuge der Auffassung und liethätigung.

In der hygienischen Regierung gebührt ein wichtiger Platz

1. der natürlichen Gymnastik:

Freiübungen in frischer Luft

organisierte Spiele, Spaziergänge, Ausflüge;

2. der methodischen Gymnastik,

um die Wirkungen der freien Bewegung zu vervoll- ständigen und ins Gleichgewicht zu setzen: Anwendungsübungen, Lauf, Sprung, Schwimmen. Innerbalb dieser methodischen Gymnastik ist die musikahsche Gymnastik hervorzuheben.

Es ist ein Irrtum, zu glauben, dafs die freien Spiele zur voll- ständigen Sicherung der physischen Erziehung der Kinder genügten, weil einerseits gewisse Kinder, z. B. die apathischen, sie gar nicht pflegen, während andere sich gewissen Spielen widmen, die geeignet

Di» Kiatefdikr. TL JitafMff. 8

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A. AUuuBdfauigttii.

sind, sie laiharmonisch zu enbvickelu; andererseits weil sie nicht allen Anforderungen der physischen Erziehung entsprechen. W ohlverbundena gynjnastische Übungen sind absolut notwendig;.

Es lietrt nicht in meiner Absicht, hier zu zeigen, dafe die ath- letische Gymnastik nur Unannehmlichkeiten für die Kinder bietet: es mag genügen zn sagen, dals diese Gymnastik durchaus uubrauchbar ist In der Elementarscliule bedarf es einer geregelten Gymnastik, einer erziehenden, diu zugleich physiologisch - hygienisch nnd er- huiend ist.

Die einzige erziehende Gymnastik, die den Anforderungen der Physiologie und Pädagogik entspricht, ist die schwedische pädagogische Gymnastik.

Ihr liegt folgendes Prinzip zu ( runde:

Gymnastik zu treiben, um die Kraft des Kindes zu entwickeln, indem man nicht die Gymnastik als Ziel, siondeni als Mittel zum Ziel betrachtet.

Sie gründet sich auf die Wirkung der Bewegungen. Jede Be- wegung mufs daher zweckmafsig sein.

Sie beschäftigt sich vomohmlich damit, allen Bewegungen mög- lichsfe Weite unter geringem Kraftverbrauch zu geben. Es sind darum in der Physiologie der Bewegung die Kraft des Aluskels und die Ausdehnung oder Weite seiner Bewegung zwei Fragen von wesentlicher Bedeutung.

Ich kann nicht auf Einzelheiten eingehen; ich würde mich von meinem Gegenstande entfernen; ich habe nur in grofsen Zügen zeigen wollen, wie die Gymnastik in der Elementarschule beschaffen sein 8oU, und dafs das System Lingi) (dieser Beziehung ausgezeichnet ist.

Auch karn es mir darauf an, klar und deutlich im ganzen der Thätigkeiten, die die Schule umfafst, die Stellung hervorzuheben, die der Gymnastik gebührt, und in der Gymnastik wiederum die Wichtiir- keit der Bewegung zu betonen. Betrachten wir nun ausschlielslK Ii die Bewegung besonders bei den schwachsinnigen Kimirni nach ihrem Wert und der Wirkung, die die Musik auf sie ausübt.

Die regelmäisige Ingangsetzung des Muskelsystems hat unter dem Gesichtspunkte der ungestörten Kindesentwicklung hervorragende Wichtigkeit.

Das gilt nicht bioJk für die normalen Kinder, sondern aucli für

') Dio Metliodo der scliwedischt'ti Gymnastik wurde zu Aufang des 19. Jahr- hunderts durch deQ Schweden Liüg gesobaffeuj deshalb wird dies »System LiDg*- genaimt

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Jokckheerb: Über den iüiuüuiii der MusiL

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die annormalon im ailgemeinen , wie der tjohwaohsiiuiigeu Kinder

im besonderen.

Bei diesen letzteren müssen alle unsere Anstrengungen darauf abzielen, die latent gebliebenen Thätigkeiten zu wecken, die unent- wickelt gebliebenen Gebiete anzurecjen. Hierbei ist von besonderer Wichtigkeit und Wirksamkeit die Erziehung des Muskelsinnos durch die anderen Sinne und umgekehrt, und die Regulierung der Muskelempfindungen durch den Rythmus des Gehörs, Um uns davon zu überzenfron, wollen wir versuchen, die Beziehungen zu präzisieren, die l ei der Verrichtung zwischen der Xiiätigkeit der Muskeln und der des Gehirn- bestehen.

In seiner ausgezeichneten Arbeit über die Wichtigkeit der Be- wegung vom psychischen Gesichtspunkt aus (Importance du mouve- ment au pnint de vuo psychique^) t^nirt Dr. Jean Doioor, aufserord. Professor an der freien Universität in Brüssel, Cheifarzt der ^School voor Bijzonder Onder\vijs<: (Ecole d'Knseignemeiit Rp6cial) in Brüssel, darüber:

»Die Muskelarbeit (also die Übung) führt eine normale Ernährung des Muskels und der verschiedenen Organe des Körpers herbei. Sie ist einer der Hauptfaktoren der allgemeinen Gesundheit, (nicht blofs der physischen, denn die vielfachen Thätigkeiten des Organismus sind zu sehr verbunden, als daJs es möglich wäre, die Unterschei- duii^^on in physische, intellektuelle und moralische Gesundheit, die man oft macht, beizubehalten).

»Als wesentlicher Faktor der allgemeinen Gesundheit wird sie ia in der That die erste Bedingung einer regelrechten Genesis der körper- lichen Energie, von der die normale psychische Entwickelung und die regelrechte Bethätigung des Denkens abhängen.

»Die Muskelarbeit (die Übung also) ist die normale Errogerin der motorischen Centren (Koiandische Centren), die als Empfindungs- centren betrachtet werden. Sie ist die Ursache, die im Gehirn die Muskel- und Qliederempfindiiiig tmd oft auch die Tastempfindung ent- stehen lälst

»Die Bewegung ist also dem wichtigsten der Rindencentren gegen- über die einzige wirksame Erregerin, cL b. fähig, die regelrechte Ent- wickelung des NenroDB und dessen nonaale morphologische Vollendung herbeizuführen.«

Der direkte Einflufs der Bewegung auf die Entwickelang des Ge- hirns and die Ausbildung des Denkens ist erst in neuerer Zeit zur Klarheit gebracht worden; wenn man früher den Muskel übte, so

>) Beridii, dorn Oongrelii for phjaiMhe firaehnng in Fftiis (1900) voigslegt

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A. Abhaudlungeii.

boabsiclitigte mau nur, ihn zu entwickeln und zu stärken; mau dachte nicht daran, durch diese Bewegung das entsprechende Gehimcentruni zu bilden und so auf den psychischen (iang einzuwirken. Dies ist jedoch wesentlich.

Ch. Fi^iKK, der gelehrte fnuizüsischo Schriftsteller, hat die Fra^re sehr einstellend studiert.*) Er fiiiirt Thatsachen an, die beweisen, dafs die Energie und O^^nani^^keit der Bewejrnnp^en zu der Intensität der goistifren Vorstellunf^en von diesen selben Bewegunir^'n und zu der intellektuellen Kntwickelung in Beziehung stehen. Ij liat bewiesen, dafs die Thätii^keit der Bewei^un^ von einer märsiu;en intellektuellen Anspannung begünstiget wird; umgekehrt, dafs eine mäfsige An- spannunjj; der Muskeln die psychische Thätigkeit begrünstipt.

»Die Bewegung, saf;t Dr. Jf.an Demoor in seiner schon an- geführten Arbeit, liat, wesentlich vorn psychischen CJesichtspunkt aus betrachtet, zwei Eigenschaften: Die Präzision und den Kythnuis. Die Präzision ergiebt sich aus einer absolut exakten Thätigkeit der Xerven- centren, welche die Zusammenziehung des oder der einzigen die Be- wegung vermittelnden Muskeln und das Ausströmen der beabsichtigten Energiemenge herbeiführen. Es ist erwiesen, dafs in den Rolandi- schen Centren die Lokalisation zunächst sehr grob ist und dafs erst durch die Thätigkeit der Übung die verschiedenen Teilcentren sich anordnen (festsetzen). Die Übung mufs darauf abzielen, immer enger begrenzte Muskelsysteme in Bewegung zu setzen, um so diese fort- schreitende funktionelle Lokalisation herbeizuführen, deren psycho- logische Vorteile beträchtlich sind. Zu diesem Zweck wird die phy- sische Erziehung zu immer spezialisierteren Muskelübunj^en und kleinen Bewegungen ihre Zuflucht nehmen; besonders wird sie bei einem wohldurchdachten Unterricht in den Arbeiten mit der Hand Gelegenheit finden, diese pädagogischen l^otwendigkeiten ansuwenden.

^Der muskuläre Hythmus e^ebt sieb ans der exakten Disziplin einer Bewegong, am häufigsten aas einer anderen vor oder nach der ersten ansgeführten Bewegung. Er ist der Ausdruck einer Begulierung, die von einer vollkommenen funktionellen Mitarbeit verschiedener Teilceutren der Rolandischen Region herrührt Er ist die Yeräufser- lichnng (Nachauisensetznng) der Associationen Terschiedener Bolan-

*j Verd. T. Sonsation et mouvement (Etudös exp^rimeutaies de psycho-iiiccauKiue;. i'aiiü 1887. Preis 2,50.

n. La main* ia pr^hension et le toaoher (Revue pluIo8ophi(xua de la Fianoe et de l'Etrtoger. Joni 1896).

III. L'influeace de T^ducation de la motilit^ rolontairo sur la sensibilite (Revae philoaophiquo de la Franca et de i' Etrtnger. Deaember 1897).

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JoncMfKitt: über den lünftob der Musik.

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discher Centren und der re^elmäfsigen Abhängigkeit, die zwisnlien den vielfachen sensitiv-motöiischen Centren der Hirarinde bestellt«

Die musikalische Gymnastik bildet ein ausgezeichnetes Mittel, um dem Kinde die Vorstellung vom Rhythmus beizubringen. Be- sonders für die geistig Schwachen ist sie notwendig, denn wenn einerseits der MuskeLsinn bei allen Schwachsinnigen ungenügend ist (ihre ungeordneten Äufserungen sind ein deutlicher Beweis dafür), so ist andererseits zu beachten, dafs die regelmälsige ßethätip^nng ihres Muskelsinns auTserst schwierig ist (das Fehlen des Gefühls i lu- den Rhythmus ist thatsäcbiich eine Eigentümlichkeit der schwach- ginnigen Kinder).

^Vl^ stehen also vor zwei Feststellungen, die sich gegenseitig zu widersprechen scheinen; die Gymnastik ist für schwachsinnige Kinder unerläfslich; aber sie zu lehren, ist beinahe unmöglich wegen der Schwäche der Aufmerksamkeit und des Willens der Personen.

Das Heilmittel ist die musikalische Gymnastik. Dies System hat grofsen EinfluTs auf die allgemeine Kntu ickelung. Sein Prinidp ist, das Muskelsystem mit sich fortzureiiseu und in alle Bewegungs- änfserungen einzuführen. Diese erneuerte Metluxle der alten Griechen ist zuerst in England wiederaufgenommen wurden. Die Kinder führen unter dem Khinge einer leichten und W(j1i1 skandierten Musiiv kom- binierte Bewoirnnfren aus. Für jede Muskelverbiudiinfr triebt es ein bestimmtes iluMkstück. Die Musik regelt also die Bev« -ning durch- aus: sie kündigt ihren Anfang an, leitet ihre Ausführung und ver- aniafst ihre Unterbrechung.

Die imjjeordueten und unzusammenhüngenden Bewegungen der Kinder werden gezwungen, sich zu regulieren.

Die Grundlage dieses Systems ist wesentlich psychologisch, denn wir wissen, wie verwickelt die Reaktionen der Sinnesorgane auf- einander bind und wie wirksam sie sich vom Gesichtspunkt des psychischen Lebens aus bethätigen.

Nun ist die Bewegung die rückwirkende Aufserung des allge- meinen Gefühlscentniras und ist somit dem fundamentalen Gesetz der funktioneilen Mitwirkung der vielfältigen Gehirnthätigkeiten unter- worfen. Es ist aufserdom noch die Thatsacho zu beachten, dafs die Bewegungsvoi^tellungen, die sich in der Hirnrinde unter der Thntig- keit der mehrfach wicderliolten Bewegungen bilden und die aufser- deni die notwendigen Elemente für eine gute Ausführung der befohlenen Übungen sind, sich ordnen, gruppieren und um so h'i( hter wecken, als sie mit der Arbeit anderer Gehimcentren ver- bunden sind.

Digrtizeo Ly <jOOgle

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A. AbhaudlaDgen.

Soviel über den psycholodscheu A\'crt dor Methode; uiiti rsurliea wir sie jetzt vom pädapof^iseht ii und niethodologiscben Ge.sicht.>punkte aus. Icli kann das am besten dadurch, dafs ich einige Paragraphen aus dem Bericht über d^n üntorricht in der Cfymnastik in den Brüsseler Stadtschulen wiedergebe, der im Jahre 1S99 von einer Kommission erstattet wurde, die aus den Herren Dr. Dr. med. Jean Domoor, N. Droixhe, F. Le ^larinel und den Herren G. Etienuo, Direktor einer Elementargetneindescliule in Brüssel, A. Foss6prez, Inspektor der Gvmnastik, AI Shivs, Direktor der »Normaalschool voor oader- wijzers« (i^cole normale d'iustituteurs) in Brüssel bestand.

Ich habe hier und da einige Worte hinzugefügt, die unten auf der Seite angegeben sind.

»Folgendes sind die Vorteile des Systems:

1. Die Unterrichtsstunden in der Gymnastik mit Musik gefallen den Kindern sehr. Die Disziplin ist während dieses Lehrgangs aus- gezeichnet. Der Lehrer kann auf diese Weise sehr wirksam die korrekte Ausführung der Übungen überwachen, und das um so mehr, als er keinen Befehl während der Bewegungen zu geben hat. Das Fehlen der Lani^eweile verursacht, dafs die Übungen mit Eifer und mit grofsem Nutzen für den Organismus ausgeführt werden.

2. Die Leichtigkeit, mit der die Muskelverbindungen behalten werden, ist dank der ^'ermitthmg der Musik sehr grofs. Unter diesen Umstünden kann man dem Kinde, ohne irgendwelche intellektuelle Ermüdung festzustellen, ziemlich kompliziert© uormale Muskel- verbindungen lehren und besundeis den ästhetischen Wert der gym- nastischen Lektiouen entfalten.

3. Dank den Associationen des Gehirns, die die Übuuui n voraus- setzen, werden diese Stunden sehr wirksam im Hinblick auf die Ei- Ziehung des Willens und der Aufmerksamkeit,

4. Da die gymnastisclien und musikahschen Kombinationen sehr jcahlreich sind, so können alle Muskelsysteme in Thätigkeit versetzt und der Gang und die Intensität der Bewegungen den Kindern leicht beigebraclit werden. -)

Die Kinder treten unter dem Klang eines auf dem KlaTier ge- spielten Marsches auf den Turnplatz.

Sie können übrigens von diesem Augenblicke an singen.

*) Sie 8ind auf diese Weise ein mächtiger Faktor der Disziplin und habeu bes. der Charakterbildung erfreuhche Resultate aufzuweisen.

') Die Bewegungen modifizteren in günatig^r Wetw die Art so geheo und die Haltung, die immer adiwerfilUIg und linkisch bei den sohwachainniggi tin* dem sind.

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JmmuunMti Über den Eänflafe der Kosik.

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£.s iät vorteilhaft, gut skandierte, einfache und einstimmige Stücke zu wählen.

Man braucht iu der Tiiat die musikalischen Sch\vierifz:keiten nicht hervorzusuchen ; der Zweck ist, durch den Gesanp; auf den Verlauf der Bewegung und auf dio Intensität der Muskelkontraktion einzuwirken.

Immer von der Musik geführt, stellen sich die Kinder in Reihen auf, je nachdem sie Stäbe, Keulen, Hanteln ergriffen haben oder nicht ^)

Das Klavier giebt die verschiedenen Stellungen des Kiudes an. Es kündigt ebenso die auszuführenden Bewegungen an; am Anfang der kleinen Stiicko müssen die Schüler erkennen, welche Übung sie ausführen sollen. 2)

Es ist ersichtlicli, dafs das Klavier auch dazu dienen kann, p^ymua- stische Bewegungen zu begleiten, die vom Lohrer kommandiert worden.

Die gespielten Stücke müssen einfach sein; die starken und schwachen Takte müssen sehr deutlich sein und die Schüler fort- während anleiten. 3)

Die energischen Cbuugen müssen abwechseln mit Übungen, die weniger Anstrengung erfordern; die Übungen, die sich an dio ver- schiedenen Teile des Körpers wenden, müssen logisch anemauder- gereiht werden.

Die Schüler kr>nnen nach einer bpbtinimten Zeit ausruhen. ^laii kann sie dann ein Musikstück anhören lassen, das nicht von Muskel- übun^'on begleitet ist*)

Die Übungen, welche die gnindleir enden Bewegungen und die verschiedenen Schrittarten dem Tanz entlehnen, werden in geeigneter "Weise während dieser Unterriehtsstiinden gelehrt Es wäre auch sehr aiigebraeht, in dieseu Stunden den eigentlicheu Tanz zu lehren. Der Tanz ist eine der besten gymnastischen Übungen.^)

') Entweder die SoheßenhantelD oder die S(diellenstäbe.

•) Als gute Werke, die gymnastische Übungen mit Klavierbegleitung enthalten, kann man anführen: »Manual of nmsical drill and System of jibysical traiuing von George Cruden (Abcrdeen Alexander Murray, 189ü) aud »üills Musical drill« (Lundon-George Ciiii and Sons).

>) Das Kind fa&t sehr wohl die kräftigen und die milden Übungen mf, da das Klavier thm die Kenntnis der Intensität beibringt; es erhält unter diesen Um- ständen einen deutlicheren Begriff ?on der Bauer ond einen intensiTeren Eindruck von Bestimmtheit (Oenauifjkoit).

*) Ihre Auswahl niu£s so erfolgen, dal^ sie ihr ästhetische und harmonisches Gefühl etwas entwickelt.

*) Er bessert merklich und sohnell den physischen Znstand und lUsziidiniert in erstaunUcher Weise den Charakter durch die geschmeidigNi Bewegungen, dio er erfoniert, die Schrittarten, dio Haltungen und die Oesten, die er lehrt. £r hat einen sehr schätzbaren erzieherischen Wert

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A. AbhaadliugeiL

Damit der letztere üateiricht seinen Tollen Wert erhalte, mnJs das Lokal geräumig und mit gutem, woblgepflegtem Fußboden yer- sehen sein, damit Staub Termieden wird.

Diese spezielle Gymnastik ist jedoch nicht mit derjenigen zu Ter- wechseln, die man in den Kinderg&rten ausführen siebt; die beiden Arten sind nur scheinbar ähnlich.

Die erste Voraussetzung der gymnastischen Übungen im ßbader> garten, wie übrigens aller Fröbelscben Beschäftiguiigen, ist, dals sie Spiele sind; diese gymnastischen Übungen sind Bewegungsspiele, welche den Frohsinn fördern, und entsprechen reichlich den Be- dfir&iissen und Erfordernissen des Kindesalters. Die musikalische Gymnastik, Ton der in dieser Studie die Bede ist, hat zugleich einen erholenden, erziehenden und wissenschaftiich begründeten Charakter.

Alle Muskeln des Körpers werden harmonisch und fortschreitend entwickelt. Das ist etwas ganz anderes als zu grüßen und Ehren- bezeugungen und Verbeugungen zu machen, sanft auf den Fu&spitzeu zu gehen, Korn dreschen, Holz spalten oder sägen; kurz, sie unter- scheiden sich gänzlich tou den onzahiigen gymnastischen Übungen oder Bewegungsspielen, deren erzidierische Wirksamkeit im Kinder- garten 60 gro& ist

« *

Ich habe Torsucht, in dieser Arbeit die Wichtigkeit der Be- wegung bei schwachsinnigen Kindern und den betrfichtiichen Einfluß zu skizzieren, den die musikalische Gjmnastik auf diese hat; die Er- fahrungen, die in der >8chool Toor Bljzonder Onderwijs« (6cole d*en- seignement spöcial) in Brüssel gemacht worden sind, waren über- zeugend.

Es liegt auch Grund Tor, das System für die Elementarschulen zu empfehlen. Ich stelle hier nicht ein absolutes Prinzip auf; es handelt sich wirklich nicht darum, die Entscheidung dahin zu treffen, dafe alle Lektionen nach dieser Methode gehalten werden müfsten^ sondern einfach darum, die Wichti^elt des Systems und den groikea Nutzen hervorzuheben, den eine Verbindung der Musik mit den auf Kommando angeführten gymnastischen Übungen bringen würde.

Ich hoffe, dafs diese Studie etwas zur Förderung dieses ganz neuen Zweiges der Pädagogik beitragen wird: die Heilung der körper- lich-geistigen oder Gehimfehler, besser Orthophrenopädie (Heilung der Gehimfehler) oder Wissenschaft von der Wiederaufrichtung dea Geistes genannt, welche die gesamte Behandlung umfU^, die sich auf die alle Klassen der Degenerierten anwenden lä&t

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Oaitoilmi in ffliBSohiileii.

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B. Mitteilungen.

1. Gartenban in HUftsohnlen.

Die schönsten und edelsten Freuden, die dem empfllnglichen Menschen- henen bescshrat werden können^ hietot die Natnr. Wer eioli ihr hingiebt^ irer ihr geheimes Walten mit einem innigen Qemfit erfassen kann, wird oft Ent^hAdigungen finden fflr das, was des Lebens schwere Sorge ihm aiicli bringen möge. Und doch, wird nicht die Spenderin reinsten Glückes in Tinsern Tagen des Kampfo'? mns tägliche Brot oft recht wenig beachtet? Diebe und ähnliche Eiwäguiigen mögen die Veranlassung gewesen sein, dafa man in verschiedeneit Städten das empfängliche Kindesgemüt für die Pflege der Blumen gewinnen wollte. Auch in Breslau hat man, angeregt durch Herrn Stadtsdiulrat Dr. Pfundtner, die Blumenpflege in das Ge- biet der Scbulthätigkdt mit aufgenommen. Klein war der Anfang. Nur die besseren Mädchen aus den beiden Utesten Hilfsschulen wurden heran- gezogen. Die gniten ErfahriinL'»-n, die man aber dabei sammeln konnte, haben dazu geführt, das Ane^etangene immer weiter auszudehnen. Gege.n- wärtig erhalten sämtliche Hilfs- und fast alle Volksschulen Breslaus im Frühling 20 bezw. 50 kleine Blumen in Näpfen geliefert, die von den Kindern daheim gepflegt werden. Der letzte amtlidie Bericht, der mir hierfiber cur Verfügung steht, meldet, dafo in dem Jahre 1899 6094 Topf- pflanzen den gröfseren Kindern überreicht worden sind, die zum gißlsten Teile infolge der sotgf;iUi<;en Pflege sieh präelitig entwickelten.

Neben der Pflege einzelner Blumen hat man in Breslau seit kürzerer Zeit Garten haustationen ins Leben genifen, auf denen Knaben und Mildciiea unter Leitung vou Lehrern arbeiten. Diese Arbeitsstätten verdanken ilire üntstehung dem hiesigen OberbQrgermeiBter Heim Dr. Bender. Es be- stehen gegenwartig 7 solcher Stationen ; 5 sind fflr Kinder aus den Volks- und 2 für Zöglinge aus den Hilfsschulen bestimmt. Die Zahl der be- schäftigten Kiniler ist noch nicht bedeutend. Abgesehen von einem grofsen Omndstüeke, auf dem rund 70 Kinder arbeiten, sind etwa 10 20 Kinder auf den einzehien Stationen thätig. Die Fläche, die dem Einzelnen zur Bearbeitung zugewiesen ist, beträgt etwa 4 qm. Zum Anbau gelangen Gemflsepflanzen aller Art (Radieschen, Salat, Kettich, Schnittbohnen v. a. m.) nnd mancherlei Sommerblumen. Die Ertragnisse des Gartenbaues sind persönliches Eigentum der Kinder.

Ich habe mich erst seit kurzer Frist dieser letztgenannten Thätigkeit gewidnict. Wenn ich trotzdem in unserer Zeitschrift einen kurzen Be- richt darüber ei'statte, so geschieht es einmal, weil i'li zu erfahren Ge- iegenheit hatte, welche grofse Bedeutung von holu i amtlicher Stelle dieser Besohlftiguug zugemessen wird, und zum andern, weil mir bei meiner Reise im Tstflossenen Sommer (siehe »Kinderfehler« Jahrgang 1900 Nr. 6) mefarDMh versichert wurde, dafs man in den Bildungsstätten fOr ZnrQck- geUiebene thatsBchlioh damit gute Erfahrungen gemacht hat.

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B. Mitteiloitgeii.

Die hochgestellte amtlicho Foibon, Uit- ich für meine 1 Behauptung nenno, ist der Herr Dezernent im preiifs. Kultusminiätonuui, dem das Hilfssflliidwemii unterstellt ist:. Herr Geheimer Oberregierungeiat Brandl ■aus Berlin stattete am 29. Oktober des vorigen Jahres der Hilfeschule 1 in Breslau einen kflnseren Besuch ab. Mit freudiger Anerkennung nahm <er davon Kenntnis, dafs man auch in Deutschland solche Gartenbaustationen ins Leben gnnifen liat, wie er sie bei einer Reise nach Paris bei fran- zösischen Schulen in mustergiltiger Weise gefunden li it.

Zum Beweise der 2. Behauptung nenne ich zueiöt die Hilfsschule in Antwerpen, iiier ist ein greiser Teil des Schulhofes in einen Garten um- gewandelt worden. Der Gartenbau ist, soweit ich mich noch entsinnen kann, Teil des lehrplanrnftTsigen Unterrichts. Ich nenne üBmer noch die französischen Schulen bei den Versorgimgsanstalten in Salpdtiiere und BicC'tre in Paris. Beide Anstalten weisen gut gepflegte Gärten auf. Be- sonders gilt dies von Bicötre, wo ich noch eine besondere Eigentümlich- keit antraf. Um den Kindern einzelne mathematische Formen in natura zeigen zu können, waren die Bäume in entsprechender Weise zugestutzt So wurde z. B. durch das ßlätterdach der Bäume eine Kugel, ein Würfel, ein Cylinder u. v. a. gebildet

Fragen wir uns nun: wdche Vorteile bringen die Neuerungen? Dals der Unterricht Unterstützung erffthrt, bedarf wohl keines Beweises. Unsere geistig schwachen Kinder gewinnen durch die Thätigkeit im Garten zahl- reiche BegrifiTe, die im Unterricht nutzbringend verwertet werden kennen.

Auch der Natursinn wird geweckt. Das Kind hat den Garten selbst vorbereitet und den Samen ausgestreut. Es wiU auch die Erfolge seiner Arbeit sehen. Täglich blickt es neugierig nach seinem Beete, ob sich nicht junge Pflftnzohen seigen, wie sie sich dann entwickeln und immer grOfser werden, wie Blatt und BlQte sich entfalten u. s. w. Ein warmer Hegen, der dem Kinde sonst stets lästig war, wird als willkommener Freund begrfilst. Diese täglichen Beoluichtungen, zn denen das Kind von selbst geführt wird, werden es auch liofähigon, mit Interesse die Vorgänge in der Natur und deren Schönheit zu betrachten.

Wie steht es mit dem Schönheits- und Ordnungssinne ? Auch er wird nicht leer suchen. Das Kind wird durch das Vergleichen seines Arbeits- feldes mit den Blumenbeeten der lütschfiler ein Urteil zu gewinnen suchen, welches das schönste ist und welches es sich zum Muster nehmen «oll. Die Mehrzahl der Kinder wird dem geschaffenen Schönheitsideal nachstreben.

Nur noch eines Vorteils will ich Erwähnung thun. Mir ist während ■des ganzen verflossenen Sommers nicht eine Kla^ bekannt geworden, dafs durch die älteren Schüler der Uilfsschule irgend eine Beschädigung des Gartens herb^gelQhrfc worden wftre. Jedes Eind fÜUt, dab es selbst ein Stfickohen Erde sein wertrolles, unantastbares Eigentum nennen kann; es ehrt infolgedessen auch das Gut des Nachbars.

Welche Opfer stehen diesen Vorteilen gegenüber? Die gröfstc Sorge wird die Gewinnung eines j^eeigneten Gnmdstöckos bieten. To grOlsor •die Stadt und je teurer jedes Stückchen Erde ist, um so schwieriger wird

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Die Landedidl- und Pflege -Anstalt Ucfatepiiiige und ihr Bohmlguten. 123

nick die Frage gestalten. An den Orten, wo ein grofser Schulhof ist, UoSb» Bich vielleiclit ein ansreioliODdes FIfttzohen hierfür abgrenzen. Nebm dieeer Soiige durfte nur die erste Einnohtung gröbere Kosten verarsadieii; die laufenden Aufgaben sind TerUUtniBm&foig gering.

Durch meine Arbeit bin ich fUr Bestrebungen eingetreten, die an ihrem bescheidenen Teile mit dazu Loitrapen wollen, den Sinn für das Schöne und Gnfo in der Natur zu wecken und zu fördern. Mögen alle, die boreit sind, unsere scliwachen Zöglinf;e der freundlichen Natur zuzu- iüiireu, in dem Umgange mit ihr reichen Iiohn und waiires GlQck ündeu !

BresUn. Alwin Schenk.

a Die Laadeslieil- und Pflege-Anstalt TTchtsptinge und

ihr Sohnlgarten.

Herbst 1899 besuchte ich die I>andeä-Heil- und Pflegeanstalt in tJchtspringe, Provins Sachsen. Der Besuch bot riel Interessantes und An- regendes, snmal Herr Direktor Dr. Alt wie Herr Hanptlehrer Fl ister aulher-

ordentlich entgegen^;ommend waren. Alt besitzt ein grofses organisatorisches Talent, das einem überall entgegentritt, auch in der Anstaltsschule, für die er besonderes Interesse bekundet. Als Lehrerssohn hat er sich, wa« !>ei ^loleheu Stellungen leider nicht immer der Fall ist, grofse Pietät gegen das Amt seines Vaters bewahrt Wenn man freilich die ersten Berichte über diese noch junge Anstalt liest, so gewinnt man allerdings eher den entgegen- gesetzten Eindruck. Wie an anderen grofsen von Medizinem und Theo- logen geleiteten Idioienanstalten rangierten auch hier die Lehrer swisohen BQtesuBchrBibem und Irren Wärtern. Es ist Alts Verdienst, die der Anstalt n.nhn^H zuf^ewiesenon Schul -»Brüder« durch seminaristisch gebildete Lehrer unter der Leitung eines Ilauptlehrers ersetzt und damit die Schule von einer Bewahr- zu einer HildungJ5anstalt emporgehoben zu liaben.

Auch die von Alt besonderö ausgebildete Familienpflege ^) der Oeistesbinken, Epileptischen imd Schwachsinnigen ist ein groties Stück pädagogischer Arbeit, das eehr unsere Beachtung rerdient Wi ehern s Familienerziehung ist damit, wenigstens nach der äufseren Sdte hin, Qber- holt. In der von Alt organisierten Weise sind überhaupt die grofsen Anstalten erträglich, ja in mancher Beziehung leistungsfähiger als die kleineren. Das Massenelend ist hier so viel als möglich auf kleine, wirkliche Familien verteilt, und die zahlreichen Anstaltsgobäude und Wohnhäuser sind dermalsen in ländlich-idyllischer Luy;u zerstreut, dalä man in dem grofsen Anstaltsdorfe fiberall freundliche ländrQcke gewinnt^

Wenn in solchen grofsen Anstaltsorganismen Krankenh&user, Eiiohe und Schule sowie Ixvte, Geistliche und Lehrer als gleichberechtigte und

') n^er tamilüre Iiranpflflge. Von Dr. Konrad Alt Halle a. d. Saale,

Cad Marhold.

*) Ver^d. liierzu mein»' Bonierkuugou zu Ueu Verhandlungen der IX. Kon- ■ferenz für das P^rziehuDgswüseu der Schwadisinnigen am 6. 9. September 1886 xa Biealan.« Kdl 1899, Heft I o. U.

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B. Mittoiltiiigflii.

daium wohl als organisch verbundene, aber doch als selbständige, neben- geordnete und vollwertige Glieder betrMhtst und behandelt werdeo, eo vird der leidige Streit nm die VorherrBcbaft nnd die Leitung der heil- eraieberibclioii Anstalten endlich aus der Welt echwinden.

In Dobtspringe fand ich hierin eine entaofaiedene Wendung zum. Bessern.

Sehr sympathisch berührt in üchtspringe alles Aufsere. Ordnung und SauUikeit herrschte überall. Etwas Eigenartiges bietet n. a. der Schul- garten. Herr ilaupUelirer Flister hat über denselben eine Charakteristik in der »F^cbiatrischen Wochenschrift« TerOffentlicht und sie auch uns zur Verfügung gestellt Unter Weglassang von Unvesentliohem mag sie nach hier Fiats finden und als ErgAnzong des ArtikelB Ton Herrn Schenk dienen.

Fl ister meint, bei dem schwachsinnigen Kinde begegnen wir einer auffälligen Armut an Vorstellungen (Anschauungen), und damit gebricht es ihm an der notwendigen Orundlage zum Denken. Die erste Aufgabe des Unterrichts müsse demnach darin bestehen, die fehlenden Vorstellungen zu erzeugen und gegen andere abzugrenzen, falsche zu berichtigen, die richtigen weiter zu bilden, kurz: das erforderliche Mateiial zum Denken zu beschaffen.

Das Kind ist aber nicht nur Verstand, sondern es hat auch Gefühl, es besitzt auch die Anlage zur GemOtsausbildung. Weitcro Aufgabe des Anschauungsunterrichts mufs es dämm sein, das Kind auch mit Stim- mungen und Gefühlen zu erfüllen, aus denen das sittliche Begreifen und Handeln herauswächst.

Welche Schwierigkeiten zu überwinden sind, um in dem schwach'* sinnigen Kinde das Angeschaute zum Bewuüstsein zu bringen, die Kenntnia zur Erkenntnis zu erheben, das kann nur der beurteilen, der mitten in der ArI»oit an diesen Kindern steht. Nur durch unablässige Einwirkung auf alle Sinne nicht nur den Gesichtssinn ist es möglieh, den Widerstand zu überwinden, der in der Minderwertigkeit ihrer Geisteskräfte begründet liegt. Dafs auch das Gemütsleben unserer schwachsinnigen Kinder einer eigenartigen, sorgsamaton 'PÜegd bedarf, sei nur angedeutet»

Die Frage, welche Dinge in den AnschauungskreiB der Kinder ge- bracht werden sollen, ist nicht allgemein zu beantworten. Nicht alles, wag anschaubar ist, kann in den Bereich des Anschauungsunterrichts gezogen worden. Die Auswahl hat sich nach der jeweiligen F.'lhigkeit des einzelnen Schülers zu richten. Der schon l>e.slehende Wahrnehmungs- und Er- fahrungskreis des Kindes ranfs für die Auswahl bestimmt sein.

Zum auderen labse mun das Kind die Dinge selber anbciiaueu; man gehe Ton der unmittelbBren Anschauung der wirklichen, durch ihre Leib- haftigkeit eindrucksvolleren Qegenstftnde aua Bilder bleiben immer nur ein kümmerlicher Notbehelf und finden untv weiser Bescbrftnkung erst auf einer 6|i&teren Stufe des Anschauungsunterrichts Verwendung. Wert- voller schon als Bilder sind Modelle.

Die im vorbereitenden Anschauungsunterrichte erworbenen ein- zelnen Vorstellungen dürfen nicht unverbunden bleiben, sondern müssen

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Die LandcaheU- nnd Pflege- Anstalt Uohtspringe und ihr Schnlgaitan. 135

am der folgenden Stufe, bei dem grundlegenden Unterrichte, in Be- siidmng sa dnnder gesetzt werden. Die Bildung des Orte-, Farben-, Formen-, Zahleneinnee tritt in eeine Rechte ein. Die Grundformen (Recht- eAf Kreis, WQrfel, Kugel etc.) gelten hier schon als bekannte und in ihren wesentlichen Eigonsdiaften begriffene Gegenstände des Anschau- ungsunterrichts, welche zum Vergleich imd zum Verständnis bei Be- sprechung anderer Dinge herangezogen werden können. Sie bilden gewisser- xnaOsen den Schlüssel, mittelst dessen die einfacheren Gebilde der Natur nnd des alltäglichen Lebens dem Verständnis erschlossen und dem Ge- dflebtnia einverleibt werden.

Um das Kind an einem bewnfitten Thun lu ersiehen, um seinen Schaffenstrieb anzuregen, fafiit der Anschauungsunterricht unserer Schulen (neben den Thätigkoitsfibungen und dem Zeichnen) auch, den Handfertig- keitsunterriclit und die Gartenarbeit in seinen Raiimen.

Bei der Anlage des Schulgartens in Uchtspriuge, der in dem und jenem Punkte an die gärtnerischen Unten ichtseinrichtungeu im Bicötre zu Paris erinnert, woUte man all den Torhin angedeuteten Erwägungen ToUauf Bäehnnng tngen. Das Kind soll unmerkliofa auf Schritt und Tritt zur genauen und veigkichenden Beobachtung seiner näheren und weiteren Umgehung herangezogen werden.

Der Schulgarten umfalst zwei Teile, deren einer lediglich der An- schauung dient, wrihrcnd der andere vorzugsweico der Gaitenaibeit ge- widmet ibt. JSur der erstere kommt für un^ in iiuge. Seine Anlage wird durch den Grundrilh näher eriäntert Der vor dem Schulgeb&ude angelegte Unterrichtsgarten hat eine Länge von etwa 30, eine Breite von 15 Meter, und ist durch einen zur Eingangsfhflr fahrenden Hauptgang nnd NeV»enwege in acht, durch bunte Backsteine abgegrenzte Felder ein- geteilt. Die Ümfriedig^ng ist soitlif h durch hellgestrichenes Holzstaket, nach vorne und entlang des Hauptganges durch Guirlanden von wildem "Wein bewirkt, um die Betrachtung von allen Seiten zu ermöglichen. Die an der Stcafsenfront liegenden vier Beete sind der Veraneofaauliohung der Fliehen -Grundformen augewiesen. Aus festem Bandeisen geformte Figuren mit einer Längsachse von I m nur das Blatt hat eine eolofae von 2 ra sind in den Rasen eingetrieben, ausgestochen und mit Marmor- kies, der sich von der grünen Onind flache prächtig abhebt, ausgefüllt. Die Wege sind mit rütiich-gelbem Kies bedeckt. Das eine der vier vor- deren Beete (a) dient der Veranschaulichung der gradlinigen Grundformen: Quadrat, Rechteck, Raute, Rautling, Dreieck; ein anderes (b) enthält die krummlinigen Grundformen: Kreis, Halbkreis, Sichel. Eirund, Langrund; das dritte (0) die susammengeaetston Grundformen: Kreuz, Stern, Hen; das vierte (d) von der Grundform zur Lebensform fortschreitend eine Buchenblattform mit dunkel eingelegtem Bhittgerippe. An den vier Seiten dieses letzton Beetes sind die haui>tsächlichsten gerad- und krumm- linigen Blattumrandungen: gezahnt, gesägt, gekerbt, geschweift dargestellt. Daneben, entlang der Nordgreuze des Gartens, stehen, mit Täfelchen be- aeiobnet, die in Besug auf ihre Blattform oharakteristisohen, hier vor- kommenden Sträuoher und Bäume (Kastanie, Eiche, Akasie, Weide^ Buche,

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B. Mttefluogwi.

Walddistel u. & w.). An der Ostgrenze, entlang der Front des Schulgebäudes, stehen als OebÜBoh die llbrigen, hauptaiofalich ia der Altnark einhamisolien Str&noher und Bäume, und entlang der Südgrense die uaehnlichsten. Ver- treter der krautartigen Fflansen (HohnUiime^ indischer Hanf n.s.v.).

An den einzelnen Beeten leinen die Kinder der verschiedenen Stufen je naoh ihrer Beobaohtange- nnd Merknhigkeit mehr oder weniger aahl- reiohe ESgeaechaiteii nnd Unterschiede wahrnehmen. So s. B. sehen die

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Die Land^eü- Pfl^- Anstalt Uohtepringe und ühr Schulgarten. 127

Kinder der imteren Stufen auf dem Beet a das gerade Viereck mit vier Totlkommeo gleichen Seiten (rechts, links» unten, oben), das langgrado Viereck mit zwei langen und zwei kurzen Seiten. Das Dreieck auf der Seite liegend, oder auf der Spitze stehend u. s. w.

Die Kinder der ol-ercn Stufe hingegen erkennen schon das Quadrat als gleiclisfitig-recLlwiiikeligea Viereck mit gleichen Gegenseiten, die Raute als gleichseitig- schiefwiukeliges Viereck mit gleichen Gegenseiten u. s. w, Sie merken auch, dafr das Krem aus vier Becktecken, der Stern aus einer Anzakl tob Dreiecken lusammengesetzt ist, dalk das Hers im Q<^gen- Bitt sa den beiden eben genannten geradlinigen Figuren eine suaammen- gesetzte krummlinige Figur darstellt.

Und in dem Blattitni-tcr auf dem Beet erkennen die weiter vorgebildeten Kinder das auf der Grundlage des Dieiecks veränderte Lang-rund, dio Hauptrippe als iangausgezogenes Dreieck, die Nebeurippen als Siclieln. Je nachdem man eine der die Einfassung dieses Beetes bildenden Um- nmdungen dem Blattmuster anfügt, tritt das Blatt als gezahntes» gesägtes,, gelerbtes, gesohireißes in den Bereich des kindlidien Yerstflndnisaes. Die 10 den nebenanstehenden Bäumen vorkommenden Blattformen werden nun- mehr leicht in ihrer Verschiedenheit erkannt und bewufst unterschieden.

So dienen die anfänglich starr und tot erscheinenden Flächongrund- formen zur Erschliefsung des Verständnisses der Ijobensformcn der Natur. Denn die Formenbetrachtung ist nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zveck. Die richtig erfalste Form ist gewissermalsen ein fester Krück- Btook, mit Hilfe dessen auch dem G^im-ErQppel das geistige Fort> seiiraiten ermöglicht wird.

Anschaulich unterrichten beifst nicht die blofse Form beschreiben und vor Augen führen, sondern Sie auch in der Verbindung bieten, in der sie wirkhch vorkommt.

Indem man den Schüler all' die an den heimatlichen Pflanzen vor- handenen Blattformen richtig betrachten lehrt, ersciiiiefst man ihm den in der Katar verbocgwen Formeneobatz. Nunm^ vermag das Kind das» «IS es bis dabin achtlos geeeben, richtig su erachauen und su merken.

Und mit dem Auge wird auch des Kindes Hen geOilhet fflr die Schönheit der Natur. Es wird angeregt zur aufmerkaamen, aber auch zur sinnigen Betrachtung. Es beginnt zu ahnen dio AHweisheit und Allmacht des SchöpfOTS aller Dinge, dessen geheimes Walton ilitn aus der Mannig- falugkcit und Orofsartigkeit der Natur aiiüberaU Bewunderung heischend entgegentritt

Ist das Yerstandnis des Kindes erst so weit erwacht, dann sind ihm auch dss Krens, der Stern, die Hen nicht mehr die blcbaen, susammen- gesetzten Qnmdformen, sondern ansprecbende Wahneichen des Glaubens»

der Hoffnung und der Liebe.

Die dem Schulhaupe 'zunächst gelegenen vier Beete sollen in erster Linie der Veransefianli' "Jiung der Körper-Grund formen dienen. Auf jedem dieser l^ tto sind zwei Buchsbäume und drei Taxus eingepflanzt^ die durch giututrischen Schnitt in die Form von Würfel, Säule, Kugel,, ^rtsmide, Kegel, Kraus u. s. w. gebsacht werden.

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B. Mttejlnogeik

ünwhver erlceniit das mit den Fl&chenformeii vertraute Kind die Yerwandtsoliaft des Wflrfels mit dem Quadrat, der Kogel mit dem Kreis, der Pyramide mit dem Dreieck, des Kegels mit dem Kreis und dem Dreieck u. s. w. Audi die QmndkOrpcr sind ihm sohon in Nator und

Loben begegnet, wenn aneh vorher in Bezug auf ihre Form nicht recht unterschieden und begriiTen: nunmehr erst versteht das Kind, dafs die Erbse Kngelform hat, die Tanne eint'« natilrlicho Pyramide darstellt u. s. w, ünd mit der Freude über das erlangte X'crstänilnis erwacht das Interesse zur weiteren vergleidiendeD Beobachtung und förmlichen ünterscheidong.

Ans dem vorerwähnten Qebflsch heraus treten in natürlicher GrSfiBe und Farbe die aus Neubaldenslebener Fayence ebenso naturgetreu wie ent- zückend nachgebildeten hauptsächlichsten Vertreter unserer, auf den Spaziorg.lngen oft gesehenen, vriM vorkommenden Saugetiere: Hase, Reh, Hirsch, Fuchs. Als einziger Vertreter der Haustiere, die ja auf unserem Gutsgehöft jederzeit betmchtet werden können, steht neben dem Einean-j; zur Schule der Stammbruder des Fuchses, der iiuud in derartig iiuLUr- licher Nachbildung, dalä schon mancher Vorbeigehende eich wunderte^ warum das anscheinend eben aus seiner Hatte herausgesprungeoe muntere Tier ihn nicht anbeUto.

Vor einem wilden Dombusch erhebt sich, aus Borke gezimmert, ein reizendos Tfäuschen. vor welchem eine Gruppe Zwerge auf der Ausschau steht. Der eine von ihnen trägt in einem Füllhorn allerhand schuumerndes Erz, das er und seine Genossen mit dem am Gürtel hängenden Werkzeug aus dem Gestein des Erdiunern mühsam herausgeholt haben. Vor dem ZwergbAuscheDt in und neben einem durch unsere hauptsAcblichsten Gestein»» arten abgegrensten Glrtofaen stehen aufoer anderem sehr natfirliobe Kaoh- bildungen der wichtigsten einheimischen Pilze, der efsbaren wie der giftigen.

Wie ganz anders andTichtig lauschen die Kinder angesichts der lang- bärtigen Zwerge und ihrer traulichen Hütte all den MArchen, die ihnen vordem ganz unverständlich geblieben waren.

ünd das schimmernde Erz, der funkensprühende Feuerstein i-eden in stummer und dooh eindruoksvoUor Sprache von der Urzeit, als die Erde noch eine feurige Masse im unermefslichen Weltenall war, wfthrend die hier gefundenen kugelförmigen und flachen Findlingssteine, wie von Künstlerhand geschliffen, an die Zeit gemahnen, als hier noch des Heeres gewaltige Fluten rollten.

So gi«^l>t fh^r nach den Angaben von Direktor Alt nnsi^elegte Schlü- garten für j.jileu einzelnen Unterrichtszweig selbi-t bei den mh 1:1 schritteneren Kindern einen packenden Stoff ab, so ermöglicht die Zusummenstellung an und für sich scheinbar wenig susammengehOriger Gebilde eine Über- brfioknng der Oegensfttte zwischm der toten Masse und Form anr leben- digen Kreatur, von der Pflanze aum Tier, zum Menschen und zum all- weisen Schopfer aller Dinge.

Teilt man auch nicht alle Ansichten des Kollegen f lister, so wird doch jeder Leser, der jetzt in der Frühlingszeit mit der Anlage eines Schulgartens sich beschiftigt, allerlei Anregung durch diese eigenartige Formenkunde und ihre Charakteristik empfangen. Tr.

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FMUufiife und Etotartuog.

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8. Frühreife und Entartung.

V

Ein Lebensbild von Ludwll Cernej in Cadraoi, Steiennark.

Es ist eine auf strengster Wahrheit beruhende Biographie, welche ich nur in dem Um Fange darbieten will, als es der Aufgabe dieser Zeit- Schrift dienlich erscheint.

Josef P. wiirde unehelich geboren. Seine Muttor war ein noch nicht fünfzehn Jakro altes, zaiteä und liübäches Mädcken. Der Vater stand im adUIiiatea Jünglingsalter. Sieeer war der So^ einer seaüiob vermögen- den Witwe, die ein Wirtegeeohlft fOhite und bei der jenes nnglfiokliche Mftdchen diente.

Das Kind wurde im Hause behalten, die Mutter entlassen. Sowohl die Grofsmutter, wie der junge Vater hatten mit dem Knabloin eine grofso Freude. Es gedieh vorzfls^Iich, körperlich, wie geistig. Es war auliserge wohnlich begabt und uui»2rgewühulich lebhaft.

Man nahm Josef frühzeitig mit dem vierten Lebensjahre in dA Unteirioht Als er sechs Jahre alt war, veifabte er beieits knne Britein. Oberiianpt machte er die besten Fortschritte^ Als er in die Volksschule des Heimatsdorfes kam, langweilte er sich nur. Der Lehrer Latte sich nicht selten Ober kleine Ausgelassenheiten desselben zu be- klagen. Wir finden dies begreiflich; denn die Xjingweüe ist Ursache so mancher Übel.

Da starb die Grofsmutter und der Vater heiratate. £r bekam eine isiclie, aber durchaus nicht feinfühlende, geizige Frau. Nun kamen für nnseren Jose! sehlisiime War er frfiher von der Oiofinrattor xiü»

Iticht etwas vsrhaisdhelt worden, so geschah es jetst seitens der Stief- mutter gerade umgekehrt: sie hafste den Knsben und liels ihn dies auch ordentlich fühlen. Als Vorwand ilires Verfahrens gab sie stets die Aus- l^''^];i«senheit des Kindes an, welcher energisch vurgel>euirt wnrdcn müsse. ^VuIiderlich erscheint es, daÜB sich auch der Vater vrllrii ls di m Willen seiner Gattin ergab und bei der nun begonneuuu j»i:aziuUimg4: bestens mithall

Zuerst suchte msn die Lebhaftigkeit des beiläufig sch^Shrigen Josef durch überbürdende Arbeiten zu mäCsigen. Kan weckte a. B. den Knaben tiglich mit Horgengiauen und lielie ihn stundenlang an einem neuexbauten Bronnen ziehen um ein besseres Wasser zu bekommen.

Als ihn derartige Arbeiten noch nicht genug »zähmteus sperrte man ihn obendrauf in die Stallungen oder Keller und liefs ihn tüchtig hongern. Der Hunger thut weh, dem Kindü noch viel mehr als dem Er- ^nohsenen. Da alle Bitten nichts halfen, und man die kleinste Kleinig- keit als erwflnscht fhnd, den klonen JoMf einzusperren und hungern sq. lassen, mnCste er schlielhlioh auf irgend eine Hilfe sinnen. Er fhnd sie hald. Es wurde ein gröfserer Zwischenraum im Fenstergitter des »Arrestes« entdeckt Der Knate schlüpfte da hindurch, lief zu mitleidigen Nachbarn uiid holte sicli Gnadenbrot. Sodann kehrte er zurück hinter den Riegel. Di^ wiederholte sich eine lange Zeit fast täglich. Als man das schlieis-

Die Kindecfelilflr. YL Jahigaog. 9

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B. MHteÜQiigeiL

lieh entdeckte, rnuisten die Kaciibaru zur Vermeidung des höchsten Ver- dniSBes es sioii versagen, dem Stritflinge je wieder etwas sa geben. diese Leute mehr oder weniger von dem reichen Manne ahhftogig waren, half sein Verbot. Josef bekam hein Brot mehr. Er fing an an stehlen.

So ging es fort.

Als der Knabo zwölf Jahro zählte, beschlossen die Eltern, ihn weg- zugeben. Er kam in die nahe Stadt und besuchte mit bestem Erfolge eine Bür^erfichule. Er s lueii sich vollends gebessert zu haben. Man konnte ihm aui^er giuii>ei Lebhaftigkeit uichtä nachsagen.

Als die Sohuljabre vorftber waren, galt ee^ sioli für einen bestimmten Benif sn entsohUetiBen. Josef bat mit aufj^ehobeaen Händen, ihn stodieren zu lassen, die Eltern wollten jedoch hierron nichts wissen und steckten ihn in eine Handlung. Anfangs that nun Josef gut. Man merkte jedoch an ihm oino sonderbare Veränderung: dor lustige Knabo wurde nachsinnend,, melauchoiis Ii. Mit der Zeit fing er an, den Vater zu bitten, ihm den Austritt zu erlauben; denn er wolle etwas anderes werden. Er klagte über rohe Behandlung. Als man ihn nicht erhörte, ergab er sich zum Sobeine seinem Sohiöksale. Sein Herr lobte ihn sehr. Da anf dnmal,. als die Lehneit schon bald sn Ende ging, entdeokte man in ihm einen

Dieb. Er wurde entlassen. Der Vater bewog ihn, freiwillig in die Armee einzutreten. Der junge Soldat hatte die schönste Aussicht auf rasche Beförderung, er wurde jedoch wegen einer Kleinigkeit bestraft und somit jeder HofTnung beraubt. Nun ging es mit Strafen fort: er hatte im Laufe dreier Jaiire deren siebzehn.

Als er ausgedient hatte, verübte er noch einige Streiche. In seinem Geburtshanse durfte er nioht mehr erscheinen. Der Vatsr wollte ihn nicht mehr kennen und lielh ihn bei einer Rflckkehr in die Zuständ]gkeits> gemeinde der Mutter abfahren.

Nachdem man nun noch von einigen Abstrafungeii Josefs gehört hatte, verscholl er plötzlich. Was geschah wohl mit ihm ? Kr gab sich einen anderen Namen, nachdem er sich selbst die nötigen Dokumente ge- macht und fing ein redliches Leben an. Zuerst l>eschäftigtd er sich mit Abschreiben in der Hauptstadt. Er stieg höher und hSher und kam zuletzt als Lnter in eine groüBe Fabrik. Zu dieser Zeit beiratete er. Nachdem er einige Jahre ein höchst glackliches Familienleben geführt,, starb ihm seine Gattin, der das einzige Kind bereits vorangegangen war.

Josef vorliofs nach einiger Zeit ohne jeden Orund seinen Postr>n. Er trieb sich weit in der Welt herum. Schliefslich verübte er einen grofsea Betrug und wurde verhaltet. Er stellte sich nun irrsinnig und führte die Gerichtsherreu lauge au der Nase herum. Endlich wurde von Ärzten konstatiert, daTs er nicht nur nicht irrsinnig, sondern antegewOhnlidi intelligent sei. Er spricht neun Sprachen und ist auf allen Gebieten dea Wissens so bewandert, als ob er die allerhöchste Bildung genossen hfttte.

Das Urteil lautete auf sechs Jahre Kerker.

So weit die Biographie bis heute. Und die Zukunft? Sie ist für den Mann voraussichtlich noch viel düsterer als die Vergaogenheit. Er ist eben ein verlorener Mensch.

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Frühreife and Entartung.

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Was iäCBt sich aus dieser Leben^gescliidite für die Erziehung

lernen?

Jcaei war ein auTsergewöhnliches Kind. Die Ji^end der Mutter bei der Mnttenohaft ist voU Bohoa etwas Bdaatooctes» Sie hatte sweif elloB Einflolh auf das Kind: wie dort die kOiperlkhe IMUaeife aar OeLtnn; kun, 80 zoigto sich bei dem Kinde Mlbat eine frOhieile und daza eine

anfeergewühnliche Kraft des Geistea

Wir können din Frühreife öfter, wenn auch im geringeren Mafse be- obachten. Meiner Anschauung nach ist sie an sich oino pathologische Erscheinung. Sie erfordert die grulste Aufmerksam iieit dos Erziehers. £i entsteht die Frage, ob es richtig ist, das geistig frühreife Kind einem TOffieitigen Untemoibte sa imtendehea. loh mOohte daianf enteohieden mit nein antworten. loh hatta genug Odegenheit, so beobachten, wie solche Kinder, wddhe wegen ihrer Geistesreife vorzeitig in den Unteiriobt genommen "vnirden, mit der Zeit geistig ermüdeten und hierauf keine Gr- wünschten und erhofften Fortf^rhritte mefir machten, so dafs sie von den Später eingetretenen, weniger begabten Genossen weit überflügelt wurden. Einige Schüler erholten sich zwar teilweise wieder, andere gar nicht, so dab man Uber ihre SoUnlSdeiatungen unangenehm enttSosoht war.i)

Bei unserem Joaef spürte man diese Ermfldung onn nioht nnd doch bat der frühe Unterricht imstraitig anoh an ihm vieles verschuldet Der Geist hat sich entwickelt, beceichert, jedooh der Wille, die Erkenntnis und das Anstreben des Rorhton und CKiten ist anrüßkgeblieben, konnte in der Ausbildung nicht schntthaiten.

Man hätte den Knaben in dieser Zoit wohl anders beschilftigen können und sollen. Beschäftigt mufs aber das isond überhaupt sein, ein gGi^tig i^gaea gans baeondera. Das Hiohtathon, die Langweile führt gerade adksbe Auanahmeiiataren viel eher ins Yetdarbeo, als gewQbnliehe Menschen. Aber die Beschäftigung mufs eben eine passende sein. Überbürdende kCtperliche Arbeiten werden das Ziel nur verfehlen, aie werden die Nerven- kraft schwächen.

Ich bin g<^en vorzeitigen T^nterricht. Ich behaupte, dafs man einen frühreifen Geist nicht noch künstlich fördern solle, man möge ihn eher in der Entwickelung leiso zurückhaiteü, wlq es etwa der tüchtige Gärtner mit maochea Fflannn thut, welofae an stark trdben. Er kann hierbei veraduedene Ziele verüolgen; bald wiU er die Fflanien vor mnem apfttaren Yroato acdifitaen, bald dem frOhieüigan Anarofen nnd Unterg^ge vor- beugen, bald sie zum Fruchtbringen zwingen. So auch mit dem Kinde. Es sei aber betont, dafs der frische Kindesgeiet dennoch frisch erhalten werden mnfs. Am besten würde uns dies wohl mit Hilfe passender Spiele und leichter körperlicher Arbeiten gelingen.

Die von der Frisdie des Geistes herrührende Lebhaftigkeit mit Ge-

') Ich würde nicht jede Ik-fihxeile für bedenklich halten. Im Gegenteil Aber es Begt bei aUen friihTBÜett Kmdem eine grobe Oefiihr geutiger tFberiM&idong vor. Man hat seme Freode an ihnen und will dann noch mehr ans ihnen maehent an- statt data man ne natnigemails aaswachsen VIM» Tt,

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B> imtsiltiiigeiL

tralt niederdrflokea za wollaa, vfire mIgaieiiB ebenso faHach, als ihr yoU- kommoL dea freien Lauf su laaaea. Joeef hat Dun beides durohgemadit Sohlieliaitiöfa aooh ein Wort Aber die Bestrafungen solchsr Kinder.

ÄiLÜserlich scheint es, dafo man sioli gerade bei ihnen am wenigsten in acht zu nohmon hätte, da sie alles nur leicht, vorübergdiend auffassen. Dies scheint indes nur so. In der That sind gewöhnlich solche Kinder sehr zartfühlend, wenn sie dies auch nach aufsen hin manchmal schwer, ja gar nicht erkeiiuuu lassen. Durch ein uniicktiges Handeln kann man gerade bei ihnen das giOfirte Unheil etifiban.

Und das Hnngendassen ! Diese Sttafe, so allgemein sie anolh ist, scheint mir denn dooh die TOrwetfliohsta unter allen sn sdn. Das Kind braucht Nahrung zu seinem Wachstume. Es in demselben infolge Ver- gehungen zu stören, ist doch etwas huchst Dnerzieherisches. Es führt auch zu keinem guten Etasultato: Heuchelei, Bettlerei und Stehlfiticht sind gewöhnlich seine Folgen.

4. Normale Schlafzeit der Kinder.

Wie die ^»Zeitsclirift für Schulgesundhoitspflege« (1901, Nr. 2) aus einer russischen medizinischen Zoitsohrilt mitteilt, hat uuülngst in St, Peters- burg eine Beratung über diese iYage von seiten einer aus Professoren der medizinischen Akademie bestehenden Eommiääiüa stattgefunden. iSach der Ansicht dieser Kommission sollen Sohfller nnter 10 J$3btm 10 11 Stunden sehlafen, SdhÜler von 10—12 oder 13 Jahren 9-^10 Standen und ftltere Schüler 8 9 Standen. Schwache, blutarme oder durch intensive Arbeit ermüdete Kinder bedürüan einer mn V, 1 Stande längere Schkfzeit Die Beschlüsse der Kommission wurden von der Professoren -Konfeiens der Akademie apgenommen. U.

5. Der gegenwärtige Stand der Heilerziehong

in Italien.

Schon im ersten Jahrgangs unserer Zeitschrift liaben wir ü\mr die hoilpfidagogischcn Bestrebungen in Italien einen kurzon Artikel ans der Fulr r von Paola Lombroso in Turin gebracht. Eine Arbeit von A. F. Chamberlain in der Newyorker Educational Keview unterriciitet uns jetst über den gegenwärtige Stsnd.

Bereits im Jahre 1848 erriehtete die »KOnigSioilie Kommission fllr die Erforschung des Kretinismus« in Aosta eine Anstslt fOr Kretins, und swar nach dem Muster QoggenbQhls auf dem Abendberge. Dieselbe hörte je- doch schon nach wenigen Jahren auf, eine Stätte der Erziehung- zw sein und wurde zur blofsen Irrenanstalt. Die neuere Bewegung begann that- sächlich erst 1HH9, als Prof. Gonnelli - C ioni in Chiavari die orötc italienische AiibUiii iür ^oliwaubdiumge und geistig geschüUiigle Üindur er- richtete. Das »Fftdagogium« (eine Anstalt für derartige Kinder ans wohl-

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Der gegenwärtige Staad der HeilerziehuDg in ItaUeo.

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habenden Familien), das 1891 unter dem Beistande von Morselli in Nervi bei Genua gegründet wurde, bestand nur wenige Jahre. Die vci-schiedenen Irrenanstalten in Rom^ Siona und Heggio haben seit langer Zeit besondere Abteilungen für Idioten, die dort etwas Unterricht erhalten.

Die haoptsacMicihtten Schulen und heilpftdagogifloben Anstalieii fOr ■chwaohsinpige und p^yohisoh geeohüdigte Kinder eind:

1. Dae Institut 0onelli-CionI, gekündet 1889 in Chiavari, jetzt in Yercurago bei Bergamo. Der Inspektor ist Prof. GonneUi-Cioni, der von seiner Gattin und einer Tochter unterstützt wird. Die Direktion hat Prof. Luchini, und Hausarzt ist Dr. Marzoochi von der Irrenanstalt im nahen Bergamo. In dieser Anstalt wird Elementarunterricht in Zeichnen, Maeik imd Tnnien ertenlt Sie beeitst Bider, Speisesäle, gemeinsame Solilaf- zimmer, und es md bei fkiniliaier und individueller Behandlung auf die Ausbildung des Körpers und der Sinne, sowie auf die geistige imd sitt- liche Entwicklung besondere Aufmerksiimkeit verwandt. Man erteilt dort auch Handfertigkeitsuntemcht Die Zahl <ler Zöglinge (auch Epileptische werden aufgenommen) beträgt etwa vjeii;m: alle sind Knaben und gehören entweder den ärmeren Bevölkerangsklassen au, m welchem Falle die Kosten ▼on der Qememde oder von Wohlthätigkeitsrereinen bertritten irerdeii, oder sie stammen aus voUhabenden Familien. Fiot Oonnelli-Cioni unterhält auch einige Zöglinge auf seine eigenen Kosten.

2. Die Emilanische Heilorziehungsan stalt zu St. Giovanni in I*rr=icato, gegrün lpt am 2. Juli 1899. Sie steht unter der Leitung des bekannten Proies-^oib der Psyr-lnatrie Taniburiui, der von den Professoren Roncati und Brugia uateräLützt wii-d. Die Koaten bestreitet eine Ver- einigung der Piovins Emilia. Die 4n8talt hat eine gesunde Lage auf dem lisinde und nimmt Kinder im Alter von fOnf Ins fOnftehn Jalirni auf, die sich für die gewObnIiohen Schulen nidit eignen. AusnahmairaiBe werden auch c^ltere Zöglinge aufgenommen.

3. Das Heil- und Erziehungshaus in Rom. gegründet im April 1898 für geistig e-oschädigte Kinder aus wohlhabenden Familien. Es steht unter der Leitung von Prof. Dr. Sante de Sanctis und nimmt etwa rwOlf bis fOnfzelm Zöglinge auf; aofserdem erhalten ^gessohtUer ünterrieht und Pflege. An Aphasie leidende, sowie stotternde und nervenkranke Kinder werden am^ aufgenommen. Für den Spnudiunterricht giebt es einen besonderen Lehrer, Dr. V. Bianchi. Die angewandten Methoden sind dieselben wie in dem unter Nr. 6 genannten Educatorium Dr. de Sanctis'.

4. Die Toskanische Anstalt zur Erziehung und Pflege zurückgebliebener Kinder in Settignano bei Florenz, eröfibiet am 1, August 1899. Diese frei im l%lde gelegene Anstalt yerdankt ihre Entslehuns dem Toskanisehen Komitee lum Sohutae surOokgeUiebener Kinder. Sie nimmt nur Kinder auf, deren Behandlung und Erziehung Xkfolg vefsprioht und zwar als Interne einstweilen nur Knaben im Alter von vier bis zwölf Jahren; als Externe hingegen tonnen Kinder beiderlei Geflechts im Alter von sechs bis sechzehn Jahren aufgenommen weixlen. Zur Direktion gehören Dr. Modigliano (Spezialarzt für Hygiene und Kinderkrankheiten), Prof. Gonelli-Cioni (Pädagogik) Prof. Tanzi (Psychia-

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trie) und Prof. Colzi (Chirurgie). Die Unterhaltlingskosten werden be- stritten aus mildthätigea Spenden, Beiträgen der ordentlichen Komiteemit- gUedsr und ana den Mdem, die von den mteiefiBieiteii Familien und FlroTiiizon. genhlt werden.

5. Die Segatelli-Schule für Idioten in Mailand, gegründet 1894 durch Frau Cristina Segatelli, die bis jetzt die Leitung hat. Die bcsfheiflcnp Anstalt zählt etwa 16 Schüler: es sind solche Kinder, die in den ööentlichon und privaten Schulen nicht passen. S<')i etwa einem Jahre erfreut sich Frau Segatelli des liates und Beistandes eines menschen- freundlichen Komitees, an dessen Spitze Dr. A. de Yinoenti steht

6. Die Aaylsobiile ftlr arme, geistig geaoliidigte Kinder in Rom, eröffnet im Januar 1898 von Dr. Sante de Sanotia. Dieeea »Bdaoatorium« für arme Kinder ist nach einem sorgfUtig erwogenen psycho- logischen Plane eingerichtet worden unter dem Beistände eines Wolil- thätigkeitskuraitecs und nntor der Mitwirkung tüchtiger Ärzte und Pikia- gogen. Der psych iatn sc iie Sachverständige ist Prof. Sciamanna, der pädagogische Prof. Sergi. Über diese Anstalt hoffen wir einmal einen beeondem Artikel bringen zu können, da uns die Einrichtung sehr be- merkenswert eisofaeint U.

IIL VerbandBtag der HilfiBsohiilen Dentaehlandg,

Ton HMae-Haiuiover.

Vom 10. bis 12. April fand in Augsburg der 3. Verbandstag der deutsdien HUfiBschulen für achwaohbefähigte Kinder statt. Der 2. Yer- bandstag wmde Ostern 1899 in Cassel, der 1., der die Orflndnng dee HilfssoiralTerbandes herbeifOhrte, Ostern 1898 in Hannover abgehalten.

Die Augsbnrgor Tagung war, trotzdem Augsburg von den bei weitem meisten Hilfsschulen sehr entfernt liegt, sehr zahlreich besucht. E-^ war das neben dem aufserordentliclicn Fortschritte, den die Hilfsschulbewegung in den letzen Jahren genommen liat, dem lebhaften Interesse, das sie fast überall an malsgebender Stelle, insonderheit bei den Schulbehorden bis zu den Ifinisterien aufwärts erregt hat, vor allem der Oberaus enef^gischen und umeiobtigen Thfttigkeit des Ortsausechusses sasuscbreiben, dessen ge- BcbAftefQbrender Vorsitsender der bmgbewSbrte Führer des IjayiiBoben Lehrervereins Oberlebrer und Landtagsabgeordnete Schubert war. Bs haben etwa 90 vorwiegend grüi'sere deutsche Städte den Vcrbnndstag be- schickt. Aufserdem waren von England, Schweden, Österreich und der Schweiz Vertreter erschienen. Von Behörden waren vertreten das preufeische, bayrische, sächsische und enghsciie Unterrichtsministerium, die Regierung Ton Sofawaben und Neuburg sowie ca. 30 Magistrate und Bonstige kom- munale Behörden. Dmeben haben infolge der Einladung tarn Verbands- tage zalilreiche preufsische Regierungen und verschiedene Unterriohta- ministerien den Bestrebungen des Verbandes und den Hilfgaehulen Intccooao und Anerkenrnmi: bekundet.

Am Nachmittage des 10. April fand in einem der herrlichen Säle

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HL TerbiDitotag der Hilfaschiilen IMMhlmidB.

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des Augäburger Bathauses eine gemeinsame Sitzung dos Verbandsvorstandes imd d^ Ortsausschusses statt. Am Abend wurde die von etwa 250 Per- MiMii besnohtQ Vorrenammlung im »Bamberger Hof« abgeluJteD. Der 1. yoraiteende d«« HillBSclinlverbandQB Stadtschulnt Dr. Wehrhahn- Haimover sprach in einer kurz^ B^n^fsung seine Freude über den allea Erwarten übertrefTendon Besuch aus. Glänzend seien alle Bedenken wider- l^t, die man ursprünglich bei der Verlegung dos Verbandstages nach Augsburg %vegen der entlegenen Lage dieser Stadt gehegt habe. Man habe sich auf Veranlassung des leider durch schwere Erkrankung fern- gehaltenen Stadtachnlnta Baver imd auf freondüclie Hinladung des Magi- etrais doch dasn eatsehlosaen, imi dneii krftftigea AnatoCs su einer vetferai Verbreitung der Hilfsschulen auch in Süddeutschlaud za geben» y^'o dieselben bis jetzt nur spärlich vertreten seien. Dafs dies erreicht werden würde, daran lasse schon der Besuch des Verbandstages nicht zweifeln. Er danke dem Ortsausschusse lierzlich lür seine treue und hingebende Arbeit, er danke auch allen Besuchern für ihr Erscheinen. Der Yorsitaeade berichtet darauf kurz Über die bisherige erfolgreiche Thitig- keit dea yerbandee, veiet aber sogleich auch darauf hin» ein wie weites und vielseitiges Feld noch zur Bearbeitung Torliegt, bis überall und aus- seichend den geistig Schwachen geholfen sein wird.

Erster Punkt der Tagesordnung war die Eröi-tenmg der Frage: Ist «in besonderes Lesebuch für Hilfsschulen erforderlich und wie mufs dasselbe beschaffen sein? Referent Lehier Kurt Ehrig- I^pzig. Der Vortragende legte seinen Ausführungen das von dem Lehrerkollegium der Leipaiger Hilftschule unter Direktor Karl Richters I«itang bearbeiteto Lesebuch su Grande und führte etwa folgendes aus: Das Lesebuch, in verechiedenor Hinsicht eines der wichtigsten Lehrmittel, mufs wie ilhorhaujjt so besonders in der Ililfsscliule mit d'^n Verliältnissen der Schule, ihrem Lehrplan und Lohrgange in Ein- kiang i»tehen. Unter den vielen in Leipzig geprüften Lesebüchern er- ochMn keine f&r die Hilfsschulen geeignet. Bislang gebrauchten letztere meist das in den Volkssohulen derselben Stadt gebrauohfe und deren Lehiphin angepolbie Lesebuch. Dieses flberschreitet aber in seinem Inhalte iK-esentlicb den engen Anschaunnga^ und Erfahrungskieis der HUfsschul» Zöglinge und bietet auch nach der sprachlichen Seite hin zu viele Schwierig- keiten, ermöglicht auch nicht den erforderlichen Abstihlufs der Bildung, da ja natürlich nur die für die untersten Stufen berechneten Teile in der HiUhsehole verwandt werden können. Deshalb wurde auch »chou 1895 nuf der Heidelberger Eonferens fQr das Idiotsnwesen die Bearbeitung eines Hilfsschollesebuches angeregt In mehijAhriger Arbeit hat das Leipziger Kollegium ein solches geschaffen und dank bedeutender materieller Unterstützung, von selten der Stadt herausgeben können. Das Lesebuch ist 2 bändig (a 10 V 2 Bogen), um einerseits zu verhindern, dafs das je- weilig gebrauchte Huch zu umfänglich wifd und zu lange in den Händen der vielfach sehr unordentlichen und unsauberen Kinder bleibt und oft er- «etat werden mulh, anderseits aber doch zu ermöglichen, dals das Kind in dem Lesebuche heimisdi werde und sieh zurechtfinden lerne. Der

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B. MHtofliiiigeii*

1. Teil zahlt 249, der 2. 184 Stücke. Der 1. Teil schliefst sich unter Zugrundelegung der 4 Jahraflidteii gans an den Anaohaaungsuiitemohl, das bei weitem -wichtigste Fach der Unter- und Mittelstufe, der 2. Teil

an die einzelnen Unterrichtsföcher der Oberstufe an. Auch darin liegt ein wesentlicher Orund für die Zweiteilung des Buches. In eingehender Weiso wurde die Frage der wie überall so im vorliegenden Falle besonders schwierigen Auswahl der Lesestücke behandelt. Sie sollen nicht blofs zum Lesenlernen dienen, soiidorn auch im steten Anschlufs an den Lehrpkn eine wirksame Wiederholung bieten, die bei dem schwachen Go- dfliditniBee der HilfaschulzOglinge gar nicht oft genug angestellt werden Itann. Es sind daher auch sämtliche Lesestfioke in Besiehung su dem Gesinnungs- und Sachunterrichte der Schule gesetzt. Bei den sittlich- religiösen StofTen des 1. Teils mufste der Schwache der Kinder an sitt- licher Einsicht und religiösem Empfinden weitgehende Rechmin^: getragen werden. Bei der Bearbeitung des Lesebuches ist daher besonders Bedacht genommen auf die Gemutspllege, auf die Darbietung möglichst vieler Kr- scheinmigsformeii des sittlichen Lebens, auf Anleitung zn einer reinen, würdigen Oottesverehrung, Erweofcung des Sinnes fflr Wahrheit und Reoht^ ohne dabei auf feinere Qemlltsr^Dgen und verwiokeltere sittliche Yer- hAltnisse einzugehen. Neben Erzählungen dienen diesem Zwecke auch ein- fache Fabeln, Märclien. 0*-'li()ito, (Volkslieder!) und Sprichwörter, welcho letzteren quasi als Nutzanwendung inhaltlich verwandten Lesestückeu angelügt ßind. Daneben sind kleine Beschreibungen und SchildeninL'-en aulVenommen, die daä im übrigen Unterrichte Gelernte in schlichten iSätzen zuäummäufabäeuy in neue Beleuchtung rflcken und befestigen. Überall hat man sich be- mflht, durch eine ansprechende Form der Darstellung den Stoff auf Phan- tasie und Gemüt der Kinder wirksam zu machen. Sehr viele, namentlich realistische Stoffe des 1. Teils, bedurften nach Inhalt und Sprache der Umarbeitung in eine für die Kinder geeignete Form. Das geschah aber stets mit möglichster Schonung und, von Weglassung einzelner Strophen abgesehen, überhaupt nicht bei Gedichten. Im 2. Teile konnte meist die Origuialform beibehalten werden, und es mulBte das geschehen, um die Kinder nicht vor jeder kleinen Lesesohwierigkeit im späteren Leben er> schrecken zu Isssen. Die Anordnung der StQcke erfolgte nach stofflicher Verwandtschaft, im 1. Teile nsch den Jahresseiten, im 2. Teile nach dea Beziehungen des Menschen zu seinen Mitmenschen imd Gott, zu Natur, zu Heimat und Vaterland. Von den sehr wünschenswerten Illustrationon muiste aus pekuniilien Gründen abgesolien werden. Im 1. Teile ist durch verschiedenen Diuck eine Verteilung der Stücke auf 2 Stufen vorgenommen worden. Redner meint, der L Teil würde ohne weiteres überall zu ge- brauchen sein und schlagt bezüglich des 2, Teiles, der das Heimatkund- liche in Sachsen stark berücksichtigt, vor, AnhSnge fflr die einselneii Landesteüo zu ^^chaffen. In der Debatte erklirte Wintermann- Bremen den 1. Teil ebenfalls im grofsen und ganzen für alle Hilfs- schulen lür brauchbar, hillt aber für den 2. Teil weitgehende Änderungen, die er im einzelnen darlegt, für notwendig. Von verschiedenen Seiten wird ein gesondertes Uilfsschullesebuch als nicht notwendig und aus prak-

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IlL Yerbandstag der Hflfsscholen Dentsohlaiids.

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tischen Gründon nicht empfehlenswert bezeichnet: man meint, die Sache sei infolgo der kurzeu Zeit des Bestehens der Uilfä^chuieu nucii nicht sproohteif, ftuoh wird oaohdrfloklioh auf die groim Sohwiengkeiton lim- gewiesen f den nach der geographiechen Lege so Tsreahiedenen Bedflrf- ninen der HUfBsehulan, die doch gerade individualisieren sollen, gerecht zu werden. Von anderer Seite hält man an der Notwendigkeit eines be- sonderen Lesebuches fest. Dio Majoritllt beschliefst, von einer Be- schlulsiassung über eine eventuelle Einführung des Leipziger Lesebuchs in alleu Hilfsschulen abzusehen und es den ein- seinen Schulen zu überlassen, zu dem Leipziger Lesebuch Stellnng sn nehmen. Donentopceohend wird andi die Fibelfragc vim der Tagesotdnnng abgeeetet

Lohrer Basedow -Hannover referierte alsdann über den Knaben- h.iTulf ortigkeitsuntorricht in der Hilfsschule. Der Handfertigkeits- untorricht soll dio fast stets sehr grofse Unbeholfenheit der Knaben be- seitigen, Auge und Hand bilden , zu genauem Beobachten anleiten, die Willensbildung fördern, zur Sauberkeit, Geduld, Ausdauer, zielbew uisteui Handeln erziehen, Abwechslung in den Unterricht bringen und der ErmfldQBg wehren. Br itt auf allen Stufon zu erteilen, da er in der Hilfsschule fOr die Knaben in gleichem Maiee nötig ist wie führ MAdohen. 2 Richtungen haben eich im Enabenhandfertigkeitsunterrichto ttberhaupt ^Itend gemacht: die einen entwickeln die kindliche Kraft an leinen Übungen (Strafsbur^^rr Sr-bn]o), Jic andern und das sind die meisten lassen bestimriito Gegtu-trm lo anfertigen (Leipziger Schule). Streng methodische Anorduung vorausgesetzt, ist der letzte Weg für Hiilüschuien empfehlenswerter, da er ebenao gut snm Zide fObrt, den Knaben aber grO&ere Freude an der Arbeit ▼erachaflt. Der ünterrioht muls mindestens auf den unteren Stufen Klaasenunterrioht sein, damit die theoretische Unter- weisung gemeinsam Torgenommen werden kann, allerdings derart, dafs stets für eine entsprechende Beschäftigung der Geschickteren gesorgt wird. Auf der Oberstufe winl man sich infolgo der so verschiedenen Beübung der Knaben für prakLisciio Arbeiten oft mit Gruppenunterricht bescheiden müssen. Im Hinblick auf das erziehliche Moment ist der Unterricht durchaus von einem. Lehrer, nicht etwa Tcn einem Hand- werker zu erteilen. Der Unterricht darf nicht in rein mechanisohen Ver- richtungen bestehen, die schon eher in Anstalten zu ]>flegen sind, nicht auf materiellen Gewinn abzielen, nicht etwa auf ein Handwerk vorbereiten wollen. Es ist ziemlich gicichgiltig, welcher Art die Arbeiten sind; sie können aus sehr verschiedenen umfangreichen Gebieten entnommen werden. Hauptsache ist, dafs an einem methodisch geordneten Stufengange von xweckmäfsigen Arbeitsaufgaben die Kräfte und Fertigkeiten geübt werden^ Beferent empfiehlt folgenden Gang; Unterstufe: FrObelarbeiten, hei denen es kein« Umgestaltung des StoflieB bedarf (Legen furhiger Tftfelohen su Mustern, Stäbchen legen, Pa])ierfalten, Flechtarbeiten event auch Bauen mit Bausteinen und Korkarbeiten). Mittelstufe: Papier- und Kartonarbeiten, die in den Gebrauch von Werkzeugen einführen und zum Messen und Aufzeichnen veranhiaseu sollen sowie leichte Arbeiten aus Naturholz und

üigiiizea by GoOglc

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B. HHtoilungen.

Papparbeiten. Oberstufe: Hobelbankarbeiten und Kerbschnitt (letzterer nicht selbständig betrieben, sondern nur zur Verzierung der gefertig^ten HobelbanlHuteitea dienend und nach eigener Zeidmnng angefertigt). Wie weit in den einzelnoi lUlen die Knaben m fiSrdem sind, wird von den VerhAltniasen und der Begabung abhängen. Von Metallarbeiten und Formen vird man wohl absehen mflssen. Referent ontwiclielt darauf im einzelnen den Lebrplan für eine 6-klassigc Schule, inloni er die Verhältnisse in Hannover zu Gnmdo legt. Sodann geht Kclerent auf die für don ge- schilderten Unterricht nötige Ausstattung mit den erforderlichen üuuiuen (Werkstätten) und Hilfsmitteln (Werkzeugen) und die an dieaelben m etellenden Anforderungen ein. Zum SchluJls empflelilt er ans den Tersohiedensten Gründen dringend den Betrieb der Gartenarbeit in der Hilfsschule. In der Debatte wurde von einer Seite dringend eine enge Verbindung des llaiidfcrtiglieitsunterrichts mit dem Formen- und Zeichen- unterrichte empfohlen, dem aber von anderer Seite ebenso bestimmt wider- sprochen Avurde. Auf die I^chauptung, dafs die Fordeningen des Refe- renten zu weitgehend seien, wurde erwideil, dals sich oft viel mehr auf diesem Oebieto erreiclien lasse als man denke, wenn nur die nötigen Hilfsmittel in eiforderlicher Qualitii sur Hand sden. Auf Antrag toh Sc hui rat Mahraun -Hamburg wird der Handfertigkeitsunterricht aus praktischen Gründen (die Einrichtung desselben erfordert bedeutende Auf- wendungen, die der Ausl>reitnng der Hilfsschulen hinderlich sein könnten) statt als obligatorisch als sehr wünschenswert bezeichnet. Im übrigen linden die Leitsätze des Referenten unverändert Annahme.

Der Versammlung lagen gedruckt die Ergebnisse einer im vorigen Winter von Wintermann-Biemen ver&ljftten ausfühiliofaen Statistik Über den gegenwärtigen Stand des Hüfssohulwesens vor. Ein Referat darüber konnte die Versammlung aus Mangel an Zeit nicht mehr hßren. Es wurden in Doutscliland 100 Hilfsschulen ermittelt, von denen 98 in 326 Klassen 3U40 Knaben und 3073 Mfldchon, zusammen 7013 Kinder zahlten (gegen 56 Schulen mit 202 Klassen und 4281 Kindern im Jahi«e 1898). Dabei hind die oa. 800 Kinder der seit einigen Jahren in Berlin getroffenen Tetanstaltungen nodi nicht mitgezählt. Neben dem Zuwachs von 44 Schulen bat auch in vielen bereits länger bestehenden Schulen eine wesentliche Vermehrung der Zahl der Klassen stattgefunden s. B. in Breslau von 10 auf 17, in Hamburg von 16 auf 26, Hannover von 6 auf 10, l)üsseldorf von 4 auf 8, Braunseliweig von 5 auf 1), Charlotten- burg von 5 auf 9, Magdeburg von 7 auf 10 u. s. w. Die Zalil der wöchentlichen Unterrichtsstunden bewegt sich, von wenigen Ausiiaiinieii abgesehen, zwischen 15 und 30, die Zahl der von den Lehrpersonen zu erteilenden Stunden iwischen 18 und 30, meist zwischen 34 und 26. Zurflok- versetsungen in die Volksschule konnten infolge grote Sorgfalt bei der Auswahl der Kinder nur in reUtir seltenen Fällen stattfinden. Über den Prozentsatz der als erwerbsfähig zu bezeichnenden Schüler berichten über 50 Schulen; er beträgt 83% aller Entlassenen. Im Auslände haben die Hilfsschulen besonders in England, der Schweiz, Österreich, Holland und Norw^eu ebenfalls festen FuDs gefafst und weitere Verbreitung ge-

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Die Ideale französischer Kinder.

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fanden. So werden z. B. allein in London von 120 ausschlielslich weib- lichen Lehrkräften 2078 Kinder unterrichtet,

Die VorTersammlnng am 10. April schloüs mit der Annahme einiger Yonchlfige des Vorstandes, StatotenBnderong betreflinid, der Bechnuogs- ■ablage nnd der durch Akkkmatioa erfolgten Wiederwabi der Vorstands- mitglieder Stadtschulrat Dr. Wehrhahn-Hannover, Lehrer Bock-Braun- eohweig und fiaupUehier UenEe-HannoTer. (SchluDs folgt)

7. Die Ideale frauzösisolier Kinder.

Es gewährt dem Psychologen immer neuen Seis, zu beobschten, wie sich in den KOpfen der Kinder die Welt malt. Die Amsrikimer und Eng- länder haben nun ein schon sattf?im lieltanntes Mittel angewandt, um über die Anschauungen der Kinder Auf-rh.lüsso zu erhalten: die Umfrage. Jetzt ist ihrem Beispiel eine franzdsisciie Kinderzeitschrift, »Le Petit Fran- ^ais Illustre«, gefolgt, indem sie einer grofsen Zahl kleiner Franzosen die Fhiga vorlegte, was sie am liebsten einmal weiden mOcbten. Die Eigeb- nisBe dioBor Umfrage lassen wenigstens im allgemeinen erkennent in weläier Richtung die Wünsche der heutigen französischen Knaben und Mädchen gehen, und die oft recht naiven Begründungen geben recht benierkens- ■werto Atirschlnsse über die Vorstellungen, in denen sie sich bewegen. Bio Antviurtea sind in betiächtlicher Zahl eingelaufen: 442 Mädchen und 1560 Knaben haben schriftlich geantwortet. liire Wünsche sind sehr ver- sohieden, aber es scheint obarakteiistisoh, dals sich von den 442 kleinen ICBdohsn ungiefUir 250 für die intellektuellen oder liberalen Berufe ent* adieiden: 17 wollen Doktoressen der Medizin werden, 15 Advokatin (also schon die neuesten Fortschritte des Feminismus sind ihnen bekannt!) 28 Malerinnen, 3<) Musikerinnen, 7 Schriftstellr rinnen (merkwürdig, man glaubte doch eigentlich, dais alle junepn Mädchen einmal Romano schreiben wollten!), 3 Schauspielerinnen und 14 J Lehrerinnen. Die andere Hälite bleibt in den Sohianken der praktischen Berufe. Es wurden 51 Solinei- deiinnen gesAUtf 35 Kodistinneo, 2 WSsoherinnen, ferner Stickecinnen, Biokwinnen, Blumenmfldolien u. s. w., die Übrigen wollten ganz einfach gute Hausmütter werden, wie manche hinzusetzten, »um Mama ähnlich zu sein.c Es ist natürlich, dafs es unter den 1560 Knaben eine grofso Zahl giebt, die sich den kriegerischen Horuf erkoren haben. Dieser Beruf liat die höchste Ziffer:. 2 64. Von den Motiven, die die zukünftigen Helden bewegen, sind feigende bemerkenswert: »Ich will ElsaTs-Lothringen wieder" erobern.« >Ich bin sehr kri^gerisdi gesinnt, ich habe schon ein Kftppi, einen ^bel, und fünf Gewehre.« »Wenn dar Ton der Trompete erschallt, fühle ich mein Herz stärker schlagen.« »Ich will Soldat werden, denn ich bin grofs, stark, kein Dammkopf und kein Hasenfufs.« Aber auüaer

Näheres in "Wiütermann: Die Hilfsschulen Deutachlands und der Schweiz (Langensalza, Hermann Beyer & Söhne), sowie in dem demnächst da- settist encheinendan Benoht tber den yerbandstag in Augsbaxg. Tr.

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B. Ifitteihuigen.

der kriegerischen Gesinnung ist es auch bei tlen kleinen Franzo&en noch etwas anderes an den Soldatan, was sie besticht die üniform. 9Die üniform ist sehr hübscb^c sohieibt einer, »dann werden die fteundinnea meiner Schwester mich aber anschauen!« Nach den Offlaieren kommen

die Tngonicnrc. 236 Knaben träumen davon, Eisenbahnen und Strallsen zu bauen, Tunnel durch Berge zu legen und Schächte in die Erde zu graben. Sie sind lakonischer als die künftifxen Soldaten, diese Zurück- haltung ziemt dem werdenden Manne der Wissenschaft. Im Gegensatz dazu sind die Landwirte sehr mitteilsam. Die SchwSrmeral fOr Wfilder macht sie angensoheinlioh au Poeten. Uit 106 Stimmen kommen sie an dritter Stelle. Aus den eingehenden Begründungen sei ein Beispiel mitgeteilt: »Ich werde Weinbauer werden. Das ist der Beruf meines Vaters. Ein guter Arbeiter wird von aller Welt geachtet. Der Ackerbau ist der vomohmste der Berufe. Ich will kein Ailtagslandwirt sein, fsondern ein gebildeter. Ich bin dreizehn Jahre alt. Wenn Bonaparte jetzt lebte, würde ich mich unter seiue Fahnen stellen. Aber da es mit dem Schwerte nicht geht, nehme ich den Pflug.t Neben diesen schon erwfthnten Bemfoarten wecdea von den Enaben noch eine groCae Zahl anderer genannt 68 wollen Haler und Bildhauer werden, 98 Eaufleute, 93 Arzte, 20 Journalisten, 10 Priester. Die künftigen Mediziner zeichnen sich durch ihr gefühlvolles Herz aus; sie wollen vor allem den Menschen helfen. -Ich werde den Unglück liehen Gutes thun. Ich werde niemals von ihnen üehl verlangen.« Einer hat sogar die edle Absicht, Gerichtsvollzieher zu werden, aber aus einem menschenfreundlichen Motiv; :»ein ausgezeichneter Beruf,« schieibt er, »man kann durch seine BatsohlSge den armen Leuten helfen.c Was aber besonders aufflllt und fUr frsnaOsisches Wesen vielleicht beaeichnend ist, das ist, dafs so sehr wenige Knaben davon träumen, dereinst in ferne Länder, in die französischen Kolonien zu ziehen. Nur 28 äuTsem den Wunsoh, einmal das Vaterland zu verlassen, 28 von 1560! (L.lf.N.) U.

8. III. Versammlnng des Allgemeinen Deutschen Vereins für Kinderforsohung.

Freitac:, den 2. August von abends 8 Uhr ab und Sonnabend, den 3. August von früh 10 Uhr ab findet die diesjährige Versammlung von Freunden des Studiums der Psychologie und Pathologie des Kindes in der Anla des Pädagogischen Univeraitätsseminars in Jena statt. Für die Tages> Ordnung sind bis jetzt folgende YortrSge ancremeldet:

1. Hofrat Prof. Dr. Bins wanger- Jena: Über Hysterie im Eindesalier.

2. Prof. Dr. Hoffa- Wflrzburg ; Ober KinderlAhmungen und ihre medi* zi n i sch - 1 ifid agog i sch e Beh a lul h m g.

3. Regierungs- und Medizinairat Prof. Dr. Lcubu scher- Meiningeii: Über die Schularztfrage. Praktische Ergebnisse der schulärztlichen Thätigkeit

Weitere Anmeldungen nimmt entgegen, und nfthere Auskunft erteilt namens des Vorstandes

J. Traper.

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C. Litteratur.

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C. Litteratur,

I.

Die Stftdt Antwerpen und das Kindorstudiuia.

Seit kurzer Zeit besteht in Autweipea «aoB Gemeiiiteeiiiriditaflg für das Kindor- afaidiiim, wie sie nnsrar HoniiDg nsoh noch nirgendwo andei-s angetroffen wird. Im Anfang' des JaJires 1899 ist offiziell eingerichtet worden der ^Pädologisclie Schuldienst«, mit welcheju ein padoiogi- sdies Labomorinm verboiideD ist, im Oebftade Lange Leemstraat 16. An der ßptze steht T)r. M. C Schuj-ten.

Der Zweck der Eiurichtung ist erstens, padagogiM:he und padologischa Probleme dmoh wissenst^isltlidie üntereadumg 3uer LSsmig tOhnt m bringeOf und swei> tens , in prafetiitthen Angelegenheiten eine i - nlminf? auf wissenschaftlicher (iruudla^e eiuiuhrt^n zu können.

Dieser doppelte Zweck tritt auch deut- Ikli liezvoir in der ersten Nanmer des »Pädologisohen Jahrbaohes«, das tinter Redaktion des Dr. Schuyten von der städtischen Beliürde lieraa«?gegeben wird. Diese erste Nummer für das Jalir 1900 tost vor tausem ans Idsht, ein tachtig aoagestattetas Weit von 210 Ssiten im Preise von 5 Fr.

Im Vorworte bespricht der Redakteur die Erscheinung, dafs die belgischen Lehrer im allgemeinen mit den neuen Ergübuisscn der physiologisolieii und psychologischen Untersuchungen noch unbekannt sind, ob- ^eioh diese beiden Wisserisehaften doch die Grundlage zur Pädagogik bilden müs- msu Kr miSät dies der mangelhafteu Ausbildung und der FiUmmg der belgi- sdien pädagogischen Zeitaohriftea beL Und dann .sagt er: »Die Zukunft der mo- dernen Pädagoink ist iiirht xweifelhaftr da Hie ihre exp' i iiii 'ni''l]L' Periode errciclit hat, wird sie dcuA\ ege lüier andren exakten inssensohaftan l<^n; ae wird sidi ent-

wiokeb dnroh dss Stadium der oat&rlioh«i

Erscheinungen im Leben der Kinder;... sie wii-d emporwach.^^en durcli das Labo- ratoriuni und durch das AIasseuoxi»eri- ment und also diejenige Steile neben ihren beneidenswertsa Sdnvastoni Chemie, Hiy- sik nnd so viele andre eiondimen, auf die sie ein unbestreitbares Anisdit hat.

^Mitzuhelfen, die.sen Traum zu rer- Nvirklieheu, ift der Zweck des »Pädologi- scheu Jahrbuches«. Der Herausgeber wünscht, dalk dieses ein pttdsgo^sohes Organ von streng wissenschaftlichem Cha- rakter bleibe, daCs es ein sichrer Führer werde für die acfmerk.samen. suchenden, gewissenhaften Lohrerinnen und Lehrer.«

Bemeiienswert ist in diesen Woiteo die fortwährende Identifikation Ton der Wissenschaft der Einderkunde nnd der wis<!enschaftlichen Kunst der Pädagogik. Die Kiuderkuüde ist Hilfswissenschaft der Piida^ogik, eine hociist wichtige, not- wendige ond viel sa wenig gekannte, aber doch eine der Wissenschaften, die der Pädagogik behilflicli sind, ihre eignen Zwecke und ihre eignen Methoden be- stimmen und anwenden zu lernen.

Der eiste Attilnl irt eine ei^iimen- teile Stndie des Bedaktenis über die Zunahme der Muskelkraft bei Kindern im Laufe eines Schuljahres. Pehou früher hatten die Untersuchungen des Vorfaijsers über daä Wechseln der Aufjuerksamkeits- schärfe der Antwerpener Schulkinder ihn in der Meinung bestärkt, dals der Wechsel der Jahreszeiten von grorscm EiufluCa sei auf die Entwicklungserscheinungen des Kindes.

Zu etforsohen, inwiefern andi die Muskelkraft sich abändert im lAiif e dnes

Jahres, und ob auch hierin ein klima- tologischer Einfluis nachzuweisen sei, war der Zweck dieser Untersuchungen.

Die Muäkelktaftmebsuugen wurden vor- genommm mit den Sohfilern von swei

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C. Litterttnr.

OemMsdeachnleii Ton 12 bis 16 Jahren,

i'innial im Monat i.ni loo 15. und an ! iiisolboii Tage der Woche in derselben JJitta^^s.stunde vom Oktober 1898 bis zum Juli 1899. Jedes Kind muktd erst mit dar linken, dann mit der mbtan And, 80 kittftig wie m^ofa an einem Dynamo- meter kneifen. Dr. Schiiyten laa die Ziffern ab, die Lehrerin zeiohnetf» auf. Die Expcrimento dauerten jedesmal 1'/, StuuUe oder ungefähr 15 Minuten pro Klasse.

Die Eigelmisae sind bearbeitet nach der Methode Quetelet-Oaiton nnd für jeden Monat pn7ppiort in neun Tabellen oder Kurveu; uumlieh dn-i mit den Ziffern der Knaben (linke liitud, rechte lland, linke nnd rechte saaammen); drei mit diesen selben Ziffern für die Müdchen nnd dann drei mit denselben Sffwn für Knaben und Mädchen zii^^ammon.

Hierdurch wunle es miigheh, nieht nur in den aufeiaauderfolgcndeu Monaten den Terimf der HnakeUnaft an bestimmen, sondern anoh einen Vei^ioh anansteilen zwischen den Erscheinungen an der rech- ten und linken II.iii I und aueh zwischen Knaben \md MuUcheti.

Verfasser gelangt zu folgenden Eigeb- nissen.

'^Tdirend dieser sehn Monate hat die Kneifkr.ift zn<Tenommen in beiden Händen, sowohl liei Knaben als bei Mädchen, bei ersteren jedoch viel mehr als bei letz- term. Knaben von 13,9 KO bis 18,5 KG *- 4,6 K6 mehr, Ißdehen von 13,8 KG bis 10,1 Kn ^ 2,3 KG mehr. Durch Veif^Icicli der rechten und linken Ktj' ifknift gehini^t man zu einem merk- wüi^iigen Kesttitat: stets wird mit der rechten Hand mehr Kralt aasgeübt als i mit der linken, nnd dieser Unter- schied wird immer gröfsor, sowohl bei den Knahon als bei den Mädchen. Hiemns <^i']\t hen-or. dafs die Jugend auch im Alter von 12 bis it> Jahren fortfährt, sich ungleichseitig snentwlekeln, eine Eischeiniuig, die nm so mehr die Anf- merksamkeit Teidient, als festgestellt ist,

dab eine einseitige BntwioiklaBg der

rechten Köiperhälfte mit Atrophie der enfspreehenden linken Nervenccntren ver- bunden i.st. ') Ob diese ungleicliseitige Entwickelang bei den Knaben schneller geht als bei den Hldch«i eiheUt nicht ans den erhaltenen Ziffton.

Noch eine sehr merkwürdige That- saclie ist dieso, daCs die regelmäfsige Zu- nalinie der Muskelkraft durch einen Rück- schritt unterbrochen wird im Monat März. So findet man, dab der Monat ll&n anfs neue sich als die nngfinstigste Periode des Jahres für die körperliche Entwicke- hmg kennzeichnet Dr. Karl Schmid- Munard nnd Axel Key faiid'^n srhon früher, daTs die Gewichtszunuiimu im MXn am geringsten ist*)

Anf diese anch wegen der Methodik der üntersuchung interessante Studie folgt der Bericht von Dr. Schuytens Unter- suchung über die Frage, inwiefern der Handarboitunterricht für MiMlcben, wie dieser an den Antwetpener Oemeinde- schulen erteilt wird, einen scb&dlidien Einfluls auf die Rehkraft der Kinder aus- übt. Als Resultat diesi-r Untersuchung sind Vorschriften erteilt worden, denen das Material zum Stricken, auf Stramin Sticken, Häkeln nnd Kihen entsprechen muls in Besng auf die Farben und die Dichtheit, so auch fiir die Dicke der Strick-, Stramm-, Niih- und Häkelnadeln. Diese Vorschrüten smd in das Jahrbuch aufgenommen worden und dnrdi Abfail- dnngen erlintert.

Femer folgt ein Aufsatz von Dr.

^) Siehe hierüber auch die interessan- ten AnMtze von Emannel Bayr (Wien) über »Die Notwendigkeit einer größeren Pflege der Lmkshändigkeitt in der Zeit- schiift t Schulgesundheitspfl.« , J^^. löUS, S. 604 n. w. nnd Jg. 1899, 8. 748 u. w.

A. J. S.

*) Nähere Untersuchungen, deren vor- läufige Resultate Dr. Scbuyten diesen Sommer anf (b'm TV. Internationalen Kon- greß für i'sychologie mitteilte, thun dmi gesetzmäfsigen Einflob der Jahres^ Zeiten dar. A. J. 8.

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C. littantor.

14a

0. 8oh«meI]ioat über die Vbniohts- oabiegdii, weldie die Sditüe anwenden

kann gegen Verbreitnng der Lungeo- schwindsucht, mit einem Cirktdar als An- hang, weicbeti voriges Jahr au alle Ant- veipener Schulkinder verteilt worden ist Tflo Bntoi des »Bdgisdien Bandes nr Bekämpfung der Tubexkoloee«.

Der letzte, nicht der wonifrsl inte- ressante Teil des Buches ist eine ausfuiir- liche Bibliographie, worin die wichtigsten, in den letzten Jahnn enohienenen Werke iber Fi/käog» ndSgononuneii und teils mehr oder irenigeransfQliriioli bespcodien «od.

Schlie£alich findet man einen k\irzen Aufsatz über den Unterhoht m der Fäda- gDgik am den noidameritaniftohnn Noiaial- Mimlen toh der Hand des Dr. 0. Chris- miD, der 18d6 zu Jena promonerte mit einfr sehr Lckaunt gewordenen Disser- tation ül»er i'udoiogie, und der jetzt I^li- ] rer aii dorn staatlichen Lelirerseminar zu Emporia (Kansas) ist

So ist dieeea Jahrbaeh ges Zeugnis für die grol^artige Weise, in welcher die Antwerpener Behörde und bes>uders der Schtiffe für deu I 'ntorrielit. Dr. Deüguin, üa^s Kiudei'ütucuum uiate- tuSi und monlieoh stötzt

Dr. Schnyten war Ine 1890 Lehrer in Antwerpen und promovierte in jenem Jahr an der nt r Iloclisohule. Als er seine ersten Aufnierksamkeit.sexperimente, die er in seiner lüa:töo verrichtet hatte, <duie dab jemand etaraa davon müMe, dem Dr. Deagnin Toile^, trog dieaer iimi gleich auf, diese Experimente in grö&erem Mafsstaho zu wiederholen.

Schnyten wurde des Klasseniinter- richtä enthüben, und so entstand der >Fä- dokgisclte SchnUienatc.

Jetzt hat er ein »Laboiatcmam« mit zwei Sekret irr n ; für Bücher und Appa- rate gewährt dl Stadt ihm dieses Jahr 1500 Fr., näclistes Jahr 2500 Fr.

Wahrlich, dieae Freigebigkeit darf wühl mit Ehren erwtthnt weiden«

Haag. A. J. Schreader.

2. P. Slrwü^ Kinder echnts rot und bei der Gebnrl Bevue des Revues, Heft vom 15. Jan. 1900. Faria, 19,

Avenue de l Opera.

Bekanntlich geht die Geburt^ziffer in Frankreich in einer Weise zurück, welehe die Yateriandafrennde enchreekt. Vor- nehmlioh Too dieaem Oeaichtspunkto aus wird das genannte Thema heliaTifiolt. Man denkt über die Steigerung der Goburts- zahl und die Lebensfähigkeit der Neu- geborenen nach. Meislena aind Früh-, Fehl- md Totgehnrten, Mangel an Lebena- fähigkeit der BSuglinge in der Arbeiter- bovölkerung, wo sie am meisten vor- kommen, auf die berufliche Beschäftigung in der Form, die sie durch Anwendung der Masohine eiftalten hat, nuMm« führen.

Bis vielleicht mit der Yerteflong yon elektrischer Kraft ins Hans die Tlaus- indubtrie und mit ihr ein besseres, dem ehemaligen ähnüchesFamilienleben, wieder- kehrt, iat dem Obel duch gesetsliohe BegelttDg der Ihnen- und KindentEbeit zu steuern. Alle ungünstigen Umstände, unter denen die Schwangerschaft verläuft^ wie körperliche Überanstrengung, unzu- längliche Ernährung, physische und psyohiache Leiden, beaehlennigen die Snt- btndang und geOhxden die OebarL Maa hat die Thatsachen genmmelt, die von der Industriearbeit her von verderblichem Einflüsse auf (ieburten sind, indem sie Fehl-, Früh- un^ Totgeburten nach »»ich ziehen (Fran Dr. Bernaon). Pinard hat Beobaohtongen angestellt über die Kinder der Frauen, welche in seiner Klinik sich entbinden lielson das waren solche, die während der ganzen Dauer ihrer Schwangerschaft arbeiteten und hat sie veigUcdien mit denen Bokther Mütter, die in Aaylen und Hoapitülein Abwertung nnd Vijrmhe gmoasen; ebenso hat er Be- obachtungen gemacht über den Verlauf der Schwangerschaft beider Kategorien und das Kürpergewicht der Kinder beider Klassen. Dieaer Yeij^aoh hat den heil- samen Einfhilb der Buhe auf die Daner

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Gw UtteTBlar.

der Sdxwaagendutft, sowie auf das Oe> |

wicht der Kioder siegreich nafdigewieseD. I Es gilt allgemein: Schwangrere, dio sie Ii bei der Arbeit übemelinien, i:i'l)iiren vor- zeitig ; Schwangere, die in stehender Hal- tung arbeiten, «kidm dne pachteilige Sückwiilcang anf die LebenBfihigleit ihrer NeagebofiiifiB; die sitzenden Arbeiterinnen sind diesen gepeiüilxT im Vorteile; beide Kategorien werden von denen übertroffcu. die sich wiiUrend ihrer Schwaugerscha£t fiehonimg anf eilegen oder n^üudich feiern.

Das Kind der Mutter, die 2 oder 3 Monate vor der Niedcrhinft sich der Arbeit enthält, wiegt mindosteus 'M)0 g mehr alü dm derjenigen, die bis zur Kut- binduDg stehend arbeitet (Ii ach im out).

Im Asyl nnteigebtaohte Schwangere gewinnen für die Dauer der Sohwangar- schaft einen Zeitzuwaehs von 20 und mehr Tagen gegenüber jenen, die bis zur Kiederkanft arbeiten (Frau Dr. Sar- raute-Lauriä). Ein Vergleich zwischen dem Einfinaae der Berofeartea auf das Durchschnittsgewicht der Kinder von Müttern, die während der Schwan frerschaft feieneu, und dem Einflüsse der Kuhe auf das Duiohschuitt^ewicht der Kinder von Müttern in anstrengenden und leiohtan Bemiaarten mit oder ohne adtweüige Ruhe, hat ergeben, dais der Unterschied in der Natur der Berufsarten fast un- merklicn ibt, wahrend wiederum in der- gleichen beobachteten Berufsarten der Einiliilh der fanaianiog ¥^og, d. h. ent- sohieden gänatjg war (Letonrnenr).

Die Fraa, welofae Tor ihrer Nieder- kunft Schonung genossen hatte, schenkte das Leben einem Kinde von durchschnitt- lich 3,32U kg, diejeuige, welclie ihre Arbeit ohne tfberlieibung fortgesetit hatte, einem von 3,130 kg^ nnd endlich die, weiche hia zur Ermüdung gearbeitet hatte, gebar ein Kind von durchschnittlich V^. Das Übergewicht der ereteren bedeutet ein wirkliches Erbgut an Lebensfähigkeit, eine Alt Übenohnlis. Im Inteieaae geennder, lebwialühiger Oenentionen nnd einer im

WettibeweTbe der Kultur leiatoagafUiigen

Nation liegt es, gesetxlidi je nach den Ums-tiinden eine teilweise oder gÄnzlicha Unterbrechung der Arbeit zu f'ir!«'rn, aber auch aus 7 wQp.km afRigkp i Lv^; um d im für die Sdiadlodialtnng der Arbeiterinnen anfrakommen. wie in Deutachland nnd Österreich-Ungarn. "Weiter erfordert natio- nale Vorsor^Ere im unmittelbaren Interesse der Alütter und Kinder und im mittelbaren der Nation, Vorkehrungen zu. treffen, da& Kiodermoide nnd Hnaaetzungen nicht mehr veivudit weiden, dab Entbindmigaheime zu Stätten moraliaeher Aafziohtaag und Kettunfj werden. Altenburg. Thieme.

Dr. i. 8tf«|rflt Stand der Kinder- paychologie in Europn und Ame- rika. Berlin, Vorlag von Hermann Wahher, 1H<J<J. 18 S. Preis 30 Pf. Diese Abliandlung erschien aL> Süparat- akh-uck aus der »Zeitschrift für pädago- gische Psychologie niMi FaUiolc^e«. 6t. faki knra nnd übersichtlich das zusammen^ was bis jetzt auf dem Gebiete der Kinder- forschung geleistet wuitle und ermöglicht daher dem Leser eine schnelle Ürieutie- rung. Deutschland hat vor allem an Preyer und Ufer führende Oeiatw ge> fanden; in Fkankreioh sind Perea, Com- payrß und Binet am hervorragend.ston thatig; Italien steht hinter beiden Umdern weit zurück \ in Kaglatid findet die Kinder- forschung eine eifhgu l'ilHge, und ea fast wAk hier Snlly heaonden herrcigethan. Die Führerrolle auf dem Gebiete der Kindorforschung kommt jedoch in unserer Zeit ganz unstreitig No^damel^ka zu, wo nicht nur durch bedeutende Gelehrte, wie Stanley Hall, Barl Barnes, Mark Baldwin, sondern auch durch zaldreiche Vereine und Zeitadiriften die kinder- psychologische Bewe^tng gefördert wini. Diese Abhandlung 8t im pfls wurde be- reits ins Ungarische und Norwegische übenetat, was stdierlioh fOr ihre Bnnoh« barkeit bricht.

I>rock von Uena&im Boyor ii Sütmo in Langonsalz».

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A. Abhandlungen.

1. Die Chorea im Xindeaalter.

Vortrag, gehattsn am 4. August 1900 zn Jana in der Vewamnihmg des äUgemflinen

Yeraina fBr CndeifoxBohiiiig

De med. WiMlltar|-Bii-X|gex8biiig Im Ihflr. Walde.

AngedcfatB der stattüohen Dttentor über den Veitstanz ersoheint es hst als Yermessenheit, diese Kraakheit, ohne an und ffir sidi et- was Neues zu bieten, zam Gegenstande einer besonderen Betcaohtiing ZD machen. Indes die Zusammensetzung der heutigen Yersammlnng nnd Zweck und Ziel derselben resp. des Vereins für Einderfoiaehnng Tarleihen doch einer Besprechung dieses Oegenstandes ein besonderes, ein neaes Geprige. Oerade das Gebiet der Chorea ist ein solches, an! dem sich der Mediziner und der Pädagoge die Hand reichen und auf dem ihre gemeinschaftliche Förderung der Kenntnisse über das Bntstehen der Chorea uns auch in gewisser Beziehung einem end- lichen Verständnis für das innere Wesen derselben näher bringen könnte.

Wohl lassen n. a. die Beziehungen zwischen Gelenkrhenmatismus und Entzündung der Innenhaut des Herzens einerseits und Chorea andererseits vermuten, dafs der Krankheit eine infektiöse Ursache zu Grande liegt Sichergestellt ist dies aber bis jetzt noch nicht Wir können einstweilen die Chorea nur als sogenannte Neurose betrach- ten, da für ihre Krankheitsäulserungen, für die funktionellen Störun- gen keine bestimmte Erklärung durch Nachweis irgend welcher ana- tmnischer Veränderungen gegeben werdeu kann. Die iiuKro Krank- heitsursache ist uns thatsächlich noch unbekannt; dui Krankheits-

HS» Sodcrfctiler. VI. Jaht^griintr. 10

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Abhandlangen.

sitz kann peripher, in den motorischen Nerven, oder central, in Ge- hirn und Rückenmark, liegen.

Jaiiiiumderto lang schwankte überhaupt der Bogriff des Veits- tanzes. Man unterschied den greisen Veitstanz der Deutschen und den kleinen Veitstanz der Engländer, für den man auch die einfache Bezeichnung s unwillkürliche Muskelbewegungenx setzte. Mit jenem Begriffe meinte man die grofsen Tanzepidcmioen des Mittelalters, die teils eine wirkliche epidemieartige Krankheit darstellten, teils auch als toll-religiöse Tanzorgien an den Tagen des heiligen Veit und auf bestimmter ihm geweihter Stätte ein zielbewuTst angewaiidtes Heil- and Schutzmittel zur Beseitigung einer unüberwindlichen inneren Unruhe und Unbehaglichkeit sein sollte. Der engüsche Veitstanz entsprach seinerseits eher dem BUde, das wir uns heutzutage von der Chorea machen. Erst v. ZiEMasKN legte die schwankenden Be- griffe dahin fest, dafs er jener Chorea der Deutschen ganz dio Be- rechtigung einer Krankheit sui generis absprach und sie nur als einen Ausflufs echter Psychosen und Cerebralleiden einmal, dann aber auch als Symptom der Hysterie resp. als Simulation charakterisierte.

WoLLENBEBa Unterscheidet drei verschiedene Rubriken von Chorea:

1. Die infektiöse Chorea.

2. Die degenerative Chorea.

3. Choreiforme Zustände.

Die degenerative Chorea können wir aus unserer Bespre- chung gleich ausschalten. Sie ist die Folge direkter Vererbung und ist gleichzeitig verbunden mit geistigem Verfall. Sie kennzeichnet ganze Familien und Stammbäume, tritt nie in der Jugend auf, son- dem meistens zwischen 30 und 40 Jahren.

Die infektlose Chorea ist diejenige Chorea, an die wir im gewöhnlichen Leben zuerst denken, und welcher im Vulksinunde immer noch der Name »Veitstanz« beigelegt wird, Das Lebensalter» in welchem diese Chorea vorkommt,, entspricht fast genau den Schul- jahren, also der Zeit vom 6. 14. Lebensjahre. Freilich sehen wir auch gegenüber den älteren Jahren verhältnismäfsig oft in der Puber- tätszeit Choreaerkrankungen ; diese ncinnen dann meist auch <'ino schwerere Form an unter mehr oder minder starker Miterkrankung der Psyche. Die also für uns in Betracht kommende Chorea ist ein körperlicher Zustand, in welchem der Patient die Herrschaft über seine willkürlichen Muskeln verloren hat Dieser Zustand kann in einer grofsen Stufenleiter von Intensitäts- und Variationsgraden vor- kommen, von unwillkürlichen Bewegungen der Finger bis zur phau- tasiereichsten Permutation der einzelnen Muskel- uud Uelenkbewe-

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WiKDKBDBO : Die Chorea des Kinde».

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g^gen. Diese mannigfachen Bewegungen geschehen ohne irgend welche Absicht; sie können unter dem Willensimpuls zu einer be- stimmten Bewegung einen viel höhereu krankhaften Grad erreichen, wobei die gewollte Bewegungsrichtung nicht getroffen wird, vielmehr durch Hinzutreten von unwillkürlicher Aktion anders wirkender Mus- keln eine Kreisbewegung um das Richtziel entsteht. Manche Be- wegungen des Normalen, d. h. normal gewollte und normal sich be* thätigende Bewegungen sind die Resultantwirkung verschieden wir- kender Muskeln, und manchmal erscheint es, als ob bei den choreati- Bohen Bewegungsstörungen die gewollte Gesamtwiikung nicht erzielt, vielmehr als in ihre einzelnen Komponenten zergliedert erschdint 80 geschieht es, dais die Patienten die gewöhnlichen Yeniohtimgqp, wie An- und Ausziehen der Kleider, Essen, Gehen u. s. w. nicht mehr leisten können. Auch die Sprache wird nndentlich, Kopfschmenen und Schlaflosigkeit stellen sich ein, die ganze psychische Stimmung ist ans ihrem Gleichgewidit gebracht und auf Beeinflussungen von anlsen leicht reizbar.

WoLLKNBERo definiert die infektiöse Chorea folgendennalhen: »Die infektiöse Chorea ist eine, besonders im späteren Kindes- alter und beim weiblichen Geschlecht, meist subakut entstehende, auf einer Schftdigung des Gehirns, vorzüglich der GroMimrinde beruhende, heübafe Erkrankung, welche sich äufsert auf körperlichem Gebiete in ungewollt und mangelhaft koordinierten, durch Affekte und Willens- intentionen gesteigerten, im Schlafe meist aufhörenden Bewegungen der verschiedensten Muskelgruppen, auf geistigem Gebiete in ge- mütlicher ÜboreRegbarkeit und in Stimmungsanomalien, seltener in Zustiaden rasch vorübergehender deiiiiöser Yerwonenheit oder etwas langsamer ablaufender psychischer Hemmung, c Ich wiederhole hier- an, dnb letztere Zustände btt der Chorea der Kinder so gut wie nicht angetroffen werden.

Die uns beschäftigende Krankheit tritt oft plötzlich bei anschei- nend völliger Gesundheit auf. Es giebt aber eine Reihe von Füllen in denen sich die Krankheit leise vorbereitet und sich ganz allmäh- hch in ihren Äufserungen steigert Diese Prodromalerscheinungen und auch diejenigen Fälle im ganzen, in welchen die Chorea über- haupt leicht verläuft, müssen den Pädagogen besonders interessieren. Die bisher lebhaft gewesenen^ an den Vorgängen der Aufsenwelt teil- nehmenden Kranken fangen an stumpf, in sich zurückgezogen zu werden, yerlieren das Interesse an ihrer Umgebung, haben keine Lust mehr zur gewohnten Beschäftigung, an Erholung und Vergnügen. Sie kUgen Uber Beschwerden, die wir sonst hauptsilchlich von Neur-

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A. Abhandlongen.

asthenikem zu hören bekommen, wie Schwindel, Flimmern vor den Augen, Ohren*5ausen , rheumatische Empfind un^rf n in den Extremi- täten, im Rücken, Kopfdriick. Mattigkeit, Abgeöpunntheit. Appetit- losigkeit, Reizbarkeit, wechst Inclo Stimmung. Alle diese Beschwerden können in das ganze frühere AVcsen des Kindes so einschleiclien, dafs sie von selten der Eltern, Erzieher und Lehrer zuerst oft genug gar nicht als Kranltheitserscheinungen aufgefafet^ vielmehr als be- ginnende Verderbnis der ursprünglich guten Anlagen des Emdes, als böse Gewohnheiten u. s, w. aufgefafst werden. Auch die Bewegungs- st*>niii':;r'n können ganz allmählich beginnen. Manchmal sind nach der Richtunp: hin unwillkürliche Bewegungen der Finger das erste, was sich zeigt Die Kranken greifen oft nach dem Kopf, nach den Kleidern, sie lassen Gegenstände fallen, verrichten die Arbeiten, die mit den "Haiiden zu machen sind, ungenau, während sie sich viel- leicht hierin früher einer grofsen Akkuratesf^e befieilsigten. Sio fangen aber an schiecht zu sehn i hon und zu zeichnen, machen viel Tinten- klexe, die Mädchen fet tigen ihre Handarbeiten langsamer und schlech- ter. Die kranken Kimlor rutschen auf den Sitzen herum, wenden den Kopf bald hierlim, bald dorthin und bieten das Bild eines Un- aufmerksamen. So kann es kommen, dals Erziehpr und Lehrer im Verkennen der Sachlage die Kinder strafen nnd züchtigen und da- durch begreifhcherweise den Kr;inkheitsvprlruif nur fördern und auch auf die Litensitiit der Ertrankung ungünstig einwirken. Die Be- urteilung aller jener vermeintlicher Ünaiten wird für den Laien um so schwerer, als im Anfange manche Kranke sich beherrsclien und die ZwanETsbewcgungen unterdnicken können. Es ist erklärlich, dafs nur zu leicht die Kranken disziplinarischer Mafsregelung unterwarfen smd. Es ergiebt sich von selbst, dafs der Pädagoge sich nicht erst mit eigener Stellung der Diagnose auflialton soll, sondern bei dem geringsten Verdacht aut Krankhaftes überhaupt die Diagnose dem Arzt überlassen und den Schüler resp. die Eltern deshalb sofort auch an einen Arzt weisen mufs. Hilfsmittel zur Steilaug der Biagiioee hier zu besprechen, hat also auch kaum Wert.

Körner führt Stellen aus dem »ärztlichen Gutachten über das höhere Töchterschulwesen Elsafs-Lothringens vom Jahre 1884« an, in welchem es heifst, dafs die Schulschädlichkeiten »wohl im ganzen nicht häufig« zur Entstehung der Chorea beitragen, dafs es aber, wie es dort wörtlich weiter heilst, vorkommt, »dafe unwissende Eltern und Lehrer die ersten noch leisen Äufserungen der Krankheit für Absicht und Ungezogenheit halten und die Kinder dafür züchtigen. Dann nimmt das Leiden oft rasch eine schlimme Gestalt anc. Eüsa-

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WixDXBimo: Dia Chorea des CndeB.

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MArr. welcher mit zu den Verfassern dieses Gutachtons gehört, teilte KoRNEE brieflich folgendes mit: »Wir erlebten in iStraisburg, dals ein Lehrer einen choreakranken Knaben mit Ohrfeigen traktierte, auf wel- chen Eingriff schwere Nervenerscheinungea eintraten und die Ange- hörigen eine Klage gegen den Lehrer anstrengten. Auch früher er- lebte ich Milshandiung choreak ranker Kinder durch Lehrer, welche die pathologische Ungeschicklichkeit für Ungezogenheit ansahen.« Aach Henoch weifis von solchen Erlebnissen aus seiner Praxis zu berichten. Der Engländer Sturoes bezeichnet folgende Schulschäd- lichkeiten als Ursachen der choreatischen Erkrankung:

1. Kammer und Verzweiflung über zu lange Unterrichtszeit, wie über unangemessen schweren Lernstoff. Hier spielt beson- ders das Rechnen eine grofse Rolle, namentlich das Dividieren.

2. Angst vor den Pi-üfungen und die Folgen davon wie Schlaf- losigkeit u. s. w.

3. Hausiautga.ben, wenn den Kindern die zur Anfertigung der- selben nötigen häuslichen Bequemlichkeiten fehlen.

4. Stockprügel und andere Strafarten, besonders wenn dieselbe tingerecht sind.

Sri R<iL.s fuhrt im ganzen 28 Fälle an, die er auf die eben er- wähnten Ursachen zunu kfuhrt, wobei er betont, dais hierzu nur die- jenigen Fälle von ihm gerechnet worden, bei welchen allo anderen ätiologischen Momente, namentlich Rheumatismus, ausgeschlossen waren und die Kinder oder deren Angehörige als Ursache der Erkrankung Schulschädlichkeiten angaben. Aufserdem führt Stürges noch Fäll© an, die beweisen, dafs auch die vorher uicht sichtbaren Aufserungen der Krankheit infolge ungerechter Strafen ausbrechen können. Ich will auch die von Körner betonte Thatsache nicht unerwähnt lassen, dafs es sich bei den SruKOEsschen Fällen um schon sonstwie geschwächte Schulkinder handelte, die der Chorea zum Opfer fielen.

Um auf die choreatischen Bewegungsstörungen, wie sie zu Tage treten, zurückzukommen, so zeigt sich die Bewegungsstörung oft zunächst nur bei der Ausführung willkürlicher Bewegungen. Das Unvermögen, die Bewegung so exakt auszuführen, wie sie gewollt ist, die Ung^ eduAUehfceit bei dieser oder jener Bewegung, die früher eben ge- sehiokt und glatt abgewickelt wurde, fallen auf. Daen kommt eine Hiäieleiligung ▼on Miukeln, die bei der beabsichtigten Bewegung nielit mitznwirken haben; dieselbe kann einen solchen Grad erreichen, dals fsst simttiohe Muskeln des Körpers bei ^er besbsidifigten iMdien Bewegung z. B. des Armes mit in Aktion treten und die ^inrolnen Körperteile sieh in wunderlichen Formen mitbewegen*

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A. AUiaiidluQgeii.

Während zuerst nur ein leichtes Stimrunzeln und Mundverziehen be- obachtet werden konnte, sehen wir mit fortschreitender Krankheit Verstellungen der mimischen Muskulatur zu den merkwürdigsten Grimassen. Auch die Augäpfel worden nach den verschiedensten Richtungen bewegt, die Lider öfter aL» physiolegisch nötig geschlossen und geöffnet. Die Zunge wird in gerader oder seitlicher Richtung herausgestreckt und wieder eingezogen. Die Zuckungen und Be- wegungen treten bald in diesen einzelnen Muskeln und Muskel- gnippen, bald in jenen, bald zu gleicher Zeit in verschiedenen auf, biüd rasch auf einander folgend, bald mit kürzeren oder längeren Pausen. Die höchste Potenz der Bewegimgsstörunfrea wird von den Franzosen »folie musculaire«, Muskelraserei oder Muskel wahnsinn, ge- nannt EuLENBUKü schlägt den Ausdriick Aliiskelanarchie vor, denn, wie er sagt, scheint es, -^als ob die von keinem höheren Willen zu bewulötem Zwecke gelenkten und geleiteten Muskehi die ihuen über- lassenen Gliedmafsen, mit abwechselndem Erfolge um die Herrschaft ringend, plan- und zielius hm- und herschleuderten«. Gleichwohl scheint es bei nicht zu schwerer Erkrankung, als ob aich eine gewisse GesetzmäEäigkeit in der Erscheinun-sfurm der Bewegungen erkennen läfst, da, wenn ich mich su aii>«lrucken darf, die Eorm der Krank- heitswellen in den Kerven, denen die Muskeithätigkeit unterliegt, jedenfalls eine einheitliche ist und nur durch Intensität und Zusam- mentreffen verschiedener Wellen verschiedene Bilder erzeugt werden.

Wenn wir die Häufigkeit und Intensität, mit denen die einzel- nen Körperteile von den eher eati sehen DewoL^un^^sstjruugen befallen werden, beurtoilfn, so fällt auf, dafs vor allem die obere Körperhälfte sich beteiligt. Ol) die- davon herrührt, dars die Muskeln des Kopfes und der Arme bei weitem die für die Lebensbedürlmsse und Lobens- gewohnheiten des Menschen gröfste und komplizierteste Arbeit zu li'isten !)abon und deshalb eher auch ins Krankhafte verfallen? Es iielse sich annehmen. Dagegen spricht aber wieder die Erfahrung, dafs bei halbseitiger Chorea ein erhcl)liches statistisches Plus auf die linke Seite fällt, während doch die meisten Menschen Eechtshänder sind und daher den rechten Arm auch öfter, unter Anwendung von mehr Kraft und auch schliefslich mit grölserer Kombinationsgeschick- lichkeit der einzelnen Muskeln anwenden als den linken. Diese halb- seitige Chorea bildet sicli allerdinirs in den meisten Fällen zu einer doppelseitigen aus. Während der Kumpf alle möglichen Wendungen und Verdreh uniron maclit, beschränken sich die Bewegungsstörungen der imteren KxtrerniTjtun auf einfache Streckungen nnd Beuguniren, aal Yeisetzen der f'üüie, Spreizungen der Zehen, Heben auf die Jb ui»-

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Widibiim: Die GhoxM des KiDdee.

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spitzen, sowie auch nur auf Zusammengi^nngcn der Muskeln ohne Mekt auf die Yersohiebungen des Eno<toi^eittflte8.

Es giebt oft genug Brknnkungen an Chorea, bei welchen die Xjnder noch gehen nnd stehen kSimeii, was hinsidillioh der Thenqoie TOD Wert ist, da sie tkh dann viel in freier Loft aufhalten kdnnen Die schweier erkrankten Einder, die im Gehen und Stehen behindert sind, mliBsen sowieso einige Zeit in das Bett gesteckt weiden, sdion um sie tot kleineren nnd grölkeren ünfSllen zu scfatttsen und auch weil sie sich im Bette etwas beruhigen, wobei allerdingB darauf ge- sehen werden mul^ dA& sie durch die Bewegungen nicht ans dem Bette fidlen.

Da auch die Zungen- und Eehldeckel-Kuskulatur in den Bereich der Bewegungsstörungen gezogen werden und die regelmäßige Xhä- tigkeit der Brust- und Banefamuskulatur, welche die AusstoJsung der lor Phonation benötigten Luft bewirken, alteriert wird, wird natür- lich auch die Sprache mehr oder minder undeutlioh resp. werden die dnaelnen Silben and Worte stofbweise hervorgebracht Die Kehl- kopfmuskeln selbst sollen nach y. Zddissbn auch oft ei^^ffen sein wie auch bei Bewegungsstörungen der Schlundmuskeln der Schluck- 4ikt and demnach auch die Nahrungsaufnahme gestört werden kann.

Psfchisofae EEiegungen steigern die choreatischen Bewegungs- sförungen, was auch eintritt, wenn die Kranken eich über die Krank- heit unterhalten oder sich beobachtet fohlen. Ein ErmfidungsgefOhl fehlt meistens, Tielleicht infolge einer gewissen Stumpfheit dieser see- lischen SphSie. Wihrend des Schlafens sistieren die Bewegungen; der Schlaf selbst ist oft sehr gestört.

Wir hsben gesehen, dalh Hilbgriffe des Bidagogen in Bezug auf das Entstehen der Krankheit beschuldigt werden Hierza kommen eine Bdhe pqrchischer Schädlichkeiten wie heftiger Schreck, Angst, Beschimung^ Enttäuschung, Bestrafung, andauernde depressiTe Af- fekte; sie aQe disponieren den Köiper zur Krankheit bez. erhöhen die Bisposition oder bilden das auslösende Moment Sohlechte Er- »*>*"ing, Bleicdisucht, Masturbation, kuiz alles, was den Kdiper und mit ihm das Nerrensystem schwäöht, hat eine mehr oder minder greise Bedeutung hinsichtlich der Krankheitsentstehung. Auch lokale KiankheitBieize können nach Edlembcbo zur Entstehung' der Kiank- hflit Gelegenheit geben. So sah er nach Zahnextraktionen, bei Band- wünnem, bei Erkrankungen des Yerdauungs^tems, bei B^zung des Penis diuch PhimosiB^ bei Entzündung der Glitoris die Krankheit ent- stehen. Die Thatsadie, dals wiederum im Anacdüuib an eine Zahn- eztniktion^ an Bandwurmabtreibung^ an Fhimosisoperation, an Ertth-

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A. Ahhandlmigm.

geborten bei der Schwangefenohorea n. s. w. die Krankheit ecbnell atifhdren kann, lälst die Annahme gerechtfertigt erscheinen, dab ea eich bei jenen Anlässen nicht um znfiUIiges zeitliches Zasammen- treffen mit Chorea handelt Interessant ist ein Fall von Pro! Bdob in Bein, den Hbnoct anfUlirt. Es handelte sieh tun ein 13 Monate altes Kind, welches einen Bilk am After und infolge desselben nur auDserordentlich selten Stahlgang hatte. Bas Eind schente vor dem Stuhlgang wegen der Schmensen; nur alle 8—10 Tage erfolgte eine Deffikation, und meistens 3—5 Tage vor Eintritt der letzteren ent- wickelte sich eine linksseitige Chorea, welche 3—5 Standen nach der DefKkation spnrlos verschwand. Henocb g^ubt, da& man diese Cho^ lea entschieden als eine Reflex-Chorea ansehen mub, und zwar um so mehr, als dorch eine teilweise Durchscfaneidung des Aftersohliels- moskels auch die Chorea daaemd geheilt wurde.

Jr meinem Thema, dessen Fassung infolge besonderer ümstfinde etwas eilig erfolgte, liegt zwar nicht drin, dafk ich die Chorea im ganzen bespreche^ wenigstens insoweit es den Pädagogen interessiert Es ergiebt sich wohl im Interesse der heutigen Yersammlung die Forderang, die Besprechung der Chorea in letzterem Sinne zu ver» TÖUstSndigen. Da wäre nun vor allem auch ein Wort über die Mit* beteiligung der Fsjche zu sagen.

Es ist klar, dals wenn in dem Prodromalstadium, wie wir sahen, schon leichte Depressionszustände und erhöhte Reizbarkeit vorkom- men, die ganze P^obe auch während der Krankheit selbst mehr oder minder stark in Mitleidenschaft gezogen werden kann, aber wie ge- sagt, direkte Psydiosen kommen in dem Alter der Schulkinder so gut wie nicht vor. Die geistigen Regungen werden aber nicht allein durch das peinliche Bewuiktsein der das ganze Ich entstellenden Krankheit, sondern vor aUem durch die in der Krankheit selbst lie- gende erhöhte Beizbarkeit beeinflulst werden. Die Kranken können sich natnrgemäTs nicht sanmieln; ihre geistige KonzentrationsfiUiigkeit wild durch die in den Yordeigrund tretende eminente Bewegungs- tbätigkelt abgelenkt Die Unbehilflichkeit und Ungeschicklichkeit macht sie zänkisch, mtlrrisch, aufbrausend, launenhaft Meiner Mei- nung nach wird, so lange die &ankheit noch leichter ist, die Denk- und Urteilsfähigkeit absorbiert durch das Registrieren und Kontrol- lieren der einzehien Bewegungseffekte und der Differenz zwischen dem wirklichen und dem eigentlich beabsichtigton Erfolg der Be-

^) Das Thema lautete aaf dem Frogianun: Die choreatiächeii Beweguugs- stdnmgen im TfiiwkmHsar.

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'WcEDKBüBO: Die Chorea des Kiadea.

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we<^ng. Daran kmtpfen sich Schlüsse und die Absicht, die ge- sammelten iirfahrimgen zur Krreichung besserer Erfolge verwerten m wollen. Ein gewisser in diesem Sinne für sich bestehender Denkprozefs konkurriert also mit der ^wöhnlichen Denkthätigkeit nnd diese Konkurrenz hat ihre Konsequenzen für die ganze psychische Ihätigkcit überhaupt.

Die Besprechung der Differentiaidiagnose zwischen Chorea, Hy- sterie und Epilepsie sowie die Korabinationen der letzteren beiden mit Ciiurea und das Nebonoinanderbestehen dieser einzelnen Erkran- kungen dai'f ich mir wohl ersparen, da dies doch wohi iediglich den Arzt angeht.

Dasseibö dürfte für die dritte Rubrik Wollfn'tikrgs. die chorei- formen Zustände erp'lten, die ich auch nur andeuten ^vili.

Auf eine halbseitige Lähmung- kann naoh pin^r rrcwissen Zeit, und zwar zu einer Zeit, in wpiolier die aktive Beweglichkeit wieder beginnt, eine siureDiuinte Hemichorea posthemiplegica entstehen. Überhaupt kauu diese choreaartige Bewegungsstörunc!' überall da auf- treten, wo nach irgend einem Insait der motori^clieLi Xervenbahnen die geschädigte Aktivität der Muskulatur beim Heilungsprozesse wie- der beginnt 8ie begegnen weiter in der Medizin den Begriffen Athetose, Chorea electrica, deren wesentliche Krankheitserscheinungen Krampfformen und Zuckungen sind, die den choreatischen Bewegungs- störungen ähnlich seheu können.

Der Verlauf der Chorea dürfte sich im allgemeinen auf etwa 10 12 Wochen durchschnittlich erstrecken. Mit abfallender Krank- heit lassen die Erscheinungen, also auch die Bewegungsstörungen, in der Regel allmählich nach. Am längsten erhalten sich die letzteren m den Teilen, die für gewulmlich am meisten bewegt werden, also Finger, Gesicht, Zunge. Die scheinbar gesund gewordenen Teile kann man noch in der Rekonvalescenz durch besonders schwierige und ungewohnte Stellungen des Körpers und einzelner Körperteile /.u leiser krankhafter Bewegung reizen. Die Stimmung bleibt meist nach Aufhören der krank )iiif reu kurperlichen Symptome eine altorierte mit gewissem neurastiiuiiisichen Charakter.

"Während im höheren Alter die Chorea verhältnismäfsig eher töd- lich verlauft, wird die Mortalität tui das Kindesalter auf höchstens 3% berechnet. In der Regel erfolgt der Tod durch Erschöpfung. Bei etwa 26 Vo nach Wollendeko recidiviert die Krankheit, und GowERs hat einen Fall gehabt, der 8 mal recidivierte. Das männliche Geschlecht wird seltener und weniger ernstlich von der Krankheit be- iallen als das weibliche. DaTs das daran liegt, daTs die Qesundheit und

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A. Abhttidliiiigeii.

die Eiaft des wfiibliöhdn Nervensystems nach Anlage und Entwickelimg im allgemeinen labiler sind, ersobeint mö^ob. Eine geirisse neiiropatbisobe Di^oaifloQ, sa der änfsere disponierende und aus- lösende TJmstfinile hinzntreten können, begünstigt die Horbidität für €h<»ea.

üm aaob die Xhera|ne mit anzofübren, so sei erwShnt, dalb anüser medikamentitoer Bdiandlung (vor allem Arsen, AntipjTin, Brom, wir speziell möobten noob Gbininnm bjdrobromicmn empfehlen) hjdro- Iberapentisol^ irgfimahm^ imd Torsiohtige gymnastisdie Übungen sehr gute Dienste leisten. Der Erfolg der Choreabehandlong kann nacb unseren jetzigen Kenntnissen von der Krankheit nnr ein auf Allgemeinwirkmig beruhender^ kein spezieller sein.

In unserer WasseiheUanstalti) haben wir jedes Jahr eine Reihe Yon Ghoreakranken und Chorearekonvalescenten in Behandlung. Naoh unseren Erfahrungen haben w durch unsere Behandlungsmethoden, die in Packungen, kühlen Abreibungen, Teilwaschungen, Bädern be- stehen und in ihrer speziellen Anwendung natürlich individneU Ter» schieden gehandhabt werden, sehr gute Erfolge gesehen. Zur Be- ruhigung können prolongierte warme Bäder hinzutreten, und von systematischen leichten gymnastischen Übungen haben wir auch manchmal Nutzen gehabt Wir können sagen, dals wir die Krank- heitsdauer und Krankheitsheftigkeit durch solche Behandlung ent- schieden gemindert und die Rekonvalesoenz gefördert haben. Haupt- sfichlich bei Rekonvalescenten konnte nach späteren Mitteilungen eine erhebliche Festigung und Kräftigung des Nervensystems überhaupt konstatiert werden. Wie bei allen Neurosen spielt auch hier wesent- lich der Umstand mit, dals die Kranken aus dem gewohnten Alltags- kreise der Heimat entfernt werden. Durch die bauliche Zergliede- rung imserer Anstalt können wir, was in Rücksicht auf die Patienten sowohl wie auch auf ihre Mitkurgästo in verschiedener Bünsicht von nicht geringem Vorteil ist, derartige Kranken vom Gros der Kurgäste fem halten, sie eventuell in den Privatwuhnunerskreis der Anstalts- ärzte ziehen und ihnen dabei doch, je nach der Xraokheit, eine grofse Bewegungsfreiheit in frischer Luft gewähren. Man will freilich durch mehrtägifje völlige Immobilisierung mit Schienen verbänden u. dergl. schnelle! e Heilung erzielt haben; doch kann ich mir dies nicht recht vorstellen, es miifste denn sein, duls durch die krunkb.iiLüu Bewegungen als solche rückwirkenderweise der Körper geschwächt bezw. die Widerätaudäfähigkeit desüeiben gegen die Krankheit herabgesetzt wird.

') Dr. Dr. Ba&wiksei-Wiissbubo's Wasserheil- und KazanstaltSchloIsElgersbax]^

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WzEDBBURo: Die Chorea des iundeä.

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80 dafs sich dadurch die Krankheit erheblich verschlimmert und die Hcihm^r vorzriß-ert wird. Wir selbst haben öfter gesehen, dafs durch einfaches manuellos Festhalton des Kranken durch den Arzt und durch freimdüchen Zuspruch desselben dio Kranken in ihren Be- wegungen mehr oder minder bcruiiigt werben können. Ob aber nicht dnrch andauerndes maschinelles Festhaiton aiicli tinc innere Unnihe, eine ungünstige Einwirkung auf die Psyche und damit auch wieder eine Krankheitsverschlechterung hervorc^ebracht wird? Psychothora- peutLschü Einflüsse, d. h. Pädagogik des Patholopischpn wukrji durch Termittlung der Psyche entschieden auf Beförderung der völligen Htm Inno: der Krankheit an nnd für sich und im günstiixcn Sinne darüber hinaus, insofern wir es ja in der Regel init neuropathisoh veranlagten Individuen überhaupt zu thun haben. Diesbezügliche Einzelheiten liegen Ihnen, den Herren Pädagogen, näher und ich daif mir sie für heute wohl auch ersparen.

Vm es nochmals zu betonen, drängt sich bei den ersten An- zeichen der Erkrankung die Notwendigkeit auf, den Schulunterricht wie überhaupt jede geistige und körperliche Anstrengung zu unterbrechen abgesehen von den direkten Schädigungen schon um des Kranken selbst willen, um ihn eventuellen Neckereien zu entziehen, dann abor auch aus Rücksicht auf die Mitschüler. Man hat schon von einem Choreakranken wahre Epidemieen ausgehen sehen. Freilich handelt es sich bei den Angesteckten, wenn mir der Aasdruck gestattet ist, nicht um echte infektiöse Chorea, sondern um eine imitatorische auf nervöser, hysterischer Grundlage beruhende Chorea.^)

Dem geübten Pädagogen, der die Chorea kennt, wird es leicht fallen zu unterscheiden, ob ein entstehender Wechsel im ganzen We- sen and Gebahien eines Schülers nur daroh Annahme von Unarten,

^) Im Laufe der sich an den Vortrag anschheHsenden Diskassioa stellte ich die (allerdings ideal bleibende, pralrtisch nicht durchführbare) Fordcmn^ auf, data vom medizinischen Standpunkte aus jedes kranke Kind, anch das, bei dein eine Krankheit blols einen Schönheitsfehler wie Hinken hinterlassen hat, ans der !Nurmal- Schule entfernt werden mülUe, und zwar vor allem ans Bicfcsioht anf nicht aoB- Ueibende Neckereien Ton aaiten der ICteohfiler mit den fnch dann adüiefeenden Konseqtienzen for die F^fohe und die Entwickelang des Charakters. Eine in der Versammlung anwesende Lehrerin widersprach mir aus ethischen und erzieherischen Granden mit besonderem Hinweis djiranf, dafs die Schule auch die Aufgabe habe, den Schülern Teilnahme g^en die i!k.rankoa und Gebrechlichen beizubringen u. s. w. Heiner Mehmag nach mnfii in edäheB Tngm ent der Uedixiner m Wort hemmen, legt dann dar FSdsgoge edne Einwinde dar und unter ZugnmdelegiiDg hestdiender sozialer und erzieherischer Vor- und Nachteile, so wird die Einigung in HlnricJit auf die prakttaohe Anwendung des theoretiaoh Klaigelegten sicher erreicht werden.

üigiiizea by GoOglc

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X, AUundlimgaiL

üblen Gewohnheiten u. s. w. erfolg, oder ob irgendwelche krankhaften Vorgänge ua diesem Wechsel schuld sind. Ich meine, es kommt gar nicht darauf an. dafs der Pädagoge bei seinem Schüler eine bestimmte Krankheit diagnostiziert, vielmehr genügt es, dafs er das beginnende Krankhafte schlechthin erkennt und sofort, indem er sich mit Haus- arzt und Eltern in Verbindung setzt, die vom medizinischen und auch pädagogischen Standpunkte aus gebieterische Forderung erfüllt, dals der Schüler von Unterricht und Schule befreit wird und in liücksicht auf die Wohlfahrt seines Nervens}\stenus überhaupt, nach geheüter Krankheit auch ja nicht zu früh wieder geistig beschafugt wird; jedenfalls sind die Ponsa sehr sorgfältig zu dosieren.

Ich will nun nicht sagen, dafs der Pädagoge sich überhaupt nicht um medizinische Details kümmern soll ; ich würde ja damit mit der Tendenz der heutigen Versammlung in Widerspruch geraten. Im Gegenteil Sofern der Kranke nicht darunter leidet, ist ein sol- ches Interesse des Pädagogen für medizinische Dinge nur zu be- gr&Isen. Speziell das Gebiet der Nervenerkrankung im Kindesalter ist ein solches, auf dem sich Pädnir ir*' und Mediziner die Hand rei- chen sollen und der Pädagoge kann sicii um die medizinische Wissen- schaft ein grofses Verdienst erwerben, wenn er die ersten krankhaf- ten Regungen genau beobachtet und registriert und von seinem Stand- punkte aus dieselben in Beziehung bringt zu den Anforderungen der Schule und des Unterrichts wie auch zu der ganzen bisherigen Ent- wickelung des Kindes und seinen Anlagen. Damit würde er, ein je feinerer Beobachter (ganz allgemein genommen) er ist, ein um so wertvolleres Material dem Mediziner liefern. Diese Resultate seiner Beobachtung brauchen gar nicht medizinisch wissenschaftlich gefafet zu sein. Im Gegenteil. Mit solchem, medizinisch rohem, noch nicht angekränkeltem Material kann der Mediziner besser operieren. Er wird es dann schon in seioera Sinne technisch ummodeln und ver- werten. Selbst vereinzelte Bausteine fördern den Bau, und jeder einzelne Mitarbeiter, Pädagoge und Mediziner, wird am gemeinsam Erstrebten und Geschaffenen auch eine vollere Freude haben, als wenn jeder in getrenntem Lairer arbeitet Das Feld, auf dem sich die beiden gegenseitig in die iiande arbeiten können, ist grofe genug und harrt einer Bestellung, die ja bereits in Angriff genommen ist und die sicherlich auch eine reiche Ernte bringen wird.

Zdttastnr.

BüUDmnM» A-, Clioroa. Real-Encyklopädie der gesamten Heilkunde. Band IV. Henoch, E. Über Chorea. Borliner kUnische Wochcnsobiift^ 1883, Nr. £2. (Diükuaaioa über diesen Vortrag ibidem Nr. öl.)

üigiiizea by GoOglc

IIB Vinn: Der Bewegnns«- imd DarfrfiellnDgstrieb des Kindes. 157

Xo£lvi:b, 0. Kaan die Schule für das iiauiige Auftreten der Chorea minor während dM sdudpffioihtigea Alten mit venatwoilüch gemaoht irerden? Deulaohe Tierteljahrsschnft für offenütieho OttuiidhBHBpflcge, 1889. ttt

SrrsoEä, 0., Schoolwork and diacipline as a factor in Chorea. Laucet, 1885.

VoLLEXBFJiG. R.. Chorea, Paralysis agitans. Paramyoclonus multiplex (Myoklonie).

Band XII von Nothnagels »Spezielle Pathologie und Therapie» . Wien. 1899, ZimssKX, H. V., Chorea. Handbuch der spez. Path. Leipzig, 1870. Band XII.

Aufeerdem wurden die Journale der Jahrgange 1884 1900 der »Dr. Dr. Bar- winski-Wiedeboi^sdien Wasseiheil- and Karanstalt Schlots iE^gersbuig im Thüi, Walde« benatzt

2. Der Bewegnngs- nnd DarstellirngstTieb des Kindes und seine BerücksiolitigTing im Untemohte.

Vortr^^ gehaltfln toa dl VrlM» Rniwh«dft«HoMiid.

In der einfachen Frage der Mutter: Fehlt dem Kinde etwas, dais es da so still in der Ecke sitzt; ist es vielleicht krankpc ist schon der schlagendste Beweis gegeben, der Beweis der Erfahrung^ dals Bewegung und Darstellung Lebenseleraente des Kindes sind.

Eine Mutter, eine sehr gebildete und vornehme Dame, klagte mir über die lässigen Kinder und ihre Unart Ich antwortete ihr mit einem pädagogischen Laiengedicbt:

»Die Unart die ich finde

in dem Kinde, Ist irolilTfntaDden,

Tbgend d«r Jiigeiid.c

Und dal au t sprach sie: »Die Unart... die Sie finden im Kmde ... die Unart, d.i. das Unartigsein, soll Tugend der Jugend sein?« >0, ja, ich weils schon, Kmder sie sind ein Segen des Hiiumuls, doch wenn man sie nicht fortwährend im Auge hielte, würden sie einem den Boden unt«r den Filisen zerstören.« »Es ist nett gesagt«« bemerkte sie, mit etwas von jenem Zweifel in ihrer Stimme, welche neben der Erkeimtnis von etwas theoretisch Richtigem, fühlen läfst, dafs man von der Praxis nun gerade nicht sehr viel versteht Unter- dessen versuchte üie mit Sanftmut ihrem Dreijährigen den Zipfel der Tischdecke aus den Händchen zu nehmen, welche der Schalk im Begriff war hei imtti zuziehen, weil er die daraufstehende glänzende Vase, welche von Bübleius niedrigem Standpunkt nur halb gesehen werden konnte, genauer zu betrachten wünschte. »Es ist wirklich

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A. AUiaadliiAgeiL

nett gesagt«, wiederholte sie, »citieren Sie es nochmals? ... Da meine Güte, Metalc Und dann wieder zu mir: »Da hat sie, wihiend ich Ihrer weisen, pädagogischen Lektion folgte, die Nadeln ans meiner Strickarbeit gezogen ic Der ironische Ton, welche der Anwendung des "Wortes >weise« begleitete, zeigte mir, dals wir noch nicht viel weiter gekommen waren. Ich lächelte. »Nein, wirklich!« lachte sie mir zu: »es wird wohl so sein, ich glaube dem schon.« Ihre Haltung, wo sie mit der Linken Meta, und mit der Rechten den dreijährigen Krauskopf bändigte, verstärkte den Effekt der Versicherung nicht sehr. »Ist Tugend der Jugond« wiederholte sie für sich hin. Und dann wieder zu mir: »Aber die Unart ist dennoch da, uiid die möge dann eigentlich Tugend sein ausreden läfst sie sich aber nicht.« ... »Aber, sehen Sie!« rief sie plötzlich aus, indem sie den Kraus- köpf und Meta und mich im Stich liefs und durch die geuffnetou Thüren in den Garten hineineilte. »Wiilielm! das geht aber nicht!« hörte ich von weitem.

Was war nun geschehen? Der gut fünfjährige älteste Sohn hatte die Beschäftigung, welche seine gesunde Kindesnatur forderte, dies- mal gesuciit und gefunden in der Gesellschaft einer Schar Hühner, mit dem dazu gehörenden Hahn, welche neuen Freunde er durch das Aufmachen des Hockes etwas mehr in seine Nähe gebracht und durch das Herumwerfen des Futtertroges in die Stimmung erhöhter Freundschaft versetzt hatte.

Die Mutter hatte recht So ging es nicht Die Hühnerfamiiiö wurde also wieder zwischen die Grenzen ihres ursprünglichen Ge- bietes gebracht, und Wilhelm bekam die Aufgabe, das mit zu milder Hand gestreute Korn wieder in den Trog zu sammeln.

»Wie steht es um die Tugend dieser üngezofionheit?« fragte die Zurückkehrende ironisch. »Mir däucht, nicht schlecht«, anwortete ich; »Ihr ältester Sohn scheint Tiere gern zu haben und ihnen reichliches Futter zu gönnen.« »Jawohl, nicht schlecht beobachtet«, lautete die Antwort »Und der auff^^erippelte Strickstrumpf dann?«^ »Ein lästifrer Fall für Sie«, sagte ich, »doch Meta will sichtlich ulles aufe Tipfelctien hin wissen, wenn sie solche Sachen ti'eibt: und das ist noch so übel nicht, glaube ich. Sind wir darüber nicht einig?« 3>0 gewifs, das ist an und für sich ja gut, aber ... apropos, ... die Vase und die Tischdecke bleiben jetzt noch übrig . . . was wissen Sie darauf?« sDie Lust zum rnt.;rsuchen in diesem Jungen ^'e- fällt mir« replizierte ich. »Doch iiuren Sie mal meine liebe Dames endigte ich jetzt, »beschäftigen Sie Ihre drei Kiemen, denn sie können wirklich nicht ohne Beschäftigung sein, bringen Sie die Kinder in

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in Yibb: Der Bewegung;)- und Danlallitngetiiel» des Sndee.

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eine Umgebung, wo siu Ihre Hände und Augen gebraueben können, ohne lästig za sein; wo ihnen gleichsam nichts Terboten zu 'werden braucht, weil sie kein Übel anrichten kt.nnen^ und wo sie in Hülle und Fülle nach Herzenslust Gelegenheit haben, dem köstlichen An- trieb, welcher jedem gesunden Kinde zur Ent\%'ickelung seiner schlum- mernden Kräfte eigen ist, Genüge zu leisten, lind wenn Sic ihnen diese nicht in Ihrem eigenen Haus oder Garten besorgen können, lassen Sie sie dann in eine gute Fröbelschule gehen!« »Sie sind wohl ein wenig schulmeisterisch«, warnte sie, »doch das Verslein werde ich mir doch einprägen und über das Letzte bestimmt einmal nachdenken !c

m

Seien Sie, meine Damen und Herren! so gut, diesen kurzen, unbeholfenen Entwurf als eine Art Einleitung zu betrachten für das, wofür ich Ihre geneigte Aufmerksamkeit beanspruche. Eine Ein- leitung, um Sie wenn Sie darüber mit dem als Schulmeister verschrieenen Kinderfreund einig sind in die Stimmung zu ver- setzen, in die ich Sie so gerne den Unterricht, unseren etwa 6 12- und 13 jährigen gegeben, beobachten sähe. Und nicht um beiläufig das Senden unserer Kleinen in Fröbelschulen zu empfehlen, wählte idli eben diese Einleitung, sei dem auch, dafs ich es emstlich mit der dort ausgesprochenen Konklusion meine. Denn der Platz der Kleinen ist an erster Stolle m der unmittelbaren Nähe der Mutter, bei jener Quelle ginlsor, sich selbst vergessener Liebe, welche die Grundlage aller Beziehung sein soll vorausgesetzt, dafs diese ver- bunden «ei mit einer richtigen Einsicht in den natürlichen Ent- wicklungsgang des Kindes und mit dem Takt dem Kinde die völlige Gelegenheit zur Entwickehmg zu schenken. Gelegenheit zur Ent- wickelnng. Denn nicht (liose Mütter, nicht wir, Erzieher im allsre- meinen, bringen diese Knt wickeln n^;; hei. Das können wir nicht. Das kann niemand. Wir sind nicht mehr, aber auch nicht weniger als was der Knospe die belebende Sonne, der milde Mairegen, die wohlbereitete, nährende Erde ist Und wo die Mutter das nicht für ihr Kind sein kann, da vertraue man die Erziehung, die Entwickelung jenes Kindes der Leitung derjenigen an, welche daraus ihren Beruf, ihre Lebensaufgabe gemacht haben; weiche auch Liebe hegen für das Kind, weil es ein Kind ist!

Doch jene Mutter genügte der schwierigen Forderung und sie hat ihr Kind nicht von sich gehen lassen: die herrliche Arbeit hat sie selbst in die Hand und zu Kerzen genommen. Sie hat teilgenommen

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A. Abhandkuigm.

im der Sieinen Freade, und ihre Hand war mild bei der unentbehr- llchen Leitong. Nie hat sie diese drohend erhoben, am sie nieder- kommen za lassen, au! . . . Wer Wind sät, wird Storm ernten! Ihre Geduld war nnersehöpflicb, ihr Körper unermüdlich, ihr Mund spiadgi keine harten Worte, obgleich sie sieh immer standhaft geweigert hat einzuwilligen, was sie fttr sohädlieh achtete. Ihre Augen, worin Blnn- oder Braunäuglein blickten, spradien nur Liebe, denn sie war den ftberzeugt, da6 es nur eine Wonne gebe, an der ein £ind aidi laben darf, das ist die liebe der JSrsleber. ITnd so hat sie ihr Snd bei sich behalten ... bis in sein ofüzielleB sechsjähriges Alter. Da mo&te äe es von sich gehen lassen, den ganzen Morgen, fast jeden Kadmiittag!

Es ist nun einmal so. Das Thor der Elementarschule wird den Kleinen geöffnet, wenn sie so lauten bei uns viele Oemeindever^ Ordnungen ein Altar von sechs Jahren erreicht haben, oder dieses binnen drei Monaten erreichen werden. Ich glaube, dafs man gegen dieses Alter, in welchem das wirkliche Lernen anfängt, keine Ein- wSnde erheben kann, wenn man gewissen Forderungen genügte:

a) hinsicbtiich der Dauer des Unterrichts, und in Bezug dazu der nötigen Abwechselung und Spielzeiten;

b) hinsichtlich der Frage, wie man unterrichten soll; und

c) hinsicbtiich der Schulhygiene.

Und da frage ich, welche physischen und psychischen Verände- rungen haben doch bei einem Önde stattgefunden m dem Au^en- bli(^, da ee seiner Mutter oder der Fröbelschulc vm Lebewohl zuuof, die Elementarschule betretend; Verandc runiren. welclic ea recht- fertigen, dafe man dort in der Elementarer imle die freistige und körperliche Entwickelung des Kindes ^ebülirend zu fördern glaubt, den Fröbel vergessend. Diese physischen und psychischen Verände- rungen sind nicht vorhanden. Bis an die Pubertat^jaiire giebt keine bedeutende Änderungen, als ein langsamer körperlicher und geistiger Wuchs, als eine allmähliche Entwickeluug. Von einem Moment, welcher eine plötzliche Änderung in dem Eiziehungssystem fordert, ist keine Rede.

Dafe das Resultat unseres A'ulks Unterrichtes der Forderung, welche man stellen darf, ja stellen niuls, nicht genug entspricht; dafs jene Schule, worauf wir stolz sind, nicht genügend für das Leben erzie ht; dafs der Übergang vom Haus zur Schule und von der Schuh zn der Gesellschaft nicht genug geebnet ist; dafs die Kenntnis des jungen Bürgers zu schülerisch, sein Wissen zu halb ist, sein Denken zu oberflächig geschieht, daa alles kommt daher, dafe man in der Klo-

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m Yutt: Der Bewegungs- und DanteUnngstrieb des Kindes.

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mentarschule nicht genug Rechnung trägt der kindlichen Natur. . . . Die kindliche Natur fordert Thätigkeit und beim Unterriciite an den Kleinen in der Elementarschule ist: » Ruhig sitzen« und »still aufmerksum sein'* höchste Tugend; ein gesundes Kind fordert Be- wehrung — und in der Elementarschule ist die Losung: :>Haiidchen iiikcn-K; ein Kmd fordert Münte rki it, heitere, unbesorgte Freude und die Elementarschule "will vom jungen Kinde schon: »Mündchenzu

zuhören!« Ein Drang, nicht nach mehr, sondern nach etwas Besserem offenbart sich hinsichtlich des Elementaiiniternchts je länger je stärker. Und dieser Drang wird in der jetzigen Unterrichtswelt glücklicherweise fast von allen gefühlt. Jeder Lohrer hat sich glück- lich geschätzt, erklären zu können, dafs es mit seinem Unterricht so schlecht noch nicht steht, doch zu gleicher Zeit hat er eingestehen müssen: »Das Kind hat Bedürfnis zu Thätigkeit, zu Beschäftigung« ... und daran wird beim Unterricht nicht gehörig gedacht, sagen wir lieber, dieser glückliche Umstand wird nicht genug verwertet »Der Unterricht geht leider noch mehrmals zu hoch für die 6 12 jährigen«

und man kann sich denken, dafs dies um jeden Preis verhütet werdea solL »Was gestern mitgeteilt worden ist, geht oft heute wieder für einen grolsen Teil verloren« ^ und es ist leicht einza- sehen, dals so ans dem Unterricht am Ende nicht viel wird.

Ünd diesen, für uns Lehrer darchftus nicht ermotigenden Er- wägungen nnd Beschwerden boü nun die Anwendung eines neuen, nein, schon Jahrzehntelang anerkannten Prinzips in unsenn Elementar^ nntenii^tBqratem in der Zukunft, wenn mdglich in der nächsten Zu- kunft abhelfen: das FHnzip von der Arbeit des Kindes; das Prinzip, welches Thätigkeit bringt zwischen die Winde des Gebindes, wo jetzt noch zu sehr höchste Ruhe höchste Tugend ist; die Erkenntnis, dab daa sog. lebendige nnd belebende Wort des dozierenden Lehrers nach der Rumpelstube der höchsten, dumpfigen pädagogischen Gelehrtheit riecht; die Methode, die durch einen anderen Weg als den Schlängel- gang des Ohres dem aktiven Kinde seine Vorstellungen darbietet, die die Schüler in den Yordergrund, den Lehrer, eben als leitende Persönlichkeit, in den Hintergrund stellt, wodurch er den Schülern mehr die Gelegenheit giebt zur eigenen Entwickelnng; dsa Prinzip der Arbeit des Kindes, welches den Weg der früheren Anschauung, welcher nur sehen und hören liefe, entscheidend einrttumt dem der Erfahrung; das Prinzip, welches das Kind durch Selbstsudien bringt zum Selbstiinden, durch Erfahrung zum Wissen. Die Beseitigung der Fehler, welche unserem Unterricht anhaften, soll im allgemeinen gesucht werden in der Ersetzung des Wortes durch die Thai Die

nto KlotalabMr. YLMUgmt*

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A. Abbandlniigro.

That des Kindes ist Grundlage zum Wissen, Ausgangspunkt für Kenntnis, welche beigebracht werden soll. Statt: »Kinder, nun mal recht aufmerksam sein« soll der Anfang der Lektion lauten: »Macht dieses, versucht jenes mal zu machen.« Und der Lehrer, sich abends für die Aufgabe, welche seiner am folgenden Morgen wartet, vorbereitend, hat sich zu fi'agen: »Womit soll ich moine Schüler bethätigen, damit sie an der Hand der ci^^encn Ertaliniiii; zum Wissen kommen, welches ich beizubringen habe«, damit so des. Lehrers Wort bescheidener Diener der That werde, welche jenem Worte, wenn der rechte Augenblick da ist, seine waiiro Funktion uüierlegt.

Mail bjaiicht wohl nicht mehr zu beweisen, dafs jener Forde- ruri^r nicht gcnü^^t werden kann durch die Euifüluung eines neuen Faches, z. B. durch iiuubeuliandarbeit. Nein, wie ein Sauerteig soll unser ganzer Unterrieht durchzogen werden von dem Geiste, welcher Seibstthätigkeit vom Kiude fordert, welcher sie nicht blofs dem Namen nach anerkannt, sondern in der That anregt zur Arbeit mit den Händen. Keine Elementarschule steige also vor Ihrem Geiste empor, wo es aussieht wie in einer Zimmermannswerkstatt oder wie in einer Pappefabrik, doch das iiild einer einfachen Eitiwentarschule, wo die anerkannten Prinzipien belbstthütigkeit und Anschauung an- regen zur Arbeit mit Thon, Papier und btabciien zwischen den Wänden des Schulgebäudes, und zur Arbeit im Garten und Schul- wanderungen und Schulreisen aufserhalb der Schule.

Gestatten Sie mir, meine Damen und Herren, einige nähere Erklärungen anzuführen, und betrachten Sie in liedcinken mit mir einen nur sehr kleinen Teil des Lehrstoffes, welcher in der Schule verarbeitet werden sollte.

Der Elementarschule ist zur Aufgabe gestellt, die Schüler, sobald sie für die Schule zugelassen sind, in ihrer unmittelbaren Umgebung richtig wahrnehmen, genau sehen und beobachten zu lehren, sie be- kannt zu machen mit allerlei Gegenständen aus dem täglichen Leben, und ihnen von diesen genaue Vorstellungen zu verschaffen. Manche und mancherlei Sachen haben die Kleinen unter den Augen gehabt, zu Hanse und im Garten, auf der Strafse und überall, wo sie waren. Dals sie die Dingo auch von selbst gut wahrgenommen, mit einem gewissen Bewuistsein angescliaut haben, dafür hat der Lehrer der Anfangsklasse aber keine triftigen Gründe. In den Anfangsklassen soll genaues Beobachten erworben werden: in erster Linie die Gegen- stände selbst gut kennen zu lernon, zweitens die Kleinen an gutes und genaues Wahrnehmen zu gewohuen.

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DK Vbdb: Der Bewegungs- tmd Darstellungstrieb des Kindes.

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Und iibordios ist os eine anerkannte pädagogische Regel: die ersten Vrrkuüpfungspunkto für alle Teile des Unterrichtes sollen so viel wie niofrürh gesucht worden in den Erfahrungen des Kindes. Für den Untemcht ist es aber selbstverständlich nötig, dafs die Schüler bestimmte, für den Unterricht notwendige Erfahrungen gesammelt haben. Aber nota bene, dann ist es bei Klassenunterricht und den haben wir doch in der EiomontarschuJe zu geben nnch notwendig, dafs alle Öchüler derselben Klasse auch dieselben Er- fahrungen bekommon Deshalb mufs auch bestimmte Arbeit, ange- geben durch den vorliegenden Lehrstoff, Mittel zum Bestimmen von Erfahruneen sein.

Besondere in den untersten Klassen der Schule ist dies not- wendig, weil man nur dann in den höheren ruhig und sicher weiter bauen kann, wenn die Grundla^o gut ist. Daher auch, dals das so- j^enannte »Behandeln von Gegenständen und liildera«, oder wie man auch zu sagen pflegt, der > Anschauungsunterricht«, bei uns einen wichtii^en Teil der Anfangslehrjahre ausmacht. Und nun geht dirsos meistens so: Denken Sie sich eine Klasse von etwa 40 Kindlein. Der T.ehrer hat den vorliegenden Gegenstand, oder und dies ge- schieht nicht selten ein Bild, welches ein oder mehrere Gegen- stände vorstellt vor der Klasse aufgestellt. Auf angenehme, muntere Weise wird dies angedeutet, das gezeigt, hier was davon erzählt, dort wird über irgend etwas geredet der Lehrer ist ganz beschäftigt Die Kinder sind aufmerksam; ein oder melneie seii>stredend nicht 711 viel, weil sonst die Aussicht für und die Aufsicht über die übrigen gestört wird kommen vor die Klasse . . . recht nett nicht wahr? Das kann ein munterer Augenblick sein . . . Doch, Sie fühlen es, etwas mangelt . . . nicht alle sind beschäftigt Ohr und Auge wer- den für einen Augenblick wohi gefesseU, doch ein Kind ist ein Kind mit Anlage für Selbstthun. Selbsthandeln lauge nach der Reihe zuhören kann es nicht Können Sie bequem ohne Anstren- gung während einer halben Stunde lauschen, oder werden Ihre Ge- danken nicht leicht durch etwas andres limweggeführt nach ... ja, wo überall nicht hin! Da geht eine Fliege gerade vor dem Kinde auf der Bank, fliegt eine Strecke weg, kommt zurück . . . ein Nachbar bewegt sich . . . hinidert Kleinigkeiten zerstreuen ihn . . . fort ist die Aufmerksamkeit. Es fehlt etwas . . . der Lehrer ist der Mann, der das Meiste spricht und handelt . . . den Kindern wird das Fol- gen bald zu schwierig, aucli da es bisweilen etwas entbehrt«, einen Augenblick mit seinen Gedanken abwesend war . . . ein andrer darf vor die Klasse kommen ... er nicht ... ein unzufriedenes Gefühl

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A. Ahhandnngea.

bemeistert sich seiner . . . fort ist die Ambition es {robricht an etwas. Ist dem nicht so? Dazu kommt noch . . . dieses Bild giebt vom Gegenstand nur eine Seite zu sehen, es giebt wohl verschiedene Farben, doch keine Stoff Verschiedenheit an und auch Form und Ei irr n-

schaften reichen nicht ganz aus es ist halbe Arl)f>it. es lck l)t

eine mangelhafte Vorstellung. Und wenn der Gegenstand selbst vor- handen ist, ist derer nur einer ... so aus der Ferne ... die Arbeit ist halb. Der lebhafte Lehrer (oder Lehrerin) verdient Anerkemiung, (ir inioch entspricht der Unteiricht dem Bedürfnis des jungen iünder- lebens nicht

Wenn beim Unterricht emem Kinde dies oder jenes gezeigt wird man nehme letztere« in der weitesten Bedeutung , so wird dessen Name auch hinzugetugt. Eine Anschauung wird gewonnen und zu gleicher Zeit wird diese in einer Verbindung aufgenommen, sei es in richtiger oder in falscher Terbmdung. Hierbei ist die JSeeie wenn auch nur receptiv thätig gewesen. Dafs diese ThätigVeit in diesem Falle nicht grols zu sein 1 raucht, ja, dafs sie beinahe un- willkürlich, sogar fast unbewufst ^r; >chehen kann, hat sich genügend aus der Ki faiirung gezeigt. Das Kind kann dabei mehr passiv als aktiv soin. Es ist vor diesem »Passiv -entnehmen« von Spkvcer so sehr gewarnt worden, weil es die geistigen Kräfte des Kindes eher schwächt als stärkt

Diese genannte geringe Selbstthütigkeit bietet eine grofse Ge- fahr. Vielleicht dringt der Unterricht bis ins Innere des Kindes, viellf^icht :i\ic[\ mciit. Dies sei! sich später zeigen. Wodurch? Durch Antworten auf Fragen. Wir können uns vorstellen weil wir dies Bo manchmal erfahren haben , dafs aus diesen Antworten Worte ■wie sie sind deutlich wird, dafs das Kind die äufsere, d. i. hör- bare, Sprech- und .schreibliche Form, worin er die Anschauung auf- genommen hat, jetzt beheri'scht. Er weifs nicht nur die Namen für die Dinge, er kann sie auch in der gebräuchlichen Satzverbindung mit der gebräuchlichen Aussprache wiedergeben. Doch hat man jetzt Sicherheit genug, dafs (\^m mchts fehlt? Sobald der Name gut ge- geben wird, ist dies ein Zeichen, dafs die daran geknüpfte Anschau- ung wiedererkannt ist. Zu etwas Höherem oder Tieferem braucht man sich jetzt nicht mehr zu entschliefseu. Und da meinen wir, ist die Reproduktion nicht viel mehr eine Fiktion.

Wer nicht durch Fragen die Akti\ität und die Reproduktion seiner Schüler kontrolliert, weifs von den Früchten, welche sein Un- terricht trägt, sehr wenig; wer dies wohl thut, weüs sicher etwas mehr, doch wirklich nicht genug. Man fragt docii auiser dem Na*

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OB Tbbs: Der Bevegongs- und DantoUmigptiieb des Ebdes. 165

men nach Eigenschaften uud Einzelheiten. Bei dem Allgemeinen kann man fragen nach Farbe, Form, Anzahl. Verluiltuis und Stand der Teilü. Farbe und Anzahl liefern mclit so viul Schwierigkeit. Der Huuptfarben sind zudem wenige und, obgleich absichtlicher Unterricht hier nötig ist. sind diese mi allgemeinen rasch anzu- lernrii, auch weil sie einen auffallenden Unterschied zeigen. Die Anzahl ii.t etwas, das beim Rechenunterricht absichtlich behandelt wird und sich gleichfalls über wenige A'orstellungcn ausdehnt.

Schlimmer wird dies beim Erlernen der Form. Nur durch Umschreibung und Vergleichun^ mit dem geometrischen Körper und der vorLandenen Flächen kann diese hingedeutet werden. Beides ge- schieht aber mit Worten, und man ist bei einer gewöhnlichen Be- nennung nicht sicher, ob eme Sache den Nuukti wohl deckt; viel weniger ist man dies bei einer Umschreibung oder Vergleichung. Und doch mufs man Sicherheit haben von der Kichtigkeit der An- schauung, die das V ergleich ungs wort deckt oder decken mü£ste.

Überall werden Namen gehört, und inwiefern diese Namen et- was fürs Kind bedeuten, weils man nicht genügend, und man darf dem nicht tniaen in Anbetracht der Möglichkeit eines unvollkommenen Ecfissens.

Die Aktintät des Kindes bei Klassenunterricht von allen Kindern mnb deshalb zu dem höchsten Grade geführt werden. BsET Gegenstand der Anschauung muls darum wir wissen bis jetst noch keinen besseren yfeg geformt, nachgebildet werden. Und wir fhim dies wir kennen bis kente noch keinen besseren Stoff doioh Anwendung kanptsächUch von, Thon, Papier nnd Bau« BtibeheiL Der goldenen Bogel mngedenk: »Fange an mit dem Ein- sahen nnd sehreite allmiUioh bis zum Höheren empor«, beginnen wir mit den Haaptformen. ISXt dm Hanptfonnen, mit der Kugel, dem Cjlinder, dem Fkisma, der Pyramide und dem KegeL Bevor nun der Geist des jungen Kindee sich Terliert in dem gro&en Chaos von For- men, weldie es nicht übersehen kann und sich dann also nicht hei- misch fühlt, weil die Menge überlade^ ist es doch pidagogisoh richtig, zuerst die Hauptformen kennen zu lernen. Und die Brwägong, da& alle Kinder thätig sein müssen, und diese, dals das Sinfoobe in den Tordergrund gestellt werden mufs, haben uns angeregt, unseren ersten AnsdbanungsuntKrioht in Bezug lebloser Sachen in der folgenden Weise einzurichten.

Die Schüler stehen wird man im allgemeinen wohl genügend in der Elementarschule daran denken, da(s ein Kind von Kator nicht viel Neigung zu länger als höchstens ein TiertelBttindohen sitsen

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A. Abhandlungen,

zeigt, oder es inols echwach oder iiBwohl Bein? die SohtUeir nun stehen vor qner über die gewöhnlichen Sohulbfinke gelegten Brettern oder Tischen. Das Lehnnittel, ein kleineres oder giöfiaeres ifonnloaee Stückchen gesäaberter Thon, ist in jedes Hfinden. Der Lehier stellt sich so, dafe er bequem die ganse Klasse übersieht Seine Au%abe ist, die Arbeit zu leiten, welche hier Arbeit ist mit den Händen nnd mit dem Geist Das Stückchen Thon, dieses billige elastische Iiehr- mittel, wird nun von den Kinderhindohen so geknetet nnd umge- staltet, da& es die getreue Abspiegelung eines Torliegenden Gegen- standes wild.

Wenn das Kind diese einfachen Formen kennt und das geht durch die Arbeit so gemütlich und bequem , ist es beim Sehen irgend eines Gegenstandes dadurch im stände^ die Hauptformen dieses Gegenstandes au&ufinden. Dies ist der Anfang genauer Wahrneh- mungen hinsichüich der Abweichungen ron der Hauptform.

»Johann, sage du mir, welche IVirm hat dieser Krug?« »Die Form einer Waise, Herr Lehrer, aber

»Und du, Meta, wie sieht der Ofen bei euch zu Hause wohl aus?« ^ »Schwarz, Herr Lehrer, und dann gerade ein Frisma ein vierfUkshiges Prisma, aber . . . u. s. w.

Sehen Sie, diese »aber«, das ist der Zweck der Fragen.

Meine Damen und Herren! Herr TbDfib, unser werter Herr Yorsitsaider, warnte mich dsTor, in dieser Tecsamminng die FraziB der Schularbeit so sehr in den Yordergnmd zu stellen, Wäre dem nicht 80, ich würde versuchen, Ihnen deutlich zu machen, wie diese Fkaxis durch eigene Erfahrung des Kindes auch führt zum KennMÜemen der Eigenschaften des Stoffes, woraus der Gegenstand besteht, im Gegensatz zu dem des gebrauchten Thones. Die Anaohan-

') Ich hatte gewünsolit, die psychologisohe Analyse für die Bfcründnng seiner Methode, die ich aua eigener Anschauung in Enaohede kennen lumte, zu lieferu, Q. a. naolmweison, welche Bolle in der Entwlokeiang der KindeaBeele die BewegtiDgaTorstelliingeii nad die manttelle Bsrstellnng spielen, Herr de Vries hat statt dessen die Hörer vor allem fflr seine Methode zu erwärmen versucht, uud zwar nicht ohne Erfolg. So einseitig uns hm« h d-^r Ktischeder Lohr- plan zu sein achoint, so bildet er doch eine notwendigo Ergjiuzuiig zu unsereta ebenso einseitigen Lehrgang in deutschen Schulen. Aufgabe der genetischen Psycho- logie aber hkiVt ee noch, exakt nachzaweiBen, welcher geutige ZawaeliB lädi dnvob die eine wie duoli die andexe der eDtgegengesetsten Hethodea emiohen lä&t oiMi welcher nicht Was Herr dk Viues sagt, trifft im allgemeinen zu für das mathe- matisch-naturwissenschaftliche Denken. Wo bleibt ab"r dr^s histori.sohe Denken \\iv\ die Oesinnungstäldung? (Yeigl. dazu die in ^r. V, lüOO mitgeteilte Debatte zu dem. Vortrage.) Ib.

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D% Vhi£s: Der BewegODgs- ouii Dai-stellongstrieb des Kindes. 107

ung der Form ist nur Ausgangspunkt durcl) dieses zum andern. Durch unsem Anschauungsunterricht, so eingerichtet, wird Ordnung gebracht in das Chaos der tausend Gegenstände, wird auch Regel gebracht in die verschiedenen Eigenschaften jedes besonderen Gegen- standes.

"Wir halten os mit Rüoksicht auf jene Oegenständp. welche nach unserer I'berzeugung in ihrer ganzen Vollkommenheit vor dem Geiste dps Kindes stehen und in sf^iner Seele bewahrt bleiben müssen, für ungenügend, wenn diese Anschauunu^eii nur dadurnh gewonnen wer- den, dafs man die Gegenstände dem Kinde nur zeigt. Auf so un- sicheren Grund können wir nicht bauen, eben weil wir praktische Lehrer sind. Das Kennen ist uns für diese Gegenstände ein unge- nügendes, halbes Wissen. Dieses Kennen benutzen wir aber für das Xönnen, das Thun, um das Kind zum wahren Kennen zu bringen.

in der Anfangsklasso i"t ?.. B. die Würfelform kennen zu lernen. Ein Würfel wird pczei^^t, besprochen, der Lehrer fragt die Schüler, welcher Unterschied zwischen einem Prisma und Würfel besteht Jetzt kennen sie den Würfe! ? Dem dürfen wir nicht glauben. Durch die Arbeit mit den Händen mufs die Anschauung in ihrer ganzen Yollkommenheit Eigentum der Seele werden. Was sie davon gesehen haben, was sie selbst daran bemerkt oder was vom Lehrer gezeigt worden, ist bei weiterem genaueren Zusehen und Vergleichen, wozu durch die kommende Arbeit gleichsam gezwungen wird, erst Kennt- nis genug, um ihn machen zu können. Und nach diesem Können glauben wir an die Möglichkeit einer mittelbaren Reproduktion, «Qoh wenn der Gegenstand, welcher zum Modell diente, weggenommen Ist Jetzt kann die Erfahrung bewies es Ton einem Kennen ge- sprochen werden, das keine Fiktion ist

In der vierten Klasse (3. Schuljahr) müssen die Schüler wieder- um z. B. einen Kubikmeter, Dedmeter kennen lernen ; auch einen Liter; die Form und Proportionen werden dem gezeigten Liter ent- nommen. Diese Objekte müssen sie sehen, die MaDae nehmen . . . jetzt kennen sie den Liter? Die Erfahrung lehrt erkundigt euch beim praktischen Lehrer , da(s sie ihn dann, fast ohne Ausnahme, nicht genügend kennen. Sie wissen jetst aber genug, eine unmittel- bare Reproduktion desselben zu machen. Weiter geht das Kennen nicht Und darum lassen wir sie machen, damit das Thun, das Kdnnen zum richtigen Kennen werde. Dieser Liter kann ebenso -viel entlialten, wie der Enbikdecimeter. Sicher, die Schüler glauben es gern, wenn der lichrer es sagt, noch besser glauben sie ihm, wenn er es ihnen zeigt doch über diesem allen steht die eigene £r-

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A. Abhandlungen.

fahning des Emdes, das seinen eigengemaofaten gefillltea Dedmeter übezstünst in seinen Liter nnd mit einem »Gerade toUU durch die Erfahrung zum Wissen, durch das E5nnen sam Kennen kommt

Ton der seohsten Elasse (Anfang 5. Schnlj.) z. B. ist auf der Schulwanderung die Brücke besucht, welche die beiden D&mme zu jeder Seite der in einem Thale liegenden Eisenbahn nach Gronau, Tcrbindet Diese Brücke ist besehen, der Stand nnd die Form der Teile sind beobachtet, die Proportionen des Ganzen nnd der Teile nachgegangen und notiert; über Heiler, Bogen u. s. w. ist gesprochen, eine Ueine Seitenansicht skizziert . . . jetzt nach Hause * . . sie kennen die Brücke ... wir hätten es fast hoffen können. Es wurde gut angeschaut . . . doch weshalb Ton allen so sehr genau? Auch deshalb, weil vorher gesagt war, dals in der HandarbeitBlektion in der Schule nachmittags eine Beproduktion der Brücke angefertigt werden sollte. Ba ist Aufmerksamsein notwendig, ^ das wissen die Schüler ans Erfahrung. Nicht gut angenchaut haben, indem man das Modell nicht mit nach der Schule nehmen kann, bringt unvermeid- liche Schwierigkeit Wenn der Lehrer nur fragte, wo antworten genügte . . .! Boch die Auffassung ist so scharf, wenn das alles in extenso wiedergegeben werden mufe. ünd nachmittags wurde bei und durch die Arbeit die Anschauung wieder klar: die Heiler, ru- hend auf prismatischen Klötzen, welche die Fulsgestelle bildeten wie dünne Cyiinder, die Bogen stützmid die Abhänge der Deiche, die Schienen unter dem mittelsten Gewölbe ... das Können, ermögliobt durch das richtige Wahrnehmen, hat diesen Mittag ein Kennen bewirkt^ wodurch die mittelbare Reproduktion zu jeder Zeit möglich sein, viel- leicht einmal zu dem höchst Erreichbaren führen wird: der Produktion.

Bas ist das Eenneo, welches wir fordern uns mit wenigem nidit begnügend. Durch Erfahrung zum Wissen, durch Können zum Kennen I Die Handarbeit als das Mittel für das Lehren angewandt^ wodurch der Schüler irgend eine Yorstellung bekommen kann, d. L Handarbeit als Lehrform.

Wobian, wir wollen das Mittel anwenden, das wir besitzen in der Arbeit des Kindes im allgemeinen, in der Handarbeit, im be« sonderen für die geistige Entwickelung und die Bildung des Go- Bchmackes und dadurch und durch unser ganzes Unterrichts- und Erziehungssystem hindurch zur Bildung des Charakters, zur Auf> bauung dos Gemütslebens vom Kinde.

Diese eigene Arbeit ist dem Kinde eine Quelle von Genufs. welche seinen Willen stärkt erst mit Rücksicht auf das Konkrete, später auf das Abstrakte j welche ihn warm fühlen läfet für das, was

biyilizuQ by

Hl Tsm: Der Baweguogs- und DaxateUoDgBbieb des Xindei.

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sein Fleifs und seine Anstrengurifx ihm verschafft erst hinsichtlich des Konkreten, im >pciieren Alter iiinsichtlich des Abstrakten; welche ihn zu richtip:en Vorstellungen und Bepriffen bringt erst, mit fiücksicht auf das Konkrete, später auf das Abstrakte.

Ich kann tier Yersuchuni: nicht widerstehen, am Ende trotz- dem ich die mir bewilligte Zeit bereits überschritten habe noch hier und da einiges aus dem Lehrstoff der verschiedenen Lehrjahre anzudeuten.

Aus Thon werden verkleinerte Bausteine verfertigt, wobei die Breite doppelt so grofs wie die Dicke, und die Liinge wieder zweimal der Grölse der Breite entspricht; hierauf wird Recheuarbeit basiert und zum Gegenstand einer Sprachlektion gewählt; Kubikcentimetor werden genau nach Mafs angefertigt und damit wird gemessen und gerechnet; die Mantel der Inhaltsma&e werden auf Pappe gezeichnet, ausgeschnitten, in höheren Klasscm mit den Messern zur Übung und nützlichem Gebrauch desselben; Deiche und Dämme werden vorge- stellt, Dosen und Porträtrahmen von Pappe gemacht, Anlafs gebend EQ allerlei Problemen. ÄJUe diese Arbeiten sind Ausgangspunkt und Stoff in Überflnls für Sprach- tmd Stillektionen, Lese- und Sprech-, Zeichen- and Bechenttbungea. So wird es den Schülern zu einem Marfnls, alles, was sie denken und fhun, in mündlicher oder scfarift- lioher Sprache zu reproduzieren : das Bucli wird dadurch in den Hin- tergrund, das wirkliche Leben in den Vordergrund gestellt Ffir oberflichlicheB Denken und Nachsprechen mit den nachteiligen Fol- gen ist fast kein Baum m^: die Wirklichkeit ist der Anfang und das Ende, Wahrheit ist Ausgangspunkt und Zweck ; dem Leben ent- nommen, alles 80 viel wie mö^ioh auf die Fteis des Lebens gerichtet. ünd dann die Arbeit aufiserhalb der Schule: auf dem Spielplatz ein 3 Meter hoher Pfahl. An jedem Tage wird die Linge des Schattens in denselben Stunden immer wieder gemessen: von Tag za Tag wird er kürzer : die Sonne steigt also immer höher am Himmel ... das Frühjahr steht beror ... bis zum 21. Juni: dann hat mittags die Sonne ihren höchsten Stand erreicfat, der Schatten ist nun am ktirzesten die Tage werden wieder kürzer!

Wie viel Arbeit in unserem Schulgarten . . . Wir kommen ge- tade daher und dnd in das Klassenzimmer zurückgekehrt Wir wollen eben anfiBehreiben, was wir dort gethan. Ich werde schreiben: wie der eiste Satz? Und so weiter . . . ünd wir haben bestinmite Sprachfotmen nun nötig: Notwendigkeit in Arbeit entstanden. Wel- ches Buch der Sprachlehre, wenn noch so gut methodisch zusammen- gesetzt, schöpft dieses Bedflifois, dieses Interesse?

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A. Abhandloiipii.

22. März, der Tag, wo die Sonne gerade um sechs Uhr und ge- nau im Osten aufgeht. Tage vorher schon sehnen die Schüler der höchsten Klasse sich nach jenem Morgen, um gegen fünf Uhr bei der Schule zu sein, in der Dämmerung des herannahenden Morgens mit einem Butterbrote bei sich »den borgen Boekel« zu besuchen, um von jenem hulieu Punkte die Sonne über dem Horizont aiitr^t^lien zu sehen. Wir lernten schon ein dazu passendes zweistinnniL^u» Lied. Sieh, das wird gefühlt von diesen jungen Herzen in jenen Augen- blicken. Augenblicke, worin das Schönheitsgefühl entwickelt wird. Ba Sitzt dann Kraft zum Guten, zur Charakterbildung drin, aber auch diinn allein, wenn es der Wirklichkeit entspricht. Nicht aus einem Büchlein! Nur dann ist Poesie wirklich poetisch für das Kind. Und Tersuchen Sie dann, in die Schule zurückgekehrt, einen Sonnenauf- gang zu beschreiben oder lesen Sie mit den Schülern die Sprache, worin die besten unserer Dichter diese schöne Stunde wiedei^gegeben haben.

Ich eile zum Schluis. Möge es mir gelungen sein, eine kleine Skizze gegeben zu haben, auch von der Praxis, wohin wir geführt werden, wenn wir dem Bewegungs- und Darstellungstrieb des Kindes Genüge leisten.

"Doch das Mitgeteilte ich sage es mit Nachdruck kommt mit Bescheidenheit zu Ihnen. Denn wie Paulus kann ich erklären: Nicht dafs ich es schon ergriffen hätte, ich jage ihm aber nach, nach dem Ziel meines, nach dem Ziel Ihres Berufes. Und zu die- sem Streben in jener Richtung wünsche ich Sie ebenso anzuregen. Erwägen Sie, denken Sie nach gut ; studieren und theoretisieren Sie gut, alles gut; doch vor allem: fassen Sie an, fangen Sie an an- zuwenden, was wir uns selbst auf Schulversammlungen und dergleichen ein in (in als AVahrheit vorhalten. Und, wäre es, dafs von dem durch iiucii Ausgesprochenen, Ihnen etwas als richtig vorkäme, machen Sie dann fincli das Wort zur That Möge von den Lehrern entkriiftet werden, was Prof. Opzoomkr einmal sagte: »Es giebt auf Erden keinen Weg so lang wie :';\vim Ken Wissen und Thun « Fangen Sie nur an, nnd dies steht fest wie von selbst werden i^if^ dann weiter- getrieben, Tag für Tag, Schritt für Schritt auf den Vscz, den Sie schüchtern betraten. Und bald k()nnen Sie nicht andrrs. Nicht tech- nische Fertigkeiten extra, sondern vor allem pädagt lio Einsicht ist hier die Forderung. Einmal das Prinzip anerkennend, dafs die höchste Anschaulichkeit erhalten wird durch SelbstthiitiLkeit: von der Wahrheit innig überzeugt dafs Interesse von der Seite des Kindes die unentbehrliche Bedingung iiii das Wohlgelingen des Untorhcbtes

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HL TertModstag der Hflteduileii BenlaohlMMlB. 171

ist, und dafs man deshalb in unserer Elementarschule je länger, je mehr thiui lassen und immer weniger sprechen mufs mufs die sogenannte Handarbeit als integrierender Teil unseres Unterrichtes in der Elementarschule eingeführt werden. Hinsichtlich des Kindes soll in der Zukunft der Lehrer eme bescheidenere Stelle einnehmen, und soll er bedenken, daTs auch für das Kind das heilige Wort ge- schrieben steht: Es ist seliger, zu geben als zu empfangen.

B. MItteiiungoiL

1. III. Yerbandstag der Hüfssclialen DentschlandB.

Von Heaz« in Hannwrer.

n.

Am 11. April fimd toq 9 Uhr nungens tau im »BOfsensaale« die tod über 350 Feraooen besachte Eanptvienammlxuig statt. Der 1. Tonitzende,

StadtBchulrat Dr. Wehrhahn-HaonoTer, beseichnete in meiner BegrflfBungs- anspräche als Ziele des Verbandes eine in jeder Beziehung 7"\re<:'k- ent'jprochende Org-anisntion der Hilfsschiile, eine mö,u:H''li'^t %veitgehondo Ver- breitung der Hilfsschule und die bestmßgliehe Fürsorge für die scluilent- laBäeneu Zügiiuge, insoDderheit eine gebührende Rückäichtnaluue auf die- selben im Milittr- nnd Justiiwesen. & gab der Bctäsamg und Überzeugung Ansdiuck, dalii der S. YerbBodstag weeentliöh die Erreichmig dieser Ziele fitrdem 'werde. Es sei ein erfreuliches Zeichen für das stetig wachsende Interesse, welches die Hilfsschule enege, dafs Teilnehmer aus den ver- pchie<lensten Bern fsk lassen sich zu dem Verbandstage eingefunden hfltton. Für den zahlreichen Besuch dankeml, hiefs Redner insonderheit die Ver- treter der Bcliürdf^n willkommen. Regienmgfirat Lind ig als Veitreter des ba^Tischeu StaaLbiimusteriums und der Regierung von Schwaben und Neaburg bebmdete dem Yerbaode nnd den ffilfsschnlen die ToUste Sympathie jener Behörden, da auch sie besondere nntemchtliohe und endehliche Mafsnahmen für die Geistesschwachen als durchaus notwendig anericennten. Er hoffe, dais der Verbandstag das Verständnis und die Verbreitimg der Hilfsschulbewegimg auch in Bayern wesentlich Ordern werde. Geheimer Ober-Regieningsrat Brandi begrüfste die Versammlung als Vertreter des preiifsischen Kultusministeriums. Er l^etonte die Notwendigkeit der iiiifs- öchulen für Kiuder, welche die Volksschule nicht zu fördern vermag. Diese kommen in der HiUsschalB su ihiem Becht, ohne dem Mtemhause ond der Pflege der M nttsr entzogen zu werden. Das Ministeriam hat sich von Anfoog an an! den Standpunkt gestellt, die Eilfsschulbewegimg zwar möglichst zn fördern, im übrigen aber ihre Entwickelung ohne behördliehes Eingreifen 4inf Grand der £rfahrui^ gedeihen zu lassen. Ans den aber die Hilfs-

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R liUteamigtiL

schnlen eingogangeoen Berichten ergab ach eine Reihe s. Z. im Zentral- falatt TerOffentiichter allgemeioer Gesichtspunkte, von denen die wichtigsten folfjende sind: Der Aufnahme in die Hilfsschule mufs im allgemeinen ein 2 jähriger Besuch fler Normalschule vorausgohen. Bei dor Auswahl ist der Arzt zu hören. Über jetles Kind ist eine fortlaufende Krankengeschichte zu führen. Den Hilfsschullehrem ist eine Fimktionszulage zu gewähren. Eb mal» ihnen jederzeit der RQcktritt in die N<«inalschQle frei stehen. Nach einer neuen, im HiniBterinm TOfigenommenen AufeteUnng bestehen an Hilfsschulen in FreufBen in 45 Städten 91 Anstalten mit 4728 Schülern und 233 Lehri>orsonen gegen 18 Stfulto mit 2G Anstalten und 700 Kindern im Jahre 1894 und 27 St,-i'1to mit Anstalten und 2017 Kindern 1896. Nach AuL'-'ilmrg mit seiner grol'öen hibtorischen Vergangenheit \md den vielen Kiiunerungszeichen an dieselbe seien gewils alle Teilnehmer geru gekommen. Er hoffe, daJs vnter Bdaeiteaetsong aller Ueinoi Meinungs- verschiedenheiten die Tagung zu dnem freodigen Ergebnis führen und dazu beitragen werde, auch auf dem vorli^enden Gebiete Nord mid 8üd zum Segen des ganzen Deutschland zu einen. Der 1. BHrgermeister von Augsburg, Hofrat Wolfram, dankte im Namen der städtischen BehüRlen für den zahlreichen Besucli des VerbaüdUitages. Herzliche Gastfreuudöcbaft sei schwäbisclio Sitte. Er tioffe, dafs die Verhandlungen nicht nur dem gesamten Yolksechulwesen zu gnte kommen, sondern apeaell auch in Augs- burg gute Früchte zeitigen mOchten. Daran sei nidit zu zweifeln, da die Yerbandsbestrebungen in allen Sdiichten der Bevölkerung so lebhaften An- klang geftmden hätten. Kr erhoffe für die Tt ilnehmer nach den Stunden der Arbeit auch solche des Genusses und der Erliolung. Zum Schlufs be- grüfste Oberleluer Schubert-Augsbiu-g die Versammlung im Namen der bayrischen Lehrer» und Lehrerinnenvereine. Der t. Vorsitzende dankte den Rednern für die dem Yerbande und den Hüfeschulen bekundete An- erkennung, die um 80 erfreulicher aei, da sie Ton eo mal^bendeo SteUea ausgehe.

Hierauf hielt Lehrer Hanke- Görlitz seinen Vortrag Aber die Be- deutung der Hilfsschule in pädagogischer und volkswirt- sch ältlicher Beziehung, dem etwa folgender Gedankengang zu. Grunde lag:

Die HilisBchulen haben zwar in den letzten Jahren nach Zahl und Ausbau sehr schnell zugenommen, stecken alx r 1 ^ nodi in den Kinder-

scliuhen. In der Voraussetzung:, dafs zahlreiche Teilnehmer der Hilfsschul- bewegung nneh mehr oder weniger fremd gegenüberstehen imd sich auf dem Verbandbtage erst ein Ui-teil über dieselbe Viildcn wollen, soll zunächst Wesen und Zweck der Hilfsscliultiu kurz erüilert werden. Unter jeder grO&eren Schfllermenge giebt es einige Kinder, denen das Fortschreiten im Unterrichte aehr achwet ftUt, die dieaen daher zum Naditeale der andraen Kinder sehr hemmen. Da eine ausreichende BerQckGicbtigang jener Wesen in der Normalschide, wenn anders sie das ihr gesetzte Ziel erreichen soU^ nicht möglieh ist, so erfaiiren sie keine Förderung durch den Unterricht,, verainken in Teilnaluuloäigkeit, verlieren das Selbstvertrauen und verfalloii dem Hoho und Spott der MitschQler. Es fehlt ihnen zwar nicht an Büd-

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nL YtttltttMlstiig d6r HOfiKofaidmi DentBcblaada.

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aunk^t^ mr nkiht dkselbe für die Noimakchule nicht aus. Sie gehören in did HilfaBchnIe. Die üraaobe des ZurQdkbleibei» mub in SchSdiguiigeii des OehiniB beruhen; Kinder, welche Uob durch iubere Ümstftnde (Krank- heit, Lehrer- und Schiilwechsel, Schulversäumnis etc.) zurückgeblieben sind,

g*^»h"«T>^n nicht in die HUfsschiile. In der Regel wird, abf*«sehen von ver- emzeiten Fällen, wo die geistige Schwäche unzweideutig erkennbar ist, ein 2 jähriger erfolgloser Besuch der Normaischiüe bei der Aufnahme in die Hiltechule vorausgesetzt Idioten, Epileptiker, Yiersinnige und ver- 'wahiloBle Sinder eind an die Analalten absuweisen. Nun Übt eioh aber das Wesen eines gelRtigen Zufitandee in keoner Wöie so zur DaisteUung bringen, dafe damit für den einzelnen Fall ein sicheres Hilfsmittel zur Be- uileilung geliefert wurde. Nur di^r ])sychologisch beol>achteride Päda- goge vermag auf Grund der Erfahrung nacli dorn Malsstabe der Biidsani- keit des Kiudes die geistige Gesundheit oder Al>normität desselben zu be- stimnien. Allerdings steht der Begriff der Normalität keineswegs fest, es ^Bhit daher an einen Ausgangspunkt für die objektive Abechätaung der geistigen Kiflfle. Alle Httbeohulen berichten daher auch von ZurOck- versetsnngen in die Normalschule. Diese werden aber immer seltener werden, je mehr die Lehi-er durch Erfahrung in der Auswahl treffsicher gewoixlen sind. Jedenfalls dürfen solche Fälle nie Zweck der Hilfsschule sein. Es kommt ja auch nicht vor allem darauf an, was das Kind leistet, sondern wie es arbeitet. Von gröfetcr Bedeutung ist ein zweck- m&lägee Aufnahmeveiiahren, Beferent legt das in Görlits angewandte dar. Der Leiter der HiUsschule hat Uber die Tocgesdihigenen Kinder duidh Be- suche in den Klassen und im Eltemhause sich zu orientieren. Namentlich letzter»? liefern nacli den verschiedensten Seiten hin scliätzenswertes Material und bahnen ein gutes Verhältnis zwischen Schule und Haus an. Zunäclist werden die Kinder 2 bis 3 Wochen mit Einiftilligiuig der Eltern probeweise aufgenommen. Darauf entsulieidet eine Kommission eudgiltig übei* ihr Yer* bleiben in der HillBSchule. Die Hilfasdrale mulh allen BevOlkemngsklassen dfienen, denn anoh die unbegabten Kinder aus hftheren Schulen bedflrfen denselben Schonimg und Behandlung wie die aus Yolkssdiulen. Sicherlich ist sie zweckmäfsiger als die viel beliebten Familienpensionate ohne Üach- kundige Leitung. Die Hilfsschulen müssen derartig eingerichtet und aus- stattet sein, dafs ilmeu Heiche und Arme ihre Schmerzenskinder gern anvertrauen. In einer Klasse seien nur 15 20 Kinder, damit jedes Kind genan ecfonoht werde, jedes andauernde Berücksichtigung und Anregimg aar Selbstüiltigkeit eilahre» eine innige Yeibindung zwischen Haus und Sdrale bestehe und das Gehirn, wenn auch nicht umgewandelt, so doch vor weiteren Schfldigimgen bewahrt werde. Vor allem mufs sic^ die Hilfs- schule vor dem Irrtum hüten, als ob Aneignung eines möglichst grofsen Wissensstoffes Geistesbildung bedeute. Man wird über das der Mittelstufe der Volksschule gesteckte Ziel nicht hinausgehen können. Die Gegenstände, welche vorzugsweise geistige Anstrengung erfordern, müssen hinter die auf kflrperiiche QeechicUicfakeit und praktisdie Befthigung hinsielenden surQdc- treten. Hit den so verschieden formulierten Zielen der Erziehung, wie sie nns in der Pidagogik entgegentreten, künnen wir in der Hilfsschule nichts

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in

& IfitteOnogen.

anfangen. Unsere nächste Aufgabe ist die Weckung der gehemmten und aehvachen Krüh». Was bei nonnalen Kindern an gdstifcer Aufloahme in den ezaten Lebensjahren in so bedeatendem Habe sich von aelbst Tüllzieht, er- fordert hier viele Arbeit. Zu dem Zveeke mufa in den Hilfsschulen möglichst viel Familiengeist herrschen; 7m d^m plarimaffdgen Unterrichte muTs der gelegentliche treten, wenn die Kiiuier geistige Empföng^lichkeit aiirsem sollen. Weitgehendste Aaschaaung muls herrschen. Zur Erregung geistiger Selbstthätigkeit auch antehalb der Schule bebandle man in erster Linie Stoffe, welche dem Kinde anf Schritt und Tritt entgegentreten und knüpfe an bedeutsame Ereignisse und Erlebnisse der Kinder an. Turnen, Jugend- spiel \ind Handarbeit gebührt ein breiter Kaum. Keine Worte ohne Sachen, niemals mechanisches Üben der äufseren Sinne ohne pleichzeitip^e Anregung des Be^ffszentnüns. Vor allem auch halte man die Kiüder stets bei p:uter Stimmung, Die Hilfsschule erlangt volkswirtschaftliche Bedeutimg durch ffinaibeitäi an! die Erwefbafthigkeit der Kinder, von denen andemMa gewife manche den Familien, den Annenverwaltangen oder gar den GeflUi^' nissen zur Last feilen wflrden. Wo nur ein Funken von Selbstac-htimg und Pflichtgefühl zu erwecken ist. da erwacht auch der Drang nach Bethätigung. Über die Schiil/eit hinaus ist für eine entsprechende Berufswahl und die Ermittelung geeigneter Meister und Arbeilgeber zu sorgen (nicht Ijauf- burscheo und Fabrikaibeiter !) ; vor allem sind die Zöglinge auf Landarbeit hinzulenken. Yen graliaer Bedentang kOnnen die Hilfeschnlen fOr das Militftnresen werden. Viele ihrer ZO^ge geniigen kOrperiich voUstandig den Anfrarderungen ; ihre geistigen Fehler aber werden bei dem kurzen Anshebnngsrerfahren nicht "ntdeckt. Na(>hhcr gt?reichen sie dann ihren Yorgcsetzten und Kameraden zur Last, sind ninTMi- jfachem Unrecht in ihrer Behandlung ausgesetzt. Auf Gnmd von Pei-soiuiinotizen der Schule aus- gestellte Gutachten könnten hier zur rechten Beurteilung füliren. Da^elbe gilt auch für stia&echtliche Untecsnchungen. Weiter werden bei Dmch' führong des neuen preulaifldien Fflrsorgegesetiee die HilfBsdiidai wesent- lich mit in Frage kommen, nicht etwa, weil geistessdiwadie Kinder be» sonders stark zur ünsittlicheit und Yerwahrlosimg neigen, sondern weil bei ihnen die Gefahren der Verffihmng besonders grofs sind. Es wird Auf- gabe der Hilfsschule sein, bezüglich der anzuwendenden Maisnahmen auf Be- rdoksichtigimg des Pathologischen an ihren Kindern hinzuwirken, was leider im Gesetze mdit genügend Torgceohen ist Daneben aber wird die HOfsschnle auch als vorbeugoodc und bewahrende Bniehungseinrichtimg sich Qeltimg Terschaffen müssen. Endlich aber gilt es auch, in Wort und Schrift die Ursachen der geistigen und sittlichen Schädigungen unserer Jugend zu be- kämpfen. Die vorstehend ge/.richnete ücdeutuug kaiui nur die organisierte selbständige Hilfsschule erlaugcu. Über die Zahl der Klassen und Stufen Normen anfisustsUen, ist unsweckmäTsig. Wesentlich ist nur, daTs die In- diridnalitlten moet Klasse mflgiichst gleichartig sind, weU dadwch am besten die Schularbi it erleicbtett und der Erfolg gesichert vnr6. Je grOfS^r die Stadt i^t, eine desto zweckmäfsigere Gnippierung wird rnuglich sein. Das Alter darf nicht iu dem Mafse eine Rolle si>inlon wie in den Klassen der Normalschulen. Es mufs in den verschiedenen Disziplinen je nach der Be-

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EL VeilaiMbtag dw SUnahideii DentBcUandh t7&

fiLhigung eino Überweisung an verhciiiudeue iviasseu be^w. Abteilungen er- möglicht werden. Eine Trennung nach Greschlechtem ist unzweckmiUÜBig. Sogeoannte NebenUASSda mit »NBdifailfeiiiitBmchtc mOgen gewteen Katmeii dinilklL flon, fOr unseie Smder sind ma geradezu BohMlmh, ebeoeo wie er- höhte Nahrungsnduhr für einen Magenkranken. Man wird es bolfentlioh einmal fClr Pleonasmus halten, an einer Einrichtnng' von hoher j^äda^jogischcr Bedeutunp- den volkswirtschaftlichen "Wert nocli be.^onders zu betonen. Hoffentlich kommt einmal die Zeit, wo {mdagogisehes Wissen und psycho- logisches Urteilen zur Allgemeinbildung gehören, ebenso wie soziales Fühlen nnd Streben (frOher so wenig bekannt) jetzt allgemein rar Henensnchfr geworden ist Unsere Angabe aber ist es, durch treue FflicfaterfOllung unsere Arbeit zu Ehren zu bringen und ihr neue Freimde zu erwwben,

Wohl noch nirgends besteht eine allgemeine Erziehungsschule mit der Aufgabe, alle Kinder o]ine Rür-ksirht anf äufsere Verhältnisse als wertlende Menschen in einen geinomsameu (ied an kenkreis einznfüliren. Anstatt erst uacii uiclireren Jalu^gu, wenn die Individualität klar erkannt ist, mit der Toibefeitxmg auf den spftteren Bildungsgang zu beginnen, sucht man vom 1. Scfaultage ab die Kinder in Voisohnlen auf dunkel in der Zukunft liegende Ziele zuzustutzen. Dem gegenüber erschemt die Hilfsschule, die vor allem als Erziehungsstätte beurteilt werden mufs, als Oase in der Wüste. Durch Ausscheidung der Schwachen erh(lht sie die Möglichkeit '1er allgemeinen Volksschule. Ebenso sehr wie eine Stadt möglichst ^äel- htulige Vülksschulsysteme anstrebt, sollte sie auch ohne Rücksicht auf die Kosten durch Hilfsschulen den Bedürfnissen der geistig Armen Bechnung tagen. Gelingt es der Hilfsschule, das Interesse der Allgemdnheit zu enegen, so wfirde sie auch als Beweismittd gegen die fiberhohe Frequenz msDoher Schulen dienen, dahin führen können, dafs man in gvo&en Schul- systemen aneh die schwächeren unter den normal R-^gahten in kleineren Klasjäen vereint. (Z. B. statt 4 X 60 Schüler 3 X 70 gut imd i X 30 miiKler veranlagte.) Von weitgehender Bedeutung kann die Hilfsschule für die Pädagogik durch die Betonung der pädagogischen Pathologie werden. Mit dem gewöhnlich in der Psychologie gelehrten Schema »Kind«, deuL man in der Wirklidikeit nitgends begegnet, UUst sich nicht viel anfaugeu. Wohl jedes Kind ist mit Fehlem und Mängeln behaftet, die es nicht al» leicht abschüttelbare an sioh trügt, sondern die tief in seiner Natur wurzeln. Manches Kind kann infolge derselben z. B. nicht lesen, kalligrapiiisch wler orthograpiiisch richtig schreiben lernen und wLiti infolgedessen gar leicht ungerecht behandelt, liier die goldene Mittelstrafee zu finden, darin liegt der Schwerpunkt des IndividuaUderois. Redner schlie&t mit der Mahnung, die Hilfsschularbeit nidit zu ein^ pSdagogischmi Spezialistentum zu stempeiln,. soodeio stets den Zusammenhang mit der allgemeinen Schulpsychologie zu wahren. Prof. Dr. S t n m p f - Würzburg bezeugte, dafs der Referent .•iiioTi ausgezeichneten Eindruck auf ihn gemacht habe. Die Auffassung desselben vom Sciiwachsinn decke sich völlig mit der pgyehiatrisch-wissen- ischaftlichen. Vor aiieni pflichte er ihm darin bei, dais man durch längere Beachftftigung mit der Materie schlieOsUch zu völliger »TrefGsicherheit« in der Feststellung des Schwachsinns gelange. Arzt und Lduer mfibteu

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na

B. ICitteiliiiigeD.

adi auf dieeem Gebiete etigflnzen. Doch stunme er ni, dab der Ant in sdnem Urteile nicht so kompet^t sei, da er sich Dicht so int^osiy mit dem Individuum beacbfiftige. Stadtachuliat Specht- Karlsruhe beantragte darauf, von einer weiteren Debatte abzTisehen mul iMe Leitsätze des Referenten m hloo, anzunehmen. Die Yersammlung beschlois dem Antrage ent- sprechend. (SohluDs folgt)

2. Zur Entwlokelimg der Sprache des Kindel.

Von Geh. SanitiltBrat Dr. Wolfert in Berlin.

Am 2. Januar 1879 ^vm•de mir eine Nichte meiner verstorbenen Fi-au. Else M. ins Hau» gebiuclit. Da« Kiud wüx 2^j^ Jahr alt, korperlicb, Belbät in Besiehuug auf Beinliohkeit YollatKndig veniachlftaagt und so schwach, dab sie nicht dnmal allein in der Sophaecke aitaen konnte» Sie sprach

noch kein Wort mit Ausnahme des AVortes: »Schlüssel«, weldies, gewilh

kein gerade sehr leichtes, sie wenige Wochen früher bei einem zweitägigen Aufenthalt bei ueb erlernt hatte. Ich bemerke zur Erklänmg, dafs die Mutter seit ihror Terlieinituug periodenweise aig tobsüchtig, inzwischen in luehi-tjreu Anstalten in Sclilesien gewesen und jetzt wieder im Anfall war; der Yater war Potator, Eleptomane und starb einige Jahre später in Dalldorf.

Selbstredend nahmen wir das Kind sofort in sorgfältigste liebevolle Pflege und hatten nach kurzer Zeit die Freude, es sich erholen und kräf- tigen zu sehen, so dais es auch bald zu Laufversuclieu gelangte und im Sprechen la&che Fortschritte machte, bis ziun 22. März, wo das Kind am Morgen unser Mädchen mit den Worten rief : »Hanne, Hanne, zieh mir die Schuhohen an» heute kann ich alieüi lanienlc Sie mag wohl getiftumt und dadurch Selbstvertrauen bekommen haben, denn sie lief in der That Ton diesem Augenblick an frei und ohne Hilfe und gewann so noch am selben Tage ihre Selbständigkeit.

Was mir aber bei dio^er Gelegenheit überraschend kam, ■war die Erkenntnis, die ich in der alimäliiichen Eutwickelung der Sprache mir nicht klar gemadift hatte; das Khid hatte in ebem Zeitraum von 80 Tagen (2. Januar bis 22. Man» dem Geburtstag des hochseligen Eaasers) von Nichts anfangend, vollstSndig sprechen gelemt, auch in der Ausqpraohe mit nur geringen Fehlem.

Ich erklärte mir die Sache so: Das Kind hatte 2^/., Jahre lang die Sprache ihrer Ümgebmig gehört imd das Material in f^ich anfgesjieiehert. auch walu-scheinlich in Uedanken gespix)chen, wie ja z. B. uianclie Kinder, wenn sie sich unbeobachtet glauben, fOr sich oder mit ihren Sptelsaohen plaudern, ihrer Umgebung gegenüba aber nicht zum Sprechen zu bewegen sind. Diesem Kinde gegenflber hatte eich aber niemand bisher die Mühe genommen, ihm etwas vorzuspiwhen, zu Oben, oder ihm namentlich die Bildung von Konsonanten beizubringen, ^vährcud jetzt die Bescliiiitigung mit dem Kinde so übermschende Erfolge ergab. Um die nun folgendt» Be- obachtung zu veistehen, muls ich hier eiusdialteu, daHs das Kiud die ersten

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Zox Entwiokeluiig der Spiacha des Kindes. 177

1^/3 Jalire mit den Eltern in Neurodc in Schlesien gelebt hatte, his letztere nach Hnmmelsburg bei Berlin übergesiedelt waren. Hieraus erklärt sich das jetzt Ff)!G-ende.

27» «^^^u seiuer Aufnahme in meinem Uauöe, also im Alter von 5 Jahren, begann das Kind eiiies tlugos, lanler flcUesisohe Redenaartep anesukninen, deien es doch in iinBefem Hanse keine geh(M hatte. Diese Eischeinnng dauerte genau drei Tage^ und war dann plfitalieh und fflr immer wieder verschwunden. Es scheint mir hierdurch der unzweifelhafte Beweis erbracht, v>'iQ früh und energisch die erste Aufnahme der ^Sprach- eindrücke beim jungen Kinde sich einstellt Jeder Mensch hat au sich die Er^rung gemacht, daüs die frühesten Eindrücke aus der Kindheit uDver- wisohbar bleiben, wihiend im spMeren Alter die Erinnerung vom vorigen Tage Bohoo Tersdiwanden ist Ich mödite aber aoch an den Ansdrack vom sogeoamiten > dummen Yiorteljahr« erinnern nnd bemerken, dalk dem aufmerksamen Beobaditer nicht entgehen kann, iffie nach Ablauf dieses Vieiteljahres der gesunde Säugling aufmerksam nicht imr die Augen seiner Eltern und Pfleger, sondern auch die Mundbewegungen derselben und ihre Worte verfolgt, genau wie daa ja auch das Tier thut, worüber ich weiter unten noch einiges zu erw&hnen mir erlauben möchte.

Es hat sich bei demselben Kinde anch später eine gewisse sprung- weise Entwickelnng in der Auffassung mancher Dinge bemerklich gemacht

£he das Kind in die Schule kam, nach Ablauf des 6. Jahres, war es nicht möglich, demselben auch niu* das kleinste Terschen einzuprägen, so verständif:: das Kind und zu allem bereit und willig sich zeitrtp>. Aber von dem Tage ab, wo sie die Schule besuchte, referierte sie soiuit beim Kaclihausekommen alles, waä sie gclerut lialto, mit Vorliebe den Unter- richt in der biblisdien Qeechichte; sie erlernte auibllend rasch das Lesen, und schrieb nach noish nicht einem Jahre anfhllend fehlerlos Diktste^ bildete auch KonjugatioDsformen, wenn auch zuweilen ädsch, doch nicht nngescliickt, w. B. geganken statt gegangen etc. Nm- eins wollte ihr nicht in den K -y f. nämlich das Zählen. Sie zählte au den Fingern etwa bis 10, nahm al»ei nicht Finger für Finger, sondern zählte in demselben Finger drei biä vier Zahlen. Erst l>ei ihrer ersteu liliiauukuüg au iScliariach for- derte sie sich eines Tsges eine Tafel und hat sich mit derselben xwei Teile Tsge beschäftigt Da rief sie plStadioh jubelnd meine Ekmu herbei, und erzählte ihr: »Jetzt ksnn ich nicht nur bis 100, nein ich kann auch bis 1000 zählen, soviel Ihr wollt« BSs iror ihr in der That das ToUe Yer- stindnis aufgegangen.

Nicht ganz hierher gehörig ist das Folgende, was ich aber zur Charakteristik d^ Kindes gern hier mitteilen möchte. Die Heredität der Geisteskrankheit ergiebt ja, daCs das Kind nicht völlig normal war, und bewies sich aus dem Umstsnde, dalb sie etwa von Tier su vier Wochen den Trieb hatte, zu zerstören, namentlich Papier oder Stoffe zu zerrei&en. Es war das eine Erscheinung, die sich auch bei ihrer Mutter oft selir unangeix^liTii fühlbar machte. Natfirlich wurde ihr das sehr ernsthaft unter- sagt, aber ohne ihr je mit Strafe zu dmhen. Eines Tages sagte sie aber zu unserem Mädchen: 2 Hanne, weilst du, nmnduual m(k:hte ich doch, so

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a Hitteüangen.

recht, ach so ganz furchtbar iinartig sein, aber ich thue ©8 nicht, denn ich -weibj Mama und Papa ärgern aidi darfiberic und dabd mnde sie ganz emgtf fast; -wie in EntrHatung über sich selbst loh mnJ^ ihr betengen,

sie hat diese Qewalt bis an ihren Tod Über sich ansgeflfat, imd wer inll

beurteilen, welche Anstreivirnnir ihr das trt^kost'^t hat!

Ein anderes Mal kam mir meine Fnui mit Thiänen im Auge entgegen und sagte loir: »Denke dir, Fapa, unsere Eh^e hat gelogen.« Glücklicher- weise hat^ sie das Kind nicht strafen können, und ich bat sie, mir das m nberlasera. Am andern Moigen frflh, als sie noch schlief madite ich ihr mit feuchtem HtfUenstein dnen erbsgrotei Heck anf die Naae, der erst splter dunkel wurde. Da sah ich sie dann verwundert an, und fragte sie, woher sie den Fleck habe. Da sie das nicht beantworten konnte, fi-agtc ich sie, ob sie doch nicht etwa gelogen habe. Antwort: Nein! Wie, auch gestern nicht? Da stürzte sie auf mich zu, und gestand unter ThrSnen: Ja gestern habe ich gelogen! Der £rfolg war YoUständig und dauernd. Leider fiel die Sttafe hSiter ans, als iöh beabnohtigt hatte, denn das Kind war 14 Tage lang nicht zu bewege, mit uns auszugehen, was ihr doch nötig gewesen wäre. Auch vor mmnen Spiegel sie zu bnogOT« gelang uns selbst mit List oder Überraschung nicht. Erst nach dieser Zeit war mir's gelungen, den Fleck mit Bimssteinseife zu beseitigen. Da war dann die Nase zwar nicht Bchwarz aber rot! Auch das komische ^'ach- Bpiel fehlte nicht, denn tiigüch Inm mdumalB dn NegemAddien, die änder mutetOi auf der Strafiae voiHber. Wie forohtbar moTste die doch gelogen haben, so erklärte sie mir. Ich aber erkläre hiermit feieriich: ich bin weder Jäger noch Afrikaretsender 1 Der Soberc BoUte uns eben nicht eispHi-f bleiben.

\\"nu ich nach di»>s»'r Alischweifung zum eigentlichen Thema zurück- komme, öo erübrigt mir, wie ich schon vorher andeutete, den Vergleich mit TierHi hsnnsnaiehen, und an einigan itm mir selbst beobachteten Bei* speien su erUlutem, ine von denselben die menschliche Sprache in ihr Begriffe- und Fassungsvermögen aufgenommen wird. Das uns immer nichsU liegende Beispiel bietet wohl stets der Hund als dasjenige Tier, welches mit dem Menschen am meisten und intimsten verkehrt. Einzelne Beispiele sind fiberzeugend; icli habe deren welche, wo ich, speziell bei einem, einer gröl'sercn Art King Chaiies, den Eindruck habe, dals er fast alles vei'steht, vas gesprochen wird. Was er mcht irisBen soll, darf man in adner Oegenwart nicht sagen, und wenn es ihn betrifft, ftulbert er lebhafte E^eode oder grofse Betrübnis. Sagt z. B. seine Herrin nur, sie müsse ausgehen, so liringt er sofort den Maidkorb, heifst es aber: Nein, du bleibst hier, oder: dich kaiui ich nicht l>rauchen. m verkriecht er sich betrübt unters Sojilia. Vor einem Jahre wurde ich diclit bei meiner Wohnimg, also weit von der seiner Herrschaft, auf der Stialse jubelnd begrü&t Krischsa, wo kommst dn her, wo ist denn ddn Herrchen? Nun, er hat mich glücklich Ins In ein nahes Restaurant gelockt, wo sein Herr sab. Höchst ergötzlich ist aber, wenn das Tier sich alle onlcntliche Mühe giebt, ein Woti darzustellen, wozu dneh seine Organe absolut anbnuichbar sind,, und danu seine Betrübnis über den MiDserfolg.

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Zur Entwickelong der Sprache des Eindes.

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flom fltpraehvewl-ündwto dar TIam.

Ein grofser Huud, Kasse Caesar und Minka, tiabt, es sind 2 Jahre her. aiip^!ischeinlich äufscrst dienstlich, bei meiner Hausthür vorbei, um nach Hause zu kommen, hat aber den I^Iaulkorb \mtor dem Halse hängen! Unser Mädchen, die ihn kommen sieht, sagi so halblaut, fast nur vor sich hin: Dummer isLeri, hast ja deinen Maulkorb verloren! Sofort dreht er ooh am, UUt ihr den E<qpf hin, Iftflrt sieh den Unilkittb irieder anfBetzen, imd trabt dann, ohne >danke< in sagen, im selben Tempo weiter. Andere Beweise, daTs die Tiere die menschliche Sprache verstehen, ergeben ach daiBDS, dafs dies Verständnis an das Idiom geknüpft ist.

Polnische Pferde machen, wenn sie in deutsche Hände übergehen, dem deutschen I'üeger ziemlieh lange Zeit Schwierigkeiten, bei Ungarn soll das weniger der Fall sein, weil die meisten von der Puläta kommen und dort keinen Sprachverkehr auIiBer einzelnen Zurufen gelernt haben; ich habe gesehen, dalb im Zool^giscben Garten Elefimten den dortigen gut gesobolteD Wärtern erst nach lan^ Zeit folgten, als aber Indier (Singhaiesen) kamen, durften diese nur ein paar Worte flüstern, und sie gehorchten auis Wort Von Papageien ist wohl allgemein bekannt, dafs, wenn sie 20 Jahre und länger in einer deutschen Familie gelebt haben, und plötzlich jemand englisch sprechen hören, sie sich wie toll gebärden und gar nicht zu. be- ruhigen sind.

Etwas anderes ist es wohl mit den eingelernten Phrasen von I^pa- geisQ, Staren oder Bäben. Uan mflehte da gar an geni glauben machen, wenn sie solche Reden an richtiger Stelle anbringen, sie wären sich des Sinnes derselben berufst Ich mochte das für die Mehrzahl der Fälle bezweifeln, denn diesell)en Sätze sprechen sie gar zu oft auch, wo sie keinen Sinn haben. Jedoch auch hier giebt es einen Untei'scliied z. B. in dem Fall, wo sie Futter, oft sogar eine bestimmte Leckerei fordern. Die nenneD sie richtig.

Es ist immerhin interessant, wie in einem Fall der intelligente Mensch hirt r rlom Tiere zurücksteht Das Tier lernt die Sprache des Menschen vcrdtlien, der Mensch aber die Sprache des Tieres nicht, und doch haben die Tiere ihre Sprache, die sie untereinauder verstehen.

Ich habe oft beobaditet, wie ein Hund ruhig im Zimmer liegt, wohl Vt Stande lang. DianJben auf der Strafte sind inzwischen wohl 60 Hunde midi und nach vorbeigelaufen, alle kläffend, ohne dals sich \mser Stuben- kamerad darum kümmert. Plötzlich aber, wo eben wieder einer kläfft, springt er wütend auf und ans Fenster und giebt seiner bitteren Ent- rüstung den allercrregtesten Ausdruck. Was mag der da draulsen wohl gesagt haben, worüber unser Hund sich so furchtbar ärgern mufe? Ja, er tei^g^ das nicht so bald, vielleicht hOrsn wir ihn später, wenn er sobUUt, im Treome noch einmal eben so wütend anschlagen.

Wie interessant ist es, im Frfihjahr oder Herbst auf einem bl&tter- loeen ^ume den Verliandlungen eines Sperlingsparlamentes zuzuhören! Da geht es zunächst recht bunt her, die verschiedenen Gmp['«Ti debattieren mit groDaer Geschwätzigkeit Plötzlich aber altum silentium! Ein alter

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B. lütteilttDgen.

Hahn hält mit tiof^i- Stimme eine lanp^c eindringliche Rcdo unter tiefstem Schweigen der \ ersamnihmg. Da aber plötzlich bricht der Sturm los. Kr liat waB gesagt, wo die ganze Yersamiiiliing in Entdlstung ausbricht Zimt ein mablofles Sehimpfen, dann plOtdich eohwizren ihrer 5~10 um die nächste StraGsenecke, und nach kurzer Zeit kommen die Agitatoven irieder und bringen einen Zumg von 50 100 BvteigeDossen mit Nun aber geht der Zungonkampf von ncnom los. Ich mnfs seit Jahren nat-hts die mir oft störende Beobachtung niaclien, namentlich im Winter, wo solche Gesellschaft anf den Hausböden ihn? nächtliche Zuflucht sncht, dafs da oft auch btimdeiiiaiig nachtä das Gezäuk weiter geht. Von Storeheu wird ja eraShlt ich selbet habe es nicht gesebm dafe sie ihre Oeriohts- otanngen abhalten und nach lAngerar Beratung' über den SdnildigBn, namentlich Ehebrechor, herfallen und ihn töten. Ob das der Grund ist, kann ich nicht beweisen, denn es ist bekannt, dafs sie auch Kranke und Schwächlinge töten, von denen sie wissen, dals sie die grolse Heise nicht überstehen würden. Interessant ist ja, wenn sie im Frilhjahr ihre Fouriers ausschicken, die das Terrain recognoscieren müssen. Ich sah dann immer Bwei in gerader Linie daherkommen, darauf beschrieben sie beide langsam schwebend, fast ohne Flügelschlag ein- oder sweinial einen grofeen Krms am Himmel und flogen dann wieder zurück, genau in der Richtung, aus der sie gekommen waren. Ein höchst lächerlicher Fall von Strafausüliung wurde vor \iellciclit 40 Jahren von meinem Vater in Berlin an der eisernen Brücke beim Museum beobachtet Ein schöner grofser Bernhardiner wurde TOD dnem sehr ungezogenen Pintscher forti^ährend belästigt, grolbe Hund knurrte ihn Iftngere Zelt ohne Erfolg mi, bis er so frech wurde, ihn in die Hinterbeine zu beiJsen. Nun drehte sich der groise Hund um, fafste den kleinen beim Genick und warf ihn ohne weiteres in den Knpfergraben. Da war denn nun die Not grofs, er kämpfte mit dem Wasser, und scliim]ifte und jammerte nach Kräften. Natürlich hatte er das hochgeelu-tti Publikum, wie immer, auf seiner Seite. Der grolise stand am Utße wad sah mit der gleichgültigsten lOene su. Ekidlioh vei^gingen dem kleinen die Ejftfte; sofort springt der groliw ins Wasser, fafbt ilm beim Genick, trSgt ihn bis ziu^ nächsten Treppe, schüttelt ihn noch einmal und geht dann ruhig trabend seiner Wege. Yok populi hatte umge- soklagen.

Ich will nicht etwa behaupten, dais so ein gi-ofser Hujui immer das Ideal vun Ehibarkeit und Tugend iät; es giebt auch Spitzbuben darunter. Hatte da ein Herr in der Brüderstxalhe so einen Barschen und daau anf dem Bafy einen Kaninnhenstall. Das war ein grolber Kasten, oben mit einem aufklappbaren Deckel, nicht ganz einen Fufs im Geviert. Eines Morgens findet er die Reste eines aufgefressenen Kaninchens anf dem Hofe; und HO mehrere Morgen hintereinnnder. Und was ergab die Beobachtung? Sultan hatte sich im kleinen Petit einen Helfer und Spielsgesellen zugelegt. Zuerst OKnete er den Riegel und die Klappe, falste dann den Petit beim Genick und setste ihn hinein, und der apportierte ihm das Kaninchen, Ob da nun auch eine Verstftndigimg durdi die Hundesprache zu Grunde lag?

Seibat die Kapitolinischen YOgel wiesen sich ihre interessanten Mit*

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ISaigo BeBidtite der EindeiforBcSnuig in den Oiicagoer Sahideiu 181

talungen m nutcIiAD. War da auf dneiD Wagen die Naht an einem Hafer» sack anlsegaDgen und hatte einen eohOnen Strafen Baier die DorfBtnJae entlang gestreut Das entdeckte eine einzelne Qans. Zunfichst frab sie sieh selbst kindlich aatt, bis de nicht mehr konnte, dann aber holte aie

die aiKlcrn herbei.

Da ist der ritterliche Hahn ein anderer Kavalier. Er sucht und knitiit, und wo er was gefunden hat, ruft er die Hennen herbei. Aber er verlangt auch, daft man ihn respektiert; und Hennen aind 1)ekBnntticii das ogensinnigste und hysteriBcliste Weibenx)lk, das es gieht Ba will Bidh z. R eine Henne ein N^t bereiten, und der Hahn, immer galant, hilft Kaum ist es fast fortif^, da pafst es ihr nicht mehr. Sie sucht eine andere Stelle im Stroh aiif und beginnt ihre Arbeit von neuem. Der Hahn hilft wieder. Bald aber dieselbe Geschichte: es geht an das dritte Nest. Auch hier ist der Hahn zur Stelle. Plötzlich aber soll sich die Scene ;^uui -vierten Male iriederholen. Da reifst Herrn Hemüng die Geduld, und nun giebt's ao furchtbaie Prügel mit Sohnabel und Flügeln, daCi eich Frau KmtzefuTs nicht tu retten wcifs, irgendwo unterkriecht und den ganzen Tag nicht wieder zum Yoradidn kommt. Und das sind gerade des Hahns Lieblingshennen. also genau wie bei den Menschen* Binen Zug möchte ich zum Schlüfs als Kuriosum noch mitteilen.

Im zoologischen Garteu hier wurde ein Luchs mit einem grofjsen weifiscn Kaninchen zusammen aufgezogen. Beide vertrugen sich vorzfiglicb, bis Hchliefalich daa Kaninchen einging. Es wurde entfemt und abgezogoi, das Fleisch aber dem Luchs als Fialh hin eingegeben. Er hat das Fleisch trotz Hunger nicht angerührt. Ist das Freundschaft über das Grab hinana? Hunde sterben ja auf dem Qiabe ihrer Herren.

3. Einige Besnltate der Klnderforsclinng in den

Chicagoer Sohulen. Von Dr. päd. Maxlniliaa P. E. SroftauuM in Chicago.

I.

Ener der energisclisten Versuche, auf wiss'^nschaftlicher Basis psycho- logische jb'oi-schungen auf dem Gebiete der Enl\'.iekelung der KindeBsele anzustellen, ist in den letzten zwei Juiu-cu von der Chicagoer Schulbehoixle gemacht wanden. Diese interessanten und hOolist belehienden Eoiaoliuigeo sind den BemflhungeD des Dr. W. Ghriatopber za verdanken, weldier ala Mitglied der SöhulbehGrde das Seinige tbat, um systematische ünter- suchnnpren in der angegebenen Richtung zu organisieren. Es wiu'de ein Kf^m^tee ernannt, deSvSen Vorsitzender Dr. Christnpher wnmle, und die Arbeit \\imlo mit greiser Energie begonnen. Die groi'be SchulbevßUcerung der vestlichen Meti-opole bot ein ungemein ergiebiges Feld für dei-artige Forschungen, um so mehr, als der intematLonale Charakter der Bewohner- Bc&aft den Besultaten Ton grOCseren allgemeineren Bedeutung verlieh, als äß in einer Stadt mit mehr homogener Bevülkening gehabt hätten.

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B. Mitteilangen.

Die üntersacihuiigQ& achloeaen gsam» k(topetlidie HeesimgeQ in Besag

auf Wadutimiflverhältnisse, Arbeitsleistung u. s. w. ein, sowie Prüfungen mit dem sogenannten Erj^ographen und anderoa Apparaten, wie dies die neuere pliysiologische Psycholof^ie erfunden hat, um die körperlichen und 8eelen- zuBtände nach quantitativen Werten zu messen. Obwohl Unter8nchime:en dieser Art nicht die ganze psychologische Wahrheit ergeben künnen, so Itefen Bio doch eine exakte Basis für dgentiich psychologische Erwägungen.

In Chicago wurden so weit über 7000 Binzeluntersachnngett oder Messungen unteraommen. Dem vorläufigen Bericht Dr. Christophers entnehme ich die fol<^nden j^lrängten T>ito!i und Schlursfolgeningen :

Arbeitvsle istung bei Mädchen und Knaben. Es ist am Ende nichts Neues, dals Knaben gröfsere Ausdauer besitzen als Mädchen. Di^ Thatsache wird aber in neuerer Zeit, seit man Knaben und Hldchen ohne Unterschied dnreh dieselbe ünterrichtstxetnillhle quält, nnd sdt das Weib tiberiiaupt in EonkoneDZ mit dem Manne getreten ist, in so llagtBOtsr Weise mifsachtet, dafs es sehr weitroU istp sie experimeoteU nachgewiesen zu erhalten. Zahlen sind schwer zu umgehen. Die ei^go- graphischen rntorsuchimgen in Chicago ergeben, (lals die Kraft und Aus- dauer der Mädchen im Durchschnitt nur 79% deijenigeu der Knaben er- reicht ! Und zwar ergiebt sich die Thatsache der geschiechtUchen Diffeien* nerang um so dentiichcr ans dem Umstände, däb der Unterschied in der Arbeitsleistung mit steigendem Alter zunimmt. Mit anderen Worten, junge Xinder beiderlei Geschlechts stehen einander verhältnismäfsig näher als solche, die sich dem rul>ei-tät salter nähern. WÄlirend z. B. die Ausdauer eines Mädchens von 9 Jaliren 90 ^/q der Kraft seines gleiehalterigcn männ- lichen Mitschülers und Spielgenossen beträgt, erreicht das sechzehnjährige Fiftolein nur 68% des Eraftmafiaea des gleichaltrigen Knaben. Allerdings sind die Daten, auf die sich diese Besnltste stütsen, nicht sehr zaUzdofa; es ist aber bezeichnend, dafe sich dasselbe Resultat ans gans Tetschiedenen Untersuchungsreihen ergab.

Eine der uaheliegendstoQ Folgcnmgen aus diesen Ergebnissen ist die, dal's der gemeinschaftliche Unterricht beider Geschlechter mit steigendem Schulalter modifiziert werden sollte, um weder den Alädeheu zu viel, noch den Knaben zu wenig Angaben zuzumuten. . Knaben der oberen Giade können ein ungleich grSbeies Pensum nnd bedeutend stBikere Anstxeogungen ▼ertragen, als ihre Mitschülerinnen. Es wird liier von neuem bestätigt, was ich bereits vor .Tahien, in meinem Schriftchen »The Common School and the New Educatioii« über die Notwendigkeit einer wenigstens teil- weisen Trennung der Qesehlecht<>r in den oberen Schulgraden gesagt habe. Während eine absolute Trennung in Knaben- und Mädchenschulen, wie sie in Deutsefaland und anch in manchen Orten dieses Landes üblich ist, ab nidit wünschenswertes Extern betrachtet werden muis, ist die ToUsOndige DozchfOhrung der gemeinschaltUofaen Erziehung ein Zuweitgehen nach ent- gegengep'^t^tor Riclitung.

Paralielism US körperlicher und geistiger Fähigkeiten. Vor einer Reihe von Jahren machte Prof. W. Townsend Porter, jetzt au der Harvard Medical School thätig, damals aber in St Louis, dne Eeihe suithro»

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Eadgo Reenltate der KjodAffonahung ia den Ghicagoer SohideD.

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pometriBcher BeobachtoDgoa an einer gtoSa&i Zahl St Louieer ScfaiiUdnder. Ein hanptsächlichstes Besiütat eeiner Unteisochiiiigeii war, daTs die ge> weckteren Kinder einer SohuIUasae grOtees Eörpergewioht aufwiesen, «obIl

in der Regel höhei- erwachsen waren, als die mittleren Messiingszahlen ffli die betreffende Klasse ergaben. Dasselbe Resultat wurde in allen Klassen, von der untersten bis zur iiöchsten, beolwchtet. Dr. Porter schlols daraus, daTs geistige Fälligkeit direkt vom Korpergewicht abliängig sei, und daCs die YerBotzong der Schiller tod Klane wo. IQaem mm groDBen TeU auf Kflcpenneeeimgen haaiett sein soJlte. Sdne Daten und ädiliiiis- folgemiigen sind vielfach angefochten worden. Doch haben neuere und genaue Forschungen darc^ethan, dafs sie nicht nmgCBtofsen werden kennen und iu der Tliat ein wichügeB Prinzip in der Schätzung kindlicher Arbeiten leißtung crirulion.

Audi Dr. Christopher machte es sich zur Aufgabe, Porters Problem neu zu erfoncbeo. Da die Elaaaifissienuig der Schtdkinder fae/t ansschliefa- üch nach ihrer intetUektuellen Entwiokeliuig geschieht, insoweit die Be- wiltigang der legdmllägen Schnlpensen ids ein Beweis geistiger RUiig'-

keit angenommen werden darf, so vereinfachte sich die Untersuchung in- sofern, als es sieh nur danim handolto, das Körpermafs der rasch Auf- steigenden mit dem der Sitzenbleibenden gleichen Alters zu vergleichen.

Es eigab sich nun auch in den Chic^goer Untersuchungen als über Jeden Zweifel erhaben, dafo im Durchschnitt diejenigen Schüler, welche die grö&ten intellektuellen Fortschritte gemacht hatten, zugleich im groben und ganzen giOfker, sdiwerer, kräftiger, ausdauernder und mit grOHserer Ataauz^skapazität begabt waren als diejenigen gleichen Alters, welche in der Schularbeit zurückgeblif^^on waren. Dr. Christopher betont daher mit R»xht noch einmal ausdrücklich, ^s-ie es schon Porter gethan, dafs der körperliche Faktor in der Klassifizierung der Schüler aufs sorg&ltigste in Berücksichtigung gezogen werden sollte, um eine Überbürdung schwächerer Kinder za Tenneiden. Beeenders in der untersten SohnUüasse, wo nicht selten junge Kinder sitaen, deren körperiidis Entwickelmig duduras sorflck- gehlieben ist, die aber von tfaörichten Eltern nicht früh nuLT zum »Lernen« angehalten werden können, ist eine denurtige Vorsicht aufs dringendste geboten.

Nun soll niclit geleugnet wenlen, dafs es, wie jedem bekannt, wohl in jeder Klasse einige Ausoalmiekinder giebt, welclie trotz kleiner Statur nnd geringem KOrpecgewicht doch geistig anberordentlich hefflhigt sind. Nicht selten ist gerade der erfdgidchBle Schmer einer Klasse das jltatgste und klemste Mitglied. Aus dieser Art von Schfliem rekrutieren sich mandbmal die Genies, die Anstiahmemenschen, wenn sie nicht andererseits früh welken, da die geistige Treibhausknltur die Körperkiilfte zu rasch erschöpfte. Kinder dieser Art bilden eine Klasse für Bich und bedürfen ganz besonderer Auf- mtrkäamkeit, da sie eigentlich von der normalen Entwicklung abweichen. Wie Dr. Ghristopher sich ausdruckt, sind SUls dieses Charakters mehr von psthdogischem als von pBdagogisobem Interesse, und ihre Erforschung mag auf das alte Ftoblem, ob das Qenie nicht am Ende eine pathologische, dem WahoBum verwandte £mcheinung sei, neues Licht werfen.

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B. Mitteilungen.

Dals aber für normale Verhältnisse der Poctersche Satz unumstfilsiich gilt, hat erst neulich wieder Dr. Henry G. Beyer, von der Marine der Ver. St nachgewiesen auf Grund von Daten, welche er auf die PrOfunjC^restiltate der Applikanton um Aufnahme in die Marineakademi© zu Annapolis stützt Di^ Daten zeigen, dafs diejenigen Kandidaten, welche die Prilfung be- BteodfiD, abo intoDektneU den Dmchgefalleiida flberlegen -wann, zugleidi Tiet gflostigiero KOrpennaGw aufwiesen, als die letaterao. Dr. Beyer empfiehlt eine sehr beachtenswerte Methode, den kttoperlküieii Eiktor bei Schulprfifnngcn mit einzurechnen. ^)

Verstellbare Pulte. Der gröfste Schüler im ersten (xler untersten Grade erwies sich wenig- kleiner als der kleinste Schüler im achten oder ubcräteu Grade; der Unterbchied betrug nämiicli nur 18 mm oder nicht ganz dieivi^iel Zoll. Zvischen diesen beiden EndkluHBen greifen die HOhemnafae der Kinder in allen Klassen ineinander Aber. Der grO&te Unterschied in einer einzigen Klasse wurde im fünften Grade gefunden, nilmlich 532 mm oder 21 Zoll zwificlien dem gröfstfMi und kleinsten Schüler. Kein klareres Argument zu g-unstcn der Einfülirunp absolut verstellbarer Sitze und Piüte, die jedem individuellen Kinde aogepaist werden können und seinem Wachstum folgen, ist nötig, um jeden Denkenden zu überzeugen. Das Chioagoer Komitee ffir Kindeif(»Bchung jiihlt die folgenden GrOnde anf, "welche nnstellbate Pulte als verwerflich ecscheinen lassen:

L Sie schaden der körperlichen Entwickdnng dadurch, data sie ver- nfBBchen:

1. Ersehwenmg der Biutziikiüation in den Beinen, wenn diese unter ein zu niedriges Pult gepreist sind oder von einem zu hohen Sitz schwingen müssen;

2. Gestört© NerveDtfaftÜgkwt in dem »einschlalenden« Oliede;

3. Verdauungsstörung durch Druck auf die Magenwände;

4. Übermäfsjgen Muskelzug und Muskelkrampf (dadurch, dab aidi das Kind in gezwungener SteUoQg erhalten maJlB);

5. Cbermäfsige Ermüdung;

6. üngraziööe Haltung;

7. Bückgrataverfcrfimmung;

8. Lagevertaderung der inneren Oigane infolge lange eingehaltener

Stellungen, vreldie aaf dieselben einen Druck auafiben : Schwächung des ganzen Systems wegsa der fortwfthrenden

Schöpfung- des Reservefonds an Kraft, n. Da un verstellbare Piilte snlohe kr»rperliche Schäden und L'nix.'«|nem- licbkeiten hervoiTufen, benachteiligen sie das Kiud auch in sdner Schul- arbeit, indem sie

1. die Anfmerlnainkeit von der Schuhubeit ablenken:

2. das Interesse am Unterricht beeintrrichti^n ;

8. dazu führen, das Kind zn verleiten, seine Mitschüler ZU StOien, wenn es den Taden des Unterrichts verloren hat;

Yeif^ aemea Artikel in »Americsn Phyuoal Edoostion Beview«, Juni 1900.

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ISnige Resultate der Kioderfonoliiuig bk den Qüetgoer fidmlen. 185

4. fortwährendes Geräusch hervorrufen, dals die Kinder unausgesetzt ihre Stdlimg flndeni, mn bequemer mtam lu kOnnai;

5. Ahimgmg gegen die Sehlde herrorraieD, waL man da so unbeqiieiii

untergebracht ist;

6. den Fortsehritt im Lernen beeintrlfhtig^en :

7. mit dazu beitragen, dafs viele Kiiuler die Schule schwänzen, oder gax zu einem umherstreichendeu und verbrecherischen Lebenswandel veifOliit werden.

Prof. C. Victor Campbell vtm der Chicagoer Nonaalschiüe entnimmt

den Daten, welche das Komitee mrterbreitet, die folgenden Thatsachen: L Das fünf der acht »Orammar«- Klassen in Chicago mit Pulten Ter- sorg^t worden sind, welche zu grofs für die Kinder waren.

2. Dafs in keinem Grade, ausgenommen den ersten, die Notwendigkeit vorliegt, mehr als 25 der Schüler mit verstellbaren Subseüien zu vienehen. (Dieser Punkt dHrfte die EostenaDBchläge fflr die Indenmi^ wesentlich nuldenL)

3. Dafs die Kleinen, welche eben erst in die Schule eintreten, am meisten geschädigt worden sind, indem mehr als der vierte Teil derselben in Subseilion (stilj?!) zu sitzen gezwungen waren, die viel zu grofs fflr sie waien.

4. DaCs für dieses benachteiligte Viertel der untersten Klasse keines der im Markte aa babeiideii Palte, seien sie nun atationlr oder Tecstellbar, Uein genug ist^ um ihnen einen bequemen Sita zu erlauben.

Diese Thatsachen sprechen Bände.

Gröfsere Elastizität in den Anforderungen an die Obcr- klassen. Die Divergenz der Extreme in der Aiisdauerfähigkeit der einzelnen Kinder ist verhältnismäTsig gering in der Unterklasse; es ergiebt sich daraus, dals die jüngsten Schüler gleichmäCsigeren Anforderungen gewachsen ond. Aber mit jedem folgenden Gnde nimmt diese DiTCigenz zu, so dafs schon in der siebenten JahzesUasse die Ausdauer des schwicfaaten SdiAle» nur 18V>%i ^ea aUrkslea bettigt. Es ist nicht ganz klar, woraus diese steigende Divergenz zu erklären ist, aber sie weist dringend darauf hin, dafs die Schularbeit der Oberklassen so eingerichtet werden lüuis, dafs die Kraftverschiedenheit der einzelnen Mitglieder berücksichtigt weiden kann. Der Lehrer mnÜs im stände sein, die Aufgaben der Leistimgs- fthigkeit der IndiTiduen graauer anzupassen, ohne dabei einra r^pehnäfsigen Fortschritt aufzuopfern, und das kann nur dadurch geschehen, dafe die Schablonenhaftigkeit der Anforderungen einem rationeUerea System Platz macht

Kme besondere Anwendung finden die Resultate dieser Messimgen auf den Unterricht in den Leibesübungen. Bislang sind die Schüler einer Anshüt nach Klassen zum Turnen geführt, oder in den Klassenzimmeni zu Ohongen, die aUen Hftg^edem der Klasse gemeinschaftlich waren, heran- gezogen worden. Dts s lltr uMbedingt anders werden; das Riegen- system des deutschen Turnbetriebs verdient eine rationelle Ausgestaltung im Schulturnen. Wenn die Ivcibesübungen ihren segensreichen Einflufü voll aosübeo solleo, müssen die Kinder auf Qrund ihrer körperlichen £e-

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B. Mitteiluogf^n.

echaffenheit in Qrapp€ii geteilt weiden, die so snaaniineDgeeelzt sind, dab in jeder mir solche Kinder und, welche die gleichen Übungen vornehmen können. Selbst in der p^genwaifigon Kinrichtung' tinseror Schulen ist kein absolutes Hindomis für eine derartif^o Irruppiening zu finden : Avonn aber €rst einniiil mit jeder Schule ein richtiq;er Turnplatz verbunden sein wird, so wiixl die Riegeneinteiluug auf gai- keine Soliwierigkeit mehr etolseii.

Veränderungen in der Leistnngslfthigkeit im Lanfe eines Schul tagee. Sehr eersfiltige Measmigen wurdan mit Hille des Ergo* graphen angestellt, um die sehr grofsen Schwankungen ausgesetzte Leistungs- fTihigkeit der Kinder \vährend der Tjiterrielitszeit in der Schule zu Itc- stimmen. Um Inlümer zu vermeiden, wie sie aus Massen-Messungen und zufälligen Umständen sich ergeben konnten, wurden mehrere Reihen von Messungen zu verschiedenen Tageszeiten parallel vorgenommen.

Die folgenden drei Schlulkfolgenragen eigaben eich den Foncheni:

1. IHe üntencfaiede in LeistungsfiUugkeit, Ausdauer und Ermfldni^ sind während dea Yarmittags grS&er ala irBhrend des Nadunittaga- unternchts.

2. Kinder, die an beiden Tageshäiften die Schule besuchen, zeigen eine hüherc Leistungsfähigkeit am Vormittag als am Nachmittag.

3. Obwohl die Leistungs&higkeit der Schfiler während des Nachmittags- unterrichtes nicht so grofe ist wie am Koigen, ist sie doch stetiger und ausdauernder.

Die Anwendung auf das Tagesprogramm ist un.'^ohwrr zu madien. Zunächst ergicbt es sich , dafs dt r hierzulande oft witxlerliolte Kreuzziig gegen den Nachmittagsunterricht und der Kampf für »one sessionc keine Berechtigung hat. Gerade weil am Nachmittage die Kinder stetiger arbeiten als am Korgen [? Die SchziftL] sind solche UnterriohtBaweige, welche ruhige Ausdauer wlangen, auf die zweite TageshSlfte su veriegsu* Am Morgen hingegen ist es am bestoi, solche Dinge vorzunehmen, welche rasche, kräftige Anstrengtmg voraussetzen, wie z. B. Rechnen oder Gram- matik, während man dafür sorgiMi mufis, dal's kfirzcn und encrei^Jch'^n Aibeits- zeiten häufige liuhe und Erhohmgsjiausen folgen. Auch anstrt ngende Turn- übungen werden vielleicht am beöten iu die Morgenstunden verl^; doch mulh FOfsorge getrogen werden, date nur kurae Periodai dieser sdir er- müdenden Anstrengung gewidmet weiden und dalh die Kinder reichlich Zeit ztu: Ruhe haben. Es ist am besten, der Turnstunde nach ent- sprechender Unterbrechung einen leichten Untenichtsgegenstand folgen su lassen. (Sohlub folgt)

4. Zum Stande der Heüerzieliiing in Italien

geht luis mit Besug auf den Artikel in Heft III unserer Zeitschrift folgende Mitteilung sn, der wir sehr gern Raum geben:

Das erste in Italien für Schwaclisinnige emchtete Institut war

nicht dao des Professors Gonuelli-Ciuui; Senator Tomassini erbaute in «iaem an das Irrenhaus zu Rom anstellenden Garteu ein Gebäude und

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Zum Blaiid« der HeOerraefanng in Italieu.

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beatimmte es im Jahre 1885 fflr ein Institut für erziehbare Idioten; dies Institiit faoktioDietta, mit speiielleD Leihrkrtften an^ieBlattot, Tenchiedoiie Jahre ftatonom und wurde dann dem Irrenhanse einverldbt und daadbat

die Idiotenkimdor nntergcl »rächt.

Im .Tahio 189S wurde in Rom von Professor Bonfigli, Dln^ktor des hiesigen städtischen Iireuhauses^ cino nationale Vereiüigunp (I^'^n NazionaU per la PtoUzione dei fanciuUi deßrutitij zum Schutz der schwachsinnigen Kindfflr gegründet; die hauptsächlichsten wissenschaftlichen und politischen PeFBOnlidikeiten Italiena nahmen dann teil In der ersten Zeit beschribokte nch unsere YeveiniguDg datauf, die Sache der schwachsinnigen Kinder populär und sympathisch zu machen und geschah dies nicht nur durch privat»^ Piopaganda, sondern dnrcli besondere Yer?5ffentlichungen und durch eine Keiho von der Dr. Maria Montessori in den Hauptstädten Italiens abgehaltenen Konferenzen und Vorlesuugeu. Im April des Jahres 1900 wude dann auf Eoeteo der Yereinigung eine Sendnuadmle (Smola Magi' 4^fttk) erOfinet zum Zwecke, Lehrern und Ldirerinnen Unterweisung in der FidagOgik zu erteilen, sie zu lehren, ein vollständiges Examen des Indivi- duiuns in seinen anthropolog'ischen, physiologischen und ijsychischen Eigen- tfimJif hlceiten zu maclien, die verscliiedencn Kategorien der Schwachsinnigen zu erkcDDeu und einen jeden nach s]>Gziellen Methoden zu er/,ielien und ZU unterrichten. Dießem Lelu-erbeiuiuar wuixle alsbald eine Schule für Kinder beiderlei Geschlechts in veisdiiedenen SchwachainnigkeitsgiadeiD beigefOgt, um den ZQglingen des Seminars als Tirocinium xu dienen. Der Kursus im vergangenen Jahre daneitB vier Monate; der Unterricht wurde unter der Oberleitung des Professors Bonfigli von der Dr. med. Maria Montessori (]pn Doctoren Montcssano, Oeronzi und Majano und von dem Taubstummenlehrer Trafeli erteilt. Das Habilitationszeugnis wurde nach einem vor eiuer Konmiläsion dem Institut nicht angetu'ueudeu üniversititaprofeesoren, anter welchen die Frofeesofen G. Sergi und 0. M ingairini von Bom und Professor Scurit IMrektor der Taubstummen- achule in Neapel, abgelegten theoi-etischen und praktischen Examen eiteHt

Im November des Jaliri^s 1900 wurde das Lehrerseminar von neuem eröffnet, und dauert der Kursus nun nicht mehr vier, sondern acht Monate. Dem Seminar ist jetzt nicht nur eine Kxtemenschule, sondern ein voU- «tändiges ärztlich-pädagog^hes Institut für interne schwachsinnige Kinder beigefügt. DieseB loBtitat, welohes eich heute in adnem achten Lebens- monat befindet, wird von Ftafessor Bonfigli geleitet und enthSlt 50 in- terne Zöglinge, aufserdem werden daselbst 30 externe Kinder unterrichte In der Leitung des Instituts und der Schule wird Professor Bonfigli auf das thatkräftiL^'te von der unermüdlichen gewissenhaften Dr. Maria Mon- tessori und dem geschickten Dr. Giuseppe Montcssano unterstützt Aufserdem sind acht Lehrerinnen tflr den aUgemeiDen Untenicht der Cnder, ein Lehrer fflr die Sprachstörungen, einer flir den Handlertigkeito- nntenioiht, einer für den Turnunterricht und einer für den Gesang im ganzen also, aufser den beiden Yicedirektoren 3Iontessori und Mon- tessano, zwölf Lehrknlfte für achtzig Bjnder angestellt.

Eine spezielle Lehrerin ist beauftragt, die anthi'opologiscl^ Noten

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B. ICtteilimgen.

unter der lidtong der Diiektmen Monte sftori nad HonteBBano za kom- pilieren und werden genaue Charakteristiken äbntUcber Kinder gefOUirt

Bona. Maria OraesL

HI. Venammlnng des Allgem. deatsohan Vereiiis

flär Kinderforsohong

am 2. und 3. Angost in der Aula deB pSdagngiBchen üniveisitSte-Semiiiais

in Jenik

Programm:

L

Amtag, den 2. Augast, abends 8 Uhr:

1. BegrOfßimg.

2. Prof. Dr. Hoffa- Würzburg: Die medizinisch-pädagogische Be- handhiiig gelähmter Kinder.

3. Mitieilnngen von Ecsiehungsinspektor Piper, Daldoif: Ober psycho- pathische Ebder

a) mit monüischen D^ldrten, beruhend auf Schwachsinn;

b) mit einsoitip?r Bcgnbnnp, l»t'nihoii(l auf Erblichkeit.

4. Beratung und Bcsc lilulsiassuDg über die YeroinsfiatzuDgen.^)

5. Wahl des Vorstandes.

n.

Sonnabend, den 3. Augiist, frflb 9 XJhr:

1. Hofrat Pirol Dr. Bin s wanger- Jieiia: Ober Hysterie im Kindesalter.

2. Vortrag von Frau Bieber-Böhm, Berlin, Torsitzende des Vereins für Jugendschuts: Über die Ursachen der jugendlichen Verwahr- losung.

3. Kegienmgs- und Medizinalrat Prof. Dr. Leiibiischer-Meiningen: Über die Schularztfrage. Praktische Ergebnisse der schulärzt- lichen Th&tigkeit

NadunittagB 2V, Uhr: Gemdosames Essen im Deutschen Hause.

Alle, die sich für das Studium des kindlichen Seelen- und Leibes- lebens interessieren, insbesondere die Psychologen, Arzte, Lehrer, Er- zieherinnen, Kindergärtnerimien, Schulbehörden, Eltern, Seelsorger, Vor- mundsdiaflsrichter, SriminaUsten u. s. w. werden snr Tähishme an den Yerfasndluttgen ergebenst eingeladen.

Nähere Auskunft über "Wohnungen erteilt Frau Dr. Schnetger, Jena,. GartenstraTse 2, über Veieinsangelegeoheiten Direktor Trttper, Sophien* höhe bei Jena.

Der Ortsausschuls: Hofrst Prof- Dr* Binswanger^ Prot Dr. Rein.

Dir. J, Trüper.

') Abgedruckt im Jshig. 1900 8. 178 d. ZIsohr.

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C. Litterattir.

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C. LItteratur.

i Bmm ErtelM, Die Psychologie des Kindes und die Schale. Bonn,

Fr. Cohen, 1901. 51 S. Unter diesem Titel veröffentlicht Benno Tlrdmanu einen höchst interessanten Vor- üag, den er iu den Lehrerinnüuvoreinßü m Fraakfort a. ]f. und Bonn gehalten bat Oegennber der mSditlg wachsenden Kut der kinderpsychologischen Litteratur, gegenü>>er der Olerflächlichkeit vieler Be- thätigungcn auf dem neuen Gebiet er- scheint das Schrütchca iilrdmauu» zur tBChten Zeit, um ernüchternd sa wirken. Die Sindeipqrchologie daif dMO nicht zn einer eitlen Modebescbäfti- jrung degradiert werden; sie darf sich nicht zum phantastischen Spiel grofs- üiueuder ^ychologisclier Sountagäreitor eniiedzigeo. Die eigeiuur(%e modetne Fopolaiisienuig dieses Spesialgebieles biigt solche Gefahren in sich. Der guten Sache irird nnn damit wenig gedient, dafs man wie ein l'sychologe der Gegenwart dies geüian sich verächtlich von der •Xlndeatabenpsychologie« wegwendet nnd die Bsschifügniig mit ihr als UeinliGhe Flebejerarboit verachtet. Damit dab man eine solche rhetorische Phrase von sich schleudert, die Hunde über dem Kopf zu- äanunen^hlägt, sich beiwreuzigt uud dauu tnh^ sdne Strabe weiter geht, hat man der Wahrheit eben sohlechten Dienst ge- leistet Dieser ist nur dadurch gedient^ dafs man thatkräftig fiir sie eintritt und mit der kritischen Sonde den edlen Kern von den wertlosen Schalen scheidet. In diesem Sinne sind Erdmanns packende insfShnuigen üher die Kinderpsyehdogie zu betrachten. In die verdunkelte Atmo- sphis»-'« der pädagogischen "Welt fährt das Ußgevritter seiner Kritik luftreinigend hinein. Wie Münster berg in seiuem Antets nber 9BBychologie uid Pidagogik« ein schaxfss Urteil über das leichtfertige Bsisonnement in derkindopsycholcgiMihen

litterstnr ttllt, so buin anoh Erdmann mcht nmhb, die Torsehnellen Oenenli-

sationen, welche uns in den Werken eines Sully, Tracy, Baldwinu.s.w. begegnen, zu geif.<5eln. Die Kinderpsychologie steckt noch in den Kinderschuhen; für dieses StMÜam gilt anoh der Schillersohe Spmdi: »Schnell fertig ist die Jugend mit dem Worfle Wer wild nicht an diese Sentenz erinnert, wenn er leicht beflügelt durch die farbenprächtigen (lufihle der Kindheit eilt, welche die oft angestaunten »Untersadraqgen Aber die Kindheit« von Snlly dem Geiste des Lesen vortsnbem. Der Wert des Werkes besteht in dem ilsthetis^chen Reiz, der MHrrhenbüch- lein eigen ist, Sully stützt sich auf ein bezweiielbaresThat^iacheiuiiaterial, das ihm ven ELtem, Tanten n. dcrgl. über* mittelt wurde. Erdmann ftubert in dieser Hinsicht: »Beobachtungen unzu- länglich Orientierter und unzulänglich Ge- schulter bedeuten weniger als nichts: sie können denjenigen der sie beachtet, nur Terwinen. Bs kommt nirgendwo weniger sb ant pB]rchologlBchem Gebiete darauf an, was beobaditet wird und wie viele beobachten, sondern nur darauf, wie beobachtet wird und wer beob- achtet« Nachdrücklich waiut er vor vorschnellen Generalisationen. Dem »SchidcBsl unralangUofaer Yerall- gemeinouDgen« sied nach seiner Mei- nung — die uinf:\«'^n'b'u Darstellungen dnr Kinderpsychulügie verfallen, welche uns gegen wart lg be£>chäftigen. Auch von der oft gendezu sinnlosen Fragomanier der Amerikaner, welche merkwürdiger- weise in dem pädagogi.sch gebildeten ]>ipzig Eingang gefunden hat, rät er auf das entschiedenste alt. Es wäre nun ver- fehlt, aus den Auhfühi-ungen Er dm an us den Schlub zu aeh«i, dab die Einder- psyidBologie sich bis auf bessere Zeiten bescheiden mOsse; »es ist nur eine lish-

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Cl littontor.

laiiDg mehr dafSr, dab auf die Bauer moht die firdte, eoodeni die Tiefe der

Bewegung darüber entschcidot, inwieweit es ihr gelingt, Wissenschaft zu werden.«

Die Psychologie des Kindes setzt die aUgemeiM fliaot«liaoiia FsjduHo^e ala ihre Gnmdli^ runm. Die TMInahitte an der Kinderfoisohimg, ao dem Yer- ständnis ihrer Ergebnisse und Methoden ist für den Lehrer durch sor^ame Ein- führungen in die allgemeiae theoretische Psydidogie zu lltreo. Diese Grundlage ist durch die Umrisse d'i Kitiderpsycho- logie zu erweitem. Es sind nach Erd- 111 a n n imuicr zwei Formen der Kinder- imychologie auseiuander m halten. Die theoretiaohe Eindarpexdiologie hat die Aufgabe» die Entwiokelung der geistigen Vorginge zu verfolgen. Die Aufgabe der augewandten Kinderpsychnlogie besteht dario, mittelbar vou den Ergebuisäeu der fheotetlachen Faychologie aus, den geistigen fiabitua der an erriehendeD Indiridnali-' täten festzulegen. Den verschiedenen Zieleu der Kinderpsychologie entspricht die Verschiedenheit ihrer Methoden. Die Psychologie des Kindes ist so gut wie amwohliefalioh auf Aoalogieeohlfisee ana reagierenden Bewingen angewiesen. Man kann weiterhin zwischen subj aktiven nnd objektiven Methoden untei-scheiden. Die subjektive Methode i»eätt;lit in der ayatematiMhen Yerwertting der Bück- erinnerungen an tinaere eigene Kindheit. Diuse Rüekerinnerungen bositzeii nach Erdmann ohne Zweifel für die Wissens- bildung des psychologischen und päda- gogischen lUttea einen gewiaaen Wert Die anbjektive Methode iat das «nzige kinderpsychologische Verfahren , welches nicht auf Analnpf^schlüsse aus den sinn- lich wahru eh nibaien Reaktionen des geisti- gen Lebens angewiesen ist Im übrigen tat die Kinderpayndidogie anf objektive Methoden beschränkt. Nach den ver- schiedenen rn-sichtspunkten gliedert sich die objeküvo Methode oder die Beob- achtung a) in die direkte, b) in die ex- perimentellei o) in die atille, d) in

die formelle Beobaditimg, e) in die bio- graphische,f) in die statistische Methode» Bei diesen Beobachttinge a bezw. Methoden kommen a)uatürlicheoderadaquAte,b) künst- liche oder inadäquate, c) unwillkürliche und d) trillküxliohe Reaktionen in Betratdit. Bei der direkten Beobaohtong weiden di» zu analysierenden Wahmehmungsthat- sachen nicht künstlich isoliert, was bei der experimentellen geschieht. Bei letz- terer findet uaSset der kSnatSchen Iso> Uerong anoh eine küneHUdie Yeiindprong der einzelnen Komponenten des Vorgangen statt, um den Anteil einer jeden Kompo- nente an der Oesamtwirkung bestimmen zu küuueu. Wir müssen ferner die stille Beobachtung des Eindee, bei der dieees sich nicht beobachtet woüh oder fühlt, von der etwa formell zu nennenden trennen, bei der solches Gefühl oder solches Wissen um das Beobachtetwerden vorbanden tat Erdmnnn erkennt der formellen Beobachtong kdne Bedeutung m. Sie erscheint Qim für alle Steifen des kindlichen Lobens, für die sie möglich, wird, also etwa vom vierten Lebensjahre an, sehr fragwürdig. Das Bowulstsein, beobaditet au w^en, bringt bei dem Kinde Affektwirknngen hervor, welche immer zu einer Verschleierung seiner wahren seelisch euKegungen führen.

Jede der biaher genannten obgektiTen

Beobachtungen, die direkte wie die ex> perinientelle. die stilU' wie die formelle, kann entweder so angestellt werden, dafs verschiedene Reaktionen eines und des- selben Kindes nachei>iander, im Ver- lauf seiner Entwidcelnng^ die Oegenatinde der Prüfung bilden, oder so, dab ein nnd dieselbe Reaktion gleichzeitig bei ver- schiodeaeu Kindern die Glieder der aus- zuführenden Reihe ergiebt. Jene Form bezeichnet Brdmann als die objektiT biographische, diese als die statisti- sche Methode der kindeipBy<Aologi8ohen Forschung.

Von den objektiven Methoden der kinderpsychologiacken Forschung ist die

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a littentnr.

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stille direkte Beobachtung die am meisten zur Anwendong kommende. Sie •BduBat mir die für den Pädagogen am beetengoelgBotexasem.') Dondi die An- wemiungder fltillen experimentellen lieobachtung 'wird der Ix-hrn ndr- oft in die grolse Versuchung gefühlt, die Schule in psyt^logischea Laboratorium um- rawiBdelit Kadi firdmanns wobl be- griuidater Anaioiit, weldier «noli wir rcSi- fconmen zustimmen müssen, hat jedoch der pSYchülogisc'ii kundige und geschulte Lehrer fa.st ausnahmslos Besseres zu thun, als die JbLinder zu Objekten wissen- •oliftftUolierForaohiing sa maohen. Die ErneliiiDg in der Sdmle iat nioiht tun der Psychologie willen da. In der gegen- wärtigen Zeit, die sich oft mit blindem Eifer auf das kindcrpsyehologische Stu- dium stürzt, sind solche Mabnworte sehr baarfitenawert Inch was Brdmann niMr die IdndexpsydiologiaeheD InstitQte, sowie über die Vereine zum Zweck des Ptudinniä der Kinderpsychologio äufsert, verdient einer ernsten Erwägung unter* zogen zu werden. Serborn. Hermenn Orilnewald.

Bemerkung der Schriftleitnng:

Paf I - psychologischo Expcrimuntloren an Jbandern seine Gefahren hat^ ist auch voBare Ansicht; aber viel verhängnisvoller ist doch wrohl jenes Experimentieren, dem die Kinder von psychologisch-unge- «»chuiten Lehrern unbewuüst im tag^g- Bchen Unteiridite unterworfen werden, und zwar gerade von solchen, die unter allen Umständen ganz w^werfend vom Etperimentieren reden. In gewiaaem Sinne darf man sogar sageo, ein Lehrer, der an seinen Kindern nicht psychologisch expenmentiert, ist kein Pädagog! U.

2. Dr. J. Stiapfl, Wert der Kinder- psycljologie für den TiChror. Gotha, Verlag vod E. F. Thienemann, 190a 28 8. Preis 60 Pt Bie Abhandlung endiien ate Heft 18

der BeitrtgB zur Lehierbadnng und Lehrer-

') cir. raeine AUiaedlaDg >IMe pidar

.-Tgis. he Erfahrang (I^.-p^h. StluUai. Leipzig. 1901. Nr. 1).

fortbildung. Der Verfasser geht von dem Streite ans, welcher in NordamerUkä wäh^ rend dw letzten Jahrzehnts tber den Natten dmr Eindeiioisohiing for den Lehrer geführt wurde, und legt dann an einigen Beispielen dar, welch gi-ofsen Wert die Kinder]>sychologie für den Lehrer hat. Für den praktischeo Lehrer sei das Idnder- psj'chologischeStudiiun einSehnleiatndianit d. i eine Beobeobtnng der Kinder nnter den Bedingungen der Sohnlarbeit für die Zwecke der Erziehung und des Unter- richts. Nachdem der Verf. gezeigt hat, wie der im Amt befindliche Lehrer die Knderpsychologie atodieTOB aoll, geht er noch aaf die Frage ein, wie an den Lehrer- und Lehrerinnenseminaien der p5?ycho]n^^n';rii,> Unterricht betrieben wer- den soll. Einen Beweis für das Interesse, welches die Arbeit in weiteren Kreisen erregt hat, mag der Umatand liefern, dab auch ihr bereüa eine noganaohe nnd eine norwegisolie Obenetnmg eradiienen ist. X.

3. Prof. Dr. Snlly, Handbuch der Psy- ohologie für Lehrer. Sine Oeaamt- daiateUong der püdagogiaohen Fqraho-

logie für Lehrer und Studierende. Ans dem Englischen übertragen Tir. J. Stirn pfl. Leipzig, Verlag von Ernst Wunderüch, 1898. XIII und 447 S. Preia broaoh. 4 Jf, fein geh. 4 M 80 H.

Der Verfasser ist ein woblbekannler Psycholog von Fach tind zugleich Pildagog; er stellt sieh mit Hecht zur Pädagogik Herbart« und seiner Schule sdir freund- lich. An dem Bach abid heaondos iwei Dinge hervonnhebeD. Es findet natnr- gemäfs die Killderpsychologie eine grolse Berücksichtigung; das Werk enthalt aus- führliche kinderpsychologische Darlegun- gen über die Aufmerksamkeit, die Wahr^ nehmung, das Oednohtnia, die Phantasie» das BegreifeD, das Oefiihl nnd das Wollen. Femer werd' n i: ' Thatsachen der Ent- wickelungslelire durchgängig berücksich- tigt; das verdient besondere Beachtung»

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& Litteratnr.

vdl wir ent dadtcuroh eine geneliadie Btttstellang der Psychologie im vollen 8inne dos Wortes erhalten küunon . wie sie die Pädagogik nötig hat. DasSuUy- fiche Buoh int daher wohl geeignet, den tTniaindkt in der pttdagoigiadien F^cho- Idgie anf ein l^lieies Nivem sn heben.

4. Otto Jaoke, üi undrils der Schui- hygiene. Zweite, Toflatindi^ um- gearbeitete und erweiterte Auflage.

Hamburg und Leipzig 1901. Verlag

von D.'ojjold Voss. 309 Seiten. Die grolson Fortschritte auf dem Ge- biete der Schulhygieoe in den letzten leiin Jahorao haben eine Neahearbdtang dee vorliegenden Werkes bedingt, das gegenüber der ersten Aufl.'ige eine ganz bedeuteudo Erweiterung erfahren hat £8 bringt nicht nur eine Zusammenstellung der einsäen l^gienlaohen Resultate, son- dern aodit anch die aufgestellten Forde- rungen in ausreichender Weise zu be- gründen durchweg in übersichtlicher, klarer Gliederung. Die Zu&tände unserer Schulen in by^eniaoher Beaiehqng zu beeeem, ist vor allem die Lehreiachaft berofeo. Sie muls aber dazu mit den nötigen Kenntnissen axiBgerüstet werden; deshalb ist es unbedingt uutweuUig. dal;ä die Scliulhygiene in dem Bildungsgänge aller Lehrkillfte eine ihrer Bedeutung ent* sprechende Stellung erhalte. Der vor- liegende Grundrifs will für diesen Zwoek den ausreiehenden Stoff bieten. Es wu\i in ihm das Äulsere und Innere der Schule, der TJuterrioht und der Schüler vom hygieniaohen Standpunkte aus in äufserst interessanten Darlegun^n mit steter Be- ziehung auf die neusten fachwissenschaft- lichen Veröffentlichungen erörtert. Be- aondere Bedeutung gewinnen die Aus- führungen über den Untenkdit und über dm Schüler, ein jeder Pädagoge wird aus ihnen sicherlich ??utzen ziehen tunnen, uamenthch der Lehrer der Schwachen

am Geiste. Ein Utterator-l und ein Register am Schlüsse des Buch^ erscheinen geeignet, den Gebrauch des Werkes zu erleichtem. Es dürfte in keiner Hilfsscholbibliothak fehlen. Stolp i. Pom. Fr. Freniel.

5. Paul 8. A. Sydow, WiderdenKinder-

garten. Vortrag, gehalten im Schul- wiiiseusohaftlichen Bildung verein zu Hambuig. Hamb. Sohulaeitung. Kr. 60 bis 52. Jhxg. 1000. Eine auch für den Einderp^ühologeB beachtenswerte Arbeit. Freunde des Kinder» gartens sollten vor aUem sich mit Sydow 8 nicht unbegründeten Einwürfen atis- dnandersetien. Mandhe BchMignngen des kindlichen Seelenlebens würden dai i : i n i i ht Fiats greifen. Ir.

6. Winteroiann, Die Hilfsschule in Bremen« Bremen 1901. Selbstverlag dea VeitaexB. 22 S. Preis 50 Pf.

Unser Statistiker hat auch hier eine vortnffliche Arbeit geliefert Er giebt nicht nur einen Bericht über Entstehung und EntWickelung seiner Sohule« sondern auch beherngenawerte Winke über die mannigfaltige Arbeit an unseren Zöglingen während und nach ihrer Schulzeit. Möchte jt'df'r Kollege dies(? Schrift lesen ! £b \Mi\i ilim i'eicheu Gewinn bringen.

J. O.

Zur Bespreobung einBeoaooene Schriften. A. F. Chamberlain, TheChild. A Study

in the Evolution of Man. London 1900.

Walter Scott 6^. dOa Preis 6 SchilUi«.

(Dieses sehr reichhaltige WerL auf daa

wir noch eingehend zurückkommen werden, sei schon jetzt bestens em- pfohlen.)

Dr. M. Schuyten, Paeddogisoh Jaar-

boek. Twede Jaar^gang. Antwerpen: Nederhmdsche Boekhandel. Leipzig 1901. Braudstetter. 243 8. Freie

ö Francs.

Dniok voo H«niMBa Bay« Sühna in TAngnn««!».

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A. Abhandlungen.

1. Die medizinisch - pädagogische Behandlung

gelähmter Kinder.

Von Prof. Dr. A. Hofft in "Würzbnrg.

Das allgemeine Interesse für die Behandlung gelähmter Kinder ist neuerdings in erfreulichem Wachstum begriffen. Es werden heut- zutage weit mehr Hilfskräfte aufgeboten als früher, einmal von päda- gogischer Seite, indem jetzt besonders die Schulen für minderbe- fähigte oder geistig zurückgebliebene Kinder in raschem Aufschwung begriffen sind, dann aber auch von ärztlicher Seite, insofern seit der Errichtung von Schularztstellen der Arzt überhaupt wieder in engere Fühlung mit dem gesunden und kranken Körper- und Geistes- leben des Kindes tritt. Dieses Zusammenwirken des Erziehers und des Arztes und nicht zum wenigsten die Fortschritte, die in letzter Zeit in der Erkenntnis sowohl wie in der Behandlung dies- bezüglicher Krankheiten gemacht worden sind, haben Resultate ge- zeitigt, die früher nicht für möglich gehalten wurden. Gelingt es uns doch heutzutage recht häufig, den unglücklichen kleinen Wesen, die oft als geistig und körperlich verkümmerte, unförmige, bewegungs- lose Masse in unsre Behandlung kommen, auf die Beine zu helfen, ihnen eine selbständige Fortbewegungsmöglichkeit zu geben und durch planmäfsigen, mit Geduld und Ausdauer geleiteten Unterricht die schlecht entwickelten oder krankhaft gestörten geistigen und Sinnes- funktionen allmählich in die richtigen Wege zu leiten, um so auch diese Unglücklichen zu Menschen und sogar häufig noch zu nütz- lichen Gliedern der menschlichen Gesellschaft zu machen.

Di« Kinderfebler. VL Jahrgang. 13

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A. AUumdlnngen.

Die hiermit in Kürze skizaderten Erfolge der modernen medizinisch- pftdagogischen Behandlung gelähmter Kinder rechtfertigen wohl zur Gendge eine kurze BesprcMshung dieeee Themas in der heatigen Yer^ sammlnng.

Dazu ist es vor allen Dingen nötig, den anatomischen Baa und die physiologische Bedeutang der Centrale für alle körperücbeii

und geistigen Funktionen des Nervensystems zu kennen und über die Veränderungen ^ die bei eventuellen Lähmungen eintreteu, Klarheit zu haben. Yon den Centraiorganen des Nervensystems sind nämlich die willkürlichen Bewegungen, die uns hier haupt- sächlich interessieren, direkt abhängig. Ausgelöst werden sie duröh Vorgänge, welche in der Hauptsache in den Centraiwindungen dee grofsen Gehirns zu stände kommen und zwar speziell in der grauen Rinde desselben. In dieser Rinde liegen grofse Nervenzellen, die sogenannten Ganglienzellon, von denen nach allgemeiner Annahme der Wülprif^inipuls ausgeht, der sich dann centrifugal durch die NervonbatiiK ii dem Muskel mitteilt und ihn zu einer Bewegung ver- anlafst; man nennt diese Bahnen daher motorische. Im Verlauf derselben können wir 2 Abschnitte, sogenannte Nenrcn, unterschoidon. Das erste Neuron besteht aus der Ganglienzelle im Gehirn und der von ihr ausgehenden Nervenfaser, die im Rückenmark herabzieht und sich gegen eine, in dessen vorderen Teil gelegne Ganglienzelle auf- fasert. Aus dieser Zelle und dem von ihr zum Mnskol ['ehenden Nerven besteht das zweite Neuron, Gerade in umgeki hi t r Richtung, nämlich centripetal verlaufen diejenigen Bahnen, welche dio Sinnes- eindrücke vermitteln, die sensiblen Nerven. Auch hier können wir 2 Neuren unterscheiden. Das erste wird gebildet aus der von dem Sinnesorgan ausgehenden sensiblen Nervenfaser, einer vor dem Eintritt ins Rückenmark eingeschalteten Nervenzelle und der weiter im Rückenmark bis zu einer Oancrlienzelle im verlängerten Mark auf- steigenden Ner-^ inta-or. Das zwi ne Neuron besteht aus dieser Gang- lienzelle und der ;;ui ll:r:uin(lr ziehenden Nervenfaser, die sich in dieser verästelt; dort in der linnniule findet dann die Walirnehmung des Sinneseindruckes statt. Diese beiden grofsen Systeme, die moto- rische und die sensible Leitungsbahn, sind nun mit einander im Rückenmark Yerbunden durch die sogenannten Reflezbabnen, die einen von ani^en kommenden, also in den sensiblen Bahnen ver- laufenden Sinneeeindruck gewissermaßen mit Umgehung der Oentral- station des Gehirns der motorischen Bahn flbermitteln können. Auf diese Weise kommt dann eine nicht vom Gehirn ausgehende, unwillkürliche Bewegung, eine sogenannte Beflezbewegung zu

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HofTA: Die mcdiripisoh - padagogigehe Behandlnng gelähmter Kinder. 195

Stande. Für uns von Wichtigkeit sind ferner noch centnlugal im RückeniDiuk verlaufende Fasern, die einen regulierenden Einfluls auf die Art und Stärke der Bewegungen auszuüben im stände sind.

Werden nun diese Leitungsbahnen durch irgend eine ürsaclio un einer Stelle unterbrochen, so resultiert daraus, falls die Unterbrechung die motorischen Bahnen betrifft, eine Bewegungsunfähigkeit des betnifeiidein AbschDittaa der KnskolatDry dieselbe erschlafft und wir haben eise L&hmnng Im gewöhnlichen Sinne des Wortes vor uns; sind die sensiblen Bahnen unterbrochen, so ist die Wahrnehmung r<m Sinn eseindr flehen unmöglich. Ist der Reflexbogen im Bfl<^enmark serstdrt, so können keine reflektorischen Bewe- gungen mehr stattfinden, and wenn die regulierenden Hemmungs- bahnen unterbrochen sind« so bekommen die motorischen Nerven gewissermalsen das Übergewicht; sie erhalten die Muskeln fort- wahrend in einem gewissen Zustand der Thfttigkeity der Eontraktion, in einem sogenannten Spasmus; man spricht dann von spastischer oder starrer Lähmung. Je nachdem der Ort der Leitungsstörung im Gentralnervenajstem oder in den peripheren Nerren liegt^ unter- scheidet man centrale und peripherische L&hmungen. Handelt ee sich um die letztere Art der Lähmung, so können wir infolge der sehr msngelhaflen Begenerations&hig^ett der Neirensubstans den Patienten in den meisten IKlIen nur insofern helfen, als wir ihnen durch passende Appsmte einen Sreatz für die gelähmten Muskeln geben oder sie durch Übung dazu anleiten, andere Muskelgruppen als Sisats för die gelähmten zu Terwenden. Besseres sind wir im Stande sn leisten bei den centralen Lähmungen, wobei uns die Natur durch die eigentümliche Fähigkeit der Ganglienzellen unterstfltst, Ticariierend für einander eintreten zu können. Ermöglicht wird dies durch überall bestehende Verbindungen zwischen den einzelnen Zellen; unsre Behandlung hat also darauf hinzuarbeiten, diese Ver- bindungsbahnen durch oft hindurchgeleitete Beiae gewissermaTsen möglichst gangbar und ebenso funktionstüchtig zu madien wie die arspnin glichen Hauptbahnen.

Von diesen centralen Lähmungen sind es nun zwei besondere und nach Dxsacdie, Lokalisation und AYesen streng verschiedene Läh- mungen, von denen speziell Kinder häufig befallen werden und die daher hier unser besonderes Interesse beanspruchen: Es ist dies die spinale Kinderlähmung, die auf einer Zerstörung eines \vichti^;en Teiles der Bückenmarksubstanz beruht, und eine scliJaffe Läiimung ohne Störung der Intelligenz darstellt und die cerebrale Kinder- lähmung oder Littlesche Jirankheit, bei der Yerietzimgen des

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A. AbbaodhiogeB,

Gehirns das msfiohliolie Uomeot bilden und die sich als spistiBdie iKhmang meist Terbniiden mit Defekten der geistigen Uhigkeiten eharakterisierL

lUt der ersteren, der spinalen Einderlähmang, wollen wir uns nur kurz beschäftigen, da bei ihr die Intelligens der Patienten stets intakt ist; sie erfordert daher Terhältnismäfsig wenig päda- gogisohes Eingreifen, sondern bietet wesentlich medizinisches Interesse. Die anatomische Grundlage der Erkrankung ist eine akute, wahrscheinlich infektiöse Entzündung der Tozderen gjauen Sabstanz des Kückenmarkes, die zu einem Untergang derselben führt nnd im Anschlufs daran zn einer fortschreitenden Entartung, die, naoh der Peripherie sieh ausbreitend, die zugehörigen motorischen Nerven nnd die von ihnen yersorgten Muskeln betrifft Die infolge dsTon eintretende schlaffe Lähmung ist mehr oder weniger ausgebreitet, sie kann den ganzen Rumpf und alle Extremitäten oder auch nur einzelne Muskelgruppen befallen. Schon nach wenigen Wochen zeigt sich auch ein deutlicher Schwund der gelähmten Muskulatur, der befallene Körperteil bleibt im Wachstum zurück. Später entwickeln sich häufif; infolge des Übergewichts und dnr alleinigen Thiitiirkeit der gesunden Muskeln Beuc'ostpllunf^en di ri ieienke, sogenannte K in- trakturon. T/oidor bokiHnmen v.ir ei*st um diese Zeit die Kmder in Behandlung; dann smd freilich raeist Operationen und orthopädische Apparate nötig, um den Fortschritt des Leidens zu verbiiten und den Patienten eine gewisse Gebrauchsfähigkeit der geläiiniten (ilieder wiederzugeben. Damit ist aber erst die eine der beiden dem Arzte zufallenden Aufgaben geJost, nämlicli die Beseitigunc: der Kon- trakturen. Dio zweite, die Bekämpfung der Lühmung, erfordert allerdings auch pädagogisches Talent und viel Geduld und Aus- dauer von Seiten des Arztes und des Patienten. Unsere Hilfsmittel sind verschieden: Wir verwenden die Elektrizität, Bäder, trockne Wärme, Massage und systematische, lokale üj^mnastik; diese letztere interessiert uns naturgemäls hier am meisten. Wir geben dabei so vor, dafs wir den Patienten auffordern, die erkrankte Muskel- partie zusammenzuziehen, am besten nach Kommando. Anfänglich ist gewöhnlich von einer sichtbaieu ivuntraktifm nichts zu merken; sülbbt die auf den Muskel aufgelegte Hand kann uft nichts von einer Zusammenziehung nachweisen. Trotzdem werden die Übungen etwa 5 lOmal hintereinander fortgesetzt, worauf wir eine kurze PauM' eintreten Isssen, um den schwachen Muskel vor Übermüdung zu be- wahren. Wir faiixen in dieser Weise fort und beschlielsen die Übungen sowie der Patient Aber Mildigkeit klagt Geht man systematisch so

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Hotfa: Die rndduzumch- pädagogische BehuidlaDg gelähmter Kinder. 197

vor und läfst die Übimpen etwa 8 mal täirlich vornehmen, so hnt mfin oft schon nach ■wenigen Tafron flie Freudo zu sehen, wie die einzelne Kontraktion der Muskeln Kraft gewinnt und auch dem Auge wahrnehmbar wird. Man hat (irmn schon viel gewonnen und wenn es nun noch gelingt, durch f-n iuuete psychische Beeinflussung die Energie des Patienten zu beleben und seinen FluLfiz dorch all- mähliches Überwindenlassen immer gröfeerer Widerstände anzu- spornen, so kann man oft ganz vorzügliche Resultate erreichen,

Ist es trotz gröCator Mühe und Ausdauer nicht mehr möglich, den gelähmten Muskel gleichsam wieder zum Leben zu erwecken, so gelingt es doch wenigstens manchmal andere, noch funktionstüchtige Muskeln zur Hilfeleistung heranzuziehen und sie durch Auswahl passender Übungen so zu kräftigen, dafs sie die Funktion des gelähmten Muskels über- nehmen können. Man kann den Patienten auf diese Weise häufig das lebenslängliche Tragen der immerhin lästigen Apparate ersparen.

Wir wenden uns nunmehr zur Besprechung der zweiten Art von Liihmung centralen Ursprungs, der cerebralen Diplogie, die im Gegensatze zu der schlaffen, spinalen eine starre, spastische Lähmung ist. Die erste und immer noch mustergiltige Beschreibung dieses Erankheitsbildes stammt von dem Engländer LriTLE, weshalb dieser ganze Symptomenkomplex meist Littlesche Krankheit genannt wifd. Wir haben lediglich aus klinisch praktischen Gründen die einsdilägjgen EruikheitstfiUe in 4 Gruppen geteilt, die wolii obarakte» risiert nnd von einander yeraohieden sind, wenn aneh Obergangs- fionnen beobaobtet werden. Zor ersten Gruppe rechnen wir die- jenigen Bitienten, bei denen die krampfartigen, spaatisohen Kontrak- taren nnr die unteren GliedmaXsen befallen haben; diese Kranken schielen gewöhnlich, ihre Intelligenz ist nnveisehrt Die IL Gruppe nmfalst die FSlle, bei welchen nicht nnr die unteren sondern anch die oberen GÜedmaiben eine allgemeine Starre zeigen. Wir finden hier Schielen, Sprachstöningen, Intelligenzdefekte und nicht selten epOeptische Anffille. Znr HL Gruppe gehören die Kranken, die zwangsweise nnwillkürliche Bewegungen aosf Ohren. In- telligenz nnd Sprache erleiden meist nnr nnbedentende BÜnbolse. Dieser S^ptomenkomplex fOhrt im allgemeinen den Namen Athetoee. Die lY. Gruppe endlidi nmfa&t die HUe von angebomer halbseitiger HirnUhmung. Nur in diesen FSllen ist die Krankheit nicht ange- bozen, sondern sie tritt meist in den ersten Lebenqahren anf; die Ursache bilden Sohidigongen irgend welcher Art, die den Kopf treffen, oder Infektionskrankheiten. Das ursichliche Homent für die Er- krankungen der andern 3 Gruppen ist fast durchweg in frühzeitiger

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Abiiaudiungeu.

oder s^chwerer Gel)urt zu suchen. Es kommt dabei durch Gofals- zciTcifäungen zu Blutungen in die Hirnhäute oder das Geiurn selbst, die Zerstörungen von Hirn utistanz zur Folge haben müssen. In welcher Weise nun die spastische Kontraktur im Muskel zu Stande komiMt, kann man sich etwa folgendermafsen vorstellen: Wie wir gesehen haben, geht die motorische Leitung vom Hirn zum Muskel durch Vermittelung eines centi-alen und eines peripheren Neurons vor sich. Eine Bewegung ist allein schon durch das periphere Neuron möglicii; so kommt ja, wie wir wissen, jede Reflexbewegung zu Stande. Der Wille kommt erst durch Vermittelung des centralen Neurons zur Geltung und zwar wirkt er regulierend d. h. hemmend auf die Reflexbewegung ein; deshalb werden bei Schädi;;an^in dieser Leitungsbahn die Reflexbewegungen gesteigert sein müssen. In unserm IVdie nun kann es sich nicht um eine voHständige Unter- brechung dieser Bahn handeln, da ja nicht jede willkürliche Be- wegung der Ton der Staue befallenen Muskeln aufgehoben ist £& liegt nur eine Abaohwftchung der Wirkung dea L Nenrons, also eine Funktionsstörung desselben toe. Diese Thatsaohe aber ist für uns sehr wichtig; sie giebt uns unmittelbar den Fingerzeig, in welcher Weise wir die Behandlung zu leiten haben. Wir müssen mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln die Energie des centralen Neurons zu heben und dagegen die Wirkung des peripheren zu sohwfichen suchen. Da wir nun noch zu wenig über die pathologisch - anatomischen TeifaSltnisse dieser Krankheit wissen und auf himchirurgischem Wege nichts ausrichten können, mnls unsere Behandlung eine rein symptomatische sein. Die Kontraktursteilungen der Gelenke werden durch Operationen an den Knochen und Weichteilen ausgeglichen, die Muskelstarre durch Bäder, W firme applikation, Massage und Heilgymnastik bekfimpft Da nun, wie wir bereits erwähnt haben, die willkürliche Erregbarkeit der Muskeln nicht yoIlstSndig geschwunden, sondern nur abgeschwächt ist, so können wir dieselbe besonders durch den zuletzt genannten Heilfiiktor, die Gymnastik, wieder stärken und durch Übung und Schulung mit Geduld und rationellem Yoigehen gute Resultate erzielen. Sehr oft finden wir« da& die Patienten regel- mälaig weitere Fortachritte machen, sobald es ihnen erst einmal ge- lungen ist, die eisten Schwierigkeiten zu überwinden. Eine voll- ständige Heilung ist natürlich ausgeschlossen, wohl aber können wir die Kranken soweit bringen, dafs sie sich ohne fremde Hilfe fort- bewegen können. Einen wie günstigen, psychischen und moralischen Einfluls schon diese neugewonnene Selbständigkeit auf die kleinen

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Hoffa: Die mediziaiscU-pädagt^ohe Behandlung gelähmter Kinder. X99

Patienten hat, das kann wohl nur der ganz ermesbeu, der die Kiader vor und nach der Behandlung selbst beobachtet hat, der den be- rechtigten Stolz auf die durch eigne Kraft errungenen Fortücliritte und die dankbare Anerkennuug für die geleistete Hilfe gesehen hat.

Zur Erläuterung unserer Technik der lokalen, uktiven Gym- nastik wollen wir hier kurz einige Übungen schilUein, wie wir sie baupisächlich zu dem Zwecke verwenden, die widerspenstige Muskulatur dem Willen der Patienten wieder unterthänig zu machen. Zunaelist kommen einfache Bewegungen an die Reihe: die Hand wird auf den Tisch gelegt Linil dio uiiizelnen Finger gestreckt und gebeugt wie beim Klavierspiel; dann wird jeder Finger in jedem einzelnen seiner Oelenke gebeugt und gestreckt, wobei die übrigen Gelenke möglichst gestreckt bleiben. Bei dieser teilweise unmöglichen Übung kommt 66 wesentlich auf die dabei angewendete Willensenergie an. Dannf läbt man, wfthrend die Hand mit ausgestreckten Fingern auf dem lisch liegt, den kleinen Finger abspreizen, dann den kleinen und Tierten sosammen o. & w. Diesen ein&ohen Bewegungen folgen nun ZQBammenge setzte, bei welchen 2 oder mehrere Finger zu- sammenarbeiten. SpSter kombiniert man dkse Übangen auch mit Bewegungen im Hand-, darauf im Ellenbogen und Schnltergelenk, indem nach einander jede der möglichen Bewegungen mit jeder Fingerbewegung taktmäTsig vereinigt wird. Nunmehr werden die beiden oberen Extremitäten zu gemeinsamer Arbeit Teraniafst Die einzefaien Übangen mOssen jede etwa 10 mal hintereinander bald mit offenen bald mit geschlossenen Augen gemacht werden und zwar stets unter Beau^ohtiguDg, damit die Übangen wirUich die volie Aufinerk- samkeit and Willenskraft der Patienten in Anspruch nehmen.

Für die untere Extremitfit kommen neben allgemeinen Steh- nnd Gehflbungen, Stehen mit gescfalossenen und gespreizten Beinen, mit und ohne Aalebnen, bei offenen und geschlossenen Augen in Betracht FOr die Gehflbungen werden lange, dunkle Striche und Kreise gesogen, auf denen die Kranken anfangs mit XTnterstlUzang ■o gehen mUssen, da& die Hacken des einen Fu&es diobt vor die 8i»tzen des anderen gesetzt werden.

Um für sich und die Kranken eine Kontrolle über den Grad des FortBcbxittee zu haben, hat IhaasaaiL einige sinnreiche Yorricbtungen ersonnen, deren Beedbreibung uns aber zu weit fttbren würde. £r- wihnt sei hier nur noch, dalh wir den weiteren Ausbau dieser I^DiEB.adien Methode, der sogenannten kompensatorischen Übnngstherapie, Herrn Qeheimrat v. Letdev verdanken, der vor allem auf die Wichtigkeit des IndiTidualisierens hinwies.

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A. Abbttdlougeo.

Wir geben htu über so te Behandlung der TOihin enrUmtea SpFftchsttfrungen, bei der inr die Ifitwirkang des erfahrenen nnd spedell atiegeblldeton Lehrers dnrchans nicht entbehren k(&imen. loh selbst ei^ne mich hierbei der TJnteistiltzung dee nniterordenttich begabten ond unermfldliohen Lehrers an der Tbnbstnmmenanstalt in Wfirzburg, des Herrn Lehrer Eroiss. Zunächst ist es nötig, das Gehör einer eingehenden Prüfung zu unterziehen, denn wenn das Oehdr in seiner Leistungsfthigkeit geschwächt oder gar Tollstindig ausgeschaltet isty kann sich die Sprache nicht in normaler Weise bezw. gar nicht entwickeln. Schon Itabd fand, dafo die sprachliche Hdrfähigkeit enger begrenzt ist als die aligemeine Perception für akustische Eindrücke. J3r versuchte, an die yorfaandenen Gehdrreste snknüpfend^ durch planm&lsig gegebene Tonreiie die HörfKhigkeit sn Bteigem und für die sprachliche Perception zu schulen. Seine Ideen wurden leider wenig beachtet Erst ÜBBAirasoBrESCH in Wien griff diesen Gedenken wieder anf, suchte den Grad der HürfiUiigkeit festzustellen nnd durch methodische Hörttbnngen das Ohr zu schalen. Er hoffte^ durch andauernde Beizung geschwächte oder funktionsunfähige Nerven zu nenem Leben zu erwecken. Seine Hoffiiung erwies ddi insofern trügerisch, als bei total tauben Ohren keine Besserung der akustischen Perception eintrat

Einen Fortschritt hatte Bbzold in Hünchen insofern zu ver- zeichnen, als er mit Hilfe eines sinnreichen Apparates konstatieren konnte, dafs viele für total taub gehaltene Ohren einzelne Töne hörten. Bei andern zeigten sich einfBohe und doppelte Lücken; wieder andere hatten kleinere oder gröfsere Hördefekto am oberen oder unteren Ende der Tooskala; bei mehreren fielen ncur einige unwesentliche Töne aus. Auf Grund dieser AnaJyse ergab sich die wichtige That- sache, daüs durchgängig ein Hörvermögen für die Sprache nur da sich &nd, wo ein relativ gutes Gehör für eine ganz bestimmte Strecke in der Tonroihe zu finden war. Dieser Hörbereich erstreckte sich von b^ bis g'. Die othophoniscbon Übungen Bezolds bezwecken keine Neubelebung abgestorbener, bezw, Neuerzeu^ung bisher nicht vor- handener akustischer Elemente, sondern sie zielen nur auf Kombi- nation bereits vorhandener, für die Sprachauffassung unbedingt not- wendiger Tonempfindungen ab. Für einen erfolgreichen Unterricht ist es nun unbedingt erforderlich, dafs der Sohüler zum mindesten die Vokale hört, wenn er dieselben aucii nicht zu unterscheiden ver- mag. Bei den Übungen verfährt man so, dafs man zunächst einen Vokal vom Munde ablesen läfst, auf soine akustische Eigenart durch wiederholtes ins Ohr Sprechen aufm* rk^iL^l macht und den Schüler veranla&t, das Vorgesprochene zu wiederholen. Beide Laute werden

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Hoffa: Die medizinisch -pädagogisclie jBehandlang gelähmter Kinder. 201

dann miteinander verglichen und so lange geübt, bis die Uiiteff8clii6d&- empfindiichkeit für sie eine sichere ist Erst dann geht man zum niehsten Vokale über. Natürlich kostet es oft viele Mühe and Zeit, Iris alle Laute unterschiedlich erfafst werden. Wenn man die ge- wonnenen Hörresultate möglichst bald zu Süben und Wörtern ver^ bindeti steigert man beim Schüler das Interesse am Unterricht

Die zunehmende Hörfähigkeit wirkt bessernd auf die sprach- liche Lautänfserung; wird neben den Hörübungen ein planmälsiger Absehnnterricht erteilt so greifen bald optische und akustische Sprach- aafiassünir sich gegenseitig stützend und fördernd zusammen*

BaliB auch der Zustand der motorischen Sprachwerkzeuge von wesentlicher Bedeutung ist, erscheint von Tcrnherein klar. Mils- bildungen der Lippen, der Zähne, der Zunge, de^ Gaumens, des Bachens, der Nase und des Kehlkopfes können Ursache peripherischer Sprachstörungen sein. Diese mechanischen Hemmnisse zu beseitigen, ist Sache des Arztes.

Es kommt nun des öfteren Tor, dab weder die akustische Analyse noch die anatomische Untersuchung Abnormitäten nachzuweisen ver- mag. Ein TeU dieser an rein funktionellen Sprachstörungen leidenden Kranken kann wohl fließend reden, die Sprache ist aber sehr fehler* haft, meistens onverständiich, weil einzelne oder mehrere Laute und Laatrerbindungen gar nicht gebildet werden können, ausfallen oder duNsh andere ersetzt werden. Einsohaltongen, Auslassnngen nnd ümstellungen chaiakteiiaieren diese Art der Sprachstörangen, das Stammeln.

Obwohl der Stammler die Worte richtig hört, kann er sie trotz» dem nicht fehlerfrei nachsprechen; die akustischen Vorstellungen be* sitzen nicht die voUe, bewegungsauslösende Kraft, die Spradibewe- gnngen des ikber dem Kehlkopf liegenden Teiles, des sogenannten Ansatzrohresi sind ausgeschaltet Die Behandlung solcher stammehi- den Kinder liebtet sich nach folgenden Gmnds&tzen: ZonSchst wird feslgestallt, welche Laute und Lautrerbindongen der Stammler richtig au sprechen Tormag. Dann wird er veranlaikt, zunSchst diese ihm gelSufigem Lautgebilde vom Hunde des Lehrers abzusehen, das Vor- gesprochene nachzusprechen und das Selbs^esprochene im Spiegel zu konttoUieren; es entstehen dann bei ihm auch optisch-motorische Bilder des Sprechens. Durch sprechgymnastisohe Übungen weiden nun die vorhandenen Bewegungsgruppen in ihre Bestandteile sn^gelöst und die gewonnenen Sprachelemente zu neuen Gebilden Teitofipft. Also Analysieren, Isolieren und Verknüpfen sind die ehmlnen JSti^n der Sprechgymnastik. Kson der Stammler

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1. AUumdlongeii.

eino Bewegung nicht selbständig ausführen, so mufs der Lehrer hel- fend eingreifen, indem er die Sprachwerkzeugo in die richtii:* Lage bringt. Es kann z. B. ein Kind wohl die Laute »b« und 5^d , nicht aber *g« im Anlaut blMen. Der Sprachlehrer mufs dann den Schüler durch Absehen und Spiegelkontrolle aufmerksam machen auf den Ver- soblnfs des ersten resp. zweiten Mundthores bei b und d, auf die Sprengung des labialen bezw. dentalen Yersoblusses durch den explo- dierenden Luftstrom; sodann VSM er das Kind beobadhton, wie bei g der Zungenrücken cdcdi hebt und der Gaumen sieh asnht und beide Teile sich berühren, wie dadurch am 3. Hundthor ein Yeisdüulis ent- steht, der durch den TOrBtollsenden Luftstrom gesprengt wird. Gelingt es trotedem dem Stammler nidit, den gutturalen Yerschlufslant nach- sabüden, so schiebt der Lehrer mit seinem Finger oder einem Hom- spatel die Znnge surück, hKlt sie fest, spricht dem Stammler das ihm bereits gelungene >dc yor und veranlafst ihn »de nachzusprechen. Das Kind wiid nun versuchen die Zunge nach vorn zu schieben, um mit deren Spitze den dentalen YeisdiluilB für »d« zu bilden. Durch den Eingriff des Lehrers ist aber diese Yorwärtsbewegung gehenmit Die Zunge hebt sich -vielmehr nach oben bis zum Gaumen, die Mund- hühle wird durch das Zungengaumenthor zunfichst yerspent; aber der zum Zwecke der »d«-Bildnng TOrgestoJsene Luftstrom löst den Yer- schluifi, es entsteht ein, wenn auch anfangs etwas undeutUches »gt. Der Schüler hat nnn diese Zungenstellung im Spiegel zu beobachten und vermag sie dann nach öfterer passiver, d. h. mit Hilfe des Lehrers vollzogener Wiederholung spontan zu reproduzieren. Der Stammler kann nunmehr den Laut aktiv erzeugen. Durch vielseitige Yerknüpfung mit Yokalen als An- und Auslaut in Silben und 'Wörtem wird er allmählich der Yerkehrssprache des Stammlers eingegliedert

Nunmehr fällt es dem Sprechschüler leichter das k zu erlernen. Bei diesem Laute verbindet sich die Explosion des dritten Mund- thores mit dem gehauchten Yokaleinsatze. Es ist nun sehr zweck- dienlich, die Wirkung des hauchenden Luftstromes durch Auge und Tastorgan wahrnehmen zu lassen. Man spricht zu diesem Zwecke die Silbe ka gegen winkelförmige Papierblättchen, die dann durch den Luftstrom weggeschnellt werden. Dieses optische Bild des Bewcgungs- erfolges wird beim Schüler Motiv des WoUens. Der Stammler sucht die hauchende £zplosion nachzuahmen, bis es ihm gelingt das Papier- blättchen dabei wegzublasen, d. h. in richtiger Weise k zu sprechen. In ähnlicher Weise verfährt man bei der Entwickelung anderer Lauto.

Die Auffassung' der Lantbildimg wird aber noch unterstüty.t durch das Abtasten des Bewegungs Vorganges. Mit der Hand tastet

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BoetAi Die mediainiaoh - pidagogiache Behandlang geUÜimter Kinder. 203

d«r StstDtnler die Sohwingimg der Stimmbftader am Kehlkopf beim Tokalirieren, am Halse das Rollen des »r«, an der Nase das Yibrieren der NasenwSnde bei den NasaUauten und rot dem Munde die Be- wegungsform«! des Luftstromes ab.

Besondere Sorgfalt muls der SpraohlebTer aaoh auf eine richtige Terbindnng der Lante verwendeii* IHe Überginge müssen sich glatt und mit dem geringsten Kraftanfwande ToUadehen, wie es die Ossetae der physiologischen Phonetik vorschreiben.

Die genetische Folge der Übangen richtet sich nach der indlTidaellen Sprachgeschicldicbkeit. Der Lehrer hat sich hier jedem Einseinen in seiner Eigenart anzapassen. Nur ein auf eingehendem Studium der Phonetik, auf flei&iger Beobachtung der Spraohentwicke- long normaler Kinder und auf mehrjähriger Beschiftigong mit Sprach- kranken beruhender pädagogischer Takt vermag stets das Richtige zu treffen.

Ein wesentlicfa anderes Bild als das Stammeln bietet das Stottern. Bei ihm zeigt sich eine Oleicbgewicbtsstdrung zwischen dem Atmen, der Tokalischen Stlmmbandthätigkeit und der kon> sonantischen Funktion der Sprach Werkzeuge. Tonisidie und klonische Spasmen erzeugen Stockungen in der Bede^ krampfhafte 10t» bewegungen anderer Uuskelgebiete treten sehr h&ufig auf, Angst- gefühle steigern den Sprachparozlsmus, der Wille hat die Macht über den Ablauf der Sprachbewegungen yerloren.

Damit der Wille wieder die Herrschaft über die Sprachmusku- iatur gewinnt, werden die einzelnen Muskelgruppeu erst für sich geübt, sodann zu gemeinsamer ^fttigkeit verknüpft. ZunSchst treiben wir bei der Stotterbehaadlung Atemgymnastik. TTm den vom Stotterer schwer zu beherrschenden Atembewegungen einen sicheren physiologischen Stützpunkt zu verleihen, verknüpfen wir dieselben mit Atembewegungen, die dem Stotterer schon gelftufig sind: Arm- heben Einatmen, Armsenken Ausatmen etc. Indem wir diese tomeiisdien Übungen in verschiedener Stlike und Geschwindigkeit machen lassen, regulieren wir dadurch die Atemthitigkeit über wel<die sodann der Wille, wenn die begleit^en Armbewegungen wieder ausgeschaltet werden, frei zu verfügen gelernt hat. Neben den Atem- übungen beginnen wir mit W Schulung der Stimmbandfunktion. Wir üben die verschiedenen Tokalein- und -absfttze, lassen den Ton- an- und abschwellen, sprechen in vexscbiedener Höhen- und Tiefen- läge, halten den Stimmton lang und kurz aus und verknüpfen stets die jeweils erreichte Tonsicherheit mit der bereits gewonnenen Atem- fertigkeit

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AUumduDgeii.

Die tonischen nnd klonischen Spasmen an Dppen-, Zahn- ond Gaomentfaor des Hundes Sachen wir dadurch za überwinden, dab wir den Stottere Teranlassen, die jedem Vokale eigentflmiichen Mond* stolhmgen deutlich zu artikulieren. Um diese Hnnd5ffiiungen dem Stotterer recht klar zu madien, benutzen wir wieder den Spiegel^ lenken des Sprachkranken Anfmerksamkeit auf die Tokalische Mund- beweglichkeit, leiten dadaroh die den Spasmus Terunachende Kraft Yon den konsonantischen Artikulationen ab, auf die vokalischen hin und stellen so das gestörte Oleichgewicht zwischen den Terschiedenen %»racfafanktionen wieder her. Indem der Stotterer lernt, seine Spraoh- werkzeuge willkürlich zu gebrauchen, schwindet allmählich die Wort- angst, das SelbstTertrauen kräftigt sich, und der Wille zum Sprechen kann in freier Weise sich bethfttigen.

Ab dieser Stelle sei aucdi noch kurz auf den Schreib Unter- richt deijenigen Kinder eingegangen, die an angeborener Glieder- starre der oberen Extremitüten leiden, und solcher, die unwill- kürliche Handbewegungen machen, der sogenannten Atfaeto- tischen. Dab bei diesen Kindern eine systematische Handgymnastik, die BuBNXBi-LazDBKSche kompensatorische Übungstherapie not- wendig ist, haben wir schon erwühnt Haben sich die Kinder nun einige Handfertigkeit erworben, so yersucht der Lehrer mit seiner Hand ihre Finger so lange in der richtigen Schreibhaltung zu fixieren, bis sie spontan reproduziert werden kann. Ist der Scbreibschüler dazu im stände, so hat er Torerst einfache, vorgeschriebene Figuren (Unien, Bögen, Winkel etc.) nachzufahren, bis sie aus dem Gedächtnis gezeichnet werden können. Man kann auch die verschiedenen Ele- mentarfiguren etwas vertieft in ein Brettchen schneiden lassen, die Yertiefungen halten dann den Stift in den gewollten Bahnen fest Nun bietet die deutsche Kurrentschrift den mit den eingangs erwähnten Störungen behafteten Kindern oft unüberwindliche Schwierig- keiten; wir haben indessen in der ZHXERSchen Normalschrift ein ausgezeichnetes Hilfsmittel, um auch diesen Kranken leichte Gelegen- heit zu schriftlicher Gedankenäufscnmg zu geben. Diese Normal- schritt setzt sich nur aus 2 Grundformen, dem Bogen und dem p:e- raden Strich zusammen; sie setzt nur geringe Bewegungsfäliif;keit der Hand voraus und kann darum leicht (Trlemt werden. Einzelne, mit besonders schwerer Athetose behaftete Kinder können auch diese ein- fachen Formen nicht nachschreiben. Man kann ihnen dadurch zu Hilfe kommen, dafs man die ZiLiKKSche >'ormaischrift in 8chablonen schneiden iäfst und die Kinder auffordert, durch die Ausschnitte mit dem Bleistift auf das untergelegte Papier zu schreiben.

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Hotpa: Die medianisdi-pliiagogiMlie BeluuuUQng gfliilimter Xänder. 206

Durdi wiederiiolte tJbuiig der Baohstaben nüttekt der Schreib- Bchablone greift das Spiel der Muskeln immer aiöberer zusammen; die Bewegungen Icoordinieren Bleh, der Wille gewinnt allmittiliöh die Heirschaft ttber die Schreibmoskolator, so dab die Kinder die Normal- Bchrift aach ohne Schablonen frei darstellen können. Nach nnd nach lernen sie andi die deutsche Enrrentschrift

Wir kommen nnn cor Bespredinng der Behandlung der leider 80 vielfach mit den cerebralen LShmungen Terknttpiten Intelligenz- defekte in ftrztlicher nnd pädagogischer Beraehnng. Da können wir nns denn den resignierten Worten Pbuiass, dalk die heilende ThJttigkeit des Arztes auf diesem Gebiete keinen Boden findet^ nicht anscUielsen. Wir Tertreten den Standpunkt, daüs der entsprechend Torgebildete Aizt, tot allem im Bahmen einer gesddossenen Anstalt, die geeignete Peieönlichkeit zur Beaufsichtigung aller therapeutischen Einfldsse ist, während die spezielle Burchführung des widitigsten Teiles der Behandlung, der in der psychischen Therapie m erblicken ist, sich wesentiich auf pädagogischem Oebiete bewegt und weitaus un besten von besondeis vorgebildeten Lehrern, beziehungsweise lichrermnen ins Werk gesetzt werden kann.

Die Thätigkeit des Arztes in Hinsicht auf die Torbeugang der Krankheit zu besprechen, ist hier nicht am Platze; auch die ursäch- liche Behandlung des Leidens auf medikamentösem und opera- tivem Wege ist noch nicht weit genug fortgeschritten und gesichert, um eine Besprechung zu rechtfertigen. Wesentlich mehr können wir aber in der symptomatischen Behandlung leisten, und wenn auch der Löwenanteil dabei dem Pädagogen zufällt, SO bleiben doch auch für die rein körperliche Behandlung Aufgaben genug Übrige So spielt z. B. die Emährungsfrage eine bedeutende Rolle, wie man schon aus den zahlreichen Arbeiten über diesen Gegenstand entnehmen kann. Femer ist es wichtig den Nasenrachenraum auf adenoide Wucherungen oder Nasenpolypen zu untersuchen und eventuell ope- rativ dagegen vorzugehen, da erwiesen ist, dafs ein solches Leiden auch bei bislang geistig normalen Kindern eine Perinträchtigung der psychischen Entwickelung zur Folge hat. Auch in dem Piml-te der Kcinlichkeit kann auf Grund zweck mäTsiiror ärztlicher Boliaiidlung Gutes geleistet werden; üble Gewohnheiten können durch die Be- seitigung örtlicher, dazu führender Reize bekämpft werdnn. Die häufig auftretenden Krämpfe werden durch Darreichung beruliigonder innerer Mittel, leichte Diät und Alkohoiabstinenz gebessert. Bei even- tuellen Fällen von Sinnesstörun^r n kann man durch spezialistische Behandlung oft gute Kesultate er^elen.

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A. Abhaodlimgei».

Wenn wir ntm mit einigen Worten auf die psychische Be- handlung der geistig zurückgebliebenen Kinder eingehen, 80 müssen wir zunächst an die Worte von Emusqojlvb erinnern, dals jeder Fall als ein Fall für sich anzusehen ist Angesichts dieser Mannigfaltigkeit der Objekte einer erzieherischen Behandlang scheint es daher unratsam, von vornherein keine Gliederung nach speziellen Gesichtspunkten vorzunehmen; es ist weit zweckmäfsiger, die Be- handltinf^ nach allgemeinen Gesichtspunkten zu besprechen.

Die erste iirif! wichtigste Aufgabe einer psychischen Behandlung bildet die Entwickelunpr ''fr Aufmerksamkeit. Man miifs den am besten entwickelten S:rin herauszufinden und zu üben suchen, und ihn später durch komplizierte Kelze, die zugleich auch andere Sinnessphären berühren, erregen.

Hierauf folgt die Entwicklung der Öinnosthätigkeit, der natürlich eine genaue Untersuchung aller Sinnesorgane voraus- gehen mufs, was namentlich in den ersten Leben^jahitui seine Schwierig- keiten hat. Ist eme Sinnesthätigkeit vorhanden, so ist sie in ent- sprechender Weise zu üben durch associative Verknüpfung derselben mit dem am besten ausgebildeten Sinne.

Die Übung des Gedächtnisses geschieht in der Weise, dafs man alle die mühsam einstudierten Bewegungen so lange fortübea läfet, bis sie dem Kinde zur festen Gewohnheit geworden sind.

Vielleicht der allerbedeutsarasto Punkt in der Erziehung geistesschwacher Kinder ist die Entwickelung der Sprachfähig- keit. Zunächst ist bei vielen Kindern überhaupt er^t düi Liuiig za lautlichen Auiscruiigen zu wecken; man iiiuls prelegentlich erst dio Bewegungen des Mundes vormaciien. Bei den Ai tikulationsübungen ist auf die Regeln zu achten, die S£üüin giebt: Zunächst sind Konso- nanten, dann Vokale zu lehren. Zuerst müssen die aus einem Konso- nanten und einem Vokale zusammengesetzten Silben gesprochen werden; die Lippenbuchstaben müssen den übrigen vorangehen; ein- zelne Silben sind schwerer auszusprechen als wiederholte Sflben. Bei der eminenten Wichtigkeit der Spraobhenntnisse mulb in diesem Punkt die Übung nicht nur 1 2, sondern wwn möglich 10 Jahre lang fortgesetzt werden. Das Wertrollste bei dem Erlemen der Sprache ist natürlich die Verknüpfung eines Sinnes mit dem akustisch-moto- lisohen Eindrucke. Daher müssen von früh auf bei der Übung, ein- zelne Worte auszusprechen, möglichst die betreffenden ObjeU» an- schaulich vorgeführt werden in Natur, im Modell oder im Bild. Dann wird der Schatz der YoisteUungsassodationen allmfihlich gidiber und gröfser werden.

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Hon-A: Sie iiiediiiiii8Qli-pid%ogi8olie Betiandlnng geUhmter Kinder. 207

Oleichzeitig auf dieser Anfangsstufe mufs der erzieherische Kampf gegen die üblen Oewohnheiten und um die Eegelang des Trieblebens gefOhrt werden, womit dann die Grundlagen der Eiv- ciehnng gesobafCen iiind. Freilich bleibt ein Teil unserer Patienten aehon aof einer früheren Stnfe zurfidr, andere aber sind weiterbin büdongafftliig. Ihre fernere Enaehting hat aich nun nach 3 Rich- tungen besonders m betbätigen: Binmal sollen bestimmte elemen* tare Kenntnisse erworben werden, dann eand die komplizierteren Willens- und Gefühlsregungen zu beao&iohtigen und möglichst auszubilden and schlieMch soll durch Erlernung einfacher Fertig- keiten der Grundstock für eine spätere, nutzbringende Beeehäftigung gelegt werden. Üm nun eine Grundlage dafür zu gewinnen, nach welcher Sichtung hin der weitere Unterricht zu arbeiten hat, sind genaue Unteisuofaungen Über den Schatz von geistigen Ffihig^eiten nötig, über den solche Kranke verfügen. Der Unterricht zur Er- lernung elementarer Kenntnisse hat sich dann besonders zu erstrecken auf die Anschauung, auf den Formensinn, sowie auf Lesen« Schreiben und Bechnen. Der nächste XTnteirichtsgegenstand, die Ent- wickelung der Willens- und Gef ühlssph&re, erfordert ganz be- sondere Ausdauer und Geduld; Zwangsmittel sind auf diesem Gebiet absohlt Terweiflioh. Bedeutsamer ist JedenfBlIs die Aufgabe, dem Schwachsinnigen auch noch einige Fertigkeiten beizubringen, die sich im Leben praktisoh verwerten lassen; man mu& wenigstens den Versuch machen, einen Beruf zu lehren, wobei natürlich einförmigen Beschäftigungen der Vorzug zu geben ist

Hinzuzufügen ist noch, dafs der eben geschilderte Erziehungs- nnd Untenichtsgang eines sdiwadisinnigen Kindes am besten während einer Trennung desselben von seiner Familie durchgeführt wird. Ungünstige Einflüsse von selten der durchweg zu nachsichtigen Eltern stören nämlich gar sehr die Emebung und schliefslich ist für etwaige normale Geschwister der Verkehr mit dem Patienten aufserordentlich nachteüig. Aus diesen Gründen mufs man bestrebt sein, das Kind zu seiner Ausbildung und Pflege in eine geeignete Anstalt zu bringen, deren wir nach der Aufzählung von Weioandt schon 74 haben, die zum Teil durch gemeinnützige Vereine ins Leben gerufen worden and; die Anstalten in staatlicher oder städtischer Verwaltung sind noch recht spärlich.

Wir haben nunmehr in grofeen Zügen die medizinisch -päda- gogische Behandlung gelähmter Kinder beschrieben und die Resultate hervorgehoben, die wir mit unserer heutigen Therapie zu erreichen im Stande sind. Aber so anerkennenswert, unsere bisherigen Be-

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Abhandlungen.

mtthangen sind, so kann doch nicht TcrachwiegeQ wwden, dafo noch Tid zu thnn tlhrig bleibt. Aizt sowohl wie £nieher haben jeder $xd seinem Gebiete noch ein grofeee Arbeitsfeld vor sich, das der Eriedigung hairt Indessen, der Ausblick in die Zukunft ist ein trSst- licher, seit sich so allgemein die Eikenntnis Bahn gebrochen hat» dals nur Ton einmütigem Zusammenarbeiten von Pädagogen und Ärzten die grölkten Erfolge zu erwarten sind.

2. Getausolite Erwartungen.

Oedanken eines Schulmannes über das Seelenleben der Schüler. Von N. Fsnsin, Professor dsr TtAtgOffk aa der Uniyeisittt KeepeL Ans dem Itslienieoheii ftberaetzt von FrttfteH» P. E. Lunm in NespeL

I

Ein einfacher Oedankenaustausch mit bewährten Schulmännern ist es, was ich beabsichtige. Wie oftmals, erlaube lob mir zu fraget^ haben wir uns nicht schon über den Wert oder Unwert unserer Schüler gar arg getäuscht? Wie vielmals wurden wir nicht schon durch Erfolge, wo solche kaum erwartet werden durften, oder durch das Fehlschlaf.'on unserer Voraussetzungen in (Vie Brüche ge- führt? Aufgeweckte iUirschchen, die zu allen möglichen Hoffnungen berechtigton, haben wir aus der Reifeprüfung mit recht mittel mäfsigen Noten hervorgehen und mit Bedauern solche, die die Überklassen des Gymnasiums oder Polytechnikums absolvierten, sich später bei irgend einer Hantierung des gewöhnlichen I^ebens abplagen sehen. Rehen wir gänzlich ab von den wohlverdienten Mifserfolgen als 8chulor oder als gereifter Mann, die durch Mangel an gutem Willen oder durch Sich- hinreilsen- lassen zu irgend einui schlimmen Hand- lung verscluüdet wurden, und sprechen wir nur von den klailiegenden Mifserfolgen, die der Wirkung einer mangelnden Reihenfolge der Geistesentwickelung, des Zurückbleibens oder der Verlangsamung irgend einer Thätigkoit oder Kraftanstrengung, die dem nicht nach- zukommen wufste, was sie beganu oder auszuführen versprach, zu- zuschreiben sind. Weit lehrruiciier jedoch, weil leichter zu bekunden, sind Beispiele gegenteiliger Naturen. Dafs wir ein friihreifes J ün gelchen, (iub schon in der Elementarschule oder im Gymnasium zu din glän- zendsten Ii Öffnungen berechtigte, später als verunglücktes Advokätchen oder aut ii^eud emem. verlornen Posten als Subalternbeamten uuter-

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Fob2«xuj: Getauschte firwartoogen.

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gehen sahen, ohne dafs in ihm auch mir noch ein Fünkrhrn dns Geistes aufflackerte, der uns in seinen ersten Schuljahren zum Staunen hinrifs, ist ja eine allgemeine Erschemunj;, die bei dem heutigen Stande der Allerwelisbildung von jedermann hegritfen wird. Es war dies eine Kr.iftsumme, von der man gleich beim Anfang mehr ver- zehrt hatte, als hätte der Fall sein sollen, und das Ende vom Liede war: eine vorzeitige Ernte un l Ansraerg:clun? des Bodens- Ungleich schwieriger aber für uns ist die Beobachtnng eines Falles der Spät- entwickelung eines Schülers, da ein soichor nicht ganz so einfach und mit weit mehr Umständen verknüpft ist AVir und mit uns auch die erfahrensten Männer der Schule sind nicht selten geneigt, ein ■Wirkliches Talent, das uns unter dem Scheine der Spätentwickelung entgegentritt, mit einem geistig weniger Begabten oder gai- mit einem Schwachkopfe zn verwechseln. Nio kann ich das Staunen einer meiner AinLabrudor vom Obergymnasium her vergessen, als er eines Tages einen seiner ehemaligen Schüler auf der Abgeordnetenbank sah, wo dieser eine nicht geringe Rolle, sondern im Gegenteil eine recht einfluisreiche spielte, und jener sich nicht entblödete ihn als* dann mit dem wenig schmeichelhaften Epitheton »Eselc zu beehren. Mir aber war wohlbekannt, dals dem Betreffenden sowohl im Foram als Aach in der Eammer viel Anerkennung zu teil geworden war, und dab er im Fkriamente nie vor leeren Bänken sprach, weshalb ich dem Kollegen Torhiel^ wie sich ein so ungeteilter Ehrfolg mit der seinem ehemaligen Schüler so freigebig aufgemotzten »ESeelei« vertrage. >Bin E^reöhling, ein BtnieMdmiied ist erc, eiferte der liebe Freund, »und nnr dem verdankt er seine groIiMn Eifolge.c »Das glanben wir beide Hiebt,« erwiderte ich rahig, »denn aus nichts wird nichts, nnd nur scheint, dab dein Lniam daher rflhrt, dalh da dich verrannt has^ ibm die beiden schlimmen SSgenschaften Dreistigkeit nnd Hang sam Binkeechmieden zasntranen, während solche bei ihm aller Wahr- ecfaetnüchkeit nach nichts anderes sind, als ein Übermalb zweier gnter nnd besonders hentzatage nötiger Eigenschaften, da wir fast nnr der Öffentlichkeit leben nnd nns deshalb jeden Angenblick in der Lage befinden, Öffentlich sprechen zu müssen, weit häufiger als dies Mher der EÜl 'war. In seinem persönlichen Falle aber sind die beiden übennälaigen Gaben den entgegengesetzten der Offenherzigkeit und Sehen jedenfalls vorznzieheo.€

»Nm, das ist es nicht allein«, fahr mein Frennd in seinem Wahn beharrend fort; »Der Kopf dieses Menschen war derart nn» eehlttssig, verwirrt nnd geistig nnfertig, daüi, wenn er je einmal einen eehner Anfsitze in der Schale vorzulesen hatte, er jedesmal die Ziel-

IN« KiaMfeMr. VLJiliimg. 14

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iu AWiandlnngeo*

Scheibe der Witze und des Gespöttes seiner Kameraden wurde . . . « Aber dann kam der gute Freund mit grolsem Bedauern auch noch ftuf einen andern Schüler des gleichen Jahrgangs zu sprechen, der in der Schule ein gar biegsamer Zögling, ein tTorzügliches Talenti gewesen, aber freilich, nachdem er als Jurist gar klägliche Proben abgelegt hatte, als Gehilfe bei einer kleinen Stenereinehmerei endigte.

»Aber begreife jetzt doch endlich«, unterbrach ich den Kollegen, »irie sehr dn im Irrtum befangen bist! Du bist der Meinung, dalh ein Schuljunge schon irie ein Hann beurteilt werden könne, und dafe wir in der Schule vermögen, jede Esser des Sdiülers auswendig zu kennen, oder ihm gar seine ganse Zukunft vorhazubestimmen. Aber auch dieses ist nur eine Toigefalste Meinung von uns, ein Yorurteil, Ton dem uns lossumadien, wie von gar vielem anderen noch» wir alles aufbieten müssen.«

Bas Sonderbarste dabei bleibt freilich die Thatsache, da& die Leichtigkeit, mit der wir solche Torge&l^e Meinungen in uns auf- nehmen, mit unseren tagtfiglichen Erfahrungen in argen Widetspruch gerät Was gilts, da& sich wohl jeder Lehrer, und hätte er auch nur 15 Jahre SchuUuft eingeatmet, ähnlicher FäUe, wie der ron uns aui^;efubrten, m erinnern weib, und wir erJauben ihm sogar, dalb er dabei sein Bückerinnsrungsrermögen auf gleichartige Fälle be- schränkt wie wir sie beschrieben, h. daih er Schüler zu früh als vidversprechend beurteilte, die den von ihnen gehegten Erwartungen dann nicht nachkamen, und umgekehrt Schüler als geringwertig er- achtete^ die dann in der »Schule des liebens« sich weit über die von ihnen gehegten Erwartungen emporschwangen. Eine jede dieser Überraschungen, die unsere vorgefafsten Meinungen erleiden, Ist meist ein falsches Urteil, dessen Gesamtheit seinen G^rund in zwei Haupt- ursachen hat, von denen die eine ohne unsere Mitwissenschaft, die andere aber unter mehr oder weniger deutlicher Beihilfe unseres mangelhaften Urteils handelt

n.

Die erste der von uns angeftihrten Ursachen besteht dann, dafs man den Schulsack nicht wohl durch das ganze Leben mit sich trägt. Es ist unser Ideal, wie es auch Gesetzgeber und Volkserziebcr nie- mals auTser Augen lassen, daf? lio i^rhule für das Leben vorbereiten soll. Sicher wäre das ihr Amt inni iliro Aufgabe, ihr Kndziel; leider aber bleibt die Ausfüiirung, die geiueino AVirklichkeit gar weit hinter dem holden Ideale zurück und wird ea wohl immer bleiben. Damit

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FoBinixu: Getänsohte Enrartnngen.

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meme ich non freilich nicht die Art und Weise, wie in nneerea Zeiten die Schule gehandhabt wird, denn leider ist die Schule Ton heotaEutage gar weit von ihrem Ideale entfernt, sondern ich gehe noch einen Schritt weiter und spreche auch der Zukunft ab, dalh jegliche Forschung, die darauf hinzielt, dab jene Yorbereitung nach allen oder wenigstens den meisten Seiten hin auch wirklich aus- geführt werden könne, und ein Tdlliger Ausgleich der Schule mit dem Lehen demnach niemals ausfahrbar sein wird. Eine wohl- bedachte und richtige Erziehung wird mit dieser Rinachriinlrun^ zu rechnen haben, sich in ihr Schicksal ergeben und sich darnach zu nebten wissen. Das praktisdie Leben entwickelt freilich eine Tbfitig- keitBsnmme, deren AnfKnge noch nicht in der Schule wurzeln; bietet auf Schritt und Tiitt neue und ▼erwickelte Gesichtspunkte dar, welche zu begreifen der der Schule Entwachsene retgeblich seinen Schufaranzen durchstöbert.

freilich Tor solchen neuen Verwickelungen, vor solchen zu lösen- den FiUen oder An^ben bleibt der Schfller rielleicht erdrClckt und stamm, während sie dem gereiften Manne ein Sporn sein können, sein ganzes Wissen und Können zu wecken und in die Wagschale zu werfen, was ihm als Schdier freilich noch nicht in den Sinn gekommen. Der gereifte Mann kann sich selber mitteilen und belehren, was die Schale vorher bei ihm weder that, noch konnte; aber der Mann bat nun au<di den Schüler fiberholt, er kennt sich selber nicht mehr als, leider, Tielleicht nur in dem bitteren Gedanken an die, die es ihm einst versagten, sich selber zu erkennen.

Am leichtesten und besten werden wir diese Erscheinung wohl 80 erklftren, dals wir die Schuld vor allem der Spfitentwickelung bei- messen.

Jene Büiigkeiten, die im Kinde nur langsam sich entwickelten, bethfitigen und entfalten dann erst in der Folge diese Krfifteanf* speicherung; im Gegensatz bleibt denjenigen Schttlem, die schon als Kinder dn Obeimalh ihrer Geisteskräfte verbrauditen, nur wenig mehr ifir den Best ihrer Lebenswanderung hiervon zu ent&lten ttt>iig. Bei ersteren änibert der »Speicher« seine Wirkung; letztere aber mtoen eben suchen, mit weniger als dem »Nötigen« auszukommen.

So gerne wir nun auch geneigt sind, solche ErkUrung als toU- berechtigt anzusehen, die ja auch in strengem Zusammenhange steht mit dem geringen ZuTorkommen, dem man heutzutage der Ansicht entgegenbringt, als ob die Bild- und Biegsamkeit der GeistesfKhig- keilen nur einem Lebensalter zukomme, sind wir dennoch genötigt zu erUlren, dalSi man die Ton uns besprochene Erscheinung freilich

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A. AbhandlangeD.

nicht in allen sich darbietenden Fällen mit vers]>iitetor oder auf- geschobener Entwiokelang zu erklären yermag. Doch kommen wir der Sache näher.

In meiner laugeu Schiüthiitigkeit hatte ich nicht selten Ge- legenheit zu bemerken , dafs manch einer der jungen Leute, der für jegliche theoretische Übung in der Schule ein mehi' oder weniger klarhegendes Unvermögen bckuncletc, meist als der beste Freund und Scliulkamerad anderer, hauptsächlich derer, die nicht von seiner Klasse waren, betrachtet wurde, und sich von ihnen schätzen und begehren zu lassen recht wohl verstand.

Bei gar manchem Obergymnasiasten oder Schüler der Oberreal- sciiule (denn an beiderlei Instituten lehrte icli und habe stets mit grofser Begierde und Vorliebe das Thun und Treiben meiner Schüler auch aui^er der Schule verfolgt, um so ihren Wert um so leichter bemessen zu können) bemerkte ich, dafs sie eine gewisse hervorragende Stellung aofser der Schule bei ihren Mitschülern und auch selbst bei Erwachsenen behaupteten, die mir mit ihrer ganzen Lebensricbtung und dem Werte ihrer Schnlthätigkeit ganz nnveieinbar und nner- klärlioh zu sein schien; wohlgemerkt, spreche ich Ton jungen Lenten, denen diese Unffihigkeit nicht aas Mangel an gutem Willen aniiaftete, fiondem wegen YöUigen Abbandenaeins dessen, was wir man ver- stehe wohl Qeiatesentwiekelnng oder theoretisobe Sehnlthitigkeit nennen. Solche Erfahnmg ist um so bezeichnender, wenn wir sie mit einer andern, gleichblls Ton nns bemerkten vergleichen, bei welcher vortrefOiche, talentvolle junge Lente^ denen in der Schnle allerseits liebe und Wohlwollen entgegengebracht wurde, bei Schülern anderer dessen und in weiteren Kreisen schon älterer Leute keinerlei Beachtung geschenkt wurde, obgleich sich solche zu verdienen, sie es weder an Aufmerksamkeit noch Heilk fehlen lieillen. 0ie Scfalols- folgerung, die wir hieraus zu dehen berechtigt sind, eigiebt sich nun von selbst

Bas Schulleben entwickelt seine eigenen OeistesfiOiigkeiten, das OeseUsdiaftsleben wieder andere; aber auch die gleichen Efihiglniteii werden durch gesellsohaftlichen Umgang und gesellschaftliche Be- ziehungen auf so verschiedene und ureigenste Weise entbdtet, da& die Schule, sie mag sich Mühe geben, wie sie will, sie niemals nach- zuahmen vermag.

So sind wir z. B. geneigt, von einem Schüler der nicht veran- lagt ist, leicht auswendig zu lernen, oder kein Gedächtnis für Geo- graphie und Geschichte hat, sofort zu sagen, er sei gedächtnisschwach, oder er habe eigentlich gar kein Gedächtnis. Und doch müssen wir

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FtmEuit GetfnBBhte Enrartungeii.

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ans der tagtäglich dofa Qrwoisenden üuitaaohe, dafii es SohfUer giebt, die leichter Bx>8a als Poesie, leichter Gescfaicfate als Geographie aus- irendig lernen, oder nrngekehit, oder deaen es leiohter rät, Orts* lumen und Oeecfaichtsdaten Ton sieh zu geben als Spraohan^hen, dafo es noch gar viele andere Arten des Gedächtnisses giebt, die sich erst mit dem TJmgange nnd in der Gesellschaft entwickeln irerden, and die die Iheoietischen Schulttbnngen nicht zn entwickehi ▼ermochte.

Dieser Widerspradi «wischen beiden Beihenfolgen des Ged&cht- nisses ist ja auch eine allbekannte Eriahnmgssache.

Ben Gelehrten, den Hsnn der Wissenschaft, stellen wir nns ge- wöhnlich als gedankenlos vor im Gegensatz zu dem reinen Geschlfts- menschen, der fflr uns jedoch das TJrbild des sich selbstbewnftteo Henschen gilt, dem nie entflUlt, was er zu ihnn, za sagen hat, und stets wcils, -wo und was er angreifen soll.

Doch ist der Gelehrte wirklich gedankenlos? Sicher nicht; l)1ors hat er sein GedSchtnis, seine rastlose Geistesthätigkeit auf jenen Zweig des Wissens geworfen, dem er sozusagen leibeigen geworden, und ist er deshalb für alles andere derart zerstreut, dais es wirklich scheint, als seien ihm Gedächtnis und Gedanken veiloren gegangen; sein Gedächtnis ist eben das rein tbcoretisohe gegenüber dem, durch stetige Geistesgegenwart des Geschäftsmannes geübten, das ich das praktische nennen möchte. Solches besteht in genauer Kenntnis der Personen, der Geschichte, der Abmachungen und der Reihenfolge ihrer gröfsoren oder minderen "Wichtigkeit, der Bcfolgnng dos Schick- lichen mit Wort und That, dessen er sich auch bei jeder ihm bieten- den Gelegenheit stets eingedenk bleiben wird. Ist dies also nicht eine völhg andere Gattunir von Gedächtnis? Wenigstens behaupten wir, dafs es ein Gedäclitnis ist, das sich von anderen seiner Gattung völlig unterscheidet Nun haben wir Schüler, die die erstere Art nicht besitzen, aber dennoch prächtige Anlagen zeigen, sich die zweite anzueignen, wenn ihnen nur die günstige Bedingung f(lr ihre Entwicko- liing nicht entzogen wird. In der Schule können sie für vollständig gedüchtnislos gelten, in der Gesellschaft finden sie jedooh Anla£& genug, das ihnen eigentümliche zn üben.

Vorbehältlich des zu machenden Unterschiedes lassen sich füg- lich ähnliche Betrachtungen über alle unsere übrigen Geistcsthätig- keiten anstellen. Doch haben wir gerade »das Gedächtnis« als Bei- spiel herausgehoben, weil solches dasjenige unserer geistigen Kräfte darstellt, über dessen höchste Bildsamkeit schon in unseren Kindes- jahren keinerlei Zweifel obwaltet. Mag mau nun, wie über so viele

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A. Ahhandlnngwu

andere fihnliohe Punkte der geseUsöhaftUohen Sedealehre, darüber denken wie man will, so scheint ee uns immerhin ntttzlich, die nns ao^eetoikenen Gründe festzustellen, so wie wir sie manchmal beim Sprunge, den der Schüler in das Leben thut, beobachteten.

Sind es stichhaltige Gründe, so darf auch das Urteil dee Lehran- den weniger bestimmt und muls weit vorsichtiger lauten, wenn es aioh darum handelt, den richtigen Wert eines SchOlers zu beurteilen.

(Sohlais folgt)

B. Mitteilungen.

!• HL Verbandstag der Hilfssohiilen Deutschlaiida.

Vom Hsaia in JEbumom. HL

Über den Schwach sinn mit beeondeier BerQöksichtSgmig des fcindlicheD Alteia sprach Dr. med. Hüller- Augsburg. Geferent führte

«twa folgendes ans: Infolge Mangels an exakten Untersuchungsmethoden ist das weite Gebiet des Schwachsinns, besonders des kindlichen, bis jetzt noch wenig geklärt. Auch haben die Psychiater selten Gelegen- heit zu eiugehoDdem Studium der leichteren Fälle des kiDdlicheu Schwach- sums. TrBger alter seeHischen Vorgänge ist das Qebun. Ist dieses im- veUkominen ausgebildet oder leidet es Tor oder nach der Geburt Schadea, so kann auch die Entbltong des Seelenlebras nicht in normaler Weise fort- schieiten und tymr imi so weniger, je mehr und je frühzeitiger das Ge- hirn geschädigt wurde. Es giebt daher die verschicHloiisten Grade psy- chischer Schwäche, von der noch Im Bereich der Gesundheit liegeudea Dummheit abwärts bis tum yOlUgen Blödsinn. Dieses weite Gebiet tri« andere EiankheitBn nadi den Entstehungsorsacfaen emsutoleo, iahten die nötigen Grundlagen. Man hat dies daher, ziemlich willkürlich, nach den Krankheitserscheinungen versucht, z. B. uach dem Sprachvermögen (Esquirol) oder dem Grade der Aufmerksamkeit (Sollier) oder durch Vergleich mit den EntAvicklnngsstufen normaler Kinder (Wildermuth). Zu beachten ist, dais sich die Schwäche nicht blois im Verstandes-, sondern auch Gefükis- imd ^nilenalebeii und im Uaadehi AollBert, ohne UbeiaU gteicbmäTsig vor- handen zu sein. Aufser dem gradnelten Unterschiede beobachtet man zwei Formen, eine stumpf-teilnahnilo.so (apathische) und eine lebhaft-unbeständige (crethische), die aber vielfach ineinander übijrfliefsen. Oft siilelon auch Er- scheimingen des Irreseins in un.^er Gebiet liinein. RczÜLrlich der Nomen- klatur herrscht grofsc Verwirrung, z. B. bodetiten Iinbeeiliität und Debilität bei vielen Autoren dasselbe. Es würde für pildagogisehe Zwecke aus- reichen, zu unterscheiden Blödsinnige (bildungsunfähig), hochgradig Sohmich- sinnige (bblh erztebbsr) und Schwachshmige mittteien nnd teichterea Gm-

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TTT. Vor>iaTir1=tag der Hilfsschulen Deutschlands.

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des (unterriohtB&aug). Am meaBten gebiftucUSdi ist die TeUnng in BUSd- sinii (Idiotie) und Schwachidim (Imbecillität), jeder mit einer lebhaften und stumpfen Form. "Mehrfach gilt aber TmbecLUitüt nur für die lebhafte Form des Schwachsinns. Die Iflioten sind zum Teil ganx bildungsunfähigo. unter dem Tier stehende Wesen, ohne Sinnesreize, ohne Vorstellungs- und Qe~ fOhldebeot ohne Spi^he, mit oft mangelhaft entwickeltem und verbildetem EOrper. Selbst die stflilcsten Beiae eneugen keine Luet- oder ÜDlnstgefOfale bei ihnen, manche fühlen nicht einmal den Hun^rer. Andere reagieren wohl auf starke Sinneseindrücke und behalten aie als Erinnerungsbilder, bringen sie aber nicht in Beziehung. Sie gelangen niclit zum Selbstbewiifstsein, ihre Sprache bleibt unrollkoramen. Die gemfuliciie Seite ÄuLsort sich in ungezügelten Trieben, höhere Gefühle und Konsequenz im Handeln (elüen. Etw» Y, derselben sind zugleich Epileptikier. Hit grober Oednld kOnnen sie »1 den einfulieten Yaznclitimgett »dnesieirt« ireiden. Hier tritt der rntcrsoliied iwinhen den apathischen und erethifleben Wesen bereits deu^ lieh hervor. Jene bnlten dnrapf Tind gleichgilti«» vor sic-h hin, die -wenigen Yorsteliungen kommen und gehen langsam. Bei diesen wechselt die Auf- merksamkeit und Stimmung fortwährend, sie sind in steter Unruhe, sinn- lose Bewegungen ausführend. Die spezielle Erscheinung des in manchen Oegenden midemiachen Kretinismus beruht auf YerMldungen der fOr den Blotstoffweclisel so wichtigen Schilddrüse tmd ist mit vielfachen kQiper- lichen Defekten verbunden. Idioten finden sich in der Welt nicht zurecht tmd gehören dahor in Anstalten. Die Schwachsinnigen, denen man viel- fach im Lebten begegnet, sind meist in irgend einer Weise erblich belastet. Ihre Schwäche tritt oft erst in der Schule zu Tage, wo sie trotz aller Jffihe und Geduld fiber die untersten Klassen nicht hinaus kommen, Leeeii und Schreiben nur notdflriiig, Rechnen bst gar nicht lernen und Ziel« Scheibe des Spottes ihrer Mitschüler sind. Bei manchen reicht das dAchtnis wohl zu mechanischer Stoffaufnahme, bei selbständiger Verarbeitung des Gelernten aber versagen sie. Die Erlernung eines Benifes bereitet die gröfisten Schwierigkeiten. Daneben giebt es lebhafte, geistig etwas regelte Imbcdllen, die aber durch unwiderstehliche, unverbesserliche Nei- gung lum Sohlechten und Nichtsnutsogen der Schrecken ihrer Familien und ihrer ümgebung sind. Redner geht nunmehr genauer auf die Krank- heitssymptome äer Lnbecillen ein. Diese »zeigen keine gi-Öfsereu Störungen der Eiujifiudungs- und Bewegimgsthätigkeit, speziell der Sprache und vcr- niogeii einen gewissen Schatz an positivem Wissen zu erwerben«. (Ver- saiumlnng süd westdeutscher Inenärzte in Frankfurt.) In den ersten Lebens- jalireu erkennt man imbecüle Kinder nur in den schwerereu Fällen als solohei iodem sie auf kleinen inliseien Beix reagieren, fortgesetzt ins Leere starren, i^eichgiltig gegen die Umgebung sind, sp&t anfangen zu Ificheln, zu «ihnen, zu gehen und zu sprechen, keine Lust zum Spiel zeigen und mit Spielzeug nicht umzugehen ■\\'issen. Ki-anklieitoji rufen h-icht K'nlnipfe hervor. Mit zunehmendem Alter bleiben sie immer molu" hinler den Alt* rs- genossen zurück. Zur Zeit der I*ubertät, wo diese vor allem ein üppiges Wachstum entfiilteo, zeigt sich bei den Imbedllen Stillstand, ja nicht selten Rüdcbildung. Die stumpfe Foim zeigt sehr geringe willkfirliche Auf-

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B. MitteiinDgen»

merkaamkeit; am meisten noch ftr iofsere Dioge. Sie ermüdet aber so- fort, wenn es gilt, Vorstellungen zu verarbeiten, in gegensertige Beziehungen zu bringen und das Gemeinsame zu erkennen. Die Imbeoillen nehmen nur konkrete Vorstellungen auf, die auDserdem ungeordnet bleiben. Allgemein' Vorstellungen und Begriffe bildffli sie, nicht; de "mmOgen nioht Weseot- lißhflB und UDweeeolUdiea su scfaeEidea; mit zmiefameDdeni Alter tntt imnwr mehr der Mangel an Urteil hervor; ihr GenchtBkreis bleibt auf das Nahe- liegende beschränkt; nie lernen sie, mit hohenR'ertigen Begiiffcn zu ope- rieren und GnindsätzG zu bilden. Das Gedächtnis ist ungcniificnfl da die Vorstellungen keinen Halt und Anknüiifungspunkt finden. Da» Wertvolle wird oft über Belanglosem vergessen. Die Wiedergabe des Gelernten ist ongeoaii. Niokt selten findet sioh Ton Jagend auf ein abnonner Hang mm Lügen. Wfthrend sie die nnwahiaohanliehatep Dinge ^anben, sielifln sie oft der 7Aveilellosen WirUiohkeit nogUhibig gegenüber. Infolge ihres raschen Ermüdens und der geringen Fassungskraft fehlt es ihnen an Lem^ freude und Wifsbegierde. Fitigen sie einmal, so sind sie mit jeder, viel- leicht gar nicht verstandenen Antwort zufrieden. Durch viele Mühe können sie wohl zu leidlichem Sprechen und Schreiben gebracht werden, sie lernen aber nicht, ohne Anschanung mit Zahlbegriffan oiiedeien, und Bamno grOfsen sich vorstelkn. Auch das GefOUsleben ist lau und stumpf, be- BCfaAftigt sich nur mit der eigenen Person, oft im apfttereo Alter in rohen Egoismus ausartend. Nur was Lust und Behagen schafft, scheint be- gehrenswert. Gefühle der Zuneigung, des Mitleids etc. fehlen. Daher auch der Hang zur Tierquälerei. Die Stimmung ist durchweg eine gleich- gütige, läppisch-heitere, doch ruft oft ein geringer Aolab WnftaiubrQeh« hervor. Das Bmehmen der Imbecillen ist im allgemeineni gefOgigt mit Ausdauer und Geduld vermag man sie zu allerlei Fertigkeiten anzuleiten, durch Strafen werden sie aber leicht störrisch. In schlechter Gesellschaft geraten sie bald auf Abwege, da ihnen Fhrfiirclit und Respekt vor jeder Autitrität fehlt. Es hSlt sehr schwer, bie mi Leben auf eigene Fülse zu stellen, doch kfinncn sie wohl besciiäftigt w^eixleu, namentlich, wenn sie maschineoaitig tagtäglich dieselbe ebü^äe Aibeit an venicbtea babeo. Eigenartig sind die dnseitigen Talente, namentüoh beali^ich des Qedftobt> nisses, die man bisweilw nnter den Schwachsimngen findet und die mahr instinktiven als intellektuellen Charakter tragen. Von df^n vorstehend gezeichneten typischen Formen bis zur Grenze der Normalität besteht na- türlich eine weite Skala der psychischen Schwäche mit weniger ausge- prägten Erscheinungen. Die lebhafte Form des Schwachsinns wird dub- xaktoRsiert dmch »eine krankhafte Beweglichkeit der AnfmertBamkeit«. JEttum anf einen Gegenstand gelenkt, springt sie, ehe eine kkre Yorsteliimg entstand, auf elnea ganz heterognen anderen über. Nur das auf die eigrae Person Bezügliche wird haitnäckig festgehalten. Zwar entsteht eine Men^ von ErinnenmgslMhloni, aber ungenau und unvollständig, so dafs sie zii fal- schen Vorstellungen und Begriffen führen. Die i'iiantasie Imt freien Lauf. Daher entsteht ein gana verkehrtes Bild der Aulisenveit, die üiteile fslien Terkehit, oft giotee^ ans, nameotliofa die Aber die eigene Pecaon. Oft findet siob der Ifleheriicfaste EigendfinkeL Der Hang eom Lügen tritt noch,

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HL Yerbandsteg der Hilteohden Deateohlands.

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ausgeprägter lierfor ab bei der atmnplen EoniL Das GedüditniB iet im lUgemeinen besser als bei dieser. IKe Bretlilker sind neugierig, fcagen viel, oft ohne die Antwort abzuvarteo. Eine «tsammenhangonde ünter-

haltung ist mit ihnen wegen ihrer ünstttheit kaum zu führen. Das Sprung- hafte ihres "Wesens spiegelt sich auch in dem Gtemütslobon wifHler. Ge- fülüe ver8ch%Wndcn ebenso rasch, A^-ic sie entstanden. Seelischen Schmerz empfinden sie nicht; dagegen sind sie körperlich sehr empfind lieh. Be- sonders auffällig ist ilir Selbstgefühl uud iliro Prahläucht. Daä Höchäte sdMmt ihnen leiöht erreichbar; enäcfaen sie etwas nicht, so geben sie anderen die Sdiuld* Infolge ihrer Beizbsrkeit weiden sie leioht hefiag, lassen sieh aber ebenso rasdi bes&nfiigen. Ihr Benehmen ist launisch; sie sind UDvertrSglich und führen gern das grofse Wort Audi ihre Arbeit leidet an Zerfahrenheit und Unbeständigkeit. Sie leben sorglos In den Tag hinein, ihre tranze Lebensführung 7Ma;t einen IlaiiLr z-nn Verkehrten. Aus ihnen i-ekruüeren sich die UDverbesseriichen HuulisUii.ler, Schwiinlier und Landstreicher. Auch von dieser Form führen zahlreiche Übergänge zur Nontalilftt Man redet vielfuh von einem Schwachainn auf mozalischem Oefaieto bei intakter InteUigenz, bestehend in völligem Mangel an Gemüt, emem namenlosen Egoiamns, der nur auf das Hohe, Schlechte und Zer- störung gerichtet ist Doch wollen andere Psychiater damit stets auch einen intellektuellen Defekt verknüpft gefunden haben. Diese Form neigt natürlich ganz besonden» zum Verbrechertum; für die Hilfsschule ist sie ui^eeignet. Vielfach ist sie die Folge von Epilepsie. Auf körperlichem Gebiete zeigen die Schwachsinnigen keine spezif^chen Abweichimgen von den Nocmalan. Die manchedd »Degenerationszeichen« kflmieD fOr die Be- vrteamig sieht snsscUaggebend sein, da sie auch bei Gesunden sich fin- den. BeiAglich der anatomischen Yeiindenmg des Gehirns der Geistes- schwachen fehlt es bis jetzt noch an genauerer Kenntnis. Bei ca. 70 ^/q aller Falle ist die Ui-sache der geistigen Schwäche erbliche Belastung (Geisteskrankheit, Trunksucht, Tuberkulose etc. der Vorfahren), Nacli der Geburt liann sie durch Infektionskrankheiten, länger dauernde Ki-ämpfe u. s. w. entstdien. Eine sichere Diagnose des Schwachsinns bietet oft nach den 'wsdiiddensten Seiten grobe Scbwierigkiäteip und erfordert einen lAngeren beobadiiniden Verkehr mit dem Individuum sowie eine gmue Bjenntnia der Umgebung, in der dasselbe aufwuchs, und der ihm zu teil gewordenen Bildung?- und Erziehungsversuche. Als abgelaufener Krankheitsprozefs ist der Schwachsinn im medizinischen Sinne nicht heilbar. Der Arzt kann nur für die küqieriiche Gesimdheit sorgen und weiti ro Schädigungen des Geistes verhindern. Femer aber hat er auch durch Aufklärung über die DiMcheo. des Schwadahms und Bekämpfung derselben sowie Angabe hj- gienisdMr Mabnahmen vorbeugend zu wirken. Spedell An|gabe der Fey- flUaler wird es sein, Direktiven für die psychische Behandlimg zu geben. Diese selbst aber ist Sache der F&dagogik. In der Debatte schlug Dürektor K 5 lle- Regensburg vor, die geistige Schwache allgemein als Idiotie zu bezeichnen und dabei zu unterscheiden Schwachl)efäliigte (Hilfsselnden), Schwachsinnige und Blödsinnige (Anstalten). Prof. Dr. Stumpf- Würzburg net von aller Nomenklatui' abzutieheu und sich auf den praktisch-pada-

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B. Mitteifawgeo.

gogischen Standpunkt zu stellen. Es handle sich um Kinder mit auffallend abweichenden Fi-s'^ht^iiinngeu, die aber immer noch bildungsfähig seien. Man müp:e den Ausdiuck »Schwachsinn«, den auch die Wissenschaft an- wende, beibehalten. Er könne aus beinen Eiitüuuu^en als Gerichtäarzt die AoflfQlmugeii des BäCsrenten nur bestätigen, namentlich hinaicbtlich des krassen Ejgcdsmiis, der nicht befiriedigt, den Sehwaohsinmgea sofort in schiefe Bahnen treibe. Direktor Schwenk-IdstMtt behauptet, der Referent habe woh! niu- AusnahmefiÜle gescliüdert. Im ganzen kämen ihm seine Zöglinge ganz andci-s entgegen, seien anhänglich und liebten ihn. Haupt- lehrer Grote- Hannover war auch der Ansicht, dafs der Schwachsinn sich vielfach im Öffentlichen Leben äuJOsere und manche soziale Erscheinung erUfire. Gar zn Uaßäi werde der Schirochsinnige in antisoaale Bahnen gekitet. Das werde anch die HjUgschnle nicht hindern können. Ton grofser Bedeutung werde es aber sein, wenn sie erforderlichenfalls an der Hand der Personalbogen vor Gericht den Nachweis des Schwaclisinns lie- fern könne. Hanke-Görlitz meinte auch, dafs nicht ein System, sondern tlie Bildsamkeit des Kindes Ausgangspunkt der Beurteilung desselben sein müsse. Als Ursachen des nach der Geburt entstehenden SAwadMinns hob Bedner noch hervor schlechte Behandlung ond Pflege, Nahrungsmangel, Schlag, Stodh au den Kopf. Prof, Stumjif betonte, dab das in den Personalbogen nieder- gelegte Material für jeden Gerichtsarzt von hoclister Wichtigkeit sein werde. Ton verschiedenen Seiten wurde darauf das in den verschiedenen Landes- teilen übliche Verfahren der Justizbehörden bei Anklagen gegen Sdiulkinder dargelegt und dringend eine Erweiterung des Seminaruntenichtfi nach der pathologisehea Seito gewünscht, nm den Lehrer besser zu onem zutreffen- den ürteil Über die Eindeeseele zu beflOdgen, aneh wurde auf die Be- atimmnngen des neuen FOisorgegesetzes hingewiesen. Bei der hieianl erfolgenden Beratung über die in Heft I des lfd. Jahrgangs der »Kinder- fehler« abgedruckten Kielhornschen Leitsätze über die Organi.saüon der Hilfsschule fanden dieselben mit einigen nicht selu- weseuthcheu Ände- iimgen Annahme. Nach dem Festessen fand die Besichtigung des reich« haltigen schwAtnachen Schulmuseums, einer LehrerveronsschOpfung, statt, dessen Leiter mit groDsem Ilei& eine Ausstellung von litteratur und Lehr- mittein für die Hilfsschule veranstaltet hatte. Speziell wusden besprochen bezw. vorgeführt die Missaleksclie Rccb^^^chrcibefibel, der von Rektor Müller-Zeitz verbesserte Tilliclische Rechenkasten und der Gindlersche Leseapparat »Fibuk«. Am Abend veranstaltete die Augsburger Liedertafel zu Ehren der QSste einen Torzüglioh gelungenen Festabend.

Am 12. April unternahm eine Anzahl der Teihiehmer am Yerbanda- tage unter Führung eine Besichtigung der Sehenswürdigkeiten von Augs- burg und der weltberühmten orthopädischen Heilanstalt in Gf^ggingon, eines ausgedehnten Tillen vierteis mit grofsartigen Bauten und Anlagen, Tlicater, eigener Kirche etc., welche die Thatkraft eines einzigen Mannes aus ein- fachen Terhflltnissen (er war Tischlergetieil), Hessing, gescliaffen hat Die übrigen Tdlnehmer statteten den auageddinten Anstalten einen Besnoh ab, welche, von erfaaimender Hichatenliebe getrieben, der Dominikus Bingw eisen ohne eigene Mttel in dem übenasohend kurzen Zetlianme tqd

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Berieht Iber die TerBammlnng des TereinB für ffindeifondiiiiig in Jena. 219

17 Jahren für Schwachsiimige, Kretineiij Taubbtumme, Blinde, Epileptiker und Krüppel in üisbeig bei ThannluniaeQ ins Lebep zu rufen vermochte. Die Qeblude und Liegenscheften leprOaeDtieraD mehteie MUMonen. Am Vormittag wurden die AnslaltseinrichtuDgen besichtigt Die Anstidt be- sitzt eine Ökonomie von ca. 1000 ha, eine Mahl-, Stampf- und Sägemühle, Ziegelei, B^Hr^krToi, Metzgerei, Tischlerei, Korl)- \md Stroliflecliterei, Gerberei n. s. w.; sie zählt etwa 1200 Pfleglinge udcI 453 Lehr- und Pflege- persoEen, darunter 446 Schwestern. Diese versehen sämtliche eben ge- nannte Betriebe, auch die Brauerei. Mit Verwunderung naiimen die Be- sucher die ans jedem Geaidit lenditKide Oesmidlielt» Heitoteit imd Zu- friedenheit irahr. Am Kaobmittag fimd eine Besiditigung der Pfleglinge, die Ton den tiefsten Stufen des Blödsinns an sich hier vereint fanden, der verschiedenen Schulabteilungen und einer Ausstellung von Handarbeiten der Pfloglinge statt. Die Anstalt besitzt eine Kleinkinderschule für sehr tief stehende Kinder, eine Sprachschi ile für Sprachschwach oinc Yorbereitungs- Mas^ und 3 Klassen für Scliwackbinnige zu je 2 3 xlUeilungen, 2 Fort- bildungsschuloa , 2 Blindenschuleii, eine Schule iür Schwerhörige mit

5 Abteilungen, 2 Scholen für gebrecMche Tanbstomme mit je 4 Abtei- Inngen nnd ein Gstofigee LehrexiDiienseminar. Den ünteniofat erteilen Schwestern unter Anftnäit eines Priestei-s. ürsberg hat aufsertlem noch

6 Mlialen in Bayern, darunter den Badeort Krumbad, Der Besuch von ürsberg bildete einen Überaus würdigen Abschlufs des so goTnifs- imd er- folgreichen Verbandstages und hinterlieiis offenbar bei allen Beteiligten den nachhaltigsten Eindruck.

2. Bericht über die Versamniluiig des Vereins fär Kinder- forschTing am 2* und Anglist IMl in Jena.

ürbtattct vun den Schriftführern Dr. med. Strobaayer, Hausarzt der Privatuervcu- kiinik in Jena und W. Stikealefv* Anstaltalehier aof BophienhShe bei Jena.

2^ach den Satzungen iiat der Verein den Zweck, bei aUen, welchen leiblidies oder seeHschee Wohl der Jugend anTertiant ist, ein groDseres Interesse nnd Yerstflndnis fOr die Gndbkt nnd mehr Teilnahme für das Wohl uid Wehe dereelben zu erwecken, zur richtigen BeohachtuDg des Kindes anzuleiten wie auch für Pflege, Unterricht und Erziehung die ifeth'^i'^n wissenschaftlich zu erginlnden nnd zu vervollkommnen. Zu der Versammlung waren fbriim eingeladen: »Alle, die sich für das Studiuni def« kindlichen Leilx-s- und Seelenlebens mioiiessieren, insbesondere die Psychologen, Äizte, Geistlichen, t<ehrer, Lehrerinnen, Kindergärtnerinnen, Sdinlbetodm, Eltern, Vormnndsohaftsziditer, EriminaHsten«.

Die VMBammlnng ivar von etwa 100 Teilnehmen besucht Den Votmtz führte Direktor Trüper-Jena. In sdner einleitenden Ansprachd legte er nochmals die Ziele des Vereins dar:

"Wir wollen uns dem Stndiuin des Kindes nach Seele nnd Tjcib widmen. Letzteres jedoch nur insoweit, als es der Kenntnis des Seeleolebens zur Grundlage dient

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B. Mittenhmgen.

Die wissenschaftliche Forschung der letzten Jahrzehnte hat sidi in besonderem Mafse der Psychologie zugewandt, zumal in Nordamerika, wo jede UnivprsitJlt neue Lehrstühle und grorse Laboratorien errichtet und nns weit darin überholt hat, obgleich Deiitf^che und zwar Wundt in TiCipzig und Preyer in Jena die Bahnbrecher, jener für allgemeine Psychologie und dieser lOr die Psychologie des Kindes, gewesen sind und dort anch als solche anerkannt werden.

Es ist nun von mehreron Seiten die Frage anfgewittfan worden, ob eine besondere Psychologie des Kindes notwendig, ja wünschenswert sei. Die Er\vach8enen seien für j)sychologisclie Forsclninp:.:!! die besten und sichersten Quellen. Dies kann zun.lclist aus rein %vux»«>u.^chaftlichen Giilnden nur üanii als richtig anerkauut werdeu, weuu das Seeieulebeu des Ei waehsenen dem des Kindes gleieb ist Neben allem Gemeinsamen besteht sber swisohen Erwadisenen nnd Kindeni in seetischer Berielmng ein ebenso groGier Unterschied als in kOiperlicher Hinsicht Im En^-achsenen haben wir ein ausgereiftes Wesen vor uns, im Kinde ein werdendes. Es weüjs jedermann, dafe Kinder, die sich wie Erwachsene geMrden, und Erwachsene, die sieh wie Kinder beuehmen, zu den aVmormen Erscheinungen gehören. Beim Erwachsenen haben wir Erscheinungen, die beim Kinde gar nicht oder nur bei einem kranken Kinde skk seigen, und finder «eigen ein Seelen- leben, das wir mit dem pathologischen Namen »kindisch« bezeichnen, wenn es bei Erwachsenen im Altersschwachsmn als krankhafte Erscheinung wieder auftritt Die Psychologie des Kindes neben der des Erwachsenen hat darum eben<M> sehr ihre Berechtigung als die Psycbiatiic oder Psycho- logie des kranken neben der Psychologie des gesunden Seelenlebens. Sdion Sigismund betont in seinem Büchlein »Kind und Welte, niemand dOife belumpten, er kenne dne Fflanse, wenn er sie nur in ihrer Blfiteseit gesehen habe; denn der Keim imd die jüngsten Zustände seien eine gleich- berechtigte, nur in anderer Lebensform l:)estchendc Yerwirklichimg eineB bestimmton Wesens, und ebenso sei es beim Kinde.

Al'cr nicht blofs aus Gründen der Vollständigkeit unserer Kenntnis des meuäclilicheu Öeelenlebeue ist die Psychologie des Kindes von Bedeutung. Sie ist es auch ans Orfinden der Yerst&ndlichkeit Der Mensch ist ein Wesen, das sich Ton der "^ege bis lor Bahre entwickelt Will man CS recht verstehen, so mufs man dieser Entv» ickelung nachgehen nnd beob- achtHU. wie es sich verandei-t und unter welchen Bedingungen es sich venindert. Diese Veränderung als solche mufs auch Gegenstand der Psychologie sein. Neben die beschreibende Psychologie tritt darum die genetische.

Obgleich das Seelenleben des Kindes scheinbar einfacher ist als das

des Erwachsenen, so wollen wir uns doch nicht verhehlen, dafs das Studium desfidben mindestens in vielen Fallen ebenso schwierig oder noch schwie- riger ist. AlK>r trotz alledem gewinnt doch die Kinderbcobachtimg ffir die Psychologie beinahe die gnindlepende Bedeutung, welche die Emlayologie für die Anatomie besitzt. Das behauptet sogar Münsterberg, der der Psychologie des Kindes nicht bescndeia freundlidi gegenfiberstelit

Dadurch, dafis die Kindeipqrohologie als entwiokelungsgeBohu^tHdieB

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Bericht über die Yersammlung dee Vereins für Kinderforschung m Jena. 221

Verfahren zum besseren Verständnis der ppolischen Vonrrmtro üboi-haupt bei- trägt, ial sie jedoch nichts weiter als eine besondere psyclioiogische Forschnngs- methode. Sie ißt uur Mittel zum Zweck, aber nicht selbst Zweck. Vom Standpunkte äat «unak p^chdogiscfaeD Wissenschaft aus, die nur psychische OoBofae ennittoln will und keine pfakfisohen Zide im Aoge haft, aioh Bichl» dagegen sagen, wenn msn wie Münsterberg, Ament n. a. die Ffigrdiologie des Eind^ nur von diesem Oesichtspunkte aus zulassen wilL

Das Studium des Kindes besitzt neben diesem rein gelehrten Interesse aber noch ein wesentlich anderes, wenn man aus dem praktischen Bedürfnis heraas an die Frage hinantritt. Dann ist das Kind nicht bloi's ein Hilfs- mittel der Wissenschaft, sondern es wird zum Gegenstände unserer Teii- nahme und darum anoh sam Objekt der F^öhologie. Dann tritt die Kunde Tom Kinde vollwertig neben die Konde Tom Seetenleben des Erwadhsenen. Die FSdagogik in Haus und Sohnle, die Medizin, die Seelsorge, die Kriminalistik sie alle sind interessiert, zu wissen, wie eine £nolieuiuDg im kindlichen Seelenlelw^n 7.n deuten ist. von welchen Bedintnincon sie abhängig ist und unter weichen He<Hngiingen ein Zustand sich fördera, hemmen odor beseitigen lÄi'st* Wer diese Fragen sich bei seinen Handlungen nicht stellt, liainlelt nicht blofe unwissenschaftlich, sondern steht auch in Gefahr, eine Ungerechtigkeit gegen daa Kind wa begehen und augleidi die OiwellBcbaft an achgdigen.

Unter den Folgen dieaea mangelhaflen YeratbidniaBeB aeitena aller dieaer Faktoren seufzen unendlich viele Kinder.

Und doch liegen so ^^ele Erscheinungen im kindlichen Seelenleben, die für das Individuum wie für die Gesellschaft von grofser Trairwoite sind , vor den Füfsen aller jener benifenen Faktoren. Man stolpert über sie und sieht und beachtet sie doch nicht Eben weil der Mensch, wie Herbart sich ausdrückt, meistens nur sieht, was er weils, worauf er sein theoratiaGliea Intecesae lenkt

Soll ich Urnen die ScbuIaOnden auiillilen? TigUoli encheint eine neue Soiuift zur Schulreform, und jede will etwas Beeeevee. Ohne das Studium der Kindheit nach jenen Richtimgen hin tappen sie aber im Blinden. Die Thatsache, dafs in den letjrten 10 Jahren in Deutschland 98 Hilfsschulen mit 7013 Schülern entstanden sind, beweist, dals mau seit dem Fort- schreiten des Kinderstudiums Erscheinungen im Idndüclien Seelenleben aus Individual- wie sozial -ethischen Gründen wenigstens in Volksschulen eine Beacfatong adhenkt, die man früher einfach nicht aah, oder, was noch viel schlimmer war, aie UboIi deutete und die annen Kinder noch obendrein für dna Terantwortlidi machte, was schlieblich andere um sie verschuldet haben.

Vor 82 Jahren erliefs Joh. Falk in WeimiU", der Begründer der Rcttungfnii stalten, seinen »Aufruf zunächst an die Landständc des GroCs- kerzogtums Weimar und sodann an das ganze deutsche Volk und dessen Fürsten y über eine der schauderliaf testen Lücken unserer Gesetzgebungen, die durcli die tmurige Verwechslung von Yolkserziehung und YdlkBuntei^ rieht entetenden ist« und wiea akten- und aiffermft&ig nach, dafe mit dem Oelde, das dem Staate die Verwahrlosten in Gerichtssälen und Gefangnissen kosten, »fünfooal mehr Kinder vom Abgrund der Schande und des bOigec^ liehen lodea au erretten im stände geweaen w&ren«.

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B. ICttaQaogen.

Ei-ät in deu letzteo Jahren ist man, weniger infolge des Studiums der Kindheit^ als dnioh die Zwangslage des BOfgerliohen Gesetzboches und dunsh die UDgefaeure Yennebiooff der Aoegaben fOr fugendliche Terbredifir zum Brlab von Ftlrsorgegesetsen gescduitteo. Aber weder im FQrsorgi^

gt^sotz unseres ;;^r)rston deutsch'^n St^ntos, noch in der sonst so trefflichen »Begründung« des Entwurfs wird em Hinweis gegeben, dafs man durch das Studium der Kindheit der Sache der jugendlichen Verwahrlosung auf den Grund kommen müsse. Dafe z. B. die ethischen Defekte auch krank- hafter Art Bäa kOanen, ist mit keinem Worte com Ansdmok gebiacht worden. Die berufenen Kenner der Kindheit, die Lehrer, die Ärzte, die Seelsorger treten darum für den Gesetzgeber vollständig hinter den juristischen Yerwaltungsbeamten zuriick. Aus Akten allein läfst sieh aber kein Kinder- studium li-eibeu. Dab Gesetz wird nur Segen V)ringcii, wenn wir auch dieses pflegen und den Ursachen der Verwahrlosung auf den Grund und ihnen su gehen. ^)

ISne am 1. Juli 1897 in der Proyins Schleswig-Holstein, einer Land- schaft mit einer kräftigen, gesunden, behäbigen Bevulkcnmg stattgefundene ZlUihing ergab 1295 jugendliche Krüppel unter sechzehn Jahren, die alle mehr oder weniger einer besonderen Fürsorge bedüi-feu und auch bald mehr, bald ^veniger mit einem abnormen Seelenleben behaftet sind. -) Der Plan der Gründung von eigenen Krüppelheimen erregt auf den ei-sten Bück Befremden. Wer aich aber dtirch eine solefae Statistik Kunde verschafik von dem Elend in der Anderweit, dfflr wird es nicht als einen nngeheoerlichen Gedanken beteachten, durch Errichtnng von besonderen Heimen Heilung, BcBsenmg oder doch wenigstens Schutz gegen die Verspottimg andert^r und die Ge- währimg eines menschenwmligen Daseins 7A1 verschaffen, und der wiixi sich dann auch nicht wundern, warum die Krüppeifrage mit auf unserer Tagesordnung steht

Unser Verein hat nun seinen Ausgangspunkt genommen nidit vom Standpunkte der interesselosen nackten Wissenschaft aus, die nur das Sind kennen möchte, um ^ zu kennen, um die Psychologie mit neuen Gesetzen zu bep'iel^^m. Es war das praktische Bedürfnis, es war das Mitleid mit der Jugend, die w^ie Schafe in der groli»eu Wfiste umherirrt, und dieses allgemein menschliche Inter«^^ drückt, wie Sie aus der Tagesordnung aehen, auch unserer diesjährigen Versaaunlnng den Stempel auf.*)

Es ist von manchen Sdtsn der Standpunkt verwetfen weiden, nm praktisdier Zwecke willen Kinderforschung m treiben; mir rein wissen- schaftliclien Interessen solle das Kinderstudium dienen. Aber so hoch wir die rein wissenschaftliche Forschung schätzen und so notwendig sie ist und so bedauerlich es ist, dab nicht an jeder Universität ein Lelirstuhl für

Vergl. Trüper, Zur Frage der Erziehung unserer sittlich go^Üirdeten Jugend. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne. 1900.

*) D. Theodor Schäfer, Jahrbnoh der Erfippdf&zsoxge. Hamboig, Agentvr des RaÄihea Hauses. 1900.

*) Man hat bedauert, data das Psychopatholofisohe die diegShrige Tageaoiduniig füllte. Ein Vortrag zur P.syehologie des normuen Kindes ist trotz Wiedelholter Aufforderung nicht angemeldet woiden.

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Bericht über die Versammlung des Vereins für Kinderfoiscixuii^ m Jeua. 223

genetische und expcrimcntello Psycliolo^e ist, so ibt doch, vom allgemein meuäclüicJiea Standpunkte aus betrachtet, es noch yiei wiclitiger, dafs die Kunde von der Kindheit und von den Kindern in die Haaee des Yolkes, dea gebildeten irie des nngebOdeteo, diinge; dab die rein wxsBenBcfaalÜidhen liEgsbnisse Gemeingut der meuschlichen Gesellschaft und ee zum Besten der menschüchen Gesellsclmft werden; dafs v,ir durch nnsem Verein Anrogimg geben, dafs jede Mutter, jeder Erzieher, jeder Arzt die Augon aufthue und beobachte au Kindern, was er beobachteu kanu; dai's jeder einzelne sich Beobachtungsmatenal sammle und durch Unterstüzung der "WiseeiDadbait dieeee Beobaohtongsmaterial redit werten lenie. Damm ist es notwendige dafo an unserm Vereine nicht blols die wenigen Psydiologen Ton Fach^ aondem alle Berufsst&nde sich mitarbeitend oder doch fragend anschliefsen; alle, denen das Wohl und Wehe der Jugend nnd damit der kommen* den Generation anveilraut ist

Von diesem Gesichtspunkte aus heiisen wir darum alle Gelehrten imd üDgeleliiten willkemmen, nnd wollen hoffen, dalh nnaefe Beratungen nicht bkifo der Wissenschaft aar FOrdemng, soodem vor allem anoh der Jugend nun Heile gereichen.

Der Vorsitzende machte darauf die Mitteilung, dafs Herr Pi-ofessnr Dr. Hof fa-Würzbui^ diu-di Krankheit vorhindert sei, seinen Vortrag zu halten. Er habe jedoc^h seineu ersten Assistenzarzt Herrn Dr. Pfeiffer beauftragt, deuäelbon zu verlesen.

Da der idelaeitig anregende und für die mediainiache nnd |>ädagogische Thempie der gelfihmten nnd dabei anch meisleiia geiatig defekten Kinder bedeutsame Yoitiag oben als besondere »Abhandhugc im Wortlaut zum Abdruck gekommen, so ktanen wir an diesem CMe auf eine Inhalts- wiedergabe verzichten, ^)

In der Debatte bestätigt zun&chst Hilfsschullehrer Delitsch- Plauen, da£B viele derartige gelähmte Kinder ziu* Epilepsie neigen und fiagt) ob die durch die Übungen entatehenden Anstrengungen nidit soiiA^ digend anf das leicht enegbaie Gehirn einwirken und eine Versohlimme- nmg der bestehenden Epilepaie herbeiführen können. Dr. Pfeiffer be- streitet die Aln^rlichkeit, vorausgesetzt, dafe man Übermüdung vermeide. Demgegenfllx'r bemcrk-t Delitsch- Plauen, dafs doch die Ermüdung schwer festzustellen sei und glaubt, dafs es richtiger sei, in bedenklichen fUllen die Übungen ausfallen zu lassen. Er berichtet einen Fall von einem 20j8hrigen Hftdchen, einer hochgradigen Stammlerin, welche im. limfe in- tensiver Sprachübiuigen durch das Dazwischentreten einer Influenia aknt geistig (an »Tobsüchte) erkrankte. Die Eltern wÄren geneigt gewesen, den Au.sliruch der Psychose auf den anstrengenden Sprachuntemcht zu be- ziehen. Es sei femer nicht nur für Stotterer und Stammler pit, Atmungs- ^rmnastik zu treiben, sondern ebenso für alle Schwachsimugen, die ja «ehr leicht ermüdeten. Es kann im Unterrichte dne Finue gemacht woden, die dnioh aokdie Übmigea anmelllllt wird. Dadm»^ kommt «ach

*) Sonderabdrfteke nnd zum Preise von 40 PI m beliehen von der Yeriag»»' buchhandlong Heimami Beyer A Söhne in Longaunka.

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R Hitteiluugon.

der Körper zu seinem Eecht Yerdaaung uud Biutzirivuküou wird ange- regt, und das Kmd Udbt Unger fdacb.

Direktor Trttper Iwabwatett dftb die Apinale T^ttiiming ohne pida- gogisches IntereBSe aeL Er flSst einen Fall an, wo ein Mftdchen bei

spinaler Lähmung der Bcugcmuskeln des Armes nnd der Hand in allen ihren B»^^vo?run^n behindert war und diese nicht in normaler Weise für den geistigen Fortschritt ausnützen konnte. Sie konnte z. B. nur etvs-a ein Drittel von dem &chreibeu, was ein uoimales Kind in derselben Zeit leisten konniew Bbs EndergebtiiB "vm darum ein ZiuAckblelben und eine gOBtige Minderwerti^ceit Anoli -war m infolge der Lilhmnng im WiUens- leben nicht so kräftig wie das Eind ohne LülimTuig. Es sei darum snoh eine besondere pädagogische Aufgabe, gerade diesen Fällen der spinalen Lähmung mehr nachzuforschen. Zum Schreibunterricht bei gelähmten Kindern bemerkt Trfipor noch, dafe sich neben der von Hoifa empfohlenen Ziller sehen Normalschrift die einfache Initialsohrift dgne. Sie sei leicht zu Bchreiben, mit Stflbcheik m legen, mit Thon zu formen mid sogar mit dem Pinsel an wml«^-

Herr Inspektor Piper-Daldoi-f bcriditete nun über psYohopathische Kinder a) mit moralischen Defekten, beruhend auf Schwach- sinn; b) mit einseitiger Begabung, beruhend auf Erblichkeit.

Hochverehrte Anwesende! In der IRunilie, spflter in der Schule, "wie im Öffentlichen Leben treten uns hui ond wieder Kinder entgegen, die durch ihr Betragen, dnrdi allerlei Allotria, ja durch TerbrecheEiadie Handlungen, auffallen und zu ernsten Bedenken Yeraulassnrg geben. Wir haben es hier mit Kindern zu thun, deren geistige Schwäche erst in der Schule offenbar wird, indem die betreffenden, wenngleich sie geistig, wie auch körperlich normal erscheinen, doch zurückbleiben. Haben die Eltern kein rechtes YeistBndnis gehallt für die mancherlei unnützen Hand- lungen ihrer Kinder, so hat auch in den meisten lUlen der Lehrer nicht das richtigo Urteil über diese Kinder. Es kann settiatferattodlich der Lehrer nicht dafdr verantwortlich gemacht werden, wenn er diese Kinder, die er für geistig normal hält, nur als faule, unnütze erkennt, und sie mm liÄufig ungerechterweise straft. Diese Bedauemswei-teu werden nun- mehr die Zielscheibe ihrer Mitschüler; sie sind der Ausschuüs in der Klasse wie in der Schule.

Die leider wiederholten Strafen, welche der Lehrer diesen Kjndam zufügt, sind Gift für diese; die Kinder fühlen sich vom Lehrer, wie von den Mitschülern verstofeen und wandcbi nunmehr, da sie nicht ricbti^r er- kannt worden sind, den Weg des Bösen, des Ijasters, ja, sie werden sclüiefslich Verbrecher und vom Hichtor durch das Strafgesetzbuch dem Qefängnis überwiesen.

Interessant dflifte es sein, von Geistlicfaen und Lehreni, die jugendUche Verbrecher in den OefSngnissen enddben und untemchten, eingehend über die in Frage stehenden Individuen zu erfahren.

Ibissen Sie auch mich, verehrte Anwesende, hier einzelne Fälle zur Kenntnis bringen :

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Bwicht filier die Yenanunliiiig des Yeniiis für Elndexfondniiig ia Jena. 225

1. Der Vater eines Knabeu ijclireibt u. a.: »Da ich mir keinen liat mdir ireifs ffir meuieii Selm, so erlaube idi mir die Bitte um Aufnahme deaeelben io die Anstalt Mein Selm liebt das Herumtreibeiif kommt anstatt um I2V4, erst um 3, auch 4 Uhr aus dar Schule mit dem Bemcrkou, er mnlste nachbleiben; es ist anch schon vollkommen, dafs mein S'lni Abends 10 Uhr na(;h Hause gekommen ist Oft gelit er zu Fremden, er- zählt, er bekomme nicht satt zu essen, er müsse morgens Uhr schon aufstehen etc. Eines Tages kam er mit aufgeschlagener Stirn nach Hause ; auf der UufaUstadon gab er an, ich habe ihn mit dem BEmtofCel geschlagen. Hdn Sohn hat groise Liebe zum Stehlen, wir mOsseu alles rerschliefsen ; oft bricht er die Schlösser mit Gewalt auL Mein Sohn schwindelt, dab einem die Haare zu Berge stehen« etc.

Aus einem Briefe des Lehrers an den Vater des Knaben lesen wir: 3> Allerdings habe ich häufig Ihren Sohn gefragt, warum er Strafe bekommen habe. In der Regel erhielt ich darauf die Antwort, er wollte im Heft schreiben, bdmm daffir Strafe Ton seinem Tater, was ich selbstverstfindlich ohne weiteres nicht ge^^bt habe. Ich habe nidlt angenommen, dafs Ihr Sohn zu viel oder ungerecht Strafe bekomme; im Gegenteil, der Biu^che ist so von Grund aus verdorben, dais ich mit Granen daran denke, was in späteren Jalircn aus ihm wenlen soll. Auch meine Geduld ist oft erschöpft, und Ilir Sohn bekommt vou mir Strafe«.

Der Knabe wurde einer Anstalt fOr Yerwahrioste fibergeben. Der Direktor der Anstalt sdueibt an den Yater des Knaben u. a.: »Dur Sohn ist so wenig ziu* Reinlichkeit erzogen, dafe sein fernerer Aufentlialt in der Anstalt unzulässig ist etc. Nndi schlimmer aber als <lieses ist sein sitt- liches Verhalten ; er ist der Onanie ergelien \uid wirkt trotz seharfer Über- wachung diux'h sein heilloses Laster nachteilig auf seine Umgebung.«

Aus der Anamnese ei^scheu wir folgendes:

Der Knabe ist das zweitgeborene, eheliche Kind eines Dachdeckeis. Der QtotMba ^teriidiersdts starb an Lungenschwindsucht, eine Schwester des Yaters des Knaben ist taubstumm. Der Grofsvater mütterlicherseits war geisteskrank. Die Grorsmutter mtltterli 'b* i-^i nts hatte in die Tabak- pfeife ilues Mannes Fulver getban und den Tabak darauf, damit er getfitet werde.

Während der Ehe mit dem ersten Manne soll sie liederlich gelebt haben, weshalb auch ihr zweiter Msmi von ihr fortgelaufen ist

Die Mutter des Knaben wurde in einer Erziehungsanstalt fQr Ver* wahrloste erzogen, soll verschiedentlich aus dem Dienst fortgelaufen sein;

in ihrem 23. Jahre hat sie sich selbst entleibt.

Im 7. Lebensjalire überstand der Knabe die Masern, im 2. Jahre hatte er starken Ausschlag am iiopf und heftiges Ohrenlaufcn. In seinem Wesen zeigt er sich liAnfig zerstreut etc.

2. fiin Arbeiter zdgt an, dab sein Sohn gro&en Hang zu Unter» sddagungen und anderen verbrecherischen Thaten habe. Im August v. J. habe er von einer Handelsfrau 1 M erlialteu, um diese in einem benach- barten Geschäft zu wechseln. Der Knabe tliat dies nicht, sondern hat das Geld unterschlagen. Nach eigenem Geständnis hat er das Geld vernascht

Die KiododoUor. YL Jahigaof . 15

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B. Uittotliiiigoo.

Femer soll ikr Knabe wisd^liolt uinQolitige Haadlungen mit seiner UdnoD Schwester getrieben haben, so dalh ftnstlicfae Behandlung für das kldne lAdchen etfaiderlich -t urtle. Auch hat der Knabe hiofig Unter-

addagiiiigren begangen, wiederholt Diebstähle ausgeführt.

Der Vater bittet, die Zwang^crziehnn/;' g-ogen den Knaben einziileiton, da er sich nicht in der Lage befindet, dem Sohne eine angemessene Er- ziehung angedeihoQ zu iaääen.

Der Knabe ist das Ttorfgetoene^ eheliche Kind. Die Unttor halte acht vechtxeitige Oeburten.

Der Vater des Knaben starb an der Lnngenschwindsucht, er war Potator. Bis zum scliuliiflii-htigen Alfer will die Mutter den Knaben ffir normal gehalten liaVton In seinem Wesen war er stets erethiseh, in rlf^r Schule machte er kerne Fortschi-itte, er Iiliel» 4 Jahre Schüler der VI. Ki.i>M,\ Vom Oktober bis Januar besuchte er die Nebenklasbe, kam dann in die EMehnngsanstalt fOr Verwahrloste nnd Ton dort in die Idiotenanstalt

3. Der Knabe ffihrt nach Angabe seiner Mutter seit Jahren demrtige ungezogene Streiche aus und kommt in der Schule so wenig mit, dafo der Mutter liedi-nken über den geistigen Znstand des jetzt 1 3 j;ihri<:3:en Sohnes gekonnneti sind. Er geht angeblich ins Geschäft und holt auf Borg anderer Leute, auch im Namen der Mutter, Sachen. Er treibt sich viel auf der Strafse umher und ist nicht dazu zu bringen, sich ordentlich zu kleiden. Aolberdem ftlscht der Knabe Briefe etc.

Der Knabe, Studkateuisohn, ist das erstgeborene, eheliche Kind. Der Vater dee Knaben war geistig schwach und starb mit 38 Jahren an 6st Lim^nsehwindsneht.

Auch der Orol'hvatt'r des Knaben räterlichei-seits starb an der Lungen- schwindsucht, Schon von früiiester Jugend an fiel der Mntter ein exal- tiertes Wesen des Knaben auf (Gedchterechneiden, ZerstSnmgssucht etc.).

Im elften Honat ttbetstand er Lungenentsflndung, im sweiten Jahre litt er an Ohrenlaufen, mit fünf Jahren hatte er liasem. Mit dem sediaten Jahre kam er in die Sehlde, machte wenig Fortschritte, aber viele Dumm- heiten, schlug seine Umüobnng', hat g»-»logen, gestohlen etc.

4. Nach dem ärztlichen Attest ist der Bnrsche ein geistesschwacher Knabe, der in der Schule nichts gelernt liatte, fortdauernd dumme Streiche machte, zweimal ans seiner Lehrstelle weglief, eta Er besitzt nur geringe Schulkenntnisse, zeigt ein kindisches Wesen, ist m keiner geordneten ^Hifttigkeit zu gebrauchen und besitzt ein sehr geringes Urteilsvermögen etc.

Der BiirsiJie wnrde. nachdem er einij::e Monat»^ Zögling der Idioten- anstait wai", von <ler Mutter anf drei Tage auf Urlaub erbeten. Der Urlaub wurde mit der Bedingung gegeben, dals die Mutter den Sohn unter guter Aufsicht halte. Schon am zweiten Tage erscheint die Mutter weinend iu der Anstalt und teilt mit, dab der Knabe fortgelanfen sei und der bei ihr zum Besuch sidi aufhaltenden Schwester 40 M aas dem Portemoimaio fortgenommen habe. Am zweiten Tage darauf kommt der Btttsche nach 12 Uhr abends allein zur Anstalt zurOck und ftufisert auf meine fragen folgendes über seine Entweichung:

Am Mittwoch, den 2S. d. M. habe ich aus dem Kleiderspiud meiner

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Bericht über die VenammliiDg des TeniDS für KiadeifoxBchiuig in Jena. 227

3Iutter das Portemonnaie meiner Tante, die bei der Sfutter zum BeflOdl war. mit einem Inhalt von zwei Zwanzitnnark.stücken fort^enommen.

Znnlk'hst kaufte ich niir iii der Jägei-stmlse in einer Pfandleihe eine Uhr für 4 M. Yon hier aus ging ich iu das Zeughaus, daiiu luiir ich mit der elektriadbeii Bahn von der Mauerstr. naoh. Treptow und hier wAt der üntogrcmdbalm Ins mm Schlesiaoben Bahnhof; dann mit der el^triBchoQ Bahn nach der Behrenstr., um in die Passage zu gehen, wo ich eine Uhi^ kette für 1 kaufte. Xac:hdem ging ich iu das Pa.s.'^age- Panoptikum und (lanTi in Castans - Panoptikum, ich habe in beiden Theater. Schreckens- kamnier, In-garten, etc. gesehen, aufserdeni durch Mnwerfen von Geld- stücken versclüedene Automaten benutzt, aus eineni derselben eine Photo- graphie erhalten. Jetrt fuhr ich nach Moabit) badete in der Badeanstalt am Holateiner-Uler imd kaufte mir mm ein halbes Brot, Butter nnd Ab- bllwiirst. ging damit zur Friedrichstralse, kaufte von einem Händler eine Tasche für 75 Pf. und fuhr mit einem Billet lY. Klasse (3,30 M) mch Friedel)erg, inn meine Gr^'fseltem zu besuchen. Morgens kam ich hier an, trank auf dem Bahnhof Friedeberg eine Tasse Kaffee für 30 Pf. und ging zur Stadt zu meinen Orolseltern, die mich aber nicht aufnahmen; sio sagten, kh solle nnr wieder nach Dalldorf zurQckgehen.

Yen EUedeberg lief ich, da der Zug schon f6rt war, bis zur nächsten Bshnstation Gurkow und fuhr von hier aus lY. Klasse (3,10 M) nach Berlin, wn ich Uhr nachmittags Bahnhof Friedrichstr. ankam. Mit

der Stadlbahn fuhr ich nun uach Ralinhof Bellevue, kaufte in Moabit ein Poartemonnaie für 75 Pf., in der Turmstr. 4 Portionen Eis, f\ihr dann für 50 Pf. Xahn, begab mich mit der elektrischen Bahn nach der KailstralBe, kaufte hier einen Hat für 2,50 M und einen photogiaphiBcfaen Apparat für 3,50 M und ging dann in das deutsche Tlieater und fuhr nach Schlufo dee Theaters mit der elektrischen Bahn nach Dalldoii zurück.

Der Bur-s^che ist ein schwachsinniger Mensch, weinend gestand er seine Dummheiten und versprach, nie wieder so etwas thun zu wollen.

Ich liabe den Buischen eimuiut uud ihm uxklärt, daTs er nicht wieder beiQrlaabt wird*

Der Knabe ist das drittgeborene, eheliche ßnd eines Sdmeiders.

Der Vater ist lungenleidend; der GrofiSvater väterlicherseits starb an der Schwindsucht, die Grofsmutter am Krebs. Ein Bruder der Mutter starb als Patient iu der Irrenanstalt. Bis zum schuipfhchtigen Alter soll sich der Knabe noraial entwickelt haben, in der Schule machte er geringe Fort- schritte; er lief oft aus der Schule fort, bettelte fremde Leute um Geld an, um dalOr Brot zu kaufen, das er dann wieder fflr einen Gewinn verkaufte; das Geld gab er der Mutter ab. Oft lief er fort und kam nadi Wochen ■wieder.

5. Das sechs Jahre alte Mildchen, körperlich gut entwickelt, ist wiederholt bei unsittlichen Handlungen ei-tappt wonlen. Es spricht mit einer üben aschenden Sicherheit und Harmlosigkeit über den Unfug.

kann keinem ZwedM unterliegen, dafs das Mädchen eine Einsicht in das hat» was es mit Knaben thut Selbst vom Standpunkt eines eech»* jAlingen Msdfthflnft aus ist es aufttlüg, dab es die so häüBliöhen Hsnd-

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B. Müteflangen.

lungen gar nicht zu cachieren Bucht, dafs es Ober alle Emzclheiteu der Handlungen Aufschiurs giebt, keine Reue empfindet Ein nonnal vor» «nhgtee Kind würde Baue empfinden, unter Thrtnen Worte beranspreesen und die Mitteflungeni scfaluclizend machon. Das Mfidchen spricht von diesen Dingen wie von selbstverständlichen. Die Art des Anftreteos kennseidmet Mädchen als schwachsiimic^

Nun begeht das Mädclu u aber Handlungen, durch welche uielit mir ■die Schamlosigkeit und Sittliclikeit verletzt, durch welche auch bis dahin nnechnldige, aber noch wenig videntandsflihige Kinder m nnsitOichen und das SchamgefOhl Terletzenden Handlungen verleitet werden. Das Mädchen

ist eine grolse Gefahr fOr gleichaltrige Knaben; es ist gemeingeflihriiieh infolge seines Schwachsinns.

Das Madeheu, Sclilossertochter, ist das zwei^boieoe, eheliche Kind. Der Grofsvater vätcrlichei-seits war Potator.

Die Mutter ist geisteskrank seit dem 18. Lebeusj^ihre, die Schwester der Mutter ist ebenfalls geistig gestört

Das Kind hatte hiofig Gelegenheit, nmOchtige Handlungen der Matter mit anzusehen.

Aus den hier vor^führten Fallen ersehen wir wolil. dafs die in Er- seheiDTing tretenden moralischen Defekte auf Schwachsinn beruhen künuen, wie es in diesen Fällen thatsächlich der Fall ist

Es drängen sich uns nun wohl die Fragen auf:

1. Wie können wir diese Defekte i-echt^eitig richtig erkennen und heorteilen?

2. Was ist mit dieseb Kindern m geschehen?

3. Wie hßnnen vir prophylaktiadi viiken an! dieses in Frage stellende Leiden?

Der psychiatrisch gel^)ildeto Arzt, der mit der Sache verlzBute Pildagoge, sie werden den richtigen Blick liahen l>ei der Beurteilung derartiger Kinder, Der Laie, ei- steht hier vor einem ßätscl, das er nicht zu IRsen vermag; seine Pflicht, die Pfliclit der Eltern, der Lehrer ninls es sein, in diesen Fällen sich an den Aizt zu wenden, der vor allen Dingen veraniassen •wird, dalh man ein derartiges Kind mit peinlicher Soigfalt beohacfate und Ton ihm fem halte» was su unnützen Handlungen Yeranlassmig geben kann. Die Berücksichtigung der Anamnese ist, wie ich Ihnen bewieseo habe, zur Beurteilung des Krankheitsbiides von grofsem Werte.

2. Was ist mit diesen Kindern zu geschelien?

Man behandle sie streng, aber ^imdlich, mau stoDse sie nicht ab^ man ziehe sie an sich.

Vor allen Dingen halte man diese Kinder stets im Augo, ontfeme, was zu unnützen Handlungen rei^t; es dürfen darum diese kinuer nicht 2Q Handtungen verwendet werd^ die sie ohne Aofsicbt ansfUhren müssen, s. B., Holen von Waren vom Kaufmann, Ausführung yon Bestellungen etc» Man gebe diesen Kindern nie Geld und gowrihne sie daran, nhhawg^g w^en; sie dQrfen nicht selbständig Iiandeln, sie müssen fragen.

Man überiasse diese Kinder nie Dienstboten.

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Einige ßesultatö der Kioderforschung iu deu Cbicagoer Schuleu. 229

Geht es in der Familie niclit, die Kinder zu erziehen} so gehören sie in ein Interuatj aber in welcliebi'

In die Anstalt für YerwahrloBte? Nein. In die Anstalt für ScfawachBinmge? Ja.

Während in dou erstercii Anstalten strenge, ernste Zucht mafsgebend ist, haben dio Anstalt' n für Schwachfiinnip:r» bei Tnnehaltung al!or Kon- sequenz der Liebe mui i^i-enudÜchkeit die Berücksichtigung der ceritraieu Stöi-uug iii den Vürdeignind zu stellen. Während in den ersteren An- stalten der pädagogische Grundsatz gilt »der Einzelne hat sich dem Ganzen ro fflgen«, heM es in den Anstalten fOr Sdivachsinoige »das Oanae bat sich nach dem Einzelnen zu richten«.

3. Wie lUtanen -wir piophyJaktiscb wirken auf das in Fmge stehende Leiden?

1. Schon in den Fortbildungsschulen sollten Jungfrauen, wie Jfliiglinge aufmerksam gemacht werden

a) auf die Gefahien eines misittlichen Lebenswandels,

b) auf die Gefahren und Felgen einer m frOh geschiosaenen Ehe,

c) auf die Folgen der TnmkBUcht,

d) auf Vererbungen im allgemeinen.

2. Durch Wort und Schrift «infl 'lie Eltern bekannt zu machen mit den Grundsätzen einer gesundheitsgenuUseu Erziehung der Jugend. Der Tereiii für geöuudheitsgemäfee Erziehung der Jugend zu Berliu, dem ich die Elbre habe als Yorstandwnitglied anzugehören, hält regehnäTsig in ä&k ▼eischiedenen Stadtteilen, gerade fOr die einfachen Leut% die vir dmoh die schulpliiohtigen E^der einladen lassen, belehrende YortEige. Hier- mit lassen Sie niieh, verehrte AnwesendSi schUefseD, um zum zweiten Thema Qbeigehen zu können. ^3olilii& folgt)

8. Billige Beraltate der Eindezfonohnng in den

Chioagoer Sohulen.

Von Dr. pMd. MSidMili«! P. C MsMia in CShicago.

n.

Eia SpesiaUimmer. Schon 6m öttetea war der Vorschlag ge- macht worden, dab ein Spemalmmmer in jeder Schule eingerichtet werden

soUte, in welchem solche Kinder, die entweder dnrch geistige oder moralischo Minderwertigkeit oder durch schlechte Angewohnheiten im Denken und Be- tragen sich von den anderen Kindern unterscheiden, abgesondei-t unter- lichtet und discipliniert wenlen kouuteu. Es sind das Schiller, deren be- sonderen Bedürfniöfc»eu der gewöhnliche Unterricht nicht genügt und die Toa besoadeiB kompetenter Hand hi indi^naMerender Weise geleitet werden mOssen. Dar fMheie, gegenwärtig henHisgegnndte Schnlsaperin- tendeot tod Chicago, Benjamin Andrews, hatte unter anderen segens- reichen Neneninp:en auch diese ein^^efillu-t. wenigstens versuchsweise in einer einzigen Schule. Dieses Spezialzimmer enthielt sechzehn Knaben und

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B. Ifittnbiiigtn.

Tier lOdcheD. Das DurchBchnittaalter der Knaben -war etwa 11^^ Jahie,

4aa der Mädchen etwa 10^/ 2- Dieser Altersdurchschnitt ist an sich be- zeichnend. Er bezeichnet einen kritischen Wendeponkt in der normaleD Entwickelung der Kinder, wo durch Vernachlässigung individucllGr Be- dürfnisse leicht abnormale Entwickelungen verarsacht wei-den können. Er entspricht ungefähr dem fünften Schuljaiire, und es ist eine längst fest- gesteUtB ThatBaoba, dab die fftnilaD Grade in allen Schulen die gröTiste Scihwierig^t Ueten, untemditlich nnd disziplinazisclL

Unter den Insassen des Chicagoer Spezialzinuneis wurden eine AxuaU Entwickohmgsdefekte beobachtet, welche auf unvollkommene Gehirnbildung scliliefsen liofsen. Zwei "waren bestimmt mikrorephal, d. h, ihre K'jpfe waren kleiner als das Nornialnials. Sieben, also etwa 33 % der Oesamt- zahl, hatten um^egelmäTsige SchlUlelbildung , acht umegelmäisige Gebiehtü- JbSdimg. Sechs hatten mil^bildele Ohr^ neun hatten enge^ hohe, oder imvdlkoinmene Ganmen. FOnf der Kinder halten ausgeaprodhene Seh- fehler, und nicht weniger als dreizehn hatten in einem oder in beiden Ohron eine so entscliiedene Hörschwaehe, divfs sie im gewöhnlichen Unter- richt dnrcl'.riTr^ im Nachteil gegen die normal Hörenden bleiben mufsten. Mit anderen Worten, 60^4 dieser Schüler erreichten ai& Maximiun eine Hörschärfe, zu der niu: 24% der übrigen Schüler derselben Schule und «ieeselben Altera herabaanlEen.

Schlechte ErnShrung sagte ddi als Ursache Ton AnAmie in zwei f ftUen. Sieben wieaen mangelliafte Muskelthätigkeit auL Die erg^ographischen Untersuchungen ergaben Nervenschw&che und allgemein niedrige Leistunga- ifthigkeit.

Vorläufige Schlulssfolgerungen. Dr. Christopher fühlt sich berechtigt, die folgenden Punkte als gewährleistete SchluMolgerungen aus ^ODon Beohiohtangen Ißstzuaiellen:

1. Im allgemeinen existiert eine genaue Beziehung zwischen der körperlichen und geistigen Entwicbeiung dw Kbder, indem die Tariationen in beiden paiallel knien.

2. Die Kraftleistung und Ausdauer der Knaben ist auf allen Alters- stufen gröfser als die der Mädchen, und der Unterschied scheint

mit zunehmendem Alter zu wachsen.

3. Gewisse antlirojioraetrische Bcobachtune^n lassen es nitsam er- scheinen , dals die Frage der gemeinschaftlichen Erziehung der beiden Geschlechter für die oberen Schulklassen nochmals genau ventiliert weide.

4. Die körperliche Entwickelung der Kinder sollte als wichtiger Faktor in der Klasseneinteilung gelten, und namentlich bei der Zulassung von Sdiflletn in die unterste Klasse emstliöbst in Berücksicihtigang gezogen werden.

5. Die gTofsen Unterschiode in der kninerlicheu Entwickelung der Seiuiler der Oberklassen läfst es wünschenswert erseheinen, dafs das Pensum di< ser Klapsen mehr elastisch gestaltet wird, um individuelle Anpassung mOglich zu machen.

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Eii^g» Beanliato der Kindetfonehiuig in den Ghieagoer Sdholen. 231

6. Turnklassen sollteu auf Grund körperlicher, nicht geistiger £nt- widLelung eingerichtet wevdeo.

Als HaaptBchlii& aber sieht er den, dab ForBchuogen wie die eben beschriebeiien dorchaiiB in das Gebiet der SchtüverwalUmg gehOren, bo dafn sie unter den Auspicica aller SohnlbdiOrdeD betrieben werden sollten. Zinn SeliliiJs fügt er einige BcmerkiiDgen fiber das Oebiet hinzu, welches diese For-chtingen decken sollten.

Ans semeu Bemerkungen will ich die folgenden hier nnfrdiren; er sagt:

»Es wird jetzt iülgömeiu zugebtauden, dafs eine Aufgabe der Erzieliuii^ darin besteht, die Fähigkeit der Sinne richtig anlzufwaen, zu entwickeln. Za diesem Zwecke sind in das Sehiüprogramm Natorkunde, Singen, Zeidmen, konsfaruktiTe Th&ti^Deit, wie Haüdfertigkeitsuntenicht, etc. auf- genommen worden. Es i?t hier nicht beabsichtigt, zu beliaupten, dafs der ganze Nutzen dieser Unteriichtszweige in der SiunosbilduDg besteht, aber dieser ist der Faktor, den ich im CTOL'enwjii-tijTen besprechen will. Die Holzai-beiten, welche die Schiller im Handfei-tigkcitsunterrichte anfertigen, haben niciit den Zweck, die Kinder zu Tischlern oder Zimmerleuteu zu machen, noch wSren sie dazu im stände. Aber das Aoge wird geübt, wiiUidie Entfetsnngen su messen und zu vergleichen: der Tastsinn wird entwickelt, der Muskel- und der Oelenkstun erhalten Übung. Bedeutende Oeldsummen werden jährlich fflr solchen Unterricht ausgegeben, und es erscheint wfinsclienswert, genau nachzuweisen, dafs und ob der Unterricht seinen Zweck erfiillt Freilich geben die Resultate dos Unterrichts, d. h- die gefertigten Gegenstände, in rohen Umrissen Aufklärung über die Nütz- lichkeit der Übung; aber es ist klar, dais passend arrangierte Prüfungen der SImiessddrie dinch Beobachter, deren psychologische Studien ihnen eine umisssende Kenntnis des Umfanges der Abweichungen und der Grenzen der imtei'sucliteu SinnesvemQgen Tennittelt haben, die Frage mit viel gröfserer Genauigkeit beantworten kQnnen* Solche Untersuchungen, angestellt an ganzen Gruppen von Schülern, werden voriaisliche Daten liefern, welche uns erlauben, die Wirksamkeit der veischiodencn Formen des Handfertigkeitsunterrichts zu beuiieilen. die guten und nachteiligen faktoren desselben zu bestimmeu und im allgemeinen ihren pädagogischen Wert festzustellen, damit aber auch ihren kommerziellen Wert. In Um« lieber Wdse kOonen solche üntersucbungeD dazu fOhren, alle Th&tigkeiten der Kinder zu prüfen, welche zum Zwecke der Sinnesbildung eingeführt -worden sind, ihre schwachen Punkte zu ermitteln und die Ursachen der- aeiben zu ergründen.«

»Die Schüler der SfieziaJklassen bieten ein besonderes Prol)lem dar. Zwischen noimalen Kindern und solchen, die wegen ausgesprochener Geistesschwäche in Staatsanstalten geschickt werden müssen , steht ein gewisses Kontingent, welches in den Sdiulen selbst gehandhabt werden mu£B; es sind die besonders dummen Kinder, der Schrecken der Lehrer und eine fortwährende Qe&ihr fOr die normalen Kinder. Diese Kinder sollten in Spezialklassen versammelt werden. Ihre B< liandlung verlangt eine genaue Untersuchung jedes Individuums dtu-ch einen psycliologischen Experten, am die Eigenart imd den Umfang des Defekts festzustellen, und

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B. Uitteiliiiiigeii.

80 den liehier, seineneitB in sdnem Berufe besonders fUiig sein sollte, und im stände, den Bericht des P^^ychologen durchaus zu vecstdasn, in

stand zu setzea, seine Arbeit den Bedüi-fnissen des Kindes anzupassen. Bei einer Anzahl dieser Kinder ist der Fehler auf dem Gebiete der Er- nflhninp zu suchen, und liegt sonach aufserhalb der Wiikuugssphäre der Schulbehörden. Bei andereu siud es Fehler in der OrganisatioQ des Ner\*eu- Systems. Diese ietzteron kSonen vie fidgt klassifisiert irerden:

1. D^ekte in den zum Qehim und Sfickonnaik fOhrenden Yeibindungs- wegen d. h. Defekte in den Sinnesorganen und deren NerrensliSngen.

2. Defekte im Oohim selbst:

a) Defekte der Gehirnstruktur.

b) Eninhnuigsdofekte:

1. Auänie (Blutleere);

2. Yerliungening (der NerTensentren);

3. EnnÜdnng;

4. Toxämie (Blutvergiftimg, d. b. in ihrer Wirkung auf die

Ernährung des Gehirns).

3. Defekte in den ausführenden oder motorischen Nerven.

»Für die erstgenannte Klasse von Defekten ist bereits dun;h die sinnesbildeudeu Methoden unserer Schulen einigerma£sen Vorkehnmg ge- troffen. Jedoch ist es notwendig, fOr defektive Kinder diese Übungen aus- sudehnen und sie in Torsfl^chster Weise zu lehren. Für die Struktur- defekte kann die medizinisohe Wissenschaft keine Hilfe gewähren. Die einzifre Hoffnung liep^ in erziehlichen Einwirkungen, und glücklicherweise u\h.t diosf lioffinnit; auf sicherem Grunde. Von den Ernähnmf»sdefekteii kommt nur dos Element der Ermüdmig in den Bereich der Schulthätigkeit, -während die anderen dem Arzte überwiesen werden mllssen.«

»Zur Behandlung von Motordefekten dienen im wesentlicfaen die kon- struktive Handfeitigkeit und die erziehlich organisierten Spiele, wie sie jetzt glücklicherwoist' in den Schulen mehr imd mehr Aufnahme finden.«

Wenn es die Füicht de? ^^t^atos ist, normril'^n Kindern Elrziehungs- gelegei dielten zu bereiten, so i t ^ ^ beine duppelto Pfliclit, für diosn von der Natur weiui;« i Begünstigtcu zu sorgen, und solche Fürsorge kauu nur dann riditig geschehen, wenn sie auf genauem wiseenschaftlicbem Fand»> mente ruhte

>Ein anderes Feld, auf welchem die Kinderforschung in der Schule Di»'Il^to leisten kann, ist das Studiiun der Schtdschwänzor (truants). Deren Eigentümlichkeiten sollten ebenso genau studiert werden wie die der Kinder in den Si)ezialklasseu. Es ist mir unmöglich eiuzüsehen, wie es müglich sein soll, eine Anstalt für diese Klasse voll Defektiven richtig zu leiten, ehe nicht die körperlichen EigeutOmlichkelten derselben grOndlich erforsofat worden 8ind.€

Dem Wunsche, mit welchem Dr. Christopher seinen 6eri<^t schlieÜBt,

nämüch dafs das ><• erfiCHlich begonnene sej^ensreiche Werk in passender Weise fortgesetzt und zu einer dauein'len Eiiuichtung der Schulverwaltung gemaclit wurde, kann man sich nur ausehlieisen. Clücago steht ja nicht absolut sllein in diesem Unternehmen. Auch anderswo, namentlich auch iu

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HL SohwfliieiiBohe Konfeieiu für it» IdiotenwMM».

233

New-York, sind inta^essaate Versuche nach dieser Bichtuüg gemacht und manche hodibedenfsame Resultate yenseidmet worden. Besondere in Ver- bindung mit den Ferienachnleu irarden solche Beebachtiingen angestellt lind berichtet Immerhin muTs man der windigen Stadt des Westens den Riilim lassen, dafs ihre Schulbehörde die erste war, welche ein eigenes Departement zur systematischen Kinderforschuug eingerichtet hat. und unter ihren Büi^geru hinwiederum Herr Dr. Christopher der bei^mdere Vetfeditor und erfolgreidid Durbhsetaer dieiser Idee. HQge die feinere Aibeit auf diesem QebisAe reichlidhe FrOchte tzagenl

4L HL SobweiseriBolie Konferenz ffir das Idiotenwesen.

Am 10. und 11. Juni fand in Burgdorf die III. Schweiz. i^.oüicrcuz für das Uietenwessn statt, naohdem seit der IL Eonferens in Aanu 2 Jahre verflossen wann. Dank dem immer vachsenden Interesae, das

bald allerorten der Erziehmag der geistesschwaoben Kinder entgegengebracht wird, sowie der Thätigkcit des Ortskomitocs wie des Konferenzvorstandes, war die Beteilicr^iTitr eine recht erfreuliche; wohl etwa 150 Lehrer, Lehre- rinnen, Arzte, An^^talt^viustoher und Mitglieder von eidgenössischen, kanto- nalen und koiumuiiaieu SciiuiL»eiiorden fanden sicii m Burgdorf ein.

Br. Gangnillet in Borgdurf erinnerte in seiner Begrfitsung an die TUttic^t PsstaloEua im Scfaloese za Bm^gdorf nnd an die Entstehung des Buches: »Wie Qertrud ihre Kinder lehrt«. Hisranf hielt der Präsident der Konferenz, Sekundrtrichrer Auer in Schwander. don einleitenden Vor- trag über das Thema: Entwickehing, gegenwärtiger Stand und Ziele des schweizerischen Rotlungswerkes für die unglückliche Jugend. Es dürfte die Leser der Kinderfehler aus dem mit groHsem Interesse angeh8rtsn Vortrsge bssonders derjenige Teü interessieren, der über die in den letzten zwei Jahren erzielten Fortschritte berichtet.

eidgenössische Statistik vom Jahre 1897 hat gezeigt, dafs das Rettungswerk für die schwachsinnigen Kinder noch in den Anföngen steht Seither ist an vielen Orten rührig gearbeitet worden und die letzten Jahre haben schon manchen schonen Erfolg gebracht Es sind etwa zehn neue Spezialklassen für Schwachbegabte entstanden, so dafs die ZaU derselben In der Sdiweis nnn 55 mit nind 1000 SehOlo» betragen dürfte. Die Stadt Zfirieh hat einen Anfang gemacht, durch Zusammenziehung mehrerer Sammelklassen zu mehrstufigen Hilfsschulen den Unterricht fflr Schfller und Lehrer erspriefslicher L^estalten. Höchst erfreulich ist e?, dafs der Ge<lanke, Schwachbegabte Schüler in Landgemeinden durch besonderen Unterricht m IS achhilfestunden soviel als mCglich zu fordern, in zwei Kantonen mit grorsem Erfolg Yendrldicht weiden ist; in Appenzell A.-Rh. bestehen 11, in 8t Gallen 14 Kachhilfslrlaseen. Audi im Kanton Bern int es vorwIrts gegangen; die Zahl der Hilfsklassen hat sich seit 1899 mehr als verdoppelt und ist von 6 auf 14 gestiegen. Neben Bern, Burg- dorf und Thun besitzen nun auch Langenthal and Lyfs solche; Langnau und Huttwyl werden bald folgen.

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B. ICtteflniigeii.

Die vor dem Jahre 189D g-egrfmdetea Ekuehnngaanfitaltcn fQr schwach- sinnige Kinder (Kellerscho Anstalt Hottingen, ^Hoffnnngs Basel, Weifsen- heim Bern, Hoffnung« Bern, Bühl Wädcnsweil, Asyle de l'speranc^e a Etoy Waadt, Regensberg Zflrich, Biberstein Aarau, St. Joseph Bromgarten, Friedheim W'einfelden, Mariahalden, iüienbach, Kriegstetten SoloÜium und Uatunea Thnrgau) haben Bioh auch aeither ia gedeihlichster W^ae eat- wiokelt und an ihrem inneren und AuHnven Auabau geerbdtet Alle sind bis auf den letzten Platz gefüllt, so dafs Anmeldungen oft erst nadi langem Warten berücksichtigt werrlon können. Ihre ökonomischen Ycr- hültnisse sind gesichert, dank der Opferwiliigkeit Privater und der Unter- stützung des Staates. Wir konstatieren mit grofser Freude, dafs in den letzten beiden Jahren sich vier neue Anstalten aufgethan liaben. Es sind diea die Anstalt in Kienbeig bei Qelterkinden in fiaseUand» denn Er* richtung durch die Handachin-Stiftung erleichtert wurde; die Anstalt in Masans bei Chnr, das würdige Denkmal der Calvenfeier des BönrinorvoUffli; das Pestalozziheim in Pföffikon, Kt. Zürich, das Werk der Gemeinnützigen Oesellschaft des betr. Bf>7irkes, und die Privatanstalt des Herrn Widmer, das Asyl »Schutz« bei Walzenhausen, eine Ptlegeanstalt fOr bildungsun- flUiige Kinder. Ihuea allen bringen wir ein herzliches »Glückauf« entgegen. Die Zahl der Bohweis. Anstalten ist damit auf 17 gestiegen; in ihnen können 750 ZOglinge ünterkuuft finden.

In mehreren Kantonen haben die gemeinnützigen Kreise an der Gründung von Anstalton gearbeitet, aber noch keine praktischen Erfolge erzielt. Dies gilt vor allem vom Kanton Bern. Gegenwärtig beschäftigen sich dort die Behörden mit der Verlegung des bemischen Lehrerseminars von Hofwyl nach Bern. Im Auftrage der bemischen Armendirektioii haben die Herren Rektor Dr. Eauftnann in Solothum, DirektionaprSsident in Kriegstetten, Direktor K. Kölle in Regensberg, und F. Rüfenacht^ kantonaler Armeninspektor in Bern, ein gedrucktes Gutachten ausgearbeitet und darin den Beweis geleistet, dafs das bisherige Seminargebäude in Hof%vyl eich für eine Erziehungsanstalt für schwachsinnige Kinder ganz vorzüglich eignet und für 120 Kinder hinreichend Kaum bietet, ohne dals für bauliche YerSnderungen erheUiohe Kosten aufgewendet weiden mtUbten. Auch in den Kantonen Locem und 8i Gallen dtlrfto die auf GrOndong von Anstalten hinzielende Bewegung bald zum gewünschten Ziele führen, da für diesen Zweck auf freiwilligem Wege bereits 10,000 resp. 40,000 Fr. gesammelt worden sind. Im Glarnerlande miil'sten sich die Freunde unserer Bestrebungen mit Kücksicht auf das glamerische Lungensanatorium ziemlich passiv verhalten. Nun dieses üuanziell erstarkt und sein Betrieb geeidiert ist, kann und wird die GrOndung einer kantonalen Anstalt fQr Schwaohsinnige mit aller Eneigie betrieben werdeu, im festen Vertrauen auf den gemeinnfltaigen Sinn der Bevölkerung, die in wenigen Jahren Ii: verLtltnisrnrifsig grofse Summe von 225,000 Fr. für die rTeilst<1tte für Lungenkianke aufgebracht hat, sowie auf die kräftige ünt nstützuug durch die Regierung. In zwei andern Kantonen, in deren Hauptstädten Spezial- Idaesen fOr Schwachbegabte bestehen, empfindet man das Bedürfnis, für die geistig zurfickgebliebenen Kinder in den Landg«neinden besser sa

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m. Sehwoiserieoiia Eoniemis fflr das Idiotanweflen.

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aocgen. Im Orofigen fikt Kantons Vaadt ist gegenwärtig

anhängig, die verlangt, dafo in ttUen Schulgemeinden mit mehr als 6000

Seelen Spezialklassen errichtet werden. Der Grofse Rat des Kantons SchafFhatisen hat in seiner Sitzung vom 28. Dezember 1 900 dem Erziehungs- rate die Weisung erteilt, zu prüfen und darüber Bericht zu erstatten, wie die separate individuelle Erziehung schwachsinniger Kinder in allen Schulen des Kantons bewerkstelligt werden kOune.

Ifit Benig auf die Versorgung der bildnngsanflhigen Kinder war die Schweiz bis jetst fast ausschliefslich auf das Ausland, speziell aui Württem- bng, angewiesen. Es ist daher zu begrüfsen, dafs in Zürich ein Initiativ- komitee diesem Mangel abhelfen und eine grßfsoro zürcherische Anstalt für blöde Kinder errichten will, die vorderhand fi\r 50 Pfle^'linge Raum bieten soll. Den Grundstein zu diesem Werke bildet ein Legat des Herrn Hober seL in Hansen im Betrage jtm 25,000 Fr.; mCge das von diesem Hensohenfreand gegebene Beispiel von anderen befolgt werden!

Die angeführten Thatsadien beweisen, dafs in den beiden letzten Jahren im schweizerischen Idiotenweeen recht schöne Fortschritte erzielt worden sind; doch bleibt noch viel zu thun fibrip:. Wir denken dabei namentlich an die katholische Schweiz und an mehrere romanische Xantone, die in der Sorge lür dxc anormal beaolagten Kinder hinter dm übrigen Teilen unseres Vaterlandes nraokgeblieben sind.

Des erste Thema: Die eidgenossische Statistik Aber die geistig snrückgebliebenen Kinder, was lehrt sie und vie ist sie weiter zu führen^ Iphanf^olto Dr. Ganguillot, Burgdorf, vom Standpunkte des Arztes aus, an der Hand einer Reihe ausführlicher, individueller Thesen. Der moderne Staat hat die Aufgabe, auch für den Unterricht und die Er- ziehung der geistig abnormen Kinder zu sorgen, damit dieselben nicht Terkflmmenw ihren Uitmensdhen sar Last fkllen und ein tranrigss Dasein fBhien müssen. Die ZsU dieser Kinder ist in den Terschiedenen Landes» gegenden ungleich; dieser Umstand wird naoh Untersndiungen von Prof. Kocher in Vprn und Dr. Bircher in Äarau verursacht durch den mancherorts verbreiteten eudemischen Kretinismus, der als eine Er- krankung der Schilddrüse betrachtet werden muls und durch gewisse geologische Bodenformationen stark beeinfluIJst wird. Sodann verbreitet M der Beferent Uber die riehtige Art der FQrsorge fOr die verschiedenen Kat^rieen dieeer Kinder, redet dann aber besonders den Bestrebungen das Wort, welche auf das Studium der Ursachen, die Verhütung und Be- kämpfung des füdemischen Kretini^rmT? hinzielen. Die Untersuchung der ins schulpflichtige Alter gelangten Kinder ist fortzusetzen, und zwar soll im Laufe des zweiten Schulquartals die Voruntersuchung, die sich Pmfong von QehOr, Sehschärfe, geistigen Zustand nnd Sprachgebrechen «ntreckt» durch die Lehrersohaft stattfinden; nachher nntemimmt der Arzt im Beisein der Lehrerschaft nnd, wenn möglich, der Mutter oder Väter die Hauptuntersuchung, woran nur die Kinder teilnehmen, weiche in der Voruntersuchung als sicher oder zweifelhaft mit Gebrechen behaftet gefunden wurden. Der Befund soll besser verwertet werden als bisher. Endlich sollte eine besondere Statistik der in den Uiifsklassen

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B. Hitteölangeii.

für Schwachbegabte und in Anstalten für Schwachsinnige onteigebraditaa Einder vorgenommen werden.

FQr diese EnquMe unterbreitete der erste Votant Dr. Ouillaume, Direktor des eidgen. statist. Bureaus, den anwesenden Anstaltsvorstehem ein Fragenschema, das atich angenommen wird. Er unterwirft die Er- gebnisse der bisherigen Untersuchungen einer Prüfung und konstatiert, dab wir in der Schweiz nicht schlimmer daran sind als die meisten Linder Europas ; er befOrworlet ]^»haft die Sohaflon^ tou Sohnlftrztes. Nach kurzer Diskussion werden in etwas verftnderter Form die Sohlure- anträge des Dr. Qanguillet gutgeheifsen, wonach der Bund 1. um Unterstützung von üntorricht und Erziehung der Schwachsinnigen, 2. um Fortführung der alljährlichen üntersnehung nWpv ins schulpflichtig© Alter tretenden Kinder, 3. um eine eingehende buustik der in Spezialklassen und Anstalten versorgten Kinder (Wesen und Ursachen des Sdiwacdisinns) eiSDOfat wird, und 4. die Fofderang der EinfOhning Ten SchniSnten am- gesproclien witd.

T^ie zweite Yeraammlung wurde eröffnet mit einem Nekrologe von Lehrer A. Fislcr in Zürich, des Gründers und Förderers der Spezial- klassrii für Schwachbegabte in der Schweiz. Sodann sprach Direktor K. üoiie aus K^enßberg über das Thema; Wie sind firziöhuug und ünterriol&t in den Hilfalclaaaen fftr Sohwaohbegabte und in den Spexialanstalten fflr Schwachsinnige an gestalten, damit diese Einder für den Broterwerb befähigt werden? Für welche Be* rnfsarten eignen sie sich am besten?

In klarer, treffender Weise definiert er das Wesen des Schwachsinns als eine durcli Verkümmerung des Gehirns entstandene Hemmung der geistigen Entwickelung, welche das Unvermögen zu unterscheiden, zu acfalielisen nnd au nrleilen aar Folge bat Der Unterricht hat darum dnrcb einfache g3rmna8ti8cbe Obimgen, Form-, Farbe- und Zahl-Cnterscheidnngai, durch Sprach' und Thätigkeits- Übungen Begriffe sa entwickeln und den Schüler nach und nach zur Selbstthätigkeit und zum Urteilen zu bringen. Neben den eigentlichen Schulfächern ist der Ilandfertigkeitsunterncht ein Hauptbildungsmittel, der zunächst nicht auf einen Beruf vorbereiten, sondern die Koordinationsstörungen beseitigen und die geistige £kit- wiekelung iOrdem soll. Welcher Art die Handarbett sei, hingt tqd. den lokalen Verhältnissen und vom Lehrer ab. Bei der ünselbstlodigkeit der Kinder läfst sich der landwirtschaftliche Betrieb in gröfserem Mafse nicht mit einer Anstalt verbinden. Da der geistif^ «schwache Mensch auch moralisch zurückbleibt imd der Schwachsinn nie geheilt werden kann, so geht dem Schwachsinnigen eine richtige Beurteilung der Lebensverh&ltnisse ab; dämm aoU deradbe in eine Beruftart eingeftthrt werden, in der er nicht selbstSndig, sondern unter Aofticht arbeiten mnft. I)asn eignen sich am besten die Landwirtscl aft und die Fsinrikarbeit

Der Korreferent, Direktor Heimgart ner, Masans b. Cbur, führte ans» wie die einzelnen Übu ncon zur Stärkung des Muskelsinnes, zur Erschliofsung der Urteilskraft zu betreiben seien, wie die Handarbeit als Bildungsmittel im einzelnen zu verwenden imd mit dem übrigen Unterricht zu verbinde

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Ellalä des preuikiäcbeii Ministers der Medizinal- etc. Angelegenheiten. 237

sei. Er betont don hohen Wort der Bildungskiirse für Lelucr der Anor- malen und fordert, dafs bei Aufnahme in die Hilfsklassen die untere Grenze höher hiuaufgcsetzt werde. Die Diskuäbion berührte die Notwendig- kat eines PktronatB fOr anstratande Zöglinge, den kunen Yerbleib der Sdifllar in AnetaUeD, den Leiaerwecbeel an diesen, die EinflUming der Seminsristen in den Unterricht der Schwachen, Ideon, die sieh wohl für eine nfichste Konferens ak Themata eignen würden.

Als letztes Thomn war auf der Tagesordnung: Sorj^e für die ver- einzelten Schwachbegabten und schwachsinnigen Kinder in kleinen Gemeinden, daB von den beiden Lehrern Althorr, Trogen und David, Walienstadt, behandelt wmde. Altherr berichtet, was in ApenaeQ hisrfSr gesobsbe^ NsohhilMonden von 11 12 Uhr» 1 2 Uhr, 4^6 Uhr, abends oder an Men Nadinuttagen, nnd David in Shnlidher Weise aus St. Gallen, indem er der gesonderten nnteniditlichen Behandlung der Schwachen in der Morgenstunde das "Wort redet, und für Schulen mit mehreren Lehrern den Versuch empfiehlt, dnreli Verteilung der Fächer Zeit zum besonderen Unterricht der Schvachbefähigten zu bekommen.

Am Schlüsse der zweiten Versammlung wurden noch einige Geschäfte erledigt. Die Konferenz wird einstweilen in der freiwilligen Form ohne Stttnten und Jahresbeitiag wie bisher fortgeführt; in der Begd soU alle 2 hütM eüie Venammlnng stattfinden, die nidiste im Jahre 1903 in Luzem. Kor Vorstand, aus 11 Mitgliedern bestehend, wird für vier weitere Jahre bestätigt und die Herau^be eines gedruckten Eonferenz- berichtes beschlosson. Derselbe wird im September erscheinen. Kurz sei noch erwähnt, dafs den Teilnehmern an der Burgdorfer Konferenz auch andere Genüsse zu teil wurden, wie ein prächtiges Konzert, ein froher Unterhaltungsabend und eine fröhliche l^ahtt ins schöne Emmenüiai, der Bieimat Jeramiaa Qotlhelfe.

Zürich. H. Oraf.

S. BrlaOi des pTeafidsohen Hlxiisters der MediBinal- eto. Angelegdiüieiten vom 22« Märs 1901

an slmtliohe Ednigliehe Regierungsprftsidenten.

Es hat sich als erwünscht herausgestellt, dafs diejenigen Anstalten Ar jugendlidhe Epileptiscihe und Idioten, in wölohen ein geordneter Sohnl- oatsnieht erteilt wird, neben der dnroh die Anweisung ^001 20. September 1895 M. d. g. A. M. 8234 H., M. d. J. H 10546 U., J. M. I. 5003 U., jetzt vom 26. März 1901 M. d. g. A. M. 5020 M. d. J. 2311, J. H. I 1853 angeordneten medizinalpolizeilichen Aufsicht auch in schnl- technischer Beziehung soweit erforderlich überwacht werden.

Hiemach ersuche ich, diese Anstalten nach Bedürfnis auch durch die schultechnischen Organe der Kegierung revidieren zu lassen. Bei soleher Besichtigung sind die Berichte der Besnchs- Kommission so be- rtcksiehtigen; ebenso ist das Ergebnis der pädagogischen Prüfung lu- nAchst der Besuchs -Kommission zugänglich zu machen imd demnächst bei der jfthdichea Einrefobung der Berichte deiselben den letsteren beisufOgen,

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a littetatar.

Endlich wird es sioh empfehlen, vor Anordnung eingreifender Mafsnahmen auf Grund der sohultechniflohen Berieioiieii neben der referierenden oder korreferierenden Beteiligong des BogierttngS' und Mediamaliaii erüordeE^ liehen Falk anoh die Besodis-Koniniieeian in hOren.

(gel.) Stttdt

Eino Frage der Schrif tleitu ng: Wamm wird statt einer zwie- spältigeu Beäuchakommission nicht eiue einheitliciic aiigm>rdü6t, be- stehend ans enuehungstecbnischen nd medisinalteohnieohen Personen? Sollen denn diese Eniehnngsanstalten nie herauskommen ans dem Wider- streit beider Berufüstände? Oder ist ein korpoiatives Zusammenwirken in Preufscn nicht mehr denkbar, so dafs die Schoi noinheit sich nur noch bureaukratisch durch die Aktenbearbeitung seitens eines auf beiden Ge- bieten nicht fachmännischen Juristen herstellen Läfst? Tr.

6. Haarkranklieit bei Eindam.

Im Jnli d. J. trat in M.-Okdbach eine Haarkrankheit^ Triobophytie, epidemisch auf, welche vielfach Eahlkdpfigkeit yemrsaohta b Lürrip waren

etwa 20 schulpflichtige Kinder von dieser fi^snkheit befallen, so dafs die Knabenklassen der Schule an der Neufserstrafse am 17. Juli geschlossen worden sind. Auch bei Kindern, die noch nicht schulpflichtig sind, oder solchen, welche der Schule entwachsen sind, wurde die Krankheit be- obachtet. Zur Bekämpfung der Seuche sind laut Gl. Ztg. von der Behörde eneigisohe Mafsnahmep getroAbn worden. D. a. ist eine Pdliiei-yetQrd« nung betreffend die Ausübung des Friseui»-, Barbier« und Haarsohneide- Gewerbes erlassen werden.

C. Litteratur.

Paul Natorp, Pädagogische Psycho- logie in Leitsätzen zu Yortrügen, gehalten im Kursus wissenschaftlicher 'Voi]enuige& fir Lehrer vaaA Lehre- rinnen SU Harbnig 1901. N. 0. £1- iK'ert'sche Verlagsbodihandlimg. 19 8. Was Natorp in seinem Büchlein bietet, ist nur eine bictilcttartige Dar- stellung dessen, was er in seinen Vor- leeoBgen einem grofiwn ErelBe aufmerk- samer Zuhörer aus der Lehrerschaft in ansfidirlichc I "NVciso gab. Das Schrift- chen ist wotü auch zunächst dazu be-

stimmt, denjenigen, welche die botreffen- den Vorlesungen seilest gehört haben, die Hauptpunkte der psychologischen Er- örterungen nodi eluiial ins Gediofatais zurückxwmfen besv« sie auf die spimgen- den Punlcte aufmerksam zu machen. Alle anderen Leser erhalten in dem Büchlein von 10 Seiten eine magere Kost Wer es mit Nutzen gebiandiai wiB, mub rieh erst für eine Anschanungsgrandlage soigen. Das Stadium der VTerice Natorps »Eün- leitnng in dio Psychologrie nach kritischer Jjethode. Freiburg 1880«, der »tiozial-

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G. Litteratur.

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pSdagogik«, sowie der Artikel »Grund- liuien einer Theorie der Willeosbildung« (Archiv für byätematischü Philosophie im) vaA »Vmensbildang« in Bauu »nicylLHaiidbiubderFidagQgikc (Bd.Tn, 8. 639) dürfte ausreichend sein, um über die psychologischen und pädagogischen inschatinngea Natorps genügend zu orieotierefi.

Natorp sQoht mnachBt die dnioh die Herliaitianer in Kon geeetsta Bedeweise IQ berichtigen, dafs die Ethik das Ziel nnd die Psychologie den "Weg der Er- ziehung bestimme. Die Erziehung er- streckt bich auf alle Seiten des seelischen Ubeae. Doroh die Elbik allein baui älao die Auflgabe der Eniehnng nicht be- stimmt sein, da sie unmittelbar nur die Gesetzgebung für den Willen euthiüt. Die Logik, als die Gesetzgebung des Denkens, uud die Äbthetik, ak die Ge- setzgebung der frei gestaltenden Fbantasie, Müssen notwendigerweise hinzutreten (ofr. auch Sully, Handbuch der Psychologie. S. 6 u. 7). Die Leistung der Psychologie für die Erziehungslehre besteht nach Katorp in der mügüch&ten Individua- liaiernng der Ersiehnngsaufgabe. Sie soQ ericennen lehren, wie im gegebenen einzelnen Fall in der Praxis zu verfahren sei.« Dio moderne »Physiologische Psy- chologie« erweist sich zu diesem Zwecke als ein onzuveilässiger Führer, da sif' ja aadi nw geoerelle Lehren erteilt, ■von denen eine duekt fraditbare An- wendung in der Praxis zur Zeit kaum möglich ist.« Wohl aber mufs der Er- zieher die Bestandteile des meubchlichen Seelenlebens überhaupt und die Grund- gceetie ihrer Teibindiing kennen, nm die Beobtditnngen in der Praxis sofort richtig n deuten und ihren Zusammenhang rasch und sicher aufzufassen. Nichtsdesto- ^iuiger bleibt die Hauptsache der päda- gogische Takt.

Nach Katorp ist es nnn fOr die P&- da^togik Ton höchster Wichtigkeit, sich klarzumachen, wie die Wahrnehmung diese ente nnd TieUeicht grübta nnd

.sch'^rprstio aller geistigen Schöpf nngpn, im friiiiLSit'U Stadium der Eutwickelung in last reiner Selbstthätigkeit, erst aHnlhUcb mehr und mehr nnterstützt dondi den Yerkehr mit der Umwelt, yon jedem normalen Eindc vollbracht wird. Das Wesen der Wahrnehmung liegt keines- wegs in dem rätselhaften Emp^nden, sondern in dem Akte des Bestimmens, der Elxienmg, derFeetatellnng des geistigen BUckes auf ein länxelnea. Snlly aeigt viel klarer als Natorp, tun was es sich hier handelt, (cfr. Kap. VHI, »Wahr- nehmung durch die Sinne« in seinem llaudbuch der Psychologie.) Der Prozeß der Wahmehmnng Übt nach Snlly swei TeQe eriteanen: 1. Die Behenaohimg dea Sinnesmaterials, 2. Die Auslegung des- selben. Die Beherrschung des Sinnes- materials vollzieht sich in den beiden Stufen der DÜIereozierung uud der Aasi- mihition der ShmeaeindrftcJKe. Diese ele- mentaren Benehnngsfonktionen führt der Mensch nicht allein im Wahrnehmen, sondern auch bei jeder intellektnellen Be- thätigung ans. Xat.h Natorp arbeiten »die konstruktiven lüemeute des Denkens in der Wahisehmong nnd bringen den liTahmehmimgagegenatand selbst erst zn> Stande.« Nato rp redet hier als Kantianer. r>n'; Schöpferische in dem Akte des Wahr- nehniens ist das a priori, die beziehungs- setzeudo Thätigkeit des Bewulstseins. Mit der AnsbOdong d«r elementsroi Be- aehongsfnnktionen ordnet ^ch das Chaos der sinnlichen Empfindungen. Wir hiitteu keinen Zusammenhang unter den Ein- drücken, wenn wir die sinnlichen Em- pfindungen nicht allgemeinen Au£faS8nn|^ weisen nnterordnen Ic&nnten (dem a priori); von diesem apriorischen Faktor hätten wir anderei^ts jedoch auch wieder kein BewuMsein, wenn uns nicht ein Stoff (das a pro.steriori) gegeben wäre, welcher das Wiiksamwenleu jeuer apriorischen Funktionen veranlaGste. Das reflektierte BewnÜBlsein der konstniktiTen Elemente ist jedoch wie Natorp richtig be- merkt — dem erst mitten in der Schöpfung

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der 'WahrDehnrangsiralt bogrilfeiieii Siide noch fremd. Aus aeanen Dedoktioneu über die Wahrnelimnng zieht dann Na- torp die pädago^cische Xunsequeoz, dals da» Wesentliobäte bei der meoschlichen Bildung dar Selbstihfttigkeit des Bich bildenden Oeistes und nkht der Hilfe des Endehers znlallt, welche einzig darauf gerichtet sein soll, die Selbst- thätigkeit zu entfalten, ihr die Hindernisse aus dem Wege za xlnineii und sie vor Fehlwegen m belitlten.

Nach der Wahrnehmung ist die zweite grofse geistige Schöpfung, die aller eigent- liche Unterricht uuü alle eigentliche Er- ziehung bchun fertig vorfindet, ,die Sprache. Das SpxsdieDlemen ist nach IJatorp weit entfernt von einem blolsen medianischcn Nacbahmeu. »Das Wort gicbt nicht dcu Begriff; es dient nur gleichsam als äigual, um die Bew^^g des Denkens in eine bestinunte PMifagg an veiaen; ea ist nur die Krodke des Gedankens. Diese Erwägung i5?t geeignet, den Grandfohler des Verbalismus in der Pädagogik aufzudecken und sie an die Pflicht der Befreiong des Zdg]ings an eignem Denken an mahnen.«

Wahrnehmung und Sprache sind die Fundamente aller Schupfungen des monschücheu Vtjrstaudes. Die eigent- liche Verstandesarbeit durchläuft zwei Stadien, die aar Wahmehmuig nnd Sprache in dtatiicher Besiehnng stehen: Anschauung und Begriff. In der Anschauung,' werden die konstruktiven Elemeute, aus deueu i>icli die Walu- nehmnng anfbent, blolsgelegt und in ihrer Reinheit herausgearbeitet In diesem Sinne redet auch Pestalo zzi von einem »Abc der Anschauungen Zahl, Form und Sprache erscheinen ihm als die Ele- mente des Torstellena. Der Weg der YeratandeabOdnng geht nach Peatalozsi ancb durch die Anschauung ziun Begriff.

Natorp unterscheidet im seelischen

Leben zwei HanpfbeaiehQngBrichtQngen:

1. eine Tvichtung anf ein Äufeeres als (ilijekt und 2. auf uns selbst als Subjekt dos Bewufstseins. In der ersteren Be- ziehungslichtung x^^zelt iUu> Wahr- nehmen, Voiatelleo, Denken, in der letzteren das L n s t - und Unlust^ gefühl und das Streben. Zwischen Streben und Gefühl erkennt er nur einen Stufenunterschied. Lust- and Unlnst- gefühl bezeichnet nnr ^ aagenUkddicdie KIsns von Streben nnd Hemmnng. D«a Ziel des Strabena erbUckt er nicht wie der Hedonü?mu8 in der Befriedigung der Lust, sondern nur im unendlichen Fort- scluitt des Strebens selbst (Freiheit des WiUensl) Die WiDeoseffsiehnng bl- endet sich in drei Stufen. Die unterste Stufe besteht in der Diszipliniemng des sinnlichen Triebs. Die zweite Stufe, die Stufe des eigentlichen Wollens, besteht in der fortgesetzten Konzentration der Iktivittt, in der steten E^ordnung des im besonderen Erstrebton in ein System. Die dritte Stufe ist die bewuTste Erbebang des Willens zum Standpunkt dea unbedingt ailgememen Oeaetaes, die Vernfinftigkeit des Willena oder die Sittlichkeit Die Eniehnng des Willens beruht auf Übung und Lehre, welche sich in einem und demstilbeu Grundelemente, der Gemeinschaft, ver- binden.

Für die ästhetische und religiöse Haltung des Gemüts bildet das Gefühl die psychologische Grundlage. Es i.st charakteristibch, da& Natorp äeiu«i Au:>- ^dinngen ftberdas Leben des religi<ysen Oemftts an den Schluls seiner Dednk* tionen setzt Mau erkeunt an diesem Umstände den nietaphysi.<5cheu Deoker. der wohl auch wie Kant die Sehnsucht nach dun Transaradeotaa Mr dn »nn- hintertreibliohea Bedüxütis« der Tezntmft hält

Herborn. Hermann Orünewald.

Dunk

Btjmk Saiiiidiii

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Zeitschrift für Kinderforschung.

Viiliu' v<iH Ili'nii.i*iik Hin«'« A Sffhiio in Ijiiiuoi>vmI/9

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A. Abhandlungen.

1. Oet&QSOhte Siwartcmgeii.

Oedanken eines SchnlmanDeB liber das Seelenleben der Schiller.

Von N. FiTMlIl, Professor der Piidagogik an der üniyexsität Neapel

Aus dem Italienischen übersetzt ▼on Professor P. £. Lsreu in Neapel

m.

Den ersten und hauptsächlichsten Grund finden wir in den ver- schiedenen HaEsen und Spannungen, mit welchen sich unsere Bewegungen frei entfalten. Wenn es das höchste Glück des Er- aehers aosroacht, daJs sein Erziehongssystem auch fähig sei, die grtlltoögUdiste Menge Ton stets guten Empfindungen in Umlauf zu leisen, so branoht man, recht yeistanden, dieeee Glfiok uaaerer Lehr- leit in der Oeeellsohaft durchaus nicht zu wflnschen. Der Erziehung durch die Oeeellschaft mit ihrem kfinstlichen Tkiebwerke unendlicher ^ Ziele und Zwecke, gelingt es unbeabeichtigt und unbewnftt, eine Menge guter und schlechter persönlicher oder geeeüschaftlicher, gött- lioher oder menschlicher, eigennfitziger oder uneigennütziger Em- pfindungen in Bewegung zu setzen, die durch keinerlei k&nst- Üohe Mittel auf solche Weise je erweckt noch entwickelt werden konnten.

SBer wirkt nicht die Erziehung im engeren Sinne, sondern die nitnrgemäbe Entwickelnng unter Aufbietung aller Kräfte zn einer lebhaften Mitarbeit für den Menschen, der unau&örlich fühlt und will Die Schule neigt sich mit Unrecht hauptsächlich zum

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A. AbhandluDgeQ.

Mf n^olien, der überlegt und denkt. Und da giebt es nun freilich Wetsen, eine ganze Gattung von Menschen, deren Verstand nicht leuchtet, sobald er nicht von der Fackel des Gefühls belruchtet wird. Dies ist nun freilich nicht der Verstand, den wir f^emeinhin unter diesem Ausdruck vorbtehen, sondern es ist das Verständnis zu fühlen, aber hauptsächlich zu wollen; es ist das Verständnis, das eines werkthätigen Zieles bedarf, das aber freilich nur durch Praxis erreicht werden kann, wenn es seine Wirkung erzielen soll. Di^'ser Verstand nun hat sozusagen uutig, seine Ziele zu sehen, sie ungesäumt oder wenigstens des Erfolges sicher in die Hände zu bekommen. Derartig angelegte Schüler sind nun jedem Lehrer unter die Hand gekommen, mag es imü sein, dafs sie fleifsig und regsam, waren, geistig trage waren sie immer.

Diese nun sind meistens die unzähmbaren Störenfriede der Klas.se. Da sie selber einen unbezähmbaren Widerwillen gegen alles haben, was Gedankenvorsteliung oder Begriffsbildung jeder Art heifst, wirken sie leicht auch anstockend für ihre Gefährten. £s sind meistens die, welche die bei ihnen Sitzenden plagen und quälen, die unter der Bank ihren kleinen Spielereien obliegen, die die Spott- nnd Beinamen ihrer Eameraden erfinden, ja selbst die eigenen Lehrer xar Zielscheibe ihrer Witze machen; immer sind sie es, die den Mittelpunkt der Kameradschaften, aller FlSne und Bosheiten, der yerschwömngen gegen ihre Mitschüler bilden, wie auch die, die die BädelsfOhrer spielen, sobald ee sich darum handelt, die Schale su schwingen.

Es ist dies alles eine ihrem Verstände völlig angemessene Be- schäftigung. Ihre Kameraden, die weniger abhängig von der Er- fahrung sind als die Lehrer, sind jedoch stete am sie, sie erdrficken sie fast mit ihrer Aditnng und Zuneigung, obgleich jene Ton den eigenen Lehrern sich derselben wenig zu erfreuen haben, und dies alles nur, weil sie sich ihnen durch ihre Thätigkeit und Umsicht, durch ihre geraden und Terständigen Ansichten, wosn sich diese selber nicht tachtig fahlen, wichtig au machen ▼entehen.

Derartige Schüler sind es, die wir gewöhnüch zum Stadium unfähig und untauglich erachten; und wir haben auch nicht gans unrecht, wenn wir der Erscheinung, wie sie uns vorliegt, gegenüber- stehen. Biese stellt sich uns so dar, daJh wir stets eine grölsere oder kleinere Anzahl Schüler bemerken, die aus der Schule Natxen ziehen, weil sie daselbst Verstand und Gedächtnis üben, aber tauäk andere, die bei allem guten Willen und unter Anstrengung der Ge- samtheit ihrer Kräfte entweder gar nicht oder nur in geringem Ma&e dazu gelangen, gleichen Schritt mit jenen zu halten und sich mit

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FoDmoxi: Oettnsohte Erwartangen.

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I

ilmen za Gntwickeln. Darans schliofsen wir dann, da& solche geistes- um msDy wenigstans das, was de zam tfi^Uohen Gebranohe fOr die Sohole benötigen* niobt besitzen, und damit ist für ans die Sache

meistens abgethan.

Die Lehrkunst hat non heutzutage freilich diese Erscheinung einigermaTsen in den Kreis ihrer Beobachtungen gezogen nnd ge- giaabt, solche der Gesellschaft zur Anschauung bringen zu müssen, als sie ihre Stimme erhob :z:pp:on alles rein formale Gedankenwesen, gegen das Lehren durch Begriffe und Kegeln. Die Thatsache wurde damals durch sie ins allgemeine gezogen, und man beharrte darauf, dab der falsche Weg verlassen und ein neuer eingeschlagen werden mfisse. Das auf Erfahrung beruhende Lehren, die Anschauung, die Versuche, das Schlielsen vom Besondom aufs Allgemeine sollten das rein Begriffliche, die Erklärung, die Theorie und Beweisführung er- setzen. Bei diesen neuen Unterrichts-Methoden und Mitteln, bei denen eben der lernt, der lernen will, (und gar viele sind es, die eben immer noch nicht lernen), wurden nun zwei nicht ganz unwichtige Dinge aufgedeckt: erstens, dafs viele Jünglinge, aber mich viele Kinder leichter bei innerlicher geistiger Kraftanstrengung (intensiver Arbeit) als bei erleichterter extrn«:ivor nrboiten, besser und schneller bei theoretisch guter abkünsendor Arbeit als mittels des zerstreuten Empirismus des Anschauungsunterrichts und der Erfahrungswissen- schaft; und in zweiter Linie, dals bei der Erleichterung, die die n^noren Methoden bieten, nicht eine unbedeutende Minderheit, n lern ein guter Teil der jungen Leute dieselbe Unfähigkeit zum 1 < men auch auf diese Weise zeigt, wie sie dieselbe auf die andere an den Tag legen würde.

Die Lösung der Aufgabe ist also keineswegs gefunden, wenigstens nicht in dem Mafse, wie man es hoffte. Die Schüler, die iruher zu lernen verstaudeu, setzen dies auch jetzt noch melir oder weniger gut auf den neuen Wegen fort, die unfähigen bleiben eben nach wie vor unfähig.

Schon Spencer hatte eine gewisse Ahnung von der Unlösbarkcit der Aufgabe, als er behauptete, dafs die Erziehung nur dann und m dem Mafse möglich sei, als uns gegeben ist, unseren Gesinnungen andere Gestaltung zu geben, d. Ii. uns zu gunsten derjenigen Zwecke ein- nehmen zu lassen, die die Erziehung auszufüliren trachtet. Doch aeht er die Sache nach meiner Müiauug zu sehr ins Allgemeine and schiefst daher weit über das Ziel dessen hinaus, was seine «igene und die Erfahrung anderer zuläfst Vor allem durfte er nicht eoUie&en, dafs die £r2debung, als Gemütsbildung verstanden, unmög-

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A. AbhaüdlangeD.

lieh sei; denn die Gesellschaft ist ein gar mächtiger Raum, wie dazu gfeschaffen, die ürnatur dos Menschen sowohl zu entfalten, als um- zugestalten, von den wenigen Fällen des unbesiegbaren Wideij>tandos abgesehen. Biese Entfaltung ist aber, wie gesagt, nicht die Erziehung sondern nur eine Art der Bildung, die manchmal unsere ursprüng- liche Natur besiegt und neu gestaltet Zum anderen ist dem engeren Sonderstand der Schule gegenüber während die Erfahrung uns zeigt, dafs es Schüler giebt, die aus ihr keinerlei Bildung, weder des Gemütes noch des \'ürstandes schöpfen diese Erfahrung völlig unzulänglich, um daraus, wie Spencer that\ die allgemeine Schluis- folgerung zu ziehen, dafs durch den Unterricht sich überhaupt keine Gomütsbildung erzielen lasse. Und wäre der Unterricht auch gar nichts anderes als nur eine geordnete Geistesbildung, so ist er schon so ein Gebilde für sich selber; wir stehen deshalb nicht an, uns völlig wider die modernen Auslassungen gegen ,die Schulbildung zu erklären. Iiemen wir yerBtehen, die Kenntnisse unseres Oeistas ZQ ordnen, und wir bnndiea Uber ihre Wirkungskraft, die sie anf OemCtt und Sinnesart ausüben, nicht an aweifehi.

Die Griechen waren der Wahrheit weit niher, und ihr unbe- grenztes Yertraaen auf die erziehende Macht der gelehrten Tugend war weit weniger eine Übertreibung als das heutige Milktranen in die Eolgen der Emehong.

IV.

Der gesonde Menschenverstand der modernen Sehnlgesetzgebnng hat anf mehr nnmittelbaze nnd sachventindige Weise die Löeoag der Bngß durch Gründung der Realschulen Tersucfai Von XJran- beginn hat der Bealunterricht keine michtigeren und richtigeren Gründe Berechtigung aufsuweisMi als den Nachweis des Yorkommene praktisch -verständiger und -th&tiger Talente, freilich aber all den theoretischen Übungen abhold, wie sie die Schule fordert Diesen nun wurde beigebracht, dalb es besser sei, mit der Wirklichkeit der Welt und des Lebens Fühlung zu haben. Zu diesem Tertrautwerden mit der Wirklichkeit kann man freilich audi nur duroh das Lernen ge- langen, d. h. durch Nummern, Figuren und Formeln, die im Grunde wieder nichts anderes sind als ebensoviele Geistesübungen, in gleicher Weise, wie man sie auch vorher ffir nicht reale Kenntnisse zu verlangen pflegte; aber gerade nun diese Gattung von Naturen, vnn der wir fl|nechen, hat, wie uns die Erfahrung lehrt, die gleiche Abneignng gegen Mathematik, wie in solche gegen das Griechische besitzt

W&hrend wir jedoch für den Augenblick diejenigen Fertnen

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FoRNKLu: Getauschte £rwartaageD.

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tind Umänderungen, denen die Realschulen der Zukunft imterliVc^en könnten, boiseito lassen, wenn sie nur immer mehr der Besoncierheit desjenigen T;tlontes angemessen ausfaüon, für das sie bestimmt sind, drängt os uns, bei der äonderfrage, die wir uns steilten, ein wenig zu verweilen.

Darf man im all^meinen annehmen, dals die Realschulen auch für viele Talente geeig^iet sind, die, obgleich sie jenen andern des gemoin^^i^men gleichen Trachtens halber gleichen, dennoch sich thätig, gewaüdi und erfolgreicli inner- und aufserhalb der Schule auf jede iiiiiiere Art und Weise zu geben und zu wirken bezeigen? Und sind dieses wirkliche Talente oder nicht?

Wir stellen derartig beschaffene junge Leute nicht selten mit Arbeitsscheuen und Faulenzern, ja selbst auch mit geistig Be- schränkten zusammen. Wohl verstehe ich, dafs es nicht leicht ist, diese von jenen zu unterscheiden und zu sichten, und auch daXs, wis den Gewinn anlangt, den solche aus der Schule ziehen, er so liemlich gleich dem der andern ist Dennoch meine ich, und das ist warum ich meine Stimme erhebe, dab es nfliElich wäre, eine Bolcfae TreDnnng und Üntersohddimg bei der Benrtefliing der SohtUer seitons der Lehrenden za machen.

Die £rkennmigBS6icheii erhält und versteht man gar leicht: die Lebhaftigkeit des Blickes, die ganze Haltung der FerBönlichkeit, die Leiehtigkeit der Bewegungen geben uns idcht selten wichtige Fingei?- Mige. Den besten Aufechlolk jedoch werden wir wolil dadorch er- hatten, dab wir ihr Verhalten bei allem, was sie sagen, thnn nnd treiben, einer stetigen fieanfsichtigtmg unterziehen. Eboiso ist auf ihre Srenndsehaften nnd den Anhang, den sie sich in der eigenen Elasse, sowie in den andern ihrer Freunde erworben, genan acht za geben, Oberhaupt ihr Treiben auch aulber dec Schule zu beachten, wenn es sich um schon ältere Schttler handelt Der Lehrer wird so gsr bald ttber ein Material verftlgen, um sich die Ül>ecseugnng zu venchaffen, dafe dieses ihr Thun auch eine Oeisteethfttigkeit, ja ein Talent ist, freilich nicht für die Schule, aber doch ein Talent, das nch nur schwer mittels der gewöhnlichen Mittel entwickelt, Aber wekihe die Schale TerfOgt, weil es eine Kraft bedeatet, die der Bei- bung und der Wärme bedarf ähnlich dem Kiesel, der um so mehr FUnken sprüht, je kräftiger nnd häufiger die Schläge sind, die er ▼on dem Stahle erhält

Der Schule geht nun freilich diese Reibung, dieser starke Zu- Btinmenatois ab; doch wird ein umsichtiger £rzieher leicht erkennen, dab, wo immer nur ein bischen Beibang stattfindet, bald auch der

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A. Abhundlinngao.

flprfihende Fanken nicht fehlen wird. Die innigen IVeondachaften, das h&nfig hb zur Aa^gelaaeenheit getriebene Spiel, die Sadit sa heixschen und zu geivinnen, sei es selbet dnrofa B&ike und SchwSnke, sohüren nicht selten eine Tbitigkeit) welche die Überlegenheit solcher Uber die HitschfUer abspiegelt

Das genaaeste Urteil, wennginch es auch nnr einen einfschen sditdm&Gugen Wert beeiteen sollte, ist hier immer schon eine nicht an Terachtende Teilzahl einer höheren Einsicht des Lehrenden, einer ▼erstSndnisYolleren und hauptsächlich gerechten BearteUang seiner Slasse. Seine Urteile werden treffender ausfallen und er wird aach weniger getäuschten Erwartungen ausgesetzt sein. So wird er sich nicht mehr, wie es ja schon so yielen seiner Amtsgenossen erging, Aber unTorheigesehene GlttcksflUle und Erfolge seiner Schiller zu wundem brauchen. Aber noch mehr als dies kann man sogar ei^ warten. Aach das Yerhalten wird nnd mn& sich gegenüber solchen Schülern ganz anders gestalten. Denn stehen wir solchen gegenüber, die für geistesarm gehalten werden, so wird es auch dem umsichtigsten Jjehrer schwer, dafs ihm nicht auch einmal ein Wort, eine Bewegung entschlüpfe, die nicht die Meinung, die sich in seinem Innern über eine derartige Persönlichkeit bildete, auch äulserlich ausdrückte, oder wenigstens andeutete. Sobald dagegen diese Annahme der Geistesarmut in ihm keinen Raum gefunden hat, so wird er auch nicht so leicht dazu kommen, selbst ohne Wissen und Willen die Empfindlichkeit dee Betreffenden zu erregen. Und wie oftmals wird überdies ein be- stimmtes und klares Urteil des LehroT^ über die vorgebliche Geistes- Unzulänglichkeit solcher Schüler dazu beitragen, dafs sie keinerlei Überanstrengung mehr ausgesetzt werden, um sich ans ihrer schein- baren Oeistesträgheit herauszuschälen.

Aber, frage ich, soll ein solches Urteil seitens der Lehrenden nur einen einfach schulmiifsigen übersinnlichen Wert besitzen? Frei- lich darf die Schule keine so ^^rofsen Eigenvorteile, so schwerwiegende Beweggründe für solch thatsäcbliclie und handgreifliche Zwecke, wio es die Gesellschaft thut, begünstigen und wie sie den Zwecken und Beweggründen angemessen sind, die derartig angelegte Naturen bn- nötigen, um nur irgend wirken zu können. Sollen wir uns nun alit-r gänzlich für geschlagen erachten und die Saciie als eine verzweifelte fallen lassen? Haben wir nicht Tielmehr die Verpflichtung, uns an- zustrengen und alle Mittel und Wege aufzusuchen, uur, dafs wir imstande sind, i'erecbter zu nitiMlen und uns eine genauere, einslchts» vollere Erkenutnit, des Übels auzueignen vermögen?

Wenn es freüich Naturen giebt, die, um stetig und auf rockte

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FoBRiLu: OettttBohtd Enrarfamgen. 247

Weise wirken zu können, eines fortwahiondon Zustandes der Auf- regung bedürfen, wvnn andere sich nicht rr.:en als nur in der Liebe und um Liebebhaudel, oder wieder andere uiitluiti^ bleiben, bis nicht ein persönhches oder Geld-Interesse sie weckt, wenn schlielslich kein Mangel an solchen ist, die ihr Talent nicliL auskramen als nur in Gegenwart wii Menschen, vielen Leuten, vor einer Menge und zu Absichten, diu die tap'ta^lioiien Lebenszwecke bei weitem übersteigen, ist es uns dann wirklich erlaubt, den Schlufs daraus zu ziehen, dafe für alle diese Naturen die Schule unter keinen Umstiinden etwas zu tliun vermöge? Ich denke im Gegenteil, dafs sobald der Lehrer ver- stellt, die Eigenart, zu der diese Naturen wählen, kennen zu lernen und zu. enträtseln, er auch berufen und imstande sein wird, ihnen, und zwar jedem einzelnen, die eigene Unterstützung angedeiben zu lassen, wobei er dann in jedem einzelnen Falle mithilft, dals eine Frage ihrer Lösung entgegengeht. Löst er sie dann nicht, so hat er es wenigstens versucht, hat sich bemüht es zu thun, und vielleicht ist es ihm, wenn auch nur teilweise, gelungen; doch hat er in jedem Fall einen Erfolg seiner Thätigkeit, seiner Kunst zu verzeichnen.

Die Frage in ihrem allgemeinen Gesichtspunkte liegt liier nun hauptsächlich in der Sciiwierigkeit, die die Schule stets fühlte und fühlen wird, irgend eine Art von Interesse anzuregen und zwar hauptsächlich eines, das gesellschaftlicher oder werkthätiger Natur wäre, für welches die gewöhnlichen Mittel, über wolche die Schule verfügt, weder angemessen noch gleichartig erscheint. Trotz alledem halte icb die vorgeschlagene Fraw des Studiums aller derer würdig, die sich mit Vorliebe dem Dienste der öchule widmen.

V.

Weit weniger Schuld dürfen wir freilich der zweiten Ursache der getiiuschten Erwartungen, die wir in jugendliche Schüler setzten, in die Schuhe schiebon, als der ersten von uns oben angedeuteten. Sehen wir uns in der That Schul* iii gegenüber, die wir als unge- nügend für die geistige Arbeit erachten, so stehen wir nicht selten mit <]:ebnndenen Händen vor ihnen. Der einzige gegen uns zeiigontie bchuigrund kann nun nicht woh! ein anderer sein, als dafs wir jenen Knaben oder Jünglingen, die bei ihren Mitschülern oder Kreisen, die aufserhalb der Schule stehen, sich so untornoliniend und thiitig bezeigten, nicht zutrauten, dafs in ihnen auch ein beträchtliches Mafs Geistesthiitigkeit vorhanden sein könnte, die, obgleich verschieden von der beeonddis für die Schuiübangen geeigneten, aber freilich

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A. AbbaadhiDgen.

auch xiemlich yerkOiistelten, deanoob eine Oeistesioaft ist» die, wenn sie am rechten Piatee steht^ uns leicht Überraschungen bereitet

Dies auch zugegeben und in Tollster Erkenntnis des Falles, ver- mögen wir dennoch, wie schon dargethan, nur wenig für solche SchiUer

zu thun, und zwar in Berücksiclitigung der eigentümlichen Umstände, die die Schule und die Schularbeiten im allgemeinen stets erheischen« Freilich ändert sich der Fall ganz wesentlich bei einer ganz anderen

Oattung von Schülern, bei den geistig trägen.

Bei den Voraussetzungen und Urteilen über die geistige Zukunft dieser Art von Jünglingen befinden wir uns nicht selten in einem Irrtume, dem ich fast die Bezeichnung »straf ban aufbürden möchte^ wpnn auch die Schuld mit der nichtigen Ausrede sich rechtfertigen lieläe, d als sie allgemein allezeit und von jeher bestanden habe.

Wenn zugegeben wird, dafs solche dem Lehrer von sonst viel- leicht weit weniger zur Last gelegt werden darf als dem der Neuzeit, dem die tieferen und leider immer noch wenig; genug bekannten Kennt- nisse der Seelenlehre nicht mangeln, so darf man darum mit Recht von ihm verlangen, dafs er sich gar mancher falschen überlieferten Meinung über die seelische Entwickelung entschlage. Und eine dieser falschen Meinungen ist wenngleich nicht mit Worten ausgedrückt, doch durch die That gar oft bewiesen , zu glauben, dafs es auf dio«or Welt nur eine Gathmg geistig Veranlagter gebe, die leicht auffassenden, in die Augen fallenden und schimmernden, die scliarf denkenden. Die zurückgebliebenen, geistig trögen, die leider Gottes dabei noch oft gar schüchtern und vei^chämt sich zeigen, oder die, denen die Worte nur schwer vom Munde fallen, deren Bewegungen eckig und seil» r schwerfällig sind, diese Art von Anlagen, die mit der ersten von uns beschriebenen Gattung nicht zu verwechseln und auch nicht dazu geeignet sind, Lehrer und Schule durch die schauspielmälsigen öffent- lichen Schulprüfungen in das gewünschte Licht zu stellen, beurteilen wir gewöhnlich als nicht richtige oder nichtsversprechende Kopfe; von diesen allen suchen wir uns bakimogliclist mit dein kurzen Urteil loszumachen: Es ist kein Kopf oder nur gering angelegt und dies immer, wohlgemerkt, im Hinblicke auf andere leichtaufi<i.-sende, Bchiagende Antwort erteilende, selbst Schwätzer und Witzlinge. »Aber«, wird man mir einwenden, »wo tmdet sich der Ijohrer, der, wenn er auch so däclite, dies sagen und vor allem seinen Schülern es ins Gesicht zu verstehen geben würde? Auch wird er sich aus guten Gründen wohl enthalten, solches den bescheideneren, den furcht- sameren und sich darum leicht gedrückt fühlenden merken zu lassen.^ Doch in der nackten Wirklichkeit geschieht dies ganz anders : keinerlei

FoRirmj: OetliiBohte Erwartungen.

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Yentellang der Welt ist genügend, den Schfllera nicht die wirkliche^ wahre OemfiteTerfaBsiiiig des Lehiers sa offeDbaren; ein Wort, ein Bliok, eine Bewegung, eine selbst notwendige Ansseichnnng, ein Voi^ rag reicht hin, ihnen einen vollen Blick in das Innerste des Lehrers in gewihren. Hat der Sohüler aber erst das Wahre entdeckt, so fühlt er sich gedrttokt, bescfaimt, and disser geistige Niederdmck aeines Oemfites ist jetst nor noch ein weiterer Hemmsdiah, nm seine Spannkraft völlig zn lihmen. Sobald er mit nns spricht, wird er sich sohSmen, da er beffirohtet, schlecht zu antworten, nichts recht su thun; nnd in der That, seine Antworten, sein ganaes Thnn wird dement- sprechend ausfallen.

Ein Verhalten von ganz sicherer Wirkang ist auch hier die Anf- liehtigkeit, sobald der Lehrer nur mit Wort and That seinen Zög- lingen zu verstehen giebt, dafs die Geistestrigfaeit eine Abart und nicht ein geringerer Grad des Verstandes ist Aber freilich, um dies mit ToUem, aaMchtigem Herzen und überzeugender Gewalt aus- sprechen zu können, ist vor allem nötig, dafe der Lehrer selbst es f^be, ja völlig davon überzengt sei Doch ^e^en diese Überzeugung in unserm Innern bäumen sich aufser den althergebrachten Gewohn- heiten unseres Gemütes die weit sicherere, weil handgreiflichere Be- stätigung des Vorhandenseins von Erfolgen oder Mifserfolgen.

Einerseits haben wir mit Schülern zu thun, die so leicht als möglich lernen, schlagfertig antworten, andererseits mit solchen, die langsam nur auffassen und in Wort und That stets g^edrückt sich fühlen. Füge man hinzu noch die allgemeine mon^r'jilirho Schwache, mit der wir alle so leicht dem Geistigbogabten huldigen, und setzen wir dagegen das abstofsende, oft bis zum Mifstrauen sich steigernde Gefühl, das uns der Schweigsame, Verschlossene, in sich Abge- sciilossene, Unliebenswürdige verursacht, so wird man sich über den Ausfall gar nicht wundem Doch ist das noch nicht alles. Die Ab- stafong der beiden verschiedenartig gestalteten Naturen ist. oder scheint wenigstens, nicht dieselbe zu sein; denn die beiden untersten Stufen verhalten sich zu den beido-n o}>er8ten bei unserer Abschätzung der Geistesgaben jener durchaus verschieden. CJegenüber einem scharfsinnigen, mit glmzender Einbildungskraft begabten Schüler, der blitzschnell alles Oesagto und Bec-riffene wiedergiebt, der in seinen Aufsätzen die eigenen Oed ;inkf ii geordnet niederschreibt, zu solchem fühlt sich der Lehrer mit wkI» rstandsloser Gewalt hingezogen und ist geneigt ihm die glücklichste Zuknnlt zu veriieifsen, während gerade das Gegenteil stattfindet bei einem grufsen Teile der anderen Oattimg, wo sich der Lehrer vor einem zwar tief angelegten doch

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A. AbhandlniigNi.

trägen Talente befindet, das sich mehr nach innen als oach ao&en bethäti^t, ja fast sich schwierig zeigt, wenn es mit der Ao&enwdt in Berührung kommen soll

Die Lehrer von Pico della Mirandola, des grofsen Condte und des Kardinals Mezzofanti hatten geringe Schwierigkeiten, ihren Schülern grofse Erfolge in der Welt voranszusagen ; der aufserordent- lichen Sachlage in jenen Augenblicken gegenüber nimmt es vielmehr Wunder, dafs sie aus der Thatsache nicht noch glänzendere Schlüsse für die Zukunft zu ziehen versuchten, wie bei frühreifen Talenten dies ja nicht selten vorkommt Weit seltener ist dagegen der Fall^ den uns der Erzieher des heiligen Thomas zeigt, der weiterdenkend als dessen Mitschüler, welche sich gar oft über den kleinen Thomas lustig machten und ihm den Spottnamen: »Stummer Ochse« gaben, ihnen verweisend vorhielt, dafs jener stumme Ochse mit seinem Ge- brülle die Welt noch betäuben werde. Sollte das artige Geschichtchen wirklich wahr sein, mufs er ein gar gi'ofsor Jugenderzieher und Jagend- kenner, ein bowäbrtpr J^oolnnfnrsrher gewesen sein.

Und crrofse Erfahrung im Unterscheiden verlangt es, wenn man umgekehrt von der höheren anf die Minderstule dieser Art begabter Naturen herahgreift

Doch, welches sind die Mindestbegabten? Smd es viellei< hf die maufitHiaft Begabten? Beim ersten Anblicke und bei oherfluchlicher Bpiirteilung freilich weist der allgemeine Laufgang solcher jungen Leute wie der von Natur aus stiefmütterlich behandelten Schwach- begabten hauptsächlich im Vergleiche (und mit Vergleichen sind die Lehrenden stets schnell bei der Hand) mit andern schnell auffassen > Ii n schlagfertigen Schülern darauf hin. Nun wohl, bei der ihnen zuge- dachten Stellung in die untersten Grade bieten die geistesträgen, aber gleichzeitig in sich gekehrten Naturen gar oft äulserlich die genau entsprechenden Kennzeichen der geringbegabten, so dafs man sie mit jenen verwechseln konnte und sie ihnen gleichstellen möchte. Be- merkt man z. B. bei einem Schüler, dafs solcher au Schwerfälligkeit der Hand und Finger leidet, wenn man beobachtet, dafs er nicht nur beim Diktat den andern seiner Klasse nicht nucli/iikomraen ver- mag, sondern dafs selbst seine Finger verwei|t^eru, derjenigen Stellang sich anzubequemen, die angemessen ist, um gut und regelrecht zu schreiben, so ist man gar leicht geneigt, aus dieser gelingen Muskel- Bildsamkeity die in Verbindung mit der gleichfalls geringen seelischen Beweglichkeit dieses Schülers steht, zu schlielsen oder wenigstens za befürchten, daüi dies ein Zek^en mangelhafter Begabung sein könne. Wenn nnn aber diese geringe rnnskoUiie Bildsamkeit sich

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FoBKiui: OettuBebte Erwartuagen.

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Hon, 80 weit meine eigene Erfabnmg reicht, anob bei den besten dieser Gattung zeigt, sollte es doch onechwer sein, eolche auch in den niedereien Abetafungen in noch weit stfirkerem und erhöhtem Qiade anfznfinden; nnd im bejahenden Fall mu6 der Zweifel, dafo min es wiildich mit niedereren oder geringer begabton Wesen zu ifaim habe, sieh beettUigen. Nicht anders liegt der Fall bei k5rpei^ liehen Bewegungen: dem Hinanf- nnd Hinabsteigen, dem Werfen mit Steinen, dem Kletteni n. s. w., wie wir es bei den Enabenepielen beobachten. Dabei fallen uns ohne Zweifel Langsamkeit, üngeechick- liohkeit und Schwierigkeit der Handhabong aof, was dem Betreffenden im ganzen eine schlaffe, schwerfiUlige Haltung giebt, nnd uns des- halb in Ansehung derartiger träger Naturen leicht an! den Ge- danken bringt, sie als Opfer eines mangelhaften oder krankhaften Geistessnstandes za betrachten. Dies Toransgesetst, fragt es sich non: dorch welches Mittel TermGgen wir die einen von den anderen zu anteracheiden?

Erlenchtslb, feine Köpfe unter den beobachtenden Lehrern haben nun fireilich allezeit zu untetscheiden gewo&t Wenn wir z. B. be- melken, dals solche Schüler wegen mangelhafter körperlicher Be- wegung und Haltung einen schwerfälligen langsamen Gang annahmen, 80 ist ihnen gleichzeitig auch ein nachdenklicher Gesichtsausdruck, eine fast nie unterbrochene Geistessammlung wie zu eigen, was sich nicht selten schon auch ttuiserlich durch eine stärkere Zusammen- ztehnng der Gesichtsfalten und hauptsächlich durch einen tieferen, verstfindnisToUeren Blick verrät Es ist eine alte und stetige Er- fahrung, die wir gar oft selber beobachten, ohne uns freilich auch über das Warum Bechenschaft geben zu können, dnh wir oft ein gewisses Aber, einen Argwohn, eine Zurückhaltung beobachten vor dieser Art von Geschöpfen, die nicht sprechen, aber uns blofs grols und gar verständig anschauen, üns scheint es dann, als ob sie UQ8 zu viel beobachten, zu viel in uns lesen und zu viel uns be- urteilen. Dieser gewisse Ausdruck, der uns Mifstrauon oinflöfst, wird oft noch durch die Thatsache bestärkt dafs derartige Pcr-^nnon, wenn sie sprechen, stets den Nagel auf den Kopf treffen; es ist zwar wenig, was sie spreclien; doch was sie sagen, ist von Gewicht. Ein Zeichen oder vielmehr mehrere solcher, um die betreffenden leicht zu erkennen und zu unterscheiden, sind: nachdenkliche, ernste Hal- tung, ein verständiger, durchdringender Blick, der uns })oim Lehren trifft, stets sicherer, doch oft zum Spruchhaften iüuaeigeuder Vortrag, wenn sie sprechen oder Bemerkungen aosteilea.

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A. AbhandfaingQu

VL

Freilich giebt es noch andere nicht unerhebliche Brkemumge- und Unterscheidungszeichen, um die betreffende Oattong sicher za erkennen. Es ist vor allem das Gedächtnis, das ihnen nicht abgeht und im allgemeinen alle Merkmale der gröfsten Zähigkeit besitst Auch Fälle grofser Leichtigkeit in freilich anhoigB nur gedankenloser Handhabung des Gedächtnisses vermag ich sa veizeidmeiL Doch möchte ich einen Fall namentlich berichten.

Ein siebenjähriger Knabe, der sich mit einem Bande der illa* strierten Gedichte Giustis belustigte, sagte, zurgroÜBen Überraschung des Vaters, diesem eines Tages das ganze »Dies ira< her. Natürlich verstand das Kind davon auch kein Sterbenswörtchen; denn kanm war der Knabe in die sweite Elementarklasse eingetreten. Als man ihn aber fragte, wie er es angefangen hätte, ein Gedicht auswendig zu lernen, das er ja nicht verstehen könne, gab er vor allem nicht zu, es nicht zu verstehen (sonderbar!) und bestand darauf, dafs er es mühelos gelernt habe. Der Vater aber suchte nun seinen Knaben zu überreden, dafs er, wenn es ihm wirklich so wenig Anstrengung gekostet hätte, ein etwas leichtere?! Oedicht des'^plhcn Dichtens. / B. Taddeo und Vcnernnda, auswendig lerne. Der Kiiube lerntt nun diesmal mit einiger Nachhilfe des Vaters, nicht nur Taddeo und Veneranda, sondern nnoh St. ATubrosius und manch anderes Ge- dicht noch von Giusti und zwar mit aller Leichtigkeit Zur Zeit zöhlt der Knabe 9 Jahre und 8 Monate und besitzt ein nicht einfach gedankeuiuse.s, .sondern vielmehr recht zähes, urteil.-^reifcs frodiichtnis. "Was aber seine Entwickelung anlangt, bietet er die ^.amilichen Moi k- male eines nur langsamen körperlichen wie geistigen Wachstuius. Er schreibt eine häfsliche Hand, kann nicht einmal die Feder ordent- lich halten, auch hat man ihm nur mit äußerster Not die Anfangs- gründe der Formen- und Handarbeiten beigebracht Er läuft nur mit Mühe und bewegt sich langsamer und weit schwerfälliger, als dies bei einer regelrechten Entwickelung der Fall sein würde. Wegen .'meines guten (»edächmisses und der Leichtigkeit, das Gelernte, haupt.sächiich Erzählungen aus der Geschichte, aber ohne sich an den Text zu halten, herzusagen, ist er gegenwärtig der Erste seiner Klasse; was aber seine Anlagen betreffs des schriftlichen Aufsatzes betrifft, steht er ziemlich hinter den andern. Sein A^orstandnis im Auffinden und Wiedergeben der eigenen Gedanken schreitet nur lang- sam, doch augenscheinlich stetig voran. Er besitzt sodann alle weiteren oben angeführten Merkmale des trägen Talentes, doch ist, wenn wir

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uus uiciit täuäciien, gröisere Eatwickeluog bei ihm nicht aasge-

schlössen.

Unser Vertrauen also, nicht zu weit von der Wahrheit wegzu- sein, fufst noch weiter auf der wahren Sucht des Knaben, zu fragen, stets neue Fragen und Zweifel anzuregen und dies schon bei dem geringsten Anlasse und zwar bei den Eltern, bei dem Lehrer, über- haapt bei Personen, denen er Vertranen schenkt, wenn dies, bei fleinem Hange, sich stets von andern abznsondem, freilich anch nur wenige sein kennen. Seine innere Thätigkeit, sein Trachten and Treiben, sein Befragen des Vaters bei jeder Kleinigkeit ist sogar so grols, daJh dieser nicht selten im Zweifel ist^ ob dies statt Anseichen einer gewissen Geistesträgheit nieht die einer gewissen innerlichen Sammlung, aber immerhin mit «ner Hinneigung zur geistigen Fhihl- SQcht oder gar aar Spitsfindigkeit seien. In jedem Falle kann man eine innerliche Yerarbeitang, eine Krafttolserang annehmen, welches immer auch die endgiltige oder besondere Form sei, die sie sofalielb- lieh annimmt

Immerhin aber wird es zweilelbaft bldben, ob dieses erhöhte innere Leben ein Anzeichen der rerlangsamten Entwickelang oder nicht gar dn Zeichen eines innerlich yergeistigten tieferen Talentes eei; denn nach unserer Meinung trifft das eine mit dem anderen fast immer zusammen. Doch woUen wir, wie es »Qiobertit tfaat, als er die Eigensohaften des wahren geistigen Talentes auf einigen unflber- tieffliofaen Seiten seiner Vorrede zur »Einlettong zum Stadium der Phikeophie« auMhlte, den Fall nicht ansschlielben, wo mit der leichtesten, glänzendsten und scheinbar ausschlieihlich äuiserliohen Bbthaltong gleichzeitig die Tiefe des Gedankens einhergeht, hanpt- ■Hohlich dann, wenn es sich um geistige zusammengesetzte Erkennt- nisse handelt Wer Termag übrigens mit Genauigkeit die so viel- fachen Gattungen des menschlichen Vorstandes aufzuztthlen? Wer kann genau und unabanderüeh deren Kennzeichen bestimmen? Gioberti selber, wonngleich er zu bestimmen meinte, dafs das, was er Geist nennt, nicht der Verstand und besonders nicht der wahre und tiefere, sondern geradezu dessen Verneinung sei, mufiste zugeben, dais manch- mal der Geist mit dem Verstände und dessen ungeachtet, wie er sich ausdrückte, susammen treffe.

Aber wir vermögen auch den Grund zu finden, weshalb der langsame, doch mit grofser Entwickelungsfähip^keit begabte Verstand diese seine stärkere Innerlichkeit auf natürliche Weise annimmt, ob er nun, wirklich oder nicht, das sei, was wir Tiefe des Verständ- nisses nennen. Schon von seinen ersten Anstrengungen an, sich zu,

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A. AUiaadnngon.

entwickeln, ist er wie mit Oewalt ssarflckgedrfingt, mehr für ach selber als mit anderen za leben, also gezwongeOf ein tiisf innerliches Leben zn fQhren. Einerseits kann nnn freilich sobesehaffenen Köpfen sieher nicht das Yerstindnis ihrer eigenen Kraft und dessm, was sie sind, abgehen, andererseits aber neigen sie leicht dazu, in ihrer Eigenliebe sich gedemütigt zn sehen, angesichts der Erfolge, die ge- flflgelte nnd tiefer angelegte Talente davontzagen.

Einer besondem Wflrdignng bedflrfen deshalb die Hi&erfolge, deren Opfer diese Art von Schülern ist Begreiflich sind es nicht immer Erscheinungen, die ttberall und insbesondere sehr leicht be- merkbar sind; doch haben wir Gelegenheit, sie zn bemerken, so hinter- lä&t es uns einen tief schmerzlichen Eindmdr, die Oebfirden der unendlidien l^raorigkeit mit anznsehen; solche Jünglinge, die nicht ohne Erkenntnis des eigenen Wertes sind, unterliegen, weit sie so leicht nicht Gelegenheit finden, ihr Terdienst an den Tag zu legen, wftbrend andererseits die Gelegenheiten leichter und öfter sicli bieten, wo sie für das beurteilt werden könnten, was sie in der That nicht sind. Das geschieht nun freilich häufig beim Vergleiche, bei dem sie in der Schale sowohl als auch im Leben sich mit andern Per- sdnlichkeiten zusammenfinden können, und wo sie bei dem leichteren AuffsssungsTermögon, bei dem schillernden Yortnigo anderer her* Torragender Talente als minderwertig erscheinen nnd hervortreten könnten.

Ich lernte aus eigener Erfahrung einen Fall kennen, bei dem es sich um einen 16 17 jährigen jungen Menschen handelt, der mit ruhiger, emster Haltung dennoch stets traurig darein sah, weil er sich in der Klasse und von seinen Kameraden nicht als das erachtet

hielt, was er in Wirklichkeit war. Ich riet deshalb meinem Kollegen des Litteraturunterrichts, der ihn wefj^en seiner schriftlichen Arbeiten sehr schätzte, ihn einige seiner Aufsätze in dor Klasse selber vorlesen zu lassen. Nachdem er die erste Scheu überwundrn, las er zwei oder drei seiner Arbeiten, die seine Mitschüler zum Staunen hinrissen. Von da an wurde er ein ganz anderer; «lic Achtung seiner Mit- schüler hatte ihn dazu gebracht, sich in sich selber wiederzu- finden.

Doch freilich ist nicht immer die Lösung so leielit wie in diesem Falle. Um dieser Gattung junger Leute dio Heiterkeit des (Jeistes zu bewahren, müfsten sie unter Leuten sem, die sie kennen, unter mitfühlüuden Menschen, die nie auch dann schätzen, wenn sie vieles nicht so leicht und flieisend Torzutragen und auszuführen wissen, wie andere.

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Fobmuu: Oettudito ErvaitangeD.

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Das sind nun freilich zwei Faktoren, die sich nicht so leicht Kusammen finden, weshalb unter den gewöhnlichen Lebensbedingungen diese Art von Menschen gar mancherlei Mifserfolgen ausgesetzt ist, die meistens ihrem Charakter, der schon von Natur aus ernst und sohwer ist, Bocb Tollends jenen Avadmok der Traurigkeit TerleiheD,

sie selbst im Glttoke nicht mehr rerlübt

Man glaube nun aber ja nicht, dals sie von liäufigen soloher Mißerfolge entmutigt oder gar niedergesohiagen würden, im Gegen- teil; denn wenn es sieh um wirklich gutbegabte, wenngleich träge Naturen handelt, so seigen sie dennoch eine Zähigkeit, eine üntei^ aehmungslust und zugleich Widerstandskraft, die den lebhaften ihre»* Reichen oft abgeht Bas Lebens- oder sozusagen Eraftprinzip, das sie beherrscht, ist die Unruhe, ist die ünzufiiedenheit mit sich selber. Otoz im Gegenteil zu den befiihigten und glänzenden Katuren, die sich mit ihren Erfolgen begnügen und sie genieisen, haben sie stets tber ihr eigenes Sagen und Treiben dies und das auazusetzen, sie ffihlen die eigene ünToUkommenheit und suchen solche auf jede Art mit aller Sorgfalt zu Terbessem. Sie erachten ihre Arbeit nie als ▼<d]kommen; doch trachten sie unwiderstehlich darnach, dab sie es werde.

Bei derart gesinnten jungen Leuten und im Kreise der Schule ist gar leicht zu erraten, welches ihr Betragen gegenttber ihresgleichen sei Sie achten, doch beneiden auch manchmal ans dem Ghunde ihres Herzens ihre leichtlemenden Qef&hrten; dennoch geben sie sich selber nicht verloren, denn aufiser dem ihrer eigenen Geistos- kraft angemessenen Vermögen fühlen sie in sich eine Kraft der Wirksamkeit, eine innere Selbstaufmunterung, die sie inmitten ihrer jeweiligen Miiserfolge aufrecht und vertrauensselig erhält

Gar oft hatte ich bei Wett- und Freisbewerbungen oder ähn* liehen solchen Anlässen, worin sich gedachte Schüler mit anderen ihrer Genossen messen, die Gelegenheit, zu bemerken, dafs der Hang jener viel mehr zum Hochmute als zur Bescheidenheit neigt; gar oft sieht man sie eine stolze Miene oder Haltung annehmen, die andere Unbeteilif^e nicht geradezu zu billigen vermöchten, da sie weit über das Ziel des wirklichen oder angemafsten Verdienstes hinansschicrst.

ist in ihnen ein innerer Trieb vorhanden, dem zuliobo sie sich sozusag:eü gegen das vergleichende Urteil auflehnen, das andere sich ihnen pogenüber zu machen erlauben möchten. Wer aber dieses Benehmen geradezu als Stolz aiislcgto. würde sich arg tauschen; viel- mehr könnte man es mit einem Ausbruche gegen ihre ganze eigen© PeisöQüchkeit benennen, ein Sturm, der um so stärker ist, je mehr

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A. AUumdliingeD.

Widerstand solche in sich selber finden, sich so kundgeben zu können, wie me innerlich fühlen. Sie sind Terbittert, sogar anoh übelgesinnt gegen die Hindenüflse, doch nicht gegen die Mensohen nnd die Dinge. Nicht das Oeföbl, höher fiber den andern zu stehen, macht sie so, sondern im Gegenteil der ewige Schmers, sich nicht als dss zeigen sn können, was sie wiridich sind.

vn.

Ähnlichen Gegensatz zeigen die besprochenen Persönlichkeiten an einer anderen Stelle, in einer anderen Offenbarung ihres Eigen- wesens.

Nicht selten scheinen sie entweder zu vorsichtig oder aber tu arglos zu sein, und in Wahrheit war der Einblick in die sie um- gebende Welt entweder zu tief, oder aber sie kennen solche gar nicht Vor allem suchen sie sich selber zu ergründen, und sie kennen

sich wirklich auch sehr put; sie sind besser imstande als jeder andere, jeder, aucli der leisesten Äufserung ilires Geistes nachzugehen; sie kennen sicli hauptsächlich in ihrer Unzulänglichkeit, in ihren ManL'oln. Diese innere Erforschung ihrer selbst macht sie nun aber auch fähig zu leichterer und sichererer Erkenntnis des inneren Yeriialtens anderer.

Sie unterziehen die Ähnlichkeit der Fälle ihrer Prüfung mit weit weniger Wahrscheinlichkeit des Irrtums als andere, weil sie dabei den Gemiitszustand, die Absiebten, mit einem Worte, das gesarote Verhalten ihrer betreffenden Bekannten, beurteilen. So sind sie also vollkommene ^Schätzer«, die mit ihren Urteilen so oft ins Ziel treffen, dafs man ihnen einen weit höheren Veretand zutraut als sie wirk- lich besitzen und er, sofern sie noch Knaben sind, auch ihrem Alter gemäfs ist.

Zu dieser Gattung junger Leute und Schüler gehören jene »Oem- grofte«, die wir, statt sie zu bewundern, vielmehr bedauern, da sie jener Lebendigkeit, jener Unruhe, jener ewigen und sorglosen Be- wegungen völlig leer sind, die uns an Kindern so wohl gefallen. Die Art kähner, künstlicher Stellung, die sie annehmen (und manche ver- stehen sie nur zu gut), macht sie uns gründlich widerwärtig. Doch ist OS eine von ihnen besonders oingolomte Übertreibung des Trachtens nach einer wirklich vorhandenen und natürlichen Eigentümlichkeit Von sich seibor schiiefsen sie dann auf andere, und es kann nicht geleugnet werden, dafs in dieser Beziehung sie vorsichtige Menaohen zu sein scheinen oder wirklich sind.

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Fobn-euj: Oetäuaohte Erwartungen.

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Alles und jedes ändert sich aber bei ihnen^ sobald sie sieb nicht mehr vor Menschen, sondern vor Lebenslagen befinden, bei denen es sich um Miibowerb, richtige Auswahl der Mittel, gewan dte und vielseitige Thätigkeit. W ahl des richtigen Augenblicks und Schiiiiligkeit der Ausführung Laudelt. Sobald sie aber unter diesem Monde sich aufser sich selbst gesetzt finden, so sind sie in der gröfston Verlegen- iieit: nicht, als ob sie sich nicht darin geben könnton, nein, sie haben blofs eine längere Lehrzeit durchzumachen, um sich zurechtzufinden and äich anzubequemen, da in jeder neuen Lage es für sie einer neuen Anpassung gebraucht Darum scheinen sie in genannten "EUl^ unvorsichtig und harmlosi aber nicht nur, dab sie es sdieinen, sie and es «ach in der That^ weil sie wegen ihres langsamen trägen Wesens alle diejenigen Zeichen haben, wie sie weltanerffahrene Leute und ihre Umgebung zeigen.

Dsians ervSohst nun neuer Widerspruch. Yor nenen Lagen, die dss Leben bietet^ scheinen sie, das geben wir sa, wie ans ihrer Herde Teriirte dazosfeehen; doch wenn sie sich erst aus der ersten Yer* inming heransgefunden» so ist ee fOr sie so gar schwer nicht, dab sie dann die Lage so gut als andere beherrschen und vielleicht noch besser; denn weil sie schon von Uranfang an stets als genügend taogtifi^ erachtet worden, so halten sie es nicht mehr fOr notwendig, graise Denkttbnngen anzustellen.

Besonders lehrreich ist in dieser Besiehung die Lebensgeschichte Colberts, des groben Hinisters König Ludwigs XI7. Er Tcrarbeitete seine Oedanken nur langsam; freilich waren jene Einfälle, welche den Handlungen, den schwierigen und verwickelten Lagen, in die ihn der König verseiste, entsprangen, gewissermaßen Yorausahnungen und gleiclizeitig Siege über seinen heftigen und gewaltthätigen Mitgenossen Louvois, ein anderes ^Talent, ~ wenn^eich auch manchmal recht von der traurigen Gtostalt des bewegten Königtums.

Wir sind weit davon entfernt, zu denken, dalls es immer einer 80 langen und schwierigen Austrsgezeit gebrauche, um einen groben Gedanken zu gebSren; nichtsdestoweniger halten wir fflr nicht un- nötig, auf einen äuiserst eigentümlichen Widerspruch in der Ge- schichte des menschlichen Geistes und der Schulgepflogenheiten auf- merksam zu machen. Di^ Geschichte nämlich sagt und versichert ans, dafs es Naturen erster und Geister einer hüiieren Ordnung gab, die das Kennzeichen des langsamen, trägen Talentes an sich trugen. Eine Anzahl des Studiums Beflissener hat daraus zu schliefsen ge- meint, dals die höheren Talente die innerlich tieferen seien, sowie, daüi

Dl» KintatAtor. VLJahim. 17

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A. Abhandlungen.

Imieriichkeit und Tiefe den Scharfsinn, die Schlagfertii^eit) wie auch das Geistreiche anBschlieften. Auf der andern Seite veitflnden uns die Herolde der Erziebungsgesehichte» dals, so oft man in der Sdraie langsame und trübselige Oemüter» wie die des heiligen Thomas, Vioos und Golberts sehe, die Erzieher, statt zu beobachten, ob jene Geistes- lähmung nicht gerade zufällig das Anzeichen eines bedächtigen lang- samen Geistes sei, der freilich noch in Zukunft hoher Entwickelung und groiser Ergiebigkeit fähig ist, stets noch der alten Gewohnheit huldigen, diese Art für minderwertiger als die grofse Klasse der Leichtlenienden, der mehr geistreichen als vergeistigten und er- zeugenden Talente der Oegenwart zu halten. Die (lesohichte nun freilich steht hier mit der Schul Überlieferung im Widerspruch. Die eine preist diese Klasse der Talente zu hoch, die andere hält sie zu niedrig im Preis; die eine hat den ausschliefslichen und über- triebenen Gedanken wachgerufen, als oh' das wahre Talent nur bei dem zu suchen sei, der seine Gedanken lange verarbeitet und sie bei sich trägt, die andere verstieg sich bis zu der ungereimten Meinung, als ob es auf der Welt nur eine Gattung von Talenten gäbe, d. h. die leichtlemenden, die scharfsinnigen, die glänzenden.

Bringen wir, meine ich, der Lelirkunst die allgemeine und triftige Erfahrung des Menschenlebens ein bifschen näher. Sieht man zum erstenmale in der iSchuie einen Knaben oder Jüngling, dessen Schwei-fällige Bewegungen auffallen, dessen Gemüt ernst und be- dächtig veranlagt ist, so stelle sich der Erzieher auch sofort die Frage, ob der Schüler nicht der Familie des heiligen Thomas, Vicos und Colborts beizuzählen sei. Diese vorläufige Schätzung kann ihn dann weiter auf dem Wege führen, mittels der Seelen- und meinetwegen auch Körperkunde diejenigen Kennzeichen zu suchen, die ihm anzeigen, ob sein SchülfT der absleigoüden Stufe der unge- nügenden Talente oder der aniateigenden der reichen noch zu ent- wickelnden Geisteskriiftigen beizuzählen sei.

In jedem Falle sind zu sulcher Erkenntnis die lebensgeschicht- lichen Aufzeichnungen von groisem Werte.

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BericJit über die VersammluDg des Vereins für KinderforschoAg in Jena. 259

B. Mitteilungen.

L Bericht über die Versammlung des Vereins für Kinder- forschung am 2. und 3. August 1901 in Jena.

Entattet von den Sohriftführem Dr. med. Stroliw^ar, Hausarzt der Frivatnerven* Uinik in Jena und W. Stnkentierg, Anstaltdehrer aiif Sophienhöhe bd Jena.

(Schlafs.)

n. PsyohopafchiscUe Kinder mit einseitiger B^bung beruhend auf

Erblichkeit.

iilmäeitige Begabuiigeu begegueu uns bei iioimaleu Meoschen, ganz beeonders aber bei Taabstominen, Blinden und Scfciraohdimigeo.

Bei den normalen Heneehen bezeichneD wir wohl die einseitige Be*

gabung mit dem Ausdruck »geborene Künstler«. Nach meiner Heiming 8[»eit in vieleu dieser Fälle die Erblichkeit eine besondere Rolle.

Anders steht es bei deu Tan) »stummen nnd Blinden. Die lahmpelegten, fehlenden Sinne, Gehör-, Sehki-aft, werden durch Erziehuug nnd Uütemcht ersetzt: bei den Taubst um men durch Übung des Auges, bei den Blinden durch Übung des Gefühls.

Bei Beiden werden die betreffenden Centren danemd angeregt und finden wir nidit selten herromgende Ldstangen, z. B. bei den Tanb- StommeD: Bildhauer, Maler etc., bd den Blinden: bedeotmde Musiker.

Immerhin sind diese hervorragenden Leistimgen erst durch Übung angeregt und erreicht worden, während bei den psychopathischon Kindorn die hervortretenden Leistungen nicht erst durch Übung in Ersciieiiuing treten, sie sind gegeben imd zwar gegeben durch die centrale Bildung.

Vor vielen Jahren lernte ich in den Alsterdorfer Anstalten zwei sdiwacbstmuge Burschen kenn», tod denen der eine mit gro&er Qe- schwindigkeit die schwierigsten Additions- wie Subtraktionsanfgaben Itete, der andere benannte sofort den Wochentag eines ihm beseichneten Monatstages.

In der Idiotenanstalt zu Hubertusburg wurde mir seiner Zeit ein Knabe vorgeführt, der mit Schnelligkeit beantwortete, was vor einem Jahre as demselben Tage zu Mittag gegessen wurde.

In einer Idiotenanstalt zu Budapest lernte ich einen alteren Zögling kamen, der sämtliche Oeschichtsdaten nicht nnr seines Vaterlandes, sondern such der anderen LBoder angeben konnte. BekaontUch soll ja der Bechen- meister Daaae ein Idiot gewesen sein.

Erlauben Sie mir» Urnen einzelne Fälle aus der von mir geleiteten Anstalt mitzuteilen, von deoeo erwiesen ist, dafs die einseitige Begsbong auf Erbhchkeit beruht.

1. Sohn eines Gefanglehrere, si'rieht mit dem fünften Jahre noch nicht, zeigt aber hervoixagende-i Interesse für Musik, er singt oline Text die ihm dmnal Torgespielten Lieder; ein Bruder von ihm, der eben&dls geistig suzllckgeblieben ist, spielt ohne Kenntnis der Noten einmal gebOrte ICnsik- stfld» nach.

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B. llittoiliiiigni.

2. Sohn eines Sofaneidffs und QeigeDspielers, spielta die Geige ohne Kenntnis der Saiten und Noten. Als wir in der Anstalt dieee Begabang eikannten, erhielt er Unterricht und brachte er es zu einer Fertigkeit, dab er seine Mitschüler, wie das Personal, oft durcli sein Spiel erfreute; wir

spielten viel die Woi Ts sehen Sachen mit Klavierbegleitung.

3. Schuiiiiiachersulin, fiel besonders auf durch fortwährendes Singen, schon vom frühen Morgen ab singt er und stört auch dadurch den Unter- rioht Nach llitteüung der Mntter desselben war ihr Hann ein gater Saoger, der im Oeeangvexein die Solopartieen ausfOhrte. Der Knabe sang sn dnem Liede, das ilun jenund voisang, sofort die zweite Stimme. Was er einmal liHrtc, spioltf^ (^v auf einem MetaUophon, das ich ihm beeugfee, und sang die zweite Stunino dazu.

4. Ein epileptischer Schueidersohn fiel besuuders auf durch seine Eitelkeit, seinen i^oismus, er war in der Kleidung pcmHch sauber.

5. Zimmennannssoha) ist sehr geechiokt im Zeichnen und im Sdmit^en von HolsESrbeiten. Der Biu^che befindet sich z. Z. bei einem Ijandniann in Pflege; er hilft hier in der Haus- und Landarbeit. Daneben bcseh;lftig-t er sich mit SchnitzarlMMtcn, er fertigt am alten Cigarrenkisten lUirirf^häuRe, Sparbüchsen etc. und verkauft diese; von dem Überschuß Bcliaitt er sich die nötigen Instrumente an.

6. Zartgebautes Kind eines Kartographen, ist ein geistig recht tief stehender Knabe; er spricht nioht, ist unsauber, in seinem Wesen exaltiert, läuft unruhig umher und macht mit den Armen automatische Bewegungen. Der Knabe hat nur Sinn für Zeitungen, Karten, Bilder und kann sich damit stundenlang beschAftigen, w&hrend alle Hbhgeu Spiele ihm gleich- gütig sind.

7. Erstgeborener Sohn eines Rohrlegers; der Knabe läfst sich in einer Werkstatt nicht beschäftigen, zeigt sich unwillig, teils roh. Seine liebele BesdiBftigung ist das Fahren mit der Lowzy, mit der die Speisen von

der Küche geholt werden, das Aufstellen und Abnehmen der Speisekeaael,

das Tilutcn der Glocke. Wie ersichtlich, hat der Tater als Rohrleger yiA mit Faliren, Rollen mit klint^endon Getrenständen zu thuu ^'habt.

S. Malei-Hohn, ist eio geisti^^ schwacher Knabe, der mit grolsem Interesse zeichnet und Bilder selbst entwirft Erlauben Sie mir, Ihnen einige Sadien vorzufahren. Die einseinen Bilder sind durdi »frei« oder »Vorlage« gekennseidinei

9. Erstgeborener Sohn eines Schneiders. Nach Mitteilimg der Mutter beschäftigte er si mit Zeichnen, ein Bruder des Vaters war Kunst- tischler. Der Knabe, taubstumm und idiotisch, zeichnete, ohne Unterricht gehabt zu haben, nach Yorlagen, nach der Natur mit einer hervorragenden Sicherheit und auch Schnelligkeit Ich benutze den Knaben, indem er die Hillscben Bilder fOr den Taubstummen-Ünterrichti die fOr den KInnnoD Unterricht zu klein sind, vergröfsert.

In der Debatte führt Herr Hof rat Dr. Bin s wanger aus, die ange* borenen Defekte böten der Beurteilung weniger Schwierigkeiten als der Vortragende glaubt. In der Schule aber dürfen diese Kinder nicht bleiben. In ein Bettungsliaus dürfen sie ebenfalls nicht gebracht werden. Sie

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Bericht über die Yersammlung des Vereins für Kindeifoisohong in Jena. 261

mOsseo in eine Anstalt für Scliwachäinnige. Darin habe der Redner recht. Bezfiglich der Fälle einseitiger Begabung, beruhend auf Erblichkeit, warot BiDftwanger davor, alles anf die BrUiohkeit so bedefaeQ) zumal man noch kdooBw^ beatimmte Vererbungsgeeetze kenne. DaTs eine Yer- erbongHtendenz für b^tinimte lUii^keiteD boi Idioten in erhöhtem Mafse hervortrete, glmibe er ablehnen zu müssen. An- b Direktor Tri! per weist darauf hin, nicht zu Obersehen, dafs auch die Krworburifr sehr mitspricht. Weun die Kinder immer uur das eine sehen, von Jugend auf immer mit denselbeD Dingen umgeben sind, so werden sie nur nach einer Seite an- geregt So eDtwickeln sich einige Hiznoeiitxea beaoodero auf EosteD der flbrigen. Indem man dies flberaehe, schiebe man "viel zu viel auf die Tererbung. Noch ein anderes: Moralischer Defekt wird vielfach ausschlicfs- lich mit fjeistip^r Schwache erklärt Gewifs fehlt es oft an dor Kraft des Intellekts, sittliche Begriffe klar zu bilden. En fehlt aber ebenso oft auch der erforderliche Gefühlston, das Interesse am sittlichen Wollen. Ah Orood, solche Kinder in Anstalten fOr SchvradiBinnige statt in Bettangs* hiuflar so fhnn, sei wohl der ansschla^bend, dab hier weit mehr daa Verständnis für das Pathologische fehle. Die Uoih Verwahrlosten seien hier gut untergelii-acht und der Erfolg spreche dafOr. Die Paychopatben gehörten aber nicht unter diese.

Frau Bieber-Böhm-Berliü nit, oino l?oform der Hcttnn^häuser an- zuregen. Auch findet äiö es nun urmuiicii, waiuiii die Eltern eine soldie Abndguog gegen das Bettangshaus haben.

Dir^Uor Trflper begründet nochmals seinen Wunsdi, die Psychiatrie mBge dort mehr Beachtung Hoden. Zu wünschen seien außerdem be- sondere Anstalten für moralisch Schwache und Entartete

Inspektor Piper-Daldorf hebt hervor, dal's die Kettini^shÄuser wohl ihre Schuldigkeit thun. Die ungünstigen Erfolge resultierten aus dem mangelhaften Verständnis für Psychologie uod Psychiatrie. Delitsch- "Pknaa meint, die Eindn' seien in solchen Anstalten nntensubringen, in denen man individualisiere. Die Bettungshftnser seien su kaaemenmftibief. Ihm vnrd von Piper entgegengehalten, dafs man nicht gerade Ton Kasernen reden könne. Es werden etwa 70 80 Kinder von 8 9 Personen unter- richtet und erzogen. Delitsch-Plauen nennt eine Anstalt, in der Hunderte vou iunderu seien. Da passe also der Ausdruck kasemenmäTsig wohL FOr Schwachsinnige wie fOr moralisch Defekte mfifsten jedoch Amtslten voriiandea sein mit Wahrung des Familienprinzips.

Damit schlofs die Debatte, und wurde zum geschäftlichen Teile ül>ergegangen. Es handelt sich ziuiachst um endgiltige Feststellung der Satzungen. Die provisorischen Satzungen wurden debattelos angenommen. In den Vorstand wurden 5 Herren gewühlt, nämlich Hofrat Pn^fessor Dr. Binswanger-Jena, Professor Dr. Hein-Jena, Professor Dr. Ebbiug- hans-Bieflka, Frofessor Dr. Ziehen-Utrecht, ÜastitntBdixektor Trüper- Jena, SophienhlHie. Diesem engeren Yorstande wurde die Wahl des weiteren Aasschusses übertragen. Der Vorstand hat sich dann noch er- gänzt durch die beiden Schriftführer Dr. med. Strohmayer-Jena und Anstahslehrer Stukenberg-Sophienhöhe bei Jena.

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B. Hitteüangmi.

Axm der VcMuntmlnng benuiB wurde der Yonchlag gemacht, in dem Namen des YereinB das »Allgem. Deataoher« fallen su lassen, damit ea auch den zahlreich beteiligten Ausländem mOglich sei, dem Vereine anzti-

gohöron. Internationa sollte der Vorein ans reh? änfserlichen Gründen nicht genannt werden, weil sonst aucli 'lor Yeraammlungsort international werdeu müsse. Der Voi-sclil&g fand allseitige Zustimmung, so dais also nun der Verein heilst: Verein für Sinderforschung.

Hierauf 8cliio& Ben Direktor Trüper die Vewammlnng, die bia 10 V, Uhr gedauert hatte.

HauptTersammlnng am 4. Anguet

Um 9 Uhr begann die Yereaaunlung bei reger Beteiligung. Auch heute fahrte Hetr Direlrtor Trfiper den Vorsitz. Aua dem geechlftUohen Teile der geatrigen Voi-s^iinmhing wurde znn.'ichst das Eigebnia mitjgeteiit Den ersten Vortrag hielt Hoit Hofirat Prot. Dr. Binawanger-Jeoa aber

Die Hysterie im Kindeöalter.^)

Djis Studium der Hysterie des Kindes bietet ein doppeltos Interesse, ein wissenschaftliches und ein i)rakti8ches; erstens, weil es sich Viel der infantilen Hysterie um relativ einfache Krankheitserecheinungen liandelt, so dals die Elemente der Hysterie leichter erkennbar sind; letzteres, weil in der kmiUichen Hysterie die sdüummemden Anlagen gegeben aind, welche sich bei der Anareifong des Indiyidunms zu achwereran nerrOaen resp. psychischen Erkrankungen entfiziten.

Die Erkrankung der ITv sterie im Kindeealter ist die erste Bedingung einer vemirnftgemafsen Pi-ophylaxe.

Bei der Feststellung des Krankheitsbegriffes »Hysterie« gilt es zu- uichat, einige, in lAiwikreisen verbreitete Ifrfcllmer richtig zu atellax Zu- erst ist zu erwfthnen, dafe die Erkrankung, welche beutanitage noch den Namen Hysterie trftgt, nicht als eine tod der Genitalaphftre ausgehende {vartQu = Gebärmutter) aufzufassen ist Ein zweiter Makel, welcher nn- verdieutei-weise hysterischen Patienten anhängt, entsprinc^ der Erfahnings- thatsache. dafs die hysterischen Ki-ankheitsersclicitnmgen auCserordentHeh wechselnde und flüchtige Bilder darbieten, so dals leicht der Verdacht entsteht, ala handde es sich um eine KiaoJdieit, die von der lAune oder dem Willen der Futienteo abhängig ael Ebenso falsch ist der Begriff; dals die Hysterie eine eingebildete Krankheit sei. Der Ausdruck >pazw iniat^ination ' tiifft n\n" insofern zn, als liei der Hysterie, wie bei keiner anderen Erkrankinif;, das Vorstellun^'sleben in liezug auf die geaamtea körperlichen Vorgänge des Pati(^nten r-ine Holle spielt.

Bezüglich der auatoiuiächeii Grundlagen der Hysterie herrscht noch keine voUatSodige Ehurheit Es ist anzunehmen, dals ea sich um krank- hafte EiregfaaifceitszuatBnde der funktionell am höchsten stehenden Abschnitte

^) Einp ansfübrlicbe Bearbeitaog des TbemaB «d anderer Stelle behUt sich

der Herr Vortrageade vor.

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Bericht über die VeisaromluDg des Vereins für Kinderforschung in Jena. 263

des Centralnorvonsystems, der Grorshirnrindeüelemente haiidolt, welche sich nach zwei RicliiuDgen äul'sern: erstens in krankhafter Steigemiig und zweitens iu kiuokhafter Hemmung der ceutraleu EiTegbarkeit. Die ThStig- loBsi nnaerer nervOsen CeatraloiigaDe} insbesondere der GiobhirDriode, in addier unsere wiehtigsten FanktioDeD (Oesioht^ Oemcb, Qesohnacki GehCr, Bewegungsimpulse etc.) niedergelegt dnd, ist abhBngig von dem Eini8liniiigB> tostand der einzelnen, die Grorshiiorinde zusammenaetzenden Zellen. Der Emähmngsznstand der Zelle ist es vor aUen Dingen, welcher ihren Erreg- barkeitsznstand und das nchtige Gloiche^ewicht zwischen Hemmnng und Er- rpgnnj^ bostinunt. liei der Hysterie ist dieses Gleichgewicht verschoben, und die Zeile luitwortet auf zuflieüsende Bei2e fehlerhaft im Sinne einer gesteigerten oder verringerten Honmung oder EiTegiing. Da die psydluadie Bdhe der HirDtindenprocesae im wesentlicfaen toh dem Mafee imd der Ansdehniiog dieeer materiellen ErregangaroigSnge abhangig ist» eo wird eine Verringeraog dee En^barkeitssintaiideB zu einem AobM tod pqr- chischen l.eiFitnngen und eine Steigerung zu einem Obermalto pBycfaiacfaer

Erregungen führen.

I. Am deutlichsten findet man dieses kraiikiiaftc Verhalten in den Eleui en tur-Störungen von Empfindungen. Die Hautempfind uiig z.B. kann in enegender oder hemmender Biohtung geändert sein mid es kommt n »SenaibilitttaatöroDgeoc im Sinne einer Hyper- oder einer Anästbesie. Beide Zustände lESnoen an gleicher Zeit als hemilaterat bestehen: auf der einen Seite der erstere, auf der anderen der letztere. Auch stellenweise (en plaque) oder auf einzelne Glieder- oder Glicderabpf^hn i tte be- schränkte Zustände der Über- oder ünterempfindlichkeit der Haut kommen vor. Von den lokalisierten Sohmerzzuständen erwähnt der Vortragende die hysterische Coxülgie (Hüftgelenksclunerz), welche die Ursache des hyste- rischen OUdcena ist,

n. Bei einer ganzen Bdhe von hyatniachen Kindern ist nicht die Empfindungsst5ning das Primäre, sondern die Störung der G e f ü hl sreaktion. Das Kind fühlt h&. einem schmerzhaften Reiz "wohl die Berührung, aber die Schmerzreaktion fehlt, und zwar ist dieses Symptom häufiger, als die einfache Empfindungsstönmg. Aber auch das Umgekehrte kommt vor, und das ist bei hysterischen Kindern das Wichtigste eine Steigenmg der Oefühlsreaktion bis ins Ungemessene, so dalB das Kind auf die gering- fOgigaten peripheren Beize abnorm alatk reagiert. Daa Mifaveriiflltnia zwiacheD Irolosaaler Schmerzempfindung xmd geringfOgiger lokaler Beszqnelle erweckt den begründeten Yeidadit auf bestehende Hysterie. Wie vi-I in diesem Punkte die Erziehtmg nützen und schaden kann, liegt auf der Hand. Die pathologische » Wehleidigkeit < ist hysterisch, aber auch das Pnj- dukt fehlerliafter Erzichnng, Gterade die Gefühlsreaktiou des Kindes ist in richtige Bahueu zu leiten, weil erfahrung^eniäls das Gefühl nicht selten die anderen Funktionen behen-scht^ z. B. die Bewegung^mpulse. Ein hyste- rischea Kind, welcbea aidh an der Hand stöfat und abnormen Sobmecs »empfindet«, aohiflnkt nnwillkllrlich die Bewegungen der Hand ein, bis wir das Symptom der hysterischen Lähmung tot nna haben. Die hemmende £inwirirang dee Schmerzes iat beim Kinde enonn wichtig.

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B. llitteilniigen.

BX Die Ändenmg-dffi QefQhkreAktion wirkt otttftrlioh auf die gante PeaBnlichkeit hioaicfaiüich des geistigen Gebarens: der psychische

Habitus des Kindes ändert sicL Es wird reizbar, ventimmt, sornig, ärgerlich, schreckhaft, iliigstlich, Liimisch. Ebenso beeinflussen diese patho- logischen Gcfühlsrc<aktioncn infrakortikale, koordinatorische, mfitorische, vasomotorisjche Centren entweder hemmend oder errep^nd und bewirken Erbrechen, Schluchzen, Weinen und Krämpfe. Beim Kinde ist die Über- tragung von affekthen Beben auf die obeDgenannten infirakoftikslen GoitzeD an sich gesteigert nnd ee ist sowieso schwer sa entsobeiden, wo bei ihm die krankhafte Sdimerzreaktion beginnt Pflicht der Erziehung ist es, durch kräftige Suggestion starke Hemmungen zu setzen, damit die Schmers* leaktion nicht so leicht auf andere Bahnen übergeht.

Wichtif^ ist 7M bemerken, dafs nacli einer einmalitreu Empfindung oft Bchon daö Erinnerungsbild genügt, um alle Gefühlsi'eaktioneu mit ihren Konsequenzen auszulosen, wie die ISmi^ndimg eelbsL 8<äilieiklich bedszf es nicht einmal mehr des ErinnerongsäldeSi indem auch mit anderweitigen Ehnpfindungen verknüpfte Gefühlsreaktionen die krankhafte Übertragung auf infrakortikale Mechanismen herbeiführen. So kann z. B. ein hysterisches Erbrechen, welches ursprünglich durch krankhaft gesteigerte Schmerz- oder Ekelenipfindungen bei der Nalirungsaufnahme einmal auf^treten war, so- wohl durch das EhiDnei-ungsbild dieses schmerz- oder ekelerregenden Vor- ganges ausgelöst werden, als auch sich späterhin bei jeder Nahrungsaufnahme wied^olen, ohne dafs das betreffende BSEinnerungsbUd aufzntsncheD brandit

lY. Bei den schwereren Foimen der Hysterie, welche man als dege- nerative bezeichnet, kommt es auch zu Störungen der Vorstellungs- thatigkeit und des Bcwu fstseins. Abgesehen von den selteneren Sinnestäuschungen findet man bei Kindern häufiger sog. somnambule oder hypnoide Zustände, die bekannten traumhaften Handlungen im Wachzustande, die auf eigenaitigeu bislang noc-h nicht aufgeklärten Stö- rungen der Jdeenassociation beruhen. Es ist hier die Annahme am oSohst- Uegendsten, dal^ einsehie YinateUnogakompleze sich in einem Zustande yod Oberenegong befinden, wfthrmd andere psychische Thätigkeiten erschwert imd gehemmt sind. In dieser Kategorie sind auch die psychischen Infekti<ynen bei hysterischen Kindern zu erwähnen, die Ursache der be- kannten hysterischen Epidemien in Familien und Schulen, bei weichen auf das krankhaft übererregbare und -empfängliche Gehirn des Kindes der An- blick eines ungewöhnlichen oder schreckhaften Ereignisses ^en über- mächtigen und nachhaltigen Eindruck ausQbt und bestimmte mit der er- lebten Seena gletcbartige Ennkheitsecseheinungen wachruft (s. B. epide* mischer Veitstanz u. a.)

Die B(>handlung der Hysterie im Kindesalter ist Aufgabe des Ai-ztes. Enie kräftige Unterstützung findet derselbe in dem oben ange<loiiteten Sinne in den erziehenden Elementen. Das Schädlichste für hysterische Kinder sind hysterische Mütter, und die conditio sine qua non für eine erfolgreiche Behandlung ist eine Trennung der beiden. Die Erkeunnng der Erkiankang liegt dem Aiste ob. 'äsk Inswolen xutreffendeS) aber nicht nnfehlbeies ErkennungazeicheQ der Hysterie auch für den Ijiieii ist

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Bericht über die Yersaminlaiig des Vereins für Kinderforschong in Jena. 2ö5

das Fehlen des von dem Herrn Yortcagendeu näher gescbilderteo Würg- und Lidrefiexes.

Dem Vortrage folgte lebhaft anhaltender BeifalL

ProL Dr. Bdin-JeiiA M im iDteresae der Sflclie für die Heibaztsohe I^jchologie ein, die zaireilea jetst als Teraltet und nur noch von histociBchem Belang betrachtet werde. Man mflflse dodi die grofiae Fdn- hät und Exaktheit der Psychologie Herbarts anerkennen und dflife sie erst dann aufgeben, wenn Besseres an die Stelle pesetzt werden könne. Das ist aber namentlich in der Gefülüslehre k-r>inps\vegs der Fall. Denn welche neuere Schrift könne sich dem Nalilow sky sehen Bnch über das Gefüiiisiübeii zur Seite stellen ? Gerade die physiologisclie Psychologie be- friedigt in der GefOhldehie am wenigsten und wirft uns eher wieder lorQok, wenn sie s. B. die feine Unterscheidung zwischen »betonten Em- pfindungen c und »QefQhlen« aufgäbe u. a.

Prof. Binswanger erkannte die Verdienste der Herbartischen Psycho- logie an, l>etonte jedoch, daC» sie hinstcbtlich der Gefühlslehie nicht mehr vollauf befriedige.

Direktor Tnlper wies ebenfalls auf die Verdienste Herbarts hin. Doch düi-fe man dabei nicht stehen bleiben. Die Herbartsche Psychologie sei der Erglnsung bedürftig. Vieles tauche allerdings als neu auf, was nan bei Herbart schon weit Uarer daigestellt finde. Sodann wies er

auf die Gefaliren der Verwcichüchling des Gefühlslobens, namentlich in der MädcheoerziehuDg hin. Die Trennung der Geschlechter in der Eraiehong sei aiuh aus diesem Ginmde zu verwerfen.

Frau Bieber-Böhm-Berlin sprach dann über

Die ürsachen der Verwahrlosung Jugendlicher.

BaTs so den notwendigen Lebensbedingungen des Individmuns in enter mid letzter Linie gesimde Eltern gehdren, ist selbstvetstftndlidi.

Was Wohnung, Nahmng und Kleidung betrifft, häufen sich die Ur- aw^en der Verwahrlosung, je ungünstiger die ökonomische Lage ist.

Es ist allbekannt, dafs das Wohnen vieler P*^i-snnen in bcschrtlnkten Rftumeu allein Veranlassung der schwersten Schiubi^uuL n in gesundheit- licher und moralischer Beziehung ist. W^er in Ljind und Stadt seine Stadien gemacht hat, der wird zugeben, dafs die elendesten Dorfhütten noch Übertrotfen werden von vielen Wohngelegenheifen der Annen in den Sttdten. Lnft, Lidit und Reinlichkeit kommen hier wie dort zu kurz* Die Trennung der Geschlechter ist oft nicht durchgeführt, das Schamgefühl Wi den Kindern in keiner Weise geweckt, sondern ertötet. Selbst wo kein Schlafgänger\vp«en besteht, Averdcn die Gewohnheiten der Kinder jeden Alters verwahrhjst durch die entsittlichenth^ Angewohnheit vieler Familien, gemeinsame Lagerstätten zu teilen. Die fui-chtbarsten Folgen dieser An- gewohnhdt kann man bei Gelegenheit der Vormnodschaftsthätigkeit, bei den Becberchen in der Arm^* und Waisen pflege kenn^ lernen. BSchst be- daneriich ist^ dafs noch oft die nOtige llnterstützmig durch die Ärzte bei den betreffenden Aufklfirongsversncfaen und ErziehungsTcrsuchen in diesem Punkte fehlt Unter anderem kam es nach dem hygienischen Vortisge

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B. MitteOongen.

fiinoB EuaeiitxrtaB tot, als Jemand im Imat dm Diskosrion die Arbeiter Int, lieber jedee Kind alleio auf einem Stroheadc Bchlafen zu laaeen ah

zusammen mit ibneo in ein^ Bett xu hausen, dafs dieser Arzt diese Mahnung nicht unterstQtzte, eondein geringschätzig meinte, dab bei den beschränkten Mitteln und Räumen der Leute Bolelie Fordening; sich wohl nicht durchführen lasse. Trotzdem hatte deiiselbe Herr den Arteitern Sciiiuken und Eier als geieiuude stärkende Nahrung empfohlen , ohne sich an ihre beschiftnkten Verhältnisse zu erinnern, die ihnen die teure Nahrung «och execkweron werden. Der Unfug, Snder in daa Bett Erwachaeoer XU nehmen, kommt in gedankenkeer Wdae seihet in -wohlhabenden I^milien ▼or imd legt oft mit den Grund an schlechten Neigungen auch in diesen Kreisen.

Zu vreiehe und warme Federbetten dürfen nicht unerwähnt bleiljcn als sehr schädlich, da sie unruhigen Schlaf und Erweckuog Üppiger Neigungen bei den Kindern veraula68eu.

Ungeeignete Kleidung kann nicht nur den Qrund au Krank* heiten wie Erkaltungen aller Art legen, flondem auch au sittlidier Yep> wahrl(»ung ffihren. Gedankonlese Mtitter le|T:en durch Entblölsung ihrer kleinen und heranwachsenden Töchter bei Tanzfestlichkeiten in die Seelen ihrer Kinder die Keime der schlimmsten Verwahrloßuncr, die ich bei Mädchen kenne und die fsich durch bewulstes Anlocken der Milnner, durcli Erweckung ihrer Sinnlichkeit offenbart Wer Gelegenheit liatte, Gespräche nach solchen Feedichlniten an hOren, wenn die jungen Leute »unter sich« zu eem glauhten, oder wer je Bdcfaten junger SOhne vernommen über die Orte, wohin sich dieselben au gehen verführen liefsen, nachdem sie in den Häusern der sogenannten guten Gesellschaft durch mangelhaft bekleidete Frauen und durch den die Sinnlichkeit entfesselnden Alkoholn'enufs ihre Selbstbeherrschung verloren hatten, der wird dies Urteil nicht zu hart finden.

Wir kommen ztu* Nahrung. Ebenso schädlich wie den bedürftigen Kindern eine ungenügende Hungerkoet ist, ebenso kann den Kindern der Beichen Oberffltterung, Befriedigung aller launenhaften Oelflsle YerhAngnis- Toll werden. Reich und Arm gleich verderblich ist der Alkohol in jeder Form. Kinder, welche i-etrelmafsig oder dann und wann Wein, Bier oder Li kern- und Schnaps, Oroi^ und Punsch erhalten, werden in ihrer Wider- standsfähigkeit liegen jede Krankheit £?eschw5cht. Ihr Waclistum wird gehindert, Ihr Leben wird verküriiL llue Denk- und Lernfähigkeit wird erschwert, ihr Aufbssungsldlnnen und ihr festes W<dl»i wird geechwidkt IHe Sinnlichkeit dagegen wird nur zu früh erregt Das Unterscheidunga- Termügen zwischen Kecht und T'nrecht wird gelfihmt; knrs, alle Yoibe- dingimpren der ]ng:endlichen Verwahrlosungen können aus einer Gewöhnung der Kinder an den Alkohol resultieren. Und je früher und aiisfriebiprer dies geschieht, desto furciitbarer fflr die Kinderl Ich sah die Ertlarlx^itor bei der Eisenbahn ihre Keugeborenen sclioii mit der Schnapsflascho erlaben ! Ich sah die Hlittofaener l^idhbfiiger beaeeligt aber den Säugling, der nach dem MaTs Bier tastet loh habe mehr als ein schwlohliches Baby nnaenr Stfinde gekannt, dem der Hansanst an einem tüchtigen Quantum »attrfcendeD«

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Bericht über die Versammlung des Vereins für Kioderforschung in Jena. 267

Ingarwcins rerhalf. vrevv. r1ie jungen Eltprn zn zai^haft wäre«, solche Experimente allein zu untei nehmen. Bei meiiiea Besuchen in den Londoner üeiäügnisseu lernte ich dann den Erfolg dieser unverständigen Oewohnung IB Alkohol anch kenneii. Ungefragt sagten mir alle Vorsteher und Yor- ateherinneo: «Schaffen Sie den Alkohol aus der Welt noA diei Yiertol unserer Gefängnisse stehen leer.« Aullser diesen moralischen Sohidigongen nenne ich die bekannten Bierherzen, Sclirumpfnieren. Xcrvenaerrüttiingen nncl Deg^eneraiion der Nachknmmlingr» als die unbarmherzig' eintretenden Folgen. Werden Kinder daran gewöhnt, keinen Wein, f^i^r nder Schnaps zn erhalten, so können sie auch, wenn sie erwachsen suui , dem unver- antwortlichen Zureden zum Trinken kräftig widerstehen, mit dem gedankenlose MSnner und Frauen einen wahren Sport treibm. Leider be- gegnen wir auch hier schweren Unterlassnngssttnden der Eltern^ Lehrer und Arzte.

Zu diesen verschiedenen Sehädigongen mflfste auch die ungenügende Ruhe der Kinder gerechnet werden, welche bei zn früher "Erwerhsthätig^ keit geradezu aufreibend auf die kindlichen Küiper und Seelen wirkt.

Wer kennt nicht die blassen, hung^rigen, kleinen Gestalten, die als Zeitungsträger, Brotausträger, Kegeljungeu, Laufburschen u. s. w. zum Ver- dienen angehalten werden? Bei NtKsht und Nebel Tom Leger gescheucht, sind sie In den Schulstunden natürlich viel cu mtkde, um aofxupassen. Wie lernen sie aufserdem bei dem QiUßiergewerbe nur Sclilechtigkeit, Gemeinheit und Roheit keonwl Wie werden sie schon zur Yerstellnng und zum Betrn? von klein an angehalten! Bei den kleinen Artisten, die nach dem Ende der Vorstellungen noch nächtliche Probeu mitmachen müssen, kann die nötige Kuho auch nicht vorlianden sein. Die Ge- iriäinung an all die leichtfertigen frivolen Gespräche, die sie dabei anCaofanappen , vergiftet ihre jungen Seelen beiseiten. Endlich scheinen durdi die neuen Bestimmiugen der Gewerbeordnung bessere Schuts- nudkregeb in Sicht zu sein, welche der gewerblichen Beschäftigung der Kinder und der damit im Zusammenhang stehenden Verwahrlosung ent- g^en arbeiten.

Aber auch das nächtliche Mitschleppen der Kinder iu Lokide und zu Vergnügungen der ErwachBeueu übt ebenfalls schädliche Wirkungen auf die Kleinen aus. Es beeinträchtigt die nötige Ruhe, es weckt und festigt die Terguüguugsäudit und gewOlmt den Qesdimack an niedrige Kost Die Kinder der Armen fOhrt man so gut in SpezialitfttenveignQgen wie die Kinder der Reidien. Und wieder ist hier nicht nur die Not der Grund IST Verwahrlosung.

Eine Hauptureache derselben ist natürlich auch eine mangelhafte Er- ziehung. Ehrstens in den Fällen , wo dio Eltern Tag über verdienen müsiüen und keine Zeit haben, die Kinder zu erzielten, wo diese sich selbst und jedem schlechten Einlluis der Stralse überlassen sind. Femer in allen lUlen, wo die Eltern aus Unverstand nicht in der üige sind, ikiitige Enieber ihrer Nachkommen zu sein. Ich denke an einen Fall aus msenn Kinderhort Ein Kleiner hatte gestolilen, Bonbons, SchreiiHttenBilien IL B. w.; der andere Bruder war der Anstifter und Heifenhelfer gewesen.

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B. ICttdlangeiL

Keine OberredungBkQiMle haben bis letzt vermodit, den Yator, in Arbeit war und tagüber sicfa nicht mn die Jungen kOmmerte, znr Ek-

willigung der Unterbringung in ein EIrziehungshaus sa bestimiDeo. Er be- schönigt das Stehlen der Knaben als tKleinigkeitc, Ton der man nicht so viel Wesen niu !ion dürfe. Er überJafst sie ruhig "weiter sich selbst, ist aber gegen die Zumutung des Krzieinint^shauses empört. An(b^r»^ c:ewis.scn- lose Väter setzen uneheliclie Kinder in die Welt mit dem vorlierbedachten Zweck, sich ihren Vaterpflichten, der Fürsoi-ge und Erziehung, von vorne- herein XU entziehen.

Doch selbst durch Mtemi die ihren Kindern gute Lehren geben, kann der Grund zur Verwahrlosung gelegt werden. Wenn diese Eltern nftmlich selbst duifh ihr Beispiel gegen diese Lehren vorstofson, durch Unwahrheit, Ungerec}itigki'it, Ocnufssncht, Versohwenduug, Unrodlichkeit, Selbfitsucht, Mangel au Sellistbeherrschung.

Nicht nur die Diebesmutter in Gerhuid iiauplinauns »Biberpelz^, die bei ihren Kindern fleifsig d«i KatechismuB fiberhOrt, sich aber das ge- wilderte Beh und den gemausten Pelz wohl behagen UTst, sondern auch die Damen der guten Gesellschaft, die sich mit einer Unwahrheit vor einem Besuch verleugnen lassen oder Ober freundlich verabschiedeten Besuch in hämischer Naehrede klatschend herfcdlen, trapen das Ihre zur Verwahrlosung- ihrer Kinder 1mm, denn sie untergraben bei ilinen ebenfalls gegenseitig die (irundlage von Treu imd Glauben: die Wahrhaftigkeit

Wie das Beispiel des Mü£siggangs, der Verschwendung, der Ungerechtig- keit auf Kinder wirkt, wissen wir wohl alla Jeder Vater, d^ genng-> sdhAtzig über das weibliche Geschlecht oder gar Aber die eigene Frau spricht, der in amttoanter Weise die Treue liu hei lieh zu macheu sacht, der fäelbst keinen soliden mafsiEren Lebenswanilel fülirt, kann noch so schöne Lfti'hien den eigenen Kindern gel)en, daö Beispiel wirtl stärker sein als alle entgegeiigcbcUtcu Lehren. Geben die Väter gar so weit wie in der bekannten Sudermannsuhen Tragödie »Fritzchen* , die jimgen Söhne noch SU enkouragieren, etwas »zu eiiebeo«, sich auszutoben, oder fOhien die Vllter gar, wie es die Frediger des uueingeschrlnkten GescUechtsgennesee verantworten mOgen, die in: uren Söhne in Abwesenhat der Mutter in schlechte Hnnser. po piade der Hinimel solchen armen Knal>eu! Wir hatten mit dein Vormundschaftsrichter einen Kampf, um einer verwahr- losten Mutter d.iö Erziehungssreeht über ihre Kinch-r zu nelimen. Er blieb Sieger, und so konnte die Frau, die mit Wissen der Kinder ein sträüiclies Verhiltnis mit ihrem SoUafburschen hatte, durch ihre Suggestion die ganze Willensiichtung ihrer hersnwscfasenden Kinder in derselben unsittliclieii Richtung beeinflussen, wonach die Folg'Mi nicht ausblieben. Ich ktante tagelang erzählen von den Eltern, die bei den unzähligen Versuchen, vor^ znbetitren und zu retten, an jungen nn<1 heninwa»'}i^*'ndon Kindern \ms niciit <;rholf< n haben, oder von Eltern, die die Kettuugsarbeit geradezu vereitelt iiabeu.

Wenn nun auch die Erziehung und alle bisher genannten Lebensbe- dingungen günstig gewesen waren, so kfinnen die Kinder und Jugendlieben doch yerwahrlosen durch SchSdlinge, die von aulhen ao diesdben heian-

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Beridtt ttber die Vorsaininlaag des Yeieias für Kinderforaobnog in Jana. 269

treten. Können wir doch auch t%lieh sehen, wie ein junges IJäumcheu*, trotzdem es Hegen und Sonnenschein und Pflege hat, durch Kaupen und WUrmer veniicbteil werden kann, wenn wir diee UDgeaiefer niciit bekftnipfeiL Sddie Soliidliiige im Haiiae sind gewjsBenloBe DieiiBtboten, die oft schon bei kleinen Eindeni durch schlechte Gewöhnungen den Grund zu sinolicheik Neig^iDgen und Fehlern legen, die die Phantasie der gröfseren Kinder ver- giften durch p-rineine Erzählungen, Mitschleppen in sf-hl' !ite Lokale oder Einschleppen sciUechtei" Liebhaljcr in Abwesenheit der ilenschaft, oder die in schuuaiilicher Weise als Yerfühcr der heranwachsenden Knaben oder de Knpplerimiflii der jungen HuulOchter iluea nnlieUfoUeQ EinflnA «raflben.

Weldie Oebhr Ammen Uber joame IVmiilien gebracht haben, die oft die sohlimmaton Krankheiten auf die von ihnen gepflegten und genflhrten Kinder Qbertiagen, ist eine bekannte Thatsache, die leider immer Dodi nicht zur Abschaffung dieser Personen geführt hat.

Weitere SchÄdlinge im Hause sind nicht nur Schlafbursehen, sondern auch frivole Hausherren und Haussuhne, welche den jugendliehen Dienstmädchen ihrerseits nachstellen, bis diese dann ungewamt , zum Gehorsam und freondHcher Zn^oriBommeoheit dreedert, unter scfameichelndeQ Beden ver- Mhct werden. Eb floUte fOr jedermann eine emete Warnung sein, dals ein so grofser Prozentsatz der Prostituirten dem Stande der Dienstboten angehört, der bisher als eicheister üort alleinstehender Mfldohen ge- priesen wurde.

Die gefährlichsten Schädlinge im Hanse sind für die Kinder ohne Zweifel solche Aftermieterinneu, die aus ihi-er Entwürdigung, aus ihrer Schande ein eintiflgiicheB, aber gemeingefährliches Gewerbe machen: also die geheimen nnd die Oflteotliehen FM»titnirten. Ich erinnere daran, wie bei Gelegenheit der Lex Heinze der Verein Jugendadinls dagegen petitionierte, dafs das Yermieton an solch schfldlidie Personen, diese »Mietskuppelei « straflos gomncht Aveixlen sollte.

Bei der Ausübung (üeses gemeingefährlichen Gewerbes erscheint die Lehre von dem Selbstbestimmungsrecht des Individuums in betreff der Sittiichkeit als gefilhilicfae Irrlehre. Das Beispiel des faulen Lebens dieser Mldchen mit seinem schamlos betriebenen Mtonerfong und den gewöhnlichen Beden, der auf die Kinder der Termietenden Familien fiu-chtbar wirken siufs, stempelt das Gewerbe zu einem ganz verderblichen, selbst wenn mdit noch die schlimmsten Krankheitsfolgen damit verbunden wären.

In der Schule sind als Schädlinge besonders schlechte Mitschüler und -Schülerinnen zu erwälmen, die in schlechter Weise das Denken ganzer Klassen vergiften können, die sie zu unzüchtigen und die Gesund- heit unfeeigrabenden heimlichen Lasten) fiberreden und die nur auf solche Kinder keinen Sänflufi) gewinnen, die durch eigene BLtem oder Lehrer Unterweisung für hygienisches Yerhalten und taktvolle AufldSmng^) über die Entstehung der Mensohen nnd fiber die Verpflichtungen gegen die Nach- kommen erhalten haben.

»Wo kam Brüderchen herV< »Eine MutterpfUcht« u. a. Schriften zu beziehen dncb Yerem Jugendschutz, Berhn C. 2 Kaiser- Wilhehn-Btr. 39.

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B. HiiteQiiiigeii.

Prai Erafit-Ebing betoatf dafe die mdstaa EUle der wideniatOi^ liehen Laster dar Erwachsenen auf die schMiclien Angewohnheiten und Laster der Kinder sich xurflekführoi lassen, die diesen in der Schul* (Inrch. schlechte Kameraden gelehrt worden sind. Rcktoion, I^hrer und Lehre- rinnen als die berufenen ITiit'^i- in der Schule, die sich noch länger dieser Pflicht des Bewahrens entzielieu würden, nachdem ihnen die ganze Ver- antwortlichkeit für die Rettung oder Yerwahriosung ihrer Schutzbefohleueu auf die Seele gelegt ist^ naehdem sie Aber diese Vorgänge und ihre "Feigen orientiert sind wird es hoffentlich nicht mehr hinge geben. Das Fftrsovgegesetz bietet gute Handhabe. ÄufklArung giebt die TorsQgUche Schrift von Prof. Herzer »Wissenschaft und Sittlichkeit« , zu dem Prof. Ilai-nak, Rektor der fierL Universität, eine vorztigiiche Vorrede ge- schrieVieu hat. ^)

Als Schädlinge im Erwerbsleben giebt es unter den schon verdorbenen Elementen der Mitarbeiter und Mitangestellten solche, die keine Ruhe haben, bis sie noch Unverdorbene auch in den Sumpf heiabgezogen haben. Das gilt Ton Männern ebenso wie Ton Frauen nnd MHdchen. Die gewissen- losen Prinzipale, Inspektoren, Werkmeister, Vorarbeiter, die sich duroh schöne Versprechungen cxhn- Diolnmcren die sittliche Verwahrlosung ihrer Aiig'eBtellten angelegen sein hissen, fallen zum Glück immer allgenoeiner dei' Verachtung aiilieim. AubgeuommtMi sind leider iio<;h die lieben Ver- wandten, die bei Verfehlungen gegen Fremde immer genügend Entschuldigun- gen zur Hand haben. Fehlte es do<^ sogar bei dem skandalösen Prooeb Stembeig, der in 8tut(;gart und EOln seine Nachfolger gefunden hat, nicht an &eun«llichen Entscholdigern. Ob aber diese Art Lebemänner, die Kinder schon an sittliche Verwahrlosung gewöhnen, nicht zu den schlimmsten Schädlingen gehören? Ob sie nicht auf einer Linie mit jenen dunklen Ehrenniüiinern stehen, die vom weifsen Sklavenhandel leben, d. h. die unter falschen Voi-spiegdungen unerfaiu-eno Kinder au sciüechte Häuser verkaufen? Ob sie nicht auf einer Linie mit den Kupplern von Schankwirten stehen, die gleitende od» schon gesunkene jugendliche Hidcihen für ihre KeUne- rinnenkneipen migagieren, um durch Animieren zum Trunk und zur Sitten- losigkeit nicht nur Junggesellen und Strohwitwer, sondern auch zahlreiche Scln'üer, unsere eigenen geliebten Knaben, in den Abgrund der Verwahr- loßung zu ziehen?

S(»\veit Uiiterlialtung in Frage kommt, spielen die Animierlokale mit Kellnerinnen eine verderbliche Holle. Hesitzer von Singspielhallen und TOD Fin de eidcle-Theatem stellen sich ihnen mit ihrer Spekulation auf die niedrigsten Instinkte der Menge ebenbflrtig zur Seite. Und was elende Zeichner, Entwflrdiger der Kunst durch zweifelhafte Bilder, Postkarten, Kinematographen zur Verwahrlostmg des Gesehuiackes der Kinder und Jugendlichen thun konnten, das hat man an den Scliaiifenstem zur Genüge l)Cobachtet, wenn Bich nach Scinilscliiufw schon die kleinen Knaben vt.r soleiien Fenstern und Kinematographen drängten und mit Satyrmienen sich gegenseitig die betreffenden Unfeinhdten eridirten. Man atmete ordeotiloh

1) Dnzoh Bonan des Veniin »Jngendsohnts« Beriin GL 2.

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Bexicht über die Vexsammlniig des Vereins für Sindeffofsidraiig in Jena. 271

an^ als naoh der Lex Heime diese UmnöglichkeiteD naoh und oadi xet- sohwandeii. Leider wagen sie sich langwam -wieder hervor.

Elinen Löwenanteil an der YerwafarlosuDg unsercr Jugend haben solche Schriftsteller beiderlei Geschlechts, deren unheilvolle Suggestion durch Ver- lierrlichuug der »freien Liebe«, des »Auslehons der Pei-sönliehkeit-r, der 5 Herren moral«, des j iiotwoadigen Übels« und wie die Sclüagworte alle iieüseu, bei dem beklagenswerten Nachahm uugstrieb der Menge eine i3oheme unter der heranwachsenden Jugend gezüchtet hat, welche wahrhaft be> Ulgenswert ist. Auf einige weibliöhe Battenttogerianen unter den Schrift* sleUerinnen und deren Suggestion einzugehen, rnnCs ich mir Teraageo. Aber das ßebelsohe Buch »die Frauc will ich mit Trauer erwähnen. Prof. Dr. Grui>er sagt davon, es sei »eines der iii]be.«;onnen8ten und ver- möge der ücwalt seiner Sugg-estiou eines der venUM'ltlichsten Büehor, die je ein edelherziger Scliwarmgoiöt gesckrieben hat*. Dals die durch die Suggestion von einem Kecht auf unbeschiäukten OenuTs grolsgezogene Boheme unter der heranwachaendeo Jogend mit Macht unser Yolk abwärts xiefaen wird, ist gewils wenn es nicht gelingt, eine gesunde Gegen- strömung zu stärken, welche von den Pflichten des MDseJindiTiduums für die Gosiinitheit ausgeht,

Koiumeii wir nocli einmal zu derjenigen Lebensbedinsnintr zurflck, dio /wii' als not^Yendig•ste erkannt hatten, zu der Gesumlheit der £ltern, so will es scheinen, dafs der ganze wichtige Einfluis der Vererbung in nnfaegraifticher Weise bisher weiteren Kieiaen veischwiegen worden ist Und doch %ar die Tbataache, daTs die unschuldigen Kioder fOr die Sflnden der Täter gestraft werden bis ins dritte und vierte Glied, schon zu den Zeiten des alten Testamentes nicht unbekannt. Lesen Sie selbst nach in den medizinischen Schriften, die in dem Verzeichnis des »Vereins Jug-cnd- schutz« empfohlen sind und die auf der ersten AussteUung für Fmuen- hygiene in Petersburg ein Ehi-endiplom erhalten haben. Dann brauche ich Ihnen die traurigen Thataachen und alles Elend, das der Mangel an Selbstbehenschung bei den Knaben und jungen Männern später fiber ihre Familien bringt, nicht zu schildern. Joste könnten Ihnen dies bestätigen. Warum entschliefsen die Ärzte sich so schwer zu einem vorbeugeiuhni maluienden 'Wort an die lieran wachsende Jugend? Seit Jahren schon tont unsere Bitte, die Bitte -N^i^sendor Frauen, an ilire ( ihivn, und wie klein ist uocli die Zalü der Auirichtigen, die infolj^lessen aU Helfer, ala Freunde, als Warner zur Jugend sprechen. Und doch ist die heranwachsende Jugend nicht von Stein, sie ist bildunga&hig und der Aufklärung wohl zugänglich. Üaseie Knaben würden die Folgen ihies Austobens scheuen, wenn sie ihnen bei 2Seiten klar gemacht wünlen. Mich dflnkt, gerade die Kenntnis von den Folgen der Vererbung der Alkoliolfolgen wie die Vererhiing der durch immoreJisches Loben erworV)enen infoktionskrankheiten aiif die Kinder, die sich nur zu oft in Idiotie, Gehirnläiiiuung, Epilepsie äulseru, die sich oft erst in deo Entwickelungsjalucii bei den Kindern durch Gelenkentzündungen, 'ItoblMit, Erblindung aeigen, mttbte in den Instigen Leutnants* oder StndeDtesaeiten genOgen, um jedermann von Trunkenheit und unsittlichein leben lurOdoohalten. Die Tragödie von Ibsen »Gespenstere beruht leider

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B. Mitteilungen.

nicht auf Phantade, sondern Prof. Fournier, Prof. Kendel 11. a. haben

die traurigsten Beispiele konstatiert: z, B. RQckgang der InteUigenz, edüeciitB

Ändonuif^ des Charakters, Neigung zu üblen Gewohnheiten, zu Fehlern und sclilechten Trieben, die früher nie bei den Kindern beobachtet wurden, bis Rückonmarkskrankheit und Blödsinn dem jungen Leben ein Ende machen und erbiiche Lues als Krankheit zu Tage kam. Wenn Mütter diese Dinge wüfsten, würden sie sich nicht ontschüelsen, von dem um ihre Tochter vetbenden Freier einen Qesundheitfleobein ku Teriangen? Lieben äe dann nicht die biahetige Scheu firiiren und spitchen beiaeiten mit ihren Söhnea über ihre Pflichten gegenüber der Geountheit? Ich komme znr Sehlufsfolgeninsr:

In allen den genannten Punkten retonnieren zu helfen, ist notwendij^, Inn der jugendlichen Verwalu'losuut^ zu steuern! Welch eine segenljringende Maelit würden tiie Litern, besonders die Mütter sein, welche ilire Söhne und TSehter zur Pflicht einea iBeuachea Vorlebens und eines treuen Ehe- lebens ersiehen vfirden, in der vollen Erkenntnis, daJa dies der etnsige Weg ist, der zur Qesundh^t und zum Wold der Nachkommen un<I der Mitmenschen ftlhrt. Wir brauchen solche M (Uteri Aber erst wenn Hand in Hand mit ihnen die Lehrer und Lehrerinnen unserer Schulen in demselben Sinne thäti^ sind und die Politik des Totschwei e:en8, des Vo^lstraufs- spielens zum Segen der Kinder verlassen haben ; ja, erst venu als Dritte im Bunde alle ethisch dodioiden Elemente unter den Inten ihnen die Kod idchen, 'wenn diese vorbengen helfen wollen durch Auftlfirung und Oe> sundheitBlehre imd AbhArtra und fn-imüti^es Verurteilen von Alkohol und Cnsittlichkeit, wenn sie die künftigcD Eltern auf die Stiufbarkeit der An- steckung nach dem Strafgesetz unermüdlich hinweisen werden, dann wenlen diese drei vei-einten flächte eine solcli starke Suggestion auf die Jugend ausüben, dafs die Gegen versuche der schlecliten Elemente ohnmächtig an unsern Lieblingen abgleiten werden.

Lassen Sie mich allen denen dankmi, die in diesem Sinne schon heute mit uns wiricen, und hissen Sie mich ^e Bitte ansspreoheOf sich fest au diesCTi Zweck zusammen zu scliliefsen. Dann ist mir für die kommende Generation und deren S(;hntz nicht bange. (Lebhafter Beifall.)

Ibrr Dr. Keferstein führte zu diesem Vortrage noch an, dafs noV>en dem mangeiüücu pÄdagogisehen Sinne der Väter und Mütter dem Ind\i- strialismus mit seiueu Kunsetjuenzen (frühe Ehe, zahlreiche Kioder ohne Erziehung) die Hjauptursache YerwidirloBung zususoiireibeQ sei AnÜaec^ dem fehle es bedauerlicherweise der Oeaamtheit an dem GefOfale der Yeiw antWOitimg für fremde Kinder.

Nach einer Pause hielt Herr K^giemngs- und Medixinalnit Prof. Dr. Leu bu sehe r-Memingen einen Vortrsg^:

Ȇber die Sohula ratfrage. Praktisohe Ergebnisse der aohulftrztlichen Thfttigkeitc

SchulArzte sind bisher ausschliefslich in grOfsei'en und kleineren Städten angestellt worden. Meist hat die Wiesbadener Einnchtung als

Der Yoxtiag eisdieiot demnidiist in erweiterter Gestalt

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Berieht ttber dte Tenaaunhuig des Yeteins für JEmdeifandhiuig in Jent. 278

Xnster gedient Ilndüdie QeDMindeii eniMzw biaher dieser Xnatitatieii, weil hier Bchwierigere YerldltDiase TOiliegeii. iDabeeoodere dflifte ome itftsdige Kontrolle der Schfller durch den Arzt nicht möglich sein.

Im Herzogtum Saohson -Meiningen sind Schulärzte seit dem vcr- gaugenen Jahre in Tiulti^keit. Das Herzogtum hat nur wenig Städte über 10 000 Einwohner; dta- gröl'ste Teil der Bevölkenmg wohnt in Land- gemeindeu. Der Charakter der Bevölkerung iät mhr verschieden. Zum Teil en&iireD eich die Bewohner von Idodwiitodiaft, zorn Teil von Li- dostrie, imd zwar in Fabriken nnd im flanea Die letetere namentlich rnnTB EinfluTs auf die schulpflichtige Jugend haben, da durchacihnittlieh (}erBell:>en in der Hausindustrie beeohAftigt wird nnd ihre Art zuweilen gesundheitliche Ge&hren bietet.

Im vorigen Jahre wurden sämtliche Kinder r Volköschiden , in diesem Jahre auch die Schüler der höheren Schuiuu imtersucht Als Schul- Inte foDgieron nicht imr die Phytici, eandetn auch andere pnküsdie inte, im ganaen jetst 33. Der SchnlanEt hat meiat aeinen Sita im Gentrmn des TOD ihm zu versorgenden Bezirkes und ist, wenn irgend mO^dx, dar Arzt, der auch sonst die Praxis in den betreffenden Ortschaften sosQbt Auf einen Arzt kommen jetzt durchschnittlich 1200 1500 Kinder. Ans der für die schulArztliche Tiiätigkeit erlassenen Anweisung ist hervor- zuheben: Der Schularzt hat die ihm zugewiescuou Scliulen zweimal im Jahre zu besuchen, einmal im Frühjahr, einmal im Herbat Bei dem ersten Beanche weiden aftmtliche in die Schale neu eingetretenen Kinder auf ihren Qeeundheitasoatand imteisaoht und der Befand in den »Oeamidhelta- bogen« eingetragen, an§^eich mit der Anweisung, was im Falle vorgefondener Abnormitäten zti geschehen Int Von den Angehörigen des Kinde«? ist ein fragebögen über friih-^ro Krankheiten f\n?^zufüllen. Bei dem zweiten Be- suche bind die Kuabt-n des letzten Sciiuljahres liiiisiehtlich des von ihnen an ergreifenden Berufes zu untersuchen, SchuigeUiude und UtensiUen zu beaichtigen. Am Ende einea jedoi Jahna iat Bericht an die Behfltde so eiBtatten. Im ersten Jahre der Schiilaixtanrichtnng wurden lamfliohe Schtiler der Volksschulen untersucht Hand in Hand mit der SohuIanEt- einrichtung ist für bessere liygienisclic Vorbildung der Lehrer gesorgt worden. Im Winter werden im Lehrerseminar in Hildburgbausen hygieoische Vorträge gehalten.

Die Lehrer lubeu sich der neuen Einrichtung gegenüber durchaus entgegenkommend verhalten. Eompetenakonflikte haben aioh nicht efgeben. Die Beeoltate der eratmaligen Üntereochangen (von etwa 40000 Kindern) rind natfirlich aehr verachieden ausgefallen.

^^ 'hstönmgen waren in den Städten zahlreicher, als auf dem Uandc. (Stadl Meiningen ca. 15 18 7©; Meiningen ca. lO^o- ^^^^ IIM-

burgliausen 13 % ? Land Hildburghausen G %.) Nur Landwirtachaft treibende Bezirke (Kamburg etc.) kitieii meist sehr niedrigen Prozentsatz von Seh- >tllnu)gen (2,4 7o)- Gegenden mit gewiaeen Hauainduataden zeigten adi eihebliche TOfiflftnnn auf die Sehoigane. Schweifaflrigkdt war nur in eoDidnen I^datriohen starker vertreten (KraiB SaaUeld) und hing andh oft vmi der weit veitareiteten SkrofohMe ab. LongentnberindoBe war unter

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B. lütteflnngeii.

den Schulkindern nicht bftafigi trotz der grofsen Verbreitung dieser Krank- heit unter den Erwachsenen mancher Bezirke. Unter 1 1 835 Kindern des Sonnel>erger Ki-eijjes fanden sicli nur 45 Kinder mit Lungentuberkulose. Dagec^en ist die SkTof^lio^c aufseronlentlich unter den Kindern dieser Bezirke verbreitet und giebt sicher in späteren Jahren den Anlafs zum Auflbnich der Lungeataberknloflei Aooh Nasen -Badiflnerkwakungea dnd im Znflammenhange mit der Skrofuloee reoht sahlraidi. HeExkzaokhttteD fandeo sich hftufig im Wenafbal, aber nur «um Ueinsteii Teile oiganiedier Natur.

In manchen Gef2:endcn fanden sich viele Kröpfe vor, bis ca. 33®/o, ohne ersichtliche Ursachen. Die Zähne waren violfa'-h schlecht. In Kömbild z. B. wai-eu unter 300 Kiudem nur 3 mit völlig gutem Gebük

firuGhacfaideii mien beaandeis in der Gegend von LanBcba hlnfig; NabelbrOdie besonders in der Qegend von SdhaUkaa

Speziell vrurdc dann noch auf Wirbelsäuley^iegungen, Bantp erkiaakungen, Ungeziefer geachtet, sowie darauf, ob die Kinder herrORagend geistig zurückgr^blicben waren.

In diesem Jahn^ wurden von dem Vortragenden auch die Schüler des Oymnasiuuhs und Reaig3rmnasiums in Meiningen untersucht Aus dem Er- gebnisse wäre anzuführen, dafo bei 34 ^/^ Sehstdrungen sich fanden, auch dab HenknmUieiten nicht selten waren. Für das Entstehen der letzteren kommt bei diesen Schfllem zuweilen noch das Radfahren in Betracht Von den 309 Schülern waren 120 Radfahrer!

Schulgebäude und Schaleinrichtungen boten Anlafe zu mancherM Aus^ Stellungen.

Der Nutzen der Schularzteinrichtvmg liegt in Besserung der individuellen Hygiene der Schüler und in Besserung der Schulgebäude imd Schul- euuichttingen. Kindern mit knuiidiaften Störungen mflsaen dementspreohende iisfüche WeisungMi gegeben, bei mangelhaften Schnleuiridilimgeii Voi^

Stellungen an die Behörde g^e Hebtet werden. Die Abstellung der Schiden kostet allerdings viel Geld und kann auch nicht plötzlich, sondern nach und nach erfolgen.

Praktischo Ergebnisse las.^en sich deshalb erst nach einer längeren Zeit erwarten. Aber sciiou jetzt ist mancherlei Wichtiges zu konstatieren. So teilt der Hildburghfluser Fhysikns mit dafh von 161 Kindern mit Oe- Bundheitsatörungen 104 bei der Beviaon als gehdlt beieiohnet werden konnteo.

Li Sonneberg ist eine spezielle Unten ichtsstuode in gymnas tischen Übungen für Kinder mit schiefer Wirbelsäule imd auffillig schlechter Haltung eingerichtet worden. Klassen für schwachbefthigte Kinder bestehen bereits an einigen (Ji-ten, in anderen Oi-ten weitlen sie errichtet. Skrofulöse Kinder kamen in das Kludci-äolbad Salzungen, andere in das Landes- krankenhaua oder die Kreiskrankenhiuser. Eine besondere Anfmerkaamkeit wird der ESniichtung von Bransebfldem in den Schulen gewidmet werden und wird man diese soweit als möglich fördern.

Um die Staubentwickelung in den Sohulstuben möglichst zu beaeitigeo, hat man jet/t Vorcuche mit den sojgenannten Fufsbodenolen gemaclit. Soweit Berichte darüber vorliegen, war der £rfoig aufserordentUch guL

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Bericht über die Yeräammlang des Vereins für Kindarforschnng in Jena. 275

JedeufaÜB dart man nach den bishehgen Resultaten annehmen. daCs der Vermich. die Schnlarztfrago staatlich zu regeln, gepflückt ist. wenn auch vielleicht im einzelnen noch manches geändert werden muTs. (Leb- hafter BeifidL)

Dbb Woit soflü Yortnge engriff soerat Direktor Dr. Jnst-Altenburg:

Diese Ausführung in Meiningai bestätige die Möglichkeit einer Lösung der Schularztfrage. Man könne ja auch meinen, dafs die Lehrer hygienisch 80 gebildet werden konntf^n, dab es eines Schularztes nicht bedürfe. Doch halt'^ or das für unmöglich. Er bedürfe eines ebenso grundlichen medizinischen wie hygienischen Studiiiius, um in den in Betracht kommen- den Fragen ein richtiges, sachgemäräes Urteil abgeben zu können. Nicht einmal jeder Ant werde ein tüchtiger Solialant sein. Welchen Segen aber die Thttigkeit des Schohrstee habe, seigtra die AnefOhningea der Herren Vortragenden in überxengender Weise. Wenn daher der Arzt den Lehrer in seinem Werke unterstützt, so ist er wie ein Verbündeter zu begrüfsen. Gewifo liege in der Stellung des Arztes zum T^ehrer die grCfstc Schwierigkeit Doch hoffe und wünsche er zuversichtlich, dafe die Schularztfrage auch an anderen Orten nach dem Vorbilde Meiningens ge- löst werden könne und möge.

Dr. Spitsner-Lcipzig sollte der Mdninger B^enmg fOr die Be- «nmenheit, mit der die SofaulaiztdnriohtDng dnrohgeführt worden aei. Dank. In Sachsen lägen die Verhältnisse teilweise anders. Da habe der Arzt auch die Feststellung der geistigen Befähigung zu besorgen und die Kinder dementsprechend in drei Gruppen zu sortieren. Hier müfsten sich doch Arzt und Lehrer verständigen; auch dürfe die Erfahrung des Lehrers nicht einfach beiseite gesetzt werden. Für Seminaristen genügten nicht bloDse Vortragsabende, sondern die Dinge, um die es sioh hier handele, mllftten im planmAfeigen Unterrichte mit behandelt werden.

Dr. Strohmtyer-Jena wflnscht, daJh der Sohtüarzt p^hiatrisch gebildet sei. Die Frage, ob das Kind geistig abnorm oder normal sei, habe der Arzt zu entscheiden und dürfe nicht der Empirie des iLehrers überlassen bleiben.

Demgegenüber meint Dr. Spitzner, dafs der Lehiei mit einem anderen Normal itätsbegritT operiere wie der Arzt. Dieser urteile nach dem Gesnndheitsbegriff, jener nach seiner Vorstellung von der Bildsam* kett des Kindes. Beides sei durchans nicht identisch. Wenn aber der Lehrer nnfiUiig sei fOr die FeststeUung der allgemeinen geistigen Be- schaffenheit der Schulkin Irr, so sei es dem Arzt dodi erst recht eine Unmöglichkeit, Norraalitilt o<lcr Abnormität im Sinne der normalen oder pathologischen Bildsamkeit zu konstati^mn. da er die Kinder doch allzu Belten .sähe und ohne pädagogisch-ptyi liul -Liseho Untersuchung nicht urteilen könne. Geistige Fähigkeit könne nur der bcätimmen, der die Kinder täglich um sich habe.

Dr. Strohmayer erwidert darauf, dab der Entscheid über den Grad der geistigen Befthigung für den Schulunterricht natürlich in der Hand des Schulmannes liegen müsse, das Drteil über »schwachsinnige oder »?oUsinnigt stehe bei dem Arste. Einer p^chiatrisohen Begutachtung

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B. Mitteüuiigen.

bodürfteii namentlich die Kinder, die bei vollständig genügender, ja sogar gläQMDder intellektueller Begabang p^yohimh abnorm, d. b. Nemo- oder PiiTchopathen sind. In dueem Pankte bOrta dooh die einiaohe Er- Ikbrungf des Lehrers auf.

Dr. Spitz ner bemerkt hierzu, dafs selbstverständlich eine Be- eintrilchtigung der Biidsamkeit durch einen Krankheitszustand auch eiue ärztliche Begutachtung des Falles nötig mache, dafs ab<^r diese die besondere pädagogische Beurteilung nicht ersotza Beide zui>aaimen erat gftbea daa riobtige Bild.

Prof. Dr. Leubnaober wendet aiob soalobst gegen die Inlbernng Dr. Spitzner B, nodi ein Unterrichts- und damit ein neues Examens- fach für die Lehrer zu schaffen. Sodann hebt er hervor, dafo doch anoh in Meiningen der Arzt bei Feststellung der allgemeinen geistigen Beschaffenheit ein entschiedones Wort zu sprechen habe, nur werde dabei die Meinung und Erfahrung dos Lehrers nicht beiseite geschoben, viel- mehr gingen Arzt und Lehrer in solchen Fällen zusammen. Bs bfttten aieb bia jelst auob ketneilei Kompetonskonftikte bemerkbar gemacht Biese lieben sich sehr wohl vermeiden.

Dr. Spitzner hebt nochmals hervor, dafs er aioh durchaus ein- verstandrii orklärcn könne, soweit die psycho-hygienische Seite der Schularzttrdge ein Zusammenwirken von Arzt und Lehrer in bestimmten Fällen von Krankheit bewirke. Die Aufnahme schulhygienischer Stoffe in den Lehrpian der Seminarien denke er sich nicht als Einführung eines neuen üntaniehta fache aondeni ala Erweiterung oder VerbeaBerung ge- wisser Unterrichtagebiete.

Direktor Trüper-Jena: Die Kompetenzkonflikte würden vermieden werden, wenn die Schularztfrage nicht in bureaukrntischer "Weise gelöst und gehandhabt werden würde. Dnr Arzt dürfe nur Berater der Schnlo, nicht aber Aufseher der Lehrer werden und damit die Borochtigung bekommen, den Lehrer in seinem Berufe zu bevormunden. Was zu seinem Erzieher- bemfe an hygieniBcher Torbildnng nCtig sei, mfiaae im Seminariehrplan vorgeaehen aein. 80 geordnet, wie ea in Ifeiningen geschehen aei, würde kein Lehrer sich gegen den Schularzt sträuben, sondern ihn ala Mitarbeiter am Werke der Jugend freudig begrüfsen. Wenn der Herr Referent eingangs von einer Gegnerschaft der Lehrer gesprochen habe^ so sei deren Mifstrauen sehr wohl zu verstehen. Manche Forderungen, die in der Sohularztirage früher erhoben seien, bedeuteten übergriffe in die Eompetena der Lehrer und damit Angriffe gegen die BeruCaehre des Lehreratandea, und die Form, in welcher dieae Forderungen manchmal nun Ansdrock gekommen, hätte gmdezu verletat Dann dflrfe man msAkt ▼etgesseni dalia die Schale und der Jjehrerstand in allen Instanzen schon von Personen aus einem anderen BemfRstindo beaufsichtigt und er in seinem sittlich berechtigten \ind gewifs bei ihm nicht übertriebenen Standee- ehrgefühl verletzt werde. Kein anderer Berufsstand würde tso behandelt. Neben der geistlichen Schulaufeicht hätte man in Leipzig noch einen beaonderen Zeiöhneninapektor eingeftthrt, und nun kftoe noch noch dor mediainiacdie Inspektor. Käme aber der Ant, wie der Befersnt ea dttr-

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Ein Fortschiitt in der Lohierbildiuig.

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legt, als beliender Ratgeber in die Sohule^ 80 wQide der Lebientand ihn «iomatig willkommen heifsen.

Seltetverständlich habe der Lehrer immer den Arzt zu Rate zu ziehen und bei einer wirklichen Geisteski ankheit habe nur der Arzt zu entscheiden. £r arbeite schon seit 11 Jahren mit Ärzten zusammen, doch aeitt daniiis noch niemals MiMeUigkeiten entstanden. Im besten Ein- veroebmen hitten sie aooh oft Uber ünterriobts* ond Bniehungsartwit teateDi nnd auch hierbei hfitte das Urteil des Arztes nur fordernd gewirkt

Auch Inspektor Piper- Daldorf wünschte, dafs der Arzt dem Lehrer ein Helfer in der Not sei. Der Führer gebrauche ihn notwendig, aber flicht als Aufseher, sondern als Ratgeber.

Prof. Dr. Leubuscher meint, dafs doch wohl nicht alle Lehrer der Sache so wohlwollend gegenüber ständen, wie es nach der Debatte scheinen aifidhte. Doch betont Direktor Trilper nochmals: wflrde die Scholant- iiige so gelflst wie in Ifoiningen, so sei wohl kein Iiohrer der Sache abgeneigt.

Prof. Dr. Zimmer-Zohlendorf bemerkt, dafs wohl Interesse bei den Lehrern filr den Schularzt vorhanden fiei, ob abnr auch in crlnirhnm Mafse bei den Ärzten? Es könne ja auch der Anschein erweckt werden, als ob dei Schularzt etwas vor seinen Kollegen voraus habe. Auch kOnne dodi der Schularzt seinen Kollegen in demselben Orte schaden.

Frof. Lenbn scher teUt mit, dab derlei ÜbeMnden in Meiningen da« durch Torgebeagt sei, dafa der Arzt Schnlant sei, der auch sonst seine Praxis in der Gemeinde ausübe. Auch involviere die Untersuchung und Feststellung- einer Krankheit bei einem Kinde duroh den Schularzt keines- wegs die Behandlung durch denselben.

Direktor Trüper: Auf die rechtliche Handhabung der Fragen komme sehr viel an und um so mehr, als die Schule und der Lehrerstand in Dandien Staaten noch raohtlos daatahen und damit der BeamtenwilMr preisgegeben seien. Seit 1817 hfttte Preoften mindestens ein Dutzend Vortagen für ein Schulgesetz gemacht, aber es sei jede abgdefant worden. Jetzt ist Preufsen dank dem Parteiunwesen so weit gekommen, dafs ein Schnlcrf^pM/ ohne die Zustimmung in Rom nicht zustande kommt. Die Schuiarztfrage ist dai'um vom Standpunkt der Theorie einer Schulverfassung ans zu beleuchten. Wer Lehrer braucht, wählt uud besoldet, sollte auch Schul&rzte wählen uud besolden. Mit einem Daukesworte an die An- weoondsp für die rege Beteiligung sohlofs darauf der Vorsitzende die dieqfthrige Versammlung.

2. Bin Fortschritt in der Lebrerbildnng.

Im Jahre 187H srellte der bekannte Irrenarzt Laehr crplf^p^cntlich eines Vortrag(^ über den ijintluis der Schule auf die Verhindeiuug von Geisteskrankheiten (Bericht in der Allgem. Zeitschrift für Psychiatrie Bd. XXTT, 216 ff.) im Kreise seiner Berufsgenoeaen die Forderung auf, es mflchten diejenigen Mflnner, die sidi der lidagogik widmen, auch in der Pathologie des Qehiins sweckentspreohend unterrichtet werden. SpUer

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B. Mitteilungen.

haben sich Männer der medizinischen Wissenschaft, wie Krafft-Ebing^ u. a., in demselben Sittne geäufsertf aber es bat lange gedauert, bis in dieser Beziehung ein Erfolg eingetreten ist Wir selber kOnnen es niemals vergessen, daJls ans auf der Qeneralveraunmliing des YerauiB Ar wissen- schaftliche Pftdagogik sa Jena, wo wir (1890) Terlangton, dals in den Seminare im Anschlufs an die Psychologie auch die wichtigsten pathologischen Erschoinnnpcn borührt würden, von im übrigen sehr angesehener Seite mit den Worten begegnet wurde, das gehe nicht an, sonst mülste man am Kopf der Seminaristen noch einen Anbau machen. Indessen liefsen wir uns nicht irre machen und wiederholten die Forderung nachdrücklich in unserer Schrift »QeiBtesstOrungen in der Schale« (Wiesbaden 1891). HitUsr- weile sind nun die »Methodischen Anweisongen für die prenihischen Lehier* Keminare u. s. w.« erschienen. Darin heifst es wörtlich : »Bei dem Untarricdito in der Psychologie . . . sind in einer dem Standpunkte der Zöglinge ent- sprechenden Weise mit Hilto reichlicher Veranschauiichünf^smittel ... die Entwickehmg des seelischen Lebens im Kinde nach ihrem normalen Vers laufe und ihren wichtigsten pathologisc hen Zuständen, sowie die hauptsächlichsten Vorgänge und Zustünde des Seelenleliens und ihre Ge- setze cum Terstftndnis au bringen.« Hoffentlich werden nun die Seminar- zCglinge mit der Sache in einer Weise vertraut gemacht, dafs es eines Anbaues am Qehirn nicht bedarf. Vielleicht ' aeifft unsere Zeitschrift mn- mal praktisch, dafs er nicht nötig ist Ufer.

8. OesellAohaft Buin Schntze anotmaler Kinder in

BrüsseU

Das Intnesse fflr die anormalen Kinder beginnt skdl allenthalben

mächtig zu regen. So hat sicli in Brüssel eine Vereinigung gebildet, di0 sich nennt Soci6t6 Protectrice Do L'Enfance Anormale.

Tn ihrer Einladungsschhft zum iieitritt umschreibt sie diesen Zweck

folgeudermafäeu :

»Zweck der GeseUsohafI ist, mit aUen ihr zur Gebots stehenden Mitteln und mit aller Macht den motalisch wie physisch anormalen

Kindern Hilfe und Schutz zu teil werden su lassen.«

»Zahlreich sind die Kinder, welche aus dem einen oder anderen Oninde die öffentlichen Erziehungsanstalten nirht Kesuchen können. Die kleinere Zahl findet Aufnahme in besonderem Aiihlalieu, welche der Staat für sie geschaOTen hat. Die Mehrzahl dagegen mufs notwendigerweise ver- nadüAssigt werden, denn keine Organisation ▼erschallt auf wirksame Weise die notwendigen Mittel fQr ihre Wiederherstellung und weitere Bot- Wickelung.« »Die Arbeit wird daher sehr umfangreich sein. Sie wird zunächst darin bestehen, sich mit dem einen Teile der Kinder zu beschäftigen, die aus den Hilfsschulen entlassen sind, um diese Kindor während der Lehrzeit zu unterstützen, wie auch, um ihnen auf ihrem Lebenswege Hilfe und Hat zu teil werden zu lassen. Zum andern wird unsere Aufgabe die sein, nach richtigen Mitteln zu forschen, um die

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Eme inieniatioiMle Ooeltoehaft fOr das Stodinm der ^pOepne eia 279

gfigmwMg9 iNgamnraniBwerte Lage der Sehwiohnimiigcp, Epileptischen, Bonlisoh AbgewiobeiMii ete. so Terbemrn.« üm diese weitttiigeiide Auf- gabe voll bewältigen zu können, will die Gesellschaft naob und naoh Sektionen bilden (soDAchst diei), die unter aioki des geeamte Arbeits-

gebiet teilen.

Die Leitung der (icsclischaft nbernitnint ein Üeneralrat, der sich bereits gebildet hat und bedeutende ^iamcu aufweist: Präsident: Jules Le JeunOi Stutsminister. Viie-Msidenten: llsbille^ Direotoor de llnstmotion publique et

des Beaux-Arts. n. Jaspar, Advocat A k Cour d'appeL

Bossur, Industriel.

( Ton oral -Sekretär : Dr. J. Oemoor. Sekretäre: T. Jonkheere.

Hernalsteen. Sohntimärtar; Mterne» InduatrieL El ist in der Thet ein grofimi Werk, das sich die Qoaeiliobeft tton Ziele gesetzt hat Man bedmke den ungeheuren Umfang der Arbeit^ denn es handelt sich hier mn roJn priflnp;o[ri?5c-hp. sozial -pädagogisch^ roin soziale und entllich niclit /.um nMUflestr'ji um modizinischo Fragen.

Die Auüiühruntrsslatiitf'n bekunden biüü bolche Besonnenheit und Um- sicht, (ia£ä man woiil Uertxihugte Hoffnungen auf das Gedeihen der Qesall- tofaafk aataen darf. Stukenborg.

4. £ine internationale Geseilächaft für das Stadium der Epilepsie nnd die Fflnorge und Behandlung

EpilepttBoher

Int eieh in Amerika gebüd^ Sie hat sich zum Ziel gesetzt, für Amerika das Beate auf dieaem Qebiet an erringen. Der FrSaident der Ge- •eUadiaft How. Wire FiTor Letohworth, L. L. D. in Albaiy N. bat

im vorigen Jahre ein aehr intereaaantes Buch Ober FQrsoige nnd Be» handlnng Epileptischer mit vielen ^Illustrationen hnransgegeben (G. P. Putnam'8 Sons New -York and London S. 246), in welchem sämtliche Anstalten für Epileptische in ÄLuenka und die Thätigkeit auf diesem Ge- biet in 18 amerikanischen Staaten besprochen sind. Des Weitem kommen in dem intareaaanten Werk sor Beapreohung die AnataUen für Epileptiaohe in England, Dentachland (Woblgarben nnd Bielefeld) nnd in der Schweis. Berflcksichtigt sind in dem Werk namentlich auch Arbeiten über Epilepsie Wn Sanitätsrat Dr. Wildermuth-Stuttgart und Direktor F. Kolle- Zürich.

Am 15. nnd 16. Mai 1901 hielt die GeseUsohaft ihren ersten £oo- greis in Washington ab. Ihr Programm war:

1. Förderung der allgemeinen Wohllahrt der an Epilepsie Leidenden.

8. Anspom snni Stndinm der Ursachen und der Heümethoden dieser Kisnkheit

3* instdening der Venorgung Epileptisofaer in Anstalten, wo sie

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280

B. VittaaaiwMi.

a) «in« iJIgemfliBe iSohnlbildung oihattan;

b) erwerbBflUiig so -nA als md^idi genaobt werdan und

o) nach der besten ftKÜiohan Eenntnia in Bezug anf Ihre Ennkbeit

behandelt werden.

4. Den verschiedenen Staaten Ameiikaa beizuateben, welobe Voraoiga

für Epileptischo treffen.

Der KongreTs hat unsern Mitarbeiter Herrn F. Köiie, Direktor der Scbweizeriaohen Anstalt für Epileptische in Zürich, einstimmig zu seinem BhienmitgUed ernannt YeisnlaaBnng bienn waren swei verdienatvoUa Arbeiten des Henm EOlle fiber Ej^O^paie und Bebandlung EpUspäaober.

6. Zur AiuifUinuig des FfiTBorge-EnielmiigsgeMtseft

haben so berichtet die Tagespresso die Laudriite in PreuTtieü an die OrtspolizeibebOxden eine VerfQgung erlassen. Znnicbst wird daianf bingewieaen» dala die Hennsiehung der unterhaltongapfliobtigen Angehörigen

zur Leistung angemossoner Beiträge von grober sozialer Bedeutung seit damit nicht etwa die Absicht Raum ^winne, das Q-esetz als Mittel zur Befreiung von allen Kosten und Mühen der EJndererziehung zu mils- brauchen. Da das Verwaltungs- Zwangsverfahren in Verbindung mit der Lohnbeschlagnahme ein wirlisames und schleuniges Vorgehen sichert, wird dne solche Heranäebung der Angehörigen bei satreffender nnd aosroobender AnskunftsertoUnng der Ortlioben BebOrden in viel weiterem und erfolg- reicherem Mafoe als bisher Platz greifen kOnnen. Anf einem Fonnniar, das bei Unterbringung eines Eindes in Fürsorge-Erziehung auszufüllen ist, haben die Ortspolizeibehörden genau die Vermögens-, Erwerbs- und Lohn> Verhältnisse der Unterhaltungspflichtigen anzugeben, sich auch über die Beitragslahigkeit zu äufsem. Auch bei vorläufiger Unterbringung auf Grund von § 5 des Fürsorge -Gesetzes soll die V^ermitteiung des Landesdirektors in Ansproob genommen werden, nm einen unliebsamen nnd filr den ZQg* ling leiobt naohteiligen späteren Weohsel der Enüebnagsstelle in ver- meiden. Die OrtspolizeibehSrden werden dringend ersucht« alle Fes^ stelhmgon in Fürsorge -Erziehungssachon mit aufserordentliclier Gewissen- haftigkeit und Sorgfalt zu treffen, damit Übereilungen in der Verhänsrimg, aber auch in der Aufhebung der Fürsorge- Erziehung vermieden werden. Gerade in letzterer Hinsicht ist zu beachteni dafs alle wohlklingenden Zosiobernngen der Angehörigen aiob nnr sn binfig spater ab falacfae Yor- aj^agnlongen beraussteUen, bei denen es darauf abgesehen war» duroli Wiedererlangung der alter und darum arbeitsfähiger gewordenen Einder ihre eigenen wirtschaftlichen Verli&ltniaae aufsubessem, gans unbekflmmart um das Wohl der Kinder.

Diese Verfügung ist ein Beweis für meine Voraussago, ^) dafs das Gesetz je länger je mehr die Erziehung zu einer Polizeiaacbe machen werdSk Tr.

*) Zeitadhr. £ Edl 1900, B. 137 ff.

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Erfolge der Rettungübauäerziehung. Psychische Äustecknng. 281

6. Erfolge der Bettongshaiuersietiiiiig.

HeiT Frator M. Roth in Gr^Boeen (Schlesien) hat, von der sobleei- solieii BettODgsbanB-Koiirereiis vomnlafst, mit groAer Sor^t die Er-

xiehungsresultate von 25 schleeischen evangeliflchen BettangshAusem er- forscht^) Nachfrage ist nach 1626 irOheren Zöglingen gehtltan, die in den Jahren 1883 bis 1892 entlassen sind, jetzt also im Alter von 20 bis 30 Jahren stehen. Von ihnen sind 1307 ermittelt. Vier statistische Tabellen geben Auskunft über Wohnort, Beruf nnd Ijeumund der früheren Rettuugshauszöglinge. Daraus ergiebt sich, dafs die Erziehungsresultate WD 80 gflnstiger sind, je frOh^ die Anstaltseniehiing begonnen hat Out oder befriedigend war die Fttlmiiig bei 81,04%, mittelmifiug bei 6.05 % und schlecht bei 12,69%; aber dieee Zahlen verschieben sich sugunileii der in früher Jugend Aufgenommenen. 39,41 % der Zöglinge waren be- reits verhoiratet. Nur Gl, 36% blieben in Schlosion, die übrigen folgen dem Zug nach dem Westen und den grofsen Stiklten. Die Berufsarten, denen die Zöglinge sich zuwandten, sind sehr mannigfaltig und stellen eine aufwärtästeigende Stufenfolge vom einfachen Lohnarbeiter bis zur Sehanepleleriii (mit adeligem Namen), zum Eiaenbahnsabaltembeamten, Poliseiiinterbeamte&y Förster and VolksBchullehrer dar. Die Ifehrsabl sind allerdings Lohnarbeiter nnd kleine Handarbeiter. Bei Bewertung der Leumundszeugnisse sind die Anforderungen auf die Ansprüche der Klassen ermäfsigt, denen die Zöglinge angehören, so a. bei Frauen in Besag auf eine aneheliche Geburt. Soz, Praxis.

7. Eia Bach für unsere Leser.

Herr Dt. med. Dem cor, Professor an der medizinischen Fakultät und Obemrzt an der Hilfsschule in Brüssel, der unsern Lesern als medi- zinisch-pädagogischer Forscher auf das vorteilhafteste bekannt ist, hat aui unsere Veranlassung ein Buch geschrieben unter dem Titel: Die anormalen Kinder und ihre ersiehliche Behandlung in Baas UBd Sohiilo (Interaatiooale pädagogische Bibliothek Bd. HI. Altenbaig, Oskar Bonde. Preis 6 If). Wir werden aof das Buch noch eingehend smUckkDmmen, haben aber nnsem Lesern schon jetet von seinem Er- scheinen Kenntnis geben wollen. U.

8. Fsydii^lie Ansteckung*

Sne kaum jemals dagewesene geistige Seuche von grofser Ansteoknngs- kraft versetzte die Lehrer der Mainzer Volksschulen in Schrecken. Knaben wie M&dohen lieüBcn sich von Alteren Mitsohfilem die Rückseite der Hand,

^) »Welche Erfolge hat die Arbeit an der verwahrlosten Jagend bisher ge- tejgt?« Sn statiBtisdier Veanch von P. IC. Both, Hamboxg, Agentur des Baoben B1HS6S. 190L a 40 8. BzoMh. 60F1

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282

C. littsnfatr.

und zwar zwischen deu iiuOcheln der Finger, so lange mit der Uand reiben, Iu0 die Bant dnroihriebeD und dra rohe Fleiacb Uorsgclegt ist Die Kinder nennen das einen »Totenlcopfc nioheo« Infolge dieser Verletiiingen waren aafalrdobe Kinder schwer erkrankt Wie sehr dieser Unfug Oberhand genommen hatte, geht daraus hervor, dafs in einzelnen Scholklusen bis an 40 Kinder solche Verletsnngea an den Hftnden tragen.

9. An unsere Leser im Aaslande

ridite ich hierdurch die dringende ^ite, mir ihre Adresse mitzuteilen. Da nnaere Zeitedirift im Auslande so gTOÜBen Beifall gefunden hat, so möchten wir den Bestrebungen aufserhalb des detitschen Sprachgebietes noch in höherem Grade gerecht werden, als es bisher geschehen konnte, und wir rechnen dabei auf die Unterstützung der Leser, die besonders um kleinere Mitteilungen (litteratur u. s. w.) gebeten werden. Etwiuge Zuediriilen kAnnen dentsch, französisch, engliscli oder Italien isoh atigehbt sein.

Alfeenbuig. Ufer.

C. LItteratur.

J. A. F. ChaaMalB, The Ghild. A Stndy

in the Evolntton of Man. London 1900. Walter Soott 498 S. Preis 6 Schilling. Man mag über dit» atnehkoniächö Kindarfoiscbang im allgemeinen denken, wie man irill, so Ueibt dooh imbestraitbar, dab wir auf diesem OeUeto manobe wert- volle Anrpf^ng und manches nriilo Huch von der andern Seite des UzL'ans orhaltcu i haben. Unsere Zeitschrift hat schon zu oft dsTOD Zeugnis abgelegt, als da& wir es jetzt im einsebieii naohzaweisen brauch- ten. Dsb die Kinderfoiaobimg in Nord- amerika, insbesondere an der von dein vei-dien.stvollen G. St- Hall tioleitoten Clart-Univerhitüt in Worceater wieder zu nenem Leben erwacht ist, nachdem sie in DentsohUmd, Ihrem eigenÜiehen Vater- lande, beinahe ganz in Vergessenheit ge- raten war, ist schon eine Thatsache, der die volle Anerkennung nicht fehlen darf, and der Umstand, daHs wir aus den Ver- «inigtenBtaatea um onter ^eleaBiLcbem

nnr eins sn neonendeB »Notes on the

Development of a Child« ron IfiJb Sfainn erhalten haben, läfst uns über manche minderwertige Litteratiirerzeugiiisse auf dem Gebiete der Kinderpsychologie einiger- maGron binwegsdien.

Anoh das Toiü^eode Bndi, dafli trots seines ef^isdhw Yeilegers einen Amen- kaner, und zwar einen Lehrer eben der Clark- Universität, zum Verfasser hat. ge- hört zu den Veroffenthchungen, die von uosenn Lesetixeise niofat nbeiselieo werden dürfen.

Ch am be riain ist auf dem Gebiete der Kindorforschung kein Neuling mehr, sondern er hat sich durch zahlreiche Artikel iu wissenschaftlichen Zeitächiiften und gans besonders dttrob sein WeA »TU» Child and Childhoodin I\Dlk-Thonght (1896) vorteilhaft bekannt gemacht Das neue Buch hat mit dem früheren die Eigen- tümhelikcit gemein, dafs sich iu ihm öiüe gewaltige Litteratorkenntnis offenbart In ^ dem beigefügten Litteraftiuveneichius sind

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C. Litteistur.

283

nicht wenigpr als 69G Bücher tiiid Zoit- «chriftartikel angeführt, die in dem Werke Yerwenduuig gefundea haben. DaGs dai- noter ancb eine Reihe vou AnfnBtiea «ns inuKfer Zeitsduift namhaffc gemaoht ist, «rwähnen wir mit einiger Genngäiauog. Nur r\(^r Umstand, dals dem Verfasser die BiblioÜiek der Clark-Universität zur Ver- fügung stand, hat die AnwenUuDg dickes gewaltigen litteruisdieD Apparats ermög- licht. Wir wüfeten nicht, wo anderweitig eine Bibliothek zu finden wäre, die einen derartigen Bestand von Litteratnr auf- wiese, die zur Kinderforschang gehört «der ilir dedi imtibtr gemacht werden

AOerdings handelt es si«^ in dem

TTerke grundsätzlich woniger wm das, was wir gewöhnlich unter Kindei-forschung verstehen, als vielmehr um eine Ver- wertung dessen, wss ^ Kindeifinsehung bis jetst an Eigetniseen geseit^ ImA, zur Förderung der &twiel»liingsldise. In dieser Beziehung erinnert o«, wenn wir von seiner viel umfassendem (jostalt ab- eeben, an Fritz Schultzes Büchlein über die Spnohe des Kinde«. UTas der YerfHser in seinem neuen Boche will, giebt er in der Vorrede an mit den Worten: »Dieser Band, der weder eine Abhandlung über Embryologie, noch ein Vemdk ftfaer Anatomie oder phyaiologiaohe Fsjehologte ist, s(ril «in« Untenuohang aber das Kind im Lichte der evolutionistiscben Litteratar sein, ein Versuch, über einige di?r iuteressau testen und wichtigsten Er- scheinungen auf dem Gebiete menschlicher Anfinge beim Individatun und bei der Bin» zu bexidhten nnd sie wenn mö^ich, zu deuten, c

"Wer auf dem Standpunkte steht, dafs es noch nicht an der Zeit sei, die Er- gebnisse der KinderforschuQg im Lichte iigend emer Theorie m deuten, wird in dem Buche Chamberlains vielleicht nur insoweit seine Rechnung finden, als in ihm eine reieho Fülle von Beobachtungs- laaterial aufgehäuft ist. Wer aber mit Baldwin der Ansicht ist, dals eine

Theorie die notwendige Voraussetzung derartiger Untersuchungen sei, und wer vollends auf dem Boden derEntwickelungs- lehre steht, f&r den wird das Bnoh eine äuCseist interessante Lelitfire sem. Frei* lich wird es dem Verfasser auch bei soleh^n , die ihm nahe stehen, zuweilen au Widerspruch nicht fohlen. Wir heben hier nur einen Punkt hervor. Es ist eine alte Beiianptung, deren fhatslehliche Be- gründung aber eist von Hermann Fol nachgewiesen wurde, dafs Ehegatten im Alter einander ahnlich werden. Bekannt- lich hat man früher die Ursache dieser Eiaoheinang in dem lange andauernden und iuntgen Zusammenleben der Ehe- gatten finden wollen , hier aber wird sie im Anschlufs an Fol auf Ähnlichkeiten zurückgeführt, die schon zur Zeit der Heirat vorhanden waren, also aus der Kindheit stammen mflssen. Die gegen- seitige Neigung, die zur Heirat geführt hat, soll sich nicht auf das gründen, wo- durch sich die jungen Leute untersch«>iden, sondern auf das, was sie gemein haben. Iliernach würde die Sache so liegen: IhnlicUreit im Eindesalter ist der Grund der Ähnlichkeit, die meistens wieder berror- tritt, wenn die Menschen wieder ZOm Kinde werden, aiöo im Alter.

Das Werk besteht aus elf Kapiteln, auf deren Inhalt wir in dieser Zeitsduilt getegentiieh sniilid[|[omnum müssen, die aber ihrer ganzen Natur nach ein nilheies Eingehen in Form einer Buchbesprechung sehr erschweren. Wir wollen atier wenig- stens die Überschriften der einzelnen Kapitel hierher setsen: L IMe Bedeutung der Hiiflosigleit im Kindesalter. IL Die Bedeutung der Jugendzeit und des Spiels. IIT. DIm Ähnlichkeiten der jungen Wesen. IV. Die l'enoüoü der Kindheit V. Die Sprache der Kindheit. YL Die Kunst im Kindesalter. YIL Das find sls ein Offen- barer der Vergangenheit VTII. Das Kind und der Wilde. IX. Das Kind und der Verbrecher. X. Das Kind und das Weib. XL Zusammenfassung und Schlulsfolge- rung.

284

a litteiatar.

ZweiielloB «ixd aohon dfe Angabe der Kapiteläbefaehriften manchen unsern

Ivoser veranlassen, zu dem Hiiche 7.u greifen, «ml er wird uns Dank wißüen, dafs wir ihn darauf auftuerkäam gemacht haben.

Ufer.

2. Preyer, Bio Seele des Kindes. 6. Auflage. Nach dvm Tode- des Ver- &8sers bearbeitet und horausgegebeu von K. L. Schaefer. Leipzig, Th. Grieben. 1900. 448 8. Der neoe Hei«n«geber, mn ScbiUer des Yerfasseia, bezeichnet das vor zwanzig Jahren zum erstenmale erschienene Werk mit Recht als die noch immer reichlich flieTsende Quelle, aus der andere Autoren m echöpf en pfleg«o» vnA auch darin mals man ihm recht geben, dals er den Text, soweit irgend thunlicii. unveriindert ge- lassen hat. Am niuisteii haben die Ab- schnitte über die Entwickelung der Sinne Terbenerungen und £i;gftnziingeii durch den Hertnigeber erfehien* wobei die neueren Forschungsergebnisse berück- sichtigt worden sind. Aucö die Auk- führungen über das Sprechenlemen weisen Zusätze auä der neuereu und ueuesttiu littentor auf (Lindner^ Ament, Oltns- sewsk-y u. a.).

Ob die Zusätze des Herausgebers nicht noch etwas roiehlieher hatten ausfallen können, kann dahiügeätt'Ui bleibou, deuu was man in dem Frey ersehen Werke vor allen Dingen auoh^ das sind die Be- obaohtnngseiyBbniaae von Preyer selbst. Urnen verdankt ee seine Stellung in der

Oeediiobte der l^eipsydiologie «nd

seinen dauernden Wert.

Da wir einmal die Geschiclite der Kinderpsyehologie erwäiint haben, so mag darauf hingewiesen werden, daüs auch in der 5. Auflage des PreyeraduB Aidi«s ^. 353) noeli von Tiedemanna »Hemd' reu« die Bede ist Aus der Benennung, die Preyer von Perez übernommen hat^ geht her\-or, dafs das Original Preyer nicht zu Geüicbt gekommen ist. Da es sieh hier am die eisten Anftsg» der bio- graphischen Methode aof dem Gebiete der Kindenx'^ychologie handelt, so mag auf folgendes hingewiesen werden. Die Tiede mann sehen Aufzeichnungen er- schienen, wie ich aus Tiedemanns I^ohologie ermitteln konnte, 1787 in den »Hessischen Beiträgen zur (Gelehrsamkeit und Kunst« unter dem Titel »Beobachtungen über die Elntwickeluug der Beeleniahig- keiten bei£indems worden 18ü3in fran- sösischer Spiache im Mssr Jonmsl gteeral de Plnatmolion pnUiqne und 1881 naob dieser Übersetzong auszugs- w<'ise von Perez als besondere Schrift veröffentlicht Preyer u. a. haben die Arbeit offenbar nur in üe^^talt dei> Auf- zugs von Peres gekannt Nachdem dieser Aussog anch ins En^Usohe übexsetsi worden war (Boston 1891), veranstaltete ich selbst die erste vollständige Sonder- auhgabe des Originaltextes (Altenburg 1897, Hönde), nach der dann an ^ne ungarische Ausgebe bearbeitet wurde. 6o> viel zur Geschichte der Tiedemannsoben »Memoiren«. Ufer.

4 aOM ia

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Die linderfeUer.

ZeitscMt für Kinderforscliiiiig

mit beflonderer BerOokaichÜgLmg

der pädagogisciiefl Pathologie.

Im Verein mit

Dr. med J. L. A. Koch und Prof. Dr. Oieol. et phll. Zimmer

hemuBegebeii

liutitittadiKktor J. Trüper und Rektor Chr. Ufer.

Siebenter Jahrgang.

Langensalza

Hermann Beyer & Söhne (Beyer &, Mann) Beno^ Sidhi. BoftadihlBdl« 1902.

I

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Inhalt

iL Alibuiilimws

Trüfeh, J., Über daa^ Znummenwirken von VodinB and Pädagogik bei der

FftiBoig» für unsere abnoimeo Kuder 1. 97

Qs0iitw.ujx IlKHMAiiK, Die Zeratrenthoit der Kinder ... 16 finnCBAA. Über den ane^»'borpnpn oder früh sich zeigenden Wasf;erl-:r pf (ITviiro-

eephaioä int^mns) und mute Boziehongou zur geistigen Eiitwickeluug

LcHKx, G., Wie kauu der Lehrer diu Lügenhaftigiceit der Jugend bekämpfen 58

WmnwALD, Spiaohetöraogeu 149

Onaum, Hmuim, Die 8pi!aoheiitwi<Mii]ig des Kindes and ihre Hemmoogen 198

BmuttUMR, J. A., Über Kinderzeicboungen 216

Erckinber«' HKTiHANN, Über Anstaltsfürsorf^e für Krüppel 229

LufPUKCtz, Anregung cor Beobachtong der £ntwickelung taabstomnter Kinder 249

B. MltteOiuig«":

fitoCen in der Spraofaentwickelnng des Kindes. Von W», VmawL ... 25. 74

£in eigenartiger EUl Ten Aphasie. Yen P. Bnnunr 33

Noch eine Taubblinde. Von 0. Danoer 37

Die Kiuderpsychologit' nn'! die Tyi'hrpläne onserei ächulen. Yen Abka Bock 39

liebes thiitigkeit an Epileptischen 41

Terein zur Bekämpfung von Sprachstörungen unter der Schuljugend. Von Ufer 42

Anfiagen. Von TbOpkb 42

Zur Nachriclit 74

Vom Spiel des Kindes. Von Uim 83

Das Kind und der Alkohol. Von .1. S< HRf:ui)KR 87

Darstellender Unterricht bei i^hwadibefabtgten. Von Ufes 89

Allerlei SooderUsssen. Von Tbüi'kk

Fineige ffir anonnale Kinder in TJngtm. Yen J. FjsnBS 91

Todesursachen bei verunglücktt n Kindern. Von Ufeb 91

Nervöse Sprachstörungen im Kindesiüter. Von Tid per 92

Da» fortbestehen des Zweckmäbigsten bei der Au.sbildung der Bewe^mgen.

Von Edwin 0. Dcxtkb 123

fiadeistieit «ad Kindenrerbreohen 131

Oeriohtliehe». Yen Urxn 135

laobetummenbildung in Deutsehland. Von Otto Sommr 136

S«jlLsche Regolwidrigkeiten im Pubertätsalter. Von TnfiFR 138

fin Besucli in 1 r Brüsseler Hilfsschule. Von Dr. P». Koai .... 139. 176

D«r Verein iur kindurfurschung .... 142

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IV

Inhalt

Satt»

fedenkane in Jen« 143

Ein IUI von paäiolagiBolier Loge. Von Um 186

Der Bcideewig- holsteinische »Venin m Bddbnpfnng von fik^iachstörangen

unter der Schal jtjgend« 187

Die IV. Versammlung; des Vorems für Kinderforschung 188

Bericht über die iV. Verbamuiluug des Vereins iur Kiuderforschung aiu 1. und

2. August 1902 in Jena. Von Dr. Sibobiutib und W. Bmtmma» . 256

Zor Beuiteilmig der ErzieluiagBanstaltflii tat ättUofa Verwahrloste .... 268

Das Hilfsschulwesen in England. Von Alwin Sciieitk 275

,4ch habe meine Lügen für Wahrheit gehalten." Von 0. DAMdsR .... 281

C. litteratar:

Prot Dr. M. C Sohayten, Pädagogisoliea Jaiirbooh. Von A. J. Soutcuim . . 48 Dr. med. Alb. lielmiann, Die BpraoliBtBnaigen geistig mrfialgeUielieiier IQnder.

Von H. Seifart 47

Konrad Agiüid, Pmktisehc Anwei^ng zur Durchführung dee P!ren£aischen

Füi"sorgeer^it'hung.s- Gesetzes. Vou TKfi'KU 48

Dr. A. Baer. Der Selbstmord im kindlichen Lebutisaltor. Von Uteb .... 92

Dr. Iheodor Sdifiler, Jdirfaaoli der Krfipiielf&xsorge. Von SguiuunuJ» ... 85 A. OrohnuHuiu EmateB und fleiteree ina meuien Btinnenngen im Vexkehr mit

SoiiTOliainnigen. Von Urb 05

Verbesserong 90

1». Ilabrich, Pädagogische Psychologie. Vou HK.K>fA?f>f GrISkwaed .... 143 J. Trüper, Die Anfänge der abnormen Erscheinuiigeu im kindlichen Seelea- leben. Von Dr. SnMWUTiB 188

Weygandt, Atlas und Onmdrila der FsyeUatriew Von Dr. SraoHiuTm ... 191

Zur Psychologie des Pubertätsalters. Vou ITermann Grunewald 283

Dr. med. Marie Tleim-Vögtlin, Die Pflege des Kindes im ersten Lebenqabr.

Von TiüPER 288

Digiti^ca by

A. Abhandlungen.

1. über das Znsammenwirken von Medisin und Päda- gogik bei der Fürsorge fftr nnsere abnormen Kinder.

Von J. Tiipir.

In den letzten Jahren sind mehrere bedeutsame Arbeiten er- schienen über das abnornio Kind und seine Behandlung, über die Pathologe und Therapie des kindliclien Leibes- und Seelenlebens, teils von Medizinern, teils von Pädagogen.

Unsere Zeitschrift hat nun von Anfang an den Standpunkt ver- treten, dafs beim Studium wie bei der Behandlung des abnormen Kindes unbedingt Arzt und Lehrer zusammenwirken müssen und in diesem Zusammenwirken einander die Hand reichen sollten. Ja, unsere Zeitschrift ist gerade aus dieser Einsicht heraus entstanden, und sie ist ganz besonders bestrebt gewesen, die medizinische Betrachtungsweise der Kinderfehier den Lehrern zuganglich zu machen.

Wir haben sogar den Standpunkt vertreten, dafs auch beim Studium des normalen Kindes Arzt und Lulirer gonnjinsam forschen sollten, und Ufeh? hat darum auf der allgemeinen deutschen I^ehrer- versammlung in Breslau entschieden dagegen gesprochen, liier eine Abteilung für Kinderfurschung zu gründen, weil ohne Mitwirkung der Mediziner solches Studium sehr einseitig ausfallen würde und wir es Ärzten doch nicht zumuten könnten, in einem Lehrer- vereine diese notwendige Zusammenarbeit zu leisten; dazu gehöre ein neutraler Boden.

Di« Kinderfohlor. VD. Jthzgng. 1

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A. Alihandlaogen.

Derselbo ist geschaffen worden in unserm »Verein für Kinder- forscbuug«, und die letzte Versammlung in Jena^) hat bewiesen, dafs etwas Erspriofsliches dabei iierauskommen kann, wenn auch noch manche auf beiden Seiten sich vornehm mifstrauisch fernhalten oder vor dem Zusammenarbeiten eine unüberwindliche Scheu haben. Wie gl alt und zu beiderseitiger Überraschung hat sich z. B. die Schularzt- frage erledigt, über die sonst zwischen den ärztlichen Konferenzen und den Lehrerkonferenzen oft schroffe Meinungsgegensätze bestanden I

Auch für die Zukunft werden wir dem treu bleiben, was wir, Direktor Dr. med. Koch, Rektor Ufeh, Prof. Dr. theol. et phil. Zimmer und ich, bei der Gründung unserer Zeitschrift aussprachen und was Dr. Kocu und ich in dem Doppelartikel: »Medizin und Pädagogik« in Rklns Encyklopädischom Handbuch der Pädagogik zum Ausdruck ge- bracht haben. Medizin und Pädagogik sind vielfach auf einander an- gewiesen, wie rechtes und linkes Bein, die nur mit einander recht vorwärts schreiten können, dagegen bei Verzichtteistung auf gegen- seitige Hilfe durch die Welt hinken müssen. Die Pädagogik bedarf der Hilfeleistung der Medizin ; sie hat von ihr zu lernen und mufft sich vielfach auf sie verlassen, und umgekehrt.

Das wollen wir auch für das neue Jahr uns merken, und darum ersuchen wir von päüa;j;ii;,ischer Seite die Mediziner zur fleifsigen Mitarbeit, um so mehr als unser Freund und Mitherausgeber Dr. J. L A. Koch wegen Invalidität schon in den letzten Jahren nicht mehr voll mitthun konnte. Wir wünschen von den Ärzten nicht blofe eine Darlegung ihrer Ansichten^ sondern auch eine umsichtige Kritik der unseren. Nur: »alle eure Dinge lasset in der Liebe (im gegenseitigen. Vertrauen) geschehen.« Wir wollen es ebenso machen. Die unzu- reichende Vertretung der Pädagogik an den Universitäten verschuldet es jedoch, dafs wir weit mehr die Nehmenden sein müssen als die Gebenden sein können.

Ich will darum versuchen, in ein paar Artikeln die bedeutsamsten medizinischen Schriften über Schwächen, Fehler, Gebrechen und Krankheiten im kindlichen Seelenleben dem Interesse der Leser näher 2XL rücken, aber auch die medizinischen Ergebnisse und Auffassungen auf ihren pädagogischen Wert hin zu prüfen. Dabei ist aber leider zunächst ein Hindernis des segensreichen Zusammenwirkens hinweg- zuxftnmen, das nicht in der Sache selbst, sondern in dem in unserer

*) Vergl. Bericht über die Vereaniml ir;^^ des Vereins für Kinderforschniig am "J. u. 3. Augiist 1901 in Jena. Erstattet von Dr. med. SrnornuYER und "W. Stukks« UKRO. Zeitschr. f. Kinderf., 1901, lieft V u. VI, und im tionderabdruok bei Hermana Beyer & Söhne, Langensalza. Preis 40 PL

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Tbüfmb: Über das ZnsammenwirjEen tod Meduiu und P&dogogik eto. 3

Zeit in fast aUen Ständen zu stark auftretenden Stand esgefühle und in den sozialen Standesfragon begrtlndet liegt, in dem Streben naoh berallicher Überordnung des einen Standes über den andern, auch da, wo die Überordnung nicht ziinfioliBt daroh des Interesse der Sache gefordert wird.

L

Unter den ärztlichen Schriften, die mit uns eine Zusammenarbeit wollen, zeichnet sich nach dieser Seite hin die von Dr. WsTOAmyi^) am meisten aus. Ja, bei einem eorgfiUtigeren Lesen knnn mm sich des Eindrucks kaum erwehren, als wenn sie in dieser Hinsicht eine bewnfste Tendenz verfolge. An der Hand derselben wollen wir dämm diese fOr das Zusammenarbeiten notwendige Qrensregalienmgsfnge SfOrtem.

Im Vorwort stellt der Verfasser sich ganz auf den Boden nnserer ^tscbnft and will Medizin and Pädagogik mit einander zum Heile der Jugend verbinden. Er sagt: »Das Buch hat aonfiohst weiter keine Aufgabe, als dem Pä(L^irogen alles das, was von ärztlicher Seite Branchbares zur Behandlung der Idiotie und Imbecillität ge- boten wird, in veiständJicher und zugleich kritischer Weise dar- SDStellen, und andererseits auch dem Arzte die wichtigsten und wertvollsten Seiten der pädagogischen Bohandlungsweise übersicht- lich vorzaführen. Es soll nicht der eine Standpunkt dem andern schroff und 'feindlich gegenübergestellt worden, sondern dar Leser möge durch jedes der beiden Oläser einen Blick auf das gemeinsame Arbeitsfeld werfen, um die Fülle von Angriffspunkten, welche die Pädagogik wie die Medizin anf jenem schwierigen Boden in mühsamer Arbeit errungen hat um so klarer überschauen zu können.«

Die Schrift gewinnt aber eine hiervon abweich en(!e Tendenz, wenn wir das Schlufswort und einige andere nachdrücklich betonte Stellen des Baches in Betracht ziehen. Sie spitzt sich dann dahin zu, dem Leser die Meinang zn verschaffen , dafs in der ganzen Be- handlung der Idioten und Imbecillen, mit Einschlufs der Belehrung und Endehong derselben« dem Arzte die leitende Stellang gebühre. »Die Leitung der Idiotenanstalten sollte Ärzten übertragen werden«, so heiTst es im Schlufssatze der Schrift.

Weil diese Tendenz aber im Widerspruche steht mit jenen £in-

') Die Behandlung idiotischer und imbeciUer Kinder in arstlicher und pädagogiBcber Hiobicbt. Von Wilhelm Wkyqxxdt, Dr. phiL et med., FdvaldoiQiit ■B ünbenitit Wfinburg, Speaalaxzt fflr NerveakiSBkheitoii und Fsyebiatrie. Mit 2 Abbüdniigeii. IFilnbiiig, A. Stäben Yeriag (0. KaUtach), 190(K

1*

4

A. AbbiBdhmgep.

leitungsworten, so nehme ich an, dafs sie keine beabsichtigte war und sie nur ist der unbewuJfete Niederschlag der Verhandlangen der Ärzte unter sich, wo sie Kläger und Richter in derselben Person waren und woselbst die Pädagogik, allerdings nicht durch Ärzte, mit nnttelalterlichen Anschauungen und Barbareien belastet erschien und dabei uime Vertreter war. Ich hoffe darum, dafs, wenn Dr. Weyoandt meine Klarstellungen auch etwas überraschen werden, er sie doch im Sinne unserer wie seiner Einleitung hinnehmen uad als das Bestreben nach einer gesicherten Basis für unser Zusammenarbeiten betrachten wird. Wir schreiben sie nicht als Gegner der wissenschaftlichen Medizin und des ärztlichen Standes, sondern als Freunde derselben.

Auf dem medizinischen Gebiete ist Herr Dr. Weyqandt zu Hause. Das merkt man der ganzen Schrift an. Was die Medizin für das Studium der kindlichen Geistosschwäche und der Fürsorge für diese Geistesarmen geleistet hat und nicht geleistet hat, das ist zu- treffend dargestellt und sachgemäls beurteilt wie auch, wo es sein mufs, verurteilt. Gemeinverständlich ist die Darstellung allerdings nicht immer. Daran ist aber der Verfasser nicht schuld, sondern ein Teil der medizinischen Wissenschalt, der noch immer in seinen technischen Ausdrücken sich mehr in der Geheimsprache des Kauder- welsch gefällt, als in gemeinverständlichen, sinnreichen Ausdrucken der Muttersprache.

Was Dr. Weyqaxdt aber aus der Pädagogik den ärztlichen Lesern der Schrift beibringt, ist aufserord entlieh rückständig und minderwertig. Seine Schlufsfoljxenmgen aus beidem im Sinne jener Tendenz werden dadurch, gewils ohne dafs Weyoandt es beabsichtigt, geradezu ungerecht.

Auf verschiedene Kinzelheiten in seinen Darstellungen näher einzugehen, ist zur Ergänzung, zur Klärung, wie zur Richtigstelhing mancher Frage zunächst notwendig. Wegen ihrer Kürze und Über- sichtlichkeit wird die Schrift mehr als jeile andere weniger unterrichteten Ärzten und Lehrern als Leitfaden auf dem Gebiete dienen. Und da ist es wichtig, dals diese Übersicht nicht einseitig bleibt und irre- leitet. Aufserdem ist unser landläufiges Rezensenten t u n i vielfach so oberflächlich, dafs selbst Lehrer in ihren Besprechungen die päda- gogischen Mangel der Schrift nicht aufgedeckt liabiii.

Im I.Kapitel bringt Verfasser Historisches. Er schliefst diese historisühcn Betrachtungen ab mit der Begründung der Kretinen- anstalt von Pfarrer H^iLmiWANG zu Wildberc; in Württemberg im Jahre 1835 und mit der Gründung der ersten Idiotenanstah m Deutschland von dem Lehrer Dr. med. Keew 1839 in i-iseaucü uud

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Tsfipm: Über du ZnaamiiWfffwiAga tob Medisia imd FUagogik eto.

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schliefst dann »Die moderne Behandlung des angeborenen Schwach- sinns war damit angebahnt.« Soll das nun heifsen, es ist bis auf seine Schrift nichts weiter von Bedeutung geschehen, und durch sie werden nun der Behandlung der Schwachsinnigen neue Wege ge- wiesen? Oder ist es dem Herrn Verfasser unbekannt geblieben, welch ausgedehntes, Schätzungswertes Beobachtungsmaterial wie theo- retische Betrachtungen über das Wesen des Schwachsinns und die Behandlung der Schwachsinnigen seitdem in ei-ster Linie sogar von pädagogischer Seite zu Tage gefördert worden sind? Zur Geschichte der Behandlung idiotischer und imbeciller Kinder gehört doch in erster Ldnie die Zeit von dem von Dr. Weygandt nicht erwähnton Prahlmeier, aber doch für die Anregung verdienstvollen Arzte Dr. GuGOENBtJHL auf dem Abendberge bei Interlaken und von Guöoenmoos, Dr. Kern und Haldenwang bis zur Gegenwart Was vorher liegt und Herr Dr. Weygandt mitteilt, sind doch nur mehr oder weniger Kuriosa mit mittelalterlichem Anstrich.

Im 2. Kapitel; »Psychopathologie der Idiotie und Imbe- cillitäti beschäftigt er sich zuerst mit der »Definition und Klassi- fikation.« Er ist auf einer Seite damit fertig und meint: »Immerhin entspricht dem Bogriffe der Idiotie und Imbecillität doch allgemein eine so klare Vorstellung, dals wir nicht mils verstanden zu worden fürchten müssen, wenn wir uns beschränken auf die Defimtjon der Idiüüti und Imbecillität als eines Zustandes, der auf Grund einer ünterbrechiiug in der Entwickelung des Trägers der psychischen Er- scheinungen vor der Geburt oder in den ersten Ijobensjahren ent- standen sind.c Dafs die Klassifikation nicht so ganz nebensäoldich ist, habe ich an anderer Stelle dargethan,i) und die Schriften von Demoor und Ziehen, die wir in der nächsten Kummer besprechen werden, wie der Vortrag von Kölle auf dem letzten Kongrefs für Idiotenwesen in Elberfeld hat erst recht gezeigt, dafs man doch in der Klassifikation schon etwas weiter ist.

Weyo.v.ndt meint: »Die logisch am meisten befriedigende Klassi- fikation nach ätiologischen Gesichtspunkten, wie sie z. B. auf dem Gebiete der Infektionskrankheiten in so Ll;inzender Weise durchgefülni werden konnte, versagt bei der Idiotie und Imbecillität vollständig.* Auch das trifft wohl nicht ganz zu. Die Engländer, wie z. B. der von ihm erwähnte Ikkland, haben eine solche Klassifikation meines Erachtens nicht ganz ohne Erfolg versucht Auch ein

*) Anfänge der abnoxmen Enoheinungen im kindlichen Seelenleben. Alten- boig, Oekar Bonde. 1902.

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A. AlihanAingen.

wttteres Naofadakken über die Tortoige toq Ftof. HofFA und Hofret BnisvAifeiB euf der leteten Tersainnilang für Kinderfoiechting wird den Leeer devon übeiseegen. Hier liegt für gemeisseme medi- zmieche and pidagogisohe Foieohong noch ein sehr dankbtres Ge- biet Nach meinen Beobachtongen sind die uisSohUchen Momente nicht ohne Bedentang für den gesamten Zoetand wie für die Behandlang der Schwachsinnigen. Aber Wstoandt behilt recht mit seiner Klage: »in zalüreichen F&llen bleibt ans jede Einsieht in die azsSofaliehen YerhSltnisse versagt«: wir wissen noch wenig.

Auch in dem Abschnitt über pathologische Anatomie (8. 9 fi) kann er für die Medizin nnr hoffen: »dafs der bisher gelegentiich behauptete negative Befand beim Hirn von Idioten and Imbedllen in Zukunft vor den feineren Metliodea Stand halten kann, ist nach den ÄuÜMrungen Nisblb, der bei allen geistigen Störungen anatomische Abweichungen von der Norm feststellen konnte, nicht su erwarten.c Aber: »die genaueren Untersuchungen auf diesem Gebiete stehen . . . noch in den eceten Anfingen« (S. 11). Wevoandt bleibt dämm bei einer klinischen Einteilung. Hier unterdcheidet er sunicfast

a) bildungsanfUiige und

b) bildungsffthige Idioten, o) imbecille.

Mein Urteil über diese Einteilung habe ich an anderer Stelle^) bereitB gegeben. Eine bloJs graduelle Einteilung ist keine Klassi- fikatiotf, die den logischen Anforderungen entspricht Die Wissen- schaft molk darum sehen, daJk sie Einteilungen schafft, die uns qualitative Verschiedenheiten aufweisen. Gegen die Beeeichnang »bildangsunlUüge Idioten« kann man überdies einwenden, dafis die BildungsunfiUiigkeit immer nnr sehr relativ gemeint sein kann, deui bei sorgfiUtiger rechtzeitiger Behandlung l&lst sich ein gewissee Fort- bilden fast immer erzielen. Wo das aber nicht der Fall ist, haben wir es nicht mehr mit Idiotie zu thun, sondern mit Bemenz, nicht mit Zustfinden abgelaufener Krankheiten, sondern mit vorhandenen Krankheiten. Im übrigen charakterisiert Wmkm die psychischen und körperlichen Störungen dieser degeneriertesten Mensdienklasse kurz und treffend.

Was der Terfasser dann weiter über die bildungsftbigen Idioten sagt, und zwar sowohl über die anergetischen wie über die ereti- sehen Formen, ist ebenfalls sehr relativ zu verstehen. Er verfittt hier in den Fehler, den auch Souü» in seinem Buche macht: Br-

t) Anfinge alnMniner SnoheimmgeD etc.

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Mm: Über dM ZnBaamesiiiilDeii m HediiiA imd FMucmgik ete.

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sdheiniuigeiif mit denen Einzelne behaftet sind, werden aof grolse Ornppen fibertragen« Aber eins nnd einige sind naoh der Logik noch immer nicht gleich alle. Au&eidem liegen manche der erwSfanten Eigenschaften nicht im Weeen dee idiotischen Zostandes an steh, sondern sie sind ein Prodokt ans der Idiotie und den erziehlichen und ▼erziehlichen Beeinfliusangein der Umgebung. Doch ist dies leicht zu erklären und zu entschuldigen. Die naturwissenschaftliche Methode, die Torwiegend mit Analogieschlüssen arbeitet, veHeitet zu dieser Yerall- gemeinerung, aber auch der Umstand, dafs der Arzt fast immer erst die abgeschlossenen Erankbeitsbilder vor sich hat und in seine Behand- lung bekommt und viel seltener siebt, wie ein Zustand wird oder geworden ist Aber dadurch, dafe man dem Werdegang nachgeht, also genetische Fbyobologie bei Idioten treibt, werden einem manche Eigenschaften Terstiittdlicher, und man wird bewahrt vor früh- zeitigem Generalisieren. Pädagogik nnd Medizin sind hier vor allem anf gegenseitige Unterstützung angewiesen,

Die Oeistesschwachen leichtesten Grades nennt WsTGAinff Im* becille. Sie sind für ihn »Kranke mit geringeren Graden von Schwachsinn auf angeborener oder früh erworbener Grundlage« . . . »Es ist zweckm&big, mit Siou ImbecUle diejenigen Kranken zu nennen, die keine groben Störungen der Sensibilitfit nnd Motilitiit, speziell der Sprache zeigen, aber mit aufhllend ungleichmSTsiger LeistungsfÜhig- keit nur einen beschriinkten Schatz an positivem Wissen zu erwerben vermögen. Auch ein gut Teil der psycbopathischen Minderwertig- keiten nach EocB, insbesondere die Personen mit dauernder Minder- wertigkeit, geboren hierher, wShrend die flüchtigen Minderwertigkeiten Kochs zum großen Teile dem von der Imbecillitit zu trennenden erblich degenerativen Irresein zuzuweisen sind.« (8. 19.) Damit sind Kocus bedeatungsvoUe Darlegungen doch nur sehr oberflächlich erfalbt und gewertet Auberdem waren nach allgemeinem Sprachgebraudi, den ancb die Medizin nicht vergewaltigen darf, die Imbecillen oder gar nur ihre Eltem einmal krank. An sich sind sie es nicht mehr. Sie leiden nur unter den Folgen einer früheren Krankheit oder einer erblichen Bekstung an Entartung oder Entwertung ihres Nerven- systems und ihres Seelenlebens.

Auch was WiTOANiyT zur Charakteristik des Geisteszustandes der Imbecillen sagt, kann mit allerlei Wenn und Aber umgeben werden. So generell läbt sich doch nicht sagen: »Nicht nur die peripheren

Yergl. den »Bericht über die Versammlung des Vereins t Kinderforschung iu 3. Q. 3. Aiigaat 1001 m Jena. Langennlxa, 1901, & 4 It

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A. Abhandlungen.

SümeBorgane fanktionieren gaxu gut, aondam auch dia AaffBflaaiig der einzelnen Eindraoke libt Tielfach nichts au wünacben fibrig. Dagegen ist die aktive Aafmerksaiokeit außerordentlich gering nnd die Verarbeitung des erworbenen TorstelInngssohatReB recht dürfdg.€

Den moralischen Schwachsinn als solchen weiat er ab. Er sagt: »Die Mehrheit der Flsychiater neigt der Anachaunng zu, dab ea, wie Fübstnis sagt, ethische Defekte ohne jede andere Abnormität nicht giebtc Aber i^ damit gesagt, dab nicht die ethischen Defekte die primären und die Intelligenadefekte die sekundären sein kGnnan, so dals man sehr wohl von moralischem Schwachsinn, moralischem Iimein, moralischen Defekten schlechthin reden kann? »Das Beetrebeo, einen besonderen Sinn fflr Moral za konstruieren, hat Blbulbb mit Recht ins Lächerliche geaogen«, sagt WnieAimT, aber smtdem schon Hkrbabt die alte Termögenslehre in die Bnmpelkammer geworfen, redet wohl kein ernst zu nehmender Psychologe mehr von einem be- sonderen Sinn f&r Moral. Wir behaupten nur, dab das Moralische primär moralisch sein kann und nicht immer von Intelligenadefekten abhängig sein mulh und es darum unzulässig ist, die ethischen Defekte einfach den Intelligenzdefekten der Idiotie und der Imbedllität unter- zuordnen, wie ich das näher in meinem oben erwähnten Vortrage nachgewiesen habe.

Die vorhandene litteratur über die abnormen Erscheinungen im kindlichen Seeienleben hat schon Ansähse zu einer besser begründeten Einteilung, obgleich wir gern zugestehen, dals die Einteilung sehr schwer ist und alle Torhandenen an Einseitigkmt leiden.

Was WsTCAHiyT S. 25—62 über die Behandlung der Geistes» schwachen sagt, enthält sehr viel Wahres und Zutreffendes; audh hier giebt es noch aoiSBerordentlich viel zu thun. WsTOAimr weist hier allerdings den Ärzten hin und wieder Au^ben zu, die zu erfüllen sie nicht immer oder noch weniger als Lehrer und Geistliche in der Lage sein werden. Wenn er Ton Hausärzten spricht, welche dm hede» ritären Faktor einschränken und in belasteten Familien die Gravidität überwachen aoUen, so vergilbt er, daib 96% der Bevölkerung keinen Hausarzt besitzen und gewiJs 99% Heirat keinen Arzt um

Bat fragen werden, der Arzt mitbin anberordentlich geringen Einflnis auszuüben vermag, wenn er nicht durch öffentliche Vorträge, wie die Naturheilknndigen ee thun, die Öffentlichkeit aufklären hilft Nicht uniecht aber hat er, dafii >Über die Ursachen der Geistesstörungen seibat bei nicht psychiatrisch gebildeten Ärzten noch die unzu- treffendsten Vorstellnngen herrschen«, und dalk dieselben »in ihrer Mehrzahl noch viel zu leichtherzig den Alkohol seiner geringen tiiera-

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Mfb: Ülwr das ZuBamoienwiikeii Tin Heduio und Fidagogik 0(0. 9

peutischen Eigenschaften wegen empfehlen, statt vor ihm wegen seiner eminenten toxischen Wirkungen in gentifi;end eindringlicher Weise zu warnen«. (S. 27.) Das gilt allerdings auch für Lehrer und Geistliche, obgleich diese selten in die Lage kommen, dieses Nerven- gift geradezu anzuempfehlen.

»Während vom Standpunkte der Prophylaxe der Idiotie und Im- becillität sich einige allgemeine Angriffspunkte ergeben, gerät die ärztliche Wirksamkeit in eine gewisse Verlegenheit, wenn es sich darum handelt, bei anscheinend schwachsinnigen Kindern in den ersten Lebensjahren zweckmäTsige Kausalindikationen aui^ustellen und die Ursachen der krankhaften Zustände wegzuräumen. . . Gegen einige der allerwichtigsten, freilich in ihrem Wesen noch wenig be- kannten Ursachen, Hirn- und Hirnhaut- Entzündung in der ersten Lebenszeit, sind wir vollständig machtlos. Auch bei anderen Krankheiten infektiöser Art, Masern, Scharlach, Typhus etc. sind wir ao&er stände, auf die sich etwa einstellenden Schädigungen des CentralnervenBjBtems direkt einzuwirken « S. 29.

Dafs WETOAKDr sich gegen die erfolglose operative Behandlung der Mikrocophalie wendet, findet unsere volle Zustimmung, und die wenigen Prozente von Erfolgen, die bezeichnet werden, führt er mit Beeht aof die chirargisobe Autosuggestion zurück: 9Dafe der geistige Zostand der Idioten auch ohne äufsere Einflüsse manchmal schwankt, ist allbekannt; ebenso plausibel erscheinen gerade hier die Aus- f&hrangen von PmEz, d&is bei jedem idiotischen Kinde, das in inten- flbere Behandlung und Pflege gebracht wird, alsbald gewisse er- sieh eri sehe Erfolge zu Tage treten, was sich natürlich auch nach der Aufnahme der zu operierenden Kinder in den Kliniken zeigen mnlBte. Ausschlaggebend für die ganze Frage ist aber doch der siehere Umstand, dafs die Voraussetzungen des ganzen Vorgehens falsch sind. Die Kleinheit des Hirns ist nicht Folge, sondern Ur- sache der Kleinheit des Schädels. Eine Nabtverknöcberung kommt naeh aasgedehnten Untersuchongen von Bourneville, Mobseuj n. a. bei jugendlichen Idiotenschädeln fiberbaupt so gut wie nie Tor; ersterer hatte unter 350 Schädeln keinen einzigen Fall derart Es steht zn hoffen, daJh diese Operation, bei welcher der Wunsch übereifriger Chirurgen des Gedankens Vater war, nicht wieder auftanoht, da ihre sinzige Rechtfertigung nnr von dem niohtSntlioheiL Standpunkte ans TersQcht werden könnte, daih eben derartigen nnsozialen Existenzen, wie den Idioten, gegentlber eine mit hoher Mortalitftt drohende, im fibrigsn keinen nmenswerten Erfolg verheilsende Behandlung be- senden leiditfaeizig in Angriff genommen weiden dürfte.« (8. 31.)

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A. AVhmdhuigeii.

Dab diese operaÜYen Eingriffe zebnma] üihmnaner dnd, als die ▼on einigen Lehrem noch hftafig angewandte körperliche Zflohtigang gegen Unarten, wird keiner bestreiten wollen. Und obgleich die Scheinerfolge dnrch Operation auch nach WneAKine AnfEassong p&dap gogische Wirkungen in der Tbat sind, findet mancher Aist gegen die Zöohtigangen sehr viel einanwenden auch Dr. WvroAMDT verwirft (S. 59) solche Zwangsmittel »abaolnt«, gegen das erfolglose Schneiden, SSgen und Meiltoln aber nichts oder doch erfaoblich weniger. Eine psychologisch interessante Erscheinung. Die Gewohn- heit des Handehss hier wie dort stumpfen Urteil wie Hitgeffihl ab. Wie ntttzlich darum eine gegenseitige offiene Aussprache!

In betreff der symptomatischen Behandlung bekennt Wktoandt: »Der aufsorordentlich eingeschrtnkten Möglichkeit, auf Grund kausaler Indikation gegen die angeborene Geistessdiwliche Yor- zugehen, steht ein wesentlich reicheres Feld symptomatischer Indi- kationen gegenüber. Wenn auch der Löwenanteil dem Päda- gogen als dem wesentlichsten Träger der psychischen Be- handlung anheimfällt, bleiben doch auch für die rein somatische Behandlung Aufgaben genug übrig, t Die Aufgabe, die der Arzt hier erfüllen soll, findet unsere voUe Zustimmung, namentiich auch inso- fern, als Verfasser gegen das übereifrige Medizinieren zu Felde zieht

Wenn Wztgaxdt aber von der allgemeinen Körperpflege (Kampf gegen Stuhlverstopfung, Einnässen, Gewöhnung an Sauberkeit etc.) sagt: »Die entsprechenden Yorkehrungen liegen jedoch dem Arzte weit näher als dem Pädagogen, Leitern und Lehrem der Anstalten,« so ist dagegen zu bemerken, dals hier vor allen Dingen die Gewöh- nung und die Erziehung, also eine pädagogische Aibeit, das beste Mittel ist, wie auch die meisten Ärzte anerkennen* Kun aber liegt diese Erziehung doch denjenigen näher, die den ganzen Tag die üblen Folgen zu trogen haben, als dem Arzte, der nur ein oder zweimal tägUoh oder gar nur wöcheutiicb »Visite« bei einem solchen Kinde macht Wenn der Arzt die ganze Pflege und eine Tsgesarbeit mit einem solchen Kinde übernehmen, er abo selbst Erzieher, das heilst Pfleger, Lehrer und sittiicher Führer sein würde bei den Kindern, dann wäre ihm wohl zuzustimmen. So ^iel aber ist gewilb: der Ant ist in all diesen Dingen zu Bäte zu ziehen und die natüriichste Stellung in all solchen Sachen ist für den Arzt doch eben die des Batgebers, nicht aber des Herrschers. Ein anderes ist es allerdings, wenn wir es nicht mit abgelaufenen Krankheitszuständen zu thim haben wie beim Schwachsinn, sondern mit schwereren fortbestehendoi oder neu auftretenden Erkrankungen. Dann gehören auch Kinder

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TrOpir: Über das ZnsammeDwirk«! von Medizin nnd Fldagogik ete. H

entschieden in ein Kninkenhaus, wo der Arzt Leiter ist, und nicht in eine Erziehungsanstalt, wo ein Padafjof^o es sein sollte. Aber wie wegen der pädagogischen Arbeit im Krankenhause nicht einem Päda- gogen die Leitung gebührt, so auch bei der ärztlichen Mitarbeit in «inem Erziehnngshause nicht dorn Arzte, und bei der ganzen Arbeit an Schwachsinnigen überwiegt, auch nach Whga^jdt, bei weitem die pädagogische Arbeit.

Wo aber noch sehr wichtige Aufgaben der Medizin vorliegen, das giebt Herr Dr. Weioakdt wiederholt in trefflicher Weise an. So sagt er z. B. über den Kretinismns und ein Ähnliches gilt noch von manchen Abnormitäten des kindlichen Nervenlebens : Es »ist zu bedauern, dafs die wissenschaftliche Forschung sich noch wenig eingehend mit diesem Gegenstand beschäftigt hat Es fehlt noch an einer ausführlichen Statistik des Kretinismus in Deutsch- land und anderwärts, an hinreichend sicheren pathologisch -anatomi- schen Untersuchungen und schliefslich auch an völlig exakten Be- obachtungen über die prophylaktische und medikamentöse Bekämpfung des Erotinismus. Es wäre zu wtlnschen, dals ein Teil des Eifers, mit dem sich die Forscher neuerdings der Malaria widmen, auch der Endemie des Kretinismus, welche viele Taasende von Menschen zq geistigen Ruinen werden läCst, alsbald zu gute kirne.«

Die psychische Behandlung (S. 41—61) gehört in erster Linie in das Gebiet des Erziehers. Die Wissenschaft des Arztes zieht hier die Grenze: festzustellen, wo es fehlt und was körperlicherseits geschehen kann, um der Seele einen möglichst gesunden Träger zu verschaffen und mit dem Lehrer gemeinsam zu erwägen, was das Nervensystem wohl an geistiger Anstrengung erträgt. Alles übrige ist rein pfidagogische Arbeit Allerdings müssen wir verlangen, dafs die Pädagogik weit mehr als bisher nicht blofs mit einer genetischen Normalpeychologie, sondern auch mit der Psychologie des Abnonnen und ebenso mit Physiologie und Hygiene sich befasse nnd dieselbe auch zugleich eine Heilpädagogik sei Leider steht ee nun aber einmal so, dals unsere Universitäten nur Gelehrte, aber keine Lehrer bilden , und dab im günstigsten Falle an einer Universität ein einziger Lehr- stuhl für Pädagogik voiiianden ist, wahrend die Medizin über Dutzende verfftgt Wer nicht für Standesinteressen kämpft, sondm für das Wohl der Jugend nnd des heranwachsenden Geschlechtes, der mfiftte mit aller Kraft, gleichviel, welchem Stande er angehörte, bei jeder Gelegenheit öffentlich eintreten, dals dieser unerhörte Mißstand beseitigt werde. Wir gebrauchen genau so viele LehntOhle fOr Pädagogik,

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A* Abhandlmgeii.

d. i. für Pflege, Unterricht und Endehung der Jugend und dee Yolkes^ als für Zfichtang von Vieh und Knltaxge wichsen, für Behandlung des kranken Menscfaenleibes, für Bestrafung der Verbrecher, fflr Schlichtang von Bechtastreiti^eiten u. s. w. ü. a. sind Torlesungen Uber pftdagogisefae Ffeychiatrie notwendig. Mancher FB^duater könnte eine dankbare Zuhörerschaft finden. Trotz dieser YeraacUfissigunKen stand die autodidaktische Fftdagogik in Deutschland der anderer Lftnder voran. Dalb uns Amerika infolge der Errichtong päda- gogischer Fakultäten darin in den letzten 10 Jahren teilweiae flber- holt hat, wird wahrscheinlich mit der Zeit eine Schwfichung unsereier Industrie auf dem Weltmarkte und unserer Weltmachtstettung über- haupt bedeuten. Wir dürfen immer nicht vei^gessen, da& sowohl Hol&e, als auch Bismarck in seiner berOhmten Februar-Bede, es waren, die behaupteten, dab unsere deutsche Jugenderziehung es sei, welche onserm Heere die Kraft verleifae und dals darum, wie Bismarck noch 1888 meinte, kein Yolk der Welt bisher solche Heere wie wir habe schaffen können. Die gröfsere Pflege der Erziehungswissen- schaft wäre darum eine nationale That

Man wird zwar einwenden: genügten bisher Voiksschullehrer- seminare und freie Arbeit Einzelner, um das zu erreichen, so wird auch fQr die Zukunft die Mitarbeit der UnirersitSt unnötig sein. Wenn das richtig ist, dann wird auch die Naturheilkunde der Nicht- ärzte mehr leisten als die wissenschaftlicbe Medizin. FOr uns sind Forschung und wissenschaftliche Schulung in der Theorie wie in der Technik auf allen Lebensgebieten unerlüslich zum Fortsehreiten, auch auf dem Gebiete der Pädagogik und insbesondere der Heil- pädagogik.

Mit der Pädagogik, wie Herr Dr. Wetoandt sie vertritt, können wir aber erst recht nicht auskommen. Was die Pädagogik, also die Lehre von der psychischen Behandlung der abnormen wie normalen Kinder, im letzten Jahrhundert zu Tage gefördert hat, scheint dem- selben zum grölkten Teile unbekannt geblieben zu sein. Den- noch sagt er Uber die psychische Behandlung Tom naturwiasen- scbaftUch-psychiatrischen Gesichtspunkte aus manches, was die fand- läufige Pädagogik, die viel zu einseitig im rein idealistischen Fahr-, wasser sich bewegte und den Boden der realen Tbatsaohen viel zu wenig bwöcksichtigte, im allgemeinen remachlässigt hat Allerdings, in der Pädagogik des Abnormen findet man auch dieses bereits aus- gesprochen. Wir wollen neben der allgemein bekannten aber Herrn Dr. Weyoakdt unbekannt gebliebenen Litteratur über Schwachann, psychopatbisohe Minderwertigkeiten, Taubstummheit etc. nur Terweisea

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iRtrcB: Über das Zusammenwirken von Medizin und Pädagogik eta 13

auf den trefflichen Jubelbericht der Stettener Anstalt^) "Was der Lehrer und Leiter Laadsberoer in den verschiedenen Jahresberichten der Anstalt zum Ausdruck gebracht hat und das hier in diesem Jubelberichte zusammengetragen ist, dürfte dem Lehrer weit mehr praktische Anregung und Impulse geben als das, was Herr Dr. Weyqandt hier sagt Weygandt hat den Bericht einmal zitiert (SL 84). Seine Schrift hätte durch Aneignung der fünfzigjährigen SrfohriingBergebidsse «olserordentLich viel an Wert gewinnen können.

Das wiasenschaftlioh-pädagogiaohe Schema WrtGASDvs ist das Folgende:

1. Entwickeiung der Aufmerksamkeit^

2. Entwickeiung der Sinnesthätigkeit, . 3. Entwickeiung der Motilität,

4. Übungen des Gedächtnisses,

5. Entwickeiung der Sprachthätigkeiten,

6. Bekämpfung übler Oewohnheiten,

7. Unterricht in Kenntnissen,

8. Entwickeiung der Willens- and Oeföhlsspbäre,

9. Handfertigkeitsunterricht

Diese Überschriften sagen schon, dafe Herr Dr. Wetoabot s. B. von der Theorie des Lehrplans wie von der Theorie eines Lehrveiv fabrens nicht mehr zu kennen scheint als jeder Nichtarzt von dea medizinischen Behandlungsmethoden. Es ergeht ihm dabei, wie es manchen Nichtärzten ergeht, die da glauben, die Krankenheilbeband- long besser zu verstehen als der Mediziner von Fach. Wir meinen, daTs, so sehr abweichend auch der Unterricht der Schwachsinnigen ton dem normaler Kinder sein mufs, die grundlegenden Gedanken aber dieselben bleiben und darum von einer irissenschaftlicb be- gründeten Theorie der Erziehung Normaler aus auch die Erziehung Abnormer zu betrachten ist

An Lehrfächern kennt Wstoandt nur:

a) Anschaunngf^unterricht,

b) Formunterricht,

c) Lesen und Schreiben,

Denkschrift zur F'eier des fünfzif^jährigen Bestehens der Huii- und Pflege- aostalt für Bchwachsionige und Kpileptiscbe zu Stetten. BcbumUurf, 1899.

Jeden, der mit der Emehung Schwachsinniger txk thun hat, kann ich diese Beabdu^ nicht warm (penng empfehlen. Man hat m SO Jahren ja mandiea hinan- gelernt und mancheä berü htijLrt, aber aach manches vergessen, was LiWMBnwnn bereits erkannte. Neben der Erkenntnis aber besaCs Ijandrbeboer Liebe an den TJagteokUcfaen. Die liebe aber ist in dieser Frage aooh das Oräfete*

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u

d) Rechnen,

e) Gesang und Turnen,

Weil Herr Dr. Wotoandt Mediziner ist, können wir ihm seine pädagogische Unkenntnis keineswegs zum Vorwurf machen. Wir wehren uns nur dagegen, dais er den Medizinern die pädagogische Arbeit so leicht darstellt und sie glauben macht, ein Mediziner könne 80 nebenbei aaoh sachverständiger Pädagoge sein, wie das umgekehrt ja auch die schulmeisterlichen »Kurpfuscher« glauben. Wir haben von der Pädagogik einen anderen Begriff, allerdings auch als Bureau- kratie und Sobnlpfaffentain üm haben. Wie leicht der Verfasser diese fVagen nimmt^ mOge nur doich eine Äufserung über das, was wir Oe- sinnungsnntenicht nennen, belegt werden. In dem Abschnitt »Ent- Wickelung der Willens- nndOefüblssphftre« weist er denselben mit folgenden Änfserungen fast ab: »Bs ist fast allgemein üblich, einen Teil der Erziehung der Sehwacbsinaigen in Gestalt von Religions- onteniobt zu bieten. Freilich lassen sich manche biblische Erzäh- Inngen für d&n. Unterricht ganz wohl verwertsD, aber wenn die An- staltsvorstände besonderen Wert daranf legen, ihre Zöglinge zur Kon- firmation m bringen, so ist damit in der Regel vorzugsweise den Eltern des Kranken eine beruhigende Annehmlichkeit erwiesen. Ich möchte betreffi dieser Punkte nor SohOub sitierenf der hierflber aus- sagt: Gegenüber der so oft als Dogma vertretenen Ansicht von der ^mfitlidien TiefeS ja sogar dem ,wabrhaft religiösen Sinn^ der Scbwadi- sinnigen dürfte zu bemerken sein, ds& ein Teil der mittleren Formen des 8cfawa«di8inns alletdings ein gewisses liebenswürdiges, ansehmie- gendes Wesen zeigt, welches aber nicht tiefer wurzelt und ganz an das artige Wesen eines Hündchens erinnert, welchem man flattiert Analog verhält es sieb aacb mit dem ,religiö8en Sinn*, von welchem in den Idiotenanslalten der Inneren Mission so viel die Bede ist«

Inwieweit er dem nicht didaktisch gebildeten Theologen gegen- über recht hat, wollen wir dahingestellt sein Isssen. Ich kenne aber eine lange Reihe von evangelischen Geistlichen und von Schriften von evangelischen GeistUcben, die eine weit tiefere pädagogische Auf- fassung besiteen, als sie hier sngegeben ist Allerdbigs habe tob auch evangelische wie katholische Geistliche kennen gelernt, für die die Anführungen Dr. WETOAions leider noch zutreffen. Aber mit dem Minderwertigsten, was zudem die Theologie der Pädagogik ante- |)fropfen sucht, darf man doch nicht die Pädagogik belasten oder gar ihr einen Dienst erweisen wollen. Was Herr Dr. WsroAMnr hier im

*) Veiigl. meine Schrift: Döapfslds äoziale Erziehung. Outorsloh, 1901.

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Xküpkr: Über das Zusammenwirken vou Medi'/üi uud i'adügogik etc. 15

Unterricht der Schwachsinnicen stroicht, das nonnt einer der be- deutendsten PädagoffoTi des letzten Jahrhunderte, Dürpfelü, das »Herz- blatt der Schule«, uuii wir sprechen aus eigensten Erfalirunt^en heraus, dafe nicht die Karrikatur, wie Herr Dr. Weygandt sie scluidii t, son- dern eine vernünftige BehandiunL' von Gesinnungsstuffeii, gleich- viel, ob sie religiöser, poetischer oder historischer Art sind, das Interessanteste und Anregendste und geistig Förderndste ist für schwachsinni^Mj Kinder. Herbakt sagt: *Das Lernen ist nicht Selbstzweck, sondern nur Mittel, um Interesse zn wecken«. Tn diesen Stoffen hat mnn das beste Mittel m Händen, dio Kinder beim Interesse /u lassen. Aber die volle Bedeutung <les Interesses im Unterrit iit scheint Herr Dr. Weyoaxdt nicht zu kennen. Sein ein- seitig medizinisch -naturwissenschaftlicher Standpunkt verleitet ihn, alles zu erwarten von einer -iizu.-airen objektiven Behandlung der Sinnes- und Verstiindesthaticrkeiteii. Aber ohne die Weckung des rechten Qefüblstones bleiben die Sinne stumpf und der Verstand regungslos.

"Wetöaxdt geifselt*) mit Recht unreife h ei Ipädagogiscbe Schriften; er scnieibt z. B. über die Arbeiten von Akno Fuchs:*)

»Die ganze Aufsatzserie ist ein erschreckendes Beispiel dafür, was guter Wille und Schroibdrang leisten, wenn nicht Einzelkennt- nisse, begriffliche Klarheit uncl Kritik luitwirkon. Es kann nicht ent- schieden genug Front gemacht werden pe^mi eine derartige Pseudo- wissenschaft, dio auf Grund nur erlesener, lückenhafter Kenntnisse der Psychologie und Psychiatrie versucht, ein so schwieriges For- schungsgebiet wie das psychisch abnorme Kmd zu ergründen. Es wird mit der von Frcus angewandten Methode nichts anderes erreicht, als iialtlose Konstruktionen einer der Thatsache nicht entfernt entsprechenden Psychologie des Kindes, die. wenn sie in dem anspiuclisvoUen Gewände einer solbstanciigen Zeitschrift auftreten, die bedenklichsten Verwirrungen zur Folge haben müssen, eine Gefahr, welche im vorliegenden Falle wenigstens etwas gemildeit erscheint durch dio jeden besonnenen Leser von vornherein warnende Ver- schrobenheit und Naivität der Üarstellungsweiso.«

Aber er hätte nach der pädagogischen Seite hin aus der zuletzt erschienenen Schrift von Fuchs**) doch noch manches pädagogisch Unantastbare lernen können, und er sollte nicht übersehen, dals genau

*) Nennd. CeiitnlbL 1»93, S. 216.

*) Beibige rar pädagogischen Pathologie. Gütersloh, Bertelsmann. Sohwaohsiiiiiige £tiulor, ihre nttliofae uiid iotaUektnelle Bettm^. Oütei»- loh 1899.

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A. AUundlniiBeii.

dasselbe auch von Medizinern gilt, die ohne tieferes Studium und reife Erfahrung sich auf das pädagogische Gebiet begeben.

Herr Dr. Weyoandt hat sich in Würscburg als Privatdozent auch der Psychiatrie des Kindes gewidmet. Er hat damit ein sehr dankbares Gebiet betreten. Wir wissen das von Jena her za be- urteilen, weil hier Professor Ziehen so aufsorordentlich segensreich in derselben Weise gewirkt hat Diese segensreiche Wirkung läfst sich aber nicht erzielen, wenn er als junger Anfänger über das ganze Gebiet auf 103 Druckseiten kritisdi zu Gericht Bitsen und zugleich zur positiven Förderung ein neues Programm bieten will Wir be- trachten anch die Sehriit nach der pädagogischen Seite hin mehr als eine Orientiemng für sich selbst und als eine Reihe von Fragen an die Leaer. Wer sieh in dieses Gebiet einarbeiten wiJl, dem ist entschieden viel mehr damit gedient^ wenn er gründ- liohere Beaiheituugou über länzelfragen Btndiert oder wenn er sich Erfahrongen mitteilen IMbt Ton solchen llfinnem, die wie IiAMOSBERCBB, SflNOiuuMK, Babthqld, Fujun, Zdchen, Demoor u. a. ein langes Leben oder doch längere Jahre hindareh im Dienste der Psychiatrie oder der Endehnng des abnormen Kindes gestanden haben. Anf medizinischem Gebiete -~ das beweist Herr Dr. WsroAXDT ist noch mehr als auf pädagogischem Gebiet die Brfahnmg «udi für eine Theorie das WertroUsta Wiasenscbaftlich begründet nnd das hat er in seiner Schrift gerade in dankenswerter Weise dargethaa ist noch anlkerordentiich wenig. AnsStse und Anfänge überall! Wir erwarten auf Grand dieser Schrift von Herrn Dr. Wnronn» noch wesentliche Anregungen für die Behandlung der geistesschwachen Jugend, snalchst nach der medisinischen Seite hin, sodann aber aoch für die Befruchtung der hergebrachten Pädagogik durch KUirung der Pathologie derselben und durch Batachiäge, weiche die Pädagogik von der HedisEtn noch auf lange bedari

Mit den Folgerungen, welche WsraAMnr aus seinen sachlichen Darlegungen sieht, werden wir uns im nächsten Hefte beschäftigen.

2. Die Zerstreutheit der Kinder.

Sme pejohologiMhe SUsie von HirBHUM SrOsiwaidi Herbom. (NasBao.)

Locke äufserte einmal li ui Kinclor ist es eine Pein, dio Ge- danken bestiindi^i; auf alles zu nciiton.'< Auf Grund unserer Er- fahrung müssen wir diesem Satze zustimmen. Jene Leitung und Beherrschung des Vorätellungtiablaufä, welche man Konzentration der

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GtsOinwAiiD: Die Zeistreotheit der Kinder.

If

Gedanken oder geistige .Sanimliincr nennt, ist dem Kinde niciit von Natur eigen; diese Fixierung des BewulsLsüins auf einen bestimmten Inhalt ist vielmehr erst (ia:^ Resultat einer längeren Entwickelung. Alle Sinnespforten des Kindes stehen der Aufsenwelt offorc ein Bild verdrängt das andere im Spiegel seiner Seele. Der kindliche Oeist hat sich noch nicht von der Fülle der auf ihn eindringenden Bei^e emanzipiert.

Indem wir diesen gedrängt dargestellten Thatbestand erwägen, könnte es uns sonderbar erscheinen, die Zerstreutheit der Kinder als Kinderfehler zu betrachten. Wie öfter, so entspringt auch dieses Be- denken aus dem landläufigen^ eindeutig bestimmten Oebrauch des Wortes. Das Wort »Zerstreutheit« ist dehnbar. Was man ge- wöhnlich >Zer8tTeutheit€ oder »Geistesabwesenheit« nennt, ist im psychologischen Sinne gerade das Gegenteil: eine die Betrachtung der Auilsenwelt ausschliefsende Riclitung des Geistes auf das gleich- zeitig gegebene Vorstellungskondnuura. Diese Zerstreutheit ist das stete Korrelat der Vertiefung. Jessen versteht unter Zerstreutheit »eine isolierte Thätigkeit der Sinne, «^) unter Vernachlässigung des gleichzeitig gegebenen Yorstelluugskontinuums. Feochterrleben bezeichnet die Zerstreutheit als »eine Unentschlossenheit des Auf- merkens, ein seelischer Zustand, welcher dem Zittern der Muskeln gleicht, ©ine Oscillaüüu, weiche ausdrückt, dafs die Kraft der Seele nicht hinreicht, in einer Richtung mit Stetigkeit zu wirken, so dafs ein Ausruhen, ein Nachlassen, ein Wechsel jeden Augenblick sich nötig macht«.*) Lsssmo betrachtet bekanntlich die Zerstreutheit als einen j unrechten Gebrauch der Aufmerksamkeit*.

Am deutlichsten wiid uns wuhl der bogrifUiciiG Inhalt des Wortes sZer.sUuutheit« , wenn wir von dem gegenteiligen Begriff ausgehen. Das Gegenteil von »Zerstreutheit« ist »Konzentrierung«, d. h. »ein Zu- samnii ri laufen des geistigen Lichtes im Mittel- oder Brennpunkte des Gesicbtsfeldes und ein korrelatives Verdunkeln aller Kandteiie«. (SuLLY.) Die Zerstreutheit könnten wir im llinbiick hierauf figurlich als t'ine -Zerstreuung des geistigen Lichtes« bezeiclinen, welche es zu kcmem klaren und deutlichen Auffassen der emzclnun Objekte kommen läfst. Die Konzentration des Bewufstseins ist eine Willens- funkUuüj die Zerstreutheit involviert daher eine voruburgühonde oder habituelle Suspendieiung des Willens. Der Begriff Zerstreutheit ge-

Vemuh einer wisseusdiaftUcheii Begründung der Ps7<^ologie. Berlin 1855.

S. 241.

') Diätetik der Seele. I^ipzig u. Wiea. S. 36. IkWMmmK. Vn. Jahrgang. 2

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A. üllAlllillUlgQll.

winnt erst dann seiue wahre Bedeutung, wenn boim Kinde von Willensfunktionen die Rede sein kann. Die oben skizzierte ün- achtsarakoit oder »wandernde Aufmerksamkeit« (Süllt) ist in unserem Sinne nicht mit der » Zerstreutheit ^ identisch.

Man kann bei Kindern eine vorübergehende und eine habituelle Zerstreatbeit unterscheiden. Betrachten wir zunaciist die vorüber- gehende Zerstreutheit. Die Ursachen derselben sind sehr verschieden. Bei den Kindern des ersten Schuljahres hat man oft Gelegenheit, zu beobachten, wie die Kleinen nach 5 Minuten langem Lesen in der Fibel nicht mehr auf die Worte achtgeben. Da zeigt sich vielmehr die sogenannte »ewige Unruhe«, Die Augen wandern träumerisch über die unliebsamen Hieroglyphen der Fibel, die Pulse werden fort- während gerückt, der Körper ist in einer be.^taüdigen Bewegung. In diesem Falle sind also gehemmte Bewegungstriebe die Ur- sache der Zerstreutheit.

Die Kmder spielen in der Pause. Sie treten in die Klasse, und der Unterricht beginnt Hat das Kind noch nicht die Fähigkeit er- worben, die im Spiele gepflegte Fhantasiethatigkeit zu hemmen, sowio die Vorstellungen des Spiels, die nicht zum Unterrichte in Beziehung stehen, zu unterdrücken, dann wird es »zerstreut« sein. Da leitet nämlich kein ausdrücklicher Willensakt die inneren Thaugkeiten, in die Seele der Henscliaft der vom Spicio Ii er im kindlichen Geiste dummierenden Yorstelluntren unterwürfen. Man findet auch iiianch- nial Schüler, welche wie [Bildsäulen da sitzen und unbeweglich auf die Worte des Lehrers zu acliten scheinen; allein sie schlafen wio die Hasen niit (iffenen Augen, Die Zerstrüuthoit wird in diesem Falle oft durch die extreme Anwendung der akroamatibchcn Lehrweisö begünstigt. Es ist dem Schüler ott gar nicht so hoch anzuschlapren, wenn er den redseligen Lehrer seine Gedankenreihen verfolgen iüfst^ während er seinen Gedanken Audienz giebt.

Es ist eine Thatsache der Erfahrung, dafs die Zerstreutheit der Kinder mit deren Ermüdung iui engsten Zusammenhange steht. Die Aufmerksamkeit der Kinder ist noch viel weniger als diejenige der Erwachsenen eine kontinuierliche; sie trägt vielmehr einen aus- geprägten intermittierenden Charakter. Bei den Eindem ist ein steter Rhythmus analog Arsis und Thesis im vierteiligen Takte in der Bewufstseinsschärfe wahrzunehraeu. Diese Schwankangon der Aufmerksamkeit, welche zwar auch im konzentriertesten Gedanken- Terlanfe stattfinden, bezeichnet man in der pädagogischen Sprache ebenfalls als Zerstreutheit. Diese Varietät der Zerstreutheit hängt ■wie gesagt innig mit dem bekannten Phänomen der Gehimermüdung

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Oii0itiwAU>: Di« Zeistreafhdt der Krndw.

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zusammen. Sxtlly schreibt: »Es ist durch das Experiment bewiesen worden, dafe bei Kindern, wenn sie Schularbeit verrichten, eine wahr- nehinbare Abnalime der Aufmerksamkeit, d. i. der geistigen Thätig- keit, nach einer halbstündigen Anstrengung eiutrittc Das ist jedoch nur eine allgemeine numerische Angabo, welche durch Beobachtungen an Kindern verschiedener Altersstufen verschieden bestimmt wird. Gewiegte Beobachter, wie James u. a. behaupten sogar, dafs es keine im strengen Sinne ununterbrochene Fixierung der Aufmerksamkeit von längerer Dauer als einer Sekunde gebe. ^

Man bat es versucht, diese aus der Rhythmik oder Periodizität des Bewnfstsoins resultierende Zerstreutheit durch die Theorie von den lokal beschränkten Gehirntbuiigkeiten zu beleuchten. Sind die Kinder beispielsweise mit Abschreiben beschäftigt, dann ist die Seh- sphäre und das Schreibcentrum der Grofshirnrinde engagiert Durch die Thätigkeit der Centraiorgane des Gehirns wird aufgespeicherte Energie frei. Zellen und Zellengruppen des Gehirns lösen sich auf. Durch den Kapiliarblutumlauf wird dem Gehirn neue Zellsnbstanz zugeführt. Wird nun durch eine bestimmte Geistesthätigkeit ein Himzentrum ausschliefslich bezw. vorwiegend in Anspruch genommen, so iialt der Prozefs der Erneuerung der Gehirnsubstanz mit jenem der Zerstreuung nicht gleichen Schritt Der Verbrauch der Gehirn- substanz einer bestimmten Region wird psychisch als Ermüdung empfunden. Aus derselben resultiert die Zerstreutheit, welche der Lehrer immer wahrzunehmen Gelegenheit hat, wenn er seine Schüler längere Zeit mit einem Gegenstande beschäftigt. Sind nämlich die Stoffe verbraucht in deren Zersetzung die den psychischen Aktionen parallel laufende physiologische Thätigkeit besteht, dauu wendet das Kind spontan seine Aufmerksamkeit anderen Dingen zu {z. B. Ge- hörseindrücken, Geschmacksvorstellungen u. s. w.), wodurch die enga- gierten Centren von ihrer Anstrengung befreit und andere Contren in Thätigkeit versetzt werden. Das alte pädagogische Sprichwort »Yarietas delectat« ist also auch physiologisch beglaubigt. Hierauf gründet sich die zweckmäfsige Abwechslung der geistigen Thätigkeit der Kinder, welche das schwierige Problem des Stundenplans bildet (Vergl. ScHiLLEB. Der Stundenplan!) Wajtz argumentiert gegen den nur in sehr boscliränktem Mafse richtigen Satz freilich einer notwendigen Konsequenz des Materialismus in der Psychologie , dafs durch einen Wechsel der Unterrichtsgegenstände sich der Er-

•) Handbuch der Psychologio. Leipzij: 1Ö98. S. 29. JoDL, Lehrbuch der Psychologie. Stuttgart 1896. S. 446.

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A. Abhandlungen.

miidung am besten vorbeugen lasse, Er begründet seine gep^en- teilige Ansicht durch den iiinwois auf die Thateache, »dafis jeder Übergan e: geistiger Thätigkeit von einer Art von Gegenständen zu einer anderen an und für sich schon Schwierigkeiten macht und eine nicht unerhebliche Anstrengung erfordert, weil er andere Ope- rationen zu Tollziehen, andere üedankeureihen hervoizusuchen und zum Ablauf zu bringen nötigt«

In den Ausführuntren von Wattz ist ja eine nicht zu unter- schätzende Wahrheit aus^^tsp rochen. Es ist mir schon oft Torgekommen, dafs nach einer Keiigions- oder duuUchün JStundo, in welcher eine sympathetische Materie betrachtet wurde (z. B. Jungling zu Kain. Kreuzigung Jesu. Die Kapelle von Uhland; Unverhofftes Wieder- sehen von Hebel u. a.) die geistige Thätigkeit der Schüler in der nachfolgeiidün Rechenstunde sehr schwer auf die Zahlcnopemtionen zu konzentrieren war. Immer drängten sich wieder die ^tfuhls- betonten Vorstellungen in den Vordergrund des Bc^^ u^stseiüs. Die Kinder waren also im Hinblick »uf die vorzunehmuiidcn Reolif n- operationen »zerstreut STja.yrKLL woist im 4. Kapitel seiner »i^ada- gogischfn l'sychologiüa auf (li.\sen Punkt hin, wenn er schreibt: »Jeder Lehrer weifs, daf« das üemüt des Kindes, eiie der Unterricht beginnt, in Ruhe gekommen sein und eine Stuiunung erlangt haben soll, welche den neu auftretenden Voi:iL<jllungen gunstig ist Aus diesem Gruudu smci Zwischen&tundeu zwischen deu Lohrstunden not- wendig.t Die Zerstreutheit folgt in diesem Falle aus der ungiin^tigtn Konstellation der zu dem betreffenden ünterriehtsstuffe m Bezudumg stehenden latenten Erinnerungsbilder. Diese Spnzies von Zerstreut- heit hat bedeutende Isährquellen und verdünnt daher eine besondere Beachtung. Ich erinnere nur an die häusliche Lektine der iünder. Wird dieselbe nicht pädagogisch überwacht, dann zeigen sich in der Zerstreutheit im Unterrichte die augenschemlichen i'olgen derselben. Besonders gilt das Gesagte von den modernen Indianergesehiehten mit buntfarbigen Umschlägen, mit Orcuelscenen repntscn tierenden Titelbildern als Köder für die »Leselischiein« (!), weiche von der lesehungrigen (!) Jugend geradezu verschlungen werden. Ich ver- weise auf viele Bücher der müdurnen Mädehenlitteratur, ausgezeichnet durch eine sinnbethörende, geistzerstieuende Erotik!

Die gtJsellschaftlichen Verhältnisse im Hause tragen auch eine Huupt^jchuicl an der Zerstreutheit der Kinder. Marquard schildert den sozialen Hintergrund der Zerstreutheit der iünder m seinen

Allgemeine Fidagogik. Braosschveig 1S52. a m

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OBüNKWiiLD: Die Zerstreatheit der Kinder.

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»Briefen über Brrliner Erziehungc (S. 11). Kr erblickt in Her zu- nehmenden » Veruufserlichung« des Familieniebens eine Hauptursaohe der kindlichen Zerstreutheit. Er sagt u. a. : »Was soll man sagen^ wenn jonge Mädchen aus Familien, die alle Welt für gebildet und solide hält, von Neujahr bis Ende Februar 30 bis 35 grofse Bälle zahlen, die anderen Gesellschaften und Verfmügungen nicht mit- gerechnet! Nun bedenke man die Vorbereitungen für die Unzahl von Gesellschaften und die alles verschlingende Bedeutung, welche dieselben im Hause bekommen müssen. In solchen Hausem sind auch Knaben, die das Gymnasium und andere Schulen besuchen und lernen sollen, was soll man da erwarten? Später kommen dann die Sommerreisen. Die Kinder bleiben dann daheim monatelang ohne alle genügende Aufsicht Ist die Zerstreuung unter solchen Umständen ein Wunder?«

Ein zehnjähriger Knabe, Sohn eines GastwiiLs, zeigte sich in meinem Unterrichte auffallend zerstreut Ich könnte sagen, die Zerstreutheit sei bei diesem Jungen typisch. Nachdem ich die häuslichen Verhältnisse ermittelte, weiche den Knaben in seiner Schularbeit beeinflussen, ist mir seine Zerstreutheit ganz klar. Er hält sich den ganzen Abend in der Wirtsstubo auf und lernt nnter dem Einflüsse des Gespräches kartonspielender Fabrikarbeiter seine Lektion. Der Knabe wird in dieser geistigen Atmosphäre unbe- wufst zur Zerstreutheit erzogen. Auch ist er in obscrnon Redensarten, wie in der sexuellen Sphäre überhaupt sehr bewandert. Davon zeugten seine Gespräche, die er bei einigen senier Kameraden fühlte. Das Gemüt dieses Kindes wurde also durch das Wirts- hausleben vergiftet und sein Geist zerstreut

Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, allen häuslichen Verhält- nissen nachzuspüren, welche das Kind influieren und für den Unter- riclit ungünstig disponieren. Unter den vielen Fällen, die mir be- gegnet sind, erwähne ich noch ein weiteres repräsentatives Beispiel von kindlicher Zerstreutheit, das keineswegs als ein exceptionelier Fall anzusehen ist Da begegnete mir im Morgenuntoi richte einer städtischen Volksschule zu W. ein zerstreuter Knabe, der sonst stets dem Unterrichte gefolgt war. Durch ein Gespräch »unter vier Augen« ermittelte ich. welche Vorstellungen den Geist des Knaben erfüllten und ihn als ^zerstreut« erscheinen liefsen. Es handelte sich um einen Ii iL nslichen Streit zwischen den Eltern, der sich am Morgen •bgespielt hatte. Der Vater hatte die Mutter geschlagen und wollt© ßie verlassen. Als der Knabe mir hiervon erzalilte, brach er in heftiges Weinen aus. Ich empfand herzliches Mitleid mit dem

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A. Abhandlungen.

armen Jungen \md war froh, dafe ich ihn wegen eeiner Zeretreutlieit nicht sofort ohne Untersnohnng der sozialen Sphäre be- straft hatte.

Oft wird die Zeistrentheit aaoh dnroh besondere Richtangen des kindlichen Interesses begünstigt Ein sehr potzeftcfadgee neunjähriges Mädchen hörte mir anscheinend sehr aufmerksam tu, als ich die Weibnacbtsgeschichte erzählte. Zu meiner gtotam Ent- täuschung mulste ich bemerken, dab das Kind doch »zeistrent« war. Es neigte sich plötzlich zu einer HitechOlerin und flüsterte ihr einige Worte zu. »Ich bringe heute mittag auch meinen neuen weiben Muff mit in die Schulet: Das war die hochinteressante NoTität, welche dieses Sind seiner Mitschülerin mitteilen mulste! In dem Geiste dieses Mädchens dominierten eben nur Yoistellungen, welche sich auf die körperliche Sehmückung bezogen.

Waitz weist darauf hin, dals der Lehrer nicht immer imstande sei »alles zu vermeideu, was den Schüler auf zerstreuende Keben- gedenken bringen kann; denn bisweilen errege sogar ein ToUkommen treffendes Wort, eine durchaus passende tmd schickliche Wendung in dem Schüler durch eine unbekannte zufiUlige Assoziation einen störenden EinM, der sich nicht voraussehen lieb«.^) Man hat ja bekanntlich auch in dieser Bichtung liegende Ezpeiimentaluntn^ euohungen sngestellt (Vergl. Zibben, Über die Ideenassoziation des Kindes. Berlin 1898.) Bern Kinde wird z. B. ein Wort (»ein Beiz- wort«) gesagt und es dann aufgefordert, zu sagen, welche Vor» Stellungen dasselbe in seinem Geiste zueist wachgerufen habe. Auf diese Weise eihält man experimentell sicheren AufschluJk über die besonderen Bichtungen der Assoziationen, welchen die kindliofaen Beproduktionen folgen.

Dab Kinder mit einer lebhaften Phantasie mehr zur Zerstreat- heit neigen als phantasiearme Kinder, ist schon oft beobachtet wordeiL Es ist oft ganz erstaunlich, welche suggestive Wirkung manche Worte auf phantasiereiche Kinder ausüben. Diese Kinder »hingen« wie man sagt »ihren Gedanken nach« und werden als zei>- atreut bezeichnet

»Die Aufmerksamkeit des Kindes ist sehr leicht zu erlangen, aber sehr schwer zu erhalten.«*) Diesen Satz Tbacvs findet man in der Praxis aufs beste dokumentiert fiel uns Erwachsenen verhält es sich zwar ähnlich so. Sind wir geistig thätig, so gelingt es uns oft nur mit der gröfirten Anstrengung, uns von allen störenden Neben*

0. 8. 348.

*) IkAOT, F^yohologie der Kindheit Letpqg 1899. 8. 92.

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GsUmwAtA; IKe Zentranfheit der Kinder.

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gedauken und beiiäufigeii JEUnläUen vollkommen unabhängig za erhalten.

Zerstreuenden Nebengedanken sind solche Kinder besondere zu- gänglich, welche gewisse geistige Prozesse durch fleifsige Übung mechanisiert haben. Ich habe im Unterrichte bemerkt, dafe Kinder, welche sich eine besondere technische Lesefertigkeit erworben liatten, oft mehr zur Zerstreutheit neigten. Zwischen Übung und Auf- merksamkeit besteht eben ein Antagonismus. Durch häufige nnd nachhaltige Übung werden aus Willkürbewegungen, wozu auch die Sprechbewegungen gehören, automatische Akte. Hierdurch wird be- wufste Spontanität oder Aufmerksamkeit frei zur Beachtung anderer Erscheinungen, zur Richtung auf andere Vorstellungen als auf jene, welche die gelesenen Worte zu Trägern haben. Von der Zerstreut- heit solcher lesefertigen und sprachgewandten Kinder zeugt das häufige Auftreten der als »divergierende Suggestion« bekannten Erscheinung. Gedichte bezw. Liederstrophen mit ähnlichem Anfange werden von diesen Kindern verwechselt. Im Rechenunterrichte ist es mir sehr oft vorgekommen, dafs gewisse Kinder mir beim Enthaltenseiu »ver- kehrte« Antworten gaben, welche ich auf die divergierende Suggestion zurückführte, die ihre Ursache in einer partiellen Zerstreutheit hat. Zur Begründung des Gesap:teu seien einige Beispiele angeführt: Wie oft steckt 9 in 81? Autwort: »2 mal!«; 9 in 27? Antwort: >8mal<; 9 in 54? Antwort: »5mal«; 9 in 36? Antwort: >7maU. In diesen Fällen wurde 27 mit 72, 81 mit 18, 54 mit 45, 36 mit 63 verwechselt, weil der Wortklang oder die Schreibung aimiicii sind.

Wie der Maugel an festem Willen sich immer mehr steigern und schliefslich zur sogeiüinnren Abulio führen kann, so kann auch die Zerstreutheit immer gröfser, endlich habituell werden, 8u dals der Mensch der Gedankenflucht völlig preisgegeben ist Kant leitet die habituelle Zerstreutheit mancher Menschen aus der verderblichen Romanlcserci ab.^) Eiu klassisches Beispiel dieser Zerstreutlieit lieferte Cekva>tes in seinem Don Quixote.

Ausgesprochene Typen hubilueller Zerstreutheit findet man im Kindesalter seltener. Dies folgt schon aus der Eigenart des kind- lichen Geistes. »Alles ist neu, überraschend; em Ejiidruck verdrängt den andern; die Aufmerksamkeit ist beständig zwischun vielen ge- teilt E> fohlen organisierte Richtpunkte für die Spontanität m dur Bmpfindung. Das Bewulstsein beachtet nicht, wa^ e^ beaciiten will,

'J Km3(t, Anüuopologie. § 33.

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A. AMmndtangML

sondem was ee beachten mol^.« Die Zeistraatheit der Kinder hat^ wie ihr Gegenteil, die Auftnerksamkeit, einen intermittierenden Cha- xtkter. Immerhin kann man ]edo(^ nach manchmal Bndimente hahitnelier Zerstreutheit wahrnehmen.

Ein 9 jähriger Knabe and ehi eben ao altes Hidcben meiner Schale boten mir r^ritaeulBliTe Beiq»iele rodimentirer habitneller Zerstreutheit Nach KBAFir-Ebing »fta&ert sich jede Hanptform geistiger Stßrong in Eigentfimlichkeiteii der Sehreib- nnd Aosdnicks- weiae«. Bas zeigten mir aaofa die aehfifdich^ Arbeiten dieser beiden Schüler.*) Ich setsse zur Dlustrierung des Gesagten einige Sitse aas dem Diktathefte des Knaben hierher: »Die Kreide ist Wieb. Der Trum ist hoch. Das Glod ist gelb. Die Garn giebt Ods Fwdent Bin Berliner Brüger kam zum König. Er gab ihm stene Uhr. Ein Kanbe wollte auf das Eis gehen. KrsI sab in seinem Kimmerlein. Ein anderer wollte mit im ihn den Wald gehen. Krai war ein fltefsigor Kanbe.€ Daa Midchen steigerte o. a. in seinem Diktathefte: gorfe, görfser, am görbten.

Diese Fehlreaktionen beim Diktatschreiben sind keineswegs unter dem Einflufe der Ermüdung zu stände gekommen.") Unter dem Ge- sichtspunkte der motoriscfaen Aphasie bezw. Agraphie dürften vor^ siehende Broben wohl auch nicht zu betrachten sein; denn die beiden Kinder waren bei Beheirschong ihres Yorstellungsverlanfs durch die xeprftssntatiTe Aufmerksamkeit (Androhung des Stockes!) wohl im Stande, die Worte richtig zu schreiben und die Terkehrte Aufeinander- folge der einzelnen Bucliiataben zu ▼erhin4ern.

Die Kinder reagierten beim Diktatschreiben also mit falschen SÜBgeibewegungen, weil sie »zerstreute waren.

Dss erwilmte MSdchen iat überhaupt mehr zerstreut als aufmerksam. Seine Zerstreutheit hingt nach Üistlicher Aussage mit seinem physischen Zustande zusammen. Das Kind ist nftmiich stark herzleidend, und es war deswegen schon einmal für Jahr Tom Schulbesuch dispensiert

Ein Kind, dessen Zerstreutheit einen ausgesprochenen patho- logischen Charakter annahm, kam mir nur einmal vor. Es war ein sw<^fthrigQ(r Knabe zu W., welcher zudem unTerkennbare Symptom» Ton Ifanie zeigte.

1) JoDL, a. a. 0. 439.

^ & miilk an dieser Stelle anerkennend hen orgchoben wetden, dalk Bübkeahi in seinem BSoUein »Die FeUear der Kinder« (B. 81) snf die Bedeutung der StOiBtiBOhen Übungen für die pädagogische Pathologie hinnlee.

*) YrT'^l. d'M interessante Selbstbcobat^htung SPAumee in Morits* L £ifahrangs8eelenkande. 1. Bd. 2. Heft 8. 38—43.

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Stofen in der SpiadieDtwickeloiig des Kindes. 25

Bw Mitteilungen.

1. stufen in der Sprachentwickelung des Kindes. Von Fr. f renzel, Leiter der städt Hilfsschule zu Stolp lyPtHnmenu

VoD allen neuen Forsdumgsgebieten, welclie die modernen Wissen- schaften erschlossen haben, erscheint kein Gebiet anziehender als die pRvchologie des Kindes, insbesondere die »Kindersprachwissen- schaft'^^. Zahlreiche Werke in- und ausländischer Litteratur erörtern die Frage der Sprachentwickelung des Kindes von verschiedenen Gesichts- punkten aus und bieten wichtige Aufschiasse darQber. Es fehlt aber bisher an einer übersichtlichen Gegenüberstellung des Torhandenen Fotschungsmaterials, welche die einseinen Spnchentwic^elangSBtufen der kindlichen Sprech bildung naher kennzeichnet und das Charakteristische derselben abgrenzt, obv-obl einzelne Autoren nach dieser Seite hin bereits wichtifTo Hifhtlinien geboten habrn.

Die Ausbildung der Sprache von ihren üi-anfängen an bis zur Ro- herrächung derselben umfalst verschiedene Elemente und verächiedeue aufeinander folgende fintwiekelungsstufen. Wie vide Stadial mub das Kind durohmaofaen, um von der natürlioheii Aphasie^ der nonnalen Alalie der ersten Tage bis zum leiteten und immer ToUsttndiger werdenden Ge- hfanche der Muttersprache zu gelangen!

Die meisten Autoren, welche über die Entwickelung der kindlichen Sprache geschrieben haben, unterscheiden nach dem Beispiele Kussmauls^) drei Stufen in der Sprachentwickelung des Kindes, die Stufe der Urlaute (Schreie), die Stufe der Lautbildung (Lallen) und die Stufe der Wort- bildung (artikuliertes» verständiges Spieohen).

Dr. Oltassevski^ kennseichnet in seiner Arbeit: Die geistige nnd sprachliche Entwickelung des Kindes» folgende ini Ent- »ickelungsperioden :

1. Die ursprüngUohe Sprache, d. i. einzelne Laute und die stumme Sprache. (?)

2. Die Entwickeluugsperiode der Sprauhgedäclitnisceutrun , wobei shiii lueiat das Geh(iigedichtnts entwickelt und dann das motoriaofaei (Auf- ftwocB, wtederhden.)

3. Die Periode der Terbindung der Begriffe mit Wörtern. (Selb- sUndige Sprache.)

Dr. Liebmann 3). dor sich viel mit der Untersuchung, Bebandlnni^ und Unterweisung Schwachbegabter Kinder beschäftigt und äulserst wert-

*) Knaamaul, IMe Störungen der Sprache. Yennöh einer Patkolof^e der fl^nache. Leipzig 1885. Preis 6 M.

*) I>r. Oltu^zDwski, Die geiatige und spraohliohe Entwickehmg des Kindes, iierlin 1897. Preis 1 M.

') Dr. Liebmann, TedeBDOgen ftber SpxaofastönuigBD. Beiiin 1896^1900. Iteia 6 M.

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B. Mitteilungen.

▼olle Arbeiten dirfiber vdrSfientliolit hal, aohlieÜBt sioh in aemaa Yo^ ksongen nb r SpiadutGruDgen namentlich in betreif der Spracheutwic^

hing des Kindes eng an die Ausführungen Kussmauls an und unter- scheidet drei Entwickelnngsstufen in der Sprachbüdun!^ des Kindes: a) Das Stadium der Urlaute, b) das Stadium der eigentlichen Sprach- laute und c) das Stadium der Verbindung des Wortes mit einer TorBtellung.

Dr. Outsmann^) eteUt in seiner Abhandlnng: Die Sprao Ii laute des Kindes und der NatnrTOlker, drei Perioden in der Spcndhentp Wickelung des Kindes fest, die er folgendermafsen bezeichnet:

1. Die erste Periode bildet der Schrei. Im Anfang ist der Schrei nur UnluBtäufserung, später wird er auch zur Lustäufserung.

2. Die Lustäufseningen -werden überwiegend, das Kind ergötzt sich an der Hervorbringung von Lauten, die zum Teil den bleibenden Lauten der Mntterapracbe ähneln, nun Teil aber später wieder vereohwindeo. Eb ist natfirlioh, dafe diese Spiadilante im ersten und sweiten Artikulationa- Bjstem liegen: Lippen- und Zungenspitze, also in denjenigen Teilen, die durch das Saugen bereits für die Artikulation vorbereitet wurden. Daher sind I. ß. Vater- und Muttername fast in allen Sprachen ähnlich, sehr oft gleich.

3. Die Sprachlaute der Umgebung werden nachgeahmt, zuerst die leichteren, dann die schwereren, später Wörter. Die Laute des dritten ArtiknktioiiflsyetemB treten erst spit auf, bei manehen NaturvlUkera UtSm toß. Statt der Bdblaute werden vom Kinde an&ngs Verscblu&Iante ge> setzt, das Gleiche findet sich bei Naturvölkern. Das Kind neigt zu Redupli- kationen, ebenso die Sprache der Naturvölker. Einige Laute in diesem Sprachentwickelungsstadium unserer Kinder, die nicht in die Volkssprache zivilisierter Nationen übergegangen sind, finden eich in der Sprache der Natur- völker, z. B. Schnalzlaute, sie sind demnach rudimentäre Erscheinungen eta

Lindner') unterscheidet in seinem Buche: Aus dem Natnrgarten der KinderBprachei drei Stufien in der sprachlichen Entwickelung dea Kindes: Die physiologiaohe, die logische und die philologiaohe Stufe. Die erste Stufe ist die Periode der blofsen Lauterzeugung oder Schallnachnhmung, wahrend welcher die Mitteilung innerer Zustände noch nicht in Frage kommt, die zweite die des beginnenden Sprach Verständnisses, in welcher von dem Kinde der Zweck der Sprache zwar erkannt oder doch geahnt wird, aber noch nicht die Fühigi^eit der Mitteilung innerer Zustande mit Hilfe der Sprachlante erworben ist nnd die dritte die dea eigenfliohen Spveehenletnena, d. h. das Sind erlernt den Oebmuoh der Spraohlaute zu sinnvollen Verbindungen zum Zwecke der Hitteilung innerer Zustände.

Ament^) lehnt sich in seinem Werke übOT die Entwiokelung von

^) Dr. Guts mann, Die Sprachlanta des Kindes und der Naturvölker. Beriin

1898. Aus der >Zeit8ohzift für pädagogische Psychologie« von Dr. Komsies-Beriin redigiert

Lindner, Ans don Natoigarten der KinderspTsche. Leipiig Preis 2 M.

Ament, Die Entwiokelong von Sprechen und Denken beim Kinde. Leipsig

1899. Pkd8 2,40 H.

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Stufen in der 8pradi«Dtwiokelang des Kindes.

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Sprechen und Denken beim Eindü direkt an die G utz mann scheu Spraobeiitwiokelimgastafeii an und beceichnet als erste Stufe das Schreien, als sweite das Lallen und als dritte die Wortbildung. Seine Aus- fniiningen sind klar und durchsichtig und sehr lehrrreich, sie Stehen durchweg auf der Höhe der Wissenschaft. Das Buch ist sehr zu em- pfehlen.

Im folgenden mögen nun die einzelnen Stufen der kindlichen Sprach- eutwickeluug auf Grund der Darstellungen genannter Autoren des näheren lieieiobnet werden.

Die eiste That des Kindes ist der Sehrei, mit wdehem es geboren viid. Diesen Schrei hat nuui ▼erachieden gedentoi Er sott der »Triumph* gessngr des immorwjlhrenden Lebens«, oder ein »Geschrei der Wut«, oder eine s-Wehklag-o fibcr dir; Sünden und Qualen der Erde« u. m. a. s-etn. In Wirklichkeit dürfte der Schrei einem lebhaften Schmerzgefühl entspringen, welches durch das Znsammenpressen des Kopfes und der übrigen Körpor- teile während der Geburt und durch das ünlust^efühl der plCtzlichen Ab- hilblttng gegenüber der Wflrme des ICutterleibes, sowie dmdi dss Ein- dringen der Luft in die Lungenflügel verarsaoht wird. Es sott auch, wie Preyer mitkeilt, manchmal vorkommen, dafs ein Kind anstatt mit Sdueien mit Niesen seinen Eintritt in die Welt ankündigt Beide ErsoheintingeD, Schreien sowie Niesen, haben in diesen Filllen gar keine sprachliche Bedeutung, sie gelten nur Reflexe, bei denen die physiologischen I^zesse sich ohne jede Mitwirkung des Bewufstseins und des Willens voUsiehen. Aber schon nach korser Zeit gewinnt das Schreien eine sprach- liche Bedeutung; es dient dem Kinde als Mittel, mit welchem es seine GefOble, hauptsBoMioh ünlustgefOhle wie Hunger, Durst, KSlte, Nftsae» Sdmierz etc. seiner Umgebung mitsutsilen ▼ermag. Frühzeitig ist schon eine Differonziemn^ in der Stimme wahrzunehmen. Die Stimme klingt bei Hunger und Durst anders als bei Schmerz, bei Nässe oder Kälte anders als bei sonstigem körperlichem Unbehagen. Die Schreie werden verschieden beschrieben. Nach einem Beobachter wird der Schrei des Schmenes im aUgemeinen langer fortgesetzt, als der Schrei der Furcht Ein anderer Beobeobter behauptet, dab der Furehtsohra kont und explosiv erklinge, wAhrend der Hunger durch eine langgeiogene Weh- klage ausgedrückt werde. Ein Eind von zwei Monaten soll Lust und Mifsbehagen durch verschiedene Modifikationen des Vokals a angedeutet haben. Ein anderes Kind kündigte im Alter von sechs Monaten die Lust- gefühle durch einen eigentümlichen Erählaut an, der von iStrampeln und Zappeln begleitet wurde. Erfahrene Mütter vermögen ans dem Klange der Stimme ihrss Kindes mit Sicherheit zu honststieren, was ihr kidner Liebling ansdrQcken wiU und befriedigen dementsprechend seine Wünsche. Das Kind selbst hOrt in der ersten Zeit sein Schreien nicht; es findet aber zur Äufsemng seiner elementaren Oefühlo einen Mechanismus vor, durch welchen es einen »Effekt hervorrufen kann, der die Stillung seiner Betjierden im Gefolge hat«. Sobald es diese EilaUiung ge- macht hat, benutzt es die Stimmäufserungen verschieden modihziert zum Vehikel seiner Gefühle. Hierin liegt schon die »primitiTSte Ver»

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B. MitteiluQgen.

knüpfung vorschiedener Ceutren mit dem sprachlich-moto- rischen Centrum; in ihrer Verknüpfung sind die ersten Anfänge der Sprachentwickelung zu aoohoic.

Das Schreien geht aUmfthlich zum Lallen Aber, jenen Sünunprodak- tionen, -wobei artikulierte Laute zu vernehmen sind. »In endlosen Lallmono- logen gliedert das Kind einen überreichen Schatz von fein noancicrten Lauten aneinander, vor denen jeder Beobachter ratlos dat^teht.« »Viele Laute der Muttersprache sind unter ihnen, aber noch mehr Laute anderer Sprachen» weil sich der Kindesmund noch ungezügelt nach allen Richtungen hin be- wegen kann und darf.« Im Lallstadium sind deutlich drei Stufen zu unterscheiden, dieStofe derLaatbildnng, die der Silbenbild nng und die der Silbenrednplikation. Die Stufen treten nicht streng von einander abgegrenst auf, sondern gehen meist in einander über, sie markieren im allgemeinen nur die Stufenfolge in der Lautbildnng während der kinfilichen Sprachentwickelung. Die Laute werden zunächst in sinn- iüaer Weise ausgostofsen infolge d* s-olben Thätigkeitsdranges , der auch die Arme und Beine zu allerlei unzweckmSfsigen strampelnden Be- wegungen TeranlaH^ Die Reiben- oder Stufenfolge der Laute ist sehr verschieden. Mehrere Forscher haben sich der MOhe unterzogen, AuMch- nungon darül»er aufzustellen, um irgend ein Prinzip zn gewinnen, weLches der Reihenfolge der kindlichen Lautkundgebungen zu Gninde liegen kSnnte. Die Laute aber, welche vom Kinde auf dieser Stufe ber vorcr'^^rncht werden, sind vorerst nur das Produkt zufälliger Einstellungen der ISprachorcane, daher erfolgen sie auch nach keiner Regel und können auch nicht nach Prinzipien der Phonetik geordnet werden. An die Aufstellung eines be- stimmten Gesetzes, wie es Schnitze^) u.8. getban haben, ist demnach hier noch nicht zu denken. Ob es je gelingen wird, selbBt durch exakte phone- tische Forschungen den Schlüssel zu dem Geheimnisse für die Reihenfolge des Auftrotpns der Laute zu entdecken, erscheint überhaupt frncrlieh.

Unter den ersten, meistens undefinierbaren, durch keine Schriftzeichen wiederzugebenden Lauten der Lallperiode soll zuerst das ft oder a auf- treten, bald folgen auch Konsonanten, welche meist im Zusammen klänge mit den vorhin genannten Lauten ertOnen. Von den Konsonanten sind die ersten gewOhnlidb Lippen^ und Zungenlaute. Durch die ESmfilinings- fhfttigkeit des Saugens erscheint die Muskulatur der Lippen und der Zunge zu einer Bethätigung zunächst geübt und gekräftigt. Es sind deshalb die durch diese Organe erzeugten Konsonanten die crpton, welche in der Lautbildung auftreten. »Schon hier erklärt uns dio Kinderspraehe das Rätsel, warum über den ganzen Erdkreis bei allen Völkern das Wort iür Vater und Mutter aus masm Vokal in Verbindung mit einem Lippen- oder mit einem Zungenlaute gebildet ist und daher fut Qberall lautet: Papa, Mama, Baba, Wawa, Fafa, Nana, Tata, Dada eto.« Bs sind das die ersten artikulierten Silben, die das Kind aus dem vorhin angeführten physio- logischen Grunde Überhaupt zu bilden vermag. Eis erscheint uns daher

1) Dr. Scliultze, Die Sprache dos Kindos. Leipzig 1880. Beüe 27. J)m

Prinzip der geriug&ten t'^y^i^l<'£lij^^a Anütreogmig.

Sknfen in 4«r SpsioaeDtWMkfllaiig das ISud«.

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begreiflich, daÜs die Eltern dieee ersten, an sich sinnlosen LalUaute des Kindei^ gemiatenuSBrn. wbum «rate Anrede an Vator nnd Mutter, auf doh bezogen und davon ihren Namen empfingen. Hinaiohtlioh der europBiachen

Sprachen iet diese Tbatsachc hinlänglich bekannt und erwiesen; es seigt sich aber auch, dafs in 57 bei LubbockM angeführten Negersprachen der Vatorname labial: Papa, Baba, Wawa, fa, Fafa, in 17 Negt;rsprachen liaguai: Da, Dada, Tada, Ada, Oda lautet, dafs der Muttername in 15 Negersprachen labial als: Ba, Ma, Maiua, Ania, Omoia und in 33 Neger- spraohen lingual ala: Na, Nana, Ne, Ni, Nde gebfldet ist

Aua dem Lallen des Kindes, der Tielmaligen Wiederholung derselbeii Laute und derselben Lautrerbindungen, erklftrt sich ferner die bekannte Neigung der Kindersprache zur Bildung von Reduplikationen, Ver- doppelungen von Silben mit anlautendem einfachem Konsonanten und sich anschliefsendem Vokale wie: papa, baba, lata, tStä etc. Später treten auch dreisilbige Bildungen aui (apapa), sowie drei gleicb&ilbige ({ftipapa^ dadada etc.). Diese und Sbnliche Lautgebilde üben sieb die Kinder in der Lall- periode unter aaclitliohem Vergnügen ISnnlioh ein, es 8oheint| als ob sie an dem Gleidütlange der Silben Gefallen ftnden.

Wenn uns im Lallen audi schon höchst wichtige elementare Anfftnge des Sprechens entgentretcn, so sind derartige Laut^^'^^büde dennoch keine Sprache, sie können allenfalls als eine Art Vorübung zum eigentlichen Sprechen angesehen werden, N\odurch der Sprechmechaniamua geübt und zur Nachahmung vuu i^autklaiigeu befähigt wird, blanche Kinder sollen im Lallatadinm, wenn man au ihnen spricht oder singt, Laut- oder Stimm- Sobernngen von steh geben, gleudiBam als wenn aie den au ilmen redendon odor singenden FerBonen antworten möchten. Lauteindrücke reizen aio zu LauUlufserungen. Diese eigenartige Erscheinung ist die Vorbedingung für die Nachahmung der Lautklänge, später für die der Wörter eto

Tausendo von Worten werden während dieser Periode von den Er- aiehem an den kindlichen Geist hinaogeredet. Unaufhörlich und unwahr« nehmbar für jede Beobachtung beschleunigen sie im kindlichen Geiste den DiCieranaierongsprozelli und veranlaaaeii für die weitere geistige Entwieke- lang höchst bedeutsame Wachstumsbewegungen, bis endlich einmal zu iigiend einem Zeitpunkte das HOfoentrum die Fähigkeit erlangt hat, nicht nur grobe akustische Reize, sondern auch feine Unterschiede im Schall der Sprache wahrzunehmen und zu bewahren. So müssen tausende von Wörtern an das Ohr des Kindes hinan p:esprochen worden, bis ihm das eiaie Wort als deutliche Wortvorstellung aulzufassen möglich ist Aber noch ist daa nAehate Ziel nioht erreicht^ nodi fehlt jene oberste Ver> knllpftmg, welche die unaihligen Vorstellungen der Central aller Sumes- Organe unter einander verknüpft und dem Geiste jenes QeprAge verleiht, welches wir als Einheit des BewuCstseins zu bezeichnen gewohnt sind. Wenn aber auch deren Bildung vor sich gegangen ist, wenn insbesondere das Kind Sachvorstelltmgen mit Wortvorstellungen associiert, tritt es in den Besiu jenes wichtigen Vermögens, gehörte Worte verstehen zu

0 Lubbock, Origin oi GivilMtioiL Seite 323 iL

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B* HttfceiliiQgBii»

können, wenn es ihm auch nur möglich ist, undeutliche Laute uad Lautgruppea mit den Spraohoiganen bervonnbringeii. Das Kind steht nun aaf deijenigen Stufe seiner spraoliliohen Entwiokelaag, dafs es gehDrts

Lautkomplräs mit den sie bezeichnenden Gegenständen in Verbindung la bringen im stände ist Der akustische Reiz reproduziert den optischen und umgekehrt; das HOren eines Namens vermag nun d^^n bezeichneten Gegenstand und sein Anblick seinen Namen in Erinnerung za rufen.*)

Mit dem Sprechen des ersten Wortes tritt das Kind in die dritte Spraohstufe ein, die Stnfe der Wortbildung* In dieser FMode bildet es seine Lallsilben su LallwCrtem fort und verknüpft sie nach den ein- firahsten AssodatioiUilgefletien sunächst mit den Vorstellungen von Personen

und von Nahrung. Papa, Mama, Mille (Milch) etc. sind gewöhnliob die ersten Worte^ welche mit Verständnis gesprochen werden.

Auf der Stufe der Wortbildung beginnt die Erlernung der Mutter- sprache; nunmelu- schreitet die Sprachentwickolung schnell vorwärts. Bas SpraofaTentSndnis, welches anflbig^ioh nur die Beieiohaiing der Mtsm, der Nahrung und vieUeicht noch einiger sonstigen Oegensiftnde der nichsten Umgelrang des Kindes umfafste^ ddmt sich bald auf alle möglichen Ob> jekto seines Lebenskreises aus. Das Kind erlangt auch allmählich die Fähicrlroit, den Inhalt kleiner Sätze verstehen und erfas<?en zu können« Dabei wird die Sprechgeschicklichkeit immer grölser und gestattet, immer mehr Worte richtig auszusprechen. Gewöhnlich aber besteht ein ICiliiTerhiltnia swlaohen SpnohYerattndnis und Spradifertigkeit; der Geist schafft Sprache mit aller Macht, allein der Sprechmeehanismus ist oft noch nicht geschickt genug, die Artikulation deullieh anssnfQhren. Ans diesem Mifsverhältnis können leicht Artikulationsmängel und Sprachstörungen ent- stehen namentlich bei geistig regen Kindern. Täglich verp^röfsert sioh der Kreis der sinnvoll gebrauchten Worte, bald kann das Kind auch mehrere Worte zu einem satzähnlichen Gebilde zusammenfügen. Längere Zeit hindurch allerdings sind diese Sätze agrammatisch, d. h. die Worte werden gar nicht oder falsch flektiert) und Worte, mit denen das Kind noch keinen Sinn su verbinden vermag (Artikel, Copnla, Pronoouna, Ftft- Positionen eta), bleiben fortgelassen. Allmählich gleicht sich auch dieeer Mangel aus, dann ist der kleine Redner fertig; er beherrscht die wesent- lichsten Formen der Spraclie und verffigt gegrn ImkIo des dritten Lebens* Jahres meist über einen recht ansehnlichen W< i ts, hatz.

Diese AuseinanderaetauDgeD, welche die Daiütellungen der vorhin ge- nannten Autoren im allgemeinen wiedergeben» mögen genfigen, um zu seigen, dafb die Ansichten vieler Forscher über die Sprachentwiokelang des Kindes im wesentlichen übereinstimmen namentlich bozQgUoh der einzelnen Sprachstufen. Man könnte fast dem Gedanken Raum geben, dafs sie alle, wie es bereits vorhin angodcutet worden ist, nach berühmtem Muster gearbeitet haben. Um so erhcuiicher wird es uns deshalb sein, wenn wir vernehmen, daib auch andere Ausichton über den Entwickolungs-

^) Ament a. a. 0. Seite 35—36.

stufen in der Spiaohentwickelong des Kindes.

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gang der kindlichen Sprache verbreitet sind. Von an d* reu Gesichtspunkten ans behandeln folgende Veriaä:ier die Frage nach den Stufen in der Sprach- «ütirifikdaiig dea Kindes: Sigismund, Sehultse» Preyer, Bzesnitsek, Sally, Traoy, Franke und Gompayr^.^)

Eine der ältesten Schriften, welche die Kinderpsychologie behandelt, ist Sigismunds*) Schrift: Kind und Welt, die bereits im Jahre 1856 erschien. Sigismund schildert darin die körperliche und geistige Ent- wickelung des Menschen in seinen zwei ersten Lebensjahren auf Grund selbst gemachter Beobachtungen. Seine Aufzeichnungen und Forschungen sind dondi spätere Beobachtungen fast sämtlich bestätigt und seine Grundsätze und Teramtiuigen ala riditig anerkannt worden. Frey er sagt von ihnen: »Die BeobadhtnngeD Ten Bigiaainnd sind durch ihre ObjeiktiTitlli ihrs.Uare Darstellung und Korrektheit ausgezeichnet« eta Fürwahr, ein äufiserst günstiges Urteil des berühmten Physiologen! Besondere Stufen in der Sprachentwickel nnp: des Kindes untersrhoidct Sigismund nicht; er spricht aber von »fünf ei bleu Perioden des Kindesalters« und giebt dem Kinde in jeder Periode einen eigenartigen Namen: 1. Lächling, 2. Seh« iing, 3. Greifling, 4. Lftufling und 5. Sprechling. t)ber die Ent* Wickelung des Sprechens hat Sigismund recht viel Interessantes ge* sdirieben, leider fehlt den Darstellungen eine strenge Stufenfolge und eine geordnete Übersicht, wenn anoh inanche Ideen recht sinnig und so weit" gehend sind, dafs sie schon an die neuesten Forschun2:en dieses Gegen- standes erinnern. Im Jahre 1897 erschien eine neue AuÜago des genannten Buches von Chr. Ufer herausgegeben und mit Einleitung und wertvollen Anmerkungen versehen, ein Zeichen, dals das Werk noch heute einen hoben pädagogischen Wert beaitaen mub.

Schultse*) unterscheidet in seiner kleinen Schrift: Die Sprache des Kindes, keine Stufen in der Spracbentwickelung. Seine Arbeit ist wohl die am häufigsten von allen Autoren zitierte; sie behandelt den Gegenstand sachgemäfs vnd änfserpt iritcrossant, wenn auch etwas knapp und aphoristisch. Selir gut und zutreücnd sind die Ausffihrungen über die Physiologie des Sprechens. Bekannt ist das von ihm für die Reihen- folge der Laute in der Kindersprache au^estellte Gesets Ton der ge- ringsten physiologischen Anstrengung in der Lautbildung, das mm durch die neuesten Forschungen hinf&Uig geworden ist Ein anderes Gesetz von Schultse, das Lautverschiebungs«, Lautverstümme- lungs- oder auch Lautverwand elungsgesetz genannt, verdient noch beute volle Beachtung. Die Schultzesche Schrift bat ihrer Zeit vielen

*) Bemerknng während der Korrektur. Inswischen ist mir noch

eine Schrift von Dr. Friedeberger: Zur Psychologie der Sprache, Bern 1896, in die Hände geraten, die hier auch genannt werden mufs. Der Verfasser imter- scheidet ebenfalls keine Stufen in der Spracbentwickelung des Kindes; er behandelt hauptsächlich diu Physiologie iu der Spradie und nimmt dabei besondere RäcIcBicbt anf die Liutspracfi" di r TaulKtmnmen.

•) Sigismund, Kiud uud Welt. Die fünf ei"stea Perioden des Kjudö!»jiher.s. BrauDSchweig 1856. Die Verlagsbuchhandiang von HerniaDn Beyer & Sohne in Langensalza veranstaltet einr OosamtausizaVit^ von Sigismunds Schriften.

•) Dr. Scbultze, Die Sprache des Kiudes. Leipzig 18S0. Preis 1 M.

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B. KitteUnogeQ.

Antoren Anf^song zu ihren Arbeiten geboten and dflrfle anf diese Weiae ihren Zweck am besten erfüllt haben.

Frey er*), der Neu-BegrOndcr der Kinderpsychologie in Deutschland, hat in seinem berühmten "Werke: Die Seele des Kindes, der Entwick^- Inng des Verstandes und der Sprache des Kindes ein recht umfang- reichee Kapitel gewidmet Besondere Stufen in der Spnchentwiokelung des Eindee nntenoheidet er nicht, skisziert eher an einer Stelle folgende Stadien: 1. Expreßßivo Sprachanfänge (Gesamtheit der unartikulierten Laute), 2. impressive Vorgänge (Verbindung des Ohres mit dem Sprech- centrum, Lautnaohahmung und Wortnachahmung) und 3. centrale Vor-

?änge (versUiniliL^p« Sprechen). Diese DitTeren/.ierung läM ome gewisse Übereinstimmung mit Dr. Oltuszewskis Darlegungen erkennen; mög- lioh iat es, daft dieser sieh direkt an Frey er angelehat hat Preyer ▼eist smdkshst in ausfflbrlidher Darstellung anf das Analoge hin, welches swisohen den ünroUkommenheiten der Sprache des Kindes und den Sprachstörungen der Erwachsenen beetchen soIL £^ läfst sich ein aui« fallender Parallelismns zwischen den verschiedenen normalen Zuständen, die das Kind auf dem Wege der fortschreitenden Sprachentwickplnng durchmacht und den anormalen Zuständen oder Schwächen körperiiciier und seelischer Art, die den Erwachsenen in Gefahr bringen» die Sprache sn Terlieren, nachweisen. In umgekehrter Weise^ wie eine TerblngniavoUs Xrankfaeit den Menschen nach tmd nach seines edelsten Merkmals» der Sprache entkleidet, gelangt das Kind mit dem regelrechten Wachstum seiner Intelligenz aUrnrihlich in den Besitz der Sprache. 2) Im weiteren bringt Preyer eine Entwickelungsgeschichto des Sprechen^ vrii seinem beobachteten Kinde während der ersten drei I^ebonsjahre. Mit besonderer Betonung weißt er darin nach, dafs daü ixmd schon lange vor dem Spreohen Vorstellungen bildet »Ehe das Kind ein einaigea Weit ▼ersteht, ehe es auch nur eine Silbe in einem bestimmten Sinne konsequent gebraucht hat es bereits mehrere VorsteUungen, welche durch Mienen, Gebärden und Schreie ausgedrückt werden.« »Die Bildung von Vor- stellungen ist also nicht an die Erlernung von Wörtern gebunden, sondern notwendige Vorbedingung fdr das Verstehen der Wörter und für das Sprechen« etc. Seine Darlegungen über die Entwickelung des Ver- standes und der Sprache beim Kinde werden für die Physiologie und Psychologie, für die Linguistik und Pädagogik stets von hohem Werte sein.

Rzesnitzek'') nntersohmdet in seiner Schrift: Zur Frage der ])sychischen Entwickelung der Kindersprache, keine besonderem Si'iaehentwickelungsstufen. Seine Arbeit besteht in der Hauptsache aus eiin r i^Gschickt nn.sgewählten Zusammenstellung von Schriftsätzen in- \ind auaiäaUischer Autoren, die über Kindersprache geschrieben haben. Dan

*) Preyer, Die Seele des Kindes. Leipzig 1900. Preis 8 M.

•) Der Franzose Compayro bekundet gmt und gar dieselbe Ansicht; es bo- bteht zwischen ihm und Preyer eine merkwürdige Übereinstimmung der Gedanken in diesem Fallo.

*) Dr. Rzosu itzck. Zur l'iage der psychlsohen Entwickelmig der Einder- sprache. Breslau Preis 1 M.

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ISn eigenartiger Fall von Aphasie.

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Material wird geordnet, gedeutet, wiasenschattlich gesichtet und übersicht- lich zutiammengefafät Uargeetellt. Der pbysiologisoben Seite der Sprache ist in berromgencler Wdea Reohauog getragen. Die kritisohen Bemer- buigen des Yerfsssefs ▼etdienea eine gewisse Besehtnng, der Spraoh- physiologe und Tanbstuinmenlelirer kann aus ihnen manches lernen, weniger der Pädagoge und Psychologe. Der Verfasser beleuchtet nament- lich diejeniG^pn Vorgänge, durch welche Worte mr Reprilsentation von Vorsteliimgen und Vorsteilungsverknüpfungen emporgehoben werden, nur oberflächlich. Immerhin aber bietet die Schrift wichtige Belehrungen über die dem^tarsten Begungen des psychischen Lebens und giebt auch weit- gefafliide AnÜBoiilQsse Aber die demente der Spradibüdiing bis in ihre kMan Anftoge, (ScUnb fotgt)

2. Ein eigenartigor Fall Yon Aphasie.

Tom P. HliBSSS - Wttftenfeto.

Seit Ostern 1899 besucht die hi^ige Taubstummenanstalt em Mädchen, Alma 8. ans N., wdohes im vierten Jsbte ihres Lebens an ViVtMa* katarrh mit Toraurgegaiigeneii Masern ertaobt ist A. bat in den bdden Schuljahren, welche sie nun genossen bat, die metdianiBche Sprechfertig- keit, welche normale Taubstumme sich schon im ersten Schuljahre an- ^^icrnen, nicht erlernt und mufs Ostern wiederum einer Artikulationsklaaso überwiesen werden. Leider war eine Überweisung in eine solche Klasse im vorigen Jahre nicht mOglich, da wir jetzt an unserer Anstalt nur alle iwei Jahre Neuaufnahme haben.

'Wae hat nim aber A«'8 geringe Fortsohritte TersnlaTst? Es ist keines- wegs Blödsinn, welchen man ja in solchen fdlen hftnfig als Orsache findet A. erweist sieh im Haushalte ihrer Pflegeeltern und im Hand- arbeiteunterrichte als ganz geschickt, zeichnet mit ihren Mitschülern um die Wette und fir.f^nt sich auch bei kompliziortOTon Fig^uren zurecht, führt kleine Befehle kuiiekt aus, zeigt ihr bekannte Gegenstände auf dem Bilde auf Verlangen richtig, hat das Bestreben, sich durch Gebärden in Be- gleitung mit nnartUmlierten Spieobbewegungen verstttndlich an machen nn^ mitsQteilen; kors: benimmt sieb so gut, wie man es von ihr nur ▼erlangen kann und wie man es bei einem blödsinnigen Kinde nicdEt findet. Auch sind ihre Spraohorgane gut gebildet und ihre ganze Körper- bildODg, wenn auch nicht «gerade sehr kräftig, so doch normal. Endlich kann ihr geringer Fortschritt auch nicht in der Art und "Weise ihres ge- nossenen Unterrichtes gefunden werden, denn die Klasse, in welcher sie sich seit ihrer Aufnahme beliodet, leitet ein alter Praktikus, der auf dem Qebieta des Tanbstummenonteniohtes viel Sifthrung hinter sidi hat und der bei allen übrigen Mttsöhülem von A. recht gute Leistungen auf- weieen kann.

Wollten wir einen äufseren Grund geltend machen, so wäre es der, dafs A. in einem verhältnismäfsig frQhen Alter in die Anstalt gekommen ist, denn sie war bei ihrem Eintritte noch nicht 7 Jahre alt. GewiDs

Di« Kis4erfehl6r. VII. Jahigang. 3

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B. Mitteiliiugeu.

faum diesM Alter Einflnlb aasQben auf die Aufmerksamkeit, die geistige

SammluDg, die zur Nachahmong und Wiederholung aller SpreclibsweguDgen für das taubstumme Kind von ganz bedeutendem Werte ist, und ohne die es noch viel weniger, wie jedes voUsinnige Kind, die Sprache nicht er- lernen kann. Es ist Thatsache, daCs A.'s Blick heute noch etwas unruhig ist und ihre Aufmerksamkeit in der ersten Schulzeit schwer auf einen be> stimmten Punkt zn konzentrieren war; aber dennoch haben wir auch hierin keinen Qmad fftr Ihr Nichtspreohen.

Meines Eraohtong nach bleibt hieifOr nar die Annahme Übrig, dab bei A. neben der Alalie, die ja eine natürliche Folge ihrer Taubheit sein muTiste, noch Aphasie vorhan*! n ist. Ist es schon im allgemeinen schwer, ja seihst für den Arzt schwer, bei Kiudeni das Vorhandensein von Aphasie festzustellen, so ist es im vorliegenden Falle noch weit schwerer; denn erstens ist das Kind taub, und zweitens ist os mir nicht möglich an- Bugeben, ob A. nach dieser Seite hin hereditlr belastet oder ob bei ihr eine Andere Lftsion voraosgegangen ist Dennoch will ich es Teraucben, die Richtigkeit meiner Annahme durch das Nachfolgende m bewdsen.

Soll ein Kind die Sprache seiner Eltern eriemen, SO mflssen folgende Bedingungen bei ihm vorhandon soin :

1. Gesunde Sprach wrrk/.ouge.

2. Intaktheit des schuliperzipierenden Apparates, gutcä QehGr.

3. Bine gewisse geistige BntwidEelung.

4. Geistige Sammlung, Aufmerksamkeit

5. Ein mittlerer Grad des Gedächtnisses.

6. Ein sprachliches Vorbild.

Die 1. 3. 4. und 5. Bedingung sind bei A. in gewissem Sinne vor- handen. Für die 2. Bedingung tritt beim Taubstummen die Intaktheit des Gesichtes und Gefühls, die wir bei A. als gut bezeichueu kdnnen. Die 6. Bedingung endlich hat sich für A. seit ihrer Aufnahme in die Tanbstammenanstelt durch ihren Lehrer erfOllt Erwlhnen will ich hier neoh, daCs ich die Auftnerksamkeit und einen mittlsran Grad des Ge- dächtnisses als besondere Punkte aufführe, weil sie bei der Srieniung der Sprache von grOJsersr Wichtigkeit sind, als man ihnen Im allgemeinen zugesteht.

Nach der Erfüllung der genannten Iv'lmgungeü können wir für A. nur auuehmuu, dais bei ihr m den Bukucn, welche sich im Innern des Kindes» im Gehirn beim Spvedbenlemeii voUsietaen, Störungen vorbanden sind, welobey jedenfalls versnlalst durch ihre Infektionskrankheit, eine Gedttohtnissch wache oder sonstige Alteration des Nervensystems veranlafigt und sie aphasisch gemacht haben. Da nun nach Freud ^) alle Aphasien auf Association»-, also auf Leitungsunterbrechung beruhen, so werden wir nicht fehlgehen, A-'s Zustand als Aphasie zu bezeichnen. Und awar glauben wir, es bei A. mit motorischer Apliasie zu thun zu haben. DaTs bier, bei einem fast gänzlich sprachun^igen Kinde, manche Symptome gans anden ausfallsn müssen, als bei Gebildeten, ist wohl klar.

^ Vreud, Zur AufiSssoog der Aphasien.

Ein eigenartiger Fall Yon Aphasie.

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Am besten scheint mir für den in Rede stehenden Fall das von Malat howski n untor transcortikaler mütorisoher Aphasie gegebene Schema zu passen. £r ^agt: x^Transcortikale motorische Aphasie bewirkt;.

Verlust der spontanen Sprache, \ Für unseren Fall nur be-

Verlost der spontanen SofazüL j dingungsweiae. D. V. Erhalten ist dagegen:

das Nachsprechen,

das Spi-achverständnis,

das Lesen, auch das Lantleaen,

das Kopieren,

das Diktatschreiben.« »Um SU fHreohen, aohieibt ■» in Besag auf die tranaoortiUe motoriacdie- Afdiade weiter, milasen eine ganie Reihe Yoa ICnakeln, velohe veraohiedeneQ. Nerven angehören, in Be-

w^nng gesetzt werden. X^'. Die Kerne dieser Tem liie- ^^'^iT^'-i-. denen Nerven, des Faciaiea, Hypoglossus, Vagus etc., liegen auf einem ziemlich grofinn Baom in der Mo- dulla oblongata nfstreot Sie alle mfiaaen mit dem Centrum der Sprachbe- we^ngsvorstellunf^en, der ßroca'8chen Stelle in Ver- bmduüg ütiLen und zwat

mOssen alle Nervenkeme in Verbindung gedacht Verden mit dem Erin- nerungsbild einer jeden einzelnen Sprach1iewep:iing. Die nebenstelien lo Figur

Boll diese Verliüituisse ver^ Fls- XV to UthAamM, gegenwärtigen. Die Summe aller einzelnen Sprachbewegungsvorstellungea sei durch swei Repttoentantan derselben, x und y, dargestellt, die Menge der Nerenkerae durch dru mit fim, hyp. und vag. beaeiohnele Punkte.

Dann stellt die Summe der von x und j nach den Kernen fahren- den Nervenfasern die motorische Sprachbahn dar. Man sieht nun leicht, dafs die Musse der Fasern, wcirhp' dicht imtor der Broca'schen Windung an einer Stelle des weiiöeu Markiagers zusammot) liegen , früher odei" spater sich in einzelne mehr weniger auseinanderUegenda Bündel gliedern mflasen, um sich mit den einselnen Nervenkemen su verbinden. Es findet hierbei, wie aus dem Schema leicht ersiohtlioh, eine ümlagening

>) Malaohoweki, Versnob einer Darat^nng onaeror heatigni Kenntnisse in dor Lehre von der Aphasie. fl|tiMiMln*Vg Wifflmhfl* VoitlSge Nr. 324 Vedag von Breitkof f k Bftrtal in Leipsig.

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6. Mitteilungen.

der Fasermassen statt, so, dal» jeder Nervenkern Fasern von jeder einzelnen Rindenzelie erhält Eine Unterbrechung der motorischen Sprachbuho im treiHsen Marklager imterhalb der Brooa'sofaen Windmift i. B. bei 1, wird wohl stets, da die FaBemmasseii hier dicht «iBammenliegen» die gesamte Leitang nnterbEeohflii und ea wiid Aphasie resultieren, d. h. die UmnSgliebkeit m sprechen. Je weiter aber nach den Kernen hin eine Läsion entsteht, desto leichter wird es vorkommen, dafs nur einzelne Faser;alf::G von derselben getroffen werden, andere unversehrt bleiben, da ja die Fasermassen sich in auseinanderliogende Bündel getrennt haben. Liej^ die Läsion nahe dem Kern, z. B. bei 2, so wird es vorkommen können, dafs nur die zu einem oder mehreren Kernen fOhienden Fasern serstOrt sind; vlbrend die sa anderen Kernen ftthienden noch fbnktionieren, IDs wird dann jede Spiaehr bewegungsvorstellung noch Terbundm sein mit einigen Nerven und Mufikeln, welche in Thätigkeit gesetzt werden mfissen, um das entsprechende "Wort auszusprechen, ^vfihrend andere Nerven und Muskeln, die eigentlich mit thätig sein miiisten, aufser Funktion sind.« Nimmt man nun noch dazu, dafs, wie Chariten Bastian^) ausführt, ein Sprachoentrum, das In seiner Funktion gesobidigt ist, nodi auf sensibeln Anrsis und in Aaso- eiatioQ mit anderen Spiaohoentren IdstungsOhig bleiben kann, so haben wir hierin genfilgende Erklftnmg^rQnde fOr die Heilbarkeit der Aphasie im allgemeinen, wie fQr die Fortschritte, welche A. bis jetst in der fir* lemnog der Sprache gemacht hat, im besonderen.

A. sieht von den Lippen ab, spricht, Bch reibt und liest richtig und deutlich die Vokale a, o, u, au; die Konsonanten f, t, p, sch u. a.; Silben wie pa, to, schu, fau. Dagegen wird ihr das Wortspreohen noch sehr sohirar. Fflr Papa hOrt man bei ihr stets Apapa, wihvend sie ihm Namen Alma weniger undeutlich und Yerstfimmelt sn Oehflr bringt Bsi alledem kann man A. einen gewissen Sprschtrieb nioht absprechen. Sie Tersncht die Vornamen ihrer Mitschüler aii?^noprechen und verschiedene Gegenstände ihrer Umfrebung lautsprachlich zu bezoichnen. Eigenartig ist es, wenn sie das kleine Oebct, Gott ist gut, Amen, spricht. Sie macht dabei ganz genau so viel Mundbeweguugcn, als das Gebet Wörter hat, aber verstehen kann es selbst der kaum, der mit ihrw Spmohft voUetft&dig ver- tnut ist

Immerhin l&Jst sich erwarten, dafs A. nach abermaliger Absei vierang einer Artikulationsklasse den mechanischen Teil der Sprache in gew issem Sinne beherrschen wird und damit von ihrer Aphasie als ^^^heilt betrachtet werden kann. Zum Glück verniae- ja der Organismus des Kindes im. allgemeinen die Folgen einer Kmnkheit leichter zu überwinden, als dar in seinem Wachstum abgeschlossene Organismus firwaohsener. Wir dürfen dsnun auch fOr A. das Bssfee hoffen. Soviel steht fest, A. ist, gans sbi- gesehen von ihrsr Taubheit, an einer Stelle^ wo ihr aphasisoher Zusted sicher beseitigt werden wird.

^) Charlton Bastian, On different kinds oi Aphasäa. Britiah IfedicaL

Juunoal, Okt. 29. u. Nov. 5. 1887.

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Noch eine Taabblinde.

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Noch eine Tanbblinde.

In dea erstell Kunmem dea V. Jahrg. bracfateD die »Kindeifelilerc cinsn ansfOlirlichen Bericht über die taabblinde Helene Keller, aue dem iMTfOiigeht, auf welche hohe QeistesBtafe auch Dreisinnige gelangen kOnnen,

wenn viele günstigen Verhältnisse zusammentrefTen. Nr. 5 brachte eine Besprechung de«! vom Volta-Burcan bfraiisgegebcnon Souvenir«. Es sei hier noch hinzugefügt, (lafs Helene Keller jetzt amtlich immatnkiilioilo Studentin der Harvard- Universität (RadcUffe- College) ist. Aus der vom teoteiaohen SohrifkateUer M. Arnonlt in >Ia Quinaaine« gemaditen MitteUnng fiber die taabblinde Marie Heurtin in Yerton iat in ersehen, wie es auch nnter weniger gfinstigen YerhAltnisseD geUogen kann, Drei- ainnige aus ihrem geistigen Schlafe zu erwecken. Marie ist die Tochter eines F^rttchers, 1885 taubblind geboren, sonst aber koqjerlich gesund und lebhaften Wesens. Die geistige Vereinsamung der Helene Keller vor ihrem Unterrichte hatte den ungünstigsten EinflulK auf ihren Ciiarukter ausgeübt, SO behi, daiis ihr Benehmeu geradezu als ein »teuili^heb« bezeichnet wnide. So anch bei Marie Henrtin. Yen ihr heiibk ea in der T. B.: ^Da sie dnroh Berfihrung merktet ii^end etwas noch in der AnJben- welt existiere, wurde die Kleine wütend und geb&rdete sidi wie toll; ihre Physiognomie nahm einen geradezu wilden Ausdruck an; sie schlug um sich, zerÜeischto sich und brachte ihre Umgebung zur Verzweiflung.« Helene Keller erhielt die besten Lehrer Marie Hourtin wollten weder die Blinden-, noch die Taubstummenanstalten aufnehmen. Man hielt aiQ iür eine Idiotin nnd brachte aie in das Kinderirrenhaus zu Nantes. Bei Helene Keller datiert der völlige Wechsel in ihrem Benehmen von dem Augenblicke des Beginnens bewufster Sprsoherlemung. Ähnlich wer es mit Marie Henrtin. Aus dem Irreohanse wurde sie als ein > wütendes Monstrumc den Schwcslem von Notre Dame de Larney bei Poitiers zu- gewiesen. Die Schwester Margarete nahm sich in Liebe des unglücklichen Wesens an. Bald h^^rte Marie auf, sich auf der Erde zu wälzen, mit dea Binden auf den Boden zu schlagen und eine Art verzweifelnden Bellens •UBBQStoJhen. Im Oegensatse za Molein Sullivan benutzte Schwester Margarete taoAcfast die natflr Hohen, innendeotaamen Qebitdenseiohen als Gedankentra^« r Das war verständig. Mit einem so reich begabten Mädchen, wie H. Keller, mochte immerhin der synthetische Gang (vom Fingeralphabet zum Wortzeichen) angewandt werden. In den meisten. Fällen wird der analytische Weg sicherer zum Ziele führen, den Schwester 3Iagarete einschlug: vom abfühlbaren natürlichen Gebärden zeichen zum fingerbuchstabierten Worte, dann zur Darstellung durch die Braillesohe BUndeoschrift. Wie bei vielen, wss mit H. Keller getrieben worde, ein nficbtemer Fldsgog den Kopf schflttelt, so auch bei Marie Henrtin. Er wird ein Fragezeichen dazu setzen, wenn es heifst, »man habe so eine Sprache zur Verfügung erhalten, in der man ihr Dinge in unbegrenzter Zahl bezeichnen konnte, f; Der nüchterne HcilpSdagogo möchte auch be- zweiflen, ob gerade der Katoohisraus, die Hoiligengeschiohto. die Gram- xuatik, Geographie etc. die nohlige geistige Speise für solcii urmeä duppelt-

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llith8iTiiiig!6P.

gebredhlieheft Wesen, m H. Heartiii, eei. Die Hanptsaolie des Enaieiitaii Betet ihn aber fiber das» dem er nicht sasttmmeii buin, hinweg^. Marie war ein »wfitendes Monstrumt »jetst strickt sie 8trfimpfe und hlkelt

und sie ist glücklich«.

Der Bericht über diese französische Taubblinde ist fern von allen Überschwenglich k ei ten , von denen andere auswärtige Berichte fiber Ge- brechliche oft voll sind^) (letzthin der Bericht über die taubblinde Linie Hagueword in ICslona, U. 8t). loh glaubie ihn deshalb nnaera Lesern niitleüen an soUen.

Aber anch in Deutschland hat man keineswegs die Tsnbblinden. jBt» gessen. Der erste bekannte Fall sachgoraäfser Behandlnng mehrfach ge- brechlicher Kinrlcr lifpt mohv als ein Menschenalter zurück. Zn dem damaligen Diieklor der Biuidenanalalt zu Hubertusburg, Dr. Georgi, wurde der Sohn eines Terkommenen Advokaten gebracht, der infolge einer haftliobeB ererbten Krankheit das Augenlicht Terloiea hatte. Dr. Georgi nahm den Knaben in die Zahl seiner ZOglinge anf, nnd er konnte sioh bald über die bedeutenden Fortschritte desselben freuen. Als der Knabe aber eben lesen und die Blindenschrift schreiben gel^nt hatte, bradi bei ihm die Krankheit wieder aus. Er mufstc rh-m Rrankt-^nbanc^^ überwiesen •werden. Dieses verliefe er allerdings scheinbar geheilt, aber als E i n- sinniger. Gehör, Geruch und Geschmack waren durch die furchtbare Krankheit vernichtet. Mit dem Einsinnigen konnte Dr. Georgi in seiner Anstalt niohte anlangen ; er brachte ihn xanSchat bei erwaohaenen Blinden mterf wddie fOr die sacbsiaehen Eisenbahnen KohlenkOrbe anfertiglen. Die Nachrichten fiber seine technischen Fortschritte lauteten günstig. Bald nachher reiste Dr. Georgi nach dort und nahm einen Blindenschreib- apparat mit. Er wollte versuchen, ob durch die Schrift noch eine Ver- btändigung mit dem Einsinnigon möglich sei. Als er dem Armen einen Zettel reichte, aui den er gedruckt hatte: »Ich bin dein Lehrer Georgi«, ▼erklftrten sioh seine Züge und er tastete nach Oeorgis Händen. Dr. 'Georgia weitere Bemfihangen hatten den Erfolg, dafs der Einsinnige selbst den Schreibappaiat wieder zu benutzen lernte. Leider war es deoa Armen nur wenige Jahre noch vergönnt, sich des wiedergewonnenen geistigen Lebens zu erfreueni da die erorbto Krankheit seinem Leben frühzeitig ein Ende machte.

Aber auch jetzt kann man in Deutschland ersehen, was hingebende Liebe bei mehrfach Gebrechlichen vermag. Schon 1895 wurden die

') Besonders grob im Erzählen vou I tiglaablichem siod die Amerikaner. So lesen wir in dem noiiosten (74.) Jahresberichte von »Ohio IiisHtntionc, der sipb^n- jahrige taubblinde LeHhe Uren habe in seinem zweiten Schuljahre et\va 6U0 (iegdii- stSnde kennen und ihre Bezeichnung handbuohstabierro , Iwen und drucken ge- lernt und sei in das Verständnis von ebensoviel Sprachformon eingeführt, wie taube Kinder, die sehen können, kaum in deicher Schulzeit anwenden lernen. Solche Beriohte erinnern an die &ffentiidien Profongen, die f^er wohl in der Partner Taubstnmnienaustalt anf^estellt wurden. Taubstumme Sch iile r (<Hler als solrho durchgehende taubstumme I.i6hrer) beantworteten schriftlich philosophische Streitfragen. Das Pablünun ahnte nicht, daüs den Schreibern die Ajitworteo. durch das Jnandaliihabet Ton Lehrern diktiert wuntou.

Die Kinderpsychologie und die Lehrpläne uiueier Soboleo.

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Augen Tieler durch don Taiibsturamonlehrer G. Riemann in Berlin darauf gelenkt,*) und jetzt weist D. Theodor Schüfer zu Altona auf Riemanns Arbeit wieder hin. ^) In ihrem 4. Lebensjahre verlor die 1876 geborene Hertha Schulz infolge dee Scharlachs Gehör und Ge- aioht 8elliat?entaiidludi vei^gAfiB sie anoh allBiaUich die bereits eilemto Sprache und mirde etamm. Sie fand Aufnahme im Krflppelheiiue zu Howawea. Dem Lehrer Biemattn aa der Königlichen Tanbetummenanslalt in Berlin ^lang es, sie losen und schreiben zu lehren. Ihr Sprach- TerstÄndnis ist jetzt so weit entwickelt, dafa sie auch Unterricht in der Rehg:ion und in anderen Fächern erhält. Hoch ist es zu schätzen , Uald nicht vergeäsen läl, ileitha Schulz auch zu weiblichen Handarbeiten an- nbalton» denn gans abgesehen Ycn dem praktifldheii Nutsen derselbea wvden diese daia beitragen, sie apStar ^r der Yerdnsamung und geistes- tötender Langeweile zu bewahren. Hertha wird als geschickt in weib- lichen Handarbeiten geschildert Sie häkelt nach Mustern, strickt Strümj^ und fpftiirt N&harbeltoQ mit grojCser Sauberkeit an.

Emden. 0. Danger.

4. Die KinderpBiroIiologie und die Lehrplftne unserer

SoliTüen.

Auf der au Pfingsten dieses Jahres in Bonn stattgehabten 7. General- isnammlung des Allgemeineii Deutschen LehrerinneuTereins hielt Firl. Gertrud Bäumer-Berlin einen Vortrsg Uber das Verbandsthema »Die Einderpsychologie und die Lehrpläne unserer Scbulen«» der nunmehr in

dar »Lehrerin'^ gedruckt vorliegt.

Die Rednerin filhrto in der Einleitung aus, dafs die moderne Päda- gogik in Übereinstimmung mit der Entwickelung des modernen Denkens die Bedeutung der methodischen Behandlung des Lehrstoffes mehr zurtlck- dilage, dagegen das peraSnlioihe Element als das Wichtigste bei Unterridit und Erziehung in den Vordergrund stelle. Damit wird die Hauptaui^be der pädagogischen "Wissenschaft von dem didaktischen auf das p^cho- logische Gebiet verschoben. Auf Grund dieser Anschauung ist die Einder- forschung entstanden, welche das Kind in der Gesamtheit seiner Lebenb- äufserungen zum Gegenstand hat

(Die Frage, welche Bedeutung die Psychologie des Kindes für die I^ibrpUlne hat, ist prinzipiell von Freyer so entsohiedea: »Ohne das 8tndinm der Seelenentwiokelung des kleinen Kindes kann die Erziehungs- und Unterrichtskonst auf festem Boden nicht begründet werden.«) Vor^ li^nflg reichen aber die Ergebnisse der Kinderforschung noch nicht aus, um die Gnmdltige für eine neue Theorie des L( In j kmeq abzugeben. Doch kann bei einigen Punkten die pädagogische Erlaiirung sich bereits auf psychologische Cntersuchuogseigebnisse stützen. So ist zunächst erwiesen,

6. Riemann, Taub und Uind zugleich. Berlin 1895. Wiegandt & Oiieber. ^ Jahrbuch der Sxftppelfiizseige. fiambnxg 1900. Agentur des Banhen Hauses. 1,50 IL

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HHteQiiB|{eii«

dafs während der ganzen Schulzeit das Oedaditnis übermäliBig in Anspruch genommen und dadundi die inteUektneUe Leiatiuigslihigkeit henbgedrllckt wird. Eine Besohrankung des Memoriefstoffee, namentUoh des rdigiilleeii,

ist deshalb geboten. Nach Ansiebt der Rednerin kOnnen auch die ^prach- methodeiu die gestockten Ziele nur durch fibermiHuge Anstieogiing des Gedächtnisses orrnichen.

Ferner haben die Untersuchungen des Professors Ziehen ül>er Idcen- associatiun erwiesen, dafs selbst noch bei vierzehnjährigen iuudern die Ideensflsodstioiieii eCws 90 7o aasmaohsD, yna fOr die Sohiile die Foide- rang ergiebt, des AbstnktionsvermSgen niobt in dem Mate in Ansprodi tu nehmen« wie es bereits von der Unterstufe an geschieht Von diesem Standpunkte aus verurteilt die Hednerin die Märchen-, Robinsoii* imd Sagenerzahhmgen der drei ersten Schnljahro nach Ziller*) etc.

Frl. Bäum er kam dann auf die Lehrpläne in ihrer rein äuiseren Organisation zu sprechen und meinte, dieselbe berücksichtige die Schwan- kungen nicht, denen die Entwidrelong des Kindes imterworfen ist Die üntersnobiingen von Axel Eey, Kotelmann, Pagliani u. a. beweisen, dab fflr das 11. 13. Jahr die Lftngensnnabme am erliefalidifiten, die WideffStandsfähigkeit am geringsten ist Bamns folgt, dafs unsere Mittel- klassen möglichst entlastet werden sollten Hier ist auf Grnnd der Kinder- forschung also eine Änderung der Lehrpiäne möglich, indem man von dem reichlich bemessenen LehrstofT der mittleren einen Teil auf das sehr leistungsfähige 9. und 10. Schuljahr der höheren Mädchensdiule verschiebt

Die Änderungen in Besag auf Menge und Anordnung des Lehrstoffes mfiasen sieb audb auf die Unterstufe erstrecken. Die Unteisuobangen ▼on Hartman n- Annaberg u. a. geben Kenntnis von der Armut und Unvoll- ständigkeit des Vorstellungskreises beim (ijührigen Kinde. Deshalb sollte (jor Sr-hreibleseunterriclit, der an das mechanische Gedächtnis, an das visuelle Untetbciieidungsvermögen, an die sprachliche und manuelle Fertigkeit hohe Anforderungen stellt, in dem 1. Schuljahre gestrichen oder doch vermindert, dafllr aber ein mnfangreiobersr Ssdmntsniebt eingeseUt werden.

Die Bednerin Inm suletzt auf die Verteilung der Stunden an jedem Tage* also den Stundenplan xu sprechen. Sie verlangt, dafs bei der Auf- stellung d^selben die Ergebnisse der Forschung auf dem Gebiet der Arbeit und der Ermüdung berücksichtigt, und z. B. die Turnstunde nicht mehr als Erholungsstunde angesehen werden möchte.

Zum Sciilusse führte Frl. Bäumer aus, wie gerade die Bearbeitung des Verbandsthemas den Lehrerinnen einen Mangel in ihrer Auarüstung fflr den Beruf snm Bewuüstsein gebraobt habe. Deshalb fordert sie beeaere psycbdogiscbe Schulung der Lebierinnen und Pflsge der Kindeip^yoho- logie in Lehrerinnen- und Lehrenrereinen.

Altenburg. Anna Bock.

') Damit kann hier dock nur die begriffliche Duroharbaitniig dieeer Stoffe

gemeint seini U.

Iiebe>lliil3gl»tt an EpUeptbohen.

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5* Idelieefli&tlgkeit an VpüeptiBoheii.

Die Schweiseriaohe Anstalt für Epileptiaohe in Zflrioh feierte tm 18. NoTember d. J. die Einweihung ihres dritten Neubaues für 80 bis 100 erwachsene m&nnliohe Epileptische. Der erste fiau für ca. 55 Kinder, Knaben und Mädchen, wurde lH8r> erstellt mit einem Aufwand von rund 300000 Frk. Diesem folgte l«öy ein zweiter Bau für 75 erwachsene Weibliche, der, weil er nur Eraniienräume enthielt, 200000 Frk. Jsostete, während sich die Kosten des dritten Baues mit Saal- Anbau und vorläufiger Antwobming^ auf 457 600 Frk. faeiaufeB. Gleicbzeitig wurde eine OentnJei Kflohe nnd Waaofalrilelie nebet Mtwehinenbans fDr elektriacdie Beleuchtung eröffnet. Die Kflohe ist als Qarkflohe eingerichtet und liefert die Speisen in (Jio vorsf-h irdenen Häuser in 2 Stelhvagen auf eisernen Schienen, vom Anstaits-Humor epileptischem Tann« genannt. In der Waschküche finden sich die nenebieii MascLiuon, getrieben von einein Gas-Mulor, Deutzer System. Ein Portieihaus und ein Leicheohaus wui*Uea lu Augnii gwemmen. In den Jahren 18d0 1900 kaufte die Anstalt 13 14 ha Land, das anondiert ist und nun umsSunt werden kann, imnal die Stadt ZflnciL eine bisher durch das Anstalt»- Areal fahrende Strafse an dessen Grenze verlegen läfst Die Ausführung all dieser kostspieligen Bauten ist einerseits begründet durch die greise Zahl von 1280 Anmcldung( n seit der Eröffnung der Anstalt, denen nur mit 550 Aufnahmen eutsprociieu werden konnte. Bei 1,5 Epileptischen auf 1000 Einwohner würden in der Schweis bei 8300000 Einwohnern 4950 Epileptisoiie vorhanden sein, wenn davon nun in 2firi<di 230; in Ttehugg Kant Bern 100 und in swei Usineren Anstalten ca. 36; also snsammen 306 Epileptische versorgt werden können, etwa 7 vom 100. Andererseits war die Ausführung möglich lediglich durch die in der Schweiz, namentlich in den Kantonen Zürich und Basel, grofsartige Liebesthätigkeit. Die Anstalt erhielt an frei- willigen Gaben von ihrer Eröffnung bis Ende 1900 die grolso buuime von 1429 707 Frk.; durchschnittlich jährlich ca. 75000 Frk.; fünfmal jährlich über 100000 M.; worunter von einer WohltbSterin jahrlich legelm&Isig 25000 frk,; von einem anderen Geber von 50000, 20000, 10000 Frk. Ein Aufruf an das Sdiweizervolk im Jahre 1897 in den 3 Landessprachen, den etwa 150 Zeitungen gratis aufnahmen, erbraelite in 2 Jahren 197 UÜO Frk. und ein Anlehen zu 4\^j®/(, im Jahrp 1^90, dem eine H^'pothek von 1800000 Frk. zu Gnmde gelegt werden konnte, orsrab 1 150 0UU i^ik. Die AuBtalt besteht nun heute aujjaer den oben gtixanuteu 7 Gebäuden noch aus einem Okonomle-Qeblude und einem Industrie>Baus fQr Werk- stltten; strebt aber noch weiter an: 1 Kapelle, ein Baus fOr bUSde, eines für kianke und eines für geistesgestMe Epileptische. Das Einweihungsfest, von einem hervorragenden Blatt »ein Fest der Menschenliebe« genannt, wurde vormittags in Anwesenheit eines Vertreters der Regierung, der "Rr- ziehungs-Direktion und des Stadtrates von Zürich mit einem Gottc lionst eingeleitet. Diesem schlois sich ein Umgang durch die neuen Gebäude von etwa 120 Festgftsten an. Nach dem gemeinsamen Mitti^essen begann naohniittags der zweite Teil der Festfeier. Herr Dir. KOlle teilte unter

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IGtlsiliiiigoii«

Zngrandelegung des Olei^isies vom S^fkoni die Ctesdiiolito ä» aeit- hörigen Bntwiokelong der Anstalt mit; der Anetalts-Ohor, ans Sraaken und

etlichen AngOBtellten bestehend, sang priohtigo Lieder: Der Herr iat mam Hirtc; Siehe wie fein, und ein eigens von einem Freunde gedichtetes und komponiertes Festlied. Den bräuchlichen Schlufg bildete das von Anstalts- anu;eliürig6n, meist Kranken, aufgeführtes, ebenfalls von einem Freunde gedichtetes Festspiel, das mit viel Uumur und treffendem Witz die Elin- weihungsfeier darstellte. Unter Gesang und Bede werden die Yorbereitungcn mit Blumen nnd Eiflnzen gotiolien. Die gut verkleideten Yoralehor, Honen und Damen vom Oomitfi, atellen aioh ein. aodaon die Erbaner des Hansea: Ifaurer, Zimmorleute, Schlosser, Maler mit ihren Emblemen nnd bringen den Hau-^fi-ltorn unter Überreichung: von Lorbeerkränzen und "Rinracn für die Herren und Damen ihre Huldigung dar während eines treftlich aus- geführten Reigens und verschwinden frOhlich singend von der BOhne:

Ihr habt ans erbauet oin stattliches Haus

Und atels anf Gott veitmuet, trats aller Soigea Oxans.

Ea war ein horrliober Feattag. M({ge der Anatalt wie biaher, ao «nb femerbin Gottes Segen erblfiben!

e. Veiein rar Bekämpfang von Spraeluitönmgen unter

der Solmljiigend.

Der aohleewig-bolsteinische »Verein zur Bek&mpfong von Spiafili-

Störungen unter der Schuljugend« hat in seiner letzten Qeneralversammlung be«<hlnRsen , durch Erweiterung der bestehenden Organisation einen »Deutschen Verein z. B. v. Spr. u. d. Schulj«. sowie ein ent- sprechendes periodisch erscheinendes Vereinsorgan zum Austausch Ober praktiacdie Fragen dee Heüunterriohts ine Leben ao rufen. Die nötigen Schritte inr OrOndang des Vereine, deaaen Beeteben in vielen pOda- gogiaoben Kreisen eehnliohat berbeigewünaobt werden dflrfte« sind bereits erfolgreich gethan und die Satzangen grCfstenteils festgestellt Die ond- gflltipre Konstituierung des Vereins wird gelegentlich der »Deutschen Lehrervcrsanimlnng»' zu Chemnitz (Pfingsten 1902) erfolgen. Neben der Sprachheilkunde wird sich der Verein auch mit der Erforschung der Kindersprache besciiäftigen. Anmeldungen zum Beitritte nimmt IlÜfsächui- leiter Fr. Frenael-Stolp L Pom. entgegen. U.

7. Anfrageii«

1. Wo bestehen empfehlenswerte Anstalten oder Familienhei me f flr inteUektueU oder ethisob feblerhaft veranlagte nnd Ittr ein Mos mfaleben nidit reife, dem Knabenalter entwaobaene 80b ne ge- bildet ri Eltern?

2. Wo eolobe ffir junge M&doben? Irttper.

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C- Litteratur.

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C. Litteratur.

Holländisch -Belgiflohe Arbeiten IL')

I. Prtf. Dr. M. C. Sohayten, Direktor dos i)ädologischen Sohuldionstes uud dos si^dti«<"hon piidologisrhpn Laboratoriums, Pädologisches Jahrbuch. Zweiter Jahrgaag. 1901. Antwerpen, J>eipzig und Paris. 246 Seiton (holländisch). Von Dr. Sohuytens PMologiBchem Jahrlmoii ist jetst der xweite Jahigang

endhieiMii, der «n XJmfuig und ferner Aosstettiiiig den exaten nooh übertrifft

Man kun seilen, dnb die Antwexpener OemeindeTerwaltiuig etwas fOr die Sadie

obrig hat.

Die Ueinero Hälfte des Buches wird eingenommen durch oi^o nusführliche Studie des Dr. Schayten über die Veränderlichkeit der Muskelkraft bei Kindern im Lanf e des Jahres. la dem vorigen Jahrbnelie waren die Untar- ndinngen ai^ganomnien in betreff der Zunahme der HnskeDtralt im Linfe des Jahres, woraus hen orgring, dafs das ^ze Jahr hindurch ausgenommen im M&iz die Muskelkraft der Kinder zunimmt, doch auch, dafs diese Zunahme keine regelmäisige ist Dr. Schuyten meinte damals schon, auch in Verbindung mit firfiberen üntersnohungen, die YerilndeniDgen in der Aufmerksamkeitsschärfe be- treffend, daÜB das ünre|;elndl^ in dieser Znnahme in Vexinndnng mit den JshreS' Zeiten .stehe. Au&er einer Zunahme durch die fortschreitondo Entwickelung sollte die Muskelkraft auch eine Variation erleiden durch die atmoapbärisohen Temperatnr- wechsel im Laufe des Jahres.

Das Bestehen und die Grölse dieser Variation zu untersuchen, war der Zweck der jetst Teiöffenlüchten Messungen*

I'Mgendermaben hat Dr. Sohnyten yerancht, den Fsitor BZonahmec ans seiner Untersuchung zu entfernen.

Wenn er monatlich von einer Gruppe Kindor dio Muskelkraft gemessen hätte, würde er natürlich Ziffern bekommen haben, woriu sowohl die >Zunahme« als die zu untersuchende »Variation« enthalten gewesen wären. Nun war die ^Zunahme« voU schon tenstatiert, aber deren OrSito noch nidit bekannt, und deshalb konnte man über die ^Variation« ans diesen SSffem nichts herieitm. Diese Schwierigkeit wnrde jedoch dadurch gelöst, dafs man jeden Monat eine andere Gruppe Kinder unter- sachte, welche jedoch alle vom selben Alter waren. So wurden im Oktober lbl/8 alle Kinder der 40 Antwerpener Gemeindeschulen untersucht, die im Januar 1689 geboren waren, im November alle Kinder, die im Februar geboren waren 1880, hn Deiember, die im MIeb 1889 geboren waren n. s. w., so dab jeden Monat die unterBuchten Kii4er das Alter von 0 Julirem nnd 9 Monaten liatten. Um desto fflcherere Angaben 7u erhalten und .seine eigenen Resultate zu kontrollieren, nahm Dr. Schuyte n zu gleieher Zeit eine {larallele F\eihe von Messungen vor, und zwar an den Kindern, geboren in den aufeinander folgenden Monaten des Jahres ItidO, weiche Orappen Kinder sbo jedesmsl dss Alter von 8 Jahren nnd 9 Monaten smioht hatten.

Bei sohdben Gruppen gleichaltex^r Kindel konnte man dieselbe wahisdiein- liche durchschnittliche Muskelkraft annehmen, so da&, wenn keine »VariiUionc doTch Temperatun^ eohsel bestände, die Messungen im Winter einen ebenso grolsen Durchschnitt liefern mülsten als im Sommer. liels sich jedoch in den monatlichen

*) Siehe Jahrgang VI, drittes Heft

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C. Litteratur.

Ergebnissen eine rcgelmä&ige Veränderung konstatieren, dann konnte dies aus- schlielislich der Thatsache zugeschrieben werden, dafs die gleicbalterigen Gruppen in verschiedenen Monaten des Jalires gemessen waren. Schuyten giebt zu, daCs auf diese Weise die Faktoren ^Zunahme« und »Übung« (denn auch dieser Faktor wird, Monato

% J. F. M. A. M. J. J. A. S. 0. X. D. 0,0

Fallondo StciKende Fallondo Stsigende

l'cnodo Penode IVriodo Ponode

(nicht wahiyoDommoo)

Fig. 2 (Kindor von 1890).

wie man leicht einsieht, eliminiert) zwar nicht ganz ausgeschieden werden, und dab die grofsen individuellen Unterschiede die Voraussetzung hinsichtlich der gleichen durchschnittlichen Muskelkraft bei Gruppen einer gleichen Anzahl Lebensmonate lu einer unrichtigen machen können. Um jedoch diese störenden Einflüsse so gering als möglich zu machen, hat er die Anzahl Wahrnehmungen so grols als möghch

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gemacht 1. Jede Altersgruppe hai er dreimal in der ersten Hälfte tlee Mooates und dnimal in dar sw«iteii HlUte tutenooht und dibd jedes Hat erst mit der Jinken und denn mit der nehten Hand diiioken liMeo, so deb er ^n jedem Kinde in

jeder Monatsgruppe 12 Ziffern erhielt. In betreff der Experimente beachte man noch, dals jedes Kind so kräftig drücken mubtei eis es irgend konnte; um dies zu fördern, minje um die Wette gedrückt.

Dm gebrauchte Inätrutnent war ein elliptischer Dynamometer von einfacher KoostmklifMk, sn dem f^eieh das erlangCe Eigetnis abgeleeen werden konnte.

Zwischen jedem Dmdie blieb genagende Zmt übrjg nun Auendien. IKe er« balteneu Ziffern sind auf dieselbe Weise wie voriges Jahr auf Durf hsehnittszahlen zurückgeführt und in ausführliche Tabellen geordnet, während dt 1 In folgenden Figuren eine deutlich redende Vorstellung geben von dem Verlauf der monatlichen »Variation« bei den Knaben, den Mädchen und den Knaben und Mädchen zusammen (»Kukder«). *

Fig. 1 bat Bezug auf die erste Reihe von Heesnngen» also auf die Kinder, geboren im Jahre 1889, Fig. 2 auf die zweite parallele Reibe, also auf die Kinder, geboren im Jahre 1890. (Zu den Figuren ist noch zu bemerken, dafs ein Stricb auf dem Dynamometer [%] ungeföhr übereinstimmt mit 0,27 kg Druckkraft.)

Sollen bmm ersten Blick Üät uns der regelmälkige Verlauf der Kurven und die Übereinstinunung swiadien den beiden pandlelen Reihen enf.

Der eins^ Unterschied zwischen den im Jalire 1889 imd 1800 geborenen Kindeni ist dif'^or, dafs bei ersteren die »Variation« ihrt>n Höhepunkt erreicht im Monat Juni (i-ig. 1) und bei letzteren im Monat Juli iFif;. 2). Dafs dieser Unter- schied sich sowohl bei den Knaben wie bei den Mädchen zeigt, weist auf eine für alle giltige Unadie lun, die jedoob vdllwmmen OBerfbisobfidi war. Übrigens sdgen aber die Kurven eine merkwürdige Obereinstimmung, die uns erlaubt festnutellen, dafe die Dmokkraft sich sehr deutlich ändert unter dem Einfluis der Jahreszeiten tmd zwar auf merkwürdig regelmälsige Weise. Aus den Pifniren erhellt gleich, dafs man vier Perioden zu unterscheiden hat, und zwar 1. eine fallende Periode (Januar Februar und März), 2. eine steigende (April. Mai und Juni), 3. eine fallende (vom loli Ida zum September^ welche jedoch nur unvQiU[ommen wahrgenommen worden ist^ da in den Honaien August und September wegen der Ferien keine Heasungen ststt- gefonden liaben) und 4. wieder eine steigende Periode (Oktober, November, Dezember).

Vom Oktober an (in Antwerpen der Anfang des neuen Schuljahres) zeigt das Kimi abo, abgesehen von der stetigen KörperentwiLkehing eine fortwährend wachsende Zunahme an Muskelkraft, deren Höhepunkt erreicht wird im Januar; dann fällt sie bis Hftrs, eteigt wieder bis Juni (oder Juli?) und IKlIt dann wahraoheinlieh icnel- mlfsig bis Oktober. Wenn diese Honatsziffern zu Quartalziffom zusammengefabt Werden, treten diese Perioden noch deutlicher hervor. Zwei niedrige Perioden fallen zusammen mit Herbst und Winter, die erste steigend, die zweite fallend. Zwei hohe Perioden fallen zusammen mit Friihjahr und Sommer, gleichfalls nach einander steigend und fdleud.

¥an dikxfte allen Omnd haben, die Sommerpeiiode als die höohste und die Herbstperiode al.s die niedrigste zu betrachten. Dr. Schuyten meint, dafs dieser Einfluis der Jahreszeiten .sieb nicht nnr bei der Moskelkraft geltend msohS} sondern bei dien Aufserungen der lebenden Wesen.

Auf verschiedeneu anderen Gebieten sind durch frühere Untexsuchongen schon ladeutuugen dsraen»e& Ersohebung gefunden.

Zum Sdilusse noch einige Bemerkungen.

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Nadk frühemi üntaisaohiiiigQm dea Dr. Sohuyten ubei die AwfcneitHMniwiit ibI diese im Sommer am schwächsten.')

Nun ist OS höchst bemerkenswert, dafs die atmosphärische Temperatur im S i inner auf die psychische Kraft gerade einen entgegengesetzten Einflufs ausübt alä auf die püyäi£>ohe. Ei-btere drückt sie nieder, letztere vixd, wie aas den besprochenen Thilteambbmgßn. hiemrgeht, bedentend ethölit

Wttter zeigt sich hier wieder aufs neue, was sohoik böge lyekannt war, dafs der Monat Mäis die «Bgüiiatigite Zeit des Jahces für alle mflgHclieD Lel)eiiBfQ]ik- turnen ist «)

Schlielslich will ich noch darauf hinweisen, date Dr. Schuyteik auch dies- mal wieder jedesmal die Unke tomd ]!«<^t» Dnickkiafk Teij^ichen bat (ffiehe die Bec|ireolniiig des ▼origen piddegiaehim Jahrbudiee.) Man ist gewdint fOr diesen Vergleich die rechte HuskelkKaft immer so la setseou Schuyton fand non ftd- gande YexbüitDisse: '

Geboren Knaben Mädchen Kinder 18Ü0 10 : 9,2 10 : 9,4 10 : Ö,4 1860 10 : 9^ 10 : 9,3 10 : 9,1 und bei den Üntenaohimgeii im voijgsii Jahie hiÄta «r g^ondeii: 1881-1887 10 : 8,39 10 : 8,0 18 : 8,9. Die Vergleichung dieser Reihen soheiat darauf hinsaweiaen, dafo die Hnskelo kraftassymetne mit dem Alter zunimmt

Alliber diesem Hkaptartilnl entbJilt das Baoh nooh drei Ueinere Beitrige: 1. yoo Dr. Schuyten eine Beschreibung onea Knabens mn SVt Jihmi

^) Diese Experimente sind zusammengefaCst im padologiscbeu Jahrbuch I, Seite 183.

') Ein Kollege, der sich viel mit Kinderkunde befaCst, schrieb mir neulich über diese Erscheinung: »Dürfte hierin nicht ein Überbleibsel gesucht werden von einer Alt Brunstzeit ans einer längst vergangenen Periode nnaeres Oeechledites?« Obschon ich die biogenetische Auffassung, von welcher diese Besprechung Zeugnis ablegt, keineswegs teile, will ich sie in diesem Zusammenhang erwähnen. Vielleicht kommt sie auf diesem Wege unter die Augen von Untersuchem, die ihren Ufert benrteüen kftnnen.

Auch mache ich hier aufmerksam auf folgende Stelle in Bohloder, Die Masturbation. (Berlin 1899, S. 136):

Besondere ist es hier der Frühling, dor von alters her als eine die ge- schlechtliche Lust steigernde Jahreszeit gilt Von den Tieren ist allgemein be- kannt, daCs sie im Frühjahre ihre Begattungs-, ihre Brunstzeit haben. Kirch sagt in seinem Werke »Die Sterilität des Weibes« (1898): >Der übereinstimmende Baa vnd die überdnstiBnnenden Funktionen der Genitalien de« Menschen und der Säuge* tiere, die sich gröfstenteils nur in einer bestimmten Periode fortzupflanzen pflegen, lassen den Schiols zu, dafs auch beim Menschen der Gesclüechtstrieb nur iu einer bestimmten Jahreszeit geweckt wird, dalb des Toiiommett dieser physiologisdiea Sitte beim Menschen noch bis jetzt, nachdem die Begattung das ganze Jahr hindurch sich vollzieht, nachdem aber die Bedingungen, die zur Weckung des Geedüeohts* triebes nötig sind, das ganze Jahr bestehen können, der Vererbung zozosolfareibeii ist«. Der Mensch würde demnach in seinem geschlechtlichen Leben gleichsam eine Art regelmälsige Periodizität beobachten können, d«r;\?-t, dafs im Frühling der Ge- schlechtstrieb am höchütcu anschwillt, um im Laufe des Jaiires aÜuiählich abzuschwellen, um bei beginnendem Frühjahre wi^er ein Ansteigen der Kurve zu zeigen. Auch Wiekmann macht schon die .Angabo, dafs Pollutionen und Nymphomanie im Früh - ^hr am stärksten seien. >Aus alledem iälst sich annehmen und schlielsen. dals im Frühjahr und bei Beginn des Sommers infolge stirkerer geschleohtUoho' Triebe wahr- sriwinlifth aooh aübcter martoibittt winL«

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C. littentnr.

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und einer Beibe von Sun gelieferte Zekdumngen, woiin aidi wah oene ie%t; wie dkeee &eie SSeidtiiMi snr richtigen ErkenntniB des kindliohen Geistes dienen kann,

2. ein Vergleich zwischen steil und schrägschreibenden Gk^ülem, auch von Dr. Schuyten, mit Pliotographieen und 8ohriftiri)bUduagen, wobei die Vorteile der ßteilschrift deutlich hervortreten.

3. Eine Beschreibung von Dr. Said von einem lljiihrigoa Mudohea, mit »Wandertrieb«, Dies ist die einzige geistig -abnorme Bn«hdnung, die an dem Kode SU beobaditBB war. Korperiioh ist sie andb normal, die Matter ist an Bckwlnd- sacilt gestorben, der Vater Alkoholiker.

Der letzte Teil des Buches wird eingenommen durch eine ausführliche Biblio- graphie, worin eine Anzahl intenk^aat&r Artikel und Schrifteu über Kinderstudium and was sich darauf bezieht, erwähnt ist; mehreren ist eine mehr oder weniger «sffihriidie Übeimoht des Inhaltes beigegeben.

Hit Geoiigthuung sahen wir auch dieses Jahr wieder, dals Dr. Schuyten die grüCste Aufmerk.sainkeit fordert für den vit-lseitigon, verderblichen HHnf^tiCa, den der Alkoholismus auf das Wohl and Wehe der Kindorwelt ausübt.

Haag, A. J. Schrouder.

2. Dr. Bed. Alb. Llebaaiin, Die Sprachstörungen geistig sarückgebliebenet

Kinder. Berlin, Reuter ^ Keichardt. I,b0 M.

In der Sammlung für pädagogische Psychologie und Physiologie von Ziehen und Schiller ist ob^ Werkdien von dem Berliner Arst für Bpraohstörangen Dr. Liebmann erschienen. Dieser hat sich gerade auf dem Gel)iote, wie Schwachsinnige zu hebun und zu fürdorn sind, einen Ruf erworben. Wir machen bei dieser Gelegenheit auf folgende von ihm erschienenen Abhandlungen aufmerksam: Untersuchung und Bohandiung geistig zurückgebliebener Kinder, Berlin 1898; Voi- lesongen über Spraolistörangen, Heft 3, HöiBtammhoit, Berlin 1898; Geistig zaräok* ^btiebeiw Kinder, Arohiv li&r KinderheiUnmde 1899; Voriesangen fiber Spnch- atörnngen, 5. Heft, ObmigBtafeln für Stammkr; Die S^raehe aohweriiöriger Kinder, Bresgenschf> Srimmlung, 1901. Auch das neu erschienene Werkchen von diesem Ver- fa.s.ser zeigt uen orfakreneo Fachmann ; es ist ganz aus der i'raxi.s herausgewachsen. In demselben teilt Dr. Liebmann die Öprachstörungeu in primäre und sekundäre, je nachdem dieedben üxsaohe oder lV>]ge des geistigen ZortkikUmbens sind. Wir geben ihm dabei voUstind^r noht and stimmen Weniger bei, welcher ein be- sonderes Schriftchen unter dem Titel »Nicht geistig, sondern nur spraddidi soruck- gebliebone Kinder« geschrie! i\ liat Bei den sekimdären Sprachstörungr»n wird die Sprachstumm heit, das StanimeliJ, das Stotfuni und Poltern unterschieden. Bei den prim&ren Sprachgebrecheu finden das Stummeln und die Suhwerhurigkeit eine be^oudei^ Bespnchong. Das Bnoh gewinnt dadaroh an Wert, daib bei jeder 8prachst6rang ein oder mehrere Krankheitsbilder gegeben sind. Es sind Ursachen, Krankbeitszustand and Therapie angegeben. Die betreffenden Personen, von denen die Krankheitsbilder ent- worfen sind, sind bei Dr. Liobmann in Behandlung gewesen. Gegen folgende Be- hauptung S. 25 möchten wir einen Einwand erheben: »ich halte es iüi gans verkehrt, wie ich es sehr oft von Lehrern gesehen habe, geistig zurückgebliebenen Kindern Vor* geechiiebeoee nacfaaohreiben au lassen. Die Kinder neigen ohnehin dasa, mechanisch tfattig zu sein, ohne dabei naehandenken» Durch diese Übungen lernen sie nichts geschickte Schreibbewegungen, nimmemiebr aber eine Verbindung des Klang« bildes mit dem Schriftbüd.« Wie normale Kinder verschieden auffassen, das eine dan^ das Auge, das andere durch das Ohr, das dritte durch Bewegungsvorsteliungen, 80 wild es an6h bei geistig zurückgebliebooen Eändem sein, dab es Toadiiedeiie

48

CL lÜtfltibDii

Sinnestypen giebt (vei]^ ITfer, Srnnestypeii). In einer HüfaUasse liefe akk (Aigo Foiderasg «ndi nicht dniohföhieii, da man im Senisolien die Kinder, wihrend das eine oder eine kleine Gruppe daran genommen werden, still beschäftigen mols. üm aber dem gedankenlosen Abschroibon vorzubeugen, rnnfs man von Anfang an nnd ohne Nachlassen dio Kiuder auweinou und dann imaierwätuend anhalten, dals sie erst lesen und dann schreiben. Natürlich wird man das Diktieren eifrig pflegen Qiid daon, «ie ee Dr. Liebmami anch fbidert, das Oesofaiiebene ifiader kaea lassen, um sich so zu überzeugen, dafe me nidit mechanisch abgeachiieben haben. "\Vit> die Thatsachen beweisen, zählen unsere Hilfsschulen eir.<«ii Trofsen Prozentsatz von Kindern, die mit Sprachgebrechen behaftet sind. Darum köonen wir allen KoUegeo und auch Eitern, die es mit solchen Kindern zu thnn haben, diese Arbeit zum Studiom empfehlen. Keiner vrird es ohne Nntien ans der Hud legen. Altenbnrg. H. Seifert

3. Koorad Agahd, Lehrer, Vorsitzender des Arbeitsausschoaaes zur Durohfühning des FttxBOiigeeRiehang^efletiee in Rixdorf-Beriin, Praktische An weis nag aar

Durchführung des Preufsischen Färsorgeraiehnngs-Go setzes. Lehrern und Lehrerinnen, Geistlichen. Erziehung^- und Bildungsvoreinen, Waison- räten, Pflegern und Pflegerinnen, sowie den Schul- und Armenbehorden dar- gereicht Berliu-Öchöneberg, Verlag von Moritz Bchnetter, 1901. Preis 50 Pf. Als das Färsoigegeaeta noch Entwurf war, haben wir mehzfaoh Stellong lu demselben genommen und namentlicfa das BnreaokratiBche, was die segensreiehe WiAong des Gesetzes abschwächen kann, scharf getadelt.') Aufgabe Agahds kann es nun nicht mehr sein. Kritik am Gesetz zu üben und zu theoretisieren, sondern praktische Anweisung zur Durchfuhrung des Gesetzes zu t'eben, daCs das viele Gute, was darin enthalten ist, und was auch wir anerkaimteii, no zum Segen der Jugend und des gesamtm Yolkea anssunutsen, ala es nur m^ch ist Er sagt mit Recht: •Was hilft aUes Iheoretisiereo,- was helfen alle AnssteliQngen, die hier oder dort am Cr<'<'Az gemacht werden, was soll das viele Reden und EriüsiereD, wenn nicht gehandelt wird.« Tnd er meint, dafs eine Reihe guter Arbeiten über das Ge- setz erschienen seien, aber in keiner wird die praktische Auaführuag als Aufgabe aus der Praxis heraus gezeigt Diese Lücke der Litteratur über das Gesetz soll und wird audi sein Bttdilein erfiillen. Oerade wegen aemer anbererdentlioh prak- tischen Anleitung, Jugendfürsorge zu treffen und Jugendschutz zn üben, mdchteo wir es allen Lehrern und Jugendfreunden angelegentlichst einpfeblen. Aber auch, den Landräten, den Magistraten der Städte, den Armenbehönien und Eraiehungs- vereinen werden die anerkannt praktischen Formulare dieses Werkchena, welche ausreichend Baom för klare Darstelhing des Einaelialles bieten, sehr wÜIkorameD sein. Fonnnbr A Anschreiben fnr das Mitglied der Arbeiiskommiasbii. Formular B Anachreiben an den Lehrer oder die Lehrerin. Formular C Fng^ bogen -Formular zur Ausfüllung durch den Lehrer. Fornii;1ar D - - Ergänzung«- fornmlar für die Erkundigungen des Ausscbufsmitglicdes. Dieselben werden ge- sondert abgegeben und kosten 25 Stück jeder Borte bO Pfennige.

Für mich war es intereeaant, dato Agahd doroh die Darlegong dessen, was praktisch anm Ingandsdraiz gssdi^en mnto, anl genan dieselben IMea und Eni- seitigkeiten des Gesetzes stöCst wie ich sie seiner Zeit atnfgedeckt habe, and da& er damit von der praktischen Seite her unaeie früher gemachten yorsch%e wieder ai|fnimmt Trüper.

Draek von Bsman JB«7« * SOhiM In LMgMmba.

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A. Abhandlungm.

1. über den angeborenen oder früh Bich zeigenden Wuaerkopf (Hydrooephalns intemns) nnd seine Be- siehungen mr geistigen Entwiokelnng.

Ton Sanittlant Dr. Btrkhtl in Bnnnsoliwefig.

Der angeborene oder bald nach der Geburt sich zeigende dironische Wasserkopf besteht in einer zunehmenden Ansammlung von Flüssigkeit in den Hirnhöhlen, besonders den beiden seitlichen, und einer dadurch bedingten Ausdehnung des kindlichen Kopfes, dessen Nälite und Fontanellen noch nicht geschlossen sind.

Entweder wächst der Kopf stetig bis zu einer ungeheuren Gröfse oder es tritt ein Stillstund im Wachstum ein, so dafs die erreichte Gröfse eine bleibende wird, oder aber es findet nach einem Stillstande im krankhaften Wachstum wiederum eine aufsergewöbnliche Zunahme der Gröfse des Kopfes statt.

Der Kopfumfang von männlichen Gesunden beträgt durch- schnittlich :

Bei Neugeborenen (2 Tage nach der Geburt gemessen) 347» cm

Bei

einem

Kinde

von Y,

Jahre 40

cm

1)

»

r 1

»

»

» 2

47 V,

»

«

9)

n 5

»

50

n

»

»»

52

15

54

yi

Bei einem Erwachsenen von

20 Jahren 55—

-55V,

Beim weiblichen Geschiechte in der Kindheit Vi 1

11

bei Erwachsenen 2-

-2V.

n

DU KindflcfoUff. VU.JabtgMig.

oiyi.i^Lo LV Google

50

A. AbbandluDgen.

Beim Wasserkopf finden sich diese Mafse auffallend gröfser, und habe ich die obigen Zahlen angegeben, damit sie Vergleiche mit den Angaben bieten, welche sich unter den beigefügten Abbildungen be- finden und auch Anhalt zur Erkennung krankhaft grofser Kopf- formen geben.

Ein ausgesproche- ner Wasserkopf zeigt aufser einem bedeuten- deren Kopfura fang eine vorgewölbte breite Stirn und ausgebauchte Schläfen, im ganzen eine kugelförmige Ge- staltung. In hohem ürade, wenn es sich um die ersten Lebens- jahre handelt, finden sich die Fontanellen weit, die Nähte klaf- fend, das Gesicht im Verhältnis zu der starken Ausdehnung des Kopfes meist klein, die Augäpfel nach ab- wärts gedrängt, schie- lend oder sich unstät bewegend. Dabei ist der übrige Körper ge- wöhnlich klein und ab- gemagert, die Beine gelähmt.

Je nach der mehr oder weniger raschen Zunalmie der Flüssig- keit in den Him-

höhlen, je nach der mehr oder weniger grofsen Monge derselben sind die Schädigungen, welche das Gehirn durch den gesteigerten Druck von den Hirnhöhlen aus erleidet, verschieden.

Man kann annehmen, dafs unter 1000 Geburten 1 Kind mit schon entwickeltem Wasserkopf vorkommt. Ein solches Kind pflegt fast immer während oder bald nach der Geburt zu sterben.

Fig. 1. Kurt Lindhorst, 1 Jahr .'5 Monate alt. Wa&snrkiipf mit SchwAchhinn hi^horon (irndoe. Orösstor Umfang dm Kopfes 53' j cm. <inV*itor Querdurchmosscr 16 cm. ürOi^itor Lttiigsdurchmesscr IT'/s cm.

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Bereuan: Über den angeboreneD oder früh sich zeigenden Wasserkopf etc. 51.

Beginnt dagegen der Wasserkopf sich nach der Geburt zu ent- wickeln, was bei einer ebenso grofsen Menge von Kindern, unter 1000 eins, vorzukommen scheint, und wächst der Kopf stetig und rasch bis zu einer auffallenden Qröfse, dann nimmt das Kind die Miitterbrust nicht, läfst sich die Flasche in den Mund legen, ohne sie bei weiterem Verlaufe mit den Hündchen zu halten oder gar selbst zum Munde zu führen. Weder die Ärmchen noch die kleinen Beine werden bewegt, nur die Augäpfel werden zeitweilig hin und her gerollt, statt des Schreiens läistdasKind nur ein zeitweiliges Stöhnen hören ; es zeigt sich völlig teilnahmlos.

Ein Jahr und mehr Zeit vergeht, ehe es seine Augen auf einen vorgehaltenen Gegen- stand heftet oder ihn mit dem Blicke ver- folgt, ebenso lange, ehe ihm die Eltern ein Lächeln abringen; noch längere Zeit, ehe es nach einem vor- gehaltenen Gegen- stande (siehe Fig. 1 u. 2) die Hand ausstreckt und ehe es zu spielen beginnt Mehrere Jahre fliefsen dahin, noch immer stöfst das Kind nur undeutliche Töne aus, es ist noch nicht im stände zu stehen oder gar zu gehen, bleibt unreinlich, ist somit mit Schwachsinn hohen Grades oder Blödsinn behaftet

Geht die Zunahme der Flüssigkeit in den Himhöhlen nur lang- sam vor sich, schliefst dieser Verlauf gar mit einem Stillstande ab, so hat das Leiden nur Schwachsinn mittleren oder geringeren Grades

Fig. 2. Kurt Lindhorst, 1 Jahr 8 Monate alt.

Orösstor Umlang des Kopfes ää'/j cm. <iri'isj»tor Quonlarchtucsser rtii. lirusstcr Lilnirsdurchmesücr 18 cm.

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52

A. Abhandlungon.

im Gefolge, die Kinder werden erst im dritten, vierten Jahre reinlicli, lernen verspätet sprechen und gehen und zeigen sich im Vergleich mit anderen gleichalterigen in ihrer Einsicht, in ihrem Thun und Treiben zurück. (Siehe Fig. 3 u. 4.)

Demgemäfs finden wir solche Kinder in den Schulen der Idioten- anstalten , bei ge- ringeren Graden von Geistesschwäche auch in Hilfsschulen. Wyss^) verfolgte das Schicksal von 41 Fällen von Wasserkopf , davon brachten es 5 zum Schulbesuche.

Es kann endlich das Gehirn dem Wasser- druck widerstehen und dabei weiter wachsen, sagen wir, es kann der Wasserkopf heilen^ so dafs die geistigen Thätigkeiten ungetrübt bleiben. So berichten die ihrer Zeit berühm- ten Kinderärzte Göus und West ein paar Fälle, in denen die geistige Thätigkeit nor- mal wurde und nichts zu wünschen übrig liefs. Ich selbst be- obachtete und ver- folgte die Tochter eines Schuhmachers, Ma- thilde Schnelle, welche ^4 Jahr alt einen Kopfumfang von fast 50 cm hatte, 1'/^ Jahre alt 51 cm, 13 Jahre alt 57 cm, jetzt 35 Jahre alt 65 cm zeigt. Dieselbe ist geistig vollständig gesund. Sie hat Hackenfufs. (Siehe Fig. 5 u. 6.)

Fig. 3. Augtist llsemann, 11 .Talir»» alt.

Wasserkopf mit Schwachsinn poringvron Gnulo».

Orösstor rmfani; dra Koptcs ijö cm. Gr<W»tor Querdurchmosser 17 cm. ünKstor iJtngsdurchmc^ier 17.3 cm.

') Zur Therapie des Hydrocephalus. Corresp.-Blatt für schweizerische Ärzte, 1893.

.oügle

BrRKHAiv: Über den angeborenen oder früh sich zeigenden Wasserkopf etc. 53

Es ist, und das glaube ich hier noch anführen zu müssen, von Dr. Perls und Prof. Eddcger das nicht seltene Zusammentreffen von leichtem Wasserkopf und besonderer Entwickelung der Intelligenz hervorgehoben worden, und möchte ich hier Prof. Hermann v. Hsuki- HOLTz erwähnen, der, wie er selbst erzählt hat. in seiner Jugend leichten Wasserkopf hatte, dessen letzte Spuren bei der Sek- tion nachgewiesen werden konnten,

Er war ein Mathe- matiker ersten Ranges, galt als der erste der lebenden deutschen Physiker und zeigte eine Schärfe des Denkens, wie sie seit Ka.vt nicht erhört war. Sein Kopfumfang be- trug 59 cm bei einer Körpergröfse von 1,69 (siehe Fig. 7).

Ein Gleiches gilt von CüviEH, dem be- rühmten französischen Naturforscher. Auch er war in seiner J ugend mit Wasserkopf be- haftet, und das Gewicht des Gehirns, das beim Manne durchschnitt- lich 1424 g ange- Fig. 4. August Ilscmanu. nommen wird, betrug

bei ihm im Alter von 63 Jahren bei gewöhnlicher Körpergröfse, wie die Sektion ergab, 1822 g.«)

*) Dav. HANSEBiANN, Üb. d. Gehim von H. Helmholtz. Zeitschrift fiir Psycho- logie u. Physiologie der Sinnesorgane. Hand XX, 1899.

') Chr. Ricuet, Sur le cerveau. Article de Sourj-. »Tant qu'elle ne sera pas mieux justifiee, l'hypothese de l'hydrocephalie de Cuvier devra etre consideree corame douteuse. Pourtant il se pourrait, qu'une hydroc^pbalio guerie favorisat l'agrandissement du cerveau.«

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•54

A. Abhandlungen.

- Von Interesse ist, was in dieser Hinsicht der vorher erwähnte Prof. Edln'ger schreibt.*)

»Meinem verstorbenen Freunde Perls ist zuerst au ffj^ef allen, dafe eine grofse Anzahl geistig bedeutender Menschen nach dem Gesichts- tjpus den Eindruck machen, als wäre bei ihnen in früher Jugend

ein HjdrocephaliLS ab- geheilt Er äuCserte die Vermutung, dafs, wenn ein mäfsiger Hydrocephalus in Rückbildung übergehe, dem Gehirnwachstum durch den einmal er- weiterten Schädel ein verhältnismäfsig ge- ringerer Widerstand entstehen werde. Ich habe diese mündliche Anregung später ver- folgt und in einer nicht ganz kleinen An- zahl von Fällen Belege für ihre Richtigkeit ge- funden. Von CcvTKa wissen wir, dafs er, der ein ungewöhnlich schweres Gehirn hatte, in der Jugend hydroce- phalisch gewesen war. Ebenso war HEi^mioLTZ in seiner Jugend leicht hydrocephalisch.c

So hat der ange- borene oder bald nach der Geburt sich zeigende Wasserkopf in seiner verschiedenen Verlaufsweise eine Ge- schichte wie wohl keine amloro Krankheit.

Erkennung der Krankheit. Die Erkennung bietet, wenn der

Fig. 5. Mathilde Schnelle» 35 Jahre alt.

WasM'rkopf, pMüliifO Oesundheit.

OriiMter Kopfumfang ^ Jahr alt 49,5 cm, l»'« Johro alt 51 cm, ' 4*/« Johro alt 51 cm, Jahre alt 53,5 cm, l:t Jahro alt 57 cm. 35 Jahru alt G5.5 cm. (iriisstor Quprdurrhraoiisor 18,5 cm. Grüftstor iJInftsdurchmoesor 2U,5 cm.

Edinokb, Vorlesungen üb. d. Bau der nervösen Centraloiigane. Leipzig 1899.

ß. Aufl.

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Berkhan: Über den angeborenen oder früh sich zeigenden Wasserkopf etc. 55

Kopf schon einen bedeutenden Umfang erreicht hat, keine Schwierig- keit Die kugelähniiche Gestaltung desselben mit seiner grofsen ge- spannten Fontanelle und der klaffenden Pfeilnath, die breite, dabei vorgewölbte Stirn, die ausgebauciiten Schläfen lassen keinen Zweifel, dafs es sich um Wasserkopf handelt.

Aber auch bei der englischen Krankheit (Rachitis) kommt nicht selten eine bedeutende Gröfse des Kopfes vor, dessen vordere, grofse rontanelle, welche bei einem gesunden Kinde sich um die Mitte des zweiten Lebensjahres zu schliefsen und zu verknöchern pflegt, sich noch im dritten und vierten Jahro offen oder gar ver- grölsert zeigt.

Em solcher Kopf könnte mit Wasserkopf verwechselt werden. Es zeigt aber der Kopf eines rachitischen iiindes nicht, wie bei einem wasserköpfigen, die Stirn breit und sehr vorgewölbt wie bei Fig. 3, sondern breit und steil an- steigend, so dafs der

rachitische Kopf nicht eine rundliche oder kugelförmige, sondern eine mehr viereckige Form hat (siehe Fig. 8), bei dem die Fontanelle nicht gespannt, sondern weich und damit eindrückbar ist.

Zudem finden sich bei diesem noch andere Merkmale, welche für Rachitis sprechen: trapezförmige Gestaltung der Kiefer, kuppei- förmige W^ölbung des harten Gaumens, Verdickungen an den Rippen- knorpeln (sogenannter Rosenkranz), Schwellungen der unteren Enden der Vorderarmknochen, Verkrümmungen der Unterschenkel. Auch

Fig. 6. Mathilde Schnelle.

56

A. AbhandlangeD.

zeigt ein rachitisches Kind, wenn es auch in seiner geistigen Ent- wickelung zurück sein kann, verspätet sprechen und laufen lernt, nicht den Schwachsinn wie ein wasserköpfiges, sein Blick ist nicht so matt, seine Bewegungen zeigen nicht die Störungen in Schwäche oder Lähmung der Beine.

Erschwerend in der Erkennung wirken Fälle, in denen Wasser- kopf und Rachitis zugleich vorkommen; bei diesen mufs die Ent- scheidung durch die Kopf- form und den weiteren Ver- lauf der Krankheit getroffen werden.

Bei Kindern im schulpflich- tigen Alter finden sich nicht selten grofse Kopfformen, die schwer erkennen lassen, ob es sich um einen geheilten Wasser- kopf oder um einen rachitischen Kopf oder den eines von Haus aus Gesunden handelt Fälle, welche nur durch Erhebung früher überstandener Krank- heiten gedeutet werden können.

Im schulpflichtigen Alter zeigen femer Fallsüchtige häu- fig schon einen Kopfumfang, welcher das Durchschnittsmafs um mehrere Centimeter über- steigt. Eigentümlich ist, dals bei diesen die Kopf- oder auch Gesichtshälften sich verschieden stark entwickelt zeigen, wie man glaubt infolge ungleicher Entwickelung beider Gehirn- hälften, so dafs solche Fälle dadurch von Wasserkopf unterschieden werden können.

Verhütung. Die Ursachen des Wasserkopfes sind in schlechter Konstitution der Eltern oder in vererbter Anlage zu suchen; Blut- armut und mangelhafte Ernährung der Mutter haben ihren Haupt- anteil. So kommt es, dafs Frauen, welche ein wasserköpfiges Kind geboren haben, wiederum ein solches gebären können, oder dafs die folgenden Kinder sich schwachsinnig zeigen, auch dafs die Reihe der

Fig. 7. Prof. Ilernmun vou Hcimholtz.

Gehoiltor Wasserkopf.

Kopfuinfanir, »Iht der Haut »roiiic«vso<i 50 cm. Grüssto Breite, auf don KiK>c-hon Koniosson 16,0 cm. (irOMto Llingo 18,3 cm.

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Berkhan: Über den aageboreoen oder früh sich zeigenden Wasserkopf etc. 57

Kinder mit Früh- und Fehlgeburten abwechselt. Wer mit der Armut verkehrt, weiJs, dafs das sehr häufig vorkommt.

Von der Erfahrung ausgehend, dafs eine Frau, welche 3 bis 4 Kinder nicht zu stillen vermochte, wieder schwanger geworden, durch eine vollständig umgeänderte und diätetisch geordnete Lebens- weise nach der Nieder- kunft oft ihr Kind zu stillen vermag; dafs femer eine Schwange- re, die bis dahin eine Reihe von Fehlge- burten erlitt oder eine Keihe schwächlicher und schwachsinniger Kinder geboren, durch eine vom Beginn der Schwangerschaft ein- geleitete diätetische Behandlungein lebens- fähiges Kind bekom- men kann, stehe ich nicht an, hier wieder- um darauf aufmerksam zu machen. Die Ver- suche einer Verhütung

des Schwachsinns (durch die verschie- densten Ursachen, dar- unter Wasserkopf, ver-

anlafst) mit ihren günstigen Ergebnissen habe ich vor 2 Jahren veröffentiicht und möchte ich wohl auch von anderer Seite unternommen sehen.

Behandlung. Man hat eine Heilung des Wasserkopfes versucht, indem man das Wasser durch Punktion aus den Hirnhöhlen entieerte. VON Besomann, Heübxer u. a. haben manche günstige Erfolge erzielt,

Fig. 8. Friedrich K.. 6 Jahro alt.

liachitiid-her Kopf.

Im 2. Lobcnsjahn) Rachitis. 3* , Jahro alt Kopfonifang 53',', cm. 12 Jahro alt uh cm.

') Berkiiax, Üb. d. angeb. u. fi-üh erworb. Schwachsinn. Braunschweig 18Ö9, S. 47.

58

A. Abhandlungen.

indem nach der Operation ein Stillstand im kmxikfaaften Wachstum des Kopfes eintrat und damit die geistige Entwickelung Fortechrittc zeigte. Ein wasserköpfiges Kind, welches Kehn früh punktierte, h uto sicli geistig sehr gut entwickelt und war 4^, Jahre alt^ als es duicii eine Luftröhrenentzündung starb. Ein anderes, gleichfalls vor voll- endetem ersten Halbjahre von ihm punktiert war bei seiner Vor- stellung 13 Jahre alt, hatte sich geistig normal entwickelt und be- suchte mit Erfolg die Schule.^)

Unter den Operationsweisen verdient zur Zeit am meisten Ver- tiauen die Lumbalpunktion, weil diese am unjref ährlichsten ist Die- selbe wird ausgeführt, indem inun eine Hohlnadel zwischen dem unteren Kunde des 3. und dem oberen Rande des 4. Lendenwirbels einstöfst und die Himrückenmarksflüssigkeit ablälst

2. Wie kann der Lehrer die Lügenhaftigkeit der

Jugend bekämpfen*

Von 6. Lehne »u Dresden.

Oute Sitten vermochten bei den alten Deutschen mehr als anders- wo Gesetze. Tacitus tadelt zwar die Roheit und die barbarischen Oebräucho imserer Vorfahren, aber zugleich zollt er ihrer Ehrlichkeit und Aufrichtiixkeit hohes Lob. Nun, die Gesittung; unseres Volkes hat sich verfeinert und die Formen des ümganf^s haben sich ab^e- .schliffen. Hat es dabei seine eben gerühmten Tutrenden bewahrt? Ich lebe der Überzeugung, dafs das deutsche Volk auch heute noch der Wahrhaftigkeit näher steht als viele andere Nationen, und möchte wohl wagen, diese Behauptung zu beweisen. Aber doch will es mir scheinen, als wenn mit der Entwickelung der Kultur, mit der Ent- faltung auch des äufsoren Ansehens unseres Volkes ein beträchtlicher Teil jener Aufrichtigkeit der alten Germanen verloren gegan^^en sei. Werfen wir einen Blick auf unser öffentliches Leben, auf Wahlagi- tationen, Volksversammlungsroden, Landtags- und Reiclistagsverhand- lungen. Nimmt da nicht die Lüge einen breiten Raum einV Wandern wir in die Gerichtssülo: hören wir nicht dort Lügen, ja Meineide in entsetzlichster Gleichgiitigkeit aussprechen, wohlberechnot und reiflich erwogen? Nehmen wir eine Zeitung in die Hand: wie oft finden wir da nicht Unwahrheiten, gleichviel, ob wir Politik, Kunst- kritik, kleine Mitteiiangen oder Geschäftsanzeigen lesen? Und prüfen i^^— . .

') H£u>*, Yerhandlungen des V. Kongrosaes I. iuuore Medizin.

Lkuns: Wie kann der Lehrer die Lügenhaftigkeit der Jugend bekämpfeo. 59

wir endlich die frlatten Formen des jresell.schaftliclien Umganges, so JrÖDXieu wir in kurzer Zeit Hunderte von Lügen entdecken.

Wir wollen nun gewifs nicht die malten, guten Zeiton^r herauf- beschwören; doch dürfen wir uns der Thatsache nicht verschliorsen, dafs die Lüge da ist, auch bei uns Deutschen; ihr Reich und ihre Hen-schaft ist grofs und gewaltig. Kine eigentlich deut<:che Kiiltur- entwickohing steht aber auf der 8tufe des Anfanfr-; denn die üe- lehrti'D- und Ynlk-^hilduiiLr und die Verfeinerung (i r Sitten, die uns unter orientalischor und i inaaischer Beeinflussung zu teil wurde, ist nicht rein deutsche Kultur. Es könnte uns da wohl Sorge be- schfpichen, bei dem Gedanken an die Zukunft. Wenn heute schon über manche Art der Aufrichtigkeit gelächeit und gespottet wird, Stenern wir denn nicht irieileicht dahin, dafs Lügenhaftigkeit und Unredlichkeit einmal zur Norm unseres Verkehrs werden, "Wahr- haftigkeit und Eiiriichkeit aber nur als das Vorrecht der Thoren und Ungebildeten und etwa als notwendiger Begriff im Bereiche philo- .sophischor Systeme bestehen bleiben? Kommen wir etwa auch dahin, wo die alte Kultur der Chinesen angelangt ist, wo man von allein, was ein Chinese durch Wort und Mienen ausdrückt, dreist das Gegen- teil verstehen darf, wo ernsthafter Unterricht vom Heinzelmimuchen- lande lehrt und von dem I^nde, wo die Menschen ein Loch statt des Herzens in der Brust haben, wo das Ceremoniell des gesellschaft- lichen Verkehrs sich nur aus Lügen und Heucheleien zusammensetzt deren Studium einem jeden Gebildeton zur Pflicht gemacht wird Eine verkehrte Welt« nennt ein Kenner China und sein Volk^) und wir stimmen ihm gewifs bei und fürcliten niclit, dafs unser Volk jemals solch einen ungesunden, lächerlichen Standpunkt erreichen wird. Kehren wir aber zurück zu den keineswegs erfreulichen Zu- ständen im eigenen Vaterlande, .so dürfen wir uns jedenfalls nicht wundern, dafs auch unter Kindern das Lügen verbreitet ist; ja es liegt vielleicht naher, sich zu wundern, dafs es noch so violi^ Kinder ^ebt, die eine ganz entschiedene Wahrheitsliebe an den Tag legen.

Ersparen wir uns, an dieser Stelle auf die Folgen der Lügeu- haftigkeit für das Individuum und die Gesellschaft näher einzugehen; denn es ist unbestritten, dafs die Erziehung zur Wahrhaftigkeit, die Bekämpfung der Lügenhaftigkeit zu den wiciitigsten Pflichten des jBiziehers gehört.

Wenn nun trotz der allgemeinen Einsicht der Piidagogen selbst in den Schulen oft die Lüge in erschreckender Weise überhand

>| Dr. J*. Hjua, Ana zwei Weiten.

60

A. Abhandlungen.

nimmt, manchmal ganze Klassen als vpi loiren bezeichnet wej don, und in btthen n Schulen j]^ewisse Lüften soi:ar als eine Art wn Ilelden- thateu bei den Schülorn in hohem Ansehon strhen, so ist di^s ein Beweis, dafs die Bekäiupfnner der LticenhafiLi^keit ein sehr schwiLri;:;eb Geschäft ist, dem nicht einmal alle i'ädagogen von Fach, viel weniger alle Eltern gewachsen sind.

I.

"Worin liegen nun diese Sehwierigljeitcn lieLriindot? Nicht nur absichtliche planmäfsi«?e Erziehung wird dem jungen Menschenkinde zn teil; unzahlige Gewalten bilden es mehr oder * nii:( i unabsicht- lich mit heraus; sie fördern oder hindern das Erzi<'liungsL':oschäft und bereiten das Menschenkind so zu, dafs es mehr (Iis l?r dukt der um- gebenden Verhältnisse als das der planmälsigen Erziehung' ist. Diese Thatsarlie ist eine Wohlthat für das Erziehungsobjokt sowohl als für die besonderen Erzieher: denn es möchte doch ein wunderlicher Mensch entstehen, wenn scuif' Entwickelung ti^anz und gar das Pro- dukt der Kraft eines Frziühers, auch des fähigsten, wäre. Da aber diese miterzieliendeu ( n weiten ihr© Einflüsse planlos auf den Zögling ausüben, so mufs es eintreten, dafs sie der planmäfsigen Erziehung neben thatkräftiger Unterstüt/nng oft auch schwere Hindemisse be- reiten. Was insbesondere die Erziehung zur Wahrhaftigkeit anlangt, so sind thatsäcidich die hindernden Einflüsse in der Regel stärker als die fördernden, und der Erzieher mufs sie als seiner Thäti^eit feindlich gegenüberstehende Gewalten täglich erkennen.

Suchen wir diese feindlichen Gewalten auf! Da findet sich oft schon im Zi »irlin er selbst eine solche: es ist die Phantasie; selbstver- ständlich meinen wir niclit die normale Bethätigung derselben, son- dern die bei manchen Kindern in einem prewissen Alter (von 8 bis 1 1 Jahren) vorkommenden Ausschweifungen der Phantasie. Solche Kinder erzählen dann allerliand Ereignisse aus ihrem Leben, die sich nicht zugetragen haben, in so glaubhafter Weise, dafs den zuhörenden Gefährten, ja selbst dem Erzieher erst ein Zweifel kommt, wenn die Phantasie einmal mit dem Verstände durchgeht, wie es z. B. dem zehnjährigen Knaben H. er^'ing. der Mitschülern und Lehrern erzählte, dafs er ein Fahrrad mit 40 Fahrern gesehen habe. Der Junge er- zählte jede Einzelheit, gab auf jede Zwi.scbenfrage ohne Besinnen schlagfertige Antwort, so dafs nur die Unmöglichkeit der Sache die Unwahrheit aufdeckte. Übrigenü ist dieselbe für den Knaben nicht erwiesen. Es ist ein Jahr vergangen und der Knabe, der übrigens sonst artig, bescheiden und fleifsig ist, erzählt dasselbe noch heute

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LsHKs: Wie kann der Lehrer die Lügenhaftigkeit der Jugend bekämpfen. QX

ohne die gcmipsto Äbweictimii: von der ersten Darstellung. Km zweites Boi?pioi bildet die Erzählung eines achtjährigen Mödclions;, es sei in den Ferien in Amerika gewesen, und der dort wohnende Onkel iiabe es aufs Pferd gesetzt Das Eind war nicht aus seinem Heimatorte fortgekomnion.

Doch das sind seltenere Kiuzelfälle, deren Bedeutung nicht zu hoch einzuschfitzen ist; ja man kann frUicklicherweise sagen, dafs die meisten Kinder von Natur walniieitsiiebeud sind, wie die Leichtdäubig- keit und das ganz allgemeine anfangliche Müjsbeha;:,^en beim Erweisen von HofUchkeits- und HerzUchkeitsaufidrüoken fremden gegenüber beweist.

Weit bedenklicher ist dagegen der Einflufs der gesellschaftlichen Umgebung des Kindes, die seines aufwachenden Geistes Lebenslaft ist Schon an der Wiege fängt diese das Lügen an; mit scheinbar uiTerfänglichen Lügen wird das schreiende Kind beruhigt Kann es laufen und lärmt den nervösen Eltern oder faulen Dienstpersonen zu viel, so treibt man mit der Leichtgläubigkeit des naiveii Kindes sein frevelhaftes Spiel; gehorcht es nicht» so wird der graue Mann bestellt, der doch niemals kommt ; nascht es von der Milch, so werden die Kühe stolsen. Yerbietet der Vater etwas, so sagt der iiebe Be- such für das Kind; ^Acb Papa, das verstehe ich nooh nicht« Wie -viele Beispiele lielseiL sich noch anführen! So ungefährlich diese Redensarten erscheinen, sie haben aulser anderen Gefahren das Schlimme an sich, daft dadurch das Kind gegen Wahrheit und Lüge indifferent wird.

Je gröfser der Junge Mensch wird, ]e mehr sich seine geistigen JSrtfte entwickeln, desto mehr sieht er, wie unwahr manches um ihn her ist Er hdrt wie ^er bestgehaJate Mensch ndt Freundlichkeit begrOlht und eingeladen wird, wie msn einen andern abweist, weil angeblich »der Herr nidit zu Hause« ist; ja, er wird wohl gar Teranlalst, selbst Iflgenhafte Ausreden und Auskünfte zu übermitteln; noch schlimmer: er spielt die allertranrigste Bolle als »en£vit terrible«, wenn er zu ungelegener Zeit seüie naiye Wahrheitsliebe zum Burchbmche kommen iSJkt^)

Soweit ist der Feind in die Familie eingedrungen, die dem Kinde

*) Die Erziehung zum Schweigen ist jedoch an lind für sich nichts sittlich Verwerüiches. Der wuixieuue ALcuäch suU lorueo, sein Herz nicht stets auf der Zoagenspitze m tragen, and Dinjg»« die andern unuigeBdun and, und deren mttafliing weder einen sittüdifln noch piaktiBohen Zweck hak, aoa einfBÖhar Xln^t m vosehweigeo. Ir.

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A. AbliaiMllwigeo.

nur das beste Yorbild geben flottte, imd selbst die Schale ist nicht ganz frei von solchen Fehlem; iseh will hier nur an die in manchen Gegenden nodi in gendenn nngeheaerUcher Form anto-etende Zucker- tütensitte und an die Scdinlbescheerangen erinnern ^ bei denen der Lehrer als der Schenkende anftritt

Wir müssen jedenfalls anerkennen, die zweite unserer Bestrebung kindliche Gewalt Ist die Terlogenheit der Umgebung des Zöglings.

Als dritte endlich möchten wir die pftdagogische Einsichtslosig- ][at der benifensten Sndeher, die in kindlicher Sorglosigkeit begangene Thorheiten nicht darnach bemteilen, wie weit sich das Kind ttber seine Handlang Rechenschaft giebt, sondern darnach, wieviel Ärger, Yerdrofe oder Verlust dem Erwachsenen durch des Kindes Fehler entstdit

Weicher Flnt von Vorwürfen sieht doch oft ein Kind entgegen,' das ein Gesdiirrstflck zerbrochen hat; welche harte Strafe hat es za erwarten, wenn es ein Geldstück verlor; wie wird es ihm ergehen, wenn es den Tintenklex mit in die Schale bringt; was wird der Lehrer sagen, wenn es immer noch kein Liesebach hat; wie zornig wird der Vater werden, weil »schleohtec Zensuren anf dem Zeugnis stehen. Solohe Überlegungen müssen das Kind sinnen machen anf Mittel und Wege, dem drohenden Unheil abzuwehren. Das Kind befindet sich im Zostimde der Kot wehr, in der ihm anch die schlechteste Waffe, die Lüge erlaubt eischeint, wenn sie Bettung Teiheiiht

Wie in der Veranlassung zur Lüge, sc zeigt sich diese pfida- gogisdie Einsichtslosigkeit auch in der Bekämpfung deraeLben, wenn man den immerhin günstigen Fall ansieht, in dem eine solche über- haupt für notwendig erkannt und unternommen wird. Beschrinken wir uns auf Andeutungen der in dieser Richtung h&ufigsten Fehler» Ein Vater hört bei seinem Sohne zum erstenmale eine Lüge. Br wandert sich wohl, dals sein Kind auf einmal lügt, obgleich es seiner Ansicht nach streng zur Wahrheit angehalten wiurde. Bas mofs »dem Taugenichts« ausgetrieben werden ; er wird hart bestraft Aber das hat der Vater nicht für nötig gehalten, nach der Entstehung der Lüge za forschen und dort die bessernde Hand anzulegen. Ein Kind hat die Schale geschwänzt Seine Matter erfährt es. Sie fürehtet die Schande einer Entdeckung durch den Lehrer oder Vater, vieUeicfat lag die Schuld der Versäumnis .zum Teil in ihrer XTnachtsamkeit Sie schreibt eine gefälschte Entschuldigung. Da& sie dem Kinde nnn gezeigt hatte, wie man durch eine Lüge andere Fehler verbergen kann daran hatte sie nicht gedacht »Ich brauche Geld ni 2

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Ihuib: Wio kaiiD der Lehfer Lügeohaftigkeit der Jagend beUltnpfeii. 6S'

Schreibheften« sagt die kleine Tochter. »Das ist nicht wahr«, sagt der Vater, »ihr könnt doch nicht auf einmal zwei Hefte brauchen!« Und nun erfuhr er, was er wissen wollte, wozu es gerade 2 Hefte sein sollten, liafs er durch sein Ungeschick und sein Müstrauen selbst die Veranlassung war, dafa sich das Töchterchen künftig öfter mehr Geld geben liefs, als es brauchte, das sollte er thränenden Auges erst später einsehen. ' - )

Es Helsen sich oime Mlihe eine grofse Menge von Beispielen sammeln, die uns klar den bei vielen Erziehern vorhandenen ^lanfrel an pädagogischer Einsicht sowuhl als auch an eigner Wahrhaftigkeit vor Äußren führen und wir fügen hier nur noch ein Wort an, welches Otto G^Yi-ji einer Elternversammiung in Leipzig zurief: »AVer sich nicht selbst in Zucht zu nehmen weifs, der hat kein Kecht, Erzieher zu sein.i)

Eine weitere Schwierigkeit der Erfüllung unserer Aufgabe iiriit in der grofsen Anzahl der direkten und indirekten Ursachen zur Lüge und Lügenhaftigkeit, zu deren Würdigung genaue Seelenkenntnis so- wohl als auch ein scharfer filick und gute Kombinat] onsgabe des Er- ziehers erforderlich erscheint. Schon eingangs v.ifs ich auf die Phantasielügen hin; wenn dieselbe auch, wie wir spater selien werden, keine Lügen im eiu^entlichen Sinne sind, da ihnen die Absicht, Un- wahres zu berichten, fehlt, so kennen sie doch sehr wohl die Ver- anlassung zu weiteri ii Lügen lulden Wie verschieden kann der Gnind der Liige >ein; \velche zahlreichen Zwecke kann sie verfolgen!' Die verbröi!ot>,te Lui!;o des Kindosaltors ist wohl die FurchtUige, ihr schliefst sich die f^uge nm Verlegeaheit an, ferner die aus Scham,. Ehrgeiz, Leichtsinn, Bequemlichkeit, Geiz und (rewinnsucht. Sym- pathische Gefnhle sind oft Veranlass an«?: zur Lüge. Erinnern wir uns des Corpsgeistes der Schüler und ähnlicher Verhältnisse. Dabei kann sich mit der Lüge nicht nur ein schlechter, sondern auch ein guter, ja edler Zweck verbinden, so dafs dann das Phänomen der Lüge aus Menschenliebe -j entsteht. Jbeindseligc Stimmung gegen den Erzieher ist nicht selten bei gröfeeren Kindern Ursache von Lügen. Unter allen Lügnern ist wohl die verabscheuungswürdigste Erschei« nnncr der Heuchler; es ist jedoch ein trauriges Vorrecht der Er- wachsenen, jeue zu den Ihren zu zählen. *Sie sinnen viele Künste«, ja es sind thatsächliche Lügenkünstler, daher finden wir sie auch unter iundem selten oder nie. Die Beihe der Ursachen ist noch

Über da» Vesen und die pM. Bdiandinng der Lfige «on 0. Qnn,

Leipzig 1888.

>) Kaüis Ttigendiehve, & 237.

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A. Abhandiangen.

nieht beendet; es kommt uns jedoch bei Auizählimg denelben, nicht auf YoUständigkeit an, aomdern es Hegt tms nur danm, m zeigen wie grols ihre Zahl ist and dab überhaupt die LQge gar nicht als ein selbstfiadiger Fehler eraoheint, eondem bestimmten Tendensen des seelischen Znstandes entspringt Wie die Lflge nicht ans sich selbst entspringt, so ist sie auch nicht Selbstzweck, sondern hat immer einem weiteren Zwecke za dienen. Das Verlockende liegt immer in den voiaassichtUchea Folgen, so da& der Zweck das Mittel za heiligen scheint Oktbb^) drflckt dies in folgenden Worten ans: »Das ist gerade das eigentfinüicbe der Lüge, dals sie jede Tagend so gat zum HotiTe haben kann wie jede üntogend. Dabei kleidet sie sich regelmälsig in das Heid eines Wohlthfiters: Doioh sie meinen wir unser An- aehen fördern^ unsere Laster yerbergen, unsere Lust am Dasein er- höhen za können a. s. w.c, und man nennt die Lüge deshalb sehr treffend die Pest unter den sittlichen Krankheiten«

In der That, ihre Yerbreitongskraft ist zum Entsetzen groft und nicht kleiner die Gewalt, mit welcher der Lügenkeim im einzelnen Individuum sich zu einem unentwirrbaren Fadengewebe entwickelt, so da& dem Lügner eine gar nicht schwache Intelligenz eigen sein muls, wenn er selbst noch in allen Fälleu sich über die genaue Wahrheit klar sein will. Die Lässigen, die Matten nclimen sich diese Mühe nicht; sie betrügen sich selbst und entwickeln sich zu gewohnheits- mftfoigen Lügnern, die fast unbewulst zu jeder Thatsache hinzusetzen oder von ihr wei^ohmen. Es wird um so leichter eintreten, dals sie lügen, ohne den Zweck ihrer Unwahrheit klar vor Augen zu haben, je geringer die geistige Qualität der einzelnen Individuen im allgemeinen ist Diese augenscheinliche Uncweckmälsigkeit des Lügens wider- spricht aber aUen Oesetzen des normalen Denkens und ist unter der Bezeiclinung »pathologische Lüge^ als ein besonderea Gebiet ärzt- licher Thätigkeit angesehen worden.') Je nach den Nebenumständen ist natürlich die Qualität der Lüge, die bei der Bekämpfung deraelben zu berücksichtigen ist, eine sehr verschiedene.

Endlich wird die Bekämpfung der Lügenhaftigkeit noch erschwert durch das Gelegentliche ihres Auftretens und die dadurch bedingte gelc^^entliche und gewifs oft nebensächliche und nachlässige Behand- hirt*; dieses scliiimnien Feindes aller Charakterbildung. Lügen der iiinder ei*scb einen uns oft so klein und unbedeutend im Vergleich zu dem Gegenstande, in dessen Bereich &ie vorkommen, im Vergleich

') Gevkr a. a. 0., S. 11.

*) VeigL Dr. A. Dklbbück, Die pathdogisohe Lü^ uad die abnomen Bohwiiidler.

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Lkhke: Wie kann der Lehrer die Lögeohaftigkeit der Jugend bekämplea. 65

auch zu dem Hauptzwecke der augenblicklichen Thatigkeit des Kindes, dals wir nur zu oft geneigt sind, der Kürze wegen dieselben zu über- sehen. Dies wäre aiirb gerechtfertigt, wenn wir fertige Charaktere,

erwachsene Menschen vor uns hätten. Wollen wir aber die bildsame und vorbildun^^sfähige Jugend nrzielien, so müssen wir die kleinen und grofsen Lügen mit gleichem Interesse verfnli^rn: ihren nächsten Zweck und ihre scheinbare üonjchtigung erkciiiieu, ihre Entstehung in der Kindesseelc erforschen und ilire Wirkung auf deren Fortent- wickelung abwägen. Nichts darf uns da zu unbedeutend sein, und wäre es beispielsweise eine Übermaiung oder ßadierung im Schreib- heft — ein hastiges ^Nein!^ zur Abwehr gegen eine Anzeige, ja eine ernste Miene, die plötzlich ein eben vergangenes Lachen über- tünchen soll. Nichts, was im "Widerspruch zur Wahrheit steht, ist so unbedeutend, dafs wir es nicht beachten müüsten, und somit er- oiinet sich uns ein weites schwieriges Feld«

n.

Untersuchen wir nun, wie wir dieses Gebirge von Hiiidei niesen, das wir unterm Auge naho gebracht haben, überwinden. Die gute Sache ist es wert, dafe wir uns mit ganzer Kraft ans Werk bogeben.

Wenden wir uns zunächst gegen die planlosen Miterzieher, die -wir als feindliche Gewalteu erkannten. Wir fanden die erste im Kinde selbst und zwar in seiner lebhaften Phantasiethiitigkeit. Da tritt uns nun zuerst die Frage entgegen, wie weit wir der kindlichen Phantasie freien Spielraum geben dürfen, oder besser sollte man fragen: Wann dürfen wir der Phantasie hindernd in den Weg treten? Nie ist das Kind einsam, auch nicht wenn es allein sich beheifen mufs. Vater und Mutter, Onkul uud Tante, Kauiiiiaun und Backür, sie alle sind vor- handen, wenn der junge thätige Geist ihrer bedarf. Jeder Gegenstand wird ohne angstliche Wahl durch einen andern vertreten oder gar aus dem Nichtig liervorgezaubert. iLui würde aber fehlgehen, wenn man hier die ersten Uuwalirheiten suchen wollte. Was das Kind bei seinen Spielen spricht, was seine Phantasie ihm vor die Seele stellt, das stellt es sich durchaus nicht freiwillig, mit Absicht oder gar zu einsnL bestimmten Endzweck zusammen, genau so wenig wie der Er- wachsene sich die Träume zubereiten kann. Was das Kind spielt, das dorcUebt es, wen es dabei anq^cht^ der steht tot seiner Seele klarer nnd dentificber als dem erwachsenen Deklamator oder Fest- redner der Oegenstaad seiner Begelstenmg. Aus meiner Kindheit fiUlt mir ein, dals ein »Herr Luft«, der nur in meiner Phantasie ezistierte, mein tSgUoher Spielgenosse war. Er lebte einmal so kSiper-

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A. Abhandlungen.

lieh vor mir, dafs ich, als ich zu Tiscii kommen sollte, mir einen Stuhl aus der Küche holte, damit ich den lieben Freund nicht vom Platze zu treiben hrauclite, ein Beweis, dafs die Persönliclikeit während meines Spieles und wohl auch noch etwas länger für mich thatsäch- lich existierte. So oder ähnlich mag es sich bei Kindern mit allen eingebildeten Personen, Sachen und Ereignissen verhalten. Darum ist die spielende Phantasie des Kindes vor störenden Einf^riffen mög- lichst zu bewahren. Dies gilt hauptsachlich für die Zeit, wo die Seele durch thatsäcbliche Breii?nisse nur in geringem Grade beschaiu^t wird, etwa bis znr Zeit des Eintritts in die iSchule, einen Kinder- garten oder eine almliche Anstalt. Zu dieser Zeit ändert sich das Verhältnis. Jetzt blunnt eine Fülle von neuen Kindrücken der Aufsen- weit, des wirklichen Seins auf die Seele ein. Die Phantasie macht sich dies und jenes davon zu eigen und bebaut ein neues Feld. Sie beginnt Thatsachen mit Erwartetem za verbinden, Hoffnungen und Befürchtungen beeinflussen die Eindrücke der Erlebnisse, und die handelnden Personen des neuen Lebensbildes in der Seele müssen sich manche ünbili gefallen lassen. Bies ist die erste gefährliche Periode der phsntasierenden Ihätig^eit der Seele. Hier zeigt sich ^die Lust za fahnlieren« im EUtemhanse nnd Yor allem anter Eame- radea und Geschwistern. Dem Lehrer gegenüber nntMScbeidet aller- dings das Kind meistens genau das Wirkliche Tcm Brdichteten. Des- halb ist es za dieser Zeit hauptsächlich die Pflicht des EltemhaoseSi ein wachsames Auge zu haben. Die Kleinen müssen mit Konsequenz aber in aller Milde nun daran gewöhnt werden, Erlebtes genau zu berichten. Man nötige sie, sich auf Einzelheiten ihrer ErzShlung zu besinnen und unterbreche sie, erzfihle unter Umstünden selbst fertig, wenn man merkt, dafe der Weg abseits von der Wahrheit zu gehen droht Man vermeide in dieser Zeit alles, was geeignet ist, in den Kindern Phsntasie mit der Wirklichkeit zu vermengen. Wir erinnern an das Drohen mit dem »bösen Lehrerc, die Zuckertütenunsitte. Aus dem oben angeführten Grunde kann ich mich auch nicht für den Unterricht an Hand des Märchens erwärmen; denn auch dieser ist geeignet, das Wahrheitsgefühl der eben in die Wirklichkeit hinaus- tretenden Menschenkinder zu untergraben. Ich will ganiicfat den ELleinen den herrlichen Schatz unserer Märchen vorenthalten. Ln Gegenteil, der Lehrer, der seinen Kindern ein Märchen recht fenrig und begeistert erzählt, wirkt damit Wunder in den Heizen seiner kleinen Freunde.

Aber wir meinen, unterrichten soll man Kinder dieses Alters über Märchen nicht Die innere Wahrheit derselben liegt den Kindern

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Imohz: Wie luuin der Lehrer die Lügeoiiaftigkeit der Jugend bekämpfen. 67

▼iel zu fem, und wenn sie einzelne Züge odw einzelne Personell aus den Erzählungen durch die Schule kennen und lieben lernen, die doch untrennbar mit dem Phantastischen des Märchens verbunden sind, so bildet dies eine Gefahr für das Wahrheitsgefühl des Kindes.^)

Noch wichtig:Gr aber als die Forderung, dafs das Eind in dieser Zeit gewöhnt werden soll, genau nach den Thatsachen zu berichten, ist die zweite, dafs alle Mafsnahnien zu fliesem Zwecke mit zarter Hand und frinfühlender Sor^^falt izoschehen müssen. Bedenke man ja, dafs das Kind nicht unvahr sein will, sondern dafs sich unwill- kürlicli Vorstellungen der binnenweit mit denen seines Innern Lebens vermengen. Erhalte man das Kind so lange als möglich in diesem echt kindlichen Wahrheitsgefühl, lassr» mmi es we«i( i .m sich noch an anderen erkennen, dafe man auch anders reden kann als man dflnkt.

Treten in spaterem Alter solche Verniengungen noch auf, so sind sie schwerer zu piitfnüen. Vorsichtige Zwischenf ragen, die die Wahrheit herausschaleü und den seelischen Vorgang klarstellen, am besten unter vier Augen, mögen öfters zum Ziele führen. Fühlt man aber, dafs keine Hottnung auf eine Zurücknahme des Gesagten zu erwarten ist, so breche man die Untersuchung ab, beobachte den Zög- line; fortgesetzt genau und suche ihm bei anderer Gelegenheit die Unhaltbarkeit seiner Aussagen nachzuweisen. In bedenklichen sich ■wiederholenden Fällen ist bald ein Spezialarzt m Rate zu ziehen; denn hier kann mau die Anfänge des moraiisciien Irreseins, dessen Weiterentwickelung die Hochstapler und Schwindler groü»en Stils zu ihren unheimlichen Künsten befähigt.

Wenden wir uns nun den Gewalten zu, die aufserlialb des Er- ziehungsobjektes liegen. Wenn wir in der Schule dem küut Ligen Staatsbürger auf seinen Lebensweg die nötigen Kenntnisse mitgeben sollen, so gehört dazu theoretisch auch, dafs wir ihn befähigen, das Erziehungsgeschäft ohne die allergröbsten Fehler zu besorgen. Es ist vorhin gezeigt worden, wie die Lügenhaftigkeit durch die Einsiohta- losigkeit der Erzieher w&ohst Ton aaJfeerordentlioher Wichtigkeit iet daher, daJs die Erzieher und namentlich die Mfltter, denen haupt- sftchlich das Ersiehungsgeschäft obliegt sixni Nachdenken Aber diese Fragen gebracht werden, und dämm mQiMe insbesondere unsere

') Diese geringe pädagOKische Wertung der lOxdian, dk fest eine onter- richtliche Verwerfung bedeutet, wird bei vielen unserer lycser auf Widerspruch Btoiiieii. Wir gobea iiineu gerne Raum zu einer anderen Darlegung über den Eittflufs des Märchenunterrichts auf die Entwickelnng der lotelli- geits und dos Sthos im Kinde. (Vergl. Beik, Entes Bobuljahr.) Tr.

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A. Abhandlungen.

MHdchenerziebunfr also dafür sortren, dsSs den zukünftif^en Müttern «1110 gewisse jt.i(iui:ogisclie Schulung vermittelt würde. Aus nahe- Licgondea Gründen ist dies aber in der Volksschule schwer thiin- lich. Die Jugend imseror Kinder verbietet ein Eingehen auf Fragen der Erziehung selbst bei Mädchen. T^agegen ist die Mädchen- fortbildungsschule sehr wohl dazu berulen, in pädagogischer Be- ziehung belehrend zu wirken. Hier würden wir schon einen an- sehnliciien Stamm von Uebilfen uns bilden, die, wenn sie nur aus ihrer Gleich giltigk ei t in erziehlichen Fragen überhaupt und in Bezug auf die \Vahrliuitigkeit Kindern gegenüber insbesondere erst einmal aufgerüttelt würden; wenn sie einmal veraulaist würden, über Er- ziehung etwas zu lernen, zu denken, zu lesen; wir würden der deutschen Familie eine grofso Zahl solcher Kinderni idchen und Mutter geben, denen es nicht so voUständig an pädago; i clier Einsicht fehlte, die sich der Wichtigkeit ihres Berufes cinigerm trsi n bewufst wären und nicht m uiiverautwürtliclicm Leichtsiim die ÜemuLungen der Schule annullierten. Aus feindlichen Gewalten würden uns Gehilfen ent.stelien.

Doch unser "Werben darf nicht bei diesen stehen bleiben. Die Mädchenfortbildungsschule ist noch nur eine in den Anfängen ihres Werdens begriffene Anstalt, die dazu vorläufig nur die besseren Be- völkerungsschichten, einen sehr kleinen Teil der Mädchen des Volkes berüokaiobtigt Wir mü^n auch zu den anderen zu dringen suchen dnjNdi Wort and Schrift, dnrdi Yorhild nnd Anregung. Eine will- kommene Gabe und ein gewük nicht nntzlosee Unterfangen wSre die Abhaltung Ton Yorträgen In Jnngfranenyereinen. Dort sollten in alleremfBchster Weise Anregungen geboten werden. Wenn auch nicht hier die nötige pädagogische Einsicfat anersogen werden kann, so ist ee gewife leicht möglich, in den jnngen Iffidcfaen das BewnlstBein an erwecken, dab sie, nm eniehen m wollen, nachdenken lernen, sich in Zacht nehmen müssen, dab es flberhanpt nieht gleichgiltig ist, wie man Einder behandelt und mit ihnen verkehrt; damit wire aber schon viel gewonnen. Mit diesen Anregungen ist aber nicht genug gsihan, wenn wir dem erzeugten Interesse nicht anoh die Möglichkeit bieten sich au bethfltigen, d. h. Aber Endshung je nach Wunsch tmd Bedarf mehr zu lernen und zu lesen.

Da& natürlich der schulmälhige nnd wissensohaftUdhe Inhalt unserer Bflcher und Zeitschriften dazu nicht geeignet ist, braucht wohl nicht bewiesen an weideit Wohl aber wire es möglich, in angemeinTerständlichem Stile gehaltene AnfeStze in der Tagespresse, in yerbreiteten Wochenschriften, Mode- und Frauenzeitangen er- scheinen zu lassen.

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Lbdoc: Wie lann der Lehier die Lügenhaftigkeit der Jugend beUmiifBD. $9

Eüdlich aber müssen wir noch an die Männer dooken. Freilich iie^ das Erziehungsgescliält in der einfachen Familie zum weitaus gröfeten Teile in den Händen der Frau ; dennoch boiierrscht und be- seelt des Täters Geist das deutsche Haus. Darum ist es nötig, dafs wir auch die Väter mehr und mehr für die Planmäfsigkeit der Er- ziehung interessieren. Übrigens ist das Interesse dafür nicht so sciiwach, als man in Fachkreisen oft glaubt Dagegen fehlt es fast allerorts vollständig an Gelegenheit für den Mann aus dem Volke, sich Kenntnisse in der fraglichen Richtung zu sammeln oder auch nur Rat zu holen. Diese Gelegenheit, in ausreichendem Mafse zu bieten, das ist, so raeinen wir, die Pflicht der Pädagogen von Fach. Sie sollen eben nicht nur als Erzieher, sondern auch als Ratgeber der Erziehenden ihre fachmännische Überlegenheit beweisen und verwerten. Dies kann geschehen durch Elternabende, besondere ge- bildete Erziehungsvereine, Vorträge in schon bestehenden geeigneten Kreisen des Volkes, wohl auch durch Besuche in den einzelnen Fa- milien, jedenfalls nicht sowohl in den Kreisen wo Wissenschaft und Bildung ein allgemeines Gut ist; als vielmehr m denen, wu Bedürfnis und Sehnsucht darnach vorhanden ist. Wenn wir noch eine Betrach- tung darüber anstellen wollen, welcher von den angegebenen Wegen der beste ist, so meinen wir: Ein jeder ist an seinem Platze recht Auch alle drei nebeneinander können begangen werden. Unserer Aübicht nach ist diese Fra^e in Leipzig in der Bildung der Schreber- vereine sehr glücklich ^^(jlust

Aoi diese Weise schwächen wir das Heer der feindiichon Gewalten und machen uns einen ansehnlichen Teil derselben zu dienstbaren Gehilfen.

Doppelt aber muß es an uns selbst sein, dem Lügenteufel zvt Leibe zu rucken. Iifi 4digemeinen gilt es für besser, Fehler zu ver- hüten als solche zu heilen; in moralischer Beziehung gilt dies erst recht Es muli daher unsere erste Sorge die des Verhütens, der Beseitigung der Ursachen sein. Wenn wir die bei un.serer Schuljugend vor- kommenden Lügen nach ihren Ursachen untersuchen, so finden wir, düls die quantitativ bedeutendste Ursache die Furcht vor Strafe ist Diese Xhatsache mahnt von selbst zur Milde. Doch ist die Sache nicht so einfach, wie sie aussieht Planlose Gutmütigkeit reizt dio übermuü^ü Jugend zu tollen Streichen und erreicht wohl gar das Gegenteil von dem, was sie erstrebt Es kommt nicht soviel darauf an, ob die Strafen etwas härter oder niil i* i sind, ob die ganze Be- handlung der Zöglinge etwas schaifer udei sanfter ist. Die Äqui- valenz von Strate und Vergehen ist so schwer festzustellen, dals den

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A. AUumdhiDgeii.

SchtUem kritische Oedanken not beikommen, wenn sie dem Lehrer Bowieeo nicht wohl gewogen sind. Sie müssen ihn aber als ihren Freund ansehen lernen, dem sie Tertranen bis in jede Einzelheit seiner HaJsnahmen entgegenbringen. Das erscheint so selbet^erstind- lieh; und doch, blid^en wir nur in unsere eigene Jagend zorttök! Wie oft haben wir dies VerhSltnis gefunden? Haben wir nicht sogar erfahren, dals Lehrer und Schüler geradesn 2 feindliehe Lager bildeten. Gegenseitiges Vertrauen soll Lehrer und Schüler verbinden. Damit ist nicht nur gesagt, da& sie einander Glauben schenken. Nein, die Sdinlklasse und der Lehrer müssen fiimilifir susammengehörig sich fühlen. Dies sn erreichen ist leichti wenn der Lehrer neben der tiglichen ünterrichtsarbeit auch Gelegenheit sucht, die persünlichen Yerhältnisse seiner Schüler kennen zu lernen, ihre Liebhabereien und kleineu Sorgen^ ihre Ireuden und Leiden mit erlebt, ihre Geschwister und Freunde kennt; wenn er mit ihnw ni(dit nur im strammen ünterrichtstone verkehrt, sondern auch in harroloser Plauderei, in freundschaftlich -jugendlicher Heiterkeit sich um ihre Spiele, ihre Lektüre kümmert, auch einmal eine freie Stande opfert, um ihnen auf den Spielplatz, aufs Eis, in den Schnee zu folgen. Die teil- nehmende Frage nach der kranken Mutter eines Schülers macht dem Lehrer mehr Freunde als wenn er zehn kleinen Sündern ihre Strafen erläTst. Unter solchen Verhältnissen wird die Scheu und Farcht Tor der Person des Lehrers nie aufkommen können.

Die Furcht, aus der die Lüge entsteht, bezieht sich aber audi auf die Strafe selbst als ein unerwünschtes Leiden. Auch diese Furcht mufe beseitigt werden. Zwar wird es nicht möglich sein, ist auch nicht wünschenswert, dafs die Strafe als etwas Angenehmes erscheint, wohl aber muis das Gerechtigkeitsgefühl der Schüler da- hin aus<^ebildot werden, dafs jene als notwendige Folge des Ver- gehens angesehen wird; ebenso ist das Ehrgefühl der Schülergesamt- heit zu leiten, dafs es als feig und verächtlich gilt, die eingebrockte Suppe niclit auch selbst essen zu wollen, eine gewisse Selbstbe- herrschung mufs der Stolz des gestraften Sünders sein, Geringschätzung seiner Genossen das Los dessen, der sich von der verwirkten Strafe auf unehrliche Weise /u befreien sucht. Diese Auffassung der Dingo ißt, ganz besonders bei Knaben nicht scliwer zu erzeugen. Hinweise auf alte deutsche Tapferkeit und Ehrlichkeit, auf spartanische Selbst- beherrschung ti. s. w., aucii wohl ein wenig Ironie thun, wenn der rechte Ton gotroffon wird, das ihre, ^ur muJs man die Wirkung nicht im AiijTniiltliek verlangen.

Qualitativ lat die beachtenswerteste Ursache der Wunsch der

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Jjomt Wie kann der Lehrer die liOgenbaftigkeit der Jugend bekämpfen.

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ÜberrortoUiing: Wir baltan eine Ltlge, die geioMeht, tun eine Feder SU erhalten, für verwerflidier als eine, die Strafe aluBawenden Bucht, womit aber nicht gesagt sein roll, dtb dieser üntersohied dem Kinde gegenüber geltend zu machen ist Hier möchten wir auf die Be- denkliehkeit der Olflcluspiele hinweisen. Sie reisen Torzeitig zu Gewinnsucht ja zum Geize auf und entziehen dem Kinde die Zeit zu anregenderer Beschäftigung. Doch wir wollen Tor allen Dingen jetzt in der Schule mustergiltiges schaffen. Thut das Kind in der Schule seine Pflicht, so will es gelobt sein. So ist es zu Haus Ton Jugend auf gewesen und so soll es weiter bleiben. Tritt die erwartete laute Anerkennung nicht ein^ so beginnt das Vergleichen seiner eigenen Lci^^tnn^ mit der seiner Nachbarschaft Der Neid bricht hervor und verführt gar leicht zu unredlichen Mitteln; Lohn- sucht, Ehrgeiz sind dem Kinde meist von Jugend auf anerzogen.

Daher tritt schon in den ersten Tagen bei den Schulrekruten das gegenseitige Verklagen eiOi Wie leicht ist da der Lehrer, der alle Häude toH zu thun hat, versucht, die Unterstützung des kleinen Kontrolleurs anzunehmen; und doch: wie bedenklich ist das Mittel Wie der eine kluge Aufpasser seine Bemerkung anbringt so ver- suchen es schnell 5—6 andere, einige davon gewifs ohne Grund, ihre Kameraden anzuschwärzen. Hüte dich, Erzieher, vor der Versuchung! Lafs zunächst nichts gelten, was die Ankläger überbringen, unter- suche, wenn es dir nötig erscheint, die Angelegenheit später, damit der Ankläger nicht seinen Zweclv erreiciit, die Veranlassung dazu zu Fein. Weise streng alle heimliche Streherri zurück; denn aus kleinen IntiJu^ii unten worden profse. Zeigt sich übrigens, dafs die Anklage von der Wahrheit abweicht so ist gleich im ersten Fall eino strenge Rüg-o anL:eljracht Vielleicht kann eine Art Ehrenerklärung als Siihne für <\t-n Denunzianten, als Zeichen der Wichtigkeit für die Mitschüler stattfinden.

Zn den üblen Gewohnheiten, die hierher fr^hören, mufs man auch das Kaupebi, Tauschon oder Rch;iehpm rechnen. Jeder Tauscher glaubt den andern übervorteilt zu haben und hat also in bümem Kerzeu gelogen. Es ist diese Unsitte deshalb streng zu verbieten.

So lange es angängig, ist das Wort »Lüge« zu vermeiden und mehr dem Gefühle nahe m legen, dafs man nicht anders reden dürfe als man denkt. Dies mufs das Kind nun freilich vor allen Dingen am Lehrer selbst beobachten, lernen und ihm nachahmen kuunea.

Dafs den geweihten Raum der Schale nicht eine grobe Lüge des Lehrers entheiligen wird, ist ja selbstven tantilich ; aber es kann nicht unbemerkt bleiben, daCs gewisse Ungenauigkeiteu, ja Unwahrheiten

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A. AUuuMUnoglB.

doch Torkommen. Wenn der Lebrei von Sdinen Schülern Wahrhaftig- keit verlangt, so darf er sich ihnen gegenüber auch nicht der krleiastan bewuisten Ungenauigkeit schuldig machen. Ist ihm ein Irrtum unter- gelaufen, 80 trage er kein Bedenken, denselben ruhig einzugestehen. Den Nimbue der Unfehlbarkeit wird er sich oimehitt nicht daaerod erhalten könsen. £in gegebenes Yerspiechen muft er einlösen, auch wenn es ihm einmal schwer fallt, ja auch wenn es Opfer verlangt Wenn Kinder ihr Yerspredien zdcht halten, so ist das entschuldbar, da sie zukünftige Verhältnisse nicht in vollständiger Klarheit sehen. Dem Erwachswen, dem Krzieher darf nie ein Versprechen, deesen Erfüllung ihm nicht unbedin^ möglich ist, entschlüpfen.

Auch der Unterricht bat in der bewahrenden Erziehung das Seinige beizutragen. Denken wir zuniiclist an den Religionsunterricht. Die Wahriieit ist das edelste Prinzip unserer^ christliehen Religion. Christus ist gekomnH'n, um von der Wahrheit zu zeugen er ist der Weg, die Walirlnut und das Leben der Christ soll Gott nn Geist und in der Walirhe it anbeten u. s. f. Diese Übereinstimmung des echten Christentums mit dem Geiste deutschen Wesens bietet ein schätzbares Mittel auch auf das Goraüt der Kinder einziiwirkf^ru Wenn ihnen unter Vermeidung aller Kasuistik und Klassifikation dio Schönheit einer Welt, belebt von mit göttlicher Wahrheit durch- drungenen Wesen, vor Angin gestelU und die Kläglichkeit des un- wahren, jeder Zuverla^^ Likrit und jeden Vertrauens baren Verkehrs gezeigt wird, so mii;-.<eii sit> ja die WaLirheit lieben und die Lüge verachten lernen. Alle anderen Unterrichtsfächer bieten Gelegenheit genug, das als gut und wahr Erkannte zu üben. Man mufs nicht aur selbst redlich bemüht sein, dem abM ilut Wahren in jedem Wissens- gebiete möglichst nahe zu kommen; viel wesentlicher ist es, dafe in jedem Falle das Streben, die Sehnsucht nach der Wahrheit in den Kindern selbst erzeugt wird. Darum mögen sie in der Litteratnr« geschichte und im G^e8chicht8nnte^^ichte nicht fertige Urteile empfangen, sondern solche in debatteartiger Unterredung selbst erarbeiten, wobei dem Lehrer hauptsÄchlich die Aufgabe zufällt, zu verlundoru, dafs dahoi absolut falsche Wege bescliritten werden. Wie wird oft in der BühanUlung der Vatfcrlaudskunde gesündigt!

' Der Stilunterricht wage nicht, dem Geiste des Schülers öefühls- ergüsse und rhetorische Künste aufzulackieren, die seiner einfachen Denkweise fern liegen, seinem ganzen Wesen fremd sind. Rechnen, Formenlehre, Realien, ja Fertigkeiten eignen sich zur Bildung des Wahrheitsgefühls. Dieses aber bildet ein festes Bollwerk gegen das Ilmdringen des Lügengeistes. Konsequente gute OeirShimiig moJh der

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Lehxr: "Wie kkno der Lehrer die Lügenhaftifrkeit der Jugond liekiinipfon. 73

Mm Gewohnheit voTbengen; denn naoh dem Gesetee der Behaimng^ das ja «nch im Seelenleben gilt, gehört ein Eingriff von mindesteas gleicher Intonutüt dazn, nm einmal gefestigte Wahrheitsliebe wieder 8Q ersohttttein. Zusammenfatse^ sagen wir also: üm dem Eindringen der Lügenhaftigkeit in unsere Klassen Tonsabengen, mü&ten wir die wichtigsten MotiTo der Lügen entfernen, die Wahrhaftigkeit aber den Zöglingen vorleben, lehren and angewöhnen.

Die Gewihr für den Erfolg der Torbeogenden Thfitigkelt ist freilich nnr eine relatiTe und es wird ni^t aosbleiben, dalk trotz der- selben dann und wann Lügen Torkommen. Liegt nar der Yerdaoht der Iiüge vor, so sei man ja recht vorsichtig mit der Anüserong des^ selben. Eine Frage »Du lügst doch nicht« kann, wenn sie unberech- tigt ist, die Wahrheitsliebe des Kindes für alle Zukunft schwer schä- digen. Noch viel gefährlicher ist das sogenannte >Auf den Bosch schlagen«; denn es nimmt selbst eine sehr verdächtige Stellung zur Wahrheitsliebe ein. Trotzdem ist natürlich die Feststellung des That- bestandes unbedingt erforderlich, wobei aber zunächst, ja vielleicht überhaupt das Geständnis des Lügners unnötig ist. Man frage nach Nebenumständen; kommt man damit zn keinem Ziele, so breche man vorläufig die Untersuchung ab und suche, wenn zu befürchten ist, dafis der Schüler nnr zu weiteren Lügen gereizt wird, die Wahrheit auf anderem Wege zu erfahren. Ist der Thatbestand festgestellt, so trete die Strafe ohne oder mit Geständnis des Lügners ein. Sie ge- schehe mit angemessenem Ernste nur! crmanf^ele nicht des Bedauerns; die Unten-nchung kann unter vier Aui;f»n sein; die Strafe miifs im beteiligten Kreise öffentlich crfnlp;pn .Sie darf unter keinen Umständen erlassen werden, wohl aber ist unter Berücksichtigung der Ursachen nnd Nebennmstände, im Hinblick auf etwaige Mitwisser, die vielleicht dem Herzen des Kindes nahe stehen, oder für dasselbe Respekts- porsonen sind, in gewissen Fällen eine sehr milde Strafe ^'nljissiG:.

Ein bestimmtes Strafmafs für bestimmte Lügen ist nicht fest- zustellen; es gleichen sich selten zwei Lügen ganz. Die Entdeckung nnd Schande muTs die gröfste Strafe bleiboD, wogegen alles andere erträglich zu erscheinen hat. Aus diesem Grunde haben auch manche PädiiL'ogen vorgeschlagen, dem Kinde eine Zeitlang gar nichts zu glauben. Dies ist zu weit gegangen. Weil unnatürücb und selbst den wirklichen Gedanken des Erziehers nicht entsprechend, ist eigentlich dieses Mittel selbst eine Lüge. Wohl aber könnte man das Kind eine k:urze Zeit lang in Fragen, die eine gewisse Aufrichtigkeit verlangen, auffällig übergehen.

Darauf hat eine scharfe Überwaciiung zu erfolgen. Jede ün*

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ricbtigkeit, andi die unbedeatende, mois gerügt und richtig gestellt werden, bis klir die Absieht der Besserung zu erkennen ist

Dab im WiederholungsfaJIe das Strafmals ein höheres sein wird, ist zu erwarten. Dies gelte aneh fär die allgemeine Strafe. Hau dsif wohl so weit gehen, den ZQgling eine Zeitlang sa ignorieren. Doch ist hier schon Voisiobt nötig. Empfindlich soll diese Strafe ja sein aber dann hat sie anch ihren Zweck erreicht und wfirde bei weiterer Ansdehnnng Terbitterang nnd Entfremdung erzeugen, also das Qegenteil Ton dem Beabsichtigten, nämlich der Sehnsacht nach der früher vorhandenen Gemeinschaft mit Lehrer nnd Klasse.

Übrigens ist es noch änlhent wichtig, da& der Lügner den be- abflochtigten Zweck nicht erreicht Dies kann anch oft dann verhiiidert werden, wenn der Thatbestand nicht zu beweisen war, die Lüge also sieht festgestellt, aber doch naheliegend ist

So besteht also die heilende Thätigkeit in der Schule darin, daCs im Falle eines Lügenverdachtes der Thatbestand festgestellt, der Zweck der Lüge veroitclf. cier Lügner mit besonderen und allgemeinea Straf en belegt nnd für die Zukonft scharf beobachtet wird.

B. Mitteilungen.

1. Znr Nacliriclit.

Die Arbeit des Herrn Direktor Trüpor in Nr. 1, 1902, dieser Zeit- schrift über das Zusammenwirken von Medizin und Pädago^k kann leider infolge schwerer Erkrankung des Verfassen^ einstweilen nicht fortgesetzt werden. Zur Zeit, wo dies^ Hefl in dw Binde der Leser kommt, weilt er mit seiner Gattin auf der Insel CSapri. Doch steht die FortBetsoBg und Beendigimg der Arbeit in baldiger Aussicht ü.

2. Stufen in der Spxaohentwiokeliuig dee SndeB.

Ton Fr. Vrensel, Leiter dar etfdi HUfiseohale sa Btolp i/Pommen.

(Sehltife).

SuUy^) widmet in seinem Buche: Untersuchungen über die Kindheit, in dem Kapitel: Der kleine Spraohmeisteri dar Sprach* entwickduBg des Kindes viele Seiten. Er sohildert einige ohaiakteristiaQfae Züge der ländlichen SpraohTersnohe nach folgender selhslgewlhlter Dis»

^) Dr. Stilly, ünter^chnngen über die Kindheit. Denteohe ÜbenetEOiig tob Dr. StimpfU Leipzig 1897. Preis 4 M.

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Stnlon in der SpnohMitwiokeliuig des Kindes.

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posjtioa: 1. Torsprnohliohes Lallen, 2. Übeigang zur artikuliertdn Sprache, 3. Anfinge der Sprachnaohahmnng, 4. ümgeataltong

unserer Worte, 5. logiflohe Seite der Einderepraohe und 6. Sats- bildung. In der Hauptsache bilden seine Ausführungen einen Kommentar zur Einführung in das Studium der Eindersprache, der für dioBon Zweck sich recht brauchbar erweisen dürfte. Sully verwertet in seinem Buche die einschlägige Litteratur der deutiiciicn, englischen, französischen nnd italienisohein Sprache, deshalb bieten seine Darlegungen Tielfaoh einen gHlndlieheii AnfscUnAi bis ins kleinste Aber die kindliofaeii Spmohanflage* Seine Beobaohtungen erstrecken sich bi u if die Zeit des ersten VoUeb- "^rhvilalters, also weit über die Zeit der Beobachtungen anderer Autoren hinaus. Die DarstelhincrR weise seiner Forschungen ist die vergleichende.

Tracy*) skizzierl in seinem Biiche: Psychologie der Kindheit, im Gegensätze zu den bisherigen Autoren vier Stufen in der Sprachent^ Wickelung dee Kindes. Er soobt die Stadien, wetofae das Kind in seiner 8prBcbentwi<^elnng absolvieren mulb, In länUang mit den kindlichen Be> wegungen zu bringen und nntecsobeidet deshslb Stadien impulsiver, re- flcxivcr, instinktiver und vorgestellter Lautäufserun^n. Für die Einteilung der kindlichen Bewegungen ist ihm Frey er mafsgebend, dessen Klassifikation der Bewegungen er als die wissenschaftlichste und er- schöpfendste einfach adoptiert. Die Stufen, welche Tracy bei der Sprach- entwiokelimg dee Kindes anfstellt, Terdienea unseie Beachtung imd mOgen deshalb hier näher bezeichnet wecden.

1. Die ersten vom Kinde geäufscrten Laute bestehen nur in der spontanen, willen- und vorstellungslosen Kundgebung der angeborenen Be- wegungskraft; sie erfordern nicht einen Sinnesvorgang, sondern nur einen Bewegungsvorgang, und selbst dieser ist blofs automatisch. Derselbe Kraft- überschufs, dersolbo Muskelinstinki, welcher das Kind zwingt, mit den BInta SU greifen, mit den FQlisen xu strsrapeln eto» awingt ea atuh, seine Lippen und Zmige^ seinen Kehlkopf und seine Lungen su fiben. Dies ist das impulsive Stadium.

2. Dann finden wir, dafs das Kind bestimmte Laute als Erwidenmg auf gewisse Empfindungen äufisert Es sieht ein helles Liebt, hört einen eigentümlichen Laut, fühlt eine weiche, warme Berührung, und diese Cmpfindungen rufen gewisse Laute hervor. Diese Laute sind zunächst ein UcGBes LdUen, das nicht vom Willen beeinflußt wird, sondern nur ESmpfindungs- und BerOhrungavorgSuge Tonnissebt Der Beflexbogen ist in seiner einfachsten Form ToUstfindig. Daraus entsteht allmfthlifth die Nachahmung. Das ist das reflexive Stadium.

3. Sputer können wir gewisse Laute entdecken, durch welche das Kind seine Bedürfnisse ausdrücken will. Obgleich dieselben wahrscheinlich noch ohne bewulste Absicht geäuTsert werden, eo haben sie doch einen Zweck und ein Ziel, nAmUch die Befriedigung jener Bedfiifniase. Der Schrei, welober an£u)Ba einförmig und auadmokslos war, wird jetit nntenohieden,

') Dr. Tracy, Psychologie der Bjndheit Deutsohe Übersetsung von Dr. StimplL Leipsig, 1899. Fnis 2 M.

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B. Mitteilungen.

um die Tenobifideiieii CtefliblttiMtftnde Hunger, Schmerz, Kftlte, Nfas«, Müdigkeit eto. aiissudrQ(tei. Hier haben vir das instinktive

Stadium

4. Endlich belierrscht der WiUo vollständig dio Sprach werk zeuge. Das Kind äufsort seine Worte mit bewulster Abriebt Die passive und unbewulste Nachahmung der Laute wird nun aktiv und bewuHst Die Wörter werden miteinander verbunden, um die immer verwickelter werden» den VonteUungen au82udrOok6iL Hier haben wir das vorgestellte oder Überlegte Stadium der Sprachentwickelung des Kindes.

Man mufs in der That diesen fein detaillierten Auseinandersetzungen des Verfassers beistimmen, obwohl auch einige Einwendungen gegen seine Einteilung erhoueu werden können. Die drei ersten Stadien der kind- lichen Spraohentwiokeliuig lassen sich zu einem Stadium vereinigen, das der passiven, unbewnfsten Lautftufserung, wihrend das vierte Stadium die aktive, bewufste Lautftulsenmg umfafst. In dmlicfaer Weise hat Dr. Treitel^) in seinen Arbeiten über Sprachstörungen gel^ntliche Be- merk untren und Andeutungen allgemeiner Natur über die kindliche Siprach- entwickelung geliefert, dio hier jedoch nicht weiter registriert werden sollen.

Die Tabellen Ober den WertBcduti vetaoiiiedener Sünder und Aber die SdiwierigkeitsverhftltniBse gewisser Laute, welche Traoy in seinem Buche aufsteUt, sind recht interessant, seine Spekulationen dar aber aber

haben im ganzen nur relative Bedeutung. Er sucht u. a. auch ein Prinzip anfzustellcn, welches der Entwickeln rif^ df^r Kindt^rsprache vom psychischen Uesichtspunkte aus 7.n Grunde liegeu könnte; es soll dies das Prinzip der Umwandlung sem. Er sagt wörtlich: „Wenn wir nun irgend ein Prinzip su entdeiAen auohen, wdohes der EntwiokelnDg der Einderqmcbe vom psychisoben Qesiohtspunkte aus an Orande liegt, so werden wir meiasr Ansicht nach finden, dafs das Prinzip der Umwandlung, welches wir andorwärtb schon so häufig beobachteten, auch hier thätig ist. Die frühsten Aulserungon dos Neugebonien h?ibon nur gering© oder gar keine psychische Bedeutung. Als Ausdrücke aenies Denkens haben sie überhaupt keine Be- deutung. Diese einfachen Äufserungen, welche verändert, vermehrt und verbunden werden, werden aber aUmäUioh mit Yorstellungea verknOpfl, die auch vertndert, vermehrt und verbunden werden, bis endlloh das Sprachwerkzeug die Lautbezeichnungea voUstftndig beberrsolLt und sie fOr den Ausdruck der Gedanken gebraucht.«

Diese Idee, welche ein wenig an das Sohuitzesche Lautumwand-

') Dr. Tr*'itol, ÜLlt Sitrarlistörung und Sprachcntwiclcelurg. Berlin 1882. Dr. Treitel, Grundrifs Jer SpracliPtönitigen. Berliu, 1S94. Preis 2 M.

•) Bemerkung während der Korrektur. Inzwischen ist mir noch eine Schrift tber die Spreche der Kinder von Dr. Toi sehe r, Frag 1880, zugesandt wovden, die Mb hier kürs enriOmen wilL Der Verfaner sprioht svDlehst ixhw die Sebwieiig- keit des Sprechenlernens, dann von den Stufen in der Sprachentwiokeluug (3 wie bei Gutzmanti) und bietet zam Bohliiiwa intexSBMote Sohildeniagea des Qiaiakte- hstiscben dor Jüudersprache.

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Btafen in der Spracbentwickelang des Kindes.

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luDgsgesetz erinnert, bat eine gewisse Berechtigung; der Verfasser führt auch die Ummidlimg eines Lantes an eänem Beispiele durch die ver- Bchiedenen Stadien der SpfBshflntwiolralDDg des Eladee doidi mid bebauptst Bogar, daTs wir bdiiahe jede ursprüngliche Äaberung des Ueinen Emdes

gebrauchen können, um das erwähnte Prinap in einer mehr oder weniger vollständigen Weise zu prirmtern. ÜlM>rhaupt bietet das Kapitel über dio Sprache viel anrügende Gedanken, die teilweise den Auffassungen mancher Autoren gegenüberstehen und dem Beobachter neue Gesichtspunkte er- flflben. Tracys Baoih ist eine irartroUe Bereicherung der pädagogischen Jdttentnr.

Franke^) unterscheidet in seiner Arbeit: Spraohentwiokelnng

der Kinder und der Menschheit, vier Hauptsttifcn und eine ganie 3Irnge von Unterstufen. Die I. Haiiptsttife umfafst die Zeit der Willen- iuBigkeit (drei Unterstufen), dio IL die Zeit der Ähn liehkeit mit der Tiersprache (vier Unterstufen), die III. die Zeit, in welcher mensch- licher Verstand sich seigt ohne Gebrsuoh der Huttersprache (vier Untentnfen) und die IV. die Zeit der Aneignung der Muttersprache (fflnf Lautrtofen, xwei Untentnfen).

Es würde zu weit fuhren, einzelne Stufen und Unterstufen Fr.'s näher zu skizzieren. Im ganzen bietet dio Frankesche Schrift eine bis ins kleinste detaillierte Cbersicht über die Sprachentwickehinp des Xmdes mit gleich- mäisiger Berücksichtigung der phonetischen, logischen und gram- matischen Seite der Spraoha

Hanptstnfen I, III nnd IV entspieohen im allgemeinen den ven Kussmaul aufgestellten Entwickelungsstafeo, nen ist Hauptstufe II, welche die Zeit der Ahnliclikeit mit der Tiersprache umfafst. Als Unterstufen kommen hierbei folgende Momente in Betracht: A. Willensäufserungon nnd Verstehen derselben, B. Verständnislose, absichtliehe Bildung von Silben, C. Das Zeigen als Willensäufserung und D. Verbindung des Zeigens mit Lantftufserungen und Tcrst&nd- nialcse Nachahmung Ton Wörtern.

Der "Verfasser kennseichnet die II. Hauptstufe folgendermafsen: „Um die Wende des ersten und zweiten Vierteljahres g-csehieht wohl bei allen gesunden Kindern ein wpsentliclior seelischer Fortschritt. Das Gedächtnis und die Fähigkeit wahrzunehmen sind soweit erstarkt, dafs die Ocsinhtor, zuweilen auch die Stimmen der Eltern oder der Amme unier Freudeu- ftutenngen -wieder erkannt und von denen E^der» die Staunen, ja Furcht hervmraÜBn, unteiaofaiedfln imden. Diese Frendeniolheraagen hissen vermuten, dafs bereits das Kind in den Eltern die Spender der Nahrung und alles Erfreulichen erblickt, und da es nun auch den Kopf der S'^ball- quelle zuwendet, dafs in ihm die Erkprintnis des ursächlichen Zusammen- hangs der Wahrnehmungen aufkeimt, mit andern Worten, dafs sich die Wahniefamungen zu Vorstellungen verknüpfen. Ist der Säugling z. B. von

') Dr. Franke , SpraoheatwiekeluDg der Kinder und der Mensdiheit Langen» «alza, Hermann B^er S^e, 1809. PteiB 1,20 H. Sondetsbdrook ans Beins I!n<qrklop8di8cdiem Htndbodi der Fidsgqgik.

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Bk ICttoUiniigeiL

dem 7tter (tfter henimgelnigeii ▼orden, bo genflgt jetet deaeen Anlilick, nm du ESrinnanrngsbild davon hervoranrofen. Veijgleieih: rahea

getragen werden, lälst erstcros als unangenehm enöbonen, es entstellt ein seelischer Schmerz, der das Begehren : ich will getragen sein, err^ ; das Begehren weckt das Willonscpiitnim und bewirkt gleich dem phjrsischen Schmerz Schreien. So wird eine iNervenbahnverbindung hcrgesteiit zwischen Gesichtsnerven, Gehirn uud den Nerven von Sprachwerkzeugen, Von nun an sohielt der Säugling beim Aablioke des Vaters, mn getragen so werden. E3r schreit jetst absichtlicfa, d. h. das WiUeaaoentram in der Orofthimrinde regt die Kehlkopf nenren zu der zum Schreien nOtigen Mndelbewegong an. Das Schreien iBt nun auch Willonsäurserung."

„Wie die lautlichen, so treten aber auch andere, nrpprn neulich reflexive Aufserungen von Gefühlszu ständen in den Dienst dos Willens; so wird z. B. das Kopfabwendeu zum absichtlichen Kopfbchüttein als Zeichen der Ablehnung. Die aufdämmernde Erkenntnis der AuünnveLt treibt den SSxigling daso, sieh derselben so bemScbtigen. Die Hand, deren Mnskdn das Spiel gest&rkt hat, greift naofa den Dingen, um sie festzuhalten und nach drm Munde zu führen, dessen Lippen schon vor der Aufnalinio dnr Nahrung Saugbewegungen machten. Da merkt er, dafs er niclit alles, was er sieht, erfassen kann; das erfüllt ihn mit Unlust, und diese üufsert sich in Lauten; er stölst Interjektionen des Unwillens aus. Doch dieses Zappeln nnd Schreien oder Iduen bewirkt, dafii ihm das Verlangte ge- reich^ wild. Des merkt er sich und lappett nnd iohst absichtlich. Das Ausstrecken der Arme mit oder ohne Lautbegloitnng wird zum Zeichen des Verlangens. Oloiohzeitig und zu ein und demselben Zwecke werden vom Willensccntrum Laut und Gebärde aufgelöst und so die £ntwioke- lung der lauten Mundgebärde begründet"

,^as Erwachen des eigenen Willens weckt nun auch das Verständnis fOr die WiUenelnliBerangen anderer. An deren Gebilden nnd Mienen, an der Klangfarbe und Betontug, an der Stirke nnd HOhe der Stimme ver- mag der Säugling bald zu erkennen, ob er gelobt oder gescholten ^riri Die« bekundet er durch Gebärden und Mienen und besonders durch Gf^ liorsam. Seine absichtlichen Laute und für ihn auch die Worte der Er- wachseneu erhalten jetzt den Wert von Lock- und Warnungsrufen der Sftngetiere nnd VQgeL So ist er auf die von den warmblütigen Tieren eingenommene Sprachstufe gelangt^ welche äntoh Gebilden und TOne sich miteinander über ihr Wollen verständigen."

„üm diese Zeit treten bei vielen Kindern hohe, nach i sn klingende Krählaute, zunächst als unwillkürliche Freudenrinr^eningen finf: später werden aber auch sie dem Willen unterthan. Das Kind kräht zu seinem Verguügeü oder auf die Aufforderung anderer."

„Durah das Erwachen des Willens wird ferner ein fOr die Sprach- entwiokelang hOchst wichtiger Trieb erweckt: Der Nachahmungstrieb. Schon in der 15. Woche können Kinder dazu gebracht werden, dafo Rio Bewegungen, die sie bereits unwillkürlich gemacht haben, den Er- wachsenen willkürlich, wenn auch unToiUrommeni nachahmen, so .das Mond- spitzen etc."

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stillen in der fi^ndmitwiölnliuig des Elndee.

Diese Probe mag genügen , um zu zeigen, wie klar und treffend Frank« dnzeJnd Vorgänge und Staian in der SpraohentwiokeLiingr des Kindes abgfeost und Bebildert Naoli seinen Darlegungen erscheinen die

einzeltien Stufen wohl hinlänglich begründet, wenn man sie aber nach dem bei Tracy angedeuteten Gesichtspunkte beurteilt, so dürften die vou Franke zur Hauptstufe II gerechneten Lnnfänfspninc^pn schon zu den- jenigen gehören, die mit Absicht erzeugt werden, bei denen also eme Bö- thäüguüg des Willens bereits stattfindet.

FOr dia Wissensohsft und den Spiaohfonober ▼<« Beruf werden die AosfUmuigen Frankes stets von hciieni Werte sein, der FBdsgoge da- gegen wird weniger aus ihnen leroen, weil die feinen Düferensierangen ge- eignet erscheinen, seine Beobachtungen zu zersplittern.

Der zweite Teil der Frankeschen Schrift, die Sprachentwickolung der Menschheit, steht auf dem Boden der neusten Forschungen und giebt eiuü ratiuadle und übersichtliche Darstellung des Gegenstandes. Der Verfimr stellt fünf Banptstufen in der Spraobentwiokelung der Hensoh- beit fiest, die er teilweise in Übereinstimmung mit den Stufen der Spnob- entwickelung des Kindes zu bringen sucdit Er flberträgt aber die für die Entwickelung der Kindersprache gewonnene Reihenfolge nicht ohne weiteres auf die Reihenfolge der sprachlichen Ausdrücke der gesamten menschlichen Sprache. Die ontogo n eti sc h e En t Wickelung der Sprache mag wohl eine kur^e Wiederholung der phylogenetischen Spracbentwiokelnng sein, dagegen besitst die spraohlicbe Phylo- genese eine Beihe von Abweiobungen, welche keine Bunllalen aar fl|»iaohIidben Entwickelung des Kindes bilden, das biogenetische Moment spielt hierbei auch eine nicht ganz unbedeutende Rolle. Zur Einführung in das {Studium der Werke von M. Möller, Noir6, Jäger, Steinthal, Whitney u. a., die denselben Gegenstand in ausfiUurlicher und wissenschaftlicher Darstellung behandeln, wird die Frankeaohe Sdhiift dem AnfHoger dne aebc willkommene Bsndreicbung bieten«

Compayr^^) unterscheidet in seinem Buche: Die Entwickelung der Kindesseelo, vier Stufen oder Perioden in der Sprachont^virVelung d^ Kindes, die eine gewisse Ähnlichkeit und Übereinstimmung mit den Stufen, welche Tracy aufgestellt hat, erkennen lassen. Das betreffende Kapitel des Werkes, welches unser Interesse besonders erregt, lautet: Wie das Kind sprechen lernt Es ist dieees eins der interessantesten Ea- ptel des tabeist gediefl^ien BucheSi das in seiner abgerundeten, durch- sichtigen und flieljBenden Daistellnng unter den umihngieioheran Bflohem Ahnlicher Art bisher ohne Vci^loich dasteht.

In der ersten Periode der Sprachentwickolung des Kindes handelt es sich nur um Stimmäufserungen, die einen doppelten Charakter besitzen: erstens, sie sind spontan, das Kind ahmt weder nach, noch wiederholt es; aweitans, es Isgt ihnen keinen Sinn, nicht irgend welche beabsichtigte Be-

1) Compayr^, Die Satwiokehmg der Kindesseele. Deutlich von Ufer. Alienbnrg 1800. Fteia 8 H.

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B> Hittsifanigsn*

deutung bei, du sie ima mechanische Thätigkeiteo sind, mit deneu die InteUi^ns dondumB niobte ra thon hat Die SttmmAuteiiiigai sind als eioe Art ZmtaohenL, ala eine inatinktmAbige Übung der StimmNtnder oder als eine besondere Art dee Muskelspiels aufzufassen.

In der zweiten Periode "werden die StimmünrseruTigon, "welche ur- sprünglich nur automatisch und instinktmäfsig waren, ziemlich rasch retlex- rru'Usige, durch 8challeinwirkungen verunlarsto Th.'ltigkoiten. Geräusche, Schalle, welche an das Ohr des Kindeb t^ciilageü, fordern dieses gleichsam hereoa, mit seiner Stimme darsnf in antworten. „Es plappert, ab ob es denen antworten wollte» die an ihm ^rsoheB.'*

Während dieser beiden Perioden bringt das Kind, sei es spontan, automatisch oder iustinktmafsig, sei es infolfr» der Reflexwirknn^ nur Laute hervor, denen es seinerseits absolut keinen Sinn beilegt, selbst -wenn sie für die Umgebung einen Sinn haben sollten. Das eigentliche Sprechen, das ein „Handelsgeschäft, ein Gedanken- und ein Geiühlsaustaiisch, eine bewnfMe Yermitteliuig swisehen zwä oder mehreren Qeiateaweasn ist,*^ hat noch nioht begonnen.

Die Sobrde, die undeutlichen Laute und ersten Artikulationsversuche bleiben ge"w'Mhn1ich nicht lange automatisclio, instinktinrifsigo oder reflex- artige Erscheinungen, sie werden bald zu wirklichen Zeichen, die das Kind gebrauchen lernt, um mit ihnen auszudrücken, was es fühlt, empfindet oder will, und damit tritt es in die dritte Periode seiner Sprachent» wiokelnng ein. Bevor das Kind seinen lautlichen Aafiaerongen aber seilbat einen Sinn oder einen Inhalt au geben vermag, mab es den Sinn der Lante, die es von andern Personen h5rt, erraten, verstehen und deuten iRnnen. Die Beziehung dos Zeichens (Lautest zur bozeichn'^tf'n Sache taucht in eeinem Geiste nicht bei dem, was es selbst äulsert, zum ersten- male auf, sondern bei dem, was es sprechen hört Der Obergang von d«i beiden ersten Stufen zur dritten Stufe vollzieht sich langsam und cur in gana geringem, allmählichem Fortschritte. Das Kind verhAIt sich toiv wiegend rezeptiv. Jedoch nach Ablauf des ersten Lebensjahres werd^ schon einzelne Wörter, häufiger noch absichtliche Gebänlon als Ausdruck»» mittel gpbnmcht, "wenn die Worter auch meist noch verstümmelt und im- vollkommeu bezüglich ihrer Artikulation erschienen. Verschiedene Gegen- stände, deren Namen ähnlich klingen, "werden mit ein und demselben Lantgebilde bmannt; so bezeichnete ein Kind mit käkft das Kätzchen, aeane Schweeter mit Namen XSthe und den Kohlenkaaten.

Auf der vierten Stofe beknndet das Kind seine Intelligenz nicht allein durch die Deutung der wahrgenommenen Zeichen (Lautkl&nge), sondern auch in der Anwendun*T d^r Zeichen, die es selbst hervor- bringt. Bevor Worte zur Bezeiciniung des Begehrens, der Gemütszustände und Oedanken des Kindes dienen, werden Gebärden zu diesem Zwecke verwandt IHe GeUbdenspiaofaie bereitet die Lautsprache tot. Venn das Kind mit dem Kopfe eine vemeinende Bewegung maoht, oder wenn es mit der Band auf tinen Gegenstand zeigt, welchen es gerne besitzen mochte, 9o versucht es bereits auszudrücken, was es will oder nicht will. Die Gebäidensprache geht der Wortsprache voran und ist aur Verroll-

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Stafen in der Spracheutwickelon^ des Kindes.

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kommnung der letzteren von grofsem Nutzen. ^) Später, wenn die geistige Entwickelung m günstigem Fortschritte begriffen ist, lückt die Gebärde an die zweite Stelle und dient nur noch als Beihilfe in den Fällen, in welchen das Wort aidit angenbliokliob m Dienstea steht Dm Bprtob- vermOgen wächst atidi allmählich und gestattet bald den freien Ge- brauch der Spiacfae in Bede und Unterhaltong natfliliöh in Uodlieher Ansd rucksweise.

Bei der Spracherlemu spielt die Spontaneität des KindeB eine her- vorragende Rolle. Compayre unterscheidet hierbei drei Reihen von Fällen:

1. Das Eind liefert von selb et den Laut oder das Wort, die Eltein geben den ohne besondere Absicht artikolierten Silben einen Sinn.

2. Das Kind erfindet das Wort und fixiert sagleloh desisn Be- deutung. Das ist der merkwQrdigste und sngleioh am neistan um- strittene Fall.

3. In anderen sehr häufigen ij'äiien liefern die Eltern die Wörter; allein das Kind, weiches dieselben wiederholt, deutet sie in seiner Weise and benatzt sie in einem anderen Sinne.

Interessant sind auch die Ausführungen des Yerlhssers ttber die in- stinktmärsige Logik des Kindes in der Wort- und Satzbildung, sowie seine Bemerkungen Ober Sprachwidrigkeiten und Sprachfehler der Kinderspradie. Wenn liierbei hanfig auch nur kurzo An(leiitnnp:en ge- geben werden, so sind dieselben doch mit Dank entgegenzDiir iinien, da 810 die Kindersprache zum Teil von ganz neuen Qesichtspuuiiteu aus be- lenohten imd ezflctam. IMe Litteratnr des Gegenstandes findet in dem Werk» gehörige Besohtang und kxiüsohe Wflidigong. Anrsgende Be- danken bieten auch die Kapitel Uber das Urteilen und Schlicfsen dss Kindes und über die Geistesstörungen im Kindesaltcr. Der Pädagoge kann ans den Darstellnnjren vieles lernen und wird manche Fingerzeige und Imperative für Erzieiiung und Unterricht aus ihnen gewinijen.

Die bisherigen Darlegungen lassen deutlich erkennen, dais iii der Spfaohentwickelung des Kindes sich svii msitamte Hauptperioden gegen- fibentshen:

1. Die Periode der unbewufsten, passiven Lantftofsemng (Lautäufseningen ohne Mitwirkung des Bewufstseins) und

2. Die Periode derbewuTsten ak tiven LautättXserang (Laut- Äolserungen mit Bethätigung des Bewuistseins).

Zur ersten Hauptperiode gehören als Unterstufen die Zeit der im- pnlsiTen (antomstischen), reflexiTen nnd instinktiven Lsutluteangen imd snr sweiten die Zsit der Bildung einselner Wörter durah Nach- ahmung und Spontaneltftt mid die Zeit der Satzbildung.

Diese Stufonanordnung dürfte den Gang der Sprachbildung des Kindr-s zur Genüge skizzieren, ohne die Grenzen zu eng odor 7\i weit zu ziehen. Es lieise sich auoh auf Grund dieser Stufenfolge ein klares und deutliches

Die Nutur der Gebärden, ihre Beziehung Jtur wixkücheii Sprache und ihr Torhemchen in der Kindheit werden von Roman es in seinem Buche: Die geistige Entwickdong beim Heoachen, sehr interessant mid eingehend erfittert.

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B. MitteüoDgen.

Bild von der Sprachentwickelung des Kindes entwerfen. Für B^bachtungen zum Zwecke von Aufzeichnungen wird diese Einteilung sicherere Kicht- Iinie& bkla als die biitor tob den aaderen Autoren gescbiffanoi An- ordnungen.

Der Fortschritt in der Spfsohentwickelung des Kindes läTbt üoli nicht durch eine gerade, ununterbrochen fortlaufende Linie darstellen, er kann nur aus einer gebrochonon bestehen, die biswpil-^n auch in der Richtung umkehrt, bevor sie \\>'\U;r geht. Selbst in deui Alt'?r, in welchem das Kind bereite deutlich artikuliert, bemerkt man wieder unartikulierte Lrata Ea existiert aooh Butanter die ÜnfiUiigkeit, gewisse WOrter m verstehen und sti wiederholen, obwohl das Kind oft schon schwierigere nachgeahmt und gedentet hat Bei den Sprech versuchen des Kindes scheint sich manchmal alles zu verwickeln und zu verwirren, bis dann ein günstiger Zeitpunkt eintritt, der alle^ v.ieder in die richtigen Bahnen leitet.

Die Kenntnis der Spraciientwickelung des Kindes giebt uns wichtige Fingerzeige für seine sprachliche Erziehung und Bildung. S»e weist uns namentlioh darauf hin, dafii wir dem Kinde sonflchst Sochvorslellangen nnd dann ent Worte geben edlen. Ans dleeeoi Oronde besitst der viel umstrittene, vereinigte Sach- und Sptichunterricht eine so immense 6^ deutung als ünterrichtsgegenstand unserer Schulen. Zuerst also Sachen, dann Worte und nicht umgekehrt! Wird das Kind mit eini-r gehörigen Kenntnis von Dingen ausgestattet, dann werden ihm die Worte nur zu. reichlich zufliefsen. „Eis wird sie zwingen, selbst wenn sie ihm nicht folgen wollen.** „Wer im Geiste eine lebendige und kUure YorstaUimg hat, der giebt ihr AnsdnuA; wenn er stnmni ist, > tanst oder spielt er sie!^'

Dieselben Phasen macht auch dns p-nisto^srhwacho Kind in seiner Sprachentwickelung durch. „Aber anstatt dals diese Phasen schnell aufeinander folgen, geschieht ihr Fortschritt sehr langsam; meist bleibt sogar die Eotwickelung auf einem Punkte stehen, der einer der Etappen beim normalen Kinde entspricht**

8. Vom Spiel des Kindes.

In der Wiener Woohenschrift tDie Zeit« (vom 22. Febr. 1902) habe ich über diesen O^ensianci einen Artikel verOffeittlicht, den ich hier unseru Lesoin rar Kenntnis bringe, weil er theoretisefae Ergänzungen lo meinem Artikel Ober das Spiel in Nr. 1, 1901, dieser Zeitschrift bietet Der Artikel in der ^Zeit« lautet:

»Dafs dem Spiele des Kindes eine grofse Bedeutung zukommen müsse, dafür spricht schon der Umstand, Uafs gespielt worden ist, solange es Kinder giebt, und dafs man überall auf der Erde, wo Kinder sind, auch Spiele findet Das Spiel scheint notwendig zu sein, wie des Baumes lincht, nnd wsnn es auch vom Znfsll der jeweiligen seitUehen und Ört- lichen Verhältnisse natOrlioh nicht gani unberührt bleihti so geht doch die Verwandlung nicht soweit, dafs das Wesen dadurch vertadert wflideL

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Tom Spiel de« Kindes.

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Wer dio wertvollen ku]turc:oso]Hnhtlichen Arbeiten von Roch hol z,^) Zingerle,'^) Franz Magnus Böhme') und Plofs*) aufmerksam durch- geht, dem kann es nicht verborgen bleiben, dafe in den Spielen der Kmder gewine^ allen Zeiten und Orten gemeioeame ZUge vorherrschen, die o£fen- btr mir in der mengchlichen Natal begrfindet sein Unnen. Grobe Hinner, denen nichts Henschlichee tnmd ist, haben denn auch von jeher dem Spiele der Ehinen Beachtung geschenkt, von Plato bis Kant, vom Spar- tanerkSnig Ageüüaus bis zu Friedrich dem QtoüBen, v<tt den ältesten Dichtern bis zti Schiller und Goethe,

Insbesondere haben sich Enüehungswissenschaft und Erziohuiigskunst dioeor Eigentfindvdikeit des Sindeealtere angenommen, um sie eoi^fUtig m efforaehen imd pftdagogiaohen Zveoken dianalbar m maolMn. Wenn man sich an der Hand eines vor knnem in deutscher Übersetzimg er- schienenen Buches von Colozza^) die Geschichte der Pftdagogik in dieser Beziohnncr ansieht, so findet man, dafs sich wenirrstena der Versuch, (ias Kinderspiel zu würdigen, von Anfang bis auf unsere Tage wie ein loti i Faden hindurchzieht Und dabei ist die geschichtliche Darstellung Colotaaa, tibrigens die einsige, die wir haben, nioht einnial voUatAodig. Bi irird kaam einen hervonagianden Fidagogeii geben, der dem Spiele des Kindes nicht seine Aufmerksamkeit zugewandt h&tte. DaCs gelegentlich •weltabge'wandte Naturen, wie der Bischof Augustinus, in seiner späteren Zeit den Spielen der Jugend wenif^or fronndlioh gegenüberstanden, hat auf dio allßrempinf» Wortschätzung derselben ktiiien dauernden Einlluib gehabt, und die iuiäsiie puritanischer Gemeindevortitikide und überstreuger Polizei- behlMen, die beispielsweiae 1630 den Knaben in Zfirioh daa »Klukkem« ein Bpiel mit Kngefai vertioten und 1749 in Wiesbaden die Eltetn mit s^ empfindlichen Strafen bedrohten ftlr den Fall, dafil aie ihre Kinder zum Spiel auf die Strafse gehen liefsen, gehören im gancen nnd groüaen ebenfalls zu den wirkungslosen Seltenheiten.

Bei dieser Wertst hät/.ung des Spieles erscheint es einigermafson auf- faiixg, dafs die eigentliuh wissenschaftliche Untersuchung seines Wesens «nt in nuaerer Zeit nennenswerte Fortsohiitte gemaoht hat Als Urheber te srrten Theorie des Spiels wird gewOhnlioh der bekannte engliaofae Philosoph Herbert Spencer genannt, der im lehrten Kapitel seiner 1855 erschienenen »Prinzipien der Psychologie«, das von den ästhetischen Ge- fühlen handelt, auch vom Spiele, und zwar nicht nur des Menschen, son- dern der lebenden Wesen überhaupt rodet. Er trägt hier eine Auffassung vor, die bis auf den heutigen Tag die meisten Anhänger hat und unter dem Haasn »KnItAbersohnIh-Theoriec bekannt ist ludsssen kann Herbert S^snoar nioht s2s ihr eigentUoher Urheber angesehen werden; die An-

*) »Alemanaiachwi Xlndailied imd KindenpieL« Lelpsfg 1857.

*) »Deutsches Einderspiel im Mittelalter.« 1. Aofl. Wien 1866. •) »Deutsches Kinderh'ed und Kindorsyae!.« Leipzig 1897. *) »Das Riad iu Brauch ond Sitte der Völker.c 2. Aufl. Leipzig 1884. *) »Psychologio und Pädagogik des Kindeispielee«, Altenbozg i. B. Yeilag Ton 0. Boode, 1900.

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B. MitteiloDgen.

regntig hat Spencer, wie er selber sagt, von einem deutechea Schriftsteller erhalten, dessen Name ihm entfallrn ist Dieser deutsche Scliriltsteller, der sich äeinerseits wieder an Kaut und vielleicht auch an den Engländer Home anlehnt, ist sioher kein anderer als Friedrich Schiller, und die betraffande Stelle findet sich in den Briefen tllMr die iethetiflobe ErsiehnD^ dee tfensdien. Wer sich ihien Wortlaut vergegenwärtigen will, mag sie im 27. Briefe nachlesen; er wird finden, daTs Schillers »flberflüssigeB Leben, das sich selber zur Th&tigkeit stachelt«, dasselbe ist wie Herbert Spencers overflowing energy.

Ob der iüraftQberscUiUs die unerlftfaliehe Vorbedingung für die £nt- alehimg des Spiels ist, wie noidi Fornelli in seiner Biinleitang su dem Boohe Golosiss meini, wird nns weiterhin sa besohlftigeB haben; dab er mindestens sehr begfinstigend wirk^ danuf weist aohcn der Volksmund hin. Wenn man von jemandem sagt, es werde ihm zu wohl oder der Harer steche ihn, so deutet man damit an, dafs der BetrefFende nicht weifs, wo er mit seiner Kraft hin soll, und sie in einer Weise verwendet, die mit dem il^utweiidigoM und iNütidichen uichtä zu thun hat, sondern ganz aUein dem Vergnügt dient, das faeüht ein Spiel ist XhnlidiB Bedensailen finden wir antdi in anderen Spiachen, nnd es kann ihnen nur di0 Tfaatsache zu Grunde liegen, dafs flppige EraftfÜlle die SpielthAtigkeit ebenso sehr begflnstigt, wie Mangel an Kraft, zum Beispiel bei staiker Ermüdung, bei Krankheit u. s. v,\ sie beeinti^htigt.

Aus dciu Krattübeibohufs erklärt sich nach Spenef«r auch der Um- stand, dals dio höheren Tiere spielen, während dica bei den niederen nicht der VkU ist Diese mfiesen, so meint er, alle ihre Xififta sur AnsObong sdelier TUttigkeiten verwenden, die auf die Erbaltong im Kampfe nms Dasein gerichtet sind; daher bleibt zur überschüssigen Beth&tigung, zum Spiel, keine Kraft übrig; sie sind in einer ähnlichen Lage, wie jemand, der alles, was er an Geld einnimmt, für die notwendigsten liebensbedflii- nisse verwendea mufs und sich Luxus nicht gestatten kann.

Ob auf den niederen Stufen des Tierreiches der Eraftüberächuik and damit das SjueL voUstindig fehlt, mag dahingestellt Ueiben. Dafe der EiaftflberBehuJb auf den bobenn Stufen zunimmt, darf man ohne weiten annehmen, wenn man zunfichst auch nur an die körperliche Entwickelang denkt. Der Or^nismus der Tiere difTerenziert sieh in der Entwickeinn g?- roihe immer mehr, so dals die einzelnen Organe nicht bei jeder Gel^en- heit im Kampfe ums Daaein samt und sonders in Thätigkeit zu treten brauchen, sondern dafs einzelne im Buhezustande Kraft ansammeln können, wibrend andere tbitig sind, Umlioh wie aicii bei einem Mensoheni der viel am SohreibtiBohe sitzt, die Beine mebr als nSüg ansroben, wibiend Hand nnd Arm ihre Kraft im Schreiben Terausgaben.

Die günstigste Stellung nimmt der Mensch ein. Er ist für den Kampf ums Dasein mit den zahlreichsten körperlichen und geistigen Werk- zeugen ausgerüstet, die fast niemals alle zu gleicher Zeit in Anspruch ge- nomm^ werden, sondern von denen beinahe immer einzelne ein Kraft- kapital ansammeln kl^nnen, das teilweiee, segen wir, zu Lmnisswecfcm verwendet wei!den kann. Dieses Übenohflesige Kapital wird nooli dadurch

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Yoiii Spiel d«B KindeB.

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göättiigerty daTs unter deu körperlichen uud physischeo Organen des MfioaeheD Ariwitateiliing hemoht, wodwoh dieselben in der Aiuflbuiig ihier Yemchtimgett eine eoldie Leiohtigkeit erlangen, wie sie bei den

weniger ausgebildeten Tieren nidit mg^ioh ist Bio ^röfoere Leichtigkeit aber iet gleichbedeutend mit einem geringeren Eraftverbrauche und einem entsprechenden Kraftflberychusse. Der Mensch ist dem niederen Tiere gegenüber etwa das, was der sein Vermögen gut verwaltende Millionär gegenüber dem Proletarier ist Während di^r bei VOThältnismälsig ge- ringen Ausgaben von der Hand in den Mund leben mollB und wenig eder nichts Obrig bebllt, kann jener nioht nor eom Zwecke seiner Arbnte- thfttigkeit bedeutend mehr veransgaben, sondern er befallt auch w^t meltr llbrig, weil er viel mehr und viel ergiebigere Einnahmequellen besitzt

Am dentlirhston tritt die Spielthätigkeit der lebenden Wesen natür- lich in der Jugendzeit hervor, wo die Kräfte bei den höheren Tieren imd ganz besonders beim Menschen für den Kampf ums Dasein noch wenig in Anspruch genommen werden, weil die Alten die Konten tragen; aber rie hftrt auch im späteren Alter nicht völlig auf. Alle Tiero spieleQ swar dnrobwegs Tiel weniger als jungem aber de spielen doch anoh; nur bleibt das Spiel der Tiere wegen der geringen geistigen Fortentwickelang des Individuums immer von derselben Art, wie man bei Hunden und Katzen dniitüch wahrnehmen kann. Beim Menschen, mit seiner reicheren und weitergehenden Entwickelung, ist das wesentlich anders. Nicht als ob der erwachsene Mensch keine Spielthätigkeiten ausübe, die wir ahi dem Kindesalter eigentttmliob betrachten. Im Gegenteil! Karl Oroes hat in einem acfalSnen nnd wertYoUen Werke ^) an nhlreiofaeii Beispielen deutlich aachgewiesen, dafs sich anch der Erwaohsoae und zwar weit hftnflgsr, als man glauben sollte Spielen hingiebt, die für das Kindesalter ein- facher taum gedacht werden kf^nnen, z. B. mannigfacher spielender Be- thätigung des Gesichtos, des Gehörs und des Tastsinns. Alm darüber hinaus geht das Spiel der Menschen von der Kindenieit an immer mehr auf das Gebiet des ästhetischen Genusses über, ein Gebiet übrigens, das schon bei den Tieron nicht gaas fehlt, wie bereits ^n Schiller vennntet vid spitei Ton Forsofaem nnd Denkern wie Darwin, H. Spencer, Ro- manes,*) Richard Wallaschek,*) Konrad Lange^) nnd gans b^ sonders von Karl Groos*) nachgt>wioscn wurde.

Wie sich ans dpvn OpFnp-tpn h»^roits ergiebt und "^'ic Colnzza noch an der Hand von w(':ter-'n ]^( isj^ielpn dartbut, hat die KialtülxTScliufs- theone für die Erklärung des bpieles eine grofse Ti'agweite, und doch fehlt es nicht sn Thatssehen, zu deren IkUArung sie nicht anssnreichen scheint. Der Umstand, daik der Erwadisene wenigstens TieUach sn seiner

»Die Spiele der Menachm.« Jena, Yeiiag Ovstav Fischer, 1896.

*) >Dio geistige Entwiokelniig im Tierreiöh.« Detttsdie Ausgabe, Ldp^g 1886.

") .rnrui»ivf> Music.« Tx>odon 1893.

*) »Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinncsorgano,« Band XIV (1897): Gedanken zu einer JUthetik auf entwickelungsgesohichüicher Grundlage. ■) »Die Spiflie der 1Serft.c Jena» Yetiog ▼«& Gnstav Rsoiier, 1806^

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B. Mitteilungen.

Erholang spielt, ist die Gnmdhge einer Theorie geworden, die der KrafU

fiberschiirstheorie dem AnBehetn nach schroff g^^übcrstcht, der >Er> holniigstheorie«, die in Lazarus^) ihren besten und namhaftesten Vor- treter hat. Bei genauerem Zusehen findet man je^ioch. dafs der (loqrn- satz bei weitem nicht so schrofT ist, wie man zunähst glauben konnte. Wenn jemand von anstrengender geistiger Arbeit wihtend des Tages er- müdet ist and sitdi am Abend einem kOrperliohen Spiele Billard oder Kegel hingiebt, so thut er dies anf der einen Seite allerdings ans Er* holungsbedürfnis, nnd erholt sich thatsfichlich dabei; auf der anderen Seite aber finden die körperlichen KrSfte Verwendung, die sich während des Tages angesammelt haben, und es wird schwer zu sagen sein, ob die angesammelte Kraft nicht ebenso zur Spielthätigkeit treibt, wie das Be- dQrfhis naoh Erliolnng. Ist also hieniacA die »Erhelangstfaeorie« nur eine Ergftnsung der »KtaftObersöhnfetheoriec, so giebt es doäk sioher anch FUb, in denen das Bedürfnis nach Erholung im Verein mit dem dem Menschen ntin einmal innewohnenden Bedürfnis nach Beschftftigung eine Spielthfitig- keit horrorbringt, die mit überschflnmondor, zur Entladiincr drflnpcnder Energie nichts zu thun hat. Insofern kommt der Erhüiunpstheorie nocii eine besondere Bedeutung zu, da sie Thatsachen erklärt, die durch die KraftübcreehuMheorie nicht erktirt weiden kOnnen.

Aber anch die Brholnngstlieoiie erweist sich bei ratem nlobt in allen Fällen als stichhaltig. Schon Schaller*) hat darauf hingewiessn, dafs man vom Kinde, das beinahe nichts anderes thue, als spielen, unmöglii^h ^gon kAnno, es spiele, um sich zu erholen, und vom jungen Hunde sagt Groos mit Recht, niemaml werde im Ernste behaupten woll. ri, or jigo sidi deshalb mit anderen herum, weil er den Drang in sich fühle, sich zu ^ bolen. Anoh die Thataaohe, dalüi das Spiel besondeis beim Kinde oft Um snm Zustande ttofberstsr BnokOpfung fortgesetst wiid, stimmt ebsnsoirsBig *ur Erholungs- wie acr KraftübenohnfiMlieorie,

"Wie wir also gesehen haben, vermag weder die Kraftüberschufstheorie noch die l<jliö]unc:stheorie die Erscheinung des Spiels völlig zu erklÄren, wenn sie auch beide nehr wesentliche Momente enthalten, die noch durch andere, auf die wir hier nicht eingehen wollen, vermehrt werden müssen. Wenn man aber nun srwigf, welclie bedentende, alles umfassende Bolle dem Spiele des Kindes wlhrsnd einer Beihe von Jahrsn sukommt, wi» das Spiel eine Zeitlang der einzige Lebenszweck des Kindes ist, so kanA man f=iHi durch ein Konglomerat von Erklärungen nicht befriedigt fühli^n, sondern mufa nach einem einheitlichen Erklärungsgrundc suchen, der überdies noch darüber AufschluTs giebt, warum die einzelnen Lebewesen in bestimmter Weise und nicht anders spielen, was unter Berufung auf die bisherigen und einige weitere, von uns nicht genannte ErklArongB- grOnde gar nioht beantwortet werden kann.

Diesen einheitlichen und ausreichenden Erklärungsgrund für das Spiel wenigstens der Jugendxeit ündet &rooB im üerleben. Bei den

^) »Die Reize des Spiels.« BerÜQ 1883.

>) »Das Spiel and die Spiele.« Weimar 1801.

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Das Kind und der ilkokoL

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Biederen Tiefen encbdnen die Anlagen, die zur Eriialtnng der Art nol- vendig sind, als lein ausgebildete Reflexe nnd Instinkte, die gar keiner oder nur geringer Übang bedürfen, um ihren Zweck zu «fOllen. Bei den am höchsten stehenden Arten nnd deu\ Menschen ist das wesentlich anders. Der Mensch beispielsweise kommt als (las hilfloseste Wesen zur Welt und doch soll er das vollkommenste werden. Daher bedarf es bei ihm einer Anpassung der Triebe, einer £inQbung fflr die künftige Thätigkeit, und diese ESnfibung der THebe, die »Vorahmung« der künftigen Thfltigkeit nennen wir Spiel; damit sie siolk gelbBng Tollzielien kann, ist die Jugend- zeit eingerichtet. Je höher, umfassender und Yerwiokelter die künftige Arbeitsleistung des Individuums ist, desto länger mufs natürlich auch die Zeit der £in Übung dauern; daher hat der ülensoh von allen Weeen die JAngste Jugendzeit.

wäre sicher nicht uninteressant, die Bedeutung dee Kinderspielee imtttr dem Oreos'sdhen Gesiohtspnttktd eingehender m tMlnditen; dooli mflnen wir m fifloksicfat auf den Baum für diesmal darauf veraichten.« Nr. 1, 1901 diessr Zeitsohiilt ist das hier Weggelassene zu finden.

üfer.

4. Dm Kind und der AlkohoL

Ad dem 3. holländischen Abstinenz -KougrelB, der am 27. und 28. November im Daag tagte, war die «weite Sitzung gflnilicfa dem Thema »Das Kind und der Alkohol« gewidmet Als erster Redner behandelte

Profe.ssor Tan Rees- Amsterdam den erblichen Einfluüs des Alkohols auf das Kind. Alkohol als anerkanntes Protoplasmagift übt seinen s^'hadliohen Einflufs zu allererst und am meisten auf die zartesten, empfind- Ijchstt n Elemente (Zellen) des Körpers, nftmlich auf die Ganglien -Zellen des zentralen und peripherischen Nervensystems und die Geschlechtszellen ansL Die Beweise hierffir werden aulher durch die Resultate von vielen an Tieren ansgeffOirten Experimenten auoh durah die klinischen Er- fidimngen am Menschen geliefert

DaCa die Kinder unter den erbliehen Folgen des AlkohoIgennsssB der Mtam leiden, ist allgemein und überall wahrgenommen worden.

Wie dieser geheimnisvolle, diabolische Vorganc sich vollzieht, nach welchen biologischen Gesetzen, ist ein noch nicht vollstlladig gelöstes Problem.

Dab die in dem ESrper der Eatem unter dem Binflnsse des Alkohok entrtandenen körperlichen und geistigen Abweichungen selber dordh erb- liche Übertragung auf die Kinder übergingen, wird hentautage von vielen

der hervorragendsten Naturforscher nicht mehr angenommen oder dook Wenigf-tens nicht mehr für erwiesen gehalten.

Die heutzutage von den meisten Naturforschern aiii^cnommene theo- retische Erklarungsweise der erblichen Alkoholdegeneratioa gründet sich:

n) ftof die onmittelbarB Alkoholvergiftung der EeimieUeii nnd der Krocht dnrah den Alkoholgenulb der Eltecn, und

b) anf die erbliche Übertragung der schon bei der Geburt der Eltern

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B. Mitteilungen.

besfohendeE Anlage zu körperlichen und geistigen Abweichungen, die infolge des Aikoholgenusses eines vorigen Oeecblechtes entstanden sind (erbliche Belastung).

Die Grenze des Alkoholgenusses der Eltern zu bestimmen, auTserhalb welcher jeder Bohfldliche EmfluHi auf den Keim oder auf die Fruofat ans- geaoh]«»Be& ist, ist nicht mflgltob. Wahreohemlich ist es, dafo diese Oieaie sehr viel niedriger liegt, als man anzunehmen pfl^;t.

Im Hinblick auf diesen Umstand ist allen angehenden Eltern als sicherster Weg dringend die völlige Abstinenz empfohlen.

Der zweite Redner, Professor Ziehen- Utrecht, behandelte die geistigen und körperlichen Erankheitserscheinangen, die aultreten als Folgen d^ AlkohoIgeDnsses. Zuerst besprach er den verderblichen EünfluHB des Al- kohols, der dem Organismus des Kindes sogeffihrt wird durch den Alkohol* gmuls der Mutter wahrend der Schwangerschaft und in der Zeit des Stillens.

Unter don Formen direkter "Verabreichung des Alkohols an Kinder nannte er mit besonderem Nachdruck die heillose Gewohnheit der Mütter, Kinderfrauen und Kindermädchen, um die Säuglinge durch Cognac oder Branntwein in der Miloh ruhig zu halten, und der vielfiKdi vorkommende Gebrauch, Arsneien in Wein oder Alkohol eincugeben. (Stahlwein u* dergL) Durch andauernden Alkoholgenufs entstehen in den Kinderjahren nidit selten folgende Krankheiten bezw. Krankheitsziistäude : Epilepsie, Hysterie, Neurasthenie, halbseitige Lähmung, Idiotie und andere Goisteskrankheiton. Bald sind die Alkoholoxcesse die einzige Ursache, bald wirken sie mit anderen Krankheitsursachen zusammen.

Oft mftan die Alkoholezoeese eine sogenannte neurolpathisahe Kon- stitution hervor, welche der Sntwiokelung vielfscher Nerven- und Oeistes- krsnkheiten Vorschub leistet

Auch ein einmaliger Alkoholexcefs kann bei dem Kinde eine Geistesstörung hervorrufen, die in vieler Beziehung dem Delirium tremens gleicht, das bei erwachsenen Gewohnheitstrinkern vorkommt. Alle diese Folgekrankheiten kommen bei iunücrn manchmal schon nach dem Genufs Ueioer Dosen vor.

Des Bedners letzte Sohluihfolgerung war daher such, dab Kindern jeder Alkoholgenufs zu verbiete sei.

Als letzter Redner berichtete Herr AntonyDon, allgemeiner Schrift fQhrer des niederländischen Lehrer -Abstinenz- Vereins, über eine Unter- suchung, von dem Vorstand des Vereins angeordnet, naoh dem Umlang des Alkoholgenusses bei Kindern.

Aa slle WentUohen und Frivat-BlenientBrstdiulen versandte der Vor^ stand einen Fragebogen, welcher leider etwas zu lang war und nicht ver-

*y Diflser Yexehi ist am 4 September 1892 von einigen Amstetdamer Lahrsn gegründet und zählt jetzt 23 Zweigvereme mit 600 Mitie^iedem und anlberdem nooli

fast 200 verein zoltc Mitghrdcr. Sie führt eine kräftige Propaganda für eine anti- idkoholische Erziehung, sowohl durch die Sehulo als durch das Elternhaus. Sie hat sich auch sehr verdient gemacht, indem .sie dein GenuCs alkoholischer Getränke anf Kindezfeafien entschieden und erfolgreich entgegengearbeitet hat

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Dmlellender Uatonklit bei BohwaobbeflOiigteii.

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lodkend aiUBAb. Es mnlkto also, wie der Beriohterstttter richtig bemerkte^ eia Bienilich grobes Ihtereeee fdr die fniga bn denjenigeo besteben, die

sie betrachteten. Dieses Interesse rechtfertigt die Vermutung, dafs von fast aUen die gröfste Gewissenhaftigkeit und Voreicht beobachtet worden ist Aufserdem versuchten viele auf vi -1 fache Weise die tosl dea Kindern empfangenen Angaben liontrolliereu.

Die eingegangenen brauchbaren Angaben etätrecken sich über 4380 Kinder. Ans den hierw» »uammengeeetsten Ziffeni, irakdie in dem Yereineoigui Tollstlndig Teröffenflicht wurden, geht hervor» dafe rtm einem tftglichen Alkoholgenufs von Kindern in der Regel nicht die Rede ia^ aber dab gelegentlicher Genufs im weitesten Sinn sehr viel vorkommt.

Von ersterem sowohl, als von letzterem sind In der Sohule mehrmals die schädlichen Folgen zu bemerken.

Ein sehr merkwürdiges Ergebnis brachte ein Vergleich hinsichLiicii der gttiBtigen Entwiokelnng bei den drei Gruppen der tiglioh Trinkenden, der bei Gelegenheit Trinkenden und der Ißoht-Trinker, wovon wir hier die Sohlotoifleni Iblgen leeaen.

Tätlich Trinkende

Gelegentlich Trinkendo

Nicht -Trinker

An^ BeMuMt

IGttel- nibig

Schlecht

Ausge- seidiiiet

Hittel- mSfaig

Schlecht

Ausge- zeiolmet

Mittel-

Sohleoht

11

30

298

666

157

221

75

14,70/,

40% |46^%

233% 1 ß23%

23»6%

S4»6%

48^%

Sehr bedeutsam ist in dieser Reihe der stets steigende Prozentsatz der Beeten und der stete fallende ProzentBati der Sofaleehten.

Wir dürfen in diesen Angaben unstreitig die Besteigung sehen, der

wiederholten wissenschaftlichen ^'ihrnehmnngen in kleinerem Mafsstabe in betreff der dem üeiste so schädlichen Wirkung^^n kleiner Dosen Alkohol bei Kindern. Des Redners letzte Schlufsfolgerung lantete daher auch wieder: »Um des Kindes und der Schule willen soll jeglicher Alkohol- genufs bei Kindern aufs kräftigste bek&mpft werden. <

Haag* J. Sohrender.

5. Darstallender Unterricht bei Schwachbefähigten.

Wir erhalten folgende Zuschrift :

»lu vergangenem Herbst war ich Teilnehmer des Jenaer Ferienkursus. Als solcher hatte ich das grofse Vergnügen, zu beobachten, dafs Herr Oberlehrer Lehmensick mit sehr grofsem Geschick und entsprechendem Erfolg bei den Sohfllem die »darateUende Methode« in Anwendung brachte. Herr Direktor TrQper hat mir jenea Yeiliüiren fttr meinen Untenioht bei den Sohwachbef&higten , dir> mir seit Ostern d. J. anr Pflege anvertraut sindf sehr empfohlen. Bei der liefolgung dieser Anregung hohe ich mich dsvon Überzeugen kOnnen, dais die Schwachbefftbigten sehr gut auf diese

90

B. Mitteilnngen.

Art und Weite der LehrthAtigkeit reagieren. W&hieod die JQnder früher bei dem BmflöhnOreii in die Z-wtngqacke der kateohetieofaen Fragereihen

schnell von der Stange abfielen und gftbnten, Z, B. auch bei der Darbietung der Märchen, zeigen sie jetzt schon f^m. andaiiomd sehr ]»^V*haftes Interesse und helfen wacker mit an dem Aufbauen der Dichtung (Märchen und sonstige Stoffe für den Gesinnungsuntenicht). Auch darf ich ihnen jetzt schon die Vertiefung in den Stoff zumuten, wofQr aio unmittelbar vor den grofimi FeiieD noch ger nicht zu haben iraren. Daa dürfte doeh ein eddagender Beweis dafür sein, dafii jene Lehrweiae natQfgem&fs ist Die Sohfller sind vor allen Dingen auch mitteÜaamer geworden. Ein Sdlfller, der bis jetzt zweilautigo Wüi'tor ohne KnToken rwh nicht zu lesen ver- mag, erzählt die seit den Herbstferien behandelten Märchen ohne jegliche Stütze von Anfang bis zu Ende. Welch' eine Freude 1 Ein anderer Knabe, der vorher den Mund nicht aufthat und kein einziges von den alleceinfiudiBtea Yecaehen an aprechen wagte, iat manchmal derartig mit- teilsam, dab i<di iDweilen KQhe habe^ ilm in die Sohnmken des geeeUigen Verkehrs znrQokzuweiBen.

Nicht verschweigen will ich inflessen, daf-^ rlio Sache allem Anschein nach einen Haken hat, nämlich nach der Seite der Ent Wickelung der Sprachrichtigkeit Ich weils ja sehr wohl, dafs Sprachfertigkeit und Richtigkeit nicht immer gleichen Schritt halten können, dafs jene vidmdir bia rar Sdniloiüaasung einen Voraprang haben mnb und wird, aUein manchmal wirds mir doch mit der Häufung der Fehler ein wenig zu bunt; auf keinen Fall wird sioli dee Review mit dem angeblich vermeintlicdteB Mangel zufrieden geben ....

Vielleidit ftaDsert aioli einer unserer Leser zu der Frage. U.

6. Allerlei Sonderkluwen

bat die Stadt Mannheim auf Betreiben des Stadtscbulrates Dr. 8ickinger errichtet Zunächst du.^ sogenannten Vorbereitungsklasaen vorgesehen. Diejenigen Knaben der Volksschule . welehe «pater in eine MittflRchnle übertreten wollen und nach 2jährigeiu Schulbesuch nach Fä}uL;keit, Fl-ifs und Leistungen die Aussicht bieten, schon in lYi Jahren (aus der 4. statt ana der 5. Klasse) gut vorbereitet in eine Mittelachale flberMen in kOnnen, werden vom 3. Schu^ahr an in beaonderen Ftodlelabteilungen nnteiricfatet Solche Vorbereitungaklassen bestehen adion seit 2 Jahren und werden, weil sie sich sehr gut bewährt haben, auch im neuen Schuljahr geführt Sodann werden durch Beschlufs des Stadtrates solche Kinder, die ans irgend welchen Gründen in ihrer Entwickelung so weit zurückgebiiel>en waren, dais sie trotz zweijährigen Besuchs der untersten Klasse das Lehr- siel der ktitaten nicht eEreiohen konnten, in Hilf akUaaen toh hOdialaBa 20 Kindern aniammengelUbt, deren geringe Freqnena ea dem Lehrer mQglioht, dar Eigenart der einzelnen Schfller in weitgehendem Mafse g»> recht zu werden und sie in dem Notwendigsten für das praktische Leben zu unterweison. Ferner sind für diejenigen Knaben und Mädchen, welche nach einjährigem Besuch der untersten Klasse nicht vwsetat werden

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FOisoige ffir imoniiale Cnder eto. TodeniXBadien Iwi verunglückten Qndera. 9 1

konnten, auf Orund einoB im letzten Schuljahr gemachten günstigen Ver- Baobs probevoise auoh im neuen 8obi4j«lii sogenaDute WiederholuD ga- lt lassen ▼oigeechon mit je einem beBonderan Lefarar, der aeine ganse Knit auf die F&rdenmg der schwachen Kinder verwendet. Endlich sollen

versuch ?w*^isr> solche Knalnjn und Mädchen, welche Optrnn 1902 und Ostern 1903 zur Entlassung kommen, ohne Aussicht ?ii l al n, im schiil- pflichtigen Alter auch nur in die zweitoborste Klasse zu kominen, in Äb- schlufsk lassen (5. und 6. Erlasse) durch einen besonderen Unterrichts- guDg ZU einem gewiaaen Abeehlnlb in den wichtigsten FAehem gebnudit sa wurden. Trttper.

7. Fürsorge für anormale Kinder in Ungarn.

Die 4. Nummer des Unternehmens »Gyögypädagugiai könyvtar« (Heil- pädagogische Bibliothek) enthält eine vom Direktor der Landes- Lehranstalt für bildungsfähige Kretins und Schwachsinnige, Presbyter Ludwig SknltÖty im Auftrage des UnternohtaminiBteriama verikTate Anleitung nur Bdiandlung von Cratins, Schwachsinnigen nnd Minderb^btra. Der traurige Umstand, daüs von den 15 908 Cretins, welche nach der jfingsten Volkszählung in TTnp:arn vorhanden waren, in den bestehenden Spezial- institutcn nur 20 0 untergebracht werden können, läüst eine Anleitung für jene Personen, die sich mit den geistig Schwachen zu befassen haben, alao Tomehmlioh fOr Eltern, Seelsorger und Irste als aktuell und not- wendig eraehainen. Daa Toriiegende Werk, welofaea eine detaillierte Symptomatologie, sowie Anweisungen fOr die Ausbildung von Schwach* sinnigen zu brauchbaren Arbeitern enthält, erfüllt einen edlen Zweck, in- dem es die Möglichkeit bietet, den vielen Taueenden Schwachsinnigen, die infolge des Raummangels in Anstalten keine Aufnahme finden können, dne entsprechende Erziehung und Ausbildung zu teil werden zu lassen.

Caurgö (Ungarn). _____ ^©thes.

8. TodeBnnaohen bei Tonuiglftekten Kindern.

Die Zahl der im Jahre 1897 in Prenlsen tOdliob Terunglfickten

Kinder bis zu 15 Jahren betrug 3626. Davon waren 2315 Knaben und 1311 Mädchen. Unter 5 Jahre alt waren 1245 Knaben und 926 Mädchen. Es ertranken 1381 (BIG allein beim Baden, fast aueschliefslich an ver- botenen Orten), verbraunten 742, wurden überfahren 418, sind abgestQrzt 330, erstickten 304 (109 duroh Rauch oder Gase, 61 in Betten, 11 wurden Ten den Ifttttem im Solilafe eratiekt, 66 «ratioktaa an ?eK8ohlnckten Oegenstinden, unter dieaen befimd aich zwölfmal der Baugpfropfen) ; es wurden erschlagen 7CS, wurden vergiftet 78, kamen auf andere Weise ums Leben 205. Von diesen wurden erschossen 44 Kinder, teils durch eigenes Verschulden infolge Spielens mit Schufswaflen, teils durch Fahr- lässigkeit anderer Personen ; durch Insektenstiche starben 1 G Kinder, durch den Bilii toUer Hunde 3, duroh Schlangenbisse 2, durch Schlag, Stoib oder BUii anderer Tiere 2. Erfroren sind 2 Kinder, 23 winden dunsh Blita- Bchlag getötet, 15 erlagen dem Sonnenstiche und verhungert ist 1 Kind, ein Sj&hriger Knabe, der sloh im Walde veriirt hatte. U.

93

G. Uttentar.

9. Nervöse Sprachstörungen im Kindesalter

sind eine ziemlich häufige Erscheinung'. Ein niclit uneriiebiiclier Teil dor kleinen Patienten, welche stottern, ist nervöß belastet, stammt also aus nerrdsen Familien oder ist aelbet nervOs. Sehr häufig waa findet man bei ihnen -worauf Dr. Guts mann in einem interessanten Vortrage anf dor deutschen Natarfbrschervereammlung zu Hamburg hingewieseu hat Ver- dauungsstörungen, welche zum Teil die Folge einer fehlerhaften ErnÄhrunga- weise sind. Besonders schadic-ond wirkt eino übormarsigf» Fleischkost. Dr. Gut7,niann hat in mehreren iälien durch eine Veränderung bei Diät, Ein- sciiräiikung der Fleischnahrung, Bewegung in frischer Luft und regelmäCaige Waaohnngen am Morgen nnd Abend dieeee nervQae Stottern ▼oUstftndig zum Yeraohwinden gebradi^ ohne dafa es nfilig gewesen wlie, beeondera ausgedehnte Sprachübungen ▼onunehmen. Tr.

C. Litteratur.

I. Dr. A. Beer, Sanltätsrat in Berlin, Der Selbstmord im kindlichen Lobpn>- alter. Eine sozial -hygienische Studie. Leipzig 1901. ^. 84 S, Preis 2 M. Der Verfasütir dieser Arbeit hat sich bereits früher auch aufserfaalb des KreLi^«» setner BernlagfliMMaen durah son Weik tber den Terbvedier bekaiini gemaebi, Via dieses, so zeigt audi die voritsgende Schrift die grofse Belescnhoit des Verfassers; allerdings woL'^t fdo stellenweise mich dieselben M:iP!^f>1 in der Darstellung auf. Die Arbeiten Baers lesen sich nicht leicht, da er häufig das Material nur lose an- einanderreiht nnd die Verarbeitung zum groiaen Teil dem Leser überltJst, hin und wieder aueh mit sich setlMt in "WideTspraoh gnftt. IMese Bomerkniig hsi Indenen nicht den. Zweck, von der Beer sehen Aibeit abmschTsoken, senden sie soll aar anf etwas aufmerksam macheu, was man mit in den Kauf nehmen nulli. Sie Schrift Baers verdient den weitesten Leserkreis, sei es zur Vorbeugnn^, sei es auch bloÜB zur Aufklärung, und sie ist um so mehr willkommen zu heif2»en, ala sie «ne von den wenigen selbständigen Schriften ist, die ansschlieMch dem Selbst- mord im Kindesslter gewidmet sind. In deatsoher Spiaohe ist mir sonst nur die Schrift des Leipziger Lehren GnstaT Siegert »Bsa PtoUem der Xiadeiaelhst- moide« (1893) bekannt.

Die Arbeit Baers besteht aas zwpi Abschnitten. Die erste bandelt von der Häufigkeit der Selbstmorde im kindijuhen Lebensalter. Ihm entneimien wir, dab der Selbstmord im IHändessHer (bis aam 15. Jshie) tasofem asohweiite' und gesets- mäTsig abhängig ist, als er, wann snch nicht in gleichem Verhältnisse und aaeh ohne jeden Parallelismus, dort h.lufiger wird, wo jene zuninimti In Prsabeik haben sich die Kinderseibstmoide folgendermafsen gesteigert:

1869—73 kam ein Kinder»elb8tmord auf 6G6022 Einwohner

1874—78 ., 636873

1879-83 ^ ^ 435982

1884-88 494810

1889-93 424939

1804-98 4Ö7816

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<X litteKatnr.

93

In dem Zeitraum fom 1860 Ub 1808 afaolMii in Fraoiea inudk SdlMlaM»d 1706 Kinder im Altw Iw n 16 Jahini» oder jihdicli 68,9 (44.9 Knalmi vdA I2fi

Uädchen). Auf 4 Knaben kommt 1 H&dohen. Daza ist noch zu erwfigcn, dafs die wirkliche Zahl der KindeiseUMitmonle |edeiif«ll8 grÖfiMr ist, ils durch die Statistik festgestellt werden kann.

Die Neigung zum Sell^tmoxxi tntt bei Knaben t>ciion viel früher auf als bai Hüdfliian. Baor ttSbtt hat 4 aetbstmoidfille ana der Zait tob 3Vi— 4 Jahiw mil- geteflt, hei denen aa sich nur um Knaben haiKielt. Im Alter von 13—16 Jahran hingegen überwiegt die Neigung zum Selbstmord orhebliob bei den Mädchen wegen der mch f^eltend machenden PubertätszTjstände und der mit diesen verbundenen Ein- wirkungen auf das Oemütsleben. Nach dem Beobachtungsmatexuü i>uer.s kummen anf Zaü vom 13. tiia 16. Lebeujalue 48.76% Kaabeii ond 75,00% MBdehen, fCfBB 85^00% Knaben und 12,00% Hldelioa im AXbw von 4— 10 Jahren.

"Was die Todesart betrifft, so führt von Oettingen an, dals der Knabe unter 15 Jahren sirh erhängt (86,1 "/q Fälle), tjt) das Mädchen sich ins Wasser stürzt (71,4%); auch David findet, dab in Dänemark dio mümüichen Selb«ftmörder anter 15 Jahren den Strick (SG^'/q), die weiblichen das Wasser (76 7o) ^orxiehen. Unter den von Siegort gottnunelten lUlen, (63 Knahen imd 26 Udohan) haben aioh ertränkt 10 Knaben (18,080/«) «kd 14 HSdchen (66,0 «VJ, aihlngt 28 Knaben (62,83 o-o) und kein Miidcben.

Besonders auffällig erscheint die Thatsache. djiis Raer über einen jungen Selbstmörder zu berichten weilä, der erst 37, «i^r alt war. in D uraud-Fardela ▲nfrihlung beträgt daa niedrigala llter 6 Jahra.

Der zweite Abschnitt der Baerschen Sduift handelt von dt u Ursachen des Selbstmordes im kindlichen Lebensalter, und zwar a) von solchen Ursachen, dio innerhalb des kind1i( hen nrnrnrtismus JiegoOf und b) Von Bolobeo, die aolaerhalb des lundiicken Oiiganismuä Uegou.

Ih Uiaaehen innoxhalb dea kindlioben Oxganiamni wardon angeführt: Goiatea- ntSrang» minderwortlgo (hgadaation, Abatammnng. Die gröbte ZaU beruht aller Wahrscheinlichkeit nadh mehr oder weniger auf Oeistesstörung, denn auch ein sehr groCser Teil der Fälle, wo die Ursachen unbekannt sind, gehört hierher. Geistes- störung ist durchaus nicht nur da anzunehmen, wo sie ausdmckÜch angegeben ist. Kach der Berechnung Muräeiiia kamen auf ICKX) Selbstmörder unter 16 Jahren in Kraben in den Jahien 1869—72:

Unbekannte Motivo . .

. . . 433,3 1

[nabai

1 und 318,2 1

Udo

116,7

46^

n

Beue, Scham, (Sowiaaenabiaae 300,0

«

n

40,1

n

»

90.9

J1

K6rpeiüflho Leidan . ,

46^

V

»

»

n

n

. . . 8,3

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, . . 8,3

11

n

90,9

11

Waa die anbeihalb dea ^dea Hunden Uraaohen angeht, ao kommt in ge-

wiä>cr Bt/iehuu^ die weitere ümgebong. in moderne Zivilisation der menabhUdien

GeBell&chaft in Betracht Wie diese die Selbstinonl»' der Erwachsenen gesteigert hat, fio auch die Selbstmorde im Kindesalter, wenn aueti lange nicht im gleichou Verhältnisse. Es ist Thatsache »dal» der Kinderselbstmord in einer gewij>i>eu üe-

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94

C littontar.

setnnlfaigkaift fOeilumiit uax in Lindem mit hoher KnUaittitwiekeliing anfiritt und in dieeen aooh stetig zanimmic (S. 40.) Genaueres ist aber in dieser Beziehnag

bis jetzt nicht zuverlässig orniittolt worden. Man hat wohl geglaubt, die Kinder- seibstmorde steigerten sich je nach der Bevölkoningsdiclitigkoit oder dem Industrie- reichtum gewisser Gegenden. Wie wenig begründet das bis jetzt ist, besagt folgende Stelle: »Die meietan ÜBdenaltetnunde (im JDhiignioh PraolbeB) hat die Ftovint fiachaan, die wenigsten die PloTinx Posen. Sachsen irt nngnnein indastxieteioh, Posen ungemein industriearm. Ost- und Westpreulsen sind aber so industriearm als Posen, haben alt r heinahe dreimal so viel Kindersolbstmorde als dieses. Schlesien bat dreimal so viel Kinderselbstmorde wie die Rheinprovinz und ist weniger dicht bt^voUieil, hat weniger Stadtbevölkerung als diese. Pommern ist über zweimal weniger dieht hevülkeit als Hessen -Naasan, ist indnstxiesnn und hat fittt nur LandbeTÖlkenngt dabei hat es nur etwas weniger Kinderselbstmorde als jene c (S. 41.) Die An« sieht, diifs die gewerbliclio Beschäftigung der Kinder von Einflufs sei, wird eben« falls nicht bestätigt. Auch die Anhäufung groCser Menschournas-sen (Grofsstädte) ist nicht ausschlaggebend, in der Provinz Brandenburg z. B. kommt auf 95 erwach^oe 8eU)8tmöider 1 Halt im Alter nnter 16 Jahren, in Beilin hingegen eist aaf 137.

Bei der engeren Umgebong tommen hsittpteiohKeh die Familie und die Scdinle in Frage. Betreffs der Familie ist zunächst hervorzuheben, dafs sich am der Statistik nicht ersehen läfst, dals die Kinder«!eIhstmorde in einzelnen Klassen dor Bevoliiiciruug vorwiegend vorkommen. »Die Kinderselbstmorde, si^ schon Durand^ Fardel, kommen tn allen OeeaUsohaflwHssBen Tor; die Motire sind immer die- selben, und die Tersehiedenheit der LebenssteUnog msefaft aoh bei Xindem moht so wie im spftteren Alter geltend.« Betreffs der Schule macht Baer u. a. folgende Bemerkung; »Ein sehr starkes Kontingent zum Schijh:'?-«elbstmorde stellt die Furcht vor der Strafe. Nach den antjeführten amtlichen Krnnttolangen wird dieses Momeot in deu höheren SchuleD bei ö2 iuiaben^elbätmurdeu nur euimal, ebenso bei 3 Mädchen- Selbstmorden nur einmal erw&hnt, wlhrend sich unter 104 Knabeneelbetmorden der niederen Schulen 45 aus dieser üiBBiohe das Leben nahmen: d. i. 65,71 ^/q, bekiahe ein Viertel aller.» S. ')3 hoifst es ferner; »Der Sohulhetriob und das Schulsystem selbst ist in den allorseitensten Fällen die Ursache für das Eintreten von Schüler- sei bätmuni oder Scbülerimiinni die Schule wird eine Mitorsache zu diesen unglück- lidtea OesohehnisaeD haiqiltfohliah ma bei einam BÜnderwertigen SdiSlemaAsiial, das sidi für einen höheren Sohulnnterridit nidht eigne!« ffiennit iat eher die ür* Sache des häufigezen Selbstmordes wegen Fnreht vor der Strafe bei Schülern der niederen Schulen die Richtigkeit vorausgesetzt nicht erklärt, zumal Baer bei dem höheren Unterricht kaum auch an Volksschuiunterricht gedacht haben wird. In welcher Richtung jedoch die Oedankeu Baers gehen, zeigt eine Bemerkung anf B. 60: »Letztere XJnaohe nämlieh ,harte» beaw. nnwftrdige Behandlung^ findet sich in einer %I 1 irr fsorcn Zahl bei den Schülern der niederen ala dar höheren Schulen, weil die Zucbtn ittol in diesen in nicht so intensiver und wohl auch nicht in so roher Weise angewendet zu werden pflegen.« Hierzu i^t zunächst zu sagen, dais die Volksschule stroogeror Zuohtmittel bedarf am die höhere und ■nch wdt mehr mr Übezaoiizeitung verieitat wird, weil sie ao lisBilioh alle SöMUer bi^tam mofli, wihvend aioh die hüliere der nnfthigen wid in atiifceinm Oiada ungezogenen ohne weiteres entledigen kann. Ein beträchtlicher Teil dieser Un- fähigen und Ungezogenen sind aber wie auch Baer nicht bestreiten wird pisycho- pathisch veraniagto Kinder, und so braucht man sich über die höhere Zahl der Selbstmorde, die mit Strafe und sonstiger Behandlung als GelegenheitBUiaadhe sn-

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Ck Litteratur.

95

sammcDgcbracht werden, nicht «u wandern und durchaus nicht inimer an eine ver- werfliche Zncht zu denken. Baer führt zwar (nach Siegert) einen Fall an, den gewils jeder «dk Kdübcfrte vanutefleii «iid: Ans M. in Bayeni wuide 1891 be- tiohtet, &Mtä ein SoholinBpektor ein 10 jibiigea Hidclieii tnte desmi Inftigmi Wider. Standes vor der Klasse auf den entblö&ten Hinterkörper schlug. Das Kind nahm sich hierauf im nahen Walde das Loben. Im Unterschiede hierzu will ich einen Fall aus lueLnor Ki-fahrung mitteilen, der in mehr als einer Beziehnut; lehrreich ist: Ein Knabe im Alter von 13 Jahren mit geringer Befähigung zutu Lerueu, von UaaBen AaBsehen und stiUem Wesen, der aeine fidralarlieiten niobt aoxgfSiltig maektte und Ifatter tmd Lehrer (der Yater war tot) oft hinteiqgangeti halle, am^te einen Selbstmordversuch durch Erhängen, weil der Lehrer ein Heft durch einen anderen Schüler an die Mutter geschickt hatte. Da sich die Schlinge nicht vollständig zuzog, und mm ihn rechtzeitig fand, wuitle er gerettet. Am Körper trug er zahlreiche dunkle Striemen, die die Mutter zuerst dem Lehrer zur Last l^gte, bis der Knabe nadx einigen Hägen erUBrie, dalb aie Qun yon einem Aunenden im Spiel uitlelat einen Biemena betgelnadit weiden aeittn. Ufer.

Z Dr. Tlswitr Mifftar, Jnhrbnoii der Krüppelfuraorge. Zn^oioli Redien- achaftsbericht ftber das Krüppelheim in Altona.

Das Ruch enthält einige Aufsätze über Krüppelfürsorge, Pastor Hans Kund sen Taubstumm-blind und eine hemerVenswerte Zusanimonstellang einschlägiger Litteratur. Alsdann folgt der Kechenächaftsbe rieht über das Krüppelheim zu Altona. Attdx und einige hübsche Illustrationen dem Buche beigegeben worden.

Der Teifaaaer iat mit Beoht der Heinnng, dafii ein einlacher Beohenacliafta* bericht durohaoa nicht genüge, um das bis jetzt noch mangelhafte Interesse für din Knippcjfürsorge zu erwecten. Statt dessen führt er nun eine Aneinanderreihung von Erlebnissen und Erfalirunf^en auf, die dem genannten Zwecke weit besser zu dienen vermögen. Der bekannte Würzburger Chirurg, Professor Dr. Hoff a, schätzt din Zahl der Yerkrappelten im Deutschen Beiche auf 5(X) 000 und fügt hieaa: »Daa itt eion Zahl, deren grobe aonalpolitiaehe Qebtr nocdi um ao mehr hemrtritt, wenn wir bedenken, dafs ein grofser Teil dieser Defonnieiten arm und erwerbsunfähig ist.«

Es ist also wohl geboten, sich auch vom Idndeipeyoholegiadien Standponkte mit der Frage der Krüppelfürsorgo zu befassen.

Wir empfehlen deshalb das »Jahrbuch«, das innerhalb zweier Monate seine

2. Auflage eriehtei andi nnaern Leaern.

Jena. Stnkenbttrg.

3. A. GrehaiiBa, Ernstes und Heiteres ana meinen Erinnerungen im Ter- kehr mit Sohwaohainnigen. Zürich, Mehiaine, 1001. Id. 9. 188 S. Fraia

2,40 M.

Wie ein Ingenieur da.s ist der Verfasser dazu kommt, ein solches Buch zu schreiben, dürfte nicht ohne weiteres klar sein. Kr ist aber ein guter praktischer Psycholog und überdies I^iter eines Arbeiterinstituts für sogenannte Kerrenkraake^ Wae er an Formen des geringen SdtwaohainnB gesehen

hati weib «r gana Tonü^ich damurtellen. Wer sich dann stoben aolMe, dalii dsr Verfasser an diesem traaij^ Oegenatande snoh Heiteres findet, mag sich beruhigen. Der Ton der Schrift ist edel imd gut. Da sie von sachverständiger Seite (Möbius) in der medizinischen Presse empfohlen worden ist, tragen wir um so weniger Be- denken, ihr auch au dieser Stelle ein empfehlendes Wort mitzugeben. Auch ein

KinderbQd ist darin.

DIer.

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96

G. Litteratur.

Verbesseniag.

In dem Litteraturberichte im 1. Heft über das Antwerpener Paedologiscbe Jahrbuch ist leider die Reproduktion der Figuren fehlerhaft gewesen. Hierunter geben wir sie noch einmal.

Zugleich sei hier der folgende Druckfehler verbessert. S. 46, Z. 13 v. o. lese man : »Man ist gewohnt, fiir den Vergleich zwischen linker und rechter Muskelkraft, die letztere immer 10 (nicht, wie da steht, so) zu setzen, c MoDato

% J. F. M. A. M. J. J. A. S. 0. N. D.

50-

Kn.

46-

KL

40-

36-

Fi^. 1. Kinder von 1889.

Kai I< 'III Pohode

F;ill''nilo IVriodo (nicht wHhrgenomjnsD)

PiK. 2. Kindor von 1890.

-60

-45

-40

-35

-35

.Steixwdo F«noile

Druck von UernianQ Uo^or i; Söhne iDejor & Mann) in Ljuigoo&aLuu

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Abhandlungen

1. Über das Zusammenwirken von Medizin und Päda- gogik bei der Fürsorge für unsere abnormen Kinder,

Von J. Truper.

n. Zur Frage der Iieitrmg von Anstalten und Schulen für Abnorme.

In dem Vorwort zu der deutschen Ausgabe der Schrift des Fran- zosen Sollier: »Der Idiot und der Imbecille« (Hamburg und Leipzig, Leopold Voss, 1891) schreibt der Bonner Psychiater Geheimrat Prof. Dr. Pet.max:

Darüber tann am Ende ein Zweifel nicht bestehen, dafs die heilende Thätigkeit des Arztes auf diesem Gebiete keinen Boden findet, und in dieser Beziehung zwischen Idiotie und Geistesstörung ein durchgreifender Unterschied besteht

»Was uns bei den Idioten als die pathologische Grundlage ihres Leidens entgegentritt, das sind die Residuen längst abgelaufener Krankheitsprozesse, und diese können wir durch keine ärztliche Kunst mehr beseitigen. Die geistige Schwäche, die ihren Grund in der angeborenen oder in den ersten Kinderjahren erworbenen Gehirn- krankheit hat, ist einer Heilung nicht mehr fähig, und die Aufgabe des Arztes kann daher eine nur wenig lohnende sein.

»Etwas besser liegt es auf dem Gebiete der Erziehung, und wenn Bich der Schwerpunkt der Idiotonpflege bei uns mehr dieser Richtung zugewandt hat und die Idiotenanstalten meist unter der Leitung von Pädagogen oder Geistlichen stehen, so ist dagegen nichts zu erwidern, als dafs die wissenschaftliche Erforschung der pathologischen Grund- zustände und des Wesens der Erkrankung selbst darunter selbst- verständlich zurückstehen mufste.«

Dazu bemerkt Weyoandt S. 25: »Don resignierten Worten Pelmans:

Die Kiflderfehler. VII. Jahr^g. 7

98

A. Abhandhtngai.

»dals die heilende Thätigkeit des Arztes auf diesem Gebiete keinen Bdden findet«, möchte ich nicht zustimmen. Gerade Sollhx, den PfeuiAH In die deutsche Idttontor einfahrt, ist neben Bocrnkville, Sfoimi und anderen ein Beweis dafOr, wie frachtbar die ftuizdsisobe Einrichtung einer Idiotenpflege nnter SrzÜioher Leitung für die Lehre Ton der Idiotie geworden ist Dab aber erst anf einer wohlbegrün- deten Pathologie sich eine befriedigende Therapie aufbaat, brwiohe ich nicht des Näheren zn erSrtem.€

Bab wir mit dem Letzt^'csagten ganz einverstanden sind, haben wir im 1. Artikel bereits dargelegt. Aach habe ich das seinerzeit anf dem Kongresse für Idiotenwesen in Heidelberg schon nachdrttcUich betont und es front mich, dalis Wkzoakdt meine Torschläge ron damals wieder aninimmt, indem er ans dem Angeführten folgert: »Es ist ca empfehlen, dafs auch die psychiatrischen Kliniken eine ge- wisse Anzahl jugendlicher Idioten und Imbecillen zn Zwecken der Forschung und des Unterrichts (?) aufnehmen.«

Dafs aber die französische Einrichtung einer Idiotei^lloge unter firztlicher Leitung fruchtbarer f Qr die Lehre yon der Idiotie geworden ist als die deutsche and nordameiikanische unter pSdagogischer Leitung, ist eine unerwieeene und schwer zu beweisende Behauptung. Bas Buch Yon SoLLDEB beweist das nur ffir Dr. Wetoandt, weil er die pftdagogische litteratur durchaus ungenügend in Vergleich gezogen hat Auiserdem sind die medizinische und die pSdagogiscfae Erfor- schung zwei sich nur teilweise deckende Kreise, die sich darum schwer Tergleichen lassen. Und endlidi: erst wenn der Staat und das Publikum dieselben Geldopfor für die Pflege der pädagogischen Wissenschaft und die pädagogisch geleiteten Anstalten bringen, wie sie es längst für die Medizin und die ärztlich geleiteten Anstalten thun, lälst sich ein vergleichendes Urteil f&Uen, das Anspruch auf Gerechtigkeit bat^) Bisher waren es trotzdem thatsächlich nicht in erster Linie Ärzte, sondern Lehrer und Geistliche, welche die unglücklichen Schwachsinnigen, Idiotischen und Epileptischen von der Strafsc auflasen und ihnen die eiste und nötigste Fürsorge an- gedeihen liefsen und noch angedeihen lassen. Und das, was wir in der Litteratur an wertvollen Anregungen über das Verständnis und für die erziehliche Behandlung idiotischer und epileptischer Kinder hatten, stammte zum grolsen Teile von Pädagogen. Selbst Dr. med.

I) Anf «inen sellistindigeii Lehntnbl für Pädagogik «n dan doatadien Uni*> Tersitäten kommen mindeslans 50 für Hedian, und doch bnndien wir eihaliANlL mehr Lehrer als Inte.

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IMm: Über das Znsammeavixfceii von Median und FUagqgik elo. 99

EiRN in Hfiokem nnd Dr. med. £ind in Langenhagen waren Idioten- lehr er, die die EiigBnzang ihrer dttrftfgen pädagogiadi«! Studien doroh medizinisohe fttr dringend erwtknedit hielten nnd darum anoh noch Medizin stndiwten. £nt in neuerer Zeit hat, wie Wxroiinyr selbst beweist, anch die F^ohiatiie sich der Schwaohsinnigenbehandlnng besonders angenommen. SelbstFeistlndlioh Hegt es nns sehr feni« die segensreiche Hitarbeit, ja Yoracrbeit der Mediziner irgeadwie onter- sobAtzen zn wollen. Im Gegenteil, wir an^tamen gerne, dab sie, namentlich im letzten Jahrzehnt, viel fflr die Erfoisohmig abnormer Zn- stSnde geleistet haben und werden in einem der nächsten Hefte unsere Leser mit den bedeutsamsten Werken niher bekannt madien, auch haben wir mit WiroAin» nur den sehnlichen Wunsch, dafe sie Mi noch weit mehr als bisher an der Mitarbeit in der Fürsorge beteiligen. Es giebt hier gerade ftUr die Medizin noch aniberordentlich viel zu tfaun. Nor meinen wir: der Medizin fillt bei der Brziehnng Sohwaohsinniger nicht eine direkte und volle Aufgabe zu, sondern nur ^e TeiU«%abe. Was de bei den Schwachsinnigen Obevhanpt zn heilen findet, das hat seine Grenzen und mit dem Schwadüimi an sich oft nichts oder sehr wenig zu thun. Bas sind nebenher laufende Krankheiten, die sich anch bei Nicht-Idioten zeigen und um derer willen man doch Hans nnd Schule nicht unter irztliche Leitung stellen mOcihte.

Idiotie und Imbecillittt ist nach WiroABiyis eigener Defi- nition (S. 6) »ein Zustand, der auf Grund einer ITnterbreohnng in der Entwickeln ng des Trügers der psychischen Erscheinungen Tor der Geburt oder in den ersten Lebensjahren entstanden ist«. Auch wenn alle Idiotenanstalten von Ärzten geleitet werden, so lernen die lizte doch niemsls, diese Unterbrechung ungeschehen ZQ machen und ein Kind von neuem geboren werden zn lassen. Aul andere Weise können sie zwar krankhafte Begleiterscheinungen der Idiotie heilen, aber niemals die Idiotie selbst Fxlkah behilt also Yoll recht

Bei Dr. Wireiia» ist ansdbeinend ein Wnnsoh, dn Standes- ' wünsch der Täter seiner Urteile, denn er fiOtrt (S. 28 f.) fort: »Ich glaube hier bereits meine Ansicht Torw^ebmen zn kdnnen, data zur Beaafsichtignng aller therapeutischen Einflüsse bei Idioten und Imbecillen, vor allem im Rahmen einer ge- schlossenen Anstalt, der entsprechend yorgebfldete Arzt die geeignetste Persönlichkeit ist, wührenddie spenelle Durch- ftthrung des wichtigsten Teiles der Therapie, der in der psychi- schen Bebandlang zu erblicken ist, sich wesentlich auf pftdagogischem Gebiete bewogt und weitaus am besten ron besonders Torgebildeten

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A* AblimdliiDgen.

Lehrern, beziuiiuugi> weise Lehreriunen ins Werk gesetzt werdea kann.«

S. 86 93 widmet er dieser Fi-age sogar um eigenes Kapitel: »Leitunf^ der Anstalten*.

Dasselbe spitzt sich sachlich dabin zu, welche Persönlichkeit sich zur Leitung der Anstalten von Schwachsinnigen am besten eignen, der Arzt oder der Pädagoge von Fach. "Wir stimmen ihm voll zu, wenn er sagt: »Die Behandlung der Schwachsinnigen ist, stien^^ ge- nommen, weder streng medizinisch« noch streng pädagogisch durch- führbar.« Der Lehrer müsse darum erst medizinische Studien treiben, oder der Mediziner pädagogische Stadien und die Geistlichen beides. WEYOAMyr meint, datSs der Arzt leichter das pädagogische Studium nachholen könne, wenn er wirkUoh Über ein EnEehtmgs- und Lehr- talent Terfüge, obgleich die Fftdagogik in noch strengerem Sinne eine Kunst eei als die Heilkunde. Wir besweifeln keineswegs mit Wnr- OAMDT, daCi ee derartig Tersnlagte Mediziner giebt Aber wenn ein Aizt mit GeeoMok Enrse in Siankenpflege abhSlt, dem Wartepenonal üntenicht giebt etc., so hat er damit, wie Br. WireANnr meint, noch keineswegs seine BefiUiigung für die Eiziehnng SchwaohsinBiger bewiesen, ond dann sind solche Talente doch immer nnr Ausnahmen; ei2ke allgemeine Norm kann aber nicht nach den Ausnahmen, sondern mul^ nach der Bogel geechaffen werden. Solehe Ausnahmen sind ganz anüserordentlich wertroll, und uns liegt es fem, zu sagen, dab ein solcher Arzt nicht auch eine Erziehungeanstalt leiten kdnne. Im GegenteU, wir glauben, dafo eine solche Anstalt mehr leisten wird als die Durdhschnittsanstalten, welche von FSdagogen geleitet werden. Bas Talent oder gar das Qenie wird weder auf den Bfinken des Lehrerseminars noch auf denen des Gymnasiums und der Umversitit ersessen und das richtige Herz für eine Sache erat recht nicht £s ist darum zu bedauern, dab die Kachthabenden es heuizatage absolut nicht verstehai, zu unterscheiden, ob jemand, der jene Schablonen ge* mieden hat oder wegen Mangel an tuberen Mitteln meiden mubte, ein Genie oder ein Charlatan ist und dab die einzelnen Berubkreise duroh Gesetzeszäune diese Talente sich aus ihrem Kreise fernzuhalten streben. Ein Arzt kann also sehr wohl auch ein friidagogischeB Genie sein. Ist es doch in der Medizin auch so: die endlich auch in den Fach- kreisen modern gewordene Natur-Heilmethode ist Ton Nichtmedizinem ausgegangen und auch populär geworden. Auch der Orthopftde Hessing, der früher doch nur Feldacherer war, hat sich keineswegs als Kurpfuscher erwiesen, wie man ihn schalt, sondern manche Schul- Chirurgen und -Orthopäden in den Schatten gestellt Barum sollen

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TMtosR* Über das Znawuneniritlnii toh Medinn und Pld^gogik eto. 101

uns «ueh iiste als Leiter von selbstgegrflndeten Heilenlelning^- aostalteii willkommen sein tmd wir wollen sie niolit pädagogische »Empfnsolier« nennen. Aber die Begel darf es nicht aem.

Nun sagt aber WsToiicnr: »Das Anaschlaggebende tOx die PricK ritftt des Azztea vor dem Pfidagogen in der Idiotenanstaltsleitung ist aber doch die Rücksicht anf die Omndlage des Schwachsinns, auf die pathologischen Yethfiltnisae. Hag Pbuun anch recht behalten, daft sich der einzelne Idiot bei nns nicht sdilechter steht als im Auslände, die Idiotie selbst^) aber steht entschieden minder hoch, die Erforschnng des Znstandes nach seiner ätiologischen, anatomischen und psychologiadien Seite hin liegt bei nns noch dnrohans im Argen. In dieser Hinsicht kann ich anf die Worte 'Kstäsmjim Terweisen: ithfolgedessen ist kein Zweig der Fäjchiatrie wissenschaftlich so nnent- wickelt geblieben wie die Lehre von der Idiotie. Wir erkennen freudig an, was Lehrer und Geiatliche anf diesem so domenToUen Boden an mühseliger emeheiiseher Thätigkeit geleistet haben. Niemand wird ihnen daher dieses ihr eigenstes Gebiet streitig raachen wollen. Auf der andern Seite darf aber dnrohaDs nicht veigessen werden, dalh die Idiotie eine Krankheit*) iat Solche Fortschritte anf diesen Gebiete, die Aber die Ersinnung eines sweckml&igen ünterridhtSTerfahxena hinausgehen, sind daher ansschliefsUoh (?) von der Arbeit psjchta» lasch gebildeter Ärzte zn yerrichte(n.*c

Wir stimmen Kbaxpiun bis anf den letzten Satz toU zo, aber daraus folgt wieder etwas anderes, als Dr. Wetoaiibt daraas folgert Mb folgt daraus, dals die Psychiatrie als Wissenschaft ihre Auf* gäbe den schwachsinnigen Kindern gegenüber mehr als bisher er^ füllen sollte. Die Psychiatrie des Kindes liegt wie die Gesamtpäda^ gogik an den Universitäten aufserordentlich im Argen. Unter anderen entschuldigenden Gründen darf ich wohJ auch noch einen anführen, der die Sache am meisten mit entsohaldigt Als ich Prof. Kmaepwuk darauf aufmerksam machte, es sollte doch eigentlich jede peydua-^ triache Klinik auch stets eine Zahl von abnormen Kindern znm, Studium für Ärzte und Lehrer iiaben, also eine Art Schwachsinnigen- klasse einrichten, antwortete er mir, das sei gewifs sehr recht, aber die armen Kinder würden ihm leid thun. Überdies sind die An- stalten zur Fürsorge und Erziehung der unglücklichen Kinder da. Die wissensohaftliche forsohang ist zon&ohst Au^abe^der

') Dts wftsa änberat exfnnlich, dodk meint urmmmt gswib dia SrkauntiUa

ilamullKiii

*) WoM xiohtigei:: die Folge einer Krankheit

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Am AUiaadliBifan.

üniTersitftt and bleibt an Anstalten mehr loebhaberei oder doch treiwillige Arbeit, an der jeder Anstaltsarzt imd jeder Schnlant Mx ja auch jetzt ungehindert betoUigen kann. Wbioihdt mfllhte seine Wünsche darum mit uns an andere Adressen riohten.

Br. Weyqandt kommt sodann auf die einstimmig angonommene Resolution der Irrenirzte in Frankfurt zorfidc »Die nicht unter ärzt- licher Leitung stehenden Anstalten für Geisteskranke, für Epileptisdie nnd für Idioten entsprechen nicht den Anforderungen der Wissen* sohaft, JSifahrang und Humanität uud können deshalb als sur wshning, Kar und Fflegc die or Kranken geeignete Anstalten anoh

im Sinne dos Gesetzes vom 11. Juli 1891 nicht betrachtet werden.

Es ist deshalb Pflicht des Staates, der Provinzial- und Ereisverbände, die lulfsbedürftigen Geisteskranken, Epileptischen und Idioten in «genen nnter ärztlicher Leitung und Verantwortung stehenden An- stalten zu bewahren.«

Wenn die Irrenärzte diese Resolution einstimmig gefalst haben, so mag das im Interesse des ärztlichen Standes liegen. Im Inter- esse der Erziehungsanstalten für Idioten und für einen Teil der Epileptischen liegt es nicht, wenn in dieser einseitigen Weise dekre- tiert wird, wie es in PreuTsen ja leider zum Teil geschehen ist Wenn jene Ärzte erklärten, sie hielten es unter ihrer Würde, an einer An- stalt zu arbeiten, die von einem Nichtarzte geleitet würde, so mtifsten folgerichtig; ja auch Lehrer und Geistliche im umgekehrten Falle das- selbe erklären, und wer sollto dann die armen Idioten unterrichten und erziehen? Etwa das ungebildete Wärterpersonal? Aüerdingia war es unter der Würde eines Arztes wie aiicb eines joden nach- rcformntni ischen Menschen, an einer Anstalt wie Mariaberg zu arbeiten. Aber anstatt nut U lfe der Regierung blofs das Mittelalter des 19. Jahr- hunderts an den Kragen zu fassen, belastet man die moderne Päda- gogik mit diesem mittelalterlichen Mönchstum. Die Frankfurter Be- schlüsse sind Stmi II] ungsbeschlüsse, die in einem widerwärtigen Kampfe mit mittelalteriicben Mönchen und mit Tlieologen, die mit den Naturwissenschaftlern nicht blofs um Idiotemmstaiten, sondern auch nm Weltanschauungen kämpfen, zu stände gekommen. Ich weifs au> dem Munde hervnrraf^ender Mediziner, dafs ruhig denkende und im Leben erfahrene Arzte kemeswogs diese Beschlüsse so veraUinden wissen woUen, wie Dr. kioandt sie auslegt^) Wenn sie für ihre eigenen Kinder

0 Eiii Bdflinel nur anu der littexatar. In einem Artikel: »Über Heim- •t&ttea Ifir körperliche und geistige Krüppel« in der iZtedhr. für Kranken-

pfleget (NoToraberhoft 1901, 409) sagt Dr. ÜFTfVAVN KitrxiaiBKBO in Liegnitz: »Leider ist in der letzten Hälfte des vori^ Jaluliunderts insofern ein Bück-

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IMre: Ülwr daa ZnanninenwiAeii von Medumi und Fldagogik. 103

TOT die Wahl gestellt werden, sie in eine pädagogische Anstalt oder in eine mediainisobe an than, dann werden sie in den meisten Dillen eine pädagogisoh geleitete Anstalt bevorzugen. Und die Ubrigen Eltern, die doch schlie&lioh ein grSHseres Yerf ügungsrecht 4ber ihre eigenen Kinder besitaen als die au Bäte gezogenen Arate nnd die Bareankiatie, die sie an Hilfe mfen, werden in derselben Weise wählen nnd sich duTchaos auf den Standpunkt des lebenserfahrenen Bonner F^chiateis PauiAN stellen. Die Frage, so wie Dr. WireANDT sie stellti ist keine Ihige für die Ffirsorge der Idioten, sondern sie ist eine Frage am die Herrschaf t eines Standes Uber den andern, nnd diese Betrachtungsweise mflssen wir ablehnen, da sie die Ton nns erstrebte Znsammenarbeit von Medizin und Pädagogik nur erschwert

Die schwerwiegendsten sachlichen Orfinde dafflr, dab die Er- melrnngsanstalten nnd Schulen fOr abnorme Einder pädagogisch nnd nidit medizinisch an leiten sind, hat ja Dr. Wireinnr selber bei- gebracht: »Der Pädagogik gehört der L5wenanteiL<

Die Ethik aber lehrt auiserdem: Jedem daa Seine! Darum die Anstalten für an heilende Kranke den dafür vorgebildeten Ärzten

flohiitt in der Idiotenpflege zu verzeichnen « als die Leitong der Idioteoanstalten mm giOfsfeen Teil in die Bünde Oebtlidikttt ftbeiging, welohe nicht mehr in Oemeinsobaft mit Ärzten arbeitete, sondern sich zum Teil in schroffen Gegensatz zu den Ärzten stellte. Trotz aller Verdienste, die die <"fois*1'>hkeit sowohl der evangelischen als auch der katholischen Kirche sich um die Entwickelung (iur JcLrauieopfl^ erworben hat, hat die einseitige Handhabung derselben doch aaeh zn manchen MihBttnden geffihrt Diese Küfastände berahen im wesentlichen ■nf der laienhaften Beutdlimg der GeisteskianUieiten. Bs büdeta sioh in solohen unter geistlicher Leitung stehenden Anstalten allmählich die Auffassung von dem dämonischen Ursprünge der Oeisteskrantheiten aus, eine Auffassung, die sich zum Teil in schroffen Gegensatz zu der medizinischeu stellte. Die notwaudige Vtügß solcher Irrlehren waren die Versuche, den Teufel aaszutreiben und Ex- eene, trie sie jn im Maiiabeiger Froseese in d«r adiredUidisten Weise bekannt ge- woiden sind*

Tn neuerer Zeit kann man dieses Stadium der Trrenpflogo als ein im gnnzr-v. überwundenes bezeichnen. Die Idiotenanstalteu werden jetzt gemeinsam von tüchtig vorgebildeten Pädagogen im Verein mit Ärzten geleitet

Wenn der Arst konstatiert, wo der geistige Defekt liegt,

worin sich der Idiot vom Tollsinnigen Meneohen nntersoheidet, so ■teilt sich der Pädagoge auf den entgegengesetzten Standpnnkti er forscht, welche Fähigkeiten der Idiot noch besitzt und die SQObt er nnszu bilden und zu pflegen so weit als möglich, er studiert, in welch er "Weise sein Pflegling noch cn t wxckeluugs- und biluaugsf ähig ist und WO Keime geistiger Thitigkelt, die in einer nnsweokmftfsigen Um- gebung nnentwiokelt geblieben sind, sich noch wecken nnd weiter^ bilden lassen«.

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A. AhhandlungfliL

und nicht den »Eurpfusobem«, und die Anstalten für zu Erziehende

den pädagogisch gebildeteu Lehrern, die aber entsprechende ana- tomische, pbTsiologisohe^ hygienische uud psychopathologische Kennt- nisse besitzen sollten und überdies des ärztlichen Boirates bedürfon.

Die seminaristisch und die theologisch vorgebildeten P&dagogen haben sadem die Anstalten ins Leben gerufen, haben die ganze für- sorge ohne staatliche Hilfe geschaffen. Jetzt soll der Staat sagen: Ihr seid unfähig, tretet Eure Stellung den Ärzten ab, für die wir Geld haben, was wir für euch nicht hatten! Denn wenn Ärzte auf demselben privaten Wege Erziehungsanstalten gründen, wie es ja auch wiederholt geschehen ist, m wird jeder Schulmann solche That segnen, und wenn eine grofse Anstalt für Geisteskranke, Idioten und Epileptische auch eine Schule für schwachsinnige Kinder unterhält, so wird kein Schulmann Einwendungen dageg:en erheben, dafs die Leitung der grofscn Anstalt auch die Aufsicht über die Schulo führt} sofern nur dieselbe auch ihren pädagogiscl^oTi Leiter bekommt.

Es kann sich für uns nicht um eine prinzipielle Ablehnung des Arztes oder dos Geistlichen handeln, sondern nur um eine Abwelir gegen eine grundsätzliche Forderung, die ungerecht gegen den Lehrer- stand ist und die die Erzieiiung der Abnormen beeinti ächtigen würde.

Wenn nun aber die Rtnnde^ehff dabei in den Vordergrund ge- schoben wird, so muis mim doch auch zugestehen: was der Ehre und Würde des ärztlichen Standes recht ist, das ist der des Lehrer- standes billig.

Nun giebt es abrr kfinon Stand, den man in seinem Standes- ehrgefühl und in suiiien sozialen Interessen so zu behandeln wüL'te wie den Volksschul lehrerstand, dem 9G *Yo unseres Volkes ihre Bildung ausschliefslich verdanken. Seit je steht er unter Aufsicht und Vor- mundschaft des geistlichen Standes. Jede Stellung im Volksschnl- dienste, die Ehre, Ansehen und höheren Gehalt bringt, nimmt der Theologe ihm mit Hilfe der Regierung fort: das Seininardirektorat, die ersten Seminarlehrerätellen^ das Kreis- und LokalschoUn^cktorat und vielfach auch noch das schlichte Rektorat,

Wie der Unteroffizierstand wird er so kastenartisr eingepfercht und darf auch in seinen begabten Gliedern nicht eianial mit den lautersten Mitteln und den hinreichendsten Kriiften über diese vor- gezogene Grenzlinie hmau^ streben. Die begabtesten und würdigsten Glieder werden so gciadu zum Unsegen der Volkserziehung aus ihrem

^) Vergl. DöRPFEiD, Leiden^esohichte der Yolkssclmle. Gea. iSchr. Bd. IX. Gateraloh, Bertelsmaim.

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Tbüfer: Über das Zasammenmrken von Medizin und Pädagogik etc. 105

ihnen lieb gewordenen Beruf hinausg:edrimgt Ein freier Mann fühlt sicli als Knecht eines Fremden nicht wohl.

Und nun kommt auch der ärztiicke Stand, dem ein s^rofser Teil der Lelirer vertrauensToU als zum Retter aus ihren Standesuüten hinsah, und sag^tr »Nicht helfen wollen wir euch zunächst durch den Schularzt als Ratgeln i, soutiern , überwachen', ,boa u fsichtigon' wollen wir eure Arbeit m der öffentlichen Schule und die Leitung eurer Erziehungsanstalten müfst ihr an uns abtreten, obgleich der Löwenanteil an der Arbeit euch zukommt Denn und das sollte auch ebenso laut hinzugefügt werden wir haben über- schüssige Kräfte, die wir hier in Ehren gut unterbringen können/) und die Dienstbarmachung eines andern Standes mit 150 000 Gliedern im deutschen Reiche bringt uns erst recht Ehre und Ansehen.«

Vielleicht will Dr. Wetoandt das nicht sagen. Aber kann man es dem Lehrerstande übel nehmen, wenn er das aus seiner Schrift und aus ebenso überspannten Forderungen anderer der Schularztfrage herausliest ?

Und das geschieht zur selben Zeit, wo man nach Gesetzen ruft, welche die freien Menschen zwingen sollen, ihren Leib nur Schul- »Medizinemc anzuvertrauen und welche alle anderen Ärzto ais »Islui- pfuscher« straf bai- machen sollen I ^

*) Gel^entlich der Delwtte über die Erteilung des schoUiy^eDiBohfln trator* Bdria an LehrenemiDarioii auf dem tetitea achiilhygiiiuaeliwi Koagwi iiL ITeimar begründete Herr Dr. XoRiUN-Leipng in der Hütt damit die fMerangt dib die

Äxzte dieses Lehramtes warten müMen.

•) interessant und auch unsere Streitfrage beleuchtend warea dio im letzten Jahre gepflogenen Verhandlungen in einer Xonuniäsion des bayriächen Abgeordneten- tenaee über eine Torlage betreffend »Eriaesung einer Standesordnnng für die Xrzte Bayernac. Ein Paasoa der Voriage lautet: »Der Arzt rnnfs auf dem Boden der wesentlichen Grundlagen der Heilkunde stehen, wie sie auf unseren Hochschulen gelehrt wird, und darf abweichende An- sichten nicht zu Reklamezwecken benutzen.« In der Spezialberatung tiellte mit Beoht der Beferent ton Läjimum den Antrag, die Ziffer ■bialehneni dft dnrch dieedbe jede freie wiBaenaohaftliofae Ihlti^t nnterlianden weide. Die fitie Heilmetfaode werde einfMdi ani^hoben. Bi IcBonte vorkommen, dafe hervor» ragend« ärztliche Autoritäten, wie z. B. FKrTryKorrn und Sthwfxtsof.r unter diese Bestimmung fallen könnten. Wenn man der Kurpfuscherei wirJcsam eutgegentreten «olle, so solle man das Vuik richtig belehren. £r »teile den Antrag: »Die HeOmethode ist dem Ermeseea dee Anrtee m überlassen und kann nie den Oegemtind MUe ehrengerichtlichen Ver&hrens bilden.€ Etwas müsse man immer uMv be* tonen: Die vorgeschlagenen Ehrengerichte netzten -inh aus Ärzten zusammen, d. lu aiäo aus Konkurrenten des Angeschuldigten, das sti immer eme bedenkliche Sache. Auch der Abg. Dr. GicH meinte: Durch den Vorschkg der »Grundzüge« werde ■du iatäh Hiüflystem dn tümk Egypterc eingefühtl. b sei abeolnt onTmMfid-

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Am AWiiiiidhiiiigMi»

Da wir nicht im Gegensatz, sondeni in bestem EinTernehmen mit der mssenscfaaftliohen Hediän uns xa stellen seit je bemühten, 80 wird der Leser gewik fragen, was ans denn hier die Sache angehe.

Ein Teil der Atzte nennt wie Dr. Wbyqandt jede Abnormitit eines Eündes »]&ankheit€. Auch die ersiehlicbe Behandlung be- trachten sie dementsprechend als eine Srztlich zn leitende Tbitigkeii Wer darum ohne Srztliche Leitung abnonne Xinder behandelt oder gar Idioten-, Tanbatnnunen- und Blindenanstalten leitet und medizinisch nicht »approbiert« ist, betreibt folgerichtig »Kurpfuscherei«.

lieh, was maa deuu eigeatlich unter »wissensciiaftlicher Heilkundo« vorstehen solle. So habe zum Beispiel seinerzeit Professor Nussbausi den bekauuteo Kkssino in seiner Vorieflnog m«n 6ohwuidl«r gentimt, denselbeQ HBBfloro, der jetxt aUgvmeui «i- «rkaiiDt lei Ebenso Abg. Dr. Frhr. v. IIäller: Sowohl PiUMsam« ali auch Pfarrer Entttp Imbo man laiige {ü.s Kurpfuscher bczüichnot, später habe man ihnen eine gro&e Bedeutung auf dorn Gebiete der ilydrotherapie zuerkannt (Noch deut- licher redet ein Arzt in einer Zuschrift an die >M. Neunten Nachrichten« und verteidigt zugleich aeine BtudeageiiaeBen gegen aolciia hieziidiiadien QeltMa, wie die Vorlage »e offenbart, indem er aehreibt: Sicher iat» da& aehr viele Ante Gegner einer jeglichen Ehrengerichts- und Standesordnung sind| well sie die Freiheit

unseres Standes von einer solchen bedroht glauben Es würde zu weit

* führen, wollten wir, die absolute Gegner jeder ätandesordnung sind, in dieser Zeitung den ganzen Gesetzentwurf kritiaoh beaprecben nnd liiebei die Bechte der Ärzte und dea Publikums abwigen: ea möge genügen, einige Paragraphen heraos- zuheben und schon an diesen die Willkür und Gefahr zu zeigen, die den Äntea drohen wird z. B. verlangt, daCs jeder Arzt auf dem Boden »der wissen-

schaftlichen Heilkunde« stehe. Darunter versteht man natürlich die momentan geltende Heilmethode. Abgesehen davon, d&k die Homöopathie, die Methode, ohne Arsneieii aa lidiandeln, die Kzinteikaren et& aoniaagen dadniofa verpönt und veF> folgbar sind, aligeaehen von dieser Thatsache volle man eich daran erinnern, dab eben jede neue Methode vor das Ketzergericht gestellt worden kann, welche Even- tualität frej^cliichtlich wohl enviet>en ist. Als z. B. Seiuiklwuss in Wien und Budapest auf die Gefahren der Infektion im Wochenbett hinwies und die Ifittal b^annt gab, wodnnh dkae venmedeo wenkn kann, woide er veiladili verfolgt; er atarb im Irrenhanaei Bald danmf dimgen aeine Ideen doich, wekhe Tanaende von Frauen das Leben getettet haben. Als Brkhmer in Görbersdorf die Heilbarkeit der Tuberkulose nachwies und die Methode der Heilung seihst veröffcnthckte, da lachte man und setzte ihn beiseite. Verbittert trat er zur Soxiai- demokratie. Jetzt wird seine Methode in der ganzen Welt geüb^ man setzt ihm ein Deokmal und jed«r FKifaaeor bemfUit aidi, ffir Langeiiheilalltlaii Brehmer- Boher Art einzutreten. Die Antisepsis xiud Asepsis wurde von Auto ritten zunächst belächelt, später in den Himmel hoch erhoben. Ein fanatischer Anhänger der Antisepsis wollte jeden Arzt bestraft wissen, der nur dio kleinste Manipulation in der Antisepsis weglasse, kurze Zeit darauf rief ein berühmter Chinu;g: >Weg mit dem S^uuyc und veieinfiMhte die ganae fiaohe. Die Maaaage* die Hypnoaa nnd hundert andere Methoden galten znnidut ala »anwiaaenadiaffliah« und wie steht's heutzutage? Wer wollte sich als Gegner melden?) Der Antrag von vok Iji^Mjjf» wurde aqgenommea und damit der Dogmatiaieniiig der Mediain

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TaXhnm'* Übw das ZvMinmeiiwiilnii too Vodisiii and Fld^gogik eto. 107

Hiergegen Yon Yonibereill und nachdrücklich Verwahrung oin- ztUegen, wird hoffentlioh auch die Zvstömmxmg aller Irzte finden, die Ycn mediziniflobem HiefarahiamuB und Bogmatismiis sich frei fühlen. Wir hoffen, es ist die erdrückende Hehrlieit des you uns sehr ge- schiteten äncllichen Standss, mit dem Hand in Hand an der Er- äehong der unglücklichen Jugend zn arbeiten, onser redlichstes Be- streben ist und bleibt

Werden dagegen die Auffassungen und Forderungen WTOirnns dttichdringen, so hat das in betreff der Fürsorge für unsere abnorme Jugend nicht unbedenklicbe Folgen.

Zunächst wird die £raehung der Abnormen schwer dadurch ge- schädigt Die Arbdt der Anstalten für dieselben ist für die Lehrer eine sehr schwere. Nur die erbsnnende christliche Nächstenliebe oder eine innerlich freiere Stellung im Beruäleben oder mehr Aus- sicht auf selbstfindigere Wirksamkeit kann einen Lehrer diese Arbeit wählen heitat Die Schulbureaukratte hat sie bis jetzt nicht dafür gseegnet Sie reofanst bei einem Rücktritt in den normalen Schul- dienst ihnen diese Diensijahre nicht an, schädigt sie also materiell für solchen erbsrmenden Dienst Staatliohe AitersTeisoigung giebt es erst redit nicht bei dauernder Ausübung der schwierigen, freiwilligen Arbeit, welche das staatlicfae Eniehungsweeen längst selbst hätte in die Hände nehmen sollen. Wollen Lehrer nur fOx ihre Fortbildung 2 bis 3 Jahre ohne Oehaltsansprüdie Urlaub haben, um an einer H^erziehnngs* anstalt sich au<di für den Dienst an Abnormen innerlislb der öffent- lichen Schulen Torzubereiten, so wird er ihnen meistens verweigert, nnd bei einem Austritte innerhalb der ersten fünf Dienstjahre in Mecklenburg sind es sogar zehnl Tsrlangt man auf Grund eines

BfeTWB auBtiraleD nicht der gesetsHbhe YonohQb geleistet Ziffer 4 hatte fd- gendm WoffÜmt: »Das Oeheimmittelunwesen und die Karpfuscherei zn

unterstützen, ist nuorlauM, denselben ist vielmehr überall entgegen- zutreten.» — Obermedizinalrat Dr. v. Gbaüiif.y erklärte: Man vorstehe uutor Ge- heimmittel solche Mittel, deren Zasammensetzung und Bereitung nicht bekannt sei« Euipfosober» sei die Anaffibmig der HeUkttiide dnnh nichtHipniliierte Inlie. Itofuiuch wtren also Fkbssnitz, Kssav^ Emboxq eto. anoh »KnipfuMhan. Wie in der katholischen Kiroie nur der Geistliche Urteils- und handlungsfihig ist, so in der Heilkunde d^^r »approbierte Arzt«. Das wäre also die reine medizinische Hierarchie. Doch die iLutmnis.sion besals auch in diesem Punkte noch ein Freiheits- gelulii und nahm den Faragraphen in folgender Fassung an: »Verwendung und Atigabe Ton BOgenannten Oeheimmittoln ist dem Aizte oiidit verboten. Der &izt darf Kurpfusaheiei nicht untwtatBtaen. Kurpfuscherei ist die Ausübung der Heil' kuude dnnh unfähige Pei-sonen* (al.so auch durch unfähige Ärzte, und die Aus- üboog der Eeilkunde durch befähigte Nichtmediziuer ist noch keine Kuipfuscherei).

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A. AbbandluDgen.

Beverses, den Semisamten ontencliieiben mtteseiiy oft 1000—1500 K BttclbEahlaiigeii für AusbildimgBkosten, oder man droht ihnen mit zwei- jfihrigem liilitSidienst, während doch der Staat dem einzehien Aka- demiker erheblich grol^ere Opfer für sein Stadium bringen mu& nnd ' nachher den fertigen Arzt, Juristen, Pliilologen nnd Theologen hin- ziehen lälst, wohin er will, ja ihm oft noch neben l]rlanb Stipesidien bewilligt, wenn er aulserhalb seinee Staates oder der Staatsanstalten Spezialatadien treiben und Erfahrung sammeln wiU.

Und wenn nun ein Iiehrer alle diese Opfer wagt und der Beruf an Idiotenanstalten ihm so lieb geworden ist, wie Lehrer Zneun es in mehreren Artikeln unseren Lesern geschildert hat, dann kommt nun noch Dr. Wssoakdi, scheinbar mit einem einstimmigen Beschlüsse eines Irrenärstekongresses, und erklärt ihnen: Ihr dürft niemals hoffen, als Lehrer in Anstalten für Abnorme selbstflndig zu worden. Ihr habt euch stets der Au^cht and Leitung eines anderen Standes zu unterwerfen. Ihr könnt nur Handlanger des leitenden Arztes sein.

Schon jetzt können Anstalten für Abnorme schwer Lehrer be* kommen, so dafs oft in greisen Idiotenanstalten der Unterricht un«- gebildeten Wärtern anvertraut ist. Wenn die Forderungen Dr. Wz?« OANUTs und einiger anderer Ärzte, die so Beschiftigang suchen, durchdringt, SO wird kein cbaraktertüchtiger Lehrer mehr in solche Dienste treten.

Die Forderung bedeutet somit eine schwere Beein- trächtigung der Erziehung der geistig Armen. Und darum wenden wir uns im Interesse dieser so entschieden gegen Weygaxdts Fordcnmg:en. Aber auch der ärztliche Stand untergräbt damit im Volke sein eigenes Ansehen und vermehrt die ungeheuere Zahl der Miff^lieder der Natiirheilvereine/) die gar nichts, absolut nichts mit den Medizinern zu schaffen liaben wollen. Die theologische Hierarchie hnt das ge- bildete wie ungebildete Volk von Kirche und Christentum innerlich wie äußerlich entfremdet. Wir haben den sehnlichen Wunsch, dafs die Heilkunde von diesem Schicksal verschont bleibe, und darum wenden wir uns frf^i^en die Tendenz der WEYGANDTschen Schrift Ich sage: wir, denn die Heilkunde wie der ärztliche Stiind sind nicht nur um ihrer selbst willen da, sondern auch um unsert-, um des Volkes willen. Wir sind darum auch bei ihrem Ansehen interessiert.

Jenes Streben bringt so unserm Volke und den Armen an Ueist

') Der »Bund der Vereino für naturgemäfee Lebens- und Heilweise« ziUt 820 Einzelrereine md 104 000 Mitglieder. Der »Natmantc liat 110000 Ahwomittm. Das sind Zahlen, die zu denken geben.

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TsfrEK: Über das Zusaminenwirten von Medizin und Päda^ogü etc. 109

kein Heil und entfremdet zwei Berofskreise, die zur gegenseitigen tbeoietiachen wie pnktischen Handieidrang übenU anfemander an- gewiesen sind.

Wir sind also ganz und gar mit Dr. WnTOAinir nnd Prof. KnAXFBu» einverstanden, dab die Medizin mehr, viel mehr thun ma& zax EtfotBohnng der Idiotie und anderer krankhaiter Seden- KDstinde der Jugend ond nach besseren Heilmethoden zu suchen bat. Weil das Aufgabe der Wissenschaft und insbesondere der üniveisitilt ist, 80 begrültoi wir die Mitarbeit Br. Wetoamvis durch seine Schriften wie durch seine Lehrthätigkeit mit ganz besonderer Freude, und unsere Kritik an derselben sollte nur aufrichtige Förderung bedeuten. Wir wfinschen ebenso eine grölsere Mitwirkung der Ärzte in der Fürsorge für die abnorme Jugend in JElettangsanstalten, Idiotenanstalten, HiliBSchulen eto. und sind auch entschieden für den Scliulurzt. Aber andererseits müssen wir mit derselben Entschiedenheit die Forderung abweisen, dais die Medizin die Alleinherrscherin auch in der Heilerziehung sein mufs, die nach Herkommen und Art im wesentlichen Sache der Pädagogik ist

Medizin und Pädagogik mdgen Hand in Hand um die Wette eifern in der Erforschung des Wesens der Oeistesschwüche und der Fürsorge für die unglückliche Jugend. Anspruch auf Alleinherrschaft hat keine von beiden. Man lasse Jedem das Seine; aber Einer helfe dem Andern mit der ihm Terliehenen Gabe. Das dient nicht blofs dem Heile des Ganzen, sondern auch den wahren Interessen der einzelnen Beruf akreise.

m. Die Scheinpädagogik gegen die Medizin tind die HilfbBcbvden. Ich hatte die Absicht, in diesem 3. Artikel die bedeutsamen Schriften von DemoorI) ^jj^^j Z^uen^) unsem Lesern näher zu führen, die beide eine wesentliche und positive Förderung der Heilpädufiogik bedeuten. Von versciiiedcncn Seiten dazu ersucht, fühle ich mich aber leider veranlafst, zunächst mich mit einem Schriftchen aus- einanderzuseti^en, das nicht blolö cmi} üiiigegengesetztc Tendenz "vvie die von Dr. Wevgandt verfolgt und insbesondere den Einflufs der Medizin auf die Erziehung der Schwachen und die Schulen für dieselben be- kämpft, sondern unter Berufung auf die Autorität des Verfassers auch entgegengesetzte Anschauungen über das Wesen der Geistesschwäche wie die genannton und überall anerkannten Autoren vertritt Es ist die Schrtft: »Volksschule und Hilfsschule. Über Förderung

Die anormalen Kinder. AJtenburg, Oskar Bonde, 1902.

Die Geiäte&krankheiten des Kindesaltaia. Berlin, Beather k Beiuhardt, 190^.

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A. Abhandlangea.

der Schwachen im Rahmen der normalen Volksschule und die mehrfach bedenkliche Einrichtung von iiiitsschulen alR Schulen nur für Schwachbegabte Kinder. Eine schui- männische Erwägung von Dr. J. H. Witte, Professor und Kreisschul- inspektor. Thorn, Verlag von Ernst Lambeck, 1901.

Über den Zweck sagt der Verfasser im »Nachwort«:

»Durch deo Inhalt dieses Schriftchens trete idi in Gegensatz zu gewissen, die gageawftitlge Bewegung in! dem OeUete der BohnlenhriokeluDg behemchendes StiSmiuigen. ücIl darf aber wobl bebanpten, dab idi ee aielit dme Tielseitige und langjilirige Erfahrang') tbue. Denn weit über 3 Jahiaelmte bin iah ab

Schnlraann thätig gewesen. Als Lehrpr am Oymnasicun Rowit^ m »^int r höheren Mädchenschule habe ich fast 15 Jalire inndurch den Betrieb des höheren Unter- richts kenueu gelernt Seit nunmehr 12 Jahren stehe ich mitten im Leben der Ydkeschiile, da ich in dieeer Zeit hintereinander 3 eehr a<A«ierige B6hii]anliBiahtB> kieiae verw altet habe, noch dazu in 3 verschiedenen Gegenden, in Ruhrort, Lennep* Remscheid und seit 1897 hier in Thom. Aufserdem habe ich volle 15 Jalire al^ Universitätslehrer in Bonn, davon (5 Jahre als auHserordentlicher Professor und drei von diesen zugleich als ordentliches Mitglied der wissenschaftlichen Prüfangs- kommiaeioa daaelbet fir die Hciier der Woeophie und FIdagogik gewiifet Ob- . aöhon mdne Aneiohten nioht gerede völlig tberdnstiinmMi mit dem, waa die Welle der angenblioklichen Zeitatrdmiing in den etwas gar zu geschäftigen und betriebsamen Häfen pädagogischer Handelsmärkte ans Land spült und als willkommenen Fang sich abgewinnen läfst, dürften sie daher doch als ÄuTherungen und Vorschläge eines Mannes angesehen werden müssen, der nicht nur theoretieeh, aondern praktisch auf slmtliohen Gebieten des ünter- riohtswesene von der Volks- bis zur Hochsohnle periSnltoh thitig gewesen und diese Gebiete überdies alle sehr genau aus eigener, noch dazu amtlieber mehrjähriger Erfahrung kennen gelernt hat Hoffent- lich finden sie daher eine gewisse Beachtung. iBesonders sollte es mich freuen, wenn meine einstea Bedenken wmugstens dne ISrwIgung nodi wdt sadikmidigerer Eraiae, vdlends der matsgebeiidaten Behörden darftbw veranlaewen wfiid«k, ob wir uns nicht mit der Schaffung mancher Einrichtungen, die zumal anfän^cb, zum Teil nicht ohne den Eiiiflufs eitfes fa.st aufdringlichen Treibens gewisser Heifsbporue und ihrer geschickton Mache allzu eifrig sogar von amt- lichen Stellen aus gut geheifson und gefördert worden sind, uns auf doem Holswege befinden. So ersdieint mir die Angetegwiheit der eogenanntm H3fi- Bchulen keineswegs schon hinreichend geklärt und spnohreüi Gleichwohl wird die BVage, ob solche einzurichten sind, für viele vor allem städti«<^bo Gemeinden infolge kiirzlich erfolgler beliördlicher Empfehlung geradezu brennend. Ohne sorg- fältigste Prüfung darf in solchen Dingen nichts gescheheui und wo städtische Gemeinden mid Tertretoagen handeln sollen^ müssen auch die weitesten Kreise über den Sachverhalt aufgeklärt werden. Eän Versuch dazu und zwar von unbeteiligter, unparteiischer Seite wird in diesem Sthriftehcn geboten. Mit der so ernsten und für die Oemeinden oft so kostbaren Sache der Jugend- erziehung und -Unterweisung darf nicht in gewagter Weise blols »experimen-

*) Die Sperrungen sind in den meisten F&Uen von mir vennlalM Zur Hervuf» hebwig für die Beorteilimg bedenteamer SUse. Tr.

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Trüpbr: Über das ZasammenwiTken von Medizin und Pädagogik etc. 1X1

tiert« werden. Berechtigten Neuerungen wird jeder "Einsichtige zugiiuglich sein, besonuciiem Fortschritte sich kein erfahrener Schulmann mdersetzen. Aber überall, wo noch sab jodioa Iis est, da gilt m voUeiidt aadi anf diesem Osbista ^e der trefflichsten Ibbanogeo des anaiarblidiea Fönten KsmanA m behenjgen; aain Wort: Qaieta non movere!«

Es ist ein Mifsbrauch, mit einem Worte unseres grofsen, ge- waltigen, thatkräftigen ja revolutionären Bismarck den Inhalt einer Schrift wie die vorliegende zu decken. Ein anderes Wort ans einem anderen Mundo hatte erheblich hesser als Motto gepafst: »"Rückwärts, rückwärts, Don Rodripn, odier Kitter!« Dn^ möchtn ich dnrtJinn.

Nach dem im Nacliwort ausgeführten Lebenslaufe mufs Herr Prof. Dr. Witte ja ohno Frage »vielseitige und langjährige Erfahi un^^en« besitzen; aber es ist auch eine nlto. klassisch anerkannte psycho- logische Erfahrung, dafs der Mensch nur sieht, wie HERnART sagt, was er weifs und thatsächlich nur erfährt, was er wissend sehen kann und will. Die vorliegende Schrift bekundet aufs neue, dafs ihr Ver- fasser auf dem Gebiete, über das er schreibt, in vielen Stücken ab- solut niehts Positives, sondern höchstens ein paar durch eigene Phantasie entstellte Karrik atmen denkend gesellen haben kann.

Über die liekaiiipften Ansichten besitzen wir seit länger als 10 Jahren eine reiche Litteratur. Die Schrift zitiert nur einige philo- sophische Werke, die mit der Frage nichts zu thun haben; und zwei- mal die * Woche« gegen wissenschaftliche Auffassungen und philan- thropische Einrichtungen; von der einschläglichen Litteratur scheint ihr Verfasser, und noch dazu recht oberflächlich, nur den Bericht über die Verhandlungen eines einzigen Verbandstagos der Vertreter deutscher Hilfsschalen gelesen zu haben. Weiter nennt er keine Litteratur, und Uli anderen Falle hätte er auch unmöglich viele seiner Be- hauptungen aussprechen können. Er hat ja auch nur Hohn für diese litteratur.

Und wie mit der Litteratur, so ist es auch mit der Sache selbst. Mir ist noch keine Arbeit zu Gesicht gekommen, welche diese ernsten Fragen mit solcher Oberflächlichkeit und Unzuverlässigkeit behandelte, wie die vorliegende Schrift, welche erst recht »die Wellen der augenblicklichen Zeitströmung auf dem pädagogischen Handels- markte ans Land spülte,« so sehr ihr Verfasser auch durch Betonung seiner persönlichen Autorität ihrem Inhalte Beachtung zu schaffen sucht.

Auf Seite 31 sagt z. B. der Yerfasser und noch dazu in s^nen Thesen: >£uie Klasse Ton nur Schwachen, womöglich Schwach- köpfen^ zn fördern, ist ein nnduichftthrbares Beginnen,« und »für den Lehrer eigentlicfa eine fast unmögliche Aufgabe«. Der vielerfohrene, 9 unbeteiligte und unparteiische« Ereisschulinspektor kann doch un-

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A. AUmdlnageo.

möglich schon eine Anstalt für Idioten, Epileptische, Verwahrloste oder eine Schule für Schwachbefähig:te etc. in ilireni Betriebe ge- sehen und in ihren Fortschritten beobiiclitet haben, wenn er aus Überzeugung eine solche Behauptung ausspricht Die Erfalirungen jedes Einsichtsvollen leliren p^enan das Gegenteil. Und bei alledem wagt er noch, die Behörden luul insbesondere das preulsische Ministe- rium, das zur Zojt eiuigo weitblickende und sachverständige Kato besitzt, 7.11 ormahiion: »Oline sorgfältigste Frufuug darf in solchen Dingen uicht.s geschehen Ic

Eine Abhandlung »über die Forderung der Schwachen im Rahmen der normalen YuLksschule,« ja auch der höheren Schule, könnte etwas aulserordentlich Nützliches und Heilbringendes sein ; denn darüber glebt es noch viel zu sagen. Whtes Schrift hat ja auch in manchen Dingen recht Aber worin er recht hat, ist das, was kein Mensch beetlitten hat| der von tfrztUoher wie pädagogischer Seite dem in Frage kommen- den Gegenstände praktiaofa wie theoieÜBch emstUoh nahe trat £r giebt z. R Zugangs an, dab er in der Solizift in Eline die Eoidernng 1»- leachten wUl:

»Eb ist in erster Linie nidit sowobl eine inüidie wid medtiiniiwiie sIs vielmehr eine pSdegogisohe Wüh nnd H'fiiwogei wddie msn den Sehwachen in der Sdinle SDgedeihen lassen mofe.«

Wer in aller Welt hat einer sokdien Forderung jemals wider- sproohen? Selbst Dr. WsTOiLNDTS medizinische Tendenzschrift stimmt ihr zu, wie wir gesehen haben. Prof. Dr. WrrTE will seine Leser aber glauben machen, dafs Arzt und Lehrer, die sich mit der Hil^ schule und mit pädagogischer Pathologie beschäftigt haben, das Gegen- teil meinen und man darum gegen sie auf der Hut sein müsse.

Ihre Bestrebungen erlaubt er sich \\ iederholt zu bezeichnen als tanfdringliches Treiben gewisser Heifssporne und ihrer ge* schickten Mache« !

Hit solchen Ansohnldigungen wendet sich die Schrift gegen die Medizin, gegen die nenere Pädagogik, welche auch das Pathologische in der Menschennatur za würdigen sich bemüht, gegen hnmanitioe Bestrebungen, gegen MaTsnahmen der Behörden, wie zum Beispiel gegen die Verordnung der königl. Regierung in Düsseldorf und gegen die vom Ministerialrat Dr. Braxdi im Kultusministerium besonders be- fürworteten Fürsorge für die Schwachen durch eigene Schulen!

»Die, welche df^r Einrichtung von besonderen Schulen für Schwachbegabte am um jeden Preis zuneigen, verbinden diesen ihren (It dauktn d< i notw.Midigj-n aus- «ddie&Uchea £rziehungs> und Unterricbtsfürsorge für sololie Kinder mit einem andern: diese Tidleidit übeieifrigeii, gende in gewiesen Sohnlmtaper-KTMeen Tor^ bandenen VorkSmpfer solcher Anstelton sooiien das Bedttrfbis Ittr dieeelben idolit

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bOm: Übsr das ZvsarameDiriikeo m Xediiiii und ndagogflc eto. 113

BW pidl^gpgischf was Lo uumchor Husiclit eben nicht wohl angeht oder wenigstens «nf aosreidieiido Weise nicht dnnhAhititf istf BondAm mecBsiniMii, vor «Hem hjgieoisch sa begründen, und sie nehmen daher Zuflucht zu fremder Hilfe; sie erwarten mehr von ärztlicher und medizinischer als von pädagogischer und didak- tisch er Heilung; ein nicht unbedenkliches iind zum Teil verhängnisvolles Beginnen und Verfahren! Lauiou sie doch dabui Ooiiüir, ihre eigene Arbeit zu unterschätzen, ja fast zu verachten und xn entwürdigen indi von uften und ohexflleliUdii, statt von innen nnd gröndlioh das Übel tu varringem, iwnnggBch ee an toeciligenl »Sie werden bei diesem Verfahren meist ein Opfer oberflächlicher Verbreiter Ton wissenschaftlich noch sehr unsicheren Lehren der Medizin nnd der sogenannten experimentellen Psychologie, nach dcneo angeblich das geistige Leben schlechthin vom körperlichen, das seelische Dasein gänzlich vom leiblichen abhängt: eine ebenso tranrife wie unwahre Anaiohtl«

Wir müssen znnächst don Philosophen fragen, wer von den Ver- tretern der pädagogischen Pathologie den Materialismus als Welt- anschauung vertritt und ihn zur Grundbedingung seiner For- derungen macht. Die heutige Bewegung, gegen die er kämpft, ohne dafs er sie eigentlich mit rechtem Namen nennt, und deren Organ unsere Zeitschrift ist, ging soweit die Freunde dieser Zeitschrift in Frage kamen in den Jahren 1889/90 gleichzeitig und von einander völlig unabhängig aus von dem alten SOjährifr-'ii r*r( fossor der Philo- sophie Strümpell m Leipzig, von dem erfahrtiieu und umsichtigen Irrenanstaltsdirektor Dr. med. Kocu in Zwiefalten, von Rektor Ufek in Altenburg und von mir. Unsere Bestrebungen brachten uns näher und führten zur Gründung dieser Zeitschrift, der sich dann die Hilfs- schulfreunde anschlössen. SrntlxpEix war ein herbartischer Bualist, £ocH ist ein frommer, evangelischer Christ, und bei Ufer und mir wie bei den allermeisten, welche auf diesem Gebiete hervorragend mitgearbeitet haben, wird es ihm gewiTs auch schwer fallen, unsere Forderungen begründet zu sehen mit jener »unwahren Ansicht«. Aber Aoeh andere Mediziner nnd hervorragende Vertreter der physio- logiadien Psychologie stehen der materialiBtiadieii Anaoliaiiung duich- «HS fem. Zsebes behauptete nur, da& leibliche tmd seelische Yor- gänge parallel laufen, und er ist in seiner Weltanschaanng kern Materialist, soadeni das Oegenteil: er ist Idealist^) Und aUe Pädap gegen, welche sich um Grflndung Ton Hilfesohulen bemüht haben, stehen durchweg auf cbristtichem Boden. Auch den Hinisterialrat Dr. BxtAKDi halte ich nicht für einen Materialisten. Aber als Gegner des Materialismus muJk ich doch Herrn Prot Witte fragen, mit welchem Becht er die Olaubensansicht eines andern als »unwahre

*> Tex^ Übet die allgemeinen Beaebungcu zwischen Oehini und Seelenleben von Fxot Ik. ZiBB». Leiptig, Jcä, Ambroe^ Barth, 1902.

Die Bodorfehkr. m iüagu$. 8

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A. AbbandlnngeD.

AnBioht« brandmarken kann, wenn er fOr seine Ansicht Wahrheit in Ansprach nimmt? Was er von Dir Bois Retmonds, m dessen Fülsen anch ich gesessen, zitiert, ist doch nichts anderes als was FAnarr sagt: »Ich weil^, daft wir nichts wissen können !c Und wenn er das be> kenn^ dann mala er jedem das Recht zugestehen, von seinem Stand- punkte aus sich nach dirlicher Überzeugung die Welten- und auch die Seelenifitsel zu erkl&ren. Diese Anschuldigungen bei den »mals- gebenden Behörden« nnd den »Consules« des Landes ist moralisch um so härter zu TerurteUen, als er betont, dab er alles aua viel- seitiger und langjähriger £r&hrung und sorgfütigster Prüfung sehr genau kenne und tmbeteiligt und unparteiisch urteile und obendrein dieser unbegründeten Anschuldigung gegenüber sich in die Brust wirft und (S. 9) ausruft:

•Oott der Herr sprach: Es werde Licht I und m wtid liebt«. Oder: »Am

Anfang war das "Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort* jenes Wort, das iu Goethes Sinne die g(.■^v:Utigst^' That, das Ausiiuellen nnd Ans- ströroeu ewigen Lebens bedeutet. Jener Johauneische Spruch gilt noch heute trotz aller FbOoBophie «ad Wteeoeohaft oder, wenn man will, als hOdiste Wiasensoliall und Philosophie, eofero es zur echten Philosophie und Wissenschaft gehört, dalis sie auch der Grenzen und Schranken ihres eigentlichen Benuchs ond der Ixagweit» ihrer strengen Verfahrungsw eisen sich bowufst ist.«

Bei wissenschaftlich (lenkenden Lieserii wird er allerdings Kopf- schütteln erregen, wenn er fortfährt:

»Alles geistige Leben ist göttlichen Ursi)ruugs, daher so tief gegrundyt und 80 reich, dsSs es (d. h. alles geistige Leben?) rein wisseusuhaftlicher Er- forsohung sich entzieht Es ist also nichts alt ein Aberglaobe, mecha* aisdi oder gar experimentdl es in seinem Wesen Tersteheu oder erkllrea

an wollen Im psychisdien nnd geistigen Gebiete ist das Experiment ganz

au&er stände, dio seiner Natur, seinem Wesen und seinem Zwecke entsprechenden Erfolge zu eriueien. Seelisches Leben, geistige Kraft, Vermögen vernünftigen Be- wuTstaeins wird nie und nimmer mehr experimentell, sondern nur doich Gewohn- heit, dnroh eellMtthltige Übnn; gesteigert, was wiederom getade hei rein physischen Kräften und materiellen Vorgängen unmöglich und ausgeschlossen ist. Für dss seelische nnd vollends das eigentlich geistige Leben gilt das Oeeefts der Vennehrong^ nicht das der Erhaltung, tier Energie.«

Wer vorstellt den dunkeln Sinn dieser letzten Süt/.e, wonach Psychologie und Pädagogik, Erforschung seelischen Lebens und Steige- rung; desselben gleichgesetzt sind, nnd wir durcli Experimente sollen erziehen lassen wollen? Was mag dieser Philosopli sich unter Ex- periment vorstellen? "Wer aber so der Wissenschaft entflieht und sich hinter dem religiösen Glauben vor ilir verkriecht, mit dem ist über diese Punkte ühf>rhnupt nicht mehr zu streiten. Die Wissenschaft und wissenschaftliche Forschung hr>rt dann eben auf, und an ihre Stolle tritt auch auf dem Gebiete der Erkenntnis seeüscher ErächeiuuDgen

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TbOfib: Über das ZasainiiMnviAaa von Modiiiii und Fld^gogik «to. 115

der Glaabe, d. b. das bloHse autoritaihre tf einen, das darum in der Sofazift aadh mehrfach aom Aberglauben geworden ist Ein paar Punkte möchte ich aber betonen:

1. Im Grunde haben diese metaphjsisoben Streitfragen mit den Fragen, über die FroL Dr. Wutb schreiben will, herzlich wenig za thuL Der p^chologische Materialist wie der p^ehologisolie Idealist stinmien in den Fordemngen, die sie zum Wohle nnseier schwach'» begabten Einder eifaeben, toU fiberein.

2. Auch loh nnd ilele Leser stehen den hohen Erwartnngen der Ezperimentierpsjdiologen skeptisch gegenttber; aber das eine haben sie doch nnwiderleglioh bewiesen, dab sich das pajchisdhe Ge- schehen experimentell sseigliedem nnd erforschen läfet, so wenig Tcn den gesamten seeliscshen ErBcheinnngen auch bis jetrt exakt kausal erkürt worden ist Doch haben die mit dieser »traurigen nnd unwahren Ansicht« Behafteten, Toran Prot Ebazpbun in Heidelbeig, als P^- cfaologen nnd P^ydüater mit Hilfe des Experiments nnd der patho- logisch -anatomischen Ergebnisse nnwiderlegüch festgestellt, welchen EinHolh 2. B. die Materie Alkohol, gleichTieU ob sie in oetpreolhischem Schnaps oder in Mflndiener Bier oder in firansQsischem Champagner genossen wird, anf das gesamte Leibes- and Seelenleben mit Einschlnlh der Moralität und der Religiosität des Menschen ausübt Hier ist also der NachweiB erbracht, dais nicht blols das Seelenleben vom Leibesleben abhängt, sondern dais beides durch eingeführte Materie auch Terdorben werden kann und dafe Prot Dr. Wutb an unrecht behauptet:

mjm Grande hat sie, zamal, was die Eikeiintiiis des eigeiillicii^ ge»l%eii Lebens betrifft, auch nicht um einen Schritt uns vom Flecke gebracht*) DaCs überhaupt Abhängigkeit, ja weitgehende Abhängigkeit dos geistigen vom psychi- schen Leben besteht: daran hat kein vernünftiger Mensch jemals gezweüült. Es besteht sogar bis zu gewissem Grade eine wediselseitige Bedingtheit, eine partielle Oemeinachaft Allem sie betrittt immer nur dae Oieoagelaet swiedMii gdal^gem und körperlichem Dasein, die zahlreidieii Brfidkea yün. dem euiea zmn andern BaeeinagelHeta, nie daa p^ohiaohe Leiten selber.«

8. Bie Besohuldigong der Verfechter humanitSrer Bestrebungen mit Unglauben mag bei denjenigen wirken, denen seit je die Staat* liehe Fürsorge fflr alles, wss arm und schwach heilst, ein Dom im Auge war, auch wenn sie vorgeben, die Vaterlandsliebe und das Christentum in Oeneralpacht zu haben. Für einen, der unbefangen über diese IVagen nachdenkt, haben diese ganzen £inwendungen

0 Den Verfasser, wie die Broschüie bewdst, aUerdinge nicht Aber daran ist die neuere Faychologie nicht aduüd.

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A. AbhandlaoifeiL

Whtes absolut nichts mit der vorliegenden Frage zu thun. Gegen eine derartige Bekämpfung einer ernsten und segenbringenden Be- wegung müssen wir nachdrückJich Protest erheben, wonngleich es dem Verfaffler auch trotz seiner autoritativen Stellung nicht mehr gelingen wird, in den Köpfen der Lehrer die empirisch-naturwissenschaftliche Denkweise in psychologischen Fragen rückwärts zu revidieren zu der spekulatiTen und dogmatisch -theologisierenden der Toiigen Jahr- hunderte.

4. »Die Zuflucht fremder (ärztlicher) Hilfe . . . ein nicht un- bedenkliches, z.T. verhängnisvolles Beginnen'«

Ich glaube, dafs ich stets beflissen war, die Selbständigkeit der Pädagogik als "WisBonschaft wie als Kunst neben der Medizin und der Theolo2:ie zn verteidigen. Mein Artikel gegen Dr. Weygandt ist das letzte l>eispiel dafür. Aber fromdo Hilfe zur Förderung des Wohl^ der unglücklichsten Mitmenschen höhnend abzuweisen, ist in meinen Augen inhuman, und ich möchte wissen, ob Herr Kreisschulinsp- kt» r WnTE in einer zweiten Broschüre in dem gleichen Tone die fronuto Hilfe, nein die Fremdenherrschaft durch die geistliche Schul- aufsicht abweisen und als eine Kntwiirdig'nn«? der Schularbeit be- zeichnen wird! T^enn er f]:liiubt, dtn Lehrerstand mit jener An- schuldigung gegen die Bewegung, die er bekämpft, zu gewinnen, so dürfte er damit doch eine Enttäuschung erleben.

»Und noch etwas macht mich (d. h. Herrn Prof. Witte) lücht mindor stutzig; die bddenlkliche, püdagogiächeö Kopfschütteln erregende AuffasBang der normalen YolkssolinU Ton selten der Eifarar fftr diese Naaernnci Was teXl nisn dam sagen, wenn selbst ein Lehrer wie Hamke äofeert: ,Bei d^ ^nrermeidlichen Jagen v.n-l Dniugeu in der meist viel zu stark be^i'^tzton Normal- schale, die unter dem Einflüsse eines stark abgegrenzten und in der Kegel recht überiüUtea Stoffverteilongsplans steht und die auf die alljährlichea Venietzungäziele hinaitMifeii ainb, faum tanun der im Dturahsolmitt gut begabte Sdhfiler individiwll Imücksicbtigt werden, am «ilerwenigslem jene Bohwadien.' Wenn es so nm die normale Volksschule stünde, wäre es allerdings traurig. Wo dieses Bild zutreffend ist^ da thun oben weder Lehrer und Leiter noch Aufeichtsbehörden oder die Schul- untorbaltungspihchtigen das, was sie sollen. Gott sei Dank aber ist dieses HiuacEsdie BÜd eben dooh nnr ein Zerrbild!«^)

Unmöglich dürfen Schulbehördeu und die Lehrer an Nonnal- schulen sich Verunglimpfungen von diesen Heifsspornen und Eiferern bieten lassen! Allein wenn der A^erfasser jene Behauptung Hankes als »Zerrbild« bezeichnet, so beweist er eben damit, dafs er in der langen Keihe seiner Jahre als Schulinspektor sehr wenig be- obachtet bat Die Statistik aus allen gröDseren Städten und allen

^) Anch in der Schrift durch Spendmok hsmigelioben!

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TbOfeb: Über das ZnsamiBflinrixfcMi von Medizin nnd Fadag(^ eto. 117

grütaen Sohnlen hst «igobeii, da& am fjua eiiieUioher Teil der Schfiler unterwegs liegen bleibt nnd mit einem Bildimg^torsa ans dar. Sehnle treten mnllb bis Aber 80 7o eirelolifln die Oberidasse nicht! und die Arbeiten von dem Stadtschnlinspektor Dr. SiomeisR in Mannheim insbesondere haben die BehauptuDg Haukes nnr iUn- strieil^) Inwieweit Lehrer und Leiter, Aufsichtsbehörden and Sohoi- unterhaitungsptlichtige moht ihre Pflioht getban haben, ist eine andere Frage. Die Lehrer haben jedeniaUs die geringste Schuld. Sie haben in einem fort mit DOspraj) gegen den befohlenen »didaktischen Ma- terialismnsc protestiert und aucli jene Badenser Lehrer jubeln durch den Mund ihres Yereinsvorsitzenden meinem Hinweise auf diese tiefere Ursache jenes Bankerottes lauten Beifall zu. Ohne Zweifel liegen hier viele Unterlassungssünden vor. Da Prot Dr. WmE Kreisschul- inspektor im Kreise Lennep-Remscheid war, so dürfte er jedenfalls auch einmal etwas gehdrt haben Ten den Schriften eines Mannes^ dem die hervorragendsten Schulmänner und Scbalireonde aus allen Weltteilen jetzt in seinem Heimats- und Wirkungsorte in der Nfihe von Remscheid ein doppeltes Denkmal erricliten wollen, u. a. von den Schriften: »Beiträge zur Leidensgeschichte der Volksschule« und »Wider den didaktischen Materialismus.« Die Unterlassungssünden sind hier wie in anderen Schriften dieses kirchlich frommen Patrioten sehr klar und scharf gezeichnet, und wenn Prof. Dr. Wftte sich etwas in den pädagogischen Werken dieses seltenen Schulmannes umgesehen hätte, 80 hätte er auch erfahren können, clafs den Schwachen mit andern Mitteln geholfen werden mufs als mit den schematischen, zum Teil sehr anfochtbaren Weisungen, die er aus Kkhns Ciymnasialpädagogik anführt. Was Dörpfelü über die Fürsorge für die Schwachen in- mitten ("Irr Soluile für Nonnnlhogabte sagt, zeugt von :>einem herz- lichen Erbarmen mit den i^\»hlenden und Fallenden-, von ^eincm inneren zarten Kespekt vor der Würde des Kindes«, und von einer anderen und intensiveren Erfalirung inmitten der Schularbeit wie von einer tiefereu individualbeacliLiini^, als wie sie die vorliegende Schrift offenbart^) Sie bedeutet also auch in dieser Beziehung nur einen Kückschritt

1) loh habe aeiM AmUbi über SicsiNOKBg YoiteUlga daigelegt in dem Artikel:

»Eine Bankerotterklärung des Schalkasernentumsc (Ev. Scbalblatt 1899 Nr. 11). Da der Artikel nicht biofs Sicdnoebs Zustimmong, sondcra auch die seiner Badischen Gegner gefunden hat, ho darf ich wohl annehmen, dafs ich die IhatBaohea einigermalsen gerecht und zutreffend pädagogisch gewertet habe.

^ Teigl. v. a. OaiMP, DSipfeUa Libeti and 'Wixkan, 8.

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Ä. Abhandlungen.

Doch betnofaieii irir nna jetzt die posilireii Fordenmgen des Herrn Ter&Bsen:

»Für uns (Wnxi) uteliea aadi dem im Vontahflodan AoQgaffihrteai lolgeBds 8itie fest:

I. Eine weit wichtigere Aufgabe als die überhaupt nur in begronztera Um- fange sowie für reiche und gro£se Gemeiuwesea mögliche Einrichtung von Hills- Bolralen UeUit fOr aUe Bobtileii, samal fSr die YollBBehnlflo, die angelegenlliobete und angemenene Föidening der »Sdiwaehea«, d. h. der sdiwaohbagibtoii, Mb aach organisch kranken und in gewissen Grenzen selbst schwachsinnigen Schüler auf dem Boden ood ia dem Bahmen der luirmaleii Schnlei vor allem der YoUb- schule.* (S. 29.)

BaU das letztere notwendig ist, ist auch unsere Meinung, und dars die Errichtung von Hilfsschulen auf dem Lande und in kleineren Gemeinden sehr erschwert ist, ist ebenfalls selbstverständlicli , :iuch ist dieser Punkt von den Vertrelem der Hilfsschule nicht immer genügend mit m Iii clinimy; gezogen worden. Aber dafs die schwach- (dnnigen Kinder auf dem Boden und im Rahmen der normalen Schule nicht genügend gefördert wenlen können, und wenn sie hinreichend gefördert werden, dafs es dann auf Kosten der andern geschieht und diese dann nicht blols in ihrem Fortkommen in der Schule, sondern damit auch in ihrem dauernden Fortkommen ge- hemmt werden, liegt für jeden EinsicbtSTOllen auf der Hand. Ebenso fest steht aber auch die Tbatsache, dab selbst in den höheren SdnUen, die doch in den Ehissen nur wenige Schüler haben, sahllose Schüler zn Grunde gehsn nnd Schmerzenskinder der Familien nnd der 0e- seOsehaft werden. Ich könnte darüber ein Buch schreiben* An- deutungen darüber sind gemaoht worden in meiner Schrift: »Pie Anfinge abnormer Erscheinungen im kindlichen Seelen- leben.« (Altenbtixg, Oscar Bonde, 1902.) Wenn aber diese Fürsorge in den höheren Schulen unter weit günstigeren Vorbedingungen nicht getroffen werden kann, wie dann in der Yolksschule?

•IL PQr die FBiderang dieaer ,8o]iwaohen* müssen in eratar tarne nicht ärzt- liche EänaicbteOt iwindwil die Erfahnmgen bewährter Scholmänner, vor allem die Verfahrnng*;woisen eines gediegenen gemeinsamen, geistbildenden Klasseauctpr- richts maLsgebeud äeia, nicht zum wenigsten doroh Anabeutung der Kunst» gerade aneh mittels dieser Lehrfonn in einer dem Scbwaidiea -vorzugsweise aaregendea Art den Untenioht m i]idividiialiaiereii.€ (8. 29.)

An und für sich ist auch gegen diese Forderung niidit viel ein- zuwenden. Aber wir wissen, dals der Verfasser die irztliche Einsteht für nichts achtet und dafo in der ganzen Schrift der Lehrer nichts findet, was ihn auf den Weg eines geistbildenden Klassenunterrichts bringen könnte, dab aber der Verfiuser uns eine psychologisch wohl- begründete Didaktik sonstwie geschenkt hat, ist uns nicht bekannt geworden. Seine These ist somit für uns inhsUsleer.

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TrOfb: Über dM ZnsmuBenwiikeii von Hedii^ und FBdagogik t/to. HQ

Was Witte als einzige Heilmittel fClr Sehwache aus Kerns »Onuid- lils 4er Bidagogikc anführt, sind Forderungen, die schon der Semi- narist sich an den 8chnI»ohlen ablaufen mob. So wü! er vor allem mit dem vielgepriesenen Schlagwort »Wiederholungc Wunder veiy riditen. BObptku) hat aber in »Denken und Gedichtnisc und auch an anderen Orten seiner Schriften uns unwiderleg^oh dargethan, da& der entscheidende Wert alles Lernens und damit der geistige Zuwachs in den nach psychologischen Gesetzen geregeltem Verlaufe des Keu- le mens liegt und in diesem Prozesse die Torbedingungen für den Wert der Wiederholungen begründet sind, und auch ZnxiR und seine ganze Schule haben den Wiederholungen nur als »immanente«, als Einschlag für Neulemen, einen bildenden Wert beigemessen. Äulser- liche MaCtoahmen, wie Wnm sie will, können diesen Wert nur yer- Stilken oder schwächen, ihn selbst aber nicht schaffen. Wer sich aber wie Wim auf den KniNSchen Standpunkt stellt, dalk die Theorie nur die Notwendi^eit didaktischer Ma&nahmen festzustellen hat und es der Ftazis überiftfet, wie sie damit zureoht kommt^ der wird Tiel- leicht mit dem Zanberstabe »Wiederholung« die Worte geläufig machen, aber er kommt zu leicht in die Uefahr, dals er, wie J^kbbibi sag^ Leichname beisetzt in den Grüften des Gedächtnisses. Der Prak- tiker moOs leider stündlich die Erfahrung machen, dalis Wiederholungen in dem Wittb sehen Sinne die merkwürdige Eigentümlichkeit haben, dall» sie gerade den, Schwachen, für die sie besondere Hilfamittol sein sollen, stark auf die Nerven foÜen und lähmend auf Geist und KSrper wirken, also eine Versündigung an den Armen im Geist bedeuten. Für diese gerade ist der ProzeTs dos Neulemens und die Art dieses Prozesses Ton außerordentlicher Wichtigkeit Gerade der entwickehid darstellende Untenichti der eine Wiederholung im Sinne Wittes nicht kennt, vermag es in erster Linie, das schwache Denken und das ver- standesmäüuge Behalten dos Gedächtnisses zu kräftigen.

Witte empfiehlt sogar im Sperrdruck den sogenannten t wechsel- seitigen Unterricht« zur Förderung der Schwachsinnigen in Normalschulen, das Mittel, das im Osten die Lohrer überflüssig macht und für mehr als hundert Kinder nur einen Lehrer braucht! Die grolke Zahl der Analphabeten im Osten lehrt uns diese »Füxderungc ver* stehen. (S. 15.)

Auch die »Einriditmig von Halbtagsunterriöht« statt Termehrung der Lehrioäfte gehört zu Wnm Fördemngsmittehi. (S. 14)

»m Eb mnb Fürsorge daffir getroffen werden, dab die Bohwaohen niemals

kl ttberfüllteo Scholen und Klassen, andererseits stets aber aodi nglsioh mit einer gidÜMien Anzahl täohtiger und normal begabter Schäier maammen unter»

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A. Althandlunfron.

liebtet wentoo und zwar von einem besondeiB gesdhiolcten, aach durch «ine Zu- lage ausgeseichneten Lehrer öbenül d«, wo mehsn» Lehriottfte rar Teifügniig

stehen.«

Dieser Satz ist ein Hauptstück schuiregimentiicher Weisheit. Wir können auf alle Hilfsschulen und Anstalten gewUs gerne ver- zichten, wenn der Yerfasser es nicht blofs bei seinen vorjiosety.ten Behörden, sondern auch beim preufsischen Landtage durchsetzen wird, dais alle Schulklassen, vor allen Dingen auch in Ostpreufsen, West- preufsen und Posen, statt 100 200 Schüler mir 30 mit einem aus- gezüichnoton Ldirer haben. Da die Zahl der psychopathisch Minder- begabten eine «lerart gruls* ist, dafs auf je<]p Khisse Schwächling kommen, so gilt also die Forderung von MusU'rieiukriiften schlechthin. Diese gauze Forderung ist also in das Reich der Utopien zu ver- weisen, auch wenn sie der »langjährigen Erfahrung« des Verfassers entstammt

>rV. In Städten und selbst in groLsert>u LandgeuieinUea, namentlich in Ge- genden des Groisgewerbbctriebos, müssen neben den ToUentwickelten mehr- Uasrigen Sohnlsystenen stete aQoh Sohnleo mit maSmABu Untonkhteiieleii, sei

es xnit solchen der einkfanngen Schule oder mit soldiAiii die namenHiob in

Städteti bei aller Anpassung am örtliche Verhältnis^^e doeh nioht WCesnÜicIl

über diese hinausgehen, eingerichtet werden.« (S. 30.)

In dieser Forderung steckt eine ebenso gi-ofso Ungeheuerlichkeit. Um der Schwachen willen sollen in Städten mit voilentwickelton mehrklassigen Schulsystemen auch ein- und zwoiklnssige Schulen mit niederen Zielen errichtet werden. Das ist der ^iim der These nach seinen Ausführungen auf S. 7:

»Auch in jeder Stadt miiljjte es neben den 4-, 5-, 6- und mehrklassigen Schalen stets auch 3- und 2 klassige, ja sogar trotz des Ministerialerlasses vom 24. Januar 1873 einkbnige Sahokn gehoi.«

Meint aber der Yerfasser damit, was jener Wortlaut besagt» dab Schulen nach den Terscfaiedenen Beffthigungsgraden der Kinder er- riditet werden sollen, wie Sicxikobr in Haxmbeim es fordert, so sohlflpft ihm die Hil^chnle znr Hintertfattre wieder herein, nachdem er sie Tome hinausgeworfen bat Und dann sind wir mit ihm ein- Terstanden. Nor meinen wir nicht, dalh wir einen Teil der noimal Begabten, vielleicht die ans den firmsten YoUcssohichten, dexa zwingen wollen, um der Schwachbegabten willen in diese Schale Tersetst and damit in ihrer Eortbildung gehemmt zn werden, so sehr wir ans erziehliohen GrtUiden dafflr sind, dalh die Starken die Scfawaoben er- tragen and teilnehmend behandeln lernen.

»V. Es dürfte sich nach Schaffung dieser Einrichtung zeigen, dals mindestens für die gnd'se Mehrzahl dur sogenannten »Schwachen«, aber nicht eigentlich schwacliäiumgen oder doch nicht hochgradig schwachsinnigen, gar geistesschwaciiea

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Tbüpeb: Über das Zosammenwiiken von Medisia und Fldago^k etc. ]2L

Schüler, denan allein AostaltäerzieLuQg helfen kann die normale Yoliiifiäcliule «DGh die beste Snielmiigsscluile iat und Uetbic iß, 90.)

Bab die Schale fflr Schwachsinnige in engerer Fühlung mit der Nonnaleohnle bleibe und sie nicht ohne dringende Not errichtet werden sollte, ist gewib richtig, und vieUeicfat liegen hier einige fibertriebene Forderangen seitens einiger Tertreter vor. Aber, wenn das der Fall ist, soll man deswegen eine an sich gute Sache tot^ werfen? Und wenn die Schwachsinnigen noch in besonderen Scholen gefördert werden können, wobei sie im Elternhaase ▼erbleiben dürfen, soll man dann diese Schalen schlie&en, damit ein Teil der- selben in den Kormalschnlen von den geistig Normalbegabten aber ethisch Uinderwertigen gehfinselt und ▼erdorben nnd dei andere Teil ohne Not aas den Familien entfernt and den Anstalten überwiesen weide? Nicht blo& Tom hamanitiiren, sondern aoch gerade vom schal* otganisatorischen, ja vom finanziellen Gesichtspankte aas sollten diese HilfBschalen als Normalschalen gefördert werden.

Zweimsl steht ein and derselbe Satz in Fettdroök in der Broachüze, einmal mit Hinwels »auf die yielleicht au vor kehrten Zwecken in Ansprach genommenen Koatm der Gemeinden«, nnd nnr dieser Sata steht in Fettdruck: »Ytdeant eonsnles me <iiild detrbneiitt e^iat TM pnbUeaU Die Mehrheit der »oonsales«, welche bis zu 200 Schüler in einer Klasse daldet, welche dem Kaltosminkter die fMdunännischen Schalinspektoren Terweigert and welche jeden Fort- schritt in der Hebung der Wohlfohri^ der Bildung and der Geeittong der Yolksmasse za hemmen sucht, wird der Schrift Beifall sollen und sich der Pflicht, sich selber zu orientieren, nun gerne entSolhera. Wir müchten dagegen an alle Volks- und Einderfreunde die dringende Bitte richten, vor der Terurteilung einer hnmanitKren Bewegung die Angeklagten erst selber zu hören und ihre Leistungen selbst in Augen- schein zu nehmen. Bas Urteil wird dann anders, wahrscheinlich ent- gegengesetzt^ ausfallen.

Boch es mag genug sein, obgleich noch gar rieles zur Brhttrtung unserer eingangs aufgestellten Behauptung zu sagen wire. ^)

*) Ein paar Eeispielo seien nur noch andeutungsweise namhaft gemacht, Seite 5 und 6 behauptet der Verfasser, daia früher unter allen Öchülem eine >gleich- artjge DoxdiadluuttsbegabiiDgt forhanden geweeen eet Sie vendiwcuideii, weil »Sohfiler- und Glternkreise, denen sogar die Volksschule ihre Schüler entuimmt, hc'jfzntn^'o gar <;chr verschiedene Schiollteil des V<dke8 danteUeil«« Die Bflgft*""g ist demnach an die Koste gebunden!

Mir schrieb noch in diesen Tagen eine Mutter sehr zutreffend über ihr Kind, dM mr etwes BdnriUdüidi und sorückgeblieben. aber doeh aooli toh einer ao ge- Buidaii IntcIligeBs ist, dtb ea naoh hioteioheiuler KiSftigimg des K&peis ohne Tngß

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A. Abhandlmigeo.

Wmm der Herr Plroteor und KreisBobDlinspektor Dr. J. H. Wim den Yeitretem der Bestrebungen zat Fürsorge ffir schwache oder eonst abnorme Kinder spottend zonift: »Es ist urkomisch, zu sehen, welche Blüten zuweilen die Pflanzen fachmännischen Übereifexs und einseitiger Schwärmerei treiben,« so glauben wir genügend bewiesen zu haben, daJh dieser Yorwnrf zneist von ihm selber beherzigt werden sollte^ allerdings in rllokläufiger Beziehung.

eine Realadinle wird abedvieren könnea und das lieine Sohulleitang aus der YoUa- adiid« in eine HilfBschnle m Tenetien ▼onddagen würde: »K. hat unter den hiedgeo

Sohalverhültiiissen sehr viel leidea müssen. EiDder sind oft graitsam ihren achwfi-

cheron Gefähiton gegenüber. »Da bist mir viel zu dumm, mit Dir ^•*^rkol!^p ich nicht« ist ihm wiedorholt von seinen bessere Fortschritt^ niai^hcnderi Kameraden geäUi^ wurden. Da K. aber ein heiteres Temperament hat, leicht zu^iUigiieh ist und noch den goten WiUen hat, vonvirtB an hemmen, so hoffe ich ganz beattmmt, dab

er ee mit der Zeit lernen wird, eich neidlos der Erfolge seiner Kameraden zu

erfreuen tmd darnach streben wird, es ihnen gleich zu thun.« Dieser Fall ist ein typischer. Die geistig und küq^erlich krüftigen minieren die schwächeren nicht selten ethisch, wie auch intellektueU und kurperlicb. Wittk meint aber; schwach- veranlagte Kindttr Uhuian nur in stetiger Qemeinaofaaft mit den intelUgeDten vor- Wirts kommen.

Das »Zurückbleiben der Schwachen ist für die Yolkssohnle em besottdeiB

beldagonsworter und tadelnswerter Znstand<. (S. 5.) Unserer Überzeugung nach niufste danu nicht in erster Linie der HilfsschoUehrer, sondern der Schopfer getadelt werden.

Wim erUiolt in Schulen und Anstalten fflr Bchwadie Ansgangspunkta und

Herden epidemischer Krankheiten allerlei Art. (S. 7.) Wir haben das Gegenteil erfahren. Seit 12 Jahren sind an Kinderliraniheiton unter etwa 100 Kindern nur Maiiern (11 Fälle) und Scharlach (3 Fälle) einmal aufgetret»^n. "Wir hatten keine Diphtherie, keinen Keuchhusten u. a. w. Ich glaube, in Famihen und Scholen mit ToUgeannden Kmdem ftllt die IKatistOE weiti weit ungünstiger ans. Aber anoh aas HBlBBchnlen habe ich xelatiY gfinatige Urteile gehört Eben weil man dort auf alles achten muCs und achten 1 mt werden sie nicht Herde von I^idemieeot sonden viel eher hygienische Musterschulen.

Eigenartig handhabt Witte die Statistik. Nur reichlich 3% aller stadtischen Gemeinden in Preuüsen hätten erst Hilfsschulen; darum könne man nicht über ihren Wert urteilen. (8. 20. 21.) Von den Stidtan fiber 20000 Einwohaer, bei deaen HiUBSOhnlen doch wohl hauptsächlich nur iu Frai^^e kommen, haben ab« 33,6% fß» bereits eingerichtet, so dals man thatsäotüioh dooh wohl nicht von einer »gensg- fügigen Zahl« reden dait

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Das Fortbestehen des ZweakmiUsigsteii bei der Aosbüdasg der Bewegungen. X23

& Mitteilungen.

1. Das Fortbestehen des Zweokmäaaigsten bei der Aiie-

bttdnng der Bewegmiseii.0

Von Edwin B. Dwter, Pkofeewr an der ünhrezsHSt Ghampaigne, ülinofs.

Die These, die ioh Terfiechten mOchte, ist folgende : Die Ausbildung der Bewegungen oder der Vorgang, durch den viix die Fähigkeit erwerben, bestimmte Bewegungen mit Oenauigkeit aasmÜBhien, bAogt weniger davoii •b, dalfl neue motorische Zentren in Thfttigkeit geMtst werdio, ata mdir davon, dafs die Zentren, welche die Natur bereits in Thätigkeit ge- setzt hat, auch darin orhalten und solche Zentrnn aufser Kraft geeetit wwden, deren Thätigkeit unnütz oder nachteilig wiriit.

Das »Fortbestehen des Zweckmäfsigsten« in biologischem Sinne hat eine ganz bestimmte Bedeutung. Es erklärt gewisse Vererbungserschei- Hungen mid nimmt folgende diei Sfttw an: 1. Ea treten mehr Tierformen ins Dasein, als nach der Nator der Dinge leben und fortbeateben können, a. Nie sind zwei einander gtoieh. 8. Es besteben diejenigen fort, welche den Bedingungen ihrer Umgebung am besten angepafst sind. Gerade auf die^ drei Voraussetzungen möchte ich mich bei meiner oben aufgestellten These stützen. Cnserm Gegenstand angepafst, würden diese Sätze lauten: 1. Jedem Individuum sind mehr Bewegungen angeboren, als es überhaupt gebnaoben bann. 2, NIobt awei aind dem Weeen naob einander gleich, sie Bind nelmebr ebenae vetachiedenartag, wie aie «bira'oh aind. 3. Die Be« w^ungen, wekbe der Befriedigung der Bedürfnisse des Individuums am besten entf^prechen, worden beibehalten, die weniger sweekentapreoheaden werden aufgegeben und vergessen.

Physiologisch betrachtet, führt jede Tlieorio Ober die Ausbildung der Bewegungen zu einer Besprechung der Gehirn Zentren. Anerkanntermalsea iat, um die Binde für die geacbiokte AnafObnmg einer beatimmten Arbeit anaaabilden, mehr ala ein blolber Toigaag in Mnakel nnd Gelenk nOtig, wenn überhaupt Vorg&ige in diesen dabei in Frage kommen. Selbst- verständlich müssen diese Teile eine bestimmte Beweglichkeit und Stärke besitzen und sich einer bewegenden Kraft vollkommen unterwerfen ; diese bewegende Kraft aber sind die Nerven, und ihr Sitz ist nicht etwa der Muskel oder das Gelenk. Bei Pferden, welche darauf dressiert sind, braucht mau aelbat im dicbtealen Gedrftnge niebta an ffirditen, Torausgesetzt, da& der Kntaober aeine Siobe versteht und die Zflgel riohtig m gebraoohen weilk Für Hftnde und Füfse gilt das Gleiche, wenn nur daa Gehirn im rechten ÄTig-en blick die rechtn Gewalt ausübt. Die allgemein angenommene Theorie, dafs, um John Locke's Ausdruck zu gebraiicben, das Gehirn eine tabula rasa ist, lautet: In der GroJahimrinde behnden sich gewisse Zentren,

*) Aus dem »Edacational Review«; (herausgegeben von Prof. N. M. But- ler in New York), februarheft 1902, übersetzt von Anna Bock in Altenburg.

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B. Mitteilnnpen.

welche bloAi daiBof warten, da& ihnen etwas zu than gegeben wird. Sobald man eine gänzlich neue Bewegung auBfOhrt, wird dadurch ein be- stimmtes Grofshimrindenzentnim oder ein gan^^r Komplex solcher Zentren verändert; macht man dieselbe Bewegung immer wieder, so werden die Zellen und ihre Verbindungen untereinander immer mehr verändert, bis endlich nach einer unbestimmten Zahl von Bew^ungen ein neues moto liadieB Zentmra geflchaffen ist Man wiid bemerken, dab diese Theorie genan dieselbe ist, welche man fUr die Thfttigkeit der Empflndongauntren aulgestellt bat; und vorlfiufig scheint es mir, als gfibe es zum Ersatz noch keine bAssere als eben die, welche ich fflr die motorischen Zentren vor- fechten möchte. Ich gebe gern zu, dafs es vom Standpunkte der Neu- rologie aus keinen einleuchtenden Grund giebt, weshalb diese Theorie nicht fOr die motorischen Zentren richtig sdn sollte. Ob dem aber wirklich so ist, wollen wir nntennohent

1. Das neogeborane Kind ist im stände, gewisse Bewegungen mit Ge- nauigkeit auszuführen, von denen manche eine ganz V>edeutende Koordi* nation erfordom. Thatsächlicli sind dergleichen koordiniorto Bewpp:nngen sogar schon vor der Geburt möglich. Diese Thatsache ibt docii wenigstens ein Beweis dafür, dals nicht alle Bewegimgen angelernt sind, sondern dab die motorischen Zentren fOr manche Bewegungen (fOr die gan^e Kategorie der BefleKbewegungea) ▼ollkommen richtig funktionieren ohns Übung.

2. Wenn das Kind älter wird, fügt von Zeit zu Zeit neue Be- wegungen zu seinen schon vorhandenen liinzii. Diejenigen, welche selbst solch kleines Volk zum Beobachten haben, können bezeugen, mit welchem Entzücken man die Fortschritte b^üDst. üm zu zeigen, wie das vor aich geht, sei ea mir gestattet, daa mit einer ArMnung an Ulnsliieren, die ich an einem Bflrsdieben meiner dgnen F!amilie gemacht baba Dar Kleine stand im Alter von 3 Monaten, er hatte meiner Ansicht nach alle Drehungen und "Wendungen fertig gebracht, die solch kleinem Menschen- kindc mo^rlich sind: aV>er abgesehen von den durch allgemeine Körper- eniptin lnugen hcrvüT ^'^oruloiien i^eüexbewegungon und denen, weiche durch Berüiirung und Au blick der Mutterbrust erzeugt waren, hatte er, soweit ich das ermitteln konnte, keine andere, knn keine wiUkfirikhen Bewe* gongen gemacht Eines Tages jedoch als er wohl geilttigt, recht belMg^ lieh in seinem Korbe lag, brachte eine pUttzliche, spasmodische Bewegung des Armes den kleinen dicken Daumen sachte in den halboffenen Mund. Diesem Vorgang waren fünf Minuten lang Dutzende von gleich krampf- artigen und offenbar ebensowenig zieibewuibten BowejE^Jngen vorausf;e» gangen; der emzjg;o Unterschied b^tand darin, duis die letzte liewegung ein Lustgefühl, nAmlidfa das des »Danmeolntsoheaa« erzeugte. Dodi konnte ea nicht lange andauern, weil eine andere spasmodisolie Bewegung folgte; das Lustgefühl war Tergangen, hatte aber das Veriangen tmak Wiederholung zurückgelassen. Der kleine Bnrsche schien zum ersten* male das Bcwufstsein zu haben, dafs er die Fähirrkeit besitze, sich ein Vergnügen zu verschaffen, und allem Anschein nach versuchte er die Be- wegung wieder zu machen, aber vergeblich. Die Hand iuiir lim und her.

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Bas Fortbestehen des Zweckm&fsi^ten bei der Aosbüdong der Bew^ongen. X25

'Wohin sie nur immer kommnn konnte, aber nicht an die gewünschte Stelle; endlich schlief das Kind darQber ein. Am anderen Tage begannen, vielleicht ohne alles BewiiÜBtsein von der erkugten Fertigkeit, die krampf- artigen Bewegungen von neuem, Uld mit demsetbeD boglüokenden Beeultat She an djeeem Ttge die Yersuehe sam Ziele fOhrtan, veriiefen die Bewe- gungen grofoenteils in der Riofatimg nach dem Gesichte und der Knabe hatte einen dreifachen Erfolg zu verzeichnen. Das Ende der Geschichte ist kurz. In weniger als 14 Tagen hatte er gelernt, am Daumen zu lutschen, und von nun an war das monatelang seine Ilau|)tbe8ch&ftigung. War dieser Lemprozels etwas anderes als das Fortbestehe des für das Knd Zwedcinäfsigstea in den Hendbewegnngen? Es war ja auf jener Bnt- vrioUnngaetnllB doch nichts weiter als ein seusualistiBoher Hedonist, ausge» rttetet mit den jener Fhikeaphie entsprechenden Bewegungen. Es lernte nicht etwa neue Bewecrnngen : denn gleich beim ersten Male, da der Daumen in den Mund gebracht wurde, geschah es mit derselben Vollen- dung, wie es heute noch g^hehen würde; das einzig störende Moment dabd war, dafe es seiner Zeit viele andere Bewegungen zu unterdrflolcen galt, die mit eibenaolober VeUendung vollbraeht wurden, aber vom Stand* pnnict des Kindes ans sweoUos waren; da dieee unterdrflokt werden mufsten, konnten die anderen, die swedkmUkigen, während einer ganzen Weile immer nur einmal gemacht werden. Jetzt hat das Kind viele von ihnen ganz aufgegeben, weil seine Begriffe von Lust eben eine kleine Veränderung erfahren haben. Bei Beginn des Lernprozesses war der Knabe im Besitze von mehr Bewegungen, als er verwenden keimte oder ihm zweckdienlich waren, hm von mehr ds »fiortbeelehen« konnten. Ton seinem Standpunkt gesehen, war nur eine zweckmäfsig, d. h. pafste nnr eine fQr seine Verhältnisse, und diese allein blieb bestehen. Die unge- eigneten vrurden durch Hemmung ausgeschieden.

Diese Daumenlutscherrungenschaft ist typisch für viele andere ähn- licher Natur, die nach meinem Dafürhalten auf ähnliche Weise in den paar nächsten Monaten sich vollzogen. Im Laufe der Zeit treten mit zu- nehmendem Waofastnm neue motorische Zentren in Thfttigkeit nnd zwar mehr, als verwendbar sind, obgleich jedes einzelne bei iBngst verstorbenen Vorfahren vielleicht hOchst nützliche Koordinationen repräsentierte, und jedes wird seiner Zeit wieder aufser Thätigkeit gesetzt mit Ausnahrae der wenigen, welche unter den jetzigen Verhältnissen zweckmäfsig sein können. Höchst wahrscheinlich entstehen alle Bewegungen, die der Fortdauer und SrhaUnng der Art dienen, anf diese nnd keine andere Wdse. Ob diese Bebaoptong fQr die motoiisdien Zentren dee Laufens nnd Sprechens zu- trüft, wflUen wir nun untersudien* Was das Laufen anbelangt so müfsten wir voraussetzen, dafs im Alter von acht bis sechzehn Monaten, gewöhn- lich etwa um das erste Lebensjahr herum, gewisse Gehirnzentren, um einen figürlichen Ausdruck zu gebrauchen, »reif sind,« die eine Unmengo von Beinbewegungen auslösen, die thatsächlich nichts anderem als instinkt- nftfisBge Bewegungen sind und die sich im Omnde genommen nur dadurch von den spasmodisdhen Bewegungen vor der Ctobnrk unterscheiden, dalk einige von ihnen das Kind in den Stand setzen, etwas zu thnn, was es

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B. lütteflimgeii.

than wollte^ diesee »Thnnwolloo« aber ist diuoh die Eatwiekelungsgesetae bestimmt und bedeatet in diesem Falle das, was wir Laufon nennen. Bas Kiod hat nicht etwa irgend welchen Begriff vom Laufen und be- stimmt darnach bewulst sein Handeln, sonrlern jede Bewegung, die zn dem Ziele führt, bereitet an sich ihm Vergnügen, weil sie das Feld seiner Thfitigkeit erweitert Wahrscheinlich beruht keine einzige von der ganzen Bdhe von Bewegungen auf bewuXster, ja nicht einmal auf jener unbe- wnüsten Nscfaahmung, die msn Suggestion nennt, sondern jede an siob ist rein impulsiv, ganz ohne Absicht oder Zweck voUfQhrt Nun bereiten viele von den sabllosen impulsiven Bewegungen, deren jede qualitativ und quantitativ von der anderen verschieden ist, dem Kinde kein Lustgefühl, weil sie seine Welt nicht erweitem; diese werden unterdrückt, es sind die uiizweckmäläigen, welche die Natur ausscheidet Andere dagegen rufen ein Lustgefühl wach, weil sie Dinge in den Bereich dee Kindes bringen, -welohe sonst jenseits der Qrsnzen der ihm eireidibaren, selbst aufgebauten Welt lägen; dies sind die »sweokmftltaigen^ und sie dauern fort Die einzige Prämisse für diese Hypothese über die motorisohe Funktion ist die, dafs man viele dem Kinde angeborene» BewocruTiorpn an- nimmt. Wer ein Kind in der Periode vor dem Geheniernen ;iufmerksam beobachtet hat, wird meines Erachtens die Oiltigkeit dieser Annahme nicht bestreiten, (hna sioher untersohltaen wir die ItUiigkeiten des kleinen Hensohenkindes, wenn es nioht alle die versduedenen KrOmmungen und Windungen ausgefQhrt hat» wozu ilin sein KOiperbaa befthigt^ und wir beurteilen es falsch, wenn nicht alle Qehbewegungen unter den unzähligen anderen Bewegungen sind, durch welche sie zurückgedrängt werden. Das Kriechen würde auf dieselbe Weise zu erklären sein und ist schon durch den Zeitpunkt, wo es auftritt, ein schlagender Beweis für die Kultur- epoohentheorie.

Wie aber steht es nun um das Sprechen? Wir mflblen wieder sn«

nehmen, da Ts in dem Lallen, Stammeln, Papeln, das wochen- und monate- lang der Sprechperiode vorausgeht, alle Memente der artikulierten Sprache enthalten seien, vermischt mit iin7rlhli5Tf^n anderen Lauten, die Elemente chinesischer, indianischer und meinetwegen schimpansischer Sprache sem könnten. Erkennt ihr, Väter und Mütter, diese Wahrheit au?

Tracy sagt: »Wenn man des Kindes erstes Lsllen beobachtet und dabei die wundwbare Bi^ssmkei^ die ungeheuere Ifannigftltigk^t des Lito- nierens und Modulierens beachtet und zwar in einem Alter, wo Beob- achtung und Nachahmung aTisgeschlossen sind, so ist es augenscheinlich, dafs ein Kind einen bedeutenden Teil dessen mit zur Welt bringt, wo- durch es iu späteren Jahren seinen Gefühlen und Qedanken Ausdruck verleiht« ^)

Wir nehmen femer an, dafs gewisse Laute sieh dem Kinde als nicht nutzbringend erwiesen; sie kamen in WegfsU, wfthrend andere, welehe Mama, Papa, Milch herbeifOhrten, oder die, welche dem Bewufstscin an* genehme OematazustAnde vergegenwArtigten, wie Hand, Katze, Hnt (von

') Fajchologio des Kiades S. 118.

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Dw Foitbestehen im Zwwkmälsigstea bei der Ansbüteng äer BewegnnfEeii. 127

leuchtender Farbe), beibehalten wurden. Mit anderen Worten: Fortbestehen d«s Zwedunfifsigsten, um Lustgofühie zu echaileu. Eine derartige Hypo- these würde die Nachahmung, der wahnebeinlieh sehr mit Beoht eine gewisse Rolle beim Erlaagen eines Wortaohatiee sueesohriebeii wird, nicht etwa beiseite schieben, sondern sie als den Prozefs erklAren, durch dou das Gute, das wir besitzen, festgehalten und sorgfältig von dem ScWechten ausgeschieden wird, statt dafs das Neue einfach nach irgend einem äufseron Vorbild angenommen wird. Diese Hypotliese erhält auch durch manche ürfahrungen am Kinde eine sehr glaubwürdige Uuterlage»

Sie maidit es bsgreiflich, waram das SM tod Ettem einer Spzaehe und Abkunft mit solcher Leichtigkeit eine ginslidh vezaebiedene andere Spiadie lernt, wenn es in der Zeit, wo es sprechen lernt, nur die fremde Sprache hört In diesem Falle sind die Laute, die zu den gewünschten Resultaten führen, ganz verschieden von denen seiner Vorfahren, und die Bedingungen, denen das Fortbestehen der Laute unterworfen ist, ganz andere infolge der ganz veiäaderten Umgebung, iiüuhg werden motorische Zentnn ffir gewisse Laute so vOUig aufgeUSst im Lanfe der Jahre der ünthitigheit, daih es wirklich, aneh bei viel aufgewandter H Hhe unmflglich wird, sie wieder in Thätigkeit zu setzen; so gelingen z. B. uns Amori- kanern die Gutturallaute der Deutsclien und die Nasallaute der FtaiOSen nicht, während unser j-Laut dfm Skandinavier unmöglich ist.

Nach unserri ilypoiliese erscheinen die dem taubgeborenen Kinie eigenen Fähigkeiten ganz erkiäiüch. Meines Erachtens ist es eine Ihut- sscbe, welche alle anerkennen, die Erfahrungen bei dieeoi UngiackÜdien gesammelt haben, dab bis ins erste Lebensjahr hinein eine Zeitlang die hervcrgebiachten Laute denen des hörenden Emdes Ähnlich, wenn nicht gar ganz gleich sind, dafs erst in dem Alter, wo das normale Kind Worte gebraucht, ein bemerkenswerter Unterschied im Charakter der gesprochenen Laute wahrzunehmen ist.

Unserer Theorie gemäls würde das bleuten, dals für das taube £ind k^n Eiitecion TOfbanden ist, worauf dn Urteil fiber dio fimiehbarfcHt sich grfinden könnte. Selbst wenn durch ZuiUl einmal ein gsgebener Laut dmi gewünschten Erfolg hätte, könnte doch das Ohr beim Aussoheidai anderer Laute nicht miüielfen, und die Vermittlung des Tastsinnes der Artikulationscmpfindung allein genügte als leitende Thätigkeit nicht zur Wiedererzeugung desselben Lautes. Die Folge davon war, dafs fast alle Laute nicht die gewünschten Erfolge erzielten, es wurden keiue motorischen Zentren nach den der Umgebung entsprectaideii Bedingungen ausgewählt Und selbst wenn die gewohnheitsmaCBige Bneugung Yon Lauten fortbestände, wären die Laute doch zw ecklos. Wenn man Taube die artikulierte Sprache lehrt, so wird zur Vermittlung grofsenteils das Auge gebraucht, und das Dnzweckmäfsige ausiuscheiden, gelingt nur teil* weise.

Bis jetzt haben wir nur die motorischen Thätigkeiten besprochen, welche bei dem heftigen Kampf ums Dasein für das Fortbestehen des hi' dividuums wesentlich sind. Obgleich dem Individuum als einem Haus- tieri wie wir es ja doch in gewissem Sinne sind, Ton seinen mitleidigen

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B> lOttflüniigffL

Frenndan, ttäbtit man es mäm gehen, noch spreohmi kOonte^ gdidta Verden wOide, so Ueibt doch die Thatnehe baslohen, äaSSy budogiioh ba- trachtet, beide !nittiglteiten zu der Eatagorie dieeer wesentlichen 1 l ons-

bedingungcn gehören. Es giebt indessen eine grofse Klasse von Thätig- keiten, die nicht oder in nur sehr beschränktem Mafse als für das Leben wesentlich betiachtet werden können. Dies «ind die motorischen Thatig- keiten, die wu' Handarbeiten und bpieie nennen j sie sind erat in verhäit- niBm&big spltor Zeit bei Henedien tufgeMeo. Ak Boepiela Or Handarbeiten mfigea, obgleich auch andere ebenso gat angeführt werden könnten, Nähen, ^dokan, SJIgeii, SdiauMn und Holzschnitzen, als solche für die Spiele neben manchen anderen Schlagball, Croquet, Tennis, Billard und Kegel dienen. Aulser den für die Existen?: wpspntlichon Bowesninsren und denen, welche mau £ranz offenbar als Thäligkeiten ci kr tuit, w dio ieut^enimuten, giebt es noch eine Art, die zwischen beiden eine Mittel- Stellung einnlount Am bsstsn kann man sie bsobaohten, «eon man einem -Beitptede eine neoe Gangart beLbringen will« Wer je ein wttdes Fted geritten hat, ehe noch der Lemprozeis weitsr vocgeaohritten war, der Int sehr gewaltsame Bekanntschaft mit den mannjgüaltigen Bewegungen ge- macht, die das Tier zu Tollführan im stände ist. För die gewöhnlichen Reitzwecke sind die meisten dit3öer Iki wogungen ebensowenig zu ge- braucheUf wie die Kreisbewegungen der Hoi^sclilöudtir (des Bumerangs). TrotsdfiOl befindet eich unter dissem Üfaermafii von Bewegung, völlig eat" wiekeit nnd von dem Tiere gelegenHioh auch verwendet, jede einaeine der Eootdinationen» die ihm immer, tancAi dann noch möglich sein werdeOt wonn der Lornprozefs l eriidet ist, und ,'iu^^^;rdem nach des Reiters Mei- nung noch viele Millionen, welche so schneii wie möglich abgetlmn wer- den müssen. Iiier wird die Ausschoi luüg der letzteren nicht bestimmt durdi das positive Vergnügen, weiche einige vor anderen erzeugen, son- dern durch des n^tive YergnOgen, siflh den Schmers dsr Fetlsohe oder des Sporas su ersparsn. Ißt anderen Worten: die nnxweokmlljugsn Be- wegungen werden in diesem Falle mehr durch das künstliche Hemmimg»» mittel des Schmerzes ausgeschieden, als durch eine Auswahl dessen, was für positives Vergnügen beim Bewegen am zweckmäfsigsten ist Nicht nur für das Fierd beim Lernen einer Gangart ist dieses Prinzip aitwead- bar, auch das Kind fühlt die^e Macht am iTulsboden, wenn es Uehversuche maoht imd spBlsr snf dem flise, wenn es SohlittsohuhlanCan lernt; und diejenigen unter uns» wdohe Bad Jahren, haben die ausscheidende Macbt des Schmerzes wohl noch nicht vergessen.

Was die verwickelten motorischen Tliätigkeiten für die feineren Hand- arbeiten anbetrifft, so scheint es auf den ersten Blick unmöglich, eine Hypothese über die Erklärung der hier zu Grunde liegenden Bedingungen aufeastellen. Ist es denkbar, wird man fragen, daTs die Fingergeschick- lichlteit des Webers, die genaue Manipulation dies Holzschnitzers oder, tun vom eigentüchen Handwerk abzusehen, die erstaunenswerte Exaktheit des Taschenspielers nur das Resultat einer Auswahl anter den angeboranen foitigen Bewegungen sei? Sozusagen das Ergebnis eines Siebeprozesses? Mir kommt das durchaus wahrsoheinlioh vor. In keinem der angeführten

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Das Fortbestehen dea Zwechnälfuggten bei der Ausbildtiog der Bewegmigeii. 129

FSllo scheint es nötig, vinzunehmen, dafs neue Bewe-ungseiemente neu hinzugetreten wären. Das vielleicht einzig Neue da! oi ist die Verbindung, die KoordinaUoQ, uud wer weilä, ob selbst das etwaä iHeues ist?

Vit tauBeod Thonphtten von mwhiedener Farbe hum man dnrcb KomUnatioa beinahe nnsfthlige Muster bentollen. Hit einer nooh nd gHÜBexen ZSafal kortikaler Zellen, deren jede zur AuslOsuug eines bestimm* ten Nervonreizes geeignet ißt und d<^n betreffenden Mnakel in Bowoj^ing' setzen kann, sind die Kombinationen thatsilchlich Tiiibeschräiikt. Nicht das Individuum bringt duro.h irgend welche bewuiste luitialivo die Kom- binationen hervor, Bondurn die Natur selbst durch Vermittlung der üogö- aamiteii instinktiTea Bewegungen ; daa ist die Tbese, weldie iäi vwilBohte. Die der Gelegenheit entspraehende Zweckmft&igkatt entscheidet darfibw, welche der mannigfidtigen Kombinationen ausgeschieden werden, welche fortbestehen Köllen. Der kraftauslSsende Einflufs der Vorstellung einer bo- Btimmten Bewegung, auch wenn dieselbe noch niemals ausgeführt wurden ist, ruft Impulse hervor, welche der vorgestellten Bewegung im allgeuieinen entsprechen, wenn im Gehirn motorische Zentren dafür bereit sind; dabei treten solcfaei die dem Zwecke dienen, und andere^ weldie das nicht tbnn, «nfiuQgs in nnentwiirbarem Dnroheinander auf. Die ThStigkeit »lemenc bedeutet demnach die >unnfitzen Bewegungen ausscheiden«, und dasn darf es nur einer Beschränkung in der Quantität der möglichen Bewegungen, nicht in der Qualität, Es ist wohl kmim anzimehmcn, dafs der Kontor- tionist, der seinen Körper vollstAndig verrenken kann, die dazn notige Muskel- und Oelenkbeweglichkeit von Anfang au besessen haL Diese Fertigkeit ist vielmehr dnroh jahrelange Übung erdelt worden. Biese Übung eher bezweckte eine Umwandlung der Huskd und Kmp^ niehft des Qeiürna. Als er anfing ddi au trainieren, konnte er seinen Körper etwas hintenüber beugen, und als er am Ziele war, konnte er es viel weiter» Dafs die endgiltigen Koordinationen von Anfang an beim Üben auch der schwierigsten Bewegungen vorhanden sind, beweisen Vorkommnisse, wie sie beim Lernen der Spiele sich gelegentlich ereignen. Ich sah verschiedent- lich Ani&nger im Qolfspiel die Schläger zum eratenmale in die Hand nehmen und den Ball so geeebidEtschleadem, dab es einem geübten Spider alle Bhre gemacht haben wQrde. WShiend monatelanger Obung gelang keinem von ihnen wieder solch ein Sclilag, obgleich die je fünfzig Schliige durchschnitt- lich allmählich l)esser wiirden. Das heifst: die unzweckmJtfsig'en Koordinationen wurden ansct ■.i hir len, obgleich der wohlgelungeue erstu Schlag darthut, daHa die isLOordmaUonen anfangs ebenso korrekt waren wie nach wer weiTs wie langer Übung. Bas Sohlageiüamen setzte eben keine neuen Gehini» sentren in Th&tigkeit. Derartige Beispiele von phänomenalen ScfaUgen beim Odfspiel, Billard, Fo&bell, Schüssen von vVnfängem kOnnten in Un- menge angeführt werden, und alle beweisen, dafs der ganze raonschliche Nerven- und Muskelapparat vollständig aufgezogen ist von Anfang an und dafs die vervoUkoramende Übung eher ein Sul)traktions- als ein Additions- prozefs ist. Diese letztgenannten Beispiele setzten als Bewegungsiemenden aUerdinge einen JUngling mit allen diesem Alter gegebeneu Bewegunga- möglichkeiten Toraua Beim Kinde sind die Bedingungen dodi ein wenig

Sto ShMtefahler. YH. Jafaigng. 9

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Bi IQtieilaDgeik

andere, weil hier dio KoordiDatiooea noch nicht alle vollkommen ausge* bildfit sind. Die ganze Sntwiokduitgweit hindurch, etwa hie snm Jflng« Imgsulter hinauf traten htm. Kinde Ton Zeit m Zmt neue Bewegungen in Ibeobeinung. Die adinellste und anflallendste Umwandlung erfahren

die Bowegnngren in den allerersten Stadien der Kindheit. Wenige Tage, höchstens Avonige Wochen bringen vollständige UrawandluDgen in den impulsiven Bewegungen hervor. Physitich und psychisch, und damit meine ich, was Muskel und Gehirn betrifft sind dem einjährigen Kinde die Koordinationen des Jflnglings unmOgliöh. Eb kOnnte ebensowenig «ne StiefaMi anfortigen oder eine Uhrfeder einrichten, wie ein elektrifiofaea Licht in sechs Fufs Hnhe aufdrehen. In dorn ersten Falle sind die moto- rischen Zentren für solche feine Koordinationen noch nicht entwickelt, im letzteren dio Knochen und Muskeln, Beides wird, wenn alles regelrecht verläuft, mit der Zeit geschehen. Nur aus bestehenden Möglichkeiten kann eine Auswahl getroffen werden. Ein Taubenliebhaber kann, so sehn- süchtig wie er wiU, wünschen, Pfauentanben su xfiohien, er rnuüs abwarten, bis dnige seiner YOgel mit besonderNi FicherschwSnxoi auskriechen, bewot er seinen Plan ausführen kann. Bis sie erecbeinoi, nütst ihm alles Wflc fachen nichts. Dasselbe trifft für die Bewegungen zu.

hür den Erzieher scheinen hiernach sich drei wichtige Prinzipien ZU ergeben, welche bei der Ausbildung der Bew^^ngen berücksichtigt werden müssen;

1. Der Versuch, ein Kind eine Bewegung zu lehren, Umbt, nach dem oben Ausgeführten, so lange erfolglos^ bis nach den Entwickelungs- gesetsen naturgemäfs die Elenente der Bewegungen zum Vorschein kom- men. Mit anderen Worten ausgedrückt: Auswahl ist unmöglich, solange nichts znm Auswühlen vorhanden ist, und die veisohiedenen Arten lassen sich nicht künstlich erzeugen.

2. Wenn die neue Koordination erst auftritt, ist es leichter, das Unge- eignete SU untsrdrOoken und auf diessr Orundlage Tolkstttmlioh ge- sprochen — die Bewegung prftsise ausführen zu lernen. Um ein guter Golfspieler zu werden, sagt man, dieses Spiel führe ich an, weil es eine besonders feine und verwickolto Koordination orfordert müsse man Tor dem 15. Jahre damit angefangen haben. Hierher gehört das Lernen der fremden Sprachen, sowie manche andere Thätigkeiten als z. B. das Yiolin- und KkTlerspielen oder die Künste des Tssdienspielers von Pro- fession. Auch uns Lehrer geht dieses Prinxip sn, well sich darnach die Zeit festsetzen läfst, zu welcher verschiedene Arten von Handarbeiten in der Schule einzuführen sind. Bei dem jetzigen Standpunkt unseres Wis- sens befinden wir uns in einem Dilemma; wir versuchen nämlich entweder das Dnmögiicho mit all seinen unlioilvollen Folgen, indem wir Koordi- nationen verlangen, welche im Kinde noch gar nicht vorhanden sind oder wir verpassen den richtigen Augenblick. Dr. Thorndike ssgt: »Eine Lehrerin von sechs- bis achtjährigen Kindern handelt wahrschdnlich am besten und praktischesten, wenn sie durch Yeisurlio in Erfahrung an bringen sncht. welches dio ratsamste Zeit ist, die Kinder dio geM-Onschten Bewegungen zu leluren, und wenn sie, ebenfalls durch Versuche, sich Ter-

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Kinderarbeit und Einderverbreohen.

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flidieil;, dafs de der Kinder Gesundheit nicht sdbSdigeD. Ob sie das letxtare thun oder nicht, ksnii dnrch keine Thecnie üher die EntwickeluDg

des Gehirns kraft seines innren "Wachptr.Tnc, sondern nur durch unmittel- bare Beobachtung der Anzeichen von der Ermüdung des Gehirns bewiesen

werden.«'

3. Koordinationen, welche den Entwickelungsgesetzen gemäls früher aiifjsetreteik siiul, aus denen jedoch m dieser Zeit keine lom Fortbestehen aosgewfthlt wurden, hOnnen spftterhin zwar wieder hervoigebracht werden,

doch weder mit der ersten Leichtigkeit, noch mit dem ersten Erfolge. Dies verdient in Hinsicht auf das Problem der Zeiter^pnrnis Beachtung. Es ist ja koin Zweifel, dafs ein Fünfziger auch noch mit Kugeln spielen lernen kann, indessen wird in den ersten paar Monaten ilm sein Enkel r^;elmärsig besiegen. Hier sind die Qekiruzentren für die nötigen Koor- dioatioiieii sweifeUos vorhanden; aber dafe sie so Isoge niöbt gebrauoht wurden, hat ^ widerspenstig gemacht, und es würde lange dauern, bis die für das Kugelspiel ungeeigneten Kombinationen ausgeschieden wären. Ich kann es mir wohl ersparen, dies auf das Problem des Handfertigkeita- unterrichtes in der Schule anzuwenden. Es ist entschieden auch richtig, dafs die Möglichkeit, im Jünglingsalter allerlei Fertigkeiten zu lernen, zum sehr groüjen Teil der Thatsache zuzuschreiben ist, dals wir m deu Kind^ jähren so Tlel gespielt haben. Karl Oroos sagt: »Doch ist das frühe Auf- treten des Spieltriebes von unsefaUabarem Wert Ohne denselben wSre das erwachsene Tier nur armselig für die Aufgaben des Lebeas auage- rüstet . . . Hier drangt sich einem der Gedanke auf, dafs es die eiserne Hand der natürlichen Wahl sein mul's, welche, ohne allzusehr zu zwingen und ohne anscheinend zu ernste Motive nümlich durch das Spiel kühn dm heraushebt, was späterhin so notwendig sein wxi-d.«

ünaersr Hypothese Aber das Tortbesteben des Zweekmibigeten ange- palbt, wfiide das bedeuten, die fDr sp&tere Zeit nutsbar au maohendeD motorischen Zentren müssen durch das Spiel soweit entwickelt werden, da& ihre Fortdauer gesichert ist, bis die Lebensbedingungen dazu angethan sind, aus Ihnen eine Auswahl zu treffen.

2. Kinderarbeit und Einderverbreohen.

Diesen Titel trägt ein Aufeatx von Ellen Key, der im Aprilheffc

der Neuen deutschen Rundschau zum Abdruck gekommen ist. Wie schon in friiber veröfFentlichtcn Artikrln, so verfolgt auch hier die Verfasserin die Absicht durch Beleuchtung gewisser sozialer Schäden das Verant- wortlichkeitsgefQbi der heutigen Qenerationen den kommenden gegenüber sa wecken, das sooale Gewiss«! su rflhron. Oer schwedisoheiL Ver- &88erin stehen natnigemSIb in der Hauptsache die soualpolitischen Zustande ihres Landes vor Augen, welche sich in manchen Punkten von den unseren unterscheiden. Ich versuche im folgenden eine kurze übersieht über die von Eilen Key vertretenen Änschauungon zu gcV>cn und füge dabei einige Einzelheiten aus ihrem B^ründungsmaterial hinzu.

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R MitteiluDgen.

Sie hebt besond^ die an Kindern, den Trägern der Zukunft, ver- übten Yerbreeliexx hervor und dringt auf Abhilfe der AliitäätäQde durch eine irirbame Sobntzgesetzgobuiig für fnuran und Eindce, die naoh Quer Hdnmig mit einer AufbeBaening peknniArsa Lege der enteieB ITIiiinnn Hand in Hand geben miiljs. Denn, sagt sie, ohne die Hebung der Lohn- Verhältnisse mufs es ein ntopistischer Gedanke bleiben, durch Unterdrückung: der Frauen- und Kinderarbeit, die Frauen der Familie, die Kinder dem. Spiel und der Schule zurückzugeben. Die Fraueu- und Kinderarbeit in den Fabriken ist dau Beauitat der Herabdrückung der menfichlichen Arbeit, die entwertet woide, aobald eich die Xndoetrie der M—ohinen Miente. Wo erat ein Verdiener für die Funilie ausreiohte, mHasen jelit melirera zum Broterwerb benuigezogen werden. Früher verlangte die Berufsarbeit Körpe' kraft und ausgebildete Geschicklichkeit, jetzt sind» wie 7. B. in den Raumvrollspinnereien oder unten in den Schachten, die aarteu Finger wertvoller, -v^eil sie geschmeidiger, die zarten Efirper willkommener, weil sie schmäler sind.

In Tüftg^ffT*«* eneiehte die Fnnen^ und Eindenurbeit meret ihren HSfae- pnnki Die AnnenUneer eohiokten in die WdHeawebereien von Lanceahire ganze Ladungen Kinder, die abwechselnd an denselben Maschinen erbaiteteii, in denselben schmutzigen Betten schliefen. Mau sah Kinder von 4-5 Jahren 14 18 Stunden arbeiten. Die Folge davon waren bis dahin un- bekannte Kiunkheiten, zunehmende Verrohung und Unwissenheit, eine verkümmerte Bevölkerung. Trotz der unteidessen eingeführten Schutz* gooetae, irie der »ZehnatniidenMlU, ist naoh dem BttioiHto eines Antei die EOrpefgrBbe und das Gewicht bei den Lanoashire-Kindem nooh imaer niedriger als anderswo. Yon 2000 dort untersnobteo Kindern waren nur 151 wirklich g-esnnd und stark, während 198 in hohem Grade verkrüppelt, und die anderen, mehr oder weniger unter »the Standard of c^ood h^th« iraren. Ebenso furchtbar traten die Folgen dieses AusboiUnngssystema in Sachsen, Belgien, im Elsafis nnd in den Rbeinprovin^n zn Tage. Schon im Jahre 1828 madite ein preaOaisoher Miliar damaf aiifmerhi— 1, wie die degenerierende ESnwirknng der Frauen- und Kindenurbeit die Zahl der Waffentüohtigen vermindere. Es giebt noch jetzt Orte, wo die Kinder* arbeit ebenso entsetzliche Formen hat, wie in Kncrknd vor 1848. So bat man z. B. in Rufsland bei den Bastmattwebereien Kinder von drei Jahren gefunden und Massen von Kindern unter zehn mit einer Arbeitszeit, die bis auf 18 Stunden anstieg. In Deutschland zeigt die SpielwarenlalnilcBlion ZÜBam in Benig anf die Kinderarbeit Die industrieUe Hane- arbeit beschäftigt hier 4 5jährige, die Fabriken dagegen dürfen erst 14 jährige Kinder aufnehmen. Dieselbe Bestimmung besteht für die Schweiz, und auch in Dänemark hat man diese Altersgrenze vorgeschlagen. In Italien sind die meisten Krüppel Kinder, die in den Schwefelgruben Siciliens auigewachsen sind oder dort gearbeitet haben. Mit 12 14 Jahren sind viele von ihnen erwerbsnnflüiig. In Spaniens Uagnesiaai- gruben werden Mengen von Kindern swisohen 6^8 Jahren verwendet, die dorch die giftigen DImpfe von schweren Krankliciten befallen werden. Andere mflasen schwere Wassereimer auf dem Kopfe naoh trookeoen

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dul6nrb0it und Kiodtfi' itn'luMliOD«

13$

Gegenden tmgeu, um diese zu bewäseeru. In Frankreicii wagt der Sozmiist KQlflniid liM jetet nur den EUrtondeiitig Ar Kinder m fiwdflni, was auf die dortigen Zustande genngaam eehliefaen lifM.

Ellen Key zieht ans den angQgebenen Thatsachen den SohloCs, dals der

bereits prv.'Jlhnte pnn:l!9cho Arzt mit Recht die Entartung der Bevölkoning in den Fabnkdistrikten als eine ernste Gefahr für England bezeichnet hat, und dafs diese Gefahr fdr alle Kulturr^^lker besteiit. Man sollte endlich zu dieser Einsicht gelangen und durch das Verbot der industrielleu sowie der Stmbenarbeit der Kinder dieser Gefalir entgegenerbeiten.

Ein andsres Aignment der Verfasserin gegen die Kindentrbsit ist dies, dafs sich dieselbe unrnittelbar an der Industrie selbst rächt. Der scbulgübildcte Arbeiter ist für die Industrie nützlicher, als der in ün- wißseniieit autgcNvachseMe. Ais Beweis für diese Behauptung gilt der Verfasserin der AufBcJiwuiiir der dentsclieij Industrie über die englische, dar der besseren Schulbildung deä deuUchcn Volkes zuzuschreiben sei. Die intelligenten Ärbeitsr Bind es, die neneijrbeitameäioden am leiobtssten lernen, selbst neue Erfindungen machen und den Fkmiiiktionswert der Arbeit steigem. Je mehr Arbeiter ein Land yon dieser Kategorie ent- wickelt, desto bei^sor knnn es den Konkurrenzkampf aufnehmen. Haupt- bedingung ist die Entwickelung der Körper- und Seelenkräfte bis zum 15. Jahre durch Schule, Kachschule, Spiel und häusliche Beschäftigung unter Ansschlufs der Industriearb^t

In eindringüdier Weise mahnt Ellen Key an die Ffliehtoo, die die OeeaPoohift den unteren Schiebten der €Mntadt gegenttber hat Es sei nicht genug, dafs die Irzte die Krankheiten heilen. Diese und aUe flbrigen Gesellschaftsfaktoron möfsten ihre ganze Blnergie einsetzen, um der Qesundheitssorge einen ebenso breiten Raum wie der Seclsorgo anzu- weisen. Die letztere wird so lange eine vergebliche sein, sUb nicht bessere häusliche Verhältnisse geschaffen sind. Die Verbrecherstatistik liefert den Beweis, dalh die Qes^schsfl selbst die entuteten Kinder sohaflt Die niedrigen LOhne an denen sum die Annen- und Kinderarbeit mitwirkt bedingen schlechte Nahrung, schlechte Kleidung; die AufSaenarbeit der Frau bringt die Verwahrlosnnc rVr Kinder mit f;ich; der 'Wohnungsmangel hat das SchlaiburHchensystom im ( ielriigo. Das Unbehagen im Hause treibt den Mann ins Wirtshaus. Unsittiichkeit und Trunksucht ist die Folge, und sie verursachen die physischen und psychischen Krank* kRteOf mit denen die Kinder sdton gebaren werden. Dammi soUen beesere soaiale Zustände herbeigefOhrt werden, so glH es vor allem, bessere hiue- fiehe Verhältnisse zu sohaffen.

Aneh die Lebensdauer steigt mit den besseren sanitären Verhältnissen. In Deutschland z. B. sterben in aristokratischen Familien in fünf Jahren Ton 1000 Kindern 57, aber in Berlins armer Bevölkerung 345. £ine andere Untersuchung aus Halle zeigt, dafs die Anzahl Totgeborener in der oberen Khwse 21 von 1000 betrog, wShrend es in der ArbeiterUasse 65 von 1000 waren. Die Proportion der Kinder der Landaribeiter und der Industriearbeiter, zwischen ihrem Gewicht, zwisdien der Anzahl der snm Militärdienst vntanglichen in der Sohweis ist s. B. diese Annhl

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Bi HitMliingeo*

in den industrieUen Kantoofio um om Viertel grOijser als in äm «okecte- treifaenden zeigt s^eiohMe, wie schlechte Lebeosbediogongen die Bat- wickelungsmCgliob^tezi und die Leben staiigliohkeLt der Kinder und damit

des gnnz<^n Vol](f>s in phvsischcr und psychischer Hinsicht hemmen. Bessere Schutzmafsregein lür Frauen und Kinder sind deshalb Eilen Keys dringende Forderung. Eine solche würde sie auch in einem Gesetz er- blicken, das von den Frauen eine ebenso lange Ausbildung in Kinder-, Oesundheits- und Krankenpflege ▼erlangt als die MSnner ihrer Wehrpfliohl genUgen mflaaen nnd die ihnen nor unter den gleichen Bedingnngm er- laeaen werd^ kann. Unsicherheit in der Kinderpflege und Unwissenheit oder auch Gewissenlosigkeit ist nur zu oft die Ursache von MirsbiMun^«^n und Gebrechen der Kinder. Wo Gewissenlosigkeit der Eltern zur Ver- wahrlosung der Kinder führt, da wünscht Ellen Key grOfsere Einschränkung der individuellen Freiheit der ersteren^ ein immer ausgedehnteres Hecht der Oeeellachaft im Sinne der sogenannten Zwangsersiehiug; Sie warnt dabei tot den geeeUaofaafUioh erteilten Frflgeln Kindern erteilt, denn Armut und vemachlSfifiigte Erziehung in den meisten Fällen an ihm Fclilorn die Schuld tragen, und die deshalb für Diebstahl und rlcrirl. weniger verantwortlich sind als jene, von denen jeder »Gassenjunge m den Zeitungen lesen kann und die durch Veruntreuungen und Unterschlagungen ihre Q^ulBBuoht befriedigen wollten«.

Die Verweserin maoht in dem Aufsätze kein Hehl ans ilirem Gidl gegen die oberen Klassen, die sich dem Wohlleben hingeben, ohne zu be- denken, dalh neben ihnen Tausende darben, Tau sende dem Tod, dem Ver- brechen geweiht sind, und ebenso hart verurteilt sie die Gesellschaft, die sich christlich nennt und dabei Todesstrafe, Prostitution, Böraenspiel und Kindersklaverei aufrecht erhält. Manchem werden ihre Worte als zu aozialistisch gefärbt erscheinen, andere dagegen werden ihre Anschauung teilen und die Klnft, die svisidien dem ohriatlitdmi Ideal und den aoaialeii Zustanden besteht, ebenso aohmenlioh empfinden. So tiefe Schäden können nur nicht ohne weiteres ausgerottet werden. Deutschland ist auf dem Gebiete der Sozialpolitik Bahnbrecher gewesen. Seit Jahrzehnten bemüht man sich, bessere soziale Zustände zu schaffen. In diesem Augenblick steht wieder ein Gesetzentwurf zur Beratung, der auf gröisere Einscluünkung der Kinderarbeit abzielt Ganz UUst sich dieselbe heute noch nicht unter- drücken. Tausende von Familien sind auf den Hiterwerb der Fkauen mid Kinder angewiesen. Ein Verbot der Kinderarbeit würde deshalb als harte Zwangs- \md nicht als Schutzmafsregel empfunden werden. Die Gesamt- heit kann nicht auf Kosten des Einzelnen eine Förderung erfahren, und man hat deshalb augenblicklich nur eine Einschränkung dor Kiiuierarbeit in Aussicht genommen. Ellen Key sagt nicht zu viel von der Ausbeutung der Kinder in der Hans- und besonders in der Spielwaienindnsfam^ üm ^er solchen Torsubengen, eothAlt der Entwurf die Bestimmung, daCs aooh eigene Kinder nicht vor dem 10. Jahre besohftftigt werden dürfen. Die Arbeitszeit darf 3 Stunden nicht uberschreiten und mufs zwischen 8 Uhr morgens und 8 TThr abends liegen. Wir Deutschen können stolz auf das sein, was in sozial -politischer Beziehung bei uns schon geleistet worden

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ist Trotsdom sind die Worte Ellen Eeye vaxh für uns mobt verfloe. Sie mahnen uns dann, da& noch viele Steine hcrbeigesdiaflt wefden «lüBsen, um ein festes, gesundes sosiales Qebftiide aufaifUhren.

______ t*9*

3. QerichtliclieB.

In der »Kedisinisohen Beformc TerOffentlicht Dr. med. Hüls, der in einem GerichtsTerfahren gegen Kinder als Sachverständiger thitig war, einen Artikel, dem wir nach der Frankf. Ztg. folgendes entnehmen:

»Über einen der Angeschuldigten sag:t das Buch des Schularztes, dalfi der 14jährige Knabe geistesschwa n und der Hilfsschule für Schwach- begabte zu Oberweisen sei. Der Klasisenlehrer nennt ihn ordentlich und fleiTsig, aber au&erordentlioh beschränkt. Der zweite Angeschuldigte wird als blutarm und magensohwacb beseiohnet, und die SrsUiohenNotiaen lauten wmiex über ihn: »Nasen Wucherungen, schlAft bei offenem Munde. c Von diesen und zwei andere Angeschuldigten besagt der Bericht des Rektors der Schule, dafs sie in der Erziehung verwahrlost und sich selbst über- lassen seien, weil die Eltern den ganzen Tag draufsen arbeiten müssen. Bs waren also verwahrloste und zum Teil kranke Geschöpfe mit durchaus üicht soblecfaten Eigenschaften, über deren Verbrechertum nun der gericht- liche Sachverständigo urteilt: »Es liandelt eich um Diebstahle, leiöhte^ schwere Diebstähle, Bandcn-Diebstllüe, Einbruchediebstähle, Diebstähle im wiederholten Rückfall. Wenn man die viw Verbrecher, welche in der Anl^lat^ebank hintereinander standen, sah, nahmen sieh für einen, durch Keniitnisse des Strafgesetzbuches und andere Juristereien nicht bcH^intluisten Arzt alle diese Ausdrücke doch etwas komisch aus. Die drei vordersten Knaben flbenagten mit ihren Köpfen nur so wenig den Tisch, an dem sie standen, und trugen, obgleich 13 und 14 Jshrs alt, in allem nooh so ausgeprägt den Charakter des Kindes an sich zwei dam gehen ja noch in die Schule daHs es dem natürlichen QefQhl widerstrebte, diese Kinder wie erwachsene Verbrecher behandelt zu sehen und dals mich gerade ein Grauen überkam, als da von Gefängnisstrafe geredet wurde und ich gar hörte, dal's zwei dieser Kinder bereits monatelang in Untersuchungshaft gesessen hatten und aus dem Gefängnisse dem Gericht ▼orgeführt wurden. Der einsige^ der in Geist und Gestalt einen 14jährigen Burschen darstellte, war der vierte, welcher von mir sowohl wie von seinem Klassenlehrer als geistesschwach bezeichnet wurde und dem man die Imbizellität ans dem Gesichte heraus las.« Die Dieb- stähle trugen ebenfalls ganz den Charakter des Kindlichen: Entwendung von Selterwasser, von Petersilie und dergl. aus einer Laube, von Hand- schuhen, Strümpfen, einem Meeaer aus einem Schaukasten u. a. m., der grOCrte »Ladendiebstahl« war die Fortnehme von 60 Pfg. Ton einer Fensterbank.

Unter diesen Knaben er hielt nun der eine, der als Anführer angesehen wurde, 6 Monate Gefängnis, nachdem er schon einige Monate in Untersuchungshaft gesessen hatte, der zweite 6 Wochen und der dritte

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B* Mitteilnngeii.

3 Monate. Dabei hatte der Arzt über den xweiten Knaben bekundet, daTs Kinder mit polchen Nasen-JRachenwucheningen, wolche mit offenem Mnr ^r» schlafen, erfahningsgemäla in der Regel in ihrer körperlichen und gei- stigen Entwickelun g zurückbleiben und dafs auch bei diesem Knaben, der dazu auch noch einen mifsgebildeteu Kopf hatte, dies anzunehmen sei. Auf diese Begatsehtang ging dae Gericht aber gar ni<dtt ein.«

Die IVaiJdartar Zeitung (Nr. 86)maoht ztt diesem Berichte mancherlei Bemerkungen, von dem wir eine, jedenlUls zutreffende, hierher setaen vollen: »Der bürgliche Sacli\ crständigo m^zt g^anz mit Recht, dafs Kinder nicht ins Gefängnis, sondern in die Erziehungsanstalt gehören. Es widerspricht allen pädagogischen Grundsätzen, dafs man solche unmündige Kinder zu Verbrechern macht, statt ihnen die bisher fehlende Erziehung zu yerschaffen.«

U.

4. Tatibstnmmenbildnng in Dentschland.

Tüu Otto Schmitt in Fraukoiitbal (Pfalz).

Unser Vaterland besitzt zur Zeit 90 Taubstummenanstalten. Hiervon entflülen auf FienfMn 45, auf Bayern 13, auf Württemberg 8; Seohsen und Beden haben je 3 solcher WohltbAtigkeitBinatitate, Heesen und VecUen- bmtg je 2; im Beicfaaland befinden sich 4 Anstalten, auf die anderan deo^ sehen Staaten treffen zusammen 10 Taubetummenschuleu.

An di( iäon 90 Anstalten wirken ingesamt 731 Lehrkräfte, wovon 639 mfinniichen und 92 weiblichen Geschlechts sind. Von letzteren gehören 37 dem Klosterstande an.

Von dem gesamten Lehrpersonal bekennen sieh 462 zur evangelischen, 264 znr lEstholieohen KaoüBSSion. Israelitisdh sind 6. Es werden 3583 Knaben und 2959 Mftdohen, also zusammen 6542 Schüler unterrichtet Von diesen sind 3956 evangelisch, 2488 katholisch und 98 israelitisch.

3090 Zöglinge wohnen im Internat, 2795 fanden im Extemat Pflege- eltern; die übrigen 657 sind Schulgänger.

Die deutschen Taubstummenanstalten sind teils Staats-, Provinzial- imd Ereisanslslten, teils stidtische und Frivntinstitute. Für die einzelnen Bundesgebiete ergaben sieh folgende Zusammenatellmiigen:

<Siehe Tabelle A utid B & 137.)

Das ünterrichtsprogramm der einzelnen Anstalten umf&fst: Religions- unterricht, Artikulation, Lese- und Sachunterricht, Sprachunterricht, Auf- satz, K luien, Oeopraphie, üeschichte, Naturkunde, Schönschreiben, Zeichr neu, Turnen, Knabeuhandfertigkeitsunterricht, weibliche Handarbeiten.

Immer und wieder begegnet man selbst in gebildeten Kreisen der irrigen Ansohanung, dalls die TanbstnmmeD in der Qebirden- und Zelchenepraohe unterrichtet würden. In keiner deutschen Taub- stummenanstalt ist dies der Fall. Unsere Unterrichtssprache ist mir die Laut spräche. Samuel Heinicke, den wir mit Recht den Keformator des Taubstummenunterrichte nennen dürfen, war es, der zuerst Taubstumme in der Lautspjache unterrichtete. Und später war es Dr. J. R Graser aus Bayreuth, der diese Art der Taubstununenbildung

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TftabstainmeDbildai^ in DeatsohUod.

1S7

Anstalten, Klassen, Lehrpersonal.

Zahl der

Oeschleoht d);s Lehr- pexsonals

KoiifeMMW des Lehipeisoittls

8llIld6BBlMitell

WeiUieh

S o

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Welt- lich

Kl oster J lieh '

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(>4

11

53

8

51

32

4

14

50

34

16

Sachsen

39

42

42

42

2()

1

27

10

17

2

12

13

13

5

2

11

9

4

23

13

0

8

30

7

23

Die fibtigen deutHcht^n Staaten

10

40

3')

2

1

1

90 1 671

639

1 54

38

[731

462 1 204 1 6

B. Zöglinge.

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PrenUsen

Bayern

WüiHumbeJig

Sai^h^en

Baden

Hessen

Mecklenbug «

Xbab-Lothnngen . . . . . Die tbiigw dentaohen Staaten

4051 693 469 399 204 114 186 358

2257 352 243 213 117 62 47 90 202

1794 341 226 186 87 52 21 96 156

6542 »Der

3683 1 2959

2483 177 320 393 81 65 67 4'i 328

1487 512 149 5 123 46 1

138 27

81 4

1

1156

635 400 352 202

184 161

2381 41 66

114 59

132

514 17 3 47

9 2 65

3056|2468|98

30901 2795 1 657

streng vertrat. Sein Werk: »Der durah Gesichts- und Tonspraohe der Menschheit wiederg^bene Taubstumme« legt hievon beredtes Zeugnis ab. Jetzt ist diese Methode als die eogenannte deutsche Methode, im Gegensatz zur französischen, die sieh der Zeichen bedient, in der ganzen civilisierten Welt bekannt und erhält von Jahr zu Jahr neue JfiDger. Bei dem internationalen Taubstummenlehrerkongrefs su Bnis im JahTO 1878 wnide anerlnimt, daf« die Lautsprachmethode tot der Zdchen- meüiode den unbestrittenen Vorsug Yerdient

In neunter Zeit findet noch ein anderes Verfahren beim Unterricht Taubstiimmor Anwendung: Die Zöglinge durch das Ohr zu unterrichten. Selbstredend können hiebei nur sogenannte »hörende« Taubstumme, das sind solche, welche noch gute Gehörreste haben, in Betracht kommen. >Die6es neue Verfahren gründet sich auf eine EOrprüfungsmefihode

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des k. UniTenitUsprofeBSora Dr. Bdiold in Uflndwn. Derselbe eteUle eine kontinmerliohe Reibe leiner Töne inittelB Stimmgabeln und Pfeifen zusanmen, welche geeignet ist, diu HSrfähigkeit jedes Ohres von den tief- sten bis zu den höchsten Tünen mit Avissenschaftlicher Genauigkeit zn prüfen.« Gegenwärtig giebt es unter den Taubstummenlehrern noch wenig Freuiuiö dieser nf^iien Methode, über die ein endgültiges Uifeil alizu- geben, uocli nxemaudea anstellt, weil die Versuche als noch nicht abge- sehloaaeik za betrachten sind. Soviel atebt feat, dalk »bSrende« Tanb- atamme eine Sprache mit mehr Wohlklang und Ilelodie erhalten ala ihre gans tauben MitachQler.

Aber nur jene Taubstummenanstalten werden diese Versuche weiter fordern helfen können, welche über ein genügendes Lehrf)ersonal zu ver- fügen das Glück iiaben. Denn z solche Resultate können beim genieinsamen Unterricht der hörenden und nicht hörenden (taubstummen) Schüler weder eireiobt noch gefordert "werden und geradezu eine Ungerechtigkeit wSie ee, dieae aohCnen Beeultate anoh da an verlangen, wo die YerhAltniaae «inen geaonderten Unterricht nicht geatatten«.

6. SeeliBohe Regelwidrigkeiten im Pabert&tsiilter.

Yen einer Luhxenn einer höheren Mädchenschule geht uns folgende ZuBohiift au:

»Im m. Jahrgang der lEinderfeUer« Heft T aagt Frofeaaor Max.

Grofsmann S. 140 »Über die Hygiene des Pubertätsalters muTs noch viel Licht verbreitet werden,« und fordert an anderer Stolle, dafs vor allem dio Frauen bei ihrer Erziehungsarbeit »Vernunft und Wissenschaft zu Rate ziehen«. Auf meine Bitte, mir zur Erfüllung seiner mir sehr einleuchten- den Forderung bebilfliuh zu sein, sandte mir Herr Professor Groismann liebenawflrdiger Weiee ein Veraeiohnia einadüfigiger Schriften und Artikel, freiliöb, wie er selbst aagte, »nicht recht aweckentapreofamid,« denn ea iraren meist englische Sachen, zum grofsen Teil in engliachen und amerikanischen Zeitschriften zerstreut, gar nicht, BchwerundmitunverhAltnia» m&fiaigen Kosten nur zu erlangen.

Immer wieder aber empünde ich die Notwendigkeit, als Lelirerin an der Oberklasse einer höheren Mädchenschule auf diesem Gebiet grüod- lichat orientiert zu aein; immer wieder komme idi mit Mflttem in Be> rflbrung, die dem abnormen Qebahren ihrer TiSohter in der Entwickeluoga- zeit ratlos, oft verzweifelt gegenüber atehen; weder bei BuchhAndlem, noch bei Ärzten und Pädagogen meiner Bekanntschaft kann ich g^cnügende, ja, Oberhaupt irgend welche Auskunft erlangen. Da erlaube ich mir, mich an Sie, verehrter Herr Direktor, mit der Bitte zu wenden: Können und wflrden Sie gütigst mir auf diesem Oebiet orientierende Schriften vielleicht peraOnUch empfehlen?

Liefse aich nicht durch eine Frage in Ihrer Zeitadirift >Eindei- forschung« aus dem Kreise der Mitarbeiter und Leser eine ziemlich um- fassende Sammlung empfehlenawerter deutscher Schriften auf dieeem Qo- biet zusammenstellen?

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Ein BeBooh in der Brasseler Hüfssohiü«.

139

Eßnnte dieselbe uiciit durch Sonderabdruok, naoli gewissen Gesichts- pankten geordnet etwa betreffiand: a) beide OesdiMiter, b) das w«b> liehe, o) das miaiiliehe; wichtig: a) für Familienenidiiing, b) fOr Sohul- erziehung oder dergleichen, auqgedciintaren Efltem- und Lduerkreiaen

gfagiich gemacht werden?

Ich bin überzeugt, durch Vorbreitnng von mehr Licht auf diesem Gebiet, wnrde niclit nur manchen besorgten Eltern ein grofaer Dienst er- wiesen, suuderu vor allem unserer durch den Klassen- und Massenunter- ridht gerade in den Entwickelungsjabxen oft wahriiaft wenn auch nnbewnM md ongeweUt müehandeUen Schuljugend! Ihr mOchte loh heUiBn dnroli diese ans der Not ptaktisdier Arbeit herroigeheDde An* regasg und Anfrage.«

Wir wollen der Anregung gerne FolnT" i;'rl.on und bitten unsere Leser um Angabe der ihnen bekannten Schriften dieser Art /.ur Yervollstilrrligung des YerzeichuisseB der uns bekannten Schriften. Später hoHen wir auch eine soflammenhlngende Arbeit über diese Frsge bringen an können,

Tr.

6. Ein Bemioh in der BrüBseler HUftMohnle.

Ton Dr. Fb. Kosh in BififlseL

Diese Schule liegt nahe dem »Cenfmm« der Stadt, an dnein adiOnen, mit Bftomen bepflanzten Platze (KooTeaa marohd aox grains), nicht weit yon den Tolkstllmliohen Yierteln und doch etwas abedts von ihnen. Vor aufsen sieht man nur ein grofses Einfahrtsthor an einem breiten alten

Hause, an dem wir in grofscn Bachstabcn lesen: Ecole commnnalo Ko I i. Da die Schule bereits angefangen hat, als wir vor dersell oii rTschomen, iwt die Hausthüre geschlossen; wer zu spät kommt oder sonst, hinein will, mnb die Olodie sieben.

Mit der nfitigen Antonsation der Stadtverwaltung Tcisehen, stellen wir uns dem Herrn Direktor Lacroix vor, welcher uns auf das lieb6nfr> würdigste empfängt und uns in sein Bureau führt, das sich gleich rechts neben dem Eingange befindet. Bevor Herr Lacroix uns in der Schule umherführt, setzt uns derselbe noch einmal ihren Zweck und die Idee, die mau bei ihrer Gründung hatte, auseinander. Wir wiederholen kurz den Inhalt seiner Ausfahrungen:

Viele Kinder wohnen jahrehng den Stunden derselben Klssse bei, oiue auch nur im geringsten voran zu kommen; den Orand davon mnüi man darin suchen, dafs sie entweder geistig oder pädagogisch anormal feind, d. h. dafs es den einen an der nötigen Fähigkeit fehlt, mit den übrigen Schülern gleichen Schritt zu halten, den and»^rn an der nötigen Erziehung oder Zucht infolge von besonderen Umstauden, wie zu grofser Besdhitftignng ihrer Eltern oder Yormllnder, oder sn grofiaer Schwache» Gleiohgiltigkeit, Trunksnoht oder verbre6he«ischem Lebenswandel derselben. Wenn solche Kinder in gewrhnlichen Schulen belassen werden, bilden sie ein Hindernis für den regclraärsigen , ungest?5rten Gang des Unterrichts, da die andern Schüler sich über die geistig schwachen Mitschüler lustig

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140

machen und den zuchüo&eu nur gur zu leicht nachzueifern streben, auberdein d«r Lehror den xnrOokbleibeiideii nicht so vial Zeit widmen kann, als dam gehfirty aoldie CSharektore ▼orunnbringen oder mm gat» "Wege surOelBQlQlffeii, denn die anden ScIilUer lieben enoh Aneprodi eof

eeine Fflrsorg*^.

Als man nun qw.q Schnlo für die zurückgebliebenen Knaben (für Mädchen ist eine solche noch nicht vorhanden) gründete, ist ftlr die Disziplinarmittel folgendes als Prinzip aufgestellt worden: unerschöpfliche Geduld, grofse, mit venttadigar Festigkeit Terirnndene GHIte, voIMndiges Xntlielten von jedweden StraFen, natürlich gaos beeondei« der kStperltoheD, die in Belgien überhaupt undenkbar sind ; in Hinsicht der Methode wurde die Anschauung als Basis für den ganzen Unterricht nnfVrGstoIlt. Cm die Langeweile, die solche Kinder leicht befällt, zu verhindern, sind die ver- schiedenen Lektionen nur kurz, und ihre Folge weist eine beständige Ab- wechslung auf; von dem Gedanken ausgehend, date die Geschioklichl^eit und Oeaehmeidigkeit der Glieder und nementlioh der Finger die G^ Bcfaiokliohkeit des Denkens herbeifOhre, wurde den Handarbeiten und dem Turnen eine groÜM Wichtigkeit beigelegt; an die Anaohanungsstunden schliefson sich methodisch angeordnete Ausflüge an, wahrend derer die Aufmerksamkeit der Schüler auf nllns gelenkt wird, was für ein Eand^ und ganz besonders für ein zurückgebliebenes, Interesse und Nutzen bieten kann.

Bei ihrer TefsoohaweiBen GrQndung hatte die Schule mit gewaltigen Yomrteilen an kSmpfen, und swar nicht allein den IBltem der hierhin geeohickten Schüler, sondern sogar in philanthropisohen Kreisen. Die Er^

ffihning hat aber beiden gezeigt, wie Bchr sie im Unrecht waren. Die Eitern merkten sehr bald einen merklichen Fortschritt im Betrafen, in der Haltung, den geistigen F&higkeiten und den Kenntnissen ihrer Kinder; die andern haben feststellen können, dafs der Sturm von Entrüstung und Unwillen, den man befOrofatoto, aich gar nicht erhoben hat| und dalii die Spötteleien und Hänseleien der Spid* und ehemaligen Schnlkamenden, wenn sie überhaupt vorgekommen sind, ganz unsdliuldiger Natur waren und jetzt ganz aufgehört haben. Die Bezeichnung »Narren ?ch nie- (tVole des fous), welche die Nachbarn der Anstalt zuerst beilegten, wird schon lAngst nicht mehr gehört. Übrigens ist es auch den Lehrern der andere Schulen Brüssels strengstens untersagt, schlechte oder sohwadie SeitOkr mit einer Yerweienng nach dw »Ikiole des arri6r6s« an bedrohen; diese hat noto bene in der Verwaltung den Titel -»t/cole d'enseignement apdmalc» für den gewöhnlichen SterbUchen aber nur >£oole No. 14«.

Jeder von einer andern Schule hierher verwiesene Knabe bringt sein Nationale mit, ein Formular, auf dem aufser den gewöhnliehen Angaben Über Ort und Datum der Geburt u. s. w. auch noch die Geeundheits- und andere Verhlltnieae der Funilie und die Gründe aeiner Überweisung- an- gegeben sind. Yor seinem Eintritt in dieee Schule wird der betreffende Recipient einer doppelten Prüfung, einer pBdagogiachen und einer medi- zinischen, unterworfen, welche der Direktor und zwei Spezialftrzte , Dr. Demoor und Dr. Daniel, vornehmen; in derselben stellt man den

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Ein Besuch in der Brüneler Hüfasohnld.

141

Standpuait seines Wissens, deu Entwickelungsgrad seines Verstandes, seiner Suuub senier HmkeU niul Sprachfertigkeit feet

Sanm hat JBEetr Laoroix dies» kozie Auseioandeneliiiiig beendet,

als die beidoi Herren Doktoren, die übrigens DoieiiteD an der Brüseekr

Cniversit&t sind, crschoinen: man fflhrt einen Knaben herein, der ein solches Examen, wie oben angedeutet, durchmachen solL Der Knabe erscheint mit seiner Mutter und Tante; das Aubäeben dieser Leute läfst darauf schlielsen, daHs es wohlhabende, wenn auch einfache, Leute vom Lende eind. Hen Laoroix eelit uns aoseinander, ohne von dem Knaben gehört so werden, dafo ein ehemaliger fWiwIkaifnend, Lehrer in den wallonischen Provinien, ihm diesen Jungen soflchickte, um ihn auf seine Verstandesentwickelung und Heilbarkeit hin zn prüfen. Den Schulgesetzen nach könne er aber nur dann in die Stihule aufgenommen werden, wenn er in Brüssel donuziliert sd.

ZiMTSt wird nnn die Mutter beiseite gefragt, unter welchen Um- etAnden, sohweren oder leiohten, die Oeburt vor eich gegangen sei (die Entbindung war sehr schwer und langwierige aber ohne Foroeps); ob Junge schlimme Krankheiten oder Anfälle gehabt habe (aui^ dem S«^'harlachfieV>er und den Masern ist er nie ernstlich krank gewesen, er hat zur rechten Zeit gezahnt und normal zu gelion angefangen, aber im Alter von 7 Jahren hat er einen heftigen Sciu-ockanfall gehabt, weshalb, hat sie nicht mitgeteilt, und seitdem ist der Junge so); ob der Junge artig sei (meislenteils ja, er arbeitet auch ganz gerne, am liebsten aber spielt er mit kleinen Kind^ you 6 Jahren); ob der Junge auch öfter AnfiUle habe (ja, des Nachts, ganz ohne Grund, habe er oft furcht- bare Angst, und dann krieg^e er auch wohl mal Prfigel deshalb); ob er sonst änß"stlich sei fja, ohne seine Mutter und seine Tante habe er immer Ang^t vor andern Menschen, aber nicht vor Tieren; so habe er schon oft eine Herde Ton Aber 90 Ochsen führen helfen, denn emn Täter ist »booTier« ; andere Leute maohem aioh oft den Spab^ den Jongen au ftngstigen).

Nun sehen wir uns den Knaben selbst an; es ist ein kräftig aus- seiender Junge von etwa 14 Jahren mit etwas mongolischem Typus. Er weint vor Angst, als er hereingehoU wird, bernhif^t sich aber bald, als er nur freundlichen und ermutigenden Blicken begegnet. Er nimmt ganz gesittet seinen grofsen Filzhut ab und stellt sich bescheiden vor* die Herren Doktoren. Man fragt ihn nach seinem Namen; er will antworten, muih aber erst ffinf- bis sechsmal gerftosohvoll, mflhsam und krampfhaft nach Luft sobnappen, ehe er seinen Namen herausbringt; nach seinem Alter gefragt, sieht er sich hilfesuchttid nach seiner Mutter um. Nim soll er sagen, wieviel 2 -)- 3 ist, was er auch glücklich herausbekommt; 4 3 aber ist ihm unmöglich, zu addieren, selbst an den Fingern kann er ^ nicht abzählen. Bei jeder Antwort hat er das krampthutte Luftschuappen. Die Milnaen kamt er wenigstens mit ihren wallcniscben Namen, aber die Stttoke BusammenaShlen iet ihm echwer; geficagt, wieviel »Boules« (Bonbons) er fOr einen Cents (2 Centimes) b^omme, antwortet er drei, für 2 Cents, sieben. Die Farben bestimmt er richtig; man giebt ihm ein mit den ver- schiedensten Abstufungen der Farben beidruoktee Blatt in die Hand, nimmt

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B. Httteilwigen«

alsdann eine mit denselben Farben versehene StoffmusterkoUelction, Ofbiet eine Seite denelben und fordert den Examinanden auf, 41« gleiche Nuance auf dem Blatte ansageben; daa gelingt ihm anoh. Bei der Ptobe mit der Mnskeltäusohimg (zwei verschied on grofse aber gleich schwere Flaschen

werden ibm zum Abwä^^en in die Hand gegeben) giebt er auch eine normale Antwort, denn er erklärt die kleinere für die schwerere. Auf- gefordert zu erzählen, was er in BrQsscl gemacht habe, wo er sich seit drei Tagen befinde, kann er nur angeben, dals er beim Konditor nnd im Theater geweaen ist; hier habe er, eriBhlt er nun auf Befragen mid dabei verliert er tot Eifer aein Luftschnappen gesehen, wie ein Mann einer Frau das Messer mitten in die Brust gepflanzt habe; befragt, ob das nun in Wirklichkeit geschehen sei, sagt er: Oui, je l'ai vu, moi! Jetzt mufs er den Oberkörper entbJül'sen, und man mifst die Weite semer Brust beim Ein> und Ausatmen; der Unterschied beträgt nur 1 cm. Jetzt darf er sich wieder ankleideo and TerlATst mit aeiner Tknta daa Zimmer; allein will er nicht gehen, sondern fftngt, als er dies aoU, irieder vor Angst an su veinen.

Jetzt befragt Herr Dr. Demoor die Mutter über die geistigen Krank- heiten, die in der Familie vorgekommen sein könnten, und es stellt sich heraus, dafs auf beiden Seiten, des Mannes wie der Frau, geistoss« liwncho nahe Verwandte vorhanden sind. Darauf reden Herr Dr. Demuur und Herr Direktor Laoroiz der Mütter eindring^ch sn, sich den Jungen gegenOber ja jeder Heftigkeit und Brutalitit ni enthalten, ihn namentlich niemale zu schlagen, wenn er Angst und Selireckanfälle hätte. Sie gekm. ihr noch ein Billet für eine Klinik mit, wo man die Nase und den Richen des Jungen auf Polypen, adenoide Geschwülste, jryxoodome u. dergl. unter- suchen wird. Die Mutter ziutit jetzt schon bei dem Gwlnnken. dafs ihr Kind am Ende eine Operation duichmachon mufs; es wird ihr aber klar gemacht, dafs, wenn dne sokdie notwendig sei, die Bltem ein wirUiobes Verbrechen begingen, wenn sie dieselbe nicht vornehmen Helte; denn der Junge sei heilbar sowohl von seinem Sprachfehler als von seinem kindischen Zustande. Da sie nicht nach Brüssel ziehen könne, würde man ihrem Hausarzte einerseits und dem Dorflehrer andrerseits die nötigen Instruktionen fflr die private Behandlunc: geben ; naturlich müfste sie es sich etwas kosten lassen. Das ven>pricht sie auch, sowie viel Geduld mit ihrem Sohne an haben, und sie verllfot dankend nnd getrOstet daa Zimmer.

(SoUiili fotgt)

7. Der Verain fftr EindeifoTsclitiiig.

Die diesjähriu:o Versanimluni,' findet am 1. und 2. Augubl im Saalo des Deutschen Uauses in Jena statt. Die Tagesordnung mit den Leit- sfttsen der einseinen Vortrage wird in der nftohsten Nummer dieser Zeit- Schrift bekannt gegeben werden. Bisher liaben folgende Herren Vorträge

angemeldet :

1. Dirolctor Dr. niod. Herrn. Krukenberg-Idegnita: Anstaltliche

ifürsorge fOr Krüppel.

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a littentar.

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2. Semiuarlehrer König- Altorf: Die Eotwickelimg des musi- kalifichen Sinnes hörn Kinde.

3. Dr. Herrn. Gutsma an- Berlin: Die ^xachliehe Iintwiokeliais des

Kindes und ihre Hemmangm.

4. Anstaltsdirektor Schreuder-Haag : über KinderzeiclmungWL

5. T)r. med. St roh m ay er- Jena: Die Epilepsie im Kindesalter.

Zur Entgegennahme weiterer Anmeldungen von Vorträgen, sowie ztir Erteilung von Auskunft sind gern bereit die SckriiUührer: Dr. med. Strohmayer-Jena, W. Stnkenberg-Sophienbfilie b. Jena.

FerionkiiTBe in Jena.

Die diesjährigen Ferienkurse ireiden vom d. bis zim 9.» beav. 16.

und 23. August abgehalten.

Ans dem roi lien Programm werden unsere Leser insbesondere folgende Vorlesungen int j r i ^ s i oren :

Direktor Di. J uat- Aiteuburg: Hodegetik: iJic Lehre von der Bildung eines sittiicben Cfaazakters. (4. 9. August.)

Oberiebrer Lebmensieok-IVankenbecg und Landmann-Jena: Spezielle Didaktik mit praktischen Übungen. (4.-9. August)

Dr. Noll-Jena: Fli^siolQgie des Gehirns mit Demonstrationen. (4. bis 16. August.)

Prof. Dr. Rein -Jena: Allgemeine Didaktik. (4. Iii. August.) Dr. A. Spitzner-Leipzig: Fsycliologie des Kindes. (4. 9. August.) Direktor Trfl per- Jena: Abnorme Erscheinung im kindlichen Seslen- ieben mit Bemoiistrationen. (4. 9. AngosL)

Programm und nAhere Auskunft durch das Sekretariat

Frau Dr. Sohuetger, Jena, Qartenstiafse 2.

C. Litteratur.

L Habriob, Pädagogische Psychologie. L Teil: Das ErkenntniSTennSgen.

Kempten, Torl.ig der Jos. Köserschen Buchhandlung, 1901. 224 S.

Nachdem Papst L*?o Xfll. in der Encyclica Aetcrn! Patri.s vom 4. Augn.st 1879 auf die Wiclitigkeit des Studiums der Philosophie des Thomas von Aquiuo billgewiesen hatte, rogtua sich tausend fleifsige HXede in der Odehrlenwett der ks&oliseben. Kirche, am die Sohiifleii des Dootor angelicas aaszrü^n ; so entstand dor sogenannte Ncuthomismos. Einem scholastisch-modifizierten Aristotelinmus, wo- mit sich im letzten Grunde auch die thomistische Doktrin deckt, hnldipten srhon früher eine Beihe von katholischen Gelehrten. Als Verfasser psychologischer Lehr- bttoher veidieaea Frofesaor Georg Hagemann und Professor Konstaatbi Gatibexlet genannt sa werden. Hagemann betrachtet in seiner »P^ydbologie« (4 AufL 1681) die Bewufstseinsthatsachon als Wirkungen eines realen Scelenwesens. Eben-?o ver- tritt Gutberiet in dem 3. Bande (Psychologie) soinos Hanptwerkes JAlirl/ui h der Philopofthie« (6 Teile. 2. AufL 1890—1894) mit Entechiedenbeit den Kieutiauisuuis oder die Lehre von der durch Gott in der Erzeugung neu geschaffeuen un sterb- liehen Sede. Die modome F^chologie weist er surü<^ und hält an der schon ron Ajdstoleles anfgestellten Lelire foa den SeeleuTermögen fest

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littenhiT.

Auf dem Standpunkt der aristotelisch-scholastischen Philosophie steht auch L. Hahrich, der Verfasser der uns zur Besprechunf^ vorliegenden »Piidapr^- gischen I'sychologie*. Er zeigt sich besonders beeiuflufst vou Prof. 0. WilJmaim, insondeilieit ▼on dessen neneetem Wert» der »Oeechichte des IdeaUeonisc, in wekdieiii Werke Willmanu dem platonischen Idealismus huldigt und in dem »scholastischen Realismus den TfütAr idealer Prinzipien-^ erhiickt. Ilabrich ignoriert nun keineswegs die Resultate der neueren l'sychologie, sondern er verwendet sie ge- schickt an passender Stalle, sofern sie nicht mit seinen metaphysischen Örund- «naebanoogen vom WeMA der Seele in WiderepmolL atehiii. Br weisl also keine»- wege die medemen peyohcdogiaolien Theorieen kuxietliaBd «ie dies i. B. Qatberiet fhnl Abrieb h&lt sich dabei jedoch von jeglichem Synkretismus fem. Wo es dch um Prinzipienfragen handelt (z. ß. um die Unsterblichkeit der Seele), vertritt Habrich mit Entschiedenheit den kirchlichen Staudpunkt. Das Dasein und die Unsterblichkeit der Seele bildet die Grundlage seiner Aus- i&hrnngen. Bdion Frofeaew Fans Brentano htt in eeinem leider nicht TeUeodefean Weike >PsyehoIogie vom empirischen Standpunkte« (I. Bd.) das Habrich übrigens merkwürdigerweise nicht zu kennen scheint auf die fuudament^e Beieutung der metaphysischen Frage von der Unsterblichkeit der Seele hingewiesen. Wir sind mit Habncii iiinsiichtlich der Betonung dieser für die pädagogische Psychologie so hochwichtigen Frage völlig eimrerstanden. Trotzdem stehen vir nicht unter dem Bwne des aristotelisch-thomistischen Seelenbegriffs, den Habridi unbedingt glaubt acceptieren zu müssen. Wenn auch Professor 0. "Willmann die aristotelisch-scholastische Philosophie als die philosophia perennis bezeichnet hat, bo kuDueo wir uns deiselhen nicht so bedingungslos anschlielsenf sondern sind viel- mehr mit Professor Rudolf üooken der Usinung, dals »di» srietoteüsche Lehre nur einer oberflttchliohen Betrnohtnng als ein frei fiber sUer Betiehnng sor Zeit schwebendes Gedankenreich ersoheinen Imnc. Es widerspricht ebenso »allen Gesetzen historischer Entwickelung, üiomss fon Aqoino sls philosophisohe Norm fftr alle Zukunft gelten zu lassen«. ')

Habrich beschäftigt biuh in dem bis jetzt veröffentlichten 1. Teile seines Werkes mit der Betrsofatong dee Brkennt Disver mögen s. Nach einem einleitenden Kspitel über den Gegenstand, die Bedeutung und die Quellen der Seelenlehre werden die Erscheinungen der physiologischen Psychologie in ausführlicher Weise behandelt. Das 3. Kapitel verbreitet sich über die Vorstellungen, ihre Verknüpfung, Eiüprägung. Wiedererzeugung und Umgestaltung. In dem letzten Kapitel bespricht Habrich den Ventand, die BsgrifUildangf die Tarmmfi, dss Deokaii nnd die 8|iiadie. Bis pidsgogischen Brörtemngen, welche sidi nnmittalbsr an die Beoachtang der einselnsn psychischen Thatsaohen reihen, halten die mafs volle Mitte zwischen einem un- verständlichen Lakonismus und einer weitschichtigen Redseligkeit inne. Überall tritt der praktische Schulmauu hervor, der, die eignen Erfahrungen mit den Auächauungen Lei vurragender Pädagogen verbindend, ixua zeigt, wie man die Lehren der psyohlH logischen Pädagogik in den konkreten FUlen des Unteniohta und der Rrsiehnngsiir Anwendung zu bringen hat Wir sehen darum der Veröffenthchung dos bereüs in der Haudsc hrift fertig vorliegenden 2* Teiles des Werkes erwartungsvoll entgegen. Herbom. Hermann Grünewaid.

') Xanistadien. Herausgegeben von Prof. H. Vaihinger. Bd. VL Heft 1. »Bismas ▼on Aqnino nnd Xant. Ein Kampf zweier Welten.c 8. 11.

') Ueborweg'Heinaep Grondrifii der Oesdtuchte der Ftuloeopliie. fieriin 1897. HL 2. 8. 191. ^^^^^^^

Dmok TuQ ll«nBMUi Dvgrw Söhne (Beyer 4c lUna) in LtagaumiM».

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A, Abhandlungen.

Spraohstonmgen. ^)

Ton Or. X. WeHwwM, Baad.

Schon lanije hat man erkannt, dafs eine innige Wechseibeziehung zwischen Körper und Geist, zwischen Leib und Seele besteht, und dafs die seelischen Funktionen mit der Organisation des Geiiims enge verknüpft sind. Die Erforschung dieser Beziehungen und Wechsel- wirkungen zwischen materieller Substanz und immaterieller Kraft ist aber eines der schwierigsten Probleme, das sich der menschliche Forschergeist stellen kann; aber seitdem man sowohl auf physiolo- gischem wie auf psychischem Gebiet von der Erfahrung ausgeht, und unter sorgfältiger Prüfung und kritischer Sichtung des gewonnenen Materials auf induktivem Wege allgemeine Gesetze abzuleiten sucht, bat man verschiedene interessante Beziehungen zwischen himpbysio- logiscben und psychischen Vorgängen nachweisen können und den unumstölslichen Beweis geleistet, dafs geistige Kraft durch Gesund- heit and Integrität des Qehims bedingt ist Dabei muils allerdings die Fonehnng auch za der Erkenntnis kommen, dafs sich der Er- gründung all der mannigfaltigen Beziehungen zwischen Leib nnd Seele gewaltige Schranken des Katorerkennens entgegenstellen, die wohl kaum je werden durchbroohen werden können.

Die neneren physio*psyohologischen Forschungen haben zu der sogenannten Lokalisationstheorie geführt Man versteht da- runter die Beziehungen zwischen den Sinnesthätigkeiten und den eigentliehen geistigen Funktionen einerseits and den verschiedenen

') Benatzte littentar: von Mowaxow, GMiinpatfaoIogiet und Heehng, Oehim und Seele.

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AMlmidlangen.

Partieen der Gehirnrinde andrerseits. Zum Verständnis der Sprach- störungen ist es notwendig:, uns die bisherigen Forschungsergebnisse in kurzen Zügen zu vergogonwürtigen.

Diejenigen Partieen der Grofshirnrindo. die beim Zuj^tandekommen von öinneseindi ücken von mafsgebender Bedeutung sind, nennt man die sensorischeu Hindcnf eider; es sind das diejenigen Stellen in der Grofshimrinde, in denen die von den äulsem Sinnesorganen ausgehenden Nerven endigen. Fiir den Gefühls- und Tastsinn hat die Forschung nachgewiesen, dafe er vorzugsweise an die Cential- und Scheitelwindungungen des Grofshims, sowie an eine ziwüidi in der Mitte der Innenfläche der linken Grofshimhülfte liegende Stdie,

^1 FBU- md Miililn» )»>;:| « Biocfaqililie.

: ; :»[ « OthBnfUb«. Q|g « MipUm.

SchattkriB Pirtio = Sprachropon. FS s Sylviacho örubo. BW BROCA» Windung. F,. F^ F, . «nto bis dritte Stfnwfnta«. T|, T«, Ib «nl» Us dritte ScUltawiBd»^. 0,, Ob. Ob » Mi

bis dritte Hinterhauptwindon?. Qua, Ocp es vonlere und hintere Zontralwiniiunv P = Phonationsk<n. IT a Pol de« ScfalUeoiappena. Vordoies A.C. _ Vordoros A^ziationszoctrom. Hütares A.C. k

den Lobus paracentrah's, gebunden ist; möglicherweise kommt dabei auch noch der hintere Teil der Stimwindong in Betracht (siehe Hg. 1. Fühl- oder Tastsphäre). Diese Region des GroHshims ist es andi, ron der die Impulse für die Bewegungen ausgehe; es nehmen also das Bindenfeld des Tastsinnes und die motorische Region im allgemeinen dasselbe Gebiet der Grofshimrinde ein, ohne sich je- doch Tollständig zu decken. Diejenigen Nervenbahnen, welche die Bewegang vermitteln, gehen von gröfsem und kleinem pyramiden- förmigen Zellen des genannten Gebietes aus; man nennt diese Nerven- bahnen die Pyramidenbahnen. In dem gleichen Gebiet der GroJs- iiirurinde endigen diejenigen sensiblen Nerven, welche die Tastem- pfindungen der Haut zum Gehirn leiten. Die Untersuchungen tob

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WnmwiiiD; EjjpnwlifltSnuigiii.

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VxaßBtsa haben nachgewiesen, dais diese Endausbreitungeu der am FKhlen und Tisten beleiligtan Nerven nnd die Ursprünge der ge- mumten f^rnmideiilNdmen in dem eben omschnebenen Gebiet liegen, jedoob niobt g^dobm&Isig mitaiiiander Tennisoht sind; auiserdem ist der Umfang der Fflblapbflre bedeutend gröAer als das motorische Bindenfeld. Was den Gernobssinn betrifft, so lebrsn anatomische Beobaofatungen, aal die allein der Forsofaer angewiesen ist, da& der gesamte hintere Band der Basis des Stinilappens nnd der basale Teil des Gyros fomioatos (obem Begrenzung des Bslkens), sowie der änftetsfes Teil des SoUüfenlappens (FT, Fig. 1) dslfiz in Betraobt konmien. Über die Lage des Bmdenleldes für die Gesohmacksnerren ist niofats bekannt

Bezüglicb des Gebörsinnes beweist der Teiianf der FortBotzung des Nerms ooöUeaiis, d. b. desjenigen Kerrens, der ▼»& der SohnedES aasgebt, nnd der aUein die Sörempfindangen Termittelt, dalb die Seblifanlappen (T^, T^) in einer sebr nahen Besiebong su den Ge- bömerven stehen. Nach den Forsobongen ron Kjkbseo liegen die Endstätten der Gebömerren in den beiden Qaerwindongen des Schiifen* lappens, also in der Tiefe der Sylvisehen Grabe (FS, Fig. 1) Tersteokt In allen bis ]e1xt bekannt gewordenen FUlen von totaler Tknbbeit in- folge doppelseitiger lUndenzeistörnng beim Hensohen war stets die- Gegend der Qaerwindongen beiderseits verletst

Über die Lege des (Gesichtssinnes belehren ans die kliniscfaen Bifsbrangen, dafs dse Bindenfeld ffir die Sebnerv-Ansbreitungen sich im Hintezliaaptlappen befindet Wird die Hinterhaaptrinde in ge- nflgend grobem Umfang aof der einen Seite verletsti so tritt gekreuzte* büalemle Hemianopsie anf , d. h. jedes Ange wird aaf der einen HUfte blind, z. B. dss linke Ange aof der der Nase^ das reohte Aog» aal der der Schläfe zagekehrten Seite. Gest&tzt aaf seine entwiöke- langsgeschichtUchen Stadien betont Fukbsio, da£s die Hauptmasse der optischen Leitongsbahnen in der Wand der Fissura calcarina (Spomfarehe, auf der Innenfläche der linken GroMim- Hälfte des Hinterhauptes, in der Fig. nicht sichtbsr) endigt, und dals die übrigen Gebiete des Hinterhauptlappens nur einen beschränkten Anteil an den Sehleitungen hätten. Diese Beobachtongen werden durch Experimente neuesten Datums bestätigt

Diese Orienticnmg zeigt uns, dals nur nng^ähr ein Drittel der Oberfläche des Grofshims für die Arbeit der ffinnesorgane in Anspruch genommen wird. Das durch die Sinne nnd die Sinnesregionen dem Geistesleben zugeführte Material muls nun richtig aufgefaist« richtig gedeutet und zu höhem geistigen Potenzen Tersrbeitet werden.

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A. AMiandliiBgeiL

Für die geistig'e Yerarbeitung der Wahraehm andren, für das Wach- rufen der Enunerungsbilder, für das ZusammeiitUefsen der mehr oder weniger zahlreichen elementaren Empfindungen zu einheitlichen psychi- schen Gebilden kommt nun neben den Sinnesregionen noch eine zweite Gruppe Ton Bezirken der Grofshimrinde in Betracht Diese Regionen hai>en die Aufgabe, die Th&tigkeit mehrerer Sinnesorgane zu einer höbem Einheit nisanimenzD&eBen; sie sind Gentren der Asanh <»ation von Sinneeeindrfieken venohiedener Qualität, von Geaiofals-, Oehön-, Ibstenq^lindimgen. Bs wird also dtttdh aie die YembdiUDg der SimLeseindrOoke, das Denken bedingt, und man kann sie daher sweckmäbig als Assooiations* oder Denkoentren beseiohneo. 8ie sind die Hanpttrüger Toa dem, was wir Erfohnmg, Wissen nnd B!ricen]itiii8,*~wa8 wir GrondsStee nnd höhere Gefflhle nennen, som Teil anch der Sprache. Man kann diese Bindenpsrtieen in zwm woU- geaonderte Beseirke einteilen: der eine decselben umfslbt das eigent- liche Stimhim, also den hinter der Stimflftohe nnd nnnüttelbar tlber dem Auge gelegenen Himteil (yoidecee Assodations^Centrum); aom andern Bezirk gehört ein groDto Teil der Schlfifen- nnd Hinteriumpt- läppen, sowie ein mächtiges Gebiet im hintern Scheitelteil (hinteres Assoeiatioiisoentnun).

Welches die geistigen Funktionen eines jeden der beiden Centren sind, hat die WisseDschsft noch nicht endgiltig und absohlielkend nachgewiesen; doch mnlb man annehmen, dais sie nicht geistig Tölltg glei<^wertig sind: Bei Verletzung des hintern groiben Associatioiis- centroms verschwindet n. die Uhigkeit, gesehene oder getastete Objekte richtig fsa benennen oder richtig zu denken nnd sich richtige Gesamtvorstellungen von der umgebenden Aulbenwelt eu machen; es befiihigt dasselbe also den Menschen» seine Anschanungen. mit Worten zu verbinden, die Gedanken in Worte zu kleiden, jedoch nicht dazu, dieselben auch durch die artikulierle Sprache zum Ausdruck zu bringen. Diese letztere ThStigkeit, das Sprechen, wird durch die dritte Stimwindung, also durch einen Teil der Kdiperfühlsphäre bewirkt, und zwar zei^^t die klinische Erfahrung, daüs bei allen BeohtshSndem nur die linke dritte Stimwindung (Fg Fig. 1) zum Spraohcentmm ausgebildet wird, bei den Linkshändern dagegen die rechte dritte Stimwindung. Bei der doppelseitigen Erkrankung des vordem Asso- ciationscentrums worden die Vorstellungen der eigenen Person als eines handlungsfähigen Wesens und die persönliche Anteilnahme an äufsem und innem Geschehnissen verändert oäov auch gänzlich ver- nichtet. Wenn es sich um komplizierte geistige Leistungen handelt, wirken wohl alle geistigen und Sinnescentren zusammen. Die mikro-

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WcmswiiD: ^nehsbSrungeii.

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skopischf' Anatomie zeigt denn auch, dafs sie untereinander durch Ziiiiliüiclit' Nerv-enfasem verbunden sind: es besteht dei giurüto Teil des menschlichen Grolshimraarkes aus nichts anderem als aus Millio- nen wohl isolierter, insgesamt tausende von Kilometern durchlaufen- den Leitungen, welche die Sionescentren untereinander, die Sinnes- centren mit den geistigen Centren und diese wieder untereinander rerknüpfen, und dieses Zusammenwirken ist es wohl, was die Ein- heitlichkeiOer GroMimleistungen bedingt Doch wollen wir hier nioht Bfiher dannif eintreten, sondern nach dieser allgem^en Orien- tierung nun ein gaoz bestimmtes Kapitel psychophjsischer Enchei- nnngen, nimlich die Spradisttnmgen besprechen.^)

Wohl die meisten Spnohsttrangen gehen Ton der Oefaimober- ilftche oder Gehirnrinde ans. Bie Haupteigentflndiöhkeit derselben besteht darin, dab häufig die Ittiigkeit Terloren geht, sich der Im mensohllidien Yerkehr Qbliohen Ansdroökseelohen, wie dar Worte^ der Sohriflzeichen m bedienen oder gesprochene nnd geschriebene Worte richtig an&ofassen. XTnd diese Erscheinang zeigt sich, trots- dem die Begriffe selber im groüaen nnd gansen nicht nennenswert gesoiifidigt sind, eigentliche LShmnngsersöhsinongen der Spracfa- mnskohittir nicht oder nnr in nnbedeutendem MaJhe vorkommen nnd aooh PeroptionsstCrungen grOberer Art im Gebiete des Gehers nnd des Sehdganee nicht Yoriumden sind.

Bei der Sprache haben wir in der Haaptsache zwei YoigSnge an nnteischeiden: Antfsssong der Peroeption der Ton andern ge- sprochenen Worte nnd BatsteUnng oder Expression der eigenen Gedanken durch Worte. Biejenigen Sprache törnngen, bei denen das Wort, sei es in seiner perceptiven oder in seiner ezpressiTen Componente ganz oder in einzelnen seiner weitem Beetandteile ge* schfidigt wird, fa&t man als aphasische Stdrnngen zusammen. Man rechnet dazu anoh noch folgende Formen ron Sprachstttrangen: die reine motorische Aphasie, bei der die innere Wortbildung zwar nioht nennenswert gestBrt ist nnd der Kranke sich somit schriftlich ▼eistSndigen kann, wobei er jedoch die ihm gelftnfigen WortUftnge nicht durch die Sprachmuskulatur snm Ausdruck zu bringen vermag; und die reine sensorische Aphssie, wobei der Kranke die EUiigkeit verloien hat, gesprochene Worte als bekannte Klangbilder zu er- kennen und damit die entsprechenden Yoisteliungen oder Begri^ zu verbinden.

*) Wir folgen <tabei don nmluigreidien treffUchea Werke: tox Monakow, Ge- hiiBpaihologie, wobei wir mu bemtl^ die YeriiSltiiiaae fo «nfach sIb m^oh dai^ svstdlea, am tu soch für Kieht-Mediiiner venündlioh lu naoheo.

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A. Abhandlmigsii.

Wir machen zuweilen die Beobachtung, daCs sich infolge Ton Erschöpfung oder Aufregung die Schwierigkeit einstellt, für bestimmte Dinge den entsprecbenden spzaohliohen Ausdruck zu fmden oder Oesproehenes tind GeLefieneB geläufig zu veistehen; es kann diese Er- eofaeinung ate die mildeele Foim toh AfAaaie beseiolinet werden. Die hfiobste Stufe der SpnuihstSnuig tritt dann ein, wenn der niohi •eigentUeb geistig gestörte, in seinen Gedanken nooli leidlioii klare Patient nicht im stände ist, WortEdohen jeder Art wiUkttrlioh zom Ansdmok sa Ivringen oder die gewflbnltobsteii Worte der Matter- spräche, mögen sie mttaidlioh oder sobiifüioh geSoftert werden, wa ▼ersteben. Geht die Stffrung über die angedeutete Grense noch hinans, so leidet auch das Yerstttndnis fOr alle Zeichen d^ gesellsciuiftliöhen Lebens nnd fOi den Gebrauch der einfachsten Objekte, so dalb s. B. ^ Patient mit einem Taschenmesser sich su kimmen sacht, and in schweren ESllen ron Tötal* Aphasie werden die TorsteUungen nnd Begriffe geschädigt and damit geht aach die EUiig^eit verioren, sich ittomlich and zeitlich za orientieren.

Zahlreiche pathologiBohe Beobschtangen haben gezeigt, dalb bei BechtBbändem apbasische Stttrongen nar dann eintreten müttcn, wenn die Gehiznwindtmgen in der ümgebnng der Sylvischen Grabe (Bg. 1, F. 8.) auf der Unken ]BQin- Hemisphäre zerstitrt werden. Bei solchen Schädigangen des Gehirns wird in der Regel die Sprache •entweder vor wiegend in ihrem ezpressiTcn oder vorwiegend in ihrem peroeptiren Bestandteil angehoben und nar ansnahms- weise werden die beiden Spraohkomponentsn zaglddi geschidigt Um die aphasisdhen Stdrongen leichter eridiren und begreifen sa können, möge hier eine kurze allgemein -physiologische Betrachtung über die menschliche Sprache nnd ihre £ntwickelang eingeschaltet werden.

Wie schon angedeutet, besteht die menschliche Sprache ans mehreren relativ selbständigen £inzeifiihigkeiten, die sich in zwei Haaptgrappen zosammen&ssen lassen, nämlich in die B&higkeit, sich auszudrücken oder in die expressiye Componente nnd in die Fähigkeit, Ausdrücke anderer zu versteheu oder in die peroepÜTe ■Componente. Physiologisoh gehört die Sprache als Ganzes zu den sozialen Ausdracksbewegoxigen und -Empfindungen; sie ist in ihnr ersten Anlage wohl nichts anderes als ein doroh Klangnachahmung zum Ausdruck kommender Gefühlsreflex.

Da heute die Sprache dem Kinde als etwas Festee und mehr oder weniger Fertiges geboten wird, so dürfte die Art, wie es sich dieselbe mit seinen für ihre Entwiokelung bereite gut vorgebildeten

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Wbrbwald: SpnohstBiningisii«

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Apparaten in der Gehirnrinde aneignet, mit der Art, wie sie im Ter- laaf der Jahrtausende umspannenden Entwickeiung der Menschheit sieh von Generation za Generation herausgebildet hat, nicht überein> stimmen. Trotzdem zeigt die BSntwickeliuig der sprachlichen Fähig- kelten beim Urmenscben nnd beim Kinde numohe yerwandte Er- seheinung. In beiden Ffillen finden wir ein Anknüpfen der priml- tivaten Wortlaute an gewisse Grundempfindungen z. B. Freude, Er- staunen, Schmerz, wobei die spezielle Art der Laute wohl durch Klangnachahmung bestimmt wird. Die weitere Entwickelung der Sprache beim Kinde TolMeht sich aber ziemlich rasch in der Weise, daCs es die ron seiner Umgebung gehörten Worte, zunSchst zum Teil wenigstens ohne Bücksicht auf die ihnen zukommende Be- deutung bei sehr Terschiedenartigen gemCltliohen Begnügen wieder* holt und sich allmählich aneignet Der zu den betreffenden Wort- bildem gehörende Inhalt gliedert sich erst nach und nach an und wird im Verlauf der Jahre durch die stetig flielhende Erfahrung feiner ausgebaut Mit dem Laut »Tik-T^€ yerbindet es zunfichst nicht nur das Bild der Uhr, sondern auch dasjenige ihnlioh aus- sehender Objekte; unter »Papa« versteht es zunichst jede männliche Erscheinung, die mit seinem Yater ehüe gewisse Ähnlichkeit hat Erst ganz aUmfihlich bilden sich beim Kinde aus den Empfuidnngen Wahrnehmungen und aus diesen bestimmte Yontellungen und Be- griffe. Es bilden sich Wechselbeziehungen zwischen g^drten Wort- klängen und Sinnesbildem einerseits, zwischen Grundempfindungen und bereits fertig entwickelten Wörtern andererseits. Die neu ge- bildeten und erlernten Worte ordnen sich aUmählich unter stetem Zulluih von neuen Sinnesbildem zu festeren sprachlichen Gliedern und zu Bestandteilen eines syntaktischen Satzbaues. So treten sie als Wortzeichen in den Dienst unserer Yorstellungen und Empfin- dungen; sie gestalten aber auch andererseits die Gedankenwelt des heranwachsenden Individuums feiner aus und eizeugen auch neue Gedanken.

Au&er der Lautzeichen bedient sich der Gebildete zur Mitteilung seiner Gedanken auch noch anderer Zeichen, wie der Ziffern, der Noten, ganz besonders aber der Buchstabenreihen oder der Schrift. Diese ist bei den Kultur völkent eine phonetische; d. h. sie verwendet für die Elemente der Wortklänge und Wortlaute bestimmte Zeichen, die Buchstaben, und man gelangt zur Darstellung der Gedanken suocessive iu der Weise, dafs man für die Elemente der gesprochenen Sprache sich die üblichen Zeichen denkt, diese in die Vorstellungen für die Schreibbewegungen überträgt, dafür die entsprechenden Zeichen

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A. AlihandluiigeD.

sichtbar daisteQt ond in der swetAentspreolienden Weise miteiiiander Terbindei Beim Lesen werden umgekehrt die Baohstaben, nachdem sie mit dem Auge percipiert worden, innerlich in Laote umgesetzt und in entsprechender Weise susammengefafot, wodurch erst das Verständnis für die optischen Wortbilder erzeugt wird.

Das Wort jeder Kultarsprache setzt sich aus mehreren Kompo- nenten, d. h. aus Yerschiedenen Sondererinnerungsbildem zusammen:

1. Aus den Lautzeichen oder den kinistbetischen Erinnerungs- bildern (bewegungsempfindlich, d. h. Empfindung der zur Ausffihrung einer Thätigkeit nötigen Muskelbewegung) für die Bewegung der Zunge und der Lippen. Lautbild.

2. Aus den akustischen Bestandteilen, d. h. den Erinnerungs- bildern der WortklSnge. Klangbild.

3. Aus den kinästfaetisohen Emp^dungen fOr die Schreib- bewegnngen. BewegungSTorstellong, Bewegungsbild.

4. Aus den optischen Erinnerungsbildem für die Buchstaben. Optische Torstellimg, Schriftbild.

Ton der ersten Komponente kann man sich leicht eine Yor- stelluDg machen, wenn man sich das Sprechen lernen der Taubstummen vorstellt; der dritten Komponente, d. h. der Wahrnehmung der kin- ästhetischen Empfindungen für die Schreibbewegnngen bedienen sich offenbar die sogenannten Gedankenleser. Alle diese Gedächtuis- komponenten sind untereinander reich associiert und jeder derselben kommt später in ziemlich selbständiger Weise die Fähigkeit zu, die entf^prcchenden Vorstellungen oder Begriffe auszulösen.

Jode Vorstellung ist eine Zusammenfassung zahlreicher Einzei- wahmehmungen, die uns durch die verschiedenen Sinne zugeflossen sind. So haben z. B. zur Bildung der Vorstellung Hund die meisten Sinne entsprechende Teil Vorstellungen geliefert. Das zugehörige Wort »Hund* besteht aus Lauten, und für jeden derselben haben wir eine Laut- und eine Klaugkomponente zu unterscheiden. Um den Unter- schied zwischen Laut- und Klangkomponente leicht zu begreifen, denke man sich die Aufgabe gestellt, den Ton a (im zweiten Zwischen- raum des Notenplanes) zu singen; die Lösiuig: der Anforabe wird nur gelingen, wenn man vor der Ilervorbriuguüg des Tones bezw. de» Kl andres sicli diesen Klang denkt. Ganz ähnlich verliiüt es sicli beim 8preclien eines Lautes; zuerst niiifs sich die Vorstelliin:: rnn dom- selben einstellen und das ist die Lautkoniponeute, erst dann kann er gesprochen werden, was die Klaugkoniponento ist Uui das Wort »Hund* sichtbar darzustellen, verwenden wir die cnt??prechcnden Zeichen, von denen jedes wieder aus dem Bewegungsbild und dem

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Wriibwald: Spsadutfiraiigeiu

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optischen BUd besteht Wir dritten nim, dalk wir sowohl vom ge> sprocbenen als gesohriebenen Work ans die YorsteUimg Hund veoken hOnnen, ebenao bewirkt die Ansöhaanng oder Torstellong Hund die Beprodoktioa des optischen oder des Eiangbildes. Dieser Weg vom Wort zur YorsteUaiig ist, was die Dinge des lüglieben Lebens betrifft^ ein bis anf aUe Einzelpfade wohlansgetretener, ein uns geläufiger; er ist »ausgeschlifi^n«, nnd die Besiehnngen swisehen Wort und Begriff sind feste and meist nnUlsliche. Damit aber das Wort tob sehr yersohiedenen Seiten ans wachgerofen werden) damit es je ziach sdner Anslösang ansgesproohen oder aai^fafi9t werden kann, dazn ist nioht nnr Integritftt der nerrdsen Aasgangspforte fOr die Lantbilder d. h. der Spradiorgsne and der Eingangspforte für die Eläage, d. h. der Gehörorgane notwendig, sondern dazu sind vor allem anofa die mannigfaltigen, snm grollen Teil nooh anbekaanten zugehdrigen Aasodationsverbindnngen zwischen den Sinnes- and Be- grifbaj^araten anter sich and dieser mit den Werkstätten der Sprache wirksam.

Die Tier Komponenten des Wortes, nämlich das Laat^, Elang-^ Sdireib- oder Bewegangs- nnd Schriftbild bilden in ihrer associierten Zosammenbssnng das innere Wort Dasselbe kann Ton folgenden Wegen aas in Schwingang versetzt werden:

1. Dadaroh, da& wir unsere Gedanken willkürlich auf den dem Worte entsprechenden Begriff lenken;

2. dadurch, daib wir auswendig gelernte, also fest gegliederte Sätze, in denen das betreffende Wort vorkommt, recitieren oder sich ^eicbsam ableiern lassen, also rein mechanisch.

3. durch direkte Sinneswalimehmung der betreffenden Objekte;

4. durch das Aussprecben-Hören des betreffenden Wortes;

5. durch das Lesen desselben.

Bei der sprachlichen Äulsening spielen erfahrongsgemäJa die kinästhetischen oder die Bewegungs- Empfindungen der Zunge and des Mundes in Yerbindang mit den WortklangbUdem die hervor- ragendste Rollo; bei den gewöhnlichen Menschen sind es die Wort- klangbilder, die an die Vorstellung bezw. an den Begriff in erster Linie anknüpfen, und für diese Wortklangbilder bestehen im Gehirn scharf umschriebene Centren, in denen sie zu stände kommen und wieder ausgelöst werden. Für die Schriftsprache dagegen bestehen keine eigenen, den Lautcentren koordinierte Schreibcentren. Trotz- dem sind ziemlich direkte, d. h. mit Umgrehun?^ der Klan^rbilder sich abspielende A'erbinduneen zwischen schriftlichen Wortzeichen und den Begriffen möglich, jedoch nur dann, wenn in dieser Hichtung

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lU

A. Ahhaiwlhmgen.

«ine ganz spodelle Ernttbung stattgefonden bat, wie 2. B. bei den Taubstammen, bei denen, wenn sie leeen, die Etanf^omponente swar wegfällt, daffir aber in associatiTer Beidehnng die kinSatfaetiscben Bmpfindnngen der Zange nnd des Mundes das Ablesen der Lante in um 80 bdherem Grade nnterstatsen.

Wir wissen, dab die Gehinirinde in yeischiedene Beglonen ab- geteilt werden kann, yon denen jeder eine bestimmte Aoi^be zn- konmit; so liegt die Region fflr das Aufnehmen der optischen Bilder, also ffir das Sehen in der Hinirinde des Hinteihaaptes, ffir das Hören in der Hirnrinde der Schlifeng^gend, iOr das Fahlen und Tasten in der Scheitelregion etc.; somit sind die AafoahmestStten sowohl für das geschriebene, als für das gespiodiene Wort genau lokalisiert.

Auch fflr die willkürlichen motorischen Verrichtungen sind die Uxsprungsstellen im Gehirn lokalisiert; dasselbe gilt auch von den Ausgangsstellen für die Sprachäuiserung.

Wonn nun auch der zweifellos sehr verwickelte Zusammenhang zwischen den Sinnessphären d. h. denjenigen Gebieten der Hirnrinde, die zum Aufnehmen der verschiedenen Sinneseindrücke eingerichtet sind, und den Werkstätten für die Sprache in noch recht ungenügen- der Weise ermittelt ist, so ist doch die Thatsache im allgemeinen unbestritten, dafe Zerstörung eines TerhältnismäTsig engbegrenzten Ge- bietes und zwar meist iu der Sohläfengegend der linken Himhälfte hinreicht, um sowohl die Wortbildung als das Wortverständnis auf- zuheben, wobei jedoch die Vorstellungen und die Begriffe, sowie die Ordnung der Gedanken bis zu einem gewissen Grade erhalten bleiben. Die Fähigkeit richtig zu sprechen, hat also die Integrität dee be- zeichneten Gebietes zur Voraussetzung; dasselbe wird mit dem Kamen Sprachregion bezeichnet.

Die Sprachregion umfafst das Rindengebiet sämtlicher Windungen, die an der Bildung der S7I vischen Furche beteiligt sind ; sio schliefst in sich die hintere Hiilfte der dritten Stirnwinfhini: (Fg und Y^a) die ganze Insel (ein an die Fissura Svlvii anL':roTizr'n(je^ Gebiet des Ge- hirns), die obere und die untere Lippe der Sylvischen Furclie (F S) und die erste Schläfenwindun^^ (T). Die Erzeugung der Wortlaute ge- schieht wohl unter starker inauspruchnahme der gesamten Gebiete, von denen aus die Bewegungen der Zunge, der Lippen und des Kehl- kopfes ausgelöst erden (Fig. 1, X. T, Z). Die Ursprungsstätte für die zum mündiichen Ausdruck gelangenden Lautzeichen liegt iu der vordorn Hälfte der Sprachregion, nämlich in der Brocaschen Windung: die Ausgangsregion für die Schreibbewegungen fallt wohl mit der Zone für die Bepräseutation der Handmuskulatur in den Centralwm-

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WnsBiRAU): SpnoliiHinuigen.

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düngen. (Gca und Gcp) zusammen. Alle diese Partieen finden sich auf der linken Seite des Gehirns; doch sind die korrespondierenden Gebiete in der rechten Hemisphäre zweifellos an der Sprache in ge- wissem Umfang mitbeteiligt Die Felder für die perceptive Komponente der Sprache, d. h. für die Wortklänge und für die Schriftbilder fallen wvAl warn grö&ten Teil mit der Hör- bezw. der Sehsphäre zusammen.

Hg; 2. BbriMotale DvolMoliiiitt durch die linko QrosshimhomUphKi» auf dar B6iM dar antan SohUfaB»

ood der dritten Stiinwindung.

Dm adnCSaito lUd 9| (diHto fltimivlidiing) antapridit dam ATiadiwItt dv diltiaD BUiuvindnf, daNn

Aoffichaltnng in dsBai^l motorische Aphasie henorrnft. Das schrafHorto Feld Tj (erste Schllfenwindang) gieU die Qnou dar IJWOD im, die seDsoiüobeAptono ZOT Folge hA^ J . Inaol. 0 a HinterhaniiÜiiiii. d a tauera Kqaal. cgi » Cocpos geoieatataai iatainnD. ss sa SabifanUaDf. Ld a Linaenkan. k es Verbtadmig zwischen SohapMtoi md dar Aaarai^ vai dient dem ZosammeD wirken der Sehsphlre and dar Amiregion beim SchreflMn. s, b, e a eapponierto Vorbindtmgan des Stiniliinu mit Fg; da deoteo die Richtaag an, von welchar an« die motorische Sprachregion ontar anderen In T)iati|pkeit geeetzt «erden kann (Innenration rom Begriff aiu). IMe Verbindongeo h, 1, k mit der ansaerhalb der Haaptfigw aUlllailWI Anuaglon grob <:cho[nati!^oh. ilin iU^riinm Bahnen nntcr moirlichstor Baritakakhttgaag dar wirklichen topogTnphiäch-aoatomischoo VorblUtnisso'

Zwischen den einzelnen B^gionen bestehen mm die mannig- faltigsten assooiativen Verbindungen, die mehr oder weniger bekannt sind. Es kann sich an dieser Stelle nicht darum handeln, näher auf dieaelbea enumtreten; damit sioh aber der Leser eine ungefähre, wenn auch nur rohe Yoistellimg Ton den betreffenden Yorgängen machen kann, ad hier ans dem Werke Monakows eine edhematisohe

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A* AMiMiifliniipf!-

Zeidurang in Toreiniaehter Form wiedergegeben (Fig. 2). Bieselbe stellt einen Horizontalsobnitt darcfa die linke OiolUiiiiibeniiBphire an! der Höhe der ersten Sohlifenwindimg, der dritten Stimwindung und des Balkenaplenioms dar. Einige der wichtigsten bei der Wort> und Sehxiftspradie beteiligten Nerrenfuerrerbindongeii sind grob sdiemap tisch in die Figor eiagezeichnei Das sehrafEierte Feld entspricht dem Abschnitt der dritten Stimwindung, dessen Anssdialtong in der Regel motorische Aphasie herroimft Das schraffierte Feld T giebt die Grenze dec Terleüsong an, welche sensorische Aphasie zur Folge hat Diejenigen Verbindungen, die der expressiTen Sprach-

tiiätigkeit, dem sprachlichen Ausdruck, dienen, sind ausgeeog»!, diejenigen für die perceptlTe SprachthAtigkeit, also für das WortreistSndnis in Bede und Schrift, sind gestrichelt an- gegeben. — Eine Hauptrolle bei den Leitun- gen zwischen den yerschiedenen Oebieten spielen die Kenronen. Zur Erlinterang dieses Begriffes diene folgendes: Das fertige Centrai- nervensystem baut sich auf aus Ganglienzellen und Nervenfasern. Die Ganglienzellen bilden die eigentlichen Werkstätten der nerrdsen Funktionen, w&hrend die Nerventesem aus- sohlielslich mit der Leitung der Erregung be- traut sind. Betrachtet man die Entwickelung der nervösen Formelemente, so erkennt man, dafs die Nervenfaser nichts anderes als ein langer Ausläufer, bezw. Fortsatz der Ganzen* zelle ist und also zu dieser gehört und man bezeichnet nun die NervenzeUe nebst ihrem Nervenfortsatz mit dem Namen Neuron (siehe Fig. 3). Das Neuron setzt sich also aus folgenden Teilen zusammen:

1. Aus dem Protoplasma der Nervenzelle, das mehr oder weniger zahlreiche Verzweigungen entsendet, und dem ZeUkem nebst Zell- körperchen ;

2. aus dem sprzinJi nervösen Fortsatze, dem sog. AchsencyHnder- fortsatz, der sich häufig noch mit einer Scheide, der Markscheide umhüllt; bei der Leitung ist aber mir der Achsencvlinder wirksam:

3. aus der blinden Aufsplitterun«;^ der Aclisencylinder-Primitiv- bündel, dem sog. Endbfiumohen, welches Elemente der Nachbarschaft, also wieder nervöse Partieen oder auch Muskelfasern umspinnt.

Beim spontanen, freiwilligen Sprechen sind die Gedanken,

Hg» 9,

a Z«]lenkeni; b Norecuello; e protoplMinatiiiche Foctafttse: d ImnyliiiiMlottnli; e N«y vvtMQC CAxeozylinder + MMte); I KiWIhlBmdw.

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also Vorstellungen und Bocriffe das Primäre: sie sind abgeleitet von Erregungen, die durch die iSumixi ti iren passiert sind. Ihr Sitz ist nebst andern Purtioen das Stiiplinü (F). Bestimmte Neuronen des- selben werden durch den Gedanken erregt; die Resultierenden aus diesen Erregungswellen, die den psychischen Prozessen entsprechen, pflanzen sich in den schematisch angegebenen Richtungen a, b, c nach i'g tort, wo sie die Bewegungsbilder für die Laute wachrufen; gleich- zeitig geht aber auch die Leitung nach T^, wo die Klangbilder der Laute erregt werden. (Dieser Weg ist in der Zeichnung nicht an- gedeatet) Das Sprechen wird in Gang gesetzt^ indem stets neue Er- regungen von den Begriffen ans nadi Zurflofclegung sehr verwiokeiter Wege naoh und fllelSsen. 60 bildet sich das innere Wort Jetst dringen die ErregungsimpaiBe an! dem Wege d dnroh die innere Kapsel (c i) za den Phonationskemen (P in Fig. l), d. h. zn denjenigen Stellen in der Gehirnrinde, von denen ans die Bewegungen der Znnge, des Kehlkopfes nnd der Lippen angeregt wird. (Dieser letztere Weg ist in lig. 2 nicht angedeutet)

Das Terstfindnis für das gesprochene Wort spielt sich anf fol- genden Bahnen ah: Die durch die Schallwellen erzeugten Erregungen werden dnrch den Hömerv znm Corpus genioulatum intemum ge- leitet (der Weg ist nicht gezeichnet; Ton hier aus dringen die Er- regungswellen auf der Bahn e zur HörBphfire in der ersten Scfaläfen- windnng und zwar zur engem FeroeptioiiBStatte für die Klangbilder; dann wird anf dea Bahnen f und f 1 aneh die dritte Stimwindung mit erregt (die Assooiatlonsfasem f nnd f |, zwischen und sind in doppeltem Sinne leitend), und zuletzt weiden die Beize in der Bi<dttnng der mannigfsltigen nerrfisen Apparate zu den Stätten ge- leitet, in denen die Begriffe geweckt werden, nimlich zu dem Asso- dations-Gentram des Stimlappens, dem Assodatlons-Oentrum des Scheitel- nnd Hinterhanpthitns.

Das Lesen geschieht zunächst durch Erregung der Nerven und der nämlichen Elemente in der SehBphäre (Oi, 0„ 0$ in flg. 1), die auch zur Ferception der Objekte dienen; daran knüpfen sich auf der Bahn g Ton 0 (Hinteriiaapthim) nach (Schl&fenhim) successive, buiOhstabenweiBe sich abspielende, Associationen mit der Wortklang- sphäre; hier wird das entsprechende Klangcentram (Ti) und von da aus auf der Bahn f ^ das Lautbild-Centrum in Fg erregt Der weitere Yerlanf der Wege ist derselbe wie beim Auffassen des gesprochenen Wortes.

Beim Schreiben spielen sich im Torbereitenden Akte dieselben Yoigänge ab, wie beim spontanen Sprechen. Zunächst wird das

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ganze AaBodationogoUet für die faam SpMobd in Emgimg Tanettt, d. iL «6 findet ein etUlee ErUingenlaseen des inneren Wortes unter leisem lOtsöhwingen der Erinnerungsbilder der WorÜaate statt Bs bewegen sieb also die Eiregungen von ans naoh der inneren Kapsel 0 i, und yon bier ans «cfbigt die Übertragung der Erregungs- wellen anf die sebr fein differenzierten, in den unteren Fartieen der Central Windungen (G. a a. und G. o. p. Fig. 1) liegenden Erregungs- punkte oder Foci der reobten Hand (Babn b) unter g^etobsettiger regnlatorisober Hitarbeit der die EriDnemngsbildar der Bncbstsben waohrofenden Sebsphiie (Babn k) und der Bewegungsempfindungen der Handmnsbulatur (Bsbn 1). Die Foci für die Scbreibbewegungen liegen aulserbalb des in Fig; 2 dargestellten Hoiizontalsobnittes, und die angedeutete Verbindung zwisoben demselben und den Foci ist eine grob sobemstiscbe (Bahnen b, k, 1). Betradite wir nun nadi dieser allgemeuien Orientierung die veraobiedenen Formen Ton Apbasie.

L 2>to motoriaoli» AphiMitii oder Worte tiimmheit.

Wir versteben darunter einen Zustand, bei dem weder die sprach- Uoben Beseiolmungen für die allergewöbnlidisten Dinge und Zustiinde gefunden und mündlich ausgedrüokt, nocb Worte, die dem Patienten Torgesagt werden, nadigesprochen werden können; dabei kann aber die Zunge sieb leicht naoh allen Richtungen bewegen, so dals Laut- büdong wohl möglich wäre; aueh können etwa noch einsilbige Wör- ter oder Silben ausgesprochen und gut artikuliert werden. Es sind also bei der motorisohen Aphasie sowohl die Fähigkeit, die Wortlauts innerlich anzuregen, als auch die Fähigkeit, gehörte oder gelesene und richtig verstandene Worte in die mündliche Sprachmechanik um- zusetzen, d. h. die hierfür notwendigen vorbereitenden motorischeD Dispositionen zu treffen, aufgehoben. In der Regel verliert der Patient alle diese Fähigkeiten mit einem Schlag z. B. infolge eines Schlag- anfails. Es handelt sich also bei der totalen motorisohen Apbasie stets um zweierlei :

a) um eine Art von Gedächtnisstörung, die sich vorwiegend auf die Lautkomponento des Wortes bezieht und die in der Unfähigkeit besteht, das einem Begriff entsprechende Wortbewegungsbild, d. h. das Laut* und teilweise auch das Klangbild in sicli zu reproduzieren.

b) um die Unfähigkeit, selbst das frischgeiiörte, wohlverstandene Wortklangbild in die entsprechenden Bowegungsbilder der Zunge und des Mundes d. h. in die Laute umzusetzen.

In den meisten Fällen stehen den an motorisoher Aphasie Lei-

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WmBfuui: SpnoltBtönwgen.

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denden nocli Wortreste in Gestalt von verstümmeiteu, kurzen Wor- ten zu Gebote, und es kann der PauciiL dieselben oft noch recht gut aitikulieron. Diese Wortreste bestehen in der Retrei aus kurzen Wör- tern, die der Patient im täglichen Leben beäoudurs Iiaufig gebraucht hat, z. B. in »Ja«, »Nein«, einsilbigen Vornamen, aber auch in sinnlosen, wunderlichen Zusammenstellungen von Silben, wie z. B. »Tunke«, »Denkau«, »Cusi-Cusi« u. s. w. Solohe selbstgebildeto Wörter werden ▼om Patientoi bei jeder Gelegenheit, namentlich im Affekt aasge- sproohen, k^ea aber von ihm auf Geheils oft mit dem beeton Mil- ien nioht wiedeiliolt werden. Bine besondere Form der Spraohieste bilden die rekonierenden Xntanngen, d. h. aoldw Wörter, die der Patient onmittelbar Tor dem Sohlagan&ll noch ausgesprochen hatte und die ieoUert die Attaqoe Uberdaaem. So hatte eine Dame einem Kutscher den Auftrag gegeben, sie zu einer HIsBie Wateia zn fahren nnd Tcrlor einige Minnten darauf, vom Schlage getroffen die Sprache. Das einzige Wort, das sie spftter bestindig wiederholte, war »MisBis«.

Jn iehr Tielen Stilen ist die motorische Aphasie eine nur Torttbei|i;ehende Brsohelnung, namentlich dann, wenn die Aufhebung der Sprache von Anfang aa keine ToBstiadige war. Sdbst nach t51* liger Zerstörung der linken dritten Stunwindung kommen die Kranken, wenn audi erst im Verlauf von Monaton und Jahren doch oft wieder zu einem gewissen Gebrauch der Sprache. Dabei beobachtet man,, wie sie zunfichst SobwierigkeitBn beim Ansatz zum Aussprechen eines Wortes haben; es veigeht eine ziemlich groAe Latentseit, bis sie auch das ihnen innerlich geJAufige Wort herrorbringen bezw. die eiste Silbe ansetzen können. Auch, das Nachsprechen erfolgt hier schwer, Jbesondeis wenn es sich um wenig hlnfig gebrauchte WOrter handelt Nioht selten erfolgt das spontane Sprechen und das Nachsprechen leise, unsicher; doch ist die Artikulation gewöhnlich nicht gestört Eigentümlich ist die Erscheinung, dafs der nämli<^e Kranke, der nur eine kleine Gruppe Ton Wörtern willkürlich sagen kann und der nur mühsam ihm vorgesagte kurze Wörter wiederholt, im stände ist, in ganz richtiger Weise und ohne Unterbrechung z. B. das ^^^teruuser aufzusagen oder ein patriotisches Lied mit teilweise ziemlich richtigem Text nachzusingen. Überhaupt beobachtet man bei fast allen Aphasie- kranken, dais die von Jugendzeit an eingeübten, gleichsam auto- matisierten Satzreihen, Gedichte ete. die willkürliche Sprache über- dauern können. So stimmte ein Patient, der nur noch das Wort »Tuoke«, mit dem er alle Fragen beantwortete, nachsprechen konnte, ganz sicher und munter auch unter teilweise richtiger Wiedergabo

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AMiandlimguii.

468 Textes in du lied än: Iah batt* emen Kameraden, nachdem der Arzt ihm den ersten YeiB Torgesoiigein hatte.

Aphadekranke, die wieder einzeMe Wdrtw, namentliob Eaupt- und Zeitwörter gelernt haben, können dieselben nicht in eine geord- nete Satzfoim bringen; sie sprechen ohne Syntax nnd Grammatik wie Kinder und wenden die Zeitwörter in XnfiniÜTform an; z. B. statt >Heinrich hat mich gescholten«, »Heinrich schölten«. Am leich- testen können noch die Benennmigen für die Gegenstfinde des täg- lichen Lebens Torwendet werden. Fttr die motorische Aphasie ist allgemein charakteiistiBch die Erscheinung, dalk die Haaptwörter, wenn auch mflhsam gefanden, doch richtig angewendet werden, dals aber die grammatische Satzform beim Sprechen nicht beobachtet werden kann. Femer zeigt die Eifahning, daft Aidiasische beim Yeisnch zn sprechen oder andere Bewegongen mit den lippen aaszaffihreo, wie Blasen in die Luft, auf grolhe Schwierigkeiten stolken, wenn sie dazu auljgefordert werden; dagegen kann oft eine sprachliche Leistung oder eine andere Mundbewegung, die auf Geheifs dsm Patienten unter keinen Umstfinden gelingt, zu einer andern Zeit nnd im Zusammen- hang mit ent^rechenden andern, durch die Situation natOrlich ge- botenen Impulsen noch gut au^effihrt werden ganz so wie man AhnlicheB auch bei Gesunden beobachten kann.

SL Die Agxaphio.

Die Störung des schriftlichen Ausdrucks bezeichnet man als Agraphie. Dieselbe kommt für sich allein wohl selten oder gar nicht vor; dagegen tritt sie auf als Teilerscheinung sowohl bei Störun- gen im sprachlichen Ausdruck als auch bei solchen im Auffassen der Sprache. Jedenfalls bedingt jede ausgedehntere Störung in der Bildung des inneren Wortes Agrapliie, deren Grad allerdings sehr variieren kann. Die Agraphie ist in ihrem Wesen keineswegs als eine eigent- liche Störung in den Bewegungsorganen aufzufassen; sondern sie ist Tieimehr eine höhere Form associati\rer Störung, d. h. eine Störung gewisser associativer Erregungen, dio nicht direkt vom Begriff ver- anlafst werden, sondern durch Vermittlung der Werkstätto der Wort- bildung entstehen und in letzter Linie den Erregungsstellen für die JSchrcibmcchanik (Armregion) ziifliefsen. Oder anders ausgedrückt: Wenn der Aphasische selbst bei mntorischor Intaktheit seiner rechten Hand mit dieser nicht im stände ist^ auch nur einen einzigen Buch- staben zn schreiben, so resultiert dies nicht etwa aus dem Verlust der Bewegungs-Eoipfindungen für die Schreibbewegung, auch nicl:r aus der Unfähigkeit, die optischen Khnnerungsgebilde der Buchstaben

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WmcRWALD: Sprachstörungen.

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iD die Schreibraechanik umzusetzen, sondern es mufs darauf zurück- trefübrt werden, dafs der Patient zunächst die Laut- und Klanj^bilder der Wörter innerlich nicht ^renügend wecken und sie nicht in einzelne Laute zergliedern und ?omit auch die Laiitzeichen, d. Ii. flic Buch- staben nicht darstellen kann. Der beste Beweis für die Kiclitiirkeit dieser Annahme besteht in der Beobachtung, dafs der Agraphische, Torausgesetzt, dafs nicht gfl;i!imt i^^t, fast immer richtig kopieren oder doch mindestens die ihm zur Absclnitt vorgelegten Wörter ab- zeichnen kann, und dafs umgekehrt der Patient mit teilweiser nioto- risclier Aphaf^ie und rechtsseitiger Lähmung, doch noch mit der linken Hand zu schreiben vermag. Der Kern der StörunL' bei ler Agraphie ist also immer in der Beeinträchtigung dev Innern Wortbil- dung zu suchen. Die Wortklänge werden in verstümmelter Weise in die Seini il bewegungsbiJder umgesety.t, und die Fehler, die beim Schreiben gemacht werden, sind entweder Laut- oder Klangfehler; der Agrapijische verwechselt die Buchstaben, weil er sicli hinsichtlich der WortkJauge oder Wortlaute irrt. Aber auch beim Schreiben der Zaiilen und anderer Symbole macht der Agraphische Fehler; jedoch sind sie geringfügiger Natur als beim Schreiben der Buchstaben. Können einzelne Buchstaben weder spontan noch auf Diktat geschrieben werden, so bezeichnet mau dies als literale, können ganze Wörter nicht geschrieben werden, als verbale Agraphie. Die beiden Formen kommen meist zusammen vor; dabei kann aber der Kranke doch einzelne ihm von früher her besonders geläufige Wörter fliefsend niederschreiben, so z. B. seinen eigenen Namen, den Namen seines Wohnortes u. s. w. Diese an die Wortreste der motorisch Aphasischen erinnernde Erscheinung läist sich dadurch erklären, dafs Wörter, die sehr häufig geschrieben werden, nach den verschiedensten Gedächtnis- arten sich uns fest und für jede Sinnessphäre in selbständifror AVeise einprägen, wohl derart, dafs die Anregung für die bezügiiclit n Jiand- bewegungen von den verschiedensten Himregiouen aus in Gang ge- setzt werden kann, während wieder weniger häufig benützte Wörter erst aus ihren Buchstaben stets neu und unter Einhaltung eines ganz bestimmten Erretrungsweges zusammengesetzt werden müssen.

Der Chamkter der Schreibstörung entspricht in der Regel der Störung des uiundlichGu Ausdrucks in ziemlich genauer Weise. Wenn bei vollständiger und dauernder Aphasie der Kranke im Verlauf von Jahren einzelne, besonders gewöhnliche Ausdrücke des täglichen Lebens neu erlernt und sie im täglichen Verkehr anwendet, dann geschieht dies in der Weise, dafs er im passenden Moment die ge- eigneten Wörter einzeln, d. h. nicht in Form eines Sat2seSy yoiferingt

Die Kindorfehlor. VU. Jalu^^ang. 11

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A. AbbandlnngMi»

Ganz ähnlich verhält es sich in solchen Fällen mit der schriftlichen Ausdrucksfähigkeit; die Kranken sind nur insofern fähig, z. B. zu- sammenhängende Erzählungen niederzuschreiben, als sie die ihnen bekanntern, in der Erzählung vorkommenden Hauptwörter in der nSmliohen Beihenfolge, wie es etwa dem Oedankengang der Erzählung entepredieii würde, wiedergeben, ohne Terknüpf»ide nnd erlitotemde Zeitwörter, Fürwörter, Eigensohaftswörter dasEwisoben aDzawenden. Die Patienten markieren so gleichsam den Gang der Gedanken daroh die Substantiva nnd sind dadurch im stände, durch Zeichen anzudeuten, dab sie die EraslUiIung wenigstens innerlich zu reproduzieren ver- mögen. Ein letmeicfaes Beispiel hierffir lieferte eine seit Jahren an totaler mot(«ischer Aphasie leidende Kranke, die veranlalkt wurde, eine Aesopsche Fabel, die kurz vorher erzählt worden war, schrift- lieh wiederzugeben. Es handelte sich um die Fabel vom Hirsch, der sein Spiegelbild im Teich betrachtend, sein Geweih schön, seine Beine aber h&Tslich fand, für den aber das Geweih zum Verderben wurde. In der Wiedergabe dieser Fäbel schrieb der Kranke folgendes: tHirsch ein Tier. Der Hirsch und Teisoh ein Wasser. Geweih und der Beine. Das Hirsch hat und Löwe, das Hirsch Wald. Der Löwe und hat ein Hirsch. Anhebe, lebe, lebe. Hinch hat ein Bein und Geweih.«

8. sie WorttaublMU oder Mnaoiiwihe Aphaiili».

Sie besteht darin, dals das Vermögen, gesprochene Wörter zu ▼erstehen, geschädigt oder aufgehoben wird. Dabei ist das Gehör des Patienten in der Begel ziemlich gut erhalten; jedenfalls können

die leisesten Geräusche und Töne wahrgenommen und in ganz rich- tiger Weise gedeutet werden; nur das gesprodiene Wort wird nicht richtig erfafet, d. h. es erscheint dem Patienten ähnlich wie ein nichts- sagendes Geräusch oder als Klang einer fremden Sprache. Bei der Worttaubheit ist der Patient nicht im Stande, die aufeinander folgenden Wortklänge exakt aufisunehmen und auseinander zu halten, sie als bekannte Klangzeicben zu erkennen und in die Vorstellungen oder Begriffe einzureihen. AVihnscheinüch finden sich da bei der Auf- nahme der Gehörseindrücke Leitunirs v i derstände im Grofshim und vielleicht so, dals die einzelnen Silben der Wörter nicht in einer für das Verständnis genügend raschen und klaren Weise, vielleicht auch nur lückenhaft aufgenommen werden, oder dafs sie nicht alle im Gedäclitnis lange genug festgehalten werden. Zweifellos bandelt e> sich bei der Worttaiibheit sowohl um eine peiceptive als auch um eine a&sooiative Störung, und es wiegt je nach dem Sitz des Er-

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Wexiebwald: Spxachstöiungen.

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knmkangsberdw im Gehirn bald mehr diese, bald mehr jene Störung ▼or.

Wie bei der motorischen Aphasie nooh AVortreste zurückbieibent so werden auch bei der Worttanbheit vom Patienten besonders ge- läufige und im täglichen Leben häufig Torkommende Wörter in der fiegel nooh verstanden; aber sowohl in perceptiTer, als auoh in ex- pressiver Beziehung finden fortwährend Wortverwechslungen statt, wolil als Folge der Leitungsschwierigkeiten in den Aufnahmsstätten für die Wortklänge (Ii). Trotzdem der Worttaube den Sinn dessen, was er hört, nur höchst mangelhaft oder gar nicht versteht, scheint er hinsichtlich der Antwort, die selbstverständlich ganz falsch heraus- kommt, nicht verlegen zu sein. Auf jede Frage giebt er gewöhnlich eine überraschend geläufige Antwort, die jedoch auf die gestellte Frage keineswegs pafst. Gewöhnlich kommt die Störung des Wort- verständnisses dem Patienten nicht oder doch nicht in vollem Um- fange zum Bewufstsein; denn er vorhält sich den gemachten Fehlem gegenüber ziemlich kritiklos und gleichgiltig. Häufig verwechselt der Worttaube die Wörter, auch ganze Satzteile: oder es wird der Inhalt seiner Kode durch ungewöhnlichen und falschen Gebrauch von Wörtern widersinnig. Selbstverständlich kann der Worttaube das, was er selber ausspricht, auch nicht nchtig auffassen: auch läfst das von ihm selbst Gesprochene nur geringe Spuren im Gedächtnis zurück; deshalb fehlt ihm auch die akustische Kontrolle über das. was er selber gesagt hat, und darum wird aaoh der Zusammenhang seiner Worte locker.

Bei der sensorischen Aphasie oder Worttaubheit ist gewöhnlich auch die Fähigkeit, geschriebene und gedruckte Wörter zu ver- stehen, fast ebenso gestört, wie das Verständnis des gesprochenen Wortes. Man nennt diese Erscheinung Alexie. Da das Vprständiiis des Gelesenen, wenigstens bei den weniger Gebildeten zeitlebens unter Vermittlimg der AVoriklanchilder, d. h. buchstabierend erfolgt, so sieht man leicht ein, dafs mit der Worttaubheit auch Alexie ver- banden siin mufs. Wortt^iube konneu ihre Gedanken auch nicht schriftlich wiedergeben; sie haben zwar keine Innervationsstörungen in der rechten Haud; dagegen können sie die Wurtkläuge nicht in die entsprechenden Buchstaben umsetzen. Die Beobachtungen bei Agrap)n«cheu zeigen, dafs die Führerin für das Sclireiben nicht in den optischen Erinnerungsbildern der Buchstaben, uucii nicht in den Bewegungsempfindungen der Hand, sondern in den Laut- und Ivlang- biidem bezw. in den von d, m, f und (Fig. 2) ausgehenden und zur Armregion tretenden Erregungsimpulsen gesucht werden müssen.

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A. AUmdlmigeB.

Betraohtet man die apbaalsohan KnoildtoHswfteheiiiiiiigen, wie sie dem Aizte sich darbieten, so mnlk aimichBt dazanf hingewieaea werden, dab bei den meisten Apbaaiekranken die Binxelsymptome aich in sehr mannigfaltiger Weise gemischt Torfinden, doch kanii man zwei Hanptfonnen der Erkrankung nnterBcheiden, nlmliidi die motoriache nnd die sensorisohe Aphasie. Die beiden Formen kOnnen anoh ▼ereinigt bestehen nnd ee amgt sich dann Totalaphasie, die jedooh in der Regel mit tiefgehenden psychisohen StSrongen verbonden ist

Hier eine syatematisdhe Grnppienmg der yeraohiedenen Erank- heiiaeracheinangen Tonnnehmen, hat keinen Wert; dagegen mögen noch einzelne FSUe zur Erlinterosg des bisher Besprochenen ange- führt werden. Es giebt aphasisohe Störungen, bei denen der Kranke wiUktirlich zeitweise ziemlich korrekt Bpri<^ty dagegen namentlich bei Forteetsung oder 8chin& eines Satzes Laute und Wörter Terweehaelt, d. h. paraphasisch redet und gelegentlioh in das reinste Kauderwelsch ▼erfiUlt So greifen wir aus Wramcns Pathologie des Nervensystems folgenden Passus heraus: Frage: »Was ist das für ein Lokal ?c Ant- wort: »Das ist ein kaisefliches KasteUx itage: Was denn sonst?« Antwort: »Nun, es gibt kaisemea kis katea leben. Da haben Sie z. B. ein königliches ron der EUsabethrKasetls, d. h. tou allgemeiner Kasetts.« Bei einer andern Form motorischer Aphasie sind die will- kttrliche Sprache und die Schrift aufgehoben, das YersHIndnis ffir Oesproohenes und Geschriebenes dagegen, ebenso die Fähigkeit, nach- zusprechen, nach Diktat zu schreiben, zu kopieren und laut zu lesen, erhalten. Ein Arzt erlitt bei einem Sturze aus dem Wagen eine schwere Schüdelverletzung; es stellte sich sofort hochgradige Störung der Sprache ein; er konnte nur noch ja und nein sagen: allmählich erfolgte aber Besserung:. Kurze Zeit nach dem Unfall konnte kon- statiert werden, dab der Patient zu einer Zeit, wo sein Wortschatz minimal war und er nur einzelne Worte in verstümmelter Form aus- sprechen konnte, alles Vorgesagte völlig frei nachsprach und Ge- sprochenes verstand; auch konnte er fehlerfrei vorlesen. Das will- kürliche Schreiben war für längere Zeit gestört; dagegen stellte sich die Fälii:Tkeit auf Diktat 2u schreiben und zu kopieren, sehr bald wieder ein.

Bei einer aM i' i n Form von Aphasie sind die willkürliche Sprache und die schriftliclie Ausdrucksfiib^iirkeit beeintriichtigt. Der Patient kann noch willkürlich spr''choTi, er verfüp^t sopar über viele Wörter: doch wendet er dieselben lurt wahrend falsch an; er kann sie seinen Gedanken in richtiger Weise nicht nnterordnen. Dagegen ist er im Stande, alles geläufig naclizusprechen; er versteht indessen nioht,

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Wetteswau): Sptachstörungeu.

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was er nachspricht, und auch das nicht, was er selbst gesagt hat. So sprach z. B. ein 60 jähriger Patient dem Arzte nach: Ich heifse Peter Schwarz und hin schon vier Jahre alt« ohne p:op:cn letztere Unterstellung zu reklamieren. Yiele solcher Patienten können sich keine Vorstellunp; \ ( n den Objekten des täglichen Lebens machon, deren Namen sie ganz gut nachsprechen können. Als einem Patienten die i>age vorgelegt wurde, was eine Schern sei, wiederholte der Patient: ^ Schere, ja Schere, das Wort habe ich schon einmal gehört. Schere, Schere, was ist doch eine Schere?« Was die TTrsache der aphasischen Störungen betrifft, so ist dieselbe nach den vorliegenden Sektionsbefunden zum Teil in sehr verschieden lokalisierten, bisweilen die Hirnrinde selbst in weiter Ausdehnung zerstörenden Krankheits- herden irefunden worden, zam Teil muTs sie aber auch in einer all- gemeinen, auf Erschöpfung des Grofshims beruhenden Herabsetzung der Auffassuugötuhigkeit gesucht werden. So beobachtet mau bei cerebraler Erschöpfung aus sehr verschiedener Ursache gar oft, dafs die geistiire Kraft noch ausreicht, um mechanisch nachzuschreiben, nachzu.spiechen oder abzuschreiben, nicht aber um die Gedanken sprachlich auszudrücken und Gelesenes oder Gesprociicnes ohne weiteres zu verstehen. Doch kann nur ein sorgfältiges anatomisches Studium der verschiedenen aphasischen ErkiiUikungen einen Einblick in die Ursachen der zu Tage trotondon Störungen gewähren. Leider ist aber die Zahl der anatomisch wirklich gut studierton Fälle eine verhältnismäfsig kleine. Der Umstand, daJs wir bis jetzt nur über makroskopische anatomische Erfahrungen verfügen, in Verbindung mit der Thatsache, dafs die meisten secierten Fälle von Aphasie sich auf frische Erkrankungen, wie Hirnblutungen, Schädelverletzungen beziehen, also auf Erankheitszustände, bei denen stets mehr oder weniger ausg^prochene Allgemeinerscheinnngen vorhanden sind, macht es begreiflich, dafs trotz der grob anatomisch ziomlich sichern Grundlage der Aphasie ein feinerer Einblick in den ZusäiiHnenhang zwischeu tUn iiitia vitam beobachteten Erscheinungon uiul dem Sitz bezw. der Ausbreitung des Herdes bisher noch uicht gewonnen werden konnte. Eine IlaupUchv.icrigkeit für die richtige Beurteilung der Lokalisation aphasischer Störungen ist die, dafs selbst in Fällen, m denen man eine irreparable und konstant bleibende Schädigung annehmen darf, ja wo eine solche sicher besteht, die Sprachstörungen aufserordentlichen Schwankungen unterworfen sein, ja sich mitunter zum grolsen Teil wieder verlieren können. Gerade bei den verschiedensten Arten der aphasischen Symptome spielt die Besti- tution oder der Ersatz, d. h. die fanktionelle Anpassung des Nenren*

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Jl AUmdhmgeiL

Systems an den Defekt, das in Funktioutreten anderer nervöser Ele- mente, eint hervorragende Rolle. Femer ist m beachten, daÜs die bei der Sektion gefundenen Yerändoninp:eii uaniuglich schon ent- wickelt sein konnten, als man das Krankheitsbild sich notierte: so mufs also zwischen den Krankheitserscheinungen und dem anato- mischen Befund eine Disharmonie bestehen.

Bis vor kurzem reichten die anatomischen Kenntnisse des Ge- hirns keineswegs hin^ aaoh nur in groben Zügen das Erankheitsbild irgend einer speziellen Form aphasischer Stöning aus der Oestalt des Erkranktingsherdes in befriedigender Weise absnleiten. Wenn man daher über den Heehanismos des Zustandekommens der veraohiedenen Förmen d&c Spraohstörungen sieh Klarheit Terschaffen wollte, so mn&te man dem Hangel der exaktem hirnanatomisohen Kenntnisse dnroh Konstroktion von snpponierten Bahnen nnd Centren Toigreilen.

B 0

Yeisöbiedene Forsoher haben Sohemate anfgestellt^ die nieht an die wirklichen anatomisohen Yeifailtnisae ankntlpfen, sondern nach rein physiologisohen Gesichtqvankten konstniiert sind, an denen man aber bis xa einem gewissen Grad die verschiedenea Enmkheitserscheinnngen erklären kann. Einer großen Beliebtheit erfrent sich das Schema Ton liiCBTHiiM, das fOx üntemobtBsweoke gnt verwendet werden kann.

LiGHiHEiH nahm zwei Hanptcentren der Sprache an, ein Klang- bildercentrum Tj in Fig. 2 und ein Bewegungsbiidercentrum Tg in Fig. 2; sie sollen schematisch darg^tellt werden durch A und M in Fig. 4. Dieselben sind untereinander in doppeltem Sinne verbunden, also durch MA und AM. Die Gerade a leitet die Gehörseindrücte zu A; die Gerado m führt die Innervationen von M m den Cpntren für die Sprachbewegungen; so ist für das Nachsprechen 1*1 Kofi» x- bogen ftAMm voihanden. Bie beiden Hanploentren A and M sind

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WRiBWixa: SpradiBlfiningen.

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auTserdem no^ mit dem Begxiffezentmm B Terbimdeii; dassdbe be- steht ans einer sehr gro&en Zahl Ton Einzelkomponentäi, die in den AssoziationaceiLtren im Gehirn verteilt, der Einfachheit wegen aber in dem Schema zu einem Gebilde zusammengefaßt worden sind. XTm die Gehdnklänge in die Begriffe einzureihen, geht von A eine Bahn zu B nnd Ton hier aus nach M.

TJm das Lesen zu erUfiren, nimmt LicHTHmf zunädist ein Cen- trum 0 für die optischen Erinnerungsbilder der Buchstaben an nnd Terbindet dasselbe» da das Lesen lautierend erfolgt, direkt mit dem Elangbildercentrum A; das lante Lesen würde also unter Benützung der Bahn OAMm erfolgen^ das Yerstündnis des Gelesenen ab» durch die Bahn AB Tennittelt Für die Erklfirong des wiUkfirliohen Sdveibens wird noch der Ort £ angenommen, von dem aus die Sdireibbewegungm innernert werden, und es vollzieht sich das Schreiben auf der Bahn BME. Das Schreiben nadi Biktat würde auf der Bahn aAOE sich abspielen. Findet nun iigendwo auf den gezeichneten Bahnen eine Unterbrechung statt, oder ist irgend eines Ton den fünf Centren geschädigt, so müssen irgend welche aphasische Störungen eintreten. Lichtheui unterscheidet sieben Formen derselben nnd sucht dieselben mit dem obigen Schema zu erklären; wir führen einige an: Eine Unterbrechung bei M giebt motorische Aphasie oder Wortstommheit, wobei aber das Verständnis des gesprochenen und gelesenen Wortes erhalten ist, ebenso die Fähigkeit zu kopieren. Zeigt sich eine Unterbrechung bei A, so entsteht sensorische Aphasie oder Worttaubheit. Wird die Bahn Mm unterbrochen, so geht die willkürliche Sprache verloren, wobei aber das Wortverständnis und die Fähigkeit zu schreiben erhalten bleibt Durch Unterbrechung der Bahn A B kommt eine Abart der Worttaubheit zu stände, bei der namentlich das Wortverständnis leidet, während die Fähigkeit nach- zusprechen, laut zu lesen und auf Diktat zu schreiben, erhalten ist, wobei jcrlnoh das Verständnis des Gesprochenen und Oolesenon fehlt Eine Unterbrechung der Bahn Aa nifriebt eine reine Störung der Perception des gesprochenen Wortes, während die willkürliche Sprache, die Schrift und das Verständnis für das gelesene Wort erhalten bleiben.

Obwohl das besprochene Schema teilweise auf hypothetisch an- genommcDon Verbindungen aufgebaut ist, und keineswegs alle die verschiedenen Formen von Aphasie, wie sie thatsächlich vorkommen, zu erklären vermag, so hat es doch fruchtbar gewirkt nnd selir viel zum bessern Verständnis der aphasischen Syniptomgruppen beigeuagen, und bei aller Unvollkommenheit dient es auch jetzt noch als Hilfs-

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A. Aljhan'Jluii','011.

mittel zur allgemeinen Orientienmg in den besprochenen &ankbeits- erscheinnngen.

Kun reidiit aber das besprochene Schema keineswegs zur Er- klärung der verschiedenen aphasischen Störungen ans. Sehr oft zeigen sich bei der Erkrankung eines und desselben Gebietes des Grofshims ganz bedeutende Schwankungen in den aphasischen Er- scheinungen, so dais man annehmen mu&, daDs durch die Unter- brechung nervöser Leitungen und Ausschaltung begrenzter Windungen des GroMims all ein die Störungen nicht erklärt werden können. Aach ist zu beachten, dals durch die Verzögerung in der Leitung der beteiligten Himteile allein schwere Störungen sowohl in der per- cepttven als in der expressiven Sprachcomponente hervorgerufen "werden. Ferner miiTs in der Patliologie der aphasischen Störungen mit der Thatsacbe gerechnet werden, dafs die verschiedenen Sprach- fähigkeiten nicht bei aJlen Menschen unter gleicher Benützung der für die Sprache in Betracht komnienden nervösen Apparate zur Ent* Wickelung gelangen, sondern in individuell versclii edener Weise, je nach spezieller Erziehung und Anlage der verschiedenen Sinne, bald unter gröfsorer Bevorzugung der perceptiven, bald mehr unter Herbei- ziehung der mehr expressiven nervösen Einrichtungen. Hinsichtlich der zur Peripherie führenden AVillensimpulse sind wohl alle Men- schen in letzter Linie angewiesen auf die Benützuns: der Fasermassen, die von der Hirnrinde zum Pedunculus Xer\ eupaiti© in der Nähe der innem Kapsel und des Linsenkernes (Fig. 2, ci u. Li) führeü. Was nun die Terwertuni; der Associationsfaseru für die Einübung: der willkürlichen Sprache, der Schrift, des Lesens betrifft, so lierrscht gewifs bei den verschiedeneu ludividiieu je nach den oben hervor- gehobenen Umständen eine pofse Mannigfaltigkeit: denn ohne Zweifel spielen bei der Sprache dos einen Menschen meiir »visuelle«, bei einem andern mehr ♦auditive» Componenten der Erinneruncsbilder eine dominierende Rolle. Auch zeigen uns die Beobachtungen an den Taul>stuiuinün, dafs sowohl das Wortverständnis als der Wert- ausdruck auch beim We;^fall des für die Erlernung der Sprache so wichtigen (rchörsinnes ausgebildet werden können. Nun ist klar, dafe je nach dem Grad der Einübung der verbchiedenen sprachlichen Componeuieu die Folgen nach Verletzungen oder Erkrankungen der jenen dienenden nervösen Apparate ungleiche sein müssen. Auch fällt ganz besonders die Funktionstüchtigkeit der vom Erkiuukungs- herd direkt nicht betroffenen Windungsteile sowohl der nämlichen als auch der andern Gehirn -Hen^.^pllare in Betracht. Dann mufs auch an die Thatsache gedacht werden, dafs expressive Störuugen

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"Wetxebwald : Spracbätöruugeu.

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schon durch Zerstörung einiL^r wichtiger Erre^n^sstellen von Rprach- muskeln hervorgerufen werden können, während perceptive Ausfalls- erscheinnngen, wie z. B. Worttaubheit, erst duun zur Entwickehing gelangen, wenn ganz ausgedehnte Tüsionen in den eui^precheuden 'Sinntjssphären sich finden. Daher überwi^ee?! aucli die motorisch- aphasischen Störungen gegenüber den seusorisciieu; aucli können die letztem leichter wieder hergestellt, d. h. geheilt werden. Bei der Rückbildung aphasischer Störungen ist zu berücksichtigen, dafs ein Erkrankun?rsherd nur selten alle Associationsbahnen in der Umgebung der erkrankten Stelle vollständig unterbricht und dafs oft komplizierte Erregungen auf Umwegen unter Benützung supplementärer Bahnen noch nach ihrem Bestimmungsort befördert werden können.

Fafst man die bisherigen Auseinandersetzungen zusammen, so muls man die Aphasie als Ganzes als eine associative Lähmung sehr verechiedener verwickelter Sprachkomponenten betrachten. Die Fähig- keit, Wörter an sich auszusprechen, bezw. Wörter als Klänge zu per- cipieren, ist nicht ausgelöscht; es finden sich aber in den verschie- denen AbSüCiationswegen solche Leitung?- und Übertragungs wider- stände, dafs das Wort im Dienst einer kontinuierlichen (iedauktü- relhe als gangbare Münze weder ausgegeben (mororische Aphasie) noch angenommen (sensorische Aphasie) werden kann. Hinsichtlich der ganz allgeraeiueu Lokalisation der Aphasie ist zunächst hervor- zuheben, dafs Läsionen schon einer Heniisphiire genügen, um hoch- gradige aphasische Störungen hervorzurufen. Von gro&er Wichtigkeit ist dabei die Thatsache, dafs Personen, die zu den verschiedenen Verrichtungen des täglichen Lebens, wie Essen, Arbeiten, vor allem aber Schreiben, vorwiegend die rechte Hand eingeübt haben und sie benutzen, also die meisten Menschen, nur dann aphasisch wetden» wenn der Herd in der linken Sprachregion seinen Sitz bat Bei den linksbfindem verhält es sich in umgekehrter Weise: sie bleiben ^niohlieb tficfatig, aoch wenn innerhalb der linken Spradiregion ein Erktankongsherd platzgreift; sie werden dagegen sofort aphasisch, wenn die namliofae Partie in der rediten Hemisphäre befallen wird. Bei den Beehtshindem wird die ünke Hemisphäre, bezw. die Brocasche Windong (BW, Fig. 1) in höherem Grade für die Erzeugung der Wortlante nnd die Umsetzung der WortUänge in die Wortlaute, die rechte dritte Sttmwindung mehr für die äuiSBere und grobe Laat- mecbanik eingeübt Wahrscheinlich beteiligen sich aber beide Sprach- regionen, d. h. die sämtlichen Windungen in der Umgebung der Sylviscben Grabe (Fig. 1, FS), wenn such in sehr ungleicher Weise, sowohl an der Erzeugung des innem Wortes als der äulSsetn Wort-

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A. Abhandlangoa.

mechanik. Ohne diese Annahme w&re nach Zeretönmg der dritten linken Stimwmdang das regelmfiCnge ZnrQokbleiben Ton sogenannten Wortresten einerseits nnd die allgemeine Behindenrng der Laai> mechanik anderseits nnverstilndlich.

Ein genaueres Eingehen aaf die verschiedensten Formen Ton Yerletzungen, Erkrankungen nnd Störungen der bei der Sprache mit- wirkenden Gehirnpartieen nnd somit auf die ▼ersohiedenen Arten tou Aphasie setzt eine gana genaue Kenntnis der Gehimanatomie Torios, wie sie eben nur der Mediziner erwerben kann. Wir beechrinkeu uns daher hier auf eine kurze Darlegung solcher ErBofaeinungen, die unter Zuhilfenahme unserer 2Seiohnungen leicht yeistanden werden können.

Wenn das ganze Gebiet der dritten Stimwindung Fg durch einen Erkrankungsherd zerstört oder ausgeschaltet wird, dann wird vor allen Dingen die willkürliche Sprach o aufgehoben, es zeigt sich also motorische Aphasie. Geht die Erkrankung etwas tiefer in das Mark der Frontal- und der vorderen Centralwindnngen über, dann kommt noch totale rechtsseitige Lähmung dazu. Motorische Aphasie, kombiniert mit rechtsseitiger Lähmung, ist weitaus die gewöhnlichste Folge jeder halbwegs ernsten Ausschaltung im Gebiet der dritten Stimwindung. Diese Läsionen haben für die yeraohiedenen Sprach- qualitäten folgende Erscheinungen:

1. Die willkürliche Sprache ist bis auf wenige Sprachreste gänzlich aufgehoben; denn es werden die in Pg liegenden Erregungs- stellon oder Foei für die überaus mannigfaltigen Bewegiingsarten der Zunge und der Lippen vernichtet. Dazu kommt noeh rlie gleichzeitige Abtrennung des Wortkiangfeldes in Tj von der dritten Stimwindung Fj.

2. Das laute Lesen ist aus den nämlichen Gründen wie das willkürliche Aussprechen von Worten unmöglich; ebenso das Kach- sprechen.

3. Das Schreiben ist, da bei Lasionen in Fg das Centnim für die Wortlautbilder, die die Grundlage und den Austrangspunkt des scliriftlichen Ausdrucks bilden, erkrankt ist, ebenfalls gestört. Das Schriftbild allein vermag die zum Schreiben notwendigen Hand- beweirnngon, auch wenn keine eigentliche Lähmung der rechten Hand vorhanden ist, nur dann zum Schreiben anzuregen, wenn eine Vorlage zum Kopieren vorhanden ist

4. Das Schreiben nach Diktat, das eine Übersetzung von Wort- kliingen in Begriffe und dieser wieder in Laut- und Schriftbildung zur Vomussetzung hat, ist schwer geschädigt, jedoch für bekannte Wörter nicht ausnahmslos au^ehoben.

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Wettebwald: Sprachstönio^en.

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5. Die FäliiLkeit des stillen Lesens, also Geschriebenes oder üe- dnicktos zu verstehen, ist scheinbar nicht beeinträohtip-t. Doch zeigt eine genaue Prüfung, dafs das stille Lesen dem Patienten recht viel Mühe verursacht, «lass er hie und da verkehrt liest und den Smn des Gelesenen häufig uiclit versteht Diese Störung ist leicht zu begreifen, wenn man bedenkt, dafs das Lesen unter lauter Aussprache buch- stabierend erlernt wird und dafs es auch später noch, wenigstens bei weniger Geübten, unter leisem Aussprechen der Silben, mit deutlich sichtbarem Lippenspiel erfolgt.

6. Das Verständnis des gesprochenen Wortes ist dagegen nahezu völlig unversehrt, was leicht zu begreifen ist; denn das Wortklang- Centmm {siehe Fig. 2 Ti und Fig. 4 A) d. h. die erste Schläfenwin- dung ist völlig gesund und auch der Weg nach irgend einem Asso- ciations- oder Begriffscentrum (in Fig. 4 von A nach B) völlig intakt Komplizierte mündlich gegebene Aufträge, bei denen Überlegung und Zeiteinteilung^ notwendig sind und bei denen der Wert der Worte genau abgewogen werden mufs, können von dem Kranken ganz prompt und richtig ausgeführt werden. Die Patienten sind fähig, Er- züiilungen mit Genufs und lutuiesse zu fulgcn, ebenso an Gesprächen, die andere führen, mit Verständnis, wenn auch solbätverstäudlich nur passiv, teilzunehmen ; doch werden sie, da die Lautbewegungskompo- nente der Sprache wegfällt, leicht müde und können namentlich komplizierten Gedankengängen nicht so leicht folgen wie früher, da die Begriffe doch eine gewisse Schädigung erfahren.

7. Das Abschreiben von einzelnen geschriebenen oder ge- druckten Wörtern ist, vorausgesetzt, dass die rechte Hand nicht ge- lähmt ist, möglich; es geschieht auch wohl noch teilweise mit Ver- ständnis, doch nicht in richtiger Würdigung der Lauibedeutung der einzelnen Buchstaben und Silben.

Wenn der Erkrankungsherd ein TerhältnismäCsig kleiner ist, dann treten die Störungen auch nicht ja dem soeben geeohüderten Umfang auf. Diejenige Partie, welche makroskopisoh Im Minimom lädiert sein mols, um eine halbwegs dauernde motorisobe Aj^iaaie herrorzarofen, ist die Brocasohe Windung (Fig 1).

Wenn in der linken 8clilttfsnwindnng, insbesondere in mn< fangreichere Herderkrankungen TOfkommen, so zeigen sieh in der Begel folgende Gruppen von Elnseleisoh^imgen:

1. Das Yersttadnis des gesproehenen Wortee ist stetS) wenigstens in der entan Zät luxh dem Anfall, voIlstlBdig anfgehoben; dooh tritt gewöbnlidi im Verianf von Monaten nnd Jahren Besserang ein, oder es madit die Worttanhh^t der Wortsdhwerhörigkeit Fiats.

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A. AUModlniigBii*

2. Die willkürliche Sprache erscheint nach Zerstörung in T, bis- weilen nicht wesentlich beeinträchtigt; doch ist sie stets paraphra- sisch) d. h. die Patienten zeigen Neigung zur Wortvenvechsluug und zum Reden in Kauderwelsch, und da die ElangkontroUe stark ge- schädigt, wie teilweise auch die Lautkontrolle, so wird sich der Pa- tient der gemachten Fehler nicht immer bewulsi

3. Bas Nachsprechen ist meistens aufgehoben, weil die gehörten W(irtar im Gedfichtnifi nicht festgehalten and nicht verstanden werden k&inen.

4. Bas lante Lesen ist erheblich gestört; die Bochstaben werden zwar gesehen, aber nicht immer als Elangzeichen Ton bestimmter Bedentong erksnnt Einsseine einsilbige nnd sehr bekannte Wdrter, Zahlen nnd andere Symbole können indessen nodi als ganze Zeichen erkannt tmd fibnlich wie Objektbüder an^efalht werden.

5. Bie EShigkeit zu schreiben, ist stets hochgradig beeintricfatigi Es k(Snneii zwar oft beim Schreiben eines Wortes die einzelnen Buch- staben noch leidlich richtig wiedergegeben werden, nnr findet hiofig Yerwechslong statt; hie nnd da werden aber nur sinnlose Striche, die mit Bacfastaben entfernte Ähnlichkeit haben, gemacht

6. Bas Schreiben nach Biktat ist wie die willkfiiliche Schrift gestört

7. Was das Kopieren betrifft^ so werden die Bochstaben oft nor abgezeichnet, oft aber wirklich geschrieben.

8. Bas YerstKndnis der Schrift ist bei halbwegs aasgedehnten LBsionen in der linken ersten Schllfenwindang (also in Tt) immer mehr oder weniger gestört ünmittelbar nach dem Einsetzen der ErankheitsarBache ist das Lesen stets vollständig aufgehoben. Mit dem Zurücktreten der Ersoheinongen der Worttaubheit bessert sich auch die Lesefähigkeit, doch kommen beständig Wort- und Buch- stabenverwecbslongen vor, weshalb der Patient nicht immer in den Sinn des Gelesenen eindringen kann.

YeiBohiedene Beobachtungen legen den Gedanken nahe, dafs die linksseitige und die rechtsseitige HdrsphAre verschiedene Aufgaben haben, dafs nämlich der rechten Hörsphire vorwiegend die Per* eeption der Klänge zukomme, die Linke dagegen mehr die Ansp IjBe der Wortklänge zu besorgen habe. In psychischer Beziehong verhalten sich die Kranken bei Lttsionen In den Schläfenwindongen, je nach der die Krankheit erzeugenden Ursache und je nachdem nur eine oder beide Hemisphären befallen werden, in sehr verschiedener Weise. Bei einseitiger Erkrankung, selbst wenn sie links sitzt, braucht die Intelligenz trotz bestehender Worttaubheit nicht unter allen Um-

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WmsBWAii): SpTachstöroDgeiL

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ständen sehr nennenswert gestört zu sein, vorausgesetzt, daCs nicht eine allgemeine Breigeschwulst der Hirnarterien vorliegt.

Die Aufhebung einer so wichtigen Funktion wie des Verständ- nisses der Sprache muls, zumal daboi die willkürliche Sprache stets mit beeinträchtigt wird, im ganzen geistigen Haushalt, vor allem aber in der logischen Schärfe und im Ablauf der Gedanken und wohl auch in der Urteilskraft im allgemeinen eine dentliche Schädigung hervor- rufen. Dabei leidet selbstverständlich die perceptive Selbstkontrollo des mündlichen Au&drucks: dadurch wird aber die Ordnung des Gedanken- ablaufe?«, ebenso die Bildung zusammenhängender Vorstell ungsreihen, wenigstens Avenn diese unter Mitwirkung von Sprachzeichen sich auf- bauen, gestört. Bei aphasischen Störungen zeigen sich im allgemeinen die Abneigung (ie> ratif iitrii, sich geistig zu beschäftigen, eine er- schwerte Orientieruiigsiabigkeit, oft auch Gleicbcriltigkeit dem eigenen Leiden gegenüber und senile Weichheit des Gemütes. Doch können die Sprachstörungen oft einen viel groiaeren psychischen Defekt vor- täuschen, als er in \Virkliclikeit vorhanden ist, und es können die Patienten manche Verhältnisse, zu deren geistiger Auffassung es der Worte nicht bedarf, ganz richtig übersehen imd beurteilen.

Eine erfreuliche Erscheinung, die sich bei aphasischen Störungen zeigt, besteht darin, dafs öfter nach und nach wieder eine Besserung eintritt; ja sogar bei gänzhcher Zerstörung der dritten linken Stim- wiüdung hat man eine solche konstatiert Es sind Fälle bckaimt, in denen, wenn auch erst nach Monaten und Jahren, bei Läsiouen, die sich auf die BRocASche Windung und darüber hinausliegende Gebiete erstreckten, die Sprache allmählich wieder erlernt wurde und die Patienten sich wenigstens in einer für das tägliche Leben ausreichenden Weise mündlich und sogar schriftlich ausdrücken konnten. Es unter- liegt daher keinem Zweifel, dafs selbst eine so verwickelte physio- logische Fuiiktiuu, wie die sprachliche Ausdrucksfähigkeit, teilweise wieder neu erworben werden kann, was höchst waiir>,r licmlich durch bessere Ausnüizun^ der Apparutu in der noimalen Umgebung des Erkrankungsherdes und vor allem der entsprechenden Abschnitte in der andern Hemisphäre erfolgt.

Noch in erhöhtem Maisu ids bei Läsionen in der dritten Stim- windung können aphasische Störungen zurückgehen bei Krankheits- herden in der ersten Schläfenwindung. Die dadurch hervor- gerufenen Erscheinungen der Worttaubheit halten nicht fest, falls die Zerstörung nicht allzutief ins Jlark der Schlaf en wind ung hineingreift Meist sieht man schon nach Wochen, oft allerdings erst nach Monaten das Sprach Verständnis wiederkehreo, vorausgesetzt, dais nicht nene

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A. Abbandltingeo.

schwere Erscheinungen durch weitere Ausbreitung der Herde hervor- gerufen werden. Allerdings ist die BeBtitation der Sprache selten eine ganz ToUständige , namentlich zeigen sieh Sohwieri^eiten, siöh der Sprache xa bedienen, sobald gidi^ere Anfordeningen an den Kranken gestellt weirden, sobald er ungewohnte kompliziertere sprachliche Leistongen ausfahren soll Bei Herden jedoch, die sich über gröJI^ Gebiete der Sprachregion oder gar noch auf andere Grobhimteile er- strecken, geht die Besserung über die wiedergewonnene Fshigkeit, dnselne Wörter sa sprechen, kaum hinaus. Das gilt namentlich auch in solchen EUlen, bei denen doppelseitige Erkrankung Ursache der Aphasie ist

Man kann sich nun fragen, ob bei aphasiscdien Störungen wirk- lich eine Einbulbe an geistigen Fertii^eiten Torliegt Eine suMeden- stellende Antwort kann darauf nicht gegeben werden. Man ninmit an, dab bei gewöhnlicher motorischer Apliasie, wenn sie sich bei Personen mit ziemlich abgeschlossener geistiger Entwidrelnng ein- stelU^ die Begriffe als solche und auch die Ordnung der Gedanken, die ürteilskraft überhaupt, wenig beeintrfiohtigt wird. So können Aphasiscfae in allen mö^chen Spielen, wie Xartenspiel, Domino, Schach, sehr gut bewandert bleiben und auch Dinge des täglichen Lebens, bei denen das Wort keine Belle spielt, ganz sicher übersehen und bis zu einem gewissen Giad ihre berufliche Thitigkeit noch ausüben, insofern sprachliche Leistungen dabei nicht notwendig sind.

Wenn die Aphasie im sp&tem Alter sicli einstellt, so hängt das Auftreten geistiger Schwäche zum groCaen Teil wohl von der Ernäh- rung des Orolshirns ab. Bei länger andauernder Aphasie ist aber eine gewisse Herabsetzung der Gedankensohärfe ziemlieh sicher; denn die höhere logische Überlegung ist zu enge mit einem ungehemmten Ablauf der inneren Wörter verknüpft; namentUoh bei Worttaubheit müssen notwendig psychische Störungen auftreten. Wie wichtig die Erhaltung der Sprachregion in der linken Hemisphäre für die geistige Entwickelung ist^ zeigen uns am besten Beispiele von früh erworbener, etwa durch Embolie, Verstopfung, der Sylvi sehen Arterie hervorgerufenen Zerstörung der linken Sprachregion. Tritt ein solcher Krankheitsherd in den ersten Lebensjahren auf, dann kann unter Um- ständen die Sprache noch zur Entwickelung gelangen: der Patient kauii sich einen gewissen Sprachschatz, meist konkrete Bezeichnungen, erwerben; die schriftüche Vor^tanrh'irungsweise bleibt jedoch stark gehemmt; auch koramt es nicht zur Entwickelung eines richtigen Satzbaues. Lie Kranken gebrauchen gcwölinlich nur Substantiva, die sie selten flektieren; die Zeitwörter wenden sie meistens in der In-

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Wettebwald: Sprachstörungen.

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finitivforni an. "Was das Verständnis des gesprochenen Wortes be- trifft, so /ifigt sich dasselbe in solchen Fällen gehemmt; immerhia wird die Sprache des täglichen Lebens noch ordentlich verstanden; aucii das Nacbspreciien kann mitunter ohne greisere ächwierigkeiten erfolgen.

Bei den aphasischen Erkrankungen leidet natürlich die Aus- bildung des Geistes, wenn schon nicht gerade ausnahmslos Idiotie sich entwickeln mufs. Jedenfalls wird die geistige Eutwickelungsstiife eines gewöhnlich geschulten gesunden Blenschen nicht erreicht, üaiiz besonders ist ein geläufiges Operieren mit Zahlen oder mit Gedanken- reiben, bei denen die Wörter eine grofae Kolle spielen, ;^ohi erschwert; doch braucht das Gcmütslebeu, der Charakter des Putitnteu nicht notwendig nennenswerte Defekte zu erleiden; auch kann dem Patienten das Verständnis für einzelne geläufigere abstrakte Begriffe, wie Gott, Gerechtigkeit, Wohlthätigkeit beigebracht werden.

Man kann nun noch die Frage aufwerfen, ob die verschiedenen obefL bespiochenen Ersefaeinongen an die Erkrankung ganz bestimmter Partieen in den Sohlfifenwindungen oder an die Unterbrechung ge- wisser Nerrenfasem dieser Gegend geknüpft sind. Nach dem heutigen Stand der Poisohnng kenn darauf noch keine bestimmte Antwort ge- geben werden. Yermutliob finden sich bei irgend einer aphasischen Erscheinung XTnterbxeobungeu in einer ganzen Beihe von Nenren- bahnen, die man aber Torläufig nicht nfiher bestimmen kann.

Auiserdem werden auch Störungen aasociatlver Natur eine Bolle spielen; doch sind alle diese Torgänge so verwickelt und kompliziert und der Erforschung so schwer zugänglich, dals wir noch lange auf eine gründliche amitomisoh-physiologisohe Erklärung der sprachlichen Funktionen und der AusfisUserscheinungen bei den Sprachstörungen werden verzlohten müssen. Immerhin gestattet die bisherige Forschung einen gewissen Einblick Ui die genannten Erscheinungen und giebt auch schon manche orientleiende Aufschlüsse sowohl bei normalen als gestörten sprachlichen Vorgfingen.

Wenn auch die besprochenen Erscheinungen rein physiologischer» also materieller Natur sind, so stehen sie doch in einer so engen Beziehung zum psychischen Mechanismus zu dem Seelenleben des Menschen, dab ein gründliches Erforschen und Erkennen derselben wohl als eine wesentliche Stütze für das Studium der Psychologie betrachtet werden dar! Deun die Physiologie tritt mit der Er- forschung der materiellen Bedingungen der Geistesthätigkeit in un- mittelbare Beziehung zu den moralischen Wissenschaften, und es muXs ihr daher, da die Kraft des Geistes auch nach der sittlichen Biohtuog

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B. HitteiliiDgoa*

hin in hohem Ifol^e Tom Körper abhSngig ist, in der Reihe der liSchte, die sich die sittliche Hebang des Hensohengeschleohtes zur Aufgabe gemacht haben, eine hervorragende Stellung zuerkannt werden.

B. Mittellungen.

1. Bin Besnoh in der Brüsseler HilllMOhiile.

Von Dr. Ph. Kooh ia Brüssel. (Schlaft.)

"Nach liesem äiifserst interessanten und belehrenden Eiail\^ ftUut mich der Herr Direktor über den Hof zur Turnhalle. Schon von weitem höre ich die T'*no eines Klaviers und das taktgomäfse Geklingel der ruckweise bewegten Schellenstan^n. Näher kommend bemerke ich durch die otTen stehenden Fenster die wirklich gute, miiuarisch stramme Haltung und die voUstftndige Hingabe der Knaben, wolcbe die IVeiübungea nach den Elflogen der Musik ohne jedes Kommando ausfOhien; der be- aufsichtigende Lehrer schreitet zwischen ihnen umher und verbessert hier und da eine TTalfunir, einen falschen Griff, eine nngenflgonde Drohung des Korpers oder eiir^«; Gliedes; die Übungen setzen anir^^n^fheinlich nach und nach sämtliche Muskeln in Bewegung und könii 'n auf dieselben nur einen guten EiaÜulö haben. Die Kinder stehen im Alter von 8 12 Jahren, gehören aber alle derselben Klasse an; beim Beobaohten der Phjsiognomiesa finde ioh Typen, denen die SchUUHgkeit einerseita und die gewOlulicbe Abstammung andrerseits nur zu deutlioh auf dem Gesiohte geschrieben stehen. Alle aber schauen ihren Lehrer und, nachdem sie uns erl'lickt haben, auch ihren Dir*^ktor und den Besucher mit ruhig -freundlichen und ver- trauensvollen Blicken au; von bösen Blicken, hämischen, versteckten oder ängstlichen habe ich selbst bei verstohlener Beobachtung nichts merken können, eine Thatsache^ die mir in allen Elassan aufgefidlen ist

Da diese Stunde bald vorbei ist, führt mich Herr L. in das Untep> geschofs des vorderen Gebäudes, wo eine Klasse im Begriff iatr die T'ouche zu benutzen. Ich erfahre hier, dafs sämtliche Knaben der Schule TU Winter und Sommer zweimal wöchentlich abgeduscht werden, wobei au Sommer diese Douclie eine Zeitlang durch Schwimmunterricht in der stSdtisebeD Schwimmschule ersetzt wird. Im erwähnten Untergeschofä kommt man zunSchst in den An»> und Aukleideranm, wo atoh je 4 näclist so weit entkleiden, dafs sie nur noch ihre culotte (Kniehose) an* behalten; dann schlagen sie ein Handtuch um die Schultern und spazieiea in den Raum, wo sich die Brausen befinden. Hier bemerke ich vier kleine Kabinen, welche von Bretterwänden in Brusthöhe gebildet werden, so dafs die Schüler sich gegenseitig nicht sehen, wohl aber von oben her

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Ein BeoMh dar BriMar Hffliwcfaite.

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TQO dem Lehrer beobeohtet weiden kSmiea, was tmnmgftnglioh notwendig

ist. Diese Kabinen sind durch eine nnr eine schmale öfFnung lassende Querwand in zwei Unterabteiinngen geteilt. Zu der ersten, deren Auüsen- thttre geschlossen wird, entiileiden sich die Knaben rasch vollständig und treten dann ganz nackt in die zweite, wo sich die Brausen befinden, welche auf sie Wasser von 36 38 Centigraden (im Winter) herabregnen VUbL Naoh diei Xisnien ertüiit «in SdieillaiiBignal; das Wasser sMmt nicht mehr, tmd die Gedascbten treten wieder in den ersten Banm der Kabine, trocknen sieh lasoh ab, aiehen ihre Hose wieder an und kehren zum Ankleideraum zurück; unterwegs begegnen ihnen die nächsten 4, und so geht CS weiter, bis die Klasse von ungefähr 30 Schülern ganz durch '8t. Alle Räume sind angenehm durchwärmt und recht sautjcr. So wird öffentlich lur die Reinlichkeit wenigstens des KOrpers gesorgt, nnd nm diese sn vervoUstSndigen, kommt jede Woche drei- oder viAnnal ebi Haanohneider nnd stntst den SohtUeni der Beihe nsdi die Haare, so daüB jeder alle 14 Tage henmkommt nnd die Huue immer kurs bleiben.

Nach diesem Besuch in den unteren Räumen der Schule kehren wir noch einmal zum s»Gymnase« (Turnhalle) zurück. Hier finden wir jetzt eine Klasse, welche Übungen mit ilautelu macht; die Klavierbegleitung giebt wieder aUein soznsagen die Kommandos an; die Melodieen mit den dasu gehörigen Bewegongen wniden von Herrn und Frau Van Weyen- bergh zusammengestellt, und zufällig finden wir beide hier zusammen, Frau Van Weyenbergh am Klavier und Uerrn Van Woyenbergh bei seinen Zöglingen. Diese Übungen machen ebenfalls einen vortrefflichen Eindruck; alle Bewegungen werden stramm und mit dem nütigeu Ruck ausgefflhrt nnd mit einer Sicherheit, die wirklich stannenenegend ist; nicht einer, der sich auch nnr einmal geirrt hätte nnd ao haben dieee Übnngen einen ausgezeichneten EinflnÜs nicht allein auf die Muskeln, Nerren nud Glieder, sondern auch auf den Taktsinn, die Beobachtung, die Aufmerksamkeit, das Gedächtnis und das SchÖnheitsgefühl, also auf den Verstand. Dieses sogenannte eurhythmischo Turnen findet allgemeinen Beifall, selbst den der dabei interessierten Jugend. Frau und Herr Van Weyenbergh haben mir anf meine Bitte den eb» auagefOhrten Hantelmarsch sur Verfügung gestellt (woiflr ihnen hiennit bestens gedankt sei), und derselbe kann als Beiapiel dienen:

X^gnio. Weyenbergh.

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178 B. IGttdliiogmi.

Erklärung der übergeschriebonen Ziffern :

1. Den linken Äriu seitwärts bis über den Kopf heben, den linken Futs seitwilrts stellen.

2. Den Huoipf nach, links beugen.

3. Den Kampf straokeii.

4. Onindstdlung (den linken Fufo znrflckziehen, den linken Ann aeit-

wäits strecken).

5. 6. 7. 8. ^vie 1. 2. 3. 4. aber mit dem rechten Bein and dem techten

Arm, Rumpfbiegung nach rechts. 9. Den linken Fufs 25 cm hinter den rechten fufs setzen, beide Arme vor den Körper bis über den £opf heben, den Körper halblinks drehen.

10. Rompfdrehung nach rechts, die Arme eeitfrärts bis zar ScholteriiiJlie senken, HandfUchen nach oben.

11. Stellung wie in Nr. 9.

12. Onmdstellung (den linken ITuIiB zurückziehen, beide Anne seitwärts senken).

13. 14. 15. 16. «ie in 9. 10. 11. 12. aber Zorfiokstelltmg dee leolitaii Fobes nnd Drehong nach links.

Indem wir ans bienuif aar Klasse der »ftubles d'esprit« be(pabeii,

finden wir die vorhin unter der Douche gewesenen Knaben auf dem Hofe bereit zum Ausflüge; einer von ihnen trägt in einem besonderen Korbe eine jener Brieftauben, deren Dressur und Wettfliegen einen beliebten Sport im belgischen Volke bilden: sie soll zur demonstratio ad oculos dienen. Mit vollendeter Disziplin marschieren sie zu vier und vier zur Haasthflte hinaus. Jetzt traten wir in die kleine von ungeOhr 16 Schflkra besuchte^ Ton dem Hbrigen getremit gelegeoe Klasse der Oeistessohwacfaflo. Ein tranriger and rflhrender Anblick zugleich : vom kleinen sechsjfthrigen Knaben an bis zum langen Schlingel von 15 Jahren sitzen sie da, die einen Milsgcburten, andere äufserlich fehlerlos gebildet. Der Lehrer ist ein noch verhiUtnismäfsig junger Herr: er bat die schwierige AufgalKi'. in seinen ZOghageu die schlummernden Geisteskräfte zu ^veckeu mit keinem . anderen Mittel als Gedold nnd immer wieder Oedold. Die Sohfiler sind beschäftigt, sogenannte »tisssges«, Oewebe ans bnnten Flipientreifen in madien; die »dociles«, Fügsamen, sitzen ruhig an ihren Platzen und vei^ suchen, ihie Aufgabe auszuführen; die sinstables« (Ruhelosen^ vorlassen fortwährend ihre Sitze, zu denen sie ihr Lehrer unermüdlich wieder zurückführt.

Ein Besuch ia der Brüsseler Hilfsschole.

179^

Ich finde hier mehrere von den Typen wieder, die Prof. Dr. Demoor, einer der beiden Schulärzte, in dem von uns übersetzten Buche »die anor- malen Kinder« schildert. Da ist zunächst der Instable, den uns der Hot Diiektor notgedrungen snent Tontellt, denn kaum hat er niu er- Uickt, ala er auf una sustQnt» um una fienndlioli liohehid die Hand au reichen, wobei er den Herrn Direktor anbliokend mit sohmettsrndar Stimme ruft: »timbre est lal« (die Khngel ist da) und dann uns fragt: »n'avez Toua pas un crayon pour moi pour 6crire?« (haben Sie keinen Bleistift für mich zum Schreib* - n .1 - >ücb( n Sie ihm keinen Bleistift, sagt Herr Lacroix, diese Redensart hat für üiu keinen bmn; er hat sie einmal irgendwo gebOrt und 'wiederholt aie nun fortwlhreiid, ohne au wissen, waa er verlangt Gieht man ihm einen Bletatift, eo iat er eehr ver» wundert ünd »timbre eat U, flhrt Herr Lacroix fort^ ruft er jedesmal, sobald er mich erblickt, weil er einmal gehört hat, dals ich ähnliche 'Worte sa<;te, als einmal die eiektnsche £lingel ertönte, die mir einen Besuch ankündigte«.

In der That wiederholte dieser etwa zehnjährige Enabe fortwährend dieee heiden Bedenaarten, indem er dabd die llansohetten hervor» aupfte und den Book aufknOpfte; aonst war ee ein hübaohea Kind, dem man seine Oeistesschwäohe nicht anaieht; dabei aprioht er fnunbeiadb, dänisch und deutsch.

Darauf stellt mir Herr Lacroix eine unglückliche Mifsgeburt vor mit schiefen Gelenken und schwaciieu Xbeinon; femer einen Knal>en mit übermafsig gewölbter Hühnerbrust, dessen Herz mitten auf der iirust ganz vorne au Ue^ adidnt Dann einen Buckligen mit aehr grolhem aber nicht hftftliohem Kopf, der taub iat, deesen Yerotand aber anfftagt m erwachen. Mit den Augen h^rbeigenifen, kommt er freundlidi heran und reicht una die Hand; die Fragen, wie er heifse und wo er wohne, liest er uns von den Lippen; auf die Frage, wo sein Schreibheft sei, be- antwortet er mit *k la maison«, zu Hause, aber sein Rechenheft ist da : er zeigt es uob und entziffert mit glücklichem Lächeln das ti^ bien von unseren Lippen; ee iat aber auch ganz nett: kleine Additiona- und Sub- traktionaeismpel in hfibeeher Schrift.^)

ITenier macht mich Herr Lacroix auf einen Mikrocephalen auf- merksam, der teilnahmlos imd stumpfsinnig da sals und das ihm an- vertraute Papier zerknitterte; ferner liefs er uns die zerrissenen und zer- spaltenen oft blutrünstigen Zungen und Gaumen und die ganz unregel- mäfsige Zahnbildung sowie die epatenifirmige Bildung ihrer Fingeinägel und die abeonderliohe Form der Hände anderer bemerken eto.

Einen aonderbaren Eindruck macht der grOllBte von ihnen, dn wohl- gebildeter hfibeoher Bursche von 15 Jahren, mit grofisen blauen Augen; Herr Lacroix ruft ihn heran und freundlich lachend kommt er herbei. »Nun«, sagt Herr Lacroix, wie es scheint, bist än Sonntag in Charlerot gewesen?« Oui, Monsieur, antwortete er lachend. »Hast du deinen

^) Wir erfahren jetzt, dafs dieser letztere Knabe jetzt zu den regelmälsigen Klanen sogelasaen ist imd erfkenliehe S^srtaohiitfce macht.

12»

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Bl ]OltaOVB||pBB«

Onkd oidit goaehonW Kon, Hboaiear. »Nleht?< Biit dn dm niokt in Churtefot g«wQBeii?€ Non, Mboiiear! Sellen Sie» aglHHr

Laoroix, so kann man ihn fragen, was man will, er antwortet ja oder nein, je nach dem Ton der Frage, ohne zu wissen was er thnt. Er muls in sei Dem groläen Schädel eino schwammige Masse statt des Oe- himes haben; dabei hat er Radfediren gelernt, aber er kann nicht bis 5 zählen.

ünterdoesen ist es ^^12 TJht gewocden, md did AngehOrisen der »ftuUflS d'eqNrit« erscheinen, um sie naoh Bkuse zu Mlmn, wobei man

sehen kann, dnTs mehrpre dieser Schüler aus gebildeten und selbst feinen Familien stammen; die Geistesschwachen kommen splter und verlassen die Schule früher als die anderen, um mit diosoji nicht in Berührung zu kommen. Tief erächüttert von dem tSchau^piei der letzten iüaätie ver- lassen sQcli wir die Sdnile, um soi Nsofamittsge den ünteniflhft in den anderen fflnwwn anzuseilen.

Diese unterBcheidwi sich im laberen nur wenig von gewöhnlichen Schulklassen, nur dafs man in ihnen fortwährend Anzeichen davon findet, dafs der Unterricht hauptsächlich anschaulich ist Sämtliche Wände sind mit Bildern, Tafein, Karten, Modellen aus Pappe imd Holz etc. buch- stäblich tapeziert, und mehrere Regale sind mit ähnlichen Sachen besetzt Die snto Elssse, die wir sshen, das 4. Studieqjshr (3. Elssse), hatte BeohenetwndwL Exempel war ungefähr so: ein »oontre-mattre« (Polier) verdient in 14 Tagen 90 Francs; '/s davon glebt er seiner Frau für des Haushalt; ^/^ braucht er für die Miete; ^ Kleider und Wäsche etc., den Best bringt er auf die Sparkasse, wieviel ist dieses letztere? Während der Lehrer die Sache hübsch methodisch auseinander setzt, be> trachten wir die Physiognomien der Sohfller; viele von ihnen sind sichsr beielts 13—16 Jsto slt, statt 10—11, die meislsn Ton ihnen aehen aber ernst nnd geeeftife m, antworten richtig und nehmen lebhaften Anteil sn dorn Gegenstand des Unterrichts. Andre dagegen haben jenen schon er- wähnten mongoiiechen Typns, oder sehen wie wirkliche Ableger erblich belasteter IndividuL'ii ;ius, beibst einiee von denen, welche beständig und richtig antworten; etwa 8 10 antworten niemals und heben auch nie den Finger auf; einer nuwht fsrtwihrmd unter bsstttadigent Klehem den Yecsoeh, seinen Neehbem in des Ohr oder in die Eiisie xn beübeo. Herr Lacroix zeigt uns einen Schüler, der bis zum 0. Jahre sie geistae* schwach ?ralt, dann aber plötzlich ans seiner SchlLifiiioit erwachte und nun gute Fortschritte macht. Im ganzen genommen macht diese als >indisciplin6s« bezeichnete Klasse den Eindruck gerade einer vorzüglichen Disziplin.

In einer andern Klasse, dem 3. Jshrgsng, wnrden die Scfallkr in den Mafeen onteirichtet Sie hatten jeder eine Soheie ohne Spitien, ein BIstt

Papier imd ein Dezimetermafs; sie mnJhten nun mit der Schere zwei Papierstreifen von 10 Zentimeter Länge und einem Zentimeter Breite ab- schneiden, was sie auch ohne Ausnahme gut ausführten; dann von dem einen Stieifen einen Zentimeter abschneiden und nun die verschiedensten Gombinationen für Länge, Breite und Inhalt ausführen und selbst die

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Ein. Besuch in der Brü^uiur Hiif^cliuie.

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nötigen Auaeinanderaetzungon dazu geben. Für eine Klasse von »ZurQok* g^jliebenen« war das alles wirklioh bemerkenswert

JeM lunuDflii wir in «inw 2. Jahrgang, in dem wir «iedar anfiMv oideBfiiehe Altonontendluflde ]R»i8titi6Mi; grolte lijttirige Jnngoi (da» aig zurüdkgoblioboie) neben 8*-10 jährigen. Diese Klasse, gani tos Kindern vlämischer Abkunft zusammengesetzt, hat französische Conversations- stunde. Der Lehrer zeichnet sehr geschickt und geschwind vier Scenen an vier Wandtafeln: zuoret schon wir eine Scheuerfrau, die nach beendigter Arbeit mit Beseu und Scheuereiiner in der Hauathilr versdi windet, der Sohlmdi te WaaMdotong mit geschloaaenaak Erahn Ueilit aber noch dnnliMD. Auf dem sweiten BOd« sahfln wir einan Solitnigal mit der HanA an dem Kiahn und daa WaaMr strömt wild heraus. Auf der dritteik Zeichnung erblickt man ein kleines MridcheD, es hat die Hand auf lein Krahn, und das Wasser strömt nicht mehr, das Gesicht der Scheuerfrau sieht zur offiaen Thürspalte heraus. Endlich auf der 4. Tafel seh^ wir die Scheuerfrau mit zum Schlag erhobener Hand vor dem weinenden Hldoiien atehoa und den Beidingal von vorhin hariwialAiseii, mn ehrüidL die Sache aufzuklären. Die ganie Meäioda erregt nngamein daa Interesse der Schüler und sie überbieten aidi gegonaeitig im Antworten, wobei die wunderbarsten französischen Formen zum "Vorschein kommra. Ihre An- sichten von Pflicht und Moral lassen aber nichts zu wünschen übrig; wir bemerken, dals die grdüBten Jungen am wenigsten antworten und mehrere Mala Yennohe maohen, unbemerkt Dommlieiten so begehen, waa natOrliob nicht am Lehrer» aeadiBRi an dar basondem Natur dioaor »IhalableB« imd »Lidisplin^s« ]i«gt

Von hier steigen wir die Treppe hinab, auf dar wir einer andern» Klasse begegnen, welche von der Turnhalle kommt; obgleich die vorder- sten di(?3er Klasse von ihrem Lehrer nicht gesehen •weiden können und sie auch keine Warnimg haben, dafs ihnen jemand von oben entg^en- Ume^ Bteigan ale doch voHaMtodig geeittet und ruhig «i awei nnd awei die Stufen hinanf; die, welofae Hiiiaobiibe haben, trugen dieaa in den Händen und geben auf Strümpfen dieTkeppe hinauf; nicht ein Laut wird gehört. Sobald sie uns erblicken, nnachen sie höflich Platz; aUea dieaes jqoIb von Seiten Indizpliniorter mit Verwundenmg erfüllen.

Jetzt besuchen wir dio oberste Klasse, den G Jahrgang. Hier besehe ich ganz besonderä diu Handarbeiten, in Fuppe oder aus Ijeiim aaegeführte llfideille, aowie ihre Zeichnungen nnd Aqnardto. Die 14 10jlhiig«i Sohftler iaialan Miiin gam AnlberoidfintliolMB, natlldioh nicht alle, aber doch die Hehraahl yon ihnen. Die Zeichnungen, teils Omamentzeich- nungen nach Vorlage od<»r Grpemodellen, teils nach der Natur gezeichnete Früchte, Blätter etc., sind geschmackvoll und naturgetreu ausgeführt, die zum Anlegen ausgewählten Farben sehr hübsch und geschickt aufgetr^en. Die Modelle aus Pappe sind meisterhaft ausgeführt und stellen Schreib- seuge, SdhUaaelaehiittke, FnpSerbehllter, Arfaeitakiaten n. a. w. dar. Ana Letun haben sie allerhand Nippsachen g^etet, dieaelben sogar mit Farben bont gemacht, leider sind diese Sachen aber nicht gebiannt, ac dafii aie- keine Wideratandaffthigksit haben.

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B. Mitteilungen.

Schliefslich begeben wir uns nun in den ModelüeraaaL »Saal« ist hier ein Euphemismus; denn da man die Schule vor 4 Jahren versuchs- ireifie angelegt hat^ dieeelbe aber ungeahnt faaoli anfblfiht», ao iit du Oebfiode, ein altee der Stadt gehflrigOB Eam, nach und nach m Uain

geworden, und als Modelliersaal dient der Speicher. Er pafst aber sehr gut dazu. Man hat hier eine Anzahl niedriger Tische aufgestellt, auf welche für jeden Schfiler ein kleines etwas schräg liegendes, etwa ■^'ic ein Hackbrett gefonntes Knetl rctt gelegt ist; Sitze sind nicht vor- handen. Aulser einem iileinen iüumpen feuchten Lehms erhalten die er- «MsDaaen, SobfllBr im Altar toq 7—10 Jahren m je zwei eine halb ge- ^ttoBto leere StroicbhSIaersofaachtel ab SlodeU; dieee acU ao nataisetvea als möglich in Lehm nachgebildet werden. Die Enabon machen aidi an die Arbeit, messen, knoten , messen wieder, fangen wieder von vom an u. s. w. Ais einige mit ihrem Lehm auf das Brett klopfen, um möglichst glatte Aufsenwäüde zu erhalten, untersagt der Herr Direktor ea ihnen und befiehlt, dafs sie aach diese Flächen mit ihren Fingern hervorbringen, denn sonst ginge ja, erUSrt er dos, der Zweok dieser Arbeit, Geaohiok* lifdikeit der Finger» Augenmafe, GefOhle und Bsgriff von Symmetrie u. a. w. ^anz oder teilweise verloren. Nach etwa 36 Minuten haben die G^hickteslen das Modell mehr oder minder naturgetreu nachgeahmt, andere haben nichts zu Stande gebracht Die besten Modelle dürfen von ihren Fabrikanten be- halten und mi^nommen werden. £he die Schüler den Saal verlassen, mflsseQ sie sich in bereitstehenden Eimern die flSnde waschen nnd an dazn gelieferten HandtOofasm abtrocknen. Als sie die Klasse in ivei und zwei aufgereiht verlassen, steht drauüsen bereits eine Klasse giOtaer Schüler, die aber mit so grofser Stille die Treppe heraufgekommen waren, dais bis jetzt nichts^ ihre O^'cr'^nwart verraten hatte. Diese erhalten, wi*» es wöchentlich einmal geschieht, die Erlaubnis, ein Modell ihrer eignen Auswahl bilden zu dürfen, und sie machen sich dann daran, die ver- sdhiedensten Sachen zu formen* Naoh und nach bemerke loh, als besonders güt angeführt, einen flohndhuh, eine Mohrrdbe und dnen menscUichen nackten Fufs. Ich erblidce unter diesen SobiUem mehrere wirklich un- heimliche Gesichter, an denen besonders die zahlrf^ichen greiseahaften Falten auffallen; einen solchen ganz besonders unheimlich aussehenden fragt jetzt der Lehrer, ob er wieder Theater gespielt habe. Sofort er- zählt der Schüler mit wahrer Begeisterung in schwerverständlichem ▼Iftmischen Jargon, dalh er nüt seiner Familie wieder viel gespielt habe tmd anch letaten Sonntag noch in Mohlenbeok (einer Yonbult) Über drei Frank verdient habe u. s. w., der Lehrer kann seinen RedeAnb kaum aufhalten. Sie spielen in ihrer Familie Puppentheater fürs ge- wöhnliche Volk, erklärt der Lehrer, und das Interesse für diese Vor- stellungen nmcht diesen Jungen für die Schule fast untauglich. Es war früher nichts mit ihm anzufangen, mit viel Qeduld haben wir ihn so weit gebracht, dab er legehn&Csig zur fikdrale kommt und nicht mehr mibändig ist.

Wir haben inzwischen auch einer der Zwischenpausen beigewohnt, •welche ganz gingen die sonst in Belgien, besonders in BrOssaL bestehende

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Ein Besach lu der Brü&seler Hiliä^chulc.

183

Gewohnheit auf dem öffentlichen Platze vor der Schule stattfinden. Auf das gegebene Glockeusigual hia stellen sich die verschiedenen Klassen zu Tier und vier anf und manofaieron bo jede fflr »ich in stnunmer Hattnog auf einen besondern Fleck dieses siemlieb groben Platses, und dort Aber» lassen sie sich dann, immer unter Beaufsichtigung des betreffenden Lehrers, einem freien ungebundenen Spiele: trotz meiner beständigen Beobachtung konnte ich nicht da^ mindeste Anzeichen oder den geringsten Versuch Vi)n Hohoit liomfTken. Hätten diese ^Zurückgebliebenen^ und »Indi.sciplint's'x alle lerne iüeidur angehabt, man hätte eich unter den Zöglingou einer der ersten, nur von Eindem sehr gebildeter Bttem besoohtsn Anstalt glauben k<)nnen. Herr Lacroix stellt uns hier noch den einen und den andern Typus vor, die im allgemeinen den bereite geeohüdarten fthnlieh sehen. Bei allen bemerke ich das ruliige Vertrauen, mit dem sie zu dem Direktor und den Lehrern aufsehen, ^md die gesetzte Höflichkeit, mit d^r sie sich vorstellen und sich befragen lassen. Gecen Ende der Zwischenstunde stellten sich die Schüler beim Glockensignai wieder au ihren besondem Plfttzen in Reih und Olied auf und manohieren wieder in die Schule hinein. fWir haben, sagt Herr Lacroix, die Zwischenstunden auf dem PJatze angeordnet, weil unsere Schule zu wenig Plate bietet, um den Kindern eine freie Entfaltung ihres Bewegungsbedflrfnisses zu gestatten, das unsere Schiller mehr noch spüren als andre; anfangs fürchteten wir, die Um- wohnenden %vih<len sich über (Jon Lärm beklagen; das ist aber nie vor- gekommen. Im Gegenteil haben wir anerkennende ÄuTserungen gehört, da erstens die Naohbani sehen kSnnen, dafli unsere Schule keine »Eoole de fous« ist, und zweitens die Kinder sich darsn gewohnt haben, diesen Plate als ihren Spielplate anzusehen, sie bleiben von den StraTsen weg und vereinigen sich hier auch aufserhalb der Schulstunden, wo sie ruhig und sicher unter Aufsicht der Polizei spielen können« (der Schule gegen- über liegt ein Pulizeibüreau).

Als die Schule um 4 Uhr aus war, l'eobachteten wir den Ausgang der Schüler. Wie bei der Zwischenstunde standen sie su Wer und vier aufgereilit, aber so, daÜB immer dic^jenigen zusammenstanden, die um dieselbe Ecke biegen mufsten, um sich nach Hause zu begeben; sie blieben auch ohne Aufsicht der Lehrer selbst in den benachbarten Strafsen nc^h in Reih und GIie«3, bis nach und nach durch das all- mähliche Abgehen der einzelnen nach rechts und links das Häuflein immer mehr zusammenschmolz. Kein Schreien, Kennen, Prügeln, alles sittsam und ordentUcb. *

Wir schieden nun mit warmem Sank Ton Herrn IMrektor Lacroix, der nicht mflde geworden war, uns stets zu führen und die nötigen Erläuterungen zu geben, und mit dem aufrichtigen Wunsche, dafs es ihm und seinen tüchtigen Lehrern gelingen möge, durch ihre unermüdliche Geduld und ihr segensreiches Wirken der meuschlichen Gesellschaft recht viel Verloren geglaubte wieder zu schenken.

Wir fttgen noch den Stundenplan ejniget yisonim hinzu, den eCnige Hsfien so firaundlich waren, fOr uns absnsdueiben:

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]84

B. Uitteüuügeii.

2. Studienjahr (5. Klasse). Toimitiig.

Monttf.

Mtttwoob.

Jkmnmttag.

FniU«.

8,90. hmmL

6,30. LeMn.

8,80. Tnraea.

8,80. Lbmb

ÄmOag.

8,80^ Lm>.

S,M. Bochnon

H,60. Aafaagen.

9. Ivoson.

8.45. Rc>chnen.

8,60. Bechneo.

Anachau-

9. Tsmeo.

9,20. Uygioine.

9. Modollt»-

9,16. AmoiMa-

0,80. Amehn*

OJOl SSeMmon.

IWI.

9.2f). Ar.fwurcn.

ung.

10. Panso.

9,Ti, Pi.|U:iL-o.

9.40. Atif?AipcB.

9,30. TuniOD.

10. Pauao.

10,20. Sittw-

9,50. Singw.

10. PUM.

10. iPiiMt.

10,20. Psptartal-

10. Pim

10,30. ItaoMB.

10.90. Modelli»»

ton.

10.30. Bochnen.

10,20. Zweite

10.60. Doacbood.

10.fiO. Doochfiod.

U. Anaduui-

Ba4.

10.60. fliikMii.

Bad.

mg.

ipiaohe.

11,6. Zflkhiwn.

11.10. SliiMi.

10,40. Schreiben.

11. Bemorknn-

11,10. XOMl

k.

Nochinittag.

MoDtaar.

Dienstag.

Mittwoch.

Donnerstni'.

Fidtiur.

8onnab«od.

1,46. liflMii.

1,46. LoMO.

1,46. liBMB.

1,46. LMaa.

1,48. Lm.

2,l'V Tl.vlinon.

2,5. RiX'hrim.

2,6. Bochnon.

2.5.

Rochnen.

2,6. Bechn«!!.

2,30. Ausschoei-

3,30. Zweite Uq-

2,25. Furbeou-

2,30. Ansdua-

2,25. ZoicfaiMB.

im.

8,80. ntoa

2,50. Panso.

2'>0. Piinso.

2.50. Pfttiso.

8,60. Pnn«o.

3,10. Praj^Wo-

840. Ooomotri'

3,10. \Voticrei

8,10. ZwoiteLaa-

8.

TanuKu

aclM For-

8,80. SriAldun.

8,30. JiHMM*

men.

3.30. Zeiohiion.

8J0. gl*»«

Sdtreiteii.

4. Jahi-gaiig (3. Klasse). Vormittag.

IfpRtl«.

1 DMnl««.

1 MtttWMih.

DoQiNntiig^.

ö'/f'-J- Anscliftuuiij;

Ausflog.

Anschauung

Sckniü. Boch-

Fianzöa. Diktat

Framta. Diktat

(Natarlrande,

(Enikonde, Hy-

nsa.

Sitlonlohro^.

gione).

9-9Vr ModoUieron.

FnozU». Diktat.

1 BtindniiMii.

Fl&miacii Leacn.

FUmiach Auf-

«on.

sagen.

10-10,2«. Vaaae.

Paoso.

Pause.

PaoM.

Paaie.

10,20-10.60. Dcmdw.

1 FroUuuid'

10,60-11,80. Schnftl

Oooniotri*cho

DoodM.

Bochnon.

Formen.

Nachnüttai;.

Mf>nteg.

Dienstag.

Mittwoch.

Donnerstag.

Freitag.

Sonnabend.

1,46-2,15. Anschaa- QDg (fran- zösisch).

2,16-2,50. Farbonan-

2-50-3,10. Paaw. 3,10-3,30. Tnmon, 3,30-4. Aosohaoung (tUhInIi).

4-4,dB«

SchiUtl.BediiMD.

Fnuaaa.AtiIaK&.

Franz. Aabagen. Schmbqa.

ToniM.

Vxu^ Low«.

Franz. Aofsagen. Motnachea

Fni. 1

i

KartODiiierail.

FMlidctioMi.

Franz. Äuf'ü^«« Scfaraibon.

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Ein FftU Ton pathologischer Lüge.

185

Montag.

Diflostag.

Mitlwooh.

9. B«CiUMB.

(SpnNtai).

9,80. FYnnr R~-ht- BohroibOQ und

VIlmiacheBocht- ■chniboQs.

10. Paaae. 10,20. Zeichnen.

FkoM.

Zoiohnoa.

10,50. DoDcbe.

6. Jaiirgang (1. Klasse). Vomittag.

Schwimmen.

jzilalK

Freitag.

SonnabeBd.

Anachnang

TttntB.

(Sprachen).

ModflUimn.

FranziQ«. Becht-

schroiben nnd

Gnunmatik.

Panst».

Panso.

Turnen.

Tl&m. Aufsatz.

Nachmittag.

Dienstag.

HittwocL

Donnen tag. 1

Freitag.

Sonnabend.

1,15. hmm.

Französ. R xrh*- achreibou und

IM.

3,lfi. Oootnotri^iche Fornran.

8.10. WtokAhrnm. ZfiD. Tmm.

^Gooraotrischos

\ Bericht tiliw 1 hiosUcfafi ' LaMn.

Em« OwnigBtaiide Inonten wir Idder nicht beiwohnen, wir hQren abefi dalh in dersalbeii einfbofa« einstimmige Lieder gesungen werden, die

com Teil Ton den Lebrarn selbet ausgedacht und in Musik gesetzt werden. Diese Lieder tragen nicht wenig zum Erfolg der hier üblichen jährlichen grofsen TVri 5^ Verteilungen bei« auf die wir gelegentlich noch eüunal zur rückkoii.ineii mochten.

Um zu TerhQteo, daiü die m der Schule mühsam errungeneu Erfolge im spüisreB Leben wieder vedoran gehen, beeteben nidit nur Fortbildungs- klasaen, wdohe abends nad Sonntags abgehalten werden, sondeni ein be- sonderer Verein besdiUügt sich noch damit, die entlassenen Zöglinge dieser Anstalt zu beschützen, so dafs ein ROcltfall oder ein Schiffbruch der ein- mal eingetretenen Besserung •wirklich zu den äulsersten Seltenheiten gehört.

Die Erinnerung an den Besuch in der Schule wird uns stets eine wohlthueode bleiben.

2. Ein Fall von pathologischer Lüge

wird nacli piner Beobachtung He nnebergs in der Berliner Klinischen Wochen- schrift mitgeteilt. Patientin, Schülerin einer höheren Töchterschule, 1 6 Jahie alt, erschien eines Tages in der Schule mit einem Kopfverbaud. Sie gab an, m diner OhrenbanUieit m leiden ; sie sei deretwegen vcsk Herrn Dr. J. operiert worden. Sie beedoieb den Lehrerinnen nnd MitBchfUerinnen alie länidheiten der Operation nnd der Klinik^ in der sie bebandelt wurde.

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B. HittefloDgen.

Nicht selten weinte sie infolge der Schmerzen, die sie im Ohre habe. Nach einigen Wochen sdiOpfte die Lehierin Verdacht und fahr mit der Patientin zu dem bezeichneten Ohrenantt In der Elinik desselben wnAte Patientin

Bescheid und kannte die Äizte und das PeieonaL Die Untersuchung er- srab, d.ifs das Ohr der Patientin völlig gesund war, dennoch liefs sie sich Tiiclit überführen, dafs sie in der Klinik nicht behandelt woitlen war. Die Angehürigen der Patientin wuTsten nichts von dem angebUcheu Ohrenieiden, aie hatten dieselbe auch niemals mit dem Kopfverband gesehen. Nnr all- mAhlich gab Patientin die Yoistellmig, ohrankranh zu smn, auf. Diese war dadurch he^^-orgerufeB. dafs Patient hAufig eine Dame besucht hatte, die an einem Ohrenleiden litt und in der in Frage kommenden Klinik ojicrieit worden war. Diese Dame hatte der Patientin sehr eingehende Sehildernniren Tou ihrem Aufenthalte in der Klinik gemacht, ihr auch eine Photographie des behandelnden Arztes gezeigt Patientin gab an, dals sie fest über- zeugt gewesra sei, Ton der BeohtmäTsigkeit ihrer Ai^ben, me habe h&ufig die heftigsten Ohienschmenen gehabt; der Umstand, dalh sie zu Hause den Verband nicht getragen habe, sei ihr nicht sum BewuTstsein gekommen. Patientin hat wiederholt an Ähnlichen Einhildnngen gelitten, sie glaubte eine Zeitlang, dafs sie die Adoptivtochter ihres Vaters sei, und machte über diesen Punkt anderen Personen gegenüber detaillierte Angaben. Vorüber- gehend glaubte sie, dafe ihr Bruder sich verheiratet habe und in einem bestimmten Hause "wohne. Sie ging in dasselbe huiein, um ihren Bruder su besuchen und war erstaunt, als sie erfuhr, daCs derselbe dort nicht wohnte.

Patientin ist geistig sehr regsam. Ihr Betragen imd ihre Leistungen in der Schule sind vorzügliche Sie ist hereditTir nicht belastet, hat nie- mals an nervösen Erscheinungen gelitten. Die Untersuchung ergiebt eine leichte Herabsetzung der Schmerzempfiuduug an der rechten Körperliälfte, sowie eine geringere Einschränkimg der Gesiohtsfeldfir.

Ich wUl nur wenige Bemerkungen an den Fall anknflpfea Es ist ohne weiteres ersiditiich, dafs es sich bei der Patientin nicht um eine gewnhnlirhe, sozusagen physiologische LOge handelt. Es handelt sich viehnehr um ein psycho -pathologisches Phiinomen, das als pathologische Lüge (tfler Pseudologia phautastica den Psychiatern, namentlich seit dem Erscheiueu der 1892 von Delbrück veröffentlichten Arbeit über diesen Gegenstand bekannt ist Die pathdogiache L4kge tritt uns hSufig bei minderwertigen und degenerierten Individuen, insbesondere bei Hysterischen und Schwachsinnigen entgegen. Ich habe jedoch bereits in einer im letzten Bande der Charite-Annalen veißffentlichten Arbeit darauf hingc^^'iesen, dafs in seltenen Fällen die Pseudologia phantastica wenigstens anscheinend eine völlige Selbstäudigkoit besitzt und bei Individuen vorkommen kann, die auf psychischem und nerv'ösem Gebiet im übrigen keinerlei Störungen auf- weisen. Auch unsere Patientin hat bisher niemsla an hysterisehen Er» scheinungen gditten, auoh jetzt läfst sich, abgesehsD von einer leichten Herabsetzung der Schmerzempfindiichkeit auf der rechten EorperhÄlftö nichts nachweisen, was man als hysterisches Stigma bezeichnen könnte. Die Intelligenz des Mädchens ist eine vorzügliche, ihr Verhalten war jeder- zeit ein musterhaftes, so dafs sie stets der liebling ihrer Lehrerinnen war.

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Der schleswig-bülätetBische Verein zur BelcämpfuDg von Sprackstörnngen etc. 137

Das Charakteristiijche der patlwlo^schen Lüge tritt im vorliegenden Falle in sehr deutlicher Weise hervor. Patieutin war von der Realität

Ansaagea TöUig aberzeugt, and dennoch hat sie dauernd Handlungen nntenioinmeD, die mit Bestimmtliflit danmf hinweigen, dab sie eich dunkel dooh der ÜnrechtmarmgfcMt ihrer ÄnteoDgen bewuTst war. So hat sie ihren Angehörigen gegenüber niemals von dem eingebildeten Ohrenleiden erosproehen, hat sich auch niemals diesen mit dem Kopfverband gezeigt Diese Inkoiifiequenz in der Diurchführung der I.flgenrollc tritt fast in allen Fällen von Pseudologia phantastica hervor und erweckt so leicht bei den lOoht-StohTentiiidlgw YoretieUiiDg', dafo es aioh bei den betnflBiideii Individnen um nidbts andaree als bewn&tem Betrug handelt Anderer- seits bildet dieser Umstand ein Untersclieidungsmerkmal der Pseudol. phant. von paranoiden Zustanden, von denen sich dieselbe des weiteren dadurch unterscheidet, dafs die Patienten, wenigstens in den meisten Fällen, sich von der ünrechtm!lfsi^keit ihrer Angsageo ieicbtor oder schwieriger sich Überzeugen lassen uud ilu^e abnormen Yorstelluugeu aufgeben, weuu die ftuberen Bedingungen die Aufreohterhaltong derselben nicht mehr znlsssen.

Die forensische Bedentonp sdleher ZusOnde springt ohne weiteres in die Augen. Im vorliegenden Falle, der gerade dadurch, dafs er nioht krimineller Natin- lat. besonders instniktiv ist, handelt es sich um ver- hältnismärsitr harmlose Dinge. Setzt man an Stelle der Ohr-Opemtion aber zum Beisjjiel ein Sittlichkeitsvergehen, so wird ohne weiteres klar, wie schwerwiegend die Folgen der pathologischen Lüge sein kOonen, und wie wichtig die Kenntnis derselben fOr den Bichter nnd fOr den Arst ist U.

8. Der schleswig-holBtelnlflohe «»Verein zur Bekämpfung Yon SpxachBtönmgen unter der Sohnljiigend'*

wurde 1894 im Ansdilufs sn den ersten von dem Rektor Godtfring in Kiel geleiteten Lehrbusus über SprschstSrungen für Lehrer gegrflndet.

Der Zweck des Vereins umMst Forderung und Verbreitung der Spi-at h- heilkiinde mid der Sprachhygiene für das schul- und vorschiiljiflichtige Alter. Der Verein kann trotz seines kurzen Bestehens auf eine ei-folg- reiche Thätigkeit zurückblicken. Auf Veranlassung des Voi'standes sind in sämtlichen Semmaren der J'rovinz Lehier für Verhütung uud Be- seitigung von Sprachstörungen ausgebildet worden, die die Lehrseminatisten mit d^ rationellen Verfahren theoretisch nnd piaktisoh bekannt mscben. Femer ist der Verein von Anfang an dafflr eingetreten, mehr die Ver- hütung als die Heilunt^ zu betonen. Die erste praktische Form ftlr die Verhütung stellen die durch den Vorsitzenden in Kiel eingerichteten Vor- kurse für sprachgebrechlicho Kinder im vorschulpflichtigen Alter dar, die auch schon anderv«'ärt£ Anerkennimg und Nachahmung gefunden haben. Der Vontand hat nun im Interesse einer weiteren gedeihlichen Eäit- wickdung seiner Bestrebungen beschlossen , den ans dem schleswig-holBt Verein hervorgegangenen »Deutschen Verein zur Bekämpfung Ton Sprachstörungen unter der Schuljugendc dem »AJUgem. Venin

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B* ]0tlviliiiig!6ii*

flir EiiidfiifKfloliuDg« «Ib SektioD ansngliedeni und die ZeitBohnft »Die SindeKfelder« als Oigaii su benutmi. HofCentlick stehen dem keine Be- denken aeiteiis des aUgemeinen Yereins im Wege. MQge es dann dem

Verein gelingen, auch in seiner nenen Gestalt seg^nsreicli für die mit Rpi-aohgebrechen behafteten Schulkinder zu wirken. Bis auf \veitt^n^s wird Rektor Godtfriag in Kiel den Vorsitz auch in der Sektioc führv?n. Derselbe erteilt auch nähere Auskunft über die B^trebungen des Yereins.

4. Die IV. Vemafninlniig des Tereins für Kindezföndhiimr

findet am 1. il 2. August im Saale dee »Deutsdien Hauses« in Jena statt

Tages Ordnung:

1. Auglist, al»end8 TV? ühr:

1. Dr. Herrn. Outzmann-Berlin: Die sprachliche Entwickelung dsB Kindes nnd ilire Hemmungen.

2. Geschäftliches.

8. Aostaltsdiiektor 8chreuder«Haag: Über Einderseichneo.

2. August, vormittagg 9 ühr: 4. Din ktor Dr. coed. Krukenberg-Liegnitz: AostaltUohe Fürsorge fllr iirüppel.

6. Ftoi Dr. theoL et phil Zimmer-Zehlendorf: Zur Frage der reli- giösen Entwiokelung des Kindes. 6. Dr. med. Stroh mayer-Jena: Die Epilepsie im Kindesalter.

Auch Nichtmitglieder sind willkommen. K&here Auskunft erteilen die unterzeichneten Schxiftfflhrer.

Der Vorstand:

Geh. Med. -Rat Prof. Dr. Bins wanger- Jena, Prof. Dr. Ebbinghaus- Breslau, Prof. Dr. Rein -Jena, Anstaltsdirektor TrQper - Sophienhöhe Jena, Prof. Dr. Ziehen -Utrecht; Dr. med. Strohmayer-Jena L Schiift* fflhrer, Lehrer 8tukenberg-8ophienh0he h. Jena IL SdhriftfOhier.

lieitsäbse

SU dem Vortrage von Dr. med. Gutzmann: Ober die Sprackeatwlekelug uid Ihn ImBisgwu

1. Zwieefaen inllkOrHohea wid reflektorischen Bewegungen beeteht kein wesentlicher Gegensstz, da auch die wiUkflrliohen fieweg;mq^ ohne oentripetalen Reiz nicht zu stände kommen.

2. Die sprachliche Entwickelung der Kinder vollzieht sich in durch- gehends nachweisbaren Beziehungen zwischen Reiz und Reüex.

3. Die aofinglicho Ataxie der sprachlichen Bewegungen geht all- mJUüioh in Koordinatioii über. (Demonstiation der Atemknrveo.)

4. Hemmungen der Spraohentwickelung finden wir in Ansfidl- und Beiteracheinungen

a) bei den peripher impressiTen,

b) bei den centralen,

c) bei deu peripher expressiven Sprachwegeo.

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C Litteratar.

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Dazu treten ii(X;h Einflüsse allgemeiner Art, die von verschiedenen Teilen des Körpers ausgehen können.

6. Am fficfaenteo kDnnen die Hemmungen der peripher exprenlven Wege (c) beseitigt werden. Schvietiga ist es, die AusttDe eines oder mehrerer Sinne (a) auszugleichen, und zw^ dnroh EompensatioD anderer Sinne. Teilweise Aubfälle können durch Sinnesübungen, ersetzt werden« Am fiohwersten ist die Beeinflnssupg gehemmter centraler Spiachwege.

C. Litteratur.

I. Trlper, Die Anfänge dor nlinormen Frsjoheinungen im kiudlichen Seelenleben. Vortrag gehalten ani 19. Septumbor 1901 in illberfeld auf der IX. Konferenz dar AantalUm und Schulen für Schwachsinnige. Altenburg, Oskar Boode, 1902. Preis 0^ M.

Trupe r hat die ursprüngliche Überschrift seinflS iiigeknndigteo Vortrages »Die Anfänge des Schwachsinns« in die obenstchende umgeändert, weil der Aus- druck Schwachsinn sich nicht deckt mit dem Sinne der Abweichungen von der Gesundheitshreite im kindUcben Seelenleben, welche er zum Thema seines Vortrages gevlhlt bette. Hit Becbtl Denn er redete nicht über Scihwachiinn, sondern nor über gewisse afanonne Eiseheininigen des Seeienlebens im Kindesalter. Zviscfaen beiden ist ein grober Unterschied. Ein praktischer Pädagoge von der Bedeutung Trüpers weifs sehr gut, dals die Psyche nicht identisch ist mit Intellekt. Diese Thatsache ist auch dem Psychiater nicht fremd und es ist ihm geläufig, daCs es »Psychopathen« giebt mit hinreichender, ja sogar glänzender inteUektueller Be- gabung, und psyohopathiscbe Kinder, die niobt in die Anstalten für Schwaob- smnige oder in die Hilfsschule gehören (vgl. Debatte auf der Versammlung des Vereins für Kiuderforsehuug 1901. S. 29. 30). liOider, das ist wahr, verbindet sich im Laienkopfe mit dem Worte »Schwachsinn« ein allzu iatellektualistischer Bei- geschmack, eine Herabsetzung der verstandesmärsigen Leistungen. Um auch die Terftnderungen der Gefübls- and Willensvorgänge anunidrüoken, könnte man swe<^i&iger von »psychischer Sohvftcbe« leden; mit diesem AnadnuA Uelsen sich die Defektzustände auf den verschiedenen Gebieten des Seelenlebens, die in ihrer (re-^amtheit die soziale Brauchbarkeit eines Menschen in mehr oder weniger hohem Grade beeinträchtigen, zusammenfassend bezeichnen (vgL Hoche, Handbuch der gerichtl. Psychiutrie). Irüper hat wohl von |>iidagogischer Seite gar manchmal schmerslicb empfanden, dab in dem beqnemoi Pferche »Sofawsob- sinn< Kinder mit den verschiedenartigsten nnd verschiedenverttgsten peyohopathischea Eigenschaften sehr zu ihrem Nachteile untergebracht wurden. Deshalb wohl sein Suchen nach einem Ausdnick, der weitere Gesichtspunkte für den Laien eröffnet.

DaCs man deshalb aber dm gute alte Wort Schwachsinn, sowie die »galii- xiatiscben« medizinisdien Tennini: Eretimsmaa, Idiotie^ Imbedllitttt nnd Debilität gsas als »Plunder über Bcrd werfenc aolU leuchtet mir nidit ein. Wenn nament- lich bezüglich der durch die genannten Termiui hczeicbneten Schwacbsinnsunade sidl auch der Mediziner der l^nziilänirlichkeit der sauberen Scheidung wohl bcwufst ist, so kann mau ihnen duch nicht jcnien Sinn absprechen. Sie sind allmählich, wie es so häufig geht, unter Vernachlässigung sämtlicher etymologischer Skrupel ge> meingnte Worte geworden, bei deren Nennung sich jedor, soweit er überhaupt weifs,

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0> Uktentur.

vornm ee siob handelt, ein annihenid gleiches Bild niaciit Bei dein Worte Kretin sieht jeder mit soiuom geistigen Auge die betreffende menschliche Kuiiu' vor sich, ohne zuvor in seiner Jdoeuassociatiüu deu l'iuweg aber KroUi oder Kroide oder Kreidling zu machen, und bei deoi Worte Idiot denkt auch jeder au einen geistig tieCrteheadea Menschen, vAob ihn mit einem FriTatmann xn verwediBdn. Alao man Iftflae nne rohig die antiquierten AnadrOoke. 1^ fhon nns JLnten doch gans gute Dienste; mn ärztliche Dinge bandelt es sich dabei doch in erster Linie.

Wo fäng:t auf dem Oebiote des Seelenleben?? im engeren Sinnr» die »Abnormi- tät« an? Di«,' alte Frage! Leider ist die Psyche ein so persönlicher, diskreter Faktor, dals er eigentlich erst gemessen Verden kann, wenn er anlangt, abnonn m werden. In der Bofanle gieVt ea detnillieri» aiatetSbe fftr die intellektaeUen Leiatnogeo. aber in des »Herzens Tiefen« beim Kinde vorgeht, was es au&erhalb der Befi^ona- nnd Moralstutido denkt, entzieht sich oft solange der Beurteihmcr. bis es au einem Malae angeschwollen ist, daüs irgendwie gegen den Moralkodex. veretöM.

Ob auch die Begabung pathologisch sein kann? Eine Begabung, and sei ihr MaXs «ttcb noch 80 grob, iat niohta Fatholugiaohea, ^) ebenaoweoig wie ein grobea Mab körperlicher Schönheit Etwas Patholcfpaohea kommt nur dann zu stände, wenn im psychischen Ensemble neben der übertriebenen Ausprii^oiug einiger Partialcom:>f>r!"ntcr! andere verkümmMrt sind. Hoffentlich glaubt kein voniuuftiger Mensch daran, dafs ein (ienie ein voriiappter Epileptiker ist Wenn Lombroso recht hatte, so miii^te man dem Sduc^aal für dieae Epilepsievariante dankbar aein und darum bitten, dab die EpUepaie hinfiger nnter dieaer Form aoftiäte. Umgekehrt, die Ferriaehen Ins* führangen sollen uns nicht daran hindern zu hoffen, dafe es immer recht viele tüchtige Infanteristen in der ewigen Menschenarmee freben möchte, und relativ wenig Generäle, eonst schlagen sich diese g^useitig die Köpfe ein, und die Welt bieibt etehen. Im tttn^en mutan die BednktioneD Trüpera tbor die nidift not- malen Menaohen, die aitflich viel hSher atänden ala die Durchadudttamensehen, wegen des Kampfes am Gut und Böse in ihrer Brust eigentümlich an. Wir armen Durchschnittler, was sind wir doch für minderwertige Kreaturen ^gen die sittliche Grö£se der psychopathischen Minderwertigkeit die gut bleibt und nicht über den Strang schlägt I Mit einer derartigea Philosophie bleibe man uns vom Halse, die wftre noch viel achlimmer ala ihr Antipode Kietaaohe. Ich will hotten, dab wir der- adben nicht bedürfen, uui uioraliaierenden und putozaleQ Täiidenien gegenüber mit unaerer Bewegung festen Fufs zu gewinnen.')

Nebenbei nur sei erwähnt, dals die Psychiatrie von heute den sogenannten morallschea Schwachsinn zur Exculpiemng von Taugenichtsen und sonstigem Ge- lichter nicht mehr gelten Übt Die monomaaieehe Oeftthlapdlttik darf nicht au weit gehen, und der HumamtStodural nicht Irrananatalten mit piSdestiniertea Inaaaan des Gefängnisses oder des Arbeitshauses überschwemmen. Man ist mit der An- wendung der »nioral insanity« in der Psychiatrie höllisch vorsichtig geworden. B^i der psychiatrischen Begatachtung kommt es wohl jetzt allgemein darauf an, ob der Intelligenadefekt dea InculiMten so grols ist, dab er die von der »Oea^laohaft« geaogenen Orenaen nicht begreifen kann. Mit krankhaften ethiachen Defekten

') War es das bei Friediidi Nietiaohe nicht? Tr.

*) Man vergleiche dagegen die von mir angeführten Fälle. Das Grcnzgebift z\^*ischen gesund und trank ist noch längi5t niclit genügend erfoi>cht und verteilt Die problcmatiächtiu Naturen siud aber von aui'bururdeutlioheiu padagogiäuhea Intereaee. Darauf wollte ich nachdrücklich hinweiaeo. Tr.

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CS» l4ttiontQr>

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alleio EU operieren, hafc vwe dem Btnficioliter eeine SohwierigMten. I>eon jeder Bfenadi weils, dals diesbezägliohe Individaen massenhaft in der Welt henunlaofen,

die weit ontferut davon, in Konflikt mit dem Strafgesetz buoh zu kommen, bfiigeiUoh und sozial vollwertig sind. Sollten sio plötzlich minderwertig sein, wenn sie 'ire- fafst« werden? Wesentlich andere Gesichtspunkte gelten in der Erziehung. Der Pädagoge lehrt, der Biohter straft Ich glaabe, Trüper hat vollkommen recht, wenn er eneigiaeh dmnf hinweist, dab dem Riofater und Fsyoluater manches Dflenunn erspart bliebe, wenn der Baum in der Jugend ordentlich gehegt^ gewässert und beschnitten würde. Pathologische Seiten i-n Seelculebeu des Kindes machen psychiahischer Beurteilung nicht so gvofso Schwiorigkeiten, wie Trtiper glaubt. Jedenfalls ist ein erwauhöener Psychopath, bei dem die ^^'irkuttg der Individual» er Werbung nicht abtosehilien ist, etheblidh schwerer zn taxieren. I^cho* ptthische Erscheinungen im iündesalter sind eindentlger, und Ennkheit liUrt flioh TOA »Bosheit« (sofern diese nicht selbst Krankheit ist) leichter trennen.

Die Überbüniungsfrage hat Trüper vollständig richtig aufgefafst. Jeder Arzt wird ihm hierin zustimmen. Soviel man von Überbunluug fas4;lt^ so wenig ist danik Hjfehte dodi maiMher Fidagoge die Ausführungen Binswangers unter der Ätiologie der Neozasthenie lesenl UTas hier geaigt ist (Lehrb. der Neor« asflienie, Jena 1896, Seite 48 ff.) gilt für die ganae Nervenpatiiologie.

Bezüglich der Vererbung im allgemeinen und der verheerenden Wirkung des AÜLühoUsmus hat Trüper da-s Kicbtige getroff<^n. Gerade die Entartung, die Degeueratiou zeigt häufig die Neigung, bich wumgci m ausgeprägten 2seui'03kfU und Psjrchoeen tn manifestieren, als yielmehr in psych opathisohen Znstinden (hitzige, verschrobene Naturen, Sonderlinge, Eifilider, Potatoren, Tangeniohtse» Selbstinöi"der etc.) Einem Irrtume, glaube ich, imterliegt Trüper, wenn er den Einfiuls der Syphilis des Erzeugers als ätiologischen Faktor dfr psychopaihischon Degeneration der Kinder nicht nur in hohem Orade verantworthch macht, sondern sogar in dieser Beziehung über den AUtoholinmiB atollt Beine EMihning mag ihm denselben Strüch spielen, wie nns Psyohiater in einem anderen lUle. wir so häufig in der Ätiologie tmserer Tabiker nnd Paraljrtiker Lues finden, so liegt die Vci-suchung nahe, in das Extrem an yerfsUent dab alle Syphilitiker nach dieser Richtung stark gefährdet seien.

Die Trüper scheu i^tschiüge, mit denen er seinen Voitiag schlielst, wad jeder Arrt Ton A— Z nnteiaohieiben.

Jena. Br. Strohmayer.

2. Weygaadt, Atlas und Grundrifs der Psychiatrie. Lehmann's mediziniache Handatlanten Bd. XXVII. München, Lehmann, 1902.

»Mit der Bestimmung, eine mÖgUohst präois gefabte Darstellung der gesamten Flsychiaixie an bieten nnd sur Veiansohaniidinng des ganzen Textes alle in Be- tracht kommenden Demonstrationsmittel heranzuziehen« ist der genannte Atlas er» schienen. Man durfte füglich auf die Lösung dieser Aufgabe gespannt sein. Denn ist es schon kein Leichtes, den gewaltigen Stolf der rsychiatrie in den enggezygenen Oreuzea eines ünuidiisües unterzubringen, so stufst der Verbuch einer erfolgreichen bildnerisehen DaistoUnng vieler psychiatrischer Objekte wegen ihrer weehaelTollen ffluktnierenden Oeetsltang in oft ein nnd demselben Fklle auf noch gi&lbere Sohwieriginjteo.

Was man von dem Illustrationsvermögen eines Atlas verlangen kann leistot- der Weygandt'sche meines Erachtens im vollsten Malse. 24 faibige laioiu und.

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a littentnr.

276 Tnxtftbbildkiiigen briagen die pHgaanteileii 2astttd>Uld«r T«i8oliiedaMii

Psychosen zur Anschaanng, für deren Fixierung und Sunmlong man dem Verfasser Dank wissen mufs. Vielleicht vrird bei einer 2. Auflage des Buches durch don Weg- fall manches Überflüssigen sein Wert noch erhöht. Manche kolorierte Tafel (Decubitus, Epileptiker im Anfall etc.)t sowie die Abbildung der Pupillen, des £pi- l«ptik«t8 mit korrektem Ivbecen (!)^ des Itemoiken mit dem tntometisoheii "Wagen u. a. m. wird kein Mensch vermissen.

In psychologischer Beziehung Ichn'^n sich die Ansführnngen Veygandt's an Wundt, in klinisch- psychiatrischer an Kraepelin au. Der allgemeine Teil des Buches beschäftigt sich in ganz gedrängter Weitie mit der Ätiologie, aUgemeinea Psjchopttthologie (— wMm mit Beobt ein gtObeeer Btnm angewieaea iel ~X <^ bozperiiohen Symptomen^ dem Veilaiiie» der aUgemeinen Biagnoelik und Pwgnoetik, der pathologischen Anatomie und Therapie der Oeisteskrankheiten. Auch über ihre forensische Bedeutung in civil- nnd Btrafrechtüoheir Betielhnng findet der Leser einige nützliche Winke in knappster Form.

XHe Einteilung der Psychosen im speciellen Teile ist nachEraepelin'schem If nstor erfolgt Stimmt lie in der Reihenfolge anoh nidit gm» mit der in deeeen neuster Auflage der Psychiatrie ttberein, so spürt man doöh an der breiten arbeitung und Verschmelzung des manisch-depressiven Irreseins, sowie der juvenilen Vorblödtmgsprozesse (Dementia praecox), an dem Festhalten der Melancholie imter dem Eückbildungäirreäein, endlich der ätiefmiitterlichüu üuixaudiuiig aur l'araauia- gruppe, die mehr nnd mehr anf den Aniaterbeetat ta kommen droht, den denüidhtti Hauch des scharfen Windes, der seit Jahren von fleidfllbeig her mbt nad an dem alten Klassifikationsbau der Psychosen rüttelt

"Weygandt bespricht zunächst die Geistesstörungen, denen eine Entwickelungs- hemmung zu Grunde liegt (angeborene Geistesschwäche), dann die Formen, deren Entwidkalnng nicht gehemmt, Boodem nor geatOrt nnl entartet iat (Bntartun^- irreaehi)^ daranf die beiden geeddoeMnen Gruppen E^ilepde nnd l^steiie. In der Mitte stehen die endogenen Erkrankungen: manisch-depressives Irresein und Paranoia, Mit der Besprechung der juvenilen VerblödungsprozeJ5se eröffnet er die Beihe der Störungen^ bei denen äulsere Einflüsse auf die Hirnrinde iK-irksam mnä (Stoffwediaelanomalien, grob oiganisobe und toadeahe flchldlidikeiten). iäne de- taillierte BeqHrechiing dae apesiellen Tailca wfixde mit einer nicht liierfaer geliörjgen Kritik der Kraepelin*8chule zusammenfallen. Es verdient hervorgehoben in werden, dals "Weygandt mit grorseni Geschick bei den meisten Krankheitsbüdem das Wichtigste herauszugreifen vei>>taad und dafs er ans seiner eigenen Praxis zur textlichen Ulusuation 143 Kraukeng^chichten beifügte.

Nicht alle Kapitel eind mit gleicher liebe nnd Soig^t behandelt, wenig ge- lungen z. B. die Hysterie. Bei den maniach-depresaiven Zuständen begegnen wir alten Bekannten aus Woygandt's Monographie. Einen auffallend breiten Ranm in Bild und Text nehnion, wie sclioii erwilhnt, die juvenilen Verblödnngsproze^ ein, ein Faktum, das bei einem K raepelin' scheu Schüler nicht wunder miuait

Aia Emffihrung in die psychlatriaohe Klinik nnd treuen Begleiter nnd Weg- weiser anf den oft Terschlnngenen Pfaden des klinischen üntenichts möchte ich Weygandt's .Atlas aufs wärmste empfehlen. Dafe man nicht nach einem Gnml- rifs die Psychiatrie kennen lernen kann, ist selbstverständlich; wohl aber kann maa trotz der Kürze der Fassung vieles aus demselben lernen.

Jena. Dr. Strohmayer.

Druck von Hennann Üejor & butuio ^Boyor 4c Maoii) in LAngonsoua.

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A, Abhandlungen.

1. Die Sprachentwickelnng des Kindes nnd ihre

Hemmungen. Yortc^g von Dr. HarauB Gitzmia, Berlin.

Meine Damen imd Herren! Wenn ich es unternehme, in dieser Ver- sammlung über die Sprachentwickelang des Kindes und ihre Hem- mungen zu sprechen, so bin ich mir wohl bewufst, dafs dieses Thema in dem Rahmen eines Vortrages unmöglich erschöpfend zu behandeln ist Sie kennen ja Alle die nunmehr ziemlich zahlreichen Werke über die Sprachentwieklung des Kindes, Sie wssen, dafs unsere hervor- ra^^endsten Psychologen ich nenne nur Wundt und Stumpf noch jetzt in eifrip:ster Weise an dieser Aufgabe arbeiten. Die Be- obachtung des heranwachsenden Kindes bietet besonders in der SprachentAvicklung einen unerschöpflichen Born für unsere Kennt- nis von der Seele des Kindes, und deshalb kann diese Arbeit niemals als abgeschlossen betrachtet werden.

Mein Vortrag soll nur dazu dienen, Ihnen übersichtlich das zu- sammenzustellen, was wir über die erste Sprachentwicklung des Kindes wissen, und auf diejenigen Punkte aufmerksam zu machen, an denen Henmiungen dieser Entwicklung einen störenden Einflufs für die ge- samte spätere Entwicklung des Kindes ausüben können.

So zahlreich auch die Arbeiten über die Sprachentwicklung des Kindes sind, so stimmen fl<i( h die Autoren in der Angabe der ein- zelnen von einander abgrenzbaren Perioden naturgemäfs so ziemlich überein. Wir können vier Perioden der Sprachentwicklung unter- scheiden. Die erste ist die Schreiperiode des Kindes. Die ersten Schreie haben keine besondere sprachliche Bedeutung; sie

Die Ktxtdoriohleir. VII. ialasms. 13

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.A« AUiaoAungeii.

sind nichts weiter als reflektcrisclio Stiimnproduktionen, die nicht einmal re^elmäfsig eintreten, da häufig die Kinder das Licht der Welt auch mit Niefsen begrüTsen. Über das erste Schreien der Säuglinge haben sich auch die alten Philosophen bereits ausführlich verbreitet Sie glaubton, darin einen Protest des Kindes gegen das zukünftige Elend, das ihm lu der Welt bevorstünde, zu sehen; nnui hörte aus dem Schreien heraus, dafs die Knaben mehr o a, die Jlädchen mehr o 6 schrieen und nahm an, dafe die Kinder aui diese Weise noch gegen die erste Sünde Ton Adam und Eva ihre Klage erhoben.

Sehr bald kann man in dem Schiern des Kindes yeischiedene Nuancen bemeiken, und die Matter oder die erfahrene Wirtezin weiTs bald aus der Art des Schreies su beurteilen, ob das Sind Hunger hat^ ob es Schmerz^ Kittte oder Nfisse und deig^eichen empfindet

Für die spätere Sprache hat die Schreiperiode insofem eine besondere Bedeutung, als die Schieiatmung bereits ein Vor- bild für den Typus der späteren Spieebatmung abgiebt Der Sing- ling schreit in lang ausgebaltenen TSnen, die ab und su durch Inuae Inspirationen unterbrochen sind. Die Inspirationen gehen durch den weit geöffneten Mund vor sich, während das Kind beim Schlafen oder wenn es sich sonst ruhig verhält, durch die Nase ein- und ausatmet Sie sehen, dafe hierbei der Typus der Sprechatmung bereits abgezeichnet ist: eine kurze, durch den Mund vor sieh gehende Inspiration, eine lange, ebenfalls durch den Mund vor sich gehende, mit Ton verbundene Exspiration. Es ist nicht uninteressant, dezartige Schreiatmungskurven auäuzeichnen und sie mit den späteren Sprechkurven des Kindes zu vergleichen. Die gesamte Sprache ist ja, äulserlich genonunen, nichts als eine hoch koordinierte Bewegung der drei Teile des Sprechapparates: der Atmungs-, der Stimm- und der Artikulationsmuskulatur. In der Schreiperiode des Kindes ist die Koordination noch relativ einfach, da sich zu dem Schreien der Vokale ä oder a nur die eben beschriebene eigenartige Bewegung der Atmungsmuskulatur hinzugesellt Daher kann man gerade in dieser Zeit ganz interessante Beobachtungen über den allmählichen Übergang von den ataktischen Bewegungen der Atmung zu den späteren koordinierten machen.

Betrachten wir einmal die Buhekurve und Sprechkurve der Brust- und Baucliatmung eines normalsprechenden Kindes! (Fig. 1) Diese Kurven habe ich an meinem eigenen vierjährigen Töchterchen ge- wonnen. Sie sehen, dafs in der Ruheatmung die In- und Exspiratio- nen gleichmälsig und synchron von statten gehen. Sowie jedoch das

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QmtMMXts: Die Spracbentwiokelong dea Kindes und ihre HemmuDgea. 105

Kind anfängt zu spiedien, Terändert sich der Typus der Atmung so, dafs die Inspiration an Zeitdauer gegenüber der Exspiration aufsor- ordentlioh zurücktritt. Die Kurve der Nasenatmung, die in der Rnhe sich selir deutlich aufzeiehnet, wird während des Sprechens ein ein- facher Strich. Pin Zeiclien davon, dafs das Kind durch den Mund ein- und ausatmet. Die ab und zu im iSprecheii vorkommenden Kasallaute, welche einen Ausschlag der Nasenkurve geben könnten,

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L L .j .i i. .1 u 1 Sek.

7

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Abdouioa

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Atmung in der Buhe Atmung beim SjpieoheD

Flg. 1. Die eioauder zeitlich entsprechenden Striche sind in dieser wie in den

folgenden Kurven leicht enidttiiah.

sind bei diesem Versache durch eine besondere Anordnung eliminiert worden, auf die ich hier nicht n&her eingehen wXL

Sehen wir nun die Bmst- und Banchkuzye der Spreohatmnng näher an, so finden wir, dals der Beginn der Exspiration nicht mehr, wie bei der Bnheatmung, sjnchron von statten geht, sondern dafs die Exspirationsbewegung der Brust erst beginnt, nachdem die abdominale Bewegung bereits ein Stück vorgeschritten ist Dies zeigt eklatant ein Überwiegen der costalen Be- wegung bei der Sprechatmung, denn nur durch ein scharfes

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A. Abhaodhuii^

Heben des Brustkorbes kann ein Einsinken des Abdomens trota offenbar gleichzeitiger Kontraktion de^ Zwerchfells erklärt werden. Diesen Anachronismus im Beginn der Atmungskun e finden Sie non fast durchgehends bei normaler Sprechatraung, ebenso, wie beim Ge- san^'e, ja bei Kunstsängom und geschulten Schauspielern wird die Differenz geradezu erstaunlich grofs. Die Erklärung für dieses zu- nächst seitsam erscheinoTirlp Verhalten dürfte darin liegen, dafs bei

df'iii S|>rechv{)rgang das cerebrale Atmiinf^cen- trum einen intensiveren Einflufs geltend macht Dieser giebt sich in stärkerer Bewegung des Brust- korbes deswegen knnd, weil wir hier ein d^nt- Kcheres Muskeigeiuhi besitzen als im ZwercMeü. dessen Bewegungen uns primär gar nicht und sekundär nur durch das Heben der Bauchdecken zum Bewufstsein kommen.

Vergleichen Sie mit diesem als normal an- zusehenden Verhalten (denn ich habe es an zahl- reichen Personen, sowolü Erwachsenen, wie Kin- dern, geprüft und bereits auf dem letzten Wies- badener Kongrefs für innere Medizin eine Fülle von IvLirven vorgelegt) die Kurven, welche ich an schreienden Säuglingen in den ersten acht Tagen ihres Lebens gewann, so zeigt sich zwar gröfstenteils ein zweifelloses Überwiegen der Costalatmnng Uber die AbdominalAtmang beim Sdixeien, dagegen ist der oben besdiriebene AmdironiBniiiB in dem xeiflichen Euntreton der Bz^iTBtionsbewegungen in den eisten Tsgen überhaupt noch nicht xind sp&ter nur selten und mehr sofidlig anzatrellen. Cfemde an diesen sicherlich objektiren Demanstniionsmitteln ken- nen Sie in recht instruktiver Weise erkennen, wie allmählich nnd langsam die anfäng- lich ungeordneten Bewegungen (Ataxie) in die geordneten (Koordination) Uber geben.

Die Kurven sind in der Kg). Frauen -Klinik su Beriin mit gütiger Briaubnis des Herrn Geh. -Rat Frol Br. OuBKvm anl- genommen, eine Briaubnis, für welche ich auch an dieser Stelle meinen vexbindlichen Dank ausspreche. (Big. 2, 3 und 4)

Meine Versuche stimmen sehr gut mit denen anderer Autoren überein, so zeigen besonders die Kurven von Bcsbblbn Über die

Fig. 2. BuheatmoBg des 8 Stunden alten

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Chmiuiiir: Sie SpnohintvkiBaliiiig 4m lOndM naA Qu» HeniiniigoiL 197

Schrei- und fiauchatmang der Säuglinge grofse Ähnlichkeit mit den meinen, auch fuid dieser Fonoher auf anderem Wege, dab die Be- wegung des Brustkorbes beim* schreienden Kinde gans ungewöhnlich die Bewegung des Bauches ttbertrsl Sie sehen hier des Frofilbild eines Sfiog^ings; der schwanse Oontour xeigt die Bewegungen tou Brust und Bauch in der Buheatmung, der hell schraffierte Gontour die Bewegungen der Schxeiatmung. (Fig. 5.)

Btüie- erster sehr langer

atmong Sduni

immer kurzer werdende Sohnie

Fig. 3. Schreiatmmg des 8 Stunden elten 'mtMtan» Dab enflUij^ohe Erheben der Kurven beim langen Schrei ist auf das nngemein etarke Mitbewegen dto Thorax- und Benohmnakolatiir nurilokEafähran.

Ton vornhereiu zeigt sich demnach bei dem Schrei- vorgang eine überwiegende Innervation des costalen At- mungsapparates.

Ich habe mich nun bei der ersten Periode der sprachlichen EntWickelung, der Schreiperiode, ein wenig länger aushalten, da ich glaubte, Urnen hier einige neue Gesichtspunkte bieten zu kOnnen. Die Besprechung der folgenden Perioden wird kflrser erledigt werden können.

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A. ÄlhaiidluDgen.

Die zweite Periode tritt dann ein, wenn das Kind rohi^r geworden ist und anfingt^ etwas mehr Lust an seiner XJmgebong su jEinden. Es liegt dann oft im Wadisustande da» ohne zu schreien, 2U den Bewegungen seiner Anne and Beine treten die Bewegungen seiner Sprechwerkzenge und dabei entwickeln sich unwillkQi> lieh und wie von selbst die ersten Laute, die zunächst noch unsicher, tastend, ataktisch sind und von sämtlichen Arti- knlatiohsteilen hervorgebracht werden, wenn auch Lippen

BakMAiniiiig eiste liagete Söhlde imnier kfizaer weidende

Scaueie

Kg. 4 flohieietmuDg deaselbeD 'MMahaia umIi 3 Tagsn.

und vordere Zungenteile bevorzugt sind. Denn dies sind die Laute, die der Säugling mit den Muskeln bildet, welche bereits am frühesten geübt sind. Der Trieb zur Saugbewegung ist eiu angeborener, denn man fühlt bekanntlich recht häufig schon bei der gynäkologi- schen Untersuchung noch yov der Geburt de^ Kindes Saugbewegungen. Der einfache Vokal a erfordert ja niclits weiter, ah dafs das Kind den Mund aufmacht, und so verbindet dieser sich am hanfigsten mit <ien Konsonanten h, p, m, d, t, n so dafs Silhenfolpen wie ba ha ha, da da^ da, ma ma ma u. s. w., ebenso dieselben mit dem Vokale

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Qvnoum: IM Simolioiitvidkehmg dw Kindel und ihn Hemmiiiigen. 199

ä, bei Emdeni im Alter von 3 bis 4 Monaten häufig wahigenonunen. weiden. Daneben hört man jedoch auch viele Laute aus anderen Artikulationsgebieten, etgentiixaliche Schnarr- und Pfudazlaute^ auch Laute, die eist viel spater wilikürlich auftreten, z. B. das Gau- men— r, zeigen aich bereits. An und für sich sind diese Laute nichts weiter als angeborene tiiebartige Bewegungen, oder, da wir annehmen, dalh eine Bewegung ohne Torausgegaogene Beize undenk- bar ist, Reaktionen oder Reflexe auf irgend welche endogene Beize. Bas Sind freut sich an ihnen, ebenso die Umgebung, und besonders die mütterliche Liebe hat Ton je her diesem ersten Lallen des Kindes eine tiefere Bedeutung beigelegt, indem sie Tersuchte, ans den zaghaften, tastenden, ataktischen Anfängen der Sprache den Muttemamen heiauaznhoien. So kommt es, da& die ersten, mehr

Hg. 6. Das Sehwana seigt die ExIraiBioiieii des ndiigen SoUafes, das hell Schraffierte die des Schreiens, über dem AMomon mntß dasselbe aiedxiger sie über

Brost sein (oaoli Eckerlein).

automatischen oder reflek ton scheu iSprechvei-sucho des Kindes bald die Eedeutiing erhielten, die ihnen die Umgebung unterlegte. Die Silbenfolgen ma ma ina, ba ba— ba winden für Vater- und !Muttcr- namen erklärt, und wir dürfen uns nicht wundem, dafs deshalb Vater- und Muttemame fast in allen Sprachen, sowohl in denen der Kulturvölker als auch in denen der Urvülker gleich oder ähnlich ist Oh statt unseres Papa baba, bawa, nana u. s. w. eintritt oder statt Mama papa oder memo oder eme u. & ist dabei gleich: stets sind Tater- und Hutternamen Lautfolgen, die dem ersten Lallen des Kindes entsprechen.

Dieser rein reflektorischen Lallperiode der kindlichen Spiachentwickelung folgt nun eine zweite Lallperiode, die sich sehr wesentlich von der reflektorischen unterscheidet^ da sie auf einer

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nüt wunderbarer Kraft erwachenden Fähigkeit des Kindes beruht: auf der grofson Lust desselben zur Nachahmung, welche dio dritte Sprachperiode des Kindes beherrscht. Die geistigen Fälligkeiten des Neugeborenen haben sich inzwischen entwickelt, seine Sinneswerkzeuge perzipicren nicht nur, sondern sie apperzipieren; aus dem Sehen wird Beobachten, aus dem Hören Horchen, aus dem Fühlen wird das Tasten, aus dem Scfamet^en das Kosten und so er- füllen die Sinneswerkzeuge tliglicli immer mehr ihre Aufgabe: die gesamte seelifiche "Wüt des Kindes aufzubauen und die einsehien Wahrnehmungen in Beaiehung zueinander zu setzen. Der Um- stand, dafs das Kind mit Aufmerksamkeit seine Sinnes- werkzeuge benutzt, führt von selbst zur Nachahmung, die wir, weil gleichsam der Beiz des durch die Aufmerksamkeit intensiTeren Sinneseindruckes ein stärkerer ist, recht wohl als eine Art höheren Reflexes ansehen können.

Die Kaohahmungsperiode ist wohl die wichtigste in der gesamten sprachlichen Entwickelung des Kindes, ganz be- sonders in Bücksicht auf die in dem w^teren Verlaufe meines Yor- tiBgea zu beqprochenden Hemmungen. In dieser Periode zeigt es sich auch, da& die reflektorischen Lsllbewegungen der zweiten Sprechperiode durchaus nicht alle vom Kinde willkürlich nach* geahmt werden können. Wenn in der zweiten Periode das Kind auch schon die Gaumenlaute häufig genug von sich gab, so ist da- mit durchaus noch nicht gesagt, dafs es in der Nachahmongsperiode gleich dazu im stände sein wird. Überaus häufig bleiben die Kinder in einzelnen Artikulationsgebieten sprachlich im Rückstand. Sie verwechseln teils aus Ungeschicklichkeit ihrer Sprach Werkzeuge die einzelnen Laute, sie ersetzen schwerer zu bil- dende durch leichter zu bildende, sie bevorzugen besonders die Laute des ersten und zweiten Artikulationsgebietes, und zwar nicht blols wegen der grofseien Geschicklichkeit der Muskeln der Lippen und der Zungenspitze, sondern auch, wie Wilhixm Ament sehr richtig hervorhebt, weil die nachahmenden Kinder auf den Mund des Voi^ sprechenden achten und so natürlich diejenigen Lautbildimgen am besten "wahrnehmen können, welche am weitesten nach vom in unseren Sprachwerkzeugen gebildet werden. Diese Erfahrung, diiTs einif^e Laute früher, andere, so besonders gewisse Reibelaute und die Laute des dritten Artikulation sj^ehietes, k und g, erbt später gut nachgeahmt werden, hat Srnui/rzK dazu geführt, die Reihenfoltrc der L-nuteTitwieki Inii^r durch das Prinzip der s:orin<Ersten physiolo^schen Anstrengung zu erklaren. So würden die Lippenlaute zuerst auf-

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Ounii&ini: Die Spraobentwickaloog des Kiodea und ihre Hemmaiigen. 201

treten und ihnen dann die Zahn- und Gaumenlaute folgen. Ich selbst bin in meinen Arbeiten diesem ScHüLizBBChen Satse beigetreten, wenngleich ich ihn durchaus nicht so kateigonsch yerfochten habe wie ScHOUVEB, und obgleich ich sehr mannigfaltige individuelle Ab^ ändenmgen von vornherein zugestanden habe. Das kann aber keinem Zweifel unterliegen, dafs Reibelaute und Gaumenlaute im greisen und ganzen spät nachgeahmt werden, wenngleich sie auch in der reflektorischen Lallperiode bereits aufgetreten waren. Wie mir scheint, ist "Wilhet^m Ament in seinem vortrefflichen "Werke über die Entwickeliing von Sprechen und Denken beim Kinde der Unter- schied ent^nniron, den ich zwischen den reflektorischen LaUlauten und den wilikürüch itrtchireahmten {gemacht habe.

Bio vierte Peruxh^ der kindlichen Sprachentwickclung kennzeichnet sich dadurch, dafs das iünd nicht nnr Worte, welche wir sprechen, ht it und vei'steht, sie nicht nur nachzuahmen im Stande ist, sondeni sie aueii selbständig verwendet

Wie Sie wohl bemerkt haben werden, ist sowohl das ISchreien wie das erste Lallen als rein reflektorisch anzuziehen, Schreien als im wesenthchen ünJustäufsening, Lallen als Lustaufsenm*?. Die folgenden beiden Perioden, die willkürliche Nacliahmung nnd die Wortbildung, sind dagegen nicht mehr reflektorisch. Wv]]]] noch die Nachahmung als eine Art von höherem Hfüex ge- sciiiideit wurde, so ist die spontane Wortbildung schon so weit von dem entfernt, was wir unter der reflektorischen Bewegung verstehen, dafs es don Anschein hat, als ob wir hier das VerhältniB zvMschen Reiz und Reaktion nicht mehr in Parallele stellen können. Es fragt sich aber nun. ob denn wirklich ein so grofser Unterschied zwischen den Reflexbewegungen und den sogenannten will- kürlichen oder spontanen Bewegungen besteht Klinische Beobachtungen sowohl wie physiologische Experimente haben es als unzweifelhaft ergeben, dafs auch die willkürliche Bewegung ganz ohne zentripetalen Reiz nicht zu stände kommen kann. Wer sich für die Litteratiir dieses Gegenstandes interessiert, den ver- weise ich auf die vorzügliche Zusammenstellung in G. von Bünöes Lehrbuch der Physiologie des Menschen.

Gestatten Sie mii', dafs ich auf einzelne klinische Beobachtungen, die zu dieser höchst wichtigen Auffassung geführt haben, kurz oin- gobe. CiiARLES Bell (1774 1842) hatte schon, wie Strümpell sagt: mit dem klaren Blick des Genies die Notwendigkeit centripetaler Erregungen für das Zustandekonunen eines geordneten Ablaufes unserer willkürlichen Bewegungen erkannt In seinem berühmten

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A. AUAndimigeii.

Buche über die Hand sagt er: »Für die Regel märsigkeit der 3£u8kelbewegang sind zwei verschiedene Nerven notwendig: zuerst ein senibler Nerv, um dem Sensorium die Kenntnis der Muskellage zu übermitteln, und sodann ein motorischer Nerv, um dem Muskel die Botschaft des Willens zu über- bringen. Das Muskel vermögen ist ungenügend, um die Be- wegungen der Glieder zu regein, wenn die Muskelsensi- bilität nicht vorhanden ist, um es zu begleiten. Fehlt jede Sensibilität, so ist trotz vorhandener Muskelkraft das be- treffende Glied gelähmt« So berichtet Cbasubb Bbll folgenden Fall: »Eine Mutter, welche ihr Kind säugte, wurde von einer Lahmung befallen, wodurch auf der einen Seite Terinst der {Ejaft und auf der anderen Seite Teilust des Gefühls bestand. Es war ebenso überraschend wie beunrutiigcnd, dals sie ihr Kind mit dem Anne, welcher die Muflkelkiait behalten hatte, an die Brust halten konnte^ joddch nur so lange, als sie auf ihr Kind blickte. Wenn die umgebenden Gegenstände ihre Aufmerksamkeit vom Zu- stande ihres Armes ablenkten, erschlafften allmählich die Beuge- muskeln, und das Kind kam in Gefahr, zu lallen.« Ausführlich be- richtet Duchenne (1806 1875) in seinem grofsen Werk: »De Töleo- trisation localis6e« über mehrere derartige Fälle von Lähmong der Muakelsensibilität Die Kranken konnten ihre gefühllosen Glieder nur dann bewegen, wenn sie hinsahen. Gleiche Beobachtungen hat SiRtJMPELL im Jalire 1878 an zwei Patientinnen promaeht. Er fand hier vollständipies Erlöschen dos Muskclsinnf'< und des Erniiulungs- gofühlcs in eiiu'ni (iliodo. Diosos konnte nur bewefi^t werden, wenn die betreffende Jiranke hinsah, nicht aber, wenn sie die Augen ge- schlossen hatte.

Von ganz besonderer Bedeutung aber iür unser in Rede stehendes Thema ist eine Beohaehtunjr vtm Hkyxe, die derselbe im mediziui^ich- klinischen Institute Ziemssens ^'emacht hnt Es handelte sich nämlich hei den von Duchj-^ink und Strimpell beobachteten Fällen stets um parti' llt'. nicht über den ganzen Kiirper verbreitete Anästliesie. In dem lli;YXK>chen Falle jedoch erstreckte sich die vollkommene An- ästhesie nhvv den ganzen Körper, auch auf die tieferen Teile des- sell)en. Es konnten alle willkürlichen Buwci^^ungen gut ausgeführt werden, sobald die zu bewegenden Teile mit dem Au^a' ülM'rblickt werden konnten: im anderen Falle war jede willKurlichu Bewegung unmogiicii. Nun liegt aber der stimnibildende Apparat vollkommen aufserhaJb des Bcjeiches unseres Gesichtsfeldes, und von einer Kun- trolle durch das Auge kann liier, wenigstens unter gewöhnlichen

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GuTatAMN: Die SpnchentvklKluiig des Kind« und ihre Henumingen.

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Terhaltnisscn, keine Rede sein. Unter nonnfilori Vcilüiltiiissen spielt bei Stimm- und Lautbildiing das Gesicht -^ar keine, das («cfuhl zwar nicht, wie Heyne meinte eine sehr untergeordnete, aber doch eine uns für gewöhnlich jedenfalls nicht zum BewiiTstsein kommende BoUe. Durdi das Gehör werd^ wir dagegen von dem Znstande- kommen eines Lautes sowie tod seiner Richtigkeit ontenichte^ und es ist ja bekannt) daiä eine BeeintrKchtigang des Gehörs sehr häufig auch die Stimme beemfiu&i Bei dem HEnaschen Kranken zeigte es sich nun, dafs er nicht mehr im stände war, einen Laut hervorzubringen, geschweige denn ein Wort zu sprechen, sowie man ihm beide Ohren fest zuhielt »Stellt man sich vor ihm hin und befiehlt ihm, bei jeder Nickbewegung, die man selbst macht, zu zählen, so geschieht dies bestimmt und laut; hilt man ihm dann plötzlich, z. B. nach der dritten Nickbewegong, beide Ohren zu, 80 verstummt der Patient sofort und macht- bei den folgenden Nick- bewegungen nur noch leichte Bewegungen mit dem TTnteriüefer und den Lippen, welche ebenfalls sehr bald völlig aufhören. Ofbiet man nach der achten Nickbewegung ihm die Ohren, so zahlt er bei der neunten Nickbewegung wieder laut und liditig neun u. 8. w. Die aufigelallenen Zahlen zwischen drei und neun behauptet er richtig laut gezfihlt zu haben. Ter schlief st man dem Kranken mitten in einem angefangenen Satze plötzlich die Ohren, so ver- stummt er sofort, ohne den Satz vollendet zu haben.«

Die aullsmrdentliche Bedeutung dieser klinischen Boobaclitungcn für unser Thema springt deutlich in die Augen. Ohne Kelz keine Bewegung, also auch keine Sprache. Selbst der willkürliche SprechvQigang ist stets an vorhandene Heize als Vorbedingung ge- bunden, wo diese Reize auch immer ihren Sitz haben mögen, wo sie auch immer entstehen mögen. Alle Hemmungen der Sprache werden sich demnach teils auf Ausfallserscheinungen jener Reize beziehen, teils auf überaiäfsige Stoi^cnincr derselben, kurz, auf Ausfalls- und Reizerscbeinunp:en, und diese wollen wir nun- mehr bei den drei pri'<^fsen Gebieten des /gesamten iSpracliapparates, bei Ueai peripiier-impressiven, bei den centralen und l)ei den peri- pher-expressivon iSpmchwegen einer Betraciitunf: untiMziehen

Am iihersiehtiiehsten weiden wir uns den gesamten Aulbaii in der sprachlichen Entwickeliing des Kindes an einem Srhema dar- stellen können. Es sind \öv allem zwei sehr wichtige peripher- im- pressive Wege, die die Entwickolung der Sprache einleiten : der AVeL' durchs Gehör und der durch das Auge. Der (lehörsweg . ist der weitaus wichtigste, aber auch der optische Weg wird von

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iu AUiandlmigMi.

jedem noimalen Kinde mehr oder weniger gut benutzt, und es werden demnach nicht nur Lantfolgen dem Gedfichtnisee einveileibt» sondern ancfa die Bewegimgseiseheinungen der Sprache. FreUich treten letztere ep&ter sehr zurütck. Dafe die Erinnerongen an diese Bewegungsfolgen aber wirklich auch in uns noch Yorhanden sind, geht ans der bekannten Tbatsache henror, dafe wir das Auge nun besseren Verstehen des Gesprochenen stets benntaen. Wir sehen den Bedner an und edeichteni uns dadurch das Yerstftndnis seiner Worte. Terstehen wir einen Sfinger oder einen Schauspifiler nicht genügend, so nähern wir uns sein Gesicht durdi das Opem^as, und fast mit einem Schlage ist das Yerstfindnis vermittelt Das beweist unsere Fttiigkeit, Spracfabewegungen richtig an deuten. Sowohl die Gehörs- wie die Gesichtseindradfe werden nun, um aunftchst das rein mechanisohe Nachahmen der Sprache in Betracht zu ziehen, mit den BewegongsTorstellimgen in Yeibindung gebracht, und wenn dies geschieht» so ahmt das Sind die Toigesprocfaenen Laut- und Silben- folgen rein mechanisch nach. Dafo zu dieser Sprachbewegung not- wendig gleichzeitig eine peripher-impressive Kenntlichmachung der Bewegungen kommen mufe, die teils durch das Muskelgefühl, teils durch die Berührungen der einzelnen ArtUnilationsteiie yennittelt wird, ist nach dem vorher Auseinandergesetzten wohl klar. In der Thai mufs die Sprache bei tiefgehender Anästhesie der Artikiilations- wo^zeuge wesentlich gestört sein, denn der eigentliche Kontrolleur unserer Sprache ist nicht etwa das Gehör, sondern das Gefühl. Wäre das Gehör allein der Kontrolleur der Sprache, so kftme die Kontrolle ja stets zu spät; sie würde erst eintreten, nachdem wir gesprochen haben und nun das Produkt des Sprachvoi^anges vomehmon. Eine Kontrollo während des Sprechens selbst kann nur vor sich gehen durch ]Muskel- und Berülirunf^sgefühi. Auf diese Weise haben wir es mit drei peripher- impressiren Wegen der Sprache zu thun. Der dritte, der Ctefühlsweg der Sprache, wird sich in seinem Verlaufe im wesentlichen mit don poripber-expressiven Bahnen decken.

Damit haben wir nur die muchamsche Seite des Sprechvorgangs ins Auge gefafst Das Kind lernt aber sohr bald mit den gehörten Sübenfolgen Sinn verbinden, und scm perzepiorisches Sprach centrum ist bereits am Ende des ersten Jahres ziemlich weit ausgebildet; es versteht eine Menge Worte, ohne dafs es sie spontan zu sprechen oder nachzusprechen vermag. Je nach seiner persönlichen Erfahrung werden sich die TeilvorüteUungen, die jeden einzelnen Wortbegriff ausmachen, verschieden grofs gestalten. Das Kind wird optische, akustische, taktilCi gustatorische, olfaktorische u. s. w. iimdrucke und

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OüTZiuiQi: Die Spraobentwickelong des Kiades und ilue Hemmangen. 205

Vorstellungen mit den gehörton Silbenfolgen verbinden lernen. Die Siimrae dieser einzelnen Teilvorstellimgen macht dann den Begriff des mit dem Wort hpzpi ebneten Ge^rens^tandes für das Kind aus. Es ist klar, dafs fliese ßopriffe anfänglich nur aus wenig Teilvorstelhvnfjon zusanimenp^esotzt sein werden. So kann das Wort „Glocke" in dem Kinde vielleicht aniimgs nur die akustifiche Teüvoistellung des

Fig. 6. a und o baeichnen dis p«ripher-iinprc«siven Wcgo der Sprache. Acast und Opt. die trr«»**'**" CoDtm, M <U« motoritcb» C«otnuB, toq dam ana die poliphfir-expratair on BAhnen n lllaraBft SUamt nd iidhabllo« Inta. Ta^Uth iMdtat ist <B«Mtt BritaM «Mh periphar-u&pmrifi» ^■agmunm. Die «bmo Htlam KiriM liiwinliiiwi dl» TBlTnwlaHMifiM Bijrifffc

GlockenManges hervorrufen. Je älter das Kind wird, je mehr Er- fahrungen es sammelt, einen desto gröiseren Inhalt wird der einzelne Begriff bekommen.

Bs ist nun sehr bemerkenswert, dafs die Bahnen Ton dem Ferzeptionseentrnm der Sprache sn den einseinen TeilTorstellnngen der Begriffe weit leichter erregt werden als umgekehrt der Wortklang oder später die Wort-

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A* Abihtiidliiiiftein.

bewegungsvorstellung von jenen Teil vorr<tollungen aus. Ähnliches ist auch noch bei uns der Fall. Weun ich das Wort »Pferd« höre, so wird fast notwondiir das Bild eines Pferdes in meiner Vorstellung auitaucheu; umgekehrt aber kaim ich sehr wohl ein Pferd vorbeilanfen sehen, ohne dafs notwendijs: gleich mit dieser ' ' Erscheinung der Wortklang oder die Wortbeweg ungsvorstellung in mir lebhaft erwacht Sie sehen demnach, dafs die Bahnen von dem Peraeptionflcentnim der Sprache zu den einzelnen TeilTorst^mtgoi der Begriffe weit st&rker, yalenter sind, als die Bahnen von den TeÜTorstellimgen aas am dem genannten Centnim (StOkrino).

Ich erwähnte yorhin, dafs das Peizeptionseentnim der Sprache bei dem Emde schon relativ früh eine sehr weite Ausbildung er- fahren hat» und in der lliat wflide ich es für recht verdienstlich halten, bei kleinen Kindern den üm&ng des Sprachverständnisses, beispielsweise am Schlu& des eisten Lebensjahres, feetsnsteUen. Bisher bezogen sich derartige FeststeUimgen immer nur auf den Sprachschata, das heilst auf diejenigen Worte, die das Kind auch an- wendete. Dafs aber der perzeptorische Sprachschats den willkfiiÜch zur Verfügung stehenden weit übertrifft und ihm in der Entwicke- long weit voraus eilt, unterliegt gar keinem Zweifel. Ja es können in dieser Beziehung Mifsverfailtnisse eintreten, die sich in einem aulserordentlidi weiten Ausbau des perzeptorischen Sprachschatzes und in einem absoluten Fehlen der Spontansprache darstellen* Der> artiges zeigt sich bei der spater noch näher zu erörternden Hör- stummheit.

W.eiin wir nun im Än^^chJais an dieses eben besprochene Schema der Sprachentwickelung die Hemmungen unserer Betrachtung unter- ziehen, so werden wir zunächst auf die Hemmungen der peri- pher-impressiven Woge einzugehen haben.

Das Gehör des neugeborenen Kindes bildet sich erst alimählich aus. Die Laute werden von den Kindern oft unvoUtommen gehört, nian<roIhaft von einander differenziert, und erst alhnählich lernt das Kind mit Aufmerksamkeit hören, das heifst horchen. Wenn die peripher-impressive Bahn durch das Ohr gestört ist, wenn das Kind also sehr schwerhörig oder gar taub ist, so bleibt gleich wnlü die Sehreiperiode des Kindes in genau dersolhcnj Weise erhalten, wie bei dem nornialhorenden Kinde. Aber schon bei der zweiten, der Lallperiode, maeiit sich ein bedeutender T'nterselüed treltend. Di<^ TiUSt, das Vergnügen, welches das noinude Kiiul an seinom Lailun empfindet, sind bei dem rauhen Kinde auf die Bewegungs- und Be- rubrungsgefühle beschränkt Daher zeigt sich zwar bei sehr leb-

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GuTZHAmr: Die Spnuhentwioketiuig des Kindes und ihre Henunangeii. 207

haften, von Geburt an tanben Eindeni eine ebenso deutliche Lall- periode wie bei den normalen Kindern; bei der ^fsten Mehrzahl der taubgeborenen Kinder jedoch ist diese Periode äuTserst ein- geschränkt, ja, sie wird häufig von den Eltern vemiifsL Bei leb- haften und sonst gut begabten tauben Kindern kommt es manchmal sogar zur dritten Periode der Sprach entMrickelung: zur willkürlichen Xachahmun*:, und zwar allein auf Grund der optischen Eindrücke der Sprache. Derartige Fälle, wo Kinder ein&che Lautfolgen wie Papa, Kama, Ball Wauwau. Baum u. s. w. trotz nachgewiesener absoluter an- geborener Taubluit nachahmen lernten, ja sogar später spontan sprachen, sind von Hill berichtet worden, und ich selbst habe zwei derartige Fälle in meiner Praxis gesehen. Natürlich werden sich diese Worte nur auf die beiden ersten Artikulationsgebiete beschränken, weil nur diese dem Auge des beobachtenden Kindes genügend zugänglich sind.

Sic sehen aus dieser Darstellung, wie bei dem tauben oder schworliörifron Kinde Aii<:;e und Gofühl kompensatorisch ein- treten. Allgeborene Taublieit führt demnach nicht notgedrunpMi zur völlip^en Tauhstummiieit, sondern läfst immerliin noch aller- diügs in seltenen Fällen eine heeri'enzte Entwickolung der Sprache zu. Naturgeraäfs ist bei manchen Fürnieu und (Iraden 8chA\pi hörig- keit eine geeignete Ühnnpr des Gehörs dringend iuizuempfehlen.

Ist der zweite peripher -impressive Weg, der durch da«? Auge, gestört, handelt es sich al>!0 um ein blindgeborenes Kind, so ist häufig bereits von erfahrenen Blindenlehrern darauf hincrewiespn worden, dafs solche Kinder unter sonst p:lcichen Verhältnissen später sprechen hörnen als hörende. Pei*Sünjich habe ich darüber keine Er- fahrung'. Bei der Wiciitigkeit, die das Auct'^ bei der Erlernunir der Sprache besitzt, zweifle ich an der Richtigkeit dieser Beobachtung nicht.

Endlich wäre denkbar eine Störung des dritttMi peripher-impres- siven Weges, die in dem Verlust sämtlicher Formen der Sensibilität gedacht werden könnte. Xatursremärs wäre dann eine spracldiche Entwickelung ausgeschlossen. Derartige Fälle sind meines Wissens noch nicht beobachtet worden.

Änfeerst schwer \vir(i bereits die Störung, wenn zwei periplier- impressive Bahnen ireiiemmt sind, wenn es sich also um Kinder handelt, die taub und blind zu gleicher Zeit sind. Sind derartige Kinder jedoch sonst geistig normal, so vennag selbst mit dem dritten noch übrig gebliebenen peripher-irapressiven Wege die Sprache völlig aufgebaut zu werden, ja einzelne dieser taubstiunmen Blinden haben Weltberühmtheit erlangt, so die Laura Bridgeman und in neuerer

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A. AUundlongeik.

Zeit Hellen Keller. Bei jEfutbegabten taiibstiuimi - l)linden Kindern zeigt sich auch (üo Lidipenode ebenso deutlich wie bei den gut- begabten von Geburt an nur tauben Kindern, und es ist berichtet worden, dafs derartig Taubstunini-Blinde mit einem wahren Vergnügen in spontanen LaUübungen sieb ergingen.

Die irühe Erkemiimg dieser Sümesaosffille ist au&er- ordenftieh scbwieng, besonden dt sehr viele senscnisclie Störnngeii in der Spiechentwickelimg Torkommen, die ab und m za jB^ebldiagnoeen direkt henniafoidenL Es kaim voikonimen, dab Kinder ▼QUig nor- mal hören und doch anf Anrufen und Ansprechen durchaus nicht reagieren. Gans besonders ist dies oft der Fall, wenn die Anfmezk' saxDkeit des Emdes durch iigend etwas abgelenkt ist Derartige Kinder können dann den fiindrack absduter Taubheit henrorrofen und hören gleichwohl normal Natflriich ist die Diagnose desto schwieriger, je jünger das Sind ist Idk selbst halbe aber eine eik]a> tante Fehldiagnose nodi bei einem TidjShrigen Müdchen edebt Das Kind wurde nach ausfUhriichster und genauester Untenuchung seitens eines unserer ersten Ohreniizte für taubstumm erklürt und fing ein halbes Jahr darauf spontan su sprechen an.

Während die Hemmungen der pezipher-impressiTen Wege der Sprache sich in Kürae darstellen liefsen, sind die Hemmungen der zentralen Proze^^so weit zahlreicher und mannigfaltiger. Zunfichst wird der Einflufs der peripher-impressiven Bahnen durch mangelnde Aufmerksamkeit auTserordentÜch herabgemindert Un- aufmerksame, leicht ablenkbare Kinder gelangen nur schwer lum Beobachten und Horchen.

Sehr natürlich ist die Hemmung bei angeborenen intellektuellen Psychosen: bei der Idiotie, beim Kretinismus, bei den zahlreichen Formen der psychopathischen Minderwertigkeit Aber auch bei sonst guter Beanla^ung können partielle Mängel des zentr<ilen Teües der Sprache schwere Hemmungen verursachen. Dahin gehören die an und lilr sich wohl seltenen Falle, in denen da-^ ^ousorische Sprach- centrum trotz guten Gehöres nicht zur Entwickeluntr kommt. Diese Kinder werden für gewöhnlich als taubstunmi angesehen. ScffwicsDT hat zwei liierher gehörig-o FäUe beschrieben, bei denen sich durch genaue Prüfung ein voUl; luimenes Gchör\*crmöpen herausstellte, die jedoch nicht im stände waren. Konsonanten, Silben- oder Wort- folgen mit dem Gehör aufzufassen. Eine solche sensorische Stummheit habe ich selbst noch nicht gesehen, ein Heilmittel für diese Fälle würde, ebfusn wie bei den taubstummen Kindern, die kompeiibatorische Benutzung des Gesichts und Gefülüs bilden müs*ieu.

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GvuMAXs: Die Spraohentwickelong des Kindes und üae Hemmungen. 209

Diesen seltenen Mllen gegenüber stehen die aufserordentlich zahlreichen, bei denen das akustische Centrum der Sprache sich recht gut entwickelt, wo es aber trotzdem nicht zur Entwickelung des motorischen Teiles der Sprache kommt. Das sind diejenigen Hemmimiren, die wir als Hörstummheit, Audi-Mutitas, ftiigom^in bezeichnen.

Wohl am häufigsten liegen rein psychische Hemmungen zu Grunde. Forscht man über die Sprachenti>¥ickelung des Kindes näher nach, so wird oft berichtet, dafs das Kind in frühester Zeit versucht hat. nachzusprechen, dafs es dann aber diesen Veiuuch aufgegeben hat ^'icht allzu selten sind es ganz intelligente Kinder, die der- artige seltsame Entwickelunfrshenimunpen zei^ren. Das Kind fühlt offenbar, dafs sein Xaehsprcehen nicht die Yollenduiig des Vorbildes erreicht. Es stellt sich ein ünlustgef ühl ein, und das Kind giebt den Versuch, nachdem es ihn mehrere Male vergebens wiederholt hat, auf. Diese Erklärung ist nicht etwa nur von theoretischem "Werte, sondern ich habe mich mehrfach in der Praxis von dem Vcnliandensein dieser Art der Hemmung über- zeugen können. Ja, wir können sogar noch diese psychischen Hem- mungen plötzlich eintreten sehen, nachdem die gesamte Sprache be- reits entwickelt und aufgebaut ist, einzig und allein aus der Ursache heraus, dafs das Kind sich irgend eines schweren Aussprachc- fehlers iu unangenehmer Weise hewufst wird und nun aus Furcht, sich lächerlich zu riiachen, das Sprechen aufgiebt Einen derartigen Fall habe ich zusammen mit dem verstorbenen S. GüTTMANN und dem Ohrenarzt Scuwabach behandelt. Der 7jährigo Knabe hatte einen sehr unangenehniiii Fehler in der Aussprache des s: er machte an SteUc des zischenden Geräusches durch den Mund ein nasales Schnarchen. (Sigmatismus nasaHs.) Das Kind war bis dahin wesentlich allein erzogen worden, war nicht zur Schule geschickt worden nnd kam nun plötzlich in eine grö&ero ffindergesellschaft. Die dort anwesenden Altersgenossen hatten sofort den Fehler des Knaben eilafet, spotteten ihm nach, nnd das Kind kam weinend nach Hause nnd gab jeden Sprechversndi von Stund an auf. Erst als es sich nach mehrtägigen Übungen überzeugt hatte, dafs es die richtige Aussprache des s erlernen könne, fing es wieder an zu sprechen.

In ähnlicher Weise können rein psychische Hemmtmgen von der Peripherie her ausgelöst werden, so besonders bei angeborenen Gaumenspalten. Ich habe längere Zeit hindurch ein Kind in Be-

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A. Abhandlungen.

handlung gehabt, das an einer angeborenen Gaumcii^paltr» operiert war und trotz <ler den Verhältnissen naeh gut gelungenen Operation nicht znm Nachahmen zu bewegen war. Sowie das 7jährige ^lädchen einige Silben naclizuspreehen versucht hatte, weigerte es sicli, weiter naclizusprecben, gauz offenbar dazu veraiüafst durch da? Gefühl, dal?» sein Spreciiprodukt nicht richtig war. Erst durch kleine Hilfs- mittel das Nacli^prechen erleichtert und deutlu lier wurde, fing clas Kind an, die Nachspreeliubimgen willig; zu machen.

Das Cdeichc habe ich öfter beobachtet Während ich den Vor- trag nochmals durchlese, wird mir gerade wieder ein ähnliches Kind von 0 Jahren, das trotz voller Intelligenz nur wegen des Spaltes stumm geblieben ist. vorgeführt.

Wenn Sie einen Blick auf unser Schema werfen, so ist die Balm des medianischen Nachsprechens einfach die vom akustischen Cen- tram direkt zur motx)rischen Region führende. Wenn der Kinflnfe des akustischen Centroms auf das motorische Spiaohoentmm auJseF- ordentlkdi ataik ist, wonn gleichsam ein gewisser eriiöhter Reis toh jenem Centnun aus auf die motorischen Bahnen ausgeübt wird, so kommt es xa der Erscheinung der Bchoialie. Die Echolalie findet sich aufseroidentlich häufig in der normalen Sprachentwicke- lung des Kindes, aber doch immer nur sehr rorübergehend, kann dagegen bei schwachsinnigen und idiotischen Xindem als dauerndes Sprachhemmungssymptom bleiben. Auch bei Kindern, die sehr früh Stottern erwerben, habe ich mehilikch Eichosprache voigefunden, ja ich begegnete ihr sogar bei Kindern, die im ttbrigen nahezu zu den stummen zu rechnen waren. Erst kürzlich hatte ich ein kleines Mädchen von 7V> Jahren in Behandlung, das aulberordentUch geistig zurückgeblieben war und nur in abgebrochenen und &n&erst unrer- stSndlichen einzelnen Worten sprach. Bagogon wiederholte es die letzten zwei bis drei Silben voigesprochener Worte und Säize^ selbst wenn schwierige Lautfolgen darin Torkamen, sehr genau und klar.

Zur Erklärung der Hdrstummlieit genügen die Torfaer erwähnten psychischen Hemmungen allein jedoch nicht, denn e<^ giebt doDie grofse Anzahl von Fällen, bei denen von derartigen Hemmungen nicht die Kede sein kann. Hier wird es nun gut sein, dafs be- sonders der Arzt nach anderen hemmenden Beizen sucht Zu diesen hemmenden Reizen, die nicht selten Hörstummheit verursachen, ge- hören besonders die adenoiden Vegetationen im Nasenrachen- raum. Die Ljmphgcfäfse des Bachens und die der Gehirnbasis stehen in enger Verbindung miteinander, besonders bei Kindern, und man

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Odtzsukx: Die Sprachentwiokelung den Eindes und üire Hemmungen. 211

darf Wühl annehmen, dafs mit den adonnidon Yoe^otatioTn ]i oine Art von Lyraphstauung verbunden ist. Viele eiiiwandlreui Ik'obaeiiter und auch ich selbst haben mehrfacli pesehen, dafs nach H e raus nah nio adenoider Vegetationen in geradezu überraschender Weise die spontane Entwickei u n|x der bei fünf- und sechsjährigen Kuulern noch gehemmten Sprache eingeleitet wurde. Unter hüi-stiuiimen Kindern finden wir fS3 Prozent mit hochgradigen ade- noiden Vegetationeu. Die eben an«iri(iin len direkten Einwirkungen der Entfernunfx <lcr Gescinviilst sind dieser Zalü gegenüber immerhin nur selten zu kunstatioren. Dagegen scheint die niit der Operation eintretende Beseitigung der sonstigen Störungen, besondei-s der grofsen Zerstreutheit der Kinder, eine wichtige Vorbereitung für die leichte Entwickelung der Sprache abzugeben. Wo wir also bei hör- stommen Kindern hochgradige adenoide Tegetatiouen antreffen, wttrde ich stets die Entfemimg dieser Geschwülste Toisdilagen.

Auch entferntere Reize Ton anderen £6rperregionen können Hemmungen ansähen. So können sie durch fehlerhafte Diftt entstehen.^) Ganz auffoJlend sind die Beobachtungen, die von je her in Bezug auf den Beiz, den Würmer vom Dann aus ausübten gemacht wurden. Ich selbst habe einen derartigen Fall beobachtet^ wo durch die Wurmknmkheit die Sprachentwickelung gehemmt wurde und nach Bntfemnng des hemmenden Beizes fast sofort wieder einsetzte. Einschlägige lÜÜle sind von dem berühmten Kinder- arzt Hbnogb, ferner von LtGarsKsniM und vielen anderen EUnikem mitgeteilt wenden.

WShrend die Abhilfe bei den letzterwähnten FBllen leicht ist, können die Hemmungen rein psychischer Art oft nur schwer überwunden werden; sie werden aber in derselben Weise Über- wunden wie die Stiumnheit tauber Einder unter ganz besonderer Bevorzugung der optischen und taktilen Wege. Meines Er- achtens sollten deshalb hörstumme Kinder, die sonst normale Intelli- genz haben, ruhig in Taubstummenanstalten unteigebracht werden. Sie würden auf dem Wege der Artikulationsübangen ohne Schwierig- keiten in vielleicht einem Jahre die Sprache erwerben und könnten dann die normale Schulentwickelong durchmachen.

Während die bisherigen Hemmungen gleichsam zur Lähmung des motorischen Teiles der Sprache fttlirten, können genau die

*) AaafQhilidies habe ich hierahw beriöbfet in der Zeitschr. f. ph3rsUc. Therapio Ton Letden und Ooldscheider: »Über die diätetische Bebandlong noivöser Spiaoh« Btänu^an« and auf der Netaitoiloher-VeiiHiininInng ni Hambuig 1901.

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gleichen Reize auch zu spastischen Erscheinungen Ver- anlassung geben. Wenn wir hier gleich an die Beize, die von Wümem ausgehen bjQiuieii, aoJmüpfen, so hat Boissm dk Sahyaos einen Faü mitgeteilt yon einem Knaben, der durch Spulwfimer stnmm geworden war. Nachdem 36 Wfinner abgegangen waren, kehrte die Sprache aorück^ jedoch stotterte er noch beim Koneonanten h. Per^here Beize können demnach aoch zu spastiBchen Encheiinnngeii der motoiischen Spiachregion Yeianlaesung geben, ebenso aber aneh centrale Beiae. Besonders das eigenartige Mifsyerhältnis, das bei allen Kindern zwischen dem Perzeptionscentriim und dem motorischen in der Sprach entwickelang besteht, inso- fern das erstere bei weitem in seiner Aasbildung dem letzteren Toraneilt, bedeatet einen derartigen BeiZb Je stBi^er dieses Mi&verhiatnis nlimüch wird, desto leichter kann es zun Wiederholen der Anfangssilben spontan gesprochener Wörter kommen, und aus diesem Wiederholen kann ein Stocken und schliels- lich ein Stottern werden.

Femer haben viele Kinder die Neigung, besonders diejenigen Vorbilder nacfaznahmen, welche Fehler an sich tragen. Wir wissen 4a& Stottern auTserordentlich häufig von Eltern auf Kinder über- tragen wird. Dabei braucht die Erblichkeit durchaus keine Bolle zu spielen, denn wir wissen ebenso, dafs beispielsweise Ton sechs Kindern einer Familie, wo Vater und Jiutter stottert, nur zwei Stotterer geworden sind. £s zeigen aber viele Kinder ganz besondeis die Neigong^ solche Binge nachzuraachen, die ans dem gewöhnlichen Niveau heraustreten. So winl Sclüelen, fehlerhafter hinkender Gang und derartiges leicht nficligoahmt, ja manchmal so leicht, dafs man fast von einer psychischen Ansteckung reden könnte. Es gehört aber zur Aneip^nung einer derarti^jen fehlerhaften Bewe- gung doch immer eine Art angeborener Minderwertigkeit, denn sonst müfste es noch weit mehr stotternde Kinder geben, als es ohnehin schon giebt. TTelcber Air nun diese Minderwertigkeit ist, wollen wir nicht in aüen Kiiizf Ilu iten unter- suchen, da \ins dies zu weit führen würde. Fs genüge die Be- merkung, dafs wir hei "^totteriidtMi Kindern stets neuropathische Be- lastungen nachweisen können. Die neuropathische Belastung bildet gleiclisiim eine Prädisposition zur Erwerbung des Übels, und so kann es kommen, dais von 6 Kindern 4, weil sie kräftig, körper- lich und geistig gesund sind, nicht stottern werden, 2 dagegen das Übel annehmen.

Solche l^rädispositionen zur Nachahmung von Fehlern

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Gitzmann: Die Spraolientwickelang des Kindes und ihre Hemmungen. 213

tonnen auch peripherer Art sein. Es ^lebt einen selir unango- nelimen Aussprachefehler des s, wobei clieser Lant aus oinoni '^^un<^- i^inliel herausgezischt wird, das sogenannte 8eitwärtslispeiii. üut er- sucht man aDe Fälle, so findet man in über 92 Prozent, dafs gewisse Verbipg;ungpn der Kiefer uud dadurch bedingte fehlerhafte Zahlstellen offenbai' eine Frädisposition abgeben. Derartige Anomalien findet man aber viel häufiger als den eben erwähnten Fehler. Des- wegen stehen diese An<iniaLieii zu dem Fehler nicht in einem direkten Kausalitätsverhai tiii>, sondern sie bilden nur die Prädis- positiou zur Erwerbung der fehlerhaften Aussprache. Dies winl besonders an einem praktischen Fall klar werden. Mir wnirden aus einer Fauulie 4 kleine ^lädehen zugeführt, die sämtlich das s aus dem rechten ^lundwiiikel heixorzi-schten. Auf die Frage nacii der Entstehung des Stanmielns ward mir die Mitteiluiii^; dafs das älteste Kind den Fehler von der Kinderfrau übernommen habe, die nach- folgenden Kinder von ihrem ältesten Schwesterchen. Die Unter- sachimg zeigte, dftb hei sämtlichen Kindern sich an der rechten Seite des Gaumens Zahnanomalien der geschilderten Art yrafanden. Die gleichen fanden sich aber auch bei den Eltem und Qro&^tem der Kinder. Trotsdem sprachen Eltern wie Grofeeltem noimaL Es hatte ihnen in der Jngend offenbar die Gelegenheit gefehlt^ diesen Fehler dnieh Kachahmung za erwerben; prädisponiert dazu waren sie ebenso wie die Kleinen.

Eine paa eigentOmliche partielle Hemmung beobachtete ich in einigen EMen Ton sehr frühem Stottem. Es seigte sich, da& die Kinder duzeh irgend einen Zufall herausbekonmien hatten, dafs sie flüsternd ohne Spasmen sprechen konnten. Infolgedessen hatten sie sich gewöhnt» alle an sie gerichteten Fragen flüsternd zu beantworten, alle ihre Wünsche und Mitteilungen flüsternd zu machen, die Stimme demnach TÖUig auszuschalten. In einem Fall war diese Eigenart bis zum Erwaidisensein des betreffenden Indi- viduums geblieben. Es handelte sich um einen Soldaten emes der Berliner Garderegimenter, der ganz auTser stände war, anders als flüsternd zu sprechen. Selbst beim Flüstern aber stotterte er noch deutlich. Bei jedem Versuch zum lauten Sprechen geriet er in die stärksten Spasmen. Sein Kehlkopf zeigte aufser einer deutiitdien Atrophie der Stimmbänder keinerlei besondere Verfinderungen, und da der Gedanke an Simulation natürlich nalie lag, so wandte ich mich direkt an die Schulbehörde seines Heimatsbezirkes. Durch die gütige Vermittelung des Herrn Dr. Boodstkim in Elberfeld ward mir die Mitteilung, dafs der Betreffende ron Jugend auf nie anders

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A. AWwn<llnnBML

als flQsternd gesprochen habe. £s mag nebenbei erwShnt sein, dafe er die laute Sprache erlernt hat

Diese FüUe sind deswegen so interessant wefl sie seigen, dab eine zufällige Erfahrung des Kindes, die ihm den sprach* liehen Vorgang erleichtert, zu partieller Sprachhemmung führen kann.

Bei sllen diesen hemmenden Beizen ist die einzige M5g^chkeit einer guten Beeinflussung während der Sprachentwickelung des Kindes das normale, gute sprachliche Torbild. Welchen greisen Ein- fiufs schon die Alten diesem guten Vorbilde belma&en, geht aus den Werken Onnmum hervor, worin er empfiehlt, dem Knaben, der später ein guter Bedner weiden solle, nur eine tadellos sprechende Amme zu geben. Bei zu schnellem, überhastetem Abkraf der Sprach- bewegung, die zum Stottern fOhrt, ist frühzeitiges langsames Vor- sprechen das einzige, aber sichere Mittel, ein entstehendes Übel im Keime zu unterdrücken.

Endlich giebt es auch angeborene Hemmungen des moto- rischen Centrums. Sie sind im wesentlichen gleich zu setzen mit der aUgemeinen Unlust des Kindes an der Bewegung. Solche Kinder lernen spät laufen und spät sprechen. Die Unlust an der Bew^iimg^ an der Na4:;hahmung ist oft ererbt, und ich habe in meiner gro&en Clientol häufiger Gelegenheit habt, diese ererbte Bewegungsunlust in Familien zu verfolgen. In diesen Fällen bleibt auch die Un- geschicklichkeit und Schwerfälligkeit im Isachahmen aufserordentlich lange erhalten, so dafs die Kinder noch mit 5 und 6 Jahren falsch aussprechen. Auch hier besteht die einzige wirksame Abhilfe in fortwährendem A^orsprechen, möglichst mit lienutzun^ der optischen und taktiien Bahnen, femer daiin, dafs man nach Mög- lichkeit die Lust an der Bewegung durch geeignete Spiele, Afusik- instrmnente und ähnliche Dinge zu envecken sucht Ausfuiulich habe ich ein derartiges Terfahren bereits vor 8 Jahren in meinem kleinen Biiclilein iiber des Kindes Spi'aclie und Sprachfehler« ^) dar- gestellt. Ich (laii wohl auf die damaligen Auslassungen verweisen.

Die Hemmungen endlich der peripher-exprebsi ven Wego zeigen sich zwar auch in der Atmung und dem Stimmorgan, be- sonders bei langbestehenden Krankheiten des frühesten Alters, jedoch treten sie gegenüber der ailgemeiuen (iefiihnlung durchaus in den Hintergrund. Nur darauf mag auimerksum gemacht sein, dafs längere Zeit bestehender Keuchhusten die Sprachentwickelung sehr erheblich

') Leipzig 1894 bei J. J. Weber.

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Gumuiai: Die SpnolieDtwiMiuig des ffindee imd ihre Hemorangeii. 215

beemtrficfatigen kann. Am hiufigston finden wir die Hemmnngen in den Feblem der ArtOralationawerksenge. So geben die Ganmeneegel- BjMdten und Liihmungen sdiwete Hemmungen, deren psychiecien TBiwflwfa auf die Idndlicbe Sprachentwickelnng ich bezeitB erwähnt habe. Auch die adenoiden Vegetationen des Rachens wizken nicht nnr in der Torher besprochenen Weise als hemmender Beiz, sondern auch als mechanische Hemmung. IMe fehlerhaften IVirmationen des harten Gaumens, fehlerhafte Zahnstellungen u.s.w. prfidiaponieren zu fehlerhafter Aussprache^ Schlaffheit der Zungenbewegungen, be- sonders die schlaft heraushängende Zunge, bei der lange Zeit kein k gebildet werden kann, hemmen selbst bei gro&er Spreehlust des Kindes und bei sonstiger guter Entwickelung desselben die Sprach- entwickelung sehr wesentlicfa. Dagegen ist das verkürzte Zungenb&ndchen oder die angewachsene Zunge sehr selten ein Hemmnis der Spraohentwickelung, und ich halte es für einen groJSien TJnfog, wenn das Zungenlösen, wie es in einigen Gegenden Deutschlands Gebrauch ist, fast so regelmäfsig Toigenommen wird wie das Impfen. Besonders die rohe Manier der Hebammen, mit dem Daumennagel das Zungcnbändchen zu durchrcifsen, fiihrt gerade sehr häufig dazu, dafs dio Zunge am Mundboden fest- wächst, weil auf diese Weise gro^ Wundflachcn gebildet werden. Unter den Tausenden von spracbgestörten Kindern, die ich im Laufe der Jahre in meinem Ambulatorium zu sphen und zu behandeln Gelegenheit hatte, bin ich nur Tielleicht 7- oder 8-mal in die Lage gesetzt wordep, das Zungenbändchen zu durchschneiden, weil die Zunge in ihren Bewegungen zu stark gehindert wurde. Der Grund für die ei-wühnte Unsitte des Zungenlösens liegt wohl darin, dafs Ton alters her Zunge und Sprache als synonyme Begriffe an- gesehen wurden. Seit den Zeiten des Aristoteles suchte man die Sprachfehler stets in Zungenfehlem, und daher finden wir noch bis zu (leu 40er Jahren des vori£ren Jahrhunderts immer wieder neue Methoden zur Heilung von Spraelifehlem durch Zungenoperationen anirorrphcn Wie wenig aber in Wirklichkeit die Zunge mit der Sprache zu timu liat, dafür will icli Ilinen nur als einen Beweis an- führen, dafs ein sehr instniktivo^ Buch von einem englischen Arzte, Twisr.KTON, geschrieben wnrdo mit dem Titel: The tongue not essen- tial to Speech: Die Zui.ui ni« lu wesentlich notwendig zum spreclieii.

Ebenso, wie mit (ien iiuieren Art ikiilations Werkzeugen verhält es sich mit den äufseren. Hasenscharteu, besonders doppelseitige, weiden vermöge der Rigidität der Lippenteiie hemmend auf die Spraohentwickelung einwirken.

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A. Abbandlangen.

Auch die Nasenhöhle ist von Bedeutimg für die normale Sprach-

cntAvickolung, da Na.sonyprengungpn sie in der Tliat hemmen können, und zwar nicht mir mechanisch, sondern auch dadurch, dafs; hemmende Reizo central wärts gesandt werden. So ist es pinz bekannt, dals stotternde Kinder, die durch Übungen sclion recht gut sprechen ge- lernt haben, durch einen plötzlich einsetzenden Schnupfen einen Rückfall in ihr altes Sprachü))el erleiden, ja, ich habe sogar nach- gewiesen, riais man diesen Rückfall durch Verstopfung der Nase künstlich hen'omifen und durch Beseitigung der Nasenveistopfimg wieder zum Yei'schwinden bringen kann.

Ich bin nunmehr, meine Herren, am Schlüsse meiner Ausfüh- rungen. Aus der überwältigenden Fülle des Stoffes, die durch das gewählte Tliema umfafst wird, habe ich durch Auswahl versucht Ilmen wenigstens einen Überblick über die Hemmungen der Sprach- entwickelung zu verschaffen. Sollte es mir gelungen sein, Ihnen durch meine Darstellung einige Anregung gegeben zu haben, so würde ich mit diesem Erfolg meines Vortlages zufrieden sein.

2. Über Kinderzeichiinngen.

Von A. J. Schreuder, Haag (Holland).

Zunächst möchte ich über die ersten Anfänge des kindlichen Zeichnens und sodann an der Hand von Beispielen über einige cha- rakteristische Ei-suheinungen beim freien Zeichnen während der Schulzeit sprechen.

I,

In der eisten Entwickelung dee Idndiidien Zeichnens sind drei Stadien zu beobaditen.

Das eiste iriid gekennzeichnet dnrdi zielloses Hin- nnd He^ kritzeln (Flg. ly Wann dieses »Zeichnen« anfilngt» ist im allgemeinen schwer zu bestimmen. Bbetxb meint, dab der Wille zu zeichnen oft im vierten Tierteljahr schon ausgesprochen ist Es ist fest immer eine Nachahmung der Eandbewegungen, welche das Kind beim Yor- malen gesehen hat In dem Lustgefühl des Kindes ist das Bewegung»- gefOhl Torherrachend. Doch ist zu bemerken, da& das Kind auch darüber l^ude empfindet, dafe es etwas schafft

Im zweiten Stadium sind die Zeichnmigen auch noch immer ein sinnloser Wiirwair, aber das Kind legt seinem Gekritzel eine Be- deutung hsL Diese Periode tritt ein mit dem heianwachsenden Ter-

A. J. ScHBBDDn: Über S^deneiobnoi^ii.

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Btfindnis für Bilder und Zeiohnimgen. Die Eiiider freuen sich sehr Aber das Zeichnen der Eltern und wollen immer das Wunder wieder- holt sehen, dafe ans der Spitze des Bleistiftes ein Fferd oder ein Mann entsteht^ imd sie foidem fortwährend 2n neuen Schöpfungen aul Nicht die fertige Zeichnung, sondern gerade das Zustande- kommen des Bildes interessiert das Kind. Dann hei&t es: »Nun Kiekie Kuh zeichnen!« und dem eigenen Oekntsel wird die Be- deutung einer Kuh beigelegt Und wenn man fragt: »Was zeichnest du jetzt?« so kommt ohne Zögern eine Antwort z. B.: »einen Affen.« Ton Ähnlichkeit ist jedoch keine Spur vorhanden.

Dies stimmt genau überein mit einer anderen Spielth&ti^eit des Emdes, wobei beliebige Qegenstfinde zu Dingen, Tieren und Menschen umgezaubert werden, ohne da& irgend welche Ähnlichkeit yorhanden ist Mein Töchterchen, als sie zwei Jahre und einen Monat alt war, liefe die Bauklötzchen trinken und alle Spielsachen schlafen. Tnsrosr* KANN berichtet von seinem Sohne, dab er im Alter von zwei Jahren mehrere abgeschnittene Stengel yon weil^em Kraut tot sich nahm und sie yerschiedene Personen yorstellen liefe, die sich besuchten.^)

Gleichwie hier die betreffenden OegenstSnde als körperliche Symbole genommen werden, so haben auf dieser Stufe des Zeidmens die eigenen Bleistiftprodukte die Bedeutung eines lini&ren Symbols, welches für die lebhalte, kindliche Phantasie die Torstellung der Kuh oder dee ASea genügend reprüsentiert Oder soll man annehmen, da& die SSeichnung des Kindes ein Symbol ist für das yon den Eltern entworfene Büd? Wahrscheinlich erscheint es mir, dafe dies der EUl ist Wie es aber auch sein mag, yon einer Art Abbildung ist yorlaufig noch keine Bede, es ist nur Symbol

Die dritte Periode umfafet die rohen Tersuche, wiridiche Ab- bildungen darzustellen.

Wie wird nun der erste Schritt auf diesem Wege gemacht? Der englische Kinderpsjchologe Sollt giebt Beispiele, dafo beim Kritzeln zufällig etwas herauskommt, welches durch eine entfernte Ähnlichkeit dem Kinde eine Idee einglebt »Ein kleiner Knabe spielte im Alter yon zwei Jahren und zwei Monaten eines Tages in dieser Weise und machte zuMig eine sich ringehide Linie, worauf er in erregter Preude ausrief: »Puff, puff!« d. i Bauch. Er zttchnete dann mehreie Bingel mit der mdimentfiren Absicht, zu zeigen, was

TizDKMAWN, Bcobachtunt^pn über die Eütwickelung der Seelen- f jlkhigkeiten bei JLiadern. Neu lieiausgegeben von Ufib, S. 37.

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A. AT)bandlucigpn.

er meinte.« ^) Auch bei meinem Töchterohen habe ieh dasselbe mehr- mals beobaditet In dem 278ten Honat zeichnete sie Figur 2. Ich fragte nichts, sie schaute das Gekritzel an und sagte: »Begenschirm.« Ein zweites Beispiel giebt Fignr 3. Ich fragte: »Was ist das?« Sie antwortete: »Ein Fisdbu« Ais ich fragte: »Wo ist der Kopf?« zeigte sie die ledite Seite.

Auch der in lügar 4 reproduzierten Zeichnong ist eine durch Ähnlichkeit emgegebene Idee beigelegt worden. Wie sie sehen, be- steht sie ans einer Anzahl von beinahe geraden Lönien, alle von oben nach unten gezogen, alle mit einem bestimmten An&ngs- pnnkt und nicht ineinander übergehend. Als ich fragte, was das seif sagte sie: »Bäume.« Auch hier kann schwerlich die Absicht vor- gelegen haben, Bäume zu zeichnen. Diese Zeichnung ist jedoch von den beiden vorigen wesentlich yerschieden dadurch, dafs hier ein ganz anderes Yeifahien Anwendung gefunden hat, als das ge- wöhnliche Hin- und Herbewegen des Stiftes. Hier liegt ein deut- licher Versuch vor, gerade Linien zu ziehen, und das Ein- führen eines neuen Fortschritts, abweichend von dem geläufigen, in der Hand pclogenon Illn- und IIcrbeweg"en. weist auf ein Streben lün, Formen zu schaffen. Hier gesellt sich zu dem Zufälligen bereits etwas Gewolltes.

Wie und wann treten nun die ersten Spuren von bewufstor, gelungener Wiedergabe auf? Der amerikanische Kinderpsjchrdoge Baldwin machte mit seinem Tochterchen vom 10. bis 26. Monat Zeichenversuche: er malte leichte Bildchen ans «lern AnscbauiingB- kreise des Kindes, und fand, dafs die Zeichnini^^fii des Kindes seineu Vorlagen niemals güchen. Wenn die Xachalimungen immer mifslaiifren, *zeigte sich stets, ,sagt Baldwin,' auf ihrem Gesicht ein Ausdruck von Unzufriedenheit Sie versteckte ihr Gesicht, nachdem sie die Zeiclinung; ^'emacht hatte, und reichte mir den Bleistift, indem sie sagte: ,Papa, mache du den Mann'. Es schien dies ein Gefühl anzuzeigen, dafs man von ihr etwas erwartete, das über ihre Lcistungsfähicrkeit hinausging.«') Also war bis zum 26. Monat noch keine Coordmation eingetreten zwischen Vorstellung und Uand- bewegun«?.

Bei meinem Töchterchen beobachtete ich deutliche Versuche zum Malen im 27. Monat »Nun eine Kuh«, sagte sie und fing an, einen

0 Sdilt, üntersuohnngen ftber die Kindheit Denlaohe Übexwtxang .

▼on Dr. Stimpfl, S. 312.

*) J. M. ß.u.DwiN, Die EntwiokeluDg des Geistes beim Kinde and bei der Raisse. Deutsch vou OiiiMA.vN, 8. 81 u. f.

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A. J. EkiHNiuum: Übar Kiid«näobiiiiDgen.

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Kreis zu zeichnen, langsam und soi^^fiiltifr, wie Sie an Fig:iir 5 (oben) sehen; doch ging sie albdann bald über zu dem gewöhnlichen Ge- kritzel.

Gleich darauf kündigte sie ein Männchen au und lieferte Fi^r 6. Sie fing wieder an mit einem mühsamen Versuch, einen Kreis zu bilden, in der Zeichnung et^va ein Drittel von oben, um dann wieder zu einem planlosen, schnellen Gekritzel überzugehen. »Nun eine Dame!« Bagte sie. Ich war sehr neugierig, su sehen, ob sicii dieses Tei&hren idederum einstellen wüide. Und wiiMofa madtta de wieder einen ziemlich gut gelungenen Kreis (siehe Figur 7). Dann griff ich ein und inagte: »Was ist das von der Dame?« Und sie antwortete: »Das Hütchen.« Dann fuhr sie welter fort^ um wieder mit einem Wiirwar zu schlielken.

Es scheint mir sicher, dafe wir es in diesen drei Zeichnungen mit einem primitiTen Yeisuch zum Abbilden zu thun haben. Jedesmal kündigte das Kind vorher genau an, was es malen wollte^ und jedes- mal fing es die Zeichnung genau so an, wie es dies von mir gesehen hatte, als ich die betreffenden Objekte yormalte^ nämlich mit einer kreisfönnigen Figur als Abbildung des Kopfes. Deutlich trat bei diesen Versuchen das Bingen ndt den technischen Schwierigkeiten zu Tige, wie man auch an den Zeichnungen sehen kann. Dies ist z. T. auch der Omnd dafttr, dab die Aufmei^samkeit und das ziel'* bewuTste Streben bei diesen eisten Versuchen jedesmal nur kurze Zeit dauert und bald übergeht zum alten Gekritzel, das nur Freude und keine Mühe macht

Preyxb behauptet dafs ein gewöhnliches Kind vor dem Knde des dritten Jahres nicht einmal eine annähernd kreisförmige, in sich zurücklaufende Linie zeichnen kann.*) Sully und andere meinen jedoch, dafs das Kind am Ende des dritten Jahres sich schon den gewöhnlichen Zeichenvorrat von geraden und krummen Linien, Kreisen, ESininden und Punkten erworben hat und sog^ Linien zu "Winkeln zusammenzufügen vermag.*) Auch nach den soeben vor- geführten Zeichnungen stellt der Anfang dieser dritten Periode sich viel früher ein, als Prehter behauptet.

Wir wollen jetzt die Entwickelunf^ in dieser Periode nieht weiter verfolf^en. Sie geht schnell und unaufhörlich weiter, wenn wenigstens die Eltern nicht durch Mangel an Kindervei*s>tandnis hemmend und störend dazwischen treten, und Regel ist, dafs ein Kind, wenn es zur Schule kommt, alles malen kann, was es will

>) Die Seele des Kindes, 4. kvßagß, B. 40. *) A. a. 0. 8. 313.

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A. AMiOTdlungen.

Ich möchte nur noch bemerken, dab man die drei geschilderten Perioden ebenso in der Spxachentwickelung Terfolgen kann. Ein Yeigleich zwischen dem Sprechenlemen und dem freien Zeichnenlemen bietet überhaupt verschiedene wichtige und interessante Parallelen, wotauf hier jedoch nur hingedeutet werden kann.^)

Zum 8<düuf8 dieses Abschnittes möchte ich die interessierton Eltern noch auf einen wichtigen Punkt aofineiksam machen. FQr die Untersuchung der Entwickelung dieses Zeichnens besteht greises Bedüifois an chronologisch geordneten Sammlungen von Zeichnungen von einem und demselben Kinde, versehen mit den notwendigen Mit- teilungen. Eine ausführliche Sammlung dieser Art findet man in der von einer amerikanischen Dame, ICrs. Louise E. Hooan, über ihren Sohn veröffentlichten Biographie, A Study of a Child,*) worin über 500 Zeichnungen aus dem Alter von 2 bis 8 Jahren auf- genommcTi sind. Bh<>wn, ein kalifornischer Seniinardirektor, hat wert- volle Reihen von Zeichnungon voröffentlicht, an 4 Bjndem gewonnen,^ H. T. Lukens, ein anderer Amerikaner, der auch Mitglied dee hiesigen Pädagogischen Universitätsseminars war, hat eine Reihe von Zeich* nnngen veröffentlioht, nur die menschliche Figur betreffend und von einem kleinen Mädchen an (^fertigt, und 2war im Alter von 2 Jahren und 3 Monaten bis 4 Jahren und 8 Monaten.*)

Ich meine, dafs die Forschung des Kinderzeichnens in dem heutigen Stand ihrer Entwickelun;^ am meiston gefördert werden kann durch die Saramlunp: und Bearbeitung solclier Individnal- reihen, und zwar entweder alle Zeichnungen eines Kindes umfassend, oder mehr inofiofp'aphisch behandelt, z B. nur Menschen- oder Tier- oder Haus- oder Bauinformen u. s. w. Eltern, welche eine <ierartige Sammhing anlegen wollen, thun am besten, die Zeichnungen auszu- schneiden und in ein gewölmliches Schreibheft einzukleben und

*) Vei^leiclie hiorzn Dr. OrniMAifNS Vortrag über Sprachentwictclung in diesem Hefte, den Absclmitt ixhar »Entwiokeluog der Wortform« bei Ajiknt, Die EntwickeiuQg vun Sprechen und Denken beim Kinde, Leipzig 1899 and wuk FtoL Llotd Mossak, ftlMX' »the Oiowth of Longnage« in. the Paido- logist, Toi. HI, No. 2

T/Ml Ion and New York 1S9S, bei Ilarpcr 5: Brothers.

*J K. t. BuowN, Notes ou Chiidreus drawings. üniveraity of CalifonÜA Studies. Vol. 2, Nu. 1. Berkeley 1897, S. 70 u. L

*) The Pedag< gioal Seminary (Worowter, Mass.). Kr. 21. Audi

er eine kurze Beaobreibung dieaer Reihe in seinem Aufsatz »Eimige fie> merlranpeu über iiialeudes Zeichnen im frühen Eindesalterc , im 7. Hefte von Rkins Sammlung »Aus dum Pädaj?n gischen Universitäts-Seminar zu Jena«. Langensalza, Hermann Beyer & Öohne (Beyer k Mann), 1897, S. 153 u. 1

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A. J. Schreuder: Über EinderzeichDimgen.

221

zwRT SO, dafs sie leicht wieder herauszunehmen sind behuis späterer Reproduktion oder anderer Reihenanorrhiung. Auf jede Seite kommt nur eine Zeichnung, vorsehen mit Datum und Alter in Monaten oder "Wochen und mit Mirt( ilii:i^en über für die Deutung: der Zeiclmung wichtige Einzelheiten, Aulserungen des Kindes vor, bei und nach dem Zeichnen u. s. w. Ich kann die Vcrsichenmg geben, dals, wer sich die Mühe nehmen will, reich belohnt wird.

n.

Jetzt wollen wir einige wichtige Erschein im gou besprechen, welche zu beobachten sind beim freien, malenden Zeichnen während der Schulzeit, und zwar an der Hand von bestimmten Zeichnungen.

1. Minderwertigkeiten in Schulkinderzeichnungen. Figur 8 ist auf folgende Weise entstanden. In der Anfangsklasse meiner Sehlde eiaiUilte idi eine Geschichto tob zwei Knaben, welche in den Ferien einen Qnkel besuchen sollten nnd malte die Hianptmomente der Geschidite im kindlichen Stil an die TafeL Unter jedes BOd setzte ich eine passende Unteracfazift, den Fortschritten im Lesen ent- sprechend. Jedesmal zeichneten die Kinder in ihren Heften mit Blei- stift die Bilder nach und schrieben die ünteiscfarift dabei

Bas erste Bild gab die beiden Hauptpersonen irieder, Band in Hand auf dem Wege nach dem Bampfscfaiffe. Beide hatten ihren neuen Hut au^ und Luk, so hiefe der erste^ hat ein Paketchen mit Butteibrot als Beisevorrat in der Hand, etwa in der Weise von Figur 8a

Figur 8 giebt nun die Beprodnktion wieder, welche ein wenig begabter Knabe von diesem Bilde zeidmete.

An die Betrachtung dieser Zeichnung «nknüpCend, will ich drei Funkte kurz besprechen, a) das Yorkonunen des T^pus Kopf- Bump^ b) andere Ueikmale von Intelligenzschwfiche und c) die Über- einstimmung in Charakter zwischen Zeichnung und Schrift

a) Eb fiUlt sofort auf, dafe bei beiden Männchen kein TJnier- schied gemacht ist zwischen Kopf und Bumpf, beide sind zusammen- geschmolzen zu einem Kopfleib, der sowohl die Glieder trägt als auch die Augen, die Nase, den Mund und den Hut Also der Bumpf ist forttrrlassen.

Dieses Verfalnn ist eine typische Erscheinung bei jungen Kindern, welche anfangen, die menschliche Figur abzubilden, dann bei Wilden und bei schwachsinnigen Kinder, üs ist die mensch- liche Urgestalt in primitiven Zeichnungen: ein Kopf auf zwei Beinen. Selbstrerstündlich wei& der primitive Zeichner wohl.

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222

A. AbhwdliiiipML

dafs er auch noch einen Leib hat, aber auf dieser Stufe wird die menschliche FijGriir für ihn genügend reprlisentioi-t durch die zwei Kennzeichen: Kopf und Boinc. Später werden als neue Merkmale die Arnn\ Hiinde und Vn[sQ liinzugefü^'-t, der Kopf wird genauer behandelt, und inzwischen bleibt doch der uisprüngliche Typus Kopf mit Gliedern noch lange gehandhabt

Das ist verständlich, wenn man bedenkt, daüs für den drama- tischen Sinn des primitiven Zeichners der Leib vollständig inter- esselos ist) weil er nichts tiiu.^ nidits ansdrüokt, immer sich gleich- bleibt Die Woglassung des Rumpfes braucht denn auch keineswegs der ezpressiTen Wirkung zu schaden, wie z. B. Figur 9 sehr gut zeigt

Doch haben meistens die Einder, wenn sie in die Schule kommen, diese Stufe schon hinter sich und durch genaueres Beobachten und technische Fortscfaiitte hat sich die Differenzierung von Kopf und Rumpf bereits rollzogen. Im allgemeinen kann man dann auch sagen, da& das Yorkonmien des Typus Kopf-Rumpf bei Scfaulkindem hinwdst auf irgend eine Entwickelungshemmung, wie es bei der hier be^rochenen Zeichnung auch wirklicfa der Fall iat

Jedoch giebt es bei dieser allgemeinen Regel eine Ausnahma Auch bei scharfer Beobachtung und technischer Gewandtheit bleibt bisweflen eine Trennung von Kopf und Rumpf aus. Beiq^ele daron bieten der Fleischer aus Figur 10 und der Kutscher aus Figur 11. Hier ist diese Trennung als eine bedeutungslose Nebensache übersehen worden; da die Distinkttren des Kopfes alle oben angebracht sind, so ist doch die logische Trennung da. la dem Auftreten dieses Typus in schon so Tollendetcn Zeichnungen wie Figur 10 und 11 haben wir ein schlagendes Beispiel von dem von Süllt so wichtig betonten EinfluTs der Gewohnheit, wodurch Reminiscensen einer früheren Entwickelungsstofe nocli immer wieder auftauchen und sich als eine Art Anachronismen in die reiferen Zeichnungen hineinmischen.

b) Andere Merkmale von Intelligenzschw&che. Wenn wir noch einmal Figur 8 mit Figur 8a vergleichen, so fällt das Fehlen der rechten Hand mit dem für die Geschichte bedeutsamen Pakotchen mit Butterbrot auf. Dieses Weglassen von wichtigen Teilen weist hin auf einen eigentümlichen Intelligenzdefekt. Bei normalen Kindern treten die dramatisch wichtii::en Bestandteile immer in den Vordercrnmd. Von allen ."iO Kindern in dieser Klasse war unser Knabe der einzige, der das Faketchen nicht gezeichnet hatte. Dies ist charakteristisch für sein geistiges Benehmen. Wahr- nehmungen, Voisteiluugen, Keproduküon, alles ist unvollständig, lückenhaft

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A. J. ScBBiin»: ÜWr Eindeneiclimingeii.

223

Biese ^isohe AufsierksamkeitBschwäche frird auch gut iUnetnert in einer anderen Zeichnung desselben Kffih^) welche Sie in Figur 12 wiedergegeben finden. Das zweite Bild, welches ich bei der oben erwähnten Erzählong an die Tafel malte, stellt das Haus vor, wo der Onkel wohnte, etwa in der Weise von Elgur 12a, eine Fa<;ade mit einem Giebel, die Thür in der Mitte, swei Fenster daneben mit sechs Scheiben und oben noch ein Dachfenster; da snllten die beiden Helden der Geschichte schlafen. Nun scheu sio in Figur 12, wie der Junge dieses Haus nachgezeichnet hat Die beiden Fenster fehlen! Sie sehen also wieder, dafs eins der wichtigsten Bestandteile weg- gefailen ist^ der doch unbedingt zum Wesen eines Hauses gehört

Eine ganz andere Reibe von Merkmale für Intelligenzschwäche finden wir in Figur 13, welche eine Abbildung desselben Hauses dar- stellt, von einem anderen minderwertigen Knaben gezeichnet. Der be- deutendste Mangel ist das Fehlen des Umrisses, also des einfachsten und wirksiim^^ten Mittels um eine Totalvorstelliinp: wiederziiereben. Eine Totalvoi-stellung fehlt liier. Die Zeichnunf^ peht nur Bruch- stücke, die Pnrtinlvoi-stelliuigen sind nicht zu einem klaren, logischen Ganzen verbunden, der associntivo Aufbau der Vorstellung fehlt voll- ständig, Dafs die Thür sich nicht in der Mitte zwischen den beiden Fenstern befindet, ist auch von grolser Bedeutung, es weist hin auf eine Incohärenz der Vorstellungen. Und endlich mache ich Sie aiii- Dierksam auf das Dachfenster, das an und für j>ich richtig und auf die richtijrc Stolle gezeichnet ist aber in einen Kreis. Es ist klar, UaXs dieser Kreis eine Xacliahmung des Gieliels ist ohne jedoch als Giebel fredacht zu sein. Es ist nur ein stnpides Wiedei^eben der nicht verstandeneu Thatsuche, dafe in der Zeichnung an der Tafel das Dachfenster auch eingerahmt war.

Auch bei diesem Knaben liegen also Intellijxenzdefekte vor, welche jedoch von ganz anderer Art sind als die des ersten Knaben- Nun sind die beiden Zeichnungen aus Figui 12 und 13 gtiade deswetren so interessant, weil sie nicht allein den Zeichner als geistig niinderwertig erkennen lassen, sondern auch jede für sich einen bestimmten Typus der geistigen Minderwertigkeit repifisen- tiereii, u^imlich die beiden von dem französischen Psychologen SouJiR ausführlich beschriebenen Typen des Idioten und des Imbezillen. Obwohl SoLLiiii: seme Untei-scheidung aufgestellt hst für die schweren InteUigenzdefekte, so trifft sie meiner Ei&hrong nach in mancher Richtung auch zu für alle Grade von leichteien I>efekten und auch unter den nur wenig geschädigten YolkBSchnUdndem findet man beide Typen wieder. Figur 12 zeigt uns die besdirftnkten Vorstellungen und

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224 A. Abhandlungen.

die schwer zu erweckende Aufmerksamkeit des IdiotoTitvpus. Figur 13 zeigt in Vorstelhingsmcohärenz und flatteiuder Auüiierksamkeit das Wesen des imbezillentvpus.

Noch möchte ich mit einem Beispiel illnstrioren, wie weit da^s, auch in Figur 12 und 13 schon heobachtete, regellose Anbringen von Einzelheiten bei Schwachbegabten Kindern gehen kann. In Figur 14 finden Sie eine Zeiclmung eines ebenfalls zurückgebliebenen Ivnaben der Unterstufe. Als er sein Männchen fertig hatte, mit zwei Federn auf dem Kopf, aber ohne Hut, mit Nase, aber ohne Augen, nur mit einem nach unten crericliteten Arme, da sacrte ich: »Aber Heinrich, das Männchen hat ja kune Augen!« Sofoit nahm er seinen Bleistift wieder auf und zeichnete ohne Zögern die Augen, wo sie auf der Zeichnung zu finden sind, nämlich . . . . üi den Schenkeln!

c) Übereinstimmung zwischen Zeichnung und Schrift Stark tritt dies herror bei der Unterschrift in Figur 8. £8 80Ü be- deuten: Um m tocn. Um ist denüich richtig. Bas Yerbindungswort m ist jedoch nicht konkret genug um bei ihm bewnfet zu werden, und so fKngt er sofort mit dem reellen ioon an, ein f in Spiegel* Schrift steht schon da. Dann aber, vielleicht weil er es bei seinem Nachbarn sah, oder weil ich die Unterschrift noch einmal laut wiederholte, wird er auf das Wörtchen en doch auMeiksam und nun sofort das Wort iom wieder aufiser acht lassend, schreibt er m, ein « in Spiegelschrift und eui n mit drei Beinen; und dieses sonder- bare Wörtchen en wiederholt er noch einmal, und dann logt er gans jBufrieden seinen Bleistift hin!

2. Eine didaktische Frage. Zu der didaktischen Frage, ob es beim malende Zeichnen gestattet sein soll, nacfaaeichnen au lassen oder nichts will ich hier einen kleinen Beitrag geben.

Dazu mache ich Sie in Figur 8 au&ierksam auf die Darstellung der Arme und Beine durch Striche. In naiyen Zeichnungen kommt das sehr oft vor, man vei^leiche auch die Figuren 14 und 23. Das Kind, bezw. der Wilde, weifs wohl, dafs Arme und Beine auch üm- fimg haben. Es wäre nicht richtig, auf Grund solcher Zeichnungen anzunehmen, wie oft gesdiieht, das betreffende Kind sehe Arme und Beine auch als Linien. Aber auf dieser zeichnerischen Entwickelungs- stufe ist das hier angewandte Distinktiv durchaus genügend, um Arme und Beine zu repräsentiren. In der Yorzeichnung an der Tafel waren jedoch Arme und Beine nicht mit Strichen, sondern mit doppelten Linien dargestellt Wir sehen also, daJs der Knabe die Vorzeichnimg nicht blind kopiert hat, sondern dafe er in eigener Weise eine Re- produktion der Vorstellong gegeben hat, weiche das Wandtafelbild

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A. X SoHuuDis; Ülier Kiidaveioliiraiigwil.

225

boi ihm wachgerufen hatto. Dassolbo habon wir bei demselhen KnutuMi auch schon gesehen an Her Konstruktion dos Kopfriini])fos. Die Vorzeichnunp: sa^rt dem Kinde in erster Linie was, und nicht wie es malen t;oll. Hieraus p:eht also deutlieh liervor, dafs aueh beim Naehzeichnen das Kind in holieni Grade «elbstthfitig bleibt und auf ^anz individuelle AVeise das Vorgezeiehnete bearbeitet, leb habe das- selbe wio<lerb(»lt lieobachtet, und aus diesem Grunde habe ich meine früheren Bedeiikm gegen das Nachzeichnen aufp'geben.

Wenn jedoch etwas aus der AVandtafclzeichnun^r nicht ver- standen ist, also keine reelle Voi-stellung bei den Kindern wfieh ruft, so fati^t ii sie an meehaniseh zu kopieren und deshalb zu pfuschen. (Siehe Daeh^nebel in Figur 13.)

Obwohl ich es also für eine Übeiireibung halte, wenn einige neuere Zeichenmethodiker alles Voraeichnen tadeln, so ist es doch klar, dafs die eigene freie i^nt Wickelung geschädigt wird, wenn tia.s Kind zu viel mit Nachzeichnen beschäftigt wird. Es giebt Kinder, welche vorzugswei.se nachzeichnen, deren Zeichnungen aber alle ein eigen- tümliches Gepräge bekommen, woran man sie sofort erkennen kann. In das Naive mischt sich dann etwas Pedantisches und Altkluges.

Ein Beispiel davon findet man in Figur 15. Es stellt eine Land- schaft dar, aus dem Kopfe gezeichnet von einem Knaben im fünften halben Schuljahre, der sich 2U Hause fast immer mit Nachzeichnen beschäftigt. Die einzelnen Teile sind einem Schülerspuziergange ent^ nommen. Nach dem Spaziergange war ein Aufsatz darüber gemacht worden und dann hiers die Aufgabe: Zeichne etwas, das wir auf dem Spaziergange gesehen haben. Dann malte der betreffende Knabe dieses fiUd. Als Ganzes ist die Zeichnung also etwas vollständig Neues, die einzelnen Gegenstände jedoch, Mühle, Haus, Eisenbahn- wagen, sind keine Abbildungen der von uns gesehenen, sondern sund gezeichnet, wie er gewohnt ist, dieselben nach Abbildungen darzu- stellen. Die Mühle z. B. stimmt überein mit einem Wandbilde, das in der Schule hängt, das Häuschen rechts kann mit seiner Oberansicht auch unmöglich das selbstgewonnene Verfahren eines holländischen Knaben sein, der immer in der Ebene lebt Auch die Eisenbahn- wagen sind von oben gesehen gezeichnet, sind also auch schablonen- haft und unwahr. Diese Zeichnung, obwohl im übrigen reizend durch die naive Anordnung, ist also nur ein scheinbarer Beweis exakter Beobachtung und demonstriert die schädlichen Folgen des foi-t- währenden Nachzeichnens für die individuelle Ausbildung des kind- lichen Kunstsinnes, sowohl in der Richtung der Beobachtung als der Reproduktion.

nto KinteMd«. VU. J«bitM«. 15

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226

A. Abhandliiiigen.

3. Die naive, schöplerisehe DarstellungskTaft^Bän Gegen- stück zu dieser nachahmenden Kunstfertigkeit bietet die Zeichnung^ welche man in Figur 16 findet Obwohl die technische Gewandtheit hier eine viel geringere ist, steht diese Zeichnung als Geistesprodukt viel höher als die aus Sigur 15. Die kindliche, schöpferische Dar> steUnngskiaft tritt hier glänzend zm Tage. Diese Zeichnung giebt in drei Bildern eine Erzählung. Es handelt sich um einen Jungen, der Seemann werden wollte und nach langer Zeit die Zustimmimg der Eltern bekam. Das erste Bild zeigt uns, wie nach einem rührenden Abschiede das Schiff in der Feme veischwindet und die Eltern be- trübt heimkehren. Das zweite Bild stellt die Bückkehr dar; die Eltern sind natürlich am Kai, und von beiden Seiten findet eine lebhafte und freudevolle BegrüCsnng statt Im letzten Bilde sehen wir Vater, Mutter und Sohn Hand in Hand sehr vergnügt nach Hause gehen. Das Schiff ist inzwischen an den Kairingen angelegt worden.

Eine prächtige Kinderzeichnung! Voll Geist und Leben! Wenn wir noch etwas auf die Einzelheiten eingehen wollen, so mach*^ ich zuerst aufmerksam auf die Vorstellung «It r Pflastoisteine. Sie ist eine rein logische, aller pei^spekti vischen Wahrnehmungen bar. Auf diesen Ciegensatz zwischen Fei'spektive und Logik, ein Hauptmerk- mal des iiiiivi II Zrirhnens, kommen wir noch zurück. Anderei-seits fiiulen wir hier ein klares Verständnis für die perspektivische Ver- kleinerung bei gröfserer EntfomuDg, wie die Zeichnung der drei Schiffe daliegt. Dafs im allgemeinen ein gutes Vt i-ständnis für Gröfsenverhultnisse da sein mufs, wird bewiesen durch die richtige Einteilung des Zeichenfeldes. Meistens ist das bei Kindern sehr mangelhaft. Schön ist auch die sorgMtige Detaillierung des Matrosen und des Vaters.

Ferner ist zu bemerken, dafs in der Soitenansicht ''dt^s Vaters im ei'sten und zweiten Hiltio dor Leib jerltu li in Vo^dora^^^icht malt ist. Hierin sohon wir wicdiT den Einflufs dri Uewoli ii lieit. Denn die ersten menschliehni Figuren sind immer en fnre gezeich- net; wenn später Profilzrichniingen auftifton , so werden noch oft dir längst eingeübton /cicht narten der Vonlcransicht rihnheits- miifsig angowandt. Das^clht« sehen Sie auch im ersten iiild« an der Vurstellungsweise der Augen, und in Figur 17 findet man ein üii ieres l^ei^jtiel daNoii; bei dem Manne ist der Rumpf ganz von %orne ge- zeielmet. Der Mann geht durch den (Turten naeli dem Hause, soll also vuH der Seite gosehen werden, (ianz richtig smd dann auch ^lüt^e, Kopf und Beine ni Seitenansicht gezeiclmet, aber den Rumpf mit den Ai'meu sieht mau en face (wie in egyptiscben

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J. Scrbeudkb: Über KinderzeiclwaDgoii. 227

Bildern) und die Profiizeicimung des Kopfes zeigt zwei Augen statt oins.

Wie die naive Darstellungswei.se beim fi*eion malenden Ze ic hnen auch bei besserer Technik und feinerer Beoifaeiitung sich hand- haben bleibt, zeigt Figur 18, gezeielinet von einem Knaben von 10 Jahren im sechsten halben Schuljahre, etwa zwei .Jalire älter als der Zeichner von Fi^nr IG, der im (bitten lialben Schuljahre Avar. Diese Zeiclmimg stellt die Rückkehr (h*s Militiirs von dei- Tarade vor, welcher der Junge aui vorigen la^n> beigewohnt hatte. Wie fein der Knabe alles wiedergegeben iiati Mit seiner ganzen Seele mufs er das Schauspiel bew\indert haben.

DaJs auch bei hoch entwickelter Beobachtung und guter tech- nisdier Gewandtheit der Sinn für symbolische Ausdrucksweise nicht verloren geht, sieht man in dieser Zeichnung schön an der gewaltigen Figur des Generals. Es ist eine heirliclMiaiTe Symbolik, den General tind sein Pferd so massiv und grotesk zu zeichnen, alle gewöhnlichen Soldaten weit überragend.

Diese Zeichnung bietet auch Gelegenheit, hinzuweisen auf die in den Einderzeichnungen inuner wieder auftretende Neigung zum Schab* Ionisieren. Das Wirkungsvolle der marschierenden Seihen wird nur dargestellt durch blofses Wiederholen der Rückenlinien jedes ersten Mannes. Dieses zutreffende Distinktiv hat der Knabe selbst beobachtet an den an ihm gestern vorbeimarschierenden Soldaten. Aber sehen Sie nun einmal die Husaren an, und Sie werden finden, da& er hier dasselbe Distinktiv anzuwenden versucht hat, aber der Wirklichkeit nicht entsprechend. Das Yetiahren ist eine Schab* lone geworden.

Diese, das logisch-repräsentative Wesen des kindlichen SSeichnens scharf charakteiisieiende Neigung zum Schabionisieren findet man z. B. auch zurück in der ganz individuellen Art und Weise jedes Kindes, Bäume zu zeichnen, wovon die Figuren 17, 20 und 22 Bei- spiele bieten.

4. Logik contra Perspektive. Ich sagte eben, dafs ich noch einmal zurückkommen wollte auf den Gegensatz zwischen Perspektive und Logik, welche ein Hauptmerkmal des naiven Zeichnens ist Im allgemeinen kann man sagen, dafs die Kinder nicht zeichnen, was sie sehen, sondern das, was sie wissen. Jahrelang ist nicht das Gesicht, sondern der Verstand der Führer, welcher die Hand leitet und. die eigenen und andere zeichnerischen Leistungen beurteilt

So siebt man in Figur 19 sowohl den Schrank als die Mutter, welche davor steht Weil der Thüiknopf da ist^ soll er auch ge-

15*

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Au i^bhandmigeii.

seichnet werden, obgleich er nicht sidilbAr ist In Figur 9 sieht man drei Seiten des Hauses und auch den Ofen im Zimmer. Diese Figur giebt Übrigens schon einen Übergang, da die Yorderansicht ganz richtig nur die beiden Fenster aeigt mit den sichtbaren Köpfen. Das sonst immer sichtbare Interieur ist hier schon ganz fortgelassen. In Figur 20, die eine Ailee voTStellt, wo ein Mädchen hinter einem Tiere geht, sehen Sie aucli, wie herrlich die Logik mit der PerspektiTe im Streite liegt Figur 21 aeigt einen ersten, ziemlich gut gelungenen Yersuch, um das Sohematische der PferdefÜIse los zu werden und die Biegung nachzuahmen. Pei-spektivisch richtige D6tailS| wie Figur 11 eins zeigt, wo die hintere Deichsel des Sprühwagens durch das Pferd ▼erdeckt ist, bleiben lange Ausnahmen; meistens zeichnen die Kinder die zweite Deichsel einfach durchs Pferd hindurch.

Dieses Vorfaenachen des Verstandes Tor der reinen Wiedergabe der Anschauung findet man bei genauerer Beobachtung oft auch da noch, wo anscheinend eine richtige perspektirische Daistellang Tor- handen ist In Figur 22 ist die Allee rechts anscheinend perspek- tivisch gezeichnet, und doch war in Wirklichkeit keine Spur von perspektivischem Bewufstsein beim Zeichnen vorhanden. Die Zeich- nung ist nämlich in folgender Weise entstanden: eiBt das Haus, dann der Weg, begrenzt von zwei bei der lithographischen Beproduktion der Zeichnung leider weggefallenen parallelen Strichen ; nun B&ume^ erst zwei beim Hause und jedesmal zwei weitere. Die Allee ist also rein konstruktiv entstanden und «Mitspricht nicht einer Gesichts^ Vorstellung, wie man b(Mni ersten Anblick annehmen könnte, sondern nur dem logischen Inhalt

Dieselbe Zeichnung bietet noch einen anderen Beweis für das Vorhcn-schen des ' Verstandes , nämlich in der Angabe des Alters bei beiden Persdnen: der Vater ist ä5 Jahre, der Sohn 10 Jahre alt Solche schriftlichen Anmerkungen zur Yen ollstandigung des Bildes kommen oft vor und beweisen, dafsdie kindlichen Zeichnungen nicht als Abbildungen gemeint sind, sondern als gezeichnete Mitteilungen, dafs für Kinder das Zeichnen wirklich noch eine zweite Spniche ist Am liebsten benutzen sie die beiden .Sprachen, Wort- und Büdspracbe zugleich und wolirn deshalb bei ihren Zeichnungen immer reden. Glücklich <lie Kinder, bei denen die Entwickelung und der Gebrauch dieser zweiten Sprache nicht durch erzinlierische Kurzsichtigkeit und didaktischen Dogmatismus erstickt wird!

5. Zum Schill Ts will icli ilinen noch zwei Zeiohnungeu vorlühren, welche gewissfM inal^'Mi Kuriositäten sind. Die erste ist Figur 28. und das ^lerkwüidige liierbei ist der kleine Kreis im Unterieib.

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Krukenbero: Über An^taltsfürsoige für Krüppel.

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Das soll der Bauch sein. Es kommt nun sehr selten vor, dafs Körperteilo olmo bestimmten Umrifs uuf Kjnderzeichnunp:en wieder- p:ogel)en wiMcieii. Hier haben wir ein Beispiel. Suli.y giebt auch ein Beispiel: in einer von einem erwachsenen Neg^r aus Uganda ausgeführten Zeichnung eines Mannes waren die Backen gezeichnet und zwar durch Kreise.

Die zweite Kuriosität ist Figur 24, von einem Kinde im ersten halben Schuljahre gezeichnet. Sie können wohl schwerlich erraten, wa.s das sein soll. Da.s soll ein Kartoffelfel l liarstellen. I)as Viereck ist das Feld, und die Kreise sind die Kartoffeln! Hier hat die rein logische Darstellung woiü iliren Kulminationspunkt gefunden!

*

Bei der Auswaid des Dargebotenen aus der Fiiile und Reichtum des Materials, welches zu Ausfüiirung des Themas vorhanden war, habe ich mir durch die Thatsache leiten lassen, dafs die Versamm- lungen unseres Vereins hauptsachlich besucht sind von Eltern und LehrenL Deswegen habe ich im ersten Teile von dem Kinde in der Familie gesproolien nnd im zwoLten die Schule in den Vorder^ grund treten lassen. Er war dabei Tomelmdidi meine Alislcht, An- regungen zu geben, um dem freien, kindlichen Zeichnen sowohl in der Familie als auch in der Schule gröfserer Anerkennung zu rer- helfen, das Interesse dafür zu f&idem, und den Blick zu scbiilen für den Wert dieses Zeichnens hinsichüich seine Bedeutung für die psychologische Beobachtung der Einder. Sollte mir dies zu einem gewissen Giade gelungen sein, so wird die Zeit,' welche Sie meinen Ausführungen gewidmet haben, nicht nutzlos gewesen sein.

3. Über Anstaltsfürsorge für Krüppel,

Von Dr. ni«d. Hermann Krukenberg, Direktor des sta(iti?.cbeD KrankenUauBeSi leiteiider

Arzt der Wilhelm- und Augu^ta^^tiftung «u üegnitz.

Vom Schönen fühlt sich der Mensch angezogen, das jäärsliche aber stöfst ihn ab; das ist ein allgemeines Naturgesetz, nach welchem unter den Menschen die Verteilung der Güter und die Verteil iint; des Glückes vielfach geregelt wird und nacli welchem für die häfslichsten unter ihnen, für die Krüppel, die Pforten zum Glück schon von frühster Kindheit an geschlossen bleiben. Ihnen ist os nicht gegeben, den Kampf ums Dasein mit gleichen Mitteln zu kämpfen, wie ihre Mitmenschen, körperlich und geintig bleiben sie allmählich immer

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*

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A. Abhaudluugen.

mehr zurück und nur eine Tugend lernen sie vor allen andern üben: das ist Entsagung.

Der Krüppel ist auf die Güte und das Mitleid seiner Mitiuenschen angewiesen und doch, wie viele haben denn Mitleid niit dem Krüppel, dem Blödsinnigen, der durch die Ungestalt seine» K«irj)ors und Geistes unser Auge und unser Gefühl in gleicher Weis«» ver- letzt? Nein, Abscheu und Ekel sind es, die die meisten Meii.schen beim Herannalien eines solchen Unglücklichen empfinden, und, wenn sie ihm eine milde Gabe zuwerfen, so geschieht es häufig nur, um seine lästige Nähe möglichst abzukürzen. Nur wenige denken darüber nach, wie es dem Krüppel zu Mute sein mufs, wenn er neben dem Gefühle seiner Ohnmacht auch noch das viel schmerzlichere der Er- bitterung und der Erinkiuig;, des Gemiedenseins ertugea mub. Man denkt nicht daran, wie leicht gerade der Kriippei verietst wird, wenn ihm Hohn und Terachtung üiit^^egengehracht werden und wie leicht es oft ist, durch ein freundliches Wort, durch eine kleine Gabe einen Sonnenstxalil in sein freudearmes lieben fidlen zu lassen.

Bei den NaturTölkern und im Altertum Imd man sich mit den Schwachen und Hilflosen auf dieselbe Weise, wie das Tier ab, indem man sie aus seiner Mitte ausstiels und dadurch remichtete. Die Indier veisenkten die Hilflosen in die Sluten des Ganges. Die Spartaner waifen die Krüppel in die Abgründe des Tajgetos. FOr die alten Griechen war der Erl^pei nicht nur der Inbegriff eines häfslichen Körpers, sondern auch der eines h&^chen Geistes, wührend sie sich ihre Helden nur schön an Geist und Körper yor- stellen konnten. xoHdc xvy»96fy das ist die Bezeichnung der

Griechen für ihre Helden schön und gut in einem Wort als tou- einander untrennbare Begriffe. So war auch Achill das Ideal körper- licher Schönheit, während der ränkeschmiedcnde Thersites als eine hfifsliche Terwachsene Kreatur geschildert wird. Er war, sagt Homer, der frechste und häfslichste im Heere. Er war krummbeinig und an dem einen Fufse lahm; die Schultern waren ihm höckerig und nach der Brust zu zusammengeongt. >cin Kopf war spitz und auf dem Scheitel nur mit spärlicher Wolle besetzt Verkehrten Sinnes schmähte er die Fürsten, zumeist aber die ausgezeichnetsten, Achilles und 0(lys>rn.<.

Auch in der altdeutschen Sage vereint sich körperliche MiJ^ gostalt mit niedriger böser Denkungsart und umgekehrt So war Siegfried, der Held, auch äufserlich das Tdoal einer Jünglingsgestalt, der Vi tse Mime (Regin) dagegen ein häfslicher, krimimbeiniger Zwerg.

Bqi den alten Juden waren die Krüppel ausgestolsen aus der

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KauKKNBKUo: über Anstaltsfürsorge für Krüppel.

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Oesollschaft uiul safsen als Bottloi- am AVopo. Ihr Loidon crschioii den aitüu Judon als Strafe Gottes für oine Schuld. Als Christus einmal einen blinden Bettler sah, da fragten ihn seine Jünger: »Meister, wer hat gesündigt^ dieser oder seine Elteni, dafs er ist blind geboren?« Jesus antwortete: »Ks hat weder dieser gesündigt, noch «eine Eltern, sondern, dafs <lie Werke (Jottes (>l[enl)ar würden an ihm.* Ix'ider ist mit der Au>liii itung des Christentums erst sehr spat ^ine christliche Behandlung der Krüppel eingetreten. Noch heute glauben nicht nur Laien, sondern aneh Creistliche nicht selten, dafs die Krüppel ihr Leiden durch sündigen Lebenswandel vorschuldet haben oder dafs durch die Sünde der Kitern das Leiden der Unglück- lichen heraufbeschworen sei. Im Mittelalter waren die Krüppel nicht der Gegenstand des iOtleids, nicht der der Fürsorge, sondern ae waren die Zielscheibe des Spottes und Holuies. Sie mufsten sich häufig dazu hergeben, als Narren und Hanswurst die Lachlust ihrer Mitmenschen zu befriedigen, wenn sie ein auch nur kiiigliclies Jjcben fristen wollten. Und oft wurden die Krüppel wühl auch durch die unwürdige Beliandlung, welche sie von allen Seiten erfuhren, wirk- lich zu boshaften Ränkeschmiede n. So schildert Siiakk.speaiu5 in seinem Oloster einen gegen die Natur und die Menschen gleich erbitterten Krüppel, bei dem dauernde Kiaukung und Zurücksetzung das Böse zur Lust und zur Ijcbensaufgabe gemacht hat, wie er selbst in seinem Monolog sagt:

»Ich um dies schuoe Ebeotnais verkürzt. Von der Natur um KUnog falaoh betrofsen.

Entstellt vt i wahrloBt, vor der Zvit gesandt In diese Weh des Atmeiis lialii kaum feiiii^ Gemacht und 2vvar m lahm unJ un^'eziemend, DaHs Hunde bellen, hink' ich wo vorbei, tjnd darom, weil iofa nidit als ein Terttebfeer Kaan könen diese fein beredten Ttif^ Bin ich gewÜlt, ein Bösewicht zu werden Und Feind der eiteln Freuden dieser Tage.«

Auch in den deutschen Yolksdichtungen and H&rchen exsdieuit der Krttppel als Bdsewichi Der Teufel ist lahm, die Hexe ist bucklig, und durch diese Mfirchen wird schon früh den Kinder- hersen Furcht oder Verachtung gegenüber solchen Unglücklichen ein- geimpft, die doch nur Mitleid yerdienten.

Ein deutscher Chiruig, Y olkmann, war es, der auch als Dichter ein Hen für die Krüppel hatte. In seinen reizenden »Traumereien an französischen Kaminen« finden wir eine ei^ifende Erzählung Yon einem kleinen buckligen Mädchen, das von seiner kranken Mutter

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A. AbfattidhingaD.

über alles geliebt wird. Und wenn die Matter mit dem Kinde über die Strafee geht und die Leute sehen sich nach seinem Buckel um und lachen, da sagt sie ihm, »die Leute freuen sich, daCs du so ein schönes Kleid an hast« und das Kind merkt nicht, dalh es bucklig ist Aber albnfiblich siecht die Mutter dahin und das Kind bekommt eine schöne junge Stiefinutter. Die sagt: »Mit dir kann ich doch nicht ausgehen, du bist ja ganz bucklig!« Da sieht sich das Kind in den Spiegel und es sieht, dafs es wirklich bucklig ist und das Kind grämt sich und h&nnt sich endlich su Tode. Bann kommt ein Engel und das Kind fragt ängstlich, ob denn bucklige Kinder auch in den Himmel dürfen. Da berührt es der Engel mit der Hand und sagt: »Du bist ja gar nicht bucklig«, und der alte baCsliche Buckel fiillt ab und was war darunter? Ein Paar wunderschöne Engels- flügeL Mit denen fliegt das Kind in den Himmel, seiner alten Mutter gerade in den Schelk.

Aber nicht nur in den Dichtungen, sondern auch in der Wirk- lichkeit finden wir oft, dafo gerade die rerkrüppelten Kinder den Eltern mit besonderer Liebe ans Hers gewachsen sind. Es ist ein eigener Zug des Weibes, der sie mit ihrer Liebe gerade zu dem schwachen, verkrüppelten Kinde hinzieht Wie oft wartet eine solche Mutter von Tag zu Tag auf die Stande, da das Kind zum ersten Male den Xamen »Mutter« rufen soll, da es zum ersten Male die Liebe der Mutter mit dankbar) in Blick erwidern soll, aber der Tag will nicht kommen und endlich wird es der Mutter zur furchtbaren tiewifshelt: dein Kind ist taubstumm, dein Kind hat nicht seinen normalen Verstand. Aber die Mutterliebe erlischt damit nicht, sie wird nur noch inniger, je mehr da.s Kind dieser Liebe bedarf. Häufig macht die Liebe die Eltern blind für die Gebrechen der Kinder. Sie woll( n es nicht sehen und nicht wissen, dafs das Kind nicht nur gelähmt am Körper, sondern auch gelähmt am Geiste ist, das Kind ist nur durch sein korpciliches Leiden etwas zurückgeblieben, und der Arzt hat dann i)ft die schwere Aufgabe, die Eltern über die traurige Zukunft, die dem Kinde bevorsteht, aufzuklären. Und je mehr die Eltcni und Geschwister an dem Kinde hängen, desto mehr müssen sie darunter leiden, dafs sie ihm nicht die Bildung des Geistes geben können, wie sie es möchten. Und doch ist es meist möglich, auch solche Unglückliche weiter zu bilden, sie zu ihren Kräften ent- sprechenden nützliehon ^ütgliedern der men«5ehliehen Gesellschaft zu machen, aber nur in besonderen Anstalten, deren Leiter das* Studium der Krüppel und die Linderung ilirer }Hot sich zur Lebensaufgabe ge- macht haben.

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Kbckk.nbkmu : Über Austaltsfürsoiige für Krüppel.

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^Viis hindert deuu den Krüppel in seinem Fuitkonimen? Warum stöfst Ulis der Krüppel ab? Weil ihm die Harmonie des Koi-poi-s und das Ebenmafs (b^r Glio<ii'r fehlt. Seine Bewe^mg^en sind un- poordnet, plump und bafslii h. Aber ein gesuncb^r (icist kann sieh nur in einem gesunden Körper entwickein. Desluilb niufs das körper- liche Gebrechen auch geistige (iebi-eehen zur Folge haben. Die un- gleichmäfsige körperliche Entwiokelung heninit auch die Hannonie des Geistes, Am meisten leidet die geistige Entwickelung, wenn das Gehirn, der Sitz des Verstandes, einen Defekt erlitten hat; dann werden die Unglücklichen Idioten. Hall)i(iif)ten oder Epileptiker. Aber auch, wenn das Gehirn normal gebildet ist, entwickelt sich der Geist einseitig und mangelhaft, wenn die übrigen Glieder des Körpers ihre Hilfe versagen, sei es, dafs die Sinnesorgane defekt sind, wie bei Taubstummen und Blinden oder dafs die Bewegungsorgane nicht funktionieren, bei den Krüppeln i. e. S. Ein solches Kind kann nicht zur Schule geben, es kann mit der lahmen Hand nicht schreiben. Dadurch, dafe es dauernd an das Krankenlager gefesselt ist, fehlt ihm die freie Beobachtung der Natur. Das Kind kommt mit andern Kindern wenig oder gar nicht zusammen, weil die Kinder sich vor ihm scheuen oder dasselbe h&nsehi oder weil seine Eigentümlichkeiten im Verkehr mit Kindern immer mehr fühlbar werden, weil die Eltern nicht sehen mögen, wie anders geartet ihr Kind im Vergleich mit andern Kindern ist Infolgedessen hiingt sich das Kind immer mehr an die Mutter, die es entweder von sich stbfet oder allen seinen Launen nachgiebt Denn die Mutter hat keine Augen dafür, was bei dem Kinde unberechtigter Eigensinn und was unabänderliche krank- hafte Teranhigung ist Die Versuche, das Kind m erziehen und zu unterrichten leiden an einer unvermeidlichen Unsicherheit Des- halb wird der Unterricht meist gar bald angegeben und nnn ver^ aimt das Kind aUmalich immer mehr, nicht nur am Körper, sondern auch am Geiste, es bleibt ein unglückliches Geschöpf, das sich und den Seinen zur Last lebt Das Kind pal^t nicht in die gro&e Welt, die es verhöhnt, es bildet sich seine eigene Welt und wird immer eigentümlicher, bis der Tod seinem traurigen Basein ein Ende macht

Solchen un^ücklichen Geschöpfen kann eine neue Heimat ge- geben weiden, in der sie ihr Glück finden, wenn sie einer geeig- neten Anstalt zugefülut werden, und es ist eins der dankenswertesten Ziele dieses Vereins, dafs er nicht nur den geistigen, sondern auch den körperlichen Krüppeln seine Hilfe zuwendet durch Studium der Störungen im Seelenleben des Kindes vereint mit dem Studium seiner

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A. Abhandlimften.

körperliclieii (iebieclK ii. Wie diese Hand in Hiuul f?ehen und das eine das andere hervurriift, so muTs au<'h l)ei dem Versuche zu helfen beides Hand in Hand gehen: Beiiandiung; des Geistes und Behandlung; des K<trpoi-s, der Pädacr«»^ mit dem Arzte.

Die sehwien^ste Aufgabe für solche Anstalten bleibt der Unter- richt uml die woitere Kntwiekeluii;: der Schwachsinnigen und Idioten. Hier k.uui der Arzt nur insofern helfen, als er weitere 8chädliehkeitoii fini hält. Die Vei-suche. die Entwickelung des Gehirns dadurch zu befördern, dafs man in den vcnncinüieh zu engen Schädel weite Spalte hineiiuneirselte, welche am Ende des vorigen Jahrhunderts auftauchten, sind als gänzlich gescheitert anzusehen. Der ScbSdel des Mikrocephaien bleibt klein, weil das Gehirn sich nicht entwickelt und nicht un ige kehrt

Aber, wenn auch eine Heilung von Idioten nicht möglich ist, so haben doch die Idiotenanstalten nicht das Abschreckende, wie die meisten Menschen glauben. Es leben in einer Idiotenanstalt nicht nur kleine, sondern auch grofse Kinder. Ein T^il der Pfleglinge ist ja freilich so abgestumpft, dars auf ihn seine ganze Umgebung keinen oder nur wenig Eindruck macht Aber das ist bei weitem der ge- ringere Teil. Die meisten Idioten stehen auf den versdiiedenen Ent^ Wickelungsstufen des Kindes, nnr ist diese Entwickelung eine sehr nngleichmärsige, einseitige und dem mnfs der Unterricht Rechnung tragen. Wenn der Arzt konstatiert, wo der geistige Defekt liegt, worin sich der Idiot vom rollsinnigen Menschen unterscheidet, so stellt der Pädagoge sich auf den entgegengesetzten Standpunkt, er forscht, welche Fähigkeiten der Idiot noch besitzt, und die sucht er auszubilden und zu pflegen so weit als möglich, er studiert, in welcher Weise sein Pflegling noch entwickelungs- und bildungsfähig ist und wo Keime geistiger Thätigkeit, die in einer unzweckmäfsigen Um- gebung unentwickelt geblieben sind, sich noch wecken und weiter bilden lassen.

Bei vielen Idioten bleibt der Unterricht auf der niedrigsten Stufe stehen, er besteht darin, dafs der Zögling an Reinlichkeit ge- wöhnt wird, dafe er selbständig essen und sich kleiden lernt dafs er au eine gewisse ordnungsmäTsige Einteilung der Zeit gewöhnt wird, und wenn nichts weiter eiTcicht w^ii-d, so ist damit häufig doch erzielt, dafs das gänzlich verwahrloste tieri.sche Kind zu einem menschen- würdigeren Dnsein herangebildet ist. Aber viele Idioten lassen sich zu ntttziicben Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft heranziehen und freuen sieh über ihre Fortschritte wie ein gesundes Kind.

Meist glaubt man, es müsse für etwas weiter Oebildete doch

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KRinuLNBEBa: Über Anstaltsförsorge für Krüppel

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furchtbar sein, dch in einer Umgebung von weit stumpferen Kranken zu wissen. Dem ist aber nicht so, im Gegenteil. Der Idiot hat ge- radeso seinen Ehrgeiz wie der Schüler einer Klasse gesunder Kinder, und er fühlt seinen Ehrgeiz befriedigt, wenn ihm ein Amt übertragen wird, das ein anderer nicht auszufüllen im stände ist, und wenn es sich auch mir nm das Scheuern des Tisches oder des Fufsbodens handelt. Dio riclitiji^e Auswahl solcher Ämter und die no><taltimg derscllioii zu Eliroiiiüntorn ist eine Hauptaiif^rabo einer klugou An- sfaltsloituniT- Dadiircli, dal's ein jeder F^fle^din^^ eine seinen Fäiiig- koitPii entsprechende repümärsifTi' ArhfMt erhält, wcrfion nicht nur Kräfte an Arbeits- und 1 'flegepersonal gespart sondcra der Pflegling wird auch in seinem St'lbstbewufstsein wesentlich gehoben.

Neben den regelinäfsipMi Hausarheiten ist es die Ki>ri)niacherei, die Schneiderei und bei den .Mädehen die weiblichen Handarbeiten, die erlernt werden. Die lliiuptb(\^('hafti<runic der Idioten ist aber die im üarten und auf <leni Felde. Die Pfleglinge müssen natürlich dauemd anjreleitet werden, aber gerade in der Landwirtschuft triebt es viele Verrichtungen, die noch der Schwächste ausführen kann. Es kommt nur darauf an, für einen Ausgleich zwischen den Be- gabteren und den Minderbegabten bei der Arbeit zu soT-^aMi, und es ist eine wahre Freude, zu sehen, mit welchem Eifer und Stolz die Idioten ihr Feld bestellen.

Wenn es auch meist praktische Handfertigkeiten sind, die die Idioten erlernen, .so darf doch darüber der Schulunterricht nicht ver- säumt werden. Hier spielt der Anscilaunn^^sunterrieht und der Form- unterricht eine hervon'agende Rolle. Rei:ai)tr*re lernen auch zeichnen, ebenso wird der (ie>ang gepflegt, für den viele Idioten grofse Vor- liebe zeigen. "Weiterhin ist ein systenutu^eher .Sprachunterricht er- forderlich und endlich werden die einzelnen Fächer des Volksschul- unterrichts gelehrt. Besonders der Religion.sunterricht wird gepflegt und es gelingt, einzelne Idioten so weit zu bilden, dafs sie konfirmiert werden können.

Eine besondere Freude für den Leiter der Anstalt ist es, wenn einzelne Pfleglinge so weit gebildet werden können, dafö sie sich €päter dranfsen selbst ihr Brot verdienen. Leider aber wird dieses Ziel nur in AusnabmefSUen erreieht and dem entlassenen Zöglinge droben diaafsen viele Gefahren, er wird von seiner neuen Umgebung gehänselt und hat auch moralisch nicht immer den nötigen Halt, um den an ihn herantretenden Yersuchungen zu widerstehen, so dafe h&ufig die Kucht langjähriger unsäglicher Mühe wieder veiloren geht ÜB wäre daher sehr wünschenswert, wenn sich Vereine bilden möchten,

236

A. Abhaadlangen.

die sie Ii den Schutz solcher entlassener Schwachsinniger zur Au%abe machen wollte»».

Besondere Aufgaben erwaehsen dem Pädagogen, wenn dieSinnes- orpane, das Auge und Ohr des Kindes defekt sind. Hier mufs sivh lier TTntenieht in ganz speziell vorfrezeiclnieten Bahnen bewegea, deren l^espreehung mich hier zu weit führen würde, l'nernuid- hcher Fleil^i und (ieduld sind hier erforderlich, langsame und kärg- liche Erfolge der Preis.

Sehr viel emiaeher und dankbarer dagegen ist die Aufgrabe, Krüppel im engereu Sinn|o des Wortes zu unterrichten, Kinder, welche durch Verstümmelung der Bewe^ uui^sorgane an dem freien Gebrauch derselben behindert werden.

Es giebt eine grofse Anzahl staatlicher oder staatlich unterstützter Idiotenanstalten, Blinden- und Taubstummenanstalten: an öffentlichen Krüppelanstalten giebt es bisher nur eine, nämlich die in München. Der Kiüppel wird nicht wie der Irrsinnige und Idiot gemeiiigefähiv Üch, er bleibt auch ohne TJntenioht nicht auf einer so ttefen Stufe stehen, dafs er wie der Blinde und Taubetiunme seine Umgebung belästigt und andauernder Wartung bedarf. Der Krüppel vegetiert weiter, ohne fOr andere eine Gefahr su bieten, und deshalb liegt fOr den Staat sonächst keine Ursadie vor, dens^ben aus der Gemeinde 2a entfernen.

Unsere Fürsorgegesetze, das KrankenTersicherungsgesetz, die In- validitats- und Unfallversicherungsgesetze nehmen sich allerdings der Kranken und Schwachen an. Sie bedenken auch die Krtippe], aber nur diejenigen, welche im Bienste des Gemeinwesens ihre Yerstünmie- long davongetragen haben. Für sie wird gesorgt, indem ihnen eine Geldentschädigung sugesichert wird, welche sie vor Not und Hunger schützt Dagegen hat der Krüppel, der sein Leid von frühster Kind- heit an zu tragen hat, bis jetzt keinen Anspruch auf dffentlichea Mitleid und öffentliche Fürsoige. Nur 2% der vermögenslosen Krüppel ist bis jetzt in Anstalten untergebracht, der Best lebt ver- wahrlost von der Armenpflege. In den Thüringer Kleinstaaten allein hat man nahezu 1000 verbüppelte Kinder und unter diesen über 200 Arme der Anstaltspflege bedürftige gezählt 12 Itfülionen Marie werden jährlich im Deutschen Keich für diese Unglücklichen an Unterstützung gezahlt, ohne dafs ihnen Heilung gebracht wird. Und doch können die Krüppel in den meisten Fällen geheilt werden, ^^ie können es dnrch die Hand des Arztes das ist der geringere Teil^ sie können es aber auch und das ist der gröbere l^il durch die Hand des l^adagogen. Das ist freilich nur eine Heilung im

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Krükiwbkro: Über Anstaltsfürsorge für Krüp{>el.

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sozialen und nicht im medizinischen Sinne. Denn nicht der ist ein Krüppel, der trotz seines Gebrechens mit freiem Mut den Kampf ums Dasein aufnimmt und für sich und die Seinen sorgt er steht auf eigenen Füfsen, auch wenn er am Stelzfufs geht nein, der ist ein Krüppel, der mit einem geringeren Leiden hilflos am Wege sitzt, der die Kräfte, die ihm die Natur gelassen hat, nicht zu ge- brauchen versteht, der sich sein Brot kärglich zusammenbettelt, krank am Geist und krank am Körper.

Solche Exi-stenzen wollen wir zu verhüten suchen durch den Bau von Krüppelanstalten. Und dafs wir es können, hat schon jetzt die Erfahning glänzend bewiesen.

Fitf. l.

Die Zoit. da man begonnen hat, Krüppelanstalton zu bauen, liegt noch nicht allzu weit zurück. Ei^st im Anfange des vorigen Jahi- hunderts fing man an. sich hie und da der Krüppel anzunehmen. Meist waren es geistliehe Körperschaften, welche die Krüppel in An- stalten aufnahmen, in denen dieselben versorgt wurden. Aber diese Fürsorge bewegte sich in dem Rahmen der allgemeinen Annenfür- sorge. Die Krüppel wurden nur vor dem Verhungern und vor der gröfsten Vei-wahrlosung geschützt Erst in späteren Jahren erstrebte man auch, die Krüppel auf eigene Füfse zu stellen, ihnen einen Lebensberuf zu geben.

In der Schweiz gründete 18()4 Fi'l. M.\thu.dk Eschek eine An- stalt, welche berufen war, verkrüppelten Kindern nicht nur Nahrung

238

A. Abbandlungen.

und Wohnung, sondern auch Unterricht und Anleitung zu Hand- arbeiten zu bieten, wie es ihren Fälligkeiten angemessen war. Eünen gleichen Zweck verfolgte die 1S71 von Frau Ebba von Ramsay in Jönköping in Schweden gegründete Anstalt. Neben diesen Privat- untomehmungen verdient besonders die schon 1832 in München ge- gründete Kgl. Bayerische Centraianstalt für Erziehung und Bildung krüppelliaf ter Kin<ler hervorgehoben zu werden, die 1844 in eine staatliche Anstalt umgewandelt wurde. Ähnliche An- stidten sind u. a. das Oberlinhaus bei Potsdam und das Johannes-

FijT. 2.

Stift in Cracau bei .Mag<lel)urg, welches der unermüdlichen Thätigkeit des Herra Superintendent I^fkiffkr seine Entstehung verdankt und von deren Vollkommenheit die beistehende Abbildung (Fig. 1) des Hauptgebäudes einen Begriff giebt. Am heutigen Tage eröffnet eme neuerbaute Krüppelanstalt in Angerburg in Ostpreulsen für SO Pfleglinge ihre Pforten.

Am meisten vorgeschritten aber ist die Krüppelfüi-sorge in Däne- mark und Norwegen und Schweden. Hier haben sich die breitesten Schichten der Bevölkerung mit einer wahren Begeisterung der Für-

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KRVKKiVBRRo: Über Anstaltsfürsorge für Krüjjpel.

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sorge für die Krüppel angenommen und in den dort gcj^nindeten Arbeitsstuben geradezu Ideales geleistet.

Das hen'omigendste derartige Institut ist das 1S72 von dem Pfarrer Hans Knudskx in Kopenhagen erriehtete Krüppelheim, in welchem eine Dame, Fräulein Johanna Pctehsen mit viel Energie und viel (ilüek eine Arbeitsschule für Verkrüppelte einrichtete. Ich habe diese Schule besucht und ich bin erstaunt gewesen, was dort geleistet wird. Die Anstalt besteht zu einem Teil aus einer Poliklinik, die Verkrüppelten die nötige ärztliche Hilfe bietet, zum

Fig. ».

anderen Teil aus einer Anstalt, in der Krüppel für einen Beruf vor- bereitet werden. Die Lehrmeister sind hier selbst Krüppel und an jedem Kinde wird studiert, welche Hilfsmittel ihm gegeben werden müssen, um es zur Erlernung eines Handwerks fähig zu machen. Wenn man die Werkstätten doit besichtigt und die Leute bei der Arbeit sieht, so vergifst man ganz, dafs es Krüppel sind, die da arbeiten. Ei^st bei näherem Zusehen bemerkt man, dafs hier ein Tischler an der Arbeitsbank keine Hand hat, sondern mit einer Arbeitsklauc arbeitet, dafs dort der Schuhmacher, der mit aller Kraft

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A. Abhandlaagen.

auf den Leisten schlägt, den Hammer nicht in der Hand hält sondern dafs er an dem vei-stümmelten Vorderarm ein Armband mit einem HammerforbJatz trägt. Ich bitte Sie hier eine Reihe von Arbeits- proben lind photographischen Abbildungen (Fig. 2, 3, 4 und 5) aus dem Krüppelheim zu Kopenhagen zu betrachten. Sie werden bei den meisten Handwerkern nach den Gebrechen suchen, sie vielleicht gar nicht finden, und doch wenden dort nur solche mit schweren Ge- brechen beschäftigt. Tischlerei, Drechslerei, Schneiderei, Schmiede- handwerk, Bürstenbinderei, Schuhmacherei, Holzbildhauerei, Buch-

Fiif. 4.

bindoroi. alh» diese Hainhvorke werden botrioben. Die Mädchen lernen kochen, schneidern, nähen, stricken, weben, kurz alle Tvcbensbedürf- nisse der Anstalt werden durch die Krüppel selbst besorgt. Auch die notwendigen Schienen, Handagen und künstlichen (Uieder, von welchen ich Ihnen Proben vorlege, fertigen die Krüppel seihst an. Schon im jüngsten Alter müssen sie irgend eine Handfertigkeit lernen. So sah ich einen etwa Sjährigen Knaben die vorliegenden hilbschen l>aubsägearbeiten anfertigen, der an der rechten Hand nur einen Finger, den Daumen, hatte, an der linken Hand hatte er H ver-

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Kruke^brro: Über Anstaltsfürsorge für Krüppel.

241

krüppelte zusammengewachsene Finger. Er hatte am Sügegriff eine Aushöhlung, die genau der Form seines Daumens entsprach, so dafs er mit diesem allein die Säge führen konnte. Haben die Kinder einen Beruf erlenit, so können sie noch weiter mit der Anstalt in Verbindung bleiben. In den Arbeitsstuben wird ihnen das Material zur Arbeit geliefert und für den Verkauf ge- sorgt., sie werden aber angehalten, eine Mahlzeit für einen billigen Entgelt in der Anstalt einzunehmen, damit der Verein sicher ist,

Fig. 5.

dafs sie wenigstens einmal am Tage eine gute und reichliche Mahl- zeit haben.

In Christian ia besteht seit 1892 eine Krüppelschule, in der Hei-voiTagendes geleistet wird, wie die Arbeitsproben aus deKelben beweisen, die ich Sie nachher zu betrachten bitte.

Auch in der Kgl. Bayerischen Centralanstalt für Bildung und Erziehung krüppelhafter Kinder in München werden schöne Erfolge erzielt, wie sich aus den Anstaltsberichton ergiebt. Nur auf 3 Jahre ist der durchschnittliche Aufenthalt der Zöglinge

Dio Kindorfohler. Jahr^iuig. 1 6

242

dort berechnet. \) Nach dieser Zeit gelien sie selbständig in Stellunfj^en über, nur lo^o bedarf auch später noch der Hilfe durch die Anstalt, nur 80/^ yerfällt später wieder der Armenpflege. Dabei belaufen sich die gesamten Kosten jährlich nur auf ca. 500 Mark. Also 1500 Mark genUgen dazu, um einen Erüppol selbständig zu machen. Nicht nur die Humanität, sondern auch das ökonomische Interesse der Nation fordert es danach, dafs hier energisch eingegriffen wird. Es würden dadurch dem Staate nicht mehr, sondern weniger Kosten ent- stehen; weit schworwiegender als der pekuniäre Tor- teil wäre aber der, dafs der Staat so und so viele lästige Mitglieder los werden und dafür ebensoriele nützliche Mitglieder der menschlichen Gesellschaft wieder er- halten würde. Vorläufig bleibt diese Aufgabe eine solche der öffentlichen Wohlthätigkeit und von Vereinen, die sich zum Ziele machen, den Krüppeln Hilie zu bringen, durch den Bau geeigneter Anstalten.

Schon beim Bau solcher Anstalten mufs ihrem Zwecke genau Rechnung getragen werden. Weil in denselben schwächliche und sehr häufig zu Tuberkulose neigende Kinder unteiigebracht werden, müssen die allgemeinen Gründe der Hygiene streng befolgt werden: besonders viel Licht und viel Luft muTs geschaffen werden nicht nur in den Zimmern, sondern es muTs auch ein genügend grofser Garten und Spielplatz und gedeckte Hallen, in denen sich die Kinder auch bei Regenwetter aufhalten können, vorhanden sein.

Die Anstalt mufs eine grofse Anzahl Räume enthalten, die aber nieist nur klein zu sein luiuiehen. EHorderlich sind: Wohn- bezw. Efsräume. Srhlafraume. I'.ailcräunie und Schul- und BesehäftiL:iinp<- räume. Da dit' krtrperliehe Beschaffenheit und damit auch die Bil- dungsfäbigkeit r < iiizelnen Kinder ein«' m hr verschiedene ist, so ist streug< s Tndi\idualisieren notwendig und dalier gröfsere Klassen nicht zweckmäfsig. Viel mehr zu empfelüen sind einzebie kleine Räume, in denen nur wenige Kinder Sehulunterricht \ind Unterricht in tech- nischen Fertigkeiten erhaltcti. Wegen der körperlichen ünbeholfen- heit der Zöglinge sind Schwellen und Treppen möglichst zu venneiden, an allen Korridoren (ieländer anzubringen und dergl. Aus demselben Grund(> sind offene ij'iammen (Lampen, Öfen) von Nachteil und ist

*} Leider scheinen in der Anstalt schwer Verkrüppelte, auch wenn sie unck ftrztUchem Ermeasen noch als besserungs- und lnldiugi^Ü4g tn betrachten, nicht immer Aufnahme zu finden, ein Umstand, durch den sich die Knne des Aoleot- halts teilweise erklärt.

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Kbvkxnbbro: Über Anstaltsfänotige für Krüppel. 243

einer Ceiitnilh6izu]ig(I)ampf-Liiftheizung) und elektrüscher fieleuchtung der V( irziig za geben. Die Beschäftif^ungsräume dienen teils

zur Ausführung von leieht< ii Tviialxnarboiten , teils der speziellen Ausbildung in einem Handwerk. Die Mädchen lernen besonders weibliche Handarbeiten und Haushaltsarbeiten. Die Handwerke, die ▼on Knaben erlernt werden können, sind recht zalilreich. Bei der Auswahl der Handwerke ist neben thiuiliclister Berücksichtigung der Neigung nnd eventuellen Talente jedes Zöglings die körperliche Rnt- Wickelung des einzelnen zu berücksichtigen. Besonders empfehlen sich feinere, eine gewisse manuelle Geschicklichkeit und Talent er- fordernde Arbeiten, wie Kunstbildhaucrei, Kunstmalerei, Kunststickerei» Ich habe gerade in solchen Arbeiten von Krüppeln Vorzügliches ge- schiMi und habe gefunden, dafs die Verfertiger dieser Arbeiten einen bcsoudci'S bofr-iodiLTtcn, glücklichen Eindruck machton. Auch die schönen Kii)^stt\ Zeicbnou und Musik, müssen von Begabteren ileifsig kultiviorr wcrdon.

Ftnirr ist darauf Bedacht zu nehmen, d ifs dio Bedürfnisse der Anstalt möglichst von dieser sen).--t gedeckt werden. Es ist das darnni zweckinärsig, weil die Anstalt dadurch bUiiger wirt.schaftet und aufserdeui weniger darauf angewiesen ist^ auswärts Absatz zu suchen. Letzterer l'unkt ist besonders wielitirr. denn die Anstalt inufs, wenn sie ihrer Aufgabe ganz gewachsen sein soll, auch für entlassene arbeitswillige und arbeitsfähigf» Pfleglinge sorgen. Für S(»lehe liefert sie das Arbeitsniatrrial un<l nimmt ihnen die fertige Arl)t.'it ab, oder sie sorgt meistens dafür, dul's diesell)en Arbeit finden, kurz, sie bietet einen Arbeitsnachweis für entlassene Zög- linge. Besiindi rs die speziellen Ht ilüi'fnisse der Zöglinge sind mög- lichst durch eigene Arbeit zu 'decken, als da sind: Kleider, Stiefel, Werkzeuge, Bandagen. Gerade in der Anfertigung von letzteren leisten oft Krüppel gestützt auf eigene Erfahrungen Vorzügliches.

Neben den genannten Räumen sijid nun noch eine Reihe andere speziellen Zwecken dienende erforderlich. Es ist ein Kranken- zimmer für Knaben und ein solches für Mädchen, aufserdem je ein Isolierzimmer notwemlig. Noch mehr zu empfehlen ist, wenn ein grolseres Krankenhaus in der Nfihe ist, dal^ ansteckende Kranke so- fort prinzipieUin die Isolienäume Ton diesem gebracht werden. Weiter- hin sind Sprechsimmer fttr den Ijeiter und lür den Arzt erforder- lich. Ein kleines, aber gnt eingerichtetes Operationszimmer mit Oberlicht ist nnerlüTslich. Femer ist ein grofser Turnsaal erforder- lich, in welchem nicht nur der Tiimuntenicht gegeben wird, sondern anch spezielle Gymnastik an geeigneten Apparaten getrieben werden

16*

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2U

A. Abhandluagen.

kann. Dant ltcn mufs sich ein Raum ziun Elektrisieren und Massieren befinden, an welchen zweciauäfsig wieder ein Kaum für Üader und Douchen anstüfst.

Die Kinder müssen dauernd unter genauer Aufsicht stehen. Dazu ist ein roicliliclies Personal erforderlich. Man braucht Pflege- personal, welches mit den Pflo^'lüigon zugleich die Hausarbeit ver- richtet. Ferner gebraucht man Handwerkslehrmeister; als solche sind erwachsene Kriipi)el uni^diehst zu bevorzugen, weil sie den Ehr- geiz der Krüppel am meisten zu wecken und die Grenzen ihrer Ijcistungsfähigkeit zu bemessen wissen. Besonders ist auf Anstellung eines tüchtigen Bandagisten Bedacht zu nehmen.

Femer ist ein Arzt erforderlich, und zwar nicht nur ein sog. Haasarzt, sondern ein spezialistisch ausgebildeter orthopä- discher Chirurg. Oerade die leUte Zeit hat fOr die ärztliche Be- handlung der Krüppel, für die Behandlung von Yeilrftminangen, von Lähmungen, von Krampfzuatänden die schönsten Erfolge gezeitigt, Erfolge, weiche in der Hand einzdner herrorragender Orthopäden noch glänzende sind in Fällen, die lange als hoffiiungslos gegolten haben und deshalb überhaupt nicht mehr behandelt wurden.

Biese Behandlang bedarf aber eines speziellen Studiums, sie kann ebensowenig von einem praktischen Arzte beherrscht werden, wie etwa die Behandlung von Augenkrankheiten und deigL Dafs aber das körperliche Leiden des Krüppels soweit irgend möglich beseitigt werde, das mufs die allererste Aufgabe der Anstalt sein. Daneben können der geistigen Ausbil- dung weite Ziele gesteckt werden. Der Unterricht braucht sich nicht auf die Fächer des Yolksschulunterrichts zu beschränken, sondern einzelne begabte Zöglinge können für die höheren Fächer, ja für das UniTersitätsstudium vorgebildet werden. Bei der Erziehung ist je- doch weniger auf umfassende positLve Kenntnisse als darauf Bedacht zu nehmen, dafs den Kindern eine feste sittliche und religiöse Unter- lage gegeben werde. Der Unterricht mulk von einem tüchtigen Pädagogen geleitet werden, welcher ebenso wie der Arzt spezia- listisch aii^.ir<'l'ildet sein mufs, welcher gerade in dem Studium geistig abnormer Kinder zu Hause sein mufs. Keben ihm mufs der für das körperliche Wohl verantwortliche Arzt die nötige Selbständigkeit haben. Konflikte dürften hier bei gegenseitigem Ent^^^o^enkommaa leicht zu vermeiden sein. Wenn beide Teile ihrer Aufir i' < gewachsen sind, so lialto ich eine derartige Befürchtung für unbegi i ul -t.

Aus eigener Erfahrung kann ich nur sagen, dals ich in Liegnitz seit 2 Jahren an einer Anstalt für Schwachsinnige und Idioten neben

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Krukenbebü: Über Aostaltsfürsoi^e für Krüppel.

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einem liervurnigenden Pädagogen thätig bin un<\ (hiTs es bisher noch nicht zu dem allerg-eringsten Konflikt gekoiniiu ii ist, im Oegentoil habe ich von dem Leiter dersc^lbcn ^iel für die Verwaltiing meines Krankenliuuses, für welclies irli verantwortlieh bin, frelenit und wir haben unsere Erfahrungen häufig zum Vorteil der Anstalt ausge- tauscht

Der Arzt mufs in ärztlichen Dingen vollständig selb- ständig sein. Er mufs den allgemeinen Gesundheitszustand der Ziiglinge überwaelicn iiiui die Einsehlepininir von Infektion.skrank- heitcn, besonders audi von Tuberkiihiso verhüten. Er mufs aber auch jederzeit in den allgt^nieinen Betrieb eingreifen können, inso- fern als die Kinder zur Ausfiilirung der ärztliehen ^fafsnahiiuMi in der notwendigen Weise vom l'ntoirirlit zu dispensieren sind. Ferner mufs sein Urteil die geh(»rip' Bcaehtung finden, wenn sieh bei einem Pflegling eine Verschlimmerung des köi-perlieiien Zustandes bemerk- bar maeht. die auf Übennüdung schliefsen läfst. Solelie Beobachtungen werden aber auch einem für eine solche Anstalt genügend vorge- bildeten Pädagogen kaum entgehen. Es [wird [daher bei der ganzen Einteiinng der geistigen und körperlichen Thätig- keit auf die Schwäche und Ermtidbarkoit besondere Rück- sicht genommen werden. Das geschieht durch eine genau ein- gehaltene Tagesordnung . deren Grundprinzipien sind: Übung und Schonung der Pfleglinge, Wechsel sw^ben Schul- und technischem Unterricht, Arbeit und Erholung, ferner Strenges Individualisieren, Rücksichtnahme auf das Alter und Gebreeben jedes Einzelnen.

Und nun noch eine wichtige Frage. Welche Rinder sind der Aufnahme in eine Erüppelanstalt bedürftig?

Hier sind zunächst im allgemeinen die Einder wohlhabender Eltern, deren Vermögenslage es gestattet, besondere Aufwendungen für die Erziehung des Kindes zu machen, auszuschliefsen. Nur bei schweren Terstümmelungen wird auch für die Kinder vermögender Eltem die Aufnahme in eine Krüppelanstalt von Vorteil sein.

Von der Aufnahme sind femer auszuschliefsen Taube und Blinde. Sie bedürfen eines ihrem körperlichen Leiden so speziell angepafsten Unterrichts, wie er in einer Krttppelanstalt nicht geboten werden kann.

Den Zwecken der Anstalt wird am besten gedient werden, wenn zur Aufnahme ausschließlich körperlich verkrüppelte und bildungs- fähige Kinder zugelassen werden. Bio Grenzen hierfür sind mög- lichst weit zu ziehen.

Wahrend z. 6. die Kgl. Bayerische Gentraianstalt für Bildung

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und Erziehung; krüppi^lhaftcr Kinder fordert, dafs die Aufzunehmenden mit keinem einen chirurgischen Eingriff erfordernden lA»iden behaftet sind, daFs sie ohne Hilfe anderer gehen können, endliclu dafs ihre Hände jene Bewegungsfähigkeit besitzen, welche zu den im Institut vorkommenden Arbeiten nötig sind-, möchte ich gerade mit diesen Leiden behaftete Krüppel zur Aufnalune für geeignet halten. Auch wenn der Krüppel g-ar keine Hände besitzt, ist er noch bildungsfähig. Ich zeige Ihnen hier das Hildnis eines Mädchens aus dem Krüppel- heim in Christ iania (Fig. (i). Sie ist Kunstweberin und hat den

Stoff, den Sie hier .sehen, gewebt. Auch die Schürze, die sie auf dem Bilde tiügt. hat sie selbst gefertigt. Diese Häkelei und diese Bürste') sind von dem unglücklichen Mädchen angefertigt, das nur Stummel von Armen und Beinen besitzt, wie Sie auf diesem Bilde (Fig. 7) sehen. Sie schreibt auch mit dem .>[unde. Dieser Portieren- halter ist von einem Krüppol, dem die rechte Hand fehlt, angefertigt. Die.se Nadel- büchse und diese Bürsten sind gleiclifalls von Ein- amiigen angefertigt. Diese Bürste hat ein blinder Krüppel gemacht, dem 4 Finger der linken Hand fehlen. Dieser Drellstoff, dieser Tuchstoff und diese Bürste sind von einseitig (Jelähmten gearbeitet. Diese Bürste ist von einem Krüppel angefertigt, der an einer spastischen Lähmung aller Extremitäten leidet. Er kann nur mit beiden Zeige- fingern arbeiten, während <lie Anne ausgestreckt gehalten werden. Diesen Kunstschrank hat ein Tischler gearbeitet, der an der rechten Hand nur einen Finger hat. Alle diese Arbeitsproben stammen aus der Krüppelanstalt in Christiania. (JhMch ausgezeichnet sind die zahl- reichen Hnien vorliegenden Arbeitsproben aus der KrüppelanstAlt

') Herr Dr. Kr. hatte seinen Vortrag durch eine reichhaltige, hochintereasante Ausstellung ergänzt. Tr.

Fig. 0.

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Magdeburg- Cracau. Ich bitte Sie besonders die Zeichnungen, die Stickereien und Klöppeleien und die Schnitzereien der Krüppel zu beachten, die trotz Lähmung oder Verkrüppelung an der oberen Exti-emität ohne jeden Fehl und Tadel angefertigt sind. Das sind Zeichen von Energie, die der ganzen Anstiüt zur Ehre gereichen und die besonders der deutsche Arzt, der aus Erfahrung weifs, was bei uns von Unfallverletzten oft in »Erwerbsunfähigkeit« geleistet wird, mit Bewunderung und nicht ohne Beschämung betrachten wird. Kinder, die sich ohne Hilfe nicht fortbewegen können, werden in einer unter tüchtiger Leitung stehenden Anstalt häufig noch wenigstens mit Schienen laufen lernen. Sie sind durchaus zur Auf- nahme geeignet. Auch die Notwendigkeit chirurgischer Eingriffe darf die Aufnahme nicht ausschliefsen. Die ärzt- liche Leitung mufs eine solche sein, dafs derartige, die F'unktion bessernde Ein- griffe in der Anstalt ebenso- gut oder besser als anderwei- tig gemacht werden kitnnen. Lieber einen zu schwer Verkrüppelten versuchs- weise aufnehmen, als ihm von vornherein die ^lög- lichkeit einer Heilung und Bildung ne Innen!

Wenn die nötigen Mittel vorhanden sind, wird man auch wie in den PpEiFFKRSchen Anstalten in Cracau gänzlich bildungsunfähige Krüppel aufnehmen aber in getrennten Siechenabteilungen so dafs die Entwickelung der Bildungsanstalt nicht gehemmt wird. In solchen Abteilungen können auch erwachsene sieche Krüppel Aufnahme finden. Im Allge- meinen aber sollten erwachsene Krüppel in der Anstalt nur verbleiben dürfen, wenn sie arbeitsfähig und arbeits- willig sind.

Die Aufnahmen von Idioten in eine Krüppelanstalt halte ich für ebenso unz weckmäfsig, wie die Aufnahme

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A, Abhandlungen.

körporlicb Verkrüppelter in eine Idiotenanstalt Bei der Aufnahme mufs die Fruge, ob daa Kind bildunga- und besserungs- Ühig iflt^ die mafsgebende sein. Wie z. B. taubBtnnune Kinder, welche gleichzeitig erblindet sind, nicht in eine IVubRtununenanstalt, sondern in eine Idiotenanstalt gehören, so sollten körperliche Krüppel, welche idiotisch oder blind oder taub sind, so dafs ein erfolgreicher Unterricht derselben ausgeschlossen erscheint, nicht in einer Krüppel- anstait, sondern in einer Siechenanstalt unteigebracht werden.

Dagegen werden körperlich verkrüppelte Kinder, auch wenn sie bis zu einem gewissen Orade psychopatiiisch minderwertig sind, am besten in einer Krttppelanstalt unteigebracht, wenn sie voransacht- lieh im Stande sind, am Elementarunterricht teilzunehmen. Sie werden sogar ein grorses Kontingent unter den Krüppeln bilden, welches an den Leiter der Anstalt in pädagogischer Beziehung besondere An- forderungen stellt

So bildet eine Krüppelanstalt ein selbstKndig abgesdilossenes Ganzes, eine kleine Gemeinde für sich. Ich sage eine kleine Ge- meinde. Denn je gröJser die Anstalt, desto mehr wird in derselben schematisch zum Nachteile des Einzelnen verfahren werden müssen. Sehr grofso Anstalten haben weiter den Kachteil, dalk ihre Zöglinge im^ weiten Entfernungen einberufen werden müssen, was den Eltern den EntscbhiTs, ihr Kind in eine Krüppelanstalt zu geben, erschweren mufs. Auf der anderen Seite aber ist der Betrieb, wenn er allen Anforderungen genügen Soll, ohne allzu erhebliehe Kosten nur in gn.fsoreni Stile mögli< Ii. 100—150 Zöglinge dürfte wohl ungefähr das Maximum sein, auf ditö eine solche Anstalt eingerichtet werden sollte.

Wo wird nun eine Krüppelanstalt zweekmafsig erbaut werden? Nicht im Centnun grofser Städte. Hier ist das Terrain zu teuer, die Ausdehnung in der Fläche nicht gut möglich, der Bau

niüfste sich mehr in die Höhe erstrecken, was, wie wir gesehen haben, nicht von Vorteil wäre. Auf der anderen Seite möchte ich aber auch vor dem Hau auf dem flachen Lande oder in kleinen Städten warnen. Hier ist die nvitige ärztliche Hilfe nicht zu haben, denn eine solche Anstalt wird für einen orthopädischen (Jhiruig««n als anssriiliefslirho Thätigkeit nicht ausreichen, sie müfsto daher vuiaus- sichtlich auf spezialistis< h(' iir/.tlirhe Hilfe verzichten. Ich würde daher den Ban einer Krüppelanstalt in der N'ähe fiii» r Mittelstadt <>d<'i- noch besser einer Universitätsstadt, wo htMMina^eiide medi- nische Kräfte zur Verfütruiiir stt'ht'n. t'rii})f»'hh'n. Eine solche Nähe hätte noch weitere Vorteile insofern als in einer solchen iStadt sich

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Limmm: Anrogong mr BeotMchtoqg d«r Kotniokeliing tantetummer Kmder. 249

leicht ein Verein gründen liofso. aus dessen Mitgliedern der Vorstand der Anstalt hervorginge und der das Interesse des Publikums für die Anstalt wach erhielte, besonders aber auch sich der entlassenen Zög- linge annähme, denselben Arbeit verschaffte und auf der anderen Seite die Aufnahme hilfsbedürftiger Kiüppol vermittelte.

Wenn in unserm schönen Thüringen ein Verein sich zu einer sdcheiL Au^be «usammenfande, so würde er sicherlich nicht nur des Dankes der Krüppel, sondern auch des Dankes des ganzen TbÜiinger Landes sidier sein.

4. Anregung zur Beobachtnng der Entwickelung taub- stummer Kinder.

Eine Bitte an Eltern, Itehrer, Ärzte, Oeistlicbe eto. Von £. UapreeM, ord. Lehrer a. d. ProT.-Itobetiiminen-Aiistalt in Köalin.

Einem PmAiiOnn gleich salsen oft die Tanbstnmmenlehrer früherer Zeiten inmitten ihrer greisen taubstummen Eindersefaar nnd snohten mit heroischer Selbstüberwindung, die eigene Gesundheit nicht achtend, den armen Geborlosen eine menschenwürdige Erziehnng und Bildung su geben. Desgleichen waren sie eifrig bestrebt, sich dorch fieifeige Beobachtung und eifriges Studium mit der Natur des taubstummen Eindes bekannt zu machen. Sie handelten und schrieben nach bestem Wissen und Gewissen. Darum wäre es nicht schdn, aber sie, die unermüdlichen Yorkftmpfer auf dem Gebiete der Tanh- Btumroenbildung, ein mirsbilligendes Urteil su fällen. Im Gegenteil, der ehrerbietigste Dank sei ihnen auch an dieser Stelle aosgesproohen. Uro der Wahrheit aber die Ehre zu geben, müssen wir hervorheben, dafs sie sich gänzlich im Irrtum befanden, wenn sie dem kleinen Taubstummen das Gedächtnis, die Beurteilunpjskraft imd den Ver- stand, KindesHehe, Dankbarkeit j- "on Eltom und Wohlthäter, Anhing- lichkeit, Mitleid und Sinn für freundscbaft absprachen. Ein noch ^öfserer Irrtum war es, wenn verschiedene dieser Autoren »es nicht für schwer hielten,« dem ungebildeten Taubstummen den allgemeinen Menschenverstand ^»abzudisputieren«, wenn sie ihn auf die niedrigste Stufe der Menschheit stellten und ihn dem Tiere gleich schätzten. Diese irrigen Ansichten sind bereits von neueren Fachschriftstellern aufgeklärt woi 1 n. Doch manches bleibt noch zu thun übrig. So bilden meines Erachtens die einzelnen Entwickelungsstadien des ge- hörlosen Kindes im Säuglingsalter und in den ersten Lebensjahren ein noch ziemlich unerforschtes Gebiet. Arbeiten darüber liegen

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250 A. Abhandlmtgeti.

allerdings Tor. Diese sind aber teils soboii veraltet und die Unhalt- barkeit ibrer Aasfübrangen in neuerer Zeit erkannt worden, teils Sachen sie die Wahrheiten durch Hypothesen und Ableitungen fest- zustellen und bieten somit theoretische Abhandlungen, denen eine Illustration durch praktische Beispiele mehr oder weniger mangelt

Auf allgemein pädagogischem Gebiet bricht sich immer mehr die Erkenntnis Bahn, »dals die Psychologie des Kindes als selb- ständige wissenschaftliche Disdplin aufgefafst und behandelt werden mufs, dafs sie als eine wichtige Quelle der allgemeinen Psychologie anzufassen ist und am zweckmäJäigsten im Zusammenhange mit der pädagogischen Erfahrung betrieben wirdc. Diese Erkenntnis hat namhafte Pädagogen dazu gef(ihrt» sich eingehend der Kinderforschung zuzuwenden, um auf Grund kinderpsycbologischer Erfahrungen dss Lehrziel und die Lehrmittel anzugeben, sowie in diesem Sinne eine Auswahl des Stoffes zu treffen. Bahnbrechend auf dem Gebiete der Kinderforscbung in jüngerer Zeit ist Preter gewesen. Nach seinem Beispiele sind eine ganze Beihe kürzerer oder umfaDgreicberer Werke entstanden, die an einem oder mehreren praktisch durchgeführten Beispielen die Kindesentnickelung zu beleuchten suchen. Erinnert sei nur an die Werke von PfiREZ, Tr\( v. Sully. CoMiuYRß, SiiArpFL etc. Zeitschriften für Kinderforschung sind neu l)ogrrnulet worden lud erfreuen sieb einer eifrigen Mitarbeiterscliaft und eines stetig zu« nehmenden Leserkreises. Unter verschiedener Benennung dieses oder jenes Gruadprinzipes haben sich Vereine gebildet, die alle eine pmk- tisch-v i I nschaftliche Kinderforschung pflegen. Wenn auch darin das taubstumme Kind eingeschlossen ist und auch einzelne Autoren in ihren Arbeiten verschiedene Grundzüge des Seelenlebens eines taubstummen Kindes schildern, so ist es doch notwendig, speziell die fortschreitende Entwickelung eines gehörlosen Kindes in psychologisch- genetischer Reihenfolge und durch konkrete dem Ix'beu ab<;elauschte Beispiele allseitig beleuchtet, geordnet vuiziif Uhren, um danach seine Ausbildung und Erziehunj; zu regeln. Um so mehr ist dieses not- wendijx, da wir oft vor dem kh^inen taubstummen Kinde ratlos da- stehen, und es uns in seiner Spraelilosigkeit Pinrr Tabula rasa gleicht, von der etwas abzulesen, wir uns vergeblich bemühen.

»Standpunkt des Lebens, ludividualbestimraung des Menschen, du bist das Hucli der Natur, in dir liegt die Kraft und die Ordnunsr dieser weisen Führerin. und jede Schulbildung,', die nicht auf diese Grundinge der Menschenbildung gebaut ist. führt irre.« Allenthalben «•nipfindet man in der Taubstummenlehrerwelt das Bedürfnis- n-xch tieferer Erkenntnis der Zöglinge, allenthalben ist man bestiebt, unter

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LkMPBKm: Anregung zorBeobaditaiif der fintwicketuiig taubetomm 251

Mühe und Arbeit das gesteckte Ziel zu cnciclien. Doch von manchem Feblschlage, von manchem Zwiespalt im innei-sten Herzen geben die tiefen Seufzer Kunde, die in den Taubstummcnlehrei-fachkreisen sich bemerkbar machen. Überall ist man bestrebt, an dem inneren Aus- bau der Lautsprachmetbode za arb^ten, die taubstummen Zöglinge YolleDdeter ihrer fiestLmmung zQzafOliren. Mit der Arbeit an der YervoUkommnaiig der Methode and des ünterriohts geht das Studium der EindesnatuT des Taubstummen Hand in Hand. Aber die Be- obachtung der Eigenarten und Eigentümlichkeiten in d«r ersten Ent- Wickelung des taubstummen Kindes entzieht sich dem Taubstummen- lehrer teilweise oder ganz. Es ist ihm unmöglioh, neben seiner ihn roliständig in Ansprach nehmende Unterrichts- und Erzieh iing.>arbeit nach den in der Monarchie ▼ersti'eut lebenden laubstummen Kindern ▼oischulpflichtigen Alters eingehend zu forschen, resp. Studienreisen zu ihnen zu untemehmeD. Auch selbst wenn ihm dieses ermöglicht wäre, könnte er eine fortlaufende Beobachtung wohl selten anstellen.

»Nor ans der KrSfte scliön Toveiiit«»!! Streb» Erhebt nch. wirkend eist das wahxe Lebeii.c

An! dem Gebiete der Erforschung der kleinen Gehörlosen wire allen Menschen Gelegenheit gegeben, im Weinberge des Herrn tfaätig zu sein, vor allem den Eltern, Lehrern, Geistlichen und Ärzten. Es würde jedenfalls zu erfreulichen Resultaten führen, wenn sie sich alle vereint in den Dienst der hilfebedürftigen Gehörlosen stellten. Ein stummes: >yergeit*B Gottlc der kleinen Viersinnigen, eine dank- bare Anerkennung aus den Kreisen der Taubstummenlehrerwelt möchten der bescheidene Lohn sein.

Die Beobacbtong mufs sich auf die somatische und psrchiscbe Entwickelang des kleinen Taubstummen erstrecken. Am vorteilhaf- testen wäre es, den Lebenslauf dieses oder jenes taubstummen Kindes mit Inbegriff der aufsergewöhnlichen Ereignisse während der Schwan- gerschaft der Matter in geordneter Weise TorzufUhren, so wie dieses auf dem allgemein kinderpsychologischen Gebiete von Pbbybb ge- schehen ist Eine solche Erforschung müfeten die Eltern oder Per- sonen, die täglich mit dem taubstummen Kinde von der Geburt an in Beziehung treten, durcfaftthren. Allerdings wird ans in älteren und neueren Fachschriften der Lebenslauf eines taubstummen Kindes ganz oder teilweise vor Augen geführt. Es ist nicht zu verkennen, dafs uns damit ein sehr schätzenswertes Material geboten wird. Leider sind darin die Beobacluungen in dem Siiuizlingsalter und den ersten Lebensjahren nur recht düi*ftig, oft fehlen sie ganz. Dieses erscheint ganz natürlich, weil die betreffenden Aufeeichnungen von Gehörlosen

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A. Abhandlnngen.

ft^bst oder nach den tod ihnen gemachten Hitteilnngen Dteder- geechrieben worden sind.

Zar ErfoTBcbung und Feststellung des leiblichen und seelischen Znstsndes eines Kindes sind in neuerer Zeit von Pädagogen Frage- bogen, Schemata, Lebens- und FersonalbQcher aufgestellt und em- pfohlen worden. Diese können im allgemeinen auch als Wegweiser zur Beobachtung des taubstummen Kindes dienen. Es ist eine recht erfreuliche Thatsache, dafs die Ärzte, namentlich die Ohrenfirste, ihre Aufmerksamkeit immer mehr und mehr den taubstummen Eandem und der Thätigkeit der Taubstummenanstalten zuwenden. Ihre Be- obachtungen richten sich leider meistens nur auf die Ursachen und Orade der Taubheit, vor allem auf die Höifilhigkeit Dals in Bezug auf die Ausbildung und den Oebrauob der letzteren im Unterricht die Meinungen der lizte und Fachlehrer nicht übereinstimmen, gebort nicht hierher. £s wfire nun recht empfehlens- und lobenswert, wenn die Ärzte, besonders die Spezialisten, ihre Aufmerksamkeit auch auf die Beobachtung des leiblichen und seelischen Wachstums ausdehnen würden. Alle Fachlehrer würden ihDen dafür dankbar sein. Mit Freuden nahm jedenfalls die ganze Taub.stnninienlehrerwelt davon Kenntnis, dnfs auf dem ersten österreichischen Taubstummen Ich rortage (ara 1. April d. Js.) Herr Dr. med. Alexander, Spezialist auf dem Ge- biete der Ohrenheilkunde und Assistent an der Klinik des Professois Kreiul, einen Vortrag über den »Entwurf einer Statistik der Ent- wickelung taubstummer Kinder in den ersten Lebensjahren« gehalten bat^) Natüriich werden die von Ärzten und Psychiatern aufgestellten Fraj^cbocjen eine ganz andere Gestalt als die von Taubstummenlehrern entworfenen annehmen. Bas ärztliche Material im Verein mit den

') Nachdem Ich dien Arbeit schon beendet hatte, sind mir einige prirate Mit- teilungen über den Vortrag des Henm Dr. med. Auxasuimb ragegangen. Redner

wies nach einleitenden Worten zunächst auf die Notwendigkeit solcher statistischen Erhehunjrf^n hin nnd empfahl die Beaotwortunfr des von ihm und Professor RKnrit. entworfenen Fragebogens durch Lehrer, Ärzte etc. Darauf gab er die Fragen be- kannt: Name, Wohnort, Geburtstag des taub»tiunmen Kindes! WwTiel Kinder liUt die Familie? Das wievielte ist tsnbstamm? Ist es taub geboren? War es krank, voran erkrankt und wannV Wann wurde die Taubheit bemerkt? Wann haben die anderen (IC<^(:■Il\viNf..^ gehen gelernt? Wann d;i> fiuibstunsnii' Kiini? R'-'snndere Be- obachtungen hierbei? Hat es sich dabei gleich den ubrigeu verhalten : Ist dabei besondere Ungeschicklichkeit AufgcfaUco ? War es beim Spielen, Geben, Laufen un- geschickt? Hat es sich geistig normd verhalten? Ist es heim Gehen hinfig ge> fallen? Hat es iSprechversuche gemacht, w: i Einen Anspruch auf absolute Rieh» tigkeit macht diese kleine AiiLral"' nutit. ,l-'ii.Mifalls or?«Theint die fjenfine AVicdor- gaho (Jps Fragebogens in dem in nä* hst- r Z' it erscheinenden »Bericht über den allgem. 1. österreichischen Taubstummenlehrei-tag«.

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LAMTBECan: Anregung zur I^obachtung der Entwickeluug taubstuutiiier Kinder. 258

Aufzeiohniingen von Laien, Pädagogen und Geistlichen stellt eine allseitige Beleuchtung der Entwickelung eines taubstumineu Kindes in Aussicht und wird für Erziehung und Methode hiureiobende i^'inger- zeige bieten.

Die naciistehenden Ausführungen mögen noch kurz ctiarakteri- bieren, nach welchen (iesiciit.sptnikten ungefähr die Beobachtungen vom praktisch -pädagogisciien iStaudpunkte aus aufgezeichnet werden könnten. Die Anlage ist durchaus einfach gehalten, damit auch weniger gebildete Eltern ein Verstündnis dafür erlangen und das, was sie wahrnehmen, niederschreiben können. Wenn eine fortlaufende Be- obachtung ausgeschlossen ist, so genügt es vollkommen, kleine Epi- soden und Begebenheiten ohne Rücksicht auf flen weiteren Zuisaimnun- hang aufzuzeichneu. Jeder Tuubsüinnneulehrer und jede Fachzeit- schrift, sowie jede Zeitschrift für Kinderforschung werden derartige Mitteilungen gewifs laiihhu entgegennehmen. Eine Gruppierung nach folgenden fünf Haupiiil.schnitten scheint empfehlenswert: 1. All- gemeines. 2. Das Säuglingsalter (1. r.rf»bensjahr). 3. Das Spielalter (O 6, Lebensjahr). 4. Das Lernalter (b. 14. Lebensjahr). 5. Das Jünglings- uml Jungfrauenalter. Unter -Allgemeines* sind zuniichst die notwendigen rersonulien aufzuuehinen, nämlich der Is'ame des Kin(le.s, Stand und Wohnort der Eltern. Daran schliefsen sich An- gaben über die Ursachen der Taubheit. Wenn das Kind taub ge- boren wurde, so müssen besondere Begebenheiten und Erscheinungen während der Schwangerschaft bei der Mutter, Beschäftigung, Aufent- halt und Nahrung der Mutter in dieser Zeit, heftige QetnttlsbeweguD- geu (Schreck) und gradierende Momente beim Oeburtsakt, auJser- gewöbnlicfae und regelwidrige ErscheiDungen. die sieh am SGrper des taubstummen Eindee bemerkbar machen, zur Aufzeichnung gelangen.

Charakterietikea aus dem Säuglingsalter des taubstummen Kindes existieren, wie schon hervorgehoben, nur äufseist wenig. Dieses ist gan;; natQrlicb. Unterriebtete Zöglinge besitzen daron keine Erinne- rungen, und die Eltern merken anfangs, oft lange nicht, das Fehlen des Gehörs und widmen dem taubstummen Säugling keine besondere Aufmerksamkeit. Abgesehen davon, daCs vielen Eltern die Zeit mangelt, besitzen sie auch nicht die Bildung, die seelische und körperliche Entwickelung in ihren einzelnen Stadien und Abweichungen beobachten zu können. Und gerade über diesen Lebensabschnitt des taubstummen Bandes eingehend Aufschlufs zu erhalten, dürfte nicht nur den Taubstummenlehrem, sondern auch den Ärzten, Psychiatern und Pädagogen von gro&em Interesse sein. Am zweckdienlichsten scheinen mir die Ermittelungen über folgende Punkte zu sein: In

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A. Abhandlungen.

einfacher Weise ist zu verzeiehnt n, wie und wann f?ich sclion das Fehlen des Gehörs l)on)orkl)ai uiaclite, wie die aiulcnMi Sinue begannen, sich Icbhaftoi' xii aulM fii, ob der taubstumm»' Ssäuglinj? später als anilere Kinder anfing, für die ümgobuug Interesse zu zeigen, ob dieses bei ihm nur in Mienen und Gebärden oder auch in Lauten wie bei hörenden Kindern zum Ausdruck Ijam, ob seine Bewegungen »wilder« als bei vollsinnigen waren, inwieweit schon in dieser Zeit die Gefühlswirkung anstatt des Oebörs eintrat, ob das Kind von aai^ergewöbnücbea Krankheiten heimgesucht wofde etc.

Die Ersoheinungen in den Jahren des Spielalters sind den Kltem, selbst auch weniger gebildeten, schon mehr verstfindlich. Der Unter- schied sEwischen taubstummen und hörenden Kindern tritt immer deutlicher hervor. Da wäre es sehr wertvoll, durch Beispiele nach-- zuweisen, wann und wo der kleine Taubstumme anfing, seine Ge- danken durch Gebärden auszudrücken; wann und wie er begann, seine Gefühle der Dankbarkeit, Ehrfurcht und Liebe zu bezeigen, ob sich beim Anblick religiöser Beispiele ein religiöses Gefühl in ihm regte, und ob er dieses durch Händefalten oder anderswie ausdrückte, ob er die Gesellschaft gleichalteriger hörender Genossen aufsuchte und mit ihnen spielte, womit er am liebsten spielte, wenn er allein war, in welcher Weise sich seine Phantasie äufserte, ob sich bei ihm ein Hang zu Zank und UnTerträgüchkeit bemerkbar machte, für welche Dinge und Begebenheiten er eine besondere Torliebe zeigte, ob er Hand und Auge mehr als Hörende übte und durch welche Arbeit dieses geschah.

Von dem Zeitpunkte ab, da das Kind der Taubstummen- Anstalt zugeführt wurde, sind der Lehrer und andere Personen bequem in der Lage, die Aufzeichnungen unter Berücksichtigung der körperlichen,

geistigen und sittlichen Entwickelung fortzusetzen.

Die deutsehe Taubstummon-Unterrichtemethode sieht es als ihre vornehmste Aufgabe an, die Kinder zu einem deutlichen, lautreinen Sprechen zu führen. Trotz aller Mühe und Arbeit lä&t sich oft eine

gute Aussprache nicht erzielen. Den Grund dazu sucht man in ver- schiedenen körperlichen Fehlem und Hindernissen. Jedenfalls ist dann der Bau der Sprachwerkzeuge anormal. Defekte oder Wuche- ningen an denselben stehm der guten Lautbildung hindernd entgegen. Der Tauf'sritnimenlehrer besitzt nicht das ärztliche Wissen, um die hindernden Mifsbildungen zu erkennen. Das Urteil eine^; Mediziners (Spezialisten) ist hier allein mafsgehond. Vor allem wäre es wünschens- wert, wenn ein Arzt das taubstumme Kind in soineiii Waolistum be- obachten würde, um zu konstatieren, wie die Wucherungen fort>

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Laiiprrcut: Anregung zur Beobachtung der Kntwickelung taubstummer Kinder. 255

schreiten, ob Anfänge be7w. Anlagen dazu vorhandon wuiuii oder sich die verderblichen Einflüsse erst später iRMuiishildeten. K> wiire interessant zu ortiihren. ob sich nach operativen Kingriffen das Sprechen besserte. Von diesbezüfrliclien Operationen tauchen bereits Herichte in den P'aeiibliittern auf. Doch an ojueiii ahsclilieJsendeii Urteil feblt noch viel. In einigen Fallen soll sich das .^[)reuhen bedeutend gebessert haben, in anderen jedoch ist laut Lk>richten eine Besserung nicht eingetreten. Wenn der Arzt (Spezialist) sein Urteil abgiebt. dafs es nie mö«rlich sein wird, dieser oder jener Hindernisse wegen ein faules Sprechen zu erzielen, so weiden die Lehrer vor mancher un- nützen Arbeit und Übereilung und die Schüler vor mancher Quälerei bewahrt bleiben.

In den letzten Jahren treten in den Taubsrummcnlehrcrkreisen die Forderungen für eine Teilung der Schüler nach Fähigkeiten immer dringender auf. In verschiedenen Provinzen hat man die Teilung bereits durchgeführt bezw. angebahnt und erfolgreiche Resultate dadnrch endelt. Der Tfaätigkeit der psychiatrisch gebildeten Ante eröffnet sich hier ein gro&es Arbeitsfeld; und jeder Taobstummen- lehrer würde dem Psychiater sehr danl[bar sein, wenn er Ihm münd> liehe oder schriftliche Winke an die Hand geben möchte, resp. ihn in seinen Beobachtungen durch wiederholte Prüfung der geistigen Befähigung unterstützte und so im Verein mit dem Direktor der An* statt ein abschliefsendes Urteil über den Geisteszustand des Schülers abgeben würde. Gegenseitiges Vertrauen und beiderseitiges Entgegen* kommen sind allerdings zu solch einer vereinten Arbeit notwendig. Der guten Sache wegen müssen alle Vorurteile schwinden, Tomehme Überhebnng einerseits und Voreingenommenheit und Mübtrauen andererseits.^)

Die Erforschung des kleinen Taubstummen in seiner Eigenart erscheint vom allgemein menschlichen, christlichen, pädagogischen und psychologischen Standpunkte ans dringend erwünscht. Mögen die vorstehenden Abschnitte, die eine kleine Anregung dazu geben wollen, eine freundliche Beachtung bei Eltern, Lehrern, Geistlichen und Ärzten finden.

1) An der Köni^lii'}ien Taubstummen-Anstalt zu Berlin werden jUljährlich Fort» bildongülkurse für Arzte abgehalten.

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B. mttdlaiiüen.

B. Mitteilungen.

1. Bericht über die IV. Versammlung des Vereins für Kinderforschung am 1. n. 2. August 1902 in Jena.

Erstattet von den Schriftführern Dr. vwd. Strohmayer iu Jena und W. StikMksr|i

Anstaltslehrer auf der So]»hienhöhe bei Jena.

Die erste Sitzuntr am Abend ues 1. Augast wurde durch Herrn Oeh, Med.-ßat Prot, b in b wanger- Jeua eröffnet. Er begrüfste die Yor- tragenden und Otote, die sieb iimiohst nur in geringer Zahl eingefunden )»tten. Im Laufe des Abends follte sieb aJier der Saal mehr und mehr, sodars scliliefslich nicht nur qualititativ, sondern auch quantitativ reidier Beifall die Vortragenden lohnte.

ZudAchst sprach Herr Dr. med. Hermann Outzmann-Berlin übor

>We spmcUlflhe Bitwlckciua« des Malet mi Ihre lesBiageac.^)

Er gab in seinem interessanten Vortrage in ebenso kurzen ah sebarfoi Umrissen «üxi Bild det SfHwsheutwickelun; des Kindo^ sdtilderle die Hemmungen derselben und die Methoden zu deren Beseitigung. Fol- gende Leitsätse lagen dem Vortrage zum Gründe:

1. Zwischen willkürlichen und roflektürischen Bewpgnngrcn besteht kein wesentlicher Gegensatz, da auch die wiUkürlicbea Bewegungen ohne centripetalen Reiz nicht zu stände küiuiueu.

2. Die sprachliche Entwickelung der Kinder vollzieht sich in durch- gehende nachweisbaren fiesiehungen swisohen Heia und Reflex.

3. Die anftngliche Ataxie der sptaobliohen Bewegungen geht sll- mAhlich in Koordination fUier. (Demonstration der Atemkurven.)

1. Hennmungen der Sprachentwiokelung finden wir in Ausfall- und Beizersche i n 1 1 n gen

a) bei den peripher impressiven,

b) bei den centralen,

0) bei den peiipber expressiven Spracbwegen.

Dasu treten noch Einfinsse allgemeiner Art, die von verschiedeiien Teilen des Körpers ausgehen können.

5. Am sichersten können die Hemmungen der peripher expressiven Weg© (c) beseitigt werden. Schwieriger ist es, die Ausfälle eines oder mehrerer Sinne (a) auszugleichen, und zwar durch Kompensation anderer Sinne. Teilweise AusflUle können durch SinuesQbungen ersetzt werden. Am schwersten ist die Beeinflussung gehemmter centraler Sprachwege.

In der dem Vortrage folgenden Delatte machte Prof. B ins wanger- Jena auf einen Punkt aufmerksam, der eine Illustration zu d - n Fehlem in der Spraehentwickelnng des Kindes geben könnte. Es betnttt das die Frage der Sprachlosigkeit bei hysterischen Kindern weiche die

Der Vortrag ist vorstelioini iu sciuem Wortlaut zum Abdruck gebracht

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Bericht über die IV. Versammlung des Vereins für Kinderforsohaiig. 257

Sprache schon erworben haben, sie aber später wieder verlieren. Er weist auf zwei Gründe hin, die dabei für den Verlust der Sprache mafsgebend Bind: Eratens Stöningem dor Senflomoliilitlt bei Kindern, weldie die Empfindong des Oanmens und did StimmOhigkeit verloxen haben. Die sweite Gruppe ist gewissermafsen noch intereeaantar, ireil hier die psychischen Momente für die Sprachbildung klar hervortreten. Schmerz- emplindungen vormögen das Sprechen auszufiobalteo, z. B. bei geeohwollenen Mandeln oder Schmerzen im Kehlkopf.

Dr. Strohmayer -Jena bemerkt, dafä der Thatsaciie, dais das Nach- apteohen viel leichter eti als dae Spontan sprechen, > d. h. eine Erregung des motorischen Spiaohcentrania vom senaorisohen SpndbaenirQia ans leichter, als von dem sogenannten Begriffszentmm, gewisse ana- tomische Ursachen zu Grunde lügen. Während das sensorischo Sprach- zentnim im Schläfelappen ausgebreitete und mächtige Verbindungen zur GesamtgrofBiiirurinde besitzt, ist das motorische nur mit dem Schläfe- lappen duidi kompakte, anatomiadi vohl nnteraolieidbaie BOndel ver- knüpft Die leichate Zuleitung von Erregongen eihSIt das motorische Sprachzentrum über den SofalAfelappen und das darin enthaltene aenaorische Sprach Zentrum.

Dr. Stier-Jena erinnert daran, dafs von seiton der Zahnärzte in neuerer Zeit mit der frühzeitigen Entfcrnunfr der Rocjoiiannten 3. Backzähne auägezeichuete Erfolge für eine Korrektur uücrgcwucliseuer oder aboom geefediter Sohneidesfthne ernelt worden ist. Geschieht disse Entfernung so rechtzeitig, daJa die 4. Backzähne noch gat nicht oder erst ganz kurze Zeit durchgebrochen sind, dann schieben aidi in die so entstandenen freien Räume von vom her die Schneidezähne imd von hinten her die 4. Backzähne ein; es bleibt dann keine Lücke in der Zahnroihe, wohl aber erzielt man durch dieses einfache, noch viel zu wenig bekannte Mittel eine mM flbenaaoliende Verbesserung der Stellung der Vorder- zahne, welche nicht nur ans SchOnhdtsrfloksichtBn, sondern oft auch zur Verbesserung der Spradientwi<Afllung recht wünschenswert ist.

Dr. Gutzmann bemerkt zu den Ausführungen des Herrn Geheimrat Binswanger, dafs die Sprachhemmung durch Schmerz allgemein an- erkannt ist. Es braucht nicht immer ITvstorie vorzuliegen. Ein Kind seiner i'iaxis, welches Keuchhusten geiiubL iiatle, sprach flüsternd. Durch einige Übungen leinte ea die Stimme ganz gut wieder gebrauofasn. Bin anderer Fall bezieht sich auf einen ^waehaenen. Ein Bekrut stotterte und sprach flüsternd. Es lag sehr nahe, Simulation anzunehmen. Bei der Untersuchung stellte sich heraus, dafs die Stimmbänder nicht die normale Form besafscn. Es bestand Atropliie des Stimmmuskels. Dr. Gutz- mann wandte sich au die SchulbehSrde des Betreffenden und erhielt die Naobncht, dala der ßekrut von Jugend auf flüsternd gesprochen habe. Der Patient hatte eben schon frUh gemerkt, dafa ihm daa Sprechen im Flüstertöne leichter wurde. Deshalb tluit er es immer.

Was die Frage der Zahnstellung betrifft, so meint Dr. Gutzmann, dafs rs gewifs sehr wichtig ist, schleclite Zahnstellungen zu beseitigen. Doch soll man sich hüten, dieseu Verbüdungea einen zu grofsen Wert in

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B. Mitteilungea.

Bezug auf die SprachhemmuQg beizule^.' Zabukorrektur allein beseitigt einen Spraclifeliler nicht.

Prof. Binswanger dankla für die Beteiligung an der Debatte mid empfahl fimSohst im wieeeiiflohaftlichen Teile fortanfalueii und das 6e- aohftftlidie zum Schlufs zn erledigen.

Herr Direktor Schreudcr-Haag erhielt darauf das Wort m seinein in dieser Ztaohi. iu erweiterter Form abgedruckten Vortrag:

»Oler liidirniehraigeic.

der TOigerQckten Zeit wurde von einer Debatte au diesem Vortrage abgesehen und das Q^eschftftliche abgewickelt Der zweite Schriftführer, Lehrer Stukenberg-Sophienh5he bomerktc, dafs die Zahl der Mitglieder bej^tändig: im Steigen begriffen sei. Ein wesentlicher Überschuls in den Emnaiimen sei nicht zu verzeichnen, da die Propaganda für den jungen Verein ane verlilltniBinftfaige hohe' Summe veradilinge, weshalb vielleiobt eine grOfaere materielle UnterstQtsnng auf privatem Wege im Interesse des Yereioa erwflnscht sei. Die AbendTersammlung BchloTs nm 10 Uhr.

Den Vorsitz am 2. August führte Herr Direktor Trüper.

Er eröffnete die Versaramlnng' mit der Bekanntgabe der Tagesordnung und teilte mit. dafs sich der -Verein zur Beseitigung von Sprachstönmgen in Schlesvvjg-Holbteiu« zum Beitritt angemeldet habe. Der Verein wurde einstimmig als ICitglied aufgenommen.

Nun hielt Herr Krankenanstalts-Direktor SanitAterat Dr. med. Erukes- herg-Lfsgnita s^en Yortnig über

»AntattUche Fineiss fir Mppelc,

den diese Zeitechrift im WorÜant an anderer Stelle isingt

Direktor Trflper: Der Herr Vortragende hat uns nicht blob eine

schöne, sondern auch eine edle Anregung gegeben. Es wäre sun&chst zu wünschen, dafs wir uns über diesen Vortrag noch des weiteren aussprächen, dann aber auch, dals wir tiberlogen, wie in TliürinL'fn wie überall etwas nutzbringendes für die Krüppel geschehen und eine ausreichende Fürsorge getroffen werden kann. Wir liabeu iui vorigen Jahre hier einen Vortrag des Herrn Professor Hoffa-Wünburg Aber Kinderlfthmnng gehOrt und haben damit die Frage nach der theoretiBcheiL und individaalen Seite hin erOrteit. Wir haben nun in diesem Jahre dieses Thema irieder auf die Tagesordnung' gesetzt, um dasselbe auch nach der sozialen und insbe» Hondere der fürsorglichen Seite durch Anstalten hier zu betrachten, damit die Arbeit, die wir in unserem Verein verrichten, zu einem praktischen Endergebnis führe. Wur haben damit keinen MlTsgriff getban. loh hoffe» der Vortrag vurd nach dieeer Seite hin nicht Uola in uuserer Mitte» sondern überall in ThOringen und darflber hinaus Ancegong geben und Segm Btirten.

Dr. Stroh mayer: Bei den Anfnahmebedingtingen, welche der Herr Vortragende aufgestellt hat, sind mir dagegen Bedenken au^^ti^eui dala

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Berioht über die IV. Versammlang dos Vereins für Kindeiforsohong. 259

er von der Aufnahme in eine Anstalt Kindrr wohlhabender Eltern aus- gesciiioKsen sehen will. Es fragt sich, ob es üicht zweckmäfsig wäre, Kinder wohliiabender Eltern aufzunehmen. Man könnte dann die Sache 80 dnriohteD, dafii du reofat vohlhabendM Kind «in mittelloees kom-

Dr. Erukanberg: Eine Erüppelanstalt hat immer ihre Nachteile.

Sehr hfiufig machen wohlhab<»nde Eltern keinen Oobranch von ihr, wnil die Anstalt das Kind der Familie outzieht. Die Scheu bemittelter JiUtcrn vor solchen Anstalten bleibt bestehen. NatQrlich ist die Überführung in eine Anstalt besser. Für Kinder unbemittdtw Eltern ist dies aber beson- dere notwendig. Die armen krüppelhaften Kinder auf dem Lande be- kommen noch nicht einmal Schienen für einen mifsgcbildoten Fufs an* gefertigt. Geschieht es doch, so wird häufig genug der Dorfschmied mit soinrr in diesem Falle doch unzulAnglichen Kunst zti Rate i^erofren. Die armen Kinder leben in den meisten Fällen in ihrem verkrüppelten Zu- stande ohne jede Hilfe weiter. Das ist bei den wohlhabenden Kindern aidit der FUl. Sie k(tenffli an eiim Spealaliaten gehen und ao voa fliran LetdeD mehr oder weniger befreit werden. Aaderaraeits kttnnen sich anofa Eltern solcher Kinder einen üauslelirer verschaffen, die ihre Kinder nnter^ richten. Deshalb möchte ich, dafs die Kinder des armen Mannes bevorzugt werden. Gewifs könnte man ja der Anstalt pekuniäre Vorteile verschaffen durch die Aufnahme reicher Kinder. £ä würde aber schon bald eine UngleichmäHsigkeit in der Verpflegung zu Tage treten, die für die Anstalt nicht eraprleMch wSre.

Profesaor Zimmer-Zehlendorf: Was mir als das Wichtigste in dionom ganzen Tortrage vorkommt, ist der Gedanke: »Kann ein Invalid oder zum Krüppel gewordener Mensch durch Behandlung in Krüppelanstalten wieder in gewissem Grade erwerbsfähig werden?« Die Unfallvorsiohorungen würden dann sicher Mittel genug bereit haben, um eine Lnterbnagung in flolehen Anetalten so bewerkatelligen.

Im Anachlufa an diese Frage entatand eine lebhafte Debatte, an der sich Dr. Krukenberg, Dr. Gutzmann, Dr. Schmidt-Monnard-HaUe und Direktor Trüper beteiligten. Von •'ir'/tüoher Seite wurde auf die vorschiedenen Milngol der Unfaligesctzgobung hingewiesen, welche ge- wissermafson für den Arbeiter ein Hemmnis zur Gesundung bilde. Dras- tische Beispiele wurden bekannt g^eben. Desgleichen wurde allerseits betont, dalä auch IjUere Fenonen, welche durch Unfall an 'Krüppeln ge- worden seien, sehr wohl wieder erwerbsflUitg werden kOnntsn, meistena aber aus Furcht, die Rente zu Terlieren, den guten Willen vermissen liefsen.

Direktor Trüper: Dafs auch Personen, welche in späteren Jahren zum Krüppel werden, noch arbeiten können, dafür ein Beispiel. Ein Be- kannter von mir verlor im 19. Jahre durch einen Schuis die rechte üand. Br ist dann ein tfiohtiger und beiiebttt Lelnw geworden, leichnet und apielt die Qeige sehr gut Er bat aioh also noch im JUngliogaalter gana an den Gebrauch der linken Hand gewOhnt und die rechte durch eine könstlicho für Nebendienste erfolgt bekommen.

loh glaube^ es iUJnnte in vielen F&llen so werden. Wenn die Gesetse

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B. Mitteilangeii.

das hindern, so sollte die Gesellschaft auf eine Änderung jener Gesetze dringen. Donn es wäre ein Hucb, wenn wir Gesetze hätten, die den UenBoihai ImialHdflbeD infl Eleiid, xddit blob ia did Amut, sondeni matk an die msm Verkommenheit, die der ünthitigkeit nAtumotwendig folgt

Direktor Elootsema-Alkmaar (Holland): Auch in meiner Hdntl sind Malsnahmen 7.nr KrQppelversori^ing getroffen. Doch niufs ich sapfen, dafs die Erfolge, welche ich wahrnahm, nicht sehr günstige sind. Ich bin aber durch das hier Gehörte überzeugt worden, dafs sich mehr er- reichen lälst und gehe mit neuen Anregungen nach Holland zurück.

Fhrfeseor Bein- Jena: Ich mOchte mir nur die Notia erlauben, dab in Thfiringen der Anfang mit einem Erüppelheim in Blankenburg gemaoht worden ist Dieses Heim hat bereits 13 Kinder. ICan kOnnte von hier aus auf eine gröEsere Entwiokelung hotfian, ireiui veitere Sxeiae dafOr interessiert würden.

Direktor Trüper: Ich stehe ganz auf dem Standpunkte, dais die Einder san&ohat in den Famüien sein aoOen, Aber wenn die Familiai fOr sie aobleohter sind als die Anstalten, dann siehe ich es dooh vor, sie in Anstalten unterzubringen. Auch bei Kindern, welche nioht erwerbe- fähig zu werden brauchen, ist eine berufliche Ausbildung zu erstreben. Das Kind braucht diese um seiner selbst willen. Wenn ein Kind reicher £ltem nicht ausgebildet wird, dann wird es lebensübordrüssig und un- mutig. £ö eutaitet durchweg ethisch. Ich liabe iu meiner Anstalt auch IQnder aus wohlhabenden Familien, und es hat mch da erwiesen, da£B die Kinder niohi am» besten in der Familie aufgehoben sind. Bs kommt nodk hinsn, dab acdohe Kinder gewöhnlich aufserordentlich starke I|goisten werden, wenn sie in der Familie bleiben, da alle liiebe und FQnoige sich auf sie konzentriert

Noch auf einen anderen Punkt möchte ich eingeben. Mau hat ge- ssgt, taubstumme und blinde Krüppel gehörten in die Idioteoanstalt Sohlechthin soll man das nicht behaupten. loh will nur an Heilen KeUer und Lauxa Bridgman erinnern. Helen Keller ist taub und blind vom 1 8. Monat an. Sie hat die Aufnahmeprüfung für die Universität bestanden \md gegenwärtig Studentin. £s giebt also viele Fftllei wo eine Auöbüdung möglich und notwendig ist.

Das Wünschenswerteste wäre, dafs eine gröfsere Anzahl kleinerer Heime bestände imd auCaerdem die Tersohiedensten Alten tob Heimen nebeneinander Ilgen» so dafb Übeiginge Idoht su ermOgliöhen wiran. Sin Krüppelheim mlUiste also stets in Verbindung stehen mit einer Idiolen- oder Taubstummenanstalt.

Auch die bildungsunfähigen Krüppel bedürfen in besonderem Mafso d^ öffentlichen Fürsorge. Man müfste dann die Anstalten für dieae untersdieiden von den auerst erw&hnten, welche ihrem Wesen nach Er- stehungs^ und Bildungaheime sind. Solohe armen Wesen aua nnbemitteltsn EreiBen müssen ein entsetsUofaee Dasein HUuen. In annen Faaodlien IftCat man sie bisweilen nicht nur verkommen, sondern geradezu verhungern.

Dr. Krukcnbcrg: Ich habe Ihnen meinen Dank auszusprechen für das Interesse, das Sie meiuem Vortrage gewidmet haben. Ich inOchte mit

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Bericht iilier die IV. Yersanunlung des Vereins für Einderforschung. 261

dem Wunsche achliefsen, dafs die Erfolge nicht nur theoretisch ble!l>en, sondern dafs sie zum Ergebnis liabon möchten, dafs im Thüringer Laude und darüber hinaus bald etwas für die Krüppel geschehen möge.

Bar FtofesBor Dr, fheoL et phil. Zimm^r-ZefaleDdorf eigriff hieiftiif das Vork in «nem Vortrage:

»Zur Frage der rellgiSseo Eotwiekeloog des Kindes.«

Referent betonte, dafs er nicht Resultate irgendwelcher Art geben wolle, sondern nur zu der Fragestellung das Wort ergreife. E.s handle sich darum, in welcher Weise in dem Riudefileben die Religion Wurzol Bohlage und wachse, wenn die Beligioa nicht, wie das h&nfig gesagt werde» eine Saolie des GefQhlalebens oder des InteUekts oder des Willens sei, sondern wenn die Beli ;: n ihrem Wesen nadi richtig von den neu- testamentlichen Schriftstellen gekennzeichnet werde, wonach sie ein neues Leben i^t (veigl. die Worte Jesu von der Wiedergeburt bei Jobannes und Entspreciiendes auch bei den Synoptikern \md die genaue Kennzeichuung der Religion als neues Gesetz, Gesetz des Geistes oder des Lebens in Christo Jesu BOmer 8 im Unterschiede von dem Qeseta des neisohes und dem der Vernunft BOmer 7). Ober dieeen BeUgionsbegriff gab der Beüerent eine eingehendere Darlegung, die diesen praktischen Begriff nach seinen verschiedenen Momenten auf philosophisch -psychologisclier Grund- lage zu entwickeln suchte, als Grundlage für die Beantwortung der Frage, in welcher Weise, so als neues Leben gefafst, die Religion entstehen und gepflegt werdeu iiann. .

Da diese recht ansfQhrlichen, rein religions-philosophlsdben Be* tracfatoogen eigentlich gar nicht in den Babmen der Arbeit unsBie» Vereins passen, wurde von einer Debatte abgesehen. Nach kuraer Pause wurde die Versammlung wieder eröffnet.

Direktor Trüper: Ehe ich Herrn Dr. Strohmayer das Wort or- teile, möchte ich noch einige geschäftliche Fragen erledigen. Zunächst habe ich dem Verein Grüfse zu bestellen von Uenii Professor Ziehen- ütreoht und Herrn Fkofessor Ebbinghaus-Bresbu, die beide bedauern, dafh sie am Kommen bemflioh verhindert nnd. Herr 0dieimrat Binswanger hat sich entschuldigen lassen, da er notwendig verrdssn mufste. Es ist der Wunsch ausgesprochen, die Versamniltm^'- ein Jahr ums andere nach auswärts zu verlegen. Fürs nächste Jahr ist Halle vor- geschlagen. Ich bitte, darüber sich zu ilufsern.

Dr. Schmidt-Monnard-IIalle: Die Anregung ist von mir aas- gegangen. An jedem neuen Orte schlielhen sich die interessierten KieiBe an. Da wird es wcdtl sweckmälhig sein, ab und su Wanderveisammlungen absnhalien. Ich halte Halle insofern fQr geeignet, als ich in der Lage wäre, dort die nötigen Vorbereitungen zu treffen. Ich würde auch Rilfo finden bei einem grofsen Teile der Lehrerschaft Auch die Arzte würden sich für unsere Arbeit interessieren.

Direktor Trüper unterstützt diesen Antrag. Wir würden an jedem nenen Orte neue Mitglieder gewinnen. Er glaubt, die Zeit, welche wir bisher wttdten, ist in jeder Besiehung eine gOnatige. Diejenigen, welche

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B. IGtteilungeiu

äich iu Jena im den fericnkursen beteiligen woUen, können erst in üalle an der Vefsammliing teilnehmen und dann nach Jena kommen. Die Zeit in den ersten Tagen des Augnat oder in den letzten Tagen des Joli irire

somit die grmsti^'ste.

Durauf wird der Antrag, die n^hste Vwsammlang in Halle atat^ finden zu lassen, einstimmig angenommen.

AlBdann sprach Herr Dr. med. StrohmayerJ^Mia

Oker Epileiislfl tat Uidsialter.

Meine Damen und Ilerron! Ich hatte mir vorgenommen, Ihnen ein abgerundetes Bild der Epilepsie im Kindesalter vorzuführen. In Anbetracht der vorpTGSchrittenen Zeit halte ich es für zweckm^fsig, aus der Fülle der Thatsachen nur einige Punkte herauszugreifen, die mir hesondprs iuteressant und praktiäch wichtig erscbeincu. Zuuüchät möchte ich uut einigen Worten auf die Differentialdiagnose der Epilepsie nnd Hysterie im Kindesalter zu sprechen kommen. Sie irissen, die i^sterie wie die Epilepsie haben miteinandw gemein, dafs sie mit generalisierten oder lokalisierten Krampferscheinungen einhorgehen. Dazu kßnnen ßieh kürzer oder länf^er dauernde Bewufstseinsstörungen gesellen. Hieraus erklärt sich die TlmUache, dafs dem Nervenarzte Kinder zugeführt werden mit der Diagnose Hysterie besonders sind es junge Mädchen, bei denen eine längere Beobsohtnng die epileptische Art des liOidens offenbart Die Hysterie ist im Eindesalter häufiger, als der Laie anzunehmen pflegt. Freilich wird sie nur zu oft da gewittert, wo sie nicht vorliegt Sie ist in der Regel monosymptomati sch. Sie zeigt besonders hervorstechende »massive« Einzelsymptome, wie z. H. umBchnebene Lähmungen, KontraJf- turen, Gelenkneuralgien, Stottern, bummlosigkeit, Elrbi-echen u. a. w. Das sind typische Symptome der Hystwie bei Kindern. Oenerslisierte Krampf- anfiUle mit tonisoh •donischen Zuckungen und fiewuMostgkeit auf hysteri- scher Grundlage sind im Kindesslter so selten, dafe man dabei immer zuerst an Epilepsie, und erst in zweiter Linie an Hysterie denken soll. Der Laie ist meist selbst nicht lange im Zweifel , woran er ist, wenn er dem voileutwickeiten Aufali der Epilepsie gegen überbteht. Der initiale Schrei, die tiefe Bewufstlosigkeit, die wuchtigen Krampfbewegungen, die liohtstanen Pupillen, der UutiggefRrbte Scluium tot dem Munde, der Zungenbib, der unwiUkfirlicfae Al^ang von ürin and Kot sind zu aUar- mierende Symptome. Viel schwieriger ist die Differentialdiagnose bei kleinen Anfällen, die gerade im Kindesalter häufig auftreten. Es giebt solche epileptischer Natur, bei denen das Unheimliche der Kranipfkompo- nente vollständig fetiit. HäuGg ist der motorische Anteil des Anfalls niur ausgsdrfickt durch scheinbar harmlose Oieif-, Tret-, SdUag- oder Strampel- bevegungen, oder in anderen Fällen durch verNnzelte donisohe StOüBS in umschriebenen Muskelgruppen oder durch plStzliofaes Etschlaffen der ganzen KOrpermuskulatttr. Die BewuDBtseinstrflbungen dauern oft nur Sekunden

Der erweiterte Vortrag ist soeHon als selbständige Sdirift bei Oskar Bondo in Altenbuig ersohieoeni Preis 0,80 M.

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Boridii ubar die IV. YMnanimliiiig de» Teniiie für KiiideifoxMhiiiig. 263

und etseheiDen als ein einfacher SchwindelanfaU. Der Laie tat aufter- ardenütoh «ohwer zu übeneugeo, dafe er in solchen lUlen eine epileptische Erkrankung vor sich hat. Die Möglichkeit, dafs es sich um Hysterie handelt, liegt vor. Die oben beschriebene Art der Epilepsie, die unter dem Namen »petit mal« bekannt ist, hat Analoga in der Hysterie. Man liat überhaupt mehr und mehr die Erfahrung machen müssen, dais die Hysterie die EpUepie in -weitgehender Weise copieren kann. Nicht einmal die reflek- torische PnpU]0D8lBire nnd der Znngenlnb sind als unanfeofaibare diagnos- tische Merkmale Übrig geblieben. In der diagnostisohen Unklarheit bei hAufilgen kleineren Anfällen bei einem Kinde wird manchmal die Diagnose nnr klargestellt durch das ß:loicbzeitige^ wenn anch seltenere Vorkomomn von grofsen typischen Anfällen.

Ein sehr wichtiger Funkt bei der DüTerentialdiagnose ist die manch- mal spontane Angabe der Eltern, dafs sich in den letaten Monaten oder Jahren eine aufliidlende Einsohmelzung des geistigen Besitzstandes nnd Ab- stumpfüng des Gefühlslebens bei dem Kinde vollzogen habe. Bei einer grolsen Anzahl von Epileptikern H:ie!a sich im Laufe der Erkrankung eine AbschwRchung der Intelligenz kund. Das Kind wird geistig träge, die MerkfÄhigkeit nimmt ab, die Sprache wird lässig^ und verwaschen, die Be- wegungen plumper. Die Resultate des Schulbesuches werden mangelhaft. Das Bndresultat ist oft ein ausgesprochener Sohwachsinn. Auch im Gemütsleben des epileptischen Kindes stellt sich manchmal eine recht bedenkliche Wandlung zum Schlechteren ein. Das Kind wird ethisch defekt. Nicht alle Kinder, es sei ferne, das zu behaupten. Aber manche kleine Patienten fangen an zu lügen, werden hinterlistig, jähzornig, brutal gegen Eltern und Geschwister und verlieren den Sinn für Anstand und Sitte. Man spricht dann von der epileptischen Charukterdegeneration. Nun ist tu sagen, dab auch hystedsefae Kinder nicht immer Muster- exemplare sind. Vide sind schrecklich Terzogen und unartig', auch treten bei manchen zahlreiche pathologische Geffihlsreaktionen auf. Das Kind wird leicht zornig und übel gelaunt, reizbar, veretimmt, faul u. s. w. Allen diesen Attributen fehlt aber der bei Epileptischen hervorstechende schwach- sinnige Z\ig. Manche hTSterischo Kinder gehören von vornherein zu den Minderbegabten. Ein hysterisches Kind wird aber niemals durch seine Brkranknng sdiwaohsinnig, wie es bei Epileptikern der Fall ist Wenn bei hysterischen Kindern schwere Cbarakterdegenerationen vorkommen, so ist das niemals als eine Folge, sondern als eine Komplikation der hysterischen Erkrankung aufzufassen, die auf erblich-degenemtivo Ursachen zurückzufOiiren ist. Derselben Urs;iche der erblichen Degeneration ist auch die im Kiiulosalter vorkommende Kombination der btideu Neurosen, die Ilyslero- Epilepsie i^ur Last zu legen. Ob aber Epilepsie oder Hysterie bei einem Kinde rorliegt, das tu entscheiden, ist von der gr^isten Wichtigkeit Es ist eine allgemeine ErAihmng von uns Nervm^ Srx.ten, dafs einfache Hysterien im Kindesalter das dankbarste Objekt in der Behandlung sind und eine durchaus günstige f'rognoso haben; dagegen mufs man bei der einfachsten Epilei»sio trotz rationeller Behandlung immer die Aussichten für die Zukunft als mindestens zweifelhafte bezdcbnen.

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n. Mitteilungen.

Ich mficlite mm aocb auf die Behandlung und ünterbringang

jugendlicher Epileptiker m sprechen kommen. Es versteht sich roa selbst, dafs, wenn das Leiden ansgeljrix;hi:n und als fpilojitiM-hes erkannt ist, ärztliche Hilfe sofort Platz zu greifen hat. Ich l?ge Ihnen den dringenden Rat ans Herz, mit der ärztlichen Behandlung niemals zu bäumen. Eb kommt zwar im jugendlichen Alter manchmal vor, dafs TeraiBadte epileptiflohe AnOlte auftreten, die später ohne jede flrstliche Behandlung wieder schwinden. Aber das sind Ausnahmen, mit denen man nicht rechnen darf. Lassen Sie sich niemals durch den Schlendrian vertr5«^tpn, daf« sich epileptische Krämpfe mit der Zeit »verwachser» ? werden oder dafs sie ein mit der geschlechtlichen Entwickeluni,' zussammenhängendes notwendiges Übel darstellen. Das ist Unsinn, der sich später bitter rächt Je früher und je eneigischer eingegrifTen wird, desto beeser sind die Aus- sichten auf Heilung. Die schönsten therapeutischen Erfolge werden erzielt bei Kindern im Alter von 0 14 Jahren.

Die allgomeinen hy t^ien i'^clien Gesichtspunkte, in denen der I^ie den Arzt bei der Behandlung u&terstQtzen kano, lassen sich kurz zusammenfasseo:

Wenn die Erkrankung zu B^inn des schulpflichtigen Alt»^ auftritt, 80 Terschieben wir immer den Besuch der Schule um ein Jahr und warten

unter ärztlicher Behandlung ab. Beim Ausbruch der Erkrankung während der Schulzeit dringen wir darauf, dafs das Kind aus der Schule heraus- genommen wird, damit man bei absoluter geistit^r Riihigstellun^ einen Heil- vereuch machon kann. Die Epilepsie ist eiue chronische Erkrankung, infolgedessen muTs auch die Filrsorge für ein epileptisches Kind eine chronische sein. Man wird das einmal geftindene MaTiroaltnafe der kdrpw- liohen und geistigen Arbeit an der Hand eines Tagesplanes einzuhalten suchen und allee vermeiden, was grofse Ermüdung oder Eiregiing im Centrainervensystem vmirsnchen küuuto. Wir verbieten den Kindern Iiastiges Laufen und Rennen bei Kinderspielen und lassen sie abt;esehen von leichten Freiübungen nicht am Turnunterricht teilnehmen, oder grofse Fufstouren machen u. s. w. Alles braucht man deshalb einem epi- leptischen Kinde nicht zu rerbieten. Man soll ihm nicht jede Lebensfrende nehmen. Ich wQrde es z. B. zwar nidit gestatten, dafs es Musikunterricht in der Violine oder im Klavier nimmt, wohl aber nichts dagegen haben, dalB es am Singunterricht teilnimmt, gelegentlich ein Konzert hr^rt oder ins Theater geht. Das frischt den kindlichen Geist auf; und das hat ein krankes Kind nötig.

Eine gewisse Schonung bedarf das Kind nadi jeden AnMe. Wenn Sie je dnmal einen epilsptistdien Anfall gesehen haben, so werden Sie be- greifen, was für eine Strapaze für das Gehirn ein Anfall bedeutet Man ilatf nur nie bei dem Kindo durcli iiLertriebene Schononj:: tmd Betnit- leidiin^? das BGWufstsein anfkoniineu lassen, dafs es aus seiner Erkrankung ein Recht zum Bummeln herleiten darf, denn sonst gefällt es sieh gem in der Rolle des Märtyrers den Elleru und Geschwistern gegenüber.

BetieBb der Ern&hrung will ich mich kurz feaseo. Eationell f&r Ejpileptiker ist eine mllglichat reizlose Diftt. Wir geben unaem epilep*

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Berifliit ttber die TV. Tetmniulaiig des Verems für KnderfonclraDg. 265

tischen Kranken täglich nur eine Fleischmahizeit, weil Fleischnahruug, unter anderem aoeh statke Bouillon, erregend auf das Nervensystem ein- wirkt Hehl-, Hiloh' und Eienpeieent Fiacb, leichte OemQse und Obet, roh und gekocht, sind die Bestandteile, aus denen sich der Speiseplan für ein epileptisches Kind zusammensetzen soll. Als Getränk geben wir Wasser, evontnoii mit fruohtaäftea. SelbetverstftadUch ist Alkohol, Kaffee und Thee

Teibotei:.

Zur Hautpflege und Förderung der Blutzirkulation wenden wir AbreilNingen und kühle Bader von 20—24 Ond R. an. Den Kopf schlieliBen wir von allen hydrotherapeutischen IbUhnahmen aus.

Bestellt neVion den epileptisohen AnflUen irgend wolclie Kompli- kation in Gestalt von Lähmungen, unwillkürlichen ßewegnng:cn oder Sprachfehlern, so ist eine geeignete Sprach- der Mechano- Therapic angezeigt, über die Übungen bei Sprachstörungen Epileptischer mangelt mir die eigene Erfaiirung. Was aber die Anwendung der Mechano-Therapie in Form von skttver wie passiver Gymnastik betrifflv 9o moSi iob sogen, dab ich niemals eine Häufung oder Verschlimmening der AnflUle bei epileptischen Kindern gesehen habe, wenn eine Obermfldung verhütet wurde.

Ein wichtiirer Punkt ist die Feststellung des künftigen Berufes. Wir haben in dieser Beziehunt,^ immer den Eltern Ratschläge zu erteilen. £ä versteht sieh vün selbst, dufB diejenigen Berufe, welche eine grofse kCtperliobe Anstrengung erfordern und wegen der epileptischen AxiAlle das Individuum in lebe&sge/lhrliohe Logen bringen, ansgeeobkssea sind. Man findet im allgemeinen, dafs man bei der Berufewahl zum Schabioni- sieren i^cneigt ist. Die etwas unklare Vorstellung von der Tliatsache, dal'.s körperliche Arbeit im Freien dem Nervensystem zuträglicher sei alfi preistige hat dazu geführt, dal's man epileptische Jungen häufig dem gilrtnori sehen oder iandwirtöohaftlicheu Berufe zuführt. Dugegen ibt nichts zu sagen, wenn man es mit kr&ftigen Individuen su thun hat Wenn es sich um einen sehwflcbliehen, sarten Patienten hsndelt, so ist es vielleicht sweckmäbiger, den Jungen ein leichtes Bandwerk lernen oder eine mechanische geistige Beschäftigung ergreifen zu lassen. B. in dorn Bureau eines Kaufmanns, Rechtsanwalts u. s. w. Auch bei dor Absicht, höhere Schulen zu besuchen, darf man das Kind nicht mit dem ikde ausschütten. Hier gilt es zu be- rücksichtigen, weis Stammes und wefs Geistes Kind der Patient ist und unter welcher Form die AnfUle auftreten. Minderbegabte Jungen, mit schwerer erblicfa-degenerstiver Belastung, mit gehäuften AnJIUlen sind vom Studium auszuschliefsen. Dagegen liegt kein Orund vor, geistig gut ent- wickelte Knaben, denen die BcwAltigimg des vorgesehrieV--»neu Wissensstoffes spielend von der Hund geht und auf die ihre seltsenen Anfälle keinen nach- teiligen Einflufs ausüben, vom Besuche höherer Lehranstalten abzuhalten.

Meist liegt eine andere Frage noch näher als die Berufswahl. Wo aollen wir jugendliche Epileptiker nnterbringen? Für die Extreme sind die Verhältnisse klar. Man wird keinen Augenblick darüber im Zweifel sein, wohin man geisteskranke Epileptiker oder epileptische Idioten bringen SolL Sie gehören in die suständigen Irren- lesp. Idiotenanstaiten. Auf

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B. Mitteflimgro.

(lei anderen Seite giebt es Kinder, die in Bezug «nf ihre inteUehtofllle und ethiacbe Qualität nicht oder nur wenig von der Norm abweichen.

solche Kinder bmuoht man nicht aus einer geordneten HiOBlichkeit za entfernen. Sie können auch öffentliche Schulen besuchen, wenn die An- fälle ganz selten, oder überhaupt nur bei Nacht oder in be- Btimmten Intervallen, eventuell mit markauton Vorboten auf- treten. Nur bei der Anwesenheit sogenannter interparoxybtiscUer, neu- raatheniecher Symptome (Koptdrack, Sdüafloeigkeitt alfektire Beiabarkeit) wird eine Vorsicht beim Besuch einer Offontliehen Schute und mne ge- ■wissenhaftere Dosierung der geistigeii Arbeit, Befreiung von gewissen Schulstunden, Hausaufgaben u. s. w. notwentiif^ sein. Gehiiufte An- fälle, auch wenn sie nur als petit-mal auftreten, stören den Unterricht und machen den öffentlichen Schulbesuch un- möglich. Man kann bei der Epilepsie zwar nicht von Imitation reden, wie bei der Hysterie, aber man darf die Sohreokwirkong des Anblicks eines epilejit Ischen Krampfes auf das kindliche Gemüt nicht unterschätzen.

Manclimal macht die Erziehung im Hause gewisse Schwierigkeiten, namentlich wenn bei dem epileptischen Kinde die Charakterdegeneration sich schärfer auszuprägen beginnt. Unter diesen Umständen hilft nur die Ver])n;inzuug in andere Verhältnisse. Wenn die Vermögenslage der Eltern günstig ist, 80 schicken wir die Kinder sn Fastoren oder Lehrern auf das Land, die selbst keine Kinder im Hause haben. Sie erhalten dort neboi hygienisch-diätetischer körperlicher Behandlung tiglioh dnige Stunden Schulunterricht und Anleitung zum Zeichnen, Malen imd anderen Hand- fortigkeiton Ijcidor triebt es dorartit^o Privat jtonsionen nur sclir wenige. Wer irgendwie etwas Besseres bekommen kann, nimmt keinen Epileptiker ms Haus. Auch in Kinderheilanstalteu und gewöhnlichen Nerrensanatorien sind die epileptischen Kinder ungern gesehen. So kommt es manchmal, dafs sie in die zustftndige Irrenheil- und Fflegeanstalt aufgenommen werden. Dafs hier nicht der rechte Platz ist, liegt auf der Hand, selbst nicht, wenn besondere Abteilungen für Nervenkranke vorhanden sind. Die Er- jsiehung und der eigentliche Unterricht liegen brach.

Nun giebt es ja Spezialanstalten für Epileptiker in grolser Zahl. Doch mlangt gerade die (bterbringung epileptisdier Kinder eine gs> wisse AuswahL In die kombinierten Anstalten fflr BlOde, Schwachnnnige und Epileptische geben die Eltern ihre Kinder nicht gern, wenn sie die Hoffnung liaben, dafs sie in abselibarer Zeit ins bürgerliche Leben zun^ck- troten können. Sie sr^heucn sich sogar, ilire Kinder in gewuhnlii"b^ Heil- und Pflegeanstalten für Epileptische zu thun, weil sie glaul>en, durcii das Zusammensein mit schlimmen Fällen wurde ihr Kind noch kränker u. a. m.

Ich glaube, die Au^be einer Heilerxiehung d. h. einer eveot Heilung und rationeUen Ertiehung, würde am ehesten erffillt durch die Unterbringung epileptischer Kinder in eigens dafür eingerich- teten Erziehungsanstalten. Diese mflfsten dann von einem fachkundigen Pädagogen unter Beratung eines Spezialarztes geleitet werden. Üie Vor- teile solcher Erziehungt^austalten auseinanderzusetzen, würde zu weit führen.

Bichtig ist, dab an manchen privaten und Öffentlichen Heil- und

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Beiiobt über die IV. Versammlung des Yereios für Einderforschung.

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Pflegeanätaltea für Epileptische besondere Erziehungsabteilungen für jugendliche Kranke geschaffen worden sind. Ich erwfthne nur die Alster- dorfer Anstalten und Bethel bei Bielefeld. EÜne Dnrohsiöht der Zahlen

der Frequenz der Eniehungsabteilungen hat mir aber geieigt, dafs sie im

Verhältnisse zu der grofsen Zahl der Epileptischen einen winzig kleinen Baum einnahmen. Es ist moino Überzeugung, dafs mancher junge Epi- lejitiker eine /.weckinälsii^ere Ciitfrkunft finden würde, wenn Erziehungs- anatalteu in deui von mir entwickelten Sinne in größerer Zahl beständen.

loh ghttbe^ dafs in dieser Beziehung die Zukunft noob eine für Eltern, Ärzte und Lehrer gleich fühlbare Lttoke zu fOllen hat.

In der Debatte fragt Dr. Schmidt-Monnard-Halle an, ob es der Herr Vortragende für anpchrncht hillt, e])ileptlsehe Kinder in der Schule zn behalten. Jedenfalls lieg-e es im Interesse der übrigen Kinder, sio nicht in der öffentlichen Schule zu lassen. Es würde bich wohl überhaupt empfehlen, Kinder mit schweren Aniftllen durch Verbot von der Schule fem zu haltm.

Dr. Strohmayer: loh habe die VerhAltmese, welche den Schul- besuch meiner Ansicht nach gestatten oder verbieten, deutlich hervor- gehoben. Ich halte es für eine Grausamkeit, epileptische Kinder generell vom SchuRiesuch auszuschliefsen, denn die Fräsen ist dann zumeist die, wo die Kinder unterrichtet werden sollen, weuu limen die Möglichkeit dee OffentU<dien Schulbesuches genommen ist

Dr. Guts mann -Berlin: Der Herr Vortragende war so liebenswOrdig, mich aufzufordern, einiges Aber den Einflufs von SpmohÜbungen bei Epi- Ie{)tisclien auf das Leiden zu sagen. Meine Erfahrung bei Epiloptisehcn mit normalem Intellekt ist allerdings gering. Spmchstürungen linden sich in Masse bei epileptischen Schwachsinnigen und Idioten. Die spas- tischen überwiesen. Ihiher finden wir das Stottern bei epileptischen Schwacbsianigen hAnfig Tertreteiit viel mehr als bei anderen Sdiwaeh- sinnigen und Idioten. Bei der Behandlung wird man vorsichtig sein müssen, noch viel vorsichtiger als bei einfachen Schwachsinnigen und Idioten. Bei einem schwachsinnigen Epileptiker, der stark stotterte, ging das Stottern durch geeignete Übungstherapie zurück. Aber jedesmal vor einem epileptischen Anfall stellte es sich wieder ein.

Inspektor Piper- Dalldorf: Venn es mlJglioh ist, sollen epileptische Kinder die Schule nicht beenohen. Wenn aber doch, so mfissen sie unter ärztlicher !(i i IN stehen. Es existieren Anstsiten, die hervorgegangen sind aus dem Hoj^t reiten, für Epilejitischo zu sorgen. Wir haben diese Anstalten, die ausschheislich der Tflege, gewidmet sind, nooii mit kleineren Anstalten verbunden, welcho vornehmlich die Erziehung der epileptischen Kinder ins Auge lassen. Ich halte es für nicht vorteilhaft, wenn, wie es die Irste wflnscheD, solche Anstalten so grofs wie möglich gebaut werden. Nach meiner Meinung ist es besser, wenn Pflege und Endebungsanstaltsn fOr epileptische Kinder getrennt bleiben.

Professor Zimmer-Zehlendorf: Der Herr Vortragende hat darauf auf- merksam gemacht, dafs es noch keine Erzienungsanstalten für epileptische Kinder giebt. Ich kann mitteilen, dals sich eine solche unter der Leitung

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B. Kittefliiii^.

dfifi Dr. K refft in Zehlendotf in der üntwickelung befindet Dieee Anstalt will Bloh ersiehburen Epileptischen widmen.

Direktor Trflper- Sophienhöhe: Solche Anstalten sind mit aufser-

ordontliehor Fronde zu hes^rfifson. Dio Not der Epileptischen ist uneom-in l^rols. auch in bemittelten Kreisen. Ich weils, wie viele Anfragen bei mir einlaufen. Ich mufs sie immer wieder abweisen. Dafs epileptische Kinder mit einfach neuropathiscben verkehren, halte ich nicht für zu- Ussig. Ich weift nicht, weshalb man in Detitsobland keine rechte Für- sorge trifft OewiBii bestehen die grofsen Anstalten bei Bielefeld, thet sie genügen noch nicht, um blofs das Elend von der Strafse aufzulesen.

Die vorhandpnen Änstalton genügen vielfach auch nicht den Anforde- rungen, die wir an eine Erziehungsanstalt zu stellen haben. Wir be- dürfen wie für die Krüppel, so auch für die Epileptischen in allen Län- dern noch beBserer FQraoige durch Vermehrung der Anatalton. Man sagt ja, sie koBteten viel Geld« Ich behaupte das OcfeenteiL Die Errichtung von Anstalten ist das Billigste, was es fOr diese unglücklichen Wesen giebt. Viel tonerer ist es, wenn wir Epiloj>tisclio wie Knlppol sp,1tor durch das Armenwesen veisorgon lassen oder l>ei dem auch im Charakter oft anfallartigcn Erscheinungen die Epileptiker hier erst durcli den Straf- richter der anstaltlichcu Eursorge überweisen lassen. In die oirentliehe Schule gehören ausgesprochene epücptiache Kinder nicht hinein, besonders wenn die AnOUe mit starken Konvulsionen auftreten. So bleiben sie oft ohne jede Fürsorge. Die Epileptiker sind aber auch noch vielfach zu bessern. Wenn ein Knabe, der vielleicht 100 epileptische Anfälle in einem Monat gehabt hat, in 7 Monaten kaum einen hatte, so ist das eino wesent- liche Besserung, eine Heilung nocht nicht. Doch ist in solchem Falle die Hoffnung nicht aufzugeben, dab sich mit der Zeit diese Anfälle gani verlieren weiden. Ich glaube, diese Frage verdient eine ebenso grOnd' liehe Erwägung, wie die von Herrn Dr. Kruken berg behandelte.

Nachdem Herr Dr. Stroh may er zu den verschiedenen Ausführungen sich zustimmend genufsort. schlofs der Vorsitzende die Versammlung:

Wir haben gestern mid heute sehr wichtige Fragen erledigt. Wir wünschen, dafs sie nicht nur in diesem kleinen, sondern aucii lu weiteren Kreisen Frflchte tragen mOcgen. Oer anwesende Kreis ist ja kein sehr grofsm*, aber wir worden diese Vortrflge in unserer Zeitschrift abdrucken lassen, so dafs sie in etwa 2000 Exemplaren in die Welt hinausgehen und weitere Kreise anregen.

Wir wollen aber von hier auseinander gehen mit dem Gedanken, dafs es eine Pflicht ist, uns dem Studium des kindlichen Seelenlebens noch weit mehr zu widmen als bisher. Es genügt nicht blofSj daDs jeder einzelne die Kinder besser verstehen lernt; notwendig ist es, dab su dem theo> letischen Studium und der streng wissenschafüiclien Beobachtnog die Für- sorge sich hinzugesellt. Es ist darum unser Bestreben, unsere Vortrilge immer so zn wählen, dafs wir aneli Anregungen zu praktischer Fürsorge geben. Wir sciieidea mit dem Vorsatze, naeh der ])raktischen wie auch theoretischen Seite unsere Arbeiten zu fördern und mehr und mehr für unseren Verein sn wirken und an werben.

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Zar Beurteiluag der Krziehungsauätalteo für »ittUch Verwahrloste. 269

2. Zur Beorteiiang der ErziehnngsanBtalten für sitt- lich Verwahrloste.

Mir ging von Herrn Pastor Müller, Aiistaltsdiroktür in Bräunsdorf in Sachsen eine Zuschrift als Entgegnung zu den vorjälirigen Vrihand- lungen des Vereins f. Kdf. ^) zu, die ich unter Fortlassung der Formalien mit ausdrücklicher Zustimmung des Verfassers uubein Lesern zu weiterem Nachdenken fiber die Frage der zweekm&Tsigsten Anstaltseniebung hiennit unterbfeitft TrÜper.

Gestatten Sie dem Ilinon unbekannten ünterzeichnoton im IntereSBO der von ihm verti-eteuen Saclio und Arbeit diese kleine Zuschrift.

Ich vertrete als Direktor die Landeserzichungsanstalt für sittlich ge- fährdete Kinder im Königreich Sachsen, Bräunsdorf b. Freiberg. Wir Be- amten lesen und halten mit Interesse die von Ihnen verMene Zdt- scfaiift für KinderfuffBohung »Die Kinderfehler«.

Im voij&hrigen 6. Heft nun steht der Bericht über die Versammlung des Vereins in Jena, besonders auch die Debatte zn dem Vortrag über psychopathische Kinder. In derselben sind besonders über Kettun^'shäuscr. al«> über Erziehungsanstalten für verwahrloste Kinder, Ansichten geäuTsert worden, die es mich bedauern Jasaen, daÜB kein sachverständiger Verteil diger der genannten Anstalten vie es scheint zugegen gewesen ist; nnd sind apenell über unsere Anstalt die ich leite, ohne Namennennnng lufise- Hingen gefallen, die mich auch persönlich veranlassen, einiges zur Auf- klärung von Irrtümern Ihnen liier^luiph schriftlich zu unterbreiten.

1. Sie, Herr Direktor, und Herr Inspektor Piper - Dalldorf haben die Bettungshäuser in ihrer Arbeit und ihren Erfolgen im greisen und ganzen anerkannt, haben aber ungünstige Resultate daraus erklärt, dala in denselben das Yerstftndnis für das Pathologische fehle, oder daüi das ysrstftndnis fQr Fbjyohologie und Psychiatrie mangele. Sie sind aber nach unserer Überzeugung im Irrtum.*) Sehen Sie, wir Erzieher in unserer Anstalt, Lehrer und Geistliclio obenan, Helfer untenan, wir arbeiten in Psychologie und Psychiatrie zum Verständnis des Pathologischen und be- einflussen auch die unteren Helfer in solchem Sinne durch Belehrung und

Der Bericht ist anoh im Sondeiabdrack fttr 40 PL dunh jede Buchhandlung sowie direkt von dem Schriftfuhxer des Yereins, Henn Stukenberg-St^hienhohe bei Jona zu beziehen.

') Das wiire ja sehr ci-fnnilich. Thatsiichlich v(>rfolf::t auch z. B. der von Pastor Xiräteu heraujjgegebeue » KettuDg» böte « beit eiuigeu Jahren unsere Be- Btieboogen mit Zustimmupg und wachseodem lateresse. Aber selbstäiidige Arbeiten ans den RettnngshäiiBem und Zwangsorziehungsanstalten über da» PstiiologiBChe im jugendlichon Vr-rbrochorttun sdnd mir noch nicht zu Gesicht gekoramen. Vemahr- losuDg und Suiidi- ^\ arcn seit je die Hau ptangel punkte. Und nocli vor 3 Jahren , sagte mir ein auswürüger theologischer Leiter eines Bettungshause», er itabe mehrere Dutsend von Anstdten in und aufser Deatsohlaiid besacht und fibendl veigebena nach eiset Ernebung unter Wertung des FtifdiiatriBcheii gesucht Ton uns ging er nach Bxäunedorf. Diese Anstatt fiUlt also nidit mit unter das Urteil. Tr.

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B. MUteilinifceD.

Aideitttog, wir Tefsloiieni Dmon aber mg BrfiihruDg, dafs gar ao tmI Wert gerade darin für die Beseening ▼emrahrloafeer Kinder nicht liegt, vor allen Dingen nicht so viel, dafs daraus die ungünstigen Restdtate sich ^

lilärton. Wir versichern Ihnen vielmehr, dafs eine rf^^fito natflrliche und durch Bildung erweiterte Intelüpenz verbunden mit einem Herzen, das er- füllt ist von christlicher Barmherzigkeit in der praktischen Anfassuiig und Brziehung solcher Kinder mehr leisten kann, als ein Kopf voll Päycholo* gie und Psychiatrie.^) Cngflnstige Resultate, die ja bis su einem ge- wissen Prozentsatz unvermeidlich sind, ebenso wie in Eeilans^talton an Kranken und Schwachen nicht immer Heilung zu erzielen ist, liaben an- dere Ursachen, pinmal und zwar wie Sie mit Recht gesagt haben zu einem kleinoren Teile die Vererbnnc:, znra andern gr^fseren Teile die schlechte Gewöhnung von frühester Kindheit. Es kamen iu die Rettungs- bäuser eine Reihe Kinder, die bei schlechten Eltern nnd in anderen trau- rigen Verhahnissen so lange an das Schlechte gewohnt sind und in deren Herzen das Böse schon so tief sitat, daüa der bewundernswürdigste Er* zieher nicht mehr zn erreichen vermag, als es in der Anstalt niedersn- halten, dafs es aber in neuer Freiheit wieder wuchert und wächst

Ich darf aber auch Gott sei Dank hinzufügen, dafs die Resultate der Erziehungsanstalten an verwahrlosten Kindern Überhaupt viel günstiger sind, als gemeinhin das Urtsil des Pnblikams annimmt Das ungünstige Urteil beruht a) auf dner optischen Täuschung insofern, ab das Publikum viel h5rt und liest von den Ungebesserten , die natürlich so bOs geartet sind, dafs sie als Verbrecher und Zuchtiiausabonnenten durch die Tages- blatter gehen, und darüber die Terhältniszahl der Gel)esserten nicht ins Auge fassen kann, weil von diesen eigentlich niemand im Pubiiikum etwas hört; b) sof der gesteigertsn Zahl der Verbrecher inabetoiider& Diese ist ja traurig, wird aber au ünredit den MiTserfolgea der Anstalten sugeschoben. Wir behaupten vielm^: so grola ist die sittliche Yerwil*

Das ist dasselbe, was man laiiLre Zeit irep'u den Wvn cinor wiäsenschaft- lichen Didalttik sagte: es käme ganz auf die fersonliehlieit des Lehrers an. Man vergalB ganx and gar, dab das weaontUohats Stfiok der Lehrer-Peca&üiishkeit seiiie wisseosobafäiGh-didaktische DorohMldiuig ist.

Auf meine in ihnlichem Sinne gehaltene Antwort hin, antwortete Herr Pash« Müller:

»Heute weiüB ich, dais unsere Ansichten vom Wert der Psychologie und der F^diiatiie eineiseite nnd vom Wert dirisUidier Baxmhenigkeit andrereeitB anoh k^e entgegeogesetsten, keine koatiiFen, woAem höchstena fcontradtktoriache aind,

und aiicb diese nooh nicht einmal. Ja wir haben sogar eine leichte Einigungsforme), wenn wir sagen: Zu einem geeigneten Erzieher gehört aufsor arjirobornen Gnbon fwi? Intelligenz, Umsicht, Geschick zu Disziplin haltung u. s. w.) ruernt chriütlicUe Barin- herdgkeit, die ihn zu einem Vater der ihm anveiirauten Kinder macht Dazu aber mnfe er sieh anoh psydiolagisdie nnd psyehtatnache Eenntniase anineigneo anchen, die ihn zur iudividuaUsierendtMi Frziehung der Kinder vit l i:et itrnetor ma^ hen. weil er dann nicht blofs in natürlii lier Eingebunf,'. sondern mit Bewufst^oin und Klarheit zu individualiaieren lernen wird! Ist Ihnen diese Einigungsforme! reoht?c

OewifiiL Tr.

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Zur BeorteUong der EralehiiDgBanBtaltea für sittlich Verwatuloete. 271

derung b^nders in grOfseren und ganz groIscD Städten, so schlecht ist die &ziehimg in vielen Familien geworden, daTs die Zahl der Vergehen und Yerbrachea noch viel eohlimmer aeiii wilrde^ wenn moht eine Anadil davon durah die Smehnngsanstalten gerettet wflideo.

OaT» diese Anstalten keine Reform brauchten, behaupten wir nichts alle mensdili'^hf ii Einrichtungen sind immer der Besserung und Vervoll- kommnung bedürftig. Noch viel i-cformbodürftiger aber waren die Ge- seUse, insofern es für Beteiligten Familien oder Gemeinden zu teuer war, ein Kind der Anstalt zu übergeben, und sie darum eine Menge VerwahrloBender laufen lielisen aus Sehen vor den Kostea, so dafe immer nur ein kleiner Teil der dttlloh gefiUirdeten Kinder ihren schlechten Ver- hältnissen entnommen und den Anstalten übergeben winden. In Preufsen standen eine Reihe Rettnnprshäiiser fast leer nicht atm den Gründen, die ^nun für die Abneigung' der Eltern gegen das Rettungshaus« der Frau Bieber- Böhme nach dem Bericht über Ihre Debatte klar geworden sind, sondern dedudb 1. well unser Volk gegen all^ was Anstalt heilist eine törichte Abneigung hat, z. B. «adh ebenso g^n die Krrakenhinser, und 2. weil die Unterbringung wie vorher gesagt tn teuer war. In Preufsen ist ein bedeutender Schritt darin vorwärts gethan mit dem Für- soigegesetz vom 2. Juli 1900, nnd wir in Sachsen kommf^n bnld nach.

DaXe aber an denen, die den Rettungshaiisorn und Erzieiiuagsanstalten trotz Kosten oder Abneigung doch übergeben wurden, bisher schon die Er- folge, gottlob, keine sofaleohten waren, kann IhneiL bewiesen werden: 1. ffir die Rettungsbftuser der inneni Sfiseion. Herr Pastor Roth in Qrofs- rofsen - Schlesien hat in mühsamster über auch soigftltigater Auskond- Bchaftung festgestellt, dafs von den Zöglingen der Rettungshäuscr ca. 73% als bestimmt gerettet gelten dürfen.^) Und unsere Statistik znm 2. für die sächsische Landeserziehungsanstalt ergiebt bei Vermeidung jt l r Cber- truibuug ca. 70%. Ist damit, besonders g^enüber dem traurigen Zu- stand, in welchem viele bereits sind beim Stritt in die Anstalt, die Ret- tnngsaiteit nioht als eine geeegnete erwieeen?

loh erlaube mir einen von mir in Dresden gehaltenen und nad) der stenographischen Niederschrift gedruckten Vortrag boixulegen» aus welchr-m Sio die genaueren Angaben dazu ersehen ^vriür-n."^)

Aber iHX-h ein Wort zu dem speziellen Vorwiul, der offenbar von mehreren Seiten gegen die Erziehuugs- und Kettungsanstalten erhoben worden ist, sie 6den an kssemenmAfsig, es wfirde nicht in ihnen indivi- dualisiert; ein Vorwurf, der denn nooh besonders in der weiteren Debatte bekräftigt worden ist durch Hinweis auf eine Anstalt, in der Hunderte von Kindern seien 1 Im Grunde wflre mit dieeem VorwutI anoh Aber das »Bauhe

') Wir haben im letzten Jahigange bereits «nsfuhriioher auf diese Statistik ver- wiesen. Tr.

') Die prophylaktische Bedeutung der zwaogsm&Csigen Erziehung sittlich ge- fiUirdetor Jugend. (Bericht über die Haaptr«aanimliiiig der Vereine m Fttisoige für StrafenthMsene im Königreich Saohaen, abgehalten su Dresden 1901. Dreedeo. Heinhdd k Böhne.

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B> HittsibuigiQii*

Hanse aer Stab gebrodhaih das immer oa. 160 Kinder beherbergt Noob mehr aber tmf dieser Vorwurf unsere efichsisohe Landeserziehungaanetalt

Bräunsdorf, die durchschnittlich 330 Zöglinge hat» und von der also be- hauptet werden ist, dafs in ihr als in einer Kaserne nicht individualisisit

werde.

Ich will diesem Vorwurf geprenflber Sie auf meinen zweiten, gleich- falls in Dresden gehaltenen und iu 2 Nummern der » l^austeine« ^) ab- gedruckten Vortrag und die über unsere Ihdividualisierunsseinncbttuigett darin enthaltenen Ausführongra hinweisen , den ich gleichfalie beigelegt habe, und dazu bemerken: 1. Das Rauhe Hnus hat für seine ca. 150 Zöglinge für die Schule ein gemeinschaftliclies Hans und Gemeinschaft aller für die Morgen-, Abend- und Sonntagsandachten, sonst hat es kleine Abtuiiuiigen von ca. 12 20 Knaben ui getrennten Räumen unter einem Helfer ala Hausvater; man nennt das Familien. 2. Die Rettangshänaer haben zwischen 16 und 80 Kinder, so dafe die kleineren H&user von einem Hausvater mit sein er Vm. als der Motter verwaltet werden, in den gröfseren aber nocli Gehülfen zur Seite stohori, oder wie im grnfsten Rct- tungshauB Sachsen^i, in Moritzburg, ein Geistlicher mit Frau i:n'l G->hulfcn als Abteilungsführern das Ganze leitet. 8. Bei uns in Bräuiibaori aber sind zunächst schulpflichtige Knaben, konfirmierte Knabeu, und Mädchen liumlich ▼ollkommen getrennt Die UAdchen, an Zahl variierend zwischen 40 und 70, werden in einem besondersn Oeblude von einen Oberlehrer, einer Oberpflegerin und 3 Pflegerinnen unterrichtet und erzogen und in der Arbeit angeleitet. Die konfirmierten Knaben sind in einem be- sonderen Ilause gleichfalls, wahrend der Arbeit zwar verteilt auf die ein- zelnen Abteilungen bei der Gärtnerei, der Schuhmacherei, der Zimmer- oder Tisdilerd und zum weitaus grölaten Teil bei landwirtsobaltlioiien Ar- beiten, aber zur Ürziehung besonders einem Oberpfleger und einem 2. Pfleger anvertnnt Es sind das ca. 35—48. Die schulpflichtigen Knaben, an Zahl variierend zwischen 180 und 250, von 8 resp. 7 Iis 14 Jahren sind in gröfserer Gemeinschaft zum Essen und in Freizeiten auf 2 Speisesälen, zum Schlafen auf 4 Schlafsälen natürlich unter Aufsicht bei- sammen, werden aber von 1 Oberlehrer, 1 zweiten Geistlichen und 5 Lshreni in der besonderen Aastaltseidiult und zwar in 8 Klassen unter* richtet, deren Sofafllerashl epischen 16 und 36 bis 40 Scfalllsm sofa wankt. Diese Anstaltslehrer, welche nur eben Zöglinge unterrichten, in Psycho- logie und Psychiatrie arbeiten, und ihre Schüler nach "Herkunft, Gaben und Charakter genau kennen, individualisieren doch wohl. Aul'serhalb der Schulzeit aber gehören die Kinder kleinen Abteilungen an, welche von Pflegern geführt werden, die meist gelernte Handwerker und möglichst ge- wesene Soldaten, aue dem Bestand des staatlichen Pfiegerhausea herausge- gewählt sind; in letzterem werden jllngere Männer von 22 34 Jahren auf freiwillige Meldung aufgenommen und in halbjährlichem Kursus von einem Geistlichen und einem Arzt zum Dienst in unsern Heil- und l'flege- austalten für Geisteskranke, Epileptische, Schwachsinnige ausgebildet,

) Bausteine, ilouatsblatt für innere Mission. 1807. Nr. 343/4.

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Ztoi Benriäliiiig dw JBniehuDgäanatalteii flir ^ioh VerwahiMe. 273

aber wie Sie hören, sind auch unsere Helfer als untere £rzicücr aus ihrer Zahl entnommen. Diese Helfer oder Pfleger haben Einderabteilangen Ton 10 26, ananahmBweise einmal 2 Monatelang eine bia 35 Enabra unter sich, im Durchedinitt also Abteilungen von 20—24 Kindern, welche sie

als Hansvatcr besonders in der Arbeit anleiten, booinflnssen und erziehen. Wir sind nicht geneigt, diese Abteihingeu >\io im R-iuhen llause Familien zu nennen, weil hier wie dort die Mutter fehlt, aber in der Sache haben wir dasselbe, kleine familienähnliche Abteilungen als Arbeitsabteiluogen, geführt von einem chriatlidi vorgebildeten Mann als Pflegevater. Aber noch mehr: Die Lehrer und wir 2 Oeistlichen gehen hin tind her m diesen Abteilungen, unterhalten nns mit dem Führer Ober die Einzelnen, korri- gieren oder ven;loichen unsere Meinungen, führen den Helfer zur Erkennt- nis und rechten Behandlung patludogischer Zustände, halten mit ihnen Zen- surenkonferenzen, die zu Besprechungen der Individuen werden soll solche Einrichtung käne Individuslisierung sein? Hilt wirklich einer der Herren, die mit in Jena warm, die Regierung als die flberwachende Be- hörde, und uns die arbeitenden Erzieher für so th5richt oder für solche Mietlinge, ilafs wir die Kinder wie eine Herde Schafe zusammen pferchten, anstatt uns anl alle Weise die M^igliehkeitcn und die Form zur Individu- alisierung zu scJialTen? üiul ist nicht das Obcndargelegte Individualisierung, die keine einzelne Seele vernachlässigt, die sich vielmehr jedes einzelnen Kindee erbarmt und encieheriseh annimmt, an^gefOhrt von Mftnnem mit beatmOglidier Torbereitung und Oberwachung?

Ist das also eine Kaserne? Ja was versteht man denn unter »Kaserne«: Offenbar ein Haus, in welchem eine gröfisere ^lengo gleichartiger und in mancherlei Beziehung uniformiciter Menschen vereinigt sind. Nach meiner Cberzeugiing ist dann aber jedes Rettungshaus trotz Familieneinrichtung schon bei sagen wir 12 oder 15 Kindern eine kleine Kaserne, da in ihr lauter glmchartige, nämlich mehr oder weniger vorwahrloete Kinder su dem gleichen Zweck der Besserung beisammen sind. Soll jeder Anklang an die »Kaserne« vermieden werden, so bliebe nur übrig, je ein einzelnes Kind in eine gute wirkliche Familie unterzubringen, wie es einzelne Er- ziehuiigsvereino ja auch thun. Das erscheint zur Erziehung der verwahr- losten mit moralischem Defekt behafteten Kinder ulä das Ideal. Und doch ist dies daa Ideal nur sehr cum grano salis. Denn 1.: In manchen Lin- dem, besonders den industriell hoch entwiokdten, giebt es vwhAltnismftfoig recht sehr wenig wirklich dazu geeignete Familien; das können Sie von verschieden r<n Gr/ondon lior von Sachvorstandigen bezeugt hören. 2. Die wirklich dazu geeigneten Familien weigern sich oft ein verwahrlostes Kind aulzutielimeu , weil sie seinen schlechten EinfluXs auf die eignen Kinder fürchten, imd nehmen sie es doch, so werden sie von jedem Rückfall dieses Kindee in alte, noch nicht überwundene Unarten so abgestoJhen, ds& sie oft zu falschen Mitteln dagegen greifen. 3. Viele Verwahrloste passen absolut nicht zur Unterbringung in bessere Familie: sie kennen sich in denselben kleinen Verhältnissen bald ann und kommen dabei nicht los von den ftiten, sehleehten Eriniio: ujigen, und sie gehen trotz ihrer früheren Ge- lähvhchkeit für andere S( tiüier bei Unterbringung in anderer Familie an l>ie Kindertohlor. Vli. Jahrgang. 18

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B. Uitteäimgeo.

anderom Ort doob viedor in die Cffentllobe Sehule, wo sie immer gjoOhr- lich bleiben.

Dttrum. mofe es besondere Anstalten geben, in wolciiLm diese Kinier von anderen abg:ef?ondert, ans der Heimat entfernt, von fachinüfsi^^ arbeiten- den Erziehern zu hrasorn gesucht werden. Nennen Sie diese Anstalten wie Sie wollen, auch Kaserne, niemand braiieht sich vor dem Namen zu fürchten, denn Kaserne ist nur die äulsero Erscheinung, im Innern r^iert der Oeisfe ohriatlioher Bannbersigkeit, fachmftfsiger Jndividnaliaieni&g durch mfigUohst sablroiche saohverstindige Enieher in möglichst kleinen Abtei- lungen. —

Ich kann aber meine Ausfühnm^on nicht :iVi^<chliofsen. ohne der bis- herigen Verteidigung noch eine offene, irühliche Behauptung anzuschliefson, die nämlich, dafs im vollen (iegensatz zu den in Jena gothanen Äufse- rungen gerade die gröfaeren Erziehungsanstalten so gro£9e Vorteile haben« dafo ich sie nach langjähriger Erfahrung den kleinen Torziehe. HOren Sie 1. ein psychologrisches Moment : Ein in Yeiführnng oder ohne Aufsicht ver- wilderter Knabe, wenn er in eine andere Familie oder kleines Retttmgs- hans kommt, ist in wenig Tagen bekannt, mit den Verhältnissen vertraut, und hat nicht viel, was ihn von den früh'^ren srlileclilea Gedanken ab- lenkt, — wenn er aber lu eine grofse Anstalt mit; 300 Zöglingen, B- klassiger Schule, einer grofsen Menge Arbeitsabteilungen und streng ge- ordnetem Tkgealauf kommt^ so ist er in eine gans neue, fremde Welt ver- setzt, und hat vodbienlang su thun, um sioh mit den Einzelheiten, die er doch kennen lernen mnfs, vcrtrant m raachen. Darüber vorhleiehl sclion manche alte schlechte Eiiimeruni^, er hat ja anderes, notwemliiiores thun. Und wenn er dann sieht, wie es andere machen, wie andere uobea ihm besonderes Vertrauen genielsen, zu Vertrauensposten erw&blt werden, dann fühlt er sich angespornt jenen nachanthun. Daher kommt es, dafs in \mserer Anstalt Öfter« gerade sogenannte bOse Jnngen nach verblltnis» mAfsig kurzer Zeit umgewandelt und zu vertrauenswQrdigen Kindern wer- den. Der 2. Vorteil ist die eig-ene Schule mit ihrer grofsen Mannig- faltif^keit. Sie können sieli denken, wie in der geschlossenen An.stalts- schule m 6 Klassen von (j Lehrern und 2 (ieistlichen auf die Kinder ein- gewirkt, den traurigen Folgea der yerwilderung und oft zahlreioher Sehul- vsisftumnisse Rechnung getragen und viel mehr wieder gut gemacht wer- den kann an ihnen, als in einer Ortsschule, in weldie sie doch gehen müssen, wenn sie in Familie oder kleines Rottunir-^hans gebracht worden sind. Der 3. Vorteil ist die Manri''t iltiLikeit der Arl eif. Mufsiggang war aller Laster Anfang, danim ist Arbeit ein vortrefiiiehes Besserungs- mittel, das aber erst dann seinen vollen Wert erlangt, wenn sie so viel- gestaltig ist, dafs die besonderen Gaben and Anlagen beradcsichtigt wer- den kennen bei den Einzelnen, und in manchen Stücken schon eine Vor* bereitung für den kflnftigen Lebensberuf nicht wenigen Z^lingen geboten ■«erden kann, besonders in den Arheitsabteilungen, in welchen die Führer aacluei-btündit;i> Handwerker sind* ist das nicht auch wieder Individuaü- sieiomg nützlichster Art?

Ich. konnte noch andere erziehliche Vorteile auch in der grOfseren

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Zur Beurteilung der Erzif^hungsaustoltüa für sittlich Verwahrloste. 275

Gemeinschaft der Zöglinge hm B'estlichkoiton oder Spielen, wie in den Wintervergnügungen aal dem grofsen Spielplatz erblicken und an- führen, aber es mag genügen. Oder meioen Sie etwa, dafs die schlechterea ftof die weniger verwilderten Kinder in der gröfaeren Gemeinschaft geffthr' lioben Einflufs hätten? Das widerstreiten wir aus Erfahrung und behaupten, dafs solche Gefahr mindestens ebenso in jedem kleineren Hause, schon bei 10, ja bei 5 Zöglingen da wäre, wie sie ebenso da ist für die Kinder, unter welche ein Verwahrloster kommt, wenn er in Familie untergebracht wird. ^)

Ab kftileB Wort Bodi dse Benerkvng tu Ihtem eigenen Ansapmch in der Debatte, Seite 261, 1. Abeats am Scfalofs: »Die blors Verwahrlosten seien hior in Reltungsliäusem gtit untergebracht und der Erfolg

pprcciio »lafür. Dio PsycliojÄthen gohr^r-ton ahov iiiciit unter diese. * Wenn Bich die liezeichnui)^^ T's\ < hopnthon mit auf dio Schwachsinnigen bezieht, 60 kann ich Ihnen niitleileu, dals wir in Sachnen 2 besondere Anstalten für solche nach Knaben und Mädchen geteilt seit 1886 haben. Meinen Sie aber geistig nicht schwaohsinnige, sondern solche mit Defekte im Seelenleben, die sich in krankhaften Neigungen darstellen, so mufs ich gegen ihre Unterbrinc^qinp: in besonderen Anstalten geltend machen) dafs eine rnterschoidimg der Grenze zwischen dem wirklich psycho|\athif»chen Zustand und dem dor oft nur die Foltro der langen schlechten Erziehung und Verwilderung, und danim durch längere gute Erzieimng unil ailniäh- liobe Oewöhnong an Ordnung und Zucht heilbar ist, in vielen FfiUen nicht SU sieben ist, so dafs ich mir wenigstens nur in seltenen AnsnahmeflUlen diesen Unterschied festznetellen getrauen würde. Sie mögen danim ohne Bedenken in den Erziehungsanstalten bleiben. Dafs sie von besonderer Art sind, merkt jeder halhwegs zum Erzieher c^eeignete Mann bald und sucht sie dann darnach zu behandeln. Aber ihre Zahl ist nicht so grofs, als Sie zu glauben scheinen, weil eben nicht wenige der paychopathisch orschei- nenden Kinder von oben genannter Art und durch die Mittel der Br- siehungsanstalt heilbar sind.*)

Nehmen Sie bitte diesen Ergufs freundlich auf, dor niedergeschrieben ist, um der wichtigen Sache der Erziehung Innster Kinder dienen su helfen.

>) Die Fra^e, ob grolle oder kleine Anstalten xweckmälsiger sind, bedarf einer monographischen Besibeitang. Unsere Zatsohnft steht dafor offen. Tr.

') Ich nieine: es giebt Kinder, die ethisch fehl geben in erster linie am bloCser Verwahrlosung. Die cfh'önn in Anstulten. welche mit Recht Rettiinps;an- anstalten heifsfn. Sie sind leicht zu hesseru. 8o<iaim giebt es Kinder, die ihn? ethischen Defekte ererbt oder durcii besondere Umstände als rsychüpaüiien erworben haben. Manohe tod diesen sind sososagen geborene Verbrecher und für Mit- s8|^Dgs gnftKriirfi. XMese gemeingefihiboheii ethisch Degenehorten sind von jenen zu isolieren, damit ihr yerderblicber Einflids eingeschränkt werden kann. Wie man diese Abaonderang ennÖ|^chen aoU, ist eine zweite Frage, loh lasse sie vmmi- sohieden. ^r.

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B. KitliBÜoiigMi.

Das Hilissclmlwesen in England.

Von Alwin Solieiik in Bieslan.

Im Jahre 1900 konnte ich auf Qrund persönlicher AnE>cbauimg Aber die Fürsorge der Geistesschwachen in nolland, Belgien, Frankroich und Luxemburg in den »Kinderfclilernc berichten. In diesem Jahre war es mir vergOnnt, mancherlei englische Einrichtuugeu lür jene Unglückliche za studieren. Da die Venwstaltungen eines und desselben Landes mehr oder minder einlieitlloh geetaltet nnd, mOcfate ieh, um Wiederbdongen tm vermeiden, mich mit einer kunen aUgemeinen Schilderung der Hilfsschul- einrichtungen Londons begnflgen. Im Anschlufs hieran will ich zwei Fragen, die auch fflr unserere deutschen Yerhftltnisse von Intarease sind, zur Erwägung hier vorführen.

Nach dem Gesetj& sind in England alle Kinder vom 5. Lebeusjahre ab Bohnlpflichüg. DoGh kOnnen auoli schon Kinder im Alter von 3 Jahren in der Schule Aufnahme finden. Die im Alter von 3 7 Jahren Btehenden Kinder werden in der Infant School ohne ROckaicht auf das Oeschledkt ver- einigt. Im 7. Lebensjahre wird eine Teihing nach Geschlechtern vorge- nommen, 60 dafs wir ein'^ Knaben- und eine Mädchenschule unterscheiden müssen. Die Infant School entspricht im allgemeinen unseru Fröbeischeu Kindergärten; sie hat jedoch schon das Fensum der Unterklasse unserer ToUnsohulen mit zu erledigen. Die Knaben» und Mfldohenschulen sind 6 7 klassige Volkseohulen« Beim Übetgange aus den KlemkindeESchulen in die Volksschulen erfolgt nun auch unter Beihilfe des zust&idigen Schul- arztes die ümschulunp in die Hilfsschule, so (kfs filso die Kinder mit 7 Jahren der letzteren zugeführt werden. Sie bleiben in dieser bis sum 16. Lebensjahre.

Die BilftsdralverhtttDiflae sind durch ein Landeegeeete vom Jahre 1898 geiegelt Das Oeaeto, das allgemein verbindliche Normen fVr das ganze Land aufstellt, kann von den Gemeinden aogenommen oder abge- lehnt werden. In denjenigen Gemeinden, die es annehmen, erlang:t es Gesetzeskraft. Die Stadt London hat das Gesetz angenommen; in London ist somit das Hillsschulweseu gesetzlich geregelt.

Die Hilfsschulen werden von der Stadt London unterhalten. Doch aahlt der Staat fOr jedes Kind einen Zoschulb. Durbh diesen erwirbt sich 4er Staat das Recht, die HilfiBschulen inspisieren an dtlrfen und zwar ist es seine Pflicht, mindestens einmal im Jahrs dies zu thun. Ober die Revision wird ein Bericht ausgefertigt, von welchem der Zuschufs abhängt. Auf diese Weise bekommen die Inspektionen der RegierungSTertceter ihre Wichtigkeit

Die Stsdt London, hat gegenwärtig 57 Hilfssohiiko, welche von 2733 Kindern besucht werden. Im Durchschnitt zählt jede Hilfsschule 50 Kinder. die einzelnen Klassen nicht mehr als 20 Schüler aufnehmen dürfen, so ist die Mehrzahl der Schulen dreiklassig. Die grofsten Schulen haben 104 109 Kinder mit 5 7 Klassen. Die kleinste Schule zählt 12 Kinder mit 1 Klasse. Doch dies ist nur ein Anfangsstadium. So- bald als möglich soll eine zweite und dritte Klasse angesohlosseu werden.—-

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Dm nillsäc hui Wesen in England.

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[Tn den ilbrigon englischen Stildton, wie Birmingham, BrightOQ, Man- chester u. V. a. Orten tindea wir 1 oder 2 iiiifsächulen.J

In sftiDtUchen HiUsdiiilai wirken nur LehreriimeQ, die entweder des RegiemngsseogniB oder das Zeugnis der FrPbelgeeellaohaft erwerben mfleeen.

Die Lehrerinnen erhalten in London ein Anfangsgehalt von oa. 1600 M.

Diese?: steiu^t jillirlieli um ca. GO M bis zum nochsbetmp'O von ca. 2800 il. Die Lehrerinnen von Hilfsschulen erhalten 2<J0 M. persönliche Zulagen. Die erst© Lehrerin erhält auljjordom an einer zwei klassigen Schule noch 100, bei einer drei- und uiehrklassigeu 200 AI Kxtraentschädigung. Über das getarnte Loodoner HQHBachulweaen ist eine Snperintendentin gesetzt, die ein Jahreeeinkonimen von 7000 H besieht Es ist dies gegenwSrtig Ibs. Burf^win.

Die Ifüfsschulen führen den Titel ^S[)ccial Schoolc. Sie sind auf denselben Urundstückon wie die Volksschulen untergebracht. Jede Ililf.-i- schulo, die ich besucht habe, hatte aber ihr be*«onfleres Heim und auch nieist ihren abgesonderten Scliuliiot. Beim Eintreten in ein Uilfsschulhaus gelangt man, wie dies anob bei den englischen Yolkssebnlen der IUI ist, in einen grDÜBeien, ssalSbnlidien Baunif in dem das enrhythmisehe Turnen, Aber welches dar Brüsseler Kollege Jonck beere bemts eingehend in den »Kinderfehlern« berichtet hat, eifrig gepflegt wird. Ein Pianino finden wir überall in den Hilfs- und auch in den Volkswhulen. Aus dem ge- schilderten Turnsaal gelangt man in die einzelnen Klasseuräume, die, wegen ihrer geringen Schülerzahl, nicht allzugrofs sind.

Die Sdinlieit ist in aUen englischen HilfssdinlMi dieselbe wie in den Volksschulen. Sie umfaliBt tSgücb die Zeit von 9 12 und von 2 4. Der Sonnabend ist stets schulfrei.

Vergleichen wir die Stundenverteilung in den en^'li=;chen Hilfs.N'^hiilpi» mit der unserer Schulen, so fallt uns auf, dal's du; praktischen Fächer weit mehr als bei uns in den Vordergrund gestellt werden. Für Rechnen (2Yj Std.), Lesen {2^/^ Std.) und Schreiben (17» Std.) zusammengenommen ist nur so viel Zeit angeeetst wie fOr Nfibarbeiten der Iffidehen oder für HandfertigkeitNi der Knaben allein. Von den 6V3 Stunden Handarbeits- unterricht gehen bei Mädchen der letzten beiden Schuljahre in dem einen Jahre 2 Stunden wnr in ntlicli lür Kochen und in den andern 2 Stunden für Wäsche ab. Bei Knaben sind 2 Stunden für Holzarbeiten bestimmt. Die Kochsühuleu und die Arbeitsstätten lür Tischlerarbeiten land ich eben« falls auf den Orondstücken, auf dem die Hilfsschulen untergebracht waren, jedes aber fttr sich in einem m^ oder minder gntBen eigenen Hause. Auf einzelnen Sdiulgmndstflcken sind auch Tagesschulen fllr Blinde und solche für Taubstumme untergebracht. Die 5 Stunden täglichen Schul- unterrichts werden zweimal durch je eine Viertelstunde Spielen unter- brochen. Auiserdem sind noch lür *Drill< 50 Minuten wüchcntlicii ange- setzt. Die noch übrige Zeit verteilt sich auf Anschauungsunterricht, Singen, Hersagen von Gediditsn, Zeichnen und H^igion.

Ich habe an den verschiedensten UnterrichtsOoheni feflgeoommen. Über besondere Eigentümlichkeiten oder Abweidlungen der Unterrichts- methoden kann ich nichts berichten.

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278

B. ICtteüniigeii.

Soweit die Sohilderimg englischer Kinrichtungflii. Ans der Zahl dar Punkte, die eich fUr eine Beeprecbnng wohl eigneten» mOchte ich nur

deren zwei hervorheben.

1. Wio pchon gesagt wurde, erfolgt die ümschiiiung in die WiMi- schule in England im 7. Li Lonisjaiire. Wir halten in Deutschland im allgemeinen daran fest, daiä die Kinder uns mit 8 Jahren zugeführt werden sollen. Diese Malaregel bat gewÜB manoherleL Gutes. FQr das 7. Lebens- jahr spreohen aber auch gewichtige Orfinde.

Dafs die Sehulseit in der Hilfssohule dadinoh um ein Jahr verlängert wird, soll nur kurz erwähnt sein. Unter Kindern, die in der Hilfs- schule eintreten, linden wir alle Jahre j^olcho, die nicht im geringsten an ein Aufmerken ^'cwühnt sind; nie wollen ilire Schulzeit verträumen oder vorspielen. Eb liegt mir vollständig fern, den Kollogen in der uuteiöteu Kbsae der Volksschule aud& nur den aliergeringsteo Vorwurf su machen. Bei 70—80 Schalem und einem angemessenen Klaseenpensum ist es eben unmöglich, alle Kinder gleichm&fsig zu fSrdem. Ganz natQrlidi ist es nun, dafs dabei die Kinder, an deren Fortkommen man überhaupt zweifelt, am wenigsten bedacht werden. Die Kinder, die sich selbst üi. erlassen sind, suchen ihre Zeit durch ein nutzlosem liinbrüten oder Tanuein auszu- filllen. Wenn dieser Zustand ein Jahr anhält, so ist es schon schwer, die Kinder fOr eine geordnete Schularbeit zu gewinnen. Noch Bchlimmw ist wenn die Kinder 2 Jahre geistig niedergehalten werden. Bei anderen Kindern entwickln sich ungünstige Eigenschaften, die schwer auszurotten sind. Die geistig und vielfaeli aneh körperlich '/nrtlckgehliebenen Kinder sind wegen ihrer UnbehiUiichkeit oftmals die Zielscheilio des Spottes und des Witzes der Mitschüler. Um ihre Ir'einiger los zu werden, suchen aoldie Kinder aU^lei Mittel hint^ili^ger Art, da sie in «Elidier Ver- teidigung doch stets den kflrzeren ziehen wOrden. Das tQckisohe und hinterlistige Wesen einzelner lülfssehulkinder hat sich vielfach auf diese Weise entwickelt. Manche harmlose Zurückgoblieljene vermögen sich aber selbst dureh solche Mittel nicht zu schntzen. Sic müssen alle Quälereien über sich ergehen lassen: ihnen wird der AulenthaJt in der Volksschule zur grüfsteu t^ual. Alle diese Gründe, die nocii durek andere vermehrt werden kSnnen, spreohen dafür, dafs wir, wie in England, die Kinder mit 7 Jahren der Hilfsschule zufuhren.

2. Wichtiger nodi als diese Verlängenmg der Schulzeit erscheint mir eine andere. Wie schon gesagt, ist die Schulpflicht in den euglisehen lidlsseliulen bis auf daB 16. Lebensjahr ausgedehnt. Ich glaube, darüber dürfte nur eine Meinung horrschon, dafs es gut wäre, wenn wir unsere Zöglinge ebenfalls bis zum 16. Lebensjahre unterrichten könnten. Es fragt sich aber, wie die beiden Schuljahre angeschlossen werden sollen. Am einfachsten wäre es, wir folgten dem englischen Beispiele und sohSbsn die Grenze der Schulpflicht um 2 Jahre hinaus. Ich möchte jedoch gegen diese -^lafsregel eiuen zwar aufserlichen, aber doch immerhin recht beachtens- werten — Gesichtspunkt seihst anführen. In fast allen Hilfsischulen, die ich kenne, wird es den Eitern noch anheimgestellt, ob sie ihre Kinder der Hilfssohule zufflhren wollen oder nioht Wenn die BSltem hOren, ihre

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Das SÜteohidweeen in Englaad.

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Kinder sind bis zum 16. Lebensjahre sohulpfliobtigr irfthrend die Kinder der Volksschulen Bdion mit 14 Jahnen sar Entlassung gelangen, so be- raten sie uns bei der Umschulung noch mehr Schwierigkeiten, als dies jetzt schon hin und wieder gescliioht. Aus diesem Grunde schon möchte ich empfehlen, die bishorij^en Bestimmungen über die Entlassung beizube- halten, feo «lafs die Kinder also nach wie vor mit 11 T.obcnsjahren aus der Schule zu enliassoa und von der Kin ho zu koalirmition sind.

Um die Zdt bis zum 16. Lebensjahre auszufQUen, empfiehlt sieh aber die Einrichtung obligatorischer Fortbildungsschulen für Hilf ssohulkinder. Wie sollen diese nun beschaffen snn? Dio Antwort könnten englische Einrichtungen gehen; wir konnten aber auch dem Beispiele Düsseldorfs) das seit Ustern eine obiigatorisclie Fortbildungsschule besitzt, folgen.

Fragen wir zunächst, wa^ englische Einrichtungen lehren. Aus der Oestaltang der englischen Hilfsschulen möchte ich die Hichtlinien fOr die Bildung der Fortbildungsschule gewinnen. Wie dort, so mtlfste auch bsi diesen Schulen das praktische Leben mit aein«i Forderangm in den Vorder- grund gestellt werden. Die Form selbst möchte ich aber einer andern Schnlgattung entlehnen, dio alIordinj]^s nicht BchwachbofTihiKton Kindern dienen will. In PeoplL- s Palace in London ist u. a. auch eine teelmische Schule für solche Kiudor, die die Volksscbulo mit gutem Erfolg besucht haben. In ihr werden Knaben im Alt« von 14 17 Jahren von Ingenienren und Handwerksmeistem in die Torsdiiedensten Lebensbemfe praktisch und theoretisch eingefQhrt ; nebenbei erteilen mehrere I>ehrer wissenschaftlichen Unterricht. Tm Yonlerpmnde ilor r'elehnmfrcn stehen das Mascliinenbau- fach und Holzarbeiten aller Art. l>ie Erfolge, dio mit den Knaben er- zielt wordeji &ind, bind durchaus piit. Mehrfach v^uide mir versichert, dafs die Zöglinge, die so für das Leben vorbereitet werden, ungleich tOchtiger sind als Qefailfen, die nur bd Heistern ihre ganze Ausbildung gefunden haben. Als ich in People's Fskoe weilte, kam mir der Oe> danke, dafs unsem schwachbefthlgten Pflegebefohlenen eine unendliche Wohlthat erwiesen werden wörde, wenn man sie in einer zu jE^rün lciKlon fortbildungssnhule durch Handwerksmeister für ihren Lebeusberuf vor- bereitete. Durch statistische Erhebungen müfste festgestellt werden, weiche ^mdwerke am geeignetsten fOr unsere ScbQler sind und welche ihnen ein erträgliches Auskommen sichern. FQr diese Berufe wArsn alsdann Werkstatten einzurichten, in denen erfahrene Handwerksmeister den Unterricht zu erteilen hätten. Die Zöglinge würden am Morgen in die Schule kommen und am Abende wieder entlassen werden. Das Mittagbrot könnte eine mit der Fortbildungsscliule verbundene Kochsehule für Mädchen liefern. hie Dauer der Ausbildung würde unter den obwuiieuden Verhuiüassen von Tcrsohiedener Lftoge s^n. Manohe Schfll», die gar nicdit zu ^ner selbstAndigen Lebensffihrung gelangen, könnten hier lebenslang angemessene Beschäftigung finden. Für alle Zöglinge könnte diese Schule ein Heim werden, zu dem sie in sehweren Zeiten ihi-o Zufbieht nehmen kOnnton. Mit praktischen l'nterweisungrn vr "r le der Schulunterricht üand in Hand gehen, der sich ebenfalls dem wirklichen Leben anpassen würde.

Eine solche ähnliche Fortbildungsschule, wie ich sie hier geschildert

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280

B. IGtteiloiigeii.

habe, ist mit der ErziehimgGaiistalt in Idstein Terbonden. Dort werden die in den Werkstfttten beeobftftigtea älteren ScbQler wfichentltch zwei- mal je Stunrlen vereinij::t. um einen Sonderunterricht zu erhalten. Über diesen schreibt TTorr Direktor Schwenk (dcsson Gast ich auf meiner Heimreise sein konnte), im Jahresberichte von IsOS fo]t,'en'lf*s: ? Zweck desselben ist, die gelernten Kenntnisse und Fertigkeiion immer wieder aufsufrisohen und sie vor einem allznraschen Verfall zu bewahren. Tor allen Dingen betichrftnict sich die Fortbildungsschule auf diejenigen Fftoher, welohe fflr den Eintritt in die menschliche Gesellschaft besondere Bedeu- tung haben , wie Lesen , Schreiben und Rechnen ; und auch hier werden nur solcho Stoffo ^ewälilt. wio sie das iirnktische L»:4>on tAj^lich unmitteH'ar drnliietol (Sohreiboii (Ir-r vorscliitM^enartigütea Bnofe, Anieitunq: zum Leson iu Zeitungen etc.). Ein besliuiint vorgeschriebener Lehrpldu wird dabei nicht inaegehaltsn.« Bei meinem Beenoh besprach Kollege Ztegler mit einw Abt^ung auf Omnd von Zeitungsnachrichtsn den Untergang des Dampfers »Primus«. Alle Schüler gewannen ein klares Bild von der entsetzlichen Katastrophe; mit innigem Mitgofnhl gedacht.^n sie all der Cnglflcklichen, über die so Rohweres Leid hereingebrochen war. Ich halte diese Form des Fortbiidungsschulunterrichta für durchaus berechtigt In die Fortbildungsschule gehOrt nicht totes Schulwissen, sondern nur das» was das Leben tflglich bietet und verlangt

Über eine zweite Form der Fortbildungsschule kann ich aus DQsesl» dorf berichten. Dort besteht seit Ostern d. J. eine obligatorische Fortbildungs- schule auch för solche Kindt^r, die aus den Hilfsschulen abgehen. Diese Kinder sowie die aus den vii>r untersten Klassen der sieben stufigen Volks- schulen Düsseldorfs abgegangeneu Schüler werden in einer »Vorklasse der Fortbildungsschule« vereinigt Den Ontsiricht erteilt der Hauptlehrer der Hilfsschule flerr Hör rix und zwar am Dienstag und Donnerstag von 6—8 Uhr nachmittags. Der Unterricht umfafst Rechnen, DeutFcli und gewerbliches Zeichnen. Di-' Taluesstunde entschädigt die Stadt Düsseldorf mit 105 M. Gegenwäitif; zählt die Klasse 25 Zogling^e. Interessant ist di'B Thatsache, daik die aus den VolksschiUen abgegangenen Kinder der Voi kloisse weniger leisten als die ehemaligen Hilfssohulzöglinge. Die Fortbildungs- schule ist snnSchst fflr das 14. 16. Lebensjahr bestimmt; doch dürfte eine Vwlängerung auf ein drittes Jahr nicht ausgeschlossen sein. Durdi den regelmäfsigen Besuch der Fortbildungsschule kann eine stete Kon- trolle seitens der Sehlde über die Schüler, zugleich aber aiich über deren Meister ausgeübt werden. In Städten, in denen die Fortbiidungachule nach dem Vorbilde Düsseldorfs geschailen wird, dürfte eine Einrichtung, wie sie seit langer ab Jahresfrist in BrQssel besteht, als EigftDsung em- pfehlenswert sein. Ich mdne die »Soci§t6 Frotectrice De L'EnHuioe Ancvmalec. Präsident ist der Staats minister Jules Le Jeune. Schrift- führer sind Dr. Dcmoor und Kollege Jonckheero, sämtlich in Brnss-l. In Artikel 2 der Statuten wird über die Autgabe folgendes mitgeteilt: Die Gesellschaft hat den Zweck, durch alle in ihrer Macht stehenden Mittel die moralische und physische Person der normalen Kinder iu allen YerhMtniesen zu beschfitzen, in welchen sie Hilfe nnd Schutz bmnohen.

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Das EUfsscbulweätin iu Euglaud.

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Zu diesem Zwocl:«^ richtet sie ihr Augenmerk besonders darauf, Kinder, deren sie sicli uummmt, "während ihrer Lehrzeit unterzubringen, indem sie dieeelbea IndustiielleD, EaulkiiiteD, Landleuten u. 8. w., v«lohe durch sie «nqgewahlt werden, anvertnnt In Breslau soll ein fthnlicher Torein ins Leben gerufen wetden.

Fraffon wir uns nun, welche Einrichtung von beiden die beste sei. Die Antwort läfst sich nicht ohne weiteres geben, da verschieflcne Um- stände — auch örtliche Verhäitui'^'^" mit zu berücksichtigen siiid. Für die ei-ste Form w üide sprechen, duis unsere Scliüler bei einer solchen pbmniS&igeii AusNldung besser auf das Leben vorbereitet werden läSnuen, als dies vielfach bei Meistern geschieht, wo dn Teil der Arbeitsieit za BesohSftigungen yerwendet wird, die mit dem erwählten Handwerk nichts zu thnn haben. Der hilnfige Wechsel der Lehrmeister und da- mit dns unstete Hin- und llertaston in Lebensheniten würde vermiednn. 1 ur viele Kinder würde so überhaupt erst ein Ort geiuuden, wo sie ihre Ausbildung finden könnten. Als Mitarbeiter der »SchL Schulztg.« gelangen alle Jahre äne Annhl Briefe in nidne HSndo» in denen Kollegen sich erkundigen, wie sie ihre 14* und löjShrigen, geistig zurQokgebliebeneu SchlUer am besten unterbiingea könnten. Ich habe da schon manche hcrzhowpc:cnde Klat^e lesen müssen. Trotz alledem ist die Antwort, die ich geben kann, nur so, dafs .sie mich selbst nicht befriedigt. Kr>nnt»^n mit unseren Hilfsschulen solche Ausbildungsstälten verbunden werden, dann würde vielen gehulfeu sein.

Die zweite Fonn der Fortbildungsschule dHrfle sich billiger gestalten und dadurch wflrde sich ihre Einriehtung leichter ennCglichen lassen. Die Kinder würden auch frfiher in das rsidie Leben treten und seitigttr es mit seinen Enttiluschungen und Sorgen kennen lernen.

Der besonderen Emplehlung der einen oder der anderen Form möchte ich mich enthalten. Freuen würde ich mich aber, W(;nn diese bescheidene Arbeit einen kleinen Beitrag zur Weiterentwickeluug der lülfsschulpäda- gogik liefern würde.

Zum SchloJa nur noch ein Dankeswcnt und eine Bitte. Ala idi mir die Erlaubnis erwirken wollte, englische Hilfsschulen zu besuchen, war mir nur der Name eines einflufsreichcn englischen Herrn bekannt Ich hatte nämlich iu dem Bericht über den III. Verbandstag der Hilfsschulen gelesen, dafs die englische Schuibehördo Herrn Schulinspektor Dr. Eichholz zur Versammlung nach Augsburg entsandt hatte. An ihn wandte ich mich mit der Bitte, mir AuÜBchluis über die nötigen Vorbereitungen zu den Besuchen in den Hilfssdialen zu geben. Aus dem Antwortschreiben, das umgehend einlief, möchte idi nur eine Stelle wiederholen. Sie lautet: »Es wird mir sehr angenehm sein, die notwendigen Einführungen für Ihre englische Schulreise zu bereiten. So eine Heise ist bei uns sehr leicht zu machen und wenn Sie mir einen Monat vorher schreiben, mache ich alles in Ordnung.« Das Wort hat Herr Dr. Eichholz, der Mitglied der höchsten englischen StaatssohulbehOrdeu ist, treu gehalten.

Unter seiner Führung war ich in London wohl geborgen. Den letzten

meines Londoner Aufenthaltes hatte ich noch das VergnOgeUi mit

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B. HüteUnngBo.

dem hOohaten SohalaafttohtBbeftmteo des grofsen britieolieii Beiohes so* sammen su sein. In ibm lernte ich einen Mann kennen, der stets ein

lebhaftos Interesse und ein warmes Herz unscrn Pflegebefohlenen ent-

gegengebiaclit hat. Darum mochte ich ihm sowohl wie Herrn Dr. Eich holz

an dieser Stelle m*''inon anfrichtij;>ton Dank nochmals fifTonflieh ansspror-hon. Jilnchio (lio Sorye li'ir <lio (l'.Mst"sseh\vaclitMi ein g*"nir'ins;ur(i.'s Wnv.d schlingen ma alle die, tiie ein Herz lial)en lür die ünglückliciien, damit deren In- teressen Uberall gefordert werden.

4. loh babe meine Lügen f&r Wahrheit gehalten«

ijie Mitteilung von pathologischer Lüge in Vil, Uelt 4 weckte in mir die Erinnerung an einen Ähnlichen FalL Bis 1856 hatte ich einen Mitschüler, der mir sowohl als Landsmann nAher stand, wie auch aus dem Grunde, weil er gleich mir, mangelnder Mittd sum UniversitiUsbesm:^

halber als Sekundaner das Gymnasium verlassen mulpte. Wir \rollten damals beide Elcmciitarlohrer werden: er kam l^^o?, ich ein Jalu' später in das Seminar in A. ^Iciu Landsmann war beineb Ficjlsos. seines guten Betragens und seiner hervorragender Begabung (besondeib in der Jilathe- matik) halber bei sämtlichen Lehrern gut angeschrieben. Weniger gat stand er mit sdnen KlaasenkoUegen. Es hieCs: F. l&gt Js, er log, und ßchlimmer, er verleumdete, aber niemals andere. Er erzählte gern von sich Öeschifhlen, aber fast immer Kdlche, die ihm nicht zur Ehre ge- reichten. Man nmlsto ihn genauer kennen, um nicht zu glauben, was er Böses von sich erzählte. Er selbst aber glaubte, was er mitteilte und wflrde es auch dann nicht zurückgenommen haben, wenn es zur Anzeige gekommen wSra Ja, ich bin dsTcm fiberseagt, dafs er das Ertfthlte unter Eid wiederholt hfttte: Diese Sucht, BOses, das er begangen haben wollte, zu erzählen, war keine sogenannte Renommiererei. Nur ihm nfther Stehendon erzählte er es, und zwar stets mit offen gezeigter Retie.

Eines Montags, irre ich nicht, war es im Mai 1859, kam F., der sonst niemals eine Stunde versäumte, nicht zum Unterrichte. In seinem Zimmer war er auch nidit. Da seine Klsssengenoasen ihn seit Sonnabend Nachmittag nicht geeehen hatten, war man in Sorge um ihn. Der Dnter- rieht wurde ausgesetzt, und seine Kamerad^ machten sich auf, um ihn zu suchen. Gegen Mittag kamen sie mit ihm zurück. Sie hatten ihn im nächsten Walde blutend auf der Erde liefrend gefunden, mit bedenkliehen Schnittwunden an beiden üandgeleoken. Die Pulsadern waren aber au beiden Armen unverletzt.

Der ihm sehr wohl gesinnte Direktor, der am Vormittage des Torhsf^ gehenden Sonnabende eine IVobelektion des F. sehr gQnstig rezenaierl hatte, erkundigte sich eingehend bei F.'s Stubengenossen, ob sie irgend eine geistige Störung an ihm bemerkt hätten. Jeder verneinte die Frage. F. gab an, er sei am SonnaVtend mittag nach Br. gereist und halte sich ilort in einem verrufenen Hause aulgehalten. Zurückgekehrt habe er Ekel an sich selbst empfunden und er habe sich ermorden wollen. UntersnohuogeD erweckten

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Zw Psychologie des Pabertätsalters.

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Zweifel an seiner Aussage. Einige wufsten, dais es mit F.'s Kasse schlecht bestellt gewesen sei und er danim gar nicht nach Br. gewesen sein kllnne. Man wollte ihn auch am Sonnabend gegen Abend in einem Dorfwirtsbanse gesehen haben, wo er, mafsig, wie er immer war, ein Glas

Bier getrunken hätte. F. blieb aber bei seiner Aussage, obgleich er wufste, daf> dann poin Wiui seh . I^olurT n\ werden, niclif erfüllt werden konnte. So wurde er aus dorn beminare entlassen. Bald nachher ging er nach Amerika.

18G7 oder 18C8 begegnete ich F. in meinei- Vaterstadt. Er sab sah sehr gut ans. Er war Pfarrer einer grofsen Gemeinde in Illinois und mit Frau, 2 Kindern und einer schwarzen Dienerin sum Besuche nach DeutschUind gekommen, ^'ir kamen auf seine Entlassung aus dem S o.ninar

zu sprechen, und er erklärte, or habe damals jran?. best! m nit gegliultt, es sei so gewesen, wif" er er/.iihlt habe. In Wirklichkeit sei or aber nie in Br. gewesen, habe, nachdem er in dem Dorl wirtshause am SounaWnd gegessen und getrunken hätte, die Wälder durchstreift, habe hier geschlafen und am Sonntag oder Montag, er erinnere sich dessen nicht genau, den Selbst- mordversuch gemacht »In Amerika fand ich niemand, der auf meine Münchhausiaden hr>i>to% fügte er hinzu, »da habeich mir diese abgewOhnt. Damals hätte ich aber meine Erzählung eidlich bekriUtit^t.

Ob es nur chus ist? Ob nicht auch aktiv und passiv die Frau mit zur Heilung geführt l»at?

Seitdem habe ich F. nicht wieder gesehen.

Emden. 0. Danger.

C. Litteratur.

1. Zur Psychologie des Pnbert&tsalters.

Von Hermann Grünewald, Herborn.

Der Entwickeluogxpiozelii jedes menschlichen Individuums IS&t eine Reihe von Perioden erkranen, welche durch das Auftreten gewisser köri»erlicher und geistiger Bestimmtheiten von einander uutereehiedeu werden.') Beneke nimmt beispiels- weise vier Periorifti an r 1. bis znm Kn»ie des dritten Jahres fVonviegen der Sinnes- thätigkeit und des Instinkts); 2. bis zum Ende des siebenten Jahres (Verwandlung der instinktiven Thätigkeiten m Haodlungeu); 3. bis xüm Ende des vieizdinten Jahres (neben der Phantasiethäti^eit tritt das abetrakte Denlmi anf); 4. bis anm Schlüsse der Erziehung (Entw iekehing der höbereu Geisteskräfte). Pfisterer') untei-scheidi t 1. das Säuglingsalter (bis znm Ende des frstm .T:ihiv'-'. 2. das Kindes- alter (vom zweiten li'i zum siebenti'u .lahr), .3. das Knaben- und Jiljulchenalter (vom siebenten bis zum vierzehnten Jaiu j, 4. das Jüjigiings- und J ungf rauenaltöf* Die letite Periode ist die Zeit der Pubertttt oder der OesoUechtsreife, eine Zeit,

') cfr. Sully, Handbuch der Psychologie für r.ehrcr. Leipzig, 180S. 77 fL *) cfr. Pfisterer, Grundlinien der pädagogisohen Psychologie. Gütersloh, 1880.

284

G. Iitt«ratar.

welche im Vergleich zu den anderen Peiioden von den Päyehologen und Pädagogen

noch nicht tii*- ü:ol»uhrende Beeiohtong gefunden hat. Die sogenannte »Kinder- psy« Ih^1< ^'1'?« beschäftigt sich vorzugsweise mit dem Säuglings- und Kindof^ilter, die sogenannt'! »pädagogische Psy<*hologie« mit dem schul|ifli' hti:/-ii Knalx-n- und Müdcbenalter; das Jünglings- und Jungfrauenalter dagegeu wird bis jeizi utehr oder wen^r a]8 ein Gran^ebiet angesehen und infolgedesBen nngeböhrend Teraach- ISssigt, trotzdem gerade diese Zeit für die Entfaltung der Persönli' Iikeit hodt- wichtig ist. Das Pubertiitsaltor i.st die Zeit der geistigen Gärung und Klärung; o.-> ist ein ^ f^efährlieher Lebensabschnitt«, wie mnn z. B. aus dorn II. Buch der »Be- Jienntnih.He« Augustin.s') ei-äieht Die Eutwiokeluiig der GeniUilion bedingen be- aondare physische und psychiaobe Veiftnderungeo, welche ethisch angesehen insofern verhängnisvoll werden kennen, als sie die MSglicfakeiten zam Guten and

Bösen entliiiK.'ii.

Di- na. h folgende ln^!io-rüph;srf!e Übersicht über die Litteratui des Pubertäts- alters bezieht sich auf folgende Fvmkto:

1. Die Zeit der Gcsciücchtsreifo bei Mftdchen.

a) Beflohreibnttg der normalen und abnormen Ersohwmngem.

b) Winke für die pädagogische Behandlung der Mädchen in Sohnle nnd Hans. IL Die Zeit der Gc'schlt^ffitsn'if.' beim rnnnn]i<:lien ncsrhlecht.

a) Darstellung der normalen und abnnnnt-n Erscheinungen.

b) Winke für die piklagogische Behandlung de» heranreifenden mSimlidlSII Gesohledite in fiohnle und Hans.

la..

Litteratur: Dr. PatI vra Gizyckl, Vom Baume der Erkenntnis. Fragmente

zur Ethik und Ps\ ( Ii^Iu^no aus der Weltlittetatur. H. Band: Bas Weib. Betütt,

Ford. Dümmlers Verlagsbuchhandlung, IRH?.

Dieses Werk hat wie v. Gizycki >ii:h im Vonvoii iiulsrii die Absicht, *der Erforschung des weiblichen Seelenlebens ein leicht zugängliches Material zur Verfügting fu stellen und besonders den Frauen durch Naohwcisnng wichtiger Quellen für dieses Studium Anregung su bieten.«*) Über die physischen und psychischen Erecheinungon zur Zeit der Pubertät der Mädchen ver- breiten sich folgende Schriftsteller: Moreau. Naturgeschichte de«; Woibes (Die Entmckelung der beiden Geschlechter zur Keife. G.^ S. 167 ff. u. 1»3 ft). Debay. Physiologie descriptive des trente beantes de k femme (Zur Psycho- logie der hennwaohsenden Jugend. G. 8. 166. 16d). Gntndcuge des weiblichen Charakters (Folgen der Menstruation. G. S. 76. 77). Sonja Kowalewska, .Tus.'»>Rderinnenmgen (Religiöse Zweifel. G. S. 172 ff. Eiferhucht. G. S. 356 ff \ Gabriele Router, Aus guter Familie (Das Interesse für geschlechtliche Probleme. G. S. 170. Junge MSdchen unter sich. G. a 174 ff.). Die Leiden der Jungfraunschaft. G. S. 229. Die Ursaeben der Hysterie. 0. 8. 231. Laura Mar h Olm, Das Buch der Frauen (G. S. 305).

Ein ! schöne Analyse des jungfräulichen Seelenlebens giebt Jean Paul in seiner Levana § 81—88: Die Natur der Mädchen. Dr. Ferdinand Maria Wondt: Die Seele des Weibes. Versuch einer Frauen - Psychologie. Konieubui^,

*) cfr. Die Bekenntnisse des heiligen Augustinus. (Leipzig, Reclam.) S. 47 ff. *) cfr. D!» Tvin J. rfehler, III. Jahrgang. 3. Heft, 8. 138: Seelische Regelwidrig- leiten im Pubertatsalter.

') G. bezeichnet das angezogene Werk von Gizycki.

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Zar Psychologia doe Pubertätsalteis.

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J. Eohkopf, 1891. Eine aubführliche Darstollaag der sexuelleu VerhalüiitiHe beim HidclieB nur PnlHirtflinnit finden wir bei Paoio Hsstegassa, Die Hygiene der Liebe. Nene dentsdio Ausg. von Dr. med. Karl Kolberg. 18. Aafl. Berlin nnd Jje'ypzig. Wicnorsclie Verlagsbuchhandlung. Den iu Rodo stohondcn Ocpenstand behandelt er im 2. und 3. Kapitel; über die iSelbstbeflecku nj; bei Miidehen referiert er auf 6. 40 uod 41 und macht dabei auf die bedeuteudo Muuographie von Dr. Pouillet, De ronaniame dies la femmek PRiis 1877, aufmerksam.

6. C. Kap ff berührt in seinem TorsagewelM die Pabertttt der m&uüiöhen Jugend benu k.sichtigenden Schriftclieii 'Warnung eines Jugendfreundes vor dem gefährlichsten J ugendfeind, oder Belehrung über geheime Sünden, ihre Folgen, Heilung and Verhütung durch Beispiele aus dorn Leben erläutert und der Jugend und fluen Eniebem ans Hers gelegt«. 19. Aufl. Stuttgart, J. F. Bteinkopf, 1806. anoh die aocttdlen Yexirmngen der Müddien. Auf 8. 77 erwähnt Kapfl n. a., dab der fraDtosische Direktor der hdbezen Töchterschule einer grofsen Stadt ihm geschrieben habe, er habe sein Büchlein in da.s Französische ülierset^t, weil er es durchaus bewährt gefunden. Mehr als er je gedacht, finde er die Onanie anoh unter dem weiblichen Oeschleohte verbreitet; Jungfruieo, die er für entBohiedene. Kinder Oottae gehaHen, bitten ihm bekannt, dab sie vom swSUtea Jahre an davon aogesteokt seien. Sehr viele seien ohne alle Verführung von auf.se II dem TA<?ter verfallen. Ein Oyrnna-sialprofefssor schreibt ihm: ^TTühore and niedere tjtände, auch das Landvolk seien von dieser ?>ündo in schauderhafter Weise vergiftet, wovon besonders auch Militärärzte zeugen.«') Die Kenn- seiehen, welche den Vevdadit des Lasters begrOiKlai, giebt Kapff 8. 80 genau an. Es ist eine bemerkenswerte Thatsache, auf welche ein grolser Menschenkenner« Bi.schüf Martensen, aufmerksam macht') und welche mir jüngst der Hausvater eines KettuiigsLausos hestiitig-te, sdafs da«? Weib als das schwächere («cschüpf leichter verdorben wird, als der Manu und dafs, wenn die Verderbnis bei ihm eingetrefen ist, diese sieh weit lasoher bei ihr «itwidmlt, als bei dem Hanne«. Jean Faul äulsert bekanntlich Aber diesen Pankt: »Nur Knaben kommen ans dem Atigia-sstiUl des Welttrcibens mit ein wenig Stallgeruch davon. Die Mädchen aber .sind zarte, weifse l'aris-Apfelblüten, Stubenblumen, von welchen man den S( lümmel nicht mit der Hand, sondern mit feinen Pinseln kehren muüs. Sie sollten das ixohe, Unsittliche, Oewaltthätige nicht einmal h6ren, geschweige sehen« ^ (Le- vana, % 91).

Ib.

Litteratur: H. Kienke, Das Weib als Jungfrau. 3. Aufl. (R. 67—70.)

Hier lesen wir u. a. die beherzigenswerten Worte: «Eine be.Hoader8 aufmerksame Obhnt nimmt das Hüdchen in der Zeit der Pnberttt in Anspruch. Fehler im Ter-

halten dieser Zeit trüben oft r.esundheit und die Lebenszeit des Weibes für immer. Es ist nützlieh, dals das in die Periode der Geschlechtsreife eintretende Mädchen f^elbst eine, seinem Verhältnis und Alter angemessene Einsieht iu djese seine Lebens- phase erhalte; deuii die Erfahrung lehrt täglich, dals alle Erziehungsobhut, uud wäre sie aoch noch so gut gemeint, richtig ventanden und sorgfältig ausgeübt, eine halbe und darum oft ttnschende bleibt, wenn die Oeleitste nj<dit ans freiem Antriebe sich selbst behütet, was aber nur zu erzielen ist, wenn sie von den Gründen diejenige Einsicht gewinnt, welche die Wichtigkeit des Verhaltens erkennen l&lst

^) Hier ist also von Knaben die Bede.

*) Individuelle Ethik. Berlin, 1888. 8. 21.

^ cir. W. H. Riehl. Die FamiUe. Stuttgart 1889, 8. 272 ff.

286

GL littoratnr.

In d«r Pa1»ertiflBperiode wird das HSdchsii aoUalfer und txiger infolge aaxm

Köipergof Ullis aUgememer Mattigkeit; es tritt etoe giOlbere Reizbarkeit, eine träumerische Abgespanntheit, eine Unlust im Gemntc oin, w-xjtirch die bisherise geistige Kcf^samkeit: tind ThkfiL'b'it.sweise eine oft auffällige AudTun^' erleidet. Das iwnst iuteUoktuell begabte Mädchen, welches mit Leichtigkeit begriff und wif&begierig, fltiiteig im Lernen war, eisdieint nunmehr weniger btfähigt, unanimertBamf denk- und terntrage, seratrenl, leiebi veigeGdioh. Es ist di«8 die Zeit in welcher Lehrer und Eltern über die moralische Erschlaffung des guten Willens, über Eigensinn, Tni;j:!!oit. I?t izViarkeit, Empfindlichkeit und üble Laune des Mädchens klagen. E>i wäre ungerecht, das Mädchen iu dieser Zeit über diese körperliche und geistige EiB(^lattuiig zu tadeln oder gar emstiidi m strafen, obenein noch mit Sbwforbeiten der Schule. Es soll in dieser Zeit der nngestörten Oesandheit wegen alle kSrper« liehe und gei.stigo Anstrengung «gemieden, das lange Stillsitzen, der Hauptfeind des weiblichen, besonders juE^endüchfii T,.'I»'-n«i, t^kürzt und Aftn Orrüinisrr.tis h-i an- gemessener t'iglicher Bewegung m freier Luft und körperlicher Arbeit, Ijei nalui'uder, aber nicht reizender Eruahrungsweisc, die zur Keife des Mädchens nötige Zeit und Hohe gelaasra werden.« Klenke ist ferner dafftr, dalls ein junges Mfiddien Ten der Zeit au, wo die periodischen Erscheinungen des ]i|(X^tS heginnen, anf Ursache und Zw i i k ilt rselben hingewiesen und zur Sdl'stpfloge ange!f'itf*t werde, was leider von den meisten Müttern aus falscher Priiii- rii- rn<^ht l'cx hdu'. An dieser Stelle sei auch auf das neue Werk »Gesundheit und Erziehungc von Prof. Stick er, Gielhen, J. Riokersdie VertagsbacUhaodlong (elegant gehonden 4 M) hingewiesen. Die Kritik sdueibt u. a. über dieses Buch: iHoffentlich sind fiele Mütter frei genug von ungesunder riüderif, um r>s- rlcr rnrnr-hscnen Twhter zu ompfnhl' n. In doni Sinne von Klenke äufsert sich au* h Fniu Dr. med. Adams iu ihrem Büchlein über »Die Hygiene des Geschlechtslebens ^. Berlin, Keinbold Schwans. S. 65. Jenn Pnnl gieht in seiner scIkhi des öfteren zitierten »Levioa« 80—160) edne Beihe auch heute noch beachtenswerter Winke über die Enidrang der Mädchen. Gewamt wird znvörlerst vor einer ungesunden Entwickelung des GefühlslobcTT;. »Gefühle, Blumen und lik'hmetterUngo leben desto länger, je spater sie sieh entwickeln« 90). Auch eifert er gegen die «Dreifingerarbeit«. Diese führe den Schaden mit sich, adafe der müfsig- gelassene Geist entweder dumpf verrostet, oder den Wogen ier Kreise nach Kreisen liehraden Phantasie übergeben ist. Strick- und X.ihnadel halten z. B. die Wunden einer unglücklichen Liebo liinfrcr offen, als alle Romane: es ^ind Dornen, welche die '^inlcrndi:' Rose selber durchstechen. Es habe hingegen die Jungfrau ein Geschäft, das jede Minute einen nenen Oedanken befiehlt* 93). Über die Eigenart der Leitung der Mädchen auch zur Zeit der Puhertat verbreitet mch Prof. Dr. Krieg in seinem »Lehrbuch der Pädagogik«. Paderborn, 1000. § 100. Die Mädchenorziehung. Krieg ist ein t'tifscl.ic'ilnner Cip^nf^r d''R Al;Mr!i.-!,turnf'ns. da'^ na''*h seiner Anf'icht --unwfiVilk'he Keckheit und Freiheit im Benehmen« wirkt. »Bichtig gewählte 6(»iele iin Freien vermögen die gj^mnastischeu Übungen wohl zu ersetzen.« Die grülste Achtsamkeit verdient nach Krieg die Pflege des weiblichen Oemütstebena; das erste und beste Mittel erblickt er darin, dalSs man gesunde Religiosität in das weibliche Gemüt pflanzt - Aus d. i älteren Litteratur ist der Kin hrisvater Hieronymn« t 420) zu erwalinefi, wekiier in zwei Briefen seine An-^i liuuungon über die irfjitung der Jungfmueu niedergelegt hat. Der eine Brief i.si au die edle liumerin Lata, weldio ihre Tochter PanU zum Dienste Gottes erziehen wollte tind deshalb Hieronymus um Rat bat, der andere an Gaudentius über die Kixli hmig der kleinen Pacatnla gerichtet (£p. 107 ad Laetam de institntione filiae; £p. 128 ad Gandentinm da

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Zm FnfehtÜidi^ des PalMartttBattera.

287

P^tolae infaatttlae educatione. Yergl. »Sammlung der bedeutendsten juida^ogischon Sohnftent. Paderborn, 1889. IIL Band). Ferner verdient hier die treffliche Schrift ▼on Job. Ludw. Vives (f 1540) »De institutioDO feminae «ämatianae« genannt zu worden, welche die Erziehung' und Ausl iliJunt^ der Mädchen ausführlich bespricht.*) Noch bedeutsamer ist die Schrift von Fenolon, »Trait»> de l'Aducation des filles lti87.«') Fenolon verwaltete ab junger Priester jaluelaug das schwierige Amt eines Eatecheten für weibliche Personen and fiaounelte als 8<doher reiche Er- fabnangen auf dem Gebiete des tvei blichen Seelenlebens. In den 13 Kapitehi seines treffliehin Werkes behandelt or n. a. die Fehler der hf>mnwachsenden Mädchen, die Venriun<rou des Naohahmungstriebos, die Eitelkeit, l'ut/- und Gefall- sucht und erörtert dann auch eingehend den religiösen Unterricht, diu Pflichten der Bbiusfraaen und Mütter, sowie die Eigenaohaften einer guten Enieherin. Das Werk ist jedem dringend an empfehlen^ der es mit der Lsitnng des henmwadisanden weiblichen Geschlechts zu thun hat.*) Über Heilung sexueller yeriiningen be- richtet Eapif in dem angezogenen Büchlein B. 79. Ö7.

na.

Litteratar: PManr, Ornndlinien der pftdagogischetk Psychologie. Gütets-

Ich, 1880. § 59.

Hier wird eine packende Charakteristik des Jüuglingsalb'rs f];egeben. *) Das- selbe gilt vun Krieg, Lehrbuch der Pädagogik. S. 277. Auf die Gefahren der Jünglingszeit macht Kant anfinerfcsam: Kant, Anthropologie (Werbe YII, Abt 2, S. i!66). Kant ist so pessiniistisdi zu fragen: »Womit füllt er (nfimlich der Jüng« ling) nun diesen Zwischenraum einer abgenötigten und unnatürlichen Enthaltsamkeit aus? Kaum anders, als mit Lastern. ^ ') Vhrv di.- --Laster« difs- r gr-fährlichen Periode referiert Xapff ia seinem schon ohva enväkuleu Büchlein, ferner ilante- gazza, Die Hygiene der läebe. S. 33 ff., AI ich, Grundrife der allgemeinen Er- siehongs- nnd ünterrichtslehre. Wien und Troppan, 1877. 8. 106 ff. Besonders anschaulich schildert Augustiu im H. Buche seiner > Dekenntuis.se« (Leipzig, Rf'( bnis Terlii';. S. {7 ff.) die Verirrungen seiner Pubertüts/.nit. Moderiio KIttm und Er/.ioher kDiiura aus diesem Berichte besonders vvcau tiiu die Kun^t »zwischen deu Zeilen zu lesen« verstehen viel lernen. Ebenso empfehlend weise ich hin anf die VorleeaDgm von Prof. Dr. Theobald Ziegler, »Der deutsehe

^) cfr. Fr. Kayser, Tives* pädagogische Schriften. Bibliotiidc der kathoL

Pädagogik. Freiburg, Herders Vertag. VUI. Band.

') cfr. Ft, Schief f er, Feneton über die Erziehong der Mädchen. Pader- born, 1888.

') cfr. auch Dupanloup, Die Mädchenorziehung. Deutsch vun Musthof. Haina, 1880l Sehr anempfehlen: Ernst Schrill, Uomentbilder vom Cameval. & 30 «t. 3. AvfL DüsseUoif , C. Schaffisit

*) cfr. Em tn i II g:haus, Die psychischen StSruDgen dos Kindesaltera. Tübingen, 1878. (Zur Psychologie der Fl egel jähre.)

*J cfr. auch Ed. v. Hartmann über diesen Punkt Psychologie des ünbe- wnlisten. Beriio, 1876. S. 313.

•> ofr. JodI, Lahrbach der Psychologie. Stuttgart 1896. 8. 178 ff.; 620 ff. Schopenhfcucr, Die Welt als Willo und Vorstellung. IL Bd. cap. 44. Duboc. Julius, Psychologie der IJcbo. Hannover 1874. Zimmermann, Oswald, Die Wonne des Leids. Leipzig 1885.

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288 & littentar.

Student am Ende des 19. Jahrhimderlsc (5. Toriesung: »Die akadeanedie Ehra und

die Prostitution.«)

Die f-'pxucllen Perversionen (r.syi'li*ii);iUiia scxualis' : ') sud('!ulJ^^^trieb, Masochi.s- nms, SadiKüiuij, Fetischismus. Exhibitiouibinua, lloiiioisexualiüt, ßsuiifetischismus u. w. behandeln Garnier, >Die sexuellen Perversionen (Arcliives d'Anthropologic crimi- nelle. XV. 8. 008), Hoppe, Drei Mle von SittliobkeUOTeigehen (VierteljahnsGhrilt fürgericbtl. Med. 3. Folge, Bd. 20, Heft 2). Dr. JaogvM xuaoht iu seinem Schriftchen •Willeand Willensstorung«, Langoiis.ilza, ITtMinann Boyer & Söhne (Beyer & Maring 1897, 8.21, auf den Zusainmt'uhang zwisclwii dpm Rrandstif tung.s- und G eschlechtHtrieb aufmeiloaiu. Dit; i'^rontauiu (Biaudbültuuga>U'iel>) tritt danach mit Vorliebe im' PabertitBalter auf imd entspringt dem Oeedilechtstrieb, hat in Evolatioosanomalien des Oesi hli ehtslebena seinen Grund. Über diese merk^rürdige Thatsaclio findet man auch iu Volk mann, »Lfhilmch der Psychologie« (2. Band. Gothen, 1895. 419. 420} eine genaue Beschreibung.

Ub.

Litteratur: Beneke. Erziehungs- und Unterrichtslchrp. 1. Band. Berlin, 1835. § 80: Vüi-sichtsnKirsif'gt'ln beim Erwachen des Geschlechtstriebes.

Nlemeyer, Grundsätze der Erziehung und des U nterrichts. 1. TeiL Halle, 1806. 8. 292 iL: Binflub der Bniehnng anf Gesohleehisliebe.

Roosseas, Emil. 2. Band. (Reclam.) 4. Buch.

Pataar, Evangelische Pädagogik. Stattgait, 1855. 8. 294 iL

2. Dr. med. Marie Heim-VSgtlln. Die Pflege de? Kindes im ori^tcii Lebens- jahr. Zehn Briefe an eine junge Freundin, im Auftraf; tit^s Schweizerischen gemeinniitzigen Frauenvereios verfafst. Leipzig, Kainiund Gerhard, vormaU Wolf- gang Qeriuurd. Frais brosoh. 1 M, gut gab. 1,50 TL

Wir enplddeii jeder Matter wie auch jedem, der sich für die Entwickelang des Rindes im 1. Lebensjahre interessiert, diese aufklärende Schrift zu lesen, welche ihres ausgezeichneten Inlialts wegen in 22000 Exemplaren vom obigen Verein ver- breitet wurde. Tr.

Zur Naohrloht. Da wegen geschäftlicher Änderungen in der Druckerei eine Venögerniig der Dnickl^;mig des V. Heftes eintreteii mnJste, lasseo wir Heft V

und VI als Doppelheft erscheinen. Damit wird es uns zugleich ermöglicht, Vor- tiücre nnd Vorsammlunpsbcrioht des Vereins für Einderfoischung als ein Ganzes zu bringen. Dieser Versanuulungjihericht erscheint zudem gesondert zum Preise von 20 Pf. und wir bitten unsere Leser, im Interesse der guten Sache für mög- lichste Verbraitni^ sn soigea

Das I. Heft des neuen Jahrganges erscheint berotts am 15. Deiember und neue Einrichtungen in der Druckerei ermöglichen ee, die Hefts fortan regehni&ig am 15. einee jeden zweiten Monats herauszugel eu.

Verlagsbuchhandlung und Schriftleitung, cfr. Krafft-Elbing, Fsychopaihia sexualis. 5. Aufl. Stattgait 1890.

Dncli Ton Henumn Dover & Söhno (Bc>yot Je ilma) ia Longo&ialza.

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