DIE GRENZBOTEN: 1874

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Priuceton Unibersitn.

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6Grepnpeboten.

Zeitfhrife für

Yolitik, Siteratur und Kunfl.

Ne 40. Ausgegeben am 2. October 1874.

Inhalt:

Herman Grimm's fünfzehn Eſſays. Hans Blum. . » x... 1 Ein Prinz aus dem brandenburgiſch-hohenzollerſchen Haufe als

Bifhof von Strafburg (1592—1604). Guſtav Kraufe . 16

Felir MendelsfohnsBartboldy's Werke. S. Jadafjfohbn . . . 24

Ein gemaßfregelter Preußenfeuhler. . 2 2: 2 2 2 na 27 ng Briefe. Angelo de Gubernatie. . . 2... 29 ad Leben Cavour's von Maffari in deutfcher Sprade . . . . 34

Grenzbotenumfhlag: Literarifhe Anzeigen. r

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Friedrich Ludwig Herbig. (Ir. Bild. Grunow.)

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bs at 4 bei allen Buchhandlungen und Poftämtern des In: und Auslandes.

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Die Grenzboten.

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Zeitſchrift für Politik Fiteratur und Kunſt.

33. Jahrgang.

II. Semeſter. II. Band.

Leipzig, Verlag von Friedrich Ludwig Herbig. (Fr. Wilh. Grunow.) 1874.

Inhaltsverzeichniß.

Jahrgang 1874.

Politit und Völkerleben.

a.

Aus dem deutfhen Reid:

Vom deutfchen Reichstage. C—r. ©. 194, 239, 270, 314, 353, 389, 426, 469, 515,

Briefe aus der Kaiferftadt. ©. 73, 229, 318, 383,

Dilder aus Medlenburg. Hugo Gaedde. ©. 113, 147, 264.

Der Fall Arnim. Aus Berlin. ©. 118,

Die jähfifche Politik. K. F. ©. 346.

Die General» Direction der Sächf. Staats-

Eifenbahnen, das Reichseifenbahngefe ee dad Publitum. Mar Krentel, 454,

Der Procek Arnim. ©. 508.

Neuere kirchenpolitiſche Fragen. H. Jato by. S 41,

In Sachen der finanziellen Lage der Uni— verfität Jena. Klagbeantwortung. Replik von®. Endemann. Actenſchluß. ©. 69,

Die Goldausfuhr und die Münzreform, Mar Wirth, . 140.

Die Münzfrifis und das Bankgeſetz. Mar Wirth. ©. 481,

Ein gemaßregelter Preußenfeuchler. ©. 27,

Italieniſche Briefe, Angelo de Guber— natid. ©, 29,

Ein Mufterftüd bonopartiftifcher Propaganda in Franfreih. Aus Paris. S. 56.

Die Banken in Luremburg. N. Steffen. ©. 112,

Der obligatorijche franzöfifche Unterricht in uremburg. N. Steffen. ©. 277. Zur Gefchichte des Septennats, Georg

Zelle. ©. 293, 321, 401.

611966

Viertes Vierteljahr.

Bilder und Schilderungen.

Ein Hobenzoller als Biſchof von Straßburg (1592—1604). Guftap Kraufe S. 16

—— Carl Friedrich's von

löden. B. S. 51.

Schweizer⸗Reiſegloſſen. F. B. ©. 151.

Herbſttage in Schwaben. Friedrich Lam⸗— pert. ©. 187, 215.

Die —— Erpedition. ©. T.

Im Silberland Nevada, Nah Mart Twain. ©. 333, 367,

Plaudereien aus London. Alfred Blum. ©. 376, 414, 486,

Statiftifches und Geographifches vom Oxus⸗ lande.. 8. Shmolfe. ©, 501.

©. 270,

Die mechanifche und die teleologifhe Welt: anfhauung. Mar Heinze ©. 51. Die Drafel Griechenlands. C. Brud. ©,

161

Hiftorifche Studien über Don Carlos, Wil: helm Maurenbrecher. ©. 241, 281,

Preußifche Geſchichten. Wilhelm Mau- tenbreder. S. 44l,

Literatur und Kunf.

Herman Grimm's fünfzehn Eſſay's. Sana Blum S. 1. An Das Leben Gavourd von Maffari in deutfher Sprache. (Reipzig, Ambr. Barth, überfegt von Ernft Bezold. ©. 34. Mar Zähne, Jugenderinnerungen Garl

Friedrich's von Klöden. ©. 51. Mar Wirth's Gefchichte der Handels⸗ kriſen. S. 78.

——— Dali u >Im zur, J

Amerikaniſche Humoriften:

Thomas Bailey Aldrihd. S. 92.

Mark Twain. S. 306, Hand Blum. Wenjukow's Werk über Innerafien.S. 183. Wilhelm Roſcher's Gefhichte der deut:

fhen Nationalöfonomit, 8. B. ©. 361. Eine neue Ausgabe von Jeremiad Gott-

belf. B. ©. 467.

Burn, Endemann’s neuefted Werk. H. B.

487.

Felix ——— Werke. S. Jadasſohn. S.

„Um die Erde“ von Hildebrand und „Maleriſche Reiſeziele““ von Eugen Krü— ger. ©. 421.

Selbfibiograpbie von ————— Fiſch— bad. ©. 225, 480

Goethe's Tagebücher 1780, C. U. 9. Burkhardt. ©. 121.

Charles Wolfe, Skizze feines Lebens und Dichtend. Guftav Haller. ©, 129, 175.

Proben gleichzeitiger Bolkälieder über die u bei Semmingftedt. 5. Schmolfe.

1781, 1782,

Slleine Beſprechungen. Deutfhe Jugend v. Jul, Lohmeyer und

Oscar Pletſch. (Leip. Alpb. Dürr.) ©. 360. Neſthäkchen, D. Pletfh. (Daf.) ©. 595.

Aus unfern vier Wänden. Reichenau. (F. ®. Grunow, Leipz.) S. 395. Goethe's Erzählungen für e. nn v. F. Siegfried. en 6.) Weihnachtöverlag v. Velhagen * Klaſing. S. 396—399. Rob. König. Scott's ſchönſte Romane. S. 30 Clement Art Prinzeßchen Eva, das Kränzchen, Frau Theodore. ©. 398. Wilhelm Petſch, Kaifer Wilhelm der ergreie. S. 398. Graf Moltke ©. 398. D. Höder, General v. Werder. ©.398. Mar Bifh off, Robert der Echiffejunge.

©. 398 Die deutfchen Nordpol:

Rich. And 9 fahrer. S.

Theod Bo J— Zeitalter det Entdeckun— gen. ©. 3909.

IV

Reinhold Zöllner, Der ſchwarze Grd- theil. S. 399 Gottlob Dittmer, Kinderluft. S. 391. Robert Reinick's Märchens, Lieder: u. Geſchichtenbuch x. S. 399.

Weibnachtsliteratur von Garl Flemming in Slogan. S. 399— 400.

Thekla v. Gumpert, Töchter-Album. ©. 400. Herzblättchen. ©. 400.

NR. Koh, Bunte Farben. ©. 400.

Sulie Ruhkopf, Zehn Thüren. ©. 400.

Godin, Märhenbuhb. ©. 400.

Kerd. Schmidt, ullivers Reifen. S.400,

5.0.9. Jähde, Roggenförnlein x.©. 400.

Erzählungen von 2. Budde (aud dem Dänifhen von Walter Neinmar). (F. W. Grunow, Leipjia.) ©. 438,

Georg Scherer, die fchönften deutfchen Volkslieder. (A. Dürr, Leipzig.) ©. 439.

Ernſt Förfter, Gornelius’ Loggien— bilder (U. Dürr, Leipzig). ©. 439.

Düffeldorfer Künftler- Album (Preis denbab & Go, BDüffeldorf). ©. 440.

Ernſt Scherenberg. Lieder (Ernft Keil, Leipzig). S. 440.

Ludwig Nobod, dad Berner Oberland (Aquarelle), Tert von 6. Orenbrüggen. (Darmftadt, C. Köhler's Berlag.) ©. 410.

3. v. Baufinger, Waidmannd:Erinneruns gen Photogr. nach Zeichnungen). Tert von Karl Stieler. (München, Fr. Brüd: mann’d Berlag) €. 176

William Pierfon, Preuß. Gefchicte. (Berlin, Gebr. Paetel.) 3. Aufl. ©. 476,

KarlBraun, Mordgeihichten. (Hannover, Garl Rümpler) ©. 477.

Sulius Wolff, Till Eulenfpiegel redivi- vus. (Detmold, Meyer'fche Hofbuchhand— lung.) €. 478.

Friedr. v. Schad, Nächte des Drients. (3. ©. Gotta, Stuttgart.) S. 478.

Jugendichriften des Otto Spamer'fchen Ver— lags in Leipzig. ©. 479.

HSermannv. Bartb, Dit-Afrifa. S. 479, Karl Dppel. Wunderland der Pyrami—

den. ©. 479,

Hermann Göll, Götterfagen und Kul— turformen. ©. 479,

Lauſch, Kindermärden. ©. 479.

E. Telle, durch die drei Naturreiche.

C. Flamarion, Reich der Luft, deutſch von W. Schütte. CLeipzig, Fr. Brand- ftetter.) ©. 479,

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Herman Grimm's fünfzehn Sans. *)

Es find jetzt fünfzehn Jahre verfloffen, feit Herman Grimm die erfte Samıms lung feiner Auffäße unter dem Titel „Eſſays“ herausgab. Bor neun Jahren folgte die zweite Sammlung unter dem Titel „Neun Eſſays über Kunft und Literatur“. Als die Gunft des Publikums eine neue Auflage nothwendig machte, mählte der Verfaſſer zunächit die auf bildende Kunſt bezüglichen Stüde aus, die 1871 erfchienen.**) Die vorliegende Sammlung bietet die älteren und neueren Auffäge, welche politifch-hiftorifchen und literaturgefchichtlihen Inhalts find. ine fünftige Sammlung wird und noch diejenigen Arbeiten Grimm's vereinigen, welche fi) mit dem Drama bejchäftigen.

Die vorliegende Sammlung ift vielleicht diejenige, die den größten Leſer— freiß finden wird, eben ihres Inhaltes, ihrer Stoffe halber. Viele der darin enthaltenen Abhandlungen, auch einige der politifchen, ſtammen aus einer der Gegenwart faft entfehwundenen Zeit, fo z. B. der Aufſatz über „Friedrich den Großen und Macaulay“ aus dem Jahr 1858, der über „Herrn von Varn- hagen's Tagebücher” aus dem Jahr 1862. Natürlich find diefe politifchen Auffäse getragen und getränft von den politifchen Tagesintereffen, melde damals die beften Kreife Berlin erfüllten. Und auch in die literargefchicht- lihen Arbeiten aus alten Tagen, die hier neu aufgelegt werden, verwebt der Berfaffer eine Fülle von Sdeen und Wünfchen, die gerade dem vormwärtö- ftrebenden preußifchen Nationalen jener Zeit da® ganze Herz bewegten und juvorderft auf der Lippe und in der Feder ftanden. Manche jener Wünfche und Hoffnungen mögen mir heute ſchüchtern, manche jener Warnungen und Befürdhtungen heute irrig nenren; darum find wir aber dem Berfafjer nicht minder dankbar dafür, daß er dur den unveränderten Abdrud feiner Efjayd aus dem Ende des fünften und aus dem Beginn des fechiten Fahr: zehnt3 unfere® Jahrhunderts, und noch heute unverzagt den Spiegel hinhält, in welchem die beiten Beitgenoffen von damals fich fpiegeln. Das Bild, das *) Fünfzehn Eſſays von Herman Grimm. Zweite vermehrte Auflage der Neuen Eſſays u. f. w. Berlin, Ferd. Dümmler’s Verlagsbuchhandlung (Harrwitz & Goß- mann), 1874.

**) Unter dem Titel „Zehn ausgewählte Eſſays zur Einführung in dad Studium der

Modernen Kunft.” Grenzboten IV. 1874. 1

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wir darin ſchauen, gereicht dem Verfaſſer wahrlich nicht zur Unehre. Es \ind, wenn auch ein wenig jünger und naiver, diefelben Züge, die heute in dem Charakterbild der beften deutfchen Männer zufammentreffen.

Herman Grimm ift der Erfte in Deutfchland geweſen, der „Eſſays“ ge- ihrieben hat, die den Namen verdienen. Sein Beifpiel hat eine nambafte Coneurrenz hervorgerufen und mander von denen, die ihm nacheiferten, hat Hervorragendes geleiftet auf dem Gebiete des literar- oder kunſthiſtoriſchen Eſſays; im politifchen Eſſay befonderd hat Heinrich von Treitſchke Herman Grimm vielleicht überflügelt. Gleichwohl befist Grimm eigenthümlihe Bor züge, die wenig Andere in diefem Grade aufzumeifen haben, feiner ganz fo in fi) vereinigt wie er, und die ihn für das Genre des „Eſſay“ befähigen, wie feinen zweiten. Es mag mohl geftattet fein, die Eigenthümlichkeit der Schrift- gattung , die er zuerft bei und einführte, mit anderen Kunftwerfen zu ver gleihen, um fie zu harakterifiren, 3. B. mit gewiſſen Schöpfungsgattungen der bildenden Kunft. Jede Gemäldeausftellung zeigt uns den Unterfchied au in den Bildwerken, der auf fchriftftellerifchem Gebiete zwifchen der gründ- lichen gelehrten Abhandlung und dem Efjay von felbft in die Augen fällt. Hier finden wir vollendete Staffeleigemälde aller Genres: Arbeiten, denen wir vieleicht, Dank der Kunftübung Sicherheit und Genialität des Meifterd, die Mühe des Schaffend nicht anmerken, in denen aber bei genauer Betradhtung immerhin die Unmittelbarkfeit der Natur durchaus zurüdtritt vor der dee, die im Bilde audgefprochen werben fol; vor der Schule, melde die Hand des Meifterd übte und hier ſich ausprägt. Kaum ein Faltenwurf oder eine Gliedſtellung in dem hiftorifchen Gemälde vor und erinnert daran, daß lebende Modelle dem Künftler vor Augen ftanden, ald er die Vorftudien für diefes Bild machte; Faum eine unverfennbare Kirhthurmfpige oder eine eigenartige Linie des fernen Gebirged gemahnt und daran, daß die „ſtimmungsreiche“ Landſchaft vor uns wirklich einft an Ort und Stelle aufgenommen, vom Künftler fo gefehen wurde, mie wir fie in der Natur fahen, von Gottes blauem Himmel überfpannt. Neben diefen vollendetiten, am meiften durd)- gearbeiteten Schöpfungen des Pinfeld, in denen der Fünftlerifche Verftand vor: herrfcht, der jedem Menfchenantli etwas hiſtbriſchen Ebdelroft zulegt, jedem Thier etwas bucolifhe Würde und jedem Baum, jedem Berg die Form und Farbe giebt, welche gerade an der betreffenden Stelle vonnöthen ift, um an- genehm und harmonisch zu wirken, neben ihnen erbliden wir eine Kleinere Anzahl von Gemälden, die fich felbit ald „Studien“ bezeichnen. Wenn ihr Titel vom Künftler richtig gemählt ift, fo müſſen fie alle den nämlichen, höchſt erfrifchenden Eindrud auf und machen: bier will der Künftler die Natur fo darftellen, wie fie ihn wirklich zum Schaffen begeifterte. Die flüchtige Skizze, welche den hundert und mehr Schwierigkeiten de8 Malend nah der Natur

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abgerungen wurde der mwechfelnden Laune des Sonnenlichtes, der Hitze oder Kälte, den natürlihen Grenzen menfchlicher Geduld und menfchlicher Muskelkraft diefe Skizze foll veredelt und vertieft werden zu dem Bilde, welches die Natur felbit in jenen Stunden drangvollen Schaffend dem Maler bot, fol nun bequem auögeftaltet werden durch eine fertige Technif und er- füllt von dem warmen lebendigen Hauche, der den Künftler zum Schaffen jwang und ihn immer nod daheim in der ftillen Klaufe erwärmt, auch wenn deren eined® Fenſter nur nah Norden zeigt. Nur die Natur fol die „Studie“ wiedergeben, nicht mehr, nicht weniger wohl ihr, wenn fie an- nähernd die Natur zu geben vermag!

Die Studie ift der „Eſſay“ der bildenden Künfte; der Eſſay die „Studie“ unter den Schriftwerfen, im Gegenfas zum jtilvollen Staffeleibild und zur flüchtigen Wanderſkizze. In den ftillen Myſterien der Kunftgenofjen wird allezeit freilich wohl die Skizze am hödhften gehalten werden. Niemald wird der wahre Künſtler fich ihrer entäußern. Nicht, weil der Marft ihr ver- ſchloſſen wäre. Denn bei der leidigen modernen Gefhmadsrichtung, die Fehler und Schwächen des Farbenkörpers der Skizze auch auf dDurchgearbeitete Staffeleibilder zu übertragen, und bei der Unfähigkeit fo vieler Ausſteller ſich über fkizzenhafte Reiftungen zu erheben, möchte immerhin einige Hoffnung auf Abſatz aud für gute Skizzen vorhanden fein. Aber die Skizze ift dem Maler das Lebenslicht im edelften Sinne des Wortes. Sie ift dad Tagebuch, das er in inbrünftigem Verkehr mit der Natur, mit feiner Mufe geführt. In der Skizze mag fie in den Augen des Laien noch fo unvollfommen fein, fpiegelt fi) die unverfälfchte, von des Gedankens Bläffe noch nicht an- gefränfelte, Natur. Sic diefer Blätter entäußern, hieße fich felbft preiögeben. Sie bieten dem Künftler das ficherfte Schugmittel gegen die Gefahr, der Manier zu erliegen. Sie find der Prüfftein für jeden, ob er die Natur richtig und eigenartig zu verbildlichen vermag. An der Studie zeigt fich dann, ob dem Maler die Kraft poetifcher Ausgeftaltung, das künſtleriſche Vermögen gegeben ift, Vorbilder, die fehon der Vergangenheit, der Erinnerung angehören, lebendig zurüdzurufen und dem Befchauer vorzuführen.

Diefer poetifchen Geſtaltungskraft Fann auch der Efjayift nicht entrathen. Im Gegentheil, nur wenn er Dichter ift, wird ihm der Eſſay völlig gelingen. Er kann fi nicht in jener behaglichen, alle Quellen erfchöpfenden Breite er- gehen, welche der eigentliche Gefhichtäfchreiber der Literatur, Kunft: und Kulturgeſchichte, die ſtaatswiſſenſchaftliche oder politifhe Fachgelehrfamkeit, für fih in Anfprud nimmt. Wo bliebe der „gebildete Leſer“, wenn er das viel- feitige Material, das Heute in unfern Salons, in unfern gejelligen und politifhen Bereinigungen zur Discuffion fteht, aus breiten Fachwerken jhöpfen müßte? Wie könnte der Schriftfteller den dringenditen politifchen,

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literarifchen, mufifalifchen, bildnerifchen Novitäten gerecht werden, wenn man nur ftrenggelehrte Monographien darüber fchreiben dürfte? Ebenfowenig aber ald das literarifche Staffeleigemälde würde die Bedürfniffe des großen, ja des gewählten Publikums die literarifche Skizze befriedigen. Die Naturlaute des menschlichen Geifte® fprechen eben nicht jo unmittelbar zu Sinn und Empfin- dung, wie Form und Farbe der Landſchaft, der menjchlichen Geftalt, des Stillleben? oder Thierförperd. Sie bedürfen der Klärung und Durcharbeitung, um frudtbar und genußbringend auf Andere zu wirken. Alternde berühmte Schhriftiteller, die nach jenem köſtlichen chinefifhen Märchen Hand Hopfen's den Zauber ihrer Feder erfannt haben: daß fie fchreiben dürfen, was fie wollen, und dennoch ficher find, Beifall zu finden beichenfen und in ihren impotenten Tagen etwa einmal mit ſolchen Skizzen. Jugenderfahrungen und Alterdreflerionen, Lefefhnigel und fog. gute MWite ihrer Bekannten erhalten wir da in abgerifjenen Sägen am liebiten in der Form des Tagebuche des greifenhaften Roman-Helden und fühlen und unendlich gelangweilt und verdroffen. Sollte aber ein Anfänger wagen, und mit feinen Skizzen zu behelligen, wie etwa ein junger Künftler mit unfertigen Bildern, fo Elappen wir das Buch nad) den eriten zwei Seiten empört zu und merfen und den Mann für fünftige Fälle.

Dagegen bietet das Material der Skizze in derfelben Weiſe die be» fruchtende Grundlage für den Eſſay mie in der bildenden Kunft für die Studie. Nur ift hier wie dort die poetifche Intuition unentbehrlich für die fünftlerifhe Ausgeftaltung. Ein hervorragender Träger der Wiffenfchaft, der Staatäpolitif, der Literatur oder Kunft feined Volkes foll zum Gegenftand eines Efjay gemacht werden. Die Aufgabe erfüllt den Schriftfteller voll: fändig er muß davon erfüllt fein, wenn er fie löſen fol im Wachen und im Träumen, am Urbeitötifch, auf dem einfamen Spaziergang, felbft im Rafjeln des Eifenbahnzugs oder im traulichen Geplauder des Yamilienabende. Mas über den Stoff zu Iefen war, hat er gelefen, den Quellen ift er fo gründlich nachgegangen mie der Gelehrte von Fach, die Werke und Thaten ſeines Helden hat er fich angeeignet. Und dennoch ift damit erſt dad Roh— material zu der Arbeit gewonnen, die nun begonnen werden fol. Nicht den einzelnen Mann, nicht feinen Werdegang und feine Leiftungen allein will der Eſſay jchildern. Vielmehr fol der Lefer die eigenthümliche Stellung und Bedeutung jenes Mannes in feinem Volke, in feiner Zeit, in dem gefammten Kulturleben der Menfchheit erkennen. Das kann nur durch eine, im beften Sinne univerfelle Bildung, dur ein ungewöhnliches Aperceptiondvermögen und ein gewiſſes poetiſches Indigenat erreicht werden. Alle Wiffenfhaft und alle menſchliche Erfenntnig follten zur Verfügung ftehen, um einen Aus: erwählten des menfchlichen Geiſtes und allfeitig zn fchildern. So bedarf

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auch der Eſſayiſt jetzt der eigenſten Lebenserfahrungen aus Kindheit und Jugend, um ſeines Helden Entwickelung zu erklären, im nächſten Moment wieder der Vertrautheit mit mathematiſchen oder naturwiſſenſchaftlichen Geſetzen oder den kühnſten Speculationen der Metaphyſik, um ein künſtleriſches oder politi— ſches Problem zu löfen, unmittelbar darauf der Literatur der Griechen oder der jüngften Eretgnifje der Weltgeſchichte.

Herman Grimm bietet und in feiner Perfon , in feinem Talent diefe nothwendigen Borbedingungen des Efjayiften. Er tft außerdem gewöhnt an eine ftrenge Handhabung des Stild, einen Wohllaut der Sprade, die auf das Freudigfte berühren. Seine Sprache ift bilderreih, gedanfenfprühend, mitunter fo erfüllt von Bildern und Gedanken, daß das raſche Fortkommen ſchwer fällt. Aber um fo größer ift der Umblid, den man gewonnen, wenn man einen Augenblick bedächtig innegehalten. Seine Darftelung, namentlich auch in feinen politifchen Gfjays, tft troßdem merklih ruhiger ald diejenige Treitſchke's. Treitſchke fohreibt immer mit jenem ‚rhetorifchen Pathos, das zuerst feine Vorlefungen und Reden in Leipzig berühmt machte. Treitſchke ift unter PBarticulariften aufgewachſen und jahrelang faſt einfam gejtanden mit feinem nationalen Schmerz und feinen nationalen Hoffnungen. Das Befenntniß und der Kampf für diefe Ideen hat ihn aus dem Baterhaug, aus der Heimath, dem felbftgefchaffenen Kreiſe feines erften academifchen Wirkens getrieben. Immer hat er fich darauf einrichten müffen, unter zehn Freunden feiner Anfichten hundert Gegner zu finden. Daher noch heute, fo oft er zur Feder greift, jene innerjte Erregtheit, jener überzeugende Schwung in feinen Worten; daher immer die Lenkung der Anfihten und des MWillend der Leſer oder Hörer das vornehmfte Ziel feiner Feder mie feiner Rede. Nicht lange Ueberlegung bezwedt er, fondern die fofortige Vollziehung der That, die der Verfaffer für nothwendig hält. Herman Grimm dagegen it aufgewachſen in jenem Elaffifh ruhigen und fichern Kreife, der fih um das Leben und Wirken ſeines Vaters und feines Onkels wob. Ein einziges Mal, ala er noch Knabe war, Hat der müfte Heinftaatlihe Partieularismus auch die Gebrüder Grimm aus ihrer ftillen Arbeit aufgefcheucht und heimathlos aus Göttingen getrieben. Aber nur zu ihrem, zu Herman's Segen. Seitdem fie in Berlin wirkten, war ihr Haus einer der Mittelpunfte des geiftigen Lebens der Nation. Hier verkehrten Jahr aus Jahr ein die vornehmften Geiſter Deutichlande, In guten und böfen Tagen der nationalen Ent: mwidelung wurde hier an die Vollendung der deutfchen Einheit durch Preußen mit jener erhabenen Geduld und Sicherheit geglaubt, welche jene Heroen der deutfhen Sprachwiſſenſchaft in allem ihrem Thun augzeichnet. Nach taufenden von Jahren zählten fie die Entwidelung der Spradlaute, in denen Heute unſer Volk redet. Warum follte ein Gefchleht erlangen, des Vaterlandes

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Größe ganz zu erleben. Warum follte man verzweifeln, da nicht einer Generation allein beftimmt war, den großen Tag der Erfüllung der natio- nalen Hoffnungen zu ſchauen? So haben fie gehofft und geglaubt, bis einer nad) dem Andern getroft ind Grab geftiegen if. In Herman Grimm’s Etil und Darftellung prägt fi die edle Ruhe und Klarheit aus, die er in Allem ald das befte Erbtheil des Baterhaufes von Kindheit an überfommen hat. Auch feine politifhen Abhandlungen aus Zeiten, in denen Andere an der Zukunft unfere® Volkes verzweifeln wollten, find von jener feiten ruhigen nationalen Zuverfiht getragen. Ihm ift von jeher nur die Zeit wann, nicht die Frage ob wir dad Biel unferer Staatdeinheit erreichen mürden, zweifelhaft gewefen. Zu diefer Einficht ift er gefommen bei jungen Jahren, ſchon im Baterhaufe; fie ift ihm nicht das Ergebniß ſchwerer innerer Kämpfe, nie die Quelle häuslichen Zmiefpalte® geweſen. Er hat fie ftolz und gelafjen ausgeſprochen folange er denkt und ſchreibt, wie einjt der römiſche Staatd- bürger das civis Romanus sum.

Man wird Faum eine Arbeit Herman Grimm’s finden, welche die ge rühmten Eigenthümlichkeiten in ein günftigeres Licht feste, als die erſte Ab- handlung der vorliegenden Sammlung „Voltaire und Franfreih*. Sie erfchien zuerft in den erflen Heften der Preußifchen Jahrbücher von 1871. Hier iſt fie unverändert abgedrudt. Begonnen wurde fie, ald Paris noch von unferen Heeren cernirt war, beendigt als die feheußliche Erhebung der Commune er: ftiefte in Brand und Blut, wie fie angefangen hatte. Wie fommt der Deutjche dazu, in ſolchen Tagen des hervorragendften Schriftitellerd des Nationalfeindes zu gedenken? In Tagen, da niemand in Frankreich felbft an Voltaire dachte, fondern jeder Franzoſe nur Zeit hatte, mit dem Kampf à outrance gegen die deutſche Invaſion und dann mit der Niederwerfung der gemeinften Revolution fi zu befhäftigen, welche feit zweiundachtzig Jahren ſich dort erhoben hatte. Grimm gibt klare Antwort auf die berechtigte Frage: „Für und hat Voltaire gerade jebt befondere Bedeutung“, fagt er, „weil er der erite und mächtigfte Organifator der Lehre vom providentiellen Uebergewichte Frankreich gemefen ift, melde, mit Kleinen Anfängen beginnend, allmählid) als geiftige® Clement in den Charakter der Franzofen überging.... Voltaire war e8, der den ganzen Reichthum feines Volkes zuerst fah, und zuerft ihm felber und allen anderen Nationen im größten Glanze zu Gefihte brachte. Für ihn ift das die Welt überftrahlende Frankreich als einheitliche® Yand und Bolf dad Erzeugniß der allgemeinen Entwidelung der Menfchheit. Er felber aber mit feinem ganzen Wefen ift die reiffte Frucht, welche died Paradies der modernen Kultur jemals gezeitigt hat. Kein Schriftfteller ift in irgend einem Volke aufgeftanden, dem Volk und Land in folhem Grade zur Folie gedient hätten, als der franzöfifche Voltaire... Sein Geift repräfentirt den Geift von

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Millionen, deren jeder einzelne ald ein Atom nur feiner Eeele angefehen werden fann. Gr war größer, ftärfer, glüdlicher als fie Alle, und das Jahr— hundert, in dem er wirkte, trägt feinen Namen.” Grimm unterfudt nun die Gründe diefer einzigen Erfcheinung, zu dem Zwecke, und die phänomenale Bedeutung Boltaire'3 für Frankreich, für feine Zeit, zugleih in ihrer ganzen Größe zu zeigen und zu erklären. Grimm führt in eingehender Entwidelung als folhe Gründe an zunächſt die lange Lebensdauer Voltaire's, welche die bedeutendfte Epoche der franzöfiichen Entwidelung umſchließt. „Er fam auf die Melt 1694. Seine Jugend bildet ſich alfo unter dem Gefühl der un- beftrittenen Uebermacht Frankreichs, melche die Regierung Ludwig's XIV. be gründet hatte. Sein Ausgang fällt in die Tage, wo die zur Thatſache werdende Revolution noch wie der Schimmer eined herrlichen Tagesglanz verheißenden Morgenrothed am Himmel aufitieg. Niemald hat Literarifche Thätigfeit fo hoch im Preiſe geftanden, ala mährend des Jahrhunderts, in welches Voltaire's Laufbahn fiel, niemal® hat jemand reichere Fähigkeiten für eine folde Laufbahn mitgebradht und audgebeutet.* Größere buchhänd— lerifche Erfolge hat unfer Jahrhundert mit gewilfen Romanen aufzumeifen. Niemals aber hat irgendwer alle Kreife ſeines Volkes und der gebildeten Zeitgenofjen überhaupt, zu Xefern feiner Werke gehabt, ald Voltaire: Friedrich der Große und Diderof und felbft Leffing ftehen unter feinem Einfluß. Sn Religion, Wilfenfhaft, Politik, in Alles ſickert allmählich fein Geift. Wider: ftand leiftet ihm Niemand; nur ein Mann Hält fih frei von ihm: Jean Jacques Rouſſeau; ihn allein ſucht Voltaire nie zu gewinnen, nur ihn zu ignoriren und fih vom Halfe zu halten. Alle Andern aber, deren bloße Eriftenz ihn reizt, wenn fie Miene machen, ihn felbit nicht ald mädhtigften Kiteraten im Lande gelten zu laffen, greift er an mit allen Waffen feines reichen Arfenald, mit dem lauten Knall feiner großen Geſchütze oder den Keinen infamen Pfeilen, die wie Gift wirken, je nach Umftänden. Seine Ge ihichte ift die Gefchichte diefer Kämpfe. In der Tiefe feines Weſens hat er faum eine Entwidelung gehabt, kaum etwas neues gelernt; alles lag bereits in ibm. „Er hat die Spinnenfäden feiner Kenntniffe und perfönlichen Ver— bindungen an immer fernere Punkte angeklebt, fie zu immer weiteren Mafchen gefponnen, in denen Freund und Feind, Müden und Elephanten hängen bleiben : aber das große, Leben ausfaugende Thier mit dem ungeheueren Berftande ſaß in der Mitte von Anfang an, mit denfelben Augen in der— felben Geftalt auf demfelben Flede und Tauerte.* Diefe ganz einzige Stellung Voltaire's, welche fo befeftigt und unängreifbar mar, daß jelbit Friedrich der Große von einem der geringeren Producte der Voltaire'ſchen Mufe, der Henriade fagte, jeder Mann von Gefchmad werde fie der Ilias vorziehen diefe wunderbaren Erfolge erklären fih nur dur ein ebenfo

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wunderbare Zufammentreffen der verfchtedenften Umftände. Zunächſt fchrieb Voltaire für Paris d. h. für den Geſchmack der Stadt, deren Bewohner da- mals ala die bevorzugten Vertreter der gebildetiten Nation galten. Er wußte fih auf das vollftändigfte mit diefem Geſchmack zu verfchmelzen ohne daß er ihn etwa zu erheben oder zu läutern geftrebt hätte fo vollftän- dig, daß Voltaire auch damals ficher war, die allgemeine Aufmerkſamkeit der Pariſer fih und feinen neueften Schriften wochenlang zuzumwenden, ala er jahrelang in theil® erzmungener Abmefenheit in England, theil® in freiwilliger bei Friedrich dem Großen in Berlin und Potsdam lebte. Indeſſen hätte wohl diefe Vertrautheit mit dem Gefhmadd-, Intereſſen- und Bildungskreis der Pariſer nicht audgereiht, ihm für foviele Jahrzehnte unbeftritten die Balme zu verfchaffen, wenn er nicht zugleich im höchſten Maße die Sprache der beiten franzöfifchen Geſellſchaft und Schriftiteller in feiner Gewalt gehabt hätte. „Zu der Zeit, wo Voltaire auftrat, war die Sprache zu einem In; ftrumente und foldher Feinheit geworden, daß das Erfcheinen eines Mannes, der fich deffelben nur mit voller Kraft bediente, eine Art Forderung an das ihöpfertfhe Genie der Nation war. Man Fonnte fagen: ein Mann mie Boltatre mußte ſchließlich kommen.“ Hundert Jahre hatten an diefer Ent- widelung gearbeitet, feit Corneille zuerft aufgetreten war. Racine, Moliere hatten in ihrer Weife dazu geholfen, und dennoch konnte noch ein Kritiker wie Boileau daran zweifeln, ob ed möglich fei, fich überhaupt correct fran- zöfifeh audzudrüden. Ganz Parid war etwa von demfelben kritiſchen Geiite beieelt. Jeder fuchte an feinem Theile fih im beiten Franzöftich zu üben. Um 1700 etwa fchrieb Allemelt in Bart: Hohe Herren und Kammerdiener, Damen und Gavaliere; in Profa und in Verſen: galante oder fatirifche Ge- dichte, Epifteln, Memoiren, Komödien, Tragödien, Liebesbriefe. Alles wurde im Manufeript gelefen, Eritifirt, gedrudt wenig. Wer damals in Paris auf. treten durfte „mit dem Anfpruh, daß man Notiz von ihm nehme, hatte etwas von einem Auderwählten an ſich.“ Boltaire erhob diefen Anfpruch, denn er hatte wie Feiner vor ihm die höchſte Meifterfchaft in der Handhabung und Hebung feiner Sprache fich angeeignet und hat fie bis an fein Ende behaup- tete. Als dritter Factor feiner unbeitrittenen einfamen Größe fam hinzu die Tendenz feiner Schriften. „Der allgemeinen europäijchen Gefelfchaft war damald nur darum zu thun, jo gut ala möglich fih Muſik zu fchaffen, nach der man tanzen könne. Die Langeweile zu befämpfen war Jedermanns erfte Sorge. In meld ungeheuerem Courſe mußte damald der Werth, eines Mannes ftehen, dem gegenüber, wo er eingriff mit feinem Geijte die Lange— weile verfchwand wie durch Hererei, der alle was fein Geijt berührte, zum amüfanteften Spielzeug für die Menſchheit geftaltete, Jahr auf Jahr, und fo weiter Generationen hindurch! Die geringften Nichtigfeiten mußte Voltaire

bier zu verwenden, fo gut wie die gewaltigiten Fragen der Wiſſenſchaft, ein, wie und fcheint, fo leicht ald da® andere. Tous les genres Sont bons hors lennuyeux war fein Wahlfprud. Er brachte zum Lachen und zum Meinen, einerlei welches, wenn die Leute nur mußten, daß er ed war, deilen Kunft es zu Wege gebracht. Voltaire ift der ungeheuerfte literarifche Schaufpteler gemwefen, den jemals die Erde beherbergt hat.“ Nicht im gewöhnlichen Sinne, fondern im höchften, mie Garrid e8 war. Vergeſſen dürfen wir dabei nicht, mit welchem Aufmande geiftiger Mittel dies Spiel in Scene gefegt ward; daß Voltaire zur Befriedigung dieſes Triebed Unfchuldige vom Tode errettet hat, gegen die ganz Frankreich ſchrie. Er war muthig und zähe. Er befaß eine ungeheuere Macht, feine Gedanken zu denen der Menge zu machen und menn er diefe Macht oft anwandte um ſich zu rächen, fo fehlte fie ihm ebenjomenig, wenn er für die Unterdbrüdten eintrat.

Diefe impofante Abhandlung Grimm’s über die Bedeutung Voltaire's und die inneren Gründe feiner literarifchen Alleinherrſchaft die hier nur in den SHauptgedanfen verfolgt werden konnte iſt indellen gewiſſermaßen nur die Erpofition oder Weberficht deſſen, mas der Verfaffer über den großen Branzofen eigentlich zu fagen beabfichtigt. „Voltaire ift für uns heute wid): tig ald Dichter, als Hiftorifer, und, für Deutichland befonders, ald Freund Friedrich's des Großen. Nach diefen drei Richtungen hin tft e8 von Werth für Jedermann, eine Anfchauung feiner Thätigkeit und feined Charakters zu gewinnen.“

Den Dichter Voltaire ftellt Herman Grimm durchaus nicht auf jene Höhe, auf welche dad befangene Urtheil feiner Landsleute und der bequemen Nachſprecher in vielen andern Nationen ihn erhoben hat. Grimm beginnt mit feiner Kritif bei jenem „Dedipus“ Voltaire's, den der achtzehnjährige Dichter ald Gefangener in der Baftille fohrieb, der 45 Vorſtellungen erlebte und ihm vom Regenten eine goldene Medaille und Penfion -eintrug. Grimm vergleicht zunächſt die antike fophoffeifhe Dedipusfage mit dem, was Cor— neille in einem faft völlig vergeffenen Stüd daraus franzöfifirt hat, und weiſt Boltaire nah, daß er das Corneille'ſche Vorbild, jo geringihäßtg er auch darüber urtheilen mag, doch fehr eingehend benügt habe, indem er in der Hauptſache die Corneille’jche Yabel des Stückes, ja felbft einzelne Verſe und Epifoden wörtlich copirte. Nur fällt der Vergleich durchweg fehr zu Unguniten Voltaire'd aus, da, wo diefer ſich von feinem Vorbilde trennt. Seine Aleran« driner find zwar „irreprochabel® aber nicht einer einzigen ruhigen Scene begegnen wir. Voltaire befundet eine bedenkliche Unfähigkeit, zu charafteri- firen, oder audy nur deutliche Bilder zu liefern. Sein Philoftet wird zum befannten franzöfifchen Hausfreund, der, ftatt fich aus unglüdlicher Liebe zu Jokaſte regelrecht ins Waſſer zu ſtürzen, einfach leben bleibt, um ſich der

Grenzboten IV. 1974, 2

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Dame bei ihren fpäteren Schickſalen jo nüslic ala möglich zu machen. Dei Sphinx wird zu einer Art von entfprungenem Menagerieraubthier, dag Dedi- pus wieder einfängt u. f. w. Und diefe Unfähigkeit zu charakterifiren, weiſen auch feine berühmteften Dichtungen und Dramen auf: Mahomet, Zaire, Tan- cred und die Henriade. Grimm führt an einer Stelle des Mahomet in in- tereffantefter Weife aus, wie Goethe „umrißlofe Allgemeinheiten Voltaire's zu feiten Anfchauungen zufammenballt, und Verfe frei erfindet, durch melche endlich Licht und Schatten in das Gemälde gebracht wird. Das mar ed, mad Voltaire fehlte... Es ift mir nicht geglüdt, irgendwo bei ihm ein paar Sätze, Verſe oder Profa, zu entdecken, welche ein Bild lieferten!“ Selbſt da nicht, wo er eine beftimmte Gegend filtern will. „Am munderlichiten jedoch tritt diefer Mangel, malerifch auf die Phantafie zu wirken, in feinem großen Heldengedicht, der Henriade, zu Tage.” Bekanntlich ftellte fih Voltaire ſelbſt bauptfähli wegen feiner Henriade „fo einfah und bejcheiden* auf einen Platz, in Betreff deflen er der Nachwelt nur die Wahl überlich, ihn felbit zwifchen Homer, Birgil, Tafo und Milton zu rangiren. Ga, am andern Stellen ift auch diefe Wahl nicht mehr gelaffen. Voltaire hält ed für fo aus— gemacht, „daß feine Zeit die Blüthe der Jahrtauſende und er der Dichter aller Dichter fei, daß er davon wie von einer felbftverftändlichen Sache redet, beit der Bejcheidenheit oder Unbefcheidenheit gar nicht ind Spiel fam.* Grimm zeigt nun, wie wenig die Henriade gerade dazu angethan ift, den Dichter derfelben zu dem Anſpruch auf Dichterruhm zu berechtigen. Selbft die Wahl des Stoffes ift nicht fein Eigenthum. WUrmfelig, wie immer bei Voltaire, zeigt fich die Charakteriftif. Wo in Handlungen oder in den Gemüthern be- deutender Umſchwung eintritt, erfcheint unausbleiblich eine der zahllofen alle: goriſchen Figuren diefer Epopoe, welche die unerklärlihe Peripetie bet dem Hel- den ohne Murren durchſetzt, bald die „Diecorde”, bald die „Frömmigkeit“, bald l' Infame“, im entfcheidenden Augenblide fogar der heilige Ludwig in Perfon. Für die nothwendigen erzählenden Epifoden und die Glorification des regie- renden Herricherhaufes bieten Odyſſee und Aeneis bequeme Vorbilder. Alle diefe Schwächen trägt Grimm mit feinem Humor vor.

Uber der innere Grund feines eingehenden Verweilens bei der Henriabe, welche „unter jehr Bielen, bei denen ich anfragte, nur ein Einziger gelefen zu haben erklärte”, ift weniger die Abfiht, die geringe Bedeutung deö dichte: riſchen Talentes Voltaire's nachzumeifen. Vielmehr leitet diefed Gedicht von jelbft über zur zweiten Aufgabe, die fih Grimm ftellt: die Charakteriſtik Voltaire's als Gefchichtsfchreiber und zeigt und an der Henriade bereits die bervorragenditen Eigenfchaften und Abfihten des Hiftoriferd Voltaire. Das ift feine Willkür des Efjayiften, die wir dem leicht geſchürzten Gewand feiner Darftelung zu Gute zu rechnen genöthigt waren. Denn die Henriade hat

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unzweifelhaft großen, vielleicht den größten Antheil daran gehabt, daß Vol— taire 1746 zum Hiftoriographen ernannt wurde. Diefe Thatfache möchte frei- lih kaum glaublich erfcheinen, wenn man an der Hand Grimm’s die gehei— men Abfichten verfolgt. welche Voltaire bei Abfaffung der Henriade verfolgte: nämlich die boshafteſte, wirfungsvollite Satire und Streitfehrift gegen den damals in Frankreich allmächtigen Jeſuitismus zu liefern, die jemals gefchrie- ben worden iſt. Aber der Zeifel darüber, ob e8 möglich gemefen fei, den katholifchen Hof zu Verſailles fo vollftändig zu dupiren, verfchmindet wor der Thatjache, daß ein Cardinal, Quirini, die Henriade ins Italieniſche überfegte; dag Voltaire felbft es wagte, fi gegen einen alten, „wie einen Bater gelieb: ten Sefuiten* zu erbieten, jeded Wort aud dem Gedicht audmerzen zu wollen, das gegen die Fatholifche Religion, zu deren Ehre es gejchrieben fei; in Wahr- beit verftoße. In der That wiederlegt er auch durch nichts beffer ald durch dieſes Merk die Fabel von feinem Atheismus; in der That zeigt er fich darin ala gutfatholifhen Franzoſen; fein Held Heinrich IV. erreiht nur dadurd die Unterwerfung der Hauptftadt und die unbeftrittene Königswürde, daß er dem feßerifhen Calvinismus abfhmwört und fih plöglihd von „der Wahrheit” katholiſch erleuchten läßt. In vielen Verſen wird die Fatholifche Religion mit den höchſten Ausdrüden der Hingebung gefeiert. Dagegen wird der Klerus, die fihtbare Kirche, Nom, das vom Jeſuitismus beherrſchte Papſtihum, auf das ſchonungsloſeſte gegeifelt, und in der erfolgreichiten Meife im Bunde mit Spanien gezeigt, d. h. in Nationalfeindfchaft zu dem franzöfifchen Wolfe und Königthum verfegt. Die bo&haftefte Scene, zugleich die, welche diefe Tendenz am klarſten enthüllt, ift unzweifelhaft jenes Erfcheinen der Discorde im Pati» can; dad ſymboliſche Frauenzimmer, in der ihr ald allegorifchen Figur er- laubten Nadtheit, eilt durch die Gemächer; den Papſt umarmt fie zärtlich und regt ihn dur wilde Buhlfünfte zum Krieg gegen Franfreih auf und beginnt dann unter päpftlihem Segen eine Rundreife durch Frankreich, bie es ihr gelingt Jacques Clement zum Morde Heinrich's ded Dritten zu dingen. Gegen jeden Schlag von Rom hatte Voltaire aber fein Gedicht und fich ſelbſt ſicher geftellt durch die wahrhaft göttlichen Ehren, die er den Bourbons erwies. Er erhebt fie zu der vom Himmel vorberbeftimmten Herrfchenden Familie, welche direct nach göttlichen Eingebungen regiert, fo daß die Kirche in Frank: reich eigentlich überflüffig erfcheint. „Mit verbiffener Wuth ftand der Klerus dem Gedichte gegenüber und durfte nicht zufchlagen. Voltaire Hatte ein Merk geſchaffen, das die Quinteffenz ſeines Jahrhunders enthielt. In immer höherem Grade fand jeder Leſer darin, was er ſuchte, mochte er von einer Seite daran treten, von welcher er wollte.“

So phantaftifhe Formen diefer Haß Voltaire'd gegen den Klerus und Rom in der Henriade annimmt und fo fehr diefer Haß der Grundton

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aller Melodien fcheint, die Voltaire fein Leben lang angeftimmt hat, fo ver- wandt ijt er der beiten Erfenntniß, welche der Hiftorifer Voltaire zu Tage gefördert hat, fo wenig hat er den Dichter gehindert, ein vollendeter Geſchichts— fchreiber zu werden. Denn diefer Haß war nur die Vorftufe des vollen Ein. dringen® in die große Wahrheit ſeines Lebens, die Voltaire feinen hiſtoriſchen Studien dankt: die Duldfamfeit, welche ja überhaupt der hiftorifchen Objec- tivttät fo nahe ift. Der Klerus war der abfolute Gegner jeder Duldfamfeit, jeder Objectivität in Glaubensſachen, im Verhältniß der Kirche zum Staate, ' Den Klerus trifft daher Voltaire’d Haß auch dann noch unvermindert, als er für fich ſelbſt längſt die volle Hiftorifhe Dbjectivität gewonnen hat. Mir find damit Grimm's Darftellung vorausgeeilt. Er befchreibt einen größeren Umweg, um und ®oltaire’d Bedeutung als Hiftorifer in das volle Licht zu fegen. Er ſucht, ganz im Allgemeinen zu zeigen, in welchen Grenzen die „dret Mittel“ wirken, „die Menfchheit wiſſen zu lafjen, was gefchieht und geſchehen ift: bildende Kunft, Dichtung und Geſchichtsſchreibung“. Er unter fucht, wie 3. ®. Homer ald Geſchichtsſchreiber den trojaniſchen Krieg bejchrie- ben haben würde, wie verfchiedene Zeiten nur die eine oder andere diefer Er fenntnißgattungen ertragen. Das ift meifterhaft gefchrieben und gehört zu dem beiten der ganzen Sammlung. Über ed muß Wort für Wort im Orts ginal gelefen werden. Ein Auszug läßt fich nicht geben. Grimm fehrt am Schluſſe diefed Ereurfed zu der Thefe zurück, von der er ausgeht: „Voltaire war geborener Gejhichtöfchreiber. Es zwang ihn, wie Machiavelli, ein Na: turtrieb, die Begebenheiten, von denen er Hunde erbielt, mit mechanifcher Par— teilofigfeit niederzufchreiben.. Aber nicht jede Zeit zeitigt jedes. Es gibt Epochen, denen die Gefchichtöfchreibung allein übrig bleibt, denen verfagt ift, Geſänge vorzubringen. Voltaire fuchte fi vergebend den Anfchein zu geben, als fei er ein Stüd Prometheus, der Menfchen formte nad feinem Bilde. Als Gefhichtäfchreiber dagegen hat er geleiftet, was fein anderer beffer gethan hätte neben ihm. Gr war ein fchöpferifcher Genius ald Hiftorifer. Er beur- theilte mit durchbohrendem Blicke die Thätigfeit derer, welche, längft dem Tode anheimgefallen, die Geſchicke ſeines Vaterlandes ruhmvoll leiteten, und befaß die Kraft, die Schattenbilder vergangener Tage, al® in lebendiger indi- vidueller Bewegung begriffen, und vorzjutäufshen. Sein Finger ging den Schritten der Menfchen und Begebenheiten nad, und nur diefe Rinie vielleicht, die er gezogen, wird nachkommende Jahrhunderte einft bewegen, fich näher um das zu fümmern, was zmwifchen 1650 und 1700 in Frankreich vorfiel.“ Voltaire, führt Grimm weiter aus, iſt in feinem großen Werfe über das Siecle de Louis XIV. keineswegs ein Banegyrifer des Königs, deſſen Namen das Jahrhundert trägt. Er redet von dem Glanz der Zeit überhaupt nur mezza voce, da er fein Publikum, das franzöfilche und fonjtige nicht zu

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überreden brauchte, die Franzofen feien das erfte Volk der Welt und Louis XIV. der größte König. Seine Abfiht war vielmehr, die Gebredhen feine® Water landes an das Licht zu ziehen, denn er hoffte eine neue Blüthe Frankreichs aus deffen eigenem Schooß. Ganz verderblidh erfchien ihm auch bei diefer objectiven Unterfuchung der religiöfe Zuftand Frankreichs. Nicht mehr durch leidenfchaftliche Angriffe auf den Klerus wie in der Henriade, fondern durch die Darlegung der hiltorifchen Entwidelung der kirchlichen Verhältniffe in Frank: reich, fucht er fein Publikum über die höhere Anfhauung aufzuklären, die er bier einnimmt. In der Henriade hatte er den Calvinismus roh von fih ge wiefen, wie eine Krankheit fchlimmer Art, wie abfolutes Nichtfein. Hier fagt er vom Proteſtantismus, den die deutfchen Reichsſtädte angenommen hatten, er erjcheine „plus convenable que la religion catholique à des peuples ja- loux de leur liberte. Und über die Entftehung und die Notbmwendigfeit des Proteſtantismus überhaupt urtheilt er fo ruhig, wie ein Proteftant felbit. Die große Idee Voltaire'd, die ſich bei ihm erft allmählich in allen ihren Gonfequenzen entmwidelte, auf die hin er Schule und Partei bildete, die To— leranz, entfpringt diefer hiftorifchen Arbeit. Er faßt fie fo activ als möglich. Gr verlangt Bekämpfung der Intoleranz und handelt danach. Er gelangt in diefer Forderung von felbft dazu, das größte Zeitalter, deffen fih Frank. reich bi8 dahin rühmte, für eine Epoche des Niederganged zu halten. Aber er glaubte darum keineswegs an die furchtbare Kataftrophe der franzöfifchen Revolution, welche feit beinahe zweitaujend Jahren zum erften Mal wieder das alte keltiſche Volkselement an die Oberfläche brachte, fondern er hoffte, daß die alte gute franzöfifche Gefellfchaft wieder in fich felbft die Kraft finden werde, eine neue Zeit, dag wirklich goldene Zeitalter für Frankreich herauf zuführen. Er hat fih furchtbar getäufcht.

Bon felbft, meint Herman Grimm, führt Voltaire's Sidcle de Louis XIV. zu Friedrih dem Großen, da der Verfaſſer während feines zweiten Aufent- baltes in Berlin und Potsdam zumeift damit bejchäftigt war. „Den lebten Stempel empfing ed durh den Einfluß Friedrichſs des Großen.“ Bol- taire bedurfte überhaupt einer feiten Stellung außerhalb Frankreichs. In England Hatte er ald Flüchtling ein Afyl, fih und feinen Schriften treue Freunde gewonnen. In den Niederlanden: wurden feine Bücher gedrudt. Immer weiter ftrebte er im Ausland nah Anfnüpfungspunften, um den Wanfelmuth der Barifer im gegebenen Falle „ein auf dem Ur: theile des übrigen Europas beruhende® Renommee als Gorgonenhaupt entgegenzuhalten: weder ihnen noch dem Hofe von Berfailled durfte je der Gedanke aufiteigen, Voltaire liege daran, ob man ihn mit freundlichen oder ſcheelen Blicten anfehe, oder gar ihm den Rüden zudrehe. Seine Schwäche aber war, daß er das Geſchwätz der Pariſer nicht entbehren Fonnte und wie

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Rebensluft des Gefühls bedurfte, Franfreih fterbe vor Neugier über das nächte Wort aus feinem Munde“ Für diefe Zmede griff er mit beiden Händen zu, ala ihm Friedrich als Kronprinz von Preußen im Jahr 1796 zuerft in einem bemwundernden Briefe feine Freundfchaft zu Füßen legte. Immer mehr aber wird das Bedürfnig ihrer Freundfchaft ein gegenfeitige®. „Hriedrich und Voltaire waren die beiden großen Xcteurs auf der Bühne des Öffentlichen KXebens in ihrer Epoche. Sie bedurften einander. Boltaire aber brauchte Friedrich anfangs in höherem Grade, bis ſich fpäter erft die Partie gleihftand. Bei Friedrich gab es eine Negion, innerhalb deren er fich auf fi bafirte und der übrigen Menfchheit Balet fagte. Er war da nur König und Feldherr. Voltaire fehlte diefe Macht, fih einfam zu fühlen. Hier war Triedrih tm Uebergewichte. Allein Voltaire war unermüdlich, unerfchöpflich, klüger ala alle, fähiger ald alle fi auszufprechen, und Friedrich, wenn er aus den Höhen herabftieg, weil ed unmöglich war, immer fi dorthin zurüd- gezogen zu halten, fand doch wieder nur Voltaire. Hter lag Voltaire's Veber- gewicht über Friedrih. Die Gefhichte ihrer Freundfchaft ift der abmechfelnde Kampf, in welchem jeder feine Supertorität durchzuführen trachtet.“

In der eingehendften und Itebevollften Weiſe füllt Grimm nun die ftrengen Eurzen Linien, mit denen das Bild diefer hohen Freundfchaft bier fElzzirt ift, mit Yarbe und Leben, mit Licht und Schatten. Selten ftehen dem Schildern einer wichtigen hiſtoriſchen Epifode fo treue und klare Quellen zur Seite, wie über das Verhältnig Friedrich’ zu Voltaire in dem dreibändtgen Briefmechfel zmifchen Beiden (Merfe Friedrich's des Großen, Bd. 21—23). „Der erfte geht von der anfänglichen Bekanntſchaft bi8 zur Thronbefteigung Friedrich's, 1706—1740. Der zweite von 1740 bis zum Bruche im Jahre 1753. Der dritte enthält den 1754 wieder aufgenommenen briefliden Ver— fehr bis zum Tode Voltaire'8 1778. Jugend, männliche Zeit und Alter ded Königs entfprechen diefen drei Abfchnitten. In feinem Briefmwechfel fpricht Friedrich fo offen ſich aus, in feinem Boltatre fih fo fehr mit Zuhülfenahme all feine® Talentes, auf Andere Einfluß zu üben. Ihr Verhältnig geitaltet fih zu einem Drama. Gin Beginn mit der Hoffnung auf: fpätereö perjön- liche® Begegnen und Zufanımenleben. Eine Mitte ald Verwirklichung diefes Plans. Ein Umſchwung, ſich entwidelnd aus der natürlichen Unmöglichkeit für zwei eines ſolchen Umfreifes freier Atmofphäre ‚bedürftige Charaktere, fih jo nahe zu ftehen. Und ein letter verföhnender Abſchluß in der Uns möglichkeit fih zu entbehren. Ihre Correfpondenz enthält, was Innerhalb der Jahre 36—78 die Welt des vorigen Jahrhunderts bewegte. Diefe drei Bände gehören zu den Büchern, die man ſich immer freut in einem freien Augenblicke ergriffen zu Haben.“ Uber fo treu und Har diefe Quellen find, felten ift das Berhältnip des größten Königs zum größten franzöfifchen

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Schriftfteller jener Tage deutlicher und wahrer gejchildert worden, ald von Herman Grimm. Gr ijt rückſichtslos aufrichtig und denkt nicht daran, irgend eine jener menſchlichen Schwächen zu verfchleiern, welche das ſchöne Freundſchafts— Verhältniß der beiden großen Männer fo brüsk löften. Aber dafür ift Grimm auch deutlicher und wahrer ald irgend ein Anderer in der Erklärung der pfychologijchen Motive, aus denen fich die beiden großen Geiſter zuerit mit Naturnothwendigfeit einander nähern und ſich auch geiftig wieder juchen und finden müſſen, nachdem fie perſönlich fich für immer getrennt haben. Namentlih auf Seiten Friedrich’ des Großen iſt dieſes Geiftesbedürfnig im der jugend wie im Alter mit gleicher Meifterfchaft dargelegt. Auch diejer Abſchnitt follte: fleißig im Driginale gelefen werden.

Am Schluffe feiner Abhandlung fehrt Grimm noch einmal zu dem Ge— danken zurüd, von dem er ausgegangen und führt ihn meiter zu dem Gabe: Boltaire ift die Frucht der allgemeinen romanifchen Entwidelung, der Perſoni— fication Franfreihd. So betrachtet, enthüllt fih und das letzte Geheinmiß feiner Exiſtenz und feiner Wirkung. „EI gab eine Zeit, wo Guropa griechifch überfluthet gewefen zu fein fcheint. Es gab eine Zeit, wo Europa und ein Theil Aſiens und Amerifad von den romantfhen Gewäſſern über- ſchwemmt war. Wir fehen heute die gefammte Menjchenwelt der Erde im Beginn, germanifirt zu werden... Die Epochen der romanifchen Weltherrfchaft liegen deutlich vor und. Zuerſt galt es das Griechenthum zu befiegen und in fi aufzunehmen. Dann, ald die Alleinherrfhaft unbeitritten war, wurden die germanifchen, feltifhen und iberifchen Völker aufgefogen. Bon Rom ging die Zeitung über auf Spanien, von Spanien auf Franfreih. Das Papſtthum mar die eigentliche Gentralfchöpfung der romanifchen Race; die Herrfchaft Frankreichs ift ihre legte Anftrengung gegenüber dem anwachfenden germanijchen Principat. Das siecle de Louis XIV. von Voltaire ift die vom Geifte der romanijhen Race felber gefundene literarifche Form für ihr letztes gewaltiges Aufleuchten über Europa vor ihrem Zuſammenſinken. . . Auch Voltaire ent- fpriht in feinem ganzen Wefen der gefammten romanifchen Eriftenz, deren glänzender Untergang durch ihn verewigt werden follte.* In diefem Sinne bat ihn jhon Goethe mit hiftorifhem Tafte am beften erfaßt. Auch Goethe faßt Voltaire als Perfonification Frankreichs auf, und fpricht ihm und damit zugleih dem franzöſiſchen Wolfe Tiefe und Vollendung ab. Es entipräcde diefe Erjcheinung dem Abhandenkommen diefer beiden Eigenfchaften zur Zeit des Sinkens der griechiſchen Welt. Ueber die legten Zeiten der germanijchen Race heute reden zu wellen, meint Grimm, würde zu leeren Gebilden führen. Und bleibt für die nächften Zeiten nicht viel anderes übrig, als zu leben und zu fämpfen und, wie die Romanen der erften Zeit ihre geiftige Eriftenz auf die griechifche Kultur, fo die unfrige auf die der Griechen und Romanen zu bafiren.

Das ift Schon bisher geichehen. „Luther's neue germanifche Schöpfung ent- fprang vollfommener Durhdringung der romanifchen Theologie, Goethe's deutfche Dichtung der vollendeten Aufnahme romanifcher Bildung, Friedrich des Zweiten echt germanifche Politik dem Durchſchauen all der romanifchen Ränke, melde Mackhiavelli in feinem Buche vom Fürften, wenn auch nur ald objectiver Beobachter zufammengeftellt Hatte. Friedrich, ein Schüler Boltaire'3, der nur franzöſiſch ſprach und fchrieb, der deutfche Kiteratur ver- fannte und deutſches Wefen oft kaum begriff, ift im eminenten Sinne der erfte deutfche Fürft gewefen. Sein Wort, daß er nur der erite Diener feines Staates fei, ift der Grundgedanke, auf dem heute Deutfchland beruht, ... dad Gefühl der Pflicht iſt die Grundlage der heutigen Herrfchaft der ger- manifchen Völker. Seine mit Staunen von und beobachtete Abweſenheit bei den heutigen Romanen tft dad am bdeutlichiten hervortretende Symptom, welches dad Zurücktreten diefer Race als regierender documentirt. Go be trachtet, erjcheinen die letten Anftrengungen auch der romanifchen Kirche ala der verzweifelte Verfuch, durch eine Formel, der ind Unendliche ausdehnbare zwingende Macht innewohnt, dem Einzelnen den Halt zu verleihen, der ihm aus der eigenen Natur fehlen würde. Sedenfalld kann died Mittel doch nur bei Romanen einen Zweck Haben und auch bei ihnen nur ein Erfolg denkbar fein.“

Mögen diefe Furzen Auszüge aus einer der neueften und zugleich für unfere Gegenwart wichtigiten Arbeiten Herman Grimm’3 den Leſer dazu er- muntern, feine fünfzehn Eſſays zu ftudiren. Er wird darin ein Buch erfennen, das er freudig unter die beften Werke feiner Bibliothek ftellen wird.

Hana Blum.

Fin Prinz aus dem brandenburgiſch-hohenzollexſchen Haufe als Bifhof von Htraßburg (1592—1604).

Unter den freien Reichsſtädten Deutſchlands war Straßburg nicht allein eine der erften, die der Reformation die Thore öffneten; fie zählte auch zu denjenigen, welche alle retrograden fatholiihen Machteinflüffe am energiichiten befämpften. Nachdem bereit? im Jahre 1518 ein großer Theil der Bürger- ſchaft fi für die Iutherifche Lehre erklärt hatte, ordnete der Senat in den Jahren 1527 29 jchrittmeife die Abjchaffung des alten Fatholifchen Kultus an, fo daß der Katfer fich weigerte, die Abgeordneten der Stadt Straßburg

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auf dem Reichdtage zu Speier zuzulafien, in befonderer Berufung darauf, daß der Magiftrat erft kurz zuvor. die Leſung der Meſſe unterfagt hatte. Ohne ſich durh die Drohungen des Kaiſers einfhüchtern zu laſſen, ſchloß fich die Stadt Straßburg dem Protefte der Iutherifchen Fürften und freien Städte an. 1530 ftellte fie im Bunde mit Lindau, Memmingen und Sonftanz durch ihre Ab- geordneten Bucer, Gapito und Hedio der Augsburgifchen Konfeffion die zur Zwingli'ſchen Lehre hinneigende Tetrapolitana entgegen, trat jedoch fpäter dem erftgenannten Glaubenskenntniß bei und ſchloß fi) auch 1531 dem ſchmalkal— diihen Bunde an. Es verdient hier befonderd hervorgehoben zu werden, daß Straßburg dem eigennüsigen Verbündeten der Proteftanten Deutjchlande, dem Könige Heinrih II. von Frankreih, der fih auf Grund der Verträge mit den Fürſten des fchmalfaldifchen Bundes der Bisthümer Dies, Toul und Verdun bemächtigt hatte, energifh den Eintritt in die Stadt verweigerte, und als diefer drohte, trogig ihre Mauern in Vertheidigungszuftand feste, fo daß Heinrich fih zum Abzuge genöthigt ſah. Noch lange rühmte fih Straßburg mit befonderem Stolze der Treue, welche ed dem Reiche und dem Kaiſer be wieſen, obwohl e8 in Neligtondfachen deſſen entfchiedeniter Gegner war. Ihre Bedeutung verfchaffte der Stadt troß ihrer Weindfeligfeit bedeutende Privilegien : im Jahre 1538 bereitö durfte fie eine lateinifche Schule errichten, an melcher Galvin docirte; und 1566 erhielt fie vom Kaifer die Erlaubniß, die Schule in eine Afademie umzuwandeln, an deren Spige zunächſt ein calviniftifcher, jpäter ein Iutherifcher Nektor ftand. Ebenſo gewinnen jeit 1584 proteitan- tiſche Domherrn im Sapitel der Kathedrale Sit; 1588 werden deren nicht weniger als vierzehn aufgenommen, zu denen, wie aus einer Lifte einer alten Malerei, die im Bruderhof aufbewahrt ift, hervorgeht, neben Joachim Karl, Herzog von Braunfhmeig, Franz v. Rüneburg, Ulrih, Sohn Friedrich's IL. von Dänemarf und anderen, auch Auguft, Marquis von Brandenburg gehört. Im Jahre 1592 follte au die Wahl eines Biſchofs einen Sproß des Haufes Brandenburg Hohenzollern treffen.

Der Biſchof Johann, Graf v. Manderjcheit, war mitten unter den hef- tigften Kämpfen der verfchiedenen Religionsparteien am 2. Mai 1592 in Zabern, der gewöhnlichen Reſidenz, geftorben. Es entſpann ſich zunächſt ein Streit über den Ort der Wahl eines neuen Oberhirten. Während die Pro- teftanten, gleichzeitig um ſich der Autorität ded Senats zu verfihern, behaup— teten, das Kapitel müſſe fih nach altem Herfommen behufs Vollsiehung der Wahl in Straßburg verfammeln, ftimmten dagegen die Katholiken für Zabern, weil fie fi in Straßburg den Feindfeligkeiten des Volkes ausgeſetzt glaubten. Sie richteten daher an den Kaifer Rudolf IL. die Bitte, das Kapitel unter feinen Schug zu nehmen, und jener, das zufagend, beftellte den Erzherzog

Ferdinand ald vorläufigen Verwalter des Kapitels, der Schlöfler, San und Grenzboten IV. 1974.

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Qändereien; gleichzeitig ermahnte er den Magiitrat, in feiner Weife die pro: teftantijchen Domherrn zu unterftügen, jondern ſich ihren Abfichten, fofern fie den feinigen widerfprächen, energifch entgegenzuftellen. Der Senat der pro» teftantifhen Stadt Straßburg war jedoch meit entfernt, diefen Anforderungen zu entiprechen, und Joachim, Herzog von Braunfchmeig, welchem die pro- teitantifchen Stiftäheren aus eigener Machtvollkommenheit die Würde eines Papſtes übertragen hatten, konnte ungeftört das Kapitel auf den 28. Mai zufammenberufen. Der Verſammlung feste in beredter Nede der Profeſſor der Theologie und Rektor der Akademie, Johann Pappus, die Eigenfchaften und Tugenden eined Biſchofs auseinander, wie fie der Apoftel Paulus von einem jolhen in feinem Briefe an, Timotheus fordert und ermahnte eindringlich, nur einen folchen Dberhirten zu wählen, der fich zu den Lehren der Prophe- ten und Apoftel, zu denen der drei erften fymbolifchen Schriften und der vier eriten Konzilien befenne und zugleich unverbrüchlich feithalte an den Sätzen der Augsburgiſchen Konfeffion. Nachdem Johann Pappus feine zündende Nede geendet, fehritt man zur Wahl und ernannte einftimmig Johann Georg, von Brandenburg, Eohn des nachmaligen Kurfürften Joachim Friedrich, in- dem man ihn poftulirte, da er dem Kapitel nicht angehörte. In dem Haufe Brandenburg erfannte man bereit damals die Bormadht der freien proteftan- tifchen dee, und man bedurfte hier in diefem Kalle unter allen Umftänden eined Fürften, der mächtig genug fehlen, um feine Würde gegen einen ftarfen MWiderfacher, den die Fatholifhen Domherrn aufzustellen nicht zögern konnten, mit Nachdruck aufrecht zu erhalten. Dieje Erwartung mußte natürlich zur Grundbedingung haben, daß die Partei, welche den proteftantifchen Streit- Biſchof aufftellte, in ihrem Muthe und ihrer Unterftügung nicht erlahmte ; doch wurde biefe Bedingung in der Yolgezeit nicht erfüllt.

Der neu ernannte Bischof zögerte nicht, die auf ihn gefallene Wahl durch einen Bevollmächtigten zu ratifiziren, und vom 1. Juni ab wurden in feinem Namen Schreiben an alle Amtshauptleute und Magiftrate gerichtet, um ihnen anzubefehlen, Herrn Johann Georg von Brandenburg als ihrem Bifhof und gefegmäßigen Fürften den ſchuldigen Gehorfamzu erweiſen. Indeſſen hatte der Senat der freien Reichsſtadt, um den geiftlichen Oberheren zu fügen, 3 Fähn- lein Infanterie und 600 Reiter aufgebracht, welche er mit 7 Geſchützen gegen dag zum Bisthum gehörende Schloß Kochersberg zum Angriff vorfchidte. Nach ftarker Brefchelegung ergab ſich Kocheröberg, und es folgten ihm gleich darauf Dachſtein und Molsheim. Die efuiten, welche in Iekterem Orte eine Schule hatten, fahen fich zur Flucht genöthigt; und die Straßburger Aka— demie, die in diefem Greignig ein günftiges Vorzeichen erblicte, ſprach in einer poetifchen Epiftel, welche fie bei diefer Gelegenheit an den Bifchof Johann Georg richtete, die Hoffnung aus, daß er, nachdem die Jeſuiten die Flucht ergriffen,

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nicht zögern werde, fih auch den Antichrift (d. b. den Papſt) zu Füßen ju werfen:

„Si Jesuita fugit, ruet Antichristus et ipse,

„Concipe spem princeps, non tenue omen adest.“ *)

Die Eatholifchen Stiftäheren überzeugten fih, daß fie Feinen Augenblid Zeit zu verlieren hatten und erwählten daher in einer am 8. Juni zu Zabern abgehaltenen Sigung den Kardinal Karl von Kothringen, Bifhof von Met, Sohn Karl's IIL., Herzog von Lothringen und der Claudia von Frankreich, Tochter Heinrich’ II. Diefer ſowohl durch feine Abftammung wie durch feinen wüthenden Glaubenseifer hervorragende Gegen» Bifchof richtete nun fofort eine harte Anklagefchrift an den Senat von Straßburg rüdfichtlich der Weg— nahme mebrerer ihm als dem einzig rechtmäßigen Bifchofe gehörenden Schlöffer; er drohte, falld man ihm nicht die vollfte Genugthuung angedeihen laſſe, mit bewaffneter Hand Rache zu nehmen. Der Senat, um Zeit zur Rüftung zu gewinnen, ſuchte unter Entjehuldigungen der Sache zunächſt eine derartige Wendung zu geben, ald ob die Verantwortung für die Einnahme von Kochers- berg und Dachſtein auf dem Bifchof Johann Georg allein laftete; ließ aber gleichzeitig durchblicken, daß die Wahl desfelben unter feiner ganz bejonderen Autorität vollzogen fei. Diefe legte Bemerkung brachte natürlich den ſtreit— baren Kardinal vollende in Harnifh, und er bejtritt in einem Entgegnungs— ſchreiben dem Senat jeglihe Competenz in bifchöflihen Wahlangelegenheiten mitzureden, morauf diefer, noch immer in entfcehuldigendem Tone, ſich dahin äußerte, daß er nur diejenigen Rechte für fi in Anfpruch nehme, die ihm durch Verträge und Privilegien zuftänden.

In der Zmifchenzeit war Karl von Kothringen mit feinen Rüftungen fchneller fertig geworden, al die Stadt Straßburg, und war nad der Ein- nahme von Benfeldt und Andlau mitten in dad Elfaß vorgedrungen. In anmaßendem Tone ließ er durch einen Trompeter die Behörden von Straß- burg auffordern, die proteftantifhen Domherren, welche die Urheber der neueften Unruhen jeien, unverzüglich audzutreiben und den ihm getreuen Stiftäherren ihre Kirchen und Revenüen zurüdzugeben, ſowie auch den feinem Bisthum zugefügten Schaden zu erfegen, widrigenfalld er fie als Feinde be handeln werde. Der Senat von Straßburg und Johann Georg antmworteten hierauf mit der Eröffnung der Weindfeligfeiten. Es entjpannen fich Eleinere Gefechte und den lothringifchen Truppen gelang ed, 500 brandenburgifche Reiter in Schafoldheim, ſowie ein Fleined Lager bei Geiipisheim zu überfallen und einen Theil der Bagage zu erbeuten. Die Eaiferlihen Kommiſſarien, welche indeffen angelangt waren, wandten fich zur Schlihtung des Streites

) Aus einer Handjchrift des Riccius, Kanzlers der St. Petri Kirche,

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zunächſt an den Kardinal Karl von Lothringen, und ließ diefer fich bereit finden, die Feindfeligkeiten einzuftellen, wenn der Kaifer dem „Marquis von Brandenburg“ und dem Senat von Straßburg anbefehlen wollte, die Waffen niederzulegen. In Folge deflen richteten die Kommiſſarien an leßtere die Aufforderung, fi) dem zu gewärtigenden Schiedörichterfpruche des Kaiſers zu unterwerfen. Johann Georg aber erklärte in voller Uebereinftimmung mit dem Senate, daß diefe Angelegenheit nicht zur Competenz des Kaiſers allein gehöre, jondern daß die gefammten Staaten des Reichs darüber zu entfcheiden hätten, überdies könne er in Eeinerlei Verhandlungen eintreten, bevor er nicht die Zuftimmung ded Kurfürften von Brandenburg erhalten habe. Diefe Er- Härung, welche der Senat unterftüßte, fchnitt allen weiteren Vermittlungen die Spite ab. Der Kardinal rücdte nunmehr mit Macht heran und nahm Kochersberg mit Sturm; in feinem Zorn gab der geiftlihe Herr die ganze Befagung der Vernichtung Preis und ließ nur dem einzigen Manne Gnade widerfahren, der fih zu der SHenkerdarbeit, den Kommandanten von Kochere- berg zu hängen, bereit erflärte. Der Senat ließ fich durch diefe Härte, ſowie durch den Fall von Dadjtein und Weſſelnheim nicht einfhüchtern, fondern verbot vielmehr den Katlsolifen die Ausübung des Gottesdienfted auch in der ihnen bisher noch überlaffenen Kirhe St. Johann. Johann Georg jedoch, in dem Streben, die Katholiken mit ſich zu verföhnen, erließ am 19. Juli ein Manifeft, in welchem er allen feinen Unterthanen völlige Gewiſſensfreiheit zufagte und gleichzeitig feine Anrechte auf die bifhöflide Würde Elarlegte, indem er darthat, dag feine Wahl, da fie in Straßburg, dem für die Ver— fammlungen des Kapitald beftimmten Orte, und duch die Majorität der Stiftäherren volljogen worden, ganz und ohne allen Zweifel Fanonifch fet. Indeſſen hielt er e8 doch für nothmwendig, fein Anfehen durch einen militärifchen Erfolg entfhiedener zu ftärken, und er verfuchte daher nach Ankunft der Hülfstruppen von Züri, Bern und Bafel und der ded Grafen von Nürn- berg dad von den Kothringern ſtark beſetzte Molsheim zu nehmen. Nach einigen Berluften fah er fi jedoh zum Rückzuge genöthigt, bis Prinz Chriſtian von Anhalt zu feiner Unterftügung beranzog und es ihm gelang, durch wiederholte heftige Angriffe das feſte Molsheim zur Mebergabe zu zwingen. Durch diefe glüdliche Waffenthat wurde dad Anfehen der proteftan- tifhen Partei bedeutend gehoben und ihr ein fefterer Halt gegeben. Ein Verſuch, den die lothringifhen Truppen in der Folgezeit machten, ſich Schlett- ſtadts durch Ueberfall zu bemächtigen, fcheiterte an dem Muthe der über ihre Freiheit forgfam mwachenden Bürger.

Auf beiden Seiten fehlten übrigend die Mittel zu einer energifchen Kriegführung, und nachdem der Kampf ſich bereits faft ein ganzes Jahr lang bingezogen hatte, ohne daß ein wirklich entfcheidender Schlag geführt worden

al

wäre, ſuchte der Kaiſer fich gebieterifcher zwifchen die ftreitenden Parteien einzulegen, indem er Johann Georg und Karl zur Niederlegung der Waffen aufforderte, um die Entſcheidung über ihre beiderfeitigen Anſprüche einem Schiedegerichte anheimzugeben. Als auch die lutherifchen Geiftlichen, im Gegenfas zu den calviniftifchen, welche die Fortſetzung des Krieges predigten, für den Abſchluß ded Friedens fprachen, fofern die Katholiken fi mit den Kirchen, welche der Paſſauer Vertrag ihnen zugefproden, begnügen wollten, und der Bijchof Johann Georg ſowohl ald der Kardinal von Lothringen in ihren Mitteln erfhöpft waren, fo zeigten ſich Beide nicht abgeneigt, fi) dem Spruche eined Schieddgerichtd zu unterwerfen. Drei Katholifen und drei Proteftanten bildeten dasſelbe, nämlih: Wolfgang Brendel, Erzbiihof von Mainz; Julius, Bifhof von Würzburg; Werdinand, Erzherzog von Defter- reih; Ludwig von Hefien; Philipp Ludwig von Baiern, Pfalzgraf bei Rhein und Friedrih Wilhelm, Adminiftrator des Kurfürſtenthums Sachſen. Am 9. März 1593 Fam es zu einem proviforifchen Ausgleiche, nach welchem, un- bejchadet einer fpäteren definitiven Entſcheidung ded Kaiſers, feftgefegt wurde, dag der Kardinal Karl Zabern, Benfeldt und Rauffach nebit einer Anzahl von Aemtern erhalten und ihm ingleichen Molsheim zurüdgegeben werden follte; daß ferner Johann Georg, feinen Biſchofsſitz in Straßburg nebft den zugehörigen Beſitzungen behaltend, Dachftein wieder ausgeliefert befäme, und ihm eine Zahl von Aemtern zu überlafen feien, deren Nevenüen fi fo hoch beliefen, als die der an Karl abgetretenen; endlich follte Karl der Stadt Straßburg Waffelnheim mit ſämmtlichem dort vorgefundenem Geſchütz wieder außliefern. In der Zuftimmung zu diefem Bertrage feitend des Kardinals von Lothringen lag alfo eine indirefte Anerfennung der Gerechtfame des Ketzer-⸗Biſchofs. Eine endgültige Einigung, die man auf einer Berfammlung zu Speier verfuchte, Fam nicht zu Stande, doc) gelangte man zu dem Ent- fchluffe, die beregten Feitfegungen dem Kaifer zu unterbreiten und auf einem nah Frankfurt a. M. zufammenzuberufenden Reichstage zur Entfcheidung zu jtellen. Beiden Theilen wurde unter Androhung der faiferlihen Züchtigung anbefoblen, bis dahin das getroffene Webereinfommen aufs Genauefte zu refpeftiren. Kaiſer Rudolf II., der froh war, dad Elſaß friedlichen Verhält- niſſen zurüdgegeben zu ſehen, hütete ſich, eine anderweitige Entjcheidung zu Gunften der Katholiken zu treffen, denn er bedurfte der Unterftügung der Proteftanten in dem Kriege gegen die Türfen, welcher in eben jenem Sabre ausgebrochen war. Wenn nun alfo von diefer Seite Johann Georg ſich vorläufig nicht gefährdet fah, jo wurden ihm jegt dagegen durch den Magiftrat von Straßburg, der ihn bi8 dahin in der Bekämpfung feines Gegners Fräftig unterftüst hatte, Schwierigfeiten bereitet, die für feine eigene Stellung fowie

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auch theilweife für die des Proteftantismug im füdweitlihen Deutfchland verhängnißvoll werden mußten.

Die materiellen Intereſſen, die fo oft im menfchlichen Leben die geiftigen niederhalten, follten auch hier entjcheidend wirken. Die Stadt nämlich drängte da eine definitive Löſung der bifchöflichen Streitigkeiten vorläufig nicht in Ausfiht ſtand, Johann Georg zur vertragämäßigen Rüderftattung der ihm gemachten Vorſchüſſe und der anderweitigen Geldopfer, die man, um ihn in feiner Würde aufrecht zu erhalten, gebracht hatte. Ohne daß der Biſchof die Rechtmäßigkeit der Forderungen ded Magiftrat® zu beftreiten fuchte, bat er nur darauf Rüdficht zu nehmen, daß er zur Zeit außer Stande fei, feinen Verpflichtungen nachzukommen, da ihm feit der Theilung der Güter ded Ka— piteld und der Stadt nicht einmal die Hälfte der bifchöflihen Revenüen verblieben fet und er außerdem ſtarke Anleihen habe machen müffen für Repräfentationdkoften feiner Bevollmächtigten. Auf miederholted Andringen des Magiftratö jedoh, der unter allen Umftänden die materiellen Intereſſen der Stadt zu wahren befliſſen war, ſah fih Johann Georg genöthigt, unter dem 7. Dftober 1597 einen Vertrag einzugehen, nach welchem er unter Anderm eine Art Douane, Zollfeller genannt, verfchiedene Befigungen in Marlheim, Nonnenmweyer u. f. mw. und den Zehnten von SÜfir der Stadt überließ, mit dem Vorbehalt jedoch, daß er für ſich und feine Nachfolger alle Lehns— güter ſowie alle Lehnspflichten refervirte, welche feine Bafallen, rücfichtlich jener Douane, ihm zu leiften gehalten wären.*) Diefe Uebereinkunft, welche ohne Zuziehung der Fatholifhen Domherrn getroffen war, verſetzte diefelben in die höchfte Aufregung und fie nahmen aus diefen Umftänden ſowie aus einigen anderen Vorkommniſſen Veranlaffung, an Rudolf wiederholte Be: ſchwerden einzureichen, in Folge deren endlih am 3. Febr. 1600 ein £aiferlicher Erlaß erihien, der fich) weniger gegen Johann Georg, mit weldhem der un- entjchiedene Rudolf nicht brechen wollte, rüftete; fondern vielmehr, um den Katholifen einige Genugthuung zu verfhhaffen, forderte, daß die Grafen Hermann v. Kolmd, Ernft v. Mansfeld und Gebhardt v. Truchjeß den Bruderhoff und andere Pfründen der Domherrn, indbefondere aber die Dörfer Gaispolsheim und Lampertheim, deren fie ſich bemächtigt hatten, wieder ber- ausgeben follten. Die drei Grafen unterwarfen fi), aber der Herzog Franz v. Lauenburg und nad ihm der Herzog Chriftian v. Holitein, welcher mit Unterftüsung der proteftantifhen Domherrn die Würde des Präfidenten des Kapiteld für fih in Anfprud nahm, leitete dem Faiferlichen Befehle ent- fchiedenen MWiderftand, indem er Lampertheim, welches der Kathedrale von Straßburg zur Hälfte gehörte, bejegen ließ. In Folge einer neuen Klage

*) Archiv, Argent. Bertrag von 1597.

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des Biſchofs Karl und der Fatholifchen Domherrn erließ Rudolf unter dem 2. Aug. 1602 an Chriftian v. Holftein eine nochmalige Aufforderung, feinen Anordnungen unverzüglich Folge zu leiften. Da der Herzog jedoch ſich hier— zu keineswegs bereit erflärte, fo ſchien das Kriegsungewitter abermald drohend heraufziehen zu wollen. Johann Georg war aljo dadurch, daß fein nothge- drungen mit dem Magiftrate gefchlofjener Abfindungsverrrag immer neue Ver— wicklungen nad ſich zog, ſowie endlich dur das etwas ungeftüme Vorgehen feiner Anhänger in die mißlichite Lage verfegt. Stets bemüht, den Geift der Verſöhnung walten zu lafjen, und Katholiken wie Proteftanten gleicdy gerecht zu werden, fah er fih, noch aus dem vorigen Kriege mit Schulden belaftet und durch den Vertrag mit der Stadt Straßburg, die ihn auch jest im Stich ließ, pefuniär lahm gelegt, nunmehr völlig außer Stande, den Kampf von Neuem aufzunehmen, zumal der font ſchwankende Kaifer, in Folge fteten Drängen? der Gegenpartei, mehr denn je geneigt fchien, für die Fatholifchen Intereffen nachdrücklich einzutreten. Die Stellung Johann Georg's war wegen mangelnder Unterftügung unhaltbar geworden.

Da aud der Cardinal von Kothringen und Halb-Bifhof von Straßburg nicht geneigt war, feine Sache dem zweifelhaften Kriegsglück anzuvertrauen, jo Fam durch VBermittelung ded Herzogd von Würtemberg, der im Auftrage ded Kaiſers handelte, am 22. November 1604 der Vertrag von Hagenau zu Stande, welcher einen fünfzehnjährigen Waffenftillitand unter folgenden Be— dingungen feitfeste: Johann Georg leiftet Verzicht auf alle Rechte, welche ihm dur die Poſtulirung oder anderdmwie auf dad Bisthum Straßburg erwachſen find; er überliefert zur weiteren Vermittlung an den Herzog von Würtemberg den bifchöflihen Palaft der Stadt Straßburg und alle Schlöffer, Städte, Dörfer und Güter, melde dem Kapitel innerhalb und außerhalb der Stadt gehören; und erhält die Zufage, daß er betreffd der Verwaltung des Bisthums niemals zur Rechenfchaft gezogen noch beunruhigt werden darf; die acht Fürften, Grafen und Herrn der Augsburgifchen Konfeffion bleiben im Beſitz des Bru- derhofs und der innerhalb der Stadt gelegenen Stift&häufer und genießen fünfzehn Jahre lang die Hälfte ded Dorfes Lampertheim, fowie aller Renten und Revenüen ded Kapiteld innerhalb des Gebieted der Stadt Straßburg.*)

Verner wurden die Abmahungen Johann Georg's mit dem Magiftrate, den Bollfeller betreffend, aufrecht erhalten; der Senat ſeinerſeits aber leiſtete auf dad Bündnig, welches zwiſchen Johann Georg von Brandenburg, den Herren der Augsburgifchen Konfeffion und der Stadt Straßburg beftanden hatte, Verzicht und erkannte Karl ala einzigen Bifchof an.

Natürlih nahm Johann Georg darauf Bedaht, fi für die materiellen

) Archiv, Argent.

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Berlufte, die der undanfbare Kampf um die Aufrechterhaltung feiner bifchöf- lihen Würde verurfadht hatte, genügend zu entſchädigen. Thuanus läßt in feinen Berichten Herrn v. Thou, der fih um die friedliche Löſung verdient machte, hierüber folgendes fagen*: Der Marquid v. Brandenburg trat das Bisthum Straßburg an den Kardinal Karl v. Lothringen unter der Be— dingung ab, daß der Kardinal ihm 130,000 Thaler Gold zahlte und daß der Herzog v. Mürtemberg dreißig Jahre lang die Stadt und dad Amt Dberfich in Sequefter halten follte, um die Schulden ded Marquis v. Bran- denburg abzutragen, die fih auf 30,000 Thaler Gold beliefen, und ihm ferner jährlich (d. H. während der fünfzehn Jahre) 9000 Thaler Gold zu übermeifen.

So lieg fi alfo der Kardinal von Lothringen bereit finden, bedeutende Abtretungen von Kirhengütern zu vollziehen und ungeheure Geldopfer zu bringen, um den Eatholifhen Glauben im Elſaß zu retten.

An einem unbedeutenden Hinderniß, wie fo oft, mußten ſich auch bier die Schwingen einer freieren Geiftesbewegung brechen.

Man begreift die eminente Wichtigkeit, die e8 für die Fortentmwidelung der protejtantifchen Sache im ſüdweſtlichen Deutfchland gehabt haben würde, wenn mährend der ſehr bald darauf außsbrechenden Wirren des dreißigjährigen Kriegs in Straßburg ftatt des Kardinald von Lothringen ein proteftantifcher Biſchof aus dem Haufe Hohenzollern refidirt hätte,

Vielleicht würde ſich dann in der Folgezeit in die Blätter der deutjchen Geſchichte nie jener ſchimpfliche Hiftorifche Irrthum eingefchlichen haben, deſſen Korreftur die Creigniffe des Jahres 1870 möglich und nothwendig machten.

Guftav Krauſe.

Felix Mendelsfohn-Hartholdys Werke.

Welch ein köſtliches Vermächtniß ift ed, das uns der leider fo früh ab» berufene Meifter hinterlaffen, welch eine Fülle der herrlichften Geftaltungen auf den verjchiedenartigften Gebieten mufifalifcher Schöpfung, welche Mannig- faltigfeit, welcher Reichthum wiederum in den einzelnen Gebilden gleicher Gattung. Ale tragen fie dad Gepräge vollendeter Meifterfchaft, in allen jehen wir das Streben nad dem Sdealen. Ueberall weiß Mendelsfohn mit klarem Blicke feine Kunftaufgabe zu erfennen, und mit der ficheriten Be-

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*) Laguille, Histoire de la Province d’Alsace, 2 vol. Strasbourg, 1727.

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berrfhung der Mittel, mit Adel und Feinheit im Ausdrude zu Iöjen. Nur ein Theil diefer ftattlichen Reihe Mendelsfohn'icher Compofitionen ift bei des Meifterd Lebzeiten durch ihn felbft veröffentlicht worden; es find dies die unter den Opuszahlen 1 bie mit 72 erfchienenen Werfe. Cine große Anzahl, darunter die herrliche Muſik zu Racine's Athalie, die Duverture zu Ruy Blas, die vierte Symphonie, dag Finale aus der unvollendeten Oper Roreley, die Gonzertarie, der 98. Pfalm, und viele umfängliche und hochbedeutende Werke Mendelsſohn's kamen erjt nad feinem Tode zum Druck. Alle dieſe Werke eriftiren nun in verfchiedenen mehr oder weniger zuverläffigen und forreften Ausgaben, welche ſowohl in Deutichland, ald aud in andern Ländern von verſchiedenen Verlegern dem Publikum übergeben worden find. Die Verlags: handlung von Breitfopf & Härtel bat nun zuerst ed unternommen eine Geſammtausgabe der Mendelsſohn'ſchen Werke herzuftellen. Zu dieſem Zwecke haben fi) die Befiter de3 genannten Hauſes mit denjenigen Herren Verlegern, melde Eigenthumsrechte auf Menvelsfohn'ihe Compoſitionen befisen, ing Einvernehmen gefest, und weder Mühe noch Kojten gefcheut, das Recht zum AUbdrud der betreffenden Werke in der neuen Gefammtausgabe zu erhalten. In Hinfiht auf den ſchönen Zweck haben nun auch die Herren Breitfopf & Härtel faſt allenthalben ein bereitwilliges Entgegenkommen gefunden, und ift es ihnen faft allerorten gelungen die bezüglichen Rechte an fich zu bringen. Sollten der eine oder andere der Herren Verleger, mit welchen zur Zeit no Unterhandlungen ſchweben, nicht zu beftimmen fein, die Genehmigung zum Abdruck zu ertheilen, fo ift ed den Herien Breitfopf & Härtel ein Leichtes, die wenigen noch fehlenden Werke ſpäteſtens im Jahre 1878 nachzu— liefern, da Ende des Jahre 1877 die Eigenthumsrechte der einzelnen Ver— leger erlöjchen.

Es handelt fi jedoch in der neuen Mendeldfohn - Ausgabe nicht blog um den Abdrud aller Werke des Meifterd, nicht blos um das Erfcheinen fämmtlicher Compofitionen in gleicher Ausſtattung. Diefe Ausgabe mird vielmehr eine fomeit ald möglich vollfommen fehlerfreie und korrekte fein. Die Eritifche Nevifion derfelben hat die Verlagshandlung in die Hände des Herrn Hoffapellmeifter Dr. Julius Ries gelegt. Wer die Revifiondarbeiten kennt, welche Julius Niet bei Gelegenheit der rühmlichit befannten Beethoven- und Bach-Ausgaben geliefert, der hat auch genugfam den Fünftlerifchen Fein» finn, die ſtrupulöſe Gemifjenbaftigfeit, die minutiöfe Sorgfalt kennen gelernt, welche Ries bei derartigen Arbeiten mit der größten Hingebung und Aus: dauer an den Tag legt. Wer nur jemals eined der unter der Nedaktion von Ried herausgegebenen größeren Werke von Beethoven oder Bah zur Hand

genommen, aufmerfjam ftudirt und mit früheren Ausgaben hat, der Grenzboten IV. 1874,

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wird auch mir Neichtigkeit die mwefentliche Bedeutung der dadurh zu Tage geförderten Eritifchen Refultate erfennen, zu würdigen, und zu ſchätzen wiſſen.

Gegenüber den Werfen Mendelsſohn's fällt bier noch ein befonderer Umftand ind Gewicht. Ein großer Theil diefer mufifalifhen Schöpfungen ift fozufagen unter den Augen feined bewährten, langjährigen, treuen Freundes und Kunftgenofien Ries entitanden, und ſchwerlich wird irgend ein Anderer ala Nies, Mendelsſohn's Werfe früher, ſchwerlich ein Anderer fie genauer und bis in die geheimften Intentionen des Autors eingehender gekannt haben, als eben Rietz.

Wir haben Gelegenheit gehabt, einen Einblik in die bereit3 weit vor- geſchrittene Nevifionsarbeit thun zu dürfen, und haben und überzeugt, daß es fi dabei nicht blos um die Berichtigung falfcher Noten, vergeffener Ver: ſetzungszeichen und ungenügender Vortragsnüancen handelt. Es ift außer tiefen Dingen Mancherlei anderd, Bieled befjer geworden. Theilweiſe fand fih neues Material für die Nevifion, z. B. erfte Abjchriften der Streich quartette Op. 12, 13, 44 u. a., theild aber aud find dur Vergleichung der Stimmen mit den Bartituren bei Orcheſter- und Chormerfen, bet Vergleihung der untergelegten Terte bei Liedern und anderen VBocalcompofitionen mit den Driginalterten eine Menge von Irrthümern bereinigt worden. In der neuen Gefammtaudgabe wird überall in den Partituren die größte Genauigfeit bei der Angabe der Vortragdzeichen und Stricharten vorhanden fein, ebenfo fehr aber au in allen Dingen die vollkommenſte Uebereinftimmung der Stimmen mit der Partitur. Die Partituren felbjt werden möglichft überfichtlich her— geftelt. In allen Werken find die Vorſchläge und vielfach auch die Mordente ihrem rythmiſchen Werthe nach angegeben. Bei den Klavierfompofitionen ift mit größter Sorgfalt darauf geachtet, dag meijt alle dag, was die linke Hand zu fpielen hat, auf dem unteren Linienſyſteme ſteht, mwodurd der Weberblid bedeutend erleichtert wird, und dem Spieler jeder Zweifel über die zmed- mäßigſte Art und Weife der Ausführung benommen ift. Bei den mit Orcheiter begleiteten Werfen für Clavier wird außer den Zuttid, auch foweit e8 zum Verftändniffe nothwendig, das MWefentlihe der Begleitung in der Prinzipal- ftimme mit Eleinen Noten beigefügt fein.

Die äußere Ausftattung, wie auch der Preid der neuen Mendelsfohn- Ausgabe follen denen der gleihfald bei Breitlopf & Härtel erjchienenen Beethoven-Ausgabe gleichgeftellt werden. Bartituren, Stimmen und Klavier- auszüge werden ebenjowohl im Ganzen, ald auch gejondert abgegeben. Die ſchnell aufeinanderfolgenden Kieferungen der einzelnen 19 Serien, in welde jämmtlihe Werke eingereiht find, werden abmechjelnd Werke verſchiedener Gattungen bringen, um den verfchiedenartigen mufifalifchen Intereſſen und Bedürfnifien möglichft gleichzeitig Genüge zu leiften. Pianofortewerke und

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Lieder eröffnen die Reihenfolge. Auf die einzelnen Lieferungen kann aud) beliebig fubferibirt werden.

Wir begrüßen diefed neue Unternehmen der Verlagdhandlung Breitkopf & Härtel mit Freuden. Die Mendelsfohn - Ausgabe wird der gefammten mufifalifhen Welt hochwillkommen fein, und fi in ihrer unzmeifelhaften Aut hentieität, durch ihre foltve und elegante Ausftattung, fchließlich noch durch den fehr billig gehaltenen Preid von 30 Marfpfennigen für den Bogen groß Mufikformat allerorten den günftigften Eingang verfchaffen und überall Freunde erwerben. ©. Sadaffohn.

Fin gemaßregelter Preußenfendiler.

Ich will Ihnen eine Gefchichte aus Böhmen erzählen, die harakteriftifch für unfere Zuftände ift, und nicht verfehlen wird in weiteren Kreifen Aufjehen zu erregen.

Im Süden ded Landes liegt an der Moldau das Städtchen Budweis, eine deutfche Sprachinſel inmitten des tfchechifchen Gebietes, die fih, obmohl in höchſt ungünftigen Verhältntffen, tapfer gegen eine hereinbrechende Tſchechi— firung mehrte. Bis heute ift die Mehrheit der Bürger deutfch und manifeftirt diefed Deutſchthum aud dur die Wahl eines verfafjungsfreundlichen Candi— daten. Aber Budmeis ift ein fehr gefährdeter Außenpoften unferer Nationalität und birgt in feinen Mauern einen der fchlimmiten, audgefprochenften Feinde derjelben, den Biſchof Valerian Jirſik, der ein tichechticher Heißſporn vom reinften Waſſer ift und ed audgefprochen hat, daß Budweis wieder tfchechifch werden müfle. Die Leitung der geiftlichen Bildungsanftalt in Budweis ift von ihm durchweg Tfchechen anvertraut worden, in deutfche Dörfer werden tihechifche Geiftliche geſchickt, welche oft nicht richtig deutfch fprechen, doch das fchadet nicht? wenn fie nur tfchechifiren. Lange wird es nicht dauern und die Budweiſer Diözefe ift ganz von tichehifchen Geiftlichen eingenommen, die deutfchen werden feltener und feltener. Dazu fommt, dag in der Nähe die Eolofjalen Güter des Fürften Schwarzenberg liegen, eines Haupttjchechen und Ultramontanen troß feiner deutfchen Abftammung ; auch er läßt fi die Vertretung des Tſchechenthums eifrig angelegen fein und ftellt faft nur Tihechen in feinem großen Beamtenheere an. Gewiß, dad Deutſchthum in Budweis und im. füdmeftlichen Böhmen überhaupt ift gefährdet.

Daß ein ftrammer deutfher Mann von liberaler Gefinnung an einem

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ſolchen Orte nicht gerade auf Roſen gebettet tft, liegt wohl auf der Hand. Sein Leben ift ein emiged Ringen und Kämpfen; bei den eigenen Leuten hat er es oft mit Lauheit und Philifterhaftigkeit zu thun und von den Gegnern darf er fiher fein, daß er auf Schritt und Tritt, Tag und Naht mit allen Maffen, rechten und fchlechten, befämpft wird. Das hat Dr. Julius Lippert meidlich erfahren, er der treu und feit die deutfche Wacht an der Moldau ges halten hat und von je den Tichechen ein Dorn im Auge war. Welche Freude für die Tchechen und Ultramontanen, wenn ein folher Mann von feinem Poſten in Budweis entfernt wird, den er fo lange mit Ehren gehalten, den er um ded Deutſchthums willen mit zäher Energie vertheidigte.

Julius Lippert ift Hiftorifer und Schulmann. Er ift hoch verdient um den Verein für die Gefchichte der Deutjchen in Böhmen, dem er vom Anfange an angehörte und deffen reiche „Mittheilungen“ viele vorzügliche, oft mit Föft- lihem Humor gewürzte Aufjäge aus Lippert's Feder brachten. Er fchrieb eine „Geſchichte der Föniglichen Leibgedingftadt Trautenau“ und eine umfangreiche „Geſchichte der Stadt Leitmeritz“. Als der „Vater“ der tichechifchen Nation, Franz Palacky, feine befannten rohen Angriffe gegen die Deutihböhmen und die deutfchen Hiftorifer machte, ald er ſchamlos genug war, und Deutjche ein „Räubervolf“ zu tituliren, da war e8 Qippert, der vereint mit feinem Freunde Ludwig Schlefinger die Palacky'ſchen Angriffe „würdigte“ und in einer vor- trefflihen Schrift den tſchechiſchen Hiftoriographen gründlich „abführte”. Um die Maflen in Fluß zu bringen, fie im deutfchnationalen und liberalen Sinne zu bearbeiten, übernahm Lippert aud die Nedaction des deutfhböhmifchen Volkskalenders, der alljährlich in großer Auflage über das Land verbreitet wird und Ultramontanen mie Tſchechen ein Dorn im Auge if. Was brauchen auch böhmifche Bauern von Hutten, von den Reformatoren, von den großen Geiſtern Deutſchlands, vom deutichen Reiche überhaupt zu wiſſen! Lippert war eben von der „MPreußenfeuche” angeftedt, er bejubelte die Siege der deutfhen Waffen, freute fich der Errichtung eines deutfchen Reiches, das die Ultramontanen befämpfte und den Handſchuh aufhob, welchen Rom in frechem Uebermuthe ihm hingeworfen. Hier kann fo etwas aber Verbrechen fein.

Nun die Gefhichte. Lippert war Direktor der Budweiſer Oberrealfchule und er hat fie, wie Sachverſtändige erklären, ald ausgezeichneter Schulmann geführt und zur Blüthe gebracht. Aber was nützt das, wenn die übrige Ge- finnung nicht den herrſchenden Anfichten entjpricht und wenn ein Schulmann fih erfühnt, dem Minifterium Vorwürfe zu machen, e8 gar zu Eritifiren. Sie fennen unfern Stremayer, den famofen Gultugminifter, der die Altkatholifen nicht anerfennt, da® Stehaufmänndhen, das heute liberal, morgen ultramontan ſchielt, diefen Teibhaftigen Beleg zu dem Ausſpruche: „Waſch mir den Pelz. mad ihn aber nicht naß.“ Nun, Rippert, der unentwegte Mann, der aus

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feinem Herzen feine Mördergrube macht, hatte es gewagt in der Miener „Deutfchen Zeitung“ zwei Artikel über Stremayer zu bringen, welche die ganze armfelige Spiegelfechteret bei der Durchführung der konfeſſtonellen Ge— feße an den Tag legten. So etmad verträgt man oben nit. Dazu Fam, dag der Mann den Philiſtern zu liberal war und als er fih nun gar meigerte feine Kinder in der alleinfeltgmachenden Religton unterrichten zu laffen, da er- ihöpfte man fich in Anfeindungen gegen ihn ob feiner „ftaate- und religiong- feindlichen Gefinnungen“. Sa, ein Baterlandöverräther follte er fein weil er ein preußiſches Lehrbuch eingeführt. Hinc illae lacrymae. Da famen denn die Dieciplinarunterfuchungen, die aber in Nichts zerfielen, denn dem Direktor und feinem Lehrkörper, die die Schule meifterhaft im Stande hatten, war nicht8 anzuhaben. Man mußte alfo, um den Mann los zu werden, die Sache anderd anfangen. Der Staat übernahm die Budweiſer Dberrealfchule, doch mit Ausſchluß der Lehrkräfte, troßdem diefe allen geſetz— lihen Anforderungen entiprachen und die Gemeinde wurde dem Lehrkörper gegenüber geradezu fontraftbrühig, erklärte vom Tage der Uebernahme an feinen Gehalt mehr audzuzahlen und der Staat ftellte die Lehrer zur Diepo- nibilität. Für die übrigen werden fi wohl zur Zeit Stellen finden, aber für Lippert ift natürlich Fein Platz offen, troß feiner brillanten Staatderamina, feiner eminenten zehnjährigen Verwendung, feiner außerordentlichen Verdienfte um das Deutfhthum. Der „Breußenfeudhler* mußte fallen als ein Opfer des Minifteriums und der Philifter. In Defterreich ift feines Bleibens nicht mehr und feine vielen Freunde fuchen dem hartgeprüften Mann den Uebergang ind Deutjche Reich zu erleichtern. Möge er dort eine Stelle finden ! Um empfindlichften aber wird Böhmend Deutihthum dur ſolche Bor- gänge gefchädigt, wenn von der ohnehin geringen Zahl der tüchtigeren Leute einer aus den Reihen genommen wird, von einem Poſten, der geradezu in nationaler Beziehung gefährdet iſt. @.

Ztalieniſche Briefe.

Man hat viele Vücher über Stalien gefchrieben, in manchen hundert Liedern hat man es befungen; aber faft durchgängig geben die Bücher, welche es befchreiben, und die Lieder, welche e8 in den Himmel erheben, Stalien nur oberflählih und einfeitig wieder. Wenige Schriftfteller haben Italien gründ- lich ftudirt; und vielleicht niemand, der über das moderne Stalien geſprochen

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bat, vermochte fi von feinen Vorurtheilen für deffen Vergangenheit frei zu machen, und von feinen politifhen Sympathien und Antipathien, welche deſſen gegenmärtige Zuftände ihm einflößen. Man pflegt, indem man über Italien Spricht, nicht über Gemeinpläße hinauszjufommen. Entweder wird ed bemun- dert, oder e8 wird verachtet; aber wenig Schriftfteller, Italiener ebenſowohl wie Ausländer, können fih rühmen, es wirklich zu fennen, und vermögen folglich au nicht, ihre Beobachtungen dur eine genügende Menge ermie- jener Thatſachen zu begründen, um wirklich belehrend und verläßlich über das— felbe zu fchreiben. Die Einen werden von ihrer Begeifterung hingeriſſen, die Andern blendet ihre Raffion für Allee, mas ihnen fremdärtig entgegen» tritt. Andere wieder durchreifen unfer Land mit irgend einem fpeciellen Zwecke, und fümmern fih um nichtd, mad nicht in deſſen Sphäre Itegt. So fommen die Gefchäftsreifenden, die Induſtriellen, die Philologen, die Archäo— logen, die Künftler, in einem Worte alle die Specialiften, deren jeder unfer Rand in der Meite und Breite auf der Suche nad einem andern etwa ver- fteeftem goldnen Vließe durchforſcht; aber wenig Reifende, italienifche und fremde, fieht man, welche Stalien in feinem ihm eigenthümlichen, realen und habituellen Reben zu erfunden fuchten. Für die Fremden hat ed ja im Grunde feine verdrießlichen Confequenzen, wenn fie und nicht Fennen, wie mir wirk— lih find. Aber für und Staliener ift die Unfenntniß unferer felbft eine ſchwerwiegende Unzuträglichkeit.

Bor einiger Zeit veröffentlichte ein ſchätzenswerther Schriftfteller, der Advocat Carlo Rozzt zwei Bände „L’ozio in Italia“ betitelt. Er unter- nahm in diefem Werke und nachzuweiſen, mie viel Nachläſſigkeit noch in Ita— lien vorhanden fei, und mie großen Schaden und diefe zufüge. Die Liebe zum Guten hat Lozzi manchen beredten Paſſus eingegeben, und dad Bud hat dur die vielen gefunden Bemerkungen, welche durch dadfelbe zerftreut find, gewiß feinen Nuten. Aber im Allgemeinen hat das Merf Lozzi's doch eine zu beſchränkte Anzahl neuer Thatfachen beigebraht, als daß es den ge bildeten Staliener über Unbekannte® und Unvermuthete® hätte aufklären fönnen. Er gab und in der Hauptjache ein moralifhes Buch, aber es be durfte eined anderen Buched, um und zur Kenntniß unferer Rebendeigenthüm- Iichfeiten zu bringen. Es giebt zahlreiche Führer durch unfere Städte und Monumente, aber es giebt Feine folchen, melde den Weg zu unferm häus— liben Herd, in unfre Arbeitäftätten, unfre Bauernhöfe, kurz, in die reale Melt des Italieners zeigt, in der fich fein actuelled, materielles, moralifches und intellectuelles Reben bethätigt. Zwar ift es ſchwer, ein ſolches Buch zu ſchreiben. Es würde Zeit dazu gehören, und dad Zuſammenwirken Bieler. Über man kann den Anfang dazu machen, dadurch, dag man die Materia- lien dazu zufammenjchichtet und fie zmedentfprechend zu ordnen ſucht. Und

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ein Werk, welches vortrefflich diefem Zwecke zu dienen vermag, kann ich zu meiner Freude heute anfündigen. Es ift died ein vierbändized Werk, von im Ganzen 1500 Seiten, welches joeben in Meiland erfchienen ift, und folgen- den Titel führt: Delle colonie e dell’! emigrazione d’ italiani all’ estero sotto l’ aspetto dell’ industria, commercio ed agricoltura (Preis 24 Fes.) Der Verfaffer ift ein verdienftvoller National- öfonom, Herr Leone Carpi, ehemald Parlamentömitglied.

Die italienifche nationalöfonomifche Gefelfchaft, präfidirt durch den hoch— verehrten Senator Grafen Giovanni Arriva, und unter der Gönnerſchaft des Minifteriums für öffentlichen Unterricht, welches augenblidlih durh Ceſare Gorrenti verwaltet wird, hatte ein Preisausſchreiben erlaffen bezüglich einer Studie über die italtenifchen Golonien. Das Programm war folgendermaßen geſtellt:

„Ueber die Bildung ſpontaner Colonien von Italienern im Auslande, über ihre öfonomifchen und juridifchen Zuftände und ihr BVerhältnig zum Mutterlande. Seit langer Zeit und jegt in zunehmender Menge verlaffen viele Staliener ihr Heimathland, begeben ſich in verfchiedene fremde Länder, hauptſächlich in den Orient und vereinigen ſich dort, indem fie fich eine beſſere SLebenäftellung zu gründen ſuchen. Diefe Thatfahe wünſcht die nationalöfonomifhe Geſellſchaft mit Sorgfalt unterfuht zu fehen. Site läßt den Goncurrenten vollftändig freie Hand in der Art, wie fie ihre Studien machen wollen, und macht fie nur verbindlich, befondere Aufmerkſamkeit zu verwenden auf 1) die Emigration aus Stalien und ihre ökonomischen Rüd- wirfungen, ald Einleitung. 2) die Gefchichte der Colonien, ſoweit fie ſich ver- folgen läßt; ihre Statiftif, fpectell in wirthfchaftlicher Beziehung ; die Gebräuche welche die Individuen jener Colonien unter einander und mit dem Mutterland gemeinfam erhalten. 3) Ob und in melcher Weife die italtenifche Regierung müſſe oder könne durch geiegliche und diplomatifhe Mittel zum Schuge der Kolonien Vorkehrungen treffen, und auf ihre Wohlfahrt ſowie auf die Ent- wicklung ihrer Beziehungen zu Stalten Einfluß üben.“

Es war, wie jeder Leſer fehen wird, eine bedeutende Aufgabe, Carpi hat fich nicht nur ihr mit Ernst unterzogen, fondern mehr als dad, er hat ein Werk geichaffen, welches meit mehr leiftet, ald die geftellten Anforderungen verlangten, ein Werk, melched eine Aufgabe für‘ eine ganze Gefellihaft ge- wejen wäre.

Die Commiſſion, welche dag Werk Carpf's zu prüfen hatte, beftand aus drei berühmten Nationalöfonomen: den Herren Minghetti, Scialoia und Mefjedaglia, denen Herr Protonotari ald Seceretär zugefellt war, und das Buch fand vor diefem fehr competenten Schiedsgericht die befte Aufnahme. Indem die Commiſſion dem Buche den Preis ertheilte, Tieß fie fich folgender:

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maffen vernehmen: „Das Buch ift zu bewundern megen der Sorgfalt, mit welcher der Stoff gefammelt tft; wegen der geſchickten Vergleihungen, wegen der noblen Intentionen. Es ift die erfte Studie, welche in Stalien über tiefen Gegenftand gemacht wurde.“ „Die Commilfion, welche fih aus frei- händlerifchen Volkswirthen zufammenfest, verwahrt ſich nur gegen die jchuß- zölnerifchen Theorien, die Herr Carpi befürmortet. Die Commiffion hatte fich allerdings auf ein Memoire gefaßt gemacht, Herr Carpi hat ihr dagegen ein vierbändige® Werk vorgelegt, und niemand Fönnte ihm in demjelben irgend welche Längen vormwerfen, denn fie enthalten nur Sachgemäßes, wichtige Notizen und Zahlen. Aber welche harte Arbeit muß es für den Autor ge wejen fein, fie zufammen zu bringen. Es galt faft durchweg eine terra in- cognita zu erploriren. Woher die Materialien nehmen, aus melden Hilfe- quellen [höpfen? Die Schwierigkeiten de Unternehmen® mußten unüberfteigbar erfcheinen. Und fo war aud Herr Garpi der einzige Concurrent. ber es gehörte au ein Mann mie er dazu, energifh, thätig, geduldig und aus— dauernd, und vor Allem intelligent. Ale diefe Eigenfchaften befist der Ver— faſſer des Werkes in bemwunderungdmwürdigem Grade. Und nachdem er einmal an dad Werk gegangen war, hat er fich nicht begnügt, die geitellten Fragen zu löfen, fondern meinte, die Gelegenheit jei günftig, ſich auch zu gleicher Zeit an dad Studium des Criminalrehtd und der Deportation zu machen (der ganze 3. Band ift diefer Frage gewidmet) und fi genaue Kenntniß der materiellen und moraliſchen Zuftände der verfchiedenen italieni- hen Provinzen zu verfehaffen, um daraus die verfchiedenen Gründe der Aus— wanderung verftehen zu können. In den lesten Jahren war man im Miniftertum ded Innern mit doppeltem Eifer bemüht gewefen, von den Prä- feeten Auffchlüffe über die Zuftände der Provinzen zu erhalten, und im Mis nifterium des Aeußeren, die Confuln zu veranlaffen, genaue Berichte über die Verhältniſſe der Colonien einzufenden. Es find vortreffliche Berichterftattungen geliefert worden, und wir verdanken fie der Initiative der Minifter; die Seele ded Unternehmend war jedoch Carpi und man Fann fagen, daß er der Ur beber der fo großen Nuten bringenden Regjamkeit war, welche in den letzten Fahren unfere Präfecturen und Gonfulate durhdrang. Er hat den beiden Miniftern verfchiedene Fragebogen vorgelegt, wie fie für feine Arbeit geeignet waren; und wenn jest Documente vorhanden find, aus melden fich die Zuftände unferer Colonien ftudiren laffen, und wenn Garpi fie fo vortrefflich verwerthen konnte, fo verdankt er diefen WVortheil nur fih felbft, und dem Entgegentommen der Minifter. Die Berichte der Präfecten geben und werth— volle Auskunft über die relative Moralität, die Phyſiognomie und den Cha» racter der verſchiedenen italienifchen Provinzen. Wenn man diefe Documente vervolljtändigte und mehr ind Einzelne ausführte, könnte man eined Tags

einen fehr interefjanten Führer durch das lebende Stalien ſchreiben. Es ift Garpt bet feinen Studien über die Auswanderungen vielleiht nicht aufge- ftoßen, mie wett fi) jene Documente hätten ausnützen laffen, fonft hätte er fie nicht in einem Buche vergraben, welches doch zunächſt einem ganz anderen Zmede dient, fondern für ein populäred und gewiß einem größeren Publikum nügliched Werk referuirt, wenn auch das „gegenwärtige Werf einer großen Anzahl von Emigranten werthvoll fein wird. Denn die italienifhe Aus— mwanderung nimmt, wie Carpi nachmeift, beunrubigende Dimenfionen an, einzig die deutfche Auswanderung liege fich in der Anzahl mit ihr vergleichen ; aber während die deutjche wohl geregelt und nusbringend jet, unterläge die unfere nur zufälliger Yaune und Gaprice, und ſei nur zu oft fehädlich.

Um Schluß feines Werkes jagt der Verfaſſer, daß er die Machteinwirfung Deutſchlands auf unfern Seehandel und unfere Colonien nicht fürchte. Ich citire hier feine eigenen Worte: „Jene Gründe, melde dem Berftändigen nicht entgehen werden, die geographifche Lage und die gemeinfchaftlichen po— litifchen und commerziellen Intereſſen, machen ein freundfchaftliches Verhältnig zwiſchen Deutfchland und Stalien zur Nothwendigkeit, und, da die Intereſſen der beiden Länder fich in feiner Meife miderftreben, ift e8 naturgemäß, daß fie eine folide Freundschaft verbindet, die Feiner gejchriebenen Tractate und Erklärungen bedarf, um aufrichtig und dauernd zu fein. Die unparteiifche und zugleich platonifche Freundfchaft der Schmeiz liegt mie ein ſympathiſches Bindeglied zmifchen Deutfchland und Stalien. Sch lege weder den vagen Gelüſten einiger Deutfchen noch den politifchen Elucubrationen einiger Journa— liften diejes Landes Gewicht bei, welche fich mit den Rechten befchäftigen, welche die Deutfchen auf die Stalten umgebenden Meere befigen follen. Das find ab- geblaßte Reminiscenzen aus der Zeit des alten deutfchen Kaiſerreichs, welche felbft in feiner größten Epoche nicht wirflih Wurzel zu faflen vermochte, in Stalien, diefem Rande, welches für jede Fremdherrfchaft fatal wurde. Die klugen Söhne Herman’d werden fih hüten, diefen Erinnerungen neues Reben geben zu wollen. Deutfhland hat zahlreihe und ergiebige Hülfdquellen in dem bal- tifchen Meere. Bon dort aud macht ed feine Unternehmungen und breitet feinen Handel über alle Meere der Welt aus. Dur feine Schtenenwege ift ed mit dem ſchwarzen Meere verbunden und bald werden diefe ed in Rapport fegen mit dem Ural einerfeitd? und Conftantinopel andererfeitd; es hat eine blühende Schifffahrt auf feinen Flüffen, die bald noch bedeutender werden wird dur die Verbindung der Wefer und Elbe mit dem Rhein. Alfo bleibt wenig, um mad es Italien beneiden fünnte. Es ift gewiß, daß es mit dem ganzen Gewicht einer mächtigen und induftriellen Nation fi in unfere Alpen drängt, um fich unferen Meeren zu nähern, jedoch nicht um diefe zu annec-

tiren, fondern nur um der gewaltigen Thätigfeit feine® Handels as feiner Greniboten IV. 1874,

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Anduftrie einen Ausflug nach dem Oſten zu eröffnen. Das fann keinen Grund zu einer Gollifion geben; vielmehr würde ed dem Einklang der beiden Nationen dienen, wenn Stalien, um diefem Handel Borfhub zu leiften, mit derfelben Thätigfeit entgegenfäme und in jenen unendlichen Meeren, die fich jenſeits des Kanal von Suez erftreden, zum Cap, zum Feuerlande, auf denen Deutſch— land die Rivalin Englands, der vereinigten Staaten und Franfreih® gewor— den ift, auf viele Luſtren hinaus wird ihm die italienifhe Flagge Feinen Schaden verurfadhen Fönnen. Und menn auch Stalten zur See alle die Macht gemönne, die ich ihm münfche, fo ift doch das Meer fo weit und feine Straßen jo audeinandergehend, dak es Raum für alle hat, und Deutfchland wird wohl nie Concurrenz oder Schädigung feiner eigenen Intereſſen von Stalien zu gemwärtigen haben. Bielmehr glaube ih, daß Italien in jenen fernen und gewaltigen Meeren eine nüsliche Bundesgenoffin für Deutfchland fein wird“. Angelo de Gubernatiß.

Das Seben Eavour’s von Maflari in deutfher Sprache.

Sin den erjten Heften dieſes Jahrgangs“) haben die Grenzboten das Leben und Wirken Camillo Cavour's behandelt. Die letzte Arbeit eines der treueften deutfchen Patrioten, Ludwig von Rochau's, der zuerft unter den Riberalen in feiner „Realpolitif* den heute allgemein anerkannten deut: ihen Staatögedanfen ausſprach, war dem Gründer der italienifchen Einheit gewidmet. Ste ift leider unvollendet geblieben, mie die Lebensarbeit Cavour's jelbft. Rochau's Arbeit reichte, wie die Leſer d. Bl. fich erinnern werden, nur bis zur Schlaht von Magenta.

Veberhaupt haben die hervorragenditen Bubliciften Deutſchlands ſich in den legten Jahren mit Cavour ganz bejonderd eingehend und gern be Ihäftigt. Längft bevor Deutfchland und Italien das Ziel ihrer Einheits- beftrebungen erreichten, ftudirten die nationalen Patrioten und Hiftorifer diefjeitö und jenfeitö der Alpen den Werdegang des befreundeten fympathifchen Staated. Nun, da die beiden Länder geeint und mächtig daftehen, und ſich zu Schuß und Trug die ftarfe Hand reichen, bildet wieder dieſſeits und jenſeits der Alpen das Studium der öffentlichen Charaktere beider Länder, ihres Lebens, ihrer Politik den Gegenftand der Lieblingsbeſchäftigung aller vor« nehmen politifch » regfamen Geiſter. Das nothwendige Bündniß, die un-

*) Grenzboten, Nr. 4 und 5 I. Quartal 1974. ©.

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erſchütterliche Intereſſengemeinſchaft beider Staaten fpriht fi in diefem freiwilligen lebendigen Streben, ſich gegenfeitig in feinen hervorragenden Staatdmännern immer beffer fennen zu lernen in der liebensmwürdigiten Weiſe aus. Und wer daran z. B. biäher gezmeifelt hat, daß die oftgerühmte Freundſchaft Frankreichs und der Franzoſen zu Stalien nur ein offizielles Shauftüf, und im Grunde auf franzöfifcher Seite nur von phrafenhaften Egoismus beherrſcht fet, der mag an der Hand der franzöfifchen Preffe und Literatur der letzten Jahre fich belehren laſſen. Nirgends faft ein fpontanes Streben in Franfreih, fi über die Verhältniffe und Männer Jtalien zu unterrichten, nirgends die Vorausſetzung gedacht, daß franzöfifche Leſer ſich für eine in den Augen des wahren Franzofen fo geringfügige und undanfbare Nation intereffiren könnten.

Die italienifche Sprache mird zur Zeit in Deutfchland noch zu wenig getrieben, als daß die legte Stufe diefer befruchtenden gegenfeitigen Erfenntniß erreicht gelten Fönnte: daß wir Deutſchen auch allgemein in der Urfprade liefen Eönnten, was in talien über Italien und über uns gefchrieben mird. Die große Mehrzahl unferer Yandsleute wird in diefer Hinfiht immer auf Ueberfegungen angemiefen fein. Deßhalb verdient jeder Verfuh, und durch gute deutfche Ueberſetzungen mit guten italienifchen Werfen befannt zu machen, welche dem öffentlichen Xeben in beiden Nationen von Wichtigkeit find, freundliche Förderung und bereitwillige® Entgegenftommen. Befondere Auf- merkſamkeit aber darf die Ueberfegung eines italienifchen Werkes beanſpruchen, welches das Neben ded Grafen Cavour aus der Feder eined vertrauten Freundes ded großen Staatsmannes in vollendeter Weife fchildert, die Eleinften und die größten Züge dieſes Lebend und Charaktere mit dem Tiebevollen Detail ausfüllt, das der Freund in nächſter Nähe beobachten konnte, und daher und Deutjchen erjt ermöglicht, den Schöpfer der italienifhen Einheit ganz fo kennen zu lernen, wie er daheim aufgefaßt wird. Eine folche deutfche Ueberfegung der berühmten „biographifchen Erinnerungen“ von Joſeph Maffari an Cavour ift in diefen Tagen bei Joh. Ambr. Barth in Leipzig erſchienen. Die Ueberfegung ift von Dr. Ernft Bezold mit Geſchick und Berftändnig bearbeitet. Prof. Dr. v. Holgendorff hat ein einleitended Vor— wort dazu gefchrieben. Beide Männer fprechen ſich über die Abfichten, welche fie bei Herausgabe dieſes Werkes verfolgten, in fo intereffanter Weiſe aus, daß einige ihrer einführenden Worte bier wohl angeführt zu werden ver- dienen. An Gedanken, mie die eben vorgetragenen fih anlehnend, fagt Prof. von Holtendorff: „Was mid) beitimmte, eine Webertragung ind Deutjhe anzurathen, war in Kürze diefed: Jedes bedeutende Werk, welches die neuere Gefchichte Deutfchlande und feiner einheitlichen Wiederherftellung behandelt, fcheint mir zu einem Theile für Stalien, jede Geſchichte der italie-

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nifchen Einheit zu einem Theil für Deutſchland gefchrieben zu fein... . Das eine ift gewiß, daß die politifche Wiedergeburt Deutfchlands und Italiens in der gejchichtlichen Betrachtungsweiſe der fie bedingenden Zeitumftände un- trennbar mit einander verwachſen find. Ebenfowenig Fann beftritten werden, daß die Namen der beiden in der entjcheidenden Kriſe leitenden Staate- männer, Bidmard und Cavour an der Spiße jener perjönlichen Kräfte ftehen, welche das weltgejchichtliche Werk vollbringen halfen.“ Holtzendorff prüft dann die Möglichkeit, diefe beiden Männer miteinander zu vergleichen, „deren Streben im Berhältniß zu ihrem Volke ein fo ähnliches, deren perfün- liches Weſen ein fo grundverfchiedenes ift“, und er fommt zu dem Refultate: „der zuverläffigite Mapftab ſcheint indeffen immer derjenige zu fein, welcher dem lebenden Staatämanne in dem Haffe noch nicht völlig entmuthigter Gegner, dem todten Staatemanne in der Dankbarkeit der ihn überlebenden Gefhlehhter entgegengehalten wird. Cavour ſtarb gleihfam im Anfang feiner Aufgabe, in einem Augenblide, als Alles noch Begeifterung, Zuverfiht und jugendlihe Hoffnung war, ald Niemand in Stalien ahnte, daß jeder Sieg neue Weindfchaften entftehen ‚läßt, jeder Gewinn, der auf Schlachtfeldern errungen wird, durch die Mühfeligfeiten lang andauernder Beiltesarbeit be fefttgt werden muß. So glicy fein Tod mehr der Raufbahn eined Jünglings, den der Tod im Genuffe der Siegesfreude dahinrafft, ald dem Ende eined Mannes, der die volle Hinterlaffenfchaft feiner Lebensaufgabe in deutlichen Umriſſen überblidt. Gavour gab feiner Nation ald letztes Vermächtniß ein großes Räthſel, deffen Löſung er felbft zu betreiben feine Zeit gefunden hatte.* Gelbftverftändlich meint Holgendorff damit den Wahliprudy Cavour's: „die freie Kirche im freien Staate.“ Der deutfche Staatsrechtslehrer ift nicht zweifelhaft, daß Cavour diefe Formel, diefen Vertragsentwurf bei Seite ge- mworfen haben würde, wenn er, im Kampfe auf Leben und Tod mit der rös mifchen Hierarchie, „vom Quirinal als Kapitol, der LUnverföhnlichkeit des Vaticans ind Antlitz hätte fchauen müſſen“. Holtzendorff rühmt ed als ein befondered BVerdienft der Biographie Maſſari's, daß er die Beantwortung diefer Frage feinen Leſern überläßt und und den fterbenden Gavour im Gewiffendfrieden mit der Kirche zeigt. „Aber hat fich die herrſchende Kirche auch mit ihm verföhnt? Kann fie fi) jemald mit einem Staatdmanne ver: föhnen, der feine eigenen Wege ging? jeder Staliener hat fi darüber Klar zu werden, wie jeder Deutfcher darüber Klar werden mußte... Wenn Mafjart’3 verdienftvolles Werk feinen anderen Werth hätte, ald zur Prüfung diefer Lebensfrage angeregt zu haben, fo wäre ſchon damit dad von Gavour feiner Nation hinterlaſſene Erbe gemehrt worden“.

Auch der Veberfeger und Herausgeber der deutichen Ausgabe Dr. Ernit Bezold in Münden beginnt feine Vorrede mit ähnlichen Gedanken, mie dieje

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Zeilen. „Am unvergänglidften”, fagt er, „wird dad Werk Cavour's jelber dauern: das Reich Italien. Auch zu diefem Zwecke, zur Erhaltung diejes unfhäsbaren Gutes durd die italienifche Nation wird die Gefchichte Cavour's, das ſtets lebendige Andenfen an ihn, einen Hebel bilden. Zwar war in diefer Richtung ſchon Vieles geleiftet. Nicht der geringfte Beitrag war vom be freundeten. Deutfchland geliefert. Es geſchah durch die Eaffiihe Geſchichte Sstaliend von Hermann Reuchlin, durh das glänzende Eſſay Treitſchke's. Allein eine halbwegs erfchöpfende Selbftbiographie fehlte noch. Die Stadt Zurin wendete fi daher an einen vertrauten Freund Cavour's, den unter der Bourbonenherrſchaft aus Neapel entflohenen Hiftorifer Joſeph Maffari, Gelehrten und Staatsmann zugleih... Er übernahm die beneidendwerthe Aufgabe, die Biographie Cavour’d zu fehreiben und alle andern Freunde Cavour's metteiferten neidlod, ihm die ihnen zu Gebot ftehenden Notizen zu überlafjen. Bor Allem that died auch die von Gavour innig geliebte und in feine Lebensſchickſale am tiefften eingeweihte Nichte, Marchefe Alfieri.“ So fam ein Werk zu Stande, das im beften Sinne ald eine Selbftbio- graphie Cavour's gelten kann. Selbit in der liebevollen Nachgiebigkeit gegen den Firchenpolitifchen Standpunkt feines Helden thut der feurige, auf dem Standpunft der heutigen politifhen Erfahrung ſtehende Neapolitaner feinen Gefühlen und feiner Hiftorifhen Einfiht Zwang an, um Gavour ganz gereht zu werden. Das deutjche Gewiſſen des Ueberfegerd dagegen wehrt feine abweichende Ueberzeugung durch) einige energifche Noten. Das Werf Maſſari's wurde von der italienifchen Nation wie ein Nationaldenfmal begrüßt. An demfelben 8. November 1873, an welchem das Denkmal Cavour's in Zurin enthüllt wurde, ging dad Werk Maſſari's in wahrhaft monumentaler Ausftattung in die Welt. Der deutfche Verleger hat die deutfche Ueberfegung mindeftend ſehr freundlich ausgeftattet. Der deutfche Ueberſetzer hat fein beftes gethan, ung, felbftverftändlich nicht durch wörtliche Uebertragung, den Inhalt des Maſſari'ſchen Werkes fo treu ald möglih, d. h. fo wiederzugeben, als ob Mafjari ald Deutfcher zu Deutfchen gefchrieben Hätte Dadurch ift man- cher unferm Geſchmacke widerftrebende rhetorifche oder fentimentale Schmud, manche Iehrhafte Einfhaltung des Driginal® weggefallen, die Zahl der dor: tigen Abſchnitte auf weniger als ein Fünftel verkürzt und überhaupt eine wejentlihe Kürzung des Raums erzielt worden. Dagegen hat fidh der Ueber— feger angelegen fein laffen, und Deutſchen einen weſentlichen Erſatz zu leiften für einen Fehler des Originals, der durch die perfönliche Hingebung Maſſari's an Cavour veranlaßt, freilich auch dort durch feine individuelle Auffafjung we- niger fühlbar wird. Maſſari hat nämlich fehr wichtige, mit dem Leben und Wirken Cavour's gleichzeitige Ereigniffe, jomwie ihre Erklärung und Entmwidelung aus der früheren italieniſchen Gefchichte, gänzlich unberührt gelafjen. Der ita-

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lieniſche Lehrer empfindet dieſen Mangel vielleicht nicht in demſelben Grade wie der deutſche. Aber ganz wird auch er ihn keinesfalls verſchmerzen. Die (deutſche) Bezold'ſche Ausgabe ſorgt nun wenigſtens für das Bedürfniß unſrer ſynchroniſtiſch-hiſtoriſchen Orientirung. Es ſollen in kürzeſter Zeit Geſchichts— Tabellen über die einſchlagenden Perioden der modernen italieniſchen Geſchichte und der für die Geſchichte der Halbinſel entſcheidenden Ereigniſſe im übri— gen Europa als Anhang zu der bereits abgeſchloſſen vor uns liegenden Deutſchen Ausgabe von Maſſari's Werk folgen. Auch die vortreffliche Pho— tolithographie Cavour's mit dem (kaum erkennbaren) Faeſimile ſeines Namens— zuges, vervollſtändigt unſer Intereſſe an der deutſchen Ausgabe. Das Bild Cavour's iſt nach der gelungenſten Photographie gearbeitet, die während des Pariſer Congreſſes von ihm genommen wurde. Es iſt der Güte des Grafen Greppi zu danken, der, wie überhaupt der ganze überlebende Freundeskreis Cavour's einſchließlich Maſſari's (und ſeines Verlegers) durch Rath und That das lebhafteſte Intereſſe für das Zuſtandekommen der deutſchen Ausgabe bezeigt hat. Das Bild Cavour's, das hier geboten iſt, kann recht eigentlich als Illuſtration zu jener bekannten Schilderung gelten, welche Treitſchke von dem Aeußern des großen Staatsmannes entwirft. „Man ſah den unterſetzten lebhaften Mann mit dem behaglichen Lächeln auf dem breiten Geſichte, wie er ſich in den Seſſel warf, beide Hände in den Hoſentaſchen, oft die Beine faſt nach Türkenart verſchränkt, wie er unter ſchmetterndem Gelächter übermüthige Witze herausplauderte. .. Offenherzig und geſprächig ſagte er gleichwohl nie ein Wort zu viel. Als— bald, ſobald ein bedeutender Gegenſtand herantritt, faßt er ſich ſicher zu— ſammen; es lagert ſich dann tiefer Ernſt über die breite Stirn, die Klarheit eines mächtigen Verſtandes leuchtet aus den ſtechenden, tiefliegenden Augen... Den Italiener verräth nur das Feuer des Auges, nach ſeiner hellen Haut, feinem blonden Haar iſt er Nordländer. . . Er ift aber geradezu ſtolz darauf, daß er dem Grenzvolfe angehört halb Romane und halb Germane Wie die anderen Söhne des Hochlandes ſchwärmt er für dad Haus Savoyen. Er ift aber d’rum doch von Herzen Staliener, Italiener vom Scheitel bis zur Sohle.“

Auch Ludwig von Rochau hatte in ſeiner Arbeit über Cavour in dieſem Blatte auf die halbdeutſche Abſtammung und Nationalität Cavour's hinge— wieſen. Und er, der mit Maſſari die Ehre theilte, Cavour perſönlich gekannt, ſein Leben und Wirken jahrelang aus nächſter Nähe beobachtet zu haben, befindet ſich bis zu dem Punkte, wo der Tod ſeiner Abhandlung über Cavour ein Ziel ſetzte, in allen Hauptſachen in merkwürdiger Uebereinſtimmung mit dem italieniſchen Biographen. Namentlich führt Maſſari die von unſerm Rochau ſo ſchön und klar entwickelte Befähigung Cavour's zur Behandlung volkswirthſchaftlicher, mercantiler und finanzieller Fragen auf jene Vorliebe

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Cavour's zu landwirthſchaftlicher Thätigkeit und kluger Verwaltung des eige— nen Gutes zurück. Die Selbſtſtändigkeit und Richtigkeit des Urtheils von Rochau tritt erſt aus einer Vergleichung mit der italieniſchen Biographie voll zu Tage und läßt uns doppelt bedauern, daß ihm nicht vergönnt war, die größten Probleme, die Cavour's Wirken erfüllten, die wichtigſten folgenreich— ſten Thaten ſeines Lebens gleichfalls darzulegen. Wir würden vielleicht ge— neigt geweſen ſein, der Arbeit des Deutſchen ſelbſt den Vorzug vor der un— gemein detaillitrten Darſtellung Maſſari's zu geben. Denn dieſes Detail iſt nicht ſelten atomiſtiſch angehäuft, es zerfällt manchmal in einzelne hübſche Anektoden, über welchen die große einheitliche ſtaatsmänniſche Weberficht, die Entwickelung der Anfichten Cavour's über die einzelnen Hauptfragen , die ihn in den lesten zwei Jahren feined Lebens befchäftigten, die Trennung diejer Hauptfragen von einander und manches Andere vergelfen oder doch geringer beachtet wird. Gerade für diefe beiden legten Jahre von Cavour's Wirken wäre dad Urtheil eined fo gründlichen Kenner der italienischen Gejchichte und des italienifchen Staatämannes, wie Rochau ed war, von der hödhiten Bedeutung gemwejen. Denn melde Fülle von Problemen und Schmierigfei- ten aller Art theilmeife foldhe, die heute noch ihre Schatten werfen drängen fih in diefe Testen Jahre zufammen.

Die für Cavour fehmerzlichite und überrafchendfte Nachricht vom Abſchluß des Maffenftillftandes vom 6. Juli 1859 zwijchen Napoleon und Franz Jo— ſeph, dem fhon am 12. Suli die Friedenspräliminarten von Villafranca folgten, hatte feine Demiffion zur Folge. Vergebens verſucht Arefe feine Erb- ihaft anzutreten. Erft Ratazzi gelingt die Neubildung des Minifteriums, unter dem Vorfis des Franzofenfreundes Ramarmora. In feiner verzweifelten Stim- mung reift Gavour in die Schweiz. Ein fchlichter berner Grenzfoldat reicht ihm bier und unter Thränen die Hand, als Cavour mit ſeinen Freunden unthätig und trübfinnig in der Sonne ſitzt. Anfang September kehrt Cavour nach Turin zurück. Es bat fich inzwiſchen entfchieden, daß Napoleon Sta: lien gegenüber am Nichtinterventionsprineip fefthalten und namentlich zulafien will, daß die Bevölferungen der mittel» italienifchen Herzogthümer, der Aemi— lia, Umbriend und der Romagna durd eine Volksabſtimmung ihren Beitritt zum Staate Victor Emanuel's erklären. So kann der Beitpunft ind Auge gefaßt werden, wo zum erften Mal das italienifche Nationalparlament be- rufen, das Königreih Stalien feierlih proclamirt werden fann. Aber das Minifterium Rataäzzi-Lamarmora erklärt noch zu Beginn des Jahres 1860 ed für unmöglih, die Wahlen zum Nationalparlament zu einer be ftimmten Zeit audzufchreiben. Gavour meigert fi, folange diefe Frage nicht entjchieden fei, irgend eine Mijfion für die Regierung zu über- nehmen, dad Minifterium ftürzt und Gavour tritt am 16. Januar 1860 von neuem an die Spige der italienifchen Staatsgeſchäfte ununterbroden bie zu feinem Tode. Die erfte und ſchwerſte Aufgabe feines Amtes tft die Ab- tretung von Nizza und Savoyen an Frankreich. Der Fünftlihe, von der radicalen Partei erzeugte Sturm des Unmwillen® gegen Cavour wegen dieler nothmendigen Gegenleiftung gegen die franzöfiiche Bundesgenofjenihaft im Kriege legt ſich erft, ald kurz darauf (2. April 1860) das italienifche National- parlament eröffnet wird und Cavour den Fühnen Zug Garibaldi’8 gegen Sieilien und Neapel erjt heimlich, dann offen unterftüßt und dann aud) die neapolitantfhen und ficilianifchen Provinzen, die Marken und Umbrien mit dem Staate Bictor Emanuel's vereinigt werden. Am 18. Februar 1861 wird das Parlament eröffnet, das zum erften Dal, mit Ausnahme der Benetianer und Römer, Vertreter des gefammten Italiens in feiner Mitte zählte. mn

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bedeutfamer Weiſe verkündet die erite Thronrede die innige Freundfchaft mit Preußen als die Hoffnung der zufünftigen Bolitif der italienifchen Regierung, und fait einftimmig mird vom Warlament das Königreih talien und Victor Emanuel als „König von Italien“ audgerufen. Wie an diefem Tage Gavour beim Heraudtreten aus dem Warlamentägebäude von Aleſſandro Manzont umarmt wurde, und das zu Taufenden verfammelte Volk ftürmijchen Beifall klatſchte, als es den Begründer feiner politifhen Ginheit in den Armen des edeliten Vertreterd der literarifhen Einheit Italiens liegen ſah, da mochte jeder Zufchauer in der Begeifterung der bedeutfamen Stunde dad große Werk des Staatdmanned für erfüllt halten. Indeſſen für ihn begann nun erſt der Gipfel der Schwierigkeiten fih zu zeigen: Venedig und Rom, die Stellung zu Franfreih und Deutfchland, zu den radicalen Drängern im Innern, dad Verhältnig der Kirche zum Staate Alles das forderte von Tag zu Tag immer lauter und dringlicher feine Löſung. Es ift nun ein be» fonderer oben ſchon von Holgendorff betonter Vorzug der Maffart’fchen Biographie, daß er alle diefe Diffonanzen wohl Fräftig erklingen läßt, mie fie ja auch Cavour's letzte Lebensmonde erfüllten, aber daß er dagegen auch auf: zeigt, wie dem unermüdlichen Vorkämpfer feines Volkes das feltene Geſchick befehieden war, verföhnt mit allen Gegnern feines Strebens zu fterben. So endete jene denfwürdige Zufammenfunft Cavour's mit Garibaldi, die nad) dem furdhtbaren Aneinandertreffen beider Männer im offenen Barlament vom Könige gewünſcht wurde, aber faum möglich erfchten, mit einer feierlichen Billigung des politifchen Programms Cavour's im Verhalten gegen Deiterreic) und Franfreih durch Garibaldi. Die Männer fchieden, wenn nicht ale Freunde, doch ohne jegliche Gereiztheit. So glüdte Cavour noch in den legten Tagen feined Xebend, die Verhandlungen mit Parid und Rom dem Abfchluffe nahe zu führen: Napoleon mollte dad Königreih Stalien an- erfennen und ſich verpflichten, die Truppen aud dem SKirchenftaat zurüd- jurufen, wenn dagegen die italienifhe Regierung eine Gewähr geben würde, dag fie feinen Angriff duldete und die Grenze ftreng bewachte. Die Zufage diefer Bedingung Seiten Cavour's enthielt eines feiner legten Zelegramme nah Paris, mit dem Datum vom 31. Mai 1861. Den Reſt der Schmierigfeiten dachte er mit der Zauberformel zu ebnen: „die freie Kirche im freien Staate.“ Das war der lette Gedanke, den der Ster- bende ausſprach, der ihm das Sterben im Frieden mit feiner Kirche, deren legte Gnadenmittel ihm der eigene Bruder fpendete, ermöglichte. So breitet fidy über all feine legten Handlungen die Verklärung ded Friedens, der Ber- föhnung. Am 6. Juni 1861 früh 6%, Uhr verfchted er.

Möge die Verdeutfhung der Biographie Maſſari's in Deutſchland recht viele, recht aufmerkfame Leſer finden. Denn wenn der Politiker und Staatd- man Savour vielleiht auch noch kunſtvoller dargeftellt und charafterifirt mer- den kann den Menſchen Cavour wird niemand pietätvoller und anfchaulicher jemal® und fchildern fünnen, ald das Werk Joſeph Maſſari's. R

Mit dieſem Hefte beginnt diefe Zeitfchrift ein neues Quartal, welches durh alle Buchhandlungen und Poſtämter deö In- und Aus- landes zu beziehen ift.

Privatperfonen, gefellige Vereine, Lefegefellichaften, Kaffeehbäufer und Eonditoreien werden um. gefällige Berüdjichtigung derfelben freundlichit gebeten.

Leipzig, im October 1874. Die VBerlagsbandlung.

Berantwortlicher Redakteur: Dr. Hand Blum. Berlag von F. 2. Herbig. Drud von Hüthel & Legler in Leipzig.

Die

Grenzboten.

BEeittfäarcifi für

»olitik, Mexreatur und Kunſt.

Ne: A.

Ausgegeben am 9. October 1874.

Inhalt:

Neuere kirhenpolitifche Fragen. 1. 9. Jacoby. . . ..

Jugenderinnerungen Karl Friedrich's v. Klöden. B..

Gin Mufterftüd —— Propaganda in diantrüch Aus Paris . .

In Sachen der finanziellen Lage der Univerfität Jena. " Klagbeant: wortung. Replit von W. Endemann, ——

Briefe aus der Kaiferftadt. . s :

Mar Wirth's Gefchichte der Handelstrfen

vn

Orenzbotenumfchlag : Literariiche Anzeigen. Literarifche Beilage von F. N. Brodhaus in Yeipzig.

en 7 27252 SZ

Leipzig, 1874. Vriedrih Ludwig Herbig. (Fr. Wild. Grunow.)

Neuere kirhenpolitifhe Fragen.

Es ift von Freunden Firchlichen Lebens und chriftlicher Gefinnung oft geflagt worden, daß die großen Errungenfchaften des lebten Jahrzehnts, die fieggefrönten Kriege dem deutfchen Volke feinen Zuwachs an religiöier und fitrliher Vertiefung erworben hätten, und unmillfürlich ift der Blick auf die Befreiungsfriege gefallen, welche den Ausgangspunkt für eine ideale Erhebung, für eine Rückkehr des deutfchen Volks zur Kirche und zum chriftlichen Leben bildeten. Wir mollen den Wahrheitögehalt nicht beftreiten, der in diefer Klage liegt, müſſen aber doch offen ausſprechen, daß fie aus einer einfei- tigen Betrachtung der Zuftände und Bewegungen ter Gegenwart hervorge— gangen ift. Dder mer kann leugnen, daß in unirer fo ſehr auf Einficht in die Sinnenwelt und auf Verwerthung ihrer Erzeugnifje gerichteten Zeit die firhliben Angelegenheiten ein allgemeines Intereſſe erregt haben, ja eine brennende Frage geworden find. Freilich zeigt fi auch in der Art und Meife der Beihäftigung mit ihnen der eigenthümliche Charakter unfrer Zeit. Es find nicht die Gegenjtände ded Glaubens, die Unterfuhhungen, auf welche die theologiſche Wiffenfhaft fich vorzugämeife richtet, um welche fich die Aufmerf- famteit ded Volke fammelt, es ift vielmehr die Gemeinschaft, welche die Hei. ligthümer bewahrt, es ift die fichtbare Kirche, für welche die Gegenwart ein Herz bat. Das Chriftenthum als ein fihtbarer, das öffentliche Leben beitim- mender Faktor nimmt ihre Beachtung und Thätigfeit in Anfpruc. Die Bezeugung ihrer Theilnahme am chriftlichen Leben ftellt fi dar auf dem Gebiet der Kirchen» politi. Man unterſchätze diejelbe nicht, es giebt einen Weg, der von der Peripherie zum Centrum, von der Form zum Inhalt führt. Wir haben ein begründeted Recht zu der Hoffnung, daß unfer Volk vom Intereſſe an der Kirche zum Leben in der Wahrheit des Evangeliums und zum Glauben an die Heildgüter werde geführt werden.

Die Richtung, welche die neuere firhenpolitifche Geſetzgebung eingefchlagen bat, bürgt dafür. Sie hat erkannt, daß es nicht angeht, das Firchliche Reben ald eine Privatſache der Individuen oder gleichzeitiger Vereine anzu— jehen, daß dasfelbe vielmehr einen integrirenden Beitandtheil des öffentlichen

Lebens bildet, daß fich derjelbe einer Beeinfluſſung desfelben nicht entziehen Grenzboten IV. 1874. 6

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darf. Uber, died zugeftanden, welche Fülle Ser fehwierigiten Fragen ergiebt fih bier. Es gilt die Grenze zu ziehen, welche der Staat nicht überfchreiten darf, ohne die Freiheit der Kirche zu vernichten, es gilt der Kirche, vor allem der evangelifchen Kirche, die Organe zu ſchaffen, die ala wirklihe Ver— treter derfelben betradytet werden dürfen. Und alle diefe Fragen können nicht gelöft werden, ohne daß ein hohes Map Firchenpolitifcher Einficht gewonnen wird. Mir heißen daher alle Schriften willkommen, welche ung eine folche ver- mitteln, und beabfichtigen in diefen Zeilen auf einige derfelben hinzumeiien.

Beichränfen wir und auf die Forderung eines gefunden, unbefangnen, die Verbältniffe frei und nad allen Seiten überblidenden Urtheils, fo können wir die Schrift von Theodor Körner „Grundzüge und Beiträge zur ſyſte— matifchen Behandlung der Religionspolitik im deutfchen Staate“ (Berlin 1873 C. Heymann's Verlag, S. 206) unbedingt empfehlen. Sie ift eine Apologie der neueren preußiſchen Firhenpolitifchen Geſetzgebung, ruht auf einer befrie- digenden Kenntniß der hier in Betraht kommenden Berhältniffe, beurtheilt maßvoll und befonnen die verſchiednen kirchlichen Parteien und bewahrt ſich bei prinzipielem Anfchlug an die gegenwärtige Politik der preußifchen Re gierung Selbftändigkeit und Freiheit der Entjcheidung. Nicht3deftomeniger fönnen mir den Werth diefer Schrift nicht ganz fo hoch anſchlagen, als die eben angezeigten Eigenichaften zu nöthigen fcheinen. Denn leider befitt der Berfaffer nicht die für eine fyftematifhe Darftelung der Religionspolitif nothwendige religionsphilofophiiche Bildung und eben deshalb fehlt ihm die Befähigung, die prinzipiellen Fragen befriedigend zu löfen. Sa die philofo- phiihe Begabung und Schulung des BVerfufferd überhaupt ſcheint nur eine geringe zu fein. Die grundlegenden theoretifchen Erörterungen des erften Theild legen Beweis dafür ab. Der erfte Abſchnitt „Bon Religion und Glauben” zeugt von einer Oberflächlichkeit, wie fie nur bei völliger Unfennt- niß der religionsphilofophifchen Arbeiten des Jahrhunderts fich begreifen läßt. Im dritten Abſchnitt „Vom Staate* finden wir allerdings eine richtige Ein- fiht in dad Weſen desfelben, infofern er ald Rechtsſtaat und Gulturftaat begriffen wird, aber beide Beitimmungen werden äußerlich neben einander ge ftellt, ohne daß der Verſuch gemacht wird, fie mit einander zu vermitteln. Doch mollen wir diefen Mangel nicht zu Scharf tadeln, finden wir ihn doch in der audgezeichneten Abhandlung von Sohm nicht einmal völlig befeitigt. Dagegen müſſen wir tadelnd hervorheben, daß der Verfaffer dem Staate Re ligion, Neligiofität und Chriftlichfeit abfpricht und ihn nur an die chriftliche Ethik ald an das fittlihe Gefeg der Vernunft gebunden willen will. Nach der unzureichenden religionsphiloſophiſchen Grundlegung Founten wir freilich nicht8 anderes erwarten, Über fragen müſſen wir do, ob der Berfafjer ſich bewußt gemwefen ift, daß der religionsloje Staat die Worderung des Eides

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aufgeben und den Meligiondunterriht aus der Staatöfchule vermeifen muß. In auffälligem Widerfpruch zu der vorausgefegten Religionslofigkeit des Staat? ſteht die Bemerkung des Verfaſſers: „Er (der Staat) wird fie (die Neligion), fomweit es fein Beruf geftattet, als ein guted Kennzeichen fitt- liben Werthes in feinen Bewohnern, namentlich in den Organen feiner Wirk: famfeit anerkennen und fie geeigneter Weiſe nähren und pflegen; fie aber ih felbft aneignen, kann er nicht.“ *) Wie kann der religiös indifferente Staat die Religiofität feiner Bürger nähren und pflegen. wenn er nicht jelbit religiöß ift, mit welchen Mitteln foll er dieſe Pflege ausüben? Und ift ein Staat, der Maßregeln trifft zur Pflege der Religiofität, religionslos, und wenn er bejonders die hriftliche Religioſität begünftigt, nicht chriftlich ?

Der „biltorifch = politiiche Mückbli“ , mit welchem im vierten Abfchnitt der allgemeine theoretifche Theil ſchließt, it am dürftigiten in der Abtheilung „Das proteftantifche Zeitalter“. Wir bärten doch wenigſtens einige Andeu- tungen über die Entftebung des landesherrlichen Kirchenregiments, jeine Be— gründung durch die Neformatoren, und über die Eirchenpolitifchen Syfteme erwartet. Aber nichts von alledem. Der Berfaijer beichränft fi auf die Berührung einiger weniger Thatjachen.

Wir wenden und zum zweiten befonderen praftifchen Theil. E83 freut und, über die erften Abfchnitte desſelben, melde den Katholiciömug und den Neukatholieismus nad feinem Dogma ter päpftlichen Unfehlbarfeit zum Gegen- itande haben, günftiger urtbeilen zu fönnen. Wir finden hier eine eingehende, gründliche, lichtvolle Daritellung. Das neue Fatholifche Dogma wird in feinem Werth, feiner Entjtehung ‚und Begründung vergegenmwärtigt. Sehr richtig und beachtenswerth it, wenn der Berfafler jagt, daß die Bijchöfe nicht legi- timirt jeien, auf das ihnen durch Chriftuß übertragene apoftolifche Recht Verzicht zu leiften, daß dasfelbe ein von der Perſon ded damit Betrauten untrennbar gedachtes ſei und daher nicht einem andern übertragen werden könne, daß. es ein umveräußerliches Recht fei. Und der Schluß ift volllommen begründet, day daher dem Unfebibarkeitspogma das Firchenrechtliche Funda— ment der bijchöflichen Legitimation fehle. Auch der folgende, Abfchnitt „Grund- läge der Staatäpolitit den Religionggefellihaften gegenüber“ ‚-; befriedigt im Ganzen. In befonderem Maße gilt aber unfer anerfennendes Urtheil dem achten Abſchnitt: „Der Proteſtantismus.“ Die gefunde und befonnene Cha- rafteriftil der Firchlichen Parteien, der Muth, den der Verfaffer in der Frei heit von landläufigen Werthſchätzungen des, vulgären Liberalismus zeigt, ver- dient alle Anerfennung. Wir rechnen bierhin**) die Bemerkungen des Verfaſſers über den Proteftantenverein ”**): „Der Kampf gegen Beſtehendes hat bereits, in

) S. 22. **) Die machflebenden Anfihten des Werfafferd werden von der Redaction keineswegs allenthalben getheilt. D. Red. *S. 112—3,

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Deutſchland lebhaft begonnen und meite Kreife in fein Gebiet gezogen. Die Vertreter desfelben haben ſich namentlich in einem „Proteftantenvereine* ver» bunden und das Berdienft erworben, ſei ed auch auf radicalem Boden, die Mängel im Beitehenden ohne Rüdhalt aufgededt und den Wunſch zum Beſſern nach Sinnen und nad Außen rege erhalten zu haben; aber meiter reicht das Verdienst bis jest nicht. Bon einem Erſatz der oft mit Verläugnung allge: meiner Toleranz angegriffnen orthodoren Glaubensrichtungen durch Aufitellung eined Bekenntniſſes ijt in der bisherigen Wirkſamkeit ded Proteftantenvereind nicht die Rede, mit einer bloßen Negation ohne ſchöpferiſche Kraft ift aber weder dem religiöfen Gefühle noch dem religiöfen Geſellſchaftsverbande gedient ; eine Kirche ohne alle Bekenntnißſchrift, wie fie der Agitation vorzufchweben icheint, ift unausführbar und ohne Beftand. Aus diefen Gründen fann der Mroteftantenverein,; ungeachtet feined® an fich berechtigten Thund und Wirkens innerhalb der Religiondgefelihaft, Feinen Anfprud darauf machen, in der äußern Organifation derjelben ald ein irgendwie maßgebender Faktor mit in Betracht gezogen werden; es fehlt ihm dazu jeder Anhaltd- punkt.“ Mir rechnen hierhin ferner die befonnene Beurtheilung ded ev. Ober: firchenrath® in Preußen: „Die Bildung des Oberkirchenraths war der nad unferer Auffafjung im Prineip ganz richtige und gebotene erjte Schritt zur kirchlichen Selbftändigfeit. Wir jtehen nicht auf dem Boden feiner vielfeitigen Anfeindung, deren Ursprung großentheild in religiöjem Liberalismus wurzelt, und deren thatfächliche Begründung wir nur im geringften Theile, hauptfäch- ih in der Richtung anerkennen, daß feine unleugbaren wiederholten Beſtre— bungen zur einigenden felbitändigen Kirchenreform in den Hauptrejultaten erfolglos gemejen find; aber zur Milderung auch diefes Vorwurfs gejtehen wir, daß und der Nachweis fehlt, ob andere Schritte zum gedachten Zwecke beſſer und fruchtbarer geweſen wären. Die aus jener Feindfeligfeit wieder« holt hervorgegangenen Anträge im Landtage auf feine Abjhaffung halten wir im Intereſſe der Kirche für ebenfo unpolitifhe als unreife und in ihren Wir- fungen unüberlegte Tendenzen.**) Wir billigen endlich vollfommen, daß der Berfaffer mit Entjchiedenheit die fchleunigfte Vollziehung der Audeinander- fegung zwiſchen Kirche und Staat fordert und mit Necht denen, welche den geeignetiten Zeitpunkt noch nicht für gekommen erachten, zuruft: „wann wird der geeignete Standpunkt da fein? find die Verhältniffe des evangelifch-Firch- lihen Gejammtlebens dazu angethan, feine Annäherung ficher zu hoffen? und wird durch defjen weitered Abwarten etwas gewonnen? wir antwor- ten hierauf: Nein; im Gegentheil, die Schwierigkeiten werden nicht geringer, jondern fteigen mit jedem XZage.“ **)

Zeider hat fich in diefen fo trefflichen Abfchnitt ein biftorifcher Irrthum

,6. 190. °)6E. IM—5,

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eingeflichen, den wir um fo ernftlicher rügen müffen, ald er eine weite Ber- breitung gefunden zu haben foheint. Der Berfaffer meint, daß fidy das pred« byterial-fynodale Syſtem vorzugämeife bei den Reformirten in der Schweiz ent» widelt habe. Das ift falſch. Das genannte Eyftem ift allerdings auf reformir- tem Boden entfproffen, aber nicht in der Schweiz. Die reformirte Kirchenver- faffung bat einen ebenfo territorialiftifchen Charakter getragen, wie die Iutherifche Deutſchlands. Richtig ift, daß Calvin die Grundgedanken der Synodalverfaffung entwicelt bat, aber verwirklicht wurden fie weder in Genf noch in Zürich. Mit dem zehnten Abfchnitt beginnt eine neue Abtheilung, welche fich auf die einzelnen Gegenjtände der Neligtonspolitif bezieht. Zuerſt wird das geitlihe Amt in Betracht gezogen. Hier würde der Verfaſſer befjer gethan haben, ftatt faft alle Maigeſetze abdruden zu laffen, näher, als es gefchehen it, auf Ddiefelben einzugehen. Referent gehört zu den warmen Freunden der neuen Firchenpolitifchen Gefeggebung Preußens und er ift prinzipiell mit allen ihren Beftandtheilen in UWebereinftimmung. Eben deshalb hält er ſich für befugt, in diefen Blättern, einen Diffenfus bei diefer Gelegenheit zur Sprache zu bringen, der nicht fomohl dad Prinzip, ald die Audgeftaltung desſelben wit. Wir haben dad Staatderamen der Theologen vor Augen. Es kann feinem Zweifel unterworfen fein, daß von einem Manne, der, wie der Geift- lihe zu einer fo tiefgreifenden Wirkfamfeit auf das Volksleben berufen ift, ein hohes Map allgemeiner Bildung gefordert werden muß, und daß der Staat berechtigt ift, die Aneignung derfelben zu verlangen. Aber auf welchem Wege ift died Ziel zu erreihen. Wir fchließen die Whilofophie aus dem Kreife unferer Erwägungen aus, meil fie fhon längft Gegenftand der theo- logifhen Prüfungen geworden ift, und berüdichtigen nur die Geſchichte, und die deutjche Kiteraturgefchichtee Und hier fcheint ed unmöglich, daß der theologifche Kandidat im Großen und Ganzen am Schluffe ded Trienniums*) über eine größere Summe von Kenntniffen verfüge, ald ihm beim Abi- turienteneramen eigen gemefen ift. Ja noch mehr, ed muß fih die Summe vermindert haben, da der Student der Theologie doch nicht die Zeit und den Fleiß ohne Vernabläffigung des Berufsſtudiums auf die genannten Objekte wenden Fann, die er als Gymnaſiaſt ihnen widmen fonnte Wozu alfo eine Repetition des Abiturienteneramend fordern, die nothmendig nur bdürftige Refultate Eonftatirt. Man erwäge ven Umfang des Gebietö beider Wiffen- haften: Oder follen allgemeine Ideen an die Stelle der Thatſachen treten und das Examen fich auf eine Whilofophie der Gefchichte beziehen? Davor müflen wir dringend warnen. Es wäre der Weg, den nur die Ignoranz ih wünfchen könnte. Sie würde ihre Blöße mit Phrafen deden. Aber was

*) Barum müffen aber gerade die Theologen allein nur drei Jahre jtudiren ? Die Rep.

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fol geichehen? Es ift nicht fowohl Mehrung der Kenntniffe, als vielmehr der Einſicht zu fordern. Diefe läßt fih nun für den Studenten, der nicht Gefhichte und Riteraturgefchichte zu feinem Berufsſtudium gewählt hat, wohl aber auf beiden Gebieten vermöge der gumnafialen Borbildung orientirt it, nur dadurch erreichen, daß er auf befhränftem Gebiet an den millen- ſchaftlichen hiſtoriſchen und literarhiftorifchen Studien ſich betheiligt. Wir würden e8 daher für das geeignetite Mittel halten, das gewünfchte Ziel zu erreichen, wenn von den Studierenden der Theologie gefordert würde 1) dag fie eine größere Privatvorlefung aus dem Gebiete der Gefhichte und zwar mit Rüdfiht auf nationale Bildung aus dem Gebiete der deutfchen Gefchichte und ebenfo eine größere Privatvorlefung aus dem Gebiete der deutichen Literaturgefcbichte anhörten; 2) daß fie fodann unmittelbar nah Beendigung der Vorlefungen fih einer Prüfung von Seiten ded vortragenden Docenten unterzögen, deren Reſultat fchriftlich bezeugt werden müßte Die erfte For derung führte in befchränftem Maße die früher beftehenden fogenannten Zwangsvorleſungen ein, die zweite dehnte die gegenwärtig beftehenden Semeitral- eramina aus. Unfer PBetitum ginge daher dahin, daß alle Theologie Stu- dierenden, welche durd, dad Abgangdzeugnig vom Gymnafium den Befig be» friedigender Kenntniſſe in der Gefchichte und Kiteraturgefchichte bemeifen, durch eine Generaldispenfation des Kultusminiſters vom Staatöeramen befreit mwerden, dagegen angehalten, in der angegebenen Weiſe die Fortentwidlung in allgemeiner mifjenfchaftlicher Bildung fich angelegen fein zu laffen. Auf diefem Wege, fcheint und, würde ebenfo fehr den berechtigten Forderungen des Staatd wie den Intereſſen der Theologie Studierenden Genüge getban und ein höheres Maß allgemeiner wifjenfchaftlicher Bildung erzielt, als auf dem von der Regierung in Ausficht genommenen. Man täujche fih nicht, ed hat mehr Werth und bringt mehr Gewinn, auf befchränftem Gebiet Gründ— lihes zu willen, als auf weitem Gebiet vieled aus der WVogelperipeftive zu betrachten. Es iſt bildender eine Vorlefung über deutſche Geſchichte im Dlittelalter fi) aneignen, 'ald aus einem Gompendium eine Meberficht der Meltgeihichte nach ihrer Ränge und Breite repetiren. Es ift bildender, eine Vorlefung über dad Nibelungenlied oder Goethe ſich aneignen ald aus einem Reitfaden eine Weberficht der deutfchen Literaturgefchichte in ihrer Yänge und Breite repetiren. Denn daß das ganze Gebiet beider MWiffenfchaften ernftlich durchgearbeitet werde, dad kann doch nur vom Hiftorifer oder Yiterarhiitorifer vom Fach, nicht aber vom Theologen gefordert werden. Was bleibt ihm aljo übrig ald zum Gompendium oder zur Tabelle zu greifen. Unfer Bor: ihlag fällt alfo mit den Tendenzen der Regierung zufammen, weicht nur im Ausführungsmodus ab und begünftigt nicht eine Minderung, fondern eine

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Steigerung der allgemeinen milfenf&yaftlihen Bildung der Theologie Stu- direnden.

Man verzeihe und diefe Abſchweifung. Die bier audgefprochenen Ge danfen liegen dem Weferenten ſchon lange auf dem Herzen und fein Beruf treibt ihn, fie audzufprehen. Wir kehren zu unferer Schrift zurüd. Der Abſchnitt, welcher und hier befchäftigt, berührt viele fchmierige Probleme. Uber fie find eben nur berührt, ohne daß ein ernitliher Verſuch gemacht wäre, fie zu löfen. Was der Verfaffer über den Glaubendeid fagt, ift durch— aus unzureichend. Worin fich derfelbe vom zulegt erwähnten Religionseid unterfcheidet, wird nicht mitgetheilt. Wünſchenswerth wäre ed auch gemefen, wenn der Verfaſſer fich eingehender über die ſchwierige Frage nad den Grenzen der Lehrfreiheit geäußert hätte. Doch tft er auf dem rechten Wege. Sehr beachtenswerth find die Thefen: 1) Der Lehrituhl in der evangeltjchen Kirche ift nicht derfelbe, mie der des theologiſchen Katheders; ter eritere fließt die Erörterung theologifcher Streitfragen, welche der Wiffenfchaft an» gehören, im Mefentlihen aud. 2) Insbeſondere tit das Lehramt, welches auf die Grundfäge in den Reformationdichriften und nah Maßgabe derfelben ald ein Kirhengemeindeamt verliehen worden, nicht berufen, dieſe nach fubjectiver Auffaffung zu ändern oder zum Gegenitande des Zweifels oder Angriff zu erheben; dadurch aber den Glauben der Gemeindeglieder zu erfchüttern und die Stellung ded Lehramt? zur Gemeinde erheifht, daß diefes auch nicht durch öffentlihe Yeußerungen außerhalb der Iehramtlichen MWirkfamkeit nah Form und Faffung in der Weiſe gefchehe, daß das Ber- trauen der Gemeinde in die Wahrhaftigkeit des Lehramts mefentlich gefährdet oder abgefchwächt werde; die freie Grenze einzuhalten iſt Sache feiner jorg- famen Prüfung.*) Die liberalen Theologen thäten gut, auf die Worte folcher liberaler Suriften zu hören. Der Theologe iſt in Gefahr, einfeitig nur die Intereffen des religiöfen oder vielmehr des über die Neligion refleftirenden individuellen Subjekts mahr zu nehmen, der Yurift tritt für dag Recht der Gemeinschaft ein und fhüst die Bedingungen, ohne deren Bewahrung ein jecialer Organismus nicht beftehen kann.

Aus dem 11. Abfchnitt, der über „die Familie und die Religion“ handelt, heben wir die Bemerfungen des Verfaſſers über die gemijchten Ehen hervor. (53 wird bier der Wunſch ausgeſprochen, „daß jeded Verlangen eined Ber: ſprechens Seitens eines Geiftlichen, fet e8 eined mündlichen oder jchriftlichen oder wohl gar eidlichen über die religiöfe Erziehung der Kinder unter nam» hafte Strafe geftellt werde.” Mir können dem Verfaſſer nur beiftimmen, zumal in Bezug auf Preußen, da bier eine Forderung folhen Inhalt von

) ©. 150.

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Seiten der Geiftlihen geradezu eine Geſetzwidrigkeit in fich fhließt*), aber auch überhaupt, da, wie Eichhorn **) richtig fagt im einer ſolchen Forderung fihtbar die Anwendung eine® moralifchen Zwanges liegt, um eine Handlung zu bewirfen, die nach den bürgerlichen Gejegen nicht erzwungen werben, fondern nur aus freier Bereinigung der Verlobten hervorgehen kann.“ Die geſchichtlichen Mittheilungen des Verfaſſers über die Form der Eheſchließung find zum Theil unrichtig. Es ift falfch, wenn gefagt wird: Erft die Refor- matoren der evangelifchen Kirche erachteten diejelbe (die Firchliche Trauung) für eine zum Abſchluß des Ehevertrages erforderliche Form.“ ) Solche grund- lofe Behauptungen follten nad dem Erfcheinen von Frievberg’d Epoche machender Schriftr) nicht mehr gewagt werden. Was ſpeziell Luther's Stellung zu diefer Frage anlangt, fo hat fi Referent an einem anderen Drterr) eingehend darüber ausgefprochen und beſchränkt fich darauf, hier die dort gemonnenen Refultate zu vergegenwärtigen. „Quther weiſt die Che angelegenheiten der bürgerlichen Obrigkeit zu und betrachtet fie ala ein Ge: biet, das eigentlih außerhalb der Firchlichen Rechtsſphäre fich befindet. tichtödeftomeniger fol die Kirche, wenn die bürgerliche Obrigkeit eine kirch— lihe Segnung oder Trauung verlangt, diefelbe vollziehen. Luther fieht aljo die Chefchliegung mefentlih als einen civilen Akt an und betrachtet die Kirche, infoweit fie die Trauung vollzieht, als Mandatarin der bürgerlichen Obrigkeit.” „Er fah eben die Trauung ald eine mefentlich civile Handlung an. Dagegen die Segnung der Getrauten erfchien ihm ala eine Feier, welche die Kirche in ihrem eigenen Namen volljog. Er folgte daher der beftebenden Afte und theilte die Handlung in zwei Abfchnitte, die Trauung verlegte er vor die Kirche, die Segnung dagegen knüpfte er an den Altar.“

Auch ignorirt der Verfafler, dag ſchon früh auf proteftantifchem Boden die Civilehe fich gebildet hat. In England hat fie von 1653—1660 Geltung gehabt. In den Niederlanden wurde die fafultative Civilehe am 1. April 1580 für die Provinzen Holland und Weſtfriesland, am 18. März; 1656 für die General-Staaten eingeführt, in Schottland gelten die heimlichen Ehen und Gretna-Green ift der rettende Hafen für die Liebenden, deren Bund in Eng: land Feine gejegliche Geltung erlangen Fann, wie den Kennern englifcher Romane binlänglich befannt ift.

Gegen den Abſchnitt „Die Schule und die Religion“ haben wir ernite Bedenken. Vielleicht läßt fih die Frage nad der Confeffiondlofigfeit der Schule nicht beantworten, wie es der Berfaffer thut. Er hat dem vorliegen»

*) Sacobfohn, das ev. Kirchenrecht des preußifchen Staatd. ©. 570.

**) Grundfäge des Kirchenrehts Bd. 2. ©. 506. **) ©. 159.

7) Das Recht der Eheſchließung in feiner geſchichtlichen Entwidelung. Leipzig 1865. +7) Jacoby, Liturgik der Reformatoren. Gotha 1861. Bd. I, ©. 326 u. d. f.

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den Problem gar nicht ernſt in das Angeficht gefehen. Wir erheben feinen MWiderfpruc gegen die Anſtellung jüdifcher Lehrer an hriftlichen Schulen, evan gelifcher Zehrer an Fatholifchen Schulen und umgekehrt, aber fordern trogdem eine confejfionelle Beftimmtheit der Anftalt. Abgeſehen von dem Religiond- unterricht, der felbitverftändlich confefjtonell fein muß, kann der Geſchichts— unterricht, der deutfche Unterricht nur confeffionellen Gharafter tragen, und ebenfo darf das Directoriat der Schule und das Drdinariat der Klaſſen einer confeffionellen Bedingtheit nicht entbehren (? d. Red.). enjeit diefer Grenzen dagegen kann das confejfionelle Element durchbrochen werden. Simultanjchulen in den Schranfen einer confeffionellen Grundrichtung, nicht confeffionslofe Schu- len entjprechen den Forderungen der Gegenwart. Wir begründen mit ments gen Worten unfere Forderung. Wie Fann ein Jude, der, wohlgemerkt ein Jude mit ganzem Herzen ift, die Entitehung und den Werth des Chriften- thums würdigen? Gr fieht in ihm einen Rüdfall in den Polytheismus des Heidenthums. Wie kann ein Katholif, der feinem Glauben von ganzem Her: zen zugethan tit, der Reformation gerecht werden? Sie tit ihm ein frevel« bafter Bruch mit der Kirche. Daher ja an den Univerfitäten, auf die Pro- vinzen mit gemifchter Bevölkerung angewiefen find, obmohl doch die Univer- fitäten die Objectivität wilfenfchaftlicher Betrachtung vertreten, ein Fatholifcher und ein proteftantifcher Lehrſtuhl für die Hiftorifche Wiſſenſchaft errichtet ift. Wer den confeffiondlofen Geſchichtsunterricht befürmortet, fest Xehrer voraus, die innerlich außerhalb der Kirche ftehen,, der fie äußerlich angehören, oder er münjcht einen bhiftorifhen Vortrag, welcher auf die ideelle teleologifche Werthſchätzung der hiſtoriſchen Erſcheinungen und damit auf die Wirkung auf das Gemüth der Schüler verzichtet. Es ift nicht viel ander® mit dem Vortrag der deutjchen Kiteraturgefhichte. Man leſe z. B. Eichendorf's Dar- ftellung derfelben, um als Proteftant eine gründlihe Scheu zu fühlen, feinen Kindern eine folhe Einführung in die deutjche Kiteratur zu wünſchen, welche in der Romantik die Blüthe, den Höhepunkt ihrer Entwicklung findet. Der echte Katholif kann es nicht verwinden; daß dies neue Geiſtesleben Deutfch- lands auf dem Boden des Proteftantiömus erwachſen ift. Und der Jude? die religiöfen und fittlichen Ideen, welche die innerjte Subjtanz der Getanfen- welt unferer Dichter bilden, find aus der Wurzel chriftliher Welt und Got- tedanjchauung hervorgegangen, und der Nihthrift muß fih in dieſelbe erit fünftlich hineinleben. Der deutſche Unterricht ſchließt aber auch ferner die Verpflihtung in fi, die Aufgaben für den deutfchen Aufſatz zu ftellen und ihre Löſung zu controlliren. Es ift bieher diefer Theil des Unterrichts nicht blos als ein Mittel der Stilbildung, fondern in erjter Linie als ein Mittel der ethifchen Bildung angefeben worden. Im Aufſatz follte der Schüler wir berückſichtigen felbitverftändfih nur die Schüler der oberen Klaſſen die Grenzboten IV. 1874, 7

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eigene Kraft in der Beurtheilung der ihm zugeeigneten Objecte erproben, die hiſtoriſchen, äfthetifhen, moralijchen Beftandtheile des Wiſſens reproduziren. Es war dies eine Gelegenheit, in hervorragender Weiſe, pofitiv und negativ, die fich bildende Gejammtanfchauung des Schülerd zu reguliren. Aber mie fol dies möglich fein ohne die religiös -ethiiche Einheit der Schule! Wenn wir endlich das Directorium und die Klafjen - Ordinariate ald Träger der confeffionellen Beſtimmtheit betrachten, fo geſchieht es, weil wir die Schule nicht blos ala ein Lehr- jondern auch als ein Erziehungsinftitut gefehen. Und wem Erziehung etwas anderes iſt als Dreſſur, der wird fih nicht dem Zu- geſtändniß entziehen können, daß die confeffionelle Beltimmtheit aud in die Ethik bineinragt. Wroteftantiemnd und Katholiciamus, Chriftentfum und Judenthum find nicht nur dogmatifh, fondern auch ethifch different. Wir halten deghalb an der Forderung der confeffionellen Schule feft, tragen aber fein Bedenken gegen die Bildung von Simultanfchulen. Sind die von und audgefprochenen Forderungen befriedigt, fo braucht der Unterricht in der Phi— Iologie, Mathematik, der Naturwiſſenſchaften nicht an die confeffionelle Be— ftimmtheit der Vehrer gebunden zu werden. Auf diefe MWeife wird dad Sn» tereſſe des Staates, welches nicht auf die Sndifferenzirung, fondern auf die Milderung der confeffionellen Gegenfäte gerichtet ſein kann, Befriedigung finden.

Auch in anderer Hinfiht müfjen mir diefen Abſchnitt in Anſpruch neh. men, Erzeugt nämlich wieder von der unzureichenden religiondphilofophifchen Durhbildung ded Verfaſſers. Oder können wir anderd die Meinung beur- theilen, daß der Einfluß der Religion, ala einer das Reben umfaffenden und erhebenden Gemüthskraft abnehme, je mehr der Verſtand dem wiſſenſchaftli— hen Stoffe zugänglich werde und fi) denfelben aneigne? Wer ein folches Urtheil zu fällen vermag, weiß allerdings nicht, was Religion ift.

Mas den Abfchnitt von Klöftern, geiftlihen Orden und Congregationen betrifft, fo machen wir nur auf eine gefchichtliche Unrichtigkeit aufmerkfam. Dad Kloſterweſen des Abendlandes iſt nicht im erften Jahrhundert durch Einführung einer geregelten Lebensweiſe geordnet worden, fondern vielmehr im ſechſten Jahrhundert. Die maßgebende Mönchäregel ded Benedietus von Nurfia ftammt aus dem Jahre 529.

Indem wir unfer Referat ſchließen, müffen wir von neuem unfer Be— dauern darüber ausſprechen, daß die Schrift des Verfafferd den Werth, der ihr mit Rückſicht auf das ſich in ihr bezeugende objective, unbefangene und meift richtige Urtheil zuerfannt werden muß, dur einen auffälligen Man- gel auf dem Gebtet religiondphilofophifcher Begründung mefentlich verringert. Zu einer fyftematifhen Bearbeitung der Religionspolitif fehlen dem Ber: faffer die nothmwendigen Vorausſetzungen.

Königebergi.P. . 9. Jacoby.

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Dugenderinnerungen Karl Friedrich's v. Klöden. *)

Unter diefem Titel giebt eine umfangreiche Selbjtbiographie des befannten Gelehrten und Erziehungs» Direftord Klöden neben dem ehr intereffanten Rebendgang zugleich ein Kulturbild, das wohl faft einzig in feiner Art dafteht, denn es beleuchtet und eine Stufe der focialen Gejellfchaft, die fich zu feiner Zeit jeder anderen Schilderung entzog.

Mir werden in die letten Negierungsjahre Friedrich's ded Großen ein- geführt. Die glänzenden MWaffenthaten des fiebenjährigen Kriege® haben Preußen zu einer gefürchteten Macht erhoben, des Königs große Theilnahme an philofophifchen, wiffenfhaftlichen und fünftlerifchen Beſtrebungen hat dem jungen Reid neben dem Kriegdruhm auch ein meited Feld geiftigen Wachs— thums, dad Mirfen großer und bedeutender Gelehrten und Philoſophen erfchaffen. Aber auf diefem glänzenden Hintergrund entrollt ſich ein Bild des niederen, ſchwergedrückten Soldaten- und Kafernenlebend, ein Elend des unteren Beamtenthums, mie es erjehütternder kaum gedacht werden Fann. Der einzige Sohn eined alten, ypreußifchen, einft reich begüterten Adels— geichlechte® lebt ald Unteroffizier mit Frau und Kind in der Kaferne Zu der Sorge um die dürftigite Eriftenz gefellen fich täglich die abſchreckenden Gindrüde der harten Disciplinarftrafen, durch welch lettere das buntzufammen- gewürfelte Heer in Zucht gehalten werden fol.

Bid zu welch verzweifelten Schritten die rohen Soldaten ſich oft reißen liegen, davon erzählt Klöden ein entfegliche® Beifpiel: „Ich war zwei Jahre alt; meine Mutter trug mich noch auf dem Arm und ging mit mir vom Georgen-Kirchhof durch den Gang am Hofpitale nach der Randöbergeritraße. Kaum tritt fie aus dem Gang heraus, fo entdedt fie, nicht 30 Schritte von fi entfernt, einen Soldaten mit einem langen Meſſer in der Hand, deffen furchtbar verftörtes Anfeben die heftigite Graltation verrät. Die Straße iſt auf größere Entfernung menfchenleer, ringdum aber liegen die Bewohner angftvoll in den Fenftern. Meine Mutter überblidt im Momente den Stand der Dinge; aus den Fenftern ruft man ihr zu: „Retten Ste fih, retten Sie fib und das Kind.” Umfehren Fonnte fie nit, ohne den Menfchen binter fich berzuziehen ; änaftlich wagte fie ed, an den Häufern herzufchleichen, und flüchtete fih dann in die nächte, offene Hausthüre. Der Kerl hatte fie wohl geliehen, aber nicht verfolgt. Sie wurde mit einer Art von Jubel empfangen und erfuhr, daß der Menſch ſchon feit einer Viertelftunde in der Nähe auf entfeglihe Art geflucht, getobt und fein Meffer auf den Steinftufen

*) Herausgegeben und durch einen Umrig feines Weiterlebend vervollfländigt von Mar Zähne. Leipzig, Derlag von F. W. Grunow.

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gewest, auch unter lauten Verwünſchungen gefhworen habe, den Grften Beiten zu ermorden, weil er feines Lebens müde fe. Jeder habe fich daher geflüchtet, und man habe nur gewünfcht, daß ihm Niemand in den Wurf fommen möge, ald zum Schreden Aller meine Mutter mit mir erfchienen fei. Kinder Itefen bei folchen Gelegenheiten die größte Gefahr, weil es bei diefer Art von Leuten ein allgemeiner Aberglaube war: es fei eine geringere Sünde, ein Kind zu tödten, ald einen Erwachſenen, denn Letzterer fahre in feinen Sünden in die VBerdammniß dahin, ohne Zeit zu haben, ſich vorher zu befehren, während ein unfchuldiges Kind fofort ein Engel werde und jelig ſei.“

Died waren die Verhältniffe, in denen Karl Friedrich von Klöden feine erſten Eindrüde empfing, und immer drücdender wurde die Rage feiner Eltern. Der Bater ließ fi, durch den Spott feiner Kameraden geftachelt, verleiten, im Jahr 1792 freiwillig als Lazareth-Commiſſarius mit nah Frankreich zu ziehen. Gr ward von den Franzofen gefangen genommen, und die Mutter mit drei Kindern war einen Winter lang ohne Nahriht von ihm und ohne Eriftenzmittel. Nach feiner Rückkehr z0g er mit der Familie nah Preußiſch— Friedland, wo er als Wccife-Auffeher angeftellt worden mar.

Hier nun beginnt der eigentliche, bemußte Entwidlungsgang ded Knaben. Bon den erften Rehranfängen bei der alten, 70-jährigen Schulmeifterin am Spinnrad, begleiten wir ihn in die höhere Schule zum Rektor, der „den runden, kahlen Kopf mit einer meißen Zipfelmüte bededit, im weiten, Elein- geblümten, Fattunenen Schlafrof, der den ftarfen Spitzbauch weit bededte, und mit Pantoffeln an den Füßen wortlos Schule hielt. Jahr aus, Jahr ein wurde aus der Bibel vorgeleien, und wenn die Offenbarung Johannis „fertig“ war, fing der Nächfte ohne Pauſe wieder mit dem erjten Wort des ersten Buches Mofid an.

Noch zeigt fih nichts von der großen vieljeitigen Begabung bes fünf»

tigen Gelehrten, und die Art des Unterrichts ift nicht dazu angethan, die +

ihlummernde zu weden. Gbenfowenig that er fih anfangs in der Schule zu Mürkifch- Friedland hervor, in welche Stadt fein Vater als Thoreinnehmer 1796 überfiedelte, und es ift eigenthbümlich, daß erit von einer Krankheit, den Majern, ſich das geiftige Erwachen und der rajtloje Lerneifer des Knaben datiren. Biel, faſt das Entjcheidende, trug zu diefem Umſchwung die Lektüre von Campe's Robinſon Grufoe bei: „Ale Erklärungen verfchlang ich förmlich und eignete fie mir auf das genauefte an, um fo mehr ald mir diefe Art von Belehrung völlig neu war; denn außer der mütterlihen hatte ich ja niemals eine Erklärung erhalten. Die in den Gejprächen vorfommenden Lehren der Sittlichfeit, des Verhaltend gegen das Lernen und gegen die Menschen, kurz jede Marime prägte ich mir um fo tiefer ind Herz, als ich

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ihre Wahrheit und Angemeſſenheit im Innerſten fühlte. Mir ging eine ganz neue Melt auf, ich hätte jede Scene bis ind Kleinfte malen können; ich Tebte mit Robinjon, empfand mit ihm, er wurde mein anderes Selbit.“

Und von nun an raftet der erwachte Geift nicht mehr; jeden, auch den entlegenften Stoff weiß er zu verwertben und feinem Bedürfniß anzupaffen. Die Schule bot dem Wiſſensdurſt fat Nichts; nur aus fich felbit: und aus den wenigen Büchern, die in der abgelegenen Stadt, bei den fehr beichränften Mitteln feiner Eltern ihm erreichbar waren, fonnte der junge Geift Nahrung ziehn für fein Heranmwachfen. Gin neuer Lehrer weiß endlich den lernbegierigen Schüler auf neue Gebiete zu führen, feinen Gedanken neuen Inhalt zu geben, aber noch immer bleibt die eigene, innere Arbeit an fich felbft da® bewegende Element feiner Entwidelung. Er beginnt für fi) dad Studium der Mathes matif, fucht fi im Zeichnen immer mehr zu vervollfommnen und lernt ohne Lehrer die Flöte blafen.

Während fo fich dem 13-jährigen Knaben ein ſchöner, vielverheißender Horizont Öffnet, freilich mit der traurigen Gewißheit, daß er feinen ſehnlichſten Wunſch, zu ftudiren, niemals wird erfüllen fönnen, wird das Leben zu Haufe ein immer drüdendered, Der Vater ift durh den Trunf moralifch tief ge— funfen, die Familie verarmt gänzlich, trog Fleiß und Sparfamfeit der Mutter, die beiden jüngiten Geſchwiſter erliegen in einer Woche einer herrſchenden Podenepidemie. In all diefem Elend, neben dem an Charafter-Schwäche untergebenden Vater, tritt und nur eine Richtgeftalt entgegen: Die Mutter. Die Mutter ift e8, die dem Sohne die dürftige Kindheit erhellt, die ihn auf- muntert und anfpornt in feinem Streben nad Kenntniſſen, die den Kindern auch in bitterer Armuth durch aufopfernden Fleiß, durch liebliche Erzählungen und Kieder das Chriftfeft zum fchönften Tag des Jahres weiht, die den Sohn auszuſöhnen fucht mit feiner dur die Noth gebotenen KXebenäftellung als Goldſchmied-Lehrling. Und wenn fpäter, da der Gelehrte auf der Höhe feines Wirkens fteht, die Frage und nahe tritt: Warum Hält der Naturforfcher fi fern von jener Richtung, die unter dem Einfluß von Voltaire und Roufjeau und auf Grund eben der Naturwiſſenſchaften die Rückkehr erftrebt zur Natur, die den Bruch mit der Gultur und ftatt der chriftlichen dee die natürliche Bernunft auf ihre Fahne ſchreibt? Warum bleibt der Fünftlerifch begabte Geiſt, der jeden neugebotenen Stoff fi fo fruchtbringend anzueignen weiß, unberührt von der Sturm» und Drangperiode unferer Literatur, die, fih an- lebnend an die neue Philojophie, alles bisher Gültige niederzureigen ftrebt? Dann haben wir wohl zur Erklärung den fehr natürlichen Widerftand des Autodidaften, der ſich das nicht nehmen läßt, was er felbft fih jo mühſam erjt erwerben mußte, während e8 anderen leicht entgegengebracht worden; aber es taucht doch dabei immer wieder die Geftalt der Dlutter auf, die dem Kinde

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fromme Lieder fingt und ihn lehrt, die Welt anzufhauen im Sinne des Wortes, das er fpäter fo gerne gebraucht: „Groß find die Werke de Herrn ! Mer ihrer achtet, hat eitel Luſt daran.”

Es bietet einen eigenthümlichen Reiz, diefem Werden des Charafterd, diefem Emporfteigen des Wiffend zu folgen, dad von Stufe zu Stufe, über die wider: wärtigften Hindernifje zu freier wifjenfchaftlicher Arbeit und Forfhung drängt.

Als Goldarbeiter fommt der Züngling zu feinem Onkel nad) Berlin und wiederholt franzöfifche VBocabeln, während er in der dunfeln Küche mit unzu- reihendem Werkzeug die Handgriffe feiner Kunft lernt und zugleich das bro- delnde Mittagseſſen auf dem Kochherde überwahen muß. Sonntagd auf dem Hausboden, wo fein Bett und feine Kiſte neben dem auffteigenden Schornjtein ftehen, mo auf der einen Seite die Brennmaterialien ded Haus— halted liegen, auf der andern naſſe Wäfche zum Trocknen hängt, treibt er Algebra, Logik, Gefchichte.

Hören wir, was er von feiner damaligen Rage erzählt:

„Unterdeffen rüdte der Winter heran und mit ihm neue Plage. Noch immer war idy Lehrburſche, Hausknecht, Bedienter, Dienftmädchen, Küchen» magd in einer Perfon. Als nun die Tage kalt wurden, Eonnte ich nicht mehr auf meinem lieben Boden fihen und verlor damit meine Sonntagder- bolungen ; zudem mußte ich jest auch die Defen heizen und Abends vorher mir das Holz dazu beforgen und Klein baden, ſowie den Torf und die Koh. len berbeifchleppen. Ich durfte des Abends Fein Licht auf den Boden nehmen, fondern mußte mid im Finftern an» und auskleiden. Das hätte wenig ger ſchadet, aber ich fehlief nicht viel beffer ald im Freien. Wenn es ſchneite, mußte id den Schnee von Kopfkiffen und Dedbette abſchütteln; bei ftarfer Kälte fror das Bette vor meinem Munde fteif. Dad Schlimmite aber waren die Zeiten, wo der ganze Boden voll naffer Wäfche hing, durch welche ich mich im Finftern oft kaum hindurch finden konnte und dann während ded Schlafes von ihr rings dicht umgeben war. Bei naffer Witterung hing die Wäfche oft wochenlang, ehe fie trodnete, und fo lange hatte ich die Bein, fo zu ſchlafen.“

Wahrlich, e8 gehört eine ungewöhnliche Ausdauer, ein unerfchütterlicher Lebensmuth dazu, aus ſolchen Verhältniffen fi empor zu arbeiten |

Mir folgen ihm in feinem Studium der franzöfifhen und italienifchen Sprade und Geometrie; in allen diefen Fächern, die er nur in den fehr fnapp gebotenen Mußeftunden üben darf, kommt er rüftig vorwärtd. Dann thut er, durch feine Gefchiclichkeit im Zeichnen ermuthigt, den erften Schritt zur Verbefferung feiner Yage und wird Graveur. Bon da an geht e& ftetig vorwärts: der Graveur wird Schrift- und Kupferftecher, und diefe Beſchäftigung führt ihn zu dem Fach, in dem er jo Großes leiften und Ruhm und Ehre gewinnen follte, zum Stechen geographijcher Karten.

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Set lieſt es fich glatt meiter, das fchöne, fo reichlich verdiente Vorwärts— fommen, wie Klöden fi durch Mufikunterricht befjern Berdienft erwirbt, wie er Freunde findet, die fein Streben fördern. Seine forgfältigen geographifchen Pläne führen zur Verbindung mit der Schropp’'ihen Buchhandlung und machen feinen Namen ſchon befannt; er heirathet, wird Kehrer am Plamann- ſchen SInftitut und mit der Begeifterung für die Sache des Vaterlandes, die Befreiung vom wälſchen Joche, für die auch er thätig wirkt, fteigt fein Ruhm glänzend empor, weit über die Grenzen ſeines Baterlanded. Da er jhon Familienvater ift, erreicht er endlich die Erfüllung feines Herzenswunſches und fann ſich auf der Univerfität ald Student in die Negifter aufnehmen lafjen.

Und wenn wir ihn jest auf feiner ſchönen Zaufbahn weiter folgen, ihn geehrt und ausgezeichnet ſehn von wiſſenſchaftlichen Größen, geliebt von den Freunden und in der ehrenvollen Stellung, fein allſeitiges Wiſſen für eine neue , babnbrechende Stiftung der Jugenderziehung zu verwerthen, da müſſen wir wohl mit einftimmen in das Staunen ded Schwiegervaterd, von dem Klöden mit Behagen erzählt: „Er hatte feine Tochter einem Graveur gegeben, und nun follte fie mit einem Mal die Frau eined Seminardireftord fein.”

Was von da an Klöden ald Lehrer und Bildner der Jugend gewirkt, da® darf niemald vergeffen werden. Er war einer der Erften, der die Er: fenntniß, daß nicht auf dem Studium der alten Sprachen allein, fondern hauptiählih auf dem lebendigen Erfaffen und Verftehn der Natur die höhere Volksbildung fußen muß, zur praftifchen Ausführung brachte. Er war für Preußen der Gründer der Nealfchule, der erſte Pädagog, der den erzieherifchen Einfluß der eraften Wiſſenſchaften richtig erkannte. Und wie der 14 jährige Knabe einft das tieffinnige Geheimniß der Dreieinigfeit fi) und Andern durch die fiht- und greifbare Anjhauung des Dreiecks und feiner Gefege klar zu machen ſuchte, fo iſt des Lehrers Grundſatz, daß nur die Anfchauung, die richtige Erfafjung des Gegebenen den Lehrſtoff zum geiftigen Eigenthum des Schülers machen fann, und fo vertritt auch noch in fpätern Jahren in der anfhaulihen Vergleihung mit einem halb verwifchten Delgemälde der Ge- ſchichtsſchreiber Klöden die Berechtigung der Geſchichtsforſchung, verwiſchte Linien zu ergänzen, verblaßte Farben wieder aufzufrifchen.

So tritt und der Mann entgegen, der dem Geifte feiner Zeit eine neue Richtung geben half und doch durchaus aud ein Kind diefer Zeit war; denn wenn ed wahr ift, daß nur ein ungewöhnlich ftarfer Charakter fich durch die traurigen Hemmnifje zu feiner jhönen Reife entwideln Fonnte, fo ift e8 doch niht minder wahr, daß gerade diefe widrigen Verhältniffe und die daraus entfpringende Nothwendigkelt, alle Kraft zu entwideln in ihrer Bekämpfung, den Charakter zu dem gemacht, was er gemorden.

Dem Herausgeber aber fagen wir unfern Danf, daß er ein Buch, das

biöher nur werthvoller Familtenbefig geweſen, der Deffentlichkeit übergeben und mit pietätvollen Worten begleitet hat. Haben wir doch aus dem Werf Fennen gelernt, den fennen zu lernen immer wieder erfreut, fei ed nun, daß er und perfönlih im Wirklichkeit oder aus vergilbten Blättern entgegentritt: Einen tüchtigen Menfchen und ganzen Mann.

Dieje Zeilen gehen hinaus Angeſichts des Jubeltages, an dem Klöden's bedeutendfted Werk, die Friedrichs-Werder'ſche Gewerbſchule in Berlin ihr fünfzigjähriges Beftehen feiert. Möchte diefer Tag dazu beitragen den „Jugend— erinnerungen“ des theuren Mannes, die der Enkel mit einem Umriß feiner fpäteren Tage ergänzt hat, die danfbare Aufmerkjamfeit des Vaterlandes zu: jumenden. B.

sin WMuſtexſtück bonaparkiſtiſcher Propaganda in Frankreid).

Paris, 27. Sept.

Der Bonapartiömus ift in Frankreich wieder eine Macht gemorben. Zum Verftändniß diefer Erjcheinung wird die Mittheilung des folgenden Schriftitüds beitragen, dem eine äußerft geſchickte Mache nicht abzufprechen ift und welches außerdem, was die Frage nad) der Schuld des franzöfifchen Volkes am Krieg gegen Deutjchland betrifft, ebenſo überſichtlich als wahr: heitögetreu ein ſchätzbares Material zufammenftellt. In diefer doppelten Ber ziehung hoffen wir durch das Intereſſe des Leferd für die mechanijche Arbeit der Ueberfegung des umfangreihen Schriftſtücks entſchädigt zu werden.

Dasſelbe ift am 26. Sept. d. J. im „Drdre“ erfchienen, dem bonopar: tiſtiſchen Hebblatt von Paris, dad zwar wenig Abonnenten, aber fehr viele Leſer zählt, da es mit reichen Mitteln aus dem Chislehurſter Preßfond ver: fehen, in großen Mafjen umſonſt colportirt und ausgetheilt wird. Nament- lich gejchieht da8 mit Nummern, wie die vorliegende, welche befonderd mid) tige Artikel enthalten. Der politifhe Direktor des Blattes ift ein bonapar- tiſtiſches Blaublut, der befannte Herr Vagué de la Fauconnerie. Er bat aud dag fragliche Schriftitük verfaßt, um ſich durch dasfelbe den Weg zu einem Sig im Confeil General des Cantons de Nocd (Orne) zu bahnen bezw. feinen republifanifchen Gegencandidaten zu vernichten. Deshalb trägt es auch den Charakter eined „Offenen Briefe” an den Ießteren. Diefer „offene Brief“ lautet:

Mein Herr!

Sch meiß, daß man, um meine imperialiftifhe Candidatur zu be- kämpfen, die Ihrer republikaniſchen gegenüberfteht, in unferem Lande wieder alle jene Berläumdungen und Rügen audzubreiten begonnen hat, welche bemweifen follen, daß das Kaiferreich die Urfache all unfrer Niederlagen fei. Deshalb Halte ich es für meine Pflicht, Ihnen gegenüber Eurz feitzuftellen :

1. dag nicht das Kaiferreih den Krieg gewollt hat.

2. dag niht das Kaiferreih die Schuld trägt, wenn wir nicht bereit waren.

3. daß man niht dad Kaiferreih für den Berluft zweier Provinzen und die außerordentlihden Summen, die und der Krieg gefoftet, verantwortlih machen kann.

4. daß Sedan der edelfte Akt des Lebens Napoleon's II ift.

Ich habe die Ehre, Ihnen diefe Notiz zu überfenden, indem ich Sie bitte, diefelbe mit forgfältigfter Aufmerfamkeit zu Iefen. Wie Sie leſen werben, bringe ich nicht Worte, fondern Thatfachen zum Beweis. Nun, ich fordere Sie auf, die Wahrheit einer einzigen diefer Thatfachen zu beftreiten und biete Ihnen in diefer Hinfiht eine Wette von 25000 Franks gegen 25000 Sous zum Beiten der Armen ded Cantons. Und nit nur Ihnen, fondern allen franzöfifchen Republifanern biete ich diefe Wette. Empfangen Ste, mein Herr, die Verfiherung meiner Hochachtung.

Vagué de la Fauconnerie.

Dieſen offnen Brief die durchſchoſſen gefesten Worte find im „Drdre” mit Riefenlettern gedrudt hat der Verfaſſer folgende auch ald Brofchüre für die Wähler gedruckte Abhandlung beigefügt:

j An meine Wähler!

Man hat gewagt, Euch zu fagen, daß das Kaiferreich den Krieg gewollt habe. Ich antworte: das ift eine Rüge! Nein, das mar nicht der Kaifer, denn er hat fi von Drouyn de Lhuys, feinem alten Minifter getrennt, weil diefer den Krieg wollte. Dad war nicht der Kaifer, denn einige Zeit, bevor der Krieg audbrah, hat er Preußen eine gegenfeitige Entwaffnung vorge: ihlagen. Das war nicht der Kaifer, denn in feiner Nede an den Bräfidenten ded Geſetzgebenden Körperd hat er im Moment feined Abgangs zum Heer gefagt: „Wir haben Alles gethan, was von und abhing, um den Krieg zu vermeiden, und id; kann fagen: es ift die gefammte Nation, melde in ihrem unmwiderftehlihen Elan unferen Entſchluß dictirt hat.

Anderfeitd braucht Ihr, um zu willen, was in diefer Hinficht die öffent- ide Meinung mar, nur einen Bli auf die Zeitungen, felbit auf die dem Kaiferreich abgeneigteften, zu werfen. |

Die „Liberté“ 3.8. fagte: „Wir haben feit einigen Tagen nicht ab» Grenzboten IV. 1574, , 8

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gelaffen, den Krieg zu fordern. Und aus unferer Seele heraus und des Ge- wifjend wegen erklären wir, daß wir dabei der Pflicht gehorchten, welche die MWürde und die Ehre Frankreichs vorſchrieb!“

Die „Preffe* fagte: „Die Kriegärufe, welche geftern auf unfern Boule- vard® ertönten, erfüllen jest ganz Frankreich und unterftügen unfere Armee in dem Heldenfampf, zu welchem die Frechheit Preußend und heraugfordert. Der Entfhluß zum Krieg geht niht von der Regierung auß, er entftammt den Eingemweiden ded Landes!“

Der „Univers“ (da8 Elerifal-Tegitimiftiihe KHauptblatt Frankreichs) fagte: „Der Krieg, in den wir eintreten, ift für Frankreich weder das Werk einer Partei, noch ein ibm von der Regierung auferlegted Aben— teuer: die Nation gibt fih ihm hin mit vollem Herzen!“

Der „Soir” fagte: „Nicht der Katjer Napoleon III. hat den gegen- wärtigen Krieg erklärt, wir find e®, die feine Hand genöthigt haben!“

Molt Ihr noch einen andern Beweis dafür, daß die Regierung nur dem allgemeinen Gefühl folgte, das ſich aufs deutlichite Fundgab? hr folt es haben! Hier, was der englifche Gefandte an feine Regierung fchreibt: „Die Erregung des Publikums und die Gereiztheit des Heeres find derart, daß ed immer zweifelhafter wird, ob die Regierung dem Gefchret nach Krieg widerftehen Fann. Man fühlt e8, dag man gezwungen fein wird, die Ungeduld der Nation zu befhmwichtigen, indem man bündig die Abſicht er— Eärt, die Haltung Preußens zu züchtigen.”

Wer den Krieg wollte, da® waren die Preußen (?! d. Red.). Sie waren bereit und hätten eine Gelegenheit entitehen laffen, gleichviel welche, wenn fie ſich ihnen nicht geboten hätte.

Wer den Krieg wollte, dad waren die Leute der Oppofition, melde um jeden Preis einen Vorwand ſuchten, um die Regierung zu fritifiren, und welche unaufbörlih, auf den oft blinden Patriotismus der Maffen rechnend, um fih populär zu madhen, von der Shmah Sadowas und der Nothwendigkeit einer Rache hiefür redeten.

Mer den Krieg wollte, da® waren die Schreier in Paris, welche die Marjeillaife heulten und a Berlin brüllten, ehe fie felbft wußten, worum es fih handle!

Mer den Krieg wollte, dad war, mit einem Wort, alle Welt, und wenn Shr Euch davon überzeugen wollt, fo braucht Ihr nur nod einen Blick auf die Zeitungen von damals zu werfen, felbft auf die notoriſch der Perſon des Kaiferd und feiner Regierung feindlichiten. Der „Rappel“ z. B., das Blatt Victor Hugo’d, ded nämlichen, der heute alle Verantwortung für unfere Niederlagen auf den Kaifer wälzt, fchrieb, wie folgt: „Die Hohen»

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zollern find in ihrer Kedbeit fomeit gekommen, daß fie an die Weltherrſchaft zu denfen wagen, von der ein Karl V., ein Ludwig XIV., ein Napoleon ver: geblidy geträumt haben. E3 genügt ihnen nicht mehr, Deutſchland erobert zu baben, fie trachten, Europa zu beherrfhen! Es mird für unfer Beitalter eine ewige Schmach fein, daß diefer Plan, wir fagen nicht ausgeführt, nein ſchon, daß er überhaupt gefaßt wurde!”

Der „Soir*, das Blatt ded Herrn About, der heute feine Gelegenheit verfäumt, und täglich zu befehimpfen, fchrieb wie folgt: „Wie, man follte Preußen geftatten, einen Proconſul an unferer ſpaniſchen Grenze einzufegen ! Dann find wir achtunddreißig Millionen Gefangene!“

Der Gauloid“, der damald der Regierung heftige Oppofition machte, ihrieb: „Wenn e8 dem autofratifhen Kaiſerreich gefallen Hat, ſich Sadomwa bieten zu laffen und ſich über die Luxemburger Angelegenheit zu tröften, fo fann doch das liberale Franfreih nimmer ertragen, daß man ihm trogt und es ungeftraft heraudfordert. Die Regierung kann, ohne Frank» reich zu verrathen, feinen Tag mehr die preußifchen Unverſchämtheiten ertragen.“

Der „Figaro“, der niemals einer großen Anhänglichfeit an die Sache und die Perfonen de3 Kaiferreih8 angeklagt worden war, fagte: „Frankreich kann mehr fordern ald die Zurüdmeifung der Gandidatur des Prinzen von SHobenzollern. Es fieht fih von Preußen geprellt, betrogen! Unfere Re gierung muß Bürgfchaften fordern und kann auf die Unterftüßung des Landes rechnen!“

Sin der „Liberte” fohrieb Herr Girardin: „Machen mir ein Ende! Preußen wird nur der Furcht weichen! Nehmen wir eine energifhe Stellung ein, die einzige, die Frankreich geziemt, und wenn Preußen vermeigert, fich zu jchlagen , fo wollen wir ed mit Kolbenfchlägen über den Rhein werfen und das linfe Ufer einnehmen!“

Der „Univers“ fagte: „Vorwand oder Grund, die Belegen. heit ift gut für den Krieg. Frankreich kann nicht zugeben, daß fi Preußen noch mehr vergrößere. Um das zu hindern, muß man e8 Fleiner machen!”

Die fämmtlihen Zeitungen aller Färbungen fprachen fo, und ich zweifle, dag man mir auch nur eine nennen kann, die eine andere Sprache geführt hätte, von der rötheiten bis zur meißeften.

Über, meine Herren, e8 gab Einen, der weniger begeiftert war, ala alle Welt, Einen, welcher traurig und ahnungsvoll al diefe Großiprechereien und Herausforderungen anhörte. Dad war der Kaifer! Obwohl er fich durch diefe öffentlihe Meinung, der er nicht widerftehen konnte, geftärft fühlte, wußte er Doc nur zu gut, daß Preußen furdtbar gerüftet war und daß

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deöhalb der Krieg große Gefahren bieten würde. Wer das bezmeifelt, dem empfehle ich die forgfame Xectüre der Proclamation des Kaiferd an die Armee: „Soldaten, ich tele mid) an Eure Spite, um die Ehre und das Heil des Baterlanded zu vertheidigen. hr werdet eine der beften Armeen Europas befämpfen. ... Der Krieg, der jest beginnt, wird lang und ſchwierig fein. Ganz Frankreich begleitet euch mit feurigen Wünfchen, und die Welt richtet die Augen auf eu! Bon unferem Erfolg hängt dad Loos der Freiheit und der Givilifation ab! Soldaten, thue jeder feine Pflicht, und der Herr der Heerfchaaren wird mit und fein!“

MWahrhaftig, nicht der Kaifer ift e8, der den Krieg gewollt hat! Er war damald ſchwer von der Krankheit heimgefuht, die er tragen mußte, er wollte und Fonnte nicht? wollen ald den Frieden. Und andererfeitö, man ftand hart hinter dem Plebiscit von 1870. Sehr naiv in der That oder vielmehr ſehr unverfhämt find alle diejenigen, welche behaupten, der Kaiſer habe damals des Preftiged bedurft, das ihm der Sieg hätte verfchaffen können! Wie? War denn nicht die Kraft des Kaiferreichd foeben durch mehr ala 7 Millionen Stimmen, durch Eure Stimmen, meine lieben Freunde, beftätigt worden? Und dad fol der Augenblid fein, den Napoleon III. gemählt hätte, um fi aus freien Stüden in die Abenteuer eined Kriegd zu flürzen, er, der franfe Mann, mie ic Euch eben erinnerte, und während fein Sohn, fein inzwifchen zum Mann gereifter Sohn, noch ein Kind war, und während er, der Kalfer, wußte, da wir zum Kampf mit Preußen nicht bereit waren!

Sa, wir waren nicht bereit.

Und man hat Eudy gejagt, auch daran fei der Kaifer ſchuld. Das ift die zweite Rüge. Wenn wir nicht bereit waren, fo liegt der Fehler nicht am Kaiſer, welcher, ſchon 1867, in feiner Rede bei Eröffnung der Kammern fagte: „Der Einfluß einer Nation hängt von der Anzahl Menfchen ab, die fie bewaffnen kann.“

Der Fehler liegt auch nicht an feinen Miniftern. Im Jahr 1868 fagte Marſchall Niel, welcher beftändig die DOrganijation der Miobilgarde forderte, in der Kammer: „Sch bin überzeugt, daß Sie in Kurzem es bitter beklagen werden , diefe Inftitution angetaftet zu haben“, und meiter: „Sie machen mir meine Aufgabe unmöglid. Wenn idy die Miffion, die Armee zu reorga- nifiren, die mir der Kaifer anvertraute, aufnahm, eine Miffion, deren Erfolg ich für gefichert halte, wie können Sie mir die Dinge verweigern, die ich ale nothwendig betrachte?“ Ab, Ihr mwißt, wie diefer arme Marſchall vor Kummer ftarb ohne felbit erlangt zu haben, daß man die Mobilgarde im Gebrauch der Feuerwaffen und bei den Mandvern übte! Hört weiter, was andererfeit® Rouher gejagt hat: „Preußen Fann in gewiflen Wällen über eine Million dreimalhunderttaufend Mann verfügen. Ohne Zweifel

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fann Franfreih mit 800,000 guten Soldaten diefer Militärmacht miderftehen, aber man darf nicht aus dem Auge verlieren, daß zwiſchen dem Effektivftand auf dem Papier und in der Wirklichkeit bei und ein großer Unterſchied be- ſteht.“

Endlich hört, was die Abgeordneten der Rechten, wie der Graf La Tour, ſagten, indem fie die Oppofition anflehten, die Augen aufzumachen: „Es iſt nothwendig, unſere Kräfte zu vermehren und beſtändig auf Preußen zu achten. Es verfügt über eine Million dreimalhunderttauſend. Wir müſſen alſo für das Geſetz ſtimmen und, um unſere Pflicht als Franzoſen zu thun, dem Lärm der Wahlkörper, mit dem uns die Oppoſitionsblätter drohen, die Stirn bieten!“

Wer alſo war ſchuld, daß wir nicht bereit waren? Die Republikaner, die Abgeordneten der Oppoſition. Ich wollte, ich könnte Euch ihre ganzen Reden citiren. Aber es werden auch einige Auszüge hinreichen, um Euch zu beweiſen, welche verhängnißvolle Rolle jene Leute geſpielt haben, die heute unverſchämt genug find, dad Kaiſerreich des Leichtſinns und der Sorgloſigkeit anzuklagen.

Herr Jules Simon z. B., ein Mann des 4. September, hat gejagt und dad genügt, um all feine Reden zufammenzufaflen —: „Sch hoffe, man wird und eine Gerechtigkeit nicht verfagen, die nämlih, daß man und jeded Mal, wenn ed galt, den fogenannten bewaffneten Frieden zu organifiren, bereit fand, alle Maßregeln zu durchkreuzen, die zu diefem Ziel führen follten.”

Herr E. Picard, ein Mann des 4. September, fagte: „Man fagt ung, ed feien 800,000 Dann nöthig. Seit warn fpriht man in Frankreich diefe Sprade. Seit wann darf man öffentlih fagen, daß wir folche Vorfihts- maßregeln brauchen, nicht nur um unfere Grenzen zu vertheidigen, fondern auch, um unfere Unabhängigkeit zu wahren? Nichts rechtfertigt diefe über- triebenen Rüftungen, melde das Land vernichten!"

Herr J. Favre, ein Mann de 4. September fagte: „Man verfichert und, Frankreich müfje wie feine Nachbarn bemaffnet fein; feine Sicherheit hänge davon ab, daß ed befeftigt und bepanzert fet, daß ed in feinen Maga- zinen Haufen von Pulver und Kartätfchen habe, daß ed ohne dad Gefahr laufe zu verderben. Mein Gewiſſen protejtirt gegen foldhe Vorlagen. Was fürdhtet man denn? Denken denn die 40 Milltonen Deutichen daran, und anzugreifen? Warum führt man beftändig vor der Kammer died Phantom Ipazieren, welches zu nichts führt und das Land ruinirt.“

Herr Garnier Pages, ein Mann des 4. September fagte in feiner Erwiderung auf die Botſchaft des Kaiferd, melde die Drganifation der Armee begehrte: „Der Einfluß einer Nation hängt von ihren Grundfäten

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ab. Die Armeen, die Flüffe, die Gebirge, die Feftungen, ihre Zeit ift vorbei! Die wahre Grenze ift der Patriotismus!“

Herr Magnin, ein Mann des 4. September, fagte: Die ftehönden Heere find in der Theorie gerichtet und verurtheilt. Die Zufunft gehört der bewaffneten Demokratie. Das Geſetz, das und vorliegt, hat nur die Abſicht und wird auch feinen anderen Erfolg haben, als unfere Kraft noch zu ver mehren und unfere Finanzen zu fchwächen. Sich weiſe das Geſetz zurück, meil ed die Nation überbürdet, weil es amtidemofratifh, weil es gegen die „Gleichheit“ (antiegalitaire) ift.“

Herr v. Keratry, dedgleihen ein Mann ded 4. September fagte einige Tage vor Eröffnung der Kammern bezüglich der Linie: „Der Minifter fordert no died Jahr 400,000 Mann, welche 370 Millionen koſten werden. Das tft zu vie. Warum eine fo große Armee? Offenbar im Hinblid auf den Norddeutihen Bund. Nun, das Heer diefed Bundes, das preußiſche in- begriffen, beziffert fih nur auf 299,000 Dann und Eoftet faum 254 Dlillion, das find 100,000 Mann und 116 Million weniger ala bei und, Wlan bat die Refrutenzahl unferes Heered von 100,000 auf 90,000 Mann berabgefett ; dad genügt niht. Man muß fie auf 80,000 herabfegen, um zum normalen Gontingent von früher zu gelangen.“

Endlih Herr Thierd, der doch feitdem ſchon ald Prophet gilt, hat gefagt: „Man zeigte Ihnen letter Tage die Ziffern 1,200,000. 1,300,000, 1,500,000. Soviel Mann könnten die einzelnen Mächte unter die Waffen bringen. Nun, diefe Ziffern find völlig chimäriſch. Preußen würde und nad) dem Herrn Staatdminifter 1,300,000 Mann entgegenftellen. Aber ich frage, wo hat man diefe furchtbaren Streitkräfte geſehen? Wieviel Mann hat Preußen 1866 nah Böhmen geworfen? Etwa 300,000 Mann. Man darf fih auf dieſe Phantafiegebilde von Zahlen nicht verlaffen. Das find Fabeln, welche nie einen Schein von Wirklichkeit hatten. (Großer Beifall.) Alſo fei man verfichert, daß unfere Armee genügen wird, den Weind aufzuhalten. Hinter ihr wird das Land Zeit haben, ruhig feine Reſerven zu fammeln. MWerden Sie nicht immer 2 oder 3 Monate, d. h. mehr als nöthig fein wird, Zeit haben, die mobile Nationalgarde zu organifiren, und fo den Eifer der Bevölkerung zu benugen? Außerdem werden die Freimilligen zuftrömen. Sie haben lange nicht genug Vertrauen zum Lande!”

Nun meine Freunde, ich denfe das genügt, um zu zeigen, wer und eigentlich gehindert hat bereit zu fein, und daß das ficher nicht die Negierung war; denn fie hat, unaufhörli auf die Gefahren hingewieſen, und Ber- beflerungen begehrt, während die Oppofition ebenjo unaufhörlich blind war, und Alles verweigerte, was zur Reorganifation der Armee dienen konnte.

Drittens fagt man Euch, den Kaifer müfje auch die Verantwortlichkeit

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treffen für den Verluſt der zwei Provinzen, und der riefigen Summen, die und der Krieg gefoftet hat. Das ift noch jo eine elende Verleumdung. Am 4. September 1870 war nichts verloren; wir Eonnten mit 2 Milliarden Kriegdentfhädigung davon fommen, dad erhellt aus officiellen Schriftitüden, und namentlich au der Ausſage ded Herrn Thierd vor der Unterſuchungs— commiffion. Nachſtehend, was er in der That am 30. Detober 1870 den Regterungdmännern der nationalen Vertheidigung gefagt hat: „Wenn ih Ihnen einen Rath geben fol, fo nehmen Sie den Waffenitillitand, felbit ohne Neuverproviantirung an, um eine Afjemblee in Fürzefter Frift einberufen zu fönnen und, mit Hülfe derfelben, zu Friedendunterhandlungen zu gelangen. Sch glaube nicht, daß die Lage ded Landes und der Armeen derartig fei, daß die Fortjegung ded Kampfes zu einem guten Ende führte Heute würde Ihnen der Friede das Elſaß und 2 Milliarden Eoften, Später, ganz abgejehen von den Uebeln und den Leiden des Krieged, Elſaß, Lothringen und 5 Milliarden. (Enquöte parlamentaire sur les actes du gouvernement de la defense nationale. Rapport Daru p. 271.) Und am 20. November er- neuerte Herr Thierd die nämliche Erklärung, indem er zu Herrn Jules Favre fagte: „Heute glaube ih, daß wir den Frieden zu folgenden Bedingungen erlangen: das Elfaß und 2 Milliarden. Später werden wir neue und be trächtlichere Werlufte erleiden. Die Deutfchen werden gewiß das Elſaß, Lothringen und 5 Milliarden verlangen. Unter diefen Umftänden halte ich es für beffer, den Frieden jest anzunehmen.“ (Deposition du general Ducrot p. 12.)

„Um diefen Preis hat man die Narrheiten Jules Favre's, Jules Simon's und Underer bezahlt, welche das SKaiferreich in den Krieg trieben, nachdem fie die Entwaffnung des Landes durchgefegt hatten. So paßte e8 dem Herrn Gambetta und feinen Mitfchuldigen in den Kram, welche vor Allem nad) der Macht ftrebten, und dann aud den Krieg verlängerten, aber ſich fern von den Schlachtfeldern hielten, weil fie wohl wußten, daß all das nur unfere Leiden und Niederlagen vermehren müſſe. Deshalb Haben fie Eure Kinder auf die Schlachtbank geſchickt mit Sohlen aus Rappdedeln, mit Mänteln aus Fliespapier, und mit Gewehren ohne Schlöffer, während fie felbit in den Präfecturen ſich's wohl fein ließen. Das ift die Wahrheit der Gefchichte, und diefe Gefchichte, Ihr kennt fie fo gut wie ich felbit, Ihr habt fie gefehen, Ihr habt darunter gelitten, ift die republicanifche Geſchichte!

„Endlih wagt man Euch zu fagen, der Kaifer fei bei Sedan feige ge: weſen. Um diefe elende und gehälfige Erfindung zurückzuweiſen, beſchränke ih mich darauf, bier eine Stelle aus der volfäthümlichen Brofchüre des Herrn Perron wiederzugeben, welche den Titel trägt: „Das haben fie gelogen!” Es

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find Thatfahen und nicht Worte, welche man den Verleumdungen Napo— leon's III. entgegenfest:

„Trotz der inftändigften Bitten mehrerer Generale fi zu entfernen, wollte der Kaifer das Loos feiner Armee theilen, mit ihr fiegen oder ſter— ben. Er begnügte fi, feinen Sohn abreifen zu laflen, damit wenn er felbit fiele, Frankreich fih no um den Sproffen der einzigen Dynaftie, meldhe populär geblieben ſei, fammeln Fönne. So lange diefer ſchändliche Kampf währte, blieb der Kaifer inmitten feiner Soldaten, mit Wort und Beifpiel fie ermuthigend, und mie Napoleon I. bei Waterloo vergeblih die Kugel begehrend, die ihm geftatte, feine Niederlage nicht zu überleben. Man frage die Dfficiere und Soldaten, welche diefen blutigen Tag mitgemacht, alle mwer- den bezeugen, daß der Kaifer beftändig in der dringenditen Gefahr war, und dem Tod mit jenem falten ruhigen Muth troßte, den er bei Magenta, Sol. ferino und vor den Kugeln, Bomben und Dolchen der Mörder gezeigt hatte. Mehrere feiner Adjudanten wurden an feiner Seite verwundet, er war fogar genöthigt in einem Augenblid, al® der Kartätfchenhagel rings um ibn ber die wildeiten Verheerungen anrichtete, den Dfficieren feined Gefolgeö zu be- fehlen, Hinter einer Terrainfpalte Schuß zu fuchen, während er felbit allein blieb, zu Pferde, inmitten dieſes eifernen Hageld. Zeugen hierfür giebt es im Ueberfluß, nennen wir zuerft den tapfern und treuen General Pajot, den Flügeladjudanten des Kaifers, der den ganzen Tag feinen Augenblick von feiner Seite wid. Er erzählt: „Ed war um 5 Uhr früh, ald der erfte An— griff von Bazeille ftattfand. Unter dem Feuer des Feindes kam der Kaifer inmitten jener ſchönen Divifion Marineinfanterie an, welche der General Bafjoigne befehligte. Der Kampf war lebhaft, denn die preußifche Garde (!) und ein bairiſches Corps waren darauf verfeflen, dad Dorf zu nehmen. Der Kaijer mochte Stunde gemeilt haben. Als er fah, daß die Geſchoſſe von allen Seiten heranflogen, befahl er den Officieren, die ihn begleiteten, bei einem Jägerbataillon zu bleiben, das Hinter einer Mauer Deckung gefucht hatte und den Augenblid erwartete, mo es in den Kampf eintreten follte. Der Kaifer ging dann ohne Begleitung, weil er felbit die Stellungen ſehen wollte, noch weiter vor, und von feinem Flügeladjudanten, d. h. von mir, dem Capitain Hendecourt ald Ordonnanzofficier (er fiel), dem erften Stall- meifter Davillierd, und dem Dr. Corvifart gefolgt. Dann begab fi Seine Majeftät auf eine Höhe, wo die Batterien ded Kommandanten Saint-Aulaire waren und blieb dort faft eine Stunde inmitten eined Hagels feindlicher Ge— ſchoſſe.

„Gehen wir nun zu Zeugniffen von Männern über, welche dem Kaifer: reih nicht im mindeften gewogen waren. Ein höherer Officter, der bei Sedan verwundet nourde, fehrieb an einen Freund folgende im „Journal de Geneve“

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veröffentlichte Zeilen: „Ich liebe den Kaiſer nicht, aber noch weniger die Ver- läumdung. Gr bat fih tapfer gezeigt und wenn er nicht getödtet wurde, fo bat ihm doch menigftend die Luſt dazu nicht gefehlt. Unfere Anführer waren ungefchieft, unfere Soldaten Narren und zügello®, aber feige mar Niemand, Ich fage das mit Nahdruf zur Ehre Frankreichs. Man dient feiner guten Sache dur Lügen. Sedan ift ein Fehler, ein großes Unglüd, aber nie eine Schande! Sagen Sie da® überall und Jedermann!“

Diefem Zeugniß, das man nicht wird abweiſen Fünnen, fügen wir noch dasjenige der Kournaliften bei, welche das Heer begleiteten. Der Berichter- ftatter de8 „Temps“ fehrieb: „Der Kaifer hat fterben wollen. Diefe That- ſache fteht jest feit. Der Tod ging an ihm vorüber wie bei Met auf dem Feld von Mont-Saint-ean, ald die Kanonenkugeln, die er herbeirief, darauf beitanden , ihn zu verſchonen.“

Der Berichterftatter der Times“ erzählt, daß in der Schladht von Sedan „der Kaiſer den größten Muth bewies. Vergeben? fuchte er den Tod. Eine Kugel fiel unter den Füßen feined Pferdes nieder“.

Das Amtsblatt von Berlin vom 8. September jagt, „der Kaiſer babe fih nach dem Bericht von Augenzeugen in der Schladht bei Sedan in ſolchem Mape ausgefest, dag feine Abficht, ſich tödten zu lalfen, in die Augen fprang.*

Endlih in dem Brief des deutjchen Berichterftatterd des „Standard“ lefen wir: „Die Oppofition erklärte, die Sapitulation von Sedan fei ein Akt der Feigheit des Kaiferd gemweien, und diefe Züge, ohne Prüfung angenommen, wurde eine der Grundlagen der neuen Republik. Indeſſen weiß heute Jeder: mann, daß den Kaiſer an diefem fehredlichen Tage, an welchem feine ganze Macht zufammenbrad, fein kalter Muth nie verlaflen hat. Mehrere Stunden lang bat er fi dem heftigiten Feuer ausgeſetzt und dem Tode angeboten. Alerdingd wollte er fein Selbitmörder fein, das ift die leichte Zuflucht hoch— müthiger Egoiften, aber wenn er fagte: „Ich Eonnte den Tod an der Spibe meiner Soldaten nicht finden“, jo hat er einfach die Wahrheit geſagt.“

In Sahen der Tapferkeit fennen wir feinen beijeren Richter als den franzöfiihen Soldaten. Ein Sergent nun der Vierundfiebziger erzählt: „Als die Schlacht am tolliten war, bemerkte der Kaifer eine Mitrailleufenbatterie, auf welche die Preußen einen Regen von Geſchoſſen fallen liegen. Die Be dienungdmannfchaft war getödtet oder verwundet, und durch Soldaten aller Waffen erfeht. Der Kaifer näherte fi, ftieg von Pferde, befehligte das Manöver und richtete felbft eines der Stüde, indem er fagte: „Muth, Kinder, noch eine Anftrengung, e8 gilt für Frankreich!" Das ſah ih, das hörte ich, denn ich war dabei.”

Die nämlihe Thatſache ift durch das Zeugniß des ande Obriſten Grenzboten IV. 1574,

Forbes beftätigt, der den ganzen Feldzug mitmadhte: „Mit feiner ganzen Armee in diefe Maufefalle von Sedan gerathen, bemwahrte der Kaifer jene ruhige Unerfchrodenheit, welche ihn mährend des ganzen Kampfes nicht ver- laffen hatte.”

Der Gorrefpondent de „Temps“ erzählt folgende Thatſache: „ALS er bei unferem Cafe vorüberfam, mar eine Granate zwei Schritt vor feinem Pferd geplagt. Keine Muskel diefer abfonderlihen Maske hatte fich bemegt. Gr begnügte fi, mit einer Handbewegung die Zurufe abzumeifen, welche ihn noch empfingen.“

Eine ähnliche Thatfahe wird von einem Zeugen im „Paris⸗-Jour— nal“ erzählt: „Der Mann, welcher einft Napoleon III. war, faß auf einem Feldftuhl und redete mit feinen Offieieren. Gine Bombe fiel an ihrer Seite und mifchte fich in dad Geſpräch. Die Offieiere machten unmillfürlih einen Schritt zurück. Der andre verzog Feine Miene und fette ruhig die Unter- haltung fort.“

Die Kunft hat die ruhige Geftalt des erften Napoleon unfterblich gemacht, wie er mit feinem Ferngla® fortfährt, die Bewegungen ded Feindes zu beobachten, während gerade eine Granate zwifchen den Beinen feined Pferdes plagt und ihn in Eifen und Rauch einhüllt. In ähnlicher Qage hat ſich der Neffe des Oheims würdig gezeigt. Weshalb hat man fie fo verfchteden be - urtheilt? Deahalb, weil der Eine bereit? in der Hand der Gejchichte d. h. der Wahrheit ift, während der Andere fi noch in den Händen deren befindet, die ein Sintereffe daran haben, ihn zu verleumden. Zum Glüd geht ihr Reich zu Ende und das der Wahrheit wird bald beginnen. Wenn je eine Anklage Napoleon III. hätte verfchonen follen, fo gewiß doch die, dag ihm der Muth gefehlt habe. Die Störer der öffentlichen Ordnung wiſſen das befjer. Alle ftimmten darin überein, daß, fo lange er die Macht habe, eine Revolution unmöglich fei, weil er fich lieber würde tödten laflen, ald vom Plate zu weichen. Ihre Herrfchaft und die der Commune fonnten fi erft nad) feinem Sturze aufthun. Wer weiß nicht, mit welcher Gemüthsruhe er die Riftolenfchüffe Pianori's und die fchredliche Erplofion der Bomben Orſini's aufnahm! Weit entfernt, die Gefahr zu fliehen, bot ex ihr vielmehr die Stirne mit jener ftolzen Beratung, die feine Umgebung zittern machte. Und wenn feine Freunde verfuchten, ihn zur Vorſicht aufzufordern, fo antwortete er bloß: „Seid ruhig! Ich bin nur ein Werkzeug in der Hand der Vorfehung. Hält fie mich für nüglich zur Erfüllung ihrer Abfihten, fo wird fie mich zu er- halten willen. Ich werde fallen an dem Tage, an dem meine Aufgabe erfüllt fein wird. Und was liegt dann daran?* Und doch iſt das der Mann, den die... . der angeblichen nationalen Bertheidigung den „Feigling von Sedan“ zu nennen gewagt haben! Was hätte wohl an feinem Pla& der

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Bürger Favre gethan, der nur dem Feind ind Geficht zu weinen verftand, oder der tapfere J. Simon, der feine Söhne in den Bureaud veritedte, während er die anderer Leute ind euer fchickte, oder der Generaliffimug Gambetta, der fi aus Orleans rettete, ala er hörte, daß man fich fchlug, oder der unerfchrodene Rochefort, der bei einer Beerdigung die Farbe verliert, oder all die Negierenden deö 4. September, welche dem Aufitand nichts ala die Flucht entgegenzufegen hatten, oder al die feigen Wufitachler zu den Berbrechen der Commune, die ind Ausland flohen und ihre Opfer der Strenge des Geſetzes überließen! Seit wann hat die Feigheit dad Recht, die Tapfer- feit zu befchimpfen ?

Alles, was Ihr jet gelefen habt, ift es nicht Elar, in die Augen fpringend, und genügt ed nicht, ein für allemal die Unverfhämtheit der Republikaner zu zeigen? Es wäre mir leicht, mit Aftenftücen in der Hand, nachzuweiſen, was die Republik von jeher gewefen, wie fie immer, wenn fie die Regierung hatte, nur den Ränkeſchmieden und Schreiern genügt hat, wie die Öffentlichen Fonda z. B., welche der Gradmefjer des öffentlichen Vertrauens find, immer gefallen find, wenn die Republik in Flor war, und geftiegen, wenn fie ab- nahm, und wie endlih, wenn die Gefchäfte in unferen Randgemeinden bie jegt noch nicht allzufehr beunruhigt find, daran zunächſt der Umftand ſchuld ift, daß der Krieg beträchtliche Lücken riß, die jegt auszufüllen find, vor allem aber der andere, daß wir ja in der That die Nepublif nur dem Namen nad haben und von Männern regiert werden, welche, um mit Herrn von Mac: Mahon anzufangen, niemald ald Republikaner befannt gemwejen find!

Uber darum handelt es fich gar nicht. Ich wollte nur bemeifen: 1) Daß es eine Rüge ift zu fagen, der Kaifer habe den Krieg gewollt. 2) Daß es eine zweite Rüge ift, zu fagen, der Kaiſer trage die Schuld, wenn wir nicht bereit waren. 3) Daß es eine dritte Rüge ift zu behaupten, der Kaifer babe Elſaß, Kothringen und unfere Milliarden verloren. 4) Daß e8 endlich eine vierte Rüge ift, zu fagen, der Kaifer habe, als er bei Sedan feinen Degen dem König von Preußen übergab, um das Leben von 80,000 Soldaten zu fchonen, welche fonft verloren geweſen wären, nicht eine große und gute That vollbracht. Treu der Verpflichtung, die ich Eingangs auf mich genommen, babe ich mic) darauf bejchränkt, Thatfachen aufzuzählen. Diefe, Thatjachen find fie wahr? Ich mwiederhole e8, ich fordere meinen Nebenbuhler und feine Freunde heraus, auch nur eine von diefen Thatfachen ald ungenau zu be» zeichnen und biete ihnen allen in diefer Hinfiht eine Wette von 25,000 Fr. gegen 25,000 Sous zum Beften der Armen ded Ganton?.

Bagud de la Fauconnerie,

Man mird, mie gefagt, diefer Brofchüre ein großes Geſchick in der Mache nit abſprechen können. Wahrheit und Dichtung mifchen ſich darin in fo

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eigenthümlicher MWeife, daß der gemeine Mann, welcher die „zwanzig Sabre der Wohlfahrt unter dem Kaiferreich* noch nicht vergeffen hat, vielfah nur die erftere heraudlefen und behberzigen wird. Dad Blatt Gambetta's, die „Republ. frang.“ verbirgt denn aud ihren Uerger über diefe Schrift in einem kurzen Artikel vol erzwungener Heiterkeit. „AU diefe ſchönen Dinge“, jagt fie (nämlich die vier „Theſen“ des Herren Dugue) „find in jener Broſchüre den Wählern audeinandergefegt. Natürlich bemeift der Verfaſſer dieſer Senfationefhrift, daß die Oppofition alles verfchuldet, daß fie dem Staatö- oberhaupt die Hände gebunden, die Urfenale geleert, unfere Feſtungen und Armeen übergeben hat! Diefe Thefe ift zur Genüge befannt. Sie hat nichts gegen ſich, als die befannteiten Thatſachen, die officiellen Schriftftüde, die Meinung von ganz Europa und die Heberzeugung aller vernünftigen Menfchen ! Trogdem kann derjenige, welcher Luſt hat, 25,000 Fr. zum Beſten der Armen zu gewinnen, fi) dad Vergnügen machen, fie zum hundertften und taufendften Dial zu widerlegen. Nur jagt Herr de la Fauconnerie nicht, wer der Richter über die Wette fein fol, und darauf fommt ed doch an. Es erübrigt ihm noch zu jagen, wie und von wem die Jury gebildet werden fol. Es gäbe das Stoff zu einem zweiten Plakat. Uber wie dem auch fei, die Bonapartiften find auf dem Plag, und machen derartige Demonftrationen, ohne zu ge: wahren, daß fie eine nicht nur fomifche, fondern jede Partei disereditirende Nolle fpielen. Oder meinen fie, daß ihre Partei diefe Gefahr nicht mehr zu fürchten hat?“

Diefe Erwiderung des republifanifchen Blattes trifft augenſcheinlich nur eine ſchwache Seite der bonapartiftiihen Broſchüre, die politifche Reclame nämlih, die fih darin breit macht. Aber werden nicht gerade dieſe 25,000 Frank dem großen Haufen auf dem flachen Land imponiren, ja wird nicht auch mancher gebildetere Xefer dem gegenüber ein Auge zudrüden, indem er fich fagen muß, daß hinter diefer Neclame denn doch ein bedeutendes Stück Wahrheit verborgen ift? Daß fich aber die Bonapartiften durch der- artige Mittel nicht „disereditiren“, willen die Republikaner ſelbſt am beiten, Haben fie doch lediglich) dadurch den unleugbar großen Kredit wieder erworben den fie thatfächlid) genießen und der fie heute ſchon zum furdhtbarften Feind der Republikaner gemaht hat. Der Knabe von Chiälehurft hat bereits längit angefangen, ihnen fürchterlich zu werden!

In Sachen der finanziellen Sage der AUniverfität Jena

erhielten mir folgende Zufchrift von einem Manne, der fi und als völlig unparteiifch bezeichnete:

Jena, September, Der Verfaſſer der beiden Artikel in Ihrer geehrten Zeitfhrift über die hieſige Univerfität hat fich infofern einen Anſpruch auf den Dank aller Angehörigen derfelben erworben, als er den Regierungen der jähfifhen Herzogthümer, indbefondere denen von Meiningen und Gotha Hin- fihtlich der Unterhaltung der Univerfität, fo zu fagen, dad Gewiſſen geſchärft bat. Er hat aber gleihwohl dadurd Hier eine gewiſſe Mipitimmung erregt, daß er die hiefigen Zuftände in einem viel zu ungünftigen, der Wirklichkeit nichts meniger als entfprechenden Lichte dargeftelt hat. Es iſt freilich ge- gründet, daß die hiefige Univerfität weniger reich dotirt ift, als die meiſten übrigen Univerfitäten, und daß namentlich die Gehalte der Docenten wenigitend zum Theil unverhältnigmäßig gering find: aber folgt denn daraus, daß noth« wendig auch die Reiftungen der Univerfität ungenügend fein müflen? Wir fönnten mehrere Beifpiele anführen, daß ihr ausgezeichnete Lehrkräfte troß dürftiger Befoldungen treu geblieben find, und wenn manche Docenten, nad)- dem fie hier ihren Auf begründet, auswärtigen Rufen gefolgt find, dürfte es vielleicht zweifelhaft fein, ob nicht gerade Jena aus ihrer frifchen, jugend» ih aufftrebenden Kraft den beften Vortheil gezogen: hat man nicht neuer- dingd den angeblichen Verfall der Berliner Univerfität daraus erklären wollen, daß diefelbe meift ältere Wrofefjoren habe, und worin fann died anders feinen Grund haben, als darin, daß eine Berliner Profefjur wegen der damit ver- bundenen äußeren Vortheile für einen afademifchen Lehrer die legte Stufe zu bilden pflegt? Gewiß, wer nur das Jenaiſche Rectionäverzeichnig anfteht und darin 3. B. in der theologifhen Facultät die Namen Häfe, Lipſius, Pflei— derer, Schrader, Hilgenfeld, Grimm verzeichnet findet, wird die hiefige Uni- verfität nicht mit dem Verfaſſer „eine langſam hinſiechende“ nennen wollen. Eben fo wenig aber wird man bei den Stupdierenden, deren Zahl im letzten Semefter auf 500 geftiegen, irgend ein Symptom ded Siechthums entdeden Eönnen. Es herrſcht unter ihnen ein frifche® reges Leben, und der wiſſen— [haftliche Sinn, von dem die meiften befeelt find, zeigt fih unter Anderem auh darin, dag die nicht zum Brodſtudium gehörigen philoſophiſchen und biftorifhen Gollegien, wenn ich nicht irre, Hier verhältnigmäßtg zahlreicher befucht werden ald auf andern Univerfitäten.

Der Berfafjer unferer Artikel will aber felbft nicht, daß dieſes Siehthum der Univerfität zum Tode führe. Er ſpäht daher nach neuen Lebensſäften für diefelbe aus; aber wie es feheint, mit geringem Erfolg. Die ſächſiſchen Her-

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zogthümer wollen oder können nicht viel mehr leiften ald bisher, auch von einer Hinzuziehung der benachbarten Meinen Staaten, abgeiehen von der Un- wahrfcheinlichkett ded Gelingen®, ift wenig zu hoffen; es bleibt alfo nur die Hülfe dur eine allgemeine Collecte im ganzen deutfchen Reiche oder die Auf nahme von Jena in die Anftalten ded Reiches übrig, fo daß alfo Jena auf hörte, thüringifche Univerfität zu fein und, wie Straßburg, Reichsuniverſität würde. Mir fürchten aber, daß dur ein Aufbieten freimilliger Beifteuern wenig erzielt werden würde, und was die Ummandlung in eine Reichduniver- fität anlangt, fo würde diefe erſtlich kaum durchzuſetzen fein (die Analogie von Straßburg ſcheint und wenig zutreffend), zweitens halten wir fie aber für nicht8 weniger ald wünſchenswerth. Jena würde dadurd feinen bisherigen Charafter verlieren, e& würde nur dazu dienen, die Zahl der preußifchen Univerfitäten zu vermehren (denn dem Charakter nad) wird man auch Straßburg zur Zeit als preußifche Univerfität anfehen müffen), e8 würde alfo nicht mehr im Stande fein, der Wiſſenſchaft die Dienfte zu leiiten, zu denen ed bisher gerade durch feine freie Stellung befähigt worden ift. Warum bat aber der Berfafler nicht an ein Mittel gedacht, dur das allein die thüringifchen Staaten wieder leiftungsfähig gemacht werden könnten? Diefelben find jest vorzugämelfe dur die Art der Erhebung der Matrikularbeiträge gedrüdt, in Folge deren 3. B. das Großherzogthum Weimar mehr zu leiften hat, ald die Stadt Ham- burg, weil feine Geelenzahl eine größere ift, während die Steuerfraft von Hamburg, ich glaube nicht zu viel zu fagen, mindeſtens hundertmal fo groß ift. Wird der hierin enthaltenen fehreienden Unbilligfeit abgeholfen, dann und nur dann wird man den thüringifchen Staaten größere Leiftungen für ihre Univerfität zumuthen und einen günftigen Erfolg von ſolchen Anſprüchen hoffen dürfen.

Diefe Correfpondenz wurde vom Berfaffer der erſten Artikel über die Univerfität Jena und gewiß mehr im Intereſſe der Sache, ald mit Rüd- fiht auf obige Auslaſſungen fehr eingehend dahin beantwortet:

Jena, Ende Septbr.

Der VBerfaffer vorftebender Korreſpondenz aus Jena macht mir den ebenfo ſchweren, als unbegründeten Vorwurf, die Zuftände der biefigen Univerfität in den beiden Artikeln über die finanzielle Lage der letteren „in einem viel zu ungünftigen, der Wirklichkeit nichts weniger als entjprechenden Lichte dargeftellt zu haben“. Wer fih die Mühe genommen hat, die beiden Artikel auch nur mit einiger Aufmerkfamfeit zu lefen, wird bezeugen fönnen, daß es höchſt komiſch Klingt, wenn man zur Widerlegung einer Schilderung, die niemals in einer dazu Anlaß gebenden Weiſe gemadht morden ift. auf die Tüchtigkeit der vorhandenen Rehrkräfte, die Frequenz, den wiſſenſchaftlichen

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Sinn beſonders binwelfen fieht. Den intereffanten vergleichenden Hinblid auf Berlin überlafje id vollends dem Herrn Verfaſſer. Im Mebrigen frage ich: wo babe ich denn die jegigen Zuftände, die Verdienfte und Leiftungen Jenas in ungünftigerem Lichte, unter der Mirklichkeit angefehen? Es galt die finanzielle Rage zu ſchildern. Ich Hatte alfo Feine VBeranlaffung, aus— führlicher auf die geiftige Thätigkeit und ihre Erfolge einzugehen. Soviel jedod leuchtet wohl jedem Unbefangenen zur Genüge ein und ift auch an verjchiedenen Stellen ausbrüdlich hervorgehoben, daß gerade darum, meil fidh Jena in der Vergangenheit höchſt Iebenäfähig bemiefen bat und im der Gegenwart in jeder Richtung noch bemeift, meil ed eine wichtige, ja unent- behrliche Kulturftätte bildet, mit ernfter Sorge die finanztelle Zukunft erwogen werden muß.

Wenn aljo der Grund, dem der Herr Korrefpondent der „gewiffen Miß— ſtimmung“ unterlegt, wirklich der einzige tft, dann erfcheint diefe Mißſtimmung gewiß die unbegründetfte, die nur gedacht werden fann. Ob überhaupt Mip- ſtimmung vorhanden, in welchem Maaße und In welchen Kreifen, meiß ih nicht. An gegentheiligen Yeußerungen fehlt es durchaus nit. Das kann ih mit Genugthuung behaupten. Ginen anderen Grund der Mipftimmung fann ich nicht voraudfegen. Die Data und Zahlen, auf denen meine Dar- ftellung fußt, beruhen glei den Angaben, die ih ſchon im Landtage zu Weimar machte, überall auf genauen Auszügen aus den akademiſchen Rech— nungen. Dem ®Berlangen des Landtags gemäß legte die Großherzogliche Regierung bereitwillig die Hauptrechnungen von 1870—1872 mit allen Neben: rechnungen dem Randtage und damit der Deffentlichkeit vor. Aus warmem Intereſſe für die Zukunft der Hochſchule entſchloß ich mich, nicht ohne An— reaung von verfchiedenen Seiten her, die auf ſolchem Wege gewonnenen Ein« blicke weiteren Kreifen zu überliefern. Die Verbreitung der Wahrheit kann nie ſchädlich und könnte einen Grund zur Mißſtimmung nur bei denen bieten, welche die Darlegung der Wahrheit für jchädlih zu halten vermögen. So etwas voraudfegen, annehmen, daß es für die Univerfität zuträglicher jet, möglichit Alles im Verborgenen zu laflen, ift ein Gedanke, den man nicht denfen jol. Mir und nicht mir allein erfcheint die Darlegung der Wahrheit, der vollen ungefhminften Wahrheit der thatjächlichen Verhältniffe ald das allein würdige und ausfihtsvolle Mittel, um für die Univerfität bei den Re gierungen und Randtagen zu wirken.

Ob aber die Folgerungen, die ich aus überaus deutlich redenden Ziffern gezogen babe, die Beforgniffe und Wünſche, die daraus hergeleitet wurden, unrichtig fein, mag jedermanns Einfiht entfcheiden. Welche Schwierigkeiten das eine oder das andere der von mir angedeuteten Aushülfe- mittel darbieten mag, ift nicht verfchmwiegen warden. Gubjeftive Untipathien,

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inäbefondere gegen die preußifchen Univerfitäten und gegen die Reichs— univerfität, die meinem Gegner fo gut, oder vielmehr jo ſchlimm, wie eine preußtjche ift, zu beftreiten, ift nicht meine Aufgabe. Ebenſo gern verzichte ih auf eine Analyfe des „bejonderen Charakters“ Jenas und des groß und gelaffen ausgeſprochenen Wortes, Jena werde ald preußifche oder als Reichs— univerfität gar nit mehr im Stande fein, der Wiſſenſchaft die feit- herigen Dienfte zu leiften. Der Herr Gegner meiß, daß ich felber, fo wenig ih allerding® mich entjchliegen Fann, bei voller Anerkennung deſſen, was an Sena gut ift, Alles was preußifche oder NReichduniverfitätäverwaltung heißt, als Popanz zu betrachten, herzlich mich freue, wenn die Thüringer Staaten im Stande find, lediglich von fih aus die Univerfität zu erhalten. Er läßt fie, wie es jcheint, lieber zu Grunde gehen, ehe die Hülfe des Reichs oder Preußens angerufen werden follte? Ein merfwürdiger Patriotismus. Andere find anderer Meinung und es Fann died unmöglich dem geehrten Herrn ver- borgen fein. Der Gedanke an Preußen oder namentlih an das Reich ala Helfer in der Noth ift, wie ich fchon früher gefagt habe, ſchon fehr oft und von fehr vielen Leuten in und außer der Univerfität erwogen morden.

Und nun nod ein Wort über den Vorwurf, dag ich das eine Mittel vergeflen habe, das alle die Sorge erjpart! Die Abichaffung der Matrikular: beiträge! Wenn in den Thüringer Staaten irgendwo der Schuh drüdkt, tft das allemal unweigerlich das beliebte Thema. Was haben die böfen Matrikularbeiträge nicht Alles gethan! Folglich iſt e8 Far, wenn fie weg find, dann öffnet fich die volle Ausſicht auf einen glänzenden Haushalt und der Gnadenregen für die Untiverfität braucht nur zu beginnen. Schade nur, daß zu diefer Meinung ein befjerer Glaube gehört, als ich nach meiner Kenntniß der Dinge zu theilen vermag. Ich habe niemals die Matrikularumlagen gebilligt; aber die Ueber- zeugung hege ih, daß von der Abſchaffung höchſt übertriebene Erwartungen gehegt werden. Das tft einfach der Grund, warum ich dieſes Mittel nicht in Rüdfiht gezogen.

Auch der Glaube ded Herrn Gegnerd nimmt fich nicht eben feljenfeit aus. „Wird der hierin (in den Matrifularbeiträgen enthaltenen fcheinenden Uebel- lofigfeit abgeholfen, dann und nur dann (d. h. der Herr Gegner jagt ed ja) wird man den thüringifhen Staaten größere (sic!) Leiſtungen für ihre Univerfität z umutbhen (alfo um eine Zumuthung handelt es fi) und einen günftigen Grfolg von ſolchen Anſprüchen (warum nicht Prätenfionen für die Univerfität) Hoffen dürfen.“ So lautet fein Schlußrefultat.

So befcheiden venfen Andere nicht. Welche Anſprüche Jena machen muß, nicht aus Laune oder Luxus, fondern um ded Nothwendigften willen, darüber fann man fich in Jena felbft fpielend informiren. Wenn der Herr Gegner mit feiner ganzen anerkennenswerthen Liebe für die Univerfität nichts

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meiter zu erfinnen weiß, als die Vertröftung auf Hinwegfall der Matrifular- beiträge und die alddann zu verhoffenden VBermilligungen, wenn er befennt, dag das feinen einzigen Hoffnung&blid in die Zukunft hinein ausmacht, dann bleibt demjenigen, der von der Nothlage der Univerfität geredet hat, nur übrig , für die Fünftige Unterftügung herzlichen Dank abzuftatten.

Auf etwalge weitere Entgegnungen werde ich nur antworten, wenn fie dur den Namen ded Verfaſſers gedeckt find.

W. Endemann. Damit erklären wir die Aeten für gefchloffen. D. Red.

Briefe aus der Kaiferfladf.

Berlin, 4. Dftober.

Man bat Mühe, fein Berlin miederzuerfennen, wenn man dermalen aus der Sommerfrifche zurückkehrt. Die Leipzigerftraße gleich am Anfang gefperrt, von baumhohem Erdwall bedeckt mas foll das bedeuten? fragt fi finnend der vom Potsdamer Bahnhof kommende Wanderer, bid er inne wird, daß mit der Ganalifation nun wirklich Ernſt gemacht wird. „Wäre fie nur erft vollendet!" hat ſicherlich Mancher in den letzten Wochen gefeufzt; denn die verjpätete Hunddtagähise diefer Zeit hatte unferen ffandalöfen Rinnfteinen nochmals alle Wohlgerüche Arabiens entloft. Gar mancher der SHeim- fehrenden hätte wohl am liebften fofort wieder Kehrt gemacht. Aber mer nichts verfäumen will, muß es doch über fich gewinnen und da bleiben. Sit ja doch die „Saiſon“ bereit? in vollem Zuge! Schon am 6. September hat fie begonnen, denn an diefem Tage murde die Kunſtausſtellung der Kal. Akademie der Künfte eröffnet. Sie ift noch heute das Greigniß ded Tages und wird es bis zum 1. November bleiben. Kommen wir aljo fpäter auf fie zurüd; nad erſt einmaligem Beſuch geht Einem die reihe Fülle des Ge- jehenen nur wie ein Mühlrad im Kopf herum. Für heute ein Blick in die bauptftädtifche Theatermwelt!

GSrfreulichermeife ijt diesmal vom Kgl. Schaufpielhaufe eine refpectable That zu verzeichnen, die Aufführung von Hebbel’8 „Heroded und Marianne“. (58 gehört einiger Muth dazu, diefe in ded Wortes volliter Bedeutung ent- jegliche Tragödie auf die Bretter zu bringen. Kaum ift ein Drama denkbar, welches an die Ausdauer der Spieler wie der Zufchauer größere Anforderungen ſtellte, als dieſes. Vom erften Augenblide an liegt der tragiſche Gonfliet ‚zwifchen den beiden Gatten in feiner ganzen Unverföhnlichfeit vor und; vom

erften Augenblide an drüdt ung die traurige Gemwißheit: da ift fein Ausweg Gtenzboten IV, 1874. 10

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mehr. Ob zwoifchen Herodes, dem tyrannifchen Emporkömmling, der Creatur der Römer, und dem Sproß vom alten föniglihen Stamm, der flolzen Makkabäerin Martanne jemals ein Verhältniß gegenfeitiger wahrhaftiger Liebe beftehen Fonnte, ift ein pſychologiſches Problem, über welches ſich ftreiten ließe. Hebbel fett ein ſolches Verhältnig als thatjächlich vorhanden geweſen voraus und wir müflen und darein finden. Das aber ift fein Zmeifel: nad: dem Herodes der Gattin den Bruder hat ermorden laſſen, ift die Möglichkeit eines glüdlihen Zufammenlebend auf immer zeritört. Und fo iſt die Sage am Beginn ded Stüded. Daß diefe Menichen zu Grunde gehen müfjen, tt von vornherein ausgemacht; mit einer gewiſſen Nefignation bejchränft fi unfere Neugier darauf, zu erfahren, mie fie zu Grunde gehen. Der Gang der Handlung ift träge; noch fehlimmer, dad Motiv, welches den Conflict auf die Spibe treibt, wiederholt fih in voller Breite Der lebte Act wird in bedenklichiter Weiſe zerriffen. Eben ift Marianne zum Tode gegangen; die Zeugen der Hinrihtung find noch nicht zurüd, den Ausgang zu melden. In diefem gräßlichen Augenblide erfcheinen plöglih „die drei Könige aus dem Morgenlande*, leibhaftig jene halb ehrwürdigen, halb komiſchen Geltalten, wie wir fie ald Kinder in den Wachsfigurenbuden gefehen, felbitverftändlich nicht ohne ein Trompetercorp& und eine pompöfe Garnitur von Dienern! Freilich ift e8 ein großartiger Gedanke, den edomitifchen Barvenu, in dem Momente, da er das alte Königshaus bid auf den Grund ausgerottet hat, durch die Kunde von dem neuen König der Könige niederzufchmettern. Uber die Weife, wie dies hier gefchieht, ift Drramatifch unhaltbar; auf diefer Außerften Höhe verträgt die Handlung Feine Epifode mehr; auch paffen die durch und durch mythiſchen Figuren nicht in diefe reale Welt von, bei Licht bejehen, jehr modernen Menfchen. Auf Herodes freilich muß der Vorgang einen Eindrud machen, der in Verbindung mit der unmittelbar darauf folgenden Gewißheit, dap Marianne unfchuldig hingerichtet worden, einen Ausbruch von Raſerei vollauf begreiflih macht. Der Zufchauer aber wird die Störung nicht mehr überwinden. Dazu gefellt fich ein ganz unbefriedigender Schluß. In feinem Wahnfinn befiehlt Herodes den allgemeinen Kindermord in Bethlehem; dann bricht er zufammen. Ob er ftirbt oder ob er weiter wüthet, bleibt ungewiß. Ohne Bmeifel bat der Dichter den Zufchauer dur die verheifungsvolle Perjpective in da® auf den Trümmern des jüdifchen Staate® fi) erhebende neue Reich Gottes über trübe Metitationen hinweghelfen wollen, aber die verfehlte Einfchiebung diefer Perſpective läßt ihn dieſen Zweck nicht erreichen. Und fo verlaffen wir dag Haus ohne jenen harmonifchen Eindruck, den jede echte Tragödie nach der „Räuterung der Leidenſchaften“ im Gemüthe des Hörers zurüdlafien fol.

Vom Standpunkte der dramatifchen Architektonik ift alfo das Hebbel’jche

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Stück vollkommen verfehlt, nicht fo vom Standpunkte der pfychologifchen Wahrheit. Mas ver Dichter hier gezeichnet hat, iſt einfach jenes tragifche Phänomen, mie zwei miteinander zerfallene Ehegatten, obgleich fie die Un- möglichkeit einer Wiederverföhnung ahnen, dennoch nicht von einander laffen können und in langfamer Marter fich gegenfeitig verderben. Wie oft wird von dem einen Theil der ehrliche Anlauf genommen, an das alte liebende Herz des anderen Theiles zu appelliten! Sofort aber beginnen Stolz, Troß und Mißtrauen ihre Wirkung, die Anmwandlung warmen Gefühld wandelt ich in kalte Dialektif, erſt mie feine Nadeln, dann wie derbe Pfeile fliegen die Worte herüber und hinüber und die Scene endet mit vollftändigem Brud. Das ift feine „Tüftelei”, wie man Hebbel vorgeworfen hat, das iſt brutale Wahrheit! Auch in den einzelnen Handlungen der Perſonen Tiegt nichts Naturwidriged. Herodes' Liebe zu Mariannen beruht auf dem nadteften Egoismus. Iſt es da, bei feiner zügellofen Leidenſchaftlichkeit, nicht ganz er— tlärlich, dag ihm der Gedanke, die fhöne Maffabäerin fünne im Falle feines plöglichen Todes einem Anderen die Hand reichen, unerträglich ift? Und da einmal dad Mißtrauen in ihm rege gemorden, entfpricht es nicht ganz diefem gewaltthätigen Charafter, wenn er in die Todedgefahr die Gewißheit mit- nehmen will, daß, follte er fterben, fein Weib ermordet wird, wenn es ſich nicht alsbald freimillig den Tod gegeben? Weniger felbitveritändlih jcheint Mariannend Handlungsmeife. Doch aud bier entdecke ich Fein Vergehen gegen die pſychologiſche Wahrſcheinlichkeit. Was fie an Herodes feſſelt, it ver kühne Mannesmuth, der helle Geift und der hochherzige Sinn, der unter der Hülle tyrannifcher Rohheit verborgen liegt. Mit folh dämoniſcher Ge- walt bat der Zauber fie erfaßt, daß ein Leben ohne Liebe zu ihm ihr fein Leben mehr dünkt. Darum ift ed möglich, daß die fophiftifche Rechtfertigung für den Mord ihres Bruders bei ihr verfangen, ja daß fie auch nad der furchtbarften Kränfung noch einmal neue Hoffnung fchöpfen kann. Es iſt jener Hang zur Selbfttäufhung, welchem die menjchlihe Natur in den ver: zweifelten Lagen fo gern nachgiebt. Erſt als fie fih zum zweiten Male unter dad Schwert geftellt fieht, ift ihr die letzte Möglichkeit der Hoffnung genommen, und nunmehr ſucht fie den Tod. Nicht troßiger Stolz allein verhindert fie, fih von dem grundlofen Verdacht der Treulofigfeit zu reinigen, ſondern mehr noch die Cinfiht, daß glückliche Liebe zwifchen ihr und Heroded nie mehr beftehen fann. Darum will und muß fie fterben. Ich fehe_nicht, worin e3 diefer pfychologifhen Entwidelung an Correetheit gebräche. Auch dem Borwurf, dag das Stüd der eigentlich ergreifenden Momente entbehre, kann ich nicht beiftimmen. ft es nicht eine tief erfchütternde Scene, wenn wir das unglüdliche Weib den Zorn über die erlittene Schmach dur die Liebe überwinden und noch einmal fich in füße Hoffnung einwiegen fehen in dem:

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felben Augenblide, wo wir die volle Gewißheit erlangen, daß diefe zmei Menfchen fi niemald mieder verftehen werden? Und fo iſt die Rage am Schluß des dritten Actd. Marianne hat der Entrüftung über die Schande, welche der Gatte ihr zugefügt, als er fie unter das Schwert ftellte, freien Lauf gelafien. Nun, da fie ihn zerfnirjcht fieht, geht ihr die befeligende Hoffnung auf, daß er fein Unrecht begreife und bereue, und daß fih no Alles zum Guten wenden fönne Wir aber wiſſen, daß er gar feine Empfin— dung hat von der verübten Unbill, fondern daß ihn allein der Argwohn er- fült, Marianne babe da® Geheimniß durch den Bruch der ehelichen Treue erfauft, und daß feine unbändige Eiferfucht gerade in diefem Augenblicke den teuflifchen Prüfungsplan erfinnt, der Alles vernichten muß.

Wahr ift allerdings, dag die Hebbel’jche Tragödie, troß einzelner padender Situationen, troß einer Fülle fehöner und zum Theil origineller Gedanken, troß einer fräftigen und edeln Sprache, nicht unfern ganzen Menjchen erfaßt. Die handelnden Perfonen befinden fich fchon beim erften Auftreten fozujagen in einem fo vorgefchrittenen Stadium von Berbiffenheit, daß fie und unmöglich noch volle Sympathie einflößen können. Der Gefammteindruf ded Ganzen wird wohl am zutreffendften ald „interefjant“ bezeichnet. Nichtsdeſtoweniger verdient die Leitung der Föniglichen Bühne für die Vorführung des Stückes aufrichtigen Dank. Nach meinem Geſchmack ift e8 immer noch angenehmer, fi einen Abend lang von einem wahren Genie, jei ed auch nur ein „Kraft: genie*, „foltern* zu lafien, als in gewiſſen neumodifchen „Ruft-* oder gar „Schauſpielen“ die unmöglichften Menſchen und Verhältniffe an ſich vorüber: gehen ſehen und noch obendrein eine Yadaife über die andere mit in den Kauf nehmen zu müſſen.

Auf die Aufführung war große Sorgfalt verwendet. In der glänzenden und Hiftorifh correcten Ausftattung werden wir wohl eine MWirfung des Gaſtſpiels der Meininger erbliden dürfen. Was die Belegung der Rollen anlangt, fo muß jedoch eingejtanden werden, daß für die Darftellung der Riefengeftalten der Hebbel’fhen Mufe die Kräfte unſeres Schaufpielhaufes niht ausreichen. Am beiten murde noh Frau Erhartt ihrer Aufgabe ale Marianne gereht. Die Momente ded Falten Trotzes, der ftolzen Erregung und der Entfagung wurden von ihr meifterhaft miedergegeben ; minder gut gelang das Anjchlagen der meicheren Accente. Herr Ludwig verwandte auf den Herodes alle erdenklihe Mühe, aber er füllt die Rolle niht aus, weder durch feine äußere Erſcheinung, noch durch feine Fünftlerifhe Begabung. Namentlich) das Geberdenfpiel war, von dem conftanten Rollen der Augen abgefehen, nichts weniger ald der adäquate Ausdruck diefer fturmbewegten Seele.

Mehr Aufiehen übrigend, ald dad vor 8 Tagen zum erjten Male über

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Me Bretter gegangene Trauerfptel, macht in diefem Augenblicke jedenfalls die neueite Feerie im Victoriatheater. So auf das Aeußerliche gerichtet ift in der That heutzutage der Geſchmack unfered großen Publikums. Es ift faum glaublih, was für haarfträubende Albernheiten die Befucher diejer Zauber- ftüde fi bieten laffen, wenn nur der Gefihtäfinn mit recht derben Effecten befriedigt wird. Zum Glüd ift aber an der Novität des PVictoriatheatere ein ganz bedeutender Umfhwung zum Beten zu conjtatiren. Das Sujet derfelben it dad Märchen von den fieben Raben, in recht hübſchen Verſen bearbeitet von Emil Bohl und von G. Lehnhardt mit einer zwar nicht originellen, aber ſeht anfprechenden und von launigen Melodien reihen Muſik ausgeftattet. 68 gebricht dem Stüde nicht an draftifchen und witzigen Momenten; aber e3 fiebt an ihnen nichts von jener platten Gemeinheit und jener moralifchen Unfauberfeit , worin fonft nur zu ſehr das Charakfteriftifche der Zauberpofje beichloffen zu jein pflegt. Der ernite Grundton und der poetifche Hauch des Märhens find im Ganzen wohl bewahrt geblieben. Doc dad Alles ift ja nur Beimerf; die große Hauptfache ift die Scenerie, die decorative Ausſtattung. und man wird zugeben müſſen, daß das in diefer Richtung Geleiftete an Ge- ſchmack und technifher Vollendung alles biöher in Berlin Gefehene weit hin- ter ſich zurückläßt. Die Decorationen find theilmeife den Schwind'ſchen Fresken nachgebildet. Gin wahres Meiſterſtück ift Roſalinden's Schlafgemach. Der Ölanzpunft des Ganzen aber wird am Schluß des dritten Acts erreicht. Eben it die arme Rofalinde von der hartherzigen Landgräfin Edwina zum Scheiter: haufen verurtheilt. Nun liegt fie, ohnmächtig hingefunfen, in ihrem Kerker. Da fpendet die gütige Fee ihr lieblichen Traum. Unter den Wunderflängen der Harfe ſenken ſich Nofengewinde hernieder, immer dichter, überall und ohne Ende, ſodaß die öde Gruft fchier angefüllt ift von den lachenden Blumen und ein baljamijcher Duft das ganze Haus durchweht. Dann wieder zertheilt ih allmählich der Wofenflor, meiter und weiter öffnet fi der Blick in wunderlichte Räume, immer deutlicher tritt aus fchwindendem Nebel die un- nennbare Pracht des Feenreichs hervor, bis auch der legte Wolkenſchleier fich lüftet und aus fryftallener Fluth in den Strahlen der aufgehenden Sonne die Feenkönigin emporfteigt. Die Wirkung diefed Schaufpield ift nicht zu befchreiben. Die vornehmften Kritifer der Berliner Preffe, welche einen Hebbel wie einen Secundaner behandeln, fah ich wie behert mit den Händen arbeiten. Damit ift mehr ald Alles gefagt.

Unter den Fleinen Bühnen ſcheint fi) auch in diefem Winter wieder dad Stadttheater durch bejonderen Fleiß hervorthun zu wollen. Zwei, drei neue Stüde in jeder Woche das iſt ihm Spielerei. Daß es dabei mit tem Dialog immer recht glatt von Statten ginge, kann freilich nicht geſagt wer: den, im Ganzen aber ſchlägt man ſich redlih durd. Das Stadttheater be—

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figt auch jest, nach einer ziemlich durdhgreifenden Erneuerung feines Perfonals, immerhin einige tüchtige Kräfte und in der naiven Riebhaberin Frl. Both fogar eine nad gewiſſen Seiten Hin vollendete Künftlerin. Uber auf Ihren Schultern liegt auch Alles; in den Stücken wenigſtens, die ich bisher ange- feben, „Ein deutſches Mädchen im Elſaß“ von Rudolf Kneifel, „Rofa und Röschen“ von Charl. Birch-Pfeiffer und „Der Sefuit und fein Zögling“ von A. Schreiber, ift fie dad Factotum. Namentlih in dem lesteren, ſonſt übri- gend fehr harmlofen und Teidlih langweiligen Stüde entzüdt fie als fieb- zehnjähriger Baron Garbonet durch frifhen Humor und liebendwürdige Na- türlichkeit. Uebrigens ift das befte unter den genannten Quftipielen unbe ftreitbar das Kneifel’ihe, freilich ein Tendenzſtück, aber zeitgemäß und, gut gefptelt, ſehr bühnenwirkſam. X

Max Wirth's Geſchichte der Handelskrifen. *)

Gin alter Profeſſor des Römiſchen Recht? aus der Bekanntſchaft des Referenten, der geneigt ſchien, fih auf den Kopf zu ftellen, ald die National- Öconomie an einer gewiſſen Univerfität Deutfchlands unter die obligatorifchen Fachſtudien der Yuriften und unter die Didchplinen aufgenommen wurde, in denen männiglich beim erjten Eramen geprüft werden follte, pflegte in ver- traulihen Stunden das gelaſſene Wort audzufprehen: „Was heißt National: Öconomie? Die Gefege, die man darin zu erfennen glaubt, beruhen im gün- ftigiten Falle auf Einbildung, oftmala auf Schwindel“ er brauchte wirklich diefed harte Wort „und practifchen Nutzen fann niemand daraus ziehen ?“

Sch meiß nicht, welches Mißgeſchick den gelehrten Kenner der Digeften in ein fo gefpanntee Verhältniß zur Volkswirthſchaftslehre verfegte. Daß fein Eolleg nad) wie vor von den Zwangsabonnenten fpärlich befucht war, im Hörfaal des Nationalöconomen dagegen Fein Apfel zur Erde fallen Eonnte, war jedenfalld feine Erklärung feiner harten Worte. Denn dad mar fchon lange vor der academijchen Hoffähigfeitserflärung der Nationalöconomie nicht ander? geweſen; und dieje Thatjache allein hätte ſchon fein Dietum widerlegt, „dag niemand practifchen Nutzen aus ihr ziehe." Ja, wir jungen Juriſten ich geftehe e8 mit tiefem Erröthen waren ſchon damals fo unklaſſiſch veranlagt, daß mir jeder Frage der Volkewirthſchaftslehre mehr practifchen Nutzen zutrauten, als den berühmteften Eramenfragen jened ehrmürdigen Römiſchen Rechtälehrerd, unter denen die berühmteften lauteten: „Welche

) Gefchichte der Handelätrifen von Mar Wirth. Zweite vervollftändigte und verbeilerte Auflage. Frankfurt a. M. 3. D. Sauerländer'd Berlag 1874,

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Farbe hatte die Tinte Juſtinian's? Was war Juftinian’® Gemahlin für eine Geborene ?“

Diefed Aufbäumen der zünftigen Jurisprudenz gegen die Wirthichafte- lehre und die politijche Deconomie hat und Allen, die davon Zeugen waren, jedenfalld nur in mohlthätiger Weife den Blick gefhärft für ihre Segnungen, für ihren „practifchen Nugen“. Ich muß geftehen, ich habe, je länger ich darüber nachdachte, ftudirte, und practifche Erfahrungen fammelte, außer der Chemie, Geologie u. a. Naturwiffenfchaften, Feine anvere Wiſſenſchaft gefunden, welche aus ihren NRefultaten felbft einen fo allgemeinen und unmittelbaren practifchen Nutzen verſpräche, als die Nationalöconomie in ſachkundiger und geübter Volkswirth oder Statiftifer befitt um die Sache ganz practtfh audzudrüden fait in jedem Refultat feiner Forſchungen ein Ge- heimniß, um Taufende glüdlicher, gefunder, behäbiger, ja reich zu machen. Nur mit dem Unterfchiede, dag er meiſt, im Gegenfate zu vielen Vertretern jener naturmwiffenfchaftlihen Dieciplinen, nichts eiligeres zu thun hat, ala fein Geheimnig auf den offenen Markt zu tragen, und dafür die allgemeine Nihtbeahtung, im günftigften Falle Zweifel und Widerſpruch zu ernten; bie dann das von ihm vorher Gefagte eintritt, und man fich der ſchon vergeffenen Weiffagung erinnert, um von neuem in dem nämlichen Falle die nämlichen Thorheiten zu begehen. Jede große Fabrik, die ſich mit der chemiſchen Ver— arbeitung von Rohſtoffen beſchäftigt, hält ihren Chemifer; jedes größere Bergwerk hat fortwährend Männer engagirt, welche geologijche oder geo- gnoftifhe Unterfuhungen zu madhen im Stande find. Aber wir find noch jehr weit entfernt davon, dag große Banken oder Ereditinftitute, große in« duftrielle Etabliſſements oder ſelbſt große ſtädtiſche Gemeinweſen ihren prac- tiſchen, tüchtig theoretifch gejchulten Volkswirth und Statijtifer hielten, welcher die für die betr. juriftifche Berfon wichtigiten Enqueten vornähme und wifjen- Ihaftlich beantwortete, um dieſes Unternehmen in VBorjchlag zu bringen, von jenem abzurathen, oder gewiſſe Reformen aus eigenem Antriebe dringend zu empfehlen. Und doc find die Ergebniſſe diefer Wiſſenſchaft fo ficher, daß 3; B. ein berühmter deutfcher Statijtifer den ganzen Verlauf der Berliner Baufpeculation in ihrer ftetigen Hauffe und Baiffe vor Jahren und zwar in gleiher Vorzüglich Feit vor und nach der franzöfifchen Kriege richtig vor- ausgeſagt hat, jo richtig, daß nach der von ihm über diefed Thema com- ponirten Zufunftämufit die Haufe der Jahre 1871 und 1872 und der Rück— ſchlag ſeit 1873 nur verftärkte Töne der von ihm angejchlagenen Xccorde bilden.

Für die practifche Berechtigung diefer Wiffenjchaft wird man aber wenn es deffen heute überhaupt noch bedürfte Faum ein Flaffifcheres Bei- Ipiel finden können, ala das hier vorliegende Werf Mar Wirth’. Vor fieb- zehn Fahren iſt die erfte Auflage desfelben erfchienen. Der Berfafler war

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damals ein blutjunger Schriftfteller und Gelehrter. Alles was heute unf nationale Größe ausmacht, ift erſt lange nad der Zeit vollbracht word Unfere Nationalwirtbfhaft von heute ift eine durchaus andere wie die vo fiebenzehn Jahren. Der deutfche Zollverein war damald noch mit Defterreich jufammengefpannt und krankte am Schugzollfyften, am abfoluten Veto feiner Blieder und an der durchaus mangelnden Vertretung des Volkes. Grit fünf Jahre nachdem Wirth's Buch erſchien, wurden diefe unfeligen Bande theil- | weife gelodert durch Abſchluß des deutfch- franzöfifhen Handelsvertrages. Oeſterreich erlebte bereits im Jahr 1863 fein Sadowa auf wirthſchaftlichem Gebiete. Das Freihandelsſyſtem wurde, wenn auch noch verſchämt, von Deutfhland proclamirt. In den Zollvereindverträgen von 1867 wurde dann endlich auch das abjolute Veto über Bord geworfen und ftatt deffen ein Zoll: bundedrath und ein Zollparlament eingefet, welche Behörden beide mit ein- facher Majorität der Stimmen beſchließen follten, und deren Functionen feit 1871 auf den deutjchen Reichsbundesrath und den Deutſchen Reichstag über- gegangen find. Man follte denken, durch diefe gewaltigen Neuerungen fei Wirth's Merk über Handeläfrifen gründlich veraltet gemefen. Und dennoch ald die KHrifid von 1873 über Defterreich und Deutfchland hereinbradh, wur» den diejenigen feiner Kapitel, welche bier einfchlugen, von der größten Zahl der (namentlich öfterreihifchen) Zeitungen Wort für Wort abgedrudt, denn faft Wort für Wort paßten fie auf die Urfachen und Wirkungen der großen Krife, deren Folgen noch jest nicht überall verwunden find.

Mar Wirth ift feit dem Erfcheinen der erften Auflage feines Werkes unter den jüngeren Volkswirthen mit am jtetigften fortgefchritten und in bleibender Fühlung mit der Wiffenfchaft mie mit der Praxis gemefen. Gr iſt befanntlih Jahre lang an der Spige ded „Arbeitgeber“ in Frankfurt a. M. ald Nedakteur geftanden, dann Jahre hindurch Chef des Statiftifchen Bureau der Eidgenofjenfchaft zu Bern gemefen, dann wieder in das journaliftifche Fach übergegangen, zuerft bei der „Breslauer Preſſe“, feit einem Jahr bet reinem der bervorragendften Blätter in Wien. In allen diefen Stellungen und Berufen hat Mar Wirth auch auf dem Gebiete der „Handeläfrifen“ die veifften Erfahrungen gefammelt, welche der vorliegenden zweiten Auflage fehr zu Statten fommen. Dieſes Buch kann auf dem Gebiete, welches e8 behandelt, Haffifh genannt werden. Es verfehont uns gänzlich mit jener dilettantifchen feuilletoniftifchen Manier der MWehklage, Prophezeiung, Warnung u. dergl., welche bei jeder größeren volfäwirthichaftlichen Krije in einer Legion von Flugfchriften vorherrſcht. Es iſt erſchöpfend theoretiih und biftorifh und formulirt die gewonnenen Grfahrungen flar und bündig und ſicher. Möchte es es recht viel geleſen, recht allſeitig beherzigt werden.

Berantwortlicher Redakteur: Dr. Sans Blum. Berlag von $. 2. Herbig. Drud von Güthel & Legler in Keipzig.

. Die

Grenzboten.

Bei tie ri fi für

Bolitik, gitteratur und Kunfl.

Ne 4 42, Außgegeben am 16. October 1874.

Inhalt:

Die mechanifche und die BERN —— Mar Heinze . :

Gin amerifanijcher Humoriſt. „Sans B {um

Die Banken in Luremburg N. Steffen. . .

Bilder aus Medlenburg. Aus den de Bürgermehr, Von Hugo Gaedcke. .

Der Fall Arnim, z.

Grenzbotenumichlag: Piterarifche Anzeigen. Literarifche Beilage von Breitfopf & Härtel in Leipzig. Literariſche Beilage von Alphons Dürr in Leipzig.

Leipzig, 1874. Friedrich Ludwig Herbig. (Ir. Wild. Grunow.)

Die mehanifhe und die feleologifhe Weltanfhanung. *) Bon Mar Heinze.

Schon in den Anfängen der griehifhen Philofophie tritt und der Gegenfas der mechaniſchen und teleologifhen Weltanfchauung entgegen in den Antipoden, Heraflit und Demokrit, die beide groß find in ihrer Weiſe. Bis auf die Gegenwart haben fich diefe Gegenſätze gehalten. Würde der Berfaffer der Philofophie de8 Unbewußten an Heraflit fih anlehnen, bei welchem Lebteren das Vernünftige und Zweckvolle fih au ohne Bemwußtfein bheraudarbeitet, fo würde die Mehrzahl der eracten Naturforfcher ala ihren Führer anerkennen den in feiner Conſequenz gewaltigen Demofrit. Einer diefer beiden verfchtedenen Grundanfichten Huldigen die meiften Philofophen in Betreff ihrer oberjten Principien, und will man ſich nicht genügen laſſen an dem äußeren Gefichtäpunft des Monigmus und Dualismus, fo laffen fi die Weltanfchauungen theilen in eine mechanifche im weiteren Sinne und eine teleologifche. Die erſte diefer beiden fann auch bezeichnet werden als die der mechaniſchen Gaufalität, oder als die der wirkenden Urſachen im Allgemeinen, indem wir bei den letzteren zunächſt denken werden an das mechanifche Wirken, oder wenigſtens für alle mwirfenden Urfachen eine Analogie fuchen in dem Mechanismus, jo dag ſich die Weltanfchauungen fchlieglich ſcheiden in die der wirkenden Urfachen und die der Zwecke oder Endurſachen.

Die unbedingte Geltung der Gaufalität, fo weit die Erfahrung reicht, wird von alten und neuen Dentern in gleicher Weiſe zugegeben. ' „Nichts gejchieht ohne Urjache, fondern Alle aus einem Grunde und mit Noth» wendigfeit*, ſpricht Demofrit, in feiner einfachen aber alle eigene Unficherheit und allen Zweifel Anderer ausſchließenden Weiſe, und ihm haben es feitdem Unzählige nachgefprochen. ine wahre Allherrjcherin ift die Gaufalität! Alles unterliegt ihrem Zwange, und mögen mir diejelbe nur als ein Geſetz unferes Geiſtes anfehen, mögen wir fie auf die transcendenten Dinge anmenden, alfo auch von ihr machen, wir müſſen, um zu irgend

*) Vortrag, beim Antritt der ordentlichen Profeſſur der ——— in Baſel. Grenzboten IV. 1874.

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welcher Erfahrung zu gelangen, gerade wie mit Naum und Zeit, fo auch mit ihr operiren. Feſtgeſchloſſen ift die Kette von Urſachen und Wirkungen, nicht ein Glied kann ohne dad andere herausgenommen werden, gerade fo wenig wie der geringfte Theil von Raum oder Zeit aus dem Continuum für fi berauggefchnitten werden Fann. Bon Urfahe wird man bei der Forſchung zu Urfache getrieben, und es ift die Kette ganz ebenfo unendlich wie Raum und Zeit, und ein Aufgeben geradezu des Gefeges ift ed, wenn man ein erfted Glied der Reihe annimmt. Gin Bedürfnig des Menfchen mag dazu nöthigen, das Geſetz felbft fchliegt den Anfang aus.

Mird died Gefek der causae efficientes als das meltbewegende ange nommen, fo haben wir den Mechanismus, mie er fich ausgebildet hat in der antifen atomiftifchen Lehre, in dem Materialismus der neueren Zeit, aber auch mit beftimmtem Ausdruf in der Phyſik des Begründers der neuen dogmatifchen Philofophie, de Descarte®, und befonderd bet defjen großem Nachfolger, Spinoza. Aus der Lehre des Ietteren lernen wir, daß mit dem Mechanismus nicht nothwendig verbunden ift der Materialiamud, Denn fo häufig Spinoza auch zu den Materialiften gezählt wird, er darf doch nicht ala folcher bezeichnet werden; man müßte denn unter Materialidmud ver ftehen die Anerkennung der ausnahmsloſen Gaufalität. Dann mürden aber viele Andere, die biöher nicht zu den Materialiften gerechnet wurden, fich diefen Namen gefallen laſſen müfjen.

Bindend ift das Gefeg der Baufalität in allen Fällen, fo daß man ſich nit von ihm löfen kann. Ob es aber au ausreicht zur Erklärung von Allem, was in der Erfahrung aufſtößt? Die rein wirkenden Urfachen fcheinen blind, ed Fann zu dem Einen das Andere nicht pafjend vorhergeformt werden durch das blinde Aufeinanderfolgen von Urſache und Wirkung, und doc) tft eine Harmonie in dem Ganzen der Welt troß der mannigfachen Diffonanzen nicht in Abrede zu ftellen. Es befteht eine Harmonie zwifchen den einzelnen Dbjecten im ganzen und großen Weltenraum und auch auf unferer Erde; e8 bejteht eine Harmonie zwijchen den einzelnen Cheilen der Organidmen, indem fih Eins zum Andern fügt, Eins das Andere ftüst und fördert, fo daß Keins ohne das Andere fich denfen läßt; es befteht aber ganz befonders eine Har- monie zmwifchen dem Object und dem Subject, jo daß eine Empfindung, An- Ihauung, Erfahrung zu Stande gebracht wird. Ohne genügende und wirkende Urfahen kann man ſich nichts von dem allem entjtanden denken ; aber reichen diefe hin um die Wirfung, wie fie vorliegt, ganz zu erflären? 8 findet fid im Cicero die jehr bemerfenämwerthe Stelle:

„Wer meint, dag die Welt nur durch zufällige Zufammenfügung von Atomen entftanden ift, der kann auch glauben, daß wenn unzählige Formen von Buchftaben unter einander geworfen würden, die Annalen des Ennius

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dadurd; hervorgebracht werden könnten, fo daß fie zu Iefen feien.“ Es läßt fi) hier von vornherein mit voller Beftimmtheit nicht? ausmachen, aber die Wahrſcheinlichkeit ift außerordentlich gering und wird unendlich Elein, daß die ganze Welt mit allen ihren Einzelheiten dur das ziellofe Bewegen ter Atome hervorgebracht fet, ebenfo wie die Wahrfcheinlichkeit unendlich Hein ift, dag auf die angegebene Weife ein großes und treffliches Gedicht, eine Tragödie oder Komödie, zu Stande komme. Wir müffen und hier nad) einem anderen Rrineip no umfehen, das uns den Zufammenhang der Welt leichter erklärt, oder überhaupt erklärt. Bei dem Gedichte ift es der fchaffende Geiſt des Menfhen, der die Buchſtaben im Hinblide auf ein beftimmtes Ziel, das er in fi) aufgenommen hat, zufammenfett. Nach einem Ziele. werden fih auch die Atome der Natur bewegen, wie wir auch fonft die Atome auffallen mögen, und jo würde dad Prineip, deſſen wir zur Erklärung bedürfen, der Zwed fein. Mag der Zweck nun zu unferem apriorifhen Beſitz gehören, oder mögen wir diefes Princip erft gewinnen aus der Thätigfeit des Menfchen felbft, der einen zukünftigen Zuftand herbeizuführen fucht, jedenfalld ift er [don in den Anfängen der Philofophie dur Sofrated übergeführt worden von der menfchlichen Thätigkeit in die Natur, und feit jenen Tagen tft neben bejonnener Anwendung viel Mißbrauch mit diefem Princip getrieben worden.

In der Außerlihen Art, den Zweck zu handhaben, ift Chryſippos, der ehte Schüler des Sofrated, Chryfippod, der fi deshalb den Spott der Epifureer und Akademiker verdiente. Artitoteles it ed, der in einer tieferen Auffaffung den immanenten Zwed, den jedem Wefen eingeborenen Zweck feines Dafeind und feiner Entwidelung auffuht, und von ihm find die causae finales in die Speculation des Mittelalterd und der neueren Zeit über- gegangen, um eine große Rolle zu fpielen.

Für die bedeutendften Gegner des Zweckes können außer den Atomiftifern de8 Alterthums Francid Baco, Spinoza und endlich neuerdings viele Anhänger Darwin’s gelten. Die Zmwedbegriffe gehören nad) Baco zu den idola tribus, d. h. zu den falfchen Vorftellungen, die in der Natur eined jeden Menfchen begründet find. Diefe Zweckurſachen feien die Quelle des flaunendwerthen BVerderbend in der Whilofophie, da die Methode der Endurfahhen in der Phyſik die Unterfuhung der natürlichen Urfachen geftört oder geradezu zurüd- gedrängt habe. In der Natur fei aber Alles durch wirkende Urſachen und causae physicae zu erklären. Deshalb ſei auch die Philofophie eines De mofrit und Anderer, welche Geift und Gott bei der Bildung der Dinge nicht anmendeten, die Ordnung der Welt aus dem zufälligen Spiele der Natur: fräfte entftehen ließen, und die Erfcheinungen im Einzelnen aus materieller Nothwendigkeit, ohne Berückſichtigung eined Zweckes ableiteten, in phyſika— kalifcher Hinficht weitaus den Lehren des Platon und des Ariftoteled vorzu-

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ziehen. Die Betrachtung der Endurfachen gehöre in die Metaphyſik und nicht in die Phyſik, aus der fie zu verbannen ſei, weil fie in ihr den größten Schaden angerichtet habe.

Baco vermwirft alfo nicht für die ganze Philoſophie den Begriff des Zwedes, aber wohl für die Phyſik, d. h. für die eracte Wilfenfchaft, und er bat ſich hierdurch ein großes Verdienft erworben. Hier müffen die Thatfachen erforfht, die materiellen und wirfenden Urfachen müffen ergründet werden; methodifche und auf Erperimente fich ftügende Inductionen, das ift es mo. durch die Phyfik Förderung erfahren kann. Mit diefer Anfiht verträgt fich aber nad Baco gar wohl der teleologifche Geſichtspunkt. Denn wenn die Gegenftände unferer Erfahrung auch nah der einen Seite ald MWirfung mechaniſcher Kräfte angefehen werden, fo ſchließt died nicht aus, daß fie nach der anderen nüglih und zweckmäßig erfcheinen. Die Augenwimpern dienen allerdings ald Haare dem Auge zum Schuße, aber nicht ift die Frage in der Phyſik: „Wozu nüsen die Augenwimpern?“ fondern: „Warum wachen an diefer Stelle Haare?" ine Umkehr ded Sachverhalts, wie man ihn bei ge nauer Unterfuhung findet, ift ed, wenn man den Nuten, der durch etwas hervorgebracht wird, ald das Bewirfende felbit Hinftellt.

Zugleich weiſt nach Baco die teleologifche Betrachtung der Natur Hin auf eine Vorſehung, melde das MWalten der Naturkräfte ordnet und lenkt; denn einer folhen Ergänzung bedürfe die Erklärung aus phyfifchen Urfachen.

Mir fehen, der Vater der modernen Empirie hat für dad Ganze feiner Weltanfhauung des Zweckes nicht entbehren wollen und können. Er faßt zwar das Princip etwas äußerlich, indem er nur den Vortheil im Auge bat, verfolgt es auch nicht weiter, weil fein Schwerpunkt auf einem anderen Ge- biete Itegt, aber er gebraucht e8 doch, und falfch tft e8 demnah, wenn Baco als abfoluter Gegner der Teleologie hingeftellt wird.

Ganz entjchieden ſchloß von feiner MWeltbetrahtung den Zweck aus Spinoza, der fich befonders in feinem berühmten Appendir zu dem erften Bude der Ethik über diefen Begriff verwerfend audfpricht, und die fpinoziftifche Philofophie erfreut fi deshalb auch hier und da bei den Naturforfchern der Neuzeit einer großen Achtung.

Freilich richtet ſich Spinoza hauptfächlich gegen die fehr äußere Anmen- dung des Zweckes, infofern die ganze Natur auf den Nuben ded Menfchen angelegt fein fol. Da die Menfchen in fi und außer fi viele Mittel fän- den, die zur Erreihung ihres Nutzens bedeutend beitrügen, wie die Augen zum Sehen und bie Zähne zum Kauen, die Kräuter und Thiere zur Speife, die Sonne zur Erleuchtung, dad Meer zur Ernährung der Fifche und dergl., fo ſei e8 gefommen, daß fie alled Natürliche gleihfam ala Mittel zu ihrem Bortheil betrachteten, und ohne Zmeifel hat Spinoza volled Recht, wenn er

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mit feharfer Polemik diefe niedrige und populäre Art der Teleologie bekämpft. Aber hierbei bleibt fein Angriff nicht ftehen. Schon in dem menfchlichen Handeln darf nah Spinoza das, was wir Zweck nennen, nit angenommen werden; auch bier beruht die Annahme von Zwecken nur auf Unfenntniß der Berfettung von Urfachen, und noch viel mehr ift dies der Fall, wenn wir in die Natur einen Zwed ſetzen. Es führt zu nichts, ala alled Forſchen nad der Urfache der Dinge abzufchneiden, und nur die Unmiffenheit flüchtet fich in dieſes Afyl.

Die Natur bat fich Feinen Zweck vorgefegt, und alle Zwecke find nicht? als menfhlihe Erfindung. Durch die Lehre vom Zwecke wird der wahre Sachverhalt gänzlich umgedreht; denn das, was in Wahrheit die Urfache ift, betrachtet dieſe Lehre als Wirkung und umgekehrt; ferner macht fie dad, was in Wahrheit dad Spätere ift, zu dem Früheren, und was dad Höchfte und Bolfommenfte ift, zu dem Unvollkommenſten, diefed dritte deshalb, weil die legten Dinge um deren willen die früheren hervorgebradht worden am voll- fommenjten fein müßten, nach Spinoza aber das die größte Vollkommenheit bat, was von Gott unmittelbar bewirkt wird eine unbemwiefene Behaup- tung Spinoza's, die mit demfelben Rechte umgekehrt werden könnte. Richtig ift es, daß durch Annahme von Zwecken das Verhältnig von Urſache und Wirkung umgekehrt wird, doc nicht vollftändig: das Ding felbit, oder die Veränderung, die in dem Zwecke vorgeftellt und gewollt wird, eriftirt noch nicht realiter, fondern nur, um von und Menfchen zu reden, in der Vor- ftellung.

Zur Reugnung der Zmede trieb den Spinoza der ftrenge Gedanfengang, die zwingende Gewalt, die er feiner Philofophie beilegen wollte, das Princip der Gaufalität, dem er feine Philofophie unterwarf. Dad Mufter für die Demeidführung ift dem Spinoza die mathematifche. Den mos geometricus führte er in feine Philofophie ein. Die Mathematik fennt feine Zwecke: das Dreieck iſt nicht dazu da, damit irgend welche Sätze aus ihm abgeleitet wer— den fönnen, fondern weil dad Dreieck der Art ift, wie es ift, folgen die das— felbe betreffenden Säge; gerade fo nun, wie ſich aus dem Wefen der Figuren die näheren Beitimmungen ergeben, implicite alle darin ſchon liegen, fo daß es nur des folgernden Verſtandes bedarf, um die ganze Geometrie zur Dar; ftellung zu bringen, gerade fo follte ed nur eines mathematifchen Verſtandes bedürfen, um aus den Grundbegriffen des Spinoza die ganze Welt abzuleiten. Es ift hier nur von Spinoza bei aller Großartigfeit feined Syſtems, die den Geift fo leicht gefangen nimmt, ein bedeutender Fehler begangen. Die Ma- thematif bedarf bloß einer logiſchen Entmwidelung, die Welt aber bedarf einer zeitlichen Entwidelung; in der Mathematif Handelt es fih nur um Grund

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und Folge, in der Entwidelung der Welt, der Vielheit aus der Einheit, der Modi aus der Subftanz, handelt es fi) um Urſache und Wirkung.

Urſache und Wirkung Haben wir in der reinen Mathematik nicht, die Gaufalität ift aber dad Princip, von dem der gemaltige Denker feine Philo— fophie abhängig macht, der zu Liebe er den Zweck vernichtet, und die Caufa- lität gerade ift in feinem Syftem unmöglich gemacht, gerade fo unmöglich wie der Zmed. Es tft bier demnach zu viel bewiefen, und gegen den Zweck feine ftichhaltige Inſtanz vorgebracht, die nicht auch zugleich die Cauſalität mit vernichtete.

Als den dritten Hauptgegner des Zweckes nannte ich viele Anhänger der Dedcendenzlehre und ihrer näheren Begründung, der Selectionätheorie. Yin- den die Anhänger ded Zweckes ein Hauptargument für diefed ihr Prinzip in den zweckmäßigen Organismen und in ihrer großen Verſchie denheit, fo werden nad der neuen Lehre diefe Gattungen von Thieren und Pflanzen aus einer geringen Zahl vorbergehender abgeleitet, und diefe wieder aus einer einzigen Stammmutter, indem fich die Gattungen herausgebildet haben nad) den ver- fchiedenen Rebendbedingungen, und das einmal Vorkommende und für die äußeren Umftände Paſſende dur Vererbung ſich fortpflanzt: „die natürliche Auslefe im Kampfe ums Dafein, dad Zugrundegehn ded minder Zweckmäßi— gen, das Ueberleben und Sichmeitervererben des Paſſendſten und Zweckmä— Bigften, ift ein Borgang von mechanischer Caufalität, in defjen gleichmäßige Befeglichkeit nirgends ein teleologifeh beftimmended, metaphyſiſches Princip eingreift, und dod geht aus ihm ein Refultat hervor, das mwefentlich der Zweckmäßigkeit entfpriht, d. h. diejenige Befchaffenheit befist, welche den Drganidmen unter den gegebenen Umftänden die höchſte Zweckmäßigkeit ver: leiht. Die natürliche Zuchtwahl löft das feheinbar unlöglihe Problem, die Zweckmäßigkeit ald Kefultat zu erklären, ohne fie dabei ala Princip zu Hülfe zu nehmen“ *), und auf diefe Art hat diefe Lehre den Götzen des Zweckbegriffs zerbrochen. So triumphieren die Anhänger Darwin's.

Segen die Descendenz- und Gelectiondtheorie felbit ift von philo— ſophiſcher Seite nichts einzuwenden. Es ift durch fie Vieled erklärt und fie trägt gute Früchte, wenn fie auch felbft noch nicht über alle Zweifel erbaben ift, wie ſchon andererfeitd darauf hingewiefen ift, daß fih Manches in den Dr: ganidmen, 3. ®. die Fünftliche, auf äfthetifhen Genuß, nit auf Erhaltung ded Lebens nur, zielende Einrichtung in Auge und Ohr aus dem Kampfe ums Dafein allein nicht wohl erklären läßt.

Uber diefe Lehre zugegeben, follte durch fie wirklich der Zweck vollftändig

vernichtet fein? Cie nimmt die Zweckmäßigkeit ald Nefultat einer langen

) S. Oscar Schmidt, Dedcendenzlebre und Darwinidmud. ©. 176.

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Kette von Urfachen und Wirkungen auf, fie erfennt diefelbe alfo do an, und damit, daß fie ald Folge der natürlichen, caufalen Entwidelung angefehn wird, ift der immanente Zweck noch keineswegs aufgehoben. Es ift die Immanenz gleibfam nur weiter zurüdgefchoben ; es find alle fpäteren Bildungen hinein— gelegt in die Urzelle, in das erſte Moner, oder dad, was man als das erfte organifche Wefen annehmen mag. Es hat in diefem Urmwefen der Keim zu der ganzen organifchen Welt gelegen; nit durch Zufall kann diefe ent- fanden fein, fondern dur Nothmendigfeit, durch den von innen heraus nad dem ehernen Gaufalitätägefeg, d. b. nach Nothwendigkeit wirkenden Zweck, muß fte fih entwickelt haben.

Auch die Eleinen Abweichungen in den Individuen, , die fih für die äu— heren Verhältniſſe ala pafjend bewähren und fi) vererbend nun immer zweckmäßigere Bildungäformen hervorbringen, fie find doch nit Zufällig. feiten , fondern auch fie müſſen ihre Urfache in den vorangegangnen Gene: rationen haben, wie die Anhänger Darwin’ felbjt am erften zugeben werden. Wären diefe Abweichungen dem Zufall anheimgeftellt gemefen, und hingen fie niht ab von immanenten Gefegen,, fo wäre wahrfcheinlih nichts Zmed« mäßige8 entftanden, denn der unzweckmäßigen Organifationen kann man fich unendlich viel mehr denken, ald der zmwedmäßigen. est müfjen wir aber nah Darwin fogar fo weit geben, zu fagen, daß die organifche Welt in ihrem jeweiligen Zuftande die vollfommenfte ift, d. h. die, weldhe ſich den äuße— ven Berhältniffen unter allen denkbaren Fällen am beiten angepaßt hat, da dad Gleichgewicht zwiſchen äußeren Bedingungen und der Organifution der Mefen ftet? erreicht wird. Alfo nicht nur die Entwidelung, fondern aud) die Entwickelung zum Beſten ift in der Selectionstheorie eingefchloffen, und diefe Lehre muß bier zu demfelben Refultate kommen, wie der Optimismus Reibnizen. *)

Das Einzelne und dad Ganze mußte vorgebildet fein, fonft hätte es nicht entftehen können, vorgebildet mußte es fein, wie der Baum mit vielleicht taufendjähriger Entwidelung vorgebildet ift in dem Samenforn, aus dem er entftanden ; die äußeren Umftände treten hinzu und helfen diefer und jener Möglichkeit zur Verwirklichung, unterdrüden andererfeit® diefe und jene Anlage, aber fein Aft, fein Blatt, Feine Zelle Fann ſich bilden, wozu die Möglichkeit und die Anlage nicht gegeben wäre.

So ruht und fchläft das Spätefte in dem Früheften, das Früheſte wird zum Späteften. Wir haben beim Baum mie bei der ganzen Welt das große, freilich ſchwer auszudenkende voregor reorepor, zu dem aber der Gedanfe mit Nothwendigfeit drängt. Diefed varsgor reorsgor tft weiter nichts ala

) ©. du Boid-Reymond, Leibnizifche Gedanken in der neueren Naturwiſſenſchaſt.

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der Zweck, der im Anfang ſchon beitand, und von dem Zwecke kann ſich die Selectiondtheorie nicht losmachen.

Auh noch etwad Anderes zmingt zur Annahme dieſes Principe nad Darwin's Lehre. Der Kampf ums Dafein ift das Loſungswort der Theorie. Aber beruht nicht der ganze Kampf ums Dafein auf dem Streben der Natur, das einmal Hervorgebrachte zu erhalten, ald Individuum oder als Gattung? Jedes Einzelgefhöpf ſucht fein Dafein fortzufegen, das iſt ein echter und fihtbarer Zwef, den fogar Spinoza klar genug ausgeſprochen, und zum Fundament feiner Ethik gemacht hat. Fiele diefer Trieb, diefer immanente Zwed, der fi) dur den Trieb verwirklicht, einmal meg, fo hörte der ganze Kampf um das Dafein auf, da jedes Gefchöpf fih dann ebenfo gern dem Berderben anheim geben müßte, als fich felbft erhalten.

Mir find bier gerade bei der Lehre Darwin's zur Verbindung von Cau- falität und Zmed gefommen. Bon beiten fünnen wir und bei der Betrad- tung der Welt nicht los machen. Wollen wir ung nicht in dem Widerſpruche der zwei WPrincipien gefallen, fo müfjen wir beide in einander aufnehmen, wenn auch nicht das eine dem andern unterordnen. Die ftrenge Gaufalität wird nicht ohne Zweck fich denken lafjen, ebenfowenig wie der Zmed ohne Gaufalität. Die letztere ift nicht® Anderes, ald die logifhe Nothmendigfeit, die fih in der Entmwidelung darlegt, wird fie doch als Geſetz unſeres Geiftes aufgefaßt und ift durchaus logiſch. Die Logik fchließt aber ſtets das Ende der Reihe, alfo den Zwed in fih. Demnad würden wir in der Logik, in der logiſchen Nothwendigfeit, die wir nun und nimmer aus der Welt unjerer Erfenntniß, ebenfomwenig mie aus unferm Geifte entfernen Eönnen, die beiden ſcheinbaren Gegenfäge, Caufalität, d. h. mechanijche Eaufalität, und dad teleo- logifche Princip, verbunden finden. Nur ift die Teleologte nicht in der Meife zu faffen, daß wir den Zmwed, worauf Alles ſtets hinarbeitet , jedes Mal er Eennen, die Zweckmäßigkeit eines jeden Dinged angeben Fönnten, ebenjomwenig, wie wir je dahin Fommen werden, die wirkenden Urſachen von allen Er: fheinungen anzugeben, ohne doch daran zu zweifeln, daß ſich ſtets jolche finden.

Werfen wir noch einen kurzen Blick auf die Gefchichte, fo ift der Verſuch, Gaufalität und Teleologie mit einander zu verbinden, ſchon öfter gemacht. ch gebe hier nicht auf Ariftoteled ein, den eigentlihen Philoſophen des Zwecks. Bei ihm wird der Zweck noch nicht Herr über die Materie, und der Dualik- mus bfeibt ftehen. Ich erwähne zunächſt die Stoifer, die mit einer Beitimmt- heit das Cauſalitätsgeſetz ausſprechen und überall geltend machten, mie wir es fonft in der alten Philoſophie nicht finden, und doch den Zmed als all mächtig in ihrem Syſtem walten liegen. Zugleich waren fie Materialiften, nicht in dem Sinne wie die Atomiftifer, aber doch in dem, daß fie nichts

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Immaterielles als wirfend, als wirklich, annahmen. Der Begriff, in dem fie die fcheinbar widerfprechenden WBrincipien, die mechanische Gaufalität und den Zwed, zufammenbanden, war der Aoyos anepnerimös, der ſich theilt in unzählige Aoyoı onsouerixoi oder Samenfeime. Dieſe vernünftigen Urfamen der Name „Atom“ würde für fie nicht bezeichnend fein, find materiell und enthalten in fih dynamifch die ganze Entwidelung der Melt, indem fie fi bald zu dem einen Gebilde oder Organigmus, bald zu dem andern geftalten. Nach dem ftrengen Gefes von Urfache und Wirkung ift ihre eigene Entfaltung und find ihre Einwirkungen auf die fie umgebenden Stoffe nur möglich, aber doch gehen fie auf beftimmte Ziele, auf beitimmte Formen los, die fie in nuce in ſich bergen, ohne etwa Typen für die entftehenden Geſtalten zu fein, alfo ohne alle Aebnlichkeit mit den pla- tonifchen Ideen, mit denen man fie öfter zufammenitellt. Nicht Borbilder find fie, nicht Allgemeined oder Gattungsbegriffe, welche bei den Stoifern feine reale Griftenz hatten, fondern auf etwas Individuelles ftet? angelegt und in dadfelbe ausgehend.

Der Begriff ift von der Stoa nicht weiter ausgebildet, oder wir finden ihn wenigitend in den fragmentarifchen Berichten über diefe Schule nicht näher durchgeführt, aber ohne Zweifel ift er einer der mefentlichiten in der ſtoiſchen Philofophie und hätte eine größere Bedeutung gewinnen follen, da in ihm die drei wichtigften Prinzipien in der Philofophie: mechanische Urfache, Materie und Zweck, mit einander vereinigt find. Die Harmonie der ganzen Welt wurde dann durch den allmaltenden Logos, welcher alle diefe Samen in fh zufammenfaßt zu einer Einheit, hervorgebradht und erhalten. Man mag über diefe Lehre abſchätzig urtheilen; ald ein VBerdienft muß den Stoifern der Berfuh die entgegengefesten Standpunkte zu verfühnen, immerhin an: gerechnet werden.

In ganz andrer Weiſe als diefe alten, ernten, häufig nicht genug ge würdigten Denker, unternahm es Leibniz. Saufalität und Teleologie zu ver einen, und er ftellte geradezu in feinen jüngeren Jahren es als Aufgabe feines Lebens hin, die Atomiftit des Demofrit mit den fubjtanziellen Formen des Ariftoteled in Einklang zu bringen. Als ftrenger Mathematiker mußte er der mechanischen Weltanſchauung huldigen, aber ala umfafjender Geift hielt er da- für, au in der Teleologie fei Wahrheit, und fo müßten die Gegenfäße ver- einigt werden, wie er überhaupt es für Befchränftheit anfah, wenn jemand auch auf anderm Gebiete in einem Gegenfage verharrte. Hatten nun die Stoifer in ihrem Monismus alles Geiftige zur Materie gemacht, fo machte umgekehrt Leibniz alles Materielle zu Geift, oder wenigſtens zu Monaden, d. h. zu metaphufifchen Punkten, deren Kraft das Voritellen ift. Trotzdem

gelangt er zur Materie und zu Körpern, freilich auf etwas ſchwierige Weiſe. Grenzboten IV. 1874. 12

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Im Grunde beruht aber die Erfheinung der Materie nur auf unjeren ver- worrenen Anfhauungen. Mit diefer Materie verbindet nun Leibniz ftreng den Begriff der mechanischen GSaufalität. Die Monaden find auch Körper, in- fofern fie Einzelmefen find, alfo Schranfen haben , und die Bewegungen der Körper gehen alle nah mechanijchen Gefegen vor fih. Someit von einer gegenfeitigen Ginwirfung von einem Beitimmtwerden durch einander die Rede ift, fo vollzieht fih das Alles auf mechanifhem Wege. Jeder Körper ift von vornherein eine Maſchine, fo daß fogar eine materialiftifche Naturan- ſchauung bei Leibniz zu Tage tritt. Wie verhält fih nun zu diefem Herr- ihen des Gaufalitätögejege® der Zweck bei ihm, durch defjen Annahme fi feine Philoſophie jo weſentlich von der des Spinoza unterjcheidet ?

Es ift außer der leidenden Kraft, melde die Monade nach außen be ſchränkt und fie untertban macht dem Geſetz von Urfache und Wirkung, noch eine thätige Kraft in jeder Monade, welche ihren eigentlichen Inhalt bildet, während jene leidende ihre Individualität, ihre Befonderheit überhaupt er- möglicht. Dieſe thätige Kraft ift die Erfüllung der Eigenthümlichkeit einer jeden Monade, nichts ala diefe eine Monade vorausſetzend. Wird die leidende Kraft ald Materie betrachtet, fo diefe ald Form, daher auch entelechia prima genannt. Sie ift gleichſam die Seele der Monade; die Seele geht aber darauf aus, die urfprüngliche Anlage zu entfalten, und fo fommt in diefe Entwidelung der Zweck hinein, ald das Beitimmende und Maßgebende. Auf diefen Zweck, alfo die Entfaltung der urfprünglichen Anlage, arbeitet die ganze Mafchine los, auf ihn arbeitet die Caufalität los, die fogar das noth: mendige Mittel ift zu der Entmwidelung einer jeden Monade. Teleologie und Mechanismus müſſen fich verbinden, um die Welt in ihrem Grunde zu erklären. Allerdings bildet dabei die Teleologie das beftimmende und allgemeine Prin- cip, die Gaufalität das untergeordnete, wie died Leibniz unzmeideutig aus— ſpricht: causae efficientes pendent a finalibus. Während die Cauſalität nur auf die Natur im engeren Sinne, auf die Körpermelt geht, erftredt fi das teleologifche Prineip auf die ganze Weltordnung. Die mechanifche Welt darf nicht abgejondert werden von der moralifchen, auf welche leßtere Alles ange- legt ift.*)

Man ann nicht fagen, daß troß der beftimmt ausgefprodhenen Abficht Leibnizens, die Gaufalität mit der Teleologie zu vereinen, diefe Aufgabe glücklich von ihm gelöft fei. Die eine Seite, die Gaufalität, zieht trogdem, daß Reibniz auf dem Gebiete der Natur ein fo eracter Forfcher war, den fürzeren. Wird die Materie überhaupt zu einem Phänomenon, menngleid) bene fundatum, fo fommt aud die Gaufalität nahe daran, zu einem Schein zu werden, bloß

) Val. Kuno Fifcher'd Darftellung diefes Kardinalpunftes in der Leibniziſchen Lehre.

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auf einer confufen Anficht zu beruhen. Immerhin iſt e8 viel werth, zu con- ftatiren, daß Leibniz die Nothwendigkeit einer ſolchen Verbindung eingefehen hat.

Eine jede philofophifhe Anfiht muß ſich heutigen Taged mit der Kant'ſchen Lehre, welche noch immer tonangebend ift, audeinanderfeßen. Stellen wir und auf den rein Fritifchen Standpunkt, fo ift allerdingd nicht die Rede von einer Teleologie, aber dabei darf man nicht vergeffen, daß dann auch nicht die Rede fein kann von Gaufalität. Beide Principien ftammen danach nur aus unſerem Geifte, find nicht conftitutiv, fondern nur regulativ. Solange wir alfo nur die Formen unfered Geifted in der Außenwelt finden und in dem Ding an fi nichts ihnen Entſprechendes, wird unjer ganzed Thema gegenftandalos fein. Sobald Kant aber den fritifchen Standpunft nicht einnimmt, fondern in die Welt der Erfahrung hinabiteigt, ftrebt er felbft, Gaufalität und Teleologie zugleich anzuwenden. So lange wir in der Natur audfommen mit dem Mechanismus, meint er, müſſen wir denfelben anmenden, wir müffen fogar verfuchen, Alles auf mechanifche Weife zu er- klären; kommen wir aber zu Naturerzeugnifjen, bei denen die Möglichkeit der mechaniſchen Erklärung ein Ende hat, fo müfjen wir fo verfahren, als ob fie nach Zweckbegriffen gebildet wären. Solche Producte findet nnn Kant in der Natur vor, indem er zugleich den Zweckbegriff in ariftotelifch » leibnizifcher Weiſe viel tiefer faßt, als die Aufflärungsphilofophie, welche in der populären Art des Alterthums Alles auf den Nuten des Menfchen bezog, und fo ver- dankt der Zweckbegriff dem Schöpfer des Kriticiamus ſehr viel, troßdem daß er nur aus unferem Geifte ftanımen fol. Die organifchen Wefen find nach Kant ohne den Zweck, der in ihnen deutlich hervortritt, gar nicht zu verftehen. Denn alles das Einzelne ift auf das Ganze gerichtet, alles Einzelne exiſtirt nur deshalb und hat nur darum einen Sinn, weil es fich zu einem beftimmten Ganzen bilden fol. So muß das Ganze ald Urfache für die einzelnen Theile angefehen werden, und diefe Urfache, d. b. diefe Endurjache, liegt ald formen» des Princip in ihnen felbft. ft aber bei den Organismen die innere Zweck— mäßigfeit anerkannt, fo ift e8 natürlich, daß wir fie auch fonjt in der Natur, in den anderen Producten und den Gefegen der Natur nicht blos ſuchen, fon: dern aud finden. Wenn gleib Kant ſelbſt diefen Begriff nicht zum Aufbau einer naturmiljenfchaftlichen Theorie anwendet dazu ift er zu vorfihtig —, jo bat doc feine Naturerflärung für die Naturforichung der folgenden Zeit die beiten Früchte getragen.

Kant läßt die beiden Principien nicht in einander aufgehen; fie haben getrennted Gebiet. Wo das eine aufhört, fängt das andere an; die eine Erklärungsart fchließt die andere aus. Erklären wir etwas nad) mechanifchen Urfahen, jo können wir nicht mehr nach einem Zweck fragen, und können

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wir etwas aus feinem Zweck herleiten, fo erjcheint es nicht ale mechaniſch nothwendig.

Diefe Lehren Kant's würden zu einer beſtimmt bdualiftiichen Anficht führen. Der Dualismud treibt aber den Stahel in den Geift und Täßt diefen nicht ruhen, bis er in der Einheit des Princips Befriedigung gefunden hat. In der vorhin angedeuteten Weiſe ift es möglich, den Dualimus zu befiegen. Wendet man die Gaufalität allein an, fo vergißt man den Blick nah vorn zu richten, vergißt man, daß jede Urſache eine beftimmte Wirkung haben muß; braucht man einfeitig das teleologifche Princip, fo unterlißt man den Bli nach rückwärts, denkt nicht daran, daß jede Erfcheinung von einer Urfache abhängen mug. Gebt man aber die Entwidelung und das Ende in den Anfang und braudt ald Bindendes und Einendes die Logifche Nothmendigkeit, jo daß der Zweck nichts ift, ald das Endglied der logiſch— caufalen Kette, das mit dem erften Glied zugleich gefegt fein muß, jo berüd- fihtigt man beide® in der für unferen Verſtand nöthigen Weile. Dann findet das fireng wiſſenſchaftliche Bewußtſein, das ſich an die Gaufalität halten will, feine Befriedigung, aber indem der Zweck ald dee von vorn- herein in dem Stoffe liegt und ihn zum Ziele führt, gelangen auch die idealen Intereſſen und Bedürfniffe zu ihrem Nechte, das zu fordern ihmen zufommt.

Fin amerikanifher Kumorifl.*)

Unter den jüngften Erzeugniſſen der belletriitifchen Xiteratur des Aus— landes hat kaum eine Schrift in Deutfchland ſoviel Auffehen und Beifall erregt, ald die Argonauten-Gefhichten von Bret- Harte, die vor mehr ale einem Jahre im Verlage von F. W. Grunow in Xeipzig erfchienen. Unſere beiten Zeitungen und Zeitfchriften brachten aus der Weder der hervorragenditen Schriftſteller und Kritiker Deutfchlands Beſprechungen und Eſſays über diefe Dichtung des Falifornifchen Autorde. Ste Alle zeigten fih durchaus einig in der bewundernden Anerkennung feiner fünftlerifchen Kraft und poetifchen Tiefe, feiner wunderbaren Begabung für anfchauliche, feine und gedrängte Zeichnung von Landichaften, Stimmungen, Charakteren und Ereig-

*) Amerifanifhe Sumoriften. 1. Band. Prudence Palfrey und andere Leute von Thomas Bailey Aldrih. Ins Deutſche übertragen von Morik Buſch. Leipzig, fr. Wilh. Grunow 1874,

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niſſen. Einmüthig war die deutfche Kritif über Bret Harte's Argon auten- Geſchichten au darin, dag nur einem Dichter von Gottes Gnaden gelingen fönne, aus dem groben und gemeinen Stoff des Falifornifhen Minenlebens das echte Gold ver Poeſie herauszuſchlagen in folcher Reinheit und Feinheit, dag alle Welt das Edelmetall, das Bret Harte dem fpröden Boden ab- gemonnen, als foldhed anerkennen mußte. Namentlich Iehrte jeder Vergleich feiner Argonauten-Gefhichten mit den Schriften unferer deutfchen Kallfornia » Reifenden und Amerifa-Schilderer, wie unendlich hoch an poetifhem Werthe jede der Fleinen anfpruchslofen Novellen Bret Harte's über all den didleibigen und mit aller Kunft der Reclame zu angeblichen Ehrendentmalen deutjcher Literatur aufgeblafenen Roman-Bänden ftehe, welche von Deutfchen über die- felben Stoffe gefchrieben morden find. Nur das Eine tft Bret Harte's Schreibweije nicht ohne Grund zum Vorwurf gemaht worden, wad an an— deren Stellen man gern als einen feiner größten Vorzüge anerfennen wird: feine Kürze und Gedrungenheit in der Schilderung und Entwidelung nämlich erzielt oft den allergrößten Erfolg, beweiſt häufig in überrafchender Weiſe fetne poetifhe Kraft; aber keineswegs felten verdirbt fie auch die Klarheit und Anfchaulichkeit des Bildes, und namentlich ded Fadens der Handlung. Die Situationen, die Charaktere, die Spracymanieren der Argonauten Bret- Harte's find und ja ohnehin nicht ganz geläufig, und offen geitanden auch nicht immer ganz behaglih. Für einen genauen Kenner der neuen und in- fonderheit der Falifornifhen Welt mögen diefe Eurzen ſcharfen Striche, über die Bret-Harte höchſt felten hinausgeht, genügen ; die Phantafie oder Lebens— erfahrung mag dem Kenner die menigen Umriſſe des Künftler® von felbit mit Richt und Schatten füllen. Und dagegen merden fie nicht immer genügen, und nicht felten den Eindrud einer allzu flüchtigen Skizze zurücklaſſen.

Es wird natürlich nie im Ernfte unternommen werden können, die höchſt eigenthümlihe Art Bret-Harte'3 der eined anderen Schriftfteller® nahe zu ftellen. Und ficherlich erjcheint fein Randamann Thomas Bailey Aldrid, der heute bei den Xefern d. Bl. eingeführt werden fol, dem Dichter der Argonauten-Gefhihten auf den erften Blick ſo unähnlich als möglich. Humor wird freilich niemand Bret-Harte abjprechen. Aber die Tiefe feiner Seele ift durchaus ernft. Er befist eine befondere Kunft darin, und eine befondere Borliebe dafür, feine Gefchichten luftig anzufangen und mit Frohfinn und Heiterkeit anzufüllen, und dann plötzlich mit einem Accord zu ſchließen, der ung den tiefften Ernft des Menfchenlebend ausſpricht. Thomas Batley Aldrich ift darin gerade dad Gegentheil von Bret-Harte. Auch er ift ficherlich weit entfernt von einer leichten oder gar frivolen Auffaffung des Lebens, menſch— liher Strebungen und menfchlicher Beſtimmung. Er tft ein vortrefflicher Beobachter und Schilderer auch der ernfteften Züge des menfchlichen Herzen? ;

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er Kann fogar das jchmerfte Leid und die fürchterlichfte Lage, in die ein Menih gerathen kann fein Mr. Philipp Wentworth z. B. wird im Todtengewölbe feiner plößlich geftorbenen Braut vergeffen und eingefchloffen mit einer realiftifhen und doch poetifchen Anfchaulichkeit ſchildern, daß man glaubt, nur diefe Schilderung fei der Zweck ded Dichter. Aber im Grund ift das keineswegs feine Hauptabfiht. Aldrich verfolgt fiherlih unter anderm auch den Zweck, und zu fpannen, für feine Helden mit Intereſſe und Sympathie, wohl aud mit Zittern und Zagen zu erfüllen, oder unfer Ge- müth auf einen tragifchen Ausgang vorzubereiten. Aber der Haupt und Endzweck aller feiner Sachen ift doch, ung ein herzliches Lachen abzugeminnen, und zwar nicht am menigiten über und felbft, daß wir und von feiner Dar- ſtellungskunſt verleiten ließen, bange zu werden und den Scherz für Ernft zu nehmen. Aldrich ala ehrlicher offener Humorift wird nie zulafien, daß eine Geſchichte übel endet.

Das wird und fchon bei der eriten Bekanntſchaft mit ihm zur Gewißheit und er ift fo anftändig, Wort zu halten. Der arme Mr. Philip Wentworth z. B., der nad) der Erzählung eined Mr. H. feine parifer Braut gerade in dem Augenblid verlor, ald er im Begriff ftand, fie zu heirathen und auf ein neuerfaufte® Landhaus bei Parid zu führen, und der dann, im Dunkel der Grabgewölbe de Montmartre lebendig begraben , das Grabliht aufißt, um fi feiner Familie zu erhalten und, nad einer Stunde und zwanzig Minuten Aufenthalt im Grabe, mit grauen Haaren wieder an die Erdoberfläche be fördert wird. Diefer unfelige Mr. Wentworth ift bei Lichte befehen gar nit Mr. Wentworth. fondern Mr. Jones, auch nie im Fall gewefen, eine Braut zu verlieren oder lebendig begraben zu werden. Unbeftreitbar ift nur, daß er graue Haare bei jungen Zügen und Muskeln hat, und das hat dem Mr. H. „einem Mann mit literarifchen Neigungen, der beim Brüten über einem großen amerifanifhen Roman, der noch nicht gefchaffen ift, ein bischen von feinem Verſtande eingebüßt hat“, Gelegenheit gegeben, Mr. Aldrich „zum Beten zu halten, um thatfählih die Wirkung eine feiner Gapitel an ihm zu probiren.“ Das hält natürlih Mr. Aldrich nicht ab, und die Gejchichte mit der vollendeten Täuſchung zu erzählen, der er felbft angeblich zum Opfer gefallen ift. Diefe Täufchung des Leferd über die wahre Natur der Haupt: perfon oder mehrerer Berfonen bildet faft durchgehende den Haupteffect ded Humord bei Aldrih und fie wird meift mit um fo größerer Sicherheit erreicht, weil alle andern handelnden Perfonen gleichfalls fich fo benehmen, als ob fie volfommen an die Täufchung glaubten oder in der That wirklich daran glauben, fo daß bei und jeder Zmeifel dann ſchwindet, dat Alles mad Aldrih und zu erzählen für gut findet, auch wirklich wahr fei. Erft ganz am Ende der Gefchichte merken wir, daß wir ebenſo vollftändig wie die

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Perſonen ded Stüdd myjtifizirt worden find: daß z. B. der ehrwürdige junge Beiftlihe Mr. James Dillingham, der die vernünftigften und thörichtiten Perſonen in der Hafenftadt Rivermouth in gleihem Maße entzüdt und erbaut, niemand Anderes iſt, als einer der gefährlichiten Hochftapler der Union, Namens Nevind. Oder wir fehen in einem Briefwechfel zmifchen zwei Freunden, von denen der eine gefund im Bade meilt, der andere mit gebrochenem Fuße frank daheim liegt, mit zunehmender Deutlichkeit Fräulein Majorie Dam geichildert der Gefunde fhildert fie dem Kranken wir erfahren mie fie ausſieht und fich Eleivet, was fie fpricht und thut, wie fie ſich allmählich in den beinbrüchigen Unbekannten ſterblich verliebt und zwei vortreffliche Partieen feinethalben ausfchlägt, bi® fie der Herr Papa nah dem Geftändniß ihrer Liebe zu dem Unbekannten einfperrt, um fie zur Raiſon zu bringen. Da hält ed der Kranke nicht mehr aus. Gr reift fofort in da® Bad aber er findet dad Haus nicht, in dem Marjorie Dam mohnen fol, er findet auch feinen Freund nicht, fondern nur einen Brief deöfelben, der ihm mit dürren Worten fagt: „es gibt durchaus Feine Marjorie Dam!" Sie murde nur erfunden, um den Freund geduldiger auf feinem Lager zu machen, und vielleicht auch, um Watkins, feinen treuen Bedienten, vor der unangenehmen Bekanntſchaft mit den 27 Bänden von Balzac’d Werfen zu ſchützen, die lediglich zu dem Zmede um das Kranfenlager aufgefhichtet waren, um dem Herrn ald Wurf: geihoffe gegen den Diener zur Hand zu fein. Oder Aldrich jagt ung in einer anderen Novelle im Boraud, daß Fräulein Mehetabel dem würdigen Mr. Zaffrey ald jungfräulihe Braut dahingeftorben fe. Wenn aber nachher Mr. Jaffrey ung bi8 in die kleinſten Detaild erzählt, wie der aus diefer nicht vollzogenen Che mit Sicherheit zu erwarten gemwefene Sohn „Andchen“ ein- Hläft und Zähne befommt, feinen Vater beftiehlt, einem alten Spinet die Beine abfägt, und fchließlich in dem hoffnungsvollen Alter von elf Fahren in der rothen Stube von einer Bockleiter fällt und den Hals bricht, fo wirft die Sicherheit der Erzählung und die Fülle des Detaild fo berüdend auf und, daß wir aud) hier auf Schritt und Tritt uns fragen: mas ift Täufchung, was Wahrheit? Kann ein verwirrtes Gehirn fo confequent und folgerichtig bloße Phantosmagorien ausbilden, oder liegt der Geſchichte ein wirklicher Sohn des feligen Fräulein Mebetabel zu Grunde. Zuletzt erft find mir her, daß „Andchen“ wirklich nur in der Ginbildung eriftirte.

An einer Stelle in „Prudence Palfrey“ fagt Aldrich: „Er beſaß Wis, aber feinen Humor, und der Unterjchted zwifchen Wit und Humor ift, wie mir fcheint, juft der Unterſchied zmwifchen einem zugeflappten und einem offenen Federmefjer.” Er meint bier offenbar den Gegenfaß von Satire und Humor; denn Wis und Humor find feine Gegenfäge. Der Wis fann fich in bumoriftifcher oder in fatirifcher Yorm äußern. Er ſelbſt gebietet, wie

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wir fehen werden, über Humor und Satire in gleihem Maße, und wir find überzeugt, daß viele feiner Novellen, wie 3. B. unzweifelhaft die Gefchichte des begrabenen Mr. Wentworth „der Kampf um das Leben“, und vielleicht au die Iuftige Phantafiegeftalt „Marjorie Dam“ und „Andchen“ in der Hauptfache oder doch nebenbei den Zweck verfolgt, gewiſſe Modethorheiten ded amerifanifchen Senfationdromang zu geißeln. Uber wir Deutfchen wiſſen aus Karl Immerman's Schriften und deren negativem Erfolg, wie wenig ein Schriftfteller, felbit in einer, literarifchem Schaffen fo vorwiegend zugeneigten Epoche, wie diejenige war, in der Immermann fohrieb, damit augrichtet, den geiftreichen Kritiker der literarifchen Verirrungen feiner Zeit zu ſpielen. Und Aldrich zählt in dem meit weniger Eritifchen und weit productiveren und zeit ärmeren Nordamerika unferer Tage zu den beliebteiten Schriftitellern der Nation. Bon Smmermann’d Schriften ift im weſentlichen nur „Münchhaufen” und von dieſem geradezu epochemachenden Roman wiederum uur jener Theil zum unvergänglichen Gemeingut des deutfchen Volkes geworden, melcher fid um den Hofiehulzen und die Liebe des ſchwäbiſchen Jägers zu Lisbeth webt. Hier hat der Dichter Sitten und Neigungen und Charaktere geſchildert, die dem deutfchen Wolfe von heute fo ureigenthümlich und theuer find, wie vor vierundvierzig Jahren, ja die Faum eine Aenderung erfahren haben, feitdem das Schwert Karl’ ded Großen unter der uralten Behmlinde auf rother Erde beim Dingtag in der Sonne glänzte.

So iſt auch Aldrich's befte Kraft gefest an die treue und wahre Schil— derung feine® Volkes, und der große und allgemeine Beifall, den feine Schrif- ten über den Dcean gefunden, ein Beweis dafür, daß er richtig und vor- trefflich darzuftellen vermochte, was Millionen mit ihm gleichzeitig empfanden. Nur fpringt auch bier, in der Schilderung der Eigenthümlichkeit des nord- amerifanifhen oder wie er mit Vorliebe jagt „neuenglifhen“ Lebens, der Unterfhied zwifchen ihm und Bret Harte in die Augen. Die nordameri- kaniſche Union ift in fich felbit das merkwürdigſte Beiſpiel der gleichzeitigen Vereinigung aller Kultur- und Wirthichaftdepochen, melde die Melt je gefehen hat. Große Stäbe, erfüllt von allen Tugenden und Gebrechen moderner Großftädte. Ringsum der ſtädtiſche Nahrungsfpielraum mit der intenfivften Bewirthſchaftung des Bodens foweit befchäftigt, als Induſtrie und Handel vom Boden übrig gelaſſen haben. Dann weite Strecken Landes, die einer mäßigen Landwirthſchaft dienen. Dann noch größere Flächen, melde die Väter erft der Kultur gewannen, wo die Abſatzquellen ſpärlicher find, als die Ernte. Dann jene immer noch unendlichen Streden jungfräulichen Bodens, auf denen der Trapper den Büffel jagt, oder der Indianer die legten Jahre feiner Freiheit verträumt oder der Goldfucher das gelbe Metall aus der Erde Ihaufelt oder dem Flußfande abgewinnt. Alle diefe Fachwerke menfchlicher

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Thätigfeit aber rütteln fich fortwährend durcheinander. Aus dem überfeiner: ten Luxus der Großftadt ftrebt der verarmte Sohn eines reihen Haufes hinaus in die Wildniß, um fein Glüd in den Minen zu fuchen. Won der äußerten Peripherie des Landes ftrömen die Glüdlichen nad) den großen Gentren, um dad Gewonnene im Genuß zu verjubeln oder doc) behäbig zu leben. inmitten der größten Städte ift die Rechtsſicherheit und Rechtspflege etwas primitiv, der Gemeinfinn und das öffentliche Gewiſſen der VBervolllommnung fähig. Draußen aber an der Süd- und Weftgrenze oder in der Wildniß iſt von alledem gar nicht? zu fpüren. Das befte Mittel gegen Frevelthaten aller Art iſt dort immer noch, daß mohlmeinende Verſchwörer die Habeas-Corpus-Aete ſtillſchweigend fufpendiren und notorifche Mitjethäter an den nächſten Ahorn Mmüpfen, um deren Gundrechte an diefem Zuftande der Zufpenfion Theil nehmen zu laſſen.

Bret Harte fchildert und nun mit Vorliebe das Yeben der Minen-Wild— niß, der füdmeftlichen Peripherie; Aldrih dasjenige des Kulturbodens der Vereinigten Staaten; indeffen nicht am liebften das Leben der großen Gentren, fondern Fleiner Städte der Oftküfte. Bret Harte würde vermuthlich erit dann zu der vollen Einfiht der dunfeln Seiten feiner Helden auch der beitbe- leumundeten unter ihnen gelangen, wenn die Gründlichfeit einer deutfchen Unterfuhungsbehörde fi) damit befchäftigte, das bedenkliche Vorleben und die zweifelhafte Gegenwart derfelben actenmäßig im Werfonalbogen feitzu- ttellen. Er findet den höchſten poetiſchen Reiz darin, zu zeigen, wie die» felben Qugenden, die der moderne Kulturmenfch für fich in Anspruch nimmt, diefelben Leidenfchaften und Zweifel, die diefen erfüllen und peinigen, auch da draußen in der gejeßlofen, fast Fulturlofen Atmofphäre ver Wildniß bei einem jufammengewürfelten Haufen meifterlofer Menfchen zu Tage treten, und die jelben Eonflicte erzeugen wie in der Kulturwelt. Aldrich dagegen jchildert und das verhältnigmäpig geordnete Leben alter gefeßter und mohlerzogener Städte „Neuenglands“, in denen dad Puritanertbum der Roundheade nod) deutlich wirft alfo auch directe Erinnerungen an die vor zmeihundert Jah— ren eingemwanderten Vorfahren ſich erhalten haben Städte, welche bewohnt find von einer für Amerifa denfbar confervativften und jtabiliten, dur und durch autochthonen Bevölkerung, der es tagelang zum Stadtgejpräch dient, wenn ein Kind der Gemeinde hinaugzieht, um fein Glüd in den Minen zu fuhen. Und dennoch müßten diefe Städte nicht Theile der amerifanifchen Union fein, wenn das milde Reben, welches da draußen in den Goldwüſten brandet, nicht feine mächtigen und unreinen Wogen bis hierher wälzen jollte in das reine glatte Waſſer der Kleinen Hafenftadt, hinüber über die Dämme der Ordnung der civilifirten Theile der Union. Während alfo Bret Harte

mit Vorliebe ſich die Aufgabe jtellt, zu zeigen, wie auch inmitten des wert. Grenzboten IV, 1874, 13

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lofeften Gefindela der Welt wahrer Seelenadel zu finden fei und die Erin- nerungen an die gefittete Welt, an Erziehung, Religion und Gewiſſen, an die taufendjährige Entwidelung des menſchlichen Geſchlechtes auch das ver- lorenfte Geſchöpf diefer Wildnig in jtilen Stunden überwältigt, und der Dichter fo uns die feite Hoffnung begründet, daß keineswegs alle Brüden ab- gebrochen find zwifchen der Kulturwelt der Union und diefen gefeßlojen Diftrikten: fo zeigt und Aldrich andrerfeit3, daß unabläjjig der meifterlofe fulturlofe Sinn der Abenteurer der Goldfteppen in die befriedeten Kreife der Kultur verheerend einbricht, innerhalb deren man fi fo groß, fo ficher, fo unangreifbar und vollfonmen fühlte Mit einem Worte: Bret Harte ftellt dar die unauslöfchlichen Spuren der Kultur und Sitte in der Wildniß, im fulturfernen Menfchen, Aldrich die unausrottbaren Rüdfälle und Heimfuchungen, welche die ftaatliche Gemeinſchaft mit fat Fulturlofen Territorien den gefitteten Städten und Staaten der Union bringt. So fpielt, wie ſchon oben erwähnt, in der Hauptnovelle des vorliegenden Bandes, „Prudence Palfrey“, ein Hod- ftapler von eminenter Begabung, welcher dem Helden des Stüdes den fauren Ertrag gemeinfamer jahrelangen Mühen in den Minen geftohlen hat, die erite und fohmierigfte Holle der Novelle, unter der Maske eines Geiftlichen der Ziegelkicche in Rivermouth. Selbitverftändlich hat er fich feine Predigten in derjelben freien Weife angeeignet, wie die achtzig- oder hunderttaufend Dollard feiner früheren Minencollegen. Mit welcher Feinheit und mit wel- chem Humor diefe Figur gezeichnet ift, fol unten dargeftellt werden. Die Art der Arbeitötheilung zwiſchen Bret Harte und Aldrich entfpricht vollkommen ihren Naturen. Der Nachmeis edeljter Menfchlichkeit in den denkbar roheften und gefeglofeiten Verhältniffen entipricht mehr einer erniten poetifchen Richtung ; die Schilderung der Gonflicte, welche ein in die Kulturwelt verfchlagener Abenteurer erzeugt, paßt mehr für den rein humoriftifchen Dichter.

Das it ein Theil der Probleme, melde die Gegenwart der Union ihren Schriftftellern ſtellt. Das für und wohlmwollende Beurtheiler nord- amerifanijcher Berhältnifje beflemmendfte Problem der Gegenwart aber: wie die Gorruption in der öffentlichen Verwaltung der Gentralregierung, der einzelnen Staaten und jeded größeren Gemeinweſens wirkt, welche Hoff- nungen und welche Mittel für ihre Beſeitigung vorhanden find, befchäftigt feinen der beiden Schriftiteller. Sie mochten mit Recht erfennen, daß die wihtigfte Zufunftöfrage der Union nur in ernften politifchen Berathungen und Thaten, nicht im Roman und in der Novelle ausgetragen werden könne.

Dagegen hat Aldrich zwei der wichtigften Ereignifje der Bergangen- heit und Entwidelung ſeines Landes zum Gegenitand der Erzählungen in diefem Bande gemacht: die Ginführung von Gifenbahnen und Telegraphen,

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und den großen Krieg mit dem Süden unter Lincoln. Für Amerika bezeich— net der Uebergang von der Poſt zur Eiſenbahn, von der Poſt zur Telegraphie noch in ganz anderem Sinne den Eintritt in die neue Zeit, als für und alt» eingefefiene Völker Europad. Denn erft von jener Epoche ab ift der größere Theil der Union dem modernen Verkehr erjchloffen worden. Es ift daher auch für die amerikanische Auffaffung diefer Neuerung höchſt charakteriftifh, wenn Adrih an einer vormaligen Poftherberge der Union, „der alten Schenke an Bailey's Kreuzweg“ zum erften Mal feit dreißig Jahren am Anfang diefes Jahrzehnts einen Gaft vorfprechen läßt, und wenn er dem einzigen Stamm: gaft diefer Schenfe, troß der enormen Maffe von Zeitungen und Beitfchriften, die er fih hält, Muße genug zugefteht, um dad Wahnbild „Andchens“, des elfjährtgen ungeborenen Sohnes der Jungfrau Mehetabel, in feiner Bhantafie zu erzeitigen. Der Krieg der Union mit den Südftaaten ſpielt in drei der Erzählungen feine Role, in „Prudence Balfrey*, im „Roman in River mouth”, und „Ganz recht“. In jedem diefer Fälle ift die Erinnerung an den feit beinahe hundert Jahren größten Nationalfrieg der Union in höchſt eigenthümlicher Weiſe wachgerufen, Jedesmal nämlich laſſen fich bei Aldrich erft dann die Reute mit Handgeld zum Sternenbanner werben, wenn fie gar nichts anderes mehr auf der Welt zu thun willen, um fich zu erhalten, oder um zu vergefien. Der Beifall, den auch diefe „Noveld* Aldrich's in feinem Baterlande gefunden haben, ift Beweis genug, da diefe Art von Verwendung de8 Unionskriegs in feinen Novellen ihm vom nationalen Standpunkt aus nicht verübelt worden, daß ein großer Theil feiner Landsleute fie der Wahr: heit verwandt hält. Darin liegt für und Deutfche eine große Genugthuung. Bei und würde der Schriftiteller, der conjequent nur verzweifelte Eriftenzen unfern Fahnen zumeijen wollte, der einmüthigen Entrüftung der Nation be gegnen, weil eine folche Daritelung mit der Wahrheit in den ſchreiendſten Gonfliet träte. Für dad Miliziyftem kann es keine vollftändigere Impotenz— erflärung geben, als die Motive, welche die drei Helden Aldrich's bewegen, Handgeld zu nehmen. Unſrer Fahnenehre wäre der Gedanke ded Handgeldes ſchon unerträglich.

Der Leſer mag diefe Betrachtung vielleicht zu ernft nennen, wo es ſich um die Beurtheilung humoriftifher Produktion handelt. Aber unmillkürlich wird fie Jedem ſich aufdrängen, der Aldrich mit Aufmerkſamkeit lieit. Nur joll bier diefer Gedanke nicht weiter verfolgt und au nicht fo nahe das läge in Verbindung gebracht werden mit der Frage, ob nicht das un- bändige Freiheitögefühl oder beffer die gänzlihe Entmöhnung von jedem energijchen Zwang, den ung Aldrich in feiner Skizze „ein junger Raufbold“ jo föftlich perfonifizirt, ſchuld daran ift an diefem und den meilten anderen Gebrechen, welche die Union heute zur Schau trägt, Die Verfolgung viefer

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Gedanken ift, wie gefagt, den Fachpolitifern drüben zu überlaffen. Hier fol der Lejer nur ein Bild des Humoriften nicht des Staatsphilofophen Aldrich gewinnen. Und am beften wird dieſes Bild, nad) diefen einführenden Worten, wohl durd ihn felbft gegeben, indem wir der bedeutendften feiner hier ges fammelten Erzählungen, „Brudence Palfrey“, folgen.

Der Gang der Erzählung ift kurz der folgende: Der reiche ehemalige Brauer, jest Rentier, Ralph Dent in Willombroof, bei Rivermouth , ift der Vormund der Waife feiner ehemaligen Flamme Mary Gardner, Prudence Balfrey, geworden und hält das Mädchen wie fein eigen Kind in feinem Haufe Sein Neffe John Dent verliebt fi in die Mündel feine® Onfelg, wie er ald Student die Ferien im Haufe des Onkels zubringt. Johns Vater ift todt, Vermögen hat er nicht, eine Xebenäftellung ebenfowenig. Als der Onkel rauh und entjchieden die Erklärung des Neffen von der Hand weiſt die Gefühle ded Onkels für die Tochter feiner alten Liebe waren damals etwas zärtlicher, ala diejenigen eines Bormundes abfolut jein müflen und Sohn das Haus verbietet, wartet der junge Mann nur noch folange im Pfarrgarten des ehrwürdigen Paſtors Wibird Hawkins eined Freundes ſeines verftorbenen Vaters bis er „Prue“ noch einmal gefehen und ihr Treue bis in den Tod gelobt hat, dann geht er von dannen in die meite Melt d. h. natürlich in die Minen, um fein Glück zu machen. Für Prue it die ſchlechte Behandlung John's dur ihren Vormund natürlich das Signal, diefem offen ihre Liebe zu John zu erflären, an der fie bis dahin felbft zweifelte. Der Onfel nimmt diefe Erklärung, nad) einem längeren Schmollen, gütig auf, und der Neffe würde unzmeifelhaft zurüdigerufen werden, menn man müßte, wo er wäre. Das erfährt man indeflen erft nach einem Jahr. Sohn Dent hatte inzmifchen zufammen mit dem Sohn ded Diafonen Twombley von Rivermouth und einem erfahrenen Goldfuhher Georg Neving, der fich ihnen angefchloflen, gemeinfam ein Vermögen in Gold und Silber gewonnen, und dachte bereit3 an die Heimkehr, als eined Morgend Georg Nevind mit dem gefammten Vermögen feiner Aſſociés verſchwunden iſt. Sohn Dent thut nun das Weußerfte, was ihm zu thun übrig bleibt, er nimmt Dienfte im Kriegsheer der Union und wir willen für Jahre nicht, ob er todt ift oder lebt. Prue bringt indefjen ihre traurigen Tage am liebften bei Paſtor Hawkins zu, bis diefer überalte Mann dur den Einfluß ihres Onfeld von den Diakonen der Gemeinde entlaffen wird, und infolge diefer Entlafung fofort an einem Schlagfluß ſtirbt. Das bisher Erzählte ift als Epifode fpäter eingeflodhten, die Entlafjung ded Paſtors bildet das erfte Kapitel der Erzählung und der vor unferm Auge in der Gegenwart fi ab— fpielenden Thatfahen. Der Paſtor hat Hohn Dent zum Univerfalerben feined bedeutenden Vermögen? eingefett. Doc fol der jung Mann erft

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ein Jahr nach feinem Tode davon erfahren, und wenn er in diefer Zeit ftirbt, fol das ganze Vermögen an Prue fallen. Der neue Geiftlihe nennt fih James Dillingham er ift in Wahrheit niemand Anders als Georg Nevind, der Kohn Dent audgeraubt und feinen zweiten Gompagnon, den jungen Twombley in einem Bankierhaus in Chicago placirt bat, um in Nivermouth ganz ungeftört feinem Plan nachgehen zu können: Prue zu beirathen,; denn Mr. Ralph Dent ift ihm fehr gewogen, und Dillingham- Kevind Fennt das Teftament ded alten Paſtors und er verfuht daher Sohn Dent durch einen Helferähelfer, der ihm ſchon früher die beften Dienfte geleiftet, und dem jungen Mann fortwährend als Spion folgt, aus dem Wege zu räumen, um dadurch Prue, auf deren Hand er hofft, die Erbichaft zuzu— wenden. Bon al diefen Plänen und Dingen erlangen wir bei Aldrich natürlich erft am Ende der Erzählung Kenntniß; aber der wahre Genuß der Lectüre wird nicht verringert, fondern erhöht, wenn wir ed fhon im Voraus wiſſen. Denn Aldrich gehört keineswegs zu jenem fchriftftellerifehen Mittels gut, defien Producte man kaum ein zmeited Mal lefen möchte, nahdem man glüdlich weiß, „wie es abläuft.“ Im Gegentheil: die vollen Feinheiten der Sharakterzeihnung und des Humors, die Aldrich bietet, werden von und erft dann ganz empfunden werden, wenn wir vom Intereſſe und der Spannung der Handlung nicht mehr gefeffelt werden, alfo bei einer mehrmaligen Lectüre.

Sehen wir nun zu, wie diefer ehrmwürdige Mir. James Dillingham zu- nächſt bei feiner Gemeinde fich einführt. „Rivermouth tft eine Stadt“, fagt Aldrih, „wo beinahe buchftäblich nicht paffirt. Bisweilen heirathet jemand, bisweilen ftirbt jemand mit überrafchender Plöglichfeit, wie zum Erempel der alte Paſtor, und biöweilen weht der Wind ein Schiff an die Felfen vor der Mündung der Rhede. Aber von jenen lebendvollen Tragödien und Ko— möbdien, aus melchen fi in großen Städten das Leben zufammenjest, wußte Rivermouth nahezu gar nichtd. Seit in den Tagen vor der Revolution eine oder zwei Heren gehenft wurden, ift das Amt eined Sheriffd dort thatſächlich eine Sinecure gewefen. Das Polizeigericht, wo der einzige Gewohnheitäfäufer periodifh nad dem Stadtgute gefchickt wird, fieht faſt wie ein Zmeig ber Sonntagsfhule aus. Man kann fagen, die Gemeinde Habe dreißig Jahre von einem einzigen Eheſcheidungsfalle gelebt, der fi) aus dem Davonlaufen des Majord Tone Deering mit Frau Honoria Maddor entwidelte noch heutigen Tages eine gefährlihe Geſchichte, welche Matronen mit fcharfer Zunge Jungfrauen mit niedergefchlagenen Augen erzählen.” ine Kleinftadt diefer Art die Detatld für die allgemeine Bereitwilligkeit zur Neugierde und Klatfhfucht auf Koften der Nachbarn werden von dem Dichter bier und an anderen Stellen der Novelle in der Tiebevollften Weife gehäuft mar natürlih für das feltene Ereigniß der Probepredigt eines neuen Pfarrers

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ganz beſonders empfänglih. Allein noch keineswegs etwa für die Perjon des Predigers und dad, was er fagen wollte. Im Gegentheil, dank der langen Amtsdauer und Beliebtheit ſeines Vorgängers hatte Herr Dillingham einer fo Eritifchen und unfympathifchen Gemeinde gegenüberzutreten, ald nur möglih mar. Dafür aber war ed an jenem Morgen in der Ziegel-Kirche ebenfo voll, wie in allen andern Kirchen der Stadt leer. „Joſiah Jones, Hohmwürden, der ſich bei der Ausarbeitung feiner Predigt für den Vormittag nicht gefhont hatte, ſah mit übel verfehltem Aerger, daß der größere Theil feiner Heerde fih auf die benachbarte Meide verlaufen hatte.” Schon ala Herr Dilingham die Kanzelftufen hinaufftieg, machte er, wie fi fpäter herauäftellte, einige Groberungen. Er war „ein fchlanfer junger Mann, faft ſechs Fuß lang, mit fanftem blauem Auge und langen Haaren von dunfel- blonder Farbe, die er hinter die Ohren gebürftet trug. Der feftgejchnittne Mund und das Entichloffenheit verrathende Kinn bewahrten fein Geficht davor, weibifch audzufehen. Er war neunundzwanzig oder dreißig Jahr alt, aber fah nicht fo aud.* Sein Erfolg wählt, ald er dad Gebet gejprochen und den Grundtert zu feiner Predigt in der heil. Schrift marfirt hat „und dag mildheitere bleihe Gefiht, da8 fo wenig zu verfprecdhen geſchienen, von geiſtigem Leben erfüllt“ war. Die Predigt vervollſtändigte den Sieg. Nur Seth Wiggins blieb unbezwungen, „da er in alles vergeſſenden Schlummer gefallen war und inſtinetmäßig mit einem Ruck erſt erwachte, um den Segen zu empfangen, und jenen halb um Verzeihung bittenden, halb trotzigen Geſichtsausdruck annahm, der den chroniſchen Miſſethäter bezeichnet.“ Wir übergehen die köſtliche Schilderung von dem, was die Leute, namentlich die Frauen, zur erſten Predigt des neuen Paſtors ſagten. Genug, den nächſten Sonntag fiel der Talar des hochwürdigen Paſtor Wirbid Hawkins über ihn, und er war wohlbeſtallter Geiſtlicher in der Ziegelkirche. „Wie ich die Dinge anſehe, war es eine Art Feuerprobe, die Herr Dillingham in den erſten drei Monaten zu beſtehen hatte;“ es war nämlich herausgekommen, daß er unverheirathet ſei „ein eitler Mann hätte binnen Wochenfriſt Schiffbruch gelitten. Aber der hochwürdige Herr Dillingham war, wie Ralph Dent erklärt hatte, ohne kleinliche Einbildung. Die Aufmerkſamkeiten, die Herrn Dillingham von allen Seiten zu Theil wurden, würden von zehn Männern, die in ſeine Stellung gelangt waren, acht verdorben haben. Es iſt fo leicht, der hohen Meinung, welche andere Leute von uns haben, noch ein Stockwerk aufzuſetzen. Es wurden bei den Honorationen Abendgeſellſchaften für Herrn Dillingham gegeben; es gab Pieniks den Fluß hinauf und Ausflüge nach der Rhede und unzählbare Theeabende am Ufer. Ich weiß nicht, ob Herr Dillingham einen ſtark aus— geprägten Sinn für Humor hatte, aber ſelbſt wenn er nur mäßig humo—

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riitifch veranlagt war, muß die Menge von geftickten Bantoffeln, genial er- fundenen Tintenwiſchern, Studirfäppchen und gejchnigten Papiermeſſern, die bei dem um diefe Zeit zum Beſten der Heidenmiffionen abgehaltenen Bazar auf jein Theil fielen, ihn ebenſo ergögt, als in Verlegenheit gejegt haben. Wenn er ein Taufendfuß geweſen wäre, jo hätte er unter vier Jahren die Bantoffel nicht abtragen fönnen, und wenn er fie auh Tag und Naht an- bebalten hätte. Wenn er eine Hydra gemwefen wäre, fo hätte er nicht Köpfe genug gehabt, um in einem Menfchenleben mit den Studirfäppchen fertig zu werden. Briareus hätte nicht Hände genug gehabt, um die Papiermeſſer zu halten. Die Pantoffeln überwimmelten das Schlafzimmer des Herrn Dilingham wie Heufchredenfhmärme, die fi) auf Egypten niederließen. Die Zintenwifher machten, daß fein Studirtifch wie ein Beet vielfarbiger Geor- ginen ausſah.“ Er entgeht indefjen mit derfelben Anmuth und Heiterkeit auch viel gefährlicheren Achtungsbezeugungen. „Es gab ein plögliches Senken von Augenlidern, ſchwarzen und goldenen, wenn er ſprach; verftohlene Blicke vol Schüchternheit und Ehrerbietung, halb geöffnete Lippen, die jenes athem- loſe Intereſſe verriethen, welches das höchfte aller Gomplimente ift und mie Mein zu Kopfe jteigt.”

Auh die Männer in Rivermouth wurden fämmtlih vom neuen Paſtor begeiftert. Gr erwies fi) ald zartfühlender Wohlthäter der Armen. „Selbft der einzige Gewohnheitsſäufer pflegte, falls er das Kicht feined Antlitzes nicht gerade auf dem Stadtgute verbarg, krampfhaft nach feinem zerdrücdten Hut zu greifen, wenn er dem jungen Paſtor auf der Straße begegnete. Auch er fürdtete fih nicht, fi um einen Dollar an den Paſtor zu wenden, da er entdedt hatte, daß er die Münzen ihm nicht aus einer folchen moralifchen Höhe zufallen laffen würde, daß ihm davon der Athem aus dem Leibe ge- trieben und alle feineren Gefühle verwundet werden würden.” Und Sam Kembley, demokratiſches Mitglied des Obergerichts, fagte von Dellingham: „Man fann mit hellen Augen ſehen, daß er zu der füdlichen Ariſtokratie gehört, aber er Flettert nicht immer und ewig feinen Stammbaum hinauf. Da haben wir den alten Blydenburgh, der hodt in einem weg auf den obern Zweigen und fchmeigt mit Kokosnüſſen feiner Ahnen nad) den gemeinen Xeuten herunter.“ Dder mie Aldrih auf eigene Rechnung binzufegt: „Sch bin in der Hauptitadt des Freiſtaats Mafjachufett3 zwei oder drei jungen Herren begegnet, welche die dee zu haben fchienen, daß fie in der Schladht bei Bunkershill getödtet worden wären.“

All diefe Erfolge waren Herm Dillingham jedenfalld verhältnigmäßig gleihgültig gegenüber denjenigen, die er in Willowbroof davontrug. Ralph Dent war von Anfang an fein aufrichtigfter Bewunderer. Gr betrachtete mehr und mehr die Verheirathbung feiner Mündel mit Herrn Dillingbam als

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den fchönften Abſchluß feines Lebene. Aber Prue hatte ſich vorgenommen, den neuen Geiftlichen zu haſſen und fie blieb aud lange ftandhaft. Wenn dieſer nur ſich ein Klein bischen mehr von ihr erfreut gezeigt, für fie interef- firt hätte, jo märe fie ihrem Vorſatz gewiß treu geblieben. Aber er fchlägt die Einladung ihres VBormundes, in Willomwbroof zu wohnen, entſchieden aus. Gr verkehrt täglih im Haufe, aber er ift ihr gegenüber fo fteif und Ealt wie anı erften Tage. Dazu kommen die infamften Gerüchte „AZuerft ging das Gerüht, Herr Dillingham intereffire fih ſehr ftarf für Fräulein Palfrey, und dad war hinreichend verdrießlich; aber fpäter änderte das Gerücht feine Taktik und berichtete, dag Fräulein Palfrey fih ftark für Herrn Dillingham intereffire. Der Klatjch ift mie die Vorſehung unergründlich in feinen Wegen, er hat feine Gefege, wie wir annehmen dürfen, Far ausgeprägt, wenn man ihnen nur beifommen könnte; aber fie lafjen fich durch inductives Denken nicht erreichen, und fo muß es ein Räthfel bleiben, wie e8 Fam, daß man in Rivermouth glaubte, Prudence wäre in Folge ihrer unerwiderten Liebe zu Herrn Dillingham unglücklich. Wollte ich fagen, dag fie von diefer ärger: lihen Geſchichte nicht fobald, ald fie geboren war, gehört hätte, fo bieße das jagen, Prudence hätte Feine vertraute Freundin gehabt, und da gab es doch Fräulein Veronica Blydenburgh.“ Unter folchen Umſtänden war es gewiß nicht ungerechtfertigt, daß Prudence „das Gefühl hatte, daß e8 doch eine höchſt mohlthuende Rechtfertigung und ein rechter Triumph fei, wenn Herr Dillinghbam fih mit Maßen in fie verliebte und ihr Gelegenheit verfchaffte, den Beweis zu liefern, daß fie nad) diefer Seite hin fi) nichts aus ihm made”. Das Fam eher als fie Dachte, und vielleicht ihr felbft nicht fo gleihgültig, wie fie meinte. Ralph Dent, Dillingham und Prudence pflegten miteinander fpazieren zu reiten. Eines Tages vertrat fich Herr Dent plöglich den Knöchel und nun mußte das junge Paar vor Sonnenuntergang allein augreiten. Sie ritten weit und einfam big zu einer verlaffenen alten Redoute, manchen Abend hintereinander. Die Landſchaft flammte, von dort gefehen, im Golde der finfenden Sonne „Nah und nad) zerichmolz der Scharladh- ftreifen in Zinnober, dann in matted Gold, dann in Silber und dann gleich dem Uebrigen in farbloſes Grau, wie die Aſche von Roſen und das erite Zwielicht breitete fi über Land und See aus. „Es ift wie ein Traum, nicht wahr?“ murmelte Prudence für fih; denn in diefem Augenblicke hatte fie die Gegenwart ihres Begleiterd vergejen. Herr Dillingham beugte ſich vor, ohne ein Wort zu fprechen, und legte feine Hand leicht auf die Hand Prudenece's, welche ohne Handſchuh auf der ſchwarzen Mähne ihres Pferdes rubte. Das Mädchen erhob ihre Augen mit einer fchnellen Bewegung nad) dem Geſichte des jungen Gelftlihen, und zj0g dann langfam ihre Hand zurüd, „Prue!“ ſagte Herr Dillingham leiſe.“

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Er hält in jenem Augenblik um ihre Hand an, wie wir fpäter erfahren. Uber Prudence verdient ihren Namen. Sie zeigt ſich als die Klugheit felbit. Sie nimmt ihn nicht an und weiſt ihn nicht ab. Sie fordert Bedenkzeit wie lange, fagt fie nicht. Inzwiſchen naht das Jahr nad) dem Tode des Paſtor Hawkins feinem Ende, und Ralph Dent ala Teitamentsvollftreder hat dann die Pflicht, feinem verfchollenen Neffen John Kunde vom Grbanfall ju geben, was dieſen natürlich vorausfichtlic nach Siwermouth zurüdführen wird. Grund genug für Dillingham-Nevins, ſich den doppelt gefährlichen Nebenbuhler ganz vom Halfe zu fchaffen und damit wohl auch die lange Be- denkzeit Prudence'3 abzufürzen. Zu diefem Zwecke läßt Dillingham Kohn durd) jeinen Spion die Kunde zutragen, daß Prudence nächſtens den neuen Paſtor beirathen werde. Und ala Kohn felbft wieder einmal fchreibt im Begriff ur Truppe zu ftoßen —, läßt er ihn von feinem Spießgefellen meuchlings anſchießen, und diefer faubere Geſelle kommt dann unter der Maske eines Dberften Todhunter felbft nad Rivermouth, um dem Onkel Ralph zu er zählen, fein Neffe Kohn babe im Negiment des Oberften gedient und ſei ge fallen. Diefe ganze Scene, bei der natürlich Dillingham zugegen ift, und nit mit einem Muskel verräth, daß er den Mfeudoeifenfrefler und Gewohn— beitätrinfer Todhunter jemals gefehen habe, ebenfowenig ahnt es der Leſer gehört zu den vorzüglichften der ganzen Novelle. Um die Täuſchung zu vollenden, treibt fi) der Oberſt noch tagelang in der Stadt umher in allen Kneipen und Schnapsfchenten und wird fchließlic vom Paftor mit dem er dasſelbe Hotel bewohnt mit Manier und erborgtem Reifegeld ge- waltfam fortgebradht. Den Gemwohnheitäfäufer der Stadt „Jah man in diefer Periode Todhunter im Zuſtande hoher Erregtheit des Gehirns in den Straßen umberflattern. Er wurde unter dem Einfluffe oder richtiger den Einflößungen des Oberften beinahe allgegenwärtig und brachte faft die ſchwierige Aufgabe fertig, in demjelben Augenblide in zwei verfchiedenen Quartieren der Stadt. zwei Hläfer zu leeren.” Dann, nad dem Verſchwinden des Oberften heißt «8: „Der tapfere Oberft war zu den Nivermouthern wie der gute Queßalcoatl zu den Aztefen und wie Hiamatha zu den Indianerftämmen Nordamerikas herab- geftiegen und gleich diefen Gottheiten geheimnißvoll wieder geſchieden. Ein Glaube, daß er miederfehren werde, um eine Aera gratis verabreichten Ja— maica-Rums einzuweihen, bildete fi) unter einigen Auserwählten ganz von jelbft zum Glaubenäbefenntnig aus. Herr Odiorne (der Verkäufer geiftiger Getränke) hatte e& mit feiner Miederfunft fehr eilig, aber das war mehr ein Wunſch ala ein Glaube”.

Ralph Dent theilt beide Nachrichten, die, daß Sohn felbft geichrieben, und daß er bald darauf durch den Oberften todt gejagt worden ift, Prudence

nicht mit, um ihre Ueberlegung auf den Heirathsantrag Dillingbam’s nicht Grenzboten IV. 1874, 14

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zu ftören durch die lebhafte Rüderinnerung an John, der in der That aus dem Kreife ihrer täglichen Gedanken mehr und mehr geſchwunden if. Un den Tod John's glaubt überdie8 Herr Ralph Dent felbft nicht. Es ift nun meifterhaft gezeichnet, wie das Bild des fernen Geliebten fich bei Prudence wieder belebt und erwärmt, fobald fie ernſtlich mit ſich zu Rathe geht, welche Untwort fie Dillingham geben fol. Somie fie aufhört, diefen dilatorifch zu behandeln, legt die flammende Erinnerung an die erjte Liebe ihres Mädchen- berzend ein abfolutes Veto ein, und die entfcheidende äußere Veranlaſſung zur Abmeifung Dillingham's wie diefer fie bittet das Lied „der Alte Robin Gray”, eine ihrer eigenen Situation verwandte Ballade zu fingen ift nur die formelle Beftätigung defjen, was bei ihr ſelbſt längſt beſchloſſen mar. Sie bricht mitten im Liede ab und läuft davon. Herr Ralph Dent, der das Paar allein gelaffen hatte, um die erhoffte Enticheidung ja nicht aufzuhalten, findet nur Dilingham, zum erften Male nicht in befonderer Raune.

Das Kartenhaus ded Schwindlers bricht nun rafch zufammen. Am an- dern Morgen fehrt Hohn Dent verwundet und verfümmert zurüd, in einem Anzug, „den fein Onfel von Zeit zu Zeit nachdenklich betrachtete und ent- ſchloſſen mar, in nicht ferner Zeit im Garten hinter dem Haufe eingraben zu lafjen.“ Leider entwijcht Nevin® mit feiner Beute (dem früher geftohlenen Gelde John's) abermald. Denn Nevind hat fein Opfer bereit? am frühen Morgen nah jenem Abend, an dem Prudence das Lied vom Alten Robin Gray nicht zu Ende fang, in einer Drofchke über die Brüde fahren fehen, die nah Willowbrook führt, und gefehen, wie John bier den Diener feines Oheims geſprochen, der eben mit Prudenee's ſchriftlichem Nein Herrn Dilling- ham zuftrebt. Erft am andern Morgen entdedt John durh eine Photor graphie Dillingham'd, daß er Georg Nevins ift, und Onfel und Neffe finden natürlich den faubern Vogel längft nicht mehr in der Stadt. Was aus John und Prudence geworden, verräth und Aldrich deutlich genug am Ende, indem er fagt, er habe im letzten Frühjahr bei feiner legten Anweſenheit in River- mouth einen Heinen Mann fi auf einem Gartenthore der Befisung des weil, Paſtor Hawkins jchaufeln jehen. „sch hatte diefe Eleine Perfönlichkeit nie zu- vor gejehen, aber ed lag etwad munderlih Bekanntes in den ſchwarzen Haaren und den aufgewedten fchwarzen Augen, etwad wunderlich Befanntes in der biegfamen, gefchmeidigen Geftalt (ed war, wie wenn John Dent, von fünf Fuß acht Zoll zu drei Fuß vier Zoll verfchnitten worden, wäre) und ala er meinen Gruß mit jener cavaliermäßigen Mine erwiderte, welche unfern jehsjährigen Mann von Welt bezeichnet, fo lag in feiner Stimme ein Ton- fall fo feltfam gleich dem Tonfall in Prudence'd Stimme, daß ich In mid bineinladhte.*

So kurz und gedrungen diefe Auszüge naturgemäß fein mußten, foviel

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wird der Leſer daraus erfehen, daß Aldric ein Humorift von ungewöhnlicher Begabung ift. Er mag Bret Harte vielleicht nachftehen in der Tiefe der poetifhen Auffaffung und in der Feinfühligkeit feiner Naturfchilderungen Farbenfinn z. B. fcheint Aldrich nicht im Uebermaße zu beftgen, fonft würde er u. A. nicht mit MWohlgefallen ſchreiben: „die Gruppen runder Inſeln auf der Rhede fahen wie Smaragden in Türkis gefaßt aus“. Uber er ift Bret Harte weit überlegen in der Sorgfalt und detaillirten Ausarbeitung feiner Charakterfchilderungen: wir erhalten überall fertige, durchaus anfchauliche Bilder, die nirgends in Nebel zerfließen, von denen wir fogar meift genau wiffen, wovon fie leben. Und Aldrich's fpezififh humoriſtiſches Talent, namentlich die Fülle feiner humoriſtiſchen oder ſatiriſchen Vergleiche und Wendungen dürfte unter den Zeitgenoffen wenig Rivalen haben.

Endlich ift noch ein herzliches Lob dem Ueberfeger zu fpenden. Die aud- geſprochene Vorliebe des Ueberfegerd für einige unfchöne Provinztaliämen, wie 3. B. das häufig miederfehrende fächfifhe „Feixen“, abgerechnet, iſt diefe Heberfegung ald außerordentlich gelungen zu bezeichnen. Nirgends iſt der deutfchen Sprache Zwang angethan, um dem Driginal treu zu bleiben; nirgend8 aber auch der Geift und Sinn ded Original® vergewaltigt, um mit Umgehung fpradhlicher Schwierigkeiten bequem darauf los fchreiben zu können. Eine Fülle Dialefte, Nüancen und Wortfpiele find mit Birtuofität wieder— gegeben. Kurz, wer Aldrich im Original gelefen, wird fich herzlich freuen, ihn fo verdeutfcht zu fehen; mer ihn in diefer Ueberſetzung lieſt, darf fagen, Adrih zu kennen.

Hand Blum.

Die Yanken in Tuxemburg.

Mie ſich der materielle MWohlftand im Großherzogtbum Luxemburg während der letzten 20 bid 25 Jahre gehoben, bemeifen am beiten die in diefer Zeit hier ind Leben getreienen vielen und bedeutenden Banfinftitute. Bor 25 Fahren vegetirten bier ein paar faum weiter befannte Heine Bank— häufer. Der Handel und die Induftrie, welche, bei unferm geringen Verkehr und den geringen Verfehrämitteln, halb und halb von der umliegenden Welt abgetrennt waren, fhienen nicht im Stande, bedeutenderen Bauunternehmungen die genügende Stütze und Garantie zu bieten. Aderbau und Viehzucht waren die erften und bedeutendften Ermerböquellen ded Landed. Die menigen Kleinen Fabrifen und Gewerbe, welche durch das Land zerftreut lagen, und

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unter denen die Papier-, Steingut- und Zuchfabrifen mit der Lohgerberei die bebeutendften waren, bedurften nicht erheblicher Betriebscapitalien und waren daher auch nicht dazu angethan, große Kapitalien ind Rand zu ziehen. Das bier fabrizirte Steingut wurde meiften® von den FEleinen Krämern und Haufirern im Lande felbft oder in deffen nächſter Nahbarfhaft an Ort und Stelle gekauft, auf Kleine Gefärthe, Teichte Wagen, Krämerkarren, Schieb- farren, ja Hotten, verladen und ringsumher colportirt, manches jogar gegen alte Rampen, altes Eifen oder fonft gangbare Waare vertaufht. ine Fabrik konnte von Glüd fagen, wenn fie von Zeit zu Zeit eine tüchtige Sendung per roulage, wie wir bier fagten, nad) Belgien ausführen fonnte. Unfere Papierfabrifen, die ſich noch bis in die letzteren Zeiten mit der Handfabrifation begnügten, Eonnten ſchon dadurch zu Feiner Bedeutung fommen. Uber wie follten wir, jo von aller Welt ifolirt, zur Mafchinenfabrifation kommen ? Wo hätten wir mit einer ftärferen Produktion Hin geſollt? Auch unjere Tuchfabriken waren kaum über die erften Elemente der Tuchfabrikation hinausgekommen. Site fabrizirten aus der einheimijchen Wolle ganz; tüchtiges, freuzbraves Zeug, das vorhielt Generationen und Generationen hindurch , fo daß wie das noch beim Schreiber diefer Zeilen der Kal war der Enkel im Brautrod des Großvater zur erften Communion gehen konnte. Wer aber die Glieder in dem liniendiden Zeuge kaum bewegen konnte, dad waren die Enfel der Grofväter. Daß ein ſolches Produkt nicht fehr zum Erport nad Rändern hin geeignet fein fonnte, die und in Allem ein halbes Jahr: hundert voraus waren, begreift der Leſer gewiß ohne große Schwierigkeit.

Mie weit die Eifeninduftrie in jener Zeit bei und vorangefchritten war, geht wohl zur Genüge daraus hervor, daß ein nicht unbedeutender Haufir- handel mit altem, verroftetem Eifen, wobei jogar die alten verrofteten Schubr, Huf und andere Nägel nicht verfchmäht wurden, durchs ganze Land ge trieben wurde. Diele von diefen Haufirern, meiften® Juden, durdhtrabten fogar ihren Bezirk auf Schufterdrappen, den ſchweren Sad mit dem „Eoft- baren” Metall auf dem Rücken. Wir befaßen auch wohl damals ſchon einige fogenannte Puddlingswerke, jo namentlich das des Herrn Collart in Dommeldingen ganz in der Nähe der Hauptftadt, aber ach! meld eine kläg— lihe Figur würde heute das ehemalige Dommeldinger Eifenwerf neben den gewaltigen Hüttenwerfen der Gefellihaft Metz & Co. machen! Hier festen damals die Haufirer ihr altes Eifen ab, wenn fie e8 nicht vorzogen, es den einfachen Huf- und Grobfchmieden zu verkaufen, die dafür ein paar Heller mehr zahlten.

So ſah es mit unferer Großinduftrie vor etwa 30 bie 40 Jahren no aud, wenn der Name die Sade nicht noch Tächerlicher macht. Die Leber Induftrie ſtand allen andern voran. Sowohl Häute ald Lohe waren in

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reihlihem Maße im Sande vorräthig, fo daß hier unter fehr günftigen Bedingungen fabrizirt werden konnte. Und fo machten unfere Lohgerber Ihon früher recht brave Gefchäfte auf der Leipziger Meſſe, wie auch noch heute. Doch Hauptfahe war der Aderbau und die "Viehzucht, und Haupt: artikel unferd Exports waren Getreide, Pferde, Rindvieh, Schafe und Schweine Unfere Jahrmärfte waren ſtets maffenhaft befucht von aus- und inlfändifhen Getreide und VBiehhändlern, vorzüglich aber von israelitiſchen Pferde, und belgifchen und franzöfifchen „Schweinfäufern“, wie die Reute bier genannt werden.

Und mie der GErport, fo der Import. Beim Import machten die Solonialmaaren die Hauptfache aus. Das Volk Eleidete ſich meiſtens noch in jelbftgewonnenes, felbftgefponnenes und felbftgewebtes Zeug, welches feinen beiten Glanz beim Blaufärber erhalten hatte. WBlauleinene Hofen und ein blauleinener Kittel dazu war das gewöhnliche Nationalkoftüm bei ung.

Der Leſer begreift, daß, bei einer folhen faft patriarchalifchen Einfachheit dad Geld nicht in floribus bei und zu fein brauchte, und bet unferer elementaren Induſtrie auch wohl nicht in floribus fein konnte. Wozu hätten wir damals große Bankinftitute gebraudt. Es genügte reichlich an den Herren Notaren und Udvofaten, um den guten Bauern, die ſich da ſchinden lafjen wollten, das Fell über die Ohren zu ziehen. Große Kapitaliften, die ihren Bortheil auch damals ſchon verftehen mochten, fahen in unferm ifolirten Rändchen nichts, was fie hätte in Verfuchung führen können, ihr Geld bei diefem oder jenem Unternehmen zu riöfiren, dad etwa erft nad langen Jahren rentabel werden ſollte. Unſere großen Schätze, die beften Reichthümer des Landes, unfere Eifenerze und prachtvollen Hau- und Pflafterfteine mußten ungefhäst und unbenugt in der Erde liegen. Die gehaltvollen Bohnenerze, die man nur zufammenzufchaufeln und zu waſchen brauchte, um fie nach dem Schmelzofen zu bringen, machten den guten Bauern nur Verdruß und entwertheten ihr Erdreih. Die paar Hüttenwerke, weldhe unter ſolch günftigen Verhältniſſen ind Leben gerufen wurden, famen nicht fort. Sie vegetirten und verfümmerten. Es fehlte und an Verkehrsmitteln mit der Außenwelt. Wir ftanden ifolirt von dem übrigen großen europäiſchen Körper, und die reichen Verkehrsadern desſelben pulfirten nicht in unferm induftriellen Organismus, danf dem alten heillofen Schlendrian der leitenden Gewalten bei und. Das war, mie unfere Paftoren meinen, die goldene, paradiefifche Zeit, die Zeit der Unfchuld und des findlichen Glauben? und Gehorfamd. Für die guten Herren mag allerdingd die Zeit viel von einem goldenen Paradieſe (mie ed Pater von Cochem in feinen „vier legten Dingen“ fo lebhaft ſchildert) gehabt Haben. Das eiferne Zeitalter war es jedenfall® noch nicht, das follte und erſt der deutſche Zollverein bringen, und zwar zugleich mit den Eifenbahnen, diefer verruchten

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Erfindung des Zeufeld, denen auch der fromme und gottesfürchtige Banden- führer in Spanien, Don Carlos, Verderben geſchworen hat.

Alfo, mie gejagt, erft mit unferm Gintritt in den deutfchen Zollverein, jollte der Teufel bei und los gehen. Deutfhland braudte nämlich unfere Schätze, wir meinen diejenigen, die bis dahin nuslo® in der Erde lagen. Wir dagegen Fonnten da® deutfche Geld, Thaler oder Gulden, n’importe, fogar das Papiergeld, die preußifchen Caſſenſcheine, brauchen. Zwar zogen wir das franzöfifhe WFünffranfenftüf dem preußifhen Thaler vor (auch Flügere Leute ald wir, thaten das), aber befjer doch immer ein preußifcher Thaler oder auch nur ein füddeutfcher Gulden, ald gar nichte. Dabei ſagten ſich die großen Herren und fpefulativen Köpfe, melde Geld hatten, dieſes: Wenn der deutfche Zollverein unfere Eifenerze braucht und und dafür feine Thaler oder Gulden geben will, fo wären wir ja Thoren, wenn wir ihm feine Eifenbahn bauen wollten, auf welcher ex diefe Erze beziehen fann. Andere meinten fogar, wenn wir einmal die Eifenbahn hätten, könnten wir auch felbit unfere Erze ver- hütten und Deutſchland unfer Eifen fir und fertig (das Roheiſen vorerft) verkaufen; denn dadurch, meinten fie, fpare man die Transportkoſten für die Schlade und verfchaffe den armen Leuten im Lande Arbeit und Berdienft. Ja! nun ging den Kapitaliften auf einmal ein Licht auf. Und als die belgiſchen Koblenbefiger vernahmen, wir wollten, ſobald mir unfere Eifenbahnen haben, „Hütten bauen“ (Eifenhütten wohlverftanden), da fam ihnen ſofort der Gedanke, mir fünnten dabei wohl ihre Coaks gebrauden, und ein nettes Stück Geld könnte auch für fie dabei herausfallen. Freilich mußte dazu unfere Bahn Anflug an die ihrigen haben. Auf diefe Weife gab ein Wort das andere, ein Projekt führte auf das andere und unfere Eifenbahn- Geſellſchaft Wilhelm-Quremburg conftituirte fi, bradyte das Kapital zufammen und baute und unfere Bahnen.

So kam das Geld ind Land, der nervus rerum der Banfen und aller Induſtrie; und mit dem Gelde die Großinduftrie und die Banfen. Hier gab's gar nichts zu riefiren. Der Reichthum, den unfer Rand in feinem Schooße barg, und den man nur zu Tage zu fördern brauchte, zählte nad Millionen. Da konnte es alfo feine Schwierigkeiten haben, das Betriebö- Fapital Herbeizufhaffen. Doch hierzu bedarf es der Vermittlung der Geld— inftitute, der Banken. Sofort trat nun unfere Internationale Bank, ein deutfches Bankinftitut, mit einem Kapital von vielen Millionen, ind Reben. Die Bank verlangte weiter nichts, als ihre Millionen dem Lande und feiner Induftrie zur Verfügung zu ftelen; doch um nicht felbft zu kurz dabei zu fommen, follte das Rand ihr erlauben, Papier zu fabriziren (nämlich Banfnoten- papier) und zwar nur zum doppelten nominellen Werthe der Millionen, die fie, zu fo und foviel Procent, dem Rande und der Induſtrie zur Verfügung

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ftelte. Wir griffen mit beiden Händen zu, und dieß um fo eifriger, ald mir die Millionen der Internationalen Bank höchſt nothwendig brauchten, wenn es mit dem Bau unferer Eifenbahnen, von denen fonft alle® Uebrige abhing, niht den Krebögang gehen ſollte. Und kurz und gut, die Banf gab und ihre Millionen (natürlid nur auf Eredit), und wir ließen die Bank Papier fabriziren. Und mirklih, wenn wir dabei Fein ſchlechtes Geſchäft gemacht hatten, fo fchien die Bank felbft auch gar nicht übel zufrieden mit der Commiſſion, oder Provifion, oder wie man die Sache betiteln will, zu fein, die für fie dabei herausgefallen war. Sie profperirte zufehenne, und zwar jo jehr, daß ihre Korbeeren einen andern großen Bankherrn und nod größeres finanzielle und politifches Genie nicht Länger ſchlafen ließen. Dieſes Genie war noch dazu ein großer Freund und protege von Franfreich, der den „Preuß“ Faum minder verabfhheute, als den leibhaftigen Gottjeibeiund jelbft. Der Mann kannte fomohl feine eigene Kraft als Ddiejenige der ge waltigen Stügen, worauf fie fußte. Somohl ald Politiker, ald Finanzgenie juhte er Seinedgleihen. Diefer Mann nun fam von Belgien ber in unfer Rand mit dem feiten Entfhluß, zuerſt die deutfche Banf in den Grund zu bohren und zu zermalmen, und dann, um und das große, reiche, jchöne Frankreich, wo es die Banfherren und andere großen politifchen Herren damals jo gut hatten, zu anneftiren. Für die vielen Millionen der deutfchen Bank wollte und der franzofenfreundliche Bankherr doppelt fo viele von feinen Millionen zukommen laffen, und dabei follten feine Millionen in Fünffranfen- füden und nicht in lumpigen preußiſchen Thalern, gefchmweige denn in ſüd— deutſchen Gulden, beftehen. Wer hätte da nicht mit beiden, ja mit zehn Hän- den, zugreifen wollen, wenn er fie gehabt hätte, ich meine diefer die Hände, und der andere die Millionen. Wie es ſchien, fehlte ed dem großen Bankherrn faft noch mehr an den Millionen, ald und an den Händen, diefelben in Empfang zu nehmen. Erſt müßten wir, meinte er, und das reiche Frankreich annektiren, dann kämen die Millionen bald von felbft, und zwar direft aus der franzöfifhen Nationalbanf. Denn die neue Banf, die der Herr bei ung „gründen“ wollte, und die der deutfchen Bank den Garaus machen follte, jolte ja meiter nichts fein, als die Succurfale der großen Nationalbanf von Frankreih, und der Herr follte Oberdirektor derfelben werden. Doch fiehe! die deutfche Bank ftand fefter, als der geniale Finanzmann fich dag vorgeftellt hatte. Sogar feine beften Chikanen brachten fie nicht zum Wanfen. Es ging dem Freunde Frankreich der deutfchen Bank gegenüber, wie e8 Franf- veih felbft bald Deutſchland gegenüber gehen follte: er verlor die ſchöne Partie und ift bis zu diefem Tage noch nicht Oberdireftor der Succurfale der franzöfifchen Nationalbank bei und. Wir haben nämliche diefe Suceurfale bis dato noch nicht. Das große finanzielle Genie muß fich alfo mit einem

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Kleinen, ziemlich unbedeutenden Bankinftitute begnügen, bi® dahin, wo die „Revanche“ kömmt, die Succurfale der Nationalbanf von Frankreich im Schlepptau führend.

Seitdem aber ift ſchon ein anderes großes Banfinftitut beit und gegrün- det worden, nämlid die „Nationalbanf“. Wir befiten fomit ſowohl eine Nattonalbanf ala eine Internationale Bank, und beide überbieten fih darin, und ihre Milltonen aufzufhmwasen und Papier zu fabriziren, das man glüd- licher Weife im Auslande nicht nehmen will, jo daß wir den ganzen colofjalen Reichthum für und allein behalten. Glückliches Land! und um fo glüdlicher, als die Abneigung des Auslandeg, fich mit unfern Banfnoten zu bereichern, eher zu» al® abzunehmen fcheint. So fagt die „Kölnifche” in ihrer geftrigen Nummer, fogar der deutſche Neichdfanzler habe unferm Gefandten in Berlin fein Wort gegeben, daß fich Deutfchland nicht durch unfere Millionen in Banfnoten bereichern und und verfelben berauben wolle. Das ift ja recht tröftlih für und und unfere Banken. Gin Glück, daß unfere Eifenbahnen gebaut und in guten Händen find, und unfere Grofinduftrie nicht minder, weil diefe fonft den ganzen papiernen Schwindel verfchlucfen würden. So aber fann doch ein armer Teufel wie unfereind auch nody Hoffnung hegen, feinen Theil von den Millionen, die fonft Niemand will, zu erhalten.

Doch, Spaß bei Seite! Mas wollen unfere Banfen mit ihren vielen Banknoten anfangen, wenn diefe Niemand mehr nehmen will? Wird nicht dadurch unferm Lande felbit eine tiefe Wunde geſchlagen werden? Wenn auch das Land und feine Regierung keineswegs ſolidariſch mit unfern Zettel: banfen find und feinen direkten Theil an deren etwaigen Verluſten zu tragen haben, jo fann es doch für und nicht gleichgiltig fein, ob die Banfnoten diefer Inſtitute Curs haben oder werthlos find. Uns fcheint durch ſolche Verhältniſſe aus dem Handel und der Großinduftrie bei und Gefahr zu drohen, wenn der Gredit der beiden bedeutendften Bankinftitute unfer® Landes durch die Weigerung , ihre Noten in Deutjchland, auf welches fie doch großentheile berechnet find, circuliren zu laſſen, erfchüttert wird. Wir geftehen gern, daR wir in der Sache nicht competent genug find, um Far über die Folgen der beregten Weigerung aburtbeilen zu können. immerhin aber muß es den deutfchen Leſer intereffiren , diefe Frage hier aufs Tapet gebracht und etwas näher beleuchtet zu fehen.

Wir werden nicht verfehlen, fpäter, wenn diefelbe fich erft noch weiter in den Vordergrund drängen wird, an diefer Stelle auf diefes Thema zurüd- zufommen, N. Steffen.

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Vilder aus Mecklenburg.

Aus den Tagen der Bürgermwehr. 1. Don Hugo Gaedde.

Unter meinem Fenſter fpielen die Kinder „Soldat“. Des Nachbars Emil tt die Hauptperfon; die andern Kinder folgen ihm ehrfurchtsvoll, denn er trägt einen Tjchafo, den er Gott weiß woher erhalten hat. Und fah’ ich recht? MWahrhaftig, diefer mächtige Tichafo mit der ftrahlenden Sonne vorn und dem Vogel Greif in der Sonne, diefer furhtbare Augenfhirm an dem Tſchako und oben darüber der mächtige weiße Haarbujh —, das ft wahrhaftig noch ein Käppi von der alten Roftoder Bürgerwehr. Du Reſt vergangener Herrlichkeit, armed Käppi! Wleinte doc in deiner Blüthezeit ein Anonymus in der Zeitung von Dir: „Mir ift ſchon das ſchwizeriſch Täbelnde weibifche Wort Käppi etwas widerlihd. Wer es nicht weiß, der foll es wahrlich nicht verrathen, daß mit jenem federleichten Wort ein fo ſchwerer Sturmdedel gemeint ift, er wird fich jedenfall® eher ein ſpitzenbeſetztes Mull- häubchen für ein Wickelkind darunter voritellen.”

Roftoder Bürgergarde! Ja, ed war eine fchöne Zeit, als diefe alte Bürgerwehr jung gemejen. Jugendliche Begeifterung hatte in den Märztagen des Jahres 1848 Alt und Jung auch in Roſtock entflammt. Es galt den edfen und thatkräftigen Gedanken: Schu dem Volke durch das Wolf, Aufrechterhaltung der fittlihen Ordnung und Erleichterung der Militärlaft. Als daher am 18. März die Liſten für den freimilligen Eintritt in die Bürgermwehr öffentlich ausgelegt wurden, zeichneten an diefem Tage eine Menge tüchtiger Männer ihren Namen in die Lifte. Schon der zweite Tag zählte 200 Freiwillige; die Zahl ftieg bi8 zum 6. April auf 671 PBerfonen. Alle Stände metteiferten in der Begeifterung. Einer wollte e8 dem Andern zuvor: tbun. Herrliche Reden wurden gehalten; man verfchwor fi, für die Garde und zum Schuß ded Vaterlandes Gut und Leben zu lajjen.

Zur einftmweiligen Benfhffnung fuchte man auf das Schleunigite aus den dunklen Kammern des Rathhauſes nach den alten abgedienten Flinten, die ohne Schloß und Feuerftein, feit Decennien dort verborgen lagerten. Einige Unteroffiziere vom Militär wurden requirirt, um die nöthigen Exereitien zu leiten; Alles war muthvoll und Fampfbejeelt. Namentlih die alten Degen von 1813 lebten wieder auf. Es war ordentlidy eine Freude, zu fehen, wie fie wieder jung geworden, von ihren Thaten erzählten und in dem Gebraud der Waffen den Neuling unterrichteten.

Noch immer fhien die Begeifterung zu wachſen. Man begrüßte freudig

die Berordnung des Magiftrate®, melcher die gefehlichen REINE zur IV. 1874.

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Errichtung einer fürmlihen VBürgergarde regeltee Cine Volksverſammlung ward berufen, über Montur und Waffen follte dort das Meitere geplant werden. In diefer Verfammlung platten aber die Geifter aufeinander. Die Einen hielten einen Säbel für unnöthig, als Schugwaffe fei der Säbel nicht wohl zu denfen, „denn vor einem Handgemenge mit dem Säbel werde der Himmel die Bürgergarde gnädig bewahren.* Die Andern ftimmten für den Säbel; namentlid) die braven Freimilligen von 1813, die alten Haudegen, die den Gebrauch des Säbeld aus der eigenen Praris fannten und ihn wohl zu führen gedachten. Die Einen wollten blaue Tuch, die Andern grünes Tuch zur Uniform, aber auf feinen Fal ruſſiſch Grün; Ale waren fie einig im Haß gegen den Modcomiter. Die eine Partei wünſchte died, die andere das, es galt hier fehon der verzweifelte Schmerzendruf, den ein Freund der Bürgerwehr fpäter ausftieß: „Dergleichen verfchiedene Sinne bringe nun einmal Einer unter das gleiche Käppi!“

Bei den Meiften freilih wollte in den nächſten Wochen ſchon die Be- geifterung merklich abfühlen. Die tapferen 671 Männer und Yamilienväter, welche ihren Namen fo begeiftert in die Lifte eingezeichnet hatten, wo ftedten fie auf einmal? Die Meiften waren nirgends zu fehen. Ueber diefe Saum- feligen ereiferte fi namentlich ein alter Vicefanzleidirector, der mit jugend- lihem Feuer der guten Sache diente; er ſchalt Öffentlich in der Zeitung über diefe Helden, die ihn und die wenigen Getreuen allein exereiren ließen. Es erfchienen nämlich bei den öffentlichen GErercitien höchſtens 30 Mann, dies Mal der Eine, das nächte Mal ein Anderer. „Es ift fehr zu befürdten“, ruft der alte Vicefanzleidireftor jammernd, „daß die Noftoder Bürgergarde bei ihrem erften Öffentlichen Auftreten entweder dur) die Mängel ihrer äußern militärifchen Haltung oder auch durch unrichtige Ausführung ded Commandos leicht die Heiterkeit der Strafenjungen erregen könnte.“

Inzwiſchen fuchte der Magiftrat der finfenden Begeifterung etwas nach— zubelfen. Es erjchien am 7. April eine Verordnung ded Rathes, melche ein feſtes Corps von 800 Mann, in acht Compagyien, von je 100 Mann ges theilt, gründete, und den Dienft der Bürgermehr einem jeden Bürger zur Pfliht machte, fobald er noch nicht das 50fte Lebensjahr überfchritten hatte. Die Dienftzeit ward auf drei Jahre feftgeftellt; die Montur follte jeder Bürger auf eigene Koften fi anfchaffen, dagegen wollte die Stadt die nöthigen Waffen, Flinte, Säbel und Batrontafhe, jedem Bürger Eoftenfrei liefern. Um diefe Zeit war die Uniform der Bürgergarbdiften in der Plenarverfammlung im Allgemeinen berathen worden. Man hatte hierauf eine Commijfion zur Organifation der Bürgergarde ernannt. Diejelbe trat mit einem detaillirten Entwurf über die Uniform hervor, welcher wieder in einer Plenarverfammlung berathen wurde. Nur einige wenige Abänderungen

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erſchienen zweckdienlich; und fo follte man glauben, daß hiermit endlich die Sache abgethan war. Aber nein! Deffentlih in den Zeitungen und unter der Hand ward jetzt bald diefe, bald jene Abänderung der Uniform in Vor— ihlag gebracht. Der Eine wollte für den Waffenrot den Militärſchnitt, der Andere den Givilfchnitt, „denn der Civilfchnitt“, fagte ein Zeitungsartikel, „ift meit eleganter und hat noch den Vortheil, daß die theure Uniform fpäter, nach beendigter Dienstzeit, noch in einen hübfchen Leibrock kann umgearbeitet werden.” Inzwiſchen kaufte der Eine das Tuch zu feiner Uniform von Diefem, der Andere von Jenem und foheerte fih nicht im Mindeften darum, ob es die vorgefchriebene Farbe hatte oder nicht. Andere fchrieen Zeter über dad Modell des Bürgergardiftenfäppie. „Wir hatten Gelegenheit, heute ein bereits fertige® Käppi zu fehen und waren nicht wenig erftaunt, ſolches mit dem Vogel Greif geziert zu finden, welchen wir nur gewohnt find, bei un— jeren Bolizeimachtmännern und Sprigenleuten wahrzunehmen. Iſt e8 der Mille des Plenums, diefe Auszeichnung an den Käppis zu tragen?“ Dazu war ſchon ein Unglück der neuen Interimsmütze begegnet, die bis zur An- fertigung des Käppis das letztere vertreten follte. Zwei verfchiedene Gewerke nämlih, die Mützenmacher und die Hutmacher, hatten fich die betreffende Competenz ftreitig gemacht, und jeder auf feine Hand nad) feiner Form gearbeitet; fo lief nun ein Theil der Bürgergardiften mit der einen Form, der andere mit der andern Mübenform umher. Und dann heißt es weiter in einem Schmerzendrufe der Zeitung: „inzwifchen haben nicht wenige Bürgergardiften aud) ihre Käppis, der eine bei Diefem, der andere bei jenem beitellt, ohne Gewißheit darüber, ob und in wie weit die Arbeiten der ver- Ihtedenen Lieferanten wirklich modellmäßig feien.“

63 erhob daher ein eifriger Verehrer der Bürgergarde in der Zeitung einen Mahnruf; er forderte die Gardiften auf, diefen Uebelftänden abzuhelfen und die Uniform nur fo anfertigen zu laſſen, wie es bereitd durch die Commiſſion für die Organifirung der Bürgergarde angeordnet worden. Cr Ihloß fein Mahnfchreiben mit den Worten: „Halten wir feit zufammen, fo müfen ſich jene Leute, welche, um Staat zu machen, Bürgergardiften wurden, Ihon fügen.“

Auf diefen Mahnruf erfolgte in den üffentlihen Blättern die höchſt ergötzlich und anfchaulich gefaßte Antwort: „Durh Ihr Schreiben, fürchte ih, haben Sie der größeren Zahl der Bürgergardiften und dem Publicum ein großes Vergnügen geſtört. Welch' ungeheure Heiterkeit würde ed nicht verurfaht Haben, wenn wir hier einen befammteten Lieutenant, dort einen Unteroffizier mit einer Goldtreffeneinfafjung am Kragen, bier einen Lieutenant mit Goldftickerei, dort einen Unteroffizier mit ladirtem Lederzeug, hier einen Lieutenant mit Sammet und doppelter Goldtrefjeneinfaffung an Kragen,

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Händen und Füßen u. dgl. m. zu fehen befommen hätten. Mit welchem Jubel würde nicht jedes neue Abzeichen von der lieben Straßenjugend begrüßt und dur ein bedeutendes Gomitat beehrt worden fein! Um dies große Ber- gnügen haben Sie und durch Ihr Schreiben nicht allein gebracht, ſondern Site haben und dadurch zugleich der Gelegenheit beraubt, eine große Zahl der Reute kennen zu lernen, welche ded bunten Rocks wegen Vürgergardiften ge- worden find. Das ift unverantwortlih von Ihnen gehandelt.”

Inzwiſchen tönte mieder die ſcheltende Stimme des alten PVicefanzlei- directord. Er hatte bet der legten Grereirübung nur noch 20 Mann gezählt. Es muß danach die Autorität der Hauptleute nicht groß geweſen fein. Hauptleute eriftirten nämlich damald wirklich ſchon; fie waren nad einem allgemeinen Ausmarſch ded gefammten Bürgereorps auf freiem Felde gewählt worden. Augenzeugen können nicht genug davon erzählen, wie ſtolz und martialifch die erwählten Hauptleute (in Ermangelung eined Degend mit dem Spazierftof über die Schulter), an der Seite ihrer neuen Compagnie in Die Stadt heim marfhirten. Das waren die Hauptleute; nun fehlten aber wieder die Lieutenant? und die Unteroffizier... Neue Klagen in der Zeitung geben hiervon Zeugniß.

In diefem MWirrwarr fette die Commiffion für die Organifirung der Bürgergarde gemächlich ihren Weg fort. Sie fümmerte fi mehr um bie Uniform ald um die Gardiften. Ein Zornausbrud der Zeitung vom 25. April macht fih in der Anfrage Luft: „Wie lange ed wohl noch währt, daß acht, fage acht Compagnien Bürgergarde ſich bei der Nafe herumführen Taffen ?“

Endlih, nad langer Baufe, und kurz vor der Auflöfung der ganzen Garde in ein Nichts, fährt neues Leben in die Glieder. Die Commiffion ermannt fih. Das Dienftreglement wird zur Hand genommen, die zum Dienit verpflichteten Bürger werden für die Garde audgehoben, man revidirt die Gompagnieliften und ladet die faumfeligen Gardiften zur Verantwortung, wie dies Alles ſchon der alte Vicefanzleidirector in der Zeitung wiederholt ge- predigt hatte. So Famen endlich im Monat Juni feine Worte noch zur Gel: tung. Inzwiſchen waren auch Dffiziere und Unteroffiziere gewählt. Am 7. Juli rüdte denn zum erften Male die ganze Bürgergarde in voller Uni- form zum Manöver ind Feld. Ein Zeitungsartikel rühmt die Garde als ein ſchönes Corps, das feiner Baterftadt gewiß Ehre made. „Die kräftigen Männer imponiren und werden ihren Zweck nicht verfehlen,“ jagt der Bericht: erftatter. Es fragte fih nur: welchen Zweck? Auch der alte Vicefanzleidirector ſprach jest in einem etwas fanfteren Ton. Auch er nennt in dem Zeitungs: blatte die Garde ein hübſches, ja ein imponirended Corps. Es fehlte nach feinem Bericht nur noch an taufend Fleinen militairifhen Anordnungen, na- mentlih bei der Schießübung. Es wurde mit unbegreifliher Unfunde und

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Fabrläffigkeit von Vielen beim Laden und Schießen verfahren. Ebenfo war ein ſachkundiges Commando nicht zu bemerken, inden das Commando oft verworren und ftotternd hervorgebracht, ja nicht felten völlig unrichtig gegeben ward, worauf dann die Befolgung des Commandos Stoff zur Be: Iuftigung für die niemald fehlenden Zufchauer gab. Dazu Fam, daß die Chargirten da8 Commando nicht ala ein ſolches, als einen Befehl, fondern tgelmäßig in Form einer ganz ergebenen Bitte vortrugen. Natürlich fürch— tete der Schufter mie der Schneider ald Bürgermwehrlieutenant, feine vorneh- men Runden; der Herr Ober - Appellationd » Gerichtärath und der Herr Pro» feffor Eonnten ihm die KRundfchaft entziehen, wenn er bei dem Commando nicht ganz ergebenft bat, fie möchten doch fo gut fein und da® Gewehr prä- jentiren oder linksum marſchiren.

Dann ereignete ſich bisweilen auch wohl einmal das Unglüd, welches ein Zeitungsinferat meldet: „Und es geſchah, daß fie verfammelt waren, um binaugzuziehen, der Hauptmann war aber nicht da. Und e8 ftellte ſich ein Stellvertreter an die Spite der Bewegung und er fing an zu rufen und zu befehlen den Leuten. Da geihah ed, höret ihr Söhne ded Nordend, daß Einer in diefer Zeit, in der Alle befehlen wollen, nicht befehlen Eonnte, fondern fich immer verhadderte. Und die Reute, die da gehorchen follten, wurden fnitihabig und gingen in gereizter Stimmung brummend audeinander, da hieß es: aud ein ander.“

AN diefem Elend ward mit einem Schlag ein Ende gemacht, ald endlich im Spätherbft 1848 ein penfionirter Major ala preislich beftellter Comman— dur der Bürgergarde die Bügel in die Hände nahm. Auf einmal Fam ein ſtrammer Zug, ein militärischer Geift in da ganze Corpd. Wenn man jest die Bürgermehr, die Muſik vor, mit der wehenden Fahne in gefchloffenen Öliedern ind Feld marſchiren fah, war es ein wirkliches Vergnügen, jedem Einzelnen mit den Augen zu folgen. In der kleidlichen Form des grünen Waffenrocks und im grauen Beinkleide trat jeder Gardift ftraff daher; felbft dad viel gefchmähte alte Käppi ſaß eigentlich ganz ftattlih auf dem Haupte ſeines Gardiften. Mit Necht ift über die Uniform der Bürgerwehr und über die Haltung ihrer Gardiften in mander Stadt gefpöttelt worden, aber die Roftoder Garde verdiente nicht die Strophe des dänifchen Volksliedes, in weldher die Bürgerwehr von Kopenhagen bejungen wird. Die ergößliche Strophe Tautet:

„Die Uniform von damals, dieſes Kleid,

Sie tragen e8 im Sturm und Regenzeit.

dein wohl war es von Wagon:

Enge, weiße Pantalons,

Geſchnürt feſt übern Magen, da er ausjah wien Gonggong. Der Rothrock da

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Saß Bater'n! Ah!

Die Patte

Dran hatte

Hellblau ; der Schwanz

Am Rod hing ganz

Bi zur Fußplatte,

Und von dem Tſchako blidte

Ein Bündel Federn, nidte

Nah dem Gewehr, der Anblick, ach, erquidte!“

Unter der eifernen Fauft de alten Soldaten und braven Commandan- ten, fam mie gefagt, eine neue Ordnung in das Getriebe des ganzen Roſtocker Bürgercorpe. Vom Rathe der Stadt ward jebt eine neue Ber- ordnung erlaffen, wonach jeder angehende Bürger vor feiner Aufnahme ala folder in voller Montur und Bewaffnung dem Commando der Bürgermehr fih vorftellen, diefem die gehörige Cinübung nachweiſen und von dem Sommandeur eine Befcheinigung über die vollftändige Equipirung, Bewaff— nung und Einerereirung erwirken mußte. Auf ſolche Weife ward für die neue Ergänzung der Bürgergarde durch tüchtige und gefchulte Soldaten Sorge getragen. Und fo gefchult ward diefe Bürgerwehr nach fo vielen Fährnifjen und Abenteuern ſchließlich doch noch eine wirkliche Schutzwaffe für die Stadt. Sie hat in den unruhigen Tagen, die auch Roſtock unbeilvoll bedrohten, treffliche Dinge geleiftet und den Wöbel im Zaume gehalten, der, von den Radicalen aufgehegt, den Verſuch machte, einen Aufruhr ind Werk zu feben. Auf ſolche Weiſe erwarb fih die Bürgergarde um Roſtock ein bleibendes Verdienſt und find damit die Opfer aufgewogen, welche die Stadt für diefe Wehr und ihre Waffen mit faft 30,000 Thalern dargebracht hat.

Ein zweiter Artikel fol nun eine höchſt merkwürdige Gefchichte bringen: die feierliche Auflöfung und das jonderbare Ende der Roſtocker Bürgermehr.

der Fall Arnim. | Berlin, 11. October 1874.

Bis diefe Zeilen erjcheinen, wird vermuthlich in der Arnim'ſchen Sache, welche nun ſchon eine Woche lang das Tagesgefpräch der deutſchen und mancher andern Hauptitadt bildet, mindeſtens nach einer Richtung Hin, ein feſtes Refultat erzielt fein. Wir werden bis dahin wahrfcheinlich ziemlich beftimmt wilfen, welchen Kreis von ftrafbaren Handlungen die Anklage um— faßt. Bis jetzt ſteht ficher in Ausficht die Anklage wegen Entfremdung von öffentlihen Aftenftüden auf Grund der $$. 133 und 348, Abſatz 2 des

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Deutjchen Reichsſtrafgeſetzbuchs. Nach einigen ziemlich confequent in gut- unterrichteten Preßorganen auftretenden Nachrichten fol dem Grafen außer diefen Vergehen au dad Verbrechen des Berrathes von Staatsgeheimniſſen zum Nachtheile des deutfchen Reiches zur Laſt fallen ($ 92 des Deutfchen Reichsſtrafgeſetzbuchs). Diefed Verbrechen unterjcheidet fih von anderen og. politiichen Vergehen dadurch, daß dad Geſetz die Strafe auf Zuchthaus nicht unter zwei Jahren normirt, und Feſtungshaft nur bei Annahme mildernder Umftände zuläßt, d. h. mit anderen Worten, bis zum Beweiſe des Gegen: theild annimmt, daß die verbrecherifche Handlung „aus einer ehrlojen Ge- finnung entfprungen“ fei ($ 20.).

Wir wollen freudig aufathmen, wenn am Ende der begonnenen Woche nur die erjte der beiden Anklagen Beitätigung findet, und der Angeklagte, der jo lange einen der höchſten Vertrauenspoſten des Reiches inne hatte, nicht eines Verbrechens verdächtig erjcheint, welches das deutjche Strafgejes nad der Höhe des Mindeftftrafmaped unter die ſchwerſten und gemeinjten Verbrechen zählt. Aber im Grunde Ändert das leider an der Ungeheuerlicy- feit und dem jfandalöfen Charakter des WYalled nur wenig. Man wird Gottlob lange fuchen müſſen, bevor man im Preußiſchen Beamtenthum einen Diplomaten der höchſten Rangſtufe findet, welcher unter der nämlichen An- Klage jtand, wie heute der Graf Harry von Arnim. Und der vorliegende Fall ift ficherlich der denkbar häplichite.

Denn vor Allem fo felbitverftändlich auch wir mit dem Urtheil über Schuld oder Nichtſchuld und das Map der Verſchuldung zurüdhalten, bis der Kichter feinen Spruch gefällt hat ift e8 kaum mehr zmeifelhaft, daß der Angefhuldigte den Thatbeitand der Entfremdung von Aetenſtücken aus den Archiven und Wetenbeftänden der Botjchaft des deutfchen Reiches in Paris jelbft unummunden eingefteht. Die Manöver feiner ungeſchickten Freunde aus dem Kreuzzeitungslager, feine Weigerung der Herausgabe diefer Actenftüde bald ald eivilrechtliches Retentionsrecht, bald als berechtigte Zurüdhaltung von Privatbriefen des Kanzlerd an Arnim darzuftellen, fünnen bei feinem Un- partetifchen mehr verfangen, feitdem man weiß, daß das Auswärtige Amt von der Neclamirung der civilrechtlichen Correſpondenz ganz abgefehen hat, und die angeblichen Privatbriefe des Kanzlerd an den vormaligen Botjchafter des deutſchen Reiches fortlaufende Negiftrandennummern tragen und in den amtlihen Documenten des Auswärtigen Amtes gebucht find. Damit jteht im Einklang, daß die Haft des Grafen keineswegs den Zweck verfolgt, etwaige Sluchtverfuche oder die Verdunfelung des Thatbeftandes zu verhindern, fondern die Herausgabe jener Staatäfchriften zu erzwingen, deren Befig der Graf einräumt, und deren Herausgabe an feine vorgefehte Behörde er trogdem ver» weigert, bis ein Nichterfprud ihn dazu zwingen werde. Es ift auch geringe

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Hoffnung vorhanden, daß die eindringlichen Vorftellungen einiger Angehörigen ded Angeſchuldigten, ſowie feines eigenen Vertheidigerd, den harten Sinn er» weichen werden. Und ſelbſt wenn Arnim nachgäbe und die Urkunden aus» lieferte, würde die Unterfuhung ihren Lauf haben müffen, da die angezogenen Paragraphen des Reichsſtrafgeſetzbuchs das VBeijeitefchaffen von amtlichen Do- cumenten mit ganz derfelben Strafe belegen, wie die vorfägliche Verfälſchung oder Befhädigung derſelben. Beifeitegefchafft find aber diefe Urkunden bis heute ohne Zweifel.

Diefe Erwägungen führen von felbft zur Prüfung der Motive der That und der bis heute vorhandenen Weigerung der Herausgabe. Und auch diefe Motive find dem Angefhuldigten fo nachtheilig wie möglih. Verletztes Gelbitgefühl hat, nad) dem Urtheil der Freunde und Gegner oder bejjer Ankläger des Angeklagten, diefen zu dem gegenwärtigen Conflict, zur leidenfchaftlihen Feindfhaft gegen den deutſchen Kanzler getrieben. Aber was hat mit diefer perfönlichen Mipftimmung mag fie fo berechtigt oder unbere&htigt fein wie fie will die mwiderrechtlihe Zurückhaltung amtlicher Schriften zu thun? Diejenigen, welche die Weindfchaft des Grafen gegen Bismard und zwar ficherlich der Wahrheit gemäß ald Motiv feines Deliets anführen, erheben damit, vielleiht ohne es zu ahnen, die ſchwerſte der Anklagen gegen ihren Schügling. Denn die Zurückhaltung der Documente Geiten ded Grafen wäre dann diefem wie natürlid keinesfalls Selbft: zwed, fondern in urfächlichen oder abfichtlihen Zufammenhang zufegen zu feiner Feindihaft gegen den Kanzler. Damit formulirt man aber von ſelbſt die neue Anklage gegen Arnim, daß diefer die Documente nur zurüdhalte, um der Politik des Kanzlers d. h. der Politik de Deutjchen Reiches zu ſchaden und fi dadurd zu rächen. Diefer Zwed wäre aber wiederum abfolut un— erreichbar ohne directe oder indirecte Veröffentlichung der betr. Urkunden; denn da das Auswärtige Amt die Urfchriften oder Kopien diefer Documente befist, fo könnte Arnim durch die bloße Hinterziehung derfelben eine fatale Stockung der Gefchäfte u. dergl., in welcher er ald Retter der Noth erjchiene, nimmermehr erzeugen. Das Fönnte alſo auch die Abficht feiner Beifeitefhaffung derfelben nicht fein. Der einzig denkbare Zweck diefed unerhörten Amts— mißbrauchs wäre alfo lediglich ein beabfichtigter Verrath von Staatsgeheimniſſen oder die Erpreffung einer neuen Carriere ald Gegenleiftung für dad Schweigen des Grafen, für die Auslieferung der Documente.

Der preufifche Richterftand hat bei diefer Gelegenheit feine altberühmte Unvarteilichfeit und Pflichtftrenge bewährt. Ein jäher Schred geht durd die Neihen der Neichdrebellen. Mit faurer Miene fuht man die Fatalität der Situation durch das hübſche aber dem Herrn Grafen fehr ungünftige Märchen auözugleihen, Bismarck habe die Arnim'ſchen Enthüllungen gefürchtet. Graf Arnim's Geheimniffe find Bismarck's Geheimnifje. Und der deutjche Kanzler hat noch immer die Sympathien der denkenden Welt auf feiner Seite gehabt, wenn er daran ging, jeine Geheimnifje auf den offnen Markt zu fragen. u.

Verantwortlicher Redakteur: Dr. Hans Blum in Leipzig. = Verlag von F. 8. Herbig in Leipzig. Drud von Hüthel & Legler in Leipzig.

XXI. Jahrgang.

Die !

renzboten.

de 7— für

Bolitik, Literatur und Kunſt. Ne 43.

Ausgegeben am 23. October 1874.

Inhalt: Seit:

Goethe's Tagebücher. 1780, 1781. 1783. EC. A. 9. Burkhardt. 121 Charles Wolfe. Skizze feines Lebens und Dichtens. 1. |

DELL. . . 129 | Die Goldausfubr und ‘die Müngreform. Mar Wir tb. 2 . 140 N Bilder aus Medlenburg. Aus den ur: der Büngermehr. 2:

Bon Hugo Gacrdde . - » = or \ Schweizer Reijegloffen. F. 2. - ee ai u |

Die Revüe Univerfelle und die Örengboten, ee m |

Grenzbotenumſchlag: Literarische i.

Leipzig, 1874. Friedrich Ludwig Herbig. (Fr. Bild. Grunow.)

bönnirt bei allen und des In⸗ und Auslandes.

rum ——

Goekhe's Tagebücher.

1780. 1781. 1782.

Im Anſchluß an die bereits mitgetheilten Tagebücher Goethe's laſſen wir die von 1780—82 folgen. Auch fie liegen und nur abſchriftlich vor und obwohl auch für diefe nicht feitzuftellen war, mie fie fich zu den Goethe'fchen Driginalen verhalten, fo haben wir die Mittheilung derfelben um jo weniger beanstandet, ald fie die Mittheilungen Riemer's über Goethe weſentlich er- gänzen. Was von Niemer ganz oder theilmeife benust ift, haben wir durch Klammern angedeutet. Aus der Bergleihung mit der Niemer’schen Arbeit wird fi ergeben, daß die unverfürzte Wiedergabe diefer Aufzeichnungen für die Kenntniß des Goethe'ſchen Lebens ſich mehr ala die Verarbeitung des Materiald empfiehlt, das in Berüdfihtigung mancher Verhältniffe hie und da eine Kürzung erfahren mußte. Selbſt auf die Gefahr hin, daß auch unfere überfommene Abfchriften fich als lückenhaft erweiſen werden, wollen wir diefe nicht zurücdhalten. Vielleicht entſchließen ſich die Goethe'ſchen Erben vor allem die wichtigen Tagebücher aus den Originalen herauszugeben, die jedenfalls auch in fpätern Jahren de ntereffanten viel bieten, wie wir aus einigen andern Aufzeichnungen, die in der Folge mitgetheilt merden ſollen, ſchließen müſſen.

Goethe's Tagebuch von 1780.

Januar 17. Früh Anfang zur Ordnung und Beſorgung gemacht. Kriegs-Kommiſſion. Waren mir die Sachen ſehr proſaiſch. Zu Wieland. Gut Geſpräch und Ausſicht beſſeres Zuſammenlebens. Vorſchlag zu einer Societät. Nah Tiſch zu Boden. Weit läuſige Erklärung über a Y.“) Er ift ein fehr ehrliher Mann, NB. [Sedermann ift mit dem Herzog ſehr zu frieden, preift und nun und die Reiſe ift ein Meifterjtück**), eine Epopoe.] Das Glück giebt den Titel, die Dinge find immer diefelben.

Sanuar 19. Auf die Vibliothet wegen Bernhard's Leben. Auftrag.

*) Loge Amalia ijt gemeint. "*) Riemer II. 100 bat preift und an. Grenzboten IV. 1574. 16

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Zu Er. Eſſen. Sie drüdt mich durd eine unbehagliche Unzufriedenheit, ich ward fehr traurig bey Tifch.

Februar. Den Anfang des Monat? mit wenigen Verfuchen im Zeich— nen, Dietiren meiner Reifebefchreibung zugebracht, um nad) und nach wieder in Thätigfeit zu kommen.

Vebruar 6. Früh Reife dietirt. Wenig an Wilhelm. Kam Albrecht. Ging zu Er. ejfen. Abends zu ©, dann nah Haufe.

Februar 7. Reiſe dictirt. aftrop wegen ded MWegebaued, dann Fam Albreht, ſprachen über Glectrizität, zu © effen. Gezeichnet. Zu der Geh. N. Schardt, die Frank war. Halb 7 Uhr nah Haufe. Reichshiſtoria Karl V. Acht aufs Theater. Kriegskommiſfion. Zu (, Friegte gegen Mittag meniged Kopfweh, zu Sedendorf, zu © effen. Hatte Quft auf die Redoute, unterlieh ed aber. Abends kam Wieland umd wir waren fehr Iuftig.

Februar 9. Früh Acten, Conſeil. Ging mit meinem Kopf mieder jiemlih. Nach Tiefurt. Eſſen. Knebel las Amor und Pfyche. Abends mit O und der Heinen Schardt hereingefahren. Corona zu Tiſch bey mir, waren fehr Iuftig.

Februar 11. Abends auf der Redoute. Täglich geht es befjer und ih kann anhaltender arbeiten.

Vebruar 12. Kriegdfommiffion und Beforgung wegen der Reife.

Februar 13. Nah Gotha, waren recht gut da, mit vieler mechjel- feitiger accens*) und bonhomie. Kam mancherlet Intereſſantes vor. Verſprach aufs Frühjahr wieder zu fommen.

Februar 16. Mit Wedeln zurüf im Wagen. Der Herzog ritt auf Neuheiligen, war wild Stöpermetter.

Februar 17. Kriegdfommiffion, mit Corona gegeffen, war gut.

Februar 18. Früh viel meggearbeitet. Zu C zur Tafel. Ging ganz leiht und gut die Cons., aufs Theater, nad) Tiefurt geritten, fand H. 4. o die FE. Sch.“), die Hofdamen und Steinen. Knebel lad. Gen fieben alles fort.

Februar 26. Mittag! zum Herzog. Den Reft ded Tags bis Abende 8 gezeichnet. [ES fängt an befjer zu gehen und ich fomme mehr in die Be ftimmtheit und in das lebhaftere Gefühl des Bildes. Das Detail wird fid nah und nad herausmachen. Auch hier fehe ih, daß ich mir wergebend Mühe gebe, vom Detail ind Ganze zu lernen, ich habe immer nur mich aus dem Ganzen ind Detail herausarbeiten und entwideln können. Durch Aggre gation begreif ich nicht8, aber wenn ich recht lang Holz und Stroh zufammen- geſchleppt habe und immer mich vergebend zu wärmen ſuche, auch fchon

*) acsance gefchrieben. ) Die Meine Schardt,

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Kohlen darunter liegen und ed überall raucht, fo ſchlägt denn doch endlich die Flamme in einem Wind übers Ganze zujammen. Ich ſprach davon mit dem Herzog und er fagte, eine gute dee. Die Sachen haben fein Detail, fondern jeder Menſch macht ſich drinn fein eignede. Manche können's nicht und die gehen vom Detail aus, die andern vom Ganzen. Wenn man diefem Gedanken beiftimmte, und ihm nachginge, eigentlih was er jagen will, nicht was er fagt, beherzigte, würde es fehr fruchtbar feyn.]*)

März Bon Tag zu Tag die Gefchäfte ordentlich beforgt und hernach gezeichnet.

Bis den 11. war ich fehr ftill, alled der Reihe nach beforgt. Gute Stun- den mit &. Eine fehr fohöne Erklärung mit dem Herzog. Abends im Klofter

März 12. Mit Batty im Amt Großrudeftedt, feine Anftalten gut befunden. Seine Handelöweife mit den Leuten unverbeſſerlich. Wenn wir nahhalten, fo wird's gut, aber freilich Jahre lang immer nachhalten.

März 14. Werden Aepfelferne bey mir gefät. Ging meinen Gefchäf- ten nah. War Confeil, mit dem Herzog. Fingen an, in den Inſtrue— tionen zu lefen. Abends mit demfelben im Klofter.

März 16. Mit dem Herzog fpazieren. An Egmont gefchrieben. Nah Tiefurt. Mit Knebeln hereingeritten. Diefe Tage ber hatte ich ſchöne mannigfaltige Gedanfen.

März 21. Morgens nad) Belvedere zu Fuß. [An Herzog Bernhards Leben im Gehen viel gedacht. Was ich guts finde in Ueberlegung, Gedanken, ja fogar im Ausdrud, fommt mir meift im Gehen. Sitend bin ich zu nichts aufgelegt. **)]

März 26. Früh zu Fuß nad Tiefurt, [mannigfaltige Gedanken und Ueberlegungen ***) das Reben ift fo gefnüpft und die Schietfale fo unvermeidlich. Wunderfam ich habe fo mandes gethan, was ich jetzt nicht möchte gethan haben und doch wenns nicht gefchehen märe, würde unentbehrliched Gute niht entftanden feyn. Es ift, ald ob ein Genius oft unfer Aynuovıxov ver: dunkelte damit wir zu unjrem und andrer Vortheile Fehler machen. War eingehüllt den ganzen Tag und konnte denen vielen Saden, die auf mid drüden,, weniger widerftehn. Sch muß den Eirkel, der ſich in mir umdreht, von guten und böfen Tagen näher bemerken, Leidenſchaften, Anhänglichkeit, Trieb, died oder jenes zu thun, Erfindung, Ausführung, Ordnung, alles mwechjelt und hält immer regelmäßigen Kreis. Heiterkeit, Trübe, Stärke, Glaftizität, Schwäche, Gelafjenheit, Begier ebenfo. Da ich ſehr diät lebe, wird *) Riemer II. 112— 118,

»N Riemer II. 114, der noch den Meinen Zuſatz bat: darum das Dictiren weiter treiben. ")®,c II. 114 und 115.

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der Gang nicht geftört und ich muß noch heraudbringen, in welcher Zeit und Ordnung ih mich um mich jelbit bewege.)

März 29 Ging der Herzog mit den Prinzen und andern nah Querfurth. (Früh Hat ich den aufräumenden und ordnenden Tag.]*) Biel Briefe weggefchrieben und alles ausgepußt. Abende Probe der Kalliſte. O Kallifte, DO, Kallijte!

März 30. hat ich den erfindenden Tag. Anfangs trüblih, ‚ich lenkte mid zu Geſchäften, bald wards lebendiger. Brief an Kalb. Zu Vlittag Inah Ziefurt zu Fuß, gute Erfindung, Taſſo]“), Herders, Stein, Wertbern, Knebel gut, mit beiden Männern lief ih um 4 herein. [Abends wenige Momente finfender Kraft. Darauf acht zu geben, moher.]

März 31. Die Dämmerung ded Schlaf gleich mit frifcher Luft und Waſſer weggeſcheucht. Sehnte fih ſchon die Seele nah Ruhe und ich wär gern herum gejchlichen. Naffte mich und diftirte an der Schmeizerreije]***). Antwort von Kalb angefagt. 7) IConſeil. Momentane Bewegung widerftanden und überwunden. Es fcheint dad Glück mich zu begünftigen, daß ih in wenig Tagen viel garjtige mitgefchleppte Berhältniffe abſchütteln fol. Nemo coronatur, nisi qui certaverit ante. Sauer ließ ich mird denn doch werden.)

April 1. [Seit drey Tagen feinen Wein. Sich nur vorm Englijchen Bier in acht zu nehmen. Wenn ich den Wein abfchaffen fönnte, wär ich ſehr glüklih. ir) Nah Tiſche Thorheit. Kam Korona zu mir und Mine. Las ih ihnen die Schweizer Reife. Kam der Herzog Abende und [da wir alle nicht mehr verliebt find und die Lava oberflächlich verfühlt ift, gings recht munter und artig, nur in die Rizzen darf man noch nicht vifitiren, da brennts no] 4*4) |

April 2. Früh gleich wieder munter und gefhäftig, um 10 Uhr mit Kalb 2 Stunden lange Erörterung, er ift fehr herunter. Mir fehmindelte vor dem Gipfel des Glücks, auf dem ich gegen fo einen Menfchen ſtehe. Manchmal möcht ich mie Polykrates mein höchſtes Kleinod ind Wafjer werfen. Es glükt mir alled was ih nur angreife. Aber auch anzugreifen fey nicht läffig. Zur Herzogin. Schweizer Reife gelefen. Wieland fieht ganz un glaublich alles was man machen will, macht und was hangt und langt in einer Schrift. Bis 10.

April 3. Von 6 Uhr bi8 halb 12 Diderot® Jaques le Fataliste in der Folge durchgelejen, mich wie der Bel zu Babel an einem jo ungeheueren Male ergöst und Gott gedankt, daß ich fo eine Portion mit dem größten

*) Riemer II. 116. *) Riemer II. 116. *9) Riemer II. 116—117. +) Nun wird erft die Stelle, welche Niemer uuvollftändig gegeben, verftändlic. ++) Riemer IL, 117. zrr) Riemer II. 117 in d. Anmerk,, aber unter Weglafjung der bezüglichen Perfönlichkeiten.

125

Appetit auf einmal, ald wärs ein Glas Waſſer und doch mit unbefchreiblicher Woluft verfchlingen Fann. Zum Herzog effen. Kamen auf unfer alte mo- ralifche Mferde und turnirten was recht? durd. Man Flärt fih und andere unendlih durch folche Gefprähe auf. Zu ©. mar wieder franf. Sit mein einzig Yeiden. Nah Haufe. War fehr ftürmifch Wetter.

April 15. War fehr ruhig und beitimmt, die legten ‘Tage wenig ein» gezogen. Ich trinke fait feinen Wein und gewinne täglih mehr in Blick und Gejchid zum thätigen Leben. Doc ijt mird wie einem Vogel, der fi in Zwirn verwicelt hat, ich fühle, dag ich Flügel habe und fie find nicht zu brauchen. Es wird auch werden, indeß erhole ich mich in der Gefchichte und tündle in einem Drama oder Roman.*) Der Herzog wird täglich befjer, nur it ein Uebel, daß ein Prinz, der etwas angreifen will, nie in die Verlegen— heit Fommt, die Dinge im Alltagsgang von unten auf zu fehen. Er kommt manhmal dazu, fucht wohl, was fehlt, aber wie ihm zu helfen? Ueber die Mittel macht man fich Elare Begriffe, wie man glaubt, und es find doch nur allgemeine.]**) Litte Prometheiſch! Waren in Leipzig. Vergnügte Tage, der Fürft von Defjau war da mit Erdmannädorf. Ich gewann viel Terrain in der Welt. In der ftürmiichen Naht vom 25. auf 26. zurüd.

April 30. lad ich meinen Werther, feit er gedrudt ift, das erite Mal ganz und munderte mid).

May i4 Verzogen fi einige hypochondriſche Gefpenfter. [E38 offen- baren fi mir neue Geheimnifje. Es wird mit mir noch bunt gehen. Sch übe mich und bereite dad Möglichſte. In meinem jeßigen Kreife hab ich wenige, fait Feine Hinderung außer mir. In mir noch viele. Die menjd- lien Gebrechen find rechte Bandwürmer, man reift wohl einmal ein Stüd (08 und der Stod bleibt immer fisen. Ich will doch Herr werden. Niemand ald wer fich ganz verleugnet, ift werth zu herrſchen und kann herrſchen. Rudte wieder an der Kriegskommiſſions-Repoſitur, hab ich das doch in andert- bald Jahren nicht Eönnen zu Stande bringen! Es wird doch! Und ich willd jo fauber jchaffen, ald wenns die Tauben gelefen hätten. Freilich ift 8 ded Zeugs fo viel von allen Seiten und der Gehülfen mwenige.]***) Briefe von Batty! [das ift mein faft einziger lieber Sohn] an dem ich Wohlgefallen babe, fo lang ich Iebe,7) folld ihm weder fehlen an nafjem noch trodnen. Ich7) fühle nah und nad ein allgemeines Zutrauen und gebe Gott, daß ih8 verdienen möge, nicht wies leicht ift, fondern wie ichs wünfdhe Was ih trage an mir und andern fieht fein Menfh. Das befte ift die tiefe

*) Riemer II. 117,, wo der Roman weggelaifen.

**) Diefer Paſſus undronologifh bei Riemer 1. 120 ganz allgemein in den April gelegt, ») Riemer II. 115 unter dem 13. Mai. +) Riemer Il. 119.

ir) Riemer IL 119 unten aber in anderer Berbindung.

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Stille, in der ich gegen die Welt lebe und wachſe und gewinne, was fie mir mit Feuer und Schwert nicht nehmen Fönnen.]

Den 16.—22. folgenden Monatd.* In der Kallifte hatte ich die ſchlechte Role mit großem Fleiß und viel Glück gefpielt und habe allgemein den Eindrud gemacht, den ich habe machen wollen. Voigtens mineralogifde Unterfuchungen vergnügen mid, ed wird ein artiged Ganze geben. [**) Defer brachte die Decorationd:Malerey auf einen beffern Fuß. Und id) fing an die Bögel zu fchreiben. Meine Tage waren von Morgens bis in die Nacht be- fest. Man könnte noch mehr, ja das unglaubliche thun, wenn.man mäßiger wäre. Das geht nun nit. Wenn nur jeder den Stein hübe, der vor ihm liegt. Doch find wir hier fehr gut dran. Alles muß zulegt auf einen Punkt, aber eherne Geduld und fteinern Aushalten. Wenns nur immer [hön MWetter wäre. Menn die Menfchen nur nicht fo pover (sic) innerlih wären und die Reihen jo unbehülflich.

Den 25. Juni. Einiges früh beforgt nad Ettersburg, fand Klauern, der Deferd Büfte buffirte. Las ihm die Mitfchuldigen vor. Waren munter. Nah Tische diktirt ich der Göchhaufen an den Vögeln fehr lebhaft und ſprach viel dazmijchen über alte Kunft. Ward Feuerlärm, ritt nah Grosbrembach. Kam mitten in die Flammen. Die Dürrung! Der Wind trieb grimmig. War um die Kirche befchäftigt. Verſengte mir die Augenlieder und fing dad Waſſer mir in den Stiefeln an zu fieden. Hielten fi die Leute gut und thaten das Schidlihe. Nun war das Feuer umftellt. Der Herzog fam und der Prinz. Das Halbe Dorf brannte ganz hinunter mit dem Winde wie ich anfam. Ging mit einem Hufaren außerm Weg untern Wind, faum durchzu— fommen. Nah Mitternacht mußt ic) ruhen. Legte mich ind Wirthshaus über dem Wafler. Ein Hufar wachte. Früh dem Pfarrer Quartier geſchafft und herein nad Weimar. Gefchlafen. Gelefen. Gefchrieben.

Auguft 18. die Vögel in Etterdburg gefpielt. Zog die Herrfchaft auf Belvedere. War der Herzog nicht wohl.

Den 26. Früh**) im Garten auf und ab und nachgedacht, was in diefem meinen zu Ende gehenden 31ten Jahre gefchehen und nicht gefchehen joy. Was ich zu Stande gebracht. Worin ich zugenommen. Conzepte fignirt. Unterfhrieben.. Zu Haufe gegeffen.

Den 28. Früh im Stern fpazierend überlegt, wo und an welchen Eden es mir fehlt. Was ich dies Jahr nicht gethan, nicht zu Stande gebradit. Ueber gewifje Dinge mich fo klar ald möglich gemacht. Mittags zu O, artig gegellen. Abends Gefelihaft im Garten, fehr vergnügt.

) d. h. 16. Mai—22, Juni. **) Riemer II. 122, *) Das hat Riemer II, 124 ſehr unwahrfcheinlih nur unter dem 25. Auguft.

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September 1. Confeil. AB der Herzog mit mir im Garten. Aus— gebreitetes Gefpräcd über moralifche Verhältniffe, war fehr klar und Eräftig.

Detober 14. Bis 11 bey Corona, noch im Mondſchein fpazieren ge- rannt und im Bette die Mönchsbriefe gelefen. Ordnung und Fleiß.

Taffo angefangen zu fehreiben. Coronen getröftet. Mit Prinz Conitantin u thun.

November. Bid den 16ten immer Schritt vor Schritt nach) Vermögen vorwärt®, Fürchtete die Krankheit vom Anfang des Jahres. An Tafjo morgendlich gefchrieben. In Geſchäften mich gehalten. Wenn*) nicht gehen mollte gezeichnet.

Den 21. November. Conſeil. Mittag allein. Abends bei Werther, Garolinhen, die Schardt. Der Herzog Knebel und Schardt zu Tiefurt. Waren gut und vergnügt. O war Franf.

December. [Biel Arbeit und Bearbeitung **) Volgftedt abgefchüttelt. Diefen Monat hab ih mird fauer werden Iaffen.]

1781. A

Sanuar den 17. Früh im MWelfchen Garten, Hafen getrieben und in der Falten Küche““). Dann auf der Ilm Schrittfehuh gefahren, mit ©, dann mit Knebeln im Klofter gegeſſen, nah Tiſch O Herzog, Lichtenberg. Abends mit Knebeln wohl eine Stunde ftarfed Geſpräch auf dem Eid. Dann in Gonzert, zu 6. Spielte Kayfer. Abends zu ©.

Den 1. Auguft. Es thut mir leid, daß ich bisher verfäumt habe auf. zufhreiben. Died halbe Jahr war mir fehr merkwürdig. Bon heut an will ih wieder fortfahren.

Den 5. Auguft. Früh Concepte fignirt. Acten das Konkurs Patent betreffend gelefen. Zu Coronen. Die Arien zu der Fifcherin berichtigt. Kam Aulhorn und fie fangen die alten Duettd. Abends mit © fpazieren. Mit ihr und Stein zu Nacht gegefien. Auf die Schnede, 7) das Bligen am Horizont gefehen, war die Nacht fehr fchön.

Den 6. Auguft. Früh Konkurs Patent. Zu Haufe gegeffen. Nach— mittags und Abends theild für mich, theild mit andern fpazieren und mandherley Gedanken nachgehangen. Müllers Brief.

Den 7. Auguft. Früh Eonfeil. Zu © gegeffen. Nach Tifche mich fill enthalten. Abends mit dem Herzog und Knebel nach dem Jagen. Vor Bergern*) kampirt. Die Naht war ſchön.

*) Riemer IT. 125. **) Riemer II. 125, der den Namen Bolgftedt unterdrüdt, »9 Der Theil des Parks wo die Felspartien find,

+) Bauwerk und Ausfihtspunft im obern Part,

+) Nabe Berka.

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Den 15. Auguft. Kriegskommiſſion. Recapitulirte in der Stille, was ich bey diefem Departement geſchafft. Nun wäre mird nicht bange ein weit größeres, ja mehrere in Ordnung zu bringen, wozu Gott Gelegenheit und Muth verleihe. Zu Corona. Sie fang Rouffeaus Lieder und andere, ih war vergnügt.)

Den 16. Auguft. Früh über die Conecurs-Conſtitution. Betrachtungen dietirt. Zu Haufe gegeſſen; nah Tiſch zu ©, Klauern, der Schardt. Allein fpazieren. Abends zu ©, wo die Waldner mar.

Den 23. Auguft. Abend! Tiefurt. Nathan und Tafjo gegeneinander gelefen.

Den 24. Auguft. Kein Eonfeil. Mit dem Herzog gegeffen unter der Yaube. Nachmittags bei den Arbeitern. Abends Theater.

Den 25. Auguft. Der Herzogin Louiſe den Taffo vorgelefen. Mittags bey Knebeln. War diefe Zeit her überhaupt gute Konftellation.

Den Reſt des Detober und den November Taäglich mehr Drdnung, Beftimmtheit und Gonfequenz in allem. Mit dem alten Ginfiedel nah Jena. Dort Anatomie. Auf der Zeichenafademie. Anfang Diteologifcher Borlefungen. Glüd durh ©, hielte forgfältig auf meinen Plan. Haus ge- miethet. Aufklärung und Entwidelung mander Dinge Dide Haut mehrerer Berfonen durchbrochen.

December In Eiſenach, Wilhelmsthal, Gotha. Ueberall Glück und Geſchick. Ruhe und Ordnung zu Haufe Sorge wegen ded Herzogs allzu- koſtſpieligen Ausfchweifungen. Mit © ftille und vergnügt gelebt.

1782.

$anuar 1. Früh verfchiedenesd in Ordnung. Agenda durchgeſehen und überlegt. Leben Pompals gelefen. Quintiltan. Zu © gegeffen. Nachmit: tags viel gefprochen. Beſonders über die gegenwärtigen Verhältniſſe. Wir waren nicht Elar und einig darüber.

Sanuar 3. Früh Acten. Kam Kalb und fprad über verfchiedenes, befonder8 über die Kammerumftände AB zu Haufe Laß die Journeaux de Paris. Abends Ballet- Probe. Zu ©, mit ihr zur Waldner.

Sanuar 11. Gonfeil. Mit dem Herzog gegellen. Wieder einmal eine radicale Erklärung gehabt. Zu ©. Nachts Redoute. In der Nacht ge- Ichlafen.

Januar 12. Verſchiedene Arbeiten. Zu Kraus. Gezeichnet. Mit © jpazieren gefahren, da gegeſſen. Nah Tiſch über Wedel's Schidfal und meine Borfhläge Kam der Herzog. Ballet-Probe. Zur Herzogin Mutter. War Wieland da und war gut. Nach Tifche geblieben. No zu @. Nah Haufe.

Januar 19. Den Morgen verpämpelt. Schön Gefpräch mit ©. Mit

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dem Herzog gegeſſen. Sehr ernftlih und jtarf über Defonomie geredet und wieder eine Anzahl faljcher Ideen, die ihm nicht aus dem Kopf wollen. Wedel ftimmte mit ein bis auf einen gewiſſen Bunft. Ach blieb bie 6 Uhr. Zur Herzogin Mutter zum Thee.

Sanuar 20. Kalbs Betrachtungen gelefen und Flagte mir feine Noth. Bei Hofe zur Tafel. Nachmittag zu ©, zu Boden, der mir die Präparation lad, womit der Herzog aufgenommen werden follte*). Im Concert. Alddann 1 ©. Kam der Herzog auch hin. Er war gar nicht wohl.

Jeder“) Stand Hat feinen eignen Beſchränkungskreis, in dem fi) Fehler und Tugenden erzeugen].

Februar. Den 5. Aufnahme des Herzogd. Bid gegen 11 Uhr in der o.

Juni 2. In die Stadt gezogen, zum erften Male binne gefchlafen.

uni 10. War Kalb bei mir zum erften Male nach feiner Entlaffung.

C. A. H. Burkhardt.

Charles Wolfe.

Skizze ſeines Lebens und Dichtens. Von Guſtav Haller.

Sm Jahre 1759 ſollte der engliſche General James Wolfe (1726— 1759), ein Vorfahre des Dichters Charles Wolfe, von Louisburg aus ganz Canada aus den Händen der Franzoſen erobern. Er ging im Juni mit einer ſtarken Flotte und 8000 Mann den St. Lorenzſtrom hinauf und griff die Canadiſche Hauptftadt Quebeck wiederholt und mit großem Berlufte von der Oftfeite an. Die Naturhindernifje und die VBertheidigungdanftalten des Marquis Montcalm, der bier die ganze franzöfifche Streitmaht zufammen- gezogen, ließen den Erfolg mehr als zweifelhaft erfcheinen. Wolfe veränderte deshalb feinen Plan, fchiffte fich wieder ein und Iandete unter den größten Schwierigkeiten am 13. September 1759 unvermuthet weitlih von Quebed, auf der Abrahamdebene. Hier Fam es zur Schlaht. Die Engländer fiegten ; aber Wolfe wurde, von drei Kugeln durchbohrt, Hinmeggetragen. Schon glaubte man ihn todt, als der Ruf „Sie fliehen!“ an fein Ohr drang.

) Nämlich in die Loge. **) Riemer II. 140, der diefe Meuferung in den Anfang der Jahre fept. Grenzboten IV. 1874. 37

130 7

„Wer flieht?“ fragte Wolfe, wie vom Tode erwachend. „Die Franzofen!* „Dann fterbe ih ruhig!” und er verfchied. Die Schlacht war von großem Erfolge; einige Tage darauf fiel Quebek und bald ganz Canada in | die Hände der Engländer. Wolfe's Ueberrefte wurden nad England gebradt und in der Weftminfter »Abtet beigeſetzt. |

Der Tod Wolfe's auf dem Schlachtfelde ift der Gegenftand eined Ge— | mäldes des nordamerifanifchen Malers Benjamin Weit (1738 1820), das diefen zu einem der berühmteiten Künitler feiner Zeit machte. Der geniale englifche Kupferfteher William Woollett (1735—1785) hat e8 in reinfter und fauberfter Grabftichel» Arbeit wiedergegeben, ein Blatt, das jebt außer- ordentlih gefucht ift und in hohem reife ſteht. Photographifche Verviel- fältigungen desſelben find jedermann zugänglich.)

Beinahe 50 Jahre nad) der Schlacht bei Quebeck wurden die Franzofen auf einem andern Terrain abermald durch die Engländer befiegt; und auf diefer Sieg, bei dem die glüdliche Einfchiffung der Engländer, wenn auch in anderer Weiſe, eine Rolle jpielte, koſtete ihrem umfichtigen und tapfern General das Leben, und fein Tod, insbejondere fein Begräbnig auf dem Schlachtfelde wurde abermald der Stoff zu einem unfterblichen Kunſtwerke, | diefe® Mal auf dem Gebiete der Dichtung, und zwar von einem bis dahin unbefannten Manne aus der nachgeborenen Vermandtichaft ded Helden von Quebeck. Es war am 16. Sanuar 1809 bei Corufa an der Nord - MWelt- füfte von Spanien, als der britifche Generallieutenant Sir John Moore (1761 1809) den franzöfifhen Marſchall Soult befiegte und fo die Ein ſchiffung der englifhen Flotte fiherte. Moore felbft ward tödtlich vermundet und ftarb in der folgenden Nacht mit der Gemißheit, daß fein Heer gerettet fel. Auf dem Walle der Citadelle von Coruña ward er beftattet, und in ber Paulskirche zu London feste man ihm ein Denkmal von Erz oder Stein. Über ein Denkmal anderer Art ftiftete ihm der junge irische Gelehrte Charles Wolfe (1791 1823), in deflen Adern das Blut des Helden von Quebeck rollte. Eine Schilderung von der Beftattung Moore's begeifterte ihn zu feinem berrlihen Gedichte „The Burial of Sir John Moore*, und diefed eine Ge dicht ficherte ihm einen unverlierbaren Chrenplas in den Annalen der eng- liſchen Literatur und machte in Ueberfegungen feinen Namen allen civilifir- ten Völkern des Erdfreifes bekannt.

Und 61 Jahre fpäter war es wiederum eine fiegreiche Schlacht gegen die Franzoſen, die der Deutſchen am 18. Auguſt 1870 bei Gravelotte, aus der eine ergreifende Gpifode einen Dichter zu unfterblihen Strophen begeifterte, deren pathetiiher Tonfall dem an englifchen und franzöfifhen Muftern ge bildeten ‘Boeten unverfennbar durch Wolfe's „The Burial of Sir John Moore*

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infpirirt ift: ich meine Yerdinand Freiligrath's „Die Trompete von Gravelotte*.

Welch intereffante Verknüpfung Eunfthiftorifcher Daten am Faden der Völker» und Staaten: Gefhichte! Drei Niederlagen der Franzofen! Drei blutige Siege germanifcher Völker, auf deren Weldern drei edle Blüthen der

Kimpfe gegen die Napoleoniſche Invaſion in Spanien.

Als General Dupont bei Baylen in Andalufien am 22. Juli 1808 mit 20,000 Franzofen capituliren mußte, erfannte Joſeph Bonaparte, daß er fid) in Madrid nicht mehr halten könne, und zog fih am 1. Auguft mit feinem ganzen Hofe nad) Burgos zurüd. Die franzöfifchen Heere waren bi8 zum Ehro gewichen. Denn inzwijchen waren die Engländer unter Welledley (dem nahmaligen Herzog von Wellington), Moore und andern Generalen in Por tugal gelandet und hatten dort die Franzofen zum Weichen gebracht. Die pyrenäiſche Halbinfel ſchien für die Franzofen verloren zu fein.

Da befahl Napoleon in Frankreich eine bedeutende Truppenaushebung, jog einen großen Theil der Truppen von Deutjchland an fi, ließ die Con— tingente der Rheinbundftaaten dazu ftoßen, fuchte fih durch diplomatifche Kunft in der Erfurter Zufammenkunft mit Kaifer Alerander den Rüden frei ju halten und führte fein großes Heer von 250,000 Mann, das fi dur Nahfendungen noch beträchtlich vermehrte, felbit nad) Spanien. Leider fandten die Engländer nur 20,000 Mann zu Hilfe, leider hatten die fpa- niſchen unten es nicht verftanden, ein großes ſpaniſches Heer zufammenzu- dringen; und fo Fam e8, daß die fpanifchen und englifchen Truppen bet Burgos und in andern Einzelgefehten (November 1808) geſchlagen wurden und Joſeph am 22. December 1808 in Madrid wieder einziehen Fonnte. Sofort murde die Aufhebung der Inquifition, die Auflöfung vieler Klöfter und eine umfafjende Amneftie verfügt, aber die Spanier wurden durch all dad nur defto tiefer verlebt.

Inzwiſchen war General-Lieutenant Sir John Moore*) mit dem bi8

) Moore mar fhon vor der Zeit feined Einrückens in Spanien einer der bewährteften und beliebteften britifchen Helden. Im Jahre 1761 zu Glasgow geboren, trat er 1776 im bie Armee ein, machte den amerifanifhen Krieg, 1793 den Zug nad Gibraltar, 1794 die Erpe: dition gegen Gorfica mit. Dort zeichnete er fich bei der Belagerung von Galvi aus und er= bielt dafür den Grad eined Brigadegenerald. Als ſolcher folgte er 1796 Sir Ralph Abercromby nah Weftindien, der ihm nach der Eroberung von Gt. Lucia im Mai 1796 dad Goupernement diefer Inſel übertrug. Moore reinigte diefelbe von den Negerbanden, mußte aber im Augnft 1797 feiner Gefundheit wegen nach England zurücfehren. Nun übernahm er ein Commando bei den britifchen Streitkräften in Jrland und Teiftete der Regierung im Aufftande von 1798 außer» ordentliche Dienfte, für die er zum Generalmajor emporftieg. Im Juni 1799 begleitete er den

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zu nur 30,000 Mann verftärften englifchen Hilfäheere von Liſſabon audgerüdt. Im Begriff über Marfhall Soult herzufallen, der ihn mit nur 18,000 M. beobachtete, erfuhr Moore, daß Napoleon bereits felbit käme, um ihn den Rückzugsweg zum Meere abzufchneiten. Augenblicklich begann er den Rück— zug nad Coruña, am Meihnachtsabend.*) Aber erft am 2. Januar 1809 ritt Napoleon auf der Straße nah Aftorga, ald ihn ein Courier mit Depefchen aus Paris einholte. Gefpannt auf den Inhalt derfelben, ließ er auf offenem Felde ein Feuer anzünden und begann eine Lectüre, deren fehr ernſter Cha- rafter der Umgebung fofort aus den veränderten Mienen des Kaiferd offenbar wurde. Seine Minifter meldeten ihm, daß an den feindfeligen Abfichten Deftreih8 nicht mehr zu zweifeln fei, daß auch die Freundſchaft Rußlands nicht mehr fo unbedingt zuverläffig erfcheine wie in Erfurt, daß der Katfer erwarten müßte im Frühling aufs neue einen deutfchen Krieg zu haben, in dem er fchmerlich auf ruffiiche Hilfe rechnen dürfe. Sehr nachdenfli flieg er wieder zu Pferde. In Aftorga übertrug er Eoult die weitere Verfolgung der Engländer. Er fonnte fih nicht noch weiter vom Mittelpunfte feines Reiches entfernen, mußte fi der großen Straße nähern, um fchneller mit Paris correfpondiren zu können, Eehrte ſich nach Valladolid, um dort zugleich die ſpaniſchen Angelegenheiten definitiv zu ordnen und feine Befehle für neue Rüftungen In Frankreich und Stalien zu geben. Das rettete Moore vom Verderben, indem es die Kraft der franzöfifchen Verfolgung lähmte Es ge- lang ihm jegt mit erftaunlicher Energie, fein von allen böfen Geiftern heim- gefuchtes Heer fo weit zufammenzuhalten, daß er den Franzofen zuerft bei Pietrod, dann bei Lugo, hier drei Tage lang, die Etirn bieten fonnte. So erreichte er mit einem für die Verhältniffe fehr geringen Berlufte am 11. Januar die Höhen von Coruña. Da er frühzeitig Gouriere auf Couriere abgefhict hatte mit der dringenden Bitte an den englifchen Admiral, die Trandportflotte fchleunigft vor Coruña zu fammeln, hoffte er jetzt das Ende der unfäglichen Strapazen erreicht zu haben; aber der erfte Blick, den er auf

Herzog von York auf der Erpedition nach Holland und wurde ſchwer verwundet. Kaum genes fen, ging er nach Aegypten und ward bei Abukir abermald verwundet, was ihn jedoch nicht binderte, an der Belagerung von Kairo tbeilzunehmen. Nah der Einnahme von Alerandria fehrte er nah England zurüf und erhielt ein Gommando im Innern. Im Mai 1808 wurde er zum Anführer des 10,000 Mann ſtarken Corps ernannt, das Schweden gegen die Ruffen und Dänen unterftügen follte. Bei der Landung zu Gothenburg überwarf ſich der launenhafte König Guſtav IV. Adolf mit ihm und ließ ihn, wenn auch nur für einige YAugenblide. feſt⸗ nehmen, worauf er die Grpedition zurüdführte. Dann erhielt er den DOberbefehl in der Er- pedition nach Portugal und Spanien,

) Ich folge nun bis zur Einfhiffung der Engländer im Hafen von Coruña in allen wejentlihen Punkten der autbentifchen Darftellung von Hermann Baumgarten in feinem vortrefflihen Werke: „Geſchichte Spaniens vom Ausbruch der franzöfifchen Revolution bis auf unjere Tage” (3 Theile. Leipzig 1865 1871), Th. I. ©. 333.

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dad Meer werfen Fonnte, überzeugte ihn, dag neue Prüfungen feiner warteten. Widrige Winde hatten e8 den Schiffen unmöglich gemacht, von Vigo, wo fie gelegen, nad Coruña zu fegeln. Als feine Truppen, die er nur mit der äußerften Anftrengung durch die Ausſicht auf vie rettende Flotte vorwärts getrieben hatte, fih am Meere fo hilflos fahen wie im Lande, ja bilflofer, weil jezt das Meer fie hemmte und die Macht der Franzofen die Möglichkeit gab, fie zu erdrüden, erlagen fie volftändiger Muthlofigfeit. Sogar einige Generale drangen in Moore, mit dem Feinde zu verhandeln, der am 12. und 13. Januar Zeit hatte, feine Kräfte zum Angriff zu fammeln. Moore blieb anerſchütterlich. Zu feinem Glüde mar Soult jest fo unentfchloffen und be- denklich wie vor Lugo. Gr ließ den 14. und 15. ungenüßt verftreihen, und am 14. erjchienen die erften Segel der englifchen Flotte Am 15. fonnte Moore die Einfhiffung feiner Gefhübe und Pferde beginnen. Jetzt aber war die Ungeduld der Franzofen nicht mehr zu halten, die ſich einen gehaßten Feind in dem Augenblicke entjchlüpfen fahen, wo fie ihn endlich gepadt zu haben meinten. Um 16. befahl Soult den Angriff. Moore begegnete ihm mit herrlicher Bravour: er felber führte feine Leute an dem zumeift bedrohten Punkte und flug den Sturm des überlegenen Feindes blutig zurück, der au jegt nicht mit der nachhaltigen Energie geführt wurde, wie fie font franzöfiihen Marjchällen eigen gewefen war. Moore frönte an diefem Tage dad Werk, deſſen erdrückende Laſt er feit drei Monaten mit wahrer Seelen» größe getragen hatte; fein Heldenmuth ficherte die Einfchiffung der Armee big auf den legten Kranken. Doch erleben follte er diefen Triumph nicht. Un- mittelbar nachdem es ihm gelungen, das entjcheidende Manoeuvre beim Dorfe Eviña auszuführen, traf ihn eine Kanonenkugel und zerfchmetterte ihm die Schulter; nach wenigen Stunden verfchied er. „Sch hoffe, dad Volt von Eng- land wird zufrieden mit mir fein“ mar fein letztes Wort.

„So endete” fagt Baumgarten’) „ein Mann von faft antiker Harmonie der Geifted- und Gemüthäbildung, fo liebendwürdig, edel, wahr und ſelbſtlos, daß man den Menfchen noch höher in ihm ſchätzen muß als den Feldherrn. Keiner der Engländer, die in diefem fpanifchen Kampfe in leitender Stellung mitwirkten, hatte von der Anarchie und den böjen Zügen und Zur ſtänden des unglüdlihen Volkes graufamer zu leiden, ala Sir John Moore, und eben er war von allen feinen Landsleuten, fo viel ich weiß, der einzige, der fi bis zuletzt ein ungetrübtes Urtheil über die Natur dieſes Volkes be wahrte, den Glauben an feine Tüchtigkeit fefthielt, unbeirrt durch die häßlichen Gewohnheiten, welche unter einer mehrhundertjährigen Mißregierung maren großgezogen worden. Dieſe freundliche, wahrhaft humane Art lohnten ihm

) A. a. O. L ©. 334,

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denn auch die Spanier in den lebten fehmweren Tagen dur eine brave Hin» gebung, welche die früher erfahrenen Widerwärtigkeiten in feinem Geifte zurück— drängte: die Bevölkerung von Coruña that ihr Aeußerfted, um die glückliche Einfhiffung zu ermöglichen, obwohl fie wußte, daß fie dafür fchwer werde büßen müfjen”.

Das „Edinburgh Annual Register* (1808 p. 458) enthält folgenden furzen, bier getreu überfegten Bericht über die Beſtattung Moore's:

„Sir John Moore hatte oft gejagt. er wünfche, wenn er in der Schlacht fallen follte, da begraben zu werden, wo er fiel. Der Leichnam wurde um Mitternacht nach der Citadelle von Coruña“) gebradt. Dort auf dem Walle wurde für ihn von einer Abtheilung des 9. Regiment? ein Grab gegraben; wechjelmeife Hatten die Adjutanten dabet den Dienft. Kein Sarg fonnte be- Ihafft werden; die Officiere feined Stabes hüllten den Körper, bekleidet wie er war, in einen Militärmantel und in Decken. Die Beerdigung wurde eilig vollzogen; dann gegen 8 Uhr Morgen? vernahm man einiged Yeuern, und die DOffictere fürdhteten, daß fie im Fall eines ernfthaften Angriffs abcom— mandirt würden und ihnen dann nicht geftattet wäre, ihm die letzte Pflicht zu ermweifen. Die Dfficiere feines Stabes trugen ihn zu Grabe; der Reichenfermon wurde von dem Gapellan gelefen; und dann wurde der Körper mit Erde bededt.“

Diefer furze perfpectivenreiche Bericht über die jo einfache und doch fo wunderbar:feterliche Beifegung der Leiche eines tapfern und allgemein verehrten Generald war wohl geeignet, einen zündenden Yunfen in die Bruft eines echten Dichterd zu werfen. Charles Wolfe bemächtigte ſich dieſes Stoffes und fhuf „The Burial of Sir John Moore“.

Das Gedicht erfchien zuerft nur mit den Initialen von Wolfe's Namen in dem irifhen „Newry Telegraph*, wo ed ohne Wiſſen ded Dichter einer feiner Bekannten hatte abdruden laffen. Dann nahm es rafch feinen Weg nad London, Dublin und Edinburgh in zahlreihen, aber mannichfach ver

*) Die Giudat, (d. i. in Spanien eine Stadt erften Ranges) La Coruña mit jet circa 28,000 Einwohnern ift die ſtark befeftigte Hauptitadt der gleichnamigen Provinz Spaniens an der Nord» Weft- Küfte des Königreichs Galicien. Sie liegt fehr fhön am öftlichen Ufer der Ria oder Bai gleichen Namens und befteht aus der obern oder alten und aus der untern oder neuen Stadt. Die neue Stadt, auch Pedcaderia genannt, befindet fi) auf dem Iſthmus der ſchmalen Landzunge, welche die geräumige und gegen alle Stürme geficherte, von malerifhen Granit: felfen umſchloſſene Hafenbai von der Enjanada de Drfan trennt. Die Altftadt liegt auf einer Anhöhe im öſtlichen Theile der Landzunge, ift mit Mauern umgeben und von der Eitadelle ges fügt. Hier alfo werden wir dad Grab Moore's im Geifte zu fuchen haben. Der Hafen, in dem 1809 die englifhe Flotte und 1588 die „unüberwindliche Flotte” Philipp’8 II. lag. iſt balbmondförmig und wird durch vier Forts und durch das vor dem Eingange auf einer Meinen Belfeninfel gelegene Gaftell St. Antonio allfeitig gedeckt. Als Leuchttburm dient der angeblich von den Römern erbaute Herculestburm, der am nördlichen Ufer der Landézunge auf einem

Felſen ftebt.

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unftaltenden Abdrüden, wie es bei folcher Urt und Weiſe der Publication begreiflih if. Sn engeren Kreifen mwunderte man fih, daß der Dichter fi noch immer nicht nenne oder andere ebenbürtige Dichtungen veröffentliche. Als Lord Byron in einer Gefellichaft, in der auch Shelley anmefend war, mit Begeifterung es vorla® und pried, da wurde e8 populär. Byron ftellte die Dichtung über verwandte Gedichte von Coleridge, Thomas Moore und Gampbell, nannte fie eine Dde, die wenig den beften nachſtände, die das da— malige fruchtbare Zeitalter hervorgebracht; vorzugsmeife lobte er die dritte Strophe; er nannte fie vollfommen, befonderd Vers 3 und 4 derjelben (ef. Thomas Medwin’s Conversations of Lord Byron, 2 ed. vol. II p. 154). „The Burial of Sir John Moore“ ift in Deutſchland fehr verbreitet, aber mir ift fein einziger Abdruck befannt, der authentifch wäre: ein Umftand, der bei der Publicationsmeife des Gedichtes erklärlich und um fo verzeihlicher ift, da auch die in England erfchienenen Anthologien felten correcte Abdrüde dieſes Gedichtes bieten, obgleich die Heraudgeber fi doch auf Wolfe's „Remains* fügen Fonnten, während die deutſchen Anthologen den engliſchen nachdruckten. Nah langem vergeblichen Bemühen ift e8 mir endlich gelungen, ein Eremplar der auch in England felten gewordenen: Remains of the late Rev. Charles Wolfe, A. B. Curate of Donoughmore, Diocess of Armagh. With a brief Memoir of his Life. By the Rev. John A. Russell, M. A. Chaplain to his Excellencey the Lord Lieutenant of Ireland, and Curate of St. Werburgh’s, Dablin. Second Edition. London: Printed for Hamilton, Adams, and Co, 33 Paternoster Row. MDCCCXXVL (gr. 8. XII. und 474 Seiten. Ist ed.: Dublin and London 1825. 2 vols. 12 mo.) zu erlangen melde die wenigen aber meift fehr fhönen Gedichte getreu nah den Manufcripten des Dichters enthalten. Daraus (Pag. 29—31) hier dad Gedicht felbft buchſtäblich treu:

THE BURIAL OF SIR JOHN MOORE. Not a drum was heard, not a funeral note,

As his corse to the rampart we hurried; Not a soldier discharged his farewell shot

O’er the grave where our hero we buried.

We buried him darkly at dead of night, The sods with our bayonets turning; By the struggling moonbeam’s misty light,

And the lantern dimly burning.

No useless coffin enclosed his breast, Not in sheet or in shroud we wound him;

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But he lay like a warrior taking his rest, With his martial cloak around him,

Few and short were the prayers we said, And we spoke not a word of sorrow;

But we steadfastly gazed on the face that was dead, And we bitterly thought of the morrow.

We thought, as we hollow’d his narrow bed, And smooth’d down his lonely pillow,

Tbat the foe and the stranger would tread o’er his head, And we far away on the billow!

Lightly they’ll talk of the spirit that's gone, And o’er his cold ashes upbraid him, But little he’ll reck, if they let him sleep on In the grave where a Briton has laid him.

But half of our heavy task was done, When the clock struck the hour for retiring ; And we heard the distant and random gun That the foe was suddenly firing.

Slowly and sadiy we laid him down, From the field of his fame fresh and gory;

We carved not a line, and we raised not a stone But we left him alone with his glory!

Ich Taffe eine Meberfegung von G. Emil Barthel folgen, die derfelbe zur erften Veröffentlihung in diefem Artikel mittheilte:

Die Beftattung des Sir John Moore. Kein Trauerchoral, keine Trommel erflang,

AL zum Wall wir den Leichnam erhuben; Keine Salve rollte zum Abſchied bang

Ueberd Grab, das dem Helden wir gruben.

Wir gruben ihn trauernd um Mitternacht ein, Bayonnette brachen den Ader

Bei des zitternden Mondſtrahls nebligem Schein, Bei der trüben Laterne Geflader.

Nicht Taken dedten, nicht Finnen ihn zu, Es umſchloß fein eiteler Sarg ihn;

Er lag wie ein Krieger fich Iegt zur Ruh, Der Soldatenmantel nur barg ihn.

22

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Wir beteten kurz, wir redeten nicht, Berbiffen den Schmerz und die Sorgen;

Wir ſchauten ihm feft in das bleiche Geficht Und dachten erbittert an morgen.

Wir gedachten mit Grimm, daß der Held uns geraubt, Der zum Siege voran und gezogen, *) - Daß der Fremdling, der Feind ihm tritt auf das Haupt, Und wir dann fo fern auf den Wogen!

Ihr ſchmähender Mund wird den Geift, der entflohn, Auch über dem Grabe noch ſchelten,

Dod was fümmert ihn Spott, was kümmert ihn Hohn In der Gruft, die ihm Briten beftellten!

Nur Halb fam das fchwere Werk zum Beichluf, Als die Glocke zum Nüdzug ertünte,

Und wir hörten des Feindes ziellofen Schuß, Der plöglid die Runde durchdröhnte.

Wir fenkten ihn langfam und traurig hinab, Des Schladhtfelds blutige Blume —;

Nicht Infchrift, nicht Stein bezeichnet fein Grab So ruht er allein mit dem Ruhme!

*) Diefe Ueberfegung ift fo treu, mie eine deutfche Ueberſetzung eines englifchen Gedichtes im Metrum des Driginald nur fein kann; nur an diefer Stelle glaubte ih mir eine Eubfiituirung, die nicht gegen den Geift des Originals und die hiſtoriſche Wahrbeit verftößt, erlauben zu müffen, weil ich wegen Vers 3 diejer Strophe: „Daß der Fremdling, der Feind ihm tritt auf das Haupt”, den ih um feinen Preid abſchwächen möchte [etwa durch: über's Haupt ihm gebt (Peter von Bohlen. 1840), betritt dein Aſyl (Georg Perk. 1862), zu Häupten ihm ſchreit' (H. 3. D. U. Seeliger. 1563), ſchreitet .. . über's Haupt ihm bin (Rouife von Ploennied, 1563), bald über ihn gebt (Heinrih Stadelmann. 1864), tritt über ihn fort (Giöbert Freiherr Binde. 1865), gehn über ihn hin (Julius Mever. 1874) ] einen paſſenden Reim auf „Haupt“ nöthig hatte; und ferner, weil man im Deutfchen nicht von pillow (Kiffen) in unmittelbarer Verbindung mit to smootli down (glatt ftreichen, glätten) reden kann, wenn Erde gemeint ift. Wer aber pillow durchaus nicht miffen will und auf die Abſchwächung von Vers 3 feinen jo großen Wert legt, dem biete ich folgende Ücberfepung der fünften Strophe, die mir freilich recht mangelhaft, aber immer noch eriräg- liber erfcheint, ald die meiner obigen fieben Vorgänger: Wir dachten und, ald wir fchaufelten dort Und aus Erde das Kiſſen ihm bogen, Das der Fremdling, der Feind tritt über ibn fort, Und wir dann fo fern auf den Wogen! Anmerkung des Weberjegeis, Grenzboten IV. 1574. IS

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Byron und nad ihm Chambers Haben dad Gedicht eine Ode ge nannt, und wir fönnen uns diefe Bezeichnung des pathetifchen Ausdrucks we gen, den der Dichter feinem Stoffe angedeihen läßt, gefallen laſſen; da aber diefer Ausdruf nicht einem Gegenftande, fondern einer Begebenheit zutheil wird, fo würde man die Benennung dur) den Zuſatz „epifh“ prä cifiren müffen, und wir würden und durch die Bezeichnung „epifhe Ode“ einer contradictio in adjecto nicht mehr ſchuldig machen, ald wenn mir von epifcher Lyrik oder Iyrifcher Epik überhaupt reden. Schon das mit dem Reim verbundene anapäſtiſch-logaödiſche Metrum entfpricht weder nah altelaffifchen noch nad) unfern modernen Begriffen dem Wefen der Ode, fondern erinnert mit feinen vier Hebungen und unterfchtedlichen Senfungen in jedem Berfe vielmehr an den epifch-Iyrifchen Ton, wie er fih in Deutfhland auf dem Fundamente des mittelalterlichen Epos dur Goethe! „Erlkönig“ und Uhland’3 hierher gehörige Dichtungen herausgebildet hat. In der epifchen Lyrik möchte ich aber mit Theodor Ehtermeyer*, dem bierin aud Heinrih Kurz*) gefolgt ift, von der Ballade, die dem mythiſchen Epen- £reife (Edda), und von der Romanze, die dem romantifhen Kunſtepos (Barcival) entfpricht, die Rbhapfodie trennen, die mit dem heroifchen Epos (Nibelungen: lied) correfpondirt. Das Clement der Rhapſodie tft die Tapferkeit der biftoriichen Welt. So mie die Ballade myſteriös und tragiſch, die Romanze bel und ethiſch, fo ift die Rhapſodie, aud wo fie den Untergang darſtellt, far und markig. Der Stoff der Rhapfodie tft dad gefammte Heldenleben aller Völker, fie ſchließt fich aber vorzugsmeife an die Gefchichte ded Volkes an, in dem fie entfteht, und bewahrt dadurd ein nationale® Intereſſe. Der Form nad) erfordert fie den klaren und ruhigen Fluß der epiſchen Darftel- lung, dem das Pathos durchaus nicht fremd tft, wie das Muftergedicht diefer Gattung in Deutjchland, „Des Sänger Fluch“ von Uhland, veranfchau- liht. Diefer Charakteriſtik entſpricht vollkommen Wolfe'3 „The Burial“, und fo entjcheide ich mich ohne Bedenken dafür, dag Gedicht den Rhapfodien beizugefellen. s

Da ih dad Metrifche ſchon berührt Habe, fo wenden wir und nun von der Betrachtung des Stoffd und der Form zu der dichteriſchen Compofition.

*) „Unfere Balladen» und Romanzen»Poefie”, eine ſehr beachtenswerthe, bereitö früber von Theodor Echtermeyer veröffentlichte Abhandlung, die von der zweiten Aufl. an (Halle 1839) jeder von desjelben Berf. „Auswahl deutſcher Gedichte“ einverleibt war bis zur 11. Auflage (Halle 1861); jpätere Herausgeber des befannten Schulbuches haben diefe Abhandlung des in- zwijchen verftorbenen (1944) Echtermeyer leider nicht wieder mit abdruden lafjen.

) Gommentar zu feinem „Handbuch der poetifhen Nationalliteratur der Deutfchen“ (Zürih 1842) ©, 377. „Gefchichte der deutfchen Literatur.“ Bd. III. (Leipzig 1859 u. ö.) S. 353 a. 358 b,

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Die erfte und die legte Strophe bilden gleihfam den Rahmen zu dem hiftorifchen Nachtbilde, das die ſechs inneren Strophen vor unferm geiftigen Auge entfalten; fie verhalten fih etwa zu einander, wie Erpofition und Ka— taftrophe. Die erfte Strophe führt und die Situation in Furzen Zügen vor: fie begruben den Helden ohne alle militärifchen Ehren. Die folgenden ſechs Strophen bringen die Einzelheiten des Begräbniffes felbft und die ſich von Wehmuth und Schmerz bis zur Erbitterung fleigernden und dann wieder in Wehmuth auflöfenden Gefühle der Begrabenden in ergreifender Weiſe zur An- ſchauung und Nahempfindung: das mitternächtlihe, nur durch den nebel: umbüllten Mond und den trüben Schein der Laterne erhellte Dunkel Bayonette dienen als Spaten fie hatten weder Sarg noch Leichen» tuh doch:

Er lag wie ein Krieger fich legt zur Kuh, Der Soldatenmantel nur barg ihn.

Und dann der Ausdrud ded verhaltenen Schmerzes beim Anblick des Ge- fihte, that was dead; noch gejtern lebte es und belebte fie alle! Und die Erbitterung über den Feind, der am nächſten Tage, vielleiht unwiſſend— lih über feinem Haupte ftehend, die Stätte ded Todten durh Schmähungen über den Sieger entmeihen wird —:

Dod was kümmert ihn Spott, was kümmert ihn Hohn In der Gruft, die ihm Briten bejtellten !

. Aber no haben fie das ſchwere Merk nicht vollbracht, da fchlägt die Stunde der Einfhiffung, und zugleih hören fie plößlich [suddenly früh gegen 8 Uhr in der Dunkelheit ded Januar» Morgend] ein entfernte® und nichtiges Schießen [random gun Fühlungsihuß??] des Feindes. Nun knüpft die legte Strophe mit „we laid him down‘ wieder an das „we buried him“ im letzten Verſe der erften und im erften Verfe der zmeiten Strophe an: fie erfüllen die legte traurige Pflicht; einen Dentitein können fie ihm nicht ſetzen fo rubt er fernab verlaffen, nur der Ruhm ift fein Genoſſe!

Und all das tönt und entgegen ald ein Bericht au dem Munde der Soldaten, die das Bayonnett als Spaten ded Todtengräbers verwenden ! Der Gefühlsausdruck wird dadurch zum Ausdrud des Gefühls der gefammten Armee, welche durch die kleine Schaar repräfentirt wird. Die Kraft, Gedrängt: beit und innere Wahrheit der Darftellung ift im Hohen Grade, aber im edelften Sinne des Wortes effectvoll. Es ift alled in Wirklichkeit fo ge Ihehen, aber die hiftorifche Wirklichkeit ift zur poetifchen verklärt und erhoben worden.

Und welche Anſchaulichkeit erzielt der Dichter durch ein glückliches Er— greifen der Naturelemente der Sprache, durch bildliche Worte, wirkſame Laut—

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und Zonverbindungen im Ginzelnen , und durch den frappanten, an den ger ftiefelten und gefpornten feierlichen Schritt der Soldaten erinnernden Rhythmus im Ganzen! Die finnliche Rebendigfeit wird unterftüst durh MWiederho- lung ein und desfelben Wortes (not in Str. IB. 1u. 3. bu- ried in I, 4 und II, 1. thought in IV, 4 und V, 1. —), durch Allitteration (I, 1. U, 3. III, 2 und 3. VI, 1. VII, 1 und 2) durh Färbung ded Bocaliömuß (I, 1. V, 4 VI, 1. VII, 2 und 3. VIII, 4.) und endlich dur die gleitenden Reime in Strophe III und VI. AU diefe einzelnen Schönheiten des Ori— ginal® vermag der Heberfeger, der mit Wohllaut Treue vereinen will, nur theil⸗ weiſe nadhzubilden.

Dem gemaltigen Xotaleindrude ded Gedicht? vermag fich bei einem einigermaßen guten Vortrage auch der flüchtige Hörer nicht zu entziehen, aber die einzelnen Schönheiten bleiben ihm natürlich verborgen. Und doch habe ih in feinem englifchen aud in den „Remains“ nit und feinem deutfchen Buche etwas gefunden, dad nur annähernd den Namen einer Cha: rakteriftit oder Analyfe des Gedichtes verdiente. In Deutſchland ift es oft genug, aber meiſt ſehr mangelhaft überfegt worden; eingehend befprochen und gewürdigt fcheint e8 von niemand zu fein. ine faft tragifomifche Wirkung macht e8, wenn Bodenftedt von feinem Mirza- Schaffy, dem pfeudo- transfaufafifhen Dichter des Epikurismus berihtet*): „Einige Lie— der von Thomas Moore und Lord Byron machten ihm große Freude und waren ihm verſtändlich, ohne daß es eines Commentars dazu bedurfte. Einen gewaltigen Eindruck auf ihn machte das wunderbar ſchöne Gedicht von Rev. C. Wolfe: Not a drum was heard, not a funeral note etc. Nicht fo gut ging e8 mit Uhland und Geibel*.

Die Hodausfuhr und die Münzreform. Bon Mar Wirth.

Indem mir in der nachfolgenden Unterſuchung die wahre Urfache der ftarfen Goldausfuhr, unter welcher Deutfchland feit einiger Zeit zu leiden hat, fo wie die einzigen Mittel, um diefem Uebelftande abzubelfen, darzulegen und bemühen, werden wir zugleich die damit zufammenhängende Geld-

*) Im 22. Gapitel von „Taufend und ein Tag im Drient“; Bodenſtedt's „Gefammelte Schriften”. Bd. IL. (Berlin 1865) ©. 77,

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entwerthung beleuchten, fo meit diefelbe eine momentane ift, bzw. die Preife in Deutfchland feit einiger Zeit gefteigert hat. Denn was die bleibende Beldentwerthung betrifft, welche Statiftifer und Volkswirthe, Kaufleute und Ninanzminifter im Munde zu führen pflegen, die feit der Entdeckung der Goldlager in Californien und Auftralien Plat gegriffen haben fol, und über welche Poake und Newmarch einerfeit? und Levaſſeur andrerfeits ftatiftifche Unterfuhungen angeftellt haben, die zu einander mwiderfprechenden Mefultaten gelangten, fo iſt diefelbe zwar möglich, aber noch nicht erwiefen.. Um den wiffenfchaftlichen Beweis dafür zu erftellen und, wenn diefer gelingt, da Maaß der Entwerthung und ihres Einflufje® auf die allgemeine Steigerung der Preife teftzufegen, müßten nachher die Preife der Haupt-Artifel und Löhne aller Yänder Europas über ein Jahrhundert zurüd zufammengeftellt und verglichen werden. Dies ift aber bis jegt noch nicht gefchehen, obgleich bet der Orga— nijation der Wiener Weltausftellung ein Anlauf dazu gemacht worden, und eine Gommiffion niedergejegt ift, um die gemonnenen Materialien zu ver: arbeiten.

Die außerordentliche Goldausfuhr aus Deutfchland, melde im Monat September ihren Höhepunkt erreicht Hat, wird von Fachorganen in den erften acht Monaten diejed Jahres auf gegen 300 Millionen Mark geſchätzt, melche größtentheild nad Frankreich abgezogen find, da deflen Einfuhr an Edel: metall in derfelben Zeit die Ausfuhr um 593,835 Fr. überftiegen, wovon der größte Theil in Gold beftanden hat. Dagegen hat Deutfhland Faum für 2 Milionen Mark Gold in diefem Jahre aus England importirt. Die ge- jammte Goldaudfuhr aus Deutfchland wird in Berlin auf eine halbe Milliarde Mark oder ungefähr die Hälfte der bid zum 19. September geprägten neuen Goldmünzen angenommen.

Diefe Bewegung ift fo außerordentlich, daß fie geradezu die Einführung des neuen Münzgeſetzes gefährdet, d. h. wenigftens die Reichsregierung zwingt, faft von vorn anzufangen; da anzunehmen ift, daß die erportirten Goldmünzen ſtets wieder eingefchmolzen werden. Zugleich zwingt fie, alle Mittel zu er- greifen, welche geeignet find fie aufzuhalten. Das zunächft liegende war die Diecontoerhöhung; allein diefe kann dem Uebel auch nicht radical fteuern, wenn man nicht den Ginfas fo hoch fchrauben wollte, daß dad Heilmittel ſchlimmer ald das Lebel würde. Wie jene ftarfe Goldausfuhr möglich ift, obgleih da8 Münz-Gefes den Fall vorbergefehen zu haben fchien, indem die Zwanzig: Markt: Stüf um ungefähr 33 Centimes geringerhaltig ausgeprägt find, ald 25 France Gold, erfcheint faft räthfelhaft. In Berlin ſchreibt man fie von vielen Seiten, unter denen auch tüchtige Volkswirthe wie Julius Faucher, der ungünftigen Handelsbilanz zu, indem die Ginfuhr ſich ftark ver- mehrt und die Ausfuhr fih vermindert habe. Diefe Bermuthung erweiſt ſich

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aber nicht als ftihhaltig. Es muß dabei nämlich beachtet werden, daß bie Einfuhr im Allgemeinen und in der Regel höher ift und höher gemerthet fein muß, als die Ausfuhr, weil zu der Urfprungefactura noch mehr Fracht, Zins und BVerfiherungsprämie zu rechnen ift, als bei der ausgeführten Waare. Im fpeciellen Fall aber haben England und Frankreich in dem erften Semefter des laufenden Jahres ebenfalld eine Vermehrung der Einfuhr und eine Ber- minderung der Ausfuhr aufzumelfen, ohne daß diefe Bewegung von der gleichen’ Erfcheinung begleitet gewefen wäre. In Frankreich zeigt nämlich der Ausfuhrhandel in den eriten drei Monaten von 1874 folgende Ziffern:

Einfuhr Ausfuhr 1873 Fr. 776,576,000 971,982,000 1874 925,129,000 856,000,000 + 148,553,000 115,982,000 Der Audfuhrhandel Großbritannien® ergab in derfelben Zeit: Einfuhr Ausfuhr 1873 Pf. St. 84.877,000 92,374,000 1874 62,376,000 57,802,000

22,501.000 - 34,572 000 Gerade in dem Lande, nad welchem aus Deutfchland am meiften Gold erportirt wurde, hat alfo die ftärkfte Einfuhr ftattgefunden, und zwar den Edelmetall: Import dabei außer Rechnung gelaffen, denn jene Ziffern fegen fih folgendermaßen zufammen: Ä 1873 1874

Nahrungsmittel Fr. 160,987,000 202,561.000 Rohſtoffe 479681,000 586,272,000 Fabricate 97,383,000 96,698,000 Verfchiedene Waaren 38,625,000 39,598,000

_776,576,00 028120 000

Die weiteren vier Monate des Jahres, deſſen genaue Ziffern uns gerade nicht zur Hand find, haben ein ähnliches Reſultat ergeben.

Zu allem Ueberflufie ift aber jene Vermuthung über die Berfchlechterung der deutfhen Handelsbilanz gar nicht zutreffend, denn nad) dem fo eben ver- Öffentlichten Ausmeife haben die Einnahmen an Yöllen im deutjchen Reiche vom 1. Januar bid 31. Auguft d. J. 6,102,057 Thaler weniger betragen, al® in der gleichen Periode des Jahres 1873.

Aus diefen Thatfachen allein geht zur Evidenz hervor daß die Handel bilanz nicht die Urfache der enormen Goldaudfuhr if. Die wahre Urfade muß anderswo gejucht werden.

Um diefelbe fofort in voller Klarheit zu erfennen, muß man fich in den Prozeß des Umſatzes der Waaren und Dienftleiftungen hineindenfen. In

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jedem Lande wird in einer gegebenen Zeit eine beftimmte Anzahl von Käufen und Ablohnungen bewerkftelligt, welche zur Erhaltung der allgemeinen Wirth: ihaft und zur Grnährung der Bevölkerung nothmendig find. In diefen Trandactionen ift eine gewilfe Summe von Umlaufsmitteln nothwendig, ala teren Grundlage die Edelmetallmünzen und Barren dienen. Ein Theil diefer Umlaufsmittel fann auf die Dauer durch Greditmittel (Staatöpapiergelod, Banknoten, Wechfel, Checks) oder durch organifche Einrichtungen wie Com— penſationsbörſen (3. B. die Clearing- Häufer in London, Newyork, Bojton) regt werden. Sin geordneten Zeiten aber haben fie einen fehr ebenmäßigen Umfang, der vom Durchſchnitt nur wenig abweicht, ganz im Verhältniß wie die Käufe und Lohnauszahlungen Umlaufsmittel erfordern. Außer vorüber- gehenden Schwankungen, welche entweder durd ein Stoden der Gefchäfte bzw. dur eine Verminderung des Bedarfd an Girculationsmitteln, oder durch großen Auffhwung des Unternehmungsgeiftes hervorgerufen werden, ift aber der Bedarf an Girculationämitteln in der Regel ein fehr gleihmäßiger. Nun it an den Lehrfas zu erinnern daß die Preife und Löhne finfen, wenn die Umfagmittel fi vermindern; daß die Preife und Löhne aber fteigen, wenn die Umfagmittel fich vermehren.

MWerden nun die Girculationdmittel eines Landes im Verhältniß zu dem Umfang der Umſätze fo bedeutend vermehrt, daß eine Preisſteigerung erfolgt, welche fo erheblich iſt, daß fie den Wechfelcurd bis auf den Grad afficirt, daß Metallfendungen fi) verlohnen, dann wird einerfeit3 ein Theil der im Auslande fälligen Zahlungen in Gold ftatt in Wechfeln gemacht, andrerfeitg it der Reiz vorhanden, die billigere Waare des Auslandes in größerer Quan- tität ald vorher zu kaufen. Die Folge diefed doppelt wirkenden Anftoßes ift 8, daß gerade fo viel Geld ind Ausland abftrömt, als über dad Bedürfnig der Umſätze hinaus in Girculation gejegt worden war.

Befteht, in einem Lande die einfache Währung, d. h. dürfen zu größeren Zahlungen gefeglich nur Gold» oder Silbermünzen verwendet werden, fo wird fih die Sache ohne Schwierigkeit ausgleichen, weil das überflüffige Metallgeld wie das Waſſer aus einem überfüllten Refervoir ablaufen wird. Befteht aber ein Theil der Umlaufämittel aus Staatspapiergeld oder Banknoten und werden die leßteren über dad Maaß des Bedürfniſſes vermehrt, dann ftrömt Edelmetall aus dem Rande, weil Papier im Auslande nicht giltig if. Dauert die Ber: mehrung der papiernen Gireulationdmittel fort, fo wandern zuerft ſämmtliche gute Münzen der berifchenden Währung, dann die Theilmünze und endlich jogar die Scheidemünze fort. Beſteht in einem Lande die Doppelmährung, d h. dürfen alle Zahlungen bis zu beliebiger Höhe in beiden Metallen ge- mat werden, fo wandert in einem ſolchen Falle dasjenige Metall aus, welches gerade auf dem Weltmarkt höher im Curs ftebt, weil natürlich im

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betreffenden Rande von Seiten inländifcher mie ausländifcher Schuldner, da die Wahl gefetzlich freifteht, nun mittel® des im Curſe billiger ftehenden Metalles gezahlt wird. Ueber alle dieje Vorgänge find in den letzten 20 Jahren fo reihe Erfahrungen in den Vereinigten Staaten, in Deflerreih, Italien, Frank— reih und in der Schweiz gemacht worden, daß man glauben follte, fie müßten Jedem fo geläufig fein, wie das Schickſal der einftigen franzöfifchen Affignaten. Zur Vorbereitung des Geſetzes betreffend die Ausprägung von Reiche: goldmünzen vom 4. December 1871 war vom Bundesfanzleramte eine Sta— tiftit der im Norddeutfchen Bunde ausgeprägten und eingezogenen Münzen aufgenommen worden, welche folgendes Refultat ergeben hatte:

0: Ueberſchuß der Ausprägungen —— über die Einziehungen: zn en 175,726,396 | 2,500,535 | 173,219,851 ilber - Gourant = \ Münzen 498,049,074 | 55,901,698 442,147,376 Eilber - Scheide» | | Münzen 77,317,066 | 8,415,497 | 74,401,569 Kupfermüngen 2,730,547 99,775 1 2,630,772 154,323,073 | 61,923,505 | 692,399,568,

Zu diefer Summe kommen nod die von den füddeutfchen Staaten Bayern, Württemberg, Baden und Heffen geprägten, abzüglich der eingezogenen Münzen. Da und darüber Feine authentifhen Zahlen vorliegen, fo wollen wir fie mit demjenigen Betrage compenfiren, welcher im Privatverfehr ver- ſchloſſen d. h. verloren, eingefchmolzen, vergraben oder ind Ausland gelangt it. Dian kann danach alfo annehmen, daß die Metalleirculation 1869 in Deutfd- land gegen 500 Millionen Thaler betragen hat.

Nach einer im Jahre 1871 dem Reichstage übergebenen ftatiftijchen Zu— fammenftelung erhob fi) jene Summe des Meberfchuffes der Ausprägungen über die Einziehungen für ganz Deutfchland einfchliehlich der ſüddeutſchen Staaten auf 597,700,000 Thaler, wovon etwa 26,700,000 Thaler Scheidemünze. Die Annahme, daß der regelmäßige Bedarf an baarem Gelde bis jest 500 Millionen Thaler betrug, ift alfo feine übertriebene Schäßung und mag eher unter als über der Wahrheit bleiben, ta die Baarvorräthe der Zettelbanfen allein fih auf 300 Millionen Thaler erheben. Zu jenen Baarbeftänden, welche zum Theil dur Noten repräfentirt werden, Fommen noch circa 100 Millionen Thaler ungededte Noten und endlich etwas über 50 Millionen Staatspapiergeld, welches durch Reichskaſſenſcheine erfegt wird. Man Konnte demnach bis 1871 den Gefammtbedarf an Umlaufsmitteln für das deutſche eich auf etwas über 650 Millionen Thaler annehmen. Soetbeer, melder auf die nämlihe Summe kommt, nimmt an, daß bis im März 1873 jener Münzumlauf nod vollftändig erhalten oder um höchſtens 10 Millionen Thaler vermindert geweſen fei, und daß damald ſchon ca. 200 Millionen Thaler

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der neuen Goldmünzen ausgegeben worden, wovon nun etwa 10 Millionen für den Mehrbedarf des Kriegsſchatzes abzuziehen feien. Der Vorrath an baarem Geld mar alfo innerhalb eines Jahres um mehr ald 33 Procent vermehrt worden. Wenn diefe Behauptung richtig ift, und wir haben feinen Grund daran zu zweifeln, fo hätten ſchon damald, Kraft des oben gefchil- derten Verkehrsgeſetzes jene fämmtlichen 200 Millionen, um melde die Um- laufdmittel vermehrt worden waren, ind Ausland wandern müffen und jene gerade in Geftalt der neuen Goldmünzen, weil der Preid des Silbers ſchon von 1872 an zu meichen begann, da die Arbitrageure, wie bet allen ähnlichen Borgängen, die der Ausführung des Münzgeſetzes mit Nothwendigkeit folgende Abwälzung von wenigſtens 300 Millionen Silber ſchon im Voraus zu es— ecomptiren begannen. Anfang 1873 war der GSilberprei® um 4°%,, Ende 1873 ſchon um 6'/, %, gelunfen und hat fi) während des laufenden jahres durchſchnittlich auf menigftend 6 %, unter dem Stand von 1871 erhalten. Um einem folchen Abftrömen des Goldes, das früher oder fpäter eintreten mußte, weil ausländifche mie inländifche Schuldner natürlich möglichft in dem billi- geren Metalle zu zahlen und dad Gold mit Agiogewinn fonft zu vermwerthen ſuchen, mußte die Reichdregierung für die Goldmünzen, welche fie dem Ver fehr übergab, diefelbe Summe an groben Silberftüden einziehen. An War: nungen bat es auch im Reichstag nicht gefehlt. Allein die Reichöregierung, welcher doch das wirthſchaftliche Geſetz des Umlaufs zweifellos befannt iſt, hat ſich durch zwei außergewöhnliche Umſtände täuſchen laſſen, welche die Wirkung des Geſetzes eine Zeitlang aufſchoben und verdunkelten. Der eine war die Zahlung der Kriegsentſchädigung. Da Frankreich das dazu erfor- derlihe baare Geld unmöglich in der gegebenen Zeit auftreiben konnte, jo mußte e3 in Mechfeln zahlen. Dadurch ftiegen die Devifen auf Deutfchland auf ungewöhnliche Höhe, fo daß z. B. in der Schweiz Anfang 1873 Preußijche Banknoten über Bart ftanden. Der andere Umftand war die Meberfpeculation, weldhe bereitd 1871 begonnen hatte und mit dem Ausbruch der Krifid von 1873 ihr Ende nahm. Dieſe Speculation fteigerte in Folge ihrer vermehrten Umfäge den Bedarf an Girculationdmitteln beträchtlih. Gleichzeitig wurde fie aber auch gerade durch die Herausgabe der neuen Goldmünzen, welche den regelmäßigen Bedarf an Umlaufsmitteln überſchritt, noch anfehnlich gereizt. Und in diefer Hinficht ift der Vorwurf durhaus nicht unbegründet, daß die Reichäregierung mit Schuld, wenn nicht an der Kriſis, jo doch an der Er- ſchwerung derfelben, hatte. Wie, nebenbei bemerft, unter folhen Umftänden der Bankgefegentwurf dazu kommt, die ganze Schuld der mit der Heberfpecu- lation verbundenen Steigerung der reife einzig den Notenbanfen in die Schuhe zu ſchieben, begreifen wir nicht. \

Mir hatten bid zum Geſetz vom 9. Juli 1873 rechtlich die a

Gtenzboten IV. 1874,

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von diefem Datum an die Goldwährung; der Uebergang von der einen zur anderen muß aber nothmwendigermeife durch ein Broviforium ausgefüllt werden, während deffen factifch die Doppelmährung herrſcht. Welche Nachtheile aber leßtere mit fi) bringt, wenn das eine der beiden Metalle im Preiſe fich än- dert, das haben wir angedeutet und merden wir noch näher prüfen. Wegen diefer zu befürchtenden Uebelſtände follte diefe Uebergangszeit fo kurz als möglich gegriffen werden. Die Reichöregierung hat aber, verführt durch jeme beiden außerordentlichen Umftände das Gegentheil getban. Ste hat die Aus führung des Münzgeſetzes fo in die Ränge gefchoben, als ob fie dadurch be- fondere Vortheile zu erlangen oder Nachteile abzumenden hoffte. Sie hat dadurch der Edelmetallfpeculation und der Arbitrage Zeit gelaffen im aller Muße ihre Operationen ind Werk zu fesen und die Reichdcaffe viel mehr zu benachtheiligen, al8 der höhere Preis des Goldes ausgemacht hätte, wenn die Prägungen rafcher bemerkitelligt worden wären oder als der Zinsverluft betragen hätte, wenn die Goldmünzen fo lange unter Verſchluß gehalten worden wären, bis eine foldhe Summe vorräthig war, um die groben Silber münzen rafch außer Cours jegen zu Fönnen. In Folge diefe Mißgriffe haben wir jest, nachdem die Kriegsentſchädigung abgemidelt, Feine Urſache zum günftigen Wechfeleurs für Deutfchland mehr vorhanden ift, und nachdem die Blaſe der Agiotage und Meberfpeculation in der Krifid geplagt ift, das wenig beneidendwerthe Vergnügen, das ganze Schaufpiel vor unferen Augen fi wiederholen zu fehen, welches die Vereinigten Staaten, Frankreich, Belgien die Schweiz und Stalien von 1852 bid 1865 abwechfelnd vorgeführt Haben. Damals war es dad Gold, welches in Folge der neuen Lager in Californien und Auftralten billiger wurde und das Silber in jenen Kändern, wo die Doppelwährung berrfehte, aus dem Lande trieb, fo day die Vereinigten Staa- ten genöthigt waren, 1853 die reine Goldwährung einzuführen, daß die Schmeiz, um einer völligen Verfehröftodung vorzubeugen, fich veranlaßt fah, ihre Silber münzen geringerhaltig auszuprägen, und daß endlich 1865 der lateinifhe Münz- vertrag zu Stande fam, durch welchen für die contrahirenden Staaten wenig. ften® der erfte Schritt zur Goldwährung gethan wurde, indem Eraft defien die ein und zwei Franfen-Stüfe um 10°, geringerhaltig geprägt werden ; wobei freilih durch die vorläufige Beibehaltung der Fünffranfen-Thaler der Keim zu neuen Verwicklungen gelegt wurde.

Wie man nach folhen Erfahrungen in den alten Fehler zurüdfallen fennte, das bleibt dem in die Geheimnifje der Staatöfunft Uneingemeihten ein Räthſel. est ftehen die Sachen fo, daß die Regierung feit zwei Jahren Syfiphusarbeit gethan hat und daß fie immer wieder von Neuem anfangen und Millionen verfchleddern muß, wenn fie nicht den begangenen Fehler und radicale Abhilfe ſchafft. Solche befteht aber darin, daß fie alle Mittel

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ergreift, um die UVebergangäperiode der factifchen Goldwährung, in welcher wir und jetzt befinden, abzufürzen. Die Didcontoerhöhung um 1%, Hilft nit, weil die Ausfuhr von Gold durch ein Agio von 6%, begünftigt wird. Den Zindfas aber noch höher zu fpannen, würde der Production zu große Nachtheile zufügen; fie muß alfo alles Gold von jest an zurüdhalten, den Borrath raſch fo zu vermehren fuchen, daß er den umlaufenden groben Silber- münzen entjpricht, und fodann :lettere in den Fürzeften Friften außer Curs ſetzen und umtaufchen.

Ale verfchiebenden Maafregeln arbeiten nur der Speculation in die

Hände.

BVilder aus Mecklenburg.

Aus den Tagen der Bürgerwehr. II.

Bon Hugo Gaedde. (Nahdrud verboten.)

Der jechite Auguft 1848 war ein ftolzer Tag für die Noftoder Bürger- wehr. Schon am Morgen ded Tages hielt fie auf dem Neuen Markte in großer Parade; es galt der Huldigung ded Reichsverweſers. Schöne Jung— frauen überreichten dem Commandeur eine goldgeftickte mächtige Fahne und dem Fähnrich eine ſchwarzrothgoldne Schärpe, dann zog man de Nachmittags hinaus, die Garde und der große Feſtzug, auf das weite grüne Feld, zu dem Ölanzpunfte des Feſtes. Und hier beginnen wir eine neue denkwürdige Seite der Chronik unferer Bürgergarde.

Der Großherzog fam in Perſon daher gefahren. Er fchritt Höchſtſelbſt die Reihen der Bürgergardiften entlang und hört! er ſprach laut feine Freude aus über das fchöne Feft und über die „mufterhafte Haltung“ der Bürger: garde. Da nidten fie ſchmunzelnd, das gefiel ihnen mwunderfhön. Von nun an ließen fie fih dafür auch alle Jahre im Herbft einmal, in großer Parade, vom Rathe der Stadt und von den Deputirten der Bürgerſchaft feierlich be ſichtigen. So noch an einem fonnigen Herbittage des Jahres 1852.

In altgeriohnter Weiſe nahmen die Herren VBürgermeifter und die Depu« firten, (ein Nadler und ein Fabrifant von Selterswaſſer,) die „Honneurs“ entgegen; fie fchritten mit wichtiger Amtsmiene, fo ficher, wie alte Generäle, die Front des präfentirenden Bataillond entlang und grüßten huldvoll. Hinter ihnen folgten die Bürgermeifterdiener; die ftiegen nicht minder ftattlich,

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in ihren blanken Neiterftiefeln einher; und es flammte der feharladhrothe Frack im Sonnenfhein und die Silberborten an dem hohen Zweimaſter blisten. Die Bürgermeifterdiener mufterten auch ihrerfeitd natürlich mit jad- verftändigem Auge die Truppen. Die Zeitung fagte hierüber am andern Tage: „Dem beunrubigenden Gerüchte, es feien die Abnehmer der Parade diegmal weniger befriedigt geweſen, als das legte Mal, können wir auf das Beftimmtefte miderfprechen ; vielmehr erklärte man fi auch diesmal durchaus zufrieden mit der Haltung ded Corps.“

Es ift aber merkwürdig; man fol nichts berufen! Gerade, als die Bürgerwehr an die nächfte Herbitübung dachte, wobei fie fih vornahm, in diefem Jahre fich wieder fo mufterhaft zu Halten, und juft, ald die Deputirten der Bürgerfchaft, (der Nadler und der Fabrifant von Selterdmwafler,) fih im Stillen ſchon darauf freueten, wie prächtig fie in diefem Jahre wieder bei der Parade fih audnehmen wollten, ja, da fam es, am 17. Juni 1853, wie ein Schlag zwiſchen die Krufen mit Selterömafler, da Fam der Befehl aus dem hohen Miniiterium: „Alle Bürgerwehren des Landes find hiermit aufgelöft.“

D feltfamed Spiel ded Zufald! Gerade hatte die Preußiſche Polizei einem Mecklenburgiſchen in das minifterielle Ohr ein ſchreckliches Wort ge flüftert, da8 Wort: „Hochverrath!“ Man wolle fih nur erinnern, mie ber Minifter auf diefen Schreckensruf lebendig wurde; fürs erfte ließ er geſchwind eine Handvoll Profeſſoren und Advofaten einfperren; der berühmte „Noftoder Hochverrathsproceß“ ging in Scene.

Juſt in diefem Unglücksmond kam ein neuer Blitzſtrahl; das Refeript an den Magiftrat in Roftod: „binnen 14 Tagen an das Minifterium des Innern zu berichten, daß und in welcher Weiſe die Auflöfung der Bürger garde bejchafft ſei“ Aus jedem großen Buchftaben des Reſeripts guckte dad ängftlih lauernde Geſicht des Herrn Miniftere. „Und mas die von der Stadt Roftod im Jahre 1848 angefauften Gewehre betrifft” , hieß es weiter im Refeript, „fo wird der Magiftrat diefelben, da ein derartiges Waffendepot, wie es biöher beitanden, nah Auflöfung der Bürgermwehr nicht ferner geduldet werden Fann, vorausſichtlich zu verfaufen beabfichtigen. Für diefen Fall wird derfelbe angewiefen, die Waffen außerhalb Landes zu verkaufen.“

Uebrigeng, das muß man fagen, der Senat ward in dem Reſeript höchſt zuvorfommend und artig darauf hingewiefen, falls e8 ihm nicht möglich fei, den Verkauf innerhalb diefer Zeit zu realifiren, fo habe er die Gewehre „zur einftmweiligen fihern Aufbewahrung“ an das Großherzogliche Zeughaus zu Schmerin abzuliefern, wo fie etwaigen Kaufliebhabern „zur Anficht jeder Zeit zur Dispoſition“ ſtehen follten.

Der Rath der guten Stadt Roſtock befah das Schreiben des Minifters

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von oben bis unten und ſchrieb hierauf einen freundlichen Schreibebrief an den Herrn Minifter, in welchem man ihm auseinanderfegte, wie überall Fein Grund vorliege, dem Schreiben des Herrn Minifterd nachzukommen. Nach den Verträgen der Regierung mit der guten Stadt Roftod habe die Iektere das Recht auf die Bewaffnung ihrer Bürger. Es ſei jedenfalld an der Stelle der Bürgerwehr eine neue Organifirung der wehrhaften Bürgerfchaft nöthig; dem ſcheine aber dad Refeript entgegen treten zu wollen und werde daher zunächſt noch eine gefällige Erläuterung erbeten.

Der Herr Minifter hatte mittlerweile ſchon zehnmal das Gefiht zum Fenfter hinausgeſteckt. Die Frift war abgelaufen. „Kommen denn nod) immer nit die Gewehre von der Roftoder Bürgergarde?“

Er wiſchte die goldene Brille, er gudte: richtig, fie Famen noch im: mer nicht.

Nun ward er aber ernſtlich böſe. Dbendrein Fam in diefem Augenblid auch noch das obige, ihm höchſt verdächtige Schreiben des Roſtocker Ma— giſtrats.

Ein neues Reſeript ward entſendet! „So gewiß binnen nunmehr acht Tagen nach Schwerin anzuzeigen, daß und in welcher Weiſe die Bürgerwehr aufgelöſt worden, als ſonſt das Minifterium unverzüglich dieſe Auflöſung und die damit verbundenen Maßnahmen ſelbſt ins Werk ſetzen wird.“

Ja, das verſchlug! Die Herren vom Rath in Roſtock wurden ſchier bedenklich; ſie ſteckten die Köpfe zuſammen. Es ward weitere Verhandlung mit der Bürgerfchaft beſchloſſen.

Man überlegte.

Die Männer der VBorfiht meinten: „Er fommt und mit Militatrmadt.“ Die Männer der That erwiderten: „Mag Er fommen , die Ehre der Stabt erfordert die Anmendung des Zwanges.“

Man rieth, ſich mit der beliebten Glaufel zu behelfen, die ſchon oft hatte helfen müſſen. Und richtig! Man beſchloß die vortrefflihe Claufel: „mit Vorbehalt der Nechte der Stadt“ dem Minifterium von der Auflöfung der Bürgerwehr Anzeige zu machen.

Aber die Gewehre? Die follten auf feinen Fal nach Schwerin aus- geliefert werden. Ganz ſachte wollte man die Waffen nach Hamburg fenden; dort follten fie einfiwellen zur Dispofition der Stadt bleiben.

Schade! Der Minifter hatte fih doch fo herzlich darauf gefreut, den guten Roftodern die Gewehre im Zeughaus „einftweilen ficher aufzu- bewahren “.

Während er noch fo recht fehnfüchtig nach den taufend Stück Gewehren auslugte, fuhren die Waffen Schwerin an der Nafe vorbei, Iuftig nah Ham-

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burg. Der mit diefer Sendung betraute Senator hatte nämlich die MWeifung empfangen, den Verkauf und die einftwelligen Verhandlungen einzuleiten.

Eben, ald die Sehnfucht des Minifterd nach den ſchönen Gewehren auf das Höchfte ftieg, rückte das Proteftfchreiben des Roftoder Magiſtrats in die Nefidenzitadt ein.

Ward aber der Minifter böjfe! „Was Proteft? Wartet, ih will Eud bei Proteſten.“

Ein neues Refeript ward gefchmettert: „Binnen acht Tagen ift an zuzeigen, daß und wie die Auflöfung der Bürgerwehr beendigt ift und binnen 4 Wochen der wirklich vollbrachte Verkauf der Gewehre außerhalb Landes zu dociren, oder bei Ablauf diefer Frift find diefelben an die Direktion des Grof- berzoglichen Zeughaufes in Schwerin abzuliefern.“

Reider follte Schwerin der Appetit nach den hübſchen Gewehren noch im- mer nicht geftillt werden. Die taufend Obergewehre der Roftoder Bürger garde lagerten ſchon in Hamburg.

Die Verhandlungen mit einem Kaufliebhaber wurden eingeleitet. Man hoffte in Roftod auf den beiten Erfolg.

Aber o Schreden! Nun erfhien der Deputirte des Rathes und der Stadt mit einem wahren Reichenbittergeficht: „Wie geht und das! Wie geht ung dad!”

Was war ihm gefchehen? Er hatte richtig, wie ihm aufgetragen war, den Verkauf eingeleitet. Der Kaufliebhaber aber hieß nicht umfonft John R. Möller & Co.; ald ein geriebener Kaufmann ließ er ſich die Kiften mit den taufend Gewehren öffnen, aber faufen wollte er die Waffen nicht, die Gewehre „find nicht probegemäß“.

Das war eine nette Gefhichte! Hier drohte das Minifterium mit fo und fo viel taufend recutiondtruppen hinter fih: „Gieb die Gemehre heraus!“ und dort Tagen fie nun, heimathlos, in erbrochenen Kiften, im Ausland, die unglüdjeligen taufend Schießprügel, die Niemand Faufen wollte. Und dabei ftand das Ende der Frift, welche das Refcript geftellt hatte, nolend volens vor der Thüre. Der Minifter puste ſchon wieder die goldne Brille und gudte: „Kommen die Gewehre noch nicht ?*

Ein fatale Stück! Soviel ift gewiß: Sohn Möller verftand ſich auf den Handel. Als gewiegter Hamburger überfchaute er mit ruhigem Auge die Situation und die Operationdbafid. Er freute fih. Er ſah dort in Roftod einen Rath in der Klemme und hier in Hamburg einen Markt, der überſchwemmt war mit Waffen von jeglicher Art, die Niemand Faufen wollte.

Ungezählt nämlich war in jenen Tagen die Menge von Waffen, melde in Hamburg ſich anfammeltee Denn die Entwaffnung der Schledmig- Holfteinfhen und der Ungarifchen Armeen und die Wuflöfung zabllofer

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Bürgerwehren in den deutfchen Staaten hatten große Maffen von Gemwehren jeden Kalibers an diefen Haupt Erportplat des nördlichen Deutſchlands zu- fammen geführt, ohne daß e8 bi8 dahin möglich erfchien, diefen Waffen die erhofften Abzugscanäle zu verfhaffen, zumal die englifchen, fpanifchen und portugtefifchen Colonien der Einfuhr diefer Waffen verfchloffen waren.

Alles dies hatte John Möller fehr wohl bedacht. Er blieb dabei: Die Gewehre find nicht nach Probe. Hierin ward er noch durch einige Beulen in ein paar Flintenläufen, durch verfchtedene verbogene Bajonette und einzelne jrbrochene Ladeſtöcke auf das Glücklichſte unterftügt. Mafter John war aber großmüthig. Er hatte zwar zuerft 4 Thaler für das Gewehr geboten und an diefe® Angebot fich für fech® Tage gebunden; jet bot er aus reiner Güte 31, Thaler pro Stüd.

Mafter John wußte am leßten Tage der Frift mit feinem Erpreßfchreiben noch trefflih zu operiren. Er fohrteb am 30. Juli Eurzweg: „Um erften Auguft Habe ich Gelegenheit, die Gewehre nach Californien zu fenden. Nach dem erften Auguft haben diefe Gewehre für mich gar feinen Werth mehr.”

Das wirkte. Sofort erhielt er den Zuſchlag für fein Angebot.

In einem Fläglichen Berichte erbat hierauf der Deputirte des Rathes von feinen Eollegen und von der Stadt gütigft die nachträgliche Genehmigung des Handels, den er In der eilften Stunde in feiner Herzendangit mit diefem einzigen Käufer, zu dem Preife von 31/, Thaler für das Gewehr, abgefchlofjen hatte. Und die Genehmigung ward ihm fröhlich erteilt.

So ift es gefommen, daß taufend Gewehre, Waffen von vorzüglichem Kaliber und im Ganzen von befter Befchaffenheit, für den Jammerpreis von 31, Thaler pro Stüd Fopfüber verhandelt find, Gewehre, die man bei ihrem Ankauf das Stüd mit 8 Thaler bezahlt Hatte.

Aber Gott fet Dank! Nun konnte man doch getroft an dad Großherzog. lihe Minifterium des Innern ergebenft berichten: „Die Bürgerwehr ift auf: gelöft! Die 1000 Gewehre find verklopft!“

Reiſegloſſen.

Wer, aus der nordiſchen Tiefebene kommend, durch das deutſche Paradies von Darmſtadt bis Baſel hinauffährt, der müßte ein Herz wie Stein haben, wenn er ſich nicht wie neugeboren fühlte. Wandert er gar am ſonnenhellen Morgen hinein in eins der waldigen Gebirgäthäler diesſeits oder jenſeits des

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Rheins mit den raufchenden Flüßchen, den malerifhen Burgruinen und den altertHümlichen Städtchen, da wird ihm die Bruft zu eng für all die Selig. feit und wär's ihm auch feit Jahren nicht mehr paffirt, er muß ein luſtig Liedchen trällern. Und doch, wie raſch find alle diefe Eindrüde vergefien, fo- bald du den Jura im Rüden Haft! Wie oft du auch die Wunderwelt des Hochgebirges geſchaut habeft, wenn du zum erften Mal wieder in Quzern auf der großen Brüde oder in Bern auf der Terraffe ded Bundespalaftes ftebft, da überwältigt dich ein unbejchreibliche® Gefühl des Entzückens zugleih und der Ehrfurcht ob diefer Miſchung von liebliher Schönheit und ſchauriger Er- habenheit. Die engen Formen dieſer gewohnten Vorftellungsmeife find mit einem Sclage zertrümmert, nur langjam und mit Mühe findeft du Maßftab und Bezeichnung für diefe ganz andere Welt. Und eine foldhe ift die Schmelz nicht nur in geographifcher, fie ift e8 ebenfo in ethnographifcher, in politifcher und in wirthſchaftlicher Beziehung. Dan kann die Schweizer nicht gerade zu den liebendmwürdigen Völkern zählen, ihr ediged, ungefüges Weſen be- wahrt fie vor diefem MWrädicate Dagegen ift auch von Stumpffinn und Faulbeit, den hervorftechenden Merkmalen mancher Gebirgsvölfer, bei ihnen wenig zu finden. Im Allgemeinen ift died Volk intelligent, ernft, fleißig, berechnend, doch ohne Habgier; felbft der bigotte Urfchmeizer läßt bet aller fonftigen Aehnlichkeit feinen Tyroler Nahbar an Geiftedanlagen und praf- tiſchem Geſchick weit hinter ſich. Einen bedeutenden Antheil an diefer Ge ftaltung des Volkscharakters hat ohne Zweifel die republifanifche Etaatdein- richtung, die überhaupt mehr als alles Andere der Schweiz den Stempel eines Unicumd in ganz Europa aufprägt. Mag man über den abfoluten Werth der Republif den ketzeriſchſten Anfihten Huldigen, daß fie für diefe concreten Verhältniffe die „beite Staatöform* ift, wird Niemand beftreiten, der die Reiftungen der Eleinen fchmeizerifchen Gemeinweſen Eennen gelernt hat. Man betrachte die prunflofen und doch fo impofanten öffentlichen Gebäude, nament- lih die Armen» und Krankenhäuſer, die arme Gebirgäfantone aus eigenen Mitteln hergeftellt, und man erfennt, daß es zur Erzielung folder Refultate eine® Gemeinfinnd bedarf, wie wir ihn, wenn wir ehrlich fein wollen, von monarchiſch erzogener Bevölkerung nur audnahmameife rühmen können. Im Zufammenhange mit diefem Gemeinfinn fteht eine Außerft rege Thätigkeit auf mwirthichaftlihem Gebiete. Wer jemald von der Höhe ded Brünig den fchnurgeraden Faden der Yare, wie er fich durch den fäftig grünen MWiefen- plan des Meiringer Thals hinaufzieht, überfchaut Hat, wird zugeben, daß der Kanton Bern im Punkte der Flufcorreetion mehr als einen deutfchen Staat befhämt. Mit befonderen Stolze aber darf die Eidgenoffenfchaft auf ihre Verkehrseinrichtungen bliden. Nicht menige der vortrefflihden Einrich— tungen auf dem Gebiete des Poſtweſens, mit denen und unfer Stephan beglüdt

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bat, hat die Schweiz vor und befefjen. Bor Allem aber im Eiſenbahnweſen berefht eine Zwecimäßigkeit und ein Entgegenfommen gegen die Wünfche und Bedürfniffe des Publitumd, welches mir in Deutfchland größtentheild noch Ihmerzlich vermiffen. „Ja“, mendet man ein, „die Schweiz muß eben von den Fremden Ieben.“ Als ob unfere Eifenbahnen nicht auch von dem reifen- den Publikum ihre Eriftenz friften müßten! Oder dürfen wir an die Goulanz deutiher Bahnen nur deshalb nicht fo hohe Anforderungen ftellen, weil mir Deutihe und nicht „Fremde“ find? Noch mehr aber, ald unfere Eifenbahn- verwaltungen dürfen fi) unfere Gafthofbefiger ihre fchmeizer Collegen zum Nufter nehmen. Man fann heutzutage dreift behaupten, daß die Schweiz die beften Hoteld der Welt befist. Ich habe dabei nicht einmal jene fürftlich eingerichteten Paläfte von Interlaken, Genf, Luzern u. f. m. im Auge; nein auch die befcheidenen, theild nur mit Bretterwänden verfehenen Häufer tief in den Thälern oder auf fechätanfeud Fuß hoher Alp find vortrefflih. Sch Habe nie ein zweckmäßiger eingerichteted Gaſthaus, eine eractere und freundlichere Bedienung, ſchmackhaftere Speifen und verhältnigmäßig mohlfeilere Preife ge- funden,, ald weit hinten im Madaranerthal, dicht vor dem ewigen Eife deö Hüfigletfeherd, mit dem vier Stunden entfernten Fleden Amfteg nur durch einen ſchlechten Saumpfad verbunden. Auch bier freilich wendet man ein, daß die Vortrefflichkeit der Gafthöfe ja doch nur eine felbftverftändliche Folge des großen Fremdenandrangs fei. Nun, e8 giebt Gegenden im Schwarzmwalde, in welhen der Yremdenandrang ſchon feit Jahren ebenfo groß, im legten Sommer logar größer war; troßdem dürfen die Schwarzwälder Wirthe getroft glauben, daß fie mit ihren Hoteld Hinter den fehmeizerifchen noch weit zurüditehen, während von ihren Rechnungen, namentlich wenn man die ungleich fchmwieri- geren Berhältniffe, mit denen die Schweizer zu fämpfen haben, in Anſchlag bringt, fich ein Gleiches Leider nicht fagen läßt. Hoffen wir, daß diefer Un- terfhied zu Nutz und Frommen der reifenden Menfchheit recht bald gehoben wird. inftmweilen aber darf den ſchweizer Wirthen nicht beftritten werden, daß fie, wenn auch ſchwerlich aus idealer Nächitenliebe, emfiger als alle anderen darauf bedacht find, den Fremden den Aufenthalt angenehm zu mahen.

So haben die Natur und die Menſchen ihre Möglichſtes gethan, der Schweiz eine ganz aparte Anziehungäfraft zu verleihen. Und das gefittete Europa ermweift fich nicht fpröde gegen diefelbe. Wohl auf einem Fleck der Erde begegnen fich die Angehörigen der verfchiedenften Nationen in folcher Mafle, wie in der Schweiz. Und die politifche Neutralität des Landes be wirft, daß man fich leichter mit einander verträgt. Im Jahre 1870 haben allerding3 viele Deutjche über diefe Neutralität, wenigſtens über die neutrale

Gefinnung der Schmetzer ihre eigenen Gedanken gehabt. Die unerwartete Grenzboten IV. 1874, 20

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Bekanntſchaft aber, welche die Eidgenofjen im Februar 1871 mit den Gambetta- Bourbafifchen Legionen machen mußten, hat ihre Schwärmerei für die „Hüter der europäifchen Civiliſation“ empfindlih abgekühlt und man braucht, me- nigften® in der deutfchen Schweiz, nicht mehr zu befürchten, daß der Franzofe ald der Privilegirte der Schöpfung betrachtet werde. Es gibt nur noch eine Nation, für welche das freie Volk der Berge eine ausgeprägte Vorliebe begt der englifche Geldbeutel. Schade nur, daß die Franzoſen, feitdem die Schmeiz Sonne und Wind zwifchen ihnen und und glei getheilt hat, die Begegnung mit und wie die Sünde haffen. Trügt mich mein Urtheil nicht, fo hat der Beſuch der Schweiz von Frankreich aus feit dem Kriege auffallend nachgelaſſen. Die zahlreichen. franzöfifchredenden Touriften, denen man aud jegt nody begegnet, find, wenn man näher zufieht, meiſt Schweizer; trifft man einmal auf echte Franzofen, fo kann man ficher fein, daß fie, fobald fie über das Nationale ded deutſchen Wanderers im Klaren find, Abſperrungsmaß— regeln treffen, ald ob die ſchwarze Veit im Anrüden wäre. Recht traurig in der That, daß Galliend anmuthige Töchter „aus patriotifhen Nüdfihten“ auch in der freien Schweiz dad Ammenmärchen vom deutichen BarbarentHum nicht vergeffen dürfen! Zu einigem Troft mag und yereichen, daß und doch nod reichlich Gelegenheit bleibt, au der Neutralität des helvetifhen Bodens Nusen zu ziehen. Haben wir Deutſche doch Gott ſei's geklagt! felbft bald nöthig, ind Ausland zu gehen, um und ala Söhne einer Mutter wiederzuerkennen!

Es mar am 2. September. Strahlend lachte die Sonne vom molfen- lofen Himmel und in majeftätifcher Pracht erglänzte die Bergriefin des Ober- landes, ald wir und zur Fahrt von Bern nad Interlaken anſchickten. Und welcher Zauber erft lag über dem Thuner See. Und war, ald hätte jelbft die alte Erde ihr Yeierfleid angelegt, den deutfchen Siegedtag mitzufelern und urfröhlichen Sinnes tranfen wir dad Wohl des Vaterlandes, derweil und der Dampfer durd die tiefblaue Fluth dahintrug. Nur ein dunkler Punkt mifchte fi in died Meer von Luft und Freude Auf dem Schiffe befanden ſich zwei Fatholifche Geiftliche, ältere Herren, der Mundart nach Deutfche. Wie hätten wir, mein füddeutfcher Freund und ih, beide „Kulturfämpfer“ vom reinften Waller, er mit der Schneide ded Geſetzes, ich mit der Feder wie hätten wir, eben erſt dem wüſten Schlachtgetümmel entronnen , die fhrilen Töne des großen Rufers im Streit, ded grimmen Ketteler, noch im Ohr, die ehrwürdigen Prieſter anders ala „mit gemijchten Gefühlen“ betrachten fönnen? Wir kommen nad Interlaken. Im Omnibus des „Schmeizerhofes* ſperrte und der Zufall mit den beiden Geiftlichen zuſammen, bei Tiſch machte er und zu ihren Nachbarn. Das Wetter mar ed an diefem Tage zehnfach werth, die Unterhaltung zu eröffnen; fie fing denn auch richtig alsbald damit

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an. Der ältere der beiden Herren, ein Sechziger, defjen freundliches, frifches Geficht doch die unverfennbaren Spuren tüchtiger Geiftedarbeit trug, war heiter und geſprächig; aber die Unterhaltung drehte fih um gleichgültige Dinge. Erſt zwiſchen Gemüfe und Braten, ald wir Kulturfämpfer nad echter deutfcher Sitte in ded Franzmanns fhäumendem Tranke unferer bis dahin verhaltenen Feititimmung Ausdrud zu geben begannen, gewann die Situation eine intereffantere Geſtalt. Was merden fie thun? dachten wir Beide. Werden fie unfere patriotifche Demonftration ignoriren® werden fie fih, im Geifte des Heiligen von Mainz, mit Abſcheu hinwegwenden von den Berfuhern? Dder werden fie am Ende gar —? Der Alte pflog Furzen Rath mit feinem Gefährten, gab dem Kellner einen Wink und wenige Se funden ſpäter prangte vor ihnen der filberne Kübel mit der eisbedeckten Flaſche. Und nun Fangen unfere Gläfer Iuftig aneinander auf das Wohl des theuren Vaterlande® und ungezwungen taufchten wir fortab muntere Rede. Längſt hatte der mweite Saal fich geleert, ald wir und unter Fräftigem Händedruck Lebewohl jagten, der Alte nicht anders, als unter der berzlichiten Einladung, ihn gelegentlich an feinem MWohnfig zu befuchen. Jetzt Fannten wir feinen Namen. Gr ift noch vor kurzer Zeit oft ald Candidat für eine der höchſten Prälatenitellen im Deutfchen Reich genannt worden. Sch muß geitehen, als ich, den frifchen Eindrud dieſes ZTifcherlebniffes in der Seele, unter der Veranda den Kaffee jchlürfte, die Augen verloren in der feierlichen Majeftät der Jungfrau, da befchli mich die melandholifche Frage: „Warum doch ftreiten fich die Menjchen?“ Wohl ſchüttelte ich nach und nad) diefe naive Stimmung wieder ab; aber mir biieb dad Gefühl, eine Sedanfeier erlebt zu haben, wie ich fie mir nicht fchöner hätte wünfchen Fünnen. Und dad danke ich der neutralen Schweiz!

Das Berner Oberland ift von jeher der Brennpunft des ZTouriften- verfehrd gemefen. Sein Vorzug, den Wanderer bei verhältnigmäßig geringer Anftrengung in die nächſte Berührung mit der ganzen Grofartigfeit der Gletſcherwelt gelangen zu lafjen, macht das erflärlich. Darum hat aber au fine andere Gegend der Schweiz fo fehr ihre Eriftenz auf den Fremdenbeſuch gegründet. Was bliebe von Interlaken, Grindelmald, Yauterbrunnen übrig, wenn plößlich diefe Erwerbsquelle verfiegte? Die Ausnutzung derfelben ift eine mit raffinirtefter Berechnung betriebene Induſtrie geworden, an welcher die ganze Bevölkerung bis in die unterften Schichten theilnimmt. Sogar der Vettel, zu welchem die Verfuhung für das blutarme Gebirgsproletariat ja nur zu nahe liegt, wird, feitdem die Berner Regierung ftrenge Verbote erlafien, durchweg in induftriellen Formen ausgeübt. Während man in Uri nod jeden Augenblid von Kindern und halbwüchfigen Mädchen mit koketten Blicken und Kußhänden direct um ein Almofen angegangen wird, ift im

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Berner Oberlande das ſehnſüchtige Verlangen nach Feiner Münze regelmäßig von dem Angebot einer Gegenleiftung Alpenroſen- und Edelweißſträußchen, Gefang, Echoerzeugung, Deffnen der Gatterthüren auf den Weidealpen u. ſ. m. begleitet. Auch der Geduldigfte wird Momente haben, wo ihm diefe viel- geftaltigen Anfehtungen läftig werden; doch fehlt es auch nicht an Bildern, deren naiver Komik felbft die galligfte Natur nicht miderftehen wird. Mer fönnte z. B. ernft bleiben, wenn auf dem Abhange zwifchen Wengernalp und Grindelwald aus einer Hütte urplößlich zwei ehrwürdige Matronen bervor- hießen, fich feierlich in Poſitur ftelen und mit heiſerm Contraalt ein Duett anftimmen! Etwas höher ald diefe ordinäre MWegelagerung ſteht die Echo— induftrie mit Alphornflang und Böllerſchuß. Sie bringt nicht felten höchſt überrafhende Effecte hervor. Aber fie fällt bereit? in dad Gebiet der Kunft, die Natur zu unterftügen oder gar zu corrigiren, und diefe hat immer ihre ſehr bedenklichen Seiten. Am großartigften und zugleich am gefchmadvollften und am discreteften hat man fie am Gießbach angewandt. Die abendliche Beleuchtung diefes prächtigen Waſſerfalls, wie oft man fie auch gefehen Habe, it und bleibt ein Schaufpiel von überwältigender Wirkung. Jene Leute, die überall Fritifiren müffen, find natürlih mit dem Anathem „Theatereffekt!” zur Hand. Jawohl, es ift ein Theatereffeft, aber einer, den zu fehen ber Mühe werth ift. Wenn ich daheim es übers Herz bringe, der magifchen Decorationen wegen eine Feerie zu befuchen, weshalb fol ich nicht in der Schweiz mit noch viel größerem Vergnügen den Anblick einer Scenerie ge nießen, deren erhabene Pracht auch nur entfernt wiederzugeben für unfere Theaterdecorationstechnif denn doch eine Unmöglichkeit ift? Wer das Schau jpiel am Gießbach feinem vollen äfthetifchen Werthe nach würdigen will, der muß das Pendant desfelben, die Beleuchtung ded unteren Neichenbachfalld bet Meiringen gefehen haben eine in jeder Beziehung klägliche Letftung. Leider ift aber zu befürdhten, daß es bei diefer einzigen Nachahmung des lucrativen Geſchäfts nicht bleiben wird. Ich mette darauf, wenn einmal die projectirten Gebirg3bahnen des Oberlandes vollendet find, fo wird den Gäften der MWengernalp mit der Zeit noch die SlMumination der Jungfrau zum Deijert jervirt werden. In der That, wer kann fagen, was vor der indu- ftriellen Speculation der Berner noch ficher ift? Traurige Perfpective! Wenn unfere Enkel einmal der alten Mutter Natur ungehindert in da® ehrliche, ewig jugendfchöne Geſicht fehauen wollen, werden fie fie fchwerlich im Berner Dberlande auffuchen dürfen.

Ein hartes Schickſal tft e&, daß den naturverderbenden Fortfchritten der Kultur gerade die Krone der ſchweizeriſchen Naturfchönheiten, die hochroman- tiſche und zugleich fo wunderbar idylliſche Landſchaft des Vierwaldftätterſees zuerft zum Opfer fallen mußte Die Rigibahn ijt bereits das zweite Jahr

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Im Gange, und wie lange wird's noch dauern, dann fauft der MWeltverkehr von Hamburg und DOftende nad) Brindifi dur die ftillen Thäler der Ur- fantone! Wie ftiegen ehedem die Fahrgäfte de Dampfboots bei Wäggis fo frtedlih and Land und wie gemüthlich zogen dann die Karamanen den Berg hinauf! est liegt Wäggis faft verödet, beim Anlegen in Viznau aber ent- ſpinnt fh auf dem Boot eine wahre Völkerſchlacht, die fih am Eiſen— dahnwagen und im Hotel auf Rigi-Kulm wiederholt. Die Bahn mat glänzende Gefchäfte, die MWirthe nicht minder; aber der Freund des echten Raturgenuffed wird ſich mit dem Eifenbahnunternehmen niemald recht be- freunden Fönnen. Bon den verfchtedenen Punkten der Schweiz, die eine um— fafiende Alpenanficht gewähren, ift feiner fo leicht, jo bequem zugänglich, wie der Rigi; die abgefagteften Feinde des Bergſteigens Eonnten hier den ver- Iodenden Verheißungen ihrer Bädeker nicht wiederftehen und fo hatte der Berg das Verdienft, Laufenden und aber Taufenden doch wenigftend einmal die Wohlthat jener für den Stoffmwechjel fo fegendreihen Schwißtouren zu verſchaffen; heute fteigen die meiften diefer Leute Feine taufend Fuß mehr. Und andererfeitd: früher konnte man mit ruhigem Gemwiffen bis zum Nach— mittag in Luzern die Entwidelung des Metterd abwarten, gelangte man Abends nah Staffel oder Kulm, fo konnte man immer ficher fein, noch ein paſſables Unterfommen zu finden; heute ift, wenigſtens an fchönen Tagen, niht mehr daran zu denken. Was Einen halbwegs mit der Rigibahn ver- föhnen Fann, ift der Gedanke, daß fie wohl manchen förperlih Gebredhlichen die Möglichkeit gewährt, ein Schaufpiel zu genießen, deſſen Anblik ihm fonjt vielleicht fein Lebtag nicht vergönnt fein würde; aber der fröhliche Wanderer, dem der unvergleichliche See fammt feinen Ufern and Herz gemachfen, den es, wohin er auch fonft die Schritte Ienke, immer von Neuem an feine lachenden Geftade zurüdtieht, er würde es doch faum jemals verfchmerzen, wenn ihm eine der fchönften Zugaben diefer zaubervollen Landſchaft, dad hehre Alpen- panorama, durch die Meberfluthung mit Eifenbahntouriften ganz geraubt oder wenigften® gründlich verdorben würde. Und dag wäre, da auch der Pilatus dem Zahnrade auf die Dauer fchmerlich entgehen wird, in der That der Fall, wenn nicht glüdlicher Weiſe für Rigi wie Pilatus bereitd glänzender Erſatz gefunden wäre.

Bon al den mechfelnden Perfpectiven, die fid) dem Wanderer bei der Fahrt über den Vierwaldftätterfee öffnen, ift keine, die fi mit dem munder- lieblihen Thal der Muotta vergleichen könnte. Im Bordergrunde der Hafen- ort Brunnen, dahinter ein breiter, faftiger Wiefenteppih, hier und da von Maisfeldern durchzogen, mit Nuß- und Obftbäumen befät, meiterhin terraffen- förmig auffteigend, die fehimmernden Häufer von Schwyz und Nidenbad) und ala Abſchluß die bis zur Höhe von 6000 Fuß ſenkrecht emporfteigenden

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Teldfoloffe der beiden Mythen. Zumal der höhere der beiden, der fogenannte Große Mythen, ift eine der barodften und impofanteften Erſcheinungen der Schweiz. Daß der nah allen Seiten freiliegende ſchmale ftumpfe Hügel, mit welchem er abfchliegt, eine großartige Augfiht gewähren müſſe, fieht man auf den erften Blick; aber bis vor wenigen Jahren galt er unter den Touriften für faum oder doc ſehr ſchwer eriteigbar. Inzwiſchen bat der fchmeizerifche Alpenflub einen regelvehten Weg hHinaufbahnen lafien und feit diefem Sommer hat der Berg begonnen, die mwandernde Menfchheit zu intereffiren. Auch ich vermochte, nachdem ich mir den mwunderlichen Gefellen von Brunnen aus einige Tage angefehen, der Berfuhung nicht zu widerſtehen. Am Mor: gen des 8. September machte ih mih auf den Weg. Es war der Tag Marik Geburt. Freundlih lachte die Sonne vom Himmel und feierlicher Glockenklang halte durch das gejegnete Thal. Die prächtigen Dörfer Ingen— bohl, Ibach und Rickenbach hatte ich buld im Rüden; jebt ging's fteil hin- auf, den Weidenalpen zu. Am Saume eined Wäldchens traf ih auf ein einſames Bauernhaus. Gin allerliebfte® Blondköpfchen, ein Mädchen von 4—5 Sahren, lag im Fenſter; raſch hatte es den älteren Bruder herbei. gerufen. ch erwartete nicht anders, ald daß fie fchleunigft herbeieilen und mich anbetteln würden. Mie war ich befhämt, ald fie ruhig an ihrem erhabenen Standorte blieben, fih aber um die Wette bemühten, mich über den Weg zu unterrichten! Meberhaupt ift das eine wohlthuende Bemerkung, die man im Kanton Schwyz macht: ed wird nicht gebettelt. Auch drängen ih die Leute, abgefehen von den Schiffern und Kutfchern in Brunnen, mit ihren Dienften nicht auf; die Bevölkerung ift durchweg höflich und gibt auf Tragen freundlih Beſcheid. Das Alles hängt ohne Zweifel mit der grö- Beren Wohlhabenheit zufammen, mit welcher die Natur diefen Kanton vor andern Gebirgdfantonen ausgezeichnet hat.

Bon Nidenbad bis zur Holzegg, dem Gipfel des von Schwyz nad) Ein» fiedeln führenden Paſſes, ift der Weg herzlich fchlecht, meiften® ganz abjcheu- liches Geröl. Dennoh murde mir leichter und leichter umd Herz. Im berrlichiten Grün breiteten fi die Matten, von allen Seiten tönte das Ge läut der Herden, die Hirten biiefen Iuftig das Alphorn. Und das Alles durfte ich endlich einmal genießen, ohne daß die audgeftredte Hand eines Wegelagererd mir die ganze Freude verdarb! Links zur Seite lag die ger waltige Pyramide des Mythen; jet zeigte ſich auch der Zickzackweg, der mir das Näthfel entzifferte, wie an der fchroffen Bergwand überhaupt hinaufzu- fommen, zugleich mir aber auch zum Bewußtſein brachte, mad es noch zu leiften galt. Ich Fam an einer Sennhütte vorbei, wo der Senne gerade die friſch gemolkene Milch ausleerte. Mein Durft war groß und nicht geringer mein Hunger; nicht umſonſt aber hatte ich im Bädeker gelefen, daß auf der

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Holzegg ein treffliches MWirthöhaus zu finden. Alſo bezwang ich meine Be— gierde. Sehr erfchöpft erreichte ich die Paßhöhe. Das Wirthshaus war da, aber die Thüren verfähloffen. Von der Seite der Mythen ber rief eine un- fihtbare Stimme: „Sind Ale nah Schwyz zur Kirche.” Nie in meinem Reben habe ich mich bitterer enttäufcht gefühlt. Die Zunge klebte mir am Gaumen. In diefem BZuftande noch die 1'/, Stunde fteilen Steigen? an ſchroffen Abhängen hin, in glühender Sonnenhike! Und wie, wenn der In— baber der Hütte auf der Spike ded Mythen etwa auch zur Kirche war! Indeß, nad Furzer Raſt ging ich muthig and Werk. Ein präctiger Weg! ſehr fteil allerdings und für leicht zum Schwindel geneigte Perfonen nicht ohne Führer rathfam, aber in ganz ungeahnter Weiſe überrafhend. Mit jedem Augenblide ermeitert fih der Horizont. Zuerſt tritt der Glärniſch hervor, dann die Tödigruppe; fpäter öffnet eine Wendung den Blick nad) Nordoſten, der Säntid und die Schwarzmwaldfette werden ſichtbar, big endlich, von der Spitze aus betrachtet, die Vogefen, der Jura, die Kette ded Berner Dberlanded, die Unterwaldener und Urner Alpen und die Gotithardtgruppe die Rundfiht vollenden. Aber e8 dauerte eine gute Weile, ehe ich fomelt gedieh. Mehr ald einmal mußte ih mich platt auf den Pfad Iegen, weil mir die Knie zu wanfen begannen. Endlih war dad Ziel erreicht. Freudig begrüßte mich der mwadere Eidgenofje, der dort oben in dürftiger Bretterbude hauſt und fofort hißte er eine große weiße Flagge, damit auch die übrige Welt wife, daß es wieder einmal ein Sterblicher der Mühe werth gehalten, die fteile Höhe zu erflimmen. Der Wirt) eigentlich ein fimpler Haus: knecht des Hotel Bellevue in Rickenbach, früher in Dienften bei einer franzöfifhen Familie, in welder Stellung er während des Kriegd als Dolmetfh, reſp. ald Befänftiger der deutfchen Barbaren dienen mußte zeigte das erfreuliche Verftändnig für meine Rage, Dank feinem ſtaunenswerthen culinarifhen Gefhik und dem nicht genug zu rühmenden Inhalte feines Kelerd war ich in meiner Menfchenwürde foweit reftaurirt, daß ich mich ganz in das grandiofe Schaufpiel ringsum verfenken Eonnte. Die Ausfiht des Mythen übertrifft nicht nur die des Rigt, fondern auch die des Pilatus. Hat der letztere das Berner Oberland näher, jo diefer die Glarner und Grau- bündner Alpen; gar weit aber läßt der Mythen feine beiden Rivalen in Be- treff des Vordergrundes hinter fich zurüd. Hier kommt ihm feine vollfommene Iſolirtheit zu Statten; der fait fenkrecht auffteigende Berg hat auf feinem Gipfel nicht Raum für 100 Menſchen. So fohmwebt der Beſchauer förmlich in der Luft. Höchft großartig und lieblich zugleich ift befonders ter Blick nach der Seite des Vierwaldftätterfeed. Aus einer Höhe von 4000 Fuß ſchaut man auf Schwyz hinunter und auf das lachende Geftlde, vom Silberftreifen der Muotta durchzogen, dann erglänzt der See von Fluelen bi8 über Buochs

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hinaus, und hinter ihm erhebt ſich der Seliäberg, der Urirothſtock, der Tiflis und die zahlloſe Reihe der ſchneebedeckten Hörner. Ein ſchöneres Bild ift, nicht denkbar. Und man darf diefe Pracht, Gott fei Dank! ohne die Sorge ge- nießen, daß auch der Mythen der Eifenbahnepidemie zum Opfer fallen könnte. Er wird für alle Zeiten dad unanfehtbare Befisthum der leider ftarf zufam- mengefchmolzenen Gemeinde derjenigen bleiben, die noch willen, wozu ihnen | der liebe Gott gefunde Lungen und Gliedmaßen gegeben hat. Wer den An- ſpruch erhebt, zu diefer Gemeinde gerechnet zu werden, der verjäume nicht, bei | der erften beiten Gelegenheit den Mythen zu beſteigen; aber, wenn Fatholifcher Feiertag ift, verlaffe er fich nicht auf Leckerbiſſen der Holzegg!

Die Mevue Aniverfelle und die Grenzboten.

Wir haben in der erften Hälfte diefed Jahres unfere Leſer aufmerffam gemacht auf die in Paris und Nantes erfcheinende franzöfiihe Monatsſchrift Nevue Univerfelle.e Diefe Erwähnung mar eine entjchieden mwohlmollende, wenn wir au damals den Wunfch begründeten, e8 möchte der Leitung diefer franzöfifhen Zeitfchrift gefallen, im ihren Gonjeeturen über die deutſche Ge— [hichte der Gegenwart weniger Fühnen Gedanken Raum zu geben, ala jenem, daß der deutfche Zollverein von Preußen feit Begründung des neuen Reichs verfchludt worden fei. Die Revanche für diefen Artikel, welche und die Nedaction der franzöfifhen Collegin im Voraus anzufagen die Güte hatte, ift nun erfolgt in Geftalt der franzöfifchen Ueberfegung des Eſſays unferes Mitarbeiterd Scherer „Frankreih im Jahre 1871*,. von welchem aus der legte Theil „die Nationalverfammlung“ nicht mit überfegt wurde, vermuthlich weil der momentane Souverain Frankreichs das Privilegium genießt, nicht Eritifirt werden zu dürfen. Als Revandhe charakterifirt fich diefe Meber- ſetzung oder foll fie dieß thun nur dur) die Noten und Verwahrungen der Nedaction. Diefe Zufäbe verdienen gelefen zu werden, „assur&ment pas par leur mérite“, wie die franzöfifche Collegin fi ausdrüdt, auch nicht aus dem pfychologifchen Intereſſe, welches die Wiedergabe unfere® Artikels in der Revue Univerfelle veranlaßte. Sondern wer dort Tieft, wie unfer Scherer ohne Weiteres zum Pruffien gemaht und feine Anfiht mit der Preußens identifizirt wird, wie der Franzoſe nüchtern eingefteht, daß er feine Schandthaten von Bazeille und Chateaudun feinen Siegen von Magenta und Malakoff nachſtelle beide aber offenbar ala Heldenthaten mit anerkennt und dennod den Muth findet, unferm Mitarbeiter Gerechtigkeit und Anftand abzufprechen, der wird für jene Gloſſen nichts übrig haben, als ein pfychiatrifches

B.

Intereſſe.

Beranttwortlicher Redakteur: 1 Dr. Hans Blum in Leipzig. Berlag von F. 2. Herbig in Leipzig. Drud von Hüthel & Legler in Leipzig.

—*

@2 XXXIII. Jabrgang.

e

Die ' renz;boten. 3 6 eısriı fi für »olitik, LSiteratur und Kunſt. 44.

Ausgegeben am 30. October 1874.

Inhalt:

Seite Die Drakel Griehenlande. C. Brud.. » 2 2 2 20. . 161 Charled Wolfe. Skizze feines Lebens und Dichtens. Bon Butsn Saller 175 Wenjukow's Werk über Inneraſſenn.. 183 Serbftta e in Schwaben. I. (Gmünd. Lord. Der Hobenftaufen. Die . Dwen.) Friedrich Lamperl.. . » . 0...

Bom deutfchen Reih und Reichſstag. C—r. . . BC ne

Brenzbotenumfhlag : Literariiche Anzeigen.

+ + Beilage von der E. F. Winter’fhen PVerlagsbandlung in eipzig.

Riterarifche Beilage von Maufe’3 Verlag (Hermann Dufft) in Jena.

Literarische Beilage von Garl Flemming in Glogau.

—00————

Leipzig, 1874. Friedrih Ludwig Herbig. (Fr. Bild. Grunow.)

rt bei allen Buchhandlungen und Poſtämtern des In: und Auslandes

Er

Die Orakel Griechenlands.

Bon C. Brud.

So lange Menfchen diefe Erde bevölfern und in ihren Herzen das un» audtifgbare Sehnen ruht nah Glück, nach vollfommener Befriedigung aller Bedürfnifie des feiblihen und geiftigen Lebens, welche die Gegenwart mit ihrer Sorge, ihren Kämpfen, ihren unfertigen Unfängen, fo oft nicht gewährt, fo lange befteht auch die fragende Hinrichtung des menjhlichen Blickes auf die Zukunft, aus deren Schooß das Zufallen des heiteren, glücklichen Looſes erhofft wird. Was ift der Baum der Grfenntnig des Guten und Böfen im Baradiefedgarten, von dent die ältefte Urkunde des Menfchengefchlechtes er- zählt, diefer Baum, deſſen Früchte das erſte Menfchenpaar fo lieblih und verlocdend anladhten, weil der Genuß derfelben ug machen und in gott- ähnlichen Zuftand erheben follte, was ift er anders, ala ein Beweis dafür, dag ſchon die Urahnen unfere® Gefchlechtes fih in der Gegenwart und es mar doch eine Gegenwart paradtefifchen Glückes nicht befriedigt fühlten, fondern noch geheime Wünſche und Fragen an die Zukunft Hatten? Und diefe® Wünfchen und Fragen ift geblieben, und wenn auch unter allen Bölfern jenes Bemwußtfein lebt, dem Sophokles am Schluffe feine Ajas fo flaren Ausdruck giebt, indem er den Chor fingen läßt:

„Biel fchauet der Menfch und erforſcht fein Geift;

Doch nimmer, er ſah's denn, dedet er auf,

Was ruht in dem Schoofe der Zufunft!* fo fuht doch immer wieder die begehrliche Menfchenhand den Schleier auf- zudeden, der dad Zukunftsbild verhüllt und fort und fort mühet fein Geift fih ab, in das verſchloſſene Geheimnig einzudringen.

Iſt's denn ein völlig undurhdringliches, verfchloffenee Geheimniß ? Sinken nit hier und da die einhüllenden Nebel, daß eine helle, Elare Aus— ſicht in die Ferne fih uns eröffnet? Daß man durd Kombination und Be rechnung einen ziemlich wahrſcheinlichen, ja fait gemiffen Schluß aus der Gegenwart auf die Zukunft machen fann, daß z. B. ein erfahrener Staats—

Grenzboten IV, 1874. 21

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mann, der die Tauſenden verborgenen Fäden der Diplomatie in feiner Hand hält, mehr weiß von der zufünftigen Geftaltung des politifchen Lebens, ala andere, diejen höheren Regionen ferner ftehende Sterbliche. Oder daß aus natürlichen Anzeichen die Witterung des folgenden Tages fich beftimmen läßt, ift doch nod) fein Zufunftsblid, und auch da bleibt die Möglichkeit, daß ein unbeachteter Factor die ganze Berechnung ala falfch erweilt und ein unvorhergefehened Ereigniß der ganzen Sache eine von der erwartenden ganz abweichende Wendung giebt. Und wenn du aud glaubft, mit völliger Ge wißheit auf das zufünftige Verhalten felbft eines dir nahe Stehenden ſchließen zu fönnen, fo wirft du doch oft erfahren müſſen, daß das menfchliche Herz ein Faetor ift, mit dem fich ſchwer rechnen läßt, der eben unberechenbar ift. Aber von Möglichkeitd- und MWahrfcheinlichkeitsrechnungen ift auch nicht die Rede, fondern die Frage jtellt fi) fo: giebt e8 ein Wiffen um die Zukunft, welches nicht der Vermittlung durch gegenwärtige Verhältniffe bedarf? Kann ein Menfh die zufünftige Geftaltung von Dingen fchauen, deren gegen, wärtiger Stand ihm völlig unbefannt ift? Mir fönnen auf diefe Frage nur mit einem entjchiedenen „Nein“ antworten und höchſtens das Vorkommen von Ahnungen und dunklen Vorgefühlen zugeben, und je größer die Auf- klärung und je weiter die Fortfchritte des Geiſtes, defto milliger wird jenes „Nein“ zu geben fein. Kreilich fo Iange der Menſch noch in dem Zuftande des rohen Naturfindes lebt, welches von den feften, ewigen, wandelloſen Ge jegen nicyt3 weiß, nad denen alles natürliche Xeben fich entwickelt, deflen Phantaſie das Auffallende, Außerordentliche gleich ala das Wunderbare auf- faßt und diefe® Wunderbare liebt und gefliffentlih aufſucht, und deſſen Find- liher Sinn alle Erfcheinungen des Lebens, die fein in engen Grenzen fid bemwegender Geift nicht erklären Fann, ald unmittelbare, den Gang der Natur durchbrechende Einwirkungen höherer Mächte und dämoniſcher Kräfte anfieht, fo lange wird auch die natürliche Gonfequenz nicht ausbleiben, nämlich ſolchen auffallenden, unerflärten Ereigniſſen einen entſcheidenden Einfluß auf zukünftige Begebenheiten zuzufchreiben und in ihnen WVorbedeutungen deſſen zu fehen, was noch kommen fol. Ja je näher die Dinge dem Menfchen ftehen, an denen fich ſolches Auffälige zeigt, um fo gewiſſer wird in Ießterem das Be deutfame und die Zukunft Beftimmende erfannt, fo daß ein befonderes, un- gemöhnliched Verhalten von Thieren, ein Traum, ein merfwürdiged Zufammen: treffen von mwefentlichen oder unmefentlihen Begebenheiten die bedeutungsvollſten Momente für die Auslegung der Zukunft abgeben müfjen. Uber nicht jedem Sterblichen, fo urtheilt der Eindliche Glaube, ift es befchieden, ſolche Zeichen zu deuten und auf die gegebenen Verhältnifje anzuwenden; jondern die Gott- heit wählt fich ihre Organe aus, auf die fie einwirkt, aus denen fie felbit fpricht,, durch die fie fih offenbart, und wo dann ein Menfh an Geilt,

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Talent, Klugheit vor Andern bervorragt, wo in fohmierigen, verwidelten 2ebendverhältnifien ein guter Rath gegeben wird, der den Knoten löſt und die Wege ebnet, wo in ſchwärmeriſcher Begeifterung ein Ausſpruch gethan wird, durch den Zufünftiges offenbart wird, da ehrt noch heute der Findliche Sinn gläubig die Offenbarung der Gottheit und in der menfchlichen Perſön— fichkeit, die der Mund derfelben ift, fieht man den Vertrauten, den begnabeten Liebling höherer Mächte.

Auch die griechifche Gefchichte berichtet und vielfach von folhen Männern, die fih rühmten, von den Göttern erleuchtet zu fein, und die darum in dem höchſten Anfehen ftanden, die größten Ehren genofjen und einen ganz be- deutenden Einfluß nicht bloß auf Einzelne, fondern aud auf das öffentliche Leben des Volkes und politische Verhältniffe hatten. Man nannte fie Seher. Ihre Kunft tft nach Plato eine zweifache, nämlich entweder eine natürliche, ungelernte,, infofern fie nicht eined Unterricht? bedarf, auch feine bejtimmten Regeln befolgt, fondern aus unmittelbarer göttlicher Einwirkung herrühtt, oder eine Fünftlihe, die ein gewiſſes Studium erfordert und erſt durch reife Grfahrung und langjährige Beobachtungen angeeignet wird. Eine natür- liche Weiffagungsgabe, Theomantie genannt, war nicht ein in jedem Augen- bit gleihfam zur Verfügung ftehendes Gut, fondern brach nur bisweilen biisähnlih, aus unmittelbarer dämonifcher Einwirkung herrührend, hervor und zwar unter heftigen convulfivifhen Zudungen, in denen fi der von dem Dämon Ergriffene wie ein MWahnfinniger geberdete und in einem Zu- ande völliger Bemußtlofigkeit bald Worte ausftieß, die man ald Worte der Bottheit jelbft anfah, bald durch heftige Geberden den Willen derfelben an- deutete. Auf ſolche Weife mweiffagten z. B. die Sibyllen, fagenhafte Weiber, deren Drafelfprüdhe bei den Griechen, ganz befonderd aber auch bei den Römern *), in dem höchften Anfehen ftanden und deren Zahl gemöhnlich auf sehn angegeben wird. Auch Orpheus, der mythifhe Barde Griechenlands, fand angebli in vertrautem Umgang mit den Göttern und murde ihrer Dffienbarungen gewürdigt, wie er auch dur ihren Beiftand viele Wunder: werke, Kranfenheilungen u. |. w. vollbracht haben fol. Ueberhaupt aber wurde in den älteften Zeiten jede Begeifterung, jede höhere Begabung, jedes tiefere Wiſſen als Ausflug der Gottheit angefehen und mit dem Namen Theomantie“ bezeichnet.

Meit bedeutungsvoller aber, weil allmählich zu einer förmlichen Wiſſen— ſchaft ausgebildet, ift jene Art der MWeiffagung, die mir oben eine Fünftliche im

*) Bekanntlich foll der römifche König Tarquinius Superbus drei Bücher fibyllinifcher Beiffagungen von einer unbekannten Alten angefauft haben, nachdem diefelbe erft neun, dann nad) Berbrennung von bdreien die andern ſechs, und dann nad weiterer Berbrennung von dreien, die legten drei zu demjelben hohen Preiſe angeboten batte.

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Gegenfa zu der natürlihen nannten. Sie fnüpft an irgend melde äußere Zeichen an, um aus ihnen auf die Zukunft zu ſchließen, und ed gehörte in der That ein nicht geringer Grad von Scharffinn und von Kenntnifjen dazu, um allen jenen Zeichen und Zufälligkeiten, die und völlig bedeutungslos erjheinen, einen tieferen Sinn und höhere Deutung zu geben. So wurde von jeher ein ganz befondereö Gewicht gelegt auf die Lebensart der Vögel, auf ihre Natur, ohne Rüd: fiht auf befondere Umstände, unter denen fie erfchienen, fo daß diefer Vogel ald ein glücverheißender, jener ald Unglüddbote angefehen wurde; oder auf die befonderen Berhältniffe, die ihr Erſcheinen begleiteten, ſodaß einer und derfelbe Bogel bald Heil, bald Unheil anzeigen konnte. Adler, Falken, Tauben, Schwäne, Hähne, Reiher galten im Allgemeinen ald glücverheigende Vögel; dagegen Beier, Habichte, Krähen, Naben (namentlih wenn diefelben z. ®. gierig im Kreis herum flatterten), Schwalben, Eulen u. f. w. wurden meiften® als Unglüdeboten angefehen. Doch konnten, wie gejagt, die begleitenden Umftände auch ein an und für fi ungünftige® Omen zu einem günftigen machen und umgekehrt. So mar das Verhalten der Vögel beim Freſſen, die Art ihres Fluges, namentlih aber ihr Gefang, der Gegenftand eifriger Be: obachtung, und ed bat denn auch niht an Männern gefehlt, welche fi rühmten, die Sprache der Vögel zu verftehen, z. B. Apollonius von Tyana, Demokritod® u. U. Daß den Vögeln eine ſolche Bedeutung zugefchrieben wurde, mag wohl darin feinen Grund haben, daß man glaubte, fie befämen durch ihr Wanderleben, durch ihr Umberflattern von einem Ort zum andern, mehr von den Dingen der Welt zu fehen und hätten daher von mancdherlei befjere Kunde, ald andere Gefchöpfe, die mehr an einen felten Ort gebunden feien und deren Geſichtskreis darum ein befchränkterer fei. Auch andere Thiere galten in ihrem Verhalten als bedeutungsvoll. Ameiſen follen dem phrygi- ſchen Könige Midas, wie er ald Kind in der Wiege lag, Getreideförner in den Mund getragen haben, woraus die Wahrfager den Schluß auf zufünf- tigen großen Reichthum deöfelben machten. Ein Bienenfhwarm foll dem Plato ald Kind Honig auf die Lippen gelegt haben, was auf die Macht der Rede, die einft von feinen Lippen fließen werde, gedeutet wurde. Auch Pindar, der große Iyrifhe Dichter der Griechen, foll, da er ald Kind audgefegt worden war, von Bienen mit Honig ernährt worden fein, in welchem Umftande man den Sangeszauber vorgedeutet ſah, mit dem er einft die Herzen entzüden werde. Unter anderen Thieren, welche als bedeutfam galten, nennen wir noch Heufchreden, Eber, Hafen, Schlangen und Kröten. Für höchſt bedeutfam und auf zukünftige Dinge in entjcheidender Weiſe einmwirkend galten ferner auch auffallende Naturerfcheinungen. Das Erſcheinen eined Kometen war ſchon den Griechen, wie noch heute dem ungebildeten, abergläubigen Bolfe, ein Bote furdhtbaren, allgemeinen Unglüds; mit gleicher Angft des Aber:

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glauben® wurden Sonnen» und Mondfinfterniffe betrachtet, weil man ihre natürliche Erklärung nicht kannte; deßgleichen ſchloß man aus dem Weſen des Windes, aus Blitz, Donner, Erdbeben und anderen Naturerfcheinungen bald auf Glück, bald auf Unglüd. Eine große Rolle in der Prophetie der alten Griechen fpielten auch die Träume. Nicht jeder Traum aber wurde für bedeutfam in Bezug auf zufünftige Ereigniffe gehalten, fondern nur unter gewiffen Bedingungen ihm eine ſolche Bedeutung beigemejjen. Er- ſchien 3. B. dem Schlafenden im Traume ein Gott, fei ed in eigener oder in angenommener Geftalt, um jenem irgend etwas zu offenbaren, fo galt ein folder Traum in höchſtem Grade für bedeutfam und die Worte ded Gottes, die der Träumende gehört, ald untrügliche, unfehlbare Wahrheit. So be: wegte der von Zeus gefandte, in Neſtors Geftalt dem fchlafenden Agamemnon erfcheinende Traumgott Ießteren, fofort das Heer zu einer entjcheidenden Schlacht gegen die Trojaner zu rüften, da die Worte ded Traumgotted ihm Sieg in Ausſicht ftellten. Auch menn im Traum ein zufünftige® Ereigniß als im gegenwärtigen Augenblic eintretend gefhaut wurde, fo wurde an das einftige Eintreten desfelben mit zmweifellofer Gewißheit geglaubt. Hierher ge- hört der Traum Aleranderd, der ihm als feinen zukünftigen Mörder den Kaffander bezeichnete. Endlich legte man auch ſolchen Träumen eine tiefere Bedeutung bei, in denen fid) das zukünftige Ereignig in fymbolifcher oder allegorifcher Form darftellte. Ein folher Traum ängjtigte nah Sophofles Elektra die Klytämneftra ; der gemordete Gatte, Agamemnon, erfehien ihr im Zraume und bobrte den Herrfherftab, den er in der Hand hielt, in den Heerd ded Haufes ein, aus dem dann ein junges, frifches Neid hervorfproßte, von dem die ganze Stadt Mytenä befchattet ward. Diefer Traum wird von dem Chor fofort auf blutige Rache gedeutet, die in Drefted, Agamemnong Sohne, nahe. Auch jener Traum der Hekuba, der Gemahlin des trojaniſchen Königs Priamus, aus ihrem Schoofe werde ein Feuerbrand geboren, wurde ala allegorifch angefehen und von dem Wahrſager Aeſakos dahin erklärt, daß der erwartete Sohn (ed war Paris) dem Reiche den Untergang bereiten werde.

Aus diefer Art der Weiffagung, die wohl an einzelnen Perfonen, keines— wegs aber einen beftimmten Ort gebunden war, entjtanden nun die Drafel, deren Eigenthümlichkeit eben darin beruht, daß ihre Weiffagungen nur von einem beftimmten Orte aus ergehen und mit diefem Drte in engfter Verbin: dung ftehen. Schon von einzelnen Sehern wird und erzählt, daß ihnen nad) ihrem Tode ein eigenes Orakel geweiht wurde, 3. B. von Kalchas, deſſen Drafel in Daunien auf dem Hügel Drium ſich befand, wo der, welcher feinen Kath begehrte, einen ſchwarzen Widder opfern und dann auf der Haut des— felben einfchlafen mußte. Die Entſtehungszeit der Orakel verliert fi alfo in dem fernften Ulterthum, über dem nur ein mythiſches Dunkel ruht, und

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au in Bezug auf die Beſchaffenheit derfelben find die gefchichtlichen Quellen höchſt unfiher, da die alten Schriftfteller theils zu abergläubig find, um ein ruhiges, unbefangene® Urtheil über die Orakel zu fällen, theild zu un: gläubig, d. h. fo voll des Spottes und der fchärfiten Vitterfeit, daß Fein vor- urtheildfreier Standpunft von ihnen zu erwarten if. Wie dem aber aud fein mag, fo viel ift ficher, daß die Orakel Inſtitute von höchſter Bedeutung für das private, bürgerliche und nationale Leben der Griechen waren, und daß fie, wenn fih auch, namentlih in fpäteren Zeiten, viel abfichtliche Täuſchung und grober Betrug mit ihnen verband, doch von großem Segen geweſen find.

Schon früher beftand bei den Griechen die Sitte, gewiſſe Gegenden und kleinere Plätze einzelnen Göttern ganz befonder® zu mweihen. Städte und Ränder ftellten fi unter den befondern Schu einer Gottheit und glaubten darum fich ihrer befonderen Huld erfreuen zu dürfen. Auch Haine, Quellen u. f. m. wurden öfters einer Gottheit geweiht und diefe lettere dann gerade dort bejonderd gegenwärtig gedacht. So wird und ſchon von Herkules (Soph. Trach.) erzählt, er Habe auf dem Vorgebirge Kenäon dem Zeus einen grünen Hain geweiht; eine Inſel unmeit Lemnos, wo Philofteted den verderblichen Biß erhielt, war der Chryfe gemeiht und erhielt von ihr den Namen; ein Hain bei Kolonos war den Eumeniden geweiht und wurde als ihr Wohnort gefürchtet. Gewöhnlich wurden an ſolchen Stellen der betreffenden Gottheit Altäre gebaut und an einigen fpäter auch Tempel, die dann als Sig und Heiligthum der Gottheit verehrt wurden und wo diefelbe durch den Mund der Wriefter, die fich ihrem Dienfte widmeten, fi offenbart. Auch jene Pro: pheten, die wir oben fchilderten, find oft Gründer fpäter fehr berühmter Orakel geworden. Sin der ſchwärmeriſchen Richtung ihres Weſens, getrieben bald von dem Streben, ungeftört dem Gott, der fie begeifterte, dienen zu können, bald freilich auch von dem egoiftifchen Zweck, den Auf einer befonderen Heiligkeit zu erlangen und dadurch bei dem Volke eined größeren Einfluſſes ſich zu ver- fihern, zogen fich Viele jener Propheten von dem Verkehr mit der Melt zu: in ein einfames, einfieblerifched Leben. Ein dunkler Hain, wo der Wind wie mit geheimnißvollen Götterftimmen durch die Wipfel der Bäume raufäte, eine Quelle, deren Gemurmel und Geplätjcher mie Geifterftimmen aus der Tiefe Elang, eine abgelegene Felfengrotte, von deren dunflen Wänden Geifter- nähe den Eintretenden anftarrte, gähnende Erdfpalten und Klüfte, aus denen beraufchende und betäubende Dämpfe aufftiegen, die Nähe der Gottheit an- kündigend, furchtbare Einöden, unwirthliche Gebirgäpartien, ſchauerliche Thäler, überhaupt Gegenden, die den Charakter des Ungewöhnlichen hatten und auf den Menſchen einen erhebenden, großartigen, oder auch ſchreckhaften, Furcht und Grauen einflößenden Eindruck machten das waren die Orte,

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die von jenen griebifchen Ginfiedlern aufgefucht wurden, wo fie nun in völliger Abgefchiedenheit lebten, allein beichäftigt, dem Gott zu dienen, für defien Organ fie fih hielten. Bald Fnüpfte fih an ihre Perſon ein Ruf befonderer Heiligkeit und der Gabe, die Zukunft zu enthüllen und denn Fragenden ihre fommenden Schickſale zu prophezeien. Bon nah und fern ftrömte nun das gläubige Volk herbei, um in fohmwierigen Lebenslagen ih Rath, über Bergangened Klarheit, über Zukünftige Gewißheit zu holen. Zahlreihe und koſtbare Gefcyenfe wurden aus Dankbarkeit an den Stufen des Altard niedergelegt und allmählich entftanden da, wo fonft Wildniß und Einöde war, die herrlichiten Tempelbauten, in deren Hallen ein buntes viel- geitaltiged Leben wogte. Der gottbegeifterte Seher, dem ein folcher Tempel jein Entftehen verdankte, fand dann in einer oft vielzähligen Priefterzunft, die fih dem Dienfte desfelben Gottes mweihte, feine Nachfolger, auf die fich diefelbe Gottederleuchtung vererbte.

Auf folhe Weife werden die fpäter fo großartigen Orafelanftalten Griechenlands entitanden fein, und was anfangs mehr der Zufall hervorge- rufen hatte, das wurde fpäter in Eluger Berechnung gefliffentlich zu erhalten und zu erweitern gefucht und hat in der That einen das ganze private und Öffentliche VXeben des Volkes völlig beherrjchenden Einfluß gewonnen. Kein Grieche ging an ein irgendwie wichtiged Unternehmen, ohne zuvor dad Orafel um feinen Rath zu fragen, in Streitigkeiten wurde feine Schiedsſtimme an- gerufen, in Krankheitsfällen ſuchte man bei ihm Heilung; bei öffentlichen Wahlen fragte man dort an, auf wen ded Gotted Stimme fiele; Fein Krieg wurde erklärt, fein Friede gefchloffen, der nicht durch einen Orakelſpruch feine Sanction erhalten hätte, kurz nad) allen Richtungen des Lebens hin erftredte fih der Einfluß der Orakel.

Unleugbar lag in diefem wichtigen Einfluß ein großer Segen. Wer e8 bört , wie ein Orakelſpruch langjährige Streitigkeiten, die nur zum Nachtheil und Verderben beider Parteien mit Zähigfeit und Erbitterung genährt wurden, befeitigte; wie vortreffliche Rathſchläge häufig den Fragenden ertheilt wurden ; wie nur dur das Anfehen des Drafeld einem Lykurg und Solon möglid) wurde, ihre vortrefflihen, das allgemeine Volkswohl wichtig fördernden Ge— feggebungen und bürgerlihen Einrichtungen durchzuſetzen, gegen welche fd). jonft dad an feinen veralteten Inftitutionen und verjährten VBorurtheilen mit Zähigkeit hängende Volk ohne Zweifel aufgelehnt hätte; mie die Drafel der Sis und die Freiftatt der Weisheit waren, von wo aus heilfame Kehren, ala Götteraudfprüche doppelt hoch gehalten, in das Volk eindrangen: der wird von der einfeitigen Geringfhäsung und vornehmen Verachtung diejer ja frei- lich mit viel Aberglauben und abfichtlicher Täufchung behafteten nftitute zurüdfommen und gebührender Weiſe das Gute anerkennen, das fie für ihre

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Zeit gewirkt haben, und fie für einen wichtigen Factor in der Entwidelungs- gefchichte der griechifchen Cultur anfehen.

Was fie waren, find fie freilih nicht geblieben, und nachdem fie ihre Aufgabe erfüllt und fich audgelebt hatten, beginnt auch ihr Verfall. Schon frühe mag es vorgefommen fein, daß dieſes oder jened Drafel, diefer oder jener Prieſter desfelben anfing, fich für feine Ausfprüche beftechen zu lafien, oder durch offenbare Betrügereien die Teichtgläubige Menge zu täufchen. Hier- her gehört ſchon das VBeftreben der meiften Orakel, ihren Ausſprüchen eine ganz unbeftimmte, vieldeutige Form zu geben, oder hinter Wortfpielen, Doppelfinnigkeiten, Zmeideutigfeiten den Mangel an rechter Erfenntniß und flarem Blick zu verbergen. Aus fpäterer Zeit werden aber auch ausdrücklich einige Fälle berichtet, au8 denen die Verderbtheit und Depravation der Orakel zur Genüge hervorgeht. So erzählt Herodot, daß Kleomened, König von Sparta, um feinen verhaßten Mitregenten Demaratus zu jürgen, das Del- phifche Drafel beftochen habe, die Spartaner auf ihre Anfrage, ob Dema- ratus ein Sohn des Arifto ſei, oder ob die vorhandenen Zweifel an der Ehe— lichkeit feiner Geburt berechtigt feien, in letzterem Sinne zu entjcheiden, mas zur Folge hatte, dag allerdings Demaratus abgefest wurde. Der Leiche des Pauſanias, deffen Berrätherei und elendes Ende befannt ift, wurde anfangs ein ehrenvolled Begräbniß verfagt; in Folge eines durch Geld erfauften Orafel- ſpruchs dagegen wurden feine Gebeine vor dem QTempel, in dem er fein Ende gefunden, feierlich beftattet. ine großartige Betrügeret wird und auch von Lyſander erzählt, der nämlich beabfichtigte, die ganze Staatdverfaffung feines Volkes umzuftürzen, und dazu die Mithülfe des Delphiſchen Orakels durch An- wendung feiner Autorität begehrte, die ihm auch völlig gewährt wurde.

Menn aus diefen Beiſpielen, die fich leicht vermehren ließen, einee- theild deutlich hervorgeht, mie tief die Drafel im Kaufe der Zeit gefunfen waren, jo muß es andererfeit® um fo mehr Wunder nehmen, ie troßdem diefe Anftalten nod Jahrhunderte lang in großem Anſehen ftehen Eonnten, und wie e8 Fam, daß nicht längit dem Volke die Augen geöffnet wurden. Doch wenn man bedenkt, wie tief abergläubige Borftellungen im Bolfe wur: zeln und wie leicht es ift, auch einen einmal ein wenig erfehütterten Glauben bei demfelben wieder zu befeftigen ; wie wenig verbreitet damald noch die Bil- dung im Wolfe war und einen wie Fleinen Kreis das Licht der Philofophie befchten; welch ein Sinterefje die Vornehmen und Hocftehenden hatten, das Volk in feinem Aberglauben und auf feiner niedrigen Bildungsſtufe zu er halten und den Glauben an die Unfehlbarkeit der Drakelfprüche, die fie felbit belachten und verfpotteten, zu nähren; wie endlich auch bei Vielen, die fih in einzelnen Fällen von der feilen Beftechlichfeit und Augendienerei der Orakel überzeugt hatten, dennoch) eine gewiſſe Pietät und ein gewiſſer Refpect

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vor der Ehrwürdigkeit der Gottedausfprüche noch herrſchte, der natürlich noch fi erhöhte und für lange Zeit aufs Neue feft gegründet war, wenn einmal ein Spruch zufällig in Erfüllung ging: fo kann e8 und nicht mehr befremden, da diefe Drafelanftalten noch in Anſehen und Blüthe ftanden zu einer Zeit, da die MWeltgefchichte längſt über fie zur Tagesordnung übergegangen mar. Yuf die Dauer freilich Tonnten fie dem Geſte der Zeit, der mehr und mehr fh geltend machenden Gelbitändigfeit des Denkens, der meiter fich verbrei- temden Aufklärung und Bildung nicht mehr Widerftand leiften und mußten jllen, wie Alles fällt, ob's auch noch fo fiher und prunfend dafteht, was auf den Sand kindlichen Weſens, thörichten Aberglaubend und menfchlichen Gigennuße3 gebaut ift.

Betrachten wir nun noch in Furzen Zügen die beveutendften Drafelan- falten Griechenlands in ihren befondern Eigenthümlichkeiten.

Eines der älteften Drafel Griechenlands war zu Dodona, einem Orte in Epirud. Die Sage über die Entjtehung deöjelben tit folgende. Zwei Zauben , welche der Thebe, einer Tochter des Zeus, gehörten und die Gabe menjhlicher Sprache hatten, flogen von Theben in Aegypten aus. Die eine kam nach Libyen und ftiftete dort dag Ammoniſche Drafel, die andere nad) Epirus und ließ fi dort auf einem Eichbaum nieder, von dem aus fie die Einwohner, welche Sellen genannt wurden, (Soph. Trach. V. 1139) auf- forderte, dem Zeus zu Ehren an eben der Stelle ein Orakel zu ftiften. Da nah Strabo die ägyptiichen Priefter behaupteten, daß zwei Priefterinnen ihren Gultus nad Libyen und Epirus verpflanzt hätten, und da ferner in der Sprache der alten Völker von Epirus dasfelbe Wort Tauben und alte Weiber bedeutet, fo wird ed wahrſcheinlich, daß Hier eine Verwechſelung vorliegt und der Sinn jener Fabel der ift, daß das Dodonifhe Drafel zuerft durch ägyp- tiſche Priefterinnen geftiftet fei, die in dem heiligen Haine bei Dodona ihre Beiffagungen ertheilten. Aus legterem Umftande bildete ſich dann die fernere Sage, die Eihbäume jenes Haines Fünnten reden, mie denn auch behauptet wird, das Schiff der Argonauten, welches aus Eichſtämmen jened Haines gezimmert war, habe die Gabe zu reden und zu meilfagen gehabt. Die Priefterinnen des Zeus, melde in dem Haine, den fpäter ein Tempel zierte, weillagten, fuchten den Willen ihres Gottes auf fehr verſchiedene Weiſe zu erforfchen. Bald horchten fie auf das Gefäufel ded Windes, der die Wipfel der Eihbäume bewegte, bald auf das Gemurmel der Quelle, die aus dem Boden hervorfprudelte, bald auf das Geräufh, das durch das Zufammen- Ihlagen mehrerer um den Tempel hängender Fupferner Becken entjtand, bald auf die Töne, die eine Figur dadurch hervorbrachte, daß eine aus drei Metall. fetten beftehende und mit Metallfnöpfen beſetzte Peitſche, die fie in der Hand

hielt, wenn fie vom Winde bewegt wurde, an ein daneben u ehernes Grenzboten IV, 1874.

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Gefäß ſchlug; bald endlich auch entſchied das Loos, indem Zetteldhen oder Würfel aus einer Urne gezogen wurden. Das Dodoniſche Orakel gehörte zu den gefeiertſten des Alterthums, was die zahlloſen Weihegeſchenke, die den Tempel ſchmückten, bewieſen, bis die Götter nach Strabo's Bericht, der zur Zeit des Kaiſers Auguſtus lebte, es verließen.

Den erſten Rang unter allen nimmt aber unſtreitig ein das Orakel zu Delphi in Phoeis am Fuße des Parnaſſos, der ſich Hier in zwei Berg— gipfel zertheilte (Soph. Ded. Tyr. V. 458). In der Stadt, die mit ver- ichmwenderifcher Pracht gebaut war, befanden fi die herrlichſten Baumerfe und Denkmäler der Kunft. Unter allen aber ragte hervor der berühmte, herrliche Tempel des Apollo, der hier an der Stätte des alten Orafeld Apollos entitanden und von den Gejchenken derer, die fich hier Rath und Licht geholt hatten, angefüllt war. Diefem Orakel allein verdankte Delphi aud feinen Ruhm und Glanz. In welchem Anſehen dieſer Ort bei allen Völkern ftand, geht auch aus dem Umftande hervor, daß er ald der Mittelpunkt der Erde angefehen wurde, weßhalb Dichter, z. B. Sophofled im Ded. Tyr. B. 866, ihn den Nabel der Erde nennen. Diefe Anfiht gründet fih auf die Fabel, Zeus habe einft, um die Mitte der Erde zu beftimmen, zwei Adler, den einen von Abend, den andern von Morgen ber, fliegen laffen und diefelben feien zufammengetroffen an der Stelle, wo fpäter Delphi ftand. In dem Tempel befanden ſich auch Marmorplatten, welche genau die Stelle bezeichneten, die man für den Mittelpunft der Erde anſah.

Die Stadt Delphi hatte Anfangs den Namen Pytho zur Erinnerung an den Drachen Pytho, den hier Apollo getödtet hatte. Daher wurde der Drt im Tempel, wo eigentlich geweiſſagt wurde, Pythium, die PBriefterin, durch deren Mund fi) Apollo offenbarte, Pythia und Apollo felbft Pythius genannt. Jenes Pythium war eine tiefe Erdhöhle, aus der fortwährend ein mepbitifcher Dampf aufftieg. Ueber diefer Dunfthöhle, um welche herum der Boden erhöht war, damit der Dunft den Naheftehenden nicht ſchade, fand ein fogenannter Dreifuß, der völlig mit Torbeerzweigen und Kränzen bededt war, fo daß der gefährliche Dunft fi nicht nach außen verbreiten fonnte. Wie diefer Dreifuß, deffen drei Füße übrigens Apollos Wiffen um Vergangen— heit, Gegenwart und Zukunft ſymboliſch andeuten follten, eigentlich befchaffen war, läßt fi nicht mit Gewißheit jagen. Bald befchreibt man ihn als ein Gefäß, auf dem die Pothia ſaß und durch welches diefer der Dampf in den Unterleib flieg, um dann aus ihrem Munde, mit wetffagenden Worten ver- bunden, wieder herauszukommen; bald als einen weiten Keffel, in den die Pythia hinabtauchte, um durch den auffteigenden Dampf in den Zuftand der Betäubung oder Verzücdung verjegt zu werden, der zum MWeiffagen erforderlich war; bald als einen mit einer Oeffnung verjehenen Topf, in dem fich kleine

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Steindhen befanden, die durch die aufwärts ftrömende Dunftfäule gefchüttelt wurden und aus deren eigenthümlichen Bewegungen die Pythia ihre Weiſſa— gungen entnahm; wahrfcheinlich ift e8 aber nur ein einfacher, mit drei Füßen verfehener Sit gemwefen, von dem aus die Pythia ihre Weiffagungen gab.

Anfangs wurde der Dienft der Pythia jedesmal nur von einer einzigen Jungfrau verfehen , die -zuerft in jugendlichen, fpäter in reiferem Alter ftehen mußte und gewöhnlich nach ihrer Herkunft aus der Umgegend von Delphi tammte und den niedrigften Ständen angehörte. Später, als die Frequenz des Orakels zunahm und eine Perſon den Dienft nicht mehr bewältigen tonnte, wurden immer drei Pythien eingefeßt, die der Neihe nad) die Fune— tionen ihres Amtes übten. Bevor die fungirende Pythia den Dreifuß beitieg, um des Gottes Dffenbarungen zu empfangen, nahm fie ein Bad in der nahen Quelle Kaftalia, ſchmückte fih das Haar mit Lorbeerkränzen und pflüdte auch von einem nahe bet der Höhle ftehenden Lorbeerbaume einige Blätter ab, die fie verzehrte. Dann zeigte ſich auch fehr bald an ihr die Wirkung des Dampfes, der aus der Höhle zu ihr aufftieg. Sie gerieth durch denfelben allmählich in einen förmlichen Paroxysmus, ihre Glieder zitterten, ihr An- geficht glühte fieberhaft, ihre Augen traten faft aus ihren Höhlen und fun- felten unheimlich, kalter Schweiß bededte ihren Körper und Schaum trat aus ihrem Munde, faft erftidt von dem betäubenden Dunfte und feftgehalten auf ihrem Site von den Händen der Priefter, brach fie endlich In ein förmliches Wuthgeheul aus, in dem man nur einzelne abgebrocdhene Worte unterfchied, die von den Prieftern forgfältig aufgezeichnet, fpäter in Zufammenhang ge draht und den Fragenden ald Antwort des Gotted gegeben wurden. Diefe Sprühe ded Drafeld murden gewöhnlich in herametrifchen Verſen ertheilt und waren oft doppelfinnig und zmeideutig, ſtanden aber binfichtlih ihrer Zuverläffigkeit in höchſtem Anſehen, bis überhaupt mit der zunehmenden Aufklärung der Glaube an die Drafel mehr und mehr abnahm.

Auf der Inſel Delod, einer der Cykladen im ägätfchen Deere, von der die Sage erzählt, dag fie einft ein auf dem Meere ſchwimmender, Eahler und unfruchtbarer Felſen geweſen fei, aber ſeit Latona bier die Götterfinder Apollo und Artemis geboren habe, auf Säulen ruhe, die von den Grund» feiten der Erde aufftiegen, befand fich gleichfalld ein gefeiertes Orakel des Apollo. Ein mit vielen Bildfäulen nnd Altären geſchmückter Tempel war bier dem Apollo erbaut, in welchem ſich auch die berühmte colofjale Statue des Gottes befand. In welcher Weiſe bier die Orakel ertheilt wurden, ift nicht befannt, doch gehören die Sprüche des Apollo von Delos zu den zu— verläffigften und Elarften. Mebrigend wurden diefelben nur im Sommer er: tbeilt, da Apollo nad) der Mythe im Winter fi in Lyeien aufbielt, um dort auch Orakel zu ertheilen.

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Unmeit Milet ftand der Tempel ded Apollo Didymäus mit dem Drafel der Branchiden, welches unter den ältejten Drafeln Griechenlands genannt wird und auch noch in den erften Jahrhunderten der chriftlichen Zeitrechnung Spuren feine Eriftenz und Wirkfamkeit zeigt. Den Beinamen Didymäus, d. h. Smilling , hatte Apollo ald Zwillingsbruder der Urtemid. Die Brandiden, eine vornehme Milefifhe Familie, weldhe ala Inhaber des Orakels genannt werden, leiten ihren Urfprung ber von einer mythiſchen Perfönlichkeit, Namens Branchus, der fih der befonderen Gunft des Apollo zu erfreuen hatte und von diefem in feinen Tempel aufgenommen murde mit der Beftimmung, daß ihm nad) feinem Tode göttliche Ehre erwieſen werden folle. Aus der Geſchichte ded Orakels ift zu merken, daß zur Zeit der Perſerkriege der Tempel des Apollo, in dem die Orakel ertheilt wurden, geplündert und verbrannt wurde, indem die Priefter, die aus der Familie der Brandhiden ftammten, ihn verrätherifcher Weiſe den Feinden überlieferten. Die Milefier bauten fpäter den Tempel wieder auf und zwar nach einem fo weit und großartig angelegten Projeete, daß er nicht vollendet werden Eonnte. Das Drafel wurde vielfach von den Aeoliern und Joniern befragt und erfreute fi in der öffentlihen Meinung fogar des erften Ranges nad dem Delphifchen, wovon auch die großen Schäte und Koftbarkeiten, die ihm gehörten und von der Dankbarkeit der zahlreihen Beſucher herrührten, Beweis find.

An der Spige ded Priefterperjonald von Didyma ftand der Stephanophorug, der bei den Berrichtungen feined Amtes, wie der Name befagt, eine Krone trug; die fpecielle Leitung ded Drafeld war das Amt des Propheten, der durch das Loos ernannt wurde, über die Verwaltung ded Tempelſchatzes waren die Beifiger gefegt, deren Zahl nicht immer gleich gemwefen zu fein ſcheint. Was die Drafelceremonten betrifft, jo wird nur berichtet, daß die felben ſich an eine Eleine, heilige Quelle Enüpften, die bei Didyma entjprang und daß die Weiffagungen in enthufiaftifcher Weiſe ertheilt wurden, nämlich jo, daß ein Weib, welches in der erwähnten Quelle die Säume ihres Ge wandes und ihre Füße benegte und die aus derjelben auffteigenden Dünfte in fi fog, ald Medium der Offenbarung gebraucht wurbe.

Ein Drafel in Lebadia hatte feinen Namen von einem gewiſſen Tro— phonios, der mit feinem Bruder Agamedes ein berühmter Baumeifter war und mit demfelben die Apollotempel zu Chryfa und Delphi erbaut haben fol. Auch bauten die Brüder einem gewiſſen Hyrieus in Böotien ein Gr bäude, worin derfelbe feine Schätze aufbewahren wollte Die verſchmitzten Brüder festen einen Stein in die Mauer fo ein, daß ‚er bequem heraus: genommen werden Eonnte, und benugten die Deffnung, welche ſpurlos wieder verfchloffen werden Fonnte, um bei Nacht einzufteigen und von den Schäßen des Hyrieus zu jtehlen. Letzterer ließ, da er die geheimnißvollen Diebereien

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merkte, Schlingen legen, in denen fih Agamedes fing, während Trophonios, nahdem er, um nicht verrathen zu werden, feinem Bruder den Kopf ab- gefhnitten und in feinem Mantel verborgen hatte, nach Lebadia floh, mo in einem Haine ihn die Erde verfhhlungen haben fol. Wahrſcheinlich aber hat er fich felbft eine unterirdifche Höhle zu feinem Verſteck gewählt, fpielte hier den Wahrfager und wurde nad feinem Tode unter den Namen Zeus Trophonios göttlich verehrt. Uebrigens Fam dieſes neue Drafel erſt durch einen Delphiſchen Drafelfpruh in Aufnahme Die Böotier Hatten fih in Folge einer großen Dürre an dad Delphifche Drakel um Rath gewandt, er- hielten aber von demfelben die MWeifung, den Trophonios in Xebadia aufzu- juhen. Lange wurde vergeblich gefucht, bi8 ein Bienenfhwarm den Meg und jene Höhle des Trophonios zeigte, wo ſich Spuren von Götternähe fanden und ihnen befriedigende Untwort wurde, zugleich mit der Anmweifung, wie künftig Trophonios zu verehrten und um Rath zu fragen fei. Später wurde hier ein Tempel gegründet. Das eigentliche Drafel befand fi in einem Haufe, in welchem eine merkwürdige Höhle war. Bor derfelben war ein Borhof, den ein Marmorgeländer umgab; aus vdemfelben trat man in eine gewölbte Felfengrotte, und von diefer führte eine enge Schludt in eine unter derfelben befindliche unterirdifhe Höhle, welche das dunkle, dumpfe Aryton genannt wurde, Sobald der Rathfragende in diefe enge Schludht fine Füße hineinzwängte, wurde er plößlicy mit reißender Gewalt wie von einem Wirbel erfaßt und in die dunkle Tiefe hinabgezogen. Auf diefelbe Beife beförderte die verborgene Mafchinerie denjelben wieder herauf und warf ihn im bemußtlofen Zuftande auf den Boden der oberen Feljengrotte nieder. Bolte Jemand den Gott um Rath fragen, jo Hatte er zuvor verfchiedene Geremonien durchzumachen: ein kaltes Bad in dem nahen Fluſſe Hercyan, Enthaltung von Wein und anderen Speifen außer dem Fleiſche der dar: gebrachten Dpferthiere, in der legten Naht Opfer eines Widders, deſſen Ein- geweide über die Annahme oder Zurücdweifung ded Fragenden entfchieden, dann ein legted Bad im Hercyan und ein Trank aus den Quellen Lethe ſd. 5. Bergeffenheit, nämlich alled VBergangenen) und Mnemofyne (d. h. Ge dächtniß, nämlich für das, was ſich in der Höhle ereignen würde). Erſt nach— dem alle diefe Stadien durchgemacht waren, durfte der Fragende und zwar ganz allein die Grottenfapelle des Gottes betreten, wo er fein Gebet ver: tichtete, um dann durch den engen Schlund in das unterirdiſche Adyton hinabzufahren. Hier hörte derfelbe, umgeben von dicker Finfternig und in bald bewußtlofem Zuftande liegend, geheimnigvolle Stimmen, oder ſah ge- Ipenftifche Erjcheinungen, aus deren Geberden oder Bewegungen die Antwort auf feine Frage zu entnehmen war. Sobald er nad) fürzerem oder längerem Aufenthalte wieder an das Tageslicht gekommen war, murde er von den

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Prieftern ded Trophonios auf einen Stuhl geführt und gefragt, mas er ge hört und gefehen habe. Seine Antworten, in einem Zuftande von Betäubung und Geiftedverwirrung gegeben und dictirt in dem Entfeten über das Gräf- liche der gehabten Erfeheinungen, galten ald Dffenbarungen des Gottes.

Die Orakelgrotte des Trophonios ift noch heute unmeit Lebadeia zu fehen und fcheint fpäter die Kripte einer chriftlichen Kirche geweſen zu fein, deren Ruinen noch jet vorhanden find.

Bei Pateä in Achaja war ein dem Apollo geweihter Hain und nit weit davon ein Tempel der Ceres, vor welchem eine Quelle entjprang, durd) welche die Göttin, befonderd mit Bezug auf Krankheiten, Enthüllungen gab. Man befragte diefed Orakel, indem man einen Spiegel an einem Faden in die Höhlung, aus der die Quelle entfprang, hinab ließ, jedoch fo, daß er nur eben die Oberfläche des Waſſers berührte, und dann, nachdem man der Göttin geopfert und zu ihr gebetet hatte, die Zeichen und verfchlungenen Linien und Figuren beobachtete und zu deuten fuchte, welche ſich in dem heraufgezogenen Spiegel zeigten.

Zu Dropuß in Böotien, wo ein Tempel ftand, der dem Mahrfager Amphiaraos geweiht war, war ein Orakel, das von diefem den Namen hatte. Wer die Enthüllungen des Gottes begehrte, hatte fich während drei Tagen des Meine und am lebten Tage auch aller Speifen zu enthalten, dann wurde ein Widder geopfert, in das Fell desfelben gehüllt legte der Fragende fih zum Schlafe nieder und erfuhr im Traume ded Gottes Auskunft. Sei— nen Tribut für diefelbe mußte er in Geftalt von einigen Münzen in eine nahe heilige Quelle werfen.

In der Nähe von Epidaurus, einer bedeutenden Stadt in Argolie, befand fih auf dem Gebirge Arachnäon der berühmte Tempel ded Aesculap, der Sahr aus Jahr ein von nah und fern Taufende von Kranken und Ge brechlichen herbeilocte, die hier Genefung oder doch Linderung ihrer Leiden zu finden hofften. In der Regel wurden denfelben zweckmäßige Arzneimittel bei häufiger Bewegung in der frifchen, gefunden Luft der Umgegend und ent: Iprechende Diät verfohrieben, in manchen Fällen aber, wo ihre Kunft und Wiſſenſchaft nicht ausreichte, gebrauchten die Priefter des Aesculap auch an- dere Mittel, um ihre Patienten zu beruhigen. Sie liegen diefelben fid in einem großen Saal verfammeln und ermahnten fie, nachdem die für den Tempel beftimmten Opfer auf einem Tiſche niedergelegt waren, ſich dem Schlaf hin- zugeben und aud) bei etwa entjtehendem Geräuſch fi ganz ftill zu verhalten, da Aesculap fich ihnen in Träumen offenbaren werde. Häufig vernahmen denn auch die Kranken, wenn der fie begleitende Priefter mit den Opfer gefchenken ſich entfernt hatte, Stimmen, welche fie für die Uesculaps hielten, der durch diefelben ihnen die Mittel der Heilung angab.

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Auch der ſchon oben erwähnte Orpheus fol in Lesbos aus einer Höhle Orakelſprüche ertheilt haben, welche fogar anfingen, den berühmten Drafeln Apollos Concurrenz zu machen.

Endlich notiren wir noch kurz, daß au in Klaros, einem Fleden in Jonien, ein berühmter Tempel des Apollo mit einem Drafel fich befand, au ein Drafel in Bura, einem Orte in Achaja, erwähnt wird, desgleichen ein andered in Thalamiä, einer Stadt in Lakonien. Leber diefelben fehlen aber die genaueren Mittheilungen und fo ſcheinen fie nicht die Bedeutung ges habt zu haben, deren ſich die anderen, ausführlicher befchriebenen, erfreuen durften, die doch auch dahinfinken mußten, überwunden von dem fortfchrei- tenden Geifte der Zeit, und nur in ihren Trümmern no an die Zeit ihrer Größe erinnern.

Charles Wolfe.

Skizze feines Lebens und Dichtens. Von Guſtav Haller. Schluß).

Bevor wir uns nun zu Wolfe's übrigen Dichtungen wenden, treten wir ver Perſon des Dichters ſelbſt etwas näher.

Charles Wolfe war der jüngſte Sohn einer angeſehenen iriſchen Familie, die zu ihren Vorfahren den bei Quebeck gebliebenen General James Wolfe zählte. Er wurde am 14. December 1791 zu Dublin geboren. Sein Vater ſtarb früh, und feine Familie zog nach England, wo fie einige Jahre vermeilte. Er befuchte, oft Eränfelnd, von 1801—1808 drei Schulanftalten in England und zeichnete fich ſchon dort durch poetifche® Talent und feines Gefühl für Muſik aus. Im Jahre 1809 bezog er die anglicanifche Univerfität in Dublin, und 1814 wurde ihm der Grad eine Baccalaureus ertheilt. Aus den nun mit Eifer betriebenen Arbeiten zur Bewerbung um eine Gollegiat- elle, die ihm eine geficherte Eriftenz bieten follte, rief ihn die Einladung zu einer befreundeten Familie auf Land. Hier waren ed nicht nur die Schön- heiten der Natur, die ihm die Rückkehr an den Arbeitstiſch erſchwerten: eine Tochter des Haufes hatte fein Herz gefeffelt, und er begegnete feiner Abnei— gung von ihrer Seite. MWiederholte Beſuche führten zum freundichaftlichen Verkehr mit allen Familiengliedern, da brachen die Eltern den Umgang ab. Allerdings fehlten dem Dichter die Mittel, fich einen Haudftand zu grün.

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den, und feine Ausſichten lagen im weiteſter Ferne. Weber die Mahl eines beitimmten Berufes bis dahin ſchwankend, midmete er fi nun dem geiftli- hen Stande. November 1817 *) fand feine Ordination ftatt. Ihr folgte bald die Uebertragung der Randpfarre zu Ballyelog (Tyrone) im wördlichen Irland. Schon wenige Monate fpäter erhielt er die Piarrftelle des nabe- gelegenen Kirchipield Donoughmore in der Didcefe Armagh; in dem Haupt: dorfe derfelben Gaftle» Caulfield nahm er feinen Wohnſitz. Mit freudigem Ernite feste er für die Amtäpflichten im feinem verwilderten und weitaus— gedehnten Pfarrfprengel all feine Kräfte ein. Seine Berfon Fam dabei nie mals in Betracht. In dem Kleinen Pfarrhaufe herrſchte die vollftändigite Bernahläffigung aller Bequemlichkeiten ded Lebende. Die Poefie war ab- getban und night minder jeder Gedanfe an eine Heirat. Im Jahre 1820 wurde der Norden Irlands vom Typhus heimgeſucht. Wolfe's unermüdlicher Eifer, den armen Kranken mit Teiblicher und geiftlicher Hilfe beizuftehen, untergrub ihm die eigene Gefundheit. Ein anfänglich vernachläffigte® Bruft: letden nöthigte ihn bald zu völliger Ruhe. Ortswechſel innerhalb Irlands und auch ein Aufenthalt in Bordeaur brachten nur vorübergehend einige Hoffnung auf Genefung. Ende November 1822 nahm er einen milderen MWinteraufenthalt an der Bat von Corf und ftarb dafelbft am 21. Februar 1823, im 32. Jahre feines Lebens.

Sein Bruftbild, „engraved by H. Meyer from a Drawing by J. J. Russell. (1826) ift den „Remains“ vorgebeftet. Danach mar er von großer fchlanfer Geftalt. Sein Kopf zeigt ein ſchönes, tiefed und Fluges Auge, eine lange, ipige, nur wenig gebogene Naje und einen nicht gerade jchönen, ziemlich großen Mund,

Als Geiftlicher verband er mit dem Eifer eined WUpofteld eine vorzügliche Begabung für Predigt und Seelforge. Die „Remains“ enthalten (Pag. 213— 447) fünfzehn „Sermons* von ihm, die ein ſchönes Zeugniß von feiner herz. warmen und beredten Predigtweiſe ablegen.

Sein Freund Ruſſell fehilvert ihn in den „Remains* als eine erregbare Feuernatur. Bei Ausbrüchen der Bewunderung, z. B. über ein Meifterftüd

*) In diefem Jahre fol nah Chambers („Cyclopaedia of English Literature‘) „The Burial of Sir John Moore‘ zuerft in jener irifchen Zeitfhrift gedrudt fein. In den „Remains" fehlt die Jahreszahl. Gedichtet ift es doch wohl unmittelbar oder bald nad Erſcheinen des Berichtes im „Edinburgh Annual Register,“ als die Erinnerung an Moore noch lebendig war. Daf Chambers ferner die betrügerifche Aneignung des Gedichtes von Seiten eine® fhottifchen Gelehrten in das Jahr 1841 verfegt und hinzufügt, Wolfe's Freunde bätten deffen Anrecht verfochten und rebabilitirt, erfheint noch rätbielhafter, da Ruſſel dies in den 1826 in zweiter Auflage erfhienenen „Remains“ als bereits abgethan beſpricht. Es ifl doch wohl nit anzunehmen, daß auch nach dem Erfcheinen der „Remains“ fich diefelbe Sacht zum zweiten Male ereignet bat.

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mie Thomas Campbell's „Hohenlinden“, ein dem „The Burial* verwandtes Gedicht, konnte er, oft zum höchlichen Ergögen feiner ruhigern Freunde, in die Iebhafteften Gefticulationen gerathen. Beim Xefen oder wenn etwas vor feine Seele trat, was feine Phantafie mächtig erregte, fprang er wohl von feinem Site auf, den Stuhl zur Seite ſchleudernd; dann fehritt er im Zim- mer auf- und nieder, feiner Erregung in wiederholten Ausbrüchen des Ge- fühl® und unter den lebhafteften Geberden freien Lauf laſſend. Nicht? brachte jolhe Ausbrüche heftiger hervor, ald Muſik. Er war ein feiner Mufikfenner und indbefondere ein großer Verehrer Händel’. Vorzüglich glücklich war er im Erfafjen des Geiftes und Charakters eines einfachen Liedes oder einer Volksmelodie. Diefer Umftand führt und auf die Entftehungsmeife einiger feiner [hönften Dichtungen.

Die Melodie eines fpanifchen Nationalliede® „Viva el Rey Fernando“ hatte ihn fo ergriffen, daß er fie fort und fort fang, bis ganz ungefucht bei ihm ein englifcher Tert entitand, der ſich der Weife bewundernswerth an- ſchließt. Das ift fein „Spanish Song“ (Remains p. 37), den Gisbert Frei- hberrBinde* und 2 ouifev. Ploennies“) ind Deutſche übertragen haben.

Eine andere Melodie, die ihn befonderd ergriff, war die trifche Volks— weife „Gramachree*“. Er meinte, e8 wären niemald® Worte gefchrieben, die feiner $dee von dem eigenthümlichen Pathos entfprächen, das die ganze Mufif durchzöge, allen bisherigen mangele die Individualität de Gefühls. Diefer von ihm tief empfundene Mangel eines charakteriftifchen Textes ließ ihm feinen ergreifenden Song: If I had thought thou could’st have died“ (Remains p. 42) fhreiben, den Karl Elye***) in einem getreuen Abdrude bietet. (Deutſch a. a. D. bei Binde ©. 267, beit Ploennied ©. 142.) Hier die Ueberſetzung von Binde:

Ich wein’ um dich, weil ich vergaß, Der Menſchen Loos fei dein:

Wie dacht’ ich, wenn ich bei dir ſaß, Du könnteſt fterblich fein!

Mir kam c8 niemals in den Sinn, Daß einft e8 anders wär’,

Wo du auf immer gingft dahin Und lächelteſt nicht mehr.

*) In: „Rofe und Diſtel. Poefieen aus England und Schottland, übertragen von Giebert Freiheren Binde. Zweite vermehrte Auflage. (Weimar 1865)", ©. 265. Dieſes ſchöne Buch enthält Wolfe's Gedichte faft fammtlich überfegt und zwar meift in wahren Meifterftüden der deutſchen Ueberſetzerkunſt; nur einige Jugendverſuche find unüberfegt geblieben.

») In: „Engliſche Lyriker des 19. Jahrh., in's Deutfche übertragen von Luiſe von Ploennied. (München 1863)" ©, 143. Hierin ſechs Gedichte Wolfe's in lesbarer Uebertragung.

») in: „Englifher Liederfhag aus britifhen und amerifanifhen Dichten. Mit einem biographifchen Berzeichniß der Berfafier von Karl Elze. Yünfte, verbefjerte und ver mebrte Auflage. (Halle 1859)", p. 314. Hierin vier Gedichte von Wolfe.

Örenzboten IV. 1874, 25

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Noch blick ich in dies Angeficht , Sein Lächeln zu erfpähn, Noch faß' ich den Gedanken nicht, . Daß ich es nie fol fehn. Dem füßen Worte laufch ich lang, Bergeffen haft du’8 nie: Es ſchweigt dein Mund, num fühl’ ich's bang, Ja, du bift todt, Marie!

Und bliebeft du mir alfo doch, Ganz friedlih und ganz bleich, Dein ftilles Antlig küßt' ic) noch, An Lächeln einft fo reich. Den falten Leib umfaß ich hier, So jcheinft du mir noch mein Jetzt ſchließt das Grab ſich über dir, Und jetzt bin ich allein!

Ich denke nicht, wo du auch ſei'ſt, Vergeſſen haft du mid);

Ruh findet wohl mein Herz zumeift, Gedenkt es auch an did).

Doch dich umfloß ein lichter Schein, Wie überirdiſch Glück:

Den konnte dir fein Traum verleihn, Den bringt fein Traum zurüd,

Die Freunde fragten Wolfe, ob dem Gedichte ein wirkliches Ereigniß zu Grunde Tiege. Er antwortete, er hätte die Melodie wieder und wieder ge: fungen, bis er in eine Thränenfluth ausgebrochen fet; in diefer Gemüths— ſtimmung hätte er das Gedicht gefchaffen.

Nah der unbekannt gebliebenen Melodie einer ihm befannten Dame dichtete er den (Remains p. 44):

Song.

Go, forget me why should sorrow O’er that brow a shadow fling?

Go, forget me and to-morrow Brightly smile and sweetly sing.

Smile though I shall not be near thee;

Sing though I shall never hear thee. May thy soul with pleasure shine, Lasting as the gloom of mine.

Go, forget me, ete.

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Like the Sun, thy presence glowing, Clothes the meanest things in light;

And when thou, like him art going, Loveliest objects fade in night.

All things look’d so bright about thee,

That they nothing seem without thee; By that pure and lucid mind Earthly things were too refined.

Like the Sun, etc.

Go, thou vision wildly gleaming, Sofily on my soul that fell;

Go, for me no longer beaming Hope and Beauty! fare ye well!

Go, and all that once delighted

Take, and leave me all benighted, Glory’s burning-generous swell, Fancy and the Poet’s shell.

Go, thou vision, etc.

Dieſes tief empfundene melodifche LKied ift von Binde (S. 281) und von Rouife von Ploennies (S. 147) überſetzt. Vincke's Webertragung iſt ein fo glänzendes Zeugniß für die Kunſt dieſes Ueberſetzers in der Wiedergabe von Wort, Sinn, Klang und Färbung des Driginald, daß ich mich nicht enthalten Eann, diefelbe zur Bergleichung mit dem engliſchen Terte hier einzufügen : Seh, vergig mich, daß niht Sorgen

Trüben deiner Freude Quell; Geh, vergiß mich nur, und morgen Lächle ſüß und finge hell;

Lächle, wenn ich auch nicht da bin, Singe, wenn ih auch nicht nah bin: Deine Seele ſtrahl' in Luft

Dunkel iſt's in meiner Bruſt.

Gleich der Sonn’ erjcheinft du , Kleideft Alles rings in lichte Pracht; Und fobald du gleich ihr fcheideft, Schwindet jeder Glanz in Nacht. Allen Tiehft du holden Schimmer , Der ift mit dir fort auf immer! Und dein Geiſt, fo rein und Far, Läuterte was irdiſch war,

Fort, du Zraumbild! Raſch verſinkſt du, Das ſich ftahl in Seel und Ginn.

Fort! Nicht länger glänzend mintft du: Hoffnung, Schönheit, fahret hin!

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Fort! Und lag mich nahtumfangen,

Nimm, woran mein Herz gehangen : Soldnen Ruhmes leuchtend Ziel, Sängerluft und Saitenfpiel!

Mit Recht ftehen die Dichter, die heut zu Tage Terte für vorhandene oder erft zu componirende Melodien meiſt im Auftrage der Gomponiften Ihreiben, nicht im befonderen Anſehen bei den Kritikern und Literaturfreunden, denn ihre Producte tragen faft indgefammt den Stempel der Mache, die im beiten Falle als eine geſchickte zu bezeichnen ift. Aber welch ein Unter. ſchied zwifchen jenen Fabricaten und diefen drei aus Wolfe's innerftem Herzensbedürfnig zu vorhandenen Melodien geichaffenen Liedperlen! Die Engländer find, wenn wir dad evangelifche Kirchenlied in Deutſchland aus: nehmen, in diefer Beziehung überhaupt glücklicher geweſen, als mir; id errinnere nur an Byron's „Hebrew melodies“ und an Thomas Moore'd „Irish melodies“.

Einen Gegenfaß zu diefen elegiſchen Klängen Wolfe's bildet ein anderes Lied vol ernfter Männlichkeit, da® er nad der Rückkehr vom Lande in die Mauern des Collegs zu Dublin dichtete; und mit diefem Liede treten wir an diejenigen Dichtungen Wolfe's heran, denen ein innere und zugleich äußered Selbfterlebniß zu Grunde liegt. Dies Lied ift der wohl irrige Meinungen der Freunde über ihn abwehrende Song: „Oh say not that my heart is cold“. (Remains p. 99. Elze p. 215, ®inde p. 280. Ploennies p. 140.) Hier die Ueberſetzung von Binde:

D nennt mein Herz nicht todt und falt, Das doc fe laut geſchwärmt hat; Sagt nit, daß Berg und Strom und Wald Es ſchon nicht mehr erwärmt hat; Daß mir erlofch im Banne hier Der tiefften Negung Funken Für liebe Freunde, die mit mir Gejauchzt begeiftrungstrunfen !

Sol glänzend Bild hab ich entzüct Noch oft heraufbeſchworen,

Und derer, die e8 mitbeglüdt, Gedenk ich traumverloren ;

Die lichte Flur, des Waldes Dom, Sie möcht ich mwiederfehen,

Vom Bergesrand den blauen Strom Und felig jubelnd ftehen.

Mid hält die Feffel ftarrer Pflicht Im Kerler hier gefangen,

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Ihr herbverdroßen Angeficht

Beftraft mein heiß Verlangen : „Was foll dem Sclaven die Natur?

„Sein Fröhnungstagwerk ftört fie: „Des Berges Luft, die weite Flur

„Den Freien nur gehört fie!"

Aus der Zeit feines Aufenthalte® auf dem Lande im Sreife der Familie,

an die ihn zarte Bande feffelten, find und in den „Remains“ nur drei Gedichte erhalten. Die Strophen „To a Friend“ (Remains p. 113. Winde p. 282)

find an den Hausherrn gerichtet; fie enthalten folgende Schilderung der Familienglieder (deutfch von Binde):

D habt ihr denn feinen Heerd geſchaut,

Und die er vereint zur Stunde fo traut, Dann hat eudy entzüdt

Der heitere Sinn, der den Heerd ihm ſchmückt.

Die Laune der leichten medenden Yuft Vom Herzen kommt fie hier unbewußt, Und fie gilt traum mehr, Als das Narrengefeufz*) in der Welt umber.

Und wie dort alle fo munter find,

ft jedes doch Erin's echtes Kind, Eine Geisblattranf'

An Erin’s Laube, wild und fchlant.

Die Wolle, wenn fie fi finfter ball,

Die bringt nicht Troſt für der Stürme Gewalt: Mit dem Regenbogen

Kommt milder Frieden ins Herz gezogen.

Diefe ſechszehn Strophen „To a Friend“, aus denen die mitgetheilten vier ein biographifches Intereſſe bieten, enthalten fchöne Stellen; betrachtet man fie aber ald Ganzes, fo muß man fich geftehen, daß der Dichter hier nicht jene durchfichtige Klarheit des Ausdrucks und die geiftreiche Berfnüpfung der Ueber gänge erreiht hat, die in Verbindung mit poetifhem Gehalt foldhen Ge- legenheitögedichten den Stempel des Genius aufdrüden. Daöfelbe gilt von dem phantaftifchen „A Birth-day Poem* (Remains p. 108. Binde ©. 284.) für die no im Stillen Geliebte, während der „Song“ (Remains p. I11.

*) Wohl eine Anfpielung auf den damals graffirenden Weltfchmerz, in den Wolfe und fein ländlicher Freundeskreis nicht verfallen war.

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Binde S. 288), der wegen der Charakteriftif der Geliebten auch biographiſch intereffant ift, den ſchönſten Xiebesgedichten voll von energiſchem Ausdrude des Gefühls beizugefellen ift, welche die englifche Lyrik aufzumeifen hat. Binde bat ihn trefflich überſetzt:

D mein Lieb hat ein Auge vom fanfteften Blau, Doch das war es nicht, was mich entzüdt hat: Ein glänzendes Tröpflein der Seele darin, Das iſt's, was den Sinn mir berüdt hat.

Wohl mocht ich die Wange, die lieblihe, ſchaun, Und vielleicht noch die Flamme beſchwor ich; Dod ein fhüchternes Roth trat zitternd hervor

Und mein Herz für immer verlor ich.

Wohl mocht ich vergeffen die Yippe fo roth Doch wie dem Gedanken entrinnen ?

Und ein fonniges Yächeln verklärte den Mund: Das bleibt mir im Herzen tiefinnen!

Denk nicht, daß die irdifche jchlanfe Geftalt Mich verfolgt und mir überall Stand hält;

's ift der duftige Geift, der fie ftrahlend belebt, Und die Anmuth, was mic, gebannt hält.

Ich mag nicht hören der Nachtigall Sang, Ob auch einft mich befeligt ihr Singen:

D die Seel’ und der Sinn in dem flüfternden Wort Läßt jede Muſik mir verflingen.

Und Tiebt ich dies Antlig im erjten Moment, Wer tadelte wohl mein Belenntnif ?

Doch bet ich fie an um ihr warm, warn Herz, Um des Herzens bezaubernd Berftändniß.

Außer den befprochenen Gedichten und einigen in einem „Appendix* (p. 449—473) gebotenen Aphorismen nebſt englifchen und lateinifhen Werfen der Schulzeit enthalten aus der poetiſchen Hinterlaffenfhaft Wolfe's die „Remains*“ noch von Binde trefflich überfeste fünf Gedichte und zwei kleine poetifchprofaifhe Stüde. Es find das eben Schöpfungen von mittlerem Merthe, und e8 genügt, hier zur VBervollitändigung der Charakteriftit Wolfe's ald Poet nur hervorzuheben, daß ſich unter den Gedichten noch zwei befinden, die Hiftorifche Stoffe mit jugendlihem Pathos behandeln und nicht ohne einzelne großartige Züge find, es ift das ein gefrönted Preisgedicht aus der Univerfitätszeit (1809) über das gegebene Thema: „Jugurtha incarceratus

u. —8 * * PN

yitam ingemit relictam* und ein erjter Entwurf eine® größeren Gedicht: „Battle of Busaco; Deliverance of Portugal“.

Und fo wäre ih denn am Beſchluß diefer fkizzenhaften Abhandlung über dad Reben und Dichten von Charled Wolfe! Gin einfaches, engbegrenzted Erdendafein, einmal dur&blist vom Hoffnungäftrahle der Xiebe und dann dad flarre Machtgebot der Pflicht, die Feſſel des wehmüthigſten Siechthums und ein früher Tod! Und innerhalb diefed Rahmens das Bild eines reich- begabten Poeten, der in einer kurzen Spanne Zeit in der pathetifchen Rhap— jodie und im elegifchen Tone des Liedes Bedeutendes leiftete und ungefuchte Unfterblichfeit erlangte dur) ein Gedicht: „The Burial of Sir John Moore“!

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Denjukows Werk über Innerafien.*)

Intereſſen. der mannigfaltigften Art haften an den meiten, noch wenig befannten Gebietäftredten, welche man unter der Benennung „Gentralafien zufammenfaßt. Der Hiftorifer meiß, daß hier meift der Tummelplatz zahl- teicher mächtiger Völferhorden geweſen, die verderbenbringend dad Herz Europas überflutheten; der Geograph kennt diefe Region als eine derjenigen, welche noh am mangelhafteſten dargeftellt ift, wo Flüffe, Gebirge und Städte nur in unficheren Umrifjen verzeichnet werden können; der Ethnolog erinnert ſich der turantfchen Völfergruppe und der damit verfnüpften ſchwankenden Begriffe, und der Politiker endlich erwartet hier vielleicht den Zufammenftoß zwiſchen der größten See- und der größten Landmacht der Erde. Uber dies ift es niht allein, was unmillfürlih unfere Blicke auf Gentralaften lenkt. In einem Zeitalter, wo Meer und Land vom Dampfe durhpflügt werden, ver- Ihwinden die Entfernungen, und nahe gerückt foheint, was einſtens unerreichbar weit war. Schon hat die Eröffnung ded Suez-Canals die Handeldmege nach Oſtafien gekürzt, früher oder fpäter wird die Euphratbahn eine Wirklichkeit geworden und Indien mit der europätfchen Eulturwelt durch Schtenenftränge verbunden fein. Bon Jahr zu Jahr fchreitet der Ausbau des gemaltigen ruffifhen Eiſenbahnnetzes vor, und ift einmal die in Angriff genommene inte von Sfarama nad) Drenburg vollendet, fo ftehen wir au ſchon am Beginne der Eirghififhen Steppe, durch welche in raſcher Frift ruffifche Heer-

*) Oberſt Wenjulow: Die ruffifch »afiatifchen Grenzlande. Aus dem Ruffifchen übertragen

von Krahmer, Hauptmann im fönigl. preuß. Großen Generalftabe. Mit zwei Karten. Leipzig, Berlag von Fr. Wilb. Grunom. 1874.

er i 184 *

ſtraßen und nad) den islamitiſchen Wunderſtädten Bohära und Samarkand führen werden. Dies ift in feiner Weiſe etwa da® Bild einer aufgeregten Phantafie, vielmehr geht diefe Heranziehung des entfernten Oſtens ſchon theil- weife unter unferen Augen vor ſich, und mad wir foeben angedeutet, wird vielleicht in zmei Decennien buchftäblih in Grfüllung gegangen fein. Es be greift fi daher, daß die MWiffenfchaft in den legten Jahren auf jene noch fo wenig durchforſchten Gebiete ihre Aufmerkſamkeit concentrirt hat, und fi bemüht, den Schleier zu lüften, der feit Marco Polo's Zeiten auf den- felben ruht.

Die Erforfhungen in Gentralafien gehen von den Ruſſen und den Eng- (ändern, den beiden Rivalen der aftatifchen Welt, gleichzeitig aus. Erftere drängen unabläffig und feit langen Jahren nad Süden und Often, und haben in der That in der jüngften Vergangenheit ihre Herrfchaft über jene Gegenden bedeutend ermeitert; die wiſſenſchaftliche Forſchung folgt dort, fo zu fagen, der militäriſchen Action auf dem Fuße, und der Geograph kann daher nicht umhin den Gang der Ereigniſſe felbft mit in Betracht zu ziehen. Gleichwie aber an die ruffiihen Fahnen die Wiflenfchaft ſich Heftet, und wir heute die eroberten Landſchaften im centralen Afien biöher von der Nacht der Jahrhunderte bedeckt genauer kennen als manche Theile der europäifchen Türkei, fo folgt auch unausmeihlic die Cultur dem Giegedzug des ſchwarzen Doppelaard. Rußland erfüllt, daran fann der Ethnograph nicht zweifeln, eine wahre Gulturmiffion, indem ed auf feine Weife den orientalifchen Völkern den europäifchen Ideenkreis vermittelt; mit einem Worte: für Afien ift Rußland die Cultur, die Civilifatton. Der unbetheiligte aber muß erfen- nen, daß die Ermeiterung der menfhlichen Kenntniffe, dieſes Aufſchließen neuer Kreife für das Eulturleben der civilifirten Bölkerfamtilien der befte Gewinn fei, den die Menfchheit feit den Zügen des Seſoſtris und ded mafe- donifhen Aleranderd aus derartigen Kriegdunternehmungen gezogen hat.

Wenn ein englifher Staatömann nicht mit Unrecht behauptete, Britan- nien fei weit mehr eine aftatifche, denn eine europäiſche Großmacht, fo kann man dadfelbe mit Fug und Recht von Rußland fagen, den Staatencolof den man den nordifchen zu nennen pflegt, deſſen Gebiet fi) aber bald nahezu über alle Zonen der Erde erftredt und an Ausdehnung der halben Mond- oberfläche gleihfommt. Seit wenigen Jahrhunderten hat ſich das ungeheuere Reich aufgebaut, und feitdem ift Fein Decennium verftrihen, in welchem es nicht unaufhaltfam, wenn oft auch unbeadhtet, an feiner Erweiterung mit Er— folg gearbeitet hätte. Unter Iwan IV., der von 1533—1584, alfo länger denn ein halbes Jahrhundert herrfchte, unterwarf es fich die tatarifchen Chanade de8 Südens, mit Ausnahme der Krimm; Kafan, das fchon früher (1487) den Czaren zeitweife unterthan ward, erobert ed 1552 nad) langem blutigem

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Kampfe, Aſtrachan im Norden fällt 1554, und 1556 werden die Bafchkiren unterworfen, gleichzeitig aber feter Fuß in der Kabarda am Kuban gefaßt. Die Kofaken Yermak und Timofejew endlich erfchliegen durch die Entdeckung Sibiriend in Iwan's letzten Regierungsjahren ihrem Vaterlande einen neuen Gontinent und legen den Grund zu Rußlands afiatifcher Macht; 1587 wird Tobolsk gegründet. Im achtzehnten Jahrhundert, 1727, gewinnt Rußland durh einen Vertrag mit Perfien die ſchon vier Jahre früher unter Peter dem Großen eroberten Provinzen Dagheftän, Schirwän, Ghilän und Mazenderän, das heißt die ganze Weſtküſte der Haspi- See, muß fie aber 1734 wieder zutückgeben; es find die beiden legteren die einzigen Landſchaften, welche dieſes Reih einmal bejefien, verloren und nicht wieder gewonnen; 1813 mußten die Perſer Dageftän und Schirmän wieder herausgeben, nachdem bereit® feit 1806 das wichtige Derbend in den Händen der Rufen war. Gin erneuerter Krieg mit Merfien endlich dehnte dad Gebiet des Wiefenftaates über den Araxes und bi8 an den Ararat aus und erwarb ihm im Frieden von Turfmantfchay 1828 die Provinz Arran. Und auch Heute noch hat Rußland fein Streben niht aufgegeben, und jeder Tag fieht es fortjchreiten mit Rieſenſchritten im Herzen der alten Welt. Rußland fteht nunmehr in Gentralafien.

Denkende Politiker können, feitdem der Weltverfehr nie geahnte Pro- portionen angenommen, feitdem der Dampf die gefalzene See durchpflügt, jeitdem Schienenftränge die Ferne nahegerükt, und die Diftanzen zufehend verſchwinden, nicht mehr überfehen, von welch unberechenbarer Tragweite die Machtentwickelung eined Staates fein muß, der nunmehr der uralten, nad Jahrtaufenden zählenden Eultur Chinas ebenfowohl die Hand reicht, wie des abendländifchen Europas moderner Givilifation. Wer die dem Wenjukow'ſchen Werke beigegebene „Karte der Reichsgrenze zwiſchen Rußland und China“ im Maßſtabe von 1:8,500,000 überſchaut, erfennt fofort den meiten Raum, auf dem das größte europälfche und größte aftatifche Reich fich berühren. Es richt über etwa 60 Grade oder den jechiten Theil des Umfangs unferer Erde!

Mie Rußland feit den Tagen des Koſaken Jermak, dieſes fibirijchen Gortey, allmählich zu feinem ungeheuren Befige gelangte, ſchildert Wenjukow in feinem einleitenden Kapitel, wo die allmählichen Grenzerweiterungen ver- folgt werden bis auf unfere Tage. Der berühmte ruffifhe Neifende und geographifch - militärifche Schriftfteller fchrieb aber gerade als die große Gr- pedition gegen Chiwa, das lebte der mwiderfpenftigen Chanate, im Gange war, und fo konnte auch die letzte Gebietdermeiterung Rußlands, das Vorſchieben feiner Grenzen bis an den Amu, nicht mehr berüdfichtigt werden. Sonft aber Liegt in dem Wenjufom’fhen Werke die vollftändigfte und zuverläffigfte Arbeit vor, die wir über Gentralafien

überhaupt befiten, fofern es fih um ein allgemein zufammenfaljendes Grenzboten IV, 1874. 24

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Werk handelt. Kein Staatsmann, der in der großen Politik fich bewegt, fein Militär, dem die wichtigen Verhältniffe Inneraſiens nahe gehen, Fein Geograph und Ethnograph, der das mühevolle Nachſuchen in hunderten von Spezialarbeiten (meiften® in ruffifcher Sprache erſchienen) ſich erfparen will, fann heute dad Wenjukow'ſche Buch entbehren. Es ift ein Eolofjaler Schat darin aufgefpeichert und der Verlagshandlung wie dem Weberfeger, Haupt: mann Krahmer, gebürt aufrichtiger Dank, dag fie dasſelbe in deutfcher Sprache einem großen Publikum zugängig gemacht haben. Mit diefem Ur- theile dürfte jeder Sachkenner übereinjtimmen, zumal die Ueberſetzung den Eindrud einer höchſt gewifjenhaften Arbeit macht. Weberfchaut man in den Riteraturnachmweijen, die jedem Kapitel angehängt find, die zahlreichen ruſſiſchen Schriften, die über Central und Nordaften erſchienen und die einen koloſſalen Schatz aufgeipeichert enthalten, dann überfommt und bei unferer Unkenntniß der ruffiichen Sprache ein gewiſſes Gefühl der Befhämung Wir fehen den Zeitraum immer näher beranrüden, in dem von und verlangt wird, daß mir das Ruſſiſche jo gut wie das Englifhe und Franzöſiſche verftehen müffen, die Sprache eined Volkes, das 80 Millionen Seelen zählt, eine Sprache, die von der Oſtgrenze unfered Reiches bis mieder zu jener der Vereinigten Staaten an der Beringsftraße herrſcht.

Mir geben, nahdem wir auf den allgemeinen Inhalt dieſes unentbehr- lichen Nachſchlagewerks hingewieſen, einen Weberblic feines Inhalte. Wenjukow geht von Dften nad) Welten an der 10,000 Werſt langen Grenze entlang und beginnt mit der Inſel Sfahalin im nördlichen Stillen Ozean, die erft neuerdings ganz in ruffifchen Befig übergegangen ift und durch ihren Kohlen: reihthum ſich außzeichnet. Wie bei jedem folgenden Kapitel erhalten mir eine hiſtoriſche Einleitung, es folgt die mathematifche Geographie und Hydrographie, die Topographie, eine Schilderung der Naturprodukte, die Ethnographie. Hierbei fei erwähnt, daß eine fehr große ethnographifche Karte ald eine befondere Bereicherung dem Werfe beigegeben ift, auf der die zahlreichen Völkerſchaften des afiatifchen Rußlands die Karte führt 21 Unterfheidungen auf verzeichnet find. Das 1871 von den Ruſſen er worbene Gebiet von Kuldja ift jedoch hierbei noch unberüdfichtigt geblieben. Ein militärifcher Ueberblick ſchließt das Kapitel ab.

Die folgenden Abjchnitte behandeln: die Küftenprovinz der Mandſchurei (da8 ſog. Primorskiſche Gebiet); das wichtige Amurland mit feinem Riefen- ftrom; die Mandſchurei; Transbaikalien; das Grenzgebiet ded Sfajan- und Altaigebirges ; der Dſungariſche (Tſchjungariſche) Abſchnitt, die geographiſch am ungenügendften bekannte Gegend; der Tianſchan oder das Himmeld- gebirge, welcher das ruffifche Reich von dem neuen Reiche des unternehmenden Emir von Kaſchgar trennt; das Grenzgebiet an den drei Chanaten Kofan,

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Bohara und Chima bis zum Wralfee; endlich das Turkmenengebiet in den Steppen am Oſtgeſtade des Fafpifchen Meeres.

MWenn wir hinzufügen, daß zahlreiche aſtronomiſche Ortäbeftimmungen in dem Werke mitgetheilt find, daß, fomohl vom militärifchen wie kaufmänniſchen Standpunkte aus die Verkehrsmittel und die Straßen beſonders berüdfichtigt wurden, daß die Naturprodukte in jedem einzelnen Abſchnitte eingehend er- örtert find, jo haben wir wohl genug gefagt, um dies unentbehrliche Werk dem Soldaten, Bolitifer und Geographen zu empfehlen. Doppelt willtommen und weit brauchbarer wäre e8 aber geworden, wenn demfelben da ed doch meientlich zum Nachſchlagen dient ein Regifter beigegeben geweſen märe. Wir vermiffen dasfelbe ſchmerzlich, umfomehr, da nicht einmal ein Inhalts— verzeichni vorhanden ift.

Herbſttage in Schwaben. 1. Bon Friedrih Kampert.

Flüchtige Skizzen flüchtiger Wandertag! Man mandert fo fchnell in unferer Zeit, felbft wenn dad AZufußgehen der Eifenbabnfahrt fi gefellt. Und zu Fuß muß man wandern im Schwabenland, wenn man wahren Ge- nuß von feiner einfachen, aber fo überaus lieblichen Schönheit haben will, und geht man dann ab und zu, wo's gerade nöthig Ift, zur Eifenbahn zurüd, jo kann man in Tagen, wie ich's dem freundlichen Leſer zeigen mill, viel, die ganze würtemberger Geographie fat, durchmachen.

63 war im September, in jenem Monat, wo zwar der Tag Fürzer, aber die Quft reiner und der Himmel blauer, ala im ſchwülen, ermattenden Hochſommer ift, wo es fih darum allenthalben am gefichertiten gegen Wetterftörungen und namentlich mit der meiften Garantie für unverfümmerte Bergauäfichten reifen läßt. Die ſchon dem Untergang fich zuneigende Sonne glänzte in den Fenftern des großen Jagdſaales des Weikersheimer Schloſſes. 68 ift dies Schloß ein Prachtſtück der Renaiffance,; der Epheu fchlingt fich am Portal Hinauf, draußen im Garten aber ftehen Heden und Bäume ä la Louis XIV. gefchnitten. Unweit des fürftlichden Parkes liegt der Bahnhof. Bon Mergentheim Her, der alten Deutfchordensftadt, aus dem Tauberthal herauf, fam der Zug. Er trat in ein Eleinered, von hohen Steilrändern um- faßtes, das Vorbachthal, ein. Es ging aufwärts. Die Locomotive mühte fih ab, Die Dunkelheit eines langen Tunnels bereitete auf die der einbrechen-

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den Nacht vor. Auf dem Bahnhof von Grailsheim brannten jhon die Lich ter. Die alterthümlih in die nächtlihen Schatten hineinragende Oberamte: ftadt mit ihren Thürmen und ihrer ſteilgedachten Johanniskirche ift eine pittoreöfe Bahnitaffage, aber für und diedmal nicht mehr ald das, wenn einmal die nun bald vollendete Nürnberger Bahn hier mündet, wird man ihr mehr gerecht werden.

Crailsheim ift Knotenpunkt; man muß Acht gaben, den rechten Zug zu finden. Wir waren in dem richtigen, auf der „obern Jartbahn“, alfo Ihon aus dem würtembergifchen Yranfen heraus, in dad mir, aus dem bayrifhen fommend, bei Weikersheim eingetreten waren. Es ift der Beobach— tung werth, wie viel Verfchiedenheit in Rand und Leuten, Sitte und Sprache, felbft der äußern Erſcheinung des Bodens, auf einem verhältnigmäßig fo kleinen Stüd Erde, wie dad von den ſchwarz-rothen Grenzpfählen umzäunte ift, fich offenbart. Ich brauchte nur etwas im Waggon mid umzufchauen und umher zu horchen: gleich der Dialekt fondert den würtemberger Franken vom Schwaben ab; die Rede des erfteren hört fich meicher, fließender, gegen die fchwerfällige, dem Sprecher nody dazu faft mühjelig zu entlodende des Schwaben. Auch feine gemwandteren, gefälligeren Umgangsformen machen fi jo gut kennbar, wie der Unterfchied der Kleidung. Der niedere breitfrämpige Hut, der ſchwarzgraue lange Tuchrock mit der dunklen Manchefterwefte und den langen Beinkleidern der Männer, wie die bufhärmligen Spenfer und Reif- und Bandhauben der Frauen find ganz andere Erfcheinungen, als wir fie bald da fehen werden, wo das deutjche Häubchen auf dem Haupte der Yrauen, die Pelzmütze auf dem der Männer fist.

Ueber den Wiefen und grünen Büfchen des Jartthaled wallten Nebel auf, aber Erlkönigs Töchter jpielen nicht an den profaifchen Eifenbahnen. Ellwangen, die Hauptftadt ded alten Viengrundes, Station Goldshöfe, wo die Rems— thalbahn mich aufnahm, „Aale“, wie jeder halbweg geſchulte Schaffner beim ſchwäbiſchen Schilda anftatt des fohriftgemäßen „Aalen“ ruft, all das war endlich vorüber: in Gmünd erreichten wir des erften Neifetages Ziel. Im Gafthof zum Rad „ſchwäbelte“ es ſchon ganz ordentlich an der Abendtafel um und her. Offiziere, die zu den Herbſtmanövern da waren, rubten fi bei der Flafhe aus. Guter rother „Heilbronner” funfelte in dieſer. Man fol in Gmünd beffer noch ald anderäwo im Schwabenland das Zehen und Subilieren verftehen. Gaudium mundi hat ed drum ehedem geheißen. Zuftinianus Kerner hat davon gejungen:

„Und wenn bald ringsum verhallen Bedherklingen, Tanz und Gang,

Wird zu Gmünd noch immer jchallen Selbft aus Trümmern luft'ger Klang. —“

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Uber noch hat’ mit den Trümmern gute Weile. Denn die gute Stadt fieht trog ihres alterthümlichen Weſens noch recht folid und Fräftig aus. Nur eine ihrer ſchönen alten Kirchen, die Johanniskirche, war etwas hinfällig geworden. Man reftaurirte daran. Nicht immer bringen Reftaurationen etwas Gejcheidted zu Wege. Man mengt zu gern dad Moderne in den alten Stil. Aber hier ſoll's beffer werden. Man hofft den, namentlih in der üppig reihen Ornamentik der Außenfeite merkwürdigen romanifhen Bau in möglichiter Unverfehrtheit zu reproduziren. Gmünd hat gewiſſermaßen ein Privilegium zu Kirchenbauten. War doch Heinrich Arler, der Schöpfer des Mailänder Domes, ein Gmündner Kind. Ob ihn wohl manchmal, wenn er vom marmornen Dad ſeines MWundermerked hinüber zu den fernen Alpen idaute, ein Heimweh faßte nach dem ſchönen ftillen Thal, in dem jeine Baterftadt fo fanft gebettet ruht? Hieß fie vielleiht audy) gaudium mundi, weil ihre Lage fo gar herzergögend ift? Sie gehört fhon dem Kernland Schwabens an, dem ſchwäbiſchen Hügelland mit feinen weichen und fanften GConturen, den üppigen Frucht-, Obſt- und Rebenpflanzungen an Berg und Thal. Diefem Boden entwuchfen, wie die alten Herzoge von Schwaben, die Staufen, fo au die gegenwärtigen Fürften von Würtemberg. Hier ift aber au die Wiege Keppler’d und Schiller's, hier dad Land, da auf mechfelvoller Oberfläche jede Individualität fi ausprägt, fei ed die deö Weines, des Dbited, der Rinder oder der Menfchen. Es war claffifche Erde, über der die Septemberfonne aufgegangen war. Der Schnellzug hielt in Lorch. Hart an der Eifenbahn zieht fi der Weg einen nicht Hohen Berg hinan. Die noh immer anfehnlihen Bauten eines alten Kloſters ftehen auf ihm: des Denediktinerflofter8 Lorch, der Hohenftaufengruft.

Ein Maufoleum des großen deutſchen Kaifergefchlechtes, wie es die Habsburger bei den Kapuzinern in Wien, die Oranier in Delft, die Könige Franfreih in Saint- Denis, die Hohenzollern im Münfter von Heildbronn haben, ift ed nicht. Keiner von den Hohenftaufen,, die die Kaiferkrone ge- tragen haben, fchläft in ihm. Wie fie ruhelod dur die Welt gezogen find, fie fi dienftbar zu. machen, und dann da und dort das müde Haupt nieder: gelegt haben, fo find fie au im Tode verftreut. Einfam, wie da® ganze hohe Geſchlecht dafteht, wie heute noch der Berg, der feine Stammburg trug, [odgetrennt von den übrigen Bergen der ſchwäbiſchen Alb, daliegt, find fie auh begraben. Nur Einer, Philipp, ruht bei den Genoffen gleichen Ranges im Katferdom zu Speier. Aber tft auch Feiner der alten bekannten großen Hohenftaufennamen auf den Gräbern in Lorch zu lefen, fo verdient doch die Heine Kirche den Namen, den wir ihr gegeben. Die Stifter des Klofters, Friedrich von Schwaben und feine Gemahlin Agnes waren die Erften, denen dad Trauergeleite vom nahen Hohenftaufen herüber hierher gegeben ward

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Und fiebzehnmal bat dann noch das Todtenglödlein des Lorcher Kloſters den Edlen ihres Haufes geläutet. Konrad’s I. Gattin und Söhne, Barbaroffa’s Mutter und Kinder, Beatrix, Otto's IV. Gemahlin, auf deren Sarg die In— ſchrift ſtand: „filia formosa, jam cinis, ante rosa“, find hier gebettet. Aber unter all den Namen, die da der Hüter der Todtengruft nennt, Elingt Einer am poetifchften aus der alten Zeit herüber:

„Nascituram Orientis,

laurus quondam atque palmac

cum cypressis salutarunt::

morituram occidentis

ilices et quercus almae

- commoerentes adumbrarunt.

nobilis Grajorum nata

eu, quo dura trahunt fata

sepulturae requiem!

nec solamine carebis,

jam cum angelis videbis

quem planxisti, conjugem ‚* hat Victor Scheffel Irenen von Byzanz zur Grabfchrift gefchrieben. Als fie von der Reiche ded ermordeten Gatten weg, von Bamberg nad dem Hohen- ftaufen geflohen, fand fie bier bet den Todten auch da® Ende ihres Liebes: wehs und Herzeleids. Beim Umgraben des Kloftergartend ſtieß man vor Jahren auf den goldnen Ring. den fie einft Philipp am Traualtar gegeben. Auf einen der alten romanifhen, das Kirchlein ftügenden Pfeiler fieht man Beider Bild. Der Roſenſtrauch, der neben Irenen blüht, deutet auf Walter's von der Vogelmeide Gruß an fie: „Ros’ äne dorn, ein tube Sunder gallen.“ Ahr Grab iſt nicht bezeichnet. Keins ift dad. in forglicher oder beffer für- wisiger Abt hat einmal alle Gräber öffnen laſſen und aller Afche in Einen großen Sarkophag, der mitten in der Kirche fteht, gefammelt. Da hat fih au der Staub der fchönen griechiſchen Katfertochter dem der deutfchen Fürften und WFürftenfinder gemiſcht. Aber alt, unverändert, wie ed vordem war, ift Alles: der Boden des Kirchleins, die Wölbung des Dachs, die Mfeller und die Bilder an ihnen. Durd die Yenfterbogen ſchlingt ſich alter Epheu; die hereindringenden Sonnenftrahlen fielen gerade auf Sjrenend Bild. Draußen aber vor dem Klofter fteht die alte Rinde, in deren Schatten ſchon alle die lebend gewandelt, die da drinnen ſchlafen. Bor Jahren, ala ich einmal vom Hohenrechberg hinüber nah Lorch Fam, war noch an dem alten mädhtigen Baum Fein Aeſtchen geknickt. Diesmal fand ich ihm gebrochen. Zu derſelben Zeit, als der Birnbaum auf dem MWalferfeld zu Grunde ging, fplitterte auch von der Hohenftaufenlinde ein Sturm ein beträchtlich Stück ab. Auch die Bäume der alten Kaiferzeit mahnten, daß die Zeit erfüllt, daß die Thatkraft

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eined neuen Reichs an die Stelle der Trauer um das alte getreten mar. Die Geifter Lorchs zeigten mir die Richtung meined Weiterwegs: vom Grab zur Wiege der Hohenftaufen, nad Wäfchenbeuren. Gerade in der Mitte zwiſchen Lorch und dem Hohenftaufen Tiegt das Dörfchen. Noch ftehen bie Grundmauern ded alten Wäfchenfhlößchene.. Bon ihm flieg ein Friedrich von Büren zur Höhe und baute fi auf dem Stwipfen, dem „Stufenberge*, in hohes Haus. Kein Stein fteht mehr von ihm. Schon der Bauernfrieg ihleuderte die Brandfadel in die Kaiſerburg. Martin Erufius fah 63 Jahre ipäter ihre Trümmer, die von ihrer Größe zeugten, und ftimmte die Klage an: „lieber Gott, fol eine fo große Herrlichkeit der mächtigften Fürften zu emem fo fcheuglichen Anblick gediehen fein? Alles ift verſchwunden, wie ein Rauch, Alles Hinmeggeflogen mie ein Vogel. Ein Bauernfhultheiß hat jetzt die Schlüffel zu dem Thor, er mäht dad Grad im Schloßhofe, der Hollunder- baum wächft da und dort in den Winkeln. In allen Theilen des Schlofjes ift fein Bildniß, feine Infchrift, Fein Wappen, feine Farbe mehr. Alles ift duch Feuer, Regen oder böfe Zeiten ausgetilgt. Was ein ſchöner Körper war, ift jest nur ein Beingerippe.“ Jetzt ift auch das Gerippe verſchwunden. Der Bauernſchultheiß hat fein Thor mehr zu verwahren, felbft fein Hollunder- baum wächft mehr im Schloßhofe. Denn Thor und Schloßhof felbit find nicht mehr vorhanden. So kahl und verlaffen Itegt Fein Berg im deutfchen Reh. Der Emporblid an feinem Gipfel Hat im Anfang etwas Finfteres und Wildes; der Anfteig ift fteil und mühfam, namentlich von der Seite auß, auf der ih Fam, und dazu in der heißen Mittagsftunde. Auch die ift eine Geifterftunde, fo gut wie die Mitternacht. Und ein Geifterreigen feltener Art ſchwebt um die einfame Höhe her; ein unfagbar großes Stück deutfcher Gefhichte baut fich der Erinnerung auf ihr auf. Weit reicht der äußere, noch weiter der innere Blick: weit über den blauen Bergrand der Alb, weit über das Iachende, blühende, bier zu Füßen gebreitete ſchwäbiſche Hügelland geht diefer Hinaus; bis zu den Yluthen des Saleph, die über einem greifen Kaijerhaupt zufammenfchlagen, bis zur Wltenburg, wo ein andere dem Mörderdolch verfällt, nach Palermod glänzendem Hof, auf Neapeld Markt und dad Blutgerüft, von dem des Testen Hohenftaufen blondes Haupt in den Sand rollt.

Machte es gerade die Mittagsftunde oder war die Reifezeit wirklich ſchon jo weit vorgefehritten, daß der Wanderer weniger waren: ich war allein auf dem einfamen Berg. Die Gegend Tag nit im vollen Sonnenſchein; die jerneren Berge, die Ted, der Hohenneuffen, die Ahalm und was man fonft von der Alb Hier fieht, erjchienen nicht Far und deutlich, mie man's fonft gewohnt, das Stück des alten hereyniſchen Waldes, da® man nordwärts gewahrt, ſchaute fogar ganz düfler herüber, aber das alles dünkte mir faft

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natürlich für die ernfte Hoheit, für die Melandholte de verlaffenen Kater: bergs. Ich ſchritt abwärts; auf demfelben Pfad vielleiht, den der Rothbart ging, wenn er von der Burg zum Dorfkirchlein niederftieg. Das ift das ein- zige noch übrige gleichzeitige Zeugniß der großen Vergangenheit. Cine Thür tft zugemauert. Es ift diefelbe, durch welche der alte Kaifer aus und einging. „Hie transibat Caesar“ lautet die Infchrift über ihm. Sonft iſt das Kirch— fein jeden Schmudes baar; allein jene Eine Inſchrift genügt; fie macht uns die alte Zeit faft greifbar Iebendig, die Zeit, deren Größe auch durch die der Gegenwart nicht gemindert oder getilgt werden Fann.

Bom Hohenftaufen geht man am beiten nad) Göppingen zur Eifenbabn. In des feligen Philipp Schartenmeyer vortrefflihem Heldengediht vom gro Ben Kriege gegen Frankreich ift das ſchwarz auf weiß ald wohlgemeinte An- merfung zu feinem Chrengedähtnig für den Vorgänger des neuen Kaifers, ven alten Rothbart, zu leſen. Aber der anerfennendwerthe Yingerzeig des wadern „Präceptors“ war damald noch nicht gedrudt, ich hatte es mir felber zu verdanfen, daß ich den rechten Weg nad Göppingen und Plochingen und endlich bi8 Abende nah Kirchheim fand. Näher ald vom Hohenftaufen und darum überfichtliher lag die Alb vor mir, eine lange gerade, nur von wenigen, faum über die Bergfläche fi) emporhebenden Gipfeln unterbrodhne Linie. Das erfcheint einförmig, ermüdend. Aber dem vermweilenden Auge theilt fich bald jene Linie in eine Menge aneinander gereihter fargförmiger Berge, mit welchen bie und da eine Kegelform, felten eine Halbkugel med: felt. Auch das dünkt und noch feine befondere Schönheit. Aber da wirft die fi neigende Sonne einen Strahl auf die Ferne und auf einmal erhei- tert und belebt fi) dad ganze Bild. Die dunkle Farbe des Gebirged wird durchſichtiger, der Sonnenfchein gießt eine leichte Röthe darüber, und in ihr tritt bißher ungeahnter Wechfel der Form hervor. Reiche, die Höhen meit hinauf befleidvende Buchenwälder ſchimmern entgegen, Vertiefungen mannig- faltiger Thäler eröffnen fich zmwifchen den mehr und mehr von dem ganzen Bergzug abgelöften Maſſen; mie funfelnde Punkte erfcheinen, wo die Vor hügel einen Blick durdlaffen, Dörfer und Städte, am Fuße der Berge hin und in fie hinein ziehen fih üppige Obftwälder ; die Höhen find mit weißen Kalkfeljen, die vom Grün der Wälder fich jetzt deutlich abheben, überfät, und auf den vereinzelnten Gipfeln zeigt das ſcheidende Tagesgeftirn vorher unbe- merkte Schlöffer und Ruinen.

Die Alb hat ihre Charakteriftif fo gut und fo prägnant, wie irgend ein Gebirgszug im deutjchen Land.

Sn früher Morgenftunde ftanden wir auf der Ted. Der Weg zu ihr hinauf war nicht leicht zu finden. Mähder fohnitten das thaufrifche Grad an den Berghalden, aber fie waren fchlechte Wegweiſer. Dazu täufcht der aus

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dem Walde vorftoßende, majjiv zufammengeballte Fels, den man leicht für die Grundmauer der Burgruinen hält. Aber an ihn Hinaufzuflimmen würde Rebendgefahr bringen. Nur ein enger Waldpfad führt auf die rechte Steige. Wir fanden ihn glüdlih. Der Eintritt in den alten Burgraum ift über- raſchend, denn es ift ein weiter, geräumiger Plab, den die verfallenen Mau— ern umftehen. Die diefe einft erbauten und bewohnten, die Herzoge von Tet, hatten vom 12. bis zum 14. Jahrhundert ein anfehnlich Gebiet; dann verfielen fie, und die Gefchichte Hat von ihnen nicht® weiter zu ver- melden, ald mad das Buch der Könige auch fchreibt: „und fie begruben fie in dad Grab ihrer Väter in der Stadt David.“ Die „Stadt David“ wäre aber in dem Fall das Stäbchen Omen, in deffen Kirche jene Herzöge ihrer Urftänd entgegenfhhlummern, und an das man von der einen Geite der Burg niederfieht; in das reizende Thal, das da ganz unter einem liegt, eine verlodende Perſpektive für meitere Wanderung. Auf der anderen Seite der Ruine bietet der Blick ind fernere Neidlinger Thal ein ganz anderes Bild: bizarre Kalkiteinformationen, bintereinandergefchobene Hügel, dadurch nur wie verftohlen zu Geficht kommende Thalöffnungen und in diefen wieder allerlei Burgen mit Ritterromantif und Sagenfpud. Und zwiſchen diefen beiden, zur Rechten und Linken der Ted geftellten Landſchafts— souliffen war nun ein gutes Stüf offenes Würtemberger Land vor und aud- gebreitet, aus dem das Fernrohr des Förſters, der zur Neifezeit auf der Ted ab und zugeht, bald dies, bald jenes, biß zum Maufoleum auf dem Rothenberg bei Stuttgart, heranzog. Es war ein Glück, daß wir diefen edlen Grünrod gerade auf feiner Filtale fanden, fat weniger um feines Fern», ald eined an- dern Glaſes willen, dad er mit der dazu gehörigen Weinflafhe in einem fühlen Kellerchen verborgen hält und auf Verlangen dem müden Wandrer fredenzt. Mit bloßer Gegend fommt man jchleht aus. Aber im guten Shwabenland braucht man nicht lang zu hungern oder zu dürften. Gibt's fogar in alten Burgtrümmern etwas anderes Trinkbares, als „ſchlecht Waſſer“, wie's im Katechismus heißt, fo fehlt's noch weniger auf anderen Wegen und Stegen an allerlei troftreihen Zeichen, die fait ohne Ausnahme zu guter Herberg weiſen. Sole ward und auch in der Poſt zu Omen. in forellen- reiches, lichtklares Flüßchen raufcht durch das Lenninger Thal. Seiner edlen Bewohner etliche ftanden wohlbereitet auf unferm Mittagstiſch. Dann gingen wir fein Ufer felbft entlang.

Grenzboten IV. 1874. 25

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Dom deuffhen Heid) und Reichstag.

Berlin, den 25. Oktober 1874.

Zum 29. Oktober ift der Neichätag einberufen. Die drei großen Gelee über die Bildung der Rechtöorgane und des Verfahrens derjelben, nämlid: das Geſetz über die Gerichtöverfafjung, die Civilprozeßordnung und die Straf prozefordnung, werden nach allgemeiner Mebereinftimmung mährend dieſer Seffion den Reichdtag nur in der Art bejchäftigen, daß letzterer eine Com— miffion zur Vorberathung diefer Gefege ernennt und mit der Befugniß aud- ftattet, ihre Thätigfeit über die Seffion hinaus zu erftredfen. Denn innerhalb einer Seffion und zumal einer kurz bemefjenen, wie die bevoritehende, Tann auch nicht einmal die Vorberathung fo umfaffender und dabei vielbeftrittene Fragen ordnender Gefee von einer Commiſſion erledigt werden. Damit die Commiſſion nah dem Schluß der Seffion fortarbeiten und ihr Ergebniß dem Reichstag in einer jpäteren Seffion vorlegen darf, wird ed indeß einer reichs— gefeslichen Vollmacht bedürfen. Denn bi8 jest wird auf Seiten ded Reichs— tags und der öffentlichen Meinung überwiegend an dem Grundfag der fogenannten Discontinuität der Seffionen, als einer nur ausnahmsweiſe zu verlaffenden Regel, feitgehalten, obgleich diefer Grundſatz in der Reichsverfaſſung nirgend ausgefprochen und nicht einmal eine Anfptelung darauf gemadht ift. Man behandelt denfelben jedoch als einen Beftandtheil, um mid) fo auszu— drüden, des gemeinen parlamentarifchen Nechted. Auf die richtige Hand— habung dieſes Grundfaßes in der deutjchen Neichdverfaffung wird ſich Gelegen- heit finden zurüdzufommen, wenn das Vollmachtsgeſetz berathen wird. Da leßtered eine zeitraubende Verhandlung kaum herbeiführen wird, jo bleiben dem Neichätag ala Hauptgefchäfte der diedmaligen Seffion der Reichshaushalt, in welchem zum erftenmal die fpecialifirten Militärausgaben fi finden, und das Bankgeſetz. Beide Gegenftände find ohne Zweifel bedeutungsvoll und wiederftreitenden Auffafjungen ausgeſetzt. Aber ed wird möglich fein, dieſe Arbeiten in der, durch den diesmal unüberfchreitbaren Markitein dee Weihnachts— fefte8 kurz bemefjenen Seffion zu beendigen. Daß die Thronrede unerwartet noch eine größere Geſetzvorlage ankündigen follte, ift nicht wahrſcheinlich.

Das deutſche Volk und feine großen regierenden Körperfchaften Eönnen diedmal, wie e8 fcheint, in einem ruhigeren Augenblid, als fett lange, an die Arbeiten der inneren Wortbildung geben und diefen ihre Aufmerkfamfeit widmen. Die Aufmerkſamkeit wird jedoh auf allen Seiten zum großen Theile durch eine andere Angelegenheit abforbirt, die allerdingd dem Weiche nicht fremd ift. Mir meinen die gegen einen ehemaligen Botjchafter des deutfchen Neiches ſchwebende gerichtliche Unterfuhung. Daß in Preußen ein

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Minifter oder ein den Minifterrang gleichitehender Staatsbeamter im Gefängniß gehalten worden, it, joviel wir willen, feit dem Sturz des Grafen Danfel- mann, ded Minifterö des legten Kurfüriten, der der erſte König wurde, nicht vorgefommen. Welch eine Senfationdnachricht für die politifche Welt, für ihre Eingeweihten und Laien, für die Spieler auf der StaatdBühne mie für die Galerie, als auf den telegraphifchen Drähten die Verhaftung des Grafen Harry Arnim am 4. Dftober Europa durdlief! Wenn in einer Zunft ein Meifter auftritt, der wieder einmal den Schlendrian zerreißt und die Träger dedfelben in dunfeln Schatten ftellt, fo wird er grimmig geneidet, das ift eine alte Erfahrung. Das unzünftige Publitum aber fpaltet fich in die zwei feindlichen Chöre, von denen der eine das Ungewöhnliche liebt und preift, weil e8 das Ungewöhnliche ift, der andere es anfeindet und anſchwärzt, um das Recht und die Macht des Gewöhnlichen geltend zu machen. Als die Senfationsnahriht Fam, da rief der Chor der Bemwunderer, deſſen Stimmen aber diegmal jehr zeritreut und Schwach erflangen: immer derjelbe gewaltige Mann, der bald in der Nähe, bald in der Ferne einen der Feinde zu Boden Ihlägt, die ihm unaufhörlich eritehen. Dagegen erhob fi wie ein ver- worrenes Gebraufe der Chor des Neided. Er kann feine Selbitändigfeit mehr ertragen, weder in der Fremde noch im eigenen Lande, Feine eigene Meinung und feinen unabhängigen Mann; dies muß der Anfang oder we— nigftend der Vorbote des Anfang? vom Ende fein! Dazu nun die offictöfen Anleitungen, die nicht au&bleiben Eonnten, um die erregte, in den abſonder— lichten Bermuthungen ſich ergebende öffentlihe Meinung zu orientiren. Diefe Anleitungen fuchten die Miene anzunehmen, als wäre der Neichäfanzler gar niht im Spiele; was in einem gewilfen Sinne übrigend ganz richtig fein wird. Daran aber, daß folhe Dinge im deutfchen Reich vorgehen Eönnen unter der lediglich contemplativen Affiitenz des Kanzler, davon würde man die öffentliche Meinung mwahrjcheinlicy nicht überzeugen, auch wenn eine folche Erſcheinung einmal zur Wahrheit werden folltee Man würde darin höchſtens auf andere Weife den Anfang vom Ende erbliden. Und weil man died nicht fann, wo man möchte, und für unmöglich hält, wo man ed nicht wünſcht, jo begegneten die offiziöfen Belehrungen den ftärkiten Zweifeln und überall wenigitend der Annahme, daß in ihmen der Kern der Sache verjchwiegen bliebe. |

Heute find e8 drei Wochen, daß der Graf von feinem Gute in das Ge- füngniß der berliner Stadtvoigtei abgeführt murde, das er feitdem mit dem Gewahrfam in der Charite vertaufcht hat. Suchen wir dasjenige zufammen- zufafien, was in diefer Zeit in hinlänglich glaubwürdiger Geftalt an die Deffentlichkeit gefommen ift, um dem Verftändniß des befremdlichen VBorfalles fichere Wege zu bahnen.

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Zunähft Hat Graf Arnim ſelbſt verfchiedene Mittheilungen aus dem Gefängniß an die Deffentlichfeit gelangen laffen, zwar nicht unter eigenem Namen, aber unverkennbar unter feiner beftimmenden Eingebung. Alddann hat das unterfuchende Gericht eine Erklärung erlaffen und das Halb amtliche Drgan, die Provinzialcorrefpondenz, hat verfchiedene Aeußerungen zur Sache gebracht. An dieje Erklärungen nebft den nichtamtlichen offiziöfen Mittheilungen werden wir uns halten müflen.

Beginnen wir mit einer nichtamtlich offiziöfen Mittheilung, welde in den letzten Tagen von einigen berliner Blättern gebraht wurde. Danach find auf dem Archiv der EFaiferlihen Botfchaft zu Paris eine Reihe von AUktenftüden vermißt und um diefelben ift an den bereit? zur Dispofition ge ftellten, damals in Carlsbad meilenden vormaligen Botjchafter zu Paris ge fchrieben worden. Graf Arnim hat einen Theil der vermißten Aftenftüde eingefendet,, einen anderen Theil für fein Privateigenthum erklärt und, wie aus früheren offiztöfen Mittheilungen zu ergänzen ift, weil ed von großer Bedeutung fcheint, über einen dritten Theil ausgefagt, daß er den Verbleib derfelben nicht Eenne. Das auswärtige Amt ded deutſchen Reiches, vertreten durch feinen Staatdfekretär, v. Bülow, beharrte auf der, Aushändigung der zugegebenermaßen im Beſitz des Grafen befindlichen Aftenftüde, morauf ber Graf in dem auswärtigen Amt nicht mehr feine vorgejegte Behörde zu er- fennen erklärte und die Entfeheidung über den ftreitigen Befig vielmehr dem Kaifer anheim geftellt fehen wollte. Dad auswärtige Amt machte dem Grafen bemerflih, daß zwifchen dem auswärtigen Amt und einem feiner untergebenen oder untergeben geweſenen Beamten nicht die Entfcheidung des Kaiſers durch die untergebene Stellung angerufen werden Fönne Darauf fol Graf Arnim gefchrieben haben, er werde den Streitfall felbjt den Ge richten unterbreiten. Man follte meinen, logifher Weiſe hätte er nur fagen dürfen, er werde erwarten, daß man gegen ihn die Gerichte anrufe, um ihn des unrechtmäßigen Beſitzes der Aktenſtücke zu überführen, die er aus der Botſchaft zu Paris an fich genommen. Dad auswärtige Amt mandte fi nun, fo folgen wir jener offiziöfen Mittheilung weiter, an feinen oberiten Chef, den Reichskanzler. Diefer ließ durch den Staatäfekretär an den Kaifer berichten. Der Kaifer, die Nothwendigfeit, wie es ſcheint, anerfennend, daß der amtliche oder private Charakter der Aktenſtücke feftgeitellt werde, auf welche dad auswärtige Amt fowohl ald der ehemalige Botjchafter zu Paris den Eigenthumsanſpruch erhoben, und ſich beziehend auf den Wunfch des Grafen Arnim auf einen gerichtlichen Ausspruch, entfchied, daß die Angelegen: heit den Gerichten zu übergeben fet, mit anderen Worten, daß das auf wärtige Amt feinen Anſpruch auf die vorenthaltenen Aktenſtücke bei den Gerichten anhängig zu machen habe.

TIER

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Dies ift feitdem gejchehen. Aber unmöglih kann das auswärtige Amt blos geklagt haben auf Herausgabe der vom Grafen Arnim zugegebenermaßen einbehaltenen Aktenſtücke. Auf diefe Klage allein hätte das Gericht nie die Verhaftung anordnen können. Die Verhaftung ift vielmehr angeordnet im Intereffe der Unterfuhung und in demfelben Intereſſe durh das Kammer: gericht in zweiter Inſtanz aufrecht erhalten worden gegenüber dem Geſuch des Grafen, aud der Haft entlafien zu werden. Es kann alfo nicht nur eine Unterfuhung ſchweben über den Charakter der ftreitigen Aktenſtücke, e8 muß gleichzeitig auch eine Unterfuchung ſchweben über uneingeftandene Handlungen des Grafen. Die Vermuthung ift unabweisbar, daß diefe Handlungen ſich beziehen auf den dem Grafen angeblich unbewußten Verbleib eines Theiles der in dem Botſchaftsarchiv zu Paris vermißten Aktenſtücke. Iſt diefe Ber: muthung über den weiteren Gegenitand der Unterfuchung begründet, fo recht— fertigt ſich allerding® die Inhaftnahme und die Fortdauer der Haft voll: fommen. Denn außer Haft wäre der Graf gewiß viel leichter im Stande, die Spuren ded Verſchwindens der vermißten Aftenftüde zu tilgen, wenn anders feine eigene Handlungdweife mit diefem Verſchwinden im Zuſammen— bang fteht.

Offiziös ift auägefprochen worden, die politifchen und perfönlichen Diffe: tenzen zwifchen dem Reichskanzler und dem ihm ehemald untergebenen Bot- Ihafter zu Paris hätten mit dem gegenwärtigen Gerichtäverfahren wider den Örafen Arnim gar nichts zu thun. Formel ift das ficherlich richtig. Es handelt fih um vermißte Aktenſtücke, welche der Graf heraugzugeben theild verweigert, theild in ihrem Verbleib nicht zu fennen behauptet. Der jtreitige Charakter der innebehaltenen Aftenftücte müßte feitgeitellt, dem unbefannten Verbleib der fehlenden Aftenftüde müßte nachgeforfcht werden, auch wenn «8 nie Differenzen zwifchen dem ehemaligen Botfchafter und feinem leitenden Vor: gefegten gegeben hätte. Aber wenn folhe Differenzen nicht geweſen wären, hätte der Graf dann wohl amtliche Aktenſtücke einbehalten, Könnte er wohl im Verdacht ftehen, dem unbekannten Verbleib vermißter Aktenſtücke nicht fremd zu fein? Nicht der formelle, wohl aber der fachliche Urfprung des Proceſſes mird doch wohl in den Differenzen zwiſchen dem ehemaligen Bot- Ihafter und feinem Chef zu fuchen fein.

Diefe Differenzen, worin beitanden fie? Der Botfchafter wollte eine andere Politik ald der Kanzler ſchon während feiner Thätigkeit als Gejandter bei dem päpftlihen Stuhl zur Zeit des vaticanifchen Coneils. Dies bezeugen die Vrivatbriefe, welche zu diefer Zeit Graf Arnim mit verfchtedenen Perſonen über den Gang des Concils gewechſelt und die fchmerlich ohne feine Mit- wirkung, mie er freilich den Anfchein zu wahren gefucht hat, in dem wiener

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Blatt „die Preſſe“ veröffentlicht worden find. Noch ftärfer hat der Graf die firchliche Politik des Kanzlerd in feinem an Döllinger gerichteten und für die Deffentlichkeit beftimmten, weil durd den Adreſſaten der Deffentlichfeit nicht vorenthaltbaren Schreiben gemißbillige. Weit mehr als in Rom hat der Graf in Paris eine andere Politit ala die des Kanzlerd zur Geltung zu bringen geſucht. Ein heftiger und unliebfamer Meinungstauſch hat in Folge defjen ftattgefunden, der Graf wurde nad Conſtantinopel verfegt und fpäter, nachdem der Brief an Döllinger erfchienen und durch öffentliche Erklärungen ded Grafen zu motiviren gefucht worden, zur Diepofition geftelt. Seitdem muß der Graf ald der offene, wie vorher als der heimliche Gegner des Kanzlers betrachtet werden. Um fich gegen die Befchuldigungen des Kanzlers vertheidigen zu können, behauptet er, eine Reihe Aftenftücde der parifer Botichaft bean- ſpruchen zu müſſen. Weil die ohne Spur ihres Verbleibs aus dem Botſchafts— archiv verſchwundenen Aftenftücde beftimmt fcheinen, gegen den Kanzler zu wirfen, darum laftet auf dem Grafen Arnim der Verdacht, ihrem Verſchwin— den nicht fremd zu fein.

Aus dem Publikum ift vielfältig die Frage laut geworden, warum der Graf ſich nicht mit den Abfchriften der Dokumente begnüge, fondern auf dem Befig der Originale beharre. Als Waffe aber find Originale wirkfamer, ala Abjchriften jemals fein können, möchte der Inhalt noch fo ſprechend erfcheinen und die Form felbit eine amtliche Beglaubigung erlangt haben. Abfchriften fönnen verleugnet, angezweifelt werden, einjlußreihe Betheiligte können dem Zweifel aufrichtig oder fcheinbar Wirkung einräumen. Originale können zwar au gefälfht werden, aber es giebt Mittel, die Fälfhungen feitzuftellen. Echte Originale erzwingen ſchließlich den Beweis. Für men dieſes Bemeid- mittel der Echtheit fo eifrig zu wahren gefucht wird, auf wen es zulegt hat wirfen follen, das läßt ſich bis jest nicht jagen. Der Reichskanzler jedenfalls ift nicht derjenige, der diefe Originale, der die Bekanntmachung ihres Inhalts fürchtet. Graf Arnim glaubte vielleiht, eine Waffe gegen den Kanzler zu befiten. Der Kanzler entreißt feinem Gegner diefe Waffe durch ein öffent liches Gericht. Läge die Wirkung der Waffe in der Veröffentlihung, jo wäre fie dur den Kanzler felbft in ihr Element gebracht. Aber er fcheut diefe MWirfung nicht und bekämpft den Gegner, indem er die Unrechtmäßigfeit ded Beſitzes der vermeintlichen Waffe and Licht zieht.

Hören wir nun auch den Grafen Arnim. Gr hat zmei von ihm infpi- rirte Aeußerungen der Deffentlichfeit zufommen laſſen. Die erjte davon be trifft feine Differenzen mit dem Kanzler, die zweite betrifft den formellen Charakter der wider ihn erhobenen Anklage. In der zweiten Yeußerung deducirt der Graf aus dem perfönlichen, d. 5. feine Perſon auf das ftärfite

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berührenden Charakter der von ihm einbehaltenen Schriftftüde fein Eigen» thumsrecht an den letzteren, obwohl er ihren dienftlichen und amtlichen Cha- rafter nicht beftritten zu haben angiebt. Das ift eine Logik, gegen die es nicht der Mühe lohnt zu kämpfen. Weiter fagt der Graf, er fei nun einmal verfähtedener Anfiht mit dem auswärtigen Amt über das Eigenthumsörecht an gewiflen Aktenſtücken. Dad ausmärtige Amt Fönne aber nicht Richter in eigener Sache fein. Die Unrufung der Gerichte fei alfo in der Ordnung, unverftändlich aber bleibe die ftrafrechtliche Unterfuhung. Der Graf verfchmeigt aber oder hat vergeffen, daß er auch um den Verbleib von Aftenftüden befragt worden, den er nicht zu Fennen behauptet. Meinte er, mit diefer Behauptung fi die Sache abgethan? Was aber die zugeftandenermaßen einbehaltenen Aktenſtücke betrifft, jo hätte ein correcter Staatödiener diefelben außliefern und dann fein Recht bei den Gerichten verfolgen müffen. Aktenſtücke aber, deren amtlichen Charakter der Graf felbjt nicht mehr beftreitet, an einem unbefannten, ungenannten Ort zu verbergen, beißt, fih zum Richter in eigener Sache machen, heißt die ftrafgerichtlihe Unterſuchung hberbeiziehen. Wie kann der Graf behaupten, er habe jene Aftenftüde nicht bei Seite ge- haft, er, der ihren Verbleib verborgen hält, obmohl er ihre Anfihnahme eingefteht.

Die andere Kundgebung, melde Graf Arnim in die Deffentlichkeit ge- bracht, iſt meit befremdlicher ald die eben erwähnte In einem Bericht, welchen er der Boffifchen Zeitung hat zugehen laſſen, erzählt Graf Arnim die Geſchichte feiner Miphelligkeiten mit dem Fürſten Bidmard. Er fett den Ur, fprung derfelben in den Herbſt 1872, und behauptet, bi8 dahin mit dem Reichskanzler im beften Einvernehmen geweſen zu fein. Das ift aber fehr fonderbar, da der Graf dur die ſchon erwähnten Mittheilungen an die wiener „Preſſe“ die Welt belehrt hat, mie zur Zeit des vatifanifchen Coneils feine Anfiht über das Verhalten der deutſchen Politik gegenüber dem bevor- ftehbenden Unfehlbarkeitsdogma von derjenigen des Fürſten abwich. Noch fonderbarer ift e8, daß Graf Arnim fi die Initiative der nachherigen anti« römischen Politik beimißt, die er doch in feinem Schreiben an Döllinger fo jehr beflagt hat. Alsdann behauptet der Graf, daß er niemals eine legiti— miftifhe oder orleaniftifche Reftauration während feiner Thätigkeit in Parts begünftigt habe. Gleich darauf aber erzählt er, daß er in feinen Berichten unaufbörlich die Gefahren der Befeftigung der Republik mit ſchwarzen Yar- ben gemalt und Sorge getragen hat, feine Bedenken über den Kanzler hin» weg an die höchſte Stelle zu bringen. Kann man fich da noch wundern, dab der Kanzler den Grafen ala Furzfichtigen und ſchwachmüthigen Politiker, aber auch als intriguanten Gegner behandelte? Das Stärkfte indeß, mas der Graf in diefer Selbftapologie an ungeſchicktem und verbächtigem Gifer

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feiftet, ift da Folgende. Weil einige Dilettanten der Politif und der Finanz— wiffenfhaft die Meinung in Umlauf gebracht haben, die fchnelle Abzahlung der Miltarden durch Frankreich habe eigentlich Deutfhland Schaden gebracht, fo beeilt fih die Phantafie des Grafen, dem Publikum zu berichten, der Träger diefer Phantafie fei von jeher für eine langfame Abzahlung der Milli- arden geweſen. Diefelbe Gejchmeidigkeit läßt den Grafen ſich einbilden in MWirflichfeit wäre er troß feined fanguinifchen Urtheild eines folden Vor— ſchlags nicht fähig geweſen er habe vorgefchlagen, Deutſchland folle fi das Recht referviren, ohne Kriegderflärung Franfreih bis zum Meere zu befegen, wenn die franzöfifche Regierung fi) mit den Zahlungen fäumig zeigen ſollte. Es ift fchade, daß der Graf diefen Vorſchlag erft in feiner nachträglichen Einbildung gemacht Hat. Hätte er ihn amtlich dem Kanzler unterbreitet, fo hätte diefer einen Grund gehabt, ſchon damald die Stellung des Grafen zur Diöpofition wegen augenfälliger Unfähigkeit zu verlangen. Den 24. Mai 1873, den Sturz der Präfidentfchaft Thiers, übergeht der Graf in feinem Bericht mit völligem Stillſchweigen, und doch liegt in diefem Greignig die Hauptankflage gegen den Grafen, daß er die Politik des vorgeſetzten Staatsmanns durchkreuzt hat.

Wenn nachgerade im Ausland wie im Inland die Meinung immer mehr Boden gewinnt, der Graf habe geglaubt, die Politik beſſer zu verſtehen als ſein Chef, und habe die Anknüpfungen geſucht, um durch Verbreitung dieſer Meinung den Fürſten Bismarck zu verdrängen, ſo liefern den nicht— eingeweihten Kreiſen die vom Grafen ſelbſt inſpirirten Aeußerungen unzweifel— haft Anlaß zur Beſtärkung dieſer Anſicht.

Laſſen wir aber die außerhalb der Oeffentlichkeit liegenden Vorgänge aus dem Spiel. Was konnte wohl Fürſt Bismarck thun, wenn ein Bot— ſchafter, der wegen Unzufriedenheit des Chefs zur Dispoſition geſtellt worden, wichtige Aktenſtücke an ſich nimmt und auf die Aufforderung zur Heraus— gabe kurzweg erwiedert: Ihr habt mir nichts mehr zu ſagen!

In dieſem Fall, ſo ſcheint uns, bleibt dem leitenden Staatsmann nur Eins von beiden übrig. Entweder er muß dem Kaiſer ſagen: Dieſer Bot- ſchafter a. D. ift fo mädtig, daß er ungeftraft einen Aft der äußerſten In— fubordination begehen kann; ich Fann nicht mehr der erfte Beamte fein, meil da® arbeitende Perfonal mir nad Belieben den Gehorfam auffündigt! Wenn der Fürft nicht in der Lage war, fo zu fprechen, fo Fonnte er nur die Genehmigung des Kaiferd zum Anrufen der Gerichte gegen einen rebellifchen, vielletcht bis zur Gefährdung der Staatsinterefjen rebelliihen Staatsdiener verlangen. C—r.

Berlan von $. 2. Herbig in Leipzig. Drud von Güthel & Kegler in Leipzig.

⁊* -

= XXXIT. Jahrgang. IL Semefter,

Die

renzboten.

——

Zeitſchrift

für Solitik, Literatur und Kunſt.

Ne 45. Ausgegeben am 6. Nobember 1874.

Inhalt: 2 Seite Proben gleichzeitiger Volkslieder über die Schlachten bei Hemming⸗ edt (1404 u. 1500). In neuhochdeutſcher Uebertragung mitgetbeilt von H. Shmolte. . . 22 2 2 2 20. 201 Herbfitage in Schwaben. 2. Gohenneuffen. Urach. Eningen. Die Achalm. Lichtenftein. Reutlingen. Der Hohenzollern. Die Schwarzwaldbäder. Hirfau.) Bon Friedrih Lampert 215 . uuulete GuR 2 Akte 5 2 5 Eee 229 Bom deutihen Reiihetag Cr. . 2 2 2 2 20. a

Grenzbotenumfälag: Literarifche Anzeigen. Hierzu eine literarijche Beilage von Friedr. Brandftetter in Leipzig.

5

Leipzig, 1874.

Friedrich Ludwig Herbig. F AN (Ir. Wild. Grunow.) EIZIN

m: N > SR Ar

* "Hei allen Buchhandlungen und Poſtämtern des In⸗ und Auslandes.

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In Ferd. Dümmler’s Verlagsbuchhandlung

(Sarrwig und Gofmann) in Berlin erfheint:

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Literatur des Auslandes,

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Joſeph Lehmann. Dreiundvierzigfier Jahrgang. Wöchentlich 1%, bis 2 Bogen Quatt; Preis viertel- jährlih 1 Ihlr. 10 Sgr.

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Dentfhland und das Ausland. Heinrich von Sybel's Gefchichte der Revolutiongzeit. Die Natur und Entitebung der Träume. Zwei Bes febrte, von Heinrih Dünger. Grundzüge der Pſychologie. Wieland und Georg Joachim Göſchen. Ein neuer Band von Honegger’d allgemeiner Kulturgefchichte der neueften Zeit. Elfrida von Monte-Salerno. Deutfche Volks— wirtbichaftälehre in Italien. Herman Grimm's Fünfzehn Eſſaye, ein Buch von weltweiter Be— deutung. Jüdische Familienpapiere. England. Our Library Table. Bon H. €. Goldfhmidt. Mar Müller als Mifftoneprediger. Sir Gil: bert Elliot. Noch einmal der englifche Sen- fationsroman. Henry Beyla (de Stendabl). Sranfreih. Guizot. George Sand über Leichenverbrennung. Die Ecole alsacienne in Paris. Oeſterreich-Ungaru. Rüdblide und Erinnerungen von Hand Kudlid. Maurus Jokai ald Humorifl. Schweiz. Die Frage einer eidgenöffifchen Univerfität. Schweizer Briefe. (Kirchliche). Studien zur Geſchichte der römifchen Kaiferzeit. Belgien. Alerander Sendebien, einer der Mitbegründer der belgijchen Monardie. Nah Theodor Juſte. Urtbetle des Auslandes über die Altkatholifen. Standina- bien. Nachlefe zu den dänifchen Lyrikern. Feſt— Kantate von Richardt, überjeht von Dr. Hugo Gädcke. Italien. Francis Weys Befchreibung von Raum. Literarifche Briefe aus Mailand. Von Ludwig Geiger. I. Mailänder Zeitungen. II. Neue Schriften: Flugſchriften, Lieferungswerke und Bücher. Barum die italiänifche Literatur in Italien nicht populär ift. Kritifche Briefe von Ruggtero. Bonghi. I. IL. Manzoei'd Jugend. Griechenland. Eine Ode von Valaoritis. Drient. Fragments relatifs à la doctrine des Ismaclis Das indifhe Erbrecht. Nord: Amerifa. Nord-Amerikaniſche Analekten. I. II.

r 12

P a 2

Die soeben erschienene No. 44 der

Jenaer Literaturzeitung

im Auftrage der Universität Jena herau

gegeben von Anton Klette,

Jena, Mauke’s Verlag (Hermann Duf

enthält Besprechungen von:

M. Funk, J. A. L. Funk: von R. Sti F. Oehme, Göttinger Erinnerungen: w G. Frank. F. v. Sybel, das Recht des S% tes bei Bischofswahlen: von O. Mei: F. v. Sybel, das altkatholische Bisthum: % O. Mejer. C. J. Eberth, Untersuchung aus dem pathologischen Institut zu Zürich: v

K. Bardeleben. R. Wolff, der de Getreides: von O. Brefeld. J yeric des Vereins für Erdkunde zu esden:. v

Alfred Kirchhoff. Zwölf Briefe eines st! tischen Ketzers: von J. Walter. L. Noi die Entwicklung der Kunst in der Stufenfo) der einzelnen Künste: von J. Walt J. J. Baumann, sechs Vorträge aus dem & biet der praktischen Philosopbie: von J. Walt F. Helbig, die Sage vom ewigen Juden, il poetische Wandlung und Fortbildung: v

«A. Schottmüller. H. v. Sybel, die deutse)

Universitäten, ihre Leistungen und Bedürfui= von B. Delbrück. R. Volkmann, Geschic und Kritik der Wolf'schen Prolegomena Homer: von Moritz Schmidt. H. Fisch die Forsehungen über das Nibelungenlied ; Karl Lachmann: von H. Paul,

‚Das November-Heft der „„Deutid Blätter‘, begründet von Dr. G. Fülln herausgegeben von Dr. E. F. Wynek Verlag von Friedr. Andr. Perthes in Gotl bringt folgende Auffäge:

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tiefen Denker. .

Proben gleichzeitiger Volkslieder über die Schlachten bei | Hemmingſtedt (1404 u. 1500). In neuhochdeutſcher Uebertragung mitgetheilt von 9. Schmolfe.

Ditmarfchen ift ein fchmaler Landftreifen an der Weſtküſte Holfteind, der fih, etma 7 Meilen lang und 4 Meilen breit, von der Elbmündung bis „ur Eider Hinzieht und größtentheild aus, vom Meere angeſchwemmtem und mit Sand vermifchtem, feinem Thonſchlamm, fogenanntem Schlick befteht. In un» vordenkflichen Zeiten, ald die Nordfee no ein nur nad Norden geöffneter Meeresbufen war, jhüsten hohe natürliche Dünen das tiefer gelegene Hinter- land, von denen wir Ueberreſte in den zahlreihen Inſeln und Eilanden er» kennen, die von der Rheinmündung bis zur cimbrifchen Halbinfel Hin die Küfte umfäumen. Als aber dem unermüdlichen Anprall der atlantifchen Hochfluth der Iſthmus zwifchen Dover und Calais plögli wich, und die Mafjermaffen unaufbaltfam gegen die dftlihen und füdlichen Geftade fich beranmwälzten, da zerbrachen die aus leichtem Sand gefügten Hügelfetten und öffneten der Fluth einen Weg ind Land, das nun regelmäßigen, aber be fruchtenden Ueberſchwemmungen audgefegt war. Frühzeitig vereinigten ſich Hier die Kräfte der Menfchen zu gemeinfamer Arbeit, um den fetten Küften- faum dur Fünftliche Deiche zu hüten und geregeltem Anbau zugänglich zu machen. Sie zogen hohe Dämme, die ald Verkehrswege dienten, und durch— fchnitten dad Land mit zahlreichen Entmäfjerungdgräben, die es für einen Fremden fat unzugänglich machten, während fie von den Eingeborenen mit ihren Springftangen leicht überfchritten wurden. So war das Ländchen ein Geſchenk des Meeres, aber ein abgedrungened, das die peinlichfte Sorgfalt und oft die höchſte Kraftanftrengung erforderte, um es vor der nimmerfatten Gier des tückiſchen Elemented zu jehüsen, aber die verwandte Mühe auch mit überreihem Ertrage belohnte.

Die Ditmarfen, mit den alten Sachfen, am nächſten aber mit den Friefen verwandt, waren ein troßige® und kühnes Gefchleht, ähnlich jenen Schweizer Bauern, die zwifchen ihren Bergriefen ſaßen, mie jene zwiſchen Deichen und Gräben. Mit den Schweizern haben fie auch die größte Aehn-

Grenzboten IV. 1874. 26

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fichfeit in ihren politifhen Schidfalen. Die Hauptmomente ihres Freiheits— fampfed fallen in die Zeit nad) der Schlacht bei Sempach und nad den Burgunderfriegen. Dazu ift es derfelbe Conflict politifcher Principien, der auf beiden Kriegsfhauplägen im Norden und im Süden ded Reichs aus- gefochten wird: der Konfliet zwifchen den letzten Reſten nationaler Yreiheit und dem aufjtrebenden fürftlihen Abfolutismus. Aber der Kampf der Dit- marfen war härter, ihre Stellung tfolirter, die Macht ihrer Gegner furdt- barer durch politifche Combinationen, jo daß fie, von Kaifer und Reich preis: gegeben wie die Schweizer, nur allzu früh ihrem Schickſal erlagen.

Seit alten Zeiten gehörte das Land zum Erzftift von Bremen, deſſen Dberhoheit aber nur formell anerfannt wurde. Nachdem zu Ende des 12. Jahrhunderts der Adel vertrieben worden war, bildete ed eine freie Bauernrepublif, die fi nach einem eigenen Nechtdcoder, dem ditmarſiſchen Randbuhe (zufammengeftellt 1348, gedrudt 1497), von felbft gewählten Be amten regieren ließ. Es zerfiel in 4 Vogteien oder Dofften, jede Dofft in Kirchſpiele, jedes Kirchfpiel in Dorfſchaften. Die Vögte, Kirchipielbeamten und Dorfälteften verwalteten alle gemeinfamen Angelegenheiten, über ihnen fanden als Controllbehörde die Achtundvterziger, eine Art Senat, zu dem jede Dofft 12 Mitglieder ftellte, zu den großen Landesverſammlungen aber traten außer den Achtundvierzigern und den Vögten noch Abgeordnete aus allen Dorfichaften zufammen. Das Leben des Ditmarfen verftrih unter harter Ürbeit und ftetigem Kampf mit den Elementen der Natur. Tägliche Waffen übungen durften nicht fehlen. Mit 14 Jahren trat er zu feiner Ertegerifchen Ausbildung in die junge Landwehr. Mit 17 Jahren und 1'/, Monaten ward er mündig und in den Berfammlungen der Dorfgenofjen ftimmberechtigt. Der Neihthum diefer ftolzen Bauern war ſprichwörtlich und reizte die nächften Nachbarn zu häufigen Raubzügen.

Im Jahre 1402 machte Herzog Erih von Sachſen einen Einfall im Ditmarfchen. Die Ditmarfen befhuldigten den Grafen Albrecht von Holſtein, einen Sohn Heinrich® ded Eifernen, ihm Vorſchub geleiftet zu haben, und forderten Genugthuung. Da erklärte ihnen Albreht mit feinem Bruder Gerhart, der Herzog von Schleswig war, den Krieg und begann ihn mit plündernden Einfällen. Um einen Stüspunft für ihre Unternehmungen zu haben, erbauten die Holfteiner 1403 vor Meldorg, dem Hauptorte von Sübder: ditmarfchen, einen feiten Thurm, die Marienburg. Wiederholt verfuchten die Bauern, das verhaßte Bollwerk zu zerftören, aber immer vergeblih. In— zwifchen ftarb Graf Albrecht auf einem Streifzuge und hinterließ fein Land feinem Bruder, der die Feindfeligfeiten unabläffig fortſetzte. Da rief Rolf Bodenjohn, einer der Angefehenften im Lande, wie das Volkslied erzählt, die Ditmarfen zufammen:

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„Tretet herzu, ihr ftolzen Ditmarſchen! Unfern Kummer, den wollen wir rächen. Was Hände gebauet haben, Das fünnen aud Hände zerbrechen!“ Da die überlaut: er „Wir wollen drum wagen Gut und Blut „Das item wir nun nimmermehre! Und wollen alle drum ſterben, Wir wollen drum wagen Hals und Gut Eh' daß der Holſten Uebermuth Und wollen das Schloß umkehren!“ So ſollte unſer Land verderben!“

Sie machten einen neuen Verſuch, die Zwingburg zu nehmen, wurden aber mit Verluſt zurückgeſchlagen; Rolf Bockenſohn fiel mit vielen anderen.

Deſto beſſer gelang es ihnen im folgenden Jahre. Herzog Gerhart unternahm im Sommer 1404 mit einem auserleſenen Heere von Rittern, Herren und Knechten einen Einfall von Süden her. Die Holſteiner hauſten aufs gräulichſte in den Dörfern, aus denen die Bevölkerung geflohen war, und trieben namentlich alles Vieh fort, worin der Hauptreichthum des Landes beſtand. Es gab damals nur zwei Wege, um ins Land zu gelangen: der eine von Norden her auf Heide, den Hauptort des nördlichen Diſtrietes, der andere von Süden über Meldorp auf Hemmingſtedt, beide durch ſogenannte Hammen, dichte, jumpfige, von Gräben durchfehnittene Holzungen führend. Auf dem Rüdzuge durch die Süderhamme ward das mit Beute beladene Heer am 5. Auguft von den rakhedürftenden Ditmarfen überfallen und zum Theil niedergemacht, zum Theil in den Sumpf gejagt. Herzog Gerhart fiel und mit ihm die Blüthe des fchledwig-holfteinfchen Adels, darunter Heinrich von Siggem, ded Herzogs Marfchall, mit zwei Söhnen. Er hatte fih, ala er die Schlacht verloren fah, mit dem Banner durchgeſchlagen, aber auf die Kunde von dem Tode feine® Herrn wieder in das Kampfgewühl geftürzt. Ueber diefe Schlacht gab es gewiß alte, gleichzeitige Wolkälieder, von denen fi aber nur eined und zwar in einer 100 Jahre fpäter fallenden Ueber- lieferung erhalten hat. Es bildet den Eingang zu einem umfafjenderen Ge- dicht, welches die fpätere Schlacht bei Hemmingftedt zum Gegenftande hat, und auf das wir unten mehrfach zurüdfommen werden. Der Dichter des letzteren beabfichtigte, mie die Heberfchrift zeigt, die dasſelbe in der beiten, einer Berliner Handfchrift führt:

„Was in hundert Jahren und num ift geſchehn In Ditmarfhen: das mag man hier hören und fehn,*

offenbar einen größeren epifchen Zufammenhang in feiner Darftellung zu umfaffen und Fnüpfte naturgemäß an jenen erften großen Sieg über die Randeöfeinde an, indem er ein Älteres Ried dabei benugte, deſſen Weiſe und

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Verdmaß er annahm, wenn au nicht durdhführte. *)

{

Ebenſo erwachte bei

den Schweizern in der Bedrängniß der Burgunderkriege das Andenken an die Heldenthaten von 1386, wie die im Tone der Sempacherlieder gedichteten ſpäteren Schlachtgeſänge zeigen.“) Das Lied von der Schlacht in der Süder— hamme lautet nach der Meberlieferung des fpätern Dichterd mie folgt:

„Als man fchrieb taufend vierhundert und vier,

Da nahm in Ditmarjchen ein Herr Quartier,

Des eifernen Heinrich's Sohn, ein Fürft groß und reich,

Herzog Gerhart von Schleswig und Herr von Holftein zugleich.“

„Fünfzehn Ritter find zufammen geweſen

Und vierhundert wadre Mannen auserlefen,

Ohne Bauern und Kriegesfnechte.

Ihrem Herrn wollten fie Beiftand thun nad) Rechte.“

„Die Holfteiner griffen männiglich zu,

Es war Pferd oder Ochſe, Schwein oder Kuh,

Da ward von allem nichts vergefjen ;

Bon Kleider alles, was da war; Ge- fchmeide ward abgerifjen.“

„Der Weg war zu ſchmal und zu enge,

Sie famen bald in groß ©edränge,

Niemand konnte dem andern weichen,

Der größte Haufe blieb, die Armen und die Reichen.“

„Doch da der Ritter das vernahm,

Daß fein gnädger Herr nicht nad) ihm kam,

Ward er ohmemafen bange;

Er wollt’ ſich lieber todtfchlagen laſſen, wenn er wär' gefangen.“

„Er hatt! entboten feinen guten Mannen allen,

In Ditmarfchen wollt! er mit einem Heer einfallen :

„Wollet ihr aud) nun alle bei mir bleiben ?*

Da riefen fie: „Gnädger Herr, mit Gut und mit Leben!“

„Wie fie num famen ind Land gezogen,

Die Ditmarfchen find alle raſch geflohen

Aus dem Wege, wo fie fich fehen ließen;

Sie famen alle zur Hamme mit ihren langen Spießen.“

„Da fie wieder in die Hamme kamen,

Die Ditmarfchen ihrer bald wahrnahmen,

Mit Armbrüften und mit ihren Spießen

In großer Grimmigfeit die Borderften fie niederftießen.“

„Herr Heinrid) von Siggem, ein Ritter gut,

Der hatte zumal einen freien Muth,

Er wollte allein nicht berzagen ;

Das Banner bradt' er dur, da das Heer gefchlagen.“

„Er ift wieder gefommen zu dem Haufen geritten

Und hat mit feinen zwei Söhnen bie zum Tod geftritten.

So gehört ſich's für einem edlen Mann von Ehren,

Wie er dort hat fein Leben gelafjen für feinen Herren.“

& *) Die Strophe beſteht aus 3 Kurzzeilen und einer doppelt jo langen Schlußzeile, doch ift der urfprüngliche Bau durch Ueberfüllung der Reihen vielfach verdunfelt. »*) Bergleiche des Verfaſſers Aufſatz: Die Kämpfe der Schweizer gegen Burgund u, j. w.

in Rr. 38 der „Orenzboten“.

3. Quartal 1874 ©. 460.

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„Die Ditmarfhen machten da einen Bund, - „So ift e8 geblieben zehn Jahr in gutem Sie legten Marienburg in den Grund, Beltand, Sie wollten nirgends mehr Schlöffer leiden, Der eine mocht' befuchen des andern Yand Wenn die Holften kämen, daß fie night Im einem guten Frieden wohl gelitten; fönnten draus jtreiten.“ Daß fie fo ſtets in Ruhe fähen, das war ihr Bitten.”

Mit der Friedendliebe der Ditmarfen ſcheint es aber nicht meit her ge weien zu fein, doch murden fie aud durch die andauernd bedrohliche Haltung der Gegner zur Dffenfive gedrängt. Zehn Jahre fpäter, 1414, fielen fie ind Holfteinfhe ein, murden aber zurüdgefchlagen. Ste wiederholten indeß ihre Einfälle und fingen 1431 fogar mit Hamburg Fehde an. Als 1434 Feind- haft zwifchen den einzelnen Randgemeinden entftand, und fich die Republik in zwei Parteien zu fpalten drohte, vermittelten Lübifhe und hamburgifche Abgefandte den Frieden, der nun länger ald 40 Sabre dauerte. Mit dem legten Viertel des Jahrhundert? aber zog fih über dem muthigen Völkchen ein Ungewitter zufammen, dad an Furchtbarkeit alle frühern Bedrängniffe übertraf.

Seit dem Tode Adolf VIII. (Dezember 1459), mit welchem der Mannes Hamm des fchleswig-holfteinichen Haufed ausſtarb, war deſſen Schmiegerfohn, König Chriftian I. von Dänemark, gewählter Landesherr von Schleswig und Holitein und damit unmittelbarer Nachbar der Ditmarfen. In ihm erwuchs dem Rande ein Feind, der durch militärifhe Macht und politifche Verbin- dungen gefährlicher war als alle früheren. Chriftian war ein eifriger Partei— gänger derjenigen politifchen Richtung, die in Ludwig XI. und Karl dem Kühnen damald ihre Hauptvertreter fand, während ihr im Reich befonders Markgraf Albreht Achilles und Herzog Albreht von Sahfen folgten. Die Beftrebungen diefer Partei, deren Glieder in engen, freundfchaftlihen und diplomatifchen Verbindungen ftanden, gingen hauptfählih auf Hebung und Erweiterung fürftliher Macht und Unterdrüdung der alten Freiheiten des Adeld, der Städte und der Randgemeinden. Im Zufammenhange damit ftand 8, daß der Kaifer im Sahre 1473 eine Urkunde ausftellte, durch welche Ditmar- hen für heimgefallened Reichslehen erklärt und dem Könige von Dänemark jugefprochen wurde. Im folgenden Jahre unternahm Chriftian eine Reife nah Rom und erreichte bei einer Zuſammenkunft mit Friedrich III. zu Rotenburg a. d. Tauber, daß die Graffhaften Holftein und Stormarn nebft dem „ihnen incorporirten“ Ditmarfchen zum Herzogthum erhoben und ihm aufd neue feierlich zugefichert wurden. Aber die Ditmarfen weigerten fich, ihm den Huldigungseid zu leiften, indem fie geltend machten, daß fie an da Stift zu Bremen gehörten, und der wanfelmüthige Kaifer erklärte fchließlich,

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er babe von diefem Verhältniß Feine Kenntniß gehabt und hebe nunmehr die Belehnung wieder auf.

Bald darauf ftarb Chriftian I. (1481), und ihm folgte fein ältefter Sohn Johann ala König in Dänemark und gemeinfam mit feinem Bruder Friedrich I. in den Herzogthümern. Derfelbe machte auf einem Tage zu Itzehoe 1489 feine Anfprühe auf Ditmarſchen formell geltend, ward aber durch feine ſchwediſchen Angelegenheiten verhindert, fie zu verfolgen. 1496 unterwarf er Schweden, wo ihm Sten Sture die Krone ftreitig machte, mit Hülfe der ſo— genannten „großen“ oder „[chwarzen Garde”, einer Schaar friefifcher, ſächſiſcher und anderer Nandäfnechte, die unter ihrem Führer, Junker Thomas Slenz oder Slenitz, ſchon in Holland fih gefürchtet gemacht hatten. In die Herzog. thümer zurücdgefehrt, verfiherte er ſich zunächſt der Beihülfe jeined Bruders Friedrich, der mit den Ditmarfen über Helgoland in Streit gerathen war. Darauf legte er auf einem Tage zu Rendsburg 1499 den ditmarfifchen Ab- gefandten feine Bedingungen vor: fie follten 15,000 Mark in den Schatz zahlen und fi) mit der Errichtung von drei feften Schlöffern einverftanden erklären.

„Das eine follte zu Brunsbüttel ftehn, Das andre an der Eiderfähre,

Das dritte follte zu Meldorg ftehn, Da wollte er fein ein Herre.“

Da antworteten die Ditmarfen wie vor 100 Jahren, mit dem „über: lauten“ Rufe:

„Das gefhieht nun und nimmermehre! Drum wollen wir wagen Hals und Gut Und wollen alle drum fterben,

Eh’ daf der König von Dänemark

So follte unfer ſchönes Land verderben!"

Die Rendsburger Verhandlungen und die darauf folgenden Rüftungen auf beiden Seiten werden in dem oben erwähnten umfangreichen Liede fo be- ſchrieben:

„Der König hat feinen Voten ausgeſandt, „Den Boten empfingen fie mit Hohn und

Er bat, fie follten ihm gehen in die Hand*) Grimm, en

Und ſich nicht ftellen jo verdrofien ; Was fie antworteten, dad war ſchlimm:

Er wollt’ ihnen ein gnädger Herr fein und Sie boten dem gnädgen Herrn für ſeine fie bei ihren Privilegien laſſen.“ Kronen,

Wenn er ſich's wollt‘ genügen laffen, einen Scheffel Bohnen.“

„Das hätt’ den KönigHanſen fehr verdrofien, Daß er wollte gehorſam machen etliche Lande, Cr hätt? mit vielen Herren einen Bund Alles Bolt war ihm willlommen, das gefchloffen , man ihm fandte.“

*) In die Hand gehen den Huldigungseid leiſten.

207

„Der König ift mit Herzog Friedrich über- „Da nun die Städte dies hatten ver-

eingefommen, nommen,

Die oldenburgifchen Herren haben fie mit- Iſt eine große Berfammlung zufammens genommen, gelommen,

Herr Hans von Ahlefelde ward nicht Da haben fie unter manch Anderm ger vergefien , ſprochen:

Ritter und gute Mannen, die alle waren „Thürme, Mauern und Wälle wollen wir hoch gejefien.“ - alle feſtmachen.“

Unter den Städten, die ed im Gefühl der gemeinfamen Gefahr mit den Ditmarfen hielten, waren befonderd Hamburg und Kübel. Mit König Johann aber waren außer der ſchleswig-holſteinſchen Ritterſchaft, unter der die Herren von Ahlefeld ald alte Feinde der Ditmarfen fi audzeichneten, feine olvenburgifchen Bettern, Zuzüge aus Yauenburg, Medlenburg, Pommern, Brandenburg, fein Bruder Friedrich und die „große“ oder „ſchwarze Garde”. Diefe bildete in einer Stärfe von angeblih 15,000 Mann*) den Kern des über 24,000 Mann zählenden Heered und bot durch ihre Kriegsbereitſchaft und Gewohnheit des Waffenhandwerfs die befte Bürgfchaft des Gelingens. Wie ſehr die verwegene Tapferkeit diefer wilden Schaaren auf der einen Seite gefhäst, auf der andern gefürchtet wurde, das zeigt uns ein gleich zeitiged Lied, das, im echten Volkston gehalten, durch Lebhaftigkeit und Kraft der Darftellung alle ähnlichen übertrifft. Es wird von dem Chroniften, der es überliefert (Hand Detlev Ditmarf. Hiftor. Relation, Hdſchr. d. Kieler Uni- verfitätäbibl.), troß feines eptfchen Inhalt? als ein Tanzlied bezeichnet und lautet in mögkihft getreuer Nachbildung etwa jo:

„Der König wohl zu dem Herzog ſprach: Ad Bruder, herzlieber Bruder, ‚Ach Bruder, berzliebfter Bruder mein, Wie wollen wir das beginnen, Daß wir das freie, reiche Ditmarjchenland Dhn’ unfern Schaden mögen gewinnen ?*

„Sobald die Garde diefe Mähre vernahm, Sie rüftete fi) mächtig fehre,

Sie rüftete wohl fünfzehntaufend Mann, Der Trommelfchläger der jchlug wohl an, Sie zogen über die grüne Heide.“

„Dem König gefiel die Rede nicht wohl, Er thät bald wieder fprechen:

„Sobald das Reinhold von Mailand **) vernahm

Mit feinem langen, gelben Barte,

Da ſprach er: ‚Wollen machen einen Boten bereit

Und ſchicken nad der großen Garde.

Bill uns die Garde Beiftand thun,

Ditmarfchen foll bald unfer mwerden.‘

„Und da die Garde zum König kam: ‚Ah König mein lieber Herre,

Wo liegt denn nun das Ditmarfchenland, Im Himmel oder auf fchlichter Erde *

„8 ift nicht mit Ketten an den Himmel gebunden , Es liegt wohl unten auf der Erde.“

”) Diefe Angabe, die fi in zwei alten Liedern findet, ift entfchieden übertrieben; vielleicht

bezeichnet fie die Gefammtjumme der Zuzüge.

Ich kann den Namen nicht weiter nachweifen.

Iren

208

„Der Gardeherr fprah mit Muthe ftark: ‚Ad König, mein lieber Herre,

Iſt es nicht gebunden an den Himmel hoch, Ditmarschen foll unfer bald werden!“

„Er ließen die Trommeln fchlagen alsbald,

Die Fähnlein, die ließ er fliegen,

Damit zogen fie einen langen Weg,

Dis fie das Land zu Gefichte Friegen :

‚Ah Ländchen tief! Nun bin ich nicht weit,

Du ſollſt nun mein bald werden.‘

Im Februar 1500 erfchien der König in Holftein und entſchloß fih troß der naffen Jahreszeit zum fofortigen Aufbruh. Am 11., Dienitagd nad Scholaſtiea, ward Alverddorp genommen, dad an der Dftmarf ded Nandes auf der Geeft liegt, und von da ging's ſüdweſtwärts auf trodenen Geeftwegen gegen MWindbergen. Was fliehen Eonnte, floh in die weitlichen Marfchen wohin die Königlichen nicht zu folgen vermochten; die ftreitbare Mannſchaft aber fammelte fih im Norden des Landes um ihre Banner. Sie aufzufuchen, wandte fi der König von MWindbergen nordwärts gegen Meldorp, das nad) furzem Gefecht am 13. genommen murde. Die Garde plünderte die Kirchen und das Klofter und haufte graufam in der eroberten Stadt, in der eine Beſatzung zurücgelafien wurde. Davon fingt da® mehrfach erwähnte größere Ried wie folgt:

„Dranf zeigte fi der König auf der Holften Erde

Mit großer Mannheit zu Fuß umd zu Pferde,

Ausſtreckt er feine Flügel zu beiden Enden,

Gewappnet von Haupt zu Fuß und an den Lenden.“

„Die erſte Nacht blieben fie zu Alvers— dorp ftehen,

Da mollte ihnen niemand entgegengehen,

Der eine lief nad) Süden, der andre nad) Norden,

Denn die Garde wollte fie alle morden.

„Des Donnerftags zogen fie nach Mel- dorp unverdroffen,

Da haben fie fih mit den Ditmarfchen geſchoſſen;

Die Garde die war gar unverzagt,

Alſo daß die armen Leute von dem Ihren wurden gejagt.“

„So find fie gezogen in Ditmarſchen um verzagt,

Des Dienftags nad) Scholaftica der reinen Magd,

Mit alfo grogem Schmude ohnemaßen;

Sie hatten das fo ausgemacht, fie wollten niemand leben laſſen.“

„Des Mittwochs find fie gen Windbergen gezogen,

Ale, die da waren, find raſch geflohen,

Ein jeglicher, wohin er fich mochte jalvieren ;

Denn wie follten die armen Bauern Krieg führen ?“

„Die Kranken, die da nicht laufen konnten,

Blinde, Bettlägrige, fie jagen oder jtunden,

Da wurde nichts gefchont, die Mutter mit dem Rinde

Wurde gemordet gleich einem fetten Rinde.”

no

209

„So haben fie Meldorp eingenommen

Und auch die Kirchen zu ihrem Frommen (Nuten) ,

Da haben fie die Hände zu brauchen gewußt ,

Was in Kaften und Kiften war, hat heraus gemußt.“

„Zur Stunde ward der Thurm mit einem Zeichen gezieret,

Einem Kreuze, mit Gold und Perlen ausftaffiret ,*)

Gleich jenem, zu dem Kaifer Conftantin einft flehte,

Daß Gott ihm defto befjer Beijtand thäte.“

Bid Ende der Woche blieb der König in Meldorp ftehen, da fein Bruder

und andere zur größten Vorfiht mahnten.

Der Meiterweg führte über

Hemmingftedt nördlich auf Heide und Lunden dur die tiefe Marfh und mar ohne landfundigen Führer nicht zu befchreiten, da die Gräben in Folge des anhaltenden Regens übergetreten waren. Der Verräther, der fih vom König bereit finden ließ, Scheint jener Carſten Holm gewefen zu fein, von

dem das nachfolgende Lied erzählt: Carſten Holm der fam dazu: „Mein lieber Herr Hans, wohin geht's nu?”

„Mein lieber Garten, wartet eine Weile, Ich will euch geben das Schloß zu Tiele."**)

„Denn würden fie meiner hier gewahr, Mein Leben hinge an einem Haar.“

„Seid morgen früh dort unſre Gäfte, Ich will euch geben das allerbefte.“

„Und jtedet das ganze Dorf nur an, Die Bauern liegen ſtark daran.”

„Mein Lieber Carften, ich Iob euer Wort Id meine, es gehet nun bald fort.“

„Mein lieber Herr Hans, id) kann's nicht nehmen, Muß mid der Bauernart bequemen.“

„Aber auf der Heide nicht weit von hier, Da mwohnet Peterd Hans mit mir.“

„Sch will euch ſchenken Meth und Wein, Dann ziehen wir nad) Lunden hinein.“

„Und ftedet an das halbe Yand, Das übrige geht euch wohl zur Hand.“

Das andere Lied meldet nur die Ausfendung des KHundfchafterd und feine Gefangennahme durch die Ditmarfen, die von ihm des Königs Abfichten

erfubren:

„Des Sonnabendd ward ein Mann ausgejandt,

Der war im Lande wohlbekannt,

Zu erjpähen den Weg nad Hemmingftedt,

Und wo es meiter nad) Heide geht.“

„O Leben Freunde laßt mich nur leben,

IH will's euch offen zu erfennen geben,

Es joll euch allzumal frommen und nügen, *) Gemeint ift der Danebrog.

) Die Tielenburg an der Eider. Grengboten IV. 1874.

„Derjelbige Mann der ward gefangen,

Sie wollten beides, ihn morden und hangen,

Griffen ihn bei den Haaren, beim Hals und Sinne:

„Sag' uns, was hat der König im Sinne?“

So wahr ihr mir hier mein Leben wollt friften.*

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210

„Da hat er befannt und geftanden jofort, Heide und Lunden zu nehmen auf einen Wie der König und Herzog fic gegeben Tag. das Wort, Das ich in Wahrheit euch wohl melden mag.” Da bielten die Ditmarfen einen Rath und befchloffen dem König ent: gegen zu gehen. Vorher aber beichteten alle ihre Sünden, nahmen das heilige Abendmahl und riefen die Hülfe des Himmels an. Ihre Fahne vertrauten fie einer Jungfrau aus Hohnwörden, die das Gelübde der Keufchheit gethan hatte, und wählten Wolf Iſebrand, einen ihrer Xelteften und Angefeheniten im Lande, zum Führer. Diefer rieth ihnen, auf dem Dammmege füdlich vor Hemmingftedt eine Schanze aufzumerfen und dort den König zu ermarten: „Isbrand, das war ein frommer Mann, „Er gab dem Land eine weiſe Lehr‘ Der immer foll in Lobe ftahn. Zu Hemmingftedt vorm Süderthor:

„Legt euch) ein wenig hier unter den Damm, Daß euch hier niemand ſchießen kann.“

Sie gruben fih in der Nacht vom Sonntag zu Montag an der fo genannten Dufenddümwelämwarf ein und befegten die von Melvorp herführende Straße mit Gefhüsen. Am 17. früh bet dunklem, regnichtem Wetter brach der König von Meldorp auf. Das Heer näherte fich unter dem Getöfe der Drommeten und PBaufen, das bis zum Himmel drang; es war mie der Volks— dichter fagt, gleihfam ihr Schwanengefang. Boran zog die Garde, im der Mitte die Fußfnehte, dann die Ritter und der Wagentrog. Man wollte die Fleine Schaar mit Uebermacht umzingeln und zum Schlagen zwingen; die dänifhen Schügen gedachten alle Ditmarfen zu tödten. Aber es war nit

Und leget die Speere nieder an die Erde, Damit fie nicht gefehen werden.”

möglich die Schladhtordnung zu entfalten, denn:

„Der Weg war enge, fchlammig und dredig,

Der Deich hoch, der Graben tief und ſchlicig,

Regen, Schnee und Wind war ihnen entgegen;

Da begann ſich bald bei allen die Furcht zu regen.“

„Mariens Hülf, der werthen Gottes— mutter,

Die ſie erbat bei Jeſu unſerm Bruder,

Auf ſie allein war ihr Verlaß,

Sie achteten alle nicht der Feinde Haß.“

„Auch haben ſie empfangen alle gemein Den Leib Jeſu Chriſti in einer Hoſtie klein,

Die Ditmarſen aber

EEE a die Wege gar wohl fannten,

Beſſer ald die da waren aus fremden Landen ;

Drum hatten fie auch fo viel befjern Muth Und tröfteten ſich felber in ihrer Noth.“

„Die gewannen fie mit Faften und Beten

Und andern guten Werken, die fie thäten;

Daß fie würden befreiet von ihren Schmerzen,

Haben fie gebeichtet von allen ihren Herzen.“

Daß ihnen ihr Gott fo viel guädiger fein wollte Und fie von ihren Feinden erretten follte.“

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211

„Eine reine Jungfrau bei ihnen war, Die führte ihr Banner auf allen Wegen, Die brachte da8 Gelübde der Keufchheit dar, Daß fie ihnen möchte behalten Gottes Segen.“

Als die Garden heranzogen, fingen die Gefchüge der Ditmarfen an zu fpielen und beftrichen den Weg. Jene theilten ihre Spige und breiteten fich mühſam rechts und link? von der Straße aus, während eine Abtheilung die feindlihe Stellung weſtwärts gegen „tor Liet“ hin zu umgehen fuchte. Aber in dem weichen, von Gräben durdhfchnittenen Boden konnten weder Mann- haft noch Geſchütze fortlommen, und das Waſſer ſchwoll durch Deffnen der Schleufen immer verderblicher an. est brachen die Ditmarfen unter Wolf Iſebrands Führung hervor und fielen auf gewohnten Terrain mit leichter Beweglichkeit die unbehülflihe Maffe an. Die Garde focht ihrem Rufe ent- ſprechend und ſchlug den erften Ausfall zurück. Beim zweiten Fam fie ind Weichen und verwirrte ih, da die Ritter von hinten nicht Hülfe bringen konnten, in einen dichten Knäuel, in welchem die langen Spieße und Pieken der Ditmarfen aufs graufamfte mütheten. Junker Thomad ward im Ge- tümmel vom Pferde geriffen und, mie es heißt, durch Fußtritte erftict.*) Nachdem fie mit der Garde fertig waren, machten fich die grimmigen Feinde an die holfteinfchen, friefifhen und dänifchen Fußknechte, mit denen fie leichtere Arbeit hatten. Jetzt wandte fi ſchon alles zur Flucht, auch die Ritter ver- mochten trotz mannhaften Widerftandes der Niederlage nicht Einhalt zu thun. Diefe mußte unter den vorhandenen Umftänden verderblich werden. Mas nicht niedergemacht wurde, ertranf in den übergetretenen Gräben oder erftickte im Schlamm. Der König felbft und der Herzog entkamen mit Noth, die Didenburger Grafen und jener Hand von Ahlefeld fielen tapfer Fämpfend an der Spige der Ritterfchaft. Weber eine Meile ging die Verfolgung. Der ganze Troß blieb den Siegern ald Beute, dazu die dänifche Fahne, der Heilige Danebrog.

Den Verlauf der Schlacht jhildert ein andered Lied, das angeblich von einem Prieſter berrührt,**) folgendermaßen: „Die Ditmarfen hatten ihre Büchfen geftelt „Die Garde fam vorgedrungen zur Zeit, Sie fhoffen zu ihnen hinaus ins Feld Sie zogen ſich weſtwärts gegen „tor Liet“,

Mit einem freien Muthe. Sie wollten da8 Gut verderben. Deß erſchraken fi die Edlen gar jehr, Sie ſchrien: „Wohlan, ihr ftolzen Bauern, Es lamen ihrer fo viel zu Tode.“ Ihr müßt noch alle vor Abend ſterben!“

*) So der Ehronift Neocorus; vergl. das unten angef. Lied.

») Der Ehronift bemerft dazu: auctor fuit presbyter quidam. Priefter waren vielleicht öfter die Berfaffer von dergleichen Liedern. So haben wir noch eines über die Schlacht bei Hemmingftebt, welches ähnlich wie dad der Berliner Handichr. an die Schlacht von 1404 ans nüpft und fih dann im Preife Gotted und des Notbhelfers Chrifti ergeht. Es zeichnet fich weniger durch Energie der Darftellung ald durch glatte Verfification aus. Jenes oben erwähnte: „der König wohl zu dem Herzog ſprach“ ift gewiß nicht von einem Prieſter.

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Die Ditmarfen aber riefen in diefer Noth:

„Nun hilf, Maria, du reine Magd, Wir loben dich mit ganzem Bertrauen: Behalten wir heute die Ueberhand, Ein Klofter woll’n wir dir bauen!“

„Ein Crucifir hatten fie mitgebracht , Davor die Garde fich fehr erichraf; In kurzer Stunde Dauer

„Damit fo liefen fie aus ihrer Hut, Recht mie der grimme Löwe thut,

Dem feine Jungen find genommen, Durd; die Hülfe Gottes, des ftarfen Gottes, Sind fie über die Garde gefommen.”

Blieben fiebentaufend von ihnen tobt. | Das that Gott durch ditmarfche Bauern.“ |

Als fie mit der Garde fertig waren:

„Da riefen die Ditmarfchen in hohem Muth:

‚Wohlan, ihr Helden, es will werden gut,

Seht jetzt an die Kriegesknechte!

Holften, riefen und Dänen mwollen wir

Todtſchlagen alle nad) Rechte.‘

„König Hans zu Herzog Friedrich ſprach:

‚Herr Gott, wie kämen wir in dies Un- gemad) ?

Herr Hans, das thäteft du dir bräuen.

Behalten die Ditmarfen die Ueberhand,

Es wird und wahrlich reuen.“

„Die Ditmarjhen kamen herzu gedrungen, Mit Pielen und Schwertern fie da rungen Alle auf einem Heinen Felde.

„Sie jhlugen da manchen Kriegsmann todt,

Holften, Friefen, Dänen kamen in große Noth,

Der Adel begann zu meiden.

Es blieben ihrer fo viel auf dem Plap,

Sie lagen im Schlid als Leihen.“

„Da rief auch einer von Ahlefeld : ‚Herr König, das ift nicht wohlbeftellt, Laßt und nur bald umfehren !‘

Sie zogen ſich wieder ein wenig zurüd, Da kamen fie ſchon mit ihren Speeren.

Da ward der Adel niedergejchlagen, Das thäten die Ditmarjchen Helden.”

Der Tod des Junkers Slenz wird, etwas abmeichend von der Angabe

des Chroniiten, fo erzählt:

„Er hatte einen Harnifch über den Leib gezogen,

Der ſchien von Golde fo roth;

Darüber war ein Panzer gefchlagen,

Darauf thät er fi verlaffen.“

„Den Landsmann ein andrer zu Hülfe fanı,

Den Speer wollten fie wiederholen.

Der Gardherr war ftark, drei hatten voll Werk,

„Indem fo fprang ein Landsmann herzu

Mit feinem langen Speer;

Er ftah fo ſtark, daß ein krummer Halen ward,

Der bing in dem Panzer fo ſchwer.“

Eh’ fie ihn konnten wiedergemwinnn.

Sie zogen ihm nieder mit Sattel und Roß

Wohl in den tiefen Graben.“

Ein fpäterer, wohl unechter Zufas nennt auch den Namen ded „Lande manns“, der den ftarfen Junker vom Pferde rip:

213

„Der ung den großen Gardherrn erſchlug, Des hätt der große Reimer von Wimer— Das will ich euch wohl fagen, ftedt gethan Mit feinen langen, gelben, fraufen Haaren.‘

Diefer will auch der Dichter jenes Tanzliedes jein, aus dem die zuleßt angeführten Strophen entnommen find.

Merfwürdig it eine Angabe, die fih in zwei Liedern findet, in dem eben genannten und nod) einem andern, ald ob audy der König unter den Gefallenen gewefen wäre. Dort heißt e®:

‚Da ward auch der Holjten König erfchlagen

Dit feinem ganzen großen Heere.

Da lag nun fein Pferd, da lag aud fein Schwert,

Dazu die fönigliche Krone. Die Krone die fol und Maria tragen Zu Alen wohl in dem Dome.“

Das andere Lied ſpricht von der Königin:

„Da das die Königin ward gewahr, ‚Die Ditmarfen haben ihn todt geichlagen,

Da meinte fie alfo jehre: Wir fonnten ed nicht wehren;

Seid ihr Knechte nun nad) Haufe ge- Sie tragen feinen Helm, fie führen feinen fommen , Schild,

Bo habt ihr gelaſſen euren Herren ?“ Dazu feine ftolzen Paniere.‘

Da diefe Strophen fih faum anders deuten Laffen*), jo müſſen wir an- nehmen, daß nad) der Schlacht ein falfched Gerücht von dem Tode ded Könige fih verbreitet und im Volksgeſange Aufnahme gefunden hat, ohne daß man 8 fpäter für nöthig hielt, den Irrthum wieder audzjumerzen.

Noch während der Schlaht machte ſich die Mannſchaft ded Süderſtrandes gegen Meldorp auf, um die Eönigliche Beſatzung dafelbjt aufzuheben: Fünfhundert waren in Dieldorp geblieben, „Der Süderftrandmann kam gedrungen

Denen hatte der König die Macht gegeben, mit Macht, Daß fie ihm die Stadt bewahrten. Pieken, Büchſen und Schwerter hatt’ er Da fie diefe große Noth vernahmen, mitgebracht,

Bie ſchnell fie zur Flucht fich fehrten.“ Im Meldorp find fie eingedrungen. Da haben fie alles todt gefchlagen, Was fie noch haben gefunden.‘

„Wären fie zwei Stunden eher gekommen, Den König und den Herzog mit allenı Sie hätten’8 gethan zu großem Frommen, Bolt, Die ih fürmahr mag jagen: Die hätte man da erfchlagen.”

Hiernach fcheint es, daß fie die Abficht hatten, dem gefchlagenen Heere dei Meldorp den Nückzug zu verlegen, aber zu fpät dazu famen. Dafür fiek die fämmtliche Bagage mit vielen Schäen und reihen Worräthen in die Dände der Sieger, wovon das Volkslied fpottweife fingt:

*) Berl. v. Rilieneron zu diefer Strophe, a. a. D. ©. 454,

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„Sie gingen ein wenig zwifchen die Wagen, Da fanden fie Gefotten und Gebraten.“

„Saget dem König gute Nacht; Er hat und gebratene Hühner gebracht.“

„Öreift munter zu ihr Lieben Gäfte! Das giebt ung König Hans zum Beften.*

„Seftern waren fie no alle im Glüd, Jetzt fteden fie hier in dem Sclid.*

„Seftern wollten fie noch hoch hinaus, Jetzt baden ihnen die Naben die Augen aus,“

Eine Fortfegung des Krieges erſchien nach folher Niederlage kaum mehr möglih. Wenn e8 auch der König wohl wünfchte, der Holfteinfche Adel und feine übrigen Verbündeten meigerten fi, ein neues Heer aufzubringen. Durh Hamburgs und Lübecks Bermittelung fam am 15. Mat ein Friede zu Stande, in welchem König Johann feine Anfprühe aufgab und die Selb-

ftändigfeit der Ditmarfen anerkannte. und ſprach mit dem Dichter: „Nun ift es geſchehn durch Gottes Gunft; Und ftänd e8 noch fo ſchlimm mit uns, Ein jedermann foll auf ihn felber vertrau’n, So darf ung vor dem Tode nimmer grau’n.“

„Wer lann die Gerichte Gottes ermeffen!

Hätt' erTaud alle Bücher geleſen,

Wollt’ er auch alle Berge erfteigen,

Er vermöcht' fie doch nimmer zu be ſchreiben!

Das Volk aber gab Gott die Ehre

„Auch darf ſich niemand feiner Stärke loben. Menn Gott ftredt feine Hand von oben, Und trüge er auch Königskrone,

Er wird zerrieben wie eine Bohne,“

„Lobt Gott und Marien, die fitr euch haben geftritten,

Daß ihr dies alles mögt in Frieden be— figen,

Und leget Gott alle Zeit bei die Chr",

Denn von eurer Macht gefchah e8 nimmer» mebr.“

Auch waren fie fich der Gefahr bewußt, die ihnen immerwährend noch drohte und die faft 60 Jahre fpäter, nach erneutem heldenmüthigen Ringen, ihrer Wreiheit ein Ende machen follte. Faſt wie eine Vorahnung dei fommenden Unheil® klingt e8 in folgenden Strophen:

„Wollet euch auch nicht zu jehr überheben,

Denn durch Mariens Fürbitte oben

Iſt euch diefe Victoria gejchehen.

Vielleicht möchtet ihr euch noch wohl ver: ſehen.“

„Ach Gott, wie wandelbar iſt unſre Zeit! Wenn wir Frieden meinen, ſo haben wir Streit.

„Wollet euch auch nicht immer Gelingen verſprechen.

Vielleicht denken jene es noch zu rächen,

Die nun ſind oder die noch geboren werden;

Das Rad kann ſich auch einmal umlehren.

Aber wenn du nur unſer Schifflein willſt leiten,

Und wir uns brüderlich lieben zu allen Zeiten !"

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Serbfliage in Schwaben. 2

(Hobenneuffen. Urach. Eningen. Die Ahalm. Lichtenftein. Reutlingen. Der Hohenzollern. Die Schwarzwaldbäder. Hirjau.)

Bon Friedrih Nampert.

Es war gut, daß bier und da ein ſchwarzrother MWegzeiger land, daß wir von den Kindern, die unter den Bäumen fpielten oder von dem Roftillen, kt gerade vor dem Wirthshaus feinen Schoppen trank, die unverfennbaren giſchlaute Schwäbischen Idioms hörten, ſonſt hätte ih wirklich glauben fönnen, ich manderte nicht zmwifchen gut würtembergifchen Kirfch- und Uepfel- bäumen, fondern an den Ufern des Bierwaldftätterfeed zwiſchen Gerjau, Brunnen und Bedenrieth, fo wunderbare Aehnlichkeit mit diefem TLieblichen Grdenwinfel hat das Lenninger Thal. Das Auge hat gerade fo viel, ald es, ohne ſich anzuftrengen, braucht, es faßt immer die Schönheit des ganzen Thales mit Einem Blick zufammen: die fanft abfallenden, reich mit Wäldern und aus deren Dunkel malerifch vorfcheinenden weißen Kalkfelſen geſchmückten Berge hüben und drüben und in der Mitte das Obftbaumbeer, das mit zwingender Gewalt den ganzen Thalgrund befegt Hält. Kaum läßt es die Ihmale Straße durch, gefchweige, daß es viel anderer Pflanzung Raum giebt. Aber die menſchlichen Wohnungen hat es doch nicht ganz verdrängt, nur daß diefe fi auch dem malerifchen Charakter des Ganzen willig einordnen und jedes Gehöfte uns faft mie eine bäuerliche Villa, von Bäumen und Blumen umgrünt und umblüht, erfcheint. Und damit auch die eigentliche Romantik zu ihrem Rechte fommt, fo fehlt's auch Hier an Burgen und Ruinen nicht. Da ftehen die abgebrochenen Mauern der „Salzburg“ auf dem grünen Hügel mitten im Thal, dort det fi der „Räuber* mit Tannendunfel und hier wäht eine prächtige Baumgruppe mitten au8 den Trümmern des „Wieland- feines” heraus,

So geht? im Tieblichiten MWechfel ftundenlang fort, bis dad Dorf Gutten— berg, überragt von dem mie ein Schwalbenneft am Bergrand hängenden Hof Krebftein, den ſüdlichen Thalfhluß bildet. Uber reizender noch als diefeg, verbirgt fich auf ſchwellenden Matten, im dichteften Obftbaumverftel, im eigentlichſten äußerſten Thalwinkel, der Weiler Schlattjtadt. Die Welt ift wieder einmal mit Brettern verfchlagen. Im fühlen Grunde geht ein Mühlenrad. Kein weiterer, nur der Rückweg feheint mehr aus ihm möglich. Da tönt über und Wagengerafjel? Wo kommt da8 her? Die Zweige der nähften Bäume biegen ſich auseinander und erftaunt fehen mir eine breite, fühn gebaute Straße, eine „Steig”, wie diefe aus den Thälern zur Albhöhe

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ſich hebenden Chauffeen heißen, den Berg hinan ſich winden. Aber Faum find wir ihr gefolgt, fo dünft und wieder, als fei es unmöglih, daß fie an der Felswand meiter Elimmen könne. Uber immer findet fie den Ausweg, in mädtigen Stüden ift der Berg abgefprengt, tief hinabgehende® Mauer: werk ftüßt fie auf der anderen Geite. Immer höher hebt fie fich empor, Thon erfcheint und das im Thal Liegende verfchwindend Elein, endlich iſt aud das letzte Haus desfelben dem Auge entzogen. Diefed erquidt fih nur nod an dem tief gejättigten Grün der Buchen und Tannen, die ihre Wurzeln in den jähen Hang gefchlagen haben und deren Spisen dad Straßengelände ſaäumen. Anderthalb Stunden waren wir auf diefem Wege, der fich wirklich einer Alpenftraße zur Seite ftellen könnte, emporgeftiegen, da endete er oben jo überrafchend, wie er angefangen. Wie durch ein Waldthürlein waren wir auf die Hochebene herausgetreten; da war plößlich verſchwunden, wie durch ein netdifche® Zauberwort all die Herrlichkeit Hinter und zugefchloffen, die ung eben no in Wie und Wald, Baum und Flur umfangen. Und wir hatten die Formel vergefjen, die und die Pforte dazu noch einmal hätte öffnen fönnen.

Die ganze Umgebung war verändert. Cine weite Fläche umgab und. Die Felder fehienen fteinig und unfrudtbar, eine ftaubige, ſchlechte Straße zog langmeilig vor und ber. Kein Baum gab Schatten gegen die immer noch warm herabfcheinende Nachmittagsfonne, Fein Menſch begegnete uns. Nichts war, auf dem dad Auge hätte befriedigt ausruhen können, höchitens das ungefähr eine halbe Stunde noch entfernt vor und liegende Dorf und das kleine Wäldchen dahinten gab einen folcyen Ruhepunkt ab. Aehnliches fiedt man auf dem Hodplateau der fränkifchen Schweiz. Dort geht man aud auf uninterefjanter Fläche, ohne etwas von den Weizen zu ahnen, die vieleicht nur wenige Schritte feitwärte, ein paar hundert Fuß tiefer, im den Thälern fih jammeln, wo die ganze Signatur der Landſchaft nachzuholen ſcheint, was hier oben verfäumt if. Nur ift dort infofern noch etwas mehr Abwechslung, ala die Hochebenen der fränkischen Schweiz felfige Hügel be decken, die fi fogar an einzelnen Stellen zu höheren Maſſen aufthürmen. Hier taucht nur da und dort einmal ein weißer Kalkiteinblod etwas vorlaut oder verfhämt am Rand des Gefichtöfelded auf, der der Thalwand angehört, die fi dort zum lieblichen Wiefengrund niederjenft. Wie gefagt, jest ging's eben fort, gerade auf jened Dorf zu, das Grabenftetten heißt. Ein „Heiden- graben“ fol in feiner Nähe fein, eine römische Verſchanzung, die unter den Karolingern zur Begrenzung eines Thiergartend gedient haben joll, allein die Mittagsfonne hatte und jegliche archäologiſche Stimmung audgetrodnet ; viel- mehr verfpürten wir etwas vgl. V. Scheffel von der Hildebrand- und Hadubrand’ihen Sehnjuht nah einem „Wirthshaus mit Fühlen Bieren“.

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Und wir fanden, was wir fuchten. Cine Schaar junger Mädchen und Kinder fa, Hopfen zu blatten, vor dem Haufe Der mwürzige Duft drang zum offenen enfter herein. Rang war die Raft nit. Die Sonne war fchon tief gefunfen. Aber in wahrhaft blendendem Glanze ftrahlte fie noch um das alte Bergſchloß Hohenneuffen, das nach einer halben Stunde vor und lag. Allein dies felbit noch zu betreten, dazu war es zu fpät. Nachts foll man ſchlummernde Burggeifter nicht weden. Und foldhe treiben gewiß auch auf dem Hohenneuffen ihr Wefen, und wenn's der Geift jenes pflichtgetreuen Hauptmannd wäre, der, ala auf der Burg noch Garnifon lag, die inhalt: Ihwere Meldung machte, auf Höchftdero Feſtung Neuffen ift nichts Neues vorgefallen.. „Gottlob, wenn nur nichtd Altes eingefallen iſt““, antwortete der Herzog. Heut aber fünnte Sein Liebden doch manches eingefallen finden, denn, wenn auch Hohenneuffen jest noch das beiterhaltene und ftattlichite Bergſchloß ganz MWürtembergs ift, fo find doch auch feine mächtigen Ge- mwölbe und Kafematten vom Zahn der Zeit nicht unberührt geblieben. Durch Rebengärten ftiegen wir am Abend zum ftillen Städtchen, das am Fuß des Schloßberges liegt, hinab, und andern Morgens wieder zur Burg hinan. Dann tritt Wald an deren Stelle, und zwar hodhftämmiger, reichbelaubter Wald. Er mag fhon fo ſchön und laufchig gemefen fein zu Gottfried von Neuffen's Zeit, des ritterlichen Minnefängers, der, wie feine ganze Sippe, der Hobenftaufen treuer Freund und Kriegsgenoſſe, fo frühlingswarm und finder- froh, bald von Anger, Blüthen, Wald und MWiefe, bald von feiner Frauen roſenrothem Mund gefungen hat. Nun haben die Waldvögelein die Mufifanten- tolle auf Hohenneuffen übernommen, allein jest natürlih, mo ſchon manch toth und gelbes Blatt fih in den Waldſchmuck gemifcht hatte, waren aud) fie verftummt.

Der Blick von Hohenneuffen gleicht dem, über den die andern Albberge gebieten. Es muß ja nothmwendig immer diefelbe Landſchaft fein, die das Auge überfliegt; nur daß ihm von der einen oder der andern Höhe der oder jener Punkt mehr in den Vordergrund gerückt erfcheint oder die verfchieden- artige Beleuchtung auch verfchiedene Bilder vorführt.

Mieder kamen ein paar reizlofe Wegftunden, wir gingen eben wieder auf der Hochebene. Nur Hohenneuffen bot einen prächtigen Rüdblid. Als ob ihm dieſes Stück Welt ringsum ganz allein gehörte, fo ftol; und gebietend lag das alte Schloß da. Dann war es auch verſchwunden. An einem Waldfaum hatten und ortöfundige Leute einen fchmalen Pfad mitten ind Didicht hinein gezeigt. Er führte jäh abſchüſſig hinab. Allein ed war der rechte; denn er brachte und mitten hinein ind ſchönſte und Tieblichite aller Albthäler , ind Urachthal, neben dem felbft das Renninger bei Manchem den Kürzern ziehen mag. Es vereinigt faft mehr noch als diejes alle Neize der

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Albnatur in größter Fülle und Vollſtändigkeit in ſich. Die Buchenwälder bedecken wieder feine Berghänge, die Kirſchen-, Zwetſchken-, Aepfel- und Nuß— bäume in ungeordneten Schaaren ſeinen Wieſengrund.

Blendendes Linnen glänzt auf dem Wieſengrund, die altberühmte Uracher Bleiche. Die Erms rauſcht zwiſchen durch, forellenreich, wie alle dieſe Bäche. Folgt man ihr aufwärts, fo wird das Thal wilder, felfiger, enger; es geht wieder der Hochebene, und zwar Münfingen, dem würtembergifchen Sibirien zu. Urach dagegen liegt noch in voller, miederum faft füdlicher Pradt. Kaum finden wir feine Häufer aus dem Obſtbaumdickicht heraus. Cie zeigen zum Theil altertbümliche Formen, hohe Giebel, fpise Dächer, ſchlanke Thürme. Auf dem Markte fteht ein prächtiger gothifcher Brunnen, in der Meife des Ulmer Fiſchkaſtens. Unweit feiner ſchlingt fih Epheu um ein altes, noch halb hölzernes Gebäude. Es iſt Eberhard’, des Grafen im Bart, Schloß. Sein Wahlſpruch attempto, d. h. tento, ich wag's und der Palmbaum des wallfahrenden Helden ift im Portal farbig eingezeichnet. Urach war fein Rieblingsaufenthalt. Im großen, zierlih gemalten Ritterfaal des Schloſſes feierte er feine Hochzeit mit einer mantuanifchen Prinzeffin. 14,000 Berfonen tafelten dabei und der Wein floß ihnen aus einem Brunnen unmittelbar in den Becher. In einem andern Gemach fieht man Eberhard's Brautbett und in der Stadtkirche feinen ſchön geſchnitzten Betſtuhl. Des Fürſten Jugend: leben war bekanntlich nicht jledenlod. Dad Urach nahe liegende Klofter Güterftein mag zu feiner ſpätern Sinnedänderung viel beigetragen haben, wenigſtens ftand ihm defjen Prior, „der alte Water“, fehr nahe, und ale die Reue ihn nach dem heiligen Grabe trieb, legte er bei jenem fein Teftament nieder und empfing Enieend feinen Segen. Auch auf Hohenurachs waldſtille Trümmer gehen die Erinnerungen an Eberhard mit hinauf. Doch da find fie düfterer Art. Auf diefe Bergveſte hatte er feinen wahnfinnigen Bruder Heinrich gelodt, um ihn bi® zu feinem Tod gefangen zu halten. Ein eiferner Ring hielt den Unglüdlichen an die Kerkermauer gefchmiedet. Aber doc fiel ihm ein Sonnenftrahl in diefe Nacht. Sein treue® Weib war ihm in die wilde Bergeinfamfeit gefolgt und gebar ihm dort fogar nod einen Sohn, der der Stammvater der jebigen Könige von Mürtemberg geworden. Auf Hohenurach mehte lange Zeit Kerferluft. Auch den Dichter Nicodemus Friſchlin hatten die „Hofteufel*,, der Adel, eiferfüchtige Mitlehrer und die Fürften- diener, „die der Könige lange Hand gebrauchen”, hierher gebracht. Won der jäh abfallenden Felſenkante wollte er fih binablaffen und die Freiheit fuchen. Das Seil ri, man hob einen jämmerlich zerfchellten Leichnam auf, um ibm dann doch ein ehrlich Begräbniß zu geben.

Bon den Mauern und Wohnräumen, die von all dem Zeugen gemefen, fteht wenig mehr, aber die Refte zeugen von einftiger Feftigfeit und Schönheit.

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Reizend iſt der Blick auf das Städtchen im Thal, beſchränkter der in die fernere Landſchaft; zwei Bergſäulen ſchließen dieſe gleichſam ab; nur mit einem ganz kleinen Abſchnitt, mit dem Schloß Hohenheim und den frucht— baren Bergebenen von Stuttgart im Hintergrund, lugt ſie zwiſchen jenen herein. Waldeinſamkeit herrſcht auf Hohenurach, auch in ſeiner nächſten Umgebung. beim Brühlbach-Waſſerfall. Sein Rauſchen tönt bis zum Schloß herauf.” Er iſt der einzige der Alb, Feiner von den vielgenannten, welt: berühmten, wie fie in Tyrol, der Schweiz oder fonft „in den Bergen“ zu Dugenden ftäuben und ſprühen. Aber es ift immerhin ein anmuthig Bild: de „ſchöne Wieſe“, ein ftiller abgefchiedener Waldplatz, an defjen Rand der Rafferbogen hervorfpringt und fi über den Zuffitein fenfrecht niedermwirft, dihtverfchlungene, ihre Zweige tief herabhängende Bäume, die fi in der Haren Fluth fpiegeln und drunten wieder dag ruhige Bächlein, das des ftür- miſchen Anlauf und Falles ganz vergeffend, ftil und platt durch dag einfame Waldthal meiterfließt.

Die freundliche Wirthin in der Poſt zu Urach hatte Recht gehabt, ale fie und mahnte, wollten wir anders jenen hoch zu rühmenden Gafthof nicht zum Nachtquartier machen, mit dem Aufbruch nicht zu fäumen. Noch war eben die Sonne, die hohen Stämme vergoldend und durd dad Neb der grünen Zmeige glänzende Lichtfäden webend, hinter dem Tannenwald geftan- den: da war fie bei unferm Austritt aus ihm ſchon untergegangen. Auch die Dämmerung hält an ſolchen Herbitabenden, fo [hön und duftig fie auch find, nit lange vor. Es war volle Nacht, ald mir wieder fo eine Treppe gleihfam, mie fie die Hochflächen der Alb mit den zwijchen ihren Steilrändern geborgenen Thälern verbinden, die „neue Eninger Steige“, hinabftiegen. Aber die Sterne leushteten hell und aus dem Thal herauf glänzten die Lichter des größten und ſchönſten Dorfes Würtembergd. Das it Eningen.

Wenn der Eninger Kongreß ftattfindet, d. b. wenn an Safobi und Weib: nachten jeden Jahres die das ganze deutſche und außerdeutiche Land durch— jiehenden Spitzen-Galanteriewaaren- und ſonſtigen Eninger Krämer auf ein paar Tage zur Heimath und zum „Geſchäft“ mit den Reifenden und Agenten aus aller Herren Ländern kommen, dann geht's in den faubern, ftattlichen Straßen fo lebhaft zu, wie auf einem Stapelplag der großen Welt. Dann ta wohl auch im Gaſthof des Heren Bazler etwas lauter und Iebendiger, ald wir ed an diefem Abend fanden, wo wir die einzigen „Fremden“ waren. ‚Een Sie gern Suppe“ bob Herr Bazler an, „eflen Sie gern Forellen, Kar: pien, Krebfe?* und fo fuhr er fort, ſich und und dur Fiſch, Fleiſch, Braten, Mehlſpeiſen, Obft, Wein und Bier durchzufragen, daß e8 ung ganz feltfam u Muth ward ob dieſes Reichthums einer Dorfmwirthähausfpeifefarte. Das Näthfel löfte ſich. Herr Bazler hatte, Tags zuvor eine große Hochzeit aud-

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gerichtet und da hatten die biedern Schwaben doch noch einige beaux restes zu Nug und Frommen bungriger Wanderer übrig gelaffen.

Zur befjern Würdigung feined Kaffees hatte und unfer vorforglicer Wirth, ald er die Lichter in unferm auch mit allem, fonft „auf dem Land“ ungewöhnlichen Comfort außgeftatteten Schlafgemach entzündete, einen vor: bereitenden Spaziergang auf die Achalm angerathen. Nur in dunklen Um- riffen hatten wir ded Nachts den einzeln auffteigenden, fich faft zierlich zu ipigenden Berg gejehen. Seine ifolirte Lage macht feine Ausſicht umfafjender und eigenartiger, ald die von der Ted und Hohenneuffen. Der Kreis von Bergen, der und rings umgiebt, dort die um das Honauer Thal mit dem Schwalbennejtchen Kichtenftein im Hintergrund, hier die fagenreichen Pfulinger Höhen, und oftwärtd die ganze, bi zum Staufen wie im Reih und Glied aufgeftellte Alb, zu Füßen mit dem Dorf Eningen die Städte Reutlingen und Pfullingen, in der Ferne dad Tübinger Schloß und die unendliche Weite des „Gäus“ bis zum Schwarzwald dad alled zufammen lohnte reichlich den etwas mühlamen Aufſteig. Die Phantafie mag fih dad Schloß auf- bauen, defjen Gründer ihm feinen Namen gegeben, al fein Pfeil den Ketten des von ihm befiegten Gefchleht3 im Angeficht feines brennenden Haufes zu Tode traf und diefer noch zum Allmächtigen einen legten Seufzer empor- ſchicken wollte, ihm aber dad Wort auf den Rippen erftarb und nur fein Anfang: „Ah allm“ die Taufe der neu erbauten Burg murde, Seht liegt auch diefe fhon wieder in Trümmern, denn der hohe Thurm, der meit- bin die Achalm fihtbar und Eenntlih macht, iſt ein Bauwerk neuerer Zeit.

In Eningen läuteten die Morgengloden, ald wir den Kaffee getrunfen hatten und den offenen Wagen beftiegen, in dem Herr Bazler's Geipann und das Honauer Thal hinauf an den Fuß des Kichtenftein bringen ſollte. Nur an den Fuß, höchſtens vor dad Burgthor, weiter nicht, das hatte man und in Eningen gefagt und fagte man und nun auch im Wirthshaus von Ober: haufen wieder. Die Frau Herzogin von Urach geborne Prinzeſſin von Monaco, die Schloffrau vom Kichtenftein, referirte die gefprächige Yrau MWirtbin, fei auf der Burg anmwefend und da merde feiner, auch nicht der beftempfohlene und am meiteften herfommende Reiſende hineingelaffen. Mein ungläubiges Lächeln fohien die Frau zu verdrießen. „Schie werde fcho jehe“, rief fie mir fpöttifh nah, ald ich) den Pfad mwaldein- und bergaufmärts einſchlug.

Wollte doch ſehen, ob das Zauberſchlößchen wirklich jo unnahbar fei. Der Bewohner von Lichtenſtein fährt, wenn er Luſt hat, aber dann mit Vieren, den Berg hinauf, andere Leute gehen zu Fuß und werden etwas warm und müde dabei, denn nicht nach 18, wie höchſt betrügeriſch das Reife

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handbuch ſagte, ſondern erſt nach wohlgezählten 48 Minuten, ſtand ich da, wo

„aus einem tiefen grünen Thal

Aufſteigt ein Fels als wie ein Strahl,

Drauf ſchaut das Schlößchen Lichtenſtein

Vergnüglich in die Welt hinein.“

So fingt Guſtav Schwab und Hauff ſchildert in feiner vielbekannten Er— zählung, bei der dad Schlößlein Pathenſtelle vertreten: „wie ein koloſſaler Münſterthurm fteigt aus dem tiefen Albthal ein fchöner Felfen frei und kühn empor. Weitab liegt alles feite Rand, ala hätte ihn der Blitz von der Erde weggelpalten, ein Erdbeben ihn loögetrennt, oder eine Wafferfluth vor ur- alten Zeiten das wmeichere Erdreih ringdum von feinen feiten Steinmaffen abgejpült. Selbft an der Seite von Südweſt, wo er dem übrigen Gebirge ih nähert, klafft eine tiefe Spalte binlänglicy weit, um auch den Fühnften Sprung einer Gemje unmöglich zu machen, doch nicht fo breit, daß nicht die erfinderifche Kunft des Menfchen durch eine Brüde die getrennten Theile ver- einigen konnte.“ Aber von alledem ſah ich nichts. Unten im Thal hatte ih den „Belfenftrahl*, den „Münſterthurm“ wohl auffteigen fehen, aber nun, da ich oben auf dem Plateau war, war er mir rein entſchwunden. ch fand nichts, ala ein Jägerhaus, ſchöne Parkanlagen, einen Felfenvorjprung, auf dem eine Buͤſte Hauff's, des Hiftoriographen des Kichtenftein, in das Thal hinunter- haut. und ein feftverfhloffenede Thor. Hinter dem mußte alfo erft das Schlößchen ſtecken, innerhalb diejes erſt die „Spalte zu finden fein, über die feine Gemfe hinwegſetzen kann“, aber die auf allen Bildern Kichtenfteind zu fehende Zugbrüde hinüberführt. Aber über dem Thor ſtand wirklich flar und mit großen Buchftaben zu leſen: „Verbotener Gingang“. Sa, und dazu hatte der Verwalter, der drüben im Jägerhaus mit mir gefrühftüdt hatte, gejagt: ‚Die Frau Herzogin wünſchen ungeftört zu fein.“ Aber eine Niederlage meined® Touriftenbemußtfeind, ein unausgefülltes Blatt in meinem Reife feuilleton, eine Lücke in diefen Skizzen, konnte auch die ruhebedürftigite Herzogin nicht verantworten. Das mußte ihr Elar geworden fein, denn als— bald kam der Major Domud, dem ich meine Karte übergeben und der fie ſehr bedenklih in Empfang genommen hatte, mit der fehr freundlichen Ein» ladung der Burgfrau zum Eintritt und zur flüchtigen Beſichtigung zurüd. So war der Bann gebrochen, ich ging durch den mohlgepflegten, blumenreichen Borhof, und ftand nun erit vor dem eigentlichen Kichtenftein. Wie ein echtes und rechte in die höchften Wipfel einer Eiche gebauted Neft ſchwebt das Sch lößchen über der ſchwindelnd tiefen Kluft. Nur ein Genie, wie Heideloff, fonnte dad Magniß unternehmen, einer folhen Welfennadel eine ganze, bei aller fcheinbaren Kleinheit außerordentlich geräumige Ritterburg reinften Style

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aufzuoceuliren. Lichtenftein hatte bekanntlich einft feine „berühmte“ Zeit, we in der Trinfhalle mit ihrem Halbdunfel der gemalten Yenfter, den alten Rüftungen und den heitern launigen Trinkſprüchen an den Wänden jo oft die Tafelrunde des ſchwäbiſchen Dichterfreife® um den Burgheren, den Sänger der „Lieder des Sturms“ verfammelt ſaß. Die gegenwärtigen Bemohner fheinen in feinem Contakt mehr mit ihr zu ftehen, fonft würden fie das Schlößchen mit feinen vielen Kunſtſchätzen nit fo unnahbar machen.

Nun war's an der Wirthin von Oberhaufen, ein ungläubig Geficht zu machen. Sie konnte es nicht fallen, daß ich „drin“ geweſen. Sie mußte mid für was befonders „Vornehmes“ halten, daß ich das möglich gemacht, beeilte fih darum, mir meinen Schoppen Wein für zweie anzurechnen und mir tau- jendmal vergnügte Neife zu wünſchen. Die mußte fich von felbft finden, wenn man ein fo lieblih Thal durchfuhr, wie auch das Irnauer eins ift, rechts und linf® von waldigen Almen umlagert, mit drei lachenden Dörfern bejest, von wafjerfrifchen Wieſen durchgrünt, von der fprudelnden Echat belebt, im Kleinen an dad Yauterbrunner Thal erinnernd.

Mir kamen über Pfullingen, im Mittelalter ein Afyl für „uffrechten redlihen, ungefährlihen Todſchlag“, dann hielten wir in Reutlingen Mittag. Der Eindrud der alten Reichsſtadt ift moderner, ald man von ihr vermuthen ſollte. Ein drei Tage lang mwüthender Brand hat im Jahre 1726 das alterthümliche Gepräge etwas zufammengefchmolzen. Auch die prächtige Marienkirche brannte damald aus, allein ihre herrlichen gothiſchen Formen blieben und nun ift fie diefen entjprechend würdig reftaurirt. Daß ein Kriege werfzeug, ein Sturmbof das Modell einer Kirche abgiebt, Eommt wohl felten vor. Die Reutlinger haben's zu Wege gebradt. Im Jahr 1247 lag Hein: rich Raſpe, der Gegenfönig Konrad's IV., vor der Stadt. Die bedrängten Bürger gelobten der Jungfrau Marta ein ſchönes Gotteshaus, wenn fie ein Einjehen mit ihnen haben wollte. Ob diefes nun der Fall war oder ob die Neutlinger fih doch auch etwas auf ihre eigene Fauſt verließen: der Raſpe zog ab und ließ fogar einen mächtigen Sturmbocd vor den Mauern zurüd. Den brachten fie nun jubelnd herein und machten ihn fofort zum Maß ihrer Votivkirche, fo dag deren Echiff wirklich gerade fo lang wie jener, nämlich 127 Fuß lang, wurde. Von des Sturmbods Zeiten ber blieb den Reutlingern ein Friegerifcher mannhafter Sinn, trogdem fie feit lange denfelben friedlichen Beichäftigungen, die heut noch in der Stadt blühen, ald Nothgerberei, Yär- berei und dergleichen oblagen. Und fo räumten fie unter den Rittern des Grafen Ulrich v. Würtemberg an 1377 ward ähnlich auf, wie die Schweizer bei Moorgarten gethan.

„Wie haben da die Gerber fo meifterlich gegerbt, Wie haben da die Färber fo purpurroth gefärbt!”

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bat Uhland davon gefungen. Und noch einmal machten fie in Würtemberg Rumor. Bei einer einfachen Schlägerei in einem Weinhaufe war der Wür— temberger Burgvogt, der In der Stadt fisen durfte, „etwas übel weggekom— men“, d. h. erichlagen worden. Die Stadt wollte den Thäter nicht auäliefern, jo rüdte Herzog Ulrich mit einem Heer an, grub jener die Brunnen ab und hate ihr mit feinen Karthaunen und Handbüchjen hart zu. Die Belagerten webrannten ihre Vorftädte, damit fich der Feind in ihnen nicht feitjegen follte, dieſer ſchoß wieder die Stadtmauern zufammen, dann aber fror bei ftrengem Binter der Stadtgraben zu und der Rath mußte capituliren. Nun legte fi der ſchwäbiſche Bund in den Handel und eroberte Reutlingen dem Reiche zu: rüd; der Herzog mußte fein Land meiden und 16 Jahre lang ließ der Geift des erihlagenen Burgvogts ganz MWürtemberg Feine Ruhe.

Jetzt fieht Alles, Stadt und Reute eminent friedlih aus und in dem Wernerifchen Bruderhaud macht jene fogar auf eine ganz befondere Friedenäftätte Anſpruch. Wir haben nicht ohne Bewunderung für die Thatfraft Eines Manned, von dem das alled aufgegangen, die mancherlei Anftalten durch— wandert, die, ähnlich dem rauhen Haus zu Horn aber praftifcher ala dieſes, den Verſuch machen follen, Soctaliamus und Chriftentbum zu verfchmelzen und die “dee der Klöfter und Congregationen im Geiſt des Proteftantidmug ju regeneriren. Und ein Zweitintereſſantes, wenn freilich” wieder auf ganz anderm Gebiet Liegendes, bot und noch Neutlingen: dad pomologiſche In— fitut ded Herren v. Qucas, defjen Leiftungen und gemeinnüßigen Einrichtungen in ihrer befondern Sphäre in Deutjchland mohl einzig find. Mit großer Liebenswürdigkeit führte und der Eigenthümer durch feine weitausgedehnten Gartenpflanzungen mit ihren Hunderten von Obftarten, die Lehr- und Hör: fäle, die reichhaltigen Sammlungen, und wir jchieden mit hoher Achtung auch von diefem Manne, der mit feltener Energie und Befähigung, nur aus liebe zur Sache und aus opfermilligem Sinn für dag Gemeinwohl, bier ein ganz neue Arbeit» und Erntefeld gefchaffen hat.

Uber es waren und nur flühtige Stunden für beide Anftalten, um derentwillen man nicht an Reutlingen vorüberfahren darf, vergönnt. Wir waren wieder an der Eifenbahn und die mußte und an dem Abend noch nad) Hehingen bringen. Dad Nedarthal hüllte fih in Dämmerung; ſchon Tübingen mar etwas umflort. Die würtembergifche Univerfitätöftadt bat nicht die großartige Nage ihrer Schweitern Freiburg und Heidelberg, aber lieblich ift fie und anmuthig, und auch viel befungen. Manch Greifen- und Mannesauge ruht heut noch mit freudig-wehmüthigem Bli auf dem Städtchen zwiſchen Nedar und Ummer, der Stätte fröblicher Jugend. Wir fuhren diegmal vorüber ; erft auf dem Rückweg vom Hohenzollern wollten wir Halt mahen. Es ging im Nedarthal aufwärts. Wohlhabende Dörfer Tiegen in

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ihm, malerifche Volketracht hat fi noch in diejen erhalten. Wir waren aus Mürtemberg heraus, in den hobenzollerifchen Yanden, auf dem Bahnhof von Hehingen. Der Gafthof „zur Linde“ liegt gerade am entgegengefesten Ende der ehemaligen Hauptitadt der hohenzolleriſchen Lande. Wir hatten fie ganz zu durchgehen, bergauf, bergab, mie ihre Straßen laufen. Gut, daß der Mond voll und Kar am Himmel ftand. Mit dem Fürſten fcheint die Beleuchtung der Reſidenz ausgegangen zu fein. Uber jo fanden wir unjern Weg und im Mondenliht ſah ſich manch altes vornehmes Haus vielleicht doppelt ftattlich an, raufchten die fehönen Brunnen, an denen die Mädchen plaudernd ftanden, und lag auf einmal ein hoher, fpiter Berg dicht vor unfern Augen und auf ihm eine herrlich hehre Burg : der Hohenzollern, die Kaiferburg des neuen Reichs.

Ich ſah noch lang hinaus in die Nacht. Der Mond war hinter eine Wolke getreten, Lichter ſchienen aus den Burgfenſtern hernieder. Auf dem neuen Kaiſerberge war alſo Leben, anders als auf dem einſamen, verlaſſenen Hohenſtaufen. |

In früher Stunde ftand ich oben auf der Iuftigen Warte. Dur tbau- frifche MWiefen, durch herrlichen Buchenwald war ich emporgeftiegen. Das NReihäbanner flatterte über mir im Morgenmwind. In der letten Pracht ’dea Jahres, im vollen Herbitihmud, Tag das Land ringsumber erſchloſſen. Das Stammland der Hohenftaufen liegt huldigend dem Schloß der Hohenzollern zu Füßen. Der Bergfranz der Alb umſchlingt die Eine Hälfte des Bildes, die andere findet im Schwarzwald ihre fernen Grenzen. „Vom Feld zum Meere", das ift der Eingangafprudh über dem Thor der Felt. Wer den Grundftein zu ihr gelegt? Die Gejchichte kennt den Namen nicht; die Burg jtand ſchon als der erfte urkundlich beglaubigte „Graf von Zollern” Thafjilo, um dad Jahr 800 aus der vorhergehenden Sagendämmerung in da® belle Licht der Gefchichte tritt. Ob er’d hätte tragen Fünnen, wenn aus dem Dunkel des nachbarlichen Eichenheimes eine Belleda getreten wäre und ihm mit Prophetenmwort die künftige Gefchichte feined Haufes, deſſen Siegedgang „vom Feld zum Meere“ verfündigt hätte? Aber ein Stück vom fpätern Zollernthum lag ſchon in den Leuten. Thaſſilo's Sohn Thanko bie ſchon für den Kleinen Kreis feiner Zeit, wa8 der, der nun dem Zollernſchild das Kaiferwappen angefügt, für die Welt geworden: „ein Schiedsrichter über Krieg und Frieden“. Des Thanko's Urenkel, Friedrih I. von Zollern, ſoll um 980 dad Stammſchloß der Ahnen erneuert und erweitert haben. Sein Enkel Friedrich III, um 1111 Kaifer Heinrich’3 oberiter und geheimfter Rath, war ein allgemein beliebter Mann feiner Zeit. Sein Sohn Rudolf U. ent- ſchied als muthiger Anhänger der Ghibellinen, die blutige Schlacht auf der MWohred (Wöhrd) bei Tübingen (1164). Bon der Zeit an theilte fi der

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Zollernſche Stamm in zwei Aeſte, wovon der eine in Franken dad Haus der Burggrafen von Nürnberg gründete, der andere durch Rudolf's Sohn Friedrich IV. die väterlihen Erbgüter in Schwaben erhielt. Die Gefchichte erzählt nun mehr von den erfteren, deren zehnter, Friedrich VL, heuer find’8 501 Jahre, daß er geboren wurde —, in den Befit der Mark Branden- burg mit der Kurwürde gelangte und der eigentliche Ahnherr derer wurde, die ald Könige Preußens die verfallene Stammburg aus den Trümmern wieder fo Herrlich auferbaut haben. Unter Friedriy VII. von Zollern, dem Dettinger, wie er hieß, war diefe jämmerlich zerftört worden. Mißgeſchick hatte den edlen Grafen verfolgt; gegen die Wittwe Graf Eberhard's von Bürtemberg, defien Rath er gewefen, hatte er, als er ihr den Dienft auf- gefündigt, das trogige Wort gefprodhen: „Kann mich auch ein giftige® Weibsbild verſchlingen?“ fie aber ihm drohend erwidert, wie Guftav Schwab fingt:

„Berfchlingen allerweg will ich

Dein Out, dein Schloß, dein Leben, did! Kein feiges Weib, wie du geglaubt,

Es traf dein Spott ein Fürftenhaupt.‘

Er unterlag der Feindin und fein Schloß ward gebroden. Was fein Sohn Nielas wieder herftellte, war nur ein kümmerlich Ding. Jetzt aber tft der Hohenzollern eine Königsburg, wie fie würdig ift des Geſchlechts, das die deutiche Kaiferfrone trägt. Kein anderes Haus hat fie die verlafjene, vereinfamte Stätte feiner Ahnen geehrt. Die Hohenftaufen Fonnten freilich ihrer Stammburg fih nicht mehr annehmen. Aus den Brettern eines Schaffots zimmert man fein Königshaus. Aber fühnend und vergeltend haben ihre Erben in der Katferkrone in dem Stammland beider, in der Herrlichkeit ihrer Burg auch die vergangene und verſchwundene ded Hohenftaufeng mit erneuert.

Halb Feſtung, Halb Schloß ift die heutige Hohenzollernburg. Mächtige Borwerke und VBefeftigungsmauern ftügen den hohen Bau des Iegtern, in welhen und der ganze Glanz einer feudalen Burg ded 13. Jahrhundert? entgegentritt. Durch einen fchnedenartig auffteigenden Tunnel gelangt man aus dem untern in den obern Burghof; der treue Gefelle aller alten Burgen, der Epheu, ſchlingt fih auch um diefe neue, in deren Gemächern Fönigliche Pracht in Ausftattung und Einrichtung, auch in reichen Gebilden der Kunft, fih entfaltet. Die evangelifche und die katholiſche Kirche, welch letztere aus der uralten Burgfapelle erbaut tft, ſchließen die beiden Seitenflügel des Schlofjed ab. Ihre Glocken läuteten eben den Morgengruß Hin über Wald und Flur. Auch von Hechingen tönten gleiche Klänge herauf. Ich überlegte mir, in Nähe und Ferne fehauend, mein fernere® Manderziel. Ein Städtchen dort,

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ungefähr drei Stunden entfernt, hatte mir der Caftellan als Balingen. ein in feiner Nähe emporragended Schloß als Geislingen bezeichnet, Das iſt der Wohnſitz des Präfidenten der bayrifhen Abgeordnetenfammer, jegigen Nach— folgers des Fürften Hohenlohe im Präfidium des Reichstages, des mannbaf- ten Volksvertreters Freiherrn Franz von Stauffenberg. So nahe dachte ih mich dem Haufe des Freundes nit. Durfte ih an ihm vorübergehen ? Schon um Mittag mar ich dort, mitten in einem der liebenswürdigſten Familienfreife, wie fie nur die höchſte Geifted- und Herzensbildung fchaffen können, und die Stunden flogen in ernften und heitern Geſprächen dahin. Die Sonne ftand ſchon tief, als wir dankbar fchieden und den Wanderftab weiter festen. Geidlingen hatte und die Reiſerichtung verändert. Die Zeit war mir nur no fnapp gemeflen. Nah Tübingen fonnte ih nicht zurüd. Alfo Verzicht darauf und an einer andern Stelle hinab ins Nedarthal wieder, bei Sulz, wo der Fluß in tief eingefchnittenem Thale fliegt und fein Rauſchen faft troßig und unbändig ob der von den gar fo eng ihn umjchnürenden Bergen ihm angethanen Unbill in unfern Schlaf herein Hang.

Nur eine Station aufmärtd führte und andern Morgens die Bahn nad Horb, einem alten, mit Mauern, Thürmen und fchledhten Häufern an das linke Ufer hoch hinaufgebauten Neft. Wenn der Schienenweg aud hier und das ift mohl jest ſchon vollends gefchehen Felſen und Berge durchfprengt hat, dann wird man rafcher von Horb in Nagold fein, als dad und bejchieden war, die wir das mit ein paar Stunden befchwerlicher Poſt— wagenfahrt, bergauf, bergab, erfaufen mußten. Wir famen und auf einmal wieder jehr weit ab von der Welt vor. So ein alter Rumpelfaften kann ganz antidiluvianifche Stimmungen aus einem herausmartern. Die Poſt zu Nagold trug ganz das Gepräge der alten Zeit, wo es nur Woftillong, Beichaifen, Reifewagen, Netouren, feilſchende Hauderer, fchläfrige Hausknechte, und vor allem Muße und ruhigen Aufenthalt für ein Prühftüd oder Mittagefjen gab. Zmar tft Nagold ſchon Eifenbahnftation, allein der Bahnhof liegt von der Stadt etwas entfernt und auf der Hauptftraße, die von hier nah Wreudenftadt auf die Höhe des Schmarzwaldes führt, wird noch lange der Eilmagen und der Lohnkutſcher, überhaupt das Fuhrwerk feine Allein- berrichaft ausüben. Drum ſah's vor der Voft fo erinnerungsfreudig an das, wie e8 vordem war, aus. Selbſt fo eine Badeequipage, wie fie da eben für die blafje, Eranfe, junge Engländerin zugerichtet wurde, indem Kammerjungfer und DBediente Betten, Matragen, Deden, Speiſekörbe u. ſ. m. in ihr auf ftapelten, fieht man felten mehr. Ob fie nah Wildbad oder Baden fuhr, das erfragten wir nicht, aber das mußten wir, daß!wir felbft in der Nähe der hochberühmten Chwarzmaldbäder waren, daß wir gerade fo viel Zeit noch herausbefommen Eonnten, wenigftens eins zu befuchen. Bor dem ariftofratifchen

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Wildbad fam uns aber noch ein Fleinered, weniger anſpruchvolles, das lieb» liche Teinach. Das war Schwarzmwaldnatur, Schwarzmwaldluft! Deutjchland hat herrliche Wälder, aber als der fehönfte ift mir immer der Schwarzwald erſchienen. Es war doch Herbit, aber fo frifh wie im Frühling leuchtete dieſes MWiefengrün, das den Fußpfad nah Teinach umfäumt. MWürziger Duft entftrömte den Tannen, die das enge Thäldyen umrahmen. Dem Kranken, der hierher fommt, muß es fehon beim erften Bli auf den ftilen Kurort wie eine beftimmte Hoffnung der Genefung überfommen. Alles ift freundlich,

bequem, zwedentfprechend eingerichtet. Der Kurarzt namentlich, Herr Dr. Wurm,

ft der beforgte Freund feiner Gäſte. Die Zerftreuungen eined Weltbades bietet natürlich Teinach nicht. Seine Natur ift Alles, was es giebt, aber Mran hat man genug.

Wir fliegen nah Zavelftein hinauf, dem kleinſten Städtchen Würtem— bergs, das aber einft doch einen eigenen Abgeordneten in den Kandtag ſchicken durfte,

„Rie von Riß und Sprung genöthet Ragt fein ſchlanker Römerthurm, Wie gegoffen und gelöthet Quaderfeſt im Zeitenfturm“ eitirte Ich meinem Söhnlein aus dem „Gaudeamus“ Viktor Scheffel’8 und aud: „Ruhſam ftand der Ortsbewohner Bor dem Haus im Sonntagskleid,“ denn Sonntag war's und die biedern Zaveliteiner ftanden wirklich gar ruhſam unter ihren Thüren. Es waren andere ‘Typen, ald wir bisher in Schwaben gefehen: dunkler Teint, ſchwarze Haare, mehr Rund: ald Langkopf; der dunfelblaue Rock mit der auffallend Eurzen Taille und den blanfen Metall: nöpfen, der Sonntagdftaat der Männer; der fchmarze, faltenreihe, am Mieder mit hellblauen Bändern verzierte der der Frauen. Auch mie andere Sprache klangs in unfern Ohren; jene breiten, gedehnten, unausfprechlichen Diphthongen macht fein Sterblicher dem Schwarzwälder nad).

Immer mehr nahm auch die Landſchaft den eigentlihen Schwarzwald: barakter an. Nur Ein Dorf auf dem ganzen Weg, Oberreichenbach, aber wreinzelte, auf die grünen Matten hingejtreute, in fich abgeſchloſſene Gehöfte. In folh hölzernem Blockhaus, aus über einander gelegten Balfen gefügt, mit feinem niedern Schindeldach und der Holztäfelung an Dede und Wänden, wohnte wahrjcheinlih ſchon der erfte Anfiedler im Schwarzwald. In fol abgefchiedenen Gegenden verändert ſich der Menſch und fein Haus menig. Ernſt wie diejer ift der Wald, der nun auf beiden Seiten in langen, dichten Tannenreiben die Straße begleitete. Stundenlang gings fo fort. Endlich jemkte fich der Weg zu wildfchönem, flußdurchrauſchtem Thal. Bahnhoflichter,

Locomotivpfeifen, alfo zu Ende die Waldftille, wieder Welttreiben in der Nähe: Calmbach und in einer halben Stunde Wildbad. Die Saifon neigte fih zu Ende, font hätte und wohl da8 äußerft comfortable Hotel Frey nicht eine8 feiner fchönften Beletage- Zimmer eingeräumt. Weit ging der Blid aus deſſen Fenſtern nicht, nur über den Kurplag, dann aber hemmten ihn ſchon die Berge. Bekanntlich hängen diefe förmlich über Wildbad herein. Das mag manchem, der zur Kur hierhergefommen, anfangs düfter erfcheinen, aber bald gewinnt er diefe Enge, diefed In- und Beleinander von Feld, Wald und Fluß lieb. Bon Iesterm fteigt er auf in den tiefdunflen Tannenhain und vom Granitblof, der aus uralter Zeit daltegt, fchaut er wieder zur lautraufchenden Enz hernieder. Beſchränkt find allerdings? auch die Spajier- wege Wildbads, wenigſtens die im Thale, in welchem ja dad Städtchen eigentlich nur Eine Hauptitraße ausfindig machen Eonnte, und aufmärtd kann nicht jeder der Gäſte Elimmen, denn dad, wofür gerade jene wunderbaren Thermen fo heilfräftig find, ift eben bei den Meiften des Bergfteigend Wider- ſpiel. Behaglicher, reinlicher, mir möchten jagen ſchon dem äußern Anfehen nah fo dem Kurzweck dienend, als mie die zu Wildbad, haben wir noch feine Bäder eingerichtet gefunden. Auch für den Gefunden ift’3 eine wahre Molluft, in diefe Baffin® niederzufteigen, wo die Quelle unmittelbar aus dem feinen, weiten Sand treibt und ſich dad warme Waffer fo wohlig wie ein weiches Gewand um den Körper legt.

Wir meinten, auch und hätte e8 alle Müdigkeit der vergangenen und abſchlagsweiſe auch der Fommenden Tage meggenommen, als mir den geftern gemachten Weg wenigſtens theilmeife zurüdgingen um bei Calw das Ende der gemifchten Reife d. h. der aus Eifenbabnfahrt und Fußmwanderung gemifchten, zu erreichen und uns fortan nur noch der erftern zu überlaffen. Für letztere aber machten wir in Hirfau den lesten Halt.

Es giebt genug Klofterruinen in der Welt, aber einzelne von ihnen haben ganz befondern architektoniſchen und Tandfchaftlichen Weiz vor den andern voraus. Zu diefen gehören Baulinzelle auf der grünen Waldwiefe im Thüringer land. Dann, am Fuße der rheinbefpülten Stebenberge, Allerheiligen im Schwarz: walddunfel. Dazu gebört auch Hirfau im ftillen Nagoldthale.

Es war einit der geiltig anregenditen Klöfter eind im ganzen deutjchen Rande Ein Bürgermeifter des benachbarten Calw erfühnte fich, einen Strid durch einen Gontributtond.- Brief des Kfalzvermwüfterd Melae zu machen; die Brandfadel flog dafür in die herrlichen Gebäude, Was von diefen heut noch da tft, find Trümmer; aber nicht die Franzofen allein haben diefe auf dem Gewiſſen; auch die Mürtemberger Beamten haben fie vernichten helfen. Eine noch ganz unverfehrte Kapelle wurde ald Baumaterial abgebrochen, Gräber wurden geöffnet, die Denkſteine zerfchlagen und umhergeworfen. “est

en

maltet allerding® erhaltende Ordnung unter den Ruinen von Hirſau. Wur cherndes Grün hat fich überall zmifchen diefe gedrängt; einem Ulmenzweiglein mard’3 vor vielen Jahren zu eng unter dem alten Gemäuer, das ſchob ſich duch das Geftein und Geröll und jest wiegt der mächtige Baum feine Iuftige Krone hoch über den vier ihn umftehenden audgebrannten Wänden:

„als ob die nur beftimmt

den fühnen Wuchs zu fchirmen

der zu den Wolfen klimmt.“

Diefe Ulme, die Uhland befungen, ift das Mahrzeichen Hirfaud. Sie ninft und den Abſchiedsgruß zu. Wir haben Calw erreicht; der Bahnzug iommt; er fteigt mit und zur Höhe, in großen Windungen nur ift das zu meihen; mwürtembergifhe Kifenbahntechnif hat hier Wunderbared geleiftet ; aber die würtembergifche Eifenbahnfchuld fih au um eine hübfhe Summe vermehrt. immer wieder wird das malerifche Calw im Thale fihtbar; aber endlih finft es doch tiefer und tiefer; da Hat die Rocomotive den Scheitel des Berges erflommen; fie jagt mit und durch flache, in der Erinnerung an die MWaldeinfamfeit der Kloftertrümmer von Hirfau und an das Tannen- dunkel ded Schwarzwald weniger anmuthendes Rand, bis fie in den ſchönſten Bahnhof des deutfchen Reiche, den von Stuttgart einführt. Das Bild der Hauptftadt Mürtembergd würde zu denen paffen, die wir ihrem reichen, ſhönen Sand entnommen haben, aber ſchon zu groß vieleicht ift deren Zahl geworden. Der Leſer dankt mir vielleicht, daß die „Herbfttage in Schwaben“ bier zu Ende gehen.

Briefe aus der Kaiferfladf.

Berlin, 1. November.

Mit dem heutigen Tage hat die Ausftellung der königlichen Akademie der Künfte ihr Ende erreicht. Sei es mir geftattet, ihr eine kurze Grabrede u halten. Die Auäftellungen der Akademie kehren alle zmei Jahre wieder; ihr Zweck ift, gemiffermaßen eine Ueberſicht über zeitgenöffifches Schaffen auf Km Gebiete der bildenden Künfte zu geben. Man kann indeß nicht fagen, daß diefer Zweck ganz erreicht werde. Zunächſt pflegt das Ausland fich nur ſhwach zu betheiligen; ziemlich zahlreich find in diefem Jahre die Italiener, Deiterreicher und Belgier vertreten, Franzofen und Holländer dagegen nur jpärlih. Auch von der Production in Deutfchland erhalten wir fein er:

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fchöpfendes Bild, mehrere hervorragende Meifter, wie 3. B. Knaus, haben in diefem Jahre gar nicht ausgeſtellt. Trotzdem umfaßte der Katalog nidt weniger ald 1067 Nummern und man Fann immerhin annehmen, eine Vor: ftelung von dem Durchſchnitt der fünftleriichen Leiſtungsfähigkeit der Gegen: wart, fo meit Deutfchland in Frage fommt, erhalten zu haben. Der Ge: fammteindrud, offen geftanden, war fein befonders erhebender. Hervorragen— der Reiftungen waren wenige, man fah viel Mittelgut und entjeglich viel Un- bedeutended. Ueppig wuchernd und in den verfchiedenten Formen trat die Bortraitmalerei auf, bald ald Portrait ſchlechthin, bald in Verbindung mit Landſchafts-, Thier-, Coſtüm-, Genre», ja Hiftorienmalerei. Unter den eigentlichen Portraits wurden beſonders die Bilder aus der Faiferlichen Familie von Herrn v. Angelt in Wien bewundert. Unftreitig den beiten Platz unter denfelben nimmt das Bild des Kronprinzen ein, eine ebenfo Fünftlerifch ſchöne wie getreue Darftellung dieſes Typus Fräftiger Männlichkeit. Sehr bemerken: werth wegen der vornehmedidcreten Behandlung der Farben und der Wärme im Ausdrud auch das Portrait der Kronprinzeffin; nur herrſchte über die Mehnlichkeit allgemeiner Zweifel. Am menigiten befriedigt das Bild des Kaifere. Wie ganz anders erfcheint die Figur des greifen Helden doch auf dem Camphauſen'ſchen Reiterbilde! Allerdings hat Kamphaufen den Kaifer gemalt, wie er vor vier Jahren an der Spige des deutfchen Heeres dem Feinde entgegenzog. eine Geftalt von unverwüftlicher Frifche und Kraft, während auf Angeli's Darftelung wohl das lange Unwohlſein des Kaiſers im vorigen Winter unvorthetlhaft eingewirft hat. Am meiften von allen Bortraititüden aber hat fi) das von Guftav Richter gemalte lebensgroße Bildniß der Fürftin Caro— lath die Gunft des Publikums erworben. Das Bild war in der That eine Perle der diedmaligen Ausftellung. Es zeigt eine Dame von nahezu Elafftiher Schönheit, in gejhmadvoll: einfachem weißem Gewande und in ungefünftelt: graztöfer Haltung vor dem Kamin fisend, ihr zu Füßen eine prächtige Dogge. Die gedämpfte Beleuchtung, von der einen Seite der Feuerfchein des Kamind, erhöht noch den eigenthümlichen Netz des Ganzen. Derfelbe Künftler hatte, außer einem Bilde Bancroft’3, noch verfchiedene PBortraitgruppen in Genre bildform ausgeſtellt. Auf einem diefer Bilder ift feine Gemahlin mit einem Kinde auf dem Arm dargeitellt; ein anderes zeigt den Maler felbjt,. wie er feinen fehelmifch-lächelnden Buben, das gefüllte Champagnerglas in der Hand, zum Fenſter hinaushält Beides Compofitionen von fo frifhem, lebens— wahrem und zugleich fo poefievolem Humor, daß man feine herzliche Freude an ihnen haben muß. mei in der Erfindung höchſt eigenthümliche und In der Ausführung fehr bedeutende Portraitgemälde waren von dem Brüffeler Alma Tadema ausgeſtellt. Diefelben gehören zur Collection des Palazzo Palmieri in Nizza. Das eine ftelt einen antiken Bildhauerladen, das andere

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dad Gabinet eine? Kunſtliebhabers, ebenfalld® aus der Zeit des Flaffifchen Alterthums, dar. Auf jenem ift der Maler mit feiner Yamilie, auf diefem der Eigenthümer portraitirt. Die Perfonen erſcheinen in ftreng antifer Ge— wandung, find aber troßdem prächtige, lebensvolle Geftalten. Ueberhaupt, was diefen Bildern einen ganz eigenartig en Merth verleiht, ift der Gedanke ung das Leben der Alten in menfchliher Weife nahe zu bringen, mit einem Worte, antife Genrebilder zu fchaffen. Die Ausführung ift trefflich gelungen. Hiftorifched Genre mit Portraitmalerei vereinigt trafen wir auch in einem Bilde unferes U. v. Werner, nur dab es fich Hier nicht um das Wortrait ner heute lebenden, fondern um das einer der betreffenden Epoche felbit an- gehörenden Perfönlichkeit handelt. Das Bild zeigt Luther auf einem Fami— lienfeſte. In einer Villa fit die Keine Tifchgefellihaft beim reichen Mahle, duch das Fenſter und die offene Thür fieht man draußen einen Männerchor poſtirt, welcher ein Ständchen bringt. Weiterhin liegt die Stadt mit ihren Thürmen, ihren Ziegeldächhern und Feltungsmauern. Der Reformator hält dad Meinglad in der Hand und Taufcht dem Gefange, getreu feinem Sprude: „Wer nicht liebt Mein, Weib und Gefang, der bleibt ein Narr fein Reben lang.“ Die energiſche Charafteriftif der Figuren, das urfräftige Behagen, welches fi) in dem Ganzen ausprägt, von einem Werner’fchen Bilde noch bejonder® rühmen zu wollen, wäre Ueberfluß.

Daß das Gebiet der eigentlichen Genremalerei heutzutage noch immer dad ergiebigfte und rentabelfte ift, hat auch die diesjährige Ausftellung wieder gezeigt. Die Zahl der hierher gehörigen Bilder und Bildchen mar Legion und es fällt fehr fehwer, aus ihnen die ermähnendmertheften auszuſcheiden. Zu den hervorragendften gehörte eine äußerſt drollige und bis in den Fleinften Zug dem Leben abgelaufchten Scene unferes gefhästen Künftlerd Paul Meyer- beim: „In der MWildenbude.* Auf der Bühne vollführen die Rothhäute unter fchaurigem Geheul und entfeglichen Verrenkungen ihre grotedfen Künfte, unten fteht, phantaftifch coftümirt und mit prahlerifcher Geberde, der Erplt- cator. Mit andächtigem Graufen betrachten die Mädchen und Weiber, mit loderndem Enthufiagmus die Buben die wilden Sprünge in gemaltiger Sagdhund maht Miene, fih an der Vorftellung activ zu betheiligen, wird aber von feinem Heren, einem derben alten Waidmann, mit der grünen Pfeife im Munde, nod) rechtzeitig befänftigt. Mit zwei trefflichen Genre- bildern war der Düffeldorfer Künftler Karl Boecker vertreten. Das eine, „Am Drehbrett“ betitelt, zeigt einen Jahrmarkt; im Vordergrunde verfuchen Bauernfinder mit dem befannten Hazardfpiel ihr Glück. Das Zagen und Wagen de drehenden Knaben und die ängftlihe Neugier der umftehenden Buben und Mädchen find prächtig getroffen. Auf dem andern Bilde, „Theure Hotelrehnung”, ift eine Bauernfamilie in ein elegantes Hotel gerathen. Wie

fie ſich gütlich gethan, zeigen die Reſte auf dem Tiſche. est kommt der Moment, wo für jeden Sterbliden die Gemüthlichfeit aufhört. Das lange Geſicht des pater familias, die Verlegenheit der hübſchen Tochter, die Ver— blüfftheit de8 Jungen, der fich eben no einen Biffen zu Gemüthe führen will, dad Alles könnte natürlicher und ergöblicher nicht wiedergegeben werden. In einem dur Klarheit der Zeichnung und Feinheit der Charak— teriftit ausgezeichneten Bilde hat Seyfferth in Weimar das Kartenlegen („Dorforafel*) dargeftelt. Jagd- und Räubergeſchichten, ftet3 ein beliebtes Thema für Genrebilder, durften natürlich auch hier nicht fehlen. Erwähnen wir aus der Region der erfteren Grützner's „Sägerlatein“, eine Iuftige Illu— ftration , wie „Jagdgeſchichten“ erzählt und aufgenommen werden. Als Re: präfentant der Räubergefhichten mag „Der erſchoſſene Wilderer* von Simmler dienen. Hoc oben in den Schneebergen, an öder Stelle, liegt der Leichnam. (Eben kommen die Dorfleute, ihn zu holen. Die Kinder ded Todten, die ihnen voraudgeeilt, ftehen im wilden Sturme unmeit des Vaters, dad Mädchen in Graufen und Verzweiflung, der Knabe in finfterem Brüten. Das

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Ganze ein düftere®, aber ergreifende® Bild. Die Nachtjeite des haupt |

jtädtifchen Lebens entrollt Frig Pauljen in feinem „Kümmelblättchen“. Die

Scene ift aus dem vollen Leben gegriffen, eine Befchreibung weiter nicht |

nöthig. Mehrere Genremaler hatten diedmal ihre Vorliebe für Schufter und Schuftermerfitätten bekundet, am ergöglichften der Italiener Orfeo Orfei. Heberhaupt zeichneten ſich faſt alle von Stalienern ausgeftellte Genrebilder durch deutliche Charafteriftit, Lebendigkeit und Klarheit der Farben aus. So befonder® die von Guglielmo Guglielmi. Was wir Deutjchen jedoh an ihnen vermiffen, ift da® Gemüth. An fog. Idyllen war auch diedmal Fein Mangel; doch ſcheint ed, als ob fich unfere Maler endlich mehr und mehr daran gemöhnten, fie ald überwundenen Standpunkt zu betraditen. Als jehr anfprehend mag Robert Beyſchlag's „glüdlihe Mutter“ hervorgehoben werden, eine Bäuerin, die ftrahlenden Antlitzes ihr Kind hoch in die Luft hält. Die bei den heutigen Genremalern nur allzu beliebten Rührfcenen nahmen auch diemal einen breiten Raum ein. Als das ergreifendfte und am wenigflen gefünftelte darf Otto Günther's „Wittwer* genannt werden. Ein junger Bauer fehrt eben zurüd vom Grabe feiner Frau. Ueberwältigt vom Schmerz ift er vor dad Bett hingefunfen und birgt fein Gefiht in den Falten der Vorhänge. Die Alte hinter ihm hält fein blühendes Mind auf dem Urme; fie weiß, es ift ihm der einzige Troft, aber doch wagt fie nicht, ihn in feinem Sammer zu flören; er muß fih ausweinen! Ein vortreff- liches Bild hatte Carl Schlöffer in Darmftadt ausgeſtellt. Eine alte ver- lafjene Wittwe erhält von einem Freunde „Rath in der Noth.“

Reihlih war aud eine Abart vertreten, die man am zutreffenditen ala

ethnographifche reſp. geographifiche Genremalerei bezeichnen könnte. SHervor- ragend an coloriftifcher Kraft und Mannichfaltigfeit, wie an dramatifcher Lebendigkeit zeigten fich zwei dem italienifchen Volkäleben entnommene Com» pofitionen ded Wiener Malers Alois Schöne: „Volkstheater in Chioggia” und „Heimkehr der Fiſcher.“ Einer von Mar Michael in Berlin ausgeftellten Mädchenſchule im Sabinergebirge* fehlte e8 auch nicht an wirkſamen Zügen. E. Young in Münden bot einen „Hochzeitözug im Gebirge”, lauter natur- wahre, lebensvolle Geftalten des Hochgebirges, in friſchem, effectvollem Colorit dargeſtellt. Mehr in geographifcher, als in ethnographifcher Beziehung harakteriftifch ift eine von Hermann Kregichmer in Berlin dargejtellte Scene aus dem Spreewald: „Heimfahrt aus der Schule.” Die fröhlichen Kinder» gruppen in den Kähnen, der warnende Schulmeifter am Ufer find zwar aud) cht anfprechende Momente, was dem Bilde aber fein individuelled Gepräge verleiht, ijt eben der eigenthümliche Charakter der Landſchaft. An Dar- tellungen einzelner Volkstypen Titt die Austellung auch feinen Mangel. Hervorzuheben ijt ein „Mädchen aus dem Berner Oberlande“ von Emma Ende. Gin „Slorentiner Blumenmädchen* von Oscar Begas ift coloriftifh vor- trefflich, könnte aber ebenfo gut in Berlin in einem befjeren Zingeltangel ale Hebe figuriren. Wohin fi der Geſchmack begabter Maler verirren Fann, zeigte Trübner's „Mohr, eine Cigarre haltend.*

Auch das hiſtoriſche Genrebild war, was wenigftend die Anzahl betrifft, hinter den verwandten Branchen nicht zurüdgeblieben. Man wird unter diefe Kategorie auch die aus Dichterwerken entlehnten Scenen fubfumiren dürfen. In diefer Richtung that fi Karl Beder in Berlin hervor. Ein Scene aus „Figaro’d Hochzeit“ und Dlivia und Biola aus Shakeſpeare's ‚Was ihre wollt“, in dem Moment, ald Dlivia dem vermeintlihen Pagen ihr ſchoͤnes Antlig entfchleiert, glänzten durch Reichthum der Farben und Anmuth der Darftellung. Das lebtere Bild ift offenbar eine Frucht des Gaftfpield der Meininger, die Leiftungen und felbft die Züge der betreffenden Künftlerinnen find unverkennbar nachgeahmt. Ein wahres Juwel hat Grüßner In Münden aus Scheffeld Effehard entlehnt. Es ift die Scene, wo der Mönch Rudimann im tiefen Keller mit der Magd Kerhildis zu liebkoſen be- ginnt ein warnended Erempel, wie die tolle Zeit der Weinlefe auch die gejeßteften und frömmften Naturen zu Reihtfüßen macht. Daß eigentliche biftorifche Genre war weitaus am bedeutendften durd ein Bild von Defregger in München, das „Ieste Aufgebot im Jahre 1809 in Tirol“ darftellend, re präſentirt. Wir befinden und in einem Tyroler Dorfe. Ein Haufen bejahrter Männer, voran ein hochbetagter Greiß, ziehen mit ihren Senfen und jonftigen Geräthen gegen den Feind. Nicht Verzweiflung und auch nicht rafende Wuth jpiegelt fich in ihren Mienen, fondern nur der entjchlofjene Und

Grenzboten IV. 1874.

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die gleiche Entſchloſſenheit, der gleiche furchtbare Ernit liegt auf den Gefichtern der Weiber, die ihre Männer zur Wertheidigung des häuslihen Herdes hinausziehen fehen. Der gemitterftürmifche Himmel und die fahle Beleuchtung vollenden die düftere Stimmung des Ganzen. Das Bild zählt unftreitig zu den wenigen wirklich hervorragenden Schöpfungen, mit welchen dieſe Aus ftelung und befannt madte. Man Fann fich die fittliche Größe jenes hiſto— rifhen Vorganges nicht ergreifender und lebenswahrer dargeftellt denken. Gine beachtenswerthe „Scene aud dem Bauernkriege* von Burmeiſter tft bereitö bei einer früheren Gelegenheit in diefen Blättern beſprochen worden.

Die großen Hiftorienbilder der diedmaligen Austellung trugen mie ge wöhnlich gar zu fehr den Stempel der Schablone. ine Compofition von Albert Baur in Weimar, „Otto I an der Reiche jeined Bruderd Thankmar“ vorftellend, ift fauber gearbeitet, zeigt auch eine Reihe charakteriftifcher Köpfe, aber das Ganze macht den Eindrud ded hergebrachten Conventionellen. Die gleiche Bemandtnig hat ed mit dem Bilde von Faber du Yaur: „Wbreije Friedrichs V. von der Pfalz aus Prag nad der Schlaht am Weißen Berge.” Mehr eigenthümliches Gepräge trägt das große Bild von Ferdinand Keller in Karlsruhe, Nero darftellend, wie er von einer Villa aus den Brand Roms betrachtet. Der Gegenfag zwifchen der den Kaifer umgebenden Drgie und dem Bilde unfäglichen Elends ift draftifch genug; aber der Erjcheinung des Imperators felbft fehlt der, der furdhtbaren Größe ded Moment? entjprechende Ausdrud. Mehr in dad Gebiet der hiftorifchen Genremalerei fpielen zwei prächtige Bilder von Camphauſen hinein, da® eine eine drollige Scene aus der Schlacht bei Roßbach, das andere die „achten Hufaren bei Waterloo“ darftellend. Sie führen und zur Schlachtenmalerei. Diefelbe war auf der diedmaligen Ausftellung, in Unbetracht des Umftande®, daß wir und vom Ende des legten großen Krieges erft drei Jahre entfernt befinden, nicht gerade reichlich vertreten. An der Spitze erfchien Bleibtreu. Sein „Sedan“ zeigt im Bordergrunde auf einer Anhöhe den Kronprinzen mit feinem Stabe, in der Verne den wogenden Kampf und die brennende Stadt. Dad Ganze ift mitten aus der Wirklichkeit gegriffen, die Gruppirung fehr effectvol. Das Gleiche gilt von desſelben Maler „Wörth.“ Eine faft peinlich genaue Copie der Wirklichkeit ift das im Beſitze des Herzogs von Meiningen befindliche Bild „Die 22. infanteriedivifion in der Schlaht bei Sedan“, von Adam in Münden. Die Ausführung ift vortrefilih, doch Hat das allzu äÄngftliche Veithalten an den mwirklihen Vorgängen die Einheit des Gefammteindrudg beeinträchtigt.

Reihen wir an die moderne Schlachtenmalerei die Darftellung eines alt- deutjchen KHriegsbildes an! Die „Walküren“ von Auguft v. Heyden in Berlin waren eine der originelliten und gehaltvollften Gompofittonen der ganzen Aus

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felung. Die Schlacht ift gefchlagen, über dag meite Gefilde Hat fich die Naht gebreitet; im Hintergrunde lodert die Flamme der zerftörten Bergfeite. Da faufen die Töchter Odins auf weißen, feuerfehnaubenden Roſſen dur die Rüfte daher, die gefallenen Krieger, deren Leiber am Boden liegen, nad Wal: halla zu laden. Es liegt etwas Grauenerregended und doc zugleich ungemein Feſſelndes in dem Bilde. Im Stoffe mit ihm verwandt, in der Ausführung aber weit verfchieden it die „Rückkehr aus MWalhall* von Bürck in Dresden. Hier Fällt der Hauptaccent auf eine ſchlanke Jungfrauengeſtalt, die auf einem Kahn in der Bucht eines Sees bet ftiller Mondnacht den Geliebten aus Wal: halla zurücdermwartet; das in den Wolfen erfcheinende Reiterbild ift nur müh— hm zu erfennen. Bon dem fpecifiih deutfchen Sagenkreiſe angehörenden Darftellungen ift Knille's „Tannhäuſer“ wegen feiner coloriftifchen Wirkſam— fit hervorzuheben. Das Bild zeigt den Moment, da der Ritter fih aus den Banden der Venus losreißt. Am beften ift dem Künftler, in Haltung und Ausdruf, die Venus gelungen. Auch der antifen Mythologie waren ver- ihiedene Stoffe entlehnt. Lindenſchmit in Münden hat ein Bild „Venus und Adonid“ gemalt, eine Nahahmung der Benetianer des 17. Jahrhunderte. Leider kann es nicht als einer der glücklichſten Würfe des gefchästen Künſtlers betrachtet werden. Eine „Dryade* von Schau in Weimar ft vortrefflich gemalt, nur bleibt er und die Aufklärung des Geheinmifjes fchuldig, warum ein beliebiged ſchönes Weib unferer Tage, wenn e3 fi nat in den grünen Bald legt, eine Dryade wird. Ueberhaupt ift es auffallend, wie ängftlich unfere Maler für ihre Nuditäten nach einem Vorwand fuchen. Auch Hilde brand hat ed fo mit einem viel bemunderten Bilde gemacht. Er nannte e8 ‚Am Meereöftrande”; e8 hatte aber weiter feinen Zweck, ald uns eine nadte Frauengeftalt zu zeigen. Der menfchliche Körper ift das vollendetite Kunft: wert der Schöpfung. Warum foll fi da der Künftler geniren, wenn er ihn eben als das vollendetite Kunſtwerk darftellt?

Bom Gebiete der das menfchliche Leben wiederfpiegelnden Kunſt bleibt noch die religiöfe Malerei zu erwähnen. Cie war ſchwach vertreten. Cinige Bilder aus dem Reben Chriſti von Plodhorft gehören nicht zu den bedeu- tendften Leiftungen dieſes Künftlerd. Feſſelnd durch feine Eigenart ift eine „Kreuzigung“ v. E. v. Gebhardt in Düfjeldorf. Gebhardt hat mit der Tra- dition vollkommen gebrochen, er will die Geftalten der heiligen Gefchichte ald gewöhnliche Menfchen darftellen. Bom Standpunkte der Wahrheit und Na- türlichkeit tft dagegen nichts einzuwenden; aber es fragt ſich doch, ob „reli- giöfe* Malerei und ftrenger Naturaliamus nicht einander mwiderfprechende Be— griffe find. Die fehr realiftiiche Scene, welche das genannte Bild und vor- führt, ift genial concipirt, aber wir erhalten den Eindrud einer gräßlichen Hinrichtung, durchaus nicht den des „Berföhnungstodes am Kreuze."

Mit außerordentlicher Freigebigkeit hatte die Landſchaftsmalerei die Aus. ftellung befcheert. Nur Weniges von diefem Gebiete kann als ganz verfehlt bezeichnet werden; die ungeheure Mehrheit der Bilder waren mittelgute Reiftungen,, forgfältig und correct ausgeführt, ohne jedoch Hervorragend zu fein. Neben den deutichen nahmen wie immer die italienifhen Motive den erften Plag ein. An der Spige der zur letzteren Kategorie gehörigen Werke ftebt ein Bild von Damald Achenbach. Auch Gurlitt, Krüger, Hertel haben Tüchtiges geleiftet. Unter den Darftellern deutfcher, fchmeizerifcher und tyroler Gegenden mögen Hummel, v. Kamecke, Ruths und Spangenberg befonders hervorgehoben werden. Die Romantik des Meereöftrandes® mar in hervor: ragender Weiſe dur Douzette, Scherred, Andreas Achenbah zur Anſchauung gebracht. Auch in der Arcitefturmalerei war Tüchtiges geleiftet. Nicht minder Anerkennenewerthes enthielt die Abtheilung der Aquarellen und Kupferftihe. Der Raum verbietet aber, weiter darauf einzugehen. Als Thiermaler verdient Paul Meyerheim mit einigen prächtigen Gremplaren er wähnt zu werden. Auch an einer Anzahl recht brav componirter „Stillleben* fehlte es nicht.

Die Skulptur pflegt auf unferen Auaftellungen gegen die Malerei ganz zurüdzutreten. Doc enthielt diefe Abtheilung auch diesmal eine Reihe febr beachtenäwerther Stücke. ine höchſt geniale Compofition iſt da® Modell eines für den Sohn des Dr. Stroudberg beftimmten Grabmonumentd von Reinhold Begad. Die reinfte Freude fonnte man an zwei anderen Bild» werfen deäfelben Meifters haben: „Merkur und Pſyche“ (Gypsmodell) und „Ban und Pſyche“ (vortrefflih in Marmor ausgeführt). Bon fonjtigen ein heimifchen Künftlern war eine Reihe tüchtiger Portraitbüften auägeftellt Die Staltener glänzten, wie gewöhnlich, mit einer Reihe zterlicher Marmor- ftatuetten; doch fommt man immer mehr zu der Erkenntniß, daß hinter der anmuthigen Form ihrer Bildwerfe herzlich wenig Geift zu finden ift.

Und nun genug! Ich bilde mir nicht ein, im Vorſtehenden dem Leſer auch nur entfernt ein anfcbauliches, umfaſſendes Bild unferer diesmaligen Ausftelung gegeben zu haben; in dem ganzen Rahmen eines einzigen Briefes war da& bei der Ueberfülle des Steffs eine Unmöglichkeit. Meine Darftellung mußte fih auf eine bloße Andeutung der bier zur Erfcheinung gelangten Hauptrichtungen befchränfen. Dem unbetheiligten Lefer wird damit ohnehin übrig genug zugemuthet fein.

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Vom deutſchen Reichstag.

Berlin, den 1. November 1874.

Die Thronrede hat dem Neichätag eine größere Arbeitsfülle in Ausſicht geftellt, ald man erwartete. Zu den drei Gefegen über die Gerichtöverfaffung, dad Civilverfahren und das Strafverfahren, fol, wie es feheint, noch in diefer Seſſion au die Coneurdordnung vorgelegt werden. Dur dieſes letztere Gefe wird fich allerding? die Reichdtagsarbeit nicht vermehren, fondern nur Ye Arbeit der zur Vorberathung der Neichäjuftizgefege zu bildenden Com— affion, die man ja bevollmädtigen will, ihr Werk einer fpäteren Seffion vorzulegen.

Anders fteht e8 mit den angekündigten Vorlagen über das Heermefen. Diefe werden tem parlamentarifhen Fleiß reichlich zu thun geben. Da find drei Gefegentwürfe, nämlich: 1) über den Landfturm, 2) über die Gontrole vr Beurlaubten, 3) über die Naturalleiftungen für die bewaffnete Macht im Frieden. Dazu fommt bei der Berathung der Heeredauspaben die längft erwartete Mehrforderung, welche durd; Erhöhung der Matrikularbeiträge auf gebracht werden fol. Der Vorſchlag diejer Erhöhung wird unausbleiblich dazu führen, den Modus der Aufbringung des Reichsbedarfs principiell zu erörtern. Wir werden von Reichseinfommenfteuer und von Tabakſteuer zu hören befommen. Sehr interefjante Gegenftände für den Finanzpolitiker, und überdem von praftifcher Unvermeidlichkeit, aber nicht zu erledigen in dem turzen Raum diefer Seſſion. Die Beſchlußfaſſung über die Heeredausgaben wird durch die immerhin nicht zu umgebende Anregung diefer Frage nicht on Kürze gewinnen. Die Borlegung ded Banfnotengefegentwurfd ift mit Leftimmtheit erwartet worden und der Reichötag hat feine dringendere Pflicht als dieſe Vorlage pofitiv zu erledigen. Dagegen ift wohl die Frage erlaubt, od ed nöthig war, das Geſetz über die Ginrichtung des Reichs-Rechnungs— befed und das damit im Zufammenhang ftehende Komptabilitätögefeg, deren Entwürfe fhon im Frühjahr vorgelegt, aber nicht berathen wurden, bereits wiederum Diefer im Verhältniß zu ihrer Dauer überlafteten Herbitjeffion aufzu- türden. Die Prüfung der Rechnungslegung über die Jahre 1867—71 erfordert hen ein gut Stüd Arbeit, ohne zu den Hauptgegenftänden der Seffton zu ge, hören. Zum erften Mal bat der Neichdtag über den Haushalt des Reiche. landes Elſaß und Kothringen zu befchliegen. Wenn diefer Haushalt auch riht von großem Umfang fein wird, fo dürfte die erfte Erörterung desſelben doch zu einer weitläufigen Verhandlung ſich geftalten, weil fie eine gewiffer- maßen grundlegende Arbeit if. Der gewichtige Schluß, mit welchem die Thronrede auf die auswärtigen Verhältniffe Bezug nimmt, bedarf unferes

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Commentares nit. Da wo man es hören fol, wird man vielleicht beherzigen daß ſyſtematiſch fortgefeste Verläumdungen für den Verläumder ihre Gefahren haben Eönnen, aud) wenn der Verläumdete ftill Hält. Eines Tages Fann der Berläumder, um fich nicht felbit Rügen zu ftrafen, genöthigt fein, die erften Schritte auf dem Wege zu thun, den er einfchlagen müßte, wenn er feinen Ausftreuungen felbft Glauben ſchenkte. Auf diefem Wege wird er aber dem Schwerdte der Bertheidigung ohne Verzug begegnen.

In der Arnim’schen Angelegenheit hat die abgelaufene Woche miederum einige merfwürdige Incidenzpunkte zum Vorſchein gebracht. Der Graf hat für gut befunden, feine Briefmechfel mit dem auswärtigen Amt über die feiner: ſeits einbehaltenen Schriftftüde außer an verfchiedene ausländifche Blätter an zwei oppofitionelle deutfhe Zeitungen mitzutheilen. Ferner ift der Graf auf Grund ärztlihen Zeugniffes, welches die Folgen der Gefängnißhaft für feine Gefundheit als nicht wieder gut zu machende bezeichnet, gegen Caution aud dem Gefängniß entlaffen worden, nachdem fein diefem Yeugniß voran- gegangener Antrag auf Entlaffung aus der Haft in allen drei Inſtanzen verworfen war. Wenn die Entlafjung ſchließlich doch erfolgt ift, fo hat man, wie glaubwürdig verlautet, den Grund nicht blos in dem auf die neuefte ärztliche Unterfuhung baftrten Zeugniß zu fehen, fondern vor allem in dem Umftand, dag die Vorunterfuhung gefchloffen und Feine Verdunkelung dei Thatbeftandes mehr durch den in Freiheit gefesten Angeklagten zu befürchten fteht.

Diefer Angeklagte thut indeß, was in feinen Kräften iteht, um big zum Tage der gerichtlichen Verhandlung die öffentlihe Meinung auf die Noth— wendigfeit feiner Verurtheilung vorzubereiten. Welche Verblendung muf einen Mann befangen, der im Stande ift, einen ſolchen Briefwechſel der Deffentlichkeit zu übergeben, deſſen Inhalt das gerichtliche Urtheil, und nur nicht die Verurtheilung, überflüffig madht. Der allgemeine Gang der An- gelegenheit, wie er bereit® befannt war, wird hier beftätigt, aber durch be deutungsvolle Einzelheiten bereichert. Recapituliren wir noch einmal.

Im Botſchaftsarchiv zu Paris wird eine erftaunlicd große Lücke in den Aftenftücen bemerkt. Man fchreibt an den zur Dispoſition gejtellten Bot: ſchafter. Derfelbe fendet vierzehn Erlaffe und Goncepte ein. Damit tft in deß die Lücke bet Weitem nicht ausgefüllt. Man fehretbt alfo nochmald an den bisherigen Chef der Botſchaft, erinnert ihn an feine Verantwortlichkeit und fordert ihn auf, fich über die fehlenden Nummern amtlich zu äußern. Und nun verlegt fich diefer bisherige Chef einer der wichtigſten Botſchaften auf Einreden und Ausflüchte, die geeignet fein müßten, den audgezeichneten Auf der Pflichttreue des preußifchen Beamtenftandes gänzlih zu erjchüttern, wenn ſich nicht bald die Bemerkung aufdrängte, daß man einen geiftigen

Ausnahmezuftand vor fih bat. Graf Arnim meigert fih, eine amtliche Yeußerung abzugeben, weil er nicht mehr Beamter fe. Ald ob ein zur Diepofition gejtellter und ein aus dem Staatsdienft entlaffener Beamter nit gerade darin unterjchieden wären, daß der erftere jeden Augenblick zu amtlihen Dienftleiftungen berufen werden kann und folglich den allgemeinen Berpflihtungen des Staatödienerd zu genügen hat. Aber felbft der entlaffene Staatsdiener ift durch feinen Dienſteid verpflichtet, Hinfichtlich feiner ehe» maligen Amtöführung jede erforderliche Auskunft zu geben. Unter fophi- fiiher Berufung auf das Neichsbeamtengefeb behauptet der Graf, zur Die- zeſition des Kaiferd, nicht aber zu der feiner ehemaligen Oberbehörden zu fhn. Als ob der Kaifer durch ein andered Organ, ald da® der Oberbe- hörden, mit einzelnen Beamten in Verkehr trete, ald ob der Kaifer bei der Ierfügung über einzelne Beamte etwas anderes, ald die Vorfchläge und Be- dürfniffe der Oberbehörden zur Richtfhnur nähme! Sodann ſucht der Graf einen Unterjchied aufzuftellen zwijchen dem Entnehmen von Aktenftüden und dem VBorenthalten derfelben dadurch, daß man fie nit am gehörigen Orte niederlegt: ein Unterfchied, der allzu fein tft. Was aber jeden Leſer dieſes Schriftwechfeld, der die altpreußifchen Traditionen liebt und ehrt, Hören und Sehen vergehen machen muß, ift die Behauptung ded Grafen, daß er nicht verantwortlich fei für die Lücken, die ſich nach feinem Abgang im Archiv der ihm unterftellten Botfchaft gefunden haben könnten, felbft dann nicht, wenn fie während feiner Amtsführung entftanden wären. Man freuzigt fich und fragt fih: ift das der preußifche Beamtenftand, wo fo cas wlierement, zu deutſch: fo lüderlih von der Behandlung der Staatddocu- mente gefprodhen wird? Das Erftaunen mehrt fich bei den Auslaſſungen des Grafen über die einzelnen Nummern der fehlenden Aktenftüce. Da heißt e8 einmal um dad andere: „jollte eigentlich bei meinen perſönlichen Akten fein, ift aber nit dabei.” Der Herr Botjchafter 5. B. fertigt die Behörde, die er nicht mehr als vorgefegte anerkennen will, mit dem Befcheid ab: „gehört Eu nicht und Ihr könnt es auch nicht Friegen.” Ein kurzes und leichtes Ver— fahren ohne Zweifel, das demofratifche Sympathien verdient, bei dem aber tin Staat möglid ift. Das Merkwürdigfte jedoch kommt noch. Cine Reihe von Erlafjen, zehn an der Zahl, behandeln die Amtsführung des Botfchafters, gegen welche die Erlaſſe Genfuren verhängen und Anklagen ausfpreden. dieſe Erlafje erklärt der Graf für fein Privateigenthum, weil fie feine Amts führung betreffen. Auf diefe Weife würden allerdings die intereffanteften Aktenſtücke ſämmtlicher Geſandtſchaftsarchive Eigenthum der zeitweiligen Chefs. Der Graf erläutert dieſen ſeltſamen Anſpruch durch die Behauptung, daß er zu feiner Vertheidigung der Anklagedocumente bedürfe.

Hier fallt plötzlich ein ſcharfes Licht auf das nach dem bisherigen äuße—

240

ren Anſchein nicht Leicht erflärliche Benehmen de Grafen. Der Natur Sache nad iſt eine vorgejeßte Behörde in Betreff der Dienitleiftungen in Regel Unkläger und Richter zugleih; fie weiß am beiten, worüber fie Flagt und bedarf nicht des Vorhaltend ihrer eigenen Anklagen. Aber der Graf wollte vielmehr diefe Anklage einer dritten Perſon vorhalten, bei der er fi, mit: Mebergehung feiner vorgefegten Behörde, vertheidigen wollte Diefe dritte Perſon ift Niemand anders, ala des Kaiſers Majeftät. Graf Arnim wollte, die gegen ihn erhobenen Anklagen in der Hand, feinen Ankläger anklagen; Er ſchreibt an den Staatsfekretär ded auswärtigen Amts: der Reichskanzler befhuldige ihn, mit einer der Perſon ded Kaiferd vermandtfchaftlih jo nahe als möglich ftehenden Perſon gegen den Neichäfanzler conſpirirt zu haben. Es find offenbar diefe, nach halbamtlichen Verficherungen überdied gegen da Driginal geänderten Worte, um derentwillen Graf Arnim diefen ganzen Schriftwechſel der Deffentlichkeit übergeben hat. Gin beredte® Zeugniß für: die Befchaffenheit feines Patriotismus. Wenn der Graf in feinen Zujchriften an dag auswärtige Amt mit herausforderndem Trotz feine Gleihgültigkeit gegen ein ftrafrechtliches Verfahren ausdrüdt, fo fieht man deutlich: er hat‘ darauf gepodht, daß man die Herauögabe folder Dokumente niemals werde‘ gerichtlich erzwingen wollen, um den Inhalt nit an die Deffentlichkeit kommen zu lafjen. est wo dies dennoch gefchehen ift, trägt der Graf Sorge, den Inhalt der von ihm einbehaltenen Dokumente in den großen europäijchen Zeitungen zwifchen den Zeilen lesbar zu machen, damit da® Gericht, durd etwaigen Ausſchluß der Deffentlichfeit dad Staatäintereffe und hohe Rüd- fihten des Anftandes zu wahren, außer Stand gefegt werde. Dieſe letzte dur den Grafen bewirkte Beröffentlihung muß den Verdacht erzeugen, da er die einbehaltenen Aftenftüde nicht blos einbehalten hat, um fie an ded Kaiferd Majeftät zu bringen, wo er die Bekanntſchaft mit dem Inhalt voraus fegen mußte, fondern auch noch zu anderweitem Gebraud.

Menden wir und für heute zu einem humoriftifchen Zug in diefer trau- rigen Gejchichte, traurig durch den Beweis, zu welchem Grad von Pflicht: vergeffenheit Größenwahnfinn und Eitelfeit einen Mann vom alten preußifchen Adel in hohen Vertrauensämtern führen Eonnten. Der humoriſtiſche Zug aber ift folgender. Graf Arnim, erinnert, daß für jeden Beamten zur Did pofition eine vorgefeßte Behörde gegeben bleibe, fragt: wer denn die vor: gefegte Behörde des in Ruheſtand verfegten Reichskanzlers fei: Die felbft- verftändliche Antwort: der aktive Reichskanzler, hat er nicht gefunden, weil er fih an die Logik der Krähwinkler auf den Bilderbogen für Kinder hingab. Ein ſolcher Mann iſt von dem Ehrgeiz gepeitſcht, den Fürſten Bismarck zu erſetzen. Iſt das nicht humoriſtiſch? C—r.

Verantwortlicher Redakteur: Dr. Hand Blum in Leipzig. Berlag von F. L. Herbig in Leipzig. Drud von Hüthel & Kegler in Leipzig.

Die Grenzsboten. Zeitfhrift

für | Solitik, Literatur und Kunfl. Ne 46.

| Ausgegeben am 13. Nopember 1874.

Inhalt:

. Seite Hiftorifhe Studien über Don Garlos. I. a Maurenbreder. 241 Selbftbiographie von Friedrih Bifhbad. . ». .... . 255 Bilder aud Medlenburg. Aus den Tagen der ⸗— 3.

j Bon Hugo Öaedde . » 2: 2 200 nen . 264

Vom deutfchen Reichstag. C—t. » » » 2 2 nn 219

Die Challenger-Erpedition. G. . 0... 273

| Der obligatorifche Unterricht in der frangöfihen BR im oieß⸗

herzogthum Luxemburg. N. Steffen 277

Grenzbotenumſchlag: Literariſche —— Hierzu eine literariſche Beilage von Dtto Spam er in Leipzig.

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Leipzig, 1874. Friedrich Qudmwig Herbig. (Ir. Wild. Grunow.)

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Das „Magazin“ ift durch a Poftanftalt und Buchhandlung, auch von der Verlagsbuhhandlung zu beziehen. Gine Probenummer liefert jede Buch— handlung unentgeltlich.

No. Artikel:

Deutſchland nnd Das Ausland. Für Longfellow gegen E. Eckſtein. 649. SHiftorifhe Porträts und Schlahhtenbilder auf der Berliner Kunſtaus— ftellung. 651. Jtalien. Zeitungen des nörd- lihen Staliend. Bon Ludwig Geiger. I. 652. England. Der 5. November in England. 655. Nenlateinifhe Literatur. Olympia Fulvia Morata. Bon Dr. Herman Müller. L 656. Afien. Indifhe Archäologie. 659. Heine literarifhe Rebue. Sainte-Beuve, Premiers Lundis, 660. Der moderne Diogenes. 661. Leid und Luſt. 661. Religion und Natur- wiffenjchaft. 661. Petrus de Ebulo, liber ad honorem A ti. 662. Kodmopolitißmus und Patriotiämus. 662. Sprechſaal. Fünfund⸗ „pmwanzig Jahre Kaifer. 662. Höhere Bürger: chule in Karleruhe. 663. Attike Malerei. 663.

45 des „Magazin“ enthält folgende

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Die soeben erschienene No. 45 der Je

Literaturzeitung im Auftrage der Unive: J

ena herausgegeben von Anton Klette, Mauke’s Verlag (Hermann Dufft)

‘enthält Besprechungen von:

C. J. Böttcher, Germania sacra: Eb. Schrader. L. Büchner, der Gottesb»; von W. Bender. E. Löning, die Verwa) des Generalgouvernements im Elsass H. A. Zachariä. P. Gautsch v. Fran! thurn, die confessionellen Gesetze : W. E. Knitschky. J. Amann, zur m: nischen Behandlung der Versionen und Fl. nen des Uterus, von A. Hempel. H.Roser Curven dritter Ordnung: von F, Lindem; A. Jentzsch, die geologische und mine: gische Literatur des Königreiches Sachsen - E. Schmid. Descriptiones terrae san: herausgegeben von Titus Tobler: v. K. Por L. Mendelssohn, de senati consultis Ro norum ab Josepho antiqu. XIII. XIV. rel: von W. Grimm. P. Scholz, Erwerbung Mark Brandenburg durch Karl IY: S. Riezler. Platonis editio Didotiana: : H. Sauppe. Thucydidis libri I. II., ed A. Schöne: von J. M. Stahl. E. ©. Geh! de elocutione Isocrates: von P. Bl: W. Hörschelmann, de Dionysii Thraeis ir pretibus veteribus: von Moritz Schm C. Stephany, de nominum oscorum deelinat: cum latinis comparata: von F. Büche O. Korn, de codieibus carminum Ovidiano ex Ponto datorum Monacensibus: von A. Rie C. Tacitus a C. Nipperdeio recognitus: A. Dräger. O. Schüssler, de Q. Caurtii | eodice Oxoniensi A.: von A. Bussr O. Erdmann, Untersuchungen über die Syn der Sprache Otfrieds; von BE. Windis: W. Begemann, zur Bedeutung des schwacl Präteritums der germanischen Sprachen: ı E. Sievers. J. Jacob, die Bedeutung Führer Dante's in der divina commedia: : FE. X. Wegele. H. C. Hilmer, s. je pror personn. frangais: von H. Suchier. P,.W. w per, sur le conditionnel: von H. Suchi G. Klöpper, sur l’emploi du partieipe fran; dans la langue ancienne et moderne: ı H. Suchier.

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—. * RAY:

Hiſtoxiſche Hfudien Über Don Garlos. 1.

Wie parador es Flingen mag, Antheil und. Intereſſe ded größeren Publikum an den wiſſenſchaftlichen Beſtrebungen der Geſchichtsforſcher iſt eine Sache, die ihre zwei Seiten hat. Welcher Hiſtoriker ſollte ſich nicht erfreuen und beleben bei dem Gedanken, daß auf ſeine hiſtoriſchen Arbeiten der Blick weiterer Kreiſe ſich richtet, und doch liegt dabei die Gefahr nahe, daß Liebhabereien und Vorurtheile derjenigen, welche die Arbeit ſelbſt nicht mitmaden, welche aber von ihren Früchten mitgenießen wollen, auf den Arbeitenden Einfluß gewinnen! Berührt eine hiftorifche Arbeit ein Gebiet oder eine Frage, die von politifhen PBarteiftrömungen erfüllt find, fo pflegt fehr ſchnell und fehr Leicht das Urtheil über die hiſtoriſche Arbeit fih nah dem Verhältniß ihrer Refultate zu der politifchen oder fonftigen Tendenz des Urtheilenden zu beftimmen. Wer 5. B. heute über die Geſchichte des Papft- thums Forſchungen anftellt, kann fich täglich da8 Vergnügen verfchaffen, diefe erbauliche Erfahrung zu machen. Bielleiht noch bedenklicher geftaltet fich dies Verhältniß da, mo poetifche und Afthetifche Reminiscenzen und Sympa- thien ihr Wort mitreden. Alle Eritifche Arbeit Hiftorifcher Forſchung bleibt ohnmächtig gegenüber den Dichtungen gottbegnadeter Lieblinge der Menfchen. Mit unüberwindliher Macht bannt das Dichterwert Geift und Seele der Menſchen in eine beftimmte Vorftelung hinein; es läßt fie nicht los und zwingt immer wieder diefelbe Vorftellung den Gemüthern auf.

Wir haben ja recht häufig die Gelegenheit diefe Beobachtungen zu erfahren an der Herrfchaft, die Schiller’d Don Carlos noch immer über den hiftorifchen Don Carlos ausübt. Wie groß auch die dichteriichen Vorzüge ded Schiller: [hen Dramas fein mögen, alle Welt weiß, daß der wirkliche Don Carlos ein ganz anderer gemejen als der ideale Jüngling unfere® Dichters. Eben wegen diejer Verjchiedenheit der beiden Figuren follte man hoffen dürfen, daß fie einander in Ruhe laffen, daß fie friedlich neben einander fortleben Fönnten. Uber nein, der rührende und intereffante Infant Schiller’3 läßt den traurigen Namendvetter der Gefchichte gar nicht recht auffommen.

Es bedarf nur einer furzen Bemerkung, um an die biftorifchen Arbeiten

zu erinnern, melde den Unterſchied zmifchen dem poetifchen und hiftorifchen Grenzboten IV. 1874. 31

242

Don Garlos feftgeftellt und das Bild des hiftorifchen zu umzeichnen verfucht haben. Bekanntlich beruht Schiller's Drama auf einem Hiftorifhen Roman de8 17. Jahrhunderts, dem Büchlein des Franzofen Saint-Real Don Garlo®, Nouvelle historique 1692. An die hier vorgetragene Erzählung glaubt Fein Menſch mehr: in der Zeit, in welcher die öffentlihe Meinung von Europa dur die franzöfifche Literatur beherrſcht und von franzöſiſchen Abfichten geleitet war, in der e8 den Franzoſen daran lag, gegen die dereinſt fo mächtigen Spanier Gegenfag und Abſcheu zu erregen, in jener Zeit zimmerte aus einzelnen überlieferten Anekdoten und Zügen Saint-Real die befannte Gefchichte zufammen von dem Liebesverhältniß des Prinzen Don Carlos zu feiner Stiefmutter, von dem feindlichen Gegenſatz zwiſchen Vater und Sohn und von der durch König Philipp herbeigeführten Vernichtung des gefangen gefegten Infanten. Nun Hatte aberding® ſchon 1817 der Spanier Llorente diefe Ueberlieferung erfhüttert und ihren Widerfpruch gegen authen: tifhe Documente gezeigt. Nachher war es das DVerdienft Leopold von Ranke's 1829 die mwichtigften und bedeutendften Controveröpunfte dieſes Gegenftandes erörtert zu haben, indem er die jpanifche und die antifpanifche Literatur einander gegenüberftellte und an ficheren Akten fie beide prüfte (Zur Geihichte ded Don Carlos, in den Wiener Jahrbüchern der Literatur, Bd. 46). Damit war freilich die Frage felbft immer nod nicht entjchteden ; ed blieben noch viele Räthfel übrig. Auch nachdem der Liebesroman aus der Geſchichte des Don Carlos getilgt und der prinzipielle Gegenfas des für die Volks— rechte begeifterten Prinzen und des tyrannifchen Königs nahezu ausgelöſcht war, aud dann blieben immer noch der innere Charakter des Don Carlos, die Urſachen feiner Einfperrung und feine Unterganges zu erforjchen. Da haben fih nun deutfhe und aufßerdeutfhe Forfher mit diefem Probleme befhäftigt Raumer und Helfferih und Warnkönig, Prescott und de Eaftro und Lafuente, Mouy und Gahard unter allen anderen aber ragt das große Werf Gachard's hervor (Don Carlos et Philippe II. 1863 in 2 Bänden). Das fpanifche Arhiv von Simankas hat Gahard gründlich benust und durchforſcht; außerdem aber noch die Samm- lungen in Paris, Wien, Venedig, Florenz, Turin und London zu Rathe gezogen. Er bat eine große Fülle von Notizen zufammengetragen, man fann fagen, dur ihn ift das hiftorifche Fundament für unfere Kenntniſſe und Urtheile dauerhaft. gelegt: eine jede jpätere Erörterung wird vornäm- ih mit diefem Materiale Gach ard's zu operiren haben.

Auf Grund diefer Nachrichten Fonnte man ein Doppeltes für befeitigt halten: einmal die dichterifche oder romanhafte Annahme eines Liebesver— hältniſſes zwiſchen Stiefmutter und GStieffohn, fodann aber auch die oft zur Erklärung ded ganzen Räthſels geäußerte Vermuthung, der fpanifche

1 Lu

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Prinz fei dem Proteftantismus zugeneigt gemwefen. Es mar außerdem der äußere Verlauf des Lebens durch Gachard fichergeitellt, der Beſtand der Thatfachen bei der Verhaftung des Prinzen war klar gemacht und dazu war noch alles zufammengetragen, was die fpanifchen Staatdmänner, der ſpaniſche König felbft und die auswärtigen Diplomaten an feinem Hofe von Urtheilen und Motivirungen und Anfichten über den Vorfall ausgefprochen hatten. Auf die Frage, mad denn eigentlich die Urfache zur Kataftrophe des Prinzen geweſen, mar es jett erft möglich, mit einiger Ausſicht auf Erfolg eine Antwort zu verfuhen. Ich bin dur archivaliſche Studien über das Zeitalter Philipp's II. auh an died Thema herangeführt worden und habe [bon früher den Verſuch gemacht 1864 in einer Abhandlung über Don Carlos in der Hiftortfchen Zeitfchrift, und 1869 in einem Vortrage, der in der Virhom-Holzendorf’fhen Sammlung von populären Vorträgen gedruckt ift (Heft 90) mit dem vorhandenen Materiale Gahard’®, dad ich aus meinen eigenen archivaliihen Studien noch um einige nit unwichtige Stüde vermehren konnte, dies intereffante Problem zu löfen. Mit möglichiter Vor— fiht galt es fich nicht in Vermuthungen zu bewegen, die von Andern aufge- ftellten Hypotheſen vielmehr an den Aftenftüden zu prüfen und durch eine Zergliederung ihres Inhalte dem wirklichen Sachverhalt wenigſtens möglichft nahe zu Fommen. In der erften Abhandlung hatte ich ausführlicher den Inhalt der Quellen dargelegt und in mehr zurücdhaltender Weiſe die Frage nah dem wirklichen Grunde der Kataftrophe des Don Carlo behandelt. Nah erneuerter Erwägung der einzelnen Zeugnifje hatte ich fpäter geglaubt beftimmter das Refultat formuliren zu dürfen. Sch wies fehr entjchieden die auch von Anderen ſchon miderlegte Annahme unerlaubter Beziehungen zu feiner Stiefmutter ald Grund ſeines Unglücks ab. Ich konnte mih auch davon nicht überzeugt halten, daß der Prinz ein Anhänger freierer, Humanerer, liberalerer Tendenzen, ein Gegner der Kirchlich-politifchen Beſtrebungen feines Vater? geweſen oder daß er Hinneigung zu proteftantifchen Meinungen Irgendwie an den Tag gelegt habe. Dagegen glaubte ih ald Motiv für die Befeitigung des Prinzen die bei König Philipp zum Durchbruch gelangte Veberzeugung aufftellen zu dürfen, daß Don Carlos nit ein geeigneter Nachfolger für fein Werk fein werde, „ei e8 daß er mehr an dem BVerftand und Charakter feine® Sohnes, ſei e8 daß er mehr an dem Glauben und Willen deffelben gezmeifelt.“ Mir hatte fich ergeben, daß der Prinz halb für verrüdt halb für Kirchen» und ftaatögefährlich angefehen wurde, „ih denke, fein Wefen ift eine Mifchung aus diefen unheilvollen Elementen ge weſen,“ fo ſchloß meine Erörterung.

Died war das Refultat wiederholter Studien und Ermägungen. Das Material aber war und ift überhaupt ein doppelte, auf >18 man ſich bei

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diefer Unterfuhung zu ftügen hat: zunächſt find es Berichte diplomatifcher Agenten am Mapdrider Hofe, Depefchen der venettanifchen, florentintjchen, päpftlichen, franzöfifchen und Hiterreihifchen Gefandten; fodann neben den» felben (theilmeife auch in denfelben überliefert) Erklärungen der fpanifchen Regierung, fhriftlihe und mündliche Aeußerungen Philipp's und feiner Staat männer über den Sohn, mie wir fie ebenſowohl aus den der Kataftrophe vorhergehenden jahren 1558—1568 Fennen, als auch aus der Zeit nad der Gefangenfegung ded Don Carlos befisen. Man kann ſich nicht über allzugroße Deutlichkeit diefer fpanifhen Erklärungen beklagen; ja gerabe da- durch ift zum größten Theile die Unficherheit unferer Ergebnifje hervorgeru- fen, daß jene Mittheilungen der Regierung mehr mit geheimnigvollen An. deutungen, mit Winken und halben Worten ſich begnügen ald ganz und rund heraus die Sache felbft bezeichnen. So wie unfer Material bejchaffen, mußte ein vorfichtiger und gewiſſenhafter Forfcher ſich hüten ein allzu beut- liches Reſultat aufftellen zu wollen; das geheimnigvolle und räthjelhafte der Erklärungen in den eriten Quellenausfagen mußte nothwendiger Weiſe auch in dem fritifhen Endrefultaltefich mwiederfpiegeln. Begreiflich mag e8 daher fein daf mit einem Gefühle nicht voller Befriedigung man die Unterfuchungßalten ſchloß. Aber ohne neue Zeugniffe war nad meiner Meinung es wohl nicht geftattet, weiter zu gehen in der Aufftellung pofitiver Refultate und An: fichten, als ich 1869 in dem gedrudten Vortrage gegangen.

Freilich wer nun glaubte den poetifchen Don Carlos aus der Gejchichte gebannt zu haben, der follte eine Enttäufchung erleben. Dad mag ja wahr fein, Gefpenfter weichen nicht vor halben und unentſchiedenen Sprüchen zu rück, nur ein feſtes, deutliches, nicht mißzuverftehehended, nur ein, menn ih fo fagen darf, hieb⸗ und ftichfeited Wort fcheucht fie von fremdem Boden fort. Ein ſolches zu Sprechen waren wir aber bisher nicht in der Rage. Und fomit haben wir neuerding3 einen Wiederbelebungdverfuh des Schiller’fchen Don Garlod als des Hiftorifchen gefehen. *) Wenn ich fage, daß derjelbe ausgegangen iſt von einem unferer gemiegteften und verdienteften Hiftoriker, von Adolf Schmidt in Sena, fo wird Jeder willen, in welchem Sinne allein ich die8 Wort von der Wiederbelebung des Schiller/fhen Don Carlos gebrauchen darf und gebrauht Habe. Davon Fann feine Rebe fein, daß Schmidt mit poetifchen Vorausſetzungen oder mit poetifhen Tendenzen an die Frage herangetreten ift, oder daß er auch nur die Eleinfte Anleihe bei poetifhen Motivirungen hätte machen wollen, nein fein Material ift ein zig das hiſtoriſche Quellenmaterial, und zwar Fein anderes ald es im Bude Gachard's zu Jedermanns Benutzung ausgebreitet liegt, mit ſelbſtverſtändlicher

æA. Schmidt, Epochen und Kataſtrophen. Berlin, A. Hofmann 1874. (3. Abhand⸗ lung: „Don Garlod und Philipp II.“) Vgl. meine Recenfion in der Jenaer Literaturzeitung.

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Hinzunahme der durch mich befchafften Ermeiterungen; feine Arbeit ift unter nommen mit vollftändiger Berükfichtigung und Kenntniß der biöherigen Be- arbeitungen und Berfuche; feine Abficht ift eine rein Hiftorifhe, ohne jeden Nebengevanfen. Aber nichts deftoweniger unterfcheidet ſich der Charafter fet nes biftorifhen Don Garlo® nicht gerade fehr viel mehr von demjenigen Bilde, dad Schiller idealifirt bat. In der äußeren Geſchichte des Helden weicht Schmidt von Gachard und mir kaum mefentlih ab; die Kataftrophe des 18. Januar 1568 erzählt er in allem mefentlichen in Uebereinftimmung mit und; in der Auffaſſung und Beurtheilung der letzten Periode, jener Zeit zwiſchen Sefangenfegung und Tod ded Prinzen (19. Januar bis 24. Juli 1568) ſchließt er fich theilmeife meinen früheren Ausführungen an. Alfo nit da— tin beruhen die Differenzen. Wohl aber tritt Schmidt bei der Frage über den Charakter ded Don Carlos und den Grund feiner Befeitigung dur Kö— nig Philipp auf den Boden der früheren, dur die archivalifhe Forſchung wie man vielleicht hoffen durfte, befeitigten Auffaffung zurüd.

Sch mwiederhole, nicht in prinecipielem Widerſpruche, zur Forfhung an ſich fondern mit Benusung alles zu Tage geförderten Materialed langt er bei diefen Endergebniffen an; gerade indem er die Waffen der Gefchichtäwif- Ienihaft, die fie zum Umfturz ded Romanes gebraucht hat, in etwas anderer Weife ſchwingt, baut er in engfter Nachbarfchaft beim Romane fein neues Gebäude auf. Indem er die Liebedintrigue zwifchen Königin Elifabeth und Don Carlos ald eine bloße Erfindung preiögiebt, hält er an der „gegenfeiti- gen innigen Herzendneigung,“ an dem „inneren’Seelenanjhluß* der beiden ju- gendlichen Gemüther feft. Und den Grund zur Kataftrophe fieht er in der aus principiellem Gegenfage entftandenen Entfremdung zwiſchen Water und Sohn, in der Auflehnung des Prinzen wider das ganze politifch Kirchliche Syſtem feines Vaters. Nicht fomohl ein Charakterfehler oder eine Verfehrtheit in Don Garlod wäre ſonach anzunehmen, vielmehr würden ihm ald dem Ber- treter freierer Meinungen die Sympathien erleuchteterer Jahrhunderte zufallen müſſen; unzweifelhaft hätte der heutige Hiftorifer für den Prinzen gegen den Bater, deffen Scheußlichfeit mehr mie einmal der Beratung und dem Ab- Iheu der Leſer gekennzeichnet wird, Partei zu nehmen. Nicht unfer Mitleid, fondern unfere Bewunderung würde der Prinz verdienen.

Nun ift mir feinen Augenblif darüber ein Zweifel möglich, welche von diefen beiden Charafterfhilderungen, die von Schmidt oder die von mir ge- gebene, die Gigenfchaft befist, den gebildeten Lefern in Deutſchland am be ften zu gefallen. Ein Hiftorifer wiſſenſchaftlichen Rufes, ein firenger Forſcher beiten Namen? giebt unferem Publikum das Recht zurüd, dad einige unlie- bendwürdige Kritifafter ihm beftreiten wollten, fi für den ihm in der Dich— tung liebgewordenen Infanten als einen gefchichtlich beglaubigten Märtyrer

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und Helden des Fortfchrittes, der Freiheit u. j. mw. zu begeiftern. Wer wird fich dieſes Rechtes enthalten oder wieder entäußern wollen? wer wird über- haupt fo bösartig fein wollen, died8 Vergnügen zu ſtören? Man darf er: warten, daß der von Eritifcher Forfhung neu belebte Heldenjüngling gleich— fam im Triumphzuge durch die Spalten der Journale hindurd in die Her- zen poefieliebender Menfchen wieder hineingeführt wird !

Grade aber weil die Gefahr fo nahe liegt, daß die Grenzpfähle zmifchen Geſchichte und Poeſie verpflanzt und die Arbeit forgfamer wiſſenſchaftlicher Vorfhung mit Hälfe der dur die neue Aufklärung angenehm angeregten Öffentlichen Meinung über den Haufen geworfen werde, gerade deßhalb wird es Pflicht fein, da8 größere Publikum, das ſich für die Sache intereffirt, über den Sachverhalt felbft und feine Begründung fo ſchnell ald möglich aufzu— flären. Mit einem Worte, die Charafteriftit des Don Carlos durh Schmidt, jo geiftreich fie angelegt, fo fcharffinnig und fpannend fie vorgetragen und fo fritifch begründet fie zu fein feheint, fie ift dennodh unhaltbar uud kann vor einer kritiſchen Prüfung ihrer Gründe nicht beftehen.

Noch mehr. Die etwa eingetretene oder eintretende Erwärmung alter oder neuer Don Garlod-Verehrer bin ich in der Rage, ganz unabhängig von dem Schmidt'ſchen Buche, durch Darreihung eines erfältenden Sturzbades auf die normale Temperatur fofort wieder herabzuftimmen: Don Carlo if ſchwachſinnig gemwefen, und die nah und nach feitgeftellte Weberzeu- gung dieſes feines geiftigen Mangels tft dad Motiv, weßhalb König Philipp ihn bat unfchädlich machen, d. 5. ihn Hat einfperren müffen. Ich bin fo glücklich gewefen, bei archivalifchen Studien im Wiener Archiv, die ich in den legten Ofterferien angeftellt habe, ein Document zu finden, das biäher dem Auge der Porfcher entzogen und das alle bisherigen Zweifel und Unficer- beiten und Räthſel im hiſtoriſchen Endurtheile endgültig befeitigt und und jegt endlich in den Stand fest, mit Beftimmtheit und Nachdruck zu fprechen. Und wie es bei derartigen archivalifchen Studien auf ſchwierigem und jhlüpf- rigem Boden öfter geht: hat man erft einmal das auffchließende Wort ge- funden, fo gewinnen auch ſchon befannte Dinge und Umftände einen. neuen Sinn und eine neue Bedeutung.

Wir legen hier in möglichfter Kürze den Sachverhalt dar, indem mir nur die Differenzpunfte etwas genauer beleuchten.

Ueber die erfte Jugend des Don Carlos bedarf es nur weniger Worte. Am 8. Juli 1545 geboren, hatte er früh feine Mutter verloren und war bei der wiederholten Abweſenheit feine® Waterd aus Spanten unter der Zeitung feiner Tante Sohanna von Fremden erzogen worden. Was wir aus den 13 erften Lebensjahren wiſſen, find abgeriffene Anekdoten, mie fie am fpanifchen und am kaiſerlichen Hofe erzählt und von den fremden Geſandten,

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beſonders von den Venetianern berichtet wurden. Biel Werth iſt darauf nicht zu legen: ein unbändiged wildes Temperament verrathen fie faft alle. Nur ein Umftand verdient Beachtung. Ein BVertrauter der habsburgiſchen RKaiferfamilie, der 1548 mit Erzherzog Mar nad) Spanien gefommen, Gamiz filderte den fünfjährigen Knaben in einem confidentiellen Berichte als förperlich gute8 verfprechend, aber von befla genswerther Heftigkeit; er hielt 8 für einen Fehler, daß der Prinz nicht genug von Männern regiert wurde, die ihn zu bändigen wüßten, und ſah nichts gutes voraus, wenn man nicht einſchreite.) ALS aus dem fünfjährigen ein dreizehnjähriger geworden, ſprach fin eigener Hofmeifter, Honorato Juan, es aus, daß feine Untermeifung nicht rechte Früchte trage, daß er bei feiner Erziehung auf Schwierigkeiten im Prinzen ftoße, die er nicht überwinden fönne: nur von der perfönlichen Nitwirfung ded Vaters hoffte er eine befjere Wendung. Diefe fehr inhalts— ſchwere Meldung des Erziehers ift nun freilich in einer Ausdrucksweiſe ab» gefaßt, die es abfichtlih umgeht deutlich zu reden: „Philipp werde felbit jehen“, damit ift unfere Einfiht heute wenig gefördert. Wir erfahren eben nur jo viel, daß Grund zu bedenklicher Auffafjung der Zukunft des Prinzen vorhanden war, daß man den abmefenden Vater vorbereitete auf irgend- welche unerfreulichen Dinge in Don Carlos, deutlicher redete man nicht. Nun ift hier gleich der Punkt gegeben, in dem allerlei VBermuthungen in die Gefchichte Eingang ſich zu erzwingen ſuchen. Was das Mipfallen der Erzieher hervorgerufen, was des Vaters Bedenken fofort damals erregt hat, das foll nicht? anderes gemefen fein als der Anfang einer prin- iipiellen Abmwendung ded Sohnes von dem politifchen und kirchlichen Syfteme des Baterd. Entgegen den erwähnten üblen Auffaffungen des Prinzen bringt Schmidt eine Anzahl zeitgenöffifher Stimmen herbei, welche gute Hoffnungen von dem jungen Prinzen bezeugen. Da möchte ich doch fragen: ift das ein mit den Grundfägen kritiſcher Forſchung übereinftimmendes Verfahren, wenn ih Berichte von Diplomaten, die in den eingemeihten Hoffreifen leben, und wenn ich vertrauliche, nicht für den Markt der Deffentlichkeit beftimmte Er- Öffnungen betheiligter Perjönlichkeiten widerlegen oder fchlagen oder bidcredi- firen will durch gelegentliche Lobesphraſen von Kiteraten, die gar nicht über die Sache beſonders genau unterrichtet find und die vielleicht Hunderte von Meilen weit von dem Hofe entfernt figen, über den fie reden; aud das Zeugniß des trefflichen Melanchthon, der in feinem Wittenberg den Studen ten über das ferne Spanien und die Gerühte aus Spanien gelegentlich etwas erzählte, kann in diefer Frage ſchwerlich etwas bemweifen. Was etwa heut- zutage ein braver Paſtor oder Schulmetfter in Deutjchland von Hörenfagen

*) Bericht ded Gamiz an König Ferdinand, vom April 1550, den ich dem Wiener Archive entnommen und in der Hiftorifchen Zeitjchrift abgedrudt habe, XXXIL, 233,

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über den lafterhaften Hof Iſabella's II. auftifcht, würde gewiß Niemand in Vergleich oder in Gegenſatz ftellen mit einem Berichte Eined unferer Diplo- maten über Iſabella, die am fpantfchen Hof beglaubigt gemefen. Aehnlich ift bier das Verhältniß der Quellen.

Nun weiß Echmidt audy allerlei zu fagen über die Voreingenommenheit des Vaters gegen den Sohn, über den tiefen Gegenſatz zwiſchen Beiden, den er fogar recht dramatifch ausmalt, über den Entfhlug Philipp’ ihn von allen Staatsangelegenheiten fern zu halten. Bei allen diefen Ausführungen, die fo fpannend und fo interefjant zu Iefen find, Fann man aber doch die Frage nicht unterdrüden, woher died alle gewußt wird? mit welchen Quellen: ausfagen die einzelnen Angaben belegt werden follen? Und mie feltfam ift diefe ' ganze Geſchichte, fobald man ſich nur nicht die Zeitangaben ganz entziehen | läßt. Bon melden Perfonen ift die Rede? Bon einem Bater, der, als er 1559 nad) Spanten heimfehrte, eben 32 Fahre alt geworden der alfo in den Jahren, um die es fich in diefem Augenblid handelt 1559 —1561 in der erften Hälfte der Dreißiger ftehbt, und von einem Sohne, der noch nichte weiter ald ein Knabe von 14—16 Jahren if. Wir hören aus der möglicit fiherften Quelle, d. h. wir hören von dem Erzieher, dem alle Welt die größten Lobſprüche ſchenkt (und mit Recht erteilt fie ihm aud Schmidt), daß es nicht gut ftehe mit der Entmwidlung ded Knaben, der, wie mir fonft ver | nehmen, in diefen Jahren auch vielfach Fränfelte und dahinſiechte. Wo in aller Welt redet man in ſolchem Falle von „Gegenfas zwiſchen Vater und Sohn“? Sonft pflegt man dies einen unerzogenen oder ungezogenen Jungen zu nennen: wenn Einer nichts lernen will oder nichts lernen fann, fo verfugt der Erzieher ihm das nöthige beizubringen, ohne Rüdfiht auf die eigenen Meinungen des Zöglinge. Das wäre doch eine recht abenteuerliche Pädagogik, die einem unerzogenen jungen Manne fo ohne Weiteres dad Recht einräumen wollte, in kirchlichen und politifhen Dingen als Vierzehn- bis Sechdzehn: jähriger eigene Wege gehen zu wollen. Wer hat fonft ald Entſchuldigung für ſchlechte Erziehungsreſultate einen prinzipiellen Gegenfaß des zu Erziehenden zum Bater gelten laſſen? Wer hier mit derartigem kommt, verfchtebt un- willkürlich das natürlihe Verhältnig der Perfonen zu einander. Mad mir bier wiflen, tft nicht® meitere®, ald daß man mit Carlos’ Erziehungdfrüchten unzufrieden war. Die äußeren Ehren entzog ihm deßhalb Fein Menſch, bei den Staatdactionen trat er auf an der Stelle, wo er hingehörte, und gerne hätte man Ihn noch anders befchäftigt, al® es bei dem damaligen Zuſtande des Prinzen möglich erfchien. Aber, wendet man ein, Philipp hat ihm nicht EhHrenpoften eingeräumt in der Verwaltung der ſpaniſchen Monarchie, mie es fonft Sitte war! Das foll dann vom Mißtrauen de Vaters in die ftaatd- gefährliche Nidhtung ded Jungen Zeugnig ablegen! Zu dieſen künſtlichen

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Auskunftdmitteln wird nur der greifen, dem es undenkbar ift, daß allein wegen feiner nicht gehörig geförderten Entwidlung und Ausbildung Philipp von der Gewohnheit des habsburgiſchen Hauſes abwih. Wie einft Karl V. feinen Bruder und feine Schweftern, feine Frau und Kinder, den Sohn mie die Töhter und den Neffen, auch in jungen Jahren nominell an die Spiße einer Landesverwaltung geſetzt, fo verfuhr auch Philipp, mie befannt, ohne jeden Anftand mit feinen beiden Halbgefchrotftern. Auch von der Verwendung des Don Carlos war 1559 ſchon die Rede und oft trug man ſich auch troß feiner mit den Jahren zunehmenden Charakterverfchlehterung noch wieder mit dem Projekte, ihn zu vermerthen bei der politiihen Arbeit der Monarchie; nit Mißtrauen In feine Richtung, wohl aber Mißtrauen in feine Fähigkeit hat jedesmal die Ausführung gehindert. Freilih, daß Statthalterpoften, an Vierzehnjährige oder Sechszehnjährige verliehen, Keine wirkliche Bedeutung haben Fönnen und felbft bei Zmanztgjährigen noch nicht viel befagen, liegt auf der Hand, aber es wird mie es fcheint gern vergeffen.

Recht draftifch ift ed ferner, wenn man meint, eine religiöfe Entfremdung habe damald ihren Anfang genommen im vierzehnjährigen Knaben! Man kann fi dies zu lebhaften Effektbilde auddenfen. Gezwungen dem Autodafe am 21. Mai 1559 beizumohnen, in auffallend unverfchämter Weife genöthigt zu einem ide, den Fatholifhen Glauben ſchützen zu wollen, fei es nicht zu verwundern, führt Schmidt aus, wenn Carlos zu einem Gegner der Inquiſi— tion und der Firchlichen Regierungdmarimen Philipp's heranwuchs. So leitet Schmidt von der abjchredenden Einwirkung der Inquifition die Motivirung des kirchlichen Gegenfages im Prinzen her. Sch würde der Reste fein, der Jemanden das Recht zu fubjektiven Gefühlsäußerungen beftreiten möchte. Ebenſo wie ich ſelbſt vor Kurzem eine Erörterung über die Inquiſition an— geſtellt habe *), welche eine rein hiſtoriſche und möglichſt objektive Charakteriſtik dieſes feltfamen Inftitutes erftrebte ohne Beimifhung irgend welcher apologe- tiichen oder polemifchen Abfiht, ebenfo fiher hat Schmidt die vollfte Berech— tigung feine entfchiedene fittlihe Entrüftung über die Gräuel der Inquifition fund zu geben; er darf verfichert fein, daß bei der heutigen Stimmung der Menfchen feine Worte lebhaften Widerhall finden werden. Aber ein Anderes darf er niht, von feiner Gemüthäftimmung einen Salto mortale in die Gedankenwelt des fpanijchen Knaben zu machen, das ift ihm nicht geftattet. Was er von Barlos’ damals, 1559, erregten Gefühlen, über die man fih nicht wundern fönne, erzählt, hat er die Pflicht aus gleichzeitigen Quellen zu be: weiſen; und von diefer Pflicht wird ihn das eigene fittlich erregte Pathos wider die Gräuel der Inquifition nicht befreien können. Es find aber, mie

*) Studien und Skizzen zur Gefchichte der Reformationdzeit (Reipzig, F. W. Grunow 1874), S. 16—21.

Grenzboten IV. 1874. 32

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ſchon früher bemerft worden ift, Angaben über den Gindrud jener Vorgänge auf Don Carlos nicht vorhanden.

Was die Kirchliche Haltung ded Prinzen in fpäterer Zeit betrifft, fo habe ih in meiner früheren Abhandlung gezeigt, daß irgend welche vplaufibeln Beweiſe für eine firhliche Abweichung vom Katholieismus überhaupt meder im früheren noch jpäteren Leben vorhanden find, daß alle, was in diejem Sinne vielleicht auf den erften Blick verftanden werden könnte, im Hinblid auf die ganz ficher bezeugten äußeren Thatfachen aus dem Lebenslaufe des Prinzen anders verjtanden werden muß. Das liegt Far audgefprochen vor und die einzelnen Zeugniffe habe ich damals zuerft zufammengeftellt daß Philipp die Beforgnig gehabt hat, fein eventueller Nachfolger merde vielleicht nicht der Mann fein, in feinem Sinne feine Rebendaufgabe für die Aufrichtung der Fatholifhen Kirche fortzufegen; ja in den Kreiſen der fpa- nifhen Staatsmänner gefiel man fi die zugefpiste Phrafe zu wiederholen, im Dienfte der Kirche, im Kampfe gegen die Ketzer würde der fpanijche König nöthigenfalld des eigenen Sohnes nicht [honen. Und man hatte allen Anlaf zu derartigen Vetheuerungen gerade damald, ald der deutiche Habsburger Marimilian in dem fehr gegründeten Verdachte des Proteſtantismus ftand und ald man alle Mittel aufbot, ihn im Schooße der katholiſchen Kirche zu halten oder ihn dorthin zurückzutreiben: gerade im Hinbli auf diefen Apoftaten in der Familie erhält jene mehrfach wiederholte Aeußerung der Spanter einen fehr prägnanten Sinn.*) Seitdem mir ferner wiſſen, was man 1562 ala Grund alles Mißbehagens über Don Carlos bezeichnet hat, bietet fih auf für die Worte der Beſorgniß des Vaterd und des Königs über die Zukunft des Sohned und des Neiches eine ganz ungezwungene Erklärung: ein ſchwach— finniger Prinz, der feine Arbeit fortfegen follte, mußte ficherlich dem Vater die größte Unruhe erregen.

Sm Jahre 1560 trat nun in die Umgebung des Prinzen feine Stief- mutter, die junge Königin Elifabeth ein. Eliſabeth war ungefähr gleichalterig mit Don Carlos (geboren am 13. April 1545); man hatte 1556 die beiden zehnjährigen Kinder verlobt und fie mit einander dereinft zu vermählen die Abfiht gehabt. Der neue franzöſiſch-ſpaniſche Krieg feit 1557 hatte diefen Pakt felbftverftändlich zerriffen. In den Friedendverhandlungen aber von 1559 trat Philipp felbft, zum zweiten Male Wittwer, in diefe Abmachungen ein, er nahm fie felbft zur Frau. Anfangs 1560 Fam die beinahe funfzehn- jährige Jungfrau als Königin nad) Spanien.

Wir befigen über diefe jugendliche Fürftin eine fehr detaillirte und mit eracten Angaben reichlich ausgearbeitete, auf ſehr zuverläſſige zeitgenöſſiſche

) Bgl. meine Abhandlung zu zur Geſchichte Maximiliau's IL. in dem 32. Bande der Hiflo- riſchen Zeitfchrift.

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Quellen vorfihtig und gewiſſenhaft geftügte Biographie aus der Weder de? Marquis du Prat.*) Wir vergegenwärtigen und an ihrer Hand aus den Gorrefpondenzen des franzöfifchen Gefandten und der franzöfifchen Umgebung der jungen Königin ohne Schwierigkeit die betreffenden Verhältniſſe. Da tele ih nun heraus, daß Carlos freundlih der Mutter und fie mit Herz- ihkeit und Theilnahbme ihm entgegengefommen ift. Wir erfahren fehr Veutlih, was für Eliſabeth das Motiv ihres befonderen Intereſſes war: fie folte und wollte die Hand des Stieffohnes für ihre eigene jüngere Schweſter gewinnen, zu diefem Endzwecke fuchte fie auf ihn einzumirken. In der That, jehr einfach und deutlich ift der Sachverhalt, ein ganz reined Verhältniß. Aber ſtandalſüchtige Klatfchen hat es au im 16. Jahrhundert gegeben unfaubere und pifante Erfindungen fanden auch damals ein gern und eifrig lauſchendes Publitum. Nun wurde nad) dem Tode ded Don Carlos, dem ja fehr bald der Tod der Königin folgte (der, beiläufig, der Behandlung der- jelben im Wochenbett durch die fpanifchen Aerzte vieleicht nicht mit Unrecht Schuld gegeben wurde) allerlei gezifchelt und ausgetragen, ald ob Philipp beiden Borfällen nicht fremd geblieben. Der große Prinz Wilhelm von Dranten verfündete offen und ungefcheut in feinem großen Manifefte 1581 dem erfchredten Guropa diefe Dinge, in jener mit der ganzen Leidenjchaft ines unverföhnlichen Haſſes gefchriebenen Brandfchrift gegen feinen jpanifchen Gegner: wir fühlen mit gejpanntefter Theilnahme mit diefem wirklich großen Tanne, wenn wir auc) nicht jedes feiner in der Leidenſchaft hinausgeworfenen Shmähmworte für richtig halten, wir verftehen jedenfalls die Wuth, die feine Feder geführt. Ungefähr zwei Jahrzehnte nachher griff der franzöfifche Abenteuerer und Pamphletiſt Brantome diefelben Dinge auf. Brantome war jelbft in Madrid am Hofe geweſen; er hatte die Königin Elijabeth ge- eben und ebenfo den Infanten. Er miſcht in feiner Schilderung allerlei durcheinander, ſelbſt erlebted und nur geleſenes; es fommt vor, daß er fogar einzelne Züge aus befannten Novellen bisweilen wieder als felbft erlebteg auftiſcht: er will vor allem mit feinen Anekdoten amüfiren, und je ſchlüpfriger die Dinge darzuftellen ihm gelungen, deſto behaglicher wird ihm dabet; ohne eine Bote ift es ihm ſchwer irgend einen Abſchnitt zu Ende zu bringen. Und ein fo befehaffener Autor fol jegt wirklich wieder als Zeuge für ein Verhältnig zwifchen Elifabeth und Carlos zugelaffen werden! Es wird nicht ju umgeben fein, daß mir uns feine Ausſage etwas genauer anfehen. Er berichtet das Folgende: „Eliſabeth fei von wunderbarer Kieblichkeit und Schönheit gewefen, in fo hohem Grade daß fie Jeden, der fie fah, bezaubert; jo habe Philipp ſich, nachdem er ihr Bild gefehen, in fie verliebt und, dadurch)

*) Histoire d’Elisabeth de Valois reine d’Espagne par le Marquis du Prat. Paris, 1859.

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erregt, babe er feinem Sohne die Braut geraubt; bei ihrer Ankunft in Spanien fet allgemeiner Jubel entjtanden, man fagte, Eliſabeth fet vor Anfang der Welt concipirt und in der Abficht Gottes referpirt morden für diefen ihren Gemahl. Auh Don Carlos habe fih in fie verliebt; er fei eiferfüchtig auf den Vater und voller Zorn gegen ihn geworden, fo fehr daß er ihm eines Tages das Unrecht geradezu vorwarf, ſeine Braut ihm geraubt zu haben: und dies ſoll, fügt Brantome hinzu, neben anderen Dingen Ur— ſache feines Todes geweſen ſein. Die Cavaliere des Hofes hätten nicht gewagt, ſo ſchön war die Königin ihr Auge zu ihr zu erheben, aus Beforgnif fi fonft in fie zu verlieben und dann die Eiferſucht des Königes zu erregen und ihr Xeben zu riöfiren. Auch die Mriefter verhielten ſich ebenfo aus Furcht der Verſuchung zu erliegen, da ſie ſonſt bei ihrem Anblicke nicht Hert und Meiſter geweſen wären über die Gelüſte ihres Fleiſches! ) jedoch die hier excerpirte Stelle wird genügend gezeigt haben, wie Brantome dad erbaulihe Thema von der allmächtigen Schönheit der Königin in ſehr wenig erbaulicher, dafür aber recht eyniſcher Weiſe behandelt hat. Ich denke, wer ſich ein wenig in dieſen Schriftſteller hineingeleſen hat, wird ſich weigern als vollgültigen Zeugen für eine in ſolchem Zuſammenhang vorgetragene Sache ihn gelten zu laſſen. Außer der Biographie Eliſabeth's verfaßte er auch eine Lebensgeſchichte des Don Carlos. Hier kehrt dieſelbe Geſchichte wieder; hier aber theilt Brantome auch allerlei anderes noch mit und erklärt ausdrücklich eines jeden Urtheiles über den ganzen Handel ſich zu enthalten. | Die Bemühungen Clifabeth’8 für ihre Schwefter fanden feinen Anflang. In Spanien felbit gab es eine Partei, welche den Prinzen mit feiner Tante, der Prinzeffin Johanna, vermählt zu fehen wünfchte. Der fpanifchen Politil lag einmal der Gedanke nahe, für ihn eine Verbindung wit der Schotten. fönigin Maria Stuart zu ſuchen, doch fegte died Projekt bei Carlos immer eine geroiffe Reiftungsfähigfeit voraus, da ihm ſchwierige politiſche Aufgaben gerade in Schottland zufallen mußten. In der Familie war man darauf aus, die Bande zwiſchen den deutſchen und ſpaniſchen Habsburgern zu per⸗ ſtärken und Carlos mit der deutſchen Prinzeſſin Anna, feiner Baſe, zu verloben. Ueber alle diefe Dinge wurde gehandelt und berathen. Philipp hielt die Entfheidung in der Schwebe: er mußte erft die Entwidelung feines Sohnes abwarten. Die Berhandlungen mit Kaijer Ferdinand find nun unfere vor- züglichite Quelle, die und Auffhluß und Einbliet über die Entmidelung und Natur des Don Carlos gewährt. Wir haben allen Grund, die durch fie erhal tene Information für eine gute und aufrichtige anzufehen: wenn Philipp die

*) Les gens d’eglise en faisaient tout de mesmes de peur de tentation ne cognais- sans assez de forces ct commandement à leur chair pour l’engarder d’en estre tentöe. Bol. über Brantome die Pritifchen Bemerkungen Ranke's a a. O. S. 241 f.

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eigene Familie anlügen wollte, was hätte ihm das für Nuten gebracht? Man darf nämlich nicht überfehen, daß mie zwifchen den herrſchenden Per- jonen, jo auch zwifchen den Rolitikern von Wien und Madrid die allerengten Beziehungen walteten: unter Karl V. hatten fie ja alle Einem Herrn und Ginem Ziele gedient; und diefer Zuftand wirkte damald noh nad. Der Diplomat, der den Kaifer Ferdinand von 1560 bis 1563 in Madrid vertrat, Martin de Guzman murde mit dem vollften und rüdhaltlofeften Vertrauen von Ferdinand und auch von Philipp beehrt; ihm murde die Wahrheit gefagt, und auf feine Didcretion verließ man ſich vollſtändig; er, der Spanier hatte in Mabrid Gelegenheit Nachrichten einzuziehen und Urtheile fi zu bilden, nie faum ein anderer der fremden Diplomaten. Und durch diefen Guzman wurden gerade die Erörterungen über Don Carlos und feine Verlobungsan- gelegenheit geführt. Während aber Guzman in Spanien Philipp's Erklärung über Don Carlos’ Zukunft herbeizuführen befchäftigt war, hatte Philipps Vertreter am Wiener Hofe, der Graf von Luna, eine andere delifate Ange- legenheit zu betreiben: Philipp wünfchte einen oder zwei feiner Neffen, unter ihnen den älteften, den jungen Erzherzog Rudolf, nah Spanien gefhidt zu erhalten, um fie hier gut Eatholifh und gut fpanifch erziehen zu laflen. Das war ein Pfand für die Gefinnungsänderung Marimilian’s, für feinen Entſchluß beim Katholieismus auszuhalten; es wurde aber zu gleicher Zeit ſchon ein Hinweis gegeben auf die Möglichkeit, daß Rudolf der Erbe auch der fpani« jhen Krone würde. So ftand ja die Sache: Philipp felbft war nit von fefter Gefundheit; aus erfter Ehe hatte er den einen Sohn, Carlos, an deijen Succeffionefähigfeit er damals ſchon zweifelte, die zmeite Ehe war Finderlod geblieben ; und die dritte Frau, Elifabeth, war noch fehr jung: fie war biäher nicht ſchwanger geworden; man beforgte damals noch, daß fie überhaupt un. ftuhtbar fein könnte: daraus ergab ſich aber dad eventuelle Erbrecht der deutſchen Linie, und Philipp wünfchte aus diefem Grunde unter feinen Augen den Neffen aufwachſen zu fehen. *)

Miederholt war im Jahre 1561 verlangt worden, daß Philipp fih äußere darüber, ob Carlos die Erzherzogin Anna heirathen würde. Er hatte immer eine beftimmte Antwort vermieden, er hatte die häufige Krankheit des Prinzen ald Urfache feiner Zögerung angegeben. In Wien war man damit nicht zu- frieden ; man wiederholte die Anfrage in dringlicherem Tone. Da entihloß fih Philipp deutlicher zu werden. Im Mär; 1562 erhielt Guzman einen Beſcheid, welcher den Mangel an Gefunpheit und die „indisposicion“ des Prinzen ald Grund anführte, weshalb man zur Zeit über feine Zukunft noch

*) Detaillirtere Mittbeilungen, Eitate und Wortlaut der mwichtigeren Aktenftüde findet man im 32. Bande der Hiftorifhen Zeitfhriftl. Das entfcheidende Document, das endgültig alle Gontroverfen über Don Carlos erledigt, ift ein eigenhändiges Schreiben Guzman's an Fer⸗ dinand vom 10. März 1562 a. a. D. ©. 290 f.

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nicht beftimmen könnte. Neben diefer förmlichen Erklärung gab aber Philipp's leitender Minifter, der Herzog von Alba, dem Gefandten mündlide Auf: fhlüffe, die als fehr vertrauliche und fehr geheime behandelt werden follten: danach war Philipp im Principe wohl einverftanden mit der Verlobung zwiſchen Carlos und Anna, aber jest hielt er e8 für unmöglich, ſich zu entjcheiden; als Grund dafür bezeichnete er „den Mangel an Gefundheit, verbunden mit den Mängeln in der Perfönlichkeit des Prinzen, ebenſowohl in Urtheiläfraft und Charakter ald im Verftande, der meit zurüdgeblieben ſei hinter dem, mas man in feinem Alter zu erwarten pflege**); und Alba fügte hinzu, Philipp wünfche, weil er an feinem Sohne verzweifelt desconfiado de su hijo —, grade die Gegenwart feiner Neffen in Spanien; jo würde man die Zeit ge winnen, um zu erfahren, ob nicht mit Befferung der Gefunpheit auch dad andere fich befjern werde: dann könne man endgültigen Befchluß über die Verlobung u. f. w. faffen.

Diefe wichtige Eröffnung des fpanifhen Königs, die ich erft vor Kurzem aus dem Miener Archive enthoben, giebt und nad meinem Ermefjen den Schlüſſel zu allen Unklarheiten und Räthſeln. Sie berührt augenfcheinlic diefelben Dinge, die einft Honorato Juan 1558 fehon dem Vater gemeldet: feitvem hatte Philipp zwei und ein halbes Jahr felbft feinen Sohn beobachtet und diefen traurigen Eindrud von ihm gewonnen, Begreiflich finden mir e&, daß man noch immer an die Hoffnung ſich feitflammerte, eine Wendung fei möglich, begreiflih, daß man deshalb dem Prinzen Gelegenheit gab, fich in eigener Thätigfeit zu üben und zu erproben (fogar in den Staatörath lief man ihn eintreten und behandelte ihn, den Außerlichen Formen nad, durch— aus nicht in ungewöhnlicher Weiſe) begreiflich freilich, daß man ihn nicht in felbftändigen Aemtern befhäftigte, fondern ihn unter den Augen und unter Aufficht behielt, begreiflich aber auch, dag man died traurige Mißgeſchick des Herrſcherhauſes nicht vor der Welt paradirte, fondern, wenn man es gar nit umgehen Eonnte fiy darüber zu äußern, dann mit geheimnißvollen Andeu— tungen fi begnügte. Wir dürfen zur Erklärung diefer Geheimnißtäuerei wohl daran erinnern, wie zart und wie ſcheu einft die Habsburgifche Familie einen andern ähnlichen Fall, die Geiftesfrankheit der Königin Johanna, ſchon behandelt hatte: es galt damald gemiffermaßen für eine Schmach. für ein möglichſt ſorgfältig zu verdeckendes Unglück, eine Wahnſinnige oder einen Schwachſinnigen in feiner Familie zu haben! Aus keinem andern Grunde ver mied man es, ſich über diefe Sache offen zu erklären.

Alerdingd, das Geheimnig ließ fich nicht vollftändig bewahren. Es

) La falta de salud del principe junta con las que en la persona de su alt. ay, asy

en juicio y ser como en entendimiento, que queda muy atras de lo que en su edad # requiere,

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mangelt niht an Anzeichen, daß die fremde Diplomatie in Madrid der Sache auf die Spur gekommen ift. Wir begegnen in Gefandtendepeichen wiederholt mehr oder weniger verdedten Hinweiſungen; wir erfahren durch diefelben De- pefhen, dag auch die Minifter Philipp’3 fi den fremden Botſchaftern gegen- über mitunter in einer Weiſe audgelafjen haben, die ähnliche Gedanken in ihnen wachrufen mußte. Der vattcanifche Gefandte glaubte fhon 1563 in feiner Relazton , alfo in einem Schriftftüde, das in der diplomatifchen und höfiſchen Gefelfhaft von ganz Europa befannt werden mußte, von der zeit- weifen Geijtegabmefenheit des ſpaniſchen Infanten reden zu dürfen, mit dem Zuſatze, daß diefer Zuftand bei ihm um fo bemerfendwerther wäre, als er ihn durch erbliche Webertragung von feiner Urgrogmutter überfommen zu hıben fchiene.

Hter aber entjteht die Frage, welchen Glauben wir diefen Mittheilungen kr Spanischen Regierung und den durd fie beeinflußten diplomatifchen Be— tihten beimeffen können. Schmidt erhebt gegen ihre Glaubwürdigfeit Be— denken und Einwendungen, die ihm und vielleiht auch Manchem feiner Leſer von Bedeutung erfcheinen. Wir haben ihrer Prüfung unfere Aufmerkjamteit demnächſt zugumenden. Wilhelm Maurenbreder.

Friedrich Fiſchbach's Helbfihiographie.*)

Brief an einen Kunſtgelehrten.

Lieber Freund. Ich folge mit einigem Widerſtreben Ihrem wiederholten, freundlichen Drängen, Ihnen mitzutheilen, wie ich mich in meinem Fache biher herangebildet und bewegt habe. Sie wiſſen mie leicht der Vorwurf verfönlicher Eitelkeit und Ueberſchätzung von gewiſſen „Feunden“ verbreitet wird, und diefer dürfte mir um fo weniger erfpart werden, ald ja mein Fach dad Afchenbrödel der Kunftfamilie und ala Kleinkunft nur die große Baſis ft, von der ſich die „ausgezeichneten“ SImdividualitäten der hohen Kunft erheben follen.

Nachſtehende Selbftbiographie war urfprünglih nicht für die Deffentlichkeit beftimmt. Sie follte nur Material liefern zu einem biographifchen Artikel. Da fie aber ala lebendige Schilderung des Lebendganged eines unferer bedeutendften Ornamentiften, welcher in vielfei« tigfter und erfolgreichfter Weife auf die Kunftinduftrie unferer Tage von Einfluß gemwefen ift, und noch ift, feiner Beftrebungen und Kunft, feiner Anſchauungen, die in ihrer urfprünglichen Form jedoch auch für weitere Kreife von Intereſſe und für unfere Zeit im höchſten Grade

Harakteriftifch ift, theilen wir fie bier unverfürzt mit. Sie fann manchem jungen Talent ein &itftern fein.

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Indeſſen glaube ih, daß auch für das Allgemeine, wenn es im Gegen- faße zur herrfhenden Mode erkannt und zum Siege gebracht werden foll, energifche Talente nöthig find, deren Kampf für fpätere Zeiten von einiger hiſtoriſcher MWichtigfeit fein dürfte, und deren Bildungsweg für die jüngeren Fachgenoſſen von Intereſſe it. ine übertriebene Befcheidenheit möchte ich mir daher auch nicht vormerfen, da ich gern und offen geftehe, daß ich mehr meinem Studium und meiner Beharrlichfeit und einer glüdlichen Begabung für chythmifche Formen und Harmonie der Farben, ald einer befonders großen Geftaltungsfraft meine Erfolge verdanke. Noch mehr aber verdanfe ich der Zeit, in der ich zu wirken berufen bin, denn diefe wandte fi durch die Belehrungen bedeutender Literaten wie Falfe ꝛc. und durch den Einfluß der Architektur und der Mufeen den Stylbeftrebungen zu und würdigte nach und nad eine Fünftlerifche Thätigkeit, die zur allgemeinen Reform abfolut die Hauptbedingung iſt. MWelder Arciteft und melder Kunftgelehrte hat wohl Luft und Beruf, die erfannten Wahrheiten oder Principien mit den oft - ſehr trivialen Mitteln des Kunſthandwerkes praktiſch zu verwirklichen? Daran ſcheitert einftmellen fehr viel. Wir leben in einer fonderbaren Kunftepocdhe, in der es fait mehr Schriftiteller über das alte Kunftgewetbe, ald produktive Ornamentiften giebt. Es ift wohl das Zeichen der Uebergangs— epoche und daher ift das DBeifpiel der „jhaffenden* Künftler von einigem Werthe. Sonft ift ein Edftein im Grunde ja ein gewöhnlicher Stein und nur der Platz verjchafft ihm die größere Bedeutung. Mir fommt vor Allem zu ftatten, daß die Mafchineninduftrie feit einigen Jahren in die Phafe ein: getreten ift, die Trivialttät der Mode zu verlafien, um mit der Handarbeit der beten Kunftepochen zu wetteifern. Wenn man bedenkt, daß zu diefer Aufgabe der Zeichner zunächſt die Sprache der Drnamentif in faft allen Materialien und fait aller Zeiten fludiren muß und nicht minder au die technifchen und commerziellen Eigenheiten der Mafchineninduftrie zu würdigen hat, fo wird man die intellektuelle Arbeit der Ornamentiften weniger mie bisher bei der Gründung von Kunftgemwerbefchulen unterftügen dürfen. Der Kohn des Erfolges liegt dafür in der Verbreitung einer Fülle von fchönen Drnamenten, die früher nur für einzelne Paläfte und Kirchen beftimmt waren, jet aber fozufagen Gemeingut der gebildeten Welt werden. Hierzu ift aber ein Zufammenmirken des Fabrifanten, Händler und Zeichnerd und ein Entgegenfommen der Käufer nothwendig. Letztere zählen bei der Mafchinen: induftrie nad Tauſenden und "jomit ift wiederum der Erfolg von der ge fteigetten Bildung des Geſchmacks der Maſſen abhängig. So hatte ich in meinem Kreife zunächft den Einfluß auf Fabrikanten und Händler, dann durch Wort und Schrift auf die Maflen zu erreichen, um einen dauernden Erfolg mir zu fihern. Es war und ift noch eine Kette mühſeliger Arbeit,

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die nur durch die Lichtblicke des geficherten Erfolges belohnt wird, und fomit darf ih fagen, daß wenn fpäter im ficheren Geleife Alles ſich bewegt, und Deutihland ganz von Paris fich emancipirt hat, meine Arbeit mehr wie die vieler Anderen ein Suchen dieſes ficheren Weges war.

Meine perfönlichen Erlebniffe find durchaus nicht abenteuerliher Natur und nur infofern mohl von Intereſſe ala ich in Berührung mit vielen be- Kutenden Männern fam, die mich in meinem Streben mwürdigten und för- detten. Doch ich muß hübſch von vorn beginnen. Zunächſt daß ich das große Glück hatte, ein Elternpaar zu befißen, da® in feinem idealen Weſen von Allen verehrt war, die je in feinen Kreis traten. Mein Vater Peter Fiſchbach war Wriedensrichter in Aachen, Wallerfangen und Bensberg und farb ald Abgeordneter 1870 in Berlin. Seine religiöfen, politifhen und fumoriftifchen Lieder habe ich 1871 mit einem meiner 4 Brüder heraus— gegeben. Meine Mutter Catharina Fiſchbach geb. Severin, war eine Schülerin von Beter von Gorneliud und -von Kolbe in Düffeldorf und blieb der damald dort gepflegten poetifchen Richtung bi® zu ihrem Tode 1872 treu. ihrer itealen Auffaffung des Lebens, der Natur, ihrer Begeifterung für die Claſſiker und vor Allem ihrem Beifpiel verdanke ich das Befte, was ich bin und leiſte. Sind auch ihre Gemälde in Bezug auf realiftifches® Colorit weniger hervor- ugend, jo haben fie do eine Reinheit und Kraft in der Darftellung des Pealen, die ich höher ſchätzen darf, ala realiftifhe Wahrheit ohne die Weihe iner edeln Fünftlerifhen Auffafjung, Im meiner Wohnung habe ih eine größere Anzahl diefer Wilder placirt, an die ich von frühefter Jugend gewöhnt bin und die mir das Mefen der theuren Mutter in ihrer fünftlertichen Sprache gegenwärtig halten.

Billiger Weife legen wir Alle auf unfere frühefte Entwidelung den größten Werth, denn fie tft beftimmend für die fpätere. Ich muß mir jedoch verfagen, die erjten Eindrüde an diefer Stelle feftzuhalten, fondern will lapidariſch kurz ermähnen, daß ich 1839 in Aachen geboren bin, von 1840 bis 1844 in Wallerfangen bei Saarlouis und von 1844 bid 1854 in Bens— berg bei Göln meine Kinderjahre verlebte, dann in Cöln bis 1859 das Gym- nafium bis zur Prima und bis 1862 die Mufterzeichenfchule in Berlin beſuchte.

Auf dem Gymnafium Hatte ich ſchon Vielerlei gezeichnet und in den Herbftferien die Düffeldorfer Maler in den Wald bei Bensberg begleitet, um Eichen zc. zu zeichnen. Mein Bater folgte dem Rathe des Commerzienrathes 8. Schöller in Düren, mich Deffinateur werden zu laffen, obgleich ich nur ehr dunkel die Bedeutung diefes Worte damals erfannte. In Berlin machte I einen ordentlichen Curſus im Zeichnen nad der Antike durh und fam

dann in die Compofitiondklafje zum Direktor der Anftalt Ban der Syp. Grenzboten IV. 1874. 33

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Wenn ich heute an diefe Lehrjahre zurücdenfe, jo finde ich nur das Gute, daß ich mandherlei Naturftudien machen mußte und vor Allem einen gründ- lihen Haß gegen die geiftlofe Effekthaſcherei des ſog. Naturalismus einfog. Heute die Nofe nah rechts, morgen ein ähnliche® Bouquet mit der Rofe nad) Iinfa, dag war dad Alpha und Omega und von Styl oder vernünftiger Beachtung des Materialed und Zweckes gar feine Rede. Ich war dur ein Kleine Stipendium an diefe Anftalt gefeljelt, die mir um fo gründlicher ver- leidet wurde, ald mir dur die freundliche Theilmahme und Belehrung des Herrn Profeſſor 8. Rohde die Augen über die Bedeutung der Ornamentif und über meine Nebendaufgabe nah und nad aufgingen. Immer mehr trat ih in Oppofition gegen den franzöfirten Belgier Ban der Syp, der meine Beitrebungen zu unterdrüden fuchte und höhniſch mir 1861 noch fagte, id werde fein rechter Drnamentift, weil ih „zu deutſch“ fe.

Damals begann ich dad Sammeln der Webeornamente von den Bildern der Berliner Gallerie und wurde in Cöln mit dem für die kirchliche Para- mentif jo einflugreichen Canonicus Dr. Fr. Bock befannt.

Die gefammelten Muſter arbeitete ich zunächt für Tapeten und Kirchen: ftoffe au, wodurch ih die erjten Honorare von Gebrüder Hildebrand in Berlin und Gafaretto in Erefeld erhielt. Diefe benugte ich, um 14 Tage in Halberftadt und Quedlinburg die alten Stofffammlungen zu copiren. Der Beſuch des in Defterreich renommirten Tapeten-Decorateurd Fr. Schmidt in Berlin, veranlaßte mein Engagement nad Wien und fomit ſchied ich von dem mir durch freies Theater und durch Vorlefungen in der Univerfität und durch die Mufeen in der Bildung überaus förderlichen Berlin, um meine praktiſche Carriere an der Donau zu beginnen. Welche Wahl blieb wir auch übrig, wenn ich nicht nach Paris gehen wollte, welches ich ja in feiner Tendenz befämpfte? Die Fabrifanten des Zollverein? hingen von Paris ab und waren zu vorfihtig und zu wenig organifirt, um ſich auf eigene Füße zu ftellen. Wien mar daher damals für mich das befte Feld, denn dort war ein jelbftändiger Geſchmack und eine Anzahl reicher Fabrifanten, die aus Ehrgeiz das Beſſere anftrebten. Zunächſt erfannte ich in dem Decorationd geihäft von Schmidt u. Sugg das Zufammenmirken der verjchiedenen Induſtrie— zmweige, um die Wohnung harmoniſch zu jhmüden. Da jedoh Schmidt eine viel zu felbftifche Natur war, um mich anders als einen gewöhnlichen Zeichner zu benugen, fo übernahm ich von 1863 bis 1865 die artiftifche Leitung eines neuen Decorationdgejhäftes von R. und B. Sieburger. Hier. lernte ich die Berhältnifie kennen und benugen, die zwifchen dem Fabrikanten, Händler und Rublicum beftehen und Hatte die Aufgabe überall fo einzugreifen, um ein gutes Refultat zu erzielen. Es waren derbe Lehrjahre, in denen ich einige taufend Räume in Wien decorirte und täglich oft an 12 Stellen die Arbeiter

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beauffihtigte. Indeſſen führten R. und B. Steburger mit gutem Erfolge einige Dutend meiner Mufter in Tapetendruck aus und trat ich mit Giani und Ph. Haas u. Söhne in Verbindung, welche in Kirchenftoffen und Teppichen meine gefammelten und componirten Ornamente webten. Der fich fteigende Erfolg diefer Firmen ift befannt. Nebenbei befuchte ih ſchon 1863 einige Vorlefungen von Eitelberger und murde bald nachher in die Enquöte in Bezug auf die Sammlungen de 1864 gegründeten Kunftinduftrie - Mufeums berufen. Die Bekanntfhaft mit Jacob Falke und den berühmten Architekten Schmidt Hanfen und Ferſtel war mir durh den Austauſch der Anfichten während meines achtjährigen Aufenthaltes in Wien ungemein fördernd. ch murde zum Gorrejpondenten und Zeichner des E. f. Mufeumd für Kunft- induftrie ernannt und übernahm ed, die inzwijchen von Bock angefaufte Stoff: jammlung zu copiren. Außerdem hatte ich in Cöln, Münden, Nürnberg, Salzburg und in Wien meine eigene Sammlung bedeutend vermehrt. Diefe wurde jpäter vom Muſeum mit den Copien nad der Bockſſchen Sammlung angefauft. Bon 1865 big 1870 bejchäftigte ich mich lediglich theild mit ſolchen archeologifchen Arbeiten und theild mit Compofitionen für die vers Ihiedenften Induftriellen und Anftalten. Speziell in Tapeten eroberte ich mir nah und nad faft alle Fabrifanten von Defterreihh und Deutfchland. ch nenne Speziell Engelhard in Mannheim, Schüt in Wurzen, Herting in Einbed, Flammerdheim in Cöln und fpäter Hochftätterd Söhne in Darmftadt. In Teppichen war fpeziell Th. Haas u. Söhne meine Kunde bis 1870, da ich fpäter auch noch Roßeamp in Springe, Korte u. Cie. in Herford und in um- fafenderer Weiſe Geverd u. Schidt in Schmiedeberg Teppich: Mufter compo— nirte. Joſ. Dierzer in Linz und Schöller in Düren führten nur wenige Nufter aus.

In Welpwäaaren befchäftigten M. Faber & Cie. mich feit 1865 für ge- webte Vorhänge und Spitzendecken, die durchgreifenden Erfolg hatten. Dann führten 1868 Brune & Lippelt in Bielefeld eine größere Anzahl Tifchdeden in feinftem Damaft nad) meinen Entwürfen aus. Später auch Hille & Ditt: rich in Warſchau. Alle diefe Arbeiten Tieferte ich zugleich in der Patrone, da in der Vergrößerung und Ausarbeitung die in Stylformen ungeübten Fabrifs- jeichner mir jede ftrenge Contur verhuntzten. Diefe Tupfarbeiten für Teppich und GStidereigefchäfte veranlaßten mich 1869 mein Album für Stiderei her auszugeben, welches bekanntlich in den nächſtfolgenden 5 Jahren vier Eleinere Auflagen erlebte. Noch heute ift e8 ohne Goncurrenz, weil es wenige eich. ner giebt, melde es verftehen, die claffifchen Stylformen in den geeigneten Varben fo audzuarbeiten, ald ob fie in dem quadratifchen Nete gemachfen fein. Es liegt eben die Hauptfache der Compofition in dem Sinne für

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das Allgemeine und Einfach» Elementare, was die Grundlage diefer an und für fich befcheldenen aber ungemein verwendbaren Ornamente bildet.

Jetzt erlangen diefe Ornamente dur die große Druderei von E. Ebner in Stuttgart eine audgedehntere Verbreitung als es durch meinen Selbftoer lag möglich mar.

Die Wichtigkeit der Publication der Ideen über die Reform der Kunft: induftrie mie der Zeichnungen war mir ſchon von 1864 an Flar, ala ich be, gann, die erften Feuilletons in der E. E. Wiener Zeitung über die Tapeten decoration zu fohreiben. Ohne diefer Thätigkeit eine fachliche Bedeutung ald Schriftſteller beizumefjen, habe ich doch jährlich fowohl in den Fachblättern z. B. der Gemwerbehalle, der Wochenſchrift Kunft und Gewerbe und den Blät- tern für Kunſtgewerbe von Teirich manchen Beitrag geliefert, mehr aber noch der Tageöliteratur Berichte über Ausftelungen und Abhandlungen für Taged- fragen gefchrieben, die zum Theil noch in guter Erinnerung find, So war id 1867 Berichterftatter der Didascalia in Wien und lieferte außerdem der bor- tigen Deutichen Zeitung und der Rheiniſchen Zeitung Berichte. Das Studium der großen MWeltaußftellungen hat mich nächft den Mufeen wohl am meiften ge: fördert. Sie find die Univerfitäten der Kunftinduftrie.

Die erfte Publication meiner Etoffcopien unter dem Titel „Styliftifche Flachornamente“ 1866 murde in der Fortjegung durch A. Morel unterbroden, da diefer dad Werk in großem Mapftabe vorlegen wollte. Es war bis 1870 big zur 70. Tafel meinerfeit fertig, ald der Tod Morel’3 und der deutid- franzöfifhe Krieg Alles in Stoden brachte und die Fortfegung in Frage ftellte. 1873 holte ich mir die in Unordnung gerathenen Sachen aus Paris zurück und liefere nun wohl ununterbrochen dieſes Werf, an dem ich 15 Jahre gejammelt habe. Es ift zunächft auf 120 Tafeln Buntdrud in der Auflage von 1200 Eremplaren berechnet und fol möglichft billig die beften Stoffor- namente vom 8. bis 18. Jahrhundert der heutigen Kunftinduftrie zugänglid machen. Zu beachten ift, daß unfere deutfchen Zuftände mich einftmetlen noch zwingen, Sammler, Zeichner, Lithograph und Selbftverleger in „einer“ Perſon zu fein und daß es feine beneidendwerthe finanzielle Aufgabe ift, die großen Unkoften ſolcher Werke allein zu tragen und fchlieplich noch den Ab: ſatz derfelben zu leiten.

Ich muß jedoch zurücgreifen und nachholen, dag Zurüdjegungen von Seiten der Mufeumddireftion in Wien und ferner der Wunfh, das unge: funde Klima Wiend nah einer fehr ſchweren Krankheit meiner Frau (feit 1868 vermählt) mit einem befferen zu vertaufchen, mich 1870 veranlaßt hat: ten, eine mir in Einbed angebotene Stelle anzunehmen. Nach vielem geifti- gen Ueberarbeiten war mir die dort durdy den Krieg verurfachte Muße eine Wohlthat, denn ich arbeitete den Sommer hindurd meine fachlichen Erfah-

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zungen foftematifch aus. Im Herbfte 1870 übernahm ich dann die Lehrer— ftelle an der Eöniglichen Ucademie in Hanau a. M., die mir ſowohl den ent: iprehenden längft gewünſchten Wirkungskreis ald auch die Muße zur Fort: führung der biöherigen Thätigkeit für die Kunftinduftrie bot. Die Eönigliche Academie zählt jest 460 Schüler und 30 Schülerinnen.

Fehlt mir auch die „tägliche” Anregung einer Weltftadt, fo giebt mir doch der möchentliche Beſuch Frankfurtd und der jährliche Beſuch einer Welt- dadt wie Wien oder Paris genügenden Erfas und habe ich den für den haffenden Künftler fo fchwermiegenden Vortheil, daß ich in Hanau Land» und Stadtleben vereinige und diejenige Muße finde, die das Befte in und wur Reife bringt.

Immerhin preife ich mich jedoch glücklich, die befte Zeit der großen Bau— woche Wiens in Verbindung mit den bahnbredenden großen Männern verlebt u haben, und nunmehr die dort zum Siege geführten Ideen auch in den Verhältniffen der Heimath einzubürgern. So glüdte es mir denn auch in Verbindung mit dem Direktor der hiefigen Academie Hausmann und mehreren einfihtövollen Männern Hanaus den hiefigen Kunftinduftrieverein zu gründen und zur fchnellen Blüthe zu bringen.

Andererſeits glüdte mir die Bereinigung einiger Induſtriellen, wie Hoch— Hitter's Söhne und 3. Joſt in Darmftadt und Frankfurt, welche in epodhe- mahender Weiſe Paris gegenüber die zerlegbare architektoniſch gegliederte Iopetendecoration zum Siege brachten. Meine erfte derartige Decoration murde 1869 vom Gewerbverein in Wien mit 300 fl. prämiirt und von Schüß in Wurzen gedrudt.

Hatte ih in Wien noch fpeziel für Porzellandecoration durch Email: lithographie mit Koch, und Glasdecoration mit H. Ulrih und in Parquetten für Gebrüder Leiſtler gearbeitet, fo fügte ich bier noch die Fabrikanten für Vederinduftrie 3. B. 3. F. Knipp in Bezug auf Albums, Engelhardt in Wiesbaden für Holzverzierungen und %. G. Zimmermann in Hanau für Gifenguß, fomwie Naumann und Dandorf in Frankfurt für typographifche Randverzierungen und Rampenfchirme in den Kreid meiner Arbeiten für die Öroßinduftrie. |

Ich übernahm ferner die Herausgabe von Nofetten und Eckſtücken für die Tapetendecoration und fomit ftehe ich nicht weit vom Ziel, um fagen zu dürfen, daß für alle Gegenftände der Wohnungddecoration, welche von der Maſchineninduſtrie geliefert werden, die geeigneten Gompofitionen für jegliches Material vorhanden find.

Um diefe Ideen in der Durdführung zu erleichtern und die früheren Mufter vor Vergefienheit zu retten, da die Stylmufter von den Händlern grade wie Modemufter behandelt werden, alte jährlich den neuen weichen

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follen, verfuchte ich die wichtigſten Sompofitionen zu publiciren. Es erſchienen die Beiden Lieferungen ded Albums für Wohnungsdecoration, in denen die für Vorhänge und Teppiche gelieferten und ausgeführten Compofitionen mit Ungaben der Bezugsquellen publicirt wurden. Die Teppicheompofitionen werden in der Folge auch im Buntdruck erfcheinen, fo wie auch die Tapeten: borden un. |. w.

Sn Paris Iernte ich 1867 den Slavonier Felirday fennen, der mit feinen nattönalen Teppichen großes Auffehen machte. Als er von mir die Bebeutung der Ornamentik für Haudinduftrie erfuhr, ftellte er mir das Material zur Publication zur Verfügung und übernahm einen Theil der Unkoſten. So entftand das 1872 herausgegebene Werk „Südflavifche Ornamente”, meldet in vorzüglichem Drude von Dondorf ausgeführt wurde. Die Minifterien in Berlin und Rußland abonnirten, jedoch lehnte das öfterreichifche Miniſterium nad dem Gutachten Eitelberger'8 da8 Abonnement ab. Das ungarifche kgl. Miniftertum betraute mich 1873 mit der Heraudgabe eines ähnlichen aber größeren Werkes, welches 1875 erfiheinen wird. Zu gleicher Zeit ift noch ein Borlagemwerk für den elementaren Zeichenunterricht in Arbeit.

Diefe Aufgaben hätte ich nicht Iöfen Fönnen, wenn ich nicht mir bie Hülfe in guten Mitarbeitern auf meinem Atelier verfchafft hätte. 1865 gab ih Zeichenunterricht in dem Taubftummeninftitute Wiens und bemerkte dort einen talentwollen Jungen von 14 Jahren. Diefer Joh. Redinger ift feit 10 Jahren mein Gehülfe und hat fih in Allem tüchtig bewährt.

Der Eontraft im fubjectiven Schaffen und objectiven Genießen und Stu- biren ift zu beachten, um täglich ein große® und vielfeitige® Arbeitspenſum zu abfolviren. Wichtig ift ferner mit allen befonderen Erjcheinungen der Ornament-Publicationen vertraut zu bleiben und die beiten Sachen auf dem Meltmarkte zu ftudiren. MWarnen muß man jedoch jeden Zeichner, zu viel zu copiren und mehr wie Skizzen zu machen, um die eigene Originalität nicht einzubüßen. Nie fol man beim Componiren zu viele Anbaltspunfte neben fich legen, fondern diefe erft zur Ausarbeitung in gewiſſen Fällen berbeiziehen, wenn der Charakter des Ganzen fhon feititeht. Nur hierdurd retten mir die Originalität und Naivetät der Compofition, und entgehen dem Eklektieismus, der in unferer Zeit mehr mie je dur Publicationen genährt wird und die halben Talente groß zieht. 1873 fand ich in Stalien, welches ich in feinen michtigften Städten bis Neapel kennen lernte, fehr viele Drna- mente, welche von Wiener Coryphäen als eigene Erfindungen in Cours ge bracht waren. Spätere Zeiten werden diefe fflavifchen Copien ſcharf tadeln, da wir Tedigfich die Aufgabe haben, das Gute der alten Zeit zu ſtudiren, um unfer eigenes Empfinden und Erfinden um fo vollfommener und reicher

zu geſtalten.

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Deshalb fuchte ich auch über die alten Vorbilder hinaus, die ich von Stoffen und Bafen ꝛc. fleißig fammelte, möglihft zu deren Vorbildern in ber Natur zurückzugreifen. Auf Spaziergängen fammelte ich viele Jahre hindurch und heute noch fehöngeformte Blätter und Blumen und verdanfe diefer Be- (Häftigung einen ebenfo großen Genuß der Naturfreude ald auch manches Drrament, welches heute im Handel verbreitet if. Mein Sprüdhlein:

Leben und Entfaltung

Herrſcht in der Natur,

Rhythmus der Geftaltung

Zeige die Contur. enthält wohl dad Wefentliche, was der Ornamentift beim Studium zu beadhten bat, denn bezeichnend genug Fönnen wir nur diejenigen Pflanzen vermerthen, melde rhythmiſche und geometrifche Geftaltung erlauben. Für die rein geometrifche Ornamentik fand ich den Schlüffel in der Theorie des Lichtes und publicirte diefe Studium unter dem Titel „Einfluß von Licht und Farbe auf die Formbildung der Ornamente“ in der Gewerbehalle 1873. Indeſſen ift nicht zu überfehen, welche Anzahl bedeutender Kräfte fich in den legten Jahren der Pflege der Kunftinduftrie widmen und daß ich diefen meine Erfolge zum Theil mit verdanke. Erhalten wir den 1873 in meiner mit Zimmermann in Hanau verfaßten Petition angeftrebten Meiſterſchutz, fo dürfen wir in einigen Jahren wohl behaupten, daß Deutſchland im artiftifchen Bettlampf mit Frankreich einem Siege entgegengeht, der wie in der Malerei um jo fiherer und ſchöner iſt, ald er zunächft im Werthe des idealen In— haltes und fpäter auch in der techniſchen Ausſtattung der Gegenftände beruht. Jedes Bürgerhaus foll eine Stätte der Kunft werden, das iſt die große Auf— gabe der Kunftinduftrie und fchäge ich mich glücklich berufen zu fein, diefe Aufgabe thatkräftig ihrer Röfung entgegen zu führen. Den Sporn dazu ver- danke id) wie ſchon bemerkt, zum Theil meinem franzöfifchen Lehrer Ban der Syp, wie ja eine ftarf gebeugte Feder um fo ftärfer emporfchnellt. Prof. Lohde in Berlin ift aber in Wahrheit mein Führer im erften Jahre meined Schaffens gewefen und dann audy förderte mich) Gropius, während Böttcher's nüchterne Theorie mich zwar jehr intereffirte, aber zum Glück nicht zu flarf beſchäftigte, da in ihr die Profa des Galculd die Friſche de? Empfindens beeinträchtigt.

Die kirchliche Richtung von Schmidt, Eſſenwein und Bock führte mid, zu vielen gothifchen und romanijchen Entwürfen für Teppiche, Kicchenftoffe und Paramenten. Da ich aber ftet? vom ftofflich-decorativen ausging, fo fonnten die fchroffen Principien diefer Stylarten mich nicht davon abhalten, daß eigene moderne Empfinden mit den alten Motiven zu verfhmelzen. Diefe individuelle Berechtigung erkenne ich ebenjo den griechiſchen, römifhen und orientalifhen Stylarten gegenüber an und fehe darin die einzig mögliche

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Weiterbildung der alten Stylformen. Im Großen und Ganzen tft dieſes das Mefen jeder Renatffance und mithin gehört auch ihr mein Schaffen, wenn ed auch anders ift als die ſpeziell italtenifche, franzöfifche oder deutſche Renaiffance der früheren Jahrhunderte. Jede Zeit hat ihre eigenen Aufgaben und Anſchauungen, die auch in der Kleinkunft zur Geltung fommen müflen.

Der MWohlftand und die hohe Bildung der Bewohner Frankfurtd und der umliegenden Städte laffen mich hoffen, daß bier der Mittelpunkt für die Funftinduftrielle Führung Deutſchlands fich bildet, da das verhältnigmäßig arme Berlin diefer Aufgabe bisher ſchlecht entſprochen hat. in Eentral- Kunftinduftrieverein für Mittelmeftdeutfchland ift angebahnt.

Nun, lieber Freund, will ich meinen Bericht fchließen und will Ihnen und Anderen überlaffen, die Schattenftriche zu zeichnen, die ich in menſchlicher Schwachheit und Gigenliebe vergefien habe. Wer fein Ziel feft im Auge be hält und nicht viel ablenken will, ftößt wohl oft an den und den an und es giebt wohl Biele, die mir dieſes verdadht haben. Darüber muß ih mid tröften. Wäre ich nicht auf der Mittagshöhe des Lebens, nämlich 35 Jahre alt, fo machte ich mir eigenhändig ein ordentlich.grufelndes Kreuz auf meinen Reichenftein und dächte, ich fei um Mitternacht erwacht und leſe im Monden- fein meine etwas lang ausgefponnene Grabſchrift. Diefen Gefallen mödte ih jedoch den Franzofen einftweilen nur ungern thun und fomit hoffe id noch manches Glas Mein in treuer Freundfchaft mit Ihnen zu leeren und dabei an „Allee, was wir lieben“ zu denken.

Ihr Kunftgelehrte wollt ja Alles fohriftlih Haben und fomit habe ih Ihren Wunſch erfüllt, anftatt Ihnen bei einem Glafe die ganze Kurz- und Rangemeile meines Lebens vorzuerzählen.

Herzlich grüßt Sie Ihr Hanau 1874. Friedrich Fiſchbach.

Hilder aus Mecklenburg.

Aus den Tagen der Bürgergarde IU.

Bon Hugo Gaedde. (Nahdrud verboten.)

Mit Vergnügen erinnere ich mich noch des Taged, an welchem adt- hundert Roſtocker Bürgergardiften mit einem fühnen Handftricy vierundzwanzig Schneidergefellen gefangen nahmen. Es geſchah dies in dem großen Jahre

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der Revolution. Eines fchönen Mittags erflang plöglich in den Gafjen ber Stadt der Generalmarfh. Es galt der Bürgergarde. Wir Knaben, die juft aus der Schule Famen, fahen von allen Seiten die gemaffneten Männer der Ordnung eilig daherftürzen. „est geht's los!“ Einer rief e8 dem Andern zu. Es Hang höchſt gefährlid. „Hurrah, jest geht's los!“ jubelten die Jungen. Wir liefen fpornftreich8 nach dem Drte des Schredeng, nah dem „Schütting“ ; fo heißt nämlich die Herberge der Schneidergejellen. Da faßen fie, die Vierundzwanzig und einige, oben in den geöffneten Fenitern und ließen die Beine zum Fenfter hinaushängen, ſchwenkten ihre volle Flaiche und tobten, fangen und fchimpften ausbündig. Und ba, jest Fam die Garde daher, ihrer Achtmalhundert, nun rüdten fie an mit Wehr und Waffen und ftürmten den Schneiderfhütting, nahmen die vierundgmanzig betrunfenen Schneidergejellen gefangen, faßten fie beim Kragen, führten fie Einen bei Einem nah dem Rathhaufe und ftellten eine Menge Wachtpoften vor die Thüren des Hauſes.

Hier auf der geräumigen Diele des Rathhauſes, wurden bis auf Weiteres die vierundzwanzig Schneidergefelen in eine Art von hölzernem Pferch, alle miteinander eingeſperrt. Das erſchien freilich gegen die Schneiderehre, die Infaffen tobten furchtbar und höhnten die Garde und drohten, Einer immer noch toller ald der Andere. Es war ein fchredlicher Rumor. Die Bürger: wache ftand mie rathlod dabei. Da meinte ein alter Polizeidiener ganz pfiffig: „Töv, id will fe woll ftillfriegen.“ Uber wie? Ganz einfach). Der alte Praktikus machte auf der langen Diele des Haufed die beiden fidy gegenüberftehenden mächtigen Eingangsthüren auf. Und nun mit einem Male, juft wie aus einem Blafebalg, fegte der ſchneidend fharfe Zugwind jur einen Thüre hinein und zur andern Thüre mieder hinaus, durch die vierundamanzig Schneidergefellen mitten hindurd. Das half. Als ver Zug- wind ihnen auf ein Wal fo empfindlich Falt an den Magen fam, hoben fie ein Bein um da® andere und fchimpften und fpeftafelten: „Thüren „u! Thüren zul Es zieht hier!" „Sa, töot man“, nidte der alte Volizift, „it will je woll ftill Eriegen.“ Und der kalte Zugwind blied mit neuer Wuth mitten unter die achtundvierzig Schneiderbeine. Das half! In weniger als drei Stunden waren die revolutionären Schneider gehörig durchgefühlt; ihre Courage war vermeht. Sie verhielten fi ganz mäuschenſtill. Höflich baten fie nun: „Machen Sie doch gefälligft die Thüren zu. Es zieht hier ganz infam!“ Verſuchsweiſe ward dann, erft die eine Thüre, hernach auch die zweite Thüre wieder gefchloffen. Und rihtig! Das Mittel erichien probat. Die Rebellion war zu Ende. Kleinlaut marfchirten die vierund- zwanzig Schneidergefellen mit einem Zwangspaß zum Thore hinaus, Roitod war gerettet!

Grenzboten IV. 1874. 34

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Denn alle die unzufriedenen Gemüther, die HN im Hintergrund nur auf den Erfolg der Schneiderrebellion gewartet hatten, verbielten fi hinfort ſchweigſam und ruhig, Danf der guten Fauft der Roftoder Bürgermehr!

Ein Vierteljahrhundert ift feitden dahin gefhmwunden. Und immer noch ſeh' ich fie Tebendig vor Augen diefe harakteriftifchen Figuren der alten Bürgergarde. Hier den alten Meifter der Beredſamkeit, das Gewehr hoch im Arm und das Käppi tief im Naden, ein Bild der Berufdtreue, der leibhaftige Ernft zur Sache. Mit abgemefjenen Schritten marſchirte er auf dem MWadhtpoften vor der Steinthorwahe auf und ab; er kannte feine ſtrengen Befehle, namentlih auf die zu Stadt und Markt einfahrenden Bauermagen fireng zu vigiliren. Es galt ja die ftädtifche Acciſe! welch ein erhabenes Beifpiel der VBürgertugend! Er, der alte Glaffiker, der mit Sophofles und Euripides font griehifche Chöre fang, er, der daheim in Gedanken auf hohem Kothurn, im griechifchen Gewande dahergefchritten Fam, hier ftand er Schild waht als Bürgergardift und vifitirte die Landwagen nah „veracciöbarer‘ Butter!

Und dort wieder dad gerade Gegentheil von dem alten PBrofefjor war der junge Advokat R., ein Bild des ſchalkhaften Humors, der jede Gelegen- heit wahrnahm, der ehrliebenden Bürgerwehr Eind anzuhängen, er, ein ge preßter Mann der Garde, ftreifte mit Humor jeded Mal den Zügel ab, mit dem ihn die eiferne Fauſt des Commandeurs zu bändigen fuchte. Unvergeßlich ift mir namentlich die nachfolgende Scene. Wieder einmal hatte diefer Luftige Gardift allen Befehlen zum Trotz das letzte Exereitium unaufhörlich ge ſchwenzt. Der Commandeur hatte befohlen: „J, da fol an dem Menſchen doch ein Erempel ftatuirt werden!” und jest rüdte fie an, mit Wehr und Maffen, die Ubtheilung beherzter Bürgermwehrmänner, die den hartnädigen Cameraden, „wenn es fein muß, mit Gewalt“, zum Exercierplatz abholen wollte. Das Detachement marfchirte feierlih die Straße Hinab; es fahte Poſto vor dem Haufe des Delinquenten. Die Morgenſonne leuchtete lieblich in die Gaſſe. Beim Attentäter aber waren bie Fenfter noch verhangen; vermuthlich erfreute er ſich noch eined gefegneten Morgenſchlafes. Der fommandirte Lieutenant trat in das Schlafzimmer des Gardiften. Der erhob fih verwundert in feinen Betten, wo er mit größter Gemüthsruhe den Befehl ſeines Commandanten entgegennahm. Gr nahım äußerft bedächtig zuerft den einen Etrumpf zur Hand, dann den andern, und ebenfo langfam zog er die Stiefel an, dem Herrn Lieutenant wurde Zeit und Weile lang. Auch die Gameraden draußen zeigten fich bereit? höchſt ungehalten. Der Delinquent rief inzwifchen nach der Dienftmagd; er flüfterte ihr heimlich zu: „Eine Drofhfe!” Die Magd eilt von dannen. Nun endlich ift der faumfelige Gardiſt mit dem Anzug ins Klare. Er tritt in Uniform auf- die Straße.

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Die Sameraden reihen ſich zur Escorte für den Sträfling, der natürlich ein ernſtes Geſicht macht, wie e8 der michtige Augenblick mit fih bringt. Eben will der Lieutenant fein: „Marſch!“ ertönen laffen, da nahet die Drofchke. Wie ein Blis fährt der Advofat mit Käppi, Ober: und Untergemehr in die Drofchke, ruft: „Nah dem Erercierplag!* und Schlägt die Wagenthüre zu, Alles in einer Secunde, ſpornſtreichs jagt die Drofchfe davon, und halt! Halt! ale Bürgermehrmänner in vollem Galopp hinterdrein. Sie dürfen auf Feinen Fall ihren Arreftanten verlieren. Welch' eine Berufätreue ! Sie laufen, daß ihnen der Schweiß von der Stirne rinnt.

Mitten hinein in diefed tolle Leben, zmijchen diefe prächtigen Figuren mit den feierlich ernten Gefichtern und der Iuftigen Uniform, mitten hinein in da® jteif hölzerne Erercitium, in die heitern Scenen der Wachtſtube und die Großthaten der Parade, mitten in die ganze närrifche Welt tönte plötzlich der Ruf: „Die Bürgermehr ift aufgelöſt!“ So ging aud für Roſtock diefes Wort in Erfüllung, das von einer Stadt zur andern, durch ganz Deutſch— land gellend dahin flog.

Die Bürgergarde war aufgelöft; die Gewehre hatten richtig ihren Käufer gefunden. Schade, follten die 1000 Infanterieſäbel nun ungenützt verfommen ? Und die vielen Patrontaſchen und alle die fchönen Käppis mit dem hohen Federbufh? So war ed eigentlich Bin glüdlicher Einfall, wenn Jemand vor: hlug, die acht Compagnien Bürgergarde nun einfah ala „Fahnencorps“ und „Feuerwehr“ fortbeftehen zu laffen. Und richtig, fo geſchah ed. Wer als ſtolzer Bürgergardift ahnungslos Abends zu Bette gegangen war, jtand nun auf ein Mal am andern Morgen ald ordinairer Feuermenſch wieder auf. Das gab ein allgemeines Lamento. Nein, fo daftehen zu müffen, dicht bei der Spritze und vor den Waſſerkufen, in der alten berühmten Uniform ber Bürgergarde, und in einen Kreid um dad euer herumzutreten, damit das Haus fozufagen mit einer gemiffen Feierlichfeit herunterbrennen könne, nein, dad war doch zu viel. Als daher die Fahnencorp® zum erften Male fi fammeln follten, waren auf einmal die fämmtlichen Offiziere und Gorporale nit zu haben. Mit der Auflöfung der Bürgergarde hielt fih Fein Gardift mehr, gefchweige ein Eorporal, Kieutenant, oder gar der Herr Hauptmann zu diefem Dienft ald ordinärer Feuermann verpflichtet.

Erſt eine geftrenge Verordnung des Rathes brachte Ordnung in die neuen Dinge. Feder angehende Bürger follte von nun an den Dienft in der Feuer: wehr drei volle Jahre hindurch leiften, und feinen Eid ald Bürger in Uni- form vor dem Magiftrate der Stadt ſchwören, in derfelben Uniform, die ſchon manchen Profeſſor und Juſtizrath als Bürgergardift fo hübfch gekleidet hatte. Unglücklicher Weiſe war aber mit der Auflöfung der Bürgerwehr auch die vorfihtige Rathsverordnung in die Brüche gegangen, wonach jeder angehende

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Bürger in feiner Uniform ſich vor der Ableiftung des Bürgereides beim Com— mandanten der Garde melden und über feine Gquipirung und fein Erereitium fi näher ausmeifen mußte. est Fam ein Uebelſtand zur Geltung, der bie her Flug vermieden war. Jeder konnte fich für diefen kurzen feierlichen Augen- blick der Eidleiftung al® Bürger nunmehr bequem mit der Uniform eines guten Freundes außhelfen. So famen merkwürdige Erfcheinungen bei diefem feierlichen Moment zu Tage, da nicht jede Uniform einem Jeden angepafit war und mancher MWaffenrod zu diefem feterlihen Actu8 von dünnen und dicken Freunden gleich gerne angeliehen ward.

Eine weitere Folge war denn natürlih, daß bei Erercierübungen nur ein Heiner Theil der Bürgerwehrmänner in Uniform erfchten und daß die Mehrzahl zu Haufe blieb, weil ihnen, dem Einen dad Käppi, dem Andern der Waffenrock und dem Dritten vielleicht Beides fehlte.

Bon den prercitien diefer Handvoll Bürgermehrmänner merden denn noch heute höchſt ſpaßhafte Gefchichten erzählt. Ein Feldweibel, welcher früher unter dem Militär gedient, hatte die jungen Feuerwehrmänner in dem fchwie rigen Grereitium zu unterrichten. Unglüdlicher Weiſe nun litt diefer Feld- weibel unaufhörlih an einem fürdhterlichen Durft; dabei war es ein zweites Unglüd, daß nicht weit von dem Exercierſchuppen eine Schenkwirthfchaft lag. Daher ereignete fih wohl das folgende Manöver. Sobald der Feldweibel feine jungen Efeven in Reih und Glied aufgeftellt hatte, begann er fein Gommando: „Links um! Marfh;" da aber die Schenfe zur Rechten lag, machte das ganze Bataillon auf dad Commando des Weldmweibeld einmüthig Rechtsum und marſchirte fpornftreidy®, ohne fich halten zu laffen, zur Thür hinaus, direct in dad Schenkhaus hinein. Der alte Feldweibel fuhr natür- lich ſcheltend hinterdrein. Er lamentirte: „Kinnings, Kinningd, datt geht jo nit! Wenn de Senator fümmt, find wi all verlurene Minfchen!” Und wenn dann auf feinen Weheruf das volle ſchäumende Seidel ihm entgegen duftete, wiederholte er ſchmerzlich refignirt die Worte: „Kinnings, Kinnings, wenn be blos nid kümmt.“ Freilich wurden hernach einzelne faumfelige, undanfbare Bürgerwehrmänner von ihm in fein Taſchenbuch notirt, weil fie zu diefen Erereitien nicht erfchienen waren. Sie wurden in Strafe genommen und bei wiederholtem Nichterfcheinen vor dad Bericht geladen. Es begegnete einem folchen Mebelthäter auch mohl einmal, daß er vom Herrn Senator befragt wurde: „Haben Sie eine volftändige Bürgergardiftenuniform?* wo— rauf dann wohl mit der größten Geſchwindigkeit von Seiten des beforgten Feuerwehrmannes ernfthaft verfihert wurde: „Die Einzelheiten fehlen, das Uebrige ift da,“ was der Herr Senator in der Geſchwindigkeit ganz überhört haben muß.

Nicht viel beffer ging es diefem Corps, wenn zu einem entftehenden

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Brande der Trommler die Männer feiner Compagnie zufammenrief. Da fehlten auch die Einzelheiten und das Uebrige war da. Namentlich bei einem Feuer zur Nachtzeit, wo dann oft ganz feltfame Bürgerwehrmänner, in dem alermerfwürdigften Coftüm auftauchten. Wann hernad) das Eleine Häuflein der Plichttreuen beim Apell nad) dem Namen aufgerufen wurde, übernahm @ wohl die Handvoll erfchienener Wehrmänner mit gutem Humor aus reiner Sreundfchaft bei jedem Mann der Compagnielifte zu antworten: Müller? ‚Hier!“ Fiſcher? „Hierl“ Lehmann? „Hier!“ und fofort ad infinitum. Damit war denn allen Bedürfniffen geholfen. Kein Wunder, daß fid diefe Mebelftände von Jahr zu Jahr vergrößerten. Mancher ftile Wunſch nad) einer Auflöfung diefer Bürgerwehr wurde öffentlich laut. Auch in den Zeitungen erfholl dann und wann ſchon ein heller Klageruf. Freilich ward ed dem jungen Bürger nicht möglich, von feinem Dienft ald Bürgermehrmann fh zu befreien, wenn er nicht etwa von vorn herein durch feinen Stand geſetzlich dieſer Bürde ledig war, oder wenn er nicht juft, wie ein guter Freund von mir, ald VBürgerwehrmann feinem Gameraden eine tüchtige Ohr— feige applieirte. Er ward wegen diefer Unthat vor das Ehrengericht geladen und in feierlicher Seffion Kraft ded Geſetzes für immer aus der Bürgermwehr audgeftoßen. Diefer Teste Vorfall muß nicht publif geworden fein, fonft, fürchte ih, hätte es vielleicht Ohrfeigen geregnet.

Endlih ſchlug die Erlöfungdftunde Der Magijtrat der Stadt Roftod empfahl die Auflöfung der VBürgerfeuerwehr, und die Bürgerfchaft gab „mit Vergnügen“ ihre Zuftimmung. So ward denn endlih am 1. März 1868 diefed Inſtitut zu Grabe getragen. Man gab der Kriegdfaffe anheim, für die „beitmöglichfte Veräußerung der Waffen und Monturen“ Sorge zu tragen. Und wieder begann hier dad Schickſal mit feinem Humor mitzufpielen. Die ehrlichen alten Waffenröcke, welche die Stadt für die armen Feuerwehrmänner dargeliehen hatte, wurden freilich für hundert und einige Thaler glücklich verfleigert. Nicht fo die Waffenftüde. Es begann ein großartiges Audbieten dieſes beau reste der alten Bürgergarde. Man denfe nur, welches Angebot auf diefe Waffen gemacht wurde. Ein Hamburger Handeldmann bot nämlich, hört! hört! für jeden Säbel eines Dfficierd oder Feldwebels 20 Sgr., für jede Trommel 19, Thaler, und für jedes Käppi mit Haarbuſch 21/, Sgr. Denkt! für diefe Herrliche Zierde der Bürgergarde, inclufive der goldenen Sonne mit dem Vogel Greif darin und inclufive Federbufh zwei und einen halben Silbergroſchen! für jede Batrontafche fogar nur Anen Silbergrofchen und drei Pfennige. Während der Magiftrat nicht abgeneigt ſchien, für diefen Preis die Zierftüde der alten Bürgergarde loszuſchlagen, wollte die Bürgerſchaft doch auf diefen großartigen Handel nicht recht eingehen. „Der gebotene Preid“, meinten fie bei den bezüglichen Verhandlungen des erwähnten Jahres,

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„fi denn doch zu fpöttifh und deshalb ziehe fie ed vor, diefe Gegenftände noch einige Zeit länger auf demjenigen Rager zu halten, auf welchem fie jeht fett faft 20 Jahren gelegen haben,“ wenn anders nicht noch eine Einigung zwifchen Rath und Bürgerfchaft dahin erzielt werde, daß diefe Gegenftände Öffentlich in einer Auction verfauft würden. ine Einigung über diefen Verkauf ift meines Wiſſens noch nicht erzielt, und fo liegen denn die ſchönen Sinfanteriefäbel, die Trommeln und Patrontaſchen, die Käppis nicht zu ver geffen und die hübfchen Wederbüfche heute und noch einige Zeit länger auf demjenigen Lager, „auf welchem fie jest feit fait 20 Jahren gelegen haben.“

Nur in einem Punkt freilich bedarf died noch einer Berichtigung. Rath und Bürgerfchaft der Stadt Roſtock find nämlich, mas ich beinahe ver- geffen hätte, zu erwähnen, dahin überein gefommen, 12 Garpiftenfäbel, ein Käppi, eine Trommel und eine Patrontaſche der alten Roſtocker Bürger: wehr ald Requifitenftüde an das Roſtocker Stadttheater abzugeben. Es wird alfo auch in Zukunft noch mit diefen alten Reſten der Bürgergarde Theater gefptelt werben.

Und hierin, meine ih, liegt ein eigener Humor! Dies ift das kleine Ende der großen Comödie.

Bom deuffhen Reichstag.

Berlin, den 8. November 1874.

Fünf Sitzungen hat der Reichstag bis jett gehalten. Die erfte am Gröffnungdtage betraf die gewöhnlichen Ginleitungsformalien. Die zweite am 31. Oktober fah die Vornahme der Präfidentenmahl. Daß Herr von Forkenbeck die erſte Präſidentenſtelle wiederum übertragen erhielt, war in Folge einer feltenen Uebereinftimmung de3 ganzen Haufed. Daß man zur erften Bice präfidentenftelle den Freiherrn von Stauffenberg berief, rechtfertigt fi durch die Rüdficht auf die füddeutfchen Reichsgenoſſen ſowie durch die Berfönlichkett des Erwählten. Daß man die zweite Vicepräfidentenftelle wiederum dem fortfchrittlihen Führer Herrn Dr. Hänel übertrug, ift unfere® Erachtens nicht zu rechtfertigen. Die Verantwortung diefer Mahl trifft die auafchlaggebende nattonalliberale Fraktion. Die erfte Vicepräfidentenftelle war bisher in der Perſon des feitdem zum Botjchafter in Parid ernannten Fürſten Hohenlohe mit einem Freiconfervativen und Süddeutfchen beſetzt geweſen. Gewiß hatte

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die freiconfervative Fraktion wiederum den Anſpruch auf die Stimmen der Nationalliberalen für tie Berufung eines Freiconfervativen in das Präfidium des Haufe. Konnte ed nicht wieder die erfte Vicepräftdentenftelle fein, fo hätte die zweite genügt. Eine Stelle im Präfidium gebührt aber wenigftend der Fraktion, die ebenfo nattonal ift, al® die nationalliberale Partei, und ve, was ihrer Anzahl abgeht, durch ihre Bedeutung erſetzt. Wenn die national« iberale Fraktion unter anderm geltend gemacht hat, die erfte Bicepräfidenten: tele gebühre ihr, meil Herr von Forkenbeck als der allgemeine Vertrauens mann des Haufed zu betrachten jet, fo iſt died doch ein ſehr unbilliges Raifonnement und überdem eine unangenehme Reminidcenz aus der einftigen Fraktion Grabom. Wenn eine Fraktion dad Glück hat, daß eines ihrer Mitglieder das allgemeine Vertrauen erwirbt, fo fann doch unmöglich in Folge defien diefed Mitglied der Ehre verluftig gehen, der befondere Vertrauen® mann derjenigen Kraftion zu fein, der er angehören würde, wenn er nicht die Präfidialgefchäfte zu leiten hätte Der wirklich durchſchlagende Grund für Herren von Stauffenberg konnte nur feine Eigenſchaft als angefehener und verdienter Reichsgenoſſe in Süpddeutfchland fein. Daß nun aber die freiconferpative Fraktion aud; bei der zweiten Bicepräfidentenftelle nicht be üdfihtigt wurde, das hat fchlieglic Doch nur den Grund, das Band mit kr Fortſchrittspartei unverfehrt zu erhalten, um ja nicht in Bergeffenheit iommen zu lafjen, daß man ein Stüd Oppofition bleiben möchte, daß man aus der Oppofittondrolle nur von Fall zu Fall herauätritt, und daß man in jedem Augenblick wiederum eine ganze Oppofition werden könnte. Auch eine Regierungdpartei darf niemals auf die felbjtändige Prüfung verzichten. Aber das iſt etwas anderes, ald das Liebäugeln mit einer principiellen Oppofition. Und dünft, dies ewige Vertufchen der Wahrheit, daß die Grundlage der nationalliberalen Partei und die Grundlage der Fortfehrittöpartei unerträglich und einander entgegengefest find, Fann eined Tages der nationalliberalen Partei ſchlimme Früchte bringen.

Die dritte Reichstagsſitzung fand am zweiten November flat: Es dandelte ſich um zahlreiche Fleinere technifche Vorlagen, die bis zum Abſchluß der zweiten Berathung gefördert wurden. Die vierte Sigung am 4. Nov. brachte außer dritten Berathungen einiger technifchen Vorlagen die erfte Be- tatdung eined Gefegentwurfs, betreffend die Einführung der Reichsmünz- gefege in Elſaß-Lothringen. Bei diefer Gelegenheit Fam es zu einem Borjpiel der umfaffenden Erörterung unferer Münz- und Gelöverhältniffe, welche ſich an den Banfgefegentwurf ſ. 3. anfnüpfen muß. Unfere Berichterftattung wird diefe große Materie in ihrem richtigen Zufammenhang bei Gelegenheit der Berathung des Bankgeſetzes zu beleuchten haben. Wir geben alfo über die bisherigen vorläufigen Aeußerungen verjchiedener Reichstagsmitglleder

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hinweg, mit Ausnahme eined einzigen Punktes. Nah den Weußerungen der competenteften Reichdtagsmitglieder ſowohl, ald des Bundesbevollmädhtigten und preußifhen Finanzminiftere Camphauſen ftellt fih die Handeldbilanz für Deutfhland augenblidlih ungünftig und das Abſtrömen der Reichsgold— münzen wird dadurd bis zu einem beftimmten Grad eine Nothwendigkeit. Es wurde nun gejagt, die Handeläbilang werde und nicht immer ungünftig fein und da® Gold werde in befferen Zeiten mwiederfommen.

Das wird fich hoffentlich bemahrheiten. Woher fommt aber die Gefahr, daß eine längere und felbft eine fürzere Abwefenheit der deutfchen Goldmün- zen aus dem einheimifchen Verkehr zum dauernden Berluft unſeres Goldes führt? Uns dünft, bier liegt die große Schattenfeite einer blo8 nationalen Währung auch in denjenigen Geldforten, melde der Beftimmung nicht zu entziehen find noch entzogen werden dürfen, dem internationalen Verkehr zu dienen. Die erite Berathung eined Gefezentwurf® über den Markenſchutz führte zu dem Beſchluß die Einzelberathung ded Entwurfs im Plenum des Haufed ohne Vorberathung dur eine Commiſſion eintreten zu laflen.

In der 5. Situng am 5. November ftanden der Gefegentmurf über den Randfturm und den Gefegentwurf über die Controle der Beurlaubten zur erften Berathung. Beide Entwürfe wurden einer und bderfelben eigend zu bildenden Commiffion übermwiefen.

Mit derfelben Regelmäßigkeit, wie die großen, zur Arbeit verfammelten Reihäkörperfchaften, forgt der in Unterfuhung befindliche, aber haftfrei hohe Reichsbeamte für die Inanfpruchnahme der dffentlihen Aufmerfjamteit. Und zwar liegt er diefer Sorge lediglich aus eigener nitative ob. Am 4. November brachte die Kreuzzeitung wieder eine Veröffentlichung des Grafen Harry Arnim in Form eined Privatbriefe® an einen Vetter. Der Graf be Ihäftigt fi in diefem Schreiben mit der Auäftreuung, daß er dem Börfen fptel nicht fremd geblieben und folhem Spiel Einfluß auf fein Verhalten geftattet habe. So lange dergleichen Beſchuldigungen nit vor Gericht durd den Öffentlichen Ankläger begründet merden, tft die Ausftreuung gewiß feht unreht. Aber mie vertheidigt fi) der Graf? Man muß geftehen, er hat die Feder für dieſes Privatfchreiben, das aber augenſcheinlich nur um der Beröffentlihung gefchrieben, ungewöhnlich tief in Galle getaucht. Das Schre- ben ift demnach pifant genug audgefallen, nur leider hat die Galle alle Logik ertränft. Nachdem die Brieffteller erklärt, daß eine „beherzte Abfer- tigung“ der Rüge, feinerfeitd in der Preffe unternommen, nicht? beweiſen würde, unternimmt er fofort eine ſolche Abfertigung. Dies ift ein rheto- rifches Mittel, dad, um wirkfam zu fein, einer feinen Handhabung bedarf. Mie fällt nun die „beherzte Ubfertigung“ aus? Der Graf verfichert, das Fleiſch, was er für feinen Börfenverdienft Faufen könnte, dürfte er am Charfreitag

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effen , ohne die Faften zu brechen. Eine fehr hübſche Umfchreibung, die fich die zahlreiche Schaar profejfioneller Börfenfpieler vielleicht aneignen wird, die viel gefpielt und oft gewonnen, aber f&hließlich nicht? behalten Haben. Muß man immer was davon tragen, wo man dabei gemwefen iſt? Der Graf fcheint es zu glauben. Das wäre eine angenehme Neuerung. Um feine Unſchuld am Börfenfpiel, das ihm Keiner nachſagen wird, der etwas auf fich hält, bevor der Graf öffentlich überführt ift meiter ind Licht zu ftellen, werfichert der Briefiteller feine Unfenntnig der Worte report, deport u. f. w. ber Niemand hatte ihm infinuirt, daß er Agent gemefen. Um das Maaß diefer wunderbaren Logik vol zu machen, vermweift der Brieffteller jeden, der auf feine Vermögensverhältniſſe neugierig ift, an Herrn Hanfemann. Herr Hanfe- mann wird aber doc, wohl jeden ſolchen Neugierigen zur Thür hinauswerfen laſſen; und Fann ſchließlich Herr Hanfemann felbft die gefammten Operationen jedes Gefchäftsfreundes überfehn? Der Schluß des Briefed ift mit concen= trirteer Galle gefchrieben und die geſchickte Bosheit wird an der Stelle, auf die fie zielt, hoffentlich die Fünftleriiche Würdigung finden, die fie verdient. St e8 aber nicht eine komiſche Behauptung, die Öffentliche Meinung fet in ben Händen eines Generalpächtere, wenn man felbft eine erfiedliche Anzahl Zeitungen wir fagen natürlich nicht „gepachtet”, fondern: zur Verfügung hat? C—r

Die „Shallenger“- Spedition.

Die Erforfhung der Meeredtiefen, indbefondere die Keititellung der Temperaturverhältniffe und magnetiichen Bedingungen, ſowie die Erfenntniß ded Thierlebens in den Tiefen der Dceane bat neuerdingd dur verbefjerte Inftrumente eine bemerkenswerthe Förderung erfahren. Allerdings war Forbes Irrthum, der den Meereätiefen völlige Dede andichten wollte, dur Waliſch's, Heuglin’d u. A. bahnbrehende Unterfuhungen, namentlich durch Sondirungen in den tiefiten Einfenfungen des atlantifchen Beckens, welhe einen ungemeinen Reihthum an Organismen in diefen Abgründen nachwieſen, Tängft widerlegt worden. Immer aber fehlte ed noch an den für eine genaue Beobachtung der Erjheinungen in diefen gewaltigen Meerestiefen unbedingt nöthigen Hülfämitteln, namentlih an einer gut conftruirten Senf: blei und Rothungd-Vorrihtung, endlich an Thermometern, welche den enormen Drud großer Waflermaffen auszuhalten und ohne Nachhülfe durch erhebliche Gorreeturen den Wärmegehalt der Tiefen anzuzeigen im Stande waren. Den legteren Erforderniffen haben Dr. Müller und Cafella durd Herftellung

von Thermometern, die durch eine Kapfel mit Weingeift vor der ie Gtenzboten IV, 1874,

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gefhüst find, im erfreulicher Weife zu entiprechen gewußt; andererſeits bat man in England eine Lothleine hergeftellt, die, obwohl fie leichter und halt- barer ift und fchneller arbeitet als die früheren Rothe, doch größere Maſſen (bis 1500 Pfund ftatt fonft 630 Pfund) in die Höhe zu bringen vermag.

Mit diefen verbefjerten Inſtrumenten audgerüftet, haben britiſche Gelehrte, melde auf Dr. Carpenter's, des befannten Hydrographen der Royal Society, VBorfhlag im December 1872 auf dem Erpeditiongjhif „Challenger“, Kapitain Nared, von der Rondoner Regierung zur Vor. nahme von Tieffedforfhungen im atlantifhen Dcean audgefandt worden find und fi gegenwärtig in den auftralifhen Gewäſſern befinden, fo bemerfen?- werthe Ergebnifje erzielt, daß wir im Intereſſe unferer Lefer zu handeln glauben, wenn wir Näheres über die wichtigeren Beobachtungsreſultate nad dem Berichte Prof. Thomſons, des Chefs der wiljenfchaftlichen Erpeditton (zu der u. U. Mofely, v. Willemoed-Suhm, 3. Murray und 3. J. Buchanan gehören) bier folgen lafjen.

Der „Challenger trat am 21. December 1872 von Portsmouth aus die Fahrt nad Gibraltar an, um von dort aus den Atlantifchen Deean zu kreuzen. Mährend diefer erften Durchfreuzung, welche vom 26. Januar 1873 bi8 zum 16. März 1873 (Ankunft in St. Thomas) ftattfand wurden von dem „Challenger“ 22 Tieffeelothungen vorgenommen und 12 Reihen von Temperaturmefiungen in den verfchiedenften Tiefen beftimmt, Unterfuchungen, welche ein überaus werthvolles Material einerfeits für Feftitellung der Geftalt de8 Bodenreliefs des atlantifchen Dceand, andererfeits für die Beſtimmung von Sfothermal » Linien und ihre Tracirung innerhalb der verfchiedenen Strömungen und Stromgebiete des atlantifhen Oceans lieferten.

In erfterer Hinficht mag zur Kennzeichnung des Grades unferer früheren Auffaffung von der Configuration des Meeredbodend im atlantifchen Dean auf die Thatfache hingewieſen werden, daß vor nicht Ianger Bett auf ber großen und belebten Weltverkehrsſtraße zwifchen Europa und Nordamerika, wo fortwährend Dampfer und Segelfchiffe curfiren, nad den Seefarten bald eine 35 Faden tiefe und 320 Seemeilen lange Bank (die Beaufort- oder Milne-Bank), bald ein tiefes Koch, bi8 zu 4300 Faden 25,800 Fuß Tiefe, vorhanden fein follte, während an anderen Stellen noch riefigere Tiefen, bid zu 6600 Faden, in den Segeldtrectiven und Karten figurirten. Die Mefungen des „Challenger“ haben dieſe mythiſchen Phantafiegebtlde aus den nautifchen Hülfsmitteln für immer ausgemerzt. Die größte von ihm ge fundene Tiefe beträgt nur 3875 Waden, und zwar wurde diefe nicht an den fonft als tieffte Einfenkungen angefehenen Stellen, fondern dicht bei den Meftindifhen Inſeln, einen Breitengrad nördlid von Anegada, er mittelt; zwet andere Abftürze von 5070 und 3700 Faden Tiefe reducirte der

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‚Shallenger“ auf 2700 und 2650 Faden. Während der Meeresboden an der europäifchen Weſtküſte, mit einzelnen Ausnahmen z. B. im Golf von Biscaya, fh ziemlich allmälig zu dem Tiefferbeden des mittleren Theild des Oceans hinabfenkt, ift der Abfturz an den Inſeln des Garaibifhen Meeres viel jäher. Nahe bei Cuba, 3 Seemetlen von der Hüfte, wurden 1320, milhen Cuba und Haiti 1750 Baden, unfern der Südküſte von Haiti ſogar 2136 Faden Tiefe gemeffen. Dies hatte jhon Irwing (1870) bei der %gung des fubmarinen Kabeld nad den Fleinen Weftindifchen Inſeln ge funden; es murden von ihm zwifchen Santa Cruz und Sombrero 1825, zwiſchen Santa Lucia und St. Vincent 1346 Faden Tiefe ermittelt. Won Jatereſſe wird die Notiz fein, daß dad Loth ded „Challenger“ in der Schwere von 3 Gentnern bei St. Thomad 1 Stunde 12 Minuten ge: brauchte, um in 3900 Faden Tiefe auf dem Boden zu gelangen, während zum Hinaufwinden der Leine (ohne Gewichte) 2 Stunden Zeit erforderlich waren.

Der „Challenger“ durchkreuzte den Atlantifhen Deean im Jahre 1873 dreimal, und gewann hierbei bereit3 zuverläffige Grundlagen für eine Mapptrung der Bodenumriffe de Nordatlantifchen Meeres. Das Bodenrelief des leßteren läßt fih graphifch durch die Form eined S, aber umgeändert in ein liegended , veranfchaulichen. Dieſes Bild ftellt die Trace ded von der Höhe vr Bahama⸗-Inſeln bis nach der Afrikanifchen Weftküfte Hin, zwifchen Canari— ſten und Cap Verde-Inſeln, von Weften nad Dften ftreichenden tiefſten Kanals dar, der ſich 2500 und mehr Faden tief in den Boden einfenft.

Zwei andere tiefe Rinnen gehen von Norden nad Süden. Die eine sieht fich zmotfchen Madeira und San Miguel an der europäifchen Seite des Deeans bi zur Breite des britifchen Nordſee-Kanals und an der amerifanifhen Seite zwifchen der Milne und Neufundland» Bank bis zu 480 N. B. hin, die andere ftreicht zu beiden Seiten der Bank „Dolphin Rife* (öftlich von den Antillen) hin und dehnt fich weſtwärts bis 12 N. B. öſtlich, parallel mit der afrifanifchen Küfte, aber bis zum Tiefbecken des füdatlantifchen Oceans aus. An diefe Einſenkungen ſchließen fi nördlich und füdlid von den Azoren Plateau von 2000 Faden Tiefe. Diefe erftrecden fich oftwärt bie zum 520 N. B., weſtwärts bis zum Eingange in die Daviäftraße (Grön: land); im Süden der Azoren ftreihen fie öftlih von der Brafilianifchen Küfte zwiſchen St. Paul Rocks und dem Giland Fernando Noronha bin, um dann weiter ſüdlich ebenfalld in die füdatlantifche Tiefſee Hinüberzuführen. Es find died nur die Hauptlinien für Feitftellung des nordatlanttfchen Boden- telief®, deren weitere Firirung natürlich fortgefester Mefjungen bedarf; fie haben aber die Bahn für diefe weiteren Feſtſtellungen fo wefentlich geebnet, daß die vollftändige Mappirung des Bodenreliefs im nordatlantifchen Ocean feinen befonderen Schwierigkeiten mehr begegnet.

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Ebenfo beachtenswerth find die Feltftellungen des MWärmegehalted der Meeresfhichten. Die auf dem „Challenger“ befindlichen Beobachter gingen hierbei in der MWeife zu Werke, daß fie durh 7—10 gleichzeitig in dad Meer hinuntergelafjene Thermometer die Temperatur der über einander gelagerten Stromſchichten, möglihft bis zu 1500 Faden Tiefe, in ein und derfelben Beobachtungéperiode feitzuftellen fuchten. Dabei wurde auch fonft alle Sorg- falt beobachtet, welche der Bedeutung der zu erzielenden Refultate entiprechend iſt, insbefondere wurden die Fehler eliminirt, welche der Drud des Waſſers ıc. in den Inſtrumenten hervorzubringen pflegt.

Es iſt felbftverftändlich, daß die Temperatur, je näher dem Meeresboden, defto tiefer finkt. Die Temperatur der Gemwäfler unter dem Aequator, öſtlich von St. Paul Rode, wurde ald normale In allen Schichten angefehen. Die Abkühlung wählt hier ziemlich rapid, proportional der Tiefe, dergeftalt, daß, während 3. B. an der Oberflähe 78° F. beobachtet wurden, in 60 Faden Tiefe nur no 61,5 °, in 150 Faden 50°, u. f. w. Wärme fi fan- fanden. Die Grenze des Einfluffes der Sonnenftrahlen wurde auf 60-80 Faden Tiefe feftgeftellt.

Capitain Nared, der Kommandeur der Corvette „Challenger* hat die fämmt- lichen Zemperaturbeobadhtungen der Erpedition für den atlantifchen Deean in vier Jſothermal Sectionen zufammengefaßt. Diefelben erftreden fih, foweit die Richtung von Weft nah Dft in Betracht fommt, von den Bermudas nfeln nah den Azoren, von MWeftindien nad den Canarifchen Sinfeln, von Pernambuco über Fernando Noronha bis zum 14049' mw. L. v. dr. und von Bahia über Triftan da Cunha nad) dem Kap der guten Hoffnung. Auperdem find zwei Fothermal-Sectionen für die Richtung von Nord nad Süd, und zwar von 3454’ n. B. bis zu 26015°&.B., feftgeftellt wor den. Die erläuternden Tabellen geben die Temperatur der Meeresfchichten von 100 zu 100 Faden bis hinab auf den Meeresboden, dergeftalt, daß die Iſothermal-Linien verfolgt werden können. Beifpieldweife lauten die Daten für 32054’ N. B. 63022 W. L. v. Gr.:

Oberfläche 60. 110. 350. 400. 450. 520. 680. 750. 870. 1230. 1590. 2360 Fahrenheit 70° 709 65% 60% 55° 50% 450 40° 390 380 37% 360 35% Außerdem ift auf einer graphifchen Skizze durch dunklere oder hellere Farben- töne der MWärmegehalt der Meeresfchtchten marfirt worden.

Es würde die Aufgabe, welche fich diefe Blätter geftellt haben, ben Zweck der Anregung überfchreiten, wollten wir alle Detaild des inftruc, tiven Begleitberiht8 von Mr. Thomfon bier wiedergeben. Erwähnt ſei nur noch, daß zwiſchen 60 und 40 n. Breite die Iſothermen des Waſſers durch den Einfluß des warmen Golfftrom. Gürteld an der Meftfeite des Atlantic in größere Tiefen herabgedrücdt werden. Sit diefer Gürtel überfchritten, fo

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ſteigt das herabgedrüdte Waſſer wieder in die Höhe und die Iſothermen ent- ſprechen in ihrer Lage denfelben Schichten, die in der Section 1000 Seemeilen füdficher vorgefunden werden. In der Region, wo der Golfftrom gegen die Küften Europas trängt, ift wieder eine Alteration der Iſothermen wahr- zunehmen. Diefer Strom wird nämlich von den Küſten Europas zurüdge- mworfen, dringt ſodann, obwohl er bereitö 15° feiner Temperatur verloren hat, mit feinen wärmeren Waſſern in die fälteren Schichten ein und bewirkt fo, daß die Sfotberme 459 %., melde etwa dem Gebiete in 550 Faden Tiefe angehört, bis auf 700 Faden Hinabgeht, alfo diefe Schichten um etwa 3 Grad über den Normal-MWärmeftand erhöht. Der Einfluß ded Golfſtroms erreicht in der Bai von Bidcaya felbft no die Schichten am Boden, fo daß diefe um wärmer find, als in der Normalzone, während das Wafler 5. 2. an den nordamerifanifchen Oftküften in den Schichten am Meeredboden um 2,,° Kälter ift, al® unterm Aequator, Dank dem Einfluffe der Gemäfler des in der Tiefe hinftreichenden arktiſchen Stroms.

Es ergiebt fi aus dieſen Feſtſtellungen die intereffante Thatfache, daß zwiſchen Amerika und den Azoren ein ungeheured Warmmwaffer-Refer: voir eriftirt, deſſen Flächeninhalt etwa 2 Millionen Quadratmeilen (engl.) und deſſen Tiefe 1000 Fuß beträgt, Mächtigfeitöverhältniffe, welche den erheblichen Einfluß dieſes Baffind auf die klimatiſchen Verhältniffe Weft-Eu- ropas erflärlich machen.

Die Baffind des füdatlantifchen Deeans find zum Theil nicht unerheblich fülter, ald die entſprechenden Schichten de Nord-Atlantic; immer aber zeigen fie noch einen höheren Temperaturftand, al® den der äquatorialen Gemäfler.

Um 17. December 1873 feste der „Challenger“ feine Reife von der Simond- Bai (füdlihften Bai ded Kaplandes) nach Kerguelens-Land fort, um auch im indifchen Deean feine Tieffeeforfhungen vorzunehmen, melde die gerechte Aufmerkſamkeit der wiffenfchaftlichen Kreife verdienen.

| G. T.

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Der obligatorifhe Ankerricht in der franzöſtſchen Sprache im Großherzogkfum Luxemburg.

Wir Quremburger find nicht in demfelben Falle, wie die Bewohner der neuen Reichdlande in Elfaß-Lothringen, wir haben nicht während des legten Jahrhunderts zu Frankreich gehört, und dennoch ift bei und der Unterricht der franzöfifchen Sprache obligatorifch in den Primärſchulen. Freilich! unfere Fransquillons, welche ſchon die Sache wilfen müffen, behaupten ja auch, wir feien Franzoſen dur und durch, mit Leib und Seele, und unfere Bauern,

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d. h. unfere Paftöre, wollen ein für allemal nichts von Deutfchland wiſſen. Weßhalb indeffen diefe unfere Bauern deutfh ſprechen, und Fein Sterben? wörtlein Franzöftfch verftehen, und unfere Baftöre Deutſch in der Kirche lehren und predigen, davon verftehen ſolche „Preußen“, wie Unfereins, nichte. Dad weiß unfer großer Ethnologe und Ethnograph, Herr A. Fund, beffer. Er meint, wir feten zwar ein deutfchiprechender Volksſtamm, aber von franzöfiicher Abftammung und von franzöfifchem Weſen und Geifte. Nur vergibt er und zu fagen, wie wir, als grundfranzöfifcher Volksſtamm zu unferer altfächfifchen Sprade, und zu unfern biederben altdeutſchen Volksſitten, Volksbräuchen Volksſagen und Märchen, und VBolfäliedern gekommen find. Das „Ruremburger Wort“, das fromme und wahrhaftige Blatt, dem es bei feinem eifrigen Fatholifhen Chriſtenthum auf ein biächen weniger Logik nit an fommt, will nun auch heute franzöfifh fein mit Haut und Haar, während es noch fur; vor 66, wir meinen vor Sadowa, mit Haut und Haaren deutid fein wollte. Wie e8 fcheint, hat Sr. Gelahrtheit, Herr A. Fund, das „Wort“ feitdem eine Befjeren belehrt. Wielleicht auch hat e8 der „Preuß“ bei Sadowa getban, und zwar durch feine Argumenta ad hominem Defterreich gegenüber. Weil Defterreich nicht deutfch bleiben wollte, oder durfte, fo mollten ober durften es auch feine vielgeliebten Lehrer und Meifter, die Jeſuiten, nicht bleiben. ohne fich felbft in den Bann der hl. Kirche zu thun; und feit der Zeit find fie franzöfifch, und wer nicht mit ihnen tft, der iſt wider fie, wie da® Evangelium lehrt. Früher arbeiteten die Jeſuiten aus allen Kräften an der Ausdrottung der franzöfifchen Sprache im Lande, namentlid in der Volksſchule. Heute fol die ganze Welt bei und franzöfifch lernen, um mit nah St. Hubert in Belgien, zur fligmatifirten Heiligen von Bots d’Haine, nad Lourdes, Paray le Monial, und die taufend andern MWunderorte in Frankreich, wallfahrten zu können. Heute ift das Deutjche in den Augen unferer frommen Sefuiten Fein Deutfc mehr, nur noch „Preußiſch“.

Noch Heute kommt unſere „Indeépendance“, die gutwillige Wiederkäuerin der Enten, die das „Wort“ ſchon zehnmal aufgetiſcht hat, und beweiſt uns Luxemburgern, daß wir noch immer die alten Stockfranzoſen ſind, und das Franzöſiſche daher in unſern Schulen lernen müßten, fintemal es ſonſt nirgends im Lande gefprochen wird, wenigftend nicht comme il faut. Was fol auf, mag Herr Joris bei fih denken, aus und werden, wenn nun die „Revande“ kommt, und wir Eönnen diefelbe nicht, wie fich diefes ſchickt, auf gutfranzöfiſch fetiren? Wäre das nicht eine Schande für das ganze Land, das jo in tieffter Seele franzöfifch ift? Und fo hat denn auch die madere „Inde- pendance” ganz Recht, wenn fie den Beamten unjerer Eifenbahnverwaltung den Tert dafür Iieft, daß fie fo faul im Erlernen des Franzöfifchen feien, in

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einem dur und dur deutfchen Lande, wo die Regierung, die Kammer, die Poft-, Telegraphen-, Steuer- und andere Verwaltungen, nebft allen un» feren Fransquillons, das Franzöfifche radbrechen, jo gut, oder beffer, fo ſchlecht es gehen will. Was find denn das für deutfche Eifenbahnbeamte, meint die „Sndependance”, die da nicht einmal das Franzöſiſche fprechen, es nicht einmal lernen wollen, und wäre e8 au) nur den franzöfifchen Telegraphen- formularen zu lieb. Gerade ald ob bei und der Telegraph, der mährend des legten Kriege mit allen franzöfifchen Telegraphen und Zeitungen um die Wette franzöfifch gelogen, und faft dad Kreuz der Ehrenlegion dafür erhalten ‚hätte, nun auch noch Deutjch lernen follte, den Beamten unferer beutfchen Eifenbahnen zu Liebe.

Und dann denkt das fchlaue „Wort“, ä part soi, während der ſchönen, vielen Bett, wo die Kleinen in den Schulen dad Franzöſiſche nicht lernen, lernen fie doch menigften® auch nicht? andere. Und das ift ſchon ein großer Gewinn, wenn auch nur ein negativer für das Volk nämlich. Alle Welt weiß, daß bei unferm gegenwärtigen Regime, wie e8 in unfern Bolfs- ſchulen herrſcht, gar nicht die Rede von der Grlernung zmeier fremden Sprahen (denn auch das „Preußifche” ift für und Luxemburger heute eine fremde Sprache) fein Fann. Dafür ift die vorgefchriebene Schulzeit zu Kurz, der Katechismus des Herrn Laurent zu di und zu theologiſch, find die Spieltage , Feiertage, Vakanzen und Ferien zu zahlreih. So gar viel mird auch in der Schule nicht gewonnen. Ein Glüd noch, daß die Kleinen Rangen ihr gute®, biderbe3 Iuremburger Deutſch mährend der Schulzeit nicht ver- lernen. Wie fie e8 fonft machen follten, um ſich unter fi und unter den Reuten zu verftändigen, ift eine Frage, die wir und nicht zu beantworten ge- trauen. Denn von Deutfh und Franzöfifh verjtehen die armen Würmlein kaum mehr, wenn fie aus der Schule audtreten, als bet ihrem Eintritt in diefelbe. Und doch fagt Herr ludi-magister Philipp, ein treuer Anhänger des „Quremburger Wort“ und ein faft ebenfo tüchtiger Echulmeifter, die Er- lernung der franzöfifchen Sprache in den Primärfhulen könne nur der Er- lernung der deutfchen Sprache Vorſchub leiſten. Wir find mit dem gemiegten Pädagogen gänzlich einverftanden, d. h., wo die beiden Sprachen wirklich und gründlich gelehrt werden, was indefjen bei und zu Lande, unſers Wifjeng, nirgend® gefchieht, nicht einmal in der Schule ded braven Mannes felbft.

Doch das ift ja auch Nebenfahe. Nicht um durch die eine Sprache die andere zu erlernen, kommen die beiden in dad Schulprogramm, fondern vielmehr, damit die eine die andere verdränge, ertödte. Der Schulmeifter foll nad allen Seiten die Hände gebunden haben, hier durch den dicken Katechis— mus, den er nah $ V. Art. 51 unſers mohllöblichen Schulgeſetzes, auf Begehren des Paſtors, und unter feiner Leitung, zu lehren hat;

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bald dur das Franzöfiiche, wodurd er den Kleinen das Deutjche begreifli machen fol; bald durch dad Deutfche, welches die Kinder kaum befler ver— ftehen, al® dad Franzöfiihe; bald durch die vielen Feier- und Ferientage;— bald durch die zahllojen Abwejenheiten der Eleinen Rangen, die während der befferen Jahreszeit von ihren bejorgten, liebevollen Eltern zu Haufe behalten werden, um bei dem theuren Zucht- und Maſtvieh Wacht zu halten, damit demfelben ja beileibe nicyt8 abgehe, und reife und Prämien den Weg ins Dorf nicht verfehlen.

Unjere hochpatriotiſchen Blätter, die wenigitend ebenfo fromm als patriotifh find, ignoriren das Alles nicht. Aber in einem Rande, wie da® unfrige, „dem erften Sande der Welt und drüber hinaus“, wie eine biefige rhetorifche Größe ſich auszufprechen pflegt, muB alles gut und recht fein per se.

Und fo wollen wir denn mit Herren ori, dem Strohmann der „m dependance Quremburgotje*, und Herrn Breisdorf, dem Dito des „Nuremburger | Mort für Wahrheit und Net“, hoffen, daß das Franzöfifche ja noch recht lange, zur Erläuterung des Deutſchen (nah Herren Philipp) in unfern Pri— märfchulen, nah dem „dien Katechismus“ gelehrt werden müffe, und müßten wir auch am Ende unfer fchönes luremburger Deutſch darüber ver« / lernen, d. h. gar Feine Sprade zum Klagen behalten. Reden ift zwar ; Silber (wenn man daraus auch Feine Reichsmark ſchlagen Fann), doch Schwei— gen tft Gold, wie die Elugen Xeute meinen. Nun denn! Deſto befier, wenn wir au noch zu dem Franzöfifchen und „Preußiſchen“ unjerer Mutterſprache quitt werden. Wir werden dabei nur um fo reicher. Und wer Gold hat, für den liegt am Ende wenig daran, ob er ded Wortes mächtig fet, oder nicht.

Freilich gewinnt das Ding, was unjere Bhilojophen und Germanophilen Geift nennen, dag Wenigſte dabei. Aber Geift! was ift Geift? Man zeige und doch nur Geiſt in unferm Lande! Und für ein ſolches unſichtbares, un- greifbared Ding, das nirgend® bei und zu finden tft, fämpfen nur jene Ideo—⸗ logen, die unfere Kleinen ſchon mit 12—14 Jahren zu Gelehrten, zu Denfern (warum nit gar zu Doktoren?) machen wollen. Sie können nur Unrube und Unfrieven im Bolfe ftiften, das ſich bis heute jo gern und willig von feinen Vorgeſetzten jeder Art hat leiten lafjen, Wenn das Volk, die großen Maffen mit ihrem Loos und ihrem Zuſtand zufrieden find, ob fie „preußifch“ ſprechen fönnen oder nicht, mas geht® die unverbefjerlichen Weltverbefferer, die thörichten Ideologen u. ſ. w. an?

Und fo begreift man denn, wie bei jo bewandten Umfländen und Anfichten, in unfern Schulen ausſehen muß. Biel Schein, fein Wefen; viel Geſchwätz, menig Gehalt, eine breite Oberfläche, feine Tiefe; zwei fremde Sprachen, und feine eigene; kurz: „Biel Lärm um nichts“. Und dazu all das Rühmen unferer Tagesblätter über die Vorzüglichkeit unferer Schulen, unferer Geiftlichfeit, unferer ſchwarzen Schulſchweſtern und ihrer hochgeftellten Protektoren , kurz, des ganzen ultramontanen Schwindeld. Und da® unge: ſchmälerte Eigenlob, das ſich die Strohmänner diefer Blätter tagtäglich zollen.

Ich möchte willen, wie e8 in den minder vollfommenen Rändern, und bei den uneivilifirteften Nationen zugeht, wenn es hier, bei dem vorzüglichiten, dem erften Volk der Welt und darüber hinaus, ſchon fo ganz nad dem Sinne unferer Sefuiten und Frandquillond hergeht. Der Himmel bewahre alle Gebilveten vor einer ſolchen Kivilifation, jeden ehrlihen Mann und treuen Baterlandöfreund vor dem Segen, den fie ihm bietet. Der muß ftarf fein, der ihn trägt, ohne darunter zufammenzubrechen.

N. Steffen.

Berantwortliher Redakteur: Dr. Hans Blum in Reipzig. Berlag von $. L. Herbig in Leipzig. Drud von Hüthel & Legler in Leipzig.

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Nan abonnirt bei allen Buchhandlungen u

Grensboten.

Beısı Sri für

Politik, SJiterafur und Kunfl. Ne: 47.

Ausgegeben am 20. November 1874.

Inhalt: Seite

Hiftorifche Studien über Don Carlos. I. Wild. Maurenbrecher. 281 Zur Gefhichte des Septennatd, 1. Die Gründung. Georg Zelle 293

Ein ameritanifcher Humorift. (Marf Twain) 9.8. 306 Vom deutfchen Reihötag.e C—-r. . 2 vn 314 Briefe aus ber Kalferfladl £ + + » = 318

Grenzbotenumſchlag: Literarifche Anzeigen.

ey HH do

Leipzig, 1874. Friedrich Ludwig Herbig. (Fr. Bild. Grunow.)

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Kiteratur des Auslandes.

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Joſeph Lehmann.

Dreiundvierzigfier Jahrgang. Wöcentlih 11% bis 2 Bogen Quart; Preis viertel» jährlich 1 Thle. 10 Ser.

Das „Magazin“ ift durch jede Poftanftalt und Buchhandlung, auch von der Verlagsbuchhandlung zu beziehen. Eine Probenummer liefert jede Buche handlung unentgeltlich.

No. 46 des „Magazin” folgende Artikel:

Deutihland und das Ausland. Moderne Kul— turzuftände im Elſaß. (Neue Folge) Noch Lud— wig Spa. 665. Grillparzer ald Archivdirektor. 667. Nenlateinifhe Literatur. Dlympia Fulvia Morata Bon Dr. Herrmann Müller. II. 669. Italien. Zeitungen des nördlichen Ita— liend. Bon Ludwig Geiger. IL. 672. $ranf: reih. Guizots Teſtament. 674. Die Reform des höheren Unterrichtsweſens in Frankreich. TIL. 675. Polen. Eine polnifche Ueberſetzung der Odyſſee. 676. Drient. A Grammar of the Arabie Language. 677, Kleine literarifde Menue. Das öfterreichifche Hochdeutfh. 678. „Am deutjchen Herd.“ 678, Der Landrichter von Bibenhaufen. 678, Lehrbuch der MWürfel- kunſt. 678.

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erfchien: Geſchichte der deutſchen Literatur ſeit Leſſing's Tod

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Neue Auflage in Vorbereii

Die soeben erschienene No, 46 der

Jenaer Literaturzeitun

im Auftrage der Universität Jenaher:

gegeben von Anton Kilette,

Jena, Mauke’s Verlag (Hermann De enthält Besprechungen von:

H.-Ewald, die Lehre der Bibel von Gott: Eb. Schrader. H. Serin, Chronologie des bens Jesu: von RB. A. Lipsius, K, v. Au Erbenfolge und Verwandtschaftsgliederung« den alt-niederdeutschen Rechten; v. ©, St! A. Dalcke, das Gesetz über die Enteign von Grundeigenthum: ven G. Meyer. | scheidungen des Mecklenburgischen 0 appellationsgerichts zu Rostock : von ©. We F. X. Nenmann, die Theuerung der Leb mittel: von J. Conrad. E. Richter, Chira der Schussverletzungen im Kriege: C, Lotzbeck. E. Hallier, Exeursionsbach A. Engler. H. Seeger, die Element Arithmetik: von G. Frege. M, Venetin der Allgeist: von Fritz Schultze. C, Büss Theopompea: von E. Wölftfliin. K. Bäcd die Aufstände der nnfreien Arbeiter I v. Chr.: von C. Peter. A. L. Ewald, die oberung Preussens durch die Deutschen: G. Hertzberg. Dantis Alligheriiide monarı libri III, edidit C. Witte: von EX, Wer J. Baader, Verhandlungen über Thomas Absberg und seine Fehden: von H, Ulms K. Fischer, Geschichte der auswärtigen Po! und Diplomatie im Reformationszeitalter: C. Varrentrapp. C. Hostmann, der Un friedhof bei Darzau: von J. H. H.Ewald, hebräische Sprachlehre: v.R.Schra C. H. Vosen, kurze Anleitung zum Erler der hebräischen Sprache: von Eb; Schr F. C. Seeliger, de Dionysio Halicarn

Plutarchi in vitis X oratorum austtore: F. Blass. A. Dräger, historische Synta

= Terache : von BE», Lühl . Lueretius Carus, redigirt und erklärt E. Bockemüller: von W. ve elm

M. Tullii Ciceronis orationes ie, ei runt A. Eberhard et W. Hirschfelder: J, Frey. Die Murbacher H 3 so, mach Handschrift herausgegeben von E. = E. Steinmeyer. E. Laur, zur Ge * französischen Litteratur: Yon &, Gräber.

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Hiſtoxiſche Hfudien über Don Garlos. II.

Wer ſich die gleichzeitigen und authentiſchen Zeugniſſe über die Jugend und Entwickelung des Prinzen Carlos vergegenwärtigt, wer ſich der Ausſagen feiner Erzieher, der beſorgnißvollen Worte ſeines Vaters und endlich der ver- traulihen Mittheilung von fpanifcher Seite an die nächſten Verwandten er- innert (mie mir fie in dem vorhergehenden Artikel dargelegt haben) dem muß ſich ein ganz andered Bild jenes bemitleidendwerthen fpanifchen Jüng— ling® ergeben haben, als es nad der vom Dichter früher vermittelten und neuerding® neu porgetragenen Annahme gemwefen fein fol. Faſt unglaublich, jedenfalld jehr feltfam muß es erfcheinen, daß überhaupt ein Roman aus den gefchilderten Zügen entftehen Eonnte. Der Ausgang ded Prinzen wird allein die Erklärung für diefe auffallende Thatſache und bieten.

Wenn heute der Thronfolger eines großen Staates oder ein Prinz eines mächtigen KHönighaufes oder wenn, wie wir e8 fo eben erlebt haben, ein her- vorragender Diplomat oder Staatsmann plötzlich ins Gefängniß gefegt wird, fo bleiben Erzählungen und Bermuthungen und Erfindungen über die ver- baftete Perfönlichkeit und die Urfache der Verhaftung ganz gewiß nicht aus. Je feltfamer die Geſchichte ausgeputzt werden Fann, deito größer ift der Eindrud und Erfolg, den fie mat, bei dem flaunenden und aufbordhenden Publifum. Wenn wir und nun in die Stimmung der öffentlichen Meinung jener Zeiten verfegen, tritt un faft auf allen Seiten eine große Entfremdung und Übneigung gegen Spanien und den fpanifchen Köntg Philipp II. ent- gegen; feine politifchen Widerfacher in Italien und in Frankreich) und in den Niederlanden, feine reltgiöfen Gegner in der proteltantifchen Welt beobachteten mit Mißtrauen jeden feiner Schritte und nahmen mit behaglicher Genug- thuung von jedem Mißgeſchick Notiz, das ihn in feiner Politik oder in feinem Haufe betraf. Man kann ſich leicht vorftellen, mie man in diefen Kreiſen die Gefangenfegung des Thronfolgerd aufgenommen und in welcher Richtung fih fofort die Erflärungäverfuche und Deutungen bet allen diefen Feinden Spanien® bewegt haben. Die Feinde Spaniens aber haben damals die öffent-

liche Meinung Europas gemacht oder beherrfcht; fie haben in der Kiteratur Örenzboten IV. 1874. 36

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fiegreih ihre Tendenzen durchgefegt. Wir Haben ſchon an diefer Stelle auf die weitreichende Wirkung bingewiefen, welche die Verläumdungen des Dra- nierd gegen Philipp gehabt haben. Aus der von diefen Anregungen auge: gangenen Literatur, die alfo vornehmlich von politifchen Tendenzen, mehr ald von romanhaften Kiebhabereien ihren Antrieb erhalten, ijt diejenige Verſion der Carlod- Gefchichte entitanden, deren fpäterhin ſich die Dichtkunft bemädhtigt hat. Wer aber fi einmal in dem Dunftfreis jener Vorftellungen und Erzählungen bewegt hat, der Fann ſich nachher nur ſchwer entjchliegen, den nüchternen Ausſagen diplomatifcher Berichte oder amtlicher Erklärungen Glauben zu ſchenken und feine Lieblingdmeinungen fahren zu Iaffen.

Auch der neuefte Darfteller de8 Don Carlos, auch Adolf Schmidt ift von dem Gefühle politifchen und kirchlichen Gegenſatzes gegen Philipp II. von Spanien fehr lebendig erfüllt und bewegt; er läßt Feine Gelegenheit vor: beigeben, feine Leſer von bdiefer feiner Gefinnung zu unterrichten: ihm it ed durhaus nicht genehm, daß andere Hiftoriker eine weniger leidenſchaftliche Auffaffung am Plate halten und es ablehnen, das hiftorifche Urtheil von den damaligen Feinden Spaniens ſich vorfagen zu laffen. Doc wie auch immer das Urtheil über König Philipp fich dereinft geftalten mag, nachdem man ihn fennen zu lernen in der Rage fein wird, ich behaupte, daß aus dem gedruckt vorliegenden Materiale eine ſolche Kenntniß heute nicht möglich ft, mie immer auch dereinft dies fich geftalten mag, ganz ficher wird es nicht erlaubt fein, bei der Feitftellung der Thatfachen dem Urtheile über den König maßgebenden Einfluß zu gewähren.

Oder follte fih eine Fälfhung der Thatfachen, eine lügenhafte und ten- denziöfe Verdrehung des Thatbeftanded in den und vorliegenden hiſtoriſchen Zeugniffen vielleicht dem fpanifchen Könige felbft nachmweifen laffen? Schmidt? Meinung fheint dies zu fein. Darum handelt es fih alfo, ob eine folde Trübung der Ueberlieferung durch den fpanijchen König fih nach weiſen läft.

Schmidt ftellt den Ausfagen der Diplomaten und den Erklärungen des Hofes feine Fritifche Theorie gegenüber, die ihnen die Glaubmwürdig: feit beftreitet und als Xendenzlügen fie erklärt. Er meint, die ita- lienifhen Depeichen feien nahezu werthlos, weil fie „abfichtlih auf geitreute Hofgerüchte melden, die für den unbefangenen Forfcher den Stempel foftematifcher Verdächtigung des Infanten an der Stirn tragen“. ine mejentlih größere Glaubwürdigkeit ftehe den franzöſiſchen Berichten zur Seite: am glaubwürdigften aber feten die öfterreihifchen Berichte; gerade aud den vorliegenden Depeſchen Dietrichftein’d glaubt er ein andere Charakterbild heraudfefen zu können, als dasjenige, das den Außftreuungen des Hofes entfprungen. Wir dürfen wohl annehmen, grade die Beobachtung, daß fih Hier und da günftigere Aeußerungen als die üblichen über Don Carlo?

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in den bezeichneten Depejchen Dietrichftein’d vorfinden, hat Schmidt zu feiner Annahme geführt einer fyftematifchen Verläumdung ded Prinzen durch feinen ihm feindlih gefinnten Vater. Augenſcheinlich argumentirt er fo, wenn einige Beobachter günftig über den Prinzen berichten und urtheilen, fo muß dad, was die fpanifche Negierung direft und indirekt und über ihn mit- theilt, da es fo viel ungünftiger lautet, Unwahrheiten enthalten; denn die Glaubwürdigkeit jener günftig berichtenden ift aus fonftigen Gründen anzu- nehmen, fie ift jedenfall® vorzuziehen der Glaubwürdigkeit der Spanier, welche Kartei find und melche dad Don Carlos zwar erft fpäter zugefügte aber ſchon beabfihtigte Unrecht zu befchönigen Haben. Man fieht, in diefer Fritifchen Grundlage ift allerding® Syitem. Zwar, meine ih, wäre immer noch da- rüber zu didcutiren, welcher Seite mir zu folgen hätten, wenn ein Wider ſpruch zwiſchen den Erklärungen der Megierung und den Berichten der Fran- jojen und Defterreicher fich herauäftellen follte. Das Mißtrauen gegen Philipp's Yeugerungen wäre doch erſt zu begründen: allein mit der vor jeder Unter- fuhung, mie e8 fcheint, als Artom feitftehenden Annahme einer Feindfchaft und Berfolgungsfudht des Königs wider feinen Sohn wäre nicht? auszurichten bei einem Hiftorifer, der auch für died Ariom um Beweife erfuchen würde; das aber wäre ein nicht lobendwerther Hiftorifer, der etwa aus Höflichkeit oder aus eigener Liebhaberei eine foldhe Bitte um Beweiſe unterdrüden mollte! Doch wir haben feinen Anlaß, diefe abwägende und vergleichende Unterfuhung der Olaubmwürdigfeit hier vorzunehmen, der eben angenommene Widerſpruch ft gar nicht vorhanden. Jene Diplomaten haben ala gewiſſenhafte pflicht— treue Leute ihren einheimifchen Regierungen nur das berichtet, was fie am Hofe erlebt, was fie dort vom Prinzen gehört; fie haben ihr eigenes Urtheil, wie es fich ziemte, nur fehr behutfam und fehr vorfichtig zu formuliren fich bemüht: alles aber fteht im Großen und Ganzen in Einklang mit dem, was jene von Schmidt fo verworfenen Italiener und was die fpanifchen Minifter jelbft gelegentlich erzählt und gefagt haben.

Es ift gewiß richtig, daß die franzöfifchen Diplomaten am fpanifchen Hofe Gelegenheit hatten fi gute Nachrichten zu verfchaffen. Und Königin Elifabeth, die ja felbft für Don Carlos ſich zu intereffiren angemiefen war, mag dabei ihnen behülflich geweſen fein. Sie erzählen nun einzelne Eleinere Erleb- niffe und Vorfälle, fie geben einzelne feiner Aeußerungen wieder, die ihnen binterbracht find: meiftend find es Detail, aus denen fie felbft Feine Folgerung auf feinen Charakter ziehen und die auch uns nicht darüber zu einem Vrtheile verhelfen. Doch ift Einzelne auch von anderer Natur. So 3 ®. berichtet der Gefandte im Auguft 1563, daß Ruy Gomez ihm gefagt, die Kränklichkeit und der Blödfinn, die man an Don Carlos bemerkt habe (Findisposition et I’ imbeeillit& qui se voyait en sa personne), hätten den

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Bater biöher verhindert ihn zu verheirathen, der Gefandte überliefert viefe Mittheilung des Minifterd, ohne anzudeuten, daß er eine andre Meinung von Garlod habe; hatte er fie, fo war es nöthig fie bier Fund zu geben. Im Suni 1564 lefen wir in dem Berichte deffelben Gefandten, daß man in Spanien eine Ehe ded Prinzen mit feiner Tante wünſche, im Hinblid auf feinen Schwahfinn cause des qualitez assez imb£cilles de luy), der in den trefflihen Eigenfchaften der Dame eine Ergänzung finden würde; zu- gleich erwähnt derfelbe Bericht, dag der Prinz anfange gegen feinen Vater und deilen Befehle widerſpänſtig zu werden. Wie von einer durch ihn nicht bezweifelten Thatfache redet alfo auch der Franzofe von dem Schwach— finn des Prinzen. Ta, er hatte auch dag Urtheil ſchon niedergefchrieben, da Don Earlod’ Eigenjchaften ihn nicht zur Uebernahme ſchwieriger Aufgaben, wie etwa in Schottland fie ihm bevorftehen würden, befähigten; ein Urtheil, das naher fein Nachfolger in der Gefandtichaft zu beftätigen mehrmals ſich ver- anlaßt gefehen. Aus der Xektüre der franzöfifhen Depeichen habe ih nichts weniger als den Eindrud gewonnen, daß fie in der Schilderung und im Ur: theile über Don Carlos von dem. fonft befannten abweichen.

Um Madrider Hofe war aber fein Fremder in fo günftiger Rage über Carlos fih zu erkundigen, als grade die Öfterreihifchen Gefandten. Sch wies neulich ſchon auf ihre Stellung zwifchen den beiden Höfen hin: es fom Hinzu, daß ſeit der ernftlihen Behandlung des Eheprojektes durch den Miener Hof fie das größte Intereſſe hatten, von dem wirklichen Zuftande dedjenigen, den die Erzherzogin heirathen follte, Kenntniß zu erhalten. Wenn man bedenkt, wie große VBerantwortlichkeit jeded Wort und jeder Winf des Geſandten gerade in diefer Situation haben mußte, wird man fi) eine Vor ftelung von der Sorgfalt machen können, mit der fie Erfundigungen ein- zogen, von der zaudernden Vorfiht und ſtets nach allen Seiten bin fich um ſchauenden Bedenklichkeit, mit der fie ihre Berichte abfaßten, von der Scheu ein Urtheil beftimmt auszuſprechen; dann aber wird man aud dad Schwanfen in ihrem Urtheile felbit richtig zu veranfchlagen geneigt fein.

Jener Martin de Guzman, dem man im Mär; 1562 ziemlich unver blümt den Sachverhalt eröffnet Hatte, kannte felbjt den Prinzen recht mohl; er ſprach fofort mit dem Nachdruck vollfter Meberzeugung eine gut und au thentiſch unterrichteten Zeugen ed aus, diefe Gröffnung über Don Garlos enthalte nichts erfonnenes, fondern fo jet ed in Wirklichkeit (no es fingido sino pasa asy en realidad de verdad); feine eigene Unfiht war, felbit wenn Garlod gefunder werden follte, würde die Heirath nicht möglich fein. So blieb alfo den deutfchen Verwandten nicht? übrig ald zu warten, ob vielleicht eine Aenderung im Weſen des Prinzen eintreten würde.

Zunächſt erfolgte eine Verfchlimmerung feines körperlichen Zuftandee.

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Im April 1562 that Carlos den unglüdlichen Fall in Alcala, der ihn an den Hand des Grabes brachte, fo dag die Rettung vom Tode nur wie ein Wunder von den damaligen Menfchen angefehen wurde. Aus Deutfchland erfolgte im nächſten Jaͤhre wiederum ein Antrag und ein Gefuh an Philipp, fih jest über Carlos' Ehe zu entfcheiden. Cingehende Erörterungen fanden darauf am fpanifchen Hofe Statt: es war aud von der fehottiichen Seite da8 Projekt der Maria Stuart auf neue angeregt worden. Die Entſchei— dung ging dahin, einmal daß wegen der Befchaffenheit ded Prinzen und weil die gewünſchten Nefultate ſeines Auftretens in Schottland für die Fatholifche Sache nicht zu erwarten wären, die ſchottiſche Möglichkeit fallen zu laſſen fei, und daß man wegen der bdeutfchen Ehe durch einen befonderen Gefandten König Marimilian-von der zuftimmenden Abfiht Philipp's und von der Be ihaffenheit des Prinzen unterrichten follte.*) So erhielt Guzman im No: vember 1563 nur einen dilatorifchen Beſcheid; bis in den September 1564 zog fih Die neue Gefandtfchaft Hin, die aber nicht? neued mitzutheilen: hatte. Ueberhaupt verblieb Philipp bei einer Wiederholung feiner früheren Worte; er bezog fich auf dad, was er fohon früher gefagt; er bedauerte feine Aen— derung conſtatiren zu Eönnen; er vertröftete die öfterreichifhen Werber immer nur auf die Zukunft.

Inzwiſchen waren im Frühjahr 1564 die beiden Erzherzoge in Spanien angelangt, begleitet und geführt dur den Freiherrn von Dietridhftein, diem es noch beſonders aufgetragen war, die ſchwebende Ehefrage endlich ind Reine zu bringen. Gerade in feinen Berichten hat Schmidt Anlaß und Ma: tertal gefunden, die höfiſchen Mitteilungen über Carlo der Züge und ſyſte— matifhen Verdächtigung zu zeihen. Es wird nöthig fein, daß wir die be- treffenden Ausfagen Dietrichftein’d prüfen.**) reili halte ih, um das von vornherein zu fagen, für unerlaubt, einzelne Worte aus dem Zufammen- hange zu reißen ; man muß die Reihe der Depefchen ganz leſen; man barf nit vergeffen, daß derjenige, der ald Empfänger die einzelnen Briefe Lieft, die vorhergehenden Briefe ſchon Kennt, ebenfo mie der Schreiber fich deſſen be- wußt bleibt, was er felbit ſchon früher gefchrieben hat. Noch ehe Dietrich: Rein jelbit den Prinzen gefehen, erfuhr er vielerlei über denfelben; er entwarf na diefen Mittheilungen in der Depefche vom 22. April 1564 ein Bild von ihm, das wenig erfreuliche Züge verrieth körperlich mißgeftaltet und kränklich, kindiſch und urtheilslos fol er gewefen fein. Nachdem Dietrich: Kein darauf ihn felbft geſehen und mit ihm geſprochen, ſah er fich veranlaft zu einigen Modifikationen ; „man ftelle feine Fehler größer dar, als fie wir:

) Died Aktenſtück babe ich 1864 zuerft aus dem Archiv von Simancas publicirt, in der diſtoriſchen Zeitfchrift XI. 296.

N Koch, Quellen zur Gefchichte Mar II. (1860).

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[ic wären ;“ er berichtete nun felbft auch einige günftige Züge. Schmidt nennt diefed Schreiben vom 29. Juni einen „fürmlihen Widerruf des früheren“, überfieht dabei aber, daß troß der einzelnen Modifikationen und Einfchrän: tungen Dietrichftein ausdrüdlich fagt: „ich Fann ihn nicht viel anders bes fchreiben, als ich zuvor gethan,“ ein Urtheil, das er am 11. Juli förmlich wiederholte. So ift hier gewifjermaffen das Verhältniß: die erfte, anfängliche Charakteriftit fchmwebt ihm immer vor Augen ; wiederholt und immer wieder bezieht und beruft er ſich auf fie, indem er fie bald im allgemeinen beftätigt, bald einzelne Züge in ihr berichtigt und ändert. Man fieht aus den ein- gefandten Berichten, die manches unter ſich nicht recht zufammenpafjende De- tail ganz objectiv nebeneinander ftellen, die ded Prinzen Zorn und Heftig- feit, feinen Stolz und feine Bosheit, feinen Eigenfinn ebenfo ins Licht fiel- len, wie fie feine Gotteöfürdhtigfeit, fein Gedächtnig, feine MWahrheitd- und Gerechtigkeitäliebe erwähnen, man erfieht aus diefen alle Einzelzüge forg- fältig wiedergebenden Berichten, welhe Mühe Dietrichftein auf feine Bericht: erftattung verwendet. Er hebt aus eigener Erfahrung einmal hervor, daß Carlos ihn gar nicht fo ungereimted Zeug gefragt habe, als er nad) den vor- hergehenden Schilderungen von ihm erwartet hatte. Beſondere Sorgfalt wid- mete Dietrichitein der Unterfuhung, ob man mit Grund ihn für impotent ausgeben dürfe, mit feltener Ausdauer fommt er wiederholt auf diefen Punkt zurück, den er doch zulegt unentfchieden laſſen muß.

Dietrichftein war einige Male der Anficht, das Weſen des Prinzen mürde bei befierer Erziehung nicht fo ſchlimm geworden fein unmwillfürlich erinnern wir und hierbei der beforgten Worte, welche ein anderer Yamtliendiplomat 1550 über den Fünfjährigen geäußert. Im Sommer und Herbit 1564 er zählt er und von Ermahnungen Philipp's an den Sohn, von einem Verſuche auf ihn durch Zureden zu wirken; im November meint er eine „Befjerung‘ zu bemerfen, doch feßt er wiederum hinzu: „fonft kann ich ihm nicht anders depingiren als früher gefchehen ift.* Natürlich bleibt für ihn ein Hauptgegen- ftand feinge Erwägungen, den er klar zu ftellen unausgeſetzt fih abmüht er fol erfahren, was Philipp's eigentliche Abficht mit dem Sohne fei, weh. halb er zu einem definitiven Entfhluß nit fommen fönne Mir machen in feinen Depefchen den ganzen Kreislauf feiner Vermuthungen und Hypo thefen mit; da er eine unzmweideutige Antwort aus Philipp nicht herauszu— locken vermochte, fah er fih auf Muthmaßungen und Schlußfolgerungen an gewiefen. Wir find durch diefe ausführliche Berichterſtattung Dietrichftein’d in die Lage verſetzt allen Kleinen Veränderungen des Momentes zu folgen: wenn Garlod einmal fich vernünftiger zu betragen fcheint, fteigt ihm die Hoffnung höher, daß es doch zur Ehe fommen könnte; geberdet er ſich einmal etwas toller oder unbändiger, fo ftellen fi ihm trübe Ahnungen über den

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Ausgang ded ganzen Handel? ein. Soviel halte ich für fiher, daß er vor feinem Abgange nah Spanien von jenem Berichte Guzman’d vom 10. März 1562 nit Kenntniß erhalten, ja ich glaube es für wahrfcheinlih halten zu dürfen, daß nicht einmal Marimilian von feinem Bater vollftändig einge mweiht worden iſt. So erklärt es fi, daß Dietrichftein in Madrid zu einem feften Urtheile zu gelangen fo außerordentliche Schwierigkeiten hatte; fo er- klärt e8 fich auch, daß er in den Berichten mindeitend ſoweit wir fie fennen fich niemal® auf jene frühere Thatjache bezieht.

Im Sommer 1565 hörte er von „allerlei Anfechtungen und Nadh- denken ‚“ die Carlo feinem Water verurſacht; indem er felbit fich wiederum auf feinen früheren Bericht beruft, meinte er die Geſundheit desfelben habe ſich gebeffert. Später aber im Detober meldete er wieder eine Verſchlimmerung des Buftandes: „bei diefem großen unordentlihen Weſen, das er treibt, ift wahrli zu beforgen, daß er nicht werde alt werden.“ Im Mär; 1566 er- flärte er wieder einmal, nicht zu wiſſen, weßhalb die Sache fo in die Ränge gezogen würde, er felbit hatte damals wieder neue Hoffnungen für Don Carlos gefaßt. Dagegen glaubte er im Auguft 1566 fih dahin aussprechen zu können: „jo viel dad Mifterium betrifft, nämlich den Verzug von des Prinzen Heirath, könne er nicht anders dies verftehen, ald daß Philipp diefe Sache allein um ded Prinzen willen binziehe, nicht allein feiner Geſund— heit wegen, er wäre jetzt ftärker und gefunder fondern damit er erft fein Benehmen befjere und feinen Charakter ändere (ut mores emendet et quos ex prava educatione pessimos contraxit cursu temporis amittat et conditionem suam mutet).

Bei der abmartenden Haltung des Königd wurde Dietrichftein oft un- geduldig; nicht geringer aber war die unruhige Spannung und Erwartung, mit welcher in Wien der Kaifer der Erledigung der Sache entgegen fah. Auch Don Carlos, der feinen Sinn felbit auf die Hand der Prinzeffin Anna gerichtet, wurde über die Zögerungen des Vaters fehr unluftig und machte feinem Unmuthe oft in wenig refpeftvollen Worten Quft. Im Kaufe des Jahres 1567 verfinfterte fi) der Horizont zufehends für den Prinzen. Die Atmofphäre in Madrid wurde für ihn immer ſchwüler. Schon meinte Dietrich- fein (10. März 1567), wenn er feine Eigenfchaften nicht Ändere und jeine Affekte nicht beffer beherrfche, würde es nicht gut mit ihm werden. Und Carlos jelbft war nun älter geworden; dem Zmeiundzwanzigjährigen Eonnten nicht wohl die Ehe und eine angemefjene Ausftattung verfagt werden, falld man ihn nicht geradezu für [hmwachfinnig und unfähig offen erklären wollte. Eine Anzahl einzelner Borfälle fohienen eine Zunahme feiner Berkehrtheit anzu: zeigen. Dietrichftein hielt es für bedenflih, ja auch für fehr fehmierig, ein Urtheil über die ganze Sache zu wagen; er meinte wohl (26. April 1567),

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wenn überhaupt no an die Hetrath gedacht werden follte, fo begreife er den Aufſchub nicht; er hielt ihn für „ungezogen“ und meinte „er wird fich menig verändern“ (18. Mat 1567): er habe viele böfe Eigenfchaften, aber aud viele guten; jest habe er den Vorſatz gefaßt feinen fchlechten Gelüften nicht meiter nachzuhängen; würde er wirklich nach diefem Vorfat leben, fo könnte er doch noch ein andrer werden, ald man gemeint.

Kurz, ed hat recht lange gedauert, bie der öfterreichifche Diplomat zu einer beftimmten Anfiht kommen fonnte. Aber er ift zulest doch zu einer folhen gelangt. Gerade weil auch ich diefen hin und hergehenden, die wechjelnden Stimmungen präcis zum Ausdruck bringenden Depefchen Dietrichftein’d großen Werth beilege, gerade deßhalb wiegt für mich dad Endurtheil fo fehmwer, zu welchem er dur alle diefe Erwägungen pro und contra fi hindurch ge arbeitet hat, welches alfo wohl erwogen und reiflich überlegt if. Nachdem der Schlag gegen Don Garlod am 18. Januar 1568 gefallen, hat er es ausführlih und motivirt feinem Souverain auseinandergeſetzt (21. und 22. Sanuar 1568). Er fagt: mit Beitimmtbeit könne wohl Niemand die Urſache (der Gefangenfegung) wiſſen, wie wohl er glaube, daß aus feinem anfänglich erftatteten Bericht über die Eigenſchaft und Gondicion ded Infanten forte aus den eigenen Mittheilungen Philipp's der Kaifer fie vermuthen könne. Sedermann fei bier der Meinung, daß Philipp dazu gar Hohe und große Urſachen habe; feine (Dietrichftein’d) Anficht wäre, daß ded Prinzen eigen- finniger Wille, den er nicht mit Vernunft regieren Eonnte, feine Heftigfeit und fein Zorn ihn dahin gebracht. Der Botſchafter erinnerte an Philipp's wieder: holte Verfiherungen, wegen des jeltfamen Mefend feined® Sohnes die Ehe nicht zulafien zu können: er habe oft ihn ermahnt und ihm gedroht, wenn er fi nicht ändere und befjere, ihn al8 einen unvernünftigen Menfchen be handeln zu müflen. Und den Entſchluß, einzuſchreiten und jest nicht Länger mehr duldend zuzufehen, ſchreibt Dietrichftein dem Anfalle des Carlos auf Don Juan de Auftria zu. Zuletzt kommt Dietrichſtein auf feine eigene Auf fafjung wieder zurüd, daß Don Carlos feltfame Eigenfhaften und feltfamed Wefen gezeigt, wenn man auch mit ihm Mitleidven haben fönne, jo müſſe man doch fagen, dat Philipp zu feiner letzten Mafregel billige Urfachen gehabt Habe. Und diefen Sat miederholte er am 13. April noch einmal: „wer nicht intereffirt oder paffionirt ift, der giebt dem Vater Recht, daß er zu feinem Verfahren billige und gerechte Urfachen gehabt habe.”

So lautet das Urtheil, da® der beftunterrichtete der Diplomaten In Madrid zu fällen ſich genöthigt gefehen. In der That, auf ihn fich gegen Philipp zu berufen, durch feine Mittheilungen die Ausfagen der fpanifchen Regierung Lügen zu ftrafen, das ift ein kühnes Unternehmen, das, wie aus

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dem Angeführten hervorgeht, nicht als gelungen betrachtet werden fann. Der vornehmlichite Belaftungszeuge, den Schmidt gegen Philipp ind Treffen ge führt, legt Schließlich felbft ein Zeugnig ab in Uebereinftimmung und zur Bekräftigung desſelben, was er hat widerlegen follen!

Der deutfhe Kaifer Marimiltan war im Sommer 1567 durch einen befonderen Agenten über Carlos’ Beihaffenheit mehr aufgeklärt worden, ale früher. Damald wurden, den Aufihub der Ehe zu motiviren, Einzelheiten aus Carlos' Leben ihm mitgetheilt; er empfand, wie er fi in einem Briefe an Philipp ausdrückte, Schmerz über Philipp's Unzufriedenheit mit dem Sohne; er war es zufrieden, daß er im nächſten Jahre den Prinzen kennen lernen jolte, dann, fo war man überein gefommen, follte die Zufunft deäfelben erwogen und feftgeitellt werden. Auf diefe Eröffnungen durfte man jest, im Januar 1568, Bezug nehmen, wenn man Mar die SKataftrophe erklären und rechtfertigen wollte.

Nah der Gefangennahme ded Prinzen, während derfelbe vollitändig von der Melt abgefperrt gehalten wurde, während alfo Fein Menſch ſich ſelbſt mehr eine Anfiht von ihm verfchaffen Fonnte, war in Madrid Alles voll von Gerüchten und Reden und Vermuthungen. Wie in den Berichten der anderen Diplomaten finden wir auch in den Depeſchen Dietrichitein’® allerlei derartiges verzeichnet. Nun muß man genau unterfcheiden das Urtheil, das Vetrichftein ala fein eigene® auf Grund feiner eigenen Wiſſenſchaft gewon— nened ausfpricht, und dasjenige, was er nur ald Aeußerung anderer Perſonen teferirt. Befonderd mar ed auch das zufünftige Schickſal ded Gefangenen, über das man ſich den Kopf zerbrach, und über dad Dietrichftein fremde und eigene Muthmaßungen vorzutragen wagt. Bald aber gelangte er zu der Veberzeugung, daß von einer Freilaffung wohl nicht mehr die Rede fein fönnte (13. April 1568). Er berichtete zu gleicher Zeit, daß man den Beicht— vater, einen frommen, hriftlichen Mann zu ihm gelaffen; bet ihm follte der gefangene Prinz auch zu Oſtern 1568 gebeichtet und communicirt haben.

Dies letztere war ein Greigniß, da zu denken gab. Nach Dietrichftein’s Anſicht mußte die Thatfache, daß man dem Gefangenen die Dfterbeichte ge— ſtattet, zwei Verdachtspunfte von ihm hinwegnehmen: einmal, daß er nicht ein guter Katholik geweſen, und zmweitend daß er feiner Sinne beraubt ge= weien wäre; man würde alfo, fchließt er, folgern dürfen, daß die Gefangen- (haft „allein feiner Eigenfhaft und Gondicion halber“ als eine väterliche Zühtigung geſchehen ſei. Er erzählt fein Gefpräh mit dem Beichtvater ; derfelbe betheuerte e8 dem Gefandten mit Nahdrud, der Prinz jei immer ein guter Katholik geweſen, auch habe er nichts fträfliched gegen die Perſon feine? VBaterd unternommen gehabt, er habe allerdings feine Mängel, aber

diefelben feien mehr durch die allzufreie Erziehung verurfaht und weil er Grenzboten IV 37

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„eines unftäten harten Gemüthes und eigenfinnig fei“, ald daß er fonft an Vernunft einen Mangel hätte: dephalb hoffte der Beichtvater auch, die jegige Strafe würde zur correctio morum ihm dienen (Depefche v. 22. April 1568). Wir fehen alfo, der Beichtvater ded Prinzen äußerte fih damald in einem meit milderen, weit optimiftifcheren Sinne, ald wir es fonft von den Staats— männern und Hofleuten Philipp's und von den fremden Diplomaten gewohnt find. Schmidt hat gerade auf diefe Aeußerung großen Werth gelegt; er will in ihr eine ganz unbefangene Ausſage fehen, welche die anderen Wartet zeugniffe vollftändig aufmwiegen und widerlegen fol. Ich glaube nit, daß fie eine foldye Tragweite haben kann. Wenn der Beichtvater es natürlich auf Wunfch des Königed unternommen hatte, den Prinzen beichten und communiciren zu laffen, dann war es für ihn, fobald man ihn danach fragte, ein Gebot der Nothwendigfeit die Geiftesftörung feines Beichtkindes abzu- ſchwächen und in möglichft geringem Umfange hinzuftellen: wie hätte er einem feiner Sinne beraubten Menfchen das Sacrament reichen dürfen! Nach meiner Auffaffung läugnet er nur die völlige Vernunftlofigkeit, Mängel im geiftigen Zuftande ded Prinzen giebt er ja felbft zu. Diefe Ausfage ift alfo lange nicht durchgreifend genug, um in dem Sinne Schmidt’8 vermerthet werden zu Fönnen; fie ift aber ein erfreulicher und mwohlthuender Beweid von der Barmherzigkeit und dem Mitgefühl, mit welchen diefer Mönch aus Carlos’ Umgebung feinen Schüßling behandelt und betrachtet hat. ntfcheidend für mich aber ift es zu beobachten, welchen Einfluß Dietrichftein diefer Aeußerung ded von ihm Hochgeachteten Geiftlihen auf fein eigened Urtheil eingeräumt bat. Ich finde nicht, daß fie ihn, den genau unterrichteten und fehr gewiſſen⸗ haft und vorfichtig feine Meinung formulirenden Diplomaten zu einer Xen- derung feine® Gutahhtend bewogen hat. So meinte er kurz nachher, am 8. Mat 1568, der Kaifer merde jet wohl die Urfachen der Gefangennahme fennen, „daß fie aus feinem Zorn oder Unmillen ded Königs, viel weniger zu einer Beftrafung gefcheben, fondern allein zum Nutzen des Prinzen, wegen feiner Eigenf&haft und natürlichen Condicion und Gebrechen“; auf eine Befferung, fette er hinzu, dürfe man faum noch rechnen. Am 19. Mai endlid artheilte er, bei Carlos’ Eigenfhaft, Thun, Weſen und Haltung gebe es Niemanden, der nicht feinem Vater ein längeres Leben ald ihm prognofticire, außerdem daß er in Wahrheit eine feltfame Etgenfhaft und condicion gehabt habe.” Wir find nach allem diefem wohl zu dem Schluffe berechtigt: wenn die günftige Ausfage des Beichtvaterd einen fo wohl unterrichteten Mann wie Dietrichftein nicht von der Wiederholung feiner früheren Urtheile zurücdhalten fonnte, fo dürfen auch wir und in dem Ergebniß unferer Unter fuhung durch diefelbe nicht beirren laſſen. Veberbliden wir noch einmal die Entwidelung des Prinzen.

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Schon in feiner früheiten Jugend hatte man über feinen Jähzorn und Eigenfinn geklagt. Der Heranmwachjende hatte nicht recht Iernen wollen, fondern Lehrer und Erzieher große Schwierigkeiten bereitet. Auch der Water hatte dann im Jünglinge große Fehler entdedt, Schwächen und Mängel des Verftandes, der Urtheildfraft, de Charaktere. Bet allen den vielen Krank: heiten, die der Arme zu durchleben hatte, war dies immer unbeilvoller ge: worden, beſonders die üblen Eigenſchaften feines Charakters traten mehr und mehr hervor. Man hatte verfuht ihn zu beffern; man Hatte ihn einmal vom Hofe entfernt leben lafjen, dann aber wieder ihn an den Hof gezogen, eine gewiſſe äußere Stellung ihm gemacht und in amtlicher Thätigkeit ihn befhäftigt. Alles Hatte nichts geholfen. Die Ausſicht einer Ehe mit einer Verwandten hatte die Ungeduld des Schwachfinnigen erregt und, da man ihm nicht fchnell zu Willen fein durfte, zu heftigen Ausbrüchen ihn gereizt. Be— fanntlih pflegen krankhafte Geifteözuftände allmälig eine Steigerung zu er dulden; was anfangs Elein und gering geweſen, entwicelt fih zu größerem Umfange und artet zulest in Tobſucht und völlig unzurechnungsfähige Hand» lungen aus. So war es auch hier weiter gegangen, bis es auf einen Bunft fam, bei dem man einen Entihluß über die Zufunft ded jungen Mannes überhaupt faffen mußte. Philipp hatte ſchon feit Jahren die Ueberzeugung gewonnen, daß der Erbe ſeines Reiches und feiner Politik nicht diefer ſchwach— finnige Menſch fein könne; er ſprach dies zulest unverhohlen aus. Als die Scenen immer häufiger wurden, in welchen Don Carlos fih an Perſonen des Hofes thätlich zu vergreifen fuchte, eine ganze Reihe derjelben ift und dur die Berichte und Correfpondenzen der Zeit beglaubigt; ein vergebliches Bemühen tft ed, wenn Schmidt fich anftrengt, die einzelnen Berichte umzus modeln oder mwegzudeuten, damit Fein Anklagematerial gegen Don Carlos mehr übrig bleibe, da endlich wurden Maßregeln gegen ihn berathen. Anfangd wurde noch durd eine befondere Gefandtfhaft Kaifer Mar in Ausſicht geftellt, erft mit ihm mürde die Sache befprochen werden. Dann ließ der Minifter Ruy Gomez Andeutungen fallen bei dem franzöfifhen Gefandten (Herbft 1567), daß man eine Einfperrung ded Prinzen vielleiht demnächſt verfügen würde, daß man aber erft fehen molle, ob nicht die Königin, deren MWocenbett bevorftand, dem Rande einen männlichen Erben fchenfen würde. Den letzten Entſchluß, zur Einfperrung zu greifen, fcheint endlich der Plan ded Prinzen von Madrid zu entfliehen und dann nod die heftige Scene zwifchen ihm und Don Juan hervorgerufen zu haben, bet der beinahe Don Carlos den ihm früher fo befreundeten Stiefonfel umgebracht hätte.

Am 18. Januar 1568 wurde Carlos gefangen genommen und im tief ſten Geheimniß jedem Verkehr mit der Außenwelt entzogen. Man hat erzählt, daß der König die Abficht gehabt, durch eine befondere Commiſſion die be-

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treffenden Thatfachen und Vorfälle feftitellen und unterfuchen zu lafjen, um den Prinzen dann ded Rechtes der Nachfolge für verluftig zu erfären. Es fam nicht dazu; ein Spruch murde nicht erlaffen. Carlos erlag feinem na türlihen Schidjal. Er erkrankte im Gefängniß und ftarb, wie man jagte, am 24. Juli 1568.

Ueber die Art feine® Zoded wurden Muthmaßungen und Gerüchte fofort in Umlauf gefegt. Zwiſchen ihnen eine Entjcheidung zu treffen, wird ein gewiſſenhafter Hiftorifer, wie ich früher ſchon ausgeführt habe, Bedenken haben müffen: wir willen von dem Prinzen feit dem 18. Januar 1568 ab: folut gar nicht? mehr ald dad, mas uns die offiziellen Vertreter der Regie— rung erzählen; es fehlt geradezu an der Möglichkeit ihre Angaben zu con troliren. Allerdings nimmt Schmidt von diefer, auch von ihm erkannten Be ſchaffenheit unfere® Quellenmateriale® neuen Anlaß zu Angriffen gegen die fpanifche Regierung; er hält an dem Verdachte, ja an der MWahrfcheinlichkeit einer Mordthat feſt. Ich muß died Verfahren für abfolut unzuläffig erklä— ren aus den fchon angeführten Gründen. Ob Carlos’ Tod ein natürlicher oder ob man der Natur in irgend welcher Weije nachgeholfen, darüber iſt nichts zu wiffen und zu jagen. Die Bermuthung eines Verbrechens hier leicht: fertig ausfprechen, das hieße felbft ein Verbrechen begehen. Nichtsdeſtoweniger darf das gefagt werden, daß König Philipp niemals eine Freilafjung oder Heritellung des Sohnes beabfihtigt hat und daß für den Untergang des Prinzen die volle Verantwortlichkeit ſomit auf den Vater fällt; er felbft bat geglaubt zu der Befeitigung des unfähigen Sohnes nicht allein berechtigt, fondern auch verpflichtet zu fein.

Die Minifter des Königs erhielten gleich) nad) der Gefangennahme des Prinzen den Auftrag, den fremden Gefandten in Madrid die nöthigen Auf lärungen zu geben. Diefe Ausfagen ftimmen unter ſich überein; fie ftehen im Einklang mit allen früheren Erklärungen von fpanifcher Seite; fie ftellen den Sachverhalt dar und führen zu dem Urtheile Hin, wie wir fie aus Dietrid ftein’8 Berichten kennen gelernt haben: fie motiviren die Kataftrophe mit der Beichaffenheit des Prinzen, deſſen Zulaſſung zur Nachfolge auf dem Throne nad langen Beobachtungen und vielen Erperimenten fi als unmöglid er geben haben fol.

Philipp felbft richtete über den Vorfall Schreiben an den Papſt, an feine Tante, die Königinwittwe von Portugal, an feine Schmefter und feinen Schwager in Wien. In allen betont er fehr foharf den Gedanken, daß die Mafregel eingegeben fei von der Nüdficht auf das Wohl feined Volkes und der heiligen Kirche; er liebt e8 dabei fich auf frühere Mittheilungen über den Sohn zu beziehen, welche died Ende ſchon hätten voraudahnen laffen. Seinen vertrauten Minifter, den in den Niederlanden abwefenden Herzog von Alba, ver

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wies er auf die eigenen früheren Erlebniffe und Erfahrungen mit dem Prinzen, mir wiſſen, e8 war Alba gewejen, der 156% jene merfwürdige Mittheilung über den Schwachſinn ded Prinzen dem öfterreichifchen Gefandten eröffnet hatte.

Ale diefe Aeußerungen Philipp’ 3 vom Jahre 1568, über deren ftellen- weiſe nicht zu leugnende Undeutlichkeit man biäher fo oft geklagt hat, fie er- halten jegt ihr volles Licht und Verſtändniß, feitdem wir jene ausdrückliche und unumwundene Erklärung über den Schwachſinn ald den Grund der üb» len Entwicklung des Prinzen kennen gelernt haben.

Sch geftehe, ich Halte ed für abjolut undenkbar, dag wir alle diefe Aus» jagen und Erklärungen ala Lügen verwerfen follen, etwa aus dem Grund, weil wir Philipp's II. politifches und kirchliches Syftem von unferem modernen Standpunkt aus für ſchädlich und ftaatäverderblih anfehen? Iſt ed wirk- Ih ein zu ſtarkes Anfinnen an den Hiftoriker, daß er die Thatjachen der Ge ſchichte ſo nehmen ſoll, wie die Hiftorifchen Documente fie zeigen, ohne feinem genen Urtheile über vergangene Menfchen und vergangene Thaten Einfluß zu geitatten auf die Feſtſtellung des Thatbeitandes felbit?

Nein, auc bei dem entjchiedenften Gegenfat gegen das politifche und firhlihe Syftem Philipp's II. wird ed dem Hiftorifer nicht erlaubt fein, diefen ſpaniſchen König zu einem alles menjchlichen Gefühles entkleideten Teufel zu mahen: „Gerechtigkeit auch dem Gegner“ ift eine Loſung, von der fich loszu— jagen dem Hiftorifer am wenigſten anfteht.

Wilhelm Maurenbreder.

Zur Gefdicte des Heptennafs. J.

Die Gründung.

Die Mehrheit der franzöſiſchen Nationalverſammlung befand ſich nad der Veröffentlihung des Chambord'ſchen Schreibend vor einer offenbaren Zwangslage. Wie große Opfer fie auch für die Wiederherftellung des König— thums zu bringen bereit war, eine bedingungslofe Unterwerfung unter fein Machtgebot geftattete ihr weder ihre Neigung noch die Stimmung der Nation, die man nicht unberücfichtigt lafjen durfte. Bei den gemäßigten Anhängern des Königthums und die überwogen entjchieden in der Mehrheit der Ver— fammlung hatte e8 von Anfang an feftgeftanden, daß der Graf nur unter der Bedingung und Vorausſetzung einer verfafjungsmäßigen von ihm unum—

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mwunden anerkannten Beſchränkung feiner Herrjchergemalt auf den Thron feiner Ahnen berufen werden dürfe. Unter diefer Boraudfegung glaubte man an der Rückkehr zum erblichen alten Königthum eine Gewähr für die Wieder beritellung fefter und geordneter Zuftände fehen zu dürfen. Diefe Stimmung war im Lande weit verbreitet und namentlih aus diefer Rückſicht hatten au die Drleaniften fi an den Reftaurationdbeftrebungen betheiligt. Ohne Zweifel war ihnen der Graf von Chambord Feine eben angenehme Perfönlichkeit, und wenn fie ohne Zmifchenregiment die Krone auf dad Haupt des Grafen von Paris hätten ſetzen können, fo würden fie jede Vereinbarung mit den An. hängern der älteren Linie abgemiefen haben. Da file aber nur im Bunde mit diefen die Nationalverfammlung beherrfchten, fo blieb ihnen Nichts übrig, ald aus der Noth eine Tugend zu machen, für dad Recht des Tegitimen Erben einzutreten und fich für ihren Prinzen, zumal derfelbe, troß aller ehr: geizigen Wünfche, der Entjchloffenheit völlig entbehrte, die zur Durchführung einer jelbitändigen Rolle gehört, und dabei den Franzoſen eine ganz gleid: gültige Perfönlichkeit war, mit der Anmwartfchaft auf den Thron kraft des Erbrechts zu begnügen. Diefe Erwägungen hatten ohne Zweifel für den Entfhluß aller Orleaniften den Ausſchlag gegeben, und nachdem fie fich einmal in das Gebot der Nothwendigfeit gefunden hatten, fonnten ihnen auch die Bortheile, die aus der Nüdkehr zu dem Grundfag des reinen Erbrechts ſich ergaben, nicht entgehen. Es war doch nicht gering anzufchlagen, wenn dem langen Hader der königlichen Parteien durch eine Vereinigung der beiden Zinien ein Ende gemacht, wenn den neuen Staatd: und Geſellſchaftszuſtänden dadurch, dag man fie unter den Schuß des alten Königthums ftellte und die Gegenwart mit den gefchichtlichen durch eine Reihe gewaltfamer Ummälzungen zerriffenen Meberlieferungen wieder verknüpfte, eine neue und ftarfe Bürgfchaft der Dauer geboten wurde. In diefem Sinne konnte eine Rückkehr zum Regitimitätäprincip allen Anhängern des Königthums willlommen fein. Um jo entjchtedener aber mußten fie jeden Verdacht zurückweiſen, ald ob fie fih zu dem politifchen Syſtem befennten,, welches fich mit dem Banner der Legi— timität dedte, ald ob fie den Grundſätzen huldigten, welche von den Iegitimi- ftifhen Doctrinären als die einzigen feiten Säulen des Königthums gepriefen wurden. Cie hatten, um fich des Beiftandes der Geiftlichfeit zu vergewiſſern, der mächtigen und mit fteigendem Selbftvertrauen auftretenden Elerifalen Partei die unwürdigſten Zugeftändniffe gemacht; aber zur Herftellung eine? auf den Grundfägen ded Syllabus beruhenden Königthums, wie es dem engen Geifte des Grafen von Chambord ala Ideal vorſchwebte, eines König. thums, das fich für berufen hielt, die äußerften Anfprüche der römiſchen Hierarchie durchzuführen und Europa ale Gefeg aufzuzwingen, das die ab- folute Macht der altfranzöfifchen Monarchie dem Vatican zur Verfügung zu

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ftellen bereit war: zur SHeritellung eines fo gearteten Königthums konnten fih die gemäßigten Elemente der confervativen Partei nicht herbeilaffen. Als der Brief ded Grafen von Chambord die Hoffnungen, die man auf ein Ein- lenken von feiner Seite geſetzt, zeritört hatte, da galt es bei der großen Mehrheit der monarchiſtiſchen Parteien für audgemaht, daß das alte Erb: fönigthum, von deſſen Rückkehr man eine Beruhigung der Parteileidenfchaften gehofft hatte, da8 die Gegenwart mit den Meberlieferungen der Vergangenheit verfnüpfen und harmonifch mit einander verjchmelzen follte, fi ſelbſt den Todtenſchein audgeftellt Habe. Man erfannte, daß man feit Monaten einem Phantome nachgehaſcht hatte, welches in Rauch und Nebel zerfloß, in dem Augenblid, wo man es zu greifen glaubte und mo ed unter der Berührung ſeſte Geſtalt und Fleifh und Blut zu gewinnen fehien.

Die Mehrheit befand fih, als fie zu diefer Erfenntniß gelangt war, in einer gefährlichen Lage, Alles ftand für fie auf dem Spiel. Die eifrigiten Anhänger ded Grafen von Chambord fahen mit nichten in dem Brief des— jelben einen Berzicht und fie waren weit entfernt, ihre Sache verloren zu geben. Aber auch fie konnten fih doch nicht verhehlen, daß vorläufig an eine Miederherftellung des Königthums nicht zu denken war, und es war ein faft Eindifcher Trotz, wenn fie, ftatt ihre Wünfche zu vertagen, ſich fträubten, zu einer MWiedervereinigung der Gruppen der Mehrheit ihre Hand zu bieten. In diefer Haltung der äußerften Regitimiften Tag eine um fo größere Gefahr, da man nur durch raſches und entjchloffened Handeln die Republifaner hindern Eonnte die Rage der Dinge zu einem parlamentarifchen Gewaltſtreich im Stil vom 24. Mai augzubeuten, Mac Mahon zu ftürzen und die Leitung des Staats wiederum in die Hände Thier® zu legen, was unter den ob— waltenden Umftänden die Proclamation der fogenannten definitiven Republik und die fofortige Auflöfung der Nationalverfammlung zur Folge gehabt haben würde. Wieder lagen die Verhältniffe jo, daß dem Entſchloſſenſten der Sieg zufallen mußte, und wiederum zeigten fich im entfcheidenden Augen- blife die Konfervativen ihren Gegnern an Entſchloſſenheit und Fähigkeit zum Handeln überlegen. Die Republikaner hatten ſchlechterdings Nichts gethan, um der MWiederherftellung des Königthums ein ernfthafte® Hinderniß in den Weg zu feben, fie hatten fi damit begnägt, in allen ihren Parteiverfamm- lungen mit ermüdender Confequenz feierlich zu conftatiren, daß das Land der Republif ergeben ſei und daß an der republifanifchen Begeifterung der Nation die Pläne der Königmacher elend zu Schanden werden würden, während es doh jedem unbefangenen Blicke einleuchtend war, daß ein auf Wieder berftellung des Königthums gerichteter VBefchluß der Verfammlung im Lande nit dem geringften thatfächlihen Widerftand begegnen, fondern höchſtens einige ohnmächtige Verwahrungen im Stile der Klubbeſchlüſſe der Linken

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hervorrufen würde. Es mar eine durchaus abgeſchmackte Prahlerei, menn die Nepublifaner fidy ein Verdienſt an dem Scheitern der Reftauration zus ſchrieben. Nicht die republifanifche Gefinnung des Landes, nicht die Politik der Linken brachte die Entwürfe der Yufioniften zu Fall, fondern Tediglich der gewiſſenhafte Eigenfinn des ehrlichen aber bejchränften Romantiferd, der fein Recht auf die Krone für zu heilig hielt, um dasſelbe dur Anwendung irdifcher Mittel, ohne die fi do nun einmal der Weg vom Recht zum thatfählichen Beſitz nicht zurücklegen läßt, beflecken und entweihen zu laffen. Die einzige Gefahr, die der MWiederherftellung gedroht, hatte in der Eigen- thümlichkeit defjen gelegen, den man zum Könige preffen wollte. Man hätte nun glauben folen, daß die Republikaner ihre Vorbereitungen für den Fall einer Ablehnung der von dem royaliftifchen Ausſchuß geftellten Bedingungen von Seiten des Grafen von Chambord treffen würden, um die Augenblide der erften Verwirrung zu einer rafchen That zu benußen. In der That aber zeigte fih, daß fie auf Nichts vorbereitet waren; fie ließen fi durd ein Greigniß, um deſſen Möglichkeit feit Wochen fih alle Erörterungen der Preſſe drehten, vollftändig überrafchen; fie ftanden mie betäubt, als der Brief des Grafen fie von der furdhtbarften Gefahr befreit hatte. Das Glück hatte ihnen freigebig Macht und Herrfchaft geboten, aber an den Unentfchloffenen und Ungeſchickten find alle Gaben des Glückes nutzlos verfchmwendet. AL fie fih gefammelt Hatten, war es zu fpät. Die Confervativen hatten den Fall des Mißlingend während der Verhandlungen mit dem Grafen von Chambord niemald aus den Augen gefest; ihre Niederlage traf fie daher nicht unvor bereitet. Als fie fahen, daß fie ihren Plan aufgeben mußten, war der Ausweg aus der gefährlichen Lage bereit gefunden: die Verlängerung der Vollmachten des Marfhalld Mac Mahon bot fih als einziged Nettungsmittel, und in dem rafchen Ergreifen desfelben bewährte die Mehrheit diefelbe Entjchloffenheit und Energie, die ihr in dem Kampf gegen Herren Thierd den Sieg ver ſchafft Hatte.

Uber freilich, fobald es ſich um die Einzelheiten der Vollmachtsverlängerung handelte, gingen die Anfichten der verfchiedenen Gruppen weit audeinander, und bis zum Augenblicke der Entſcheidung blieb e8 durchaus zweifelhaft, ob e3 gelingen würde, eine Mehrheit auf eine beitimmte Formel zu vereinigen. Man mußte fehr wohl, dag Mac Mahon fi mit der einfachen Erklärung, daß er die biöher ausgeübte Gewalt zunächſt ohne Beftimmung einer gemiflen Zeitdauer unter den alten Bedingungen weiter führen follte, niht würde zu frieden ſtellen laſſen. Für den Marfchall, der fich des Vortheild, der für feine Stellung aus der allgemeinen Verwirrung hervorging, fehr wohl bewußt war, hatte die einfache Verlängerung des Status quo gar feinen Werth. Wie gering man auch über feine politifchen Fähigkeiten denken mochte, er

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befaß jedenfalls Selbftgefühl genug, um den entſchiedenſten Widerwillen gegen die Zumuthung zu empfinden, noch länger der Mehrheit ald Schildwache zu dienen. Er hatte die Beftrebungen der Noyaliften in Feiner Weiſe gehindert und ihnen durch feine faft apathifche Haltung den beiten Dienft geleiftet, der ihnen überhaupt von feiner Seite geleiftet werden Fonnte. Als aber die kö— niglihen Parteien, nachdem ihre Hoffnung traurigen Schiffbruch gelitten hatte, wieder zu ihm ihre Zuflucht nahmen, da meigerte er fih, ald Aus: funftömittel fih gebrauchen zu laſſen. Er forderte nicht weniger, ald eine von der Berfammlung thatſächlich unabhängige Stellung: die Ausdehnung feiner Gewalt auf zehn Jahre und die Ausftattung mit Gefegen , die ihn in den Stand festen, die ihm übertragene Gewalt auch wirkſam auszuüben. Während die Verfammlung vorausfihtlich bald auf dem Punkt der Zerrüttung und Ohnmacht ankommen mußte, wo ihre Auflöfung unvermeidlih war, wollte er fih feine Macht auf eine lange Reihe von Jahren verlängern laſſen. Mochte die fouveräne Verſammlung für fi immerhin das Recht auf eine unbegrenzte Lebensdauer in Anſpruch nehmen, da® war bei ihrer zu- nehmenden Zerfegung, bei der erſchreckenden Unfruchtbarkeit ihrer Thätigfeit, ein fehr mwerthlofed Recht; und menn dem Marſchall verfaffungsmäßig eine beftimmte nicht allzu kurz bemefjene Dauer feiner Macht zugefihert wurde, fo hieß das nichts andres, als feine Vollmachten über die vorausſichtliche Lebensdauer der fouveränen Berfammlung hinaus verlängern. Berfallung?- mäßig blieb ja die Berfammlung der Souverän; wenn fie aber die Mandats— dauer ihres Beauftragten von ihrer eigenen Eriftenz unabhängig machte, fo ftellte fie felbit ihre eigene Macht vor der feinigen in Schatten , ja fie forderte den Präfidenten zu einem, fei ed offenen und gemwaltfamen, ſei es verfteckten Staatäftreich förmlich heraus. So lange der Präfident mußte, daß die Auf- löfung der Verſammlung auch feiner Macht ein Ziel fehte, lag ed, wenn er niht unbedingt feiner Wiederwahl dur eine neue Verfammlung fiher mar in feinem Intereſſe, die Sache der Verſailler Volksvertreter als feine eigene zu betrachten, fie vor den verderblichen Folgen ihrer eigenen Schwäche zu ſchützen und Alles aufzubieten, um die Auflöfung der Berfammlung fo lange als möglich hinaus zu ſchieben. Einen Conflikt Hervorzurufen, wäre in diefem Falle ein politifher Selbftmord oder die offene Ankündigung eine® gemalt: famen Staatäftreih® gewefen. Ganz anders, wenn der Präfidentengemwalt das Recht gemährleiftet war, die Berfammlung zu überleben und fie gemifjer- maßen zu beerben, oder über ihr Erbe zu verfügen. Brad unter diejen Umftänden zmifchen dem Präfidenten und der Verſammlung ein ernfted Ber würfnig aus, fo wurde ihm offenbar die Verſuchung nahe gelegt, die DBer- fammlung zu den thörichtften Maßregeln zu verloden, keineswegs aber fie

vor den Folgen ihrer Thorheit zu ſchützen. Sein Vortheil war es, konnte Örenzboten IV, 1874. 38

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es mwenigften® unter Umftänden fein, wenn die Verſammlung in der Gunft der öffentlihen Meinung tiefer und immer tiefer ſank, wenn fie fortfubr, wie bisher von den Grundlagen ihrer Macht einen Stein nad dem andern abzutragen. Died waren Bedenken der ernfteften Art, denen fi die Mehr heit unmöglich verſchließen konnte; e8 Tam ihr unendlich ſchwer an, den Marſchall in eine thatfählich fat unabhängige Stellung zu verfegen, aus der er, ohne Anwendung irgend einer Gewaltmaßregel, machen Fonnte, was er wollte, und bie jedenfalld an Bedeutung und Macht in dem Maße zunehmen mußte, als das Anfehn der Verfammlung abnahm. Aber man hatte eben nit mehr freie Hand; an den Gedanken einer einfachen Vollmachts⸗ verlängerung unter den biöherigen Bedingungen hatte man fih bereitd ge mwöhnt, man hatte fie ſchon mährend der Verhandlungen mit dem Grafen Chambord für den Fall des Scheitern® derfelben als letztes Rettungämittel ind Auge gefaßt, und man fah fehr wohl ein, daß man fi den von Mac Mahon geftellten Bedingungen unterwerfen, oder auf jeden Widerftand gegen die Republifaner verzichten müßte. immerhin mochte jede Partei fich vor: behalten, zu gelegener Zeit auf ihre Pläne zurüdzufommen, für den Yugen- bit galt eg, Mac Mahon am Ruder zu erhalten, mie bitter e8 auch mar, fih Bedingungen ftellen zu laffen von einem Manne, dem man die höchfte Gewalt nur anvertraut hatte, weil man überzeugt war, er werde fie ſtets nur ald gefügiges Werkzeug feiner Auftraggeber ausüben. Diefe Nachgiebigkeit war zur Nothwendigfeit geworden, und die fohüchternen Verſuche, fich der- jelben zu entziehn, ftellten nur die Schwäche der Parteien in? grellfte Licht.

Diefem Schiefal verfielen vor Allem die Orleantften. Ganz behaglich war ihnen die Unterordnung unter den Grafen Chambord mit Aufopferung ihrer felbftftändigen Anſprüche niemals gewefen. Was Wunder, wenn ihnen jetst der Eluge Einfall kam, die allgemeine Auflöfung zu einem orleaniftifcen Handftreih audzubeuten ? Sie befchloffen alfo in -einer Parteiverfammlung, einem ihrer Prinzen die Generalftatthalterfchaft de Königreih® anzubieten. Daß man zu diefer Stellung meder das Haupt noch das befähigte Mitglied der Familie, fondern den wenig bedeutenden Yoinville auserſah, zeugte von der Unficherheit und dem geringen Selbftvertrauen der Eläglichen Planmacher, deren Furchtſamkeit und Unentichloffenheit ganz ihrer Begehrlichkeit gleichkam. MWahrfheinlih war man durchaus nicht überraſcht, als Joinville, der denn doch zu Hug war, fi auf ein jo hoffnungsloſes Abenteuer einzulaffen, durd feine vertrauten Freunde erflären ließ, er könne auf kein derartiges Anerbieten eingehn, da feine Verbindlichkeiten gegen feinen Better, die durch deffen Brief keineswegs gelöft feien, ihm jedes felbftändige Auftreten verböten. Dieſe Ab— weiſung ernüchterte die Drleaniften volllommen, und fie würden fich jest felbft eine Tebenslängliche Verlängerung der Vollmacht Mac Mahon's haben

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gefallen laſſen. Sie waren von diefem Augenblid an die eifrigiten Anhänger Mac Mahon’s, der, mo er fich öffentlich zeigte, tet? von einem Gefolge von Prinzen und Freunden des Haufes Orleans umgeben war. Ohne jeden Halt in der öffentlichen Meinung, fahen fie fich zu völliger Nichtigkeit verdammt, wenn fie fih nicht auf die Regierung flügen Fonnten. Sie entfchloffen fich, weil ihnen zunähft nicht? Andres übrig blieb, die Rolle der gouvernementalen Partei zu übernehmen, um fih von Mac Mahon und Broglie, den fie ganz ald den Ihrigen betrachteten, über Bord halten zu laffen.

Nicht fo Leicht und auch nicht vorbehaltlos ergaben fich die eifrigen Legi— timiften in ihr Schikfal. Von der Nothmendigkeit einer Verlängerung der Vollmachten waren auch fie allerding® überzeugt; aber fie waren durchaus nicht geneigt, zuzugeben, daß die Verfammlung irgend einen Beſchluß faffen fönne, der fie in ihrer Allmacht befchränfen und alfo hindern könnte, zu jeder ihr gelegen fcheinenden Zeit auf den gefcheiterten Verſuch zurüdzufommen und das Königthum miederherzuftellen. Bis diefer Augenblick einträte, mußte Mac Mahon, das fahen fie fehr wohl ein, am Ruder erhalten merden. Man mochte auch immerhin feine Amtsgewalt auf eine längere Reihe von Jahren ausdehnen: dad war auch in ihren Augen ein treffliche® Schugmittel gegen die Entwürfe der Republikaner, Bonapartiften, Orleaniften, die ihnen allmählich verhaßter, ald alle anderen Parteien wurden; aber die Entfagung, die fie von den anderen forderten, auch fich jelbft aufzuerlegen, lag keineswegs in ihrer Abfiht. Sollte ed gelingen, früher oder fpäter eine Stimmen» mehrheit für den König zufammenzubringen, fo war nad ihrer Anficht Mac Mahon felbftverftändlich verpflichtet, fofort feine Gewalt an den recht— mäßigen Herrfcher abzutreten. Spätere Enthüllungen zeigen, daß Broglie bei diefer Gelegenheit eine ziemlich zmeideutige Rolle gefpielt und ſich über die Tragmeite der Verlängerung der Gemwalten den Anhängern Chambord's gegenüber gang im eimer ihren Anfchauungen entſprechenden Weife geäußert hat. Wie weit die Aeußerungen Broglie'd auf den Entſchluß der Legitimiſten von Einfluß waren, läßt ſich trog mehrfacher Enthüllungen noch nicht mit Sicherheit beurtheilen: aber gleichviel ob fie fi hintere Licht haben führen laffen, oder ob fie eben nur dem Zwang der Berhältniffe nachgaben: im entjheidenden Augenblicke begnügten fie fi, indem fie für die Verlängerung der Vollmacht ftimmten, ihren Standpunkt und ihr Gemiffen mit der nicht2- fagenden Erklärung zu wahren, daß fie daran feithielten, die Monarchie als die natürliche Berfaffung Frankreichs anzufehen. Zwiſchen diefer matten Erklärung und der entjchieden feindlihen Haltung der Kegitimiften be» fand ein offenkundiger Widerſpruch; indeffen war die Regierung felbft auf die Oppofition von Seiten diefer Partei von Anfang an gefaßt geweſen, da ihre Preſſe unausgeſetzt den Sat verfoht, daß die Nationalverfammlung fi

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ihrer fouveränen Machtvolllommenheit nur nad Gründung einer definitiven Regierung entäußern könne, und daß fie bi8 zur Gonftituirung einer foldhen befugt fet, jeden ihrer Befchlüffe zurücdzunehmen, womit natürlich einer Ber: längerung der Vollmachten auf eine beftimmte Zeit jede ernfte Bedeutung abgefprohen wurde. In Gonfequenz diefer Anficht Hätten die Legitimiften eigentlich fämmtlich gegen die Vollmachtenverlängerung ftimmen müffen, denn eine Verlängerung auf beftimmte Zeit mit dem fei ed audgefprocdhen, fei ed unaudgefprochenen Vorbehalt ded Widerrufs war ein Widerfinn und eine Rüge, durch welche die Iegitimiftifhe Partei im Voraus ihrer Oppofition die Spite abbrach, indem fie ihre Sache durch Halbheit und Zweideutigfeit entwürbdigte.

Zunächſt ließ die Regierung indeſſen die Commentare der Tegitimiftifchen Blätter auf ſich beruhn; denn fie konnte der legitimiftifchen Stimme um fo weniger entbehren, da die Bonapartiften der dee der Vollmachtsverlängerung gegenüber ſich unerwartet fpröde verhielten. Die Eugen Führer diefer Partei waren allerding3 meit davon entfernt, die Confervativen wegen des Streiches, den fie ihren Verbündeten vom 24. Mai dur ihren Reſtaurationsverſuch gefpielt Hatten, geradezu in Stih zu laſſen. Dur Gefühldregungen ließ fih Herr Rouber überhaupt nicht beftimmen; jeder feiner Schritte war wohl berechnet und fein Anfehen war groß genug, um die Heißfporne der Partei, die durch ihre Prahlerei und ihr wüſtes Toben ſich in oft läftiger Weiſe be merkbar machten, wenigftend von unbefonnenen Handlungen zurüdzubal: ten. Rouber nun erkannte fofort die Vortheile, aber auch die Schwierigkeiten der Rage: es galt, die einen gründlich audzubeuten, durch die andern geſchickt fih hindurchzuwinden. In gewiſſer Beziehung lagen die Dinge ähnlich wie im Mat, infofern die Confervativen alle Urfache hatten, fich des Beiftandes der Bonapartiften zu verfichern; infofern Tagen fie wieder anders, als die Bonapartiften durch ihre Principien gehindert waren, unbedingt der Politik fih anzufchließen, über melde die Regierung mit der Mafje der conferva- tiven Partei fi entweder ſchon geeinigt hatte, oder mwenigftend im Begriff ftand, fich zu einigen. Das Recht, auf lange Zeit, über die Dauer ihres eignen Daſeins Hinaus, über die höchfte Gewalt zu verfügen und diefelbe mit ver- faſſungsmäßigen Befugniffen audzurüften, Eonnten fie ihrem oberften Grund: fate gemäß der Verfammlung gar nicht zugeftehn. ine foldhe Entſcheidung fonnte nur das Volk in feinen Urverfammlungen treffen. In ihren Anfichten über die Befugniffe der gegenwärtigen VBerfammlung flimmte fie alfo im Weſentlichen mit der eigentlichen Linken überein, und da merfwürdiger Weife auch die Mlebicitivee bei einem Theile diefer Partei Anklang fand, fo ihien es im Augenblid faft, ald ob ein Bündniß zmifchen Republifanern und Bonapartiften zu Stande fommen werde. Indeſſen erklärte fich die Mehrzahl der Republikaner doc entfchieden gegen eine Bolksabftimmung im

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bonapartiftiihen Stile, und was die Bonapartiften felbft betrifft, fo waren die Verſuche einer Annäherung an die Linke ſchwerlich ernft gemeint. Um die MWiederherftellung des Königthums zu hindern, wären fie allerding3 wohl bereit geweſen, ſich mit allen Parteien zu verbünden, die entfchloffen waren, den Plänen der Royaliften den äußerften, wenn es fein mußte, gewaltfamen Widerftand entgegenzufegen; aber an diefer Entfchloffenheit hatte e8 eben den Republifanern in den Augenbliden, wo nur ein Eräftige® Handeln die Roya- liften in der Verwirklichung ihrer Pläne hindern zu können fohien, durchaus gefehlt. Jetzt, wo die Reftauration gefcheitert war, wo die Royaliften fürs erfte unbedingt auf ihre Hoffnungen verzichten mußten, fahen die Bonapar- tiften ihre gefährlichften Feinde wieder in den Republifanern, die fie nur in Gemeinfhaft mit den übrigen Gruppen der confervativen Partei bekämpfen fonnten. Mit erneuter Zuverfiht ftellten fie ihren alten Sat auf, daß es ih in dem Entfheidungdfampfe um die Zukunft Frankreichs um Republif und Kaiſerthum handele, und die Republikaner, wie ſchwer ihnen auch das Geftändnig der Furcht vor dem fo oft mit verächtlichen Worten zu den Todten gemorfenen Cäſarismus wurde, fonnten doch nicht umhin, die Richtigkeit ihres Satzes zu befräftigen. Verhandlungen zwifchen den beiden Parteien fanden allerdings ftatt; aber bei dem gegenfeitigen Mißtrauen Eonnten fie zu feinem Ergebnig führen. Die Bonapartiften lehnten e8 ab, bei der Präfidentenwahl für Grevy zu flimmen, die Mehrzahl der Republikaner verwarf das Plebiseit.

‚Hatten die Bonapartiften ihrem Zufammenhang mit der confervativen Partei von Neuem Ausdrud gegeben, fo waren fie andrerſeits, mie ſchon bemerkt, doch ſchon durch die Verhältniffe auf eine gefonderte Stellung inner- halb derfelben angemiefen. Einen Wechfel in der höchſten Staatögemalt fonnten fie natürlich nicht wünfchen. Mac Mahon betrachteten fie Halb und halb ala einen der Ihrigen, und ihn zu flürzen, um Thiers wieder and Ruder zu bringen, lag durchaus nicht in ihrer Abficht. Andrerſeits aber mochten fie durh eine Abftimmung zu feinen Gunften ihm gegenüber feine moralifche Verpflichtung eingehn; es lag ihnen vielmehr daran, für alle Fälle freie Hand zu behalten. Zunächſt waren fie auf eine abwartende Haltung angemwiefen, und auf welche Weiſe die widerſpruchsvollen Forderungen, melde ihre eigenthümliche Rage an fie ftellte, mit einander zu vereinigen wären, da- rüber mußten fie fchlieglih nach dem Verlauf der parlamentarifhhen Berhand- lungen im letzten Augenblide ihre Entfcheidung treffen.

Auh die Republikaner konnten, nachdem fie den erften Augenblid der Verwirrung ohne jeden Verſuch die Macht an fich zu reißen, hatten vorüber: geben Tafjen, gegen eine Verlängerung der Vollmachten Mac Mahon’d nichts einwenden. Ihre Bemühungen, noch vor der Entiheidung der Proroga: tiondfrage den Herzog von Broglie zu ftürzen, fcheiterten befonderd an dem

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MWiderftande Mac Mahon’s, deſſen Politik auf die Wiederherftellung der alten Mehrheit abzielte, und der einer Verfchiebung des Schwerpunkts der Ber: fammlung in das linfe Centrum um fo entfchiedener abgeneigt war, da er mit Recht fürdhtete, in diefem alle ein Werkzeug feines gefährlichiten Geg- ners Thiers zu werden. Den Kampf um die Macht fahen die Republifaner fih alfo genöthigt zu vertagen, und es blieb ihnen ſomit Nichts übrig, ale der Verſuch, für das Zugeftändniß der Vollmashtenverlängerung die fürmliche Anerkennung und Organifation der Republik durchzufegen und im Yugen- blick ſchienen fih in der That die Ausfichten für diefen Verſuch nicht ganz ungünftig zu geftalten.

Am 4. November hatte, da die Regierung in diefer Angelegenheit der Berfammlung die Initiative überlaffen wollte, Changarnier feinen Antrag geftellt, deffen erfter Artikel die Verlängerung der Vollmachten des Marſchalls auf 10 Jahre forderte. Nach dem Artikel 2 follte er diefelben nach den gegen wärtigen Bedingungen ausüben, fo lange fie nicht durch conftitutionelle Ge fege verändert fein würden. Zur Berathung diefer Gefege ſollte nach Artikel 3 ein Ausfhuß von 30 Mitgliedern in öffentlicher Sitzung und durch Liſten— ferutintum (nicht von den Abtheilungen) ernannt werden. Sofort ftellte der Bonapartift Echaſſeriaur den Gegenantrag, am 4. Januar 1874 eine allge meine Abftimmung über Kaiſerthum, Republif, Königtfum zu veranftalten; legterer Antrag wurde ebenfo wie der Vorſchlag Dufaure’s, beide Anträge der Commiſſion zur Prüfung der conftitutionellen Gefete zu überweifen, abgelehnt, und befhlofien, zur Vorberathung ded Antrags Changarnier’ö eine befondere Kommiffion zu ernennen.

Die Rechte glaubte fich ded Sieges ficher, hatte dabei aber nicht bedadt, daß die Wahl eines Ausſchuſſes durch die Ubtheilungen oft zu den auffallend ften und überrafchendften Ergebniffen führt. So auch diedmal: von dem 15 Mitgliedern des Ausſchuſſes gehörten 8 der republifanifchen Partei, 7 der Rechten an.

Selbftverftändlich war die Verfammlung in feiner Weiſe an die Befchlüffe, welche der Ausſchuß etwa fallen würde, gebunden. Nichtödeftomweniger fah die Linke in diefem. Wahlergebniß einen bedeutenden Erfolg. Der moraliſche Eindruf des Ereignifjed auf die ſchwankenden Mitglieder der Verfammlung war groß; was aber eben fo wichtig war, auch die Regierung mußte mit den Republifanern rechnen. Die Commiffion mar das rechtmäßige Organ der Kammer; ihre Beichlüffe waren unter allen Umftänden von Wichtigkeit; die Regierung mußte fuchen, einen für fie annehmbaren Commiſſionsbeſchluß herbeizuführen, fie mußte unterhandeln, und dad war für die Republikaner ein unſchätzbarer Vortheil ; fie Eonnten als legitime Macht auftreten, mad ihnen lange nicht vergönnt gemwejen war.

Indeffen zeigte fi bald, daß die Verhandlungen zwiſchen der Regierung und der Gommiffion nicht zum Biele führen würden. Die Mehrheit ver Commiſſion, deren Führung Caſimir Perrier übernommen hatte, beftand da- rauf, daß die Abftimmung über die Verlängerung der Vollmachten und die conftitutionellen Gefege gleichzeitig vorgenommen würden, d. 5. fie wollte die Präfidentfchaft als organifchen Beftandtheil in eine republikaniſche Verfaſſung einfügen, während Mac Mahon unbedingt die Trennung beider Fragen ver- langte: die Verlängerung der Vollmachten ganz unabhängig von den confti- tutionellen Gefegen, deren Nothwendigfeit auch er erkannte, die aber, wie er die Sache auffaßte, nicht die Republif begründen, fondern nur die Befugniſſe der Erecutivgewalt regeln und Träftigen follten. Dad war dad grade Gegen- theil von dem, was die Mehrheit des Ausſchuſſes durchzuſetzen wünſchte, und an diefem grundfäglichen Gegenſatz mußten natürlich alle Bereinbarungdver- ſuche ſcheitern.

Je klarer fich dies herausſtellte, um fo mehr war die Regierung darauf angewieſen, mit der Rechten fi vollftändig zu verſtändigen. Dazu bedurfte es aber von Seiten Mac Mahon's eined Zugeftändniffes in Betreff der Zeit, für welche feine Vollmacht zu verlängern wäre, da an den 10 Jahren nicht bloß die Republikaner und Bonapartiften, fondern auch die NRoyaliften in überwiegender Mehrheit Anlaß nahmen. Am 17. November erlieg Mac Mahon eine Botfchaft, in welcher er erklärte: Frankreich würde einer Staatögewalt kin Berftändnig abgewinnen können, deren Dauer man ſchon in ihrem Beginn Vorbehalten unterwürfe, durch welche diefelbe von dem conftitutionellen Geſetze abhängig gemacht würde. Dadurch würde in wenigen Tagen wieder in Frage geftellt werden, was man heute befchliegen würde. In biefem Hauptpunkte alfo blieb Mac’ Mahon feſt, und erkannte die8 um fo ficherer, da er hierin au auf die Zuftimmung der Bonapartiften rechnen konnte. In der Zeitfrage gab er dagegen nad und erklärte, fich mit einer Ver— längerung feiner Amtögewalt auf 7 Jahre begnügen zu Eönnen.

Damit war die Brüde der Verftändigung mit dem Ausfchuffe abgebrochen worden. Die Mehrheit des Ausſchuſſes ſchlug vor, die Ubftimmung über die Verlängerung der Gemalten und über die conftitutionellen Geſetze gleichzeitig und zufammen vorzunehmen, die Minorität ftellte durch den Abgeordneten Depeyre diefem Vorſchlag den in einigen Punkten modifiecirten Antrag Changarnier’3 (u. a. war der Titel „Präfident der Republik“ in den Geſetzes⸗ vorſchlag aufgenommen worden) entgegn. Nach Iebhafter Debatte, in der die Bonapartiften ihren Standpunkt dur die Forderung der allgemeinen Abſtimmung wahrten (Rouher felbft ergriff bei diefer Gelegenheit das Wort), wurde der Antrag Depeyre in allen feinen Thetlen mit bedeutender Stimmen: mebrheit angenommen. Bon der Linken war der Verſuch gemacht worden,

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wenigſtens den Sturz des verhaßten Broglie herbeizuführen. Aber auch dieſer Verſuch ſcheiterte. Allerdings reichte das Miniſterium, wie ſich unter den obwaltenden Umſtänden von ſelbſt verſtand, ſeine Entlaſſung ein; aber Broglie wurde mit der Neconftruction des neuen Septennatsecabinets beauftragt. Und in der That lag für Mac Mahon gar fein Grund vor, fi von einem Minifter zu trennen, der von feiner Kunft, jeder Sache zu dienen, ohne fih und feinen Chef zu compromittiren, während der Fuſionsperiode die glänzendften Bemeife abgelegt, der nad) Veröffentlichung des Chambord— hen Briefe raſch fih in die neue Rage gefunden und fie beherrſcht, der durch feine Gefchielichkeit e8 durchgefegt hatte, daß dem Marſchall feine Boll machten unter von ihm felbft geforderten Bedingungen d. 5. fo gut wie be dingungslos, verlängert wurden. Dazu Fam, daß am 24. November die Berfammlung Herren von Broglie ein glänzendes Vertrauensvotum ertheilte, indem fie mit 364 gegen 314 Stimmen über eine die Nichteinberufung der Wahleollegien behufs Vornahme der Erfäswahlen betreffende Interpellation Leon Say's, auf melde die Oppofition große Hoffnungen gefettt hatte, zur Tagesordnung überging. So war alfo Broglie vorläufig durchaus der Mann der Situation, er benuste die Gelegenheit, um fich des ungefchidten Beuld zu entledigen; außerdem fchieden die Legitimiſten de la Bouillerie, Batbie, Ernoul aus. Broglie felbft übernahm mit der Vicepräfidentfchaft des Rathes das Innere, der Herzog von Decazed das Aeußere; die übrigen Mit: glieder der reconftruirten Gabinet3 waren: Fourtou: Unterriht; Deffeilligny: Handel; Larey: öffentliche Arbeiten; Depeyre: Juſtiz; Magne: Finanzen; du Baratl: Krieg; Dampierre D’Hornoy: Marine. Die beiden bonapartiftifcen Minifter waren alſo geblieben und der Unterrichtäminifter Fourtou ftand den Bonapartiften menigftend fehr nahe. Charakteriftifh für das neue Gabinet war das Burüdtreten des entſchieden Iegitimiftifchen Elements, welches durch die unaudgefegten heftigen Angriffe der Tegitimiftifchen Blätter gegen das Septennat vollflommen motivirt war. Daß Broglie dad Porte feuille de Innern übernommen hatte, fonnte ald Beweis gelten, daß die Regierung entſchloſſen war, alle ihre Gegner mit Anwendung der äußerſten, ihr zu Gebote ftehenden Mittel zu bekämpfen.

Der Grund zu einer fiebenjährigen Dictatur war gelegt. Da fi in- defien der rechtmäßige Souverän, die Nationalverfammlung, doch nicht ganz bet Seite fhieben ließ, fo war man darauf angemiefen, die Dietatur unter parlamentarifhen Formen zu verfteden und zu biefem Zwecke die Wieder berftellung der alten Mehrheit in Angriff zu nehmen. Wo es galt, den Republifanern Widerftand zu leiften, Hatte ſich diefelbe auch bereitö wieder zufammengefunden; aber außer dem Haß gegen die Republikaner gab es fein gemeinfame® Band für die confervativen Gruppen. Died zeigte fich bei den

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Wahlen für die Dreißigercommiffion. Alle Gruppen der Mehrheit waren einverftanden, die Republifaner von der Theilnahme an der Commiffton mo- möglich ganz audzufchliegen. Aber nahdem etwa die Hälfte der Mitglieder ernannt war, gerieth die Wahl völlig ind Stoden, da die Mehrheit über die Frage, nach welchem Verhältniſſe die Zahl der Mitglieder unter die einzelnen Gruppen zu vertheilen fet, völlig auseinanderftel. Sitzung auf Situng folgte, ohne daß es gelang das MWahlgefhäft zu Ende zu führen. Als man endlich 28 Mitglieder ernannt hatte, darunter einige menige Republifaner drohte die ganze Wahloperation zu ſcheitern; die Linke und ein Theil der Regitimiften enthielt fi der Abftimmung, und in Folge davon wurde nicht mehr die zur Wahl nöthige Anzahl der Stimmen (die abfolute Majorität der Verfammlung) abgegeben. Man mußte fi entſchließen, mit der Rinfen zu verhandeln, und derfelben die letzten zwei Stimmen (Cazanne vom linken Centrum und Vacherot von der Linken) zu bemwilligen.

Eine feſte Majorität gab es alfo in diefem Augenblid nicht. Die äußerfte Rechte fchien zu ſyſtematiſcher Oppofition entfchlofjen, die Bonapartiften fanden ihren Vortheil dabei, fich in Feiner Weife zu binden, fondern ganz nad den Umftänden zu handeln. Die Drleaniften waren die einzigen, die fih dem Septennat ohne audgefprochenen Vorbehalt anfhloffen, aber auch fie nicht ohne Hintergedanfen. Ihr ganzes Trachten ging dahin, für den Herzog von Aumale, der eben dabei war, fich in dem Bazaine'ſchen Procefie RKorbeeren ganz eigenthümlicher Art zu pflüden, eine Stellung ausfindig zu machen, die Ihm die Unmartfhaft auf Mac Mahon's Stelle gäbe.

Die Ausfihten für Bildung einer gefhloffenen feptennaltftiihen Partei waren alfo von Anfang an fehr gering. Aber grade diefe Zerrüttung der Rarteiverhältniffe konnte, gefchictt benust, für Mac Mahon ein Machtmittel werden. Vermochte er nicht, ſich auf die Mehrheit zu ftügen, fo hörte auch feine Verpflihtung gegen die Mehrheit auf. Ye ziellofer die Parteifämpfe fi geftalteten, um fo höher ftieg in Frankreich das Bedürfniß nach einer farfen Regierung. Konnte Mac Mahon eine folche, fet es ohne die Nattos nalverfammlung, fet es felbft im Gegenfat zu ihr, begründen, fo war er ber Herr der Situation. Dazu bedurfte es Feiner hohen ſtaatsmänniſchen Bega- bung, nur einer gewiffen ausharrenden Zähigfeit in der Behauptung des ein- genommenen Platzes. Diefe Zähigkeit fchrieb man dem Marfchall in Er- innerung an fein befanntes Wort: „j’y suis et j'y reste* zu. Hatte er den feften Willen, auf feinem Poſten zu beharren, fo ließ ſich für den Augenblid nicht abfehn, wer es wagen und vermögen follte, ihn von demfelben zu ver- drängen. ®eorg Zelle.

Grenzboten IV. 1871. 39

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sin amerikanifder Humorxiſt. (Markt Twain.)

Markt Twain ift den Leſern der Grenzboten ein alter Bekannter. Im Sommer 1873 braten diefe Blätter unter dem Titel „Ein Beſuch auf den Sandwichsinſeln“ eine Reihe feiner vorzüglichen humoriftifchen Reiſeberichte.) Heute liegt und die angenehme Pfliht ob, eine Auswahl feiner Schriften in deutfcher Meberfegung bei unfern Xefern einzuführen. Es ift dieß der zweite Band, der bei F. W. Grunow erfiheinenden Amerifanifhen Humo- riften“*), eine Sammlung, deren erften Band wir vor Kurzem rühmend zu erwähnen Gelegenheit hatten.***)

So liegen’ denn bis jetzt aus diefem Verlage Meberjegungen von Bret Harte, Thomas Bailey Aldrih und Markt Twain vor, die alle den gleid gewandten Meberfeger verrathen. Der dritte Band der Serie „Amerikaniſche Humoriften* foll die berühmte „Geſchichte vom ſchlimmen Jungen“ von The: mad Bailey Aldrich enthalten, der vierte und mit Mar Adeler's „Fern vom Weltgetümmel“ befannt machen. Wenn diefe Sammlung vollftändig erjchienen ift, wird vielleicht die Gelegenheit fich bieten, diefe amerikanischen Humoriſten und Dichter unter einander zu vergleichen. Für heute enthalten wir und dei Verſuchs diefer Arbeit. Mark Twain fpricht fo fehr für fich felbft, daß er der Empfehlung und Charafterifirung beim Leſer durchaus nicht bedarf, um verftanden und herzlich willkommen geheißen zu werden. Es Fann völlig ge nügen, wenn hier gejagt wird, daß die neueften Schriften Mark Twain’d die hier noch nicht überſetzt find darauf hindeuten, daß diefer Schriftfteller mehr und mehr die politifche Satire als feine vorzüglicfte Domäne cultivirt, Sein im vorigen Jahre erfehienener Roman The gildedage (das vergoldete Zeit: alter) ift die graufamfte Berfiflage der öffentlichen Zuftände oder beſſer Mipftände der Vereinigten Staaten, die ſich denken läßt. Und der Erfolg, den diefe Fühne That gehabt hat, dürfte den Dichter um fo mehr beftimmen in feiner Spe zialität fortzuarbeiten, als bekanntlich in den letzten Jahren eine fehr mäch— tige Oppofition der ehrlichen Leute der Union, unter der Führung unfres einftigen Landsmannes, des Senator Karl Schurz ſich regt, um die Gorruption, die fih drüben in alle öffentlichen Verhältniffe, in die Verwaltung und Ge feßgebung der Gemeinde, der Partikularſtaats- und der Bundedangelegenheiten, ja felbft in die Juſtiz, im meiteften Umfange eingenijtet hat, aus dem Sattel

*) Grenzboten 1873 III. ©. 25. 56. 100. 140. (Heft 27—30). **) Amerifanifche Humoriften. 2. Band. Jim Smiley's berühmter Springfrofeh und dergl. wunbderliche Käuze mehr. Im GSilberlande Nevada von Mark Twain. Ins Deutfche über

tragen von Moritz Buſch. Leipzig, F. W. Grunow. 1874. *9) Grenzboten 1874, IV. ©. 92.

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zu heben. Die jüngften amerifanifhen Wahlen find ein Beweis für die Stärke diefer Oppofition. Leute, die lange drüben gelebt haben, ftellen ent- Ihieden in Abrede, daß den Sieg bei den letzten Wahlen die „Demokraten“ davongetragen hätten, d. h. jene politifche Partei, welche im Seceffiondfrtege niedergemorfen, und bei und Deutfchen in der Pegel ald die „reactionaire* angefehen wurde. Bielmehr hat die Oppofition der ehrlichen Leute gegen die Sorruption jener Verwaltung, die Grant's populären Namen und feine Duldfamfeit gegen politifche Parteigenofjen mißbrauchte, den Sieg davonge- tragen, und nun die Majorität im Congrefje, eine an Majorität ftreifende Minderheit im Senat erlangt. So mird' das letzte Wahlergebniß von der amerifantfchen Preſſe aller Farben beurtheilt. Eine fpätere Zeit erft wird darüber richten, welchen Antheil an diefer tiefen Wandlung, deren fruchtbare und bedeutfame Folgen jest noch nicht einmal überfehen werden können, jener kecke Humorift hat, der die faulen Zuftände feined Baterlandes mit dem ſchärfften Spotte ſchoönungslos geielte und dadurch vorläufig alle Lacher auf feine Seite brachte, bis dann der Ernſt des politifhen Wirkens in Verfamm- lungen, Flugfhriften und Preßartikeln die Oppofition der ehrlichen Leute in dadfelbe Lager zog.

Diefe mächtige Begabung Mark Twain's für politifche Satire tritt in der vorliegenden Auswahl feiner Schriften für denjenigen, der feine fpäteren Sachen gelefen hat, allerdings ſchon in recht merflicher Deutlichkeit hervor, und unfere Leſer follen davon fpäter einige ſchmackhafte Proben erhalten. Aber im Ganzen iſt hier der Humor noch Selbſtzweck; oder wenn man will nothmwendige natürliche Folge der entfprechenden Weltanſchauung des Dichters. Wir werden in den im nädhiten Hefte zufammenzuftellenden Auszügen aus Markt Twain's Beobachtungen und Abenteuern auf einer Meberlandreife von St. Joſeph bis Nevada und im Silberlande felbit, nachmweifen, welch gottbe- gnadete Fülle von Humor ihm innewohnt, wie er felbjt die trübfeligften wüfteften Einöden der Erde, die thierifchen Sammergeftalten, welche fie be— völfern, die menfchlichen und thierifchen Ueberrefte, welche in der brennenden Sonne aus dem tiefen Haidefand hervorragen und ded Nachts phosphores- cirend Teuchten wie matte Mondicheinftrahlen, wie er all das mit unfterb- licher Heiterfeit der Seele zu betrachten und zu fohildern weiß. Und diefe fröhliche Lebensanſchauung verläßt ihn auch nicht, wenn er felbft vielleicht denkt oder fich vornimmt, befonders ſcharf und boshaft zu fehreiben. Ich meine, felbft die Opfer feiner Späße müffen mit ihm lachen. Und nur Wenige wird ed geben, denen ein Pfeil im Fleifche zurückbleibt, den Markt Twain hinein: trieb. Und diefe Auserwählten haben es jedenfalls reichlich verdient und felbft für amerifanifche Gewohnheiten übertoll getrieben. Aber daß der Pfeil eine

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ehrliche gerade glatte Spite hatte und völlig giftfrei ift, müſſen ſicherlich auch fie zugeben.

Die Kleinen Erzählungen Mark Twain's, welche diefer Band vereinigt, haben eigentlich alle einen fatirtfhen Anflug. Sie geißeln alle, eine jede in ihrer Weiſe, ein yankee'ſches Nationallafter: die übertriebene Wettluft; die mweitver- breitete VBervolllommnung in der Begabung für das Rügen, gegen melde Mündhaufen ald armfeliger ABE-Lügner erfcheint; die Neigung feiner Landsleute für fenfationelle Stoffe; das allgemeine Behagen, mit dem drüben Mordgeſchichten in ihren abfchredendften Detaild niedergefchrieben und gelefen werden; die Schattenfeiten der „Rady“.Erziehung und dergleihen mehr. Aber diefe Moral der Gefhichte tritt vor dem leuchtenden wärmenden Humor ded Dichter fo volftändig zurüd, daß man bei der Lectüre niemal® durch eine zu enge Fühlung mit der Tendenz durchfröftelt wird. Einige Beifpiele mögen ftatt weiterer Bemerkungen folgen.

Die erfte Erzählung, „Jim Smiley's berühmter Springfroſch“ ſchildert ung die Symptome und den üblichen Verlauf der Wettkrankheit. Sim Smiley ift der vom MWettteufel Befeffene. Er mettete auf Alle nur Mögliche, kaum wurde was erwähnt, jo erbot er fich, darauf zu wetten, dafür oder dagegen, es war ihm Alles eind: auf MPferderennen, Hunde, Kaben- und Habnen- kämpfe. Wenn zwei Vögel auf einem Zaune faßen, fo bot er eine Wette an, welcher zulegt megfliegen würde. Dder wenn ein Gottesdienft unter freiem Himmel mit mehreren Predigern abgehalten wurde, fo mar er regel mäßig von der Partie, um auf den Paſtor Walker zu mwetten,.den er für den beften Ermahner hier herum hielt... . Es war ihm Allee Wurft, wenn er nur wetten Eonnte, der Hölenkerl. Paſtor Walkers Frau lag einmal eine gute Weile todfranf darnieder, und es ſchien, ald ob man fie nicht durd- bringen würde. Da kommt er eined Morgens herein, und Smiley fragt, wie's ihr gehen thut, und der Paſtor jagt, es ginge erheblich beffer. Gott fei Dank für feine unendliche Barmherzigkeit und ed machte fich fo gut mit ihr, daß fie, wenn die Vorfehung ihren Segen dazu gäbe, wohl nod wieder gefund werden würde und mad fagt da diefer Smiley, ohne fid lange zu befinnen? „Na, gut, ich riäfire dritthalb Dollar, daß fie nicht wieder wird, Punctum!“

Jim Smiley hielt fi) aber auch verfchtedene Haudthiere, welche ihn in die Rage verfegten, die Bedürfniſſe feines MWettgenied nicht dem geiftlofen Zufall preidzugeben. Da war die „Funfzehn: Minuten: Mähre“, fein Wett: pferd, welches in jedem Nennen durch verzweifelte Hegen und Strampeln Huften, Niefen, Naſenſchnauben und Staubaufwirbeln immer eine Kopflänge eher am Ziel anlangte ald jedes andere Pferd. Da mar Andrew Jackſon feine Kleine Bulldogge, der er viel Geld verdanfte. Denn fie hatte eine eigen

thümliche Taktik, jeden andern Köter im Kampf unterzufriegen., Sie ließ fi erft abwalfen und herumzerren, beißen, zwei bis dreimal über die Schulter hmeißen von feinem Gegner, bis fie auf einmal den andern Hund beim Gelenke feined Hinterbeines Friegte und dran hängen blieb mie angefroren. „Er kaute nicht, verftehen Ste wohl, fondern biß fi nur feft und hing dran, bie fie den Schwamm in die Höhe warfen, und wenn ed ein Jahr gedauert hätte. Smiley gewann mit diefem Hunde immer, bid er einmal auf ihn gegen einen andern wetten that, der feine Hinterbeine hatte, weil fie ihm von einer Kreisſäge abgefchnitten worden waren, und als die Geſchichte Tange genug gedauert hatte und das Geld alle gejest war, und Andrew Jackſon feinen Leibbiß thun wollte, da fah er im Augenblid, wie er betrogen war, und wie ihn der andere Hund, fo zu fagen, in der Klemme hatte, und fo verlor er die Courage und gab fich feine Mühe mehr, zu gewinnen und wurde zuletzt garftig abgeführt. Er warf Smiley einen Blick zu, wie wenn er fagen wollte, fein Herz wäre gebrochen, und er wäre Schuld daran, da er ihm einen Hund gegenüber geftellt hätte, der feine Hinterbeine nicht hätte, an die er fich halten könnte, was doc das wäre, worauf er fich beim Losgehen hauptfächlich ver: laffen thäte. Und dann hinkte er ein Stüd fort, legte ſich nieder und flarb. 63 war ein guter Hund, diefer Andrew Jackſon, und er mürde fi einen Namen gemacht haben, wenn er leben geblieben wäre, denn dad Zeug dazu hatte er und Genie au ich weiß das, obfchon er Feine Gelegenheit nicht gehabt Hat, davon zu fprechen. Es macht mich immer traurig, wenn ih an diefe feine lebte Bataille denke, und an die Art, wie fie ablief.

Das munderbarfte Thier aber, da8 Jim Smiley zu Wettfiegen ab- gerichtet Hatte, und das feine ganze Erziehung ausfchlieglich feinen pädagogi- hen Zalenten verdankte, war ein Froſch. Er that an die drei Monate lang nichts, als daß er in feinem Hinterhofe faß und diefem Froſche das Hüpfen lernte. Na und ob er’ ihm lernen that! Er gab ihm einen Eleinen Schubs binten, und in der nächſten Minute ſah man, daß der Frofch wie ein Pfann- kuchen in der Luft wirbelte, einen Purzelbaum oder, wenn er richtig aus. geholt hatte, ein paar ſchlug und dann ganz ordentlich wieder auf die Beine fam mie eine Kate. Er richtete ihn fo auf den Fliegenfang ab und erercirte ihn fo fleißig darauf ein, daß er jedesmal feine Fliege wegſchnappte, fobald er eine vor ſich ſah. Smiley fagte, Alled was ein Frofh brauchen thäte, dad wäre Erziehung, dann Fönnte er faft Alles fertig Eriegen, und ich glaube ihm. Cie haben in Ihrem Leben feinen Froſch nicht gefehen, der fo befcheiden und geradezu gewefen wäre. Und wenn ſich's um den Weitfprung auf einer Fläche handelte, fo fam er mit einem Sabe viel weiter als fonft ein Vieh von feiner Sippfchaft, dad man fehen konnte. Weitfprung auf ebnem Boden, dag war feine Hauptforce, und wenn es dazu fam, fo feste Smiley Geld

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auf ihn, fo lange er einen rothen Gent in der Taſche hatte Smiley war fürchterlich ftolz auf feinen Frofh, und er hatte Recht damit; denn Leute, die gereift hatten und überall gewefen waren, die fagten, daß er über alle Fröſche ginge, die ihnen vor die Augen gefommen wären. Nun vermahrte Smiley feinen Springfrofch in einem Eleinen Käfig aus Stäbchen, aus dem er ihn mitunter herausholte und zu einer Wette auffordertee Nun Fommt ibm da einmal ein Burſche er war fremd bier im Nager über den Meg, fieht den Käfig und fagt: „Ei was mag wohl das bier fein, was Sie in dem Käfig haben ?* Und Smiley fagt, wie wenn er fih nichts draus machen thäte: „Na e8 könnte ein Papagei fein oder am Ende ein Kanarien- vogel aber nichts damit, 's ift blos ein Froſch.“ Und der Burſch nahm ihn in die Hand, befah ſich ihn genau, drehte ihn bald nach diefer Seite um und bald nad) jener und fagte: „Hm, richtig. Na, wozu ift der wohl gut?" „se nun,“ fagte Smiley leichthin und gelaffen, „er ift gut genug für eind, fol’ ich meinen er fpringt weiter mie irgend ein Froſch in Calaveras County.“ Der Burfhe nahm den Käfig noch einmal, betrachtete fich ihn wieder lange und forgfältig, und gab ihn dann Smiley zurüd, indem er fehr entjchieden fagte: „Na, ich fehe an diefem Frofche nichts, was beſſer wäre ald bei andern Fröfchen.“ „Mag fchon fein,“ fagte Smiley. „Mag fein, daß Sie fih auf Fröſche verftehen, mag fein, daß Sie nichts davon ver- ftehen, vielleicht, daß Sie Erfahrungen haben, vielleicht, daß Sie nur ein Laie in dem Wache find. Sei dem, wie ihm wolle, id) habe meine Meinung in der Sache, und ich wette vierzig Dollars darauf, daß er meiter fpringen Fann als irgend ein Froſch in Salaverad County.“ Der Burſche überlegte fichs eine Weile, dann fagte er traurig: „Sa, ich bin hier fremd und habe feinen Froſch, aber wenn ich einen hätte, fo wollte ich wohl mit Ihnen wetten.“ Und dann fagte Smiley: „Schon gut, fhon gut wenn Sie meinen Käfig eine Minute halten wollen, fo will ich hingehen und Ihnen einen Froſch holen.“ Und fo nahm der Burfhe den Käfig und legte feine vierzig Dollars neben Smiley'n feine hin und fette fich hin, um zu warten. So faß er eine gute Meile da und fann und grübelte vor ſich hin, bis er's Hatte; da nahm er den Frofch heraus und fperrte ihm das Maul auseinander und füllte ihm mit einem Theelöffel den Bauch vol Wachtelſchrot. Er ftopfte ihn voll, faft bis an den Hals, und feste ihn dann auf die Erde Smiley war dermeile nad) dem Sumpfe gegangen und mwatete im Schlamme herum, lange Zeit, und endlich erwifchte er einen Froſch und brachte ihn herzu und gab ihn dem Burſchen und fagte: „Na, wenn Sie jet parat find, fo fegen Sie ihn neben Daniel'n hin, feine Borderpfoten ganz in derfelben Linie wie Daniel'n feine, und ich werde das Signal geben.” Dann fagte er: „Eins zwei drei hopps!“ und er und der Burſche gaben den Fröfchen

„m

311 hinten einen Tipp®, und der neue Froſch hüpfte fort. Aber Daniel that einen Seufzer und bob die Schultern Jo wie 'n Franzofe aber 's half nichts, er Fonnte fi nicht rippeln noch rappeln, er faß fo feit mie ein Ambos, und er war nicht mehr im Stande, fi zu regen, als wenn er mit einem Anker feitgefettet wäre. Smiley war fehr überrafht davon und fehr böfe darüber, aber er hatte natürlich Feine Ahnung, an was es lag. Der Burfche nahm das Geld und machte, daß er fort Fam, und ald er zur Thür hinaus ging, zeigte er mit feinem Daumen über feine Schulter fehen Sie, jo nad) Daniel’'n hin und fagte wieder fehr entfchieden: „Nein, ich fehe an diefem Frofche nichts, was beffer wäre ald bei andern Fröſchen.“ Smiley, der ftand da und fragte fih am Kopfe und ſah nieder auf Daniel, eine lange Zeit, und zuleßt fagte er: „Möchte doch willen, warum in aller‘ ‘Welt diefer Froſch den Kürzeren gezogen hat ich möchte miljen, ob 'was mit ihm los ift er fieht mir fo vollgefadt aus.“ Und er Eriegte Daniel'n beim Kragen und hob ihn in die Höhe und fagte: „Ei der Teufel, da will ih doch gleich gehenkt fein, wenn der nicht feine fünf Pfund wiegen thut!“ Damit drehte er ihn fo, daß der Kopf nad unten hing, und da famen mohl zwei Handvoll Schrot heraudgefollert. Und jet kriegte er's weg, wie die Sache ftand, und wurde ganz toll und thöricht. Er feste feinen Froſch hin

' und rannte dem Burfchen nach, ermifchte ihn aber nicht.“

Die amerikaniſchen Exemplare der Familie Münchhauſen fchreiten zahlreich durch dieſes Buh Mark Twain's. Da tft der „alte Admiral” (der unfern Leſern ſchon aus der Reiſe nach den Sandwichsinſeln befannt ift), der jeden Keim eined Zmeifeld an feinen gefchichtlihen Wahrheiten mit einer Verſchwen— dung von Zorn und Flüchen niederfämpft, welche ihn zum unbeftrittenen und alleinigen Befiger der Gefellichafts- Kajüte machen, fo oft er e3 für an— gemeſſen findet, feine gefchichtlihen Abhandlungen aus dem Geceffiondkriege loszulaſſen, bis er endlich mit feinen eigenen Waffen mundtodt für immer ge- macht wird. Dann ift bier „Marfig, der Lügner“, der in feinem Fade vielleicht den höchften Preis verdient, und bei Allem, was um ihn gefprochen ift, feine berühmte Wahrheitäliebe kaum länger zügeln fann, und immer da, wo man ihn am menigften erwartet, mit einer fabelhaften Gejchichte heraus- plast, für deren Wahrheit er ftet3 höchſt glaubwürdige Perfonen, am liebſten aus der Gefellichaft felbit, an die er fi wendet, aufruft. Das ift feine Spezialität. Er erzählt 3. B. von einem Kamin, den er befeffen, und „der fo qualmte, daß der Rauch darin ſich förmlich in Kuchen verwandelte und dag ih ihm mit der Spishade heraudhauen mußte. Sie mögen darüber lachen, meine Herren, aber der High Sheriff Hat einen Klumpen davon, den Ih vor feinen Augen Iosgebrodhen habe, und fo haben Ste e8 vollfommen leicht, wenn Sie bingehen und die Sache prüfen wollen.“ Zwei Wochen

—M =)

fpäter überfällt er eine andere Geſellſchaft mit der Erzählung von dem Nat: matat-Baum auf der Inſel Unalaſchka, See von Kamtſchatka, der nicht einen Zoll meniger, als 415 Fuß unten am Stamme bat. Der alte Gapitain Saltmardh in der Geſellſchaft wird von ihm als Zeuge aufgerufen. Der aber erwidert entrüftet: „Ach, mein Junge, da haft Du Deinen Anker abgerifien, Du haft die Kette zu ftraff angezogen. Du verfprachft, mir diefen Riefen- ferl von einem Baume zu zeigen, und ich ging mit Dir durch das verflud- tefte Walddickicht mehr ala elf Meilen, um ihn aufzuftöbern; aber der Baum, den Du mir zulegt wieſeſt, war nicht dicker ald ein Bierfaß, und Du weißt das felber recht gut, Markiß.“ Markiß: „Nun höre eins den Menſchen reden! Natürlih war der Baum fo dünn ‚geworben, aber habe ich's Dir denn nicht erklärt, wie? Antworte mir: hab’ ich, oder hab’ ich nicht? Sagte ih Dir nicht, ich wollte, Du hätteft ihn fehen follen, wie ich ihn zuerft fah. Als Du auf Deinen Karren ftiegft und mir allerhand garftige Namen an- bingft und fagteft, ich hätte Dich elf Meilen herumgeſchleppt, um Dir zulest ein winzige® Stämmchen, einen wahren Schößling zu zeigen habe ich Dir da nicht erklärt, wie die Walfifchfahrer in den nördlichen Meeren fi Länger als fiebenundzmwanzig Jahre ihr Holz von ihm geholt? Und glaubte ic denn hol's der Teufel! der Baum würde ewig ausreichen? Ich ber greife nicht, wie Du auf diefe Art die Dinge verfchweigen und den Berfuh machen Fannft, einen Menfchen zu beleidigen, der Dir in feinem Reben nichts zu Leide gethan hat.“ Dann, kaum zehn Tage fpäter läßt Markiß die Ge Thichte von feiner Stute Margarethe folgen, die achtzehn Meilen lang mit feinem Buggymägelchen, auf dem er felbit faß, immer dreißig oder vierzig Yards vor dem furchtbarſten Sturm berlief, den Markiß In feinem Reben ſah, ohne daß der Sturm die Stute einholen konnte oder ein Tropfen Regen aus der Sturmmolfe fie hätte erreichen Fönnen. „Aber allerding® mein Hund hatte zu ſchwimmen dur den Molfenbrud den ganzen Weg lang.“ Kaum vierzehn Tage fpäter liefert Markiß das nach feiner Erfahrung klaffiſchſte Belfpiel für Knauferet. John James Godfrey wurde von der Hay-Blofjom- Geſellſchaft in Californien für. gemiffe Sprengungen verwendet. Auf einmal fliegt ex mit feiner Brechſtange in die Ruft, fo hoch bis er gar micht mehr gefehen wird, und fällt dann nach einiger Zeit genau wieder auf die Stelle herab, wo er vorhin arbeitete. „Er war nicht länger als ſechzehn Minuten in der Quft abmwefend geweſen, und doch z0g ihm jene Geſellſchaft von Knauſern fo viel von feinem Lohne ab, als die verlorene Zeit betrug.” Diefen Rebendgewohnhetten entſpricht Markiß' Ende. Er hat fich eines Morgens gehangen und einen Zettel an feine Bruft befeftigt, auf meldem er feinen Selbftmord atteftirtt. Grund genug für die Jury fowohl an feinem Tode, ald an der Freimilligkett desfelben zu zweifeln, da die nie wankende

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Beharrlichkeit ded Charakters dieſes Herrn Markiß während der leiten dreißig Jahre fi als gemaltiged und unzerſtörbares Zeugniß dafür erhöbe, daß jede Behauptung, die er aufzuftellen beliebe, die Berechtigung und den Anfprud darauf habe, fofort und ohne weitere Frage und Prüfung ald Rüge an- gefehen zu werden.“ „Und fo ftand der Sarg in dem tropifchen Klima von Lahaina fieben Tage lang offen, dann aber gab ihn felbft die gefegliebende Jury auf.“ Im „Silberland Nevada“ begegnen wir felbftverftändlich noch einer Reihe von Menfchen, die in Bezug auf Wahrheitäliebe genau fo ver- anlagt find, wie diefer felige Marfip.

Die ungewöhnlichen Hindernifje, welche der anglo-amerikanifhe Gefhmad von feinen Nomanhelden überwunden zu fehen wünſcht, ehe fie fich Friegen, find von Mark Twain meifterhaft gehäuft in der kurzen Geſchichte „Aurelta’s unglüdlicher Bräutigam“. Diefer Unglüdjelige geht nämlih in der Zeit zwifchen Berlobung und Hochzeit förmlich in die Brüche. Zuerſt entftellen. ihn Boden. Dann bricht er, in die Betrachtung eines Nuftballond vertieft, ein Bein, das ihm oberhalb des Knied abgenommen werden muß. Dann folgt der eine Arm durch zu frühes Losgehen einer Kanone bei der eier de8 vierten Juli; drei Wochen fpäter reißt ihm eine Krämpelmaſchine den andern aud. „Stück für Stüd verließ Aurelia's Geliebter die Braut und fie empfand, daß er in diefem unfeligen Reductionsproce& doch nicht ewig aus— reichen Eonnte . . . fie bedauerte faft, wie Börfenmänner, welche Papiere feit- halten und dabei verlieren, daß fie ihn nicht gleich genommen habe, bevor er eine fo beunruhigende Entwerthung erlitten.” Er verliert aber außerdem noch ein Auge, fein andered Bein und feinen Scalp. Das ift allmählich, jufammengerechnet fo viel geworden, daß die Frage ernithaft ventilirt wird, ob es fich der Mühe lohne, den. Reſt zu heirathen. Aber Twain räth der zweifelnden Braut entfchieden dazu. Das Verlorene kann durch Fünftliche Gliedmaßen erfegt werden. „Es will mir nicht ſcheinen, Aurelia, daß damit viel gewagt würde, weil, wenn er bet feiner hölifchen Neigung verharrt, fich jedesmal Schaden und Abbruch zu thun, wo er eine gute Gelegenheit dazu gewahr wird, fo muß fein nächſter Verſuch mit ihm ein Ende machen und dann find Sie fein heraus. .. Es würde auf Seiten Ihres Caruthers ein glüdlicher Einfall gewefen fein, wenn er mit feinem Halfe angefangen und den zuerft gebrochen hätte; da er's indeffen für paffend gehalten hat, eine an- dere Politik zu verfolgen und fi fo lange als möglich audzufpinnen, fo denke ich nicht, dag wir ihn darüber fchelten dürfen, wenn ed ihm Vergnügen gemacht hat.”

Bon diefem padenden Humor find alle die andern kleinen Erzählungen diefed Bandes durchdrungen. Doch der Raum geftattet nicht, davon mehr

im Auszuge mitzutheilen. Mark Twain's Talent offenbart ſich aber doch am Örenzboten IV. 1874 40

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reichften und fchönften in den Reiſe- und Lebensbildern aus dem „Silberland Nevada”. Hier fleigt neben dem Humoriſten auch der Dichter, der Schilderer Mark Twain auf den Gipfel feiner Bedeutung, und deßhalb werden wir diefe Bilder im nächſten Hefte eingehender unferen Leſern vorführen.

98.

Dom deuffden Keihstag.

Berlin, den 15. November 1874.

In der fechiten Sitzung des Reichſtags am 9. November ftand der Reichs— haushalt für 1875 zur erften Berathung. Die Verhandlung ward vom Prä- . fiventen Delbrüd mit einer Ueberſicht über die Finanzlage auch des Taufenden Jahres eröffnet. Die Mittheilungen über das Taufende Jahr Eonnten in ziemlicher Vollitändigfeit gegeben werden, weil die Budgetberathung zum erften Mal am Schluffe des Berathungsjahres ftattfindet. Herr Eugen Richter nahm au diegmal den gewohnten Pla als erfter Kritiker des Reichshaushaltes ein. Wenn wir fagen ala erfter Kritiker, fo meinen mir zunächſt, als erfter der Zeit nah. Da ein gewiller Scharfblid und eine gewiſſe Geläufigfeit in der Behandlung von Winanzgegenftänden Herrn Richter nicht abzuſprechen find und da ihm ambererfeit3 eine apologetifche Behandlung der Regierung? vorlage allezeit höchſt fern Itegt, fo hat fein Auftreten den VBortheil, daß man fogleich überfieht, melde Angriffspunkte, fcheinbare oder wirkliche, eine Vorlage etwa darbietet. Bei der diedmaligen Kritif des Reichshaushaltes hatte ber finanzfundige Abgeordnete fi) zwei Angriffpunfte hervorgefudt. Er fand einmal die Angabe der Militatrauggaben nicht fpectaltfirt genug. Er tadelte, daß die Gehälter und Röhnungen der Truppentheile nur ſumma— riſch angegeben feien. Er verlangte die vollftändige Mittheilung der einzelnen Poſten, aus denen bei jedem Zruppentheil die Abſchlußziffer fih zufammen- fest. Wir müſſen den Leſer aufmerkjam machen, daß hinter diefer Erinnerung nicht etwa die Peinlichkeit calculatorifcher Gemiffenhaftigfeit oder Pedanterie zu ſuchen iſt, fondern eine politifche Tendenz von beträchtlicher Tragmeite. Das in diefem Frühjahr vereinbarte Reichs-Militairgeſetz hat für das Reichs— heer die Zahl und Befchaffenheit der Truppentheile ſowie der dazu gehörigen Beamten feitgeftelt. Danach fann über den Betrag der Gehälter und Löh— nungen bei den verjchiedenen Truppentheilen im Ganzen fein Zweifel fein und bie Kriegäverwaltung darf fi) berechtigt halten, die Beiträge für jede Ab- theilung nur im Ganzen in den Haußhalt aufzunehmen. Aber es ift ja felbft- veritändlih, daß bald hier bald dort einmal eine Stelle mehr, d. 5. über den

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geſetzlichen Etat, einmal weniger, alfo unter dem gefeglihen Etat, durch die wechſelnden Bedürfniſſe einer fo großen Verwaltung aktuell befest if. Nun ergiebt fi die Frage, ob die Kriegdverwaltung dem Geſetz genügt, wenn fie fih im Ganzen an den vorbezeichneten Rahmen hält, oder ob fie für alle Abweichungen im Einzelnen, auch wenn diefelben das gefammte Ergebnif nicht verändern, der Genehmigung des Reichstags bedarf. Es iſt Far, daß die Natur der Sache eine beftimmte Reihe folder Abänderungen in jedem Verwaltungsjahre unvermetdlih mit fih bringt. Wollte man den ganzen großen Etat der Berfonal- Ausgaben des Heered, der alljährlih gewiſſen Schwankungen nothmwendig unterworfen ift, für jedes Jahr bis in die Fleinfte Einzelbeit dur Verhandlung und Bereinbarung mit dem Reichdtage regu- Iiren, fo hieße das nicht? andered, ald dem Reichstag die Heeredverwaltung in die Hand geben. Damit hätte die Stetigfeit der Kriegäverfaffung troß des Reichs-Militairgeſetzes ein Ende und bald auch die MWehrhaftigfeit der deutfchen Nation. Vielleicht begreift dies fogar Herr Richter. Wielleicht be» anſprucht er die Herrfchaft über die Heeredverwaltung für den Reichstag nur im Prinzip, zu dem Behuf, die Regierung vom Reichätag abhängig zu machen unter dem Vorbehalt, einer Verwaltung, die diefer Abhängigkeit gehörig Rechnung trägt, den unentbehrlichen Spielraum fo lange zu gewähren, ala die Berfonen der Verwaltungsvorftände dem Reichstag gefallen. Es ift ein fehr befanntes Ziel, auf welches Herr Richter auch Hier hinfteuert, und wir haben die Erfprießlichkeit desſelben augenfcheinlich nicht zu erörtern.

Der zmeite Angriffspunft, den Herr Richter audgefucht, betraf die Ueber- Ihüffe des Iaufenden Jahres. Der Kritifer wollte diejelben bereits für die Dedürfniffe des jetzt zu berathenden nädhftjährigen Haushalte in Einnahme geftellt wiffen. Er wollte, daß man über die Heberfchüffe verfüge, noch ehe fie vorhanden find. Denn fo lange die Jahresrechnung nicht abgeſchloſſen, Eönnem die Ergebniffe nur auf Wahrfcheinlichkeit beruhen. Der Kritiker ver- folgt mit diefer zweiten Forderung dasſelbe Biel, wie bet der erften. ine Finanzverwaltung, welche über ihre Ueberſchüſſe verfügt, noch ehe fie diefelben eingebracht hat, welche die Anfchläge ihrer Einnahmen eher zu hoch, als zu niedrig zu machen genöthigt wird, muß jedes Jahr in die Lage fommen, außerordentliche Dedungsmittel vom Reichstag zu erbitten. Sie muß fehr befliſſen ſein, ſich die Gunst des Reichstages durch jede denkbare Nachgiebigkeit zu erhalten, um nicht entweder peinlichen Verantwortungen ausgeſetzt zu ſein, oder durch Verabſäumung nothwendiger Ausgaben gegen das eigene Gewiſſen zu handeln. Der ſichere und ſtetige Gang der Verwaltung wird unter allen Umſtänden gehemmt werden und die bekannte Verbindung von verſchwenderiſchem Schlendrian und koſtſpieliger Verſäumniß eintreten, die wir anderwärts als Folge der parlamentariſchen Allmacht über das Finanzgebiet in Blüthe ſehen.

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Noch eine dritte wichtige Frage trat bei diefer erften Berathung des Reichshaushaltes wiederum hervor. Die Frage nämlich nach der Aufbringung des Reichsbedarfs, fomweit derfelbe aus den dem Reich bis jetzt zugemiefenen ungenügenden Einnahmen nicht gededt ift, durch die Matrifular- Beiträge. Diefe Matrifular- Beiträge bilden fi mehr und mehr zu einer wunden Stelle der Neihäfinanzen aus. Durch die Befchwerde, welche ihre Aufbringung den Einzelftaaten verurfacht, rufen fie den Widerftand gegen audgiebige Leiftungen der Reichsfinanzen erft im Bundedrath und dann im Reichstag bei den Vertretern aus den Cinzelftaaten hervor. Es mag mehr ald ein Mitglied des Reichstags geben, welches durchaus nicht die Gedanken des Herrn Richter über die richtige Stellung der Finanzverwaltung dem Parlament gegenüber theilt, und welches dennoch für eine prinzipiell unzuläffige Befchränfung der Neichd - Finanzverwaltung zu flimmen gedrängt wird, um die Laſten der Heimathlandſchaft nicht über die Erträglichkeit anwachlen zu laffen. Die Be feitigung der Matrikular» Beiträge durch Vermehrung der eigenen Finanz quellen des Reiches wird bereits zu einer drängenden Frage. Die Beibehaltung der Matrikular-Beiträge läßt fich eigentlich nur no denken von dem Stand- punkte eine® ungeduldigen Unitarierd, der den Ginzelftaaten die Griftenz fobald als möglich verleiden möchte, oder eines Reichsfeindes, der die centri- fugale Tendenz der Einzelftaaten angefacht fehen möchte. Die richtige Ver— theilung der Einnahmequellen zmifchen dem Reich und den Einzelftaaten ift ein fohroterige® aber dankbares Problem unferer nächften Entwickelung. Die beiden von Herrn Richter angeregten Fragen follen, wie es fcheint, ihre grundfägliche Erledigung durch das Gefeg über die Verwaltung der Ausgaben und Einnahmen des Reiches finden. Ob die Vereinbarung fchon in diefer Seffion gelingt, fteht dahin. Das Ergebniß der erften Berathung des Haud- haltes war, daß das den ganzen Haushalt zufammenfaflende Geſetz, die Heeredaußgaben und die Matrikular- Beiträge der Budget» Commiffion zur Vorberathung überwiefen murden. Die anderen Theile des Haushaltes werden im Reichstag ohne Kommiffiondvorbereitung,, wie es bereit? üblich geworden, auf Grund von Referaten von Mitgliedern, die für das Neferat über gewiffe Gruppen vom Präftdenten ernannt find, berathen werben.

Die fiebente Sisung mit ihren gelegentlich) der dritten Berathung über die Einführung der Reichsmünzgeſetze in Elfaß-Rothringen erhobenen Klagen über bte dortige Verdrängung der Franken ; mit ihrer zmeiten Berathung ded Markenſchutzgeſetzes und einiger Eleineren technifchen Vorlagen übergehen wir. Ebenfo die achte Sitzung. Der in diefer Sigung befhloffene neue Paragraph der Gefchäftdordnung, welcher die Behandlung der Ueberfichten über die vom Bundedrath gefaßten Entſchließungen auf Initiative Beſchlüſſe des Reichstags regelt, Kann befprochen werden, wenn er zur praftiichen Anwendung fommt.

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Auch die neunte Situng betraf nur techniſche Vorlagen. Darunter rechnen wir das allerding® wichtige Geſetz über die Naturalleiftungen für die bewaffnete Macht im Frieden und die Genehmigung der Verordnung über die Gefchäftsfprache der Gerichte in den unmittelbaren Reichälanden. Die zehnte Sigung behandelte dad Markenſchutzgeſetz im Testen Stadium und ebenfo die Verordnung über die Geſchäftsſprache der Gerichte Die erfte Berathung des Geſetzentwurfs über die Steuerfreiheit des Reichseinkommens wurde noch nicht beendigt.

Die Unterfuhung gegen den Grafen Arnim hat zu einer neuen Inhaft— nahme des Grafen am 13. November geführt, die auf ärztliche Intervention zu einer polizeilichen Interntrung im Palais feiner Schwiegermutter geworden ft, Wie zuverläffig verlautet, hat der Graf Dokumente der pariſer Botfchaft, deren Verbleib er anfänglich nicht zu kennen behauptete, dem Gericht aus freien Stüden zugeftellt mit der Angabe, daß er die Dokumente unerwartet bei fi gefunden habe. Durch diefe Procedur ft der Verdacht beftärft worden, daß der Graf von diefen Dokumenten einen ftaatsgefährlichen Ge brauch gemacht, obwohl er bei Beginn der Unterfuhung mit der größten Heftigkeit in Abrede ftellte, daß er aus den von ihm einbehaltenen Staat?- papieren jemald etwas habe an die Deffentlichkeit bringen wollen. Unterdeß hat der Graf auch Sorge getragen, daß fein Organ, die „Wiener Preffe“, einen Brief vom 11. Mai d. J. veröffentlicht, den Herr v. Döllinger an den Grafen gefchrieben. Herr v. Döllinger erklärt darin, er habe die ihm von dem Grafen wegen früherer Mißſchätzung gegebene Ehrenerklärung feinerzeit nur deöhalb veröffentlicht, um die Autorfhaft des Grafen für ein gewiſſes Memorandum, das ebenfalld in der „Preſſe“ veröffentlicht worden, durch das Selbftzeugniß des Autors feftzuftellen. Herr v. Döllinger möge und nicht übel nehmen, daß mir diefe Rechtfertigung etwas lahm finden. Die Echtheit jened Memorandum ging in diefem Fall genügend daraus hervor, daß Graf Arnim gegen die ihm bei der Veröffentlihung pofitiv beigelegte Autorjchaft nit remonftrirt hatte. Wenn Herr v. Döllinger da8 betreffende Memoran- dum für ein „Meifterftüd ſtaatsmänniſcher Einfiht und Vorausſicht“ erklärt, jo möge er und nochmals nicht verübeln, wenn wir bei aller Achtung vor feiner auggebreiteten Gelehrfamfeit ihn für gänzlich incompetent in der poli« tiichen Prarid halten. Jenes Memorandum war das dilettantifche Produkt eined überall dilettantifchen Kopfes. Der höchſte Grad, den der Dilettantid- mus erreichen kann, tft, wenn er in harmlofer Eitelkeit dem unverföhnlichen Feinde die Goncepte corrigirt, damit der Feind fich nit ſchade und mit denen im Frieden bleibe, denen zu fehaden fein gebieterifches Lebensbedürfniß it.

0-1.

Briefe ans der Kaiferfiadt.

Berlin, 15. November.

„Schwere Zeiten!” Wo wäre diefer Seufzer heut nicht am der Tage ordnung! Man braucht nicht erft die ultramontanen eremiaden über die diocletiantfche Chriftenwerfolgung oder die foctaldemofratifchen Verwünfchungen der völfervernichtenden modernen Productionameife zu hören, noch aud die Klagen der Wiener und fonftigen Journale über die lettres de cachet des Berliner Stadtgerichts jeder Schufterjunge weiß von der allgemeinen Mifere zu erzählen, jedes Stubenmädel, dem die außeretatmäßigen Silberlinge dermalen weit feltener und mit viel geringerem Wohlwollen in die Hand ge drückt werden, als mweiland zur Zeit des floritenden Gründerthums. Dennoch hat das öffentliche Leben Berlins durchaus nicht den Anſtrich des Darbend und der Gelähmtheit. Im Allgemeinen hat der „große Krach“ bei und mehr die Wirkung eines heilfamen Schred3, als die der direeten Zerftörung gehabt. Was er wirklich vernichtet hat, ift im öffentlichen Intereſſe kaum zu beflagen. Weß Geiftes Kinder die Hauptperfonen jener fchmwindelhaften Unternehmungen waren, bat ja eine Reihe von riminalverhandlungen gezeigt. Nicht un möglich, daß die ſchlimmſten der Mebelthäter ungepeitfcht von der Ruthe ded Strafgeriht3 davongefommen find. Aber wenigſtens aus der tonangebenden Stellung, welche fie im öffentlichen Leben einnahmen, find fie zurüdgedrängt. Jenes praffende Geldprogenthbum, welches mit feiner geiftigen Rohheit den ſchönen Beruf des Reichthums für die Pflege des höherer Kulturlebend in widerlichfter Weife parodirte, an die Stelle eines Afthetifch-geläuterten Luxus die gefehmadlofefte Prahlerei und Meberladenheit fette, in der Muſik, der dramatiſchen und der bildenden Kunft ausfchließlich die grobfinnliche Richtung begünftigte jene Mißbildung ift in unferer Gefelfhaft, wenn nicht für immer befeitigt, jo wenigſtens gründlich Tahnt gelegt. Auch der unvermeld- liche Schweif der Gründerbarone, jene jugendlichen Employés der über Naht aufgefhoffenen Banken und Actiengefellichaften, zum großen Theil fade Geden, fitten« und bildungdlofe Pflaftertreter, die efelhaftefte Sorte von „jeunesse dorde* aud das faubere Völkchen ift bis auf wenige Reſte hinweggefegt. Und fo hat unfer öffentliches Geſellſchaftsleben in der That ein erheblid gefündere® Ausfehen gewonnen.

Kein Zweifel tft freilich, daß die große Krife neben unbeftreitbar ſegens⸗— reichen auch eine gemeinfhädliche Wirkung. ausgeübt Hat und noch audübt, dag fie im Gefchäftäleben eine andauernde Stodung erzeugt, und daß fie mande auf urfprünglich folider Baſis beruhende Schöpfung mit ind Ber derben geriffen hat. Die allmähliche Befeitigung dieſer Mebelftände nach Maß—

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gabe der fortfchreitenden Genefung des volfawirthfchaftlichen Organidmus und ded miederfehrenden Vertrauens kann indeß nicht ausbleiben. Es ift Fein Ge- heimniß, daß die Qurusinduftrie noch immer ſchwer zu leiden bat; doch wird man fi kaum irren, wenn man in ihren Abfasverhältnifien gegen das Vor— jahr eine erhebliche Befjerung zu bemerken glaubt. So wird es auch mit manchen fonftigen Unternehmungen gehen, nachdem fie dad Wegefeuer durch» gemaht und die romantifhen Zuthaten der Schwindelepodhe abgeſchüttelt ha- ben. Unter den Berliner Gründungen wäre eine ſolche günftige Wendung am erften der in diefen Briefen bereit? vor Jahresfriſt beklagten Meftendco- lonte zu wünfchen. Unter den verfchiedenen Villenanfiedelungen, welche ſich In neuerer Zeit um die Hauptftadt gruppiert haben, ift das „MWeftend“ auf der Anhöhe hinter Charlottenburg unftreitig die anziehendfte, fomweit von landfhaftlichen Reizen in Berlind unmittelbarer Umgebung überhaupt die Rede fein kann. Die Quiftorp’sche Actiengefelfhaft, welche dort ihr Weſen getrie- ben, ſchickt fih eben an, endlich einmal zu liquidiren. Es ift aber faum denk— bar, daß der Kolonie nicht in anderer Form mieder auf die Beine geholfen werden follte. Auf die Ausführung der riefenhaften Prachtbauten, deren Ruinen feit Jahr und Tag fo melandholifh ind Land hineinſtarren, wird freilich wohl verzichtet werden müffen.

Ein ähnliches Schickſal, wie den Quiſtorp'ſchen Schöpfungen, wurde im vorigen Winter einer in Charlottenburg unternommenen großartigen An— lage auf Aetien prophezeit. Ullein, Fürft Putbus hat mit derfelben mehr Glück gehabt, ald mit der Nordbahn. Die „Flora“ mit ihrem Palmen— garten ich habe ihrer im Frühjahr unmittelbar nad ihrer Eröffnung Er- wähnung gethan hat fi bemährt und es ift jest ausgemachte Sache, daß fie auch im Winter ein wirkſamer Anztehungspunft bleiben wird. Der wundervolle, Rofenflor, der noch bis tief in den Oktober hinein den Eintretenden begrüßte, ft nun freilih dahin, die glänzenden Yarbeneffecte der mit feinem Fünftle- riſchem Geſchmacke arrangirten Blumenteppiche find erlofhen, um fo über- tajhender und wohlthuender aber ift der Eindrud der immergrünen Tropen» welt. Seit der Eröffnung hat fi die Vegetation des Palmenhauſes außer— ordentlich reich entwidelt. Tauſend Kleinigkeiten find da zum Vorſchein ge- fommen, immer Neued entdeckt das forfchende Auge, es ift eine Welt voll Ipriegenden Lebens und unendliher Mannichfaltigkeit. Nichts anziehender aber ala der Blick aus dem großen Concertfaale durch das riefige Glasportal in das Palmenhaus. Es giebt feinen feltfameren Contraft, ald den unge heueren, in taufendfältigem Kichtglang ſchimmernden, mit folider Pracht aus- geftatteten, von fröhlichen Weiſen wiederhallenden Raum und daneben im Schatten der Dämmerung diefen ftillen Hain mit den Gebilden einer fremden Welt. Es ift Feine Frage, unter jenen Orten, die der Bewohner der Haupt-

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ftadt auffuht, um die Laſt des Dafeind mit neubelebendem Genuß zu tauſchen, gebührt der „Flora“ einer der erften Plätze. r. Daß übrigend an diefen Orten und Gelegenheiten Berlin feinen Man leidet, ift befannt. Die Satfon hat diedmal von vornherein mit vollen Ham den gefpendet. Daß Heer der Theater wetteifert mit einander um den Prei@ die Concerte jagen fi förmlich und last not least die beiden glänzeme den Circus, mit denen wir fett vorigem Jahre beſchenkt find früher hatt Nenz das Feld allein —, haben diesmal ihre Hallen einen vollen Mond früher geöffnet ala ſonſt. Das Hauptinterefje concentrirt fih, wie immer auf die Leiſtungen der dramatifchen Mufe. a Das Föntglihe Schaufpielhaus hat bereits drei größere Novitäten gebracht, außer Hebbel’8 „Heroded und Marianne“, was fofort wieder vom Repertoir ver ſchwand, „Alte Schweden“ von Brachvogel und „Ein Erfolg“ von Raul Lindau Das legtere Stüd ift, infolge einer äußerft rührigen Reclame, mit einer gewiſſen Spannung erwartet worden. ch bin biöher durd eine Verfettung midrige Umftände verhindert gewefen, es zu fehen, verfpare alfo feine Befprebung auf einen der nächſten Briefe. Brachvogel's „Alte Schweden“ kündigen fih als ein Schaufpiel an; in Wahrheit find fie nicht? als eine dramatifirte Novelle Diefe Novelle ift eine Epifode aus dem Reben des alten Derfflingen Dad Stück zerfällt in zwei Theile. Der erfte behandelt Derfflinger' Mebertritt von Schweden zu Brandenburg, der zweite Derfflinger's Braußs fahrt. Um den Plural „alte Schweden“ zu rechtfertigen, wird noch Görtzke mit vorgeführt; er ift indeß nur Nebenfigur. Dem Dichter hat offenbaz die Abſicht vorgefchwebt, ala die t’efere dee feined Dramad die aufs fteigende Macht Brandenburg zur Anſchauung zu bringen. Verſchiedent Aeußerungen Derfflinger’d am Unfange und dann die Schlußfcene, in weldye der Große Kurfürit den Gefandten Frankreichs, Schwedend und Polens über feine Eünftige Politik ziemlich unverblümt die Meinung fagt, laflen darübeg feinen Zweifel. Diefe Idee hat auch die Einheit des Stüdes herftellen ſollen Das tft jedoch nicht gelungen. Die hohe Politik fteht völlig unvermiſcht neben den übrigen, durch und durch anefootenhaften Beitandtheilen. r Auch abgejehen von der politifhen Einkleidung entbehrt das Stüd durchaus der Einheit und Geſchloſſenheit; es tft eine mehr oder weniger will« fürliche Aneinanderreihung einzelner Scenen. Unter dem dramatifchen Gefichti punfte betrachtet iſt es aljo entjchieden al® verfehlt zu bezeichnen. Dennoch wird es jedem harmloſen Tcheaterbefucher einen genußreichen Abend ver ſchaffen. Es geht ein unmiderftehlicher Hauch frifhen Humord und unge fünftelter Gemüthlichkeit durch das Ganze. Dabei find die Scenen unt Perjonen mit feinem Hiftorifchem Gefühl getreu aus ihrer Zeit herausgebildetä der alte Derfflinger zumal, bier allerding® noch in den Vierzigen, iſt leib baftig aus dem Holze ded dreißigjährigen Krieges gejchnigt. Die biderbe rt, wie er heute mit den Kandöfnechten, morgen mit dem Kurfürften, übers morgen mit dem geliebten Mädchen redet die Sprache dabei das ergößs lichte Kaudermälih von der Welt muß ihm jedes Herz gewinnen. Auch feine nahmalige Braut Katharina v. Schappelow und deren Bonne Euphrofym Gramzow find trefflich gezeichnet, für unfer moderned Empfinden allerding; etwas ſehr refolut, aber hiftorifh wahrfcheinlih. Die Scenen, in welches diefe drei Perfonen zuſammenwirken, find der Glanzpunft des Ganzen. Ur fie voll zur Geltung zu bringen, aus den Geftalten des Dichterd „etwas F maden“, dazu gehören freilich drei fo vorzügliche Kräfte, wie wir fie U Herrn Berndal, Fräulein Kepler und unferer unübertrefflihen komiſchen Alten Frau Frieb-Blumauer befigen.

Berantwortlicher Redakteur: Dr. Hand Blum in Leipzig. Derlag von F. 2. Herbig in Leipzig. Drud von Hüthel & Regler in Leipzig.

Gerenzboten.

Zeitſchrift

für Solitik, Jiteratur und Kunfl.

Ne: 48. Ausgegeben am 27. Nonember 1874.

Inhalt: Zur Geſchichte des Septennats. 2. Das Mairesgeſetz und die tellung ber Parteien. Georg Zelle . . 2. 2 2.0.

m Silberland Nevada. Rah Markt Twain ». . 2... 333 Die fähfifhe Politi. RE: - 2 2 2er 346 Bom deutſchen Reihätag, CH. * 2 2 2 nen 353 Weihbnahtsbüdherihauu . 2: 2 2 0 nr ee 360

@Brenzbotenumfhlag: Literarifche Anzeigen.

Hierzu vier fiterarifepe Beilagen. B. ©. Teubner, Leipzig. W. Spe⸗ mann, Stuttgart. Fr. Brudmann, Münden u. Berlin. ©. ©. Theile, Leipjig.

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Leipzig, 1874. Friedrih Ludwig Herbig. (Ir. Bild. Gruuow.)

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MEYERS HANDLEXIKON

Gibt ineinem Band Auskunft über jeden Gegenstand der menschlichen Kenntnis und auf jede Frage nach einem Namen, Begriff, Fremdicort, Ereig- nis, Datum, einer Zahl oder Thatenche augenblicklichen Bescheid. 1903 kl. Oktavseiten mit 52,000 Ar- tikelnund über 100 Karten und Beilagen. Gebunden in 1 Halbfranzband 5 Thlr. Vorräthig in allen Buchhandlungen. Bibliographisches Institut inLeipzig (vormals Hildburghausen).

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In Gerd. Dümmler’s Verlagsbuchhandlung (Karmip und Gofmann) in Berlin erscheint:

Magazin

für die

Literatur des Auslandes.

Begründet von

Joſeph Lehmann. Dreiundpvierzigfter Jahrgang. Wöchentlich 1%, bis 2 Bogen Quart; Preis viertels jäbrlih 1 Thlt. 10 Sgr. 2 Das „Magazin“ ift durch jede Poftanftalt und * Buchhandlung, aud von der Verlagsbuchhandlung

zu beziehen. Cine Probenummer liefert jede Buche ' handlung unentgeltlich.

No. Artikel:

47 des „Magazin“ enthält folgende

dertage in Italien. 681. Mdolf Schmidt. Epochen und Kataftrophen. 681. Frankreich. Der Todtentanz in der Kirche des S. 8. Innocents | zu Paris. 682, Italien. Der öffentliche | Unterricht in Italien. 683. Spanien. Zur! Spanifchen Romanzen »Poefie. Bon Adolf Laun. I. 685. Nord: Amerika. Die Negerfrage 688. Afrita. Bei den Niam-Niam und Monbuttus. 689. Auſtralien. Gnglande | neuefte Annerion. 690. S#leine literariſche Nevue. Cliah: Lothringen unter deutjcher Ber: twaltung. 693. Die Reform des Zolltarifes. 693. Sprechſaal. Profeffor Homeyer. 693. Dnorato Decioni über die fiterarifeße let: 694. Ein römischer

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tanten im alten Rom. Gel,

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Deutſchland und das Ausland. Deutihe Wan- |

Die soeben erschienene No, 47 der

Jenaer Literaturzeitung

im Auftrage der Universität Jena heraus- gegeben von Anton Klette, Jena, Mauke’s Verlag (Hermann Duft‘

enthält Besprechungen von:

' E. Riehm, Handwörterbuch des biblische‘ ' Alterthums: von. Siegfried. H. N. A. Jen | sen, Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte: ' von W. Gass. F. Ablfeld, Bruder Berthold‘ von G. Graue. D. Harries, der Altkatholie= mus: von F, Nippold. M. v. Buri, über Ca»- salität: von K. Binding. Th. Gimmerthal, da Eigenthum: von K. Czyhlarz. H. Hardonin, sur la contrainte par corps: von A, Rivien W. Filehne, über das Cheyne- Stokes'sche Athmungsphänomen: von H. Senator. H. Y, Stockfleth, Handbuch der thierärztlichen Cbi- rurgie: von F. A. Zürn. R. Bonsels, zur Ans Iyse des Arsen: von E. Reichardt. A. Hoch heim, über die Differentialcurven der Kal schnitte: von F. Lindemann. F. F. Tacket, Hochalpenstudien: von E. Schmidt. E, Pie derer, Empirismus und Skepsis in D. Hans‘ Philosophie: C. Sigwart. P. de Ebulo, liber ad honorem Augusti, herausgegeben von E, Winkelmann: von W. Arndt. H. v. Zwieli neck-Südenhorst, Zeitungen und Flugschriftes aus dem 17. Jahrhundert: von G. Droysen Derselbe, Christian d. Andere v. Anhalt: von demselben. N. Wecklein, der Areopag u. d Epheten: von R. Schüll. L. Lange, de ephr tarım Atheniensium nomine: von dems. Dir selbe, die Epheten und der Areopag: voö dems. A. Philippi, der Areopag und die Ephe ten: von dems. Derselbe, der Athen. Volk beschluss v. 409/8 von dems. Derselbe, da Amnestiegesetz des Solon: von dems. C,F. We ber, de Messallae qui dieitur libro de progeni Augusti, edidit J. Caeaar: von E, Bachrent H. v. Friesen, Altengland u. W. Shakspere: v. R. Wülcker. J. Ostendorf, Volksschule, | Bürgerschule und höhere Schule: von C„Peter. Derselbe, die Conferenz. zur‘ Berathung übe ' das höhere Schulwesen in Preussen : von deu selben. Derselbe, unser höheres Schulwesen von demselben. M. Wohlrab, Gymnäsiun I Gegenwart: von demselben. E. Loew, Ü" Stellung der Schule zur Naturwissensehaft: vo demselben, 7

Im Verlage von * A. Herbig in Berlin erehke: Dr. O. Michaelis, volkswirth- schaftl. Schriften, Zwei Bande Pr

* jeder 3 Til: 22%, Sgr. Inhalt: I. Eisenb —* krisis von 1857. II. Von der ad

anleihen. Theorethisches, Bankfragen, './,

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Zur Geſchichte des Hepfennafs. 1

Das Maireögefeh und die Stellung der Parteien.

Die Anforderungen, welche von Seiten der Regierung an die Thätigfeit ded zur Vorberathung der conftitutionelen Gefege ernannten Ausſchuſſes geftellt wurden, waren nicht gerade unbejcheiden. Der Gefammtorganiamud ded Staated war ja aus den Stürmen des Kriegäjahres im Ganzen unge ſchädigt hervorgegangen. Die alte Berwaltungsmafchine arbeitete in der Art wie unter dem Kaiſerthum; zur Befeitigung der von Gambetta und Genoffen eingefegten republicanifch gefinnten Staatöbeamten und zu ihrer Erfegung durch Barteigenofien der confervativen Mehrheit bedurfte ed Feiner neuen Ge- fege; da gefammte Präfecten- und Unterpräfeetenperfonal war ganz von der Gnade der Regierung abhängig, die jeden mißliebigen Beamten ohne Weiteres feiner Stelle entfegen Fonnte. Wenn die Regierung biöher von diefem Rechte einen mäßigen Gebraudh gemacht hatte, fo Hatte died nicht in ihrer Scheu vor durchgreifenden Maßregeln feinen Grund, fondern lediglich in dem Mangel an Berfönlichkeiten, die zur Uebernahme der höheren Verwaltungsämter ge eignet waren. Bon den Beamten ded Julikönigthums waren nur noch ver- einzelte Ueberbleibjel vorhanden, die Nepublif von 1848 hatte zu Eurzen Beftand gehabt, um ein Beamtenthum heranzubilden, abgefehen davon, daß eine republicanifche Vergangenheit die fchlechtefte Empfehlung in den Augen der Regierung war. Die wirklich fähigen und im Dienfte erprobten Beamten hatten ihre Schule unter dem SKaifertbum gemacht, und waren in über: wiegender Mehrzahl der Sache, der fie lange gedient hatten, ergeben geblieben. Auf diefe Männer zurüdzugreifen, hatte natürlich für die Regierung in der Zeit, wo fie im Fahrwaſſer der Noyaliften fegelte, ernfte Bedenken. Ohnehin war troß aller Maßregelungen von Seiten der Septembermänner in allen Zweigen der Beamtenhierarhie Thiers war viel zu fehr Verwaltungdmann, um e3 über das Herz zu bringen, unte den erprobten Kräften aufzuräumen dad bonapartiftifche Element noch immer fo ftarf vertreten, und machte fi durch einen zähen verſteckten MWiderftand der Regierung oft fo läftig, daß ihr der Gedanke an eine Vermehrung desfelben im höchſten er zuwider

Grenzboten IV. 1874.

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war. Zu einem durchgreifenden allgemeinen Beamtenmwechfel hatte fich daher die Regierung Mac Mahon's bisher ebenfomenig entſchließen können, als Thiers feiner Zeit. Mit der Einfegung des Septennat3 und der Hebernahme des Minifteriums des Innern durch Broglie änderte ſich died. Seit der Niederlage der Royaliften war ein großer Theil der Bedenken, die gegen die Verſtärkung ded bonapartiftifhen Element? im Beamtenperfonal vorgelegen hatten, fortgefallen. ine unerfreulihe Nothwendigkeit blieb e8 immerhin, die Iocale Verwaltung den Anhängern des geftürzten Negimed anzuvertrauen, deren provagandiftifchen Eifer man hinreichend Fannte, aber es war eben, wenn man anders die Regierungsmaſchine mit voller Kraft gegen die republi» canifche Agitation arbeiten laffen wollte, eine Nothmendigkeit, der Broglie fi unterzog. Den Kampf gegen die Republicaner betrachtete er als feine nächſte und mwichtigfte Aufgabe, und für diefen Kampf Eonnte er der Unter- ftüßung de3 alten Beamtenthumd gar nicht entbehren. Straffed Zufammen- faffen der Staatögewalt, dad war die Loſung im Regierungslager; ob man damit diefer oder jener befonderen Gruppe der Mehrheit in die Hände ar beitete, darauf konnte die Negierung in der Rage, in der fie ſich befand, in einem Augenblid, wo ed galt, die Grundlage der aus dem Schiffbrud der fufioniftifchen Beſtrebungen geretteten Gewalt Mac Mahon's zu befeitigen, feine NRüdficht nehmen.

Wie Schon angedeutet, bedurfte die Regierung, um die Verwaltung im Gange zu halten, Feiner durchgreifenden organifchen Geſetzgebung. Es war in diefer Beziehung genügend, wenn fie fi dad Recht der Ernennung der Maires, welches man in den Honigmonaten des Decentraliſationsſchwindels denn etwas Andres, ald Schwindel und Humbug find die Verſuche der Frans zofen auf dem Gebiete der Selbftverwaltung niemals geweſen den Gemeinden übertragen hatte, zurückgeben Tieß. Im Mebrigen befchränften fi die Wünſche der Regierung darauf, dem Marfchall in einer zweiten Kammer eine Art von Senat, ein Gegengewicht gegen die Nationalverfammlung zu fchaffen und dur eine Modification des Wahlgefees diejenigen Elemente, in denen man die Hauptftüge des Radicaliamus zu fehen glaubte, von der Betheiligung an den nächſten Wahlen auszufchließen.

Die Dreißigereommiffion nahm denn auch alabald ihre Arbeiten in An- griff und feßte vorläufig zwei Tage in der Woche für ihre Berathungen feft. Aber es zeigte fich fehr bald, daß Monate darüber vergehen würden, bis fie auh nur über einen der ihr zur Berathung vorliegenden Gegenftände einen Beſchluß faßte; ja ihre Hülflofigkeit und DVerlegenheit war fo groß, daß bie Anſicht wohl gerechtfertigt erjcheinen Eonnte, fie werde überhaupt Nichts zu Stande bringen. Welchen Gegenftand follte fie zuerft in Angriff nehmen? Der Regierung war offenbar an dem Wahlgeſetze am meiften gelegen. Nun

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befand fi) unter den zahllofen von der Nationalverfammlung eingefeßten Gommiffionen, die feit zwei Jahren Ind Faß der Danaiden fchöpften, bereits eine Commiffion, welche mit der Vorberathung eines Wahlgeſetzes betraut war, ohne ihre Aufgabe mefentlich gefördert zu haben. Sollte diefe Com— miffion neben dem Dreigigerausfhuß ihre verdienftliche Thätigkeit fortfegen ? Dad erfchien den Herren denn doch als eine allzugroße Verſchwendung ihrer Kraft und Eoftbaren Zeit. Sie wünfchten daher ihre Arbeit einzuftellen und die Nationalverfammlung erfannte die Gerechtigkeit ihred Wunfches an und beauftragte fie, alle ihre Vorſchläge als ſchätzbares Material der Dreißiger— commiffion mitzutheilen. Gefördert wurden indeſſen die Arbeiten der Dreipiger durch diefe Meberweifung keineswegs; Vorfchläge gab es fat fo viel, als Mitglieder da waren. Uber je mehr Anträge, defto fehwerer die Wahl. Und nun folte man ſich noch mit fremden Gedanken befafen, fie fichten und die- eutiren! Man kam nicht von der Stelle. Das allgemeine Stimmredt galt für facrofankt; es follte unangetaftet bleiben. Zugleich aber follte e8 im con- ferwativen Sinne regulirt werden. War died Problem überhaupt lösbar? Republicaner und Bonapartijten waren in diefem Punkte gleich empfindlich; fie fchwuren beide nicht höher, ald auf das allgemeine Stimmredt. Das war ein bedenklicher Umftand für die royaliftiich gefinnten Abgeordneten. Man mochte der öffentlihen Meinung Vieles bieten, aber jeder Verſuch, dem Sande ein Recht zu entziehen oder auch nur zu verfürzen, dad nun einmal ald Palladium der Freiheit, als nationalfte® Grundreht galt, erfchlen ge- fährlich.

Doc überlaffen wir vorläufig die Dreigiger ihren Verlegenheiten und ihrer unfruchtbaren Gefchäftigfeit. Im Grunde befümmerte man fi zunächſt um ihre Arbeiten außerordentlich) wenig. Auch die Regierung hatte es mit den Verfaſſungsgeſetzen durchaus nicht eilig und fie war weit davon entfernt, dem Ausſchuß feine Arbeit durch eine kräftige Snitiative zu erleichtern. Das Wahlgefe lag ihr zwar fehr am Herzen, aber bis zu allgemeinen Neuwahlen fonnten vielleicht noch Sabre vergehen und fo fonnte man ſich denn noch immer einige Zeit gedulden; jedenfalld gehörte da8 MWahlgefeg nicht zu den- jenigen Gefegen, von denen fich eine unmittelbare Beſſerung der Lage hoffen ließ. Mac Mahon und feinen Miniftern fam e8 vor Allen darauf an, die Verwaltungdorgane völlig und unbedingt in Händen zu haben. Das Mairesgeſetz war alſo für den Augenblid für fie bei weitem wichtiger, als alle Verfaſſungs- und Wahlgefete. Die Berfaffungsgefege follten dazu dienen, der Dictatur eine gewiſſe regelmäßige Form zu geben und fie in den Stand zu fegen, ihren gehäffigen Charakter zu verſtecken; dad Mairesgefeg war bes fimmt, eine der Grundfäulen der Dictatur zu werden; die eine diefer Grund» fäulen, die Armee, war dem Marfchall fiher ; die zweite Säule war ſchwankend,

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fo lange die Mehrzahl der Communalbeamten, wie e8 damals der Fall war, der republicanifchen Partei angehörte. Hier raſch Wandel zu fchaffen, erfehien der Regierung von ihrem Standpunft aus mit Recht als eine Lebensfrage erften Ranges.

Ein wie großes Gewicht der Herzog von Broglie diefer Angelegenheit beimaß, geht daraus hervor, daß er das Septennat mit der Vorlage feines Mairesgeſetzes (28. September) gleihfam einweihte. Der Entwurf beftimmte: bis zur Beſchlußfaſſung über die organifchen und Gemeindegefege werden die Maired und Adjunften in den Hauptitädten der Departementd, Arrondiſſe⸗ ments und Gantone von dem Präfidenten der Republik, in den übrigen Gr meinden von dem Präfecten ernannt; in den Departements und Arrondiffements- hauptjtädten üben die Präfeeten und Unterpräfeeten die Befugniß eines Polijzei— präfidenten aus, in den übrigen Gemeinden die Maires unter Aufficht der Präfeeten und Unterpräfecten; ein befonderes Verwaltungdreglement wird für die Etädte und Gemeinden, je nad) ihrer Bevölkerung, die Organifirung dee Bolizeiperfonal® näher beftimmt, alle Polizetinfpeftoren und Agenten werden vom Präfeeten ernannt und abgefegt; die Polizeiausgaben fallen den Ge— meinden zur Raft; wenn ein Gemeinderath die erforderlichen Mittel gar nicht oder nicht im ausreichenden Maße bewilligt, fo wird der nöthige Beitrag von Amtswegen in dad Budget der Gemeinde eingetragen.

Es läßt fih gar. nicht in Abrede ftellen, daß diefer Entwurf den fran- zöfifchen Anfchauungen und Vermaltungdmarimen vollftändig entſprach. Man hatte im Jahre 1871 aus Eiferfuht gegen Parts viel von der Autonomie der Gemeinden gefhmwast, die Nationalverfammlung hatte auh die Ernennung der Maired durch die Gemeinderäthe befchloffen und nur auf Thiers ent- ſchiedene Erflärung, das hieße der Regierung die Mittel entziehen, die Ord— nung aufrecht zu halten, diefen Beſchluß dahin modificirt, daß in allen Städten von mehr ald 20,000 Einwohnern, ſowie in allen Departementd- und Arron diſſementshauptſtädten die Maired vorläufig von der Regierung ernannt werden follten (14. April 1871). Der damalige Beſchluß war ein Beweis von der unglaublichen Leichtfertigkeit und Ungründlichfeit gemefen, mit der diefe ganze Angelegenheit von den Gefekgebern Franfreich® behandelt wurde. Eine logifche Gefeggebung würde zuerft die Befugniffe der Gemeinden abgegrenzt und dann erft über die Ernennung der Gemeindebeamten Beftimmungen ge troffen haben. Die Folge des Beichluffes, in dem die Vorliebe des Franzoſen für den Formalismus des Wahlweſens einen bezeichnenden Ausdrud fand, mar denn auch die geweſen, daß die Gemeindeverwaltung überall in Zerrüttung gerieth und daß die Mahlen zu bloßen politifchen Barteidemonftrationen wurden, bei denen man auf die perfünliche Befähigung ded Kandidaten nicht das geringfte Gewicht legte, fondern nur danach) fragte, ob er Monarchiſt

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oder Republicaner fe. Dadurch wurde denn den Conſervativen, die fich überall von ihren Gegnern überflügelt fahen, die Decentraliſationsſchwärmerei gründlich verleidet. Die Commiffion, welche mit den Vorarbeiten für die Reorganifation der lokalen Verwaltung beauftragt wurde, war mit dem viel» verfprechenden Namen Decentralifationdceommiffion beehrt; ihre Tendenz ent- ſprach aber ihrem Namen in feiner Weife. Uebrigens theilte fie dad Schickſal aller Ausſchüſſe: fie Fam mit ihren Arbeiten nicht von der Stelle. Dem Herzog von Broglie blieb daher Nichts übrig, ala felbft die Initiative zu ergreifen , um menigftend die Frage, welche für die Negierung augenblicklich die größte Wichtigkeit hatte, die Mairedernennung, rafch zur Entjcheidung zu bringen.

Daß fein Entwurf von vielen Seiten Anfechtung fand, war begreiflich genug. Im Grunde dachten zmar alle Parteien über diefe Frage genau eben jo wie die Negierung, und es wäre lächerlih, zu glauben, daß Gambetta, wenn er wieder einmal and Ruder gelangen follte, den Gemeinden die Wahl ihrer Beamten überlaffen würde. Aber er befand fi nicht am Ruder, und deshalb hatte er, wie alle Republicaner nicht das Intereſſe der Regierung zu färken, fondern ihre Bewegungen zu hemmen und lähmen. Se Elarer die Re— rublicaner erkannten, daß fie nicht im Stande fein würden, den Kampf um die Staatdreform durch einen Gewaltftreich zur Entfcheidung zu bringen, um jo eifriger waren fie bemüht, die Machtmittel der Negierung im Einzelnen zu ſchwächen, vor allem aber die einflußreiche Stellung, melche ihnen dag Mairedgefeg von 1870 in der örtlichen Verwaltung geichaffen hatte, gegen jeden Angriff nah Kräften zu vertheidigen. Aehnlich ftellten fich die Legiti— miften zu dem neuen Gefege. Sie übten in einigen Gegenden ded Landes im Verein mit ihren geiftlichen Bundesgenoſſen in der That einen nicht un- bedeutenden Einfluß auf die ländliche Bevölkerung, jedenfall® einen größeren, als ihre orleaniftifchen Nebenbuhler, denen es trog aller Anftrengungen nicht gelingen wollte, in irgend einer Volksſchicht Boden zu gewinnen. Sie hatten daher von Anfang an eine große Begeifterung für Selbftverwaltung und Gemeindefreiheit zur Schau getragen, die allerding®, fo lange fie Theil an der Macht hatten, nicht über große Worte Hinausging; jest aber, wo eine Re gierung an der Spite ded Staates ftand, die fie in Verdacht hatten, daß fie ganz von orleaniftiichen Antrieben beherrſcht werde, trieb fie die Eiferfucht, Ihrer Schwärmeret für die wahre Freiheit in einer entjchloffenen That Luft ju machen. Die Urtheile der legitimiftifchen Blätter, denen fi, mie immer in der damaligen Zeit die Organe der Herifalen Wartet anfchloffen, lauteten daher fo ungünftig wie möglich über das Gefe des Herzogs von Broglie. Die „Union“, das Hauptorgan des Frohsdorfer Hofes, fchüttete die volle Schale ihtes Bornes über die gemäßigte Nechte aus. Nichts, erklärte fie, ift jo ge

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fährlich, wie eine doctrinäre Politif, (EI war ein ganz gefchidter Kunſtgriff, deffen fih auch die Republicaner bedienten, die Orleaniftifhen Barteihäupter mit dem feit Guizot's Verwaltung in Verruf gelommenen Namen der Doc: trinäre zu bezeichnen.) Die Anhänger derfelben hätten fi angemaßt, vom Könige Garantien zu verlangen, und heute fähen fich diefelben Männer ge nöthigt, dem blinden Abfolutismus in die Hände zu arbeiten. Der leßtere Ausfall war veritändlih genug: die Union wollte damit andeuten, daß aud der Regierungspolitik fchlieglih nur die Bonapartiften Nutzen ziehen würden. „Sie fuhhen, fagte fie von den Männern der gemäßigten Nechten einige Tage fpäter, einen Herrfcher und wenden dem Könige den Rüden. Wir fchlagen ihnen vor, fi) unter einem Scepter zu fammeln, und fie fuchen Büttel... e8 giebt einen Grad des BVerfalld, wo man fi) nur noch mit der Knecht— Schaft befreunden Fann.“ Noch fohärfer ging mit der Regierung die legiti- miſtiſche Provincialpreffe ind Gericht, die, weil man in Paris wegen der Voll machten der Militärbehörden fich einer gewiffen Vorficht befleißigen mußte, grade zu den rückſichtsloſeſten Kundgebungen benugt wurde. So fohrieb die „Siperance du Peuple“: „Herr Graf von Chambord war den edlen Hergögen (Broglie und Decazed), die jest Frankreich regieren, nicht liberal genug und jest fchlagen fie Gefege vor, die wir drafonifch nennen können. . . . Dem neuen Miniftertum gegenüber haben unfere Freunde nur eind zu thun: die Herren Herzöge zu flürzen, den loyalen Soldaten, der an ber Spise fteht, feinen Berdienften nach reſpektirend.“ Leider befand ſich nur der loyale Sol: dat grade jet im vollften Einverftändnig mit feinen Miniftern, die mehr und mehr anfingen, ald Organ Mac Mahon’s fih zu fühlen und augenfcheinlid darauf bedacht waren, eine eigenthümliche von jedem befonderen Parteipro- gramme abfehende feptennaliftifche Politik zur Geltung zu bringen. Größeren Beifall ala bei den Nepublicanern und Legitimiften fand das Mairesgeſetz bei den Bonapartiften, die in demfelben eine Rückkehr zu den Principien des Kaiſerthums fahen und nur wegen der Handhabung desfelben beforgt waren. Die Bonapartiften, als die einzig wirklich praftifchen Polis tifer, faßten überall mit ficherem Takt die Perfonalfrage ind Auge. Das von ihrem Standpunkte aus vortreffliche Gefeß hatte in ihrer Schätung doch nur geringen Werth, wenn feine Durhführung und Handhabung nicht zuver läffigen Perfönlichkeiten anvertraut war. So erklärte der „Pays“, das ftreit- barfte der imperialiftifchen Blätter, das Geſetz für theoretifch ganz vortreff- ih; fo lange aber das Perſonal der Präfecten fo bunt zufammengefest fei, liegen fih die fchlimmften Yolgen von denfelben befürchten. Yuerft muß die Regierung für zuverläffige Präfeeten forgen, da® mar das ceterum censeo aller Artikel der bonapartiftifchen Blätter, die mit unermübdlicher Zähigkeit die Negterung zu Reinigung des Beamtenflandes drängten. Bor allem der

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‚Bays* betrieb das Denunciationdgefhäft mit einer eyniſchen Unverfchämt: heit. Man könnte es auffallend finden, daß fie einen Miniiter, der ihnen doch jo verdächtig war, wie Broglie, zu firengen Maßregeln in der PBerfonen- frage drängten. Ihre Haltung erklärt ſich indeflen ganz einfach aus dem Umftand, daß fie mußten, Broglie werde bei jeder größern „Präfecten- bewegung * feine Zuflucht zu den alten Fatferlihen Beamten nehmen müffen, weil in den übrigen confervativen Gruppen das tüchtig gefchulte Beamtenthum faft gänzlich fehlte. Hierin lag ja gerade ein Hauptgrund der Unentbehrlihkeit und Unfehlbarkeit der Bonapartiften, und diefem Umſtand verdanken fie ed nicht am wenigiten, daß fie nach und nach immer entjchiedener ald die Vorkämpfer der confervativen Parteien den Republicanern gegenüber in den Vordergrund traten. Uebrigens bedurfte e8 für den Herzog von Broglie nit erjt der Ermahnung zur firengen Handhabung der Beamtendigciplin den Bräfeeten gegenüber: noch im Laufe des Decemberd wurden 18 neue Präfecten und zahlreiche Unterpräfeeten ernannt, wobei die Bonapartijten natürlich nicht zu kurz kamen.

Daß das orleaniflifche rechte Centrum und die gemäßigte Rechte Nichts einzuwenden hatten, war felbftverftändlih. Die Drleaniften betrachteten fich ald die eigentliche Regierungspartei, oder benahmen ſich doch menigitend ala folhe, und daher mußten fie einem Gefete, welches darauf berechnet war, die Macht der Regierung zu verftärfen, freudig ihre Zuſtimmung geben. Be denken grundfäglicher Art lagen diefer Partei fern. Den abjolutiftifchen Be— ftrebungen der reinen Legitimiſten hatten fie allerdingd während des Fuſions— dramas MWiderftand entgegengefegt, weil fie von der Undurhführbarkeit der Pläne des Grafen von Chambord überzeugt waren und nicht Luſt hatten, fi) für eine Donquidhotterie aufzuopfern; ganz abgefehen davon, daß für fie die Aufrehterhaltung der parlamentarifchen Regierung unter dem legitimen König gradezu eine Lebensfrage war, da fie nur in einer einflußreichen Kammer einen Schuß gegen die Fanatiker des ancien régime zu finden hoffen durfte, die in den orleaniftifchen Verbündeten einen nothwendigen, aber läftigen An: bang jahen, deffen man fi fofort zu entledigen haben würde, fobald er feinen Dienft geleiftet. In der gegenwärtigen Lage aber gab es für fie durch— aus Fein Bedenken, die Negierung in allen ihren Plänen zu unterjtügen. Hätten fie dabei den Schein des Liberalismus wahren können, deſto beſſer. Ließ fich der Kiberaliamus mit dem Macmahoniämud nicht ver einigen, fo entſchieden fie fi ohne allen Serupel für den letzteren. Auf— richtige Anhänger Mac Mahon's waren fie natürlich nicht, und dafür wur— den fie au von Mac Mahon nicht gehalten, der immer deutlicher zu erfen- nen gab, daß er nicht die Abſicht habe, ſich als Werkzeug irgend einer Par— tet gebrauchen zu laſſen. Dies entging aud den Orleaniften nicht; aber Durch

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diefe Wahrnehmung Tiefen fie fih in der Verfolgung ihrer verfchlungenen, ränfevollen Politik durchaus nicht beirren. Ihren alten Plan, den Herzog von Aumale zum Generaliffimus ernennen zu laffen, oder ihm die Präfident: ſchaft des Senats mit der Anmwartfchaft auf die Präfidentfchaft der Republit zu fihern, nahmen fie mit erneutem Eifer auf. Viellelcht ließ fich die Prä- fidentfchaft der Republik in eine Statthalterfchaft ded Königreich® verwandeln. Uebrigens beftand das ift ein Punkt, der meift überfehen wird ſchon damald zwar nicht ein foharfer Gegenfaß, aber doch ein nach und nad) immer deutlicher fid geftaltender Unterfchied zwifchen den eigentlichen Orleaniſten und den YAumaliften. Diefer Unterfchied war fehon in der Fühlen Haltung hervorgetreten, die Aumale und feine Freunde während der Fuſionsbewegung einnahmen, in der Zurüdhal: tung, mit welcher diefer Prinz, während die übrigen Mitglieder und vor Allem das Haupt des Haufes felbit mwetteifernd dem Grafen von Chambord ihre Huldi- gungen darbrachten, eine gefonderte Stellung behauptete, wie man allgemein, und gewiß mit Recht annahm, um für den Fall einer Niederlage der königlichen Bar: teien fich die Möglichkeit offen zu halten, unter Umftänden auch eine felbftändige Rolle zu fpielen. Die Art und Weife, wie er von feinen Freunden in den Bor: dergrund gefchoben wurde, und wie er felbft die Augen der Menge auf fich zu lenken fuchte, mußte für dag Selbftgefühl ded Grafen von Paris in hohem Grade verlegend fein. War der Graf von Paris wirklich den Verlofungen des Ehr— geizes unzugänglich, oder war feine vornehme fteife Zurüdhaltung, die viel: fach den Eindrud der Stumpfheit und Unbehülflichkeitt machte, nur eine Maske, unter der er herrſchſüchtige Pläne barg, geduldig des Augenblidd barrend, der ihm geftatten würde, mit feiner Perſon für feine Anſprüche einzu- treten? Man mußte ed nicht. Man beacdhtete ihn kaum, während jeder Schritt des Herzogd von YAumale von den Parteien mit Sorgfalt überwacht wurde.

Daß Aumale nicht ala Thronbewerber auftrat, dag feine Anhänger fih vielmehr damit begnügten, Mittel und Wege ausfindig zu machen, um ihn zum eriten Würdenträger der Nepublif zu erheben, war ein Zugeftändnig an die Rage der Dinge, denen man fich nicht entziehen Tonnte, wenn man nicht ganz darauf verzichten wollte, ihn eine Rolle fpielen zu laflen. Die Zeit der unmittelbaren Throncandidaturen war mit dem Briefe ded Grafen von Cham: bord fürs erfte zum Abfchluß gebracht worden. Das Königthum ſchien nur auf einem Ummege wiederhergeftellt werden zu Fönnen; die höchite Gewalt der Nepublit mußte einem Prinzen in die Hände gefpielt werden. Damit hätte die Republik ſich felbft banferott erklärt. Ein Prinz als Präfident konnte der Natur der Dinge nad) nur der Vorläufer eines Königs fein. Ob Aumale ala Vräfident zu feiner eigenen Herrſchaft oder zu der feines Neffen den Grund zu legen haben würde, darüber gingen auch unter feinen nächſten Freunden wahrſcheinlich die Unfichten noch auseinander. Zunächſt fam e3 darauf an,

dad Volk daran zu gewöhnen, ihn als den berufenen Nachfolger Mac Ma- bon’s anzufehen. Dad Weitere mußte man der Entwidelung der Dinge überlaffen. "

An Rührigkeit in der Verfolgung ihred Zieles liegen es Aumale’3 intri- gante Freunde nicht fehlen. Zuerſt jollte der Vorſitz in dem widrigen Bazaine’ihen Tendenzproceh die Augen der Nation auf ihn Ienfen und ihn als militärifches Genie erften Ranges ausweiſen. Diefer Verfuh, Aumale zum großen Manne zu ſtempeln, fcheiterte indeflen jo ſchmählich, wie er es bei feiner Abgefchmacktheit verdiente. Der Proceß war eingeleitet worden, um der nationalen Eitelkeit eine Art von trauriger Genugthuung zu verfchaffen. Die Verurtheilung wurde von allen Parteien mit Ausnahme der Eaiferlichen gefordert, und die Befriedigung war daher groß, ald das Urtheil gejprochen war, welches die VBerfehuldung Aller auf ein Haupt lud; wenn man aber gehofft Hatte, daß dem Vorſitzenden des Kriegsgerichts aus der Leitung des Proceſſes und dem Urtheilöfpruch eine dauernde Ropularität erwachſen werde, jo hatte man den Takt und das Anftandegefühl der Franzofen denn doch allzu gering anſchlagen. Eine tiefere und dauernde Wirkung hatte der Proceß überhaupt nicht hervorgebracht. Er hatte den Parteien Stoff zu gegenfeitigen Anjhuldigungen geboten; er hatte den Haß der Bonapartiften gegen die Männer des Septemberd von Neuem zu heller Flamme angefacht; er hatte die ganze Kriegführung der Franzofen ind jchlechtefte Licht geftellt, die Mehr: zahl ihrer höheren Befehlshaber uud nicht am wenigſten Mac Mahon jelbft, compromittirt. Aber die Eindrücke hafteten nicht lange. Die Sorge und Intrigue des Augenblicks nahmen die Parteien bald wieder in Anſpruch, und bald war Bazatne ein vergefener Mann, bi8 er durch feine Flucht ſich den Franzoſen wieder ind Gedächtniß zurückrief.

Nach dem Proceß begab der Herzog von Aumale ſich nach Befancon, um, wie die orleaniftifchen Blätter täglich verfündeten, an feinem Armeecorps fein außerordentliche3 militärifches Organifationdtalent zu bewähren und feine Truppen zu einem Mufter- und Elitecorps audjubilden. In Beſançon unterließ er es nicht, als Prinz mit fürftlicher Herablafjung und Liebens— würdigfeit aufzutreten. Sodann ſprach man in geheimnißvollem Ton bald von einem wichtigen Auftrage, mit dem er in Betreff der Befeftigungen von Belfort betraut war, bald wurde das Gerücht in Umlauf gejegt, daß für ihn eine ganz beſonders hervorragende Stellung, ein vom Kriegsminiſterium faft ganz unabhängiges Generaliffimat, ind Auge gefaßt fei: eine Stellung, in der er als militärifcher College vielmehr neben als unter Mac Mahon fungiren follte. Die Einzelheiten diefer und ähnlicher Pläne murden mit großer Ernfthaftigkeit erörtert, obwohl die Urheber diefer Fabeln ſelbſt jehr wohl mußten, daß Mac Mahon viel zu eiferfüchtig an feiner en fefthielt,

Grenaboten IV. 1874,

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um fih einen Beigeordneten und Auffeher gefallen zu laſſen und fein ftärfftes Mactmittel, die Armee, einem ehrgeizigen Nebenbuhler zur Verfügung zu ftellen, einem Mann, deffen unermübdliches Jagen nad) Popularität, auch einen minder argmöhnijhen Machthaber, ald Mac Mahon e8 war, mit Mißtrauen erfüllt haben würde. Dazu hatte fih Mac Mahon die fiebenjährige Präfident- Ihaft nicht übertragen laffen, um nun fofort die Rolle des orleaniftifchen Mad zu fpielen: war e8 doch im hohen Grade zweifelhaft, ob er überhaupt nur Eympathien für die jüngere Linie empfand. Mac Mahon tft ein ziemlich unbehülflicher, bequemer Staatsmann und daher leicht der Gefahr audgefekt, ſchlau und verborgen angelegten Plänen eines Eugen und geſchäftskundigen Rathgebers auch wider Willen zu dienen: aber dagegen empörte fich fein Selbftgefühl, das in dem Maaße wuchs, ald die allgemeine Berrüttung und Schwäche der Partei zunahm, denn doch ganz entfchieden, daß er fich ald Bevollmächtigten und Werkzeug der Drleand gebrauchen lafjen follte Die zudringlichen Bewerbungen der Prinzen mochten feiner Eitelkeit fchmeicheln; er ließ fie fich gern gefallen, war aber meit entfernt, ſich der Familie ober der Partei zu befonderem Danke verpflichtet zu fühlen.

Auh auf die Öffentliche Meinung machten die Bielgefchäftigkett des Herzogs und die Neclamen feiner Anhänger einen nicht weniger ald günftigen Eindruck. Wäre der Herzog in feinem Militärbezirk verblieben, hätte er ſich ganz und ausſchließlich feinen militärifchen Pflichten bingegeben, fo würde died ohne Zweifel achtungsvolle Anerkennung gefunden haben. Aber durch fein offenfundige® Streben, feine militärifche Stellung und Thätigkeit nur als Hebel für politiſche Zwecke zu benugen, verdarb er Allee Kaum hatte er mit großem Geräufch fein Gommando übernommen, fo vernahm man, daß er wieder in Paris erjchienen ſei, natürlich, wie die republicanifchen. und bonapartiftiichen Blätter fpöttelten, um ſich den Pariſern zu zeigen, die fih indefjen viel weniger um ihn kümmerten, al® feinen Freunden lieb war. Selbſt der von den orleaniftifchen Blättern zur Schau getragene maaßlofe Chauvinismus vermochte nicht, die Gleichgültigfeit der Franzoſen zu befiegen. Im Volke war der Orleanismus todt. Die orleaniftifhe Tradition war in den 25 Jahren, die feit Ludwig Philipp's Entthronung verflofen waren, vollfommen verlöfht. Es gab eine mächtige orleaniftifhe Kammerfraftion, aber Feine orleaniftifche Partei im Lande: ein widerſpruchsvolles Verhältniß, wie es in gleiher Schroffheit in der Gefchichte vielleicht ohne Beifpiel ift.

So entwidelte ſich immer beftimmter eine doppelte, vielfach in einander übergreifende Strömung in dem Barteifampfe. Den Republicanern, deren Fractionen feit Thierd’ Sturz einen leidlihen Waffenftillftand unter einander aufrecht erhielten, ftanden die Gonfervativen gegenüber; aber innerhalb diefer PBarteigruppen, die auf den Namen einer einheitlichen Partei längſt feinen

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Anfpruch mehr machen Fonnten, nahm der Gegenfaß zwiſchen Orleaniſten und Bonapartiften eine immer drohendere Geftalt und einen immer bitterern Charakter an. Es war das gemilfermaßen ein Kampf um die Hegemonie innerhalb der confervativen Partei, auf melde die Orleaniften wegen ihrer fummarlfchen Ueberlegenheit und ihrer ftarfen Vertretung in der Negierung Anfprud erhoben, während die Bonapartiften mit kecker Zuverficht behaupteten, daß fie allein im Stande wären, den Nepublicanern im Lande dad Gegen- gewicht zu halten und daß namentlich bei den Wahlen die Confervativen nur unter bonapartiftifcher Führung und unter Anwendung der bonapartiftifchen Wahltaktif auf Erfolg rechnen könnten, Die fämmtlichen neuen Erfagmwahlen haben bewiefen, daß dies Feine leere Prahlerei war: damals jedoch fträubten die übrigen Parteien fi) no, die Richtigkeit der bonapartiftifhen Behaup- tung anzuerkennen. Die Ahnung, daß in den Bonapartiften die Republik ihre einzigen gefährlihen Gegner zu fehen habe, regte fich allerdings überall; aber einen Klaren Einbli in die ganze Größe der drohenden Gefahr gewann man exft einige Monate ſpäter. Es mußte indeffen auf diefen Punkt hier ſchon nahdrüdlich Hingewiefen werden, mell in der That das Ringen der Bonapartiften um die Hegemonie in der confervativen Barteigruppe, befonderd im Gegenfat zu den Orleaniften, den eigentlichen Inhalt der Gefhichte des Septennat3 ausmacht.

Diefe widerftrebenden Elemente zu einer Septennatöpartei zu vereinigen und zufammenzuhalten, das war eine Aufgabe, an der auh Mac Mahon’d zähes Phlegma und Broglie's Gewandtheit foheitern mußte. Broglie wurde von den Drleaniften als einer der Ihrigen angefehen und deshalb von den Regitimiften und Bonapartiften mit großem Mißtrauen beobachtet. Ob das Vertrauen der Einen und der Argmohn der Andern ganz gerechtfertigt war, ift aber doch zweifelhaft. Broglie hatte feinen Vortheil dabei gefehen, ſich Mac Mahon zur Verfügung zu ftellen und war ſchwerlich geneigt, Intriguen zu begünftigen, die, wenn fie zum Ziele geführt hätten, doch ſchließlich auch feine Stellung in Frage geftellt haben würden. Bon Haufe aus mar er allerdings eifriger, dabei ziemlich ſtark klerikal gefärbter Orleaniſt. Aber er war auch wetterfundig genug, um zu jehen, daß gegenwärtig die orleaniitijche Sache troß der ftarken parlamentarifchen Stellung der Partei nicht befonderd günftig ftand, und daß es für ihn ein Gebot der Klugheit fet, fich nicht zu eng mit ihr zu verbünden. Für einen Staatdmann, der fich für alle Fälle möglich erhalten wollte, war es offenbar das Sicherfte, fich Feiner Partei ganz hinzugeben, und gegen jede Zumuthung mit dem Schild des Septennats fih zu deden. Broglie war vor allen andern Staatämännern geeignet, die Drleaniften beim Septenntum feftzubalten , aber da8 Septennium zum Werk— jeug der Orleans zu machen, war damals ſchwerlich noch feine Abficht.

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Mochte nah Ablauf der fieben Jahre ein Orleans den Thron befteigen, darin ſah auch er wohl die günftigfte definitive Löſung der großen Kriſis, in der Frankreich fih befand; aber an den fieben Jahren wollte er fo wenig rütteln laffen wie Mac Mahon felbft.

Unter ſolchen Umjtänden Fonnte e8 ihm natürlich nicht erwünſcht fein, daß die Orleaniften fih ihm ald einzige, menigftens jcheinbar unbe dingte Anhänger des Septennats boten. Aber feine Bemühungen, die übrigen Gruppen der Rechten an fich zu ziehen, erwiefen ſich als fruchtlos. Das ein: zige Band, welches fie in Eritifchen Augenbliden zufammenphielt, war die Furt vor den Nepublicanern, befonders vor denen des linken Centrums, die in ihrer harakteriftiichen Weife fih an den Marſchall drängten, um fich ihm als ficherfte Stüße feiner Macht zu empfehlen. Daß Mac Mahon feine Neigung empfand, fi) mit diefer ganz unzuverläffigen Partei einzulaffen, machte feinem politifhen Takte durchaus Feine Schande. Er mußte recht wohl, daß ein Minifterium Cafimir Perrier unvermeidlich, felbft wider Willen, Thiers den Weg zur Präſidentſchaft bahnen mußte und der Selbfterhaltungstrieb ftählte ihn daher gegen alle Berfuhungen. Nichtödeftomeniger mußten die Confervativen in den unermiürdlichen Umtrieben der gemäßigten Republifaner eine beftändige Drohung und eine Mahnung fehen, wenigftens in der Abwehr zufammenzuhalten.

Das hieß aber der Nefignation der Parteien allzuviel zumutben. Dad Mairesgeſetz, auf welches die Regierung einen fo außerordentlich großen Werth legte, brachte die Nebellion im confervativen Lager zum Ausbruch, ftellte aber auch zugleich die Schwäche der Frondeurs in ein fo helles Kicht, daß Broglie neu geftärkt aus der Krife hervorging, die ihn hatte ftürzen follen.

Am 8. Januar 1874 ftand das Maireögefes auf der Tagedordnung der Nationalverfammlung. Man wußte, daß die Regierung die fehleunige Votirung ded Gefeged verlange. Nichtödeftoweniger wurde mit 268 gegen 228 Stimmen beichloffen, dasſelbe bi8 nach der Diecuffion über dad Gemeindegefeg zu ver tagen. Darüber herrſchte natürlich großer Jubel im republicanifchen Lager, aber um fo größerer Schreefen unter den Gonjervativen. Selbit diejenigen, welche aus übler Laune gegen Broglie geftimmt hatten, wurden von Sorge über die Folgen ihrer Abjtimmung ergriffen. Kaum hatte man vernommen, dag Broglie entfchloffen fei, zurücdzutreten, jo faßten die Confervativen den Beihluß, ihre Unbotmäßigkeit und Nachläjfigfeit denn der ungünftige Ausfall der Abſtimmung war zum Theil durch die Abwefenheit einer großen Unzahl conjervativer Ubgeordneter verfchuldet worden durch ein Vertrauen? votum und die Zurüdnahme des Votums vom 8. wieder gut zu machen. Diefem Beweife von Reue und Hingebung konnte Herr von Broglie natür- lich nicht miderftehen. Alle Abwefenden wurden dur den Telegraphen zur Nückehr aufgefordert. Am 12. Januar wurde mit 379 gegen 321 Stimmen

u

Broglie das verabredete Vertrauensvotum ertheilt, der Beſchluß am 8. zurüd- genommen und am 20. erfolgte die Annahme des Mairesgeſetzes.

Dad mar ein glänzender Erfolg für Broglie und dad Septennat, aber eine furdhtbare Niederlage für die Nationalverfammlung. Eine wirkliche Stütze konnte die Regierung nicht länger in ihr fuchen, aber fie gewann zugleich die Ueberzeugung, daß fie diefelbe nicht zu fürchten brauche. Von diefem Augen» blide Fonnte Mac Mahon einem Konflikt mit einer gewiſſen Zuverficht ent- gegenfehn: er hatte den thatfächlichen Beweis geltefert, daß er ſtärker fei, ald die Nationalverfammlung : das Votum vom 12. Januar wurde allgemein als eine Etappe auf dem Wege zur Militärdietatur angefehn.

Georg Zelle.

Im Hilberland Nevada. Nah Markt Twain.*)

Mark Twain's Reife von St. Louis nah dem Silberland Nevada fällt ungefähr in da® Jahr 1857 oder 1858. Es gab damald noch Feine Eifen- bahn nah dem Stillen Meere. Der Weg von St. Louis nah St. Joſeph mußte an Bord eined Raddampfers den Miffourifluß aufwärtd gemacht werden und erforderte fech® Tage. Bon St. Zofeph bi8 Carſon City ging's mit der Weberlanppoft fahrplanmäpig in neunzehn bi® zwanzig Tagen; doc) wurde die Reife auch häufig in fünfzehn bie fechäzehn gemadt. Marf Twain begleitete auf diefer Reife feinen älteren Bruder ald Brivatfecretait. Der Bruder war zum Gecretair der Vereinigten Staaten im Territorium Nevada ernannt worden. Mark Twain war damald mie aud Andeutungen in Ipäteren Kapiteln zu ſchließen iſt noch fehr jugendlih, kaum conftrmirt, wie wir bei und fagen würden. Um fo erftaunlicher ift die wunderbar fcharfe und richtige Beobachtungsgabe, die außerordentliche Anlage für die Wahr: nebmung der heitern Seite der Dinge und Ereigniffe, welche ihm damals Ihon eigen war. Denn wenn auch die Niederfchrift und Ausarbeitung diefer Neifeerlebniffe nach feinen eigenen Angaben erft zehn bis zmölf Jahre fpäter erfolgte, fo konnte Twain überall da, wo er nicht eingeftandener Maßen phantafirt und übertreibt und das ift die feltene Ausnahme —, fondern wo er wirkliche Dinge fchildert, diefe früher in feiner Seele aufgenommenen

*) Vergl. Grenzboten IV. 1874. ©. 306, Amerifanifche Humoriften, 2. Band, F. W. Grunow 1874,

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Borftellungsreihen, nad einem befannten pfychologifchen Geſetze, dem ſich Niemand entziehen kann, günftigften Falled nur in derfelben Deutlichkeit und Friſche reproduziren," wie zehn oder zwölf Jahre früher die Wirklichkeit fie auf der Bildfläche feiner Seele wiederfpiegelte. Und da diefe hier vorliegenden Neproductionen feiner Nelfenbenteuer und feiner Erlebniffe und Beobachtungen im Silberland Nevada mit feltener Klarheit und Treue, fprudelndem Humor und häufig mit ergreifender Poefie erfüllt find, fo find mir vollfommen be, rechtigt zu fagen, daß Marf Twain die beiten Borzüge feines Talentes bereits in fehr jungen Jahren beſeſſen hat.

Unternommen wurde diefe Reife von Mark Twain nah einer Bor bereitung von höchiten® zwei Stunden. Biel Einpaden war nicht nöthig, da die Paffagiere der Meberlandpoft von der Grenze Miffourid bi8 Nevada nur 25 Pfund Gepäd pro Mann mitnehmen durften. Auch nur drei Monate wollte der junge Abenteurer im Silberlande abmefend fein „es fiel mir nicht im Traume ein, länger zu bleiben als diefe Zeit. Ach gedachte, Alles zu fehen was neu und feltfam war, und dann raſch nach Haufe zu eilen und wieder and Gefchäft zu gehen. Ich dachte wenig daran, daß ich das Ende diefer dreimonatlichen Vergnügungdtour erft nach Ablauf von fieben ungewöhnlich langen Jahren zu fehen befommen würde!“

In St. Joſeph fehon mußte Abfchied genommen werden von den Fracks und Glacéhandſchuhen. Dagegen bewaffnete man fih bis an die Zähne. So wurde Kanſas durchfahren; wellenförmig bob und fenkte fih das Erd» reich. Maisfelder und Mettland mwechfelten mit einander. Aber bald follte diefe See auf trodnem Boden ihren mwellenfürmigen Charafter verlieren und fi fiebenhundert Meilen fo eben mie eine Stubendiele hinftreden. „Unfre Kutſche war ein großer, unaufbörlich fchaufelnder und ſchwankender Kaften von der mächtigften Art eine gewaltige Wiege auf Rädern. Sie wurde von ſechs hübjchen Pferden gezogen und an der Seite des Poſtillons faß der „Sondueteur“ , der gefegmäßige Oberfte der Gefellfhaft,; denn es mar feine Aufgabe, für die Briefpoft, das Gepäd, das Eilgut und die Paſſagiere Sorge zu tragen. Wir drei waren auf diefer Tour die einzigen Paſſagiere. Wir faßen auf dem Rückſitz inwendig. So ziemlich Alles, was von der Kutjde no übrig war, war voll von Poſtſäcken; denn wir hatten die zurüctgebliebnen Poſten von drei Tagen bei und. So nahe unfern Knien, daß fie diefelben faft berührte, erhob ſich bis zur Ueberdachung eine ſenkrechte Wand von Roftfachen. Ein großer Haufen davon war mit Riemen auf dem Dadhe felt- geihnallt, und fowohl die vordere ala die hintere Schooßfelle war voll von ihnen. Wir hatten fiebenhundertzwanzig Pfund davon bei und, mie ber Poſtillon ſagte „ein Bischen für Brigham und Carfon und Frieco*),

*) Volksthümlich für San Francisco.

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aber da8 Meifte für die Indianer, die hölltih unbequem werden, menn fie nit immer 'was zu leſen Eriegen.“ „Das munderte und, da er aber gleich darauf das Geſicht wie in einem fürchterlichen Krampfe verzog und audfah, ald ob ein erdbebenhaftes Kachen bei ihm im Anzuge wäre, merften wir, dag feine Meußerung ein Spaß hatte fein follen und die Bedeutung gehabt hatte, daß wir den größten Theil unfrer Boftfachen irgendwo auf den Ebnen abladen und den Indianern oder ſonſtwem, der Verlangen darnach trüge, überlafjen würden. Wir mwechfelten alle zehn Meilen die Pferde und flogen Iuftig über die harte, ebne Straße dahin. Jedesmal, wenn die Kutfche Halt machte, fprangen wir heraus und ftredten unfere Beine, und fo fand und die Nacht noch Iebendig und unermüdet.“

In der folgenden Nacht zeigte ſich's dann deutlih, was der Konducteur gemeint hatte, ald er von der für die Indianer bejtimmten Lectüre fprad. löslich follte ein fabelhafted Ding entzmei fein, nämlih der „Schwung: riemen“ der Kutſche und zwar nur von dem übernatürlichen Gewicht der Brieffäce, die man nun fohon drei Tagereifen meit gefchleppt hatte. „Grade an diefer Stelle“ fagte der Conducteur, „ift der Ort, wohin die Zeitungsſäcke adrejfirt find, die für die Indianer ausgeladen werden follten, um fie ruhig zu erhalten. Es ift ein wahres Glüf,; denn wir haben es fo verdammt dunkel, daß ich unverfehend dran vorbeigefahren fein würde, wenn der Shmwungriemen nicht gerifjen wäre.“ Alle traten hinzu und halfen die Poſt— füde herausholen. Als Alles heraus war bildete es eine große Pyramide neben der Straße. Nun wurde ed im Innern ded Wagens bequem. Auf Anordnung ded Conducteurd wurden die Boftpadete bis zur halben Höhe des Wageninnern aufgeftapelt, die Site heruntergeflappt und fo ein prächtiges ebened Bett gewonnen. „E38 war jest die Morgendämmerung eingetreten und als wir unfre eingefchlafenen Beine ihrer vollen Länge nach auf den Poſtſäcken audftredten und durch die Fenfter über die weite grüne Raſen— einöde, die in Fühlen, pulverraudartigen Nebel gekleidet war, hinfchauten, wo am öftlichen Horizont die Sonne erwartet wurde, nahm unfer vollfommenes Wohlbehagen die Form einer ruhigen und befriedigten Ekitafe an. Die Poſt wirbelte weiter in rafhem Gange, der Ruftzug ließ die Vorhänge flattern und hob und in erheiterndfter Weiſe die Rockſchöße auf, die Wiege ſchwankte und fchaufelte prächtig, da8 Trappeln der Pferdehufe, das Knallen der Peitſche des Poſtillons und fein „Hü, Huſſa!“ waren Mufif, der vorüberfegende Erd- boden und die walzenden Bäume fchienen und beim Vorbeifaufen ein ſtummes Hurrah zugurufen und dann zu erfchlaffen und und mit ntereffe oder Neid oder fonft etwas nachzubliden, und als wir fo dalagen und die Pfeife des Friedens rauchten und al’ diefe Pracht mit den Jahren mühfellgen Stadt- leben® , die ihr worausgegangen waren, verglichen, fühlten wir, daß ed nur

ein vollftändige® und ganz befriedigende? Wohlbefinden in der Welt gab, und daß wir dies gefunden hatten.“

So erreichten fie die Grenzen von Nebraska, 180 Meilen von St. Joſeph. Die Gegend ift eine Einöde, das einzige Thier, dad man trifft, das „Eſele— Kaninchen“, die einzige Pflanze der „Salbei-Bufh*, der mie ein verzmergter Eihbaum überall in der meiten Sandwüfte feine Wurzeln treibt, und dem hierher verfchlagenen Wanderer Alles in Allem ift: ihm als Wegweiſer dient, Teuerung und Holz zu warmen Mahlzeiten bietet, nur nicht die Mahlzeit ſelbſt. Denn nur Efel und Kameele vermögen auch Salbei zu verzehren wie Alles andere, Diefe Behauptung giebt Mark Twain Anlaß zu einer köſtlichen Abſchweifung. „In Syrien“, fagt er, „an den Quellen ded Jordan nahm einft ein Kameel meinen Ueberrod, während die Zelte aufgefchlagen murden, und unterfuchte ihn über und über mit Eritifchem Auge und mit fovtel In terefje, ald ob ihm die dee vorſchwebte, ſich eben fo einen machen zu laflen, und dann, nachdem es fertig damit war, fih ihn als Kleidungdftüd einzu: prägen, begann e8, ihn als ein Stüd Nahrung zu betrachten. Es ftellte feinen Fuß auf ihn und pflüdte mit feinen Zähnen den einen Aermel ab, faute und Faute an ihm herum und nahm ihn allmählich zu fih, und bie ganze Zeit über öffnete und fchloß es feine Augen in einer Urt religiöfer Verzückung, als ob es niemals in feinem Leben etwas fo Gutes gejchmedt hätte ald einen Ueberrock. Dann ſchmatzte e8 ein paar Mal mit den Rippen und reichte nach dem andern Wermel. Hierauf verfuchte es zunächſt den Sammetfragen und lächelte dazu ein fo zufriedenes Lächeln, daß Elar zu fehen war, es betrachtete den als den zarteften Theil am eimem Ueberrod. Darnach verſchwanden in feinem Maule die Schöße in Geſellſchaft einiger Zünd— hütchen, etlicher Stüde Huftenzudfer und eines Klumpen Feigen-Pafta aus Konftantinopel. Und dann fiel meine Zeitungseorrefpondenz heraus und & verfuchte ed auch damit Briefe im Manufertpt, die ich für die Blätter in der Heimath gefchrieben hatte. Aber jest war ed auf gefährlichem Boden. Es ftieß in diefen Documenten auf ſolides Wiffen, welches ihm ziemlih ſchwer im Magen lag, und gelegentlich verfpeiite einen Wis, über den «8 fich vor Lachen fchüttelte, bi ihm die Zähne wadlig wurden. Die Sade fing an, gefährlich für mein Kameel zu werden, aber es hielt mit gutem Muth und hoffnungsvoll feft, was es ergriffen hatte, bis es zuleßt über Behauptungen zu ftolpern begann, die felbft ein Kameel nicht ungeftraft verfchluden fann. Es begann zu würgen und nad Luft zu fchnappen, die Augen traten ihm aus dem Kopfe, feine Vorderbeine fpreisten fih, und in etwa einer Biertelminute fiel es um, fo fteif wie die Schnitbanf eines BZimmermannd, und farb nach einem unbefchreiblich ſchweren Todeskampfe. Ih ging hin und zog ihm das Manufeript aus dem Maule und fand, daß

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dad empfindfame Thier an einer der fanfteften und mildeften thatfächlichen Behauptungen erſtickt war, die ich je einem vertrauensvollen Publikum vor- gelegt habe.“

Zu einer der brillanteften Schilderungen giebt aber Mark Twain die erfte und ſpäter fortgefeßte Befanntfchaft mit dem Prairiewolf, Cayote, Veranlaſſung. „Der Cayote“ fagt er „ift ein langes, ſchmächtiges, Frank und trübfelig aus» ſehendes Gerippe, über das eine graue Wolfshaut. gefpannt ift, ein leidlich buſchiger Schwanz, der allezeit mit einem verzweifelten Ausdrud von Noth und Elend niederhängt, ein ängftliches, tüdifche® Auge und ein langes ſcharf— geſchnittenes Gefiht mit ein wenig audeinanderftehenden Lippen, welche die Zähne fehen Iafjen. Ueber das ganze Thier geht ein Ausdrud wie Schleichen und fih Duden. Der Cayote ift eine Iebende, athmende Allegorie der Noth. Er ift ftet? hungrig. Er iſt ſtets arm, hat nie Glück und nirgends Freunde. Die niedrigften Gefchöpfe verachten ihn, und felbft die Flöhe würden ihn ver- laffen, wenn ein Belocipede käme, auf das fie fich fegen könnten. Er ift fo muthlos und feig, daß jogar, während feine hervortretenden Zähne eine Drohung fein wollen, das übrige Gefiht dafür um Verzeihung bittet. Und wie garftig er audfieht, woie.räudig, rippendürr und -grobhaarig, wie verwimmert! Wenn er und fieht, fo hebt er ein wenig die Lippe und läßt feine Zähne biiten, dann dreht er fi ein wenig aus der Richtung, die er verfolgt hat, ſenkt den Kopf ein biächen und fchlägt mit leifem Fuß einen langgeſtreckten Trab durch die Salbei-Büfche ein, wobet er von Zeit zu Zeit einen Blick nach und über die Schulter wirft, bis er ungefähr fo weit entfernt ift, daß man ihn nicht leicht mit dem Piſtol erreichen kann. Dann hält er inne, betrachtet und und über- legt fih die Sache. Darauf trabt er wieder fünfzig Schritt weiter dann nochmals fünfzig Schritt, worauf er wieder ſtill fteht. Zuletzt miſcht ſich die graue Farbe feines dahingleitenden Körperd mit dem Grau der Salbet-Büfche und er verjchwindet. Dies Alles gefchteht, wenn mir feine Demonftration gegen ihn machen. Aber wenn wir das thun, fo entmwidelt er ein lebhafteres Intereffe an feiner Abreife, elektrifirt augenblidlich feine Werfen und bringt ein ſolches Stüf Grund und Boden zwifchen fi und und unfere Waffe, dag wir, während mir den Hahn geſpannt haben, ſchon fehen, daß wir eine Miniebühfe brauchen, daß wir, während wir ihn In der Schußlinie Haben, eine gezogene Kanone bedürfen, und daß wir, während wir ihn auf dem Korne haben, und fagen müſſen, daß nichts ald ein ungewöhnlich Tanggezadter Blisftrahl ihm da, wo er jest iſt, etwas anhaben könnte. Aber wenn man einen fohnellfüßigen Hund auf ihn losläßt, fo wird man ebenfo viel Vergnügen davon haben, vorzüglih, wenn e8 ein Hund ift, der eine gute Meinung von fi hat und fo erzogen fit, daß er denkt, er weiß einigermaßen, was Geſchwin⸗

digkeit ift. Der Cayote geht dann mit fanftem Schwung in u. feinen Grenzboten IV. 1874,

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täuſchenden Trab über und ſendet immer nach einem Weilchen ein trugvolles Lächeln über feine Schulter, welches diefen Hund mit Zuverficht und meltlichem Ehrgeiz erfüllt und bewirkt, daß er feinen Kopf noch tiefer nach dem Boden fenft und feinen Hald noch mehr nad vorn ſtreckt und noch grimmiger Feucht und feinen Schwanz noch gerader hinausftehen läßt und feine wüthenden Beine mit noch wilderer Naferei bewegt und eine immer breitere, höhere und didere Molke von Müftenfand aufmwühlt, die hinter ihm raucht und feine lange Spur quer über die ebne Fläche bezeichnet. Und in diefer ganzen Zeit ift der Hund nur kurze zwanzig Schritt hinter dem Cayote, und wenn es das Heil feiner Seele gälte, er begreift nicht, mad es it, daß er ihm nicht merklich näher fommen fann, und er fängt an, ärgerlich zu werden, und ed macht ihn toller und immer toller, fehen zu müſſen, mie der Cayote fanft hingleitet und nie mals Feucht oder ſchwitzt oder zu lächeln aufhört. Immer hitiger und bisiger wird er, wenn er fiebt, wie fchmachvoll er von einem volllommen Fremden hinters Licht geführt worden und was für ein unedler Schwindel diejer lang- geſtreckte, rubige, leifetretende Trab if. Und nun merkt er zunächft, daß er erfchöpft zu werden anfängt, und daß der Cayote feine Geſchwindigkeit zu ver- mindern hat, wenn er ihn nicht davon laufen foll, und jet wird diefer Stadt- hund ernftlich toll, und er fängt an, ſich aufs Weußerfte anzuftrengen, zu weinen uhd zu fluchen, den Sand mit feinen Pfoten noch höher empor zu werfen und dem Cayote mit concentrirter und verzmeifelter Energie nachzu— jagen. Diefe Anftrengung bringt ihn ſechs Fuß hinter den dahingleitenden Feind und zwei Meilen von feinen Freunden weg. Und nun, in dem Augen: blide, wo eine milde neue Hoffnung fein Seficht erhellt, dreht fich der Cayote um und lächelt ihm noch einmal freundlich zu, wobei ein Etwas in feiner Miene Liegt, das zu fagen foheint: „Na, ich werde mich wohl von Dir lo reißen müſſen, mein Junge Geſchäft ift Gefchäft, und es geht nicht, daß ih den ganzen Tag auf diefe Art mit Narrenspoffen vertrödle* und ſo— fort hört man ein Saufen und das plötzliche Hindurchfahren eined Tangen Krachs durch die Atmoiphäre, und fiehe da, jener Hund ift einfam und allein mitten in einer unermeßlichen Einöde. Es ſchwimmt ihm vor den Augen. Er bleibt ftehen und fieht fi um, Hettert auf den nächſten Sandhügel und haut in die Ferne, fchüttelt nachdenklih den Kopf und kehrt dann, ohne ein Wort zu fagen, um und jagt nad) feiner Gefelfchaft zurüd, wo er eine demüthige Stellung unter dem hinterften Wagen einnimmt, ſich unausfpredlid gemein vorkommt, beſchämt ausſieht und feinen Schwanz eine halbe Woche auf halbem Mafte trägt. Und wenn ein Jahr nachher etwa wieder ein großed Gelärm und Gefchrei nad) einem Cayote lo8bricht, wirft diefer Hund nur einen gelafinen Bli nach diefer Richrung und bemerkt offenbar zu ſich: „Sch glaube, ih mag nichts wieder von der Paſtete.“

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Mir haben, um diefe Naturfchilderungen im Zufammenhang vorzutragen, den Gang der Reiferoute für einen Augenblick verlaffen. Schon bei der erften Frühſtücksſtation der Wildnig hatten unfere Reifenden reichlich Gelegenheit wahrzunehmen, daß fie „die Staaten“ längſt hinter fih Hatten, und in die An— fünge oder Außerften Ausläufer menfchlicher Kultur fi) vorgewagt hatten. „Die Stationdgebäude waren lange niedrige Hütten von ſchmutzfarbenen, an der Sonne gedörrten Ziegeln, die ohne Mörtel aufeinander gelegt waren. Scheunen, Ställe für 12 bis 15 Pferde und ein Speifezimmer für Paffagiere in einer Hütte machten das innere aud. Um dur die Thür zu kommen, mußte man ſich büden. An der Stelle des Fenfterd war ein vieredfiged Koch in die Wand gefchnitten, aber fein Glas darin. E3 gab feinen Ofen, aber die Feuerftelle diente für alle nothwendigen Zwecke. Es gab feine Simfe, Tellerbretter oder Cloſets. An der Thür der Höhle des Stationswirthes fand außen ein blechernes Waſchbecken auf dem Boden. Daneben befand fih ein Eimer mit Waffer und ein Stüd gelbe Riegelfeife, und von der Dach— traufe hing ein rauhes blaumollne® Hemd und deutete an, daß man fich bier abtrodnen konnte aber es war des Stationdwirthed Privathandtuh, und nur zwei Perfonen von der ganzen Gefellihaft durften wagen, fich feiner zu bedienen: der Poftilon und der Conducteur. Der Iettere wollte das nicht aus Schieklichfeitägefühl, der erftere wollte e8 nicht, weil e8 ihm nicht beliebte, die Anerbietungen eines Stuttonswirthed zu ermuthigen. Bon dem Spiegel- rahmen hing an einem Bindfaden die Hälfte eine? Kammes herab aber wenn ich die Wahl hätte, diefen Patriarchen zu ſchildern oder zu fterben, fo glaube ich, ich mürde mir gleich ein paar Särge beftellen.“ Diefen Berhält- niffen entfprach natürlich auch das Frühſtück, welches der Wüſtenwirth auf- tifchte, „Er fäbelte für jeden Mann ein Stück Sped ab, aber nur erfahrene alte Kunden machten fih daran, es zu eſſen; denn es war condemnirter Armee-Speck, mit dem die Vereinigten Staaten nicht einmal ihre Soldaten In den Grenzfort® füttern wollten, und die Voftgefelihaft billig gekauft hatte, um ihre Paſſagiere und Dienftleute damit zu nähren. Es ift möglich, dag wir diefen condemnirten Soldaten «Sped weiter draußen auf den Ebnen ald in der Station, in die ich ihn verlege, angetroffen haben, aber ange troffen Haben wir ihn, dem läßt fich nicht widerftreiten. Dann ſchenkte er und ein Getränf ein, welches er „Stumgullion“ nannte, und es tft fchmer, fih vorzuftellen, daß er nicht Infpirirt war, als er e8 benannte Er gab allerdings vor, Thee zu fein, aber es war zu viel Schüffelfpüliht, Sand und alte Speckſchwarte drin, ala daß der intelligente Neifende ſich hätte täufchen laſſen. Er hatte feinen Zuder, feine Mil, ja nicht einmal einen Löffel, um jene Ingredientien damit umgurühren. Wir fonnten weder das Brot noch den Speck effen, noch den „Slumgullion“ trinken.“ Er koftete aber

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auch ungenofien einen Dollar pro Mann. Diefe Scene giebt Twain natürlich Gelegenheit, die damalige Mühfal feiner Reife in Vergleich zu ſetzen zu einer heutigen Eifenbahnfahrt „quer über den Continent“.

Alles deutet darauf Hin, daß unfere Geſellſchaft fi dem Ziel der Tangen Reife nähert. Längſt find die fech3 flinfen Pferde des Poſtwagens mit eben- foviel noch rafcheren Maulthieren vertaufht. Bon Julesburg an drehten fid zwei Drittel der Unterhaltung zwifchen PBoftillonen und Gonducteuren um einen Menſchen Namens Slade, der ald Typus für jene wenigen Ausermähl: ten gelten kann, die unter einer Bevölferung von „Desperados“ die Herculed arbeit verrichten, einen Schimmer von Rechtéordnung zu erhalten, und der deß— halb ringsum wie ein Halbgott verehrt und mit peinlichem Grauen angebetet wird; denn nur dur Menfchenopfer Fonnte er hier den Anfang friedlicher Zuftände begründen; nur durch Menfchenopfer feine Autorität erhalten. Sehe undzwanzig Nebenälichter hat er ausgeblaſen, ehe er zu diefer Stufe des all. gemeinen Vertrauens ſich auffhmwang, auf welcher Twain ihm begegnet. Und er verläßt Slade glücklichermeife auch in einem Zuftande, in dem er blos für fehdundzwanzig ausgeputzte Lebenslichter Nechenfchaft zu geben hatte. ber freilich dabet bemendete es nicht und Stade war meit davon entfernt, fid gegen dad Ende feiner Raufbahn zu einer Aufnahme unter die Olympier vor: zubereiten. Er zog vor, ſich den Trunk anzugewöhnen, und in diefem Zu- ftande fo gräulich zu toben und gemeingefährlichen Landzwang zu üben, daß dem geheimen Bigilanz-Comite fhlieglich nicht übrig blieb, als den Wetter der Gefelihaft a. D. an einem Balken aufzuhängen. Indeſſen gerade der Realismus und die Naturwahrheit, mit der Slade gezeichnet it, macht ihn zu einem der bedeutfamften Charaktere, denen wir auf diefer Reife begegnen. Er erinnert ung lebhaft an Bret Harte's werthvolle Strolche.

Twain nähert fi dem Herzen der Felfengebirge, dem Südpaß, der Un- geficht® des ewigen Schneed der nordamerikaniſchen Alpen überfhritten wird. Der volle Ernft, den die Ahnung der Emigfeit, der Begriff unermeßlicher Fernen erzeugt, tritt ihm bier auf die Rippen. „Und jest endlich waren wir richtig in dem berühmten Südpaffe und rollten luſtig über der gemeinen Melt hin. Wir befanden uns auf der höchften Stelle der großen Kette der Telfengebirge, nad der wir Tag und Nacht emporgeflettert, geduldig, unab- läffig emporgeflettert waren, und um und waren Bergfönige verfammelt, die zehn, zwölf, felbft dreizehntaufend Fuß Hoch waren ftolze alte Burſche, die fi) büden müßten, wenn fie den Mount Washington im Zwielicht ſehen wollten. Wir waren in einer folchen Iuftigen Höhe über den dahinfriechenden Bevölferungen der Erde, daß es, wenn die und die Ausficht fperrenden Weld hörner zur Seite wichen, dann und wann ſchien, als Fönnten wir ringsum weit in die Ferne fehen und den ganzen großen Erdball betradhten, mie er

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fih mit feinen Nebelbildern von Bergen, Seen und Kontinenten durch dag Geheimnig de fommerlichen Dunftes Hinftredte. An einer Stelle konnte man unter fih auf eine Welt immer Fleiner werdender Felshörner und Schluchten bliden, die hinab und nad einer verfchmimmenden Ebne mit einem . Faden darin, der eine Straße war, und Federbüfcheln, die Bäume waren, binführten, ein hübſches Bild, mie es fo im Sonnenschein fihltef; aber ein dunkles Etwas fchlich ſich darüber und verbüfterte feine Züge tiefer und Immer tiefer mit dem finftern Blick eines heranziehenden Gewitter, und jetzt, während fein Nebel oder Schatten die Mittagshelle unfered® hohen Stand: orted unterbrach, fonnte man beobachten, wie da unten der Sturm losbrach, und ſehen, wie die Blite von Gipfel zu Gipfel hüpften und der Strichregen an den Wänden der Bergfchluchten hinzog, und den Donner rollen, krachen und brüllen hören. Wir rollten Iuftig weiter, und alsbald kamen wir auf dem eigentlichen Gipfel an eine Quelle, deren Wafjer durch zwei Mündungen abfloß und nach zmei verfchiedenen Richtungen weiter ftrömte. Der Conducteur fagte, daß einer der Bäche, auf die wir binfahen, juft eine Neife weſtwärts nah dem Buſen von Californien nnd dem Stillen Meere anträte, die durch Hunderte, ja Taufende von Meilen wüſter Einöden führte. Er fagte, daß der andere feine Heimath unter den Schneegipfeln verließe, um eine ähnliche Reife, aber nad Dften, zu maden, und wir wußten, daß lange, nachdem wir das fimple Bächlein vergeffen, e8 immer noch feinen mühfeligen Weg an den Gebirgsflanfen hinunter und auf dem Grunde von Schluhten und zmifchen den Ufern des Mellowftone fuchen werde, daß es ſich allmählich mit dem breiten Mifouri verbinden und durch unbekannte Ehnen und Wüſten und durdh nie beſuchte Wildniſſe fließen, dann eine lange und unrubige Pilgerfahrt zwiſchen verfunfenen Baumftämmen, Wradd und Sandbänfen machen, in den Miffiifippi einmünden, die Werften von Saint Louis befpülen und immer weiter jtrömen würde, über Untiefen und durch felfige Canäle, dann durch endlofe Ketten grundlofer und weiter Einbuchtungen, die mit ununterbrocdhenen Wäldern eingefaßt find, dann durch geheimnißvolle Seitenwege und verborgene Durch— ginge zwifchen waldigen Inſeln, dann wieder durch Reihenfolgen von Ein- buchtungen, die aber jest ftatt der düftern Wälder Einfaffungen von glän- jendem Zuderrohr haben, dann an Neuorleand vorüber und noch anderen Ketten von Einbuhtungen und zulegt nad zwei langen Monaten voll täglicher und nächtlicher Erfchöpfung und Aufregung, voll Vergnügen, Aben- teuern und furdhtbarer Gefahr, von vertrocdneten Kehlen audgetrunfen, von Pumpen entleert, von Verdunſtung betroffen zu werden, in den Golf fließen und zu feiner Ruhe eingehen werde am Bufen der tropifchen See, um niemals die heimifchen Schneegipfel wieder zu ſehen oder zu bedauern, daß es fie ver- laſſen. Ich befrachtete ein Blatt mit einer nur gedachten Botſchaft an die

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Freunde daheim und ließ e8 in den Bach fallen. Ich klebte feine Poſtmarke darauf, und fo blieb es, ald nicht frei gemacht, irgendwo unbefördert.“

Bet den eingehenden Mittheilungen über den Staat, die Propheten und

den Glauben der Mormonen, welche die Grenzboten (1872, IV. Quartal) gebracht haben, Könnte ed überflüffig erfcheinen, mit Mark Twain in ver

Salzftadt zu verweilen, dem erften Orte, an dem er feit St. Joſeph mehr tägigen Aufenthalt nahm. Allein jene Abhandlungen in diefen Blättern waren ernft und gravitätifch ſoweit das bei dem Stoffe überhaupt mög. lih war. Mark Twain dagegen ift Faum irgendwo fo luſtig aufgelegt auf feiner weiten Reife, als in der Heimath „der Heiligen vom jüngſten Tage, der Burg der Propheten, der Hauptftadt des einzigen abfoluten Alleinherr: ſchers in Amerifa der Großen Salzfee-Stadt.* „Died war für und nad allen Richtungen und Beziehungen ein Märchenland, ein Land voll Zauber, voll Kobolde und fchauerlichen Geheimniffen. Wir empfanden eine Neugier, die jede® Kind hätte fragen mögen, wie viel Mütter e8 habe, und ob es fie alle einzeln aufzählen könne, und es ging und immer durch und durd), wenn fid an einem Wohnhauſe, während wir vorübergingen, die Thür öffnete oder ſchloß

"und ung einen Bli auf menſchliche Köpfe, Rüden und Schultern thun ließ; denn wir fehnten und fehr nach einer ordentlichen und genügenden Betrachtung

einer Mormonenfamilie in ihrer ganzen umfaffenden Reichlichfeit, und geordnet nad) den concentrifhen Ringen ihres häuslichen Kreiſes. Die Stadt liegt am Rande einer ebnen Fläche von der Ausdehnung des Staated Connecticut und duckt fi) an den Boden unter einer fi Frümmenden Wand mächtiger Berge, deren Häupter fi unter den Wolfen verbergen, und deren Schultern den ganzen Sommer hindurch Nefte des Winterfchnees tragen. Bon einer diefer ſchwindelerregenden Höhen zmölf oder fünfzehn Meilen davon gefehen, wird die große Salzfee- Stadt matter und immer Eleiner, bis fie an ein Kinder ſpielzeug Dörfchen erinnert, da8 unter dem majeftätifchen Schutze der hinef- fhen Mauer ruht. Auf einigen diefer Berge im Südmeften hatte es zwei: Wochen lang jeden Tag geregnet, aber in der Stadt war Fein Tropfen ge fallen. Und an heißen Tagen gegen Ende ded Frühlingd und in den erften Wochen des Herbites Fonnten die Bürger aufhören, fih Kühlung zuzufächeln und zu murren, und ausgehen und fich dur Hinfchauen auf einen glorreichen Schneefturm abkühlen, der in den Bergen rumorte. Ste konnten es in diejen Sahreszeiten jeden Tag aus der Werne genießen, obſchon in ihren Straßen oder fonftwo in ihrer Nähe fein Schnee fiel. Die Salzfee-Stadt war gejund

eine über die Maßen gefunde Stadt. Sie erklärten, es gäbe nur einen einzigen Arzt am Orte und er würde regelmäßig jede Woche zur Verantwor- tung gezogen, meil er „Eeine erkennbaren Subfiftenzmittel habe’. Sie geben einem am Salzfee immer gute, folide Wahrheit zu genießen und gutes Maß

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und guted Gewicht gleichermaßen. Sehr oft, wenn man eine von ihren leid). teften,, Iuftigiten Alltagsbehauptungen zu wägen wünſchte, würde man eine Heumage nöthig haben.“

Der Mittelpunkt unfred Intereſſes bietet natürlich der Beſuch bei dem Mormonenfönig Brigham Joung. Sie gingen dorthin zur Staatövifite, nach. dem fie weiße Hemden angezogen. „Er fchien ein ruhiger, freundlicher, behä- biger, würdiger, fich felbit in der Gewalt habender alter Herr von fünfund- fünfzig oder fechzig Jahren zu fein und hatte in feinem Auge eine janfte pPfiffigkeit, die wahrfcheinlih dorthin gehörte. Er war fehr einfach gekleidet und nahm, als wir eintraten, gerade feinen Strohhut ab. Er plauderte mit unferm Secretär und gemwiflen Regierungsbeamten, die mit und gefommen waren, über Utah und die Indianer und Nevada und über allgemeine ameri- fanifhe Angelegenheiten und Fragen. Uber niemald zollte er mir irgend welche Aufmerkjamkeit, trogdem ich verfchiedene Verſuche machte, „ihn über die Politik der Bundesregierung und feine hohmüthige Stellung ihr gegen: über auszuholen.“ Ich dachte, einige von den Sachen, die ich vorbracdhte, wären ziemlich ſchön. Er aber blickte fih nur in weit auseinander liegenden Zwiſchenpauſen nach mir um, etwa fo, wie ich eine wohlmollende alte Kae fh umbliden gefehen habe, um zu erfahren, welches Kästchen fih mit ihrem Schwanze zu ſchaffen gemacht habe. Bald verfank ich in entrüftetes Schweigen und blieb jo bis zu Ende fiten, heiß und roth und verwünfchte ihn in meinem Herzen als einen unmifienden Wilden. Über er war ruhig. Seine Unterhal- tung mit jenen Herren floß fo fanft und friedlih und mufifalifch Hin wie ein Sommerbächlein. Als die Audienz beendigt war und wir und aus feiner Ge: genwart zurüdzogen, legte er mir die Hand auf den Kopf, ftrahlte auf mich hernieder, ald ob er mich bewunderte, und fagte zu meinem Bruder: „Ab vermuthlih Ihr Kind! Knabe oder Mädchen ?" Es folgen dann einige Beifpiele von der unumſchränkten Macht diefes Königs.

Mark Twain’3 Aufenthalt in der Ealzfeeftadt betrug nur zwei Tage, „und fo hatten wir feine Zeit, um die gebräuchliche Unterfuchung bet reffö der Wirkungen der VBielmeiberei anzuftellen und die üblichen ftatiftifchen Notizen und Schlüffe zufammen zu friegen, die man beifammen haben muß, wenn man die Aufmerkfamfeit der Nation nochmals auf diefe Angelegenheit lenken will. Ich Hatte den Willen, es zu thun. Mit der fprudelnden Selbft- genügfamkeit der Jugend war ich begierig, mich kopfüber hineinzuftürzen und bier eine große Reform ins Leben zu rufen bis ich die mormonijchen Weiber ſah. Dann fühlte ich mich gerührt. Mein Herz war klüger ald mein Kopf. Es erwärmte ſich für diefe armen, linfifhen, ungewöhnlich häßlichen Geihöpfe, und als ich mich abmwendete, um die großherzige Thräne, die mir ind Auge getreten war, zu verbergen, fagte ih: „Nein, der Mann, welcher

' = 4 7 7 8* * 7

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eine von ihnen heirathet, hat eine That chriſtlicher Barmherzigkeit vollbracht, die ihm ein Anrecht auf den freundlichen Belfal der Menjchheit, nicht auf ihren harten Tadel verleiht und der Mann, der fechzig von ihnen heirathet, bat eine That freigebigfter Großherzigkeit verrichtet, fo erhaben, daß die Völker in feiner Gegenwart unbededten Hauptes daftehen und ihn fehmeigend verehren follten. Das Nächftinterefjante iit, fich zu den Heiden zu feben und ihnen zuzubören, wenn fie über Vielweiberei fprechen, und wie irgend ein diebäuchtger alter Frofh von einem Welteften oder Bifchof ein Mädchen heirathet fie gern hat und ihre Schweiter heirathet die gern hat und eine zweite Schwefter heirathet die gern hat und eine Andere zur Frau nimmt die gern hat und ihre Mutter heiratet die gern hat und ihren Bater, ihren Großvater, ihren Urgroßvater heirathet und dann hungrig zurüdfommt und um mehr bittet. Und mie dann da® fohnippifche junge Ding von elf Jahren vielleicht fein Lieblingsweib wird und ihre eigne ehr würdige alte Großmutter in ihres gemeinjchaftlichen Eheherrn Werthſchätzung eine Stufe tiefer nah D 4 binftehen und in der Küche zu fchlafen haben wird. Und wie diefed fürdhterliche Leben, dieſes Zufammenfteden von Mutter und Töchtern in ein einziged faules Neft und SHöherftellung einer jungen Tochter ihrer eignen Mutter gegenüber Dinge find, denen fich die Mormonen: weiber unterwerfen, weil ihre Religion ihnen lehrt, daß je mehr Frauen ein Mann auf Erden hat, und je mehr Kinder er aufzieht, defto höher die Stelle fein wird, die fie alle mit einander in der zufünftigen Welt einnehmen merden deſto höher und vielleicht deito wärmer, obwohl fie darüber nicht® zu fagen ſcheinen. Nach diefen unfern hetdnifchen Freunden enthält Brigham Young’ Harem zwanzig oder dreißig Frauen. Sie fagten, daß einige davon alt ge worden und aus dem activen Dienfte getreten, aber gut einlogirt und verforgt feien im „Hühnerhaufe“, wie fie fih ausdrüdten, im Römwenhaufe, mie die Mormonen es feltfamer Weiſe nannten. Bei jeder Frau befanden ſich ihre Kinder, fünfzig alle zufammen. Das Haus war volllommen ruhig und ordentlih, wenn die Kinder ftill waren. Sie alle nahmen ihre Mahlzeiten in einem einzigen Zimmer ein, und man fagte, das wäre ein recht glückliches und gemüthliches Bild. Niemand von und fand Gelegenheit, mit Herrn Moung zu fpeifen, aber ein Heide Namens Johnſon behauptete, im Löwen— hauſe gefrühftüdt zu haben. Er gab und eine verrüdte Schilderung vom „Berlefen der Präfenzlifte” nebjt andern Präliminarien, und von dem Ge meßel, welches erfolgte, ald die Buchweizenkuchen hereinfamen. Aber er ver: ſchönerte ein biächen zu viel. Er fagte, daß Herr Young ihm verjchiedene geicheidte Aeußerungen von feinem „Zweijährigen“ mitgetheilt und dabei mit einigem Stolze bemerkt habe, daß derfelbe einer der fleifigften Mitarbeiter in diefem Face für eine der öftlichen Wochenſchriften geweſen, und dann habe

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er ihm ein® von den Zuderpüppchen zeigen wollen, dad die letzte hübſche Aeußerung gethan, es aber nicht herausfinden können. Er fuchte unter den Gefihtern der Kinder herum, Fonnte aber nicht entſcheiden, welched das rechte war. Endlich gab er es mit einem Seufzer auf und fagte: „Sch dachte, ich würde das Eleine Ferkel wieder erkennen, aber fiehe da, ih kann nicht.“ Herr Johnſon fagte ferner, Herr Young habe bemerkt, das Leben ſei doch ein trauriges, ein recht trauriged Ding, „weil die Freude über eine neue Hetrath, die man einginge, fo leicht dur) das ungelegen kommende Begräbnip einer weniger neuen Braut verdorben würde!“

Auch die Statiftif der Ausgaben de3 Young'ſchen Haushaltes ift bier zum Gegenjtand einiger Abhandlungen gemacht worden. Wir erfahren Iheinbar aus des großen Propheten eignem Munde daß die Ausftattung der Frauen Young's mit je einer Bufennadel fofort auf 2500 Dollars zu ſtehen komme und die Beichenfung der hundert und zehn Kinder Young's beiläufig mit je einer Blechpfeife fofort einen unerträglichen Lärm erzeugt. „Und denken Sie nur an die Wäfcherrehnung verzeihen Sie diefe Thränen neunhundertvierundachtzig Stüde die Woche! Nein, mein Herr, fo was wie Sparen giebt es in einer Familie, wie meine ift, nit. Sehen Sie, nur der einzige Artikel Wiegen denken Sie 'mal daran. Und Wurmkuchen! Und Syrup zum Befänftigen! Und Ringe beim Zahnen! Und Bapa-Uhren zum Spielen für die Kleinen! Und Dinge, um an den Möbeln damit herumzukratzen! Und Streihhölzchen, die fie eſſen können und Stüde Glas, mit denen fie fich fohneiden können! Das Kapitel Glas allein fchon würde, wie ich zu fagen wage, hinreihen, um Ihre Familie zu erhalten“ Die Breife in Utah find allgemein ſehr hoch. Unter einem Bierteldollar ift eigentlich nicht? zu haben, um diefen Preis Fonnte man gerade eine Thon- pieife befommen, oder eine Cigarre, oder eine Pfirfiche, oder ein Talglicht, oder eine Zeitung, oder den Barbier oder einen Heinen heidnifchen Schnaps, um ſich die Hühneraugen damit einzureiben oder Unverdaulichkeit zu hemmen. Ein junger Mifchling mit einer Gefichtöfarbe wie eine gelbe Nübe, fragte mid, ob er mir die Stiefel pugen ſollte. Es war am SalzfeerHaufe den Morgen nah unfrer Ankunft. Ich fagte ja, und er pubte ſie. Dann händigte ich ihm mit der wohlmwollenden Miene einer Berfon, die Reichthum und Glüd: jeligkeit auf Armuth und Leiden folgen läßt, ein filberned Fünfcent-Stüd ein. Die gelbe Rübe nahm es, wie mir vorfam, mit unterdrüdter Rührung und legte es ehrerbietig In die Mitte ihrer breiten Hand. Dann begann fie ed zu betrachten, ungefähr wie ein Naturforfcher ein Müdenohr auf dem meiten Felde ſeines Mikroskops betrachtet. Mehrere Leute vom Gebirge, Fuhrleute, Voftillone und dergleichen traten heran, bildeten mit und eine Gruppe und

machten ſich an die Unterfuchung des Geldſtücks mit jener —— Gleich— Grenzboten IV. 1874.

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gültigfeit gegen alle Förmlichkeiten, welche den Bahnbrecher der Gultur im Weiten harakterifirt. Bald darauf händigte mir die gelbe Rübe das Fünf. cent-Stüd wieder ein und fagte mir, ich follte doch mein Geld Tieber in meinem Portemonnaie als in meiner Seele mit mir herumtragen, dann würde es nicht fo zufammenfchrumpfen.“

(Schluß folgt.)

Die ſächſtſche Yolitik,

Dresden, 22. November.

Der Artikel: „Ein Beitrag zur Geſchichte der jähfifhen Po— litik“, den die Preußifchen Jahrbücher von Treitfhfe in ihrem November heft bringen, wird nicht verfehlen, diesſeits und jenfeit® der grünmeißen Grenz pfähle ein gewiſſes Auffehen zu erregen. Hier, in der ſächſiſchen Hauptitadt, bat er natürlich die Kreife, auf welde er feine grellen Schlaglichter wirft, fehr empfindlich berührt. Die nächte Frage war nad dem Berfafler. Des beißenden Inhalts wegen, könnte man auf den Heraudgeber der Jahrbücher ſelbſt, Heinrich von Treitſchke, vathen, diefen „entarteten Sohn“ Sachſens, der den biefigen maßgebenten Perfönlichkeiten ſchon fo viel Schmerz umd Aerger bereitet hat; allein es ift nicht Treitſchke's Stil, und der Auffag ent- hält Manches, was Treitſchke richtiger Hiftorifch feitgeftellt haben würde, Manded, was ihm, dem fo lange fchon fo gut wie aus Sachſen Erilitten, faum fo vertraut fein Fann, wie es dem Verfaffer zu fein feheint. Die Wiener Deutfhe Zeitung, welche den Artifel aldbald eingehend beiprach, glaubt zu wiſſen, er rühre von einem den ſächſiſchen Regierungskreiſen naheftehenden, wenn nicht zugehörigen, zugleich im die Geheimniffe des Hofes eingemeihten Manne ber, einem Bürgerlichen, einem Reichstreuen und in diefer doppelten Beziehung durch den Gang ver ſächſiſchen Politik tief Verbitterten.

Das Rebtere merkt man allerdings aus jeder Zelle des Artikels. Auch das läßt fich herausfühlen, dag der Verfaffer fich viel in jenen obern Schich— ten bewegt, wohl auch manchen Blic hinter die Couliffen gethan hat, wogegen es wieder frappirt, wie er in der Auffaſſung mander thatfächlichen Vorgänge des öffentlichen LXeben® in Sachſen weniger fiher, zum Theil fogar übel be richtet erfcheint. Aber auch feine Kenntnig von der geheimen Gejchichte des Hofs, des Beamtenthums ift nicht immer ganz zuverläffig, ftüst fi bie weilen wohl mehr auf unfichere on dit’s ale, wie es fcheint, auf eignes Hören

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und Sehen. Durch Alles diefed wird jede Vermuthung wegen der Autorſchaft des Artikels außerordentlich erſchwert, abgeſehen davon, daß es überhaupt in Sachſen unter den den Hof- und Regierungskreiſen Naheftehenden nur wenig Vürgerliche giebt, noch weniger Solche, die auf einem fo ausgeprägt anti- particulariftifchen Standpunkte, wie der Verfaſſer dieſes Artikels, ftehen möch— ten. Und unter diefen wenigen, wer wäre da, der Neigung, Talent und Muth hätte, einen folchen Artikel in ein hierort3 fo verrufenes Blatt mie Treitſchke's Jahrbücher zu fchreiben !

Doch laſſen mir diefes Näthfel der Verfafferfchaft und wenden wir und zu dem Inhalte des Artikel! Der Verfaffer meint: die Politik der fächfifchen Regierung müffe dem räthfelhaft vorfommen, der das Uebergewicht der Ariftos kratie im ſächſiſchen Staatöleben nicht Fenne Mir fcheint, er legt hierauf zu jehr den Accent: der Adel ift in allen deutichen Rändern herrfchfüchtig und er ift überall da übermächtig, wo die Negierungen aus einem oder anderm Grunde es verfchmähen, ſich auf die liberalen Elemente im Volke, welche durchſchnittlich im Bürgertum vorwiegen, zu ftügen. Das Beſteeben, die Stellung der fähfifchen Ariftofratie als eine erceptionelle darzuftellen, verleitet den Berfafjer zu mancher Einfeitigkeit. So wenn er den Religionswechſel eines Schönburger Grafen gemwillermaßen als eine Deferenz gegen das Fatholijche Herrſcherhaus darftellt. Die Schönburger find fo wenig eine® der „der Dis naftie naheftehenden Adelshäuſer“, dag vielmehr, wegen der Brätenfion der Chönburger auf eine Urt von Halbjouveränität, zwifchen ihnen und der Krone Sachſen eine Spannung befteht, die»eben jetzt nahezu in offenen Kampf ausgebrochen it.

Wichtiger und größtentheild auch zutreffender ift, was der Verfaffer über die einzelnen Perfönlichkeiten jagt, die in der fächfifchen Politik in den letzten Jahrzehnten eine Rolle gefptelt haben, beztehentlich noch fpielen. Bor Allem der Freiherr von Beuſt ift trefflich gezeichnet. Zu feiner für Sachfen fo ver- bängnigvollen Wirkſamkeit möchte ich zwei Züge nachtragen, die beim Ber faffer fehlen. Der letztere erklärt die lange Verzögerung des Separatfriedeng zwiſchen Preußen und Sachen im Jahre 1866 aus angeblichen Bemühungen der preußifchen Diplomatie, die ſächſiſche Dynaftte zu einer Aufgabe ihrer Rechte auf das Land, fei es gegen Geldentſchädigung, fei e8 durch einen Terri- tortaltaufh , zu vermögen. Ich glaube beffer unterrichtet zu fein, wenn ich fage: jene Verzögerung war weſentlich die Schuld des Herren von Beuft, der bis aufd Aeußerfte dem König Johann anlag, Feine oder fo wenig ald möglich Gonceffionen in Bezug auf die Einfügung Sachſens in den Norddeutfchen Bund zu maden. Daher die entjchiedene Meigerung des preußifchen Kabinets mit diefem Minifter länger zu unterhandeln, der zwingende Grund zu Beuft’s Rücktritt für welchen der VBerfaffer feinerfeitö Feine Erklärung giebt. Eine

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andere Einwirkung Beuſt's auf die fächfifchen Verhältniffe, die ich allerdings nicht ganz fo pofitiv conftatiren fann, wie jene, aber aus Gründen hödhfter MWahrfcheinlichkeit anzunehmen mich für befugt halte, datirt aus neueſter Zeit. Ganz kurz vor dem Schluffe des Landtags im Frühjahr d. 3. war Herr von Beuft in Dresden, präfentirte fih auch auf der diplomatifchen Tribüne jeder der beiden Kammern. Gerade damald brachten unfre beiden offiziöfen Blätter, dad Dresdner Journal und die Leipziger Zettung Artikel, welche darauf be— rechnet waren, in die neugefchloffene Allianz der drei Nordmächte einen Keil hineinzutreiben, befonderd aber Mißtrauen zwiſchen dem deutfchen Reich einer» ſeits, Defterreih und Rußland andrerfeit3 zu ſäen. Ich möchte meinen Kopf vermwetten, daß diefe Artikel dem perfönlichen Einfluß Beuſt's auf die beiden Nedactionen zu verdanfen, weil beiden nod) immer Günftlinge Beuſt's vor- ftehen. Ebendamals erfchien auch, wie man fich erinnert, jener auffehenerregende Artikel in der Augkburger Allgemeinen Zeitung, melcher Defterreih gegen Rußland und Deutfchland argmöhnifch machen follte, ein Artikel, den man allgemein, wenn auch natürlich nur indirect, auf Herrn v. Beuft zurüdführte. Der Artikel in der Leipziger Zeitung verrieth außerdem feinen Urfprung dadurch, daß er die Vorficht der ci-devant Beuft’jchen Regierung über Defterreih in Bezug auf deffen Stellung zu Deutfchland und Rußland rühmte, dagegen auf die Undraffy’iche Aera einen tiefen Schatten fallen ließ. Beide Urtifel wurden bald darauf in denfelben Blättern in möglichit unauffälliger Weife durch andere in entgegengefestem Sinne ftillfchweigend zurüdgenommen oder desavouirt. Man hat fi) das iſt bezeichnend für unfer officielles Preßregime von dem abgefesten ehemaligen Minifter ‚oder feinen Gefchöpfen ein Kukuksei ins Neſt Iegen laſſen, welches man jetzt fich beeilte hinaudzumerfen, bevor die gefähr- lihe Brut ausfröche, die Faun zu vermeidende Rüge aus Berlin wegen einer fo groben Kreuzung der Politit der Reichsregierung.

Die Porträtd der dermaligen Mintiter find im Ganzen gut gezeichnet, ebenfo die der beiden Führer unferer hocdheonfervativen und hochkirchlichen Partei, der Herren v. Zehmen und v. Erdmannddorf. Dagegen halte ich

das Urtheil, welches der Verfaſſer über die beftimmenden Momente der ſäch-

fifchen Politif im Allgemeinen, der aufs Reich bezüglichen im Befonderen fällt, für mancher Berichtigung bedürftig. Hier iſt allernächft ein Moment außer Acht gelaffen, welches gleichwohl m. E. einen fehr mwefentlihen Antheil an dem Ganzen der ſächſiſchen Politik hat. Ich meine die traditionelle Anſchauung der maßgebenden Kreife in Sachſen von der gänzlichen Unwirf- ſamkeit ftändifcher Abftimmungen für den Beitand des Minifteriumd. Diefe Anſchauung ift fo feitgemurzelt, fie wird fo zweifellos vom ganzen Beamten- thum in allen feinen Verzweigungen getheilt, au vom Bürgerthum ſtill— ſchweigend anerfannt und geduldet, daß, mer etwa bei einer brennenden

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Frage in den Kammern von einem möglichen Rüdtritt des Minifteriums oder eined einzelnen Minifterd reden wollte, nahezu für nicht recht bei Sinnen, allermindeftend aber für einen fehr fonderbaren Schwärmer angefehen werden würde. Nur die Ariftofratie hat bisweilen verfucht, einen Minifter zu ftürzen, Indeg wentger durch ein Kammervotum, ald durch eine beiher gehende Agita- tion gegen den von ihr Verfehmten im focialen Verkehr mit den hödhft- geftellten Perfonen am Hofe. Mit Rindenau, dem allzu liberal und bürgerlich gefinnten Minifter, gelang ihr dies im Jahre 1844 wirklich. Beim Landtage 1871/73 machte fie einen folhen Sturmlauf gegen den Minifter des Innern von Noſtiz-Wallwitz, nicht wie der Verfaſſer erzählt, bei Anlaß ber „Berfaffungsrevifion“, vielmehr bei den Organifationdgefegen. Diedmal mif- glüdte e8, weil die liberale Mehrheit der II. Kammer zu dem von der Ariſto— fratie angefochtenen Minifter hielt und felbft mit einigen Opfern an ihren liberalen Wünfchen auf ein AZuftandefommen des Organiſationswerkes hin- drängte, fo daß die adlichen Frondeurs, wollten fie nicht ihre Hintergedanken gänzlich verrathen, wohl oder übel auf ein Compromiß eingehen mußten. Aber wie gefagt, die Ariftofratie würde es nicht unnatürlih finden, wenn einmal der oder jener aus den Reihen der Ihrigen gleich dem Cincinnatus vom Pfluge mweggeholt und auf einen Minifterftuhl gefegt würde, und wäre es auch ein vormaliger Cavalerielieutenant ohne gelehrte Bildung. Auch die Büreaufratie würde fih, wenn ſchon murrend, darein finden. Dagegen an ein jog. parlamentarijcheg Miniſterium aus der Mitte des Bürgerthume, dem die liberale Partei ausschließlich entjtammt “(einen liberalen Adel giebt es in Sachſen leider nicht), auch nur zu denken, erfcheint ſowohl der Ariftokratie vie der Büreaufratie ald unerhört, als einfach lächerlich. Die kurze Zeit, wo das Prinecip der parlamentarifchen Regierung auch in Sachſen factifch galt (vom 16. Mär; 1848 bis 30. April 1849), war zu kurz, um jene Tradition zu erfchüttern; auch muß man geftehen, daß das Märzminifterium die Probe einer auf politifchen Parteigrundſätzen, nicht auf büreaufratifcher Schulung fußenden Regierung nicht allemege glänzend beftand.

Die ſächſiſche Regierung rechnet fi) daher auch zu Feiner Partei und nimmt es fehr übel, wenn man ihr eine beftimmte Barteiftellung anmeift; fie fteht „über den Parteien‘. Das hindert nit, daß fie die eine Partet (die confervative) mit allen ihren büreaufratifhen Mitteln bei den Wahlen unterftüst oder doch unterftügen läßt, die andere (die liberale oder die national— Iiberale) mit allem Eifer, unter Umftänden „bi8 aufs Meſſer“ befämpft nichtsdeſtoweniger ift und bleibt fie parteilo®, gleichfam politifch geſchlechtslos, fie ift nicht8 ala eben „Regierung“. Und daher macht es Ihr nichts aus, wenn au die grundfäglich zu ihr haltende Partei, oder wenn fie felbit ge- Ihlagen wird fie läßt die feindlichen Mächte tief unter ſich grollend

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einander befämpfen ; fie felbft fteht hoch über diefem Kampfe und regiert fort, als märe nicht? geichehen. Das iſt eine der fonderbarften „berechtigten Eigenthümlichkeiten“ Sachſens, an der man feithält, obfchon faft in allen conftitutionellen deutjchen Staaten, neuerdings fogar in Preußen, das Princip parlamentarifcher Regierung immer mehr zum Durchbruch gelangt tft.

Um fo mehr tritt natürlih in Sachſen die Perſon und der perfönlice Mille des Monarchen in den Vordergrund. Und doch auch wieder nidt. Denn eine zmeite ſächſiſche Tradition ift die, daß der König möglichit menig die politifchen Handlungen und Entfchliegungen feiner Regierung zu beein fluffen fcheine. Won den Monarchen Baiernd, MWürtembergd, auch von dem greifen König Wilhelm hört man öfters, ziemlich präci® und verbürgt, melde Stellung fie zu der oder jener Frage der inneren Politik einnehmen: in Sachſen giebt und gab es faſt allezeit darüber bloße Vermuthungen. Der Berfaffer glaubt nun die politifche Gefinnung und Haltung des gegenwärtigen Monarchen Sachſens, König, Albert, indbefondere in nationalen Fragen fehr genau zu wiſſen und präcifiren zu können. Wllein gerade in dieſem Punkte gehen mir gegen feine Aufitelungen mancherlei Bedenken bei. Zuerſt fehlen einige Züge zu dem Bilde, die gerade fehr wichtig find, und die der Verfafler, der fi fo großer Intimität mit allem am Hofe Vorgehenden rühmt, nicht hätte weglaffen follen. Der Verfaſſer erwähnt die Hinneigung des jüngeren Zweiges der königlichen Familie zu einem ftrengen Katboliciamus, die Bathen- Schaft de Papſtes bei dem jüngften Prinzen u. f. w. Allein über die Gegen: ftelung de3 Königs zu diefen Tendenzen geht er zu raſch hinweg. Er vergißt anzuführen, daß König Albert feiner Zeit fih über jene Pathenſchaft ala wenig opportun, nicht eben zuftimmend geäußert hat; daß er mit einem der wenigen fretfinnigeren Fatholifchen Hoftheologen gern verkehrt; daß er perfönlich, wie man fagt, in fehr entfchiedener Weife, den Rücktritt eined anderen Hof- prediger®, der das „Fatholifche Kirchenblatt für Sachſen“ redigirte, von diefer Stellung betrieb, ald genanntes Blatt fih zum Kämpen der Unbotmäßigfeit der römtfchen Kirche gegen den Staat machte, daß endlih nur König Albert’8 perfönlidiem Einfluß es zuzufchreiben war, wenn am Sedantage d. %. der apoftolifche Vicar in Sachſen, Biſchof Forwerk, troß der fanatifhen Ab- mahnungen des mächtigen Kirchenfürften Ketteler, in der Fatholifchen Hofkirche hier das Nationalfeſt feierlich mit beging. *)

Ebenfo hat der Verfaſſer unterlaffen, de3 damaligen Kronprinzen Albert Berhalten bei dem Kampfe um die Drganifationdgefege (die er überhaupt zum Theil unrichtig darftellt) zu erwähnen. Und doch mar diefes Verhalten nicht weniger ald den Plänen der Ariftofratie günftig, im Gegentheil geradezu demonftrativ gegen letztere, und es hat, wie damals wenigſtens hier

) Das hatten auch die „Pr. Jahrb. hervorgehoben, D. Red,

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die allgemeine Anſicht war, weſentlich dazu beigetragen, diefe Pläne zu ver: eiteln und die ſchon ihres Triumphes fcheinbar ficheren Führer der hoch— confervativen Partei zum Nüdzug zu nöthigen. Eben diejed thatjächliche Verhalten des Prinzen bei der erwähnten Gelegenheit fcheint mir aber auch jened on dit zu widerlegen, welches der Verfaſſer anführt und welches aller: dings feiner Zeit hier cireulirte: König Albert damald noch Kronprinz habe im Minifterrathe darauf gedrungen, daß die Regierung mit Hülfe von $ 92 der Berfafjung betreffd des Schulgefeges die Volkskammer majorifire und fi feft auf die L Kammer flüge, weil, wie er gefagt babe, fonft die in der U. Rammer vorherrſchende liberale Partei nicht? iligered® zu thun haben werde, als Sachen in Preußen aufgehen zu laflen.“ Über wenn der Prinz diefe Beſorgniß wirklich gehegt hätte, jo hätte er nicht dazu beitragen dürfen, bei den fo wichtigen Organifationdgefegen den MWiderftand der I. Kammer zu brechen, der liberalen Partei und dem in diefer Sache mit ihr gehenden Minifter v. Noftiz den Sieg zu verfchaffen.

Der Berfaffer des Artikels geht fo meit, zu fagen: von jener rücfläufigen Mendung der fächfifchen Regierungspolitik im Frühjahr 1873 datite eigentlich die Regierung König Albert's, obſchon er formell diefelbe erft im November ded Jahres, nach feines Vaters Tode, angetreten. Das heißt: jene rücdläufige Politik mit allen ihren Confequenzen fet dad Werk des damaligen Kron— prinzen, jebigen Königs; er fei das eigentliche Agens diefer Politik; die Minifter hätten fih nur feinem Einfluffe und feinem Andringen gefügt, in- dem fie von der eine Zeit lang betretenen liberäleren Bahn plößlic in die gerade entgegengeſetzte einlenkten.

Das ift eine gewagte Behauptung, die nicht ohne die triftigften, thatfäch- lichen Beweiſe ausgeſprochen werden folltee Conſervativ oder liberal, ein König kann Beides fein. Beides hat feine Berechtigung ald grundfägliche Veberzeugung eines Einzelnen oder einer Partei. Allein wenn in einem Sande die liberale Strömung vorherrſcht, und das ift in Sachſen ohne Zweifel der Fall, wenn außerdem in einer Zeitperiode die liberale Strömung vor- herrſcht, und das Ift in der Gegenwart ebenfo zmeifello8 der Fall, dann wäre eine grundfägliche Gegenftellung wider diefe Strömung auf Seiten ded Monarchen, alfo des oberften entfcheidenden Willens im Lande eine verhäng- nigvolle Thatjache, ein Confliet, au8 dem es nicht, wie bei der bloßen Gegen- ftellung eine® Minifteriums, einen Ausweg gäbe.

Ich weiß, daß in manchen politifhen Kreifen Berlins die Anficht getheilt wird: die fächfiichen Minifter müßten fo fprechen und handeln, wie fie thun, „um fich zu halten.” Immerhin eine ſchlechte Entſchuldigung für conftitutio- nelle Minifter, denen die eigene verantwortliche Meberzeugung allein oberjte Norm ihres Handels fein müßte.

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Über ich frage wieder, womit beglaubigt man diefe peffimiftifche Anſicht von den fächhfifchen Dingen? Denn peffimiftifh muß ich fie nennen, weil fie eben feinen Ausweg aus einer für jeden Staat überaus mißlichen und be denklihen Lage, einem Zwieſpalt zwifchen Regierenden und Regierten zeigt.

Der Berfaffer Fann für feine Behauptung oder Vermuthung nur feine angebliche Kenntniß von dem Charakter ded Königs Albert anführen, allen: falls nad) defjen focialen Berührungen mit Berfonen, die freilich nicht zu den Freunden liberaler Ideen gehören mögen. Deffentliche, notoriſche Kundgebun— gen oder Handlungen ded Königs in diefer Richtung nennt er nit. Be ftimmende Einwirkungen ded König? auf Aete der Gefehgebung oder Ber- waltung im entgegengefeßten, d. h. liberalen Sinne find mir auch nicht be fannt. Das liegt im Gange des conftitutionellen Regierungdapparates; Kundgebungen aber allerdings einige, und fehr marfante, So jenes fchmeidel- hafte Rob, welches König Albert aldbald nach feiner Thronbefteigung der Reipziger Glückwunſchdeputation in Bezug auf die rührige und gedeihliche Selbftverwaltung ihrer Stadt fpendete und welche damals Hier in der Reſi— denz fo üßel vermerkt wurde; ferner die fichtlich behagliche Weife, womit der König, allen Berichten zu Folge, bei feiner bald darauf ftattgefundenen län: gern Anweſenheit in Leipzig fi dafelbit gegeben und geäußert hat. Leipzig aber ift für Sachſen wohl eigentlich der Brennpunkt der liberalen und außer dem der nationalen Bewegung. Auch das tft nicht unbemerkt geblieben und hat in gewiſſen Hof- und Beamtenkreifen manches Kopfihütteln erregt, daß der König troß der bi8 zum „Kampf auf Meſſer“ gefpannten Situation zwifchen feinem Minifterium und den National-Riberalen felbft mit nam- haften Wortführern diejer leteren auf dem Parquet ſeines Hofed nach mie vor in freundlicher und ungezwungener Welfe verkehrt hat. Bei dem offenen jeder Berftellung entfchieden fremden Wefen König Ulbert’3, welches auch der Ber- faffer jenes Artikels hervorhebt, wäre aber dies kaum vereinbar mit einer prin- zipiell antipodifchen Stellung des Königs zu den liberalen Zeitideen und deren Trägern. j

Noch bedenklicher Elingt, was im jenem Wrtifel von des neuen Königs Stellung zum Reihe gefagt it. Wäre dies begründet, dann allerdings er hielt ein Wort, da8 Miniſter von Noftiz in Teidenfchaftlicher Hite in der Kammer ſprach, eine verhängnißgvolle Wahrheit. Aber nein und aber nein! Daß es eine Partei, oder, ſage ich lieber, eine Coterie in Sachfen geben mag, die fo denkt, will ich nicht bezweifeln; auch nicht, daß diefe Coterie ihren feinen Groll gern mit der Autorität jenes höchſten Namens bewaffnen möchte. Zu beklagen hat man vielleicht, daß folche Verfuche nicht energifcher, often- fibler zurückgeſtoßen und dahin, wohin fie gehören, verwiefen werden. Aber das ift auch Alles.

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Klärung der Situation das iſt's, was und noth thut. Nach innen und mehr noch gegenüber dem Reiche. Wielleiht hat der Verfaffer jenes Ar- tifel3 dies bezweckt und dazu freilich fehr draftiiche Mittel angewendet. Wenn der Urtifel die Folge hat, daß man rechten Ortes einfieht, wie hohe Zeit es ift, eine ſolche Klärung herbeizuführen, dann können felbft die Mebertreibungen deöfelben fih für Sachſen heilfam ermeifen.

K. F.

Vom deutſchen Reichskag.

Berlin, den 15. November 1874.

In ſeiner elften Sitzung, der erſten der abgelaufenen Woche iſt der Reichstag in die Berathung des Bankgeſetz -Entwurfes eingetreten und hat die erſte Leſung desſelben in drei denkwürdigen Sitzungen zu Ende gebracht. Denkwürdig dürfen dieſe Sitzungen heißen, denn ihre Verhandlungen gehören zu den beſten Leiſtungen, welche deutſche Parlamente in ihren glücklichſten Tagen bisher aufzuweiſen haben. Die vorparlamentariſche Geſchichte des Bankgeſetz-Entwurfes wollen wir nur in größter Kürze andeuten. Man weiß, wie in Folge der ftaatlichen Zerfplitterung unter der Bundesverfaffung von 1815 Deutfhland mit privilegirten Banken überſchwemmt worden ift. Diefes Unmwefen, früher wenig bemerkbar, fteigerte fih unter dem Einfluß des merk: würdigen Verkehrsaufſchwungs der fünfziger Zahre. Das Wort „Gründer“ hat zwar erft feit dem Jahre 1872 einen üblen Klang befommen. Die erften Gründer waren aber die Regterungen der deutjchen Kleinftaaten in den fünf- jiger Jahren, Ihren Bankmonopolen die allerdings nur auf das Gebtet der privilegirenden Regierung lauteten, die aber das große deutfche Wirth. ſchaftsgebiet den privilegirten Bank-nftituten als Jagdrevier erfchloffen, weil die bereit3 in taufend Adern ftrömende Einheit diefed Gebieted nicht mwillfür- ih an einer einzelnen Stelle zu unterbinden war jenen Bankmonopolen alfo verdanken wir die Entwerthung des Geldes, oder, was dasfelbe ift, die Steigerung der Waarenpreife, und zahllofe andere Uebelftände. Man hat von Seiten der Vertheidiger des ausgearteten Bankweſens in Abrede ftellen wollen, daß jene Mebelftände von dem Zuftand unfered Bankweſens überhaupt, gefhmweige denn zum größten Theile herrühren. Gerade fo hat man den Moor- rauch lange Zeit nicht vom Moorbrennen, fondern von zerſetzten Gemittern und wer weiß noch welchen fabelhaften Dingen herleiten wollen. Weber die

Einwirkung des Bankweſens auf die Cireulationdmittel find nun aber jeht Grenzboten IV. 1874, 45

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durch die Bertreter der Reichsregierung beglaubigte Thatfachen, Zahlen von unanfehtbarer Beweiskraft vorgelegt worden, welche hoffentlich allen myſtiſchen Schwindel über die Haupturfache unferer wirthichaftlichen Krankheit befeitigen. Diefer Gewinn der erften Leſung des Banfgefeges dünft uns allein ſchon ein unfhäsbarer. Kehren mir aber zur Vorgefchichte des Entwurfes zurüd.

Dem Uebel der großen Bank Inftitute, von Heinen Staaten privile⸗ girt, ſuchten Preußen und nach ihm andere Bundesſtaaten durch Verbote der Banknoten des deutſchen Auslandes zu ſteuern: Verbote, die aus dem oben berührten Grunde über kurz oder lang immer wieder unwirkſam werden mußten. Eine der letzten geſetzgeberiſchen Thaten des norddeutſchen Bundes war das Verbot der Ertheilung neuer Bankprivilegien bis zum Ende des Jahres 1874, ein Verbot, welches das deutfche Neid vom norddeutihen Bund übernahm und auf fein ermeitertes Gebiet erftredtte. In den politifch ebenfo troftlofen, als an wirthſchaftlichem Aufſchwung reichen fünfziger Jahren empfahl die deutſche Mancheſterſchule ein Name, den wir als Ehrennamen betrachten, wenn auch dieſe Schule, ſo wenig als irgend eine andere, das Verſtändniß ihres Faches erſchöpft hat als Heilmittel gegen das damals ſchon als höchſt gefährlich erkannte Uebel des gleichzeitig monopolifirten und doch höchſt irrationell zerfplitterten Bankweſens die allgemeine Bankfreiheit. Bis auf wenige unerfchütterliche Adepten, deren nambaftefter wohl Herr Eugen Richter jein möchte, ift man von dem Glauben an die Univerfalmedizin der individu- ellen Bewegungäfreiheit gerade für dag Bankweſen am meiften zurüdgefommen. Die Gründe dürfen wir heute nit erwähnen, um nicht diesmal zu lang zu werden. Abgefehen von der Frage nach der nothwendigen Einwirkung deö Staated auf das Bankweſen bat ſich in Deutſchland eine Anfiht mehr und mehr Bahn gebrodhen, al® deren erfter Vorfechter Profeſſor Tellkampf zu Breslau lange Zeit allein ſtand, welche das Weſen der Zettelbank im Grunde beſeitigen will. Danach ſoll es nur noch Banknoten mit voller Deckung durch das Edelmetall der landesgeſetzlichen Währung geben. Solche Noten find, wie man richtig hervorgehoben bat, feine Banknoten, fondern Depofitenfcheine. Diefer Anficht fteht jedoch die entgegengefeßte ältere, zwar nicht mehr in Allein- herrſchaft, aber nod in eifrig verfochtener Geltung gegenüber, welche in den Banknoten das mohlthätige Mittel fieht, dem Verkehr wohlfeiles Geld und durch) dasſelbe beftändig wachfende Flügel zu geben.

Mitten in diefen Kampf der Theorie, der zugleich ein Kampf materieller Intereſſen von vielfacher Geſtalt und allerbeträchtlichftem Umfang ift, fällt nun die Aufgabe des deutfchen Reiches, das Syſtem einer einheitlichen Bank. politif zum erftenmal zu ergreifen und durchzuführen, nicht etwa auf einer tabula rasa, fondern auf dem Boden eines im üppigften und zuglei irrationellſten Wachsthum ftehenden Bankweſens. Dazu kommt aber noch,

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daß das Syſtem einer neuen Bankpolitif begründet werden muß im Augen- blick eines Währungswechſels, der allezeit für eine der ſchwierigſten Maß— tegelm gegolten hat. Die Gefichtöpunfte der deutjchen Bankpolitit müffen in Folge davon beeinflußt fein durch eine doppelte unabmweisbare Aufgabe: erſtens durch die Aufgabe, den Vollzug des Währungsmechfeld zu unterftüsen, und zmeitend durch die eng damit zufammenhängende, aber doc) jelbitändige und in eine weite Zukunft fich erſtreckende Aufgabe, die in Deutichland an- genommene Goldwährung bei der eigenthümlichen Lage des deutfchen Reiches in einer Uebergangsperiode des europäifchen Verfehrd, und namentlich der Münz und Währungs: Verhältniffe zu ſchützen.

Die Löſung einer fo vielgeftaltigen und dabei jo folgenreichen und ver- antwortlihen Aufgabe wurde mit ebenfo allgemeiner Spannung erwartet, ald fie allgemein für unauffchiebbar erfannt wurde. Die Hauptfragen, auf welche fih die Spannung richtete, waren: 1) Wie ift um die Monopole der Territorialbanfen herum zu fommen? 2) Wie fol e8 mit der Ausgabe uns gededter Noten gehalten werden? 3) Sit, abgefehen von der Rechtäfrage der territorialen Monopole, eine Gentralifation des Bankweſens wünſchens— werth?

Als nun in dieſem Sommer, wie man ſagt, etwas vorzeitig, der Geſetz— entwurf veröffentlicht wurde, welchen das Reichskanzleramt dem Bundesrath zu unterbreiten gedachte, da war das erſte aber äußerſt raſch vorübergehende Gefühl das einer gewiſſen Enttäuſchung. Jemehr man aber den Entwurf ſtudirte, trat an die Stelle des erſten weniger, als man erwartet hatte, groß— artigen Eindrude, ein Gefühl der Bewunderung für ein Werk wahrhaft ingentöfen Scharffinned. Denn die fo umfaffende Aufgabe eined deutfchen Bankgeſetzes ſchien hier gelöft, die Hinderniffe unfhädlich gemacht und doc nit zermalmt, was eine unverhältnigmäßige Anftrengung erfordert und vieleicht eine verhängnigvoll nachblutende Wunde zurüdgelaffen haben würde. Die unbefchränkte Ausdehnung der Notenaudgabe war in Schranken gehalten duch Auflegung einer fünfprocentigen Steuer auf jede ungededte Note über einen gemiffen Gefammtbetrag diefer Noten hinaus, Dabei war das Privt- legium unbefhränfter Notenausgabe, wie es gemwilfen Banken zugefichert, nicht angetaftet. Anftatt des territorialen Bankprivilegium®, bei welchem die Dperationen der einzelnen Bank nur mißbräudlic die territorialen Grenzen überfohreiten konnten, erhielt jede Bank den gefeglichen Umlauf ihrer Noten im ganzen Neich zugefichert, wenn fie ſich zur Unterwerfung unter gewiſſe Normativbedingungen verftand, mworunter die Ginlöfung ihrer Noten an den Hauptplägen des deutfchen Verkehrs und der Austaufch derjelben Noten gegen die der andern, den reichägefeglichen Normen ſich unterwerfenden Banfen fi befand. Auf diefe Weife war ohne Gentralifation der Bankinſtitute die ein-

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heitliche deutfche Banknote nahezu hergeſtellt. Denjenigen Banfen, melde die reichägefeglichen Normen nicht annehmen wollten, wurde die ernfthafte Beihränfung auf das Gebiet ihres Privilegtumd auferlegt, und diefe Drohung fhien fo gemwichtig, daß man als ihre Wirkung die allgemeine Unterwerfung der Banken unter die Reichsnormen erwarten durfte, auch unter die ein. greifendfte derfelben, wodurd die Bank einwilligen mußte, daß ihre Befugnif zur Ausgabe von Banknoten am 1. Januar 1886 durch Beſchluß der Landes regterung oder des Bundesraths mit einjähriger Kündigungäfrift ohne irgend welche Entihädigung aufgehoben werden könne. Durch) diefe letztere Beftim- mung war ohne irgend eine Gewalt nach Ablauf einer zehnjährigen Periode der Boden für jede angemefjene Neugeftaltung des ee feitend des Reiches völlig frei.

Die Einwände, melde fich gegen diefen Entwurf doch erhoben, nachdem derfelbe eine Zeitläng ald der denkbar beite Ausweg aus den gegebenen Schwierigkeiten angefehen worden, betrafen bauptjächlich zwei Punkte Die Anhänger der alten Banktheorte, wonach die Banfen das Mittel zur Speifung des Verkehrs mit mohlfeilem Gelde find, tadelten die zu große Beſchränkung der Ausgabe ungededter Noten, welche in der fünfprocentigen Befteuerung der jenigen Noten liege, welche über den contingentirten Betrag audgegeben werden würden. Man ging jo weit, ald Wolge der plöslichen Beſchränkung der wohlfeilen Cirkulationdmittel eine allgemeine Handelskriſis zu prophezeien: Andere Einwände beftritten die Möglichkeit der Beſchränkung derjenigen Banken auf das Gebiet ihres Privilegiums, welche die Annahme der Reichs— normen verweigern würden. Diefe Einredner vergaßen aber, daß das Reich denn doch andere Mittel hat, das Verbot gewiſſer Banknoten durchzuführen, als früher die Einzelftaaten, und namentlich vergaßen die Einredner, daß dad Reich bei genügender Fürforge für die Speifung des Verkehrs mit mohl acereditirten Banknoten das Publikum zur Einfhließung der wilden Bank— noten zum wirkfamen Bundesgenofjen gewonnen haben würde. Die Wirkungs— lofigfeit der früheren Banfnotenverbote lag in der Unzugänglichkeit des Publikums für jene Verbote, und diefe Unzugänglichkeit lag wiederum in der Berlegenheit um geeignete Zahlungsmittel. Das würde jest ganz anders fein.

Nah der Aufnahme, welche der Bankgefegentwurf des Reichskanzleramts in der Preſſe, in der gutachtlichen Yeußerung von Gorporationen und com petenten Privatperfonen gefunden, nad der Zuftimmung in allen wefentlichen Thellen, die er im Bundesrath erhalten, durfte man erwarten, daß die Kritik ded Entwurf im Reichstag ſich weſentlich um den Gegenfag der älteren und neueren Bankanſicht bewegen, fchließlich aber die im Entwurf vertretene,

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wenn auch nicht zu allen Confequenzen gelangte neuere Anſicht den Sieg behalten werde.

Das ift nun ganz anders gefommen. Eine der erften Stimmen nämlich, die fih ausführlicher über den Entwurf vernehmen ließ, die ded Abgeordneten Sonnemann, hatte dem Entwurf vor allem die Nichtfehaffung einer Reichs— bank zum Vorwurf gemacht. Anfangs fand diefer Vorwurf wenig Zuſtim— mung, denn man fagte fich: eine Reichsbank fett die Befettigung der beitehenden Bankprivilegien voraus, welche ohne einen halben Gewaltftreih nicht möglich ift, und doch noch ſchwere Entfhädigungsfummen verfchlingen würde. Herr Sonnemann behauptete aber, eine ſolche Befeitigung fei gar nicht nöthig. die Reichsbank könne durch die Wucht ihrer Stellung und ihrer Mittel die Ein- Ihränfung der Lokalbanken auf das mohlthätige Maß herbeiführen, troß aller Privilegien der letzteren. Diefe Anficht, die ficherlih großen Bedenken unter- liegt und welche jedenfalld den Weg der richtigen Normirung des lofalen Bankweſens als einen erft zu findenden noch nicht zeigt, hat gleichwohl den Beifall der maßgebenden Fraktionen im Reichstag gefunden, hat die drei tägigen Verhandlungen der erften Leſung beherrſcht und die größte Ausficht gewonnen, jchließlich die Majorität zu erhalten. Zwei Motive fcheinen diefe Stimmung hauptfächlich hervorgebracht zu haben. Das eine, hochpatriotifcher und erfreulicyer Natur: daß man um jeden Preid auf dem fo vitalen Gebiet des Bankweſens eine Reichöinftitution haben will; das andere, etwas weniger Ideal, mehr menfchlich, wenn man bei diefem Wort, wie man zu thun pflegt, vorzugsweiſe an die menfchlihe Schwäche denkt: der Argwohn, die preußifche Regierung wolle den Nusen ihres großen und bewährten Banfinftituteg, eined Inſtitutes, welchem bet der neuen Negelung des Bankweſens der Lömwenantheil zufallen werde, für fi behalten. Man erkennt fogleih, daß wir bier dad Gebiet der eigenthümlichen Zumuthungen betreten, welche das Reich und feine Freunde an Preußen zu ftellen gewohnt find. Preußen wird durchaus nicht behandelt wie jeder andere Bundeäftaat; wo ed auf Opfer für das Reich ankommt, foll e8 das Zehnfache leiften. Man fagt wohl, das Reich ſei nur ein anderer Name für Preußen, was Preußen dem Reich opfere, opfere es fich felbft in vervollflommneter Metamorphoje. ntipricht dieſe Meinung aber dem thatfächlichen Lauf, mie ihn die Dinge genommen haben und nehmen werden? Weil e3 fo fein Eönnte, darum ift es nod nicht fo.

Halten wir ung an die vorliegende Frage Was verlangt man? Die Aufhebung der deutſchen Territortalbanfen hielte man für wünfchenswerth, man ſcheut fich aber vor dem Stück Terroridmud, das dazu gehören würde. Alſo die Territorialbanten follen beftehen bleiben. Auch die preußifhe? O bewahre, die preußifche Bank würde eine Reichsbank unmöglich machen, die

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preußifche Bank, und nur fie allein, muß der Reichsbank nicht nur Plas machen, fondern zum Opfer fallen. Was feinem Territorialftaat angemuthet wird, findet man dem preußifchen Staat gegenüber ganz in der Ordnung. Auch uns find Reihäfreundihaft und Preußenthum niemald entgegengefest, wenn beide den rechten Weg wandeln. Wir haben und deshalb über die Erklärung des preußifhen Finanzminiſters im Reichstag lebhaft gefreut, daß Preußen das Opfer feiner Bank dem Reiche gegen billige Entſchädigung zu bringen bereit fei, Preußen allein von fümmtlichen Bundesstaaten. Der preufifche Finangminifter gab diefe Erklärung wiederholt und beitimmt, jedoch ohne zu vor der Kritik des Bankgefegentwurfes entgegengetreten zu fein. Er jagte u. a. anz richtig: „Die Reichsbank, wie fie allein möglich iſt, wenigstens für den lugenblid, nämlich nicht eine Gentralbant mit ausfchließendem Monopol, fon dern eine größte Banf unter Fleineren, eine erfte unter ihresgleichen, ift in der preußifchen Bank im mefentlichen bereit8 vorhanden. Die Yorderung der Reichsbank läuft auf einen Namen, auf eine Umtaufe hinaus.“ Der ein zige Unterfchied der neuen Reichsbank, welcher dem Finanzminiſter bemerklich gemacht werden Fonnte, bejteht in der unmittelbaren Ausdehnung der Ge fchäfte derfelben über da® ganze Reich. Unter melden Bedingungen nun die Ummandlung der preußiſchen Banf in eine Reichsbank ftattfinden, unter welchen Bedingungen die Territorialbanfen neben der Reichsbank beiteben, in welche Grenzen die Ausgabe der ungededten Noten bei der Reichsbank und bei den ZTerritorialbanfen eingefchlofjen werden ſoll, dag Alles find noch offene Fragen, zu deren förderlicher Vorbereitung allfeitig die Ernennung einer Commiffion als zwedmäßig erfannt wurde.

Nun aber geftaltete ſich der Schluß der auf einer des Reichstages fo würdigen Höhe geführten Verhandlung leider zu einem Faſtnachtsſpiel, dad glüclicherweife den Eindruck der Hauptverhandlung nicht beeinträchtigen fann. Der Abgeordnete Lasker hatte nämlich in Verbindung mit einigen Mitglie dern der nationalliberalen und confervativen Fraktionen eine an fich aller dings nicht nothwendige Motivirung für den Beſchluß einer Commiſſions— wahl in Form eincd Antrags eingebracht. Danach jollte die Commiſſions— wahl ftattfinden in Erwägung, daß der vorliegende Geſetzentwurf (eventuell) durh Aufnahme einer Reichsbank zu ergänzen fei und daß die us Beitimmungen am beiten durch Vorberathung in einer Commiſſion zu finden, Der Antrag war in formaler Hinficht überflüffig, weil ein Beſchluß die au drücliche Feſtſtellung der Motive in der Kegel nicht bedarf. Aber der Ans trag war andererjeit? vom Gtandpunft der Geſchäftsordnung vollfommen zuläſſig. Wem das angegebene Motiv nicht behagte, der mochte dagegen ftimmen und nachher immer noch für eine Commiſſionswahl ohne Bezeichnung der Motive votiren. Da kam nun Herr Windthorſt, der alle Zeit gewandte, mit einem artigen Sophisma, deffen Ungrund fo leicht zu erfennen, daß man dem Urheber nicht zürnen Eonnte. Herrn Windthorit und feinen Freunden behagt, wie männiglicy befannt, das Reich nicht, und jede neue Reichsinſtitu— tion verurfacht ihm Befchwerden, die er mit befanntem Humor erträgt, aber nah Art launiger Patienten befrittelt und bejtichelt. So berief fi denn Herr Windthorft gegen den Antrag von Lasker und Genofjen auf die Ge- ſchäftsordnung, welche die Einbringung von Abänderungsvorſchlägen bei der eriten Leſung eines Gefeges verbietet. Wo waren denn aber Abänderung vorfchläge® Iſt es nicht die unbedingte Pflicht jeder Commiffion, den Um— fang der ganzen, in das zu berathende Geſetz einjchlagenden Frage zu erörtern und zu prüfen? Konnte ed etwas Unverfänglicheres geben, als den Ausfprud: in dieſes Geſetz fchlägt die Reichsbankfrage ein, und weil die Vorprüfung dier

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fer Frage am beiten in einer Commiſſion zu bewirken it, wählen wir eine Commiffion! Die Commiffion war unter allen Umftänden verpflichtet, die Reihäbankfrage zu prüfen, mit oder ohne ausdrüdlichen Auftrag ded Reichstags. Hielt es der Reichstag für gut, dad Motiv der Commiſſionswahl in diefem Fall feftzuftellen, fo war dies die unverfänglichite Sache von der Welt. Die Commiifion mußte die Reichsbankfrage prüfen, aber fie war und blieb völlig frei in der Be— bandlung derjelben bei dem von ihr vorzuberathenden Gefegentwurf. So war die ſonnenklare Lage des Antrags, und wenn ein Meijter der Geichäfte wie Forckenbeck kein Bedenken bei dem Antrag gefunden, fo hätte auch ein blödes Auge das Licht vorausſetzen können, das ihm noch nicht leuchtete. Der Neich- H, hätte Herrn Windthorſt und feine Freunde bet ihrem Humoriftifchen

andver mit lächelnder Miene überftimmen follen. Aber in den Reihen ver Fraktionen, aus melden der Lasker'ſche Antrag hervorgegangen, erhielt Herr MWindthorft Ueberläufer, die ihn auf einen Augenblick zum Führer der Ma— jorität de3 Reichsſtags machten. Was waren das für Leberläufer, etwa Defer- teure der Neichäfahne? D nein, fondern echte deutfche Pedanten, ſchwer— fällige Denker vom Abgrund tiefer Confufion, Wer kennt nicht Herrn Georg Befeler von der Paulskirche und von der erften Zeit der preußiichen Kammern ber? Ein Name von mannichfachem Verdienit, am berühmteften aber dadurd), daß er jededmal zur ungelegenften Zeit über feine eignen Füße ftolpernd, die eigne Partei in Verwirrung gebradt. Kaum ift Herr Befeler wieder im Reichstag, fo fchlägt er nach alter Gemohnheit wieder fein unförmliches Rad zum allgemeinen Entſetzen und Gelächter. Der Dann war wirflid von der Verlegung der Geichäftsordnung überzeugt, er ſprach von einer Handlungs— weife in fraudem ‚legis und beinah von einer Sünde wider den heiligen Geift. Ein hübſcher Wis der altgriechiichen Sophiſtik ift fehr erheiternd ing Plattdeutjche überfegt worden. Ein fchlauer und biederer Landmann mird von einem Vorübergehenden gefragt: ift der Hund fin Vater? Nach den mannichfaltigiten Anftrengungen des Geifted antwortet der Pfiffikus gereizt: ne, id bin dem Hund fin Bater! In diefen Gemütbhäzuftand muß man fi verfegen, um die Rede des Herren Befeler zu begreifen, der die Fehler der Zugenden feines niederfächfiihen Stammes hat. Aber wie die Verwirrung jene Randmannd etwas Anſteckendes hat, fo die Verwirrung des Herrn Befeler. Er führte Herrn Windthorft durd einige Mitbefangene eine kleine Majorität u. Der Präfident v. Forckenbeck fand es jedoch außer dem Spaß, in einem fonnenflaren Falle durch die Majorität der Unfenntnif der Geſchäftsordnung überführt zu werden, und legte fein Amt nieder. Die Art, nie Herr Windthorit ih zum Fürfprecher der durch einftimmige Akklamation zu bewirfenden Wieder: wahl des verehrten Mannes machte, zeigte ihn als galant homme, der wohl zu unterfcheiden weiß, wo der Scherz aufhören muß, und der erite ijt, die Folgen eines Scherzes, fobald fie unbequem werden wollen, mit gefälliger und fiherer Gewandtheit abzuwenden. Herr Befeler aber hat fo tragifch geendet wie begonnen, und die nationalliberale Fraktion verlaffen, nachdem er in derfelben einige Vorwürfe hören müffen.

Damit wollen wir für heute unfern Bericht fchließen und die Sikung vom 21. November, die ihre intereflanten Zwifchenfälle hatte, dem nächiten Briefe aufiparen, damit der diegmalige nicht zu lang werde. q

—T.

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Behnahtsbüherfhan.

Die Rundſchau dieſes Jahres über die Bücher, welche fih dazu drama, den Kleinen zur Weihnacht geſchenkt zu werden, dürfen wir wohl mit’yugr und Recht beginnen mit der Monatäfhrift „Deutfhe Jugend“ (Berlag von Alphons Dürr in Leipzig) herausgegeben von Julius Lohmeye unter künſtleriſcher Leitung von Oscar Pletſch. Vier Bände dieſer Jugend ſchrift die unſtreitig unter allen periodiſchen Schriften für die Kinderwelt weitaus den erften Rang einnimmt liegen nun abgejchloffen vor und. Bon fünften Bande find zwei Hefte erjchienen. Wenn man den inhalt der „Deut ſchen Jugend” von Unfang bis zu Ende durchmuftert, fo darf man freubig | fagen: fie ift fih immer treu geblieben; derfelbe Ernſt, derfelbe Gefhmad, Die felbe Vollendung vom erften Heft bis zum letten x. Es gewährt die reinfle Freude, wenn man fieht, wie bier bedeutende Schriftfteller und hervorragende $ Künftler, unter der Anregung und Leitung des feinfühligen Heraudgeberd, wetteifern, um in Wort und Bild die fchönfte Sugendzeitfchrift, die wir bee figen, immer auf derjelben Höhe des Strebens und Vollbringens zu halten“ Und ebenso erfreulich ift die Wahrnehmung, daß ein Verleger fich findet, bee für das ideale Biel diefed Unternehmen? das rühmlichſte Verſtändniß zeigt, und dasfelbe aufs freigebigfte unterftügt. Wir find überzeugt: bei allem Bel fall der Mrefje und der Fachmänner, den dieß Unternehmen von Anfang am! gefunden hat, tft doch, vom gefcäftlichen Standpunkt geiprochen, lange Zeit ı mit Schaden gearbeitet worden. Neuerdings bat diefe Uneigennügigfeit im I Intereſſe der großen Aufgabe, welche die „Deutfche Jugend“ ſich ftellt: „auf | Geſchmack und Gemüth der Tugend veredelnd zu wirken, ihren vaterländiſchen Sinn zu beleben und ein finniges Anſchauen der heimifchen Natur anzuregen“ eine bedeutfame Ermunterung erfahren. Das Preußiſche Kultusminifteriume! hat die Anjchaffung diefea Werkes, dad Abonnement auf dasfelbe, allen Jugend⸗ bibliothefen 2c. warm empfohlen. Wir an unferm Theil, thun unfere Pflicht, - Indem wir dem deutjchen Bürgerthbum diefe Jugendſchrift abermald dringend empfehlen. Glücklicherweiſe hält jest faft jede Familie des deutſchen Mittels ftande® zu ihrer Unterhaltung und Belehrung wenigſtens eine Zeitſchrift Aber leider ift ed ebenfo wahr, daß dabei und zwar aub dann, wenn über die Wahl des zweiten oder dritten Blatte8 berathen wird, da® man fortan halten fol, faft ausſchließlich das Unterhaltungd- und Lerninter eſſe der Erwachſenen in Frage kommt, der Leſe- und Anfchauungstrieb des Kindes dagegen mit einem gelegentlich geſchenkten Bilder- oder Leſebuch abgefundem - wird, das die „Herren Eltern“ obendrein felten angejehen haben, ehe es dem Kinde in die Hand gegeben wird, deſſen Werth fie aljo metften® nad dem Urtheile Anderer kennen. Jede Familie unferer Mittelftände, die Kinder beſitzt, und vier Thaler jährlich für Leſe- oder Bilderbücher auszugeben hat, folte fih Elar machen, daß diefe Ausgabe nicht in die Rubrik der einmaligen außer ordentlichen Ausgaben des Budgets, fondern in diejenige der fortdauernden ordentlihen Ausgaben einzuftellen, d. h. dad Abonnement auf eine folide ' Augendzeitfchrift dem Kinde und den Eltern bei weitem förderlicher ift, ala die: Unterwerfung unter den Zufall, der in Wahrheit bisher die Bibliothef der Kinder zufammenftellte. Die „deutfche Jugend“ namentlich bietet durch die Perſon ihres Leiters wie ihrer Mitarbeiter die volle Gewähr dafür, dag In— halt, Form und Ausführung der Stoffe, die fie bietet, mit vollendetem Ger ſchmack, und nad einem feiten heilfamen Plane gewählt wird.

Verantwortlicher Redakteur: Dr. Gans Blum in Leipzig. Berlag von F. 2. Herbig in Leipzig. Drud von Hüthel & Legler in Leipzig.

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2XXXIL. Jahrgang.

1 Die

Grenzboten.

Zeitſchrift | für

| Solitik, Siteratur und Kunfl. | N: 49,

| Ausgegeben am 4. December 1874.

|

| j Inhalt:

N N 361 | Im Silberland Nevada, re Twain (Schluß) . . 367 m.

| PBlaubdereien aus London. Alfred Blum. . . ..... 376 { Briefe aus ber Kaiferftadt. . . oo oo on 383 Dom beutfden Keichstag. Cr... oo... 0... 389 Weihbnahtöbühefhan. . ... 2... no 2... 395

| Srenzbotenumfälag: Piterarifche Anzeigen. Hierzu zwei literarifche Beilagen.

RB OR nn.

Leipzig, 1874. Friedrich Ludwig Herbig.

Man abonnirt bei allen Buhhandlungen und Pofäntern Ded Ins

Die soeben erschienene No, 48 der Jenaer Literaturzeitung, im Auftrage der Universität Jena herausgegeben von Anton Klette, Jena‘,

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Wilhelm Roſcher's Geſchichte der Mafional-Dekonomik in Deutfhland.

Im Staatöreht und in der Gejehgebung tft überall jene Streitfrage längft entfchieden, die beim Uebergang aus der abfoluten Monardie in die conftitutionelle Staatsordnung die Gemüther zu bewegen pflegt: wer über die höchſten Beamten ded Staated Controle üben, wer über die höchiten Richter urtheilen fol, In der Willenfhaft wird fie niemals ganz zu löſen fein am wenigften durch ftarre unbeugfame Formeln, wie deren das öffent. lihe Recht bedarf, um allen Staatöbürgern gegenüber mit gleicher Macht und in gleihem Sinne fih zu behaupten. In allen Wiſſenſchaften tft im Gegen- theil die Formel der Controle und des Urtheild, mit welcher die vornehmiten Vertreter des ftolzen Reiches der Geifter zu meſſen find, fo mwandelbar wie die Entmwidelung und Geſchichte der Menfhen und wie die individuelle Leiſtungsfähigkeit insbeſondere. Ja, in jeder Wiſſenſchaft und Kunft hat es einige wenige bevorzugte Geifter gegeben, für die e8 unter den Zeitgenoſſen feinen Richter, feinen Oberen gab; leitende, führende Geifter, welche erft durch die vereinte Arbeit der Beiten, die Fommende Sahrhunderte hervorbrachten, völlig verftanden, richtig beurtheilt, bisweilen erreicht, mandhmal wohl au überholt worden find. Aber unter den Zeitgenoffen, wie gefagt, iſt jenen höchſten Würdenträgern der Wiffenfhaft und Kunſt felten ein ebenbürtiger Kritiker , ein competenter Richter erwachfen. Daß ihren Werfen auch von Zeitgenoffen Rob gejpendet, Tadel zu Theil geworden ift, fol nicht in Ab— rede geftellt werden Tadel insbeſondere ift felten einem Sterblichen erfpart worden. Denn weit mehr ift unfere Natur dazu geeignet, die Schwächen der Mitftrebenden zu erfennen, ald ihre Vorzüge. Und jene großen Geifter haben vielleicht mirklih au8 den lobenden und tadelnden Stimmen der Beit- genofjen mefentliche Förderung empfangen für ihr hohes Streben. Aber fiherlich bei weitem mehr durch die Kebendigkeit des eignen Pflichtgefühlg, durch die Hoheit der Auffaffung ihres Lebensberufes, ald dur den Maßſtab der Kritik, die an ihnen geübt wurde.

In mannichfacher Hinficht ruft das neuefte Wer!) Wilhelm Roſcher's

*) ‚Geſchichte der National - Defonomif in Deutfchland" von Wilhelm Roſcher. München 1874. R. Oldenbourg.

Grenzboten IV. 1874. 46

ze

dieſe Betrachtungen wach. Der Lehrer der Nationalökonomie an der größten Hochſchule Deutſchlands, an der er bald feit einem Menfchenalter gewirkt und den größten Theil der jüngeren Gelehrten unferer Tage herangezogen hat, er, der hervorragendite Vertreter jener volkswirthſchaftlichen Schule, melde in engfter Verbindung mit der hiſtoriſchen Wiſſenſchaft die Wirthſchaft, die Wirthſchaftslehre und Mirthichaftäpolitif in praftifcher wie theoretifcher Hinfiht unter den deutſchen Fachgelehrten vertritt: er ift ficherlich der com petentefte Beurtheiler der Gefchichte und Literatur der Nationalökonomik, die für und moderne Menſchen hauptſächlich in Betracht fommt, d. h. der wirt: ihaftlihen Entmwidelung und Kiteratur feit dem Ausgang ded Mittelalters, jeit Beginn der Neformationgzeit. Er ift e8 in demjelben Maße auch für die wirthichaftliche Entwidelung und Literatur der antiken Welt, des Mittel: alters; aber über jene entfernteren Epochen der menſchlichen Gefelfchaft hat er bei anderen Gelegenheiten Licht verbreitet. Das vorliegende Werk ift der neueren Zeit gewidmet; es bildet den vierzehnten Band der „Sefchichte der Wiſſenſchaften in Deutfchland“, welche die biftoriihe Kommiffion bei der Königl. Akademie der Wiſſenſchaften in München herausgiebt, durch Unter- ftüsung derjenigen Mittel, welche der edle Vater ded Königs von Bayern, Mar IL, zur Verfügung ftellte. Es mag daher geftattet fein, auch bier lediglich zu unterfuchen, in wie hohem Grade Wilhelm Nofcher befähigt er Icheint, die Gefchichte der modernen National» Defonomik zu fehreiben. In feinem vorlegten bedeutenden Effay, „der Socialismus und feine Gönner“, hat Heinrih von Treitſchke Gelegenheit gehabt, die fcheinbar ftupende Gelehrfamkeit von Karl Marx, die in dem Evangelium feiner Nach— beter auf dem Kontinent, in jeinem dickbäuchigen Werke „das Kapital“ niedergelegt ift, zu vergleichen mit der Gelehrſamkeit Wilhelm Roſcher's. ALS jener Eſſay gefchrieben wurde, wußte der Verfaffer ficherlih nicht, daR Rofcher in Begriff ſtehe, feit vielen Jahren wieder einmal mit einem großen Buche aus feiner Feder die Welt zu befchenken, mit einem Buche, auf deijen Erfcheinen folange ſchon gehofft war, deſſen Drudlegung aber die unabläffige gelehrte Arbeit, die nimmermüde Pflichtitrenge des Verfaſſers immer verzögert hatte. Dem Eſſay de3 geiftwollen Hiftoriferd und Publieiſten tft diejed Bud faft auf dem Fuße gefolgt, und ed entſpricht fo vollftändig den Worten Treitſchke's, daß man fein Urtheil über Nofcher ohne Weiteres als Motto auf das Buch fegen könnte. „Man mag an Karl Mare’ Buche über das Kapital die große Belefenheit bewundern und den Talmudifteniharffinn im Zerfpalten und Berfafern der Begriffe das Cine, was den Gelehrten macht, fehlt ihm doch gänzlich: das wiljenfchaftliche Gewiſſen. Hier ift Feine Spur von der Befcheidenheit des Forſchers, der im Bemwußtfein des Nicht: willen? an feinen Stoff berantritt, um unbefangen zu lernen; was bemiefen

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werden fol, fteht für Mare von Haus aus fe. Man vergleiche Wilhelm Roſcher's unendlich reichere Gelehrfamfeit und die behutfame forgfältige An- wendung dieſes Wiſſens mit dem brutalen Fanatismus, der in Marr’ Buche einen ungeheueren Stoff zufammenträgt, um einen einzigen falfchen Grundgedanken zu erhärten und der ganze Abftand zwiſchen dem Ge: iehrten und dem Nabulijten tritt und vor Augen.“ Roſcher ſelbſt drüdt die Aufgabe ſeines Werkes befcheiden aus mit den Morten des Sfofrates: „ra srakcıa zawos dıskeldelv, val regt ToV vewor yeysrnusvav apyalos elneiv.“ Cr begrenzt feine Arbeit auf Darlegung der Gefchichte der deutjchen Volkswirthſchaftslehre von den Tagen der Humaniften bi auf die Gegen- wart, und dennody hat Rofcher über diefen fcheinbar engen Stoff ſechsund— ſechszig Drucdbogen gefchrieben, von denen weit über die Hälfte in Petitſatz vorliegt! Allerdings iſt nicht jede Rückficht auf die volkswirthſchaftliche Praxis dabei audgefchloffen, und kann es nicht fein; denn die Theorien der Nationalölonomie, ihre Dogmen und die Gefchichte ihrer Dogmen verfteht nur Derjenige, welcher die Wirklichkeit Fennt, der diefe Theorien und Dogmen entnommen find. Indeſſen in dem Sinne hat doch NRofcher fih auf die Ge Ihichte der Volkswirthſchaftslehre befchränft, daß er felbft da, wo er auf die volkswirthſchaftlichen Theorien rein praftiicher Staatsmwirthe, wie etwa Luther's fomeit er in die praftifch-wirtbfchaftliche Bewegung feiner Tage mit Rede und Schrift eintrat oder ded großen Kurfürften, Friedrich's des Großen und ſeines Vaters, Joſephs IL. u. f. m., eingeht, vorzugsweiſe fi) mit den Anfihten und Grundfägen diefer Theorien mit ihrer Anknüpfung an frühere, gleichzeitige, nachfolgende Theoretifer oder mit ihrer Entwidelung im Leben ihrer Träger ſelbſt befchäftigt, dagegen die Frage nur ftreift, ob und wie diefe Theorien verwirklicht wurden, welche Erfolge fie erzielten, welche Thaten ihres Urhebers fie im Gefolge hatten, welche Scidfale fie ihm zu— zogen. Indeſſen auch fo begrenzt, ift die Aufgabe die Nofcher fich ftellte und die er nach jahrelangen Studien in diefem Werfe in muftergültiger Weiſe gelöft Hat, eine der größten, an die eine einzelne Menfchenkraft fit) wagen kann. Welche Fülle vieljeitigfter Kenntniffe und Gaben feste das Unter- nehmen voraus: dem Leſer in Hiftorifcher Entwidelung darzuftellen, mas jederzeit die geiftigen Führer deutfcher Volkswirthſchaft in wiffenfchaftlicher Weife über den Gegenftand ihres Berufes gedacht haben. Es bedarf nicht der Ausführung, daß diefer Verfuch nicht gewagt und noch viel weniger gelöft werden Fonnte ohne die genaue Kenntniß aller der Hunderte von Schriften, welhe hier in ihren Hauptzügen wiedergegeben find, ohne die intime Ver— trautheit mit dem Nebendgang, der Rebensftellung, den Strebungen und Er- folgen der Verfaſſer. Und was mehr ald das Alles tft: der Verſuch konnte nicht gewagt und ausgeführt werden ohne die Elare Ueberſicht über die ge-

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heimnißvollen Fäden, welche eine der hier entwicelten nationalöfonomijchen Theorien und Ideen an die andere Enüpfen, eine Wirthſchaftsepoche an die andere, Daß heißt mit anderen Worten: der Verfaſſer mußte die gefammte Gntwidelung des öfonomijchen Wiffend und Strebend vom Ausgange des Mittelalterd bis auf unfere Tage, in ihren größten und kleinſten Vertretern mit beherrfhendem Blicke umfaffen, ehe er an diefe Aufgabe ging, und das vorliegende Werk zeigt, daß er diefe ungewöhnlichen Bedingungen in ſich vereinigte. Darum iſt diefed Buch auch im Grunde ein weit größerer Schaf für unfere Nationalliteratur, als der befcheidene Titel und der bejcheidene Berfafler verrathen mögen. Jeder, der die Wichtigkeit der Volkswirthſchaft für das nationale Volksleben überhaupt erfennt, jeder der weiß, wie in Mirklichkeit Feine andere Function des Völkerlebens fo fehr international angelegt ift, fo fehr Einwirkungen von außerhalb der Landesgrenzen unter worfen und zu foldhen über die Volksgrenzen hinaus fähig ift, als die Theorie und praftifche Entmwidelung der Staatswirthſchaft der wird auch erkennen, daß in diefem Werke nicht blos für unfer Volk, fondern für alle Völker, die mit uns feit Ausgang des Mittelalterd geiftig und wirthichaftlich im Verkehr geftanden das will fagen fo gut wie für die ganze Menfchheit ſowohl in biftorifcher als in nationalöfonomifher Hinfiht ein ungewöhnlich bedeut- famer Erfolg errungen tft.

In unferer gelehrten Kiteratur läßt fich das neuefte Werf Roſcher's wohl nur einem andern ganz vergleichen an ebenbürtigem Werthe: Robert von Mohl's Geſchichte und Kiteratur der Staatswiſſenſchaften. Weiter ift in diefem der biftorifche Rahmen gefpannt, als bei Roſcher. Ins unendliche ſcheint der Blick Mohl's zu fchmweifen unter den Völkern der Erde. Und dennoch, wer in Kürze Rechenſchaft geben follte von dem Anhalt des Föftlichen Buches, der würde wohl nicht fehl gehen, wenn er fagte: er habe daraus Fingerzeige er: halten für die wunderbaren Accorde, welche zu harmoniſcher Stimmung die Kulturftaaten Europas bewegten feit Luther's und Machiavelli's Tagen bie In unfere Zeit. Auch bei Mohl bietet den höchſten Werth die durch feine um: faffende Forſchung vermittelte Erfenntniß, wie die vornehmften politifchen Denker Europas befruchtend auf einander wirkten, wie fie immer reiner und untadeliger die Rechte und Pflichten des modernen Staates conftruiren und wie bedeutfam vor allen Dingen das deutfche Staats: und Pflichtbewußtſein von dem Beifpiel und der Lehre der englifchen Staatdmänner und Staatk rehtälchrer gehoben wird. Und der nämliche Brundgedanfe verleiht auf Roſcher's Merk den höchſten Werth.

Bon den vornehmften literarifchen Vertretern unfred Volkes wird unfer Zeitalter fo oft, und wir meinen im Ganzen nicht mit Unrecht, als die Epoche ded lebten Entſcheidungskampfes zwifchen den romanischen und germanifchen

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Anfprühen auf die Weltherrfchaft bezeichnet fo 5. B. noch von Herman Grimm in feinem berühmten Efjay über Franfreih und Voltaire. Und in der That, felten ift der nationale Gegenfat und Haß zwiſchen den Angehös rigen der beiden Racen fo tief, nachhaltig und unverföhnlich zu Tage getreten, als in der Zeit, in der wir leben. Und doch ift der wirthichaftliche Verkehr, die gegenfeitige materielle und geiftige Einwirkung in Fragen der internatio» nalen Wirthſchaft zmijchen Germanen und Romanen faum jemals reger ge: weien, als in diefen Tagen, in denen über die Weltherrfchaft der einen oder andern Bölferfamilie, zu glorreicher Erhebung der einen, zu unerträglicher Demüthigung der andern, der unerbittlihe Würfel fallen fol! Das fcheint fat unglaublich; Manchem vielleicht als neuer untrüglicdher Beweis für die materialiſtiſche Verkommenheit des Beitalterd: daß man handelt und feilfcht und? am Andern zu gewinnen ftrebt, während man indgeheim die feharfe Waffe zückt und ihm unrühmlichen Verderb finnt. Aber wir mögen und tröften: unfere Zeit ift in diefer Hinficht nicht fehlechter und nicht beffer ge worden, ald die Menfchheit von jeher gemwefen. Ja, es ift fogar ein Anzeichen aufftrebender Eräftiger Kultur, wenn die politifche Entzweiung der Bölfer immer weniger Störungen im internationalen Verkehr hervorruft, und das conjervative Intereſſe an der Erhaltung der guten Mirthichaft&beziehungen der Völker darf fo lange als ein durchaus achtbared und erfreuliches gelten, ald die höheren nationalen Intereſſen, welche die Staaten in Feindſchaft fegen, nicht unter jenem leiden, die Staatöpolitif nicht der Wirthſchafts- oder Handelspolitif untergeordnet wird. Diefed Verhältnig hat namentlih auch in den leten fünf Jahrhunderten beitanden. Kaum zu zählen find die frie— densbrecherifchen Anfälle, die Deutfchland in diefer Zeit von Franfreich er- fahren‘, noch viel zahlreicher die Schlachten und Kriege, in denen deutfche Waffen gegen fpanifche, franzöfifche, italienifche und felbft englifche kämpften. Und dennoch hat in diefer friedlofen Zeit der wirthichaftliche Verkehr der freitenden Nationen, namentlich aber der internationale geiftige Einfluß der volkswirthſchaftlichen Denker felten ganz aufgehört, und ift zu Zeiten fogar ein ganz außerordentlicher und beftimmender geweſen, auch dann, wenn nach langen Kriegen noch tiefe Feindfchaft unter den Völkern fi erhalten hatte. So zwiſchen Frankreich und Deutfchland zur Zeit Colbert's, deſſen Theorien damals ja als abfolute Heildwahrheit der Staatsmwirthfchaft galten. So zwifchen England, Sranfreih und Deutfchland in den Tagen Adam Smith's, deſſen großartige moderne Ideen fich den ganzen Gontinent eroberten, als das Feltland unter tapoleon’8 eiferner Fauft feufzte und England zum Feind Aller erklärt und mit der Continentalfperre betroffen war.

Es bedarf kaum der Verfiherung, daß diefed internationale Wirken der Seifter und Ideen bei Wilhelm Rofcher die eingehendfte, Elarfte und verftänd-

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nißreichite Darlegung gefunden hat. „Die germanifchen und romanijchen Völker hängen fo taufendfach miteinander zufammen“, jagt er, daß ihre meiften (ntwidelungen gemeinfame find, welche nur bei dem einen Wolfe früher, ſtärker, glücklicher durchgeführt werden, als bei dem andern. Go liegt denn auch der Schwerpunkt der volkswirthſchaftlichen Doctrin während der beinahe fünf Sahrhunderte, die wir zu durchwandern haben, nur in wenigen kurzen Menfchenaltern innerhalb Deutfchlands ſelbſt. Wir müſſen deßhalb, um unfern Gegenstand wirklich zu verftehen, immer auch die Literatur desjenigen fremden Volkes berüdjichtigen, in welchem jemweilig der Schwerpunft Tiegt: alfo bald die italienifche, ganz befonder® aber die engliſche.“ So wird fein Buh in demfelben Sinne, wie die Gefchichte und Literatur. der Staatäswiſſen— haften Mohl's auch zu einem gemeinfamen Schaf aller der Völker werden, deren wirthichaftliche Theorien darin dargelegt find. Denn Fein und befanntes Bud enthält fie im wirklich hiftorifchen Sinne vollftändiger und klarer als dieſes. Selbftverftändfih wäre der Umfang des Buches unendlich geworden und hätte deffen ganzer Plan feine concinne Deutlichkeit verloren, wenn der Verfafler, der die Gefchichte der deutfchen Nationalöfonomik fchreiben wollte, ſich etwa veranlaßt gefehen hätte, bei jedem fremden Autor, den er erwähnen muß, nun auch die wirthichaftlichen Doctrinen der Nation auf» und abwärts zu ver folgen; oder diejenigen, die über die Männer wie Colbert, Hume, Steuart, Ad. Smith noch gar nicht? wiſſen, von Grund aus über diefelben zu befehren. Daß died Roſcher's Abſicht nicht gemefen ift, auch nicht fein Fonnte, erklärt er felbft beitimmt in feiner Borrede. Aber um fo fürderlicher nur ift die fnappe, Elare und wir wiederholen mit Abficht das Wort, die echt hiſto— ifche Darlegung der Theorien diejer großen Denker, die nur den Zweck ver: folgt, im Studium der deutfchen Nationalöfonomif mit gef&hichtlicher Präcifion den Leſer zu orientiren. Daß Roſcher die Hiftorifhe Würdigung der außer deutfhen Nationalöfonomit mit der größten Gerechtigkeit übt, geht daraus hervor, daß er bei unbefangener gefchichtlicher Vergleichung aller volkswirthſchaft⸗ lihen Hauptliteraturen zu dem feinen Hörern und Schülern freilich längft befannten Ergebniß auch bier gelangt, „daß zwar die englifche auf unferm Gebiete ähnlich hervorragt, wie etwa auf dem Gebiete der neueren Kunftgefhichte die Malerei der Staltener; daß aber die Nationalöfonomik der Deutfchen im Ganzen Hinter der franzöfifchen und italienischen durchaus nicht zurückſteht.“

Es kann unmöglich Zweck Zeilen ſein, im Einzelnen zu verfolgen, in welch großem Sinne Roſcher dieſe Aufgabe gelöſt hat. Eine Arbeit, die dieſes Ziel ſich ſteckte, müßte nahezu ſo umfangreich ausfallen, wie das Buch ſelbſt und was die Hauptſache iſt es giebt wenig Leute in Deutſch— land, und der Verfaſſer rechnet ſich keineswegs zu ihnen, die der Aufgabe

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gewachfen wären, Roſcher auf diefem Gebiete zu Fritifiren. Dagegen wird fi bald die Gelegenheit bieten, an einem einzelnen wirthfchaftlichen Gedanfenkreig, fagen wir 5. B. der foctaldemofratifchen Doctrin, in der Zeitperiode, die Roſcher's Merk umfaßt, auch einem weiteren Xeferfreiß zu zeigen, welche Fülle von Anregung, Belehrung und Earer Drientirung Jeder aus diefem bedeutenden Buche ſchöpfen kann.

H. B.

Im Hilberland Nevada. Nach Mark Twain. (Schluß.)

„Wir näherten und“ erzählt Mark Twain, „den Ende unſerer langen Reife. Es war der Morgen des zwanzigiten Tages. Um Mittag follten wir Garfon City, die Hauptftadt des Territoriums Nevada, erreihen. Wir waren nicht froh, fondern betrübt. Es war eine ſchöne Vergnügungäreife gewefen, wir Hatten ung jeden Tag reichlih mit Wundern genährt, wir waren jest an das Leben in der Poſt gut gewöhnt und liebten es fehr, und jo war der Gedanke, daß es damit nun aufhören und man fich niederlaffen jolte, um ein langmellige® Leben in einem Landſtädtchen zu beginnen, nicht angenehm, fondern im Gegentheil niederfchlagend. Aeußerlich war unfre neue Heimath eine Wüfte, eingefchloffen von öden, mit Schnee befleiveten Bergen. Es gab Feinen Pflanzenwuchs, ausgenommen die endlofen Salbei »Büfche und Fettholzſträucher. Die ganze Natur war grau davon. Wir gingen wie ein Pflug tief durch den Alkaliftaub, der fich in dichten Wolken erhob und wie Rauch von einem brennenden Haufe fi über die Ebne hinwälzte. Wir famen an und ftiegen aus, und die Poſt ging weiter. Carfon City war eine Holzitadt, die Zahl ihrer Einwohner betrug zweitaufend. Die Hauptftraße beitand aus vier oder fünf Neihen von Eleinen weißen Bretterhäufern, die zu hoch waren, um fich darauf zu fesen, aber nicht zu hoch für verjchiedene an— dere Abfichten; in der That, Faum hoch genug. Sie waren Seite an Seite dicht an einander gebaut, wie wenn es in der mächtigen Ebene an Raum mangelte. Das Trottoir bildeten Bretter, die mehr oder minder locder waren und Luſt zum Klappern zeigten, wenn man darauf ging. In der Mitte der Stadt, den Läden gegenüber, war die allen Städten jenſeits der Felfengebirge angeborne „Plaza“, ein großer, nicht umfriedeter ebener Raum, der in ber

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Mitte einen Freiheitsbaum hatte und ſehr nüslich zu Auctionen, Pferde verfäufen und Bolfdverfammlungen, ſowie für Fuhrleute zum Rageraufichlagen war. Mir wurden in der Boftftation und auf dem Wege vom Hotel zum Gouverneur verfohiedenen Bürgern vorgejtelt unter andern einem Herr Harrid, der zu Pferde war. Er begann etwas zu fagen, unterbrach fich aber mit der Bemerfung: „Ih muß Sie für eine Minute um Entfchuldigung bitten. Dort ift der Zeuge, welcher beſchworen hat, daß ich die von Gali- fornien fommende Poſt berauben geholfen eine unverfhämte Einmiſchung, mein Herr, denn ih bin mit dem Menfchen gar nicht befannt.* Darauf ritt er hinüber und machte ihm Vorwürfe mit einem fechäläufigen Revolver, und der Fremde entjehuldigte fi mit einem zweiten. Als die Biftolen geleert waren, nahm der Fremde feine Arbeit (er flicte fich feine Peitſchenſchnur) wieder zur Hand, und Herr Harris ritt mit einem höflichen Kopfniden, das Gefiht heimwärts gerichtet, vorüber. Er hatte eine Kugel durch einen feiner Qungenflügel und verfchiedene in feine Hüften befommen, und aus diefen Wunden ftrömten kleine Blutbächlein, die über die Seiten des Pferdes riefelten und das Thier ganz malerifch ausfehen ließen. Niemals fah ich fpäter Harris nad jemand ſchießen, wo ed mir nicht jenen erften Tag in Carſon Eity ins Gedächtniß rief. Died war alle, was wir diefen Tag fahen; denn es war jest zwei Uhr, und nad Landesſitte begann nun der tägliche „Wasbhoe— Zephyr“ (Washoe ift ein beliebter Spisname für Nevada) zu mehen. Eine hochſchwebende Staubwehe von der Größe der Vereinigten Staaten Fam mit ihm, und die Hauptjtadt von Nevada verſchwand vor unfern Blicken. Indeß gab es doch mancherlei zu fehen, was nicht ganz ohne ntereffe für Neu- eingetroffne war. Denn die riefige Staubwolfe war dicht betüpfelt mit Dingen, die der obern Luft fremd find, mit lebendigen und todten Dingen, die zwifchen den fid) dahinwälzenden Staubmwolfen hierhin und dorthin flatterten, gingen und famen, erſchienen und verfhmwanden mit Hüten, Hühnern und Sonnenfhirmen, die hoch oben am Himmel hinfegelten, mit Deden, Blehfchildern, Salbei-Geftrüpp und Schindeln, die ein wenig tiefer binflogen, mit Abſtreich bretern und Büffelröcken noch tiefer, mit Schaufeln und Kohlenkaften in der nächſten Luftſchicht, Glasthüren, Katzen und Eleinen Kindern in der folgenden, zerriffnen Holzhöfen, leichten Buggy-Wagen und Schubfarren in der dann nad unten folgenden, und zuleßt, nur dreißig oder vierzig Yuß über dem Erdboden, ging ein wirbelnder Sturm audwandernder Dächer und leerer Bauftellen hin. Es war wirklich etwas dabei zu fehen. Ich hätte aber mehr fehen können, wenn ich den Staub hätte hindern Fönnen, mir in die Augen zu fliegen.“

Die Wohnung Mark Twain's In Carfon Eity verrieth natürlich deutlich, daß er fih auf einem weit vorgefchobenen Poſten der Kultur befand. Die

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Zwiſchenwände der einzelnen Zimmer z. B. bejtanden lediglich aus einer Art groben Baummollenzeuged® aus alten Mehlfäden u. dergl. gefertigt. „Ge— legentlich verfchönerte die befjere Klaffe ihre Leinwand auch dadurch, daß fie Holzfhnitte aus Harper’ Wochenſchrift darauf Elebte. In vielen Fällen ſchwangen ſich die Reichen und Gebildeten zu Spudnäpfen und andern Be: meifen eined Gefallen? an Pracht und Luxus empor Wir hatten einen Teppih und ein Mafchbeden von echtem Steingut. Wolgli wurden wir von den andern Inſaſſen des Ranchs rückſichtslos gehaßt. Als wir gar noch einen bemalten Fenſtervorhang von Wachsleinwand Hinzufügten, riskirten wir einfach unfer Reben. Um Blutvergießen zu verhüten, zog ich hinauf und ſchlug mein Quartier bei den titellofen Plebejern in einer der vierzehn ſchmalen Bettitellen aus Fichtenholz auf, die in zwei langen Reihen in dem einzigen Zimmer ftanden, welche das zweite Stodwerf enthielt. Die Vierzehn waren eine Iuftige Gefellfehaft. Sie hießen im Volksmunde die „Iriſche Brigade”, obwohl fih unter der ganzen Umgebung des Gouverneurd nur vier oder fünf Srländer befanden. Die gutmüthige Ercellenz war fehr verdrießlich über das Gerede, das feine Keibgarde hervorrief, vorzüglih, als ſich das Gerücht verbreitete, fie wären bezahlte Meuchelmörder, die er fich mitgebradht, um, wenn ed nothmwendig wäre, die Zahl der demofratifh Stimmenden in der Stille zu vermindern.” Der Gouverneur fuchte diefe „Brigade“, die bei ihm in Koft und Logis lebte, fo nüslich wie möglich zu verwenden, und ſchlug ihnen beifpieläweife vor., eine Eiſenbahn über die Sierra Nevada zu bauen, ein Gedanke, der mit heroifcher Begeifterung von den Vierzehn aufgegriffen wird, ohne indefjen vorläufig etwas anderes einzubringen, ald erhöhten Appetit, Staub, Müdigkeit, Fußkrankheit und eine fehr anfehnlihe Sammlung von Taranteln, welche im Schlafzimmer in‘ bevedten Weingläfern verwahrt wurden. „Wir hatten von ihnen eine wahre Menagerie, die auf den Simfen in der Stube hin aufgeftellt war. Einige diefer Spinnen Fonnten mit ihren haarigen, mudfulöfen Beinen über eine gewöhnliche Untertaffe hinwegſpannen, und wenn ihr Gefühl verlegt oder ihre Würde beleidigt wurde, ſahen fie aus wie die ruchlofeften Hallunfen, welche die Thierwelt hervorzubringen vermag. Wenn ihre gläfernen Gefängniffe auch noch fo leife berührt wurden, waren fie im Augenbli auf den Beinen und Fampfbereit. Steif und ſtolz? In der That, fie pflegten dann einen Strohhalm aufzuheben und fich damit die Zähne zu ftochern wie ein Congreßmitglied. Nun wehte wie gewöhnlich auch in der erften Nacht nach der Rückkehr der Brigade ein müthender Zephyr, und um Mitternacht wurde dad Dach eined benachbarten Stalled fortgeweht und eine Ede deffelben fuhr krachend durch die Seite unfered Rande. 8 folgte ein gleichzeitige Erwachen, eine geräufchvolle Mufterung der Brigade im Dunkeln und ein allgemeines Stolpern und UebereinanderBurzeln in dem Grenzboten IV. 1874, 47

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ſchmalen Gange zwifchen den Bettreifen. Mitten in dem Getümmel fprang Bob H. aus einem gefunden Schlafe auf und ftieß mit feinem Kopfe einen Sims herunter. Augenblicklich fehrie er: „Reißt aus, Jungen, die Taranteln find los!“ Glüdlicherweife waren die Taranteln aber ebenſo erpicht auf ihr Mohlergehen, mie die aufgefchredten Schläfer und zogen es daher vor, jo raſch wie möglich die Tangentbehrte Freiheit aufzufuchen.

Inzwiſchen ift Mark Twain „Beamter der Regierung, WPrivatjecretair Sr. Majeftät ded Secretaird geworden, aber ed gab noch nicht Schreiberei genug für und Beide“ und fo ließ fih das Bummeln erjt recht verantworten. Diefer beneidendwerthen Beichäftigungslofigkeit verdanfen wir eine der erha- benften Schilderungen ded Buches. Twain und fein Freund Johnny haben viel von der wunderbaren Schönheit des Sees Tahoe gehört, eines wilden Bergfeed, hoch oben in der Wildniß himmelanftrebender, fchneegefrönter Berge, von unvergleichlich klarem Waſſer, weitab von allen menſchlichen Kulturftätten. Drei oder vier Mitglieder der Brigade waren dagemwefen, hatten etwas Wald: land an den Ufern für ſich abgegrenzt und in ihrem Lager eine Quantität Lebensmittel aufgehäuft. Sie erreichen den See nach der mühfehligiten Wan- derung und überfahren ihn mit Anftrengung in einem Heinen Kahn, welcher der Brigade gehörte. „EI war ein Föftliches Abendbrot, warmes Brot, ge bratener Speck und ſchwarzer Kaffee. Es mar aud) eine köſtliche Ginfamkeit, in der wir waren. Drei Meilen entfernt lag eine Sägemühle mit einigen Arbeitern, aber über den ganzen Umkreis ded Sees waren feine fünfzehn andere menſchliche Weſen zerftreut. Als die Dunkelheit herabſank, und die Sterne hervortraten und den großen Waflerfpiegel mit Juwelen bejetsten, ſchmauchten wir beſchaulich unjere Pfeifen in der feierlichen Stille und ver: gaßen unfere Sorgen und Schmerzen. Zu rechter Zeit breiteten wir unfere Deden über den warmen Sand zwifchen zwei Felsſtücken und verfielen bald in Schlaf. Wenn e8 irgend ein Leben giebt, welches glüdlicyer ift, als das Leben, welches wir die nächften zwei oder drei Wochen in unferm Waldrand führten, fo muß es eine Sorte Leben fein, von der ich nichts in Büchern ge lefen und nicht in Perſon erfahren habe. Wir fahen während der Zeit außer ung felbit fein lebendes Weſen und hörten Feine anderen Töne, als diejenigen,

welche der Wind und die Wellen hören liegen, das Seufzen der Fichten und

dann und wann den fernen Donner einer Zamwine Der Wald um und war dicht und Fühl, der molfenlofe Himmel über uns ftrahlte vom Sonnenfcein, der breite See vor und war je nad) der Stimmung der Natur Elar wie Glas, oder vom Lufthauch Ieicht gefräufelt, oder ſchwarz und vom Sturme aufge jagt, und die ihn im Kreife überragenden Bergkuppeln, mit Wäldern beflei- det, durch Bergrutſche benarbt, durch Schluchten und Thäler gefpalten und mit Hauben funfelnden Schnee bedeckt, umrahmten paſſend das edle Bild

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und vollendeten dasſelbe. Der Augenblik war ſtets bezaubernd, entzüdend, verzücdend. Dad Auge wurde Tag und Naht, in ruhiger Zeit oder Sturm nie müde, zu fohauen. Es litt nur an einem Kummer, und der war, daß es nicht immer fchauen Fonnte, fondern fich bisweilen zum Schlafe ſchließen mußte. * Bei diefem feligen Leben gehen indeffen bald die Lebensmittel zu Ende, neue werden aus dem Lager geholt, Hungrig und müde wird die neue Heimath erreicht und fofort ein Kochfeuer im Freien gemadht. Mark Twain eilt nach dem Boote, die Bratpfanne zu holen. Während ich dabet mar, hörte ich einen Schrei von Johnny, und ala ich aufblicte, fah ich, dag mein Feuer über die Gegend hingaloppirte. Johnny befand fich jenſeits desfelben und mußte durch die Flammen laufen, um das Seeufer zu gewinnen, und dann ftanden wir hülflos da und beobachteten die Verwüftung. Der Boden war mit einem dicken Teppich trodner Fichtennadeln belegt, und das Feuer ließ fie auf die erfte Berührung aufflammen, ald wenn fie Schießpulver wären. Es war wunderbar zu fehen, mit welcher grimmen Haft die hohe Flammenfäule ſich fortbewegte. Mein KHaffeetopf mar verloren und alles Andere mit ihm. In anderthalb Minuten ergriff e8 einen dicht gewachfenen Buſch trodnen Manzanita-Geſträuchs von ſechs bis acht Fuß Höhe, und jest wurde dad Brüllen, Ruffen und Praffeln geradezu fürchterlich. Wir wurden dur die durchdringende Hite nach dem Boote getrieben, und dort blieben wir wie durch Zauber feitgehalten. Innerhalb einer halben Stunde war Alles vor ung ein rafender, Mlendender Flammenſtrom. Es brannte an den benach— barten Hügelfämmen empor, überftieg fie und verſchwand in den jenfeitigen Schluchten, Fam plößlih aus ferneren und höheren Bergrüden wieder zum Vorſchein, verbreitete eine großartigere Erleuchtung und tauchte wieder unter. Dann flammte es wieder auf, höher und immer höher am Gebirgdhang, jandte Feuerftröme wie Plänflerfetten hierhin und dorthin aus, die fih dann mit ihren Farmoifinrothen Spiralen zmifchen fernen Wällen, Rippen und Schlünden hinfchlängelten, bis, fo weit dad Auge reichte, die hochragenden Gebirgsfronten gleichfam mit einem verfchlungenen Netzwerk von rothen Rava- bächen überzogen waren. Weithin über dem Waſſer waren die Feldhörner und Bergkuppeln mit grellem rothem Glanz beleuchtet, und dad Firmament droben war der Widerfchein einer Hölle. Feder Zug diefes Schaufpield wieder: holte fi in dem glühenden Spiegel des Sees. Beide Bilder waren erhaben, beite fchön, aber das im Eee hatte eine verwirrende tiefe Farbenpracht, welche das Auge bezauberte und es ftärfer feffelte. Vier lange Stunden ſaßen wir in und verfunfen und regungslos da. Wir dachten an Fein Abendeffen und empfanden Feine Grmüdung. Aber um elf Uhr hatte der Brand fich über die Stellen hinaus verbreitet, bis zu denen unfre Augen reichten, und jetzt legte ſich allmählich das Dunkel über die Landſchaft.“

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Damit war dem Leben am See Tahoe ein Ende gefegt. Twain Eehrte nad Garfon City zurück und erhandelte dort glücklich in einer Auction „den echten merikfanifchen Stöpfel“, ein Pferd, das beffer boden konnte wie irgend ein andere in den Vereinigten Staaten. Twain konnte feinen Jubel über den Kauf Faum zurüdbalten und bradte dad Geſchöpf, nachdem es fein Diner eingenommen, auf die Plaza. „Gewiſſe Bürger hielten e8 am Kopfe und andere am Schwanze, während ich aufitieg. Sobald ich aufitieg, ftellte der Stöpfel alle feine Füfe auf eine Stelle zufammen, fenkte feinen Rüden, mwölbte ihn dann plößlich und fchleuderte mich drei bis vier Fuß gradaus in die Luft. Sch Fam ebenfo gerade wieder herunter in den Sattel, flog augen: brieklich wieder empor, kam beinahe auf den Sattelfnopf herunter, ſchoß aber: mald empor und fam auf den Hals ded Gaules zu fien alles das im Berlaufe von drei oder vier Secunden. Dann ftieg er auf und ftand faft Ferzengerade auf den Hinterbeinen, und ich rutjchte, indem ich mich verzweifelt an feinen magern Hals anflammerte, in den Sattel zurüd und blieb fiten. Gr fam wieder auf alle Viere zu ftehen, aber fofort hob er die Hinterbeine, fhlug boshaft nah dem Himmel aud und ftand auf feinen WVorderbeinen. Und jest fam er wieder nieder und begann das urfprüngliche Erereitium, mid empor fliegen zu laffen, von Neuem. Als ich das dritte Mal emporfhof, hörte ich einen Fremden fagen: „DO, Fann der boden!” Selbſtverſtändlich iſt das Gefühl, diefen Gaul zu befiten, fehr bald Fein angenehmes mehr. „Ich gab Fein Lebenszeichen, aber ih nahm mir vor, wenn das Reichenbegängnik des Bruderd des Auctionatord während meine? Aufenthalt® im Xerritorium ftattfinden follte, alle andern Erholungen zu verfhieben und ihm beizumohnen.“ Das Pferd war nicht einmal zu verleihen, geſchweige denn zu vermiethen oder zu verfaufen, dagegen fraß daß Thier eine Tonne Heu für 225 Dollars in ſechs Wochen und würde hundert Tonnen gefreffen haben, wenn man’d ihm zugelafien hätte „Diefen felben Tag noch gab ich den echten mertkanifchen Stöpfel einem vorüberziehenden Auswanderer aus Arkanſas, den das Glüd mir in die Hände fpielte. Wenn die8 jemals feinen Augen begegnet, fo mird er fich zmeifeldohne der Schenkung erinnern.“

Die nun folgende Schilderung der Einwirkung der Regierung der Ver- einigten Staaten auf das entlegene Silberland Nevada ift wirklich klaſſiſch zu nennen. Wir entnehmen ihr das Folgende: „Die Leute waren froh, eine gejetlich geordnete Regierung zu haben, freuten ſich aber nicht befonders, daß man Fremden von entlegenen Staaten Gewalt über fie verliehen, ein Ge fühl, welches natürlich genug war. Sie dachten, die Beamten hätten aus ihrer eignen Mitte gewählt werden follen, unter hervorragenden Bürgern, die fih ein Recht aaf ſolche Beförderung erworben hätten, und mit der Be- völferung gleich fühlten und ebenfo gründlich befannt wären mit dem, was

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dad Territorium bedürfe. Ste hatten ohne Zweifel Necht, die Sache fo anzu: jehen. Die neuen Beamten waren „Auswanderer“, und das verlieh fein Anrecht auf irgend jemandes Liebe oder Bewunderung. Die neue Regierung wurde mit beträchtlicher Kälte aufgenommen. Sie drängte fih nicht nur von fremd ber auf, fondern war arm. Sie war nicht einmal werth, daß man fie rupfte, nur die geringfte Sorte der Streber nach Aemtchen fand das. Jedermann mußte, daß der Congreß nur zmwanzigtaufend Dollars in Staats— noten jährlich zu ihrem Unterhalt ausgefegt hatte ungefähr fo viel Geld, um ein Quarz» Bochwerf einen Monat in Betrieb zu erhalten. Und jeder: mann mußte ferner, daß das Geld für das erfte Jahr noch in Washington war, und daß die Herfchaffung desfelben ein langmwieriger und ſchwieriger Proceß fein würde. Carſon City war zu feindfelig und zu Flug, um dem importirten Wickelkinde mit irgendwelcher unfcidlicher Haft ein Conto zu eröffnen. Es liegt etwad Halb Ernftes halb Spadhaftes In den Kämpfen, mit denen eine neugeborne Territorial-Regierung fich in diefer Welt geltend zu machen ſucht. Die unfrige hatte dabei eine fchmere Zeit durchzumachen. Die Organifche Acte und die „Inftructionen" vom Staatd- Departement be- fahlen, daß eine Gefebgebung in der und der Zeit gemählt und daß ihre Situngen an dem und dem Tage eröffnet merden follten. Es war leicht, Öefeggeber zu befommen, felbft für drei Dollar den Tag, obwohl Koft und Wohnung fünfthalb Dollars Eofteten ; denn Auszeichnung hat ihren Reiz in Nevada ganz fo wie anderdmo, und es gab eine Menge patriotifcher Seelen ohne Beſchäftigung. Aber eine Halle für die Geſetzgebung zu befchaffen, war eine ganz und gar andere Sache. Carſon Eity Iehnte höflich ab, einen Saal miethfret Herzugeben oder der Megierung einen auf Gredit zu überlafjen. Aber ald Curry von der Schwierigkeit hörte, trat er einfam und allein vor, nahm das Staatäfchiff auf die Schultern, hob es über die Barre und machte 8 wieder flott. ch meine den „Alten Curry“, den „Alten Abe Curry.“ Wäre er nicht gemefen, fo hätte die Gefeggebung ihre Situngen in der Wüſte abhalten müffen. Er bot fein großes fteinerne® Gebäude dicht neben der Stadtgrenze miethfrei an, und es wurde gern genommen. Dann baute er eine Pferdebahn von der Stadt nad) dem Kapitol und beförderte die Gefet- geber gratid. Gr lieferte ferner fichtene Bänke und Stühle für diefelbe und bededlte die Dielen mit reinen Eägefpähnen, die Teppih und Spudnapf zu: gleih vertraten. Ohne Curry wäre die Regierung in den Windeln gejtorben- Der Secretär beichaffte eine Zmifchenwand von Sadleinwand, um den Senat vom Abgeordnetenhaufe zu trennen, aber obwohl diefelbe nur drei Dollars und vierzig Cents Eoftete, mweigerten die Vereinigten Staaten fi, dafür Zahlung zu leiften. Als man fie daran erinnerte, daß die „Snftructionen die Zahlung einer reichlihen Miethe für eine Geſetzgebungshalle geftatteten,

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und daß dieſes Geld dem Vaterlande durch die Großmuth des Herrn Curry erſpart worden ſei, ſagten die Vereinigten Staaten, daß dies die Sache nicht ändere, und daß die drei Dollars vierzig Gent? von den achtzehnhundert Dollars Gehalt, die dem Secretär audgeworfen worden, in Abzug gebradt werden würden was denn auch geſchah!“ Derfelben meifen Sparſamkeit begegnete der Seeretär in Betreff der von ihm eingefandten Drudrehnung für den der „Snftruction* gemäß ausgeführten Drud der Sitzungsberichte de8 Abgeordnetenhaufe® von Nevada. Die Papierdollar® der Regierung ftanden in Nevada damald genau auf vierzig Cents, ftatt auf Hundert. Um den Preid, den die Regierung vorjchrieb, war Drud und Papier ſchlechter— dings nur dann zu haben, wenn man Golddollars zahlte. Die „Inſtrue— tionen“ befahlen dem Gecretär, einen von der Regierung ausgegebenen Papier: dollar ald einem jeden andern von der Regierung audgegebenen Dollar glei zu betrachten. infolge deilen wurde der Drucd der Berichte nicht fortgefett. Darauf ertheilten die Vereinigten Etaaten dem Secretär eine große Rüge wegen Nichtbeachtung der „Snftructionen” und verwarnten ihn für den Fall, daß er Feine beiferen Wege wandelte. Deshalb ließ er Einiges druden, fandte die Rechnung mit einer volftändigen Auseinanderſetzung der hoben PBreife im Territorium nah Washington und lenkte die Aufmerkſamkeit auf einen gedrudten Marktberiht, worin man bemerken werde, daß fogar Heu mit zmweihundertundfünfztg Dollars die Tonne bezahlt werde. Die Vereinigten Staaten antworteten damit, daß fie den Betrag diefer Drudfachen von dem Gehalte des unglüdlichen Secretärd abzogen, und bemerften außerdem mit würdevollem Ernft, daß er in feinen „Snftructionen“ nichts finden würde, was von ihm verlangte, er folle Heu kaufen. Nichts in der Welt ift mit fo undurdhdringlicher Dunkelheit umbüllt ala der Verftand eines Controlleurs im Schatamt der Bereinigten Staaten. Selbit die Feuerflammen des Jenſeits fönnten da hinein nur ein mattfladerndes® Aufglimmen werfen. In den Tagen, von denen ich fpreche, Fonnte man ihm nie begreiflich machen, wie es fam, daß zmwanzigtaufend Dollard in Nevada, mo alle Bedürfniffe in enormem Preife ftanden, nicht fo weit reichten wie in den anderen Territorien, wo außerordentlihe MWohlfeilheit die Negel war. Er war ein Beamter, der immer nur auf die Heinen Ausgaben fein Augenmerk richtete. Wie ich vorher bemerkte, benußte der Secretär fein Schlafzimmer ald Bureau, und er bered- mete den Bereinigten Staaten feine Miethe, obſchon feine „Sinftructionen” diefelbe vorgefehen hatten und er ſich das mit Recht hätte zu Nutze machen fönnen (was ich mit mehr als blisfchneller Fertigkeit gethan Haben würde, wenn ich felbft Secretär geweſen wäre). Aber die Vereinigten Staaten zollten diefer Hingebung an ihr Intereſſe niemals Beifall. In der That, ich denke, mein Vaterland ſchämte fi, einen jo unvorforglichen Menſchen in feinem

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Dienfte zu haben. Jene „Inftructionen® (wir pflegten ala geiftige Turn- übung jeden Morgen ein Kapitel und jeden Sabbath in der Sonntagsſchule ein paar Kapitel daraus zu leſen; denn fie behandelten alle möglichen Dinge unter der Sonne und enthielten neben anderm ftatiftifchen Material au viele ſchätzbare Sachen religtöfer Natur), jene „Snftructionen® alfo befahlen, daß den Mitgliedern der Gefeßgebung Federmeſſer, Briefcouvertd, Federn und Schreibpapter geliefert werde. So Faufte der Secretär diefe Sachen und ver theilte fie, die Meſſer Fofteten dad Stüd drei Dollard. Es war eins zu viel, und der Seeretär gab es dem Schreiber des Abgeordnetenhaufes. Die Ver: einigten Staaten fagten, der Schreiber des Haufes fei fein „Mitglied“, und jogen wie gewöhnlich jene drei Dollard vom Gehalte des Secretärd ab. Weiße Leute verlangten für das Kleinmachen einer Ladung Brennholz drei oder vier Dollard. Der Secretär war jharfblidend genug, um einzufehen, dag die Vereinigten Staaten niemals einen folchen Preis zahlen würden, und jo ließ er fih von einem Indianer eine Ladung Bureauholz für anderthalb Dollars Eleinfägen. Er machte die üblihe Empfangsbefcheinigung zuredt, aber unterzeichnete fie mit feinem Namen, fondern fügte einfach eine Notiz hinzu, welche erklärte, dab ein Indianer die Urbeit verrichtet und zwar in jehr geſchickter und zufriedenftellender Weiſe verrichtet habe, aber die Empfang?» beicheinigung aus Mangel an Kenntnig in der erforderlihen Richtung nicht unterzeichnen könne. Der Seeretär hatte diefe anderthalb Dollard aus feiner Tafche zu bezahlen. Er dachte, die Vereinigten Staaten würden ſowohl feine Sparfamkeit als feine Ehrlichkeit bewundern, daß er die Arbeit für den halben Preis befommen, und daß er Feines angeblichen Indianer Unterfchrift unter die Empfangsbefcheinigung gefegt habe, allein die Bereinigten Staaten ſahen e8 nicht in dem Lichte an. Die Vereinigten Staaten waren zu fehr gewöhnt, AnderthalbDollar-Diebe in allerhand Hffentlichen Aemtern zu be- ſchäftigen, um feine Erklärung der Empfangsbeſcheinigung für irgendiie thatfächlich begründet zu erachten. Aber das nächſte Mal, wo der Indianer Holz für und fägte, lehrte ich ihm, am Ende der Empfangsbefcheinigung ein Kreuz machen es fah wie ein Kreuz aus, das ein ganzed Jahr lang be: trunfen gemwefen war und dann „bezeugte* ich ed, und e8 wurde ganz in der Drdnung befunden. Die Vereinigten Staaten fagten nie ein Wort. Ich bedauerte, die Empfangsbefcheinigung nicht über taufend Ladungen Holz aus— geftellt zu haben, ftatt über nur eine. Die Regierung meined Baterlandes fKilt die ehrliche Einfalt aus und ftreichelt die geriebne Schurfenhaftigkeit, und ich denfe, ich würde mich zu einem recht geſchickten Spisbuben entwidelt ‚haben. wenn ich ein oder zwei Jahre im Staatödienfte verblieben wäre.“

E3 mag genug fein an diefen Auszügen aus der bedeutendften Er- zählung Mark Twain's In der Grunom’fhen Ausgabe „Amerikaniſcher

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Humoriſten“. Hoffentlich, reizen dieſe gedrängten Bilder den Leſer, den übrigen, mindeſtens ebenſo intereſſanten Theil, welcher die Abenteuer des Verfaſſers als Silbergräber und Redaeteur darſtellt, im Werke ſelbſt zu ver— folgen. Daß die Kunſt des Ueberſetzers das engliſche Original völlig ver— geſſen läßt, uns das liebenswürdige Buch wirklich heimiſch macht, dafür ſprechen die vorſtehenden Auszüge zu ſehr für ſich ſelbſt, als daß noch ein Wort nöthig wäre. Zum Schluſſe nur ein Wort noch an die Leſer unter den Habitue® der Grenzboten find ed nicht viele die nah Mark Twain vielleicht im Converfationslericon fuchen, und dort nur das übliche Bacat finden, welches der Elaffifch gebildete Deutfche da zwifchen den Zeilen lieft, wo er vieles fieht, da8 nicht da if. Mark Twain ift ein Pſeudonym, „Markt Twain“ ift ein Kootjenruf bei Lothauswerfen auf dem Miffifippt. Der Berfaffer diefer köſtlichen Humoresfen trägt den bürgerlichen Namen Samuel Clemens und lebt in Hartford (Connecticut), Er iſt wirklich und leibhaftig fieben Jahre im Silberland Nevada herumgeftrihen ala Mineur und Redacteur und hat jchlieglich mit feiner Feder bei meitem mehr Gold gefchaufelt ald mit dem Grabſcheit. Vor wenigen Jahren noch hat er, troß der ungewöhnlichen Beliebtheit feiner Werke, öffentlihe Borlefungen aus feinen Sachen gehalten. est thut er diefed nicht mehr. Er mag jet mit dem biedern Kutjcher in Benedix' „Dienftboten“ fagen: „jegt iſt es genug, Chriſtiane.“ Und wir gönnen ed ihm von Herzen.

LVlandereien aus London.

Wohl felten hat fih die englifhe Metropole eined fo ausgezeichneten Herbfted zu erfreuen gehabt, mie diefes Jahr, denn troß ded Novembers, von dem es ſchon in fo manden englifchen Leſebüchern heißt: „there are fogs at London“ ſcheint die Sonne wenn auch nicht allzu warm, fo doch freundlid auf die unermepliche Stadt mit ihren herrlichen grünen Parks, ihrer jo reich belebten Themfe, ihrem Labyrinth von Straßen und über- und unterirdifchen Eifenbahnen, daß e8 den Fremden um fo angenehmer berührt, ala er es jetzt am wenigſten erwartet und gehofft hatte. Nur die City iſt in eine artig graue Molke gehüllt, die nur auf Stunden zuweilen etwas fich zertheilt, aber nie ganz verfchmwindet, aus der aber die Paulskirche mit ihrer ſchönen Kuppel um jo majeftätifcher herausragt. In London ift e8 noch nit Winter, kaum Spätherbft und da iſt e8 denn auch fein Wunder, daß die fehönen Straßen des MWeftend und die daranftoßenden Parks von einheimifchen und fremden

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Spaziergängern ftarg belebt find, die ihre Augen an den fo mannichfaltigen Erzeugniffen von Kunft und Induſtrie, die in den glänzenden Schaufenftern ausgeftellt find, oder an dem fohönen ewigen Grün der englifchen Raſen und Parks meiden.

Beſonders der 9. November hatte Alt und Jung aus den Häufern auf die Straßen gelodt. Diefer Tag ift befanntlich der Anfang der jeweilig einjährigen Amtsdauer des Lordmayor, und nad althergebraditer Sitte zieht der neuerwählte Bürgermeifter in feierlichem Aufzuge dur die Hauptitraßen der City und von Weſtend. Obgleih nun der Zug felbit durchaus nicht ala ſehr ſehenswerth bezeichnet werden kann, denn er befteht mit Aus nahme einiger weniger, allerdings prächtiger und des reichen Londons wür— diger Staatswagen, aus ganz gewöhnlichen Equtpagen, einigen Milttair- mufifhören, einer Unmaffe von Fahnen der Londoner Corporationen und den ganzen Zug einfaffenden Hufaren; fo läßt ſich doch fein Londoner nehmen , feinen neuen geftrengen Herrn ſchon am erften Tage feiner Amts— dauer von Angefiht zu Angeficht Fennen zu lernen, mobei er dann auch, wenn nöthig, die erforderlichen Ausftellungen in Form von harmlofen Witen gleich an die richtigfte Adreffe befördert. Der einmal auf diefe Weife in der löb— lichſten Abfiht unterbrochene Arbeitdtag wird dann im meiteren Verlaufe gleich zum richtigen Volksfeſt und befonder8 Abends ergeht ſich das Volk in den feitlich illuminirten Straßen bis fpät in die Nacht hinein mit harmlofen aber darum um fo ergößlicheren Scherzen. Man möchte denken, es wäre plögiih Faſching geworden, die zahlreichen Schaaren, die Kasperletheater, fonftige improvifirte Schauftellungen und ohrenzerreißende Concerte, natürlich alles auf offener Straße vereinigen fih um die Illuſion möglichſt vollſtän— dig zu machen.

Und das Alles in Rondon, in der Hauptftabt dedjenigen Volkes, das fonft als kalt und egoiftifch berechnend verſchrien ift, in der Hauptitadt des „Krämer: Bolked*? MWahrlih, wer Gelegenheit hatte, Engländer auf ihren Sommervergnügungdreifen auf dem Gontinent zu beobachten, wo fie ja be fannter Maßen nicht® weniger ald Frohfinn und harmloſe Heiterkeit, ge— Ihmweige denn etwa Liebenswürdigkeit zur Schau tragen, und fie dann wieder in England felbft, außerhalb der Gefchäfte, bei ihren Vergnügungen, oder gar bei Volkäfeften fieht, der kann ſich ob des Unterſchiedes nicht genug wundern. Aber wie England überhaupt das Rand der Contrafte ift, jo zeigt fi die auch hier wieder. Im Gefchäft, befonderd dem Fremden gegenüber, und in der Fremde iſt der Engländer egoiftifh und kalt, aber ebenjo wie er in feinen vier Wänden voll Gemüth ift, wie da das eigene Heim feine tiefe Seele zum Durchbruch kommen läßt, fo kann aud nur in der Heimath die

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Der Engländer in der Fremde und der in der Heimath find zmei ganz verfähtedene Perfonen. Dazu kommt noch, daß befonderd unter den Ber: gnügungdreifenden auf dem Gontinent fich fehr viel Ausſchuß befindet; e8 ift diefe Bemerkung ſchon fehr oft in Deutſchland gemacht worden und e8 fcheint faft, als, ob bier Geift und Körper Hand in Hand gingen, denn auch von den viel gerühmten englifchen Schönheiten ift auf dem Continent wenig zu fehen, während hier zu Lande defto mehr und zwar ohne die ewige blaffe Geſichtsfarbe.

Wenn London fchon zu gewöhnlichen Zeiten mit feinen fo überaus be lebten Straßen und Brüden auf den Fremden und befonder® auf denjenigen, der niemald früher in wirklich großen Städten gelebt hat, einen übermwäl- tigenden Eindrud macht, wenn er fi kaum in den anfcheinend regellofen Tumult wagt, aus Furt, er möchte buchftäblich darin umkommen, fo ift | natürlih zu Zeiten, mo Alles fih auf den Straßen nah Schaugeprängen drängt und zudem nod der an fidh ſchon lebhafte Wagenverfehr aus den großen Hauptftraßen in die Eleinen Seiten« und Nebenftraßen verdrängt ift und fih da mühfam durchwindet, der erfte Eindrucd ein noch betäubenderer. Man wird beflommen, man fürdhtet irgend welches Unglüd vor feinen Augen fih ereignen zu fehen.

Aber nichts von alledem, es hat nur den Schein, ald ob irgend ein tückiſches Geſchick den Menfchen zu ereilen Taure, die Verwirrung, der Tumult, Alles löſt und Härt fi in wenig Minuten, es wickelt fi Alles mit einer eigenartigen Ruhe und doch verhältnigmäßiger Geſchwindigkeit ab. Es ilt harakteriftifch für London, daß die niedern Stände zu ſolchen Straßenauf: zügen oft mit Kind und Kegel ziehen, daß man im dichteften Gedränge Kleine Kinder, die noch auf den Armen getragen werden, und zwar nicht nur ver- einzelt fieht, und daß alle diefe Eleinen Weltbürger, wenn auch häufig fchrei- end, doch fiher und ohne Schaden wieder nad) Haufe fommen.

Was ift dad Geheimniß diefer fo eigenthümlichen, fo beruhigenden Er- ſcheinung? Halten etwa einzig und allein die Taufende von Policemen, die in den Straßen aufgeftellt find, die Ordnung aufreht? Gewiß tragen fie fehr viel dazu bei, aber fie allein find e8 nicht, fondern die Gefammtheit des Volkes ift ed, welches eine Ehre darein ſetzt, womöglich ohne irgend melde Bolizeihülfe die ſchwierigſten Verhältnifje zu Elären. Wenn wirklich einmal ein Ruhe⸗- und Drdnungäftörer fich bemerflich machen will und ein Pollceman einfchreitet, fo unterftüst das Publitum, wenn irgend nothmendig, denfelben bereitwilltgft, aber es tft förmlich unangenehm überrafcht darüber, daß ed überhaupt hat fo weit fommen können.

Gelbft an Pläten, wo fünf, ſechs ja fieben Straßen fich treffen, Eommen Stodungen und Sperrungen fehr felten vor, man hört feine fohreienden und

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fi zanfenden Yubrleute, die fih um den Vorrang ftreiten und damit mehr Zeit und Lunge vergeuden, ald die ganze Sache werth if. Jeder Wagen wartet bis die Reihe an ihm iſt; ein einfacher Wink des Schutzmanns genügt, um den Verkehr zu regeln, und indem fi ein Jeder bemüht, die Ordnung nach Möglichkeit aufrecht zu erhalten und dabei etwaigen Bolizeianordnungen unbedingt Folge leiftet, gelangt auch ein Feder am fehnelliten und ficheriten zu feinem Biel,

Welch wohlthuenden Contraſt bilden foldhe Zuftände gegen die unferer lieben deutſchen Hauptſtadt Berlin.

Mer jemald Gelegenheit hatte fih in Berlin ſowohl zu gewöhnlichen Zeiten, als befonders zur Zeit von Feſtlichkeiten aufzuhalten, der wird be- merft haben, daß an befonder® lebhaften Punkten der Stadt die zahlreich zu Roß und zu Fuß aufgeftellte Polizei faum im Stande ift, den Verkehr in Ordnung zu erhalten. Die Wagen fahren häufig durch einander, fo daß fie fich verwirren, die Kutfcher fuchen ihr Recht ihres Gleichen gegenüber, häufig von der Peitſche in der Hand Gebrauch machend, zu bemeifen, und wenn bei feierlihen Aufzügen die Polizei für diefelben Pla machen will und etwaige vorlaute Straßenjungens zurecht weiſt, fo wird fie bei der Ausübung diefe® ihres nothmwendigen Amted von dem anmefenden Bublitum aufs Gröbſte durch widerwärtiges Gefchrei verhöhnt. Wo überhaupt irgendwo in Berlin die Polizei auf öffentlicher Straße einfcreitet und dafür, daß das häufig ge nug vorfommt, forgt ſchon das fi auf den Straßen bewegende Publikum, giebt es eine fehr große Anzahl von Perfonen, die gegen die Polizei Partei ergreifen, mag diefelbe noch fo fehr in ihrem Rechte fein. Man mag mir vielleicht entgegenhalten, daß das Alles nur vom Pöbel gethan werde und ich will das bereitwilligft zugeben, aber dann muß ich einen erftaunlich großen Theil der Einwohnerzahl zum Pöbel rechnen, Kreiſe, die man fonft nicht dazu zu zählen pflegt. Man wird mir vielleicht erwidern, daß die Polizei felbft eine fehr große Schuld an diefen Zuftänden trage, weil ihre niedern Drgane vielfach) aus rohen, ungebildeten Leuten beftänden, die da8 Publikum nicht richtig zu behandeln wüßten. Auch daran mag viel Wahres fein, aber jedenfalls ift diefe confequente Widerfeglichkeit gegen alle Anordnungen der Polizei, die duch fo viel Schichten der Berliner Bevölkerung geht, am aller- mwenigften dazu angethan, die Polizei und ihre untern Organe zu befjern.

Es wäre wohl eine würdige Aufgabe derjenigen Berliner Preſſe, die vor: zugsweiſe von den niederen Ständen gelefen wird, dad Volk dahin zu erziehen, daß die oben angebeuteten, der deutfchen Hauptftadt fo unwürdigen Zuftände, fich beffern und mildern. Ye mehr das Publitum feinen Widerftand abftreift, um fo mehr wird fich auch die Polizei bemühen, höflich zu fein; wenn aber ein großer Theil der ebengenannten Preffe mit Vorliebe nur die etwaigen

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Mifgriffe der Polizei erzählt, ohne gleichzeitig etwaige Parteinahme gegen polizeiliche® Einfchreiten, das fi auf offener Straße nothwendig machte, mit derfelben Strenge und Schärfe zu rügen, felbft auf die Gefahr Hin, dadurch einige Abonnenten zu verlieren, fo ift das nicht geeignet, auf die Polizei beſſernd und fördernd einzumirfen.

Ich mollte von London berichten und bin dabei nach Berlin gekommen, es ift aber auch zu naheliegend, die hiefigen Zuftände mit denen unferer Hauptitadt zu vergleihen, um daraus nah Möglichkeit für und Nutzen zu ziehen. In jedem Deutfchen, der feine Hauptftadt lieb hat, muß der Wunſch rege werden, wenn er die hiefigen Berhältnifie kennen lernt, von bdenfelben möglichft viel für Deutfhland nusbar zu machen und da find es vor allen Dingen die Verfehräverhältniffe, die bier mwohlthuend in die Augen fallen.

Trogdem der Berliner Straßenverkehr bet weitem nicht fo bedeutend ift, wie der biefige, troßdem die Berliner Straßen größtentheil® breiter find wie die hiefigen, macht fich der betäubende Straßenverkehr in Berlin an vielen Punkten in viel unangenehmerer Weife bemerkbar ald bier, und es ift das ganz gewiß dem oben gerügten Verhalten der Berliner felbft zuzufchreiben. Alle die Vorfhriften, die zur Regelung eines fo immenfen Verkehrs nothwen— dig find, werden hier überall ftreng befolgt, auch da mo Feine Schugleute aufgeftellt find ; in Berlin dagegen felbft da Faum und überall da, wo feine Bolizei ift, mit Vorliebe übertreten. Hier ift jeder von dem Gefühl durchdrun— gen, daß er allen gefeglihen und polizeilichen Anordnungen unbedingte Folge leiften muß, er weiß, daß er dabei am Beften fährt und fo ſucht auch auf der andern Seite die Polizei mit rühmlihem Eifer darnad ihre Maafregeln und Anordnungen immer forgfältiger, richtiger und praftifcher zu treffen. Man ift ſich gegenfeitig bemußt, dag man nicht nur Rechte fondern au Pflichten hat, und in diefer Beziehung können wir Deutfchen noch fehr viel von den Eng— ländern lernen. Die englifehen Zuftände find in diefer Hinficht beinahe ideale zu nennen, wenigftend werden wir fie, beſonders in Berlin nie erreichen, weil die Bevölkerung eine zu verfchiedene if, der Berliner wird nie von feinem Iharfen beißenden Spott laſſen Fönnen, der fo leicht zu gegenfeitiger Berbiffen- heit führt und fehr begreiflicher Weife nur die Mißgriffe der Behörden fieht. Man könnte übrigend nad) dem oben Gefagten vielleiht glauben, daß in London die Polizei niemals gegeißelt, niemald ins Bereich des KNächerlichen gezogen würde und da diefe Anficht eine falfche wäre, fo will ich bier aus— drücklich erwähnen, daß beinahe in jeder Poſſe ein Policemen ala Eomifche Figur erfeheint. Der Spott ift aber fehr harmlofer Natur und befteht in der Regel darin, daß die Polizeigewalt von Leuten, die die Londoner Verhältniffe nicht Eennen, zur Schlihtung von Streit und Unordnung angerufen wird, bei ihrem Erſcheinen aber alles fchon wieder in ſchönſter Ordnung findet. Die Ge

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ſellſchaft Hat fich felbft geholfen, fo daß zu allgemeiner Heiterkeit die Polizei als überflüffig wieder abziehen muß. Es ift das echt charafteriftifch für die hiefigen Anfhauungen. Wenn auch keineswegs die Schlußfolgerung, daß die Polizei überflüffig ſei, richtig ift und auch ernftlich nicht geglaubt wird, fo ha— ben in Bofjen derartige Mebertreibungen doc gewiß ihre volle Berechtigung, und der Kern der Sache ift der, daß die Gefelichaft, mie ſchon Eingangs bemerkt, eine Ehre darein fest, ernftlihe Unordnungen überhaupt nicht auf- fommen zu laffen.

Daß eine derartige Selbftverherrlihung auf der Bühne nichts meniger ala Schön und nachahmenswerth ift, verfteht ſich von felbit, ich führe fie auch durhaus nicht etwa als empfehlenäwerth an, fondern eben nur als Beleg für das allerdings fehr nachahmenäwerthe Beftreben aller Rondoner Bevöl- ferungäf&ichten, etwaige Ruheftörer von vorn herein in ihre Schranken zurüd- zuweiſen.

Es iſt auch nicht dieſes Beſtreben allein, das die ſo wunderbare Rege— lung des immenſen Straßenverkehrs bewirkt, ſondern ed kommt noch eine Reihe von anſcheinend unbedeutenden Kleinigkeiten dazu, die, alle vereint, mächtig dazu beitragen, und von denen ich hier einige anführen mil. Man findet bier fehr häufig, gerade an den belebteften Punkten, fo z. B. bet der Kreuzung von Fleet-Street, Lodgate Hill und Farringdon Street in der City, daß in Mitten der Straßen große Badcandelaber, Pyramiden oder dergleichen mehr errichtet find, die alles Fuhrwerk viel wirkſamer zwingen die vorgefchrie- benen Wege zu machen, ald die etwa in Berlin zu demfelben Zmed in Mit— ten der Straßen aufgeftellten berittenen Schugleute, die wirklich um dieſen ihren Poſten nicht zu beneiden find. Es wäre ſchon aus humanen Rück fihten diefe Einrichtung fehr empfehlendwerth und menn vielleicht auch die erfte Anlage theuer, fo wäre doc) die Unterhaltung gewiß billiger. An manchen andern Orten hat man denfelben Zweck dadurch erreicht, daß man die Droſch— fenhaltepläße nicht an die Seiten, fondern in die Mitte der Straße gelegt bat. Derartige fefte Gegenftände laffen fi nicht fo leicht umgehen wie Menfhen, felbft wenn vdiefelben beritten find. Es führt das dann naturgemäß zu einer andern Einrichtung, die nicht minder empfehlenämerth ift, nämlich zu der, daß nicht nur das Pflafter an den Seiten der Straßen von derfelben Güte ift, wie in der Mitte, fondern fogar fehr oft beffer, ja daß ſich dafelbft oft Bahnen für fehr ſchweres Fuhrwerk befinden, wie 3. B. auf der Kondon Bridge. Es wird dadurch naturgemäß die Breite der Straße in viel umfafjenderer Weiſe ausgenutzt, als 3. B. in Berlin, wo troß der brei- teften Straßen fehr häufig nur ein fohmaler Streifen in der Mitte fih in fahrbarem Zuftand befindet, während der Reſt der Straße für Fußgänger und Wagen gleih unpaffirbar ift. Hoffentlich wird in Berlin durch die jest im

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Bau begriffene Ganalijation aud hierin eine Wendung zum Beffern eintreten, Indem bei Bejeitigung der Rinnfteine die Straße wirklich im ihrer ganzen Breite als folche hergeftellt wird.

Freilich Eoften derartige Anlagen, wie überhaupt Straßenpflafter, weldes nach Londoner Begriffen gut fein fol, fehr viel Geld und wir können uns leider in diefer Hinficht mit London noch lange nicht meffen. Aber immerhin könnte in diefer Hinfiht in Berlin, forte andern deutfchen Städten bedeuten? mehr gefchehen, als es der Fall ift, denn die Städte haben doch von der fo außerordentlihen Zunahme von Handel, Snduftrie und Einwohnerzahl, wenn diefelben auch manche Unannehmlichkeit im Gefolge haben mögen, ihre immenfen Vortheile und es ift daher nur recht und billig, wenn der Verkehr von ihnen Gegenleiftungen verlangt.

Ebenfo traurig, wie mit den Straßen tft e8 in unfern deutfchen Grof- ftädten auch mit den fih auf denfelben bewegenden öffentlichen Fuhrwerken beftellt, wenn man fie mit den hiefigen Caps, Handſomes und mie hier die Droſchken fonft noch heißen mögen, vergleicht. Man findet Hier durchweg gute Wagen, gute Pferde und freundliche Kutfcher und diefe 3 vorzüglichen Dinge find allen deutfchen Städten aufd dringendfte zur Nahahmung zu empfehlen. Wenn die Drofchfenbefizer für die Preife, die jett in Deutfchland üblih find, nicht? Beſſeres liefern können, fo mögen fie mehr fordern, jeden- falls aber müßten im Intereſſe des Publitumd größere Schnelligkeit und bequemere Wagen gefordert werden. Wer billig fahren will, kann fich dei Dmnibus bedienen, wer fchnell fahren will, Fann dafür bezahlen, muß aber dann auch die Garantie haben, daß er wirklich gut bedient wird und dieſe Garantie hat man in Deutichland beinahe in feiner größeren Stadt. Wer dazu verdammt ift, von einer Berliner Droſchke II. Claſſe, oder 3. B. auf einer Leipziger Drofchke auf ſchlechtem Pflafter Gebrauch machen zu müffen und, wenn er nicht fehr frühzeitig aufbricht, dazu noch zu fpät auf den Bahnhof Fommt, auf der andern Seite aber mieder Gelegenheit hat, Rondoner Droſchken zu benugen, der wird den ganzen mwohlthätigen Gegenfas tief empfinden. Es tft eigenthümlih, daß in Dentfhland, mo z. B. für bie Bequemlichkeit ded Publikums auf den Eifenbahnen fo bedeutend mehr ge hieht wie in England und das Publikum über engliihe Waggons ein ent- fetsliche8 Gefchret erheben würde, der Sinn für fehnelle und /bequeme Fahrt von der Wohnung nah dem Bahnhofe beinahe gänzlich fehlt. In London ſucht ein Seder, der zur Bahn muß, den Weg dahin in möglichft Eurzer Zeit zurüdzulegen; es kommt im Bergleih zum Billetpreis der Preid der Droſchke auch kaum in Betracht, befonderd nicht in Deutfchland bei unfern meiten Entfernungen, und troßdem haben wir gerade in Deutſchland fo über alle Maaßen ſchlechte Straßenfuhrwerke, daß man wirklich nicht weiß, mas bei

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unangenehmere Theil einer längeren Reife tft, das mehrftündige Eifenbahn- fahren, oder das doch nur Furze Drofchfenfahren. Bei kurzen Reifen von nur 3—4 ftündiger Dauer tft ficherlich das letztere der Fall. So bin ih auf die Eifenbahn und ihre Verbindungen mit den Straßen gefommen und über diefen Theil des Londoner Verkehrs gedenfe ich ein ander Mal zu berichten.

Alfred Blum.

Briefe aus der Kaiferfladt.

Berlin, 29. November.

Diesmal aljo den Lindau'ſchen „Erfolg“! Wie gefagt, das Etüd hat in der Preſſe großen Lärm gemacht, vorher viel Reclame, nachher viel Ent- rüftung Beides unverdienterweife. Es ift, rein objectiv beurtheilt, eins der harmloſeſten Ruftipiele von der Welt. Gegenüber der mehr ala zmeifel- haften Atmofphäre, die in deöfelben Verfaſſers „Diana“ herrſcht, oder viel» mehr herrſchte denn fie gehört längft zu den Todten —, iſt hier eine erfreuliche Wendung zum Beflern zu conitatiren. An vielen Stellen wird man lebhaft an Benedir erinnert. Freilich ift auch der „Erfolg“ noch weit davon entfernt, Dasjenige zu fein, ald was ihn der Dichter felbft bezeichnet: ein Stüf wahren Lebens. Die meiften der bier angeführten Situationen find in der Gejellfchaftsfphäre, in welche fie Lindau verlegt, mehr oder weniger unmöglid. Immerhin ift die Unmwahrfcheinlichkeit nicht fo auffallend, um den Eindrud ded Ganzen zu ftören und fo kann es bei den höchſt befcheidenen Anforderungen, welche das Publifum an die heutige Luſtſpieldichtung ftellt, nicht Wunder nehmen, wenn der Erfolg wirklich „Erfolg“ gehabt hat.

Einer ftrengen Prüfung freilich Hält das Stüd feinen Augenblid Stand. Die Fabel iſt fehr dürftig, die Handlung im Ganzen ziemlich eintönig. Ein Journalift, Fritz Marlow, hat ein Luſtſpiel, betitelt „Ein Erfolg“, gefchrieben ; es fol demnähft zur Aufführung gelangen. Zu gleicher Zeit wird Marlow von feinem Freunde Klaus zum Heirathen gedrängt. ‘Der legtere hat feine Goufine Eva für ihn in petto. Klaus „befieht“ fich diefelbe; fie macht Eindrud aufihn. Er verräth feinen Freunden, daß er ein Mittel habe, dem fein junges Mädchen mwiderftehen könne: erft fage er der zu Gemwinnenden: „Sie find ein ganz eigenthümliches Fleines Mädchen” ; dann ſchenke er ihr eine Roſe; fchließ- li declamire er das Eichendorf'ſche Gedicht: „Die Welt ruht fill im Hafen.“ Ein Intrigant, Baron Fabro, hinterbringt diefe Frivolität der Kleinen Eva;

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fie geräth außer ſich über ſolch bodenlofe Schlechtigkeit des Mannes, für den fie „fo ſehr geihwärmt“. Da eben fommt Marlow. Er beginnt die An- wendung feines unfehlbaren Mitteld und nun kennt Eva's Zorn Feine Grenzen mehr. Gr zieht befhämt von dannen und fie zerfließt in Thränen. Am andern Tag Aufführung des Stücks. ine bezahlte Oppofitton Hat die beiden erſten Acte nahezu zu Falle gebracht. Eben hat der dritte Act begonnen. Eva, die mit ihrer Mutter im Theater ift, kann das traurige Schidjal Marlow's nicht mehr mit anfehen, er „thut ihr gar zu leid“; fie bleibt allein im Foyer zurück. Da flürzt der Dichter heraus, ganz in Verzweiflung. Nun eine lange Bemitleidungd- und Ermuthigungdfeene, die mit der unvermeid- lihen Liebeserklärung abjchliegt, während drinnen im Theater der dritte Act felbftverftändlich den entſchiedenſten Erfolg davonträgt. Damit endet auch der dritte Act des Lindau'ſchen Stücks. Der vierte ift nur noch dazu da, dad Hochgefühl des gefeierten Dichterd zu veranfchaulichen und der heimlichen Verlobung aus dem Foyer die conventionelle Sanction zu geben. Das ift der Kern der Fabel; eine Reihe von Anfäben, die fih um ihn gruppiren, ift ohne organifhen Zufammenhang mit ihm.

Der Schwerpunkt ded Ganzen fällt in die Scenen zwifchen Marlow und Eva. Sie find au die natürlichiten und anfprechendften des ganzen Stüdee. Wie die Badfifchnaturen ſtets Lindau's Force geweſen find, fo tft ihm auch bier wieder der Charakter der Eva am beften gelungen. Biel zu ber gewinnenden Wirkung deöfelben trägt freilich das unübertreffliche Spiel der Fräu Hedwig Niemann-NRaabe bei, welche mit diefer Rolle ein hoffentlich recht langes Gaftfpiel an der Eönigl. Bühne begonnen hat. Neben der Eva ift deren Mutter, ein dichtender Blauftrumpf, doch eine gutherzige Frau, am meiften mit individuellem Leben ausgeftattet. Was der Dichter an der Figur etwa noch verfäumt hat, weiß die geniale Kunſt der Yrieb-Blumauer hinzu zufügen. Der Held des Stückes dagegen, Fri Marlow, ftreift bereit? ftarf and Schablonenhafte Die übrigen Perſonen find entweder nur ſtizzenhaft angedeutet, oder man weiß fchlechterding® nicht, mad man in diefem Rahmen mit ihnen anfangen fol. So die Figur ded Baron Fabre, Wer er tft, woher er fommt und wohin er geht, warum er von einen tödt- tihen Haß gegen Marlom befeelt tft darüber, kurz über Alles, was ihn eigentlich als nothwendigen Beftandtheil des Ganzen Fennzeichnen fönnte, bleiben wir vollftändig im Dunkeln. Er fol das böfe Prinzip darftellen, „einen Theil von jener Kraft, die ftet? das Böſe will und ſtets das Gute ſchafft.“ Die Aufgabe erfüllt er; warum er fie aber grade in diefer beftimm- ten conereten Geftalt erfüllt, darüber bleibt er und jede Rechenſchaft fhuldig.

Der Dialog tft lebendig, die Sprache theilmeife edel und fchmwungvoll, theilmeife aber auch entfeglich falopp. Wo Lindau den Ton der ungezwungenen

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Umgangsſprache anfchlägt , ift er ftetö in Gefahr, platt zu merben. Das gleiche Schickſal hat fein Wit; derfelbe ift fortwährend hart an der Grenze des Kalauerd, wenn er diefelbe, was aud vorkommt, nicht vollend® über- ſchreitet.

Alles in Allem iſt das Stück, wie geſagt, harmlos und menig bedeutend. Die Abſicht des Dichters iſt allerdings eine nichts weniger als harmloſe geweſen; den Erfolg des „Erfolges“ aber hat er lediglich dem Umſtande zu verdanken, daß das große Publikum von dieſer Abſicht nichts merkt. Die Abhandlung, welche eine Freundin Marlow's im Theaterfoyer über den Un— verſtand und die Haßſeligkeit der Kritik, und die larmoyanten Stoßſeufzer welche Marlow ſelbſt in gleicher Richtung zum Beſten giebt, werden von der Majorität des Auditoriums geduldig mit in den Kauf genommen, ohne daß man ſich etwas Beſonderes dabei denkt. Die Berliner Kritik indeß ift nicht ſo gutmüthig geweſen. Sie hat überall perſönliche Anſpielungen gewittert und darüber gewaltigen Lärm geſchlagen. Herr Lindau verſichert nun freilich, daß er an perſönliche Anſpielungen gar nicht gedacht habe. Dann bleibt aber zum mindeſten auffallend, daß ſeine guten Freunde Wochen lang vor der erſten Aufführung die detaillirteſten Andeutungen über die in dem Stück per— fiflirten Perſönlichkeiten gemacht haben und daß der Autor in der That einer diefer Perfönlichkeiten den Wortlaut verfchiedener Sätze aus der Kritik eines biefigen Schriftfteller8 über feine „Diana” in den Mund gelegt hat. Für den nur halbwegs Kundigen Tann fein Zmeifel fein, daß Lindau fi mit dem ' ‚Erfolg* an feinen Tadlern rächen mollte. Daß die Eönigliche Bühne fich auf diefe MWeife zum Mittel für des Dichterd Privatzwecke bergab, ift immer: hin ein ſtarkes Stück. Bielleiht mag die Bühnenleitung von vornherein der Meberzeugung geweſen fein, daß das Publikum diefe Seite des Stücks mehr oder weniger überfehen werde. Uber es ift dem königlichen Schaufpielhaufe nicht erfpart geblieben, am Abend der erften Aufführung der Tummelplag eined größeren Skandals gemefen zu fein. Hoffentlich ift man in Zukunft etwas forgfältiger darauf bedacht, den der wahren Kunſt gewidmeten Tempel vor folder Entweihung zu bewahren.

Unter den Eleineren Bühnen fei heute in erfter Linie des Reſidenztheaters gedacht. Dasſelbe Hat im Laufe des Sommers eine höchſt vortheilhafte Ver— jüngung feiner Räume vorgenommen und zählt jest, was gefchmadvolle Eleganz der Ausſtattung anlangt, zu den erften Etablifjement3 der Haupt- ſtadt. Was die fehaufpielerifchen Reiftungen betrifft, fo gehören diefelben au in der gegenwärtigen Satfon mit zu dem Beften, was und außerhalb der Föniglichen Bühne geboten wird. Es kann freilich bedauert werden, daß biefe Reiftungsfähigkeit faft ausſchließlich an das franzöfifche Senfationgdrama verſchwendet wird, aus welchem das Mefivenztheater fich ſeit Jahren eine

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Specialität gebildet hat. Zwar hat ed wiederholt den Anlauf genommen, in andere Bahnen einzulenken, fo auch jett wieder bei feiner Neueröffnung, aber ftet8 ohne Glück. Unter diefen Umftänden wird man denn freilich nichts dagegen einwenden fönnen, wenn diefe Bühne auch jebt wieder ihre Haupt: aufgabe in der Pflege des genannten Pariſer Genred erblickt. In dieſer Richtung hat fie und foeben mit ded jüngeren Dumas „Monfieur Alphonſe“ befannt gemacht. Das Stüd gehört zu der Gattung der Ehebruchsdramen, aber es tjt eine ganz befondere Spielart derfelben. Ein biederer Schiffe: capitän in bereits vorgerüdten Jahren, Herr Montaiglin, befitt eine reizend:, noch ziemlich junge Frau, Raymonde, und einen noch dito Freund, Detave. Der Letztere befleigigt fich eined wenig erfreulichen Lebenswandels, tft aufer dem im Begriff, fich mit einer gefellfchaftlich und geiitig tief unter ihm ſtehenden Frau, einer Reftaurateuröwittme und ehemaligen Köhin von nicht ganz zmweifellofer Vergangenheit aber fehr anfehnlichem Vermögen, Madame Guichard, zu verheirathen. Alle Gegenvorftellungen Montaiglin's jind vergebene. Um feinen Plan auszuführen, muß Oetave aber noch einen Gegenftand aus dem Wege fchaffen. Er hat eine Tochter. Angeblich um fie vor der Guidard ficherzuftellen, bittet er den Finderlofen Montaiglin, fie in feinem Haufe auf zunehmen. Das elfjährige Kind wird gebracht. E83 ift, wie fich bald genug beraugftellt, die Tochter von Montaiglin’d Frau. Die migtrauifche Guichard hat Witterung von dem Kinde befommen, fie rückt friſchweg in das Haus des Gapitäng, zwingt Oetave in der demüthigenften Weife zum Geftändnik und verlangt dann, daß man das Kind ihr gebe. Detave fagt zu, nad Ablauf einiger Stunden foll die Kleine geholt werden. Begreiflih der Schreden der wahren Mutter, als ihr diefe Kunde fommt. Sie vergißt ſich in ihrem Schmerze und ihr Mann hat Alles errathen. Folgt nun bie befannte Scene der verzweifelten Selbitanflage und, da die Unglüdlice natürlich nur das „Opfer eines ſchmählichen Verraths“ geweſen, der groß müthigen Berzeifung. Bon nun an vereinigted Vorgehen des Chepaaret Montaiglin. Der Notar wird gerufen, Montaiglin erkennt die Eleine Adrienne als feine Tochter an und der elende Detave wird gezwungen, als Zeuge zu unterfchreiben.. Nun erfcheint Madame Guichard, die ſich inzwiſchen ald Adriennens Mutter in das Givilftandsregifter hat eintragen laſſen. Man begreift ihre VBerwunderung über das vorliegende fait accompli. ber fie will nicht glauben, daß Detave ſich nur einen Scherz gemacht, ala er ihr zugeftand, Adriennens Vater zu fein. Und richtig, durch eine Lift kommt fie hinter den vollen wahren Sachverhalt. Nun ein gemaltiged Donnermetter über den fauberen Herrn Dctave, oder, wie er fi in dem Haufe, wo fein Kind erzogen wurde, nennen ließ, Monſieur Alphonfe, der ſchließlich ala der: felbe impertinente Lump abzieht, ala welcher er fich das ganze Stüd über

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gezeigt; darauf unter den Zurücbleibenden gegenfeitige Schmeichelei über braven Charakter und endlich Auflöfung in allgemeinem Wohlgefallen. Das mwenigftend wird der Dichter wohl beabfihtigt haben, dem deutfchen Gefchmad aber kann er Wohlgefallen und Befriedigung unmöglich einflößen. Das Stüd ift für unfer Empfinden von Anfang bi zu Ende aus den peinlichiten Situationen zufammengefegt. Gradezu mwiderlich wirft e8, daß und die Kleine Adrienne ald Metiterin in der Verftellung vorgeführt wird. Ste kennt ihre Mama und liebt fie aufs innigfte, verräth dies Geheimniß In Gegenwart Anderer aber mit feiner Silbe und feiner Miene. Ueber den fittlichen Werth des Stüdd noch ein Wort zu fagen, ift überflüffig. Die technifche Mache entfpriht dem, was man von einem gemandten Bühnenfchriftfteller von Dumad’ Schlage erwartet. Der larmoyante Ton, welcher hie und da einzu: reißen droht, wird durch das burledfe Eingreifen der Guichard immer noch rechtzeitig verdrängt. Gefpielt wird das Stüd im Refidenztheater recht brav und mit großer Sorgfalt. Für die Rolle der Adrienne hat man fih fogar eigend ein recht talentvolled Mädchen vom Wiener Karltheater verichrieben.

Ein anderes franzöfifches Stück bat und neuerdings das MWallnertheater vorgeführt, eine Poſſe von Gundinet, betitelt „Die Bureaufraten von Paris.“ Das Stück ift nad) zwei oder drei Miederholungen vom Repertoir verfchmwunden, bat alfo einen eclatanten Mißerfolg gehabt, troß der vortrefflihen Charakter figur, welche der Director der Bühne, Herr Lebrun, aus der Nolle des Picaud de la Picaudidre gefhaffen hatte Der Grund der ablehnenden Haltung unferes Publikums Tiegt nicht allein in der Breite der Handlung, fondern mehr vielleicht noch in der gründlichen Verfchtedenheit der Anfchauungen und Gewohnheiten. Iſt doch an der gleichen Klippe ſchon fo manche Wiener Poſſe bei und gefcheitert!

Uebrigens Hat fih das Mallnertheater raſch von der Schlappe erholt. In der vorlegten Woche ift es mit zwei Novitäten vorgegangen, die beide den Beifall verdienen, welchen fie gleich Anfangs geerntet haben. Die erfte, „Die Berfuherin“ von G. v. Mofer, tft eine einactige gefällige Kleinigkeit. Weniger harmlos ift die andere, ein dreiactiges „Originalluſtſpiel“ von J. 8. v. Schweißer, betitelt „Die Darminianer.” Im Grunde hat der Darwinismus mit dem Stücke weiter nicht? zu fchaffen, als daß er von einer Berfon, einem Profeffor, wirklich befannt, von einer anderen, einem Allerwelts- entrepreneur, ald geeignetes Object zu fehwindelhafter Ausbeutung betrachtet, von allen übrigen aber gehaft wird. Das Gro8 der Handlung befteht in der Schilderung, wie ein um eine vornehme Dame fich bewerbender Baron dur die Erinnerung an feine galanten Abenteuer in allerlei verzweifelte Situationen verfeßt wird, in welche er auch feinen zufünftigen Schwager, den Profeſſor, verwickelt. Es mag dem ehemaligen Soctaliftenführer Schweiger

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ein verdienftliches Werk fcheinen, den „demoralifirenden Einfluß der höheren Stände” zu geißeln. Schade nur, daß er fihhtlic mit immer größerem Be hagen fchildert, je bedenklicher die Yage wird. Im Mebrigen ift Schweiger Meifter in der Situationskomik, und fo find auch feine „Darwinianer“ recht amüfant. Nur dürfen fie nicht „Quftfpiel* genannt werden, denn fie find eine Boffe.

Biel Anziehungäfraft hat in legter Zeit das Stadttheater bewährt. In Laube's „Böfe Zungen” begeifterte Frl. Veneta, in Benedix' „Afchenbrödel” Frl. Both dad Auditorium. Hauptmagnet aber war und ift noch das Gaft- fpiel des Herrn Emmerich Robert. In diefem Schaufpieler haben wir einen durch und durch genialen Künftler vor und. Alle Achtung vor ſolch einem Hamlet! Wie viele verfchiedene Hamlettypen find bereits über die Bühne gegangen! Die Einen haben aus der Rolle einen fyftematifchen Peffimiften, die Andern einen haarjpaltenden Dialektifer gemadt. Emmerich Robert ift frei von jeder Schablone, mit erftaunlich feinem pſychologiſchen Verſtändniß modelirt er den ſchwankenden, zerrütteten Charakter des Dänenprinzen nad den wechfelnden Eindrüden und giebt fo eine zwar realiftifche, aber durchweg, auch in den Momenten höchſten Affeet®, von ſchönem Ebenmaß getragene Kunftleiftung von erfchütternder Wahrheit. Nicht minder bedeutend iſt fein Humbert in Ponſard's „Der verliebte Löwe.“ Da iſt Alles aufs Keinite ausgearbeitet, ohne jedoch einen Augenblid den Eindrud des Gefünftelten zu machen. Möglich, daß diefe Ausarbeitung hie und da der frifchen Unmittelbar feit einigen Eintrag thut. Als Humbert in dem ebengenannten Stücke, wie als Uriel Acofta, hat Robert Momente, wo fi) und died Gefühl aufdrängt. Aber wir nehmen diefen Eeinen Mangel gern in den Kauf, mwenn er die Bedingung ift für die plaftifch-vollendete Ausgeſtaltung der Charaktere. Als Held in dem Gutzkow'ſchen Trauerſpiel zeigte der Künftler in der Scene mit der alten Efther, die durch Frl. Veneta vortrefflich gegeben wurde, eine Tragik von unmiderftehlicher Gewalt. Es ift bedauerlich, ja faft unbegreiflih, daß unfere Hofbühne, der Herr Robert vor einigen Jahren angehörte, eine folde Kraft nicht zu halten wußte. Möge fie jett menigften® beftrebt fein, fie wiederzugemwinnen | X. X-

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Vom deulſchen Reichskag.

Berlin, den 29. November 1874.

Die fünfzehnte Sitzung des Reichsſtags am 21. November war unge— wöhnlich reich an intereſſanten Zwiſchenfällen. Die bedeutungsvollen Aeuße— rungen nämlich, welche aus mehr als Einem gewichtigen Munde, auch aus dem gewichtigſten, der im Reichstag ſpricht, mad ganz verſchiedenen Rich— tungen fielen, kamen mehr oder weniger gelegentlich zum Vorſchein und nicht durch den gebotenen Zuſammenhang der Debatte. Inſofern waren es Zwiſchenfälle.

Nach einer unbedeutenden Interpellation eines Mitgliedes aus den neuen Reichslanden über die Behandlung zweier Franzoſen, verfocht der Abgeord— nete Haſſelmann den Sonnemann'ſchen Antrag der Antragſteller ſchien abweſend zu ſein auf Unterbrechung des gegen zwei ſocial-demokratiſche Mitglieder eingeleiteten Strafverfahrens während der Seſſionsdauer. Der Reichstag erhob einer conſtanten Gewohnheit gemäß den Antrag zum Beſchluß.

Nun folgte ein Ahnlicher und doch fehr verfchtedener Antrag des Abge— ordneten Liebknecht. Der Antragfteller verlangte die Unterbrehung der Straf: haft für drei verurtheilte Reichstagsmitglieder aus der focial» demofratifchen Partei. Die Reichäverfaffung fehreibt bekanntlich im dritten Abſatz des Ar- titel 31 vor, daß jedes Strafverfahren gegen ein Reichstagsmitglied, jede Unterfuhung®» und jede Eivilhaft gegen ein ſolches für die Dauer der Sef- fon auf Wunſch des Reichstags aufgehoben werden muß. Ausgeſchloſſen aber it, mie man flieht, die Strafhaft von denjenigen gerichtlichen Freiheité— Beſchränkungen, welche der Reichstag für die Dauer feiner eignen Arbeiten von feinen Mitgliedern nehmen kann. Der Liebfnecht’fche Antrag konnte und follte alfo nur darauf gerichtet fein, daß der Reichstag den Reichskanzler er- juhen möge, auf die Beurlaubung der verurtheilten Abgeordneten hinzumirfen. Unſeres Erachtens ift die NeichBregierung gar nicht competent, einen Verur— theilten, der eine Strafhaft verbüßt, ihrerfeitd aus dem Gefängniß zu beur- lauben. Hierzu Fann, wenn überhaupt Jemand, höchſtens das Gericht com- petent fein. Was aber nicht innerhalb der Competenz der Reichsregierung liegt, dazu kann auch niemand competent fein, diefelbe aufzufordern. Unſeres Erach— ten® hätte die Vorfrage geftellt werden müffen, ob der Liebfnecht’fche Antrag verbandlungäfähig fei. Wir Können e8 fonft erleben, daß der Herr Abgeordnete beantragt, der Neichdtag möge die Nevolution decrefiren, oder einen ähnlichen Cynismus. Denn auf anderes ift hierbei nicht abgefehen, als durch eyniſche Beleidigungen in Nachahmung der Rolle Marat's den Reichstag aufzuhalten, in feinen Arbeiten zu ftören und herabzumürdigen. Daß er Marat mit Erfolg nad):

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eifert, bewies der Antragfteller unter anderm, als er erklärte, er fei der Leite, auf die Wahrheit des Satzes zu verzichten, man dürfe einen politifchen Gegner ‚unfhädlih machen, todtfchießen u. f. w., mit andern Worten, daß der Meudel- mord, gut ausgeführt, ein angemeffened und bequemes Mittel fei. Das plumpe Sophisma, durch welches die Socialdemofraten ihren Läftereien einen Schein von Begründung zu geben ſuchen, ift immer dasſelbe. Sie ftellen ohne weiteres die beftehende Staatdordnung und die Vertheidigung derfelben ald den Gewaltterrorismus einer vom Glück begünftigten Claſſe dar. Weil es ihnen um eine Nevolution zu thun ift und nur um die Revolution, ohne feften Glauben an das, mad aus der Revolution hervorgehen fol, darum behaupten fie lügenhafter Weife, daß ihnen die Reform auf dem Wege all mählicher Umbildung der praftifchen Verhältniffe und theoretifcher Bekehrung der maßgebenden Gemwalten verfchloffen fei.

Wie zu erwarten war, konnte Herr MWindthorft, der mit Liebknecht den Haß gegen dad Reih, wenn auch nicht den foctaldemofratifhen Haß gegen die beftehende Geſellſchaft, theilt, fich nicht verfagen, das Waſſer, das ihm der Socialdemofrat auf die Mühle getragen, zum Schwung feined Rades zu benugen. Nachdem er gegen die Berftörung der Geſellſchaft die unerläßlichen Berwahrungen eingelegt, nachdem er ala erfahrener Juriſt auch die formelle Unzuläffigfeit des Liebknecht'ſchen Antrages anzuerfennen nicht umhin gekonnt, ließ er feinerfeit3 die Sophismen tanzen, die feinem dafür gefhulten Kopf fo leicht entfpringen. Da hieß es, es fet unflug, die Soctaldemofraten im Reichstag nicht zu Worte fommen zu laffen. Nun erbitten wir die Antwort jeded Verftändigen, was die Soctaldemofraten bindert im Reichstag zu Worte zu fommen. Sol man fie ungeftraft Verbrechen begeben laffen, damit dem Reichstag Fein Tropfen diefer Weisheit entgehe? Hatte Herr Windtborft an der ftundenlangen Rede ded Abgeordneten Liebknecht nicht genug? Berlangt ihn wirklih fo fehr nad den DOffenbarungen der Herren Hafenclever, Bebel und Moſt? „S' ift nur mein Spaß gemefen“, glaubt der Zuhörer zu ver nehmen, wenn er hört, mie Herr Windthorft die Anerfennung, daß der Neihdtag eine Strafhaft nicht aufheben Fönne, zu dem Uebergang benußt, wie wünſchenswerth eine ſolche Befugniß fet, meil die Strafhaft in unfern Tagen fo häufig geworden. Herr Windthorſt zielt auf die zur Strafhaft gebrachten Bischöfe, er zielt auf den der Sache der Bifchöfe freundlichen Bot- ſchafter, über dem eine befannte Griminalunterfuhung ſchwebt. Den Haupt- zweck hatte der welftfch »Elerifale Abgeordnete mit diefen burleäfen Inveetiven erreicht, den Reichskanzler zur Ergreifung des Wortes aufzuregen. Die Ul- tramontanen, wenigſtens ein Theil von ihnen, halten diefe Kampfweiſe für ein diätetifches Mittel, „einen Gegner unfhädli zu machen“, was ber Abge— ordnete Liebknecht für ein Grundrecht erklärt, Seitdem der verftorbene von

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Mallinfrodt fich diefer Arbeit nicht mehr unterziehen kann, dispenſirt Herr Windthorſt den diätetifchen beinah hätten wir einen zwar parlamentarifchen, aber doch allzu deutlihen Ausdruck angewendet; wir fagen alfo die diätetifche Behandlung.

Der Reichäfanzler zeigte auf? neue, daß er veriteht, einem erboften Gegner die Waffe in der Hand umzufehren. Er that e8 mit dem einfachen Hinweis, daß die häufige VBerhängung der Strafhaft nicht an der Strenge des Geſetzes, fondern an der häufigen Uebertretung desſelben liegt; daß für die häufige Uebertretung des Geſetzes die hochſtehenden Beifpiele derer ver: antwortlich zu machen find, die vorzugsweiſe auf die Achtung vor dem Geſetz halten follten, außerdem aber die Befchaffenheit des Jugendunterrichtes bei der Art, wie die Staatdauffiht über denfelben in den letzten 25 Jahren ge ordnet war. Der Reichskanzler ſchloß mit der ftarf ironiſchen Wendung, daß er thun merde, was er Fönne, um den inhaftirten Abgeordneten die Freiheit zu verjchaffen, denn Reden wie die der Herren Haffelmann und Liebknecht feien außerordentlich lehrreih und hätten lange gefehlt.

Es trat nunmehr Lasker der Unermüdliche, auf, um an die Liebfnecht- ſchen und Windthorftihen Reden allerlei Bemerkungen über den Strafprozeh zu fnüpfen, wie er gegenwärtig gehandhabt wird. Es waren diefe Be- merfungen Vorwegnahmen der Debatte über den Entwurf der Strafprozeß- ordnung, welche deghalb erjt bei diefer Debatte zu berüdjichtigen find. Der Liebfnechtiche Antrag rief aber noch Herren Auguft Reichenfperger auf den Rednerftand. Der Medner berief fich gegen die Ausführung des Reichskanzlers, daß aus der häufigen Uebertretung des Geſetzes die häufige Verhängung der Strafhaft folge, wieder einmal auf das Fatholifche Gewiffen. Der Reichs— fanzler entgegnete fofort, daß wenn die Befolgung der Gefege vom Gewiſſen abhängen folle, dad Gewiſſen jeded Deutfchen die gleiche Berechtigung haben müſſe; ein ſocial-demokratiſches Gewiſſen diefelbe Berechtigung wie ein Eleri- faled. Herr Auguft Reichenfperger nahm diefen fcharfen Hieb fehr empfindlich auf. Er wollte feine Partei durchaus nit auf gleiche Linie mit den Social- demofraten ftellen laffen, ohne jedoch eine fchlagende Abwehr zu finden. Die reichsfeindliche Preſſe hat fich aber der Aeußerung des Fürften Bismarck fofort wieder bemächtigt zu neuen Diatriben und UAnfchuldigungen, daß der Staat, wie ihn Fürft Bismarck verfteht, auch das Gewiffen reguliren wolle Die Wahrheit it, dag ein Conflict zwifchen Staat und Gewifjen nur eintreten fann, wenn entweder der Staat oder dad Gemiffen in die Sphäre ded an— deren übergreifen. Welche Erfcheinungen folgen, wenn die äußere Gewalt die Sklaverei des Gewiſſens erzwingen will, davon hat die römische Kirche die klaſſiſchen und abfchredendften Beifpiele der ſchaudernden Grinnerung aller Zeiten binterlaffen. Welche Erſcheinungen folgen, wenn da® Gewiſſen von

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fi aus die äußere Sphäre der Staatögewalt Ienfen und zum unmittelbaren Drgan feiner Anforderungen maden will, davon mag die Schreckenszeit der franzöfifhen Revolution ala Eaffifches Beiſpiel gelten. Das individuelle Gewiffen hat dem Staat gegenüber nur das Recht, die Abfaffung der Geſetze, fo viel e8 vermag, zu beeinfluffen, dann aber diefelben zu befolgen und, wenn e8 died nicht zu dürfen glaubt, den Staat zu verlaffen, nicht aber das Bei- fpiel der Auflehnung zu geben. Die Staatspfliht der Schonung des Ge: wiffend aber ift eine unbedingte nur infoweit, als der Staat unter feinen Umftänden Meinungen, fondern nur Handlungen gebieten und erzwingen darf.

Es folgten Kleinere Anträge und Borlagen, welche an die Gefchäfte- orduungs-Commiſſion und an die Budgetcommiffion vermwiefen wurden. Den Schluß der Sisung bildete die erfte Leſung einer Regierungsvorlage, ber treffend die Steuerfreiheit de Neichdeinfommend. Diefe Vorlage, ſowie an- dere ähnliche Beftimmungen über die Steuerfreiheit der Reichsbeamten in den Gemeinden u. f. w. würden gar nicht nöthig fein, wenn wir zu einer ratio- nellen Bertheilung der Steuerquellen zwifchen Gemeinde, Drtd-, Kreid- und Provinzial«Gemeinde-Einzelitaat und Reich bereit3 gelangt wären.

Die natürlihe Cinnahmequelle der Gemeinden ift die Grund- und Gebäudefteuer und von diefer follten unfere® Erachtens auch die öffentlichen Gebäude der Einzelftaaten und des Reihe nicht ausgenommen fein, ſchon darum nicht, damit Einzelftaat und Reich In den wichtigiten Gemeinden eine unmittelbare Mitwirfung nicht entbehren, wie fie die Folge der Steuer entrihtung fein muß. Da wir in Deutſchland den Gemeinden die richtige Steuerquelle noch nicht übermiefen haben, fo verfuchen diefe ihre fteuerfordernde Hand auf Alles zu legen, worauf fie Fein Recht haben, fogar auf Poſt und Telegraphie. Diefer Zuftand macht Vorlagen wie die erwähnte unvermeidlich. Statt der Palliativmittel jollte man aber ernftlih an die einzige durch— greifende und gefunde Abhülfe denken.

Sin feiner 16. Sisung am 24. November trat der Reichstag in die erfte Berathung der drei großen Juſtizgeſetze über die Gerichtäverfaffung, die Strafprozegordnung und die Civilprozeßordnung. Die Gefeßentwürfe follten in der eben aufgeführten Ordnung zur Leſung fommen, und fo ift es aud gefhehen. Der Reihdtag war jedoch übereingefommen, daß bei der erften Leſung des Gefeged über die Gerichtöverfaffung die Redner fich gleichzeitig über alle drei Gefegentwürfe verbreiten dürften. Daher geftaltete fich diefe erite Refung zu einer Generaldiscuffion über die deutfche Juſtizreform Im Ganzen, foweit fie bis jet dem Reichstag vorliegt. Diefe Generaldiecuffion nahm zwei Sigungen in Anſpruch, die erfte Leſung der beiden anderen Gefete je eine.

Die Generaldiscuffion bei Gelegenheit des erften Geſetzes, obwohl bie

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drei Gefegentwürfe umfaffend, führte indeß nicht gerade zur Hervorkehrung eined einheitlichen Gedanken? der ganzen Reform. Die Nedner wandten fi bald dem einen bald dem andern Geſetz mit ihren Bemerkungen zu. Wir thun dephalb am Belten, den Diecuffiondftoff nicht nach den Sitzungen, fondern nad den drei Geſetzen einzutheilen, um welche er fih fammelte.

Trob des etwas fporadifchen Charakters ift auch die viertägige Ver— handlung über die Yuftizreform des deutjchen Neichdtages durchaus würdig gewefen, würdig eined großen Volkes, dem das feltene Glück zu Theil wird, ein tiefe® langentbehrte® Bedürfnig feined nationalen Lebens in gereifter Stunde mit gereifter Kraft löfen zu dürfen.

Das formelle Ergebniß der drei erften Lefungen war die Wahl einer Commiffion von 28 Mitgliedern zur gemeinfchaftlichen Worberathbung der drei Entwürfe. Am Schluß der erjten Refung des dritten Geſetzes wurde ein Antrag des Abgeordneten Lasker zum Beſchluß erhoben, die Bereitwilligfeit des Reichstags audzufprechen, einem Geſetz zuzuftimmen, welches die zur Vor— berathung der drei uftizgefege ernannte Commiffion ermächtigen würde, ihre Berathungen über die Dauer der gegenwärtigen Seffion zu erftreden, und welches den Reichstag ermächtigen würde, dad Refultat feiner jest gewählten Commiſſion während einer folgenden Seffion der gegenwärtigen Legislatur— periode in Berathung zu ziehen. Vom Tiſch des Bundesrathes erfolgte jo- gleih die Zufage der Vorlegung eines ſolchen Geſetzes, und der Antrag Lasker ward einftimmig angenommen.

Wir wenden und nun zu der Würdigung, welche jeded der drei Juſtiz— gefege bei der erften Leſung im Reichstag erfuhr. Zuerſt dad Gerichts. verfaſſungsgeſetz. Bekanntlich enthält die in Betracht Fommende Vorlage nicht eine vollftändige Gerichtöverfaflung, fondern nur Normen für die Or gane der ftreitigen Gerichtäbarfeit, und auch diefe Normen nicht vollitändig. Man Fann ed nicht tadeln, daß die Neichdgefeggebung vermeidet, in die ver, waltende Thätigfeit der Juſtiz z. B. in Vormundfchaftd-, Grundbuchmefen ıc. einzugreifen. Ebenſo mag die Regelung der freiwilligen Gerichtäbarfeit den Ginzelftaaten überlafjen bleiben. Die einheitliche Regelung der Organe der ftreitigen Gerichtsbarkeit ſollte aber durchgreifend erfolgen, und daß dies nicht gefhehen, ward mit Recht in dem vorgelegten Entwurf ald ein ſchwerer Mangel hervorgehoben. Der preußifche Zuftizminifter, welcher diefen Geſetz— entwurf mit einem Einleltungsvortrag befürmwortete, berief fih, um die Un. vollſtändigkeit des Entwurfs, deren Tadel er vorausſah, zu entfchuldigen, auf den Wortlaut der Reichsverfaſſung. Man erinnert fih, daß im Mai 1872 die Abgeordneten Lasker und Miquel im Reichstag einen Antrag einbrachten und durcbfesten, auf Erweiterung der No. 13 ded Artikel 4 der Reich?

verfaffung. In diefer No. 13 war urfprünglih auf dem Rechtögebiet al? Grenzboten IV. 1874, "50

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Gegenftand der Neichägefeßgebung bezeichnet: das Obligationenreht, Straf recht, Handeld- und Wechſelrecht und das gerichtliche Verfahren. Die beiden Antragfteller verlangten die Ausdehnung der Meichdgefeggebung auf das ge fammte bürgerlihe Recht einfchließlih der Gerichtäverfaffung Die Worte „einfchließlich der Gerichtsverfaſſung“ ließen fie jedoch im Kaufe der Berathung unglüclicher Weife fallen, weil fie nach ihrer Erklärung nicht der Fuftizhopeit der Einzelftaaten zu nahe treten wollten und weil der zweite Grund ver- trägt fich fchlecht mit dem erften aus der Einheit des Gerichtöverfahrene die Einheit der Gerichtäverfaffung, ſoweit ald nöthig, folge. Die Wahrheit ift, daß aus der Einheit des Gerichtäverfahrend die Einheit der Berfaffung wenigſtens für die ganze ftreitige Gerichtöbarkfeit folgt. Der Bundesrath hat aber diefe nothmwendige Folgerung nicht gezogen, weil die particulariftifche Strömung in ihm zu ftarf war. Der Reichstag aber macht die unerwünſchte Erfahrung, wie peinlich die Folgen unzeitiger Schwäche find. Dem Ubgeord- neten Radfer wurde in diefen Briefen bei der damaligen Cinbringung des Antrages ein festina lente zugerufen, dem ſich die Nedaction der Grenzboten nicht anſchloß. Wir wünſchten in der That, der damalige Sieg wäre nicht mit dem Dpfer der Preidgebung ded halben Objected erfauft worden. Der Particularismus im Bundesrath ftände heute vieleicht fchmärher da, menn die Ermweiterung der No. 13 noch gar nicht unternommen wäre, al® jetzt, wo fie in einem weſentlichen Punkte mißglüdt ift. Wie dem fet, es giebt Feine ernftere Pflicht der patriotifchen Prefe, ald den Abgeordneten Lasker und die Gleichdenkenden im Reichstag darin zu unterftügen, daß die einheitliche Dr- ganifatton der ftreitigen Gerichtöbarfeit Feine halbe Maßregel bleibe. ine folhe halbe Mafregel würde für die deutſche Nation um juriftifch zu reden nicht nur ein große® lucrum cessans, fondern auch ein große® damnum emergens bedeuten. Die neue DOrganifation will jeden Deutfchen zmingen, bei jedem deutſchen Richter Recht zu nehmen, und doch foll der deutfche Nichter in ſoviel verfchiedene Specie® zerfallen, in 25—26, al es deutſche Bundedftaaten giebt, denn die Bedingungen der richterlichen Raufbahn follen nad mie vor von den Einzelftaaten geregelt werden. Das iſt wider die Natur der Dinge und wider dad Nechtögefühl. Soll die deutſche Nation da8 lange Zeit unerreihbar geglaubte Glück einer einheitlichen nationalen Rechtsbildung erleben, fo gehört ald Träger und Schüßer diefer Rechtsbildung zu derjelben die große, einheitliche Körperfchaft eines gleichartig organifirten Richterſtandes. Wie fein Recht, ſchwebt das deutfche Reich in der Yuft, wenn es nicht auf einheitlichen Berufäftänden ruht, deren es bis jest nur Einen, noch nicht. einmal durchgreifend einheitlich organtfirten, befitt, nämlid das Heer. Das Clvilreichsbeamtenthum ift bis jetzt noch ein viel zu ſchwacher Körper. Wie ſegensreich aber in jeder Nation ein anſehnlicher Richterſtand

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ald moralifh mächtige, unzerfplitterte Körperfchaft für die Feſtigkeit und die fittlihe Beſchränkung aller Lebenszuſtände wirkt, das beftätigt die Gefchichte, wie es aus der Natur der Sache fih ergiebt. Wir dürfen die Gelegenheit nicht verfäumen, von der wir nicht wiſſen, wenn fie wiederfehrt, diefed Gut in feinen Grundlagen jegt zu erringen. Zunächſt wird für dieſes Ziel die Reichstagsecommiſſion das Ihrige zu thun haben. Die öffentlihe Meinung wird ihrer Zeit da8 hoffentlich für die Einheit der Gerichtsverfaſſung günftige Werk der Commijfion zu unterftügen und den Neichdtag zu feiner Annahme zu ermuthigen haben, damit die particulariftifche Strömung im Bundesrath in diefer Angelegenheit von höchſter Bedeutung zum Weichen gebracht wird.

Die Charakteriftit der Verhandlungen über die beiden Ordnungen de? Strafprozefjed® und des Givilprozefied bei der eriten Leſung müſſen dem nächften Briefe aufgefpart bleiben, welchen die Sitzungen der nächſten Woche, da es nicht immer fo fortgehen Fann mit den Verhandlungen von Gegen: fänden erften Ranges, den nöthigen Raum zur Nahholung laffen merden.

C—r.

Weihnachlsbücherſchau.

Sm Verlage von Alphons Dürrin Reipzig erfcheint auch dieſes Jahr eine jener wohlbefannten liebenswürdigen Weihnachtögaben von Däcar Pletſch (mit Reimen von Franz Bonn), die von Alt und Jung mit gleihem Be- bagen gefchaut und gelefen werden. „Neſthäkchen“ heißt Oëcar Pletſch's neuefter Bildercyelus von 16 Blättern. Der Titel Eönnte melandolifh an- gelegte Naturen mit ähnlichen düftern Ahnungen erfüllen, wie fie zuläffig erfcheinen, wenn Jemand feine „Sefammelten Werke“ herausgiebt: dann darf man wohl annehmen, der Mann fchafft nicht? mehr Hinzu. Und fo fünnte man denfen, wenn Pletſch ſchon bis zum „Nefthäfchen“ gefommen tft, fo wird fein Griffel nichts mehr zu thun finden, wenn das Kleinjte flügge ge worden und der Kinderftube den Rüden gekehrt hat. Unbegründete Furt! Keines diefer ſechszehn Blätter fieht nach Uebermüdung oder Greifenhaftigfeit aus. Keines tft bier etwa untergebracht, wie ungelefene Broducte von Schrift: ftellern in gefammelte Werke untergebracht werden, um damit zu räumen, Vielmehr bekundet jedes diefer Blätter die alte Frifche und Freude des Schaffeng, die Oscar Pletſch's erfte Zeichnungen zu Reichenau's unvergänglichem Idyll deutfhen Familienleben? „Aus unfern vier Wänden“ (Reipzig F. W. Grunow) berühmt machten.

Aus Reihenau’d Weder bietet allerdings der Grunow'ſche Berlag diefed Jahr Feine Novität. Es ift früher ſchon einmal darauf hingedeutet worden, wie ſchwer und langfam diefer Dichter fchafft, wie felten ihn die Mufe mit jener mwolfenlofen Heiterkeit grüßt, die in allen feinen Sachen ſich offenbart. Und wozu auch wiederum etwas Neue? aus feiner Feder, da bie alten Geſchichten „Aus unfern vier Wänden“, „Liebesgeſchichten“, „Am eigenen Herd“ und fo lebendig und innig anmuthen, als feien fie heut erft der deutjchen Heimftätte abgelaufht. Wozu etwas Neued, da diefe vor längerer und kürzerer Zeit gefchriebenen Idyllen alle die gleiche Zugkraft bis heute bewahrt haben und ftet3 bewahren werden, fo lange deutfche Kinder auf- wachſen, deutfche Liebe fih offenbart und Häuſer gründet.

Dagegen bringt der Verleger Reichenau’s, F. W. Grunow in Reipzig, auf den diefjährigen Meihnachtsbüchermarft eine Novität, welche in jeder Hinfiht das beite Lob und die meitefte Aufmerkfamfeit verdient, nämlich Goethe's Erzählungen für erwachſene Mädchen, gefammelt von F. Siegfried, mit ſechs Tondrudkbildern nad Zeichnungen von K. Kögler und H. Merte. Kaum ein pädagogifches Problem ift fo ſchwer zu löfen, als die Frage, welche Lectüre erwachfenen Mädchen vorzugsweiſe zu empfehlen jet. Hierzu Goethe's Erzählungen auszuerwählen, iſt fiherlich ein Unterneh: men, welches der freudigften Zuftimmung werth ift und den jungen Damen bet ihrem Eintritt in die Reihen der Erwachſenen den reichiten Segen bringen mird. Mit feinem Sinn und kluger Berechnung iſt aus des Altmeifterd Werfen der erzählende Stoff ausgewählt worden, der diefer Stufe der meib- lihen Jugend am meiften entſpricht. So wird bei Zeiten den jungen Mäd— hen Sinn für unvergleichliche Reinheit und Hoheit Goethe’iher Sprache ge weckt merden.

MWenn wir die Schriften leſen, die, zur Zeit der Goethe'ſchen Alleinherr- ſchaft im Weiche der Geifter, Sr. Maj. allertreuefte Oppofition verfaßte, 3. B. des liebengwürdigen ungelenfen Schwaben Wilhelm Hauff's „Memoiren des Satan“, „aus der Leihbibliothek“ u. f. w., fo ftoßen wir auf zahlreiche Zeugniffe für die merkwürdige Erfcheinung, dag Walter Scott lange Jahre hindurch das „gebildete“ deutiche Publikum bei meitem mehr intereffirte, als ſelbſt der deutfche Dichterfürft. Gerade diejenigen, welche am meiften Ironie vorräthig hatten für den ſchottiſchen Dichter, wie Wilhelm Hauff, vermochten fih am wenigſten dem Einfluß desfelben zu entziehen. Die fhönfte Dichtung Hauff's, „Richtenftein“, tit durchaus vom Geifte Walter Scott’8 durchdrungen. Seine fonft fo freundliche Novelle „das Bild des Kaiſers“ geht für die rege nationale Empfindung unfrer Tage weit hinaus über die bedenklichfte Seite der Walter Scott’ihen Stoffe: Hauff feiert im „Bild des Kaiſers“ die heroi- Ihe Geftalt des Schirmheren ded Rheinbundes fo unverfroren, daß und

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Deutihen von heute ganz feltfam zu Muthe wird. Auch Walter Scott's Romane ftellten zum großen Theile das particulare Selbftgefühl der ſchottiſchen Hohlande in bewußten, vortheilhaften, dem britifchen Stolze empfindlichen Gegenfag zum nivellirenden Unitarismus des dreieinigen Königreiches. Und felbft wenn fo ausfchlieglich nationale Helden gefetert werden, wie Richard Löwenherz im „Ivanhoe“, läßt der Dichter die wärmſten Gefühle feines Herzend in das Dunfel leuchten, in dem die vergangene Herrlichfeit der Angel« fahfen fih vor dem herrfchenden Gefchlechte der Normannen bergen muß. Aber das alles find berechtigte Stufen der Entwicelung einer Volks- und Staatdgemeinfhaft. Den LRandesverrath der Kleinen Kronen gegen dad nationale Staatöbemwuhtfein, den Bund mit dem Erbfeind aus dynafti- ſchem Intereſſe, Hat Walter Scott nie gefeiert. Seine Schriften tragen im Gegentheil, trog aller Vorliebe für die fchottifchen Eigenthümlichfeiten der Volföfeele, einen ausgeprägt national» englifhen Charakter, und es ift fein Zufall, daß der vornehmfte Dichter der Marf Brandenburg und der Geſchichte des Werdens und Ringens des märfifchen Volkes und Fürften- hauſes, daß Willibald Alexis, ſeinen erſten Roman, im Geiſt und Geſchmack der Waverley-⸗Romane zu ſchreiben verſuchte. Wir Modernen aber ſchätzen Walter Scott's Schriften, beſonders ſeitdem und durch deutſche Forſchung ſein perſönliches Lebensbild in den jüngſten Jahren ſo menſchlich nahe gerückt worden iſt, um ſo höher, je mehr wir erkennen, wie fern er ſich hielt von den Verirrungen feiner Zeitrichtung, wie er die Phantaſiefülle und den Farben⸗ reihthum der Romantik vereinigt mit proteftantifher Zucht und hiſtoriſcher Pflihtftrenge, und wie die reine Feufche Seele des Dichter in allen jeinen Geftalten und Erzählungen treu fich fpiegelt. Diefer Hohe Werth der Walter Scott’fhen Romane gerade für das Jünglings- und Sungfrauenalter hat den befannten Leiter de „Daheim“ Robert Koenig und die Verleger des „Daheim“, Velhagen u. Klafing (Bielefeld und Leipzig), veranlaßt, Walter Scott’3 [hönfte Romane heraugzugeben, in neuer Heberfegung von Robert Koenig. Bis jest ift „Der Talisman“, „Quentin Durward“ und „Ivanhoe“ in diefer fehr ftattlichen Ausgabe erfchtenen. Die Ueberjegung ift treu und fehr lesbar und zeichnet fich vortheilhaft aus vor der großen Mehrzahl der deutſchen Walter-Scott-Ausgaben. Die gefhmadvollen Bilder von Grotjohann, von denen acht jedem Bande beigegeben find, gereichen diefer Iplendiden Ausgabe zu befonderer Zierde. Weberhaupt verdienen die Bücher, mit denen die Berlagsbuhhandlung Velhagen und Klafing den Weihnachtsmarkt betritt, da8 wärmfte Rob: in der Tendenz, die ihnen allen inne wohnt, wie in der reinen und oft fünftlerifchen Form, in der fie und vor Augen treten. Kaum eine andere deutſche Verlagshandlung bringt eine folhe Fülle guter und ſchöner Bücher allen Altersftufen der Jugend zum

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Chriftfeit entgegen, wie die Verleger ded Daheim. Für junge erwachſene Mädchen bieten die drei Büchlein von Clementine Helm: Princeßchen Eva, dad Kränzchen, Frau Theodore, feinfinnige feffelnde Lectüre. Die Reihenfolge, in der hier die drei Bücher genannt find, deutet zugleid die Stufenfolge der Jahre an, für melde diefe Schriften beftimmt find. Princeßchen Eva wird für jüngere Mädchen, etwa bie zu vierzehn Jahren, befonder8 geeignet fein. Das Kränzchen, das in der jebt vorliegenden zweiten Ausgabe namentlih durch die hübſchen SMuftrationen von Eugen Klünſch eine mefentliche Bereicherung erfahren hat, ift dem „Badfifhalter" aus der Seele gefchrieben. Und „Frau Theodore* werden aud junge Frauen noch gern und mit Nugen leſen. Jünglinge und Snaben dagegen finden in diefem Verlag einen reichen Schatz von Unterhaltung und Belehrung an gejammelt. Dem ſchönen Streben der Verlagdhandlung, durch ihren Jugend ſchriften-Verlag in unferer männlichen Jugend patriotiſchen Sinn, pietätvolle Würdigung der Helden unfere® Volkes und feiner Großthaten zu erziehen, find drei neue gute Bücher für das reifere Knabenalter entfprungen: Kaiſer Wilhelm der Siegreihe von Wilhelm Petſch (mit 12 XTonbildern von Lüders u. A.) Helmuth Graf Moltfe von Wilhelm Petſch (mit 8 Tonbildern von Fris Schulz) und Generalvon Werder von D. Höder. Diefe drei Novitäten fchließen fih in würdigfter Weiſe den patriotifchen ASugendichriften früherer Jahre von Wilhelm Petih an: „Der eiferne Prinz (Friedrich Karl), „Unfer Fritz', „des deutfchen Knaben Friedrih Wilhelm Schulze Fahrten und Abenteuer im Kriege gegen Frankreich” und der jchönen vaterländifchen Erzählung Robert Koenig’d „der alte Nettenbeck“, die wir bereit® früher in d. BI. rühmend erwähnt haben. „Nobert des Schiff jungen Fahrten und Abenteuer auf der deutſchen Handels und Kriegäflotte* von Mar Biſchoff mit acht Zonbildern von C. Dffterdinger bildet einen pafjenden Vebergang von den patriotifchen Jugendwerken des Klafing’fhen Verlagd zu jener ebenfo gediegenen Sammlung von Jugend ſchriften desfelben Verlags, welche den Zweck verfolgen, die Jugend über ferne Ränder und Völker in der Gefchichte der Entdeckungen zu belehren. Diefe Samm- lung ſteht weit über ähnlichen Unternehmungen anderer Bücherhandlungen.

Namen wie Richard Andree, Theodor Vogel, Reinhard Zöllner u. U haben die Bearbeitung diefer geographifch-ethnographifhen Sammlung über nommen. Die Tonbilder und Karten find nicht etwa, mie dieß in einer großen Bücherfabrik Deutſchlands üblich ift, alten Glied entnommen, die feit Sahren und theilmeife Jahrzehnten, durch alle möglichen iluftrirten Bücher gelaufen find, fondern die Bilder find von H. Merte nach den beften wiffenfhaftlihen Aufnahmen Fünftlerifch gezeichnet, die Karten- in ber geogr. lithogr. Anftalt von Velhagen und Klaſing mit wifjenfchaftlicher

Strenge gefertigt. So find Werke zu Stande gefommen, welche der freudigſten Empfehlung, auch für die reiffte Alteröflaffe unferer Jugend würdig find. Rihard Andree z. B. hat in dem Buche „Die deutfhen Nordpol- fahrer“ einen authentifchen Auszug aus den compendiöfen Fachwerken der deutſchen Nordpolerpeditionen von 1868— 72 geliefert, der auch genauen Kennern der lesteren die Originale, bis auf die ftreng miljenfchaftlichen Ab— bandlungen diefer Werke, erfegen kann. Und die Sluftrationen und Karten befleigigen fich (bi8 auf unbedeutende Unrichtigkeiten) genau der Anlehnung an die ſchönen Vorbilder der offiziellen Ausgaben. Mit Hiftorifcher Treue und dennoh mit lebhafter und feflelnder Darftellungsgabe führt und Theodor Bogelin dad Zeitalter der Entdedungen (v. 1440—1540), In die Gefchichte der großen Seefahrten und Entdedungen der Spanter und Portugieſen und die Schidfale ihrer vornehmften Führer, während zwölf Ton- bilder und eine Karte dem Anfchauungdunterricht dienen. Der ſchwarze Erdtheil endlih und feine Erforfcher erfreuen ſich einer durchaus ſach— verftändigen, auch Erwachſene jehr befriedigenden Charakterifirung und Wür- digung durh Reinhard Zöllner. Die großen Entdelungdfahrten von Speke, Grant, Baker, Livingſtone, Vogel, Nachtigall, Rohlfs, Barth, Overweg, Heuglin, Steudner, Künzelbach, Munzinger, von Beurmann, Anderſſon, Krapff, der Tinne u. U. find hier in gerechter und quellenmäßiger Weiſe mitgetheilt. Die Illuſtrationen find gleichfalls ſämmtlich offiziellen Reiſewerken von Innerafrifa entnommen ; die beigegebene Karte ift, neben der in Flemming’s Verlag in Glogau erfchienenen, die befte, die eriftirt, und bis auf die aller- neuefte Zeit fortgeführt.

Mährend fo der Berlag von Belhagen & Klafing für die Bedürfniffe der reifen Jugend in bedeutfamer Weiſe geforgt hat, ift dad Kindesalter feinegmeg® leer ausgegangen. Im Gegentheil wird jedes Eleine Herz; höher ſchlagen, wenn es der Herrlichkeiten anfichtig wird, die Gottlob Ditt- mar's Kinderluft (in zweiter fehr vermehrter Auflage) und vor Allem Robert Reinick's Märchen-, Nieder, und Geſchichten buch (gleich- falls in zweiter vermehrter Auflage) ihm bieten. Ueber das letztere Buch haben wir bereit vor zwei Jahren und mit warmer Anerkennung ausge— proben. Xert und Bild metteifern miteinander, dem Kinderherzen das Shönfte und Beſte entgegenzutragen. Cine ferngefunde Lebensfreude durch— dringt jede Zeile ded Dichters, jede Linie des Bildners; mer mit Kindern diefed Buch gelefen, gefchaut und genofien hat, wird von den Kleinen immer ‚no einmal Reinick“ Hören, und durch die eigne Empfindung dazu geftimmt werden, in Eindlicher Freude fi) mit zu freuen.

Faſt ausfhlieglih für das Eindliche Alter find die Novitäten beftimmt, mit denen diefed Jahr Carl Flemming's Berlag in Glogau den Weih—

400

nachtsbüchermarkt betritt. Für die reifere Jugend find allerdings auch einige‘; der fchönen Gaben da, die wir alljährlich aus diefem Verlage zu erhalten - gewohnt find: der reich illuftrirte und gehaltvolle zwanzigfte Band des Töhter-Albumd von Thefla von Gumpert, „Bunte Farben,‘ Erzählungen für die reifere Jugend“ von R. Koch, mit ſechs Bildern von; Reopold Venus, „Zehn Thüren“ von Julie Ruhfopf, mit vier Bil. dern von Venus, u. a. Bücher. Aber vornehmlich die jüngere Kinderwelt iſt bier reich bedacht. In erfter Linie erinnern wir an dad im vorigen Jahre eingehender befprodhene Märchenbuch von Godin, welches die geſammte Preſſe, auch die pädagogiiche, als eines der unftreitig beiten, ſorgfältigſt aus— gewählten und am geſchmackvollſten ausgeſtatteten Märchenbücher allgemein

anerkannt hat. Es darf jedes Jahr als neue Erſcheinung begrüßt werden, denn es veraltet nicht. Dann folgen Gulliver's Reifen in zweiter Aufe- lage, unter dem Titel: „Seltfame Abenteuer unter Zwergen und Riefen* von Ferdinand Schmidt bearbeitet, mit vier Illuſtrationen von H. Steljner,

dann „Daheim“, Erzählungen für die Jugend von Emma Bunjen, mit ſechs Bildern von R. Reineweber, „Unter dem Chriftbaum“, Barabeln, Erzählungen und Märchen von Lena Fäſi, mit vier Bildern von B. Mühlig, alles ſehr empfehlenswerthe Schriften für das Eleinere Volk, Diefen reihen fih an: Kinderfherz für's Kinderherz, Xieder und Reime von Rouife Thalheim in zweiter Auflage ein herziged Bilder

und Merkbüclein für die erften Semefter, in denen die Kleinen Memorie«-‘ übungen anftellen; und der neunzehnte Band von Herzblätthens Zeit— vertreib von Thefla von Gumbert mit ebenfo reihem und gediegenem Inhalt in Wort und Bild, wie feine achtzehn Vorgänger. Die Bilder find vom. H. Bürfner, U. Diethe, K. Fröhlich, B. Mühlig, 2. Venus u. A.; die Fan bendrude namentlich in denen der Flemming'ſche Verlag überhaupt Borzügr liches leiſtet meift von Fünftlerifher Vollendung. Unter all diefen Schriften” für das jüngere Kindesalter ftellen wir aber am höchften das foeben in zweiter

Auflage erjhienene „Roggenkörnlein, ein Büchlein für Heine Kinder vom) F. und 9. Jähde, mit (farbigen) Biltern von Reopold Venus Die eroige Poeſie, das unerforjhliche Geheimniß, die in der Entwidelung bed r Samenkornes zur Frucht, zur Reife, zum Abfterben, zur Erneuerung desſelben 3 Kreilaufes, liegen, find von finnigen Menfchen mit befonderer Aufmerkſam—

feit beobachtet und erfaßt worden, folange e8 Menfchengeihichte giebt. DIE” wunderbare Entwidelung und Verwandlung des Roggenkorns zum Brode if bier in vorzüglichiter Weife: in jedem Kinde faßlichen Verfen, und in wirklich vortrefilihen Bildern dem kindlichen Verftändnig nahe gebracht. Und,k ie äußere Ausftattung entjpricht durhaus dem werthvollen Kern des Dudyeks r

-—

pr

Verantwortlicher Redakteur: Dr. Hans Blum in Reipzig. Derlag von F. 2, Herbig in Leipzig. Drud von Hüthel & Legler in Beil

TEEN (ey Mer XXX Jahrgang. RE

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Die

Grenzboten.

Zeitſchrift für

»Folitik, Literatur und Kunſt.

No 50.

Ausgegeben am 11. December 1874.

3us 211: Seite

Zur Gefhichte des Eeptennats. III. Grfolglofe Arbeiten der Dreifiger-Gommiffion. Schluß der Winterfeffion. ©. Zelle 401

Plaudereien aus Sondon. 2. Alfred Blum . . .... 414 . „Un Die Grde* von Eduard Hildebrandt und „Malerifche Reife: ziele“ von Eugen Krüger. . . Emma 421

Dom deuten Reihstag. CT. 2 2 2 2220000002426 . Weihnachtsbücherſchau. Er Eee

Grenzbotenumfhlag: Literariſche Anzeigen. Hierzu drei literarifche Beilagen.

2

Leipzig, 1874. Friedrich Ludwig Herbig. (Fr. Wild. Grunow.)

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legten Jahrhunderten. Inhalt. Geift und Gang der Geſchichte. Ari. Reigen der fronzöfiihen Macht bis auf Ludwig XIV. berat Die franzöſiſche Weltmachtſtellung auf ihrer Söbe —5 XIV. bie zur Scheide der Jahrbunderte. Politiſcher Verfall des Staates, Herrihoft der revotutie nairen Literatur, en eit der XIV. x. 400 Seiten. gr. 5. Preis tr. = 7 MW Bi. Frrüber erichienen : Rarl illebraud, Frankreich umd die Frauzoſen in ne 2 BHaͤlfte des XIX. Johrh. un. und Erfahrungen umgearb. u. vermebrte Aufl. 8. Thir. =5 M. ©. Eugenheim, Aufläge und 325535 ut iranzöfifhen Geſchichte. d. 11, Thlr. 4 M ®. Berlad von Aobert Sppenheim in

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SEITE ER EEE

Ein in —————

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Fuiſe, Königin von Preußen.

Von Friedrich Adami.

erſchienen:

Siebente vermehrte Auflage. Unterſchrift.

Mit dem Bildniß der Königin und einem Facſimile 8. eleg. geb. 1 Thlr. 15 Sgr.,

der

in engl. Einband 2 Thlt.

Die erite Ausgabe fam aus der Feder der frau v. Berg, der Freundin und Ge

der Monarcbin.

Dem Perf. war es vergönnt, neue Briefe der Königin , uxhermiiieie blätter aus dem Lebensbuche der föniglihen Dulderin“

mitzutheilen.

Diefe neue Auflage ift wiederum jorgfaltiq durchgearbeitet, durch mannichfaltige gui ſentlich bereichert und ihrer eleganten Aus ſtattung wegen, welche durch ein dem Buche vo

ſchönes Bildniß der

Königin aus deren jüngeren Jahren, das die Anmuth ihrer

ſonders alüdlich zum Ausdrud bringt, noch erböbt wird, namentlich zu Feſtgeſchenken we

\t

Zur Geſchichte des Heptennats. II.

Erfolglofe Arbeiten der Dreißiger-Commiffton. Schluß der. Winterfeffion.

Nachdem durch die Annahme de3 Mairesgeſetzes der dringendften An- forderung des Herzogs von Broglie Genüge geleiftet war, mandte fidh die Aufmerkfamkeit der Regierung wie der Parteien wieder den Arbeiten des Dreißigeraugsfchuffes zu, dem eine Aufgabe geftellt war, die derfelbe beim beften Willen nicht zu löfen vermochte. Er follte den Entwurf einer Ber: faffung liefern, und mußte doch nicht, auf welche Grundlage er diefe Ver— faſſung ftellen follte. Der gegenwärtige Zuftand war vollkommen unregels- mäßig, halb Anarchie, Halb Gewaltherrſchaft. Die Souveränität war von Recht? wegen und dem Namen nah in den Händen einer Berfammlung concentrirt, die ſich Tängft nicht mehr als Vertreterin der öffentlichen Meinung anfehen fonnten. Und da die Nationalverfammlung ihre Souveränität doc nur im QAuftrage des Volks, des alleinigen höchſten Souveräns, feit dem Sturze de Faiferlihen Regimes, ausübte, fo mußte die Stellung der Ber» fammlung von dem Augenblik an gefährdet fein, wo fih ein Gegenſatz zwifchen ihren und den im Volke herrſchenden Anfchauungen unzweideutig herausſtellte. Daß diefer Gegenfas vorhanden ſei, war die beftändig wieder⸗ holte Behauptung der NRepublifaner und auch der Bonapartiften und alle Erfagmwahlen, auf die wir noch an einer anderen Stelle zurüdfommen werden, bewiefen ja in der That, daß dad Königthum, deffen Wiederherftellung doc noch immer das höchſte Ziel der parlamentarifhen Mehrheit war, im Volke allen Boden verloren hatte. Die entjchiedenen Republifaner hatten denn daher auch von Anfang diefer Verſammlung jede conftitutrende Befugniß ab- gefprochen, ihre ungefäumte Auflöfung und die Wahl einer conftituirenden Berfammlung gefordert. Die gemäßigten, fogenannten confervativen Republi- faner waren im PBrincip im Grunde mit jenen ganz einverftanden, fcheuten fi aber doch, die Confequenzen des Princips zu ziehen, weil fie fürchteten, dag aus Neuwahlen eine radicale Berfammlung bervorgehe nn der Ber-

©renzboten IV. 1874,

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faffung ein ultrademofratiiche8 Gepräge aufdrüden mürde, während das Ideal der confervativen Republikaner, die fih um Thiers geichaart hatten und ihn ald Führer verehrten, eine parlamentarifche Republif war, welche genügende Bürgfchaften gegen die von den NRadicalen angeftrebte Alleinherrfchaft der Demokratie böte. Denn mochte aud in Frankreich jede Partei es für noth- wendig halten, mit Worten fi zum demofratifchen Princip zu befennen: in der That beftand doch zmwifchen den verfchiedenen Claſſen der Gefellihaft ein eben fo ſchroffer Gegenſatz, mie zur Zeit des Julikönigthums; ja, die noch frifche Erinnerung an den mit Mühe unterdrüdten Communeaufftand trug nur dazu bei, den Claſſenhaß zu immer höherer Erbitterung zu fteigern; und wie fehr man fi auch bemühte, die focialen Reidenfchaften zu verhüllen: daß unter der trügerifchen Aſche die Gluthen des Hafjes fortglimmten, ohne dag es Fünftlicher Mittel bedurfte, um fie zu fohüren, dad mußte man auf der einen, wie auf der anderen Seite. War doch der Schreden, mit dem einige Wahlerfolge der Madicalen die befigenden Claſſen erfüllt Hatten, eine der treibenden Urfahhen zu Thierd’ Sturz geworden. Dur diefe Erfahrung belehrt, waren die Radicalen vorfichtiger geworden, und ihre Zurüdhaltung ſchien die befigenden Glaffen einigermaßen berubigt zu haben; fobald fie aber bei irgend einer Gelegenheit von den Gemäßigten fih trennten und ihre Farbe zeigten, wurde es offenbar, daß die Beruhigung nur fehr oberflächlich gewefen war; e8 bedurfte nur eines handgreiflichen Hinmweijed auf das Dafein der Radicalen, um von Neuem Schreden und Sorge in den der Ruhe be- dürftigen Kreifen der Bevölkerung zu erweden. Hinter den ſtaatsrechtlichen und Berfafjungsfragen, welche im Grunde nur die Politiker erhigten, Tauerte drohend die fociale Frage, um welche die Bevölkerung fi gruppirt. Zus weilen trat, trotz aller Vorficht, felbft in der Nationalverfammlung, der Claſſengegenſatz ſchroff zu Tage, fo gelegentlich der Steuerdebatte, die mit großer Keidenfchaftlichkeit geführt wurde. Die Yinanznotb war groß; vor Allem die Militärverwaltung nahm ungeheuere Summen in Anfpruh und fonnte dabei doch dem Friegerifchen Eifer der Verfammlung Faum genug thun; ja es fam vor, daß die Regierung Mehraudgaben, weldhe von befon- ders eifrigen Mitgliedern, wie Gambetta, gefordert wurden, aus finanziellen Nüdfihten ausdrüdlich zurückweifen mußte. Leon Say wünſchte eine augen» blickliche Erfparnig durch Herabminderung der Schuldenamortijationdquote um 50 Millionen zu erzielen; aber fein hierauf bezüglicher Antrag wurde den Wünſchen ded Finanzminifterd entfprechend abgelehnt. Als einziges Mittel zur Befriedigung der an den Staat geftellten Anſprüche bot fi alfe nur die Einführung neuer und die Erhöhung älterer, und zwar weit über- wiegend indirefter Steuern dar, da, wie wir ſchon an einer anderen Stelle ausgeführt haben, eine einigermaßen erhebliche Einfommenfteuer in Frankreich

403

als entfchieden foctaliftifche oder mwenigften® dem Socialismus in die Hände arbeitende Einrichtung gilt. Die Aufgabe Magne's war unter diefen Um— ftänden fehr ſchwierig: um nicht eine Claſſe ausfchlieglih zu belaften, mußte er ein höchſt verwickeltes, die verfchiedenartigften Gegenftände des Verbrauchs und des Erwerbs treffendes Syftem von Steuern vorfhlagen. Die Folge davon war aber, daß von allen Seiten Lärm gefchlagen wurde, daß bald der Aderbau, bald Handel und Induſtrie über übermäßige Belaftung Klage erhoben: Hatte doch auch Thierd ſchon ähnliche Erfahrungen machen müſſen. Die einzige finanzielle Macht, die auf Magne's Seite ftand und ihm aller dings eine überaus ftarfe Stüße gewährte, war die Börfe, melde vor Allem eine glüdlihe Erfüllung der eingegangenen BVerbindlichfeiten von dem Staate forderte und in diefer Beziehung zu Magne's Energie und gutem Willen ein faft unbegrenztes Vertrauen hatte. Bei Gelegenheit der Steuertabelle nun fam es vor, daß Magne fich über den engherzigen Eigenmuth der Snduftriellen und Kaufleute beſchwerte, die nur darauf bedacht wären, alle Raften von ihren Schultern abzumälzen. Dies Wort wirkte wie ein Feuer, das in eine Bulvertonne geworfen wird, das Signal zu einem Claſſenkampfe war gegeben. Lockroy von der äußerſten Linken benutzte die Gelegenheit, um einen heftigen Angriff gegen die Gapitaliften, Rentiers und Grundbefiger zu richten, dem Dufaure, als Vertreter des Bürgerthums, mit einem eben fo heftigen Ausfall gegen die Dummen, Faulen und Neidifhen und einer Kobrede auf den Patriotismus und die einfichtövolle Uneigennüsigfeit der Neichen erwiderte. Die Organe der Linken felbft bemühten fih, durh Desavouirung Lockroy's den peinlihen Eindruck, den feine Worte auf die wohlhabenden Claffen ge= macht hatten, abzufchwächen. Aber dad Wort war einmal geſprochen, und feine Mißbilligung desfelben Eonnte hindern, daß e8 als unmillfürlicher Aus: bruch eines glühenden Haſſes, der für die Zukunft die furchtbarften Stürme in Ausficht ftellte, aufgefaßt wurde. Was hatte man zu erwarten, wenn die Partei, ala deren MWortführer Lockroy aufgetreten war, einſt and Ruder füme? Ihr Generalftab und ein großer Theil ihrer bewaffneten Macht be- fand fih auf den Bagnod und in Neucaledonien: würde aber ein Negiment der gemäßigten Linken dem Verlangen nad Umneftie und BZurüdberufung der Verbannten auf die Dauer MWiderftand leiten können ?

Das unter folchen Berhältnifien die gemäßigten Republikaner einen Sieg - ihrer radicalen Bundesgenoffen fait eben jo fürdhteten, wie die Pläne ihrer monarhifchen Gegner ift erklärlich genug: und daher wünſchten fie Nichts fehnliher,, ald daß es der gegenwärtigen Verfammlung gelingen möge, die Republik mit folhen Inftitutionen audzuftatten, die eine ſichere Schugwehr gegen das Andringen der revolutionären Elemente böten. Die Frage, ob die radicale Partei in verfaffungsmäsigen Beftimmungen ein Hinderniß für die

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Berfolgung ihrer Pläne fehen würde, Ite man dabei ganz außer Acht. Man möge nur die Republik conftituiren, die Regierung mit parlamentarifchen Einrihtungen umgeben, dann werde Vertrauen und innerer Frieden zurüd- fehren. Es war das eine thörichte Hoffnung, aber begreiflich ift es immerhin, dag man fie hegen fonnte, daß man troß aller traurigen Erfahrungen an dem Vertrauen auf die Kraft der Inſtitutionen fefthielt. Denn mer diefe Hoffnung aufgab, dem blieb ja nur die Zuflucht zu der ftarfen perfönlichen Negierung des Kaiſerthums übrig: des Kaiſerthums, dem man fchmeigend gegrollt hatte, fo lange e8 beftand, und das man für Frankreichs Unglüd verantwortlich machte, nachdem es gefallen war.

Ueber die verfafjungsmäßigen Bürgfchaften würde fich zwiſchen den con ftitutionellen Republifanern und den gemäßigten Monardiften, die ja derfelben politiihen Schule angehörten, wohl eine Berftändigung haben erzielen Laffen, mwenn die Oberhauptäfrage fie nicht getrennt hätte. Hier lag doch die un. überwindlihe Schwierigkeit, an deren Ueberwindung die Dreifigercommiffion fi) vergebens zerarbeitete, da8 Problem, das fih um fo unlösbarer erwies, je eifriger man nad) einer Löſung ſuchte. Man Iebte in einem jeder Organi- fation entbehrenden Zuftande, den man Republif nannte und nennen mußte, eben meil es nicht die Monarchie war. Jetzt follte man diefen Zuftand or ganifiren. Dazu maren die Republikaner, wenigften® die gemäßigten, bereit, und die radicalen würden fich fehr gern gefügt haben. Man war bereit, die Herrihaft Mac Mahon's auf fieben Jahre anzuerkennen, aber ausdrüdlid ala eine republifantihe Gewalt. Die Republikaner hatten beit der Gründung ded Septennats deshalb ihre Zuftimmung von der Bedingung abhängig ge macht, daß die Gonftituirung der Republif der Vollmachtenverlängerung vorangehen müſſe. Mit diefen Vorlagen waren fie nicht durchgedrungen, das Septennat war gegründet, war die einzige ſtaatsrechtlich feitftehende, von der Frage nah den Verfafjungsgefegen ganz unabhängige Thatfache ge worden: fie hatten diefe Thatfache anerkannt, forderten aber jetzt, daß bei der Berathung und Beſchlußfaſſung über die Verfaſſungsgeſetze die Republik aus drücklich als verfaffunggmäßige Staatdform mit einem auf fieben Jahre ge wählten Präfidenten an der Spite anerkannt werde. Die Gegner der Republif faßten dagegen das Septennat, fo weit fie e8 überhaupt als unantaftbar ans - erfannt, als eine ganz befondere, keineswegs principtell republifanifche Inſti— tution auf, als eine Inftitution, die nicht die Republik begründen, fondern die Monarchie vorbereiten ſolle. Aber auch unter den Monardiften ſelbſt errichten verfchiedene Anfichten. Abgeſehen von denjenigen, welche die bindende Kraft des Beichluffed vom 20. November überhaupt in Frage ftellten, wollten einige das Septennat ald ein rein perfönliches Regiment organifiren, andere wollten ihm infofern einen unperfönlichen Charakter geben, als fie in bie

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Verfaffungägefege eine Beſtimmung aufgenommen zu fehen mwünfchten, welche die Uebertragung der Vollmachten Mac Mahon's für den Fall feine? Nüd- tritts, ſeines Todes oder des Ablaufs feiner fiebenjährigen Präfidentfchaft regelte. Diefen Standpunkt nahmen die Drleaniften ein, meil fie als mäch— ttgfte parlamentarifche Partei überzeugt waren, daß es ihnen mit Hülfe eines aus Mitgliedern ihrer Partei zufammengefegten Senates gelingen werde, den Herzog von Aumale die Nachfolge zu fichern: während die Bonapartiften darauf beitanden, dag Mac Mahon’d Nachfolger nur von dem Volke felbit ernannt werden Fönnte.

Die Republikaner Hatten bei diefem chaotifhen Gewirr der verjchieden- artigften Abfihten und Anfichten den Vortheil, daß fie mit einem bereit3 in feinen Grundzügen auögearbeiteten Berfaffungsdentwurfe in die Schranken treten Fonnten. Denn die Dufaure’fchen Entwürfe, die der Verfammlung vor der verhängnigvollen Kataftrophe im Mat ded vorigen Jahres vorgelegt waren, galten den confervativen Republifanern, von einigen durch die Ber- bältnifje bedingten Abänderungen im Einzelnen abgefehen, als volllommenited deal der Berfaffung einer Republik, wie fie diefelbe fich dachten. Nach diefem Ent- wurf follte neben die aus 500 Mitgliedern beftehende Repräfentantenfammer mit fünfjährigem Mandat ein Senat aus 250 Mitgliedern beftehend, treten, gewählt durch das allgemeine Stimmrecht, aber aus beftimmten Kategorien; eine weitere Beſchränkung war, daß die Mitglieder das dreißigfte Lebensjahr überfchritten haben follten, während für die Wählbarfeit zur Abgeordneten: fammer nur ein Alter von 25 Jahren erfordert wurde. Das Mandat der Senatoren follte zehnjährig fein, alle zwei Jahre follte ein Fünftel aus- [heiden. Der Präfident follte auf 5 Jahre durch ein aus dem Senat, der Repräfentantenfammer und je drei Delegaten der Generalräthe erwählt werden und dad Recht zur Auflöfung der Repräfentantenfammer unter Zuftimmung des Senated haben. Diefen Dufaure’fhen Entwurf faßten in feinen mefent- lichen Beftimmungen die NRepublifaner auch jett noch ind Auge, wenn es fi um die Conftituirung der Republik handelte, während ihn alle Fraktionen der confervativen Wartet einftimmig für völlig unannehmbar erflärten. Schon der eine Umftand, daß in dem Entwurfe die Präfidentenwürde als eine bleibende, regelmäßige Inſtitution organifirt wurde, genügte zur VBerurtheilung der ganzen Vorlage. Auch ein aus dem allgemeinen Wahlrecht hervor» gegangener Senat entſprach weder den Wünfchen der Mehrheit, noch denen der Regierung, die für fich felbft einen hervorragenden Antheil an der Bildung der höchften politifhen Körperfchaft forderte. in dritter Mangel ded Entwurf war vom Standpunkt der Confervativen mit Ausnahme der Bonapartiften die unbefchränkte Anerkennung des allgemeinen Stimmredhts,

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an defien Modification oder „Moralifirung” man nun fehon feit einigen Jahren, jedoch ohne den geringiten Erfolg, arbeitete.

Man hat die Mehrzahl häufig beichuldigt, daß es ihr an dem guten Willen fehlte, dem beftehenden Zustande durch Herftelung einiger organiſcher Einrichtungen eine fefte Form und die Bürgfehaft einer gewiſſen Dauer zu geben. Diefer Vorwurf war indeffen niht ganz gerecht. in der Zeit freilich, wo die monarchiſchen Parteien fi der Hoffnung auf eine unmittelbar bevor ftehende MWiederheritellung des Königthums hingaben, dachten fie nicht daran, einen Zuftand zu organifiren, dem man ja gerade ein raſches Ende bereiten wollte. Auch unterliegt es feinem Zweifel, daß zu der Erbitterung der Con- fervativen gegen Thiers, welche die Kataftrophe- vom 24. Mat herbetführte, das Berlangen, einer Berathung der conftitutionellen Gefege aus dem Wege zu geben, mwefentlich mit beigetragen hatte. Aber damald war die Mehrheit doch nicht fomohl über die Zumuthung überhaupt, dem Proviſorium eine gewiſſe Feſtigkeit zu geben, erbittert gewefen, als vielmehr über jene beftimmten Geſetze, welche Thierd der Nationalverfammlung aufdrängen wollte. Hätten fi die Dufaure’fchen Gefege ald proviforiich angekündigt, hätten fie in Feiner Meife der Zukunft vorgegriffen, fo würde man fich diefelben mit einiger Mopdification ohne Bedenken haben gefallen laffen. Aber ein Geſetz über die Präfidentenwahl mußte von allen monardifchen Parteien zurückgewieſen werden. Während der Fufiondbeftrebungen rubten natürlich alle auf Ber fallungsfragen bezüglichen Arbeiten. Nach der Verlängerung der Vollmachten Mac Mahon's lag es aber augenfcheinlich im Intereſſe der Gonfervativen felbft , die Drganifationsarbeit ernftlih und nicht etwa bloß zum Schein in die Hand zu nehmen. Man hatte Mac Mahon eine Stellung eingeräumt, die ihn thatfächlih aus einem Beamten in einen Herrfcher mit ganz un beftimmten und darum unbefchränften Vollmachten verwandelte. Begrenzen fonnte man feine Macht nur durch organifche Geſetze. Mac Mahon forderte diefelben in Folge ded natürlichen Triebes jeder Negierung, ſich mit Inſti— tutionen zu umgeben, die, wenn fie ihr gewiffe Schranken ziehen, ihr doch andererfeitd den Charakter der Negelmäßigfeit und damit eine moralifche Sicherheit verleihen, deren auch die Eräftigfte Dietatur entbehrt. Indeſſen Mac Mahon Eonnte der conftitutionellen Gefege im Nothfall immer ent: behren. Die Majorität bedurfte ihrer aber um fo dringender, weil fie fid vor einer Vergewaltigung durch die neben ihr emporgefommene , ihr bereits überlegene Macht und durch eine, wenn auch nur auf die Dauer von 7 Jahren berechnete Organifation der Staatdgewalten, durch eine feite Regelung ihrer Beziehungen zu einander ſchützen konnten. Wenn die Legitimiften und z. Th. auch die Bonapartiften einer Organifation des Septennats abgeneigt waren, jo hatte das einfach in Ihrer theils entſchieden feindlichen, theild zmeideutigen

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und abmartenden Haltung dem Septennat gegenüber feinen Grund; ein Theil der Bonapartiiten wünfchte auch wohl, in der Hoffnung, Mac Mahon völlig für die Faiferlihe Sache gewinnen zu können, thn in einer möglichft unabhängigen, von allen conftitutionellen Schranken freien Stellung zu fehen. Die große Mehrzahl der Gonfervativen aber hatte alle Urfache, den Wünfchen Mac Mahon’8 nah Organifirung des Proviſoriums bereitwillig entgegen- zulommen, und zwar möglichft rafch, denn wer Eonnte wiffen, ob Mac Mahon nit mit der Beit zu der Einfiht gelangen merde, daß gerade die Negellofig- feit der öffentlichen AZuftände ihn zum Schiedörichter über die Zukunft des Landes machen müſſe? Einen befonderen Grund zur Befchleunigung der Drganifationdarbeiten, der ſich allerdings nicht ganz unummunden ausfprechen ließ, hatten die Orleaniſten: fie waren die einzige Partei, die auf parlamen- tariſchem Wege an das Ziel ihrer Wünfche zu gelangen hofften, fie bedurften daher der conftituttonellen Geſetze ald Mittel, um die geplante orleaniftifche Reftauration vorzubereiten und einzuleiten.

An dem guten Willen, das Septennat zu organifiren, wie der ftehende Ausdrud war, gebrach es alfo der überwiegenden Mehrheit der Gonfervativen nicht, fondern nur an der Fähigkeit. Auch die Regitimiften und Bonapartiften würden fich fhließlich zur Mitarbeit an den Verfaſſungsgeſetzen haben bereit finden lafjen, wenn alle Gruppen der Mehrheit fi) auf neutralem Boden zufammengefunden hätten. Die Regierung fagte zwar: das Septennat ift der neutrale Boden, in der That aber war und blieb das Septennat der Ausgangspunkt für alle möglichen Sonderbeftrebungen. Es war eben un— möglich, eine Verfaſſung zu erfinnen, die in Feiner Weiſe der Zukunft vor: gegriffen hätte. Bei der Zufammenfesung des Senats, bet den Beftimmungen über die Uebertragung der Gemalten handelte es fih, von den Republikanern, um die man fi) damald wenig fümmerte, abgejehen, doch vorzugsweiſe um die dynaftifche Frag. Man mochte bei irgend einem diefe Punkte be- treffenden Vorſchlag die Tendenz auf? Sorgfältigfte verhüllen, in diejen Dingen befaßen die rivalifirenden Parteien einen durch ein fehr gerechtfertigtes Miptrauen zur höchſten Volltommenheit ausgebildeten Scharfblid, der alle Hüllen, hinter denen der Gegner feine Gedanken und Abfichten zu verfteden ſuchte, durchdrang. Der Waffenftillftand, auf dem die Eriftenz der Majorität berußte, war zu loder und zu wenig aufrihtig, um auf die Probe einer Verfaſſungsdebatte geftellt werden zu können.

Unter diefen Umftänden war es nicht zu verwundern, wenn der Aus— ſchuß, troß allen Fleißes und guten Willend nicht von der Stelle Fam. Um die Arbeiten zu theilen und zu befchleunigen, hatte man einen Nebenausſchuß von 9 Mitgliedern ernannt, und demjelben den Auftrag ertheilt, die Organi—

fatton der öffentlichen Gewalten in Erwägung zu ziehen, während ber Dreißigerausfhuß felbit fih an dem Wahlgeſetze abarbeitete. Aber ftatt Rath zu ertheilen, brachte e8 die Neunercommiffton nur dazu, Fragen aufzu— werfen, über melde die Gefammtcommiffion zu entfcheiden hätte. Dad „Auäftionnär“ der Neuner deutete eine Löſung und Entfcheidung nicht einmal an, ed gab nur ein abjchredendes Bild der Schwierigfeiten, mit welchen man zu kämpfen hatte. Melchen Titel fol der Staatächef führen? fol ein Vic präfident ernannt werden? Dann eine Anzahl Fragen nach der Zufammen fegung und den Befugnifjen des Senats, dem Auflöſungsrecht des Präſt denten u. f. w. u. f. w. Alles Fragen, die hundertmal erörtert waren, und dur deren ſyſtematiſche Zufammenftellung die Berathungen der Commiffion, die nicht nach Problemen, fondern nah Köfungen Verlangen trug, nicht im geringften gefördert wurden.

Der parlamentarijhen Initiative darf auch unter den günftigften Um: ftänden, wenn eine nicht nur im Verneinen und im Widerftande, fondern au in ihren Bielen einige Mehrheit vorhanden ift, nicht zu viel zugemuthet wer: den. Große Verfammlungen, gefeßgeberifhe Körperfchaften bedürfen der Lei: tung, und diefe Leitung können nicht einige Parteiführer, fondern muß die Regierung übernehmen. Berfäumt fie diefe Pflicht, fo verliert fie die Her haft über ihre Anhänger, und diefe, im Gefühl der Nathlofigkeit und Hülf lofigfeit, büßen den Zufammenhang unter einander und mit der Regierung ein; die Mehrheit nutzt ſich ab, zerfällt, hört auf, eine Stütze der Regie rung zu fein. In mie viel höherem Grade werden aber diefe Uebelftände hervortreten müffen, wenn die fich felbft überlafjene Mehrheit nur eine ſchein— bare, wenn als einziges einigended Band nur der Haß gegen einen gemein- famen Feind vorhanden ift. In diefer Rage aber befand fich die Mehrheit der franzöfifchen Nattonalverfammlung. Ste follte conftituiren und zerfiel in Gruppen, deren jede ein anderes Ziel vor Augen hatte. Natürlich Fam der Ausſchuß, in dem alle Gegenfäse der Verſammlung vertreten waren, nicht von der Stelle; dabei drängte die Regierung, vielleiht mehr no, um ihren Eifer zu zeigen, ald in dem aufrichtigen Wunfche, die Verfaſſungsarbeit raſch zum Abſchluß zu bringen. Wenigſtens konnte fie fehr wohl wiſſen, daß alle Drängen vergeblih fein mußte, fo lange fie den Ausſchuß ſich felbft überließ, und daß das einzige Mittel feine Arbeiten zu befchleunigen, fih in der fachlichen Keitung der Verfammlung bot. Mit einem Worte: Wollte die Regierung rafcher zum Ziele fommen, fo mußte fie felbft die Ent- würfe audarbeiten und der Verfammlung, refp. dem Ausſchuß zur Berathung vorlegen. Der Erfolg einer ſolchen Maßregel wäre natürlich immerhin im hoben Grabe zweifelhaft geweſen; ohne diefelbe mußten aber die Arbeiten ded Ausſchuſſes unzweifelhaft erfolglo8 bleiben. Jede Initiative in der Ber-

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faffungäfrage Iehnte die Negierung aber ab, unter dem Vorwand rückſichts— vollfter Wahrung der Privilegien der fouveränen Verfammlung, der in der eonititutionellen Frage das erſte Wort gebühre, in der That aber, weil fie fi vor einer Maßregel ſcheute, die, wenn fie nicht den Beifall der Mehrheit gefunden hätte, die Stellung des Miniſteriums in hohem Grade compromit- tirt haben würde. jeder fuchte dem Andern mit der Initiative auch die Ver: antwortung zuzufchteben, und gerade dieſer Mangel an Gelbftbemußtfein und moralifhem Muth mar eind der ſchlimmſten Symptome der Erſchlaffung des öffentlichen Geiftee.

Bon Zeit zu Zeit ſah fih Herr von Broglie allerding® gendthigt, im der Dreißtgercommiffton zu erjcheinen, zur Eile zu mahnen und einzelne An» deutungen über die Wünfche der Regierung zu geben, die aber viel zu unbe fimmt waren, um den unglüdlihen Mitgliedern des Ausſchuſſes als Reitftern zu dienen. Es war dem Ausfhuß wenig damit geholfen, wenn der Minifter gelegentlich erklärte, ein Oberhaus nad dem Entwurfe des Herrn Dufaure würde nod) radicaler ausfallen, ald die zweite Kammer ; wenn er ganz allge mein andeutete, er werde es vorziehen, daß der Senat theils von der Regie rung, theils von den Generalräthen, gelehrten Körperfchaften u. f. w., er- nannt werde, wenn die Negierung über die gefährlichite aller Fragen, die Vebertragung der Gewalten Hin und wieder ein dunkles Näthfelmort verneh— men ließ. Beſonders dringlid waren Broglie's Mahnungen, die Berathung des Wahlgeſetzes zu befchleunigen, und in der That hatte er alle Urfache, über das bedächtige und bis zur Pedanterie gründliche Verfahren des Aus- ſchuſſes ungehalten zu fein. Zwei und zwanzig Sigungen hatte man bereits mit der Prüfung aller denkbaren Wahlſyſteme hingebracht, ohne daß irgend eins Gnade vor den Augen der firengen Kritiker gefunden hätte. Neue An— träge, 3. B. von Racombie, vermehrten nur die Verlegenheiten, unter dem vielen Guten das Beſte zu wählen. Nun erjchien eine? Tages Broglie im Ausſchuß, nicht nur eine beftimmte Anficht zu Außern, nicht nur ein sic volo, sic jubeo zu ſprechen, fondern um alle biöher gemachten Vorſchläge zu Eriti» firen und die Sache von allen Seiten zu beleuchten, was der Ausſchuß felbft ſchon wochenlang gethan hatte. Außer den Radicalen waren fo ziemlich alle Parteien von der Vermerflichfeit des Liſtenſerutinismus überzeugt, natürlich auch Herr von Broglie. Nichtsdeftoweniger fiel e8 ihm durchaus nicht ein, fh wentgftend über diefen Punkt Elar auszufprechen, vielmehr trieb er die Dbjectivität und Unparteilichkeit fo weit, den Nachtheilen des Syſtems ge wilfenhaft die Vorthetle gegenüber zu ftellen. Als er im Kaufe ded Februars wieder einmal den Ausſchuß zur Eile trieb, forderte ihn Tallon endlich auf, doc jelbft den Entwurf eines Wahlgeſetzes einzubringen, was Broglie indeſſen

unbedingt ablehnte. Örenzboten IV. 1874, 52

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Nach endlofen Debatten brachte man endlich einen Entwurf zu Stande, der mancherlei Befchränfungen in Bezug auf Dauer des Mohnfites, Alter, Incompatibilät enthielt, die grade wett genug gingen, um den Entwurf un populär zu machen, aber nicht weit genug, um fi von demfelben einen gro, Ben Einfluß auf die Wahlen verfprechen zu können. Aber unmittelbar nad Einbringung der Vorlage wurde (24. März) ein Antrag angenommen, die Situngen der Berfammlung vom 28. März bis 12. Mat zu vertagen, wo mit alfo auch die Beſchlußfaſſung über das einzige Geſetz, welches die Com— miſſion zu Stande gebracht, bis ind Unabfehbare verfchoben wurde. Zugleich gelangte ein Antrag der Regierung zur Annahme, nad welchem die Wahlen der Municipalräthe, die gefeglich vor dem 30. April ftattfinden mußten, bis nad dem Zuftandefommen des Wahlgeſetzes vertagt wurden.

Dad alſo war das Ergebnif der Seffion in Betreff der Verfaſſungs— frage: ein mühfam zu Stande gebrachter Gefegentwurf, deſſen Schickſal noch im hoben Grade zweifelhaft war, der Röfung der eigentlich conftitutionelen Fragen war man aber noch nicht um einen Schritt näher gekommen, ja man begab ſich mit der feften Ueberzeugung in die Ferien, daß man am Schlufe der nächſten Seſſion noch auf derjelben Stelle ftehen werde, wie gegenmärtig. Der Gedanke, im Laufe ded Sommers die Entfcheidung herbeizuführen, Eonnte bereit3 am Schluß der Winterfeffion ald aufgegeben gelten.

Wenn die Regierung den conftitutionellen Fragen gegenüber fich ftetd mit großer Zurüdhaltung geäußert hatte, fo war fie um fo mehr bemüht, zu zeigen, daß fie die VBollmachtöverlängerung ald unmiderruflich anfehn und jeden Verſuch, diefelbe in Frage zu ftellen, als ein Attentat gegen den Nas tionalwillen zurückweiſen und ahnden werde. Gleich bei Veröffentlichung dee Mairesgeſetzes im Januar hatte Broglie ein Rundſchreiben an die Präfekten gerichtet, in welchem die verfaſſungsmäßige Reichsbeſtändigkeit ded Septennatd nahdrüdlih betont und die Präfekten angemwiefen wurden, die Regierung Mac Mahon's im Intereſſe der von ihr vertretenen moralifchen Ordnung aufs Entfchiedenfte zu unterftügen und bei der Beitätigung, reſp. Entlaffung der bisher im Amte befindlichen Maires durch das neue Gefeg waren die Vollmachten jämmtlicher Maired erlofchen vorzüglich ihre Stellung dem Septennat gegenüber ind Auge zu faflen. Die Republikaner waren mit diefem Erlaß, wenngleich ihnen die in Ausficht geftellte Maßregelung aller repu- blifanifchen Maires höchſt anftößig war, doch, da er den Nopaliften alle Hoffnung abzufchneiden ſchien, nicht ganz unzufrieden, und beabfichtigten den Herzog von Broglie durch eine Interpellation zu einer entfchiedenen Erklärung in ähnlichem Sinne von der Tribüne zu veranlaflen. Die Interpellation wurde indeſſen bi in den März hinein verfchoben, und dann von Broglie in einer halb ausweichenden Weife beantwortet, die Niemand ganz befriedigte, aber

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auch nach Feiner Seite hin eine entfchiedene Blöße bot. Sehr entrüftet waren über das NRundfchreiben dagegen die Regitimiften, denen Broglie in feiner doppelgängigen Weife vor der Abſtimmung über das Gefeg nad ihrer, von der andern Seite jedoch beftrittenen Behauptung erklärt haben follte, daß das Septennat fein Dogma fei. Bollfommen befriedigt Sprachen fich, ihrer allge meinen Haltung gegenüber dem Septennat entſprechend, nur die Orleaniften. aus, die Broglie Alles verziehen, fo lange fie ihn als ihr Werkzeug glaubten anfehben zu fönnen. Einen noch bedeutendern Eindrud machte e8, daß Mac Mahon felbft in einer Unterredung mit dem Präfidenten des Handeldtribunale In Paris feine Vermunderung darüber ausſprach, daß man in Betreff der Stabilität der Regierung fich Befürchtungen Hingeben könne und dann hinzu: fügte: die Nationalverfammlung hat mir die Erecutivgewalt auf 7 Jahre anvertraut und als Chef der vollziehenden Gewalt werde ich während dieſes Zeitraumd dafür Sorge tragen, daß diefer Beichluß der Nationalverfammlung aufrecht erhalten wird.

Das war ein ftolzed Wort. Die Parteien fühlten, daß fie fich einen Ge- bieter gegeben hatten, daß die Gewalt von dem rechtmäßigen Souverän auf den Delegirten der Nationalverfammlung übergegangen war. Dad mar eine Thatfache, mit der jede Wartet, die nicht wie die Regitimiften, ausſchließ— lid den Eingebungen des Verdruſſes und der Retdenfchaft folgte, rechnen mußten. Selbft die Bonapartiften, mie ſehr mit ihren Hoffnungen aud ihr Hohmuth gewachſen war, fahen ein, daß ihr Vortheil es erheifchte, fih mit dem Septennat auf möglichft guten Fuß zu ftellen, troß Broglie und den Drleaniften, die jede Gelegenheit benusten, um mit ihrem Mac-Mahonigmud - Staat zu machen. Ein bonapartiftifche® Provincialblatt, das fi unehrer- bietig über da® gegenmärtige Syſtem audgefprochen hatte, erhielt von Rouher eine Zufchrift, in welcher der Führer der Bonapartiften erklärte, man müſſe das Septennat refpectiren, denn dasſelbe fet der Ausdruck des Willend der Nation und laſſe doch die Zukunft offen. Zu bedauern fei nur, daß Mac Mahon in feiner Unparteilichkeit nicht beffer gegen Eleinliche Intrigue ge [hüst werde. Das Septennat fei ein Waffenftilftand und dürfe von der Partei nicht ald eine Art von Schirm gemißbraucht werden, hinter den man fi erft verſteckt, um ehrgeljige Pläne zu fehmieden, Eine directe Berufung an den Willen der Nation ſei erforderlich, um alles durch den Aufitand vom 4. September 1870 herbeigeführte Unheil wieder gut zu machen. Wenn der Tag diefer Berufung gefommen ſei, werde fich zeigen, daß e8 nur zwei Formen für die Regierung Frankreichs gebe: die Republik oder das Katferthum.

Diefe Erklärung für das Septennat war allerdings außerordentlich ver- claufulirt, aber fie enthielt doch immer eine Anerkennung, die für Mac Mahon fehr werthvoll war, namentlich auch deshalb, weil felbft ein bedingter

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Anſchluß der Bonapartiften ihm eine freiere Stellung den Täftigen und com- promittirenden Zudringlichkeiten der Drleaniften gegenüber gab. Innerlich ftand er den Drleaniften doc zu fern, um nicht die Rolle, die fie ihm auf: nöthigen wollten, als eine Demüthigung zu empfinden und ed mußte ihm daher fehr willkommen fein, wenn orleaniftifcher Einfluß dem bonapartifttichen dad Gegengewicht hielt. Und vor Allem: Mac Mahon bedurfte außer der parlamentarifchen Unterftügung, welche ihm die Drleaniften boten, auch eine Stütze im Volke felbft, und diefe fand er, wenn er ſich nicht den Republi- fanern in die Arme werfen wollte, nur in den Bonapartiften, deren Behaup- tung, daß fie allein von allen confervativen Parteien im Stande feien, in den Volkskreiſen felbft dem Radicalismus MWiderftand zu leiften, noch im Laufe der Seffion dur einen MWahlerfolg, dem erften feit langer Zeit, dem fich in- deſſen bald weitere Triumphe anreiben follten, eine Beftätigung fand.

Seit dem 2. Juli 1871 bis zum Ende des Jahres 1873 hatten im Ganzen 138 Wahlen zur Nationalverfammlung ftattgefunden, von denen nur 20 zu Gunften der monardhifchen Partei, 118 zu Gunften der Republi- kaner auögefallen waren. Befondere bonapartiftifche Kandidaturen waren nur ganz vereinzelt und fchüchtern aufgetaucht; die Bonapartiften fahen fehr wohl ein, daß ihre Zeit noch nicht gefommen war, und waren zu Hug, um fid dur Niederlagen zu compromittiren. Sie agitirten im Stillen mit glänzen dem Erfolge in den Maflen und warteten geduldig die Zeit ab, wo fie es auf eine Kraftprobe ankommen Iaffen Eonnten. Beſonders troftlod war an diefen Wahlergebniffen für die Monarchiften der Umftand, daß fich in ihnen ein ſtetiges Machfen der republifanifchen Strömung ausſprach. Bei den Wahlen vom 2. Juli 1872 hatten fie von 42 Abgeordneten noch 10 ihrer Candidaten durchgefest, am 7. Sanuar von 17 noch 5, von da bi zum 11. Mat 1873 bei allen Erfagmwahlen überhaupt nur nod 5. Aus den Wah- fen vom 12. October, 16. November und 14. December 1873 waren 10 Re publifaner und nicht ein einziger Monarchiſt hervorgegangen. Einen um fo größeren Eindruf machte es, als bei den Erfagmwahlen vom 8. ebruar, während im Departement Haute Saone der monardiitifhe Candidat dem Nadicalen Heriffon unterlag, im Departement Pas de Calaid der Bonapartift Send mit 70,997 gegen 67,474 Stimmen über feinen republifanifchen Gegner den Sieg davon trug. Für die Bedeutung diefed unerwarteten Erfolges ſprach der Aerger und die Niedergefchlagenheit der Drleaniften und Republifaner noch mehr, als der Jubel der Sieger. Bet den nächſten Wahlen (am 1. März) unterlag zwar ihr Gandidat dem Republikaner Lepelit in Vienne, aber mit verhältnigmäßig geringer Minorität. Als einen großen Erfolg Fonnten fie ed aber betradhten, daß die Regitimiften und die Megierung ſelbſt ſich ge nötbigt gefehen hatten, eine offen bonapartiftifhe Candidatur zu unterflügen,

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zum großen Verdruß der Orleaniften, die immer mehr den Muth verloren, bei den Wahlen ihre Farben zu befennen. An demfelben Tage wurde in Vauclufe Ledru-Rollin gewählt, ein Ereignif, welches von den Confervativen und vor Allem von den Bonapartiften ganz in der Art ausgebeutet wurde, wie im Mai des vorigen Jahres die Wahl Baradot’2.

Zu einer großartigen imperialiftifhen Demonftration geftaltete fich die Volljährigkeitäfeier ded jungen Prinzen in Chiflehurfl. Dem Eindrud der- jelben thaten die Maßregeln, melche die Negierung ergriff, um alle Beamte von der Huldigungsreiſe zurüdzuhbalten, durchaus feinen Abbruch, eben fo wenig, wie der offene Bruch ded Prinzen Napoleon mit dem Chiffehurfter Hofe: der Prinz war bei allen Parteien zu fehr in Mißeredit gerathen, als daß der Fatjerlihen Partei aus feinem Abfall irgend ein Nachtheil hätte er- wachſen Fönnen.

Mit ungetheilter Befriedigung konnte Mac Mahon am Schluß der Seffion auf den erften Abfchnitt feined Septennats keineswegs zurüdbliden. Seine Beziehungen zu den Legitimiften waren entfchieden feindfelig. Mit dem Clerus ftand die Regierung auf fehr gefpanntem Fuße, ſeit fie fih, um Recla- mationen von Seiten der auswärtigen Diplomatie vorzubeugen, genöthigt ge- jehen hatte, einigen Bifchöfen, welche fih in ihren Hirtenbriefen die unfin- nigſten Ausfälle gegen Deutfchland und Italien erlaubt und dadurch der zu— rücdhaltenden und vorfichtigen Politik des Herzogs von Decazed die größten Hinderniffe in den Weg gelegt hatten, zu einer befonnenen Haltung zu mahnen, und das Hauptorgan der Ultramontanen, den „Univerd“, auf zmei Monate zu fuspendiren. Die Drleaniften waren eigennüßige, und, ſoweit e8 fi) darum handelte, dem Septennat im Rande Anhänger zu werben, viel mehr fchädliche als nüsliche Bundesgenoffen. Die Republikaner waren wohl bereit, fih Mac Mahon anzufcließen, aber um einen Preis den diefer zu zahlen weder Willens noch im Stande war. Auch die Bonapartiften ftellten Bedingungen, die Mac Mahon menigften® nicht ausdrüdlich annehmen fonnte. Der erfte Verſuch, die gefammte Majorität zu einer Septennatöpartei zu verfchmelzen, war als völlig mißlungen zu betrachten. Allerdingd war die Regierung entjchloffen, fi dadurch von meitern Verſuchen nicht abjchreden zu laffen; aber die Aus: fihten auf Erfolg waren äußerft gering.

Die eine Thatfache ftand jedoch feit, daß, wie unſicher auch Mac Mahon’d parlamentarifche Stellung war, er doch die wirkliche Macht in Händen hatte, und daß in demfelben Maße, wie dies Allen offenbar wurde, die Macht der Nationalverfammlung abnahm. Hier liegen offenbar die Keime eines Fünftigen Confliktes. Mit Sorge ſah man daher von allen Seiten der nächſten Seffion entgegen. Bofitive Ergebnifje erwartete Niemand von derfelben: man war

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zufrieden, daß man nur hoffen durfte, daß ein Zufammenftoß werde vermie den werden; die Nationalverfammlung war fat fomeit gekommen, daß fie, feit fie am 12. Januar bei Gelegenheit der Debatte über das Mairesgeſetz die Waffen geftredt Hatte, in ihrer Schwäche und Unfähigkeit die einzige Bürgſchaft für ihre Eriftenz fah.

Georg Zelle.

Slandereien aus London. 2.

Während fi der Engländer mit Stolz rühmt, der Individualität und Driginalität ded Einzelnen freien Spielraum zu laffen und nichts fo fehr verabfcheut, ald äußeren Zwang, felbft wenn derfelbe aus den beften Abfichten entfpringt, fo folgt er andererfeit3 doch beinahe ſklaviſch den jemetligen Rich— tungen der Mode und hält mit einer Zähigkeit, die wirklich oft einer befferen Sache werth wäre, an alten Einrichtungen und Gebräuchen feit, die zwar im Allgemeinen manches Gute haben mögen, aber gerade den Einzelnen mit dem allerfchlimmiten Zwang belegen.

Mer erinnert fih nicht noch der Meetings, die allerwärtd® in England vor wenigen Monaten gehalten wurden, um der beutfchen Regierung und dem deutfchen Volke Sympathiebezeugungen zu dem Kampfe mit Rom zu überfenden? Und nun, da die Gonfequenzen dieſes Kampfes immer mehr und fehärfer hervortreten, da die Negierung gezwungen ift, gegen Rebellen, theilmeife unter Anwendung von äußerer Gewalt, einzufchreiten, nun nehmen hervorragende Organe der Preffe mehr oder minder offen für diefe Rebellen Partei und beinahe dte ganze englifche Preſſe zieht in einer oft geradezu gehäffigen Weife gegen die deutjche Regierung und die nationalgefinnte Preſſe los, wo es fih um den Fall Arnim handelt.

Damald war e8 Mode, Deutfchland zu huldigen, jest ift das Gegentheil der Fall, damald war Gladſtone's antiultramontane Richtung am Ruder und jetzt haben fi die Engländer durch die patriotifchen Briefe einiger hervor— ragenden Katholifen Sand in die Augen ftreuen laffen und können nidt begreifen, warum wir Deutfchen nicht desgleichen thun. Die englijche Prefie, die fih foviel auf ihre Unabhängigkeit zu Gute thut, iſt jedenfalla fehr ab» hängig von der öffentlichen Meinung und es ift wohl außer Frage, daß es befier ift, einer einmal al® gut erkannten Regierung treu, eventuell auch gegen die Öffentlihe Meinung, zu folgen, als ſtets den Mantel nad dem Winde

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ber ſchon in der Bibel, auf die der Engländer doch fonft fo viel gibt, fo treffend harakterifirten Volksſtimme zu drehen.

Doch der Leſer verzeihe diefe politifchen Betrachtungen, die fi mir im Anflug an den Eingang des Briefed unmwillfürlih aufdrängten, ohne beab- fihtigt zu fein. Ich wollte weit harmlofere Dinge berühren und zwar zu— nächft einige über die befannte, um nicht zu fagen berüchtigte, engliſche Sonntagäfeier bemerken.

Ueberall auf dem Continent ift der Sonntag nicht allein ein Tag der Ruhe und Erholung, fondern vor allen Dingen ein Tag der Quft und des Vergnügen, dem fich befonders die mittleren und niederen Stände voll hin— geben. Daß dabet dann fehr häufig von Erholung nicht viel die Rede ift und Ausſchreitungen mancherlei Art vorkommen, liegt in der Natur der Sade. Außerdem aber ift der Sonntag auf dem Feitland für eine große Maſſe von Kaufleuten und Beamten nit nur Fein Ruhetag, fondern die- jelben müflen gerade mit verboppelter Anftrengung ihre Gefhäfte und Ob— liegenheiten beforgen und es liegt meiner Anficht nad) ein bedeutender, aber auch der einzige Vorzug der englifchen vor der Feitländifchen Sonntagäfeier darin, daß died bier nicht der Fall ift, fondern Sedermann wirklich feinen vollen Ruhetag hat. Es ift gewiß viel werth, wenn der Familienvater mit Beftimmtheit darauf rechnen fann, am Sonntag fih ganz feiner Familie hingeben zu können, wenn der Kaufmann unbeforgt darauf, etwa feine Kundſchaft an einen feiner Goncurrenten zu verlieren, feine volle Sonntags- ruhe genießen kann, weil er weiß, daß alle feine Concurrenten deßgleichen tbun, wenn der vielgeplagte Schaffner durch das Ausfallen der Güterzüge feinen freien Sonntag hat. In dieſer Hinfiht ift die englifhe Einrichtung nachahmenswerth, aber gewiß in feiner andern, denn alle fonft damit in Verbindung ftehenden Gebräuche find fo unerträglich Täftig, daß eben ein auf feine althergebrachten Einrichtungen ftolzer Engländer dazu gehört, um ſich den Schein zu geben, ihrer froh zu werden, denn daß er fie felbit im Ernſte lobenswerth finde, möchte ich ſtark bezmeifeln. An fchönen Tagen ift es noch einigermaßen erträglih, indem menigften® die reizenden Umgebungen Londons für manche fonftige Entbehrung entjhädigen können. Da fieht man denn auch Alt und Jung per Omnibus, Dampfihiff oder Eifenbahn binausftrömen, fehr häufig das Gebetbud in der Hand und, mie der Eng- länder an Werktagen während der Fahrt feine Zeitung lieft, fo lieft er am Sonntag im Coupé feinen Pfalm oder fein heiliged Lied, was denn oft zu ergöglichen Bildern führt. Es Hat wirklich den Anfchein, ald ob ein be— ſtimmtes Quantum getftlichen Stoffe verarbeitet werden müßte und es tft nur gut, daß der Rofomotivführer und das fonftige Zugperfonal davon ent»

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bunden zu fein feheinen, fonft könnten fi) fehr leicht die Fomifchen Scenen in tragifche verwandeln.

Man denke ſich aber eine Stadt von nahezu 4 Millionen Einwohnern an einem trüben Regentage in die fonntägliche Langeweile gehüllt. Alle Läden, ja felbft die Reftaurationen, mit Ausnahme der Conditoreien und einer höhern Sorte von Branntweinläden find gefchloffen. Die unzähligen Maſſen aller derer, die weder Familie noch einen fonftigen gefelligen Kreis haben, in dem fie verfehren Eönnen, deren Heim ſich auf eine düftere Schlafitelle befchränft, find auf die Straße, und was fi in und an derſelben darbietet angemiefen. Ste ziehen, Männer und Weiber, von früh bis Abends von einer Branntwein- fneipe in die Undere, gehen zwiſchen durch einmal aus purer Langeweile In die Kirche und find fehließlich froh, wenn der Tag zu Ende ift. Keine Kunft- fammlung ift geöffnet, die ihnen Belehrung böte, Fein Concert, Fein Theater gewährt ihnen Zerftreuung, ein derartiger Tag ift troftlod öde. Wie anders ift ein Eonntag in Deutfchland mit feinen frohen Feften und den fröhlichen Gefihtern, mit unferen Mujeen, unferen Kunftfchulen und zoologifchen und botaniſchen Gärten, die nicht nur geöffnet, fondern auch befucht, und zwar vorzugsweiſe von den niedern Ständen befucht find und in denen fi) oft ein heiteres vergnügted Treiben entfaltet. Wahrlich ein deutfcher Sonntag iſt einem englifchen unendlich vorzuziehen, felbft mit allen feinen Ausſchreitungen und zwar dadurch, daß er dem Volk Gelegenheit giebt, fich edlen Bergnügungen hinzugeben, wird er, troß des ſchwächern Kirchenbeſuchs, auch auf eine würdi« gere Meife gefeiert ala in England. |

Kurz vor 6 Uhr Abends, bevor die Speifehäufer geöffnet werden um die Hungernden aufzunehmen und zu fättigen, fammeln fih vor deren Thüren Gruppen von Herren und Damen, Fremden und Einheimifchen an, die fehn ſüchtig auf das Deffnen harren, wie e8 fonft wohl häufig vor den Caſſen der Theater zu fehen iſt. Da kann man alle Sprachen der Erde hören, mander traute heimatliche Laut ſchlägt an das Ohr, und während allerdings die Meiften die Verwünfchungen über die englifche Sonntagäfeier hübſch bet fich behalten, macht ſich manchmal diefer oder jener Luft und nicht am feltenften find «8 deutfhe Zungen, die ſich da vernehmen lafjen.

Da mir gerade vor einem Speifehaus ftehen, fei es geftattet, auch einen Blick hinein zu merfen. In allen Londoner Reftaurationen, au in den weniger feinen, herrſcht eine fehr wohlthuende Reinlichkeit, die verbunden mit andern vortheilhaften Einrichtungen fehr mwefentlich dazu beiträgt, daß man ftet3 mit Appetit ift und trinft. Man mag über die englifche Küche denken, wie man will, und über den Gefhmad läßt fich ja bekanntlich nicht ſtreiten fo wird man doch zugeben müffen, daß man nicht nur überall ausgezeichnete? Fleiſch findet, fondern daß vor allen Dingen auch die Art und Weiſe der

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Zutheilung der Speifen an den Gaft fehr nachahmenswerth iſt. Vor den Augen eines jeden Gaſtes wird von dem großen fchönen Braten, die auf Heinen Rolltiſchchen dur die Spetfefäle gefahren und in Metallgefäßen wohl zugedeckt warm gehalten werden, durch die Zufchneider, ganz nad) den Wünſchen der Speijenden der Teller mit faftigen Stüden belegt. Ebenſo ge- f&hieht e8 mit den Gemüfen, die ftetd zum Braten gegelfen werden, und der Suppe, und wenn die beiden letgenannten Gerichte auch zu den ſchwächſten Seiten der Engländer gehören, fo ändert das nicht? an der Thatjache, daß man überall in London fehr preißwürdig fpeift. Die anfcheinend hohen Wirthſchafts-Preiſe reduciren fich fofort, wenn man die Höhe fämmtlicher Rebendmittelmarktpreife bedenkt. So Eoftet 3. B. ein Pfund Rindfleifh 12—14 Sgr.; die Kartoffeln, en gros auf dem Bahnhof der Great Nothern Bahn, dem Haupt-Kartoffelmarfte Londons, pro Tonne (20 Gentner) 30 Thlr. und mehr und da alle andern Preiſe, höchftens die für Fifh ausgenommen, in demfelben Verhältniſſe höher find als die deutſchen, fo erfcheinen fchlieglich die Preife der fertigen Speifen, die nicht mefentlich höher find als z. B. die Ber- liner, befonder8 auch in Anbetracht der ausgezeichneten Qualität, eher niedrig ala hoch. Es zeigt fich auch hier wieder der echt germanifche Zug, der über: al in England ſcharf ausgeprägt ift, während er leider in Deutfchland viel- fach durch den Teidigen franzöfifchen Einfluß verdrängt wurde, daß der Kern dad mefentliche jeder Sache ift und Reellität in jeder Hinficht auch eines hohen Preiſes werth ift.

Wohl in keinem Falle tritt der eben ausgeſprochene Satz ſo offen zu Tage als bei Betrachtung des nebſt der Nahrung wichtigſten menſchlichen Lebens— bedürfniſſes, der Wohnung.

Man findet nirgends einen größern Contraſt zwiſchen dem äußern und innern Anſehen als bei engliſchen Wohnhäuſern und zwar iſt derſelbe durch folgende Umſtände bedingt. Während auf dem Continent in den großen Städten und vor allen in Berlin nicht nur ein Nebeneinander-, ſonder vor allen Dingen auch ein Uebereinanderwohnen ſtattfindet, welches leider ſchon mit dem Kellergeſchoß beginnt und erſt im Dachgeſchoß ſein Ende erreicht, gehört es in London und andern engliſchen Städten zu den größten Selten— heiten, daß in einem Haufe überhaupt mehr ala eine Familie wohnt. Der Engländer ftrebt danach, in feiner Wohnung möglichft nah Außen Hin ganz abgefchlofien und allein zu fein und aus diefem Streben entjpringt nicht nur die Einrichtung der Häufer felbft, fondern auch die Geftaltung ganzer Stadt- theile, ja fogar ganzer Städte. Ueberall da, mo der Verkehr den Werth der Läden und Gefhäftslofale und dadurch auch den Werth des Grund uud Bodens, der Häufer, in die Höhe treibt, nimmt die Zahl der Wohnungen

' und ber Bewohner in unverhältnigmäßiger Weife ab. Sobald e Haus In Grenzboten IV, 1874,

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feinen untern Theilen zu Geſchäftszwecken benutzt wird, fühlt ſich der Eng— länder in demſelben beunruhigt, er ſtrebt danach, ein ruhigeres Heim zu ſuchen und ſo macht es ſich ſehr ſchnell, daß ganze Straßen vollſtändig zu Geſchäftsſtraßen werden, die früher Wohnungszwecken dienten. Nicht nur in der City, ſondern auch in den verkehrsreichen Theilen des Weſtend nimmt die Bevölkerung ſtetig ab und in demſelben Verhältniß ſteigen die Büreaux und Expeditionen in die höhern Stockwerke. So trennt ſich die Stadt, abge- ſehen von der Eity, die nur Gefhäftäftadt ift, fireng in Wohnungsftragen und «Bezirke und foldhe, die Gefhäftäzmweden dienen. In den lebtern und vorzüglich in der City fieht man denn auch dem entfprechend ftattliche Ge- bäude gediegenfter Ausführung, mit Marmor und polirtem Granit, von der Macht und dem Reichthum der Handeläheren beredted Zeugniß ablegen. Durch die Schaufenfter und Erpeditionen audgedehnter Großhandlungen bes dingt, für die eine Trennung in verfchiedene Stockwerke im höchſten Grade unbequem wäre, zeigt fih dort überall eine mehr und mehr um fich greifende Ausdehnung in die Breite, fehr häufig werden mehrere Häufer niedergeriffen um fie zu einem vereinigt wieder neu erftehen zu laffen.

Ganz anders verhält es ſich dagegen mit den eigentlichen Wohnhäufern. Da, mie gejagt, jede Familie ihr eigened Haus haben will und doch diefes Haus nur eine Wohnung, fehr oft von befcheidener Ausdehnung, bei theu- rem Grund und Boden, enthalten fol, fo folgt naturgemäß, daß die Käufer möglihft fchmale Fronten erhalten, während nah Möglichkeit die Höhe zur Unterbringung der Wohnräume benugt wird. Weniger wie 2 Fenſter Front pro Haus habe ich nicht gejehen, weniger läßt ſich auch nicht gut berftellen, aber die Zahl diefer Häufer ift fehr groß und jedenfalld viel bedeu- tender ala die Zahl der Häufer mit 4 Feniter Front, ja fogar wohl größer als die Zahl derjenigen mit 3, doch will ich das nicht beftimmt behaupten. |

Diefe Einrihtung hat unftreitig ihre guten Seiten, denn fie verhindert ein allzu intenfives Ausnutzen ded Bauplatzes mit nichtsnutzigen Miethäfafer- nen, die der Erbauer, felbft wenn er fie errichten wollte, den hiefigen Sitten gemäß, überhaupt nicht vermiethen Könnte. Die abfolute Unmöglichkeit, die Häufer ſchmaler zu maden als ein Zimmer Breite hat, und die Größe der Wohnung, fegen den Dimenfionen des Haufe ganz bejtimmte Grenzen; höher ald 3 Stockwerke find fie fehr felten; und wenn man binzu rechnet, daß es, Danf der ausgezeichneten Communifationdmittel Londons, ganz gleichgültig tft, in welcher Gegend der Stadt oder deren Umgebung bi8 Sydenham und Richmond hin man wohnt, fo findet man eine Erklärung für diefe billigen MWohnungdmiethen. Unfere deutſchen Miethen, die befonders in Berlin oft ein Drittel und mehr des ganzen Einfommens verfchlingen, find eine fo große.

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Galamität geworden, daß das Studium der Londoner in diefer Hinficht ges wiß viel gefündern Verhältniſſe, fehr zu empfehlen ift.

Während nun diefe Wohnungen im Innern mit allen möglichen Be quemlichkeiten aufs reichlichite ausgeftattet find, und bei diefer Ausftattung mit allem Zubehör in wirklichen Wohnungsgegenden bei 5—6 Zimmern für 300 400 Thaler zu haben find, fo bieten fie dafür im Aeußern einen ger radezu ärmlichen Anblid dar. Man denke fih ganze Straßen derartiger Ihmaler Häufer, die der größern Billigkeit wegen eins wie das andere voll, ftändig gleich, förmlich fabrifmäßig hergeftellt worden find und in ihrem ein« fahen glatten Ziegelrohbau ohne Verzierungen, ohne Hauptgefims, ja fogar ohne Fenfterverfleidungen fi dem Beſchauer darbieten. Man vermuthet nicht in denfelben allen Comfort der reichen MWeltftadt zu finden, die folideften Möbel, bei denen freilih oft die Eleganz fehlt, die feinften Teppiche und reichten Vorhänge. Man möchte unwillfürlih aus der Straße eilen, weil man ihres ärmlichen Eindruds wegen glaubt, in ſchlechte Stadtviertel gerathen zu fein, wenn nicht die vornehme Ruhe dafür zeugte, daß man fich do in guter Gefelfchaft befinde und die unanfehnliche Hülle doc einen guten und foliden Kern einfchließen müſſe.

In neuerer Zeit hat man vielfach derartige Häufergruppen zu ‚einem Ganzen zufammenzufafien gefucht, wenigften® im Yeußern, indem man ſymme— trifche Rifalite, gemeinfchaftliche Gtebel, durchgehende Gefimfe und dergl. mehr anbrachte, aber alle derartigen Verfuche, den äußern Eindrud zu beffern, werden fo lange mißlingen, al® das einzelne Haus nicht mehr Yrontbreite hat, und da hierzu Feine Ausfiht vorhanden ift, fo müffen die Londoner wohl über- haupt darauf verzichten ihre Wohnhäufer zu arhitectonifcher Wirkung kommen zu laſſen.

Da es in Rondon althergebradhte Sitte ift, die Häufer auf 7, 14 oder 21 Jahre zu miethen und in letterem Halle, der jehr häufig ift, der Miether die Verpflichtung übernimmt, alle Reparaturen auszuführen, auch den Anftrich des Hauſes ale 7 Jahre erneuern zu laſſen, fo kann es bei einer der oben erwähnten einheitlichen Fagaden fehr leicht vorfommen, daß der eine Theil nach einer Reihe von Jahren in ganz anderer Farbe prangt, ala ein anderer, felbft wenn die einzelnen Häufer nicht dur Veräußerung an andere Eigen- thümer übergehen folten, was doc auch möglich ift. Derartige Fälle find denn auch ſchon mehrfach zu beobachten und wenn nun gar die Grenze nur einen Kleinen Theil eined Giebelfelde® abjchneidet, oder mitten durch eine Nifche geht, fo ift der hervorgebrachte Anblid ein fo entjeglicher, ein fo ur- fomifcher, daß man ala erniter Menſch nur wünfchen kann, daß die Häufer, jedes für fi, in ihrer nadten Einfachheit verbleiben mögen, daß man in diefer Beziehung nit in die Fußtapfen Wiens trete, wo derartige Häuferzufammen-

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faffungen, der vollftändtg andern Verhältniffe wegen, gewiß ebenjo beredhtigt find, als in London unberechtigt.

Die Trennung der Wohnung in 2, 3 und mehr Stodwerfe, die fich hier überall zeigt, hat aber gewiß auch ihre großen Nachtheile und Unbequemlich— keiten. Es ift wahr, man ift innerhalb feiner Wohnung ganz unbeachtet,

fommt mit Niemandem in Berührung, den man nicht fehen will und vor -

allen Dingen wird dem Geklatſche der Dienftboten auf die wirkſamſte Weife vorgebeugt, dafür hat man aber immerwährend Trepp auf, Trepp ab zu fteigen; und wenn man fi auch das Haus fo eintheilen Fann, daß man am Tage möglihft nur in einem Stodwerfe bleibt, fo bin ich doch feit über zeugt, daß unferen deutfchen Hausfrauen, die glücklicher Weiſe felbft überall im Hauje nachjehen, diefe Zuftände nicht recht behagen würden.

Ich glaube auch, daß fich die Galamitäten, die ſich in unferen Groß ftädten in dem Namen Wohnungsnoth zufammenfaflen, auch ohne Einführung von Londoner Wohnhäufern, die von fo vielen Seiten angepriefen worden find, befettigen lafjen, wenn wir die nächiten Umgebungen der Städte derart mit den Berfehrömittelpunften in Verbindung bringen, daß der Geſchäftsmann nicht gezwungen ift, in der Stadt zu wohnen.

Sebt muß der Gefchäftämann und der Handwerker, Dank der entjeglich mangelhaften Gommunifationen innerhalb und außerhalb der Städte, im Innern diefer felbft wohnen, wenn er nicht feine Foftbarfte Zeit verlieren will. Jetzt muß der arme Tagelöhner in elenden Kellern oder Dachftuben wohnen. So wie wir aber zwifchen dem Innern der Städte und den länd: lihen Umgebungen Eifenbahnverbindungen haben werden, wie fie jebt für Berlin und Hamburg geplant und theilmeife in Ausführung find, wird auf die ganze Wohnungsnoth mit ihren Schreden verfehwunden fein, auch ohne daß wir zu dem Wohnungshaus Englands unfere Zufluht nehmen, welches ich für deutfche Verhältniffe für unbequem und unpraftifch halte Menn wir dereinft auch fo reich find, daß fich jede Familie foviel Dienft- boten halten Fann, daß die Hausfrau nur noch zu befehlen braucht, dann könnten wir es vielleicht thun, aber ich glaube nicht, daß das engliſche Syftem jemald in Deutfchland Eingang und Anklang finden wird. Wenn fi unfere großen Städte mehr nach außen hin ausdehnen, dann werden auf vielfach Stockwerke, die jekt in mehrere Wohnungen getheilt find, nur zu einer benugt werden, die Wohnungen werden überhaupt geräumiger werden. Darin liegt aber der Schwerpunkt der ganzen Frage, daß unfere Wohnungen, durch die Wohnungsnoth auf ein ungebührlihes Maaß eingefchränkt worden find, und daß es dringend geboten ift, fie menfchenwürdiger, geräumiger zu machen. Ob eine Wohnung von 6 Zimmern in 3 Stodwerfen vertheilt, oder in einem vereinigt Aft, ift gewiß für die Bequemlichkeit nicht gleichgültig, ich ziehe die

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[este Anordnung entfchteden vor, fobald die Wohnung ſich dur eine Thüre vollftändig abjchliegen läßt, und das zu erreichen, ift überall nicht ſchwer. Während jet die Außerlich fo unfsheinbaren, ja geradezu häßlichen Londoner Häufer im Innern aufs vortrefflichfte eingerichtet find, zeigt ſich in den deutjchen Großftädten leider oft da® gerade Gegentheil: auf das Aeußere wird viel gegeben, während das Innere vernadläffigt wird. Sicher ift alfo bis jeßt das englifche Verfahren beffer, weil folider und reeller; aber hoffentlich haben die traurigen Zeiten unferer beſchränkten MWohnungsverhältniffe am längiten gedauert und wenn wir unfere Häufer im Innern erft vollfommen maden, dann find mir den Engländern überlegen, denn dad äußere Haus welches ficherlich nicht vernachläffigt werden darf, fann bei unferm Wohnung? ſyſtem, felbft beim einfachften Miethshaus architeetonifh und äſthetiſch aus— gebildet werden, während das beim englijchen Haus mit 2 Fenftern Front eine reine Unmöglichkeit tft. Ferner hat das continentale Syftem, welches fich übrigend aud in Schottland ftarf verbreitet findet woraus hervorgeht, daß fi) auch der Britte damit befreunden kann außer den angeführten Vorzügen auch noch das für fich, daß dabei eine viel beffere Ausnutzung ded Grund und Bodens ermöglicht wird. Setzt geht diefelbe zu weit; ſowie aber auf dem Gontinent diejenigen Verkehrserleichterungen gefchaffen fein werden, die in englifchen Städten ſchon längere Zeit beftehen, fo wird ſich das ganz von felbit reguliren, und man müßte annehmen, daß fchließlich vermöge der beſſern Bodenaudnugung die continentalen Stockwerkswohnungen ſchließlich billiger werden müßten als die englifchen Hausmwohnungen.

Hoffentlich erreichen wir diefen Zuftand recht bald; hoffentlich bieten alle Behörden, vor allen Dingen die ftädtifchen Alles auf, um Zuſtänden ein Ende zu bereiten, die beinahe troftlos fcheinen und einen mefentlichen Antheil an allen den Erſcheinungen haben, die die befitenden Claſſen der großen Städte jest fo oft mit Schrecken und mit ficherlich übertriebenen Beſorgniſſen erfüllen. Alfred Blum.

„Um die srde“ von Sduard Hildebrandt und „Reiſe— ziele“ von Fugen Krüger.

Der Berlag von R. Wagner in Berlin hat in den letten Jahren durd) die Heraudgabe der Aquarelle von Eduard Hildebrandt, melde der leider fo früh verftorbene Künftler auf feiner letzten Reife um die Erde auf-

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genommen, die berechtigte Aufmerkfamfeit aller Kunftkenner und Kunftfreunde auf fich gezogen.

Diefed großartige Unternehmen liegt nun abgeſchloſſen vor und. Unter den dreihundert Aquarellen Hildebrandt'8, die er als legte Ernte von der letzten großen Reife feines Lebens heimgebracdht, hatte R. Wagner zur Vervielfältigung von Anfang an, um die Sammlung nicht zu Eoftfpielig zu machen, nur vier: unddreißig der vorzüglichften Blätter ausgewählt, die nun alle in treueftem, herrlichſtem Chromo - Facfimile vollendet vorliegen. Die erften ſechs diefer Bilder hat der Künftler felbft no geiehen. Gr gab kurz vor feinem Hingang feine Freude darüber in den allbefannten Worten zu erfennen: „die mir vorliegenden ſechs Chromo», Facfimiled meiner Aquarelle „die Reife um die Erde* find mit wunderbarer Treue und einem bei technifchen Verviel⸗ fältigungen diefer Urt feltenen Fünftlerifchen Verftändniffe nach meinen Drigi- nalen gefertigt.“ Und die letzten vier Blätter diefer Sammlung find erft in diefen Tagen ausgegeben worden. Es hat alfo mehr als ein halbes Jahr— zehnt gedauert, bi diefe verhältnigmäßig kleine Anzahl von Blättern den Schöpfungen des Meifter8 nachgebildet war. Und daß hier das alte deutide Sprüchwort fi) bewahrheitet hat: was lange währt, wird gut, das beweiſt die ſtets wachſende Theilnahme der beiten Kreife des Publikums, die ftetd ſtärker verlangte und immer erneute Auflage des koſtbaren Werkes. Wenn man fo oft leider im Rechte iſt, davor zu warnen, daß die erhöhte Kaufluſt des Publikums den Beweis liefere für die Vortrefflichkeit der Waare: fo erfennt man mit doppelter Freude hier die Neinheit des Geſchmackes der Käufer an, die Bortrefflichkeit der Leiftung, den Erfolg einer für den Heraudgeber und feine . Mitarbeiter gleich rühmlichen Unternehmung.

Man geht nicht zu weit, zu fagen: fo neu und erhaben Hildebrandt's Aquarelle.waren in der Zeit, da er zum erften Mal mit feiner Kunft die tropiſch Farbengluth und Zonfülle in Wafferfarben miedergab, fo unerreicht er in den höchſten Reiftungen feiner Kunft geblieben: fo neu und großartig und unver gleihlich It das Meifterftück deutfcher Kunftinduftrie, das diefe Blätter dar- ſtellen. Wenn die Griechen den höchſten Ruhm des bildenden Künftlerd in der vollendeten Täufchung fanden, die das Werk des erften Mleifterd fogar auf die Sinne des nächſtſtrebenden Genoffen hervorbrachte, fo haben diefe Er- zeugniffe des deutjchen Farbendruds jogar die der alten Welt denkbar höchſte Grenze der Fünftlerifchen Production überfhritten. Denn nicht nur einer der erften Kunftfenner Berlins begehrte, die gedrucdten Kopien als Driginale zu Kaufen; der Meifter felbft verwechfelte aus geringer Entfernung die Nach— bildung mit dem Erzeugniffe ſeines Pinſels. Diefe vollendete Nachahmung ift denn aber freifich auch ebenfo fehr da8 Product mirklicher Kunſt, ald einer aufs äußerſte gefteigerten Technik und Mafchineninduftrie. Schon bei der

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bloßen Nachzeichnung der Originale mit Qupe und Mikroskop find wirkliche Künftfer thätig gewefen. Jede Platte mußte in Form und Linie der Bilder aufs Haar mit den Vorbildern übereinftimmen. Damit war aber erft der Umrif, der wefenlofe Schatten des Driginald gewonnen. Die Hauptarbeit biteb erft noch zu thun: Die Facfimilirung der meifterhaften Farbengebung Hildebrandt’fcher Aquarelle, das Abftimmen der Töne, die Vereinigung der höchſten Weichheit in den Nüancen mit der entfehiedenften Ausprägung des Charakteriftifchen in Kinie, Ton und Empfindung, im ZTotaleindrud wie im geringfügigften De tal. Um das zu erreichen, waren endlofe Grperimente nöthig, die von den hochverdienten Keitern diefer Chromo-Facfimiled, den Herren Steinfopf und 2oeillot und den von ihnen beſchäftigten Künftlern und zugezogenen Sach— verftändigen mit feiner Empfindung unternommen und mit größter Pflicht: ftrenge zu einem gebeihlichen Ende geführt wurden. Selbſt die todte Mafchine erhielt unter diefen verftändigen Händen Leben. Noch in dem Stadium der Arbeit, in dem ihr feheinbar allein den Reſt zu thun oblag, wurde ihr. bald ftärferer, bald geringerer Druck gegeben, um in der Copie felbft die Ausfchwen- fung des Pinfeld, die weichen oder energifchen Spuren des Qupfpinfels, die kräftige oder leifere Führung des Waſchſchwamms, die das Original verrieth, nachzuahmen.

Noch in friſcher Erinnerung ſteht uns die Zeit, wo Hildebrandt's Aqua- telle zum erften Male zur Kenntnig des Publikums gelangten, und alle Kennerfreife der Hauptftadt in zwei feindliche Lager fpalteten, die für und gegen die Malart des Künſtlers leidenfchaftlih Partei nahmen. Es liegt und daher jehr fern, die Gegner der Hildebrandt’ihen Malmeife und Technik etwa für ſchlechthin unverftändig oder die von der „Reife um die Erde“ heimge- braten Aquarellen für abfolut tadellos, für das in der Waflerfarbenlandichaftd« malerei in allen Beziehungen Unerreichte hinzuftellen. Im Gegentheil: es joll bereitwillig zugeftanden werden, daß Hildebrandt auch Aufgaben bier zu löſen ſuchte, an denen er gefcheitert ift, weil das Aquarell nie ihnen gewachſen fein fann; daß nur wenige diefer Blätter ald ganz vollendete Staffeleibilder gelten können, dagegen viele anderen feiner Aquarelle von der Reife um die Erde, trog aller vom Künftler darauf gewandten Mühe und Arbeit den Eindrud des Skizzenhaften und Flüchtigen machen, während z. B. die Eleine, jest in Privatbefig befindlihe Sammlung feiner auf einer früheren Reiſe aufgenommenenen Aquarelle von Madeira eine Durcdharbeitung und Bollen- dung aufmeift, von der felbft Karl Werner's fleipigfte Detailmaleret in Schatten geftellt wird.

Über troß diefer Schwächen die übrigens nur dem edelften Schaffene- drang entjprungen find, der einen großen Künftler befeelen kann ftehen die Aquarelle Hildebrandt's durchaus auf der höchſten Höhe, welche diefe Kunft

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in der Landſchaftsmalerei bisher erreicht bat. In den meiften dieſer Blätter hat Hildebrandt in Waſſerfarben Probleme der Malerei gelöft, an die felbft Meifter der Delfarbe fih felten vor ihm gewagt hatten. Und zugleich bat er eine Kraft und Tiefe der Warbe, einen MWohllaut ded Vortrags und eine Sicherheit in der Charakteriſtik der füdlichen Landſchaft errungen, die man in ihrer vollen Bedeutung erft recht erfaßt und würdigt, wenn man Aquarell anderer bedeutender Künftler daneben bält.

Es würde Bogen ftatt Seiten erfordern, wollten wir diefe hoben Vor züge an all den einzelnen 34 Blättern verfolgen, die R. Wagner's Kunft- verlag durch die nun abgefchloffene Sammlung von Chromo-Facfimiles zum Gemeingut der Nation gemabt hat. Es mag genügen zu fagen, daß, menn man die ganze Reihe noch einmal Revue paffiren läßt, e8 kaum möglich ift, zu beftimmen, welches diefer Blätter weniger kunſtvoll reproduzirt fei, als die übrigen. Namentlich ftehen auch die neueften vier Blätter, welche das Merl abjchließen, in nicht3 Hinter den andern zurüd. Die „Straße in Alerandrien,“ die „Brüde bei Pecking,“ zählen vielmehr zu den interefjanteften Städte bildern, „Colombo“ auf Geylon und der „Hafen von Foochoo⸗foo“ zu den reizendften SLropenlandichaften der ganzen bedeutenden Sammlung.

Wie nun der bei Rebzeiten Eduard Hildebrandt'3 ungenirt erhobene Tadel über dem Raſen des Frühverftorbenen allmählich verftummt ift und neidlos Alle Heute die hoben Vorzüge feiner Kunft anerfennen, fo ift er aud dem jungen Gefchleht zum höchſten Vorbild der Nacheiferung geworden. Geit Eduard Hildebrandt haben fich jehr bedeutende junge Talente ausfchlielich oder doch vorzugsweiſe der Aquarell-Randfchaftämaleret gewidmet und darin theil- weije vorzügliche8 bereits gefchaffen. Einer der vornehnften und am meiiten verjprechenden Künftler auf diefem Gebiete iſt unftreitig Eugen Krüger. Bereit? fein erfter größerer Aquarell-Cyelus, deutiche Wald- und Wildftudien, beit Brüder in Hamburg erfchienen, Ienfte die allgemeine Aufmerkſamkeit auf den jungen Künftler. Die Landfchafts- Aquarelle vom Kriegsſchauplatz 1870—71, die Krüger (in demjelben Verlage) dann folgen ließ, erweckten den Nachhall jener Begeifterung, die unfer Volk während der glorreichften Tage ded Jahrhunderts gehoben hatte. Aber auch heute, wo fo Viele, ja wohl die Meiften nur zu fehr wieder in die Alltagsftimmung zurückgekehrt find, und Jeder mit ruhigerem Blute jene Schlachtengefilde, im Frieden der Krüger [hen Darftellung,, betrachtet, bleibt das volle Rob beftehen, das ihnen beim erften Anblick geſchenkt ward.

Es war ein fehr glücklicher Gedanke der R. Wagner’ichen Kunſthandlung, gerade diefem Künftler die fchöne Aufgabe zu übertragen, die maleriſchſten Punkte in ganz Europa aufjzufuhen und diefe „Reiſeziele“ künſt— lerifh zu firtren und einzubringen in treuen, feinen Aquarellen. Eugen Krüger

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führt in der That einen fehr feinen, einen ſehr anmuthigen und doch Fräftigen Pinſel im Aquarell. Er ift der ftillen Harmonie der architeftonifchen Linien und Maſſen ebenfo gewachſen, wie den fatten Tiefen einer Mondnacht am Meer: firand oder dem weichen Blau der Hoclandberge. Dafür hat er fhon Be- weife gegeben. Die bier, im erften Hefte der „Reifeziele* vorliegenden beftätigen nur die erfreuliche Thatfache des fteten Wachfen® und DBormwärtd« firebend in feiner Kunft und geben die Gewißheit, daß er die ganze Viel- feitigfeit de8 Könnens und Erfaſſens befist, welche die Mannigfaltigfeit der Landſchaftsbilder voraugfegt, die in dem vorliegenden Unternehmen dargeftellt werden follen. Die fünf vollendeten Blätter des erjten Heftes ſchon find die Früchte von Wanderungen in die verjchiedenften Gegenden und Ränder Europad. Da liefert Norwegen die fchneegefrönten Höhen des Hardanger Fjords im Abendgolde; mondbeglänzt ſtürzt die Meeredwelle der Fresh-Water— Bat dem felfigen Geftade entgegen; in lieblicher Morgenbläue erheben fich duftig die Bergketten des Chiemfeed; mie ein luftiges Traumbild vergangener Tage fteigen die reichen Formen und Kuppeln von Venedigs Paläſten und Thürmen aus dem Hintergrunde der blauen Adria, auf der die farbigen Segel dahin gleiten ; mit fteifbefchnittnen Heden und Schnörfeln ragt Iſola Bella aus dem herrlichen See, den in der Ferne die fchönen Baden des Gebirgs ſäumen; endlich fpringt in der Tiefe auf weit vorgefchobener Rand» zunge das Kabinetsbild eines wirklich malerifchen Kleinftaates, Monaco, hervor aus der tiefen Bläue ded Mittelmeerd, das ganze Bild nicht ohne Ironie umſchloſſen und überwölbt von den Zweigen eined einzigen gewaltigen Baumed.

Eine große Reihe gleich bedeutender Bilder fol diefe Sammlung noch zu Tage fördern: Moscau und den finntihen Meerbufen, Dliva und einen bolfteinifhen Buchwald, die Kieler Bucht, die Trolhätta-Fälle, Oftende oder Scheveningen, ein Motiv aus Schottland, Irland und der Normandie, Marfeille, aus der Sierra Nevada, Palermo, den MonteRofa, ein Motiv aus dem Engadin, dem Schwarzwald, vom Rhein, aus Steyermarf, Athen, Sonftantinopel mit dem Bofporus, Odeſſa, u. f. m.

Rufen wir dem fchönen Unternehmen ein? fröhliches Glüdauf! zu. Seine Ausführung ift in den beften Händen. Denn der Künftler felbit überwacht au die Reproduction, die Steinbod’s Offtzin ausführt.

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Vom deuffhen Reichskag.

Berlin, den 6. Dezember 1874.

Wir gehen zunächſt auf die letzte Novemberwoche zurück, um die erſte Leſung der beiden Prozeßordnungen nachzuholen. | Kaum minder wichtig ald die Beſchaffenheit ihres Nichterftandes ift für

eine Nation die Geftaltung ihred Strafprozeffed. Die Bedeutung des Straf prozefjes liegt Feinedwegs allein in der wirkſamen Repreffion der Verlegung des Geſetzes. Die Art, wie das Strafrecht zur Anwendung gebracht wird, ift eines der audjchlaggebenditen Momente für die Entwidlung der fittlichen Darftellungen, für die Würdigung der Handlungen der Menfchen überhaupt. Die Probleme, deren neue, den Anforderungen der gejellichaftlichen Ent widlung entfprechende Löſung die gegenwärtige Strafprozeßordnung fi zum Ziel feßen mußte, waren vornehmlich folgende drei:

1) die fachgemäße Betheiligung des Laienelementes an der Strafrechtspflege;

2) die Regelung oder Befeitigung des Inſtanzenzuges in der Straf rechtöpflege;

3) die Durchbildung oder Nichtdurchbildung der ftrafrechtlichen Verfolgung zu einem Parteiprozeß.

Was den erften Punkt betrifft, fo war der erfte Strafprozeßentwurf, wie er aus dem preußifchen Juſtizminiſterium an den Bundesrath gelangte, auf die durchgehende Einführung der Schöffen, auf allen Stufen der Strafgeriäte und für alle Grade des Verbrechens bafirt. Der Verfaſſer diefer Berichte ift einer der überzeugteiten Anhänger des Schöffengericht? in der vollitändigen Ausbildung, wie fie jener Entwurf, unter Befeitigung aller andern Formen der Bethelligung des Laienelementes an der Strafrechtäpflege, erftrebte. Der Berfaffer diefer Briefe weiß aber fehr wohl, daß er die Nedaction d. Bl. in diefer Frage nicht auf feiner Seite hat.) Es handelt fi indeß hier vorzugsmeife um hiftorifche WBerichterftattung. Die Schöffengerichte wurden im vergangenen Frühjahre auf dem Altar der Popularität geopfert, als die Trage ſchwebte, ob die Friedensitärke des Heeres auf dem Budgetwege oder auf dem Wege des dauernden Geſetzes feitzuftellen ſei. Bekanntlich ift auch diele Trage nicht zum reinen Audtrag gefommen, weil diefelbe ihrerjeitd der höchſten Frage der Gegenwart, dem Kampfe zwifchen Kaifer und Papft unter geordnet werden mußte Wir tadeln beide Unterordnungen nicht im min

*) Die Gegnerſchaft der Redaction diefed Blattes gegen die Schöffen ift nicht nur crimis nal politifhen Gründen, fondern auch Gründen der praftifchen Erfahrung entnommen, die ber Rebdacteur diefed Blattes im feiner Eigenſchaft als fächfifcher Rechtsanwalt zu fammeln in der Rage war. D. Re,

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deften. Es iſt ein Wort, ded Fürften Bismarck würdig, welches damals halb- amtlich gefchrieben wurde: „wer einen großen Kampf auf ſich genommen hat, darf fih während desſelben nicht in heterogene Händel einlaffen.“ Wenn eine Gardinalfrage, wie die Sicherftellung des deutfchen Heeres, aufgefehoben werden mußte, um die Organe de3 Reiches im Kampfe mit Rom nicht der Gefahr einer Spaltung audzufeßen, fo durfte noch vielmehr die befte Eonftruction des Gerichtd, fo wichtig der Zweck iſt, Aufichub erleiden. Wenn die deutfche Staatdleitung riskirte, das Schwert nad Außen einjtweilen minder dauerhaft zu ſchmieden, ald fie für nothmendig erfannte, fo durfte fie auch das Schwert nad Sinnen um dad Gericht einmal mit einem bei unfern überrheinifchen Nachbarn beliebten Vergleih zu bezeichnen zu demfelben Zweck minder vollfommen jchmieden. Eine weiſe Staatäfunft hat fih unter anderem auch zu zeigen in der Schonung der Vorurtheile ihres Volkes bei der rechten Ges legenheit. Man erzählt, was vollkommen glaubwürdig ift, der Fürft Bismarck babe einem befannten national gefinnten Abgeordneten aus Baiern ſchon im vorigen Jahre die Verficherung gegeben: „obgleich er, der Kanzler, für die Schöffengerichte fei, fo werde er doch aus diefer Einrihtung niemals eine politifche Frage machen.“ Nach diefer Aeußerung Fonnte man erwarten, es werde das Schöffengeriht in der Geftalt, die ihm dad preußifche Juftiz- minifterium geben wollte, wenigitend zur Discuffion vor den Reichsſtag kommen. Die Anhänger der Schöffengerichte durften, wenn nicht auf den Gewinn der Majorität für ihre Meberzeugung, doc auf die erichöpfende Darlegung der- jelben in Rede und Gegenrede der berufenften Sachverftändigen vor dem deutichen Volfe rechnen. Es fcheint aber, daß die füddeutfchen Enthuftaften des Schwurgerichts ihre geliebte Inſtitution nicht einmal dem euer einer Öffentlichen Discuffion im Reichstag, die eine viel eingreifendere Bedeutung hat als jede andere, unterworfen fehen wollten. Die Schöffen wurden bereitd im Zuftizausfhuß des Bundesraths geopfert, d. 5. als confequente Geſtalt des Naienelemented in der Strafrechtäpflege. Ganz audgefchloffen hat man fie nicht. Der Entwurf der Strafprozefordnung und der Gerichtäverfafjung in den hier einfchlagenden Beftimmungen, mie ihn der Bundesrath nunmehr vorgelegt, hat aber durch die ungleichartige Geftalt des Natenelementes nicht? weniger ald gewonnen. Es ift nicht bloß die äußere Symmetrie zu vermiffen, wenn wir als Strafgericht unterfter Ordnung den Einzelrichter mit Schöffen, als Strafgericht mittlerer Ordnung das reine Richtercollegium, und als Straf- gericht höchſter Ordnung den Schwurgerichtshof vorgeſchlagen fehen. Die drei Gerichtöformen find vielmehr ihrem Wefen nach fo ungleichartig, daß die Seele der Nechtäpflege, die Einheit, melche fie belebt, dabei nicht beſtehen kann. Man Fann fehr verfucht fein, die Gerichtöverfaffung Iieber auf dem reinen gelehrten Richterthum aufzubauen und ben jchmerfälligen Apparat des

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Schmwurgerihtd nur als Ausnahme darauf zu fehen, wie ed im Ganzen ja bisher geweſen tft.

Die ungleidartige Geftalt der Gerichtäftufen bringt noch eine meitere, ftarfe Inconvenienz mit fih. Die Abgrenzung der Thätigfeit der drei Gerichtsſtufen nämlich war allerdings fchon im dem Entwurf ded preußifchen Suftizminiftertum® auf die dreifache Eintheilung der ftrafbaren Handlungen bafirt, wie fie das deutſche Strafgeſetzbuch aufftellt. Diefelbe Abgrenzung ift in dem jest vorgelegten Entwurf beibehalten. Nun hat bei den Verhand— lungen der erſten Lefung der Abgeordnete Lasker mit Recht hervorgehoben, wie mechanifch diefe Abgrenzung ift. Auch darin hat der genannte Abgeord» nete Recht, dag die Wichtigkeit eines ftrafrechtlichen Erkenntniſſes für die gefammte Rechtspflege nicht zu ſchätzen iſt nach der Höhe des etwa in An- wendung kommenden Strafmaßes; zumal bei dem meiten Spielraum, welchen das deutjche Strafgeſetzbuch dem Richter In der Strafzumellung gewährt, die Unterſcheidung der ftrafbaren Handlungen nah den Strafmaßen illuforifch wird. Uber freilich, e8 wäre eine fehr meitführende Reform, wenn man eine Abgrenzung der Thätigkeit der Gerichte etwa nach der Wichtigkeit des in Frage fommenden Rechtsgebiets verfuchen wollte. Die Zeit mag kommen aud für eine folde Reform, und dann wird wohl auch die Zeit gefommen fein, wo der Richter bei der Auffuhung des Strafmaßes nicht mehr gebunden fein wird an irgend eine Syftematif der ftrafbaren Handlungen eines Gefegbuches, fondern an die individuelle Würdigung ded Verbrechens und des Verbrechers in allen ihren concreten Beziehungen.

Dann wird wohl auch die Zeit gefommen fein, wo die Modalitäten der Strafvollziehung dem Richterſpruch genau angepaßt find und wo in Folge deffen Richter an der Spite der Gefängnißverwaltung ftehen und Gefängnif- beamte als folhe Mitglieder der Gerichte find. Dad alles find Fortſchritte der Zufunft heilfamfter Art, deren Vorausſicht das Herz der Humantität höher ſchlagen machen Tann. Aber unmöglich kann unfere überlaftete Gegenwart ſchon jest am diefe Aufgaben gehen, wie wünfchendwerth die Köfung derjelben ſei. Wir rufen dem Abgeordneten Radfer wiederum ein festina lente zu. Wir erkennen aber, daß mit der Gliederung der Strafgerichte des jetzigen Entwurfs diefe Aufgaben nie angefaßt werden Fönnen. Mit der Nothwen⸗ digfeit einer organifchen Gliederung der Strafgerichte wird die Frage der durdhgebildeten Schöffengerichte immer wieder auftreten. Das tft der Troft für diejenigen, melche die Heberzeugung des Verfafferd diefer Briefe theilen.

Die zweite Aufgabe, welche die neue Strafprogekordnung ſich ftellen follte und auch wirflih mit Ernſt geftellt Hat, war die Befeitigung ded Inſtanzen- zuges im Strafgerichtäverfahren. Es bedarf nicht der Ausführung, wie bie Berufung durch mehrere Inſtanzen das Weſen der Strafrechtäpflege aufhebt.

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Es iſt eine der wenigen heilſamen Wirkungen, welche dem Schwurgericht ernſtlich nachzurühmen find, daß es dazu beigetragen, die Gemüther innerhalb und außerhalb der juriftifchen Welt von dem Glauben an die Unentbehrlid- feit der Berufung zu entmöhnen. Aber freilich, wenn ein einziges Gerichts: verfahren die Straffachen endgültig entfcheiden fol, fo muß die Beſchaffenheit der Gerichte alle erreihbaren Bürgfchaften bieten. Das mar bet einer fo ungleichartigen Geftalt und bet einer fo unorganifchen Gliederung der Straf: gerichte, wie fie in dem Entwurf der Gerichtöverfaffung und des Strafprozefjed auftreten, nicht zu leiſten. Es wäre aber fehr zu bedauern, wenn der Ent« wurf der Strafprozegordnung im Sinne der Reichstagsredner abgeändert mwürde, welche, aus Verzweiflung, die gute Gonftruction finden oder, wenn gefunden, diefelbe heritellen zu Fönnen, zur Berufung zurück wollten. Man bat viel davon gefprodhen, die ausreichenden Kräfte zur Beſetzung des Laien- richteramted nicht finden zu können. Es iſt aber noch viel mißlicher, den Stand der befoldeten Beruförichter zu einem Heer anwachfen zu laffen. Man könnte in den Provinzen, wo die Kräfte für das Kaienrichteramt augenblid- lich zu fehlen fcheinen, einftweilen mehr befoldete Berufsrichter anftellen, bet Erledigung der übernormalmäßigen Richterftellen aber den Antrag der Pro- vinzialvertretung auf Einführung der Raienrichter erwarten. Sedenfalld führt die materielle Appellatton nur in anderer Weife, ald die Beſetzung der Richter: eollegien mit lauter Berufdrichtern, eine Ueberfüllung des Nichterftandes, ein richterliche8 Proletariat wenn man nicht etwa einen Juſtizhaushalt von ungemeflener Höhe haben will und eine Verſchwendung der richterlichen Arbeit herbei, abgejehen von dem ſchon angedeuteten nachtheiligen Einfluß auf den Eindrud, die Sicherheit und das Selbitgefühl der Nechtepflege,

Mir fommen zu dem dritten Probleme, welches die neue Strafprozeß- ordnung zu löfen hatte, vielleicht dem interefjanteften, das aber bei näherer Betrachtung ſich ganz als Ausfluß der Frage nad) der Geſtaltung des Laien— elemente darftellt. Diefed dritte Problem enthält die Frage, ob das Straf- verfahren ala Barteiprozeß durchzubilden ift und, bei Berneinung diefer erſten Frage, die zweite, wo der Einjchnitt zu machen tft zwifchen den verjchiedenen Theilen des ftrafgerichtlichen Verfahrend. Denn die Herftelung der Einheit des Strafverfahreng durch völlige Befeitigung des Anklageprozefjed befürwortet heute Niemand mehr. Wir werden gleich fehen, wie dieſes dritte Problem ganz und gar hervorgeht aus der Frage nad der Geftaltung der Raien- elemente in der Strafrechtäpfleg.. Weit man nämlih das Schöffengericht zurüd und will man mindeftens für die fogenannten ſchweren Straffälle bet dem Gejchwornengericht jtehen bleiben, fo tit doch die Beibehaltung des fo- genannten deutfch-franzöfifchen Schwurgerichts angefichtd der ungleichartigen Ausbildung und Handhabung desfelben, melde nur gleichartig ift in der

430 Herbeiführung zahllofer praftifcher Mißſtände und unlösbarer Probleme der theoretifchen Konftruction, eine Unmöglichkeit. Jenes Verfahren in feinen mancherlet Typen, die e8 fehon allein auf dem deutichen Boden angenommen hat, ift eine Mißbildung, beruhend auf der falſchen Einfiht der Geſetzgeber der franzöfifhen Revolution in das engliihe Schwurgeriht und fodann auf dem Meberbau der falfchen Einſicht der deutfchen Gefetgebung und Praxié in die franzöfifche Gerichtäverfaffung. Alle competenten Stimmen der Theorie und Praxis find nachgerade in Deutfchland mwenigitend darüber einig, daß die Trennung der fogenannten Thatfrage von der Rechtöfrage aufgegeben werden muß, infolge davon aber au da8 ganze Syftem der jegigen Frageſtellung an die Gefehmorenen. Will man aber durch die Gefchworenen die Nedhtd frage in ihrer Totalität und in ihrer unzertrennlihen Verbindung mit ber Thatfrage entfcheiden laffen, fo fommt man nothwendig auf das englijce Eyftem der Nechtöbelehrung und Lenfung der Gefchworenen durch den vor fisenden Richter, welcher der einzige rechtägelehrte Nichter des Schmurgerichtd hofes ift. Die wirkliche Folge diefed Syſtems ift, wie jeder Kenner der eng lifhen Jury weiß, die alleinige Entſcheidung durch den Michter und bie Entwickelung der Jury zu einer Staffage von Strohmännern. Das ift aber bei weitem nicht das Schlimmfte, wir hätten beinah gefagt, es ift das Bette an der englifhen Jury. Die entfcheidende Stellung des vorfigenden Richters macht die Leitung des Verfahren® durch denfelben zur Unmöglichkeit. Die Folge hiervon ift, daß der Prozeß ganz in die Hände der Parteien gelegt werden muß, daß fogar die Vernehmung der Zeugen Sache der Parteien im fogenannten Kreuzverhör wird. Cine weitere Folge ift die Deffentlichkeit der Vorunterfuhung , die mwichtigfte Folge von allem aber ift die Gründung ded ganzen Berfahren® auf den Indicienbeweis, der nun wieder dag Mittel für den Vorfisenden wird, die Gefchworenen ganz feiner Rettung zu unterwerfen. Somie man das Syitem der fpecialifirten Frageftellung verläßt, welches in jeiner verfchiedenen Handhabung, auch wenn die Befchränfung der Gefchmworenen auf die Thatfrage aufgegeben wird, doch immer no die Möglichkeit offen läßt, einzelne bedeutende Momente der Nechtefrage dem Gericht&hof allein zu referviren, fowie man alfo jened Syftem verläßt und doch dad Schwurgericht nicht verlaffen will, bleibt in der That nichts ald dag englifche Syſtem der Durhbildung des Strafverfahrend zum Parteiprozeß. Die fittliche Anſchauung der deutfchen Bildung von Recht und NRechtöpflege hat ſich jedoch biäher immer gegen diefe Confequenz gefträubt und nicht minder hat fich die ſpecifiſch juriſtiſche Bildung Deutjhlandd gegen die Barbaret des Indieienbeweiſes gefträubt. Neuerdings aber, ald bei dem Unternehmen der einheitlichen Ge— ftaltung des deutfchen Strafprozefjed dur das Neich die Frage des Schöffen: gerichts In nachhaltige Anregung gefommen, der Schritt zu diefer Reform

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aber aus den oben erwähnten Außerlichen Gründen von Seiten der Reichs— regierung nicht gewagt worden war, da unternahm es Rudolph Gneift in feinen „Vier Fragen zur deutfchen Strafprozegordnung“ die völlige Adoption des engliſchen Strafprozefjed in das deutfche Rechtsleben zu empfehlen. Der Entwurf der Strafprozekordnung indeß, melden der Bundeörath jetzt dem Reihätag vorgelegt, wagt auch diefen Schritt nicht, er begnügt fich vielmehr im Anſchluß an die bisherige Praxis, um Gneiſt's Ausdrüde anzuwenden, mit dem „halben Anklageprozeß, der halben Deffentlichkeit und der halben Münd« lichkeit“. Mit andern Worten, der Anklageprozeß ift auf ein präparatorifches Verfahren gebaut, welches wie biäher die Deffentlichkeit ausſchließt. Ebenſo ift bei dem Hauptverfahren die Entjcheidung der ungetheilten Frage durch die Geſchworenen nicht eingeführt und in Folge deffen auch hier nicht die Leitung ded Verfahrens durch die Parteien oder die Durkbildung zum Parteiprozeß angenommen.

Diefe inconfequente Geftaltung de3 Strafverfahrene hat nun dem Ent- wurf im Reichstag lebhaften Tadel zugezogen, am meiften von Seiten des Abgeordneten Lasker. Wir müfjen befennen, daß uns die geiftige Abhängig: feit Lasker's von Gneift nie jo unangenehm geweſen, ald in diefem alle. Es ift ehrenvoll, den rechten Spuren eines großen Denkers zu folgen, und im höchſten Grade löblich, da® leugnen wir am menigiten. Lasker's großes Berdienft ift fein uneigennüsiger Fleiß, fein unermüdliched Lernen, fein felbft- loſes Suchen des Wahren und Beiten. Dadurch hat er diefe eminente Stellung eine® maßgebenden Führer® im Reichstag, und ed giebt feine Eigen- Ihaften, durch welche diefe Stellung beijer verdient merden könnte. Lasker befist entfernt nicht die geniale Intuition Gneiſt's, noch defjen damit in Wechſelwirkung ftehende Gelehrfamfeit, noch Gneiſt's architektoniſche Kraft. Defto beiter it er in den nächiten praftifchen Beziehungen jeder heimathlichen und gegenwärtigen Frage zu Haufe, oder arbeitet fi in diefelben hinein. Das aber macht den eigentlichen Praktiker, ift wenigſtens jedem Praktiker unentbehrlih. Wo Lasker noch nicht Zeit gehabt hat, fein emfige® Studium der Anwendung eined Theorems auf gegebene Zuftände zu beginnen, da folgt er den Traditionen ded abjtracten Kiberaliamus oder des Fortſchritts, oder einer Autorität, die er erprobt gefunden, wie diejenige Gneiſt's bei der Kreis— ordnung. Diesmal ift ihm aber diefe Autorität zum Srrlicht geworden.

Die „Vier Fragen zur deutfchen Strafprozeßordnung“ find eine der in— terefjanteiten und für ihren Urheber am meiften charakteriftifchen Schriften von allen, melde aus Gneiſt's Weder gefloffen. Dieſe Arbeit giebt gleichſam ein Compendium aller Vorzüge und aller Fehler ihres audgezeichneten Verfaſſers. Aber fo intereffant die Schrift individuell ift und fo anregend durch den Widerſpruch, den fie herausfordert, der aber nur durch alljeitiged Eindringen

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in die Sache ſiegreich zu begründen iſt, fo wenig kann fie an objectiver Ber deutung bei der Irrigkeit ihred Gejammtrefultates neben andere Schriften ihre® Verfaſſers geftellt werden. In feinen Arbeiten über das englifhe Staats. reht hat Gneift fih unvergängliche Werdienfte um die Kultur unfered poli- tifchen Denfend erworben. Er hat das ganz entitellte Bild von dem englifchen Staatsweſen zerftört, welches den Continent fo lange beherrfht und zu fo viel vergeblichen Experimenten verleitet hat. Der englifhe Staat ift nidt der Ausdruck der fouveränen Gefelihaft, und das englifche Parlament ift nicht der Vereinigungd- und Ausgleichungspunkt der geſellſchaftlichen In— tereffen, fondern die engliſche Freiheit ift erwachfen auf dem Boden der durch— geführten Zwangäleiftung im unentgeltlidyen Dienft der Gefellichaftsklaffen für ten Staat. Das englifche Parlament ift oder war mwenigftend in feiner großen Zeit nicht der Sammelpunft des Dilettantigmud, der Kritik und der egoiftiihen Socialintereffen, fondern der Brennpunkt ded Staatödienfted, der freiwilligen, Iofalen im Unterhaus, und des berufsmäßig centralen im Ober haus. Die Verfhhiebung der Staat&fouveränität auf das Parlament ift dad Erzeugniß einer durhaus anomalen Entwidelung und einer dynaftifchen Ent- artung. Das Parlament hat die Laft der Eouveränität fo lange tragen fönnen, als es die Zufammenfafjung des wirklichen Staatsdienfted mar. Seit, dem das Syftem der perfönlichen Zwangsleiſtung für den Staat, weſentlich in Folge des Uebergangs der factifchen Souveränität auf das Parlament, nicht fortgebildet worden, feitdem die neu fich fortbildenden Kräfte diefem Syſtem nicht mehr unterworfen, die neuen Staatöbedürfniffe nicht mehr durch das alte großartige Mittel, fondern durch büreaufratifche Einrichtungen be friedigt werden, ſeitdem zeigt das englifche Staatögebäude überall die Spuren eined Berfalld, von dem wir nicht willen, ob und wann ihm Einhalt gethan werden kann.

Indem Gneifl die ewige Grundlage der ftaatlihen Größe, Wohlfahrt und Sittlichkeit, welche dasfelbe mit Freiheit ift, in der rigoriftiih durchge⸗ führten Staatspfliht, in der Unterwerfung der gejelichaftlichen Intereſſen und in der unentgeltlihen Zwangsleiſtung der gefellihaftlichen Claſſen an einem Staatwejen entdeckte, defjen Außenfeite dem Auge ded Aus. und nr landes eine ganz andere Grundlage lange Zeit zu verrathen fchien, zeigte er fih wahrhaftig nicht ala Anglomane, wie man ihm fälfchlich vorgemorfen. Er hob aus dem englifchen Staatsweſen die wahre Grundlage aller Staaten in der Epoche ihrer Gefundheit und Größe. Er empfahl und auch nicht den fpecififch englifchen Aufbau diefer Grundlage, fondern nur das ewig gültige Weſen derfelben zur Durhbildung in unferm Staat, im Anſchluß an unfere biftortichen Vorausſetzungen, und unter Benugung unferer eigenthümlichen An⸗ lagen. Dagegen ift die Schrift über die vier Fragen der deutfchen Strafpro-

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zjebordnung von dem Vorwurf der Anglomanie nicht freizufprechen. Der englifche Strafprozeß ift eine in ſich durchaus confequente Rechtsbildung, ent- ſpricht aber einer niedrigen Stufe des fittlichen Rebend. Ihn zur Nachahmung empfehlen, ift gerade, ald wollte man uns dad Bildungsgeſetz der chinefifchen Sprache empfehlen (? d. Red.), einer Sprache, welche mit wunderbarer Confequenz und Sicherheit, bei dem elementarften Stande der Sprahform die Aus drucksmittel für ein entwickeltes Vorſtellungsſyſtem hervorbringt. Es ift fiherli Anglomante, wenn man ein einzelnes Formgebilde von dort zum Mufter nimmt, anjtatt die große Triebfeder des ftaatlihen Bildungsweges felbft zu erfennen und auf die höheren Bildungsbedingungen unfere® Boden? zu übertragen. Der englifche Strafprozeß ift ein beredteö Beifpiel unter an- deren, daß in England oftmals der ftaatdrechtliche Gedanke auf dem eigenften Gebiet ded Staat? nicht, wie er follte, den privatrechtlichen Gedanken ge Ihlagen hat.

Die tiefen Gedanken der Gneift’fhen Schrift, die aber, weil fie gleichwohl nicht die erfchöpfenden Prämiffen ausmachen, in den Gonclufionen nur zu glänzenden Irrthümern geführt, haben den Geift Lasker's gänzlich unterwor— fen. Namentlih bat ihm die geforderte Deffentlichfeit der Vorunterfuhung eingeleuchtet, und im Reichstag eremplificirte er fogar, um diefe Deffentlichkeit zu empfehlen, auf den Prozeß Arnim, ohne den Namen zu nennen. Die Deffentlichkeit der Vorunterſuchung ift aber ein leerer Name, fo lange man die techniſche Geftaltung derfelben nicht in beftimmten Zügen vor Augen hat. Wil man bloß, daß der Anflagebefhluß in einem öffentlichen, die einzelnen Refultate der Unterfuhung zufammenfaffenden Verfahren feftgeftellt merde, fo wird wenig dagegen zu fagen fein. Soll aber jeder einzelne Akt von dem eriten Verdachtsmomente an ein öffentlicher fein, fo ift e8 fonderbar, auf den Fall Arnim zu exemplificiren. Sollte etwa der Beichluß der Verhaftung und Hausſuchung in öffentlicher Gerichtäfigung unter Verlefung der Denunziation gefaßt werden! Mir möchten wiffen, in welchem Fall es dann gelingen follte, die Spuren entmwendeter Urkunden oder beabfihtigten Mißbrauchs derjelben aufzufinden. Gneift nimmt bei Empfehlung der öffentlichen Vorunterſuchung feine Beifpiele Tediglich aus der Kategorie der gemeinen und ſchweren Ver- brechen, wo die Unterfuhung das gefammte, nicht der WVerbrechermelt ange: hörige Publitum zum natürlihen Bundesgenofjen hat oder haben follte. Aber felbft der deutfche Reichstag, der für Lasker's Wort ſoviel Aufmerkſam— keit bat, vernahm Ausrufe des Erftaunend und der Befremdung aus allen Reiben, als der Redner die ungeheuerlihe Behauptung ausſprach: die eng» liſche Criminaljuſtiz fei die promptefte bei den gebildeten Völkern. Wahr heinlih hat der Nedner die märchenhaften Erzählungen von den Wunder:

thaten englifcher Detectived für pure Sahrheit gehalten, nn * produe⸗ Grenzboten EV, 1874,

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tive Phantaſie der Reporter die Nubrif „Vermiſchtes“ in den Zeitungen ſchmückt. Die Deffentlichkeit der Worunterfuhung kann bis zu einem ge wiffen Grade aud) in dem präparatorifchen Verfahren des Unterfuchungsrichters, heiße er nun mie er wolle, ihre Stelle finden. Aber wie fie bier gefordert wird, ift fie ein Auäfluß der Geftaltung ded Strafverfahrens zum Wartet prozeß, welche der deutfchen Bildung und fittlihen Anſchauung wohl nimmer wird annehmbar gemacht werden Eönnen.

Die Commiffion zur Vorberathung der drei Juſtizgeſetze fteht vor einem großen und ſchweren Werk. Bei der Vernolllommnung des Vorſchlages zur theilmeife einheitlichen Gerichtsverfaſſung, wie er aus dem Bundesrath her- vorgegangen, fteht die Commiffion vorzugsweiſe politiſchen Schwierigkeiten gegenüber, welche fie Hoffnung haben darf, durch die begeifterte Zuftimmung ded Reichdtags zur Schaffung eined wahren, gleichartigen, deutfchen Richter: ftandes zu überwinden. Bei der Strafprozefordnung fteht die Commiſſion nicht dem particulariftifchen MWiderftreben gegenüber, an ihrer Seite den un miderftehlichen Bundesgenofjen des Nationaldranges nah einem großen und edlen Rechtsleben, fondern fie fteht vor einem Problem, über welches die öffentlihe Meinung der Laien und Juriſten noch in zahlreichen ungelöften MWiderfprücen befangen tft. Es wird fehr ſchwer fein, hier bereits etwas Bolllommened zu fchaffen, in dem Sinne, wie menfchliche Werfe allerdings vollfommen fein Fönnen und follen, fo nämlih, daß die Fünftige Werbefferung eine organifche Fortentwickelung des urfprünglichen Werfes darftellt. Ca ſteht fehr zu befürdhten, das eine inconfequente, widerſpruchsvolle Bildung zu Tage tritt. Es wäre vielleiht am Beſten, man fchlöffe ſich fo eng al® möglich an das mangelhafte Beftehende an, weil, wenn doch nur Mangelhaftes zu er reichen ift, gewohnte Mängel beffer find als neue.

Bei der Givilprozekordnung dagegen fteht die Commtffion nach der faft übereinftimmenden Meinung auch des Reichstages einem bereitö nahezu voll endeten Werk gegenüber. Hier hat fie eine verhältnigmäßig leichte Aufgabe, die ihr neben den beiden fehmeren Aufgaben zu gönnen und nöthig if. Der Entwurf der Givilprozeßordnung ruht befanntlich auf dem Syftem der Münd- lichkeit und auf der Durhbildung des Berfahrens zum Parteiprozeß, melde bei dem Civilprozeß ebenfo naturgemäß, ald bei dem Strafprozeß dem Wefen ded Strafrehtd miderfprechend iſt. Wir ftimmen demnach nicht mit dem jenigen Abgeordneten überein, welcher die Frage aufmwarf, melcher von den drei bisher in Deutfchland vorherrfchenden Prozeßgeftalten bei der Grund» legung für eine deutfche Eivilprozekordnung den Vorzug verdient habe. Er entjchied fich für die Hannoverfche Prozeßordnung, weil fie in der Durch— führung der Mündlichkeit und des Parteiprozeſſes das moderne Princip der Selbftthätigkeit der Bürger zur Geltung bringe.

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Wir wagen zum Schluß diefer Betrachtung über die erjte Leſung der Suftizgefege die Frage aufzumerfen, deren Beantwortung wir im Reichstage vermißten: welches der gemeinfame Grundzug diefer drei bedeutfamen Reform gefege ift. Wir erblicten denfelben in Nicht? fo wenig, als in der Aus— dehnung der privaten Selbftthätigfeit auf Koften ded Staats, was ung fein moderner Gedanke, fondern eine moderne Ephemere ift. Wir erbliclen diefen Grundzug vielmehr in der Annäherung an die Geftalt der edelften Eultur, wo die Organe der öffentlichen Sittlichkeit oder ded Staatd ald Bürgihaft objectiver Thätigfeit nicht mehr, oder immer weniger gebunden find an das äußerlich niedergelegte Schema des Gefeges, fondern wo fie mit der fittlichen und wifjenfchaftlihen Durchbildung des Geiftes in der Befugniß zur freieften Anwendung des Geſetzes die fachbeherrjchende Objectivität zu bewahren wiſſen. „Aörol yag elcı vouoı“, jagt Ariftoteled von den Negenten auf der voll. fommenften Stufe der Stantdentwidelung.

Machtrag.) Während ich alle anderen Reichstagsvorgänge ſeit der eriten Leſung der Juftizgefege auf den nächften Brief verfchiebe, glaube ich den Leſern bdiefer Berichte heute mindeftend noch eine Befprehung der Sigungen vom 4. und 5. Dezember ſchuldig zu fein. |

Die Sitzung am 4. Dezember eröffnete mit der Berlefung von vier Schreiben ded Reichskanzlers. Das letzte davon benachrichtigte den Reichs— tag, daß die bei den Ausgaben des auswärtigen Amtes geftellte Forderung der Befoldung eines Reichsgeſandten beim päpftlicden Stuhl zurüdgezogen werde. Die Mittheilung diefed Schreibens rief im Reichstag bereitd eine große Bewegung hervor. Seitdem der Papft die Betrauung eine? Gardinald mit dem Poſten eined Neichdgefandten beim päpftlichen Stuhl nicht zugelaffen, iſt dieſer Poſten vakant. Die Aufnahme der Beſoldung deäfelben unter die Reichsausgaben war alfo eine bloße Formalität, indem bei der Rechnungs legung die Poſition als nicht verausgabt in Einnahme gefegt wurde, Immerhin Hatte diefe Formalität die Bedeutung, daß die Reichsregierung jeden Augenblid in der Lage war, einen ordentlichen Gefandten beim päpft- lichen Stuhl zu beglaubigen, und daß das Fehlen eines Gefandten bei diefem Stuhl ala eine Zufälligfeit erfchien. Um die Bedeutung der zurüdgezogenen Befoldungsforderung zu ermeffen, muß man fi vergegenwärtigen, daß vor Kurzem die „Neue freie Preſſe“ in Wien die Mittheilung brachte, das deutjche Neich habe auf irgend melden Wegen im Batifan den Wunfh und die Bereitwilligkeit zur Ausgleihung der obwaltenden Streitigkeiten Fund gethan. Es hat keine geringe Wahrfcheinlichkett, daß das Erfcheinen diefer Nachricht in diefem Blatt,“ das zwar nicht römifch ift, aber zu diplomatifchen Manövern

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vielfach geeignet befunden wird, ein römtfcher Fühler war. Das Dementi, welches die Reichsregierung fogleich entgegen ſetzen ließ, konnte man als bie Abweiſung diefer Friedendofferte deuten. Nicht etwa, ald ob das deutjche Reich um jeden Preis Eriegerifch gegen Rom aufzutreten gedächte, aber die Staatäleitung desfelben weiß, dag Nom fehr ſchwer und auf feinen Fall ſchon jest auf annehmbare Bedingungen zum Frieden bereit ift. Unter diefen Um— ftänden war die Zurücziehung der Befoldung, mit andern Worten, die Auf hebung der Stelle eines deutjchen Gefandten beim römijchen Stuhl, eine zweite und noch weit nahhdrüdlichere Abmeifung ded von Rom in feltfamer Form, aber immerhin mit Wahrfcheinlichfeit geäußerten Friedenswunſches. Sei e8 nun, daß von dem Schreiben ded Reichskanzlers bezüglich der römifhen Ge fandtfhaft ſchon etwas verlautet hatte, fei ed, daß im Geiſte des befannten Gentrumdmitglieded, ded Herrn Jörg, der Plan zu einem Angriff ſogleich bei der Verleſung des Schreiben® entjprang, genug der genannte Abgeordnete wandte fich gelegentlich der Ausgaben für den Bundedrath und feine Aus. fhüfle, infonderheit der Ausgaben für den auswärtigen Ausſchuß, mit über legter Perfidie gegen die auswärtige Politik des Reichskanzlers, um denfelben dem Ausland ald Störer ded europäifchen Friedend zu denunciren, dem In— land ala denjenigen, der Deutfchland in völlige Abhängigkeit von Rußland gebracht Habe. Man konnte diefen Infinuationen fehr viel Aerger und Böswilligkeit, aber daneben freilich auch die Berlegenheit anfehen, melde zu den abgefhmadteiten Mitteln greift. Alle, die der Sitzung beimohnten, fonnten dem Reichskanzler anmerfen, daß er antworten werde, und er that es. Nachdem er mit bemwundernämerther Ruhe und fachlicher Herrfchaft den Verfuch widerlegt, die Zurückweiſung franzöfifcher Beleidigungen in amtlichen Dokumenten und die Bemühung, In Spanien einer Regierung die europäifche Anerkennung zu verfchaffen, welche in den internationalen Verkehr wenigſtens nicht den Mord einführt, zu Interventionen zu ftempeln, fprach er über das Berhältnig des Mörderd Kullmann zur Gentrumspartei. Herrn Jörg gebührt das Verdienft, diefen Mörder auf die Tribüne des Reichstags gezogen zu haben. Was der Kanzler in Folge diefer unerhörten Herausforderung feiner Perſon ausſprach, waren nur nadte Thatfahen. Man kann wohl das Opfer eined Mordverfuches nicht ftärfer reizen, und nur aus der Abficht zu reizen und die Perſon auf das Tieffte zu verlegen, ift es wohl zu erklären, wenn Jemand das Verbrechen in Gegenwart des Opfers ald eine Kleinigkeit dar ftelt. Der Fürft antwortete nur, indem er die Aeußerungen aus Kullmann’d eigenem Mund anführte, wie derjelbe fein Verhältniß zur Centrumsfraktion angefehen. Als der Fürſt geendet, entwickelte fi eine Scene, deren Be ſchreibung die Leſer fchon vielfah vor Augen gehabt haben, wenn ihnen diefer Bericht vor Augen kommt. Gerade bei dem, was man unbefchreiblid

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nennt, iſt vielleicht die Wiederholung der Befchreibung erklärlich. Ich will mih aber nur auf einige allgemeine Züge befchränfen. Man meiß, daß in einer MWeife, wie es deutiche Parlamente wohl noch nicht erlebt haben, das Gentrum und der übrige Theil des Reichstags minutenlang gegeneinander tobten. War es das Toben des Centrums, welches die nationalen Reihen mit Mrem Beifall erftiten wollten, oder wollte das Centrum mit feinen Mif- lauten den Beifall erſticken?

Ich hatte den Eindruf, daß der Beifall eine gewaltige fpontane Ber wegung war, hervorgerufen durch einen der feltenen Momente, wo die geiftige Größe eined Mannes in unmittelbarer Gegenwart für die augenblickliche Wahrnehmung erfcheint. Der Lärm der Ultramontanen entiprang weniger dem Bedürfniß ihre Gegner zu übertäuben, ala dem impontrenden Einfluß des gehaßteiten Feinde auf ihr eigenes Gefühl! Das blutige Epigramm, welches nach dem bezeichnenden Ausdruck der „National-Ztg.*, der Kanzler auf die Schultern eines der roheiten unter den Närmern heftete, wird unver: geblich bleiben. In dem Augenblid, als es gefprohen wurde, hatte die er» regte Empfänglichfeit den Höhepunkt ſchon verlaffen, Die Debatte lenkte bereit8 in den Streit mit Argumenten ein, der einer deutfchen Verſammlung fo natürli ift. Auch der Reichskanzler, ald er zum zmeiten Mal gegen Windthorſt's dialektifche Künfte das Wort nahm, bewegte fi in dem Geleis der Argumente, ald Lasker in dem unfered Erachtens fehr berechtigten Gefühl der unerhörten Schmach, welche die Rede des Jörg der deutfchen Nation angethan, die Aeußerungen desſelben ald Verbrechen bezeichnete. Der Präfi- dent mußte Lasker zur Ordnung rufen. Uber die Mehrheit des Reichstags gab dem Redner Recht, wie nur je. Vergebens fuchte Windthorft die Ver— urtheilung Jörg's dur dad grobe Sophisma zu entfräften, das Abrathen vom Kriege könne patriotifch fein, wie Thiers' Abrathen 1870 patriotifch gewefen. In diefem Augenblick gefchärfter Wahrnehmung am menigiten fonnte der Rabulift auch nur ein einziges Mitglied darüber täufchen, daß es zweierlei ift, gegen den Krieg fprechen, wenn er In Frage ift, und das eigene Rand des Krieges verdächtigen, das im vollen Ernft den Frieden ſucht.

Dies die großen Züge der denfwürdigen Sigung.

ALS Fürft Bigmard dem Centrum zurief; „der Verbrecher heftet fh an Ihre Rockſchöße“; da leuchtete ed wie ein Blitz durch den Saal, der die Schrift erhellt: das Verbrehen heftet fihb an Euer Thun. Wie maßlos elend find die Waffen, mit denen diefe Fraktion kämpft, in der fo viele an ich achtbare Männer ftreiten! Nehmen wir an, ed wäre wahr, daß ben Katholiken Unrecht gefchähe von der deutjchen Neichäregierung, einer der erfolgreichten Regierungen, die ed gegeben. Wäre da nicht die fittlihfte Waffe die wirkfamfte, mit ftilem Ernſt binzumeifen auf den dunklen Fleden

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auf dem glänzenden Schild ruhmreicher Thaten! Uber dieſes Begeifern, Käftern, Verhetzen der Größe einer Nation, deren Geſchicke man zu” berathen in Anfprud nimmt, das ift eine Waffe, die nur für eine ſchlechte Sache ger führt werden fann. Der Weg der Ultramontanen führt zum Waterland verrath in der fchwärzeiten Geftalt, und wenn fie zu diefem Ziel gelangt find, von welchem fie den Sieg ihrer Sache erhoffen mögen, dann wird eö#mit derjelben für immer in Deutfchland vorbei fein.

Die Beleuhtung, in welcher der Ultramontanismus am 4. Dezember erichien, war fein vergängliches Licht. Die Mittheilungen ded Kanzlerd am 5. Dezember haben es ſogleich aufs neue firirt. Dennoch fteht es außer Zweifel, wad fo lange gemuthmaßt, aber nie beftätigt worden, daß bei der franzöfifchen Kriegserflärung von 1870 ultramontane Einflüffe den Ausſchlag gegeben, daß man dad Goncil abfürzte, um es wieder zufammentreten zu laſſen unter der Aegide des unmiderftehlichen Schtedsrichteramtes in Europa, welches die Befiegung Deutſchlands dem franzöfifchen Kaifer verliehen. Nach dem Borgang der „Germania“ wollte Herr Auguft Reichenfperger die ultramontane Tendenz der napoleonifchen Politik in Zweifel ziehen. Es ift wahr, auf diefer Katfer Eonnte dem Papſtthum ſich nicht bloß unterwerfen, aber er wollte ed zum Stützpunkt feiner geficherten Herrfchaft machen, und mußte ihm daher das Meifte, wenn ſchon nicht Alles, gewähren, was es von ihm fordern wollte.

Die direkte Yeußerung aus dem Munde eines hochbetrauten Dienerd der Curie, daß diefelbe nöthigenfall® durch die Revolution zum Ziel kommen werde, hat bei ihrer beglaubigten Mittheilung ein gewaltiges Auffehen erregt. Auch fie firiet das Licht, in welches der deutfche Ultramontanismus, der ja nichts fein will ald Roms Werkzeug, fih am 4. Dezember geftellt hat.

Cr.

Weihnachtsbücherſchau.

Unter den Weihnachtsbüchern für „Große“ nennen wir heute an erſter Stelle die Erzählungen von L. Budde, frei nach dem Däniſchen von Walter Reinmar. (Leipzig, Ir. Wilh. Grunow, 1875.) Es wird uns verſichert, daß der Verfaſſer des Originals wie der Ueberſetzung, Beide, dem ſtarken Geſchlecht angehören, ſonſt würden wir geneigt ſein, ſie zu dem Geſchlecht der beſten Blauſtrümpfe zu zählen, die es je gegeben hat. Denn der Verfaſſer beſitzt ein Talent für feine weiche Beobachtung der menſchlichen und fog. todten Natur, wie wir es in Deutſchland nur bei den hervor ragendften Schriftftelleri nnen gemwahren. Der Ueberfeger feinerfeits ift nad

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derfelben Richtung Hin fprahlih und ftiltftiich ganz beſonders beanlagt. Uber diefe Bemerkung fol keineswegs etwa den Werth des Driginald oder diefer deutfhen Ausgabe dedfelben herabfegen. Der Deutfche, der in dänifcher Literatur zu Haufe ift, wird es oft eigenthümlich empfunden haben, daß der Däne eine MWeichheit und Bewegung ded Gefühld, der Naturfchilderung, der Sharakteriftif für die Iandesüblichen Bedürfniffe vorräthig hält, die mir bei unfern männlichen Schriftftellern höchit felten antreffen und im Allgemeinen nicht für abfolut nothwendig anfehen, dagegen fehr anerfennendwerth finden, wenn fie aus Frauenfedern entfloffen find. Es ift das ein Beitrag zu dem merkwürdigen Problem, daß die Völker, die im raubeften Kampfe mit der Natur ihre Dafein friften müffen, Gebirgäbewohner und Inſelſtämme u. f. w., den innigften, weichſten Regungen des Herzen, der feinften Beobachtung befon- ders zugänglich find und ihr geiftiges Reben darin beſonders zu bethätigen lieben. Für und Norddeutfche, die wir in dem Kampfe um unfere Exiſtenz auch keineswegs auf Rofen von Schira® gebettet find, hat die dänische und ffan- dinavifche Moefte, folange fie und erfchloffen ift, immer befondere Anziehung? fraft geübt, und auch diefe Erzählungen von 8. Budde verdienen unfer vollites Intereffe. Denn auch im Humor, in der freien germanifhen Würdigung der Individualität, de Menfchen im Menſchen, gleichviel welchem Stande der Einzelne angehört, in dem ſchönen Bemwußtfein der Pflicht, die Jeder an feinem Theile gegen Andre und die große menfhlihe Geſellſchaft zu üben bat, in der er lebt, find diefe Erzählungen, troß ihrer nördlicheren feeländifchen Herfunft doch ein treued Spiegelbild unferer Volksſeele. Sa, in ihnen allen ift die UAnerziehung oder der Durchbruch dieſes Bemwußtfeind der Kern der „Moral“, der Entwidelung und Vermwidelung der Heinen Handlung, melde das finnige Gemüth des Verfafferd und abipinnt. Wir find überzeugt, niemand wird diefe freundlichen herzlichen Gefchichten ohne tiefen bleibenden Eindrud Iefen. Für den Weihnahtsabend eignen fie ſich ganz befonders, da einige der beften von ihnen die Weihnacht zur Peripetie ihrer Handlung auderforen haben. Bon den Prachtwerken, melde diefed Jahr fih zur Beſcheerung befonderd empfehlen, ſei in erfter inte der beiden fchönen Erzeugnifie des Verlags von Alphons Dürr gedacht: „Die [hönften deutſchen Volke: lieder, gefammelt und herauägegeben von Georg Scherer, mit trefflichen Holzſchnitten nah Zeichnungen von Piloty, Namberg, Ludw. Richter, M. v. Schwind, Thumann u. W., einer illuſtrirten Prachtausgabe, die jedem deutfchen Haufe zur Zierde gereicht, Jung und Alt eine Quelle wahrer, lauterer Freude werden wird; und dann jene edle Ausgabe von Cornelius Koggienbildern, facfimilirt gejtochen nad) den eigenhändigen Entwürfen ded Meifterd zu den bekannten Fresken in der Münchner Pinakothek. Hier an diefer Stelle fol auf dad hochbedeutſame Werk nur verwiefen werden, um

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auf dadfelbe fpäter eingehender zurüdzufommen. Bid zum Tode König von Batern lagen die Zeichnungen des Meiſters, nach denen die hier. den Stiche durchgepauit find, der Melt verichlofen, in königlichem Prib Langjährigen Eunitfinnigen Bemühungen -ift diefe Ausgabe zu danfen, % Münchner Ernft Föriter den erflärenden Tert, Prof. Große die fchön g Zeichnung des Umfchlagd dankt, und in Verbindung 'mit den gen Entwürfen von Cornelius felbjt eine der großartigiten Darftellung Kunſtgeſchichte bietet, die denkbar find.

Die Deutſche Kunſtgenoſſenſchaft in einer ihrer würdigiten Vertretu in der Bereinigung des Düffeldorfer „Malkaſten“, buldigt auch ſchon Sahren der löblihen Gewohnheit, ſich zum böchſten Jahresfeſte in 1 „Künjtler-Album“ um die Weihnachtägunft des Publikums zu bemei Und mit Recht iſt dieſes Jahrbuch deutſchen Kunſtſtrebens und deuf

dorf, Verlag von Breidenbach & Comp. verdient dieß im voll Maße zu fein. Herausgegeben iſt er von Ernft Scherenberg, dem U tigen, tapfren Dichter, deſſen ———— Lieder ſoeben in ſtattlich Ausgabe bei Ernſt Keil in Leipzig erſchienen find, und ebenſowohl di die Reinheit und Tiefe ihrer Lyrik wie dur die Macht und Klarheit ih vaterländiſchen Pathos weit über die Maflenproduction unfrer Tage her ragen. Ernſt Scherenberg übt fein Amt als Herausgeber des KHünfk Albums in diefem Bande durch pietätvolle Verje zum Gedächtniß an W gang Müller von Königswinter, der befanntlih von 1851 —53 und X 1860— 67 dad deutſche KHünjtler- Album herausgegeben. Demjelben es rheinifhen Dichter ift auch das erfte Blatt de deutſchen „Urabestenfönf Casp. Scheuren geweiht. Und wie in den Gedichten die vornehmiten Si des deutſchen Parnaſſes ſich vereinigen, fo auch in den Bildern! Jeder ſtolz fein, diefes Werk fein eigen zu nennen.

Last not least erbitten wir die ganz befondere Aufmerkſamkeit unft Refer für das im rer von E. Köhler in Darmitadt erfcienene Aqua Prachtwerk von Ludwig Robod „dad Berner Dberland*, Text Eduard Dfenbrüggen. Wer hat nicht, inmitten der in ihren Forr und Maflen, in der Abwechslung von Gebirg, Stromfall, Thal und einzigen Naturfchöne ded Berner Dberlanded den Schmerz empfunden, wie ſcheiden zu müfjen aus diefer reichen Gebirgamelt? Wem iſt nicht, wenn: von Thun oder von der Brünigftraße aus zuerjt diefer Wundermelt des Berk Hoclanded entgegeneilte oder von diejen Stellen aus zum legten Male % diefelbe zurücblicdte der ftile Wunfch aufgeitiegen: ach, könnte man doch m eine einzige diefer Herrlichkeiten mit nah Haufe nehmen! Die „Souvenik an das Oberland, die in Interlaken, Bern, Luzern 2c. in gefchnigten Rahm in einer Art von Delfarbenanftrich oder bunten Lithographien zu faufen fi beleidigen mehr unfer Auge und unfre heilige Erinnerung an die Reize t Dberlandes, ald daß fie daheim ung erfreuen fönnten. Und ähnlich verh es fi) wegen des Mangels aller Farbe, wegen der Unmöglichkeit, den der Hochlandsferne wiederzugeben, mit den Photographien und Stereojfg vom Berner Dberlande. In dem vorliegenden Prachtwerke aber bat fich ei der bervorragendften Randfchafter verbunden mit dem zur Zeit wohl um ftritten bedeutenditen Schilderer der Schweizer Volks- und Gebirgdnatur, Pi Dienbrüggen, um und ein Werk zu jchaften, das eine der fchönften Gegen der Erde in Bild und Wort in muftergültiger Weiſe und vorführt.

Verantwortlicher Redakteur: Dr. Hand Blum in Leipzig. Verlag von F. 2, Herbig in Leipzig. Druck von Hüthel & Legler in Leipzig.

*

XXX. Jahrgang.

BeitTästft für

Politik, Siteratur und Kunfl. N 51.

Ausgegeben am 18. December 1874.

Inhalt:

Breußiſche Geihichten. Wilhelm Maurenbreder. . 441 Die General-Direction der Sächſ. Staatöeifenbahnen, das Reicher —— und das Publikum. Mar Kren *

Eine neue Ausgabe von Jeremias Gotthelf. B. . 55 WM Bom deutſchen Reihstag.e C—r. . » » 2 > 20. EA ZEARRERTERETDEN: nn nee 476 Ein Brief Friedrich Fiſchbach's an die Redaction. . . . 480

Srenzbotenumſchlag: Literariſche Hierzu zwei literariſche Beilagen. E. Kofhny in Leipzig. Meyer’ ſche Hofbuhhandlung in Detmold.

Leipzig, 1874. Friedrich Ludwig Herbig. (Ir. Wilh. Grunow.)

Grenuzboten.

ec 2

tbei allen Duchhandlungen und Pofämtern bes ud und Auslandes.

Die soeben erschienene No, 50 der Jenaer Litersaturzeitung, im Auftrage der Universität Jena herausgegeben von Anton Klette, Jena,

Mauke’s Verlag (Hermann Dufft) enthält Besprechungen von:

IE

In Ferd. Dümmmler’8 Verlagebuchhandlun (Harrwiß und Goßmann) in Berlin :

Magazin für die Literatur des Auslande

J. Köstlin, Martin Luther: von H. Holtzmann. | Begründet vor Jofepb Lehmann. 43, Yabı

H. Weingarten, Zeittafeln zur Kirchenge- schichte: von F. Nippold. H, Thiele, die Va- terlandsliebe der Christen: von R. Ehlers. J. Chr. K. v. Hofmann, die Offenbarung Jo- hannis, J. Wiesinger, d. Gährungsprocess unserer Zeit: von W. Grimm, F. v. Holtzen- dorff, Rechtslexicon: von Th. Muther. O. Wal- eker, d. russ. Agrarfrage: v. A. v. Miaskowski, F. Merkel, Untersuchungen aus dem anato- mischen Institut zu Rostock: von G. Schwalbe. R. Sturm, darstellende Geometrie: v. F. Linde- mann. A. v. Lasaulx, das Erdbeben von Her- zogenrath : von E. Schmid. F. Sauter, diplo- matisches ABC: von W, Schum. W. Arndt, Schrifttafeln: von W. Schum. PB. Capasso, historia diplomatica regni Siciliae inde ab anno 1250—1266: von W. Bernhardi. M. Ritter, die Union und Heinrich IV.: v. @. Droysen. C. Otto, Johannes Cochleaus: v. C. Bursian, Rivista di filologia: von L. Jeep. Aeneae T. poliorceticus, ed. A. Hug: von F.K. Hertlein, A. Rosenberg, die Erinyen: von K. Dilthey. Jean de Flagy, girbers de Metz, herausgegeben von E. Stengel: von H. Suchier.”

‚Das December- Heft der „Deutſchen Blätter‘, begründet von Dr. G. Füllner, herausgegeben von Dr. €. F. Wineken, Berlag von Friedr. Andr. Perthes in Gotha, bringt folgende Aufjäge:

Zum Reichsvereinsgefeß. Yon einem Volkswirth.

Die Statiftit der fittlihen Thatjachen und die

fittlihen Wiffenfhaften. Bon Schmidt. Patrio-

tismus und Wiffenfchaftlichkeit. Don einem Pa- ‚trioten. Gewerbe und Gemerbegefepgebung in Deutihland von der Reformationszeit bis zur Gonftituirung des Norddeutfchen Bundes. Von Marpe. Die fociale Frage feine firhliche Frage. Bon einem GChiliaften. Die firchenpolitifche Lage und die religiöfen Richtungen in der reformirten Kirche des Gantons Bern. Bon Hugendubel. Aus. der Neuchäteller Kirche. Schreiben an den Herausgeber.

!Zur Geſchichte Frankreichs! Soeben eifhienen er Buchbandlungen zu 3. 3. Honegger, Prof. in Zürig. Kritifhe Ge ſchichte der franzöfifhen Gultureinflüffe in den

legten Jahrhunderten. Inbalt. Geift und * der Geſchichte. Auf⸗ Beinen der franzöfiihen Macht bis auf Ludwig XIV. herab, ie ſranzöſiſche Weltmahtftelung auf ihrer Höhe: XIV. bis zur Scheide der Jahrhunderte. er Verfall des Staates, Herrihoft der revolutio, iteratur, ntreich felt der Revolution. XIV. u. 400 Seiten. gr. 8. Preis 21, Thlr. = 7 M. 50 Pi. Pam erichienen : Karl Hintbrond, —— und die Franzoſen in der 2. Hälfte des XIX. Jahrh. Eindrücke und Erfahrungen. 2. ee u. meh J 10 un. eh b uffäge und biogray en zur * 8. Thir. OB u r

Engenbeim , e

Verlag non, Aobert Oppenheim in Berlin, ,

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———— ——— ———

gang.

Artikel:

‚in den 2 offen ———

Wöchentlich 11%, bis 2 Bogen Dar: Preis vierteljährlich 1 Thlt. 10 Sar. Das „Magazin“ ift Durch jede Poftanftalt un

Buchhandlung, auch von der Verlagsbuchhandlun— zu beziehen. Eine Probenummer Tiefert jede But handlung unentgeltlich.

No. 49 des „Magazin“ entbält folgent:

Deutihland und Das Musland. Biber vn: Sozialdemofraten. 713. Gefchichte der Stat Köln. 714. Deſterreich- Ingarn. Bereini leben bei den Siebenbürger Sächfen. 715. Belgien. Der Krieg von 1866, ein Wat Bi: mare. (Nach der Revue de Belgique.) 717. - Frankreich. Friedensliguen und Völtertribunel 120. Der neuefte Roman Daudets. 721. - Indien. Bericht über indifche und en liſche Br: hältniffe._Bom Abgeordneten Dr. wi 121. Orient. Gichmunazars Grab 122. Rleine literarifhe Rebue. Am Er. 723. Maurice Block, Statistique de la Franc, ouvrage couronne€ par l’Institut. 724. Sum Ward Beechers ausgewählte Predigten. 724. - Geſchichtsſtudien in Amerika. 724. The Inter- national Gazette. 724. (Eduard VL gegen die Suprematie des Papſtes. 724. Häuslıcr Krankenpflege. 725. Spredfaal. Franttei und die Karliften. 725. Frit van de Kerfber: 726. Ecole libre des sciences politique, 72% Brief aus den ruffifchen Oſtſee⸗Provingen. 72

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No. 50 des „Magazin“ enthält folg ie! gende Artite!

Deutſchlaud und Das Ausland. Kortitrir der Menfchheit. 729. Meue Titerarifge Orr nungen und Weihnachtsgaben. I. Varnhagen un) Nabel, Dtto Lange, Mylius, Erneftine, Ribarı rg Prediger Bachmann, Bruno Buse * er 3. Leffing. 731. Epanier. 3. . Klein, Gefchichte des fpanifchen Dramas. |. 133. alien. Gabrio und Camilla. Au geihihtliher Roman von Guilio Garcano, 7}! _ Frankreich. Die Kriſis in der reformirten

Kirche in Franfreih. 736. a Shatefpeares. 736. > en. *

bib. 737. Bericht über indifche und ena Berbältniffe.

Bom Ab eordneten Dr. Ebertu. \ ——— S$tleine literariſche Repur. —* i ei fsfehriften zum Weihnahtätis KL Di neinder = Sefchichten von Laboulır enen Sefhigten nn iihte Indiens, von feinen « Bradet. Tan. ROSEN Erählt, Ta

741. Les Grammalriens fran

Büpeferromane, 742 vet.

Alter 3er &d A Ylber! vr agogifche Schriften. 742.

.

moine. 742,

iR

Vreußiſche Geſchichten.

Nicht ganz ungegründet iſt der Vorwurf, den manche Freunde der Ge ſchichtswiſſenſchaft ihren Jüngern machen, daß gegenwärtig keine irgendwie genügende Darſtellung deutſcher Geſchichte vorhanden iſt. Die alte fable convenue, die man für die Geſchichte des deutſchen Volkes ausgegeben hat, it an den meiften Stellen erſchüttert. Die neuere Eritifche Forſchung iſt in voller Thätigkeit, an ihrer Stelle ein neues Gebäude aufzuführen; diefe Thätigkeit ift aber noch nicht vollendet; und fo entjchließt fich ein wiſſenſchaft⸗ licher Hiftorifer einftweilen nicht leicht, eine zufammenhängende und alles um-« fafiende Darftellung zu geben. Es bleibt heute anderen Händen überlaffen, Grundriffe und kurze Handbücher zu verfaffen. Jedenfalls was von größeren und audführlicheren Werfen über deutfhe Geſammtgeſchichte in letter Zeit audgeboten worden, wird nicht wirklich empfohlen werden dürfen.

Anders fteht e8 mit der Preußiſchen Geſchichte. Nicht ald ob man fagen könnte, wir befigen eine allen wifjenfchaftlichen Anforderungen entfprechende Geſammtgeſchichte des preußifchen Staates; aber hervorragende Hiftortfer haben fih an diefe Arbeit gemacht und es liegen Werfe über preußifche Ge- {biete vor, an die man den Maaßſtab wiſſenſchaftlicher Eritifcher Geſchicht— ſchreibung anlegen darf. Wir erinnern kurz an die älteren Verſuche, um dann die neueren Bearbeitungen genauer zu charafterifiren.

Die Gefchichte des preußifchen Staates wächſt heraus aus der Gefchichte des brandenburgifhen Kurfürſtenthumes. Um die Wende des 16. auf das 17. Jahrhundert trat die höher hinaufftrebende Tendenz der Brandenburger zu Tage, da begann die brandenburgifche Kandeögefchichte einen anderen. Charakter anzunehmen ald die der anderen deutfchen Randesfürftenthümer, In diefer Zeit und aus diefen Verhältniffen der Fühner emporfommenden brandenburgifchen Politif heraus fchrieb der erfte brandenburgifche Hiftorifer Reutinger feine Werfe über die Gefchichte der heimijchen Rande,

Sm 17. Jahrhundert hat fodann der große Kurfürft aus dem von feinen Borfahren gewonnenen Materiale den neuen brandenburgifch » preußifchen Staat gebildet. Während feiner Regierung entwidelte ſich das eigenthümliche

Gepräge des neuen deutfchen Zukunftsreiches. Damald griffen Viele zur Grenzboten IV. 1874, 56

442 .

Feder, dies neue Staatsweſen zu ſchildern, Lockelius, Rentſch umb in den nächſten Nachmirkungen diefer Regierung unter feinen beiden Nachfolgern Bundling, Zwantzig, Abel und Myliusd. Den großen Kurfürften hatte Leti, einer der italienifchen Vielfchreiber, fi neben feinen anderen zahlreihen Geſchichtsbüchern zum Gegenftand einer lebhaften und amüfanten Schilderung gemacht; und der Kurfürſt felbft Hatte einen der erften europäi— ſchen Gelehrten Bufendorf berbeigerufen, Herold feiner Thaten zu werden. Das kurfürſtliche Staatsarchiv ftand Pufendorf offen; er benugte mit großem Geſchick und mit politiihem Verſtändniß die geheimften Papiere der Regie rung, ein merfwürdiged Beifpiel von richtiger Erfenntniß der Bedeutung und des Nutzens archivalifcher Forfhung, mit dem unfer Vaterland damals Andern die Wege gemiefen !

Unter unfern preußifchen Hiftorifern ift mit befonderem Nahdrud unfer größter König und Staatdmann zu nennen, König Friedrich der Große. Gr bat befanntlicy nicht allein die Gefchichte ſeines Lebens und feiner Regie rung verfaßt, fondern auch eine Skizze der vorhergehenden Geſchichte des Landes und ded Fürftenhaufes geliefert, ein Kleines aber bedeutendes Buch, voll der genialften hiftorifhen Blicke, gefättigt und getränft von dem hiſto— rifch-politifchen Urtheil eines der gewaltigften und originalften politifchen Genied. Der König, der wie feiner die Leiftungen und Fähigkeiten und Auf gaben feines Volkes zu ermeſſen und zu leiten verftand, Eritifirte in ſcharf pointirten Säten Thun und Laſſen, Tugenden und Fehler feiner Vorgänger: beim Studium ypreußifcher Gefchichte wird man heute noch diefe Urtheile zu erwägen und zu berüdfichtigen haben.

MWährend der Negierung dieſes Königd murde das Königreich Preußen europäifche Großmacht; es lohnte fich immer mehr feiner Gefchichte nachzu— gehen. Der Hallenfer Profeſſor Bauli hat damals ein umfangreiches Werk aus gewiſſenhaften Studien verfaßt; von Band zu Band wächſt mit dem Auf: ſchwung der großen Ereigniffe und Thaten des fiebenjährigen Krieges Kraft und Muth des preußifchen Hiftoriferd: wir können heute immer noch die act Quartanten von Pauli nicht entbehren. Um Pauli gruppiren fich, ihn ergän- zend und ausführend, die Arbeiten und Studien von Buchholz, Gallus, Thile, Wöhner, Fifhbah, Hering, Baezko u. A.: eine Anzahl von Monographien ift damald entftanden, ohne deren Hülfe auch heute nod Niemandem leider! gerathen werden könnte, preußifche Gefchichte zu treiben !

Am Ausgang des vorigen und Eingang diefed Jahrhunderts hat fich der Beifter in ganz Europa eine neue politifche Tendenz und Auffaffung bemäch— tigt: wie fie das öffentliche Leben in allen Gulturländern zu beherrfhen und allmälig umzuwandeln fich beftrebte, jo drang fie auch in die politifchen und

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hiſtoriſchen Wilfenfhaften ein. Auf dem Gebiete, das wir betrachten, ent- fand daraus die fehr interefjante hiftorifch- politifche Kritik, welche der Fran- zoſe Mirabeau, einer der Führer der neuen Tendenzen, über den preußifchen Staat gefchrieben : anregende und fruchtbare Discuffionen rief dergleichen na- türlich hervor.

Seitdem konnte man nicht wohl mehr bei der hergebrachten Negenten- und Volksgeſchichte fih begnügen; man empfand das Verlangen die maf- gebenden politifchen Faktoren der preußifchen Gefchichte zu begreifen; und eine von politifchem Geifte eingegebene Gefchichte des preußifchen Staates war und blieb nun ein Thema, das vgr, während und nad den Freiheitäfriegen manche Geifter reizen mußte. Diefer preußiiche Staat, der damald Deutfchland aus fremden Joche errettet, dem die Deutjchgefinnten ihre Blicke immer intenfiver zumandten, war eine Erſcheinung, mit der die neue politische Doctrin ſich in irgend einer Weife abfinden mußte: in manchen Stüden fah fie in ihm verwandtes, andererfeitd aber auch manches, was fie abftoßen und zurüdichreden mußte, von den verfchiedenen Seiten, die der Betrachtung ih boten, galt es feine Gefchichte zu verftehen oder zu ftudiren. Das natio— nale und patriotifhe Gefühl fteigerte das Intereffe an der Aufgabe; und doch iſt troß vieler Anläufe diefe Aufgabe damals nicht gelöft worden.

Wir willen, daß Friedrich's II. Minifter Herzberg ſich mit der Abſicht einer Gefchichte getragen. Es ift befannt, daß der gefetertfte Hiftorifer feiner Zeit, Johannes von Müller ein großes Werk diefer Art zu fehreiben, nad Berlin berufen war: aus feiner nachmals gehaltenen Rede über Friedrich II. ſchöpfen wir dad Gefühl dankbarer Befriedigung darüber, daß er nicht damit zu Stande gefommen. Dagegen bedauern wir es auf dad Lebhafteſte, daß der Schöpfer unferer kritiſchen Geſchichtsforſchung, B. ©. Niebuhr feinen Gedanken einer Preußiſchen Gefchichte nicht ausgeführt hat: er wäre der Mann für diefe Sache gemefen! Der Anftoß, den er ernften und eindringenden Studien gegeben, wirkte natürlih auch auf diefem Felde förderlich meiter; fritifhe und grundlegende Forfchungen wurden unternommen: man braudt nur an die Namen von W. von Raumer, Klöden, Rancizolle, Riedel u. A. zu erinnern, um die Bedeutung und die Refultate vieler mono» graphijcher Unterfuchungen und vieler archivalifcher Forfehungen hervorzuheben. Daneben Hatten auch in Berlin die Profefforen Rühs, Stuhr, Siegfried Hirſch, in Königsberg Schubert die Abficht, preußifche Geſammtgeſchichten zu ſchreiben; von allen aber find nur Fragmente fertig geworden fehr ver- Ihiedenen Werthed. In den Jahrzehnten nach den Freiheitskriegen ift manches ernftlich gemeinte Buch über einzelne Abfchnitte preußifcher Gefchtchte zu Stande gefommen; es ift durch emergifchen Sammlerfleig für die ältere Zeit das urkundliche Material zufammengetragen,; e8 find auch einzelne

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Bartien fhon mit Hiftorifch-politifchem Geifte behandelt. Wir geben bier fein Verzeichniß folder Monographien.

Nur zwei merkwürdige Erjcheinungen jener Tage mag es geftattet fein, furz zu berühren. Der feudale Publieiſt Adam Müller untermwarf den modernen Charakter, den ſchon Friedrich II. der preußifchen Staatsgeſchichte aufgeprägt, einer fcharfen Kritik, während Manſo, der liberal gefinnte Hiftoriker fi vorgenommen, nad) der Kataftrophe von 1807 den Niedergang des preußifchen Staate® durch hiftorifche Darlegung zu erflären. Die befte Kritik ded Buches von Manfo haben die Ereignifje geliefert: das Jahr 1813 ftrafte den Hiftorifer Kügen, der 1807 ald den nothmwendigen Ausgang feiner Geſchichte in Ausficht genommen; und fo ftehen hier Anfang und Ende des Geſchichtswerkes in feltfamem Widerfpruche zu einander. Nur wer In die Endztele unferer Geſchichtsentwickelung ein unerjchütterliche® Vertrauen ge mwonnen, war im Stande für eine preußiiche Gefammtgefchichte die richtige Tonart zu wählen. i

Unvollendet geblieben find die Werke von Rancizolle’3 (1828) und Helmwing’3 (1833), beide Kinder ernften und eindringenden kritiſchen Studiums, beide etwas ſchwerfällig gearbeitet, für größere Kreife nicht an ziehbend, aber dem wiſſenſchaftlichen Studium preußifcher Geſchichte lohnend und gewinnreih. Helwing hat dabei auch die inneren Verhältniſſe ernfthaft genommen, die fo leicht der Tummelplag oberflächlicher Behauptungen und tendenztöfer Phraſen zu fein pflegen. Mit Unrecht find die genannten beiden Bücher durch das Werk von Stenzel in den Hintergrund gedrängt worden.

Wie das große Unternehmen ded Buchhändlers Perthes, die Sammlung europäifcher Staatengefchichten überhaupt, fo ift auch die Preußifche Gefchichte Stenzel’3 für das Bedürfniß des größeren Leſepublikum beftimmt und be rechnet. Won 1830 bis 1854 find fünf Bände fertig geworden, welche bie 1763 reihen. Die einzelnen Theile find ſehr ungleihen Werthes: anfangs kaum mehr ala eine Compilation aus fremden Arbeiten, beruht das jpätere auf eigenen felbftändigen Studien. Der erfte Band erzählt ſynchroniſtiſch die Geſchichte der einzelnen Theile der jpäteren preußifchen Monarchie, „ein Rotpourri pommerfcher, fchlefifcher, preußifcher und polnifcher und Gott weiß! noch welcher Provinzialgefhichten.“ Stenzel folgt dem offenbar unrichtigen Ge danken, die Gefchichten aller derjenigen Ränder, die nachher den preußiſchen Staat gebildet haben, nebeneinander zu erzählen, ftatt aus der Gefchichte der Mark Brandenburg den brandenburgiichpreußiichen Staat zu entwideln. So hoch man auch immer das anfchlagen mag, was Preußen und die Rheinlande und noch fpäter Schlefien für das Ganze ded Staates geworden find, es bleibt doch eine ſchiefe Auffaffung, wenn nicht von vornherein feftgehalten wird, daß Wiege und Fundament unfere® Staates Brandenburg gewefen ift. Wer aber

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in die Borgefhichte Preußens eine falfhe Dispofition hineinbringt, verfehlt den hiſtoriſchen Grundgedanfen und erfchwert das Verſtändniß der Beziehungen, in welchen die Theile zum Ganzen jtehen.

Die zwei nächſten Bände umfaffen die Gefhichte de8 Jahrhunderts von 1640 bis 1740. Man fann fagen, bier findet fih das Bild firirt, das der patriotifch gefinnte, mäßig unterrichtete, nach biftorifcher Bildung ftrebende Liberalismus der vormärzlichen Fahre fih von preußifcher Gefchichte gemacht bat: die populäre Karrifatur. Friedrich Wilhelm's I. als des Despoten in feiner Familie und feinem Staate wird und ohne jede Fritifche Prüfung der Ueberlieferung, durch die fie getragen ift, als wirkliche Geſchichte vor- geführt: von der Bedeutung diefed greßen Organifators in Preußen bat der Autor feine Ahnung, für einen fo eigenartigen Charakter fein Berftändniß. Grade weil man fich vielfah für die Jahre 1688—1740 veranlaßt flieht, Stenzel's Buch ald das maßgebende zu behandeln, gerade deßhalb muß betont werden, daß diefer Abjchnitt bei ihm nicht auf eigenen Studien, nit auf eigenem Urtheile beruht. Dem Xobe, das 1842 Häuffer über Stenzel aus- gefprochen hat, wird Niemand mehr beipflichten können, der an hiftorifche Arbeit und hiſtoriſches Urtheil etwas ftrengere Forderungen erhebt; wie alle Melt fo fah auch Häuffer damald Preußen an mit den Augen des füddeutfchen Kiberalen, dem die Behauptung preußifcher Eigenart und die Hervorhebung preußijcher Verdienſte um die nationale Sache damald noch als „Borufjo- manie“ erfchien. in wirkliches PVerftändnig der inneren Entmwidelung Preußens ift bet Stenzel nicht zu finden; ja in den zwei letzten Bänden, die 1851 und 1854 erfchtenen und die Jahre 1740—1763 behandelten, ftellte er ſelbſt fih in Gegenfas zu der richtigeren wiſſenſchaftlicheren Behandlung preußifcher Gefchichte, welche damals ſchon verfucht worden war. Man follte e8 heute kaum für möglich erklären, daß damald (1851) bei einem Vergleich von Stenzel und Ranke felbft Häuffer fih auf die Seite des Erfteren ge ſchlagen.

Leopold von Ranke, der vor jetzt fünfzig Jahren ſeine kritiſchen Arbeiten zur Geſchichte des neueren Europa begonnen, hatte zwei Jahrzehnte hindurch faſt ausſchließlich das Reformationsjahrhundert als Hauptobjekt ſeiner Forſchung behandelt: der kritiſchen Behandlung und Beleuchtung hiſtoriſcher Quellen hatte er die neuen Bahnen gebrochen, dem archivaliſchen Studium cine bis dahin ganz ungewohnte Ausdehnung gegeben und in der Auffafjung der Hiftorifhen Ereigniffe und Perſonen dem Htitorifer eine eigen- thümliche neue Haltung angemwiefen: durch alles dies war er in der That der Meifter der biftorifchen Studien und der Führer der vielen in feiner Schule gebildeten Hiftorifer geworden. Auf der Höhe feiner fchaffenden Kraft an

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gelangt, widmete er nun den vaterländifchen Dingen feine Bemühungen: 1847 und 1848 erjchienen feine „Neun Bücher Preußifcher Gefchichte.“

Die Aufnahme epochemachender biftorifcher Werke durh das Publikum, dem fie zuerft zugehen, läßt fi Häufig ganz anderd an, ald die Werth ſchätzung, der diefelben Werke nachher zu begegnen gewohnt merden. Mer die erften kritiſchen Aeußerungen über die großen Geſchichtswerke Ranke's einmal durchmuftert, wird in ihnen auf ſtaunenswerthe Säte ftoßen: man würde vielleicht da8 Urtheil wagen dürfen, daß erft das legte Jahrzehnt an- gefangen, Ranke's Bedeutung annähernd richtig zu würdigen, ja daß fogar heute eine volle und ganze Werthſchätzung feiner großartigen Werke erft bei wenigen Perfonen ſich vorfindet. Damald war man an die Albernbeiten Rottecks und die draftifchen Aeußerungen Hiftorifchen Unverftandes, mit welchen Schloffer die Welt erfreuete, noch allzufehr gewohnt, ald dag man ſich dur Ranke's objectived Hiftorifches Weſen befriedigt gefühlt hätte. Ueber feine preußifche Gefchichte war man ziemlich einig im Urtheile eine beftellte „Hofhiltoriographie* (Ranke war zum preußifchen Hiftoriographen ernannt worden), eine „ſchönfärbende Künftelei“ betitelten die einfichtigeren und ſach— verftändigen Kritiker fein Werk: es bedarf faum einer längeren Ausführung, wie die Stimmen der gewöhnlichen Mubliciftif ihn mitnahmen! Weber das legtere darf man fi doch nicht allzufehr wundern. Ranke's Buch fällt ja gerade in eine Zeit, in welcher die gebildete Welt, unbefriedigt und geärgert durch die politifchen Erperimente des preußifchen Königs Friedrich Wilhelm’s IV., jenes Fürften, dem der mildefte hiftorifche Beurtheiler nicht viel angenehmes wird nahrühmen Fönnen, zu nicht® weniger geftimmt war al® zu einer vor- urtheilöfreien Unerfennung des preußifchen Königthumed. Unbeirrt von diefer Strömung der Tagesmeinung, feste Ranke in lichtvoller, alle Seiten des hiſtoriſchen Lebens beleushtender Erörterung die fundamentalen Reiftungen der preußifchen Könige auseinander: fharf und blank fam bei ihm die That fahe zum Ausdrud, daß der preußifche Staat eine Schöpfung feiner Könige tft, ein Urtheil, da8 heute nur die bodenlofefte Unmiffenheit noch beftreiten fönnte, das damald zuerft von Ranke in fo beftimmter Wetfe und in fo weitem Umfang aufgeftellt wurde, Ranke hatte dann die Anfänge Friedrich’ IL In ihrer fo blendenden Virtuoſität aus neuem Stoffe mit neuen Thatfachen gemalt, in einer Zeichnung, die wohl kaum viele Verbefferungen nod er warten dürfte.

Es hieße Wafler ind Meer fhöpfen, wenn man heute die Forfhung Ranke's als eine miljenfchaftliche erft befonder8 preifen wollte. Damals flüchtete fi der Uerger über feine Nefultate hinter die Bemängelung feiner Studien ald ungründlih und eilig gleichfam allein ad hoc gemachter. Aller: dings bei allem Licht bietet und feine preußifche Gefchichte auch Schatten. Auf

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ein paar Seiten drängt fi die ganze Gefchichte bis 1688 zufammen ; felbft König Friedrich Wilhelm I. wird mehr beurtheilt als dargeftellt: was fo oft bei Ranfe unbequem tft, feine offenfundige Abneigung befannted zu er- zählen, oft erzählted zu wiederholen, das ftört hier in ganz befonderer Weife den LXefer; bier wird viel, ja zu viel als befannt voraudgefegt; und die Darftellung erhält dadurd etwas zerriffenes, unfertiged, fragmentariiches ; es rächt ſich felbit bei Ranke, wenn er ausſchließlich für die Kenner preußifcher Geſchichte zu fehreiben magt.

Immerhin war hier der Zufammenhang preußifcher und deutfher Ge ſchichte in einer neuen Weife gezeigt, e8 waren die charakteriftifhen Momente preußifcher Entwidlung mit fiherem Griffe aud der Maſſe der Thatfachen bervorgeholt, ed war das perfönliche Verhältnig und die innere Bedeutung der drei großen Megierungen ded großen Kurfürften, Friedrich Wilhelm’s I. und Friedrich's II. mit feften Zügen gezeichnet: der eigentliche Inhalt, die biftorifche Idee diefer preußifchen Geſchichte war aufgededt. Es galt dies neue Licht meiterhin auf alle Theile der Gefchichte zu werfen, die Skizze Ranke's zu einem dad ganze Leben wiedergebenden Bilde auszuführen.

Wie gefagt, ald das Buch erfchien, verhielt man meiften® ihm gegenüber fih ablehnend. Ranke's kühle und vornehme Zurüdhaltung, feine unbefangene Anerkennung ded Königthums mußten damals ihn ald Gegner der Wünfche des Jahres 1848 darftellen. Ohne großen Eindrud von dem Werke empfan- gen zu haben ging die öffentliche Meinung an ihm vorüber.

Die Hoffnungen, welche deutfche und preußifche Patrioten damald 1848 und 1849 über die deutfche und preußiihe Zukunft gehegt, waren bald zer- ronnen: die liberalen und nationalen Parteien hatten ihr Ziel nicht erreicht. Entmuthigung und Abſpannung bemädtigte ſich dann der Geifter. Aber grade In der Zeit des. heftigften politifhen Katzenjammers der nationalen Partei, grade in der traurigiten Periode politifcher Erbärmlichkeit in Preußen, im Sabre 1855 trat Einer der Vorkämpfer unferer nationalen Wünfche und Hoffnungen von 1848 mit einem groß und gewaltig angelegten hiſtoriſchen Werke über Preußen auf, das mie eine biftorifche Nechtfertigung aller ge- begten Ideale und mie ein prophetifche® Troſtwort auf eine befjere Zukunft audfah, mir meinen die Gefhihte der preufifhen Politik von 3. G. Droyfen. Bon den Anfängen der Mark, von den Ahnherren des Zollernfhen Haufe® an unternimmt diefer Autor es die deutfche Politik Brandenburg-Preußend nachzumeifen: mas 1848 die Frankfurter Kaiferpartei erftrebt, wurde ald das traditionelle Programm preußifcher Geſchichte und preußifcher Politik gezeigt. Eine Erfriſchung gelunfener Hoffnungen, eine Belebung erfterbender Wünſche wurde hier den Baterlandöfreunden darge reicht. Und es war nicht ein politifched Pamphlet, nicht eine Tetchte, ſchnell

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zu verwehende Broſchure, fondern ein Werk folider und maffiver Gelehrfam- keit, nicht eine Frucht augenblicklicher Laune, fondern dad Reſultat langer und mühfamer Studien. Die Gefchichte unfrer nationalen Entmwidlung in den beiden letzten Jahrzehnten läßt fich nicht verftehen, wenn man von Droyſen's preupifcher Politik abfehen wollte!

Doch das ift feine Wirfung auf das öffentliche Leben unferer Zeit. Rrüfen wir feinen wiſſenſchaftlichen Charafter.

Zuerft iſt darauf hinzumeifen, daß Droyſen nicht eine preußifche Gefchichte, fondern eine Geſchichte der preußifchen Politik fchreibt, und in hervorragender Ausdehnung nur die auswärtige Politik behandelt; ja wenn man genauer binfieht, beſchränkt Droyſen's Thema fih noch enger auf die deutfche Politik Preußens: was der preußiſche Staat für die nationalen Aufgaben und Be ftrebungen Deutſchlands geleitet, das im Cinzelnen binzuftellen und die ein« zelnen Thatſachen und Erſcheinungen des hiſtoriſchen Lebens ala Glieder einer zujammenbängenden Kette, ala Aeußerungen eined bleivend und einbeitlich gedachten naronalen Programms aufzjumeijen ift die leitende Idee feiner Ar beit. Große Mühe und viele Studien hat er aufgewendet, in der früheren Geſchichte bis 1640 die einzelnen Anſätze diefer Richtung aufzufpüren und als ſolche zu beleuchten, dem Zeitraum, den man ala die Vorgefchichte des preußifchen Staate® verftehen und anfehen muß, hat er allein drei Bände gewidmet. Das ift nicht nur ein Fehler der Fünftlerifchen Gompofition, fondern auch ein Fehler des Hiftorifhen Gedankens felbft: man Fann nicht von einer conftanten traditionellen preußifchen Politik reden für eine Epoche, in der dad noch gar nicht vorhanden ift, was man den preußifchen Staat nennt. Es wird bereitwillig zugegeben und gern anerfannt werden müflen, daß diefe erften Bände Droyien’d für die deutfche Gefchichte des 15. Jahr hunderts fehr ſchätzenswerthe Refultate enthalten oder doch den Studien über died. Gebiet erfreuliche Anregungen bringen; auch für da® 16. Jahrhundert fann man mandyed aus Droyfen lernen. Aber die preußifche Gefchichte gehen diefe Dinge nicht viel an; ja fie rufen fehr leicht und fehr oft eine faljche Auf fallung der Thatfachen brandenburgifcher Gefchichte hervor. Das was fpäter bin den Brandenburgern eigenthümlich gewefen, wird bier in die frühere Zeit bineingetragen: PBerfonen und Greignifje früherer Epochen erhalten ein Richt über fi ausgegoſſen, da® nichts andere ald der Refler der fpäteren Dinge it. So wird eine objective und ruhige Erwägung die Glorificirung des Kurfürften Friedrich I. ald eine einfeitige Betrachtung auf ein anderes Ur theil ermäßigen, die Bewunderung Albrecht Achilles’ als ganz unmotivirt, die

Joachim I. beigelegte höhere Bedeutung ald eine ungerechtfertigte Weber-

ſchätzung bezeichnen müflen: im 15. und 16. Jahrhundert fpielt weder in: der deutſchen noch in der allgemeinen Gejchichte Brandenburg die Rolle, die

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Droyfen ihm zuweiſt. In die legten Jahre des 16. und in den Anfang des 17. Jahrhunderts erjt Fällt die aufdämmernde Ahnung einer neuen Zukunft diefed Landes, Für den allgemeinen Standpunkt Droyfen’® märe es befler gewefen, wenn er nicht 3 Bände, fondern höchſtens 300 Seiten diefer Bor» bereitung ſeines Hauptwerkes gewidmet.

Mit dem großen Kurfüriten beginnt der preußifche Staat: eine fpeziftih preußifche Politik ift erft durch ihn ind Leben gerufen. Bei diefem Abfchnitt erbreitert fi) Droyfen’3 Darstellung noch um ein bedeutendes. Sein bleibendes Verdienst ruht in den Forfchungen über das erjte Jahrhundert der eigentlich preußiichen Staatögefchichte. Won 1640 bis 1740 reichen fech® Bände; die Jahre 1740 1742 umfaßt der jüngit erfchienene Theil. Die Darftellung ded großen Kurfürften in 3 Bänden iſt eine monumentale Keiftung Mit ausgedehntefter Benutzung der gedrudten Literatur verbindet fi eine raftlos unermüdliche Korfhung in Archivalien. Sorgfältiged und eingehendes Detatl- ſtudium des Berliner Archives ift das charakteriftifhe Merkmal Droyfen’s: auf den Aktenſtücken des preußifchen Staatdarchived, auf den ächteften unver fälichteiten und ficherften Zeugniffen, welche die preußifche Politik und Diplo: matie und Verwaltung von fich felbit hinterlaffen, beruht alles, was wir in diefen fieben Bänden lejen.

Es ift eine Arbeit hier angehäuft, die nicht Leicht Jemand in diefer Weife unternimmt und in diefem Umfange durchführt.

Droyfen’d Studium hat fich im weſentlichen felbft die Beſchränkung auf das Berliner Archiv gefeßt; er zieht nicht fremde Archive zur Controle und Ergänzung Hinzu. Died Verfahren aber beruht auf freiem Entſchluſſe des Forſchers; er folgt dabei einer feften Methode und einem eigenen Eritifchen Gedanken. Droyſen entwidelt vornämlich den Inhalt der preußiſchen Staats- papiere; er fpiegelt in feinem Buche die Auffaffung der Welt wieder, mie fie den preußifchen Staatdmännern während ihrer politifchen Arbeit fich darge ftellt hat; er fchildert die Mechfelbeziehungen und Verflechtungen preußifcher mit öfterreichtihen, franzöfifchen, englifchen Dingen, aber er bleibt dabei ab⸗ bängig von der Auffafiung, mie fie im Lauf der Gefhäfte die preußifchen Politiker gehabt haben. Recht oft würden diefelben Dinge, von franzöfifcher oder englifcher oder döfterreichifcher Seite aus angefehen, eine ganz andere Farbe oder Geitalt annehmen. Gewiß ift es für den politifhen Praktiker ein unerläßliche8 Geſetz, nur von feinem Standpunfte aus die Ereigniffe zu fehen und zu beurtheilen; und auch dem Hiftorifer mag es geftattet fein, auf diefen Standpunkt eines beftimmten politifhen Praftifer® zu treten und mit deffien Augen die politifhe Welt zu fehen. Der methodifhe Standpunft Droyſen's ift ald ein berechtigter ficher zuzugeben; die Gefchichte eine® mäch—

tigen Staates oder einer Fräftigen Nation zieht aus ſolchem der ihr Grenzboten IV. 1874.

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eigener ift, ganz beſonders wirkſame Säfte und Kräfte: Ton und farbe der ganzen Darftellung wird und bleibt eine nationale Schöpfung: fo manche nationale Eigenſchaft und Beftrebung wird nur von dem Geifte der eigenen Nation und aus dem Geifte derfelben begriffen und verftanden. Droyſen's Methode Fechten wir nicht in ihrer Berechtigung an; wohl aber behaupten wir, daß fie nicht die einzig berechtigte fei: die univerfale Auffaffung, die es veriteht von verjchiedenen Standpunften aus eine Sache zu ſehen und aus dem Zufammenmirfen der vielfeitigen Bilder dad Endrefultat und Endurtheil zu geminnen, fie ift nicht nur neben der Droyſen'ſchen Weife berechtigt, fondern fie hat auch den Vorrang vor ihr zu behaupten.

Eine andere Eigenthümlichkeit Droyſen's ift neuerdings wiederholt be merkt worden. Seine Erzählung ift bemüht, fi möglichſt genau dem aften- mäßigen Verlaufe der Greigniffe anzuſchließen; er gebt jeder Windung und Biegung feiner Straße gemwiffenhaft nad, von Monat zu Monat, oft von Zag zu Tag begleitet er jede Eleine Abwandlung, welde die politifchen Ge ihäfte durchmachen, mit aufmerkffamer Weder. Alfo beachtet er nicht immer die Grenzlinie, die das Gefchäft von der Gefchichte fcheidet. Bei befonderd wichtigen Gelegenheiten ift es natürlich jedes Hiſtorikers Beftreben, möglichſt ing Detail der Hiftorifhen Vorgänge zu dringen; aber durchgehends diefe minutiöfe tagebuchartige Erzählung feſtzuhalten ift ebenfo ermüdend ala «8 von dem eigentlichen Verftändniffe der Gefchichte ableitet. Des Hiftorikers Sade ift ed aus dem unabfehbaren Meere der täglich vor ſich gehenden That- jahen das zu wählen, was wirklich Gefchichte ift: nicht alles was gefchieht, ift deßhalb auch Geſchichte. Aus der Fülle ſeines Materiald theilt Droyfen oft zu viel mit, fein Leſer verliert die Straße, die er wandeln fol: er geht unter bei allen den auf ihn einftürmenden Eindrüden und Gefihtäpunften und Erwägungen.

Droyſen's Darftellung des großen Kurfürften ift von mehreren Htitorifern der Vorwurf gemacht worden, daß bei feiner Betonung der „Politik“ die Perſönlichkeit ded Kurfürften nicht zu vollem Ausdrude gelangt. Diefer Einwand ift nicht unbegründet. Von dem perfönlichen Antheil des Herrſchers und feiner einzelnen Staatäminifter ift weniger die Rede, ala es fein Fönnte. Auch die ganze Originalität der Perſon Friedrich Wilhelm’ I. zeigt er und nit. Dagegen werben felbft jene Kritiker zugeben müfjen, daß Friedrich's I. perfönlihe Figur und Weſen zu zeichnen von Droyſen nicht verfchmäht worden ift.

Die auswärtige Politik ift, wie gefagt, der Hauptinhalt dieſes Werkes: auf diefem Gebiete hat Droyfen das Verdienft, ganze Abſchnitte neu gejchaffen, ganze Kapitel preußifcher Gefchichte neu entdeckt zu Haben. Und menn er auch bisweilen die inneren Verhältniffe berührt, fo erregt doch grade fein

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Merk dad Verlangen nad einer ähnlichen Arbeit archivalifchen Fleißes über preußifche Berfaffung und Verwaltung und preußiſches Rechtsleben. Noch nicht zu Ende geführt ift dies Unternehmen wahrhaft großartiger Studien; die eigentliche Glanzzeit preußifcher Diplomatie, die Heldenepoche des großen Königs, ift nur erft eben eröffnet: mit Spannung fieht man der Fortſetzung entgegen.

Und nun, nachdem Droyfen da® Jahr 1740 erreicht hatte, in welchem früher Ranke's preußiſche Geſchichte erſt zu eigentlicher Darftellung ausgeholt hatte, hat auch der Altmeiſter ſelbſt noch einmal ſeine frühere Leiſtung einer erweiternden Umarbeitung unterzogen. In einer neuen Ausgabe wurden aus den früheren neun jetzt zwölf Bücher. Die wichtigen Momente, welche die Geneſis des preußiſchen Staates bewirkt haben, wünſchte Ranke, man kann nicht ſagen, in Rivalität oder im Gegenſatze zu Droyſen, wohl aber neben Droyſen in ſeiner Weiſe noch einmal etwas genauer darzu— legen. So iſt ein ſehr intereſſantes und geiſtvolles Buch entſtanden. Auch jetzt erzählt Ranke nicht den hiſtoriſchen Verlauf, er erörtert vielmehr die hervorſtehenden und maßgebenden Punkte desſelben. Er benutzt ſelbſtverſtändlich das, was Droyſen mittlerweile geboten; er ergänzt manches aus eigenen Studien; er bemüht ſich neben der preußiſchen Anſchauung der preußiſchen Staatspapiere auch von anderen Stellen her Erläuterungen und Aufklärungen herbeizuſchaffen. Da er ſich nicht auf die äußeren Verhältniſſe beſchränkt, gelingt es ihm meiſtens mit ſeiner allſeitigen Betrachtung und ſeiner mehr— ſeitigen Erwägung das Nebeneinander und Ineinander der einzelnen Faktoren ſehr gut zur Anſchauung zu bringen. Irren wir nicht, ſo wird dieſe Neu— bearbeitung der preußiſchen Geſchichte durch Ranke leichter und dauernder die Schaaren der Leſer um ſich verſammeln, als dies bisher Droyſen möglich ges weſen iſt. Aber will man dem letzteren damit nicht Unrecht thun, ſo muß man ſtets feſthalten, daß es für einen erfahrenen Hiſtoriker großen Stiles immer leichter iſt, in kurzen Zuſammenfaſſungen die Verkettungen des hiſto— riſchen Lebens anſchaulich zu machen, als in detaillirt ausgeführtem Bilde der wechſelnden Ereigniſſe die hiſtoriſchen Richtwege in jedem Augenblicke durchſcheinen zu laſſen.

Die Auffaſſung preußiſcher Geſchichte im Großen und Ganzen gelangt bei Ranke und Droyſen zu denſelben Ergebniſſen: im einzelnen weichen ſie wohl ab. Doch muß man hier ſagen, daß wo Detailausführungen der Beiden nebeneinander vorliegen, z. B. betreffs 1740—1742, Droyſen eine Beſtätigung gebracht deſſen, was Ranke vor jetzt 27 Jahren geſchaffen.

Droyſen's ganze Seele iſt mit der preußiſchen Politik verwachſen. Ranke äußert nicht fo entſchieden feine eigene Meinung; bet allen feinen preußiſchen Sympathien beftrebt er fich, über den patriotifchen Gefühlen zu ftehen und

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in ganz. objeftiver Haltung Preußen? Eonflifte mit äußeren und inneren Gegnern zu erzählen. Diefer Unterfchied ded Temperamentes tritt in manchen Stellen auch beftimmend für ihr Urtheil auf. Es ift fiber, Ranke's Ent- widelung der Stellung von Preußen zu Defterreich ift von einer recht ver« jöhnlichen Tendenz durchhaucht. Droyſen's Buch athmet den entjchiedenften Gegenfag ded Preußen gegen das Haus Hababurg und trägt Feine Scheu jenen unauelöfchlichen Haß, den der Preuße gegen den Deftreicher eben megen der früheren Vorfälle zwifchen beiden immer haben fol, offen zu befennen. Bei diefer dur das Ganze ſich Hindurchziehenden Differenz der Auffafjung wird man geftehen dürfen, daß die Gefchichte des letzten Jahrhunderts bei Droyſen beffer ald bei Ranke vorbereitet if. Und damit hängt ein Anderes zufammen. Der preußifche Staat war in der Periode feined Gmporfteigend von zwei Nachbaren arg bedrängt und bedrüdt, von Sadfen und von Hannover; von dem letteren wurde er auf Schritt und Tritt gehemmt und hicanirt, ganz befonder® feit der Kurfürft von Hannover die englifche Krone trug. Ranke ſchwächt auch diefen Gegenſatz der Zollern und der Welfen ab; bei ibm empfängt die mwelfifche Ränkeſucht der Hannoveraner nicht das ihr zu- fommende Licht. Droyſen's Tebhaftered, weil erclufivere® Gefühl für den preußifchen Staat verdient in diefen und ähnlichen Fällen unfered Erachtens den Vorzug vor jener objeftiveren und fühlen Auffafjung Ranke's.

Wie immer, fo hat Ranke auch diesmal feine ganze Meifterfchaft gezeigt in der Fünftlerifchen Geitaltung und Abrundung. Die Dispofition des Stoffes ift, wie wir bei ihm gewohnt find, ein Meifterftüd, Sprache und Stil find plaftifh wie immer. Damit hält Droyfen keineswegs gleichen Schritt. Schon die Anordnung des Ganzen läßt erhebliched zu münfchen, und der nervöfe unruhige Vortrag geftattet ebenfalla feltener, als man wünſchen möchte, dem Lefer zu ruhigem Genufje zu fommen,

Alles in Allem, bei einem Vergleiche der beiden großen Geſchichtswerke, und man liebt es ja von alteräher derartige Vergleiche anzuftellen und man ift in der That dur manches in diefem alle zu Vergleichen heraus— gefordert, wird man fich geftehen, daß fie in merfwürdiger Art einander ergänzen und ablöfen. Ein jedes will nad) feinen Abfichten verftanden und beurtheilt werden; einem jeden eignen Vorzüge, die das andere nicht oder doch nit in dem Umfange hat. Und wenn man durchaus die Frage beantwortet haben wollte, weldyem von beiden der größere Preis zuzufprechen fein würde, fo würden mir mit dem befannten Worte unferes Dichterd antworten : „man folle fidy freuen, daß zwei folder Kerle nebeneinander da find!“

Neben diefen großen wiſſenſchaftlichen Gefammtdarftellungen befigen wir eine große Riteratur von Monographien, deren Reichthum und Mannichfaltig- feit au nur annähernd zu bezeichnen hier nicht möglich fit. Auch an po-

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pulären Büchern ift fein Mangel; freilich die Im letzter Zeit verfuchten aus— führliheren Gefchichtderzäblungen von Eofel und von Eberty müſſen als mißlungene Berfuche bezeichnet werden, dagegen dürfen mehrere Fürzere über. ſichtliche Abriffe als empfehlenöwerth gelten: wir zeichnen dad Buch von %. Voigt unter ihnen aud,

Bisher find nun ganz befonderd die äußeren Beziehungen Preußens zu feinen Nachbaren, zur europäifchen Politik, zur deutichen Nation erörtert und erforfcht worden. Weber den großen Kurfürften verbreiten neben Droyfen manche Eleinere Arbeiten noch ergänzendes Licht: auch die Akten und Ur funden diefer Zeit felbit hat man zu fammeln und zu druden unternommen. Für die Epoche Friedrich’8 des Großen fehlt und allerdings noch jeder Anſatz, die Aktenſchätze des Staatdarchives in ähnlicher Weife zu veröffentlichen; die Klagen über die unter der Aegide Friedrich Wilhelm's IV. erfchienene Aus gabe feiner Werke find leider nur zu fehr begründet. Dagegen haben, wie früher Preuß, fo Ranke, Schäfer, Mar Dunder u. A. fehr dankens— werthe Studien über Friedrich's auswärtige Politik ſchon geliefert; und die Bublifationen aus dem Wiener Archive, die wir Arneth und Beer vor danken , verbreiten auch über König Friedrich manche? neue Licht. Nicht fo günftig ftehen wir der Gejchichte der Freiheitäfriege gegenüber, jeder neue Schritt lehrt und, wie ungenügend und unzureichend dad Material gemefen, auf das Häuffer feine Erzählung gegründet. Diefe Periode wird von Grund aus neu aus dem archivalifchen Stoffe zu bearbeiten fein. Und mad die Jahre nach 1815 angeht, fo willen wir noch fehr wenig und fehr wenig Zufammenhängended. Aber auch über diefed unbekannte Land winkt ja die Hoffnung baldiger Auffchlüffe.

Was heute am meisten und am fohmerzlichften vermißt wird, ift eine Gefchichte der inneren Entwidelung, ed fehlt an einer gehörig begründeten Kenntniß der preußifchen Verwaltung. Alle Welt fpricht heute den Sag aus, daß durch feinen Beamtenftand Preußen das geworden ift, mad es heute ift: wer aber fennt die Gefchichte dieſes Beamtenftandes, feiner Einrichtungen und feiner Reiftungen? Auf diefem Felde tappen wir noch vollftändig im Finftern. Unfere Kenntniß fängt eben erft an vorbereitet und angebahnt zu werden: erft weniges wifjen wir über die ältere Zeit durch die Arbeiten von Kühne und Iſaacſohn; und die in allmählichem Erſcheinen begriffenen Studien von Schmoller über die Epoche Friedrih Wilhelm's I. harren nod der Vollendung und des Abſchluſſes. Gerade von Schmoller erhoffen und erwar— ten wir eine Gefchichte unjerer preußiihen Verwaltung und Verfaſſung, ein Werk, das allerdings erſt aus lange und emfig betriebenen Detailjtudien almäplih zufammenmwacjen fann. Wenn heute faft jeder brave Durchſchnitté— politifer den Mund vol nimmt von Robederhebungen über die Stein'ſchen

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Reformen und die großen Reiftungen ber ypreußifchen Geſetzgebung von 1807 1811, fo werden von diefen Lobrednern ebenfo mie von den junfer- liben Tadlern derjelben Dinge nur fehr wenige eine Ahnung davon haben, daß unfere Kenntniß diefer Reformepoche unfered Staated eine äußerſt lüden- bafte und zufammenhangslofe und einfeitige iſt: fo befchämend es Klingt, man muß diejen Sachverhalt eingeftehen und daraus die Ermahnung jhöpfen, möglichft fchnell und möglichſt gut Abhülfe zu fchaffen.

Mit vollem Rechte bezeichnen wir ed ala ein Ergebnif unferer hiftorifchen Erkenntniß, daß mir jegt wifjen, wie gerade durdy den Kampf mit den Rand» ftänden feiner verfchiedenen Territorien der große Kurfürft unferm Staate das Leben gegeben hat. Und doch wie gering ift unfere Kenntniß von dem Detail diefer Kämpfe, von den ftändiichen Einrichtungen überhaupt! So— eben bat Ranke als eine vor allem erforderliche Arbeit eine auf das ein zelne eingehende hiftorifhte Darftellung der Kandtagsverhandlungen bezeichnet, die wir bicher meder für die Mark Brandenburg no für das Herzogthum Preußen befiten; es wird nöthig fein, was von ftändifchen Papieren jener Jahrhunderte nody vorhanden ift, dem wiſſenſchaftlichen Publikum zugänglid zu madhen.*) Erſt wenn auch died Material vorliegt, wird man zu abjchlie Benden Refultaten gelangen Fönnen.

MWir würden im Stande fein, äbnliche Bemerkungen zu wiederholen über die Gefchichte unfere® Heeres, unfere® Gerichtsweſens, unferer Schulen; überall ift unfere Kenntniß eine lückenhafte. Ale diefe Lücken müflen audge füllt werden, ehe wir auf eine allen Anforderungen wiflenfchaftlicher Geſchichts— ſchreibung entjprechende preußiſche Gefhichte zählen dürfen. Bis dahin heißen wir jeden Beitrag zur Löſung diefer ſchwierigen Aufgaben gern willkommen.

Wilhelm Maurenbreder.

Die Heneraldirechion der Hächſ. Hfaatseifendahnen, das Aeihseifendahngefeß**) und das Yublikum.

In einer am 30. April d. 3. abgehaltenen Sitzung der zweiten Kammer wendete ſich der Abgeordnete Philipp in längerer Nede gegen die königliche

*) Der in der Provinz Preußen 1872 entftandene hiftorifche Verein bat mit vollem Rechte als feine erfte und mwichtigfte Aufgabe die Herausgabe der Preußifhen Ständeakte in Angriff genommen (noch früber ald die mahnenden Worte Ranke's vorlagen); durch ihn find ſchon zwei Lieferungen, von dem Gpmnafialdireftor Töppen in Marienwerder bearbeitet, zur Ausgabe gebracht (bei Dunder & Humblot in Leipzig). Aus der Provinz Brandenburg wiſſen wir ähm liches bis jept nicht zu vermelden.

) Der in der nachftehenden actenmäßigen Darftellung enthaltene ungewöhnliche Borfall

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Generaldirection der fähfifhen Staatäeifenbahnen, wies tadelnd auf das in derfelben „fo außerordentlich überwiegend juriftifche Element“ und „die von dort aus ergebenden theilmeife geradezu unbegreiflichen Verordnungen“ hin und log mit der Mahnung, „man möge fih vor allen Dingen hüten, daß, mie ed jest fcheint, ein gewiffer junferliher, fporenElirrender Ton in der Öeneraldirection wiederklingt.“

Unter dem Ausëdruck feine? Bedauernd über diefe „ziemlich ftarfen An— griffe“ entgegnete hierauf der Staatöminifter v. riefen u. a. wörtlih: „Ich fann aus meiner Erfahrung feit der Zeit, wo die Generaldirection eingerichtet wurde, verfihern, daß fie ihre Pflicht mit großer Gemwiffenhaftigfeit erfüllt und wefentlich dazu beigetragen hat, unfere Eifenbahnen auf den Standpunkt zu bringen, auf dem fie fich gegenwärtig befinden. Ich Tann nur wiederholen, daß die Generaldirection fih, wie ih hoffe, im Lande und aud im Auslande allgemeine Ahtung und Anerkennung erworben hat und daß es doch wirklich nicht ganz gerechtfertigt ift, wenn man wegen einzelner Borfommniffe, wenn nämlich vielleicht hie und da einmal ein Eleined Verfehen vorgefommen tft, ein ſolches allgemeine® Urtheil ausfpricht.” Wenn ein Lenker des Staates in einer Rede vor der Volfävertretung bekundet, daß er fich über die Öffentlihe Meinung ded Landes in einem Irrthume be findet, der Teicht dadurch folgenfchwer werden kann, daß er nothwendige Re— formen hindert oder erfchwert, dann ift es Pflicht jedes Staatsbürger, der fih Hierzu befähigt fühlt, aufflärend und berichtigend feine Stimme zu er heben. Diejer Pflicht wünfchte ih durch die nachftehende Veröffentlihung zu genügen, aus welcher fi ergeben wird, daß die Hoffnung des Heren Minifterg, fo weit fie fi auf das Inland bezieht, vor der Hand eben nur eine Hoffnung tft.

Am 3. Juli v. 3. richtete ih an die kgl. Generaldirection der fächfifchen Staatdeifenbahnen folgende Beichwerde:

„Geſtern, Mittwoch d. 2. Juli Fehrte ich mit einem hiefigen Vereine in einem Wagen dritter Klaſſe ded 8 U. 30 M. Abends von Tharand abgehen: den Zuged nach Dresden zurüd. Unterwegs ftiegen in ein vorher leeres

follte im letzten Landtage zur Sprache gebracht werden. Das Talent der Regierung, ſich dur einen plöglichen Landtagsſchluß der öffentlichen Erörterung dieſes Falles und anderer ihr gleich falls nicht zum höchſten Ruhme gereichender Vorgänge zu entziehen, verdient unzweifelhaft hohe Anerkennung. Geit dem rafhen Schluß der Stände im Juni 1866 ift eine foldhe Uebung biefes Talentes nicht mehr erlebt worden. Dadurh find von felbft die für den Landhausfaal in Dreöden in Ausficht genommenen Erörterungen vor das forum der deulfchen Preife gedrängt worden. Das gilt namentlich von denjenigen Fällen, über welche nicht der biedere Sächſiſche Landtag, fondern der Deutfhe Reichstag in letzter Inſtanz zu entfcheiden hat, da hierbei eine fagen wir eigenthümliche Auslegung von NReichögefeken in Frage fommt. Dahin ges bört unfered Etachtens der vorliegende Fall, dahin die fogenannte Amtöblattfrage. Und deß— balb hielten wir und verpflichtet, diefe fcheinbar rein perfönliche, in Wahrheit aber durchaus öffentliche und das ganze Reich intereffirende Angelegenheit hier mitzutheilen. D. Red,

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Coupe desfelben Wagen? mehrere Berfonen ein, von denen fi ein Mann in höchſt anitößiger Weiſe bemerkflich machte. Als ihn fein unanjtändiges Bes nehmen gegen eine mitfahrende Dame von feinem Nachbar, einem älteren Herrn, verwiefen wurde, wendete er fi voll Erbitterung gegen denjelben, drängte ihn in die Ede und infultirte ihn während der ganzen übrigen Fahrt, indem er u. a. äußerte: „Wenn Ste ein junger Kerl wären, hätte id Sie ſchon längſt an die Wand geſchmiſſen und Ihnen ein Paar in die ge— geben.“ Da der alte Herr, der ihm oft mit Anzeige gedroht, offenbar aus Furcht vor Thätlichkeiten ſich nicht mehr zu rühren wagte, hielten meine Meifegefährten und ich es für unfere Pflicht, un desſelben anzunehmen und beichlofjen, den Greedenten bei der Ankunft in Dresden arretiren zu laflen. Sobald der Zug ftand, ſetzte ich den Schaffner von unjerm Vorhaben in Kenntniß und bat ihn, und einen Poliziften zu beforgen. Der Schaffner fagte, daß er das betreffende Coupe nicht Öffnen werde und daß wir und um daöfelbe ftellen möchten, im Uebrigen verwied er mich an einen den Perton daherfommenden, dur ein rothed Behänge EFenntlichen Beamten. Während ih mich an diefen wendete, öffneten die Inſaſſen das betreffende Coupe und ftiegen aud. Indeß einige meiner Freunde dem bewußten Ercedenten möglichſt zur Seite blieben, jagte ich jenem Beamten, daß wir den vor und gehenden Mann, den ich ihm bezeichnete, verhaften zu laſſen wünfchten, und bat ihn bei der Dringlichfeit der Sahe um feinen Beiftand und um Nachweiſung eines Poliziften. Indem er nicht die geringfte Neigung-zeigte, und zu unter ftügen, ermwiderte er: „Sie wollen jemand arretiren laffen? Weswegen wollen Sie ihn denn arretiren laſſen?“ Ach antwortete, daß ich Alles vertreten würde und eine ganze Anzahl Zeugen für das unanftändige Gebahren jenes Mannes hatte, worauf er, ohne feine Schritte zu befchleunigen, verjegte: „Da halten Ste ihn nur feſt!“ Da wir auf dem von vielen Menfchen gefüllten Perron das nit wagen durften, ohne die ernfteften Gonflicte für und be fürdhten zu müffen, bat ich ihm wiederholt um feinen Beiftand, erhielt aber nur die Antwort: „Was geht da8 mid an? Da müflen Sie fih an den wenden.“ (Hier nannte er einen Beamten ded Zuges, wenn tch nicht ganj irre, den Zugführer, was, wie ich nachher erfuhr, er felbft war.) Er ging dabei, mit anderen Reuten plaudernd, möglichſt langfam den Perron entlang und gab auf meine Borftellungen barfche und nicht zur Sache gehörige Ant- worten, ja er hielt ed nicht einmal der Mühe werth, mir zu jagen, mo id einen Genddarmen finden könne. Nachdem ich vergeblih auf dem Perron einen ſolchen gefucht, fand ich endlich einen Poliziſten nahe der Treppe, wo die Droſchkenmarken ausgegeben werden, aber mittlerweile war es dem Gr denten, dem meine Freunde im Gedränge nicht mehr zur Seite bleiben Eonnten, gelungen, durch einen Nebenaudgang zu entkommen. In unferer ganzen Gr

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jellfehaft herrfchte nur eine Stimme darüber, daß die Hauptfhuld Hiervon den gedachten Bahnbeamten treffe. Als derjelbe und nahe am Ausgange einholte, fagte ich ihm, daß ich mich morgen über ihn befchweren würde. Der Mann, welcher bis dahin unhöflich geweien war, wurde jest gradezu grob, er hielt an das Publikum, das ſich auf dem Plake vor der Billetausgabe angefammelt hatte, laute Reden über den Vorgang, fuchte mich dabei lächerlich zu machen und die Sache jetzt fo darzustellen, als ob wir feine Intervention nicht recht: zeitig und in der rechten Weife angerufen hätten, während er früher gethan hatte, ala ob ihn die ganze Angelegenheit nicht? angehe. Er äußerte u. a.; „da fagen Sie, Sie wollen jemand arretiren lajjen und als ich dazufomme, Aft der fort" (während er doch fichtlich fein Dazukommen fo ange verzögert hatte). „Sch muß doch erft willen, weswegen Ste ihn wollen arretiren laffen.” Zweimal fagte er zu mir: „Sie denken wohl, ich bin Ihr dummer Schul. junge?" Da id nicht Luſt hatte, mich weiter infultiren zu laffen, verlangte ih das Beſchwerdebuch. Er verweigerte mir die Vorlegung desfelben mit den Morten: „Sch habe weiter nicht? mit Ihnen zu reden.” Als ich hierauf den PBoliziften fragte, wer diefer Beamte fei, wollte er demjelben die Beant- wortung diefer Frage mit den Worten verbieten: „Sagen Sie es nicht!“ Trogdem theilte mir der Poliziſt mit, daß ed der „zugführende Oberfchaffner des Tharander Zuges" ſei. Bald nachher, während wir noch in der Nähe waren, erging er fich gegen den Genddarmen in lauten Reden über den Vor- fall und fagte u. a.: „Ich denke, der Herr iſt befoffen.“

Auf Grund diefer Thatjachen erfuchte ich fchließlich die kgl. Generals direetion, den mehrerwähnten Beamten zur Verantwortung zu ziehen, indem ih die Hoffnung ausſprach, daß es derjelben „gewiß nicht gleichgiltig fein werde, wenn auf den ihr unterftehenden Bahnen Anftand und Sitte von Reifenden offen verlegt wird, und andere Reijende, welche gegen derartiges Unmefen auf gefeglihem Wege einfchreiten wollen, bei dem Beamten, der ihnen vom Schaffner ala competent bezeichnet wird, keinerlei Unterftüsung finden, ja vielmehr von demfelben in fchroffer Form zurückgewieſen werden und für ihren guten Willen nur Aerger und Beleidigungen ernten. Für den Tal, daß jener Beamte eine der von mir angeführten Thatſachen Teugnen follte, bat ich die Tal. Generaldirection, ihn mit mir zu confrontiren, und machte ald Zeugen für die Wahrheit meiner Angaben den Seeretär der Dresdner Handelöfammer und drei Gymnafialoberlehrer namhaft. Endlich erlaubte ich mir, der Generaldirection die Frage zur Erwägung anheimzu- geben, ob es fih nit, um die Wiederholung derartiger Vorgänge zu ver meiden, empfehlen dürfte, bei Ankunft der Züge einen Genädarm auf dem Perron aufzuftelen. Auf diefes Schreiben erhielt ich am 27. Juli (alfo

nad) länger ald 3 Wochen) folgende vom 23. Juli datirte Antwort: „Auf Grenzboten IV. 1874, 58

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Ihre Beſchwerde vom 3. d. M. erwidern wir nad den angeitellten Erörte rungen Folgended: Wenn Sie fihb am 2. d. M. an den Padmeifter ©. mit dem Erfuchen gewendet haben, Ihnen einen Polizeibeamten zu verfchaffen und dadurch zur Arretur eined Meifenden behilflih zu fein, der genannte Beamte ſich aber nicht fofort willfährig gezeigt hat, fo bedauern wir, nad dem wir Ihre Darftellung gelefen, zwar, daß G. Ihnen nicht mehr zu Willen gewefen ift, noch Sie fofort an den bei Ankunft und bei Abgang jedes Zug auf dem Perron anmefenden, an einer rothen Müse Eenntlichen Vertreter der Bahnhofsinfpection, zu deſſen Obliegenheiten das Schlichten unter Paſſagieren audgebrochener Differenzen gehört, gemwiefen bat, Fönnen aber dem Erfteren feinen befondern Vorwurf machen, well er im Momente der Ankunft des Zugs durd) feine Dienitgefchäfte ftarf in Anfprudh genommen, übrigens aber auch gar nicht in der Rage war, zu erfennen, worauf der von einem Paſſagier ausgeſprochene Wunfch auf Verhaftung des anderen beruhte, Diefer Beamte hat zu Protokoll erflärt, Sie hätten, auf ihn zufchreitend, in heftigem Ton zu ihm gefagt: „VBerfchaffen Sie mir einen Genddarm!* und auf feine Frage: „Meshalb ?* hätten Ste erwidert: „Das geht Sie nicht? an, Sie dummer Menſch!“ Darauf mögen nun allerdings auch feine Yeußerungen den Ausdrud des Unmillend angenommen haben. Er gibt nämlich zu, auf Ihr wiederholtes Verlangen, Ihnen einen Polizeibeamten zu verfchaffen, ge antwortet zu haben: „Nun, da fuchen Sie fich felbft einen“ und, auf hr Drängen nad) Nennung feined Namens, fi mit den Worten: „Denken Sie denn, ich bin Ihr dummer Junge?“ entfernt zu haben. Wir mißbilligen beide YAeußerungen, weil wir genöthigt find, unfere, wenn auch noch fo fehr geplagten Zugsbeamten auch dann zur Höflichkeit anzuhalten, wenn fie von Gebildeten oder Ungebildeten öffentlich beleidigt werden. Dagegen verwahrt ſich G. entfchieden gegen die Behauptung, daß er mit Beziehung auf Sie gefagt habe: „Ich denke, der Herr ift befoffen“ und will vielmehr mit den Worten: „Es ift jemand betrunfen gemefen“ den entfommenen Auheftörer genannt und die muthmaßliche Urfache des Streites bezeichnet haben. Die legtere Auffafjung wird von dem zugegen gemefenen Gensdarmen Glement mit dem Bemerfen beftätigt, daß aus dem ganzen Benehmen ©. erfichtlich gemefen, mie er Ihnen durchaus nicht habe zu nahe treten wollen. Das gemäß $ 71 des Bahnpolizeireglements für das deutfche Reich auf jedem - Bahnhof audliegende, dem Publikum ftetö zugängliche Beſchwerdebuch befindet fih in der Verwahrung der Bahnhofdinfpection, deren Vertreter, mie ſchon erwähnt, bei Ankunft und bei Abgang jedes Zuged auf dem Perron am wefend ift und auch im vorliegenden Falle anmwejend war. Wir können nicht annehmen, daß Ihnen irgend eine Schwierigkeit zur Erlangung dieſes Buches, über welches der Zugführer gar Feine Dispofitionsbefugnig hat, gemacht

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worden fei. SHiernach allenthalben bietet und der ganze bedauerliche , Vorfall zu einem Ginfchreiten gegen G. dem übrigend von feinen unmittelbaren Vorgefegten bezüglich feiner Artigkeit gegen jedermann das beite Zeugniß ges. geben wird, Feine Beranlaffung. Ob die fönigliche Polizeidirection Ihrer Unfiht, es fei bei Ankunft eines jeden Zuges ein Genddarm auf dem Perron aufzuftellen, beipflichten würde, laſſen wir dahingeftellt fein. Gegen und hat bis jest noch niemand folhen Wunſch ausgeſprochen.

Dredden, am 23. Juli 1873. Königliche Generaldirection der Herrn Dr. phil. Mar Krenfel fächfifchen Staatdeifenbahnen. bier. Freiherr v. Biedermann.

Als ich diefen Beſcheid gelefen hatte, war ich um eine Erfahrung reicher. Bid dahin hatte ich ed nämlich nicht für möglich gehalten, daß ein Collegium, in dem, um mit Philipp zu reden, das juriftifche Element außerordentlich überwiegt, fo leicht durch eine Ausſage zu täufchen fei, welche dad Gepräge der Unmwahrfcheinlichfeit an der Stirn trägt. Selbſt wenn mir die Fönigliche Generaldirection die Rohheit zutraute, welche fi in der mir von G. ange: dichteten Aeußerung befundet, hätte fie mich doch nicht für fo unklug halten jolen, einem Beamten eine derartige Beleidigung, die für mich leicht unan— genehme Folgen haben konnte, an einem öffentlichen Orte und vor vielen Zeugen ind Geficht zu fohleudern. Und das Eonnte fie fih wohl aud) fagen, daß ein gebildeter Mann, einem Beamten, den er um Beiftand angeht, nicht in demfelben Augenblide durch ganz unmotivirte Grobheiten, die Neigung, diefem Verlangen zu entjprechen, gründlich benehmen wird. Wie endlich die Öeneraldirection, nachdem fie fih um meine vier Zeugen nicht im Geringften gefümmert hatte, von „angeftellten Erörterungen“ fprechen fonnte, war mir gleihfalld nicht völlig verftändlih. Der denkwürdige Befcheid wurde zu- nähft von diefen vier Zeugen durch folgendes Schreiben beantwortet:

„An die Eönigliche Generaldirection der ſächſiſchen Staatseifenbahnen hier. Die königliche Generaldirection hat auf die Befchmerde des Herrn Dr. Krenkel vom 3. Juli d. J. eine Antwort ertheilt, welche und, die ergebenft Unter zeichneten, ald Augenzeugen de3 in dem gedachten Schreiben berührten Vor: falles zu nachftehender Erklärung veranlaßt: Wir find bereit, die und be- fannte Sachdarftellung des Herrn Dr. K., jeder an feinem Theile, mit unferm Zeugnifje zu vertreten. Ja, diefe Darftellung läßt, weit entfernt, irgendwie zu übertreiben, dad Benehmen des Packmeiſters G. in noch zu mildem Lichte eriheinen, wie denn 3. B. in derfelben nicht ausdrüdlich erwähnt ift, daß ©. Herrn Dr. K. verfpottend, die Stimme desfelben in carrifirender Weiſe nachge— ahmt Hat. Wir laffen dahingeftellt, ob G.'s Unmwillfährigkeit durch die Behaup: tung genügend entſchuldigt wird, daß derfelbe im Momente der Ankunft des Zuged durch amderweite Dienftgefchäfte ftark in Anfpruch genommen gemwefen

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fei. Das aber können wir bezeugen, daß derjelbe kurz nach Ankunft ded Zuges und zwar no vor dem Entkommen ded Excedenten im Gefpräche mit an- deren langfam den PBerron einherfchritt, überdies leuchtet ein, daß er in der felben Zeit, in welcher er Herrn Dr. K. eine Reihe außmeichender Antworten gab und ihn an den „Zugführer“ verwies (eine Aeußerung, deren fih Dr. F. mit Beftimmtheit erinnert), ihn ebenfo gut an den Bahnhofeinfpector ver: weifen Eonnte Wenn ©. fagt, daß er nicht in der Rage war, zu erfennen, worauf der von einem Paſſagier ausgefprohene Wunſch auf Verhaftung des anderen beruhte, fo können wir dem gegenüber bezeugen, daß Herr Dr. K. ihm gefagt hatte, er habe für das unanftändige Benehmen jened Ercedenten eine ganze Anzahl Zeugen. Die von G. dem Dr. K. zugefchriebene Aeußerung: „Das geht Sie nicht an, Sie dummer Menſch“, ift von Feinem der Unter- zeichneten gehört worden, obwohl diefelben, mit einziger Ausnahme des erjt fpäter hinzugefommenen Dr. H. von Anfang an Augen- und Dbrenzeugen ded Auftritted waren. Zudem wird niemand, der genannten Herrn auch nur ober flächlich Eennt, denfelben einer fo unmotivirten, rohen Yeußerung für fähig halten. Wohl aber hat G., während Dr. K. In durchaus höflicher Weife fein Anſuchen ftellte, von Anfang an kurze und barſche Antworten gegeben und, nachdem Dr. K. feine Abficht, fich zu beſchweren, geäußert, ihn in höchſt un- paffender, lauter und grober Weife angefchrieen und ſich den Umitehenden gegenüber in heftigen MNeden über den Vorfall ergangen. Nicht minder un haltbar ift die Behauptung G.'s, daß er mit Bezug auf den entfommenen Ruheſtörer geäußert: „Es ift einer betrunfen gemejen.*“ Im Gegentheil er innert fih Dr. D. genau, daß feine Worte lauteten: „Sch denke, der Herr ift befoffen * und wen dieſe Worte galten, ergiebt fih daraus, dag er im Zufammenhange mit diefer YAeußerung die Stimme des Herrn Dr. 8. in marfirender Weife nachgeahmt hat, wie die außer Dr. D. auch Dr. %. be zeugen Fann. Einen Punkt, den die Fönigliche Generaldirection mit Still- ſchweigen übergangen hat, fühlen wir uns gedrungen, noch beſonders zu be tonen, daß nämlih G. nicht nur die Nennung feined Namen verweigerte, fondern auch hiervon den Gensdarm, welchen Dr. K. fragte, wer diefer Beamte jet, mit den Worten abmahnte: „Sagen Sie ed nicht!“ Für die Wahrheit unferer vorftehenden Ausſagen treten wir ein und find bereit, Herrn Dr. 8. erforderlichen Falles dur unfer Zeugniß auch weiterhin zu unterftügen. Sn vorzüglicher Hochachtung zeichnen u. f. w.

Dresden den 22. Auguft 1873.“

Sleichzeitig mit diefer Erklärung ließ ich der Generaldirection folgende Antwort zugehen: „Die Eönigliche Generaldirection der ſächſiſchen Staatseifen- bahnen hat auf meine Beſchwerde vom 3. Juli d. 3. eine vom 23. desjelben Monats datirte Zufchrift an mich gerichtet, melde erft am 27. Juli unmitz

Kr 5 A022 22 .

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telbar vor Antritt einer Reiſe bei mir abgegeben worden ift und von mir erſt jest nach meiner Rückkehr beantwortet werden kann. ch habe von diefem Schreiben mit dem allergrößten Befremden Kenntnig genommen. Es war zu erwarten, daß ein Beamter, der fich gegen einen Reifenden in der beleidigenditen Weife benommen, alles Mögliche verfuchen werde, um unliebfame Folgen feines Benehmend von fich abzuwenden. In diejer Vorausſicht hatte id) in meinem Schreiben vier hochachtbare, in öffentlichen Aemtern ftehende Männer nambaft gemacht, welche Augenzeugen des gedachten Vorgangs geweſen waren, und die Fönigliche Generaldirection erfucht, diefe Männer fo wie mich felbft mit dem betreffenden Beamten zu confrontiren, falld derfelbe eine der von mir angeführten Thatfachen leugnen folltee Obwohl nun diefer letztere, Bad» meiſter G., eine von der meinigen weſentlich abweichende, ihm ungleich günftigere Darftellung des Sachverhaltes gegeben, fo hat es die fönigliche Generaldirection doc nicht für geboten erachtet, auf mein Gejuch einzugehen, fondern ihr Ur: theil über den „bedauerlichen Borfall* lediglich auf den einfeitigen Bericht jene? Beamten und auf eine Bemerfung ded Gensdarmen E. gegründet, welcher jenem Vorfalle nur zum geringiten Thetle beigemohnt hat. Während aber die Fönig- lihe Generaldirection das Zeugnig von vier hochachtbaren Männern als völlig unerheblich ignorirt, nimmt diejelbe feinen Anftand, auf die Ausſage eine? Zugsbeamten bin, der laut feines eigenen Zugeſtändniſſes mehrfache Unziem- lichkeiten gegen mid, begangen hat, die Befchuldigung gegen mich auszu— Iprehen, daß ich einen ihrer Beamten öffentlich beleidigt habe. Ich weiſe diefe Befchuldigung als volljtändig unwahr und unbegründet mit Entrüftung zurüd. Gegenüber der unbewiefenen und durchaus wahrheitäwidrigen Behaup- tung G.'s erfläre ich hiermit und bin bereit, jederzeit eidlich zu erhärten, daß ih weder die Aeußerung gethan: „das geht Sie nicht? an, Sie dummer Menſch!“ noch irgend einen andern injuriöjen Ausdrud gebraucht habe. Viel« mehr habe ich mit G. lediglich in den unter Gebildeten üblichen Formen und in einem höflicheren Tone verkehrt, als derjenige ift, den die königliche General— direction in ihrem Schreiben gegen mich anzufchlagen für pafjend befunden hat. Wenn übrigend die königliche Generaldirection die Unwillfährigkeit G.'s, mir behufs Feſtnehmung eines Ereedenten Beiftand zu leiften, entjchuldigt und nur bedauert, daß derfelbe mich nicht an den Vertreter der Bahnhofs— infpeetion ald den in diefem Falle competenten Beamten gewiefen habe, fo befindet fich diefelbe in einem offenen Widerfpruche mit den Beſtimmungen vr $$ 12 und 69 des „Bahnpolizeireglements für die Eifenbahnen im nord» deutichen Bunde“ *), welde u. a. befagen: $ 72. „Zur Ausübung der Bahn- polizet find zunächſt berufen und verpflichtet folgende Eifenbahnbe-

*) In Kraft getreten am 1. Januar 1871, veröffentlicht in dem Giſetz⸗ und Berordnungds blatt für das Königreich Sahfen vom Jahre 1870 ©. 377— 396.

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amte: 1) der Betriebödirector, beziehungsweiſe der Oberingenieur, 2) der Ober. betriebäinfpector, 3) die Betriebsinfpeetoren und die Betrieböcontroleure 4) die Eifenbahnbaumeifter, beziehungsmeife Abtheilungäbaumeifter und Ingenieure, 5) die Bahnmeifter und die Oberbahnmwärter, 6) die Bahn- und Hilfebahn- wärter, 7) der Bahncontroleur, 8) die Stationdvorfteher, beziehungsmeife Bahnhofsinſpectoren, 9) die Stationdauffeher, 10) die Stattondaffiftenten, 11) die Weichenfteller, 12) die Zugführer, Badmeifterund Schaffner, 13) die Portiers und Nachtwächter.“ $ 69. „Die zur Ausübung der Bahn: polizei berufenen und verpflichteten Eifenbahnbeamten ($ 72) find ermächtigt, jeden Hebertreter der obigen VBorfhriften*), welcher unbekannt ift und fich über feine Perfon nicht auszuweiſen vermag oder letzteren alles nicht eine der angedrohten Strafe entfprechende angemefjene Caution erlegt, deren Höhe jedoch dad Marimum der Strafe in feinem Yalle überfteigen darf, wenn er bei der Ausführung der jtrafbaren Handlung oder glei nad derfelben betroffen oderverfolgt wird, vorläufigzuergreifen und feftzunehmen. Gnthält die ftrafbare Handlung ein Verbrechen oder Vergehen, fo Fann fi der Schuldige durch eine Gautiondftellung der vor: läufigen Ergreifung und Feftnahme nicht entziehen.“ Somit ftand es feine wegs in dem Belieben des Packmeiſters G., ob derfelbe mich bei Ergreifung eines Excedenten unterftügen wollte oder nit. Völlig unzutreffend ift es übrigens, wenn die königliche Generaldirection den Vorfall, welcher den näch— ften Anlaß zu meiner Berührung mit ©. gab, unter den Gefichtäpunft einer „zwtfchen Paſſagieren auögebrochenen Differenz“ und eined „Streiteö* ftellt, während es fich vielmehr um ein von einem Paſſagier ausgegangenes Attentat auf Anftand und Sitte handelte, welchen wir, meine Freunde und ich, denen die beiden beleidigten Perſonen gänzlich unbekannt waren, im Intereſſe der Öffentlichen Ordnung entgegenzutreten und gedrungen fühlten. Nicht min der hat ©. gegen ff. Beitimmungen des $ 76 verftoßen: „Die Bahnpolizeis beamten haben dem Rublicum gegenüber ein befonnened, anftändiged und foweit die Erfüllung der ihnen auferlegten Dienftpflichten ed zuläßt, mög lichft rücdfichtsvolles Benehmen zu beobachten und ſich insbeſondere jedes berrifhen und unfreundliden Auftretens zu enthalten.“ Wenn die Fönigliche Generaldirection fich damit begnügt, G.'s Unwillfäh— rigfeit zu „bedauern“ und feine gegen mich gethanen Aeußerungen zu „miß billigen“, fo entfpricht dies keinesfalls den Anforderungen des ebenge dachten Paragraphen: „Unziemlichfeiten find von ihren Vorgeſetzten jtreng

*) Folglih aud des $ 64, welcher Tautet: „Wer die vorgefchriebene Drdnung nicht bes obachtet, fich den Anorduungen der Bahnpolizei nicht fügt oder fih unanftändig benimmt, wird gleichfalls zurüdgewiefen und ohne Anſpruch auf den Erſatz des gezahlten Perfonengelded von der Mits und Weiterreife ausgefchloffen.“

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zu rügen und nöthigenfalld dur Ordnungöftrafe zu ahnden.“ Andere in dem Schreiben der königlichen Generaldirection enthaltene Un rihtigfeiten zu beleuchten, fehe ich mich hier um fo weniger veranlaft, ala derfelben gleichzeitig mit diefem Briefe eine Zufchrift der vier früher genannten Herren zugehen wird, aus welcher fie entnehmen kann, daß meine Darftellung der Sache, weit entfernt, irgendwie zu übertreiben, hie und da noch zu mild gewefen ift, mie ich denn 3.3. nicht ausdrüdlich erwähnt habe, dag G. mich verfpottend, in carrifirender MWeife meine Stimme nachgeahmt hat. Wenn (hließlih die königliche Generaldirection erklärt, daß ihr „hiernach allent- halben der ganze bedauerliche Vorfall zu einem Einfchreiten gegen G. feine Veranlaffung biete”, jo wird die Gegenbemerfung geftattet fein, daß bei einem jo ungewöhnlichen, den anerfannteften Rechtsgrundſätzen mwiderfprechenden Verfahren, bei welchem die Ausfagen des Angeklagten allein ald maßgebend betrachtet und die gemichtigften Belaftungszeugen nicht einmal gehört worden, überhaupt jelten oder nie ein wie immer „bedauerlicher“ Vorfall zum Ein» fhreiten gegen einen Beamten Beranlafjung bieten dürfte Dann fordert aber die Rüdficht gegen das reifende Rublicum, dasfelbe von diefem Verfahren in Kenntniß zu feßen, denn niemand wird ſich zu den Opfern an Zeit, Mühe und Aerger, welche mit Anbringung einer Beſchwerde verbunden zu fein pflegen, leicht entfchließen, wenn er meiß, daß derfelben eine Behandlung zu Theil wird, beit welcher der Vortheil fo überwiegend auf Seiten ded An— geflagten und mit größter MWahrfcheinlichkeit vorauszufehen tft, daß diefer im Wefentlihen entjchuldigt oder gerechtfertigt au8 der Unterfuhung hervorgehen werde. Selbftverftändlich werde ich bei der Entfcheidung der Föniglichen Gene— raldirection nicht Beruhigung faflen, fondern habe bereitd einen Advocaten mit Einleitung weiterer Schritte behufs Wahrung meines Rechtes beauftragt. Ueberdie® behalte ich mir vor, die ganze Angelegenheit in weitverbreiteten Organen der deutfchen Preſſe zu veröffentlichen und dabei auch dem Antwort- ſchreiben der königlichen Generaldireetion diejenige Kritik angedeihen zu lafjen, auf welche dasſelbe vermöge feined Inhaltes wie feined Tones berechtigten Anſpruch hat.

Dresden, am 25. Auguft 1873. Mar Krenfel, Dr. phil.

Da die Generaldirection fich nicht bewogen fand, auf die beiden vor- ftehenden Schreiben eine Antwort zu ertheilen, fo erhob ich gegen den Pack— meifter ©. die Anklage wegen Beleidigung, Im feften Bertrauen auf die Güte meiner Sache begnügte ich mich mit Abhörung von zmei Zeugen, um den anderen eine Mühe zu erfparen. Der Richter erfter Inſtanz erklärte bierauf, daß er nicht die volle rechtliche Ueberzeugung von der Schuld des Angeflagten gewonnen habe, und fprach denfelben klagfrei. Wer unfer Gerichtäverfahren kennt, wird ein erftinftanzliches Urtheil nicht für unfehlbar

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halten und es begreiflich finden, daß ich Einſpruch erhob. In der öffentlichen Verhandlung, welche am 27. Februar d. J. vor dem kgl. Bezirksgerichte in Freiberg ſtattfand, ließ ich durch meinen Anwalt erklären, daß es mir nicht ſowohl auf eine ſtrenge Beſtrafung des Angeklagten, als vielmehr auf das einfache „Schuldig“ ankomme und beantragte Vervollſtändigung der Beweis— aufnahme mittelſt Abhörung der zwei noch rückſtändigen Zeugen. Ich hatte die Genugthuung, daß die fünf Richter zweiter Inſtanz, ohne auf dieſen An— trag einzugehen, alle Klagepunkte für bewieſen erachteten und in einem gründlich motivirten, die Aufſtellungen des Vorderrichters allſeitig widerlegenden Erkenntniſſe das Urtheil fällten, daß G. gemäß $ 185 des Reichäftrafgefeh- buches mit einer Geldſtrafe von drei Thalern zu belegen und die Koſten der Unterſuchung zu bezahlen, mir aber gemäß $ 200 die Befugniß zuzuſprechen jet, die Verurtheilung des Privatangeklagten auf deſſen Koften in einem Dresdner Rocalblatte befannt zu machen. *)

Nachdem fo durch richterlihen Spruch entfchieden war, wer Recht, wer Unrecht habe, theilte ich der Generaldirection dieſes Erkenntniß brieflich mit, in der Erwartung, daß diefelbe mir wegen ihrer Antwort auf meine Be ſchwerde ihr Bedauern ausdrüden und G. zu mir ſchicken werde, um mid wegen der mir zugefügten Beleidigungen um Berzeihung zu bitten. So handelte wenigſtens die Direction eines hiefigen Dienftmanninftitutes, nachdem id) einen ihrer Reute, von dem ich überwortheilt worden, zur Anzeige gebradt hatte. Sch würde in diefem Falle wahrfcheinlih von der Veröffentlichung des Urtheild gegen G. und meiner Verhandlungen mit der Generaldirection abgejehen haben. Allein ich hatte von letzterer zu viel erwartet. Da fie beharrlich ſchwieg, machte ih zunädft in Nr. 81 des „Dresdner Unzeigerd“ das obige Urtheil befannt und gab etwa 7 Wochen fpäter im Anſchluß an Philipp’3 bereitd erwähnte Kritik eine kurze Darftellung der Angelegenheit in der „Dresdner Preſſe“ (Nr. 126). Jetzt endlih fand fi die General. direction veranlaßt, aus ihrem Stillichweigen heraudzutreten. In Nr. 129 der genannten Zeitung erjchien nämlich folgende, nach Mittheilung des Nedac- teurd auf diefe Behörde zurüczuführende Entgegnung:

„Sn Bezug auf die in Nr. 126 d. BI. abgedrudte, gegen die General: direction der Staatdeifenbahnen gerichteten Artifel des Heren Dr. Krenkel be merfen wir auf Grund erhaltener Auskunft, daß der Genannte den an die

*) Zn dem Erkenntniſſe 2. Inftanz iſt ausdrüdlich gejagt, daß „ſowohl das Benehmen als die Ausdrüde des Pıivatangeklagten geeignet waren, den Privatanfläger vor den Augen dei Publitums lächerlich zu machen und an feiner Ehre zu kränken, und daß der Privatangefläglt ſich deſſen bei feiner vorfäglihen und rechtäwidrigen, weil dem Privatanfläger gegenüber völlig unbefugten Kundgebung bewußt fein mußte.“ ferner befennt dad Gericht den Gindrud gewonnen zu haben, „ald babe es der Privatangellagte bei dem fraglichen Borfall an dem guten Willen, dem Publikum gegenüber zuvorfommend zu fein nicht unmerklich fehlen laſſen.“

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Deffentlichkett gebrachten Vorfall vermieden haben dürfte, wenn er nicht an den vor Allem zur Bedienung auöfteigender Paſſagiere verpflichteten Schaffner ein Verlangen gerichtet hätte, welches diefer abzulehnen bemchtigt war und welches au im $ 72 des Bahnpolizeireglements feine Begründung nicht findet. Auch ift die Sache vom Gerichte erfter Inſtanz zu Gunften des Schaffners entfhieden morden, alfo zweifelhaft gemefen. Im MUebrigen hat und die Generaldirection ihre Bereitwilligkeit erklärt, jedem, der an der Sache perfönlich intereffirt ift, Näheres mitzutheilen.“

Dürftiger ift wohl kaum jemals eine amtliche Vertheidigung in öffentlichen Blättern ausgefallen. Erftlich ſcheint die Generaldirection ein ziemlich kurzes Gedächtniß zu haben, wenn fie ihren Beamten G., den fie in dem Beſcheide auf meine Befchwerde noch ganz richtig als Packmeiſter bezeichnet, jest auf einmal zum Schaffner degradirt. Zweitens wird durch diefe Degradation an der Schuld G.s nicht das Geringfte geändert, denn nach $ 72 des Regle— ment? (j. oben) find neben den Zugführern und Wadmeiftern auch die Schaffner „zur Ausübung der Bahnpolizei zunächft berufen und ver- pflichtet“. $ 75 lautet: „Die Bahnpolizeibeamten werden von der compe- tenten Behörde vereidet. Sie treten alddann in Beziehung auf die ihnen übertragenen Dienftverrichtungen dem Publikum gegenüber in die Nechte der öffentlichen Polizeibeamten“ und nad $ 77 erſtreckt fich „die Aufmerf- jamfeit der Bahnpolizeibeamten auf die ganze Bahn und die dazu gehörigen Anlagen‘. Wenn endlich die Generaldireetion wirklich fo bereitwillig ift, jedem an der Sache perfönlich Intereffirten Näheres mitzutheilen, wie kommt es, daß diefelbe den mehrerwähnten vier Augenzeugen, welche nächſt mir in erfter Linie an der Sache intereffirt waren und died durch ihre gemeinfchaft- liche Erklärung zur Genüge befundet hatten, bi8 auf den heutigen Tag mit feiner Silbe geantwortet hat?

Bald nad Beröffentlihung meine? Artikels hatte ich Gelegenheit, zu bemerken, daß mein Vorgehen gegen die Fgl. Generaldirection ſich der unge theilten Zuftimmung de Publikums erfreue.. Bon vielen Seiten wurde mir warme Anerkennung und der Wunfch audgefprochen, daß mein Beiſpiel Nach— ahmung finden möge, da e3 dann in mander Hinficht beffer ftehen würde. Selbft höhere ſächſiſche Bahnbeamte bezeugten mir ihren Unmillen über den Beicheid der Bahndirection und ihre Befriedigung über die derfelben von mir zu Theil gewordene Zurechtweifung und ein ihre nicht fern ftehender Mann äußerte: „Uns thäte ein Lasker dringend noth!“ Wenn e8 aber unzweifel— haft ift, daß meine Beſchwerde feitend der Generaldirection nicht die ihr ge- bührende Berüdfichtigung gefunden hat, fo erfordert doch die Billigfelt, ſchließlich noch zu fragen, ob bei Beurtheilung des Verfahrens diefer Behörde

nicht etwa mildernde Umftände in Betracht Fommen. Diefe Frage glauben ©renzboten IV. 1874, 59

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wir minbeftend in Bezug auf den Unterzeichner jenes Befcheids, Freiherrn v. Biedermann, unbedenklich bejahen zu dürfen, wenn wir den Umfang und die Melfeitigfeit feiner außerordentlihen Thätigkeit ind Auge faflen. Herr v. Biedermann tft nämlich, wenn wir feinem Selbftzeugniffe Glauben ſchenken, ein Sprachkenner und Riterarhiftorifer, der feine® Gleichen fucht. Hören wir ihn felbft: „Es mangelt noch an einer allgemeinen Darftellung der Formen der Dichtkunft, wodurch das biftorifhe Vorkommen jeder der verfchiedenen Formen, die geographifche Verbreitung derfelben, die Mannichfaltigkeiten in ihrem Auftreten und ihrer Ausbildung, forte dad Weichen der einen Yorm vor der andern durch vergleichende Betrachtung in möglichſt vollitändigem Umfange nadhgemiefen wird. Ein ſolches ebenfo für die allgemeine Eultur- gefchichte wie für die Erfenntnig des gefchichtlichen Begriffes der Dichtfunft wichtiges Werk hat mir ſchon feit Jahren ald verlodende Aufgabe vorge Ihwebt und es liegt ein ziemlich reicher, von mir gefammelter Stoff mit den Dihtungen aud etwa 200 Spraden und Mund» arten (ungerehnet die allein faft ſchon dreimal fo ftarf vers tretenen germanifchen) vor mir, doch fehlte mir immer noch die Muße, ohne melde das Drdnen und Geftalten 'deäfelben nicht möglich tft.“ Und im weiteren Verlaufe ded Aufſatzes, der durch diefe Worte eingeleitet wird”), weiß und Herr v. Biedermann nicht nur von Römern und Griechen, fondern auch von Juden, Aegyptern, Phöniciern, Syrern, Arabern, Perſern, Arme niern, Indern, Siamefen, Birmanen, Chinefen, Malaten, Mongolen, Mand ſchus, Kalmüden, Kirgifen, Finnen, Efthen, Zappländern, Grönländern, Oft: jafen und den poetifchen Reiftungen diejer Völker zu erzählen. Daß die bei einer folchen Arbeit in Frage fommenden Studien, wenn fie anderd gründlich betrieben werden, höchft zeitraubend find, wird fein Sachverftändiger leugnen. Und Gründlichfeit darf man doc wohl bei einem Manne vorausſetzen, der über einen Gelehrten von Herder'd Verdienften mit beneidenswerthem Selbft- gefühl alfo urtheilen kann: „Herder, der in feinen Unterfuchungen über vorge Ihichtliche Erfeheinungen immer mehr den getftreichen Gebildeten als den gründ- lihen Sachkenner und Forfcher verräth“.“) Darf man einem folchen Manne zumuthen, daß er feine Eoftbare Zeit damit verliere, unerquicliche Befchwerden

*) „Der Parallelism in der Dichtkunft“ im Johannes» Album herausgegeben von Ft. Müller, Bürgermeifter zu Chemnitz. Zweiter Theil S. 70 ff.

») a. a. O. S. 73. Freilich bat der „geiftreiche Gebildete" Herder nicht fo wunderſame Entdeckungen gemacht, wie der „gründliche Sachfenner und Forfcher“ v. Biedermann, ber in feinem Buche „Goethe und Leipzig (Th. 1 ©. 28) die Bibel „von einer Quelle erzählen“ läßt, „melde dem Unfhuldigen wohl betommt, den Schuldigen aufbläht und berfien mad.” Diefer Fabel ſcheint eine dunkle Erinnerung an das Gefep 4. Mof. 5, 12— 31 zu Grunde zu liegen, über welches fih Herr von Biedermann aus Schenkel's Bibellerifon (Art. Fluch waſſer) Belehrung erholen kann. Auch in Betreff der Behandlung feiner Mutterfprache dürfte ed der jo abfällig beurtheilte Herder recht wohl mit Herrn v. Biedermann aufnehmen, det

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des reifenden Publikums eingehend zu erörtern? Wenn aber dies billiger mweife von Heren v. Biedermann nicht zu verlangen ift und gleihmwohl das Rublitum ein Recht darauf hat, daß feine begründeten Beſchwerden nicht kurzer Hand abgewiefen, fondern nah Gebühr berüdfichtigt werden, was foll dann gefchehen? Wir meinen, dieſes Dilemma löſt fih am einfachſten da- duch, daß das Finanzminifterium, al® die Herrn v. Biedermann vorgefeste Behörde für ihn ein gutes Wort bei dem Cultusminiſterium einlegt und dieſes letztere ihn vecht bald in eine Profeſſur der vergleichenden Riteratur. geſchichte an der Univerfität Leipzig beruft, der ein Mann von feinen Kennt» niffen nur zur Zierde gereichen wird. Damit erhält er die erwünſchte Muße zum Ordnen und Geſtalten feines reichen Stoffed und fann endlich die ge» lehrte Welt mit dem Werke befchenfen, das ihm ſchon feit Jahren ald eine lofende Aufgabe vorſchwebt. Seine Stelle wäre dann mit einem weniger ges (ehrten und vielfeitigen Nachfolger zu befegen, der eben vermöge feined be» ſchränkteren geiftigen Horizontes mehr Zeit und Neigung hätte, fih mit fo unerquidlichen und profaifchen Dingen, wie Bejchwerden des Publikums find, zu befaffen. Daß ein Eifenbahndireetor Iiterargefchichtliche Unterfuchungen anitellt und etwa 200 fremde Sprachen verjteht, ift nicht nöthig daß er aber die wohlbegründeten Bejchwerden gebildeter Reijender genau unterfucht und ihnen gegenüber die Sprache zu reden verjteht, die man ſonſt von Behörden des 19. Jahrhundert? zu hören pflegt, das ift allerdings nöthig. Mar Krenkel.

Fine nee Ausgabe von Zeremias Hofthelf.

Die Grenzboten haben ſchon mehrfach eine Lanze eingelegt für den fein Volk fo treu wiederfpiegelnden und doc im Volk noch nicht genug gefannten und gemürdigten Dichter des Schweizer Dorfes, Jeremias Gotthelf.

Eine Lanze eingelegt denn von namhaften Kritikern iſt's dem guten

Randprediger ſchon gar oft herzlich ſchlecht ergangen, hat doch ihre äſthetiſche Gnträftung ſogar fhon im Namen der beleidigten Geruchänerven Proteft ein: gelegt gegen die Atmosphäre der Gotthelf'ſchen Schriften. j. B. in dem nur erwähnten Buche die Präpofition „wegen“ mit dem Dativ verbindet („wegen Ittthüm ern“, Ih. 1 ©. 50), einen jungen Mann „nah forgfältig genoffener häuslicher Erziehung” auf die Hochſchule geben läßt (Tb. 1 &. 185) und folgende ganz der „Dresdner Nachrichten” würdige Participialconftruction leiftet: „Nur beiläufig bemerfend, daß unter dem beftellten Papier fogenanntes Unterfagpapier, zum Aufziehen von Kupferflichen verftanden war, find dagegen die thätigen Söhne Weigel’d näher zu beachten.“ (Th. 2 €. 170.)

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Auch feine Verehrer (und wir befennen und hiemit öffentlich zu diefen) können den derben, oft verlegenden Realismus aus Gotthelf's Werfen nicht hinweg läugnen, aber wenn feine Erzählungen und Verhältniffe und Menjchen vorführen, die in ihrer rohen Natürlichfeit namentlich das verfeinerte Gefühl des Städters beleidigen, fo liegt died an dem Volk, das er ſchildert und nicht an dem Dichter.

Die Nachkommen jener Bauern, die bei Morgarten Felsblöcke herab: mwälzten auf den anziehenden Feind, fallen auch heute noch weder das Leben, no ihre Gegner mit Glaeé ⸗Handſchuhen an, oder, um die engere Heimath der Gotthelf'ſchen Geftalten nicht zu verlafen, die Söhne jener Männer und Frauen, die zu Ende des letzten Jahrhunderts mit Senfen, Drefchflegeln, Heugabeln bewaffnet, fid) der „großen Nation“ entgegen werfen und im ver zweifelten Einzelkampf den Apofteln der Givilifatton unterliegen, find auch heute noch durchaus unfchuldig an Europens übertündhter Höflichkeit.

Mit Entfchiedenheit aber müſſen wir den Vorwurf zurückweiſen, daß Gotthelf mit Vorliebe nur die Ausschreitungen diefed Volksgeiſtes ſchildert. Gerade dur Gotthelf mag der Deutſche den feften, gefunden Kern erfafjen lernen, den die rauhe Hülle birgt, und der allerdings auf der vielgetretenen Heerftraße des alljährlichen Fremdenzuges in Höteld, Benfionen, bei Fremden- führern und Spekulanten nicht oder fehr felten zu finden ift.

Die innere Tüchtigkeit de8 Schweizer Landvolks, feinen urgefunden Humor, fein treued Zufammenhalten und Sichgegenfeitigaushelfen meiß gerade Gotthelf zu fohildern wie fein Andrer und in der durchaus urwüchfigen Um— gebung weiß doch auch Gotthelf Lieblihe und finnige Geftalten erftehen zu laffen, die faft fremdartig aus dem rauhen Rahmen fi abheben (Erdbeeri- Mareilt, Anneli in der Käſerei auf der Vehfreude u. ſ. w.), oder die dur ihre Fülle von fchlichter Kiebesfraft ihren ganzen Kreis erwärmen und empor heben zu ihrer unbewußten Größe.

Sol eine Geftalt ift Kätht, die Großmutter, die arme, alte Frau bie um 7%, Thaler halbjährliche Zinfen fih Monate hindurch abquält, und bie verzmweifelnd dem Winter entgegenblict, da die Kartoffeln mißrathen.

Diefe Käthi ift nicht nur die Infaifin ihres Heimathsdorfes. In ihrem aufopfernden, mütterlihen Wirken, in ihrer fo durchaus unpädagogifchen und in ihrer Qebenswahrheit fo rührend gefchilderten Erziehung oder vielmehr Berziehung ihres Enkels ift fie das prächtigfte Urbild aller prächtigen Groß mütter, „fo weit die deutfche Zunge Klingt”.

Die BVerlagshandlung von Julius Springer bietet diefe einzelne Et— zählung in neuer, mohlfeiler Auägabe, fo recht als ein Volksbuch dem Volke. Und zwar find im Auftrag des Unternehmers all die eingeitreuten, politiſchen Abhandlungen, die nur der Zeit galten, in der die Erzählung gefchrieben

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wurde, und die jest dem größeren Publikum fremb und beinahe unverftänd- (ih gervorden, von berufener Hand, dem Volkäfchriftiteller Ferdinand Schmidt, in pietätvoller Weiſe ausgefchieden worden.

Es iſt damit ein Haupthindernig der allgemeinen Verbreitung Gotthelf: [her Werke aus dem Mege geräumt, und ein kurzes, einführendes Wort ver- ipriht, daß diefem erften Band bald weitere Erzählungen folgen follen, die in gleicher MWeife für das Verftändnig der Jetztzeit bearbeitet werden.

Jeder Freund einer fräftigen und gefunden, geiftigen Nahrung fann dem Unternehmen nur den beiten Fortgang wünſchen. B. 2.

Vom deutfhen Reichstag.

Berlin, den 13. Dezember 1874.

Es find zunächſt die Vorgänge feit dem 27. November nachzuholen, an welchem die erfte Refung der Juſtizgeſetze fchloß.

Wir brauchen die Situng vom 28. November nur flüchtig zu erwähnen. Ste befchäftigte fih mit der erften und zmeiten Leſung des Vertragd zur Gründung eine? allgemeinen Poftvereind, mit einer Snterpellation von Schulze. Delitzſch, betreffend die Geſetzgebung über die Arbeiterflaffen, mit der erften Leſung eines Gefeged über die Ausdehnung des Reichsgeſetzes betreffd Quar- tierleiftung, mit der erften Berathung des Haushaltes der unmittelbaren Reichslande. Die erfte Berathung des letzteren Gegenftandes erftredte fich in die Sisung vom 30. November hinein, wo fie dem Netchäfanzler Anlaß gab, auf die erheuchelten Beſchwerden der Elerifalen Abgeordneten aus den Reichs— landen Einiges zu erwidern. Der Kern der Ermiderung lag, mie ed nicht anderd fein Eonnte, in der Wiederhofung einer bereit in der vergangenen Reichstagsſeſſion an die Vertreter der Reichslande gerichteten Erklärung. Die frühere Erklärung lautete: „Wir haben Ste nicht erobert, um Ste glüdlich zu machen.“ Wie wirkungsvoll der Kanzler wiederum ſprach, fich felbft über- treffen Eonnte er nicht, obwohl man diefe Rede zumelilen anwendet, wenn Jemand feine Sache erſt fo gut macht, wie er kann. Das Haushaltsgeſetz für die unmittelbaren Reichdlande wurde einer Commiſſion übermwiefen, und der letzte Theil der Sigung dem Abſchluß technifcher Vorlagen gewidmet.

Am erften Dezember gelangte der Gefetentwurf, betreffend die Aufnahme einer Anleihe für Zmede der Marine und der Telegraphenverwaltung zur erften Berathung. Diefe Vorlage wird an die Budgetcommiffion überwieſen,

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und die gefammten Ausgaben für die Marine werden nachträglich auf den- felben Weg verwiefen, während fie erft zu denjenigen Theilen ded Reichshaus— haltes hatten gehören follen, deren zweite oder Einzelberathung der Reichs— tag ohne Kommiffion im Plenum vornimmt. Die zweite Xefung der zur unmittelbaren Berathung im Plenum geftellten Theile des Reichshaushaltes begann nunmehr, und zwar mit den Ausgaben des Reichskanzleramtes. Unter diefen Ausgaben erjchien zum erſten Mal die Ausftattung eined neuen Reichs— juftizamtes unter einem eigenen Director, der aber, wie dag ganze Amt nicht nur dem Reichskanzler unterftehen, fondern als eine Unterabtheilung dem Reichskanzleramt angefchloffen werden fol. Diefe Einrihtung veranlapte den Abgeordneten Lasker zur Miederholung feiner altbefannten Ausführung, wie wünſchenswerth Reichäminifterien feien, wie der Reichskanzler nicht für alle Geſchäftszweige des Reiches verantwortlich fein könne, wie derfelbe bei lebendigem Leibe durch den von feinen menfchlihen Schultern zu tragenden Umfang der Verantwortlichfeit zu einer Abftraction verflüchtigt werde. Der Präſident Delbrüd antwortete zunächſt correct aus dem Stand der Sache heraus, mie er zur Zeit vorliegt. Er fagte im MWefentlichen: eine bejondere Behörde zur bloßen Vorbereitung der Geſetze ift unfruchtbar, wenn fie nicht mit der Verwaltung in enger organifcher Beziehung fteht. Deßhalb hat man für jet das neue Geſetzgebunggamt mit dem Amt der inneren Reichäver- waltung organifch verbunden. Wenn die große Reichsreform der deutſchen Suftiz durchgeführt fein wird, dann wird vielleicht eine Reichsjuſtizverwaltung erforderlich, und dann kann für diefe und die Vorbereitung der Geſetze ein jelbftftändiges Juftizamt errichtet werden. Jetzt ift e8 noch nicht an der Zeit.

Die Ausführung ded Abgeordneten Lasker hatte jedoch die perfönlide Stellung des Kanzlerd wieder zu fehr zum Augenmerk genommen, ala daf diefer mit der aus der augenbliclichen Sachlage geſchöpften Erwiderung, wie fie Präfident Delbrüd gegeben, fich hätte begnügen dürfen. Er ergriff auf feinerfeit® das Wort über einen Gegenftand, den er nicht zum erften Mal behandelte. Sehr erinnerlich ift die ausführliche Nede, welhe er am 16. April 1869 im Reichstage des Norddeutihen Bundes über dadfelbe Thema hielt, wo der Abgeordnete Tweſten bereitd den Antrag auf verantwortliche Bunded- minifterien, namentlich für auswärtige Angelegenheiten, Krieg, Marine, Finanzen und Handel geftellt hatte. Die damalige Ausführung des Kanzlerd gipfelte in der befannten Verurtheilung der collegtalifhen Minifterverfafung, wie fie in Preußen befteht. Später iſt der Kanzler auf dasfelbe Thema am 10. Februar 1870 durd den Vergleich der preußifhen Minifterien mit acht Bundesftaaten in draftiicher Weife zurückgefommen. Dagegen haben nun feine diegmaligen Aeußerungen bet einem Theil der Tiberalen Partei große Befriedigung erweckt, obwohl wir nicht finden können, daß er irgend etwas

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die früheren Aeußerungen Modificirended gefagt, denn ſchon am 16. April 1869 fagte er dem Abgeordneten Lasker, daß es ihm auf ein halb Dutzend Miniftertitel nicht anfomme, wenn in dem verlangten Gefammtminifterium dem Kanzler die Stellung de3 englifhen Premierminifters, des erften Schab- lords, wie er dort heißt, eingeräumt werde. Diesmal geftand er die Noth« wendigfeit unummunden zu, für die großen Geſchäftszweige ded Reiches ber fondere Aemter mit eigenen Vorftänden zu bilden, die auch den Namen „Minifter* führen Eönnten. Aber er verlangte wiederum, wie früher, den maßgebenden Einfluß des Kanzlerd, er befämpfte wiederum, mie früher, den Shluß von der Unmöglichkeit der allfeitigen techniſchen Verantwortlichkeit des Kanzlerd auf die Unmöglichkeit der umfaſſenden moralifchen WVerantwort- lichkeit deöfelben. Dadurch erklärte fih nun der treffliche Lasker äußerſt ber rubigt, befriedigt und beinah beglüdt. Wir glauben aber der Sache einen Dienft zu leiften, wenn wir ohne Scheu und mit Nachdruck darauf hinweiſen, dat diefe fchöne Eintracht ganz und gar auf einem Mißverftändniß beruht. Selbft Lasker und ein Theil der Nationalliberalen kann fi nichts Schöneres denken, ald das englifche parlamentarifhe Minifterium mit feinem maßgeben- den Chef, und fie möchten dem Kanzler um den Hald fallen, daß er ihnen die Freude macht, fih zu demfelben Ziel zu befennen. Wenn die Herren aber fi nicht zu fchnell der Freude überlaffen und dafür recht genau zuhören wollten, würden fie finden, daß der Kanzler doc ein ganz anderes Ziel im Auge Hat. Er ſeinerſeits hat es am der nöthigen Deutlichkeit nicht fehlen laffen. Der Unterfchted, der durchſchlagende Unterfchted, liegt in der Art, wie der maßgebende Einfluß des leitenden Miniſters gefichert werden foll. Der Kanzler fagte am 1. December: „Es giebt nur zwei Wege. Entweder ed muß dem Kanzler gegen feine Gollegen ein Entlafjungsreht eingeräumt werden, und dad verträgt fich nicht wohl mit der Monarchie; oder der Kanzler muß in fämmtlichen Geſchäftszweigen das Recht der Dberauffiht und der unmittelbaren Verfügung Haben.“ Dem englifchen Premierminiſter fteht keines diefer beiden Mittel zu Gebote. Sein Einfluß beruht lediglich darauf, daß er ald Bindeglied zmifchen der minifteriellen Majorität und dem Minifte- rtum einen nicht harmonirenden Collegen durh die Drohung zur Nieder legung bewegen kann, andernfalls feinerfeitd niederzulegen, was die Auflöfung de8 Minifteriumd bedeutet. Die Stellung des engliihen Premierminifterd beruht alfo ganz auf der nothwendigen Führung der Majorität durch ein Blied ded Miniftertumd, welches in der Hegel Premierminifter, und wenn einmal nicht Premierminifter, tet? die eigentliche Seele ded Minifteriums ift. Der deutiche Kanzler verlangt dagegen für die Kanzlerftellung den etwaigen Reihöminiftern gegenüber oder, wie wir fie lieber genannt ſehen würden, gegenüber den Vorftänden der Reichdämter, ein Uebergewicht der gefeb-

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lihen Amtscompetenz;. Die Forderung ift durchaus richtig und ſach— gemäß. Denn wir haben nicht die monarchiſche Organifation der Haupt: parteien im Parlament und Eönnen fie nicht haben, welche den Führer einer Hauptpartei zum unumgänglichen Premierminifter macht, neben welchem die anderen Minifter zurücdtreten, weil fie nicht diefelbe Stellung in der regieren» den Partei haben. Bei und würde jeder Minifter bei der formell lofen Ber: faffung des englifhen Minifteriumd feine eigene Partei im Reichstage und, was noch fehlimmer wäre, im Bundesrath haben. Die Einheit der Reihe. regierung würde ſich in klägliche Trümmer auflöfen.

Die Stellung des Reichskanzlers findet in der That bisher noch ein merkwürdig geringes Verftändnig. Der Kanzler ift nad) der Reichsverfaſſung der vom Kaifer ernannte Vorſitzende des Bundesrathes. Seine erfte und vornehmfte Aufgabe ift, die einheitliche Action des Bundesraths herbeizu- führen, eine Aufgabe, die während einer langen Zukunft die erfte Kraft er fordern wird, welche fich zur Zeit in der Nation befindet. Denn es ift nicht abzufehen, wie das deutfche Reich jemals eine Action feiner Regierung, alfo ded Bundesrathes ertragen könnte, die auf planlofen, unzufammenhängenden Majoritätsbefhlüffen beruht. Wenn der Kanzler aber die Aufgabe vollbringt, ein einheitliche®, auf der Höhe der Reichsbedürfniſſe ftehended Handeln des Bundesraths herbeizuführen, fo kann er denfelben Tanz nicht noch einmal in einem collegialifhen Miniftertum und zum dritten Mal in einem Reich tag mit von ſich befämpfenden Regierungdeinflüffen zerfegter Majorität an fangen. Das geht nicht nur über die Fähigkeit, fondern felbft über die Vor ftellbarkeit menjchlicher Retftungen hinaus. Es genügt auch nicht das eng» liſche Mittel, daß der Premierminifter das Spiel zeitweiſe abbriht. Denn ſowie das deutjche Reich nach Innen und Außen beichaffen ift, fteht bei der Unterbrehung des Spield durch den einzigen Mann, der ed machen fann, dad ganze Reich auf dem Spiel. England ift in der glüdlichen Xage, wenn man dag für ein Glüd halten will, daß der Schlendrian fortgeht, ob der Anſtoß des Staatswagens bald von der Seite, bald von jener kommt. Der deutjche Staatdwagen, und fo wird ed auf unabjehbare Zeit bleiben, erfordert die befte und geübtefte Kraft, um fich gehörig zu bewegen, um nit fofort aus den Geleifen zu gerathen. Das ift unbequem, aber auch ein heilfamer Zwang zur Selbftbeherrfhung, Weisheit und Anſchauung aller patriotifchen Kräfte, Wir wollen deghalb die Engländer nicht allzufehr beneiden, vor Allem aber ihre Einrichtung nicht ungefhidt nahahmen. Mögen die mwohlgefinnten Männer im Reichstag, welche nicht nur gefonderte Reichsämter verlangen, was wir vollftändig billigen, fondern an der Spitze derfelben verantwortliche Reihäminifter, nur ja nicht vergeffen, was dem deutfchen Kanzler dann um entbehrlih ift: nämlih ein Uebergewicht der gefeglihen Amts

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competenz, nicht aber nur die der Perſon geltende Unterſtützung der Ma- jorttät, welche in England auf der nicht herüber zu nehmenden Organifation der PBarteten beruht und melche bei und ald eine Grundlage von Sand fi erweiſen würde.

Das Uebergewicht der amtlichen Competenz, wie es Fürſt Bismarck am 1. December verlangte, wenn Reichsminiſterien eingerichtet werden ſollten, beſaß übrigens der preußiſche Staatskanzler, ſolange dieſer Poſten beſtand.

Die Sitzung vom 1. December hat in ziemlich unſcheinbarer, unbemerkter Weiſe noch einen anderen Gegenſtand, wir können nicht ſagen zum Austrag gebracht, aber in die Wege des Austrages geleitet, der für das Reichsſtaats— reht und feine Fünftige Entwidelung mindeftend ebenfo wichtig ift, als die angeregte Errihtung eined collegialifhen Reichsminiſteriums. Bei der Ab- flimmung über die Ausgaben des Neichäfanzleramtes, welche diedmal den eriten zur Befchlußfaffung gelangenden Theil des Reichshaushaltes bildeten, erklärte nämlich der Präfident von Forkenbeck, er werde, um jeden Zmeifel zu befeitigen, daß durch die Billigung der Ausgabetitel die Reichsregierung nit nur an die Titel im Ganzen gebunden werde, fondern an jede einzelne Pofition, wie fie unter jedem Titel enthalten ift, die Abftimmung nicht titel- weife, fondern nur pofitionenmweife vornehmen laffen. Diefe Erklärung rief am Tiſche des Bundedrathes ſtarkes Kopffchütteln, aber Keine beftimmte Er— Härung der Unzuläffigkeit de3 vorgefchlagenen Verfahren? hervor. Wir un— jererfeit3 halten mit der Anſicht nicht zurüd, daß dieſes Verfahren den äußerften Bedenken unterliegt, daß es nicht nur jede Selbftändigfeit der Ver waltung aufhebt, fondern auch die Tüchtigfeit der Verwaltung ganz ent« ſchieden gefährdet. Es werden ſich wohl noch Anläfje finden, unfere Anficht zu begründen. Den Hauptvorwurf aber, daß der Präfident des Neichätages einen fo gefährlihen Weg einſchlagen Fonnte, müſſen wir diesmal gegen die Reichdregierung erheben. In dem gegenwärtig dem Neichdtag zum zmeiten Mal vorgelegten Gefet über die Verwaltung der Einnahmen und Ausgaben des Neiches findet fih nämlich ein $ 7, deffen zweiter Abſatz folgendermaßen lautet: „Unter dem Titel eined Spectaletat3 ift im Sinne diefed Geſetzes jede Pofition zu verftehen, welche einer jelbitftändigen Beſchlußfaſſung des Reichstags unterlegen hat u. ſ.w.“ Um die Bedeutung diefer Definition zu ermefjen, vergegen- wärtige man fich, dag der erfte Abſatz des $ 7 alle Mehrausgaben gegen die vom Reichstage genehmigten Titel der Specialetats ald Etatsüberſchreitungen bezeichnet, fo weit nicht einzelne folhe Titel ausdrüdlih ala übertragungd- fähig mit anderen bezeichnet find. Man traut feinen Augen ‚faum, wenn man jenen zweiten Abſatz lieſt. Wie er lauten follte, tft nicht ſchwer zu finden. Es follte heißen: „Als Titel eines Specialetatd tft jede Poſition

anzufeben, melde mit Zuftimmung ded Bundesraths ſelbſt⸗ Grenzboten IV. 1874.

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ftändigen Beſchlußfaſſung des Reichsſtags unterworfen worden.” Daß bie Worte „mit Zuftimmung des Bundedrath8* fehlen, ift ein Mangel, für den wir feine Erklärung Haben. Der Reihdtag natürlich thut reiht, feine Macht fomweit vorzufchieben, als die elaftifche Grenze noch nachgiebt und Herr von Forckenbeck iſt es nicht, der Tadel verdient, wenn er furzer Hand aus jeder Pofitton eined Ausgabetiteld durch feine Leitung der Abftimmung einen jelbititändigen Titel maht. Seine Sorge tft ed nicht, mie mit einer folhen Zwangsjacke eine große Verwaltung geführt werden Fann; feine Sorge ift e8 auch nicht, wo die Selbitftändigkeit der Verwaltung bleibt, die, wenn von fämmtlichen Bofitionen des Haudhaltgefeges bei der über. mäßigen Specialifirung feine einzige inne gehalten wird, den Reichstag hundertmal um Indemnität anflehen muß. Im März 1862 hatte im preu— Bifchen Abgeordnetenhaus der Abgeordnete Hagen bereit3 denfelben Antrag geftellt, alle zur Information der Abgeordneten beftimmten Bofitionen der Haushaltävorlage in gejelih bindende Vorfchriften dur den Beſchluß der Abgeordneten zu verwandeln. Als der Antrag die Majorität erhielt, fürzte dad Miniftertum der fogenannten neuen Wera. Sieht man fi in den Motiven des jebigen Reichsgeſetzentwurfes über die Verwaltung der Ein nahmen und Ausgaben nach der Begründung des $ 7 um, fo findet man nur den lafonifhen Sag: „Der Baragraph reproducirt die vom Reichätag im Sahre 1872 genehmigte Definition der Etatüberfchreitungen.* Das Ber fahren, welches Herr von Forckenbeck am 1. December eingefchlagen, mird vermutblich die Wirkung haben, die Reichsregierung, infonderheit den Reiter der Neichöfinanzverwaltung auf den erwähnten $ 7 nachdrücklich hinzulenken. Die Ausfihten für das AZuftandefommen des Geſetzes über die Verwaltung der Reichseinnahmen und Ausgaben noch in diefer Seffton werden durd diefed forgfältigere Studium kaum gewinnen. Allein diefer Aufichub ift Fein Unglüd, vielmehr ein Glück, wenn er die richtige Regelung diefer wichtigen Materie herbeiführt, die auf dem Wege war, gründlich verdorben zu merden. Sinfofern bat die Meichäregierung nur Urfache, Herrn von Fordenbed dankbar zu fein.

Die Sisung vom 3. Dezember mit der Berathung des Antrages, "in die Meichdverfaffung einen Artikel aufzunehmen, welcher für jeden Bundeäftaat eine Wahlkammer vorfchreibt, übergehen wir. Der Antrag will den Leiden Heilung bringen, welche Medlenburg durch feine feudale Verfaffung zu tragen hat. Wir wünfchen diefen Leiden die gründlichfte Heilung, glauben aber nicht, daß diefelbe vom Neichdtag kommen kann, höchſtens daß die immer wieder- fehrende Beſprechung des Schadend an den entfcheidenden Stellen die Sache nicht einfchlafen läßt. Der Tage ded 4. und 5. Dezember haben mir fon gedacht. Die Sitzung vom 7. Dezember brachte im Berfolg de Haußhaltd-

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geſetzes die Beſchlußfaſſung über verfchtedene Ausgaben und Einnahmen, die Sigung vom 9. Dezember MWahlprüfungen und die eriten Refungen zimeier Kleinen technifchen Geſetze.

Um 11. Dezember begann die zweite oder Einzelberathung der Ausgaben des Reichsheeres auf Grund mündlicher Berichte der Budgetcommiffion. Er— bebliche Streitpunfte haben fih bei diefer Berathung bis zum Schluß nicht ergeben. Man Fann ſich denken, daß Herr Eugen Richter in den Berathungen der Commiſſion das Mögliche gethan hat, Anträge zur Annahme zu bringen, welche den Streit zur Folge gehabt hätten. Er hat aber bereitö in der Commiſſion fo wenig durchgefegt, daß die Verftändigung mit der Heeres— verwaltung im Reichstag felbjt wohl nicht fehlen wird. Auf die Einzelheiten brauchen wir bis jest nicht einzugehen.

Am 12. Dezember gelangte ein Schreiben des Stadtgerichtd, morin die Einziehung zur Strafhaft des Abgeordneten Majunfe, ded Redakteurs der „Germania“, dem Reichstag angezeigt wurde, zur Verleſung. Dasſelbe rief einen von Lasker und Mitgliedern aller Fraktionen geftellten Antrag hervor, die Gefhäftsordnungscommiifton mit fehleuniger Berichterftattung zu beauf tragen, ob die Einziehung zur Strafhaft eines Reichstagsabgeordneten während der Thätigfeit des Reichsſtags nach Art. 31 der Verfaſſung zuläffig iſt. Artikel 31 verordnet, daß Reichstagsmitglieder während der Seffion nur mit Genehmigung des Reichstags zur Unterfuhung gezogen werden dürfen, außer wenn es fih um eine Ergreifung in flagranti handelt. Es iſt ſchwer, ein zufehen, mie die Geſchäftsordnungscommiſſion aus diefem Artikel, der in fonnenflaren Worten nur von Unterfuhung und in einem befonderen Abfas noch von Schuldhaft fpricht, ein Verbot der Einziehung zur Strafhaft heraus- lefen fol. Der Antrag Lasker fand indeß einjtimmige Annahme, und wir glauben aud, daß, nachdem der Antrag geftellt war, für den Reichstag Fein Grund vorlag, nicht ein Uebriges zu thun und den Bericht feiner Geſchäfts— ordnungscommiffton einzufordern. Hierauf beendigte der Reichstag die Ginzelberathung der Heeredausgaben. Der raſche Gang diefer Berathung verftärkt die Hoffnung, daß der Reichstag dad Mefentliche feiner Aufgabe, mit Ausnahme des Bankgeſetzes, in diefem Jahr erledigen wird.

Am 9. Dezember ift der Prozeß Arnim in das Stadium der öffentlichen Verhandlung getreten. Gine alljeitige Beſprechung wird erft nad) der Be— endigung am Plage fein. Was aber den allgemeinen Eindrud betrifft, fo wäre jeded Wort zu wenig, um die Fülle des Merkwürdigen zu fehildern, melche die Verhandlungen bereits bis jest in politiicher, pſychologiſcher und eriminaltftifcher Beziehung geboten haben. Diefer Prozeß wird feine eigene

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Literatur vielleicht in mehr als Einer Sprache erhalten, und die Nachwirkungen, die er nach vielen Seiten hinterlaffen wird, laſſen ſich noch in feiner Weiſe abſchätzen. Wohl aber läßt fih ſchon jest fehen, wer von allen direkt und Indireft Betheiligten am ruhmvolliten daraus hervorgeht. C—r.

Deihnachtsbüchexſchau.

Mit einem der vorzüglichſten Werke aus Friedr. Bruckmann's Ber lag in München ſchließen wir die im letzten Hefte begonnene Ueberſicht der Prachtwerke für den Weihnachtstiſch ab. Als ſolches find zu nennen die Waidmannd- Erinnerungen von F. v. Paufinger, mit Tert von Karl Stieler, eine Sammlung von zwölf Photographien aus dem Leben des Milde und Jägers im deutichen Tief- und Hochlande. Da treffen mir das Wild bald im Stillleben der MWaldestiefe, bald im Kampf mit Seineögleihen, bald im erbitterten Streit mit feinen Todfeinden, den Raubthieren oder dem Menſchen; einige Ecenen (von den zahlreichen einge freuten Holzfhnitten) deuten auch auf die ewige Fehde zwifchen Waldmann und Wilddieb. Alle diefe Bilder find einer langen reichen Erfahrung ent: nommen v. Raufinger ift befanntlich der ftete Begleiter des Katferd von Defterreih auf deſſen Hochgebirgäjagdzügen und mit der Virtuofität eines vollendeten Künſtlers wiedergegeben. Die Landſchaft fteht überall im fchönften Einklang mit dem bewegten Leben des Wildes, das in diefem tiefen Wald- Innern oder in dieſer rauhen Gebirgämelt fich abfpielt. Aber gleiches Lob gebührt auch unferm Iiebenswürdigen Mitarbeiter Karl Stieler Der Herr Dr. juris bat ſchon bei andern Gelegenheiten Fein Geheimniß daraus gemacht, daß er mit Wild und Wald, mit dem Sägerleben der bairiſchen Hochebene und des bairifchen Hochlandes eng vertraut ſei. Sein Tert zu diefem Werke giebt und dafür volle Gewißheit. Er erhebt ftolz und Fühn dad Haupt zur Freiheit des Waldlebens und feiner Bewohner. Er erhebt fi in diefem Bewußtſein felbftempfundener thatkräftiger Ungebundenheit weit über die Iand- Yäufigen Bildercommentare. In das Reben des Waidmannes, Wildes und MWilddiebes, in die uralten Sagdfagen und Jagdlieder des Volkes dringt fein klarer Blick, fein empfängliches Gemüth, und wir Alle freuen und der Arbeit, die er in feiner Erholung gefchaffen. Das äußere Gewand, das die Ber- lagshandlung dem Werke gegeben, ift ein äußerſt glänzende® und an- fprechended.

Es kann nicht die Abſicht diefer gedrängten Anzeigen der empfehlens—

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werthen Schriften für das Feſt fein, den größeren Titerarifchen Kritiken biefes Blattes zur Ergänzung zu dienen oder gar mit denjelben in Widerfprud zu treten. Un erfter Stelle dieſes Heftes ift ein berufsmäßiges Urtheil gefällt worden über die vornehmften Schriften preußifher Geſchichtskunde. Der Mann der MWiffenichaft hat die beften Namen preußifcher Gefchichtd- forfhung und vorgeführt. Wir mürden gering denfen von unfern Xefern, wenn wir annähmen, daß fie nicht ihr Streben und ihren Stolz darein fegen wollten, diefe Werke erften Ranges zu befigen. Aber nicht Alle find in der Lage, diefem Wunſche fofort Raum zu geben. Und Allen ift es doch Bes dürfnig, eine zuverläffige, moderne, auf der Höhe der Zeit ftehende Ausgabe Preußiſcher Geſchichte zu befisen, melde dem Hiftorifee von Fach wohl zu wenig Quellenwerf bieten mag, aber die doch die Refultate der neueften uellenftudien Allen zu Nutze macht. Als ein ſolches zuverläffiges, von gründlicher Sachkenntniß und dem beiten nationalen Geifte getragened Werk über Preußiſche Geſchichte Fönnen wir dad unter diefem Titel bei Gebr. Paetel in Berlin jett in dritter Auflage erfchienene zweibändige Buch des Prof. Dr. Willtam Pierfon empfehlen, das die gefammte Entwidelung des Preußiichen Volkes und Staates von den fagenhaft verflärten Anfängen bis mitten in den heute entbrannten „Kulturfampf" hinein, uns vorführt. Auch der Hiftorifer von Fach erkennt die volle Wahrheit über die Abficht und den Werth der Preußifchen Politik ebenfofehr aus den Rebensäußerungen und Xhaten der Feinde Preußens, ald aud den mehr und mehr entjchleierten Geheimniffen ded Preußiſchen Staatsarchivs. Nichts ift belehrender für die Hoheit und Würde der Politik der deutfchen Vormacht, ald der ohnmächtige Ingrimm der deutjchen Kleinftaaterei gegen Preußen, ald e8 auf dem ſchmalen Wege zur Einheit unerbittlich vorwärts? drängte. Nicht? zeigt und deutlicher den Berfall preußifcher Staatskunſt, ald wenn die Wiener Hofburg unter Metternich oder die Keinen Höfe ihre allerhöchſte Zufriedenheit nach Berlin vermelden. Endlich als dritter Gefichtäpunft der Vergleihung dient vor« nehmli die Schilderung des Volfälebend und der Regierungsmethode in den deutfchen Kleinftaaten im Unterfchied oder im Gegenfag zu Preußen. In diefer legten Richtung ift Karl Braun, der bekannte Volkswirth, Politiker und Wbgeordnete, feit Jahren in bemerfenäwerther Weiſe thätig gemefen. Er hat aus dem verfloffenen Mikrokosmus des Herzogthums Nafjau, aus dem weil. Dalwigk'ſchen Großherzogthum Hefjen, aus Schwaben, Kurheſſen u. ſ. w. Bilder der deutfchen Kleinſtaaterei von fo typifcher Bedeutung und von fo unvergänglihem Humor gefammelt, daß man noch in fpäten Jahren, wenn dem Xebenden die Erinnerung an diefe Mißſtände Tängit ent ſchwunden fein wird, Karl Braun’d Arbeiten auf diefem Gebiete ala jehr ſchätzbare Beiträge zur Kultur und Staatengefchichte Deutſchlands leſen wird,

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Einige der tolliten und graufamften Leiftungen des deutfchen Kleincäſaren— hochmuths find nun von Karl Braun in den beiden Bänden „Mord» geſchichten“ zufammengeflellt, die bei Carl Rümpler in Hannover foeben erfchienen find. Darunter find die lebensfähigſten Schilderungen, welche die vier Bände „Bilder aus der deutfchen Kleinftaaterei” enthielten, und aus der Sammlung „Während des Krieges“ die düftere venetianiſche „Mordgeſchichte“ Ztobä, und „Deutfche in Paris“ hier herübergenommen. Ganz neu ift dagegen in diefer Sammlung die werthuollfte Studie beider Bände, die an den Schluß des erften Theiles geftellt ift: „Deutfbe Studentenbilder und Mordgeſchichten aus dem tollen Jahr Neunzehn!“ Diefe ernite, und durchaus auf zeitgenöfftiche Quellen, mündliche Ueberlteferungen u. ſ. w. geftüßte Arbeit bietet die interefan- teften Auffchlüffe über die politifche Stimmung der deutfchen Jugend nad den Freiheitskriegen, die erfte deutjche Burfchenfhaft, da8 Wartburgfeft und den inneren caufalen Zuſammenhang des Treibend der drei Brüder Follen und der „Schwarzen“ in Gießen mit der unfeligen Mordthat Ludwig Sand's und dem Mordverſuch ded Apothekers Löning auf den naffauifchen Staat rath van bel u. ſ. w. Da felbfiverftändlih ale diefe Mordgefchichten keineswegs etwa im larmoyanten Ton fentimentaler Griminalgefchichten ger fohrteben find, fondern wie alle Sachen Braun’d dem Humor überall zu feinem Rechte verhelfen, wo immer defjen Necht begründet ift und dieſes Gebiet ift bei Bildern aus der deutfchen Kleinftaaterei um fo weitläufiger, ald wir felbft für an fih und in ihrer Zeit tragifche Ereigniffe heute den Humor befigen, fie von der heitern Seite zu betradhten fo waren wir wohl be rechtigt, ‚diefe neuefte Schöpfung der Braun’schen Weder, trotz ihres düſteren Titeld, fogar unter der Weihnachtsliteratur zu empfehlen.

Eine humorvolle, oftmals fatirifche, überall aber von hohem Fluge der Gedanken und Poeſie getragene dichteriſche Gabe zum Weihnachtöfeſte iſt der „Till Eulenfptegel redivivus“ von Julius Wolff (Meyeride Hofbuhhandlung, Detmold). Hier ift der Reiz der deutfchen Landſchaft, vor allem der Rheinlande, das deutfche Bürgertum In allen Klafjen und Ständen, «bier find die höchften Strebungen der Gegenwart auf allen Gebieten des öffentlichen, foctalen, wiſſenſchaftlichen Lebens an dem Faden einer Reife des Dichters mit Til Eulenspiegel dur Deutfchland mit feinem Humor und mit vollendeter poetifcher Kraft geſchildert. Sehr häufig erinnert die Sprade und die Gedanfenform und Richtung an Goethe's Fauft. Die Ausftattung des Werkes ift geſchmackvoll. Auf die neuefte, fehr be deutende Dichtung Friedrich's von Shad „Nähte des Drientd” (Stuttgart, J. ©. Gotta), welche die meifterhafte Sprachgewandtheit des Dichters und feine treue Sehnfucht zum Wunderlande des Oſtens fo rein und ſchön ausprägt, gedenfen mir bei Gelegenheit eines befonderen Eſſays über

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Friedrih von Schad zurücdzufommen. Einſtweilen mögen unfere Lefer auch die wenigen Worte für eine freudige Empfehlung nehmen.

An Jugendſchrften find noch befonders zu erwähnen, (bez. einge: gangen, feitdem wir diefe Rubrik verlaffen): unter den Schriften des Spamer- [hen Verlags in Leipzig; Oft-Afrifa von Hermann von Barth, melde den Dften des fchwarzen Erdtheild vom Limpopo bis zum Somalilande au? ſachkundiger Feder und gut illuftrirt darftelt; dann, der wärmften Empfehlung würdig, Sentral»Afien von Friedrih von Hellmald, dem befannten und verdienftvollen Nedacteur des „Ausland,“ mit großentheild authentifchen bildlihen Erläuterungen über Rand und Leute; weiter die dritte Auflage des guten Buche? von Dr. Karl Oppel „das alte Wunderland der Pyramiden“ und endlich die vortrefflihe Mythologie unſres geehrten Mitarbeiterd Prof. Dr. Hermann Göll unter dem Titel: „Sötterfagen und Kulturformen,“ gleihfalld bereit3 in dritter Auflage, an melcher der Text meit über den Sluftrationen fteht. Weber die hervorragenditen fonftigen Jugendfchriften de8 Spamer'ichen Verlags, die ihre Lebenäfähigkeit und Beliebtheit großentheild auch diefed Jahr durch neue Auflagen befunden, wie E. Lauſch, Bub der fhönften Kindermärdhen (6. Auflage), Jahrbuch der Welt der Jugend von Ernft Stüßen (1875), der Sfalpjäger v. Th. Bade und Franz Dtto (4. Auflage), das Deutſche Flottenbuch v. Heinrih Smidt (4. Auflage) u. U.: haben mwir und ſchon früher günftig ausgefprochen. Neu binzugetreten ift der Wegmeifer durch die drei Reiche der Natur von Eduard Teller, deffen Text das redlichfte und tüchtigfte Teiftet in Enapper Form freilich ohne befondere Anziehungskraft für jüngere Naturforfcher aber dagegen in einer großen Anzahl von Abbildungen beftimmt zu fein fcheint, einer Neihe wohlbekannter Clichés ein fröhliches Rendezvous zu geben.

Meit höher fteht die Auaftattung, das Bilderwerf und die fefjelnde Kraft der Darftellung in dem „Reid der Luft“ von E. Flamarion, deutſch bearbeitet vn W. Schütte (Reipzig, Branditetterd Verlag). Alle die zahl reihen Erfcheinungen, welche im Reiche der Luft zur Erfcheinung gelangen: Wind und Wetter, Schatten und Licht, Electrieität und Feuchtigkeit u. |. w. finden bier die interefjantefte Erörterung, bafirt auf die Grundlage ewig waltender Naturgefege und zeichnen ſich dadurch an Solidität und Unan- fechtbarkeit fehr vortheilhaft aus vor jener Denkſchrift des Sächſ. Kultus. miniftertumd in Sachen des höheren Schulmefend gegen die Grenzboten, welche in demfelben Verlag vor einigen Jahren vorübergehend das Licht der Melt erblidte.

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Kin Brief Friedrich Fiſchbachs an die Redack

Mir erfüllen hiermit den Wunſch des Herrn Fr. Fiſchbach, nachſte Brief zu publiciren. Die Redactig Sehr geehrter Herr Redacteur!

Sch bitte Sie um die gefällige Aufnahme diefer Zellen, welche bezweden, Mißdeutungen zu vermifchen, die ja ftetd das Ungewohnt Auffallende begleiten. Als kürzlich meine Selbſtbiographie in Ihrem geſchätzten Blatte war wohl Niemand von derſelben mehr überraſcht wie ich ſelbſt. Hl dieſelbe direet veranlaßt oder gewünſcht, fo hätte ich für die Oeffent Vieles anders ausgedrückt, als es in zwangloſer Weiſe in einem Privall geichieht. Ich erhielt nicht einmal den Correcturbogen zu der üblichen 9 fit, refp. Aenderungen zugefchidt und fomit Fann ich eigentlich meinem ar auftretenden Freunde B. in N. den Vorwurf einer, wenn auch gut geme Uebereilung kaum erfparen. Er hatte mich erfucht, ihm zur Befpre meine® neuen Werkes „Ornamente der Gewebe" biograpbifche Notize geben, meil er mußte, daß ich unter den wechſelvollſten Ereigniffen 15 $ lang an diefem Werke gearbeitet habe und diefe Ereigniffe für die Vollenk wie für die Anlage des Werkes von Einfluß waren. Ein Rückblick auf gangene Tage ift und von Nuten und zur Gelbftfenntniß fo nothwe wie die Addition einer langen Zahlenreihe. An den Feuilleton⸗Styl gen der ja nichtö mehr und nichts weniger ift, ala die Fünftlerifche Form im ( fage zur rein miffenfchaftlichen Abhandlung, erhielt daher mein Brief die $ eines Feuilletond, welche meinen Freund verführte, dasſelbe felbft in primitiven Neglige-Zuftande mit einem ftarf gepfefferten Lobe Ihren Leſer präfentiren. Die Zufohriften vieler Ornamentiften und Zeicheniehrer, 1 fi in Folge der Publication Rath erbaten und das wachſende Intereſſ ein in Deutfchland ſchwach vertretened Fach, verföhnen mich zwar m Uebereilung meines Freundes, jedoch halte ich es für angemeffen, die ni Nahfiht Ihrer Leſer durch obige Mittheilungen mir zu erbitten. |

Hochachtungsvoll und ergebenft Hanau, den 10. Dec. 1874. Friedr. Fiſchbach

Mit Januar 1875 beginnt die Zeitſchrift das L Quartal

34. Jahrgangs, welches durch alle Buchhandlungen und $ anftalten des In: und Auslandes zu beziehen ift. Preii Duartal 7 Mark 50 Pfennige. Leipzig, im Dezember 1874. Die Verlagshandlun

Beranttoortlicher Redakteur: Dr. Sand Blum in Leipzig. N Derlag von $. 2. Herbig in Leipzig. Drud von Hüthel & Regler in 2

„Sad g

2 2 = XXIII. Jahrgang. II. Semefter,

Die

Grenzboten.

Zeitfſchrift für

Yolitik, Literatur und Kunſt. N: 52,

Ausgegeben am 25. December 1874.

| Inhalt:

| Seite

u Die Münztrifis und die erfte Lefung des Bankgeſetzes im Reichätage- Bei Ra . 2.2: 5:35 4 481 - Wilhelm Endemann's neueftes Werl. H. . . 2... 487 * Plaudereien aus London. 3. Alfred Blum. . . 2... 491 Statiſtiſches an Topogtaphiſches vom Oruslande. H.Schmolfe 501 De BrmB 2a 508 Bom deuten Reihätag. CH. . » 2 2: 2 rennen 515

Grenzbotenumfchlag: viterariſche Hierzu eine literarifche Beilage von Eduard Trewendt in Breslau.

HF DAFT nm

Friedrih Ludwig Herbig. (Ir. Bird. Grunow.)

—— ———

Die Münzkrifis und die exſte Sefung des Yank- gefeßes im Reichskage.*) Bon Mar Wirth.

Die Verhandlungen des Reichstages bei Gelegenheit der erften Leſung des Banfgefegentwurfes waren nicht blos deshalb von hohem Intereſſe, weil fie mit der Vermeijung an die Commiffion endigten und damit die Hoffnung auf den Sieg der Reichsbank-Idee ftärkten, fondern auch weil fie die Ausficht gewähren, daß die KHrifis, im der wir und befinden, glücklich gelöft werde, nachdem das Urtheil über die Rage durch die im Reichstage gegebenen Auf- ſchlüſſe geklärt worden ift. Diefelben find nad) ihrem Gegenftande in zmei Theile zu theilen, in die eigentliche Bankfrage und in die damit zufammen- hängende Frage der Ausführung der Münzreform. Die Vertreter der Reichs— regterung wiederholten dad ſchon in den Motiven des Gefegentwurfes ausge ſprochene Geftändnig, daß der Banfgefegentwurf eigentlich hauptſächlich den Zweck habe, die Ausführung de Münzgefeges zu fihern und ergriffen dabei dte Gelegenheit , die Interpellation theilweife zu beantworten, welche in Be— ziehung auf die lettere Frage formulitt worden waren. Indeſſen find die Geftändnifje des Präſidenten des Reichskanzleramtes Staatöminifter Delbrüd derart, daß wir auch nicht ein Wort unſerer früheren Erörterungen zurück— zunehmen haben. Aus den Erklärungen des Letzteren erfahren wir zunächſt, daß am Ende des vorigen Jahres 178%, Millionen Thaler in Noten in Um— lauf waren, melde auf Beträge unter 100 Mark Tauteten. Derfelbe nimmt an, daß 78'/, Millionen davon auf 25:Thaler-Scheine zu rechnen find, welche leicht durch 100-Marknoten erſetzt werden können und giebt felbit zu, daß die Note von 100 Mark nicht geeignet fet, die Banknoten von 1, 5, 10 und 20 Thalern zu erfegen, welche noch im Betrage von 100 Millionen Thalern umlaufen. Delbrück gefteht, daß dur den Wegfall diefer Kleinen Noten eine mwefentliche Befchränfung des Zettelumlaufe eintreten werde. Diefer Ausfall ift daher mit 50 Millionen Thaler eher zu gering angefchlagen und die

*) Wegen Ueberhäufung mit dringlicherem Stoff fönnen wir diefen Aıtifel unferes ten Mitarbeiters leider erſt heute bringen, D. Red Grenzboten IV. 1874. 61

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Gireulationdmittel würden in Folge der Annahme des Entwurfes fih unter ven Normalbedarf vermindern und die Gefahr bringen, die Preife fpäter ebenfo zu drüden, wie fie bisher gefteigert worden find.

Der Bertreter der Neichäregierung betheuerte, daß diejelbe es fich ala ihre Aufgabe geftellt habe, bei der Ausführung des Münzgeſetzes ſowohl für einen ftarfen Vorrath von Goldmünzen zu forgen, als auch die Prägung von 1- Markftüden, von 20-Pfennigftüden, fowie von Nidel- und Kupfer- münzen fich angelegen fein zu lafien. Wir müfjen geftehen, fo gern wir diefe Betheuerung vernehmen, fo wenig fleht fie mit den Thatfachen in Ueberein- ftimmung. ‚Uns ſcheinen die Prägungen, namentlich der Scheidemünzen, mit ungewöhnlicher Yangfamfeit vorzugehen, insbefondere, wenn man bedenkt, daß noch feinem Staate in ähnlicher Lage foviele Münzftätten zu Gebote ftanden, wie dem deutjchen Neiche, dem überdied noch die Hilfe der öſter— reihifhen Präge-Anſtalt ohne Zweifel zugeftanden werden würde. Man muß in der That ftaunen, wenn man bedenft, daß die Ausprägung fämmtlicher Schweizer Münzen bei der Münzreform 1852 innerhalb eines Jahres vollendet war, während am 10. Detober d. J. im deutfchen Reiche erft 11 Millionen Thaler an Silbermünzen, 1 Million Thaler an Nikelmünzen und 0,5 Millio- nen Thaler an Kupfermünzen ausgeprägt waren. Denn bedenft man, daß nad Artikel 4 de8 Münzgeſetzes der Gefammtbetrag der Reichöfilbermünzen bi8 auf 410 Millionen Mart und nad) Artikel 5 die Nidel- und Kupfer- münzen bi8 auf 102 Millionen Marf erhoben werden fünnen, und daß biefe Summe von zufammen 170 Millionen Thaler von dem Verkehre, der bisher an das Silber gewöhnt war, auch volljtändig in Unfpruch genommen werden wird, fo hätte man 10 Jahre zu prägen, wenn man in dem Tempo fort- fahren würde, welches in diefem Jahre eingehalten worden. Auch die Her: ftelung der Reichsgoldmünzen hätte mehr befchleunigt werden können; indefjen würden wir und in Beziehung auf fie leichter zufrieden ftellen laffen, wenn fie nur vorfichtiger zurüdgehalten worden wären. Denn in diefem Falle ließe fih von jest an in Furzer Zeit der nöthige Vorrath ergänzen, um die Aus- führung des Münzgeſetzes raſch zu vollenden. Leider ift dies nicht gefchehen. Unfere Befürdhtung bleibt vielmehr nach den Geftändniffen ded Präfidenten des Reichskanzleramtes beftehen. Derfelbe hat nämlich) die nachfolgende Er- klärung abgegeben:

„Wir hatten am Schluffe ded vorigen Monats 362 Millionen Thaler in Gold geprägt. Von diefen befinden fich 40 Millionen im Neichäfriegs- Ihat zu Spandau und, von dem Reſt von 322 Millionen ift in Abzug zu bringen der, gewiſſen Schwankungen unterliegende Beftand, welcher dauernd in der Bank ſteckt. Der Baarvorrath, den die deutſchen Banken, mit Aus— nahme der baterifchen, Ende September Hatten, betrug 289°, Millionen. Es

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wird auf die unbedingte Fortdauer eined Baarvorraths in diefer Höhe kaum zu rechnen fein und noch weniger ift es beftimmt zu fagen, wie viel dieſes Vorraths gemünztes Gold ift. Allein nach meinen Schägungen können wir den Vorrat gut und gern auf 150 Millionen Thaler rechnen. Es würden mithin von den bisher geprägten Reichsgoldmünzen 172 Millionen Thaler übrig bleiben. Won dem Beitande ijt zunächſt ein Theil beftimmt, diejenigen metalliſchen Umlaufämittel zu erfegen, welche mit Erlaß des Bankgeſetzes aus dem Verkehr zurücktreten. Es find died zunädhft in Gold 30,800 Thaler, fodann an 2-Thaler-Stüden 6 Millionen Thaler, in Kron- und Convention®- thalern 3,790,000 Thaler, in 2:Guldenftüden 8,400,000 Thaler, und in Ein- thalerftüden 19,020,000 Thaler, zufammen 68 Millionen Thaler.“

Herr Minifter Delbrücd gefteht alfo mit diefer Erklärung zu vor Allem durch die Erwähnung, daß er nicht beftimmt zu fagen wife, wieviel der Vorrath an gemünztem Golde bei den deutfchen Banken ſei, daß die biöher geprägten 362 Millionen Thaler Reichsgoldmünzen größtenthetil® dem Ver: fehr übergeben worden find Aus feiner Bemerkung, daß 172 Million davon übrig bleiben, geht nicht hervor, ob diefelben im Staatsſchatze liegen. Da Minifter Camphaufen in derfelben Sitzung erwähnte, daß bei den preußifchen Banken allein 171 Millionen in Goldmünzen und Barren. fi befinden und da Delbrück den Gold-Vorrath der deutfchen Banken nur auf 150 Millionen ſchätzt, ſo follte man faft glauben, daß der obige Reſt der Goldmünzen bei den preußifchen Banken deponirt if. Set dem aber, wie ihm molle, fovtel geht aus der Erklärung des Miniſters Delbrüd unzweifelhaft hervor, daß wenigfteng 190 Millionen Thaler Reichsgoldmünzen dem Verfehr übergeben worden find. Dieje follen noch um 68 Millionen zur Einziehung der oben genannten alten Münzen vermehrt werden. Da nun bi8 Ende September an alten Silbermünzen nur gegen 37 Millionen Thaler eingezogen worden waren und die eingezogenen oder noch einzuziehenden alten Goldmünzen nad Soetbeer (j. Deutfches Handeldblatt No. 44) nur auf 15 Milltonen Thaler zu fchägen find, fo wäre der Metallgeldvorrath des deutfchen Reiches durch die Ausgabe der Neichdgoldmünzen um eine ungeheuere Summe vermehrt worden, welche mit 30pet. eher zu niedrig angefegt if. Wir waren daher jehr begierig, au8 dem Munde des Minifterd zu erfahren, mit welchen Argu- menten er dieſes Grperiment zu rechtfertigen gedenft, wie er der Gefahr zu begegnen gedachte, daß entweder die Preife um 30pet. ftiegen, oder nad) Be- ginn des Sinkens des Silberpreifes die Goldmünzen in einem ähnlichen Be trage eingefchmolzen oder ausgeführt werden, ein Fall, der wirklich ein- getreten ift, und den die Vertreter der Neichdregierung zwar abzufhmwächen verfuchten, aber nicht zu leugnen vermochten. Der einzige Grund, den wir finden und welcher auch wohl dad Hauptmotiv des Reichskanzleramtes ges

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weſen fein wird, tft in dem nachfolgenden Sat enthalten: „Das Geheim- niß unferer Zeit ift, Feine Zinfen zu verlieren, feine über» flüffigen Eaffenbeftände zu haben.“ Diefer Satz ſcheint denn auch dem zweiten Vertreter der Neichdregierung, Heren Finanzminiſter Camphauſen etwas zu gewagt zu erfcheinen, denn er lehnte eineätheild für feine Perfon die Solidarität mit dem Neichdfanzleramt ab, indem er über einige Be merfungen Bamberger’3 wörtlich fagt: „Was feine Kritif über die bisherigen Dperationen zur Durchführung der neuen Währung betrifft, fo habe ich ſchon früher bemerken müflen, daß ich weder die Rechte noch die Pflichten eines Yinanzminifter8 gegenüber dem Reiche habe. Es tft das Sache ded Reichskanzleramtes.“ Andererſeits geſteht er offen zu, „daß wir unter erhöhten Mebelftänden zu leiden Haben würden,“ wenn mir die Doppelwährung (die gegenwärtig factifh befteht, auch) gefeglich eingeführt hätten. An einer andern Stelle machte Camphauſen folgende, dahin bezüg- liche Bemerkung: „die preußiiche Regierung hat jederzeit ein raſcheres Tempo in der Einziehung der Silbermünzen empfohlen, in Süd— deutfchland hat ſich indefjen ein folches nicht durchführen laſſen“ und fügte dann fpäter Hinzu: „wir haben keineswegs fo leichtfinnig darauf los gewirth— ſchaftet.“

Dieſe Bemerkung wird aber vollſtändig in Schatten geſtellt durch das wichtige Geſtändniß, „daß beider preußifhen Banffeiteinem Jahre die Hälfte des gefammten GSilbervorrathes abgefloffen fei* Herr v. Samphaufen fagt und zwar, dies fei gefchehen, weil der Verkehr das Silber" gebraucht habe und verfchweigt den wirklichen Grund. Da er aber oben felbit indireet zugeftanden hat, daß wir Nachtheile aus der eingetretenen factifehen Doppelwährung haben müſſen, jo wollen wir nachftehend an feiner Stelle den wahren Grund angeben: das Gilber ift von den preußifchen, ſowie auch von den anderen deutfchen Banken abgefloffen, weil die Banken natürlicherweife lieber da8 höher im Curs ftehende Metal das Gold in ihren Baarſchätzen behielten, denn bas Sinken des Silberpreifes Hatte ſchon vor zwei Jahren begonnen. Das Gold bildet alfo bei den Baarſchätzen der deutfchen Banfen, welche, fo lange die alten Silbermünzen gefetliche Kauf kraft nach ihrem Nominalmerth haben, natürlich lieber mit diefem zahlen, die unterfte Schicht ded Geldrefervoird, die von dem Noteneinlöſungsgeſchäft wenig oder gar nicht berührt wird. Da nun aber der größte Theil der früher in den Kellern der Banken gehüteten Silberfhäge in den Verkehr ge floffen tft, fo mußten natürlich die in dem Umlauf des Inlandes etwa noch gebliebenen und nicht/von den Banfen mit Befchlag belegten Neichägoldftüde fih aus dem Verkehr zurüdziehen, weil die Händler daran ein ſtarkes Agio verdienen Eonnten. Die Erklärungen der Minifter haben alfo unfere Annahme

wi. En ]

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nicht geſchwächt, geſchweige denn widerlegt. So lange die franzöfifchen Zahlungen nicht abgewidelt waren und der MWechfelcurd zu Gunften Deutfch: lands ftand, wird allerdingd Gold nur in feltenen Ausnahmen erportirt worden fein, hingegen mußten, wir wiederholen es, die Waarenpreife und Löhne eine locale Steigerung erfahren. Ganz unausbleiblih war es aud, dag die Inländifchen Goldfabrifen und Goldfchmiede Reichsgoldmünzen mit Silberthalern auffauften und einfchmolzen. Als die franzöfifchen Kriege: entihädigunggzahlungen abgewidelt waren, mußte die Ausfuhr von Gold gerade fo gut vor ſich gehen, wie es in der Schweiz gefchehen tft und zwar in noch höherem Maße, weil der Borrath an Elingender Münze über den Normalbedarf vermehrt worden war. Wir ftehen alfo pofitiv vor der Gefahr, dag die Einführung des Münzgefeges unmöglich wird, menn man in der bie vor Kurzem beobachteten Politik verharrt. Unfere Befürchtungen werden nicht befhwichtigt durch die Verficherungen Delbrück's, er glaube nicht, daß der jebige Stand durch Goldausfuhr erheblich werde gefchmälert werden oder dadurch, daß Camphauſen „zur Beruhigung des Publieums erklärt, daß die Einfhmelzungen von Reichdgold in Brüffel bisher eine Million Thaler nichı überfchritten hätten“. Es handelt fih nicht blo8 um Brülfel, ſondern aud) um Paris, wo Arbitrage-Operationen durch den Zwangseurs erleichtert werden und namentlih um das Einfchmelzen und Berfteden ded Golded im In— lande felbft. |

Um dem Borwurf einer unfruchtbaren Kritit zu entgehen, wiederholen wir unfere pofitiven Vorſchläge, die und allein geeignet erfcheinen, um die Durchführung der Münzreform glüdlich zu vollenden.

1) Die Reichöregierung muß alle Reichögolditüde, über die fie gebieien fann, bi8 auf MWeitered aus dem Verkehr zurücdhalten.

2) Sie muß fo rafch ald möglich den erforderlichen Vorrath an neuen Gold» und Silbermünzen berftellen, um die Ummechfelung fodann auf einen Schlag, in Fürzefter Frift, an möglichft vielen Einlöfungsfaffen bewerkitelligen zu können. Wir erfahren mit Vergnügen aud dem Munde des Herrn Gamphaufen, daß die Reichsregierung nur den Telegraphen fpielen zu lafjen braucht, um den genügenden Goldvorrath zu diefem Zwecke aus dem Auslande zu beziehen. Auch hoffen wir, daß die abichlägige Antwort, welche jüngft die Handeläfammer in Sorau auf ihre Bitte um Verabfolgung einer Summe neuer Goldftüde erhalten hat, dahin audgelegt werden fann, daß die Neichdregierung begonnen hat, die erft genannte Vorfihtämaßregel zu ge brauchen. |

3) Um aber die üblen Folgen der zu frühen Ausgabe des bereitö dem Berfehre übergebenen Theiles der neuen Goldmünzen möglichſt abzufchmächen und einen magnetifchen Einfluß auf die legteren zu üben, könnte noch folgende

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Maßregel ergriffen werden: Nach dem Reichsmünzgeſetz, Art. 9 it Niemand verpflichtet, nach Inkrafttreten dieſes Geſetzes, Reichsſilbermünzen im Betrage von mehr ald 20 Mark und Nidel- und Kupfermünzen im Betrage von mehr als einer Mark in Zahlung zu nehmen. Da nun nad) demfelben Ge fee die Anordnungen der Außercuräfegung der Landesmünzen u. f. w. durch den Bundesrath zu erfolgen hat, jo ftände es in dem Bereich der Regierung, dem Ziele durch BZmifchenmaßregeln ſich allmälig zu nähern, indem fie proviforifch die höchſte Summe des zu Zahlungen gefetlich erlaubten Silbers z. B. auf 100 Thaler feftfegt. Freilich wären dabei gewiſſe Vorſichtsmaß— regeln, 3. B. eine Ausnahmeftellung der Banken unentbehrli, weil die Metallhändler fonft diefe Maßregel gerade ald ein Mittel zum Herausziehen der Goldbeftände aus den Baarbeftänden der Banfen benügen könnten. Wir würden megen diefer Gefahr deshalb auch auf diefed Proviſorium nur wenig Gewicht legen. Die unter 1) und 2) aufgeführten Maßregeln aber halten wir unbedingt für nothwendig, fei der Zindverluft, welchen der. Präſident des Reichskanzleramtes befürchtet, auch noch fo groß.

Für ganz ungeeignet aber, die der Münzreform drohenden Gefahren zu zerftreuen, halten wir den vorgelegten Bankgefegentwurf, weil darin von der Errichtung einer Reichsbank Umgang genommen war. Dieſe Frage bildete den zweiten Theil der Eröffnungen der Vertreter der Reichdregierung. Wir müffen geftehen, daß wir über die Schwäche, ja den Mangel aller jtid- haltigen Gründe gegen die Reichsbank in wahrhaftes Erftaunen gerathen find. Wir können dieß hier nicht näher motiviren, nur einen Punkt er lauben wir und zu berühren. Man fcheint das Hauptgewicht auf die durch die Sprocentige Notenfteuer bezweckte indirecte Sontingenttrung zu legen, melde eine indirecte Nachahmung der in der Praxis fo kläglich verunglüdten Con tingentirung der Bank von England if. Wie die Sachen ſtehen, fcheint dabei die Einrichtung einer Reichsbank nad) dem Mufter der englifchen Bank viele Anhänger zu haben. Wir wundern und befonderd darüber, daß Camp haufen, der doch die Vorzüglichkeit der Einrichtung der franzöfifchen und preußifhen Bank vor der der englifchen zu gut Fennen follte, eine folde Forderung ftellen zu können meint. Wir wollen heute aber nur_ die Haupt wirkung hervorheben, welche jene indirecte Gontingentirung haben würde Bekanntlih ift das Bedürfniß an irculationdmitteln am ftärkiten beim Ausbruch einer politifchen oder mirthfchaftlichen Krifis, gegen melche gerade die Kontingentirung ein Schugmittel bilden fol. Das Mißtrauen, welches beim Ausbruch einer Krifiß einzutreten pflegt und oft bis zu einer Panique fich fteigert, Hat noch jedesmal bewirkt, daß alle Welt feine Geldvorräthe einfperrt, weil die Banken ihren Credit befchränfen oder kündigen und daf ein Mangel an Umlaufämitteln eintritt, dem nur durd größere Notenaudgabe

von# Seiten der großen Zettelbanfen gefteuert werden Fann. Werden nun die im höheren Betrage ausgegebenen ungedrudten Noten dur eine Abgabe von 5 Proc. befchwert, fo ift die Bank genöthigt, ihren Discontoſatz noch mehr”zu erhöhen, ala e8 die Lage des Geldmarftes an fich erfordern würde. Das Gefhäftspublicum wird alfo gerade in der kritiſchſten Rage, in welcher die Bankforganifation Schuß gewähren follte, ftärfer beeinträchtigt, als in ruhigen Zeiten.

Die englifhe Banfacte, welche die Contingentirung vorfchreibt, mußte aus diefem Grunde drei Mal in den Kreifen von 1847, 1857 und 1866 ſuspendirt werden, weil die ganze Wirthſchaftsmaſchine ftill zu ftehen drohte.

Die Contingentirung hat nur Sinn da, wo der Zwangseurs befteht. Da es aber zu diefem in Deutfchland gar nicht kommen kann, ſo iſt diefe Maßregel überflüffig und fchädlich.

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Wilhelm Endemann's neueſtes Werk,

Unſere Leſer werden ſich wohl jenes höchſt intereſſanten Aufſatzes über die Wechſelmeſſen erinnern, den Wilhelm Endemann im vorigen Jahre in den Grenzboten veröffentlichte. Den Eindruck, den die Arbeit des gelehrten Mannes auf den verſtändigen Laien und Praktiker geübt haben mag, habe ich damals recht deutlich ermeſſen an dem Ausſpruch eines der feinſinnigſten und in feiner Vaterſtadt wegen feiner großartigen Munificenz rühmlichſt be— fannten deutſchen Bankierd, der Endemann’d Behandlung gelefen hatte. Ich babe die Furzen Worte nicht ftenographirt, aber fie haften aud) ohne Kurz fhrift treu im Gedächtniß. Endemann hatte in jenem Artikel gezeigt, wie der Wechfel und die Wechſelmeſſen die Form waren, in der dad Bedürfnig der mittelalterlihen Creditwirthichaft das Eanoniftifhe Wucher- und Zind- verbot umging, und ein wahrhaft moderne? Umlaufdmittel ſchuf. Und diefer jedem Laien verftändliche fulturhiftorifche Effay veranlaßte unfern Bankier zu ſehr verftändigen Weußerungen über diefen vor mehr als einem halben Jahr— taufend gefämpften „Kulturfampf* gegen die Kirche. Ach glaube, menige Refer haben den Auffas Endemann’d über die Wechſelmeſſen fo ganz in feiner vollen Tiefe erfaßt, wie diefer praftifche Denker. Denn Endemann felbit fagt in feiner Einleitung zu feinem neueften Werke, „Studien in der Roma- niſch-kanoniſtiſchen Wirthſchafts- und Rechtslehre bis gegen

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Ende des fiebzehnten Jahrhunderts” *), fat genau und wörtlich dasfelbe, mas jener klare Praktiker fih aus dem viel engeren Thema Endemann's „heraus genommen“ Hatte: „bier galt e8 darzulegen, wie fehr die Fanonifchen Recht anfichten auf die Geftaltung des Rechts eingewirkt haben, zugleich aber auch, warum dieje Fanonifhe Wirthſchaftslehre, welche von der Kirche mit der Fülle ihrer Macht Jahrhunderte lang aufrecht erhalten wurde und noch heute von der orthodoren Doctrin nicht aufgegeben tft, im Widerftreit mit den realen Kulturzuftänden endlich) doch hat unterliegen müfjen. . . . Sicherlich vermin- dert fich das praftifche Intereſſe nicht, wenn zugleich erfichtlich wird, mas die Geſetzgebung des Staated fogar auf privatrechtlichem Gebiete zu gewär— tigen hätte, wofern die Fatholifche Kirche noch einmal verfuchen follte, die Prätenfion ihrer Herrfchaft, der fie keineswegs entfagt hat, von Neuem gel- tend zu machen. Das Gebiet der Moral eritredt ſich, wie gezeigt werden wird, fomwelt, daß unter diefem Titel die unfehlbaren Erklärungen des Ober— hauptes jeher wohl diefelbe Herrfchaft über die Nechtögefeggebung wieder zu erobern ſuchen kann, welche die Fanonifche Dogmatik einft thatfächlich geübt bat."

Man fieht, wie nahe die dem modernen Xeben fcheinbar fo fern liegende Arbeit, den michtigften Problemen der Gegenwart tritt. Es ift im Grunde nichts andere® als das freudige, Siegespanier, das wir in dem heifeften Kampfe hochhalten, den Deutfchland feit Jahrhunderten gekämpft, das diefe Schrift uns troftreich entfaltet. Ste giebt und die Gewißheit, daß Deutſch— lands ungebrochene Volkskraft, unter den denkbar ungünftigften Verhältnifien, den Machtgeboten und Machtmitteln der einigen Fatholifchen Kirche, ungeachtet ihrer vielhundertjährigen Hebung und Gewohnheit, fiegreich getroßt hat, um leben und wirken zu können im Wettkampf mit den andern Nationen Euro pas. Dieſer Gedanke tft fehr tröftlih. Denn wir haben nicht den Schatten eined Grundes für die Annahme, daß unfer Volk heute weniger thatkräftig und mächtig fei, ald vor einem halben SJahrtaufend.

Und aus einem andern Grunde noch iſt das vorliegende Wert Ende mann's ſehr erfreulich und troftreich für unfere Gegenwart. Ganze Reihen von Generationen haben mit fchwerer Gelehrfamfeit und größtentheils im beiten Glauben an der Fabel gearbeitet, daß Deutfchland im Mittelalter ſchlankweg das Römiſche Recht Juſtinian's als Grundlage des gefammten deutſchen Privatrechtes „reeipirt* habe und nach der Meinung vieler ge lehrter Männer noch bis zum heutigen Tage als das einzige „gemeine deutjche Privatrecht beſitze. Es ift tröftlih, meine ich, bei Endemann den genauen wiſſenſchaftlichen Nachweis zu verfolgen, daß diefed Märchen im der

*) Erfter Band; Berlin, 3. Guttentag (D. Eollin), 1874.

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That nur bei einer völligen Verfennung der wirthſchaftlich-privatrechtlichen Entwidelungsperiode des Mittelalter fo breiten Glauben gewinnen Eonnte. „Niemals können die für das Verkehrsleben beftimmten Rechtsnormen wahr- haft erklärt und begründet werden“, fagt Endemann, „ohne die in der Praxis des Verkehrs maßgebenden Anfichten zu Rathe zu ziehen, deren Summe mifjen: ſchaftlich begriffen jene Philofophie der materiellen Güter darftellt, welche als Volkswirthſchaftslehre bezeichnet zu werden pflegt. Selbit da, wo die Rechts— lehre in fchematifchem Behagen ſich möglichft in fich ſelbſt abſchloß, wurde fie unbewußt von den Strömungen diefer Anfichten beeinflußt. Der Satz, dag Rechts- und Wirthſchaftslehre folchergeftalt in untrennbarem Zufammen- hange ftehen, bewahrheitet fich namentlich, wo es gilt, die Entwidelung des mittelalterlichen Verkehrsrechtes zu erforfchen. Wie fehr folhe Erforfhung Bedürfniß ift, erhellt leiht. Das mittelalterliche, romaniſch-kano— nifhe Recht bildet die nächte Vorftufe ded gegenwärtigen. Aller Eifer um die richtige Erfenntniß des altrömifchen Rechts, um die volle Einfiht in den Gang feiner Entwidelung bi8 zu Juſtinian und bi® zu den Gloſſatoren zu gewinnen, bleibt Stüdwerf, fo lange man ſich nicht klar macht, welche Ummandlungen feitdem eingetreten waren, als in umgemwandelter Geftalt das römifche Recht auch in Deutichland aufgenommen wurde. Niemand Fann heutzutage an das Märchen einer Neception des römischen Rechts in dem Beftande glauben, den erit Jahrzehnte hindurch fortgefegte Arbeit unter dem Schutte der Vergangenheit audzugraben begonnen hat. Niht das römische, fon- dern dad romaniſche, längft vorher von dem Einfluß der fa- nontfhen Gefeggebung und Doctrin durhdrungene Recht haben wir thatſächlich recipirt. Wer alfo mit den wahren hiftorifchen Thatfachen rechnen, die Entwidlung ded Rechtes bis zur Gegenwart nicht nad theoretifchen Fictionen, fondern nach dem wirklichen Verlauf Fennen will, für den tft ed unmöglich, über die breite Lücke hinmwegzufpringen, welche die mittelalterliche Dogmengejchichte des Rechte zwifchen dem altrömijchen und dem modernen Recht darftellt.*

Es iſt nicht Endemann’d Abſicht geweſen, das gefammte Verkehrsrecht des Mittelalters und deſſen Entwickelung zu ſchildern, eine das geſammte Verkehrsrecht umfaſſende Geſchichte der mittelalterlichen Dogmatik zu liefern. Eine ſolche Aufgabe würde in der That der Zeit nach an einem doppelten Hinderniſſe ſcheitern. Das ungeheuere Material liegt noch faſt chaotiſch durch— einander, nicht einmal die Quellennachweiſe erſcheinen irgendwie erſchöpfend abgeſchloſſen und geordnet. Und ſodann widerſtrebt der Zuſtand der mittel— alterlichen Doetrin ſelbſt wie kaum eine andere den heutigen Anforderungen an eine ſyſtematiſch zuſammenhängende Darlegung. Man mag noch ſo hoch

denken von dem wunderbar ſcharfſinnigen und geſchloſſenen u des Fano» Grenzboten IV, 1874,

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nifhen Kulturgebäudes, der kanoniſchen Rechtsordnung, auf allen Gebieten, auf denen fie einft mächtig emporragten über die Staaten und Völker der mittelalterliben Welt: der Juriſt wird dennoch überall daran erinnert, daß dieſes Gebäute und diefe Ordnung auf einem Fundamente ruht, das mit rechtlicher Beurtheilung und Gonftruction fo wenig ald möglich zu thun hat, auf dem blinden Glauben, dem zwingenden Dogma. Daher muß die Grund lage verfinfen und der folge Bau ftürzen, fobald der Glaube wankt und der Zwang ded Dogmas bezweifelt wird. Es genügt, daß Endemann den Ber: lauf diefer natürlichen Entwidelung an einzelnen Rechtserſcheinungen bis Ins Kleinfte nachweiſt. Damit iſt für mande anderen der leitende Tingerzeig gegeben, den Spuren zu folgen, welche zuerft die eracte aber verältete Denk meife des Römerd, dann die humane Tyrannis der Fanonifchen Theorie, dann das Bedürfniß moderneren Freiheitäftrebend in den gangbaärften und wid- tigften Formen des Rechtsverkehrs Hinterlafjen haben. Auch die unmittelbaren Folgerungen für die Gegenwart wird der Sachkenner überall direct an dieje Nachweiſe Entemann’® anzufnüpfen vernögen. Ragen doch fo viele beaux restes der mittelalterlichen Wucherlehre z. ®. unmittelbar in die Gegenwart, in zahlreichen Dunfelheiten, Controverfen und Schrullen des lebendigen Rechtes in wichtigen Zweigen des öffentlichen Verkehrslebens.

Jedem, der die beiden Bücher ftudirt hat, wird die Verwandtfchaft auf fallen, welche diefe Unterfuchungen Endemann's mit denen Wilhelm Roſcher's in feinem neulich befprochenen Werke, die „Gefchichte der Nationalöfonomil* haben. Der Natur der Sahe nah iſt Endemann’? Aufgabe etwa in dem: felben Maaße begrenzter, wie Roſcher's Unternehmung gegenüber der Gefchichte und Literatur der Staatömifjenfchaften, die Robert von Mohl zu liefern unternommen. Endemann mußte in engerem Rahmen arbeiten, weil die nattonalöfonomifche Theorie der pofitiven Rechtsverkehrsnorm gegenüber die leichte Erpanfivfraft de8 Dampfed im Vergleich zum Waſſer befist. Das Verfehre recht if die zum Gemeingut der Nation gewordene Anerkennung einer beftimm- ten Theorie der Volkswirthſchaft. Und die Völker Ieben bei meitem lang: famer und zäher ala die einzelnen Denker. Aber dafür ift Endemann’s Auf gabe und Darftellung infofern auch reicher, wie diejenige Roſcher's, als Endemann au die praftifche Uebung und virtuofe Veberlegenheit des Wirthſchaftslebens über die kanoniſch-romaniſche Doctrin zur Anſchauung bringen fann, während Rojcher, feinem Plane gemäß, nur die Umrifje und Wandlung der nationalöfonomifchen Theorien in Deutfchland feit Ausgang des Mittelalter und vorführt. Auch dur das Uneinanderpaffen der beiden Geſchichtsperioden, der mittelalterlihen Endemann’d zur modernen NRofcher's, ift das gleichzeitige Erfcheinen der beiden bedeutenden Werke befonders erfreulid.

98.

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Hlandereien aus Jondon. 3.

Während das gewöhnliche Londoner Wohnhaus ein befcheidened und einfaches Aeußere zeigt; während großartige Brivatgebäude, im directen Widerſpruch mit dem, nach continentalen Begriffen, unermeglichen Reihthum der Stadt und ihrer Bewohner, nicht Häufig zu finden find, fo zeigt ſich da» für bet allen öffentlihen Bauten, befonderd in den neuern Straßenan: lagen, den Kais, den fohönen grünen Plätzen, überall ein großartiger Sinn ausgeprägt. Aber auch hier ift es durchaus nicht dad Streben nad Ver— ſchönerung der Stadt, welches die Projectirung und Ausführung folder Bauten eingab und in allen ihren Theilen beeinflußte, fondern beinahe einzig und allein das Nüslichkeitäprinzip, fodaß diefes fi auch naturgemäß überall deutlich erfennen läßt.

Daß dabei fehr weſentliche Verſchönerungen als Nebenzweck erreicht worden, ift wohl felbftredend und ficherlich werden diefelben auch von vielen, oft maßgebenden Merfönlichkeiten nicht fo ganz als Nebenfahe behandelt, oder vielleicht richtiger gefagt: diefe Perfönlichkeiten wünfchen diefelben nicht zu fehr in zweiter Linie behandelt zu fehen und pflegen diefelben nach beiten Kräften mit vieler Liebe. Im Allgemeinen aber hat der Engländer zu menig Sinn für dad mas die übrigen gebildeten Völker ſchön nennen, um feinen praktiſchen Sinn durch äfthetifche Rückſichten allzufehr beeinfluffen zu laſſen, befonder® wenn letztere den Nützlichkeitsgeſichtspunkten gefährlich werden könnten.

Die zwei Gefihtspunfte, welche die Londoner Behörden in erjter Linie bei ihren großartigen neuen Bauten und ganzen Städteanlagen leiten, find: möglihfte Erleihterung des Verkehrs und Schaffung von ge— ſunder Quft und [hönem Grün inmitten der Häufermaffen, welche bei- den Zwecke fich fehr häufig durch diefelbe Anlage erreichen laſſen. In erfterer Hinficht ift in den letzten Jahren in London außerordentlich viel gefchehen und noch jest werben immer wieder neue großartige Straßendurhbrüche gefchaffen.

Während es der Engländer in allen andern Dingen vorzieht, dem Privat- unternehmungägeift die Herftellung von neuen Verkehrswegen zu überlaffen und 3. B., wenigſtens bis jest, der Begriff der Staatseifenbahn unbekannt und fremdartig tft, fo werden alle diefe großen Straßenanlagen in London und andern großen englifchen Städten faft ausfchlieglich durch die ftädtifchen Gemeinwefen, natürlich unter Aufmwendung enormer Koften ausgeführt.

Es zeigt fich Hier alfo das ganz entgegengefegte Bild unferer deutfchen Hauptitadt, wo ſich neben Staatdeifenbahnen viele Privatgeſellſchaften, oft vergeblih, bemühen das Straßennes der Stadt durch mehr oder minder

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fegendreiche Anlagen zu verbeffeen und oft ihre befte Zeit und ihre beiten Kräfte an den Schwierigkeiten vergeuden, die ihnen durd die fo überreich gegliederten, um nicht zu fagen zergliederten Behörden Berlin, die troß des beiten Willend, aber megen ihrer Bielgliedrigkeit diefe Schwierigkeiten nicht zu bewältigen vermögen, bereitet werden.

Die deutſche Auffaffung der Eifenbahnen als gemeinnüsige Verkehrs— anftalten, die und mehr und mehr zum Staatdetfenbahnfyftem hingeführt bat und täglich demfelben noch näher führt: diefelbe Auffaffung, die auch bet allen Landſtraßen in noch viel ausgeprägterer Weiſe auftritt und mit vollem Recht deren vollftändige Freigabe verlangt, fcheint momentan, befonders in Berlin, in Bezug auf ftäbtifche Straßen etwas verfchoben zu fein, fonft hätte die Stadt felbit ſchon längft die fo nothwendige Schaffung neuer Verkehrswege in die Hand nehmen müſſen. Allerdings iſt bet allen von Privaten ausge— führten derartigen Anlagen durch PBolizeivorfähriften und Conceſſionsbeding- ungen nach beiten Kräften dahin gewirkt worden, das öffentliche Intereſſe zu wahren. Uber in vollem Maaße kann das doc nie gefchehen, denn erftend juchen die Privaten doh ausſchließlich ihren eigenen pecuniären Vortheil und dann fann durch ſolche Privatanlagen fehr leicht die nothwendige Aus führung wirklich geſunder Straßenzüge geradezu vereitelt werden, weil fie häufig zwar annähernd dadfelbe Ieiften, aber aus Privatrüdfichten doc nicht die wirklich einzig richtige Lage erhalten Fonnten und dieſe letztere nun, des nochmaligen Koftenaufmande® wegen, troß des ungenügenden Er- ſatzes doch nicht mehr ausführbar erfcheint.

Zum MUeberfluß werden aber au, troß aller Vorſicht der. Behörden diefe jelbit oft noch getäufht. Sch brauche hier wohl nur an das Geber’iche Anduftriegebäude in der Kommandantenftraße in Berlin zu erinnern. Der Tall dürfte wohl, da er in vielen Blättern feiner Zeit befprochen wurde, auch über Berliner Kreife hinaus befannt fein. Dort fol fi jest die Stadt an- hidden dem Gebäude gegenüber mit großen Koften diefelbe Straßenverbrei- terung vorzunchmen, die fih vor Jahren beinahe ohne Koften dur Zurüd- ſetzen der Fluchtltnie bei dem fogenannten „Umbau“ des fraglichen Gebäudes hätte erreichen Iaffen.

In der englifhen Hauptftadt werden, wie gefagt, beinahe alle diefe neuen Straßenanlagen durch die Gemeinde ausgeführt und diefelbe findet, abgejehen von Katanlagen, auch noch mit der Zeit ihre Rechnung dabei. Der Eng- länder Itebt irgend welche Störung und Schmälerung feine® Beſitzes weniger als irgend font etwas und fo fommt es, daß er in den meiſten Fällen, wo auch nur Eleine Theile feines Grundftüds für die Straßenanlagen gebraudt werden doch auf den Erwerb ſeines ganzen Beſitzes dringt und das Gefek ſchützt ihn auch in diefem feinen Verlangen. So gelangt die Stadt in ben

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Befig von ausgedehnten Ländereien, und wenn diejelben auch die erfte Anlage jehr erheblich vertheuern, fo kann die Stadt doch die dadurch erlangten fehr werthvollen Baupläße, deren Werth natürlich durch die Straßenanlage mefent- ih geftiegen tft, vortheilhaft verkaufen oder verpachten. Letzteres iſt das bäufigere und zwar erfolgt die Ausnusung ded Grund und Bodens in fol- gender Weife. irgend welcher Bauunternehmer pachtet den Pla von der Stadt gegen die Verpflichtung ein Haus darauf zu bauen auf 99 Jahre. Nach Ablauf diefer Zeit muß der Pla& wieder der Stadt zurücdgegeben werben und alle etwa darauf befindlichen Gebäude entfallen dann auch der Gemeinde. Der Bauunternehmer gelangt fo in den Beſitz eines Haufed, das ihm eigen- thümlich gehört, ohne daß der Grund auf dem es fteht, fein Eigenthum ift, er verpachtet oder verkauft wohl auch fein Haus an dritte Perfonen, aber immer fällt Alle nach Ablauf der genannten Friſt an die Eigenthümerin des Bauplatzes zurüd. Diefe Art der Berwerthung der miterworbenen ‘Bar: zellen oder ganzen Grundftüde ift die Negel, vollftändiger Verkauf felten, weil beide Theile ihn nicht wünfhen und niemals führt die Stadt ald eigene Unternehmerin auf ihren Grundftüden Häufer auf.

Auf diefe Weiſe find in den Iebten Jahren in der City die großen ſchönen Straßenanlagen am Holborn-Viaduct entftanden, der felbit auch eine großartige ftädtifhe Schöpfung tft und dazu dient, die fo verkehrsreiche Skinner Street mit dem High Holborn über die nicht minder belebte Farring- don Street hinweg zu verbinden, während früher dort Wagen und Fußgänger einen geradezu gefährlichen Thalübergang zu paffiren hatten.

So ift die ſchöne Queen Bictoria Street im belebteften Theile der un- ermeßlichen Stadt zmifchen der Bank und dem neuen Thamefembanfment theilweife noch im Entſtehen begriffen und fo wird jest wieder eine neue große Straße zwiſchen Charing Croß und der Themfe durchgelegt, durch melde fogar das berühmte Palais des Herzogd von Northumberland mit feinen Prachtgemächern, feinem Kamin aus maffivem Silber und feinen werth- vollen Kunftfammlungen den alles verfchlingenden Verkehrserleichterungen weichen muß.

Es ift fo in England ſchon feit einer Reihe von Jahrzehnten ganz von felbft das Erreicht, mad fo lange in Berlin von vielen Kreiſen vergeben® an- geftrebt wurde, daß nämlich die Stadt bei neuen Straßenanlagen durd alte Stadttheile foviel Grundftüde durch Erpropriationdreht mit erwerben Fünne, daß fie dadurch in den Stand gefett fet, fich durch ſpätere Veräußerung der mit erworbenen und in zweckmäßigſter Weife neu parzellirten Bauplätze für den augenbliclichen bedeutenden Koftenaufwand menigftend einigermaßen zu entfchädigen ; d. 5. daß fie diejelben Bortheile geniegen möge, welche Privat- gefelfchaften durch den freihändigen Ankauf ganzer Grunditüdcomplere, der

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ja befanntlich allen Behörden bei weitem nicht in demjelben Maaße möglich ift, faktiſch auch ohne Erpropriationdreht genießen. Nach dem alten Erpro- priationdgefeg war died unmöglih; und mäÄhrend der Engländer das baare Geld einem noch ungemiffen Gewinn, der fih aus dem etwaigen Steigen eined Merthes feined® Grundftücddrechtes ergeben Fönne, vorzieht, der durch die neue Straßenanlage ja immerhin fehr wahrſcheinlich if, und daher ganz von felbft auf vollftändigen Ankauf feine® Grundftüds drängt, fo bält.im Gegentheil der Berliner auch noch den Kleinsten Reſt desſelben mit bervundernd- werther Energie feft, alle von der immenfen Entwidelung des Verkehrs der neuen Straße erhoffend und erfchwert und vertheuert dadurch den ftädtijchen Behörden die Anlagen gemeinnübiger neuer Verkehrswege fehr erheblich.

Jeder Fremde, der das Parlamentsgebäude in Weſtminſter und die daran anftoßende neue MWeftminfterbrüde betrachtet, wird auch unwillkürlich fein Augenmerk auf das jenfett® der Themfe gelegene neue St. Thomad- Hospital richten, welches mit feinem faubern Ziegelrohbau aus ſchöner grüner Umgebung fo freundlich herausfchaut, daß es unmillfürlih zur Betrachtung herauäfordert. Und wenn man dasjelbe einer näheren Befichtigung unter: zieht, fo wird man ob all der ſchönen zweckmäßigen Einrichtungen ftaunen, die von einem ungewöhnlichen Reichthum Zeugniß ablegen und man wird die gütigen Spender desjelben höchlich loben. Doch nur nicht zu voreilig mit diefem Rob, denn von milden Gaben tft Hier Feine Rede. Wir Haben hier einfach ein eflatantes Beiſpiel vor und, wie Gorporationen, die mit dem Gr- propriationdrecht ausgeftattet worden find, auf Verlangen dazu gezmungen werden, ganze au&gedehnte Befisungen felbft dann erwerben zu müffen, wenn der abfolut nothwendige Grunderwerb auch noch fo unbedeutend tft. Es war hier eine Eifenbahngefellfhaft, die das alte Hospital befchneiden wollte, und diefed hat e8 verftanden, feine alten fchlechten Anlagen nicht allein los zu werden, fondern diefelben auch durch vorzügliche zu erfegen, alles auf Koften der South Eaftern Eifenbahngefelfchaft, die beim Bau der Eifenbahn von London Bridge nad Charing Croß nur die Wahl hatte, eine der größten Brauereien der Welt, nämlich die von Barclay, Perkins u. Cie., oder dad alte Thomashospital zu erwerben und von zwei Uebeln das Fleinere vorzog; von milder Stiftung aber ift hier nicht die Rede, ganz im Gegenteil.

Da wir und einmal auf der Meftminfterbrüde befinden , ſei es auch ge ftattet, de8 fchon vorhin erwähnten Thamefembanfment3 zu gedenken, meldes bei diefer Brücke feinen Anfang nimmt und in der City bei der Bladfrlard- brüdfe endet. Von der MWeftminfterbrüde aus bietet fich dem Beſchauer ein überaus anmuthige® und anregende Bild dar. Eine 30 M. breite Ufer ftraße von Wagen und Spaziergängern ftarf belebt, zieht fih am linken Ufer ſtromabwärts, von derfelben führen zahlreihe Randungsbrüden nad) den

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Landungsplätzen der fo zahlreihen Dampfboote, die unabläffig die Theme auf- und abwärts fahren, und an die Straße reihen ſich die fchönften grünen Parks, über denen die Häufermaflen und Thürme der unermehlichen Stadt beraudragen. An Stelle diefed wirklich prachtvollen Anblicks zeigten fich noch bis vor wenigen Jahren die mwidermärtigften Sümpfe und Moräfte, welche die ganze Gegend zur Ebbezeit verpeiteten, und um diefem Uebelftand abzuhelfen, bat die Stadt dad Thamefembankment mit einem wirklich enormen Koſten— aufwand ausgeführt. Es befteht aus einer mächtigen Ufermauer, die unter den ungünftigften Fundirungsverhältniffen bei einer Fluth- und Ebbedifferenz von 6 WM. auf eine Länge von etwa einer halben deutfchen Meile aus dem fefteften Granit ausgeführt ift. Und hinter diefer Mauer liegen übereinander die unterirdifche Eifenbahn,, deren Sohle unter dem Hochmaflerfpiegel ver Themfe liegt und die ſchöne breite Uferftraße, die auf der einen Seite den Berfehr mit dem fo belebten Strome und auf der anderen mit den herrlichen Park und Gartenanlagen vermittelt. Wahrlich beim Anblide dieſes groß- artigen Unternehmen? kann man mit gerechtem Stolze von dem menschlichen Schaffenstriebe erfüllt werden, der vor Feiner Schwierigkeit zurückſchreckt, der fih die widerwärtigften Naturereigniffe nutzbar zu machen weiß und, wenn auch oft von den Naturfräften arg bedrängt, diefelben doch ſchließlich ſiegreich überwindet.

Diefed Themſeembankment iſt in der Baugefhichte Londons gleich epoche— machend als verfehrserleichternde und gefundheitäfördernde Schöpfung und, nebft der Ganalifation wohl das großartigfte, was die Stadtgemeinde in den legten Jahrzehnten in baulicher Beziehung geleiftet hat.

Über auch aller Orten in der ganzen großen Metropole wird mit rühm- lihem Eifer danach geftrebt, den Bewohnern derfelben ein möglichft großes Quantum guter Quft zuzuführen. Am ficherften läßt fich dies ja ſtets durch Bertheilung von Bäumen und Sträudern durch die Stadt erreichen und fo fehen wir denn auch eine ſolche Maſſe von Parks und grünen Pläten inner- Halb Londons, wie fie wohl Feine zweite Stadt auch nur annähernd aufzu- weifen hat. Zunächſt find hier die weltberühmten großen Parks zu nennen, die im Often und Welten, Norden und Süden angebracht find, und mit ihren unvergleichlich ſchönen Raſen Alt und Jung, Hoch und Niedrig gleich fehr erfreuen. An fchönen Baumpartien und vor allen Dingen an der Mafjen- haftigfeit derfelben mögen die Parks unferer deutfchen Großftädte den eng- liſchen Rivalen weit überlegen fein, unfere öffentliden Promenaden und Gärten zeigen beinahe überall einen waldartigen Charakter, der ficherlich ihren eigenthümlichen Reiz mefentlih erhöht und ih muß offen befennen, daß troß der englifchen Raſen unfere deutjchen urmwäldlichen Gärten auf mid) einen fohöneren und tieferen Eindrud machen, ala die Londoner Parks mit

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ihrer geledten Sauberkeit. Aber was nügt und all unfere Schönheit, menn fie, außerhalb der Städte, wegen der großen Entfernungen von den Wenigſten Teiht zu erreichen ift, und Wochen, ja Monate vergehen können, ehe die Bewohner der entlegeneren Stadttheile ſich derfelben erfreuen. Deffentliche Parks gehören in dad Innere der Städte, und mo feine vorhanden find, möge man melche fchaffen. London zeigt hier ein ehrenwerthes Beifptel und wenn man mir etwa einwenden will, feine deutfche Stadt könne mit London verglichen werden, fo kann ich darauf einfach erwidern, daß es befjer ift, bei Zeiten auch fhon für die Zukunft Hin zu forgen, als fih erft dur noch größere Einwohnerzahl und noch größere Sterblichkeit zu Maßregeln zwingen zu laffen, die dann in der Regel unverhältnigmäßig viel Eoftfpieliger werden, ald wenn fie ſchon eher audgeführt worden wären.

Und nicht allein Parks gehören in das innere der Städte, fondern auch grüne Pläge und auch davon zeigt Kondon einen nachahmenswerthen Reid: tbum. Es wird wohl wenig Pläge mehr in der englifchen Hauptftadt geben, die niht mit Bäumen, Rafen und Sträuchern geziert wären und menn vielleicht auch der Engländer den Werth diefer grünen Pläte etwas zu hoch veranfchlagen mag, wenn die unverhältnigmäßig hohen Miethen für die an ſolchen Plägen gelegenen Häufer fich einzig wegen der größeren Reinheit der Luft kaum rechtfertigen laſſen, jo find fie doch ficherlich bedeutend beſſer und freundlicher ala die Plätze unferer deutfchen Großftädte, die fo Häufig zu weiter nicht® da zu fein foheinen, als zur Anhäufung unermeplicher Sand» maffen, die beim geringften Windftoß die ganze Umgebung der Pläte mit Staub erfüllen; oder die den fchreienden Marft- und Fifchweibern zur fpeztellen Vebung der Stärke ihrer Yungen angemiefen zu fein fcheinen.

Selbft der Trafalgar Square, der mit feinen Steinmafjen eine monumen- tale Wirkung hervorbringen follte, fol jest in einen grünen Plab umge wandelt werden; er wird unftreitig dann auch feinen eben genannten Zweck weit befjer und vollflommener erfüllen, denn Grün iſt einer monumentalen Wirkung ntemald nahtheiltg, fondern viel förderlicher, al® die Anhäufung langmeiltger Steinmaffen.

Um diefe Square und um die im Weſten und Nordweſten gelegenen Parks find denn auch die Paläfte des reichen englifchen Adels gruppirt, hier findet man auch ftattlichere Miethshäuſer und jene, befonderd threr inneren Einrihtungen wegen fo berühmten Elubhäufer der zahlreichen wiſſenſchaft⸗ lihen und Vergnügungägefellihaften. Aber auch felbft hier find die Mieth häuſer in unfchöner Wetfe fohablonenmäßig eins neben das andere geftellt, und ein Blick auf die Speztalfarten Londons zeigt, daß bet ſämmtlichen um einen Platz herum gruppirten Häufern die Grundrißdispofitton völlig überein ſtimmt. Leider ift dasjelbe auch bei der Fagade der Fall, und wenn aud oft

an arena

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mit verfchrwenderifcher Wreigebigfeit, feitend der Bauherrn, mit Granit und Marmor und Statuen aus echtem foliden Material das Aeußere des Haufeg, dem innern Werthe deafelben entjprechend geſchmückt worden ift, fo wirken alle diefe Herrlichkeiten doch entfeglich geifttödtend, meil die ewige Wieder— bolung felbft die ſchönſte Form in den Staub der Alltäglichfeit und in das Gebiet des Lächerlichen herabzieht. Zudem find aber die einzelnen Formen nur in den feltenften Fällen ſchön zu nennen, fondern in der Regel prangen die Gebäude in einem äußeren Kleide, das durch gedankenlofe Nahäffung und Aneinanderreifung von Formen aller möglichen verjchtedenen Bauftyle ent: ftanden tft.

Die großen Provinzialftädte Englands mögen im Allgemeinen in archi— teftonifcher Beziehung ein viel anregendered Bild darbieten, ald London, und namentlich wird Liverpool in feinen öffentlichen Gebäuden wohl von feiner anderen Stadt Großbritanniens erreiht. Aber auch bier ift überall die fabrif- mäßige Herftellung der Wohngebäude ihrer äußern Wirkung entfchieden feind: felig. Selbft in dem herrlichen Edinburgh, das von der Natur mit ver- Ihmenderifcher Pracht ſowohl Hinfichtlich feiner Lage, als auch hinſichtlich feiner eigenen Gruppirung audgeftattet ift, dämpft diefe ewige Wiederholung derjelben Formen, die wie ein Fluch auf der englifchen neuen Architectur zu laften fcheint, die günftige Wirkung der Stadt ganz erheblih und fie ift hier am allerunbegreiflichften, wo doc) die Natur und die alten Baumeifter mit einer Fülle der herrlichiten Abmwechfelungen durchaus nicht gegeizt haben. Die alte ehrwürdige Highſtreet wirft troß ihres Schmutzes und troß der viel ein: fahern Mittel ihrer Fagaden doc fehr viel anregender, als die neuen Straßen der vornehmen Welt, oder gar der Moray Place, bei dem dad emige Einerlet feiner Paläfte einen unglaublich düftern und langweiligen Eindruck bervorbringt, der felbft nicht durch das fehöne Grün, in dem fein innerer Theil prangt, ganz aufgehoben werden kann.

Großartig zu bauen verftehen die Briten, wie wohl faum ein anderes lebended Volk, aber die Schönheit kommt dabei fehr oft fchlecht genug weg. Troß der fo bedeutenden Mittel, über die England und feine Bewohner zu verfügen haben, tragen unfere continentalen Grofftädte doch einen viel monu— mentaleren Charakter, und unfere deutiche Hauptftadt vor allen kann ſich troß ihrer befcheidenen Mittel in diefer Hinficht dreift mit jeder Stadt dieljeitd des Kanals meffen.

Der Grund für diefen auffallenden Mangel an entwickeltem Kunftfinn unter den neuern Architecten Großbritanniens dürfte wohl hauptſächlich darin feinen Grund haben, daß diefelben nicht ordentlich gefchult werden, wobei diefer Ausdrud natürlich in feinem beften Sinne gemeint ift.

Die Kunft kann weder handwerksmäßig erlernt werben, * in ganz

Grenzboten IV, 1874.

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freier zügellofer Bahn edle Früchte treiben, fondern auch bet ihr ift die Schulung, felbft bei epochemachenden Genied von wefentlichem Einfluß. Weblt diefe, jo artet fie zu leicht in verſtändnißloſe Nachahmung oder in unjchöne Originalität aus und in diefen beiden Richtungen ift in England mehr denn genug zu fehen.

Man hat der von fo vielen Seiten oft geihmähten Berliner Ardhitectur wegen ihrer antikifirenden Richtung fehr oft Mangel an Originalität vor- geworfen, aber ich glaube, daß diefer Vorwurf durchaus ungerehtfertigt iſt. Gerade ein Vergleich mit der englifchen Architectur, zeigt den Werth der ftrengen Berliner Schule in feinem vollen Licht. Gin Gang durch die Straßen in der Nähe des Thiergartens zeigt eine Fülle der reizendften villenähnlichen Gebäude, die troß der vorzugsweiſen Anwendung antiker und Renaifjance- formen fo eigenartig und originell find, wie man fie in London in der Nähe der Parks oder in Richmond, Sydenbam und Forreft Hill vergeblich fucht.

Ein aus der Berliner Schule hervorgegangener Architect würde fich aber auch niemals derartige Nahahmungen, um nicht zu fagen Copien zu Schul- den fommen laffen, wie man fie in London zahlreich vertreten findet.

Während im Hyde Park in London der Marble Arch _eine ziemlich ge— treue Nachbildung eines römifchen Triumphbogend zeigt, befigt Berlin fein dur und durch originelled Brandenburger Thor. Während die Nelfonfäule auf dem Trafalgarfquare eine getreue Nachbildung einer Forinthifchen Säule des Mars ultor» Tempeld zu Rom ift, fann wohl Niemand der Stegeafäule auf dem Berliner Königsplage, mag man nun über diefelbe denfen, mie man will Mangel an Originalität vorwerfen und gerade ihr Erbauer tit einer. der getreueften Anhänger der ftrengen antiken Richtung.

Wenn man vor dem Britiſh Mufeum mit feinen jonifchen Säulenhallen jteht, wird man unmwillfürlih an die ältere aber auch fo viel ſchönere Säulen: halle unſeres Meifters Schinkel, an das alte Berliner Mufeum erinnert. Letzteres ift mit all feinen ftreng antifen Formen eine fo eigenartige herr» the Schöpfung, daß das ftattliche Britiſh Mufeum dagegen doch vollftändig in den Hintergrund tritt.

Und troß der unendlich werthvollen Schäße, die in Originalen in dieſem jelben Britiſh Mufeum beherbergt werden, troß diefer Kunſtſchätze mit ihren ewig unvergleichlich fchönen Formen, welche zum eingehenditen Studium förmlich herausfordern, troßdem leiſten die Berliner Architecten mit ihren beſcheidenen Mitteln vermöge ihrer ſtrengen Schulung mehr als ihre engliſchen Kollegen und doch Können fie, ftatt an Originalen, ihre Studien großentheils nur an Gypsabgüſſen und Nachbildungen machen.

In der Nähe des Eufton Square befindet fich bier eine Kirche, deren MWeftfagade eine grobe Wiedergabe der Hauptfacade des Erechtheion zeigt;

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jeder Arm ded Querjchifies beiteht aus der ebenfalld roh ausgeführten Eopie der Horenhalle defjelben griechiichen Tempeld und der Thurm über der Weſt— fagade ift durch zweimaliged Mebereinanderfegen des Thurmes der Winde, des älteften korinthiſchen Bauwerks, gebildet. Die Gefimfe find nach dem Erech— theion und dem Thurm der Winde combinirt; und das ganze Baumerf macht in diefer Zufammenfegung ganz den Eindrud, ald ob ed nur audgeführt worden fei, um damit einen ewigen Hohn auszuſprechen. Wahrlich, berliner Architeeten würden fich in der Weije niemald an den ſchönſten Formen attifch joniſcher Baufunft verfündigt haben; fie befigen allerdings glücklicher Weiſe nicht genug „Originalität“ um die edlen Verhältniffe des Erechtheion mit feinen berrlihen Karyatiden dem Spotte Preis zu geben. Ebenſo be. findet fih in Birmingham am Eingange zum Güterbahnhof der London— und North. MWeftern Eifenbahngefellichaft ein großartiger jonifcher Porticus. Dan könnte wirklich Herzlich lachen, wenn derartige Verirrungen nicht fo jehr traurig wären, oder foll dadurd etwa der Güterfehuppen als Tempel des Hermes dargeftellt werden?

Unter diefen Umftänden mundert ed mich daher auch gar nicht, daß unter den Künftlern aller Zeiten und aller Länder die ala Reliefs auf dem Unterbau des Albert Memoriald dargeitellt find, der größte Baumeiſter diejeg Jahrhunderts, Schinkel, fehlt, während die englifchen Architecten zweifel- bafter Größe in einer Bollftändigfeit vorgeführt werden, die fich felbjt durch die nationale Eitelkeit nicht erklären läßt, wenn man eben erſt ihre Were gejehen hat.

Der Engländer bat eine ganz befondere Vorliebe dafür, feine Helden, Generäle und fonftigen berühmten Männer möglihit hoch auf Säulen oder dergleichen zu ftellen. So ftehen in London Nelfon auf dem Trafalgar- Square, York am Ende der Regent Street nah dem St. James-Park zu auf hohen Säulen, Wellington an der Hyde Park Corner auf einem großen Triumphbogen und in Neweaſtle upon Tyne und in Edinburgh finden ſich wieder berühmte Männer auf hoben fchlanfen Säulen.

63 iſt diefe Art von Monumenten allerdings nicht eine englifche Er- findung, fondern dad Vorbild aller mag wohl urfprünglich die Trajansſäule gemejen fein. Da aber diefe nicht allein aus der Zeit des Berfalld der römt: [hen Kunft ftammt, fondern gerade dieſen Verfall mit am allerdeutlichiten in fi darftellte, fo hätte man glauben follen, daß das im ihr ausgeprägte Prinzip Feine Nachahmung finden werde.

Wollen die Engländer mit ihrem aufs Materielle bedachten Sinn etwa die geiftige Höhe ihrer Helden gleich räumlich darftellen, oder ftellen fie die— jelben deßhalb auf folhe Höhen, daß man fie nicht mehr mit unbewaffnetem

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Auge erkennen kann, um dadurch weniger an die perſönliche Aehnlichkeit bunden zu ſein? Ich ſollte denken, daß derartige nationale Denkmäler, die jedenfalls ein große Erziehungsaufgabe erfüllen, indem fie dem Volke tagtäglich feine Ges hichte predigen, nur dann diefen ihren Zweck ganz erfüllen Fönnen, wenn man ſich durch ſie auch die Geſichtszüge der edeln Vaterlandsvertheidiger, de großen Helden, die der Stolz der ganzen Nation ſind, einprägen kann.

Allerdings hat das engliſche Volk außer den auf den Strafen und Plätzen aufgeftellten Monumenten nod eine große Anzahl von Denfmälern, die in den hervorragenden Kirchen, zum Andenken an berühmte und nicht berühmte Männer errichtet worden find, und die bei der englifchen Sonntag? feier, die den Menfchen förmlich zum Kirhenbefuh zwingt, allerdingd auch oft und deutlih dem Volke feine Gejchichte predigen. Unter den Kirchen diefer Art, die dadurch gemwilfermaßen zu einem Pantheon werden, find vor allen andern die MWeftminfter Abtei und die Paulskirche zu nennen. Die beiden großartigen Bauten find ſchon an fi höchſt ſehenswerth, aber fie werden durch den Reichthum ihrer Monumente noch weit bedeutender. Bes fonderd die MWeftminfter Abtei entrollt mit ihren theilweife munderfchönen Grabdenfmälern ein gut Stück englifcher Gefchichte vor den Augen und die nahe gelegene Wejtminfter Halle mit dem neuen großartigen Parlamentsge— bäude und dem prachtvollen Monument von Richard Löwenherz vor dem— felben vereinigen fih alle mit den taufend Erinnerungen weltgefhichtlicher Greigniffe, die fih daran Enüpfen, um das Bild zu vollenden.

Diefe Heine Gruppe großer, alter und neuer Gebäude, die fih hier eng- gedrängt zufammen finden, dürften wohl ihres Gleichen auf der Welt fuchen, nicht ſowohl wegen ihrer äußern Erfcheinung, ald wegen der Fülle nationaler Denkmäler und gefchichtlicher Erinnerungen, die fich an fie Enüpfen.

Hier ruhen Königin Eliſabeth und Maria Stuart in derfelben Kapelle, bier find die fämmtlichen berühmten englifchen Staatdmänner, die Pitts, Ganning, For, durch Denkmäler geehrt, Hier ruhen in der Poets'Corner die gefeiertiten englifchen Dichter neben unferm deutfchen Händel, bier find die Koriphäen der Wiſſenſchaften und die erfinderifchen Genies beigefebt.

Und drüben im neuen Parlamentsgebäude mit feiner foliden Pracht, feinen einzig [hönen Hallen und beinahe übertrieben geſchäftsmäßigen Sitzungs— jälen find wieder die ſämmtlichen Fürften und Fürftinnen Englande und Schottlands in friedlichfter Eintracht bildlich dargeftellt, wie wenn fie fi} nie im Leben bitter angefeindet hätten. Und die großen bildlichen Darftellungen an den Wänden der Hallen und Gorridore befchäftigen ſich beinahe aus- ſchließlich mit den erbitterten Kämpfen zwifchen Krone und Parlament, zwiſchen Ober- und Unterhaus, Hier wird gerade durch die Darftellung diefer

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heftigen Kämpfe, die einft auch die Eriftenz und Entwidlung der ganzen Nation bedrohten, deren läuternde Wirkung und der aus ihnen heraus: gewachjene feite, beinahe unerjchütterlihe Beltand der englifhen Staats— verfaffung fo recht Klar.

Wann werden wir in Deutfchland fo weit fein, daß wir unbefchadet des Friedend unfered Hauſes die heftigen Stürme unjered Staat?» und Ver— fafjungsleben®, in denen wir noch mitteninne ftehen, in unferm Reichstags— gebäude bildlich darſtellen können? Gebe Gott, daß die Zeit nicht mehr zu fern it!

als Schinkel nach den Befreiungsfriegen mit all feiner [höpferifchen Kraft und dem ganzen Enthufiagmud einer wahren Künftlerfeele daran ging, für Berlin einen großen Siegesdom zu projectiren, da wollte er au) aus dem» jelben ein deutfched Pantheon machen. Der Plan wurde nicht verwirklicht, jpäter wurde zwar am Ruftgarten ein großartig angelegter Dom begonnen, aber auch unvollendet gelaffen, und bis heutigen Tages harrt der Siegesdom feiner Ausführung. Zu den Befreiungskriegen find die Tage von 1870—71 gekommen, das neue deutfche Reich tft erftanden, ausgezeichnete Generale, unvergleichlihe Siege, wie fie Feine andere Nation aufzumweifen hat, hat Deutfchland zu feiern und zu verherrlihen, und noch immer harrt Berlin auf die Vollendung feined Domes, der fo recht eigentlih ein nationales Denkmal werden follte, in dem dad Volk all den vielen Helden und den für des Vaterlandes Freiheit und Macht Gefallenen ehrende Denkmäler fegen follte.

Vielleicht ſchafft das neue Reichstagsgebäude Erſatz für diefen Mangel, vielleicht; doch ift beinahe zu befürchten, daß es unferer nüchternen Auf- fafjung gemäß nur zu fehr „Geſchäftsgebäude“ werden möge; ift doch Ihon die Frage des Platzes für dasfelbe mehr oder minder nad diejem Geſichtspunkte zum Nachtheil für den monumentalen Charakter desfelben be- handelt worden.

Hoffen wir daher, daß das neue Reich nicht allein fein Geſchäftshaus befomme, jondern auch das fchon fo lang geplante nationale Gotteshaus endlich auch feine Vollendung erhalten möge.

Alfred Blum.

Sfatiftifhes und Vopographifhes vom Oxuslande.

Es ift nicht länger als 1", Jahr, feitdem die Expedition gegen Khiwa zum Abſchluß gebracht worden, und ſchon verlauten wieder beunruhigende Gerüchte aus den Gegenden füdli vom Aralſee. Die wilden turfmenifchen

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Nomaden fehren fich wenig an die ruſſiſchen Verträge und an den Khan vom Khiwa, der jest erſt recht nicht im Stande ift, fie in Ordnung zu halten, und bald gegen feine fogenannten Unterthanen die Hülfe der Auffen wird in Anfprud nehmen müfjen. Diefen aber fann ed nicht gleichgültig fein, ob in den Gebieten, die fie dauernd pacificirt zu haben meinten, das alte Unweſen fortdauert oder nicht, abgefehen davon, daß ihre natürlichen Grenzen nad) dem Stande ihrer Macht eigentlich erft bei den Gebirgen von Choraffan liegen. Die ruffiihen Unternehmungen in Zurfeftan haben von jeher den Beifall, faft der ganzen gebildeten Welt für fich gehabt. Rußland, mag es auch vornehmlich feine territoriale Vergrößerung und Machtitellung in Mittels afien dabei im Auge haben, e8wertritt in jenen Gegenden die Intereſſen der Civilifation und Menfchlichkeit gegenüber einer barbarifchen Bevölferung und dient den Wifjenfchaften, die e8 für feine Zwecke gebraudt. Nur England vermag fich diefer Auffaffung nicht anzuſchließen und hütet mit mißtrauifchen Bliden die Grenzen von Afgbaniftan, wie fie durch die Verhandlungen vom Winter 1872/73, die der jetige neue Botfchafter, Graf Schumalow, jo ge ſchickt leitete, feftgefegt worden find.

Diesmal find es die räuberifhen Nomaden vom Stamm Tekke, dem wildeften und gefährlichften im ganzen fürlichen Turan, gegen die vielleicht eine neue Expedition oder Rekognoscirung im größeren Maßftabe nöthig wird. Ihr Uebermuth wird von Tage zu Tage größer, da die Ohnmacht des Khans am Tage ift, und der Czar, denken fie, ift weit. Sie fenden ihre Horden in Stärke von mehreren hundert Mann bi unter die Mauern von Khima und plündern ohne Rückſicht auf die Nähe der ruffifhen often die friedlichen und anfäfigen Stämme der Amu-MNiederung. Nach den jüngiten Nachrichten fcheint es fogar, ald ob fie vor einem bewaffneten Webertritt auf das rechte Ufer nicht zurücicheuten, woraus hervorgeht, dag dad Preftige der ruffifhen Waffen bei ihnen doch nicht fo groß fit, als es nach der lehten, fo brillant gelungenen Expedition zu erwarten wäre, Rußland aber darf ſich diefen Barbaren gegenüber auch nicht das Geringfte gefallen laſſen und ſich nie mit einem halben Erfolge begnügen, wenn es fein Anfehen nicht aufs äußerfte gefährden will. Unter diefen Umftänden lenken wir die Aufmerkſam— feit unferer Lefer von neuem auf jenes Wüftenland und zwar auf den noch am mindeften durchforſchten Theil desfelben, das Gebiet zwiſchen Amu-Darja und Kaspifee, indem wir, was über die Topographie und Statiftif dieſer Gegenden befannt geworden ift, in der Kürze mittheilen.

Die Tekke ſchweifen füdlih vom Aralſee und der Dafe Khiwa bis zu den Abhängen des Elburs und den Grenzen des Emirs von Herat, die fie fih bei ihren häufigen Raubzügen zu überfehreiten nicht ſcheuen. Sie find Sunniten, wie alle turfmenifchen Stämme, und als ſolche gefchmorene Feinde

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der fchitttifehen Perjer, denen fie auf alle MWeife Abbruch zu thun fuchen, Sie rauben Menfchen und Vieh an der Grenze und fchleppen jene ald Sklaven fort, um fie gelegentlih zu verfaufen. Früher waren Buchara und Khiwa ihre Hauptabfaspläße, wo erft die Teste Erpedition dem Menſchenhandel ein Ende aemaht hat. Beſonders aber haben die jchiitifchen Pilger von ihnen zu leiden, die zu dem Grabe des Imam Riſa, eines Schülerd des Ali, nad Meſchhed wallfahren, und die Karawanenitraße von Redeſcht über Mijamid nach Mejchhed ift fet3 von auflauernden Tekfehorden umlagert. Südöſtlich dehnen fie ihre Raubzüge fogar bis Afterabad aud und fpotten des perfifchen Statthalters, der für den Kopf jedes getödteten Turfmenen einen Preis zahlt. Hier. fand die ruffifche mwifjenjchaftliche Erpidttion nach Khorafjan, melde unter Chanykow im März 1858 eintraf, die Einwohner in höchſter Angit vor den räuberifchen Banden, die bis unter die Mauern der Stadt fchweiften.

Die Tekke zerfallen nach perfifchen Nachrichten in zwei Stämme: Tekke Aachalniſchin und Tekke Gumniſchin. Die Lesteren haben feine feiten Weide. pläße, fondern ziehen in der Wüſte umber, indem fie den Brunnen nachgehen, die fie beliebig wieder verlaffen, und führen ein rechtes, wildes NRäuberleben. Die Aachalniſchin find zwar auch größtentheild Nomaden, doch haben fie einige fefte Anfiedlungen an Wafjerpläten und ihre beftimmten Sommer» und Winterweiden. Sie bauen etwas Gerfte, Weizen, MWafler- und Zuder- melonen und ein wenig Neid. Ihre Stuten find vorzüglid. Auch verar— beiten fie Schafmolle zu Teppichen u. dgl., die fie verfaufen. Zur Sicherung ihrer Niederlaffungen haben fie ſich kleine, vwieredige Lehmfeitungen angelegt, um melde herum fie ihre Fifchzelte (Kibitken) aufftellen und in die fie fi beim Herannahen eine? Feindes flüchten. Uns liegen perfifche ſtatiſtiſche Angaben aus dem Jahre 1855 vor, nach melden die ſämmtlichen Tekke da- mals auf ungefähr 10,700 Zelte gefhäst wurden, doch kann diefe Schätung höchſtens für die Aachalniſchin einige Genauigkeit beanspruchen, welche den Verfern am nächſten wohnen und von diefen zu ihren Unterthanen gerechnet werden. *)

Meftlich von den Tekfe wohnen die ihnen ftammverwandten Jomud und Golan: jene an der Dftküfte des Fafpifchen Meeres, von der Mündung des Fluſſes Atrek nördlich bis zum Abfall des Ueſt-Urt⸗Plateaus zwifchen Aral und Kaspiſee; diefe etwas füdöftlih an dem Flüßchen Gurgan und an der perfifchen Grenze. Sie find der Zahl nah am ſchwächſten, größtentheils feſt angefiedelt und haben an die Perſer ihre Selöftitändigfeit verloren, denen fie ein jährliches Maliat d. i. Abgabe von 6000 Toman (perfiichen Dufaten) entrichten müfjen. Die Jomud find theils freie Nomaden und ziehen als

*) Angaben in Tageöblättern, nach denen fich die Zahl der Tekke auf ca. 500,000 Köpfe belaufen foll, find entweder verdruckt oder viel zu boch gegriffen.

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folde in der Steppe zwifchen dem Atrek und dem großen Balchangebirge um- her, theils find fie im Atrefthal anfäffig und treiben Aderbau, Viehzucht und Fiſcherei. Ste befahren da8 Meer in großen gedeckten Böten, die bisweilen drei Maften führen, und holen Hol, Salz und Naphtha von der Inſel Tſcheloken im Kaspiſee. Im Winter machen fie am Atret Jagd auf Waſſer— vögel, die hier enorm zahlreich find, und verkaufen deren Häute und Federn an Kaufleute aus Aſtrachan. Die oben angeführte Quelle ſchätzt fie auf 9210 Hütten mit angeblich nur 22,180 Köpfen, was in feinem rechten Ber: hältniß zu ftehen fcheint. Die Golan »- Turfmenen merden auf 2550 Haus— haltungen angegeben.

Sollte wirklich eine Erpedition gegen die Teffe nöthig werden, mie «8 nad dem oben Angeführten den Anfchein hat, fo fragt es fih, von meldher Seite man am beften den unbequemen Gäften beikommen könnte. E38 handelt fich Hierbei darum, die Feinde In ihrem Lager aufzufuchen und ihre feften Punkte zu befegen, die ihnen zur Zuflucht dienen und zur Eriftenz unent- behrlih find. Mahrfcheinlich wird mar, wie ed auch bei der Expedition gegen Khiwa geſchah, die Sache von zwei Seiten zugleich in Angriff nehmen. Auf der einen Seite ift e8 die Amu-Linie, welche die Nordoft- Flanke des Feindes bildet. Diefe wird um fo fefter fein, je weiter die Dampfſchifffahrt auf dem Amu-Darja aufwärts geht, und je aufrichtigere Gefinnungen, wenn au nur nothgedrungen, der Khan gegen Rußland hegt. Oberſt Stftolatow ift mit dem Parowöky umgekehrt bei einem Punkte, etwas oberhalb des Forts Petro -Alerandromaf, wo die Stromfchnellen beginnen und fidh der Diherma von dem Amu abzweigt. Do find jene nicht fo reißend, daß thnen nicht mit gefteigerter Dampfkraft zu begegnen wäre, und bietet das Fahrwaſſer überall die nöthige Tiefe, die fogar meiter aufwärts zunimmt, fo dag man mit Hülfe Fundiger Lootſen leicht bis zur Höhe von Khima und noch meiter gelangen kann. Aber bier lagert fich in breiter Ausdehnung die Wüſte Kharafan vor, die bis jetzt noch durch Feine Expedition befchritten ift und möglichermeife mehr Schwierigkeiten bietet, als die berüchtigte Kyfyl-Kum. Hat man die Dafe von Khima oder die Niederung des Amu-Darja hinter fih, fo fteigt der Boden zufehende an und führt der Weg gen Südweſten mehrere hundert Werft durch eine Sandfteppe mit eintöniger Hügelformatton, wo noch feine Brunnenftationen befannt find. Und doch find Iettere das erite und nöthigite Erfordernig bei der Bewegung irgend einer XQruppen- abtheilung. Soweit man die Steppe Eennt, ift fie nicht fo arm an Vegetation, ald man vermuthen follte, und bietet den Nomaden einige, wenn auch nur fpärliche Weidegründe. Hier wählt das Gras nicht, wie wir und mohl denken, zu ganzen Wiefenflächen zufammen, fondern findet fih nur in einzelnen großen Büfcheln, etwa 3 bis 4 auf einem Quadrat» Faden (Safjchehn

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a 7 engl. Fuß), und wiegen etwa 20 bis 30 folcher Büfchel zufammen ein Pud (16% Klgr.). Die Sandhügel find theils regellos vertheilt, theils ziehen fie fi in Ketten von Oft nad Weit, durhfchnittlih 15 bis 20 Fuß hoch mit biöweilen fteilem Anſtieg. Wird man Gefhüse duch den tiefen Sand über die Hügelfetten fortfchaffen können?

Ein bequemerer Zugang zu den Teffingen-Neftern bietet ſich, mie es jheint, von Weften, von den Ufern des kaspiſchen Meered, wo die Ruſſen bereit8 in den Jahren 1869/70 einige fefte Punkte eingenommen haben. Hier it die Entfernung nicht fo groß und der Weg befannter. Der eine jener Bunte ift Kradnomodsf, gegenüber der Stadt Baku, in einem Winkel einer tiefeingefchnittenen Bucht, die nad dem Balchan-Gebirge den Namen trägt; der andere Tichikifchlär an der Mündung des Atreffluffe® im Gebiete der Somud. Der nordmeftliche Winkel der Balchanbucht Heißt die Krasnowodsker Bucht und bietet einen vortrefflichen Hafen, der im Weſten durch eine ſchmale Randzunge, im Süden durch die vorgelagerte Inſel Tſchelaken geſchützt if. Der Eingang ift nur 21, Meile breit und hat, wie die ganze Bucht, eine Tiefe von durchfchnittlih 26 bis 28 Fuß, ift alfo für große Schiffe zugänglich. Diefe außerordentlich günftige Rage erregte anfangs die Erwartung, als fei Krasnowodsk dazu beftimmt, ein großes Handeldemporium zu werden, das den Verkehr von den Faufafifchen Ländern und den Küſten des ſchwarzen Meeres nad Mittelafien hin auf direftem Wege vermittelt. Bis jett ift aber dazu Feine Ausfiht, und es fragt fi, ob Krasnowodsk jemald mehr als eine ruffifche Feftung werden wird. Die Gegend ringd umher ift öde und jeder Begetation bar, Süßmwafferquellen fehlen ganz und gar, und nur dur An. legung artefifcher Brunnen wird e8 möglich fein, brauchbares Waſſer für Menihen, Bieh und Kulturpflanzen zu ſchaffen. Die Zukunft der ganzen Anlage hängt jomit mehr oder weniger vom Erdbohrer ab.

Bon Krasnowodsk aus gingen die erften ruffifhen Erpeditionen zur Erforfhung jenes räthfelhaften Erdfpaltes, der fih, von den Eingeborenen Usboi d. t. niedrige (Ebene genannt, von dem innerften Winkel der Balchan— Bucht im Allgemeinen nordöftlich bi8 zum Aralſee hinzteht, und in dem man nunmehr das alte Bett ded AmusDarja oder Oxus erkannt hat, welcher früher mit einem Seitenarm in den Kaspifee mündete. Durch die Rekognos— eirungen der Dberften Stebnitzki und Markofoff in den Jahren 1870—72 tft die Linie des Usboi bis auf eine Strede von etwa 200 Werft in der Mitte befannt geworden. An diefer Stelle bildet das alte Flußbett einen großen, nad Norden offenen Bogen, welchen Oberft Markofoff dur Einhaltung der geraden Richtung abſchnitt. So gelangte er im Jahre 1871 zu einem Punkte des Usboi, Decktſcha genannt, der noch etwa 180 Werft in gerader Linie von

Khiwa entfernt ift. Hier fanden fich mehrere Süßwaſſerſeen in * trockenen Grenzboten IV. 1874.

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Flußbett, das eine Breite von 150 Faden hat. Turkmenen, die bier ihre Meidegründe haben, fagten aus, daß das Land von hier bi Khiwa Hin ziemlich wafjerreich fei und zwar nicht dur Quellen und Brunnen, jondern durch Kanäle aus dem Amu. Hierauf ſchien auch die bei Dedtfcha fich reicher entwicelnde Vegetation hinzudeuten: man fand an den Uferböfhungen Laub— bäume von 3 bid 4 Faden Höhe und 6 bid 8 Zoll im Durchmeſſer. Auch fol diefe Dertlichfeit von den die Dafe Khiwa bemohnenden Nomaden häufig befucht fein. Da nun die Rekognosecirung des Oberften Glukhowski, die diefer im Jahre 1873 gleich nach der Eroberung von Khima vom unteren AUmu-Darja aus unternahm, zu demjelben Punkte, aber von entgegengefeßter Richtung gelangte, wobei man die Angaben der Turfmenen Hinfichtlih der Bemwäfjerungsverhältnifie beftätigt fand, fo dürfte von Dedticha aus die Ver— bindung auch nad Oſten ala gefichert anzufehen fein, und diefer Punkt durch Anlegung eined Forts oder einer Milttärftation, wozu er fih zu eignen ſcheint, bald eine bebeutende Wichtigkeit erlangen. Ueberhaupt ijt die Linie des Usboi ald die geeignetfte Operationsbafi3 gegen Süden hin, wo bie Tekkingen-Feſten Tiegen, zu betrachten. Sie ift verhältnigmäßig ziemlich reich an Brunnen und Kleinen Seen, deren Waſſer zwar meift von bitterlihem und falzigem Geſchmack ift, aber doch braudbar zum Kochen und Trinken. Der Weg führt theild in, theild neben dem alten Flußbett entlang und ift, vor- ausfichtlih auch in dem noch nicht bekannten Theile, ziemlich praftifabel, da er der Richtung einer vielbetretenen KRaramanenftraße folgt, die von Khiwa nad den Meidepläten der Jomud an der Atrefmündung führt.

Auch in das Herz ded Teffe-Gebietes felbft find die Ruſſen bereit® von diefer Seite her eingedrungen. Zuerſt Oberft Stebnitzki, welcher im Dezember 1870 feine erfte Rekognoscirung in füdöftlicher Richtung theils zur Erforfhung des Oxuslaufes, theild gegen die Teffe-Turfmenen unternahm. Bon dem füdlichften Punfte des Usboi ausgehend, verfolgte er die angegebene Richtung am Nordoftabhange eine® Gebirge entlang, das unter dem Namen Kjurjan- Dagh eine Fortfegung des Balchan zu bilden foheint, bis zu der Hauptfeite der Tekke, Kyfyl-Arwat. Er begegnete auf diefer ganzen ungefähr 180 Werft mefjenden Strede etwa 10 Brunnenftationen mit ziemlich brauchbarem Waffer, außerdem aber zahlreichen Begräbnißftätten und Aulen (Zeltdörfern) des Tekfeftammes; auch ſah er viele kurze Flußläufe, die in nordöftlicher Richtung aus dem Kijurjan-Dagh hervorfamen. Noch weiter drang Oberft Markofoff im Herbft 1872 vor. Seine Unternehmung, die bedeutendfte, die von der Seite des Faspifchen Meered her von den Ruffen unternommen wurde, und deren Reſultate vielleicht erft jet ihre volle Wichtigkeit erlangen werden, be— wegte fih von zwei Punkten nad) demfelben Ziele hin. Man hatte nämlich inzwiſchen die Strede von Krasnowodsk bis zur Atrefmündung, 250 Werft,

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durchforſcht und an dem Punkte Tſchikiſchlär eine Militärftation errichtet. Mir können nad den vorliegenden Nachrichten nicht beurtheilen, in wie weit diefer Weg für größere Truppenbewegungen praftifabel ift_und ob er fich zu einer Verbindung zwifchen Krasnowodsk und Tſchikiſchlär eignet. Er enthielt etwa 20 Brunnen mit theils falzigem, theils brafigem (etwas falzigem) Waſſer und war auf der rechten öftlichen Seite von einzelnen dünenartigen Sand- bügeln begleitet. |

Bon Tſchikiſchlär aus zog die eine Kolonne unter perfönlicher Führung Markoſoff's in nordöftlicher Richtung, die oben erwähnte Karamanenftraße benußend, nach dem Usboi, wo ein Punkt zum Rendezvous beitimmt war. Die andere Abtheilung, bei der fich Oberft Stebnigft und der befannte Heidel- berger Geolog Dr. Sievers befanden, war in gerader öftlicher Richtung von Krasnowodsk aus zu demfelben Punkte gelangt. Won hier aus bewegte fi das vereinigte Erpeditiongcorp8 den Usboi aufwärts, wurde aber an einem Süßwaſſerſee, wo fie ſich gelagert hatten, von einer Horde Tekkenzen ange griffen, welche ihnen die Kameele mwegzutreiben verfuchten. Allein die Räuber wurden mit Berluft und Hinterlaffung von Gefangenen zurüdgetrieben. Bald darauf erfehienen Abgefandte der Tekke, welche um Entfhuldigung wegen des Ueberfalld und um Auslieferung der Gefangenen baten. Unter den Ent- ſchuldigungsgründen zeichnete fi) namentlich einer durch feine Originalität aus: fie hätten, fagten fie, die ruffifhen Truppen für nicht beſſer als die perfifhen gehalten. Die Gefangenen wurden ihnen ausgeliefert, da fie nur eine Laſt waren, aber zur Bedingung gemacht, daß fie binnen 3 Tagen 300 Stüf gute Kameele liefern follten, widrigenfalld fie ſtrenge Ahndung treffen würde. Was zu erwarten war, gejhah: die Kameele trafen nicht ein. So beſchloß denn Oberſt Markoſoff, den Weitermarfh nad Oſten ein- zuftellen und eine Rechtsſchwenkung zu machen, um die Nefter der Tekke auf: zufuchen.

Wir enthalten und der weiteren Bejchreibung des ziemlich 140 Werft mefjenden Weges durch die Sandfteppe, deren Natur mir im Anfange ſchon berührt haben. Der Marfch war befonders dadurch ſchwierig, daß man gleich zuerft auf einer Strede von 93 Werft fein Wafjer fand, Kyfyl-Arwat, das man endlih nach vielen Mühjfeligfeiten erreichte, Tiegt etwa 490 Fuß über dem Niveau des Faäpifchen Meered, 3 Werft vom Fuße des Kjerjan-Dagh entfernt, und bildet die nord-mweftliche Spite einer Reihe von ungefähr 60 Be- feftigungen, welche die Teffe an dem Abhange des genannten Gebirged zum Schuß ihrer Aule angelegt haben. Die Feſtung hat eine quadratifhe Form und beiteht aus Lehmmauern, die etwa 80 Faden lang und 16 Fuß hoch find. Innerhalb derfelben erhebt fich eine Gitadelle mit etwas höheren Mauern und Thürmen an den Eden und Thoren. Naht fih ein Feind, fo ziehen

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fich die Bewohner der umliegenden Aule mit aller ihrer transportablen Habe fchleunigft in die Feftung zurüd und warten hier die Belagerung ab. Als die Ruſſen anlangten, war jedoch Kyſyl-Arwat bereitö geräumt und auch die Gitadelle ftand Teer. Oberſt Markofoff zog nun mit feinem Corps in füd- öftliher Richtung die Befeftigungslinie der Tekke entlang und paffitte die Teftungen Kodfh, Sau, Kyfyl- Tihefhlt, Diehengi, die er gleichfalls ſchon geräumt fand, während bei den beiden letzten Punkten, die er erreichte, Bami und Beurma, 62 Werft von Kyfyl-Arwat, die Turkmenen nicht Zeit gefunden hatten, ihre Kibitfen in Sicherheit zu bringen. Die Gegend an den Abhängen des Gebirged mar ziemlich gut angebaut und durch zahlreiche Kleine Bäche bewäfjert. Bei Kyfyl-Arwat war ein ſolcher Bach aus feinem urjprünglichen Bette abgeleitet und vermittelft Eünftliher Gräben dur die umliegenden Felder geführt, wo Weizen und Dſchuwan, eine Art Hirfe, auch etwas Baum- wolle gebaut wurde. An den Bachufern waren Pappeln gepflanzt und bier und da Wafjermühlen angelegt, die, mit alten Weiden umgeben, einen freund» lihen und faſt gemüthlichen Anblick gewährten. Die feſten Anftedlungen der Tekke erſtrecken fich angeblich in einer Ausdehnung von 400 Werft am Ge- birge entlang und enthalten außer Kyfyl-Arwat noch eine Stadt oder nam— baftere Ortſchaft, Aſchabad mit Namen. Doch befinden fi auch am obern Atref und am Gurgan Niederlaffungen der Tekfe und zwar vom Stamme Aachalniſchin, die jedoch Oberſt Markofoff auf feiner Rekognoseirung nicht berührt hat. Er wandte fih, nachdem er feinen Zweck, die Räuber einzu» ſchüchtern erreicht hatte, den Kierjan-Dagh in einem langen, ſchluchtähnlichen Thale durhfchreitend, in gerader Richtung nach dem Atrek zu, in defjen Thale fortziehend, er die Weiden der befreundeten Jomud und Tſchikiſchlär erreichte. Diejen flößte der Zug gegen die Tekke die höchſte Achtung ein. Sie hatten vor dem Audzuge de Oberſten benfelben wohlmeinend gewarnt, ſich nicht mit ihren Stammverwandten am Kjerjan-Dagh einzulafjen, vor deren Tapfer- feit und MWildheit fie den größten Nefpekt hatten.

9 Schmolke.

Der Prozeh Arnim, Berlin, 20. Dezember 1874. Nahdem in der Anklage gegen Graf Harry Arnim die öffentlichen Gerihtöverhandlungen am 15. Dezember beendet waren, ift geftern Nachmittag das Urtheil verfündet worden. Um diefem Prozeß fein Recht widerfahren zu laffen, müßte man eine umfaffende Studie geben, welche in drei Haupttheile zu zerlegen wäre. Gin Theil müßte die veröffentlichten Aktenſtücke und ihre

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politifche Bedeutung behandeln ; ein zweiter Theil die Vorgänge der öffent: lichen Verhandlungen; ein dritter Theil den Urtheilsfprug. Am erften Tag nah dem Schluß des Prozeſſes ift es begreiflichermeife nicht möglich, diefe Studie vorzulegen. Ich beſchränke mich heute auf einige Bemerkungen über den Eindruf der Verhandlungen. Der erfte Eindrudf, den wir in Bezug auf den Gefammtverlauf der Verhandlungen conftatiren müfjen, ift der wenig erfreuliche, daB der Anklageprozeß bei und bereitö mit eilenden Schritten auf dem Wege der Entartung fich befindet. Zum erften Mal trat ein deutfches Bericht aus einem Eleinen’Kreife der Aufmerffamkeit vor die Augen der Welt. Alles war dazu angethan, die Betheiligten zur Wahrung der höchſten Würde und zur lauteften Hingabe an den Ernft der Sache aufzufordern. Was follen wir nun fagen zu diefen unaufhörlichen rüden perfönlichen Angriffen der Ver: theidiger auf den Staatdanwalt? Als der Anklageprozeß bei und eingeführt wurde, da wiederholte man und immerfort: der Vertheidiger ift Fein Rechts— verdreher, Staatsanwalt und BVertheidiger find nicht etwa natürliche Gegner, fondern befreundet in dem höchften Beitreben der Wahrheit und des Rechte; nur ift zur Sicherung dieſes Beſtrebens die Aufmerkfamkeit des Vertheidigerg auf die Momente der Unfchuld, wie die des Anklägers auf diejenigen der Schuld gerihtet. So belehrte man und. Wo war nun von diefer Einheit des Beſtrebens bei diefem ganzen Prozeß noch eine Spur zu entdeden? Mir glaubten uns nicht felten in Amerika, auf dem Boden der völligen Entartung des Strafprogefjed. Die Angriffe der Vertheidigung verſchonten nicht einmal das Gericht felbft. Wir glauben aber, fo darf vor einem fich felbit adhtenden Volke niemald im Gerichtäfaal geſprochen werden. Mo folche Beſchwerden in der Ueberzeugung der Vertheidiger gegründet find, da muß durch fachliche Führung der Verhandlungen dad Material vervollftändigt, und dann bie Klage auf Mißbrauch der Amtöverwaltung erhoben werden. Die Empfindung ded Herrn Präfidenten war wohl immer die richtige. Aber wir können un- fere Berwunderung nicht bergen, die ärgften Ausfchreitungen als „unparlamen- tariſch“ bezeichnet zu finden. Die Gebräuche der Parlamente find andere, müffen ganz andere fein als die der Gerichte und der fämmtlichen Vertreter des Rechts bei der öffentlichen Ausführung ihres Berufs. Auf die Würde des Gerichts iſt zu vermweifen, die weit firengere Anforderungen ftellen muß, als der parlamentartfche Brauch.

Das unerfreuliche Thema, welches und hier gegeben worden, läßt fi leider fo bald nicht erfchöpfen. Daß ber durch feine würdige Perfönlichkeit, wie durch feine hohe Stellung gleich ausgezeichnete Stantäfefretär des deutfchen Auswärtigen Amtes infultirt wurde, Fonnte und bei diefer Art der Ber: theidigung nicht Wunder nehmen. Aber in das höchſte Erjtaunen wurden wir verfeßt, daß ein Vertheidiger einen Zeugen zweimal des Meineids bes

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zihtigen durfte, ohne den mindejten fachlichen Grund anzugeben. Sind das die Rechte der Vertheidigung? Dann find mir ja wohl nächſtens in Amerika, wo jeder ehrenhafte Menfh um jeden Preis die Berührung mit den Gerichten meldet, um nicht unter der burlesken Impertinenz der Warteivertreter zu leiden; wo er fich lieber mit den Verbrechern abfindet, um nur nicht in Be rührung zu fommen mit den Advokaten.

Nach der formellen Haltung der Verhandlungen fallen wir zunädit einige allgemeine materielle Momente der Bertheidigung ind Auge. Da mir die Berührung mit der Aufgabe des Nichterd meiden, Taffen wir die Frage nad dem Verhältniß zu dem beftehenden Recht bei Seite. Es Fommen aber in jedem Prozeß, und in diefem ganz befonders, zahlreiche Dinge vor, welde nit nach juriftifchen, fondern nad den Begriffen des Lebens und der herr: ſchenden Eultur zu beurtheilen find, oder auch nad den technifchen Begriffen anderer Berufe. Der erfte Vertheidiger war e8, der mit einem folchen Kreis von Begriffen fih ganz befonderd zu thun machte, nämlich mit der Technik des diplomatifchen Dienfted. Er that es mit einer Selbftäufriedenheit und einer zur Schau getragenen Veberlegenheit, die einen übermwältigenden Gontraft bilden gegen eine Kogif, die an Abraham a Sancta Clara erinnert. Diplo: matiſche Aktenftüde find nämlich, fo wurde ausgeführt, feine Rechtsurkun— den, weil fie Hiftorifche Urkunden find! Wir bemerken, daß, wenn bieler haarfträubende Schluß nicht dem Vertheidiger angehören, fondern der nothge- drungen mehr oder minder flüchtigen Verichterftattung zur Laſt fallen follte, es doch jedenfall® unbegreiflich bleibt, was die breite Auslaffung über die Hiftorifche Urkunde follte, wenn fie nicht etwa ein bloßes Mittel zur felbitgefälligen Aus ftellung trivialer Weisheit war. Für die reife der Bildung giebt ed wohl nichts Einfacheres ald den Unterſchied diefer beiden Begriffe. Eine hiftorifche Urkunde ift jedes fchriftliche und im meiteften Sinn jeded gegenftändliche Erfenntnif- mittel für den Gang der Begebenheiten und für den Stand der Gultur in einer Epoche. Will man den Begriff der Rechtsurkunde abgrenzen, fo hat man nicht nöthig, bi8 an die Außeriten Grenzen des Spradhgebraudd zu gehen, bis zu welchen derfelbe die Anmendung des Wortes Urkunde erftredkt. Eine Rechtsurkunde tft im engen Sinn das formelle Zeugniß für das Ganze oder den Theil eines Rechtsaktes. Wie weit dieſer Begriff im juriſtiſchen Sinn ausgedehnt werden muß, darüber gehen die wiſſenſchaftlichen Anfichten ja auseinander, und ob Erlaffe und Berichte des diplomatifchen Dienfted unter den juriftifchstechnifchen Begriff der Urkunde zu befaffen find, darauf wollen wir, den ſelbſtgeſteckten Grenzen gemäß, nicht eingehen. Im Sinne des gebildeten Sprachgebrauchs find fie e8 aber, wie wir fogletch nachmeifen wollen. Denn menn zur Urkunde im engften Sinn ein Schriftftüd nur werden kann durch die Tendenz der Ausfertigung, jo kommt diefer Begrif

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im weiteren Sinn zur Anwendung dur den Gebrauch, den die Nechtäpflege von einem Schriftſtück macht. jedes Schriftſtück, das zum Zeugniß einer Handlungsmeife geeignet tft, für welche Jemand in ftaatdbürgerlicher oder amtlicher Beziehung zur gefelichen Verantwortung gezogen werden Fann, ift eine Urkunde, fobald der Gebrauch der Nechtöpflege begonnen hat. Behaupten, ein Privatbrief, der bei Gerichtäaften fich befindet, und den Jemand bei Seite ſchafft, fei Feine Urkunde, weil die Ranke und Sybel der Zukunft ihn ald Eulturdofument benugen fünnen fo etwas darf man wohl in einem Pickwickelub behaupten, aber nicht in einem deutfchen Gerichtsſaal. Die diplo- matifchen Aktenftüde find nun aber Urkunden, nod ehe ein beftimmter Ge- brauch der Nechtöpflege ihnen gegenüber begonnen hat, weil fie von Anfang an für die Möglichkeit dieſes Gebrauchs einer forgfältigen Behandlung unter worfen merden. Sie dienen ebenjowohl zur Rechtfertigung des Leiters der Politik ald der ausführenden Beamten, für die fie beftimmt find. Der Herr Bertheidiger, welcher die Miene annahm, als kenne er den diplomatijchen Dienft, wie wenn er Minifter der ausmärtigen Angelegenheiten in drei Großſtaaten gewejen wäre, warf tie Frage auf, wozu man die Originale in Paris aufheben müfje, wenn die Gopien in Berlin aufbewahrt würden. Nun wenn mit den Gopien nach denjelben Grundfägen umgegangen würde, mie fie die Verthetdigung für die Originale aufftellt, fo wäre der diplomatifche Dienft fchier eine Unmöglichkeit. Sit es aber nicht von Wichtigkeit, den Eingang eined Grlafjed zu conftatiren? Können nicht einmal in einem folhen auch Abweichungen vom Concept vorfommen, melde die Eile nicht erlaubte nachzutragen? Darf ein ſolches Dokument bei Seite gefchafft werden, damit nachher die Vertheidigung möglicherweife die Mebereinftimmung der Concepte in Zweifel zieht, wie diegmal die NRegiftrirung der geheimen Aften- ftüde, troß der pofitiven Ausfagen der Sadjverftändigen, in Zweifel gezogen worden ift. Die diplomatifhen Aktenſtücke werden einer forgfälttgen geregel- ten Aufbewahrung für den Zweck der gefeglichen Verantwortung der Urheber und der Empfänger unterworfen. Das ſchon macht diefe Dokumente zu Ur: funden, macht auf alle Fälle die unbefugte Wegführung derfelben zum Dienft- vergehen, weil die Sicherheit über den Verbleib diefer Aktenftüde zur Wahrung des Staatsgeheimniſſes gehört im Verkehr mit fremden Nationen, gegen bie wir auf der Hut find. Außerdem dienen diefe Aktenftüde ja auch zur unent- bebrlichen Information der fpäteren gefchäftsführenden Beamten und nicht bloß für den Empfänger und im Moment des Empfanged. Freilich fagte einer der Herren Vertheidiger: ein Staat, der mie das deutjche Reich für den diplomatifchen Dienft nicht einmal eine Regiftraturordnung erlaffe, mie fie jedes Gericht befite, der dürfe fich über die unregelmäßige Behandlung der diplomatifchen Aktenſtücke nicht beſchweren. MWahrfcheinlich wird derfelbe

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pathetifche Herr Vertheidiger auch behaupten, daß die Heerführer im Kriege für die Aufbewahrung der Befehle nicht verantwortlich find, weil für die Veldaften Feine Negiftraturordnung eriftirt. In der That muß die Behand- lung der Geſandtſchaftsarchive eine verfchiedene fein je nach der Beichaffenheit des Aufenthaltes, nah der Möglichkeit der Beichaffung zuverläffigen Perſo— nald, des Lokals und taufend ähnlichen Dingen. Die Regierung muß fi auf die Verantwortlichkeit, die Wachſamkeit und Gefchielichkeit der verfchie- denen Chefs verlafien. Eine einheitliche Regiftraturordnung für Conftantinopel und Japan, für Paris und Wafhington wäre eined Minifterd von Schöppen- ftedt würdig. Und die Unmöglichkeit gleichartiger Vorſchriften für die For— men der Sicherung diefer Aktenſtücke fol die Verantwortlichkeit der Chefs aufheben, fol pflihtwidrige Nachläffigkeit rechtfertigen oder gar dolofe Ent- fremdung ?

Die Behauptungen der Bertheidigung, melde nicht zunächft den Be- griffen der Jurisprudenz, fondern dem Wahrheitäfinn der allgemeinen Bildung, auf deren Boden fie fi bewegten, ind Geſicht fehlugen, find hiermit bei weitem nicht erfchöpft. So wurde dem Staatdanwalt infinuirt, er habe die mweggenommenen Aktenſtücke ala werthlofe Sachen erklärt, weil er die MWep- nahme derfelben zwar auf eine rechtömidrige, aber nicht auf eine gewinnſüch— tige Abficht zurückführen wollte. Als ob es nicht Randeöverräther geben fönnte, die auß Rache, Eitelkeit, aber nicht au Gewinnſucht handeln. An die Logik der epistolae obscurorum virorum gemahnte ed, wenn der Begriff des Staatdeigentbumd auf die diplomatijchen Papiere für unanwendbar er- flärt wurde, weil das Eigenthbum ein Begriff des Civilrechts, das deutjche Neich aber ein Bundesstaat und ohne einheitliches Civilrecht ſei. Wie werden die Franzofen bedauern, diefe Deduetion nicht gefannt zu haben! Sie hätten fih damit die Zahlung der Milliarden erſpart. Wir aber glauben, daß diplomatifche Aktenſtücke Mittel zur Führung der Regierung find, und daß das Strafrecht zu allen Zeiten und bei allen Bölfern diefe Mittel fhüst. Ein helles Rachen übermannte und in diefer traurigen Angelegenheit, ald mir lafen, daß die Natur einem genialen Kopfe niemald eine peinliche Ordnung?- liebe verliehen habe, die hinwiederum niemald in Verbindung mit hoben geiftigen Gaben angetroffen werde! Hilf Himmel, diefer Vertheidiger ftreicht und Goethe, Friedrih den Großen und mir wollen nicht_fortfahren, meil wir ſchwer aufhören könnten au® der Reihe der genialen Köpfe Es gab eine Zeit, wo man Genie und Kiederlichfeit als zufammengehörig anfah. Heute weiß jeder nicht oberflächlich gebildete Menſch, daß die Ordnung, ja, Herr Bertheidiger, die peinliche Ordnung das unentbehrliche Bedürfnig aller [höpferifchen organifirenden Naturen ift auf dem Felde der Wiſſenſchaft, der Prarid und der Kunft. Die Bermuthung läßt fi) kaum abmweifen, daß der

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Herr Vertheidiger aus feiner eigenen Methode die Heberzeugung ſchöpft: „dag er ganz ficher ein Genie und größer ald der Bismard if.“ So fordert er im Namen der Unordnung mit feinem lienten dad Jahrhundert in die Schranken.

Doch es ift Zeit, daß wir und von den Grundfäßen, welche die Ver- theidigung aufftellte, zu dem Verhältnig des Angeklagten wenden. Der An: geflagte war der rechtämidrigen Aneignung der Aftenftüde befehuldigt, die er dem Archiv der deutfchen Botſchaft zu Paris entnommen. Die Richtigkeit der Anklage vorausgefegt, fo würde jene dolofe Handlung den Angeklagten zu vier dolofen Behauptungen geführt haben. 1) Zu der dolofen Behauptung, einen Theil der meggenommenen Aktenſtücke für fein Privateigenthum ge halten zu haben; 2) zu der dolofen Behauptung, den Verbleib eines Theiles der mweggenommenen Aktenftüde nicht gefannt zu haben; 3) zu der dolofen Behauptung, einige der weggenommenen Aktenftüde zufällig wiedergefunden zu haben; 4) zu der dolofen Behauptung, einige der weggenommenen Akten— ftüde aus Zartheit für feine Nachfolger entführt zu haben, in der Abfiht, fie dem Auswärtigen Amt zuzuftellen. Auf dem Angeflagten ruht aber außerdem noch der Verdacht einer zmweifachen dolofen Abfiht, wenn diefelbe au in Folge des Anklageprozefjes felbft nicht zur Ausführung hat kommen Fönnen. Der Verdacht nämlich, die rechtswidrig entnommenen Aftenftüde haben be nugen zu wollen, erftend um die Stellung feine® Chefs zu untergraben und äweitend um diefe Stellung zu untergraben ohne Rüdficht —2 den Schaden des Vaterlandes.

Die Vertheidigung hat, wie ihres Amtes war, beides unternommen: die Entkräftung des ſubjeetiven als des objectiven Momentes der Beſchul—⸗ digung. Um das objective Moment zu entkräften, iſt ausgeführt worden, dag diplomatifche Driginalerlaffe, ſowie die Concepte geſandtſchaftlicher Be— richte weder Urkunden noh Sachen feien, und daß ed feinen Eigenthümer folder Schriftftüdte gebe. Demnach fcheint e8, daß die Direftiven und Befehle der michtigften Staatähandlungen zum beliebigen Gebrauche Jedermanns find, in defien Hände fie fallen. Die Verthetdigung hat ſich indeß herbeigelafjen, eine bidciplinarifche Aufficht über die Behandlung der Aftenftüde des ver- traulichen diplomatifchen Verkehrs einzuräumen. Nur hat der eine Verthei— diger diefed Zugeftändniß infofern wieder zurückgenommen, ald er dem Mangel einer gefandtfchaftlichen Negiftraturordnung eine alle Verantwortung auf- hebende Bedeutung beigelegt hat. Das deutfche Reich wird fi) demnach be danfen müffen, wenn feine diplomatifchen Schriftſtücke nicht einfach auf die Straße geworfen worden find. Die Vertheidigung hat fih dann aud darauf eingelaffen, daß äußere Umftände eine fehr ungleiche Aufbewahrung gejandt-

ſchaftlicher Aktenftüde erfordern können. Das ift gemiß 0: * hier Grenzboten IV. 1874.

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fommt eben Alles auf den Nachweis der veranlafjienden Umftände und der pflichtmäßigen Abfiht an. Wenn ein Gerichtögebäude in Brand geräth, jo tritt ebenfalld eine den Umftänden angepaßte Dispoſition ein, troß der Regiftraturordnung. Wer wird aber aus ſolchen Ausnahmefällen eine Befug- niß zur beliebigen Dispoſition für den Vorftand rechtfertigen wollen?

Wir fommen zu den Mitteln der VBertheidigung, um das fubjective Moment der Befhuldigung zu entkräften. Der Vertheidigung zufolge Hat der Angeklagte Erlaffe voll von wichtigſten Direktiven der großen Politik in gutem Glauben für fein Privateigenthum gehalten denn er hat fie mit puerilen Randbemerfungen verfehen. Ein Eaffifcher Beweis! Schreibt Einer nicht fo etwas auch im Merger, ohne fogleih an die Folgen zu denken, oder in der Meinung, die wenigen Worte wieder vertilgen zu fönnen. Oder kann nicht auch Einer fo jehreiben, gerade meil er den Dolus der Entfernung be- reitd in fih trägt? Die Vertheidigung hat ald weiteren Beweis ded guten Glauben? angeführt, dag die erwähnten Erlafje doch immerhin nicht bloß allgemeine Direktiven, fondern auch perfönliche Rügen enthalten, und daß eine Rüge dazu da fei, damit fie Einer fich einſtecke! Grröthe, deutjche Wiſ— ſenſchaft, erröthe, deutfcher Amtsernſt.

Die Vertheidigung hat fi des Weiteren damit befchäftigt, den guten Glauben ded Angeklagten nachzumeifen, ald er gegen die wiederholte Auffor- derung der Vorgefesten zur Herausgabe der weggeführten Aktenſtücke die Un- fenntniß des Verbleibes derfelben vorſchützte, die wichtigiten derjelben aber nach- ber plögli zu Berlin in einem Schreibtifch gefunden haben wollte Um die unerhörte Fahrläfligfeit, die hier doch mindeſtens vorliegen würde, ganz zu entfehuldigen, hat die Vertheidigung fich mit dickflüſſiger Sentimentalität wieder und wieder auf einen höchft fchmerzlichen Todesfall in der Familie ded Unge- klagten bezogen. Darf perfönliher Schmerz, wie groß und tief er fei, zur völligen Verſäumniß der dringendften Pflicht führen? War das die Hand- lungsweiſe der Römer ala deren Gleichen der eine Vertheidiger die Geſchmack— lofigkeit hatte, diefen Angeklagten hinzuftellen? Das deutjhe Volt bewahrt im frifehen und ehrfurdhtsvollen Angedenken das erhabene Beifpiel des Königs- johned, dem ein Kind entriffen wurde, ald er ind Feld z0g, und der feine Stunde ald Heerführer feine Pflicht verfäumte. Und dabei wird diefe Sentt- mentalität nicht einmal mit der Aufklärung der Daten fertig, ob jener Trauerfall und die unverantwortliche unmifjentlihe Wegführung der Aftenftüde wirklich in denfelben Zeitpunkt fallen. Beſäße diefer Angeklagte eine Spur von Vor— nehmbeit, jo hätte er diefe Art der Entjehuldigung im Zorn von ſich weg— meifen müfjen. Iſt aber erwieſen, daß hier wirklich nur eine wodurd immer herbeigeführte Nachläffigkeit vorlag? Wenn der Angeklagte das Wiſſen um

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den Verbleib diejer Aktenjtücde leugnete, fo kann er es wohl gethan haben in der Buverfiht, man merde fich immerdar fcheuen, auf gerichtlihem Wege dem Verbleib nachzuforſchen, um den Inhalt der Aktenſtücke nicht an die Deffentlichkeit zu ziehen. Daß indeß bier nur ein Verſehen obgemaltet, hat die Vertheidigung theild aud der Größe des Koffer deduzirt, worin die Akten— ftücke fchlteßlich gefunden wurden ein Argument, deſſen Gewicht wir nicht verfennen, theil® daraus, daß neben den wichtigen Aktenſtücken fich folche von gleihgültigem Inhalt fanden. Man kann meinen, e8 ift wohl ein alter Kunftgriff, verfänglihen Dingen eine unverfängliche Emballage zu geben. Eine große Lücke ift manchmal unverdächtiger als eine Fleine, fie bietet wenig» ftend meift eine beflere Ausrede. Wenn bloß das fehlt, worauf ed ankommt, fo tft die Abficht ſchwer zu verbergen.

Es fommt wohl felten vor, daß das Urtheil eines Gerichtähofed auch nur überwiegend die Ausführungen der BVertheidigung abſpiegelt. Der Fall ift auch bier nicht eingetreten. Das Urtheil lautet freilprechend bis auf einen Theil der Anfchuldigung, auf den die Anklage jedenfalld nicht dad Hauptge- wicht gelegt, und mit welchem die Vertheidigung fi Faum befchäftigt hatte. Der Angeklagte ift verurtheilt wegen derjenigen Aftenftüde, welche er bereit? vor dem Beginn der Unterfuhung zurüdgeftellt hatte. ‚Er tft nur des Vergehens gegen die öffentliche Ordnung für übermwiefen erachtet, und die entfprechende geringe Strafe ihm dafür zuerfannt worden.

Sn der allgemeinen großen Bewegung, welche der Prozeß hervorgeru- fen, wird auch das Urtheil der erften Inſtanz lange nachklingen und die viel feitigfte Erörterung erfahren. Wenn es gelegen jcheint und nüglich, fo werben wir und noch damit bejchäftigen. M—t—s.

Dom deitfhen Reichstag.

Berlin, den 20. Dezember 1874.

Wir übergehen die Situngen vom 14. und 15. Dezember, deren Arbeit die Fortſetzung der Haushaltsberathung nebft einigen technifchen Gefeßent- würfen war. Giebt auch die Berathung des Haushalts und namentlich die- jenige der Heeredaudgaben immerfort Anlaß zur Berührung wichtiger Fragen, fo können doch unfere Berichte fich nicht die Aufgabe ftellen, Urfprung und Tragmeite aller diefer mehr oder minder oberflächlich berührten, aber natürlich faft niemals entfchiedenen Fragen bei ſolcher Gelegenheit zu erläutern.

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In der Sitzung vom 16, Dezember fland der Bericht in der Gejchäfte- ordnungdcommiffion über den Antrag Lasker zur Berathung, welcher die Prüfung verlangt hatte, ob nad Artikel 31 der Reichsverfaſſung während der Seffion ein Reihstagsmitglied zur Strafhaft eingezogen werden könne. Wie man fich erinnert, hatte dieſes Schikjal den Abgeordneten Majunfe be- troffen. Die Geſchäftsordnungscommiſſion hatte fich jedoch über feinen An- trag einigen Eönnen, obwohl in ihrem Schooß zahlreiche Anträge aufgetaucht waren. Nicht viel ander ging ed dem Reichätag. In demfelben gab es einen Antrag: über die Strafvollftrefung gegen Reichetagämitglieder, die in ihrer Thätigkeit begriffen, exft bei der Strafprozeßordnung Beftimmungen zu treffen. Andere Anträge wollten ohne Weitereö Herrn Majunfe reflamiren, andere wollten eine Abänderung der Neichöverfaffung einleiten. Der Reichs- tag nahm fehließlich, nachdem alle Anträge gefallen, eine von Hoverbeck vor geichlagene Refolution an: die Würde des Reichstags erfordere eine Abänderung ded Artikel 31 in dem Sinn, dag Fein Mitglied ded Neichdtagd während der Seſſion ohne Erlaubnig des Reichsſstags verhaftet werden dürfe. Die Eleine Majorität für diefe Nefolution beftand aus den Klerifalen, aus der Fort- ſchrittspartei und Lasker, mit deffen engeren Freunden. Um folgenden Tage war der Reichsſstag voll von dem ungünftigen Eindrud, welchen der geftrige Beſchluß auf den Reichskanzler gemacht hatte. Man erfuhr das Demiffions: geſuch desſelben. Sovtel mir willen, ift Herr Majunfe wegen feiner Angriffe auf die Reichsregierung verurtheilt, und es ift für den Leiter derfelben eine eigenthümliche Lage, wenn er fi im Reichstag im Elerifalen Stil von feinem DBeleidiger apoftrophiren Laffen fol, der für die Beleidigung tm Gefängniß figen follte. Ein ſolches Privilegium der Reichstagsmitglieder ift in der Ver- fafjung nicht begründet und an ſich eine Abgefchmadtheit. Vergebens hatten die Abgeordneten Schwarze und Gneift vor der Beanſpruchung folder Privi- legien gewarnt. Die demokratiſche Doctrin verlangt diefelben im Intereſſe der Schmähung der Staatögewalt. Bon demokratifcher Seite glaubte man wigig zu fein mit der Bemerkung, es würden ja nicht lauter Verbrecher in den Reichstag gewählt werden. Der kluge Windthorft fagte, e8 würden doch nur höchſtens politifche Verbrecher gewählt werden. Die Wahrheit ift, wenn die Seffion von der Strafvollftredung befreit, fo werden die Eleri« Tale und die focialdemofratijche Partei, die zufammen über eine große Zahl von Wahlkreifen verfügen, regelmäßig ihre Verurtheilten in den Reichstag jenden.

Es ift immer ein Unglüf, wenn Lasker, auf deſſen fleißige und ehrliche Information fih ein Theil der nationalliberalen Partei blindlings verläßt, feinerfeits ohne Vorbereitung fi auf feine Geiftesgegenwart verläßt. Diefe Gabe befist er nicht, die freilich einem Führer zumellen unentbehrlich ift.

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Der Gehalt der angeregten Frage ift höchſt unbedeutend. Ahr Auf: treten entjpringt lediglih der noch unreifen Bildung vieler unferer fonft patriotifchen Kreife. Man hat in früheren Berfaffungsbildungen ſolche Pri— vilegien audgefonnen, um die Qandeävertreter vor hifandfen Unterbrechungen ihrer Thätigkeit zu fihern. Was mürde heute eine Negierung mit ſolchen Chikanen ausrichten? Sie würde fi nur felbft verwunden. Dagegen ift es eine unerträgliche Stellung für die Juſtiz, vor der Souveränität eines Wahl- freifed inne zu halten, der einen Verurtheilten zu erkiefen für gut findet. Am unerträglichften aber ift es für den Reichstag, entweder verurtheilte Verbrecher in feiner Mitte zu dulden, oder aber über die Straffälle nochmals zu Gericht zu fiten, um bald einmal die Zuftimmung der Strafvollitredung zu gewähren, bald zu verfagen. Der Neichätag ift nicht in der Rage, ein Syftem in diefe Berfagungen und Genehmigungen zu bringen und noch ment» ger ein ſolches Syftem, dem eine fachliche Rechtfertigung zur Seite ftehen fönnte. Er fönnte mit diefem Privileg, wenn er es befäße, nur fich felbft verwunden, und ed zu erjtreben, da er es nicht beſitzt, follte fein einfichtiger Freund der parlamentarifchen Inſtitution dem Reichstag anrathen.

Der Unmwille des Reichskanzlers erfcheint namentlich durch die taftlofe Form der Reſolution erflärlih. Man follte denken, der Reichdtag fühle feine Würde dur die Anweſenheit eined Verurtheilten, wie Herr Majunfe beein» trächtigt. Statt deſſen wird erflärt, wenigſtens implicite, die Anweſenheit diefe8 wegen Beleidigung der Reichsregierung Verurtheilten fet für die Würde des Reichstags erforderlih. Die Sache iſt ſtark, wie man fie auch menden möge, und jemehr die Stellung ded Reichskanzlers dahin geführt hat, daß ihm eine zuverläffige Majorität im Reichdtage nothwendig iſt, defto ſchlimmer ift e8, wenn fich zeigt, daß bei der unmwahrfcheinlichiten Gelegenheit ein Theil diefer Majorität dur unüberwindliche Reſte demofratifcher Doctrinen ab- gefprengt wird. Es mar dennoch nicht zu glauben, daß wegen einer immerhin ſehr ftarfen Taktlofigkeit, die aber doch nur einem Theil der ihm befreundeten Partei zur Laſt fällt, der Kanzler von feiner unermeßlichen Aufgabe gerade jet zurücktreten würde.

In der Sitzung vom 17. Dezember mußte die Abftimmung über Hover- beck's Refolution wiederholt werden, weil fie am Vortage nicht gedrudt vor: gelegen. Es ift jehr zu bedauern, daß eine namentliche Abftimmung aus formellen Gründen nicht für zuläffig erachtet wurde und vielleicht nicht dafür erachtet werden Eonnte. Die Nefolution erhielt wiederum die Majorität, aber eine ſolche, zu deren Feititellung e8 der Gegenprobe bedurfte. Die nament- lihe Abflimmung wäre im hohen Grade erwünſcht gewefen, ſowohl für die

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fichere Feſtſtellung der Majorität, als aud für die zuverläffige Kenntniß der Freunde der Refolution.

Die Berathung über einen Eerikalen Antrag aus dem Eljaß, das neue deutiche Unterrichtägefes in den Reichslanden wieder aufzuheben, können mir getroft übergehen. Diefe Art von Debatten find Redeturniere, mit einer regelmäßigen Motion habitueller Keidenfchaften verbunden, aber jahlid ganz werthlod. Daß der Antrag dur Tagesordnung befeitigt wurde, verjtand fih von felbit, wenn wir nad) der viertägigen Erfahrung jo fagen dürfen. Diedmal zerfprengte fein Zufall, ‚fein doctrinäres Phantom die Majorität bei der Erfüllung ihre Pflicht.

Um 17. Dezember fand noch eine Ubendfisung ftatt, in melder ein Gefegentwurf angenommen wurde und gleich durch die beiden erften Leſungen gebracht, welcher das die Ertheilung neuer Banknotenprivilegien verbietende Geſetz vom 27. März 1870, deffen Geltung mit diefem Jahr erlifcht, um ein Jahr verlängert. Außerdem trifft das neue Geſetz Vorkehr, daß die deutfchen Banken, welche ſämmtlich verpflichtet find, vom 1. Januar 1876 ab nur nod Noten auszugeben, die auf 100 M. oder ein vielfaches dieſes Betrages lauten, mit der Einziehung der Eleinen Noten zur rechten Zeit, und in angemeffener Weiſe vorgehen.

Am 18. Dezember verfuchte bei der dritten Berathung des Reichshaus— halt Herr MWindthorft, die Verweigerung der geheimen Ausgaben ded Aus- wärtigen Amtes herbeizuführen. Der ſchlaue Herr rechnete darauf, daß der am 16. Dezember durch Annahme der Hoverbed’fchen Refolution bezüglich der Verhaftung des Herrn Majunfe fozufagen entftandene. Conflikt dur Ver— weigerung der geheimen Ausgaben angemeffen erweitert werden könne. Der gute Rechner nahm die Verweigerung geheimer Ausgaben durch die Fortjhrittd- partei als fihern Poften in fein Facit auf. Herr v. Bennigfen war ed, der in einer fehr glücklichen Rede die Windthorftfhe Rechnung „aufmachte.“ Er forderte den Reichätag auf, die Gelegenheit zu benugen, um dem Reichskanzler vielmehr ein Vertrauendvotum zu geben. Herr v. Kardorff beantragte nar mentliche Abftimmung, und die Debatte wurde gefchloffen. Herr Windthorft begriff nun vollfommen den Fehler, den er begangen. Er nahm dad Wort zur perfönlichen Bemerkung und fuchte ärgerlich, fich heraus zu manövriren. Bergeblih, die geheimen Ausgaben mwurden von 199 gegen 71 Stimmen namentlich bewilligt. Die Fortfchrittöpartei hatte alfo dem Kanzler ein Bertrauendvotum gegeben! Wer hätte das je gedacht? Die Herren mochten ſich fagen, daß fie den Kanzler ftürzen Fönnten, denn felbft in der Fortſchritts— partei fonnte man nicht zweifeln, daß der Kanzler mit dem Rüdtritt Ernft mahen werde. ber die Herren berechneten Gewinn und Berluft, und

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ſchlugen ten Verfuft für den Augenblick doch höher an. Das macht ihrer Einfiht immerhin Ehre. Das Bertrauendvotum kommt ihnen aber doch nachträglich fauer an. Es tft doch zu wenig fortjchrittlih. Die Partei läßt daher nachträglich erklären, fie habe Fein Vertrauensvotum geben wollen, fondern die geheimen Ausgaben des Auswärtigen Amtes feien nach ihrer „Tradition“ ein überall nothmwendiger Poſten. Wir wollen diefe „Tradition“ einer Hiftorifchen Kritik nicht unterziehen. Genug, daß die Fortfchrittäpartei fi) gegen das Vertrauendvotum für den Reichskanzler verwahrt. Man follte faft denken, die Herren glauben die Zeit nicht Jo fern, wo ihnen die Gefchäfte zufallen, und machen darum den Anfang mit der Anerkennung gouvernemen- taler Traditionen.

Uns ift bei diefen Aeußerungen fehr wenig fcherzhaft zu Muthe. Welches ift unfere Rage? Der Kanzler hatte am 16. Dezember fein Demiſſionsgeſuch eingereicht, der Katfer aber e8 nicht angenommen. Nachdem der Reichätag die Gelegenheit raſch benugt hat, den Eindruck des Votums vom 16. Dezember audzulöfhen, hat der Kanzler zunähft äußerlich feinen Grund, auf feiner Demiffion zu beharren. Alle Welt aber fagt fi, daß er Grund haben muß, mit feiner Stellung nicht zufrieden zu fein, und zerbriht ſich über diefen Grund den Kopf. Wir mwiffen nicht mehr als alle Welt, aber eine Ver- muthung liegt nahe genug, und wenn man recht überlegt, eigentlih nur diefe Eine. Es ift fein Geheimniß, daß eine Partei, die in die hödhften Kreife dringt, unermüdlich) daran arbeitet, die Ueberzeugung zu befeftigen, daß der vom Kanzler geführte Kampf mit Rom ebenfo unnöthig ald gefährlich fei. Man bietet einen Frieden an, der äußerlich das Anfehen des Staates nicht beeinträchtigen würde. Fürſt Bismarck aber, der, wie die nun ver» Öffentlichten geheimen Dokumente beweifen, fo eifrig den Frieden mit Frank: reih will, kann den Frieden mit Rom nicht wollen, weil er Rom nicht ala friegführende Macht anerkennt, oder vielmehr, weil Fein Staat, am wenigſten aber das deutfche Reich, Rom diefe Anerkennung gewähren darf. Der Fürft verlangt von Rom nicht den Frieden auf irgend welche Bedingungen, die eined Tages umgeftoßen werden können und vom erjten Tage an nicht ge- halten werden, fondern er verlangt, nit von Nom, mohl aber von jedem deutfhen Katholiken die Unterwerfung unter dad Staatägefet. Wer will ermefien, wie dem Fürften Bismarck die Behauptung diefer einzig correften und fruchtbaren Poſition erſchwert werden mag. Leicht möglich, daß er fie nur behaupten fann durch die Meberzeugung, daß der Reichstag ihm unwankend folgt. Wird diefe Ueberzeugung durch eine Abjtimmung, wie die vom 16. Dez, widerlegt, jo kann es wohl kommen, daß die Kraft des Fürften den Kampf gegen geheime und offne Gegner zugleich nicht fortfegen will,

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Viele, die ihm ſeine Pfade erſchweren, namentlich unter den links ge |

richteten Parteien, rechnen vermuthlih im Stillen, daß ihre eignen Pfeile von

dem Panzer der Unentbehrlichfeit de3 Fürften abprallen. Wenn aber der |

Fürft für Deutfchlands wahre und gefunde Entwidlung unentbehrlich iſt, fo

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ift er e8 nicht in dem Sinne, daß ohne ihn Feine äußere Regierungsmöglichkeit beftände. in neuer Kanzler, der Friede mit Rom machte, könnte ih aud

dem Gentrum und einigen Clementen der jett beftehenden confervatiwen Parteien eine ausreichende, vielleicht eine ftattlihe Majorität bilden, und, maß jehr ind Gewicht fällt, eine weit zuverläffigere Majorität als diejenige, welche dem Fürften Bismarck zu Gebote fteht. Wer diefen Gang der Dinge ber fördern will, der mag es auf feine Verantwortung thun. Die Ausrede, nicht gewußt zu haben, was er that, wird aber Niemanden ſchützen.

Um 18. December beſchloß der Reichstag in einer Abendfisung endgültig

über das interimiſtiſche Banknotengeſetz und berieth den Haushalt der ums;

mittelbaren Reichölande zu Ende. Sehr ſpaßhaft war dad Cintreten bei

Gentrums für eine Qandesvertretung in Eljaß-Rothringen, während die Herren zu Gunſten Medlenburgs die gleiche Anftrengung abgelehnt hatten, was ber Abgeordnete Franz Dunder mit gutem Humor bervorhob.

Am 19. Dezember wurde über den Haushalt der Reichslande —— beſchloſſen und das Werk des Reichstages für dieſes Jahr beendigt. Am 7. Januar 1875 tritt er wieder zuſammen. Er unterbricht ſeine Thätigkeit nach angeſtrengter und fruchtbarer Arbeit in einer ſehr merkwürdigen Lage des Reiches. In einer Lage, die fo glänzend iſt an Erfolgen der Vergangen— heit und an Verheißungen der Zufunft, die vielfach bereits Geftalt gewonnen

haben, wie noch feine, die aber auch, wenn mir nicht irren, ungewöhnlich . bedrohlich if. Die Ulten fagten: es ift noch meit vom Becher bis zur Rippe,

C—r.

Mit Januar 1875 beginnt die Zeitfchrift das L Quartal ihres 34. Jahrgangs, welches durch alle Buchhandlungen und Poſi— anftalten des Sin: und Auslandes zu beziehen ift. Prei® pro Duattal 7 Mark 50 Pfennige.

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