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VO PL03./ 03

HARVARD COLLEGE LIBRARY

FROM THE BEQUEST OF

JAMES WALKER e (Class of 1814)

President of Harvard College

* Preference being given to works in the Intellectual and Moral Scitnces*’

Aeſthetik.

Die Idee Des Schönen

und ihre

Verwirklichung im Leben und in der Kunſt.

Bon

Klori; Carriere,

Pritte neu bearbeitete Auflage.

Erfter Theil.

Die Schinheit. Die Welt. Die Phantajic.

Leipzig: F. A. Brockhaus.

1885.

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Aelfthetik. L2ht

GErfter Theil.

Aeſthetik.

Dic Idee des Schönen

und ihre

Berwirklidung im Leben und in der Kunſt.

Bon

Boris Carriere,

Dritte neu bearbeitete Anflage.

Erfter Theil.

Die Sdhinheit. Die Welt. Die Phantafie.

Leipzig: F. A. Brockhaus.

1885.

AS ABD Ci COLE SEP 2 1920°

Das Redjt der Ueberſetzung ijt vorbehalten.

Bur Einführung. (1859.)

Der Gedanke an vorliegendes Bud) hat mid) feit meinen Studentenjahren bejdhdftigt; es ftand bet meinen Schriften aus dem Gebiete der Gefchidjte der Philojophie und der Religions- wiffenfdaft im Hintergrunde, und meine fritifde Thätigkeit im Felde der Literatur und Kunft war darauf bezogen. Seit zwölf Jahren habe id) Vorträge über Aeſthetik gehalten und den Stoff von Jahr zu Jahr von neuem durchgearbeitet. Es war cine Gunſt des Schidjals dak id, nachdem die Grundlagen feftitanden, in cinen regen und unmittelbaren Verfehr mit Kiinftlern und Kunſt— werfen verjest ward; dies Hat zwar das Erſcheinen des Werkes verzdgert, wird ifm aber zugute gefommen fein. Es verweift iibrigens nod) auf. eine Philofophie der Kunſtgeſchichte, eine Dar- jtellung dieſer fegtern im Zujammenhange der Culturentwicelung und mit Rückſicht darauf wie die einzelnen Künſte anfetnander cin- wirfen und eine nad) der andern fiir einzelne Perioden Leitend und tonangebend wird. Die ſchriftſtelleriſche Lbjung diejer Aufgabe, ebenfalls jdjon durd) Vorträge vorbereitet, hoffe id) tm Lauf der nächſten Sahre gu vollenden.

Ich möchte den Freunden des Schinen und der Kunjt wie den Riinitlern ein Buch darbieten das ihnen das Verjtindnif der grofen Meiſterwerke erſchließt, die Schöpferthätigkeit des Geijtes erflart, ihre Geſetze erläutert, Natur und Geſchichte vom äſthetiſchen

vi Zur Einführung.

Geſichtspunkt aus betrachtet, den Genuß des Schönen durch die Erkenntniß ſeines Weſens beſtätigt und erhöht. Ich möchte zu— gleich die Philoſophie auf dieſem Gebiete fortbilden und von hier aus zu den höchſten Ideen hinleiten.

Ich ging nicht von den Vorausſetzungen eines fertigen Syſtems aus um dies auf die Betrachtung des Schönen zu übertragen, ſondern ich ſuchte zunächſt die äſthetiſchen Thatſachen in Natur und Kunſt zu erfaſſen, zu begreifen, zu begründen, und ſo auf— ſteigend zu den allgemeinen Principien zu gelangen, dann aber wieder von dieſen, vom Weſen der Dinge und des Geiſtes aus, das Wirkliche zu entwickeln und ſeine Geſetze abzuleiten, ſodaß ſich die inductive und deductive Methode ineinander verweben und beide wie Ein- und Ausathmen das Leben der Wiſſenſchaft bilden. Nicht die einzelnen Begriffe, Naturgeſtalten oder Künſte gehen bei mir ineinander über, denn ſie bleiben ja auch in der Wirk— lichkeit beſtehen, ſondern die rechte Dialektik thut dar wie der Geiſt das Allgemeine beſondert, das Beſondere unterſcheidet und von einem zum andern fortſchreitet, weil durch kein Einzelnes ausſchließlich, ſondern durch alle in ihrer Ergänzung und durch jedes auf eine eigenthümliche Weiſe das Schöne offenbar wird.

Die Idee des Schönen, das Schöne in Natur und Kunſt iſt nicht für ſich abgeſondert, ſondern nur im Zuſammenhange des Lebens zu begreifen; die Philoſophie will nicht blos das Was, ſondern auch das Warum der Dinge erkennen, nicht blos daß ſie ſind, ſondern auch wie ſie möglich und nothwendig ſind will ſie verſtehen. Haben wir die gegebenen Erſcheinungen allſeitig und unbefangen aufgefaßt, ſo fragen wir nach ihrem Grunde, und ge— winnen durch fie ſelber die Vorderſätze für unſern Schluß nad dem Weſen dieſes Grundes, wie es beſchaffen ſein müſſe damit ſolch eine Welt aus ihm hervorgehen fonnte. Hier genügt nun weder fiir die logiſche Entwidelung nod) fiir die Thatjaden der Erfahrung, dak man den ewigen Grund der Dinge als unbewuste und willenloſe Subſtanz auffagt, nod) dag man denjelben von ihnen jdjeidet und ihn gwar als Geift beftimmt, aber naturlos madt, verendlidjt, und die Cinheit des Seins zwieträchtig aus—

Bur Einführung. vi

einander reißt; mit andern Worten: der Pantheismus und der dualiſtiſche Deismus ergeben fic als gleid) unzulängliche Anſich— ter. WLS ich vor zwölf Jahren in der „Philoſophiſchen Welt- anjdhauung der Reformationszeit” dies als die Aufgabe der Gegen— wart und den innerften Gedanfen meines Denfens ausfprad: daz es gelte den Wahrheitsfern beider Anfidhten fejtzuhalten und fie, ihre Miingel iiberwindend, in einer höhern Bdee fic) ergänzen gu {affen, fo fah man darin vielfad) bald wieder Deismus oder Pantheismus, oder man ftellte es al eine nene Meinung Hin, die man dahingeftellt fein laſſe. Indeß ijt die Idee allmählich doch burdgedrungen und wol aud fiir die Grfindung anbderer aus— gegeben worden, dic meine Shriften ganz wohl fannten. Mag es fein, wenn nur den Gebildeten der Nation endlid) gum Be- wußtſein fommt dak es etwas Anderes und Hiheres gibt als die Gegenſätze des Materialismus und DQogmatismus. Gar dilettan- tijd ift es freifid), wenn unreife Leute beurtheilen was fie nidt verftefen, und die Meinung verbreiten als feien Deismus und Pantheismus zwei Sachen, die, an fic) durch eine Kluft getrennt, jest durd) eine Briicfe verbunden werden follten. Es gibt ja nur eine Gache, da8 wirflide Sein; dies foll begriffen werden. Die urjpriinglide gefiih{sinnige Anſchauung der Menſchheit erfaßt es als lebendige organiſche Einheit und ſelbſtbewußte Weſenheit, die alles in ſich hegt und trägt, aus ſich hervorbringt und liebend umſchließt; der unterſcheidende Verſtand hält ſpäter einzelne Seiten des Weſens in ſich feſt, bald daß es der einwohnende Grund aller Dinge, bald daß es Fürſichſein und Geiſt ſei; wer über dem einen dieſer Worte das andere vergißt der ſtellt eine Anſicht auf, die nur eine der hauptſächlichen Beſtimmungen erfaßt und durch das Verkennen der andern einſeitig wird, ſtatt in beiden zuſammen die ganze Wahrheit zu ergreifen. Die gereifte Vernunft weiß dem Gefühl wie dem Verſtande gerecht gu werden und in der dialeftijdjen Ueberwindung der Gegenfite das Sein nad) feinem vollen Begriff ju verftehen und darzuftellen. Von hier ans wird dann die Begriindung der ajthetijden Thatſachen möglich. Wer ba von Uebergriffen in das theologifde und ethiſche Gebiet redet

Vill Zur Ginfiihrung.

der vergift daß die Philofophie gerade den Weltzujammenhang und das allgemeine Princip aller Lebensentfaltung ju betradten hat. Wir miiffen cinen folden an das tieffinnige Wort Leffing’s evinnern: „Eine jede Wiffenjdaft in ihren engen Bezirk ein- geſchränkt fann weder dic Seele beffern nod) den Menfdjen voll— fommener maden. Mur die Fertigkeit fid) bet cinem jeden Vor— fall fdjnell bis gu allgemeinen Grundwahrheiten yu erheben, nur diefe bildet den grofen Geijt, den wahren Helden in der Tugend und den Erfinder in Wiffenfdaften und Künſten.“

Hätte id) den Fachgenoffen nicht cine ganze Reihe neuer Be- griffsbejtimmungen und Begriindungen gu bieten gehabt, jo ware das Buch ungefdhrieben geblieben; id) Habe e8 aber jo gu ſchreiben geſucht daß es den Gebildeten der Nation verſtändlich fei. Es ijt nidt wahr dah Tiefe des Gehalts und Dunkelheit oder Schwer— falligttit der Darftellung einander bedingen. Nur wo wir den Mittelpunkt einer Sache nod) nicht recht erfaßt haben und ans verfdiedenen Merkmalen ihren Begriff gujammenfesen, werden wir leidjt verworren und unverjtindlid); haben wir den Rern und da8 redjte Wort fiir ihn gefunden, dann ift er immer einfad) und feine Entfaltung klar. Bei jolden Ideen wie die des Er— habenen, Komiſchen, Plaftijden, Muſikaliſchen find, habe ich bei wiederholtem Bortrage es erflebt daß meine Cutwidelung nur ſchwer war wo id) nod) mit dem Gedanfen gu ringen hatte, dak fie dentlic) und leicht wurde wo er in feiner Beftimmtheit und in feinem organijden Zuſammenhange mir anfging. Ich bin nicht eher gur Verdffentlidung gefdritten als bis dies im Ganjen der Fall war.

Gelegentlide Bemerfungen fiber das Shine wie iiber die RKunft, und gwar vortrefflide und mafgebende, finden wir in der ganzen Giteratur der Menſchheit feit Mojes und Homer; aber jum Mittelpunkt der Forjdung und Betradhtung ift es erjt in neuerer Zeit gemadt worden, erft der Letbnizianer Baumgarten ſchrieb cine Aeſthetik, erft Raut ftellte neben die Rritif der reinen und praftifden Vernunft auch die der Urtheilsfraft, erſt Schelling, Solger, Hegel beſchäftigten fic) auf der Grundlage unferer poe-

Bur Einführung. IX

tijden Literatur und der Forſchungen Leffing’s und Winckelmann's mit dem Schönen um feiner felbft willen. Ich Habe darum fo- gleid) mit der Entwidelung der Aeſthetik ſelbſt begonnen ftatt cine Geſchichte derjelben voransjufenden. Was id) aber bet Philo- fophen, Runfthiftorifern und Didtern gefunden habe, das id) als Bauſtein der Wijjenfdaft vom Schönen anjehen fonnte, da8 habe id) gern mit Angabe jeiner Quelle an geeignetem Orte dem Syſtem der Entwidelung cingefiigt. Namentlic) waren die Brief- wechſel Goethe’s und Schiller's in diefer Beziehung eine reide Hundgrube. Aber man findet erft was man fudht, das heißt was man jdon ſelber gedadt hat, man fernt von andern nur was man ſchon weig, wofiir man fdon innerlich bereitet ijt. Meine vorher feftgeftellte Einſicht mußte das Kriterium fein an weldem id) die Brauchbarfeit der Sätze anderer fiir mein Werk bemag. Wir Philoſophen aber miiffen endlich lernen fortzubauen auf den Rejultaten der Vorgänger, und nidt in dads Einreißen und das rfinnen nener Syſteme um der Neuheit willen unfer Biel ju feben, wir müſſen es machen wie die Naturforfder, die das Bild des Kosmos durch die vereinte Kraft vieler entwerfen. So ſchließt meine Wefthetif fic) demjenigen an was anf logiſchem und theologijdem, ethiſchem oder pſychologiſchem Gebiete von Fichte und Weife, Ulrici und Wirth, Rofenfranj, Ritter und Lobe, Franz Hofmann und Chalybius, Ricard Rothe und Bunjen geleiftet worden. Alle diefe Männer werden im Grund- princip mit mir oder den Uefthetitern Zeifing und Eckardt über— einjtimmen dag wir Transſcendenz und Immanenz verbinden miiffen, wenn wir irgend die Fragen der Wirklichkeit löſen, den Thatſachen geredjt merden und fie als Thaten des Geiftes, als Selbjtbeftimmungen des Unendliden begreifen wollen. Lebt und waltet denn nidt aud) unjer Denfen, unjere Seele in und itber dem Leibe, unfer Selbftbewuftfein und Wollen nidt in und iiber unjern BVorftellungen und Trieben?

Wir wollen feine Sdule bilden, fondern gu fretem Forſchen und Denfen anregen. Die Zeit. der Sdhulphilofophie ift voriiber, aber damit nidt die Philofophie felbft, vielmehr beginnt fie

x Bur Cinflihrung.

Lebenswiffenfdaft gu werden. Bhre Bedeutung wächſt je voll- ſtändiger die Menſchheit in das Weltalter des Geiſtes eintritt, und nidjt mehr unter äußerer Autorität oder inftinctiv, fondern init Flarem Gelbftbewuftjein ihr Tagewerf vollbringt. „Ihr werdet die Wahrheit erfennen und die Wahrheit wird euch frei machen.“ Das war die große Weiffagung vom Reiche des Geiftes, fie wird ſich erfüllen. Der Geift wei was er will und will was er weiß, er macht fein Weſen, feine Naturanlage durd) felb- jtdndige Ausbildung ju feiner That. Dazu bedarf er der Philo- fophie, die uns das Riel der Cntwidelung nicht blos in eingelnen Werfen zur Anſchauung bringt, wie die Kunſt, jondern die Ideale des fittlidjen Lebens aud) in Gedanfen erfaßt und als den Zweck deffelben anusjpridt. Die Reaction, die nur aufhalten oder auf friifere Standpunfte zurückkehren will, braudjt fretlid) feine Philo— fophic und verſchmäht oder Haft diejelbe; ebenfo die Revolution, dic nur jerftéren und umſtürzen will, alg ob da8 Weitere fid dann von felber finde. Goll nicht die Kraft der Menſchheit in einem Hine und Herſchwanken gwijden Despotismus und An- ardie fid) vergehren, fo muß an der Stelle beider die künſt— leriſche Reform walten, die das Wejenhafte erhalt, aber fort- bildet, und das Neue und Rufiinftige mit Harem Blick und rubi- ger Hand aus dem Bejtehenden organiſch entwidelt, Freiheit und Ordnung verbindet. Das ijt aud), wie dies Bud) darthut, dic Lehre der Wefthetif.

Vorwort zur zweiten Auflage.

Als id) dic Herausgabe einer Aeſthetik vorbereitete, glaubte ich ſtatt eigenthümlicher Erörterung einzelner Fragen, die ich auf neue Weiſe beantworten konnte, darum ein vollſtändiges Syſtem aufſtellen gu ſollen, weil es galt der ſpeculativ dialektiſchen Me— thode die einfache Unterſuchung und Entwickelung entgegenzuſetzen und den thatſächlichen Beweis gegen die Behauptung zu führen daß unſere Wiſſenſchaft nur vom pantheiſtiſchen Standpunkte mög— lich ſei. Statt der Vorausſetzung der Hegel'ſchen oder Herbart’- ſchen Philoſophie war die Wirklichkeit, unſer Gefühl vom Schönen und die Kunſt, mein Ausgangspunkt, und von hier aus zog ich die Schlüſſe auf die Principien des Seins, und ſo geſellte ſich den allgemeinen Begriffen vielmehr das Individuelle als das Reale und Urſprüngliche, und zur Erklärung der Thatſachen ſchien es nothwendig auch den Grund des Lebens nicht blos mit Spinoza als Subſtanz, ſondern auch mit Leibniz als Willen und Selbſtbewußtſein zu erfaſſen, die Wahrheit des Pantheismus mit der des Theismus zu vereinigen.

Seitdem iſt man des Spiels mit dem Umſchlagen der Be— griffe, der angeblichen Selbſtbewegung der Gedanken auch ohne denkendes Subject müde geworden, und Viſcher ſcheint keinen Ge— brauch mehr davon zu machen, nicht mehr zu glauben daß die Malerei in die Muſik wirklich übergehe; Weiße wenigſtens hat in ſeinen Vorleſungen ſich gründlich ſelbſtverbeſſert, und ſo konnten

xu Vorwort zur zweiten AWuflage.

in der neuen Auflage jene Anmerkungen wegfallen, welche reine Bahn ſchafften und meinen Standpunkt polemiſch rechtfertigten. Dafür habe ich namentlich die Ideenlehre des Schönen einer gründlichen Durcharbeitung unterworfen, vieles ſchärfer beſtimmt und klarer entwickelt, ſodaß ich bitte fortan dieſe neue Darſtellung zu berückſichtigen. Ruhigen Muthes ſtelle ich ſie neben die Cari— catur die Viſcher von meinem Buch entworfen hat; mir dünken ſeine Vergleiche nicht treffender und geſchmackvoller als ſeine gleich— zeitigen Witze: Deutſchland ſei ein Mann mit geſunder Lunge, leider mit zwei Hühneraugen die größer ſeien als der ganze Mann, Preußen bleibe noch fernerhin was es von Anfang war der verklemmte große Bruch des deutſchen Reichs. Bei vielen trefflichen Worten über Meiſter und Werke der Vergangenheit iſt Viſcher mit ſeinen Urtheilen über die Gegenwärtigen von Bis— marck bis zum verſeſchreibenden Ladenjüngling minder glücklich, aud) nicht maßgebend geworden. Wenn er mich den Obercitations- rath der Literatur benamfet, fo leugne ic) nicht dak ic) die Sitte habe andere Vor- oder Mitarbeiter zu erwähnen und ifnen dic Ehre zu geben, womöglich die von ihnen gefundene Wahrheit aud) mit ihrem eigenen Wort und Stempel anjufiihren. Cine Wiſſenſchaft ift nit da’ Werf Cines Mannes, jondern vieler Kräfte, und fie wächſt allmählich. Meine Art ift es nidt daß id mid) nod) mit demjenigen herumjdlage was der Vergangenheit angehirt oder unzulänglich tit, um ju jeigen wie ic) das dod) befjer wiffe; id) nehme fieber danfbar da8 anf was als bleibender Gewinn ju eradien ijt, und fiige es alS Bauftein in den Ent- wurf des Ganjen, der mir der rechte ſcheint. Go habe id) nach— traighd) gar manden guten Spruch von andern cingetragen. Strauf ordnete in jeiner Dogmatik die Polemif der Sahrhunderte ju einer verneinenden Kritik zuſammen; warum ſoll man niddt aud) aufbauend jeigen wie die Aefthetif durch die gemeinjame Thitigkeit vieler Oenker geworden ijt, und wie viele gutreffende einzelne Beftimmungen fid) in einen eigenthiimliden Blan cinglie- dern? Der Lefer joll nicht blos meine perſönlichen Anfidten, er joll in meinem Syftem zugleich die feitherige Errungenfdhaft in der

Vorwort zur zweiten Auflage. XIII

Erkenntniß des Sdhinen erhalten. Lowe vermift in der Aejthetif cine Tradition, durd) welde friiher gefundene Wabhrheiten fort: gepflangt umd durch gujammenhingende Arbeit der Spiiteren ver- vollfommnet wiirden; jeder neue Verſuch gehe unbefiimmert um jeine Vorgänger wieder in die Tiefe des eigenen Gefühls zurück und wage einen neuen Griff nad) dem was andere vielleidt ſchon eben fo fidjer oder unſicher erreichten. Daf ic) diefem Mangel abzuhelfen juche, hatte die Vorrede nod) ausdriiclid) gefagt. An Lotze's Nichtbeachtung meines Buchs rächte ich mid dadurd) dap id) die geiftvollen jerjtrenten Bemerfungen über äſthetiſche Gegen- ſtände, die er cine Geſchichte unferer Wiſſenſchaft zu betiteln be- liebte, fiir die Fortbildung derfelben tren verwerthet habe. Nicht minder willfomimen war Zimmermann’s Aefthetif als reine Form- wiffenjdaft nebjt den Beftimmungen über da8 formal Sine welde RZeifing’s mathematijde Forſchungen bieten. Bch erfenne das cigentlic) Aejthetijde in der Form, ſehe in ihr aber den Ausdrud des Sunern, und ziehe daher mit ihr auch Idee, Gripe und Stoff in Betradt; fo gelangen wir jur vollen Anſchauung der Wahrhert.

Unterfdiede in den Standpunkten, dev WAuffaffung, den geifti- gen Kräften find nothwendig und heilſam um die Fiille des Lebens alfjeitig gu ergründen; fie brauden einander nidt feindfelig zu befehden, fie können ſelbſtbewußt cinander erginzen. Thun wir dads auf dem Gebiete des Schönen; ſein Weſen ijt ja Harmonie! Mur die Leugnung des freien Geijted und des Bdealen durd das Dogma des Materialismus und den Materialismus des Oogmas gilt e& gu bekämpfen; dic fittlidje Weltordnung gilt es ju begrei- jen, die fic) uns thatſächlich jo glorreich in dev Erfahrung der Geſchichte bewährt hat wie fie cine Forderung der Vernunft und ded Gewiſſens ijt. Mache man fic) aber ernſtlich cinmal flar ob jie nicht neben dein logiſch Nothwendigen aud) freie Triebkräfte vorausfebt; ob fie miglid) wire, wenn das Wejen des Seins in blind wirfenden Atomen und ihrem Mechanismus beftiinde. Sie jind nicht das Ganze, fie bilden die nothwendige Bafis des Realen fiir dad Sdeale, die Mittel fiir den ethiſchen Zweck des Lebens;

xiv Vorwort zur dritten Auflage.

dieſer ſelbſt verlangt daß das Princip der Welt ſelbſtbewußte Ver— nunft und Wille der Liebe, nicht naturloſer, ſondern die eigene Natur im Univerſum entfaltender Geiſt ſei, allgegenwärtig und bei ſich ſelbſt, und ſo in Wahrheit Eins und Alles.

Das neue Reid), die neue Zeit bedürfen der Religioſitäät. Der Glaube an das Ideal, da8 Vertrauen auf die ſittliche Weltordnung ergänzt die Erfenntniffe der Naturwiffenfdaft, aber man unter- {affe e8 mit Dogmen etwas der fortſchreitenden Erkenntniß des Wirklichen und den Folgerungen der Vernunft vorſchreiben ju wollen; im gejegliden Zujfammenhang des Univerfums, nidt in deffen Durchbrechung offenbart fid) das Göttliche. Jeſu eigene Worte, der edelſte Ausdrucd ethifder Wahrheit, und fein vorbild- liches Leben vertragen fid) recht gut mit der Wiffenfdaft; und id denfe daß uns daran geniigen fann um Chriften ju fein. Das herrſchſüchtige Pfaffenthum und feine Unfehlbarfeit, cin Spott dev Aufklärung, werden doch nur innerlic) überwunden, wenn jener Kern des Chriſtenthums zum Heil ded Volks rein und treu bewahrt bleibt. In dieſem Sinne iſt meine AWejtheti— geſchrieben; möge ſie der Erkenntniß des Schönen und der Liebe zu ihm, möge ſie der Fortbildung des deutſchen Geiſtes förderlich ſein!

München im Herbſt 1872.

Vorwort zur dritten Auflage.

Der urſprünglichen Anlage und Darſtellungsweiſe bin ich auch diesmal treu geblieben, im Einzelnen aber iſt vieles er— weitert, näher beſtimmt und beſſer begründet worden. Mein Buch paßt nicht in die herkömmlichen Schablonen der Gehalts-, Gefühls-, Formaläſthetik, weil es die Gade ganz und allſeitig zu erfaffen ftrebt; aber ed fann fiir fic) verwerthen was auf ein:

Vorwort zur dritten Auflage. xv

ſeitigen Standpunkten gewonnen wird. So iſt diesmal das Phy— ſiologiſche mehr betont, wie fern mir auch der Naturalismus liegt, der es für das Alleinberechtigte nimmt. Ich halte an der Ueberzeugung feſt daß Sinnlichkeit und Vernunft zuſammenwirken, daß Ethik und Aeſthetik nicht blos beſchreiben wie gehandelt, ge— fühlt und gebildet wird, ſondern auch lehren wie gehandelt, ge— fühlt und gebildet werden ſoll. Ob mein Werk von der Schul— gelehrſamkeit und der Tagesſchriftſtellerei weniger beachtet wird als andere, möge es fortfahren in einer kleinern Gemeinde ſinniger Gemüther und ſelbſtdenkender Geiſter mir Freunde zu erwerben!

München im Herbſt 1884.

Moriz Carriere.

Inhaltsüberſicht.

I. Die Idee des Schönen. S. 1—288.

Das Schöne im fühlenden Geijt; die Ineinsbildung bealen und Stealen. .. .......,..,., 1—73

Das Gefiihi vom Schönen, ein finnii eiftiqes Wohl- qefallen, die empfundene Harmonie von Innen⸗ und Aufen- welt, wird durd) Gegenftiinde in uns erregt in welchen Geift und Natur, Gedante und Erſcheinung jelber in Cin- flang find. Die Ginfeitigfcit des Materialismus und Syiritualigmus muß ju feiner Erkeuntniß überwunden werden (1L—18). Das Shine nad feinem idealen und realen Element. Begriff der Idee (18—26); Nothwendig- feit und Erfdeinung (26); das Reale als das Individuelle und Monadijde (Q7—3O0). Das Geſetz und die Cigen- thiimlidleit, Freiheit und Ordnung in allem Schönen; fiber das Wejen von Nothwendigtcit, Willkür und Zufall, wahrer Freiheit (30—46). Correctheit; bas Normale und Charafteriftifdje (47—53). Ausdrud (53). Anmuth und Wiirde (66—64). Das Shine als thitige Löſung der Gegenfite (65—69) mitrofosmi und gottoffenbarend (69—73).

2. Die Momente dee Shonen... ...... ew ae 73—147

Form, Stoff, Größe find die logiſch nothwendigen Mo— mente (73),

Carricre, Meithetit. J. 3. Aufl. b

XVII Inhaltsüberſicht.

Seite a. Das Formalfdine. S. 74—109.,

Wohlgefallige Formen. Cinheit im Unterfdied, im Man- nidfaltigen (74—81); Symmetrie (82); Goldner Schnitt (85—87); Gleidgewidt von Zweck und Mittel; Unter: fudjung des Zweckbegriffs; Schönheit ift angefdjaute Swed- mäßigleit (88—93); das Organifdje (94—98). Boller Be- qriff der Form: das felbftgefeste Maß innerer Vildungs- fraft (99—102), Reine Form und Symbolif derjelben (L03—108), Ideenaſſociation (108).

b. Das Sdhine in Begug auf die Gréfe; das CErhabene. S. 110—136.

Das Grofe, Keine, Maßvolle (110). Das Erhabene ift das- jenige Schöne weldjes durd) feine Größe den erften fiber- wiltigenden Cindrud madt; der Gegenftand erwedt die Idee des Unendliden und wir fdanen fie in ihm an (111). Kritil der Theorie des Erhabenen bei Burke, Kant, Her- der, Hegel, Solger, Weise, Viſcher, Zimmermann, Reifing (112—117). Contraft, Dimmerung, Ferne. Das Er— habene in der Natur, im Geifte, in der Kunſt (118—182). Geflihl von ibm (134—1386).

c. Das Sdhine in Bezug auf Stoff und Gehalt; das Reizende, Rührende, Intereſſante. S. 136—147.

Das ſinnlich Angenehme (136), das Gehaltvolle (139), das Intereſſante (141). Echte und falſche Rührung (142 —144). Das Abnorme (145).

3. Das Häßliche und feine Ueberwindung ...... 147—168

Das Häßliche fein Moment, fondern der Gegenfat des Sdinen (147—148), Es trennt Mannidfaltigteit nnd Ginheit, Willkür und Geſetz; das Böſe, Unreine, Frivole, das Gejpenftige und die Verweſung (149—157). Ucber- windung de6 Hifliden, die e8 dem Schönen dienftbar madt (158—168).

4. Das werdende Schöne im ProceR der Entwide- OMB rk ore ase Greene em GRE eee nl, B 168—247 Das Sdine ift nidt blos das Bollendete, aud) der Weg

gu demſelben hin; es fann fiir fic) und im Sieg fiber den Gegenſatz auftreten (168).

a. Das Tragifde. S. 169—198.

Wie wir an Leid und Untergang Freude haben fonnen (169). Das Schickſal: Gétterneid, Nemefis, ſittliche Weltordnung (172—177). Ucberhebung, Collifion von Pflidten und

Inhaltsüberſicht. XIX

Seit Rechten, einſeitige Leidenſchaft (177—191). Das Tragiſche im Leben und in den Künſten (192—198).

b. Das Komiſche. S. 198—224.

Es ift gleichfalls ein Proceß, deffen einzelne Momente von frühern Definitionen feſtgehalten wurden. Erheiterung durch die angeſchaute Zwechidrigkeit oder die ſich ſelbſt zerſtören— den Widerſprüche (200). Das Lachen (205). Der Wik (209—215), bie Sronie (215), das Wortſpiel und das Mis- verſtändniß (218). Das Nomifde in den Künſten (223).

c. Das Humoriſtiſche. S. 224—247,

Verwebung des Lacherliden und Rilhrenden; Dialektik der Phantafie und Doppelwirllidfeit des Lebens (224—232). Das Naive (233). Das Grofe und Kleine, Scherz und Bewunderung in Einem (237). Der Humor bei Ariftophanes und Shafefpeare (240—247).

5. Die Auffaffung und Beurtheilung de8 Sdhinen; fein Verhältniß gum Wahren und Guten. .... 248—288

Das Shine erzeugt fic) im fihlenden Geift. Freies Spiel feiner Kräfte (248). Reinigende Macht des Sdhinen (251). Die Liebe gu ihm (255). Ange und Obr als auffaffende Ginne (257). Intereſſe und Jntereffelofigteit im Wobl- gefallen (259). Recht und Grenje des äſthetiſchen Stand- punftes (264). Gubjectivitit und Objectivitit des Ge- ſchmacks (265—274). Ethiſche Kategorien und menſchliche Bildung; das Vollfommene, das Sollen, die Selbftvervoll- fommnung (274—279). Der Begriff des Wahren und Guten und ihr Sneinanderwirfen mit dem Schönen (280—288).

II. Das Shine in Natur und Geijt; der Kunſtſtoff. S. 289—434.

Die Cigenthiimlidfeit des Naturfdinen und fein Werth (289—292). Tendenz gur Schönheit in der Natur (293). Shr Unterſchied von der Kunſt (296). Der Kosmos. Lidt und Farbe (298—309). Luft, Waffer, Erde (809—314). Das Organifde. Die Pflanzen. Einheit im Mannid- faltigen; die Metamorphofe des Blattes und das Gefets der RKnospenftellung (315—320). Blume und Frid; Baume und Wald (820—328). SGymbolif der Pflanzen

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Xxx Suhaltsitberfidt.

Seite

(329). Die Thiere. Bhre in fid) gefdjloffene Geftalt und mannidfaltige Gliederung; Selbftbewegung und Ausdrud (332). Gtufenreihe: Weidhthiere, Infeften, Fiſche, Amphi— bien, Bigel, Säugethiere (834—342), Der Menfdh. Gr eint pflanglicje und thieriſche Schönheit in fid. Sein Rirperbau (842—345). Schlaf, Lebensalter (3845). Mäun— lide und weibliche Schönheit (847—351). Die ſchöne Geele (352). Selbftbeftimmung und Charatter; Gottinnig- feit (351—360). Mienenfpiel und Geberden (361). Sym— bolik der Geftalt. Schädellehre und Phyfiognomit (366 —382). Die Gliedmafen des Leibes, Hand und Fug (383 —392). Die Belleidbung (393). Menſchliche Gemein- famfeit. Liebe, Ehe, Familie (3894). Das Volt und der Staat (399). Krieg und Friede (401). Gitte, Freundſchaft, Gejelligttit, Spiel (403—407). Tanz, Fefte, Werttimpfe, tirdjlicjes Leben (408—414). Die Weltgefdidte unter dem Gefidhtépuntte der Schönheit (415—434),

Ill. Das Schöne in der Kunſt. S. 435—627.

1. Die Phantafie und das künſtleriſche S@chaffen . . . 435—547

a. Die Phantafie als leibgeftaltende, bilderſchaffende und ideali- firende Sraft. S. 435—453.

Die Phantafie im Organismus des Geiftes. Sie ift die bildende Lebensfraft im ber Sphire des Unbewuften, fie ver- anſchaulicht Ginnesempfindungen im Bildern, überſetzt Ge- fiihle in Formen (435—440). Ihre Thitigheit im Traum. Die innere Bilderwelt und ihe Kreislauf. Die BVifion (441—445). Die orftellung. Verllärung der Wirklich— leit nad) der Idee des Volllommenen; das Ideal (445 —452).

hb. Das Wefen der Cingebung und Offenbarung. S. 453—477.

Stimmen der Kiinftler liber ithe Produciven. Das bewußt Willtiirlide und das Unbewußte in allem Phantafieleber. Aeugere Anregung. Magnetiſches Wadsthum des Stoffs im Gemüth. Wegeifterung (453—461). Erklärung der göttlichen Einwirlung: Offenbarung als Mächtigwerden des allgemeinen Geiftes im einjelnen; Wnalogien auf intellec- tuellem und fittlidjent Gebiet. Erleuchtung durd) Inne— werden der Ideen. Das Prophetifde der Phantafie (461 —447).

Inhaltsüberſicht. xxi

Seite c. Idealismus und Realismus; Symbol, perſonificirende Sdeal- bifdung und Allegorie. S. 477—504.

Der ganje Geift in der Phantafie wirffam. Naive und fentimentale Phantafie, Sdeali¢mus. Realismus (477—483). Unterfdhied von Symbol und Allegorie; das Höhere gwifden beiden ift die perjonificirende Sdealbildung (483—492), Er— läuterung durd) Beifpiele (492—504),

d. Spradj- und Sagenbildung. S. 504—528,

Die Phantafie als Befigthum der Menſchheit. Unwillkür— liche fombolifde autbilbungen; Wort und Vorftellung. Sprachſchöpfung durd) urfpriinglidhe Cinheit des didterijden und wiffenfdaftliden Ginnes in der gemeinjamen Thitig- feit des Volts (504—509). Mythenbildung unter dem ge- meinfamen Einfluß der religidfen Sdee und der duffern Ein— driide. Gitter- und Heldenfage (509—519). Anefdote, phantafievolle Ausfdmiidung der Gefdhidte. Das Wunbder- bate. Der Aberglaube. Vollkspoeſie und Spridjwort (520—528).

e. Der Genius. S. 528—5H47,

Genie und Talent; der Genins original, bahubredjend, ge- fesgebend, im Verhältniß gur Zeit, zur Ueberlieferung, zur Geſchichte. Die PBhantafie in aller Genialitit wirkſam. Die menſchliche Grife als Bafis der künſtleriſchen.

2. Die Kunft, da8 Kunſtwerk und die Gliederung der

a. Begriff der Kunſt. S. 548—579.

Rennen und Können. Ginnenfillige Darftellung idealer Anfdhauungen, Verwirflidung ves Shi um der Schön— heit willen (548—560). Berhdltnif der Runft zur Wiffen- fchaft, gum Handwerf, zur Natur. Das Idealiſiren, die Naturverflirung und Lebensvollendung. Nothwendigkeit und Werth ber Kunft (660—579).

b. Die Entftehung des Kunſtwerks und feine Geſetze. ©. 579—600,

Das Kunftwerf als Organismus in feinem organifden Werden. Das Improvifiren und Phantafiren (579—582). Die logifden Geſetze der Identität, des Unterfdhiedes und Grundes auf äſthetiſchem Gebiet. CEinheit und Fille; Unterſchied, Gegenfas, Contraft; Rhythmus und Mak; Be— griindung aus der Idee, Motivirung des Befondern. Hin-

XXII Inhaltsüberſicht.

deutung anf Vergangenheit und Zukunft (583—596). Studien; Coftiimtrene, innere und äußere Volendung (597—600).

c. Der Riinftler und der Stil. GS. 600 - 620.

Der Kiinfiler, fein Rufammenhang mit dem Handwerk, feine Bil- dung (600—604). Dilettanten und Birtuofen (604—608), Manier und Stil (608—620).

d. Die Gliederung der Kunft. S. 620—627,

Die Kunft umfaßt Geift und Natur, fie gliedert ſich deren Weſen gemäß in bilbende Kunſt, Muſik und Poefie. Die Cintheilungsweife anderer Wefthetifer. In jeder Kunſt da8 Ganje wirkſam.

I, Die Idee des Schinen.

1. Das Schine im fühlenden Geift; die Yueinsbildung des Idealen und Realen.

Wir gfauben nad) der gewöhnlichen Anſicht der Dinge in einer ténenden, Hellen, farbenreichen Welt zu leben, und fie, die für fic) fertig ijt, mit unjern Ginnen und Gedanfen nur aufzu— nehmen, uns mit ihrem Inhalte gu erfiillen. Aber eine nähere und philofophijde Betradjtung lehrt uns daR wir zunächſt nur Vorgänge des eigenen innern Lebens und die Aenderungen feines Ruftandes im Bewuftiein erfaffen, dag wir durch felbftentworfene Bilder fie uné veranjdauliden, uns vorftellen, von unſerm Sq unterfdeiden und als ein Reid) der Erſcheinungen auger uns vere fegen. Mur daß wir denfen ift uns das unmittelbar und un- gweifelhaft Gewiffe, weil ein Zweifel daran ſelbſt ein Gedanfe ijt und deffen Wirklichkeit bezeugt. Der Geift, die Gubjectivitit, ijt fic) jelbjt evfaffendes und bejahendes Sein; erft indem er ein an- deres fich entgegenfegt, wird dieſes zum Object; wire feine Em— pfindung, feine Wahrnehmung, fein Bewußtſein, jo wiirde das bloße Daſein einer materiellen Welt weder genojfen, nod) ange- ſchaut oder erfannt und erfaft werden; fie wiirde werthlos oder jo gut wie gar nidjt vorhanden fein. Ebenſo lehrt uns die Natur- wiffenjdaft daf Ton und Farbe auger uns als folde nicht ge- funden, daf fie erſt in ung und durd) uns erzeugt werden. Auger uns vorhanden find Luft und Aether, find Dinge, deren Be- wegungen fid) jenen mittheilen; die an fid) lautloſen und dunfeln Wellenjdwingungen durdwogen die Luft oder den Aether, und erft wo fie an ein Obr, wo fie an ein Auge fdlagen, durch die Sinnesorgane die in denfelben verzweigten Nerven beriifren und

Carriere, Wefiheti~f. 1. 3. Aufl. 1

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9 I. Die Idee des Schöneu.

nad) Maßgabe ihrer eigenen Bewegungen erregen, erſt wann dieje Vorginge gum Gehirn geleitet werden, nehmen wir diefe Ver- dinderung oder Umftimmung unferer Organe wahr, und empfinden fie al8 Schall oder Vict. Beide find aljo unjere Empfindungen, und als folde in uns, nicht auger uns vorhanden; fie find Lebens— acte unferer Subjectivitdt. Die Sterne ftehen am Himmel, wenn aud) alle Augen gefdloffen find, aber fie glingen erft, wenn ifre Strahlen vom offenen Auge aufgenommen werden; die Stimme der Nadhtigall erjdjiittert die Luft, aber erft durd unſer Ohr be- ginnt fie in der Seele gu erflingen.

Es ift unjere cigene geiftige Thätigkeit die nicht bei der bloßen Empfindung des eigenen Zuftandes und feiner Veriinderungen ftehen bleibt, fondern nad) deren Grunde fragt und von der Wirkung auf die Urfade ſchließt. Denn wir unterſcheiden unſer bleibendes Selbftgefiihl von dem Wechſel der Empfindungen, unſer Selbft- bewuftfein von feinen Vorftellungen und Gedanfen. Wir erfennen in und ſelbſt den Quell diefer legtern und die Macht über fie. Aber wir erfahren aud) bald daß wir uné feineswegs iiberall und durdgehends thitig oder erzeugend, fondern vielfad) aud) leidend und empfangend verhalten. Ueber viele unferer Empfindungen finnen wir weder gebieten, nod) fie nad) Belieben hervorrufen, jondern ohne unfern Willen werden fie in uns, und können felbjt uns iibermannen und in uns herrſchen. Danach fuden wir nad einer Urjade von ihnen, die ohne unjer Ruthun auger uns vor- handen ift und uns gum Hervorbringen folder Gmpfindungen beſtimmt; diefe letztern übertragen wir dann auf die Gegenftinde, welde wir als ihre Erreger vorausfeben, und reden von einer feudjtenden, tinenden Welt, die als ſolche nur die Anſchauung unjerer Empfindungen, da8 Werf unferer Vorftellung it.

Wir denfen nicht hieran, weil wir uns von Jugend auf daran gewihnt haben, und weil unjer Glaube von einer Wirklichkeit auger uns durch die Wiffenfdhaft beftitigt wird. Wir bewegen unfern Körper, wir fiihlen died in den anésgeftredten Gliedern jelbft, und fehen wie mit ifnen cin Bild in unferm Auge zu— fammentrifft und mit ihrem Wechſel veriindert wird, während die Umgebung beftehen bleibt. Mun fühlen wir die Bewegung unjerer Hinde gehemmt, und gewahren wie auf dem Bild, das wir von ihnen im Auge haben, etwas anderes den Zwiſchenraum zwiſchen ihnen ausfüllt. Indem wir unfern eigenen Körper betaften, fiihlen wir doppelt, im der Hand und in den beriihrten Gliedern, wiihrend

1. Das Ideale und Reale. 3

fonft nur die beriifrende Stelle empfunden wird, und durd) das Unterſcheiden diefes zwiefachen Gefiihles von dem einfadjen fommen wit hauptlidlich gu dem Bewuftfein einer Welt anger uns; ja ſtreng genommen iſt e8 unjere vorftellende, veranſchaulichende Thitigteit, welde die im Gehirn fic) fiir das Bewußtſein ver- mittelnde Empfindung an die Außenſtellen des Leibes verjegt, wo der fie erregende Reiz den Nerv trifft und von diefem nad innen geleitet wird. Co ift es eine Verbindung mannidfader Thitig- feiten und Gindriide wodurd) erft die Ueberjzeugung von Dingen auger uns hervorgebradjt wird, und weit entfernt daß die Materie fiir das Erſte und unmittelbar Gewiffe in der Crfahrung gelten finnte, ijt fie vielmehr eine Annahme des Bewußtſeins um Vor— ginge de8 innern Lebens ju erklären. Da fie dies leiſtet, da nicht blos unfere Sinne, fondern aud) die vieler andern, ja unter gleichen Umſtänden die Sinne aller Menfden den gleidjen Cin- drud erhalten, da in allem was wir als materiell bezeichnen eine ftrenge Geſetzmäßigkeit herrjdt, die von unjerer Willkür unab- hängig erft allmählich von uns entdedt und gelernt wird, fo zweifeln wir mit Recht nidt an der Wirklichfeit eines raumerfiillenden Dajeins auger uns; aber nidjtsdeftoweniger ijt die ganze Leudjtende und tinende Welt die objectivirte Empfindung unjers eigenen Wejens, und erft die Wiſſenſchaft weiſt nad) daß fie feine Sinnes— täuſchung und fein leerer Schein heißen darf, fondern im Zu— jammenwirfen des Geiftes mit den an fic) ftummen und dunfeln Bewegungen der Gegenſtände auger uns hervorgerufen wird, So erjeugt und tragt jeder ein eigenes Bild der Welt in fidh, aber dies ift die Erjdeinung oder Offenbarung de Wejens der Dinge. Dak ihre Sehnjudt nach diefer Offenbarung geſtillt, ihr mannich— fader Bewegungsdrang zu Lidjt und Schall erhoben und dadurch die Anſchauung und dev Genuß ihres Dafeins vermittelt werbde, dazu müſſen wir helfen, indem wir nicht blos ein fiir fic) fertiges Aeußerliches wiederholen, fondern e8 zu vollerm, freierm Leben erldjend emporfiihren, e8 Glanz und Sprade gewinnen faffen. Wir ftehen ja and nicht auger der Welt, fondern in ihr, find ein Glied im Zufammenhange des Ganjen, find die Organe wo- durd) daſſelbe anjdaulid) und empfindlid) wird. Es ift Cin Leben, das fic) in dem Unterjdied von Subjectivitit und Objec- tivitit entfaltet um in der Wechſelwirkung wieder gu fic) felbft

3u fommen und in fic) vollendet gu fein. Für die finnliden Dinge gibt uns das Gefühl die ſinnliche

i”

4 I. Die Sdee des Schönen.

Gewifheit, fiir das Ucberfinulide die Vernunft. Wenn der Idealift aus fid) ſelbſt nicht herausfommt und in der Welt nur den Wider- ſchein feiner eigenen Vorjtellungen und Empfindungen fieht, wenn dagegen die gewöhnliche Meinung den Geiſt jum blogen Spiegel der Dinge madt, fo ftimmt die Naturforjdung mit derjenigen philofophifden Auffaffung überein, welde erkennt daß unſer Welt- bild im fortwahrenden Zuſammenwirken der Objectivitit und Sub- jectivitit fid) erzengt. Dies Weltbild nimmt der Dogmatismus fiir die Realitit der Dinge; aber die Tine, die Farben, das Licht entftehen erft in uns als unjere Empfindungen, und indem wir Ddiefelben auger uns verſetzen, produciren wir das Reid) der Exrjdeinungen. Allein unfern Empfindungen fliegen als anregende Bedingungen die Sdhwingungen der Luft und des Aethers, die Bewegungen der Körper zu Grunde; Kräfte auger uns wirfen auf die Kraft in uns, und das Ergebniß ihres Zujammenwirfens ijt die Empfindung und Anfdauung der Welt. Dieje Ueberfegung ded Aeußerlichen, Gegenftiindlidjen in das Innere, diefe Verinner- lichung der Natur ift das Widhtigite und Größte was in ihr ge- ſchieht. Die Subjectivitit, der Geift ijt mehr als ein Anhängſel gu ihr; fie gewinnt erft Leben und Bedeutung indem fie empfun- den, gedadt, genoffen wird. Das wahre Sein ijt das Selbjt- jetende, das Sichſelbſterfaſſende, das Erſte ift die innere Kraft und Wejenheit, die im Aeufern fic) äußert; das Selbſtthätige fann nidjt die Wirkung cines Selbftlojen fein; das Todte, aus dem das Lebendige fic) entwidelte, wiire nidjt mehr das Tobdte, jondern der Lebensquell und Lebensfeim. Allerdings mug das Selbjt gu fid) kommen, es ijt nicht unmittelbar, es ift nur indem es jeiner inne wird, fic) erfaft und jelber ſetzt, aber es ift dabei dod) fein cigener Yebensgrund, fein bloßes fliidjtiges Spiel im Entwickelungsproceß, ſondern deffen Zweck.

Da nun alles Schöne in Natur und Kunſt uns durch die Sinne vermittelt wird, da es unſerm Ohr und Auge und durch ſie unſerm Gemüth in Tönen, Formen und Farben ſich kundgibt, ſo folgt aus unſerer Betrachtung, welche die Thatſachen der Er— fahrung philoſophiſch auffaßt, daß das Schöne nicht außer uns in den Dingen für ſich fertig iſt, ſondern in uns durch unſere Empfindung erſt erzeugt wird. So beſtehn ja auch die Liebe, die Tugend im fühlenden Geiſt und in der Geſinnung der Subjecti— vität, und ſind wie das Schöne nur wirklich inſofern ſie von ihr erlebt werden. Auch wiſſen wir zunächſt nicht von ſchönen

1. Das Ideale und Reale. 5

Gegenftinden, ſondern von Luſtgefühlen, in welden unfer ganjes Dafein angeregt und erhöht, unfer ganzes Gemiith durd cin finnlid) geiftiges Wohlbehagen im Genuß voller Gejundheit be- friedigt und bejeligt wird. Dann werden wir inne daß wir diefe Gefiihle nicht willkürlich hervorrufen, daß fie nicht zufällig in uns auftauden, fondern im Zuſammenwirken beftimmter Eindrücke oder BVorjtellungen mit unferer Seele entftehen, und wir nennen fie ſchön im Unterſchiede von andern welche andere Empfindungen in uns zum Bewuftfein bringen. Das Subjective der Schinheit hat im Sinne Kant's aud) Hippel betont: Die Schönheit, fagt ein philofophifdher Didjter, wohnt im Ange des Liebhabers und nidt auf der Wange des Mädchens. Die Schinheit ift feine dem Ding anflebende Cigenjdaft, fondern fie liegt in der Seele des— jenigen welder fieht. Sie liegt nidjt dort fiir fich fertig, fie erzeugt fid) dort im Zujammenwirfen mit dem Gegenftande, der durch feine cigene Harmonie ihr Wohlgefihl zu erweden fähig ift.

Es ift alſo erfahrungsgemäß unfere ganze ſinnlich geiftige Na- tur die fid) vom Schönen harmoniſch angeſprochen fühlt. Darum muß ſeine Erſcheinung zunächſt eine ſolche ſein daß unſer Em— pfindungsvermögen ſie gern annimmt. Denn als annehmlich oder angenehm bezeichnen wir zum Beiſpiel diejenigen Töne deren ver— anlaſſende Schwingungen für die Eigenart unſerer Nerven weder zu langſam gehen und darum rauh und wie ein zur Einheit nicht recht verſchmolzenes Geräuſch erſcheinen, noch in zu raſcher Folge an unſer Ohr ſchlagen und dadurch ſchrill und zerreißend wirken. Ebenſo klingen mehrere gleichzeitig erſchallende Töne uns ange— nehm, wenn die Schwingungszahlen, von denen thre Hohe und Tiefe abhingt, in cinem einfaden Verhältniß ftehen, ſodaß etwa der cine durd) dreifundert, der andere durd) vierhundert Ver- dichtungswellen der Luft in einer Secunde Hervorgerufen wird, und nun ftet8 die dritte Welle des einen mit der vierten ded andern an unſer Ohr ſchlägt, und ftets das Auseinandergehen der iibrigen Gchwingungen wieder mit verdoppelter Macht in der Vereinigung iiberwunden wird. Dadurd find die Verhiltniffe des Accords dem Ohr leicht überſchaubar und faßlich, wihrend es fid) nicht zurechtzufinden weiß, wenn nur felten in dem Durch— cinanderwogen rafderer und langſamerer Tonwellen cin Haltepuntt durch das Zufammentreffen mehrerer gewonnen wird; der Zuftand der Nerven gerith durch foldhe Verworrenheit felbft in Verwirrung. Auf ähnliche Weife fühlt das Auge fic) durch ein grelles Licht

6 I. Die Idee des Schönen.

geblendet, durch falfde Farbengufammenftellungen beleidigt. Das Auge ferner folgt den Umrißlinien, welche die Geftalten der Dinge fiir uns umfdreiben, und wenn es hier zu Bewegungen geleitet wird bie es gerne madt, weil fie feiner Natur gemäß find, fo wird es befriedigt und folgt mit Luft dem Fluge de8 Vogels, der leudjtenden Bahn einer Rafete, der Rundung des RKreifes, den ſchwellenden Wogen des Meeres oder den hold geſchwungenen Formen einer Rofenfnospe, doppelt erfrent, daß hier aud) dic Sarbenreize des Griinen und Rothen fo voll zuſammenſtimmen. Unbequemlicfeiten und Unftetigfeiten beim An- und Abfpannen der Augenmuskeln wirfen nicht minder unangenehm wie das un- regelmipig Flackernde durch die wedfelnde Reizung des Sehnervs. Die Musfeln wollen nicht durch plötzliches An- und Abfpannen gezerrt werden. Leicht geſchwungen zuſammenhängende Bogen- linien aber find wobhlgefillig, weil die vom ihnen veranlagte Be- wegung der Augen eine folde ijt wie diejelben fie von uns ans volljiehen, und das Muskelgefühl ift dabei angeregt und befriedigt zugleich. Die ftreng gezogene gerade Linie dagegen verfolgen wir ſchwerer in der Horizontalen, aber leicht und gern in der verti- calen Richtung; und fo erfreut e8 uns wenn wir bei der Wendung nad) redjts und links das Gleiche in gleichen Abſtänden finden, und darauf beruht das finnlide Wohlgefallen der Symmetrie neben dem geiftigen, dem die innerlid) ordnende eimbeitlide Kraft im Mannicfaltigen vorfdwebt. Unterbrechungen, Wbweidungen von ber gewohnten Bahn aber können dadurd gefilltg werden daß fie fic) rhythmiſch wiederholen; jo ween fie die Aufmerkſam— feit und erfiillen dann die Erwartung. Denn das Gewohnte, ſtets Gleichmäßige wird uns gewöhnlich, die Empfänglichkeit ftumpft fig) ab und fo fordert unfere Sinnlichkeit felber das Nene, das Wechſelnde.

Das Wohlgefühl bei dem Innewerden reiner und harmoniſcher Farben und Töne oder ſanft ineinanderfließender Formen iſt zunächſt ein blos ſinnliches, und wir nennen ſie darum ſtreng genommen noch nicht ſchön, ſondern angenehm. Aber alles Schöne ſetzt das Angenehme voraus oder ſchließt es ein, wenn unſere Sinnlichkeit durch ſeine Erſcheinung befriedigt werden ſoll. Ja es iſt ſchon ein innerlich Geiſtiges, was in dem reinen oder har— moniſchen Klang, in der anmuthigen Linie ſich ausſpricht, ich meine die Geſetzmäßigkeit in dem Zug einer Curve, die Gleichheit und Regelmäßigkeit aller einzelnen Wellen des Tones, ihre klare

1. Das Sdeale und Reale. 7

Ordnung im Accord: dies Gefeg der Bewegung, das fie ſinnlich angenehm macht, faffen fie zugleich dem Geift empfindlich werden, ſodaß aud) jcin Wobhlgefallen auf ihnen ruht. Das gerade fann uns jum innerften Geheimnif des Schinen [eiten, dak alles Sdeale, wenn es fret und lar fund wird in der Außenwelt, unferer Sinnlidfeit annehmlich erſcheint, weil fic in Wahrheit felbjt die Aeuferung idealer Kraft und Wefenheit ijt, ſowie andererfeits cin finnlides Wohlgefühl nur möglich ift, wenn den Gegenftand, der es erwedt, cin ordnendes Geſetz, damit cine geiftige Macht durchdringt.

Doch bleiben wir zunächſt auf dem eingeſchlagenen Wege um das Schöne aus ſeinen Elementen zu entwickeln und ſeinen Begriff ſich uns erzeugen zu laſſen.

Unſere Sinne erfaſſen nur das Aeußere und Einzelne. Das Auge ſieht nur Farben nebeneinander; daß dieſe mannichfachen Reize ſich zu einem Ganzen ordnen und daß dies Ganze den Ausdruck geiſtigen Lebens in ſeiner Einheit kundgebe, dazu ge— hört die Auffaſſung des Bewußtſeins oder die denkende Seele. Das Thier ſieht Farben und Formen in der Rafaeliſchen Ma— donna, aber nicht die Innigkeit der Mutterliebe, die zugleich mit anbetender Verehrung auf das Gotteskind blickt; das Thier hort in der Slias den Schall der Laute, aber nicht das Heldenlied zur Verherrlidung des Achilleus, nidt das erfte und grundlegende Wort des Hellenenthums, das fic) in demfelben felber verftind- lid) wird. Erſt dem Geifte, der gu fich felbft gefommen ift und Ideen und Gefiihle in fic) erzeugt hat, vermag die Erjdeinungs- welt foldje entgegenzubringen und ju erweden. „Nimm meine Augen und du fiehft die Göttin“, fagte darum jener Meiſter des Ulterthums zu dem einfidtslojen Tadler feines Werkes.

Das Ohr vernimmt Tine nadeinander, aber wenn der zweite rein erflingen foll, ijt der erjte verhallt, und es würde unmiglid fein den zweiten und dritten mit ihm gu vergleiden, wenn nidt fiber dem Sinnesorgan cin Bewußtſein ſtände, das die voritber- gehenden Eindrücke in der Crinnerung fefthilt und miteinander verfniipft. Ware unfer ganzes eigenes Wefen cin mit den mannid- faltigen Eindrücken wechſelndes, fo könnten wir fie nicht einmal alg mannidfaltige und wechſelnde ausfprechen, weil wir felbft ohne einheitlichen Zuſammenhang in jedem Augenblic ein andereds Wejen geworden waren. Von wedfelnden Zuſtänden fonnen wir nur dann reden, wenn ſich in ihnen ein Bleibendes erhilt, das fie

8 I. Die Idee dee Schönen.

von fid) unterſcheidet, das fie an fid) voriibergehen fieht; nur im Vergleid) mit einem Danernden, an dem wir es meffen, erfdeint uns das Verginglide verginglidh. Hätten wir nur cine Fiilfe von Vorftellungen ohne die Cinheit des Ichs, da8 fie alle durd- dbringt, fo wilrde die Meinung des Materialtsmus leicht den Schein der Wahrheit fiir fic) gewinnen, als ob die Gedanfen nur dic Functionen des Gehirns wiiren und durd) Bewegungen der Ge- hirnfibern erzeugt wiirden wie der Ton durd) Schwingungen einer Saite; denn als Bilder der Dinge möchten die Vorftelfungen jelbft fiir etwas Gegenftindlides gelten. Etwas ganz Anderes aber ift der bewufte einzelne Gedanfe, ift die ſich ſelbſt erfaffende Subjectivitit. Nur infofern dieſe wirklich ift und cin Anderes von fic) unterfdjeidet, wird der Begriff des Objectiven, des nur Gegenftindliden und nicht fiir fic) Seienden gewonnen. Cine Gehirnbewegung ift fo wenig ein Gedanfe als cine Saitenſchwingung cin Fon: erft im der fiihlenden, denfenden Gubjectivitit vermag die Gufere Bewegung, cin blos Objectives, die Empfindung des Schalls oder die Vorftellung gu erregen, da8 heift die Subjecti- vität anguregen das Gefühl oder den Gedanfen in fic) hervorju- bringen. Wie aber cine materielle Gdwingung von fid) aus Empfindung oder Vorftellung werde, dies hat der Materialismus niemals nadgewiefen, niemals aufgezeigt wie das Filtrum des Gehirns die Gedanken ausſcheidet, der Leber und ihrer Gallen- erzengung vergleidbar; die Galle ift etwas materiell Objectives, aber aud) der Gedanfe? Ebenſo wenig hat der Materialismus zu erflaren vermodjt wie ans den Millionen von Atomen dod bie Ginhcit des Selbſtbewußtſeins erzeugt werden könne. Er— fahrungs- und vernunftgemäß geht das Viele wol anus dem Cinen, nidt aber das Gine aus dem Vielen hervor. Der Leib ift ferner in ununterbrochenem Stoffwechſel begriffen; wie diefer wiedcrum jein Gegentheil, ein beharrlides und bleibendes Bewußtſein her- vorbringen und erhalten foll, hat der Materialismus niemals bargethan. Geine Weltanfdjauung zeigt fid) hiermit ebenfo un— fihig zur GErfaffung und Begriindung der Thatfaden als jur Erflirung des Sdinen. Wo der Geift als urfpriingliches Wefen gelengnet wird da ift eine Aeſthetik unmöglich; fie griindet fid) auf bie Realitit des Bdealen.

Es ift bas im Wechſel beharrende, cinheitlide Selbſtbewußt— jein oder die Seele welche cin Bild fieht oder eine Melodie Hirt, wenn fie die verfdjiedenen Farbenreize gu einem Ganzen verknüpft,

1. Das Ideale und Reale. 9g

bas fofort ify einen beſtimmten Gedanfen erweckt und ausſpricht, oder wenn fie die nadjeinander erflingenden Tine in der Crin- nerung zuſammenhält, cine gefeglide Folge in ihnen gewahrt und in ihrem Gang einen Ansdrud fiir das Auf- und Abwogen, die Spannung und Löſung cigener Gemiithsftimmungen findet. Das Selbſtbewußtſein ift fein Spiegel, der blos die wechſelnden Bilder in fid) auffiingt, fie aber verliert ſowie die Gegenftiinde von dannen jiehen, fondern es bewahrt die Eindrücke in der Crinnerung, und fann fie and) ohne Gegenwart der Objecte in fic) anſchauen. Sm Sinnesorgan vermifden fic) mehrere Cindriide, wenn fie jujammentreffen; gelbes und blaues Pulver durdjcinayderge- ſchüttelt erjdeint grin, mehrere Tine werden cin flangvoller Accord oder cin unbeftimmtes Geräuſch. Aber die Vorftellungen, welde die Seele nad) den Empfindungseindriiden als die befondern Farbenbilder gejtaltet, rinnen nidt in ein Grau zuſammen, wenn fie zugleich vor dem Bewußtſein ftehen, und die ganze Reihe und Fiille der Tine ciner Melodie lebt zugleich und dod) gefon- dert in dem Gemiithe.

Dod) die bloke Reihe der Tine ift nod) feine Melodie, die bloke Sammlung größerer und Fleinerer Farbenpunfte nod fein Bild. Werden fie uns in cinem geſetzloſen und wirren Durd)- einander geboten, fo bereitet fid) die Seele feineswegs anus ihnen das Wohlgefühl des Schönen. Dieſes ift allerdings fubjectiv, aber nicht blos fubjectiv; das Object muß von fid) aus durd jeine Natur dazu mitwirfen. Die Seele fieht das Bild und hort die Mtelodie, wenn eine ecigene innere Ginheit die verſchiedenen Klänge und Strahlen durddringt, wenn fie dem Geift cinen gei- ftigen Inhalt offenbaren. Es gehirt cine Mannichfaltigkeit von Formen und Tönen dazu um den Cindrud des Schönen gu machen, und jene mug in fic) felber fo geordnet fein daß fie dem zu— fjammenfaffenden Bewuftjein entgegenfommt, indem fie cine cigenc Zufammenftimmung jum Ganjen, cine innenwaltende Cinheit fund- gibt. Blos finnlide Reize gewähren dem Geift feine Befrie- digung. Er will das Wahre, das Gute, fein Reich tft der freie Gedanfe, und in dies Reich muß fich der Cindrud der Außenwelt jofort erheben, er mu vernunftgemäß erfdjeinen, wenn eine Freunde des Geiftes erwedt werden foll. Was wider Vernunft oder Ge- wiffen ftritte das wiirde den Geift in feinem Weſen angreifen und zum Kampf aufrnfen, was zu beiden keine Bejziehung hätte wiirde ihn gleidgiiltig laſſen; freudig erregt und befriedigt wird

10 I. Die Idee des Schönen.

ex nur, wenn ex im dem was er in fid) aufnimmt Vernunft und Gewiffen genährt oder gefördert fieht. Cin Luſtgefühl, das unfer ganzes Dafein erhihen, unfer ganzes Gemiith bejeligen foll, muß daher, indem es uns mit finnlidem Behagen evfiillt, zugleich dem Geift einen geiftigen Inhalt offenbaren, odcr da8 Gefithl des Schönen wird nur durd Erjdeinungen in uné erwedt welde Ausdrud eines Gedanfens find, dadurd) Ginheit in der Mannid- faltigfeit der Lebensäußerungen zeigen und den Awe des Dajeins erfiillen. Wie wir uns ſelbſt als Cinheit im der Fiille der Vor- ftellungen, al8 Dauner im Wechſel der Empfindungen fiihlen, fo erfreut uns aud) im Gegenftande die Cinheit im Reidthume des Mannidfaltigen; wie wir innerlid) thitig find unter den verfdie- denen Ginfliiffen der Außenwelt, fo verlangen wir das Neue, Unerwartete, Ergreifende zur Anregung; aber wir wollen nidt aus uns herausgeriffen werden, wir wollen in uns berubigt bleiben und bet uns felber fein. Unterſchiede und ihre Vermittelung, Spannung und Löſung, Erwartung und ihre Befriedigung ergeben fi) danad) als Clemente der Gefiihle in melden unfer ganzes Dajein eine Befeligung findet; im Gegenfas zur Langeweile wie sur Unruhe fteht die Freude an der harmoniſchen Ausgleichung im Sdinen. Der endliche Geift bedarf der Anregung von aufen, daher die Sucht nad) Neuem, Seltenem; man will aud) Misge— burten einmal fehen, und das Volk dringt fic) zur Hinvidtung, jur Feuersbrunft um des ftarfen ungewohnten Reizes willen. Wir bediirfen ded Wechſels; daher die Meifeluft; aber wir bediirjen aud) der Abwechſelung mit dem Weehfel, der Einkehr bet uns jelbft, des Beruhens im eigenen Wefen; fonft wiirden wir in der Zerſtreuung uns ſelbſt verfieren. Wir felbjt find werdende Wefen, dauernd im Wechſel von Zuſtänden und Strebungen, darum fordern wir von dem Gegenftande der uns beſchäftigen ſoll daß er und den Wechſel des Mannidfaltigen biete, ohne den er uns fofort fangweilen, fahl, einförmig und [eer erſcheinen wird; wir wollen unterhalten fein, aber ebenfo verlangen wir Zujammenhang des Mannidfaltigen, ohne den es jerftiidt, zer— {plittert, grundlos erfdeint und uns ermiidet oder unbefriedigt läßt, indem es uns aus uns herausführt und der Cinheit unferer Natur widerſpricht; wir wollen in diefer befriedigt, ecinheitlid geftimmt fein. Darum fordern wir eine in fich verfniipfte Fille, eine reich entfaltete Cinheit; fie bietet uns den Widerflang unfers Selbjtes, wir find im Andern bei uns felbft, angeregt und be-

1. Das Ideale und Reale. 11

rubigt gugleid), in unferm Wefen gefordert. Tritt uns der Cine heitebezug im Mannidfaltigen hervor, fo vermögen wir daffelbe, alé Ganjes im Zufammenhange der Theile zu erfaffen, fo fällt uns died leicht, fo wird es uns lar, und Klarheit erfdeint da- durch als ein Hauptelement der Schönheit. Alles Unklare mif- fallt, weil es uns verwirrt, weil es die Thitigkeit anregt ofne ju befriedigen; dads Klare gefalit, weil das Wejen in der Er- ſcheinung unmittelbar fid) offendbart und damit belebend wie be- rubigend auf uns wirkt.

Wie wir geiftig finnlide Weſen find, fo ijt das Schöne Idee fiir den Geift, Erjdeinung fiir die Sinne, und beides in dem einheitliden Zuſammenklang, deffen wir im eigenen gefunden Lebensgefühl inne werden. Darum gefillt uns das jeclenvolle Reale. Darum perfonificirt die Phantafie der jugendlichen Menſch— eit alle Dinge welde ifr den Cindrud des Schönen machen, damit aud) dem Gegenftand die Innigkeit des Gefühls zukomme das er erwedt, und dadsjenige aud) in ihm fet was er in uns hervorruft; und den Ouell wie das Meer, die Gonne wie die Sonnenblume veranfdaulidt fid) der Griede nach ihrer innerften Macht und Wefenheit in menſchlicher Geftalt. Die gereifte Ver- nunft Hilt die Wahrheit feſt welde Hier zu Grunde liegt, und fpridjt fie muv auf ihre Weife aus; fie erfennt dak es die ein- wohnende göttliche Lebensfraft ijt welche jeglichem feine wohl— gefallige Form verleiht, dak der göttliche Lebenshauch alles befeelt, die göttliche Weisheit alles durdhwaltet, die göttliche Wiebe ſich in der Welt offenbart, und daß uns dasjenige ſchön erfdeint in weldem uns das geiftig Urjpriinglide in der dugern Geftalt fidjtbar entgegentritt oder durd) Handlungen das Ideale verwirf- licht wird.

Wir verftehen aber die Welt von uns aus. Weil wir auf— jauchzen in der Luft und weinen im Wehe, fo erinnert uns die frembde Thräne und der frembde Wonnefdret an die Gefithle dic foldhe Aeuferungen in uns hervorrufen. Sehen wir die Gebirden die ein anderer madjt, fo werden fie uns nur verftindlid, wenn wir felber einmal ganz unwillkürlich ähnliche gemacht haben um unfere Empfindungen ju dugern, oder wenn fie unmittelbar unjere Empfindungen begleitet haben. Go ſchließen wir aus dem Er— rithen auf jungfräuliche Scam, aus dem Erblaffen auf Sdrecen und Angft, aus der geballten Fauft und dem funfelnden Auge auf Zornmuth, ans dev Tanjgebiirde auf heitere Jugendluſt. Wie die

12 I. Die Adee dee Schönen.

Bewegungen unjers Gemiiths in unjerm Körper ſich fpiegelu, wie wir das Auge auffdlagen in der Freude und es fenfen im Schmerz, wie der Gram uns beugt und der Muth uns aufridtet, fo er- weden ähnliche Formen und Bewegungen der Dinge in uns wieder die entfpredjenden Empfindungen, und wir nehmen diefe dann alg Grund fiir jene an, wir pflanzen die Trauerweide auf Graber, weil es uns ſcheint daß cigenes eid oder wehmiithiges Mitgefühl fie ihre Rweige herabjenfen laffe, wir fehen im Spiel der Flamme cine auflodernde Lebensluſt, fehen den Berg trogig feine Feljen- ftirn erheben, und die Gonne freundlid) im Wafferjpiegel uns anlächeln; wie unfere Stimme unſer Gefühl fund gibt und die Hohe des Tons eine gréfere Stiirfe und Spanning als die Tiefe erfordert, fo feihen wir dem Flingenden Körper eine feinem Laut gemage Stimmung, und glauben im Rauſchen des Windes bald ein zärtlich fojendes Flüſtern, bald cine feufzende Klage und bald den Ausbrud) von Zorn und Wuthgeheul zu Hiren; das Gefühl von aufftrebender Stirfe und vom Druck der Sdhwere, das wir in uné felbft wahrnehmen, iibertragen wir anf die Säule unter dem Gebälk und fordern von der Ardhiteftur dak fie Rraft und Laſt in wohl abgewogenem Verhältniß zeige; denn dadurd wird dem Stein das Gejeg des Lebens aufgeprägt, oder viel- mehr es wird das in ihm ſchlummernde Leben entbunden und für die Anfdhauung offenbart; denn derfelbe Zug der Schwere und diejelbe Luft und Macht der Bewegung und Ausdehnung, die wir in uns empfinden, walter in der materielfen Natur auger uns,

Wir iibertragen die Thätigkeit unſers Auges auf den Berg, wenn wir fagen er fteigt ſteil empor, und leihen ihm unfere Stimmung, wenn wir jagen er erhebt fid) kühn. Und fo fühlen wir uns in die Dinge hinein, unfere Phantafie befeelt die Welt und fieht in ihren Formen den Ausdrucd der gleiden Empfindung, der gleiden Lebensfraft, welde in uns die ähnliche Bewegung oder Erſcheinung hervorruft. Iſt es ja dod) thatſächlich das Material unſerer Empfindungen aus welchem wir das ſichtbare Weltbild entwerfen, das wir nach dem Cauſalitätsgeſetz außer uns verſetzen, weil wir überzeugt ſind daß es unter fremder Ein— wirkung auf uns entſteht. Ich trage hier ein Wort aus Lotze's Mikrokosmos nach, welches lautet: „Keine Geſtalt iſt ſo ſpröde in welche hinein nicht unſere Phantaſie ſich mitlebend zu verſetzen wüßte. Nicht allein in die eigenthümlichen Lebensgefühle deſſen

1. Das Ideale und Reale. 13

dringen wir ein was an Art und Wefen uns nahe fteht, in den fröhlichen Flug des fingenden Vogels und die zierliche Beweglid- feit der Gazelle; wir ziehen nicht nur die Fühlfäden unjers Geiftes auf das Kleinſte gujammen um das engbegrengte Dajein eines Muſchelthieres mitzuträumen und den einformigen Genuß feiner Oeffuungen und Schließungen, wir dehnen uns nicht mur mit- jdwellend in die ſchlanken Formen des Baumes ans, deffen feine Zweige die Luft anmuthigen Beugens und Sdwebens befeelt; vielmehr felbft auf da8 Unbeliebte tragen wir diefe ausdeutenden Gefiihle über und verwandeln durch fie die todten Laften und Stützen der Gebiinde gu ebenfo viel Gliedern eines lebendigen Leibes, deffen innere Spannungen in uns iibergehen.” Klopſtock fingt:

Shin ift, Mutter Natur, deiner Erfindung Pradht Auf die Fluren verftreut, ſchöner ein froh Gefidt, Das den großen Gedanfen Deiner Schöpfung nod einmal dentt.

Wir werden jagen fonnen dak nur dem welder den grogen Gedanfen der Schöpfung auffagt, jene Bradt der Erfindung als ſchön entgegenleudtet, daß fie es fann, weil gittlide Sdeen in ihr verfirpert find, und dag wir im Gefühl des Schönen dieje Sdeen in uné aufnehmen, fie anſchauen und genieBen, nod) ehe die Ver- nunft fie erfennt und denfend im Gefeg der Natur fic) felber wiederfindet.

Miemand fennt das Heiligthum beffer als der Priefter, der in ihm heimiſch ift; darum gilt e8 in der Aeſthetik ftets auf die Worte grofer Künſtler gu adten, die neben ihren Werfen wir zu deuten und zu begreifen haben. Ihre Ausſprüche, 3. B. über die Phantafie und das künſtleriſche Schaffen, werden uns gleid) That- jadjen der Erfahrung gelten, die wir in Zuſammenhaug zu brin- gen und an denen wir unfere philofophijde Weltanjdaunng ju priifen haben, ob fie ausreicht jene zu verftehen und jn erklären. So will id) denn auch hier nod) an ein Gedidt Herder’s erinnern. Gr fragt: ,, Was fingt in eud), ihr Saiten, was tint in euerm Shall?” und antwortet: dag in den Harmonien der Weltgeift hervortritt, in deffen Händen unfere Seele felber jum Saiten{piele wird; er ijt das Edho in der Felfenfluft und der Ton in der Kehle der Nadtigall, er riihrt in der Klage das Herz gum Mitleid,

14 I. Die Sdee des Schönen.

und erhebt es im Chorgejang der Andadjt zum Himmel; er hat alle Welten gum Cinflange geftimmt. Der Dichter fdliest:

Ich hire der ganjen Schöpfung Lied,

Das Seelen feft an Seelen, gu Herzen Herzen zieht. In Ein Gefühl verſchlungen find wir ein ewig AM, $n Ginen Ton verffungen der Gottheit Widerhall.

Su foldem Sinne hat dann Friedrid) Thierſch das Schöne das zur Wahrnehmung gebradte Weſen Gottes genannt und neuerdings aud) Viſcher erflirt dak im Schönen die Harmonie des Weltalls in die Erfdeinung hinein und aus der Erjdeinung heraus ge- ſchaut wird.

Alfo ohne Geift feine Schinheit; aber aud) ohne die Sinne nidt. Wir wiirden ohne Sinne die mathematifden Verhiltniffe der Luft- und Aetherquellen auffaffen, an ihrer Geſetzmäßigkeit und ihren PBroportionen uns ergigen finnen, aber den Cindrud des Schönheitsgefühls vermitteln fie nur dadurd) daß fie unfere Sinneswerkzeuge treffen, ihre Schwingungen unfern Nerven mit- theifen und fo die Empfindung des Tones und der Farbe ver- mitteln. Erſt im fiihlenden Geifte lebt die Schönheit. Daf diefe Schwingungen in uns flingen und lendjten, dak ihre Verhiltniffe nicht fowol gedadt als genoffen, in einem Wohlgefühl erlebt werden, das ift das Wefentlide. Wie friiher unfere Betradtung durch Thatſachen jelbft gegen einen naturalijtijden Materialismus geridjtet war, fo wendet fie fid) jest gegen die Cinfeitigfeit des Spiritualismus.

Derſelbe behauptet ein Anderes ſei die ausgedehnte Materie, ein ganz Anderes das vorſtellende Bewußtſein; jene iſt an Raum und Zeit dahingegeben, dieſes, der Geiſt, ſoll raum- und zeitlos ſein. Aber das Raum- und Zeitloſe, mögen wir es nun als das Menſchliche oder als das Göttliche nehmen, wire nirgendwo und nirgendwann, und da hätte der Materialismus recht gu fagen daß e8 alfo gar nidjt wire; aud) würde es unbegreiflid) fein wie die raumloſe Seele mit einem Körper in Verbindung treten follte ohne Beriihrungspuntte mit ifm; ein Si der Seele im Leibe müßte immer réumlid fein. Wo Geift ift da ift That und Ent- wicelung; dies fegt aber voraus daß verfdiedene Momente nad)- einander hervortreten, daß eine Folge von Urfade und Wirkung, von Früherem und Spiiterem vorhanden ijt, das heift: es ſchließt den Begriff der Reit in fic) ein; eine jeitlofe Entwidelung wiire

1. Das Sdeale und Reale. 15

unmöglich. Vielmehr indem der Geiſt durch die Thitigfeit des Denfens einzelne Vorftellungen nadeinander und auseinander ent- jaltet, indem ev wedjelnder Gefiihle inne wird, ſetzt und er- füllt ev fich die Reit, er felbft das Dauernde in dem Fluffe feines Lebens.

Der Geiſt kann für ſich nicht individuelle Perſönlichkeit ſein, wenn er nicht eine eigene Sphäre des Daſeins hat, in der er neben und außer den andern Weſen beſteht; um aus dem allge— meinen Lebensgrunde aufzutauchen und fiir ſich ſelbſt gu werden bedarf er dieſer Unterſcheidung, bedarf er der Verleiblidung, das heift er mug in dev Entfaltung feines innern idealen Wejens einen beftimmten Raum fiir fid) feben und erfiillen. Raum und Reit find nicht fertige Formen oder felbftiindige Wejen, ſodaß fie aud) ohne eine fie erfüllende Realitit exiſtirten und diefe fid) in fie hinein geftaltete; ebenfo wenig find fie, wie Rant im Gegenſatz zu der gewöhnlichen Anſicht wollte, blofe Anjdauungsformen unfers Bewuftjeins, weldje die Dinge an ſich nists angingen, indem wir nur unfere innern Bilder und Zuftinde in jene iiber- trilgen um fie uné vorjuftellen. Raum und Beit find Grund- jormen unferer Anfdauung, weil fie Grundformen der Dinge find, unabtrennlid) vom Begriff der Wirklidfeit und des beftimmten Seins und feiner Entwidelung. Indem individuelle Weſen fid voneinander unterfdeiden und zur Selbftindigfeit gelangen, find fie aufereinander da, behaupten fie fic) in einer beftimmten Sphiire, die fie durd) Ausdehnung ihrer eigenen Rraft fiir fid) einnehmen und erfiillen; fo fegt alles Reale die Sphire ſeines eigenthiim- lichen Sein und Wirkens, und der Raum ijt feine Exiſtenzweiſe, da eS irgendwo fein mug. Die Verleiblidhung ijt Folge der Mea- litit, nidjt blo fiir bas unbewufte, and) fiir das ſelbſtbewußte Wejen. Der individuelle Geift exiftirt in der Welt, der Leib bezeichnet bas Gebiet feines Dafeins und Wirfens und ijt das Organ fiir diefes. Durch den Leib hängt er mit dem Univerſum zuſammen, erfihrt ev die Cinfliiffe der Außenwelt, offenbart er jis) andern Geiftern und verfdjafft fic) Runde von ihnen. Die Materie ijt wirklid) das Band der Monaden, wie fie Leibniz ein- mal nannte: denn durd die Sinne, durd) Luft und Licht, ohne die Blid und Sprade unmiglid) wiiren, theilen fic) die Seelen einander mit. Raum und Zeit find fomit Dafeinsformen fiir das ewige Wejen und feine Offenbarung. Gott ift nidt raum- und zeitlos, ſodaß er erjt da beginne wo fie anfhiren, vielmehr ijt er

16 I, Die Sdee des Schönen.

e8 der in der Ausdehnung und Entfaltung feiner Natur Raum und Reit fegt und erfiillt; er ift raum- und jeitfrei, indem er alg der Unendlide nidt vom ihnen begrenzt oder beherrſcht wird, wie die endliden Dinge; er ift der Ewige, der im ununterbrode- nen Strome der Zeit feine Sdhipfermadt bethitigt und die Welt werden, die Seelen wachſen, ringen, ftreben, reifen ligt, er ijt der Aligegenwiirtige, in dem wir fammt allen Dingen leben, weben und find. eiblicdfeit ijt das Ende der Wege Gottes, war Oettinger’s tieffinnigftes Wort. Lalande, der mit dem Fernrohr alle Himmel durdjudt haben wollte ohne Gott ju finden, wire an den Ausſpruch des AUApoftels Paulus gu erinnern gewejen, dak Gottes ewiges, unfidjtbares Wefen, feine Kraft und Gottheit er- fehen wird in feinen Werfen, in der Schöpfung der Welt; Hier hat er fic) finnlid) wahrnehmbar gemadt, hier finnen wir mit dem Pjalmiften fühlen und ſchmecken wie freundlid) der Herr ift. Den Geift, der in der Natur waltet, fieht freilid) nidt das leib- lide Ange, auch nidt das fernrohrbewaffnete, jondern das geiftige, die Vernunft. Sie erfenut ,,was die Welt im Bnnerften zu— ſammenhält“, und das ijt Gott. Aud an Fidte’s Rathjdlag finnen wir erinnern: Willft du wiſſen was Gott ijt, jo ſchaue an was der von ihm Begeifterte thut.

Wie aber fann das Schine für Gott ſein, wenn es ohne die Ginne als ſolches nicht angeſchaut, empfunden, genoffen wird? Für den von der Welt getrennten fpiritualiftifden Gott gibe es allerdings feine Schönheit, aber der in der Welt offenbare, die Natur in fid) hegende und aus fid) geftaltende wahrhaft Unend- lide jieht und Hirt mit all den Augen und Obren aller eingelnen Wefen, deren gemeinjamer Lebensgrund er ijt und iiber denen er als allumnfaffender Geift fie beſeelend waltet. Auch wir find Sinnes- werfzeuge Gotteds. Bei uns felbjt weiß die Hand nidjts vom Sug, das Ohr nidis vom Auge; jeder Nerv leitet die Cindriide, die er empfangen, unberiifrt von den Grregungen der andern Merven, der Seele gu; fie vereinigt alles in ihrer Cinheit gum Gejammtgefiihl im Bewußtſein. Go erfennt aud der einzelne Menſch nichts unmittelbar von den Anjdauungen und Gefiihlen des andern; aber Gott, der als der Cine in Allen waltet, wie die Seele in allen Gliedern des Leibes, wie das Ich in allen Gedanken, er empfindet auc) in Allen und ergänzt all die einzelnen Anfdhauungen und Gefiihle gu einer Totalitét, in der das End— fiche oder das Stückwerk vollendet und vollfommen wird. Wem

1. Das Ideale und Reale. 17

dies cin kühner Uebergriff aus unjern grundfegenden Betradtun- gen diinfen follte der mige erwägen daß die Aefthetif wie jede Wiſſenſchaft einen Beitrag zur Erkenntniß Gottes zu liefern hat, und daß durd die in ihrem Lichte mögliche Erklärung des Schö— nen unſere Gottedsidee ſelbſt bewährt und beftitigt wird.

Erſt alfo wenn Raum and Beit als Formen des idealen Lebens felbft aufgefaßt werden, das fid) in ihnen realifirt und ein beftimmtes und wahrnehmbares Dafein gibt, erft dann ift es möglich dak raumzeitliche Erſcheinungen einen idealen Gindrud auf uns madjen, daß in ihnen eine Sdee niedergelegt und ange- ſchaut werden fann. Die Empfindung des Schinen wird aber erfahrungsgemig nur durch foldje Erſcheinungen in uns erweckt, welche der Ansdruc einer Idee find und dieſe in ſinnlich wohl— gefälliger Weiſe darftellen. Der Zeus des Phidias war hellglän— zendes Gold und mildjdhinumerndes Elfenbein, deren grofe Maſſen ein anmuthreides Spiel von Vidt und Schatten, von hervor- tretenden und zurückweichenden, zum Ganzen fic) abgerundet zu— jammenjdlieBenden Flächen gliederte; dies fah das leiblidje Auge und erfrente fid) an der Pract der Farbe und folgte mit Luft der Bewegung im Zuge der Linien. Aber vor diefem Aeufern, vor der Materie de8 Bildes beugte der Griedhe die Kniee nidt, jondern er demilthigte fid) vor der Sdee des Gottes, deren Herr- lichfeit ihn erhob. Es war die Verſöhnung von ehrfurdtgebieten- der Macht und gnadenreider Huld, die in der milden Majeſtät deS Vaters der Götter und Menſchen zur Anſchauung gebradt wurde; es war eine religidfe Wahrheit in finnenfilliger Form, und durd) die Harmonie dev innern Bedeutung und der dufern Geftaltung war fie ſchön. Die Zahlenverhiltnijfe der Tonſchwin— gungen in Beethoven's Symphonie aus c wiirden den Gefühls— ſchauer in unſerer Bruſt nidt erregt, die bloßen Klänge fiir fid) unjere Seele nidjt entzückt haben: erft indem die Sehnſucht des Geifted, fein Schmerz über die Noth des Lebens, fein Ringen mit ify und fein Siegesjubel in der Weltiiberwindung vom ſchöpfe— rijdhen Meiſter in feine wohllautenden Melodiengefledte hinein- gelegt und durd) fie in vollen Strémen wieder in unſer Gemiith ergoffen worden, erft in diefer Ourddringung und Verjdmelzung von Gedanken, Tonmaterial und Gefühl haben wir die Schinheit. Vor Rafael's Transfiguration gewahren wir zunächſt unten dunf- fere, oben hellere Farben, und die Geftalt des verflirten Hei- {andes zieht das Ange als Licdhtmittelpuntt an; unrubige, aus-

Carriere, Mefthetif. 1. 3. Aufl. 2

18 I. Die Idee des Schinen.

einanderftrebende Linien in der untern Hälfte, fid) fanft zuſam— menneigende in der obern bilben einen die Aufmerkſamkeit erregen- den Contraft und finden dort das Ziel ihrer anmuthigen Bewegung wo aud) die Farbengegenfike im reinen Licht zujammenrinnen. Dies ift das Aeußere des Bildes. Seine Seele aber ift die Idee der Religion, der Hingabe an Gott, die Kampf und Schmerz des Lebens (Kft und ftillt und das Irdiſche in das Himmlijde ver- flirt. Und diefe Idee ftellt fic) dar in der Begebenheit der hiilfe: fudjenden Familie, die den bejeffenen RKnaben zu den Biingern bringt, deren eitter nad) oben deutet, wo der Meiſter in gitt- licher Glorie zwiſchen Mofes und Elias ſchwebt, wie das Geſetz und die Bropheten auf ihn als den Vollender hingewiefen. Der alfgemeine Gedanfe, die befondere Handlung, die finnliden Dar- jtelfungSmittel ftimmen und wirken jujammen, und fo wird Ver- nunft, Gemiith und Auge jugleid) befriedigt und erfreut, und da- durch erbliiht die Schönheit.

Wir wollen das Schöne nur unter dieſem doppelten Geſichts— punft nad) feinem idealen und nad) feinem realen Elemente, nad) der geiftigen und ſinnlichen Seite betradten, wobet, wenn wir es vergeffen wollten, die Sache ſelbſt uns ftets wieder dahin führen wiirde dak beide ftets untrennbar zuſammengehören, da die Schön— Heit nad) Schiller’s Wort dic Biirgerin zweier Welten ift, die den finnliden Menſchen jum Denfen leitet, den geiftigen Menſchen zur Natur zurückführt und der Sinnlichfeit wiedergibt.

Im Schönen ift immer ein geiftig Allgemeines; wir miiffen alfes unter der Geftalt der Sdee denfen finnen, wenn von Schön— eit die Rede jein ſoll. Unſere Sinneswahrnehmung erfaßt zu— nächſt einzelne Dinge; wir fommen in unferer Auffaffung zur Be- ſtimmtheit des Befondern, indem wir es von Anderm unterjdeiden, wie es von dieſem an fic) durd) feine eigene Form und Wefenheit unterſchieden iſt. Aber anders unterfdeidet fid) und unterſcheiden wir die Gide von der Linde alS von dem Adler, Goethe von Schiller alS von einem Stein. Adhten wir hierauf, fo finden wir bald: es unterfdeiden ganze Rreife von Gegenftinden fid von andern Kreiſen dadurd daß fie beftimmte Merfmale gemein- fam haben; und danad) bilden wir den Begriff de in ihnen gleiden und einen Weſens, danad) fernen wir den Sinn und das Wejen der Gade im Zufammenhang und Inbegriff aller Dinge ansjpreden, und das Geſetz finden, welches die befondere Erſchei— nung durdwaltet, die Ordnung finden, die fie gliedert. Es find

1. Das Fdeale und Reale. 19

Gedanfen die dies ausdriicden. Wir wiirden bas Weſen der Dinge nidt im Begriff erfaffen fonnen, wenn fie nicht felber in demjelben befaßt und begriffen wiiren; unjere Gedanfenform wiirde iby Sein villig veriindern, da eben alles Sein durd) die Form die Beftimmtheit feiner Natur hat, wenn die Dinge nidt urfpriing- lih im göttlichen Geijte gedadjt wären, der zugleich der Urquell unſers eigenen Grfenntnifvermigens ijt. Der göttliche Geift braudjt die Welt nicht zu iiberwinden und denfend zu bewiltigen, ihm fteht fein unbegriffenes Dunkel gegeniiber, vielmehr die Acte ſeines Denfens und Crfennens bilden die Ordnung und den Grund der Welt, die Seele der Dinge. Co vernimmt unfere Vernunft die Vernunft im der Welt, und unfer Denfen erfüllt und beftimmt fic) durd die in der Natur und Geſchichte nieder- gelegten und entfalteten gittliden Gedanfen. Sn der Erkenntniß der Wahrheit denfen wir die Dinge wie fie in Gott find. Wir erfaffen uns felbft als cinen feiner Gedanfen, und fo find wir urfpriinglic) in der Wahrheit und können fie auch aus der eigenen Vernunft entwideln. Das ift der Blig der Erleuchtung, wenn fie uns im eigenen Innern klar wird, es ijt nidt eine Cingebung von agen, jondern vielmehr cin Crivecitwerden tm Innern, ein Auftauden aus unferm Lebensgrunde, dem gittliden Geift. Wud) was wir fernen, miiffen wir in uns erjzeugen. Wan fann ja nicht Gedanfen, Wahrheiten in die Ceele, in das Bewußtſein hineinfteden wie Wepfel in cinen Gad, man fann da8 Bewußtſein nur anregen die deen in fic) ſelbſt hervorzubringen. Wir er- finden die Wahrheit nicht, wir finden fie, nidt blos fir uns, jondern fiir alfe.

Aud) der Geijt gehirt zum Sein, auch er ift real; aber wäh— rend die Materie ihr felber äußerlich, verſchloſſen und unverftan- den bleibt, ijt er vielmehr das fic) ſelbſt erfaffende, fich ſelbſt bejahende und dadurd) fic) als Geijt ſetzende Sein. Sein Zuſich— jelbftfommen ijt fein Bewußtwerden. Indem er fein Vermigen verwirflidt, feine Anlagen ausbildet, fein Wefen zu feiner Bhat madt, das Geſetz jeines Lebens erfiillt, bringt er died alles ju jeiner eigenen Anſchauung, erfährt er was er felber ijt, und alles Erkennen ift zuerſt und zuletzt Selbſterkennen.

Die Sinnesanſchauung gibt uns überall nur Beſonderes, das Denken ſucht und erfaßt überall das Geſetz, das Allgemeine, der äſthetiſche Geiſt ſchaut eins im andern. Er ſteht innerhalb der von Kant eroberten Einſicht: Begriffe ohne Anſchauungen ſind leer,

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20 I, Die Idee des Sdhinen.

Anſchauungen ohne Begrijffe blind. Cr fucht nicht eine höhere Wahrheit erft hinter den Dingen, fondern unmittelbar im Gegen- wirtigen offenbart fic) ifm das Ewige. Alles Factifche ijt felbft ſchon Theorie, die Phänomene felbft find die Lehre, fagte der weije Didter. Den Dingen find die göttlichen Gedanfen einge- bildet, wie fie in unferm Bewußtſein fliegen; aber während fie jenen verborgen bleiben, ruft ihre Erſcheinung fie in unjerer Seele wad); fie werden nicht von augen in uns hineingetragen, unjere Thitigfeit wird aufgerufen fie in uns ju erjeugen, und den in ihr felbft gefundenen Gedanfen fieht die Ceele zugleich in der Welt ausgeprigt.

Aber fragen wir nun nad) dem Begriffe der Idee felbft, fo unterfdeiden wir fie von den Wbftractionen des Verftandes, die dadurch entftehen dak wir vieles Befondere aus mehrern An- jdhauungen weglaffen um dieje dann unter einen gemeinjamen Ausdrud faffen ju können, oder daß wir eingelne Beftimmungen von den Dingen ablijen, die nicht deren ganzes Weſen ausmaden. Es ift eine Abjtraction, wenn wir bet dem Begriffe des Baumes davon abfehen ob er Laub oder Nadeln trigt. Die Linge, die Breite eines Gegenftandes, feine Gleidheit mit fic) felbft, feine Aehnlichkeit oder Unähnlichkeit mit andern find fiir fid) nidt dar— jtellbar, und Raum und Zeit malen zu wollen war eine arge Verirrung. Der Verjtand erfennt die Beziehung der Dinge zu ung und zu andern, und jegt aus foldjen Relationen wol einen Begriff zuſammen, aber der ift dann nicht der angemeffene Aus— druck ihres Wefens; was ein Schaf ijt erfahren wir nidt dadurd) daß wir wiffen der Wolf ftellt ihm nach und wir Eleiden uns in jeine Wolle; dies Verhältniß der Gegenftinde zu einander, ire Niiglichfeit oder Schädlichkeit für einander fann nicht Adee ge- nannt werden. Die Idee madt vielmehr das eigene Wefen der Dinge aus. Sie ift der Inbegriff und Cinheitspuntt alles Leben- digen, aus weldem das Mannidfaltige entipringt und abgeleitet wird; fie ijt das Allgemeine welches das Befondere nit aus- ſchließt, jondern in fid) und unter fich befaßt, und fiir eine Reihe von einjelnen Gegenftinden, die es in fic) vereint, den Grund— unterjdied von andern Gebieten des Seins bezeichnet, und dadurd fie in ihrem Dafein, in ihrer Cigenthiimlicfeit und Natur be- ftimmt. Go ift fie die allgemeine Form, in welde ein vielfadher Snhalt eingeht, und dadurd) aus der Unbeftimmtheit, die das Michts wire, zur Bejonderheit, zur Erfennbarfeit fommt, dak er

1. Das Ideale und Reale. 21

jene in ſich aufnimmt und an fic) darſtellt. Die Idee drückt das Weſen und die Beſtimmung des Einzelnen aus wie es in ſeiner Vollendung zugleich das Allgemeine abſpiegelt und verwirklicht; ſo vereinigt ſich in ihr das Anſchauliche mit dem Begrifflichen. Platon, der Begründer der Ideenlehre, beſtimmte ſelbſt ſogleich die Idee als den göttlichen Gedanken der Dinge. So iſt ſie deren Ur- und Muſterbild im Geiſte Gottes, und damit die unter der Gejtalt der Ewigfeit und Nothwendigfeit erfannte Form und der höchſte Awe des Seienden. Wir reden von der Humanitit als der Sdee der Menſchheit. Sie ift das allen Menſchen Zufommende, das immerdar Geltende fiir alle, dad Geſetz ihres Lebens, ohne das fie nicht Menſchen wären, das fie von den Thieren oder Pflan- jen unterjdjcidet, damit die nothwendige Bedingung ihres Daſeins; fie tft das Dauernde tm Wechſel der Bndividuen, und wie aud) die einzelnen Perſönlichkeiten wachſen oder altern, fie bleiben Menjden, bleiben der Idee der Menſchheit theilhaftig. Diefe fann von ihnen nidjt hinweggenommen oder Hinweggedadht werden ohne dak fie aufhirten gu fein. Die einzelnen Menſchen aber find nicht fertig, nod) ift das ganze menſchliche Geſchlecht in feiner Ent— widelung abgefdloffen, vielmehr ijt das Leben Fortbildung, Ver— wirflidung der innern Anlagen, und fo erjdeint die Bdee, Hier die Humanitit, zugleich als der höchſte Zweck oder das Ziel diefer Entwidelung und Fortgeftaltung, als die Vebensaufgabe und die Beſtimmung der Einzelnen wie des ganzen Gejdledts. Hier it die Sdee der Gedanfe der feine Verwirflidung zugleich fordert und leitet. Wir reden von der Idee des vegetabilifden Organismus und befaffen darunter alles das was die Natur der Pflanzen und zwar aller Pflanzen fennjeidnet, was durd) fie alle realifirt wird, was jeder die Norm und die unumginglide Grundlage ihrer Ent- faltung gewährt. Wir reden von der Idee des Staats. Sie un- terfdjetdet bas geordnete menſchliche Gemeinwefen von der Heerde oder Riuberbande; alle Verfaffungen, Monardie und Republif, haben Theil an ihr und find dadurd) Staatsformen, aber die cine prigt fie vélliger aus als die andere, und hiermit ijt die Sdee das Mak der Beurtheilung, das im Geift erjdaute Muſterbild der Staaten iiberhaupt, darin in harmonifder Durddringung alles das begriffen iff was in feiner Vereinzelung vorherrfdend das Princip dev befondern BVerfaffungen ausmadt. So nennen wir die Sdee des Schinen den cinheitliden Snbegriff aller ſchönen Er— jdeinungen, das zum Bewußtſein gefommene Sein dee Schönen,

99 1, Die Idee des Schöuen.

das fic) in allen ſchönen Dingen findet, dad fie vom Haplicen oder vom Gewöhnlichen unterfdeidet, und es heißt uns überhaupt dasjenige ſchön was nidt erſt Gegenftand unjers Naddenfens ju werden braudt um innerhalb {einer Idee erfannt ju werden, fon- dern was jofort durd) fein Erſcheinen dic ihm ju Grunde Liegende Sdee in uns wad ruft oder uns an dicjelbe erinnert, dasjenige aljo in weldjem wir die Idee unmittelbar anſchauen.

Die Natur zeigt die weltordnende göttliche Weisheit in den thpifden Formen des individuellen Lebens, welde wir Gattungen nennen. Die Materie geht in fie cin und wird dadurd etwas, ftelft dadurd) cinen Gedanten dar. In dem immerwahrenden Sluffe des Lebens der Augenwelt, wo Geburt und Grab cin ewiges Dicer find, Aufgang und Untergang raftlos ineinander- qreifen und alles in beftindigem Wechſel freijt, da gewahren wir dennoch cin Bleibendes: es find die Gattungsformen, die fick erhalten wie aud) dic unter oder in ihnen begriffenen Individuen fic) verwandeln und abjfterben, die fid) mächtig erweiſen iiber die Individuen, indem fie diejelben gu ihrem Diente zwingen felbft mit Opferung des eigenen Lebens cin dev Art nad) Gleides ju erzeugen, in weldem auf cine neue Weife der alte und allgemeine Typus fich realifirt. Wir können mit Platon den Gattungs- begriff alg das Bleibende und darum wahrhaft Seiende in der wandelbaren Erſcheinungswelt bezeichnen, die durd) ihren Unter- gang ja beweift daß fie nicht das Ewige ijt; wir können nod mit ihm fagen, daß die Materie Theil hat an den Sdeen und dadurd beftimmt wird, daß die cingelnen Weſen die Abbilder der Urbilder find. Aber PBlaton fest die Urbilder als in fic) fertige vollendete Wejenheiten, die der Realifirung durd das individuelle Leben nicht bebdiirfen, die der Thätigkeit ermangeln, die durd) die Verfledtung in dic Materie nur getriibt werden; die Dinge jeigen nur den vielfältig gebrochenen und verfiimmerten Strahl des reinen Lidtes, das mit dem Geift jenfeit der Sinnenwelt erfaft wird. So fehlt ber Welt des Werdens das redte Wefen und der BWabhrheits- gehalt, jo fehlt der Welt des Wefens das rechte Leben der SGelbjtentwidelung. Cin Leben das nist Entwidelung und Ver- wirklichung des Wejens, nicht zeitliche Entfaltung und Ausgeftal- tung des Gwigen ijt, ein Flug de8 Werdens ohne ein Danern- des tm Wechſel und ohne ein Biel des Weges wire nur ein Traumbild, umgefehrt eine Weſenreihe ohne in fich ſelbſt quellen- des Leben, ohne fic) felbft und anderes nad) ſich geftaltende Thä—

1. Das Ydeale und Reale. 23

tigleit wäre nur ein Schattenreich, machtlos, abgeſchieden von der Welt und in ſich todt. Nur das iſt echtes Weſen was ſich leben— dig erweiſt, nur das iſt wahres Leben das eine ideale Weſenheit verwirklicht.

Weil Platon dies verkannte, blieb ſeine Philoſophie über das Schöne mangelhaft, ſo ſchön er ſelber ſie darzuſtellen wußte; ähnlich wie er, der dichteriſche Geiſt, der Homer der Philoſophen, doch die Dichter aus ſeinem Staat verbannte. Er ſetzt das Schöne einſeitig in die Idee als ſolche, in den Himmel der Ideen; die ſchönen Gegenſtände auf Erden, Werke der Natur wie der Kunſt, zeigen thm nur einen Abglanz von der ewigen und wahren Schön— Heit, erinnern die Seele nur an fie, daß fie in begeiftertem Liebes- aufſchwung fic) in dad Ueberfinnlice erhebe. In dies febt er die Schönheit, die doch ſtets des finnliden Elementes bedarf und da- durd) vom Wahren und Guten fic) unterjdeidet, dah es bet ihr auf die Erſcheinung anfommt. Das Sinnlide ift dem Denker nur das Vergängliche, nur die Trübung, nidt cine Offenbarung oder Dajeingweife der Sdec. Darum wird von ihm alles Gute, alles Wahre ſchön genannt, und alle Geredten, wenn fie and) nod) jo häßlich von Geftalt fein follten, heifen ihm ſchön. Wenn er dann die Idee der Schinheit aud) einmal als das Glänzende oder Liebreizende bezeichnet, fo bezieht er das dod) anf das rein Seiftige. Co verfennt Blaton die Bedeutung des Sinnlichen fiir das Shine, die Idee ale Gedanfe ift ihm an fic) ſchön, während das Gefühl des Schinen erft dort uns aufgeht wo Idee und Erſcheinung harmonijd zujammenflingen, das Irdijde fryftallflar vom Himmliſchen durchleuchtet ift, und beides nun vereint mittels der Sinne von uns aufgenommen und empfunden wird. Platon vergift dag das Schöne nur in Tinen, Farben, Bildern und Worten zum Dajein fommt; er verfennt das Recht und die Lebens- fraft des Sudividucllen. Cr hat die cine Seite der Wahrheit, die er juerft mit voller Kraft und Klarheit erfannte, wie died gewöhnlich geſchieht, ausſchließlich betont und feftgehalten.

Die Bdee bedarf des individuellen Lebens zu cigener Verwirk— lichung; fie wire nicht felbftindig wirklich, ſondern nur cine An— ſchauung der Vernunft, nur ein Gedanke des denfenden Geiftes, wenn fie nidt von der Befonderheit realer Kräfte und Stoffe aufgenommen und durd fie als deren eigene Beftimmung und Lebenszweck ins Dajein gejest wiirde. Das Liwenthum als fol- ches losgelöſt von den Individuen exiftirt nidt, foudern nur die

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einjelnen Löwen; aber was fie find, find fie durch jenes, es ift das Weſen, dad durch fie zur Erſcheinung fommt, das fid) nicht verdunfelt und abſchwächt in der Entfaltung, jondern im Gegen- theil die innere Fülle erft durch diejelbe erſchließt, aus der bloßen Möglichkeit des nur Gedadjten durd) die Gndividuen in die Wirl- fichfeit tritt und in den Individuen fic) felber entwicéelt und zum Genuffe des Daſeins bringt. Die Gattung ijt nidt vor den In— dividuen felbftindig da, jondern in ihnen kommt fie zur Erſchei— nung; aber fie ift aud) fein blokes Wort, feine nur jubjective Vorftellung, unter welder wir cine Menge ähnlicher Dinge zu— ſammenfaſſen; fondern dic wefengleide Natur derſelben, das gleiche Bildungsgeſetz in ihnen wird von uns erfannt und ausgefproden. Die individuellen Lebensfrafte ded Alls find chen geordnet, find durd) bejondere Normen und Formen in zuſammengehörige Grup- pen gegliedert, und dies gemeinjame Wejen heben wir hervor, es ijt der charafteriftijde Begriff fiir die vielen Einzelnen, und dieje find fiir fic) um fo volffommener, fiir unjere Anfdauung um fo befriedigender jc klarer ihr Bildungsgefes fic) in ihnen ausprägt, je unverfiimmerter alfo ihr Begriff verwirflidt iff. In jedem Einzelnen ift die Bdee der Gattung gegenwärtig, und fo gewinnt fie ein tauſendfältiges Dafein ohne ihre Cinheit zu verlieren, und wir nennen etwas feiner Art nad) ſchön, in weldem die Idee der Gattung rein und unverfiimmerts flar und voll zur Erſcheinung fommt. G8 ift dann aber aud) fein in fic) wefenlofes Abbild, vielmehr die zeitlich räumliche Darftellung, die finnenfillige Ver- wirflidung des cwigen Urbilded.

Su dev Perſönlichkeit erfaBt fid) die Idee des Individuums jelber; fie wird als Seele Mittelpunkt und bleibender Trager der Snnenwelt mit allen ihren Regungen und Strebungen, aber fie wiire todt und [cer ohne dieje; ihr beſonderes Thun und Leiden ift ihr Leben. Und wenn wir ferner in der Welt des Geiſtes die Sdeen erfennen, wie fie deren Formen und Normen, deren Ziel— und Ridtpuntte als fittliche Mächte find, wenn wir in diejem Sinne von der Bdee des Rechtes, der Freiheit, der Liebe reden, jo wollen dieſe Sdeen alle aufgenommen fein vom Gefühl und Willen der Perſönlichkeiten, fo werden fie erft wirflid) idem fie in die Greigniffe eingehen und diefelben beherrfden, und thiten oder könnten fie dies nicht, fo wiirden wir fie als Sdhemen adjten und die fittlidje Weltordnung wire ein weſenloſes Gebilde der Vorftellung. Aber fie verfiinden fic) durd) die Thaten und Ge-

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ſchicke der Menfden und der Bolfer, wir brauden uns nur jelbft nicht gu verblenden um ju fehen, wie fic ihre Macht erweiſen im Sieg über alles was ihnen widerftrebt, in der VBerherrlidung alles deffen was fid) ifnen anſchließt. Allerdings ijt dem Men- {den die Möglichkeit gewährt dak er für fid) von den fittliden Sdeen fic) abwende, weil dic Freiheit feiner Natur dies erheijdt, und nur in der Gefinnung des cigenen Wollens der Werth der Thaten liegt; aber wer fiir fid) in der Srre geht hebt damit das Riel und den rechten Weg nidt auf und fann nur Zeit verlieren und Zeit verderben, bis er der Verfehrtheit ſeines Thuns in der eigenen Unjeligfett inne wird. Sm Sieg der fittlidjen Weltord- nung wird das Geiſtige ju einem Reiche der Schinheit, und wir nennen die Perfinlidfeiten und die CEreigniffe ſchön in welden eine ethijde Idee Fleiſch und Blut gewinnt und fic) offenbart. Nicht die finns oder bedeutungsloje Geſchichte, mag fie and nod fo fpannend erzählt fein, nicht das nur gedachte Geſetz oder dic aligemeine Wahrheit nennen wir ſchön, wohl aber gebrauchen wir dies Wort, wenn Geſetz und Begebenheit, alfgemeine Wahrheit und inbdividuclle Wirklidjfeit ineinander aufgehen, und durch dic Perjonen und Ereignijje da8 Wefen und Walten einer Idee fo flar und anjdaulic) wird, wie jum Beijpiel der Begriff der Liebe durd) Romeo und Julie in Shakeſpeare's Didjtung.

Su Rückſicht auf die Idee ift alles Schone wahr und gut. Erjdiene das Unwahre und damit Unverniinftige als die Wirk- lidhfeit, jo wiirde unfere Vernunft nidt in deren Anſchauung unmittelbar befriedigt, ſondern es wäre ify ein Widerfprud) und ein quälendes Rathfel zu löſen aufgegeben, oder fie müßte an fic) jelbjt irre werden, an dev Welt verzweifeln; Schmerz und Unruhe wiirden ftatt harmonijder Befriedigung das Gefühl ded Geiftes bifden. Cin Sieg des Schlechten ware cin Angriff auf unjer Ge- wiffen und auf die fittlide Weltordnung, und Widerwillen oder Leid ftatt Troft und Befeligung wire die Wirkung auf unfer Ge- mith. Selbſt das nod) jo Formengefallige fann uns nidt nach— haltig befriedigen, wenn es nicht and) der Vernunft eine bedeut- jame Idee entgegenbringt, nidjt and) dem fittliden Gefühl cine Erhebung bereitet. Sd) evinnere nur an die geringere Werth- ſchätzung, die troy aller feinen Charafteriftif und bewunderns- wiirdigen Kunſt der Sdhilderung Shakejpeare’s Tragödie Antonius und Kleopatra im Unterſchied von Lear oder Macheth erfihrt, weil in ihr feine wirklich grofen oder edeln Geftalten auftreten,

26 I. Die Idee des Schönen.

durd) welde Recht und Freiheit einen Triumph feiern oder deren Ulntergang fie verklären. Ohne wahr und gut zu ſein ware das Schöne falt, citel und ſinnlos. Dod) werde ich das Verhält— nif des Sdhinen zum Wahren und Guten, und damit das der Kunſt zur Sittlidfcit, Religion und Philofophie ſpäter erörtern, wenn wir den vollen Begriff der Schönheit gefunden haben, um ifn durd) das Gemeinſchaftliche und Cigenthiimlide in Bezug anf dieſe verwandten und benadbarten Lebensgebiete nod) naher und deutlidjer gu beſtimmen. Set liegt es mir zunächſt ob darguthun daß mit der Idee auch die Erſcheinung ju ihrem Rechte fommen muß, oder daß um als ſchön empfunden zu werden das Gute, bas Wahre der begrengten Form des finnenfilligen Daſeins in Raum und eit bedarf.

Schön Heift was da ſcheinet und gefdauct wird; es fommt darauf an wie es ausfieht, der Gindrud auf unfere Sinnlidfeit joll das geiftige Wohlgefallen erweden. Bei einem mathematifden Lehrſatz ijt es gleidjgiiltig ob er durch die Conftruction ciner ſymmetriſchen oder unjymmetrifden Figur bewiefen wird, und eine logiſche Crorterung fo gu druden dag Grund und Folge in ein— ander entfpredjenden längeren oder fiirjeren Zeilen, im Wechſel Eleinerer und größerer Budhftaben etwa wie cin Doppelbedher daftiinten, deffen untere Hälfte die gleidgrofe obere trägt, wiirde fiir cine nod) viel müßigere Spicleret eradjtet werden, als wenn Alexandriniſche Poeten und Niirnberger Pegnitzſchäfer ihre Liebes- ficber fo cinvidjteten daß fie gefdjricben wie Herzen ausjahen. Durd derartige Aeugerlidfeiten wiirde die Aufmerkſamkeit gerade abgelenft von dem Gebhalt der Sache, um die es ſich handelt. Und wer auf moralifdem Gebiet etwa bei der Erweijung einer Wohl: that an die Figur denfen wollte die cr dabei madt, an den Ausdrud feiner Mienen und die Bewegung feiner Hand, der wiirde als eitler Ged den Werth der That wenigftens fiir ihn felbft aufheben. In der Sphire des Schinen aber foll das Aeugere als foldjes das Innere ausdriiden, foll die Form das Weſen offenbaren.

Weil aber cine ideale Wefenheit, weil dex Geift in der finn- lichen Geftalt erjdjeint, deshalb fann die Kunſt als die Darſtellerin um der Schinheit willen and) die Hüllen ablegen, mit denen das Leben feine Blößen bedeckt. Das ſinnlich Nackte verliert den Rei; der Begierde, wenn der Adel cines gittlidjen Gemiiths, wenn die Unjduld der Kinderjeele aus ihm aufleudtet, wenn das Urbild

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der Menfdennatur in ihrer reinen Herrlidfeit veranſchaulicht wird. Durd) das Sdhine wird die ungebrodjene Harmonic des Sinnliden und Seeliſchen, wird der Paradieſeszuſtand mitten in der Gegenwart wiedergewonnen. Cin Michel Angelo lies am Tage des Gerichts, wo jede Hille finft und das Wejen der Menſchen unverjdleiert vor dem alljehenden Auge Gottes gu Tage fommt, mit tieffinniger Gymbolif die neubelebten Leiber nact emporfteigen; einem ſpäteren Papſte diinfte das unanftindig, der Meifter aber verjagte es eigenhändig feinen großen Gedanfen und feine gewaltigen Geftalten gu verderben mit den Worten: der Papſt möge die Welt verbeffern, dann jet das Gemiilde von felbft gut. Daniel von Volterra erntete mit Redht den Spottnamen Hojenmaler, als er fic) herbeilies eine Anzahl von Gewandlappen auf die Figuren ju pinjelu. Daf die verdorbene Cinbildungsfraft ihre eigene Befledung auch auf die Gegenftiinde außer ihr iiber- trigt, und mit dem Marmorbilde des Gottes oder der Göttin Bublidaft treibt, das ijt ihr eigener Fluch, um deffentwillen der Welt der Anblic der wunderbarften und vollendetften Formen des Naturlebens nicht entzogen werden darf. Den Reinen iſt alles rein, ſpricht Chriftus. Der gemeine Sinn fieht freilich in der aus dem Sdhaume ded Meeres neugeboren auffteigenden Aphro- dite, die mit Hand und Arm Sdos und Bufen jungfriulid bededt, nur die Zofe, welde der junge Herr im Bade über— raft. Aber follen wir das Heroijde aus der Gefchidte ftrei- chen, weil e@ fiir die Rammerdiener feine Helden gibt? Dic Sittlichfeit freilid) ift da8 Höchſte, und die unfittliden Darſtel— {ungen blos finnlider Reize, auch bet ſcheinſamer Verhiillung, die nur die Lifternheit rege madjt, find durchaus verwerflich, fie find unſchön, weil fie des Sdealen ermangeln. Rein Kunſtgenuß fann einen Erſatz bieten fiir die verlorene Unjduld; aber id) vermuthe daß jene Tugend auf jehr ſchwachen Füßen ftand, die darüber ju Fall gefommen fein foll, dag cin nacter Krieger in der Begeijte- rung de6 Kampfes fiirs Vaterland auf der berliner Schloßbrücke aufgeftel{t wurde.

Kerner miiffen wir nun das Moment des individuellen Dajeins neben dem allgemeinen der Idee deshalb betonen, weil dieſes nur in jenem fic) realifirt. Das fiir fic) Wirklide ijt überall nicht der reine allgemeine Gedanfe, denn dieſer bedarf eines Geiſtes der ihn denft, ciner Subjectivitit die ihm trägt und bildet, und von Selbſtbewegung der Begriffe ohne eine Perſönlichkeit zu reden

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die fie trennt und verbindct, die vielmehr erft cine Erſcheinung diefer Begriffe und cin Durchgangspunkt ihrer Selbftentwicdelung fein follte, gehirt gu den Mythen philofophirender Cinbildungs- fraft, die endlich dod) feinen Glauben mehr finden jollten; denn begrifflid) wie erfahrungsgemag ift der Gedanfe das Werf des denfenden Geiftes, in ifm und durd) ihn vorhanden. Für fid wirklich ijt iiberall nur das Individuelle. Nur died ift Etwas, _e8 ift durch feine Grenge, in der es fid) von allen anbdern Dingen unterfdeidet, das ift was fie nicht find. Aber darum ift diefe Grenze nicht blofe Negation, darum das beftimmte Sein nidt ein Mangel, cine endlidje Unvollfommenheit, fondern das Beftim- mungsloſe, Unbegrenzte ijt vielmehr jencs reine Sein, was wenn es wire das Nichts fein wiirde, denn was alle Beftimmung aus- ſchließt iſt nichts; aber es fann nidt cinmal gedadt werden, weil das Gedachtſein ſelbſt jogleid) cine Beftimmtheit ijt, und den Beweis fiihrt dak nidt das Nidhts, fondern der denfende Geift wirflid) ijt, Das Nits fann nicht jein, weil der Begriff des Seins ihm widerjpridt, weil cs im Sein jogletd) aufgehoben ijt; barum gerade ijt aber das Sein nidt Bejtimmungslofigteit, ſon— dern fic) felbft beftimmende Thitigtcit, und durch dieje wird nidt das Abjolute oder in ſich Vollendete, fondern vielmehr das Nidhts vperneint, oder die Negation des Seins negirt, und damit das Sein ſelbſt verwirflidt. Go ijt die Grenze Pofition, Selbft- bejahung eines Wejens in jeiner Eigenthümlichkeit. Gerade dieſes, was wir einer falſchen Dialektif wieder abgerungen, wird durd) bas Schöne offenbar.

Wie wir die Dinge dadurd) erfernen daß wir fie voneinander unterjdeiden, jo find fie dadurch daß fie voncinander unterjdieden beftehen. Deshalb gibt es nicht zwei Dinge im Himmel und auf Erden, die cinander vollig gleid) wiiren, und als Leibniz diefen Sak aufgeftellt, bemiihten fic) die Hannoverijden Hofdanten ver- geblid) cin paar Baumblitter aufzufinden, durd) die fie ihn Hatten widerlegen können. Der Unterfdied ift nidt blos oberflidlid, die Welt nidt nur das Wellenſpiel im Meere der einen Gubftan;, jondern von Anfang an ift der göttliche Geift der Unterſcheider, weil nur das bejtimmte Sein und Denfen das wirflide ijt, und darum ift die Welt ein Syftem individueller Lebensfrafte und jedes Wirkliche ein Selbjtiindiges, Cigenlebendiges, Monadiſches. Das einfade Selbjt ijt der Quell aller Eigenthümlichkeit, die aus ihm durch feine Thatigkeit entwidelt wird; und weil jeder

1, Das Ideale und Reale. 99

folgende Lebengact den vorhergehenden zur Vorausjebung hat, ift er ſchon dadurd) ein anbderer als diefer, und find damit alfe Aeußerungen aud) deffelben Wejens ftets neu, und bei aller Aehn- lichfeit dod) nie blofe Wiederholung. Kraft der Begrenzung aber ijt jegliches darin und dadurd) daß es fic) vom andern unter: ſcheidet zugleich anf fie bezogen, und darum find in jeglicem alle andern mitgejegt, oder Gott hat nad) dem Leibnizifden Aus— dbrud bet der Schipfung einer jeden Monade auf alle andern. Rückſicht genommen, fie find Glieder eines grofen Ganzen und ftehen in Harmonie miteinander. Sede ift ein Spiegel des Uni- verjums, ift ein Dlittelpunft, nad) dem von allen Seiten die Kräfte der andern Wefen Hinftrahlen, von dem aus Wirfungen iiberallhin ing Unendliche fic) ergieBen. Weil es die Cinheit und Unendlidfeit des Seins ift die in jedem Wefen fic) ſchöpferiſch offenbart, fo ijt cine Unerſchöpflichkeit und Unergriindlidfeit in ihm. Weil die göttliche Wefenheit der gemeinjame und ein: wohnende Lebensgrund aller Weſen ift, bleibt fie aud) das Band derfelben, und find fie nicht verfchloffen gegencinander, fondern der Wechſelerregung und. Wedhfelwirfung offen. Allerdings ge- jchieht jeder Cinflug nur fo dak er zur Thitigheit erwect, nit daß er etwas Fremdes in das Andere Hineintrigt, fondern dak er es veranlaft in ifm ſchlummernde Formen aus fic) felbft her— vorzubringen, jowie die Erziehung hervorjieht was in dem Men- jdjen liegt. Sn der Vereinigung aber von mannichfachen Kräften und in ihrem Zuſammenwirken werden neue über die vereinjelten hinausragende Erfolge ergielt. Die Entwidelung des einen ijt Bedingung fiir die Fortbildung des andern, und nur in der Ge- meinjamfeit fann jeglidjes feine Beftimmung erreidjen, die nicht aufer ihm fiegt, jondern gerade die allfeitige Entfaltung, die voll- endete Selbfiverwirflidhung der eigenen Natur ift. Und in jedem Beitpuntte erfdeint da8 Refultat der Vergangenheit, der Mutter— ſchos der Zufunft, und dieje Vergangenheit und Zufunft in fid begreifende immer werdende Gegenwart ift die Ewigkeit.

Nur auf diejer Grundlage wird die Erflirung der Thatfaden in Bezug auf da8 Schöne möglich, und durch die Wirklichfeit des Schönen findet wieder dieje Anfidt vom Wefen der Dinge ihre Beſtätigung. Mur das Sndividuelle ift ſchön, niemals die abjtracte Aligemeinheit. Wire nun aber das Wllgemeine das wahre Sein, jo fiime die Sdhinheit nidt der Wahrheit gu, fondern wire nur ein trügeriſcher Schmuck des Nidtigen, ein Glang und Schimmer

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39 I. Die Idee des Schinen.

im Verfdwindenden und Mangelhaften. Das Schone ijt immer cigenartig, weil aud) das Leben fic) nirgends und nimmer auf monotone Weiſe wiederholt; es ift immer nen und einzig. Sn ſeiner Originalitét veranſchaulicht es die urſprüngliche Wefen- haftigkeit des Individuellen. Alles was um der Schönheit willen durch echte Kunſt erzeugt wird ſtellt als einzelner Gegenſtaud die Unendlichkeit dar. Darum iſt das Schöne niemals auszugenießen und auszudeuten; für andere Standpunkte, für andere Bildungs— ſtufen der Betrachtenden entfaltet es andere und andere Reize. Wie oft meinen wir eine Shakeſpeare'ſche Tragödie, ein Goethe'ſches Lied, cin Rafaeliſches Bild nun ganz erfaßt und ergründet zu haben; aber es bedarf nur einer neuen Lebenserfahrung, und das Lied flingt in uné wider, und wir meinen nun erft feinen Ginn zu derftehen; wir find in unferm Denfen herangercift, und nun jagen uns cin Hamlet oder Wallenftein, ein Taffo oder eine Orfina Worte über deren Tiefe wir erftaunen, als ob wir fie zum erjten male vernähmen und in die Geheimniffe der Schipfung eingeweiht witrden; wir treten in einer freudig Flaren Stimmung vor da8 Gemiilde, das wir fo häufig ſchon angefdaut, und es ift alg ob heute uns die Sduppen von den Augen fielen. Wie ein deutſcher Myſtiker fagte dak wer nur eine Blume redjt be- tradjte der fehe in ifr das ewige Wefen, wie Vanini auf dem ange nad) dem Scheiterhaufen einen Strohhalm ergriff und darthat wie diejer thm hinreidte um das Sein und Wefen Gottes zu erfennen, wie wer cin Gandforn redjt verftiinde an ihm die Geſchichte des Univerſums leſen finnte, fo ift jeder ſchöne Gegen- ftand ein Lichtſtrahl aus den Tiefen der Gottheit, und das er- jreut uns eben an ihm daß die ifm eingepriigten Spuren und Merkzeichen der andern Dinge fo harmoniſch verſchmolzen find, weil die eigene innere Triebfraft fie in fic) aufgenommen und aus fid) wiedergeboren hat.

Die innere Triebfraft geftaltet die Form des Seins, das folgt aus dem Begriff der eigenthiimlidjen Wefenheit als einer (eben- digen; fie tft der Quell aus dem alles Befondere fliept, und weil jie in alfen Dingen eigenartig und original ift, wird feins dem anbdern gleich, hat jedes cine eigenthiimliche Entwidelung. Alles Wirkliche entfaltet fid) nidjt aus Geſetzen, fondern aus Principien nad) Gefegen, die jegliches anf feine Weife erfüllt. Allgemeine und nothwendige Bedingungen gibt e8 fiir alles Lebendige, ohne die es weder fein nod) gedadt werden fann; der denfende Geift

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bewegt fid) innerhalb der Kategorien, und feine willkürlichſten Vorftellungen, feine feltjamften Träume miiffen in logiſchen und grammatijden Formen von allgemeiner Giiltigfeit fic) ergehen; die phyfifalifden, die chemiſchen GSefese gelten auch fiir den Organis- mugs, und nur innerhalb ihrer und mittels ihrer erreidjt er den eigenen Swed. Aber dies Reich der Nothwendigfeit ijt nidt das ganze Sein, fondern nur an dem Sein, nur die Ordnung einer Natur die fiir fic) vorhanden ift. In der Menfdheit fommen die Gefebe des gefelligen Dafeins durd) die Handlungen der Perfin- lichkeiten zur Verwirklichung und Geltung, fie find die aus dem Innern vieler Wefen iibereinftimmend entwidelte Richtung ihres Wollens; fo find auch die Gefege der Natur nidt fiber den Abgrund dahingejpannt wie ein Nes in weldes das Sein ein- gefangen werden follte, jondern fie drücken die Beziehungen und Verhiltniffe der Weſen zueinander aus, welche der Cine Unendliche alle in fic) hegt und durch feine Gegenwart verbindet. Sede felb- ſtändige Lebenskraft erfiillt die fiir viele gemeinfamen Formen des Denfens oder Wirkens mit ihrem bejondern Inhalt und gewinnt innerhalb der nothwendigen Normen, die fie nicht iiberfdjreiten kann, einen Spielraum originaler und freier Thitigfeit. Go hat jeder Menſch das menſchliche Antlig und dod) fein eigenes Geſicht. Waltete nur ein allgemeines Gefes, fo müßten die Gefidter alle gleid) fein; geftalteten nur Triebfrafte nad) individueller Willfiir ohne die Schranfen allgemeiner Normen, fo wiirde im der bun- teften Mtannidfaltigheit die Cinheit und die Ordming fehlen. Man fann nicht Trauben (ejen von den Dornen, und aus der Cidel fann fein Stamm mit Lindenblittern ermadjen, fie muß budjtige Blatter Hervortreiben, und alle Knospen ftehen bet ihr wie bei jeder Pflanze innerhalb einer Spirallinie die den Zweig umfreift; auf zwei Umläufen diefer Linie ftehen bet der Eiche fiinf Blatter, das fedhste keimt wieder genau iiber demjenigen hervor welded den Ausgangspunkt der Spirale bezeichnet. Dieſes Geſetz der Blattitellung kann der Botanifer angeben, und ich hoffe es als einen Grund fiir die Sdhinheit der Pflanzen fpiter darzulegen; aber wie hod) mun der einzelne Eichbaum wadje, wie viel er von der ihm im der Luft und in der Erde gebotenen Nahrung nad hemifden Bedingungen in fic) aufnehme und umbilde, wie viele und wie groge Blitter an den durd das Geſetz beftimmten Stel- (en er treibe, ob die Spirallinie derfelben mehr zuſammengedrückt oder mehr in die Linge geftredt fein wird, das alles fann nie-

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mand al8 cin Nothwendiges berechnen oder begrifflid) voraus— beftimmen, das hängt aud) nicht blos vom Boden und von der Witterung ab, fondern juerft und zumeiſt von der befondern Natur und individuellen Triebfraft des Lebensfeimes, der ſich zum Baume geftaltet.

Wie der Geift feineswegs ohne Gefek ift, fo ſchlägt die Frei- Heit ihre Wurzeln tief in die Natur Hinein, und nur wenn wir died erfannt haben, wird e8 uné verftindlic) dak das Schone die Brite bauen kann aus dem Reide der Natur in das Reich der Gnade, dak das ſchöne Naturproduct uns wie ein Werk der Frei— Heit und ſelbſtbewußten Weisheit, die ſchöne Kunſtſchöpfung uns wie ein Naturerzeugniß anmuthet.

Das urfpriinglid) und unmittelbare Gewiſſe fiir un8 iſt unfer Selbft, unfer Denker; unſere Empfindungen, die Thatfadjen des Bewußtſeins find das Unbegweifelbare. Ans Empfindungen, die fic) uns aufdringen, die nidt von uns abhängen, ſchließen wir nad) dem Caufalgefes in uns anf wirfende Kräfte auger uns. Anſchauungen und Vorjftellungen, die wir aus unferen Empfin— dungen bilben, verjegen wir aufer uns, die Erfdeinungswelt tragen wir in ung, und ftellen fie als ein Objectives, Gegen- fttindlides dar, indem wir fie von unferer Gubjectivitit unter- ſcheiden. Zu den wirfliden Thatjaden des Bewußtſeins aber gehirt die Freiheit: dak unſer Wille fic) nad) eigener Wahl zwi— jen verfdhiedenen Möglichkeiten entſcheidet, daß er das wählt was ſeinen eigenen Lebensintereſſen gemäß erſcheint; und ebenſo iſt es Thatſache daß wir ſolche Willensacte von Vorgängen unter— ſcheiden bei welchen wir unſern Trieben blindlings folgen oder äußern Eindrücken willenlos nachgeben; wir unterſcheiden was wir im Affect und was wir mit Ueberlegung thun, wir ſagen daß wir dort außer uns waren und hier bei uns ſelbſt ſind. Wir fühlen uns verantwortlich fiir das was wir mit Bewußtſein thun, wir bifligen und misbilligen Handlungen Anderer, weil wir fret find und Andere al8 fret vorausfegen; Naturvorginge, die nad) äußerer Nothwendigkeit erfolgen, zu tadeln oder gu [oben wire abgejdmadt. Wir aber wiffen es aus eigener unmittelbarer Grfahrung daß wir fowol unfern Naturtrieben wie den Lodungen der Außenwelt folgen und widerjtehen fonnen, und wir unter- ſcheiden zwiſchen Gut und Böſe: das alles wire unmöglich, wenn wir uns nidt unferer Freiheit bewukt wiren. Sa wir wiirden gar nidt von Zwang und Nothwendigfeit reden können, wenn

1. Das Sdeale und Reale. 33

wir fie nidt an einem andern unterjdieden. Der Wille aber ift bas Unbejwingbare: meinen Arm fann jemand lähmen, meinen Körper emporheben, aber niemand fann madjen dag id) etwas will oder nidjt will; das ift meine eigene That, meiner Freiheit Zeugniß und Werf. Thatſachen wie dieje halten wir feft, und erklären e8 fiir durchaus unwiſſenſchaftlich, Erlebniſſe, Erfahrungen leugnen zu wollen, weil ſie mit angenommenen Meinungen nicht übereinſtimmen; die Theorie hat ſich nach der Thatſache der Erfahrung zu richten, und kann ſie dieſe nach ihren Voraus— ſetzungen nicht erklären, ſo gilt die Hypotheſe für unzureichend, fie ſcheiter am Widerſpruch der Wirklichkeit. Unmittelbare und unleugbare Wirklichkeit iſt für uns unſer Selbſt und unſer Denken, Empfinden und Wollen.

Freiheit iſt Selbſtbeſtimmung, iſt Entſcheidung des Willens kraft des eigenen Weſens nach ſelbſtgegebenen Geſetzen, indem er von vorgeſtellten Möglichkeiten und Motiven diejenigen wählt die ſeinen Zwecken, ſeiner idealen Natur gemäß erſcheinen. Der Geiſt unterſcheidet ſich von der Natur dadurch daß er weiß was er will, der Wille vom niedern Trieb durch das Licht des Bewußtſeins. Aber die Freiheit iſt ſo wenig wie das Bewußtſein ein ruhiger fertiger Zuſtand, ſondern fortwährende Thätigkeit der Selbſt— erfaſſung und Selbſtbeſtimmung. Das Selbſt iſt nicht von Natur, es muß zu ſich kommen, für ſich werden durch ſich. Ich bin Ich, indem ich mich als ſolches erfaſſe, hervorbringe, ich bin nur frei indem ich mich ſelbſt beſtimme; folge ich machtlos den Eindrücken von außen, ſo bin ich unfrei wie die ſelbſtloſen Dinge; dem Geiſte die Freiheit aber abſprechen, weil ſie ihnen fehlt, das heißt gerade ihm das eigene Weſen entziehen, was ihn von jenen unterſcheidet, durch das er für ſich iſt. Aber der Menſch iſt nicht frei ge— ſchaffen, denn das iſt unmöglich und widerſpricht dem Begriff der Selbſtbeſtimmung; er iſt vielmehr zur Freiheit, zum Selbſt— bewußtſein berufen und er kommt zu ſich durch eigene Willens— that und verwirklicht ſeine Anlagen, erreicht ſeine Beſtimmung durch Selbſtbeſtimmung. Das ſind alles keine beſtreitbaren Theo— rien, ſondern Thatſachen der Erfahrung, Erlebniſſe, wer ſie leugnet der muß bekennen daß er nicht frei, ein bloßes Natur— product ijt. Die Freiheit iſt fortwährende Befreiungsthat, Er— hebung über die eigenen Naturtriebe, über die Einflüſſe der Außen— welt, in die ſelbſtbewußte Innerlichkeit des eigenen Weſens, Be— hauptung deſſelben und Bethätigung der eigenen Kraft: Freiheit

Carriere, Aeſthetit. J. 3. Aufl. 3

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iſt Selbſtherrlichkeit. Iſt doch auch das Leben unſers leiblichen Organismus eine beſtändige Selbſtbehauptung gegen die Einflüſſe der Außenwelt, eine beſtändige Selbſtgeſtaltung mittels ihrer Stoffe und Kräfte! Goethe läßt mit Recht ſeinen Fauſt die Summe des Denkens und Erfahrens ziehen:

Das iſt der Weisheit letzter Schluß: Nur der verdient die Freiheit wie das Leben Der täglich ſie erobern muß.

Darum müſſen wir die Freiheit im Lichte der Entwickelungs— lehre betrachten. Ich verweiſe auf die ausführliche Darſtellung im Buch von der ſittlichen Weltordnung, und faſſe das hier der Aeſthetik Maßgebende kurz zuſammen.

Die Grundlage der Freiheit, die aud) im Reiche der Natur fiegt und alfem Realen zukommt, ift das eigene Können, die Be- thitigung des eigenen Wefens; aud) in der Natur ift nichts blos feidend oder fiir fid) allein thitig, fondern wie das Sein jedes Realen beftimmt ijt durd feine Beziehung ju andern, jo ijt alles Geſchehen Wedjelwirfung; nidt der Gauerftoff oder der Waffer- ftoff, fondern beide zuſammen bilden das Waffer, die eine Rraft erregt die andere zur Bethitigung, jum Zuſammenwirken. Unfer Selbjt, die Seele, fteht durd den Leib in Zufammenhang mit dem Univerfum, die Bewegung der wirfenden Kräfte auger uns trifft den Leib mit naturgefeglider Nothwendigheit, die Erregung, weldje er dadurch erfahrt, wird in unferer Gubjectivitit zur Em— pfindung, und diefe ift unſer Lebensact, nicht auger unferm füh— fenden Selbſt, fondern in ifm vorhanden. Unſer Gefühl jagt uns ob foldje Grregungen unfer eigenes Wefen firdern oder hemmen, ob fie ihm werthvoll find, und dadurd) finnen fie unfer Wolfen veranlajfen fie abguweifen oder zu begehren. Das eine heitliche bleibende Bewußtſein umfaßt die mannidfaltigen Em- pfindungen, ſtellt ſie ſich vor, erinnert ſie, und wie es dieſelben erzeugt, ſo ſind ſie die ſeinen, ſo fühlt und weiß es ſich als Ganzes dem Beſondern gegenüber, und iſt ſeiner ſelbſt wie ſeiner Lebensacte mächtig. Eindrücke der Außenwelt werden ſo Empfin— dungen und Vorſtellungen, und als ſolche Motive, Beweggründe für den Willen; der Geiſt überſchwebt, überſchaut ſie, und wählt zwiſchen ihnen, nach ſeinem eigenen Weſen was ihm zu deſſen Vollendung das Beſte ſcheint. Der negative Begriff der Freiheit iſt der: daß wir nicht zum Wollen gezwungen werden können, der

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pofitive: dag wir uns ſelbſt beftimmen, nidt mit grundlofer Willfiir, das wiire gegen das Canfalgejfeg und fommt in der Innenwelt fo wenig vor wie ein unbedingter Bufall in der Außen— welt, fondern angeregt von den Ginfliiffen der Außenwelt, aber mit Beziehung derfelben auf das eigene Sein, das eigene Wohl, den eigenen Zwed, das eigene höchſte Lebensgeſetz. Das find wieder innere unleugbare Grlebniffe, und fie widerfpreden dem Cauſalgeſetze feinesiwegs, fondern erfüllen daffelbe. Wir find ein- geflodjten in den Weltgujammenhang, aber als felbjtindig mit- thuende Kräfte. In unferer Leiblidfeit erfahren wir die Einwir— fung der Rrafte auger uns mit Naturnothwendigfeit, aber indem wir diefelben in Empfindungen umfegen, Anjdauungen und Vor- ftellungen daraus bilden, verfahren wir mit eigener mafgebender Energie, und indem wir uns felbft im Unterfdied von ihnen er- faffen, fie uns gegeniiberftellen, gum Object machen, hat die dugere Urſache ja ihre Wirkung, und fie hat diejelbe, ob wir uns nun entjdeiden dem Reize der Welt gu folgen oder gu widerftehen, indem unfere raft ju beidem erregt wird; aber diefe Kraft des jelbftbewuften Ganjen ijt als freier Wille ihrer felbjt mächtig und ftellt fic) als das Ganze den bejondern Trieben und Vor— jtellungen gegeniiber und ift damit ftirfer als fie, betradtet fie, iiberlegt weldjem Motive, welder vorfdwebenden Möglichkeit fie jolgen, was fie verwirfliden will, Das fommt allerdings in den jelbftlofen Weſen nicht vor, aber es ijt die Art der fiir fich ſelbſt jeienden, des bewuften Willen’. Das Aeußere, das als Empfin- dung und Vorftellung in den Machtbereich des Innern tritt, hat iiber das Sunere feine jwingende unmittelbare Gewalt, fondern wirft als Reis, als Beweggrund, und unfer Selbſt ijt nicht der Spielball ober Spielraum fiir die äußern Gindriide, fondern fteht ihnen mit eigener Straft gegeniiber, und. gerade weil es viele Triebe, viele Vorftellungen hat, jteht es nicht unter dem Bann der Ginjgelnen, fondern fann als Ganjes fic) allem Beſondern gegeniiber behaupten und fic) fiir cing oder das andere entſcheiden.

Es ijt mit dem Bewußtſein der Wahl wie mit dem Denfen: wer daran zweifelt beweift gerade damit die Wirflidfeit, denn er denft, er ſchickt ſich an zwiſchen BVorftellungen eine Wahl zu treffen. Wäre itberall nur Beftimmtwerden, geſchähe alles nur durch Drud und Stoß von anfen, jo wäre e8 unerklärlich wie ein Gefühl, ein Bewußtſein, ein Wille fic) der Außenwelt gegeniiber- jtellen, in fid) und fiir fich eine Entſcheidung treffen finnte. Wre

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36 I. Die Sdee des Schönen.

fiime der Mechanismus blindwirfender Kräfte dazu ſich die Illu— fion eines anbdern vorjugaufeln, das fic) felbft beftimmt, nad eigener Wahl etwas beſchließt und thut? Wir aber find in unferm Lebensgefiihl uns unmittelbar bewugt dag wir uns als Selbft im Unterſchiede von diejem Mechanismus erfaffen, uns ſeinen An— reizen gegeniiberftellen, und bejtimmen was wir thun oder laſſen wollen. Und wire died nicht der Fall, hitten wir nidt died Hreiheitsgefihl, dies Fretheitsbewuftiein, jo wilrden wir auc) den Begriff der medanifden Nothwendigfeit nicht haben, da wir ihn nur dadurd) gewinnen dak wir ihn im Unterfdiede von Freiheit und Selbjtbeftimmung bilden finnen; er gehirt dem Selbftlofen an, dieje dem Selbjtjeienden.

Indeß die Gegner der Freiheit iibertragen den Mechanismus in die Seele felbft. Sch fehe von dem Materialismus ab,- der einfad) die Thatſache dex Freiheit leugnet, da er fie nicht erfliren fann.

Die Materialiften fehen in ihr nur eine Function des Ge- hirns, das die Empfindungen, Vorftellungen, Entſchlüſſe aus- ſcheiden foll wie die Leber Galle abjondert, oder Hhervorbringen joll, wie die fdjwingenden Gaiten der Aeolsharfe den Ton. Sie iiberfehen dabei eins, dak die Galle etwas Objectives, Taftbares, Empfindungen und Gedanken aber etwas Subjectives find, Lebens- acte eines für fic) feienden Wejens, in feiner Snnerlidfeit, nidt in der Aupenwelt; wir bediirfen zu ihrer Anregung wie zu ihrer Aeußerung allerdings auf unferer gegenwirtigen Entwidelungsftufe des Gehirns, aber fie find fo wenig mit ihm identifd), wie der Klavierſpieler mit den Noten und Tajften; oder fie überſehen daß die Aeolsharfe wol Luftidwingungen hervorruft, diefelben aber erft mittels des Ohrs uns zugeführt und in unferer empfin- dungsfihigen Subjectivitit jum Ton gebildet werden. Mit leeren Behauptungen täuſcht man fic fiber die Kluft Hinweg, und indem man dem Cauſalitätsgeſetz huldigen will, vergift man den wid tigften urſächlichen Factor, die thätige Subjectivitat.

Andere erfennen diefe an, fehen aber in der thitigen SGubjec- tivitit fein beftimmendes Princip, fondern laſſen fie durd) die Vorftellungen beftimmt werden, fiir deren Bewegung fie nur den Raum bieten foll. Hier iiberfieht man daß fie etwas fiir fic ijt, nämlich das die Vorftellungen geftaltende, fie als die feinen wiffende, überſchwebende Weſen, welches fie ebenjo gut willfiirlid) auffudt und verbindet, als es fie in fic) walten läßt, fodag fie aud un-

1. Das Ideale und Reale. 37

geſucht ilber die Schwelle des Bewußtſeins treten. Aus unſern Empfindungen, Gedanfen, Thaten erbanen wir den Organismus unfers geijtigen Lebens; er ijt (ebendig, in beftindiger Bewe- gung der Triebe und Vorftellungen, und wir find eben immer nur Selbjt, bewußter Wille und frei, wenn wir uns dazu madjen, alg Sch erfaffen. Nun fagt man: unter den verfdiedenen Vor- jtellungen, die uns vorjdjweben, werde ftets diejenige gewählt weldje den ſtärkſten Reiz fiir uné hat; fie verdränge die andern, wir fdauen diefem Kampfe ju und jdlagen uns auf die Seite ded Siegers. Aber woranf beruht die größere Stärke der Motive? Darauf dak fie unfern Neigungen entgegenfommen, unjer Leber fordern, uns mehr Luft gewihren als andere. Aber das ſagen nicht die Vorjtellungen aus, fondern dad liegt in unjerm innern Weſen; fie können fid) dod) nicht untereinander vergleiden und beurtheilen, fondern es ijt unfer Selbftbewuftjcin das die Wage halt, auf der es fie abwigt, es ift unſer Selbſtgefühl das ihre Beziehung zu jeinem Wohl beftimmt; der freie Geift ftellt dem Sinnenreiz das Gebot der Pflicht, dem ſelbſtſüchtigen Trieb die Forderung der Vernunft gegeniiber; er empfindet die Qual der Wahl, wenn beide fic) nicht vereinigen laſſen, fondern cine Ent- ſcheidung zwiſchen ihnen getroffen werden mug. Die Lage der Dinge und ihre Reize fiir uns find der Stoff der uns geboten wird, fie fordern die Erwägung, aber vollziehen fie nidt, unfer Selbjt entidetdet ſich für das eine oder andere, und fühlt fid dafür verantwortlid. Wie wire das möglich, wenn e8 blos ju- ſchaute, blos gejogen wiirde? Das Bewußtſein weig von fid und fagt aus daß es Wahl und Entſcheidung vollzieht; fein Selbjt- zeugniß foll man nicht fälſchen, nicht fiir cine Täuſchung ansgeben, jumal dann nidjt, wenn der ganze Bau der fittliden Welt darauf beruht. Das Bewußtſein unferer Wahl und damit unferer Selbjft- beftimmung ift die unleugbare Thatſache der innern Erfahrung, ebenſo unfeugbar als irgendeine ſinnliche Empfindung, ein un- mittelbar Gewifjes. Eine Täuſchung wird erft möglich bet der rage: ob eine Empfindung, cine Lichterſcheinung, cin Schall blos jubjectio ijt, oder ob ihm etwas Objectives entjpridt, ob ein Reales auger uns und was die Empfindung bedingt. Oem Frei- heitsgefühl, dem Bewußtſein der Wahl und Selbftbeftimmung fol aber gar nidjté Aeußeres entipredjen, es ift gar nidjts anderes alg cin Snnewerden des eigenen Weſens, der eigenen Subjectivitit und cin Beleudten ihres Thuns, und das Selbft ijt ja feinem

38 J. Die Idee des Schönen.

Begriffe nach gar nicht anders möglich, es kann nicht anders gedacht werden oder wirklich ſein, denn als ſpontane Thätigkeit, als fiir ſich ſeiende, fic) ſelbſt erfaſſende Subjectivität tm Unter- ſchiede vom Selbſtloſen, blos Objectiven, an ſich Seienden. Das Ich iſt nur Ich, indem es ſich in ſeiner Einheit und Ganzheit von ſeinen Beſtimmtheiten und beſondern Lebensacten unterſcheidet und als den Grund und die Macht derſelben ſetzt; ſo iſt die Freiheit ganz eigentlich das Weſen des Geiſtes. Darum beginnen wir unfrei, als Naturweſen, aber freiheitsfähig, durch eigene Willensthat müſſen wir zu uns ſelbſt kommen, uns von der Außenwelt unterſcheiden und unſere Subjectivität ihr gegenüber— ſtellen. Das können Druck und Stoß von außen nicht leiſten, fie können uns fo wenig jum Selbſt machen wie ein anderer fiir uns denken und fühlen kann. Der Menſch kann unfrei bleiben oder unfrei werden, wenn er ſich blos von außen ſtoßen und treiben läßt, wenn er ſeinen Begierden blindlings folgt, aber er verharrt dann auf der Stufe der Thierheit, er erhebt ſich nicht zum Menſchenthum. Die Seele iſt nicht naturlos, ſondern ſelber Naturkraft, eingegliedert in den Weltzuſammenhang, in das Syſtem der Kräfte, welches das All der Dinge bildet. Sie iſt ein Trieb— weſen, fo hat Fortlage ihren Begriff beſtimmt. Triebkraft ſtrebt und bewegt nach einem Ziel, unſere Triebe entwickeln was in uns liegt, und ſuchen was wir außer uns zu unſerm Leben be— dürfen. Wir wirken ebenſo bedingend auf die Welt ein, als wir durch dieſelbe bedingt ſind. Die Triebe in uns ſind auf die Bedingungen unſers Beſtehens und unſerer Entwickelung gerichtet, damit ſind dieſe in uns ſelbſt angelegt, und ſo werden wir nicht blos von außen angeregt und gezogen, ſondern unſer Weſen iſt zugleich von ſich aus thätig, lebendige Triebkraft, und dies Ver— mögen des Wirkens aus ſich ſelbſt, des ureigenen Könnens, iſt die Grundlage der Freiheit. Kein Organismus der Natur wird von außen zuſammengeſetzt, er entfaltet ſich vielmehr von innen, aus dem Kern ſeiner Individualität, durch eigene Bildungskraft, nach eigenen Bildungsgeſetzen; er ergreift dazu die Kräfte und Stoffe der anorganiſchen Natur, nicht gegen deren Weſen und Geſetz, ſondern ſolchem gemäß, aber ſie für ſich ordnend, formend, verwerthend. Es geſchieht dies noch ohne Bewußtſein, im dunkeln Werdedrang, der dann im entwickelten Organismus ſich ſelber erfaßt, ſich von allem andern unterſcheidend ſeiner bewußt wird und nun ſehend ſein inneres Wirken beleuchtet. Indem die Seele

1. Das Vdeale und Reale. 39

fic) gum Selbjt macht, wird fie diefer Willenthat und damit ihres jpontanen Vermigens inne, gewinnt fie fid) als das Cine, Ganje in und über den befondern Trieben und Reizgen, wird derfelben mächtig und fest fid) als fret. Das Selbjt ijt feine auf- und abwogende, auftaudjende und fic) auflijende Welle im allgemeinen Meere des äußern Seins, ſondern ein Reales, das fic) in feinem Wolfen und Wiffen der Welt gegeniiberftellt, der Welt gu feiner Entwidelung bedarf, aber fic) als felbftthitiges Glied derfelben erweift. Triebe, Neigungen, Begierden walten im Selbft und maden ſeine Naturbeftimmtheit aus, im Bewußtſein aber erhebt es fic) iiber fic und im Willen widerfteht oder folgt es ihnen nad cigenem Sinn; in die Vergangenheit wie in die Zufunft ſchauend erwägt e8 das Gegenwirtige, und bejtimmt fid) gu dem und durd) das was es wählt. Wie das Selbft fic) entſcheidet und was es thut, das fann es nicht wieder ungeſchehen machen, das ijt nun ein Unabdnbderlides, Nothwendiges, aber es ijt der Sreiheit Werk. Durch das Erhalten des einmal Gedadten, Voll- bradten ijt allein da8 geijtige Wadsthum, Fortbilbung und Charafterentwidelung möglich; die Thaten und Gedanfen, durd die der Menſch geworden ijt was er ijt, find nun die Grundlage neuer Willensthatigkeit, und wie fie aud) bedingend einwirken auf die Gegenwart, das Selbft als das Ganje, in die Zukunft Stre- bende iiberjdjwebt fie mit jeiner nod) unenthiillten Schöpferkraft, es muß nidt in ihrer Bahn blindlings weiter gehen, fondern es ijt nur gendthigt das Neue an das Vorhandene anjufniipfen und fo den Weltzuſammenhang aufredjt gu erhalten.

Das Cauſalitätsgeſetz verlangt, dak nidts grundlos geſchieht, daß jedes Ereigniß feine Urſache, jede Urſache ihre Wirfung hat, eine Wirfung die ihrem Weſen gemäß ijt, ſodaß verſchiedene Wir- fungen aud) verfdiedene Urjaden vorausfegen. Wenn nun ein Unterjdied ijt zwiſchen phyfifalifden PBroceffen und menſchlichen Handlungen, gwijden dem Kreislauf der Natur und dem Fort- fdritt der Cultur, der Gejdidte, fo verlangt die Cauſalität daß diefer Unterſchied feinen Grund in verjdiedenen wirfenden Ur— faden habe, fie verlangt neben den blind wirfenden aud) fehende Kräfte, neben den an fic) jeienden Atomen aud) fiir fid) fetende Seelen, neben der Nothwendigfeit des Naturmedanismus and den freien Willen. Das unmittelbar Gewiffe ift unfer eigenes Fürſichſein, aus feinen Empfindungen fdliefen wir nad dem Caufalititsgejes auf wirfende Kräfte außer uns, und aus der

40 L. Die Idee dee Schönen.

Art ihres Wirkens auf den Naturmedanismus. Ce ift fein Wider- jprud) gegen das Cauſalitätsgeſetz daß es neben jenen Natur- kräften, weldje wirfen miiffen wie fie geſtoßen und getrieben werden, aud) folde gibt auf weldje der Stoß von außen juerft und natur- gemäß die Wirkung hat daß fie ihn verinnerliden, in Empfindung auslijen, fic) vorftellen und die Antwort auf den Anſtoß mun bald fo geben daß fie thm folgen, bald jo daß fie ihm fic) wider- ſetzen; beidemale hat die Urjade ihre Wirfung, nur ift das Wie der Wirfung mitbeftimmt durch das Wefen der Kraft, auf welde gewirft wird. Es ift fein Widerfprud) gegen das Cauſalitäts— gejes, dag es Kräfte gibt die den Drang der Bewegung in fid tragen, Kräfte welche anderer Rriifte fic) bemächtigen und mittels derjelben ihre Awede ausfiihren. Die Erfahrung zeigt uns als foldje die Reime der Organismen, fie zeigt uns die felbftfetenden, ſich felbjtbeftimmenden freien Weſen, und das Cauſalgeſetz fordert fie zur Erklärung des Lebens, dex Geijtesentwidelung zur Sitt- lichfcit und in der Geſchichte. Das widerfpride dem Cauſalitäts— geſetz, wenn die fiir fic) fetenden Kräfte mit grundloſer Willfiir handelten, aber das ijt ja nicht der Fall, nod liegt darin der Begriff der Freiheit, vielmehr in der Selbftbeftimmung fraft des eigenen Wefens und nad) den Motiven, dic der Weltzujammen- hang bictet, die aber nad) den eigenen Lebensintereffen erwogen und erwählt werden. Den feelenhaften Kräften wohnt mit dem Trieb der CEntwidelung, der Selbftgeftaltung aud) deffen Ziel und Bildungsgefets cin; fie entfalten und beftimmen ſich in Wechſel— beziehung mit andern Kräften, mit andern Wejen; ſodaß die Mög— lichfetten deffen was fie wihlen und wollen im Weltzuſammenhange bedingt find, ſodaß fie nad) den Umftinden, nach dem Vorhandenen ſich richten müſſen. In ihren Entſchlüſſen, in ihrer Gefinnung, in ihrer Innerlichkeit ſind ſie frei, die Ausführung ihres Willens iſt an die Naturgeſetze gebunden, und ſo entſteht keine Verwirrung in der Welt, da ſtets nur dasjenige verwirklicht werden kann wofiir dic Bedingungen vorhanden find, was der Naturverlanf in fid) aufzunehmen bereit iſt. Wir bebdiirfen des Naturmedanis- mus und feiner unverbrüchlichen Caufalitit um ausfiihren ju féunen was wir in unferer Selbftbeftimmung gedadt und uns jum Ziel gejest, er iſt das Dtittel fiir die Verwirflidung aud des idealen Lebens und jeiner Giiter, aber weder Inhalt nod Grund diefed Lebens,

Bliden wir hin auf zwei Dichterworte die das Nothwendige

1. Das Ideale und Reale. 41

als Maturgrund und als das Gewordene in der Entwidelung der Freiheit bezeichnen. Goethe fagt in den Orphifden Urworten:

Wie an dem Tag der did) der Welt verliehen Die Sonne ftand gum Grufe der Planeten, Bift alfobalb und fort und fort gediehen

Rad dem Geſetz nad) dem du angetreten.

So muft du fein, dir fannft du nicht entflichen, So fagten ſchon Sibyllen, fo Propheten;

Und feine Zeit und keine Macht zerſtückelt Gepragte Form, die lebend fic) entwictelt.

Schiller ſagt im Wallenftein:

Des Menſchen Thaten und Gedanken, wift, Sind nidjt wie Meeres leicht bewegte Wellen; Die inn're Welt, fein Mikrokosmos, ift

Der tiefe Schacht aus dem fie ewig quellen; Sie find nothwendig wie dee Baumes Frudjt, Die fann dev Zufall gaukelnd nidt verwandeln; Hab’ id) de® Menfden Kern erft unterfudt,

Go hab’ id) auch jein Wollen und fein Handeln.

Was der Menſch aus fic) madt das ift und bleibt bedingt purd) feine Naturanlage wie durd) den Weltzgujammenhang, in weldjen er durch ſeine Geburt eingegliedert ijt; beides ift bie Gabe, die zu entwideln und ju geftalten ſeines Yebens Wufgabe aus- macht, und died ijt der Freiheit Werk. Bm Laufe des Lebens jind die bejondern Wirkungen von ſeinem Charafter und von all dem bedingt was er bereits gethan hat; aber in der Cinheit und Gangheit ſeines Wejens überſchaut und beherrjdt er alles Be- jondere und ridtet fic) nad) dem jelbftgefebten Biel feiner in die Zukunft blidenden Selbftbeftimmung.

Grundlofe Willkür gibt es fo wenig im Geift wie Zufall in der Natur, wenn man darunter etwas in ihrer Orduung nidt Bedingtes, nidt Geſetzmäßiges verjteht. Aber zufällig mögen wir immerhin dagjenige nennen was uns zufällt ohne daß es von uns erftrebt, oder pon andern in Bezug auf uns beabjidtigt war. Wenn ic) ausgehe um jemand an einem beftimmten Orte ju bejtimmter Zeit gemäß unjerer Verabredung ju treffen, fo nennen wir unjere Begegnung feinen Zufall; aber wir thun es, wenn jeder von beiden in feinem Beruf oder nad) feinem Eutſchluſſe einen Weg madt, und beide Wege an einer Stelle ſich freuzen. Hier war die Begegnung durch den Willen und das Biel und

42 I, Die Idee des Schöuen.

die Art der Bewegung bedingt, aber von feinem beabfichtigt; fie ergab fic) ohne dag einer von beiden daran gedadt. Dies Un- vermuthete, Ungeſuchte in dem durd) die Triebfrifte und ihre Geſetze verurfadten Gange der mannidfaltigen Lebensbewegungen in ihren Wedfelbeziehungen nennen wir das Zufällige tm Unter- ſchied von dem Bezweckten, Beabfidtigten. Dabei find die Natur- forjder beredhtigt gu fagen dag alles im Weltzufammenhange urſachlich begründet, der Zufall nur cin Bekenntniß menſchlicher Unwiſſenheit ſei und in der Wirklichkeit nicht vorkomme, nämlich der Zufall im Sinne eines naturgeſetzlich nicht Bedingten. Und daß auch in der Geſchichte das was ſich unbeabſichtigt begibt doch vom innenwaltenden Weltgeiſt vorgeſehen und verliehen ſein könne, hat Leſſing bekannt, wenn er in der Emilia Galotti wie von einer religiöſen Wahrheit überwältigt aus tiefſter Ueberzeugung ausruft: „Es gibt keinen Zufall, Zufall wäre Gottesläſterung!“ Ganz ähnlich läßt Schiller ſeinen Wallenſtein als eine Natur von geiſtiger Tiefe äußern: Es gibt keinen Zufall; Denn was euch blindes Ohngefähr erſcheint Gerade das ſteigt aus den tiefſten Quellen.

Marquis Poſa nennt es im erſten Augenblick einen Zufall daß König Philipp gerade ihn zu ſich beſcheide, fügt aber ſelbſt weiſe hinzu:

Zufall? Was Iſt Zufall anders als der rohe Stein, Der Leben annimmt unter Bildners Hand? Den Zufall gibt die Vorſehung, zum Brwede Muh ihn der Menſch geftalten.

Wir werden ſpäter betradjten wie auf dem Unterfdied der Thaten von Creigniffen der Unterfdied von Drama und Epos berubt: der Dramatiker fdildert dic Begebenheiten der Geſchichte wie fie aus dem Willen des Menſchen folgen und beabfidtigt find, der Gpifer betont da8 was die Cinjelnen im breiten Strom der Welt erleben ohne dak fie oder andere das erftrebt ober er- zielt. Ariſtoteles ſagt: daß es in der Kunſt mehr Bewunderung erregt, wenn die Handlungen einander bedingen als wenn ſie zu— fällig erſcheinen; und das Zufällige wird bewundernswürdiger, wenn es in innern Zuſammenhang mit der Sache tritt, wie die Bildſäule des Mitys in Argos umſtürzte als der Mörder des Mitys fie betrachtete, und den Mörder erſchlug.

1. Das Adeale und Reale. 43

Dieſe Crorterungen find nidt blos fiir das Verſtändniß der Wirklichkeit bedeutſam, fie erfdjeinen mir and widtig fiir die ajthetifde Wiirdigung von Kunftwerfen, zumal in neuerer eit fic) ſchwächere Geifter gern ein Anfehen von Macht und Weisheit geben, indem fie einfeitige, halbwahre philofophifde Theorien ihren Werfen zu Grunde legen.

Sreiheit ale Selbftbeftimmung ermiglidt allein die Verwirk— lidung de8 Guten. Pflichtgefühl, Gewiffen, Verantwortlidfeit fiir unfere Handlungen, diefe unleugbaren Thatfaden der innern Erfahrung wären undenfbar und finnlos ohne die Freiheit des Willens. Das fittlic) Gute liegt nicht in dem Bereich der felbjt- fojen Kräfte und ihrer nothwendigen Bejiehungen; die Sterne die ohne zu irren ihre gefeglide Bahnen gehen, dic Blumen die ſich zur Schinheit abſichtslos entfalten, fie thun das Vernunft- gemäße und Redjte, indem fie nidjt anders können; ihr Leuchten und Blühen ift verdienftlos, ift nidjt der Freiheit Werf. Wir aber fiillen moralijde Urtheile, rechnen unfere Handlungen uns gu, tadeln den Menſchen der feinen Trieben oder den Einwir— fungen der Außenwelt blindlings folgt oder um finnlider Bor- theile willen feine Ueberjzeugung verleugnet, und preijen den Edel— muth welder ivdifde und felbftijde Intereffen idealen Giitern jum Opfer bringt. Das ijt nur möglich, nur verftindig unter Bor- ausſetzung der Freiheit. Wber fie ift fein fertiger Zuſtand; Frei- heit ift Gelbftbefreiung, mit diefem Wort hab’ id) den Begriff der Entwidelung in ifre Betradtung cingefithrt; das foll uns weiter leiten.

Wir find und müſſen dafein, Natur jein um durch eigene Willensthat fiir uns felbft, Geift ju werden. Das Gefeg des Geiſtes fann aber nicht mit gwingender Gewalt befleidet fein wie bas der Natur, fondern es mug ihm gegeniiber innerlid) ein Andersfonnen miglid fein, weil nur fo das Gute verwirflidt werden fann, da es feinem Begriffe nad) felbftgewollte Gefeges- erfiillung ijt. Das fittliche Gebot ift fein Müſſen, fondern ein Gollen: dies hat nur Sinn fiir frete Wefen. Wie der leiblide, jo bedarf auch der geiſtige Organismus jeiner Bildungsnormen, der fogifden und ethijden Rategorien, die er als Ridt- und Gefidtspuntte feiner Thatigtcit in den Unterſcheidungen von Falſch und Wahr, von Redt und Unredt in ſich triigt und denfend und handelnd fic) jum Bewußtſein bringt. Wie der leibliche Lebens- feim die Anlage des fiinftigen Organismus enthilt und fid gu

44 I, Die Idee des Schinen.

demfelben entfaltet und gejftaltet, jo ift aud) dem geiftigen fein Ideal cingeboren, und er fann fic) nur bewußt werden wie er in der Entwidelung begriffen ijt, wenn mit dem gegenwartigen Zu— jtand aud) das Riel dejfelben dem Bewußtſein aufgeht, das Voll- fommene das er durd) eigene That erveicjen foll, indem er ed denfend erfaft und fic) zum Zwecke ſeines Lebens ſetzt. Go nur kann Selbftvervollfommnung jeine Aufgabe fein. Indem er die Lebensvollendung, da8 Seinfollende, als feine Beftimmung erfennt und will, gibt er fic) felber das Geſetz und ift frei in deffen Er— fiillung. Gr fann fic) ihm verjagen, dann aber erfährt er im Selbftgefihl den Schmerz des Ungeniigens am eigenen Wefen, der Verirrung oder Verkümmerung feiner idcalen Natur, während an da8 Vollbringen des Guten fein Heil gekniipft ijt, gefniipft fein muß, wenn Glückſeligkeit das Wohlgefühl gelingender Thatig- feit und erlangter Lebensharmonie genannt wird. Wir erfaffen uns felbft und jugleid) als Glieder cines Ganjen, und indem diejes in uns lebt vermag Liebe die Selbftjudt gu überwinden; die Liebe trigt die Befeligung in fidh. Go muß es vernunft- nothwendig fein, wenn die Freiheit und das Gute wirklich werden jollen, und daß es in der That fo ift das erfaft das fittliche Selbſtbewußtſein als Thatſache feiner Erfahrung, als Erlebnif. Dies in fic) gegliederte Ganje von Beftimmungen hab’ id als jittliche Weltordnung bezeichnet, und in einem fiir meine Philo- jophie grundlegenden Werke dargeftellt.

Der Verniinftige will was er foll, weil ev fieht dak es das Befte ijt; fo wird es fiir ihn gu fittlidher Nothwendigkett, dod diefe ift der Freiheit Werf. Das Sittengefes iſt das Selbjt- bewußtſein des Vernunjtwillens; der fategorijde Smperativ der rückſichtsloſen Pflichterfüllung, dies Sollen fiir den Giunenmenfden ift das Wollen des Geiſtmenſchen. In diefem Sinn ſchrieb Schiller einmal: „Jeder individuelle Menſch trigt der Anlage und Be- ftimmung nad) einen idealen Menſchen in fich, mit deffen unver- änderlicher Cinheit in allen Abwechſelungen übereinzuſtimmen die große Aufgabe ſeines Dafeins iſt. Der Menſch in der Zeit ſoll ſich zum Menſchen in der Idee veredeln.“ Bn dieſer Selbſt— herrlichkeit, daß der Wille das Geſetz nicht von außen empfängt, ſondern es in ſich ſelber findet, es ſich ſelber gibt, vollendet ſich der Begriff der Freiheit. Würde ihm das Sittengebot von außen auferlegt, ſo wäre er an ein Fremdes gebunden und in der Er— füllung nicht bei ſich ſelbſt. So aber trägt er es in ſich kraft

1, Das Ideale und Reale. 45

jeines Lebens im Unendlichen, in der Liebe Gottes, bringt es fid jum Bewußtſein und fegt ed ſich felber als Riel feines Strebens und Norm feiner Thitigfeit.

Sn den Briefen an Körner hat Shiller den untrennbaren Rujammenhang von Sdinheit und Freiheit hervorgehoben. Die reine Selbſtbeſtimmung, welche die praftifde Vernunft fordert, ſchauen wir in ſchönen Formen an: „Schönheit ift nidts anderes als Freiheit in der Erjdeinung. Es ift gewiß von einem fterbliden Menſchen fein größeres Wort nod) geſprochen worden als diefes Kantiſche, das zugleich der Snhalt feiner ganzen Philojophie ijt: Beftimme dich aus dir felbft! fowie in der theoretifden Philo— jophie: Die Natur fteht unter dem Verſtandesgeſetze. Diefe große Sdee der Selbjtbejtimmung ftrahlt uns aus gewiffen Er- jHeinungen der Natur zurück, und diefe nennen wir Schönheit. Diejenige Form der Sinnenwelt, die blos durd) fich felbjt beftimmt erſcheint, ijt eine Darftellung der Freiheit. Das ſchöne Product darf und muß fogar regelmäßig fein, aber es muß regelfrei er- ſcheinen. Cine Form erjdeint fret, fobald wir den Grund der- jelben webder auger ifr finden, nod) auger ihr gu ſuchen veranlaßt werden; ſchön heißt aljo cine Form die fich felbft erklärt.“ Das will jagen: die uns die Kraft und das Wejen veranjdaulidt welde fid) in ihr auspriigen, die bem Stoff nicht von außen anf- gedrungen ward, die er ſich jelber anorganifirt. Es geniigt dad nod) nidjt; die gefallenden Formverhältniſſe müſſen dabei fein, das was Sdiller oben Regelmäßigkeit nannte, aber von innen bedingt, nidt als Sdablone. Wer nur ein Baumblatt anfieht, äußert Schiller felbjt, dem drängt fic) alsbald die Unmiglidfeit auf, daß ſich da8 Mtannidfaltige an demjelben von ohngefähr und ohne alle Regel fo habe ordnen finnen; wir haben alfo un- mittelbar eine Geftaltungsfraft vor Augen die cin Bildungsgejes erfüllt, aber mit originalem Triebe, denn feine zwei Baumbliitter jindD einanbder gleich, und fo offenbart ſich das Freie innerhalb allgemeiner Ordnung und eigenthiimlider Gejegerfiillung.

Der Didter „der da8 Evangelium der Freiheit predigte’ ruft aus dem Munde feines Pofa nidt blos dem König Philipp ju, jondern allen denen die nur die Herrſchaft der Nothwendigfeit und ihren Despotismus in allem Leben erblicen:

Sehen Sie fid) um In Gottes Herelicher Natur: auf Freiheit Sft fie gegründet und wie reid) ift fie

46 I. Die Idee des Schönen.

Durd) Freiheit! Gr, der große Schöpfer, wirft In einen Tropfen Thau den Wurm und lift Mod) in den todter Räumen der Verivefung Die Willkür ſich ergötzen. Ihre Sdipfung, Wie eng und arm!

Er, der Freiheit Entzückende Erſcheinung nicht zu ſtören, Er läßt der Uebel grauenvolles Heer In ſeinem Weltall lieber toben, ihn, Den Künſtler wird man nicht gewähr, beſcheiden Verhüllt er ſich in ewige Geſetze; Die ſieht der Freigeiſt, dod) nicht ihn. Wogu Ein Gott? ſagt er; die Welt iſt ſich genug. Und keines Chriſten Andacht hat ihn mehr Als dieſes Freigeiſts Läſterung geprieſen.

Eine individuelle Triebkraft und deren eigenartige Verwirk— lichung hat auch J. H. Fichte in allen Dingen anerkannt. Er ſagt in ſeiner Ethik: „Es gibt an ſich weder Zufall noch grund— loſe Willkür, wohl aber in jedem realen Weſen eine Innerlichkeit der Selbſtbeſtimmung, welche zugleich das von außen Unberechen— bare iſt. Davon trägt doch jedes Weltweſen das eigene Gepräge; keins iſt bloßer Ausdruck der Regel und des Geſetzes, ſondern ein individualiſirender Ueberfluß, eine niemals in bloßer Rationa— lität aufzulöſende Eigenheit überſchreitet die an ſich ſcharfgezogene Grenze ſeines Begriffs, und befreit die Schöpfung von aller Monotonie und abftracter Regelmäßigkeit.“ Be höher wir in die Reihe der organifden Weſen auffteigen von der Pflanze gu den Thieren gum Menfden, defto beftimmter tritt die Individualität innerhalb der Gattung, treten in der Bndividualitit die ihr eigenen Bewegungen und Lebensiugerungen hervor.

Gerade wie die Freiheit wächſt die Schinheit der Weltwefen, und in der Ordnung der Künſte gehen wir von derjenigen in welder jumeijt dag MNothwendige waltet, von der Ardhiteftur, voran zu immer grégerer Sndividualitit und Freiheit in Bezug auf den Stoff wie den formenden Geift bis zur Poefie, deren Gipfel, das Drama, geradezu die Darftellung der ſelbſtbewußten That, die Herleitung ded Aeußerlichen und Schidjalvollen aus der ſich ſelbſtbeſtimmenden Perſönlichkeit iſt. Unſerm äſthetiſchen Ge- fühl widerſtrebt ebenſo die geſetzloſe Willkür, die nur eine be— ängſtigende oder abſtoßende Verwirrung ſtiftet und als die Zer— ſtörung und Auflöſung der Weltordnung erſcheint, als andererſeits

1, Das Jdeale und Reale. 47

das Leben unter dem Zwang einer mathematijden Nothwendigfeit erftarrt und das blos Regelrechte fteif und langweilig wird. Wie die Natur dafiir geforgt Hat dak nidjt allen Bäumen eine Rinde wachje, jo mug aud) die Kunſt jene falſche Correctheit meiden, die ein paar ärmliche Regeln allen und jeden Werken aufprägen möchte. Dag die Figuren eines Bildes fehlerlos gezeidnet, die Proportionen und die Perjpective gewahrt, dak die Verje eines Gedichts wohlgebaut find, verfteht fid) von felbft; aber ju ver- {angen daß ftets in jeder einzelnen Verszeile der Gedanfe ſich jertig ausfprede, und niemalé in der Mitte oder am Ende ab- bredje und dann der neue Gedanfe fid) in einen neuen Vers aus dem vorhergehenden hiniiberftrede, oder auf cinem Gemälde die- jelbe Zahl von Figuren auf der rechten und anf der linken Seite in ſymmetriſcher Stellung aud) da ju fordern wo da8 Getiimmel der Schladjt oder der Feftjubel des Volks dargeftellt werden foll, das find thiridjte Vorſchriften und thivicht ift der Dichter oder Maler zu nennen der ihnen nachkommt. Mit Redt riigt Macaulay den Unverftand einem Shafefpeare die Correctheit abzuſprechen, da er feinen ear, Othello, Macbeth mit fo bewundernswiirdiger Maturwahrheit gezeichnet, ohne irgend die Gejege der Runft ju verlegen, die Linie der Schinheit ju überſchreiten, während Pope fiir bejonders correct gelte, der allerhand ceremoniöſe Obſervanzen mitmadje, die gum Wefen der Poefie wie der gejdilderten Dinge gar nicht gehiren. Man tadelt Milton wegen gehäufter Gleich— niffe im erften Bud) des Verlorenen Paradiefes, weil der erfte Gejang der Blias feine habe! Es ijt al8 ab man verlangen wollte dag in jeder Tragödie nicht mehr und nicht weniger als fiebjehu (oder die ominifen dreizehn!) Perjonen auftreten follten, oder daß jedesmal der einunddreifigite Vers zwei Silben mehr haben müſſe als die andern; und wenn wir folde Normen auf— ftellen, werden die als correct gepriefenen glatten und duperlid regelredten Poeten fo uncorrect erfdeinen wie die genialen grofen Didter nad dem Kanon den man von jenen fiir fie abftrabirt hat. Sene Correctheit, die man vor hundert Sahren pries, gleidt den Bildern vom Garten Cden in alten Bibeln. Wir haben ein genaues Quadrat, eingeſchloſſen durch die vier Fliiffe Pijon, Gihon, Hiddefel und Euphrat, jeder mit einer Brücke in der Mitte, redt- winkelige Blumenbeete, und in der Mitte des Ganjen den regel- mäßig bejdnittenen Baum der Grfenntnig, den Mann ihm zur Redhten, das Weib zur Linfen, und in reingezogenem Kreis die

48 I. Die Idee des Schönen.

Thiere ringsherum. Bn einem Sinn ijt das Bild correct genug, die Vierede nämlich find es, der Kreis und die Spirallinie der Schlange. Aber wenn nun ein Maler fo begabt wire, dak er auf die Leinwand uns hinzaubern könnte dies glorreide Paradies, das mit dem innern Auge der Dichter jah, der das äußere Ge- fidjt durch langes Wachen und Arbeiten fiir Freiheit und Wabhr- Heit verforen hatte, wenn ein Maler uns die Wellen des Himmel: blauen Bachs darftellte, den See mit feiner Umkränzung von Myrten, die blumigen Wiefen, die Grotten umranft von Reben, die Wilder mit den glänzenden Friidten HeSperiens und dem bunten Gefieder der Vögel, den fiihlen Schatten unter der Hoch— zeitslaube, die anf die ſchlafenden Liebenden Rojen niederfenft, was wiirden wir von der Kennermiene halten, welde uns ver: fidern wollte dies Bild wire zwar ſchöner, dod) nidjt jo correct wie jenes in der alten Bibel? Wir würden ifm ſagen: e8 ijt ſchöner und correcter, ſchöner weil correcter, indem e8 die ju ſchildernde Sache ihrem Weſen gemäß darftellt.

Darum aber muften wir erft das Wejen der Welt felbft als Freiheit zu erfennen und darzuthun juden, Gefes und Nothwen- digheit alé Werk und Bedingung de8 freien Lebens und feiner Verwirklidung begreifen, um im Schönen die BVollendung der Matur, die unmittelbare Anfdaunng und den Genug der Wahr- heit, die reine Bliite der Wirklichfeit und ihre Verflirung, das heift ihr Wejen in unverfdleierter Rlarheit zu gewinnen. Denn das Shine entfteht im freien Spiel mannidfaltiger Kräfte, die fic) felbftindig von innen entfalten, und das allgemeine Geſetz nidjt aufheben, jondern vielmehr fegen, unter wedjelnden äußern Bedingungen e8 auf eine eigenthiimlice Weiſe erfiillen, welche darum nicht logiſch erjdjloffen, fondern nur erfahren werden fann. Statt der Monotonie einer und derjelben Regel fehen wir in den ſchönen Gegenftinden und Werken iiberall das Individuelle, weldes jeine Sunerlicdfeit entfaltet, und dieje ijt iberall neu und etwas fiir fid), das ans dem auger ihm Borhandenen nidt berechnet werden fann. Sm Bujammenhang des Ganjen ift auf jedes bejondere Ding mitgeredjnet, und die Menſchheit war vorbereitet auf einen Alexander oder Columbus; aber die Cigenart ihrer Per- jinlichfeit bradjten fie al8 etwas Neues Hingu, und das Wie ihrer Thaten war nicht aus der allgemeinen Weltlage zu conjtruiven. Gegen die Anſicht, welde die Schinheit in rationalen oder ver- ftandesmigig beftimmten Maßverhältniſſen ſuchte und ihren Begriff

1, Das Ideale und Reale. 49

damit ju erſchöpfen meinte, hat Weiße vielmehr die Srrationalitit der Schinheitslinie betont, ähnlich wie Fidte von einem Ueber— ſchuß de8 Perſönlichen und Freien über das geſetzlich Beſtimmte redet. Allein das Irrationale und Ungeſetzliche iſt niemals das Schöne, ſondern was mit der Vernunft und der göttlichen Ord— nung der Dinge nicht übereinſtimmt, das Unvernünftige, iſt das Unfreie und Unſchöne; es müßte auch unſerer Vernunft wider— ſprechen. Hier ſcheint mir bei beiden Philoſophen der letzte Reſt eines Dualismus zu liegen, den meine obige Entwickelung über— wunden hat. Nicht als „ein beiherſpielendes Element“ erkannten wir das Individuelle, ſondern als das Urſprüngliche; nicht ein für ſich fertiges Gewebe von Formen war uns das Geſetz, in deſſen Fadenkreuze die Realität der Dinge eingefangen würde, um allen— falls innerhalb derſelben einigen Spielraum zu haben, ſondern durch die Verwirklichung des ewigen Willens wurden in der Ent— faltung des Weſens zum Leben die Weiſen ſeines Seins und Werdens ſelber geſetzt. Als ſchön betrachten wir nun dasjenige wodurch dieſer Begriff uns zur Anſchauung kommt, alſo das Eigenthümliche und ſelbſtändig Lebendige, welches dieſe gottgewollte Weiſe des Seins und Wirkens nicht wie ein ihm von außen Auf— erlegtes, ſondern wie ein von innen Selbſtbeſtimmtes befolgt, und dadurch nicht unter dem Bann und Zwang einer Nothwendigkeit, ſondern als die Entfaltung und Geſtaltung originaler freier Trieb— kraft erſcheint. Nach der andern Anſicht hätte die Herrſchaft der Vernunft und des Geſetzes ihre Lücken, und das geſetz- und ver— nunftloſe Spiel des Lebens innerhalb derſelben, nicht die Ordnung der Natur und der ſittlichen Welt offenbarte die Unendlichleit und Herrlichkeit des göttlichen Seins und Wirkens, begründete die Schönheit. Aber ſie kommt nicht um das Geſetz aufzulöſen, ſon— dern zu erfüllen. Darum bewundern wir mit Otto Jahn in Bach und Händel die Kraft und Tiefe ihrer künſtleriſchen Natur und Bildung, vermöge welcher ſie die Fuge, dieſe ſtrengſte, ſcheinbar bis zur Starrheit abgeſchloſſene Form der Darſtellung als die naturgemäße und durchaus entſprechende Ausdrucksweiſe ihres muſi— kaliſchen Denkens und Empfindens ergriffen, in ihr mit vollkomme— ner Freiheit und Wahrheit ihr innerſtes Weſen ausſprachen, und fo den ftaunenswerthen Reichthum contrapunftlider Combinationen nidt als ein Spiel unfruchtbarer Speculationen oder als todte Er— füllung des Geſetzes verbraudjten, fondern als unerſchöpfliche Fund- grube wahrhaft genialer Productionsfraft in fteter Bereitſchaft hielten. Carriere, Mefthetif. J. 3. Aufl. 4

50 I. Die Idee des Schönen.

Man fann allerdings die Sdhwingungsjahlen einer Melodie berechnen und das Verhältniß beftimmen, in weldem die Tine derjelben zueinander ftehen, aber erft nachdem die Melodie als Ausdrud des geiftigen Gefühls von der Phantafie geboren ift; feineswegs aber finnte man aus dem Verhältniß der erften Noten den Fortgang mit mathematijder Nothwendigkeit vorherbeftimmen und jenes Verhältniß felbft durch Rechnung erfinden und urfpriing- lid) begriinden. Man kann die einzelnen Theile cines Ooms meffen und ihre Größe in der Beziehung gum Ganjen beftimmen; dieſe Verftandesthitigheit ijt aber ftets eine nachtriglide, die den Gegen- ftand der Grfahrung vorausfegt; aus mathematijden Lehrſätzen, durd) bloße Geometrie aber wird fein ſchönes Bauwerf conftruirt, Ja der Baumeijfter de8 Parthenon Hat iiberall die wagered)t gerade Linie in der Mitte fic) etwas aufſchwingen und runden [affen, iiberall die Säulenſchäfte bet Leifer Schwellung in der Mitte und Verjiingung nad) oben zugleich etwas ſchräg einem gemeinfamen Mittelpuntt zugeneigt auffteigen laſſen, und fo hat er den Gin- drud organijden Lebens im ftarren Steine felbft ergielt. Hogarth, der die Wellenlinie als die der Schinheit bezeichnete, that es in der Einſicht von der Verſchmelzung individueller Freiheit mit dem Gefes. Gr fand den Grund der Schönheit in der Durch— dringung von Ginheit und Mannidfaltigfeit, und wenn dies aud nod) nidt alles fagt, fo muß e8 dod) fiir cine Beftimmung gelten die nirgends im Schönen fehlen fann. In dem Wechſel der Wellen- linie zeigt fic) ein Gefeg, aber daffelbe überwältigt nidt zu gleid- mäßigem Beharren, fondern in den fortjdreitenden Hebungen und Senfungen, dem bald fteileren bald janfteren Auf- und Abſchwung zeigt fic) der unerſchöpfliche Reichthum innerer Geftaltungsfraft. Von Wellenlinien wird darum der menſchliche Körper umſchrieben, in Wellenlinien bewegt fid) alles Lebendige, und das Geradlinige und Symmetriſche ift nur infofern berechtigt, als es den Begriff der Ginheit erwedt ohne den der Dtannidfaltigheit aufzuheben. Bei dem Kreiſe, bei der Parabel ändert die Linie beftindig ihre Ridtung, aber cin Theil der Curve beftimmt das Ganje; die Wellenlinie gibt der Individualität freiere Bewegung, und geftattet ihe die Möglichkeit reidjen Wechſels in Hohe und Tiefe, in Aus- breitung und Zuſammendrängung.

Man hat die beftimmten Maßverhältniſſe, weldje die Indivi— dualitit nicht überſchreiten darf, wenn fie ſchön bleiben will, als Ranon bezeichnet und danad) Normalgeftalten entworfen. Aber

1. Das Ideale und Reale. 51

man findet fie gleid) den abftracten Verftandesbegriffen durd) Hin- weglaffen des Charalteriftifden im Befondern, und damit werden fie (cer. Es ift alg ob man die Linge, Breite, Dice von hundert Menſchen, Najen, Bäumen nehmen, zuſammenzählen und durd Divifion eine mittlere Gréfe gewinnen wollte, ein Verfahren das fiir den Riinftler ebenfo zweckmäßig fein würde als der Gifer jenes Smmermann’fden Hollinders, täglich genau die Minute aufzu- jdjreiben, in welder an feinem Landgut das Marktſchiff voriiber- fur, um deffen mittlere Anfunftszeit danad) fiir die eingelnen Monate zu beftimmen. And) Kant redet in der Kritik der Ur- theilskraft (§. 17) davon dag unfere Cinbildungstraft ein Bild gleichſam auf das andere fallen laſſe, und durd) Congruen3 der mehrern von derfelben Art ein Mittleres herauszubekommen wiffe, weldes allen gum gemeinfdaftliden Mae dient. ,,Semand hat taufend erwadjfene MannSperjonen gefehen. Will ev nun iiber die vergleichungsweiſe gu ſchätzende Normalgröße urtheilen, fo läßt die Einbildungskraft eine große Bahl der Bilder oder alle auf— einanderfallen, und wenn es mir erlaubt ift hierbet die Ana— fogie der optifdjen Darſtellung anzuwenden der Raum wo die meiften fid) vereinigen, und innerhalb des Umriſſes wo der Plat mit der am ftirfften aufgetragenen Farbe illuminirt ijt, da wird die mittlere Größe fenntlicd), die fowol der Hohe als Breite nad) von den äußerſten Grenzen der größten und kleinſten Staturen gleichweit entfernt ijt, und dies ift die Statur fiir einen ſchönen Mann.” Aber Kant evinnert fich jelbft daran daß auf foldje Weije das Sdeal nist gewounen, nur die Charakterloſigkeit erreidt werden fann. Gine fo gewonnene Geftalt, fagt er ſpäter felbft, ift feinesiwegs das Urbild der Schönheit, jondern nur die Form welde die unnadlaplide Bedingung aller Schönheit ausmacht, mithin blos die Ridtigfeit in Darjtellung der Gattung. Sie fann aber darum nidts ſpecifiſch Charafteriftijdes enthalten; ihre Darftellung gefallt aud) nicht durch Sdhinheit, jondern nur weil jie feiner Bedingung widerſpricht, unter der allein ein Ding dtejer Gattung ſchön fein fann. Die Darftellung ijt blos ſchulgerecht. Man wird finden, fest Kant weiter hinzu, daz ein vollfommen regelmäßiges Geficht gemeiniglich nidjts fagt. Auch zeigt die Gr- fahrung, dag derartige Gefidter im Innern gemeiniglid) ebenjo wolf einen nur mittelmäßigen Menſchen verrathen, vermuthlich (went angenommen werden darf daß die Natur im Weufern die Proportion des Innern ausdrücke) deswegen, weil wenn feine von 4*

52 J. Die Idee des Schönen.

den Gemüthsanlagen über diejenige Proportion hervorſtechend iſt, die erfordert wird blos einen fehlerfreien Menſchen auszumachen, nichts von dem was man Genie nennt erwartet werden darf, in welchem die Natur von ihren gewöhnlichen Verhältniſſen der Ge— müthskräfte zum Vortheil einer einzigen abzugehen ſcheint.

Die Normalgeſtalt alſo, die des perſönlichen Lebens entbehrt, die nicht das ſelbſtgeſetzte Maß individueller Bildungskraft iſt, wird ausdruckslos und langweilig, wenn fie mehr fein will als eine allgemeine Grundlage fiir das Bejondere und feiner Entfal- tung. Einem Sahrhundert indeß weldhes fic) in der iibertriebenen Betonung des Mannidfaltigen, in der anfprudjsvollen Hervor- hebung jedes Befondern und dadurd Abſonderlichen gefallen hatte und damit in ein Wohlgefallen am Ueberladenen und Manierirten Hhineingerathen war, ftellte Windelmann mit Recht die Cinfalt, Stille und Ruhe dev antiken Marmorwerfe entgegen, und fprad) jogar von einer Unbezeichnung als einer Eigenſchaft hoher Schön— Heit, die aus dem Begriffe der Einheit folge; er redet von einer idealen Geftalt, die weder Ddiefer nod) jener beftimmten Perſon eigen fet, nod irgendeinen Zuſtand de8 Gemüthes oder cine Empfindung der Leidenfdjaft ausdriide, als welde frembde Züge in die Schinheit mifden und die Cinheit unterbreden. „Nach dieſem Begriffe foll die Schinheit fein wie das vollfommenfte Waffer aus dem Sdofe der Quelle geſchöpfet, welches je weniger Geſchmack es hat defto gejunder geadjtet wird, weil es von allen frembden TXheilen geliutert ijt.” Das deftillirte Wafer, das von allen frembden Beftandtheilen freic, ijt befanntlid) fade; das gute Ouellwaffer, wie der Bergwanderer weiß, hat ſeinen Gejdmad, gewöhnlich and) etwas Kohlenſäure. Vergleichen wir darum Lieber das Shine dem reinen Wein. Er ift unvermijdt, er ijt ohne frembde Beiſätze, flar, ausgegoren, edel; aber er Hat feinen Cha- rafter, weldjen die Art der Traube, die Beſchaffenheit des Bodens, die Witterung des Jahres bedingt; er Hat feinen cigenthiimliden Geſchmack und Duft, beide ftimmen jujammen in Kraft und Milde. Windelmann felber forderte dag zu jener Schönheit der Bildung aud) der Ausdruck trete, ohne den fie unbedentend wire. Nur wenn wir jene Beftimmung der reinen Form dem Charafterifti- jden gegeniiber fefthalten, Hat fie unvedjt und erreidjt dann fo wenig als dieſes die wahre Sdhinheit, die gerade in dem Zu jammenjein beider Momente befteht. Das Charafteriftijde als die beftimmte Form der Cigenthiimlidfeit ift durdaus unentbehr-

1. Das Ideale und Reale. 53

lid, da8 Schöne würde nidjt die volle Erfaffung, fondern dice Ab— ſchwächung und Abtödtung des Lebens fein, wenn es des Charak— teriftijden ermangeln fonnte; aber wo diefes für fic) allein anftritt da wird es gum Zerrbild, zur Caricatur, einem Worte, da’ nad dem Italieniſchen carico Laſt, caricare beladen, das Ueberladence und Uebertriebene bezeichnet, und das Befondere um es recht nach— drücklich zu betonen über die Grenzen der Natur Hhinausfiihrt. Lagegen fommt ein dharafterfofes Bdealifiren zu einer leeren Glätte, ju einem Uebertragen von Formen, die anderwirts von innen heraus als Lebensausdruck gebildet wurden, auf Gegenftinde denen fic an fid) nicht angehiren, und cd hüllt fid) der Mangel an Tiefe und Wahrheit in dieſe flaue flade Eleganz. Dies falſche Sdealifiren hat Goethe vortrefflid) im Triumph der Empfindfam- fett verjpottet:

Deun Notabene! in einem Park

Muß alles Gdeal fein,

Und, Galvavenia, jeden Quart

Wickeln wir in eine ſchöne Schal' cin. So verfteden wir jum Exempel

Einen Shweinftall hinter einen Tempel, Und wieder ein Stall, verfteht mid) ſchon, Wird gradesiwegs cin Pantheon.

Die Sad)’ iff, wenn ein Frembder drin fpagiert, Dah alles wohl fic) prafentirt ;

Wenn's dem dann Hyperbolifd) diinft, Poſaunt ex's hyperbolifd ans.

Rreilid) der Herr vom Haus

Weiß meiftens wo es ftinft.

Wir fommen bei dem Verhältniß der Runft zur Natur anf dieſe Frage zurück; Hier gilt und geniigt es den Begriff des Schönen dahin ju beftimmen: daß es allgemein wahr und indivi- duelf wirklich) zugleich ſei, dag e8 ausdrucksvoll fei innerhalb allgemeingiiftigee Normen, daß es das Geſetz ded Lebens durch cigene freie Kraft ausfpredje und flar erfülle.

Dadurdh wird die Form des Schönen ausdrudsvoll, indem fie eben da8 individuelle Innere, den Charafter der Gade aus- drückt. Es fann dies nun zwiefach geſchehen, ſodaß die Totalität deſſelben auch in der Geſammtheit der Züge der Erſcheinung ſich ruhig und bleibend ausprägt, oder daß beſondere Regungen und Stimmungen des Innern durch das Aeußere abgeſpiegelt werden. So nennen wir im erſtern Sinne auch die Forn von Gebäuden

5A I. Die Idee des Schönen.

oder Geräthſchaften ausdrudsvoll, wenn fie fpredend ift, wenn der Swed und die Bedeutung klar Hervortritt, während im an- deren Sinne der Ausdruck fic) mit der Thätigkeit des Individuellen fteigert und in der ſelbſtbewußten Perſönlichkeit und deren Reid thum von Lebensduferungen jeinen Gipfel erreidjt. Winckelmann faft aud) hier bie Sade gu eng; er vergift dak es aud) aus— dbrudsvolle Stellungen gibt, in denen der Begriff einer Geijtes- eigenthümlichkeit ſich darlegt, daß aud) die ruhige Wiirde, aud) die anmuthige Harmonie und der Friede der Seele ihren Aus— druck haben; er bleibt dabei ganz auf dem Standpunkt der antiken Plaſtik, wenn er ſagt: „Der Ausdruck iſt eine Nachahmung des wirkenden und leidenden Zuſtandes unſerer Seele und unſers Körpers, und der Leidenſchaften ſowol als unſerer Handlungen. In beiden Zuſtänden verändern ſich die Züge des Geſichts und die Haltung des Körpers, folglich die Formen welche die Schön— heit bilden, und je größer dieſe Veränderung iſt, deſto nachthei— liger iſt ſie der Schönheit. Die Stille iſt derjenige Zuſtand welcher der Seele ſowie dem Meere der eigentlichſte iſt, und die Erfahrung zeigt daß die ſchönſten Menſchen von ſtillem geſittetem Weſen ſind. Es kann auch der Begriff einer hohen Schönheit nicht anders erzeugt werden als in einer ſtillen und von allen einzelnen Bildungen abgerufenen Betrachtung der Seele.“ Jeder wird ſich aus der Erfahrung des Lebens wie nach der Beſchauung von Gemälden erinnern daß auch rauhe, harte Züge eines Ge— ſichts, das wir in der Ruhe nicht ſchön nennen würden, durch den Ausdruck einer edeln Geſinnung, durch das Feuer der Be— geiſterung wie von einem Sonnenſtrahl verklärt werden; die Stim— mung der Seele überwindet und durchdringt hier eine ihr ſonſt nicht gemäße oder widerſtrebende Hülle, und prägt dieſer wenig— ſtens für Augenblicke die eigene Idealität als ein leuchtendes Siegel auf, oder läßt einen Abglanz des Himmliſchen auf das Irdiſche, Erdenſchwere fallen. Auch das iſt in Bezug auf den Ausdruck nicht zu vergeſſen daß jeder Körper für verſchiedene Standpunkte verſchiedene Anſichten bietet, und daß es oft nur darauf ankommt die Stelle zu finden, von welcher aus das zu lang Geſtreckte verkürzt erſcheint oder ein beleidigender Vorſprung zurücktritt, und daß hinwiederum die organiſche Geſtalt durch eine ausdrucksvolle Bewegung ſich in ſolch ein günſtiges Licht für jeden Standpunkt ſelber ſetzen kann. Inſofern übrigens hat Winckel— mann recht, als jn der Bewegung des Gemüths und ihrem lkörper⸗

1. Das Ideale und Reale.’ 55

lidjen Nachbilde durd) die einzelne Erregung und Bewegung die Herrſchaft der Cinheit iiber das Befonderc, das Walten der in ſich gejammelten Totalitit der Seele iiber die Ausbrüche des Gefiihls oder die wedjelnden Züge und Stellungen des Körpers bewahrt bleiben muß. Das Toben blinder Wuth, die rohe Leidenz fchaftlichfeit, die frampfhaften Verzerrungen, die gewaltjamen Ver- renfungen jerftiren allerdings die Schönheit und können die an fic) woblgefillige Form jur Grimaffe und Frage verjerren. Die Ruhe ded Meeres ift feine Erjtarrung, es ift ,,gleid) dem Sternen- himmel ſtill und bewegt’’, und entfaltet im ſchwebenden Reiz der Wellenfpiele ſeine Herrlichfeit; jo darf auch die Geftalt des Men— ſchen nicht fteif erjdeinen, fondern mug durch eine Stellung, die aus einer Bewegung fommt und zu ihr fiihrt, die Bewegungs- fahigfeit andeuten; fie darf nidjt die Leere, fondern muß eine bejtimmte Ridtung oder Cigenthiimlicjfeit des Geiſtes yur Er- ſcheinung bringen, wenn fie ſchön fein will, Aud) der Ton, der Klang der Stimme wird erft ſchön, wenn er feelenvoll erſchallt, wenn die Gemiithsftimmung in ihm fic) fundgibt. Cine aus— drudslofe Schönheit ijt geradezu unmöglich, weil fie als fade, Unentfdiedenheit und Gemiithlofigfeit uns falt und gleidgiiltig ließe und thr Anblic uns fogleid) {angweilen wiirde, was alles dem Begriffe ded Schönen widerſpricht.

Uebereinftimmend hiermit leſen wir in Zeiſing's äſthetiſchen Forſchungen: „Formen, aus welden feine hihere Gefiih{sregung, fein außerordentliches Beftreben herausblidt, können trog ihrer Symmetrie und Proportionalitit nidt den höchſten Grad der for- mellen Harmonie erweden, weil ihre Starrheit und Gebundenbeit mit dem allgemeinen Leben, welches die ganje Welt durddringt und namentlid) im Innern jedes Sndividbuums nad) Selbftent- faltung ringt, im Widerſpruch fteht; fie geben daher nur die Harmonie gwifden den verfdiedenen Elementen der Erſcheinung als jolder, aber nidt die Harmonie der Erſcheinung mit der fie bejeelenden und belebenden Idee. Dak uns Regelmäßigkeit und Proportionalitit nicht als die höchſten Stufen der formellen Schön— heit gelten, geht recht augenſcheinlich daraus hervor, dag wir eine Erjdeinung, welche dieje Cigenfdaften beſitzt, lieber in einer Situation fehen in welder diefelben bis gu einem gewiffen Grade aufgehoben erfdeinen, als in einer foldjen worin diefelben mit voller Strenge feftgehalten find und ſich als foldje fofort dem Ange auforingen. Go finden wir den menſchlichen Körper in der

56 J. Die dee des Shonen.

fogenannten erften Pofition, objdon gerade in diefer die Sym— metrie feiner Halften und die Verhältnißmäßigkeit ſeiner Glieder am unverfernnbarften in die Augen jpringt, am wenigften ſchön, und finden uné befriedigter, wenn wir vielleidht von der linken Seite etwas weniger als von der rechten jehen, wenn der cine Arm cin wenig gehoben, der andere Hingegen geſenkt erſcheint, wenn das Haupt ein wenig geneigt ijt. Ebenſo legen wir Bäu— men, an denen fid) dic Verzweigung freier geftaltct, einen hihern Grad der Sdchinheit bei, als ſolchen welche regelmäßigere Formen darjtellen, ja ſelbſt Gebäude jehen wir Lieber in einer Anſicht welde uns dieſelben cin wenig verſchiebt, als von cinem Stand- punfte dev uns ihre volle Regelmäßigkeit zeigt. Hierin liegt jedod) feineswegs eine Geringſchätzung der Symmetrie oder Proportio- nalität; denn daß uns dieſe trogdem als unerlaßliche Schinheits- elemente gelten, geht daraus hervor daß wir nur eine ſolche Auf— löſung derſelben fiir wohlgefällig erkennen welche weder cine extra— vagante nod) bleibende nod) willkürliche, ſondern vielmehr cine maßhaltende vorübergehende und begründete ijt. Der Ausdruck erſcheine daher nie als eine zerſtörte, ſondern nur als eine befreite, gelöſte, in Fluß geſetzte Proportionalität.“

Die Freiheit alſo die ihr ſelber das Geſetz iſt und gibt, die Individualität die das Weſen der Gattung verwirklicht, die aus— drucksvolle Regelmipigfeit nennen wir ſchön; fo finnen wir wol init Baumgarten, dem erften Verfaffer ciner Mefthetif, fagen, das Shine fei das finnlid) Vollfommene. C8 entfteht in der Indivi- dualifirung des Sdealen, in der Sdealifirung des Individuellen. Die Materie findet die cigene Lebensvollendung, indem das Geiftige aus ihr hervorſtrahlt; wir fehen an ihr jelber daß das Aenfere dic Offenbarung des Innern, die raumpzeitlide Cntfaltung von Geift und Willen ijt; diefe fommen fic) dadurd) felber zur Er— ſcheinung und werden fid) gegenſtändlich.

Die Schinheit die wir als den finnlichen Ausdrud cines Ver- nunftbegriffs bezeichnen, Hat Schiller dic des Banes oder die ardhiteftonijde genannt, und fie von der beweglichen oder bewegten Schönheit unterſchieden, in welder er die Anmuth fah. Es leuchtet cin dak hölzerne Schwerfälligkeit und fteife Starrheit von der Grazie am fernften fteht, daß diefe fich vielmehr durch Leich— tigfeit und cin freies Spiel der Kräfte fundgibt. Schiller ver- langt dabei fpredende Bewegungen, das heißt folche die ein Seiftiges ausdriiden, er will daß die Schönheit der Seele durd

1. Das Ideale und Reale. 57

fie hindurchſcheine. Er eignet die Grazie nur der Freiheit an, und dad ift ridjtig, aber cr faft die Freiheit gu cng, wenn er fie nur der Perfinlidfeit guerfennt. Anmuth ift die Schönheit der Geftalt unter dem Einfluß der Freiheit, fage id) mit ihm; der Bujak aber fie fet die Schinheit derjenigen Erfdeinung weldje die Perfon beftimmt, diinft mir gu eng. Gr verſagt der Natur als folder die Anmuth. Ich möchte fie weder dem Sdhmetterling abjpreden der im Blüthenkelch die zarten farbenfdimmernden Flügel augeinanderfaltet und ſchließt, nod) der Blume die im Abendwind janft fic) wiegt, nod) dem Waſſerſtrahl der fic) in den Perlen- ſchleier glänzender niederftiebender Tropfen hüllt; in dem Spiel dex höhern Thiere ift fie freilid) fdon mit empfindungsvolfen jeefenhaften Regungen durdjdrungen.

Sm Fortgang der Entwicelung nihert ſich Schiller der ganjen Wahrheit. Er fpridt von VBewegungen die unwillkürlich in einer Empfindung begriindet find und fie ſympathetiſch begleiten wie das Mienenfpiel und die Geberden das Wort des Redners; und in dem WAntheil den Gefinnung und Gefühl der Perfon an einer will- fiirlicjen Bewegung hat, in dem Unwillkürlichen an derfelben fudht er die Grazie. Das Subject darf nie fo ausfehen als ob es um ſeine Anmuth wiifte, jest ev hinzu, und ficerlic) wird fie nicht gefunden wenn fie gefudjt wird. Sede Affectation ift widerlich. Selbjt der iiber die Bewegung gebictende Wille darf nicht fidtbar jein, wie von felbft aus ecigenem Trieb muß fie vor ſich gehen und dod) jugleid) jum Ausdruck der Seele werden. Und fo möcht' ih fagen: Wir haben in allem Schönen die Verſchmelzung von Geift und Natur, von Geſetz und Erjdeinung. Aber diefe Har- monie fann dadurd) hervorgebracht werden daß der Wille oder die Sdee fid) die Außenwelt unterwerfen und ſich ſelbſtbewußt in fie hineinbilden, oder es kann aud) fo geſchehen dak die Natur fic dem Geift bereitwillig und wohlgefällig anfdmiegt und daß die individuellen Lebenstrifte nicht ſowol von einem Geſetz fiber und auger ihnen beherrſcht erſcheinen, als daß fie daffelbe mit eigener freter Luft erfiillen. On diefem Fall entfteht die Anmuth.

Sie geht aus von der Natur, vom Bndividuellen und Sinn— liden, fie liegt tm Unbewußten, fie erfrent uns durd) das Seelen- hafte im Unwillkürlichen, durd) die angeborene Leichtigkeit mit weldher der Trieb ein Geſetz evfiillt ohne daran zu denfen, fie befteht in jenem Ueberſchuß des Cigenthiimliden über das blos Regelredhte, fowie Begeifterung und Liebe cin Weiteres und Höhe—

58 1. Die Idee des Schönen.

res find und thun als die bloße Befolgung der Rechtsordnung. Anmuth wire nidt im einer Welt der Nothwendigkeit. Gie ijt das Zwanglofe, fie ift der Ausdruc der Freiheit, aber nicht fowol des fid) felbft erfaffenden Willens und bewußten Handelns, als der Breiheit in der Natur; fie erjdeint am Menſchen foweit er zu— gleid) Natur ijt, und der Natur feine Gewalt angethan wird, weil fie fid) von felbft in das Reid) des Geiftes erhebt und hingebend ihm fic) anfdmiegt. In ihrer Schrift liber die Gehwerkzeuge haben die Gebriider Weber mit ſchlagenden Beifpielen dargethan daß das afthetijd) Schöne mit dem phyfiologifd) Ridtigen zu— jammentrifft. Was mit sfonomifder Verwendung der Mittel, mit dem Aufwand möglichſt geringer Muskelkraft erreicht wird, das Leidhte, Ungezwungene, Freie macht den Cindrud des Wohl— gefalligen. G8 beftdtigt dies meine Definition der Anmuth. Sie geht überall verforen wo ungeredjtfertigte iibertriebene Mittel ins Werk gejekt werden, fie wird gewonnen wenn der Zweck ſich wie im Spiel erfiillt:

Nicht der Maſſe qualvoll abgerungen, Schlank und leicht wie aus dem Nichts gefprungen Steht das Bild vor dem entziidten Blick.

Dagegen gehirt die Würde dem Geift an. Sie ift ftets Aus- drud der Geiftesfreiheit in ihrer Herrſchaft über die Triebe; in ihe erfdjeint die ſiegreiche Sicherheit der Idee. Schiller ſieht fic vorzugsweiſe in ber Ruhe, aud) im Ertragen des Leides, wenn der Geift dem Widerwärtigen die edle Faffung des eigenen Wefens entgegenftellt. Die Gravitit, weldje fid) mit Wiirde belohuen möchte wo der fittlide Wille doch nidts vollbradte, verfehlt ebenjo ihr Biel als die anmuthhajdende Riererei. Aber es gibt and eine wiirdevolle Bewegung, eine foldje in welder der anf Hohes und Grofes geridjtete, von Hohem und Grokem durddrungene Geiſt diejer feiner Stimmung und dieſem feinem Biel and) die Schritte gemäß macht die ev thut; es gibt aud) cine anmuthige Ruhe, in welder die Beweglichkeit der Glieder nidt aufgehoben und die Geftalt in eine durd) das innere Wefen bedingte Lage hingegoffen ift; häufig wiederholte Bewegungen werden durch Ge- wohnbheit cine zweite Natur, oder bilden einen ftehenden Zug, einen bleibenden Ausdrud der Miene. Aber wie das Natiirliche in der Anmuth aus der Freiheit, fo ijt die Rube in thy aus der Bewegung hervorgegangen. Wenn uns das Spiel der fanft fid

1. Dae Ydeale und Reale. 59

hebenden und fenfenden Welle anmuthet, fo erſcheint diefelbe Form ja in der Linie die vom Stiel aus bis zur Spike den Umriß der Roſenknospe bezeichnet, und aud) fie ift geworden durch die Tha- tigfeit und Bewegung des fic) bildenden Organismus. Vifder erflirt die Anmuth im Gegenftande als den Ausdrud der leben- digen Bewegung der Idec, „welche den Stoff durddringt, aber durchaus liberal, ſodaß ſeiner Zufilligfeit fein Zwang angethan wird’. Bielmehr erjdeint der Stoff, da8 materielle Dajein felber als das fret fid) Bewegende, damit jeine eigene Idealität Be- jeugende. Durd) die Zufilligkeit fiele das Anmuthige aus dem RBujammenhang des Seelenhaften heraus; gerade das erfreut uns im Anmuthigen daß auch die unreflectirte Bewegung des Körpers dennoch feelenhaft ijt. Das Eckige, Schroffe, Harte in der mate- riellen Geftaltung wirkt nicht anmuthig, weil es in jeiner Er— ſcheinung ſelbſt etn gegenſätzliches Zuſammenſtoßen, Abprallen und Widerſtand zeigt, während das Runde, Weide, Wellige, deſſen eigene Theile ineinanderfließen, ſich damit als das Beſtimmbare und Durchdringliche fiir die Sdealitét hingibt.

Anmuthig ift das Hellenenthum, würdevoll die Römiſche Art. Dort blüht das Leben anf wie ein glückliches Gewächs, und die Herrlichleit feiner Entfaltung diinft uns mehr eine Gabe der guten Matur, die von ſelbſt fo liebliche Früchte bringt, als der Preis mühſeligen Ringens und Kämpfens, wie folded Rom gegriindet und grog gemadjt hat, ſodaß feine Biirger in der Herrſchaft über das Widerftrebende und in der Selbftbeherrjdung ihre Ehre fan- den. Dem Manne fommt mehr die Wiirde, dem Weibe die An- muth ju; im Mann herrfdt der felbftbewupte Wille, während das Weib durd) Reinheit und Bnnigfeit des Gemiiths uns an- zieht, und mehr nur ſich felbft erlebt wo der Mann fic) erarbeiten mug. Holdfjelig, felig in der eigenen Huld fteht die weiblide Natur neben dem Manne, der feine Kräfte auf einen beftimmten Zweck ridtet und fpannt um das Reich des Geiftes ausjubreiten. Die ftarfen Muskeln des Manned finnen die Leichtigkeit nidt zeigen wie die zarteren, weidjeren de8 Weibes, deren Bewegungen der Ausdrucd des in fid) harmoniſch geftimmten Innern find. Aber wie Mann und Weib gufammengehiren und erjt vereint dte ganze Menſchheit ausmaden, fo Anmuth und Wiirde. Schiller fieht diefe Verbindung in der Hohen Grazie, von welder Wineel- mann jdreibt: „Die himmlifde Grazie ſcheint ſich allgenugfam, und bietet fid) nidjt an, fondern will gefudjt werden; fie ift gu

60 I. Die Idee des Schönen.

erhaben um fid) fehr finnlich gu machen; fie verſchließt ſich in die Bewegungen der Seele, und nähert fid) der feligen Stille der göttlichen Natur.” Shiller felber bemerft hierzu: „Sind An— muth und Wiirde, jene durch architektoniſche Schinheit, diefe durch Kraft unterftiigt, in derſelben Perſon vereinigt, fo ijt der Aus— druck der Menſchheit in ihr vollendet, und fie fteht da geredt- fertigt im der Geifterwelt und freigejprodjen in der Erſcheinung. Beide Gejesgebungen beriifren einander fo nahe dak ihre Grenjzen gujanunenfliefen. Mit gemildertem Glan; fteigt in dem Lächeln deS Mundes, in dem fanjtbelebten Blic, in der heitern Stirn die Vernunftfreiheit auf, und mit erhabenem Abſchied geht die Naturnothwendigfeit in der edeln Majeſtät des Angeſichts unter. Mach diefem deal menſchlicher Schinheit find die Antifen gebildet, und man erfennt es in der göttlichen Geftalt einer Niobe, im Belvederefdjen Apoll, in dem Borghefefden gefliigelten Genius und in der Muſe des Barberinifden Palaftes.”

Was uns anmuthet, das ſpricht uns zunächſt von der Natur- feite an, und läßt etwas Ermuthigendes, Erfriſchendes in uns iiberftrémen; es erquict, erhält und fördert uns in unferm pers ſönlichen Wefen, es entriidt uns nidt dem Gewöhnlichen, es demiithigt uns nidt vor fic) jelbft wie bas Hohe und Heilige, es reift uns nidjt gu fic) empor wie bas Erhabene, fondern es ſchmeichelt fid) uns cin, es neigt fid) gu uns hin und flößt uns MNeigung cin. Darum nennen wir es auch das Lieblide, denn durd) Anmuth erwedt die Schinheit unfere Liebe. Go überwiegt alferdings in der Anmuth das Sinnlide, in der Wiirde das Geiftige, aber feiné fann ohne das andere fein, ſonſt wiirde die Schönheit anfgehoben. .

Sft Grazie befonders in der Bewegung oder die werdende Schönheit, fo drückt Wiirde etymologiſch das Gewordene aus, dic im Werth ju Tage gefirderte Wefenheit, das Anfehen und die Stellung die jemand fic) erworben hat, befonders aud) in dem Ginn dak er mit feiner Perfinlidfeit cinen höhern Beruf von allgemeinem Chavafter im Staat, in der Kirche, in der Wiffen- ſchaft begleite. Die Bürde die der Mann ju tragen hat läßt jeine Kraft und Gewidhtigfeit erfdeinen, gibt ifm aber nothwendig zugleid) den Ausdruck eines gefesten und gemeffenen Wefens, und wie das Anmuthige im heitern Spiel, fo zeigt fic) das Wiirdige im Ernſt der Pflidht, in der Strenge und Schärfe der Form, in der einfaden Betonung de8 Bedeutenden, in der Hervorhebung

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1, Das Ideale und Reale. 61

des Gefeges. Go niihert e8 fic) dem Erhabenen, das wir als dasjenige Schöne fennen fernen welded vornehmlid) durch feine Größe wirft, wihrend das Anmuthige gern fid) im RKleinen zeigt und dadurch zierlich oder niedlid) wird, uns nidt imponiren, jondern fid) uns gefällig erweiſen will, mit einem Reichthum anf- blühenden Schmucks die ſchlichte Regelmäßigkeit einfacher Normen umkleidet; durch die Fülle des Beſondern veranſchaulicht es die freie Beweglichkeit des Geiſtes und der Natur in biegſamen und geſchmeidigen Formen, und will nicht ſowol durch das Ganze als durch jeden einzelnen Theil uns erfreuen. Darum aber dürfen wir das Anmuthige nicht als die unvollſtändige Schönheit bezeich— nen wollen, die mit dem Mangel der Erhabenheit in dem Beſon— dern und Einzelnen befangen bleibt, und den Beſchauer feſſelt, das heißt die unendliche Freiheit und Einheit des Bewußtſeins aufhebt und ihn als Einzelweſen in die erſcheinende Einzelheit verſenkt, wie Weiße in ſeiner Aeſthetik lehrte, denn mit Recht ſagt Emil Braun daß alle Anmuth die des Zuſammenhangs und Wechſelbundes mit der Erhabenheit verluſtig gegangen, zur ſaft— loſen Eleganz herabſinkt und von der unerquicklichſten Wirkung iſt, ein fades ſüßliches Lächeln ohne Ernſt des Inhalts. Vielmehr blüht die wahre Anmuth aus der vollendeten Kraft hervor, und das Erhabene kleidet ſich gern in ihr Gewand.

Leicht faßlicher iſt zwar die Anmuth ded Kleinen und Feinen als die des Gewaltigen: aber die Grazien ſtanden auf dem Stuhl des Reus von Phidias, ihr Bild ſchmückte die Stirnbinde der Here Polyflet’s, und wer verfennt die Anmuth der Umriſſe tm hoheitsvollen Antlig der Suno Ludovifi, in den Geftalten und Verſen der Sphigenie von Goethe, oder in Beethoven's Muſik, wo fie den Tieffinn des Geiftes melodifd offenbart? Anmuthvoll fteht der Tempel des Theſeus bet Athen in feinen reinen Linien, im Ebenmaß der edel gemeffenen Formen, glingend im Abendroth wie geronnenes Lidjt, wie wenn er ans den Strahlen der Sonne bereitet wire. Anmuthsvoll lacht uns der Spiegel des blauen Meeres entgegen, und wir fehen in ihm ein Bild des Unendliden jelbft. Die Grazie der Mediceiſchen Venus wird von der Meli— ſchen überboten, weil dieſe felbft innerlid) und äußerlich größer und würdiger iſt, und die Höhe des göttlichen Selbſtgefühls zum Zauber der weiblichen Liebeshuld kommt. Wer die Rondaniniſche Meduſa geſchaut der verſteht was die Alten mit dem Ausdruck der furchtbaren Grazien ded Aeſchylos bezeichnen wollten. Anmuth

62 I. Die Idee des Schönen.

waltet nicht blos in dem Gemilde der jungfriuliden Mutter mit dem Kinde von Rafael’s Hand, fondern aud) in den umfang- reidjen und finnvollen Schöpfungen deffelben Meiſters, die das religiöſe und philofophifde Leben ſchildern. Anmuth verflart die dämoniſche Gewalt der Delphijden Sibylle Michel Angelo’s. Anmuth entfaltet fid) nidt blos im Frieje um Kaulbach's große Bilder, der die Weltgeſchichte als ein luſtiges Kinderſpiel darſtellt, jondern in den Bildern jelbft weldhe die Idee in tragifcer oder epider Wiirde verfirpern, fie waltet in der Bewegung und Ge- ftaltung der eingelnen Figuren und in der Art und Weife wie fie fid) ungezwungen bet aller Selbſtändigkeit dod) gur Gruppe und zum Ganjen verbinden.

Diefen Zujammenhang von Kraft und Anmuth erfannte Vafari, wenn er iiber Andrea Verrocdhio und deffen Genoffen ſchrieb: Wäre jenen Meiftern die bis ins Rleinfte gehende Zartheit eigen gewejen welche die Vollfommenheit und Bliite der Kunſt aus- madt, fo wiirden fie in ihren Werfen aud) eine friftige Kühnheit entwidelt haben, und daraus wiire wieder jene Lieblidfeit und hichfte Grazie entftanden, die man bet ihnen nidt findet, mit weld) angeftrengtem Fleiß fie aud) arbeiten, und die den ſchönen Geftalten den höchſten Kunſtwerth verleiht. Pindar betete am Schluß des dreigehnten Olympifden Sieggejangs: Vollender Zeus, gib Wiirde und das Glück ſüßer Anmuth diefem Lied!

Die Grieden haben die Idee der Anmuth ſelbſt mythologifd und fiinftlerijd geftaltet; indem wir ihrer finnvollen Didtung nadgehen, wird unſere Darjftellung durch die Phantaſieſchöpfung des Volfs der Schinheit felber beftiitigt werden.

Gurynome, des Meergottes weitwaltende Todter, ein Bild der Maturfiille, der finnlidjen Lebensfraft, hat vom Gott des Himmels und Ordner der Welt, von Reus die Charitinnen ge- boren. Das Geſetz vertraten die Horen, welde ihm Themis, die Satzung, geboren hatte; Wohlordnung, Recht und Friede (Cuno- mia, Dife, Civene) find ihre Namen, und die Namen bezeugen ify Walten, und deuten auf die fittlide Weltordnung aud) im Reid der Natur. Der fittliden Weltordnung wie fie durch die Geſchicke der Menſchen fid) offenbart ftehen die Mören oder Parjen vor, ebenfalls Töchter des Rens und der Themis. Aber wäh— rend hier das allgemeine Band der Dinge und die Nothwendigkeit offenbar wird, zeigt fid) die freigebige Lebensfiille in den Kindern des Reus und der Curynome. Aglaia ijt der Name der erjten,

1. Das Sdeale und Reale. 63

er bedentet Glanz, Pindar nennt fie gugleid) die Hehre; Euphro- ſyne, die Frohfinnige, Thalia, die Lebensbliite, heifen die beiden Sdweftern, die der Dichter al8 gejangliebend und liederfreudig bezeichnet. Bedeutungsvoll ijt mir die Dreizahl. Sie ift nicht urfpriinglid, aber von Anfang an fteht die Charis nicht einſam, fondern e8 find mehrere, zunächſt zwei. Reto und PBhaenna heifen fie bet den Doriern, Schall und Schimmer: es find die- jenigen Bewegungen der Materie die uns da8 innere Leben und den ihr anvertrauten Geift offenbaren; Ton und Farbe, dieje Em- pfindungen unjerer Sinne von der Bewegung der Materie, find das Clement aller Anmuth. Auxo und Hegemone, Wachsthum und Fiihrerin, heigen die Huldgittinnen der alten Athener; es ijt das Leben der Freiheit, das fic) entfaltet und vermehrt, aber dabei der Führung bedarf um nidt der Willkür zu verfallen, fondern zu höhern Dafeinsformen hinanjufteigen. Dak gu ihnen dann Peitho, die Ueberredung, gejellt wurde, ift wieder bedeutungsvoll; der Rauber der Rede entfaltet feinen Reiz nicht um uns gu zwin— gen, fondern er will in uns eingehen und uns zur Selbftbeftim- mung fiir das gleide Riel hinleiten.

Mehrere Geftalten nidt unabhingig auger- und nebencinander, jondern als Gruppe zufammengefiigt, ſodaß eine in dev andern febt und aufgeht und jede an die andere fid) anjdmiegt und ifr entgegenfommt, und eine an der andern fid) ergänzt, fie geben erft das volle Bild der Anmuth, die wir ftets als Hingebung und Huld zugleich bezeidnen miiffen. Dies zu veranjdauliden griff der Genius der antifen Bildnerfunft gum Dreiverein der Grazien. Nicht ſogleich und nicht fofort mit vollendeter Meiſterſchaft, aber die reife Frudjt war um fo herrlider. Bon Sokrates wird eine Gruppe der dret Grazien erwähnt, fie waren nod) befleidet; erſt Praziteles ftreifte die Hille ab und liek die Bliite ans der RKnospendede fret hervortreten. Aber der philofophifde Genius des Sofrates hat mitgewirft der Sdee dieje vollendete Erſcheinung su geben, die Harmonie im Dreiflang zu offenbaren, in der Cin- tradjt mehrerer Geftalten, die der Selbſtändigkeit fähig find und deren jede dod) nur mit den andern (eben, an den andern fid zur Totalitit, zur alljeitigen Darftellung der jugendſchönen Natur ergingen will, Der Geijt und das Geſetz, denen die Sndividua- lität und die Natur fid) guwenden um fie willig in fic) aufzuneh— men, gewähren beiden Halt und Mag, und fo gelangt die innere Triebfraft gu edler Entwidelung und Vollendung. Keins ſcheint

64 I, Die Idee des Schönen.

des andern zu bedürfen, das Geſetz nicht der Lebenskraft, die Natur nicht des Geiſtes, und doch ſind ſie füreinander da, in— einander da. So erſcheint jede der drei Schweſtern ſchön für ſich, und zugleich halten ſie ſich wechſelſeitig umſchlungen; jede könnte auf der eigenen Weſenheit beruhen, doch neigt ſie huldvoll zur andern ſich hin; jede könnte ſelbſtändig ſein, doch fügt ſie ſich freudig als Glied in ein Ganzes. Aus dem Geiſt iſt jede Abſicht— lichkeit, aus der Natur jeder Zwang äußerer Nothwendigkeit ent— fernt; die Form ijt nirgends Hemmung oder Schranke, ſondern das Werf und die Selbftbegrengung des freien Geftaltungstriebes, darum fdjwellend, jart, voll melodijden Fluffes. Aller Gefall- jucht fedig fucht feine der drei Schweſtern bas Ihre, findet aber ify Glück und ihre Vollendung in den andern, denn das Sich— verlieren im wahlverwandten Wefen ijt die Wuferftehung in ihm; jede nimmt die Natur der andern in fic) auf, indem fie fic) ihnen hingibt. Das Gangze felbft tritt nidt als herrſchende Macht auf, welde die Glieder fic) unterwiirfe, fondern wird durd) ihren ſelbſt gewollten Liebeshund hervorgebraddt.

Die erfte Strophe der Pindar’ jden Hymne an die Chavitinnen, der id) oben gedadht, lautet felber wie eine philofophifde Aus: deutung des Begriffs der Anmuth; fie mbge hier gum Schluß in einer von mir verſuchten Ueberfesung nod) eine Stelle finden; im Rhythmus felber erflingt das Weſen der dargeftellten Gedanfen.

Auf roffeprangender Flur, am Wogenſchlage

Unſeres Gees Kephifos heimifd,

Herrfdjende Charitinnen, liederumf{ung'ne,

Die in Ordomenos Wadterinnen ahnenberühmten Volls ifr feid,

Hort des Gebetes Ruf! Denn von euch kommt ein jeglides

Lieblides und Siifes, bas Sterblidem wird,

Wenn er ein finer, ein weifer, Herrlider Mann blüht; aud die Gitter,

Shr Holdfeligen, fiihret ihr

Stets gum erfreuenden Wahl, flete zum Reigen; jedes Werk ordnet und ſchmückt

Im Himmel ifr, und ftellt gu dem goldhogenberwehreten

Bythifden Apollon enern Thron,

Fromm des Olymp'ſchen Vaters ewige Göttermacht verehrend.

Auch für Schiller ward die Anmuth zur Brücke über die Kluft zwiſchen Natur und Geiſt; er glaubte zu ihrer Erklärung anneh— men zu müſſen daß die moraliſche Urſache im Gemüth, die der Grazie zum Grunde liegt, in der von ihr abhängenden Sinnlich—

1. Das Ideale und Reale. 65

feit gerade Ddenjenigen Zuſtand nothwendig hervorbringe der die Naturbedingungen des Schinen in fid) enthilt. Go ward ihm das Schöne die Ineinsbildung des Idealen und Realen, eine Be- ftimmung des Begriffs welche die folgende Philofophie fiir die entſprechendſte erklärt hat.

Was in Eins gebildet werden ſoll das muß urſprünglich Eins geweſen oder füreinander da ſein, ſodaß beide ſich zur vollendeten Darſtellung des Weſens ergänzen können. Wären Idee und Er— ſcheinung, wären Geiſt und Natur, Gedanke und Materie ein Dualismus von Haus aus, herrſchte nicht eine Einheit in und über ihnen, ſo würden ſie ohne Beziehung zueinander weder auf— einander wirken noch das eine im andern ſich darſtellen können. Nur wenn die Grundformen der Welt dieſelben ſind mit denen der Vernunft, iſt eine Erkenntniß der Dinge möglich, weil die Weſenheit der Dinge ſonſt in eine andere als die eigene Form gebracht, und damit verändert, nicht verſtanden würde; unſer Weltbild wäre ein blos ſubjectives, dem Traum ähnlich, und wir würden nie vermögen nach unſerer Erkenntniß die Kräfte der Natur für uns zu verwenden und dadurch zu beherrſchen daß wir ſie ihren Geſetzen gemäß für unſere Zwecke arbeiten laſſen. Das Gefühl des Schönen überzeugt uns gerade unmittelbar davon daß das Sinnliche die Selbſtoffenbarung des Geiſtigen wird, und damit das eine ewige Sein in zweifacher Daſeinsweiſe beſteht. Die zweifache Daſeinsweiſe aber tritt ein, weil ohne den Unter— ſchied keine Anſchauung, keine Liebe, keine Erkenntniß möglich iſt, weil durch den Unterſchied erſt Beſtimmtheit gewonnen wird.

Darum hat Heraklit den Krieg den Vater aller Dinge genannt, und unſer Leben ſtehet im Streit. Es hat ſeine Gegenſätze und ſeine Schmerzen, der Kampf hat ſeine Wunden, und das Noth— wendige wird zur Noth die wir leiden. Der Naturverlauf ſchreitet in der Verkettung von Urſache und Wirkung voran, und über alles was wir in ihn hineingelegt, haben wir die unmittelbare Macht verloren; unſer Geiſt entwirft ſeine Zwecke, und hegt den brennen- den Wunſch nach ſo vielem Werthvollen für ihn ſelbſt und für andere, aber der Lauf der Welt geht anders, und wer ſich auch wie Curtius mit ſeiner Waffenrüſtung in den Abgrund ſtürzen würde, er könnte ihn doch nicht füllen. Die Philoſophie darf die Widerſprüche des Lebens nicht wegleugnen; das hieße ſich ihnen durch die Flucht entziehen, das hieße in dem Wahne befangen ſein, daß dasjenige von welchem wir die Augen abwenden auch

Carriere, Aeſthetil. 1. 3. Aufl. 5

66 I. Die Idee des Schönen.

verſchwinde. Nur indem fie fic) bewährt, wird die Kraft wirklid jur Kraft, und weil wir in der Thitigfeit unjer Glück finden jollen, mu uns der Widerftand gegeben fein auf daß wir über— winden. Weil wir fittlider Natur find, ift es unfere Ehre und Geifteswiirde dak uns die Glückſeligkeit nidt geſchenkt wird, fon dern dak wir fie verdienen und erwerben.

Freilich find der Schmerzen gar viele und ſchwere, aber fie find es durd) die Schuld der Mtenfdheit, die der Siinde Raum gegeben, und mit verfehrtem Sinne fiir fid) die Wohlordnung der Welt verfehrt. Statt fic) als Glieder eines Leibes zu betradjten jtehen die Menſchen ſelbſtſüchtig widereinander, will einer fein Glück auf den Sturz de8 andern griinden, und wird dann ſchmerz lid) inne daß er alles was er andern that fid) felbft gethan hat, wie Macbeth, als ev den ſchlafenden Dunfan erjdjlug, damit fiir jid) felber den Schlaf ermordete. Tieffinnig erfennen die Inder daß unjere Schuld ein Leid ift weldes wir andern jufiigen, und daß wir fo viel Leid wieder alé Buße auf uns nehmen miiffen. In der Sinnenwelt als Sinnesweſen find wir der Aeugerlichfeit dahingegeben, damit wir uns verinnerliden, und hätte die Aeußer— lichfeit nur ihre fodenden Reize fiir uns, fo wiirden wir in ifr aufgehen, während die Dinge, welde uns eine rauhe Seite zu— fehren, uns in uns felbft juviidtreiben, und der Verluſt zeitlicher Güter uns erregt daß wir uns auf das Gwige in uns jelber ftellen. Go werden wir durd) Schmerz und Liebe zugleich erjogen, und wenn der Didjter klagt dag oftmals unfere Thaten fo gut alg unfere Leiden den Gang unjers Lebens hemmen, fo finnen wir died Wort dahin umfehren dag oft unfere Leiden mehr als unjere Thaten uns férdern auf dem Wege zur Vollendung, zur Selbſtverwirklichung unjerer wahren Natur, zur Selbfterfenntnif. Es fommt nur darauf an daß wir den Schmerz uns zur Gr- ziehung dienen laſſen, daß wir den Mahner zur Buße, den Er— weder der Rraft in ihm verftehen, und das ift unjere Sade. Darum fagt Bettina von Arnim fo wahr als fdin: dag man ſein Schicffal lieb haben folle, weil es cin Kleinod fei; jie weift auf die himmliſche Glorie um das Haupt ded gefreuzigten Erlöſers hin, die zugleich das feligfte und ruhmvollfte Entzücken andeutet mit dem menſchlichen Rampf im Clend, und in der Ergebung den Triumph und die Erhebung des Geiftes zeigt.

Den Optimismus welder gleidgiiltig an der Noth des Vebens voriibergeht oder fie mit gleifender Hülle det und fic und andern

1. Das Ideale und Reale. 67

etwas vorfiigt, den können wir immerhin unfittlid) und unwahr nennen, aber den Peffimismus der fid) in das Leid hineinwühlt ohne fid) darüber zu erheben, der mit der Verjzweiflung endigt und das Verwehen ins Nichts erfehnt, fann id) darum nidt fiir wahr und fittlid) erfennen. Denn er bleibt auf dem halben Wege ftehen, und entzieht fic) der Arbeit der Ueberwindung. Sm Wohl jein ift es fretlid) leicht das Schickſal gu preijen, aber aud) im Ungliid ju fagen: Was Gott thut das ift wohlgethan, und es fid) gum Heile gu wenden, das tft eine fittlide That, die ihren Lohn fogleid) in tem Trofte hat den fie mit fic) bringt; fo ſoll aud) der Denker durdhdringen, daß er die veriworrenen Räthſel löſe und das heilige Antlig Gottes, den Willen der Liebe in allen Dingen finde und verftehe.

Wol hat der alte Tragifer Sophofles gejungen: nie zu ent- jtehen fet das Hichfte, und das Nächſte ſchleunig wieder abzu— ſcheiden; wol cin Tragifer der chriſtlichen Zeit, Calderon, behauptet: das fei die größte Sduld des Menſchen dag er geboren ward; aber nidt die Geburt iff da8 Uebel, fie fiihrt nur dazu, wenn fie der Wiedergeburt entgegenfteht; der Wille gum Leben ift nur dann die Siinde, wenn er ſelbſtſüchtig wird und vom gittliden Lebensgrunde fid) abwendet. Wen der Kampf zum Wunſch des Todes fiihrt der flieht den Feind ftatt ihn gu befiegen. Grft in der Heifen Sdhladt, im Ringen anf Tod und Leben wird die redjte Siegesehre gewonnen. Der Treue bis in den Tod winkt die Krone des Lebens.

Herder ſchrieb in der Ralligone: „Das ift das große Gejets der Matur: nur was der Menſch verfudt und erprobt das fann er; nur was er fic) erwarb hat er; überſtandene Mühe gibt ihm den ſüßeſten Genus; des Menſchen Seligkeit mug fein eigen Werf, der Rampfpreis feines Lebens werden.” Und cin Dichter unferer Beit der zugleich cin Denker war und felber aus dem Oru der Verhiltniffe und aus forperliden Leiden fic) in den Wether der Freiheit, in das Ideal der Harmonie von Geift und Natur mit fittlidem Abdel erhoben, Melchior Meyr äußerte cinmal: ,,Die Poefie muß Troft bringen im Leid, in der Oede des Lebens. Das weiß man jest beinahe nicht mehr. Man ift fo geiftver- faffen daß man Troft gar nidt mehr haben will, Man ergibt fid in ſinnloſe Geſchicke und finnlofen Untergang. Aber das geht voriiber und ſpäter wird man den wahren Troft den Lidt- vollen Hinweis auf das gliidlide Ziel alles Lebens um jo

i, *

68 I. Die Idee des Schinen.

dringender verlangen. Die Oidjter miiffen jest erfennen um den Troft iiberzeugend zu geben. Sie follen nicht durd) täuſchende Glücksbilder, jondern durd das Glück der Wahrheit tröſten.“

Mad) der VBitterfeit der Welt und in ihr labt und ergötzt uns die Siifigheit der Kunſt. Das ift der Hohe Werth des Schinen dak es den Gegenfag von Geift und Natur, von der ſinnlichen und fittliden Welt in Harmonie auflöſt; es hitte feine Bedeutung, wenn jener Gegenſatz nicht wirklich wäre; es würde nidt möglich ſein, wenn der Gegenſatz nicht urſprünglich aus der Einheit her— vorgegangen und deshalb überwindlich wäre; es offenbart uns daß nicht der Widerſpruch die Wahrheit aller Dinge, ſondern die Liebe der innerſte Puls der Welt iſt, denn der Unterſchied iſt um der Harmonie willen, damit dieſe wirklich werde. Der Geiſt mit ſeinen idealen Zwecken und Bedürfniſſen geht ſeine eigene Bahn, ebenſo der Naturverlauf mit ſeinem Mechanismus die ſeinige; wo nun beide Wege zuſammentreffen ohne daß ſie einander durch— kreuzen oder zerſtören, wo fie vielmehr in Eintracht zuſammen— wirken und die Verſöhnung als ein gemeinſames Ziel darſtellen, da iſt das Schöne die beglückende Bewährung ihrer glücklichen Verſöhnung.

So leiſtet das Schöne und ſeine Darſtellung in der Kunſt für die Anſchauung was die Philoſophie der erkennenden Einſicht, was die Religion der gläubigen Geſinnung für das Handeln gewährt; wir werden deshalb auf die vergleichende Würdigung dieſer drei am Schluſſe unſerer grundlegenden Betrachtungen näher eingehen, hier aber zunächſt im Schönen das Glück erkennen, in welchem Schiller's wundervolles Gedicht den Einklang des innern und äußern Lebens, die Erfüllung der Sehnſucht und Förderung des Geiſtes durch die Ereigniſſe der Natur feiert. Die Aeußerlichkeit der Erſcheinung wird im Schönen aufgehoben, ſie wird aufgenom— men in den Kreis des idealen Seins, denn ſie wird erkannt als deſſen Offenbarung, und das iſt ihre Verklärung und ſeine Ver— herrlichung.

So iſt das Schöne thatvoll lebendige Einheit, das volle mangel- loſe Sein, wie Platon und Schelling ſagen, oder wie wir es be— zeichnen wollen: die Idee welche ganz in der Erſcheinung gegen— wärtig, die Erſcheinung welche ganz von der Idee gebildet und durchleuchtet iſt. „Schönheit iſt das Weltgeheimniß das uns lockt in Bild und Wort“, ſingt Platen; wir dürfen hinzuſetzen: weil es in beiden offenbar wird. Wir fühlen in ihm die Harmonie

1. Das Ideale und Reale. 69

der Welt; fie geht hier in einem lieblichen Accorde, im cinem Hellen Punkte uns auf, und wir dringen von da ans weiter und wetter voran, und finden im Girunde des Seins daſſelbe womit die Einzelblüte uns erquidt hat. Go wies Chriftus die Jünger auf die Lilien des Feldes hin um ifr Vertrauen auf die Vor- fehung an eine Erfdeinung der Natur gu knüpfen: und finnten ſie herrlider als Salomo in feiner Königspracht hervorſprießen aus dem rauhen Furdenfeld, wenn der Grund der Natur nidt tunerlid) Schinheit wire? Wir fehen die Wirklidfeit des Ideals im Olympifden Zeus de8 Phidias, in Rafael's Sirtiniſcher Madonna, wir hören fie in einer Handel fen oder Mozart'ſchen Melodie, Homer und Goethe verfiinden fie uns im Wort, und wir zweifeln ferner nicht daß died das wahre Sein und alles Andere nur einge(nes Moment oder Entwidelungsftufe ju feiner Vollendung fei. Go Hirte Goethe feinen Vater verfidjern: wer in Neapel gemefen finne niemals gan; ungliidlid) werden; und er, der Dichter behauptete felber: Wer die menſchliche Schin- Heit erblidt den fann nichts Uebles anwehen, der fühlt ſich mit fid) jelbjt und mit der Welt übereinſtimmig.

Gerade in der Zerfplitterung der endlichen Ereigniffe und tm Rwiejpalt von Geift und Natur bediirfen wir der Verjshnung, der Anſchauung eines Sieges der Harmonie. Das Schöne ge- währt ihn uns. Bortrefflid) bemerft Loge: „Die Schönheit an fid) ift weder ein ecigenthitmlid) Sciendes, das als verhiillter Kern aus der Shale der fcheinbaren Dinge abgeldft werden finnte, nod) cine Eigenſchaft die bem Verjdiedenartigften mit immer glei— Ger Anknüpfbarkeit fic) darbite, ſondern fie ift ber Sinn des ganzen Weltalls mit aller ſeiner Seligfeit zur Erſcheinung pliglid fommend an irgend einem Cinjelnen, das durd) fpredende Züge ſich entfdieden in den Zuſammenhang einreiht und allfeitig durd leife aber der Ahnung wenigftens erfennbare Beziehungen die Ge- jammtheit der Fille und des Reidthums anflingt, deffen einer Theil es jelbft ijt.”

Dies Mikrokosmiſche im Schönen, daß ed als Einzelnes uns das Bild des Weltganjen gibt, haben aud) Solger und Weife hervorgehoben; es ijt die Ourddringung des Unendliden und End- lichen, oder das Endliche erfdeint als Selbftverwirflidung des Unendlicen, das ihm einwohnend bleibt; darum ijt das Sdine unergründlich und unerjdipflidh. In Mignon’s Lied erflingt nidt blog die cigenthiimlidhe Stimmung dieſes befondern Gemiiths,

70 1. Die Idee des Schoönen.

jondern die Paradiejesfehnjudt und das Heimweh der ganjen Menſchheit nad dem Ewigen und Sdinen. Die Ballade vom Erlfinig ijt in wenigen Strophen abgejdloffen, und dod) jcigt fie uns nidts Geringeres als den Gegenſatz der gefühlvollen Phan— tafie und des verftiindigen Realismus, zeigt wie die Natur fid erft jener belebt und wunderbare Reize entfaltet, wie aber die Phantafie vom Verftande gelöſt den Menſchen unter die Gewalt feiner cigenen Gebilde bringt, die ihmt das warme Herzblut aus- jaugen, ihn gleid) ihnen felber jum Schatten madjen können. Es ijt dieſelbe Tragödie einſeitiger Gemiithsidealitiit, dic Goethe's Taffo in dem Einzelgeſchick dieſes Didhters als cin Univerjales und Weltgiiltiges darſtellt.

Klar ift der Aether und dod) von unermeßlicher Tiefe, Offen dem Aug’, dem Verſtand bleibt er dod) ewig gebeim.

Dies Schiller'ſche Diſtichon können wir auf die Unergründlich— feit des Schönen in feinem unmittelbaren Dafein und Wirfen anwenbden; wir können aber das Schöne aud) in dem Sinn ein Myfterium nennen dak e& tm finnliden Zeichen uns cine himm— liſche Gnadengabe vermittelt, dak es uns den Blick in das ewige Wefen erdffnet, die Natur in Gott und Gott in der Natur kennen lehrt, dad Göttliche felbft zur Ginneéwahrnehmung bringt, Me Energie der Liebe und Freiheit alg Grund, Band und Riel der Welt darthut. In dieſem Sinne fagen wiederum zwei befreundete Priefter des Schinen bedeutjame Worte. Goethe's Ausſpruch pon der wahren Dichtung erweitert fic) uns fogleidh fiir alles Shine: „es fiindiget fid) dadurd an dak es als cin weltliches Evangelium durd) innere Heiterfeit, durd) äußeres Behagen uns von den irdijden Laftern zu befreien weiß die auf uns ruben, dak e3 uns in höhere Negionen erhebt und die Irrgänge des Yebens zurückläßt.“ Und cine Strophe von Cervantes lautet:

Was fhin ift von Geftalt und Angefidt,

Ob irdiſch und gebredlid) wol,

Dod iſt's ein Abbild und Symbol

Das uns von Gottesſchönheit ſpricht.

Mag dus nicht in ber Reit ſchon lteben

Und trittft cd in den Staub auf Erden,

Sollft aue dem Himmel bu vertrieben,

Auf Erden nicht geduldet werden.

Mitten im Reitlichen wird uns durd das Schöne das Cwige empfindlid) und gegenwiirtig, und bietet fid) uns in ifm jum

1. Das Ideale und Reale. 71

Genuſſe dar. Die Trenuung ijt anfgehoben und die urſprüngliche Einheit wie fie in Gott ijt erſcheint damit als das Erfte, als das was das Geſchiedene felber dod) tm Innerſten zuſammenhält und was das Ziel jeiner Entwidelung im endliden Cinklang ausmacht.

Sm Bud) der Weisheit heift Gott des Schönen Stammovater, und in Windelmann’s Kunſtgeſchichte leſen wir die berithmte Stelle: „Die höchſte Schinheit ijt in Gott.” Aber leider hat Windelmann fit) Feine Rechenfdjaft dariiber gegeben wie denn Gott gedadt werden miiffe, wenn die höchſte Schönheit ihm angeeignet werden joll. Gr meint vielmehr: „Der Begriff der menſchlichen Schön— Heit wird vollfommen je gemäßer und iibereinftimmender derjelbe mit dem höchſten Wefen fann gedadt werden, welded uns der Begriff der Cinheit und Untheilbarfeit von der Materie unter- ſcheidet.“ Hier verirrt Windelmann ſich in jenen platonifivenden Spiritualismus, der dic Schinheit in der That leugnen miifte, jo gut wie fein Gegenſatz, der pantheiftifde Naturalismus; denn wo die Materie abgefdieden wird, da hat aud) die Kunſt cin Sunde, deren Bilder in Raum und eit leben, und das ijt ja ge- rade das Wunder der Schinheit dak der Geiſt in der Materie erfdeint, das Fleijd in den Geiſt verflirt wird. Die Schönheit mug erfdeinen, ohne Sinnlicdfeit feine Sdhinheit im cigentliden Sinne ded Wortes. Und wir dürfen die Sdhinheit nicht verfliid- tigen. Sie ijt in Gott, wenn wir Gott als das volle mangellofe Sein auffaffen, als die Einheit im Unterſchiede oder die Harmonie der Liebe, welde das einzelne Schine als ein Abbild dieſes Ur- bildes in uné erwedt. Die Aeſthetik fann ebenfo wenig auf den Begriff cines naturlojen Gottes wie einer gottlofen Natur be- gründet werden, vielmehr fiihrt fie uns gu dem Schluſſe dag der Grund alles Lebens cin ciniger jei, deffen ewige Natur fid) in der Schöpfung der Welt entfaltet und offenbart, deffen Selbjt- bewuftfein in ſeinen Sdeen die Muſterbilder aller Dinge in fid tragt und danach den Kosmos gejtaltet, deffen Geift der allgegen- wärtige Mittelpunft der Unendlichkeit und die allumfaffende Cin- heit in der Fülle feiner Gedanfen und Thaten ijt. Wie das Innere und Aeugere, wie Centrum und Peripherie einander for- dern und vorausſetzen, jo Geijt und Natur, Ideales und Reales, Sh und Nicht-Ich. Wo fie sur Totalitit harmoniſch verſchmelzen, da erblüht die Schönheit.

Das Shine tritt uns nidt blos alé Stellvertreter einer frem⸗ den Vortrefflichfeit, ciner jenfeitigen Göttlichkeit entgegen, jondern

72 IL. Die Adee des Schönen.

bas Ideale und Göttliche ift in ihm gegenwärtig; darum verlangt die Aefthetit gu ihrer Grundlage allerdings das Syjtem der Im— manenz oder die Erfenntnif daß Gott der Welt einwohnt, dak er nicht ferne fteht von einem jegliden unter uns, ſondern bak ev uns befeelt und wir in ihm leben; fie verlangt die Erfenntnif dak der Geift die ſchöpferiſche Macht und Cinheit alles in Raum und Reit fid) ausdehnenden und entfaltenden, Raum und Beit dadurd fesenden und erfiillenden Seins ijt. Wher Immanenj ift ja nicht Vereinerleiung, ift nidt cin Verlöſchen Gottes in der Welt, ſodaß ber Schöpfer im Geſchöpf ſich erſchöpft hätte und nun nicht mehr für ſich ſelbſt wäre, ſondern wie das Wort ſagt ein Innenſein und Innenbleiben, wie die Seele im Körper, wie das Selbjt- bewuftfein in allen Gedanfen fid) erhält. Wie kann Gott der Welt immanent heifen, wenn er nidt aud) fiir fid) Gott ift und bleibt, dad heißt ihr nicht aud trans{cendent ijt? Immanenz und Transſcendenz, Unendlidfeit und Cinheit des Selbſtbewußtſeins ſchließen einander nicht aus, ſondern fordern einander.

Das Schöne entſteht nach Platon wenn Maß und Ordnung kraft des allwaltenden Geiſtes in der Mannichfaltigkeit offenbar wird; nur dürfen wir nicht die Vielheit dualiſtiſch neben die Cin- heit ſtellen, ſondern müſſen ſie als deren Entfaltung begreifen. Dann können wir immerhin das Schöne als das Glänzende an der Idee des Guten beſtimmen; dieſe Platoniſche Bezeichnung lautet dann wie ein Anklang an den bibliſchen Ausdruck von der Herr⸗ lichkeit Gottes als der nad) aufen gefehrten Erſcheinung feiner Seligkeit. Go erklärt wenigſtens Weiße's ſpeculative Dogmatik die Herrlichkeit als die göttliche Seligkeit in dem Momente ihrer Ausftrahlung aus dem von Ewigkeit zu Ewigkeit ſich gleichen Mittelpuntte des göttlichen Selbſt, überfließend in cine ſtets be- wegte Welt unabläſſig auf- und abfteigender Geftalten, deren jede an ihrer Stelle die ganze Fille jener aud) in der Unendlidfeit ihrer Unterfdjiede fid) gleiden Wefenheit in fid) trägt. On den Vorleſungen über Aeſthetik jagt Weiße ausdrücklich daß es nidt genügt das Abſolute als Vernunft und Wille zu faſſen. In der abſoluten Vernunft liegen die metaphyſiſchen und mathema— tiſchen Daſeinsformen und Daſeinsgeſetze; fie find das ſchlecht— hin Nothwendige, welches nicht nichtſein, nicht andersſein fann; fie find deshalb aud) aus reiner Vernunft gu folgern und ju erfennen, fie find da8 Denfnothwendige; aber fie bediirfen einen Inhalt der fich in ihnen verwirflidt. Ebenſo bedarf der Wille

2. Die Momente dee Shonen. 73

der Mittel fiir feine Swede, des Inhalts fiir fein Wollen. Diefe ftoffgebende Bildfraft, die der Quell der Gefiihle ift, nennt Werke nun das Gemiith, und fieht in ihm, fieht in der ſchöpferiſchen Phantafie die Natur des gittliden Geiftes. Und fo gewinnt er jur Sdee des Wahren und Guten, die in der Vernunft und im Willen walten, die Bdee des Schönen: das ewig wedfelnde und fliiffige und dod) von Ewigkeit zu Ewigkeit fic) ſelbſt gleide Er— gebniß des Lebensproceffes der innergéttliden Natur oder der innern, im Schaffen ſchauenden, im Schauen ſchaffenden Selbjt- offenbarung des gittliden Gemiiths, deffen Seligfeit eben darin befteht. Ich ſchließe mit jenen Reimen des alten Theologen Schmidlin, die Franz von Baader anzuführen liebte:

Gott in allem wächſt und lebet

Und fic) reidjet gu betaften;

In Gott alles wadhft und webet;

Uebrall muß fein Glanz erglaften ;

Denn was wächſet und gedeibet

Sid) in Gott, Gott in ihm freuet.

2. Die Momente des Schinen.

Haben wir im Gegenftande, welder das Gefiihl des Schönen in ung erwedt, die Harmonie der Idee und Erfdeinung, das in der individuellen Geftalt ausgepragte allgemeine Bildungsgeſetz, die Verſöhnung von Geift und Natur erfannt, fo war zugleich das Charafteriftifde dieſes daß hier die Gedanfenbeftimmungen jur finnliden Empfindung gelangen, dic idealen Verhiltnifje äußerlich anjfdaulid) werden. Go fommt vor allem die Form in VBetradt, und wir haben ju unterjuden wie fie bejdaffen fein mug daf fie uns gefalle, daß in dem unterfdiedliden und mannidfaltigen Ma— terieflen die ideale Cinheit fic) offenbare, der Cinklang beider ver- wirflidjt werde. Wenn wir aber dann erkennen daß die Form dem Inhalte feineswegs gleidgiiltig ift, und alles erſcheinende Wirkliche fid) als geformter Stoff oder Gebhalt darjtellt, und damit noth- mendig aud) einen beftimmten Raum, cine bejtimmte Zeit erfiillt oder feine Größe hat, fo werden wir ebenjo gut wie die Form aud) die Größe, aud) den Stoff und Gehalt ins Auge faffen miiffen um das Ganje nad) diefen feinen drei nothwendigen und wejentliden Elementen gu begreifen. Wir werden im vollendet

74 L. Die Adee dee Schönen.

Schönen die Zujammenjtimmung der dret Elemente gewahren, aber aud) cinfehen daß der erfte entidjcidende und herrſchende Cindrud von cinem derjelben ausgehen fann, fowie aud eins auf Roften der andern fic) vorzugsweiſe geltend maden mag. Wir betvadten aljo das Schöne nun näher nad ſeiner Form, nad) feiner Größe, nach ſeinem Stoff und Gebalt.

a. Das Formalfdine.

Das Schone iſt dasjenige was rein durd) feine Form gefallt, fo ſage aud) id) mit Rant; aber ich jehe im Aeußern die Aenfe- rung des Innern; das Anſich der Dinge geftaltet fic) fiir fid jelbjt wie fiir andere, fo gewinnt es feine Beftimmetheit, ſeine unterjdecidende Wirklidfcit; die Form ijt das ſelbſtgeſetzte Maß innerer Bildungsfrajt.

Das cigentlic) Aefthetifdje, das wodurd) das Schöne vom Guten und Wahren fic) cigenthiimlid) abhebt, find die Formen- verhältniſſe und unfer Wohlgefallen an ihnen; die uns gefallenden aufzuzählen und fiir fid) gu betradjten ijt unjere Aufgabe, und es ijt cin Verdienft Robert Zimmermann’s daß er ihr nadfam; aber id) fann ihm nicht beipflidjten, wenn er die Formen vom Inhalt {oft und rein fiir fic) betradjtet, zumal er felber das harmonifde Verhältniß von Form und Inhalt dod) unter die uns wobhlgefal- lenden einreiht. Dies ift aber nicht cin’ neben andern, fondern alle Form ift cin Ausdrud des Innern, feine Selbſtbeſtimmung. Wie das Innere zur Erſcheinung fommt das ijt fiir die Acfthetif allerdings das Wejentlidje, aber dag das Innere in der Geftalt fid) auSpriigt ijt die nothwendige Vorausjegung. Der Cinflang von Gehalt und Form ift nidjt die ganze Schönheit, aber die un- entbehrlice Grundlage in allem Schönen; Verhiltniffe innerhalb des Reichs der Formen diirfen wir nidt in eine Reihe jtellen mit dem Verhältniß der Form felbft zu einem andern, dem Inhalte.

Weil unſer Selbjt die ideale Cinheit ijt in der Mannidfaltig- feit unferer finnlidjen Naturerfdetnung, unjerer Vorjtellungen und Beftrebungen, fo kann das bejeligende Gefiihl der Lebensvollen- dung aud) nur durd) Formen hervorgerufen werden welde das Sdeale im Realen, dic Cinheit in der Mannichfaltigkeit, das Gefeg in der Erſcheinung ju Tage treten laffen; die Harmonie auger uns wedt die Harmonie in uns. Wir find zugleich felbftthatig und der Grregung von augen bediirftig; darum mug was uns befriedigen joll aus dem Gewöhnlichen heraustreten und cin Neues,

2. Die Momente dee Schönen: a. Form. 75

ein Mannidfaltiges fein; deun das Eintönige fangweilt uns; aber dads blos Verſchiedenartige jerjtreut uns, verwirrt ung, entfrembdet ung der Rube de8 cigenen Wefens; wir wollen bei aller Lebens- fitlle beruhigt in und felbft bleiben, und darum mug fie jelber das Cinheitlide im Geſetz, im der Ausgleichung der Gegenſätze, durch die Form jelbjt offenbaren. Der une gefallende Gegenjtand mug darum cin anfdjaulides Ganjes fein, deffen Theile fid) gu faßlicher Einheit zuſammenfügen; demnad muß ein Theil mit dem andern jujammenhdngen und dadurch feine beftimmte und unverdnderte Stellung erhalten, oder die Herrfdaft des Ganjen und Ginen und ihre durdpdringende Wefenheit muß durd die Ord- nung der Theile fidjtbar werden. Unordnung ift Machtloſigkeit deS Ginen und damit das wirre Durdcinander des Vielen; durd die Ordnung der Natur und der fittlichen Welt zeigt fie die Weis- heit des göttlichen Geijtes und feine das Mannichfache aufeinander beziehende und durddringende Einheit. So wird das Chaos jum Rosmos, das Beftimmungslofe oder Unformlide jum Schmuck, wie dic Hellenen die geordnete Welt naunten; die Ordmung, in die Plato und Avijtoteles da’ Shine vorjugsweije jegen, hat hier ihre Stellung und Bedeutung fiir die Verwirflidung deffelben. Schönheit entfteht nad Platon, wenn durd) die königliche Seele des Reus Ordnung und Gefegmapigfcit in der Welt des Stoffes verwirflidjt wird. So wollen wir die Fenfter cines Haujes in gleicher Flucht nebeneinander, innerhalb paralfeler Linien über— cinander angebradt, nidt bald hiher oder tiefer, bald ferner oder näher geftellt fehen; fo knüpfen mir in der Muſik die Tine an beftimmte Dauerverhiltniffe, fo laſſen wir in dev Poefie die fangen und furjen Silben, die Cebungen und Senfungen regel- mäßig wedjelu. So erfdeint Cinheit in der Mannichfaltigkeit. Sie herrjdt in det geraden Linie, welche die einmal cingejdlagene Richtung niemals dndert und dadurd uné den Cindrud der Gefets- lichfeit und entſchiedenen Feſtigkeit macht; fie herrſcht im Kreis, deffen Linie ihre Ridjtung fortwihrend, aber ftets auf die gleiche Weije ändert, ftets in gleicher Entfernung ſich um den Mittel— puntt bewegt und dadurd) zu klarer Gejdhloffenheit fommt. Das Gleiche gilt von der Kugel. Weil wir uns felber zur Ruhe nieder- {egen und jur Thitigfeit erheben, weil unjer aufredjter Stand Kraft aufwendet, macht uns das Berticale den erhebenden Cin- drud des Aufſtrebens, das Horijontale den dev gleichmäßig aus- gebreiteten Ruhe; fo der Wafferfpiegel, die Ebene in der Land-

76 I, Die Adee des Schönen.

{daft tm Unterfdjiede der Felfenfpigen und Thürme. Die Bedeu— tungen der Form aber will fo gut erflernt fein wie die der Worte; dem Vandalen find die helleniſchen Gitterbilder nidts ale Stein.

Ferner wird die Einheit oder das Ganje dadurd) in den Thei- {en erjdjeinen daß alle oder mehrere derſelben untereinander gleid) find. Go die Säulen um einen Tempel, die Fenfter der Abthei- {ung eines Gebäudes, die Tafte in einem Muſikſtück. Go in ein- zelnen Figuren die Gleidhheit der Winkel und der Umrißlinien; dieſe gehen zwar nad) verjdiedenen Ridtungen anseinander, aber fie treffen jufammen, durchſchneiden fid) und begrenjen damit abſchließend das Ganze. Das Quadrat zum Beifpiel bringt die Schärfe des rechtwinfeligen Gegenſatzes zur Auflöſung des allfeitig Gleiden und macht daher den Eindruck des feft in fid) Geſchloſſe— nen, der Wiirfel den des unerſchütterlich auf fid) Berubhenden. Das Ouadrat ijt der fic) felbft zur Cinheit aufhebende Gegenfak, den Gegenfag und die Vermittelung zeigt das Oreied. Es gefällt uns wenn feine drei Seiten gleid) find, oder wenn auf der Grund- linie die beiden andern fic) mit gleiden Winkeln zueinander neigen. Daffelbe gilt von der Pyramide, wenn die Grundlinien, cin Quadrat bildend, den von der Cinheit fdon beherrjdten Gegenſatz zeigen, die Seitenflidjen aber als gleichſchenkelige Dreiecke in einer gemeinfamen Spite zuſammengehen und dadurch die Cinheit er- ſcheinen laſſen, die in die Unterjdiede auseinandergeht, die Unter- ſchiede auf fid) bezogen Hilt. Das Dreieck ift zwar die erfte in fic) gejdloffenc gerabdlinige Figur, aber ungleidfeitig und dabet ſchräg geſtellt misfällt es uns oder erregt wenigftens fein Wobhl- gefiihl; dagegen wenn auf den horizontalen Grundlinien die beiden Seiten fic) unter gleiden Winfeln jujammenneigen und dadurch einander gleid) find, dann erfreut uns die Einheit im Unterfdiedenen, dann fehen wir ein ordnendes Princip verwirflidt.

Anziehung und Abftopung, Schwere und Bewegung beherrjden, durdwalten und geftalten die ganze Natur. Rant bereits bezeich— nete die Materie als das Rejultat zweier widerftreitender und fid ins Gleichgewicht fepender Kräfte, der Repulfion und Attraction. Bloke von einem Punkt ausgehende Bewegung wire Zerftreunng iné Wefenlofe, und die alleinige Concentration würde wreder alles in dem Mittelpunfte verfdwinden laffen; indem beide cinander die Wage halten, entfteht die fowol ausgedehnte als in fid) zuſammen— haltende Stofflidjfeit. Dieje dynamifde Auffaffung der Natur ſchließt die atomiſtiſche nidt aus; jedes Atom ift ein Kraftcentrum

2. Die Momente des Sdhinen: a. Form. 77

das nad aupen wirft und Gegenwirfung von augen erfährt, und es befigt das Widerftandsvermigen, durch) welded es ſich in feiner Sphire behauptet, nichts Fremdes in fic) eindringen (apt. Nun ergibt fic) aber der Rreis wie die Kugel dadurd daß von einem Mittelpuntt aus fid) die Radien nad allen Seiten gleichmäßig entfalten, oder daß die Umfangslinie wie die Oberfläche ftets in gleicher Weife vom Centrum angezogen wird; die Figur wie der Körper veranjdaulidt uns das Gleichgewidt ausftrahlender und anjiehender Kraft, und damit den Begriff der Materie jelbft; die Geftalt des fic) freibildenden Tropfens wie der Weltfirper und ihrer Bahnen ift dadurd bedingt. Das Gefes der Gravitation, weldes den Bau des Univerjums im Grogen wie die Wirfungen der magnetifden und eleftrijden Anziehung im Kleinen beherrſcht, ijt ein Vernunftnothwendiges, und jpridt das Weſen des Naumes aus: er entfteht dadurd) daß eine Kraft von dem Mittelpunkt aus rings fid) gleidjfirmig entfaltet; jo breitet die Kraft ftets in immer größern concentrifden Kugelfliden fid) aus, und da die Kugelflächen fid) wie die Quadrate der Halbmeffer verhalten, fo nimmt die Kraft nad) dem Quadrat der Entfernung ab und zu, da fie demfelben gemäß über einen um fo größern oder fleinern Raum verbreitet ift.

Im Kreis und in der Kugel herrfdjt die Einheit und das Geſetz fo ſichtbar und macht alles Viele und Wechſelnde fid) fo dienftbar, daß fie unfern Sdinheitsfinn, der nad) Freiheit und felbjtindiger Lebensfiille verlangt, fiir fic) allein zwar nidjt befriedigen, dag fie aber die unerlaglide Grundlage fiir das uns Wobhlgefallende find, das nun die Strenge der Form mit dem Reidhthume jeiner Ent- faltungen umfpielt. Die ellen in der organijden Natur, die gerundeten Vinien de8 menjdliden Rirpers, Blumen und Friidte wie die Ruppeln und runden Säulenſtämme, die Gewslbbogen und Voluten in der Arditeftur deuten darauf hin. Beijing, der Ma— thentatifer unter den Aejthetifern, hat dies näher erirtert und von dem Kreis und der Kugel aus die durdh fie beftimmten regel- mäßigen Vielede, die Polygone wie die Polyeder, mit phantafie- vollem Sdarffinn unterjudt. Gerade als Veranjdaulidung der unbeſchränkt waltenden Geſetzmäßigkeit ijt aud) ihm die Kugel ein Gebilde von weitgreifendfter ajthetijder Bedeutung; er behauptet mit Redht daß eine Geftalt den zur Schönheit unerlapliden Ein— drud der irgendwie geſetzmäßigen Bildung nur infoweit zu er- zeugen vermag als fie das die Kreis- und Rugelform beherr-

78 [. Die Sdee des Schönen.

ſchende Geſetz unmittelbar faflid) anjdjauen läßt, nad weldem jid) die Vielheit und VBerfdhiedenheit als cine Auseinanderlegung der Ginheit und Gleidhheit erweift, wie die Kugel eine Entfaltung des Punktes ijt und die ftrenge Ordnung in der geraden Linie des Radius wie in der gefriimmten Oberflide zur Erſcheinung bringt. „Wie die Kugel in ihrem Innern einen ſchlechthin ein- heitliden Punkt befigt, weldjer fiir alle auger demjelben an ihr unterfdeidbaren Bejtandtheile jugleid) der Ausgangs- und der Ziel- punft ſowie das ihre Cage und Anordnung im Raume beftimmendc, ja ſelbſt ihre Mannichfaltigkeit nach feiner Cinheit regelnde Princip ijt, fo mug überhaupt jede Form, die als folche dem äſthetiſchen Bedürfniß nad) Geſetzmäßigkeit Geniige leiften ſoll, einen folden die urjpriinglide Cinheit des Gebildes reprajentirenden Punkt in fid) tragen, und derfelbe muß für alle um ifn vereinigten Form— efemente im Wefentlidhen auch dieſelbe regulatoriſche Bedeutung wie jener befiken, wenn er aud) den einzelnen Beftandtheilen in— joweit eine freiere und ſelbſtändige Gejtaltung gejtattet als es ohne wirflide Preisgebung des Cinheitsprincips gejdehen kann.“

Man wird fic) fogleic) jelber daran erinnern wie das in fid Abgerundete, in fic) Geſchloſſene eines Gedidts und einer Melodie wie einer Landſchaft oder eines Geſchichtsbildes von uns gefordert wird; wie alles Frembdartige, Störende abgehalten, alles Bejondere nad) dem Maße des Ganzen beftimmt, alle Gegenſätze ausgeglichen werden miiffen, wenn Ste Schönheit uns erfreuen ſoll.

Reijing fihrt fort: „Es gibt unter den mathematijden Figuren feine deren Formation fic) nidt wenigitens in einjelnen ihrer Momente aus den in und an der Kugel fich darftellenden Form- elementen und deren Geſetzen ableiten ließe. Go find 3. B. alle iiberhaupt möglichen gleichfdenteligen Dreiede in den Dreieden enthalten deren Seiten aus zwei Radien und der ihre Endpuntte verbindenden Sehne eines Kreiſes beftehen; alle rechtwinfeligen Dreiede liegen tm Bereich derjenigen deren Hypothenuje aus einem Radius und deren beide Katheten aus der Hilfte einer Sehne und alfo einem durch dieſe beiden Stiide mitbeftimmten Stiid cines zweiten Halbmeffers, d. h. ans dem Sinus und Cofinus deS von der erften und dritten diefer Seiten eingefdjloffenen Centriwintels beftehen; und jo laſſen fid) aud) alle ſchiefwinke— ligen und ungleichfeitigen Dreiede als aus Sehnen oder fonftigen Kreisfunctionen zuſammengeſetzt auffaſſen und beftimmen, weil es iiberhaupt fein Oreie gibt um welches und in welded fid) nicht

2. Die Momente des Sdhinen: a. Form. 79

ein Rreis beſchreiben ließe, welches alfo nicht theils ſeine End— puntte, theils die Mittelpunkte feiner Seiten mit der Peripherie eines Kreiſes gemein hätte und in zwei redtwinkelige Dreiede jerlegt werden finnte, deren Ratheten wieder als Sinus und Co— jinus eines ihnen umgejdricbenen Kreiſes aufjufaffen find.“ Oem mathematijd minder Gebildeten {aft fic) aud) fagen daß ftets die größte Linie eines redhtwinkeligen Dreiecks der Durdmeffer eines Kreiſes ift an deffen Umfang die beiden kleinern Seiten mit dem redten Winkel anſtoßen. Sämmtliche geradlinige Figuren aber laſſen fic) in Dreiede jerlegen, und alle Curven ftehen in Be- ziehung zur Kreislinie. Wenn wir aber die regelmapigen Figuren in den Kreis hineinzeichnen, fo erſehen wir wie aus der Cinheit die Vielheit, aus der Gleichheit die Verſchiedenheit fid) entwicelt. Denn indem hier einzelne Punfte der Kreislinie fixirt und durd gerade Linien miteinander verbunden werden, fo treten mannid): faltige Richtungen hervor, aber fie find wieder cinander gleid). Das Dreied Hat indeß nur dret Punfte mit der Kreislinie ge- mein, und fo verbirgt fid) uns der Dtittelpunft bet der An- ſchauung ſeiner drei entgegengejesten Eden; ſehr vielfeitige Fi— guren aber beriifren den Kreis ſehr oft, laffen jeine Linie als das fie Beherrfdende und damit die Mtadt des Mittelpunktes erſcheinen. Iſt aber das Schöne die Ausgleidung und Vermitte- lung des Einen und Vielen oder Unterjdiedlichen, fo werden die- jenigen Bielede die gefilligften fein die wie das Fünf- Sechs— Acht- ober Zehned neben der Aehnlichkeit mit dem gerundeten Kreis dod) nod) den Gegenſatz des Geradlinigen ju feinem Rechte fommen faffen. Das Sedhsed ift and) dadurd ausgezeichnet daß jeine Seiten dem Halbmeffer de8 Kreiſes oder der Entfernung der Ecken vom Mittelpunft gleid) find. Go gefällt es uns als Sdhema der Rofetten, wihrend das Fiinfe der Bahl und Stellung der Kelch- und Blumenblitter der Roſen und Ranun- feln, der Seefterne, der Gliederung unjerer Extremititen in Zehen und Fingern zu Grunde fiegt.

Wie die regelmifigen Polygone von gleiden Linien, fo find die regelmäßigen Polheder oder Körper von Flächen begrenjt dic jelber Polygone find; wie diefe den Mittel- und die Endpuntte ihrer Linien mit dem Kreis gemeinfam haben, fo die regelmigigen Körper mit der Kugel. Die begrenjenden Flächen von gleicer Geftalt und Größe, die Ranten und Eden in gleidem Abftand vom Mittelpunkt, die Gleidheit der Winkel und Seiten zeigen

80 I. Die Idee des Schönen.

uns in der Fülle des Mannidfaltigen die herrſchende Cinheit und Gejeblidfeit auf den erften Blick; fie find von ebenfo fpannend belebender als berubhigender Wirfung auf unfer Gefiihl, und jo befriedigen fie ben Schinheitsfinn; ja fie thun die’ um fo mebr als fie bet den mannidfaden Verkürzungen und Verfdiebungen welde die perfpectivifde Anſicht mit fic) bringt, ftets wieder har- monijde Verhiltnijffe vors Auge treten faffen. Welche Mafver- hältniſſe fic) iberhaupt innerhalb ihrer wie der Polygone ergeben das hat Zeiſing entwidelt um klar gu madjen wie fie durchaus innig jufammenhingende und vernunftgemäß gegliederte Ganje bifden. Go treten fie in den Kryftallen und kryſtallähnlichen Ge- bilden hervor; fo gleiden fie fiirs Auge dem Accord der Tine fiir das Obr, das ja aud fid) an einem harmonifden Verhältniß gleichförmiger Schwingungen erfreut. Es ijt das Vernunftnoth- wendige das der Geift in der Mathematif anfdaut, das in den geometrifden Formen, den mathematifden Verhaltniffen die Natur beherrjdt, weldjes alS bas ordnende Princip in der Fille des Lebens hervorzuheben die Aufgabe der Kunſt iſt.

Mathematijde Linien find zunächſt die gerade und die freis- férmige, weil die erfte ihre Richtung nie, die andere beftiindig auf gleiche Weife dndert; die wobhlgefilligen Conturen in der Natur und in der Kunſt liegen mitteninne: fie haben die Cinheit in einem ununterbrodencn Schwung, in einem fanften Flug, die Mannidfaltigfeit in der Abweidung von der reinen Regelmäßig— feit, indem fie ihre Ridjtung ſtets dndern auf neue und dod) zu— jammenhingende Weiſe. Wan vergleidhe mit einem dorifden Capitil der Romer, da8 einfach ein Viertelfreis ijt, eins vom Parthenon; dort cine gleidgiiltige Nüchternheit, hier im freien Schwung lebendig anregende Schönheit.

In der Verfdiedenheit der einzelnen Theile untereinander hat ferner die Cinheit dadurd) ftatt daß ftets dod) eingelne cinander entfpredjen; Unuge und Ohr, Arm und Bein find einander ſehr unähnlich, je ein Glied aber hat an einem entfpredenden fein Gegenbild, die vielen unterfdiedlidjen Theile einer Seite des Menfden haben an denen der andern ihre gleide Wiederholung, und died madt ein gemeinjames, ordnend geftaltendes Princip in allen anſchaulich. Dies letztere madjt fid) nun fogleid) näher dadurd) geltend, dag die einanbder entjpredenden Glieder nidt willfiirlid) unter andere ungleide geftellt find, fondern daß fie einen beftimmten Ort haben und in ihrer Doppelheit ins Auge

2. Die Momente des Schinen: a. Form. 81

fallen. Das wird wieder am leichteſten bewerfitelligt, wenn das Ganze in zwei Seiten fic) theilt, deren cine die andere in gleider Ordnung aller Glieder nadbildet. Da zeigt fid) dann Fiille des Mannidfaltigen auf jeder Seite, und der augenſcheinliche Beweis der fie durchherrſchenden Cinheit wird dadurd) gefithrt dag alle Verjdiedenheit der Geftalt und Lage nad genau fic) wiederholt.

Dies bringt uns jum Begriffe der Symmetrie. Hier erfdheint die Cinheit als ein Mittelpunkt oder eine Achje, von wo aus die Geftaltung des Unterjdiedenen ausgeht, wodurd) daffelbe aber zugleid) aud) gujammengebalten wird, indem eine Seite die andere abjpiegelt, und ftets in gleider Cntfernung von dem Centrum oder der Miittellinie oben und unten oder redts und linfs diefelben Formen wieder auftreten, und gwar nidt in einfader Wieder- holung, fondern ale Gegenjag, wie denn das Thrinenfidden des redjten Auges auf deffen linfer, das des linken Auges auf deffen redjter Seite fteht, und beide von der Mittellinie des Ge- ſichts gleicjweit entfernt find. Cine Hilfte ijt alfo in dem fym- metrifden Ganjen die Umfehrung und der Gegenfag der andern und dod) ihr gleid); eine verdoppelt die andere, als ob fie ifr Gegenbild im Spiegel wire, und feine fann ohne die andere be- ftehen, da fie erft an ifr Halt und Gegengemidt findet. Seder Theil tritt als folder aus der Cinheit hervor und realifirt an fid und fiir fid) da8 Mannidfaltige, und jeder bleibt dod) im Zu— jammenhange des Ganzen nur auf die Cinheit bezogen, und daß in diefer die Macht der Entfaltung und Geftaltung wohnt, wird durd) die Gleichheit dev einander entipredenden Unterfdiede und durd) ihre gleiche Stellung und Richtung zur gemeinjamen Mitte bewiejen. Sie tritt als das Cinheitsband zu Tage, das die Viel: heit der Glieder ordnet und zuſammenhält.

Cin Kreis wird durd) den Ourdmeffer in zwei ſymmetriſche Hälften getheilt. In dem regelmäßigen Sechseck, das wir in die Peripherie des Kreiſes hineinzeichnen, liegen fich ftets zwei Linien einander entipredjend gegeniiber. Ziehen wir vom Centrum die Radien nad der Peripherie, fo erjdeint der Umfang wie eine Ausſtrahlung vom Mittelpunkt, welder aber ftets die Endpuntte der Halbmeſſer in gleicher Entfernung von fid) Hilt oder die Linie der Peripherie ftets gleichmäßig anzieht. Cine ahnlide Sym- metric zeigt die fternfirmige Geftalt, welche um einen fleinen Kreis der Mitte fpigwinkelige Oreiede ftellt; die rofenfirmige ent{teht, wenn ftatt der legtern halbe oder Dreiviertelstreije fid

Carriere, Wefthetif. I. 3. Muff. 6

82 I, Die Sdee des Schönen.

anjegen, die nad) rechts und links oder nad) oben und unten einander entſprechen. Wir finnen in folden Anſätzen das Grad- finige und Curvenhafte abwechſeln laſſen und dadurd) die Mannid- faltigfeit erhihen, fobald nur wieder in diefem Wechſel das Gejes bewahrt wird daß cine Seite die andere wie im Spiegelbilde wiederholt. Bisher war die Mitte oder das Cinheitsband als Punkt gejekt, als Achſenlinie erjdeint fie bei Kryſtallen, als Stamm der Baume, in der Arditeftur eines Giebelbaues, in der menſchlichen Geftalt.

Die Symmetrie erfdeint in der Wellenbewegung, wenn der Abſchwung in derjelben Weije vom Höhenpunkt fid) entfernt als der Aufſchwung ſich ihm genähert hatte. Dies läßt fid) auf das Leben dex Gefiihle in der Seele iibertragen, die anſchwellend in ihr auffteigen und dann fid) der Totalität des Gemiiths verſöhnen; e8 läßt fid) vom da wieder auf die Melodie in der Muſik und auf die architektoniſche Gliederung muſikaliſcher Sätze anwenden, die nicht blos im wedfelnden Rhythmus durd) den Takt ein gleides Zeitmaß bewahren, fondern aud) Taftgruppen zu rhythmiſch— jymmetrijden Gliedern zuſammenordnen. Diejelbe ſymmetriſche Bewegung zeigt ſich im Drama; es entwickelt ſich wie ein Ge— wölbe, das einem Höhen- und Umſchwungspunkt zuſtrebt und dann in derſelben Weiſe ſich wieder abſenkt; die Expoſition und die Löſung lagern ſich als erſter und letzter Act gegeneinander, und in der Mitte zwiſchen ihnen ſteht die Verwickelung oder der Conflict, der wieder ſymmetriſch gegliedert oder in drei Acte zer— legt werden kann. Wir haben die Symmetrie im erſten asklepia— deiſchen Vers. Die Längen, die Kürzen ſind von der Linie der Mitte ſtets in gleichem Abſtand, eine Hälfte wiederholt die andere in entgegengeſetzter Richtung wie im Spiegelbilde:

Betrachten wir den menſchlichen Körper, der ſich uns ſpäter als die äſthetiſch vollendetſte Naturerſcheinung erweiſen wird, ſo zeigt ſich uns die Symmetrie in dem Verhältniß der rechten und linken Seite, nicht aber in der Beziehung von vorn und hinten. Hier würde die Wiederholung des Gleichen ſtörend wirken, da ſie die Richtung des Körpers unkenntlich machte, ſtatt ſie anzugeben. Hier bedürfen wir vielmehr einen Unterſchied der Vorderanſicht von den Seiten und dem Rücken. Bei der Pflanze, die im Boden feſtſteht, iſt dies freilich nicht nöthig, wol aber bei des Menſchen frei beweglichem Organismus; ihm muß man es anſehen wohin

2. Die Momente des Sdhinen: a. Form. 83

er fic) wendet, und fo geht der Blick des Auges, fo jftreben die Knie vorwirts, die Arme Haben nad) vorwirts Hin die größere Behendigkeit, während die Elnbogen juriidftehen, und aus dem Antlig tritt die Naſe, an den Füßen treten die Zehen hervor. Der Schädel, der der Sinnesorgane ermangelt, Schultern, Ge- jig, Kniefehlen und Ferjen dharafterifiven eine Rückſeite, die den Gliedern der Vorderanfidt theils einen feften Halt, theils die Be— weglichkeit gewährt. Eines bedingt das andere oder wirft fiir das andere, dadurch tritt die Cinheit in der Wechſelbeziehung hervor. Er ijt diejelbe äußere Linie des Umriſſes, weldje die vordere und hintere Anfidht des Menſchen umſchreibt, aber innerhalb derjelben zeigt fic) cine verfdhiedene Modellirung, jedod) fo dak eines auf das andere hinweiſt. Ich fage nidt dak died ſchon Schinheit ijt, aber id) betradjte es als eine Bafis und Bedingung derjelben, als eine nene Weife wie Mannidfaltigfeit auftritt und dod) Einheit bleibt. So ijt der Schluß einer Didhtung etwas anderes als die xpofition, und dod) nur die Cutwidelung deffen was durd fie angelegt und begriindet ift; er darf fid) nidjt als ein wildfremdes Element darjtellen, deffen Gehalt etwa erſt im Verlauf der Hand- {ung hereinfime, fondern mug in dem WAnfange wurzeln, wihrend er zugleich das Biel ijt das allen ftreitenden, ftrebenden Kräften die Ridtung weift. Bn der Ardhiteftur gibt die Richtung ſich fund durd) das Ucberiviegen einer der Hauptlinien, der verticalen oder horizontalen, der in dic Breite oder Tiefe gehenden. Sie miiffen aber alle untereinander in cinem Verhältniſſe ftehen das fid) Dem der Tine vergleicht welche zuſammen einen Accord bilden, wenn dic Harmonie, die Hier da8 Ohr erfrenut, dort das Auge befriedigen foll. Dies fiihrt uns jum Geſetze der Proportion. Dieje beftimmt das Verhältniß der Theile untereinander und jum Ganzen. Bhrem Begriffe nad) find die Theile dem Ganjen ungleid), unter ſich fonnen fie gleid) oder ungleich ſein. Om erſteren Fall erſcheint die Cinheit als das die Theile Beftimmende, aber aud) ihre Sudividualitit fid) Unterwerfende; dieſe letztere tritt in der Ungleidheit hervor, aber auf often der Cinheit. Wir werden volles Geniige haben, wenn es gelingt diefe dennod) zu retten. Es wird der Fall fein, wenn wir ein Verhältniß finden welches den ungleiden Theilen cin Maß gibt das fie untercinander und mit dem Ganzen zuſammenbindet. Logiſch finnen wir ſagen: es wird dadurd) gejdjehen dag das Ganze um fo viel größer ift alg der größere Theil, wie diefer den kleineren iiberragt, oder daß G*

R4 I. Die Idee des Schönen.

vom kleineren Theil zum größeren dieſelbe Steigerung ſtattfindet wie vom größeren zum Ganzen. So hat ſchon der Platoniſche Timäus dasjenige Verhältniß als das ſchönſte und darum in der Natur herrſchende beſtimmt, in welchem das mittlere Glied ſich auf gleiche Weiſe zum kleineren und größeren ſtellt und dadurch beide einträchtig verbindet.

Eine ſolche Theilung vollziehen die Mathematiker durch den goldenen Schnitt. Man erlangt ſie auf dem Wege geometriſcher Conſtruction, indem man von einer als das Ganze gegebenen ge— raden Linie die Hälfte nimmt und unter einem rechten Winkel an das Ende von jener anſetzt, dann beide Linien als Katheten durch eine Hypothenuſe verbindet. Von dieſer Hypothenuſe zieht man jene Hälfte der erſten Linie ab, nimmt den Reſt und überträgt ihn auf die erſte als Ganzes gegebene Linie; hier iſt er der ge— ſuchte größere Theil, der die geometriſche Mitte zwiſchen dem übrig bleibenden kleineren und dem Ganzen bildet. Wir nennen den größeren Theil Major, den kleineren Minor; man kann ſie auch durch Rechnung finden, und nimmt man die Zahl 10 als Ganzes an, fo iſt der Major 6,isoz ..., der Minor 3,197... Will man nun auf die angegebene Weiſe weiter theilen, ſo bedarf es keiner neuen Conſtruction oder Wurzelausziehung, ſondern man nimmt den größeren Theil (den Major) nun als Ganzes an, und der urfpriinglide Minor theilt daffelbe nun fo dag er die Mitte bildet gwifden dem kleineren Refte und dem Ganjen, alfo jest deffen Major iſt. Sekt man aljo die Theilung fort, fo erſcheint das Ganje ,,als eine Compofition von lauter gleiden Berhilt- niffen, alé die confequentefte Ausfiihrung einer und derfelben Grundidee; denn alle Maße der eingelnen AWbtheilungen find lieder einer nad) dem nämlichen Grundverhiltnig forjdreitenden Reihe“, um mit Zeifing gu reden, der das Verdienſt hat das logijd) Ridtige mit mathematijdher Schärfe an den Werken der Kunft und Natur nadgewiefen und dadurd) das urjpriinglide Proportionsgejes gefunden ju haben. Nehmen wir 1000 als Ganzes und jerlegen es durd) fortgefebte Theilung, fo gewinnen wir mit Weglaffung der Decimalftellen folgende Zahlenreihe:

1000 : 618 : 381 : 236: 145: 90:55: 34:21:13:8:5:3:2:1. Nehmen wir die erften Primgahlen 1 und 2 und addiren fie,

jo entjteht 3; addiren wir 2 und 3, fo entfteht 5, ſetzen wir dies als (estes Glied und addiren das vorlegte, fo haben wir 8, und

2. Die Momente des Schönen: a. Form. 85

fo durch fortgeſetzte Addition der beiden letzten Glieder entfteht eine ganz ähnliche aufwärts fteigende Reihe:

1:2:3:5:8:13:21:34:55:89:144...

Durd den Wegfall der Briiche find die Verhiltniffe der fleineren Zahlen nidjt ftreng ridtig; 5 als Major von 8 ijt um “vo, ö al8 Minor von 13 um 7/,5) zu grog, zwei Differenzen die wahrnehmbar find ohne da8 ideale Verhiltnif zu jerftiren, bie es nad) verſchiedenen Seiten hin leife modificiren. Die Ver- hiltniffe 3:5 und 5:8 find Schwanfungen um den feften Pol einer idealen Grundlage. Werfwiirdigerweife findet nun RZeifing daß auf ihnen zwei Hauptdiffererizen der realen Erſcheinungen be- ruben, eine in der afuftifden, eine in der optifden Welt. Das Verhältniß de8 Durzweiklangs und der oberen Hälfte des männ— lichen Körpers zur unteren (die Mitte bildet der Nabel oder die Taille über den Hüften) iſt 5:8; das Verhältniß des Mollzwei— klangs und der Hälften des weiblichen Körpers ijt 3:5; dort wird der Major, hier der Minor ein wenig bevorzugt.

Die beiden Seiten des Menſchen ſind ſymmetriſch, in der Theilung von oben nach unten aber herrſcht die ungleiche Thei— lung nach dem goldenen Schnitt. Der untere Theil, der nicht blos ſich aufrecht zu erhalten, ſondern auch den oberen Theil zu tragen hat, muß darum größer erſcheinen; das Höhere gleicht den Vorzug, den ihm ſeine Stellung gibt, dadurch wieder aus daß es etwas kleiner ijt. Go das obere und untere Geſchoß eines zwei— ſtöckigen Bauwerks oder das getragene Gebälk eines griechiſchen Tempels vom Architrav an bis zur Giebelhöhe im Verhältniß zu den tragenden Säulen und dem Unterbau, der ja ebenfalls tragend, emporhebend wirkt. Die umgekehrte Anordnung würde drückend und niedrig erſcheinen; nur wo der untere Theil als blos dienen— des Glied einem ſelbſtändigen Höheren untergeordnet ſein ſoll, wie das Piedeſtal der Statue, da rechtfertigt ſich dieſelbe, und wenn hier die Höhe des Piedeſtals die der Statue überragt, wie bei dem Friedrichsdenkmal, ſo iſt dies ein ſchlimmerer Fehler, als wenn das Piedeſtal den Minor nicht ganz erreicht, wie bei der Bildſäule des großen Kurfürſten in Berlin. Selbſt die Form einzelner Buchſtaben verdankt ihr wohlgefälliges Anſehen dieſem Verhältniß; man betrachte das B oder KR; fie find um fo eleganter alg das Verhiltnif der oberen zur unteren Halfte dem des Minor

86 I. Die Sdee des Schinen.

jum Major näher fommt; dic Gleichheit wire langweilig, das umgefehrte Verhältniß (B R) widerwirtig weil zweckwidrig.

Bei dem vollendetſten Bauwerk das aus dem Alterthum er— halten iſt, dem Parthenon, verhält ſich die Höhe zur Breite der Eingangsſeite wie der Minor zum Major. Die Höhe beſteht aus dem tragenden Theile, dem Unterbau der drei Stufen und den Säulen, und aus dem auflagernd getragenen Gebälk und Dad; naturgemäß jener Theil der größere; der kleinere verhält fid genau zu ihm wie der größere zum Ganzen, die Linie des goldenen Schnitts iſt die Grundlinie des Architravs. Das horizontale Ge— bälk und der ſchräge Giebel zeigen wieder daſſelbe Verhältniß des kleineren Theils zum größeren wie des größeren zum Ganzen. Das Gebälk beſteht aus dem Architrav und dem Triglyphenfries, und wieder gilt daſſelbe. Aehnliches zeigen die gothiſchen Dome der edelſten Art zu Marburg, Freiburg, Köln. Aehnliches zeigt der menſchliche Körper. Das Geſicht, der Arm, die Hand ſind wieder in ungleiche Theile gegliedert, die in dem Verhältniß des goldenen Schnittes ſtehen; was Theil war wird als Ganzes ge— nommen und wiederholt in ſich deſſen Verhältniß, und ſo ſteht alles Beſondere auf eine ſinnvoll wohlgefällige Weiſe in einem geſetzlichen Verhältniß zueinander und zum Ganzen.

Fechner experimentirte mit Rechtecken; deren Höhe und Breite er in verſchiedene Verhältniſſe brachte; das Quadrat und die An— näherung an daſſelbe gefiel weniger; viele erklärten ſich für das Verhältniß von zwei zu drei, oder das von 13 zu 23, die meiſten bevorzugten eine Figur deren eine Seite 23, die andere 34 Maßeinheiten betrug: es waren die Zahlen des goldenen Schnittes; ihnen gegenüber hatte von 100 Perjonen keine einzige ein Misfallen ausgeſprochen, was eintrat wenn die Unterſchiede bedeutend kleiner oder größer waren. Fechner fügt hinzu: „Man braucht nur die durchſchnittlich vorkommenden Büchereinbände, Druckformate, Schreib- und Briefpapierbogen, Caſſenbillets, Wunſchkarten, photographiſchen Karten, Brieftaſchen, Schiefer-, Chocoladen- und Bouillontafeln, Pfefferkuchen, Toilettenläſtchen, Schnupftabacksdoſen, Ziegelſteine u. a. anzuſehen, um ſogleich an den goldenen Schnitt dadurch erinnert zu werden, wenn man ſich das Verhältniß deſſelben durch Anſchauung hinreichend imprimirt hat, um bei Meſſung der einzelnen Exemplare aus dieſen Klaſſen zu finden daß ſie meiſt nur wenig vom goldenen Schnitt ab— weichen.“ Es kommt dabei nicht blos das Verhältniß von Major

2. Die Momente des Schönen: a. Form. 87

und Minor, fondern aud) das des Minors jum Ganjen in Betradt.

Bei Tonwerfen beftimmen wir die Zeitdauer durd) die Zahl der Takte; die Gliederung jeigt aud) hier bet den vollendetiten Werfen den goldenen Sdhnitt. So hat der erfte Theil im Allegro von Mozart's Jupiterſymphonie 120, der zweite 193, das Ganze 313 Tafte. Das Adagio von Beethoven's B-dur-Symphonie zer— legt fid) in 40 und 64 Tafte, die Gliederung der C-moll-Sym- phonie fpielt mit geringen Abweidjungen um die Strenge des Geſetzes. Emil Naumann hat dies bei Bad) und den genannten Meiftern bis ing Detail ausgefiihrt und dazu die Bemerfung ge- macht dag die Gejammttonmaffe eines Ordhefters am ſchönſten wirft, wenn fid) die Klangmaſſe der Streidjinftrumente, nad) der Kopfzahl der Mitwirkenden bemeffen, zu der Klangmaſſe der Blas- inftrumente genau fo verhilt wie der Major zum Minor. In der Plaſtik gilt das Geſetz des menſchlichen Körperbaues. Bei Rafael’s Meiſterwerken herrſcht im Aufbau der Compoſition das Propor— tionsgeſetz um ſo klarer je harmoniſch befriedigender ſogleich der erſte Eindruck iſt, wie bei der Sixtiniſchen Madonna, bei der Disputa. Michel Angelo läßt ſeinen Gottvater dem Adam nicht den beſeelenden Odem in die Naſe blaſen, was ein übles Bild gegeben hätte, ſondern den Lebensfunken aus dem vorgeſtreckten Finger Gottes in den ihm entgegengehobenen des Menſchen ſtrömen; der Geſtalt Gottes gebührt der größte Raum; darum bezeichnet der goldene Schnitt in der Breite des Gemäldes die Stelle zwi— ſchen den Fingern. Und ſo iſt es nicht zu viel behauptet daß in allen Kunſtwerken erſten Ranges die bedeutenden Abſchnitte der innerlich wie äußerlich hervortretenden Organiſation mit dieſer Proportion zuſammentreffen, die von den Griechen wol gerade wegen dieſer ihrer Vorzüglichkeit und Anwendbarkeit der goldene Schnitt genannt wurde.

Es ruhen die Theile zur rechten und linken Seite der Mittel— linie eines Bauwerkes auf der Erde oder ſtehen in gleicher Höhe über ihr, und darum ſoll hier das Geſetz der Symmetrie walten, weil kein Grund vorhanden iſt einen um des andern oder Ganzen willen zu verkürzen. Herrſcht wie bei dem Menſchen in der Höhenrichtung die Proportionalität, in der Breitenrichtung die Symmetrie, ſo haben wir auch hier einen Unterſchied der die Einheit nicht aufhebt, ſondern ſie offenbart ihre Herrſchaft ſelbſt

88 I, Die Idee des Schinen.

in der Mannichfaltigkeit auf mannidfaltige Weife, und erſcheint dadurd) nur um fo midtiger.

Endlich fann dic Verhiltnifmapigkeit dadurd erfdeinen daß Kraft und Laft, daß Zweck und Mittel miteinander im Gleid- gewidt ftehen. Gin Ueberſchuß von Rraft madt den Cindrud eines unnithigen Aufwandes, einer eiteln Anftrengung, oder aud einer Forderung von Leiftungen die nidjt gewährt werden; ein Uebermag von Laſt gibt eine gedriidte, ſchwerfällige, mühſelige Geftalt; diinne Säulen unter maffigem Gebälk, cin zierliches Dächlein anf maffigen Pfeilern find gleiderweife unbefriedigend. Der Slefantenfopf mit feinem Rüſſel auf den menſchlichen Leib geſetzt, wie es die indifde Kunſt gethan, ift ſchon in dieſer Be- ziehung verwerflid. Aud) in der Poefie werden grofe Zuriiftungen um einer Rleinigfeit willen oder gewaltige Worte und pradtvolle Bilder gum Ausdruck eines einfachen Gefühls eher den Eindruck des Lächerlichen als den des Schönen machen. In der Muſik zeigt ſich gerade der Mangel an Genie durch das große Geräuſch und Getös der Tonmaſſen um dürftige Gedanken zu begleiten, viel Lärm um Nichts. Wenn dagegen die Größe der Leiſtung, wenn die Form dem Weſen entſpricht, ſodaß die Kraft in ihrer Aeußerung offenbar wird, wenn wir die Zweckmäßigkeit ſehen, wenn ſie uns unmittelbar einleuchtet ohne daß wir erſt über ſie nachdenken müſſen, ſodaß eine Forderung der Vernunft durch die Sinneswahrnehmung befriedigt wird, dann erfüllt uns das Wohl— gefühl der Schönheit.

Schönheit iſt angeſchaute Zweckmäßigkeit in gefallender Form, dieſe Begriffsbeftimmung führt uns in das Weſen der Sache tiefer cin; ſie bedarf aber einer näheren Erörterung.

Wir kennen den Zweck zunächſt in unſerem eigenen Denken, Wollen und Handeln. Der Wille ergreift eine Vorſtellung um ſie zu verwirklichen, er macht ſie damit zum Ziel ſeines Handelns, oder zum Zwecke ſeiner Thätigkeit, und was er ihrethalben auf dem Wege der Ausführung bedarf oder unternimmt, heißt Mittel, weil es die verbindende Mitte der Vorſtellung und der Außenwelt, des Gedankens und des erreichten Zweckes bildet. Hier iſt alſo das Ende oder das erlangte Ziel der Grund der Bewegung, oder das Letzte iſt auch das Erſte als Grund der Thätigkeit, und was am Ende verwirklicht wird war im Anfange ſchon innerlich vor— gebildet; oder wie Hegel ſich ausdrückt, die Urſache bleibt in der Wirkung bei ſich ſelbſt, ſchließt ſich im andern mit ſich ſelbſt

2. Die Momente des Schönen: a. Form. 89

jujammen. Ebenſo iſt die Kantiſche Beftimmung verftindlid: daß der Awe der Begriff ciner Gade fet infofern dieſer jugleid den Grund ihrer Wirklidfeit in fic) trägt; er ift ein Gedante, der die Urſache zu einer Handlung wird die ihn ausfiihrt.

Wenn nun der finnlide Menſch gewahrt wie die Natur fid ihm als Mittel fiir feine Zwecke bietet und feinem Leben fördernd zur Seite fteht, fo betradjtet er died, die Rückſicht auf fein Iuter- effec, wol fiir ihren Zweck, um deffentwillen fie da fei, und damit fiir den Grund ihrer Dafeinsweife. Er findet daß die griine Farbe feinen Angen wohlthut, und glaubt nun zu wiffen warum die Natur in Griin gefleidet fei, und wenn cr fich hierbet befrie- digt, fo fann Ddiefe äußerliche Rwedanffaffung der Forjdung hinderlid) werden, die nad) den bewirfenden Urfadjen der griinen Farbe, nad) den Hhemifden Beftandtheilen des Chlorophylls oder den phyfifalijiden Bedingungen feines Wirfens zu fragen hat. Ebenſo verfehrt war e8 den CEntftehungsgrund und die Urſache der Beſchaffenheit von Pflanzen und Thieren in unferer Nahrung und Reidung gu fuden. Dies zu verfpotten läßt Voltaire den Eſel auftreten und Gott preifen daß er fiir ifn die Difteln wadjen und das Waſſer fließen laffe; um feinetwillen fei die Welt ent- ftanden, fein Slave fet der Menſch, beftimmt ifn ju warten und zu pflegen, gu befdlagen und ju ftriegelu, gu baden, ifm einen Stall ju bauen und eine Efelin zuzuführen, nidt ohne Neid auf bas Glii das er geniefe. Hiergegen war es ein Fortſchritt der Erkenntniß dag man jedes Weſen zunächſt in Beziehung auf fid und nidjt auf andere auffaffen lernte, dag man feinen Zweck in das eigene Leben, die Verwirklidung der cigenen Natur febte, fodaf eS als um feiner felbft wiflen daſeiend, alé Selbſtzweck betradtet wird.

Es ijt nun ridtig, die Natur foun ihrem Begriffe nach nidt zweckſetzende Thiitigfeit fein; denn das Bewuftloje vermag nidt ein erjt Riinftiges bereits innerlich anjufdauen und zugleich gum Ziel und Beftimmungsgrund jeiner Thitigfeit zu machen; nur der Geift entwirft in der Vorftellung cin Bild des nod) nicht Seien- den und vergegenwartigt fid) damit etwas das erft werden ſoll. Aber follten darum die Naturdinge und ihr Wirken nicht zweck— mäßig fein finnen? Gelehrte ſträuben fic) dagegen, und dod lehrt es die tiglide Crfahrung. Der Vogel mit feinen Sdhwingen und feinem ganzen Bau ijt fiir das Element der Luft, der Fiſch mit feinen §loffen und Riemen fiir das Waffer beftimmt. Das

90 I. Die Adee des Schönen.

Hers des Menſchen ift cin treffliches Druck- und Pumpenwerk für den Blutumlauf, die Lunge mit dem feinen Geäder im Innern und den kleinen Einſtülpungen außen bietet der Luft und dem Blute cine ſehr große Berithrungsflide, ſodaß der Verbrennungs- proceß der Kohle, dadurch die Erwärmung und die Erfüllung des Blutes mit Sauerſtoff möglich wird. Wenn man ohne den Her- gang unterjudjt 3u haben früher wol behauptete das Blut fomme in die Lunge um abgefiihlt gu werden, fo hieß da8 allerdings cine falſche menſchliche Anfidht in die Natur iibertragen; aber nachdem man dte Thatjade mit ihren chemiſchen und phyfifalijden Be- dingungen erfannt hat, ift es nist unwiffenfdaftlid), fondern wiffenfdaftlid) nad) dem Warum und Wozu yu fragen, die fiir ihre Wufgabe fo geniigende Cinridjtung von Herz und Lunge ju betradten, fie tm Zuſammenhange des ganzen Lebensproceffes verftehen zu lernen. Wenn wir cinfehen dak Knochen ohne Binder und Gelenfe, bewegende Muskeln ohne das fefte Knochengerüſte feinen Sinn haben wiirden, weshalb follen wir die zweckmäßige Vertniipfung von Knoden und Sehnen, Musfeln und Nerven nidjt anerfernen? Die Menſchheit ift in zwei Halften gejdieden, feine derſelben ift fiir fich vollendet und fortpflanzungsfähig, aber fie ergänzen einander. Der Zujammenhang der Redefiihighcit des Menſchen mit dem Baw feiner Sprachorgane, mit den Sdwin- gungen der Luft und der Sdhallerzengung durd) das Ohr ſcheint ebenfalls flar. Ebenſo die Nothwendigkeit der Pflanzen fiir die Ernährung der Thiere, die wieder Kohlenſäure bereiten und aus— ſcheiden und damit den Pflanzen cin unentbehrlides Lebenselement vermitte(n.

Dieſe Thatfadjen zeigen uns ftets mehrere unterjdiedene Dinge, bie aber aufeinander bezogen find, ſodaß dic Beſchaffenheit, das Geſetz, der Bau, die Aufgabe des cinen gerade fo ift wie es dic Natur des andern erfordert. Mun Hat freilid) feines da8 andere gebildet, nod) Einſicht in deffen Art und Weiſe gehabt um fid ihr anjufdmiegen und anjupaffen. Es muß ihnen alfo eine ge- meinſame Cinheit ju Grunde fliegen, die wol in den Gegenfag augcinandergeht, aber gerade in der Beziehung der Gegenſätze wieder herrjdjend hervortritt. Dieje Wechſelbeziehung ijt das Ziel oder der Zweck der Befonderung, und die Rückſicht auf das andere ift das feitende Princip feiner Geftaltung.

Der nod unerreidte Swed, welder erſt wirklich werden foll, {enft den Gang ſeiner Verwirflidung. Das Auge wird im dunfeln

2. Die Momente des Schönen: a. Form. 91

Mutterfdos fern vom Licht fiir das fiinftige Sehen gemäß den Gejegen des Lichts gebildet, die Lunge fiir cin ſpäteres Wthmen ju einer Zeit geformt wo das Rind nod) ohne den Zutritt der äußeren Luft durd) das oxydirte Blut der Mutter ernährt und erfrijdt wird. Aus dem Samenkorn fpricht der Keim hervor, wird jum blittertreibenden Halm, fest cine Aehre an, blüht und reift, und das Refultat der Entwidelung, die ganz andere Formen jeigte, ijt wieder ein Samenkorn. Nur der Geift aber vergegen- wiirtigt fid) da8 Künftige in der Vorftellung und madt es jum Motiv und Zicl feines Wirfens, oder die nach Zwecken handclnde Thätigkeit ijt der Wille. Mur aus einem bewußten Willen, dem die Natur des Lichtes und des Anges zugleich offenbar und der dex Bildungsweife der Materie miidjtig ijt, fann das Sehen als Zweck und danad der Proce der Vermittelung in der Entwicke— {ung und Geftaltung des Organes erflirt werden. Der Zweck ift immer ein Begriff oder cin Gedanfe, weldher in dev Natur durd) deren Kräfte nad) deren Geſetze verwirfliht wird. Im Zweck gehen Gedanfe und Materie incinander ein, ineinander auf. Daf der Gedanfe fraft der eigenen Natur des Stojfes realifirt wird, hat Platon mit dem ſchönen Bilbe ausgedrückt dak der Begriff die Nothwendigkeit iiberrede. Trendelenburg Hat dies erliiuternd näher beftimmt: „Wo der Swed erſcheint da unterjdeiden wir das Sdcale ded Gedanfens, da8 Platon das Göttliche in den Dingen nannte, das Reale des Mittels, die Kraft der wirfenden Urjade, die Blaton das Nothwendige nannte. Wir unterfdeiden beide Seiten, aber fie find innig ein’. Der Swed erreicht durch dic Kraft der Urjade jeine Wirklidfeit, die wirfende Urſache durd) den Zweck ihre Wahrheit.”

Man redet von einer unbewußten Zweckmäßigkeit in den Bil- dungen der Natur und vergleicdt fie dem Inſtinct der Thiere. Aber damit ift ein Problem bezeichnet, nicht gelöſt; damit ijt eben die den Dingen ju Grunde liegende Cinheit voransgefest, und zwar alé zweckſetzend, das heißt als Geijt. Die Theile der Natur fom- men einander entgegen, weil fie tunerlid) eins find, weil der gött— liche Wille thr gemeinjamer und innewohnender Lebensgrund ijt; jedes Einzelne in ſich geſchloſſen fteht zugleich eingeordnet in cin Ganzes da. Der Gedanke jdiebt fid) nidt da und dort in das Wirkliche ein, jondern diefes ift gang und überall von ihm durch— drungen, die ganze Welt ift die Erſcheinung, Aeußerung und Ver- leiblichung idealer Straft und Weſenheit.

92 I. Die Idee des Shonen.

„Die Natur wird durch den Zweckbegriff fo vorgeſtellt als ob ein Verftand den Grund der Cinheit des Mannidfaltigen ihrer empirifden Geſetze enthalte’, diefer Einſicht fiigte Rant dic nähere Beftimmung hinzu daß fold) ein Verftand als intuitiv be- zeidjnet werden müſſe, indem er als weltgeftaltend und weltordnend den Begriff nist aus den Dingen erft ableiten finne, fondern aus der Ginheit das Mannidfaltige entwidele, im Ganjen die Theile zugleich anjdaue und durch die Idee de8 Ganjen fie bedingt fein laſſe. Der ſchöpferiſch urbildenden Thatigkeit Gottes ſchließt die äſthetiſche Auffaſſung des Menſchen fic) an, und die menſchliche Kunſt folgt jener nach.

Weil durch den Zweck der Gedanke in den Dingen verwirklicht ift, fonnen wir den Begriff in der Erſcheinung wahrnehmen; wo wir ihn unmittelbar empfinden oder fehen ohne ihn erſt durd naddenfende Betradtung gewinnen zu müſſen, wo uns alfo die Vernunft in den Dingen durch deren dugere Geftalt felbft finnlid erfafbar wird, da erfreut uns diefe Harmonie bes Jdealen und Realen im Gefiihle der Schönheit, wenn jene dufere Geftalt der Dinge zugleich eine unferer Sinnlidfeit zuſagende und wohlgefällige ijt, während unjere Vernunft in der Erkenntniß des Gedanfens und feiner finnvollen Verwirlidung befriedigt wird. Durd den Ausdrud „Schönheit ift angejdaute Zweckmäßigkeit in wobhl- gefailliger Form” hoffe id) den Kantiſchen Gedanfen zu bewahren und beffer gu bezeichnen, als e8 in der Kritik der Urtheilstraft durch den Satz geſchieht: „Schönheit ift Form der Zwedmifig- feit eines Gegenftandes, infofern fie ohne Vorftellung eines Zweckes an ihm wabrgenommen wird.” Herder ſtieß fic) am Worte und polemifirte in der Ralligone dagegen; in der Sache ijt fein Gegen- jag, und die folgenden Ausſprüche Herder’s erwähne id) gerade alg cine Erläuterung fiir meine Faffung des Begriffs: „Wo ein Zweckmäßiges in der Form des Gegenftandes fo lebhaft wahr— genommen wird dak diefe Wahrnehmung mir Luft gewihrt, da mug ic) mir einen Zweck vorjtellen, oder die Form des Zweck— mäßigen verfdwindet. Cin leeres Gedanfenfpiel ijts dag eine Zweckmäßigkeit aud ohne Awe fein, dak id) mir jene der blofen Begreiflicdfeit wegen fegen und wegraumen finne. Wenn mid die Schönheit eines Gegenjtandes erfiillt, was der Urheber fonft fiir Abfidjten hatte, was das Werk auf andere fiir Bwede habe, was thut dies mir? Ich geniege den wejenhaften Zweck, id) lebe im Geift des Werfes. Bm Geift nidt in der todten Form; denn

2, Die Momente de8 Schönen: a. Form. 93

ohne Geift ijt jede Form ein Scherbe. Geift erſchuf die Form und erfiillt fie; er wird in ihr gegenwirtig gefühlt, er beſeligt.“ Kant wollte dem Sinne nad) aud) nidjts anderes; wir nennen nad) ihm eine Sade zweckmäßig, wenn wir durd unfer Nach— denfen finden daß fie ift wie fie fein foll, daß fie ihren Begriff erfiillt; wenn fie fogleid) mit der Art ihres Erſcheinens, durd) ihre Form ihren Begriff vergegenwiirtigt, dann ſoll fie uns ſchön eigen.

Ariftoteles und Rant haben durd) den Begriff des immanenten Bwedes die Cinfidt in die Natur des Organifden erbffnet. Es ift cin Einiges in der Vielheit der Glieder, in der zuſammen— Hiingenden Reihe feiner Lebensentwidelungen; das räumlich Ge- jonbderte der Theile wirft ineinander und einer ijt um des andern willen da, jeder ijt Zweck und Mittel zugleich; das Gegenwiirtige ift Rejultat friiherer Thatigfeit und wirft im Hinblick auf das Riinftige. Der Organismus wird nicht zuſammengeſetzt aus fer- tigen Bejtandftiiden, fondern die Glieder gehen durd) Sdheidung und Entfaltung aus dem Homogenen Keime hervor, deffen Einheit ihnen innewohnend bleibt. Die urfpriinglide Anlage verwirflidt fid) felbjt in der Entwidelung der Geftalt und im Wadhsthum, fie erhält fic) im Proceſſe ded Lebens, fie erzeugt in fic) die Keime fiir Sndividuen gleidher Art. Der Organismus wird nidt wie eine ſinnreiche Maſchine als Mittel fiir ihm fremde Zwecke durd einen auger ihm ſtehenden Werkmeiſter geftaltet, fondern ein gitt- lider Gedanfe realijirt fic) um feiner ſelbſt wiflen in ifm, und die Zuſammenſtimmung der Theile zum Ganzen liegt nidt blos im Geifte eines draußen ftehenden Urhebers, fondern durchherrſcht innerlid) den Leib, und das Ganje ijt infofern frither als die Theile, als fie nach der Idee deffelben und um feinetwillen aus der Cinheit hervorgehen, gebildet werden und in ihr bebalten bleiben.

Sn diejer Anfdauung der Welt als eines großen Organismus begriindete Jordan Bruno prophetifd) eine Philofophie, von der aus die Aejthetif alé Wiffenfdaft mbglid) ward. Voll didte- tijden Geiftes lehrt er: Alles ijt von der Kraft der Weltfeele erfiillt, fie erleudjtet das Univerjum, weift die Natur an wie fie ihre Werke vervidten foll, und verhilt fid) gu den Hervor- bringungen der Dinge wie der Geift des Menſchen fic) gur Er— zeugung der Begriffe verhilt. Die Pythagoreer nannten diefen allfgemeinen Verſtand den Reger und Beweger des Alls, die

94 I, Die Idee des Schönen.

Platonifer den Werkmeifter der Welt, die Magier den Samen aller Samen, weil er mit der Materie alle Formen erjzeugt und fo herrlic) ordnet daß dies feine Sade des Zufalls jein fann. Orpheus nannte ifn das Auge der Welt, weil er alles durd- jdauct und von augen und innen den Dingen Ebenmaß und Haltung verleiht, Empedofles den Unterfdeider, weil er mie er- miidet die Geftalten im Schos der Materie ju fondern und aus dem Tode nenes Leben ju erweden, Plotin den Vater und Er— zeuger, weil er die Saatfirner anf den Acer der Natur ausſtreut und aus ſeiner Hand alle Formen Hervorgehen (apt; wir nennen ihn den innerlicdhen Künſtler, weil er von innen die Materie bildet und geftaltet: aus dem Innern der Wurzel oder des Samenforns jendet er die Sproffe hervor, aus der Sproffe treibt er die Aejte, aus den Aeſten die Zweige, aus dem Innern der Zweige die Rnospen; das zarte Gewebe der Blatter, der Blumen, der Friidte, alles wird innerlich angelegt, gubereitet und voflendet; und von innen ruft er aud) wieder feine Säfte aus den Friidten und Blittern zurück gu den Zweigen, aus den Zweigen yu den Weften, aus den Weften jum Stamm, aus dem Stamm zur Wurzel. Ebenſo entfaltet er aus dem Samen und dem Mittelpunkte ded Herzens die Glieder des Thiers, und ſchlingt die verjdjiedenen Fäden zur Ginheit in fic) gujammen. Diefe lebendigen Werke jollten fic ohne Verftand und Geift hervorgebradt fein, da unjere lebloſen Nachahmungen auf der Oberfläche der Materie beides ſchon erfordern? Wie grok und herrlid) muß dod) diefer Riinjtler, der inwendig Allgegenwärtige, fein, der unaufhirlid) und in allem alles wirfet! Gr ift der Geber aller Sdeen im Geift, der Er— gieBer alles Samens in der Natur, fein Bild in entgegenftehenden Spiegeln unendlid) vervielfadjend theilt er fic) jeglidjem mit nad) deffen Faffungstraft, daß es den Glanz feiner Schönheit wider- ſtrahle; er bejigt und findet alle Dinge in jeiner lebendigen Wejen- Heit und erleudjtet die Geifter alle.

So dev herrlide Staliener. Gein Wort vom innerliden Riinftler und von der Gegenwart des Unendliden in allen Wefen überwindet die Lavater’jde Meinung, die Goethe fo anſtößig war, alles was Yeben hat lebe durch etwas auger ihm, während der Altmeifter erfaunte dak die göttliche Schipferfraft fid) in allem offenbart. Go definirt denn Goethe ecinmal: „Das Shine ift das geſetzmäßig Lebendige in feiner größten Vollfommenheit ſchauen.“

2. Die Momente des Schönen: a. Form. 95

Das Schöne ift ein Organijdes, es befteht in der Durch— dringung des Innern und Aeußern, des geiftig Cinen und des jinnlich Mannidfaltigen; die Sdee des Ganzen ſpricht ſich nidt blog in dem Zujammenftimmen der einzelnen Theile, fondern in jedem Theil als foldjem aus, jeder bedingt folgeridtig die Natur aller andern. Die Verfdiedenheit der Glieder tritt entfdieden und reid) hervor, aber ein jedes ift von demſelben individuellen Princip durddrungen und geftaltet, ſodaß der fundige Naturforfder nad einjelnen Knochen das Bild eines Thieres entwerfen fann. Wie ein Cuvier diefen innern Zujammenhang erfaßt hat, möge zunächſt durd) einige Stellen ans Johannes Müller's Phyfiologie erliutert und darin die naturwiffenjdajtlide Darftellung zu unjerer fpecu- {ativen Theorie beftitigend gegeben werden.

Sedes lebende Weſen hildet cin Ganjzes, cin einziges und ge- ſchloſſenes Syſtem, in weldem alle Theile gegenfeitig einander entfpredjen und zu derfelben Wirkung des Zwecks durd) wed)jel- jeitige Gegenwirfung beitragen. Reiner dieſer Theile fann fid) verändern ohne die Veränderung der iibrigen, und folglid) be- zeichnet und gibt jeder Theil eingeln genommen alle iibrigen. Wenn daher die Eingeweide eines Thiers fo organijirt find daß fie nur Fleiſch und gwar friſches verdauen fonnen, fo miiffen aud) feine Kiefer zum Freffen, feine Klauen zum Fefthalten und zum Ber- reißen, feine Zähne gum Zerſchneiden und zur Verfleinerung der BVeute, das ganze Syftem feiner Bewegungsorgane zur Verfolgung und Ginholung, feine Sinnesorgane zur Wahrnehmung derjelben in der Ferne eingeridtet fein. Es mug ſelbſt in jeinem Gehirn der nöthige Suftinct fliegen fic) verbergen und feinen Sehladjt- opfern hinterliftig auflauern zu können. Der Kiefer bedarf, damit er fafjen finne, eine beftimmte Form des Gelenffopfes, eines be- jtimmiten Verhiltnijjes zwiſchen der Stelle des Widerjtandes und der Graft jum Unterftitgungspuntte, eines beftimmten Umfangs des Schlafmusfels, und legterer wiederum ciner beftimmten Weite der Grube, weldje ihn aufnimmt, und einer beftimmten Wölbung ded Jochbogens, unter weldem er hinläuft, und diefer Bogen mug wieder eine beftimmte Stärke haben um den Kaumuskel zu unterftiigen. Damit das Thier jeine Beute forttragen finne, ift ihm eine Kraft dex Muskeln nöthig, durd) welche der Kopf auf— geridjtet wird; dieſes jest eine beftimmte Form der Wirbel, wo die Muskeln entipringen, und eine bejtimmte Form des Hinter- fopfs, wo fie fid) anjegen, voraus. Die Zähne miiffen um das

96 I. Die Idee des Schinen.

Fleiſch verfleinern zu finnen ſcharf fein. Shre Wurzel wird wn fo fefter fein miiffen je mehr und je ſtärkere Knochen fie gu zer— bredjen beftimmt find, was wieder auf die Entwidelung der Theile die gur Bewegung der Miefer dienen Ginflug hat. Damit die Klauen die Beute ergreifen finnen, bedarf es einer gewiffen Be- weglicdjfeit der Zehen, einer gewiffen Kraft der Nigel, wodurd beftimmte Formen aller Fußglieder und die nöthige Vertheilung der Muskeln und Sehnen bedingt werden; der Vorderarm wird leicht drehbar fein miiffen, dies beftimmt die Form feiner Knochen und wirft auf den Obcrarm juriid. Kurz die Form des Zahns bringt die des Condylus mit fid), die Form des Sculterblattes die dex Klauen, wihrend umgefehrt die Thiere mit Hufen pflanzen— freffende fein miifjen, da ihre Vorderfüße nicht gum Paden einer fliichtigen Beute eingeridjtet find; ihre Zähne miiffen mit glatter Krone verjehen und dadurd) gum Zermalmen der Körner geſchickt jein; der Schläfengrube geniigt geringe Tiefe, weil fie nur einen jhwaden Muskel aufgunehmen braudt.

Die Wiſſenſchaft findet diejen Rujammenflang aller Theile in der organijden Cinheit durd) Zergliederung, durd) denfende Be- tradtung der innern Lebensverhialtniffe; wo wir ihn im Aeußern der Geftalt ohne vorhergehende Reflexion unmittelbar wahrnehmen, da erhebt eS uns jum Luſtgefühl der Schönheit. Es war fein Geringerer als Phidias der zuerſt, und zweitauſend Jahre friiher alg die Naturforſchung dieje Aufgabe zu löſen fid) anfdhidte, das beriifmte Wort ausfprad: dak man aus der Klaue den Lowen er- fennen und erfennbar darjtellen miiffe. oraz beginnt befanntlid den Brief iiber die Dichtkunſt mit den Verfen:

Wann cin Maler den Hals des Roffes dem menfdliden Hanpte Wollt’ anfiigen, die Glieder von daher nehmen und dorther, Dann mit Gefieder fie bunt umfleiden, zuletzt mit des Fiſches Schwanz abſchließen die Franengeftalt liebreizend von oben: Könntet ihr das anjehu und end) des Ladhens enthalten ?

Er ſchloß daraus daß auch in der Poefie alles an feinen Ort ge- ftellt, das Ganze einfach und einheitlich durdhgefiihrt fein miiffe. Aber die Forderung geht weiter. Die Kunft darf nidt nur, ab- gefehen vom Märchen und dem Spiel der Arabesfe, die Gattungs- formen nicht vermifden, aud) innerhalb derfelben mug die Sndi- vidualitit gewahrt werden. Dieſe Ourdbilbung der Form nad der individuclen Idee zur cigenthiimlicjen Erſcheinung gibt erft

2. Die Momente des Schönen: a. Form. 97

die organiſche Schinheit, die nur da eintritt wo die Geftalt dem cinwohnenden Swedbegriff far entſpricht. Die Hand des Tiziani- ſchen Chrijtus ift eine ganz andere als die des Pharifiiers mit dem Zinsgroſchen; eine jede ſtimmt in ihrer Form ju dem Seelen- ausdrud des Angefidts. Hogarth in feiner Unterſuchung der Schönheit hat ihr nidt blos die Wellenlinie wegen der darin fidjtbaren Durddringung und Weehfelwirfung des Einen und Mannidfaltigen gugeeignet, fondern auch tiefer blidend in dem gcijtigen Gehalt die Urfade der wahrhaft wohlgefilligen Form und in der Uebereinftimmung beider die künſtleriſche Richtigkeit erfannt. Gr fagt: ,,Diefe Ridjtigfeit leitet und bedingt alle Maſſen und Verhiltniffe; das Zugpferd ift in Befdhaffenheit und Geftalt ven dem Reitpferd fo fehr verſchieden wie der Hercules von dem Mercur; ſetzt den feinen Kopf und den zierlich geftrecten Hals cines Reitpferdes auf die Sdhultern eines Zugpferdes ftatt feines eigenen maffigen Ropfs und geraden Halfes, fo würde dies das Pferd unangenehm und häßlich machen ftatt es gu verjdinern, denn das Urtheil wiirde e8 als unpaffend verdammen. An dem Farneſe'ſchen Hercules find alle Theile deffelben in Anſehung der ſehr großen Stärke fo gut cingeridjtet wie es die Zujammenjegung der menſchlichen Geftalt irgend zuläßt. Der Rücken, die Bruft, die Schultern haben ſcharfe Knochen und foldhe Muskeln, welche fid) 3u der vorausgeſetzten Kraft feiner obern Theile ſchicken; aber da fiir die untern Theile. weniger Stärke erfordert ward, fo ver- minderte der ſcharfſinnige Bildhauer herunterwirts nad) den Füßen allmählich die Größe der Mtusfeln, und aus eben diejer Urſache madte er den Hals im Umfang dider als einen jeden andern Theil des Kopfs, fonft wiirde die Figur mit einer unnöthigen Laft beladen fein, wodurd) man ihrer Stiirfe und folglid) and) ihrer charakteriſtiſchen Schönheit Abbrud) gethan hatte. Dieſe ſchein— baren Fehler, welche ſowol die große anatomiſche Kenntniß als auch die Urtheilskraft der Alten bekunden, findet man nicht an den bleiernen Nachahmungen der Statue am Hydepark. Deren quer— köpfige Verfertiger bildeten ſich ein ſie wüßten ſolche Verhältniß— fehler zu verbeſſern.“ Hercules, der duldende Kämpfer, ver— langt um die Noth des Lebens zu tragen und ſeine Arbeiten auszuführen, die Stärke des Arms, die Wucht der Bruſt, die ſtiermäßige Gewalt des Nackens; die Füße ſind behender, wenn ſie ſchlanker erſcheinen, der Kopf ſoll ſich nicht vor dem Körper geltend machen; Kopf und Füße gleichmäßig wie Bruſt und Arm Carriere, Aeſthetik. I. 3. Aufl. 7

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verjtirfen hieße diefen ihre Auszeichnung rauben. Es ift als ob man dem Tiger Hufe geben wollte damit er fefter ftiinde.

Die Zweckmäßigkeit muß anſchaulich fein, fagte ich, wenn wir einen äſthetiſchen Cindrud gewinnen follen. Sie ift sum Beifpiel bet der Lunge phyfiologifd) vorhanden, aber fie fallt uns nidt in8 Auge, und wird durd) einige ſchwungvoll ſymmetriſche Linien des Ganzen erfegt, wihrend gerade das fiir den Lebensprocef Bedeutſame dem erften Anblick verborgen bleibt. Dagegen in der Gliederung der menſchlichen Hand, im Gebiß und den Nacen- musfeln des Löwen, in der Wölbung und dem Glanz des Auges glauben wir fie zu fehen und fogleich gu verftehen. Wir treten vor eine Doriſche Säule; fie verjiingt fic) nad) oben, denn fie foll eine Laft tragen und darf daher nicht an eigenem Gewicht zu ſchleppen haben, was der Fall fein wiirde wenn fie nach oben dicfer wiirde; fie fteht fefter auf der breitern Baſis; fo ftrebt fie jelbft der aft entgegen mit cinem Ueberfdug von Kraft, und wo ihr nun das Gebälk begegnet und ihr Halt geboten wird, da breitet fid) der Ueberfduk von Kraft weiter aus, und bildet auf fic) ſelbſt zurückgewieſen im wellenförmigen Umſchwung das Capitil, das Haupt der Säule, das ſie für ſich abſchließt und zugleich die Einwirkung der von ihr getragenen Laſt anzeigt. Hier ſchauen wir in der Geſtalt die Zweckmäßigkeit der Bildung unmittelbar an; in der ſichtbaren Verhältnißmäßigkeit des getragenen Gebälks zu der nach dem Begriff des Tragens geformten Säule wirkt der ganze Tempel wie ein Organismus. Wir leſen Goethe's Fiſcher, und es umfließt uns ein wohlklingendes ſingendes Rauſchen in der Melodie des Verſes, lieblich lockende Bilder ſteigen vor uns auf, die kurzen Sätze der Halbverſe heben und ſenken ſich und ant— worten einander gleich den Wellen des klaren Waſſers, das mit zauberiſcher Gewalt den Menſchen in ſeine kühle ſtille Tiefe zieht. Der raſche Sturmgang der Handlung im Macbeth, ihr redartirtes Hinſchleichen im Hamlet iſt durch die Idee bedingt; wie ſtimmt dazu die Begabung der Charaktere, hier die grübelnde Melancholie und Sinnigkeit, dort der phantaſiereiche Schwung der Rede! Es ift leichter dem Herakles feine Reule als dem Homer einen Vers ju entiwinden, Hat ein Alter gefagt. In der guten Muſik fteht der Dur- oder Mtollaccord mit dem Gang der Tonfolge in der Melodie, mit dem Tempo und dem Rhythmus der Taftgruppen in urfpriinglider Einheit.

So (eitet uns die Bdee des Rwedes und Organismus den

2. Die Momente des Schinen: a. Form. 99

Begriff der Sache al8 Grund ihrer Erfcheinung in ihrer Form zu erfennen; die Function der einzelnen Glieder wird als die Urſache der Geftaltung fidtbar, der Gedanke ſpricht in der Natur, die Vernunft in den Dingen zu uns. Bm Gefiihl des Schönen wird die Trennung von Innerm und Aeugerm, von Gehalt und Form iiberwunden und eins im andern erfagt. Stofflofe Form, formlofer Stoff find unwirflicd) und bloke Verftandesabftractionen. Eine beftimmungslofe ungeftaltete Materie ift nur der Möglichkeit nad) vorhanden, erft durd) die unterjdeidende Form wird fie etwas, die Form ijt Bedingung der Realitit. Formen die ohne Trager, ohne Inhalt wären, find nur in der Vorftellung möglich, nod) unwirflid. Der Gehalt der Dinge prigt in der Form fid aus, die Materie erlangt durch fie die Beftimmtheit des eigenen Wejens. Die Form ift da8 durd das Innere beftimmte Acufere der Dinge. Nad) Kant zwar follten wir das Anfid) der Dinge nicht erfennen; dod) follten fie unfere Sinne berühren und unſer Denfen gu den Vorftellungen anregen, die wir dann als Erſchei— nungswelt auger uns fegen. Aber das Sein ijt Thitigfeit, das Weſen ijt was es thut; indem fic) mittels unjerer Empfindung die Natur zur Welt der Tine und Farben fteigert, wird das Anſich der Dinge verwirflidt; es bringt fic) in der eigenen Lebensgeftal- tung fervor, und wird dadurch zugleich für Andere. Haller hatte gejagt: Ins Inn're der Natur dringt fein erfdhaffener Geiſt. Goethe feste ihm die Cinfidt entgegen dak die Natur weder Kern nod) Shale habe, alles mit einem male fet; Ort fiir Ort, wo wir aud) find, find wir im Innern; der Rern der Natur liegt dem Menſchen im Herzen. Indem wir in uns da8 Innere un- mittefbar ergreifen und e8 im Aeußern dargeftellt fehen, dringen wir vom Aeugern der Welt gu ihrem Innern vor; thr Wefen und unjer Weſen ift Eins in feinem Lebensquell und Urſprung in Gott. Das Aeußere ift die Aeuferung des Innern, damit ift dieſes im ihm gejegt und zur Erjdeinung gebradt. Das Innere eines Organismus iſt die wedhfelfeitige Durddringung des Man- nidfaltigen zur Ginheit, das Aeußere diefe Entfaltung der Cinheit, die aber tm Vielen herrſchend bleibt; weder tft fie dort ohne das Mannidfaltige, noc) diefes hier ohne fie wirflid). Dak cine Sdee alg das Sunere in Formen und Farben gum Daſein fommt, madt das Gemiilde; das blos Aeußere wären Metalloxyde, Oel und Ceinwand, das blos Innerliche cin geftaltlofer Gedanfe; erft indem fid) einé im anbdern aufhebt, entfteht das Bild, und wenn ed ge- 7*

100 I. Die Idee des Schönen.

{ungen ift, bleibt nidjts Unausgeſprochenes in der Seele des Riinftlers juriid, ſondern die Sdee tritt vollftiindig in die Sicht— barfeit; ebenſo wenig find bedeutungsloje Farbenflexe oder finn- loſe Linien vorhanden, fondern die Materie ift ganz vom Geift durchleuchtet.

Darauf beruht das volle äſthetiſche Wohlgefallen daß in der angenehmen äußern Form der Gedanke, der geiſtige Gehalt ſich ausſpricht, oder daß wir von dieſer aus ſofort empfinden wie die uns anſprechende Erſcheinung der angemeſſene Ausdruck ſeines Weſens iſt. Karl Bötticher hat mit genialem Blick erkannt: „Das Princip, nach welchem die helleniſche Tektonik ihre Körper erbildete iſt ganz identiſch mit dem Bildungsprincip der leben— digen Natur: Begriff, Weſenheit und Function jedes Körpers durch folgerechte Form zu erledigen, und dabei dieſe Form in den Aeußerlichkeiten ſo zu entwickeln daß ſie die Function ganz offenkundig verräth“ dag alſo die Zweckmäßigkeit anſchaulich wird, und zwar wie wir hinzufügten, in der wohlgefälligen Form. Auf dieſem Zuſammen von Idee und Erſcheinung be— ruht ja überall das Schöne, und dadurch gewährt es dauernde Befriedigung.

Ueberall wo geiſtige Principien ſich bethätigen da entſtehen Formen; für Idee und Form haben Platon und Ariſtoteles auch cin und daſſelbe Wort, eidoc, das Ariſtoteles in die nächſte Be— ziehung gum Zwed, gum tédro¢g, fet, der realifirte Zweck ijt die Darftellung der Form in der Materie. Thatlofe Form, die ſich nicht raumpeitlid) realijirt, ift cine bloße Vorftellung. Die Form fommt nidjt gum formlofen Gehalt von aufen eran, jondern dic individuelle Lebensfraft legt ihren Inhalt oder innern Gehalt durch Formgeſtaltung dar, und fdjreitet in ihrer Cntwidelung durch cine Vielheit von Formen, die fie fid) alS den Ausdruck ihres beweglidjen Lebens gibt. Wenn Scotus Erigena fagt daf durd) die Schbpfung der unfidjthare Schöpfer fidjtbar werde, jo fpricjt er damit unfern Gedanfen aus, daß der ideale Lebens- grund durd) feine Selbjtgeftaltung fid) und andern gegenftindlid und anfdaulid) wird. Und wenn Anfelm von Canterbury jagt daß das in Gott exiftirende Geſchöpf ſchöpferiſche Wejenheit fei, jo bezeicjnet er damit wie wir die Seele als Organifationsfrajt, die das in ihr verborgene Bild der Geftalt herauswirft und nad Makgabe der Stoffwelt, in der fie das Material findet, in diefer fid) verwirklicht.

2. Die Momente des Schönen: a, Form. 101

Die Form ijt das felbftgefetste Mak innerer Bildungsfraft. Thätigkeit, fid) ſelbſt febende und erfaſſende Thitigfeit ijt das Wefen des Seins; der Wille gum Leben ift der Grund feiner Ge- jtaltung, Gott ift das ewige Wollen feiner felbft: dies was juerft Safob Bihme tieffinnig erſchaut, was dann Shelling und Scho- penhauer auf verſchiedene Weiſe aufgefakt und durchgeführt, 8 war von jeher die nod) unerfannte Bafis alles afthetijden Ge— nuſſes, alles fiinftlerifden Bodens. Das Weltall, fagt Böhme, ift Gottes Selbjtoffenbarung, die ganje äußere, ſichtbare Natur ijt eine Bezeichnung oder Figur des Inneren und Geiftigen; das Innere wirket ſich fein äußerlich Gepriige; wie der Geift jeder Sreatur feine innere Geburtsgeſtaltniß mit feinem Leibe darftelfet, alfo aud) das cwige Weſen in der Schöpfung. Das Sunerlide arbeitet ſtets zur Offenbarung, und an der duferliden Geſtaltniß affer Creaturen und an ihrem ausgehenden Hall fennet man den verborgenen Geift, denn ein jedes Ding Hat feinen Mund zur Offenbarung. Auch fiir Leibniz ift die Form der Dinge nidt äußerlich oder jufillig, fondern wefentlich, fubftantiell; die Form ift die Selbftbeftimmung der Monade, in welder fie ihre Cigen- thümlichkeit ausprägt, die Form ift die Darftellung des indivi duellen Gehalts, durch) den diejer eben erſt feine Geftalt gewinnt, aus der bloßen Anlage oder unbeftimmten Möglichkeit zur Wirk- lichfeit gebracht wird. Mit Recht bemerft Kuno Fijder: „Ohne diefen Verftand fiir die eigenthiimliden Formen der Dinge, be- gründet im Geifte der Metaphyfif, wiirde ſich ſchwerlich im Geifte der Aejthetif der Verftand fiir die eigenthiimliden Formen der Runft ju dem Scharfſinn cines effing entwidelt haben.“ Sm Sinnliden das Geiftige gu erfaffen und Geijtiges in finnliden Formen darjzuftellen tft aber das Werk des Schönheitsgefühls und der Kunſt. Sie gehen aud) Hier der denfenden Betradtung und dem philofophifden Crfennen voraus, und beftiitigen durch ihre Wirklihfeit die Wahrheit der mitgetheilten Begriffsbeftimmung.

Sn diefer Beziehung finden wir in Fidte’s Sittenlehre das merfwiirdige Wort dak die Kunſt den transfcendentalen Gefidte- puntt gu dem gemeinen made. Der Denker will jagen: der ſchöne Seift Hat von Haus aus die Lebensanfidt oder den Gefidtspuntt fiir die Betradtung der Dinge, gu welchem die Arbeit des Philo— jophen fic) erhebt, den fie als den rechten erfennt und darthut. Für den gemeinen Gejidhtspuntt ift die Welt als etwas außer uns Fertiges gegeben, fiir den philofophifden ijt fie cin Werk des

102 I, Die Idee des Schinen.

ſchöpferiſchen Geijtes, der fich durd) fic dem Geifte offenbart. Der Gedanfe wird villig dentlid) in Folgendem: ,, Sede Geftalt im Raum ift angujehen als Begrenzung durd) die benadhbarten Körper, und fie ift angufehen als Aeußerung der innern Fülle und Kraft des Körpers felbft der fie Hat, Wer der erften Anſicht nachgeht der fieht nur verjerrte, geprefte, ängſtliche Formen, er fieht die Häßlichkeit; wer der letzten nadjgeht dev fieht kräftige Fille der Natur, er fieht Leben und Aufftreben, er fieht die Schinheit. So bet dem Höchſten. Das Sittengeſetz gebietet abjolut und dviidt alle Naturneigung nieder. Wer es fo fieht verhilt fid) gu ihm alg Sflave. Aber es ijt zugleich das Sch felbft, es fommt aus der inneren Tiefe unfers eigenen Wefens, und wenn wir ihm ge- horden, gehorden wir dod) nur uns ſelbſt. Wer es fo anfieht fieht es afthetifd) an. Der ſchöne Geift fieht alles von der ſchö— nen Seite, er fieht alles frei und lebendig.“ Denjelben Ge- danken ſpricht Schelling in feiner Rede ber das Verhältniß der bildenden Riinfte zur Natur folgendermafen aus: ,,Gemeinhin denfft du freilid) die Geftalt eines Körpers als cine Einſchrän— fung welche er leidet; ſäheſt du aber die ſchaffende Kraft an, fo wiirde fie div einleuchten als ein Maß das diefe fic) felbft auf- erlegt und in dem fie als eine wahrhaft finnige Kraft erfdeint. Denn überall wird das Vermögen eigener Makgebung als eine Trefflidhfeit, ja als eine dev Hidften angejehen. Auf ahnlide Weife betracdhten die Meiſten das Einzelne verneinend, nämlich alg das was nidt das Ganje oder Wiles ift: es befteht aber fein Gingelnes durd) feine Begrengung, ſondern durch die ihm ein- wohnende Kraft, mit der es fid) als ein eigenes Ganzes dem Ganzen gegenitber behauptet.”

Sn 3. H. Fidte’s Ontologie und Ulrici's Logit finden fid Erörterungen verwandter Art; aus Hillebrand’s Philofophie des Geiftes theile id) nachfolgende Sike mit: „Das Shine befteht in der Form, aber nur infofern al8 die Form die exiftente Offen- barung der freien Sdee ift. In Romeo und Julie iſt die Liebe itberhaupt fiir fid), in ihrer Idealität realifirt; darum ift hier Die Liebenswirflidfeit, in welder alle Liebe fic) felber findet, anfdaut und liebt. Sn der Schinheit findet fic) keinerlei Unterfdied zwiſchen Idee und formaler Objectivitit, aud) eine Beziehung zwiſchen beiden, fondern es eyiftirt in ihr die reine Sinnenwirllidfett der Idee. Daher ift die Schönheit aud) die Formweſenheit, das heift die Form ijt das Weſen der Exiſtenz

2. Die Momente des Sdhinen: a. Form. 103

jelbft, und hiermit hat fie ifr eigenes Wefen, ihre ewige Wejen- bedeutung erlangt.”

Wenn Goethe und Shiller das Schöne als reine Form be- zeichnen, fo wollen fie eben damit fagen daß der Inhalt gang und flar zur Erſcheinung fomme, in der Form alfo das Wejen der Sache ausgedrückt fet; fie wollen dah nichts Robhftofflides im Werke juriicbleibe, ſondern die Idee ſich ungetriibt darin aus- priige, wie in dem eben angefiifrten Beifpiel die Liebe in Romeo und Sulie gethan. Dem leeren Formalismus haben beide Dichter das Wort nicht reden wollen. Gr befteht darin daß Formen, deren Schönheit und Adel bei dem wahren Meijter das Erzeugniß des idealen und bedeutungsvollen Gehalts waren, äußerlich nach— geahmt und auf jeden beliebigen Stoff itbertragen werden. Der in der Form verwirklidte Begriff der Cache, die Form als das jelbft geſetzte Maß idealer Bildungstraft erfreut uns in der Schön— Heit und ift die Aufgabe der Kunſt.

Sch ftimme Robert Zimmermann bei, wenn er fagt dak nur Formen gefallen oder misfallen, das Schöne alſo durd) feine Form gefällt. , Man verfude es die Form vom Gefallenden hinwegzudenfen; da8 Gefallen felbft ſchwindet. Ich fann vom Vers das Metrum, den Wohllaut der Sprache, aber ich darf nicht das Ebenmaß der Gedanfen, da8 Poetiſche, Bildhafte hinweglaffen, oder id) habe ſogleich alles Aeſthetiſche abgeftreift Aber mun fährt Zimmermann fort: ,,Umgefehrt, wenn eS unbedingt wohl— gefallige Formen gibt, milffen fie an jedem Stoff, allenthalben und jedem wohlgefällig erſcheinen, wenn die Bedingung de8 Ge- fallen$, das vollendete Vorftellen, iiberhaupt erfüllt iſt. Man darf die Frage nicht aufwerfen ob fie gu dem Stoffe paffen; da fie gleidhgiiltig find gegen jeden Stoff, fo paffen fie gu jedem. Ueberflüſſig ijt e8 gu fragen ob die Form aud das Gleichgiiltige ju verklären vermöge; da jeder Stoff, welder immer, äſthetiſch gleichgültig ijt, fo fann die Form gar nicht anders als ihren Glan; über Gleidhgiiltiges ausftrimen. Theilnahmlos wie die Sonne über Geredjten und Ungeredjten ſchwebt die gefallende worm über der todten Materie, die durch fie Seele und Theil- nahme gewinnt.” Wber hier ijt der Begriff der Form viel gu äußerlich genommen, ift vergeffen daß fie das innere Weſen aus- driidt und zur Erfdeinung bringt. In dev Kunft priigt alfer- dings ber Meifter feine geiftige Anſchauung im Marmor der Bild- jaule aus, aber dieje Anſchauung ijt eben die Geftaltung der Idee

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des Gottes oder Helden, die in ihr ſichtbar wird, und das Kunſt— werk, das weiß ja auch Zimmermann, muß ſcheinen nicht als wäre es gemacht, ſondern als machte es fic) ſelbſt; er nennt das den Zauberwahn des immanenten Geiſtes; wir andern ſtreichen den Wahn und halten uns an den Zauber. Allerdings unterſcheidet ſich die Poeſie von der Proſa durch das künſtleriſche Element der Bildlichkeit der Rede und des Verſes, aber nicht jedes Versmaß paßt für jeden Stoff. Das alkäiſche z. B. iſt formal ſchön im Gleichgewicht der auf- und abgehenden Bewegung, die ſich in den beiden erſten Zeilen wiederholt, dann in der dritten ſich gu dop- pelter Höhe ſteigert, um in der vierten niederrauſchend auszuklin— gen; darum eignet es ſich um das Auf- und Abwogen der erregten Seele, um den Wellenſchlag des aufgeſtürmten Meeres zu ſchil— dern, aber der Naturfriede wie die Seelenruhe verlangt einen andern Rhythmus. Goethe's Lied „Ueber allen Gipfeln ijt Ruh'“ überſetze man einmal in alkäiſche Strophen und halte dieſe neben das Original, und man wird ſpüren daß die Form nicht gleich— gültig gegen den Inhalt iſt. Wie langweilig ſind doch Rafael's Schüler geworden, als ſie die ebenmäßig holden Formen, die bei ihm der naturgemäße Ausdruck für den Adel der ſchönen Seele, der harmoniſchen Gedanken waren, willkürlich auf beliebige Stoffe übertrugen und äußerlich wiederholten! Wie geſpreizt und hohl ſind dieſe geſchwellten Muskeln, dieſe kühnen Stellungen und Ver— kürzungen, die Michel Angelo's Nachahmer aus dem Jüngſten Gericht nahmen, wo fie der Ausdruck ſeiner eigenen gewaltigen leidenſchaftlichen Perfinlichfeit find und zur dargeftellten Gadhe gehiren, und wie gar nicht wollen fie fiir Wtargemilde paffen, auf weldjen cinige Heilige die Maria mit dem Chriftfind umftehen, wo wir vielmehr cine feierlide Ruhe im Anſchluß an den kirch— lidjen Ritus fordern! Das ijt die (cere Eleganz wie die renom- mirende Bravour jener Wfademifer, welche die Formen ohne Rück— jit auf dic innere Bildungsfraft der Gache wie eine Sdablone äußerlich anwenden. Davor foll die Aefthetif warnen, das ſoll fie niemals begiinftigen, denn es führt gum Berfall der Kunſt. In der Natur ſchweben die Formen nicht über der Materie, fon- dern find die Gelbftgeftaltung, Selbftverwirflidhung ihres Lebens, des in ihr waltenden Wefens und Schöpferdranges; ebenſo beruht die Genialitit des Riinftlers darauf dak der Gehalt ſeine rechte, nur ihm eigene und vollgeniigende Geftalt gewinnt. Dies gejdieht innerhalb allgemeingiiltiger Formengefege und Formenverhiltniffe,

2. Die Momente des Schönen: a. Form. 105

aber wie fie erfiillt werden das ift cben das Geheimnif und das Siegel der Meiſterſchaft, das ift midjt lehr- und fernbar, denn es ift ftets eine nene That, fret und nothwendig zugleich. Seltſam genug meint Zimmermann buchſtäblich: „Wenn auf den Gehalt etwas ankäme, fo miifte eine erzene mit Gold ansgefiillte Statue {diner fein als eine erzene hohle, während fie dod) gewif nur werthvoller iſt.“ Was ift aber das fiir ein Begriff von der Form fie fiir einen fertigen Behilter anzuſehen, in den man diefen oder jenen Stoff hineingießt! Die Form der Statue wird nicht ſchöner, ob fie in Gold oder Erz ausgepriigt ijt, aber fie empfiingt den idealen Werth ihrer Schönheit dadurd) dak fie cinen geiftigen Sharafter auf entfpredende Weiſe veranſchaulicht. Es ift diefe beſtimmte Idee des Gattliden weldhe die Züge des Phidiafijden Reus oder der Juno Ludovifi gebildet Hat; ,,dem BVandalen find jie nichts als Stein’, aber nur ein Pfuſcher möchte es verfuden jolde Formen fiir Bacchus oder Minerva anjzuwenden, und nur ein Unverftiindiger könnte die fanftidwellenden Linien der Medi- ceifchen Venus an einem Hercules mit Beifall begriifen. Nicht dadurd) werden die Formen werthvoll daß man mit theurem Golde fie ausfillt, fondern dadurd) dag Geift in ihnen lebt, daß ihre woblgefalligen Verhiltniffe nicht leer und nichtsſagend dajftehen, jondern einen idealen Gehalt veranſchaulichen. Das gewöhnliche Ballet, die wohlflingenden Phrafen und Verſe ohne Gehalt, das blofe Tonſpiel gehirt zur decorativen Kunſt, die einzig in Farben und Yinien fic) ergeht um dem Auge einen angenehmen Reiz zu bieten. Dies Decorative fann man in der Beredfamfeit Gicero’S im Unterfdiede von Demofthenes, in der clajfijden Tra- gödie dex Franzoſen und Spanier im Unterfdied von Shakeſpeare vorwalten ſehen. Der volle Begriff der Kunſt wird iiberall, aud in der Muſik erft erreicht, wenn fie Offenbarung der Seele, wenn fie Darftellung von Gedanfen und Stimmungen ft.

Fragen wir wodurd cine Linie uns gefällt, fo werden wir nad) unjern erften Erörterungen antworten: dadurd daß die Be- wegung, 3u dev fie unjer Auge veranlaft, der Bewegungsweife deſſelben gemäß ift, und dadurd dak mit foldjen naturgemiifen Bewegungen ein Luftgefiihl verfniipft ijt. Darauf hat Karl du Prel gegeniiber der formaliftifden Aeſthetik hingewiefen. Er fagt: „Wer je von der Stadt Rom aus iiber die Campagna hinweg nad) den Albanerbergen fieht wird fid) an der ſchönen Linie er— frenen, in welder von der Spitze des Monte cavo aus das Gebirge

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langgedehnt nach der Ebene hinunterzieht; es iſt wie wenn man mit ber Hand daran herunterfahrend nicht die geringſte Unebenheit empfinden könnte. Nehmen wir nun aber an es wire der Schwung diefer Linie in der Mitte durd) einen verzerrten Gebirgshider unterbrodjen, fo wiirde der äſthetiſche Cindrud verfloren gehen, das Auge des Beſchauers würde iiber die Hider ftolpern, d. h. es würde die angefangene Bewegung gegen jein Erwarten pliglicd cinftellen miiffen und fid) unfreiwillig ({teber: unangenehm) auf- gehalten fehen. Grft in der Gefühlsſphäre des Individuums fommt der äſthetiſche Act gu Stande.” Das Shine ijt der form- gewordene Gehalt, der Widerfdjein eines feelijden Innern, das in der Geftalt fid) ausprägt, das befennt du Brel mit uns, und erinnert an die Goethe'ſchen Verſe:

Dod) ift es jedem eingeboren

Dah fein Gefiihl hinauf und vorwarté dringt, Wann hod) im blauen Raum verloren

Ihr ſchmetternd Lied die Lerche fingt,

Wann über ſchroffe Fichtenhöhen

Der Adler ausgebreitet ſchwebt,

Und über Flächen, über Seen

Der Kranid) nad) der Heimat ſtrebt.

Daf felbft das Material in weldem ein Werf ausgeführt wird gar nidjt gleichgiiltig ift dad werden wir bet der Betradhtung der Kunſtinduſtrie näher darlegen. Es fommt darauf an fid) den Bedingungen deffelben ju fiigen und fie gu verwerthen, ſodaß die im Stoff felber liegende Schinheit entbunden wird und die Schöpfung der Menjdenhand uns wie jein eigenes Bild an- muthet. Stein, Holz, Erz, Glas wollen verfdhieden behandelt jein und bringen eigenthiimlidke Modificationen des Stile mit. Ebenſo ijt e& fiir die künſtleriſche Sdee bedeutſam ob fie in Far- ben, Tönen oder Worten dargeftellt wird; Hamlet ift fein Cha- rafter fiir die Muſik, fein poetifdes Madonnenbild fommt den malerijdjen Meifterwerfen gleid), fo wenig cin gemalter Nathan oder Fauſt den gedidteten aufwiegt.

Sm Gegenjag gu Kant hat bereits Herder das Ausdrucsvolle bet der ſchönen Form betont, in den Pflanzen und Thieren wie im Menfdjen und ſeinen Werfen hervorgehoben, und Loke hat dies dahin zugeſpitzt daß alles Schöne fymbolijd fet, dak unfer Ge- mith in einer äſthetiſchen Regung nur mit Erfdeinungen ſym— pathifire deren Formen Widerſchein des Seinfollenden, des Guten

2. Die Momente des Schönen: a. Form. 107

feien. Wenn Cinheit in der Mannidfaltigfeit, Gleidheit und Gegenſatz, Erwartung und Ueberrafdung afthetijden Werth haben, fo follen wir dieſen dod) nicht in ihnen ſelbſt ſuchen; aud) fie follen uns als die anfdaulidjen oder formalen Vorbedingungen des Ginen gelten was allein Werth habe, des Guten. „Wir ver- ehren Sdentitdt und Conſequenz nidt als Formen auf denen nun einmal durd) cin vorweltliches Fatum ein unableitbares Wohl— gefallen ruht, fondern wir freuen und ihrer als wohlbekannter formaler Bedingungen der Zuverlijffigfeit, der Sicherheit und Trene gegen ſich felbft, Bedingungen welche das Gute der Welt ju Grunde legt in der es erſcheinen will, und die feine Verbind- lidhfeit fiir eine Welt haben in der es nicht erfdjeinen wollte. Ich erinnere mid) eines wunderliden Ausdruds der Köſtlin ent- ſchlüpft: die gerade inie fet das Symbol aller Geradheit; er hat dennoch recht; dex äſthetiſche Cindrucd der Linie beruht wabhrlid night darauf daß fie der kürzeſte Weg zwiſchen zwei Punften, oder dak ihre Ridjtung in jedem Punkt die nämliche fei, oder wie man fie ſonſt geometrifd) bdefiniren mag; er beruht vielmehr eben auf diefem ethifdjen Moment der Treue und Wabhrhaftigfeit, das zu— nächſt dem abftracten Begriffe der Confequenz, dann aud) der anfdauliden Erſcheinung derfelben in der räumlichen Geradlinig- feit Bedeutung gibt. Und wenn Verwidelung, Spannung und Löſung, wenn Ueberrafdung und Contraft afthetifden Werth haben, fo wird aud) für fie derjelbe darauf begriindet fein daß alle dieſe Formen des Verhaltens und Geſchehens nothwendige Formen in der Ordnung derjenigen Welt find welche durd ihren Zuſammenhang der allfeitigen Verwirflidhung de6 Guten die un- erlaplichen formalen Vorbedingungen darbieten ſoll.“ Ich bin am wenigften gewillt den Zufammenhang des Wahren, Guten und Sdinen ju leugnen, ic) werde vielmehr ſpäter darftellen wie fie fiir drei Lebensgebiete, drei Geiftesridtungen die Idee des einen Vollfommenen verwirlliden; aber id) möchte dod) dah man jedem Gebiet das Seine laſſe. Dem anfdauenden und fiihlenden Geift gefallt die Flare Orduung und gefeblide Beftimmtheit in der Er- ſcheinung, die fiir ihn das Aehnliche ift wie die Treue fiir den fittliden Willen; er braucht aber den Grund feiner Billigung nicht von dba ju entlehnen, fo wenig wie Conſequenz des Charafters darum gefillt weil bie gerade Linie uns bas Beharren in der cinmal eingefdjlagenen Ridtung mit Siderheit und Stetigfeit vors Auge ftellt und darum in der aufftrebenden Mauer wie in

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dem auflagernden Gebälk als die redjte Form der Gade uns zu— jagt. Zimmermann behauptet dagegen nicht blos die Unabhingig- keit des Schönen vom Guten, fondern daß dies felbft als ſchönes Wolfen cine Art des Schinen fet; die unbedingt wobhlgefilligen Formen ſeien die Reinheit, Freiheit, Cinheit, Wahrheit und Voll— fommenheit, durch welde cinem Werk der Stempel der Clafficitit und die Gewähr emiger Dauner aufgeprägt werde. Dag die Form ausdrudsvoll fei, das Weſen und Bildungsgeſetz der Dinge un- mittelbar erſcheinen laſſe, daran halte ich feft; aber fie deutet nicht auf Anderes hin, das Sdhine ift fiir fich felber das Bedentende in wohlgefälliger Geftalt.

Am weitefter gegen den blofen Formalismus geht Fedner, wenn er die Freude am Sdhinen weit mehr in unferer Ideenaffo- ciation als in der Geftalt der Dinge begriindet. Die Orange, fagt er, gefällt uns wol zunächſt durd ihre reine Rundung und Goldfarbe; aber warum gefallt uns eine gelbladirte Holzfugel nidt eben fo gut? Weil die Orange einen romantifden Reiz fiir ung mit fid) bringt, weil wir den erquidenden Geruch und Ge- ſchmack, den griinen Baum an dem fie gewadfen, den fonnigen blauen Himmel Staliens, ja ganz Stalien in Crinnerung und Sehnſucht mit ihrer Form und Farbe verfuiipfen; das gibt dem gelben Sled, den das leibliche Auge fieht, cine verflirende Lafur fiir das geiftige, wihrend wir bet der gelben Holzfugel an trode- nes Holz, die Drechslerwerkſtatt und den Anſtreicher mitdenfen, und dies in die Erfdheinung Hineinfehen. Warum misfallt uns daffelbe Moth anf der Naſe, da8 uns auf der Wange gefillt? Die rothe Wange bedeutet Gefundheit, Freunde, Lebensbliite, die rothe Naje Trunk und RKupferfranfheit. Seder Gegenftand und jedes Wort das ihn bezeichnet enthilt fiir uns die Summe alles deffen was wir je bezüglich deffelben innerlid) und äußerlich erfahren und erfebt haben, und diefer Totaleindrud verſchmilzt fofort mit dem Anblick der Gache. Dak aber dic gefillige Form und die Grinnerung cinander nidt entgegenwirfen, vielmehr einander ftei- gern und fo bas Shine fic) in unferer Bhantafie vollendct, das joll die Wefthetif fefthalten.

Wir blicen von einem Ausſichtspunkt in cine Landſchaft, blau- jdhimmernde und griine Maffen, im Griinen cin wenig Roth, liegen in leichtgeſchwungenen Linien vor uns; aber wir fennen die Gegenftiinde, den Wald mit feiner Sdhattenfiihle, wo die Vögel jingen, dag Reh weidet und fo mandes Märchen fpuft, den See

2. Die Momente des Schönen: a. Form. 109

mit feinen Wellen, in denen die Fiſche fpielen und der Himmel fid) fpiegelt, und jenes rothe Fleckchen iſt dba’ Dad) eines Hauſes, wo der Förſter wohnt und fein holdes Rind; alles was wir von Wald und See erfahren haben ift zu einem Gejammteindrude ver- ſchmolzen, und diejer verfniipft fic) mit der finnliden Unterlage, mit den Gegenjftinden vor uns, und daher das Unjagbare, Un- erſchöpfliche des landſchaftlichen Eindrucks. Die menſchliche Geftalt gefällt uns durch ihre ſymmetriſche Gliederung, durch die Pro— portion ihrer Theile, durch ihre Farbe; aber wir wiſſen auch wie ſie für die Geſchäfte und Freuden der Erde geſchickt iſt, wie ſie die Seele und die Gemüthsbewegungen ausdrückt, alles Menſch— liche, das wir in unſerm Bewußtſein tragen, geſellt ſich dem Wn- blick des Menſchenbildes. Fechner ſchließt: „Nun ſoll man jene Unterlage der Menſchenſchönheit ſo wenig verachten als Versmaß, Rhythmus, Reim in einem Gedichte; aber auch nicht höher und in keinem andern Sinn achten; und wer kann die höchſte Schön— heit eines Gedichtes in Versmaß, Rhythmus, Reim ſuchen, ob— ſchon eine Verletzung davon die ganze Schönheit des Gedichtes ebenſo ſchänden wie ihr reiner Fluß ſie hoch heben kann? Wir haben hier ein Beiſpiel der Wirkung des äſthetiſchen Steigerungs— princips, wonach das Niedere und das darauf gebaute Höhere ein größeres und ein höheres Product des Wohlgefallens geben können als der Summe des Wohlgefallens am Niederen und Höheren für ſich entſpricht. Nicht anders aber mit der Schönheit des Menſchen als des Gedichtes.“

Ich bin von Anfang an davon ausgegangen daß das Schöne die Ineinsbildung des Realen und Idealen ſei, daß wir ſinnlich und geiſtig zugleich durch daſſelbe angeregt und befriedigt werden, daß hierdurch der Begriff des Harmoniſchen ſich für uns erfüllt. Je klarer und reicher die Vorſtellungen ſind die wir von den Din— gen haben, deſto mehr ſagt uns die Erſcheinung derſelben; das Weſen das in der Form ſich ausprägt wird um ſo bedeutungs— voller für uns je tiefer und allſeitiger wir es erfaßt haben, denn wir ſehen nun unſern Begriff in die Geſtalt hinein, und wenn ihre äußere Mannichfaltigkeit die innere Einheit im Ebenmaß alles Beſondern, in der Ausgleichung der Gegenſätze faßlich und gefällig darſtellt, dann iſt ſie ſchön, dann erfreut ſie Geiſt, Herz und Ginn zugleich, Denn fie iſt Harmonie, fie zeigt uns im Einzelnen die Weltharmonie, und wir fiihlen uns felber in diefe eingeftimmt und dadurd) begliidt.

110 I, Die Idee de6 Schinen.

bh. Das’ Sdine in Bezug auf die Größe; das Erhabene.

Jede Form hat eine Gripe, das ift ebenjo untrennbar von ihrem Begriff als das andere daß fie niemals losgelöſt von einem Stoff oder Gehalt vorhanden ijt, fondern an und in bdenjelben verwirflidt wird. Alles Qualitative tft quantitativ beftimmt; mit {ogijder Nothwendigfeit wendet fid) darum nad der Natur der Sache unfere Unterjudung nun zur Vetradtung der Größe im Schinen.

Das Innere, Iutenfive, die Kraft, dupert fic) in dem Exten— fiven, der Ausdehuung. Das Shine ſoll anſehnlich fein, und weil wir ſelbſt {ebendige Rraft find, gefillt fie un’, und das Schlaffe, Matte, Verkümmerte misfillt aus gleidhem Grunde. Was äſthetiſch wirfen foll das muß mit Energie befleidct jein; die Rriecheret, die Feigheit, die Lüge ermangelu ihrer und find darum häßlich. Aber id) möchte nicht mit Robert Zimmermann ganz allgemein ausſprechen: „Das Groge gefiillt neben dem Klei— nen, da8 Kleine misfillt neben dem Grofen.” Die Feldherrn- halle in Minden ijt nad) der Loggia der Lanzenträger gu Floren; gebaut, aber größer, und ift dadurd etwas Leer und geſpreizt ge- worden; Kaulbach's kleine Sfizzen zur Gefdhicdte der Münchner RKunft, die wir in einem Saale der neuen Pinafothef fehen, find weit erfreulicjer als ihre viel grégfere Ausführung an den Außen— winden, weil die leichte, genremäßige, einen Scherz iiber dad eigene und jeitgendffifde Treiben magende Auffaffung fiir das fleine Format viel beffer papt als fiir das groge. Beit einem Wit ergötzt uns gerade die Kürze, und die Snnigfeit der Empfin- dung in einem Liebeslied entzückt uns viel mehr in jener Wort- fargheit, die dod) gerade das Rechte fagt, bei Goethe, Uhland, Heine, als wenn der Strom der Rede fic) in breiten Wellen er- gieft. Alles hat fein Mak, die Größe foll der Sache entfpreden, bie wahre raft ijt die fic) felbft beherrjdende, alfo ihr Mak jegende; wo fie maßlos waltet da erſchreckt uns das Unbändige, Wilde, Ungeheure, das eben durch die Begrenzung nod) nicht eine faplicje Form gefunden hat. Andererjeits gefallt uns gerade das Kleine, wenn es durch die Feinheit der Form zierlich und niedlich geworden, und (ehrt uns den Werth des Endlicen, lehrt uns aud im fdeinbar Unbedeutenden dennoch einen Spiegel des Uni- verjums wahrnehmen. Es gefallt and nidt das Starfe unbedingt beffer al das Zarte, Milde, nod) gefällt diefes um fo mehr je

2. Die Momente des Sdhinen: b. Grife. 111

jarter und milder es wird, denn es fommt bald ein Punkt wo es ſüßlich zerflieBt, wo e8 matt und ſchwächlich wird. Collen wir durch Selbjtbeftimmung zur Freiheit fommen, fo miiffen wir nicht bos beftimmend friftig, fondern aud beftimmbar und weich fein; wir miiffen aud) den Eindrücken der Augenwelt offen und nach— giebig fein, wenn wir fie anders in uns aufnehmen follen. Im Gegenſatz der Geſchlechter finden wir das eine vornehmlid) von der männlichen, das andere von der weiblidjen Natur vertreten; bas minnifde Weib, der weibijde Mann find uns widerwirtig, aber wir fordern dennod) dak die Stärke weder Starrheit nod) Unbindigfeit fet, wir fordern daß die Milde anf gediegener Seftigfeit und Stetigfcit ruhe. Es gilt alfo nidt blos vom Neben- einanbder fondern aud) vom Sneinander der Unterjdiede und ihrer Verſöhnung der Schiller'ſche Vers:

Denn wo das Strenge mit dem Zarten, Wo Starkes ſich und Mildes paarten, Da gibt es einen guten Klang.

Wir jpredjen von fanften Tönen und Farben; fie wirfen, aber nidt heftig, jondern finde. Köſtlin erinnert an die altteftament- lide Stelle wo Gott dem Propheten Elias erfdeint: Der Herr aber war nidt im Sturm, er war nidt im Erdbeben und Feuer; und nad) dem Feuer da fam ein ftilles fanftes Säuſeln, darin wandelte der Herr voriiber. Gerade die höchſte Macht offenbart fic) in dieſer fic) ſelbſt beherrſchenden Ruhe, in diejer giitigen Freundlichkeit. Wie wir uns ſelbſt aufricdten und im Gefühl unjerer Freiheit und Geifteswiirde iiber die Gebundenheit an den Boden erheben, fo jieht alles Hohe uns empor, das Gefiihl ſchwingt fic) himmelan und wird der Erdenſchwere ledig; wie wir uns felbft in die geheimen Wunder unſerer Bruſt verjenfen, jo fodt uns and) die Tiefe nad dem verhiillten Innern der Dinge, gleichwie verſchwiegenes Oulden und Sinnen die Phan- tajie vom Oberflidlicen hinweg in den verborgenen Grund der Wefenheit fihrt.

Macht der fine Gegenftand durd) feine Größe den erften und iiberwiltigenden Gindrud, fo nennen wir ihn erhaben. Gr erwedt in uns die Sdee des Unendlidjen; die Phantafie überträgt fie auf ihn und ſchaut fie in thm an. Dies ijt das Wefentlide. Hierbei gilt es vor allem gegeniiber den Srrthilmern feitheriger Theorien dies feftsuhalten dak wir mit dem Erhabenen innerhalb

112 I, Die Idee des Schönen.

der Sphäre de8 Schinen bleiben, daß das Große, welches äſthetiſch wirfen foll, immer cin formal Grfreulides fein muß, immer dem Geijte einen geiftigen Gehalt offenbart indem es die Sinne er- götzt und überwältigt. Das Erhabene tritt nidt als cin Neues zum Schönen, fondern es ijt ein Shines, in weldjem eins der Glemente, die in allem Schönen vorhanden find, mit befonderer Macht fid) geltend macht, ſodaß es als die Hauptjade Hervortritt und die andern Beftimmungen, das Formale und Stofflice, die aud) ihm nidjt fehlen, mehr nur wie an der Größe gefest und alg ihre Begleiter erſcheinen.

Ich halte fiir zweckmäßig die herfimmliden Begriffsbeftim- mungen de8 Crhabenen zunächſt durdgugehen und fowol auf das Unrichtige hinzuweiſen als einzelnes Wahre daraus zu gewinnen.

Burke, dev berithmte und geiftvolle englifde Staatsmann, ſchrieb in feiner Sugend eine philofophijdhe Unterfuchung iiber den Urfprung unjerer Sdeen vom Erhabenen und Schönen. Das Werk ift vielfad) mafgebend geworden. Burfe erfennt ridtig dag das Schöne wie das Erhabene als foldes cin Gefühl des Menſchen ift, auger der Subjectivität fiir fic) fertig nidjt exiſtirt; er beginnt aber zugleich die falſche Scheidung beider, Cr nimmt im menſch— lichen Gemiith zwei Grundtriebe an, den der Selbfterhaltung und den der Gefelligfeit; jener ijt Princip der Budividualitit, Ddiejer der Gemeinſchaft der Menſchen; auf jenem beruht die perjinlide Kraft und Selbjtindigkeit, aus diefem flieBt die Liebe gu andern. Wirfen fie auf die Cinbildungsfraft, fo erregt der eine das Ge- fühl des Erhabenen, der andere das Gefiihl des Sdinen. Was uns anmuthet, gum Anſchluß und zur Verbindung reizt, da8 nen— nen wir fdin, das Milde, Barte der Geftalten oder Tine, oder aud) da8 leiſe Widerjtrebende, damit der Tried erregt werde. Der Trieb der Selbjterhaltung aber wird zunächſt nicht durd das her- vorgerufen was ihn firdert, fondern was ſich ihm entgegenftellt: ein ungeabntes Uebermaß von Gewalt und Grife wird, wenn es uns wirflid) Gefahr droht, uns mit Furdt und Ragen erfiillen, gugletd) aber jum Widerftande ermeden; iff es uns nun nidt wirklich) gefihrlic), find wir in Siderheit, fo erregt es mur unjere Cinbiloungsfraft, und in ihr den Selbfterhaltungstried, und e8 entfteht das Gefühl des Erhabenen. Die Wirkung beider Gefiihle beftimmte er ganz finnlid) und phyfiologifd; das Schöne joll die Nerven angenehm abfpaunen und da8 Erhabene fie auf eine nicht ſchmerzhafte Weife anfpannen und jo fie beleben und

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ſteigern; e8 foll dadurch die Gefäße, wie er befonders riifmt, von beſchwerlichen und gefährlichen Verſtopfungen reinigen, woriiber A. W. Schlegel äußerte, man werde dann das Erhabene am beften in der Apothefe gu faufen fucjen. Uebrigens machte Burfe im Gingelnen viele treffende Bemerfungen, die der Wiſſenſchaft zugute Fommen.

Rant ſchloß fic) ifm an und behandelte in der Rritif der Urtheilsfraft das Gefühl des Erhabenen gleidfalls getrennt von dem des Schinen. Cr überwand den englijden Senjualismus, entriidte aber da8 Grhabene ganz aus der Sinnenwelt, wenn er jagte: Erhaben ift was aud) nur denfen zu können ein Vermigen des Gemiiths beweift das jeden Maßſtab der Sinne iibertrifft. Wn Burfe anfniipfend nannte er erhaben dasjenige was durd jeinen Widerftand gegen das Bntereffe der Sinne unmittelbar gefallt, und beftimmte dies näher dahin daß das Gefühl des Gr- habenen nicht direct das Sunewerden einer Beforderung des Lebens ijt, fondern indirect durch cine augenblickliche Hemmung der Lebens- kräfte und darauf fogleid) folgende defto ſtärkere Ergießung der- felben erzeugt wird. Sehr ridtig bemerft Sant weiter dak das Wohlgefallen am Erhabenen mit der Vorjtellung der Ouantitit verbunden fei. Fährt er nun fort ju behaupten dag wir das ſchlechthin Große erhaben nennen, fo retht er daran die Bemer— fung dak wir dieſes, das Unendflidje, in der Sinnenwelt nicht finden, fein Gedanfe aber im Geifte erzeugt wird; da8 Unendlice denfen ju finnen ift jenes Vermigen des Gemiiths das fic) iiber alleé Ginnliche erhebt; das Erhabene liegt darum nicht im erfdei- nenden Gegenftande, fondern im auffaffenden Geift; wir nennen Erſcheinungen erhaben deren Anfdjauung die Sdee des Unendlicen mit fic) führt, welde der Einbildungskraft ebenfo unerreichbar als der Vernunft gemäß ift. Das Gefühl des Erhabenen ijt alfo ein Gefühl der Untuft ans der Unangemeffenheit der Einbildungskraft in der äſthetiſchen Größenſchätzung fitr die durd die Vernunft und eine dabei jugleid) erwedte Luft aus der Ucbereinftimmung eben diefes Urthetls der Unangemeffenheit des größten ſinnlichen Ver— mögens zu Vernunftideen, fofern die Beftrebung zu denjelben fiir uns dod) Geſetz iff.

Herder, den die nachfolgenden Wefthetifer allzu wenig bead)- teten, ciferte in der Ralligone bereits gegen die Trennung des Schinen und Erhabenen. Er jah dies legtere in dem was Winckel— mann die hohe Schinheit nannte; erhaben nannte er das was

Carriere, Wefthetif. I. 3. Muff. 8

114 I. Die Idee des Schöuen.

jeiner Natur und Region nad) mit Einem viel und gwar das Viele ftill und mächtig gibt und wirfet. Das Cinfade verleiht dem Bilde Kraft, fraftvolle Cinheit ſchafft und ijt das Erhabene. Gr wies auf die Alten hin, weldjen das Erhabene der Gipfel des Schönen und die Bliite der Tugend, da8 Hochherrliche war, wie es uns aud) in der Anſchauung ihrer Marmorwerfe aufgeht, oder wenn wir Pindar und Platon lefen. Er bedanerte daß Leffing nicht zu einem Commentar iiber Burfe’s Bud) Zeit gewonnen um cin Friedeſtifter gwifden dem Erhabenen und Schinen ju werden, in unferer Natur die Cinheit beider Principien dargu- thun. Nicht Gegenſätze find da8 Erhabene und Schöne, jondern Stamm und Aefte Cines Baumes; fein Gipfel ijt das erhabenfte Shine.

Herder geht dann nad) feiner Art von der Sprade ans. Hod) nennen wir was iiber uns ijt, erhaben was durd) eigene oder frembe Rraft emporftieg. Cine Höhe gu erflimmen foftet Miihe; fie zu erſchwingen bedarf’s Fliigel; daher das Hohe ein Ausdrud des Vortreffliden. Cin hoher Muth erjtrebt die Hie, ein hoher Ginn hat fie durd) Natur inne, hohe Gedanfen wan- defn auf ihr. Gin Gefühl des Erhabenen ijt die Empfindung jeiner Vortrefflidkeit mit Hodadtung vor ihm, mit Sehnfudt zu ihm hin; es heißt Erhebung. Ueber uns felbft erhoben, wer- den wir mit ihm höher, weiter, umfaffender. Gerade dort tritt das GErhabene in der Kunſt hervor wo ans Unermeffene Maß ge- {egt, wo das Ueberſchwengliche an Dajein oder Kraft, das uner- reichbar ſchien, als erreidjt dargeſtellt wird.

Hegel fpridjt iiber das Erhabene nur bei der Betradjtung der jymbolijden Kunſt, die das Unendlide auszudrücken ſucht obne einen ihm ganz angemeffenen Gegenftand 3u finden. Im Sdinen burddringt das Innere die äußere Realitit, ſodaß beide Seiten einander addquat erjdeinen; in der Erhabenheit dagegen ijt das äußere Dafein madtlos der Subſtanz gegeniiber, die es zur An- ſchauung bringen will; die Welt ift ungeniigend jum Bilde Gottes, und in der Anerkennung der Nichtigkeit alles Endlichen gegeniiber dem Unendliden erheben wir uns gu diejem. Zeiſing irrt ſchwer— lid) wenn er Hiermit die Unzulänglichkeit der Erſcheinung die Sdee villig auszudrücken als das wefentlide Merfmal des Erhabenen bezeidjnet fieht und eben darin die Grundlage der Viſcher'ſchen Theorie findet.

Aud) Solger behauptet ausdriidlid) den Gegenjag des Schö—

2. Die Momente des Schönen: b. Grife. 115

nen und Erhabenen, die fogar einander ausſchließen follen, ſodaß das Erhabene niemals jin, das Schöne niemals erhaben fei. Seine Definition dag da8 Erhabene das ing Endliche herab— fteigende, fid) im Endlichen ſetzende Unendliche ſei, widerjpridt aber zugleich ber Hegel’ iden Anſicht, während fie nad unferer Faffung der Idee des Schinen als des im Endlichen offenbaren Unend- lichen fic) anſchließt.

Weiße erflirt dak an jedem ſchönen Gegenftande das was ihn jum fdinen macht Crhabenheit ijt. Es fdeint flar dak alles Schöne als ſolches fic) iiber das Gewöhnliche erhebt; aber Weiße verfteht es nicht in diejem einfaden Sinne, er meint das Erhabene jet die Srrationalitit, welche in die Mtafbeftimmungen des End- lidjen eingehen miiffe um es ſchön gu machen; das Ueberfinntide, Ueberſchwengliche in die Erjdeinung itbergehend fei das Erhabene. Die Schinheit, fagt Weiße, erſcheint cinmal als da8 Attribut ein- zelner endlicher Dinge, andererjeits als Attribut des Gefammt- wefens aller Endlichkeit, weldje dieje ins Daſein ruft, aber aud wieder verneint und jedes Befondere in den allgemeinen Flug aller Dinge juriidnimmt. Dieſe beiden Schönheiten, die endlide und die erhabene, erjdjeinen als kämpfende; oder vielmehr die wirkliche Schinheit, welded ftets die erhabene ijt, ift die Er— ſcheinung des Rampfes jener gwet Mächte, denen nur in diefem ihrem Kampfe das Pridicat der Schinheit gufommt. Hier mide’ id) erinnern: daß da8 Schöne niemals der Kampf, fondern der aus dem Streit geborene Frieden ijt, allerdings feine leere Ein— facdhheit und triige Rube, fondern, wie ic) frither fagte, thatvolf (ebendige Ginheit, Harmonie als Löſung des Gegenfages von Geift und Natur, Unendlidem und Endlichem. Ferner: da jenen lieblidjen fleinen Madonnenbildern Rafael's und Correggio’s oder jo mandjem reizenden Liede aus dem Munde des Volks oder Soethe’s und Heine’s niemand die Schönheit abſprechen, ebenfo wenig aber die Erhabenheit beilegen wird. Dak Weife hernad) die Erhabenheit gar eine gegen fic) felbft gefehrte Schinheit nennt, gehirt zu den verfehrten dialektiſchen Umſchlagsſpielereien feiner Acfthetif, deren es leider fo viele gibt. Dahin rechne ich anh die weitere Behauptung daß die finnlidje Größe des Erhabenen alg Moment der Geftaltlofigteit gefaßt werden miiffe, d. h. des Hinausgehens der endlichen Erſcheinung über diejenigen Verhält— niſſe innerhalb deren die als beſonderer und einzelner ihr eigen— thümliche Schönheit beſchloſſen iſt. Michel Angelo'ſche, Phidiaſiſche

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116 I. Die Idee des Schönen.

Gebilde jollen wir nidjt deswegen erhaben nennen weil ihr Maß die natiirlide Erſcheinung des menſchlichen Körpers überſteigt, ſondern weil dieſe Größe das Mittel für die Darſtellung von Verhältniſſen iſt welche von den natürlichen des Organismus nicht blos verſchieden, ſondern auch ihnen dergeſtalt widerſprechend find dag fie innerhalb jener nicht ſtattfinden könnten. Danach beſtünde dann das Kennzeichen des Erhabenen in der phyſiſchen Unmöglichkeit, in der Widernatürlichkeit, in der Ungeſtalt! Indeß Weiße geht noch weiter. Die Wahrnehmung daß gerade an der Größe des Weltalls ſoweit wir ſie überſchauen, im Gebirge, am Meere, unter dem Sternenhimmel, die Erhabenheit uns aufgeht, bringt ihn dazu die Erhabenheit als die Negativität ſtatt als das Zuſammenwirken der endlichen ſchönen Gegenſtände zu bezeichnen; dieſe ſollen nun nicht mehr in ſich beſchloſſene Mikrokosmen, ſon— dern nur zerſtreute Bruchſtücke eines einzigen ſchönen Gegenſtandes, des Weltalls, ſein. Indeſſen, ſetzt Weiße hinzu, bleibt dieſer Mikrokosmos der Schönheit eine bloße Forderung und eine un— wirkliche Möglichkeit, d. h. es gäbe alſo überhaupt keine Schön— heit und keine Erhabenheit, da ſie im Beſondern nicht ſein ſoll, vielmehr als die Negativität des Beſondern angegeben wird, und da die Anſchauung der Totalität für uns unvollziehbar iſt. Ich freue mich nachtragen zu können daß Weiße auch hier mit der Wiſſenſchaft fortgeſchritten iſt; er erkannte meine Aeſthetik an, er ſprach das offen aus; und in ſeinen Vorleſungen faßte er die Sache auf neue und geiſtvolle Art. Der raſtloſe Schöpfer— drang läßt der Phantafie fein endliches Bild geniigen; ihr Streben ins Unendliche, die Luft an bildlider Veranſchauung defjelben greift nad) dem finnlid) Grogen, Ungeheuren, ſcheinbar Grenjen- {ojen, und fie legt ihre eigene innere Unendlidjfeit hinein; fo er- wächſt im ſchauenden jdaffenden Geijt das äſthetiſch Crhabene. Dies ftimmt im Wefentlichen mit der Darjtellung iiberein welde id) ſchon vor dem erften Erſcheinen meiner Aefthetif in der Zeit- {drift fiir PHilofophie gegeben.

Rant hat feiner ganzen Philofophie gemäß nidts iiber den Segenftand beftimmen wollen, jondern nur unjer fubjectives Ge- fühl unterjudjt; er hatte in unjerm Gefühl den Aufſchwung aus dem Endlichen ins Unendlide, damit die Erhebung iiber die end- lidje Erſcheinung jur Idee gefunden; Viſcher wollte, wie es ſcheint, den jubjectiven Sdealismus Kant's corrigiren, that dies dann aber auf fehr unphilojophijde Weije dadurd dak er die Stimmung

2. Die Momente des Shonen: b. Größe. 117

des Gemüths ing Object verlegte, und dadurd) den Begriff des Erhabenen völlig verfeh{te, wihrend er iiber einzelne crhabene Erſcheinungen trefflice Bemerfungen machte. Er hat das Schöne im Geifte der neuern Zeit als die Cinheit von Bdee und Bild beftimmt. Gr fagt nun Folgendes: „Die Idee reift fic) aus der rubigen Ginheit, worin fie mit dem Gebilde verfdjmolzen war, {o8, greift iiber dieſes hinaus und halt ihm als dem Cndliden ihre Unendlichfeit entgegen. Go entfteht der erfte Widerſtreit im Schönen, das Erhabene.” Bch frage ob in allem Schönen, oder nur mandmal? Iſt die vom Gegenftand Losgeriffene Sdee etwas fiir fic) Seiendes, oder bedarf fie nun eines Trigers, eines Gub- jects das fie denft? Sm letztern Fall war die ganze Thätigkeit des Sichlosreißens unmiglid. In Wahrheit tft es nur eine {peculativ flingende Phraſe. „Im CErhabenen evjdeint das Bild durd) das Ueberwachſen der dee als dasjenige was nicht dic Sdee ift, oder da8 Grhabene ijt diejenige Form des Schönen, wo das ideclle Moment im negativen Verhältniß jum finnliden ſteht.“ Wenn das Schöne als die Cinheit von Idee und Bild bezeichnet wird, dann ijt der Gegenſatz beider nict eine Form des Sdhinen, fondern das Unjdine. Cine Erfcheinung dite gerade die Unfiihig- feit ihren Begriff darjujtellen, ihrer Bdee zu geniigen zur Schau ftellt, wird niemand mit Viſcher erhaben nennen wollen, fie ift vielmehr das Gegentheil davon, fie ift kleinlich, ſchwach, bedauer— lid. Um Vifcher nist geradezu einen Unfinn fagen ju laſſen erflart fid) Reifing die Sache fo: Vijcher verftehe hier unter Idee nicht das dem Gegenftand cinwohnende Geftaltungsprincip, nicht ben fid) in der Erſcheinung realifirenden Begriff, fondern das im Subject hervorgerufene Bild der Grjdeinung, einen durd fie erzengten Gedanfen in uns; dod) hat Viſcher das nirgends gejagt, er behandelt hier das objectiv Grhabene, und von der Wirkung des Gegenftandes auf uns ſpricht er fpdter tm Anſchluß an Rant. Sedenfalls bliebe es unlogiſch unter der Idee beim Erhabenen etwas anderes als beim Schinen zu verftehen und beide dod) nad) ihrer Beziehuug zur Idee zu chavafterifiren, und Zeifing vermift jede Andentung der Qualititen wodurd) cine Erſcheinung eine fic überragende Sdee in uns hervorruft. Dieje Andeutung fann man in Folgendem finden: „Das Schöne ijt reine Form; dieje ijt wefentlich jzugleid) cin fiir jede Sphäre des Lebens aus ihrer Qualität ftreng Hervorgehendes und genau begrenztes Maß der Verhaltniffe des Gebildes. Dies Mak überſchreitet das Er—

118 I. Die Idee des Shonen.

Habene, und gwar ins Unendlidje, zugleich aber muß es gemäß der Beſtimmung feines Wefens als Widerfprud die Form oder das begrenzte Maß fefthalten; das Erhabene ift in Ginem geformt und formlos.” Plato, der guerft das Maß dem Schinen wefentlid nannte, bezeichnete das Geſchlecht des Maßloſen nicht alé erhaben, ſondern als häßlich. Wie etwa das Maß ins Unendliche über— ſchreiten und doch das begrenzte Maß feſthalten kann, hat Viſcher nicht erklärt. So etwas iſt auf dem Papier möglich, das iſt geduldig, in der Wirklichkeit aber nicht. Ich betrachte im Geiſte den Prometheus des Aeſchylos und den Poſeidonstempel von Päſtum, den Montblanc und Michel Angelo's Propheten, Colum— bus auf dem Meer, die Niobe und was man ſonſt vorzugsweiſe erhaben nennt, und finde nirgends ein Maßüberſchreiten ins Gren— zenloſe, vielmehr überall im Gegentheil ein ſich begrenzendes Un— endliches, nirgends zugleich Formloſigkeit und Form, ſondern überall Form, ſchöne Form! Viſcher's Vorſtellung vom Erhabe— nen, ſeine Theorie iſt allerdings ein Widerſpruch, nicht aber das Erhabene ſelbſt.

Zimmermann ſieht in der Form des Erhabenen den Ausdruck des Widerſpruchs daß die Vorſtellnng des unendlich Großen von uns nur angeſtrebt wird, und daß ſie gleichwol, da jedes Streben eine Vorſtellung des Erſtrebten in uns vorausſetzt, zugleich inner— halb unſers Vorſtellens liegt. Wir vermögen das Unendliche nicht zu faſſen und tragen ſeinen Begriff doch in uns; deswegen erſchei— nen wir uns klein und unbedeutend, dann wieder ſelbſt groß und unendlich. Hätte Zimmermann recht, ſo müßte auch das unend— lich Kleine erhaben wirken. Auf den Gegenſtand der Vorſtellung hat er nicht weiter geachtet; daß uns in demſelben das Unendliche für unſer Gefühl wirklich gegenwärtig ſei das ſcheint mir die Hauptſache; wir werden durch den Gegenſtand des Unendlichen inne, aber er iſt nicht blos die Brücke die zu ihm führt und ver— laſſen wird, ſondern wir ſchauen in ihm die Idee des Unendlichen an, welche er in uns erweckt, zu deren Hervorbildung in der Seele er uns getrieben hat.

Viel richtiger als Viſcher hat Zeiſing die Natur des Erhabe— nen aufgefaßt; ohne Herder's Anſicht gu fermen begründet er fie. Das Erhabene iſt ihm dasjenige Schöne welches durch objective Vollkommenheit, namentlich durch ſeine Größe die Idee der abſo— luten Vollkommenheit erweckt, wodurch es uns auf unmittelbarem und poſitivem Wege ins Gebiet des Abſoluten hinüberführt. Damit

2. Die Momente des Schönen: b. Grife. 119

find wir endlich aus den Begriffsfpielereien auf den Boden der Wirklichkeit und der Anſchauung getreten. Der Lefer mußte aber einmal eine Wanderung durch das Dididt und Geftriippe der äſthetiſchen Theorien mitmaden um felber gu erfahren daß die jdwerverftindliden Darftellungen ihre Ounkelheit nicht aus der Tiefe der Idee, fondern aus mangelnder Erkenntniß ſchöpfen, daß die gefundene Wahrheit ftets far und einfach ift, fie gu finden aber gar oft verwicéelte und miihjame Bahnen nöthig find.

Das Erhabene nannte ic) dasjenige Schöne welded nidt fowol durd) die Anmuth als durd) die Gripe der Form auf uns wirft, weldes zunächſt von Seiten der in ihm waltenden Macht oder Ausdehnung fic) darftellt. Um dies zu finnen muß es ſich felber über das Gewöhnliche erheben, das herfimmlide Maß der Dinge, nicht aber fein eigenes Mak überſchreiten, weil Maßloſigkeit nie- mals das Zeiden felbftherrlider Rraft ift, die fic) im Maßgeben bewährt. Darum nennen wir dasjenige erhaben neben weldem alles andere als klein erſcheint; nur dag man nidt vergeffe wie die Größe allein e8 nicht thut, fondern ftets die Bedingungen des Schönen erfiillt fein milffen; wir ftehen nidt auferhalb, fondern innerhalb des Schinen.

Daher bedarf das Erhabene anderer Erſcheinungen neben ifm, an denen wir es meffen, mit denen wir es vergleiden, ja es liebt den Contraft. Wir ermitden, wenn uns ftets nur Ueberſchweng— fiches geboten wird, der Schauer des Erhabenen weidt dann am €nbde der Abſpannung, der Langeweile, und wenn innerhalb einer beftimmten Sphäre alle Dinge über ihre gewöhnliche Grife geftetgert werden, fo erfdjeint uns das Ganje viel kleiner als es wirklich ijt, weil wir die gewohnte Verhältnißmäßigkeit erblicen. Senes ift in Klopſtock's Meffiade, dies in der Petersfirde der Fall. Die Kinderengel an den Waſſerſchalen haben dort die Größe der Männer, die Tauben mit dem Oelzweig iiber ihnen find mehrere Fup lang, die andern ſchmückenden Geftalten der Pfeiler find auf gleide Weije vergrifert, ja um fo mehr je höher jie ftehen. Wir meffen aber die Höhe nad) der perfpectivifden Verjiingung, und wo diefe nicht etntritt, gewinnen wir wol einen Verftandesbegriff, aber feinen äſthetiſchen Cindrud der Hohe. Die Pfeiler find riefig, und wiirden uns fo erjdeinen, wenn die menſchlichen Geftalten, welche fie ſchmücken, menſchliches Mak hitter; indem fie mit dem Pfeiler über das Gewöhnliche gefteigert jind und fein Contraft vorhanden ift, erhebt fid) uns der Anblick

120 I. Die Idee des Schinen.

des ganzen bauliden Gliedes nicht ins Ungewöhnliche, eine Größe ſchwächt die andere, der Pfeiler an dem zwei Kinderengel fdweben, die feine Breite grofkentheils ausfiillen, erjdeint uns nicht beſon— ders grog, und fo ijt auc) bas Zuſammenwirken aller Theile zum Ganjen der Kirche ohne die ewvartete Wirfung; man mug iiber die Ausdehnung erft reflectiren, fie fic) erſt allmählich gum Be: wußtſein bringen und dann die innere Vorjtellung mit der Sinnes— anfdjauung verbinden um dieſe erhaben gu finden, während bei dem Gintritt in den Mailinder Dom fofort unmittelbar ein Ge- fühl des Unendliden uns überwältigt.

Wenn wir uns einem grogen Berg oder Gebäude ſchrittweiſe nahern, ſodaß es anfangs in der Ferne flein erſchien, oder wenn eine Tonmaffe allmählich voller und breiter anfdwillt, fo wird gwar der Ausdruck des Erhabenen nicht ausbleiben, aber ein plit- liches und iiberrajdendes Gintreten der Gade in unfere Empfin- dung wird uns mehr erjdiittern: der Oonner der auf cinmal laut erfdallt, das fdjneecbedecfte Wetterhorn dem wir im Wald nah gefommen find, das Meer das ein Hiigel uns barg, ſodaß wir beide auf einmal in der Nahe gewahren.

Wenn ganz was Unerwartetes gefchieht, Steht unfer Geift auf cine Weile fill, Wir haben nidjts womit wir es vergleidjen.

Wir felbft als Sinnenwejen erjdeinen uns als verjdwindend dem erhabenen Gegenftande gegeniiber, wir fonnen ihn nidjt fofort mit unjerm Maße meffen, die gewohnten Verhiltniffe erfdeinen unanwendbar, wir haben unmittelbar den Cindrud eines Uner- mefliden, einer alles iibermiltigenden Größe, nidt dadurch daf wir uné fiber die Anjdauung erheben und jenfeit ihrer eine Idee bilden, fondern in ihr, durd) fie fiihlen wir cin Unendlidjes ſich uns offenbaren, und was der BVerftand und was die Erfahrung aud) von der Meßbarkeit nachtriglid) fagen mag, fiir das Gefühl und dte Bhantafie, dic beim erften Anblic das gewohnte Maf verforen, bleibt der urjpriinglidje Gindrucd des Unendliden; es {tegt fiir uns nidjt jenfeit der Cache, nicht blos in unſerm Ge- miithe, jondern daß es mit ihr verfniipft ift macht fie uns zur erhabenen. Der Gegenftand erwedt durd) feine Grife die Idee des Unendlichen, fic verſchmilzt mit feinem Bilde, er wird ihr Träger fiir unfere Anfdanung, und fo entfteht in feinem Zujam- menwwirfen mit unjerm Gemiith das Gefiiht des Erhabenen.

2. Die Momente des Schinen: b. Größe. 121

Daf es aber wejentlid) auf die Größe anfommt, mögen uns einige Beifpiele lehren. Wir betradten das Modell des Kölner Doms, das in den Proportionen richtig, in den Formen fein tft, aber wir haben den Gindrud des Erhabenen nicht; weit eber madt ifn das nod) fleinere Gemiilde, wenn fich die Abbilbungen von Häuſern, von Menſchen zugleich darauf befinden und wir nun dieſe in der Phantafie zu ihrer gewohnten Größe fteigern und in demſelben Verhältniß das Bild de8 Doms innerlid) anwachſen laffen. Die Verherrlicung des Achilleus in der Blias wirft des— halb fo wunderbar, weil wir ſchon durd) eine Reihe von Gefiingen die Troer fiegreid) jahen, weil fo viele Anftrengungen gewaltiger Helden, eines Diomedes und Odyſſeus, eines Agamemnon, Aias und Patroflos vergeblid) waren; da auf einmal geniigt der blofe Ruf des Achilleus, fein bloßes Erſcheinen die Troer zurückzu— ſchrecken, die Achäer zu retten; feine Größe ift damit hod) iiber alle gefteigert. Sm Marius auf Karthagos Trümmern ftaunen wir die Größe de8 einen Mannes an, der gefdlagert und wehrlos es dennoch wagen fann, er allein, darauf gu finnen daß er dem feindlichen Rom das Schickſal RNarthagos bereite. Die Völker— maffen dic ev bewältigt, die weiten Räume die er durchzieht, um- Fleiden Alexander den Großen mit dem Glanz der Crhabenheit. So wirfen Tonmaffen in einem Händel'ſchen Halleluja, in einem Beethoven’ jen Finale, und zwar ijt der Cindrud viel gewaltiger al& der de$ nur von wenigen Stimmen ausgefiihrten Gefangs oder des Klavierauszugs; und beide Künſtler find ihrer Wirkung ficer, weil fie nicht beftiindig alle Mittel aufbieten und Lärm maden, fondern das Machtvolle mit dem Zarten und einfach Melodiſchen in Gontraft ftellen. Auch fiir Michel Angelo’s Propheten und Sibyllen ijt die äußere Gripe nicht gleidgiiltig, ebenſo wenig fiir den Mottvater als Weltſchöpfer von Cornelius in der Ludwigs- fire 3 München; die Rafael'ſche Darjtellung von Ezechiel's Ge— ſicht fcjeint aus dem engen Rahmen hinauszuwachſen und um- faffende Dimenfionen zu fordern; die dem Phidias nachgeſchaffene Biijte des Bens von Otvricoli gilt fiir erhabener als die andern formal verwandten Darjtellungen, weil in ihrer finnliden Größe {don etwas Niederjdmetterndes fiir den Beſchauer liegt. Hier ift natiirlid) nirgends leere Maſſenhaftigkeit oder ein äußerer raft: aufwand der cine innere Leerheit und Hohlheit barge, ſondern dic ideale Hoheit und Würde priigt fic) in Formen aus, deren Um— fang ſchon fid) und uns iiber das Gewöhnliche erhebt, und in

122 I. Die Idee des Schinen.

der Bewiltigung einer gewaltigen Maffe zeigt fic) die Macht des Geiftes. In diefer letztern Hinſicht trägt es gum Cindrud der Erhabenheit bet, wenn etwas urſprünglich Ungefiiges nod) im Stoffe nachflingt, das aber der ordnenden Form fic) dennod hat fiigen miiffen, wie im stilo rustico florentiner Bauten, am Palaft Pitti oder Strozzi, wo die rauhen und ungeglitteten Werkſtücke ohne umhüllenden Bewurf fidtbar find und in ihrer rohen trogigen Derbheit die Macht der Idee um fo größer erſcheinen laffen, die fie ergriff und in einfadjen flaren Ginien fie gu einem harmoni- ſchen Ganzen zuſammenfügte.

Wenn Winckelmann ſagt daß das Schöne durch Einfachheit erhaben werde, ſo ſtimmt dies zu unſerer Auffaſſung. Der hohe Stil detaillirt nicht viel, ſondern gibt das Weſenhafte in großen Linien; die Menge des Einzelnen, das für ſich hervortritt, löſt das umfaſſende Ganze in eine Vielheit auf, die in allem Befon- deren ſchön fein fann, ohne dag das Einzelne fiir fid) grok wiire. Gin ſchachbretartiger Thurm wird in eine Reihe einzelner Quadrate jerlegt, die Linie des Anftrebens beftindig durd) wechſelnde Farben unterbroden. ,,Rerftiide den Donner in feine einfaden Silben“, ſagt Fiesco, „und du wirft Kinder damit in den Schlaf fingen; jdymelze fie zuſammen in einen pligliden Schall, und der monar- hijde Laut wird den ewigen Himmel bewegen.”

Darum wirkt die Dämmerung giinftig, weil fie eben mandes Detail verſchwimmen und die grofen Maſſen Hervortreten ligt; die Petersfirde von außen erjdeint herrlid) und ftaunenswerth, wenn bet einbredjender Nacht die überladenen Cinjelheiten der Façade verfdwinden, die gewaltigen Grundlinien derfelben aber und der Ruppel über ihr durd) einen Kranz von fdimmernden Yampenfternen bezeidjnet werden. Folgende Stelle aus Goethe's Wahrheit und Didjtung beftitigt und erläutert das Gejagte, fo- fern man fic) nicht daran ſtößt dak der Dichter Erhabenes und Shines anfangs getrennt Hilt, um fie dann ju vereinigen, wo jenes erft feine Wahrheit erreicht, wie fie auch fonft dem Dichter gegenwirtig war: „So viel ift gewiß daß dic unbeftimmten fid weit ausdehnenden Gefiihle der Sugend und ungebildeter Volker jum Grhabenen gecignet find, das, wenn es durch äußere Dinge in uns erregt werden foll uns mit einer Größe umgeben mug der wir nidjt gewadfen find. Gine folde Stimmung der Seele empfinden mehr oder weniger alle Menſchen, fomie fie dieſes

volle Bedürfniß auf mancherlet Weife gu befriedigen fuden. Aber

2. Die Momente des Sdhinen: b. Größe. 123

wie da8 Erhabene von Dimmerung und Nat, wo fid die Gee ftalten vereinigen, gar leicht erjeugt wird, fo wird es dagegen vom Tage verſcheucht, der alles jondert und trennt; und fo muß es aud) durd) jede wadjende Bildung vernicdtet werden, wenn es nicht glücklich genug ift fid) gum Schönen gu flüchten und fid innig mit ihm zu vereinigen, wodurd) dann beide gleich unfterblic und unverwüſtlich find.“ Achnlic) ift es mit der Macht der Ferne, geitlich wie räumlich. Reine Bejonderheiten, aus denen cin Ganzes befteht, hiren auf für fic) felber fidjtbar zu fein und verſchmelzen ju einer gemein- jamen Wirfung, in der eben mur die großen Formen des Total- umriſſes hervorgehoben werden. So überträgt die Gage und die Geſchichte die Geſammtthätigkeit ganzer Geſchlechter und Zeiten anf einzelne Heroen, die als leitende Genien den Ton und die Richtung des Ganzen angaben, und diefe wachſen damit in der Vorftellung der Menſchheit höher und höher. Selbſt abgefehen hiervon verjdwinden and) bet dem Werk des Cingelnen alle be- jondern Zurüſtungen, alle kleinen DMtittelarbeiten, und nur die ganze That, nur die ganze Geftalt als ſolche fteht fiir uns da. Deshalb ſagt das franzöſiſche Spridwort daß es fiir die Kammer— diencr feine Helden gibt, weil nämlich fie im Helden in der täg— lichen Nahe den aufftehenden und ſchlafenden, an- und auszuflei- denden, effenden und trinfenden Mann fehen, und vor diefem Vielen und Aeußeren, das fiir fie das Widhtige ijt, nicht gu der Erkenntniß des Cinen und Innern fommen, das ihn grog mad. Auch die Weihe des Todes gehirt hierher. Der Abſchluß eines Lebens treibt den Geift der Ueberlebenden ein Totalbild zu gewin- nem, und wie es aus der Verſchmelzung der befondern Werke und Eindrücke fic) erhebt, fo iiberragt es fie alle, und wirkt anf die Ueberlebenden, die fiir fic) unter den einzelnen Cindriicden befangen bleiben, mit iiberwiltigender Größe. Schiller's Don Cäſar hat dies trefflich ausgeſprochen. Cr erfennt nidt blos: Gin mächtiger Bermittler ift der Tod. Da löſchen alle Zornesflammen ané, Der Haß verſöhnt fid) und das ſchöne Mitleid Neigt fid) ein weinend Sdhwefterbild mit fanft Anfdmiegender Umarmung auf die Urne.

Er weiß aud) dak der Geftorbene

Senfeit allen Wettftreits wie ein Gott In der Erinnerung der Menſchen wandelt.

124 I. Die Sdee des Schönen.

Er fiigt hinzu: Der Tod hat eine reinigende Kraft In ſeinem unvergänglichen Palafte Zu echter Tugend reinem Diamant Das Sterbliche zu läutern und die Flecken Der mangelhaften Menſchheit gu verzehren.

Nad) diejen vermitte(nden Erörterungen wird die oben bereits angezogene Stelle aus Windelmann’s Kunſtgeſchichte in ihrem ganzen Werthe erfannt werden: „Durch die Cinheit und Cinfalt wird alle Schönheit erhaben, ſowie es durd) diefelbe alles wird was wir wirfen und reden, denn was in fic) grok ijt wird mit Ginfalt ausgefiihrt und vorgebradt erhaben. Es wird nidt enger eingejdrdnft oder verliert pon feiner Grife, wenn es unfer Geiſt wie mit cinem Blice iiberfehen und meffen und in cinem einzigen Begriffe einſchließen und faffen fann, ſondern eben durch diefe Begreiflichkeit jtellet eS fid) uns in feiner villigen Größe vor und unfer Geift wird durd) die Faffung deffelben erweitert und zugleich mit erhoben. Denn alles was wir getheilt betrachten miiffen oder durd) die Menge der zuſammengeſetzten Theile nicht mit einmal iiberjehen können, verliert dadurd) von feiner Größe, fo wie uns ein [anger Weg kurz wird durch manderlet Vorwiirfe, welche fid uns anf demfelben darbieten, oder durd viele Herbergen in welden wir anhalten können. Diejenige Harmonie, die unjern Geift ent: zückt, befteht nicht in unendlich gebrodjenen gefetteten und gefdjleif- ten Tönen, jondern in einfaden fang anbhaltenden Riigen.”

Mit der Cinfadhheit und Plötzlichkeit hängt die Concentration und Riirze zusammen die das Erhabene im Wort erhöht. Schon Longin preift den Anfang des Moſes: „Gott fpradj: es werde Licht! und es ward Lidt.“ So das Moi der Medea, da8 Soyons amis, Cinna, de8 Augujtus bet Corneille, das Seder Roll cin König im Munde Lear’s, und Wallenftein’s Erklärung: Nacht muß es fein wo Friedlands Sterne ftrahlen. Die Erhabenheit der Rede ift Ausdrud einer grofen Seele, die ihre Macht darin be— währt dak fie nicht viele Worte braucht. Achnlich erſchüttert Zeus den Olympos mit der Bewegung feiner Augenbrauen, durch dic herabwallenden Locken feines Hauptes.

Die Erhabenheit wird ſelbſtverſtändlich gefteigert, wenn fie nicht blos an einem Gegenſtand erjdeint dem andere minder große zur Seite ftehen, jondern wenn fie als cin Ganzes uns umfiingt, das uns unermeßlich iiberragt und jdon aus mehrern Theilen der

2. Die Momente des Sdinen: b. Grife. 125

Art befteht dak wir ihnen gegeniiber uns flein vorfommen. Go wirfen in einer Alpenlandſchaft der weite hohe Himmel, die ge- waltig anfteigenden Berge, der ſchäumende Waſſerſturz und die Tiefe der Schlucht zuſammen; jeder diejer Theile ift erhaben fiir ſich, und verbunden ftellen fie das in fic) geſchloſſene Ganje des Unendlidjen dar. Aehnlid) die Gemälde Mtichel Angelo’s in der Sirtinifden Kapelle; dieſe Bilder der Sibyllen oder Propheten, des Weltidipfers und Weltrichters überwachſen riefig ihre Um- gebung, jedes ijt erhaben fiir fic), und faffen wir fie zuſammen, jo ftehen Anfang und Ende des irdiſchen Seine als der Rahmen da welder dic Hohen Geftalten und Thaten der Geſchichte um- ſchließt. Shakeſpeare ijt herrlich in jedem jeiner Werke, aber auch ein Goethe modjte gu ifm mit Ehrfurcht emporblicen, wenn er das Gejammtbild jeiner Schipferfraft anjdaute.

Der hebräiſchen Poefie geniigt nidjts Cingelnes jum Ausdruck fir das Wefen Iehova’s; der Flug der Phantafie ſchwingt fid durch das Al um in einer Fille von Bildern den Herrn zu preifen. Nehmen wir den 104. Pjalm; da heißt es: Herr, mein Gott, du bift fehr herrlich, du biſt ſchön und prächtig geſchmückt. Licht ift dein Kleid das du anhaft, du breiteft aus den Himmel wie einen Teppid. Ou fähreſt auf den Wolfen und gebheft anf den Fittidien des Windes. Du griindeft das Erdreid) auf feinem Boden und die Berge gehen hod Hervor. Du läſſeſt Brunnen quellen in den Griinden, daß die Waffer gwifden den Bergen hinflieBen, und an denjelben figen die Vogel de8 Himmels und jingen unter den Zweigen. Du läſſeſt Gras wadjen fiir das Wild, und Saat gu Mug des Menſchen, und dak der Wein er- frene ded Menſchen Herz, feine Geftalt ſchön werde vom Cel, und das Brot fein Herz ftiirfe. Ou madeft den Mond das Sahr danad ju theilen; die Gonne weif ihren Niedergang. Du madeft Finfternif dag Nadt wird; da regen fid) die wilden Thiere, die jungen Lowen die da briillen nad) dem Raube und juden ihre Speife vor Gott. Wenn aber die Sonne anfgebt, heben fie fic) davon und der Menſch geht an fein Werf. Du ſchaueſt die Erde an, fo bebet fie, du riihreft die Berge an, fo raudjen fie. Alle Weſen warten auf did. Verbirgſt ou dein Angeſicht, fo erfdreen fie; du nimmft weg ihren Odem, da vergehen fie und werden wieder ju Staub. Du Liffeft aus deinen Odem, fo werden fie gefdaffen und du erneuerft die Geftalt der Erde. Herr, wie find deine Werke fo grok und fo

126 I. Die Idee des Schönen.

viel! Du Haft fie alle weislich geordnet, und die Erde ijt voll deiner Giiter!

So häuft aud im Hiob der Herr die Beweije feiner Erhaben- Heit dem Menſchen gegeniiber: Wo warft du, da id) die Erde gründete, da mid) die Dtorgenjterne miteinander lobeten und jauchzten alle Rinder Gottes? Wer gebietet dem Meere: bis hier- her und nidjt weiter; Hier follen fic) legen deine ſtolzen Wellen? Haft du dem Morgen geboten und der Morgenröthe ihren Ort gezeigt? Kannſt du den Donner in der Wolfe hod) herfiihren? Rannft du den Giirtel de8 Orion löſen? Weift du wie der Himmel gu vegieren ijt?

Nicht auger allen dieſen Dingen fteht der Herr, fondern in ihnen wirkt er, und fie offenbaren feine Herrlidfeit; die ganze Fülle der Erſcheinungen gibt uns das Bild feiner Unendlichfeit. Ganz ähnlich reiht die Lyrik Dſchelaleddin Rumi’s alles Schöne und Wunderbare der Welt wie Perlen auf einer Schnur zuſam— men, um Gott alé Grund und Band der Dinge darjuthun, den Unendliden in der Fille und Pradt des Endliden anſchauen ju laſſen.

Vor. einer Macht die ſich in der Verneinung des Endlichen kundgibt, durchbebt uns wol das Gefühl unſerer Nichtigkeit, aber es fehlt die Freudigkeit der Erhebung, weil jene ſelber der Schön— heit ermangelt, weil ſie nicht als Liebe offenbar wird. Die Ein— ſamkeit der Sandwüſte oder der Eisfelder der Schneeregion, die ſtumme Finſterniß der Nacht ſind in ihrer Formloſigkeit mehr ſchreckhaft und grauenvoll als erhaben. Wenn aber die Sonnen— ſtrahlen in den Eiskryſtallen funkeln und der ganze blitzende Farbenreichthum aus ihnen hervorblüht, wenn die Sterne aus dem Dunkel auftauchen mit freudigem Glanz, dann entbindet ſich das Leben aus dem Tod, und wir gewahren wie ſeine lichte freund— fiche Macht fic) in Schinheit kleidet. Darum verlangt and) Tren- delenburg daß das Erhabene ins Sdine abflinge, wiewol aud) er der Meinung Huldigt dag im Erhabenen die Bdee die endliche Erſcheinung durdbredje und den Geift läuternd aus dem Sinn— lichen gu fic) Hinaufziehe. Dies hieße aber dod) die Schinheit anfheben und fiir ungeniigend erfliren, die in der Harmonie der Idee und Sinnlicfeit befteht. Bene Meinung mag fic) dadurd gebildet haben dag wir in der außergewöhnlichen Größe der Er- ſcheinung die alles iiberwindende Macht der Idee, welche jene ge- ftaltet, anfdhauen: aber gerade diefe Unendlidjfeit ber Idee offen-

2. Die Momente des Schinen: b. Griffe. 127

bart fid) in der Erſcheinung, fie liegt fiir das Gefühl und die Anjdauung nicht jenfeit derfelben. Wllerdings hat der Verftand rect, daß nichts Endliches ein Unendlides ijt. Wllein es fann die Sdee der Unendlicfeit in uns erweden, und wir verfniipfen fie mit ihm, erbliden fie in ihm. Alles Schine ijt ja unfere Schau, ijt ja in oder an den Dingen nit fertig, fondern im Zuſammen— wirfen mit ihnen erzeugt eS der Geift. So ift das Erhabene fiir den fiihlenden Geift die Darftellung des Unendliden im Endlichen. Es fteht nidt augerhalb, fondern innerhalb des Schinen. Die Blade des Meeres in ihrem ausgebreiteten Runde, die empor- fteigende Wilbung des Himmel, die Linie des Veſuvs oder der Sungfrau neben dem Cider und Mind, fie zeigen uns bald die geſetzmäßige, bald die dem Auge wobhlgefiillige und ausdrudsvolle Horm, die bas Große umfdreibt. Und die griinen Matten oder Wilder, aus denen die Alpen aufſtreben, da8 reine ſchneeglänzende Haupt im blauen Aether und im goldenen Licht der Sonne badend, die blühenden Giirten und der Spiegel des Meeres am Fue des Veſuvs, all dtefe Reize wirfen zuſammen um mit der überwäl— tigenden Größe vereint den Cindrud der erhabenen Schönheit in ung Hervorjurufen. Das ward and der jugendlidje Goethe vor dem Münſter 3x Stragburg inne: er jah ein Ungeheures, das ihn hätte erſchrecken müſſen, wenn es nidt zugleich als cin Ge- regeltes faplid) und als ein Ausgearbeitetes gefällig erjdienen wäre. Go ward das iiberwiiltigend Groge anmuthig ſchön.

. Wir ftehen am Rande des Meeres auf der Felfenflippe; weit breitet fein Bogen fid) vor uns aus, aber nidjt ftarr und todt, jondern lebensrege im Spiel der Wellen; in reizenden Linien jhwellen fie auf und ab, bis fie am Geftade fich bredjen und mit dem verftiebenden weißen Perlenfdjaume fic) ſchmücken, wäh— rend thre Bläue den Himmel fpiegelt, und fie das Bild der Sonne tauſendfach gleid) funfelnden Lidtern und blinfenden Sternen da- hinwiegen. Immer nene Wellen fommen heran, ihr Wogen will nidjt enden, das Meer ift unerſchöpflich, und in der Fiille feiner Bewegung, die unfere Faffungsfraft oder die Beftimmtheit des Vielen in der Anſchauung iiberfteigt, erhebt ſich unfer Geift zur Sdee des Unendliden, und fieht im Wellenfpiel de8 Meeres ein Unendlides gegenwirtig, und wie die mannidfaden wohlgefälligen Formen und Farben des Befondern harmonijd) gujammentlingen, gewinnen wir das Gefiihl des Crhabenen als de8 Schinen in jeiner Größe, in welder Unendlidfeit und Endlidfeit einander

128 I. Die Idee des Schönen.

offenbaren und ſich verfihnen. Daffelbe ift der Fall mit dem Sternenhimmel. Unermeflid) gegenitber der eigenen Kleinheit dünkt uns jein Gewölbe, unzählbar die Menge der Sterne, deren immer mehrere, immer neve aus dem Dunkel auftauchen je ſchärfer wir hinblicken; fie ordnen fid) 3n Gruppen zuſammen und durdftrahlen die Nacht mit erfreuendem Lidjt; ihre Anmuth verbunden mit der Vorjtellung der Unermeflicdfeit bildet das Erhabene.

Smt gothijden Dom feiert die Macht des Geiftes in der Be- wiiltigung der Materic ihren Triumph; aber jedes einzelne bau- liche lied ijt finnvoll und anmuthig geftaltet, und alle ſtimmen und wirfen einbeitlid) zu den herrſchenden, fymmetrijden Formen des gropen Ganzen zuſammen. Nirgends ijt da die angebliche yormlofigfeit, iberall die Schinheit des Erhabenen. Klar und lieblid) umwogt uns der Flug der Melodien in Hiindel’s Ora- torien, in Beethoven's Symphonien, fein Miston der fic) nicht in Wohllaut auflöſte, reine jeelenvolle Klänge die gu vollen brau- jenden Accorden verſchmelzen. Nicht minder ijt in den mitgetheil- ten Stellen des Alten Teftaments das Einzelne bedentungsvoll und glanzreich. Der Strom Pindarijder, Aeſchyleiſcher Begeifte- rung wälzt die gewaltigen Worte in klargemeſſenem Rhythmus dahin. Rein Phidias oder Sfopas, fein Rafael oder Kaulbach verleugnet die Proportion der menſchlichen Geftalt, vielmehr laſſen fic den Adel der großen Seele im Abdel der großen Formen her- vortreten und die Cinheit der Sdee in der Mtannichfaltigfeit der lieder anmuthsvoll fic) entfalten. Der Reiz der Farbe fehlt nidt, er tritt nur nicht fiir fic) hervor, er ordnet fic) dem Ganzen unter, deffen Größe uns ergreift. Und doc) war in jenen Theorien von der Formlofigfeit bes Erhabenen, von ſeiner Negativitit gegen das’ Shine die Rede, doch follte die Idee die Erfcheinung durch— bredjen, der Gegenftand ungeniigend, das Erhabene ſelbſt ein Widerſpruch jein!

Das Erhabene nennen wir pridtig, wenn es fid) mit dem Glanze der Erſcheinung ſchmückt und gerade durd) ihn ſeine Macht befundet. So der Zeus de8 Phidias, ftrahlend von Gold und Elfen- bein auf dem mit Bildbwerk reid) verzierten Thron; fo der Wuf- gang der Sonne der uns zugleich eine prangende Landjdaft ent- hüllt; fo das Finale von Beethoven's Heroica, wo die Fiille der Me— {odien in einen grofen Siegesmarjd) zuſammenrauſcht, oder Tizian’s Himmelfahrt der Maria, wo der Schwung gum Himmel erhebender Begeifterung aus blendender Farbenglut entzückend hervorleuchtet.

2. Die Momente des Schinen: b. Grige. 129

Majeſtätiſch erjdeint uns das Erhabene im ruhigen Bewuft- jein jeiner Herrſchergröße; e8 ift das Riniglide wie es den wah- ren Fürſten deS Volkes, wie e8 den Adler und Lowen als Fiirften der Thiere kennzeichnet. Feierlid) wirft es wenn es fic) felber vor einem unfidjtbaren Hiheren beugt, demiithig die eigene Würde ifm zur Berehrung dienftbar madt, wie im religiöſen Cultus. Glorreich erjdeint e8 im Genuſſe feines Triumphs, durch welden e8 feiner Unendlidjfeit inne wird und das Irdiſche in das Ewige verklärt. Herrlich erjdeint eS in der Vollgeniige des idealen und realen Seins.

Das Erhabene fann uns in der Natur, im Geifte, in der Kunſt entgegentreten. Zwei Dinge, fagt Rant einmal in der Kritik der praftijden BVernunft, erfiillen das Gemiith mit immer neuer und zunehmender Bewunderung, je öfter und nachhaltiger ſich bas Nachdenfen damit beſchäftigt, der beftirnte Himmel iiber mir und da8 Sittengefes in mir. Was der Gewalt der Ele- mente Trog bietet mag uns erhabener gelten al8 fie, denn der Sieger des Sturms ift der unerfdjiitterte Held, von welchem Goethe fingt:

Gr ftehet männlich an dem Steuer. Mit dem Schiffe fpieler Wind und Wellen, Wind und Wellen nicht mit feinem Herjen, Herrſchend blict er in die grimme Tiefe, Und vertrauct ſcheiternd oder fandend Seinen Göttern.

Aber das ift keine „Negation des objectiv Crhabenen”, noch viel weniger ift „im Subject das unendlide Außer- und Nebeneinan- der der endliden Dinge gum Inſichſein aufgehoben“, wie Vifder meint, denn die Dinge beftehen fort, und da8 Subject felber ift auger und neben andern. Es iſt nidjt wahr „daß nur eine dop- pelte Täuſchung den Schein der wahren Erhabenheit in die Natur gelegt hat’, nod) dag der betradjtende Menſch feine etgene Gre habenheit dem Weer oder Gebirg unterfdjiebt; vielmehr ift es gerade in der Natur daß die iiberwaltigende Größe auch den nod roheren Menſchen ergreift, daß fie geſchmückt mit Lieblidfeit ihn angieht und erfreut; von Hier aus wird er auc fiir das übrige Schöne empfinglid), und ans der Herrlichkeit der Natur Lendtet dem unbefangenen Gemiithe unmittelbar ein daß fie Gott nidt verbirgt, fondern offenbart, daß er in ihr waltet und fie befeelend Carriere, Mefthetif. 1. 3. Aufl. 9

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burddringt; fo wenig der Stubengelehrte erſt ſeine Vernunft den Sonnen und Planeten unterfdhiebt um fie fic) gefeslich bewegen zu Laffer, jo wenig braudjt aud) das Viſcher'ſche Subject feine Erhabenheit thnen gu leihen.

Die Grife des Schinen, auf welder der Eindruck der Er- habenheit beruht, fann eine ertenfive und intenfive fein, fann fid alg verhaltene Kraft in der Ruhe, als thitige in der Bewegung, alg in ihrer Entfaltung felbftverwirflidt darftellen. Nichts blos Aeußerliches wirkt äſthetiſch. In jeder Ausdehnung im Raum ift eS die fic) auSbreitende innere Wejenheit die den Gindrud anf uns madt. Solange wir das Ausgedehnte als von anbderem begrenzt anjdauen, kann es uns nidt unendlid) erfdeinen; erft wo es als die Grenjze in fid) und aufer fic) felbjt fegend anf- gefaßt wird, kann es erhaben wirfen. Denn aud) eine unerſchöpf— fiche Kraft fann fic) dod) in der Begrenzung felber ein Maß beftimmen. Wir werden fie dort vermuthen wo unferm Blick eine Ginheit entgegentritt, die alles Bejondere, ja uns felbft in fid) umfängt, wie der Sternenhimmel, oder wie da8 Meer die Wellen, oder dort wo aud) ein einjelner Gegenftand die mannid- faltige Umgebung jo fehr itberragt daß er nicht von ihr begrenzt zu werden, fondern vielmehr fie zu begrenzen ſcheint. Unter den riumliden Dimenfionen wirft die Hihe zumeift erhaben, weil in ihr die Kraft des fic) Wusbreitens in dem freien Wuffteigen am flarften wird. Aehnlich wirkt die Ausdehnung in der Beit er- haben, wenn fie den Sieg des Dauernden iiber den Wechſel, die Selbfterhaltung eines Kernes im Fluffe der Entwidelung befundet. So fchildert Schubert den Cindrud der Pyramiden, indem er fragt woher feine unbefdjreiblide raft ftamme. ,,Sie fommt nidt aus dem Gewidt und Umfang der hier aufgehiuften Werkſtücke, jondern fie beruht auf dem Gedanfen den der Geift des Menſchen andern Menſchen verftiindlich hineinlegte. Dieſer Gedanfe ijt Ewigkeit. Es ift der Gedanke de8 Monumentalen der uns bewegt, das unabweisbare Bedürfniß unjers Weſens feine Wirkſamkeit wie die Schwingen eines iiber dem Rufiinftigen briitenden Adlers weit hinans iiber das Leben der Zeit gu breiten.”” Go verlangt aud Reifing von dem Greis wie von der Mythe der BVorwelt oder dem antiquirten Hausgerith, dah fie auger dem Gepriige ded Alters aud) den Stempel der innern Kraft und Ausdauer tragen und erfernen laſſen dag fie der zerſtörenden Gewalt der Zeit nidt unterfegen find; und wie wächſt die Geftalt eines Moſes vor unfern

2. Die Momente des Schönen: b. Größe. 131

Augen, wenn wir fehen wie er feinem Volk in der Wüſte, cine neue Generation heranbildend, den Stempel feines Geijtes auf- drückt, und wie den dies Volf bewahrt bis auf den heutigen Taq, wie feine zehn Gebote bei allen civilifirten Volfern immerdar mit jeinen Worten verfiindet werden!

Inſtrumente die Langaushaltende Tine hervorbringen, wie Pofaunen und Orgeln, find fiir das Gehir zur Darjtellung des Grhabenen vor andern berufen. Die Poefie wird vielumfaffende Sdeen gern in weitaustinende Worte Eleiden und lange Sylben häufen, wie der erhabenfte Didter des Griechenthums, Aeſchylos.

Das Extenfive der Geiftesgrife zeigt uns Alexander in feiner Welteroberung, das Sntenfive ein Oiogenes, der um der innern Sreiheit willen der Welt entjagt. Wie er vor dem jugendliden Helden in der Tonne figt und nichts wiinfdt als daß er ihm aus der Sonne gehe, da möchte jener Diogenes fein, wenn er nit Alexander wäre.

Das Erhabene der Kraft gibt fid) in der Bewegung fund, wir mefjen fie bald wie die des Blikes an ihrer Sehnelligfeit, bald an dem Umfang der Maſſen die fie iiberwindet. Go die des Sturms, die des Wafferfturjzes oder des vulfanijden Feuer- ausbruds. Da werden wir felber fortgeriffen ju einem Gefühl diefer Straft, und möchten mit ecingehen in ihr hemmungsloſes Schalten und Walten; wir möchten fimpfen mit den Wogen oder dahinbranjen mit ihnen ſchäumend iiber Klippen in die Tiefe und wieder aufſprudelnd jaudjzen, und verftehen mit Holderlin die kühne Feuerluft des Empedofles, der in den flammenden Rrater des Aetna fprang.

Das Erhabene der Bewegungstraft im ihrer Allgemeinheit jdildert der Erdgeiſt in Goethe's Fauft:

In Lebensfluten,

Sn Thatenfturm

Wall’ id) auf und ab,

Wehe hin und her!

Geburt und Grab

Gin ewiges Meer,

Ein wedfelnd Weben,

Ein gliihend Leben,

So ſchaff' ich am faujenden Webftuhl der Zeit, Und wirke der Gottheit lebendiges Reid.

Der raſche Gang der RHythmen in den bald kurz abgebrodje- nen, bald weitaushallenden Verſen entipridjt dem Gedanfen und

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132 I. Die Idee des Schinen.

den Bildern der Sache. Die Muſik drückt ſolche Erhabenheit der Bewegung in ftets fid) erweiternden Melodien und Harmonien aus, indent fie dabei wie die bildende Kunſt im breiten Stile vor- {dreitet und auflöſende Verſchnörkelungen meidet; cine allmahlid anfdwellende Verftirfung der Tine jeigt das Wachsthum der Kraft, Paujen der Ruhe ihr fid) Gammeln, oder ein momentanes Verftummen des Kiinftlers in dem Streben das Unendlidhe aus- zujpredjen, das feine Seele erfiillt, und das wir ahnen, wenn wir ihn mit demjelben ringen fehen; am Ende aber muß der volle Ausdrud gelingen.

Das Erhabene der Gemiithsbewegung erfdeint in der Leiden- ſchaft oder dem Enthufiasmus, wenn die ganze Wudht der Seele ſich in eine beftimmte Yebensridtung legt, in einem einjelnen Aus— brudje fic) fundgibt, oder wenn der Schwung der Begeifterung fiir eine Sdee den Menſchen im Fluge hinweghebt iiber das End— fiche und feine Fleinen Bedenfen und Riicfidten. Das Gewöhn— fiche ift dann klein dieſem Ungewöhnlichen gegeniiber, das in feiner Erhebung iiber jenes eben feine Erhabenheit bezeugt. Nicht minder aber wirft die Faffung im Aufruhr der Gefiihle, und zwar dann wenn fie nidjt apathijde Kälte und Unempfindlidfeit ift, fondern die Kraft und Wärme der Gefiihle fichtbar ward. ,,€rtragt es wie cin Mann’, fagt Malcolm, als Macduff die Ermordung von Weib und Kind erfährt, und diefer verſetzt: „Doch ebenfo mus wie ein Mann ich's fiihlen.” Und der Herjenfiindiger und Meifter der Darftellung gibt uns den vollen Ausdrnd feines Schmerzes, und zeigt uns dann den Helden wie er ihn im Kampfzorn und im edeln Muth fiir die Befreiung des Vaterlandes überwindet. Auf dieſe Art wirkt das Pathetiſche erhaben. Es zeigt die leidende Matur und die Würde des Geiftes in ihr. „Ein tapferer Geift im Kampf mit der Widerwirtigfeit ift ein anjiehendes Schauſpiel jelbft filr die Gutter’, (ehrt Seneca. Go erfdeint Milton's Satan erhaben, wenn er als nener Gaft die Schrecken der Hille begriift; denn er fommt ju ifnen mit einem Gemüth das weder Reit nod) Ort umgeftalten foll; in diejem Gemüth wohnt er, das wird ihm in der Finſterniß ſelbſt einen Himmel erjdaffen; hier, jest endlich ift er fret! Aehnlich ſpricht Rant von der Erhaben- Heit des Individuums das anf fein unfidjtbares Bch juriidgeht und die abjolute Freiheit feines Willens allen Sehreden des Schickſals und der Tyrannei entgegenftellt, von feinen nächſten Umgebungen anfangend fie fiir fic) verſchwinden, ebenfo das was

2. Die Momente des Schönen: b. Grifie. 133

alé dauernd erfdeint, Welten über Welten in Trümmer ftiirzen (apt, und einſam fich als fic) felbft gleich erfennt. Und von dem gerechten und ftarfen Manne fagt Horatius felbft auf erhabene Weife:

$i fractus illabatur orbis,

Impavidum ferient ruinae,

Und bridt um ihn die Welt zuſammen,

Treffen die Triimmer ihn unerfdfittert.

Das beweift der Prometheus des Aeſchylos; in den Feffeln, die ihn an den Felſen ſchmieden, bleibt fein Sinn ungebrocden; Erdbeben und Donnerfturm ſchleudern ifn in den Abgrund, aber feinen Willen beugen und brechen fie nidjt; nur der Cinfidt des Beffern, nur der Liebe, der erldfenden, gibt er nad und (aft fid verſöhnen.

Das Tragiſche ſtellt ſich gern auf Seite des Erhabenen. Das Heroiſche verbindet die Einfachheit mit der Kraft in der unge— brochenen Geſundheit und unzerſplitterten Lebensäußerung.

Der Muth, welcher den Tod nicht fürchtet und die Schrecken des Todes überwindet, wirkt um ſo erhabener, wenn er in einem Herzen wohnt das mild, gnadenreich und liebevoll der Menſchheit ſchlägt, ja die ganze Menſchheit umfaßt. So iſt vor allem der Opfertod Chriſti erhaben.

Endlich gilt uns die Herrlichkeit Gottes als Erhabenheit, nicht ſofern er jenſeit der Schöpfung ſteht, denn für das rein Geiſtige gilt das Aeſthetiſche nicht, ſondern wie er in der Natur und Ge— ſchichte ſich offenbart, und beides in ſich zur Totalität zuſammen— faßt. Da beten wir mit Klopſtock:

Um Erden wandeln Monde,

Erden um Sonnen,

Und aller Sonnen Heere um eine große Sonne: Vater unſer, der du biſt in dem Himmel.

Zu einem kalten Geſetz, zu einer logiſchen Formel als dem Erſten und Letzten könnte unſer Herz ſich nicht erheben; die bloße ſchaffende und wieder zerſtörende Naturkraft bezeichnet Goethe's Werther als ein ewig verſchlingendes, ewig wiederkäuendes Unge— heuer, und Lotze ſieht in ihr eine troſtloſe Oede, in der mit einer unerſchöpflichen Triebkraft wie die wuchernden Gewächſe in Sümpfen oder das wilde Fleiſch in Geſchwüren ſich eine unend— liche Mannichfaltigkeit zwar entwickelt, aber in gärender Raft

134 I. Die Idee des Schönen.

fofigfeit nur von unten getrieben, ohne von aufen oder oben durch ein Riel gehoben oder erloft ju werden, dem dieſe bange Unruhe juftrebte. Das Gefühl des Erhabenen belehrt uns eines Beffern. Goethe’s Werther gibt ihm felber erhabene Worte: „Vom unzu— gingliden Gebirge iiber die Einöde die fein Fuß betrat, bis ans Ende des unbefannten Oceans weht der Geift des Ewigſchaffenden und freut fic) jedes Staubes, der ihu vernimmt und lebt. Ad wie oft habe ic) mic) mit Fittidjen eines Kranichs, der über mid) hinflog, gu dem Ufer des ungemeffenen Meeres geſehnt ans dem ſchäumenden Bedher des Unendlidjen jene ſchwellende Lebenswonne zu trinfen und nur einen Augenblick in dev eingeſchränkten Kraft meines Bujens einen Tropfen der Seligfeit des Wejens zu fiihlen das alles in fid) und durch fic) hervorbringt.“

Wenden wir nun nocd) befonders dem Cntftehen des Erhabenen in uns oder feinem Gefühlscharakter unſere Aufmerkſamkeit ju, jo werden wir ifn als eine durd) Schmerz vermittelte Luft be- zeichnen können. Die Größe des Gegenftandes iiberragt aud) uns, wir ſelber erfdeinen ihm gegeniiber verfdjwindend klein, wir fühlen uns al8 ſinnliche Weſen überwältigt und yu Boden ge- ſchlagen, aber wir erheben uns zugleich geijtig an der Idee des Unendliden, die in unferer Seele anfgeht; wie wir fie tn uns aufnehmen, empfinden wir uns aufgenommen in fie; daß wir fie denfen ift ja das Siegel unferer Abkunft aus Gott und unferer Beſeelung durd ihn. Was der Geift in fic) aufnimmt das wird ev felbft, was ifn erfiilft gu dem wächſt er empor, und fo fühlt unfer Gemiith fic) erweitert und erhiht gu der Gripe die er anjdaut und vorſtellt. Cin warmer Schauer, der durd) unfere lieder riefelt, offenbart dies Erbeben und Erheben unferer ganzen Natur in Einem, und läßt die im Geift gewonnene Idec aud) in dev Leiblichkeit nadflingen. Welch Eleiner Punkt ijt die Erde unter der Sternenwelt, und was auf diejer Erde bin id)? Und bod) bin id) es der jene unzählige Fille und unermeßliche Aus— dehnung zur Cinheit des Gedanfens der Unendlichkeit zuſammen— faßt und dadurd) ſelbſt des Unendlichen theilhaftig wird. Ueber jene Untuft im Gefühl eigener Rleinheit und hinſchwindender Nidtigheit triumphirt die Luft itber die Erhöhung und Erweite- rung unjers Wefens in der Anſchauung der Größe, in welder fid) uns das Unendlide darjtellt. Go zeigt fic) im Grhabenen dag das äſthetiſche und religibje Gefühl aneinandergrenjen. Aud) in diefem empfinden wir unjere Wbhingigfeit von Gott,

2. Die Momente des Schönen: b. Größe. 135

aber cr ift zugleich unfer wahres Sein und Wefen, und fo werden wir fret in ihm, indem wir ifn als in uns mächtig an- erfennen; er ift die Liebe, und in der Liebe gu thm werden wir jeiner Geligfeit inne. Die Gripe, die uns daniederfdjrecten wiirde, erfreut uns durch die Schönheit, deren Glanz fie trigt, und fo tritt im Gefiihl des Erhabenen an die Stelle der Furcht die Freude der Bewunderung und der Liebe. Wo die Furcht fiegte, etwa wenn wir dev Gewalt des Sturmes auf dem Meere preisgegeben find, wo wir um unſere Exiſtenz forgen oder kämpfen miiffen, da feblt die Freiheit des Gemiiths, jene Entledigung felbjtijdjen Sntereffes, die das Gefühl des Schönen vorausfest, aber die Erhabenheit der Erſcheinung vermag uns wol aud dann der Gefahr vergeffen zu madden. Immer aber behilt des Lucretius Wort feine Geltung, dak es ſüß ijt vom Land auf das Meer zu ſchauen, wann die Winde und die Wogen mit: einander ringen.

Das Erhabene, lehrt jdon Longin, erregt Staunen und Bee wunderung. Dies find Wffecte die nidjt eine milde und allmäh— liche Wirkung äußern, fondern gewaltig die Seele ergreifen und hinreifen. Die Secle aber die etwas Herrlides umfaßt wird von Freude und Stolz erfiillt als die jelber das wird was fie in fid) aufnimmt. Go fagt and) Bijder: „Es ift ein Zujammen- wachſen des ebenbiirtigen Geiftes im Subject mit der unend- lichen: Idee im Gegenftande, cin Aufgehen beider in Einen Strom, cin Sdhwung als fiihrte uns Sturmwind mit in die Höhe.“ Auch Trendelenburg drückt unjern obigen Gedankengang in feiner Art auf verwandte Weife aus: „Wir bewundern das Erhabene; Bewunderung ift da wo im Grofen und Sdinen das Aehnlide feh{t und daher unſere Vorftellungen nicht mehr von Aehnlichem zu Aehnlichem fortfpielen, fondern vor dem Cinen ohne feines Gleichen ftumm ftehen bleiben und fic) vor ihm ſammeln, wie dic Sprade im Staunen dies Stehenbleiben und Stauen der Gedan- ken foll bejzeidnet haben. Sn der Bewunderung ijt das geheime Gefühl dex Unluft cin Gefiihl des eigenen Unvermbgens oder der Ohnmacht, aber wir löſen es in einer höhern Luft auf, indem wir im Geifte zu der frembden Größe hinanftetgen und fie dadurd) fiir den Augenbli der Vorjtellung ju unſerer eigenen machen.“

In jenem fel’gen Angenblice Ich fühlte mid) fo fein, fo groß!

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So faft Goethe’s Fauft die Crinnerung an die Erſcheinung des Erdgeiſtes zuſammen, die wir oben als erhaben anfiihrten, fo bezeichnet er mit treffender Riirze ihren Gindrud. Ausführlicher that es der Didjter in den Briefen anus der Schweiz; die ganze Stelle möge unjere Unterfudjung wie cine Beſtätigung und freie Wiederholung derfelben beſchließen. „Das Erhabene gibt der Seele die ſchöne Ruhe, fie wird ganz dadurd) ausgefiillt, fühlt fid) fo groß als fie jein fann. Wie herrlid) ift ein folded reines Gefühl, wenn es bis gegen den Mand fteigt ohne iiberjulaufen. Mein Auge und meine Seele fonnten die Gegenftiinde faffen, und da ic) rein war, dieſe Empfindung nirgends falſch widerſtieß, fo wirften fie was fie jollten. Vergleicht man fold) cin Gefühl mit jenem, wenn wir uns miihjelig im Rleinen umtreiben diefem fo viel als möglich ju borgen und anjufliden, und unſerm Geift durd) feine eigene Creatur Freude und Futter zu bereiten, fo ſieht man erjt wie ein armfeliger Behelf es ijt. Gin junger Mann, den wir von Bafel mitnahmen, jagte es fet ihm Lange nidt wie das erfte mal, und gab der Neuheit die Ehre. Ich möchte aber jagen: wenn wir einen folden Gegenftand zum erften mal er- blicfen, fo weitet fid) die ungewohnte Seele erft aus, und es madt dies cin ſchmerzlich Vergniigen, eine Ueberfülle die die Seele be- wegt und uné wolliiftige Thränen ablodt. Durch diefe Operation wird die Seele in fid) gréfer ohne es gu wiffen, und ift jener erften Empfindung nidt mehr fähig. Der Menſch glaubt ver- loren ju haben, er hat aber gewonnen. Was er an Wolluft verliert gewinnt ev an innerem Wadsthum. Hatte mid nur das Schickſal in irgendeiner großen Gegend heißen wohnen, ic) wollte mit jedem Morgen Nahrung der Großheit aus ihr ſaugen, wie aus cinem lieblichen Thal Geduld und Stille.”

c. Das Schöne in Bezug auf Stoff und Gehalt; dase Reizende, Rührende, Intereffante.

Als nothwendig mit der Form verfniipft fommt uns beim Schönen nidjt blos die Größe, fondern aud) der Stoff in Betradt. Wirkt ev fiir fic), jo wird das Schöne aufgehoben, das gerade in dev Formweſenheit befteht, das gerade durch die Form das Innere darſtellt; was aber in der Form erfdeint oder wie fie auf dic Sinne wirft iff aus demſelben Grunde nidt gleidgiiltig. Wir bezeichnen dies Element im Schönen als das Stofflide, und zwar

2. Die Momente des Schinen: c. Stoff. 137

im doppelten Sinne des Wortes, wonad) bas Material in weldem, und der Gehalt welder dargeftellt wird, darunter verftanden wer- den fann.

Das Erhabene war das vorjugsweife den Geift Erfrenende; die finnlide Natur ward durd) feine Größe überwältigt und erft durch die Anmuth der Form mitbefriedigt; fiir fic) ſelbſt gewinnt die finnlide Natur ein Wohlgefallen durd) da8 Material in wel- chem das Shine offenbar wird, und der Geift vergniigt fic erſt daran, wenn er fieht daß es der dee angemeffen tft. Nur da- durd) daß fie auf unjere Sinne wirken, erſchließen fic) uns die Eigenſchaften der Dinge, die deren Wefen ausmaden. Sinntlide Eindrücke nun weldhe die ſelbſtiſche Begierde reizen, ftiren das äſthetiſche Gefühl, das aud) darum nidt auf Geſchmack und Ge- ruch, fondern auf Gehir und Geficht fic) gritndet. Aber wer midjte hier leugnen dag jo manches Gemiilde den leudjtenden Farben, fo mandes Lied dem reinen Organ der Sdngerin oder der wohlflingenden Stimme des Vorlefers feine Anjiehung auf uns verdanft? In das vollendet Schöne ift diefe Sinnenwirfung eingeſchloſſen.

Das Angenehme iſt ein Element des Schönen, und ſo kommt das Sinnliche zu ſeinem Recht. Das Ideale wird dadurch der Gedankenſphäre entrückt und in der Empfindung gegenwärtig; das iſt ja hier das Specifiſche daß die Verhältniſſe der Luft- und Aetherwellen klingen und leuchten, als Ton und Farbe uns er— quicken. Wiewol wir von dem prüfenden Koſten und dem mit dem Genuß von Speiſe und Trank verbundenen Wohlgefallen die Bezeichnung des Geſchmacks auf das äſthetiſche Gebiet übertragen haben, ſo kann er in ſinnlicher Unmittelbarkeit zur Auffaſſung des Schönen nicht verwandt werden, da er nicht die Form, ſon— dern den Stoff aufnimmt und den Gegenſtand ſelbſt ſammt ſeiner Form zerſtört und verzehrt; dabei iſt der Genuß ſelbſt ſtets nur individuell, nicht allgemein. Wohl aber dienen der Sprache und damit der Poefie die Gejdhmadsempfindungen zu lebendiger Be- zeichnung eines bittern Wehes, einer ſauern Mühe, einer ſüßen Freude. Durch den Geruch nehmen wir feinfte Theile eines Begenftandes in uné anf, wihrend diefer vor unfern Augen beftehen bleibt; fo fann er das Shine oder Halide der An— jGauung verſtärken, wenn er lieblich wie Rofenduft, wenn er widerwartig wie Geftant der Verwejung oder der rohen Unanjtin- digkeit fid) dem Bild ber Dinge gejellt; ja ſelbſt deren energifd

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treue fiinftlerifdje Darftellung fann cine begleitende Geruds- vorftellung in uns erregen. An der Geftalt übelriechender Thiere werden wir nidjt leicht Gefallen finden. Go fteigert aud) der kühle Schatten des Waldes oder die Frijde des Wafers am eigen Tag oder cin mildwärmender Friihlingsfonnenjtrahl unfere äſthetiſche Empfindung.

Das Klare, Reine, Volle gefällt, das Unreine, Matte misfallt bet Farben und Tönen als foldjen. Auch bet der Malerei, weit mehr nod aber bet der Mufif beruht fiir Viele das Wohlgefallen auf dem Sinnenreiz glaingender Farben, fraftiger oder milder Tine. Selbft die Poefie Hat im Rhythmus des Verjes und im Echo des Reimes ein finnlid) Angenehmes. Es fommt hinzu daf die Worte in uns die Voritellungen Hervorrufen, und dieſe finnen ung finnlid) anmuthen, wenn das finnlid) Anmuthige felbft beim weichſchwellenden Mooſe, beim Funfeln des Lichts in den Zweigen, beim Dufte der Bliiten betont ift, und nod ftirfer wirft die Schilderung menſchlich forperlidher Schönheit in ihrem Liebreize; ja die erhigte Phantafie erregt hier von innen Heraus die Em- pfindungénerven ju ähnlichen Luſtgefühlen wie fie die äußere Anſchauung mit fid) bringt. Wir können mit Kirchmann fagen: „Die finnlid) angenehmen Clemente de6 Schönen find in der Regel das Erſte was den Befdhauer bet der Wahrnehmung deffel- ben erfaßt, fefthalt umd gu dem idealen Genuß iiberleitet. Sie gleiden dem Weihraud des katholiſchen Cultus, welder zunächſt den Gintretenden umbiillt, der Außenwelt enthebt und fo fiir das Höhere und Göttliche vorbereitet.“

Wo das äſthetiſche Wohlgefallen mit dem Sinnlichen, mit dem Stofflichen beginnt oder wo dieſes ein vorwiegendes Element bleibt, da tritt für uns das Reizende ein. Es ſchlägt unſere Sinnlichkeit nicht nieder wie die Größe des Erhabenen, ſondern kommt ihr ſchmeichelnd und lockend entgegen.

Wir genießen Licht und Farbe als Lebensoffenbarung der Natur, zum Reizenden gehört daß alles Grelle vermieden werde; daher ſpielt hier das Helldunkel ſeine Rolle, das Ineinanderver— ſchweben von Schatten und Licht, und den Meiſter der ſich ihm zugewandt preiſen wir wegen dieſes Reizes, während er das Ele— ment der Formenſtrenge und der Compoſition manchmal dem Zauber des Lichtſpiels opfert und mehr auf die Empfindung als auf den Gedanken wirkt, mehr ſie als ihn zum Ausgangspunkte ſeines Bildens nimmt, ich meine Correggio. In der Natur

2. Die Momente des Schinen: c. Stoff. 139

ſchreckt uns da8 Dunkel der Nacht und blendet uns die Helle des Tags, aber der milde und warme Glanz des Abends oder die fiihle Frifde ded Morgens erjzeugt das Reizende in der Landſchaft. Der diinne bläuliche Schleier der Lüfte der alle Dinge umzieht, ein zarter Duft der fie umflieft, erhöht den Reiz, weil er keinen ſcharfen Gegenjag auffommen läßt und zur Harmonie der Farben hinführt. Da unfer Auge diefe legtere fordert, vergniigt es ſich boppelt, wenn e8 fie vorfindet und nicht blos fubjectiv zu erzeugen braucht. Hiermit hängt der Reiz der farbigen Reflere zusammen. Reifing, der aud) anf das Reizende eine befondere Aufmerffamfeit ridjtete und es als einen der Grundbegriffe in feine Aefthetit aufnahm, fagt fehr treffend: „Es gibt in der Natur und Kunſt feine reizendern Farbeneffecte als diejenigen welde auf dem Durch— ſcheinen und Widerſcheinen beruhen. Wie reizend wirkt z. B. das Durchſcheinen des ſtrömenden Pflanzenſaftes durch die Blätter und Blüten im Frühling, das bläuliche Durchſchimmern der Blutes auf Wangen und Lippen, das Hindurchleuchten eines innern Lichtes oder Feuers durch die Netzhaut des Auges, beſon— ders dann wenn ſich darin ein beſonderer Zuſtand des innern Lebens, z. B. der Jugendlichkeit, Geſundheit, Friſche, der Freude, Scham, Liebe, Sehnſucht u. ſ. w. offenbart. Das Schöne wird in ihm noch ſchöner, wie die Alpen im Alpenglühen, ein Schloß im röthlichen Lichte der Abendſonne, der Himmel als feuchtver— klärtes Blau im Spiegel des Waſſers, männliche Geſichter im Schein von Fackeln, ein weibliches Geſicht im Widerſchein der ſmaragdglänzenden Blätter einer Laube, ja auch unſchöne Gegenſtände, kahle Berge, öde Steppen, elende Hütten, eine Alte am Herdfeuer können dadurch mit einem unwiderſtehlichen Reiz ausgeſtattet und mit dem Scheine der Vollkommenheit umkleidet werden.“ Aehnlich wirken die ſchwellenden weichen elaſtiſchen Linien, und dann in geiſtiger Beziehung alles dasjenige was unſerm finnliden Wohlbehagen ſchmeichelt und ein Ergötzen bereitet ohne den Geiſt in Waffen zu rufen und eine Kraftanſtrengung zu heiſchen. Hier liegt denn die doppelte Gefahr der Ausartung ein— mal in die leere tändelnde Lieblichkeit und ſüße fade Zierlichkeit, die man fiir Albumsblätter gern hat oder als Poeſie fein in Gold— ſchnitt binden (aft um fie gu den Spielfidelden hingulegen, und dann die Verirrung in verführeriſche iippige Bilder der Phantafie. Dort entbehrt das Reizende der Gripe, hier dev idealen Reinheit und fittlidjen Wilrde, und beidemal hirt es auf ſchön gu fein.

140 I. Die Idee des Schönen.

Petradten wir nun den Stoff im Sinne des Inhalts, fo er- innern wir uns des Schiller'ſchen Worts: dak das Kunftgeheimnif der Meiſterſchaft darauf beruhe den Stoff durch die Form ju vertil(gen, daß heißt daß er nicht für fic) durd) jeinen Gehalt wirfe, fondern ganz aufgegangen jet in die vollendete Geftalt, die fein Wejen darftellt. Wo der Stoff fiir ſich gelten und die Ourd- bildung der Form erſetzen oder vergeffen machen will, da entfteht einmal das Tendenziöſe, da tritt der Riinftler in den Dienft einer Partei, deren Stidjwirter er wiederholt, deren Götzen er opfert, da verliert er leidjt den freien Blid der Wahrheit und Geredtig- feit, und erniedrigt er das freie Schöne einem fremden Zweck fid unterjzuordbnen; im Beifall der Partet und der Stunde hat er jeinen Yohn dahin. Iſt da8 Werk gelungen, fo mögen wir es um feiner ,,anhingenden” Schinheit willen den Erzeugniſſen der Kunſt— induftrie vergleichen. Es mag den Lichtfreunden wie den Finjter- lingen dienlid) fein durd) romanhafte Erzählungen das Volk auf- zuklären oder zu verwirren, äſthetiſch ijt es nidjt. Allein Hiermit ift die Forderung eines bedeutenden Gehalts nicht ausgeſchloſſen. Die Tendenzfunft madjt fic) felbft jener hHohen Gendung verlujtig, welde Schiller in der Ankündigung der Horen fo herrlich aus- ſprach: der in Parteien jertheilten Welt die Fahne der Wahrheit und Schönheit gu bringen. Die ſchöne Form ift ja das felbftgefetste Mak innerer Bildungefraft, und ihr Wdel ift nur dem Edeln naturgemäß; das Schöne wird uns um fo werthvoller, je reichere Nahrung fiir Geift und Herz es bietet. Der bloke Formalismus ijt ein Werf nadahmender Aeußerlichkeit, wenn der BVerfall der Kunſt begonnen hat. Die ſchöne Phrafe die der eigenthiimlicden Wahrheit ermangelt ift hohler Sdhellenflang und dem verderblid der fid) daran gewöhnt, fet eS fie gu gebrauchen, fei es fie ju hören. Wir erfreuen uns Goethe's, Schiller’s, Leffing’s mit immer nenem Genus aud) darum weil wir die Cultur ihres Bahrhunderts, weil wir die Gedanfenreife der ganzen Zeit durd) fie empfangen, es find die allgemeinen fittlidjen Sdeen welche Shakeſpeare's Tragödien bejeclen, und was in uns lebendig werden foll mug uns wablverwandt fein. Der Herzensantheil, den wir der Sade entgegenbringen, beeintridtigt die Schinheit nidt. Der Hörer Homer's brachte ihn ebenfo mit ju den Geſängen der Ilias, als der anbetende Olympiafieger gum Zeus des Phidias, als wir ju Midel Angelo’s, Rafael’s, Diirer’s, Mozart's und Beethoven’s Schöpfungen. Das Auge fieht nur das mit redhter Schärfe fid

2. Die Momente des Schönen: c. Stoff. 141

an was aud) das Herz bewegt oder den Geift erleudjtet, und mit dem bedeutenden Inhalt zieht dann aud) die Freunde an der Kunſt— form in da8 Gemiith ein. Wir wollen beim Schönen nit ſowol ftudieren als anjdauen und geniefen, darum foll es verjtindlid fein. Iſt ſchon der Stoff im Volfsleben gegriindet, im Volks— gemiith vorgebildet, fo wird es die ſchönſte Aufgabe des Genius dak er ifm mun die Weihe der Formvollendung gebe.

Sun diefem Sinne lejen wir goldene Worte in Goethe's Wahr— Heit und Didtung. „Der erfte wahre und höhere eigentliche Yebensgehalt fam durch Friedrid) den Grofen und durd) die Tha- ten de8 Siebenjihrigen Kriegs in die nenere deutſche Poefie. Sede Nationaldidtung muß fdjal fein oder ſchal werden die nicht auf dem Menjdlidften ruht, auf den Creigniffen der Völker und ihrer Hirten, wenn beide fiir Cinen Mann ftehen. Bn diejem Sinn mug jede Nation, wenn fie fiir irgend etwas gelten will, eine Epopse befigen, wozu nicht gerade die Form de8 epiſchen Gedidts nothwendig ijt. Denn der innere Gebhalt des bearbeiteten Gegen- jtandes ift der Anfang und da8 Ende der Kunſt. Man wird zwar nicht leugnen daß da8 Genie, das ausgebildete Kunſttalent, durch Behandlung aus allem alles machen und den widerjpenftig- jten Stoff bezwingen könne. Genan befehen entfteht aber alsdann immer mehr ein Runftftiic als cin Kunſtwerk, weldes auf einem wiirdigen Gegenjtande ruben ſoll, damit uns zuletzt die Behand- lung durd) Geſchick, Mühe und Fleif die Würde des Stoffs nur defto glücklicher und Herrlicer entgegenbringe.”

In foldem Sinn fagt Melchior Meyr von dem treffliden Schweizer, der unter dem Namen Feremias Gotthelf ſchrieb: „Der Kenntniß des Lebens, der Aufftellung von fittliden und religidjen Muſterbildern, weldje nicht Mufterbilder fiir eine ge- träumte fondern fiir die wirflide Welt find, endlid) dem Tried und Willen gu erweden, gu bilden und zu beffern, ifm danft Albert Bitzius die groge und nadhhaltige Auerfennung die er ge- funden hat. Die Werke der bloßen Schingeifter und Formkünſtler werden gelefen, und wenn fie dem Tagesgeſchmack recht appetitlid) entgegenfommen, mit Bewunderung verjpeift; aber die innere Armuth verfehlt nidjt offenbar gu werden, und die Gigen werden von eben denen gejtiirz3t vom denen fie erhoben worden find. Mögen diejenigen die Heutgutage nur immer von Schönheit und Boefie reden ohne den Inhalt gu betonen, der die wahre Sdhinheit, die nature und geifterfiillte, erft möglich macht, durd)

142 I. Die Idee des Schönen.

die Erfolge dieſes Schriftſtellers ſich zum Nachdenken bewegen laſſen!“

„Intereſſirt uns!“ ruft Leſſing den Dichtern zu. Aber was intereſſirt uns denn? fragt Zimmermann und antwortet: „Offen— bar doch nur dasjenige was Erwartung erregt und befriedigt, was ſpannt und löſt, anfänglich ſcheinbar disharmoniſch zuletzt ſich in Harmonie auflöſt, was energiſch, reich, mannichfaltig und zuſammenſtimmend ſich erweiſt, kurz was gewiſſe Formeneigen— ſchaften zeigt, deren Geſammtheit eben dasjenige iſt was wir das Schöne nennen. Denn dieſes, das äſthetiſche Intereſſe an der Form wird Leſſing doch gemeint haben, nicht das proſaiſche an der empiriſchen oder hiſtoriſchen Wahrheit der Dichtung!“ Gewiß; nur gibt es außer dem proſaiſchen Intereſſe an der factiſchen Geſchichtlichkeit auch noch ein höheres, geiſtiges an der idealen Wahrheit, daran daß Gedanken die das Geſchick der Menſchheit beſtimmen, daß Gemüthslagen die uns in den innerſten Grund unſerer Natur blicken laſſen, daß Charaktere hoheitsvoller oder liebenswürdiger Art in ihrer pſychologiſchen Entfaltung und in der Erfüllung ihrer Beſtimmung geſchildert werden wie ſie ihr zeitliches und ewiges Loos ſich bereiten, und daß dies alles auf eine neue Weiſe geſchieht, die uns doch die ewigen Weltgeſetze ent— hüllt. Das iſt aber nicht blos formal, ſondern real, inhaltsvoll. Zum äſthetiſchen Eindruck gehören die Formeigenſchaften welche Zimmermann aufzählt, aber er deutet ja ſelbſt auf das hin welches ſie aufweiſt, welchem ſie aber nicht blos äußerlich angethan ſind, ſondern deſſen Weſen in ihnen offenbar wird. Leſſing will einen Inhalt der ein allgemein menſchliches Intereſſe hat, in welchem uns das Immerſeiende, Bekannte auf eine überraſchende und eigenthümliche Weiſe entgegentritt, in welchem das Ungewöhnliche, Unbekannte doch wieder den allgemeinen Normen ſich einordnet; er will daß unſer Mitgefühl ergriffen, unſer Verſtand, unſer Wille bewegt und deren Forderungen zugleich genügt werde; wenigſtens hat er das in ſeinen Meiſterwerken ſo gethan. Ebenſo erklärt ſich Schiller im Prolog zum Wallenſtein:

Nur der große Gegenſtand vermag Den tiefen Grund der Menſchheit aufzuregen; Im engen Kreis verengert ſich der Sinn, Es wächſt der Menſch mit ſeinen größern Zwecken.

Eduard von Hartmann eröffnet ſeine Aphorismen über das

Drama geradezu mit dem Spruche: Das erſte am Drama iſt

2. Die Momente des Schönen: c. Stoff. 143

der Stoff; nidts ijt charakteriſtiſcher für den Didter als die Wahl des Stoffes. Gr weift auf die Dtufifer hin: Gluck's Stoffe reprijentiven die ſchöne ſchlichte Hoheit der Renaiffance, die Mo— zart's laſſen jeine kindliche Unſchuld erfennen, die in der begnadig- ten Unermeflicfeit feines Genies aus jeder Blume Honig faugt, BVeethoven’s Fidelio zeigt uns in der Gattenliebe die höchſte Keuſchheit eines tiefinnerliden Gemiiths, Weber greift jum Volfs- mirden und jum Ritt ins alte romantifde Vand. Der Stoff mug dem Wefen des Riinftlers wahlverwandt fein, wenn er ihn von innen heraus befeclen und zur Schönheit beleben foll. Der Stoff felber, fiigen wir hinzu, wird fiir die befondere Kunſt nidt gleichgültig fein; ein anderer ift der plaftijde als der maleriſche, ein anbderer der muſikaliſche als der poetijde, und cin anderer der epiſche als der dramatiſche. Sd) werde ſpäter darauf zurück— kommen; hier ſchließe ich mit Leſſing: „Die Fabel iſt es die den Dichter zum Dichter macht; Sitten, Geſinnungen und Ausdruck werden zehnen gerathen gegen einen der in jener untadelhaft und vortrefflich iſt.“

Aber auf zwiefach verkehrte Weiſe ſucht eine verfallende Kunſt und ein verdorbener Geſchmack durch ſtoffliche Reize das harmo— niſch Schöne in der Verſöhnung von Gehalt und Form zu erſetzen oder zu überbieten. Das Schöne berührt uns geiſtig und ſinnlich zugleich, es erblüht in uns wenn die lautere Kraft der Dinge mit der lautern Kraft unſerer Seele zuſammenfließt; Innen- und Außenwelt, Sinn und Seele ſind in Eins verſchmolzen, und dieſe Auflöſung der Gegenſätze empfinden wir als Rührung. Sie ergreift keineswegs blos dort unſer Gemüth wo wir Leiden ſehen, vielmehr bricht ſie gerade da hervor wo wir inne werden daß das Schöne ein Glück iſt in welchem die Widerſprüche des Lebens aufgehoben ſind, alſo bei freudigen Ueberraſchungen, nicht minder jedoch wenn die Löſung ruhig und klar ſich entfaltet, wie wenn in Goethe's Iphigenie die Macht der Wahrheit, die reine Ge— ſinnung der Menſchlichkeit die Verwickelung der Lage und das ver- jtirte Gemiith zur Ruhe, zum Frieden bringt, und die Heilung und Genefung Oreft’s fic) in der Erkenntniß offenbart, daß er die eigene Schwefter, nidjt die Apollon's in die Heimat fiihren foll. Und aud ohne Verwidelung wo uns die Tiefe des Seins, wo uns der ganze volle Werth des Lebens rein offenbart wird, wo die Sdheidewand fallt welde die Menſchen und die Dinge von- einander trennt, und der cine gemeinfame gittlide Lebensgrund

144 I. Die Idee des Shiner.

anfdaulid) und empfindbar wird, da fommt die Weihe der Rüh— rung iiber uns. Nur weil das ſelbſtſüchtig verhirtete Herz erſt einſchmelzen mug, ift Mitleid jo häufig die Bedingung oder fiir Viele der einzige Weg zur Riihrung; darum wer aud die Six- tinijdje Madonna ohne Riihrung anfdauen, Hermann und Doro- thea ohne Riihrung leſen fonnte, er wiirde von thr dod) ergriffen werden, wenn Arthur's Kindesunfduld Hubert’s böſen Sinn erweidt, dag er die gliihenden Cijen fern Halt vom Auge des Knaben; oder wenn Lear aus der Nadht des Wabhnfinns erwadt in den Armen Cordelia’s, die er verftofen, weil fie nicht mit Worten gleijen wollte, und die auch verftogen fiir den Vater in trener Rindesliebe alles zu opfern bereit ift, und durd) ihre Hin- gabe nun ihm den Frieden bringt; oder wenn Wallenftein inne wird daß ihm in Max Piccolomini der Stern feines Lebens unter: gegangen, weil er den Bund mit dem Idealismus gebroden hat, id) meine die Scene wo er am Fenjter in die dunkle Nadt hinausſpäht, und der Qupiter, der ihm Glück zuſtrahlen follte, von Wolfen verhiillt ift; du wirft ihn wiederjehen, fagt die Schweſter, und meint den Stern; ihm wiederfehen? o niemals! verfest Wallenftein, und meint den Freund. Oder wenn Volfer und Hagen Wache ſtehen, damit die burgundifden Helden nod einmal fdlafen vor dem furdtbaren Todesgang, und Volfer nad der Geige greift um fie in ſanften Schlummer eingufpielen; oder wenn Achilleus' Heldenzorn fid) in Wehmuth löſt und er milden Sinns dem Priamos Heftor’s Leiche iibergibt. Auch Schwind's fieben Raben find in ſchönſter Weiſe ein rithrendes Gemiilde. Wer jene Rührung des Reinfdinen empfindet den fann fie aud) dann ergreifen, wenn er lieſt was Goethe im Wilhelm Meifter Aurelien von dem alten Gouffleur ſagen (apt: „Er wird bei ge- wiffen Stellen fo gerührt daß er heiße Thränen weint und einige Augenblicke ganz aus der Faſſung fommt; und es find cigentlid nicht die fogenannten rithrenden Stellen die ihn in diefen Zuftand verſetzen, es find, wenn ic) mid) deutlid) ausdriide, die ſchönen Stellen, ans welden der reine Geift des Dichters gleidjam aus halboffenen Augen hervorfieht, Stellen bei denen wir Andern uns nur höchſtens freuen, und worüber viele Tauſende wegſehen.“ Gerade bet Gelegenheit Wilhelm Meiſter's ſchrieb Schiller an Goethe: „Ich verftehe Sie nun ganz, wenn Sie fagten daß es eigentlid) da8 Shine, das Wahre fet was Sie oft bis zu Thrä— nen rühren finne. Ruhig und tief, klar und dod) unbegreiflid

2. Die Momente des Schönen: c. Stoff. 145

wie die Natur, fo wirft das BVollendete und fo fteht es da, und alles aud) das Fleinfte Nebenwerk zeigt die ſchöne Rlarheit, Gleid- Heit des Gemiiths, aus weldem alles gefloffen ijt.”

In diefer echten Niihrung geht die Wehmuth („Wonne der Wehmuth“ jagt der Dichter) in Freudigfeit iiber. DOagegen meinen ſchlechte Künſtler die Riihrung durd) den ,,naffen Jammer“, den fie ſchildern, und durch weiche mattherzige Sentimentalitit hervor- zurufen; fie laſſen die Thränen flieBen, damit der Zuſchauer es aud) thut, wie es ein Gähnen der Nachahmung gibt, fowie ſchlechte Prediger am Schluſſe der Predigt ihr andächtiges Publi- fum gern an die Griber feiner Lieben führen. Freilich follte man meinen dak jeder die gewihnlide Noth des Lebens beffer zu Hanje habe, und darum nicht im das Theater gu gehen oder gum Roman zu greifen braude, und man möchte mit den Xenien fragen: Warum entfliehet thr euch, wenn ihr euch felber nur fudjt? Solche Riihrftiide, ſagt Shiller ein fiir alfemal fie richtend, bewirfen blos AnSleerungen des Thränenſacks und eine wolliiftige Erleich— terung der Gefäße; aber der Geift geht (eer anus, und die edfere Kraft im Menſchen wird ganz und gar nidt dadurd) geftirft. And Kant vergleidht derlei Gemiithsbewegungen nur der Potion die man fich der Gejundheit wegen macht, und warnt vor der an— genehinen Mattigkeit, die auf folde Gefiihlsriittelung folgt, und vor den in Empfindelet hinfdmelzenden Wffecten, die dem Schinen ferne liegen, das immer cine Crhebung und Fbrderung des ganzen Menſchen iſt.

Die zweite Verirrung iſt durch den Stoff als ſolchen auf den Verſtand wirken und das Intereſſe, das dem ganzen Schönen gewidmet ſein ſollte, durch das Ungewöhnliche des Inhalts und durch künſtliche Spannung oder Ueberraſchung zu erregen; zum Empfindſamen geſellt ſich das Intereſſante, hauptſächlich für Menſchen deren Geſchmack ſtumpf oder überſättigt iſt, und die darum ſtechender Reize oder der Würze des Pikanten bedürfen. Auch das Schöne erhebt ſich über die Alltagswelt, aber wer das Erhabene und rein Harmoniſche nicht zu erreichen vermag, der hält ſich dafür an das Seltſame und Außerordentliche als ſolches, er ſucht das Paradoxe, die Bewährung der Kraft im Befremd— lichen und Ungeheuerlichen, und dadurch wird dann der Sinn für das einfach Edle und Naturwahre verdorben. Da ſuchen die Dichter, die Maler, die Muſiker auf der Flucht vor dem Trivia— len durch das Abſonderliche zu frappiren, ſtatt das Gewöhnliche

Carriere, Aeſthetik. J. 3. Aufl. 10

146 I, Die Idee des Sdhinen.

gu adeln und den Gehalt der Wirklidfeit aufzuſchließen. Ganj abfonderlide agen der Dinge oder de8 Gemiiths werden auf- gejudjt, Conflicte werden ausgefliigelt, bet welden die Entſcheidung hin- und herſchwankt und uns in fpannende Unrube verfest, Cha- raftere und Thaten werden gefdildert, bei denen man zweifelnd fragen mag ob fie nun etwas recht Coles oder etwas raffinirt Schlechtes find. Da ſoll ein blumenreines Gemiith wie Eugen Sue's Goualeuje fid) dod) den viehifden Liiften betrunfener Gau- ner preisgeben, oder der betrogene Chemann durch felbftmirde- rijden Sturz von dem Alpenfelfen Herab die Gattin und den Freund glitdlid) maden. Wohl hat Voltaire gefagt dak jede Art von Poefie gu geftatten fei bis auf die fangweilige; aber wenn um der Langwweile gu entrinnen die Wahrheit und Schönheit geopfert werden, fo ift dies eine Entwiirdigung der Kunſt und fiir das Leben vom Uebel. Denn dies muß nothwendig Sdaden {eiden, wenn man die Ehre auf der Galere und die Liebe im Bordell ſucht. In der Meyerbeer-Scribe'ſchen Oper Robert der Teufel erfdeint ein Teufel der liebt, feinen Sohn liebt, und ihn dod) gerade darum ju fid) in die Holle verderben will, ein Teufel der in feinem Gohne Ruhe und Troft findet und diefen dafiir um fein Glück bringen will, das ift freilich dem gähnenden Pöbel etwas fehr Intereffantes. Auch Voltaire meinte Shakejpeare’s Cäſartragödie dadurd) intereffanter madjen ju miiffen daß er den Brutus Cäſar's leibliden Sohn fein ließ und ihn damit jum ungehenern Tugendhelden oder tugendhaften Ungeheuer fteigerte.

Viſcher, hier von feinen falſchen Gedanfenfdemen beirrt und die Thatſache redjt ſcharf erfaffend, gibt gelegentlid) folgende treffende Beftimmungen: ,,Sutereffant heißt zunächſt ganz allgemein was aus der Reihe des Gewöhnlichen heraustritt, dadurd) iiber- raſcht und anjieht. Das Schöne nun tritt aus der Umgebung des Gewöhnlichen allerdings heraus, allein eS ijt cine reine Harmonic, in weldje das Gewöhnliche, freilic) über fich felbft erhoben, mit aufgenommen ift; e8 ift daher etnfad) und reijt feine vereinjelte Kraft im Zuſchauer zur Thätigkeit. Das Intereffante aber reizt eine vereinzelte Kraft auf, und der Grund davon ift dak ed felbft ein Vereinzeltes ift, d. h. dak e8 aus dem Gewöhnlichen nidt durch die Ginfalt der Vollfommenheit hervorftidt, ſondern durd bie Abnormität der Cinfeitigfeit. Nun nehme man dazu das Un- rubige, Unjgufriedene einer gärenden verftimmten fubjectiven Zeit, wie die moderne, fo leuchtet ein daß fie vorjziiglid) das Schauſpiel

3. Das Haflidje. 147

der Verftimmung anziehend finden wird; man erwäge ferner daß die verftimmte Perſönlichkeit, die fic) ale Schauſpiel gibt, vermöge ber GSubjectivitit der Reit diefen Eindruck hervorjzubringen fuden, und der Zuſchauer, weil er ebenfo ift, dieſem Suchen entgegen- kommen wird, fo hat man den Begriff des Intereffanten wie ihn der Spradgebrauch beftimmt hat.”

Mit dieſer interefjanten Berfehrtheit aber find wir bet der Verfehrung des Schinen angelangt, die fid) an die Stelle deffelben jeben, fic) fiir daffelbe ausgeben will; wir heifen fie Haglichfeit. Shren Begriff und ihre Bedeutung haben wir nun zu erörtern.

3. Das Häßliche und feine Ucberwindung.

Die Unterfudhung ber die Häßlichkeit gehirt ebenfo noth- wendig in die Aefthetif wie die Betradjtung des Böſen in die Gthit; erft in der Ueberwindung de Gegenfakes bewährt ſich da8 Gute, erft im Unterfdiede von ſeinem Gegentheil wird das Sine volfftindig erfannt. Es ift daher cin Verdienft von Weife daf er ausführte was Friedrid) Schlegel gefordert und angedentet, daß er den Begriff de8 Häßlichen guerft in feiner Wefthetif ein- gehend behandelte, und er hat ſogleich aud) vieles tieffinnig und ridjtig erfaft. Wenn er aber von einer im Gegenſatz gu fich felbft begriffenen Schinheit redete, und da8 Erhabene, das Häßliche und Komiſche als deren Momente bezeidjnete, fo ward nidjt blos das Nichtſchöne als Art des Schinen anfgeftellt, jondern das Erhabene und Komiſche erniedrigt und das Häßliche zwiſchen fie geſetzt als ob es die Briide von einem jum andern wire. Das Lleidige Umſchlageſpiel der Begriffe hat faum je gu einer tirgeren Ver— irrung gefiifrt als wenn Weife fagte: „Das unmittelbare Dafein der Schönheit ift die Haplichfeit.” Er fam zu diejem ungeheuer- lichen Refultat durd) den Sak: „Die wahre Sdhinheit ift wefent- lid) Vermittlerin swijden dem Erhabenen und Anmuthigen, und jelbft durd) beide vermittelt. Wiefern fie nun aber ihren erften Begriff, demzufolge nichts Vermittelung, fondern alles unmittel- bar gegenwirtiges Dafein an ihr fein foll, dennod) fefthalten will, fo verfinft fie unanfhaltjam in das Gegentheil ihrer felbft, in die Häßlichkeit.“ Seit wann, frug id, ift denn da8 unmittel-

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148 I. Die Idee de’ Schönen.

bare Dajein einer Gade ihr Gegentheil? Iſt etwa das unimittel- bare Dafein des Guten nicht mehr die Unjduld, die ſchöne Seele, jondern das Boje und der Tenfel? Was ijt denn die Gdhinheit die ihren erften Begriff fefthalten will? Muß ſie dazu nicht ein jelbftiindiges perjinlides vernunftbegabtes Wejen fein? Allerdings wiirde der Philoſoph, welder die Schinheit als etwas Unbeweg- liches und Gegenſatzloſes fefthalten wollte, nidjt das Leben, fondern den Tod ergreifen; denn die Schönheit ijt thatvolle Verſöhnung der Gegenſätze. Bald nachher hieR bet Weiße die Haplicfeit, welche juerft die unmittelbare Schönheit war, die auf den Kopf geftellte. Cie ijt eben gar feine Schinheit, fo wenig als das Yafter cine Tugend, und die Schinheit ſchlägt fo wenig in Häß— fichfeit um, wenn uns dieſe letztere aufſtößt, als die Sdee ded Guten ins Boje umjdligt, wenn ein Menjd) von ihr abfällt und fiir feinen Willen und fein Bewußtſein das Böſe verwirflidt. Auch Ruge ftellt das Häßliche gwijden das Erhabene und Komiſche, und die Aeſthetik de8 Häßlichen von Roſenkranz hat diefe fatale Uebergeherei nicht ganz überwunden, im Cinjelnen aber viel Be- adjtenswerthes beigebradjt. Weiße ſelbſt hat die falſche Dialettif {puter befeitigt. Das Urphinomen des Häßlichen fand er nun in der Phantafie der Kinder und Naturvilfer, die in Nacht und Ginjamfeit briitend fid) von der finnliden und geijtigen Gemein- ſchaft ausſchließt und Geftalten erzeugt, an welche fic) ftatt der Gefiihle der Wonne und Seligheit Gefiihle des Sdhauderns, Grauens und Cntjesens fniipfen; cine Gefpenjterwelt und eine innere Hille im Gegenfag gu der Paradiefeswelt und dem Himmel der Sdhinheit, welche die jugendlide Bhantafie erſchafft, wenn die Seele im harmonijden Wedfelverfehr mit andern Geelen und mit der Außenwelt fteht. Weiße redet davon dak die Phantafie dort ihre Selbſtändigkeit auf die Spite tretbt; id) möchte fagen: iibertreibt; e& ijt das Analogon der Selbſtſucht des Böſen, und in der Natur wird das Häßliche durd) die Verirrung der freien Lebenstriebe wirklich Dagegen find Yoke und Schasler nidt gu belehrem geweſen; jener rechnet aud) nad) meinen Grirterungen das Hifliche gu den Schönheiten der Reflexion, und diefer Hilt es immer nod) fiir cin dem Schönen nothwendiges immanented Moment. Sdhasler nennt das Häßliche das’ Salz des Kunſt— ſchönen, er meint dag ohne daffelbe das Ideal abjtract bliebe; aber nicht das Häßliche, fondern das Andividuelle und Freie bediirfen wir gum Logifden und gefeglid) Nothwendigen oder

3. Das Häßliche. 149

Aligemeinen um da8 Schöne ju verwirfliden. Es wire ſchlimm wenn das Charaftervolle häßlich fein müßte!

So entſchieden id) darauf drang das Erhabene innerhalb des Schönen feftzuhalten und ihm hier feine nothwendige Stelle gu behaupten, fo beftimmt muß id) betonen dag das Häßliche als der Gegenfak des Schönen auferhalb der Idee deffelben gedacht werbde; wie dev befehrte Siinder gu Gnaden angenommen wird, fo fann erſt das überwundene Häßliche in die Kunſt cingehen; fiir das werdende Shine wird aber die aufzulöſende Disharmonie von groper Bedeutung jein. Deshalb befchiftigt uns jest das Häßliche und feine Ueberwindung.

Das Schöne ift That, Leben und Siegesfreude. Der Sieg ift nidjt ohne den Kampf, und fet einen Feind voraus und erfangt nur da Ehre und Ruhm wo die Möglichkeit des Verluftes vorhanden war. Wir erfannten die Nothwendigkeit der Freiheit fiir bas Shine; fie fegt wieder die Möglichkeit des Andersfeins voraus. Wird der individuelle Wille felbftfiidhtig und vom Ganzen abtriinnig, fo entfteht das Böſe; es ift nicht blos ein Ermangeln des Guten, eine Abweſenheit des Redhten, fondern ein pofitives Sichwiderjeken gegen das Gefek, ein Hak und Kampf gegen das Edle, aber freilid) dadurch ein eitles Streben, dad fich ſelbſt ver- eiteln mug, weil aud) das Selbjt des Böſen in dem einen wahren Wefen wurzelt gegen weldjes es anfimpft. Der zur Selbftjucht gefafte Gigenwille ift aber nicht paffiv, fomdern energievoll, und bas Böſe in ihm das Feuer das nidjt verltjdht, der Wurm der nicht ftirbt; der böſe Wille entfaltet feine zerſtörende Macht, endet aber in Verödung und Selbſtzerſtörung. Aehnlich ift der Gegenſatz gegen die Wahrheit nidt der unfduldige Srrthum oder die bloße Unfenntnif, fondern die bewußte Leugnung und Ver— fehrung der Wahrheit, dic Lüge. Und fo ift denn das Häßliche nidt der Mangel der Schinheit, denn gar vieles enthehrt diefe ohne deshalb häßlich gu fein, ja es wäre ungecignet alles unter den äſthetiſchen Gefidhtspunft gu ftellen und es nad ihm ridten ju wollen. Die fittlide Berufserfiillung fiimmert fic) im pflicht— mäßigen Tagewerk fo wenig um den wobhlgefailligen Sdein als es bei einem mathematijden Lehrjak auf die Symmetrie der Figur anfommt, mittels welder er bewiefen werden foll. Sa jelbft anf äſthetiſchem Gebiet läßt uns vieles gleidgiiltig und ungeriifrt, aber wie es and) der Sdhinheitsvollendung entbehrt, wir nennen e8 darum nod) nidt Hafli. Das Häßliche verhilt

150 LyDie Sdee des Schönen.

fid) gur Schinheit wie das Böſe zum Guten, wie die Liige jur Wahrheit. Es ift die Entartung der Freiheit zur Mae und Formloſigkeit, es ijt die Verjerrung und Zerſtörung der vollen Lebensbliite, und findet darum feinen Höhenpunkt dort wo die Glemente, die im Schönen zuſammenklingen, feindſelig ſich ſchei— den, Geiſt und Natur ſich trennen, im Geſpenſtigen und in der Verweſung.

Wir erkennen das Licht im Unterſchied von der Finſterniß, und wären die Gegenſätze nicht als ſolche vorhanden, niemals würde ihre Verſöhnung uns beglücken. Für das Gute iſt die Möglichkeit des Böſen nothwendig um der Freiheit willen; aber es ſoll nicht zur Wirklichkeit gelangen, die Verſuchung ſoll beſtan— den, der Anreiz zum Abfall ſoll überwunden werden; durch eigene Kraft ſoll die Tugend errungen und dadurch ihr Beſitz für uns ſelber werthvoll ſein. Wo aber das Böſe doc) zur That wird, da fann nicht fehlen dag die Disharmonie, weldje durch Liige und Sünde in die Welt fommt, auch) deren Geftalt veriindere und ſich alg die Verfehrung des Redhten und Wabhren aud in der Form und Erſcheinung als Verzerrung und Widerwärtigkeit fundgebe. Wenn die Anmuth im Zwang erftirbt, wenn das Schöne frei ift, dann bringt fein Begriff es mit fic) dak die individuellen Lebens— triebe, deren eigenartige Geſetzeserfüllung uns erfreut, fic) aud verirren, daß fie auch verfiimmern und entarten fonnen. Writ dem Hervorbredjen des Negativen iſt das Häßliche verbunden, und die Kunſt fann es nidt umgehen, wenn fie dem Leben geredt werden will; nur daß fie es iiberwinde und wie die Vorſehung bas Böſe jum auch wideriwillig dienenden Glied im Weltplan made. Wo fie es aber als das Beredtigte hinftellt, da wird bas Werf der Kunſt ſelber häßlich.

Das Sdhine ijt Cinheit in der Mannidfaltigfeit. Wo uns nun blos die Einheit begegnet, die der Fülle ermangelt, wo uns jenes ewig Geftrige entgegentritt das immer war und immer wiederfehrt, wo wir aus dem Anfang alles errathen fonnen, da gähnt die Langeweile uns an, ba wird die Gintinigfeit ebenfo widerwirtig wie eine ordnungsloſe Menge von Befonderheiten in wüſtem Durdeinander, die uns unfaßlich bleibt und verwirrt, weil dic Einheit fehlt. Beides ift cin Gegenfask gegen das Schöne, beides ift häßlich. So ift es aud) der Dred, deffen Schmierigkeit die körnige Form der Erde wie die flüſſige Klarheit des Wafers aufhebt.

3, Das Hafilice. 151

Das Schöne ift der Zufammenflang der Theile gum Ganjen dadurd) daß die geiftige Ginheit der Mannichfaltigkeit der erſchei— nenden Vielheit cinwohnt und fie gliedert. Wenn nun was Glied jein follte fic) aus dem Fluffe des gemeinfamen Lebens heraus- reifit und fiir ſich allein fein will, fo entſteht die Disharmonie des Haplidhen, fowie aus dem Trok des Gigenwillens gegen die Liebe das Boje geboren wird. Go find die Auswüchſe häßlich, ein Höcker, oder cin grofes Maul das fiir fic) die ganze Breite des Geſichtes einnehmen will. Kräfte die unter der Herrſchaft eines höhern Gedankens den Organismus bilden, ergehen ſich von dieſem Zügel befreit in zweckloſer oder zweckwidriger Macht— wucherung, und ſo entſtehen die Misbildungen der Krankheit, namentlich die Geſchwüre, und ihre Selbſtauflöſung in Eiter. In dieſer Sphäre verfällt die Kunſt in das Häßliche durch bevor— zugende Betonung der Theile vor dem Ganzen. Wenn jedes Beſondere beſonders wirken ſoll, entſteht eine anſpruchsvolle Ge— ſpreiztheit, eine verſchnörkelnde Ueberladung. Da will nichts dienendes Glied ſein, ſondern jedes herrſchen, die Hand alſo in ihrer Haltung und Bewegung nicht gemeinſam mit dem Geſammt— körper zum Ausdruck eines Gedankens daſein, ſondern auch für ſich die Augen auf ſich ziehen, das bringt ſie zu einer prätentiöſen Geberde; und da ſoll nun auch jeder Finger etwas Beſonderes ſein, und ſo löſt ſich das Ganze auf und verfällt in lauter über— triebene und verzierte Einzelheiten. Oder es wird das für ſich Bedeutſame zum bloßen Schmuck zwecklos verkehrt, wie wenn man die tragende Säule ſchnörkelhaft ſich drehen und winden (aft, oder den verbindenden tragenden Bogen in der Mitte bridjt und fic) ſchneckenhaft zuſammenrollen läßt. Wird aber das Ginhandsband ganz geldft, fo erſcheint Verworrenheit, wie im planfojen Gerbil, tm Chaotifden, in der Oede des Sumpfes oder der Sandwiifte.

Die Freiheit des Schönen fteht gleidfern von geſetzloſer Willkür wie von naturwidrigem Zwang; wo eins oder das andere hervorbridt, da entfteht das Häßliche, befonders wenn es im Gegenſatz gegen die gejekerfiillende Freiheit ſchön gu fein bean- fprucht. Falſcher Zwang erjeugt fiir mid) das Häßliche in der dem Leben widerftreitenden Geftalt der Baume, die man ju Winden, Säulen, Pyramiden zuſtutzt, als ob ihre Triebfraft fteif und ftarr geworden, oder Büſche dic man zur Geftalt von Schwänen oder Hirſchen befdjnetdet und fomit die Form des

152 I, Die Idee bes Schönen.

Bewegliden an das Unbeweglide bannt. Oder die beliebte Mode— thorheit durch Virtuofentunftftiide einem mufifalifden Inftrument die Stimme de8 andern aufzudringen, mit der Geige ju harfen und mit der Trompete ju fléten. Getanzter Wahnfinn, Ballet- mufif auf Gribern gehirt ebenfalls hierher. Umgekehrt verfallt die Natur in das Häßliche, wenn eine Individualität nidt zur geſetzlich klaren Gattungsbeftimmtheit fommt, ſondern jwifden mehrern Formen ſchwankt, wie der Sgel, die Fledermaus, die Kröte. Schön Heift ja was zugleich normal und dharafteriftijd it.

Die gefeklos fpielende Willkür gibt fid) im Bizarren und Baroden fund. Bizza heift Zorn und Laune; wo beide herrjden wird der Zuſammenhang der Ordnung durdbroden. Zu Ben- venuto Cellini's Zeit wandten die Gold- und Silberfdmiede ver- ſchiedene Stoffe in buntſcheckiger Miſchung für ihre Arbeiten an; man nannte das barod; roc = Fels, Stein, ift die Wurzel des Wortes hier wie in Rococo; feltjame Naturſpiele im Fels, viel- farbige Mtijdungen von Steinen in wunderliden Formen und danad) das Willfiirlidhe, Schndrfelhafte in feiner Ueppigkeit wird damit bezeichnet. Ebenſo iibertrug man von den abentenerliden Formen der Grotten, die gu ahulichen Gebilden reizten, das Grottesfe aud) auf andere Gebiete. Wie man nicht immer mit ftrengem Ernſt nur dem einen Nothwendigen in Kunft und Leben nadgeht, fondern aud) am Spiel de8 Zufälligen fid) ergötzen mag, fo beftreiten wir der fiinftlerijdjen Laune feineswegs daß fie ein- mal mit Hora; ſagen diirfe: Dulce est desipere in loco. Nur wo das Grillenhafte fid) an die Stelle de6 allgemein Wahren fesen will, nur wo die Wunderlichkeit des Unveritandes fid) als Tiefſinn geberdet und Sdhrullenhaftigfeit fiir Genialität ausgibt, da tritt der Umjdlag ins Häßliche und Verwerflide ein. Wird das Cinheitsband des ordnenden Selbjtbewuftfeins ganz gelöſt, fo fithrt die tollgewordene PBhantafteret jum Wabhnfinn. Wir beflagen in ihm die Zerriittung und den Selbjtverluft des Geiftes und geftatten dem Riinftler nicht dak er damit fpiele, vielmehr fordern wir die Motivirung durd) den Zujammenhang des Werks und das Leben der Perfinlidfeit, und fordern dak die Vernunft in eingelnen Lauten durd) die Verwirrung hindurchklinge, daß ein rother Faden des Rujammenhanges auch die feltjamen Bilder- träume durchziehe, oder dak die urjprilnglide Schönheit der Seele aud) auf das von ihr Abgeriffene nod einen Schimmer der Verklärung werfe. So hat der Meifter des Dramas den

3. Das Häßliche. 153

Wahnſinn dichteriſch gefdhildert, und Kaulbach's Irrenhaus jeigt in Hochmuth, religiöſer Schwärmerei und ſinnlicher Liebe die Leidenſchaften welche die Freiheit des Bewußtſeins überwuchert und verſchlungen haben.

Im Schönen iſt die Materie durchdrungen und beſiegt von der Form; wo die Maſſe als ſolche ſich geltend macht wird ſie durch Plumpheit, Klotzigkeit, Tölpelhaftigkeit häßlich. Im Schönen waltet die Einheit von Geiſt und Natur, von Seele und Leib; wo das Sinnliche für ſich und dem Geiſtigen zum Trotz hervor— tritt, wo es die Zucht bricht und ſchamlos die leibliche Nothdurft und ihre Verrichtung hervorkehrt und ſich in tönenden Unſchick— lichkeiten gefällt, da wird es durch Brutalität und Gemeinheit häßlich. Häßlich iſt alle roh ſinnliche Gier, die das Thieriſche im Menſchen entkettet; häßlich iſt das Obſcöne wie das Zweideutige als die abſichtliche Verletzung der Scham, das Zotenhafte, das nicht als natürliche Derbheit oder als Gegengewicht einer falſchen Prüderie, ſondern aus Luſt am blos Sinnlichen erſcheint; häßlich iſt die blos ſinnliche Luſt ohne die ethiſche Weihe der Liebe, dop— pelt häßlich wenn fie ſich zur Schau ſtellt, wenn ftatt eines an— muthigen Yiebefpiels die greflen Zuckungen viehiſcher Wolluft in iippigen Tänzen ftatt eines reinen Wohlgefallens die fiindige Be- gier erweden; dreifad) häßlich die unnatürliche Wolluft, die nicht einmal dem Naturtriebe der Gattung dient, und damit den Men- ſchen unter das Thier erniedrigt. Hier wird überall von der Sinnlichfeit bas Band jerriffen das fie mit dem Geifte verfniipft und fie zur Schinheit adelt; es ijt nidt die unbefangene Natur, nidt die unfduldige Nadtheit das Häßliche, fondern der bewufte Brud) mit dem Bdealen, die Verlengnung feiner Wahrheit, die Zerreißung ſeines Geſetzes.

Damit tritt das Böſe als das Häßliche auf. Nicht daß alles Widerwärtige in einer Geſtalt ſogleich als Folge von einem Abfall des Geiſtes zu achten wäre; es kann auch andere Gründe haben, und wir müſſen ſtets bedenken daß jegliches um ſeiner ſelbſt willen da iſt, nicht um unſers anſchauenden Genuſſes willen, deſſen For— derung erſt da berückſichtigt werden kann wo der eigene Zweck der Sache erfüllt iſt. Doch das können wir ſagen: Das Gute ver— ſchönt, denn es iſt das in ſich Uebereinſtimmende, das ſich auch im Aeußern kundgibt, und ſelbſt unſchöne Formen und rohe Züge durch den Ausdruck adeln kann; das Böſe verhäßlicht, denn es iſt nicht blos Zwieſpalt mit Gott und Nebenmenſchen, ſondern auch

154 I. Die Idee des Sdhinen.

die Zerrüttung im perſönlichen Geifte felbft, der fein wahres und ewiges Wefen verleugnet und das als ein Gut fegen möchte was ifm nur Verderben bringen fann; darum ift es Unfriede und Pein feinem eigenen Begriffe nad, nicht blos als einer von augen ver- hängten Strafe unterworfen, und darum fann feine Erſcheinung nidjt eine harmonifde fein, darum mug es aud) die an fic) wobl- gefiigten Formen unheimlich verjiehen und ihnen den Ausdrud des fic) felbft entfrembdeten Geiſtes aufpriigen, wie in der frampfhaft verjzerrten Miene des Zorns, im grämlichen Aerger oder in der bleichmachenden Schelfucht fidjthar wird; bei dem Neide merft man e& recht deutlid) wie er felber die Pein des Misgünſtigen ift und ihm fein Gift gegen andere das cigene Herz zerfrißt. Das gilt aber von allem Böſen.

Das Böſe als das Negative ift fiir fic) nicht wirklid, es bedarf des Pofitiven, cines Subjects, das fic) im Cinjelnen, da8 fic) mandmal, das ſich nad) beftimmten Richtungen hin verirrt und vom Schein eines Guten, da8 in Wirklichfeit nur ein Uebel ijt, gum Nachjagen verlodt und betrogen wird; aud) zur Ver— ftodung und Verhirtung de Herzens, aud) gum principiellen Hak gegen das Gute fommt es nur weil es darin cine Befriedigung gu finden wähnt, und wiire es die des Ergrimmens über ſich felbjt, die immer jur Qual wird. Die Phantafie aber hat das Boje als foldjes perjonificirt in einem Reiche der Dämonen. Bon ifnen {aft man dann den Menſchen befeffen fein, wenn in der Wahnfinnverwirrung des Geiftes die Herrfdaft des Selbſtbewußt— ſeins verforen geht, und nun alle die Verfehrtheiten der entgiigel- ten Zriebe, der unverniinftigen Cinfiille, die fonft die Seele niederfiimpft, wild und fred) Hervorbreden. Mit ihnen (aft man den auf Schädliches bedachten Sinn alter garftiger Weiber in Bund treten, und deren verirrte Cinbildungsfraft meint dann felber einen greuliden Herenfabbath mit grinfendem Hohn gegert das Heilige in frendlofer Liifternheit gu begehen. Bon ihnen entwirft dann die Vorjftellung Bilder, in welden der göttliche Adel der menſchlichen Natur in das Thierijde verzerrt erjdeint.

Häßlich ft die Unreinlichkeit. Sie befteht darin dag man den Schmutz, das heift das Todte oder den ausgefdiedenen formlojen Stoff an das Lebendige ſich anhingen ligt. Reinlichkeit ijt ein Symbol des geiftig reinen Sinnes und Herjens, damit aud) der Anfang der Cultur, deren Fortidhritt Liebig ſogar am Geifen- verbraud) meffen wollte; Unreinlidfeit gilt als Beelzebub's Reid,

3. Das Häßliche. 155

des Herrn alles Auswurfs und giftigen Gejdmeifes. Es iſt ver- werfliche Schwäche die das Unreine duldet. Aber nicht minder häßlich ift e8 wenn man die Gedanfen nidt rein erhalten fann, wenn Zoten fic) ing Gebet mifden, und die Anſchauung der Engel felber in Dtephiftopheles das päderaſtiſche Geliift erwedt, durd bas der Dichter, der da8 Häßliche iiberwindet, den Teufel ftraft. Blafirten Geiftern aber wird die Unfihigfeit einen Gedanfen fiir fid) rein ju bewahren und feſtzuhalten gur Luft an der Unter- bredjung, und damit beginnt das Haplide cin Reiz fiir die ver- liiderlichte Seele gu werden. Heinrich Heine ijt leider nur ju oft aus der Aetherhihe der Poefie in diefes Vergniigen am Unveinen herabgefunfen, und felber ein Stern im Miſt geworden; er, der berufen war jum Priefterthum der Schönheit, gefiel fic) dann die Kothſeelen anjgufingen:

Selten habt ihr mich verftanden, Selten aud) verftand id) euch; Nur wo wir im Roth uns fanden, Da verftanden wir uns gleid.

Es gibt einen ſchauervollen Bund von Wolluft und Grauſam— feit, von Zeugungs- und Zerftdrungstrieb tm Menſchen, der im Siwacultus feinen Ausdrud gefunden hat. Und das fiihrt uns dann gur Luft am Scheußlichen, in der wir felbft einen ſcheuß— liden Wbfall der Menſchennatur ins Häßliche erfennen miiffen. Dies ftellt fic) uns in dem durdgefithrten Brud) des vollen Yebens dar. Da erjdeint auf dev einen Seite die Verwefung. Sie läßt den Stoff, den die Form befiegt hatte, wieder in Form- lofigfeit jerfallen, und wirft auf die Stofffinne widerwärtig ein, während die [ebendige Geftalt die Formfinne erfreute. Die Natur wiirgt fic) dagegen, die Nafe sieht fid) im Geſtank gujammen, und der Gel fann fid) im Gegenfag jur Nahrungsaufuahme als Erbrechen äußern. Dennoch verlangen die durch Ucberreizgung ſtumpf gewordenen Nerven nach der Fäulniß, und wie man ſtechend gewürzte Brühen an verweſtes Wildpret gießt, ſo bildet ſich dann eine Literatur aus Koth und Blut, und die in ihr verdorbenen Lüſtlinge gehen ſelber zu dem Verbrechen fort weibliche Leichen auszugraben, zu ſchänden und zu zerfleiſchen. Auch die Leichen— malerei unſerer Tage krankt an dieſem ungeſunden Einfluſſe der Atmoſphäre; ftatt die große Seele gu ſchildern wie fie den Körper belebt und zur That bewegt, gibt fie mit unverfennbarem Be-

156 I, Die Idee des Schönen.

fenntnig der Schwäche nur den entfeelten Leib, um durd das fahle Todte und feine blaugrünlichen Flecke einen Contraft gegen das rothe Yeben zu erhalten, um and einer blafirten Gefellfdaft eine Gemiithsaffection ju bereiten und fic) ihr bemerflid) ju maden, follte aud) das Wefen der reinen Kunſt und ihre Hobheit in der Darftellung der Geiftesgrife und ihre himmliſche Heiter- feit darüber verloren gehen.

Das Häßliche wird auf foldhe Weije fiir das Schöne aus- gegeben, le beau c'est le laid, wie ein Franzoſe gejagt hat, oder nad) Shakefpeare’s Herenlied: fair is foul and foul is fair! Mun fommt die Berviffenhett und dünkt fid) das Höhere und geiftig Bedeutendere, und erfliirt die Harmonie der Seele fiir Beſchränkheit, die Unfduld fiir blöde Dummheit. Hiren wir Rojenfran3. „Ja es iſt entfeslid) aber es ift wahr dah wir Menfden uns gegen unfern göttlichen Urfprung empören und in dem Hunger nad Schheit unerjattlid) werden können. Nicht ein- zelne Momente des Böſen fommen hier in’ Spiel, wie Wolluft, Herrſchſucht und dergleidjen, jondern der Abgrund der abfoluten be- wußten Selbftjudt. In handelnden Böſewichtern, wie Ricard IIT. und Franz Moor, ift nod eine gewiffe naive Gejundheit des nega- tiven Brincips, in den contemplativen Teufeln aber der neuern Kunft geht das Böſe durd) das fophiftifde Spiel einer ſchlechten hohlen Sronie in eine fcheuplide Verwejung iiber. Aus den un- rubig ermatteten, genufgierig impotenten, überſättigt gelang- weilten, vornehm cyniſchen, zwecklos gebildeten, jeder Schwäche willfahrenden, leichtſinnig lafterhaften, mit dem Schmerze fofetti- renden Menſchen unferer Zeit hat fid) ein Sdeal fatanifder Blafirt- Heit entwidelt, das in den Romanen der Englander, Franjofen und Deutſchen mit dem Anſpruch auftritt fiir edel gehalten ju werden, zumal diefe Helden gewöhnlich viel reifen, fehr gut effen und trinfen, die feinfte Toilette machen, nad) Patſchuli duften und elegante weltminnijde Manieren haben. Der «aſchöne Efel» in diefer Diabolif, die fic) abfichtlid) in Siinde ſtürzt um nachher den ſüßen Schauder der Rene gu genieBen, die Menſchenverach— tung, die Hingabe an das Böſe nur um in dem wiiften Gefiihl der univerjellen Verworfenheit zu ſchwelgen, die geniale Frechheit welde die Moral den Philiftern überläßt, die Angft vor der Möglichkeit einer wirflidhen Gefchidte, der Unglaube an den lebendigen Gott der in Natur und Geſchichte fid) offenbart, diefe ganze Häßlichkeit der jerviffenen und verfdjliffenen Weltſchmerzler

3. Das Häßliche. 157

ift von 3. Schmidt in feiner Gefdhidte der Romantik vortrefflich charafterifirt worden.”

Cine Ausgeburt dieſes fic) felbft entfremdeten Geiftes ift die Srivolitit. Sie malt in der Kunſt das Sdine um es höhniſch aufzulöſen und fiir eine bloße Täuſchung auszugeben. Sie nimmt fiir ihren Ubfall die Wahrheit in Anſpruch, oder fie leugnet fred) bas Heilige und fegt die Frage an feine Stelle; fie ligt von einer Liebe, mit der fie das Sdeal umfaffen witrde, wenn es nur eins gäbe, wenn e8 nur mehr als die Cinbildung der gutmiithigen Schwäche wire, mit welder da8 geiſtreich häßliche Subject nit auf gleider inte ftehen mag. Die Frivolitit ijt fern von dem ernften Sweifel, der im Schweiße ſeines Angefidhts um Wahrheit ringt, und mit einer erhabenen Mtelandolie auf eine Welt faut deren Sinn er nicht verjtehen, in deren innerftem Grund er Ver- nunft und Liebe nicht erbliden fann; „ich leide unſäglich nidt an Gott glauben gu können“ jdrieb Diderot an Fraulein Voland—; die Frivolitit jedod) freut fid) das dumme Schreckbild eines Gottes los ju fein, und im der Welt ein Spiel des Zufalls oder blinder Naturkräfte zu erbliden, weil fie nun meint ungefiraft den Geiſt fengnen und das Sittengeſetz veradjten zu dürfen. Sie fdjreibt das Wort Pflicht ins Fabelbud) und thut als ob es ihr mun recht wohl werde. Aber es geht wie bet den Hexen: die Umarmungen de8 Satans find dod) falt und genußlos, und fein Gold verwan- delt fid) in RKohlen. Indeß mug man von der Frivolitdt den Spott iiber eine falſche Sentimentalitit unterſcheiden; wir finden ihn auf geniale Weije bet Heine; er ijt künſtleriſch beredjtigt; er entlarvt die lügneriſche Schinfeligheit, und zeigt die Hohlheit einer Empfindjamfeit auf, die den Mangel an Energie des Denfens und Thuns mit weiden Phrafen umbiillt und fiir Gemiith aus— geben möchte.

Die Kehrſeite gegen die Verwefung bildet jene unfelige, des Leibes ermangelnde und dod) an das Diesfeits gefettete Geiftigheit, die wir Gefpenft nennen. Als leiblos fann fie natiirlid) nur ein Gebilde der Phantafie fein. Der übereinſtimmende Glaube aller Reiten nimmt Gefpenfter an, die Dichter reden von Geiftererfdjei- nungen und verwerthen fie. Denfer wie Kant, Leffing, Wilhelm von Humboldt haben die Frage der Geiftererfdeinungen für eine offene erklärt und damit gerade die Freiheit ihres Geiftes aud) von den Dogmen der Aufklärung bewiejen, der erftere aber zu— gleid) das tieffinnige Wort der Erklärung ausgefproden: „Es

158 I. Die Idee bes Schinen.

wird fiinftig nod) bewieſen werden dak die menſchliche Seele auch in diefem Leben in einer unauflöslich gefnitpften Gemeinjdaft mit allen imimateriellen Naturen der Geifterwelt ftehe, daß fie wechſels— weife in diefe wirfe und von ifnen Eindrücke empfange. Wbge- ſchiedene Geifter finnen gwar niemals unfern dugern Sinnen gegenwiirtig fein, aber wol auf den Geift des Menfden wirfen, mit dem fie gu einer großen Republi gehiren, ſodaß die Vor— ftellungen welche fie in ihm erweden fid) nad) dem Geſetz feiner Phantafie in verwandte Bilder fleiden und die Apparenz der ihnen gemäßen Gegenftinde als auger ihm erregen.” Das Geſpenſtiſche ift aber nicht eine felige oder jelbftindig in fic) ruhende Geifter- welt, ſondern eine unfelige die nicht zur Rube fommen fann, die abgefdieden von der Erde durd) ungeſühnte Frevel oder durd unbefriedigte Geliifte an fie gefniipft bleibt, und den ungelöſten Widerfprud) aud) in dem eigenen Weſen trigt, wenn das Körper— {ofe fic) dennod) faut und ſichtbar madt, das Todte dennod fid alg lebendig geberdet. Bor diefem Widerſpruch ergretft uns ein unbeimlides Grauen, er ift das Häßliche fiir die Phantafie, wie e8 die Verwefung fiir die Sinne war. Wie das Shine die wiederhergeftellte Barabdiejeswelt ift und wir die Seligen verflirt im Licht der Ewigkeit vorftellen, fo verfest die Phantafie das Böſe durd da8 Bewuftfein feiner Verdammniß unfelig in die Finſterniß der Holle, und cin Dante veranſchaulicht dann die innere Unjeligfeit durd) die äußere Erjdeinung und durd ein Thun und Treiben wodurd) den Giindern lar wird was ihre Werke in Wahrheit waren, wenn die Graufamen in einem Meere von Blut fieden, die Schmeichler, die aud) das Schlechte gut hießen, Menſchenkoth genießen, und die Wetterwendijden vom Wind um eine flatternde Fahne hine und Hergetrieben werden. Dante fchildert das Häßliche ohne falſche Schminke und Tünche, aber fein Werf ift nicht häßlich, denn er fchildert das Häßliche als das Nidjtjeinfollende, vom guten Geiſt Gottes Ueberwundene.

Verwandt mit dem Gindrucd des Gefpenjtigen ift jede Liige des Lebens, namentlid) die der Wachsfiguren, welde in treuer Nachahmung alles Aeußerlichen der Wirklichfeit wol den Schein ded Lebens Hhervorbringen, der LebenSwahrheit aber ermangetn. Dies allein könnte beweifen dah die Kunſt etwas anderes ijt als Naturnachahmung, weil ja dieje, je trener fie verfihrt, um jo mehr dem Häßlichen verfaillt, die Kunſt aber Erzeugerin des Schönen unt der Schinheit willen ift.

3. Das Häßliche. 159

Wie das Böſe ſich jelber ein Gericht ift, jo zerſtört fid) and das Häßliche; es hebt fic) felber auf, wie das Gefpenft am Licht des Tages verfdjwindet und mit dem erwedenden Hahnenfdrei der Geift fic) auf fid) felbft befinnt und die Erſcheinung, weld er außer fic) verfeste, wieder in fic) juriidnimmt, wie die Ver- wejung eben fich felber verzehrt und die aufgelöſten Stoffe wieder nenen Lebensformen als Nahrung zuführt. Beim Häßlichen wird es uns unheimlich, es ift ein Nichtſeinſollendes das fich dod) ins Dafein dringt, das, wenn es beftiinde, die gittlidje Weltordnung aufldjen und die Schönheit vom Thron ftofen wiirde; im Schö— nen fühlen wir uns heimiſch, weil ing wahre Sein erhoben. Aber wie der Cinflang des eigenen Herjens und die Freiheit des Gemiiths Bedingung ijt fiir die Erzeugung de8 Kunſtſchönen und ſeinen VollgenuB, fo weidet die eigene Unfeligkeit und Zer— riffenheit fic) am Gemälde des Abgrundes und blict mit fchauer- licher Luft in ihn hinein um im Schwindel das troftlofe Gefühl der innern Oede und de8 Grauens vor fic) felbft gu betdiuben.

Die Kunft aber fann die Wunde aufzeigen die fie heilt, und den Gegenjak ſichtbar werden faffen den fie iiberwindet; in Kampf und Sieg ſchmückt fid) das Schöne mit dem Glanz der Erhaben- heit. Wie weit das Häßliche in den einjelnen Riinften zur Gre ſcheinung fommen fann innerhalb eines ſchönen Werks, wird die Lehre von denfelben erörtern. Doch fiige id) hier ſogleich einige alfgemeine Gite iiber feine Ueberwindung an, nachdem id) daran erinnert daß e8 keineswegs in jedem Werke vorzukommen braudt; die Sculptur, die nur eine Einzelgeſtalt darftellt, will und foll in ihr das Bdeal als foldjes unmittelbar verwirfliden, und Rafael’s Siftina oder Goethe's Iphigenia thun cin Gleidhes. Wo aber die RKunft das Leben nad) feinen Hihen und Tiefen erfaßt und es in jeiner dramatifden Entwidelung ſchildert, da wird fie auch das Häßliche aufnehmen.

Einmal wird der Künſtler das Häßliche nicht als das fiir fid Selbftindige ſchildern, ſondern fo darftellen wie e8 als bejondere Verirrung oder Verbildung einer Perfinlidfeit oder Geftalt an- haftet und von deren pofitiven Cigenfdaften getragen wird, ſodaß wir in ihnen fogleich ein Gegengewicdt haben, wie wenn mit der Schwäche aud) die Gutmilthigheit, die Milde des Herzens hervor- gehoben wird, der fie entipringt, fowie wir vor Verwunderung iiber Sago’s Geiftesgegenwart und allen Verhältniſſen gewachſenen Ver- ftand im Abſcheu vor der Schlechtigheit feiner Zwecke ftets unter-

160 I, Die Idee des Schönen.

brodjen werden, und neben dem wüſten Despoten in Richard IIT. aud) der Held, auch der iiberlegene Geift gezeichnet iſt. Das Er- ftaunen vor der Gripe dämpft den Abſcheu vor der fittlicjen Ver— worfenheit. Ferner wird durd) eine geniigende Motivirung grof- artig und furdtbar was ohne fie gräßlich und unerträglich wire. Peinliche Lagen, Seelenqualen fiir Unſchuldige find widerwirtig, alg Folge der That können und follen fie verdient, damit gerecht erfdjeinen. Um dic Schuld von Edmund's Empirung gegen das Sittengejes zu erklären madt der Didhter ihn zum Bajftard, der darum die Natur fiir feine Gottheit erflirt. Sago wird von denen zurückgeſetzt bie er iiberfieht, das reizt ihn fie fetne Ueberlegenheit und feine Rade fiihlen zu laffen. Ridard III. ift im Biirger- frieg erwadjen, er hat fehen miiffen wie der gebundene Vater von der megärenhaften Königin Margarethe zum Thrinentrodnen ein Tuch erbhielt getaudjt in bas Blut des jungen Rutland, des liebliden Söhnchens, er hat die Verwilderung der Zeit durch— gemadt und ijt verwildert in ifr, er gewahrt nidjts als Selbjt- judjt um fic) herum, da will er ganz und offen jein was dod alle find, ein Mann der ſich gu erhihen trachtet auf jede Weije, und fo wird er der blutige Schnitter für eine Gaat der Ber- bredjen, und ift eine Geifel in Gottes Hand. Seiner geiftigen Natur entfpridt dic firperliche Misgeſtalt, aber wie er meint daß um Ddiefer willen er keine Liebe finde, fo wird fie ihm wieder gum Sporn nur um fo rückſichtsloſer nad) der Krone zu tradhten; denn fo hochgemuthet ijt fein Ginn daß er nur nad) den Gipfein des Lebens ftrebt, nad) der Liebe oder nad) der Krone. Dammit ift die Wiiftheit feines Weſens wieder geadelt.

Dante zeigt uns in der Holle die Verräther, denen die Liebe zum Vaterland im Herzen erfroren war, ob diefer ihrer Kälte willen in Gis gebannt, das fie feft wie Klammern umſchließt, wo aud) ihre Thriinen nicht niedertraufeln, fondern auf der Wange erftarren; und Männer die im Leben einander unverfihulid haf. ten und um ihrer Rachgier willen die Pflicht gegen Gott und Volk auger Augen febten, zerbeifen und nagen einander wihrend ihre Leiber in einem Lod) zuſammengefroren find. Hier verliert das Gräßliche feine Haplichfeit dadurd dak es als Strafgeridht der Sünde erfdeint, und das Schreckliche als Enthiillung der Natur des Böſen von ihm abfdreden foll. Dante geht aber weiter. Gr redet einen der Köpfe an, und diefer erhebt den Mund yom fdjauerliden Schmaus und wiſcht ihn ab an den

3. Das Häßliche. 161

Haaren des Kopfes, an dem er nagte, um dann fein Gejdid zu erzählen. Es ift Ugolino, der gum Verrither des Vaterlandes geworden das er friiher grok gemadjt, den dann Ruggieri befiegt und um dem Parteihaß yu geniigen mit fetnen Gihnen in einen finjtern Thurm ju Piſa geworfen. Da hatte Ugolino einmal des Nachts einen unheilvollen Traum, er meinte als Wolf von Hunden zu Tode gejagt zu werden, und wie er erwadjte hirte er die Seinen halb ſchlafend nad) Brot verlangen. Dann fam die Stunde die ifnen jonft Speiſe gebradjt hatte. Aber fährt Ugolino fort:

Verriegeln hört' id) unter mir den öden Grau nvollen Thurm, und ins Gefidt jah id Den armen Kindern ohn’ cin Wort ju reden.

3d) weinte nidjt, verfteinert innerlich;

Sie weinten; und mein Anfelmuccio fragte: Du blidft fo, Bater! acd, was haft du? fprid!

Dod) weint’ id) nidjt, und diejen Tag fang fagte Ich nichts, und nichts die Nacht, bis abermal Das Sonnenlidht der Welt im Often tagte.

Als in mein jammervoll VerlieR fein Strahl Gin wenig fiel, da ſchien es mir id) finde Auf vier Gefidhtern meins und meine Qual.

Yd) big vor Sammer mid) in beide Hande.

Und jene wähnten dak id) es ans Gier Nad) Speife that’, erhuben fich behende

Und fdhrien: uns! Go leiden minder wir! Wie wir von dir die arme Hüll' erhalten,

O fo entfleid’ uné, Vater, and) von ibr.

Da ſucht' ich ihrethalb mich ftill gu halten. Stumm blieben wir den Tag, den andern nod. Du harte Erde haft did) nicht gefpalten ?

Uls wir den vierten Tag erreidjt, da frog Mein Gaddo yu mix hin mit leiſem Flehen: Was hilfft du nidt? Wein Vater, htlf mir dod!

Da ftarb er, und fo hab’ ich fte gefehen Wie Du mich fiehft am fiinften, fedhsten Tag Jetzt den, jest den Hinfinfen und vergehen.

Schon blind tappt’ id) dahin wo jeder lag,

Rief fie drei Tage fang feit fie geftorben, Bis Hunger that was Kummer nicht vermag.

Einen Unſchuldigen Entjebliches leiden zu fehen ift empörend, und der Riinftler, der foldjes als in der Ordnung darſtellte, ver- fiele der Haplidfeit. Dante Hat Ugolino’s Geſchick durch ſeine

Carriere, Wefihetit, I. 3. Aufl. 11

162 I. Die Idee dee Schönen.

Schuld motivirt, aber es fommt dod) mit erfdiitternder Furdt- barfeit iiber ifm; und der Dichter lift ihn duldend die urſprüng— liche Größe feiner Seele zeigen; er verſchließt anfangs den Schmerz in fid) um die Kinder nidjt gu ängſtigen, erft als fie todt find gibt er feinen Sammer fund, indem er ifre Namen ruft, und er- blindet wanft und taftet er nod) nad) den Leichen der geliebten Sihne hin. Oa brit der Hunger aud) ihm das Herz. So weif der wahre Didter durd) das Sdhaudergemiilde felbft nicht unjern Abſcheu, fondern unjere Theilnahme fiir den Ungliidlidhen yu erregen. Aber voll Ekel und Widerwillen würden wir uns ab- wenden, wenn der aberwibige Scharffinn jener Ausleger recht hitte, weldje die Worte: ,, dann vermodjte der Hunger mehr al’ der Schmerz” fo misdeuten als ob der Greis durd) Hunger ge- trieben wiirde die Leiden der eigenen Kinder anjufrefjen. Das wire ſcheußlich. Auch auf Kaulbach's Zerſtörung Serujalems halten die hohläugigen Weiber im Hintergrunde doch nur ein Kind im Arm und ein Meſſer bereit. Wie Dante ſo mußte auch Shakeſpeare durch übertreibende Erklärer das Häßliche in eine ergreifende Stelle hineintragen laſſen, ich meine in jene Worte Macduff's: „Er hat keine Kinder!“ als er erfährt daß ihm Weib und Rind auf Macbeth's Befehl ermordet find. Wenn Macduff hier im erften Schmerz fic) darüber betriibte dak der König feine Rinder habe, alfo aud) nicht durd) deren Erwürgung beftraft werden finne, wenn er beflagte daß es fiir ihn unmöglich fet fid durd) den Mord der Unſchuld an dem Miſſethäter gu rächen, fo wiire er völlig unwürdig der Vollftreder der rictenden Geredtig- feit Gottes an Macbeth zu werden. Vielmehr nur der Gedante, dak Macbeth felber feine Kinder habe, madt es ihm erklärlich wie derjelbe den Befehl Kinder zu tidten je habe geben können.

Ferner wird das Widerwiirtige des Häßlichen aufgehoben wenn der Künſtler es gwar in den Formen beftehen (aft, den Zügen aber einen geijtig edeln Ausdruck leiht, wie die feine Schiirfe des Verftandes in der Aeſopsbüſte, oder die Glaubensfreudigfeit des Rafael'ſchen Krüppels auf der Tapete welche die Heilung ded Lahmen durch Sohannes und Petrus darftellt. Go mug and) der Dichter die Menſchheit retten im Verbreder, und ein Shakefpeare {aft die Lady Macbeth den Mord an König Duncan nidt voll- jichen, weil der Schlafende ihrem Vater gleidht. Kaulbach's Hubert trägt die Riige welche Shakeſpeare vorgefdrieben, eines Menjden ,,geseidnet von den Händen der Natur und auserfehen

3. Das Häßliche. 163

gu einer That der Schmach“, deffen Anblid eben den Wuftrag gum BVollziehen der böſen That hervorruft; aber wie ihm Arthur flehend gegeniiberfteht, ein riihrendes Bild findlicher Unfduld, da {apt aud) Hubert die Hand mit dem Gliiheijen finfen und wendet erſchüttert fid) ab.

Will aber der Künſtler ein Häßliches aud) ohne folde Um- bilbung hinſtellen, dann muß es nicht filr fich allein ftehen, fon- dern innerhalb cines Gangen, deffen Compofition den Stempel der Schönheit trigt, dem Edeln und Reinen zum Contraft und zur Folie dienen, ſodaß es fiir fic) nur vermag diefes als das Wabhre und Redjte hervorzuheben, jowie das Böſe aud) wider Willen der fittliden Weltordnung dienen muß und ein Werkzeug iſt in einer hoiheren Hand. Der Verrath des Judas, fiir ihn ein Verbreden, wird durd) die Vorfehung zum Heile der Menſchheit gewandt, in- dem er den Opfertod Chrifti veranlaft, und an diefem die Liebe fid) entziindet hat, durch diefen die Erlöſung vermittclt wird. Go malen die altdentiden Meifter gern Chrifto gegenüber die Wider: ſacher in abſchreckender Gemeinheit, um durch den Gegenſatz die ideale Ruhe und Milde, den Seelenadel des Heilandes um fo flarer hervortreten ju laſſen, fowie auf dunflem Grund die helle Geftalt um fo leudjtender fid) abhebt. Das Häßliche mag dabei in ſeiner Geftalt die Gejege der Symmetrie verlegen, als Glied eines Ganzen muß eS fic) ihnen dennod) unterordnen. Ueber Dante’s Hille fteigt der Berg der Reinigung in den Aether des Paradieſes empor, und die Bilder himmliſcher Verklärung fdauen uné um ſo herrlicher an, wenn wir die Nacht des Schreckens durchwandert haben. Uebrigens gilt aud) bier ein Wort von Cornelius: der Teufel ijt ein ftarfes Gewürz, mit weldjem man ſparſam fein mug.

Sd) erinnere dabet an die treffliche Schilderung welde Roſen— franz von dem Gemiilde von Gros entworfen hat: Napoleon unter den Beftfranten von Saffa. Wie gräßlich find diefe Kranken mit ihren Beulen, mit ihrer lividen Farbe, mit den graubliulicden und violetten Zinten der Haut, mit dem troden brennenden Blide, mit den vergerrten Zügen der Vergzweiflung! Aber es find Manner, Krieger, Franjofen, es find Soldaten Bonaparte’s. Er, ihre Geele, erſcheint unter ihnen, ſcheuet nicht die Gefahr des tiidijden ſcheußlichſten Todes; er theilt fie wie er in der Schlacht mit ihnen den Rugelregen getheilt hat. Diefer Gedanfe entziidt die Braven. Die matten dumpfen sie richten fic) empor; die

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164 I. Die Adee des Schinen.

halberlöſchenden oder fieberhaft funfelnden Blicke wenden fid) zu ihm, die ſchlaffen Arme ftrecen ſich begeiftert nad) ihm aus, etn ſeliges Lächeln umfpielt nach diefem Genuß die Lippen der Ster- benden, und mitten unter diejen Granengeftalten ſteht der Riefenmenfd) Bonaparte voll Mitgefühl aufrecht und legt jeine Hand anf die Beule eines Rranfen, der halbnact fic) vor ihm erhoben hat. Und wie ſchön hat Gros gemalt dak man aus den Gewölbbogen des Lazareths in das Freie blidt, da man anf Stadt und Berg und Himmel die von der Schwüle des Kranfen- {agers entlaftende Ausſicht hat. Aehnlid) wie Shafefpeare am Slug des Hamlet, als die vergifteten Leiden cines in Fäulniß gerathenen Geſchlechts gefriimmt umberliegen, den fraftiqen Trom— petenſchall erfdjmettern und den jugendheitern reinen Fortinbras alg Beginn eines neuen Lebens anftreten lift.

Bei dem Dämoniſchen endlich, bet der Erſcheinung von guten Geiftern wie von Geſpenſtern, gilt das Geſetz dak der Riinftler fie darftelle als Gebilde der PBhantafie, weldje die inneren Re- gungen in ihnen äußerlich vorftellt und gleichjam verfirpert; wenn wir an fie glanben follen, muß er uns in die Stimmung deſſen verjegen der fie fieht, und muß mit deffen Augen fie aud) uns erblicen {affen. Der Volksglaube läßt Gefpenfter nur im Grauen der Nacht, nur in der unheimlichen Dämmerung erfdeinen, wo die flaren Formen der Wirflichfeit verſchwunden find und die ver- ſchwimmenden undeutlichen GSeftalten der Dinge dic Phantafie be- reitS zu weiterer Ausbildung erregen, die dann ſogleich eine ſchreck— afte oder fragenartige wird, wenn das Gefühl ein ängſtliches und von Schuld gequiltes ift. Hamlet’s Gemüth ift {con von unheilſchwerer Ahnung erfiillt, und im Schauer der November- nadt fieht er nun des Vaters Geift, der mit der anbredenden Morgenrithe verfdwindet. Macbeth hat die Mirder gegen Banquo gedungen, da gedenft er felbft des Abwejenden und beruft die Erſcheinung; ein Grauenbild aus der Tiefe feines böſen Gewiffens fteigt fie empor, und ſchüttelt die blutigen Locken gegen ihn; feiner der andern fieht fie, nur ihm, dem Schuldbewuften, wird fie jum Gericht. Das Geſpenſt ijt aljo die Erſcheinung der eigenen innern Unrube, de8 Dämoniſchen und Unheimlicden in der Bruft deffen ber es fieht, e8 ijt das Bild der innern Entzweiung, des innern Schauders, das die Phantafie entwirft und nun das leibliche Auge auger fid) zu ſehen glaubt. Den Misgsgriff welden Voltaire ge- than, der den Geiſt dea Ninus bet hellem Tag auf offnem Marfte

3. Das Hapliche. 165

ganz ohne Vorbereitung in ſeiner Semiramis erſcheinen ließ, hat Leſſing fo meiſterlich beleuchtet, dak id) die Stelle ans der Dra- maturgie nod) hier anfiigen will, auf die ic) oben ſchon hinwies; wir brauchen dann bet Betradjtung der dramatijden Poefie nit darauf zurückzukommen. „Wir glauben feine Gejpenfter mehr? Wer fagt das? Oder vielmehr was heißt das? Heißt es fo viel: Wir find endlic) in unjern Cinfidhten fo weit gefommen daß wir die Unmöglichkeit davon erweijen finnen; gewiſſe unumſtößliche Wabhrheiten, die mit dem Glauben an Gefpenfter in Widerjprud ftehen, find jo allgemein befannt geworden, find aud) dem ge- meinjten Wann immer und beftindig fo gegenwirtig, dak ihm alle’ was damit ftreitet nothwendig lächerlich und abgeſchmackt vorfommen mug? Das fann es nicht Heifen. Wir glauben jet feine Gejpenjter fann aljo nur fo vicl heifer: in diejer Gadde, iiber die fic) fajt ebenfo viel dafiir als dawider ſagen läßt, die nicht entſchieden ijt und nicht entſchieden werden fann, hat die gegenwirtig herrjdjende Art gu denfen den Griinden dawider das Uebergewidht gegeben; cinige wenige haben dieje Art gu denen und viele wollen fie zu haben ſcheinen; dieje madjen dad Geſchrei und geben den Ton; der größte Haufen ſchweigt und verhilt fid gleidjgiiftig und denft bald fo bald anders, Hirt beim Hellen Lage mit Vergniigen über die Geſpenſter fpotten, und bet dunfler Nacht mit Graufen davon erziflen. Der Game fic gu glauben liegt in uns allen, und in denen am häufigſten fiir die der Drama— tifer vornehmlich dichtet. Es kömmt mur auf feine Kunſt an, diejen Samen jum Keimen zu bringen, nur auf gewiffe Hand- qrijfe den Griinden fiir ihre Wirklichkeit in der Geſchwindigkeit den Schwung ju geben.

„Shakeſpeare's Gefpenft im Hamlet fommt wirklich) anus jener Welt; fo diinft uns. Denn ed kommt ju der feierlidjen Stunde, in dev ſchaudernden Stille der Nadjt, in der vollen Begleitung aller dev diiftern geheimnifvollen Nebenbegriffe, wann und mit weldjen wir, von der Amme an, Gefpenfter gu erwarten und ju denfen gewohnt find. Aber Voltaire's Geift ijt aud) nicht einmal “zum Popange gut Kinder damit ju ſchrecken; es ift der blofe verfleidete Komödiant, der nidjts hat, nichts fagt, nichts thut was es wahrſcheinlich machen finnte er wiire da8 wofiir er fic ausgibt. Wile Umftinde vielmehr, unter weldjen er erſcheint, ſtören den Betrug und verrathen das Geſchöpf eines falten Didhters, der uns gern ſchrecken midjte ohne daß er wei wie er es an—

166 I. Die Idee des Sdhinen.

fangen foll. Man überlege auch nur dieſes Cinjige: am Hellen Tage, mitten in der Verfammlung der Stiinde des Reichs, von cinem Donnerſchlag angefiindigt, tritt das Voltaire'ſche Gejpenft aus feiner Gruft hervor. Wo hat Voltaire jemals gehört daf Gejpenfter fo dreift find? Welche alte Frau hätte ihm nicht jagen können daß fie das Sonnenlicht fdenen und große Gefellfdaften gar nicht gern bejuden? Dod) Voltaire wufte zuverläſſig dies aud, aber er war ju furdtjam, gu efel diefe gemeinen Umftinde zu nugen: er wollte und einen Geift zeigen, aber es follte cin Seift von einer edleren Art fein, und durd) diefe edlere Art ver- barb er alles. Dads Gefpenft das fic) Dinge herausnimmt die wider alles Herfommen, wider alle gute Gitte unter den Gejpen- ftern find, diinft mic fein rechtes Gefpenft gu fein; und alles was die Illuſion hier nicht befirdert, ftirt die Illuſion. Bei Voltaire erfdeint das Gefpenft der großen Mtenge, bei Shafefpeare fieht es Giner allein. Alle unjere Beobadtung geht auf ihn, und je mehr Merkmale eines von Sdhauder und Schrecken jerviitteten Gemiiths wir an ihin entdeden, deſto bereitwilliger find wir die Erſcheinung, welde dieſe Zerviittung in ihm verurjadt, fiir eben das yu halten wofiir er fie hilt. Das Geſpenſt wirft auf uns mehr durd) ihn als durch fic) febft. Der Eindruck den es anf ihn madt geht auf uns iiber, und die Wirkung ift zu angen: ſcheinlich und zu ſtark als daß wir an der anferordentliden Ur— ſache zweifeln ſollten.“

Ueber Kaulbach's Hexen in der Shakeſpeare-Galerie habe ich in den Erläuterungen zu dieſer bereits geſchrieben: Die drei Schick— ſalſchweſtern ſchweben dem Helden entgegen in einem Flammen— wirbel von Irrlichtern über einem Runenſtein; ſie ſind häßlich und ſchrecklich wie das Böſe, aber in den ſtiliſtiſchen Formen der Kunſt, und namentlich die mittlere, welche die Krone emporhält, zeigt eine furchtbare Grazie; ihr ſturmbewegt emporgeſträubtes Haar weht wie ein Flammenbüſchel ums Haupt und erhöht ihren großartig phantaſtiſchen Ausdruck; und wahrlich wenn das Böſe nicht auch ſeine dämoniſchen Zauber und ſeine Reize hätte, es würde niemand verlockt werden für daſſelbe den Frieden und die Freiheit der Seele preiszugeben.

Die Natur hat der giftigen Schlange den bunten Farbenſchiller und der Tollkirſche jenen dunkeln Glanz verliehen der ihr den Namen der Schönheit, Belladonna, erwarb; das Sirenenlied hat ſeinen hold einſchmeichelnden Klang. In der Freiheit und Gott—

3. Das Hapliche. 167

ähnlichkeit des Menfchen liegt felber die Verlodung daß er fein will wie Gott und fid) als Mittelpunlt und wed aller Dinge jegt, wodurd er gerade der Selbftjudt und dem Egoismus der Sünde verfallt und das göttliche Chenbild unkenntlich macht, oder dag er ftatt feine geſchöpfliche Freiheit mit dem Sittengejes, dem Ausflug der Freiheit des Schöpfers, einftimmig zu maden, im Geſetz nur das Belicben des Willens fieht und darum gum Wabhl- jprud) nimmt: Erlaubt ift was gefällt. Der Riinftler fann und joll dieſen Reig ded Böſen fchildern, und wird gerade dadurd) der wahren Schinheit huldigen, wenn er das Trügeriſche diejes Reizes aufweiſt und auf die Codtengebeine Hinter den Sirenen den Blick lenft; dagegen verfillt er felber der Häßlichkeit, wenn er jene falſche Selbftherrlidjfeit des Geiſtes al8 das Rechte feiert, alg ob die Moral nur Sade der Philifter jet, der Geniale aber mit allem ein Spiel treiben und iiber das Gefes fic) hinwegfesen diirfe, das nur die Beſchränktheit des fpieRbiirgerliden Sinnes fiir cine Schranfe nimmt. In diejem Fall befteht die Häßlichkeit im Ausbleiben der poetifdjen Geredtigfeit, die nichts anderes ift als die fittlidje, in deren Sieg unfer Gewiſſen bet der Anſchauung des Schönen befriedigt fein will, Wenn aber in Scribe’s Adrienne Yecouvrenr die Zuckungen eines Todes im Wahnfinn nidt etwa alg Gehrecensgemilde vom Untergang ded Böſen, fondern als die Vergiftung ciner unſchuldigen Schauſpielerin vorgefiihrt werden, um den Nerven eines Hlafirten Publifums eines neuen Reiz ju gewihren, wenn auf dieſe Weiſe der ernfte Schauer des Todes und das furdtbare Unglück ju etnem frivolen Spiel citler Schau— ftellung gemadt wird, und wir dann über die nebenbublerifce Giftmijderin gar nichts weiter erfahren, als ob es fid) von felber verſtände daß fie ruhig weiter lebt, ift fie ja dod) eine vornehme Dame, und ihr Opfer nur ein Mädchen aus dem Volk, dann emport fid) da8 beffere Gefiihl über dieſe Verirrung ins Häßliche, die fid) fiir Schönheit auszugeben lügneriſch fred) genug ift. Man fann von Byron’s dichteriſcher Begabung fo grok denken wie Goethe, und es bewundern wie er ftets aus dem Vollen ſchöpft und da wo er den Gang der Gefdidte, die Darftellung der Sache mit feinen Cinfillen und fubjectiven Ergüſſen unter- bridjt, etnen fo glingenden Reidjthum von neuen Gedanfen, von innigen oder ſchwungvollen Empfindungen, von ſprudelnden Wigen zur Hand hat, dag man ihm mit Behagen und Ergigen folgt, aber man wird dennoch ſchwerlich leugnen finnen dag ſolche Auf—

168 I. Die Idee des Schinen.

löſung der geſchloſſenen Runftform ein Reiden des Verfalls ift, und daß der Didhter der entarteten Zeit- und Geſchmacksrichtung ein Herold war, wenn er dev Seele feiner Helden den dunfeln Hintergrund eines Verbrechens lieh um fie gerade dadurch be- deutjam zu madden, und es den Anjdein gewann als ob das fiinjtlerijd) Angiehende nur aus den Ruinen der Herzen hervor- blithe. Byron hat viel Vortrefflides geſchaffen und viel Ver— kehrtes mit jeinem Tod fiir die Freiheit von Hellas geſühnt; aber dennoch ijt bei ihm die fo ergreifende und wahre Klage iiber die Rerriffenheit und Zerfallenheit unſeres Geſchlechts zu felten ein Sehnſuchtslaut nad) Verſöhnung; ftatt einer Mahnung zur Cine fehr in Mott um in ihm das eigene wahre Weſen und den Frieden der Liebe gu finden vielmehr eine Anflage gegen den Schöpfer alg ob diefer dem Menſchen das Paradies geraubt, weil der Menſch fein Sflave, fondern fret und felbftindig fein wollte, alg ob Gott nur den demiithig Sdwaden begnade und den Starfen neidijd mit Elend und Friedlofigfeit ſchlage. Cine ſolche Weltanſicht fommt dann dazu mit der erriffenheit gu fofettiren, wie Byron’s Nachfolger oder „Nachſündiger“ gethan, um ein Wort aus Heine’s Reifebildern zu wiederholen. Wud) Shafejpeare fiihrt uns in die Abgriinde des Yebens, und der Angſt-, Noth- und Webheruf der Creatur erſchallt in feinem Lear nod) weit ge- waltiger, aber feine Weltgeridjtstragidic entreift fid) in erhabenem Schwung der Haflichfeit, indem in der Siinde des Menſchen der Ouell ſeines Elends und in dem Sturm das reinigende Wetter und in der Liebe der rettende Engel erfdeint.

4, Das werdende Schöne im Proceß der Entwidelung.

In der poetiſchen Geredtigfcit alfo fehen wir die rechte Ueber— windung des Hafliden in der Kunſt. Der Kampf gegen die Sdee wird die Bedingung ihres Triumphes, was ihr widerftreitet muß fie im Untergang verherrliden, weil nur in ifr das Leben ift. Go gewinnen wir die Anfdhauung ciner werdenden Schönheit, die nidjt in unmittelbarer Harmonie vollendet ijt, ſondern erjt durd die Auflöſung der Diffonanjzen fic) entbindet. Hier wird dem Häßlichen fein Gift entzogen, indem es fic) in jeiner Verfehrtheit

4, Das Shine im Entwidelungsprocef: a. Das Tragiſche. 169

jur Anjdjauung bringt und lächerlich madt, hier mug aud die einſeitige Größe, die fic) am die Stelle des Ganjzen feben wollte, durd) das Opfer ihrer Selbſtſucht befennen wie nur im Cinflang mit dem Ganjen das Heil gu finden ijt, hier rinnt aud) unter feltjamen und baroden Formen ein Strom innigiten Gefühls, und liegt in rauher Stachelfdjale der fife Wabhrheitsfern, und bridt aus Dornen die Roſenblüte hervor. Dieſe werdende Schinheit, in welder der Gegenfag und Widerfpruc als folder auftritt, aber um iibertounden ju werden, die Schinheit die fic) im Verlauf diejer Entwidelung erzeugt, die Sdce im Proceffe der Selbftver- wirflidung fiegreic) iiber widerftrebende Elemente, dies ift der ge- meinjame Grundbegriff fiir die Formen des Tragifden, Komijden und Humoriftijden. Dabei miiffen wir fortwahrend cin Gemein- james and) darin fefthalten daß wir wie bei der Betradjtung des Erhabenen innerhalb des Schinen bleiben und nur cine Modifi— cation, nur eine cigenthiimlide Offenbarungsweiſe deffelben näher bezeichnen. Darum ift aud) das Shine nicht blos das Rejultat oder erreidjte Biel, jondern der ganje Verlauf, der Weg des Wer- dens, und wie aud) die Gegenſätze meinen fiir fic) allein dajuftehen, eingeordnet in das Ganje ergänzen fie cinander zu der Harmonic, die im Ganjen Liegt, und deffen Bahu, wie fie and hin und her irren und ftreben mögen, dod) gwedvoll und wohlgefällig erfdeint. Die Idee ift der Mannidfaltigfeit der Dinge immanent, und wie dieſe in ihrer Freiheit aud) auseinandergehen mag, der Abſchluß dev CEntwidelung zeigt im Sieg der Sdee ihre durdhgehende Herr- ſchaft. In diejen Sätzen glaube ich den Sohliiffel fiir das BVer- jtindnig des Tragifden, Komiſchen und Humoriftifden und den Beftimmungsgrund der Stellung diejer Begriffe im Syfteme der Aefthetif gefunden ju haben. Das Schine mufte nad feiner eigenen Wefenheit betrachtet jein, ehe fein Gegenjak, das Häßliche, ridjtig verftanden werden fonnte; und diefer Gegenjag als folder mufte erdrtert werden, che die Entwickelung dazu fortgehen fonnte das Sdine aud als ein Werdendes in dev Ueberwindung des Gegenjakes oder jeder Cinfeitigfcit, in dem Fluffe der Selbftver- wirflidung darzuſtellen und diefen Proceß felber als cin Schönes aufzufaffer.

a. Das Tragifde.

Das Tragifde (apt fic) wie das Komiſche darum nicht mit jwet Worten definiren oder als Begriff feftitellen, weil es wefent-

170 I. Die Idee des Schönen.

lid) ftets cin Procef ijt, ftets den Verlauf einer Entwidelung dar- ftellt, und darum nur durd die Sdhilderung derfelben und durd die Zujammenfaffung aller Momente ridtig beftimmt werden fann. Sieht man im Tragifden nur auf Leid und Untergang, fo muß man ed rathfelhaft finden wie wir dennod) ein Wobhlgefallen daran haben können, und fommt dann ju Erklärungen wie diefe daf wir in der ſchmerzlichen Theilnahme des Mitleids cine geheime Freude dariiber empfinden follen doc) nicht felbft der unglückliche Gegenjtand zu fein; das frembde Ungemad) foll uns jum Bewußt— jein unferes eigenen glücklicheren Zuftandes bringen. Die befannten Lucreziſchen Verſe deuten ſchon daranf hin:

Suave mari magno turbantibus aequora ventis

E terra magnum alterius spectare laborem;

Non quia vexari quenquam est iucunda voluptas,

Sed quibus ipse malis careas quia cernere suave est. (Sif iſt's Anderer Noth beim tobenden Kampfe der Winde Auf wild wogendem Meer von des Ufers Hohe gu ſchauen; Nicht als könnte man fic) an Drangfal Andrer ergötzen, Dod ſüß ift es gu fehu von welcherlei Ucbel wir frei find.)

Warum aber diefe Erklärung nidt befriedigen fann, liegt nahe und ift bereits von Zeifing ridtig angegeben worden: fie madt den äſthetiſchen Genuß am Tragiſchen geradezu zu einem egoifti- ſchen, unfittlidjen Wohlgefühl, während er in der That derjenige unter den äſthetiſchen Genüſſen ijt bet welchem das moralifde Gefühl am ſtärkſten und lebendigften mitwirft. Sch werde eigen wie das Tragifde im Gegentheil die Gefahr des Gliices und der Größe in der Verlodung zur Selbftiiberhebung und dadurd) jum Untergang enthiillt; die phariſäiſche Gefinnung: ,Herr, id) danke dir dak ich nicht bin wie diefer Einer“, fann darum die Freude am Tragiſchen nicht bezeichnen, weil fie ſelber fdjon der Keim des Verhingniffes ijt das itber fie hereinbridt.

Es erſcheint vor allem nothwendig zu beftimmen ob wir an jedem Leiden die Freude des Tragifden haben. Offenbar ift es nidt der Fall. Leid und Untergang find vorhanden, aber folde die uns zugleich über Schmerz und Tod erheben. Zu diefer Er- kenntniß bilden wir einige Andeutungen Sdhiller’s aus. Daf der Menſch leidet, der dod) nicht zum Web, fondern zur Glückſeligkeit beftimmt ijt, fdeint cine Bwedwidrigfeit in der Natur gu fein, und madt uns Schmerz. Aber wenn dieje Leiden dazu dienen

4, Das Sdhine im Entwidelungsprocef: a. Das Tragiſche. 171

die ſittliche Größe und den Seelenwerth des Menſchen zu enthiillen und zur Bethätigung ju bringen, dann erjdetnen fie unter einem höheren Geſichtspunkte wieder zweckmäßig, und wir empfinden Freude iiber den Sieg des Sittengefeses, wenn der Frevler ver- nidjtet wird der es bredjen wollte, oder wenn ein edler Menſch ihm in Noth und Tod die Treue bewahrt. Wenn das Gericht über Ridard LIL. fommt, und er, der mur er felbft allein fein wollte, nun feiner Ginjamfeit furchtbar inne wird, weil er durd) jeine Licblofigfeit fic) der Liebe der Menſchen beranbt hat, und einjehen mug dag er fic) felber in Wahrheit nicht liebt, ſondern haft, und das Ueble das er andern bereitete, fic) ſelbſt zuzog, indem er den Frieden feiner Geele jerjtirte, dann waltet in dem Mitleid mit ihm jugleid) die Freude in der Anerfennung daf die Herrſchaft der fittliden Weltordnung unzerbrüchlich ijt; bliebe der Tyrann fiegreid) und glidlid), fo wiirden wir entſetzt zurück— ſchaudern und an der ewigen Geredjtigfeit vergweifeln, und weil fie fic) in feinem Untergang bezeugt, wird uns fein Leid jur Befriedigung. Wenn Hiion und Amanda, an den Marterpfahl gebunden, Lieber den Feuertod leiden als durd) Untrene einen Thron erwerben wollen, fo erheben wir uns mit ihnen iiber die leibliche Noth gu der Bejeligung weldje die echte Liebe, welche die Tugend in fic) trägt, und ſchlügen aud) die Flammen verzehrend zuſammen iiber ihren Häuptern, fie wiirden ihnen nur jum Feuer der Läuterung, zum Lichtglanz der Verklärung. Selbſt in Des- demona’s Leid haben wir den fiigen Troſt dag die Innigkeit und Schönheit ihrer Dulderjeele ohne die Schläge des Schickſals nie fic) fo wundervoll entfaltet hitte. Und Antigone’s Todesgang ijt uns erhebend, weil fie Heiliges heilig gehalten und das gitt- fiche Recht über menſchliche Satzung geftellt.

Nur der Widerftand den wir der Anfenwelt und unfern eige- nen finnliden Gefiihlen entgegenftellen macht das frete Princip in uns fenntlid); der Sturm mug unfere finnlide Natur aufregen, wenn die Gemiithsfreiheit in ihrer Erhabenheit offenbar werden ſoll. Wir miiffen das Leid mitgefiihlt haben, es mug zum ener- giſchen Ausdruck gefommen und nidjt durd) eine falſche Decenz juriidgehalten jein, wenn wir „des Geiftes tapfere Gegenwehr“ bewundern follen. Wir miiffen glauben dak der Schmerz uner- träglich ift, und die gefaßte Seele erträgt ihn dod); und nun fann ihr feine Gewalt der Erde mehr etwas anthun, nun ift fie gefeit;

172 I. Die Idee des Shonen.

Shafefpeare lift jeine Conſtanze das Weh preijen das fie frei und grog gemadt:

Iſt dod) der Schmerz ein Weſen ſtolzer Art Und madt die Seele dte er fiillt unbengfam.

So fordert aud) Schiller fiir das Pathetijde die Darjtellung der leidenden Natur und der moralijden Selbjtindigkeit im Leiden. Wir bediirfen eine lebhafte Vorjtellung des Leiden’ um den mit- leidenden Wffect in der gehorigen Stärke zu erregen, und jugleid cine Vorftellung des Widerftandes gegen das Leiden um die innere Gemiithsfreiheit in das Bewußtſein zu rufen; nur durd das Erſte wird der Gegenftand pathetifd, durch das Zweite wird er zugleich erhaben. Nicht weil wir uns durd unfer guted Geſchick dem Yeiden enthoben jehen, fondern weil wir unfer moralifdes Selbjt der Cauſalität diejes Leidens, nämlich feinem Cinflug auf unfere Willensbeftimmung entzogen fiihlen, erhebt es unſer Gemiith. Dak uns aber das Opfer des Lebens gefallt, wenn es gebradht wird um ideale Güter ju erretten oder gu erringen, da wir den Märtyrer preifen dev feine Ueberzeugung nidjt verlengnet und lieber alle Qualen duldet, und daß wir umgefehrt die Seele ver- ächtlich und gemein finden dic das Gute und Wabhre dem Bor- theil nachſetzt und das finnlide Dajein durd) feiges Entſagen der Viebe, der Wahrheit fic) erhalt, dad beweift den Adel der Menjdennatur, der vielfad) vom CErdenftaube verhiillt und in fleinliche Rückſichten verftrict gerade in der Freude am Tragifden ſiegreich durchbricht.

Von einem zweiten Geſichtspunkte aus, von dem nämlich daß wir mit dem Tragiſchen innerhalb des Schönen ſtehen, erklärt eine andere Auffaſſung das Tragiſche danach daß gerade das Große und Herrliche zu Grunde gehe und dem Verhängniß er— liege. So klagt Schiller's Thekla im Schmerz um den gefallenen Geliebten:

Da kommt das Schickſal roh und falt

Faßt es des Freundes zärtliche Geftalt

Und wirft thn unter den Hufſchlag ſeiner Pferde Das iſt das Loos des Schönen auf der Erde!

Das allgemeine Loos des Endlichen, die Vergänglichkeit macht uns im gewöhnlichen Verlauf der Dinge, weil wir deſſen gewohnt ſind, wenig Eindruck, wenn aber auch das Edle und Anmuthige

4. Das Shine im Entwickelungsproceß: a. Das Tragijde. 173

von ifr ergriffen wird, fo bliden wir mit Wehmuth anf fein Scheiden, wenn es aud) nocd in demfelben unſer äſthetiſches Ge- fühl befriedigt. So fehen wir den Menſchen gleid) der Blume des Feldes, die am Morgen aufblüht, am Abend verwelft, nach dem Spruch der Bibel, oder nach den Verjen Homer's:

Gleichwie der Blatter Gefdlecht fo find die Gefchledjter der Menſchen; Blatter ergießt zur Erde der Sturm jetst, andere zeitigt

Wieder der griinende Wald, wann new aufgehet der Frühling:

Aljo der Menſchen Geſchlecht, dies jeitiget, jenes vergehet.

Darum erfdallt in der Alten Welt das Klagelied um Adonis, dem nod) bei uns Schiller's Nänie fich angejchloffen:

Siehe da weinen die Gitter, es weinen die Göttinnen alle, Daf das Schöne vergeht, daf das Vollfommene ftirbt.

Auch ein Klaglied yu fein im Mund der Geliebten ift herrlich, Denn das Gemeine geht klanglos jum Orfus hinab.

Cin Epigramm Claudian’s gibt zugleich die Erflirung welche im Alterthume viel verbreitet war. Es lautet:

Yang ju leben verfagt das Gefeb der Parje dem Schönen, Plötzlich verfinfet und ftiixzt Großes und Herrliches hin.

Die liebreigend und Hold die Geftalt von Benus erhalten Sie liegt Hier nun im Grab: Hat fie dem Neid dod) verdient.

Mit Neid bezeichnet der Grieche ein Verneinendes im Geijte der Gitter felbjt gegeniiber den Menſchen; es ift als ob die Götter fiirdteten dag ifnen cin Sterblicher es gleich thue, oder, wie Homer finnvoller andeutet, dah die Menſchen in ungetriibtem Glück vergeffen wiirden zu den Göttern aufzubliden und die Götter dadurd) der Chre und des Opfers ermangeln wiirden. Bei Herodot und ihm gleichgeitigen Lyrifern wird aber ganz beſtimmt der Sak anfgeftelit daß das Sdicjal das Groge und Shine ſtürze und erniedrige, daß ein unheilvolles Verhingnif dem Glück— lichen nachſtelle, weil die Gottheit neidifd) fei. Darum zerſplittert der Blig die höchſten Bäume und wirft fie daniéder, darum zer— fdjmettert er die emporragenden Thiirme, die ihn auf fic) herab- ziehen. Da ijt nad) der mildeften Auslegung das Schickſal die Macht des Ansgleidens, eigentlid) aber wird mit der Misgunſt das Böſe in die Natur der Gitter aufgenommen; fie Hiren auf Verwalter der fittliden Ordnung zu fein, und die Häßlichkeit fteigt auf den Thron der Welt. Dieſe Anſchauung darf dem Tragijden

174 I, Die Idee bes Schinen.

nidt zu Grunde fliegen, wenn es ein Schönes fein foll. Höchſt bewundernswerth hat fie Shafefpeare einmal innerhalb einer Tragidie ausgejproden. Glofter jagt im Lear:

Was Fliegen Den böſen Buben find, find wir den Géttern, Sie tidten uns zum Sader}.

Aber der Dichter begriindet darin Glofter’s Schuld dak der das Sittengeſetz verfennt, daß er finnlicher Luſt ergeben die Ehe bricht und den Baftard erzeugt, der ihn verderben wird, dak er in geiftiger Verblendung den Menſchen gu einem Slaven der Natur madt, und dafiir ihn die Blendung des leibliden Anges trifft, damit er endlich feines Zuſtandes inne werde; der edle Sohn, den er verftogen hatte, leitet nun die Schritte des Vaters, wird aber zugleich fein Seelenfiihrer, bringt ihn zur Ergebung in den Willen der Vorjehung, zur Einſicht: Reif fein ift alles.

Der älteſte Gedanke eines Philofophen der uns im urfpriing- lichen Ausdruck ſeines Urhebers iiberliefert worden, ift das Anayi- mandriſche: Woher das was ijt ſeinen Urjprung hat, in daffelbe hat e8 aud) feinen Untergang nad) der Billigfeit, indem es einan- der Bue und Strafe gibt fiir die Ungeredhtigfeit nad) der Ord— nung der Beit. Damit wird ſchon eine Schuld in das Endliche gelegt. Die größten Denfer des Alterthums, Platon und Ariſto— teles erfliiren ganz beftimmt dag der Reid auger dem göttlichen Chor fteht, dak Gott nicht neidiſch, fondern gut und allmittheil- jam fei, und damit ferne von Misgunſt. Oem friihen Tod des Edeln und Herrliden aber begegnete Goethe in der Achilleis mit dem finnigen Troſte: ) ;

Wer jung die Erde verlafjen Wandelt aud) ewig jung im Reiche Perfephoneia’s ; Ewig jung erfdjeint er den Küuftigen, ewig erfehnet.

Und bei der VBetradtung von Windelmann’s plötzlichem Ende er- ‘innerte er daran: ,,Wir diirfen ihn wol glücklich preifen daß er von dem Gipfel des menſchlichen Dajeins zu den Seligen entpor- geftiegen, dak ein ſchneller Schmerz ifn von det Lebendigen hin- weggenommen. Die Gebredjen des Alters, die Abnahme der Geiftestrifte hat er nidt empfunden. Gr hat als ein Mann ge- lebt und ijt als ein vollftindiger Dtann von hinnen gegangen. Mun genießt er im Andenfen der Nachwelt den Bortheil als ein

4. Das Schöne im Entwidelungsprocef: a. Das Tragifde. 175

ewig Tüchtiger und Kräftiger gu erſcheinen. Denn in der Geftalt wie der Menſch die Erde verlift, wandelt er unter den Schatten, und fo bleibt uns Achill als ein ewig ftrebender Siingling gegen- wirtig. Daß er friihe hinwegfdied fommt aud uns jugute. Bon feinem Grabe ftirft aud) uns der Anhaud) feiner Kraft, und erregt in und den (Cebhafteften Drang das was er begonnen mit Giebe fort und immer fortzujegen. Go wird er feinem BVolfe und der Menſchheit in dem was er gewirft und gewollt jtets Leben.“

Die grofen Dramatifer der Grieden Hatten den Angriff der Perjer und den Sieg des Baterlandes erlebt, ja Aeſchylos ifn miterfodten. Hellas erfannte darin den Sturz des Uebermuthes und die hülfreiche Gnade welche die Gitter der tiichtigen freien Kraft gewihren. Die Perjer Hatten den Marmor gum Sieges- denfmal mitgefiifrt, in Phidias’ Werkſtatt ward ein Bild der Nemefis daraus, der gittliden Gerechtigfeit als der Macht des Makes, die der menſchlichen Vermeffenheit entgegentritt und die ewige Ordnung aufredt erhilt. Schon den Homerifden Göttern ijt das Prahlen verhakt, und das Wort des Sehiller’fdjen Wallen- ftein, daß voreiliges Jauchzen in die Rechte der eiferſüchtigen Schickſalsmacht eingreife, findet fein Vorbild in der abmahnenden Rede des Odyſſeus an Euryfleia, als fie fiber den Sieg jubeln wollte beim Anblic der getidteten Freier:

Freue dich, Weib, im Herzen, enthalte did) aber des Jauchzens; Slinde ja ift’s lautauf um erſchlagene Männer gu jubelu,

Seit den Perferfriegen und durd) fie veranlaßt war es cin Nationalgefiiht der Griedjen Maß gu halten, und ihr Unterfdied vom den Barbaren berufte in ihrer Vorftellung ganz bejonders mit darauf dak fie bet diefen die heilige Scheu vor dem Ueber- muth in Gefinnung, Wort und That nicht fanden, deren fie fid bewuft waren. Sättigung erzeugt Ueberhebung, war ein Sprich— wort, und volfsthiimlic) wurde der Gag Heraflit’s: Uebermuth mug man mehr dämpfen als Fenersbrunft. Scipio, der helleniſch gebildete, fah die Flammen wiithen in Rarthago; er hatte die Nebenbuhlerin Roms daniedergeworfen, aber er iiberhob fid) nidt, jondern ward vielmehr zum Bild wahrer Erhabenheit, wie er im Geift vorfdauend die Geſchicke der Völker erwog und anf der oberften Stufe de8 Glücks den bevorftehenden Umſchwung ahnend die Verfe Homer's fprad:

176 I. Die Sdee des Schönen.

Einſt wird fommen der Tag da die Heilige Ilios hinfintt, Priamos felbft und das Bolf des fanjzengepriefenen Königs!

Aus foldem Ginn erwuchs den Griedjen ihre Tragidic. Sie erfannten die Gefahr des Glückes, dak es den Menſchen in Sider- Heit einwiegt, ſtolz und felbftgeniigjam macht, die Gefabr der Grife, dak fie den Menſchen anreizt fic) über andere zu erheben, fie gering 3u adten und nad) Belieben mit ihnen zu ſchalten. Gerade die Armen und Hiilfebediirftigen anmafend und fred) ju behandeln war ihnen ein Greuel, wie ſchon in der Odyffee die Freier ifr Mak damit voll maden dak fie nad) dem als Bettler verfleideten Odyffeus mit den Knochen von ihrem ſchwelgeriſchen Mahle werfen. Und fo feste denn namentlich Aefdylos das Tra- gifde in dic DBorc, im die Ueberhebung der Rraft und Grige; der Hodjmuth feet die Aehre der Schuld an, die zur thränen— reichen Ernte reift; denn wer fid) iiberhebt der wird erniedrigt. Der Unfrdmmigfeit Rind ijt Uebermuth; er fommt vor dem Fall; aus der Gejundheit des Sinnes, aus der Mäßigung ſprießt das vielerfehnte Glück. Das Tragifde erſcheint hier als das Große und Schöne das fic) iiberhebt, e8 grenzt an das Erhabene, aber es unterjdeidet fid) von ifm durd) das Uebermaß; hierdurd tritt e8 in Gonflict mit der fittliden Weltordnung; fie erjdeint nun vielmehr als da8 Erhabene, indem ihrer Macht and) das wider- ftrebende Groge nicht gewadfen ijt, und während uns Mitleid iiber feinen Untergang ergreift und wir von Furcht für uns felbft durdbebt werden, ridjtet unfer Geift fid) auf an dem allſiegreichen Götterwillen, und diejer erſcheint fo, nach Schiller's befanntem Ausdrud, als das gigantijde Schickſal, welches den Menſchen erhebt, wenn e8 den Menſchen zermalmt. So erklärt fic) die mit Schmerz gemijdte, durd) Schmerz vermittelte Luft am Tragifden. Damit ift das Schickſal feine fremde neidijde Macht, fondern das Walten der fittlichen Nothwendigfeit. Im Anſchluß an fie erfiillen wir unfer eigeneds Wejen, im Widerſpruch mit ihr ver- nidjten wir uns felbft. Sie herrſcht unbedingt, wer ihr folgt erreicht jein Riel, wer fid) vermift feinen Cigenwillen an ihre Stelle zu ſetzen, den fiihrt fie durd) Demüthigung und Leiden auf das redjte Maß zurück. Darum ſagt der tieffinnige Heraflit daß der Charafter der Dimon des Menſchen fei, und nennt Goethe das Schicdjal die innere Natur des Helden felbjt. In Sdiller’s Wallenftein leſen wir die trefflichen Ausſprüche, ein

4, Das Schöne im Entwidelungsproceh: a. Das Tragifde. 177

Gottesurtheil über die falſchen Schickſalstragödien der Müllner'⸗ ſchen Schule:

Recht ſtets behält das Schickſal, denn das Herz In uns iſt ſein gebiet'riſcher Vollzieher.

Der Zug des Herzens iſt des Schickſals Stimme. In deiner Bruſt ſind deines Schickſals Sterne.

Das Göttliche wohnt in uns und wir in ihm, darum ver— laſſen wir durch den Abfall von ihm unſer wahres Selbſt; der Untergang der egoiſtiſchen Perſönlichkeit verherrlicht die Idee.

Das Tragiſche gehört alſo der Sphäre des freien Willens an. Wo er dem Göttlichen ſich hingibt und durch das Opfer ſeiner Selbſtſucht in das Göttliche eingeht, im Göttlichen auferſteht, da vollendet ſich unmittelbar das Gute, ſeine Idee erſcheint wider— ſpruchslos verwirklicht, und es iſt die geiſtige Bedingung des Schönen gegeben. Soll daſſelbe aber im Sieg über den Wider— ſpruch hervortreten und damit im Verlauf einer Handlung ſich entwickeln, ſo müſſen die einzelnen Momente von Haus aus einen äſthetiſchen Eindruck machen. Der Wille wird alſo gerade durch ſeine Energie, der Charakter durch ſeine Stärke uns imponiren oder die Huld der Natur und die Gemüthsinnigkeit der Seele wird uns anziehen müſſen. Ein Bruch wird vorhanden ſein in der Seele ſelbſt oder zwiſchen ihr und der Welt; aber der tragiſche Conflict wird nur mangelhaft und wenig bedeutſam cintreten, wenn die Schwäche, der Mangel, da8 Bergehen aus dev innerjten Cigenthiimlidjfeit der Perſönlichkeit nicht entſpringt, fondern ihr mehr nur anhaftet und den Kern de8 Wefens wenig berührt. Macheth, deſſen Grundzug die Thatfraft ijt, kommt nicht dadurch zur tragifden Schuld daß er cin Mädchen verfiihrt, Taffo, der ſchwärmeriſche Dichter, nicht dadurd) dak er cinen filbernen Löffel ftieh{t, vielmehr wird gerade das was fie auszeichnet und erhebt, die Gripe ihrer Natur wird ihnen zum Fallftrid, indem der cine fid) ganz in fein reizendes Phantafieleben einſpinnt und den freien Blic fiir die Wirklidfeit verliert, der andere aber, der fic) gum Herrſcher geboren fihlt, wird durd) das Glück des Sieges ver- loctt fiir fic) nad) der Krone gu greifen und niederzmwverfen was zwiſchen ihm und dem Thron ſteht. Darum finds Schwächlinge, Taugenichtſe, Lumpe fein Gegenftand fiir die Tragddie; fie ge- hiren in Befferungsanjtalten oder alfenfalls in die Komödie. Das Tragiſche entiteht vielmehr wenn aud) der ſchönen Seele

Garriere, Wefthetif. J. 3. Aufl. 12

178 I. Die Idee dee Schönen.

der Conflict nicht erfpart witd, der ihre Harmonie jerreift, daf jie mit Goethe’s Gretchen fagen mag:

Und feqnet? mid) und that fo grok, Und bin nun felbft der Sdhande blof! Dod) alles was dazu mid) tried, Gott, war fo gut, ach, war fo Lieb!

Darum aber bhewahrt fold) cine Seele auch in der Nacht des Leides und des Walhnfinns den urfpriingliden Adel, und läutert jid) wie Gold im Feuer der Priifung, wnd wird geretiet, weil fie fid) mit Gott verſöhnt. Oder der von Haus aus edel und miid- tig angelegte Charakter überhebt fid), trot auf jeinen Werth, trennt fic) cigenwillig [08 von der alfgemeinen Ordnung, ſucht alfes an fid) gu reifen, alles zum Fußſchemel feiner Herrlicfeit zu madjen, feine Weife und fein Streben fiir das alleinberedhtigte gu achten und fomit felbjtfiidtig fic) an die Stelle des Abjoluten gu ſetzen, und dadurd) wird er tragiſch; ev offenbart im Conflict felber feine Größe, aber dem Schickſal als dem Willen des ewi— gen Wefens erliegend lift er deffen hihere Erhabenheit zur Er— ſcheinung fommen; wir folgen ifm mit Bewunderung und mit Rührung gugleid), und die Furdt vor dem Verhängniß wird eben dadurd) dak wir die gittlidhe Geredhtigfeit darin erfennen, zur Ehrfurcht vor ihr, wir freuen uns des Sieges der fittliden Welt- ordnung und erheben uns anfdauend zu ihrer Erhabenheit. Darum ijt Napoleon eine fo tragifde Geftalt, vielleicht der- jenige Held in der Weltgeſchichte welder als die Verfsrperung der Krieger- und Herrſcherkraft felber am augenſcheinlichſten dar- ftellt wie er mit dem Willen der Vorſehung ftcigt und fiegt, dann aber feinem Genins alles fiir miglich, alles fiir erlaubt halt und durd) feine Selbſtſucht and) die gegen fic) in die Waffen ruft weldje germ unter feiner Fahne eine nene Zeit begriindet hiitten. Niemand hat dies tiefer erfaßt und energijder ausgeſprochen als Fichte in einer jener Meden, welche das deutſche Volk zur Schild— erhebung fiir ſeine Freiheit und Nationalität beſchworen. Cr preift an Napoleon die Beftandtheile der Menſchengröße, die rubhige Klarheit der WelterfenntnifZ, den muthigen und feften Willen, fraft deren er fic) al8 cinen der fiir Sahrhunderte leitenden und die Ridhtung beftimimenden Genien im Leben der Menſchheit erfaft habe, der den Genuß und jedes Bedenfen bei Seite fewe, und gerüſtet fet jeden Widerftand gegen das Gefes und die Bewegung,

4, Das Shine im EntwidelungsproceR: a. Das Tragifde. 179

die er der Welt gebe, daniederzufdlagen. Er preift an ihm die Erhabenheit des Simes die nicht mit fid) marten (apt; rubhiger Herr der Welt will er fein oder gar nicht fein. Gr ift begeiftert und hat einen abjoluten Willen. Was vor der BolfSerhebung gegen ifn aufgetreten founte nur rechnen und hatte einen beding- ten Willen. Er ift gu befieqen aud) nur durd) Begeifterung eines abjoluten Willens, und gwar durd) eine ftiirfere, nidjt fiir felbjt- ſüchtige Plane, jondern fiir die Freiheit. Gr hatte der Wohlthiter der Menjdheit und ihr Erzieher zur Freiheit werden finnen, aber jein Egoismus ließ thn zum Zwingherrn werden. „Darum muß affe Kraft des Guten fid) vereinigen ihn zu iiberwinden. Denn das Reid) des Teufels ift nidjt dazu da damit es fet und von den unentidiedenen, weder Gott nod) dem Teufel gehirigen Herrenloſen duldend ertragen werde, fondern damit es jerftirt und durd feine Zerſtörung der Name Gottes verherrlidt werbde. Sjt diejer Menjd) eine Ruthe in der Hand Gottes, fo ijt er’s nidt dazu dak wir ihm den entblößten Rücken hinhalten um vor Gott ein Opfer zu bringen, wenn eS recht blutet, jondern daß wir dieſelbe zerbrechen.“ „Es ift allerdings wahr dag alles aufgeopfert werden foll dem Gittlidjen, dev Freiheit; daß alles aufgeopfert werden foll hat er ridjtig gejehen, fiir feine Perſon befdhloffen, und er wird ſicher Wort halten bis gum letzten Athem- zuge, Ddafiir biirgt die Rraft feines BWillens. Mur foll es eben nidjt aufgeopfert werden ſeinem cigenfinnigen Entwurfe; diejem aufgeopfert zu werden ijt er ſelbſt fogar viel gu edcl; der Frei- heit de3 Menſchengeſchlechts follte er fid) aufopfern, und uns alle mit fid), und dann müßte 3. B. ic) und jeder der die Welt fieht wie ic) fie fehe freudig fic) ihm nachſtürzen in die heilige Opferflamme.”

Wir erfennen das Tragifdje diefer Art leicht in den Perjern des Aejdylos oder im Aias des SGophofles. Der Troe auf jeinen Heldenjinn und feine Leibesfraft hat dieſem das ſtolze Wort eingegeben: Mit den Göttern finne aud) ein Schwader fiegen, er wolle es durd fic) allein; fein Stolz wird ge- demiithigt als die Achäer die Geiftesfraft des Odyſſeus höher achten und diefem die Waffen des Achillens zuſprechen; da läßt Aias dem orn die Zügel ſchießen und beſchließt die Ermordung der Fiihrer, vor allem der Atreusfihne; aber feine Wuth ijt Verblendung und Verwirrung und fo fiihrt fie ihn in die Heer- den; rajend glaubt er im Stier den Agamemnon niederjuftopen,

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180 I. Die Idee bes Schbnen.

im Widder den Menelaos zu geifefn. So erblidt ihn Odyſſeus und ſpricht: Mitleid zoll' id) ihm,

Dem Ungliidsvollen, ob er gleich feindfelig mir,

Weil in des Unheils ſchweres Bod) er eingezwängt.

Nicht fein Geſchick mehr als mein eignes zeigt ex mir.

Fürwahr id) ſeh's: wir Sterblidje find anders nidts

Als Traumgefialten, als cin leichtes Schattenbild.

Worauf Wthene antwortet:

Dies alfo ſchauend wolle nie cin prahlend Wort, Odyſſens, reden gegen die Unfterblidjen,

Nod) blähen dic) in Hodmuth, wenn vor Anderen Sun Kraft du ſtrotzeſt oder in Reichthums Vollgewicht. Gin Tag er bringt gwar, dod) er beugt aud) wiederum Was menfhlid tft. Und wifje daß befdjeidnen Ginn Die Götter lieben, dod) die Schlechten haffen fie.

Zeiſing hat eine Ueberhebung in einer andern Tragödie juerft nadgewiefen, im Rinig Oedipus In allzufiihnem Unjdulds- gefühl ſtößt cr iiber die Mörder des Laios mit der Sicherheit eines Gottes den Fluch aus; er will ihnen Herd und Altar ver- weigern, und ſchließt:

Dem Thiter fluch’ ich, ob er feine That

Allein veriibt im Stillen, ob mit Mehreren!

Gin Leben qualvoll reibe ſchnöd den Schnöden auf! Ich flehe mir, wofern id) felber wiffentlid)

Als Hausgenoffen ihn verpflegt an meinem Herd, Das Letd gu fenden das ich jest ihm angewünſcht.

Wer mit folcher Kraft die Stelle der Nemefis zu iibernehmen wagt erfdjeint in dieſem Augenblicke jelbjt wie ein Gott; mur der darf fo ſprechen dev fic) fret weif von aller Schuld und nie zu fiirdjten braucht daß aud) er fehle. Dies ift aber, wie wir bet niiherer Betradjtung leicht finden, der Fall de8 Oedipus nicht, vielmehr gereidjt es ihm zur Schuld dak er den Mörder nicht fennt. Gr ijt in Rorinth erzogen, aber ſchon hat ihm ein hadern- der Spielgenoß zugerufen dak er des Polybos Sohn nit fei; er geht das Orafel ju befragen nach ſeiner Herfunft, und auf die Antwort Apolfon’s, er folle fic) hiiten den Vater zu erſchlagen und die Mutter zu heirathen, glaubt er Korinth meiden zu müſſen ohne dod) iiber feine Weltern im Klaren gu fein. Er tödtet im Borneseifer einen Mann der ihm barjd) entgegengetreten und nad)

4, Das Schöne im Entwicelungsproceg: a. Das Tragiſche. 181

ihm geſchlagen, er heirathet die verwitwete Königin von Theben, während er in beiden dem Alter nad) feine Aeltern vermuthen fonute, und nad) allem Borhergegangenen mit Befonnenheit die Dinge priifen jollte. Aber fein cigenes Geſchick ift ihm, der das Räthſel der Sphinx geldjt, jelbjt cin Räthſel. Er Hirt von des Yaios Tod, aber wiewol es die Pflicht des Nachfolgers auf dem Thron und in der Ehe wire den Mord gu rächen, wenigftens näher nachzuforſchen, ev thut e8 nidt. Der Seher heißt ihn jelber zur Sühne der Götter das Vand verlaffen; das wiirde ihn retten, ſeinem Bewußtſein die furchtbare Entdeckung erfparen; aber er folgt nicht, ſondern flucht der Seherkunſt, ſtatt ſich der Offen— barung des Götterwillens zu fügen. Ich ſehe daher in Oedipus leinen Unſchuldigen leiden, noch, wie Hegel und nach ihm Viſcher will, einen Kampf zwiſchen der bewußten und unbewußten Seite des Univerſums; vielmehr ſchmiedet auch Oedipus ſich ſein Schickſal ſelber in der Werkſtätte ſeines Charakters durch ſeine Thaten. Und blicken wir weiter zurück, ſo verſchwindet alles blinde Ver— hängniß. Laios iſt der erſte Knabenſchänder geweſen. Darum erklärt ihm ein Götterwort: er ſolle nicht heirathen; thue er eg dennoch, ſo werde er einen Sohn erzeugen der ihn erſchlage und die Mutter eheliche. Und Jokaſte iſt leichtſinnig genug mit Laios ſich dennoch zu vermählen, und den Sohn, den ſie gebiert, ſetzen die Aeltern aus, was dem Morde gleichkommt, damit er nicht das Strafgericht an ihnen vollziehe. Aber es kommt dennoch über ſie. Oedipus wird gerettet. Er wird ſchuldig, aber er iſt zugleich ein Werkzeug in der Hand der Vorſehung. Als Strafe ſeiner geiſtigen Verblendung beraubt er ſich des Augenlichts; er wird ins Elend hinausgeſtoßen, wie er dem Mörder des Laios gedroht. Das Leiden aber ſühnt ſeine Schuld und die göttliche Gnade er— höht ihn wieder, verſöhnt ſcheidet er von hinnen, im Tode geehrt und verklärt.

Die Ueberhebung des tragijden Helden alſo ſoll auf ſeiner wirklichen und urſprünglichen Erhabenheit ruhen und aus ihr her— vorgehen, damit im ganzen Verlauf die Idee der Schönheit reali— ſirt werde. Deshalb iſt denn auch diejenige Schuld die geeignete welcher ein Recht zur Seite ſteht; der Widerſtreit der Pflichten bietet ſolche Verwickelungen dar, und tragiſch wird es, wenn der Menſch ein einzelnes Recht ergreift und es zum alleinigen machen will, wenn er ein einzelnes Gut für das ausſchließliche und höchſte erklärt, wenn eine Richtung oder Stimmung des geiſtigen Lebens

182 I. Die Idee des Schinen.

mit leidenſchaftlicher Gewalt allein herrſcht und dadurd die Har— monie der Sdee oder die nothwendige Wechſelergänzung ihrer Gliederung und die Totalität des Geiftes aufgehoben wird.

Sede That ftellt cine Perſönlichkeit der Welt gegeniiber, und driidt cinem Theile der Welt den Stempel eines individuellen Willens auf; leicht geſchieht es dak durd) fic, die aus edler Ge- finnung und um eines reinen Swedes willen vollbradt wird, doc) andere Perſönlichkeiten gekränkt, andere Rechte verlegt erſcheinen. Goethe fagt fogar cinmal: Der Handelude ijt immer gewiffentos, es hat niemand Gewwiffen als der Betradjtende; dies ijt iiber- trieben, an der ſelbſtbewußten That wirkt die Ueberlegung und Betradtung mit, alfo aud) das Gewiffen; aber wohl hat Shake- jpeare feine tieffinnigfte Didtung gerade auf die Idee gebaut daf die Feinheit der Empfindung und dic Stirfe des Denkens, diefe Vorziige menjdlider Sunerlidfeit, die Thattraft hemmen; nicht aus Schwäche, fondern aus Gewiſſenhaftigkeit fdeut fid) Hamlet vor der Vollftredung der Rade an ſeinem Oheim, die Rückſicht auf da8 ewige Heil der Seele gwingt ihn ftill gu ftehen; er will nidjt nad) äußern Antrieben handeln, fondern nad dem cigenen Sinne; ev will gewif fein über feinen Verdacht, er will fidjer fein dak ihn nicht cin Blendwerk feiner tritben Ahnung und Stimmung täuſcht, und als er dieſe Gewißheit durd) da8 Schauſpiel gewon- nen hat, da will er aud) die redjte Rett, den redjten Ort zur Vollftreung des Gerichtes wählen, und will aud die Folgen erwogen und in feiner Hand haben. Hamlet ijt nicht ſchwach; wenn er fic) dics felber vorwirft, fo gejdieht e8 nur im Kampf der Gedanfen die einander verflagen und entiduldigen, in der Heftigkeit des Gefühls, das dic That fordert, welde dev Gedante nod) nicht gebilligt, fiir die er die redhte Art der Vollfiihrung nod nicht gefunden hat; nie dufert er Furcht wedcr vor dem Vollbrin- gen nod) vor den Folgen, und er weiß die Waffe gu fiihren. Aber allerdings liegt dic Eigenthümlichkeit ſeiner Begabung auf der Seite des Gemiiths und des Geiftes, er ift cin feinfiihlender, gedanfenreider, innerlider Menſch, feine handelnde Natur, wie Laertes, der wol in der Erregung des Aufftandes, durch die er den König vor das Volksgericht fordert, inftinctiv das Rechte trifft, das aud) fiir Hamlet fic) gegiemt hatte, der aber and) in dem vorjdjlagenden Thatendrang ein ſchlechtes Mittel anguwenden fic) nicht fdeut und dadurd) in der eigenen Schlinge gefangen wird, wenn der verwundete Hamlet ihm das ſcharfe vergiftete

4. Das Schine im Entwidelungsprocef: a. Das Tragifde. 183

Rappier entreift und damit ihn erſticht. Das ijt das Tragijde ‘im Hamlet daß feine Stirfe, das Denken, ihn innerlid) verjehrt, weil er ihm einjeitig ergeben ijt, wo ein friſches Wirken nad außen ign und das Volk zugleich befreten wiirde. Weit eher als ihn fiir ſchwach erfliiven dürfte man aud bet thm eine Ueber- hebung finden, wie Zeifing und Ulvici thin. ener behauptet: „Hamlet ſchlage jeine höhere Intelligenz, fein tteferes Gefühl, fein reineres Bewußtſein ſo hoch an daß er ſich berechtigt glaube mit ſeiner ganzen Umgebung ein tolles Spiel zu treiben.“ In der That es geſchieht ihnen recht jenen charakterloſen Höflingen Roſen— kranz und Güldenſtern, die ſich zu allem brauchen laſſen und der Selbſtbeſtimmung, des eigenen Denkens und Wollens bar, den Gegenſatz zu Hamlet bilden helfen, es geſchieht ihnen recht, ſage ich, daß ſie ſtatt ſeiner in England untergehen, aber die Art wie er ſie in den Tod ſendet hat etwas von dem Hochmuth höherer Naturen, der ſich deutlich in den Worten zu Horatio über ſie fundgibt:

's tft mislich wenn die ſchlechtere Natur Sich zwiſchen die entbrannten Degenſpitzen Von mächt'gen Gegnern ftellt.

Aud) Hamlet's Verfahren mit Polonius ijt ahnlider Art. Der jelbjtgefallige alles ausſchnüffelnde Horder erhält ſeinen Lohn, aber daß Hamlet für den von ihm getödteten Vater der Geliebten kein anderes Wort hat als „Vorwitz'ger Narr, fahr wohl!“ das bricht Ophelia's Herz, mit der doch Hamlet aber auch ein ver— wegenes Spiel treibt. Allerdings iſt Großes innerlich zu durch— kämpfen und äußerlich zu verrichten ihm aufgegeben, aber das ſpricht ihn von der Schuld nicht frei daß er nur in dieſer ſeiner Sache beſchäftigt andere verletzt. Ulrici ſagt: „Hamlet's ebenſo edler und ſchöner als ſtarker und gediegener Geiſt ringt überall nach jener Herrſchaft die der Gedanke über den Willen, über den Gang und die Geftaltung ded Lebens behaupten ſoll; aber es überſchreitet das Streben ans eigener Machtvollkommenheit des Gedankens fret und ſchöpferiſch das ganze Leben geftalten und regieren gu wollen in feiner Cinjeitigfeit das Maß der irvdifden Dinge, die Schranke menjdjlider Kraft, und grengt an das Ge- litjte des Hodjmuths der leitenden Hand Gottes fic) zu entwinden, jelbjt abjoluter Herr, felbft Gott fein zu wollen. Der Menſch joll freilic) fein Yeben nicht nad) dem blinden Sujftincte, fondern

184 I. Die Idee des Schönen.

gemäß dem freien felbftbewuften Gedanfen fiihren. Aber ed foll night fein eigenmächtiger ſubjectiver Gedanke, nicht fein Belicben, fondern es foll der Inhalt der gittlidjen Weltordnung, der Ge- danfe und Wille dev fittlichen Nothwendigfeit fein, nach welchem er handelt, indem ev ihn freiwillig gu dem feinigen madt. Hamlet's Widerwille gegen die ihm auferlegte Handlung, feine Unzufrieden— Heit mit der ihm jugetheilten Lebensſtellung, fein Streben nidjt blos den gegebenen Stoff gu formen was der Menſch allein vermag jondern ifm zu ſchaffen, hat etwas von ſelbſtiſcher Eigenmächtigkeit und Willkür. Bedenfalls tritt jener Grundtrieb ſeiner Natur nach freier ſchöpferiſcher Thätigkeit ſo einſeitig her— vor, dag er darüber den andern Factor alles hiſtoriſchen Ge— ſchehens, das was man die Macht der Umſtände nennt, das heißt die in der Vergangenheit und den allgemeinen Verhaltniffen der Gegenwart liegende innere objective Nothwendigkeit des Ganges Der Weltbegebenheiten verletzt.“

Hamlet wird durd) Herbe Erfahrung inne dak der Menſch denft und Gott lenkt, wie er ed ausdriidt: daß cine Gottheit unjere Zwecke formt, wie wir fie aud) entiverfen. Go refignirt ex endlich auf fein Machenwollen und erfennt die allwaltende Borjehung an, deren Willem wiv uns ergeben und anſchließen ſollen: in Bereitſchaft fein ijt alles. Und wenn ju all den obigen Auffajfungen im Drama die Anläſſe dev Belegftellen gegeben find, jo tritt beim Gindruce des Leſens und Schauens dod) die licbenswiirdig edle Natur wie das tiefe Leid Hamlet's in den Vordergrund, und jfehe ic) wenigftens die Tragif im ſchmerz— vollen Kampf von Wille und Geſchick des Menſchen, worauf die Worte des Königs im Schauſpiel hinweiſen. Unfere Anlagen, unjere Neigungen find das cine Element, die Verhaltniffe, die Yebenslage in die wir hineingeboren werden, find das andere; fie {egen uns Pflichten auf, fie erfordern durch das was andere thun unjer Mit- oder Gegenwirfen, mag da8 uns angenehm fein oder nidjt; unfer Wollen und Sollen, was wir wählen möchten und was wir miiffen, Freiheit und Nothwendigkeit kommen in Widerjtreit und wir feufzen unter der ſchweren Aufgabe, die une oft nidjt nad) unjern Gaben geftaltet ſcheint, wenn fie vielleidt and) die fittlide Bedeutung hat uns vor Cinfeitigfcit zu bewahren und jdjlummernde Kräfte zu weden, uns ju Gemiith gu fiihren, dak wir nidjt fiir uns felbft allein, fondern Glieder cines grofen Ganzen find. Hamlet's Neigung führt ihn zu wiffenfdaftlider

4, Das Schöne im Entwidelungsprocef: a. Das Tragijde. 185

Beſchaulichkeit, zu künſtleriſcher Weltauffaffung; da wird feine weiche, theoretijd) veranlagte Seele durd) die Blutthat ſeines Oheims und den Ehebruch feiner Mutter auf das furdtbarjte erjdjiittert, und ans ihrem idealen Sugendtraum von der Schön— heit der Welt und der Herrlichkeit des Menſchen aufgeſchreckt; ex fieht die Abgriinde in unferm Dafein, die Welt diinft thm cin wiijter Garten voll Unfraut, umd er fragt fid) warum das Böſe da jet und wie es aunfgehoben werden könne; die Zeit ijt ans den Gelenfen, und er klagt die Tücke des Schickſals an daß er berufen fet fie wieder einzurichten. Er empfindet tief den Schmerz dak ev über ſein Leben nicht mehr fret verfiigen fann; und der Seift hat ihn an das gemahut was er als edler feinfiihfender Menſch fic) felber fagen mufte: nidjts gegen die Mutter zu unter- nehinen, deren Sande ja dev Sohn nicht aufdecken kann, und in der Herftellung des Rechts fein Gemiith rein ju bewahren, aljo nicht Böſes mit Bijem ju vergelten, jonderm auf rechtlichem Weg das Mute, die fittliche Weltorduung jum Sieg zu fiihren- Dazu muß crv das Bekenntniß des Oheims haben ehe er rvidtet, darum faun cr nidjt rafd) als Todtſchläger handeln. Darum zerarbeitet fid) fein Geiſt an der Anfgabe, die einen Wann der That erfordert, und er ijt ein Held der Betradtung. Cr bringt zuletzt ſich der Gache felbjt zum Opfer, er ift bereit Werkzeug der Vorſehung zu fein; und nun, nachdem der König auch die Fran letblic) vergiftet hat wie er fie geiſtig vergtftct hatte, und von Yaertes ded neuen Doppelmordes ſchuldig vor dem Volk erklärt worden, nun vollzieht Hamlet das Gericht, während er felbjt den Tod im Herzen trägt. Gein reines Gemiith Hat tm Kampf mit der verderbten Welt fein Martyrium auf fic) genommen, und wir jagen mit Horazio: Hier bridjt cin edles Herz. Gute Nacht mein Freund; und Engelſcharen fingen did) juv Nuh! „Der Rejt ijt Schweigen“, das Warum dicjes Geſchicks, diejer ihm auferlegten Yebensarbeit vermögen wir jo wenig ju erfldren, als uns Gott und Ewigkeit mathematifd) oder ſinnlich gewiß find um unferer Freiheit, um unferer Sittlicdfeit willen, da fonft unſer Thun cin Knedjtsdienft der Furdt oder Lohnjucht fein wiirde. Unfer Wiffen ijt Stiichwerf, das der Glaube ergänzt; unſere Pflicht zu erfiillen, das Gute ju thun ijt unjers Lebens wed, und der Schluß dev Tragidie Hamlet ift die Herftellung der fittlichen Weltordnung.

Es ijt trvagijd) wie die Bürger'ſche Yeonore alles in das eine

186 I. Die Idee des Schönen.

Liebesgefühl fest, ſodaß Seligfeit und Holle ihr nichts find als die Vereinigung mit Wilhelm oder dite Trennung von thm. Dramatijd hat das Shafefpeare in Romeo und Julie ansgefiihrt. Aud) das Süßeſte und Herrlicdjte, die Liebe in ihrer Reinheit und Fille, wird zur verjengenden Glut, wenn fie allein als Leidenſchaft in der Seele herrſcht und das Gemiith fiir alle übri— gen Yebensverhaltniffe blind macht, deren Geſetz fiir nichts achten (aft. Der Didhter felbft gebraucht das ſinnreiche Bild von Feuer und Pulver die einander im Kuſſe verjzehren. Goethe's Taſſo ift die Tragödie der GSemiithsinnerlidfeit und der Phantafie; es ijt dic Stiirfe des Didhters daz die Bilder der Cinbiloungsfraft mit voller Yebenswirflicjfeit vor ihm ftehen, aber indem er fid) in fie verlicrt und in feine Traume fic) einfpinnt, vermag er weder fid ſelbſt gu beherrſchen nod) die Welt lar und ridtig zu erfennen und gu wiirdigen; er ift der idealiſtiſche Gegenſatz ju Antonio, fie find Feinde „weil die Natur nicht Cinen Mann aus ihnen beiden formte’, und die Gefahy des Menſchen dev in ein einzelnes Gut jetne ganze Lebensfraft legt, in ciner beftimmten Gefiihleweife oder Geiſtesrichtung ganz aufgeht, bezeichnet die Prinjeffin Cleonore nod) ausdrücklich aljo:

Bu fürchten tft das Schöne, das Fürtreffliche,

Wie eine Flamine, die fo herrlich nützt

Go lange fie auf deinem Herde brennt,

So lang fie dir von einer Fadel leudhtet;

Wie hold! wer mag, wer kann fie da entbehren?

Dod) greift fie unbebhittet um fic) her,

Wie elend fann fie maden!

Und dennod: wer fic) rückſichtslos und ganz ciner Sdee, einem Gefühl hingibt, der wird in dieſer trunfenen Selbjtvergeffenbheit aud) iiber alled Kleine und Gemeine, alle ängſtlichen Bedenfen und ſchwächlichen Sorgen hod) emporgehoben, und indem er um des Einen willen das ihn erfiillt alles Andere und das cigene Leben in die Schanze ſchlägt, offenbart und genießt ev and) die Herrlid- fctt diefes Cinen, und wir ſehen ,,der Leidenſchaft leudjtende Flamme, welde den Menſchen vertlirt, wenn fie den Menſchen verzehrt“, wie id) anderwärts mit einem Anflang an den Schiller’ jdhen Vers vom großen gigantijden Schickſal gefagt habe. Wer von cinem grofen Sedanten voll ijn mit erhabenem Willen fofort gum Heile der Menſchheit verwirflidjen will, wer dabei den Maßſtab der cigenen Begeifterung an die Beit und das Volk legt, wer ernten

4. Das Schöne im Entwicelungsprocef: a. Das Tragiſche. 187

will wo er ſäen und der Reife warten follte, wenn dev mit er- hobenem Schwerte untergeht, indem er feinem Bdeal die Treue bewahrt, dann benciden wir fein Loos mehr als wir es beflagen, das Mitleid ijt zugleich Bewunderung.

Der göttliche Geiſt ift der Grund und Hiiter aller Geſetze und Rechte; der Menſch aber fann ein cinzelnes Recht ergreifen, es aus dem Zujammenhange mit andern fittliden Verhaltniffen reißen und mit ihnen in Conflict bringen. Dann tritt Redht gegen Recht in Rampf; die Schuld liegt hier darin daß jedes ausſchließlich gelten joll und darum das eben fo Heilige andere Redht nicht an- erfannt und verlest wird. Die Trager der einzelnen Rechte find dadurch ins ideale Gebiet erhoben; aber indem fie dennoch gegen- cinander in Streit gerathen und fid) einander zerſchlagen, trium— phirt die Sdee des ſittlichen Ganjen, und gewinnen wir die Einſicht daß dieſes im Frieden und in dev Harmonie feiner einzelnen Mo— mente beftebt.

Su der Oreſtie des Aeſchylos, in der Antigone des Gophofles erfdjeint die Familie im Kampf mit dem Staat, wahrend fie feine Grundlage und er ihy Hort fein ſoll. Klytämneſtra hat den Agamemnon getidtet, weil er die Tochter Sphigenia fiir cinen glücklichen Kriegzszug jum Opfer gebradt, Oreſt hat den Konig und Vater gu rächen, aber ed ift die eigene Mutter gegen die er das Schwert der Gerechtigkeit zückt. Antigone beftattet den Bruder unbefiimmert darum ob er ein Feind des Vaterlandes gewejen, ob das biirgerlide Geſetz dic Beerdigung verboten hat; fie vertritt die Pflicht der Pietät, der Familie, und fagt:

Nicht mitzuhaſſen, mitzulieben bin id) da.

Kreon mug das Gejeg um fo mehr aufredt erhalten als der Staat chen erſt aus ciner Kataſtrophe gerettet worden; aber in- dem cr es rückſichtslos vollftredt ohne anf das edle Motiv der That Antigone’s gu adjten, ohne die Stimme des Volfs gu Hiren und die dem König mögliche Gnade mildernd cintreten zu laffen, vergeht er fid) gegen das von Antigone vertretene Princip der Pietit, und folgeridjtig zerſtört ev fic) felbft dadurd) die eigene Familie. Was der Chor dev Antigone zuſingt:

Die Pflidht der Lieb’ ift fromme Pflicht, Dod aud) des Machtbegabten Macht Gejiemet gu misadten nidt; -

Des eig'nen Hergens Trieb verdarb vid;

188 I. Die Idee des Schönen.

e8 ließe fic) ebenfo gut auf Kreon anwenden und von ifm ſagen: dak das Redjt des Herrjders und die Aufredthaltung des Staats— gejeses cin Großes ſei, aber auc) die Liebe der Familie Beadtung heiſche, und ihn darum dev ftarrve nur anf jenes geridjtete Sinn im cin verdientes Leid geſtürzt. Kreon Hat dabei, indem er dem Feind des Vaterlandes die Todtenehre entzog, nidjt blos die bür— gerlidjen, jondern die alfgemein menſchlichen Rechte ihm verfagt, und feinen Heroldsruf trog der Fordcrung der Religion ergehen fajjen, welche Bejtattung der Geftorbenen verlangt; ev hat dies gethan, fowie die Einmauerung Antigone's befohlen um die äußere Ordnung aufrecht ju erhalten; äußerlich bleibt er darum beftehen, ev bleibt König und am Leben, aber innerlich fühlt er ſich ge- brodjen und vernidtet. Antigone dagegen, die den ewigen un— geſchriebenen Redhten der Götter Huldigt und folgt, vergeht fich mit edlem Tro gegen die weltliche und biirgerlide Gagung, fie gefteht leidend daß fie gegen dieje gefehlt, aber um jener willen, die fromme Uebelthäterin, und jo jdjreitet fie äußerlich dem Unter— gang entgegen, innerlich aber fühlt ſie ſich erhoben und beſeligt. Indem die miteinander in Conflict geſetzten Momente der Idee ſich zerſtören, feiert in ihrem Untergange ſelbſt die ganze Idee ihren Sieg, und gewinnen wir die Anſchauung von der Noth— wendigkeit der Harmonie zwiſchen dem Rechte des Herzens und der Stimme des Gewiſſens mit der äußeren Ordnung und dem Staatsgeſetz.

Manches Verwandte mit der Sophokleiſchen Antigone hat Shakeſpeare's Cordelia. Auch fie nimmt theil an dev Zerrüttung in Lear's Hauſe; während er Worte der Liebe fordert, zieht ſie ſich auch da hartnäckig und jungfräulich ſpröde in ihr Lieben und Schweigen zurück, wo fie dem Vater mit kindlicher Offenheit ſich ans Herz werfen und ihn von der verderblichen Thorheit zurück— rufen müßte; aber es geht ihr gegen die Natur das Weſen der Pietät, das im Herzen, in der Geſinnung wohnt, im Munde zu führen, und nach einem prablenden Worte abſchätzen zu laſſen was die ſtille That eines ganzen Lebens ſein muß, und weil dies, Dic lindliche Liebe, ihres Daſeins Seele ijt, jo bringt fie ſpäter dem Vater den verlorenen Frieden. Hier ſiegt ſie, aber ihr Heer, mit dem ſie aus Frankreich gegen England zog, wird geſchlagen, fie gefangen und durch Edmund's ſelbſtſüchtige Politik getödtet. Shr mochte es ſcheinen daß es fic) von ſelbſt verſtehe fie fomme nur um ded! Vaters willen, nicht um zu erobern; aber fie ver—

4, Das Shine im Entrwidelungsproceh: a. Dae Tragiſche. 189

kündet es nicht, und nöthigt dadurch auch den Herzog von Alba— nien zum Kampf. Wie Antigone hat ſie um der Familie willen des Staats und ſeines Rechtes nicht gedacht. Dod) in ihrem Erliegen, in ihrem Opfertode feiert ſie ſelbſt den Triumph der Kindesliebe die ſie beſeelt; indem ſie dieſe mit ihrem Blute be— ſiegelt, geht ſie verklärt mit dem geretteten Vater aus der Welt des Scheins in das Land der Wahrheit, ihre rechte Heimat.

Die Ordnung unſers gemeinſamen Lebens ſoll nicht eine Schranke, ſondern die Verwirklichung der Freiheit ſein; Güter die keiner fiir ſich allein haben würde ſollen in der Geſellſchaft er— möglicht und geſichert werden, zur Erreichung des für alle wohl— thätigen Zweckes werden die einzelnen Kräfte verbunden. Sie müſſen deshalb ſich gegeneinander oder das Ganze den einzelnen gegenüber ſicher ſtellen, und damit wird ein Band geſchlungen und eine Ordnung feſtgeſtellt, die nun dem Einzelnen auch eine Feſſel ſeines Willens ſind, und die, für ihre Gegenwart das Natur— gemäße, doch dem fortſchreitenden Leben zur Hemmung und Schranke werden, wenn ſie ſich nicht mit fortentwickeln. Aller Fortſchritt geſchieht aber durch Einzelne, und dieſe wurzeln in der herge— brachten Ordnung der Dinge, ſtreben aber zugleich über ſie hinaus. Und ſo zeigt ſich im Gange der Geſchichte das Tragiſche nicht blos auf die Art daß ein Held ſelbſüchtig wird und mit gewalt— thätigem Sinn nur die eigene Ehre ſucht, oder daß er von ſeinem Princip abfällt, ſondern auch in höherer Weiſe, wenn er die neue Idee, die er ins Daſein führen will, für das Alleinberechtigte hält und darum das Beſtehende verkennt, das doc) noch mit tauſend Faſern in Gemüth und Gitte des Volkes haftet, das nicht zerſtört, ſondern fortgeſtaltet, aus dem der junge Trieb entwickelt werden ſoll. Oder es waffnet ſich der Vertreter der alten Zeit und Herr— lichkeit gegen das Nene ohne es recht zu verſtehen, und begräbt ſich unter die Trümmer einer untergehenden Welt, die er ſich zum Denkmal häuft.

In Schiller's Wallenſtein ſprechen ſich die beiden Piccolomini über dies Recht des Einzelnen und des Ganzen, des Fortſchritts und des Beſtehenden trefflich aus.

Marx. Da rufen fie den Geift an in der Noth, Und grauet ihnen gleich, wenn er fid) zeigt. Das Ungemeine foll, da8 Höchſte felbft Geſchehn wie das Alltägliche. Bin Felde

190 I. Die Idee des Schinen.

Da drängt die Gegenwart Perſönliches Muy herridjen, eig'nes Auge fehn. Es brandt Der Feldhery jedes Große der Natur;

So gönne man ihm and) in ihren grofen VBerhialtniffen gu leben. Das Orafel

In feinem Sunern, das lebendige,

Nicht todte Bücher, alte Ordnungen,

Nicht modrige Papiere foll er fragen.

Octavio, Laß uns die alten engen Ordnungen Gering nidt adhten! Köſtlich unſchätzbare Gewidhte find's, die der bedriingte Menſch An feiner Dränger rafden Willen band; Denn immer war die Willkür flirdterlid. Der Weg der Ordnung, ging er auch durd) Krümmen, Er ift fein Umweg. Grad ans geht des Blives, Geht des Kanonballs fiirdterlidjer Pfad, Schnell auf dem nächſten Wege langt er an, Macht fid) germalmend Plat um gu zermalmen. Mein Gohn! Die Straffe die der Menſch befährt, Worauf der Segen wandelt, diefe folgt Der Flüſſe auf, der Thaler freien Krümmen, Umgeht das Weizenfeld, den Rebenhiigel, Des Cigenthums gemeff'ne Grenzen ehrend; So fiihrt fie ſpäter, fidjer dod) zum Biel.

Wallenftein ijt ein grofer Charafter, der felbftiindig aus feiner Reit heraustritt um nad) eigenem Ermeſſen die Dinge zu lenken. Dem ewig Geftrigen gegeniiber macht er das Recht der freien Perſönlichkeit geltend; ev fühlt fic) geboren um dem Herrſchertalent den Herrſcherplatz zu erobern, fic) wie cinen Mittelpunkt und eine fefte Säule fiir Tauſende hinjuftellen; das Reid) foll ihn als jeinen Schirmer ehren, die Fremden follen auf deutſchem Boden fein Land befigen, er erfennt fid) als den Mann des Schickſals um den Knäuel des Krieges zu zerhauen, und fo fehen die Biirger Ggers in ihm einen Friedensfiirften, den Stifter neuer goldener Reit. Er ijt cin Realift, dev wirfen und die Frucht feiner Thaten brechen will; er will mit Cäſar Lieber das Schwert gegen Rom zichen, als fic) entwaffnen und verloren fein. Aber er wird zum Verräther um fic) zum Herrn der Lage zu madjen, und er ver- feugnet dann jelber die höhere Idee, dev ev Bahn breden wollte. Gr judt im Wirken fiir das Ganze zuerſt feine eigene Grife, und entjagt der Wahrhaftigfeit; fein treulofes Verfahren drückt

4. Das Shine im Entwidelungsprocefh: a. Das Tragijde. 191

dem Buttler, den er mit dem Kaiſer verfeinden will, den Mord- ftahl im die Hand; er misadhtet das Recht der Sndividualitit, das ev fiir fic) beanfprudt, bet ander, indem er die Liebe von Mar und Thefla nidjt anerfennt und die Herzen fiir feine felbftfiichtigen Bwede verwenden will. Go wird er in fic) felber ſchuldig und der Gegenſatz der Principien tritt nidt fo rein hervor als bei zwei Männern des Alterthums, die wir nad) ihrer tragijden Seite niiher betradjten wollen.

Der Kaiſer Sulian war von Natur cin hellenifder heldenthüm— lider Mann, der fic) von Sugend auf eingelebt in die Thaten der Vorjzeit, in den Glanz der Kunſt und Wiffenfdhaft des Heiden- thums; er fah die Mufenfiinfte der Grieden mit dem Glauben der Biter verfniipft, und das Chriftenthum ftand ihm nicht mehr in der urſprünglichen Einfachheit und Reinheit gegeniiber, vielmehr hatte die Anfeindung um dogmatijder Gagungen willen ſchon innerhalb deffelben begonnen und nad augen hin hatte es, durch“ Conftantin zur Herrſchaft gelangt, fic) bereits verfolgungsſüchtig erwieſen. Sultan ftellte fid), wie edle Gemiither und hodherjige Geifter pflegen, auf die Seite der Unterdriidten; er glaubte in den Eleuſiniſchen Myſterien einer höheren Weihe theilhaftig zu fein als im chriftliden Cultus, und Platon war ihm der Priefter einer reineren Wahrheit als die Römiſchen Biſchöfe. Die göttliche Lebensfiille erfdhien ihm als Gitterwelt, als die Entfaltung des einen Göttlichen, es diinfte ifm eine falte leere Entgitterung nur einen einfamen und alleinigen Gott anjubeten, ftatt ſeine Herr- lichfeit und Rraft in der Erjengung, Ordnung und Cinigung der Götterwelt anſchauen, die ihm den eigenen Reidjthum offenbart und die thm fiebend und mitwirfend zur Seite fteht. In dem neuen Glauben jah er da8 dem alten Hellenenthum verderblice Princip; mit der Bewahrung der griedhifden Religion Hoffte er Kunſt und Wijfenfdaft, ja die volfsthiimliche Lebensfraft und den Heldenfinn der Menſchen wiederherzuftellen. Go öffnete er die heidnifden Tempel wieder und ließ die verſäumten Opfer von neuem auf den Altären bringen. Gr nahm den chriftlidjen- Kleri- fern ihre Vorrechte und ließ fie die eingejogenen Tempelgiiter quriiderftatten. Gr unterfagte den Chriften das Lehren der freien Riinfte, weil die Lehrer nicht blos Worterflirer, fondern aud) fittlidje Erzieher fein follten, und darum den Geift der alten Glaffifer felbft befennen miiften. Sa er fah was die edhten Ehriften befeelte und groß madte, die cifrige Gottesverehrung,

192 I. Die Adee des Schinen.

den unerſchütterlichen Glaubensmuth und die Treue fiir ihre Reli- gion, die Heiligfeit des Wandels, die brüderliche Liebe fiir alle, aud) die Frembden und Armen, und empfahl es den Seinen und traf Anordnungen Hffentlider Wohtthatigfeit. Als mun Abfälle von der Kirche ju den Götteraltären, und danad) Streitigfeiten und offene Kämpfe ftattfanden, ſtand Sultan nicht als Richter über den PBarteien, jondern als Genoß jeiner Anhänger da. Aber wenn er chriſtliche Goldaten beim Empfang des Goldes Weihrand an- zünden ließ, fo warfen fie thm das Gold vor die Füße: nur die Hand habe geopfert, nicht dic Seele; er möge fie hinrichten laſſen als Ungehorjame. Gr mufte Hiren da} er fich felber lächerlich made als er einen dhriftlidjen Jüngling geiſeln ließ, der bei einem Aufzug dem Chor jenen Pjalinenvers vorgejungen: Schämen müſſen fic) alle die den Bildern dienen und die fic) der Götzen riifmen! Athanaſius von ihm ans Wlerandrien vertricben konnte “Jeiner Gemeinde den prophetifden Troft zurücklaſſen: Seid gutes Muthes, es ift nur cine fleine Wolfe die ſchnell voriibergehen wird. Julian ſandte um Orafel nad Delphi, aber die Stimme der Orafel war verftummt, und verfiegt der redende Quell. Nad) anger Unterbredjung follte das MApollofeft zu Daphne wieder ge- fetert werden; als Oberpriejter fam er zum Tempel, erfiillt vow der Hoffnung pradjtvoller Aufzüge, lautſchallender Hymnen und des Chortanzes weißgekleideter Jünglinge; aber fiehe da, fo ſchreibt ev felbjt: 28 id) in den Tempel fam, traf id) weder Weihrauch, nod einen Opferfudjen; mur ein alter Priefter hatte dem Mott cine Gans dargebradt, niemand aber fam mit Oel fiir die Lampen, niemand mit Wein jum Tranfopfer oder mit cinem Körnlein Weihrauch; dagegen geftattet cin jeder jciner Frau alles ans dem Hauje den Galiläern zu bringen um deren Arme yu fpeijen, wahrend feiner fiir den Cultus der viiterlidjen Götter etwas her- geben will! Gr wollte wiederherjtellen und der alternden Welt, der die Seele auszugehen begaun, neue Lebenskraft einflößen, und jet Verſuch die chriftlidke Neligion zu erſchüttern drohte das ganze Reid) in Gärung und Verwirrung zu bringen, während er gerade den religidjen Cifer fiir den neuen Glauben frijd) entflammte. Sr wollte durd) einen Zug gegen die Parther das geſunkene Weltreid) wieder aufricten, und mufte fehen wie in cinfamer Nacht der Schutzgeiſt des Reichs mit verhiilltem Haupt aus feinem Heldherrngzelt von dannen wandelte. Dod war er unerfdhroden bereit mit Würde ju tragen was das Schickſal verhiinge. Auf

4. Das Sdine im Entwidelungsprocef: a. Das Tragifde. 193

jenem Feldzuge fragte fein Lehrer Libanius cinen Chriften: Nim was macht jest der Zimmermannsſohn? worauf dieſer erwiderte: der macht jetzt einen Sarg für euch und eure Hoffnungen. Julian fiel von der Lanze eines unbekannten Reiters durchbohrt; die Seele des Sterbenden mochte der Gedanke durchſchauern: Galiläer du haſt geſiegt!

Das Tragiſche im Leben des Sokrates iſt das umgekehrte. Bei dieſem wunderbaren Manne entſprechen ſich Inneres und Aeußeres, Charakter und Schickſal augenſcheinlich, er iſt auch in dieſer Hinſicht eine äſthetiſch anziehende Erſcheinuug. Der Sohn einer Hebamme und eines Bildhauers ſuchte er die Seelen der Menſchen dem Ideal gemäß zu bilden und den in ihnen ſchlum— mernden Gedanken zur Geburt zu helfen. Er wiſſe daß er nichts wiſſe, war fein Spruch, dads heißt er erkannte daß in der Philo— ſophie nur das ſtets durch eigenes Denken Erzeugte gilt, nicht überlieferte Dogmen und ungeprüfte Vorurtheile Werth haben; erſt die ſelbſt und frei gewonnene Einſicht iſt Philoſophie, und ſie muß als ſolche ſtets von neuem geboren werden. Er erkannte daß der Werth der Handlung in der Geſinnung beſteht, das ſittlich Gute alſo auch vom Wiſſen durchdrungen iſt, weil zu wiſſen was und warum man etwas thut eben der Begriff des moraliſchen Handelns iſt. Damit war das Innere vom Aeußern unterſchieden, und Sokrates ſtand nicht in dev naturwüchſigen Harmonie der helleniſchen Schönheit, jondern hatte die Seelenruhe erjt den Lei- denfdhaften abzukämpfen und ſogar häßliche Züge des Geſichts durch einen edeln Ausdruck zu überwinden und zu verklären. Einer Silenosherme vergleicht ihn der Platoniſche Alkibiades, die in der unförmlichen Hülle ein herrliches Götterbild birgt. Damit ver— gleicht er auch ſeine Reden; er ging vom Beſondern aus um das Allgemeine zu finden und in dem gerade Vorliegenden, ſcheinbar Gewöhnlichen eine höhere Wahrheit, einen tieferen Ginn zu ent— decken; er redete äußerlich von Schmieden, Laſteſeln, Gemüſe und ähnlichen Dingen, und wer ihm folgte dem wußte er die Räthſel ded Lebens zu löſen und die eine alles durchwaltende göttliche Vernunft zu offenbaren. Statt der Naturorakel vernahm und fragte er eine Götterſtimme in der eigenen Bruſt. Er ward an— geklagt daß er die Jugend verwirre und misleite und neue Götter einführe. Die Anklage war richtig. Um ſie zum Nachdenken zu wecken löſte er den Jünglingen im Geſpräch die herkömmlichen Meinungen auf, zeigte ihnen ihr Nichtswiſſen und gab ihunen nicht

Carriere, Aeſthetil. I. 3. Aufl. 13

194 I, Die Idee des Schinen.

fofort einen nenen Geiftesingalt, fondern verließ fie zunächſt mit der WAufforderung felber yu forjden da fie die Wahrheit fanden. Gr hatte and) cinem Sohne, den der Vater zur Serberei beftimmt, den Gedanfen eines beffern Lebens eingegeben zu dem er fähig fei, und damit Vater und Sohn anseinander gebradjt, und diejer war verdorben. Und daf er gwar ju den Volfsgittern betete und opferte, aber ein Höheres über ihnen annahm, daß die eine welt— ordnende gittlide Vernunft fid) mit den vielen Göttern Griedhen- {ands nicht vertrug, ift aud) flar. Go ward cr der Anflage fchuldig befunden. Gr hatte fliehen können, und wollte nidjt; er hatte den heimifden Sefegen fo viel zu verdanfen, und wollte fid) nun im Mreijenalter nidjt gegen fie vergehen; er wollte ertragen was feine Mitbiirger iiber ihn verhingten, aber auch zeigen dak die Idee fiir die er gelebt eine todiiberwindende Rraft habe. Er fiihrte fie gum Sieg, indem er fic) fiir fie opferte. Das alte Hellas mit dem Gehorfam fiir die vaterländiſche Sitte und mit feiner phan- tafiegeborenen Religion, oder Gofrates mit feiner Gubjectivitiit, die iiber alles von fid) aus entjdeiden follte, mit feiner philo- ſophiſchen Erkenntniß des Cinen Gottes, der das fich wiffende Gute felbjt war: hier ftanden zwei Principe gegeniiber, jedes be- rechtigt, jedes fid) 3u behaupten entſchloſſen. Das war das Tra- gifde. Nun geftattete das athenifde Geſetz dak der Verurtheilte fic) felbft cine angemeffene Bue beftimmte; Sokrates hätte fid verbannen oder bedeutend um Geld oder mit GefiingnifE beftrafen können. Damit Hitte er fich felber aufgegeben und die Unwahrheit feiner Sache anerfannt. Gr fagte alfo daß er verdiene auf dffent- fiche Koften im Prytaneum zu leben als ein Mann der fic) ums BVaterland verdient gemadt habe. So traf ihn, weil er fich feine Bue fete, die Todesftrafe. Heiteren Muths tranf er den Schierlingsbecher. Schuldig war er vor dem VolfSgeridt, aber das Weltgeridjt, die Weltgeſchichte hat ihn heilig geſprochen, er ijt eine der Angeln geworden um welde die Gefdhidjte fic) drebht, und war der philofophijdhe Prophet mit feiner Lehre und mit fei- nem Méirtyrthum fiir den der vierhundert Sahre ſpäter in Judäa fid) als den Meſſias erfannte und erwies.

Angeſichts einer Erſcheinung wie die feinige fagen wir mit Melchior Meyr:

Wenn wir in urgewalt'gem Streit Die grofen Menſchen ſehn

4. Das Sdine im Entwickelungsproceß: a. Das Tragifde. 195

Ans innerfter Nothwendigfeit

Dem Tod entgegengehu,

Da möchten wir dem Heldenſchwung Sun des Geſchickes Zwang

Rurufen mit Begeifterung: Gilidauf zum Untergang!

„Das Leben ift der Giiter höchſtes nicht!“ Das ijt die Offenbarung jeder Tragddie; erſt das Bdeale, das Gute und Wahre madt es lebenswerth, und wer es nur erhalten finnte durd) Verleugnung der Pflicht der wird gerade durd) das Opfer deffelben die Erhabenheit jeiner Gefinnung beweiſen. Scherzend

ſchreibt Baul Hevfe:

Als die Tragidie juerft erſtund

War nod) der Wunſch nicht allgemein Lieber ein lebendiger Hund

Als cin todter Löwe ju fein.

Und mit tieffinnigem Ernſte ſchreibt ©. von Hartmann: ,,Der fter- bende Held der Tragidie ruft gleichſam jedem Zuſchauer die Worte Chrifti gu: In der Welt werdet ihr Trübſal erdulden; aber ſeid getroft, ic) habe die Welt überwunden!“ Allein wir miiffen dabei fejthalten: dieſe Weltiiberwindung ift nicht, wie Hartmann will, der Tod als folder und die Ruhe des Grabes, jondern die Erhebung des Gemiiths iiber da8 irdiſche äußere Glück und Unglück, iiber die Selbftjudt und den Materialismus des Verftandes und Herjens in die fittlide Weltordnung, die Ruhe in Gott dem Lebendigen.

Das Tragifde ſchmückt fic) mit dem Glanz der erhabenen Schönheit, wie das Sichverzehren der Kerze ihr Leuchten ijt. Wer in einer gewaltigen Leidenſchaft ergliiht der ſtrahlt auc) in ‘ihrer Flamme, der gewinnt aud) das Entzücken das fie bietet, wie Romeo und Sulie in ihrer Liebe. Wer alles an Gin Gut jest dem ijt es aud ein Höchſtes das ihn bejeligt. Nur im Kampf bewahrt fic) dic Tugend, und wenn er ifr nicht erfpart bleibt, jo wird dafiir die Treue bid in den Tod mit der Krone des ewigen Lebens geehrt und durd) den Ruhm und durch die Kunſt verherrlicht. Wir beugen uns vor einer Nothwendigfeit, die uns ſchmerzt und die wir dod) als verniinftig und gerecht anerfennen; wir möchten den Helden nicht anders; je mehr das Leiden die Straft oder Schönheit der Duldenden zur Erſcheinung bringt, defto

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196 I. Die Idee des Shonen.

mehr verwandelt es da8 Traurige in das Tragifde. Hamlet wiirde uns weniger anziehen, wenn er minder geiftvoll reflectirte, obwol fein Denfen die Energie der That hemmt und. lähmt; Taffo verfinft in feinem phantafievollen Träumen, aber es ijt fo riihrend, fo gemiithvoll hold; Egmont's heiterer argloſer Lebens- muth bringt ihm den Tod, aber er gefillt uns doppelt im der Stunde der Gefahr, dem Alba gegeniiber, in feinem Freifinn.

Weil das Shine hier im Verlauf ciner Handlung fic offen- bart, ift vorzugsweiſe die Poefie und gwar die dramatifde fiir die Darftellung des Tragifden berufen. Die Architeftur fann es nicht veranfdanliden wollen, aber die bewegte Muſik vermag feine Stimmung, vermag die Weije feiner Bewegung auszudrücken, and) wo fie nidt, wie in Händel'ſchen Oratorien und Mojart’- ſchen Opern an da8 Wort ſich anlehnt, fondern die Klänge der Inftrumente zur Symphonie zuſammenfügt. Die Muſilk bringt ja Diffonanzen oder Accorde in welden mehrere aber nicht alle Tine im Cinflang find, und daher die Sehnfudt vollerer Befric- digung gewedt wird, und fie vermag dann die Diffonanjen auf— zulöſen und zur reinen Harmonie gu fiihren. Aud) die Muſik ftellt Gegenſätze gegeneinander und [aft fie miteinander ringen und fich endlich verſöhnen, oder fie gibt die Ansgleidung in einem Schlußſatze der die Contraſte überwunden in fich enthilt. Beethoven's neunte Symphonie (in D-moll) ijt eine große Tragödie in Tinen, die mit den tiefften Schmerzen des Lebens ringt, um aus aller Moth und allem Zwieſpalt uns gu dem Gefiihle gu erheben dag doch die Freude herrſcht, wie ein Gleiches in Sehiller’s Hymne hervortritt. Wud) die Symphonie in C-moll verflirt die Weh- muth in Luft, und vielfac) meinen wir den Prometheus zu ver- nehmen wie er ftolz und kühn feiner Kraft bewußt fic) überhebt, und dann angefeffelt aufſtöhnt und vom Geier zerfleiſcht dod) dic Liebe zur Menſchheit im Herzen bewahrt, dann in Schmerz ver- finft und endlich) fic) innerlich verjihut und zur Harmonie mit der ſittlichen Weltordnung läutert, und nun in den Olymp feinen feierlichen Einzug Halt, umjauchzt von den Tanjenden, denen er Wohlthiter und Befreier war. Auch in Beethoven's Heroica ift das Tragiſche de8 Heldenthums und feine Apotheofe vereint; es geht durd) Kampf zum Sieg, es triigt den Schmerz des Lebens, die Todtenflage erſchallt in dumpfen Tranertinen, ehe der feier- liche Triumphgefang der Mit- und Nadhwelt feinen Subel an- ſtimmt.

4, Das Sdhine im Entwidelungsprocef: a. Das Tragifde. 197

Die bildende Kunſt fann im Fluſſe der Zeit nur einen Augen- blick fejthalten, darum wird es ihr ſchwer diefen fo zu wählen dag man das Vorhergehende und Nadfolgende klar erfennt, und jo die durch Schmerz; vermittelte Luft des Tragijden empfindet. Auf dem Felde der Plaftif gelang es dem Bildner der Niobe. Wir jehen in der Hobheit ihrer Gejtalt den Stolz; der Mutter dic im Gliic der Mutterliebe fic) überhob, diefe aber aud) im Unglück bewahrt, wir ſehen cin unermeplides Weh über fie fommen, aber fie rettet ihre Wiirde, fie triigt es mit edler Faffung, und wenn aud) im Untergang ded Srdifden fid) die ewige Geredtigfeit ver- fiindet, fo zeigt fid) cben in der Darjftcllung des Ganzen die Wirk— fichfeit der Sdee und damit die Schönheit.

Tragiſch erſchütternd ijt die Zerſtörung Troias von Cornelius. Priamos ijt erſchlagen, Hefuba verfteint im Schmerz, der wilde Pyrrhos fdjlendert den kleinen Aftyanay in die Flammen; Mene— {aos greift nad einer der Priamostidter; Helena lehnt an eine Säule halb ohnmidtig; wir erfennen in ihr den Grund des Untergangs der Stadt, die des Ehebrechers Sade zu der ihrigen madte, die Entfiihrte dem Gatten nicht zurückgab. Griechen ver- theilen dic Siegesbente. Den Aeneas fiihrt dic Gnade der Sitter, die ex tren verehrt, aus dem Einſturz der Vaterſtadt zu neuer groferer Beftimmung, er zeigt feinen edeln Sinn in der Rettung des Vaters, des Kindes, der Penaten. Ueber jene Mittelgruppe erhebt fid) groß und herrlich die Seherin Kaſſandra, gotthegeiftert erfennt fie den Zujammenhang der Dinge, im gegenwiirtigen Leid die Buße der Sehuld, und die fiinflige Strafe fiir die Frevel welche jest gefdehen.

ine gemalte Tragddie ijt aud) Kaulbach's Zerſtörung von Serujalem, als göttliches Strafgeridjt im Zuſammenhang der Weltgeſchichte dargeftellt. Die Propheten in der Hohe deuten auf die Mahnungen Hin die fie vergebens verfiindigt, und enthiillen damit die Sduld ded Bolfs, die im Tro der Heerfiihrer vor dem brennenden Tempel, in den grauſen Müttern die das Rind jdjladten wollen, im Ahasveros anch als gegenwirtig veranfdau- licht wird. Der Siegeseingug der Romer vollftrect das Geridt, aber Eleazar erträgt das Verhängniß mit der Wiirde und Kraft des alten Volfsthums, er gibt fid) felbft den Tod um das Vater- land nidjt ju überleben. Die von Engeln geleitete Chriftengruppe wirft verſöhnend, fie zeigt mitten in den Schrecken der Vernich— tung ſelbſt die göttliche Gnade, die den gum Heile führt der fic

198 I. Die Idee des Schönen.

ergreift und walten läßt. Und ſo erblicken wir im Ganzen den Sieg der Idee über eine widerſtrebende Welt und haben in der wohlgegliederten und künſtleriſch abgerundeten Darſtellung ſelbſt das tragiſch Schöne vor Augen, oder das Tragiſche wie es inner- halb des Schönen ftebt.

Bujammenfaffend und abſchließend fonnen wir fagen: Wenn das einzelne Schöne gerade feiner Grife nad) mit dem WAbfoluten dadurd in Conflict geräth dag ed nicht durd) Selbftaufopferung ſondern durch Selbſtſucht mit thin eins werden will, wenn es cin bejonderes Gut gum alleinigen und höchſten madt und damit an- deve Pflichten verfennt und hintanſetzt, jo wird ed tragijd, und die Schuld der Ueberhebung oder der verletzten Rechte verlangt durd) Yeid und Bue die Verſöhnung mit dem göttlichen Willen, der Hier als das Schickſal erſcheint, welches jede Vermeffenheit auf das wahre Mak guriidfiihrt, aud) das einjeitige Recht und jede nod) jo herrliche Richtung der Seele die fid) ausſchließlich geltend machen will, der Sdce und Harmonie unterwirft, damit aber gerade dieſe verwirflidjt, und jo das Gemiith fiber die ſchwe— ren Webhen und Kämpfe des Lebens zur frendigen Anjdauung und ſiegreicher Schönheit erhebt. Dies gefdicht aud) dann wenn im Leiden und durd) das Yeid der innerfte verborgene Adel der Seele ſich enthiillt, oder wenn im Opfermuthe des Geiſtes feine Erhaben- Heit und Freiheit in ihrer todiiberwindenden Stärke fic) bewährt. „Ich möchte der Bergpredigt nod) den Sprud) anfiigen: Selig jind denen Gott ein Leid fendet das fie zur Unfterblicdfeit läu— tert”, fo jdjried mir Julius Moſen von feinem Sdmerzenslager jum Troſt, als durch den Tod der geliebten Gattin mein ſchönſtes Erdenglück verfunfen war. Schmerz und Liebe erziehen die Seele und Lafjen fie reifen fiir das Ewige.

b. Das Komifde.

Seinen Gegenjag hat das Tragiſche am Komiſchen. Dies belujtigt uns mit den Fleinen Widerfpriiden des gewöhnlichen Dajeins, es bringt uns zum Lachen, wir meinen in einer tollen Welt ju ftehen, und dennod) bleiben wir im Schinen, und das Komiſche jteht mit dem Tragifden in der gemeinjamen Sphäre der Verwirflidjung der Idee trog einer widerftrebenden Erſchei— nungswelt und mittels der Auflöſung derfelben.

Das Lächerliche, fagt Sean Paul, hat von jeher nidt in die

4. Das Schöne im Entwidelungsproceh: b. Das Komiſche. 199

Definitionen der Philofophen hincingehen wollen ausgenommen unwillkürlich; und Zeiſing hat danad) fid) den Spaß gemadt in jeinen Aefthetifden Forſchungen die befannteften Definitionen vor- zuführen und nachzuweiſen wie fie felbft nad) ihrer eigenen Be- ftimmung lächerlich find oder ihre Wuffteller eine komiſche Figur maden. Der Grund liegt aud) hier darin daß man in einen Sak einfangen wollte was cine längere Entwidelung ift, daß man iiberjah wie das Romijde niemals als cin Fertiges, fondern im- mer als ein Werdendes anftritt, und als ein Schönes aus der Aufléfung widerftreitender Elemente im Zuſammenwirken eines Segenftindlidhen mit dem menſchlichen Geifte ſich erzeugt. Wir werden alfo lieber den Verlauf diejes Proceffes ſchildern um zur Einſicht in die Natur des Komiſchen hinzuführen, und da zeigt es fid) daß alle die iibliden Definitionen etwas Richtiges haben, in der Regel aber nur einen Moment fefthalten, oder Merfmale angeben die nicht überall paſſen. Nur daß man nirgends das Komiſche als cinen dialektiſchen Gegenjay gegen das Shine nehme, wie fo vielfad) gefdehen ift, joudern fefthalte daR wir innerhalb des Schönen ftehen.

Nichts ift an fic) fomifd) oder lächerlich, erſt der Geift macht eS dazu, es wird erft im anffaffenden Gubjecte. Zum Lachen gee Hirt einer der ausgeladt wird, aber vor allem ciner der auslacht, der den andern lächerlich findet, und gar oft wird durd eine und diefelbe Gache von zweien der cine beluftigt, der andere gedrgert. Durd nichts bezeichnen die Menſchen mehr ihren Charafter als durd) das was fie lidjerlid) finden, äußerte Goethe einmal, und Bijder hat folgende Scala der Lacher entworfen: ,,Der Hans- wurft benugt Strafenjungen als Gegenftinde des Lachens fiir das Publifum; unter jenen mag ſelbſt ſchon einer oder der andere jein der mitlachend in die Komik, durch dic er leidet, fret eingeft; Bauern laden iiber da8 Spiel das dev Hanéswurft mit den Bune gen tretbt; ein Pedant lacht über das Laden der Banern; ein wirklich Gebildeter lacht über dieſes Verlachen des Lachens.” Für ein göttliches Auge wird unſer ganzes irdiſches Treiben eine Ko— mödie fein, fiir die Shakeſpeare ſchon die Titel gefunden hat, fie wird bald Viel Lärmen um nidts, bald das Luftfpiel der Srrun- gen heifen, bald Wie es end gefällt, bald Ende gut alles gut. „Es geht nirgends wunderlider gu als in der Welt” ſchrieb ein— mal Glifabeth Charlotte von Orleans,

Wen wir ausladen, wer für uns komiſch ift, iiber den erheben

YOO I, Die Sdee des Schönen.

wir uns, er erſcheint uns alfo nicht erhaben, vielmehr das Gegen- theif, klein und nichtig. Wher lange nicht alles Kleine ift lächerlich, es wird cs nur dadurd) dak es etwas Befonderes fein will, oder daß feine Unvollfommenheit als jolde uns fidtbar entgegentvitt. Sean Baul ſagt daß wir über cinen angefdauten Unverftand fadjen. Dies führt uns gleich auf die rechte Spur. Die Wider- ſprüche und Verfehrtheiten des Lebens find bald cin quälendes Räthſel fiir unfern Verftand, bald cin ſchmerzlicher Angriff auf unſer fittliches Gefiihl; waren fie das Bleibende und Geltende, fo wiire dic Schönheit aufgehoben. Wenn fie aber als Verkehrt— heiten und Wider[priide vor unjere Anſchauung treten, wenn wir fehen dag fie cin thiridtes, haltlofes, fid) ſelbſt auflöſendes Trei- ben find, dann entbindet fic) unjer Gemiith von dem Drud und dev Schwere ciner ideenflofe oder der Idee entgegenftehenden Realität, die momentan auf ihm laften wollte, und ſchüttelt lachend dieſelbe von ſich ab, indem es fic) darüber in das Wohlgefühl der eigenen Sdealitit und Geſundheit erhebt. Im Komiſchen ift immer etwas das uns verblüfft oder dofirt, und wenn ed beftehen bliebe, fo wiirde es uns verwirren und drgern; aber indem es zugleich ant ſeinem cigenen Widerjprud) zu Grunde geht, damit die Nich— tigfeit des Verkehrten aufzeigt, löſt fid) die Diſſonanz, und dies anzuſchauen erheitert uns wieder und gibt uns die Gewifheit daß nur das Gute, Schone, Wahre aud) das Wirklide und Dauernde ijt, und das Verjtiindige aud) das Beftindige. Beijing ſpricht darum von cinem Miſchgefühl von Verwunderung und Behagen, das fic) naturgemäß cinftellt, wenn wir cinen gegen uns anriiden- den Feind plislic) fich felbft aufreiben fehen, und vergleidt die Widerfpriidje tm Gegenftand, deffen Unvollfommenheit uns dhofirt, jenen beiden fic) ſelbſt auffreffenden Löwen, die nichts iibrig laſſen al8 die Schwänze. Die Zweckwidrigkeit mug uns als folde, das heißt in ihrer Selbfizerftirung anſchaulich fein, dann erzengt fie dadurd) in uns das Wohlgefühl der Zweckmäßigkeit, und das Bewußtſein dak wir felber, die wir ja beftehen bleiben, in das Reid) diejer lestern gehdren; deß freuen wir uns auf Koſten der widerſpruchsvollen Scheinexiſtenz. Go lachen wir iiber den Trunfen- bold, dev fic) Heute vorgenommen hat nicht ins Wirthshaus ju gehen, und als er glücklich voriiber ift umfehrt um fic) fiir feine Enthaltjamfcit beim Schoppen durd) die Seligkcit eines Rauſches ju belohuen. Wir laden über den Bauer der fic) das Abſägen des Aſtes damit erleichtern will daß ev fic) auf das äußerſte Ende

4, Das Schöne im Entwidelungsprocefy: b. Das Komifde. 201

jest, und der mit dem letzten Zug ju Boden fallt. Wir laden liber den Geighals der um wieder gu feinem Thaler ju fommen, welden er einem armen Barbier gelichen, fid) von demfelben einen Zahn ausziehen und ſchröpfen (apt ohne dak ihm etwas fehlt. Cin Geldprotz hört ftreiten ob die Oeſterreichiſchen Staats- papiere um */, oder °/, °/, geftiegen feien und fagt: Entſchuldigen Sie, um '/, yo; dev °/, gefagt hatte bemerft ihm das fet ja einerlei, und jener verfest: Das mag fiir Sie nidjts ausmachen, bet cinem Vermögen wie meineds aber gehts in die Taufende. Gin anderer will nicht im Pelz photographirt fein, fondern im grad, weil fonft das Bild im Sommer nidt paffe, wo man feinen Ueberwurf trage; der launige Photograph geht darauf cin und will auf dem Bel; beftehen, weil wir die meifte Zeit des Sahres dod) ſchlecht Wetter haben, aber: jener will das Bild dem adeligen Schwiegerſohn ſchenken, zu dem man nur im Frac fomme.

Wir laden iiber den Unverftand der fic) blofftellt, der fic dadurd) anſchaulich madjt daß er fein eigenes Werk vereitelt. Dahin können wir die Definition ded Aviftoteles auflöſen daß das Lächerliche das unſchädliche Häßliche fei. Freilich tft nod lange nicht alles ungefährliche Häßliche lächerlich, und andererſeits ſtehen wir mit dem Häßlichen als ſolchem außerhalb der Sphäre des Schönen. Wenn Köſtlin doch wiederum das Komiſche eine Ent— ſtellung oder cin Vergehen von nicht trapriger und verderblicher Art nennt, und damit fertig ijt, jo finden wiv darum weder den Sprung in cinem Bierglas nod) die Scharte in cinem Meſſer oder unjern Srrthum in Bejug auf cine Jahreszahl liderlid, aud) ijt uns die Bornirtheit feinesiwegs ohne Frage fomifd, ſon— dern langweilig und bedauerlid); fomifd) wird fie erft wenn fie fic) fiir gefdjeit gibt und dadurd blofftellt, der Widerſpruch alfo fid) aufldjt, Der Cujtode im Dom zu Kiln zeigt die Schädel der Heiligen drei Könige. Aber es find ja Rindsfipfe! bemerft cin MNaturforfder. Go find’s chen die Schädel der Heiligen drei Könige als fie nod) Kinder waren! verfest der kirchliche Führer. So wird er lächerlich, vorher war die Verehrung faljder Reli- quien nur abgefdmadt. Zwei Ungarn leſen um fic) im Deutſchen ju üben Goethe’s Gedidte. Der Cine trägt vor: „Dem Vater graufets, er reitet geſchwind, er Halt in den Armen das achtzehnte Rind!“ „Das ächzende“ corvigirt ihn der Freund. „Das Sedh- zehnte? Wirt cine ältere Ausgabe haben, ijt jetzt dad achtzehnte“. Aber wie viele wiffenfdaftlid) fein follende Beweife klingen an

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den andern Ungarn an, der cin Freund von Alterthitmern war, und mit einem feltjamen halbverwitterten Bfeifenfopf in Gefell- ſchaft erſchien. Wie kommſt du gu dem alten Klöbchen? wird er gefragt. „Iſt die Pfeife Attila's.“ Rann nit fein, damals hat man nod) nicht geraudt. ,Was? Du bift im Srrthum. Man musk wohl fdhon geraudt haben, Beweis: dak id) feine Pfeife habe!“ Wenn es feine Geifter gabe, wie finnte man fie photo- graphiren? Hier ift aber cine Geifterphotographie, alfo leugnet fie nicht länger fo hört' id) einmal cinen Profeffor fagen. Das Komiſche ift nichts Fertiges, ſondern Bewegung, und fo ijt der Act der Auflöſung eines Häßlichen, wodurd dies unſchädlich wird, allerdings eine feiner Bedingungen, dod) hört damit das Häßliche als ſolches auf, und fomit ftellt ſich für unfer anfdanen- des Bewußtſein das Shine alS das allein wahre Sein wieder her. Darum können wir allerdings aud) über Schlechtigkeiten ladjen, die uns empören würden, wenn fie beftiinden, wir können liber fie facjen, wenn wir fie fehen wie fie durch fich felber ju all fommen. Semand wird iiber cine Wunde an der Nafe be- fragt, er antwortet daß er fic) Hineingebiffen Habe; man macht ihn anf die Unmöglichkeit aufmerffam, und er verſetzt: daß er aud) dazu auf cinen Stuhl geftiegen fet. Go lachen wir iiber die Miindhanjeniaden, weil fie Parodien des Liigens find, wenn er am cigenen Zopf fid) aus dem Sumpf zieht, oder mit dem Wolf weiter fährt, der ifm da8 Sajlittenpferd auf und fid) in das Geſchirr Hhineingefreffen auf der Reife im Rußland; wir glauben nur einen Augenblic an die Möglichkeit, die Unmiglidfcit leuchtet von ſelbſt cin. Es ift immer nur der erfte Cindrud der uns ver- wirren oder zum Widerſpruch und Widerftand reizen darf, aber der Segenjtand mug uns von diejer Irritation felbft dadurd) be- freien daß er fic) felber anfhebt. Darum laden wir auch iiber Galftaff’s Liigen, weil fie fo grof und did find wie ihr Vater jelbft, weil ihre Unglaublicdfeit in die Augen fpringt und wabrend der Erzählung aud) vom Didter hervorgehoben wird. Falftaff’s Strafenraub geht fo vor fid) dak wir vorauswiffen die Beute wird ihm wieder abgejagt und das Ganje wird thm jum Spotte liber Feighcit und Prahlerei, gibt ihm aber zugleich Gelegenheit jeinen Wit zu zeigen. Falſtaff's ehebrecheriſche Geliifte in den Yuftigen Weibern von Windſor find an fid) gar nichts Lächer— lidjes, jondern eine Schlechtigkeit und als jolde widerlich, aber der Herr Ritter meint er thue den Bürgermännern nur cine

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Ehre an, wenn er fie kröne, und die Biirgerfrauen müſſen ſich feine Gunft Hod) anvedjnen, und er erfährt nun und der Zuſchauer mit ihm was died verlebte lüderlich gewordene Ritterthum iſt, alte Wäſche die man in den Korb pact und in das Wajfer ſchüttet, cin Gefpenft dem Kinder den Bart verfengen und der- gleiden; es erſcheint in feiner Nichtigkeit, und dadurd) beluftigt es uns.

Für den gefunden Sinn des Vols ijt der Teufel ein dummer Teufel; er will das Boje und mug dod) dem göttlichen Willen und Weltplan dienend das Gute fdaffen; die mittelalterliden Mifterienfpiele und Moralititen haben darum den Teufel und das Lafter als komiſche Figuren behandelt, indem fie die Verfehrt- heiten und Widerfpriide derfelben ans Licht jogen; aud) Dante an cinigen Stellen der Holle, 3. B. am fiedenden Blutmeer der Blutvergiefer, beluftigt fid) mit den Dicnern der Holle, und Goethe hat im Mephiftopheles von Anfang an den Schalk betont und ifn am Ende durd) cigene Thorheit fid) felber um feinen Zweck betriigen laſſen.

Dies zweite Moment im Komiſchen, die erſcheinende Selbſt— zerſtörung des Widerſpruchs, hatte Kant bemerkt und hob er ein— ſeitig hervor, als er ſagte: das Lächerliche ſei die Auflöſung einer Erwartung in Nichts. Aber wie mancher Erwartung geſchieht dies ohne daß ſie komiſch wäre! Wir erwarten einen Freund mit dem Eilzug auf der Eiſenbahn, aber die Stunde hat längſt ge— ſchlagen, endlich hören wir der Zug kommt nicht, weil die Maſchine gebrochen iſt, und es iſt uns gar nicht zum Lachen. Eine Span— nung iſt immer vorhanden, wir müſſen durch den Widerſpruch chokirt oder ſtutzig ſein; er erheitert uns wieder, wenn er von ſelbſt in ſich zerfällt. Es geſchieht etwas anderes als der Anfang erwarten ließ. Der Wetterauer Bauer hat der bettlägerigen Ehe— hälfte eine Suppe gekocht, und die Frau ſagt dieſe Suppe möge ſie nicht, die ſei flau und matt, da erwidert er: Weißt du was, ſo thu' ich noch etwas Butter dran, und eſſe ſie ſelbſt. Der vierſchrötige Sachſenhäuſer lehnt ſich in der Paulskirche zur Par— lamentszeit auf einen vor ihm ſitzenden feinen Herrn, und als dieſer ſich halb verwundert, halb verzweifelt umblickt, fragt er: Genir' ich Sie vielleicht? So ſagen Sie's nur und ich haue Ihnen auf den Kopf daß Sie gewiß Ihr Maul halten. Ein Epigramm von Leſſing lautet:

204 I. Die Idee des Schönen.

Bon weitem ſchon gefiel mir Phafis ſehr; Nun id) fie in der Rahe

Von eit yu Leiten fehe,

Gefallt fie mir aud) nicht von weitem mebr.

So urtheilte Yeffing von einem’ Buch: es enthalte viel Gutes und Neues, nur fdade daß das Neue nidt gut und das Gute nidjt neu fet; oder Schiller von den Minneliedern: da fei der Hriihling der fommt, der Gommer der geht, und die Langeweile die bleibt. Man madt etwas Werthlofes damit lächerlich daß man die Erwartung erregt als anf etwas Befonderes, und es dadurd in feiner Blige hinftellt, und wenn das Unerwartete oder die Auflöſung einer Erwartung in Nichts diefen Charafter hat, daß nämlich dadurd) cin Widerfprud) oder Unverftand jeinem Weſen nad) offenbar und anſchaulich wird, wenn wir verbliifft und befriedigt gugleid) find und unjere Erhebung iiber das Ver— fehrte genieBen, wenn wir in dem BZerfallen des Gebrechlichen, das dod) was gegen uns fein wollte, unferer unerjdiitterten Ge- ſundheit bewußt werden, dann lachen wir.

Der ,,baumwollene Schlafmiigenhindler’, dev in dem Wald Oſtindiens fic) zur Ruhe legt, aber nad) feiner philifterhaften Gewohnheit aus der Hetmat aud) dort eine weiße Kappe aus dem Pa hervorzieht und fiber die Ohren ſtülpt um fic) ja nicht gu erfiilten, er wird unter den Palmen ſchon ju einer fomifden Figur. Das ftcigert fid) und wird anfdaulid), wenn jest die Affen von den Bäumen fteigen und es ihin nadthun. Cr erwadt und fieht verzweifelud den leeren Gack und auf den Baumen die geſichterſchneidenden Affen mit den Schlafmützen auf dem Kopf. Rornig reift ev die feinige herab und wirft fie ju Boden. Sofort thun die Affen es ihm nad, und die weifen Kappen fliegen ju jeinen Füßen wieder ju cinem Pad zuſammen. Best fann er {aden und wir mit ihm; da8 ihm Schädliche des thierifden Nach— ahimungstriebes hat fid) ihm wieder zum Nutzen verfehrt, und er veranlafte eS durd) den Zornesausbruch, der dies gar nidjt beabjidjtigte. Wenn uns hier der Unverftand des Affen in der Nachäffung des Menjdjen bejonders dadurch beluftigt dak er fein cigencs Werf wieder aufhebt, fo überraſcht und ergdgt uns bei einem andern Wffen die Aeugerung des aufddmmernden Verftandes im Unverftindigen. Derfelbe liegt hinter dem Hund unter dem Ofen, ſodaß feine Naje aus der Hinterpforte des Hundes beftriden wird; cinige mal, wenn dies gejdicht, ſchüttelt ev fich, dann aber

4. Das Sdhine im Entwidelungsprocef: b. Das Komifde. 205

fteht er anf, holt einen Rorkftopfen und ein Scheit Holz und ver- pfropft die ifmt unangenehme Oeffnung.

Sehr finnig definirt daher Arnold Ruge: „Die Crheiterung, dex GSeiftesblig der Befinnung in dem getriibten Geift ijt das Komiſche.“ Es fegt cinen Druck, cine Spanning, einen Wider- jprud) voraus, und ift die Luft in der Befreiung und Auflojung, damit in der Wiederherftellung der Heiterfeit des Geiſtes und der Idee. Voltaive nannte Hoffnung und Sehlaf das Gegengewidt gegen dic Mühſeligkeiten des Lebens. Er hätte anc) mod) das Lachen Hhinzufiigen können, bemerft Rant, und Solger pried das Lachen als den erfrijdenden Thau vom Himmel, der uns vom Elemente der Gemeinheit rein wäſcht, in unfern Bemithungen ums Hohere erquidt. Das bösartige Hohuladen freilid, in wel- chem die Gemeinheit iiber das Ideal zu triumphiren meint, wenn fie fieht wie aud) dem Edeln cin Flecken anhaftet oder cin Unglück widerfihrt, diejer momentane Triumph der Häßlichkeit ift freilid vom echten Laden über das Romifde zu unterſcheiden, das viel- mehr die Freude dariiber ijt dak das Häßliche und Widerwärtige wie es empfunden wird zugleich auch burd) fic) felbft verſchwindet. Dieſe afthetijde Crheiterung ift darum and) fein geiftlos rohes Gelächter, das fic) in feiner Grundlofigfeit felbft lächerlich macht. Und darum durfte Diderot behaupten dak das Lachen der Prüf— ftein des Geſchmacks, der Geredjtigfeit und der Giite fei; das äſthetiſche iſt wohlwollend Heiter. ,,Dieweil des Menſchen Fiir- recht Laden ijt’, ſagt Rabelais. Der Ataliener Firenzuola nannte in einer Schrift über weiblide Schinheit das Laden ein Erglän— zen der Seele. Ladjend heißt man in Perſien die reif anfgefprun- gene Granate, deren zartrothes Fleiſch die Kerne wie Perlenzähne durchſchimmern (gt. Dſchelaleddin Rumi fingt:

Kaufſt du Granaten, wähle lachende,

Lachend des Kernes Pracht kundmachende; Selig das Lächeln wo entſtrahlt dem Munde Ein Perlenherz aus reiner Seele Grunde!

Betrachten wir den Vorgang des Lachens, ſo entſpricht er unſerer Schilderung vom Proceß des Komiſchen: wir öffnen etwas den Mund wie vor Staunen, zeigen aber auch etwas die Zähne wie zur Abwehr, ziehen uns zurück und halten den Athem an, aber das alles nur für einen Augenblick der Spannung; durch die angeſchaute Auflöſung des Widerſpruchs folgt auch zugleich die

206 I. Die Idee des Schinen.

Löſung fiir uns, in der Erſchütterung des Rwerdfells ſchütteln wir den Dru ab, der auf uns laſten wollte, und in dem raſch— befdleunigten Athmen ſchlägt der Puls des Lebens ſchneller und erhöht fic) deffen Wohlgefühl. Die unnöthigerweiſe beengte Bruft fprudelt ihre Lebensfraft um fo freier aus.

Ernſt Heer, ein Arzt gu Görlitz, betonte nun dak man ebenſo beim Komiſchen als infolge des Kitzels lacht; er unter- judjte das letztere und fand dak hier das Ladjen weit entfernt etwas Rufiilliges oder angewihnt Willfiirlides gu fein vielmehr auf einer weifen Vorſorge der Natur beruht, eine beftimmte materielfe Aufgabe erfüllt. Leichte Hautreizungen bewirfen eine Verenge— rung der Blutgefäße und dadurch eine Beſchleunigung des Blut— umlaufs. Das hängt wie die Vergrößerung der Pupille vom nervus sympathicus ab. Werden nun beſonders die kleinen Arterien der weiden Hirnhaut verengert, fo droht aus der plig- lichen Verminderung ded Blutdruds Gefahr fiir das Gebhirn; und es ſollen zur Beit der Snquifition Leute zu Tode gefitelt worden fein; Simpler Gimpliciffimus erzählt dak feine Aeltern vor Laden geftorben ſeien al8 die bifen Soldaten des Dreifig- jährigen Kriegs fie feftgebunden, ihnen die Fupjohlen mit einer Salzlöſung beftriden und Riegen daran fecen gelaffen. Cine inehrfade Modification des Athmens aber wirft der Gefahr des Wechſels im Blutdrud entgegen. Das Cinathmen befdleunigt das Blut in den Venen nad dem Herzen hin, das Ausathmen férdert die Circulation in den Arterien und erſchwert den Abfluß des Venenblutes. Das Laden nun verſchließt die Stimmritze, jteigert den Gyfpirationsdrud und hemmt dadurd) den Rückfluß des Blutes nad dem redjten Herzen. Die Venen werden iiberfiillt. Dadurch wirft der Verminderung des Blutdruds durd den Rigel das Lachen mit feinen forcirten Ausathmungsbewegungen durd) Steigerung des Blutdruds entgegen. Wie der Rivel fo ijt aud hier die Athmungsbewegung eine rhythmijd) intermittirende. Da- durd) wird der nervus sympathicus intermittirend gereizt, die Gehirngefäße zuſammengezogen und erweitert in rafdem Wechſel. So haben wit Spannung und Löſung, und fo liegt aud) im Ro- mifden immer etwas das uns unangenehm beriihrt und worauf dod) ein Angenehmes folgt. Widerſpruch misfaillt, Uebereinftim- mung gefillt; das Lächerliche verlangt einen Rampf beider Ge- fühle; fie miiffen mit einiger Plötzlichkeit aufeinanderſtoßen, und da bei der Enge unfers Bewußtſeins immer nur Cine Vorftellung

4. Das Schöne im EntwidelungsproceR: b. Das Komiſche. 207

in ifm als ſolche gegenwärtig ijt, jo miiffen fie rafd) miteinander wechſeln. Wie gs wet verſchieden gefärbte Lichtſtrahlen, welche den- ſelben Punkt unſerer Netzhaut treffen, die Empfindung des Glanzes erregen, ſo hat Firenzuola das Lächeln ein Erglänzen der Seele genannt; wir haben einen Wechſel von Eindrücken, der zur Ein— heit der Empfindung verſchmilzt. Das Komiſche als eine rhythmiſch unterbrochene, aus Unangenehmem zum Angenehmen entbundene Gefühlserregung ſtimmt mit dem Kitzel überein; wir haben eine wiederholte frendige Ueberraſchung, die durch ein entgegengeſetztes unangenehmes Gefühl hervorgerufen wird; Verengung und Er— weiterung der Blutgefäße; es iſt dieſelbe Reizung des Sympa— thieus, und beidemale antwortet das Lachen in zweckmäßiger Weiſe.

Die ſinnliche Erſchütterung und ſinnliche Luſt überwiegt im Komiſchen, während im Tragiſchen das Ergriffenſein und die Befriedigung des Geiſtes vorwaltet. Gegen die zu hoch geſteigerte Geiſtigkeit lagert ſich die chniſche Derbheit des Komiſchen, damit wir nicht vergeſſen daß wir doch alle nackt in unſern Kleidern ſtecken, und gerade die gemeinſte irdiſche Bedürftigkeit macht ſich aus dieſem Grund im Komiſchen breit, und hat als Gegenſatz gegen die ſpiritualiſtiſche Einſeitigkeit ihr Recht, wie wenn bei Ariftophanes dem Sofrates, der mit offuem Munde philojophirend gen Himmel ftarrt, ein Wieſel vom Dach etwas Unreines in den Mund fallen (apt, und dadurd ihn aus ſeiner Vertiefung zurück— tuft. Ariftophanes tadelte zwar feine Genoffen daß fie auf der Biihne mehr den Gegenpol des Mundes als diefen ſelbſt faut werden ließen, er ſelber ift aber dennod reich genug an folden unterleibliden Gewitteranalogien. Gr jelber preift die gute alte Beit, wo man fid) von der Laft der Mahlzeit des vorigen Tages auf fretem Feld entledigt und zur Reinigung fic) eines ſpitzen Steins bedient habe, und die gepriefene gute alte Zeit tritt damit jelber in eine fomifde Beleuchtung. Rabelais (aft feinen fleinen Gargantua fic) dadurd als cin anſchlägiges Biirjdlein erweijen dak er Studien anftellt was dazu geeigneter fei als das Stein- chen der guten alten Zeit, und daß er bet dem Reſultat anlangt: das Beſte fei ein junges nod) ungefiedertes flaumigweides warmes Gänschen.

Hatte aber Napoleon recht zu ſagen: Du sublime au ridi- cule il n’y a qu'un pas? Go allgemein gewif nidt, wiewol es ifm taufendmal nadjgefprodjen worden und Sean Baul und

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nad) ihm Viſcher und tro unferer Warnung Loke das Erhabene und da8 Komiſche unmittelbar zujammenftellen. Wo liegt fiir den Montblanc oder den Sternenhimmel, wo fiir den Phidiaſiſchen Reus und den Aeſchyleiſchen Prometheus diefe Nähe des Liicher- lidjen, da von ihnen gu diefem nur ein Schritt wire? Oder Mofes und Chriftus, Karl der Grofe und Napoleon felbft, find fie nidjt erhaben und ſchlagen fie irgendwie oder wo in Lächerlich— feit um? Der Ausſpruch Napoleon’s war anders gemeint, er trifft dasjenige was an fid) nicht erhaben ijt, aber fic) den Schein des Erhabenen gibt, hodtinende Phrafen die von feinem Gehalt erfüllt werden, eine fid) aufſpreizende Gravitiit die von feiner in- nern Wiirde getragen wird, fury das Reine das die Maske der Größe vornimmt ohne fie anszufiillen, den Efel mit der Löwen— haut, der aud) nocd durd) Gebrüll ſchrecken will und fid) durd) jein Ya verräth, oder den Froſch der fid) gum Odjen aufblähen will und dariiber jerplagt, und der dadurch gerade cin recht augenſcheinliches Beifpiel fiir da8 Komiſche ift. Cin Gegenftand der die Erhabenheit zur Schau tragen will ohne fie zu befigen, macht ſich lächerlich ſobald eben dieſer Widerfprud des Seins und Scheins zu Tage kommt und das eitle Streben ſich dadurch in ſeiner Hohlheit bloßſtellt. Wer ſich überhebt der thut damit etwas Verkehrtes und erweckt in andern die Luft ihn dies em— pfinden gu laſſen. Go fagte Voltaire von J. B. Rouffeau’s bom- baftijher Ode an die Nachwelt: fie wird niemals an ihre Adreffe gelangen. „Ich rufe Geifter aus der Erde Tiefen!“ riihmt fid der pathetifde Owen Glendower, und will den Mitverſchworenen in Shafefpeare’s Heinvid) LV. damit imponiren. „Ich auch, fie fommen aber nicht“ verjegt rafd) Perch Heißſporn. Darum heftet fic) die Komödie gern als Parodie an die Ferfe der ſchlechten Tragddie, und die Sduld wird mit der Verhingnigvollen Gabel aufgefpeift. Als Bandinelli eine Yaofoonsgruppe madte, welde die des Alterthums iibertreffen jollte, zeichnete Tizian ſeine Lao- foonsaffen, drei Orangutange in der von jenem beliebten Stellung von Sdlangen umwunden. Bn der Ode anf einen Granatbaum, der im Sande der Stadt Berlin gediehen, hatte Ramler immer feilend aud) die Stelle fertig gebracht:

Berfolgt der Weſen lange Kette Bis an den allerhichften Ring, Der an Reus’ Ruhebette

Hängt, hangen wird und bing.

4, Das Schöne im Entwidelungsprocef: b. Das Komiſche. 209

Die Xenien ſprachen darnad von Ramler’s Arbeit: ,,der an des Nachbars Reim flicten wird, flidte und flict’. Gegen die cin- fade Größe de8 wahrhaft Erhabenen verfiingt feine Barodie, wer fie verſucht der geräth in Gefahr fic) felber lächerlich gu machen. Es war ein Misgriff die Slias durch cine Komödie parobdiren ju wollen, es mußte das einem Shafefpeare felber mislingen, als er gereizt gegen die fic) iiberhebenden Freunde des Alterthums und die cinfeitige Ueberſchätzung deffelben gerade den Urvater der Didhtfunft zur Zielſcheibe ſeines Wikes in Troilus und Creffida machen wollte. Auf PHidias oder Rafacl laffen fid feine Caricaturen jeidjnen, es fiihrt von der erhabenen Ginfalt des vollendet Schönen fein Steg ins Gebiet des Lächerlichen. Dagegen wenn BVergil’s grofwortiger Held fich iiberall felbft als den frommen Aeneas einfiihrt, und den Römern der Raiferjeit nur die alte Riiftung der homerifden Helden angezogen wird, dann ergötzt es uns, wenn er fogleid) bet dem Willkommseſſen, das ihm Dido gibt, in der Witte einer grofen Paftete ganz aus Butter abgebildet dafteht, wie in uns Blumauer gejzeigt hat. Im Komiſchen feiert und genieft das lachende Subject feine Erhebung über das verlachte Object; der Geift, eines Orudes und einer Gpannung ledig, freut fic) feiner Freiheit, indem er fieht wie das ihm Widerſprechende fic) felber blamirt oder jerjtirt. Sn jeiner Freiheit und SGelbjtthitigfeit läßt er aber die Dinge nicht blos an fic) heranfommen um durch ihre Licherlichfeit zum Lachen geretzt zu werden, fondern er geht ihnen entgegen und auf fie cin um an ihnen feine Madt und Herrſchaft zu erweifen, nad ſeinem Verſtand und Willen fie zurecht zu ftellen, fein Spiel mit ihnen ju treiben, die feinen Widerfpriidhe aufzufuden oder den Gegenftiinden felbft erft weldje gu beretten. Dieſe freithitige Komik des Geiftes ift der Wik. Das deutſche Wort kommt von wiffer, gewibigt heißt einer dem feine Verderbtheit durch) bittere Erfahrung ausgetrieben, der nun flug geworden und zu iiber- {egenem Wiſſen gefommen ijt. Das englifdhe spirit, das fran- zöſiſche esprit ift derſelbe Ausdruck fiir Geiſt und Wik. Wik ift bas Auffprudelnde, nicht an der Scholle Klebende, Leichtbewegliche, liber der Welt Schwebende und fie nach feinem Ginn VBerwendende im Geift. Unſer Denfen ijt ei Unterjdjetden; die Unterſchiede der Dinge klar und ſcharf zu bejtimmen und damit jeglides in jeiner Gigenheit feftzuhalten ift die Thätigkeit des Scharfſinns, wihrend der Tieffinn in die Tiefe finnt, das heift die gemeinjame Carriere, Mefthetif. I. 3. Aufl. : 14

210 I, Die Idee des Schönen.

Ginheit und den allgemeinen Lebensgrund in allem Mannidfaltigen und Befonderen erſchaut. Der Wik läßt aber die Welt nicht beftehen wie fie ift, fondern er combinirt die Dinge nad) ſeinem Belieben, er bringt das Cntlegene zuſammen und findet nene Be- ziehungspunkte heraus, aud) jolche die er erjt ſchafft, und wodurd er etwas Neues erzeugt. Ccharffinn und Lieffinn gehiren der Sntelligen; an, der Wik ift Sache der Phantafie. Dies hat man gewöhnlich überſehen, wenn man ihn mit jenen beiden verglic; er ift nicht fowol ein theoretifdes als cin äſthetiſches Vermögen. Aber die Phantafie ijt nicht unverftiindig, und darum treffen die gefliigelten Pfeile des Witzes den rechten Fleck, und wirfen zün— dend, erleudjtend und befreiend auf da8 ganze Leben. Das Un- fretwillige, weldes wir in allem Phantafieleben finden, läßt den Wig als Ginfall erfdjeinen; das mühſam Gejuchte widerftreitet dem Spiel mit Bdeen, wie Sean Paul ihn nennt. Spielendes Urtheil definirt ifn Kuno Fifer mit der Crinnerung an das freie Spiel der Seelenfrifte, welchem Rant, an den Spieltrieb, welchem Schiller das Aeſthetiſche zugewieſen.

Ein ſchönes Beiſpiel wie der Witz den Gegenſtand aufſucht und reizt daß der ſich ſelber bloßſtelle und ſeine Widerſprüche enthülle, gibt Goethe's Mephiſtopheles im Verkehr mit der Martha, namentlich wo er die Geſchichte von ihrem Mann erzählt, und durch die Art wie er mit ihr umſpringt die ganze Haltloſigkeit ihrer Natur enthüllt, fie lächerlich macht. Einen gleichen Spaß macht ſich Falſtaff mit dem Friedensrichter Schal und mit Herrn Stille. Ueberhaupt iſt Falſtaff ein komiſches Talent, und zeigt die Freiheit des Geiſtes welche ſich nicht außer Faſſung bringen läßt, weil ſie den Dingen überlegen iſt, und mit ihnen ſpielt; er parodirt die falſche Erhabenheit des Königs und der kampfes— hitzigen Barone, er ſcherzt die Todesfurcht auf dem Schlachtfeld hinweg, und als ihn ſein Heinz verbannt, wirft er den Schaden und Spott auf den Friedensrichter hinüber, der ihm tauſend Pfund geliehen, die natürlich unter ſolchen Umſtänden verloren ſind.

Der Witz iſt nicht das Vermögen Aehnlichkeiten überhaupt aufzufinden, ſondern ſolche die für die gewöhnliche Anſicht gar nicht da ſind, und ganz entlegene Dinge bringt er auf eine über— raſchende Weiſe unter einen gemeinſamen Geſichts- und Brenn— punkt. Dieſer iſt die Erfindung des Witzes und beabſichtigt; er iſt die Pointe, die Spitze, mit welcher der Witz ſich einbohrt.

4, Das Sdjine im Entwidelungsproces: b. Das Komifde. P11

Mls Beleg diene folgende Gefchichte, die Ruge erzühlt: „Zwei politijdje Gefangene von verſchiedener Natur, der eine cin Gute ſchmecker, dev andere cin begeifterter junger Mann, ſaßen zuſam— men bet Tiſch. «Schwarzbrot und Freiheit!» fagte der ole als der andere das Eſſen lobte; «und Wurſt, fewte der Praftifus hingu. Stand ev über der Sache, fo war es cin Wik über die vorgeb- fide Geniigjamfeit feines Genoffen, war ev aber vertieft in den ſchrecklichen Gedanfen des trodenen Brots, jo ift nur ein fomifder Vorgang vorhanden. Ohne jenes Bewußtſein iſt er nicht witzig, jondern lächerlich.“ Der Wi läßt Achnlichfeiten auftauchen die für den Verftand oft ungereimt, fiir das gewöhnliche Bewußtſein und in der Wirklidfeit gar nidt vorhanden find, aber er zieht den Zuhörer fiir cinen Augenblick in die Sllufion hinein als ob jie ernftlid) gemeint feien, und die Luft des Komiſchen befteht in der Auflöſung des felbftbereitcten Widerſpruchs und feiner Cle- mente, das Fener des Witzes verzehrt eben das trockene oder (cere Stroh, an weldem ed fic) entzündet. Der Wik läßt fein Licht auf die Dinge fallen wie der Blitz in der Nacht, er madt daß man auf einen Augenblick dasjenige zuſammen fieht was außerdem in feiner Trennung und OQunfelheit fortbefteht. Oarum muß er plötzlich und raſch einjdlagen, und Polonius der weitſchweifige hat ganz richtig cinmal gelerut dag Kürze dod) des Wiges Seele jet. Gr mug fiir den Augenblick unmittelbar einleudjten, wenn man aud) hintennad) bemerft dag er mit uns jelber jein Spiel getrieben hat. Wllerdings gehiren gum Witze drei, einer über den ex gemadjt wird, einer der ifn macht, und einer dev ihn veriteht, und es gibt Leute die erft Hintennad) laden, fowie fie immer wiſſen was fie hätten fagen ſollen, wann fie wieder die Treppe drunten find; aber ein mühſam ftudirter und in jeiner Wnjpielung dunfler Wik taugt nichts, er muß fic) ohne Erklärer fajjen laſſen, weil er ja felber uns iiber etwas auffliren und den Dunſtkreis erheitern will. Viſcher bemerft redt gut: „Man mup das Gee fühl haben: wie fann einem nur fo etwas ganz verwünſcht Frem— des cinfallen! aber in Ddemjelben Dtomente muß mitten unter fauter abweichenden Eigenſchaften im Bilde der Blig ded Bere gleidhungspunttes hervorjpringen.“ Das Entlegene wird zuſam— mengerückt, ſodaß es unter cinen gemeinjamen Geſichtspunkt fommt, und jest Hebt eins durd) den Contrajt das andere Hervor, und die Berdrehtheit oder VBerfehrtheit des einen wird uns im Lichte des andern flar, oder dey Widerfprud) wird zum Sprechen gee - 14%

212 J. Die Idee des Schönen.

bracht und damit zum Verſtändniß das ihn auflöſt. Er wird hingeſtellt, und will eben uns unangenehm werden, da kommt der Witz und trifft mit ſeiner Spitze einen Punkt, an den niemand dachte, und ſiehe da der drohende Feind iſt geſchlagen und ſtürzt in ſich ſelbſt zuſammen. Viele Philologen wollen ihre Gelehrſam— keit damit zeigen daß ſie in die Erklärung ihres Schriftſtellers Parallelſtellen aus andern zuſammentragen und nun vermuthen der ihrige habe dieſe vor Augen gehabt. Nun ſchreit einmal bei Xenophon ein Eſel und bei Tacitus wiehert ein Pferd; da macht Friedrich Auguſt Wolf die wikige Bemerfung: ſicherlich hat died Pferd den Xenophonteijden Ejel vor Augen gehabt. Auf der gittinger Bibliothef wurde einmal eine Silberftufe geftohlen. „Was machen wir jest nur mit dem Futteral?“ fagte Henne in dirgerlider Verlegenheit, und Käſtner hob das Lächerliche dieſer Orage durch ‘die Antwort hervor: ,,Steden Sie die Nafe Hinein die Sie vom Curatorium befommen werden.” Wenn derfelbe Käſtner den Pythagoreiſchen Lehrſatz vorgetragen und die Erzäh— {ung daran gereiht dag Pythagoras ein Danfopfer von hundert Stieren gebradt als er den Beweis gefunden, jo pflegte er ju jagen: Daher der Schrecken der Ochfen fo oft eine neue Wabhr- heit entdedt wird. Sd habe eben acht Grofden verdient, jagte Heinrich Heine, als er aus cinem ſchlechten Concerte fam; es hat bas Billet ſechzehn Grofden gefoftet, und ich habe mic) fiir einen Thaler gelangweilt. Frau Hurtig flagt Falftaff an er habe fie in Bezug auf die unbezahlte Rechnung damit getröſtet dak Pring Heinz ihin Geld ſchuldig jei. Was? fragt dieſer. Ba, verfest jener, du bift mir deine Liebe ſchuldig, und die ijt mir mehr als eine Million werth. Bon einem BWielveifenden fagte Shiller: Gr wird nod lang veijen, aber den Weg ins Land der Vernunft findet er nicht.

Wer ſeine Gedanken nicht zuſammen und nicht im rechten Gang halten kann macht ſich durch ſeine Zerſtreutheit lächerlich, wie Georg III. von England in der bekannten Anrede an das Parlament: Mylords and woodcocks who raise your tails, Mylords und Waldjdnepfen die die Schwänze in die Hobe ſtrecken! Der Wig aber unterbridt abſichtlich cinen erwarteten Zuſammenhang und überraſcht durch einen unerwarteten Ginfall, der aber dennoch trifft. Gr fagt gum Beifpiel von einem Mäd— chen: hübſch ift fie nicht, aber fie fingt ſchlecht. „Ein Antidemagog auf jeine Art, der Lieber Pudding af als Ruhm enthehrte’,

4. Das Schine im EntwidelungsproceR: b. Das Komiſche. 213

ſchreibt Byron von einem Poeten der Reaction. Ruhm niddt Rum! Gegen die das h verbannende Orthographie legt Schiller Proteft ein: man möge ihn nicht fagen laffen: Von des Lebens @iitern. allen ift der Rum das höchſte doh! Wer aber etwas das fid) von ſelbſt verjteht noc) erfliren will macht fic mit diejem Aufzeigen jeiner Weisheit lächerlich, wie Lejfing’s Häns— hen Schlau:

Es ift dod) fonderbar beftellt,

Sprach Hänschen Schlau zu Vetter Friben,

Daf nur die Reichen in der Welt

Das meifte Geld beſitzen.

Gin Profeffor der Geburtshiilfe begann feine Borlefungen mit dem Gas: Geburt und Wodenbett find jdon den alten Griedjen befannt gemejen, und belegte dies mit der Stelle aus Platon’s Theatet, wo Sofrates fic) den Sohn einer Hebamme nannte. Lächerlich macht fic) auch wer einen Wik nicht ver- fteht. Jemand hirte die Frage: in welder Zeit ein Mädchen verfiihrt werden könne? und die Antwort: in einer ſchwachen Stunde. Cr wiederholte anderwirts die Frage, die Antwort blieb aus, und er meinte fie pricijer gu machen: in dreiviertel Stund’ und etliden Minuten!

Komiſch ift der Gebrauch den die bibelfefte Betſchweſter von ihren Renntnijjen macht, wenn fie in Hirzel’ Bud) von der She jornig dem Mann das Andadjtsbud) an den Kopf jcligt, und dabei jeden Schlag mit einem Wort aus dem erften Pfingft- feft begleitet: Du Parther, du Meder, du Elamiter, du wie wir wohnen in Mtefopotamien, und in Judäa und Kappadojzia, Ponto und Afia, Phrygia und Pamphylia, Aegypten und an den Gren- zen der Libyen, du bei Cyrene, du Ausländer von Rom, du Bud’ und Sudengenof!

Der Wik bringt eine auflöſende Erfliirung fiir das ſcheinbar derfelben nicht Bediirftige herbei. Go wundern fich zuerſt die Xenien daß Nicolai die Quellen der Donau entdedt habe, da er fic) dod) gewöhnlich nad) der Quelle nicht umſehe, und erfliren die Sade dann jo:

Rights fann er leiden was gro ift und herrlich, drum, herrlide Donan, Spürt dir der Häſcher fo lang nad) bis er feidjt did) ertappt.

Oder Leffing erklärt es dak Gottſched's Gedichte 2 Thaler 4 Groſchen foften: vier Grofden fiir das Lobenswerthe, zwei

214 I. Die Idee des Schönen.

Thaler fiir das Abgeſchmackte. Oder das Geſpräch der Xenien mit Moſes Mendelsjohn:

Sa, du fiehft mic) wunfterblid)! „Das haft du uns ja in dem Phädon Längſt bewieſen.“ Wein Freund, frene did) daß du es ſiehſt.

Noch ein paar Beiſpiele der glücklichen Vergleiche und Be— ziehungen. Wie die Xenien in das Reid) der Todten hinabſteigen, parodiren fie den Vergilijden Vers: sterilemque tibi, Proser- pina, vaccam.

Hekate, keuſche, div ſchlacht' id) die Kunft ju lieben von Manfo: Jungfer nod) ift fie, fie hat nie was von Liebe gewuft.

Der Geburtstagsgruf an Wieland:

Midge dein Yebensfaden fic) fpinnen, wie in der Profa Dein Periode, bei dem leider die Lacheſis ſchläft!

Veffing’s Cpigramm auf einen Gegner:

Wer fagt daß Meifter Kauz Satiren auf mich fdjreibt ? Wer nennt gefdjricben das was ungelefen bleibt?

Als Gottſched jeinen Genoffen Schönaich veranlagt hatte gegen Klopſtock's Meſſiade jein Epos von Hermann dem Che- rusfer ju ſchreiben, und ibn dafür frénte, erflarte ein Epigramm den Dichter und Kritiker einander werth:

Dir, Gott der Dichter, muß ich's klagen, Sprad Hermann, Schönaich darf es wagen Und fingt ein ſchläfrig Lied von mir. Set ruhig, hat Apoll gefproden,

Der Frevel ift bereits gerodjen,

Denn Gottiched krönet ihn daflir.

Der Wik liebt die Antitheſe, weil fie das Gegenſätzliche durch ſeine Stellung veranſchaulicht. „Es gibt mehr Dinge im Himmel und auf Erden als eure Philoſophie ſich träumen läßt“, ſagt Hamlet, „aber es ſteht auch vieles in den philoſophiſchen Compendien wovon ſich im Himmel und auf Erden nichts findet“, verſetzt Lichtenberg darauf.

Der Wik liebt die epigrammatiſche Form, durch welche eine Erwartung evregt, dann aber nidjt in Nichts aufgelöſt, jondern

4. Das Shine im EntwidelungsproceR: b. Das Komifde. 215

auf eine iiberrajdende Weife befriedigt wird. Go ſcheint es als wolle Leſſing die gefallſüchtige alte Jungfer entſchuldigen, wenn er doch nur die Beſchuldigung ſchärft:

Die arme Galathee! Man ſagt ſie ſchwärz' ihr Haar, Dieweil es doch ſchon ſchwarz als ſie es kaufte war.

So ſagte Cicero, als eine alte Dame ſich für dreißigjährig ausgab: Das muß wahr ſein, denn ich hörte ſie daſſelbe ſchon vor zwanzig Jahren verſichern.

Dies führt uns zur Ironie. Sie gräbt ſich in die Dinge ein um ſie von innen heraus zu zerſprengen, ſie nimmt den Schein ſcheinbar für das Weſen um dieſes im Selbſtvernichtungsproceß des Nichtigen triumphiren zu laſſen, ſie iſt eine ſcheinbar lobende, in Wahrheit aber tadelnde und höhnende Darſtellung des Ver— kehrten, Schlechten, Häßlichen, um durch ſolche zumal in ihrer abſichtlich überladenen Fürbung uns zum Bewußtſein des Rechten zu bringen. Jean Paul fordert den Schein des Ernſtes vom Iro— niker um den Ernſt des Scheines zu treffen, und preiſt beſonders die Feinheit Swift's, der es vor andern verſtanden habe die Ehrenpforten fiir Thoren zierlich mit Neſſeln zu behängen. Die Ironie hat eine milde und eine ſcharfe Form. Bene nennen wir die Sokratiſche nad dem edlen Weifen, der fie meifterhaft iibte, und geduldig in die Beſchränktheit und in die falfden Vorurtheile der Menſchen einging, dieje gu ihren Confequenjzen entwidelte und auflifte um von ihnen gu befreien und den Mitredenden im Ge— ſpräch felbft zu befferer Einſicht zu führen. Cr thut als wiffe er nichts und feien die andern die Wiffenden, von denen er belehrt jein möchte, er nimmt ihre Antworten filr ridjtig an und baut dDarauf weiter bis das Gebäude einſtürzt und fie mit ifm er- fennen dag ein faljder Grund gelegt war, fie mit ibm nun nad dem redjten Grunde fuden. Die fdjarfe Sronie dagegen ftellt das Verfehrte mit Bitterfeit bloß um es yu vernidten, fie wird zur Perfiflage und zum Sarkasmus. Sie liebt es dem verfpotteten Subject Abfidten unterzujdieben, die es nicht hatte, das Leihen tigener Ginfidt, das Sean Paul in allem Komijden vermuthete, findet hier ftatt. Go in Hamlet's Ausruf über die ſchnelle zweite Heirath feiner Mutter:

Wirthidaft, Horatio, Wirthfdaft! Das Gebacine Vom Leichenſchmaus gab falte Hochzeitſchuſſeln!

216 I. Die Idee dee Shonen.

Aus Oefonomie nun hat fie den verwerflichen Schritt ficherlicd nidjt gethan; der Schmerz; Hamlet's aber macht fic) Luft, indem ex diefen Grund ify unterfdiebt wm ihre grundloje Schlechtigkeit aufjudecen. Go fingt Heine von Krapulinsfy und Wajdlappsfi, den zween Polen aus der Polacer:

Speifien in derjelben Kneipe, Und weil feiner wollte letden Daf} der andre fiir ihn gable, Zahlte feiner von den beiden.

Die Romantifer jahen in der Sronie die formende Thatigfeit des Miinftlers, der fid) nidjt vom Stoffe beherrfden läßt, fondern nad) cigenem Sinn mit ihm ſchaltet und waltet; aus dem freien Schweben des Miinjtlers iiber dem Stoff und dev Realitét ward aber ein willfiirlidjes Spiclen mit ibm, das fid) darin gefiel die Umvirtlichfeit der von ihm gejdaffenen Geſtalten felbft aufzuzeigen und fo das cigene Thun gu ivonifiren. Der Dane Ludwig Hol- berg jdjrieb feine Komödie Ulyſſes in Sthafacia zur Parodie der Sdhaujpiele welche antife Stoffe in modernem Gewand vortragen. Da kommen am Cnde, als es blutiqg werden foll und er die Freier erſchießen will, die Juden welde dem darjftellenden Komö— dianten Reider umd Bart geliehen haben, fordern ihre Schuld, und als fic nicht jofort bezahlt werden, balgen fie fid) mit dem Ulyffesfpieler, und der Vorhang fällt, indem fie ihm Mantel und Bart abreifen. Go modjte es nod) angehen wenn in der Komödie eine Figur, dic in Verlegenheit ijt, jtatt fic) gu befinnen ausruft: Nun bin id) felber begieriq was mid) jetzt der Tied wird ſagen laffen! Dak der Dichter aber meinte er miiffe überhaupt die Yefer merfen faffen es fet ifm nicht recht Ernft, das Ganze fei dod) nur cin Spiel der Phantafie, das ift ihm verhängnißvoll ge- worden; denn die blofen Spielercien dev Cinbildungsfraft ergötzen fiir den Augenbli€ und werden vergeffen, und nur dev Künſtler fann uns riifren und daucrnd befriedigen dem es heiliger Ernſt mit dem Sdinen und Wabhren ijt. Die Romantifer meinten wunder wieviel mehr fie wiren als der bleterne pedantifde Shiller, der Tradter neben dem Dichter Goethe; aber ihre bun- ten Seifenblajen find jerplagt und verftoben, und ſeine Werke beftehen, wie fie das Volk haben ecinigen und befreien helfen. Friedrich Schlegel nannte dann dies den Anfang der Poefie: den Gang und die Gejege der verniinjtig denfenden Vernunft aufzu—

4. Das Sdine im Entwicelungsproceg: b. Das Komiſche. 217

heben und die liebe Albernheit vor der Hausbadenen niidternen Altklugheit gu retten. Fidjte hatte das Ich jum Princip des Denfens und Handelns gemacht, durch und fiir weldes allein jeder Inhalt und jede Segenjtindlicfeit ijt; an die Stelle der Freiheit aber ſetzte die Romantik die Willfiir, fiir die es in feiner Sphäre des Gittliden und Menſchlichen etwas Feftes gibt. Denn aud das Höchſte, lehrte Solger, ijt fiir unjere Handlungen nur in be- ſchränkter Geftalt da, deswegen ebenſo nidjtig wie das Geringſte, und manifejtirt in feinem Verſchwinden das Göttliche. Dieſes ift nimlid) feinem Weſen nad) fortwihrend thätig fid) gu dem Wider- jpiele feiner ſelbſt umzuſchaffen, ſodaß die Welt der Cndlichfeit und dev Erſcheinung nur ein Schatten wird, Gutes und Böſes nur relativ bleibt, und alles jeiner widerſprechenden Beziehungen wegen wieder zuſammenbricht. Bn dieſem Wandel des Seins jum Schein, in diefer Selbftvernictung des Nichtigen, in diefer Doppelbewegung Gottes zur Welt und der Welt zu Gott befteht das wahre Leben, und der died alles itberjdjauende, über allem ſchwebende Blic ijt die Bronic. Solger war cin edler religiöſer Geiſt, feine bald cinfeitigen, bald iibertriebenen Worte heifen aber bet andern: Vor der Sronie ift alles nur cin Schein, cin Belieben des Bd), dem cS mit nits eigentlicher Ernſt wird, das feine Genialität davin ſucht fid) iiber die Gefebe hinwegzuſetzen. Auf diejem Standpuntte wird das Sittlide und in fic) Gehaltvolle fiir eitel und nidtig erflirt, und damit wird die Subjectivitit, des objectiven Haltes und Gehaltes ermangelnd, citel und leer; fie predigt mit pifantem Duthwillen den Cultus der Frechheit und Genußſucht, und gibt die hergebrachte moraliſche Pflicht, Sitt- jamfeit und Scheu fiir das Rabengekrächze aus, das der finiglide Adler veradjtet und der rubig ftolje Schwan nist wahrnimmt. Gegen dieje falfde Ironie, die nicht das Verkehrte befehrt, ſondern vielmehr alle diejenigen fiir platt und beſchränkt erklärt welden Recht und Sittlifeit als feft und wefentlid) gilt, hat Hegel fei- nen Unwillen wiederholt fundgegeben; fie ift die Sophiſtik der Phantafie auf dem Gebiete der Runft, wir haben fie bereits in ihrer Häßlichkeit fennen gelernt.

Dagegen fallt die gute Caricatur in das Gebiet der wabhren Sronie; fie verhäßlicht gwar die Wirklichfeit durch Uebertreibung einzelner charakteriſtiſcher Züge, denen fie das Ganze umformend ane und nadjbildet, die fie aber dod) iiber alle PBroportionalitiit Hinaushebt; fie thut es nicht um durch Haflichfeit zu beleidigen,

218 I. Die Idee dee Schönen.

vielmehr nimmt fie gerade durd) die Ueberladung dem Stachel derfelben feine Schärfe, und madt durd Verſtärkung die kleinern und unmerfliden Misbildungen offenbar, fie madjt das verftedte Lächerliche ſichtbar, das Undeutliche deutlid), fie will ergötzen, fie geht gern bis zur Unmöglichkeit der Exiſtenz fort, und dadurch ift aud) jedes Bedrohlide des Widerfpruds unmittelbar anfgehoben, und das Ganje dient zur Beluftigung; die gezeichnete Caricatur - will wie bie Sromie der Rede eine befreiende Wirkung üben, wenig- ftend fommt es nur auf das carifirte Subject an, fid) durd) Selbftironie iiber den anhaftenden Mangel gu erheben. So ging Sokrates ins Theater alS die Wolfen aufgefiihrt wurden, und zcigte fic) mitladjend dem Volfe. Als cine fehr vortrefflide Arbeit fteht neben den Petites miséres de la vie humaine von Grand— ville und den Zeidnungen von Töpfer der edle Piepmeier von Schrödter und Detmold da. Wenn wir in den Thieren ſchon die cinfeitige Ausprägung einzelner menſchlicher Eigenſchaften erfennen, ſo iſt es nahe ſie als Caricaturen derſelben oder der Menſchen zu betrachten bei welchen dieſe Eigenſchaften vorwiegen; ſo thut die Thierſage, und Kaulbach hat ſie auf geniale Weiſe in dieſer Verſchmelzung des Thieriſchen und Menſchlichen fortgebildet. Blos der redenden Kunſt gehört der Wortwitz oder das Wort- ſpiel an; wenigſtens wenn der Krähwinkler Schulmeiſter über das Clavierſpiel ſeiner Tochter ganz weg iſt, ſo wird ſie nur allein am Inſtrument ſitzend abgebildet, und ohne die deutſche, nicht überſetzbare Unterſchrift wäre der General nicht verſtändlich der die feindliche Feſtung auf einem Arzneilöffel einnimmt. Das Wortſpiel verbindet Entlegenes durch den gemeinſamen Klang der Wörter, und beutet die Vieldeutigkeit derſelben aus; es wird zum Witze wenn es trifft. „Sehen Sie denn nicht daß ich Offizier bin?“ fragt ein vornehmer Herr den Vorſteher einer Geſellſchaft, der ihm wegen unziemlichen Betragens die Thür weiſt. „Gemeiner konnten Sie nicht fein, das hab’ id) geſehn“, war die Antwort. So ſprach Fricdrid) Auguft Wolf von Nibelungenfudt und Minne- liederlicjfeit, als cin altdeutſcher Enthufiasmus fid) etwas recken— und refelhaft aufthat. Go fann man es eine Armfeligfeit nennen, wenn fid) in einem ſchlechten Rührſtücke die Liebenden endlich in die Arme fallen. Weldhe Ringe find nidt rund? Die Heringe. Was ift der Unterfdhied von einer fauren Gurfe und zweimal zwei ift vier? Dieſes ift ausgemadt, jene ift eingemacht. Was ijt der Unterfdied gwifden einem Gensdarmen und einer Klyſtier—

4, Das Sdhine im Entwidelungsprocef: b. Das Romifde. 219

fprite? Gr forgt fiir öffentliche Ordnung, fie fiir ordentliche Oeffnung. Diefe auf der Aehnlichkeit des Klanges der Worte be- rubende etwas woblfeile Sorte von Wik neunen die Franjzojer Calembourg, die Berliner danach Kalauer. Das feinere Wort- jpiel bringt verſchiedene Bedeutungen die in einem und demfelben Wort fliegen in einen fomijdjen Contraft. Go behauptete Heine er verftehe die literariſch alchemiſtiſche Kunſt aus feinen Gegnern Dufaten ju ſchlagen, dergeftalt daß er dabei die Dukaten bekomme und fie die Schläge. Cin anbdermal fagte er gu einem Freunde: Sie werden mic) heute etwas dumm finden; X war bei mir, wir haben unfere Sdeen ausgetauſcht. So definirte Schleiermacher die Ciferfudt als eine Leidenſchaft die mit Cifer ſucht was Leiden ſchafft. Die Zweideutigfeiten beſtehen darin daß fie das Gemeinte hinter Worte verfteden die aud) einen andern Sinn haben, und es dod) neckiſch aus der Maske hervorguden laſſen; geſchlechtliche Dinge, die man in guter Geſellſchaft nicht offen beſpricht, reizen den Witz ſie durch harmloſe Ausdrücke anzudeuten; plumpe rohe Zweideutigkeiten werden zur Zote.

Nicht einen Witz, ſondern ſich lächerlich macht wer ohne Ab— ſicht doppelſinnige Wörter ſo gebraucht daß zweideutige Beziehun— gen hereinſpielen. Ein liegnitzer Kaufmann kündigte ſeine Mode— waaren folgendermaßen an: Mein Lager iſt nun ſo eingerichtet dak Frauen und Mädchen, die nur mit einem Portemonnaie be— fleidet find, Hier alle Bediirfniffe befriedigen können. Gin Pro- feffor hatte einen Ruf abgelehnt; beim Feftmahl begann ein Tiſch— reduer: Das Damoklesſchwert feines Abtrittes ſchwebte iiber unferm Haupte. Das find unbeabfidtigte Wortfpicle, und dabei macht die Katachreſe den Redner doppelt lächerlich. Wenn jener Sdhiiler iiberjegte: amare coepit: er nahm einen Bittern, fo ergötzt uns died Misverſtändniß durd) den Sinn den es dod) wieder unwillkürlich durchſchimmern (aft. Auf andere Art beluftigt der falſche Gebraud) von Frembdwirtern, durch weldjen befonders cin Streben nad) der Bildung und ihrem Schein fic) bloßſtellt, womit der wacere Unfel Bräſig in Frig Reuter's Stromtid uns fo foftlid) amufirt, wenn er einen Gregorius ftatt eines Chirurgus ruft, daß er ihm die Bienenſtacheln aus der Glake ziehe, wenn ex den Grund der Verarmung in der Pauvertiit findet.

Su Heine’s Reifebildern vergleidt ſich Hirſch Hiacynth mit Gumpelino: Sd bin ein Praftifus und Sie find cin Diarrhetifus, kurz id) bin gang Shr Antipodey. Wenn man fic verſpricht,

220 I. Die Idee des Schinen.

gibt es oft einen verfehrten Sinn. Sagt der pathetifde Kanzel— redner: Als der Hahn dreimal geweint hatte, ging Petrus hinaus und krähte bitterlidj, fo liegt es thm nahe fic) ju verbeffern: Als Petrus dreimal gekräht hatte, ging der Hahn hinaus und weinte bitterlid. Der Gallimathias foll jeinen Namen daher fiihren daß der Advocat welder in einem Proceß von dem Hahn des Bauern Matthias ſprechen wollte, ftatt Gallus Matthiä beſtändig Galli Matthias gejagt habe. Es fommt hiufig vor daß Vor— ftellungen, die wenig mitetnander gemcin haben, verbunden oder ‘perwedfelt werden, oder dag Bilder einander unmöglich machen, 3. B. in jener Volfsrede: Wenn diefe heute gepflangte Linde zur deutiden Ciche erwachſen ijt, dann wird jeder Mund die Cinbheit des Baterlandes tm Auge haben! Oder: Der Rahn der Zeit, der ſchon fo vicle Thränen getrodnet hat, wird aud) über diefe Wunde Gras wachſen laſſen. Abfichtlid) jtellt dagegen das Oxy— moron fdeinbar Widerfpredjendes zuſammen, und fennt ein be- redtes Schweigen, eine fromme Uebelthiterin wie Antigone. Das beluftigende Misverſtändniß iiberhaupt hat feinen Cha- rafter darin dak es ohne fomijde Abſicht und im Ernſte Unver- einbares zuſammenbringt, wie der Bediente den abgefdabten Koffer mit Macaſſaröl beftrid) als er fah daß fein Herr fic) folches auf die Glake goß um die Haare wachſen ju madjen; wie die Nadt- wiidhter mit einem Arreftanten Karte ſpielten, und ihn, als er mit ihnen ju janfen anfing, zur Thür Hinauswarfen. Durch folde paffive Wike, wie ic) fie nennen möchte, erregt Jobs tm Examen das Kopfſchütteln des Inſpectors und der andern secundum or- dinem, und unfer Lachen fowol über ihn als iiber ihre perviifen- jtodige Gravitit. In dem Verein von Gebiuden welder in Minden die Afademie der Riinjte und der Wiſſenſchaften enthielt, befand fid) aud) der Schwurgeridtsfaal. Cin Bauer wollte darin den Verhandlungen beiwohnen, verirrte fid) aber nach dem Saal in weldem ic) Nunftgefdidte vortrage. Er fah das Sfelet das jum anatomifden Unterridt dient, und hielt es fiir da8 corpus delicti; ev zweifelte nidt daß einige antwefende Profeſſoren die Gejdworenen, daß id) der Staatsanwalt wiire, und hirte das Ende von der Darftellung der Heraflesmythe gejpannt mit an, das Neffushemd, die Selbftverbrennung de8 Helden fchienen ihn ſehr zu interejfiren, und als die Stunde ſchloß, fragte er einen Kunjtjiinger: Wann gefdieht denn der Sprud)? La mit’ id dod) wiſſen was das Malefizweib fiir cine Strafe friegt! Cinem

4, Das Schöne im Entwidelungsprocef: b. Das Komifde. 221

Mann ein vergiftetes Hemd zu ſchicken, das ijt doch auch zu ſchändlich! Heine’s fentimentale Jünglinge auf dem Brocken öffnen den Schrank ftatt des Fenfters und ſchwärmen gelblederne Hojen ftatt des Mondes oſſianiſch an.

Bum unbeabjidtigten Witze ward folgendes Cramen. Der Schulvijitator: Junge, was war Chriftus fiir ein Dtann? Der Sunge ſchweigt. Der Sehulvifitator: Wie ift denn der Schnee? Sunge: Weiß. Sehulvifitator: Was war alſo Chriftus fiir ein Mann? Der Bunge: Cin Schneemann. Hier ift die Querantwort die verdiente Verjpottung der Querfrage und des faljdjen Ratechifirens, der Verwedfelung von weife und weig, und der ganzen Procedur. Bei einem Feſt hilt eine ältliche lang— halfige Hofdame um das Wort Silberblic darzuſtellen, einen fil- bernen Löffel in die Hohe und fieht fentimental nad) ifm hin; „Löffelgans“ fliijtert vor fic) Hin der wigige Kronprinz; cin Page hörts und ruft: „Ich habs: Loffelgans!

Der Eulenſpiegel'ſche Wik befteht großentheils in ſolchen ab- fichtlichen Misverſtändniſſen, er nimmt buchſtäblich was nur figiir- lid) gemeint war, und handelt danad, und der Spaß ijt dann daß ev damit dod) oft das Riel erreicht oder einen uneriwartet guten Erfolg hat, ſodaß aus der ſcheinbaren Narrheit eine ge- heime Weisheit Hhervorblict. Aehnlich verfahren die Narren Shafefpeare’s. Sie wiffen den Leuten das Wort tm Munde zu verdrehen, oder etwas ganz anderes als das Gemeinte heraus- zuhören um darauf aufmerfjan zu madjen dag man in der fomijden Welt fei und daf fic) niemand anf die Folgeridtigfeit jciner verſtändigen Trocenheit zu viel einbilden ſoll.

Der Wik fann die Waffe fein mit welder der Ernſt eine Sache verfidt, er fanun dem Geguer hart zu Leibe gehen und ihu zu vernidjten tradjten; in diefem Fall aber dient er einem auger ihm fiegenden Swed, und ijt aud) nicht Gegenftand des rein aifthetijdjen Wobhlgefallens. Wo er dies ijt, wo fein Biel die Hheitere Luft des Schinen ijt, da löſt er gerade den Druck und die Schwere der Realitét in Scherz und Spiel ergötzlich auf, da madt er Spak, und wer Spaß verſteht lacht mit, aud) wenn er jelbjt einmal getroffen wird, und ſucht ftatt ein ſauertöpfiſches Geficht zu ſchneiden lieber den Stoß zu pariren oder den Stich ju erwidern und den Ausfpielenden zu tibertrumpfen. Cin junger Franzoſe bat Scribe dak ev ihm ein paar Zeilen in ein Luftfpiel jreibe, das fie dann jujammen mit ihren beiden Namen ver-

299? I. Die Idee des Sdhinen.

öffentlichen möchten, jo werde der Anfiinger die Aufführung bei den Theaterdirectoren leidjter evlangen. Scribe gab zur Antwort: Es jteht geſchrieben: du folljt das Pferd und den Eſel nicht zu— jammenjpannen. Der andere verjeste: aber wie fonunen Sie dazu mid) cin Pferd gu nennen? Wer julest lacht der lacht am beſten. Cin geſchwätziger Commis wird der Gefellfdaft im Cijen- bahnwagen läſtig; ein Dtitreifender fragt: Mit was handeln Sie denn eigentlid)? Mit Verſtand. Haben Sie Probe davon?

Der Wik ijt weder Sache des Willens nod des calculirenden Verjtandes, ſondern gehirt in das Bereid) der PBHhantafie, in das man eingehen mug um ibn gu verftehen. Witzige Lente ftehen dabei unter der Herrjdaft diejer Gabe, im dev wie bei aller Phantafiethitigkeit etwas Unfreiwilliges waltet; darum wer die Einfälle hat der fann fie nicht juriidhalten, und man mug thm das Ausfpredjen nidjt allzu jehr verargen. Das Echte und Wahre fann einen Scherz vertragen. .

Das harmlos Komiſche nennen wir drollig und poffirlid, wenn e3 uns im naiven Spiele beluftigt, wenn feine tiefern Gegenfive zur Erſcheinung fommen und das niedlid) Schine mit ſeinen Flei- nen Unvollfommenheiten und den ihm in die Quere kommenden fleinen Stirungen Scherz treibt. Der Uebermuth des Burlesfen zieht aud) das Grofe in fein Bereid) und in das ja aud ihm nothwendige Gebiet der Sinnlidfeit herab, und ergötzt fid) an parodirenden Garicaturen. Das Komiſche fann derb und fein auftreten. Es gibt fo handgreiflidhe Verſtöße gegen die Gitte und das Herkommen daß jeder fie fieht, und daß ein gewiffer Grad von Blumpheit dazu gehirt fie zu begehen; man wird dadurd) geairgert, aber oft aud) freut man fic) zugleich über die gejunde Maturfraft weldje die Regeln der Convenienz durdbridt, und denft mit dem Lateiner: Naturalia non sunt turpia, oder jagt fic) auf Griechiſch: zopdn otx gotr Boovth oddroudvn. Dagegen gibt e8 zartere Verhiltniffe, geijtige Conflicte, deren Komik nur der höher Gebildete verfteht, die auc) in der Kunſt oft nur in der leiſen Anjpielung fid) fundgibt. Das Poffenhafte ergötzt durd den Spaß um des Spaßes willen, e8 denft: je toller defto beffer, auf den Inhalt fommt es ifm nidjt an; dagegen gibt es eine höhere geijtvolle Komik, die fic) fiber den Ernſt des Lebens aus— breitet und in feine Tiefen hineinblicken lift, die nicht blos unfere Lachmuskeln ervegt, fondern and) da8 Herz erquidt und den Geift befreit, und dadurd) gehaltvoll ijt dap fie dic Widerjpriidje des

4. Das Schöne im EntwidelungsproceR: b. Das Komiſche. BIZ

Daſeins auflöſt wie ein Räthſel, deffen Wort fie uns nun ver- fiindigt; fie wirft nicht blos einmal, wenn fie uns überraſcht, jondern bewährt ftet$ von neucm ihren Zauber, weil fie felber das Bleibende aus dem wechſelnden Spiel der Erfdeinungshiillen ju Tage fordert. Wie das Tragifde endlich doc) zur Luft wird, fo befriedigt aud) das Komiſche in feiner Vollendung Vernunft und Gewifjen.

Wie das Tragifde ift auch das Komiſche nur denjenigen Kün— ften miglich die ein fortidjreitendes Leben, einen Cntwidelungs- proceß ausdriiden finnen. Der Einzelgeſtalt der Geulptur fällt es fdjon ſchwer den Widerfprud) und feine Löſung in Cinem darz guftellen, leichter wird eS der figurenreiden Malerei, und nidjt blos die Caricaturjeidner, aud) die Genremaler wiffen ihm geredjt zu werden. Wenn die Muſik ſcheinbar unerreichliche Extreme im Abfatlen und Anffteigen verbindct, wenn mehrere Stimmen cine Figur nadahmen, wenn der Accent verfdoben, der Rhythmus gehemmt, der erwartete Gang der Melodie unterbroden, raſch aber aus der Diſſonanz die Harmonie wieder entbunden wird, fo finnen wir einen fomifden Cindrud gewinnen. Die Schnelligkeit des Tempos im scherzo und das fede Gegenecinandertreten dex nicht ineinander verſchleiften Tine erinnert an die beſchleunigte Athemberwegung und die ſtoßweiſe Erjchiitterung des Zwerdfelis im Laden. Die Poefie indeß, welche den Flug des Lebens mit der Beftimmtheit des Bildes verbindet, bietet der Romif das weitefte Feld, und gwar mehr nod) als die Erzählung oder die Sefiihlsdarftellung cignet ihr das Drama, weldjes gerade die im Kampf mit den Widerjpriiden des Lebens ſich vealifirende Idee veranſchaulicht. Hier wird das Komiſche fo mächtig daß cin gan- zer Kreis von Werfen, cine ganze Auffaffungsweije des Lebens von ihm den Namen erhilt, oder vielmehr dak von da der Mame fiir die Sade im allgemeinen entlehnt wurde. Die Charafterijtit der Komödie wird ſpäter unjere Entwidelung vom Begriff des Komiſchen vervollftiindigen und bewähren.

Das Komiſche und Tragijde erſcheinen als Gegenpole, aber in der echten Tragödie entwidelt fid) aus dem Schmerz über den Untergang menjdlider Größe und irdifder Herrlidfeit doch die Sreude über den Sieg der Sdee, und in der echten Komödie ver- fehren die mannidfaltigen Verfehrtheiten einander oder befehren ſich endlid) gum Verniinftigen und Redhten, das feinen heiteren Triumph feiert, und damit wird uns durd) das Spiel des Scherzes

224 I. Die Idee des Schönen.

jelbft die ernfte und gewidhtige Wahrheit des Lebens enthiillt, daß wir gegeniiber dem verderbliden Streben und Treiben der Thor- heit und Sdjlechtigfeit am Ende mit Joſeph ſagen: Ihr gedadhtet eS böſe zu maden, aber Gott hat es gut gemadt. So gibt uns das Komiſche ſelbſt die Veranſchaulichung von der milden Macht der der Welt einwohnenden Vorfehung, und die Ueberzeugung daß fie die Liebe felber ift.

c. Das’ Humoriftifde.

Wie Ernft aus dem Scher; und Wonne ans der Wehmuth fic) entwidelt, jo können fie aud) ineinanderjpielen, fo fann das Komiſche mit dem Tragifden fid) verweben, und aus der Durch— dringung der Gegenſätze, die wo fie vollbracht ift das rein Schine verwirklicht, fann fid) ein Proceß der Gärung und BVermittelung ergeben, dev ihnen gegeniiber das Aufheben im Doppelfinn des Bewahrens und Vernidtens darftellt, und fo erhalten wir eine dritte Weltanfdauung, die humoriſtiſche.

Es ift faljd) die Betradtung des Humors dem Komiſchen ein- zureihen, weil er iiber daffelbe hinausragt; ſchon Solger’s Erwin hatte eine Reihe von Aefthetifern eines beffern belehren können, wenn er in Bezug auf Sean Paul fagt: „Vom Lächerlichen alfein' fann hier nicht die Rede fein, vielmehr von einem Zuftande wo Lächerliches und Tragiſches nod) unentſchieden ineinander gewicelt liegen’’, und wenn er dann nod) näher fic) erflirt: „Alles ift im Humor in einem Fluffe und überall geht das Entgegen- gejebte wie in der Welt der gemeinen Erſcheinung ineinander liber. Nichts ift (aicherlid) und komiſch darin das nicht mit einer Miſchung von Wiirde oder Anregung von Wehmuth verfest wiire, nichts erhaben und tragifd) das nicht durd) feine zeitliche Geftal- tung in das Bedeutungslofe oder Liidjerliche fiele.“ Seria res est verum gaudium fühlten fdon die Alten. In tristitia hi- laris, in hilaritate tristis fdrieb Giordano Bruno unter fein Bild.

Humor heißt Flüſſigkeit. Bur Zeit der Humoralpathologie, wo man die Unterfdiede der Menſchen wie den Grund der Er— franfungen in dem Verhältniß der Fliiffigteiten im Körper, ded Blut, der Galle, des Waffers, der Lymphe jah, und nad) deren Vorwiegen aud) die Temperamente charafterifirte, braudjte man das Wort um die Cigenthiimlidfeit der Menſchen gerade nad)

4. Dat Schine im Entwidelungsproceg: c. Das Humoriſtiſche. 225

ihren befondern Launen und Wunderlichkeiten zu bezeichnen. Shakeſpeare und ſeine Genoſſen bedienen fid) des Wortes bald um Gefinnung und Geiftesridtung, bald um augenblidlide Stim- mung, oder luſtige Zufälle und den daraus fic) ergebenden Spaß auszudriiden, wie wenn es heißt: Und das ijt der Humor davon. Die Sache jelbft hat Shakeſpeare auf allfeitig herrlide Weife, aber fein Wort dafiir, erft allmählich gewann der Humor die erweiterte Bedeutung fiir fie. Im oben angedenteten Sinne ſchrieb Ben Jonſon ein Luftipiel: Sedermann in feinem Humor (Every man in his humor) und definirt darin felber alfo:

As when some one peculiar quality

Doth so possess a man, that it doth draw All his affects, his spirits and his powers In their constructions all to run one way, This may be truly said to be a humor. (Wenn eine ganz beſondre Eigenſchaft

So Ginen einnimmt daß fie fammtlide Affecte, Geifter, Kräfte die er Hat Zujammenftrimend Cinen Weg madjt gehen, So wird das billig wol Humor gebheifen.)

Grft im 18. Sahrhundert erhielt das Wort feine tiefere Bedeu- tung. Es war Sterne’ Humor, feine Gemiithsftimmung, das Rührende und Komiſche zugleich gu betonen, durd) die das Wort fiir folde in Gebraud fam. Der tolle Friedrid) jagt in Meifter’s Lehrjahren dak unter allen Gäſten ein guter Humor der an- genchmfte fet; er fpridjt bet feinem Auftreten am Ende de8 Werfes in fanter ſeltſamen Gleichniffen, gelehrten Wendungen und unter Anführung weltgeſchichtlicher Creigniffe bei den alltig- fidften Dingen, und erzählt wie er fein Wiffen erlange, indem er mit Philine abwechſelnd die verſchiedenſten Bücher durdeinander leſe. Und der Dichter lift den (uftigen Burjden am Ende den RKnoten de Romans löſen und die Idee des Ganjen in dem Wort an Wilhelm ausfpreden: „Du fommft mix vor wie Saul, der Sohn Kis, der ausging feines Vaters Ejelin gu fudjen und ein Rinigreich fand.” Dak gerade der ungebundene Geift die Dinge ins rechte Gleis bringt und den Gebhalt der Didtung durd eine barode Wendung andeutet, das ijt hier der Humor davon. Viſcher hat den Zufall glücklich gepriejen, dag das Wort jest an die geijtige Flüſſigkeit anſpielt, worin alles Feſte ſich auflöſt;

Carriere, Aeſthetil. I. 3. Muff. 15

226 I. Die Idee des Schönen.

troden werden ebenjo paſſend die beſchränkten Naturen genannt, denen alles feft fteht.

Der Humor ift die Dialeftif der Phantaſie. Dialektik bezeich— net urjpriinglid) die Wechſelrede, durd) welche die Menſchen ihre Gedanfen flüſſig maden, die Cinfeitigfeiten verſchiedener Stand- punfte und Anſichten fid) zu einer gemeinfam erzengten Wahrheit aufheben, in welder nun aud) gewußt wird dag die Dinge ſelbſt ineinander iibergehen, dak alle abfonderlide Mannichfaltigkeit dod einen gemeinjamen Grund und eine innere Ginheit hat, dak was fich fiir fich fefthalten will gerade in fein Gegentheil umſchlägt. Wer zum Beifpiel die Unendlicfeit haben will als ganz erhaben iiber die Endlicfeit und villig getrennt von ihr und etwas gan; anderes als fie, der fest damit das Endliche anger dem Unend- lichen, gibt diejem eine Grenze an jenem, ſodaß das Unendlice ju Ende geht wo das Endlide anfiingt und damit felbft endlich geworbden ijt; umgefehrt wer das Endliche auffafjen will ohne Bezichung auf das Unendflide, der macht es ju einem Selbjt- genugfamen, in fic) Bollendeten, das die Urſache feiner felbft wiire, kurz zum Wbfoluten oder Unendliden. Die Dialektif zeigt das Sneinander von beiden, ſodaß das Endliche zur Selbftbeftim- mung und Selbjtverwirflidung des ewigen Wejens gehirt, das in der Ginheit mit all feinen Offenbarungen und Werfen wahre Unendlicdfeit hat und alles in fich einſchließt, und damit weift fie aud) im Endliden das ihm einwohnende Göttliche auf. Wo died nicht jowol durd) den Gedanfen der Vernunft begriffer, fondern im Gefiiht empfunden und durd die Phantafie dargeftellt wird, da ijt die Bafis des Humors gewonnen. Gr Fennt das Endlicde und das Unendlide, und weiß wo das Gewaltige fid) mit dem Nidts, das Schwache fid) mit dem All beriihrt.

Der Humor ift idealiftifd, er glaubt an die Wahrheit der gittlidjen Sdeen und ihre weltbeherrfdende allgemeine Madt, und fest den Werth des Lebens in die Erfüllung deffelben mit ihrem Gehalte; er ift zugleich realiftifd) und webt im der Anſchauung der Sinnenwelt, ergötzt fid) an ihrem Schein und behauptet die Wirklihfeit des äußeren Daſeins; er trägt wie Fauft zugleich die beiden Seelen in feiner Bruft, deren eine fic) an die Sinnlichfeit anffammert, deren andere fid) gen Himmel erhebt. Sm einfad Schönen erfreut uns die Ineinsbildung des Bdealen und Realen, e8 ijt die Harmonie als vollbradt; fie ijt aud) das Riel des Humors, aber fein Weg geht durd) die Gegenſätze des Lebens

4. Das Schöne im Entwidelungsproceg: c. Das Humoriftifde. 227

hindurd, und er leidet zugleich ihre Pein, wenn er fic) der Luft ihrer Auflöſung hingeben will.

Der Humor weik dak jedes Oing zwei Seiten hat. Die Rofe blüht nur aus Dornen auf, und wer möchte eine dornenloje? Der Sarg ijt die Wiege eines neuen Lebens, die Thräne bricht uns im Weh und in der Wonne aus den Augen und wenn wir den Schnupfen haben, und nur anf der grauen Wolkenwand erbaut das. Sonnenlicht den ſchimmernden Regenbogen. Das Grofe bedarf des Kleinen wm wirklich gu werden, und wer im jtofzen Gang nad) einem hohen Ziel der Steinden und Pfiigen auf feinem Wege nicht achtet, wird bald anf ſeine Knieſcheiben fallen und fic) die Hofen zerreißen. Wer bet dieſer Doppelwirk— lichfett in allem Endlichen dod) cin Unendlices inne wird, da8 wieder nidjt anders denn in endlichen Formen erfdeinen fann, wer in der Stiirfe des Menſchen den Grund feiner Schwäche, in fei- ner Schwäche ein gutes Herz und cine Bedingung feiner cigen- thiimlidjen Größe wahrnimmt, der fteht in der Welt wie in einer Komödie, ev lacht ded Seheines, weil er ihm durchſchaut, und fiebt den Schein als die Hille und Erfdeinung des Weſens, und er fann fic) felbjt gum Beften haben und haben laſſen, weil er feines gittliden Lebensgrundes ficher ift.

Was fich liebt das neck fich; weiß es dod) daß es einen Spaß vertragen fann. Der Humor behandelt auch das Ernſte mit hei- terem Behagen, aud) das Gefühlvolle und Tiefempfundene mit frohmiithigem Scherz, er nimmt auc) da8 Schwere [eidt und zeigt darin die Ueberlegenheit des Geiftes, indem er die Dinge von ihrer Erdenlaſt entbindet und die Seele ins Freie ftellt, anf leich— ten Schwingen in den Aether emportriigt. Go läßt Goethe die erhabene Feierlidfeit der Erzengel nicht eintinig werden, fondern gefellt ihren Gefiingen iiber die Herrlicjfeit der Werke Gottes die jpottifde Sronie des Mephiftopheles über das menſchliche Treiben, und der ewige Gott felber offenbart fic) fo freundlich wieder in feiner idealen Wefenheit, dak es ihm feinen Abbruch thut wenn der Schalf unter den verneinenden Geiftern ifm mit dem Spriid- fein nachblict:

Von Reit gu Zeit feh’ id) den Alten gern

lind biite mid) mit ihm gu bredjen;

Es ift dod) hübſch von einem großen Herrn

Go menſchlich mit dem Teufel felbft gu fpredjen.

15*

228 I. Die dee des Schönen.

Der Humor ijt die Kraft der Selbjtbefretung und Selbftver- lachung, weil er in der verladten Welt ſich felber mit einſchließt, und dadurd daß er iiber fie ſcherzen kann fich felber über die Endlidfeit erhebt. „Der Humor”, fagt Hillebrand, „iſt die Seele infofern fie in ihrer endliden Qual fic) felbft als ideale freie Macht anſchaut und darftellt.“ Darum tft feine Stimmung eine ſchmerzlich frohe, und Frau von Stael meinte ihm damit ju djarafterifiren dag fie ihn Ia tristesse dans la gaité nannte, jowie Heinvid) Yaube ifn als den Kuß bezeichnete den Schmerz und Freude fid) geben. Belfer nocd) möchte die lachende Thräne, jenes Homeriſche daxpucev yehacaca der Andromade, oder das Shakeſpeare'ſche smiling in grief fein Symbol fein.

Lazarus fieht im Humor die Grundelemente der Religion, in- bem der Geift fic) in ihm gerade fo zu Sdee und Wirklichleit verhalte wie das ganze Gemiith in der Religion zu Gott und Welt. „Die Grundelemente der Religion find eben dieje dak der Menſch einerfeits fid) und alle Welt feinem Gotte gegeniiber tie] gebeugt und gedemiithigt, weil endlid) und fiindlid), hinfillig und nidjtig findet, daß er fid) aber andererfeits fiber alles Weltliche erhaben, und feinem Gott, der feinem wenn aud) fiindigen Herzen nahe ijt, hingegeben fühlt und ſelber im Gotteslidt ju wandeln oder gefiihrt gu werden gewiß ijt. Gleiderweife fieht der Geift des Humors einerfetts fic) und fein wirflidjes Leben fern von der Idee, fraftlos ihre Ziele und fein Wollen zu erreiden, und darum gebiindigt und in ſeinem Stolze gebrodjen und oft bis zum ver: zweifelten Hohngelächter der Selbſtverachtung verdammt, und ande- rerjeits dennod) gehoben und geläutert durd) da8 Bewuftjein trotz alfedem die Sdee und das Unendlide gu befigen und inne zu haben und in ſeinen aud) nod) fo unvollendeten Werken darzuſtellen und herauszuleben, und mit ihr felbft im Innerſten eins zu jein; wiire ed aud) nur in der aus ihr gefdipften Erkenntniß und dem Schmerze iiber die eigene Unvollendung. Das ift Religion und um fo fidjerer Religion, als die Gedanfen hier gugleid) mit der Macht des tiefften Gefiihles durddrungen werden. Religion des Geijteds aber ijt es, weil er nidt in dunfeln Ahnungen und Ge- fiihlen fic) von augen her das Gefeg und Maß ſeines Lebens ent- gegenftellt, fondern die dem Geijt eigene Idee.”

Das einfach Schine ijt angefdhaute Harmonie; im Humor ergigt uns der Proce der Entwidelung aus der Verwickelung, im Humor fehen wir die Widerfpriide und halten trog ihrer das

4. Das Schöne im Entwidelungsproceh: c. Das Humoriftifde. 229

Gefühl der Einheit feft, und am Ende triumphirt die Idee and in der Erſcheinung die ihr ganz unangemeffen ſchien. Dieſe Wirk— fichfeit der Wahrheit fteht immer im Hintergrunde und blikt wie RWetterleudten dann und wann Hervor um julegt da8 Feld gu be- haupten; feblte fie, fo wiirde da8 Hohnladen der Verzweiflung eintreten, und wo das die Masfe des Humors vornimmt, muß man fid) nidjt täuſchen laſſen, denn es ift das Häßliche, das gerade iiberwunden werden foll. Der Humor triigt die Verſöh— nung im Gemiith, darum ift er ftets gutmiithig, er lebt in der Liebe. Ihm eignet die Combinationsfraft des Wikes, aber er unterſcheidet fic) dadurd) von dieſem daß er an den Dingen, mit denen ev ſpaßt, einen innigen Herzensantheil nimmt, und daf die Cuft deo Ladhen& cin inniges Mitgefühl der Riihrung fiir das Berladte begleitet und durchklingt. Darum fpielt auch die be- wegte Sunerlidfeit des Didters in allen humovrijftijden Darftel- {ungen dieje große Rolle; fie mug einte liebenswürdige fein, die ihren Frieden, ihr Gottvertrauen in das Getiimmel und die Ver- wirrung des Lebens Hineintragt, und gerade in diefer und an dicjer zur Aeußerung fommen (lift. Dies Sch folgt dann aud) dem luge der eigenen PBhantafie, und fprudelt den gangen Reich— thum jeiner Sunerlichfeit iiber die Dinge hin; die Erzählung wird bet einem Sterne oder Sean Paul gar oft zur Nebenjadje, wäh— rend Geift und Herz des Oidhters uns entzücken. Sarl Seelbad hat darum den Humor den Wik des Herzens genannt, und Hettner treffend bemerft: Der Romifer nimmt die Dinge wie fie find und {aft fie fic) in ihrer eigenen Luft, Laune und Lächerlichkeit ent- wideln; der Humorift aber fest nicht blos die Dinge, fondern weit mehr nod) die Lyrik feines eigenen Gemiiths in Scene. Die Humoriften lieben deshalb and) die Form der Selbftbiographie, wie Goldjmith im liebenswwiirdigen Vicar von Wakefield, weil diefe Weife der fortwihrenden Betradtung des Darftellers und dem Ausdrud feiner eigenen Gefithle Raum gewährt.

Der Humor hat daffelbe Auge fiir das Grofe wie fiir das Rieine, fiir das in fid) Vollendete wie fiir das Ungeretmte; und dem Giattlidjen gegeniiber ijt nichts grog und nits klein. Gr fieht die der endliden Größe anhaftende Schwäche, und der Con- flict, in welchem fie tragiſch wird, geht ihm unmittelbar zugleich aud) nad) der Seite feiner fic) felbft aufhebenden Verfehrtheit und Thorheit auf, wodurd) fie lächerlich wird. Der Humor vertieft fid) im dads fcheinbar Unbedentende und Gewöhnliche um feinen

230 I. Die Idee des Schönen.

tiefen Gehalt, feine alfgemeine Bedeutung hervorjufehren, und offenbart aud) in der Schwäche ihren Zujammenhang mit dem Weſen unferer Natur, und wenn er fie lächerlich macht, läßt er uns zugleich in die Gutmilthigfeit der Seele bliden, die der Schwäche Grund war, und weiß uns dadurd) ju rühren. Der Humor fieht wie cin und derſelbe Gegenftand nach der einen Seite hin grof und herrlich, nad) einer andern aber mangelhajt und flein ijt, der tapfere Soldat ift vielleidht cin wenig zärtlicher Viebhaber, der forgfame Hausvater auf dem Rathhaus ein be- ſchränkter Spiefbiirger; ifr guten Leute und ſchlechten Muſikanten! wird im Ponce de Leon von Brentano das Orehefter angeredet. Mun Halt er beides, das Vollkommene und Unvollfommene, zugleid) feft und zeigt wie ed fid) innerlich durchdringt, oder er faft: die vielen Dinge zur Cinheit der Welt zuſammen und weijt nun dic Widerſprüche auf die fie mit ihnen in fich enthalt; aber er zeigt gerade wie in dem Unvollfommenen die Idee fic) dennoch bewahrt und wie die Gegenſätze fic) ergänzen und damit zur Cinheit auf- heben; und die Wehmuth iiber den Mangel und die Noth des Beſondern und die Luft an der Herrlidfeit des Ganzen find zugleich der Seele gegenwirtig und verſchmelzen ineinander.

Hier fic) anſchließend ſchreibt Ulrici: „Der Humor ruht auf einer doppelten Bafis, auf einem Sdealismus des Urtheils, des Geiftes, der alle menſchlichen Dinge an das oberjte Ideal hilt, mit ihm mißt und vergleidht, und fie demgemäß mur in ihrer Keinheit, Unangemeffenheit, Verfehrtheit erblictt, und zugleich auf einem Realismus des Herzens, eines warmen gefiihlvollen Herzens, dem die Liebe und Hingebung Bedürfniß ijt, und das daher um— gefehrt alle menſchlichen Dinge und am meijten gerade die fleinen, ſchwachen, hiilfebediirftigen hegt und werth halt. Zwiſchen diejen ſchroffen Gegenſätzen bald mehr dem einen bald dem andern zu— qefehrt fpielt der Wik im Bunde mit einer reichen Phantafie der- gejtalt hin und her, daß fie in die innigfte Bezichung gejest fid gegenjeitiq durdbdringen und ineinander übergehen.“ Die Seele des Humoriften ift ftets von lebhaften Empfindungen erfüllt, und der Wik bhegleitet die Gemiithsbewegungen in der Freude wie im Schmerz; er löſt die Spannung und den OQrud des Affected, durch jeine Scherze erleidjtert fic) das gepreßte Herz, aber ed offenbart jugleid) die Macht der Liebe mit welder es die ganze Welt umfaßt und fic) eins fühlt mit allem was lebt.

Sean Paul hat einmal folgende fiir ihn fo charatteriftijden

4, Das Schöne im Entwidelungsprocef: c. Das Humoriftifde. 231

Worte: „Ich fannte ftets nur drei Wege gliidlider nicht glücklich gu werden. Der erfte, der in die Hohe geht, ijt: fo weit iiber das Gewölke des Lebens hinauszudringen daß man die ganje dufere Welt mit ihren Wolfsgruben, Beinhiujern und Gewitterableitern von weitem unter feinen Füßen nur wie ein eingeſchrumpftes Kindergärtchen liegen fieht. Der zweite ift: gerade herabjufallen ing Gärtchen und da fic) fo einheimiſch in eine Furche cingunijten, dak wenn man aus feinem warmen Lerdjen- nefte herausfieht, man ebenfalls feine Wolfsgruben, Beinhiufer und Stangen, fondern nur Aehren erblict, deren jede fiir den Neftvogel ein Baum und ein Sonnen- und Regenſchirm ift. Der dritte endlid), den ic) fiir den fchwerjten und klügſten halte, ift der mit den beiden andern zu wechſeln.“ Bn diejem Wechſel, der aber fo rajd) gefdjehen muß daß die beiden Gegenſätze incinander- flieRen, liegt eben der Humor. Gedanfen und Gefiihl ſchweben heriiber und hiniiber, Widerjpriide entftehen und vergehen, und die mannidfadften Tine werden gugleid) angejdlagen, die ver- ſchiedenſten Stimmungen fdjillern ineinander, weil der Humor bei ‘allem Gingehen auf das Einzelne nie das Vereinzelte, fondern das Ganze im Sinn hat, und deshalb das Mannidfaltige bei— bringt. Gr liebt in der Sdhilderung da8 Kleine und malt 8 ins Detail genrehaft ans, aber wenn Sterne’s Walther Shandy mehrere Sabre, jo oft die Thür fmarrte, fic) entſchließt fie ein- Glen zu laſſen, und fic) immer wieder entidliefen muß, fo laden wir iiber ifn und zugleich iiber uns felbft, denn fo ijt der Menſch, es ift die eigene Natur, das allgemein Menſchliche, da8 uns der humoriſtiſche Gonderling bei all feiner Schrullenhaftigfett durd- ſchimmern (apt; die Wunderlidfeiten felber ruhen anf dem unver⸗ wüſtlichen Urgrund der Liebe und Gutherjigfeit, und wir beladen im Triſtram Shandy mit Toby die tieffinnigen Gritbeleten des Bruders, mit diejem die friegerijde Thatenluft, yu der jener fid überſpannt, beide find fo niirrifd) und jo verftiindig zugleich, und jo find fie Spiegelbilder der Menſchheit. Und wie riihrend edel ijt es wieder wenn der Kapitän, der in feinem Garten jede Be- fagerung, von welder in den Zeitungen fteht, mit ſeinem Corporal gan; getreulich aufführt, wenn der dann dod) die Brummfliege, die ihm beim Weittagsefjen um die Naſe ſummt, endlich erhafdt und ans Fenfter trägt; ,,Geh, arme Creatur, warum follte id dir cin Leid thun? Die Welt ijt groß genug fiir uns beide.” Kraft feiner Romi Licht der Humor das Seltjame, Verſchro—

232 I, Die Gdee des Shonen.

bene und LUngereimte, und die Außenſeite der Dinge ijt ihm um fo willfommener je buntſcheckiger fie fid) darftellt; aber fraft des Ernſtes und feiner Gemiithlidfeit dringt er mit dem Tiefblick der Liebe in das Sunerfte des Weſens cin, und hat feine Freude daran uns durch barode Formen irre ju maden und dod durch die Sinnigfeit und Zweckmäßigkeit des Gehalts ju befriedigen. In meines Vaters feltjamften Griffen, ſagt Trijtram Shandy, ſteckte immer anf eine unerflirliche Art cine Würze von Weisheit, und er hatte zuweilen in feinen undurddringliden Finſterniſſen die ſchönſte Erleuchtung. Iſt das dod) aud) bei Sando Panfa der pall, wenn er fagt: „Gottes Gegen iiber den Mann welder guerft das Ding erjann das Schlaf heißt: es bedecft jeden ber und liber wie mit einem Mantel.“ So tint aud) in Falftaff’s Späßen mitunter ein Seufzer der Menſchheit, und da8 macht fie Humorijtijd; id) evinnere an das Wort über die Refruten, die er ausgehoben und die als Warze, Schimmelig, Schmächtig bereits die Zielſcheibe ſeines Wikes waren: „Futter fiir Pulver! Gut genug jum Auffpiefen! Sie fiillen cine Grube fo gut wie beffere; hem, Freund! fterblide Menſchen! ſterbliche Menſchen!“ - Weld) ein ernftes Gericht liegt in dieſen Worten iiber den leicht— finnigen Rrieg, der mit jo viel Gifer gefiihrt wird! Oder man denfe an Falſtaff's Aeußerung am Morgen des Schladttags von Shrewsbury: Ich wollt’ es wire Schlafensjzeit und alles wiire gut. Da ijt der einfältige Geridtsdiencr in Viel Larmen um Nichts; wir ſchütten uns aus vor Laden über ſeine Confufion, und er der zu regiſtriren bittet dag er cin Eſel fei, er entdect dod) dasjenige was alfein die Verwirrung fdlidtet, und was fein Verftand der Verſtändigen gefehen, fein Wik der Witzigen vermuthet hat. So branden wir Gulliver's Reijen in Liliput nur geiftig zu verftehen, und aus dem grotesf Märchenhaften und Lächerlichen lendhtet uns die Tragbdie der von der Gewöhn— lichfcit unverftandenen, von ihren Nadelftichen gequiilten Geiftes- gripe hervor. Fijdhart’s gliichaftes Schiff bringt cinen Keſſel voll Hirſebrei von Zürich nad) Strakburg, nod) heiß, daß, die ftrakburger Rathsherren fic) den Mund verbrennen; fo ſchließen fie den Bund der Stidte wieder feft, und im ganzen offenbart fid) der tiidhtige freie Biirgerjinn anf höchſt achtbare Weiſe. Cine alte Mecklenburgerin fete ſich in der Kirche zu Doberan folgende Grabjdhrift, rithrend durch Treuberzigfeit und lächerlich wenn fie fid) ihrem Gott jum Mufter anffteltt:

4, Das Schöne im Entwidelungsprocef: c. Das Humoriftifde. 233

Hier lieg ich alte Ahlfe Pott, Bewahr mid) licber Herre Gott Wie id) Did) wollt bewahren, Wärſt Dir die alte Ahlke Pott Und ich dev liebe Herregott.

Scan Paul’s Flegeljahre beginnen gang köſtlich. Die Ueber- - ſchrift des erſten Kapitels ſchon ift humoriſtiſch: das Weinhaus bedeutet hier nicht ſo ſehr ein Haus wo Wein getrunken wird, ſondern eins das durch Weinen gewonnen werden ſoll, und die ſieben enterbten Seitenverwandten Kabel's geberden ſich auf die ſeltſamſte Weiſe, um wenigſtens das Haus zu erhalten, aber wenn die Thränen nahe find auf denen es ihnen zuſchwimmen ſoll, fo tritt es felbft als cin jo lachendes Bild vor die Secle, dak fogar der Hauptpajtor fid) durd) eine pathetifdje Rede vergebens zu rühren ſucht, bis endlic) der arme Frühprediger fagt: Sd) glanbe id) weine; und ſeine Thriinen zu Protofoll nehmen ligt. Der Univerfalerbe ift cin edler poetiſcher Menſch mit allem ſchwärme— riſchen Idealismus der Frithjugend, aber aud) mit all ihrer Un- beholfenheit, ebenfo reinen Gemiiths als unerfahrencn Ginns. Aber aud) er foll das Vermbgen nur erhalten indem er mannich— fade Proben befteht bet den fieben Seitenverwandten, und man ahnt es fdon, da8 Geld wird ihm dabei meift entgehen und dod) in ihre Hände fommen, er aber juletst ein durdgebildeter Mann fein, im ſeiner Selbſtändigkeit fic) felber der beſte Scat.

Das Bild des fo liebenswiirdigen als linkiſchen Gottwalt erinnert uns daran daß itberhaupt der Cindrud des Naiven anf finnige Gemiither ein humoriftijder ift. Ohne dies Wort anszu- ſprechen Hat Rant den Begriff deffelben dod) recht gut dargelegt; er fagt: „Naivetät ijt der Ausbruch der der Menſchheit urfpriing- lid) natürlichen Wufridtigkeit wider die gur andern Natur gewor- dene Verftellungstunft. Man lacht iiber die Cinfalt die es nod nidjt verfteht fid) zu verftellen, und erfreut fid) dod) auc) iiber die Ginfalt der Natur, die jener Kunſt hier einen Querſtrich fpielt. Man erwartete die alltiglide Sitte der gefiinftelten und auf den ſchönen Schein vorfidtig angelegten Aeußerung, und fiehe es ijt die unverdorbene ſchuldloſe Natur, die man anjzutreffen gar nicht gewärtig, und der welder fie blicken ließ gu entblößen aud) nidjt gemeint war. Dah der fdjdne aber falſche Schein, der gewöhn— lic) im unjerm Urtheile fehr viel bedentet, hier plötzlich in Nichts verwandelt, daß gleichſam der Schalk in uns bloßgeſtellt wird,

934 I. Die Idee des Schönen.

bringt die Bewegung des Gemüths nach zwei entgegengeſetzten Richtungen nacheinander hervor, die zugleich den Körper heilſam ſchüttelt. Daß aber etwas das unendlich beſſer als alle angenom— mene Sitte iſt, die Lauterleit der Denkungsart, doch nicht ganz in der menſchlichen Natur erloſchen iſt, miſcht Ernſt und Hoch— ſchätzung in dieſes Spiel der Urtheilskraft. Weil es aber nur eine kurze Zeit Erſcheinung iſt und die Decke der Verſtellungs— kunſt bald wieder vorgezogen wird, ſo mengt ſich zugleich ein Be— dauern darunter, welches eine Rührung der Zärtlichkeit iſt, die ſich als Spiel mit einem ſolchen gutherzigen Lachen ſehr wohl verbinden läßt und auch wirklich damit gewöhnlich verbindet, zu— gleich auch die Verlegenheit deſſen der den Stoff dazu hergibt, darüber daß er noch nicht nach Menſchenweiſe gewitzigt iſt, zu vergüten pflegt. Eine Kunſt naiv zu ſein iſt daher ein Wider— ſpruch, allein die Naivetät in einer erdichteten Perſon vorzuſtellen iſt wol möglich und ſchöne obzwar auch ſeltene Kunſt.“ Aehnlich Schiller: „Das Naive erregt ein gemiſchtes Gefühl in uns. Es verbindet die kindliche Einfalt mit der kindiſchen. Durch die letz— tere gibt es dem Verſtand eine Blöße und bewirkt jenes Lächeln, wodurch wir unſere (theoretiſche) Ueberlegenheit zu erfennen geben. Sobald wir aber Urſache haben zu glauben daß die kindiſche Ein— falt zugleich eine kindliche ſei, daß folglich nicht Unverſtand, nicht Unvermögen, ſondern eine höhere (praktiſche) Stärke, ein Herz voll Unſchuld und Wahrheit die Quelle davon fei, welches die Hülfe der Kunſt aus innerer Größe verſchmähte, ſo iſt jener Triumph des Verſtandes vorbei, und der Spott über die Einfäl— tigkeit geht in Bewunderung der Einfachheit über. Wir fühlen uns genöthigt den Gegenſtand zu achten über den wir vorher ge— lächelt haben, und indem wir zugleich einen Blick auf uns ſelbſt werfen, uns zu beklagen daß wir demſelben nicht ähnlich ſind. So entſteht die ganz eigene Erſcheinung eines Gefühls in welchem fröhlicher Spott, Ehrfurcht und Wehmuth zuſammenfließen.“ Das iſt eben der Humor. Und will man die von Kant und Schiller geſchilderte Stimmung rein genießen, ſo leſe man Moliere's Frauenſchule; das herzige Naturkind Agnes iſt mit entzückender Meiſterſchaft dargeſtellt.

Humoriſtiſche Dichter haben darum das Naive und ſein Zu— ſammentreffen mit der Welt, in der es gewitzigt wird, zur Wechſelbeleuchtung des Herzens und der Welt mit Vorliebe zum Stoff der Dichtung genommen. So ſchon Wolfram von Eſchenbach.

4. Das Schöne im Entwickelungsproceß: c. Das Humoriftifde. 235

Parcival erwächſt in der Cinfamfeit, rein, gottinnig, naturfinnig, aber der Welt unfundig; und wie er nun dennod) in die Welt hinausftrebt, jzieht ifm die Dtutter ein buntes Narrenfleid an und gibt ifm abfidtlic) foldje Lebensregeln die mit der Gitte in Widerfprud) ftehen, indem fie hofft er werde bald verladht, viel- leicht auch cin wenig zerbläut zu ihr zurückkehren. Aber in fin- diſcher Einfalt und Täppiſchkeit thut ſeine edle Natur unbefangen das Rechte, und erſt wie er nun die Lehrſprüche der Ritterſitte und Lebensklugheit ſich eingeprägt hat, und nach ihnen zu handeln befliſſen iſt, da verfehlt er das Heil das ihm im Gral geboten wird, weil er nicht danach fragt, da er nach jenen Regeln vor— witziges Fragen meiden ſollte. Die Erziehung des Menſchen vom Glauben und der Unſchuld durch Irrthum und Sünde hindurch zur ſelbſtbewußten Tugend und zum Heil iſt die Aufgabe der Dichtung, und Wolfram löſt ſie ſo daß er weder das geiſtliche Einſiedlerleben noch das blos weltliche Ritterthum, ſondern die Verbindung irdiſcher Kraft und Herrlichkeit mit dem Sinn für den Himmel und ihr Wirken im Dienſt idealer Zwecke für das Rechte erklärt.

Gin ſpäteres vortreffliches Bud) der Art ijt der Simpler Simpliciffimus. Der vom Ginfiedler erzogene Knabe tritt mit jeiner heiligen Einfalt und lächerlichen Unwiffenheit in das Treiben des Dreifigiihrigen Rrieges, in das Fluge und verdorbene Leben der vornehmen Welt, und eS ift echt Humoriftifd) gezeichnet wie fie im feiner unverdorbenen Seele fic) fpiegelt. Man lacht iiber ihn und will ihn gum Narren erziehen, aber er merft den ent- febliden Spaß, ftellt fic) halb verriict und gewinnt nun die Er- laubniß der Welt, die ihn als Poffenreifer verfpottet, die reine Wahrheit yu jagen.

Kein Dichter hat vielleidht die ecigene Naivetiit der Frithjugend ſelbſtbewußt belaufdt wie Sean Paul. Daher fpielt fie von der Unfidtbaren Loge bis zum Titan und den Flegeljahren die grofe Rolle in jeinen Romanen und ift das Gelungenfte in ifnen. Es ift der Stoß des Ideals auf die Wirklichkeit, es ift die Schleifung des rohen Edelfteins der Biinglingsfeele durd) die ätzende Schärfe der Welt, was Jean Paul als genialer Humorift ergriffen hat. Wir durdfliegen alle Himmel der feligen Jugendträume in feinem Titan, um alle die Geftalten dem Schickſal zum Opfer fallen yu fehen weldje die Milchſtraße der Unendlidfeit und den Regenbogen dev Phantafie zum Bogen ihrer Hand gebrauden wollen, um mit

236 I. Die Idee bes Schönen.

Albano ju erfennen daß nur Thaten dem Leben Stiirfe geben und nur Mak ihm Halt und Reij.

Gervinus, der fonft der ftrenge und harte Kritifer Sean Paul's ijt, würdigt die Flegeljahre mit dem um fo géwidtigeren Lobe, dem wir gern hier eine Stelle geben: „In die Briider Walt und Bult hat fid) Sean Paul's Doppelgefidht am ſchönſten getheilt; der cine, das riihrendfte Abbild der träumeriſchen Sugend- unjduld, ift mit viel naiveren Zügen ausgeftattet als feine jenti- mentalen Geftalten diefer Art, 3. B. im der Loge, der andere, deffen vagabundifdje Natur eine vortrefflidje Figur in einem pica- rifdjen Roman abgäbe, der Weltfenner der den Bruder fiir die Welt zuſtutzen Hilft, ijt ein Humorijt ohne dic verjzerrten Ziige jeiner iibrigen. Das dunfle Gedanfenleben diejer Troubadourzeit im Menſchen yu belaufden, die unendlid) rithrenden Thorheiten, die in dieſen Sahren den Kopf durdhfliegen, aufzudecken, das fleine Glück der Seele fo endlos grog zu ſchildern wie es in Ddiefer geniigfamen Periode dem Menſchen ijt, den Sugendtraumen, der Atmofphire von Heimat, vom BVaterhaus und vom Spielraum der RKindheit und allem was daran hängt jo jarte und wabhre Züge gu leihen, die ſchrankenloſe Gutmiithigfeit, Liebe, Ganftheit, Jungfräulichkeit und Heiligkeit des Hergzens, den Reichthum Cines Tages diefer durd) Phantafie reiden Beit abgubilden, die ftilfen janften Empfindungen des Sonntagheimwehs, der Sabbatfreude ju entfalten, died alles ift bon niemand und nirgends fo geleiftet worden wie hier. Und wie er dieſen gliubigen Menſchen in Gegenſatz ju dem enttinjdten und enttiujdenden Bruder bringt, der da8 Reale dem Bdealen entgegenwirft, dem guten Träumer «nad dem Feft der ſüßeſten Brote das verfdimmelte aus dem Brotſchrank vorfdneidet», das alles ift vortrefflid), und das Auge, das hier Sean Paul anf die menſchliche Natur ridtet, ijt wahrlid) mehr werth als jene fublimen Blide in die Wolfen und in den Aether, in die Geifterwelt und iiber die Sterne.” Bean Paul fteht eben mit feinem Herzen voll Liebe felbft in der Rinderwelt, und fein Humor Hebt mehr das Riihrende hervor, während Heine, den fein Wik längſt dariiber hinausgefiihrt Hat, mehr das Lächerliche der Sache zeichnet und mit Spott die Sehnſucht „nach der entſchwundenen blöden ſüßen Bugendefelei” hinwegſcherzt.

Dder wahre Humor aber beweiſt ſich in der Liebe fiir die ver— fpottete Welt; dadurd und dak er die Combinationsfraft des

4. Das Shine im Entwickelungsproceß: c. Das Humoriſtiſche. 237

Wikes unter die Herrſchaft der Vernunft ftellt, empfängt er feine

Tiefe und feine Anmuth. Bim Lachen fiber die Berfehrtheit be- wahrt er die Verehrung fiir den Keim des Bdealen und Erhabe- nen, der nur die verfdrobene Richtung genommen hat, und darum erfrent uns in der Verſchrobenheit felbjt der Anblick des Adels der menjdliden Natur, und wir getröſten frendig uns feiner Unverwiiftlidfeit. Wer gedächte dabet nicht des herrlichen Cer- vantes und feines finnreiden MNitters von fa Manda? Seine nirrifden Unternehimungen entipringen dem edeln Trieb die Un- ſchuld zu beſchirmen, das Recht zur Herrſchaft gu bringen, aber das Uebermaß der Phantafie ligt ihn nicht nad der realen Lage der Dinge handeln, fondern gießt ifm den Rauber romantijder Poefie über die gemeine Wirflichfeit, die Welt in feinem Ropf ijt cine andere als die auger ihm, und das bringt ihn in die ergötzlichſten Conflicte, wo er trok feines wahrhaften Muthes und jeines hohen Strebens lächerlich wird; aber in feiner Cinbildung ijt ev erhaben iiber die AWlltiiglichfeit, deren Piiffe und Rippenſtöße er ertragen mug. Wer fic) mit Gancho iiber die Flugen Reden verwunbderte die Don Quixote fiihrt, dev wäre fo beſchränkt wie diejer fein Knappe, der als gewöhnlicher Realiſt dem phantafti- ſchen Reprafentanten des Sdealismus trog aller Prügel und Prellereien, die ev erfihrt, dennod auf jeinem grauen Eſel nach— trottet. Der geniale Didjter, der hellſte Stern am literariſchen Himmel feiner Nation, gewinnt in den Gefpraden beider die befte Gelegenheit fortwihrend die Doppelfeitigfeit und den Doppelfinn des Lebens Hervorzuheben; Don Quixote's Traumen vom irrenden Ritterthum legen fic) die Flarften Bilder fpanifder Natur und Volfsfitte gegeniiber, und wenn die glückliche Kühnheit des Cer- vanted den Sancho Panfa wirklich ju einer Inſelherrſchaft gelan- gen (apt, fo iiberbietet er fie nod) dadurd, dag der Diener in demfelben Augenbli€ wo der Herr zum Bewußtſein feiner pare tiellen Verrücktheit gefommen ift, fid) villig der Wahrheit von deſſen Cinbildungen iiberzeugt halt. Und wie fehr die Whentener Don Quixote's bei aller Ertravagan; dod) die des Menſchen find, das fann allein ſchon das erfte, der Rampf mit den Windmiihlen, geniigend beftitigen.

Das liebesinnige Eingehen des Humors anf da8 Kleine und Unjdheinbare überraſcht uns ſelbſt mit dem Intereſſe das wir an dem jonft Gleidhgiiltigen und an wenig beadhteten Gegenftinden nehmen; dafiir muß umgefelhrt die künſtleriſche Darjtellung, wo

938 I, Die Sdee des Schönen.

fie fid) mit genremifiger Genanigteit ihnen zuwendet, fic) zur Hreiheit de8 Humors erheben, der iiber dem Stoffe ſchwebt und feinen Reiz aus ihm gu entbinden weif. Wie wenig äußerlich Bedeutendes erlebt Sterne auf feiner Empfindjamen Reife, und wie wei er den innerften Grund und die tieffte Wefenheit der gewöhnlichen Tagesereigniffe gu erſchließen, und ihnen unfere herz— fiche Theilnahme ju gewinnen; er behandelt fie mit heiterer Leich— tigfeit, und läßt in den flüchtigſten Zügen ein Ewiges, in Rleinig- feiten dennoch den beſten Gehalt des Menfdenthums durchſchim— mern. Iſt dem Humoriften die Erde „das Sackgäßchen in der grofen Stadt Gottes”, fo deutet er die verworrenen und verjdjo- benen Bilder eben als die Reflere aus einer ſchönern Welt, dic nur fiir das gemeine Auge verfehrt daftehen, während fie im Grunde gittlider Herrlidfeit voll find. Der Geift trägt in fid das harmoniſche Reid) ewiger Sdeen, und wie ihm dice Erjdei- nungen, endlidjes Stückwerk im formlofen Durdeinander, anc widerfpredjen, ev fudjt fie ineinander 31 verweben, und wo mitten in der fomijden Paralyfe der Gegenſätze ihre Einheit fieghaft hervorlendhtet, da genieft das Gemiith in der Verſchmelzung con- traftirender Gefiihle die wemiithige Luft des Humors. Sean Paul ſchrieb als Motto feiner Werke: ,,. Der Menſch iſt der groge Gedanfenftrid) im Budje der Natur.” Er foll den Gedanfen der Matur ausfpreden und ift fid) doch felber cin Räthſel, „er fann das Unendlide bedeuten und dod) auch gar nichts“, wie Lazarus erläutert; er ift nad) dem alten Lied „halb Thier, halb Engel”, und gerade der Humorift zeigt gar gern and) das Thier im Menjden. Und gewif hat Ludwig Tiect recht: „Nicht darin be- fteht das Verderblide dak man das Thier im Menſchen als Thier darjtel[t, jondern darin da man dieje doppelte Natur gänzlich leugnet, und mit moraliſcher Gleisneret und fophijtifder Kunſt das Gdelfte im Menſchen zum Wahu madt, und Thierheit und Menſchheit fiir gleidbedentend ausgibt.“

Das Laherlide und Bewnundernswerthe in Einem, das den Humor fennjzeidnet, möge uns nod) cin Beifpiel aus Sterne’s Schriften beftitigen. Cin Doctor der Theologie fragt den Diener de8 Onfel Toby, Corporal Trim, wie das vierte Gebot heiße. Gr fann e8 nad) Art der Kinder und gemeinen Lente nur fo fin- den dak er mit dem erften anfiingt: „Das erjte Gebot: Ich bin ber Herr dein Gott, du follft feine andern Götter haben neben mir, Das zweite Gebot: Ou follft den Namen deines Gottes .

4, Das Sdine im Entwidelungsprocef: c. Das Humoriftifde. B39

nicht unniiglid) fiihren. Das dritte Gebot: Ou follft den Feier- tag heiligen. Das vierte Gebot: Du follft Vater und Mutter ehren.” Als er das ſchwere Werf fo vollbradt hat, fragt der Doctor weiter: Trim, was heißt das: Du jollft Bater und Mutter efren? „Das heißt“, fagte er mit einer Verbeugung, „wenn der Corporal Trim jede Wode vierzehn Grofden Lohn erhilt, jo foll ev feinem alten Vater fieben davon geben.” Welch ein Mtangel an freier Geiftescultur nicht einmal das vierte Gebot fagen zu können ohne mit dem erften anfangen zu miiffen, und gugleid) welche fittlich) edle Erfüllung diejes Gebots! Gr weiß nichts im allgemeinen ju erfliren, aber der einzelne Fall den er anfiihrt ijt mehr werth als die trefflidjften Doctrinen; jo lächer— lid) jeine Bildungsunbeholfenheit, fo erhaben ijt ſeine Gefinnung; wer iiber jene fpotten wollte der wiirde fid) vor diefer verehrungs- voll bengen miiffen. Der Charafter hirt anf ein fomifder gu jein, er ijt cin humoriſtiſcher. „Die Wiſſenſchaften mögen uns cingeleiert werden, die Weisheit wird es nicht“, jagt Sterne bei dieſem Anlaß.

Von Holberg's Jeppe vom Berge ſagt Prutz: „Wie hat der Dichter es verſtanden dieſen gemeinen faulen verſoffenen Bauer, dieſen Hahnrei und Feigling, der nichts in der Welt mehr fürchtet als die Karbatſche ſeiner Frau, bei alledem mit Zügen auszuſtatten die ihm das Herz des Zuſchauers unwiderſtehlich gewinnen! Seine bodenloſe Gutmüthigkeit, die aber auch freilich die Quelle ſeines Verderbens iſt, ſeine Fürſorge für ſeine Familie, ſeine väterliche Zärtlichkeit für die kleine Martha, ſeine ſo zu ſagen brüderliche Anhänglichkeit an ſein Pferd, ſeinen Hund, ſeine Katze, wie iſt das alles der Natur mit ſo hinreißender Wahrheit abgelauſcht, und welche hellen tröſtenden Lichter fallen dadurch auf das übri— gens ſo düſtere Gemälde! Den Abſchied den Jeppe von ſeiner Frau und ſeinem Hausweſen nimmt, da er ſich zum Tode ver— urtheilt wähnt, rechnen wir in ſeiner genialen Verſchmelzung von Höchſtem und Niedrigſtem, von Tragiſchem und Burleskem, zu dem Größten was je ein Dichter geſchrieben, und mehr als einmal haben wir es erlebt wie bet der Vorleſung dieſer Scene ſelbſt feingebildeten Frauen die Thränen der Rührung in die Augen traten, während zugleich von ihren Lippen das fröhlichſte Gelächter ertönte.“ Warum wird uns immer ſo behaglich zu Muthe, ſobald Unkel Bräſig in Fritz Reuter's Stromtid auftritt? Wir find ſicher er wird Fremdwörter falſch gebrauchen und ſich durch

940 I. Die Idee des Schönen.

Reden lächerlich maden, aber im Sinn feiner ſeltſam ftilijirten Worte wird fo viel echter Gehalt liegen, fein Handeln wird ftets einen treuherzigen Kernmenſchen bezeugen.

Der Humor alfo behandelt nidjts als ein Abftractes, Einſei— tiges, Feſtes, Fiirfichbeftehendes, fondern er jeigt ftets in ihm auch fein Gegentheil, im Grofen da8 Kleine, im Kleinen das Groge, und fo werden ihm alle Dinge zu ineinander]pielenden Wellen des einen Stroms der gittliden Liebe. Wie die Sub— jectivitit fic) felbft in tanfend Hemmungen und Bedingtheiten des irdijden Dafeins verftvict und doch wieder als fret im Reid) der Sdeen lebend anſchaut, fo behandelt fie dic Welt wie einen Rauber: garten, in weldem alles aus allem werden fann, weil in jedem Ding das Ganje lebt, und jedes gerade durch feine Schranke mit dem Univerſum jufammenhingt. Sinnig nennt Sean Paul den Humor einen Gaufler, der auf dem Ropfe tangend den NeFtar aufwärts trinft, und vergleid)t ifn dem Vogel Merops, der gwar dem Himmel den Schwanz zukehrt und damit eine fehr lächerliche Sigur macht, aber dod) fo gen Himmel fliegt ohne die Erde aus dem Geficht gu verlieren.

Die den Humor dem Altertum abjpredjen, follten ſtutzig wer- den, wenn fie die ſcheinbar ganz widerfpredjenden Urtheile leſen, die zwei fo ausgezeichnete Denker wie Solger und Hegel iiber Ariftophanes fillen. Solger ſpricht von dem Ernſt und der Herb- Heit dieſes Dichters, und weiß nichts was tiefer erſchüttern könnte wie die von ihm aufgeſtellten großen Bilder des demagogiſchen Wahnſinns, in welchem der herrlichſte Staat des Alterthums ſich ſelbſt verzehrte; Hegel aber meint ohne ihn geleſen zu haben laſſe ſich kaum wiſſen wie dem Menſchen zu Muthe ſei, wenn er ſich ſauwohl befinde. Die Lächerlichkeiten in der alten Komödie ſind die großen öffentlichen Intereſſen, die Proceßſucht, die Kriegsluſt, das Hereinbrechen der Pöbelherrſchaft, der ſophiſtiſchen Aufklärung, der Verfall der alten Sitte, des alten Glaubens, der alten Kunſt; aber die hier wirkenden Subjecte ſind in ihren Verſchrobenheiten ſelbſt ſo behaglich eingeniſtet, ſie treten als ſo ſichere Narren auf, daß wir mitten im Untergang einer ſchönen Welt über die unver— wüſtliche Kraft der Menſchennatur mit dem Dichter jubeln können. Ariſtophanes ſteht mit ernſter ſittlicher Geſinnung auf Seiten der alten Volksherrlichkeit, aber er ſpottet ebenſo gut auch über das Trompetengeſchmetter Aeſchyleiſcher Wortungeheuer, über die geiſtige Unbeholfenheit des Strepſiades, als er die Weinerlichkeit des

4. Das Schöne im Entwickelungsproceß: c. Das Humoriftifde. 24]

Euripides und in Sofrates die ſubjectiviſtiſche Bildung lächerlich mat. Gerade weil er ein religiöſes Gemiith ijt, kann er den Herakles auch als Erbjenfreffer darjtellen, oder den nad) dem im- mer rajderen Taft des Froſchgeſangs immer fdneller rudernden Gott Dionyſos fingen laffen:

Ich aber habe Blafen fdjon,

lind mein Liebwerthefter ſchwitzt mir fon, Und fdjreit beim nächſten Bücken ſchon: Brefekefer foar foar!

Oder komödiren die Ritter fic) nicht felbft mit ihren fic) über— jhlagenden Schimpfworten, wenn fie im Chor tobend gegen Kleon auf die Bühne ſtürzen:

Rieder mit ihm, dem Erzhalunken, Ritterftandeswiirgehund,

Und dem Zollner und dem Niftpfuhl, und dem Charybdisfdlingehund! Und dem Halunten und dem Halunten zehnmal nod) und Hundertinal, Denn cin Halunk’ ift diefer Halunke ja des Tage wol tanfendmal!

Ueber diefen nidtsjagenden Wuthausbrud) der BVertheidiger des alten guten Rechts hat das athenifde Volk gewiß ebenfo laut ge- fact al8 iiber die Anweiſung yur neumodiſchen aii al Der Wurfthindler jagt:

Das Orafel mundet mir, aber es wundert mid Wie id) des Bolles Führer ju fein foll fahig fein.

Der Diener belehrt ihn:

O Kleinigheit! Dafjelbe thuft du wie bisher:

Durdeinander rührſt du, hackſt wie Haché und ftopfft wie Wurſt Die Demofratie, und madft dir das Volf mit fiifem Guß

Von küchenmeiſterlichem Geſchwätze mundgerecht.

Das übrige Demagogenweſen haſt du ja:

Hundsfött'ſche Stimme, ſchofle Geburt und den Straßenwitz, Kurz alles haſt du was man zur Staatsverwaltung braucht!

Strepſiades in den Wolken, welcher von ſeinem Sohne ver— langt er ſolle Philoſophie ſtudiren um ſeine Schulden loszuwer— den, erfährt was er verdient, wenn nun der junge Herr ihm ſophiſtiſch beweiſt daß das Alter der Jugend nachſtehe und der Vater den Sohne gehorchen müſſe. Sokrates am Ende des Platoniſchen Gaſtmahls, der lebensfrohe Weiſe wie er zwiſchen dem Tragifer Agathon und dem Romifer Ariſtophanes ſitzt, und

Carriere, Aeſthetit. J. 3. Muff. 16

242 I. Die Idee des Schinen.

die Behauptung aufftellt dak eigentlich der rechte Tragifer aud der Romifer fein müſſe, ijt er uns nicht felber ein Bild des Humors?

Laune hat Weiße als das jubjective Aufdämmern des Humors bezeichnet. Diefer felbft als die Mifdung von Wehmuth und Luft wird bald die eine bald die andere voriwiegen Laffer, ſodaß jie jeine Farbe bejtimmt, und es fann fowol das Komiſche als das Tragifde den Ausgangspunkt und Grundton bilden, immer aber wird dort der Ernſt durdhflingen, Hier das Leid und die Noth des irdiſchen Daſeins felber gum Spiel des Scherzes gemacht werden. Wir entnehinen die Beijpiele gu Heiden Arten ans Shakeſpeare.

In Wie e8 euch gefallt Hat der Dichter gezeigt daß wenn man nur das Gute in allen Dingen zu finden weif, die Verbannung vom Hof und die Waldeinjamfeit vielmehr in Glück und Lebens- freude umſchlägt; der vertriebene Herzog fpridjt diejen Heiteren Humor felber dahin aus:

GSiif} ift die Frudht der Widerivirtigfeit,

Die gleid) der Kröte häßlich und voll Gijt

Gin köſtliches Juwel im Haupte trägt.

Dies unfer Leben, vom Getiimmel frei,

Gibt Bäumen Zungen, findet Schrift im Bad, In Steinen Lehre, Gutes überall.

Die ſchönſte Triigerin diefes Sinnes im Stiic iſt Roſalinde. „Klaftertief in die Liebe verſenkt“ wie fie ift, ſcherzt ſie mit dem ſchwärmeriſchen Geliebten, der fie in den Mannsfleidern nicht fennt, und führt die wirklidje Herzensgefdhidte als Komödie mit ihm auf; ihy ſchalkhafter Muthwille ift von angeborencr Gragie getragen, der Uebermuth ihrer Lanne von innigem Gefühl durdflungen. Selbjthewufter als fie und durchgebildeter erſcheint Portia im Kaufmann von BVenedig. Ihr Wik weiß durch Fefthalten des Buchſtabens das Tidtende des Buchſtabens auf das Haupt deffen zurückzuwerfen der das ſtarre Recht zum Unredt wollte umſchla— gen laſſen; wie fie tieffinnig die Uebung der Gnade verlangt hat, da wir der Gnade alle bediirfen, fo löſt fie wieder alle tragijde Schwere in der heitern und leichten Schlußwendung, die uns fo finnig zur Anſchauung bringt dak nidt in der äußerlichen Bewah- rung de8 Geſetzes, fondern in der Gefinnung, aus der wir han- defn, dex Werth der Thaten liegt, an fie der Erfolg fiir uns gefniipft ijt; gegen ihr Verfpredjen haben die Manner die Braut-

4, Das Schöne im Entwickelungsproceß: c. Das Humoriſtiſche. 943

ringe weggegeben, aber fie haben es gethan um der Pflicht der Danfbarfeit zu geniigen, und die kleinſte Diſſonanz verſchwindet in Harmonie’, indem jene die Ringe an die eigenen Frauen ge- geben haben; die Dialeftif des Rechts, die im Ernſte behandelt war, wird vom Humor aud nod) im Scherze und nicht minder tieffinnig durd)gefiihrt. Von Mercutio ſagt Schlegel fehr ſchön: „er geht mit dem Leben um wie mit einem perlenden Wein, den man auszutrinken eilt ehe der rege Geift verdampft“; ſein Geift felber ift auffdhiumender Champagner, ſüß und dod) pricelnd dburd) die Kohlenſäure. Mit cinem Scherz fordert er den Tybald zum Kampf. „Du Harmonirft mit Romeo”, hat diefer zu ihm gejagt; er hängt fic) an das Wort: harmonirjt. „Machſt du mid) gum Muſikanten? Sch will dir aufſpielen, du follft Diffo- nanzen 3u Hiren kriegen!“ Als es Ernſt wird und Romeo ſpäter meint die Wunde würde hoffentlich nicht tief ſein, ſcheidet Mercutio mit einem Scherz von hinnen, der nicht Gemüthsroheit bekundet, wie man ſeltſam genug behauptet hat, vielmehr den freien Sinn bezeugt, der ſich über alles Irdiſche leicht emporſchwingt: „Nicht ſo tief wie ein Brunnen und nicht ſo weit wie ein Scheuerthor, aber fragt morgen nach mir und ihr werdet einen ſtillen Mann an mir finden.“ Endlich der Baſtard Faulconbridge ſteht wie ein Chor, aber zugleich handelnd im König Johann; er iſt der Vertreter der geſunden Volkskraft, die gerade bei der durch Selbſt— ſucht und Verbrechen herbeigeführten Verwirrung ihrer bewußt wird und den großen Freibrief ihrer Rechte erobert; voll Vater— landsliebe hat er, der ſittlich ſtarke und reine Jüngling, den Muth allen die Wahrheit zu ſagen, und er thut es im Gewande des Spafes und Scherzes, und da ftehen ihm die kühnen treffenden Salagworte gegen den Cigennus, die Aufgeblaſenheit und den Wankelmuth zu Gebote, die er die Welt beherrſchen fieht, die thm aber nidjt bange machen, weil er eben ihre Hohlheit durchſchaut, weil fie vor feinem edelfreien Sinn fic) jogleid) in ihrer Nichtig- feit bloßſtellen. Vortrefflich Hat Ulvict bemerft wie diefer fein Humor nicht aus griibelnder Reflexion, ſondern aus der gejunden firnigen Natiirlichfeit feines Geiftes wie aus einem klaren, hod liber den Stätten der verdorbenen Civilifation fiegenden Gebirgs- quell unerſchöpflich hervorſprudelt. Der Pring Heinrich bewahrt den Adel feiner Geſinnung im Verkehr mit Faljtaff und den fodern Gefellen; dem hohlen fteifen Scheinwejen des Hofs zum Trotz hat er feine Luft an denen die das Leben leicht nehmen; 16*

944 I, Die Idee des Schbnen.

aber in der Ueberlegenheit des Humors ſchwebt er auch über ihnen, {apt ſich nicht ins Gemeine hinabjziehen, und weif dem Ernſte wie dem Scherze in gleicher Weife gerecht yu werden. Und fiir Bercy Heißſporn ift der Humor das erquidende Naf das die Flamme des ſtets auflodernden Affectes verhindert ihn zu verjzehren, das die ganze volle Menſchlichkeit im leidenſchaftlichen Helden bewahrt.

Herrſcht andererfetts das Clement des wehmiithigen Mitge— fühls im Humor, fo wird er aus allen Dingen fic) melancholiſche Nahrung faugen; aber wenn er auch jedes Griisden ans’ Her; driidt und auf die Geheimſprache der Sterne und Blumen laufdt, por der Ausartung in die felbftgefillige, weid) zerfließende Senti- mentalitit bewahrt ihn wieder die fomijde Aber, indem jede Ge- fühlshätſchelei ſich ihm fogleid) auch von der lächerlichen Seite zeigt. Es iſt eine Erhebung über das tiefe Leid, und der Menſch lernt daſſelbe ſich objectiv machen, wenn er zum Witze greift; ſich in den Gram hineinzugraben und zu wühlen iſt eine eigenthüm— liche Luſt, man lernt dadurch mit ihm ſpielen, und daraus geht wieder eine Befreiung des Geiſtes hervor. Ich kenne drei Stellen von Dichtern erſten Ranges, in welchen Helden in ihrem Schmerz mit dem eigenen Namen Wortſpiele machen, als ob ſie inne wür— den daß ihnen der Name wie ein Orakel ihres Schickſals gegeben worden ſei. Aias ſeufzt bei Sophokles:

Acat· the dv mot Wed” OS exadvupov tobpdy Evvolcery Svoua tots guois xanois;| viv yap mépeote xat Slo alatew enol wal tolg torodtors yap xaxoic evtuyydve.

Diet Heift im Altdeutſchen Volk, Dietrich aljo Volkreich. Wie der große Gothentinig hart daß alle feine Mannen erjdjlagen find, dba ruft er im Nibelungenlied: Sd armer Dietrich! Der alte Gaunt fagt in Shafefpeare’s Ridard II.:

O how that name befits my composition!

Old Gaunt indeed; and gaunt in being old. Within me grief hath kept a tedious fast;

And who obstains from meat that is not gaunt? For sleeping England long time have I watched, Watching breeds leanness, leanness is all gaunt; The pleasure, that some fathers feed upon

Is my strict fast, I mean my children’s looks; And therein fasting hast thou made me gaunt; Gaunt am I fore the grave, gaunt as a grave; Whose hollow womb inherits nought but bones.

4, Das Sdhine im CEntwidelungsprocef: c. Das Humoriftifde. B45

Das weide Gefühl des Humoriſten ftellt fic) dadurch empfind- jam dar, daß wenn er einmal nad) den Schatten fieht er nun aud) iiberall mit jener mikroſkopiſchen Scharfſichtigkeit fie hervor— hebt, die der Hypodjondrie cignet, welche das Bild des Lebens gleic) einem Oelgemälde in lauter fleine Farbenflere zerlegt; da es in der That aus foldjen befteht, ijt fie nicht zu widerlegen; es fehlt ihr die Freiheit de8 Humors, die den allzu nahen Augenpuntt rajd auch wieder mit der richtigen Ferne vertauſcht, fiir die fo- gleid) die Geftalten Hervortreten und es deutlich wird daß der Schatten nur die Bedeutung hat fie gu modellirven. Dies Tragijde des Humors zeigt Hamlet. Er trägt in feiner Seele das Ideal: bild der Welt: „Welch cin Meiſterſtück ift der Menſch! wie edel durch VBernunft! wie unbegrengt an Fähigkeiten, in Geftalt und Bewegung wie bedeutend und wunderwiirdig! im Handeln wie ähnlich einem Engel! im Begreifen wie ähnlich einem Gott! die Zierde der Welt! das Vorbild des Lebendigen!” Nun made auf einmal der rithfelhafte Tod des Vaters, die ſchnelle Heivath der Mutter, die ihn verdringende Thronbefteigung des Oheims cinen Rif durd die fdjine Welt und durch fein Herz; und er Halt nun die Wirklichfett mit feinem Sdeal zuſammen, und fieht in dem majeſtätiſchen Gewölbe ded Himmels einen faulen verpefteten Haufen von Diinften, und in dev Erde einen wiiften Garten voll verworfenen Unfrauts. Diejer aus den Fugen gefommenen Welt gegeniiber nimmt er die Maske der Verriictheit an um mit ihr zu fpielen und ifr ihre Widerſprüche wikig vorzuhalten, während ex jelber mit tiefem Schmerz darüber finnt wie er fie auf die rechte Weife heilen werde. Die Extreme der Dinge ftehen ihm fidjtbar vor Augen, das Kleine und Grofe, das Herrliche und Widerliche in Cinem, wenn er auf dem Kirchhof die Schädel be- tradjtet, wenn er bedenft wie der groge Cäſar, Staub geworden, jet vielleicht das Stück Lehm ijt weldhes cin engliſches Bierfaß verjtopft. Cr hort wie die Todtengriber bet ihrem ſchauerlichen Geſchäfte ein luſtig Lied fingen, wie die Räthſel, die fie fid) zu rathen aufgeben, die ſchwere Mühe und Arbeit des denfenden Geiftes parodiven; er fieht wohin doc) zuletzt alle Pläne und Feinheiten fiihren, auf den Kirchhof, wo der klügſte und ergötz— lichfte Wik uns nidjt vor Wiirmern ſchützt. Und in diejem Ge- fühle ſchwingt er fic) über alles Srdijde empor und ſcherzt über bie Verginglidjfeit der Dinge, während er innerlich fic) in den Rathſchluß der Vorjehung ergibt und fiir ihren Dienft fid) in

246 I. Die Adee des Schinen.

Bereitſchaft halt. Auch Moliere’s Menſchenfeind zeigt den vor- wiegend tragifden Humor in bewundernswürdiger Weije. Der Sdealift mit feinem Edelſinn und feiner unbeftedhliden Wahrheits— liebe gewinnt iim Rampf mit ciner Welt von Fladheit und Ver- ftellung unfer Herz, unjere Verehrung, und dod) erhält er cinen Anflug des Komiſchen durch den Feuereifer mit weldjem er fid) iiberftiirzt und fic) noch mehr felber an den Menjdjen betriigt als er von ihnen betrogen wird. Allem Scheinwejen fdenft er reinen Wein ein und liegt felber dod) in den Banden einer Kokette; er mite aus dev Welt fliidjten um cin Ehrenmann ju bleiben, und gibt den Geen und Héoflingen dod) aud) wieder cin Medht iiber ihn zu lachen. Gocthe fragt: ob jemals cin Didter fein Inneres vollfommener und liebenswiirdiger dargeftellt Habe.

Der melandolifde Saques in Wie es euch gefallt kommt nidt gu der Erhebung iiber die Empfindſamkeit der Wehmuth und iiber das ſchwermüthige Griibelu, ev fieht in dem ganzen Leben nur einen Leichenzug, dicut aber dafür mit ſeinen Klageliedern den anbdern zur Beluſtigung. Das vollendetite Bild des Humors find Shakeſpeare's Narren. Cin ſeltener Burſch, ſagt Jaques von einem ſolchen, er verſteht ſich auf alles gut und iſt doch ein Narr. Weil fie ſehen dak jeder Meuſch zuweilen cin Narr ijt, und der ert rect und am meiften welder wie Malvolio immer die fauer- töpfiſche Miene der Weisheit zur Schau trägt, fo jewen fie fic jelber dic Schellenfappe auf um das gu ſcheinen was alle find und nur nicht ſcheinen wollen; und durd) dieſes Bewußtſein, diefe Seiftesfreiheit ftehen fie iiber den andern. In dev Selbfterniedri- gung gum Spaßmachen fetern fie wieder ihre Erhihung, indem fie fid) dDadurd) das Recht erfaujen die ungefdminfte Wahrheit zu jagen, und fid) damit in den Dienft der Idee ſtellen. Bor allen dev herrliche Burjde im ear. Als Cordelia verſtoßen wird zieht er in tiefem Harme fic) zurück; fein Herr fordert ihn zur Geſell— ſchaft, und nun zeigt er dem König in allerhand Späßen das Thörichte und Widerfinnige ſeines Thuns, denn in dem Tragiſchen und Siindhaften diejes Thuns geht jeinem Ange zugleich aud) die Anſchauung dev fic) ſelbſt anfhebenden Zweckwidrigkeit auf, und dadurch erblickt er die Verfehrtheit von ihrer lächerlichen Seite, und die legt er nun aud) feinem Herrn dar um ifn jum Bewußt— jet ju bringen, um ibn iiber den Druck, der jofort gegen ihn geübt wird, zu geiftiger Freiheit zu erheben. Aber furdtbarer und furchtbarer kommen die Schläge des Schickſals; da zeigt der Narr

4, Das Schöne im Entwidelungsprocef: c. Das Humoriſtiſche. 247

wie die Riugheit der Welt Thorheit vor Gott ijt, und bewahrt die Xreue, wo jene fic) ſelbſtſüchtig zurückzieht. Während er in- nerlich weint über Lear's Ungliid, ſucht er ihn mit Späßen ju erheitern. Er iſt ſich des ſchweren Ernſtes und der tiefen Be— deutung des Lebens wohl bewußt, darum ſieht er in der Erfüllung des Geſchicks das göttliche Walten, deſſen er ſich getröſten, kraft deſſen er mit der Schwere des Lebens ſeinen Scherz treiben darf, weil er über ſie innerlich erhaben iſt. „Das was die tragiſche Kunſt bezweckt, jene Erhebung des menſchlichen Geiſtes über Leid und Untergang, das iſt in ihm bereits erreicht, das erſcheint in ihm gleichſam perſonificirt.“ (Ulriei) Go iſt er der wahre Weiſe, und doch iſt er es nicht als Philoſoph, ſondern als hu— moriſtiſcher Gefühlsmenſch, ſein Herz iſt aufs innigſte an alles das geknüpft worüber die Freiheit ſeiner Betrachtung ſchwebt, ſein Herz bricht als dev König in Wahnfinn verſinkt, und er {djeidet mit einem Wikwort aus dem Leben: ,,Und ich will um Mittag zu Bette gehen.’

Weil der Humor das Widerjprechende witzig verfniipft und die Giirung des Gemiithe in der Vermiſchung contraftivender Cin- drücke darftellt, ijt er der Gefahr der Formloſigkeit ausgeſetzt, der Sean Paul gar fehr und Sterne gar oft anheimfallen, und ed bedarf der ganjen künſtleriſchen Größe cines Shafefpeare, Cer- vantes, Goethe, und die forimgebende Kraft diejer Meiſter leuchtet vielleidht nirgends in vollerem Glanze, um den Humor walten ju faffen und dod) die fiinftlerijdje Harmonie und die Linie der Schönheit ju bewahren. Unter den bildenden Künſtlern ſtellt ſich ihnen hier vor allen Kaulbach zur Seite. Cinige feiner Shakeſpeare— bilber, und der Fried im neuen Muſeum, der die Weltgeſchichte aus der Vogelperfpective gefehen als ein Spiel der Kinder dar- jtellt, zeigen die wunderbare Verſchmelzung freiſprudelnder fomi- jer Laune und tieffinniger Weltauffaffung mit der Grazie dev Form, und da8 bringt dann eine wahrhaft entzückende Wirkung hervor. In ſolchen Werfen erjdeint int Humor nidt blos das werdende Schöne wie es fic) im Proceffe der Auflöſung jeiner widerftreitenden Elemente herſtellt, fondern zugleich wie es feine Vollendung in reicher volljtimmiger Harmonie erreicht hat.

248 I. Die Idee des Schonen.

5. Die Anffafjung und Beurtheilung des Schönen; fein Verhaltnif gum Wahren und Guten.

Das Schone ijt Offenbarung des Geiftes an den Geift durd die Sinne, e8 ijt Crjdeinung der dee. Sede Erjdeinung aber jest ihrem Begriffe nad) ein Subject voraus dem fie erfdeint, fie ijt ja die Anſchauung welche diefes auf einen gegebenen Anſtoß erzeugt und fic) vorftellt, und fo finden wir von der Betradtung ber Objectivitdt uns wieder auf uns und unfern Ausgangspuntt zurückgewieſen, und erinnern uns der Darlegung dak das’ Schone alg foldjes unjere Empfindung ift und im Zujammenwirfen der Außenwelt mit der Seele in uns geboren wird.

Was etwas an fid ijt das wird uns fund in feinem Verhal- ten zu anderen, in dem was ed fiir andere ijt wird feine Unter- ſcheidung von ihnen und jugleid) jeine Beziehung auf fie aus— gejprodjen. Wir erfahren die eigene Natur des Sauerſtoffes durch jeine Verbindungen mit andern Stoffen, wir erfennen den Didjter in feinen Werfen und das Gemiith des Menſchen in feinen Ver- hiltniffen ju den Nebenmenfden. Das Wejen gibt fid) den an- dern in derjelben Thätigkeit fund durd) welde es fich ſelbſt ver- wirflidt und cin eigenthiimlides von ihnen unterſchiedenes Sein fest; es enthiillt feine Wefenheit durd die Formen in welden es fid) dDarftellt. Wher es muß and) das andere da jein das dieſe Formwirklichkeit auffapt, das die Mtannichfaltigfeit der Erſchei— nung wieder zur Cinheit gujammenbringt um in ihr das Weſen zu begreifen. Dak aber jeglices das fiir andere jet was es an fic) ift, wird uns wieder durch die Schinheit bewiejen. In ihr ift Ruhe und Selbftgeniigen, denn die Idealität in ihr ijt mit Realität gejdttigt, denn die Realität in ihr ijt vom Bodeale be- ſeelt. „Was aber fdin ijt, felig ijt eS im ihm ſelbſt“, fingt Mirife. Aber gerade darum gewinnt es Bewunderung und Liebe weil e8 dieſelbe nicht erregen will. Gin eitles gefallſüchtiges Sich— {preizen, wie es die verfallende Kunſt zur Schau ftellt, verräth den Mangel an eigener innerer Bejeligung, und fann daher den gejunden Sinn nidt anjiehen.

Im Schönen offenbart fic) der Geift dem Geifte durd) die Materie und die Sinne; fo fühlt ſich der ganze Menſch in ihm erhöht und befriedigt. Es ift eins und daffelbe was der Vernunft und dem Gewiffen cutipridt und was uns im Wohlgefühl der

5. Die Auffaffung und Beurtheilung des Schönen. 249

Empfindung ergötzt; während wir der eigenen Leiblidfeit als einer wobhlgeftimmten inne werden, ruht die Seele gugleid) in der An- ſchauung des Wahren und Guten. So fiihlt der Menſch fid aufgenommen in die Weltharmonie, die der ſchöne Gegenftand ihm enthiil{t, und die Wonne des Schinen lft ihn erfahren daß Innen- und Außenwelt die beiden einander entfpredenden, einan- der vorausfebenden Glieder des grofen Ganzen find, die wieder verjdmelzjen und ineinander aufgehen können, weil fie aus einer gemeinjamen Einheit ftammen, die ihnen eimwohnend bleibt und in der hergeftellten Harmonie ſich bethitigt. Das Gedanfenoffen- barende im Leben der Außenwelt ftreift nidjt an uns vorüber, es erregt uns vielmehr zu eigener Wirkfamfeit; wir entbinden ed wieder aus der Materie, wir geftalten e& wieder gur innerlicen Einheit aus dem Wechſel der Bewegung, aus der Vielheit der Erſcheinung; dadurd) wird es unfer, dadurd) verſchmilzt es mit unjerm Selbjt und Sein, und wir werden unfers eigenen Zu— ftandes inne als eines foldjen in weldjem Geift und Natur fid verſöhnen, und durd) die Cinheit des Schönen mit uns erfahren wir geniefend dag der Gedanke und die materielle Welt fiir unfere Sndividualitdt da find, daß dieje in ihr tint und leuchtet und jener in ify bewußt wird, daß beide in ihr ſich cinigend durch— dringen und dadurch mit ifr felbft eins werden. Wir fiihlen uns cing mit ihnen, eins in ihnen.

Schiller hat cin Aehnliches in den Bricfen Aber äſthetiſche Er— zichung dargethan. Die Schönheit, bemerft er, ift das Werk freier Betrachtung, und wir treten mit ihy in die Welt der Ideen, aber ohne die finnlide Welt gu verlaffen. Sie ift Gegenftand fiir un8 und jugleid) cin Zuſtand unfers Subjects, weil das Gefühl die Bedingung ift unter welder wir cine Vorftellung von ihr haben; fie ift Form, weil wir fie betrachten, und Leben, weil wir fie fiihlen; mit einem Worte fie ift gugleid) unfer Zuftand und unjere Bhat. Und eben weil fie beides ift, dient fie uns jum fiegenden Beweis daß Leiden die Thitigheit, Materie die Form, Beſchränkung die Unendlichkeit feineswegs ausſchließe, denn im Genuß der Sdhinheit find beide Naturen vereinigt, und da- durch erweiſt fic) die Ausführbarkeit des Unendliden im Endliden, mithin dic Möglichkeit der erhabenften Menſchheit.

Perjonbildend finnen wir mit einem Schleiermacher'ſchen Aus— bruce das Schöne nennen, infofern e8 unfere ganze ſinnlich geijtige Natur erfaßt und in Cinflang fest, das Sdeale der Sndividualitat

250 I. Die Idee des Schinen.

einpflangt und diefe damit ihrem Genius zubildet. Das Schine erregt nicht eine cingelne Rraft des Gemiiths, fondern fie alle jugletd), indem es fie in Harmonie jet und dadurd in der Bez wegung zugleich beruhigt. Dadurch erfreuen wir uns eines freien Spiels dev Erkenntnißkräfte, eine Beftimmung Kant's, die wie- derum Schiller weiter entwidelt hat. Seine Darftellung, die auf cigene Art friiher Erörtertes berührt, nimmt folgenden Gang. Der Menſch als Geift ijt Vernunft und Wille, felbjtthatig, be- jtimmend, formgebend; died bezeichnet Shiller durch den Forme trich; der Menſch als ſinnliches Weſen ijt beftimmbar, empfing- lich, anf die Materie geridjtet; Shiller bezeichnet dies durch den Stofftrieh; zwiſchen beiden in der Mitte liegt das Schine, in weldem Cinnlidfeit und BVernunft fic) durddringen, und fein jugleicd) geniefendes Hervorbringen weift Schiller dem Spieltrieb ju. Shiller will damit das freie Spiel der Kräfte, die natur- gemäße Thätigkeit bezeichnen, welche zugleid) Frende und Glück ijt; ex erinnert an das Leben der Olympier, und fest hinzu: Der Menſch ift nur ta ganz Menſch wo er fpiclt. Die Perfontichfeit ijt das Bleibende, der Zuftand der Empfindung das Wechſelnde im Menſchen: er ift die beharrliche Cinheit, die in den Fluten dev Veriinderung ewig fie ſelbſt bleibt. Der Menſch foll in viel- failtiger Beriihrung mit der Welt fie in ſich aufuehmen, aber mit dieſer höchſten Fille von Daſein zugleich die höchſte Selbſtändig— keit und Freiheit verbinden, und anjftatt ſich an die Welt zu ver— lieren ſoll er ſie der Einheit der Vernunft unterwerfen. Nur inſofern er ſelbſtändig iſt, iſt Realität außer ihm, iſt er em— pfänglich; nur inſofern er empfänglich iſt, iſt Realität in ihm, iſt er eine denkende Kraft. Der Gegenſtand des ſinnlichen Triebes heißt Leben, der des Formtriebes Geſtalt; lebende Geſtalt oder Schönheit iſt alſo des Spieltriebs Sache; er will ſo hervorbrin— gen wie der Sinn zu empfangen trachtet. Das blos gefühlte Leben iſt geſtaltlos, die blos gedachte Geſtalt leblos. Mur indem das Leben im Verſtande ſich formt und die Form in der Empfin— dung lebt, gewinnt das Leben Geſtalt und die Geſtalt Leben, nur ſo entſteht die Schönheit. Sie erhebt ſich von der Empfindung zum Gedanken, ſie rüſtet die geiſtige Freiheit mit ſinnlicher Kraft aus, ſie führt das Geſetz zum Gefühl und den Begriff zur An— ſchauung. Durch die Schönheit wird der ſinnliche Menſch zur Vernunft geleitet, durch ſie wird die einſeitige Anſpannung der beſondern Kräfte zur Harmonie und die Ruhe der Abſpannung

5, Die Auffaffung und Beurtheilung des Sdhinen. 251

zur Energie wiederhergeſtellt, und ſo der Menſch zu einem in ſich vollendeten Ganzen gemacht.

Die Schönheit, fährt Schiller fort, verknüpft Denken und Empfinden, ſie zeigt Geiſt und Materie in vollkommenſter Ein— heit. Die Freiheit, in der ihr Weſen beſteht, iſt nicht Geſetzloſig— keit, ſondern Harmonie von Geſetzen, nicht Willkür, ſondern höchſte innere Nothwendigkeit; die Beſtimmtheit, die wir von ihr fordern, iſt nicht Ausſchließung gewiſſer Realitäten, ſondern Ein— ſchließung aller, in ſich ſelbſt beſtimmte Unendlichkeit. Eine hohe Gleichmüthigkeit und Freiheit des Geiſtes mit Kraft und Rüſtig— feit verbunden iſt die Stimmung in der uns ein echtes Kunſtwerlk entläßt; im Genuß der Schönheit ſind wir unſerer leidenden und thätigen Kräfte in gleichem Grade Meiſter, mit gleicher Leichtig— feit wenden wir uns gum Denken oder zur Anſchauung; wir find beftimmbar, nicht weil wir beftimmungslos wären, jondern weil alle unjere geiſtigen Vermigen fic) in ſchwebendem Gleichgewicht befinden. Es ift Hier cine erfüllte Unendlidjfcit vorhanden, die dem Menſchen die Freiheit gibt fid) nad) ciner beftimmten Seite je(bfttraftig hinguwenden, da alle Seiten des Lebens in ihr vor- handen find, dic Freiheit aus fic) ſelbſt zu machen was er will. So verleiht uns die äſthetiſche Stimmung die hichfte aller Schen- fungen, die Schenkung zur Menſchheit, und wir können die Schön— Heit unjere gweite Schöpferin nennen.

Den Reus von Olympia nicht gefehen ju haben galt den Hellenen fiir cin ähnliches Unglück als gu fterben ohne der Weihe der Myfterien theilhaftig geworden ju fein; das Meiſterwerk des Phidias galt ihnen fiir cin Nepenthes, fiir cin fummerftillendes leidverſcheuchendes Zaubermittel. Es war ihnen der Repradjentant des Schönen ſchlechthin. Wem aber hätte nicht ſchon eine groß— artige oder aumuthige Naturumgebung, bildende Kunſt, Muſik oder Poeſie Troſt und Freude gewährt?

Von der reinigenden Macht des Schönen hat Ariſtoteles be— ſonders in Bezug auf die Tragödie und auf die Muſik geſprochen; in beiden iſt allerdings die Wirkung am ſtärkſten, aber auch die ruhige Hoheit und ſtille Schönheit der bildenden Kunſt wirkt läuternd auf das Gemüth. Ohne hier auf die Lehre des alten Philoſophen näher einzugehen, faſſe ich die Katharſis, die Seelen— reinigung, als eine geiſtige Heilung, eine Beſchwichtigung, Läute— rung und Verſöhnung des Gemüths. Innere unharmoniſche Re— gungen ſollen durch äußere Harmonien und deren Aufnahme in

252 I. Die Idee des Schönen.

die Seele gedämpft und wieder zum Einklang gebradt werden. Das Sdhine ift nicht Hemmung der Kraft, vielmehr fann diefelbe in ihrer ganzen felbft leidenſchaftlichen Gewalt hervortreten, und biefe wieder die Affecte in unſerer Bruft wad rufen; aber im Schönen tritt ftets das Maß gur Kraft hingu, und eine höhere Ordnung waltet in allem Cingelnen und fiigt es al8 einftimmen- des Glied in den RHythmus des Ganzen; fo wird aud) die Bee wegung der Wffecte in uns gum Abſchluſſe des Friedens gebracdht. Waren fie fiir fic) ſchon vorhanden, jo werden fie anfänglich ver- jtiirft, aber gugleid) aud) hineingezogen in die Bahn die ihr Gee genbifd im Schönen einſchlägt, und ihr verworrenes tribes Auf— und Abwogen geht leiſe und unvermerft über in die Melodie und die Klarheit, die aus der vollendeten Erſcheinung, die fic) in ihr entfaltete, in das Gemüth überſtrömen. Go (Kft fich der heftige Schmerz; in Wehmuth auf, und ans der Beunrubigung ſteigt wieder Vertrauen und Muth empor; fo wird die Furdt vor ein- zelnen Uebeln in die Ehrfurdht vor Gott verwandelt. Godann wird das Selbſtiſche abgeftreift was unfern Gemiithsbewegungen oder Leidenfdjaften anflebt, wenn wir das Allgemeingiiltige und Sdeale in ihnen dargeftellt fehen, und dies letztere wird jenen als echter Gehalt eingepflanjt. Darum darf aber aud) die wahre Runft nie auf die felbftifden Gefühle des Einzelnen fpeculiren, nie der Empfindjamfcit oder dem Sinnenfigel huldigen, weil fie dadurd) von ihrer idealen Hohe herabfteigt, ihrer Wiirde und ihrer Macht verlujtig geht.

Als Erreger und Verſöhner der Leidenfdhaften ward von den Grieden befonders Dionyfos verehrt; er beſchwört die Gewalt derfelben um fic) ihrer gu bemächtigen, wie der felige Rauſch des Weins uns von ber Erdenforge entftridt und die Phantafie be- fliigelt, daS Herz fürs Große und Herrliche begeiftert. Emil Braun fagt hieritber in feiner griechifden Mythologie: WAllerdings werden aud) bei Dionyfos zunächſt Triebe und Leidenfdhaften wach, die alle hihere Gefittung fiir immer ju vernidten drohen, dadurd) aber daß er fie in eine Bewegung iiberguleiten lehrt welche einer himmelwärts fiihrenden Richtung folgt, werden fie einem Läuterungs- und zuletzt einem Verklärungsproceß zugewieſen, aus dem ſchließlich der ganze Menſch aller irdiſchen Schlacken bar und ledig hervortritt. Es iſt ein großer und meiſt ſehr verderblicher Irrthum, wenn man glaubt der Materie und der ihr anhaftenden verführeriſchen Zauberkräfte ließe ſich dadurch Herr werden daß

5. Die Auffaffung und VBeurtheilung des Schönen. 953

man fie ju bejeitigen, fic) ihrem Einfluß verneinend ju entziehen jude. Ueberall wo man ein foldjes Verfahren einſchlägt wird entweder ein Vernunftfanatismus, der mit geiftlidem Hochmuthe verjebt ijt, oder ſittliche Verſtümmelung eingeleitet, welde den Verſucher immer nur von einer Seite abjuweijen vermag und ihn gewöhnlich von einer andern Her mit um fo größerer Begierlidfeit anlodt. Eine griindlice und danernde Erlöſung von dem Böſen und vom Uebel ijt allezeit nur dadurd) miglid) daß die Rechte der Sinnenwelt gwar anerfannt, aber durd) die weit höheren Be- rechtigungen, welde das Sittengeſetz gewährt, überboten und zum Schweigen gebracht werden.

So ſind die leidenſchaftlichen Bewegungen an ſich nicht vom Uebel, und es kommt darauf an ſie mit edlem Inhalt zu erfüllen, auf ein edles Ziel ſie hinzulenken; ſie ſind der Läuterung fähig und bedürftig, und wenn ſie die Klarheit des Selbſtbewußtſeins trüben und den Einklang des Gemüthes verſtimmen, dann kann ein reines Werk der Kunſt dieſelbe Beruhigung, dieſelbe löſende befreiende Macht auf den verwirrten und verſtörten Sinn üben, wie Iphigenia's Perſönlichkeit auf Oreſt in Goethe's dramatiſchem Meiſterwerk, oder wie Taſſo zu Eleonora ſagt:

Wie den Bezauberten von Nacht und Wahnſinn Der Gottheit Nahe fdnell und ficher heilt,

Go war aud) id) vow allem falſchen Streben Durd einen Blick in deinen Blicd befreit.

Was wir in uns aufnehmen, in uns erjzeugen, das ijt ein Theil von uns, das werden alfo wir felbft; fo wirft die Har- monie de8 Schönen harmonifirend auf das Gemiith. Sn einem Prolog fagt Geibel in diefer Hinficht iiber die Wirfung des Dramatifers:

Aufſchließen will er eu) die Bruft, den Strom Der flodenden Empfindung fluten madden,

Und durd) die Schauer flifen Mitgefühls

Den fturmbediirft'gen, dod) vom Lebensjwange Beklemmten Sinn erleidjternd reinigen.

Denn ftumm ift oft die Freude, ftummer nod), Wie durd) der Gorgo nahen Blic verfteinert, Das felbfterfahr'ne Leid. Dod) wenn die Kunſt Mit priefterlider Hand nun Luft und Traner In ihre reine Sphire hebt, und mächtig

Ans Herz anflingend mit verwandtem Ton

954 I. Die Idee des Schönen.

In fremder Schickung euch die eigne zeigt: Da jauchzt befreit empor die trunk'ne Seele, Da löſt wohlthätig ſich der ſtarre Bann

Des Schmerzes, und entladet ſich in Thränen, Und menſchlich euch im Menſchlichen erkennend Erheitert und erhoben kehrt ihr heim.

Um aus dem Gewöhnlichen hervorzutreten, um der Lange— weile zu entgehen verlangt unſere Natur nach dem Aufregenden, Packenden, Neuen; darum ſtrömen die Menſchen nach Feuers— brünſten, nach Hinrichtungen hin. Aber Unruhe, Schauder, mit— fühlender Schmerz erfüllen nur das Gemüth, wenn nicht die Spannung ſich löſt, wenn nicht aus dem Furchtbaren ſich das Erhabene, aus dem Erſchütternden das Verſöhnende ſich entbindet. Das aber geſchieht im Schönen, in der Kunſt. Sie erwecken den Sturm der Gefühle in Schmerz und Luſt, aber ſie offenbaren in der Kraft das Maß, und durch den geſetzlichen organiſchen Ver— lauf führen ſie die Gemüthsbewegungen ſelbſt in normale Bahnen, zu einem harmoniſchen Abſchluß. So wirkt das Schöne wiederum beruhigend; unſer inneres Leben kommt in Fluß und zugleich zu einem befriedigenden Ziel.

Weil das Schöne, ein Ewiges in zeitlicher Erſcheinung, geiſtig ſinnlicher Art wie wir ſelber, unſer ganzes Weſen anſpricht, fühlen wir uns in ihm heimiſch und erhoben zugleich, wir ſind in ihm bei uns ſelbſt, es beſeligt uns, indem ſich Inneres und Aeußeres zuſammenſchließen, im Genuß der Lebensvollendung. Es zieht uns als ein Verwandtes an und zeigt uns zugleich die Erfüllung unſerer Aufgabe, die Verwirklichung des Ideals. Wo der Menſch ſich aber im andern wiederfindet, da liebt er; und dieſe Untrenn— barkeit von Schönheit und Liebe bezeichnet unſere Sprache, wenn ſie den Namen für den Gegenſatz der Schönheit vom Haſſe ent— lehnt und ihn häßlich nennt, während das Schöne ſelber in der Anmuth lieblich erſcheint.

Nur was ſchön iſt lieb, was unſchön aber iſt nicht lieb!

So ſangen nach Theognis die Muſen im Brautlied für Kadmos und Harmonia. Und die Spartaner opferten nicht den Furien des Kriegs und den Mächten der Vernichtung, wenn ſie die Schlacht begannen, ſondern den Muſen und dem Eros; die Göttinnen der Begeiſterung, die das Schöne ſchafft, verbanden ſie mit dem Gott der Liebe, die durch das Schöne erweckt wird. Es kann dies zum

5. Die Aujffaffung und BVeurtheilung des Schönen. 255

Beweife dienen dak die Spartaner fein rohes Kriegervolf waren, jondern die Bliite des Doriſchen Stamms, der in der Architektur und Mufif, in der Lyrif und in der Philofophie des Geiftes urfpriinglid) den Preis gewann; auf einem heimiſchen Kunftwerk war Sparta durd) eine Sungfrau dargeftellt, aber nicht einmal mit Helin und Sdild, wie Athene, ſondern mit der Leier.

Als Platon die Lehre vom Schönen fiir die Philofophie ent- deckte, verband er fie jugleid) mit der Liebe. Sie war ihm dad finnlid) geiftige Wobhlgefallen am Schinen und damit der Be- geiſterungsaufſchwung des Gemüths jum Gattliden. Die Seele erſchauert, wenn fie einen ſchönen Gegenjtand erblict, weil fie dadurd) dem Gemeinen und Srdijden entriidt und an das Ewige evinnert wird; in der Freude der Anſchauung felber wächſt der Seele das Sdhwunggefieder, das fie emportragt in ihre wabhre Heimat, in das’ Reid) der Ideen. Bm ſchönen Gegenftand hat fie ihr eigenes wahres Sein wie im Spiegel erblidt. Die Sehn- jucjt mach) dem eigenen Sdeal treibt dann die Seele daffelbe in fic) 3u beleben, fic) gu ifm hinanzuläutern. Die Schönheit ift ja gerade das Liebreizende an der Idee. Die Liebe will aber eins fein mit dem Geliebten, und zwar fiir immer und ganz. Cie ift der auf da8 Unjterblide und Vollfommene geridtete Tried der Seele mitten in der Sterblidjfeit und Unvollfommenheit; kraft jeiner iiberwinbden wir dieje und erheben uns geniefend und ſchaf— fend zum Guten und Wahren; feine vollendete Darſtellung ijt das Shine.

Aud) die Liebe ift fubjectiv und objectiv zugleich wie dic Schinheit; fie fest cin Anſchauendes und cin Angejdautes ebenfo vorans, fie ift unfere That, injofern wir im andern uns wieder- finden und das andere in uns aufnehmen, und ijt unfer Zuſtand, infofern wir in diejer Hingebung zugleich bei uns felbft bleiben und das eigene Selbjt erhiht fiihlen, ja es in feiner Wahrheit gewinnen. Darum ift unjer Gefiihl fiir das Schöne die Innig— feit und die Begeifterung der Liebe, und fann es fein, weil das Sdine dem Ausdrud unjerer ganzen Natur und dem Ginflang ihrer Doppelfeitigfeit entſpricht.

Aber weder dies Cinswerden unjers Gemiiths mit dem Schö— nen durd) die Liebe, nod) die Thatjache wie in der Schinheit mitten aus dem Endlichen und im Walten der befondern Natures kräfte ein Sdeales und Unendlides fieqhaft herrlich auflendtet, hat die deutſche Schulgelehrjamfeit abgehalten die Lijung des

956 I. Die Idee des Schönen.

Weltrathfels in der Schinheit cine blos oberfladlide gu nennen. Sie ift vielmehr gan; griindlid) und vollgeniigend fiir die An- jdhauung und das Gefühl. Was wir fiihlen das ijt ja unfere eigene Zuſtändlichkeit, das find wir jelbft, wir empfinden das Sdine und mit ihm das Wahre und Gute als eingegangen in unjere Sndividualitit, als ein Moment unfers perſönlichen Lebens. Was wir denfen gehirt allen, und die Gedanfen anderer werden diefelben in uns; was wir fühlen das ijt uns ganz eigenthiimlid. Was wir im Sdinen durch Anſchauung und Gefühl gewinnen das iiberragt in feiner Weife jede Verftandeserfenntnig, fowie aud) die theoretifde Vernunft gar viele Gedanfen uns zur Klar— heit bringt und mit ihnen arbeitet, die künſtleriſch nicht darſtellbar find. Aber da8 Unjagbare, durch Worte nicht in feiner Cigent- lichfeit und nicht ganz zu Sehildernde des Gefühls und der An- ſchauung ift fein Mangel an Klarheit, fondern nur ein Reichthum der Concentration und eine Gemeinjamfeit ded Mannichfaltigen. Wenn der Maler, der Muſiker mit ein paar Worten das fagen finnte was er in Farben, was er in Tönen darftelft, er wiire cin großer Thor jahrelange Mühe auf fein Werf zu verwenden. Viſcher fretlid) meint, wenn er die Thätigkeit der Phantajie im Ban eines Kunſtwerks begreife, dak dieſes Begreifen höher fei als die Phantafie ſelbſt; wo dann der RKritifer mehr wire al8 der genialfte Riinftler. Hier bemerfe id) nur dag im Schönen nicht der bloke Begriff des Verftandes, fondern gerade die finn- fiche Erſcheinung wirfjam, daß Mufif hören doch etwas anderes ift als rechnen, Arditeftur anſchauen einen andern Eindruck madt alg Geometric ſtudiren. Hinabflingend in unfere Leiblidfeit und aud die Nerven durchſchauernd wirkt das Schöne zugleich auf den Geift, und dieje totale Erfaffung des Weſens und ſeiner Erſchei— nung ift nidjt geringer als ein trennendes Begreifen.

Fortzupflanzen die Welt find alle verniinft'gen Discurfe Unvermigend, durd) fie fommt aud) fein Kunſtwerk hervor.

Dies Goethe’ fche Dijtidjon wollen wir nicht vergeffen; das Schöne will erlebt und genoffen fein wie die Liebe; der Dichter felber wird es uns jugeftehen daß die Cinficht in die Natur des Schönen und das Verſtändniß de Kunſtwerks den Genug nicht ſtört, fon- dern beftitigt, befeftigt und erhöht.

Fragen wir nun welde Sinne da8 Schöne aufnehmen und dem Geiſte vermitteln, fo antworten wir die allgemeinen, die das

: 5. Die Auffaffung und Beurtheilung ves Schönen. 257

Object auger uns beftehen laſſen. Sm Gerud und im Geſchmack wird der Gegenftand des Wohlbehagens aufgelöſt und verzehrt; er erregt in jeiner Wirfung anf fie die finnlide Begierde, und fann nur von Ginem genoffen werden, fodag die Empfindung blos fubjectiv ijt, und darum nicht fdhin, fondern nur angenehm Heifen darf. Seiner idealen Natur nad) aber foll das’ Schöne der Quell eines allgemeinen Wobhlgefallens fein. Der Taftfinn gibt uns gwar aud) Formvorftellungen, aber nur bet unmittelbarer Veriihrung, und da fehlt denn das Zujammenfaffen des Mannich— faltigen, da8 er dod) nur in allmählicher Bewegung wahrnimmt, zur Ginheit der Anſchauung. Durch Ohr und Auge aber geht das Object nicht unmittelbar und als foldjes ein in uns, ſondern nur die Formen und Thitigfeiten ber Dinge wirfen auf die ge- meinfame Luft, dem gemeinfamen Aether, und diefelben Schwin— gungen beider können nun von vielen Perfonen als Schall und Farben empfunden oder alS Wort vernommen werden; Tine erklingen zuſammen, Farben ergänzen einander zur Harmonie, und aus der Mannichfaltigkeit vieler Figuren und Formen erbaut fid) das Bild. Der Taſt- oder Hautfinn gibt uns die finnlide Gee wifheit von der Realitit der Aufenwelt, an die wir uns ftofen, die unfere Bewegungen Hemmt; er vermittelt uns die Materie als joldhe nad) Schwere, Temperatur, Hiirte und Grife, nidt aber den innern Sinn der Dinge; Geſchmack und Gerd) dienen der Ernährung des Leibes, der Wffimilirung des Stoffes; Auge und Ohr aber nehmen die Welt der Formen auf und in ifnen das Wefen das fie zu einer Offenbarung hervorbringt, fie erweden die Thitigkeit des Bewußtſeins und fiihren dem Geifte Nahrung yu. Der Hautfinn bildet eine noc) unentſchiedene Bafis fiir das was in den andern Sinnen gegenfiglic) und ſpecifiſch Hervortritt, dod fann er mithelfen aud) zum äſthetiſchen Genuffe: der erblindete Michel Angelo liek fich gum Heraflestorfo fiihren um taftend das Bild wieder fid) aufzufrijdjen das er in friihern Tagen durd den Anblick gewonnen hatte, und bei fein ausgefiihrten Statuen wie bei der Juno Ludovifi oder dem Slionens Helfen die Fingerſpitzen dem Ange da8 wunderbar fanft und weid) ineinanderſchwellende Spiel der Muskeln auffaſſen. Durch das Gehir wird uns das Yeben fund wie e8 in der Zeit, durd das Gefidjt wie es im Raume fid) entfaltet.

Wir fagen daß uns etwas gefillt oder misfallt je nachdem feine Empfindung, Anſchauung oder Vorftellung uns einen an-

Carriere, Wefthetif. I. 3. Muff. 17

258 I, Die Idee des Schinen.

genehmen oder unangenehmen Gindrud madt. Dieſe Umſtimmung unſeres Selbftes, diejer Nachklang in unjerm Gemiith ijt das Ge- fühl von Luft und Unluſt, das Sunewerden der Aenderung unjerer eigenen Ruftindlichfeit bet allem was wir leiden oder thun, bei den Cinwirfungen der Außenwelt wie den Vorjtellungen und Strebungen in uns; ein Urphinomen der Seele das jeder in fic) felbft erfahren mung. Das Wobhlgefiihl der Befriedigung mag ſtärker oder ſchwächer fein, einem Sinnengenuß oder einer edlen That, der Erkenntniß der Wahrheit oder dem Anblick einer an- muthigen Erſcheinung gefellt jein, es bewahrt feinen Charafter der Luft wie das Gegentheil den der Unluſt, ded Dtisbehagens, und [aft uns wahrnehmen ob unfer eigenes Wefen auf eine mit ihm iibereinftimmende oder frembde, ſtörende Weife berührt worden, ob es im eigencn Yeben gefdrdert oder gehemmt ift.

Nennen wir den Gindrud angenehin den wir unmittelbar und gegenwiirtig gern annehmen, und unterfdjciden davon in Rückſicht auf Zujammenhang und Folge, die ihn al8 nützlich oder ſchädlich erſcheinen läßt, fo können wir im diefer Hinfidht das Aeſthetiſche neben das Praktiſche ftellen, jenem das Shine, diefem das Gute juweifen. Das Schöne gefallt ohne Ueberfegung und Zweck— beziehung durd) fein Daſein als ſolches. So ſpricht man, wie Fechner bemerft, von ſchönem und von gutem Wetter, wenn man den unmittelbar erfreuliden Eindrud oder die erfreuliden Folgen bezeichnen will die es verheift; man nennt ein Haus gut gebaut, wenn es den Zwecken des Bewohnens bequem, wenn e8 fidjer und folid dafteht; ſchön gebaut, wenn feine Verhiltniffe, feine Verzierungen uns wobhlgefallen. Werthvoll aber ijt überhaupt fiir uns was gu unferm Glide beitrigt und Unglück verbiitet, mag dieS anf divecte oder indivecte Art gejdehen; wir Lernen aber das Mtomentane, Fliidjtige, Verginglide, Citle vom Wefen- haften, DOauernden, das Ganze Fördernden unterfdeiden, und fprecjen den wahren Werth diefem gu.

Das blos Sinnliche erregt die Begierde, im Schönen aber wirft das Sdcale mit und erwedt eine freie Luft. Dieſe reine leidenſchaftsloſe Befdhaulicdfeit hat ſchon Burke nachdrücklich be- tont; die ſüßen Schauer der Erhabenheit ſcheuchen zurück wo die Schrecken wirflidjer Gefahren über uns hereinbredjen; die läuternde Weihe des Schönen entflieht wo lüſternes Berlangen ſich ein- ſchleicht, fo fat Hettner Burfe’s Anſicht trefflid) zuſammen. Wie Rückſichten und Nebenabfidten die Reinheit des Handelns

5. Die Auffaffung und Beurtheilung des Schönen. 259

und die Wahrheit des Erfennens ftiren, triiben, ja aufheben, fo verliert das ajthetijde Urtheil und der Genuß des Schinen jeine Unbefangenheit und Freiheit, wenn eine äußerliche Zweckbeziehung oder ein ſelbſtiſches Sutereffe fic) geltend madjt. Go gefiel dem Srofejen in Paris nidjts beffer als die Garfiiden. „Die Nachti— gall fingt fo lieblid), wie gut mag fie erjt ſchmecken“, fagt der Habidt. Alles Intereſſe, bemerft Kant, fest Bedürfniß voraus oder bringt eins hervor, und als VBeftimmungsgrund des Beifalls {aft es das Urtheil nidjt mehr frei; darum foll da8 Wohlgefallen ain Schönen cin unintereffirteds fein. Herder's Cifern hiergegen war jehr überflüſſig. Wllerdings geht und zieht das Sdine uns an, jonjt wiirde es wie eine ungewürzte Roft, wie cine Schüſſel voll Nußſchalen voriibergehen; aber Kant hat ja nur das abgelehnt daß der Beftimmungsgrund fiir das Wobhlgefallen am Schinen die Rückſicht auf äußere Nützlichkeit fei, die Intereſſeloſigkeit unferer Freude an der Sache lag ihm in der Gleichgiiltigfeit ihrer realen Beziehungen auf die Perfon des Beſchauers und anf die Rwede ſeines Wollens und Handelns; Kant hat felbft das unmittelbare uncigenniibige Snterejje an der Schönheit der Natur fiir das Kenn— zeichen einer guten Seele erklärt, ja die jeiner ermangelnde Dene fungsart grob und unedel genannt. Wir haben ein Sntereffe am Guten und Wahren, aber fie gefallen uns nidt um unfers Vor- theils, jondern um ihrer ſelbſt willen; wir erheben uns dadurd liber das Selbſtſüchtige ins Allgemeine und Bdeale. Go auch beim Schönen.

Wir verhalten uns der Welt gegeniiber entweder begehrend und arbeitend oder betradjtend und geniefend. Wille und Be- gierde haben ihren Zwe den fie erveidjen wollen; da verjehren wir die Dinge und unterwerfen fie unſerm Ginne, indem wir fie erfennend und umgeftaltend fiir ung verwerthen; fie find da der Gegenftand unſerer Bediirfniffe, und wir felber ftehen unter dem Zwang derjelben und laſſen das Object nur gelten wie es thnen dient. Aber wenn wir uns der Sade gegeniiber fret verhalten und fie im ihrer Freiheit gewähren laſſen, dann [eben wir in der reinen Anſchauung und finnen ihr Bild vorftellend genieBen; wir find wie verforen in den Gegenftand und gerade dadurd) lebt er rein und ganz in uns. Da find wir der Gorge, der Unraft, der Qual des Begehrens entriidt, und wenn die Anſchauung nun eine ſchöne ift, dann fühlen wir uns in harmonijdem Gleichgewicht cing mit ihr, dann laſſen wir unjere Empfindungen und Vor—

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960 I. Die Idee des Schönen.

ftellungen in ungehemmtem Zuge walten und fid) ergehen, und geben uns dem Genuß ihres in fid) vollendeten Dafeins hin. Aus der einfeitigen Anfpannung unferer Kräfte im Dienft be- ftimmter Ontereffen find wir entftridt und erlöſt und ergötzen uns an ihrem allfeitigen und einflangvollen Spiel; dadurch wer- den wir erfrifdt, verjiingt und nengeboren. Wie Goethe der Didhtung Schleier aus der Hand der Wahrheit empfingt, da ruft fie ifm ju:

Und wenn es dir und deinen Freunden ſchwüle Wm Mittag wird, fo wirf ihn in die Luft! Sogleid) umſäuſelt Abendwindes Kühle, Umbaudt eud) Blumen-Würzgeruch und Duft, Es ſchweigt das Wehen banger Erdgeflible,

Bum Wolfenbette wandelt fic) die Gruft, Beſänftiget wird jede Lebenswelle,

Der Tag wird lieblid) und die Nadjt wird Helle.

Und wir gehen dem nenen Tagewerk entgegen wie der Didter am Morgen, froh der Chantropfen an der Blume, denn alles ijt erquidt uns zu erquicen.

Das Schöne gefällt durd) feine Form, darin ift die Idea— lität des äſthetiſchen Gefühls ausgefprodjen. Es geht nidt auf den Gegenſtand inſofern er unſern realen Bedürfniſſen dient, nicht auf den Stoff, der unſerm materiellen Genuſſe oder unſerm Ge— brauche werthvoll iſt, ſondern auf die Geſtalt in welcher das innere Weſen der Sache ausgeprägt iſt, ſodaß ihre Seele unſerer Seele ſich offenbart. Es gilt von den äſthetiſchen Gefühlen daß ſie nicht durch die Sache ſelbſt, ſondern nur durch ihr Bild erweckt werden, und daß ſie die Freiheit des Gemüths nicht beſchränken, die Begierde nicht erregen oder den Willen beftimmen. Wie man bei der Anlegung eines Parks von dem Heugewinn und der Holz— nutzung abſieht, die Grasflur als Raſenteppich, die laubigen Kronen der Bäume in ihrer mannichfaltigen Modellirung und Färbung zur Augenweide herſtellt, ſo ſchauen wir die Landſchaft wie die Traube oder den Menſchen nur dann äſthetiſch an, wenn wir ſie uns innerlich zum Bilde machen, wenn uns nicht hier die Sinnenluſt, dort die Tauglichkeit des Bodens für die Oekonomie gefangen hält, ſondern wir über dieſe realen Beziehungen hinaus zur Freude an der wohlgefälligen Erſcheinung eines idealen oder ſeelenvollen Weſens kommen.

5. Die Auffaffung und Veurtheilung des Schönen. 261

Das Shine aber, wiederhole id), will erlebt und genoffen fein; es beruht darauf dag die Luft- und Aetherwellen flingen und glingen, daß ihre geſetzlichen Verhiltniffe im Wohlgefühl ber Harmonie von Tinen und Farben empfunden werden, und wir verftehen das feelenhafte Snnere, das in der Form der Er- ſcheinungen fic) ausprigt, von uns ans, weil wir felber durd die Stimme, durd) Geberden äußern wie uns gu Muthe ift, und aus dem was wir von andern ſehen und Hiren nach der wefen- gleichen Natur alles Lebendigen min auf ihre darin waltenden Zuſtände ſchließen und fie mitfiihlen. Nun erfdeint uns über— Haupt jede nene Wahrnehmung fremd bis wir fie an Altes, Bee fanntes anreihen, fie unter eine in der Seele vorhandene Vor- ftellung einfiigen; dann wiffen wir wo wir das Nene Hinthun follen: es wird dem Inhalt eines Begriffs cingeordnet und diefer dadurch bereichert. Wir nennen dieſen Vorgang der erfennenden Stoffaufnahme in den Geift Apperception. Siebeck erflart da— nad die Wuffaffung des Schinen als Apperception unter den Begriff unferer eigenen Perfinlichfeit. Cr fagt: „Für den Men- ſchen dev fic) in der Erjdeinungswelt ju orientiren hat eviftirt die Vorftellung eines Verhiltniffes, das fic) ihm unabweislid und unausbleiblich aufdrängt, weil es ifm von den Erfdeinungen, ju denen er in feinem Daſein felbft gehört, in folder Weife dar— geboten wird. Dies ijt die Vorftellung des in der Erſcheinung fidh darftellenden Zujammens von Geiftigem und Sinnlidem oder des dem Geiftigen als Ausdrudsmittel dienenden Sinnliden.” Der Zufammenflang von beiden ift das Schöne, wenn er in wohlgefilliger Form erſcheint. Unſer geijtiges Leben beginnt mit Sinneseindriiden und den dadurd hervorgerufencn Gefiihlen und Gedanfen, unfer Denfen und Wollen geben wir durch ſinnliche Acuferungen, durd) Laut und Geberde fund. Diefe werden da- durch ausdrucksvoll, fie erjdeinen befeclt, und die Verhältniß— vorftellung des Sinnliden und Geiftigen hat die vollfommenfte Darftellung an der erſcheinenden Perſönlichkeit, der Perſönlichkeit die thr inneres Wefen, thr Oenfen und Wollen durd ihre Hand- lungen und ihre ausdrudsvolle Geftalt zur Anſchauung bringt. Wir iiberblicen die Vielheit der Glieder in cinem einheitlich jujammenfaffenden Acte der Perception als in fic) geſchloſſenes Ganzes, indem wir fie gugleid als beſeelten Stoff auffaffer. Sede Perfinlidfeit aber hat einen cigenthiimliden Charafter, und von diefer Einheit aus zeigen fid) all ihre Modificationen und

262 I. Die Idee des Schinen.

Verhiltniffe in ihren Aeuferungsformen in Zufammenhang gefest. „Wir finden in dem In- und Nacheinander diefer Formen (Stimme, Gefte, Bewegungen, Handfungen) un Einzelnen wie im Ganjen nidts Unjufammenhingendes, Unvertriiglides, and) nichts von außen Aufgezwungenes. Vielmehr entwidelt fich alles wie aus einem von innen heraus unfidjtbar und dod) als Erfdeinung lediglich in uns mit ber dufern Form gegebenen Gejeke, einem Gefeke weldjes nidjt alg von anderwärts herangebradjt anftritt, fondern nur in uns mit der Erideinung der Perſönlichkeit ſelbſt da ift und die Frage nad einem auferhalb derfelben liegenden Grunde ausſchließt. Denn ed ijt aud) nicht etwa fo gegeben daß wir die Perſönlichkeit und das Gefes unterfdhieden und erſt cine Aufein- anbderbeziehung diejer getrennten Glieder nöthig hätten um den Geſammteffect gu verftehen; fonderu wir ſchauen mit der Perſön— lidjfeit unmittelbar da8 in ihr liegende Gejes ihrer eigenen Er— ſcheinungsweiſe an, als deffen Verfirperung fie erſcheint; die Perſönlichkeit iſt dieſes Geſetz jelbft, fofern und foweit fie als ein fid) in der Erſcheinung zur Darftellung Bringendes auftritt. Bede Perſönlichkeit trägt das Gefes der Cigenthiimlicfeit ihrer Er— ſcheinung in fich felbft, und dieſes Geſetz ift fiir jede ein bejonderes, individuelles. Offen und klar fteht jede ſchöne Erſcheinung als ſolche vor un8 da; wir fdjauen in und mit ihr zugleich das Gefes ihres in der Erſcheinung gegebenen Seins an, weldes alles Neben- und Nadheinander ihrer Züge und Formen beftimmt. Dieſe wadjen eine aus der andern gegenfeitig Hervor, gleidjam hervorquellend aus einem innern Princip, da8 dod) zugleich nicht cin hinter der Erſcheinung liegendes ijt, fondern in und mit dem gegebenen Aeußern unmittelbar vor Augen liegt.

Hier ift wiederholt und anf eigenthiimlide Weife beſtätigt was id) jeither dargethan. Das Schöne ift einzig im feiner Art, es ift organijde Ginheit in der Fille der Glieder, feelenvoll; dic Sdee enthilt das Bildungsgefes das von der Geftaltungsfraft erfüllt wird, die Form ift das ſelbſtgeſetzte Maß der innern Bil- dungsfraft, die redjte Form eines Kunſtwerks die welde aus dem Stoff hervorwächſt, welche deffen Grundidee fic) felber anorgani- fitt. Die Freude an der Harmonie des Schönen beruht darauf daß uns darin die Vollendung unferes cigenen Wejens, der Cin- flang von Geift und Natur, von Cinheit und Mannichfaltigheit entgegentritt, und id) gweifle nidjt dak Siebeck recht hat, daß der Menſch das Schöne zuerſt unter der Form des eigenen Wejens,

5. Die Auffaffung und Beurtheilung des Schinen. 263

der erſcheinenden Perjinlidfeit apperciptirt. Oem Cindrud und Bild von fich felbft orduect er die neuen Wahrnehmungen ein, die daran anflingen, die ihm ein ähnliches Zujammen des Sdcalen und Realen bietet. Dafür jpridjt aud) das mythologijde Per- jonificiren der Natureindritde, die das Gemiith bewegen, der Sdeen, die im Geift erwaden. Aber nachdem uns der Begriff der Harmonie und des Schönen felbjt in feiner Allgemeinheit flar geworden, glaube id) dak wir das Aefthetijde nicht mehr nad) ſeiner erſten Befonderheit, fondern nad) diefer Allgemeinheit appercipiren. Cine gemalte Landfdaft, einen Dom, eine Syme phonie appercipiren wir dod) faum als erjdheinende Perjintidfeit, wohl aber unter dem CGindrud den wir allerdings juerft von ihr an uns felbft gewonnen haben, der aber mur der allgemeine ded Ginflangs von Idee und Crfdeinung, von Begriff und An- ſchauung iſt. So appercipiren wir aud) die Sonne nidt mehr als Auge oder Schwan des Himmels, können uns aber in die Stimmung der jugendlidhen Menſchheit zurückverſetzen, welde an den im Slug ſchwebenden Vogel, an den leudtenden Stern im Angeficht erinnert ward und die Sonne an eine diejer Bor- ftellungen anreihte. Weil wir ſelbſt in perfinlicher Cinheit feelen- Haft und ſinnlich find, werden wir ſympathiſch von allem berührt was mit unjerm Weſen iibereinftimmt; wir fühlen uns durch ſeine Ginwirfung in unferm eigenen Wejen beftitigt, gefteigert, und freuen uns fetner.

Unjere Geele ijt es, fonnen wir mit Plotinos fortfahren, weldje die ihr felbft ecinwohnende Sdee mit der Idee der Dinge, welde fie ſchaut, zuſammenhält, und wenn deren Idee mit der ihrigen übereinſtimmt, fie fiir ſchön erklärt. Die verborgenen ſtillen Harmonien der Seele treten im den offenbar gewordenen fauten Harmonien der Tine objectiv der Seele ſelbſt entgegen, und geben ihr cin Verſtändniß des Schönen dadurd dak ifr in einem andern ihr eigenes Weſen gegenftiindlid) wird. Die Seele ſchaut fid) wie im Spiegel, darum ift Staunen und fiifer Schrecken, freudige Bewegung und Liebe der Erfolg. Das Schauende muß dem Geſchauten gleidjartig fein; denn niemals vermag das Auge die Sonne zu erblicten wenn es nidt zuvor ſonnenhaft geworden, niemals dic Seele das Shine zu erfennen wenn fie nicht felbft guvor ſchön iſt. Go werde denn jeder zuerſt gottgeftaltig und ſchön, wenn er Gott und das Schone ſchauen will.

964 I, Die Idee des Schönen.

Das Schöne iſt Selbſtzweck, fo will es um feiner felbft willen genoffen und geliebt werden. Darum darf and feine andere Porderung an die Kunſt geftellt werden als dak ihr Werk fain fet; wer e8 fiir andere Zwecke verwenden und andern Rückſichten dienftbar machen will, der hebt die Freiheit der Kunſt auf und erniedrigt gum Mittel dasjenige was nur als Selbſtzweck feine Beftimmung erfüllt. Nachdem Shiller und Goethe in diefer Sache gefprodjen haben, geniigt es cinfad) ihre maßgebenden Worte an- zuführen. Shiller ſchreibt an Goethe: „Sobald mir einer merfen lift daß thm in poetifden Darftellungen irgend etwas näher an- liegt als die innere Nothwendigkeit und Wahrheit, jo gebe ich ihn auf. Sd bin überzeugt dag jedes Kunſtwerk nur ſich felbft, das heißt feiner eigenen Schinheitsregel Rechenjdaft geben darf und feiner andern Forderung unterworfen ift. Hingegen glanbe ich aud) feftiglid) daR es gerade auf dieſem Wege aud) alle übri— gen Forderungen befriedigen mug, weil fic) jede Schinheit dod endlid) in allgemeine Wahrheit auflöſen (pt. Der Didhter der jidh nur Schönheit jum Zweck fest, aber diefer heilig folgt, wird am Ende alle andern Rückſichten, die er gu vernadlajfigen fdien, ohne daß er es will und weig, gleichſam zur Zugabe mit erreicht haben, da im Gegentheil der welder zwiſchen Schönheit und Moralitit unftet flattert oder um beide bublt, leicht es mit jeder verdirbt.“

Damit iſt indeß nicht ausgeſprochen daß die äſthetiſche Be— trachtung auch in allem was nicht um der Schönheit willen da iſt, die berechtigte oder höchſte wäre; wer eine ſchlechte Handlung damit entſchuldigen wollte daß er eine graziöſe Figur gemacht als er ſie beging, der würde das Schlechte verſchlimmern. Und nicht mit Unrecht nahm Niebuhr, der Staatsmann und Geſchichtſchreiber, Anſtoß an einer Aeußerung W. von Humboldt's im Buch Goethe's über Winckelmann: „Nur aus der Ferne, nur von allem Gemei— nen getrennt, nur als vergangen muß das Alterthum uns erſchei— nen. Es geht damit wie wenigſtens mir und einem Freunde mit den Ruinen. Wir haben immer einen Aerger, wenn man eine halbverjuntene ausgribt; es fann höchſtens ein Gewinn fiir die Gelehrſamkeit auf Koften dex Phantafie fein. Ich fenne fiir mid nur nod) zwei gleid) fdjredlide Dinge, wenn man die Campagna dt Roma anbauen und Rom gu einer policirten Stadt maden wollte, in der fein Menſch mehr Meffer triige. Kommt je ein fo ordentlider PBapft, was denn die 72 Carbdiniile verhiiten mögen,

5. Die Auffaffung und Beurtheilung des Schönen. | 265

jo jiche ich aus. Nur wenn in Rom eine fo gittlide Anardie und um Rom eine fo himmlifde Wüſtenei ijt, bleibt fiir die Schatten Plak, deren einer mehr werth ift als dies ganze Ge- ſchlecht.“

Wir geben äſthetiſch der Darſtellung auch des Böſen, Gemei— nen, Frivolen unſern Beifall, wenn ſie das Weſen eines Charak— ters ſchlagend ausſpricht, obwol wir in der Wirklichkeit ſolche Er— ſcheinungen moraliſch urtheilend misbilligen; in der Kunſt aber iſt die Conſequenz, die Zuſammenſtimmung der beſondern Worte und Thaten zur Veranſchaulichung des innerlich einen und herrſchenden Zugs in lebendiger Mannichfaltigkeit an ſich das Erfreuliche, und ſo iſt ein Jago, ein Falſtaff, eine Frau Hurtig anziehend oder ergötzlich, und wir können uns ſelbſt in der Wirklichkeit auf dieſen äſthetiſchen Standpunkt ſtellen. Nur dann gerathen unſer mora— liſches und äſthetiſches Gefühl in Widerſpruch, wenn das Schlechte und Verkehrte ſo erſcheint als ob es das Rechte und Seinſollende wäre; wird es tragiſch oder komiſch ins Gericht geführt, und be— fiegt oder lächerlich gemacht, dann find wir durch die Herrſchaft der fittliden Weltordnung befriedigt; aber dann wird es ja aud gejdhildert mie eS in Wahrheit ift, und das Gute ift mit dem Schönen verſöhnt. Wenn die Kunſt das Edle in feiner Schön— heit feiert, fo wirft fie Guted; die Harmonie des empfundenen Schönen bringt den Cinflang in unfer Gemiith; wenn fie die Idee verwirflidt, welde ja aud) Zweck und Biel des Lebens ift, jo erleuchtet das angefdjaute Sdeal den erfernnenden Geift und wirkt anfenernd und begeifternd auf den Willen daffelbe immer voller und reiner zu verwirfliden.

Das Zufammenfein des Sinnliden und Geiftigen im Schönen gibt fic) endlich nod) darin fund dag in Bezug auf das äſthetiſche Urtheil fowol die Subjectivitiit ded Geſchmacks, über den man nicht ftreiten diirfe, als die allgemein giiltige Wahrheit behauptet wird; darin daß niemand fic) etwas als ſchön andemonftriren oder anfdringen (aft, fondern das unmittelbare Crgriffenwerden des perſönlichen Gefühls nothwendig ift, und dag doc) jeder die Uebereinjtimmung mit feiner Auffaſſung den anderen anfinnt. Der Grund hierfilr liegt einmal darin dah das finnlid) Angenehme ein nur Sndividuelles, das Bdeale aber cin Allgemeines, Ver— nunftwahres ift; hebt man die eine oder die andere Seite fiir fid hervor, fo folgt daraus der angedeutete Widerfprud; ebenfo wird das Schöne als foldjes erſt in der Subjectivitit, im fihlenden

266 I, Die Idee des Schönen.

Geifte erzeugt, deffen Cigenthiimlichfeit alfo von ihm berührt fein muß und cin Wort mitzujpreden hat, und andererjetts beruht alle Mittheilbarfeit und Gemeinfamfeit unter den Menſchen auf der Weſengleichheit unſerer Natur, auf unferm Leben in Gott und auf der Identität der ewigen Ideen, die fic) im Innerſten eines jeden offenbaren. Das Shine felber löſt den Gegenjag, indem es den Einklang des Sinnliden und Geiftigen darftellt, und das Sub— jective gugleid) al8 das Allgemeingültige erfdeinen aft. Der einzelne Menſch und die Menſchheit fteht aud) hier nidjt von Haus aus in dex Vollendung, fondern muß fic) ihr erft entgegenbilden, und daher gibt es aud) eine Neife und cine Cultur des Geſchmacks oder Schinheitsfinnes.

Bur Erläuterung des Gefagten blicen wir auf Rant juviid, welder die Frage juerft aufgeworfen, die WAntinomie anfgeftelft hat. Gr lehrt: In Anfehung des Angenehmen befdjeidet fic) ein jeder daß fein Urtheil, welches ev anf ein Privatgefühl griindct und wodurd er von einem Gegenftande fagt dak er ihm gefalle, fic) aud) blos auf jeine Perſon einjdjriinfe. Daher ift er es gern zufrieden daß wenn er jagt: dev Canarienject iſt angenehm, ihm ein anderer den Ausdruck verbeffere und ihn erinnere er folle jagen: er ijt mir angenehin; und fo nicht allein im Geſchmack dex Zunge, fondern aud) in dem was den Augen und Obren ge- fällt. Dariiber gu ſtreiten und das Urtheil anderer, welches von dem unferigen abweicht, fiir unrichtig zu ſchelten gleich) als ob es jenem logiſch entgegengejegt wire, wiirde Thorheit fein, und hier gilt der Grundjag: Cin jeder Hat feinen bejondern Geſchmack, nimlid) der Ginne, Mit dem Sehinen ijt e8 ganz anders be- wandt. Niemand foll etwas ſchön nennen wenn e8 blos ihm gefallt, Einen Reiz und Annehmlicdfeit mag fiir thn vieles haben, darum befiinumert fid) niemand; wenn er etwas aber fiir ſchön ausgibt, fo muthet er andern ebendaffelbe Wohlgefallen zu, er urtheilt nicht blos fiir fic), fondern fiir jedermann, und ſpricht alsdann von der Schinheit als wiire fie cine Cigenfdaft der Dinge. Er fagt daher: die Gache ift ſchön, und rechnet nidt etwa darum auf anderer Einſtimmung in fein Urtheil des Wohl: gefallens, weil er es mehrmals mit dem feinigen cinftimmig be- funden Hat, fondern fordert es von ihnen.

Sm ganzen Zujammenhange unferer Weltanjdauung diirfen wir als wahr und wirflid) ausfpreden was Rant vermuthungs- weife zur Erklärung herangieht: es liegt in uns allen tief verbor-

5. Die Auffaffung und Beurtheilung dee Schönen. 267

gen cin gemeinſchaftlicher Grund der Cinhelligfeit in Beurtheilung der Formen, unter denen uns Gegenftiinde gegeben werden. Das Geſchmacksurtheil ift giiltig fiir jedermann, weil der Beftimmungs- grund defjelben im Begriffe von demjenigen liegt was als das überſinnliche Gubftrat der Menſchheit angefehen werden fann. Wie die logiſchen Gejege des Denkens in allen Geiftern herrjden und darum was wir denfen auch allen gehirt und die Wahrheit eine gemeinjame ijt, fo walten aud) die gefallenden Formenverhilt- niffe fraft der alles durchwirfenden Urphantafie in allen Gemiithern, und darum wo fie rein und klar hervortreten huldigt ihnen die alfgemeine Zujtimmung. Das madt den ſchönen Geift daß fein jubjectiv unmittelbares Gefühl das objectiv richtige ijt.

So bewahren wir im Schinheitsfinne das Subjective und das Allgemeingiiltige. Wie aber aus unferer Freiheit folgt daß wir die Uebereinftimmung unferer Sndividualitit mit der Idee jelber verwirflidjen, diefe alfo nur dem Vermögen nad) vorhanden ift und durch unfere That erft werden foll, jo folgt aud) daraus auf ajthetifdjem Gebiet die Bildbarfeit des Geſchmacks und die Aufgabe feiner Läuterung. Nicht umfonft haben die Hellenen ge- fagt: Wiles Schöne ijt ſchwer. Wie ſehr es eine miiheloje Götter— gabe jdjeinen mag, aud) hier ijt der Schweiß vor die Vollendung geſetzt.

Der rohe Sinn, der noch wenig zur Beſinnung, zur Samm— lung in ſich gelangt und den Eindrücken des Mannichfaltigen in der Außenwelt dahingegeben iſt, liebt das Bunte, Abenteuerliche, ſelbſt fratzenhaft Grelle; die öde Stumpfheit der überſättigten Verbildung bedarf der Reize des ſtechend Gewürzten oder Ver— weſenden, um nur aus der gleichgültigen Leere aufgeſtachelt und zur Empfindung des Lebens gebracht zu werden. Beide Zuſtände liegen der Erfüllung unſerer Beſtimmung fern. Sie iſt friſche Empfänglichkeit für die Welt und in ſich gefaßte Ruhe des Ge— müths und Klarheit des Selbſtbewußtſeins zugleich, fie verlangt daher in der Fülle der Erſcheinung die Einheit der Idee, für die Idee eine naturwahre und geſunde Verwirklichung. Oder wie Goethe fagt:

Das cinfad) Sdhine wird der Kenner loben, Verziertes aber fagt der Menge zu.

Wer als cine theoretijde Natur fiir die Auffaffung der Ge- danfen und Gedankenverhältniſſe organifirt ijt, den wird die Sinnen-

268 I. Die Idee des Schinen.

freudigteit weniger anvriihren; wer in der Welt gu eingreifendem Handeln berufen ijt, der wird mit ungeftiimem Orange ein- jeitige Zwecke verfolgen, der Gleidhmuth geniefender Schönheits— betradjtung, die Befriedigung an der vorhandenen Harmonie ded Lebens werden ihm vielleicht fiir ein miifiges Spiel oder fiir Selbſttäuſchung gelten. Beide aber werden durd) Pflege und Bildung des afthetijden Sinnes zur Ergänzung ihrer befondern Geiftesart, gu dem Humanen als dem Menſchheitlichen hingefiihrt. Das Urtheil des einen wird zunächſt vom Bdeengehalt, das des andern von der fittliden oder volfsthiimliden Wirfung eines Kunſtwerks geleitet werden; die Läuterung des Geſchmacks wird ihnen nichts entziehen, aber dem einen da8 Wohlgefallen an der Erſcheinung, dem anbdern die freie Luft am Schönen um feiner ſelbſt willen hinzufügen.

Das echte Kunſtwerk bringt ſeine Stimmung mit und verſetzt uns in dieſelbe; das ſchließt aber nicht aus daß wir ſolche Werke ſuchen die unſerer Gemüthslage verwandt ſind, in denen uns die— ſelbe verklärt entgegentritt. In religiöſer Erhebung verlangen wir nach Händel'ſchen oder Bach'ſchen Melodien, nach einem Bilde Rafael's; politiſch aufgeregte Tage laſſen uns nach Schiller's Wallenſtein oder Shakeſpeare's Cäſar greifen und das eigene Liebesgefühl will in Romeo und Julie, in Goethe's Liedern ſein beſtes Selbſt vernehmen. Leid und Weh löſt ſich in dem reinen Schmerze, der reinen Wehmuth des Adagios der C-moll-Gym- phonie, und der Menſch, der in ſeiner Qual verſtummt, findet cin befretendes Wort in der Klage die aus Didtermund har— monifd tint. Erſt was wir felbjt durdlebt haben verftehen wir ganz in der Kunſt. Wher aud) in der Verwirrung, im Orud der äußern Verhaltniffe und der unfertigen Zuftinde greifen wir nad der Slias, nad) Goethe's Sphigenie um in der Anſchauung einfach klarer Grife und mafvoller Schinheit Beruhigung und Erhebung zu finden. Wm leichteſten vermag die Muſik umftimmend ju wirfen, denn ihre Schöpfung ftrémt in uns ein, verfest uns in ihre Bewegungen, während die Natur, das Gemiilde viel objecti- ver fiir fic) des Beſchauers wartet.

Il n’y a que Vesprit qui sente l'esprit, c'est une corde qui ne frémit qu’s l'unison, fdreibt Helvetius. Wem die Probleme der Philofophie nichts find, wer weder über das Räthſel der Welt nod) iiber Menſchengeſchick nadgedadt, wer die Frage nad dex Wahrheit um der Wahrheit willen nie aufgeworfen, wem

5. Die Anffaffung und Veurtheilung des Schönen. 269

das theoretifde Geiſtesleben überhaupt verſchloſſen und die Runde von feinem Walten in alter und neuer Zeit verfagt blieb, der wird an Ghafefpeare’s Hamlet und an Goethe's Fauft oder am Hiob und Prometheus fein grokes Wohlgefallen haben, und an Rafael's Schule von Athen falt voriibergehen.

Haben wir nidt blos Cin Shines, fondern ijt das Schöne jelber mannidfaltig wie das Leben felbjt, deffen eigenartige und ſtets unterſchiedene Erfdeinungen uns erfreuen, wenn in der Form ihr Wefen rein und lar fich vollendet, und find die Menſchen felber originale Perſönlichkeiten, fo ergibt fic) daraus daß fie aud) auf befondere und eigenthiimlide Weife äſthetiſch angefprodjen werden. Wie wir fiir den Reichthum der Wirklichkeit nidt blos cine Kunſt, jondern dret Kunftgruppen haben, fo find aud) die empfiingliden Geelen bald fiir die eine, bald mehr fiir die andere organifirt, jo ijt jede beredhtigt fic) fiir ihre Vieblinge unter den Künſtlern und Werfen, unter den Naturerfdeinungen gu erfliren. Wber fie ijt aud) verpflicjtet ein Gleiches fiir andere anjuerfennen, und die äſthetiſche Bildung gibt ſich dadurch fund daf fie dem mannid)- faltigen Schönen, dem Claffijden wie dem Nomantijden gerecht wird, daß fie fic) in die Stimmung verſetzen lernt welder der griechiſche Tempel wie der gothiſche Dom feinen Urjprung ver- danft, und nicht meint den Arioft dadurd) preifen yu miiffen dap fie den Taffo herabfegt, fondern fic) vielmehr freut dag wir beide haben.

Das Trübe, Phantajtifde, Compofitionsloje der Ritterbiicher und Legenden, fowie das Rohe, Tilpelhafte und Gemeine in den Volksſchriften war durd den frangofifden Clafficismus überwun— den, eine feine Bildung, eine vernunftgemäße Klarheit, ein ver- ftiindiger Bau fiir das Drama gewonnen; hierin befriedigte fid das Sahrhundert, und vergaß daß unter der Formenglitte der Convenienz weder die Naivetiit der Natur nod) die Tiefe des Geijtes, nod die Glut der Empfindung zur redhten Erjdeinung fommen fonnte. Sa wie all died fid) regte, modjte es wie eine gefahrdrohende Empirung gegen jene endlid) gewonnenen Güter der Menſchheit erſcheinen, und fonnte fo unverftanden bleiben als die Wiedererweckung Shalefpeare’s oder Goethe's Wuftreten fiir Hriedrid) den Grofen. Gr ſchrieb in der Abhandlung De la littérature Allemande: ,,Pour vous convaincre du peu de got qui jusqu’a nos jours régne en Allemagne, vous n’avez que vous rendre aux spectacles publics. Vous y verrez

270 I. Die Adee des Schönen.

réprésenter les abominables pieces de Shakspeare traduites à notre langue, et tout l’auditoire se pimer d’aise en en- tendant ces farces ridicules et dignes des sauvages du Ca- nada. Et voila encore Goetz de Berlichingen qui parait sur la scene, imitation détestable de ces mauvaises pieces Anglaises, et le parterre applaudit et demande avec enthou- siasme la répétition de ces degoitantes platitudes.* Der zeitgenöſſiſche Kritiker Thomas Naſh ſagt von Shakefpeare: Man würde ſein Talent noch viel höher ſchätzen, wenn er nicht um zu leben Schauſpiele geſchrieben hätte, die ſeinem Ruhme weit mehr geſchadet als genützt. In ſeinen andern Dichtungen dagegen, Venus und Adonis, Tarquin und Lucretia, und in ſeinen So— netten herrſche der Geijt Petvarca’s, und wire Shakeſpeare ftets dem italienifden Kunſtſtile treu geblieben, fo wire er einer unſerer größten Dichter geworden, größer nod) alS Daniel, der erfte Dichter feiner Zeit. Diejen Daniel leſen wir nur nod) zur Vergleidung mit Shafejpeare’s Sonetten und diefe Gonette hauptſächlich um einen Ginblid in jein perſönliches Seelenleben zu gewinnen, weil eben jeine Oramen uns fo gewaltig erjdjiittern, fo edel erheben und befriedigen, weil wir in ihnen einen Dichtergenius bewun- dern der feinen größern über fich hat.

Wir diirfen uns des Fortſchrittes freuen den Deutſchland durch feine Dichter und deren ſelbſtbewußte Einſicht, durch Lejfing, Goethe, Schiller in der Auffindung einer verſöhnenden Mitte zwiſchen griechiſchem Idealismus und engliſcher Charakteriſtik und Maturwahrheit gemacht hat; ebenſo der allſeitigen Empfänglichkeit für Orient und Occident, für die Kunſtpoeſie wie für die Stimme des Volks, die Herder und die Romantiker erſchloſſen haben. Dadurch iſt von Seite des Schönen und ſeines Verſtändniſſes der Fortſchritt von einer blos nationalen zu einer menſchheitlichen Cultur gemacht worden. Innerhalb derſelben mag dann das eine Volk mehr die Anmuth oder den Glanz der Form, ein anderes mehr die Tiefe und Beſtimmtheit des Gehalts, eines mehr die Harmonie und die gleiche Stimmung des Ganzen, ein anderes mehr die lebenswirkliche Ausprägung des Beſonderen betonen. So mag auch ein Menſch ſich mehr zu Michel Angelo, der andere mehr zu Rafael hingezogen fühlen, der eine mehr bei Goethe, der andere bei Schiller den Ausleger ſeines eigenen Fühlens und Wollens ſuchen, aber einen um des andern willen zu verkennen wird falſch und hinter der Zeit zurückgeblieben heißen, nachdem

5, Die Auffaffung und Veurtheilung des Schönen. 271

beide Dichter fic) felbft zur Darſtellung eines doppelfeitigen Gan- jen miteinander verbunden haben.

Go bezeichnet dev äſthetiſche Geſchmack die Stufe der Cultur fiir das Geſchlecht wie für den Einzelnen. Darum nannte ihn Herder die feinfte und legte Politur des Urtheils in einer zuſam— menfaffenden Empfindung des Ganjen, und begeicjnete ihn als bas Geſchick in jeder Gache den lichteſten hellſten Punkt zu finden, in jeder Uebung die leichteſte Weije fret und froh gu tretben. In nichts, fiigt er Hingu, fet Ungejdmac erlaubt, weder in Werf nod) Lehre, weder in Wiffenfdjaft noch Uebung! Es ijt felbft gefdjmaclos, wenn man Materien des Geſchmacks abjondert und fic) damit ein groped Reid) des Ungeſchmacks beſitzmäßig vor- behalt; denn da Geſchmack fein Redezierath, fondern die ganze Art ijt cine Gache anzuſehen, cin Geſchäft gu behandeln, fo find Geſchmack oder Ungeſchmack untrennbar von uns im fleinften und größeſten; eines oder das andere miiffen wir zeigen. Rein Buch alfo follte geſchmacklos geſchrieben fein, wovon es auc) handele; Guflid’s Elemente, Newton’s Principien, Laplace’s Werke find ihrer Art nad im größten Gefdmad, Käſtner's mathematijde Schriften mit eben dem treffenden Geift wie jeine Cpigramme gejdjrieben. Wer Pompei fah der weiß dak die Griedjen Ge- ſchmack in allem iibten; im Fleinften Hausgeräth, in den Grabern felbft ift er fichtbar. Und fo follte fein Volk, fein Stand, fein einzelner Menſch fic) des Geſchmacks rühmen dürfen, der nidt in allem was von ifm abhängt Geſchmack zeiget.

Iſt auch der Geſchmack im allgemeinen das Vermögen von den Dingen ſo angeſprochen zu werden daß wir ſie nach der Kategorie der Schönheit als gefallend oder misfallend bezeichnen, und vergleidt er fic) hier dem Gewiſſen das unmittelbar unter- jcheidet was gut und böſe tft, fo reden wir dod) von einem guten und ſchlechten Geſchmack, je nachdem der Menſch Luft hat an dem was ihm gefallen joll, indem wie in allem Ethiſchen Hier zum Seienden ſich da8 Seinjolfende gefellt. Hier gewinnt das Ge- ſchmackvolle und Geſchmackloſe feine Bedeutung. Die Kategorie und die Unlage find zum Geſchmack wie gum Gewiffen in der Seele vorhanden, aber beide legtern find feine fertige unvermittelte Mitgift, fondern miiffen wie alles Geiftige gum Bewußtſein ge- bracht, entwidelt und gebildct werden. Es ift unmöglich dak ein Menſch gut und weife gefdaffen werde oder es von Natur fei, weil beides in der eigenen Gefinnung und dem eigenen Denfen

272 I. Die Idee bes Schönen.

als eigene Willenthat allein möglich ift, weil fein Begriff ver- fangt daß es vom Selbſt gewonnen und innerlich hervorgebradt werde, Neben der urfpriingliden Empfindung und Ueberlegung wirkt hier wie bei aller Cultur die Ueberlieferung, die Mtitarbeit der Menſchheit, theils erziehend theils nad) Art der Anſteckung nit; man gewöhnt fid) an mandes und [aft eS fic) gefallen was anfänglich Unluſt erregte, wenn man e8 fortwihrend gewahrt und andere ihre Yuft daran iiben; man greift aus Ueberjittigung und Ueberreizung zum Gegentheil des Seitherigen und erjegt die Cri- noline mit einem fo engen Seid daß da8 Gehen gehemmt wird, oder ergötzt fid) nach der claffifden Regelrictigfeit und Form- durchbildung an romantijdem Spuk und willfiirlider Formen- mijdung in guchtlojem Spiel der Ginbildungstraft. Bom Grellen und Bunten, da8 dem Ungebildeten gefillt, weil es ihn anregt, wendet fic) der Gebildete gu den idealen Beziehungen die das Mannidfaltige verfniipfen, und lernt dann in der Muſik aud entlegenere Verhiltniffe als Conſonanzen auffaffen, in Poeſie und Maleret aud) in einem Rujammenfein des Verjdiedenartigen das innere Cinheitsband finden, wie in der Compofitionsweife Shafe- jpeare’S im Vergleich mit den Alten oder den Franjojen im Drama, Hogarth jagt: Die volle und lange Perviife hat gleich der Mähne eines Lowen etwas Edles in fic, und gibt dem Ge- fit nicht nuv cin ehrwürdiges, fondern aud) verftiindiges An— jehen; und in der That bewegen fich die Locden in wobhlgefalligen Formen, und wer mag fic) den Zeuskopf ohne fie denfen? Zur Beit wo die Menſchen Perrüken trugen, liebten fie iiberhaupt das Anfgebaujdte, Wellige, Pruntvolle auch in Architektur und Gerith; wir reden von Perrükenſtil, und finden jetzt ein eigenthiimlides Behagen in der Art wie im Rococo alles zuſammenſtimmt. Unfer Frack fdeint uns abjurd und kahl, wir tragen ihn aber immer nod) als Feftgewand. Aber das Cinfade, Natiirlide, Selbjt- gewachſene gefillt uns vor dem Gemadten, Frifirten, äußerlich Aufgetragenen, und wir glauben mit Recht; wir laden der Schön— heitspflifterden und der gefriufelten oden, de8 Puders. Wir reijen ins Hodjgebirg, die Cinfamfeit der FelSmaffen und Gletſcher gewährt uns mit dem Schauern des Erhabenen eine ergreifende Freude, wo der alte Rimmer nur der Unwirthlicdfeit, der Gefahr und der Mühe gedenft, während die wohlbebaute Flur feine Luft ijt. So jehen wir den Geſchmack wechſeln, und wenn heute bei einem und demfelben Gegenftande, einem Bilde, der eine die

5. Die Auffaffung und Veurtheilung des Schönen. 273

Sompofition, der andere das Colorit, der dritte den Ausdruck vornehmlich betont, fo fehen wir wie der Gegenjtand je nad) Art der Befdhauer zunächſt von ciner und der andern Seite aufgefaft und verftanden wird. Mad) Anlage, Erziehung, Zeitftimmung wird der Geſchmack eigenartig und erhält dod) wieder das Indi— viduelle gemeinfame Züge. Die Erfahrung, die Gefdidte for- bern daß wir dem Individuellen fein Recht laffen.

Fechner betont zur Erklärung jo abweidender Cindriide aud hier ſein Affociationsprincip. Die Perriife, am Hof getragen, gefellte fid) mit dem Begriff der Vornehmheit; diejfe ijt dem Chinefen mit dem Klumpfuß der Dame, mit dem Band und den faugen Fingernägeln der Mandarinen verfniipft; fo bildet der Chinefe aud) ſeine Gigen fettleibig, und der Apoll von Belvedere erjdeint ihm ditrftig, wie cine Geftalt aus niederm reife, wo man den Bauch nicht pflegen fann. Wir fehen aber unfere Vor- ftellungen im die Oinge und ihre Formen Hinein, und die Gegen- ſtände erwecken verjdiedene Eindrücke je naddem fie auf Bor- itellungsfreije treffen die einem Menſchen geliufig find. Cine Gouvernante findet dak Rafael’s Engel unter der Sittiniſchen Madonna feine Erzieherin gehabt haben finnen, fie wiirden ſich jonjt nicht jo flegelhaft auflehnen, und ein Arjzt fagt den Chriſtusknaben deffelben Bildes ſcharf ins Auge und flüſtert vor fic) hin: Erweiterte PBupiflen! Das Kind Hat Wiirmer, mus Pillen etnnehmen!

Indeß werden wir die verfriippeltern Damenfüße der Chine- finnen und die Didbiude der Gisen wie der Mandarinen häß— lid) nennen, und mit Fug: denn fie widerftreiten der Zweckmäßig— feit, Gefundheit, Leiſtungsfähigkeit der menſchlichen Geftalt; wir werden den Gejdmad an unfittliden Darſtellungen ſchlecht nennen, denn es ift nidjt gut dak fie gefallen, das Gute wird vielmehr durd) fie gejdidigt, die Wiirde der Menſchheit gefährdet. Jenes und diefes foll nicht fein, und fo fordern wir dag jeder feinen Geſchmack bilde, anf da8 Gefunde, Zweckmäßige, Verniinftige, fittlid) Edle ridte, und fein Wobhlgefallen mit dem in Ginflang jebe worauf das Woh! der Menſchheit beruht. Das Schöne ijt ja da8 Wahre und Gute in finngefilliger Geftalt. Feder for- mulirt das Princip in dem jelbftverftindliden, darum fdeinbar trivialen Gab: „Der bejte Geſchmack ijt der bei dem im ganzen das Bejte fiir die Menſchheit herausfommt; das Beſſere fiir die

Carricre, Aeſthetik. 1. 3. Aufl. 18

274 I. Die Idee des Schönen.

Menſchheit aber ijt was mehr im Sinne ihres jeitliden und aorausſetzlich ewigen Wohles ift!

Das Schöne erzeugt fic) im fiihlenden Geift, es ijt nicht fertig aufer uns, vielmehr wird es dadurd) daß wir es billigen und ihm Beifall geben. Dak uns Cindriide die Gefiihle der Luft oder Unluſt erregen, das ijt etwas Unwillkürliches, Naturnoth- wenbdiges, es liegt jenfeit unfers Beliebens und unjerer Reflexion und will deshalb aud) von jedem unmittelbar erlebt fein. Sn wiefern unfere Billigung feine blos fubjective ijt, fondern durd) die Befdhaffenheit der Gegenftinde bedingt wird weldje unfere äſthetiſche Luft ermeden, war cine Wiffenfdaft des Schönen mög— lid), und wir haben diefe Bedingungen, wir haben die Formver- Hiltniffe und die Größe, den Stoff unterfudjt welche fie erfüllen. Aber die Frage ift mun aufguwerfen und zu löſen: wie fommen wir dazu die Dinge gu billigen oder zu misbilligen, Beifall oder Misfallen auszufpreden? Denn nicht los fiir uns, jondern fiir das Shine jelber gilt eS daß erft der Zuſatz unfers Wohlgefal— fen8, da erſt unſer Urtheil es zum Schönen madjt, den eigen: thiimlichen Begriff des Aeſthetiſchen verwirklicht.

Die Außenwelt gibt uns ihre Eindrücke, ans denen wir die Bilder und Vorftellungen geftalten; die Kraft des Urtheils gibt fie uné nicht, die liegt in uns, wir felbft find dieſe Thätigkeit des Unterfdeidens und Vergleidens, wir bilden die allgemeinen Be- griffe und bejiehen die Erſcheinungen auf fie. Angeborene Be- griffe oder Sdeen find als folche cin Widerfprud, denn nidts liegt fertig im Bewußtſein, und das Bewußtſein ſelbſt ijt nichts urfpriinglid) Gegebenes, fondern wir bringen es felber durd) die That unferer Selbjfterfaffung hervor, [raft der wir uns von allem andern unterfdeiden und zu uns felbft fommen, und die Begriffe, die Sdeen find ſelbſt erft Bildungen und Gedanken des Bewußt— ſeins. Daß fie dem Weſen der Dinge entfpredjen, eine allgemein— giiltige Wahrheit ausdriiden finnen, nicht unjere Crfindungen find, fondern von uns gefunden werden, das ift dabei nidt ausgeſchloſ— jen, vielmehr das Riel unſers Denfens felbft. Wber zum Unter- ſcheiden und Vergleichen der Vorftellungen, zur Bildung der Ideen und zur Beziehung der Erjdeinungen auf fie bediirfen wir ebenfo gut der Geſetze wie der leiblide Organismus jum Aufbau feiner Seftalt, zur Entfaltung feiner Glieder, gu feiner Ernährung und Bewegung; wir bediirfen der Beziehungs- und Gefidtspuntte wie der Normen und Ridtpunfte unferer unterfdeidenden Thatigfeit,

5. Die Anffaffung und Beurtheilung des Schönen. 275

unjerer Urtheile und Schlüſſe, und dag darin das Weſen der Kategorien liegt Hat Ulrici mit fieghafter Gründlichkeit dargethan. Wie wir im Grfennen die Dinge nach ihrer Befdhaffenheit, ihrer Größe, nad) Urjade und Wirfung, nad) Möglichkeit, Nothwen- digfeit und Wirklichkeit und ähnlichen Gefichtspunften betradten und danad) ihr Wefen beftimmen, jo ift es and) der Maßſtab des Guten und des Schönen den wir in uns tragen, und wonad wir den Werth und die Bedeutung der Welt in fittlider und äſthetiſcher Hinſicht beſtimmen. Was das Gute, da8 Schöne fei das wiffen wir von Haus aus nidt, das liegt feineswegs als cine fertige Wahrheit im Geifte; wohl aber kommt feiner Natur es ju nad) den Kategorien von Gut und Böſe, von Sdin und Häßlich Eindrücke zu unterfdeiden, Dinge ju benrtheilen. Mit unjerm Selbſtgefühl verknüpft fic) nothwendig aud) ein Gefühl fiir die Angemeffenheit oder Unangemeffenheit der andern Cin- driide zu unjerm Selbſt, indem fie daffelbe entweder fördern oder hemmen, wodurd) fie uns eben nützlich oder ſchädlich, angenehm oder unangenehm erjdjeinen; je tiefer wir aber das eigene Wejen erfaffen, je inniger und flarer wir uns feines emigen Reruns und jeiner idealen Beftimmung bewuft werden, defto tiefer und wahrer und flarer fernen wir aud) verftehen was ju unjerm Heile dient.

Der Geift unterfdheidet fic) dadurd) von der Natur daf er fiir fic) wird, fich felbft erfagt und beftimmt; er ift nur Sd ine fofern ev fich felber als ſolches fest; und niemand fann das fiir ihn leiſten, er ift feiner felbft Macher, er ijt frei. Aber er trigt jeine Anlage in fich, die er entwickeln, jeine Beſtimmung in fic, die ex erreidjen und erfiillen ſoll. Go liegt aud) in dem Pflanzen— feim die Moje oder dev Cichbaum als Bildungstrieb und VBildungs- gejes; die Entwickelung vollzieht fic) nad) eigenen Normen und der fertige [cbendige Organismus war das Biel oder der Swed welder dem ganzen Entfaltungs- und GeftaltungsproceB vor- ſchwebte, hier aber, im Reid) der Natur durd) die Verfettung von Urjaden und Wirfungen fic) mit Nothwendigkeit volljog. Co hat aud) der Geift feine naturnothwendigen Bildungsgeſetze, aber indem ev fic) im Bewußtſein felber erfagt und beftimmt, erhebt ev fic) in ein Reich fiir fich fetender Innerlichkeit, in die Sphire der Freiheit, und hier herrſcht nothwendig das Geſetz nidjt mit der zwingenden Gewalt wie in dev materiellen Welt, wo der Stoff dem Zug der Schwere, dem Stoß und Oru folgen mug; denn damit ware die Freiheit unmöglich; ihre Wirklichkeit fann

18*

276 I. Die Idee des Schinen.

nur dann eintreten, ja ihre Möglichkeit nur dann gedacht werden, wenn der Geiſt fid) auc) anders entſcheiden und nach anderm fid hinneigen Fann als das Geſetz gebietet, wenn das Geſetz fiir ihn alfo kein Muß ift. Wire es aber eine blofe Vorftellung, ver- hielte es fic) ihm gegeniiber gleidgiiltig, fo wäre es fein Gefeb; darum ijt begriffsnothwendig das Gejeg der Freiheit ein Gebot, ein Soll; es muß in uns fliegen und gegenwirtig fein, in unjerm Trieb und unjerm Gefiihl fich bezeugen, ſonſt wiire ed fein Geſetz; darum und um der Freiheit willen müſſen wir uns ihm ver- pflicjtet fiihlen, und es mug unjer Heil daran gefniipft fein. Go bleibt der Begriff des Gefeges und der des Willens bewabhrt, der Wille Fann fic) abwenden, aber muß fiihlen dak er es nicht foll, es mug ein Gefithl des Sollens und der Verpflidjtung in ihm liegen, und wenn er beiden nicht folgt, fo mug er inne werden daß er fein eigenes Weſen damit verdivbt, daß er fein Heil nur in der Erfiillung des Gebotes erlangen, nur fo feine Beftimmung erreidjen fann. |

Hier ift der Begriff des Sittengefeges gefunden, und aus ihm wie aus dem Wefen des Geiftes folgt daß er nidt von Haus aus ift was er fein foll, was ja aud) dem Begriff des Sollens widerſpräche, fondern daß er es erft durch eigene Thitigfeit wer- den foll, oder dak Selbjtvervollfommnung feine Beftimmung ift: er joll gu fic) felber und zur Fiille, gur Vollentfaltung und Voll- endung ſeines Wefens durd) eigene That fommen. Das wiire nidjt miglid), wenn nidt das Vollfommene als ethijde Norm oder Kategorie in uns lige, uns urfpriinglid) und vor aller Er— fahrung gegenwirtig wire, indem wir allererft ja dadurd) die Gegenftiinde der Erfahrung als vollfommene oder unvollfommene bezeidjnen finnen. Zum Bewußtſein fommt uns die Bdee des Vollfommenen an der Erfahrung und wird durd) fie vermittelt, aber da8 Crfahrungsurtheil, das etwas fiir vollfommen oder un- vollfommen erflirt, ift nur vorhanden weil vor ihm der Gefidts- punft und die Unterfdeidungsnorm des Vollfommenen in uns gegenwirtig war. Das Vollfommene liegt im Geijt und ift feine eigene Bejtimmung, wie der ausgebildete Organismus in der Triebfrajt des befruchteten Eies innerlich waltet und das Ziel der Entwidelung ijt, Darum geniigt uns das Mangelhaftige, Endlide, Unvollfommene nidt, darum fiihlen wir uns über das Gegebene hinausgetrieben, um über daffelbe die Sdee des Boll- fommenen, des Unendliden, des Abſoluten gu geftalten, in welder

5. Die Auffaffung und Beurtheilung des Schönen. 277

wir unſer eigenes Ziel ahnen und erfaſſen. Was das Voll— kommene aber ſei das iſt uns nicht gegeben; es iſt vielmehr ſelbſt die Lebensaufgabe für uns dies zu erfahren, dies zu verwirklichen und verſtehen zu lernen. Darauf beruht wieder der Fortſchritt im Erkennen, im ſittlichen Handeln, im Genuß des Schönen und in den Werfen der Kunſt. Das iſt die edelſte Würze des Glücks daß wir uns deſſelben würdig machen; wir müſſen uns empor— dienen, damit wir die Glückſeligkeit verdienen, damit wir im er— rungenen Heil die höchſte Wonne haben. In ſeinen Werken über Gott und die Natur, Gott und den Menſchen hat auch Ulrici die Vollkommenheit, die Herbart gleichfalls unter die ſittlichen Ideen rechnete, als ethiſche Urkategorie aufgeſtellt. Denn ſie iſt eins mit dem Begriff des Ideals oder des Seinſollenden, und erſt weil wir dieſen Maßſtab in uns haben, können wir auch im Reiche der Natur von vollkommenen Formen oder Weſen und Exemplaren reden, je nachdem ſie ihrem Gattungsbegriff beſſer entſprechen oder auf höherer Stufe des Lebens ſtehen. Damit haben wir eben nach der Kategorie des Vollkommenen einen nor— mativen Gattungsbegriff als Vorbild der Einzelweſen, eine dem Ziel der Vollkommenheit zuſchreitende Weſenreihe geſetzt. Und wo wir dies in der Natur wiederfinden da weiſt es über die materiellen und mechaniſchen Kräfte hinan zu dem Begriff des Zweckes, in das Geiſtige, das Ethiſche, das auch die Natur durch— waltet und ſich den Boden in ihr bereitet.

Das Gefühl des Sollens ſetzt die Freiheit des Geiſtes voraus, legt aber das Geſetz zugleich in das innere Weſen deſſelben, und darum hat er auch den Trieb und Drang nach dem Vollkomme— nen, nach dem Seinſollenden in ſich, und darum empfindet er das Angenehme, die Förderung ſeines Weſens, die Befriedigung ſeiner Natur, wo es ihm begegnet und zutheil wird. Wie in ſittlicher Beziehung das Gute, ſo iſt in äſthetiſcher das Schöne für uns das Vollkommene, das Seinſollende, und wie das Gewiſſen für jenes, fo ſpricht der Geſchmack für dieſes. Das Gewiſſen unter- ſcheidet in uns das Gute und Böſe, und ſagt uns mahnend oder ſtrafend was wir thun und laſſen ſollen; der Geſchmack unter- ſcheidet das Schöne und Häßliche und beurtheilt das uns Zu— ſagende. Und wie das Gefühl der Pflicht und die Unterſcheidung nach dem Geſichtspunkte von Gut und Böſe in der Seele liegt, was aber das Gute und Böſe ſei immer klarer reiner tiefer er— kannt werden ſoll, wie in der Uebung der Pflicht, in dem Wirken

278 I. Die Idee de8 Schönen.

in der Sphiire des Rechtes und der Sittlichfeit durch dic Gewohn- Heit jelbft und durd) das Nadhdenfen die Einſicht wächſt und das Gewiſſen ſchärfer und feiner wird, jo beruht aud) unfer Geſchmack zunächſt auf dem Gefühl de6 Angenchmen und Unangenehmen, und das fann niemand andemonjtrirt werden, das muR jeder felber erleben und empfinden, und injofern tft er und bleibt er jubjectiv; aber das Gefühl tritt aud) ein mit der Sicherheit und Nothwen- digfeit des Unwillfitrliden, Unbewuften, und darum beanjpruden wir Allgemeingiiltigheit fiir daffelbe. Die Norm Hes Sdhinen und Häßlichen liegt als Gefidtspunft der Beurtheilung in uns, was aber das Sdhine und Häßliche fet, das follen wir erfahren und erforjdjen, und je reider und tiefer dies gejdieht, dejto mehr verfeinert und verſchärft fid) unfer Geſchmack. Macht uns ſchon das cinen angenehmen Cindrud was unjern Sinnen jujagt und uns die Uecbereinftimmung derfelben mit der Augenwelt bezeugt, fo nod) vielmehr das was unſer Denfen und Wollen fördert, unfere menſchliche Beftimmung erhiht. Das Sdhine ergibt fid uns als die innigfte Harmonie von Sinn, Gefühl und Gedanke, und je edler und reifer alfo wir felbft geworden find, defto vollere und befriedigendere Geniiffe werden fic) uns bicten, dejto beffer werden wir das Shine wiirdigen.

Angenehme Erſcheinungen ween den in der Secle ſchlummern— den Sinn fiir das Schöne; fie ſpricht ihr Wohlgefallen oder Mis— fallen über die Erſcheinungen aus, aber fie ift jelber bedingt von ihren cigenen Neigungen und Intereſſen wie von der Bildung ihrer Beit, und dadurch färbt fic) ihr Geſchmacksurtheil, und um der Kategorie des Vollfommenen gu geniigen muß es geläutert, muß es gebildet werden. Wir haben aber den Trieb nach dem Schö— nen in uns und ſuchen die Freude der Harmonie die es uns be— reitet, und weil es das Seinſollende iſt darum erwacht in uns der Drang es hervorzubringen, wenn wir es nicht finden oder wenn uns die gegebene Welt in Hinſicht auf das Schöne nicht genügt, und ſo erzeugen wir uns eine Welt wie ſie ſein ſoll, wir nehmen die künftige Lebensvollendung voraus, und freuen uns ihrer im Reiche der Phantaſie. Das Schöne iſt uns angenehm, es erweckt eine Luſtempfindung und verwirklicht ſich in ihr, es erwirbt unſern Beifall durch unſer Wohlgefallen an ihm: daraus folgt daß es uns naturgemäß iſt. So wollen wir zunächſt auch die Uebereinſtimmung unſerer Vorſtellungen mit den Gegenſtänden, und nennen ſolche Wahrheit, fo nennen wir gut und verlangen

5. Die Auffaffung und Veurtheilung des Schönen. 279

was uns werthvoll erfdeint, was unjer Daſein fördert, und reden demgemäß von guter Luft, von guter Nahrung, von den Giitern ded Lebend. Rechten und bleibenden Werth aber hat fiir uns was uns Seelenfrieden gibt, was unferer ewigen geijtigen Beftimmung gemäß ijt; und fo ift das Gute fiir uns dads höchſte Gut, die Ginigung unfers Willens mit dem allgemeinen Willen, mit der ſittlichen Weltordnung, in der wir unfer Heil und unfere Rube finden. Das Gute ijt nidt das Aeußerliche Seiende, fondern das Innerliche Seinfollende, es ift das Reich der Freiheit und der Viebe, das im Gemiith und im Willen lebt und nur infoweit ift als es von beiden fortwihrend verwirflidt wird. Und wenn wir von cinem wahren Menſchen, einem wahren Staate, cinem wahren Gedicht reden, fo wollen wir damit nicht blos fagen daf fie un- ferer Vorftellung gemäß find, fondern daß fie ihrem eigenen Wefen entjpredjen, und ob fie da8 thun das finnen wir nicht durd) die bloke Wahrnehinung finden, wir müſſen vielmehr über das Ge- gebene hinausgehen und nad) der Kategorie der Vollfommenheit die Sdee, den Normalbegriff entwerfen, und nun find uns die- jenigen die wahren Staaten, Menſchen und Gedichte welche ihrer Idee gemäß fic) bewährt haben. Wenn wir etwas als eine Wabhr- Heit bezeichnen ſo wollen wir damit mehr fagen als dag es cine ridjtige Vorjtellung fei; wir driiden damit dad Vernunftgemife aus. Das gilt aber nicht blos fiir uns, ſondern für alle; die Vernunft ijt die eine und alfgemeine in allen, der göttliche Logos, und wie wir die Wirklidfeit nur dann ju erfennen vermigen wenn die Formen unfers Denfens aud) in ihr herrfden, wenn die Geſetze unjers Denfens auch die Weltgeſetze find, fo gewinnen wir im jeder neuen Wahrheit Theil an der höchſten Wahrheit, an Gott. Er ift das Vollfommene und Unendlide, ohne das wir aud) das Endlide und Unvollfommene fo wenig auffaffen und ausfpreden finnen wie ein Unten ohne Oben, cin Rechts ohne Links. Gr ift das nothwendige deal der BVernunft und des Willens, das höchſte Gut; ev ift der erfte Grund und lebte Rwe des Seienden, den gu erfennen der Drang nad) Wahrheit fordert, und ed ift bas Gebot der Sittlidjfeit dak wir den End- zweck der Welt and) jum unferigen maden, daß wir im allge- meinen Wohl aud) das unferige finden. Unſer Schönheitstrieb fordert eine Welt wie fie fein foll, und der Künſtler tradhtet fie qu geftalten. Celbft ein Shafejpeare misfillt uns wenn er ein- mal wie am Ende von Troilus und Crejfida den gemeinen Welt-

280 I, Die Idee des Schinen.

lauf ſchildert ftatt und durch die poetiſche Gerechtigleit darüber ju erheben und im Sieg des Guten die Forderung unfers Gemiiths gu erfiillen, die fiinftige Selbftvollendung des Yebens im Bilde ju zeigen. Seine eigene und des Curipides Kunſt unterſchied be- fanntlid) Sophokles fo: jener ſchildere die Menſchen und die Welt wie fie feien, er felber wie fie fein foflen.

Das Shine, fahen wir, gefällt uns durch feine Form, aber diefe ergab fic) als das jelbftgefeste Maß der innern Bildungs- fraft, als die Geftalt des Gehalts, als der Ansdruc und die Er— ſcheinung des Wejens. Wir fanden das Shine da wo der allge- meine Begriff und das Bildungsgejes in der einzelnen Geſtalt, in dem cinjelnen Ereigniß anfdaulid) und rein verwirflidjt war, Wo uns das Zwedmifige, das Verftindige anſchaulich und die innere Harmonie im Zujammenhang und Zujammenflang der äußern Theile und Unterjdiede fiegreid) offenbar und uns felber aunehmlid) war. Go konute e8 uns den Sinn der Welt bejeli- gend enthiillen. Damit ift es die vollfommene Erſcheinungsform ded Wahren und Guten. Wir follen [deinen wie wir find, das Aeußere foll dem Innern entſprechen, das Innere ſoll ſich fiir fic und andere rein und klar verwirklichen, das iſt einbegriffen in der Idee der Vollkommenheit; ſie wäre nicht wo dieſe Harmonie mangelte. Go find das Wahre Gute Schöne untrennbar verbun— den, in diejem Dreiflang wird die Idee des Seins realifirt.

Schon das griechiſche WUlterthum fliebte cs das Wahre, Gute und Sdine zujammenjzuftellen, und in der That bezeichnen fie die Riele und den Rwed der drei Grundridtungen des Geiſtes, des Srfennens, des Wollens und der Phantafie. Sie find das große Dreigeftirn das dem Menjden auf der Odyffeusfahrt des Lebens (eudjtet, damit er feine Heimat finde, damit die Seele in. der Seligfeit den ihrem Wefen entſprechenden Ruftand erreide. Sie find der Inhalt des Gemiiths und geben fid) dadurd) im Gefiihle fund: mit der Crfenntnig der Wahrheit werden wir einer Förde— rung unſers eigenen Zuſtandes inne, das Wahrheitsgefiihl, der Drang der Seele nad) dem Licht und die unmittelbare Zuftim- mung unfjerer eigenen Natur gu der Wahrheit geht der vermittel- ten und begrifflichen Ginficht auch voraus und begleitet fie. Das Gute ijt uns im Gewiffen unmittelbar gegenwärtig, und in der Schinheit ftrdimt die (autere Kraft der Dinge mit der lantern Kraft unjers Geiftes jujammen. Aber wahrend auf dem theo- retijden Gebiete die Darftellung der Wahrheit in der allgemein-

5. Die Auffaffung und Beurtheilung des Schönen. 981

giiltigen Form der Wiffenfdaft und anf dem praftifden die fitt- liche That und die Begriindung des Gottesreides als Rwee erſcheint, ijt anf dem ajthetifdjen der Zweck nit cin Erkennen oder Wirken, fondern der Selbſtgenuß des Geiftes, die individuelle Erzeugung des Ideals.

Die Idee als Begriff gedacht iſt die Wahrheit. Unſere Ver— nunft ſchließt ſich mit der in der Welt waltenden Vernunft zu— ſammen, wir denken den Gedanken der den Dingen zu Grunde liegt, wir nehmen das Geſetz, welches ſie beherrſcht, in uns auf und thun es in ſeiner Uebereinſtimmung mit dem Weſen unſers Geiſtes dar. Dies führt zur Einſicht daß Geiſt und Natur, die Vernunft in uns und die Vernunft außer uns einem gemeinſamen Quell entſpringen, daß beide in einer urſprünglichen und höhern Einheit begriffen und aufeinander bezogen ſind; eine Einheit aber welche Mannichfaltiges in ſich begreift und füreinander beſtimmt, muß eine ſelbſtbewußt wollende ſein. Sie als die Idee Gottes iſt auch nach Kant's Ausdruck das Ideal der Vernunft, die nur in und mittels derſelben den Forderungen ihres eigenen Weſens genügt. Der volle Begriff der Wahrheit das iſt die Einigung des menſchlichen Denfens mit dem gittliden. Ihre Darftellung ift die Wiffenfdhaft und gwar die freie und nicht blos nad) der äußern Thatjadje, fondern nad) dem innern Grund forfdjende, die Philoſophie, die nicht aufer und neben den andern Wiffenfdhaften jteht, fondern fraft welder die Renntniffe Erkenntnis werden, welde im und über allen befondern Wiffenfdaften als deren leben— der Seift und jujammenfaffende Cinheit waltet.

Die Idee alS That verwirflidt ift das Gute. Es befteht in dem gewiffenhaften Handelu, in der Gefinnung der Liebe; es ijt die Ginigung unjers Willens mit dem gittlidjen, fomit die Wieder- geburt in ihm. Dies gottinnige Veben dev Liebe aber macht das Wefen der Religion anus, fie ift nicht wefentlid) Doctrin oder Vor- ftellung, fonft miiftte der gelehrte Dogmatifer ja der zumeiſt Re- ligidfe fein, fondern Gefinnung und Leben, dic Aufnahme des Göttlichen in das eigene Herz, die Beziehung des Zeitlichen auf das Gwige, und dadurd) das Bewußtſein der Verſöhnung und des Friedens mit Gott. Als cin Glied feines Reiches zu leben, jein Reich durch fortwährende That gu fördern ijt hier das Riel.

Die Idee angejdaut in raumzeitlicher Geftalt ift das Shine, die finnliche Erfaſſung der göttlichen Gedanfen und die Ver- ſchmelzung derjelben mit unferm Selbft durd) ihre Aufnahme ins

282 I. Die Idee des Schönen.

Gefühl, die Darftellung des Geiftig Werthvollen in finnlid) wohl— gefalligen Formen. Was wir denfen ijt in der allgemeinen Weife ausgedriidt die anf gleiche Art fiir alle gilt, was wir fiihlen ijt unſer eigen, es ift unfer Selbft erhöht im Cinswerden mit einem andern. Das Schöne gipfelt im der Erzeugung und in dem Genuß geiftigee Gefiihle, in denen wir der Weltharmonie und unjerer Ginftimmung in fie inne werden. Die Kraft oder das Mitel der Gneinsbildung des Sinnliden und Geiftigen iſt die Phantafie.

Wie Gedanfe, Wille, Phantafie in einander wirfen und nicht ohne einanbder find, fo walten aud) die drei Sdeen einträchtig zu— ſammen. Schön ift was indem es gut ift zugleich aud) angenehm ift, hat ſchon Ariſtoteles geſagt; ebenſo liegt ihm ftets eine Wahr- heit zu Grunde. Es offenbart einen der ewigen Gedanfen des Lebens, es wirkt begeifternd und erfriſchend auf den Willen, die poetijde Geredhtigfeit ijt eins mit der fittliden Weltordnung. Das Wahre wird gut durd feinen Cinflug auf den Willen, und {din durd) feine ausdrudsvolle Erjdjeinung fiir uns. Aud die Tugend ijt ein Wiffen, das war ſchon Sofrates’ epodemadende Erkenntniß, fie ijt nicht cin Werf des Inſtinctes, jondern die Ge— finnung welche weiß warum und wobhin fie will, Shr Vollbringen wirft Hharmonifirend, verfdinernd felber auf die Leiblidfeit. Wir haben die Natur und das Geſetz des Seins, fie erfaßt der Begriff alg Wahrheit; wir haben innerhalb der Weltordnung die Entfal- tung des Lebens als das Walten ſchöpferiſcher Productivitat und Freiheit, als geftaltende Phantajie fiir die Anfdauung; dadurd) erzeugt fic) die Schinheit; wir haben die Tendenz des Lebens als den Gingang in feinen Ausgang, als die Ginigung von Geſchöpf und Schöpfer, als die Liebe; und dies ift das Gute.

Otto Ludwig, ein Didhter der fich fo eifrig bemiihte iiber feine Kunſt fic) Rechenſchaft yu geben, fam zur Ueberzeugung: „Schön— Heit und Wahrheit find der Sache nad) daffelbe, nur dem Medium nad, durd) da8 fie auf uns wirken, verjdieden; Wahrheit ijt die Uebereinftimmung eines Reidthums von Ziigen fiir den Verftand, Schinheit die Cinheit einer Mannidfaltigteit fiir den unmittel- baren Ginn. Die eine ift da8 mittelbar was die andere unmittel— bar ift, daher laſſen fie fid) in einander auflöſen; die Ueberein- ftimmung welche durch öfteres Denfen jo geliiufig wiirde, daß wir fie zugleich auffaffen, ijt Wahrheit sur Schinheit geworden, und jo fann im Kunſtwerk alle Wahrheit zur Schönheit werden, wie

5. Die Auffaffung und Beurtheilung des Schönen. 283

jit) alle Schinheit durd) Ucberdenfen ihrer einzelnen Momente alg Wahrheit muß ausweijen können.“

| Die Wiffenfchaft fiihrt das Mannichfaltige der Erſcheinungen zurück auf die Cinheit des Begriffs, der fich darin erſchloſſen hat, auf das gleiche Geſetz, das fie beherrjdht; die Kunſt entfaltet aus der Ginheit und dem idealen Mtittelpuntte die erfdeinende Man— nidfaltigteit. Solger's trefflides Wort gehirt hierher: „Wenn niemand fo fehr in finnlider Zerſtreuung verjunfen fein fann dak er gänzlich der Religion und der Verbindung mit Gott entfagte, fo darf aud) nicmand der erhabenen Wiirde der Kunſt wibder- ftreben, welcje uns das Gottlide in feiner wirkliden Erſcheinung vergegenwirtigt. Sie fließt ja mit der Religion aus ciner und derfelben Quelle, und nicht unrecht hatte Sohann Boccaccio, wenn ex in der Sprache feines Zeitalters die Kunſt nur cine andere Art der Theologie nannte. Mur verfdicdene Ridjtungen nehmen _ fie gu gleicher Heiligung. Die Religion treibt uns theils durch die Liebe gu dem Ewigen freudig das Reitlide und Mangelhafte aufzuopfern um zu jenem, woher wir ftammen, zurückzukehren, theils ftirft fie uns durd) dads volle Bewußtſein des höhern Urfprungs und der höhern Hiilfe das Zeitliche, das unfer reine- res Wefen triibt, gu bekämpfen und nad) jenem ju geftalten. Die Kunſt zeigt uns aber aud) in dem Zeitlichen felbjt die vollfom- mene Gegenwart de8 Höchſten; fie adelt dieſes Reitliche und heiligt fo jdjon unſer irvdifdjes Leben.” Das Heilige, das religisfe Leben ijt das vollendete Sittliche; ihm ſchließt die vollendete Kunſt oder das einfad) Schöne fic) an; dem Guten im Sinn des Kämpfens und Strebens, der Arbeit des Sittlichen zeigt fic) dadsjenige Shine verwandt weldjes die Harmonie ans dem Widerftreit ber Glemente herftellt und ſich im Verlauf einer Cntwidelung erzeugt.

Gin arabiſcher Dichter, Ibnol Fahrid, ſingt im hohen Lied der Liebe:

Laß frei den Lauf dem Sinn für das was ewig ſchön, Bleib nicht gebunden bei dem falſchen Schmucke fiehn. Des Liebenswürd'gen Reiz nur aus der Schönheit ſtammt, Die mit ureignem Licht von Gott die Welt durchflammt.

Drei deutſche Dichter und Denker ſprechen ſich folgendermaßen aus: Leſſing: Nur die misverſtandene Religion kann uns vom Schönen entfernen, und ed ijt ein Beweis fiir die wahre, fiir die

284 I. Die Sdee des Schönen.

ridjtig verftandene wahre Religion, wenn fie uns iiberall auf das Schöne juriidbringt. Herder:

Die höchſte Liebe wie die höchſte Kunſt

Aft Andadt. Dem jerftreneten Gemilth Erſcheint die Wahrheit und die Schönheit nie, Sie die aus Vielem nicht gefammelt wird, Die in fic) Eins und Alles jeden Theil

Mit fic) belebet und vergeiftiget.

Boethe: Die Menſchen find in Poefie und Kunft nur fo lange productiv als fie religiés find.

Man hat um einen Widerfprud) von Kunft und Religion auf— juweijen an Aeſchylos erinnert, der von dem Pian des Dichters Tynichos fagte, diejem wiirde es im Vergleid) mit einem von ihm jelbft gedicjteten ergehen wie den alten Gitterdildern, die obwol einfad) gehalten, dennod) fiir gottlid) angefehen werden, da man im Gegenthetl die neuern mehr bewundere, ihnen aber menig Göttlichkeit zutraue. Aehnlich äußerte Panfanias in Bezug auf die Bildſäulen welche man für Dädaloswerke annahm, ſie ſeien für den Anblick ohne Wohlgefallen, aber es wohne ihnen etwas eigenthümlich Göttliches inne. Aber ein Anderes iſt die freie, ein Anderes die der Religion dienende Kunſt. Wenn das Bild nur die Anregung geben ſoll daß das Gemüth für ſich zu religiöſer Stimmung ſich erhebe, ſo wird der Zauber der Schönheit, der den Blick am Bilde haften und in ihm uns Befriedigung finden läßt, weniger an der Stelle ſein, als einige mächtige und erhabene Züge, die der feinern ſinnlichen Reize ermangeln, aber dem an— ſchauenden Geiſte die Brücke ſchlagen zu dem Unendlichen. Denn in der Religion wird nicht das ſichtbare Bild angebetet, ſondern das göttliche Weſen, das es bedeutet; die Bildſäule iſt ſo wenig der Gott als das Porträt eines Menſchen der lebendige Menſch. Dagegen wo die Kunſt für ſich frei waltet da ſucht ſie der An— ſchauung dieſelbe Verſöhnung zu bereiten die der Wille durch den Eingang in Gott und der denkende Geiſt durch die philoſophiſche Wahrheit gewinnt; ſie kann das nur dadurch daß ſie das Sinn— liche nicht verſchmäht, ſondern in ihm das Ideale und Ewige ausdrückt.

And Ulrici hat neuerdings das Ineinanderwirken des Wahren, Guten, Schönen betont. Das oberfte Geſetz in der Welt, in der Natur wie in der fittlidlen Sphiire ift ifm das Geſetz der Erhal-

5. Die Auffaffung und Beurtheilung des Schönen. 285

tung und Förderung des Ganjen durd) das Einzelne und damit des Cingelnen durch das Ganze. Dies ethiſche Gefets führt in der Aeſthetik auf die Unterordnung jeder einzelnen Form unter dic formelle Faſſung des Ganjen, der nothwendigen Formirung jedes Einzelgebildes gemäß dem Geftaltungsprincip und Stil des Gan— gent, und dies iſt das oberfte Schinheitsgefes. „Jener ideelle Ginheitspuntt, auf den alle Harmonie fic) ftiigt und um fo deut- lider hinweiſt je anjdaulider fie hervortritt, iſt das wahre Weſen der Dinge, das im Einzelnen als Grund und Zweck feiner indi- viduellen Bilbung und Befdhaffenheit, in der Geſammtheit als Grund und Zwed des Ganzen fid) fundgibt. Die Wahrheit der Darjtellung ijt daher cine unerläßliche Bedingung ihrer künſt— leriſchen Schinheit. Der Hichfte Zweck alles Werdens und Wir- fens fann nur die höchſtmögliche Vollfommenheit des Einzelnen im Ganzen und des Ganjen im Einzelnen fein, die Verwirflidung der Sdeen des Wahren, Guten und Sdinen. Stinde das Schöne al8 die Vollfommenheit der Form nicht in diefer Beziehung zum höchſten Zweck und damit gu unferer eigenen Beftimmung, ju dem was fiir uns das Hidfte Wohl weil das höchſte Gut, die höchſte Pflidjt weil das höchſte Geſetz ijt, fo hätte die Schönheit alé foldje feinen Werth fiir uns, fo fiunte ihr fein Sinn, feine Strebung, Fein Gefühl des Sollens in unſerer Seele entgegen- fommen, jo wiirde fie ftatt Verlangen und Wohlgefallen zu er- weden uns völlig gleidgiiltig laſſen.“ Nun ligt uns aber das Schöne nidjt gleidjgiiltig, fondern es reift uns hin, es begliict ung. Und wir bedürfen des Sdhinen. Denn wir (eben nicht allein von dem täglichen Brot, und braudjen nicht blos Sdus gegen Wind und Wetter; wir bediirfen aud) ein Labſal und eine Erquidung, und einen Balfam fiir die Wunden des Gemiiths. Da tritt das Shine ein und macht uns der Harmonie unmittel- bar gewif, und ftillt die Sehnſucht der Seele nach einer jeligen Yebensvollendung. Gar finnig bemerft Sean Paul in Bezug auf Herder und Shiller: Sie follten Wundärzte werden; aber das Schickſal ſprach: Cs gibt tiefere Schiden und Leiden als die des Leibes; heilt folde! Und beide ſchrieben.

Und hier werden wir gemahnt daß wir den Ernft des Lebens und die Heiterfeit der Kunſt nidt allju weit auseinanderhalten, das frei geniefende Spiel der Kräfte im Aeſthetiſchen nicht ju ſehr trennen von der Arbeit und dem zweckvollen Streben im Denfen und Handeln. Alles Sdhine ift ſchwer Hat ein ſchönheits—

286 I. Die Idee dee Schinen.

jreudiger Griedhe gefagt, und jede Arbeit die ihr Ziel erreicht und unfer Vermögen entwidelt ijt aud) Genug. Aus dem Denken und Handeln felbft quillt ja, fowie fie ihre Anfgabe löſen, das Wohl- gefühl der Harmonie in der Cinigung de8 Innern und Aeußern; dem Künſtler aber ift fein Werf eine ernfte Arbeit, und wm einen Aeſchylos und Dante, cinen Midel Angelo und Beethoven zu ge- nießen miiffen wir fie verftehen, miiffen wir das gewaltige leiden— ſchaftliche Ringen ihres Geiftes und die Leidenvollen Kämpfe ihres Gemüths mitempfunden haben.

Die Befeligung des Schauens und Sahaffens ift in der Zeit vorwiegend äſthetiſcher Cultur fiir das Höchſte, die Kunſt fiir die vollendetite Offenbarung der Wahrheit angefehen worden; fo von Selling in cinigen friihern Sdhriften und von den Romantikern. Dann erhob Hegel die Philofophie iiber Religion und Kunſt und jah im Gefühl des Schinen nur eine niedere Stufe der Wabhr- heitserkenntniß; von ihm blieb Viſcher nod) ganz abhängig, wäh— rend Weiße's Aeſthetik in der Schönheit die aufgehobene Wahr— heit ſah, ſodaß die äſthetiſche Thätigkeit und Zuſtändlichkeit das Höhere ſein ſollte, worein ſich das Princip der Wahrheit und Wiſſenſchaft dialektiſch umſetzt. Ich habe ſchon bei meinem erſten ſchriftſtelleriſchen Auftreten dagegen Folgendes bemerkt: Von einer Ueber- oder Unterordnung dieſer drei Formen der Offenbarung des abſoluten Geiſtes kann nicht die Rede ſein, denn jede iſt in ſich eine abgeſchloſſene und vollendete; vor der Unendlichkeit, der ſie alle theilhaftig ſind, verſchwindet aller Größenunterſchied. Wenn auch die Kunſt in ihrer Unmittelbarkeit jener in ſich ſelbſt ver— mittelten Reinheit des Allgemeinen nicht ſo theilhaftig iſt wie die Philoſophie, ſo hat ſie vor dieſer den herzbezwingenden Zauber und die ſinnliche Gewißheit voraus, wie hinwiederum die Religion ihr eigenthümliches Weſen in der ſittlichen Heilsbeſchaffung, in der Verſöhnung des Willens und in der Möglichkeit hat für alle zu ſein. Dem ſchaffenden Künſtler iſt ſeine Weiſe das Höchſte, in der ihm in urſprünglicher Vereinigung in einer heiligen Flamme brennt was in der Natur und Geſchichte getrennt ijt; der Religiöſe findet die volle Befriedigung in der Erhebung des Gemüths, im Zeugniß des Geiſtes von der Offenbarung; der Denker iſt ſelig, wenn ſich ihm in der Tiefe das Weſen zeigt, wenn er den Kern der Dinge wieder in dem einen Lichtgedanken zuſammenfaßt, dem ſie entſprungen ſind. Und wenn Schiller den Dichter für den wahren und ganzen Menſchen erklärt, die Verehrung des Volkes

5. Die Anffaffung und Beurtheilung des Sdinen, 287

den Religionsftifter mit dem Heiligenfdeine der Göttlichkeit ſchmückt, Aviftoteles die philofophijde Betradtung fiir das Siifefte und Befte hilt, Beethoven feufzt, weil die Welt nicht ahnen wolle dak der herrlide Wein den er fiir die Menſchen feltere fie geiftes- trunfen zu madden und zu neuen Erzeugungen zu begeiftern, daf jeine Muſik höhere Offenbarung fei als alle Weisheit, fo beweiſt diejer Widerfprud) eben daß jeder diefer Männer fiir fic) recht hat, dak Kunſt, Religion, Wiffenjdaft jede in ihrer Art cin Höchſtes und ein Gipfel menſchlichen Lebens iſt. Nicht Moſes ift größer als Homer, nod) Goethe als Platon, nod) Alexander oder Napoleon grifer als Aviftoteles oder Shakeſpeare. In jeder Sphäre fann die gottfreudige Befreiungsthat des Geiftes, fann ein Liebewerk vollbradht werden, und in jedem Menſchenleben gibt es Aufgaben deren Löſung mit dem Ernſt und der Weihe der Gefinnung um nidts an wahrem Werth hinter den welt- bewegenden Ereigniſſen zurückſteht. Es ift unweſentlich, fagt aud Arthur Schopenhauer, ob man um Nüſſe oder Kronen fpielt, ob man aber beim Spiel betriigt oder ehrlid) gu Werke geht, das ift das Wejentlide. So wenig als eine Phyfiologie der BVer- dauung uns die Leiblide Nahrung erfesen fann, vermag die Phi— [ofophie ftatt Kunſt und Religion eingutreten. Go bleiben uns das Schöne, Gute, Wabhre dieje Orci, und Gin Göttliches in ihnen.

Melchior Meyr hat dann in dret Gefpriiden iiber das Wabhre, Gute, Sdhine dieje Ideen an das Göttliche angefniipft und daraus abgeleitet. Gott im Einklang von Natur und Geift als das Er— fannte und Grfennende in reiner Wefenheit heift ihm die Wahr— Heit; ex heißt ihm die Güte indem er Liebevoll die Kräfte der Welt zur Freiheit entlipt, dann aber mit dem Böſen ringt und die Menſchen erlift und fic) verſöhnt, denn die Giite will begliiden, zum höchſten Heil, zur verdienten Seligfeit fiihren; Gott aber in der einftigen Lebensvollendung felig mit den Seligen in der Har- monie des Seins heißt ifm Schinheit. „Als derjenige der das Seinfollende nach allen Seiten hin verwirflidt hat, als Herr eines Reiches vollfommener Wefen und Cinjzelgebilde, deren jedes den ihm j3ufommenden Blak inne hat, als intenfiv und ertenfiv abſo— luter Organismus ijt er Schönheit im höchſten Sinne, triumphi- rende jelige wahre Schönheit.“ So zeigt die Kunſt uns jest im Spiegel was einft die LebenSwirflichfeit fein wird.

Sch weiß recht gut daß es von Gott und den Sdeen weder eine finnlide noc) eine mathematijde Gewißheit gibt; aber frage

288 I. Die Idee des Schönen.

fid) doch cin jeder ob er im andern Falle fret jein könnte, ob nidt gerade dem edelftern Wahrheitstrieh das Befte fehlte, nämlich die Freude durd) fid) felbft fid) gum Bdealen zu erheben und trog aller Rweifel mit ſittlichem Muthe fid) als Glied und Triiger einer fittlidjen Weltordnung zu behaupten. Das Höchſte fann dem Geiſte nidjt gegeben fein, er muß e8 fic) jelber erringen; Er— quidung und Labfal in diefem fdjweren ernften Dienfte um das Gute und Wabhre beut ifm das Schöne.

Da id) von Anfang an das’ Shine als da8 volle gefjunde harmonijde Lebensgefithl ausfprad), das fid) in uns im Zu— jammentwirfen mit Gegenftiinden erzeugt die uns den Cinflang des Sinnliden und Geiftigen bieten, fo ergaben fic) die friihern Bee griffsbeftimmungen alg Momente der Wahrheit; cine Seite der- felben war von dem Denfer ridtig erfaßt, oft aber gu ſehr fiir fid allein hervorgehoben. Go ift uns das Schöne mit Platon und Schelling das volle mangellojfe Sein, mit Shiller die Sneins- bilbung de8 Sdealen und Realen, die Ausgleidhung des Streites zwiſchen Trieb und Vernunft, zwiſchen Sinnlicfeit und Geift; es riifrt den Ginn, indem es zugleich das ethiſche Geſetz erfüllt, es entſpricht unſerer Doppelnatur und ihrer Einheit, die das Ur— ſprüngliche wie das Seinſollende durch Freiheit zu Verwirklichende iſt. So ſagen wir mit Kant daß das Schöne durch ſeine Form gefällt; daß die gefallenden Formverhältniſſe das ſpecifiſch Aeſthe— tiſche ſind, darin ftimmen wir mit Herbart und Zimmermann iiberetn, und erklären zugleich dak diejenigen Formen und Form- verhaltniffe uns anregen und befriedigen welde unferm eigenen Weſen entfpredjen, durd) Klarheit, Ordnung, Mannidfaltigfeit und Ginheit des Unterfdiedenen unjerm Ginne angenehm und leichtfaßlich ſind und jugleid) der Vernunft das Weltgeſetz veran- ſchaulichen. Go fehen wir mit Hegel und Vifdher im Schönen die Sdee in finnenfilliger Erſcheinung, da8 Wirflide in feiner Vollendung. Denn in der Form wird uns das Wefen der Sache, die Idee des Segenftandes offenbar; und dies Weſen erhebt und begliict uns, wenn es als edler Gebhalt, als da8 Wahre und Gute unfer theoretifdes und praftijdes Intereffe befriedigt. Der Weltgufammenhang, der Weltzwee werden uns hier im Einzelnen anſchaulich; dak das Sittliche und Verniinftige wirflid, das Wirk- fiche fittlid) und verniinftig werden foll, das ift die große Aufgabe der Welt; im Schinen wird fie fiir die Anfdauung gelsft; wir erfrenen uns in ifm der Lebensvollendung.

II. Das Schöne in Natur und Geiſt; der Kunſtſtoff.

Das Gefiihl des Schinen fest eine ihm entfpredende Gegen- jtindlichfeit voraus, cin Reid) der Natur und des Geiftes, das in feiner Mannidfaltigfeit von der Einheit des gittlidjen Seins durddrungen und nad) Gefesen geordnet ift, fodag in Beit und Raum die Entfaltung ewiger Wefenheit uns entgegentritt und wit uns in die Harmonie der Welt mit eingeftimmt empfinden. Die Natur ijt dem Menſchen cine reide und wunverfieglide Quelle äſthetiſchen Genuffes, und diejer hebt gewöhnlich in iby an; Tau— jende, denen die Werfe der Kunſt dunfel und ftumm find, erfrenen fid) eines Sonnenauf- und Untergangs im Gebirge oder am Ge— ftade ded Meeres, Tauſenden nimmt der Platonijde Hippias das Wort vom Munde weg, wenn er auf die Frage des Sofrates, ob er wiffe was ſchön fei, ohne weiteres antwortet: „Ja, cin ſchönes Mädchen.“ Und wie wunderbar ift cin Menſchenauge! Bon Holden Wellenlinien umgrenzt, ein dunkler und dod) ftrah- fender Mittelpunkt im helleren milderen Farbenfreis, ſanft ge- wilbt, in Klarheit ſchimmernd wie cin Spiegel des Himmels und der Erde, concentrivt es zugleich das ganze Gemiith in feinem Blicf, und Muth, Liebe, Begeifterung, fittlidjer Adel, Gottesfrieden leuchten aus ifm Hervor; wenn es je ridjtig gejagt war daß im Schönen das Bdeale und Reale in Cin’ gebildet find, dak in ifm das Sinnliche ganz vom Geifte durchdrungen, das Geiftige ganz im Sinnlichen offenbar wird, dann ift cin foldes Auge ſchön zu nennen,

Und dennoch muß der modernen Wiſſenſchaft die volle Aner— kennung und die rechte Stellung des Naturſchönen erſt abgerungen werden. Nachdem Hegel die Natur nicht als das Werk des ſelbſt—

Carriere, Aeſthetik. J. 3, Aufl. 19

290 II. Das Schöne in Natur und Geift.

bewuften Meifters, nidjt als die Offenbarung des ewigen Geiftes und feiner bildenden Gedanfen, fondern als eine Entiugerung und einen Abfall der Cogifden Idee von ify ſelbſt bezeichnet hatte, frei- lid) ohne das Wie und die Mii glichfeit davon irgendwie zu erklären, fo that er folgeridtig den Ausjprud): „In der Natur hat das Spiel der Formen nidt nur feine ungebundene giigellofe Zufällig— Feit, fondern jede Geftalt entbehrt des Begriffs ihrer felbft; die Natur ift der unanfgelbfte Widerfprud, und das Leben in ihr der Unvernunft der Aeußerlichkeit hingegeben. Wenn die geiftige Rufilligkeit, die Willfiir bis gum Böſen fortgeht, fo ift dies felbjt nod) ein unendlid) Höheres alS das gejebmifige Wandeln der Geftirne oder die Unjduld der Pflanze; denn was fid) fo verirrt ijt nod) Geijt.“ Go macht denn and Hegel in feiner Aeſthetik iiber die Natur nur wenige Bemerfungen, die eigentlid) blos dazu dienen follen die Mängel der unmittelbaren Wirklidfeit aufzuweiſen und die Nothwendigfeit der Kunſt darzuthun, weldje erft die äußere Erſcheinung dem Begriff gemäß machen foll, ſodaß ftatt der Dürf— tigfcit der Natur und der Proja ein der Wahrheit wiirdiges Da- fein gewonnen werde. In der That ift die Natur gefesbeherrjddt, vernunftdurdwaltet, und adfthetifd ijt der AUnblid von Stern und Blume befriedigender als der von Irrthum und Sünde.

Hier ijt einer der Punfte welche den Beweis liefern daz mit Hegel's Lehre principtell gebrodjen werden mug, wenn wir eine Aeftheti—f begriinden wollen welche den Thatjaden der Natur und den Gefiihlen unferer Seele gerecht wird. Einzelne Mtodificationen, wie fie Rojenfrang innerhalb des Syſtems geiftvoll und alles zum Bejten auslegend anbringt, erjdeinen mir dazu dod) ungeniigend. Wenn BVifdher die Lehren der Schule vergißt und mit feinem ſchar— fen und Flaren Blick in das Leben ſchaut, wenn cr unbefangen die Naturdinge auf jein Gemiith wirfen (aft, fo weif er ihnen im Ginjgelnen ihre Geheimniffe abjulaufden, jo ift er von dem Baum in feiner Bliite, von dem fret dahinfprengenden Rok mit wallender Mähne, vom Bau des menſchlichen Körpers entziict wie ein bildender Riinftler, und er verfteht es darjulegen was hier jo befeligend uns anſpricht. Wenn er aber dann weiter philo- jophivt, jo erhebt er nicht dieſe Anſchauungen gum Begriff, fon- dern er fpinnt die Vorausfegungen der Schule weiter, und bleibt im Netze ihrer Abftractionen befangen. Go finden wir fortwiihrend aud) bet ihm jenes halt- und troſtloſe Umſchlagen der Begriffe, die ohne von einem perſönlichen Geijt, von einem denfenden Subject

Das Naturſchöne. 291

getragen ju fein gu für fich ſelbſt bejtehenden, fic) ſelbſt bewegen- den, ineinander iibergehenden Wejen gemacht werden. Go leſen wir auc) bei Viſcher: daß das Naturjdone eine unmittelbare ein- feitige mangelhafte Exiſtenz des Schönen jet, deffen wahre und ganze Wirklidjfeit erſt in der Kunſt entjtehe; wir leſen von einer innern Haltlofigfeit des Naturſchönen, das daher in eine ver- mittelte gefidjerte Form aufgeldft werden müſſe. „Das Natur- ſchöne darf man nur näher anjehen, um fic) gu iiberjengen daß es nidjt wahrhaft ſchön ijt’, jagt Vijder; ihm ijt es nur dazu da der Phantafie einen Anſtoß gu geben, damit dieje die wahre Schönheit ſchaffe, die rohe Form zur reinen mace; es ift nad Viſcher nur eine Täuſchung dag wir meinen ein Naturgegenjtand jet fo fdin als das Bild was wir davon im Spiegel unjerer Subjectivitiit entwerfen. Seder Gegenftand extftirt fiir uns im Spiegel unferer Gubjectivitit, aber der Cindrud den mir bei mehrmaligem Beſuch der gegenwirtige Golf von Neapel madte, war immer viel energifdjer und da8 Gefühl gur Freude der Schön— Heit erregender als die Vorjtellung des abwefenden in der Erin— nerung. Es ift conjequent wenn Viſcher nenerdings das Natur: ſchöne aus der Aefthetif verbannt; aber ich glaube daß fein Princip darum nicht ausreicht um die Welt zu erklären.

Gerade umgefehrt behauptete Weife daß die Naturſchönheit im dialeftifd)-jpeculativen Ginn höher jtehe als die Kunſtſchönheit; ey findet die Naturſchönheit ftets nen und den Genuß ihrer An- jdauung eontinuirlich, während das Kunſtwerk wegen jeiner be- ſtimmt begrenzten Sndividualitit den Befdauer in furjzer Zeit erfittige. Die Naturſchönheit nannte er Vorbild, Muſter und Endziel dev Kunft. Damit wire die Kunſt fehr itberfliijfig; damit ijt verfannt daß die Natur fiir den Kiinjtler eine Vorausjesung jeines Wirkens bildet, daß er aber in ihren Formen jeine Ideen zu geftalten und das in ihrer Fülle Zerftreute und Auseinander- gelegte zur Ginheit de8 Ideals zu ſammeln und ſomit in der Cine jelgeftalt das Sdeal gu verwirflidjen ftrebt.

Mit frijdem Ginne ſahen die alten Völker das Göttliche in der Natur. Weil das Meer, die Sonne, weil Flug und Baum die Grieden äſthetiſch anſprachen und das Schöne ftets Cinheit von Geift und Natur ijt, jo perfonijicirten fie jene Gegenjtinde zu eigenthiimliden göttlichen Mächten, und befeelten die Dinge durch welche die Seele fic) auf cine wahlverwandte Weije angejproden fühlt. Im Genuß dev Naturſchönheit wird unjere Naturbetradtung

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292 IL. Das Schöne in Natur und Geift.

Gottesdienft; wir perfonificiren nicht mehr die befondere Erſchei— nung, aber wir wiffen daR fie mir ſchön ift, weil fie uns cinen Gedanken enthiillt und darjtellt, und je weniger fie diejes Ge- danfens, dieſes Geſetzes ihres Lebens felber bewußt ift, defto deutlicher lehrt fie uns daß derjelbe durd) einen denfenden Schipfer- geiſt urſprünglich in fie hineingelegt ijt. Die Dinge find fin, weil fie im gottliden Wort und Selbſtbewußtſein griinden, weil dieS ihe Licht und Yeben ift und aus ihnen Hervorftrah{t. Im Gefühl des Schönen ergreifen wir auf unmittelbare Weiſe den tiefen Sinn und das Geſetz der Natur; ihre Formen verfiinden ed unferm Auge nod) ehe der Verftand es findet und auf eine Formel bringt. Der Sternenhimmel, ſtill und bewegt in feiner Majeſtät, erweckt durch feinen äſthetiſchen Cindruc die Idee einer vernunftvollen Nothwendigfeit, einer Harmonie der Sphiiren, deren mathematifden Ausdruck erft Kepler und Newton finden, ja wir wiffen dak dex erjtgenannte diefer Forfdjer gerade davon ausging und ganz eigentlid) danach trachtete fiir die im äſthetiſchen Gefühl erfaßte Harmonie der Welt den wiffenfdaftliden Beweis auf aftronomijdem Gebiete zu entdecden und ju führen. Es war die aifthetifdje Sdee des Kosmos, des planvoll geordneten und ſchmuck— voll geftalteten Weltganzen im Sneinanderwirfen aller befondern Kräfte zur Cinheit des Lebens, welde vor Alexander von Hum- boldt's Seele ftand als er fein Naturgemilde entwarf um die Ergebniſſe der Erfahrung, der wiffenfdaftliden Verjuce und der Berechnung ju einem in fid) zuſammenhängenden Ganzen zu ver- binden. In verwandtem Sinne fagt Schelling in ſeiner Rede über das Verhältniß der bildenden Künſte zur Natur: „Kann dod alle Cin: Heit nur geiftiger Art und WAbfunft- fein, und wohin tradtet alle Erforjdung der Natur, wenn nidjt dahin felbft Wiſſenſchaft in iby zu finden? Denn das wortn fein Verftand wire, finnte aud nist Vorwurf des Verftandes fein, das Erfenntniflofe ſelbſt nicht erfanunt werden. Die rohe Materie tracdhtet gleichſam blind nad regelmäßiger Geftalt und nimmt unwiffend rein ftereometrijde Formen an, die dod) wol dem Reide der Begriffe angehiren und etwas Geiftiges find im Materiellen. Den Geftirnen ijt die erhabenfte Zahl und Meßkunſt (ebendig cingeboren, die fie ohne einen Begriff derjelben in ihren Bewegungen ausüben. Deutlicher, obwol ihnen ſelbſt unfaplich, erſcheint die lebendige Erkenntniß in den Thieren, welche wir darum, wandeln fie gleid) befinnungslos

Das Raturfdjine. 293

dahin, unzählige Wirkungen vollbringen fehen die viel herrlicher find als fie felbft: den Vogel der von Muſik berauſcht in feelen- vollen Tönen fich ſelbſt iibertrifft, das Eleine funftbegabte Geſchöpf das ohne Uebung und Unterricht leichte Werke der Ardhiteftur vollbringt, alfe aber geleitet von einem übermächtigen Geift, der fdjon in einzelnen Bligen von Erkenntniß leuchtet, aber doch nir— gends als die volle Sonne wie im Menſchen hervorbrict.” Ebenſo Thierſch in feiner Aeſthetik: „Die Schönheit als die Offenbarung des ſubſtantiellen Seins, der Weſenheit, waltet überall auf und nieder in der Schöpfung. Sie enthüllt ihr Siegel in dem einfachſten Gewächſe wie in dem üppigſten Kelche der Blumen; im ſchimmernden Käfer, dem Sohne des Staubes, wie in der erhabenen Geſtalt des Menſchen; ſie iſt ebenſo dem in ruhiger Entfaltung aufſproſſenden Geſträuche auf jedem Schritte ſeiner Geſtaltung jo lebendig, wenn auch in einfacher Weiſe, eingedrückt, wie dem lebenathmenden Gebilde des menſchlichen Gewächſes. Sie iſt die ſichtbar gewordene Seele, die Verklärung, in welcher ſich Gott über die Welt ausbreitet, und auf die ſie ſich ergießt, wie Pſalm 133 ſagt: «Der köſtliche Balſam der vom Haupt Aaron's herabfleußt in ſeinen ganzen Bart, der herabfleußt in ſein Kleid, wie der Thau der vom Hermon herabfällt auf die Berge Sions.»“ Dak in der Natur die Tendenz zur Schinheit liegt dies be- weift cinmal die Einrichtung unſeres Ohres und Auges, die fiir die individnuelle Gonderung und eigenthümliche Empfindung der mannidfadjen Tone und Farben wie fiir die Beziehung der ver- wandten oder contraftirenden weit feiner organifirt find als es die irdiſche Bediirftigfeit verlangte; aber das Wohlgefühl der Harmonie im Zuſammenklang der Tine lenft iiberhaupt unfere Aufmerkſamkeit auf die wohlgefälligen Formenverhiltniffe, und wie das Schone fid) uns juerft und am fiderften in der Tonempfin— dung offenbart, fo erwaden Gefang und Muſik mit dev friiheften Bildung der Menfdhheit, und die Freunde am Sonnenauf- und Untergang und an der Morgenröthe bietet der aufdämmernden religiöſen Idee die anſchaulichſten Symbole fiir die mythologiſche Entwickelung dar. Ebenſo geht die Natur außer uns über das blos Zweckmäßige hinaus. Daß um den chlindriſchen Leib des Schmetterlings die Flügel dünn, zart, umfangreich anſetzen, daß ſie ſymmetriſch geſtaltet ſind iſt um des Fliegens und des Gleich— gewichtes willen nöthig; aber ſchon der gefällige Umriß ijt ein Ueberſchuß, und wenn nun ein dunklerer Farbenrand die hellere

294 II. Das Schöne in Natur und Geift.

Dede umſäumt, wenn nun auf der Decke felber bunte, regelmiafige, fymmetrifd anf beiden Flügeln einander entſprechende Zeichnungen hervortreten, fo erjdeint die Schinheit als das Leitende Princip der Bildung. Da muß aus dem Blut an gan; beftimmten Stellen des rechten wie des Linfen Flügels Hier der gelbe, dort der blaue oder rothe Farbſtoff fic) abjondern, da miiffen die feinen Schuppen ihn emportragen und fic) fo ordnen daß fie die beftimmte Zeich- nung Herftellen, die nicht zufällig ift, fonder gerade das Renn- zeichen einer beftimmten Art ausmacht. Aehnliches gilt wenn auf dem Fell de8 Tigers, de8 Zebras die Haare fic) zu verfdhicdenen Streifen zufammenfinden. Da figen wiederum die Wimpern der Pfauenfeder an dem gemeinjamen Riel, und aus der Nahrung, die fie anus demſelben ziehen, fagern fie die Farbftoffe ab, und zwar in Entfernungen die bet jeder Wimper andere find, damit alle gufammen nun die Figur des glänzenden Pfauenauges bilden. Und fo fagt ©. von Hartmann in Bezug anf die Pflanzen: „Man fann an der Veredlung der Bliiten fehen wie in dem geheimnif- vollen Leben und Weben der Pflanzen felbft der Trieb zur Schön— heit liegt, der im wilden Zujtande nur zu fehr im Kampfe ums Daſein erdrückt und erftidt wird, Go wie man Pflanzen von diejem Rampfe einigermafen befreit, fo bridjt das Schinheits- bejtreben durd), und aus den unjdjeinbarjten Bliiten wilder Gee wächſe werden unter unjern Augen die pradtvollften Blumen. Nie Hat Darwin den Erfldrungsverjud gemacht wie der Pflanze jene Spielarten oder Abweidungen vom Normaltypus möglich find, weldje diefen an Schönheit iibertreffen, und welche der Menſch nur vor ihrem Wiederuntergang im Kampfe ums Dafein zu ſchützen braudjt, um fie fic) gu erhalten.“ Der Kampf ums Dafein reidjt überhaupt nicht aus um aus dem MNiedern das Höhere hervorgehen zu laffen, dazu gehirt die ethifde Idee der Vervollfommnung, dazu gehirt das im Geift erjehene Biel, der in der Phantafie des Weltgeiftes entworfene Plan; diefen Zweck zu realifiren ift der Kampf ums Dajein das Mittel, und dag dadurd) in der Natur alles natiirlich zugeht, ift der grofe Gewinn den wir aus Darwin's Lehre ziehen. Denn das Natiirlide unter- jdjeidet fic) von dem Künſtlichen oder Gemadjten dadurd) daß es nidt von einer äußern Rraft oder Hand verfertigt wird, ſondern daß es fic) von innen heraus felber entwicéelt und geftaltet. Es ijt nidjt durch cinen Machtſpruch aus Nidjts gefdaffen, ſondern e8 blüht durch Unterſcheidung und Cntfaltung aus dem Lebens-

Das Raturfdhine. 295

grunde der göttlichen Wefenheit, der ewigen Natur hervor, und wird von dem erziehenden leitenden göttlichen Geifte von einer Stufe zur andern gerade dadurd) emporgefiihrt dak der Kampf wns Daſein die fdlummernden Kräfte wedt, zur Ausbildung der Anlagen treibt, zur ſelbſtändigen Erfüllung immer höherer Bil- dungsgeſetze anregt. Dieſe Geſetze und Zwecke find aber nicht das Werf blinder Atome, fondern des fehenden Geiftes. Dak aber aud) die Schönheit in der Idee der Vollfommenheit oder Vervoll- fommmnung cinbegriffen ift foll uns der Aufgang in der Natur bis jum Menſchen beweijen.

Wir haben in der Natur eine unerſchöpfliche Fiille, eine raft- loſe Bewegung innerhalb fefter Ordnung und mit gejeslider Be- ftimmtheit; daher ihre zugleich anregende und berubigende Wir- fung. Im Naturfdinen gilt der Gegenftand allerdings nicht nach jeinen jonjttgen Zwecken, fondern wie er durch feine Form in unjerer Unjdjauung lebt, alſo eigentlich nidt das Reale, fondern jein Bild, und indem wir eine Landſchaft, ein Geſicht um dieſes äſthetiſchen Genuffes willen anſchauen, fehen wir fofort von alfem anbdern ab, balten uné an das was diejem Genuffe dient, ver- fttirfen es in uns durch dieſe unſere Aufmerffamfeit und gehen iiber das Gleichgiiltige oder Stirende hinweg; fo entfteht fofort in und ein unwillkürliches Sdealifiven, und wir haben den neuen Beweis dag wir uns iiberall das Schöne felbjt erzeugen helfen.

Das Wefen der Natur entfpridt an fid) der Schinheit, denn fie ift Erſcheinung für den Geift, weldem fie in finnenfalligen Formen idealen Gehalt darftellt und geiftige Geſetze veranſchaulicht, und gerade dag erfreut uns fo innig, wenn in dem Aeußerlichen und Materiellen ein verwandtes Seelenvolles dem Gemiith ents gegenfommt. Dod) ift iiberall zunächſt das eigene Leben des Lebens Awe, jedes Weſen ift um feiner felbjt willen da und nicht deSwegen gejdaffen dak feine Geftalt uns ergötze; es ift cine Gunſt des Schidjals wenn in der Totalitit des Univerfums das Wechſelverhältniß der Dinge, die Art und Weiſe wie fie fiir ein- ander find, ung fiir unſern Gtandpunft gerade fic) fo darftellt da wir auf der fic) uns bietenden Oberfläche dod) das innere Wejen wahrnehmen, und erfennen wie die Formen der Dinge nidt blod den Zwecken des Alls entipredjen, fondern aud den Bedin- gungen und Forderungen unferer Perſönlichkeit gemäß find. Ba wir mögen ganz beſonders die Giite und Herrlichkeit des Urgrun- des der Welt darin preijen, wenn Stoffe die fiir das Leben des

296 Il. Das’ Schöne in Natur und Geift.

Organismus, namentlid) der Pflanze, gleichgiiltig erſcheinen oder von ihm ausgefdieden werden, als ätheriſche Oele oder Pigmente durch Wohlgerud) oder Farbenglanz uns erquicen. Immer aber bleibt der Sag beftehen: das Naturweſen iſt fich felbft Zweck; es beabjichtigt nidt uns einen äſthetiſchen Genuß gu bereiten, es ift ein Glück für uns wenn wir ifn finden; und wie viele Blumen verbliihen one gefehen zu werden! Das Kunjtwerf aber wird um der Schönheit willen hervorgebradt, die Gubjectivitiit des Seiftes prägt fic) in ihm aus, fein Zweck ift dic Erregung diejes geiftigen Wohlgefühls in unferer Seele, in ihm liegt die Wbficht ausgedriidt und erfiillt fid) auch, dah auf dieſem Punkte wenig- ftenS die Harmonie der Welt, des Geiſtes und der Materie, der Sdee und Erjdeinung fiir uns offenbar und in uns empfun- den werde.

Wenn and erft bet der Betradjtung der Kunſt uns deren Ver— hältniß zur Natur klar werden kann, jo viel diirfen wir zum Ver- ſtändniß des Naturſchönen vorausnehinen daß wir fagen: die Natur entfaltet in ciner unerſchöpflichen Mannichfaltigkeit ihre Reize, während die Kunſt die Wufgabe Hat das Urbild zu vergegenwär— tigen, als deffen cinander ergänzende WAbbilder die Naturdinge erfdeinen. Was in der Natur am Einen mangelhaft fein mochte, das erfrijdt uns am Andern mit doppeltem Glanz, und wenn aud im Gingelnen der Höhenpunkt des Lebens, den die Kunft dem Zeitſtrom entreifen, fefthalten und verewigen fann, ſtets nur cin voriibergehender Moment ijt, fo treten ftets neue und neue Wefen in das Bliitenalter cin. Wenn-in jener feiner Unverdnderlidfeit und Unſterblichkeit dev eigenthiimlide Werth des Kunſtwerks bez rut, fo hat das Leben feinen Vorzug darin dak es (ebt, wir jehen im der Natur die werdende Schinheit, die Form ijt cine wandelbare, aber fie fann im Wechſel und in der Verinderung jelbjt ihren Fypus bewahren und mannidjfade Reize entfalten. Den beftindigen Weehfel der Stoffe und Atome, welder dem Maturleben gu Grunde liegt, fann die Kunſt gar nidt nachahmen, und es ift die eigenthümliche Schinheit der Natur in ihm und mittels feiner fic) felbft gu ergengen und fo im ununterbrodencn Fluſſe des Lebens ſelbſt eine flieBend lebendige zu fein, nidt blos einzelne Höhenpunkte zu verherrlidjen, fondern den Proceß des Yebens als einen organiſch zuſammenhängenden, vom Geiſt gelei- teten und darum in feinen ftets fic) verjiingenden Formen als ſchön erfdeinen gu laſſen. In wie vielfaltiges Licht ftellt der

Das Naturſchöne. 297

Wechſel der Tages- und Bahreszeiten eine Gegend! Wenn der Landſchaftsmaler nun diejenige feſthält welde den Naturformen fiir einen beftimmten Standpuntt die vortheilhaftefte ift und eine Ge— müthsſtimmung in ihnen am vollften und reinften ausdrückt, jo ijt dieſe freilic) in der Natur eine verſchwindende, aber fie fann ja wiederfehren, und der Stufengang des Lidjtes bis zu diefer Hohe, der Reicdhthum feiner Tine und gerade das Werden und der Wechſel felbft hat feinen ganz bejondern Rauber.

So machen denn die Schönheit der Natur und die dev Kunſt ecinander keineswegs iiberfliijfig und entbehrlid), fie fordern viel- mehr und fördern cinander: der Augenblic der Vollendung ver- langt die Verewigung, die Luft an der Pracht der Naturerſcheinung wedt den Trieb künſtleriſcher Darftellung und bringt ihm die ge- cignete Form entgegen, die Creigniffe der Wirklichkeit bieten und bilden den Stoff der Poefic.

Yiegt Schönheit tm Wefen der Natur, dann wird fie der Mafrofosmos ausftrahlen in feiner harmonifden Totalität, wie wir fie ahnen und das göttliche Auge fie fieht. Das ijt jencs den Goethe’ iden Fauſt entziidende Bild:

Wie Alles fid) zum Ganzen webt,

Gins in dem Andern wirkt und lebt! Wie Himmelskräfte auf- und niederfteigen Und fic) die gold’nen Eimer reichen,

Mit fegenduftenden Schwinger

Vom Himmel zu der Erde dringen, Harmoniſch all das All durchklingen!

Was das Al fiir Gott ijt das offenbart uns die Kunſt im Einzelbilde. Aber aud) in dem unfern Sinnen zugdngliden Theile der Welt erfreut uns da8 organijdhe Zujammenwirfen der Nature frdfte im Ganzen wie in einzelnen befeelten Seftalten, wenn uns cin giinftiges Geſchick den Standpunft einheitlider Zujammenfaffung oder den glücklichen Anblic voller Lebensbliite gewahrt, und im Wechſel des Stoffes dic ftetS neuwerdende Form als cine ſinnlich wohlgefällige und geiftoffenbarende erjdeinen läßt. Weil bas Ganze cit Organismus ijt, fo jpiegelt es fich in allem Befondern, und darum fann and) cin einzelner Abſchnitt oder eine individuelfe Wefenheit die Sdee de8 Ganzen in uns erweden und dadurch mit fis) verfniipfen. Gin Gleides gilt von der Geſchichte und von dem geiftigen Menſchen. Beide haben dabet ihre Naturbafis, auf

998 II. Das Schöne in Natur und Geift. .

welder fie fich entwickeln, und die finnlicden Ausdrucksmittel ihrer idealen Wefenheit. Wenn daher auch in der Natur das Sinnen- gefallige, im Geift das Seelenerfreuende iiberwiegt und den Aus— gangspuntt bildet, dod) fann nie eins ofne das andere fein, wenn Schönheit unfern Muth laben foll.

Das Naturfdine wird endlid) vorjugsweife dem Reid) der Sichtbarkeit angehiren, weil durch das Licht und Auge nidt blos das Bejondere in feiner Vereinzelung, fondern aud) das Viele und Mannidjaltige in feinem Zuſammenhange und feiner Wechſel— ergänzung anjdjaulid) wird. Dod) tritt im Zufammenwirfen der Naturpotengen das Erquicfende fiir dic andern Ginne mit in unfere Stimmung ein, und fo find in einer ſchönen Landfdaft nidt blos Gebirg und Thal, Vegetation, Waffer, Luft und Licht fiir das Auge dba, aud unfern Hautfinn erfrijdt die Schattenfiihle des Waldes oder erwirmt der Strahl der Friihlingsfonne, auch unferm Ohr raufden die Blatter und murmeln die Wellen und fingen die Vigel, und wir athmen lebenentzündenden (ebenverjiingenden Bal- jambaud) der Luft im Freien unter griinen Baumen und der Duft von Kräutern und Blumen wird uns zum wiirjigen Wohlgerud). Die Malerei vermag dies nicht wiederzugeben, dafiir copirt fic aber nidjt blos die Formen der Landſchaft, ſondern fie geht von jener Totalftimmung der erfrijdten Seele aus und ftellt fich die Aufgabe ihr im Anſchluß an die Natur durch ein Bdealbild ſicht— baren Ausdrud ju verleifen.

Wir wollen nun die Schinheit betradten wie fie von Natur da ijt fowol in der matericllen Welt als im Reid) des Geijtes, und hierbei werden wir jugleid) das Gebiet des Stoffes fennen lernen, deffen fid) die Phantafie fiir ihre Darftellungen bemächtigt und bedient, und da die Kunft als die Verwirklichung des Schö— nen um der Schinheit willen das Ziel der Aefthetif ift, fo werden wir uns dadurd) gu ihr den Weg bahnen.

Die unorganijde Natur ift Element und Grundlage des orga- nifchen Lebens. Aud) ihre alfgemeinen Potenzen find in ihrer Be- fonderheit Bedingungen der Sdinheit und haben Theil an thr.

Man betradtet den Aether als den Mutterfdos aller Dinge. Er gibt uns im Lidjte die Manifeftation feiner Bewegung, und damit in der Lidjtfrende die Luft des aufgehenden Lebens im Ge— genfag gu den Schrecken der Finfternif. Das Dunkel als die Regungslofigkeit des Aethers fymbolifirt uns den Tod, fein Grauen ſcheint wie es hereinbricht alles Beſondere gu verſchlingen und in

Das Lidt. 299

die gleidje Nacht des Nichtſeins gu begraben. Dod) verklärt fic das Entſetzen in den Schaner der Erhabenheit, wenn aus der Stille und der Finſterniß der Nacht nidt blos cingelne Klänge oder Sterne das in der Unendlichkeit hervorquellende Leben ver- finden, fondern zugleich und cin finnlic) Erfreuendes in ihrer Erjdheinung bieten. Go find dic Sterne in ihrem Aufleuchten und Sunfeln liebliche Bliiten des Himmels, Grüße aus der Une endlichkeit des ftets frijdjaufbredjenden Lebens, und wie fie ju Bildern ſich ordnen und in ruhiger Bewegung ihre gefeslicde Bahu befdreiben, fieht der Geiſt in ihnen das Walten ciner holden Nothwendigkeit, und in ihrer Unzählbarkeit tritt und die Schönheit des Univerfums al8 eine iiberwiltigende und dod) fo freundlich blinfende Größe entgegen, dag wir Hier vornehmlid den Gindrud der Erhabenheit gewinnen.

Heil, heilig Licht! des Himmels Exrftgeburt, Ja du des Ewigen gleidjewiger Strahl, Weil Gott ein Lidht tft und im Lichte wohnt, Dem reinen Ausfluß feiner Wejenheit!

Mit diefem Grug an da8 Licht ſpricht der erblindete Milton wieder die urfpriinglide Anſchauung der Arier aus, in deren Geiſte das Licht die Gottesidee erwedte und mit ihr verſchmolz, weil e8 allumfaffend und allerleudtend in ſeiner wohlthitigen Wiirme das Symbol oder die ſichtbare Erjdeinung des allerhal— tenden guten Geiftes iſt. Des Lichtes Traiger ijt die Sonne, die wie cin Held ſiegreich die Finſterniß überwindet; wenn fie anf- geht, ſagen wir mit David: jo tritt ett Bräutigam ans jeiner Rammer, und wenn fie dad Abendroth um fic) entziindet und in jeiner Glut verſinkt, dann fagen wir mit Sdiller’s Karl Moor: jo ftirbt ein Held, anbetungswürdig.

Das Licht gewährt uns aber nicht blos an fic) ald die er- {heinende Bewegung den Cindrud der Lebensluft, und als un- mittelbares Symbol geiftiger Klarheit cinen afthetifden Genus, es modellirt aud) die irdiſchen Körper für da8 Auge und läßt fie jichtbar werden, und fo ift es fiir unjer Weltbewugtjein von ent- jdheidendjter Bedeutung. Be naddem die Dinge dem Duell des Lichtes gue oder abgewandt ftehen, erfcheinen fie hell oder be- ſchattet; find fie undurchſichtig, fo werfen fie Schatten, injofern fie dem Raume hinter ihnen das volle und directe Licht entziehen. Das dem Lichtquell Nahe glänzt ſtärker als das ihm Ferne; die

300 Il. Das’ Schöne in Natur und Geift.

ſcharfen Gefen, die ſchrägen Flächen, die fanfte Rundung haben ihren bejondern Lichtsausdruck, und wenn wir fie einmal betajtet und dieſes Gefiihl mit dem Gefidtseindrucd zuſammengebracht haben, fo geftaltet fic) fiir und die ſchattenreiche Lichtfläche zum Bilde der ganzen und allfeitigen Korperlichfeit, und indem die ferneren Gegenſtände fleiner und minder flar erfdeinen, wird fiir uns das perfpectivifde Bild zum Maß der Cntfernungen, und die durd) das Licht vermittelte kleine Spiegelung der Welt in unferem Auge jesen wir außer uns hinaus als cin weites und tiefes Reich der Dinge, die alle vom Licht umfloffen find, aud) aus dev Ferne mittels des Lichts uns ihre Formen zuſenden und im Wechſelſpiel von Schatten und Reflexen dic Gemeinjamfeit und den gegenjeiti- gen Einfluß alfes Lebendigen befunden,

welder Lebendige, Sinnbegabte liebt nicht vor allen Wunder— erjdeinungen des verbreiteten Raumes um ifn das alferfreulide Licht mit feinen Farben, ſeinen Strahlen und Wogen, feiner milden Allgegenwart, als wedender Tag? Wie des Lebens innerjte Seele athmet es der raftlojen Seftirne Ricfenwelt und ſchwimmt tanzend in feiner blanen Flut; athmet es dev funtelnde ewig ruhende Stein, die finnige faugende Pflanjze, und das wilde brennende vielgeftal- tete Thier, vor allen aber der herrliche Fremdling mit den fina- vollen Augen, dem ſchwebenden Gange und den jartgefdploffenen tonreiden Yippen. Wie ein König der irdijden Natur ruft es jede Kraft zu zahllofen Verwandlungen, knüpft und löſt unendlice Biindniffe, hängt fein himmliſches Bild jedem irdiſchen Wejen um. Seine Gegenwart allein offenbart die Wunderherrlichkeit der Reiche der Welt.“ So Novalis in feinen Hymnen an die Nad. Hölderlin's Hymnus an den Aether ift ein gleichherrlider Aus— druck ähnlichen Inhalts.

Der dem Licht durchdringliche Körper erſcheint damit auch für unſere Sehkraft bis ins Innerſte offen gelegt, und ſtellt uns damit dar wie die Materie überhaupt dem Geiſte durchdringlich iſt; der Körper welcher undurchſichtig ſich dem Lichte verſchließt, es zurück— weiſt, macht darum den Eindruck des Spröden, deſſen Individug— lität ſich in die eigene Selbſtkraft zurückzieht; der ſtarre Fels, der den beweglichen Wogen trotzt, iſt ihrer Durchſichtigkeit gegenüber undurchſichtig, und dies erhöht den Eindruck ſeiner unerſchütter— lichen Stärke. Der Glanz erſcheint wie ein Leuchten der Körper, und die Spiegelung auf der glatten Oberfläche wie eine Aufnahme der fremden Bilder in das eigene Sein.

Die Farben. 301

Se nad) der Bejfchaffenheit der Körper wird das Lidt von ihnen ganz oder gum Theil eingejogen oder zurückgeworfen. Gind alle Strahlen verjdlungen, fo ijt der Eindruck des Finftern und Schwarzen da, der jomit naturgemäß die Vernidtung der Lebens- bewegung oder den Tod fymbolifirt, und dem Gemiithe jufagt das fic) in dem Schmerz dev Trauer oder in der Sammlung des Ernſtes aus der Zerftrenung und bunten Fiille ber Welt in fid zurückzieht. Wird dagegen das ganze Lidjt ungetriibt und unge- brodjen zurückgeſtrahlt, ſo madt es auf uns den Gindrud der Reinheit und RKlarheit, und Wei wird uns yur Farbe der Un- ſchuld. Leib-, Bette und Tiſchwäſche bleibt bei allem Wechſel jonjtiger Farbenmode dod) wei: eS ijt der Eindruck der Reinheit und Reinlicfeit, der fid) anf den ganzen Menfden, auf die ganze Wirthfdhaft überträgt. Grau ijt die Miſchung von ſchwarz und weif; es ijt unentidieden, phlegmatiſch; der weige Anſtrich der Kirchen in der Aufklärungszeit war mit feinem Stic) ing Grane der treffende Ausdruck niidjterner falter Verjtandestlarheit. Schwarz hat den ſchwächſten, Weiß dem ſtärkſten Lichtreiz, aber der eigen: thiimliche Farbenreiz fehlt betden; er fann durch Glanz erſetzt werden, und fo gewinnen Gamt und Seide eine eigenthümliche Yebensenergie, und fommt der Contraft des Silbers und Goldes hinzu, fo fteigert fic) gerade hier der Eindruck zur höchſten Pracht.

Schwarz und weik, Abwefenheit oder Fiille des ganzen Lichts, find cigentlid) feine Farben. Dieſe entftehen wenn das Licht ge- brodjen und jerlegt wird, wenn ein Gegenftand es jum Theil in ſich aufnimmt, jum Theil es zurückwirft; je nachdem dann die Lidhtwellen mit größerer oder Fleinerer Wellenbreite, griferer oder fleinerer Geſchwindigkeit unſer Auge treffen, erzeugen fid) uns verſchiedene Farbeneindrücke, ähnlich wie die rajderen oder lang— jameren Yuftwellen höhere oder tiefere Tine uns empfinden laſſen. Die Goethe’ fhe Erflirung von der Farbe als ciner Triibung des Lichtes, erzeugt durch das Zufammenwirfen des Hellen und Dun— felu, war phyſikaliſch ungenügend, was er aber mit dichteriſchem Naturfinne iiber den äſthetiſchen Cindrud der Farben ausgefpro- chen, ift von feiner Theorie unabhiingig, und ftimmt mit der Wellenlehre bis auf dasjenige iiberein was er feiner Erklärungs— art 3u Yiebe mobdificirt hat. Snfofern jede Farbe ein Theil des Lichtes ijt, weldjem der andere durd) den dunfeln Körper entzogen ward, wirfen Licht und Dunkel ja allerdings zuſammen. Oerfted machte die Bemerfung: daß wir den Farbeneindruc und dann feine

302 Il. Das Shine in Natur und Geift.

ſymboliſche Bedeutung vorzugsweiſe nad) einzelnen Gegenſtänden richten, wie wir beim Roth an das Blut, an die Wärme des Herzens denken, und es dadurch zur Farbe der Liebe machen; allein wir finden gerade daß bei ſolchen Gegenſtänden die Farben— empfindung mit dem Weſen der Sache zuſammenſtimmt und uns daſſelbe erſchließt.

Für unſere Empfindung, und darauf kommt es in der Aeſthetik an, haben wir den Gegenſatz des lichtvollen Gelb und des dunkeln Blau; zwiſchen ihnen bildet ſich eine doppelte Mitte, einmal die Miſchung beider im Grün, dann aber deſſen Gegenſatz, das ſelb— ſtändige Roth, heller als Blau, dunkler als Gelb. Die neuere Phyſiologie und Phyſik ſieht in Grün eine eigene Farbe, keine Miſchung. Ich halte mit Leonardo da Vinci und neuern For— ſchern die 4 Farben feſt. Suchen wir zunächſt ihren Eindruck zu verſtehen. Farben von energiſcher Lichtfülle ſtimmen erregend; ſo gelb und gelbroth. Gelb iſt die lichtmächtigſte Farbe, es verlangt daher auch zu glänzen, wie am Golde, an der Seide; es ſtimmt warm und heiter; aber es verlangt Reinheit, und wo es nur um ein Geringes getrübt wird, erſcheint dieſe Veränderung als Schmuz und Fälſchung, und dies unreine Gelb iſt es dann was wir als Farbe der Falſchheit bezeichnen, nicht das glänzende, von dem Oerſted meint man laſſe es Falſchheit bedeuten inſofern man damit die Betrüglichkeit des Glänzenden andeuten wolle. Allein das iſt eine Reflexion, keine unmittelbare Empfindung, und niemand nennt den reinen Sonnen- oder Goldesglanz falſch oder neidiſch; das letztere gilt von dem Unreinen und Schlechten, das ſich zum hellen Gelb erheben möchte, aber um ſeiner unedeln Natur willen, von der es nicht laſſen kann, nur nach ihm hinſchielt, und die eigene Gemeinheit verrätheriſch durchſchimmern läßt. Gelb iſt ein ener— giſches Sichtbarwerden des Lichtes, aber zugleich eine Art von Materialiſirung deſſelben, in welcher das ätheriſche Weſen leicht zu Grunde geht. Goethe ſagt: Die gelbe Farbe iſt äußerſt em: pfindlich und macht eine ſehr unangenehme Wirkung, wenn ſie beſchmuzt oder herabgezogen wird. Wenn ſie unedeln und unreinen Oberflächen mitgetheilt wird, wie dem gemeinen Tuch, dem Filz und dergleichen, entſteht eine ſolche unangenehme Wirkung. Durch eine geringe und unmerkliche Bewegung wird der ſchöne Eindruck des Feuers und Goldes in die Empfindung des Kothigen ver— wandelt, und die Farbe der Ehre und Wonne zur Farbe der Schande, des Abſcheues und Misbehagens umgekehrt. Der

Die Farben. 303

rothe Strahl ift am wiirmereidften, er läßt die Wärme in der Glut aufleudten, er wird durd) die größten Lichtwellen hervor- gebradjt; fo ift Roth der Purpur der Macht wie das Symbol der jugendliden Lebensluft und der Liebe; es ift nidjt die Miſchung der Gegenſätze, fondern deren höhere, fret über ihnen ſchwebende Mitte und Verſöhnung; Anmuth und Wiirde find in ihm ver: einigt und treten hervor je nad) dem eller verdiinnten oder dunfler verdidjteten Zuftande diefer Farbe. Orange, die Mijdung von Roth und Gelb, ift die glutreide Farbe der Feuerflamme, belebend und beunruhigend wie diefe, während im Rothen die reine Harmonie befriedigt.

Das Blau hat weniger Wellenbreite und weniger Leuchtfraft alg Gelb und Roth; Oerſted ſchreibt thm deshalb etwas Kaltes und Finfteres gu; Goethe ſagt dak wie Gelb immer ein Licht, fo Blau immer etwas Dunkles mit fic) fiihre; es jet als Farbe cine Energie, allein fie ftehe auf der negativen Seite, auf der des Dunkels, und jet tu ihrer höchſten Neinheit gleidjam ein reizendes Michts; es fet etwas Widerfpredjendes von Reiz und Ruhe im Anblick. Viſcher's Erklärung ift cine Ueberfegung hiervon: ,,Das lichtarme Blau erſcheint anjiehend und falt, leicht reizend und in ein Nidts verfenfend zugleich.“ Zeiſing nennt Blau die Farbe deS Tragiſchen. Die alfgemeine Empfindungsweife betradtet es alg die der Treue. Bd) Habe vom Blauen den Gindrud dak in ihm das Dunkel ſich lichtet, die Nacht und Ferne der Unendlichfeit jum Farbenleben fic) aufthut und erſchließt; darum iſt e8 mir fein reizendes Nichts, ſondern die Bürgſchaft dag im Grunbde des Seins ein beftindiger Lebensaufgang iſt. Sehr ſchön ſtimmt hiergu die Bläue des Himmels und des Meeres; es iſt die ſich aufſchließende Unendlidfeit dic uns umfängt, die unfere Sehnjudt an fic) 3ieht, dev wir vertrauen, weil fie aus jeder Triibung fid) wieder aufffirt. Goethe und Oerſted haben dem Blau Unredt gethan, weil fie von den andern Farben ju ihm herab, ftatt von der Dunfelheit gu ihm Hinauf ftiegen. Die Wirkjamfeit des Blauen erhöht fid) durd) cine Steigerung ins Rothe, das Violett drückt gerade dies Aufftreben nad dem Purpur aus; aber die Beuuruhigung des Mangels und Vermiffens, die in allem Streben liegt, fommt uns zur Empfindung, weil der violette Strahl der Wellenbreite, Wärme und Lendhtfraft nach am tiefften ſteht. Man gibt deshalb bet der Anwendung diejer Farbe gern einen Zuſatz von Weiß. Oerſted bezeidjnet Violett finnig als Farbe der

304 Ik, Das Schöne in Natur und Geift.

Sehnjudt. Ulrici vergleidt das Blaue dem Ton der Flöte, das Rothe dem Ton der Trompete. Fechner zog die Vocale heran und ließ fie mit Farben vergleiden. Dod) war das negative Ergebniß größer als da8 pofitive. Niemand hatte bet i den Ein— dru des Schwarzen, bei a den des weifen; ec ward al8 fables Gelb, i al8 lichter Glanz, u als dunfel empfunden; o als blau oder braun, u häufig and als roth bejzeichnet, wol dunfelroth wie geronneneds Blut, roſa wird es faum jemand nennen; a madt vielen den Eindruck des Weißen, andern erfdeint es roth; griin ward oft mit e oder i bezeichnet.

Grün Heift allgemein die Farbe der Hoffnung, es ift die der erwartung8reiden Sahresjugend, ded Friihlings. Bn der Aus— gleichung der Gegenſätze von Blau und Gelb liegt das Triftende, das Berubhigende der Hoffnung, und infofern das Blau durch das Grüne junt reinen gelben Lidjte ftrebt, dies reine Licht in das Dunkle hineinſcheint, liegt darin die Aufnahme einer beffern, helle— ren Zukunft in die gegenwärtige Stimmung, und das Verlangen nad) einer foldjen aus der Umſchattung der Gegenwart. Griin eignet fid) darum vortrefflic) als Farbe der Pflanzenwelt, die das Unorganifde und Organijde vermittelt; in Hinſicht anf Lidt, Wellenbreite und Wärme fteht es zwiſchen den iibrigen Farben in der Mitte; fo ift es uns willfommen als eine alfgemeine Um— gebung, innerhalb deren die befondern Farben aufbliihen wie blaue, gelbe, rothe Blumen im Wiefengriin.

Das Braun hat Vijdjer trejfend charafterifirt: „Daſſelbe ge- hort weder zu den Hauptfarben noc) gu den prismatijden Brechun— gen; es iff gu ungleidjen Theilen aus Gelb, Blau und Roth gemijdt, das Roth ift aber iiberwiegend, und gibt dem Indiffe— renten, was ohne feine Dazwiſchenkunft aus Gelb und Blau ent- ftehen wiirde, die Bedentung von Kraft und Tiidhtigfeit, die aber in diefer Verbindung in den Gindrucd des Troduen und Haus— backnen iibergeht. Braun ijt das ergiebige, Bflanzen und Thiere tragende Erdreich, es erfdeint als Farbe der Nützlichkeit; braune Haarfarbe gibt den redjten Nadhdrud des Schattens zur Hautfarbe und ift dod) weniger finfter als ſchwarz.“

Die Farben erhalten Schattirungen, wenn eine durch Bei- miſchung einer ander den Uebergang ju diefer darftellt; jede Farbe kann gefittigter und dinner erfdeinen, nad) dem Schwarzen Hin vertieft, nad) dem Weigen hin erhellt werden, welde Verſchie—

Die Farben. 305

denheit der Intenſität der Farbenton genannt wird; eine grifere oder geringere Lebensenergie ſpricht fid) darin aus.

Das Auge ift das erzeugende Lidjtorgan, nidt blos Aether: wellen rujen Farben hervor, aud) andere Reize, cin Oru 3. B. auf da8 gejdjloffene Auge, bewirfen ifre Empfindung. Das Auge ſtrebt nad) Totalität, die Farben find differenzirtes Lidt; wo nun cine kräftig fiir fic) allein auftritt, da regt fie unfere fubjective Thitigfeit an, daß wir den Cindruc der fie ergänzenden mit- erzeugen. Sind auf ciner griinen Tapete weife Blumen, fo er- ſcheinen dicfelben uns röthlich; dem Roth fehlt Blau und Gelb, die fid) im Griinen vermifden, Roth und Grün find alfo zwei complementiire Farben; cbenjo Blau und Orange, Gelb und Violett. Zeichnen wir auf das weiffe Papier ein oranges Krenz, faffen es ſcharf ing Auge und fehen dann hinweg auf das leere Weiß, fo meinen wir das Kreuz daſelbſt blau zu erbliden, der Reiz des Orangen hat den Nerven zur Erzeugung deffelben erregt. Hicrans folgt daß das Auge feine volle Befriedigung erlangt, wenn zwei oder mehrere fic) zur Totalitit ergänzende Farben zugleich und nebeneinander gegeben find, ſodaß das Auge findet was es for- dert, und die fehlenden Tine nicht erſt gur Harmonie jubjectiv zu erzeugen brandt, weil fie alle als cin vollftimmiger Farben- accord vorhanden find. Roth und Griin, Schwarz und Weiß nebeneinandergeftel{t iiben griferen Reitz auf das Auge als dic Summe ihrer vereinjelten Wirfungen wire; fie erjdeinen im Contrajt felber weißer und ſchwärzer, energifder roth und grün; der Gegenſatz felbft erregt den Geift, und in der Wedhfelbeziehung des Unterſchiedenen werden fie in ihrer Cigenart ſchärfer erfaft, wihrend zugleich ihre Zuſammengehörigkeit innerhalb ciner Ge- meinjamfeit und höheren Ginheit mit empfunden wird. Den Regenbogen, welden die Gonne iiber der dunfeln Wolfenwand aufbaut, indem fie die Harmonie der Farben im vollen Reichthum entfaltet, fann man darum eine Trinmphpforte des fiegenden Lichtes nennen.

Neben den Contraften die fid) gur Totalitdt ergänzen ftehen Sarbenverbindungen anderer Art; fie find erfreulid), wenn der Unterfdied far hervortritt und dod) der Abſtand nicht zu grog ift um die Beziehung und Verwandtſchaft verjdwinden zu laffen. Zu nahe fliegen Weif und Gelb, Schwarz und Blau, Blau und Grau oder Violett, zu fern bleiben Violett und Weiß, Schwarz und Gelb, Gelb und Blau oder Grau; wohlgefällig erſcheint Weiß

Carriere, Acfthetif. 1. 3. Mufl. 90)

306 II. Das Schöne in Natur und Geift.

neben Blau oder Roth, Roth neben Schwarz und Grau, Griin neben Orange und Violett. Weiß Roth Grin, Schwarz Roth Gold, Blau Roth Gelb, Orange Griin Violett, Roth Blau Griin ‘wirfen alg Farbenaccorde, in weldjen bald die entſchiedene Kraft, bald die gedämpfte Milde auf ähnliche Art vorwiegt wie bei Our und Moll in der Muſik.

Roth, Orange, Gelb wirken bei gleider Siittigung, Reinheit und Beleudjtung intenfiver crregend als Blau, Violett, Grau, Griin, und der Cindrud dort ijt aufregender, Hier befinftigender; wir fiihlen uns dort mehr activ, hier mehr receptiv geftimmt; die Maler nennen jene Farben warm, diefe falt. Andere Farben werden durd) Bujak von Schwarz dunfler, fdhattiger, damit als Farbe fraftlofer, durd) Vermifdung mit Weiß nehmen fie an Helligfeit zu, aber dic Energie des Farbeneindruds nimmt gleid- falls ab. Kräftiges Roth iſt die am ftiirfften reizende Farbe; Stiere, Truthihne werden durch rothe Tücher wild gemadt; darum wird diefe Farbe am wenigften auf die Dauner in grofen Maffen vertragen; wiiren die Erde, der Himmel immer roth ftatt grin und blau, ,,da8 Auge wiirde fid) dann wie ansgebrannt finden”, jagt Fechner; es wire gereizt, überreizt, abgeftumpft, während die gelinde Grregung des Blauen und Gritnen in fic) ſelbſt ctwas Berubhigendes triigt. Wären fie allein da, fo wiirde uns flan ju Muth; aber als allgemeine Grundlage fiir mancherlei Contrafte find fie am geeignetften. Am wenigften fieht man fid) am Griinen jatt, weil es das warm erregende Gelb und das falte pajfive Blau in fid) verfdmolzen Hat und darum zugleich reigt und beruhigt.

Wir ftehen an der äußerſten Grenze der Farbenvernadlaffi- gung. Mur die Frauenfleider zeigen nod) cinige Buntheit, die der Männer ijt ſchwarz und grau geworden. Durch innern Werth will der Mann gelten, nicht durd) Sinnenjdein blenden; auch der Unbedeutende will wenigitens dieſe Scheinlofigfeit mitmaden. Die Frauen haben nod) mehr Freude an der Aeußerlichkeit, aber aud bet ihnen fommt das Ginfade und Gebrodjene immer mehr anf, ja bet Vorhiingen, Möbelüberzügen gibt man der nenen Seide den Ton der in der Sonne abgejdoffenen Farbe. Der Umſchwung des Coloriftifdhen in der Kunſt und der Anilinfarbenbereitung in der Tedhnif bringt uns Hhoffentlich wieder aud) hier zu frijder Kraft und finnenfreudigem Reichthum.

Erwägen wir jum Schluſſe: Sede Farbe ift ein Cinfades in

Die Farben. 307

ſich Beftimmtes; dak fie auf Billionen von Schwingungen beruhen, daß die größere oder geringere Zahl und Wellenbreite derjelben ihre Gigenart und ihre Unterfdjiede bedingt, fieht man dem Griin und Roth, dem Blau und Gelb nidt an. Es iſt die Seele welche die durd) die Bewegungen der Aufenwelt in dem Auge und dem Gehirn vetanlaften Zujftandsinderungen in ihre Em— pjindungen Uberjest, und zwar fo dak von Roth zu Orange und Selb, zu Griin und Blau durd) das Violett wieder zu Roth ein in ſich geſchloſſener Kreis ſich bildet; wir finnen den Weg ebenfo rückwärts von Roth ju Violett bis durch Orange ju Roth zurück— legen; in gleicher Weiſe von jeder Farbe aus. Daraus erhellt daß die chemifden Wirfungen, die man jenfeit des violetten Strahls noc) entdecft, dod) feine neue Farbenempfindung erweden finnen; alle Modificationen find in der Fiille leiſer Ueberginge im Farbenfreis vorhanden. Die Wellentiinge ijt bei Roth am größten, fie nimmt ftetiq ab bis gu Violett; ebenſo verdoppelt fic) nahezu die Schnelligfeit, die Zahl der Schwingungen anf diefem Wege von Roth gu Violett. Der in fich geſchloſſene Kreis, die Einigung des Mannidfaltigen, liegt nicht anfer uns, fondern in uns. Die Seele alfo trigt nicht blos die logiſchen und ethi- ſchen Rategorien, fondern aud) die Anlage zu den Empfindungen in fic), und ijt aud) hier die Harmonifirende Thitigfeit, ihr jelber ijt, wie Volfelt mit Recht betont, das Bedürfniß nad) Totalität eingeboren, das Goethe der Netzhaut zuſchrieb. Ich mahne mit Volkelt daran: nicht fertige feclijde Gebilde gleid) angeborenen Sdeen, foudern unbewußte Functionsanlagen find das Apriorifde in uns; fie gelangen zur Verwirklichung, wenn die entſprechenden phyfifalifden Bewegungen und phyſiologiſchen Reize an uns heran- treten; ebenjo wie wir die Kategorien an den Empfindungen und Vorftellungen bethatigen; und fo bauen wir die Sunenwelt auf, in welcher erft die Außenwelt angefdaut, gefühlt, genoffen wird, und iiber ihr die Sdealwelt, deren Boden und Trager der Natur: mechanismus iſt.

Licht und Schatten verſchweben und ſpielen ineinander im Helldunkel; ſein Reiz beruht mit darauf daß es farbige Strahlen ſind die miteinander verſchmelzen. So entſteht jener ſüße Dämmer— ſchein gothiſcher Dome nicht blos dadurch daß den Schatten, wel— chen ein Pfeiler wirft, Lichtreflexe von der andern Seite erhellen, ſondern daß das Licht durch die gemalten Fenſter in eine harmo— niſche Farbenfeala aufgelöſt iſt. Wenn wir im Wald unter grünen

90 *

308 II. Das Schöne in Natur und Geift.

Biumen ruben, fo umfiingt dod alles die Heitere Bläue des Himmels, und einzelne Sonnenſtrahlen bligen durd das Dickicht, oder werden von glingenden Blattern zurückgeſpiegelt. In diefem Durdeinanderzittern der Lidtwellen verfdweben dann aud) die Formen, deren Bilder fie uns bringen, und fo entiteht ftatt der fondernden Schärfe flarer Beftimantheit, wie der Verftand fie fordert, cine Verſchmelzung des Mannidfaltigen, welche dem Gemiith entjprict, in deffen Stimmung der gemeinjame Ginflang aller Yebensregungen und aller Gindriide der Welt uns gegen- wirtig ift. Das Hellduntel, wie es fid) zeigt wenn vom Glanze .de8 Himmels nad) Sonnenuntergang die Schatten der Nadht dod) nod) durdhleuchtet werden, befingt Byron am Anfang der Parifina:

Die Stunde naht wo durd die Flur

Das Lied der Radjtigall erflingt,

Die Stunde wo der Liebe Schwur

Sich flifer in die Seele fingt;

Gs weht der Wind, das Wafer rauſcht Mufit ins Ohr dae einfam lauſcht,

Die Blume glänzet thaubenetst,

Der Himmel funtelt fternbefest,

Und auf der Well” ein tiefer Blau,

Gin fdhimmernd Braun um Berg und Au, Und in der Luft helldunkler Sdjein

Go dimmermilde ftill und rein:

Die Stunde wo der Tag erlifdt

Und Abendroth mit Mondesglang fic) mifdt.

Das gemeinfame Licht gibt allen Localfarben cinen gemeinjamen Ton in der Friſche des Morgens, in der warmen Röthe des Abends, in dem bläulichen Schimmer des Mondes, in dem grauen Schleier des bededten Wolfenhimmels. Das Kommen und Sdei- den des Lichts im Auf- und Untergang der Sonne wird befonders reizvoll durd) die Gegenftiinde die es beftrahlt, die fic) jest aus der Dämmerung in die Beftimmtheit des Lebens gu erheben, jest nod) zum Abſchied an dem Strahlenquell fic) voll gu ſaugen ſchei— nen. Dort werden wir angeregt in die Welt cingugreifen, hier beruhigt in uns felber einzukehren. Den Sonnenaufgang hat Goethe's Fauſt in den Terzinen des erften Acts vom zweiten Theil, den Gonnenuntergang auf dem Spaziergang mit Wagner herrlid) geſchildert, den äſthetiſchen Eindruck der Natur claſſiſch ausgefpro-

Die Luft. 309

den. Ebenſo die ahnungsretche Stimmung der Mtondnadt im Lied an den Mond; wie die Formen der Dinge fo Loft fic) die Seele in feinem Glanz, und es dämmert auf

Was von Menfden nicht gewußt Oder nicht bedadt

Durch das Labyrinth der Bruft Wandelt in der Nacht.

Nod) können wir den grell jucenden Blitz und das bewegte Linienjpiel der Flamme erwähnen. Cr gibt cine augenblicdlide Beleuchtung, die wieder von der Nacht verſchlungen wird, und wirft furdtbar, wihrend da8 Wetterlendten ein milderes Hervor- brechen ift, das feine Kraft nidt zerftérend in einen Punt jammelt, jondern flammengleid) ausbreitet. Su der lodernden Fadel gewah- ren wir mit dem Lidjte gugleid) die Bewegung, fo wird fie uns zum Bilde des Lebens; fie erlijat in der Hand des Todesgenius, aber cin feierlidjes Lebehod) wird von den geſchwungenen Fackeln begleitet.

Auf die Beleudtung wirft aud) die Luft mit cin; fie ift durd)- jidjtig, aber fie nimmt felbft cine blaue Färbung an, die gwar jehr zart und dünn ift, jedoch iiberall dentlid) in die Augen fällt wo wir große Luftmaffen erblicten, zum Beifpiel bet klarem Himmel die ganze Hohe der Schicht iiber uns, die im reinen Himmelblan erjdjcint, und wenn uns ferne Berge blau vorfommen, fo ver- ſchwimmt ihre Localfarbe, namentlich die dunflere, mit dem Ton der Luft swifden uns und ifnen. Auf foldhe Weife legt ſich der Schleier der Luft über alle Localfarben nad) Mtafgabe des Ab- jtandes der Gegenftinde vom Auge, und wir nennen dies Luft- perfpective; fie erſcheinen dadurch nicht blos Eleiner und weniger hell, jondern aud) mit einem bläulichen Schimmer, der namentlic den duftigen Schatten cigen ijt.

An fic) erfreut uns die Luft als Yebenselement, und in ihrer Bewegung und als bewegende Kraft wirft fie erhaben tm Sturm, janft erregend im linden Hand; fie (aft das Meer wie das Saat- feld und die Wicfenfldde Wogen ſchlagen, Binder, Mähnen, Yoden flattern im Winde, und cin prächtiges Schauſpiel tft wenn wir von fdjroffer Hohe die griinlanbigen Wipfel der Baume unter uns vom Sturm gleid) Wellen auf- und abgebogen fehen. In diefen Bewegungen der Luft meinen wir dann bald ein Wuth- geheul, bald cin Liebesgefliifter zu vernehmen, und fie vermittelt

310 _ IL Das Schone in Natur und Geift.

das Geſpräch weldes dic Dinge miteinander zu fiihren ſcheinen, jie ift die Trigerin der Schwingungen welde im unjerm Obr als Ton und Schall empfunden werden. Das Sehweigen ijt die in fic) beſchloſſene Ruhe des Seins, das uns als Pauſe im Geräuſch der Welt wohlthut, fiir fic) dauernd aber gleid) dem Dunkel une hetmlicd) an das Nichts gemahnt. Die Bewegung der Dinge, welde den Klang erwedt, fpridjt uns an wie cine Lebensoffen- barung derfelben, und da fie auf cinem Crzittern der Gegenftdnde - beruht weldes nad) Maßgabe ihrer Maſſe verſchieden ijt, fo wird uns in der That des Stoffes Art und Bildung im Tone fund; der Helle fdjarfe Klang des Erzes bezeugt cine gedtegenere enger jujammenhingende Structur alg der dumpfere oder weidjere des Holzes oder der Daymfaite; das Murmeln des Quells, das Kra— chen des ftiirzenden Felſen, das Kniſtern des verbrennenden Holzes jind auf ähnliche Art bedeutjame Tine; Aeſchylos fpridt vom Ge— lächter des Meeres im Wogenſchwall. Die Stiirfe oder Schwäche des Tones zeigt die Mächtigkeit der Erregung im ſchallenden Kör— per, die Höhe oder Tiefe beruht auf mehr oder weniger Schwin— gungen, ſie offenbart alſo eine größere oder geringere Lebensenergie, bald den raſchen Pulsſchlag freudiger Luft, und bald den in ſich verhaltenen Ernft und die in fic) verjunfene Trauer. Der reine Ton unterſcheidet fic) dadurd) von dem Geräuſch daß die gleiche Weife der Schwingungen feftgehalten wird, und fie nidt mannid- faltig fic) ordnungslos durcheinander wirren; er beruht auf gleid- mapiger Bebung des ſchallenden Körpers, und dem Auge wird dies jidjtbar in den Klangfiguren, wenn der Gand auf einer zum Tö— nen gebradten Glasſcheibe in regelmäßigen Formen hier angehauft, dort weggetrieben wird, je nadjdem dic Theile der Platte unter ihm in Ruhe oder Bewegung find. Durch den Schall ift uns dic Yuft Vermittlerin der Muſik und der Sprache oder der Poefie, jowie im Licht die bildenden Künſte mbglic) werden. Bom rubhigen Beftehen der Dinge gibt das Licht, von ihrer Bewegung der Schall uns Kunde; wie die Formen und Farben nebeneinander beharren, jo folgen die Tine nadheinander, fie umfluten uns, fie dringen mächtig auf uns ein, fie verjesen uns in ihre Bebungen, bald heftiger, bald milder, und jo bieten fie das Material daß die Schönheit des Werdens in ihnen offenbar werde.

Die Sonnenwiirme zieht Waſſerdämpfe in dic Luft empor; fie wirfen bald durch flaren Duft verklärend, bald durch Nebeltriibung verjdleiernd und verdiifternd; fie ſammeln fid) in der Hohe ju

Das Wafer. 311

Wolfen, die bald in licteren Floden, bald in breitgezogenen Schidten, bald in anfgethiirmten Maffen den Himmel bedecten, und durd) Gejtaltung und Belendtung ein reiches Sptel ftets wedjelnden Formen- und Farbenreijes entfalten. Zerriſſen, rubig, bewegt, dunfel oder glinzend geben fie dem Gemiith einen Wider- ſchein von Seelenzuſtänden, und in ihrer fließenden Umgeftaltung diinfen fie uns wie Traumgebilde der Natur.

Die in der Luft aufgeldften Diinfte ſchlagen im Thau nieder, wenn die Morgenfrijde fie zuſammenzieht, und ſchmücken im auf- gehenden Connenglan; die Natur mit perlenden Tropfen, dte das Licht brechen und in all feinen Farben erfunkeln. Oder fie fallen aus der Hohe im Regen herab, dev bald die lechzende Natur er- quidt und dann aud) unſer Herz erfrifdt, bald tagelang in diifte- rem Gericjel die Luft durchkältet und dann aud) die Schwingen des Geiſtes belaftet. Im Gewwitter vereinen fic) Luft und Wolfe mit dent leuchtenden Bligk und dem hallenden Donner zu einer grogartigen Naturerfcheinung, die durd) evfdjiitternde und oft jer- jtdrende Gewalt zur Reinigung der Atmoſphäre, zu ciner labenden Erquidung des Lebendigen ſchreitet, und damit cine zugleich furdt- bare zugleich liebevolle, aud der Vernichtung neujdaffende Macht dem Semiith offenbart.

Das Wafer zeigt uns in feiner Flüſſigkeit cine körperliche worm fiir fid), die aber in ihrer Bejtimmbarfeit mit der feften und trodenen Körperlichkeit der andern Dinge einen Gegenſatz bildet; jo lädt es uns aus deren Schranken cin hinabjutauden in feine labende Kühle, in dic allgemeine PFliiffigheit des Lebens, und fo aus der Unruhe und dem Drang der Gegenſätze im dem cinigen flaren Grunde Ruhe gu finden und uns dem Clemente ju vermablen, wie das feuchtverflirte Blan des Himmels im Waffer fic) fpiegelt. Goethe hat dies im Fiſcher wunderſchön bejungen. Allen Völkern gilt das Waffer in dtejem Sinne als das Element der Reinigung, als ein Bad der Wiedergeburt.

Sm Spiele der jdwellenden Wellen fommt neben dem Licht und der Farbe aud) die Linie der Bewegung in Betracht, die im Wechſel cin Geſetz zeigt und in ihren Gang das Auge gu feiner naturgemiifen Mitbewegung lockt und es dadurd) erfreut. Be- rubigend in jeiner ebenen Fläche, erregend im ſenkrecht aufſchießen— den Strahl, der fic) fpielend entfaltet und in einen farbenfdim- mernden Schleier Herabfallender Perlen Hiillt, zeigt das Waffer im freien Deere wie im einzelnen Tropfen die Kreis- und Kugel:

312 IT. Das Shine in Natur und Geift.

geftalt, welche die Idee der Cinheit im Unterfdhied und Gleich— gewidt ausjtrémender und anziehender Straft finnlid) veranſchaulicht, indem der Umfang fowol dadurd) gebildet erſcheint dah der Mittel— puntt fid) gleichmäßig und allſeitig ausbreitet, wie dadurd dak eine fic) bewegende gerade Vinie ftets nad einem Centrum hin— gezogen und dadurd) in gleider Entfernung von ihm rings um daffelbe Herumgefiihrt wird. So veranjdanlidht uns die Kugel— geftalt den Begriff der Materialität, die durd) das Gleichgewicht ausdehuender Bewegungs- und zujammendringender Schwerkraft gebildet wird, und wo uns das Begriffliche unmittelbar zur finn fiden Wahrnehmung fommt, da ift immer die Grundbedingung fiir den äſthetiſchen Eindruck des Schönen gegeben. Einzelne Cur- ven der in ſich geſchloſſenen Linie entfalten die ſteigenden und fallenden Wogen. Tauſend zitternde Sterne blinken im Glanz der ſonnebeſchienenen Wellen, es iſt als ob jede von ihnen mit einem freudig errungenen Lichte dahineilte. Auch das ſtille Waſſer iſt nie ganz ruhig, und ſo wird es ein formenwiegender Spiegel ſeiner Umgebung.

Ich führe ein Wort von Helmholtz an: „Selten fehlt es dem Meeresſtrand an verſchieden langen, in verſchiedener Richtung ſich fortpflanzenden Wellenſyſtemen in unabſehbarer Zahl. Die läng— ſten pflegen vom hohen Meer gegen das Ufer zu laufen, kürzere entſtehen wo die größern brandend zerſchellen, und laufen wieder hinaus in das Meer. Vielleicht ſtürzt noch ein Raubvogel nach einem Fiſch und erregt ein Syſtem von Kreiswellen, die über die andern hin auf der wogenden Fläche ſchaukelnd ſich ſo regelmäßig erweitern wie auf dem ſtillen Spiegel eines Landſees. So ent— faltet ſich vor dem Beſchauer von dem fernen Horizonte her, wo zuerſt aus der ſtahlblauen Fläche weiße Schaumlinien auftauchend die herankommenden Wellenzüge verrathen, bis zu dem Strande unter ſeinen Füßen, wo ſie ihm Bogen auf den Sand zeichnen, ein erhabenes Bild unermeßlicher Kraft und immer wechſelnder Mannichfaltigkeit, die nicht verwirrt, ſondern den Geiſt feſſelt und erhebt, da das Auge leicht Ordnung und Geſetz darin erkennt.“

Das Waſſer hat als Quell und Bach, Fluß und See, Strom und Meer ſeine beſondern Reize, und wird zu einem Grundelement landſchaftlicher Schönheit. Das Waſſer und der blaue Himmel ſtellen dann das eine noch nicht unterſchiedene Sein der Natur neben die verſchiedenartige Mannichfaltigkeit des Feſten und der beſtimmten Geftalten; ſeine Ebene contraſtirt mit dem ſteil an-

Kryſialle. 313

ſtrebenden Gebirg, ſeine bewegliche durchſichtige Flüſſigkeit mit dem ſtarren dunkeln Felſen. Herder ſagt: „Den Morgenländern ſind die Teiche und Quellen Augen der Erde, ſprudelndes Leben, aufquillende Seele; und ſind ſie es nicht? Iſt nicht eine ſchöne Gegend ohne Waſſer was ein Antlitz ohne Auge?“ Wie die Firſterne des Himmels nach jedem anſcheinenden Verlöſchen wieder heller auffunkeln, ſo ſtellt ſich uns das Leben des Quells auf Er— den dar. Es erweitert ſich zum Bach, zum Fluſſe, die bald mit ſchäumendem Jugendmuth über Klippen ſich Bahn brechen, bald um Blumen ſanft fic) dahinſchlängeln, bis fie zum Strom wer— den, ruhiger und wohlthätiger je mehr ſie anwachſen. Goethe hat in Mahommed's Geſang died herrlich geſchildert, und darin cin Bild fiir die Ausbreitung einer großen Wahrheit gewonnen; „am farbigen Abglanz haben wir das Leben“ ſagt er angeſichts des Waſſerſturzes, über welchem der Bogen des Friedens ſich glänzend wölbt, und wie der Staubbach von ſeiner Felſenwand nieder— ſchäumt und ſich in ſchimmernde Tropfen auflöſt, bis er im Thale ſich wieder ſammelt, da vernimmt er den Geſang der Geiſter über dem Waſſer, die den Wind mit dem bewegenden Schickſal und das Waſſer mit der Seele des Menſchen vergleichen, das gleich ihr vom Himmel zur Erde kommt und wieder himmelwärts muß. Von der Erhabenheit des Meeres haben wir früher ſchon ge— ſprochen. Sie kleidet ſich in ſchimmernden Reiz des Lichtes, wenn der glühende Abendhimmel ſich in den Wogen ſpiegelt, die kühn, ſtolz und feſt wie flüſſiges Metall dahinziehen. Byron in ſeinem prachtvollen Gruß an das Meer, der den Schluß des Childe Harold bildet, hat es würdig gefeiert als den Spiegel darin der Unend— liche ſich ſelbſt beſchaut.

In ſeiner Erſtarrung wird das Waſſer zum Kryſtall des Eiſes oder Schnees, großartig in den ſchimmernden Bergen des Polar— meeres, in den feſtſtehenden Wogen der Gletſcher, in dem reinen Glanz der Firnen. Wenn der Schnee die im Winterſchlaf ruhende Erde mit weißer Decke umhüllt, iſt er ein Symbol der jungfräu— lichen Reinheit und Kraft, die ſie für den neuen Frühling gewin— nen will; jetzt in ſich ſelbſt verſenkt wirft ſie alle Strahlen des Sonnenlichtes zurück und ſchimmert dadurch in weißem Glanz.

Im Kryſtall haben wir die feſte Körperlichkeit in ihrer Ur— geſtalt; die einzelnen Theile lagern ſich in geſetzlicher Ordnung aneinander, ſodaß das große Ganze das Einzelne und Kleine wiederholt; bei ſeiner regelmäßig geradlinigen Form erfreut die

314 II. Das Sdone in Natur und Geift.

Einheit im Mannicfaltigen als Symmetric, in welcher eine Seite bie andere als deren Spiegelbild wiederholt und eine gemeinſame Achſe beide verfniipft. Iu feiner Durchſichtigkeit und ſeinem farben- bligenden Glanze ſchimmert der Cdelftein wie geronnenes Licht, wie eine Verklärung der Materie. Es war allerdings mehr did- teriſch als naturwiſſenſchaftlich, wenn Shelling jagte daß in den Metallen Klang und Licht gu geronnener Maſſe geworden fei; aber der Glanz des Goldes und Silbers erinnern an Sonne und Mond, alles Metalliſche bezeichnet uns das Gediegene, Feſte, Schneidige, ſtetig Zuſammenhängende, und wir ſprechen vom Stahl des Charakters wie vom roſtloſen Gold der Treue und dem Silberton der menſchlichen Stimme.

Sut Erdkörper ſchauen wir cin durch fic) felbjt begrenjies Sebilde bauender Macht; in feinen Bergen und Thälern gewahren wir bald die wildfithne Nraft ded Feuers, wie fie Maſſen jah emporthiirmt und durch Klüfte auseinanderreißt, bald die fanft ausgleidende Thätigkeit des Wafers, das hier abfpiilt, dort an- ſchwemmt, und fo das Schroffe durd Ucbergiinge mildert. Die Berge find das Knochengerüſte der Erde, wie ſchon die alte nor- diſche Mythe vom Riejen Ymr ſagt, aus weldhem fie gebildet wurde, und jo reden wir vom Scheitel, Haupt oder Rücken des Berges, von feinem rm, mit dem er die Chene oder den Bufen des Meeres umfängt, von feinem Fug, dev fic) aus dem Thal erhebt. Neptunismus und Vulfanismus haben beide in der Ge— jchichte der Erde gewirft und wirfen nod) immer fort. Alles Vulkaniſche ijt rauher, fteiler, jaciger, und neben folden Bergen dann natiirlid) aud) die Thaler ſchluchtenartig und wild; alle Niederſchläge aus dem Waffer zeigen Wellenlinien, und wo dann auc) die Feuerkraft aus der Ticfe fie emporhebt ohne fie zu durch— bredjen, da runden fie fid) gu Kuppen, da reihen fie ſich gu Hü— geln und find von weitgedchnten oder Lieblid) fic) ſchlängelnden Thälern begleitet.

Die Hohe erhebt das Gemiith, der Berg trägt uns über alles Niedere und Gemeine weg in den reinen Wether, das Thal lädt traulich cin, die Ebene lodt ins Weite; dod) wird nie das Cintinige auf die Dauer befricdigen, ſondern die Zujammenjtimmung des Mannichfaltigen. Steppen und Wiijten find meerähnlich, aber ftarr; jie zeigen dic Unendlichfeit mehr mit ihren Schauern und Schrecken, denn als wogenden Yebensquell, wie es das Meer thut. WAlexander von Humboldt’s Charakteriſtik derfelben tit beriihmt geworden.

Die Pflanzen. 315

Die Potenjen der unorganifden Natur finden in der Pflanze einen Mittelpunkt des Zujammenwirfens, indem hier cine indivi- duelle Sdee als leibgeſtaltende Lebensfraft aujtritt, und in der ſtets erneuten Bildung cines Organismus fic) bethitigt, der durch die Wurzeln mit der Erde zuſammenhängt, aber in Luft und Licht emporftrebt und mit Zweigen und Blittern nach den Seiten fic) ausbreitet. Die Pflanze veranſchaulicht den Begriff des organi- ſchen Sejtaltens, welden wir friiher für da8 Schone forderten, die Mannicfaltigfeit der Blatter und Zweige geht aus der Cin heit Bervor und wird fidtbar von ihr getragen, und die Wechſel— wirfung dev einzelnen Glieder ſchließt fid) zu cinem harmoniſchen Ganzen jujammen. „Die Pflanzenſchöpfung wirft durch ftetige Grife auf unjere Cinbildungesfraft. Ihre Maſſe bezeichnet ihr Alter, und in den Gewächſen allein ijt Alter und Ausdruck ftets fic) ernenernder raft miteinander gepaart.“ Diejem Wort Alexander's von Humboldt gefellen wir eins von Herder: „Die Pflanze ift ganz Mund, fie faugt mit Wurzeln, Blittern, Röhren, fie liegt wie cin Rind in ihrer Mutter Schos und an ihren Brüſten.“ Bhre Thätigkeit geht nod) ganz tm Banen und Bil- den des Letbes anf, fie ift nod) nicht nad) innen gewandt als Selbjtempfindung und Bewußtſein, darum entfaltet fic) aber in ihy das Sunere nad) augen fiir die Anjchauung vorzugsweiſe Far. Sie vermittelt die unorganiſche Natur mit den freien Organismen, die fid) vom Boden losreißen und cine Welt fiir fic) werden; ihr Wirfen ift ihr Wachſen; fie bent fich nicht blos in Laub oder Frucht Thieren und Menſchen zum Genuſſe dar, aud) der Sauer- jtoff, dem ihre Blätter ausfdciden, wird uns zur Lebensluft. Sie jelber aber nimmt am Leben ded Ganzen theil und zeigt und deffen Werden und Bergehen im Wechſel des Jahres durch ibe Anfgriinen, Bliihen, Reifen und Verwelfen. Go erfdien unjern nordijdcen Ahnen das ganze Leben als cin Weltbaum, als die Eſche Ygdraſil, deren Wurzel in die Unterwelt hinab, deren Wipfel in den Himmel emporragt; der Quell der Crfenntnif entfpringt an ifrem Stamm und unter ihren Zweigen fiken die Schicjalsfdweftern, die Nornen, welche als Vergangenheit, Gegen— wart und Sufunft das Geſetz des Seins und Werdens bereiten.

Die Pflanje ijt cin fortgejester Rellenbau, und wie and in Stamm und Aeften der Gegenfag des Senk- und Wageredten, in Holz und Laub der des Feften und Zartbewegliden, Dunkeln und Hellen in reider Vermittelung erjdeinen mag, dieje Ver-

316 II. Das Schöne in Natur und Geift.

mittelung wird fiir den Anblic wie fiir die denfende Betradtung dadurd) erleichtert daß cin urſprünglich Gleiches allen Gebilden ju Grunde liegt, und darum ein Gebilde aus dem andern Hervorgebt oder in ihm nadhflingt. Wenn Goethe die Pflanze als eine Meta— morphoſe des Blattes anjah, jo gewahrt wenigftens unfer Auge im Blatt das verleinerte Abbild des Baumes. Das Blatt hat wie der Baum feinen Stamm fo feine Achſe in der Mitte, um weldje die beiden Seiten fid) ſymmetriſch anlagern, durchzogen und gehalten von den feinen Rippen, die gleid) den Aeften fid verzweigen und von der Mitte nad) den Seiten und nad) oben in ſchräg anjfteigender Richtung fich verbreiten; die griine weidje Blattſubſtanz zwiſchen ihnen entfpridjt dann dem Laube des Baumes. Wie aber nad) rechts und finfs von der Achſe des Blattes die Halften fic) ſymmetriſch anfiigen, fo herrſcht von unten nad) oben, vom Stiel zur Spike die Proportionalität: die Anſatzpunkte der Seitenvippen liegen bet der Spike viel näher alg am Gtiel, oder fie find in der Mitte am weiteften, dort wo das Blatt die größte Breite hat, und nähern fid) nad) oben und unten, wie bei der Roſe, während der Epheu oder die Eiche das andere Verhältniß zeigen. Reifing hat erfannt und nadgewiejen daß das Proportionsgejes des goldenen Schnittes aud) hier feine Geltung hat, und daß ftets der Eleinere Abſchnitt fid) zum größern wie der größere zur Gumme beider verhält. Wie aber der Baum bald mehr in die Höhe jtrebt, bald mehr ſeitwärts fic) ausbreitet, bald in cinfader Rundung feine Krone wölbt, bald das Laubwerf der Aeſte vortreten oder zurückweichen (aft und dadurd) cine viel- fältige Gliederung erlangt, wie wir Baume haben die Zweig und Yaub dem Stamm ftraff anſchließen, andere die fie weit von ihm entfernen, jo haben dic Blätter cine diefem Typus entfpredende Grundform ded äußern Umvriffes. Wie die Cide von der Linde, fo unterfdeidet fic) da8 Liingere Blatt mit dem buchtigen Rande von dem herzförmig breiteren mit dev cinfdjnittlos ſchwungreichen Yinie. Wie die Rebe ausecinandergeht, jo ihr gefpaltenes und gelapptes Blatt; wie der Rofenftod jeine Dornen, jo hat das Rofenblatt feinen geſägten Rand. Die Nadeln der Nadelhölzer entjpredjen dem feinen ſchlanken Bau der Stiimme. Und wie dic Stimme bald unbengfam feft, bald biegfam ſchwank aufwadjen, und fo das fnorrig Starre vom Geſchmeidigen in Aft und Zweig ſich unterfdjeidet, fo gibt es aud) Blitter von ftraffem und von ſchmiegſam weidem Gewebe.

Die Pflanzen. 317

Wenn aber die Pflanze im Ganzen die fymmetrifd propor- tionale Geftalt des Blattes frei wiederholen foll, fo muß die Ent- faltung des Wachsthums felber nad) einem Geſetze geſchehen dae in fic) felbft cine Mannichfaltigkeit einſchließt und dabei der in- dividuecllen Triebfraft Spiclraum gewährt. WS die Linie des fortidjreitenden Lebens mun betradte id) die Spirale. Sie um- freift cinen Mittelpunkt, aber in ftetig fic) eriweiternden Mingen, fie biegt nach bem Ausgangspunkte zurück, aber um ihn in größerer Ausdehnung zu umwandeln, und wahrend fie zurückzugehen ſcheint, ſchreitet ſie dennoch voran: die Fortſchrittslinie des Geijtes und der in ſich kreiſende Kreis der Natur vereinen und durchdringen ſich in der Spirale. So tritt ſie denn begriffsgemäß in der Pflanzengeſtaltung herrſchend auf. Nehmen wir einen Tannen- zapfen oder eine Sonnenblume in die Hand, ſo entdecken wir ſo— gleich wie ſich durch den Stand der Samenkapſeln oder Kerne regelmäßige Curven durchkreuzen; es rührt daher daß die Samen— kerne nicht willkürlich da oder dort, ſondern nur auf einer Spiral— linie anſetzen, die in geſetzlichem Abſtande den Mittelpunkt umkreiſt, und daß ſie auf dieſer Linie einen beſtimmten Abſtand voneinander haben. Auf gleiche Art ſproſſen die Knospen am Zweig hervor und wachſen demzufolge die Aeſte am Stamm: der Zweig gleicht einem Cylinder, um welchen eine regelmäßige, bald engere, bald weitere Spirallinie ſich emporwindet, und nur auf dieſer Linie und in beſtimmten Abſtänden voneinander brechen die Knospen hervor. Was der geniale Blick Schimper's erfaßt, hat dann Alexander Braun mit dem treuen Fleiß und der Genauigkeit des gründlichen Forſchers fort- und ausgebildet, und ſo iſt in dieſer Hinſicht die Geſtaltungslehre der Pflanzen begründet worden, in der ſich das äſthetiſch Angemeſſene ſogleich erfennen und nach— weiſen läßt.

Nehmen wir einen Eichenzweig, und ziehen wir eine Linie von dem Anſatzpunkte eines Blattes zu dem andern nach der Spitze hin, ſo gewahren wir den regelmäßigen Verlauf der durch dieſe Punkte beſtimmten Linie, die gleich einer Schraube den Stamm umwindet; wir gewahren ferner daß das ſechste Blatt ſenkrecht über dem erſten ſteht, das ſiebente über dem zweiten, ſodaß wir fünf ſenkrechte Linien um den Cylinder des Stammes ziehen kön— nen, auf welche die Knospen, Blätter, Zweige zu ſtehen kommen, und bei manchen Pflanzen ſind dieſe Linien auch durch Kanten oder Leiſten am geriefelten Stengel ausgeprägt. Durch dieſe

318 I]. Das Schöne in Natur und Geift.

Senfred)ten und durch die fie ſchneidende Spirale ijt aljo der Stand der Blitter beftimmt. Bei manden Pflanzen, wie bet der Siler, fteht auf jedem dicjer Kreuzungspunkte ein Blatt, bei der Eiche aber tft ftets einer iiberjprungen, die Gide hat anf zwei Umläufen der Spirale fiinf Blatter; das fedste Blatt fteht wieder liber dem erſten und beginnt den neuen Cyflus; die Entfernung eines Ylattes vom andern betrigt aljo 7/, des Kreiſes der Spi— rafe, und diefer Bric) drückt zugleich aus daß auf zwei Umläufen derſelben fünf Knospen ſtehen, zwei Windungen nöthig ſind um wieder ein Blatt zu erreichen welches ſich ſenkrecht über dem erſten befindet, und daß dieſes Blatt nach fünf vorhergehenden folgt; dic . Bahl der Windungen und der Blätter und die Größe des Ab— ftandes ift gemeinjam in jenem Bruch feftgeftellt, und wenn and der cine Eichbaum mehr in die Hihe ſchießt oder der andere nach der Breite geht, wenn das Wadsthum eines Bahres auch mäch— tiger ijt alg das des andern, alle Eichen bewahren in aff ihren Sebilden diejfe Grundform. Man hat die Zahlen fiir die Blatter eines Cyklus Wirbel genannt, und fdjreibt danad) der Eller den zweiblitterigen, der Eiche den fiinfblitterigen, der Farbeginſter den adhtblitterigen, der Ananas den dreizehublitterigen Wirbel zu; alle die bet verſchiedenen Pflanzen beobachteten Zahlen bilden eine Reihe weldje dadurd entfteht daß man cin neues Glied erhält indem man die beiden vorhergehenden addict: 2, 3, D, 8, 13, 21, 34, 55, 89, 144...

Aber daffelbe gilt aud) fiir die Zahl der Windungen der Spiral— {inie; e8 find tmmer entweder 1, 2, oder 3, 5, 8, 19, 21, 34, 55... Windungen nbthig, bis wieder ein iiber dem erften fenf- redjtes Blatt erreidjt wird, nie gefdieht died auf dem 4. oder 10. Untgang der Sehraube. Der zwei— und der dreiblitterige Wirbel haben einen Umlauf, der fiinfblitterige Hat 2, der adht- blitterige hat 3, der dreizehnblitterige 5, und dies drückt fid) mit dem Blätterabſtand durd) die folgenden Briide aus:

“es "3 re Vis, "lair a4, "Isso *4/e97 hikes das heißt jeder folgende wird jo gebildet dak man die Zähler und die Nenner der beiden vorhergehenden addirt. Die Bliitenfpirale dex Gonnenblume madt 55 Windungen mit 144 Bliitdhen, dann beginnt ein neuer Cyflus und es fteht wieder das 145. genan iiber dem erften, der Abftand von einem jum andern ijt *4/,,, eines Umlaufs.

Die Pflanzen. 319

So iſt in jeder Pflanze ein einfaches Verhältniß, das dic Blatt- und Zweigſtellung beſtimmt und ifren wohlgefilligen Ein— drud fiir das Auge ebenſo bedingt wie die Harmonie der Tine daranf beruht daf die Schwingungszahlen derfelben in den Leidt: faBlidjen PBroportionen von 1:2 oder 2:3 oder 3:4 u. ſ. w. jtehen; und es ift uns der Grund gefunden warum alle Pflanzen einer Art bet aller individuellen Verſchiedenheit dod) den gleiden Charakter bewahren, und warum diejer Charafter da8 Sepriige der Schinheit trägt: er zeigt Cinheit im Mannichfaltigen, Geſetz im Wechſel, Orodming in der Fiille, und zugleich ijt der indivi- duellen Freiheit Rechnung getragen, denn wie viele Stnospen nun ein Eichenbaum erzeugen wird, das hängt von ſeiner individuellen Triebfraft ab, nur ihre Stellung ijt nicht zufällig oder willkürlich, jondern geſetzmäßig; fo wie er auch dte cinjelnen Blatter ctwas groper oder kleiner, derber oder feiner bilden fann, mur ihre ſym— metrijd-proportionale budjtige Form ijt gegeben. So aber wird es wiedcrum möglich dag die Aefte und Zweige, deren Anſatz punfte bejtimmt find, fic) gu einem harmonifden Ganzen zu— jammenfiigen, zu einer Krone wölben oder gleid) der Edeltanne in fpiger Regelgeftalt auffteigen.

Sa die Pflanzen felbjt erſcheinen durd) jenen Rettenbruch als die Glieder ciner ftetigen Reihe, als cin großer Gefammtorganis: mus, und fie erfreuen uns in ihrer Zuſammenſtellung, weil durd jie alle das gleiche Geſetz in geſetzlich reicher Entfaltung fic) er- ftvectt. Als mir Zeiſing die Zahlen feines Proportionalgejeses mittheilte, die er nad) dem goldenen Schnitt durch) die fortgefette Theilung von 1000 gewonnen, fiel mir jogleid) ihre Ueberein- ftimmung mit diejen in der Botanif gefundenen ins Auge. 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, 34, 55... heißen ja mit Weglaffung der Deci- mafftellen Zeiſing's Zahlen und er jelber jagt in feiner Propor— tionslehre: „Die Rahl der Windungen innerhalb eines Wlatt- cyklus verhilt fid) zur Blätterzahl diefes Cyklus ftets wie der Minor zum Ganjen. Daffelbe Verhältniß findet gwifden dem Divergenzwinfel gweter aufeinanderfolgender Blatter und dem ganzen Stengelumlanf ftatt (der Winkel beträgt *, bet dem fiinf- zeiligen, */, bet dem adhtzeiligen Cyklus, dort 144, hier 135°), Und die verfdicdenen Pflanzenarten bilden nad) der Blätterzahl ihrer Blattcyflen untereinander cine ftetige Reihe, in der jedes einfacje Glied gu dem zunächſt zuſammengeſetzteren Gliede im Ver- hältniß des Minor zum Major fteht, und fic) aljo mit ihm ju

320 Il. Das’ Schöne in Natur und Geift.

einem proportional gegfiederten Ganzen und mit allen voran- gehenden und folgenden zu einer continuirlidken und verhältniß— mäßig fid) abftufenden Scala zuſammenfaßt.“ Beifing fieht daher im jenen Zahlen den Ausdruck eines univerfellen, Natur und Kunft durddringenden morphologijden Grundgefetes.

Das vegetabilifde Leben gipfelt im Formen- und Farbenrei; der Blüten und Friidte, in denen es fic) felber fortpflanzt und wiedergebiert. Da die Verfirperung das Höchſte der Pflanzen— pjyde ijt, fo prangen die Organe der Fortpflanzung als ifr Höchſtes, während Natur und Sdchambaftigfeit fie bet Thieren und Menſchen verbergen, indem hier hihere Aufgaben und Leiftungen des Seelenlebens ecintreten. Die Blattftellung der Blume bewahrt ihr Gefeg, aber die Spirale breitet fid) um einen Mittelpunkt aus, und je herrjdender das Centrale erjdeint, wie bet der Roſe, defto herrlider wird die Geftalt, die dann aud) ſtern-, beder-, glocdenfirmig fid) entfaltet und im Kelch der Lilie wie im Veilchen oder Vergifimeinnidt mit immer neuer Zierde aufgeht. Mit dem Griin der Blatter contraftirt die rothe Blütenfarbe am vollften, aber aud) die Vereinigung von Blau und Gelb bietet bei andern Blumen einen Gegenſatz mit feiner Ausgleichung, und anderwärté wieder glänzt eine bunte liebliche Farbenfiille, wihrend das Griin ded Laubwerks als die Grundfarbe der Pflanze ihrer Mittelſtelle im Syſteme der Organismen entfpridt. Die Sinnigfeit und der künſtleriſche Trieb des Menſchen fiigt und flicht Blumen mannich— faltiger Art zum Strauß zuſammen; den Wetteifer der Kunſt und Natur auf dieſem Gebiete hat Goethe in der Dichtung vom neuen Pauſias in ſeinem Blumenmädchen verherrlicht. Das Hervor— brechen der Blüte verſinnlicht tröſtend und ermuthigend uns die Schönheit als den Lebensgrund der Dinge, wie Uhland ſingt:

Was zagſt du, Herz, in dieſen Tagen, Wo ſelbſt die Dornen Roſen tragen?

Dem Begriffe daß das Pflanzenleben ſich aus ſeiner Entfal— tung wieder fiir eine friſche Entwickelung im Samen coneentrirt, entſpricht die eiförmige oder kugelige Geftalt der Frucht, die in ihrem gefittigteren Farbenglan; bet der Orange oder dem roth- wangigen Apfel, dem flaumigen Pfirſich oder der blauen Pflaume oder in der lichtbrechenden Durdhfichtigfeit der Traube aud) das Ange zum Genuffe des Anfdhauens einlädt. Blüte und Frudt find die Gipfelpunfte zu denen das Leben der Pflange fic) erhebt

Die Pflanzen. 321

und ſammelt, fie wollen daher eigentlich aud) fiir fic) als Cinjeln- erſcheinung gewiirdigt fein, ſchmücken aber mit prangender Fülle vorzugsweiſe die Baume welde durd) die Cultur den Zwecken der Menſchen dienftbar gezogen find, und darum ſonſt wol an freier großer Schönheit andern nachſtehen.

Mir hat es von Xerxes immer beſonders wohlgefallen, wenn id) im Herodot (a8 wie er auf feinem Heereszug in Lydien zu einer Platane fam, deren Schönheit fein Gemiith fo ergriff dak er fie wie cin Liebender die Geliebte befdjenfte, ihre Zweige mit Goldfetten und Armbindern ſchmückte und ihr einen Ehrenwächter beftellte. Nicht um des Nutzens, fondern um feiner Schönheit willen ift diefer Baum in Europa angepflanzt worden, unter deffen Schatten am rinnenden Waffer der Platonijde Sofrates fic fagert um iiber den Aufſchwung der Seele in den Himmel der Sdee gu reden. Betradhten wir einige der Baume in welchen der Pflanzentypus fic) afthetifd am bedeutendften ausprigt, fo ragt unter den Mtonofotyledonen die Palme hoc) hervor. Sie ift ein- fad), grandios, von arditeftonifder Schinheit. Wie eine erz— gegoffene Säule fteigt der Stamm empor, aftlos, die lidjte Krone wird nur durch gewaltige Blätter gebildet, die in ſtolzgeſchwunge— nen Bogen auffteigen und dann fid) niederfenfen, bald faftig dunfel, bald ſilberſchimmernd. Wie goldene Traubenguirlanden ſchweben die Datteln um den Stamm. E8 liegt eine ernft feierliche Majeſtät in den Palmen, und wenn die Fleinern Arten, die aud) das fiid- fide Europa fennt, in leichter Grazie daftehen, fo tritt ifr Cha- rafter dod) in der Tropenwelt am entſchiedenſten auf, wo fie iiber alles Srdifde und Gemeine fternenwirts in das Bad des reinen Aethers fic) erheben. Von diefen jdreibt Martius: „So wadjen mande Palmen jahrhundertelang bis zu ſchwindelnder Höhe himmelan und beherrſchen nicht durch die Fülle eines domartigen Laubgewölbes, ſondern durch die edle Einfachheit und ernſte Majeſtät ihres Baues die Phantaſie des Menſchen. Wo ihre Gipfel kühn über die Nacht der Urwälder in lichte Sonnenhöhe emporragen, da begrüßt er in ihnen ein Bild jener geiſtigen Frei— heit, zu welcher ſein Geſchlecht allmählich heranreift.“

Unter den Dikotyledonen ziehen vom Süden zum Norden hin die Nadelhölzer. Die ſich allſeitig verzweigende Thuja hat darum paſſend den ſymboliſchen Namen des Lebensbaumes erhalten, wäh— rend die Cypreſſe die Aeſte ſtreng an den Stamm anſchließt und ſich in dieſelben einhüllt, in ihrer düſtern Färbung ſich aus den

Carriere, Aeſthetil. J. 3, Aufl. 21

322 II. Das’ Sdhine in Natur und Geift.

Wirrniffen des Lebens zur Ginjamfeit und Ruhe zurückzieht und dbarum auf Gräbern, in Kloſterhöfen und unter Ruinen, wie in Rom gu Onofrio und am Coloffeum, den wirffamften Cindrud madt. Pinte und Norfolffidte gemahnen die cine durd) den leich— ten lichten Wipfel, die andere durd) das Vorherrſchen des zu ſchwindelnder Hohe hinaufſchießenden Stammes an den Palmen- dharafter. Die Föhre, die im nordiſchen Sand aufſprießt und ifn mit ihren dunfeln Nadeln bededt, fteigert den Eindruck der diiftern Stimmung durd die Vegetationslofigfeit de8 Bodens unter thr, wihrend die pyramidaliſche Tanne das Schwermüthige durch friſchere Kraft und freudigeres Griin mildert, und die ſymmetriſch ausgebreiteten, nad) oben hin fic) verjiingenden Aefte in leiſer Biegung herabjenft, und durd) fie hindurd) dem Sonnenlichte Raum gewihrt zu ihren Füßen an rieſelnden Quellen ein duftiges bliihendes Kräuterleben ju entfalten. Mit frommem Schauder tritt Schiller's Bbyfus in Pofeidon’s Fidtenhain; das geheimnif- polle Raujden und Säuſeln des Windes in den Aeften und Na- defn wedt als cine Stimme des Waldes in der rings ſchweigen— den Natur dies Gefühl. „Ein Tannenwald wirft wie ein frifder ſtählender Morgen”, jagt Vifder; hod) im Norden biirgt im winterliden Schnee das Immergrün ded Nadelholzes dafiir dak, um mit Humboldt yu reden, „das innere Leben der Pflanzen gleid) dem prometheifden Heuer auf unſerm Planeten nie erliſcht“. Bedect von Reif und Schnee träumt die Tanne den Friihlings- traum, oder wie Heine dies Lied der Sehnfudt des Nordens nad dem Gilden finnbildlid) fingt:

Gin Fidtenbaum fteht einfam Im Norden auf fabler Hob’; Ihn ſchläfert; mit weifer Dede Umbiillen ihn Gis und Sdnee.

Gr träumt von einer Palme, Die fern im Morgenland Einſam und fdweigend tranert Auf brennender Feljenwand.

Die fuppelfirmigen Palmen und Pinien, die thurmähnlichen Gdeltannen, die Nadelhölzer iiberhaupt haben in ihrer ſcharfen Symmetric, ihrer geometrifden Regelmäßigkeit cin architeftonijdes Seprige. Reihen wir an fie die immergriinen Baume de8 euro- päiſchen Südens, jo zeigen fie einen plaftifden Charafter darin

Die Pflanzen. 323

daß fie, der Lorber, dic Orange, der Oelbaum, nicht gu riefiger Größe erwadjen, nicht gu dunkelm Walde gufammentreten, fon- dern jeder fiir fic) gelten und durd die Klarheit und Schärfe der Form im Ganzen wie durd) die (ederartige Stärke und fefte Zeichnung jedes Blattes fic) auszeichnen. Immergrün und oft gleid)zeitiq mit Bliite und Frucht geſchmückt maden fie gleich an- tiken Götterbildern den Gindrud ewiger Sugend.

Unjere Weide gleidjt dem Oelbaum, aber die Blatter find jpiter und ohne das derbe faftige Gewebe ſchwanken und biegen fie fid) am Stiel, und die Stimmung elegiſcher Weidhheit, die am dentlicften im dem niederhangenden Gezweig der Trauerweide fic fundgibt, Flingt in vielen Volfsfiedern, vor allem in jener riih- renden Klage wieder die Ghafejpeare’s Oesdemona fingt. Unfere nordijden Baume erfdeinen vorjzugsweife malerifd; das Spiel von Licht und Schatten in der dichtbelaubten Krone, das Hell- dunfel unter derfelben (apt die Formenbeftimmtheit des Cingelnen hinter den Gefammteindrud zurücktreten, der aber nidjt durch Ein— fachheit, fondern durd) harmonijde Fiille angieht, in welder dic Gegenſätze des ftarfen emporftrebenden Stammes und des weiden Laubes durch die ſeitwärts ausladenden, reid) fic) verjweigenden Aefte gelbft werden. Knorriger, wageredhter bredjen dieſe aus dem Eichenſtamme Hervor, während fie bet der inde mehr die Höhenrichtung theilen; die budhtigen faftigen Blatter mildern diefe Hirte; im Ganjen tritt die Mannidfaltigfeit der Gliederung gleid) dem vielfeitigen Charafter germanijder Heroen fervor, deren ftarre Kraft durd) die Gemüthstiefe und Flare Geeleninnig- feit anf ähnliche Weije gefinftigt wird. Die herjzformigen Blatter der Linde find cinfader und ſchärfer in der Zeichnung, aber am Stiele beweglicher und dadurd) weider wie die der Cidje; die Linde wölbt die herrlidjjte Krone, indent die aufftrebenden WAefte fid) bogenfirmig abjenfen, und wie fie bem Viebeslied der Liebfte Baum ijt, während die Cide an Vaterlandsgefühl und Freund- ſchaft mahnt, fo ſagt Viſcher von der Linde, dak fein anderer Baum Würde fo jain mit fiiger gemiithvoller Anmuth vereint. Dagegen ift Vifder der Bude nicht gerecht geworden; er nennt jie ftarr und herb, die Linie der vom Stamm abftehenden fteifen Aeſte ſchneidend und fragig, den Körper der Krone wenig model- litt. Wo die Buche fret fteht, ift died letztere indeß nicht der Hall; fie ift aber vorzugsweiſe gejelltg, und wenn die glingenden Stämme ſchlank emporfteigen und oben die fic) verſchränkenden

21°

324 Il. Das’ Schöne in Natur und Geift.

Aefte das Laubdach wilben, fo erſcheint die Buche als der rechte Waldbaum. Bon zierlicherer Leichtigfeit als die genannten heimat- liden Baume ift die Birfe, um die diinnen ſchwanken Zweige jpielt das zarte Laub wie cin im Winde wallender griiner Sdleier, wihrend die weife Rinde durchſchimmert „als wiire dran aus Heller Nacht das Mondlicht blieben hangen“, wie Lenau fingt. Schleiden möchte die Wfagienform fiir die vollendetfte erklären. Die vielfache oft ſchirmartig einfade, oft netzförmig (uftige, oft eichenähnlich fnorrige Veriftelung der hier ſchlanken, dort maffigen Stimme bedingt einen der Schinheit fo firderliden Reichthum von Formenſpielen im Bunde mit den gefiederten leichten Blättern, die bald fein und zierlich wie Stidereien und Spitzen fid) auf dem flaren HimmelSgrunde abzeichnen, bald weit fid) ansftrecend in malerijden Biegungen mit dem Palmenlaub wetteifern: aber freilic) gibt unfere Robinie nur cin ſchwaches Bild deffen was fid) unter dem Strahl dev tropifden Sonne entwickelt.

Die malerijdhe, ja fentimentale Stimmung unferer nordifden Bäume erhiht fic) dadurd) daß die Farbe des Laubes wechſelt und die Pflanze das Leben des Bahres an fic) zur Erſcheinung bringt; auffnospend matengriin im Friihling, voller, dunfler im Sommer, herbjtlic) in gelben, rothen, braunen Farben welfend, und fturmverweht im Winter ruft das Laub die Seele bald zur Hoffnung und bald gu ftiflerem ernflerem Ginnen wad; es liegt gewif mit hierin begriindet, wenn Wilhelm Humboldt ein une glaublides Gepriige der Sehnſucht in den Bäumen fah, die be- ſchränkt und feftgewurzelt tm Boden mit den Wipfeln zum Himmel ſtreben.

Während Blumen und Bäume and) fiir ſich als Einzelgeſtalten in Betracdht fommen, maden andere Pflanzen erft in ihrer Ge- meinfamfeit einen äſthetiſchen Cindrud, indem fie die Dede der Erde bilden. Hören wir Schleiden: „Meiſt grau und diirr, ſchorfig flad) oder ftachelig, wie riefige Schneekryſtalle ineinander gewirrt, fröſtelnde Schauer hervorrufend überzieht die Fledhtenform die bden Grenjfliden der Vegetation gegen die unorganifde Natur und ju diejer Hin gleidfam den Uebergang bildend, wihrend in der Form der Mooſe didjt gedriingte zarte gelblid) griine Blättchen meift mit Seidenglan; einen polfterartigen Gammetiiberzug iiber Boden und Geftein bilden. Aehnlid) den beiden genannten, fich nicht zu freier Geftalt aufridtend, fondern faft nur die nadte Slide, nicht der Erde, aber des Waffers kleidend entwidelt fid) bedeutungsvoll

Die Pflanzen. 325

fiir die Schönheit aller wafferreiden Landfdjaften die Form der Seerojen, unter ihnen als die pradtvollfte die Victoria regia. Große brette Blatter, mit abgerundeten Umriſſen flac) auf dem Wafer ſchwimmend oder etwas ſchüſſelförmig vertieft fid) wenig liber daffelbe erhebend, prächtig gefiirbte Blumen von ſchönem Bau und großem Umfang, aud) faum auf dem naffen Element auftaudjend, find die bezeichnendſten Züge in der PHyfiognomie dieſer Gewächſe. Die Form der Gräſer zeichnet fid) vor allen beſonders aus durd) ihre Gejelligfeit; die nicht hohen Stengel tragen fladje, ſchmale, biegjame, lebhaft und wobhlthuend griine Blatter, und auf dünnen Stieldhen wiegen fich im leifeften Hand die feinen Bliitenrispen; noc) tft in ihnen die Pflanzenwelt an den Boden gebannt, iiber weldjen fie fic) wenig erheben und den jie als weider wolliger Teppich bedecken.“ Der ſymmetriſch zier— lichen Farrnkräuter, der ftadjeligen Spiralen des Cactus mit den Ceudjtenden Blüten, dev ſchirmförmigen hellſchimmernden Pilze mogen wir nod) befonders gedenfen.

Der Cintinigheit der wogenden Grasflur gegeniiber entfaltet das Zufjammentreten der Straduder und Baume jum Wald die pflanzliche Schönheit auf das vollfte und herrlidfte. Der Heilige Schauer im Helldunfel des dichtbelaubten Haines, in deffen regen Wipfeln der Wind fliiftert, wahrend das Sonnenlicht um die bewegten Blatter funfelt, aber faum jum Boden mit warmem Strahl dringt, er war dem althellenifden wie dem germanifden Gemiithe im Naturgefühl dev Erwecker der religiöſen Stimmung; fie mildert und verflirt fic) durd) die belebende Frijde, durd das freudige Griinen, durd) den Hand) von Gefundheit und Kraft, in welder fic) uns die Liebe der geheimnißvollen Macht verfiindet, die als Seele der Natur in allem wirft und webt. In diefem Waldgefihl fingt Wilhelm Müller:

Sm Walde bin id) Konig, Der Wald ift Gottes Hans,

Da webht fein ftarfer Odem Lebendig ein und ans.

Während der dichtgedriingte Stand der Budhen dunfle Sdatten wirft, ijt der Eichenwald lidter, die Stämme treten weiter aus- einander, und unter ihrem Geäſte fommen andere Baume nicht auf, aber Gras, Kräuter und Blumen ſchmücken den Boden. Die Miſchung des Laubholzes bildet den ſchönſten Wald, er liebt die gerundeten Hiigelfuppen, wahrend die Tannen das jähe Anſteigen

326 Il. Das Schöne in Natur und Geift.

der Felſenzacken wiederholend an dem ſchroffen vulfanijden Ge- jtein emporficttern, Wo im unberiihrten nordifden Urwald die Pflanzenleichen verwittern, da ſprießen Moos und Farrnkräuter aus ihnen hervor, und umkleidet cin üppiges Leben den Tod und ſchimmern die Farben des Lebens im tiefen Sdjattendunfel. Da— gegen ift es im tropifden Urwald fo hell und lichterfüllt. Nur weil die Strahlen der Sonne bis zum Boden hinabgelangen, fann fid) dev Reichthum von Schlinggewächſen entwidelu, der feine Ge— winde in weitgefdlungenen Bogen von einem Baum gum andern durd) die Lüfte evftredt. Die Stämme ſelbſt bilden mit wenigen Aeſten und feinen Blättern cine durdfichtige Krone, und ihre Hobe ijt von grofer Verfdjiedenheit, ſodaß die Umrißlinie des Waldes durchaus nicht den gleichmäßigen Verlauf des nordiſchen jcigt. Glänzende Blatter werfen Spiegel gleid) das Licht in die Tiefe, und foden die ſchwanken Stengel empor, dak fie bis ju den Wipfeln der Palmen hinanklimmen, und dort blütengeſchmückt fid) in weitausgreifenden Ranken feitwarts oder herab fenten, ſodaß um den einzelnen Baum eine Fiille von Schlingpflanzen wuchert, in deren bunter Verwirrung in Hohe und Tiefe, in Länge und Breite dev ganze Raum fic) mit mannidfaltigftem Yeben ſchmückt.

Wir reden vom Land der Ciden und Reben, vom Yand wo die Citronen bliihen und wo die Palmen wadjen, und darin liegt ſchon dak die Naturphyfiognomic, gu welder der Umriß der Ge- birge, die Formen des Erdfirpers, mit dem Himmel, feiner Bläue und jeinen Wolfengeftalten, zujammenwirfen, dod) von der VBege- tation vorzugsweiſe ihr Gepriige erhalt. Mit der belebenden Wärme fteigt von den Polen nad) dem Aequator hin ihre Größe, ihre Mannidfaltigfeit, aber jeder Erdſtrich hat ſeine Reize, und die Sigenthiimlidfeit feines Pflanzenwuchſes wirft durd) die An- ſchauung auf die Stimmung, auf die PBhantafie und Gitte der Völker. Die tropifde Vegetation überwältigt die Seele, und wie in ihrer wudhernden Ueppigfeit eine Form aus der andern hervor- zugehen ſcheint, fo fiihrt fie aud) die Menfden am Gangesgeftade zu traumbaft maplofer Phantaſtik fort, und Safuntala erwächſt jelber wie eine Bflanze unter dem Amrabaum und der Madhawi— ftaude. Wo aber die Myrte ftill und hod) der Lorber fteht, da wird das Auge an die plaftifd flare Form und das glänzende Yaub gewöhnt und damit die Phantafie zu ahulider Beſtimmtheit bei aller Farbenlujt ervegt. Wie anders ift die diiftere Lebens: anfidt und die Innerlichkeit des in fic) guriidgedringten Gemiiths,

Die Pflanzen. 327

das uns die Offianijde Poefie auf den nebeligen Heiden Kale— doniens zeigt! Wie anders wieder der romantifde Hand, der - fic) im deutiden Walde mit dem Wechſel der Jahreszeiten ents widelt! „Die Welt die fic) dem Menſchen durd) die Sinne offenbart, ſchmilzt ihm ſelbſt faſt unbewußt zuſammen mit der Welt welche er, innern Anklängen folgend, als ein großes Wunder— land in ſeinem Buſen auferbaut.“ (A. Humboldt.)

Wieviel aber die Cultur dazu beiträgt das Antlitz der Erde zu verändern das hat Victor Hehn in einem ebenſo anmuthigen wie gelehrten Werke über Culturpflanzen und Hausthiere nach— gewieſen. In geſchichtlicher Zeit haben ſich der Oelbaum, die Feige, die Weinrebe erſt nach Griechenland verbreitet, und die Griechen zu Perikles' Zeit kannten Italien noch als ein Land der Viehzucht und des Ackerbaues, reich an Schiffsbauholz und Korn. Als Vergil dichtete da waren die Wälder gelichtet und das Land ein großer Obſtgarten; an der Stelle der das Laub abwerfenden Buchen ſtanden nun die immergrünen Eichen und Myrten, Pinien und Cypreſſen, Lorber- und Oelbäume. Die Citrone welche wir ſo nennen, die Limone der Südländer war damals noch unbekannt dort; Citrus hieß noch der mediſche Apfel, der das Citronat liefert, und den dic Kaiſerzeit in die römiſchen Villen verpflanzte; die Limone ward erſt durch die Araber und die Kreuzfahrer ver— breitet, die ſüße Orange kam erſt über Portugal nach Vasco de Gama in dic Auen von Granada, Meſſina und Sorrent. Grie— chenland und Stalien gingen aljo erſt aus der Hand der Geſchichte alé immergriine Lander hervor; erft die kühne Fahrt des Colum- bus babnte mit dem Mais und der Kartoffel aud) der Cactus- feige, der Aloe den Weg, die nun mit thren riefigen Blattern die unfrudjtbaren Steingriinde am Mittelländiſchen Meer umziehen und fiir diejelben uns fo darafterijtijd) geworden find. Und wo Tacitus am Rhein und Wain nur feuchte Walder fannte, da reift jest die Traube und das Objt und bliihen die Rofen und Nelfen des Orients.

Das Wohlgefallen an der landſchaftlichen Schönheit wird vor- zugsweiſe durd) die Vegetation bedingt, wie fie bald in einjelnen Pflanzengruppen, bald in der farbigen Dede, die fie dem Erd— körper webt, vor das Auge tritt. Dieſer Genup fest fid) aus mannidfaden Clementen zuſammen, und gerade dadurd) fteigert er ſich jo mächtig dak eine Reihe von Natureindriicen, cine Fiille von Ideen gleichzeitig erregt und unmittelbar in dev Einheit der

328 Il. Das Schöne in Natur und Geift.

Empfindung verfniipft werden. Der Gang ins Freie „wo wir hingehiren” löſt uns aus der Enge der Beſchränktheit der be- ftimmten Geſchäfte und der arbeitjamen Zwedverfolgung und fiihrt uns aus dew kampfreichen Gegenſätzen des Culturlebens und feinen Verirrungen an den Bujen der Natur, die in der immer nenen Entfaltung ihver Kräfte ganz und ungebroden dafteht, ,,und die Sonne Homer's, fiehe, fie lächelt auch uns“. Wir ahnen und empfinden das Beftehen der Natur nad) den innern ewigen Ge— feben, und das in feinen Tiefen erſchütterte Gemiith findet Rube im Anblick der weifen Ordnung, die mit der Macht einer heil- vollen Nothwendigkcit das unendlide Al durdjwaltet und den Organismus des Ganjzen im Cingelnen widerfpiegelt. Und da iſt es dann die Pflangenwelt welche uns den heitern Anfgang des individuellen Lebens aus dem dunkeln Schoſe der Materie zeigt, und im aufbliihenden Farbenglanz wie in gefeslid) reicher Formen— fille fic) entfaltet. Wenn wir Roſenlaui befuden, fo entzückt uns neben dem blauſchimmernden Eispalaſt des Gletſchers die liebliche Alpenroſe, und doppelt herrlid) ragt der ungeheuere Fels des Wetterhorns mit jeinem ſchneegekrönten Haupt in den blauen Himmel, wenn wir feine graufdhimmernde Wand durd) das Tannen- grün erblicten, und feine einſame Größe nicht aus der Erftarrung ded Todes, fondern aus der Bewegung des pflanzliden Lebens fid) erhebt. Selbſt der Golf von MNeapel mit dem Bejuv, der jauberhaften Küſte Sorrents, den im duftigen Bad des Ofeanos ſchwimmenden Cilanden wiirde nidt halb fo reizend erjdjeinen, wenn nicht dort die ſchwarze Lava und Hier der fonnigwarme els oder das wogende Meer von der Pradt der Vegetation um- kränzt wäre. Sch Habe es oben ſchon beriihrt dak zum Vollgenuß des Naturjdinen aud) der Duft mitwirkt, in welchem die Pflanzen uns die innerfte Eigenthümlichkeit ihres Wejens vergeiftigt zu— haudjen, und dem BWalde wie dem Feld, dem Frühling wie dem Sommer, der fiidlidjen wie der nördlichen Gegend cinen andern Gerud) verleihen, durd) weldjen aber ftets die Seele der Natur mit ftiller Magie in unſer Gemiith einſtrömt.

Cin Lied Achim von Arnim’s möge hier eine Stelle finden:

Hohe Lilie, hohe Lilie!

Reine ift fo ftolz wie du

In der ftillen milden Ruf’, Hobe Lilie, hohe Lilie,

Ad) wie gern feh’ id) dir gu!

Die Pflanzen. 329

Hohe Ceder, hohe Ceder! Reine fteht fo einſam da, Dod) der Adler ift dir nab, Hohe Ceder, hohe Ceder, Der dein ſich'res Neſt erfah.

Hohe Wolken, hohe Wolken Ziehen fiber beide ſtolz, Bligen in das ftolje Holj, Hobe Wolfen, hohe Wolfen Sinken ins entflammte Holz.

Hohe Flamme, hohe Flamme! Tauſend Lilien bliihen drauf,

Tauſend Cedern zehrſt du auf, Hohe Flamme, hohe Flamme, Sag wohin dein ſtolzer Lauf?

Wollen wir hier noch an einige ſymboliſche und dichteriſche Auffaſſungen erinnern, ſo können wir erwähnen wie das Volks— lied aller Nationen ſo gern an Pflanzen anknüpft, wie die ge— knickte Lilie oder die ſtolze Kaiſerkrone und vollblühende Roſe ſich von ſelbſt zum Sinnbilde bieten, und wie der Orient nach Geſtalt, Farbe, Duft und Lebensweiſe der Blumen ihnen die Bedeutung von Worten lieh, welche die Liebe im Strauß oder Kranz zu grüßenden, fragenden und antwortenden Gedichten zu— ſammenſetzt. Oder wir gedenken der Vergleichung, die in den Sternen Blumen des Himmels, in den Blumen Sterne der Erde ſieht. Sagt doch Paracelſus ſogar: „Jeder Stern am Himmel iſt ein geiſtiges Gewächs, dem ein Kraut bei uns auf der Erde entſpricht, und jener zieht durch ſeine Kraft das ihm entſprechende Kraut auf der Erde an, und jedes Kraut iſt daher ein irdiſcher Stern und wächſt über ſich dem Himmel zu.“ Ich erinnere dabei an die ſinnig zierlichen Wechſelreden von Fernando und Phönix im Standhaften Prinzen, und füge den Ausſpruch Bratranek's hinzu: Wie die Sterne als beglückende Gewißheit und Allgegen— wart des Lichtes aus dem Trauermantel des Nachthimmels hervor- blitzen, ſo erblüht auch aus der irdiſchen Finſterniß und auf der dunkeln Indifferenz des Grünen der farbige Sieg des Lichtes in tauſenderlei reizende Geſtalten gefaßt. So nennt Calderon die Blumen mit Recht irdiſche Sterne:

330 II. Das Shine tn Natur und Geift.

Keimeud aug der Erde Griiften, Ohne Stimmen, dod in Diiften Athmend, daun in grünen Wiegen Bunt gefärbt die Blumen liegen, Welche Sterne find den Lüften.

Und der Orient gibt dann die andere Wendung zu diejer Be- ziehung der Sterne und der Blumen, indem feiner didjterijden Weltanſchauung der Sternenhimimel als Blumengarten Gottes, ja die ganze Welt mit all threm Treiben nur als unendlicher allum— faffender Blumenkelch erſcheint. Dſchami fingt:

Gott ſchuf das Roſenbeet des Weltenalls mit Prangen Und hat's im Blumenkelch des Raumes aufgehangen; Hervor aus dieſem Blumenbeete glühten

Au jedem Zweige and're Blum' und Blüten.

Mit dem von der Pflanze entlehnten Wort naturwüchſig be— zeichnen wir die organiſche geſunde Entwickelung auch der geiſtigen Zuſtände. Und nicht nur darin wie die Rebe der Ulme, der Epheu der Mauer ſich anſchmiegt, ſehen wir ein Bild weiblichen Sichanlehnens und Hingebens an die Kraft des Mannes, die Pflanze überhaupt wie ſie in der Hut der Mutter Natur ſtill und ruhig ſich entfaltet, blüht und Früchte bringt, gemahnt uns an das Weſen des Weibes im Unterſchied von dem frei in der Außen— welt ſich bewegenden und wirkenden Manne. Wer gedächte nicht dabei des ſchönen Heine'ſchen Liedes:

Du biſt wie eine Blume

So hold und ſchön und rein, Ich ſeh' dich an, und Wehmuth Schleicht mir ins Herz hinein. Mir iſt als ob ich legen

Aufs Haupt die Hände dir ſollt', Betend daß Gott dich erhalte So rein und ſchön und hold.

Wir dürfen von einer Pflanzenſeele reden, aud) wenn fie ſich weder im Bewuftjein nod) im Selbſtgefühl erfaßt, fondern ihre Thätigkeit im Bauen und Geftalten des Leibes aufgeht; ijt dod) diefer cin Organismus, den eine urfpriinglide innere Einheit ſchöpferiſch durchdringt, und durch deffen Erſcheinung fie ihr Wejen ausſpricht. Die Pflanze empfindet Reize und antwortet ihnen, es iſt das am ſicherſten in ihrem Verhalten zum Licht, wie ſie dieſem

Die Pflanjen. 331

fic) zuwendet und erſchließt; fie erinnert freilich die Eindrücke nicht, nod) erzeugt fie in ſich Motive des Handelns; fie bewahrt ihren Stand und wartet des Stromes der Außenwelt wie der in ſie eindringe, und ſie wiegt ſich auf ſeinen Wellen in raſtloſem Wechſel dahin. Wie vieles bliebe ungenoſſen in der Natur, wenn nicht allen Weſen ein Gefühl der Vorgänge an ihnen eigen wäre! Wir erfaſſen die ganze Natur als beſeelt vom allgegenwärtigen Gottesgeiſte; weil dieſer aber Perſönlichkeit ijt, individualiſirt ev überall und läßt überall das Selbſt ſich erheben. Schon Ariſto— teles redete von der ernährenden Seele der Pflanze als von der erſten Stufe des Seelenlebens, und in der Ernährung oder lieber in der Leibgeſtaltung beweiſt ſich deren Activität und erfüllt ſie ihren Swed, Fechner hat in ſeiner Nanna die Sache vielſeitig erdrtert. Er citirt einen Ausfprud) von Yoke: Sowie die Pflanze aus ihrem Keime alle Theile ihrer Geftalt mit cigener inwohnender Triebfraft entwidelt, und Wolfen und Winde fie wie zu etwas anderm maden als ihre Beftimmung war, fo ruht aud) jedes einzelne Gemüth villig auf fic) felbjt, cin aus dem Ganzen ge- goffenes Gane, das zwar dugere Einflüſſe in ihren Strudel reifen können, aber nicht in feinem weſentlichen Kerne verändern. Nun wohlan, fagt Fedner, wenn das Gemüth fo in uns ans fid treibt wie eine Pflanze, warum fann nicht eben cin Gemiith das Treibende der Pflange fein? Cmannel Geibel fingt:

Selig fern’ ich es fpiiren Wie die Schöpfung entlang Beift und Welt fic) berithren Rn harmoniſchem Klang.

Was da webet im Ringe, Was da blüht anf der Flur, Sinnbild ewiger Dinge

Sft e& dem Schauenden nur.

Sede ſproſſende Pflanze, Die mit Düften ſich füllt, Trägt im Kelche das ganze Weltgeheimniß enthüllt.

Die körpergeſtaltende Thätigkeit der Pflanze ſchlägt fortwährend nach außen hin in neuen gleichartigen Gebilden aus, ſodaß jeder Zweig eine neue kleine Pflanze iſt und abgetrennt vom Stamm

332 IL. Das Schöne in Natur und Geift.

fie fortpflanzgen fann, und der Stamm einem gemeinjamen Mutter⸗ boden gleidjt, im weldjem die Zweige wurzeln und griinden; da- gegen befteht der Organismus des Thieres aus wenigen, aber ungleidartigen Gliedern, und nur auf niederen Stufen ift es mög— fic) durch Theilung nene Individuen gu erjeugen, wie bet dem pflanjzenartigen Polypen ein abgeriffenes Weftden fo fehr dem Ganzen ähnlich ift dak es als neues Ganzes fortlebt. Dagegen find die Glieder der Hihern Thiere nicht blos durch Knochen, Muskeln, Nerven, Haut in fic) mannichfach geftaltet, fondern aud fiir verſchiedene Verrvidtungen und Zwecke jo verfdieden geformt, dak der Mund nidjt fiir das Auge, das Obr nit fiir den Fup eintreten fann, nod) aus fic) felbjt die andern Theile des Orga- nismus Hervorzubringen vermag. Aber die Ungleidartigheit der Glieder wiirde bei aller finnvollen Form des Einzelnen fiir den Anblid des Ganzen verwirrend fein, wenn nidjt die Cinheit in Gejtalt einer ftrengen Symmetrie auftrite und die rechte Seite durd) die Linke im SGpiegelbild wiederholte, und gwar fo dag cin jelbftindiges Beftehen der Halften vsllig unmöglich wäre und ihre Wechſelbeziehung Ear hervortritt. Die Ridtung des Ganzen wird dird) den Unterfdied des Kopfes und Schwanzes beftimmt; am vorwärts gewanbdten Ropfe feben die Augen der Bewegung cin Biel, und demgemäß find wieder die Bewegungsorgane gebaut und geſtellt.

Die Organe fiir die Stoffaufnahme und Ausfdeidung, die Wurzelfajern und Blatter der Pflanze, liegen nad aufen hin, und find gu einer fehr großen Oberflaide ausgebreitet, die nur locker und loſe verbunden ijt; dagegen find jene Organe bet dem Thiere ing Innere verlegt, feine Umrißlinie ſchließt fic) nad) angen hin ab in ftetigem gujammenhingenden Fluffe, und die innere Körper— lichfeit füllt die Oberfläche vollſtändig fattigend aus. Die Cinheit, welde bet der Pflanze in der Gleicdhheit der vielen Gebilde erſchien, zeigt fid) beim Thier in der Bewältigung ded Ungleidartigen durch Ordnung, Symmetrie und in fic) abgerundete Gangheit. Der Organismus hat einen Mittelpunkt in fic) und ftellt einen Kreislauf des Lebens dar, wie die Ströme des Blutes aus dem Herzen fommen und gum Herzen gehen, und dadurd) vermag er die Empfindung und das Selbjtgefiiht miglich gu maden, das in der Xhierfeele als eine zweite Lebensftufe zur leibgeftaltenden Thätigkeit erreidht wird. Dieſe legtere felbft läßt an die Stelle ber peripherifd) auseinander gehenden Form die centralijd zu—

Die Thiere. 333

ſammenſchließende treten, und erzeugt fic) im Snnern felber Central- organe; und fo ift das Wefen nidt mehr dem Strom der Ein— drücke dahingegeben, fondern es findet fie in fid) und fic) in ihnen, es empfindet, und fommt in der Unterſcheidung feiner, des Empfin- denden, Don der empfundenen Welt gum Selbſtgefühl.

Der animalifdhe Organismus nimmt nidt mehr blos Stoff zur Nahrung, fondern aud) die Form der Dinge durd die Sinne in fic) auf, und vermittelt fo die Bilder der Welt, die freilid in ihrer Vereinzelung beftehen und nur in ihrer Untrennbarfeit vom Gefiih{seindrud bewahrt werden. Es fehlt die Sprade, weil dic Begriffsbildung mangelt, das Thier ift nur auf das Befondere geridjtet, und faßt fo wenig cin Ueberſinnliches im Gedanfen, als es etwa mit äſthetiſchem Wobhlgefallen an ciner Blume röche und ihre Farben betradtete. Oas Bild de8 Herrn haftet in der Seele des Hundes, und wird wieder erwedt, wenn der neue gleidhe Sinneseindrud fommt; aus dem Gefühlsausdruck der Tine ver- nimmt fie den Ginn der Worte; wen man Orohendes mit zärt— lichem Blick und fojender Stimme, oder Freundlides barfd) und zornig ansfpridt, fo hat es die entgegengefegte Wirfung. Leibniz hat die Thierſeele paffend al8 triumende Monade bezeichnet.

Wie das Thier die Augendinge fieht und Hirt, fo gibt es durd) Bli€ und Stimme fein Inneres fund, und es fommt zur Sym- metrie und Broportionalitit und zur anſchaulichen Zweckmäßigkeit des Banes, zu diejen Grundbedingungen der Schönheit, als cin Neues der Ausdruck hinzu und gibt der Individualität und ihrer innern Empfindung eine feelenhafte Energie, dem Ganzen ein eigenthiimlides und freies Leben. Go anmuthig die Blume fein mag, da8 Auge des Thieres hat dieje Gewalt und Snnigfeit des Ausdruds voraus.

Gine ausdrucsvolle individuelle Geftalt aber, die ihren Mittel- punkt in fic) hat, bleibt damit nidjt mehr im Boden haften, fon- dern tritt auf die eigenen Füße, ruht in der eigenen Schwere und bewegt fic) nad cigenem Sinn, Aber die Erde will fie darum nicht (oslaffen, und der Gewinn ift mit einem Verlujte verfniipft. Die Pflange ftrebt empor, das Thier ift zur Erde gebeugt, und mug fic) die Nahrung ſuchen, weldje die Pflanze vom Boden und von der Luft empfingt; ftatt der ſchönen fidjern Ruhe des Pflan- zenlebens wird es dadurd in die Haft der Begierde und in die Rajtlofigfeit des leidenſchaftlichen Strebens hineingeriffen, ohne daß im Selbſtbewußtſein und in der Idealität de8 Ziels Halt und

334 II. Das Sdhine in Natur und Geift.

Gehalt fiir den Bewegungsdrang vorhanden wire. In dieſer Hinſicht befriedigt die Pflanze mehr unfer äſthetiſches Gefühl. Beide Reiche der Natur find zur Wechſelwirkung und Ergänzung zuſammengeordnet, wie die Pflanze dem Thier zur Nahrung dient und wieder vom Thiere lebt, wenn fie die von ihm ausgeathmete Kohlenſäure einfaugt und daraus wieder den Sauerſtoff fiir es ausſcheidet. Das Thier entſpricht der miinnliden Natur durd Selbjtindigfcit, Beweglidfeit, Strebensdrang und Arbeit, wie dic Pflanzenpſyche fic) der weiblichen verglich. Der Vorjzug der Thier: ſchönheit ijt die größere Activitdt, fie zeigt fic) gerade in der natur- gemäßen Vebensthatigtett, in der freien Bewegung und dem Aus- dbrud der Individnalität.

Su dex Stufenreihe der Entwicelung ftreben die Thiere der Menſchheit gu, und können wol als deren auseinandergelegte und zerſtreute Glieder bezeichnet werden, fowie die Cntwidelungs- geſchichte des Menſchen die Stufen des Thierlebens durchſchreitet. Das Thierreich ſtellt ſich dadurch nicht minder alg einen Geſammt— organismus dar wie wir dies von der Pflanzenwelt erfannten, aber wie dort die Glieder des Einzelnen viel größere Verſchieden— heit als hier zeigen, fo find auch die einzelnen Thiere viel ungleich- artiger untereinander al8 die Pflanzen, und wir müſſen daber hier die Hauptflaffen fiir fid) ins Auge faffen.

Die wirbellojen Weidhthiere, dieſe Embryonen der Thierwelt, bleiben fiir das Auge anf der Stufe dev faum beginnenden Gliede- rung ftehen, aber wie helle Kugeln, gleich Seifenblajen das Licht bredjend, im Farbenſchimmer fpielend, ſchwimmen die Quallen im Meer, und wenn Schalthiere durch breiige Geftaltlofigteit formlos erſcheinen, fo entfaltet fid) in dem Haus das fie fid bauen die Sdhinheit, die ihrem Körper verfagt ward. Es ſchim— mert in glingenden Farben, es geftaltet fid) in regelmäßigen Li— nien, in ſymmetriſchen Formen; wir erinnern beifpielsweije an die Seeſterne, an die Strahlenmujdel, und alle jene zierlich ge- wundenen Gebilde; es ſcheinen fic) bald fryftallinijde Geftalten, bald die Spirale der Pflanze in höherer Potenz zu wiederholen. Dagegen iiberwiegt bet den Inſelten, die ja von den Cinfdnitten und Kerben den Namen haben, die Theilung und Bejonderung iiber die Cinheit; durd) die Haardiinne Mitte des Leibes fällt die Wespe in zwei Hilften auseinander, und die dickbäuchige Spinne jest die verhiltniflos angen ſchmächtigen Beine um einen Kum: pen herum, wodurd) fie häßlich wird. Allein wenn wir wieder

Die Thiere. 335

die Zelle der Biene und das New der Spinne al& cine Fortſetzung ihrer leibgeftaltenden Thätigkeit, als cin organiſches Product ihres Organismus zu diefem Heranziehen, dann fehen wir gerade dic Inſekten mit inftinctivem Runfttrieb finnvoll anjichende Werke _ hervorbringen und damit cin Borfpiel fiir die bildende Bhantafie des Menſchen darjftellen. Ebenſo find die Snfeften im Gegenſatz zu den Schalthieren höchſt rührig, beweglid) und reizbar. Ofen hat fie die tapferjten der Thiere genannt. Man brandt nur in Gedanfen die Blutgier und die Sprungfraft des Flohes in dem Verhiltnig der Größe gefteigert dem Ochſen zu leihen um ju beqreifen da dann die Menſchheit gar nicht exiſtiren finnte, und das Komiſche, welches die Flohhas Fiſchart's ausgebentet, in Furcht und Schrecken umfchlagen wiirde. Die Bnjeften find ge- jellig, Bienen und Ameifen geben Vorſpiele menſchlicher Gemein- ſchaft, und gerade dies ihr Zuſammenſein madt cinen äſthetiſchen Gindrud, der dem fleinen Individuum verjagt wire, aud in Bezug auf ihre Stimme oder die Tine die fie durd) Bewegung und Reiben der Flügeldecke Hhervorbringen. Anafreon hat die Gicade wie eine Nachtigall der Inſektenwelt mit feinem Liedchen begriift, und Vifder bemerft finnig wie das unendlide Summen, das die Inſekten im Wohlgefiihl des Lebens an ſchönen Friihlings- und Gommertagen anheben, wie cine allgemeine Stimme aus unfidtbarem Munde flingt, womit die Schöpfung fid) felbft den Gegen der Wärme erzählt. Beſonders angiehend endlich ift bei einigen Snfeften die Entpuppung zur Sdinheit; denn das Schöne erſcheint darin als das Riel der LebenSmetamorphojen oder dod) als deffen Schmuck und wie das Zeugniß und Siegel der Voll- endung. Als ein haariger Wurm friedht die gefripige Raupe von Blatt yu Blatt; fie fpinnt fic) ein und die Larve liegt wie ein Schalthier im Panzer erftarrt, aber der Schmetterling ſchwingt fid) daraus hervor, und wie eine freigewordene Blume wiegt er die farbenjdillernden Flügel anmuthig im Lidt der Sonne. So ward ev zum Symbol menjdlider Unfterblicdfeitshoffnung. Wenn bet den niederen Thieren die Kalkſchale oder die fefte Haunt dem Organismus feinen Halt gibt, aber aud) das Innere von der Außenwelt abfdeidet und deffen Geftalt häufig gar nicht ausdrückt, fo tritt bet den Wirbelthieren cin feftes Knochengerüſte in die Mitte, und wird von den Weidhtheilen iiberfleidet, durch Sehnen verbunden, durd) Muskeln bewegt. Nerven- und Blut- (eben erhalten in Hirn und Herz ihre Centra, und eine ſchmieg—

336 Il. Das Schöne in Natur und Geift.

jame Haut umfdlieft das Ganze. Dod) erinnern nod) Hufe, Klauen, Sdhuppen, Haare, Federn an anorganiſche oder pflanz— lide Gebilde, find aber nur an den Ertremititen und in unter- geordneter Weiſe vorhanden. Die Fifdhe find auf hiherer Stufe cine Wiederholung der Wiirmer, wie die Bigel der Inſekten. Aber die Geftalt ijt gréfer, fiir fid) bedeutender, und die Indi— vidualitit beginnt fid) geltend gu maden, wenn fie and) bei der Thierheit überhaupt unter den Gattungsdarafter gebunden bleibt. Bei dem Fiſch iberwiegt wieder die Einheit. Der Kopf und die Schwanzfloſſe beftimmen, durd) die geſchwungenen Linien des Leibes verbunden, mehr nod) nur die Ridtung, als daß das Haupt, der Rumpf, die Extremitiiten fiir fic) hervortriten. Aber nur auf dem Lande erjdeint der Fiſch unbehülflich und glost jein Liderfofes Auge ftier und ftumpf; er ift Wafferthier, und um die Zweckmäßigkeit jeines fielfirmigen Baues und ſeiner ſteuern— den Floffen, um die ſchießende Leichtigfeit feiner Bewegungen an- zuſchauen muß man ifn in feinem Elemente, im Waffer betradten, wo es ihm fo wohlig tft, und wo er nad) der fonnigen Oberflide auftaudend feine Floffen im Lidt mit Perlmutterglan; ſchimmern läßt. Da enthiillt fid) dann unjerm Blick die Angemeffenheit der Organismen fiir ihr Element, und wir gewahren cine bewunderns- würdige Uebereinftimmung de8 Innern und Aeußern, des Einzel— lebendigen und ſeiner Umgebung, die den Verſtand eine die ver— ſchiedenen Kreiſe des Seins für einander beſtimmende Weisheit bewundern läßt, und unſer äſthetiſches Gefühl befriedigt, wenn jener Einklang des Organiſchen und Unorganiſchen unſerer An— ſchauung unmittelbar aufgeht.

Bei den Amphibien läuft mancherlei Häßliches und Komiſches durcheinander. Die Schlange bleibt fiſchähnlich, ihr ſich Fort— ſchieben in Windungen iſt unheimlich, und ihr äußerer Glanz bei ihrer Gefährlichkeit, wenn ſie durch Umſchnürung erſtickt oder mit giftigem Zahne tödtet, macht ſie uns zum Symbole des Böſen. Der Leib des Krokodils ruht mit ſeinem Schuppenpanzer ſchwer— fällig auf den kurzen Füßen, der Rachen ijt unförmlich grok. Die dickbäuchige Kröte mit misfarbiger Haut, die weichen ſchwar— zen Molche ſind widerlich. Der Froſch, beweglicher und redſeliger erſcheint wie die erſte Caricatur des Menſchen, inſonderheit des ſchwimmenden, und es gibt auch Menſchengeſichter mit dem fröſch— lichen Schnitt. Für beide Elemente, und darum für keins recht gebildet, vermögen uns ſolche Ucbergangsformen wir können

Die Thiere. 337

dabei aud) an Sgel und Sdnabelthiere crinnern feinen unmit— telbar Haren Eindruck yu machen. Von liebenswilrdiger Zierlich— fett aber find die fonnenfreudigen griinen Eidechſen oder Lacer- ten, wie fie bejonders in Stalien an den Mauern hin und her— ſchlüpfen.

Wie der Fiſch für das Waſſer ſo iſt der Vogel für die Luft gebaut, daß er von ihr getragen dahinſchwebt. Vor dem ovalen Rumpf wölbt ſich die Bruſt, und aus ihm wächſt der Hals her— vor, der den Kopf emporhält, ſowie die Extremitäten, die als Organe des Stehens und Fortbewegens in den Füßen und den Flügeln hervortreten; die Gliederung überwiegt wieder die Einheit. Die dünnen Füße breiten ſich gu klauenbewaffneten Zehen aus, das Auge glänzt im Kopf, der Mund ſpitzt ſich zum Schnabel, und die Flügel ſind vorzugsweiſe durch die Schwungfedern charak— teriſirt, während ein kürzeres weicheres Gefieder den ganzen Leib mit Ausnahme der Beine umzieht und mit reichen Farben ſchmückt. Der Gang der Vögel iſt faſt durchweg ungeſchickt, trippelnd oder watſchelnd, dagegen iſt der Stand der Landvögel, wie des Hahnes oder Pfaues, von ſelbſtgefühliger Kraft, bei Storch und Reiher nicht ohne Gravität. Bei den Vögeln treten jetzt aus den Gat— tungen einzelne Arten hervor, in welchen ihr Charakter gipfelt und die Schönheit erreicht, die den Vorſtufen verſagt bleibt; ſo verhält ſich unter den Waſſervögeln der ſchneeweiße Schwan zu Gans und Ente wie das Pferd zum Eſel; ſein Bau iſt kräf— tiger, gerundeter, ſein Hals freier und ſchwungvoller, und wenn er ruhig ſtolz auf der Welle dahinrudert, iſt er nicht minder prächtig als der Adler, der mit ausgebreiteten Schwingen maje— ſtätiſch die Luft durchkreiſt. Treffend ſpricht Viſcher in Bezug auf die großen Raubvögel von dem ſtahlharten Ausdruck des gan— zen Leibes, dem vorſtrebenden Kopfe, der reinen kalten Friſche des ſcharfen Auges. Die Farbe iſt einfach, als ob ihre Kraft und Würde den buntſchillernden Glanz andern ſchwächeren Genoſſen überlaſſe. Die Eule mit dem großen golden durchſichtigen Auge, das im Dunkeln zu glühen ſcheint, gilt uns für ein Symbol der Lichtſcheu, während ihr auch in der Dämmerung ſcharfer Blick den Griechen fie gum Vogel der Weisheitsgöttin machte. Wie die leichtbewegliche Luft haben auch die Vigel etwas Crreglides und Hlatterndes im feelifden Wefen; und der ftolzivende Pfau, der wadjfame Hahn, die fanfte Friedenstaube mit dem Oelzweig, der nadplappernde PBapagat werden Charaftermasten fiir Menſchen

Carriere, Mefthetif. L 3. Mufl. 22

338 II. Das Schöne in Natur und Geift.

oder Typen fiir Gemüthszuſtände. Hiermit ift es nicht ohne in- neren Zujammenhang, wenn aud) die Vögel beginnen fic) den Menſchen anzuſchließen und ihnen Haus- und Lebensgenoffen ju werden. Ebenſo fegen fie die Luft als ihr Element durch die Er- regung derfelben gum Ton. Sie find die fangfreudigen, mit hell- flingender Stimme begabten Gejdipfe, und jede Art der Sing: vigel hat eine eigene Weife, in der fie ihre Lebensluft und Liebes- jehnjucht fundgibt; denn das Gattungsgefühl erhebt fic) bei ihnen jum Keim der individuellen Ciebe und ehelichen Treue. Go un- gebunden ihre Tine dahinflattern, fie geben dod) innerhalb des Naturfdinen eine Vorahnung deffen was die Muſik im Gebiete der Kunſt erſchafft.

Die Gegenſätze der oval einheitlichen und der ſtarkgegliederten Form kommen bei den Säugethieren zur Durchdringung. In ihrem Bau macht ſich die Proportionalität entſchieden geltend, und ver— tnüpft bald die Hohe und Lange miteinander, bald läßt fie Haupt- einfdnitte der Hoihe oder Lange im Verhältniß des Goldenen Schnittes erfdeinen, wie dies Zeiſing beim Pferde nachgewiejen hat. Ginige der Säugethiere (eben im Waffer, und da ift dann der Ban dem Elemente nidt minder gemäß als bei den Vierfiifern bie auf der Erde wandern, anf den beweglid) geglicderten Beinen den Leib tragen, und bet dem Vorwiegen der Horizontallinte dennod) beginnen den Hals und den Kopf über Bruft und Border- fiifen fret in die Hie gu heben und damit von der Gebundenheit an die Erde fic) gu löſen. Freilid) gelingt es nidjt ganz, die RKopfftellung neigt fid) auch beim Rok und Lowen wieder abwärts. Die Walfifde jeigen den unverhältnißmäßig grofen Kopf und Raden bei der einformigen Fijdgeftalt, der Delphin dagegen ijt ſchlanker, der Kopf Heiner, vom Rumpf gefdieden, mit fugeliger Stirn und hervorfpringendem Munde; wie er fic) im Bogen iiber das Waffer emporjdjnellt, die Schiffe begleitet, und nad) dem Sturm als Friedensbote des unwirthliden Meeeres gum Gruß der Schiffer hervortaudt, ift ja aud) von der Poefie in der Arionfage, fowie feine Geftalt von der Plaftif aufgenommen worden. Bei den vierfüßigen Landthieren ift der Ropf entwicéelter als bei den feither betradjteten Rlaffen; die Sinneswerkzeuge werden ſichtbar ausgebildet, das Auge grok, Ear, ausdrudsvoll, das Ohr hervor- tagend, bald auffteigend, bald herabhingend, die Naje felbftindig, der Mund mit dem Gebiß bewaffnet. Dod) bleibt die Mannid- faltigfeit von der innern Einheit der Schädelmaſſe beherrſcht und

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getragen. Die Haut wird ftatt der Federn nur mit feinen fleinen Haaren befleidet, weldje den Bau de8 Körpers nicht verhüllen, die Empfindlidfeit nidjt aufheben, und an einzelnen Theilen wie am Sdweif und am Hals beim Rok und Liwen zur wallenden Mähne und damit zur ftoljen Bierde werden. Ueber die Farben jagt Goethe: „Die Elementarfarben fangen an uns ganz 3u ver- faffen, Weiß und Schwarz, Gelb, Gelbroth und Braun wechſeln auf mannidfaltige Weiſe, dod) erfdeinen fie niemals auf eine folche Art dak fie uns an die Clementarfarben eriunerten. Gie find alle vielmehr gemijdjte, durd) organijde Kochung bezwungene Farben. Wenn bet WAffen gewiffe nackte Theile bunt, mit Ele— mentarfarben erjdeinen, fo zeigt dies die weite Entfernung eines joldjen Geſchöpfs von der BVollfommenheit an; denn man fann fagen: je edler ein Geſchöpf ift, defto mehr ift alles Stoffartige in ihm verarbeitet, je wejentlidjer feine Oberflide mit dem In— neren zuſammenhängt, defto weniger können auf derjelben Elemen- tarfarben erjdjeinen; denn da wo alles ein vollkommenes Ganjes ausmaden foll, fann fic) nicht hier und da etwas Specififdes abſondern.“

Bei den Säugethieren tritt das Princip der Individualiſirung immer mächtiger auf; an Geftalt und Größe bieten fie viele Ver— jchiedenheiten dar; in den Gruppen, gu denen wir fie ordnen, unterfdeiden wir dann nidt blos einzelne Arten, jondern dieſe gliedern fic) wieder zu Raffen, wie Pferde und Hunde, ja felbjt das Ginzelwefen gewinnt feine Renntlidfeit, und der Menſch, dem es fid) anfcblieRt, gibt thm einen individuellen Namen, auf den es hirt. Das innere Selbft macht fid) daher auch geltend in feiner Thitigfeit, und dieſe erhöht durch Ausdrud die Schinheit der Geftalt, wenn das Roß muthig die Nüſtern bläht, oder im elaftijden Sprung mit flatternder Mähne dahinfliegt, wenn der Löwe majeftitijd fic) anfridjtet oder auf feine Beute ſtürzt, nad Theofrit’s Gleichniß wie ein geſpanntes Holy, das dem Wagner unter der Hand ausſchnellt und ſauſend entfliegt, wenn die Rabe mit felbftgefalliger Zierlichkeit fid) put oder fpielt, wenn der Hund mit feinem treuen feelenvollen Auge uns anblict, oder der liebentbrannte Stier kampfſchnaubend den Nebenbuhler erwartet. Solder Ausdrud priigt fid) den Riigen cin und gewinnt durd) fie bleibende Form, und cin Sndividuum, in weldem fic) die Natur ſeiner Gattung vollendet veranſchaulicht, bringt auch deren feelen- haftes Weſen zur Anfdhauung. Oder wie Joſeph Bayer jagt:

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wenn das bejeclte Einzelweſen durd die dunfle nothwendige Tha- tigfeit urbildlicher Lebenskraft zum Dafein gelangte, dann erweckt es durd) feine eigene willfiirlide Thitigfeit das in ihm ſchlum— mernde Urbild zur Erſcheinung.

Betrachten wir einzelne Gruppen, fo ift unter den Dickhäutern das Nilpferd plump und amphibialijd roh, das Nashorn mit dem Hautpanzer etwas minder fdhwerfallig, der Elefant cine anjiehende Miſchung von gewaltiger Maffenhaftigteit und fanfter finniger Riugheit; von den Schweinen zeigt der wilde Cher eine immer nod) rohe, aber durch Energie und Gedrungenheit bedeutſame Kraft. Unter den Cinhufern hebt fic) das Pferd als ein Thier hervor weldes von feinem andern an Schönheit iibertroffen wird, wenn dieje an ihm zur Vollerfdeinung fommt. Die VBerhiltniffe der Glieder ſowol nad) der Linge als nad) der Dide hin find tadellos, nirgends triige Maffe, überall claftijd ſchwellende Mus— feln, deren bejondere Stärke ftets im ſchwungvollen Umriß des Ganzen eingefiigt ift. Seine Raffen zeigen bald mehr ausdauernde derbe Kraft, bald mehr Anmuth der ſchlanken Seftalt, die von innerem Feuer belebt bei dem arabifden Rok fich wie mit felbft- bewuftem Adel und beweglider Phantafie geftaltet. Unter den Wiederkäuern laſſen dev überlange Hals und die verkürzten Hinter- beine der Giraffe fowie der Hider und der abwiirts gehende Bo- gen der Halewirbel des Kamels die Sdhinheit nidjt anffommen; dagegen erfreut fid) ihrer das Wild und erquidt uns mit der Naturfriſche feiner Lebensluft, namentlid) der ſchlanke Hirſch mit dem ſtolzen Geweih, die fliichtige bergfletternde Gemfe, das Reh und die Gazelle mit den dunfelflaren Angen. Es ijt als ob der Bod und die Biege durd) da8 ins Romifde gehende Geberden- ſpiel erjegen wollten was ihnen an formaler Gdinheit im Ver- gleid) mit dem freien Wilde mangelt. Unter der Wollenheerde der Schafe hat der Widder mit den gewundenen Hirnern etwas Statt- fidjes. Die Horner der breitgeftirnten Rinder find im Gilden größer als bet uns, aber der Stirfe des Stiers fdeint mir die deutjde Form angemeffencr. Ruhig auf der Weide grajend oder wiederfiuend find Rithe ein Bild des Sichnährens und Nahrung: bereitens. Der ſchwarze Biiffel hat etwas tiicijd) Dumpfes im Gegenſatz gegen die zähmbare Stiirfe de8 Stiers. Mit genialem Griff (apt Kaulbach auf dem Bilde der Völkerſcheidung den hami- tiſchen Godgendiener auf einem Biiffel reiten, den Wagen des patriardalifden Semiten von Stieren gejogen werden, die Saphe-

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titen aber auf feurigen Roffen vorwärts in die Bewegung der Weltgeſchichte hincinftreben.

Wo bei den Nagern und zahnloſen Thieren der Typus ded Fiſches, Amphibiums, Vogels fic) mit dem des Säugethieres ver- bindet, wird feine Form rein erhalten, und im feltjamen Gemiſch die Klarheit und anſchauliche Zweckmäßigkeit geſtört, die aller lebendigen Schinheit Grundbedingung find; ja manche Thiere diefer Art find widerwirtig und häßlich. Bon den huſchenden, wiihlenden, fletternden Nagern, die den Typus des Säugethieres bewahren, bemerft Viſcher treffend daß fie an die Fleinen Vogel und an die Inſekten erinnern; und wie diefe in Maſſen als Be— {ebung des Elements Geltung haben, fo gehirven jene im unfreiern Ginn der Erde an al8 die übrigen Landbewohuer; fie graben fid cin und leben in Höhlen; niedlich ijt die Maus, drollig der furdjtjame Haje, von bejonderer Zierlichkeit das banmfletternde Eichhorn.

Die fleiſchfreſſenden Raubthiere verbinden Kraft und Schnellig— keit auf ausgezeichnete Weiſe. Der Schädel iſt kurz gedrungen, die Gehirnkapſel rundlich, die Schläfengrube tief für den Kau— muskel, der Jochbogen hoch über dieſen gewölbt. Das Königthum, das einſt der plumpere Bär in den deutſchen Wäldern beſaß, hat er dem Löwen des Südens abtreten müſſen. Seine Umriſſe ſind geſättigt voller als die des ſchlankeren heißblutigen Tigers, auch über den Panther erhebt ihn der ſtärkere Nacken, wodurch er den Kopf höher trägt, und die wallende Mähne. Der Hund erinnert in ſeinen Spielarten mehr als ein anderes Thier an mannichfaltige Formen, bei der Bulldogge liegt das Stiermäßige im Namen, aber ſelbſt der kleine Bologneſer iſt löwenähnlich, und der Windhund ahmt des Vogels behende Leichtigkeit nach. Daß wir das Scham— loſe als hündiſch und eyniſch bezeichnen liegt wol darin daß wir vom Hund, dem Hausgenoſſen und Freund des Menſchen, ſchon Schamhaftigleit erwarten, und ihn dennoch unter der rückſichtsloſen Herrſchaft der Naturtriebe ſehen.

Wie der Hund fo gemahnt der Menſch an Thiertypen; das löwenmäßige Antlig des Zeus mit den mahnenartigen Loden, der ſtiermäßige Raden des Hercules find aus der bildenden Kunſt be- faunt, mandes Profil evinnert in feinem Schnitt an den Pferde- fopf, oder mit zurückweichender Stirn an die Schlauheit ded Fuch- jes, andere an den Vogeldarafter, wie wir denn ausdrücklich von Adlernaſen reden. So fieht aud) die menſchliche Phantafie in den

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Thieren eingelne Seiten des eigenen Wejens ijolirt und fdarf ausgeprigt, und indem fie den Thieren ihre Naturart (aft, ihnen aber für ihre inftinctiven Handlungen Ueberlegung und Spradje leiht, entfteht die Xhierpoefie in der Friihjugend der Völker, wo der Hirt in dem Wolf ſeinen Feind und Kampfgegner, der Jäger im Fuchs einen liſtigen Genoffen erblidt. Wie hier durd die frete Kunſt, fo werden andere Thiere durch Zähmung jum Men- ſchen herangezogen, und indem fie der Zucht gehorden, und An- hinglidfeit und Treue fundgeben, dämmert Sitte und Sittlidfeit im Natiirliden auf. Dagegen zeigt der Affe, der fic) gum auf— redjten Gang und zur Menſchenähnlichkeit erheben möchte, das Häßliche oder Lächerliche der Miſchgattungen um fo mehr je höher ex fteht; er fommt nidt ber das Nachahmen des Menſchlichen hinaus, ex fteht auf der Schwelle zur Menſchheit, aber, wie Viſcher ein Wort Herder’s zuſpitzt, „die Thür ift ihm vor der Naſe zugeſchlagen“, und nun fteht er verdDugt vor derfelben und ſchneidet Fragen.

Die Geftalt des Mtenfden verfiindet das Selbfthewuftfein, ben perſönlichen Geift. In ihr vollendet ſich das Leben und die Sdhinheit der Natur. Denn das Zeiden des Lebens ift itberall daß ein ftetiges Sichverändern und Umbilden im Weuferen fidt- bar wird, wihrend ein einiges Princip innerlid) alS das ju Grunde Liegende bleibt. Die finnlide Auffaffung gibt uns das Mannidfaltige und feinen Wechſel, die Vernunft erfennt das Be— harrende, das innere Urbild, die Idee. Die äſthetiſche Anſchauung faßt beides in Cinem; beides in Einem ift der lebendige Organis- mus, in weldem die Idee dic Materie beſtimmt und durdwaltet, in ihr erfdeint, fo fic) felber gegenftindlid) wird und gum Be- wußtſein fommt. Die Thierfeele wird gwar im Gefiihl ihrer jelbjt inne, aber fie gerflieBt in den magijden Cinfliiffen der Umgebung ; das cinheitlide Lebensprincip fommt erft wirklich zu fic) felbft, vollendet erft fein Wefen, wenn ed im Wechſel und in der Fiille des Befondern bet fic) felbft bleibt, wenn es fic felber als das Allgemeine und die Macht diejer Befonderheit erfaßt und damit in der Flucht der Beit eine ewige Gegenwart gewinnt.

Die Geftalt des Menfdjen ijt in fic) geſchloſſen und frei be- weglid) wie die des Thieres, dabei ift fie nidjt mehr zur Erde gebeugt, fie ift wieder aufgerichtet gleid) der Pflanze, aber fie ift es durd) den eigenen Willen; diefer erregt die Kraft der Muskeln zur Ueberwindung der Schwere, Knochen und Muskeln aber find

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fo gebaut vom Scheitel bis zur Ferfe daß fie für den aufrechten Gang vorbeftimmt erfdeinen. Der Menſch blickt zum Himmel empor und ijt nidjt mehr anf das bejondere Irdiſche gerichtet, jondern fret iiberfdjaut er das Ganje. Die Mtaffe des Ropfes ift fo vertheilt dap fie ihren Stützpunkt auf der Wirbelfiiule ded Rückens findet, durd) den Hals alſo emporgehalten wird; in der gewölbten Form des Mopfes verfdjwindet das Thierifdje; der Kopf, der von dem ganzen Leib getragen wird, während bei den Thieren nur die Fiife ſtützen, ift eS sugleid der das Ganje be- herrſcht und mittels des Gehirns und der von ifm ausgehenden MNerven die Haltung der eingelnen Glieder beftimmt. Der Gegen- jay des Ginen und Mannichfaltigen erfdcint im Rumpf und in den Extremitiiten der Arme und Beine fo dah dieje felbft wieder jymmetrijd) zuſammenſtimmen, der Rumpf wieder gegliedert ift. Die Theile find untereinander und jugleid) dem Ganzen propor- tional. In der Höhenrichtung herrſcht unverfennbar jene ungleide Theilung, die das Kleinere fic) zum Größern wie dieſes fid) zum Ganjen verhalten läßt. Den Unterfirper beftimmt die Hohe der Hiiften, den Oberfirper das Ende der Rippen; in jene Einbiegung, die bet der Wespe den Körper zerſchneidet, fallt die Mitte des Leibes, die im Rabel eine Gentralftelle hat; der Oberfirper iſt kürzer aber maffiger, der Unterfirper, der ifn trägt, ſchlanker. Sn derfelben Weije ijt der Oberarm kürzer als der Unterarm mit der Hand; aber wie jener zu dtejem, fo verhalt fid) dte Hand zum Unterarm. Die Beweglichkeit der Hand nach innen zu bringt es mit fid) dag die Sunenflide von der Handwurzel bis zum Anſatz des Mittelfingers größer ift ale auf dem Rücken die Ent- fernung der Handwurzel von der Hohe des Knöchels des Mittel— fingers, und von da bis zur Spike der Finger aufen linger er- jdeint als auf der Innenſeite. Die äußere Linge des Mittel— fingers entfpridjt der Lange der Innenhand bis gu ihm Hin, die innere Linge dem Handriiden bis gum Knöchel. Die Linge all diefer Armtheile felbjt aber entſpricht einer der Theilungszahlen die wir erhalten, wenn wir die Größe des ganjen Körpers ald Einheit fesen und nad) Maßgabe des Goldenen Schnittes fort- gejest theilen, wie dies Zeiſing's PBroportionslehre darthut. So herrſcht nicht Gleidjheit, ſondern Verſchiedenheit, aber in diefer Geſetz und Ordnung; ſo wird das Ganze zur Harmonie.

Der gewölbte Bogen des Fußes, der einen kleinen horizontalen Gegenſatz zur Verticallinie bildet, die ſich über ihm erhebt, gu der

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er fic) erſchwingt, trägt ſchwebend den Leib auf den Siiulen der um das Knie bewegliden Beine; die Muskeln ſchwellen friftig um die Knochen, die fic) gu den Hiiften erweitern, die nad) vorne im Beden den Baud aufnehmen, nad) hinten fic) gum Geſäß geftalten. Kräftiger find die Muskeln der Beine als bei den Thieren, weil hier zwei Stützen ohne Hiilfe von Flügeln den Yeib tragen und fortbewegen. „Das Geſäß ift eine wefentlid menſchliche Schönheit, und es ift findifd gu laden, wenn der reine Formenfinn den ſchwellenden Pfirfid) diefer grofen Muskeln, die zugleich ein bequem hingegoſſenes plaſtiſches Siken möglich maden, bewundert.” (BVifder.) Das Spiel der Muskeln da wo der Riicen und der Hintere aneinandergrenjen iſt namentlich bei jugendliden Körpern von wunderbarer Linienſchönheit. Ueber den weiden Linien des Unterleibes erhebt fid) die fefte Wölbung der Bruft, durd) cine Senfung in der Mitte in gwei Hälften ge- theilt, wie die Rinne des Rückgrats den Rücken gliedert. Hier tritt rechts und links die Stärke der Schulterblitter hervor, wäh— rend nad) vorne die Warzen der Bruft Mittelpunkte beider Seiten bilden. Nach den Seiten feben fid) an den Rumpf die Arme mit der Hand, nad) oben fest der Hals fic) an, eingezogen, ſodaß jeine Vinie fid) dann wieder ju der ded Kopfes erweitert. Daf der Arm und die Hand frei geworden und nidt mehr zur Stiike des Körpers dienen müſſen, fondern zur mannidfaltigen WArbeit verfiigbar find, ift ein Hauptvorzug der aufredjten Geftalt und nidt hod genug anzuſchlagen, cin bedeutſames Unterfdcidungs- zeiden von Menſch und Thier. Das Thiergefidt iſt Schnauze, die Freßwerkzeuge beftimmen fein Gepriige; fie treten bet den Menſchen zurück und in gleider Weife tritt die Stirn vor ,,als cin Tempel jugendlid) fchiner und reiner Menſchengedanken“, um mit Herder gu reden. Der Mtund wird jugleid) das Organ der Sprache, nidt blos das der Stoffaufnahme, and) das der Ge- dankenäußerung. Das Oval des Antlikes ruht auf der Bafis des Kinns. ;

Cine durdfidtige Haut umſchließt das Ganze. Während die Vigel in ihrer Federhitlle und die Vierfiifler von ihrem wolligen Sell umfleidet die Körperformen nicht jo deutlid) tm Spiel der bewegenden Kräfte erfennen und ausdrudévoll erfdeinen laſſen, zeigt erft die nadte Haut des Menſchen dehubar und leidt ver- ſchiebbar wie fie ift da8 innere Leben in feinen manniddfaltigen Spannungen und Ausgleidungen, in feiner Harmonie. Sie ift

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um fo menſchlicher und ſchöner, je weniger Farbeſtoff unter ihr jelbft abgelagert ift, je weifer und klarer fie die Farbe des unter ihr Liegenden durchſchimmern läßt. Nur an cinjelnen Stellen wird fie fidtlid) von Haaren umfdattet und begrenzt, wie an der obern und hintern Ropfhilfte, wodurd das Antlig um fo lichter und freier erfdeint. Das ftarre Knochengerüſte fteht innen, nach außen wird e8 von ineinander fdjwellenden Muskeln und Fett- polftern umgeben, und tritt nur am Ende der Gliedmagen, daffelbe ſcharf bezeichnend, deutlid) unter der Haut hervor.

Der Wille des Menſchen offenbart fid) durd) Handlungen und Bewegungen; er legt damit den Gliedern Verridtungen auf, welde die Kraft derjelben brauchen und verzehren, weldje fie ermiiden, Ruhe nsthig madden und aus der einjeitigen Richtung anf das Bejondere die Rückkehr in das eigene allgemeine leibliche Sein verlangen. Go gefellt fic) der Schlaf wechſelnd gum wadjen Leben, er entftridt ebenfo die Glieder des Körpers aus der Spannung der Handlung und dem Dienjte des Willens und verjüngt fie in der Ruhe der Natur, als er der Seele die Stille ded eigenen Wefens nad) der Verfledtung in das Geräuſch der Welt und den Srieden der Sammlung in fid) nad) der Hingabe an die mannid)- faltigen Intereſſen des Lebens gewährt. Go hat die fanft hin— gegoffene Ruhe des Schlummers ihre Schinheit, wenn fie den Frieden der Seele in der Stille der Natur veranfdaulidt. Darum nennt Ghafefpeare den Schlaf das Bad der fanern Lebensmiih, den Balfam wunder Herzen, den CEntwirrer de8 verworrenen Sorgenknäuels; darum kann Goethe an Fran von Stein ſchreiben: durch einen gefunden Schlaf habe er feine Seele gereinigt. Wie der Than de8 Himmels fenft der Schlaf fic) erquidend herab, und fommt wie ein reines Glück ungebeten am willigften. Er löſet, wie Egmont fagt, den Knoten der ftrengen Gedanfen, und unge- hindert flieft der Kreis innerer Harmonien. Die Kräfte der Natur walten nun fret in dem Leib und durch ihn hindurd), die urſprüng— liche Einheit ift hergeftellt, der Drenfdh fiir ein neues Tagewerf neugeboren und geſtärkt.

Der ftille Friede de8 Sch{ummers fann aud nod) den Tod verfliren; dann erfdjeint er wirflid) wie der holde Genius mit der gefentten Fadel. Die Kämpfe und Schmerzen des Lebens find quégeftritten, ausgelitten; die in fic) gefammelte Seele drückt ſchei— dend dem Leibe nod) den Stempel ihres eigenen Wohlgefiihles anf; ehe der Organismus zerfällt, umfpielt ihn nod) einmal das heitere

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milde Lächeln der Sdhinheit. Lavater fagt tieffinnig hierüber: „Dürfte nidt vielleidt bet allen Menfdjen eine Grundphyfiogno- mic fein, durd) die Ebbe und Flut der Zufiille und Leidenfdaften verſchwemmt, vertritbt, die fid) nad) und nad) durd) die Ruhe des Todes wiederherftellt, wie triibgewordenes Waffer, wenn’s unjer- viittet ftehen fann, Hell wird? Go jah ic) mandmal auf dem Todtenbett einen neuen Menfdjen vor mir, Colorit und Zeidnung und Grazie alles neu, alles morgenrithlid), himmliſch, erhaben. Ehenbild Gottes fah ich unter den Trümmern der Verwefung hervorglingen, mute mid) wenden, fdjweigen und anbeten.”

Das Auffnospen, Bliihen, Reifen und Erftarren der menſch— lichen Geftalt vermittelt die verſchiedenen Formen der WAltersftufen; wenn aud) die Mitte in der vollen Sättigung von Stoff und Form am fdinften ift, während anfangs die Fille der Maſſe iiberwiegt, am Ende die Umriſſe hart, mager und fnddern werden, jo bat dod) aud) die unſchuldige Rinderwelt und der ehriviirdige Greis viel Anjziehendes. Nod) mag das Kind felig in fid) lächeln, nod) liegt die Welt offen und Heiter vor ihm, es fpielt in ibr, nirgends durd) ernfte Zwecke gefeffelt, noc) nidjt durd) Cinfeitig- feit jerfplittert in der Totalitit des Gemiiths; und dieje Rind- licjfeit fann umd foll das fiinftige Leben bewahren, fie ift ein Gigenthum des Genies, und darum heißt es von Goethe, von Mozart fie feien geitlebens Kinder geblieben. Der Greis freilid muß auf ein wohlvollbradjtes Leben zurückſehen fonnen, wenn fein Anblick wohlthuend fein foll, Wenn er im Kampf den Frieden der RKindheit wiedergewonnen hat, dann ſchaut er mit milder Weis- Heit und mit Liebevoller Ucberlegenheit in das Getricbe des Lebens, wie Leffing das in feinem Nathan fo trefflid) gejdildert hat. Die griesgrämigen Alten, die am Stab hinwanfenden fraftlofen Ge- ftalten ermangelu freilid) der Schinheit, aber fie maden das Greijenthum allein nidt aus.

Die reife Sugend hat fic) mit dem Gehalt des Lebens ſchon erfüllt, ev hat in ihr ſchon Form gewonnen, und dod ift fie nod dem Bdeale des eigenen Innern getren und ftrebt nad) ihm die Welt gu bilden. Daffelbe drückt fic) aud) in der Verleiblidung aus; fie ift voll frifder Kraft, die Formen find in einem beſtimmt und weid), die Blüte ijt erfdloffen, welde die Frucht verheift. Der Menſch hat den Punt gefunden von weldem aus er wirkt, und den Urgedanfen gedadjt der fein Erfennen und Wollen be- dingt; aber alles ift nod) ganz hoffnungsreich, und ev verfteht nod

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nicht die ergreifende Klage, mit der fein Glite als cin entſchwun— denes Byron mit Wehmuth und Sehnſucht feiert:

Nie mehr, nie mehr, o nie mehr wird wie Thau Des Herzens Frifdje labend mic) durdjbringen Und meiner Bruft aus jeder Holden Schau

Die Fille lieblicher Gefiihle bringen,

Go wie die Biene Honig trégt gum Ban; Meinft du der Honig quell’ in jenen Dingen? Ach in ihr felber liegt bie holde Kraft,

Die doppelt ſüß der Blumen Süße ſchafft!

Treffend fingt aud) Goethe: Jugend ijt Trunfenheit ohne Wein!

In allem organijden Werden und Bilden wirfen SGelbftthitig- feit und Empfinglidfeit, beftimmende Form und beftimmbarer Stoff gufammen; in der Menſchheit und fdon bet den höheren Thieren finden wir das Ganze nidt in einem, fondern in zwei Wefen, die aber füreinander da find, und in ihrer Wechſelergän— jung. den Begriff der Gattung erfiillen, in ihrer Begattung die- jelbe erhalten und die Sndividualitit fortpflanzen. Der Geſchlechts— unterfdjied wirkt auf das ganze Sein des Menſchen und zeigt ſich im Geijtigen wie im Sinnliden. Im Weibe finden wir das Uni- verfelle, da8 unbewugt Bildende und in fid) Webende, das Em— pfängliche vorherrfdend, im Mann da8 Individuelle, das ener- gijde Hervortreten nad aufen, das Selbſtbewußte; die Producti- vitdt des Weibes tft die Mütterlichkeit, der Mann greift-in alle Lebensſphären fdhaffend cin; das Weib ijt dem Unendliden im Gefühl des Hergens ſicher verfuiipft, den Mann reift das Wiffen des Befonderen oft von dem Cinen los, und uur durd Ringen und Suchen Hat er im Wiederfinden die Verſöhnung. „Nach Sreiheit ftrebt der Mann, das Weib nad) Gitte’; der Mann bridjt die dufere Sdhranfe, das Weib zieht die innere; das Weib will das Wefen der Menſchheit wie eine Pflange in der Hut der Natur tren und rein bewahren, der Mann in felbfttriftiger Be- wegung nad eigenem Sinn das Leben fortgejtalten. Oem ent. fpridjt die leibliche Bejdhaffenheit. Nicht blos einzelne Organe find verfdieden und bezeichnend genug bei dem Manne nach angen, bet dem Weibe nad) innen gewandt, fondern es fann fein Glied des cinen Körpers an die Stelle deffelben im andern eingefiigt werden. Der Mtann ift größer und von ftiirferem Knochenbau,

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die Muskeln find ftraffer, gejpannter, und der Umriß wird da- durd) ſchärfer und härter; das Weib tft kleiner, garter und gleidt die ſchroffen Ueberginge durch Fettablagerung aus, da es des Stoffes fiir die Ernährung cines neuen Lebensfeimes bedarf, und jo wird die Form gerundeter, flieBender. Bei dem Mann ift der Kopf mehr entwidelt, der Sig der Gedanfen, bei dem Weibe die Brujt, der Herd der Gefiihle. Der Mann hat fraftigere Sdul- tern um die Laft des Dafeins gu tragen, das Weib breitere vollere Hiiften um des Gebärens willen, und kürzere, darum vollere Schenkel, die unter dem Becken ausbiegen und nad) dem Knie hin fic) wieder gufammenneigen. Beim Manne wiegen die feften, beim Weib die flüſſigen Beftandtheile vor, dort enthält das Blut mehr Gijen und Faferftoff, hier mehr Waffer und Eiweiß. Der Mann fommt ſpäter zur vollen Entwickelung, weil er mehr durch— jumaden hat. Wenn er nun feine Cigenthiimlidfeit ausbildet und einen beftimmten Lebensberuf erfieft, und da in Gefahr ge- räth fic) in Einſeitigkeit zu verlieren, fo bietet ifm das Weib die Anſchauung des Gemüthes, weldjes die ſchöne Totalitit der Menſch— heit wahrt und damit allem drangvollen Streben einen Ruhepunkt des Daſeins gewährt. Dies gibt die Antwort auf Platen's Frage: „Wer erfliirt die wundervolle magifde Gewalt im Weibe?” Wilhelm von Humboldt ſchrieb einmal in cinem Briefe: „Es gehirt gum Empfinden fdiner Weiblicfeit eine eigenthümliche Yiebe den Stoff mit allen feinen Befonderheiten in dem ganjzen unentweihten Hauche feiner Zartheit gu chren. In dem rechten Empfinden edler Weiblidhfeit liegt aber das Grfennen alles Schönen in der Menſchheit und der Natur; ja das entſchleierte Wejen alles jeelenvollen Yebens foweit es auf Erden wahrnehmbar iſt liegt da vor dem Blick der es gu faſſen vermag.” Was wiirde er ju cinem Wefthetifer gejagt haben, der fid) 3u dem Ausſpruche verirrt: „Das Weib iſt undeutlich wie halbverwifdte Schrift an Leib und Seele“? Das ift VBijder’s UAnfidht. Bhr ftellen wir Goethe's Sphigenie und Shiller's Frauenwiirde gegeniiber.

Wilhelin von Humboldt hat in der Reit jenes ideenreichen Zu— ſammenlebens mit Gdjiller eine Abhandlung fiber männliche und weiblidhe Form geſchrieben, aus der id) um fo Lieber die nad- ftehenden Sätze zujammenftelle, als dieſe zugleid) mit den von mir entwicelten äſthetiſchen Principien iibereinjtimmen und folde aus der finnig aufgefakten Crfahrung bejtitigen.

die Züge der Geftalten beider Gefdledjter beziehen fic) wed)-

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jel8weis aufeinander; der Ausdruck der Kraft in der einen wird durd) den Ausdrud der Schwäche in der andern gemildert, und die weiblide Zartheit richtet fid) an der männlichen Feftigfeit anf. Go wendet fic) das Auge von jeher zur anderen, und jede wird durd) die andere ergänzt. Und ebenjo wie das Ideal dev menſch— lichen Vollfommenheit, jo ijt auch das der menſchlichen Schinheit unter beiden anf ſolche Art vertheilt dak wir von den zwei ver- ſchiedenen Principien, deren Vereinigung die Schönheit ausmacht, in jedem Gefchlecht cin anderes iiberwiegen fehen. Unverfennbar wird bet der Schinheit des Mannes mehr der Verftand durd) die Oberherrſchaft der Form (formositas) und durch die kunſtmäßige Beftimmtheit der Ziige, bet der Schönheit des Weibes mehr das Gefühl durch die freie Fiille des Stoffes und durd) die liebliche Anmuth der Ziige (venustas) befriedigt; obgleich feine von beiden auf den Namen der Schinheit Anfprud madjen könnte, wenn fie nidjt beide Eigenſchaften in fid) vereinigte. Das charakteriſtiſche Merkmal der weibliden Bildung ijt daher die ununterbrochene Stetigfeit der Umriſſe, mit welder ein Theil aus dem andern gleichſam auszufließen ſcheint. Sie verwandelt die aus der Ge- ftalt hervorleuchtende Kraft in reizende Fille, und verbindet alle einzelnen Züge in ungezwungener Leichtigfeit gu einem harmoniſchen Ganzen. Be mehr Kraft und Freiheit aber die Geftalt des Mannes verriith, defto männlicher ijt fie. In ihr wird die Maſſe durd) die Kraft iiberwunden, durd) die Form befiegt. Wenn der Körper des Weibes eine fanfte Flide, von wellenfirmigen Linien begrenzt, darbietet, fo erhebt die dem Deanne eigenthiimlide Kraft und Heftigkeit auf dem feinigen hervorragende Sehnen, und fein ftiirferer Bau, weniger mit milderndem Fleiſch befleidet, deutet alle Umriſſe fidjtbarer an. Alle Ecken ſpringen fdneller und minder vorbereitet Hervor, der ganze Körper ift in beftimmtere Abſchnitte abgetheilt und gleidt einer Zeichnung die cine kühne Hand mit ftrenger Ridjtigfeit, aber wenig befiimmert um Grazie, entwirft. Sn dem Manne hat der Wille den vollfommenjten Sieg errungen und den Stoff faft bis zur gänzlichen Vertilgung ſeines Naturcharafters ansgearbeitet. In dem Weibe hat der Stoff feine Gigenthiimlidfeit mehr ju bewahren gewugt, und indem er fic) unterwirft, flieht er den Ausdruck ſeines Unterliegens. Dic weiblide Gchinhett bezaubert zuerſt die Sinne durd) ifre An- muth; da aber der Stoff ganz Form, die jfdeinbare Willfiir ganz Nothwendigfeit, und die Fülle des finnliden Reizes nur

350 Il. Das Schöne in Natur und Geift.

Ausdruck garter und feiner Geiftigheit ift, fo fließt die zuerſt ge- wedte finulide Empfindung in unentweiher Reinheit in die geiftige über. Die männliche fordert, indem fie zu den Sinnen fpridt, unmittelbar jugleid) durd) Beftimmtheit den Geift zur Thitigteit auf; da aber die Form in thr als Stoff, die Nothwendigfeit als Sreiheit und geiftige Wiirde in dem Gewande finnlider Anmuth auftritt, fo geht die zuerſt rege gemadjte geiftige Empfindung in die ſinnliche über. Sn dem miinnliden Körper ijt das Ueber- gewicht einer Kraft darafteriftijd, welde gu zeugen beftimmt ift, ſich ſchnell zu ſammeln vermag, und immer von Ginem Puntt aus nad augen hinftrebt. Mit Schnelligkeit fehen wir fie daher die Muskeln anfpannen, mit Heftigheit fich aller hindernden Maffe entledigen, und ununterbrodene Thitigfeit athmend den rubigen Genuß entfernen. Dadurd) nihert fie fid) der bildenden Runft, die ebenjo wie fie dem [ebenden Princip Herrfdaft in der todten Maſſe verjdafft. Die empfangende Kraft hingegen befigt cine größere Fülle; fie ift mehr gemacht Thitigheit gu erwidern als urfpriinglid) gu erjeugen, aber was ihr an Feuer gebridjt das erfest fie durd) Beharrlidfeit. Durch ununterbrodene Stetigfeit der Umriſſe, Zartheit und Weidhheit fiindigt fic) daher die Weib- {idjfeit aud) in der dugern Geftalt an, und ertheilt derfelben da- durch, felbft wenn ihr die Schinheit fehlt, dod) wenigftens immer den Reiz des Angenehmen, das fo oft mit dem eigentlid) Schönen verwedfelt wird. Da fie nun zugleich feinem Theil fic) über— wiegend vorzudrängen verftattet, und nur die höchſte finnlide Ein— heit ify vollfommen entfpridt, fo fteht die weiblide Geftalt über— haupt der Sdinheit näher als die männliche, und hat felbjt da wenigftens die Form derfelben wo fie aud) ihren Gehalt entbehrt. Denn da Freiheit von allem Rwang die Seele jeder Schinheit ijt, und die echte Schinheit fid) nur dadurch unterſcheidet daß fie mit diefer Eigenſchaft die höchſte Realitit und Beſtimmtheit verbindet, fo muß ſchon die bloße Stetigheit, Flüſſigkeit und Einheit der Formen als ein Analogon der Schönheit erſcheinen, weil ſie jenen weſentlichen Charakter derſelben an ſich trägt.“

Humboldt berührt hierbei und löſt auch die Frage warum im Thierreich beide Geſchlechter in Abſicht auf Schönheit in einem ſo gänzlich umgekehrten Verhältniß als in der Menſchheit ſtehen. Der Grund liegt nicht in dem organiſchen Körperbau, auch bei den Thieren iſt das weibliche Geſchlecht kleiner, ſchwächer, von zarterem Knochenbau. Aber es fehlt der höhere geiſtige Charafter.

Der Menſch. 351

Das männliche Thier behalt den Ausdruck einer Kraft, die zwar furdtbar wird, wenn rohe Wildheit fie begleitet, die aber doch tmmer Staunen erwedt; in dem weiblichen dagegen unterdrückt die Materie die Kraft, und diefer Verluft wird durd) feine An- muth vergiitet. Die allgemeine Natur der Thierwelt alfo enthilt den Grund jener Erſcheinung. Unfähig durd) fich felbft Anfprud auf Wiirde zu machen finkt fie durd) weiblide Kleinheit, Schwäche und Weidheit gänzlich herab, und fann nur nod) durch Gripe Kraft und Feftigfett gewinnen. Da die phyſiſche Schwäche der Weiblichfeit in ihr nicht durd) moralifde Stärke gehoben wird, jo erjcheint diefelbe als bloßer Ausdruck des Unvermigens, der aud) in der weiblich menſchlichen Geftalt erft ausgelöſcht ſein mug, wenn fie der Schinheit fihig fein foll. Unter denjenigen Nationen die nod) ohne alle Cultur im urſprünglichen Stande der Wildheit (eben, ift die Geftalt der Weiber faſt ebenſo wenig an Schönheit mit der Geftalt der Männer vergleidjbar; und wenn man aud) unter gebildeten Nationen Hier und da ähnliche Ungleichheiten be- merft, fo würde eine genanere Unterſuchung wahrſcheinlich and auf ähnliche Urſachen führen. Wenigftens fehen wir and unter uns dag wo minnlide und weiblide Geftalten das Gepriige ans- ſchweifender Sittenloſigkeit an fid) tragen, wo die Menſchheit in ihnen entadelt und die Freiheit unterdrückt ift, die letztern immer einen nod) efelhaftern und widrigern Gindrud hervorbringen als die erſtern, die wenigltens nod) durd) den Ausdrucd phyfijder Kraft eine gewiffe Haltung befommen.

Go fiihren denn and) diefe Bemerfungen uns auf den Aus— gangspuntt unferer Betradtung iiber die menſchliche Schinheit zurück: fie ift geiftiger Art, fie ijt die Harmonie von Freiheit und Naturnothwendigfeit, und wie die Bildung des Körpers fiir und durch die Freiheit des Willens beftimmt wird, empfiingt die Natur von der Geele die Weihe der Anmuth und Wiirde. Der Leib des Menſchen weift itberall auf den Geift hin, der ihn baut; oder Lieber: es ift diefelbe Seele die als Gejftaltungsfraft und Selbftgefihl im Leibe waltet und die fic) ſelbſt erfaßt und die ideale Welt in fic) erzeugt.

Das Ich ijt die einwohnende ſchöpferiſche Cinheit aller Vor— ftellungsbilder und Triebe, in denen es fich bethitigt, der blei- bende Mittelpunkt aller wedjfeluden Gefiihle, in denen ed feines eigenen Zuftandes inne wird. Sm leiblichen Organismus nun hat man längſt drei ineinander wirfende Syfteme der Senfibilitit,

352 Il. Das’ Schöne in Natur und Geift.

Srritabilitit und Reproduction unterfdieden. Mittels des erften empfingt er die Eindrücke der Außenwelt ourd die Nerven, mit- tels des zweiten antwortet er auf deren Reize oder Handelt er von fic) aus durd) die Muskeln, mittels des dritten ftellt er im be- ſtändigen Stoffwedfel das Ganze ftets wieder her und geftaltet es fortwihrend durd) die Organe der Ernährung und Umbildung. Drei ähnliche Grundridtungen folgen aus dem Wefen des Geiſtes. Die Subjectivitit ift in die Welt geftellt und hat die Aufgabe boppelter Vermittelung mit der Objectivitit, indem fie diefe in fid) aufnehmen und mit deren Inhalt erfiillen fann, oder das eigene Wejen äußert und den Dingen deffen Stempel aufdrückt, fie nad) diefem bildet. Der erfte Weg ijt der des Erfennens, der sweite der des Wollens und Handelns. Beide erjzielen und er- zeugen die Zuſammenſtimmung der Gubjectivitit und Objectivitit, und es ift drittens die geftaltende Rraft der Phantafie, welde diefe Harmonie als vollbradt anfdaut, und fie in ihren Bildern vorausnimmt, wenn fie die Welt der Gefiihle in die der Formen iiberjest. Go entſpricht fie der Leibbildenden Lebensfraft, oder es ijt die verwandte Wirfungsweife derfelben Seele, wodurd) dort im Gebiet de8 Unbewuften da8 innere Wefen in den Formen des Körpers plaftifd fid) entfaltet, hier tm Reiche des Bewuftfeins der künſtleriſche Sinn das Bild der Welt in feiner Cinheit mit dem Ideal der Seele entwirft oder die Stimmungen des Gemiiths durd) Formen, Klänge, Worte zur Erſcheinung bringt. Aehnlich hat die Sntelligens; ihre leiblide Bafis im Nervenfyftem mit den Sinnesorganen, der Wille aber dic Werkzeuge de8 Vollbringens und Bewegens in den Muskeln. Diefer nod) nicht recht beadhtete Paralleligmus ijt fiir die Aefthetif um fo widtiger, als dadurd die Phantafie zu Ehren fommt und die redjte Stelle im Organis- mus des Geiſtes erhalt, und nidt etwa blos als eine Stufe oder ein Hülfsmittel der Sntelligenz oder als cine Ausdrucksweiſe der Gefiihle angefehen wird. Das Gefiihl ift feine Richtung des Seelenlebens neben andern, fondern es ift die fie alle durd)- dringende Selbftinnigfeit der Geele; es befteht darin daß fie bei allem was fie bildet, denft und will, gugleid) ihren eigenen Zu— ftand wahrnimmt und fid) durd) die Objecte, mit denen fie fid beſchäftigt, gugleid) in dem eigenen Weſen beftimmt findet; es ift alfo die eigene Stimmung während des Vorftellens oder Stre- bens und das Wahrnehmen der Gegenftinde durch das Empfinden der eigenen Ruftindlidfeit und der Cindriide oder Aenderungen

Seelenſchönheit. 353

welche dieſe erführt. Jene drei Richtungen und Wirkungsweiſen des Bewußtſeins ſind aber ſo wenig voneinander zu trennen als die Muskeln oder Nerven ohne einander etwas vermögen. In unſerm Denken wirkt der Wille gum Denken, und es koſtet oft Anſtrengung; unſer Wille unterſcheidet ſich dadurch vom Natur— trieb daß er weiß was er will, daß der Gedanke ihn leitet und erleuchtet; unſere Phantaſie entwirft das Bild des Ziels, welchem das Nachdenken wie das Handeln zuſtrebt, und iſt im eigenen Bilden vom Willen getragen, in den Formen des Denkens thätig. Es iſt ſtets der ganze Geiſt welcher nach einer dieſer drei Grund— richtungen wirkt, in einer dieſer drei Offenbarungsweiſen ſich äußert und dadurd) zugleich fic) ſelbſt geſtaltet. Der Geiſt ſoll ſein Weſen zu ſeiner That machen. Das iſt ſeine Gottesehre. Von Natur erfüllt er ſeinen Begriff nicht, wie es Sterne, Kryſtalle, Blumen thun; das Ich iſt nur inſofern es ſich ſelber ſetzt und erfaßt, durch eigenen Willen ſoll der Menſch ſeine Idee verwirklichen. Wo ihm dies in der anſchaulich klaren in ſich ge— ſchloſſenen Lebendigkeit wahrer Gedanken, wo es mit ſittlicher Freiheit in der Harmonie von Trieb und Gewiſſen, von Pflicht und Neigung, wo es in phantaſievoller Geſtaltung gelingt, da verſöhnt ſich Begriff und Erſcheinung, da iſt er ſchön. Künſtler ſeiner ſelbſt zu ſein, ſodaß der Meiſter und das Werk Eins ſind, das Material der eigenen Naturgaben, das Erbtheil der Aeltern, wie den Stoff den Ort und Zeit uns bieten, mit unſerer Eigen— thümlichkeit zu durchdringen und von deren Kern aus zu for— men, und das Ideal das unſerer Seele eingeboren iſt als der göttliche Gedanke von ihr, und das darum ihr Kraft und Begeiſte— rung verleiht, ihr Genius iſt, dies in die außere Wirklichkeit ein— zuführen iſt die Lebensaufgabe eines jeden. Die Griechen drückten fie damit aus daß fie ſagten der Menſch ſollte ein xaroxayadi¢ ſein, in welchem das Innere und Aeußere übereinſtimmen und das Gute im Schönen erſcheint.

Es iſt Schiller's großes Verdienſt den Bund von Moral und Aeſthetik aufs neue geſchloſſen und damit eine Zeit eingeleitet zu haben die das Griechenthum wiedererweckt, aber was dort natur— wüchſig war mit bewußter Freiheit thut, mit der Innigkeit wahrer Menſchenliebe das Gefühl perſönlicher Selbſtändigkeit ergänzt, und dem Geiſte ſeine erſte und herrſchende Stelle ſichert, aber das Fleiſch nicht unterdrückt und die Rechte der Sinne nicht kränkt, ſondern den Leib zum Tempel des heiligen Geiſtes weiht. Um

Carriere, Aeſthetil. J. 3. Aufl. 23

354 Il. Das Sdhine in Natur und Geift.

bas Gute gu retten, das nicht um anderer Zwede, fordern um fein felbft willen aud) ohne Rückſicht auf Lohn und Strafe, auf Wohl und Weh unfer Wollen und Vollbringen fiir fic) in Anſpruch nimmt, hatte Rant das erhabene Sittengefes als das unbedingte Gebot der Pflidjt den Neigungen und Trieben gegeniibergeftelft. Wie Jacobi fragte: ob es nidt aud einen Trieb zur Wahrheit, ein Wohlwollen, cine Liebe fiir das Edle und Shine gebe, fo erfannte Schiller dak das Sittliche nicht in dem beftindigen, alfo nie zum Biel gelangenden Kampf von Vernunft und Sinnlidfeit, da es vielmehr dann fid) vollende, wann der Frieden erreidt werde. In der Uebereinftimmung beider PBrincipien jah er das Giegel der vollendeten Menſchheit, die [dine Seele.

/ Sine ſchöne Seele nennt man e& wenn fich das fittlide Ge- fühl aller Empfindungen des Menſchen endlid) bis zu dem Grade verfidert Hat dak es dem Affect die Leitung des Willens ohne Scheu überlaſſen darf und nie Gefahr läuft mit den Entſcheidun— gen deffelben im Widerfprud gu ftehen. Daher find bei einer ſchönen Seele die cinzelnen Handlungen eigentlich) nicht fittlich, fondern der ganze Charafter ijt es. Man fann ihr anc) feine einzige darunter zum Verdienft anrednen, weil eine Befriedigung des Triebes nie verdienftlid) heifen fann. Die ſchöne Seele hat fein anderes BVerdienft als daß fie ift. Mit einer Leichtigkeit als wenn blos der Snftinct aus ihr handelte, übt fie der Menſchheit peinlichſte Pflidten aus, und das heldenmiithigfte Opfer, das fie dem Naturtriebe abgewinnt, fillt wie cine freiwillige Wirfung eben dieſes Triebes in die Augen. Daher weiß fie felbft aud niemals um die Sdhinheit ihres Handelns, und es fallt ihr nicht mehr ein daß man anders handeln und empfinden könnte, dagegen ein ſchulgerechter Zögling der Sittenregel, fowie das Wort des Meiſters ifn fordert, jeden Augenblick bereit fein wird vom Ver- hältniß feiner Handlungen zum Geſetz die ftrengfte Rechnung ab- gulegen. Das Leben der legteren wird einer Zeichnung gleiden worin man die Regel durd) Harte Stridje angedentet fieht, und an der allenfall ein Yehrling die Principien der Kunſt lernen finnte; aber in einem ſchönen Leben find wie im Tizian'ſchen Ge- mälde alle jene ſchneidenden Grenjlinien verſchwunden, und dod) tritt die ganze Geftalt nur defto wahrer, (ebendiger, harmonijder hervor. On einer ſchönen Seele ijt es alfo wo Sinnlidfeit und Vernunft, Pflidht und Neigung harmoniren, und Grazie ift der Ausdrud in der Erſcheinung.“

Seelenſchönheit. 355

Wenn ich etwas an dieſer Schiller'ſchen Schilderung ändern möchte, fo wire es die gu ſtarke Betonung der Verdienſt- und Bewußtloſigkeit der ſchönen Seele, wodurd) dann ihre ganze Herr- fichfeit 3u einem Naturproduct wiirde und fiir die Perjintlidfcit felbft feinen fittlidhen Werth hitte. Die Harmonie gelingt aller- dings dem einen [eidjter, dem andern fdwerer, und cin Sofrates, der fie wilden Begierden abfimpft und dem Silenosgefidt nun den verflirenden Geiſtesblick fittlichen Adels gewinnt, hat cine ſchwerere Wufgabe als cin Sophofles, deffen ganzes Wefen von Anfang an auf das reinfte Ebenmaß gebaut war. Allein ard) bet diejem ift die Verſchmelzung von Anmuth und Würde ſeine fortwährende That, und fo drohen aud) der ſchönen Seele wie fie Shiller darftellt ftets die Verlodungen der Welt und die Dämo— nen der eigenen Brujft, und fo ift die Bewahrung ihres Friedens allerdings cin Berdienft. Die ſchöne Seele ohne fittlide Größe ſänke zur Fadheit und Siiflidfeit herab, und das Wort hat danad) cinen übeln Beigefdmad gewonnen. Zur Sdinheit gehirt Energie und Charakter.

Hier ftehe ein Ausſpruch des grofen Baumeifters Schinkel, des hellenifd) gebildeten: , Der Menſch bilde fic) in allem ſchön, damit jede von ifm ausgehende Handlung durd) und durd in Motiven und Ansfiihrung ſchön werde. Dann fällt fiir ihn der Begriff von Pflicht in dem gröbern Sinne, welder von ſchwerer, driidender Pflicht redet, ganz fort, und er handelt überall in jeligem Genuß, der die nothwendige Folge des Hervorbringens des Schönen ift. Bede Handlung fet ifm cine Kunftaufgabe. Cin Menſch der nur nad) Pflichtgefiihl handelt fteht nocd) anf dem unvollfommenen Standpunfte, in weldhem die Sünde nod) bekämpft werden mug, folglid) nod) Gewalt iiber ihn ausübt, und nod nidjt durd) die Liebe zum Schinen ganz verdringt wurde. Man wird Gott wohlgefalliger wenn man mit Liebe handelt; aber nur das Sdhine ift der höchſten Liebe fähig, und darum handle man ſchön um fid) felbft lieben und dadurch felig werden zu können.“

Sn der wahrhaft ſchönen Seele ift das Gefes und der Ge— danfe Gefinnung geworden; die Pflicht gebietet nist mehr wie eine fremde Stimme, das Herz folgt in ihrem Wort dem eigenen wahren Weſen, zu dem es fic) emporgearbeitet und gereiniget hat. Dadurd erlangt aber aud) jeder Inhalt der Vorftellung oder des Willens die Wärme des Gefühls, indem er nicht äußerlich bleibt, jondern in da8 Snnerfte der Seele aufgenommen und von der

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356 II, Das Schöne in Natur und Geift.

durd) ihn erregten Zuſtändlichkeit der Seele felbft durchklungen und durddrungen wird. Wenn die Phantafie dem Gedanfen und der That die anſchauliche Form gibt, weldje den Gehalt flar ans- dbriidt, fo ijt es das Gefühl und die Gefinnung der Liebe durd die fie Werth und Weihe empfangen. Nidts ſtößt uns fo ab als Vieblofigfeit, nichts erwedt leichter auch unſer äſthetiſches Wohl— gefallen als herzliche und herzgewinnende Liebe. Die ſelbſtinnige wie gottinnige Einheit der Seele in ihrer Lebensfülle ſtellt ſich im Gemiithe dar. Das Gemiith verlangt einen Reichthum von Ge- danfen, es verlangt cinen [ebendigen Willen und die Thaten der Viebe; aber nichts bleibt vereinzelt, alles wird eingefdmolzen in der Wiirme des Gefühls, und wie das Bch diefer feiner Totalitit inne wird, fo erfaft es fic) zugleich in feinem Lebensgrunde, es empfindet fid) getragen und gehegt von demfelben, e8 hat das Göttliche in der eigenen Sunerlidfeit gegenwärtig und begieht alles Reitliche auf das Ewige.

Dagegen ift jede Einſeitigkeit, ſei es Gefühlsweiche ohne Cnergie oder geſinnungsloſe Klugheit, phantafielofe Berechnung oder unver- ftiindige Schwärmerei, fiir fid) unſchön und wird in einem größe— ren Ganzen nur als Contraft zur äſthetiſchen Wirfung verwerthet oder im Proceß der Entwidelung der tragifden, fomifden oder humoriftijden Paralyſe unterworfen werden. Häßlich aber wird jede Verworrenheit oder Verzerrung, die fic) bis gum Selbſt— verluft des Geiftes im fizen oder vagen Wahnfinn fteigert. Die Gefundheit des Geiftes ift die Flüſſigkeit aller feiner Momente unter der Herrjdaft des Shs; er erhält ſich nidt blos in allem Befonderen gegenwirtig, fondern er erhalt und bewahrt and das einmal Aufgenommene in fic), ſodaß ein ahnlidjer Cindruc es weden oder die fid) befinnende Grinnerung es Hervorrufen fann. Set fic) aber etwas Einzelnes feft, daß es wie ein Pfahl in die Seele hineingejdlagen ift und fie nidt davon loskommen fann und den Srrthum nidt als foldjen zu erkennen vermag, fo unter- bredhen die fixen Sdeen den Flug de8 inneren Lebens, und find ein Hemmnif fiir diefen wie eine uniiberfteiglide Schranke fiir das Sch. Andererfeits walten alle Vorjtellungen und Empfindungen mit ciner gewiffen Selbftfraft im Gemüth, ſonſt fonnten fie nidt erinnert und in ihrer Bejonderheit erhalten werden; das Bewußt— fein deS Zerſtreuten folgt dem Taumel oder Wirbel der Vor- ftelfungen ohne daß es cine oder die andere fefthielte und über die Bewegung herrſchte, und fo fommt eS fo weit daß die Seele

Seeleuſchönheit. 357

nur den Raum bietet wo ſie ſich durcheinander bewegen, und der Menſch dem Wechſel der inneren Bilder und Gefühle dahingegeben wird. Der Künſtler, dev die Geiſteszerrüttung darſtellt, muß es im Zuſammenhang mit dem früheren Leben thun, und den Grund des Unglücks in deſſen Schilderung hereinwirken laſſen, wie Shakeſpeare und Kaulbach gethan.

Auch in ſittlicher Beziehung kann der Menſch in die Knecht— ſchaft der Sünde gerathen und im Laſter den Selbſtverluſt der Freiheit beklagen müſſen. Alles Böſe iſt der Abfall des Geiſtes von ſeinem wahren Weſen, es iſt um ſo häßlicher, je frecher, lügneriſcher und frivoler es auftritt. Der Künſtler hat es dar— zuſtellen mit dem Selbſtgericht in der eigenen Seele und mit dem Weltgericht des in der Geſchichte waltenden Gottes. Gott wollte die Möglichkeit des Böſen um des Guten und der Freiheit willen; aber er will dag der Menſch die Verjuchung iiberwinde und felbjt. bewußt da Redjte vollbringe wie Chriftus. Das Böſe als das Gott Abjagende und Widerftrebende ift darum ein in fid) Nich— tiges, weil es fic) felber vom dem Lebensquell und der Subſtanz aller Dinge losreißt; es fucht fic) felbft alleiu, aber dieſe Selbjt- jucht ift cin Gelbftbetrug, der Frieden der Seele geht verloren, und was der Böſe andern jum Schaden zu thun gedadte, hat er fic) felbft gethan. Der Schmerz der Sünde foll das Feuer der Yiuterung und Reinigung fein, die Thräne der Rene wäſcht die Befleung von der Seele. Die Gnade ift da und wartet nur bak der Menſch ſie fic) anecigne.

Seder Menſch trägt die allgemeine Vernunft und damit die Idee der Menſchheit in fic); zugleich aber ijt er in ſeiner Bejon- derheit einzig, cine urfpriinglide Cigenthiimlidfeit. Das Selbjt, die Perſönlichkeit iſt keine Masle der Bdee und feine Schaumblafe im wogenden Weer des Scins, fondern das göttliche Selbft als das Cine offenbart fic) in fichfelbftbeftimmenden Cinheiten, und entfaltet den Reichthum feiner Unendlidjfeit darin daß ftets mene, pon dem andern unterfdiedene und fie find ja nur andere in- dem fie unterfdieden find felbftindige Weſen auftauden. Nicht blos daß andere Verhiltniffe, andere Umgebungen und Einflüſſe die Verſchiedenheit der Menſchen hervorbringen, jeder ift von Haus aus etwas urfpriinglid) Cigenes, Originales. Ganj herrlid) ſprach Rahel fid) cinmal hieriiber aus; es war einer der wunderbaren Geiftesblige, welche ihre große Seele und durd) fie die Welt er- hellten: „Jeder Menſch ift ein Original, fonft wär' ev nicht

358 IL. Das Schöne in Natur und Geift.

gefdhaffen; ift e8 nod) immer in der Tiefe wo der Wahrheitsquell wogt, er verfdiitte fie nod) fehr mit Lug und Trug und Fälſch— lichfeit, die gegen ihn ſelbſt gefehrt Srrthum wird. Am Ende ift cine Tugend, cine Gemiithsfraft, der Muth, der uns erfdjafft: uns felbft ift e8 iiberfaffen Menſchen aus uns zu madjen, oder vielmehr uns gegen die immer vernidtend anftrebende ganze Welt nidt nur Leute dazu gu laſſen. Dies erfordert Muth, unendliden Muth, Vernunftmuth.“

Der Menſch ift feiner felbft Dtader, jagt Jakob Böhme; alle Gabe ift ihm daher zugleich Aufgabe, und er foll durch Selbjt- beftimmung feine Beftimmung erreiden. Nennen wir mit H. 3. Fichte Naturell die urfpriinglicde in jedem Subjecte verſchiedene Anlage gum Erregtwerden gewiffer Gefiihle und ihnen entſprechen— der Triebe, jo ſagen wir zugleich mit ihm daß daffelbe gum Cha- vafter als ber freien und bewußt geiftigen Form des Gemiiths und Willens erhoben werden foll. Weder der Gedanfe des Guten und Redhten nod) der Naturdrang des Triebes ift fiir fich ſchon ſchön, aber beide find es durd) ihy Sneinanderwirfen, indem der Gedanfe Fleiſch und Blut gewinnt und der Trieb den fittliden Inhalt empfingt. Aud) die Leidenfdhaft felber foll nidjt unter- driidt werden, weil ohne fie dod) nichts Großes gejdjieht, aber fie joll mit der Idee des Guten erfiillt und der Vernunft felber zur Schwinge werden. Der Geijt ftellt feine feften apriorifden Ma— rimen dem beweglidjen Sinnenleben gegeniiber, aber das ſoll nidt jo beim Unterfdiede beider bleiben, fondern im Charafter follen fie zur Ausgleidung fommen, und damit wird neben der For- derung der Gthif aud) die der Aefthetif befriedigt. Der Charafter ift nicht ohne die Naturbeftimmtbheit der Anlagen, aber er be- herrſcht fie al8 der denfende, wollende, nad) Grundſätzen handelnde Geiſt; durd die beftindige Gefinnung wird ihm dag fiir recht und gut Erfannte zur Gewohnheit, und er zeigt fic) in der Einheit und Stetigfeit der gangen Lebensführung. Er ift gleidfern vom Tode der Crftarrung als von ſchwankender Haltlofigteit, ev ijt (ebendig, das heißt er offenbart in der Mtannidfaltigfeit der Sreigniffe und im Wechſel der Handlungen die innere Kraft felbjt- bewupter Cinheit, die darum die befonderen Beftimmungen oder Beftrebungen nidt zur Vielheit auseinanderfallen (apt, jondern fie durchdringt, zuſammenhält und in ihnen die Entwidelungs- momente des eigenen Wefens darjftellt. Dies ift ein werdendes, weil cin (ebendiges; fo ift aud) der Charafter nicht mit cinmal,

Seelenſchönheit. 359

ſondern die fortwährende That der Selbſtgeſtaltung, die fort— dauernde Einigung des Selbſtgefühls mit der Idee des Guten. Das centrale Lebensprincip der Individualität erlangt hier ſeine Vollendung; wie es die ſinnlich bildende Lebenskraft war die im Organismus des Leibes fic) äußerlich und natürlich verwirklichte, fo ift daſſelbe jetzt der Charafter welder das geiſtige Sein des Menſchen durd) den Willen geftaltet. Das ift nicht mehr un- bewußt gejeglicje, jondern bewußte Thatigfeit, der Freiheit Werf, und darum eine Aufgabe, deren Schwere fid) dev Leichtſinn der Menſchen gern entziehen mag, daher fo viele gar nidt zur Hohe des Gharafters fommen, dadurd) aber fiir dad fittlicje wie fiir das äſthetiſche Urtheil gleid) ungeniigend erfdeinen.

Sm Wefjen der Perfintichfeit liegt e8 dak fie das Allgemeine in individueller Spitze darijtellt, da alſo in jedem Menſchen das Humane, das Menfchliche in einer befonderen nur ihm cigenthiim- lidjen Form fic) auspriigt; wer dicje feine Befonderheit verleugnet und andere nadahmt, wird es diefen doc) nidt gleidjthun und darin zurückbleiben worin er cin Höchſtes hätte vollbringen können. Darum fingt mit Redht dex Dichter:

Wer Grofes will muß fic) gufammenraffen, In der Beſchränkung zeigt fid) erft der Meiſter.

Selbjt ijt der Mann! Dies deutjde Wort überſetzt fid) uns in das Gebot: Sei du felbft! Und dod) ijt nur in der Ueber: windung der Selbjtiudt das Heil, Denn die wahre Geburt ift Wiedergeburt. Das Individuum das in der Tiefe des Lebens fic ſelbſt erfaft, unterfdjeidet fid) damit von Gottes Bewußtſein, und wie e8 fiir fid) allein fein will, fo verdunfelt es daffelbe in fic, und wandelt in der getheilter Welt des Scheines und der Trii- bung, bis dag es fic) dem Einen Lidhte wieder guwendet; died leuchtet in der Seele in dem Augenblice wo fie fic) ihm ergibt. Damit erfennt fie das ewige Weſen als ihr Wefen und erzeugt fid) fiir ihr Bewußtſein in ihm wie fie von Natur darin entftan- den war. Das ewige Wefen aber ift die allgegenwiirtige Gottes- fraft, fie verharrt nicht unthitig; ihr Sein ijt iby Wirken, und jo begeijtert der unendliche Geift den endlichen daß er fic) felbft iiberwinde und damit in Gott fid) wiederfinde. Die felige Selbjt- vergeffenheit im Ergviffenjein von großen Gedanfen, der Enthufias- mus welder opferluftig das cigene Leben in die Schanze ſchlägt, der Rauſch der Entzückung in der ſchöpferiſchen Luft Schönes ju

360 Il. Das Schöne in Natur und Geift.

bilder, was find fie anders als dics Mächtigwerden ded Ewigen und Ginen im Zeitliden und Endliden? ,,Darin liegt der tieffte Erklärungsgrund alles Ethiſchen: der Welt und eigene Selbſtſucht iiberwindende Wille der Liebe in uns ift jelbft nur der im Men ſchen wirfende Wille der ewigen Liebe, cin Funke der göttlichen, die ganze Welt umſchließenden Liebesmacht, welde im Kreiſe des endlicjen Geiſtes zur Selbftempfindung hervorbredjend ebenjo in ihin das Gefühl der Vollendung, Beſeligung, erzeugt, wie fie in Gott ewig empfunden der Quell feiner Seligkeit ijt.” Go Fidte der Siingere; fein Wort erliutert Spinoza’s dem innerſten Ge- miith entquollenen Gedanfen von der intellectualen Liebe Gottes, mit der dieſer in der Welt fich felber umfaft. Wir fiigen nod einige Ausfpriide Jakob Böhme's hinzu: „Das ewige Centrum der Geburt und Wefenheit des Lebens ift itberall und in jedem Punt ein Ganzes. Rein Wefen ift von fern an feinen Ort fom- men, fondern an dem Ort da es wächſet ijt fein Grund. Alle Dinge haben ihre Urſach in fic) felber, und fommen dod) alle aus einem einigen Grund, und diefelbe Stitte da fie herfommen ift überall.“

Wir berühren hier freilid) Gedanfen die man innerlid) erfah- ren haben mug um fie 3u verftehen, die e8 beftitigen dak die Philofophie als Weisheit vor allem aud) erlebt fein will. Bettina von Arnim fdreibt ecinmal: „Wie jeder Gedanke, jede Seele Melodie ijt, jo foll der Menſchengeiſt durd) fein Allumfaſſen Har- monie werden, Poefie Gottes; nimm’s nidt zu genau und gib es deutlicher wieder als id’s ſagen kann“, und läßt die Giinderode antworten: „So wir’ der Menſchengeiſt durd fein Faſſen, Begreifen befihigt Geiftesallgemeinheit, Philoſophie ju werden, alſo die Gottheit ſelbſt? Denn wire Gott unendlich, wenn er nidjt in jeder Lebensfnospe ganz und die Allheit wire? So wiire jeder Geiftesmoment die Allheit Gottes in ſich tragend, ausſprechend?“ Einige dahin gehirige Sätze aus ciner Sugend- ſchrift habe id) ſchon in den Religiöſen Reden wiederholt, weil fie wie Wahlſpruch meiner Philofophie gelten finnen, und die aud) hier wieder eine Stelle finden migen, weil fie gugleid) die afthe- tifde Forderung näher begriinden dak der Menfd) als Künſtler ſeiner felbjt das der Seele eingeborene Sdeal (den Feruer des Parfenthums) verwirklide. ,,Das ijt ja des Geiftes Leben und Wefen dah er nidt in der Mamnichfaltigkeit der Erſcheinungen fic) verliert oder nur in die Einzelnen Hincinjdeint, fondern

Seelenſchönheit. 361

daß vielmehr das Allgemeine in allem Beſonderen ganz und klar gegenwärtig iſt. Jeder wird als ein größter Held geboren: Jeder iſt für ſich ein Centrum des Univerſums, in deſſen Herzen alle Strahlen zuſammenfließen, der alles auf fic) bezieht und nad dem Mae wiirdigt wie es ihn anfpridt, hemmt oder fördert; aber da8 muß er geltend maden und fein Heldenthum beweiſen; zerreißen mug er das Gewebe der Lüge und fret fid) felber leben. Denn cin Seder ift und vermag etwas Bejondereds, was er ganz allein in bdiefer Weife, was fein anderer fo gut fann. Sedem bietet das Leben die Gelegenheit ein and) ſcheinbar Kleines mit bem Ernſte der Gefinnung, mit der Snnigfeit der Liebe zu thun, die den höchſten Werth verleihen. Dies gu erfaffen, feine cigen- thümliche Rolle im Weltendrama felbfttindig zu produciven, mit dem reinften Wollen Er Selbſt gu fein ift die Aufgabe des Men— ſchen, und wer das fann der hat die Krone errungen und ift in jeiner Weife ein Griptes.”

Wenn die ſchöne Geele in einem gejunden Leibe wohnt, dann wird die Sinnlichkeit nicht abgetödtet, fondern die Natur wird in den Geift verflirt; und dak der Leib ein Tempel und ein Organ des Geiſtes fei, died zu erwirfen ift da8 Ziel der Gymnaſtik, dic durd) Kraft und Gejdmeidigfeit dex Glieder fie fiir den freien Dienft des freien Willens ertüchtigt und um fo mehr ein Bediirf- nif der Menſchheit wird je mehr dev Lebensberuf bald cine nur cinjeitige firperlidje Arbeit oder bald die nur geiftige Beſchäf— tigung fordert, die den Körper fo leicht verkümmern [aft Es gehört gu den erfreulichen Zeiden dev Zeit dag die Turnplätze fic wieder aufgethan; ein roher Teutonismus braudt in ifnen fo wenig heimiſch ju fein als cine vage Neuerungsſucht; daß fie aber zugleich Pflanzſtätten fittlidjer und patriotifder Gefinnung feien, fann ihnen nicht gum Vorwurf, fondern nur zur Chre gereichen. Daß fie aud) das Shine als Biel im Auge haben follten, war eine Mahnung die Friedrid) Thierfd) gab, als er feine Pindar- iiberjegung dem Turnmeifter Sahn widmete.

Sm Mienenfpiel, in mannidfaden Bewegungen und Geberden gibt die Seele innere Regungen duferlid) fund. Das häufig Wiederholte wird durd) Gewohnheit gum ftehenden Zug, und da die Seele zugleich und zuerſt leibbildende Lebenskraft ijt, fo wird der Körper gu einem Seelenfpiegel, zu einem Symbol des Geijtes, und die äſthetiſche Betrachtung verlangt das ſichtbare Erſcheinen inuerer Zuſtände in entfpredenden äußeren Formen.

362 Il. Das Schöne in Natur und Geift.

Zunächſt einige Beifpiele zur Erliuterung des Voriibergehen- den im Mienen- und Geberdenfpiel. Das Erbleiden der Angſt oder des Schreckens ift eine Zurückziehung der Seele in ſich, eine Flucht vor der Welt; fo entrinnt dann das Bhat aud aus den Extremitäten und ftrémt den Herzkammern ju, als ob es fic) dort bergen wollte. Dagegen wie der Muth, der Zorn zum Wirken nad) außen treiben, fo ſtürzt aud) das Blut hervor, brauft auf und rithet das Angefidjt. Aud) im Erröthen der Scam wehrt fid) die reine Innerlichkeit gegen eine feindfelige Beriihrung. Vom Vaden fpradjen wir bei der Unterjuchung des Komiſchen. Wie das Gemüth im Leiden weich wird, fdmilzt, fich auflift, jo drückt die Thräne des Schmerzes dies leiblid) aus.

Wir Curopder neigen uns grüßend um unfere Adjtung zu be- zeigen: wir biiden uns vor der eigenthiimliden Wefenheit des andern, aber wir behaupten fiir uns die cigene Wilrde, indem wir aufrecht ftehen bleiben, während der Orvientale fie preisgibt, der ſich vor den Füßen des anbdern in den Staub wirft. Wir umarmen jemand und driiden thn an die Brujt gum Beiden dag wir ihn im uns felbjt, in unferm Herzen hegen; wir fehren dem den Rücken den wir nidjt mögen, und der rohere Ginn weift gar zum Zeichen der VBeradtung die Partie welche tiefer liegt als der Rücken. Wenn wir cine Fauft ballen, fo machen wir die Hand zur Waffe; wenn wir jemand die Hand geben, fo legen wir da8 Organ un— ſers Handelus in das feinige und können die freundidaftlide Ver- bindung der Gefinnung ju einträchtigem Wirken nicht beffer ver- anjdauliden. Die befehlende Handbewegung deutet auf das zu Verridtende hin, die winkende zieht heran oder weift ab, die feg- nende fudjt ein Heil von der Hohe in feierlider Ruhe hernieder und ausftrémen gu laſſen. Wenn die Muskelſpannung der Er— wartung fid) unangenehm auflöſt, machen wir ein langes Gefidt; die Glitte der Stirn verfiindet die gleide Heiterfeit des Sinnes; verdilftert er fic) und zieht er fic) im fic) gufammen, fo lagern fid) Schatten über die gefaltete, gerunjelte Stirn. Indem wir den Kopf vorwirts neigen, niden wir dem bittend oder fragend vor uns Stehenden Bejahung; gleich) ridtig warf der Griedje den Ropf verneinend zurück und entjog ihn der an ihn geftellten Zu— muthung; wir ſchütteln in diefem Falle das Haupt; nad) Hegel deuten wir damit ein Wanfendmaden, ein Umſtoßen an, nad) Roſenkranz wire es nichts anderes als das Befdreiben einer horizontalen Linie, die alfo das Sichgleidbleiben, die Nidhtver-

Symbolif der menſchlichen Geftalt. 363

änderung bezeichnet; id) fehe darin Lieber cin Abſchütteln deffen was in uns eingehen follte.

Die Miene nun die cin Menſch oft madt, Bewegungen die ev häufig vornimmt, laſſen ihre Gpur zurück, die wiederholte Thätigkeit beftimmter Muskeln wird immer leidjter und vollzieht fid) dann aud) unwillfiirlid), oder gibt dem ganzen Körper jene cigenthiimlide Haltung und Ridtung die namentlid) verjdiedene Handwerker in Ruhe und Bewegung fennjeidnet. Das zuerſt Vor- iibergehende wird bleibender Bug, und der Neidifde, der Zornige, der wohlwollend Milde, Heitere gewinnen fo cin beſtimmtes Ge- priige. Und wie die einzelnen WAffecte, die cingelnen Stimmungen und Handlungen derjelben Seele entquellen welde im Körper das urfpriinglid) bauende und organifirende Princip ift, fo liegt aud in der Anlage ded Leibes ſchon diefelbe Tendenz und Richtung vorgebildet. Wir gewinnen fo die Miene und Haltung des Stol- 3e8 wie der Demuth, der Freudigkeit wie der Melancholie, der Schlaffheit wie der Thattraft, und von unferm eigenen Gefiihl aus verftehen wir die ſichtbaren Formen welche die Seelenftim- mungen fymbolifiren.

Sd fenne die Einwürfe der Wolfsradjen und Hajenfdarten und der mannidfadjen Verfiimmerungen, die im Mechanismus des Naturlaufs die Bildung des Leibes erfahren fann, aber fiir die Aefthetif werden wir an dev Uebereinſtimmung des Seelenhaften und des Körpers fefthalten, und wenn wir einen Mangel deffelben aud) dem Sudividuum nicht ſchuld geben, jo werden wir dod) im- mer die Harmonie als das Normale, als das Glück der Schön— heit begriifen. Der menſchliche Riinjtler wird jo bilden miiffen daß da8 Innere im Aeufern fidtbar wird, und wenn aud Loge recht Hiitte, der nur das im Naturlauf felber Liegende in der Ge- ftaltung ded Leibes verwirklicht werden (aft, während Fidte mit Carus und mir in der Seele die formgebende Lebensfraft fieht, fo wire die dennod) eintretende Harmonie des Sunern und Aeußern nur die um fo größere weil wunderbarere Bürgſchaft fiir die Gin- Heit alles Lebens und feinen Grund in Gott, und darauf beruht ja fiir uns die Möglichkeit der Schönheit, deren Wirklichkeit eben dev fiir Gefühl und Anſchauung gefithrte Beweis diejer Wahr— heit ift.

Fichte jagt: Offenbar fet jede geiftige Anlage der Seele dicfe in cin eigenthiimlides Verhältniß von Erregungen und von Gegen- wirtungen jur AuRenwelt; der bildende Künſtler faßt dieſe ſchon

364 Il. Das Schöne in Natur und Geift.

urjpriinglid) mit feinen Ginnen anders auf als der Tonfiinjtler oder als der gewöhnliche Menſch, welder die Sinnengegenſtände mit paffiver Gleidjgiiltigfeit in fid) aufnimmt. Das medanifde Talent gebahrt mit angeborener Geſchicklichkeit ſchon urſprünglich ganz anders mit den Dingen auger ihm, und wer nur cinigen pidagogijden Blic fiir die Cigenthiimlidfeit der Kinder hat, dem können die auffallendſten Unterſchiede in ſolchen Beziehungen nidt entgehen. Das mufifalifde Talent bringt feines Gehör fiir die Tonunterjdiede und cine fangfertige Kehle als leiblide Begabung init, ja eine ausgezeichnete Stimme deutet in den allermeiften Fal- Ten ſchon auf mufifalifdes Talent: es ijt derfelbe Parallelismus den wir zwiſchen innerer Seeleneigenthiimlicfeit und dugerm Bau der Singvögel finden, ſowie überhaupt der Körper jeder Thierart die fiinftlerifd vollendete Darjtellung ihrer Seelencigenthiimlidfeit heifen Fann. Dem Maler iſt ſchärfſter Blic fiir Farbennuancen angeboren, welde dem gewöhnlichen an ſich fcharffidjtigften Auge entgehen, ebenfo genaue WAuffaffung der Umriſſe und Körperver— haltniffe, was alles durch Uebung gefteigert, aber nicht gegeben werden faun. Das medhanijde Talent zeigt gleid) urſprünglich cin natiirlidjes Geſchick in jederlet Handhabung äußerer Dinge, die Glieder, deren richtigen Gebraud) jedes Kind erft lernen, das heift feinen Inſtinet erft ins Bewußtſein entwideln mug, find hier eigen pradisponirt und leichter durchwirkſam fiir jene Ver— ridtungen. Der finnige Blick des Naturforſchers leitet thn mit urfpriinglidher Sicherheit zu gewiffen Naturgegenftinden, zu Stei- nen oder gu Pflanzen. Dies und fo vieles andere treibt mit fiegender Gewalt zur Anerkenntniß dak die geiftige Individualitat, der Genius des Menſchen untheilbar Ging fei mit feiner Organi: jationstraft, daß er vom erften Acte feiner Erzeugung an im Leibe fein cigenthiimlides thatbereites Organ fic) erbaue.

Stellt ſich die Seele im Leibe fiir die Anſchauung dar, fo geſchieht es immer in einem andern als fie ſelbſt ift, in der Dia- terie, und es folgt daraus daß der Körper nidjt fowol thre un- mittelbare Wirflidfeit, als vielmehr ihr Organ und Zeichen ijt, und nur als Symbol ihres Wefens gedeutet werden fann. Cine ftrenge Wiffenfdaft wird hier unmöglich, der fubjective Cindrud herrſcht im Befdhauer, und die PBhantafie begleitet den Schluß vom Aeugeren aufs Innere. Und hier gibt 8 felbft verſchiedene Mittelglieder. Wie nahe liegt es dak man die Größe des Geiſtes in der des Körpers erfennen will, und fic) deshalb an der Heroen-

Symbolit der menſchlichen Geftalt. 365

gejtalt eines Raijers Karl und Handel erfreut! Aber wie nae liegt aud) die Reflexion daß geiftig thatige Naturen dem Körper nidjt die Hauptfraft zuwenden, fondern fie fiir das Sdeale anf- jparen, wie denn Napoleon, der Mann weltumfaffender Herrſcher— gewalt, ohne bedentende Leibesmaffe namentlid) in der Zeit feiner aufftrebenden Genialitit war. Feft fteht das Borwiegen des Kopfes bei den RKaufafiern vor den Mongolen und Negern, und ein Guvier, Goethe, Talleyrand, Humboldt, Thorwaldjen zeichnen fic) dDurd) groge Schädel aus. Dod) ift cin dider Kopf darum nod fein guter Kopf, man erwartet hinter ifm eine plumpe derbe Gehirnmaffe, und gar hiufig find feine und gejdicdte Geijter, gerade die redjten Riinftlernaturen, wie Rafael, wie Kaulbach, gar nicht mit cinem bejonders umfangreiden Haupte begabt, und die griecdhifden Riinftler der beften Zeit bildeten den Kopf im Verhältniß gum Rumpf kleiner al8 wir ihn gu ſehen gewohnt find.

Dies wird uns Vorfidt lehren, wenn wir and alle tiglid Symbolif der menſchlichen Geftalt treiben, fortwahrend von an- dern Menſchen bald einen giinjtigen bald ungiinftigen Cindrud gewinnen, von dem Aeußeren aufs Innere fdjlieRen oder fiir Cha- raktereigenſchaften die ihnen entſprechenden leiblichen Züge fuchen. Es befremdet uns gar nicht, wenn Shakeſpeare's Cäſar, der Plutarchiſchen Ueberlieferung getreu, zu Antonius ſagt:

Laßt wohlbeleibte Männer um uns ſein

Mit glatten Köpfen und die nachts gut ſchlafen: Der Caſſius dort hat einen hohlen Blich,

Der denft gu viel, die Leute find gefährlich.

Aber wir gehen auch wie der Didter vom Totaleindrud aus, und daß wir diefen fefthalten ijt die Hauptiade. Es fommt auf den Zujammenhang und das Sneinanderwirfen der Züge an, der: felbe Mund wird mit anderen Augen, mit anderem Kinn vereint ganz verſchieden erjdeinen, und das war Lavater’s Fehler daß er zu viel ifolirte, daR ihm 3. B. der breite Rücken der Naſe fdjon fiir fic) cin Fels der Freundfdaft war. Will man weiter gehen und fic) fiber den Totaleindrud Redhenjdaft geben, fo wird man finden daß wie im Geiftigen jede Perfinlidfeit das allgemein Menſchliche eigenthümlich zugeſpitzt erhalt, fo and) im Leiblicen die Geftalt einen Mittelpunkt hat und etwas fid) vorherrfdend und das andere nach fic) ſtimmend eriveift. Wie in der Pyramide

366 II. Das’ Schöne in Natur und Geift.

oder dem Regel dieſer Mittelpunkt als da8 allfeitig Erſtrebte in der Spite erfcheint, jo ift der geijtigen Natur nad) der Kopf das normal Bedentfamfte, das vom ganjen Körper Getragene und über ihn Gebietende; wenn der Nacken, die Schultern, die Bruft, der Baud) dagegen fogleid) im erften Eindruck dominiren, fo wird diejes auf ſinnliche Stärke, finnlides Behagen oder Begehren mehr als auf vorwaltende Seeleneigenſchaften oder ideale Tendenjzen ſchließen (affen. An Goethe war immer das herrlide flare und fenrige Auge befonders bewundert, an Shiller aber die prächtige gedan- fenvolle Stirn.

Betradten wir zunächſt den Kopf. Hier wölbt fic) der Schädel iiber dem Gebhirn und bildet feine weiden Umriſſe nad außen hin in feiner harten Schale annäherungsweiſe ab, und halt diefe worm aud) dann nod feft, wenn längſt der iibrige Leib zerfallen iſt, ſodaß er oft nod) nad) Sahrhunderten Zeugniß gibt von dem Leben das fid) unter ihm regte. Zunächſt muß nun beadhtet wer- den daß das Gebhirn fein vom Rückenmark wefentlid) verſchiedener Körpertheil, jondern nur die höchſte Stelle deffelben tft, die ſich gleid) der Bliite auf dem Stengel entfaltet, und daß Gehirn und Rückenmark während ihrer erften allmählichen Geftaltung im Men— jen cine Reihe von Formen durchlaufen höchſt ähnlich denen weldje in den verjdtedenen Thierflaffen bleibend erfdeinen. Go befteht unjer Gehirn anfangs gleich dem des Fiſches ans drei anf- cinanderfolgenden Ganglienpaaren, umgeben von zarten Rnorpel- bfittern, in denen man unfdwer die drei Wirbelbogen des Hinter- hauptes, der Scheitel- und Stirnbeine erfennt. Carus ergreift hier da8 Urphinomen fiir die ſymboliſche Deutung der ſpäteren Geftalt, fiigt indeß felbft die Bemerfung hinzu, die fid) dem Kun— digen fofort als Cinwendung aufdringen wiirde, dak das vordere Ganglienpaar an Wadsthum fehr bald die beiden andern itbertrifft und endlid) im Schädel das VBorderhaupt ganz, da8 Mittel- und Hinterhaupt gropentheils ausfiillt, ſodaß die Vierhiigel und das Kleine Gehirn von den beiden Hemifphiren Aberlagert werden. Danad) fann man alfo beim (ebenden Menſchen anus der Schädelform des Mittel- und Hinterfopfs feinen ſichern Rückſchluß auf die Vierbiigel und das Kleine Gehirn madden, da feine Wölbungen ebenfo gut von dem Großen Gehirn ihrer Größe und Geftalt nad) bedingt fein fin- nen, und vielleicht gang auf deffen Rechnung die ſcheinbar mächtige Entwidelung der unter ihm Liegenden Partien fommen miifte. Für den künſtleriſchen Eindruck mögen wir indeß die Sache fefthalten.

Symbolif der menſchlichen Geftalt. 367

Viele Erfahrungen an Menſchen und Thieren maden es nun fehr wahrideinlich dak die beiden Hemifphiren der Herd find wo alle Sinneseindriide zuſammenſtrömen und die Seele erfennend, vergleidhend, urtheilend waltet. Schwieriger wird die Beftimmung fiir die Vierhügel. Carus bemerft das Vorwiegen diefer Abthei- {ung bet den niedern Thieren wie beim menjdliden Embryo, fo- wie daß hier der Gehnerv hervortritt, und dak ihre Maſſe beim Weibe verhiltnifmifig griper ift al beim Manne; ihm ift dem- nad) ihre Beziehung auf die Region der dunfeln Gefiihle unver- fennbar. Ich möchte anus den erwähnten Griinden hier cher das Organ des bildenden Lebens in materieller wie in geiftiger Hinſicht juden, bier den Herd der den Stoff zum eigenen Leib geftalten- den Thätigkeit, iiberhaupt der Phantajie erbliden. Das Gefühl ijt ja fiir fic) feine Thatigfeitsridtung der Seele, fondern ihre Selbftinnigfeit, das Snnewerden des eigenen Zuftandes, in welden fie durd) die Vorjtellungen verſetzt wird mit denen fie fich be- ſchäftigt, mögen fic) diefelben anf Erfennen, Handeln oder Bilden beziehen. Das Kleine Gehirn ift durd) Vivifectionen als das Organ der Bewwegungen und Triebe, der praftifden Ausführung dargethan. Die Ausbreitung der Hemifphiren fiber die Vier: hiigel und das Reine Gehirn befundet das Vorwalten freer Geiftigfeit im Menſchen und ftellt nebft den da8 Ganje durd)- jiehenden Leitungsfaſern die Totalitit des Gehirns als ein Cini- ges in regfter Wechſelwirkung aller feiner Theile dar, gerade wie der Wille fid) durd) das Selbftbewnftfein vom bloßen Trieb unterjdeidet, und jeder Gedanfe vom Willen durddrungen ijt. So eifert and) Carns gegen die Abjurditit der fogenannten Phrenologie, und fpridt von einem moralijden Ekel der ihn er- fille, wenn er bet Betradtung der in ihren Windungen ſchön gefalteten Oberfliche des Gehirns, deren jeder Theil diefelbe innere Structur hat, jeder Theil im innigften Verein zum andern fteht, jeder Theil aus einer und derſelben Hauptmaffe fic) hervor- bildet, fid) vorerzählen laſſen foll: in diefer Stelle ftede das Ge- wiſſen, im jener die Theofjophie, in einer dritten der Mordſinn. Dagegen ijt ihm die Ausdehnung de8 Schädels iiberhaupt und die eines jeden feiner dret Wirbel im bejondern von Bedeutung. Der große Schädel gibt ein giinftiges Prognoftifon fiir da8 geijtige Vermigen. Die Entwidelung der Vorderhauptwirbel in die Breite deutet auf Vielumfaffen und auf eine analhtiſche Geijtesridtung, die in die Hohe auf Concentration und Fefthalten eines beftimmten

368 Il. Das Schöne in Natur und Geift.

Sdcenganges. Vom Mittelhaupt fagt Carus nun felbft daß ed befonders entwidelt bei Menſchen gefunden werde die zur Kunſt oder Religion fic) wenden; er weift feine Gripe bet Schiller, Felix Mendelsſohn, Thorwaldjen nad, und fpridjt davon wie fein Vor- wiegen julest die Schwärmerei bedingen finne. So beftiitigt jeine Erfahrung meine obige Anfidt. Die größere Region des Hinterhauptes deutet auf materielle Tüchtigkeit und Thatfraft, auf das techniſche Vermögen der Ausfithrung.

Die Sdhwellungen und Senfungen, welde der Schidelober- fliidje cin jo bewegtes Anfehen geben, entwideln fic) erft allmäh— lid); fie mangeln beim Kinde, und wo bet cinem Erwachſenen die Oberfläche glatt und leer fid) darftellt, wird fie uns eine witzloſe Ginfalt, cine geiftige Leerheit, den Mangel innerer Entwidelung ausdriiden. Die Kinderſtirn ijt durch ihre einfache rundliche Wölbung ausgezeichnet, folde Form gibt aud) dem reiferen Alter dann den findliden Typus. VBergleiden wir die Stirn Goethe's mit der Stirn Kant's, fo zeigt fic) bei dem fritifden Philoſophen die WAusarbeitung der Seitenpartien iiber den Augen befonders miidtig, bei dem Didjter dagegen ijt die Meittellinie, das Ein— heitlidje, in ſchöner Sdhwellung hervorgehoben, während bei Rant der unterfdjcidende und analyfirende Verftand fdon das Gegen- jiigliche in der Gebhirnbildung zur Bafis hat. Sicherlich darf man jolde Köpfe fiir künſtleriſche Darſtellung als Typen gelten laffen, ohne daß darum eine ähnliche Form uns jum Schluß auf die gleiche Genialitit beredhtigte. Sn Bezug auf die Sdhwellun- gen weldje die Augenhihle von oben umgeben, macht Carus ſcharf— finnige Bemerfungen. Sie fpringen befonders fdarf hervor bei Thieren mit guten Sehorganen, wie bei den Raubvigeln oder bei der Gemſe; man findet fie bet Malern und iiberhaupt bet Men— ſchen mit vorwaltendem Gefidtsfinne ſtark ausgebildet. Gall lief fie die Gebirnftellen de8 Orts-, Farben-, Zahlenfinns bezeidjnen, vergaß aber dak gerade hier da8 Stirnbein fehr did ift und fid nicht über Gehirnwindungen, fondern über Gebhirnhihlen wölbt, und ſich nach außen gerade da hebt wo innen die Hemiſphären nach unten ſich einziehen. Carus ſelbſt ſagt: „In Wahrheit ſind die Modellirungen des Augenhöhlenknochenrandes auf die Entwicke— {ung des Gefichtsfinns ju deuten, nicht gwar fo als ob je höher und mehr ausgearbeitet diefer Sfelettheil fei, um fo ſchärfer und fttirfer das Auge fein müſſe folche einfache Gleidjungen fom- men in der Natur felten vor! fondern die ſeeliſche Individua-

Symbolif dex menfdliden Geftalt. 369

lität, ob fie itberhaupt mehr durch diefen hohen Nervenfinn be- ftimmt und entwidelt werden follte, ob der Menſch feiner innern Ridtung nad) mehr gegen die Welt des Lichts oder gegen die Welt des Tons organifirt genannt werden diirfe, wird dadurd) angedentet; cine Verſchiedenheit die bedeutender ift als man ins— gemein glaubt, und die wohl fic) erklärt, wenn man des Ofen’- ſchen Wortes fic) erinnert, dem gufolge da8 Auge den Menſchen in die Welt, das Ohr die Welt in den Menſchen eingufiihren bejtimmt ijt. Zeigt fic) das Vorherrſchen des Geſichtsſinnes durch ſtärkere Ausbildung des Orbitalrandes und durd ein gleid- wie zum Schutz des Sehorgans bewirftes tieferes Zurückziehen des Augapfels, was ift natiirltder als daß dann wenn nun gerade der Gefidtsfinn nidt der geiftig beftimmende fein foll, vielmehr bie Accentuirung auf den Sinn des Gehirs fallen, und der Ton, das Wort, die Sprache es fein ſoll was in diefer Individualitit vorwaltet, nun aud) die Bildung der Augenhihle fowie das Ver— halten de8 Augapfels das gerade entgegenfegte fein miiffe! In

diefem Fall alfo wird dic Augenhihle flader werden, das Auge wird mehr hervorgedrangt fein, und es wird dies fdon an und fiir fic) den Ausdrud eines Menſchen geben dev aufhordt, und dabet das Auge ohne beftimmt etwas ju fiziren hervorrollt; während der erftere Fall ſchon durd) den gewöhnlichen Zug beim Scharfſehen beftitigt wird, wo wir nidt nur das Auge zurück— jiehen und durd Lid und Braue befdhatten, fondern felbft wol nod) die Hand iiberhalten zur miglidften Concentrirung des Lichts. Allwo fonad) ein oder das andere Verhalten des Auges bleibend und felbft durch die Endcherne Bilbung ausgeſprochen ift, da läßt fid) vorausfeben dak die Seele dieje fonft nur voritber- gehenden Acte als vorherrfdende Beſtimmungen empfinden muß, und wir verjtehen nun warum wir fiir den Menfden mit ftarfer Brauenwölbung die fidtbare Welt mehr anfgefdhloffen finden, während wir andererjeits bemerfen daß dem mit bejonders vor- liegenden Augen unter gleich gefunder Befihigung im iibri- gen die Welt der Sprade und des Tons zugänglicher gu bleiben pflegt. Sch fann ſagen daß mir nie eine Individualitit vorgefomimen tft weldje diejen Typus vollfommener an der Stirn getragen hitte alg Wilhelm von Humboldt, allerdings ein Geift dem wie faum einem andern die Welt der Sprachen ſich er- jdloffen hatte.” Bet Mufifern erſcheint das Borderhaupt an den Seiten, auf der Grenze von Stirn- und Schläfenfläche, ge-

Carriere, Mefthetit. I. 3, Auſl. 24

370 II. Das Schöne in Natur und Geift.

wöhnlich erhaben mobdellirt, alſo da8 grofe Gehirn nad) dem Ge- hirgang reid) entwicelt.

Was die Umbiillung des Schädels angeht, fo fommt hier zu— nidft die Stirnhaut in Betracht; fie vollendet die Schinheit ded Vorderhauptes, daß es dafteht, um mit Lavater gu reden, als „das unverfennbarfte ſicherſte Monument, die Reſidenz, Feftung, Grenze des Geiſtes“. Herder ſagt in der Plaſtik: „Das Leuchten des Angeſichts zeigt ſich inſonderheit auf der Stirn; da wohnt Licht, da wohnt Freude, da wohnt dunkler Kummer, und Angſt und Dummheit und Unwiffenheit und Bosheit. Kurz wenn wir Gefinnung des Menfdjen im reinften Verftande (fofern fie weder blogs Ginn, noch) ſchon Charafter ift) meinen, fo ift, glaube id, diefes die eherne leuchtende Tafel. Ich weiß nicht wie je einem Anblickenden cine Stirn gleichgültig fein fann, denn hinter diefer jpanifden Wand fingen doc) einmal alle Grazien oder hämmern alle Gyffopen, und fie ijt von Natur offenbar gebildet daß fie das Angefidjt foll leudjten Laffen oder verdunfeln.” Hiergu wirken offenbar die Feftigheit des Schädels und die Beweglidfeit der Stirnhaut zuſammen, dic den Gemiithsbewmegungen folgt und da- burd) von Falten durchfurcht wird, welche eine Gefdichte auf ihr niederſchreiben. Das Leuchten im Vergleid) gu den Weidhtheilen des Geſichts rührt von der feften weißen Rnodenunterlage her, und wird erhöht durd) den Contraft de8 umjdattenden Haares und der geritheten Wange.

Dak borftiges Haar auf eine ftarre Perſönlichkeit hindeutet, weiches auf eine milde und biegfame, dak das Harte mehr männ— lid), das zarte mehr weiblid) fei, iſt eine gewöhnliche Bemerfung, die bereits Ariftoteles ausgefprodjen. Carus thut aud) hier wie— der den glicliden Griff nad) dem Kinderhaar, das hell und weid iff, mie die nod unbeftimmte Sndividualitit; es färbt ſich dann, und entfärbt fid) wieder im höheren Alter. Erhält fid) die Find- fiche Haarbilbung, fo wird das Rindlide, oder in Ermangelung einer entwidelten Intelligenz da8 Rindijdje dadurch ausgedriict, wobei uns denn der unvergleidlide Flachskopf von Sunfer Chri- ftoph von Bleidenwang aus Shafefpeare’s Was ihr wollt jogleid einfillt. Die dunfle Farbe die von Kohlenſtoff und Cijen her- riihrt, die rothe die etwas mehr Schwefel enthilt, läßt anf ein Vorwalten dieſer VBeftandtheile aud) im Blute ſchließen. Das weife Haar des Greifes fymbolifirt den Ginn der fic) dem An- dringen der Welt mehr in fic) verſchließt, während das dunfle

Symbolif der menſchlichen Geftalt. 371

de8 Mannes fiir Uctivitiit fpridjt. Das volle Haar zeigt finnlide vegetative Kraft; fo lichtet es fic) gewöhnlich bet ftcigendem Alter und vorzugsweiſe geiftiger Thatigfeit. Das ſchlichte Haar deutet auf ſchlichten, das gelodte auf fdwungvollen Sinn, das wollig frauje aber, zumal wenn e8 verworren ift, auf wirres und un- flares Weſen. Das glattgeordnete fpricjt uns friedlid) an, das borftig geftraubte zeigt rohe Wildheit. Es ijt erftaunlid) wie ſehr der Ausdruc eines Gefichts wedhfelt, wenn man einer Zeichnung verfdiedene Weiſen de8 Haares und der Haartradt gibt.

Für den fernern Bau des Antlikes glaube id) die Bedeutung de8 Camper’ jen Gefichtswinkels fefthalten zu jollen. Zieht man eine Linie von der äußern Oeffnung des knöchernen Gehirganges bis gum fnbchernen Boden der vordern Naſenöffnung, und eine zweite von der gréften Hervorragung der Stirn iiber der Naſen— wurzel auf den vordern Rand des Oberfiefers, wo die Schneide— zähne figen, fo variirt der hierdurch gebildcte Winkel gwifden 70 und 90 Grad; er ift {pier bet der negerijden, dem rechten näher bet der kaukaſiſchen Raffe. Cr bezeichnet dort das Hervortreten des Mundes nad) Art der thierijden Schnauze, hier das Hervor- treten der Stirn und damit das Uebergewidt der geiftigen Ge- ſichtshälfte über die finnlide. Der Winkel ijt viel ſpitzer bet den Thieren, und nimmt man hellenijde Gitterbilder dagegen, fo ift hier der rechte Winkel, in der Natur felten, das gewöhnliche Maß und wirkt fiir die ideale Hoheit des Profils. Auge, Nafe, Mund beftimmen das Geſicht näher; am bedeutendften das Auge durch den Blic, dod) ijt aud) feine Geftalt, Farbe, Größe zu beadhten. Zunächſt bemerfen wir in Beziehung auf den Augenftern und auf das Weiffe, dak hinter diefem das Gebilde der Nerven- oder Netzhaut liegt, und dak es bet dem erwachſenen Mtenjdjen größer ift als bet Kindern oder Thieren, wo der Augapfel iiberwiegt. Die Griedhen bildeten gern einen grogen Wugenftern, Homer nannte die Gétterfinigin danach odjentiugig (Booöric), aber chriftlide Maler des 14. und 15. Jahrhunderts erhihten ihren Engeln und Heiligen den geiftigen Ausdrud dadurd) daß fie viele’ Weiße im Auge fehen liefen und den Stern flein zeichneten. Cin Auge anit grogem Stern und weniger Weiß drückt finnliche Fille und Kraft aus, neigt aber gegen das Thieriſche, übermäßige Rleinheit des Augenfterns ijt Schwäche und Verfiimmerung; cin Auge mit flei- neremt Stern und viel Weiß deutet auf Rartheit, höhere Genfi- bilität und Geiſtigkeit. Hierzu fommt der Schnitt der Augenlider.

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372 Il. Das Sdhine in Natur und Geift.

Sft ihre Spalte flein, ſodaß das Auge fic) nicht recht öffnet, fo gibt das ein ſchläfriges, kümmerliches, matted Ausfehen; ift fie kurz und ftarf nad oben gewölbt, fo erfdeint das Auge weit aufgeriffen, und wie es an das Rok oder den Löwen erinnert, fpricjt e8 Muth und Energie aus; die lange Spalte, die viel Weif zeigt, hat damit geijtigeren Ausdrud, aber mehr nad) der Seite des Innerlichen und Empfindungsvollen, aud) wol Sdmadtenden hin. Die blaue Farbe des Augapfel8, gewöhnlich mit blondem Haar vereint, ift weidher, ſchwärmeriſcher, weiblider, braudt aber des Feuers nicht gu entbehren, der wilde Heldenblid der alten Germanen war den dunfeldiugigen Römern felbft erſchrecklich, die dod) mehr die männiſche, active Augenfarbe Hatten. Die blaue JIris verfiindet die Klarheit und Reinheit ihrer Bildung gleid) der Bliue des Himmels; das Braun beruht auf Rohlenablagerung. Gin reines Wei zeugt von reinem und gefundem Nervenleben. Dunfle lange Wimpern erhöhen durd) ihre Befdattung die Kraft des unter ihnen hervorleudjtenden Blickes. Rücken die Augen fehr nahe an die Nafe, oder ftehen fie gu weit voneinander ab, fo wird dort die Crinnerung an den Pavian, hier an den Ochſen nicht giinftig wirfen; das Menſchliche Hilt die Mitte gwifden den thierifden Extremen. Was die Stellung oder Neigung der Augen angeht, fo ift fie beim Menfden mit geringen Modificationen fo daß eine Linie durd) die Spaltung der Lider wagredjt eine andere durchſchneidet welche das Geſicht von oben nad unten in zwei fymmetrijde Halften theilt. Aber die mathematijde Strenge der Rechtwinklichkeit würde aud) hier etwas Starres, unter die Noth- wenbdigfeit Gebundenes haben, und darum ſteht bald ein Auge um ein weniges höher als das andere, bald nad) innen zu beide gegeneinander geſenkt, wie bei den Chinejen, oder gegenetnander gehoben. Die Senkung fpridt eine finnige Richtung auf das Wirkliche und Natiirlide aus, die Hebung charafterifirt den von der Wirklidfeit ſchmerzlich bewegten Gemiithsmenfden, der iiber fie hinaus auf cin jenfeitiges Sdeales fdjaut. Ueber die Augen- braue ſagt Carus, dem wir bet der Betradjtung des Auges grofentheils folgen, ihre Bedeutung rube darin daß fie die Grenz— linie der Hirn- und Sinnesregion ded Kopfes bildet, indem hier an dem Rande der Stirn etwas von der VBehaarung jtehen ges blieben, die bei den Säugethieren das ganze Geficht bededt; fein gezogen kündigt fie die höhere Natur an, breit und buſchig aber wird fie ein Geſicht das fonft nidt fehr geiftig gebildet ijt, in

Symbolif der menſchlichen Geftalt. 373

das Thierähnliche herabjiehen, während ihre Stiirfe edeln Zügen bas Gepriige heroijder Kraft gibt; Carus hat died nicht bedadht, der Homerifde und Phidiafifde Reus, der mit der Bewegung der Braue den Olymp erjdpiittert, hatte ihn daran erinnern kön— nen, ebenfo das männlich ſchöne Antlig Heinrich Gagern’s. Carus fährt fort: Se mehr die Augenbraue fic) hebt, defto mehr dehnt fic) fymbolifd) die Gemiiths- und Sinnesregion in die des Geiftes aus, je mehr fie fid) fenft, um fo mehr ift das Entgegengeſetzte der Fall. Selbft die verfdhiedenen Seiten derfelben haben ver- ſchiedene Bedeutung, namentlic) die nad) innen gefehrte Cndigung dentet durch ihr fic) Erheben den Schmerz ebenfo beftimmt an alg das Grheben am dufern Ende bei Senfung nad innen die heitere Stimmung begleitet. Natürlich mug mun, da die Wugen- braue alle diefe Ridjtungen annehmen fann, ciniges davon was am meiften geiibt wird gulegt bleibend werden, und hiermit wird denn aud) die Bedeutung deffelben bleibend fein, und man wird bet heiteren offenen Charafteren mit vorherrfdendem Gemiith den ruhig offenen höheren Bogen der Augenbraue finden, bei tiefen Denfern (an Newton's Todtenmasfe tritt diejer Aug bejonders hervor) mehr herabgejenfte und geradlinige Augenbrauen, bet fehr Melancholiſchen die hodgehobene Innenendigung derjelben, und bet fehr unrubigen, die Stimmung wedjelnden und ju heftigen Ausbrüchen des Affects geneigten Perjonen eine nidt geradlinige, fondern mit mehrern Biegungen verlaufende Augenbraue bemer- fen; kurz e8 liegt in diefem kleinen Gebilde eine fehr tiefe und fehr mannidfaltige Symbolik, ſodaß es nicht gu viel gefagt ift, wenn Herder fie den Regenbogen des Friedens nennt, wenn fie fanft fet, im Gegentheil aber den aufgefpannten Bogen der Zwietradt, der dem Himmel über ſich Born und Wolfen fendet. Die Hauptwirfung de Auges aber liegt im Blick. Schon Hippel ſagt: „Jeder große Mann hat einen Blick, den niemarid alg er mit feinen Augen machen fann. Dies Zeichen, das die Natur in fein Angeſicht legte, verdunfelt alle übrigen Vorzüge und madt einen Gofrates zu einem ſchönen Mann im bejondern Verftande.” Carus fudht eine beftimmtere Erflirung: ,,Analyfirt man das was man den Blick nennt näher, fo findet fic) freilid e8 fet da8 Gefammtrejultat aller Bildung beider Augen, insbefon- dere aber ihrer Beſchattung, ihrer Ridtung und ihres Glanjes. Nur durd) die ganz reine weit mehr al8 gläſerne Durchſichtigkeit

374 Il. Das Sdjine in Natur und Geift.

der vorderen Augengebilde und durch den vidjtigen Grad ihrer Anfeuchtung wird das geheimnifvolle Hindurdwirken der Inner— vationsjtrahlung, aus dem tiefen Grunde des Auges hervordrin- gend und vom feiner Nervenhaut unmittelbar ausgehend, miglid, weldje dann die eigene magnetijde Wirkung des Augenftrahles bedingt, und eines fo miidjtigen Cindruds anf andere Sudividuen fihig iſt, daß man jedenfalls mit griferem Recht alS es da heift: «le style cest Phommes, fagen dürfte: Der Blic ift der Menſch.“

Wir haben am Auge innerhalb der matteren Oberfläche und eintönigeren Färbung des Geſichts durch den Contraſt der blauen oder braunen Iris, der ſchwarzen Pupille und der Hornhaut, auf welcher wie auf der blanken Wölbung einer Glasperle die Bilder der umgebenden Gegenſtände geſpiegelt widerſcheinen, zunächſt einen mächtigen Lichteffect; die ſeelenvolle Wirkung liegt in der Art wie dieſe Glanzpunkte bewegt werden. Das hat Henke aus— führlich in einem Vortrag erörtert. Wenn wir etwas ſehen wollen, ſo wenden wir den Blick danach hin. Die Art wie jeder das thut iſt theils durch Angewöhnung etwas bleibend Charakteriſti— ſches, theils ausdrucksvoll für das Intereſſe das er am Gegen— ſtand nimmt. Die Augen werden ſchnell oder langſam, kurz oder dauernd auf die Sache gerichtet, ſie werden in ihren Höhlen ge— dreht, oder der Kopf wird gedreht; gewöhnlich geſchieht beides zuſammen; das iſt das Natürliche; eine Abweichung von der Regel, wenn ſie nicht einen Grund hat und dadurch ausdrucksvoll wird, erſcheint ungeſchickt oder gezwungen. Aber wenn wir unbemerkt das Auge auf etwas werfen wollen, ſo bewegen wir den Hals nicht; das Auge macht ſeinen Streifzug, während der Kopf thut als ob es ihn nichts anginge; das macht den Eindruck des ver— ſtohlenen auflauernden oder coquettirenden Blicks; ein anderer fühlt daß wir ihn heimlich beobachten oder auch ein ſtilles, den übrigen verborgenes Einverſtändniß mit den Augen ſuchen. Men— ſchen die nur mit den Augen blicken machen einen knappen refer- virten Cindrucd; die welche fid) tmmer gang herumdrehen einen plumpjudringlidjen, ja dummdreiſten. Wollen wir von cinem ſym— metriſchen Gegenftand, wie das menſchliche Antlig, den flaren Gindrud, jo mug unfer Gefidt fic) ihm gerade gegeniiberftellen. So fieht der Wärter wol auf den Loffel, den er nad dem Munde des im Bette liegenden Kranken fiihrt; nimmt er aber an dem- ſelben mitfühlenden Antheil und will er ihn genau anjehen, fo

Symbolif der menſchlichen Geftalt. 375

gibt er feinem Gefidht die giemlid) gezwungene Neigung nad) dem Ropfende des Bettes, und der Kranke, der ein menſchliches Geſicht fid) wieder einmal gerade gegeniiber erblictt, fühlt in der Abſicht den theilnehmenden Blid. Go gibt die Kunft den Ausdruck tiefe- rer Snnigfeit durd) die Haltung womit der Menſch fein Angeſicht einem anbdern gerade gegeniiberbringt; jo neigt Rafael’s Madonna aus dem Haufe Colonna den Kopf nad ihrer rechten Schulter hin, um fic) mutterglicdbefeligt dem Cindrucd ded Rindes gan; hingugeben. Das offengehaltene Auge ift wad) und aufmerffam; bei gelöſter Spannung der Muskeln aber erſcheint es abgefpannt, ſchläfrig. Rieht fic) die Brane empor, jo wird die Haut glatt, das Auge ſcheint mehr aus dem Kopfe herausjuliegen, das Thor der Seele widerftandslos aufgethan; es ijt der Blick des Stau- nens, des Aufgehens in einem großen, pathetifden Gefühl. Senfen fid) die Brauen einwärts, abwirts, fo driidt das cin mürriſches Sichinſichzurückziehen aus; bleibt aber das Auge dabet offen, ſodaß fid) das Lid in die Knochenhöhle verftedt, fo glänzt das Weiße mit dem Stern leudhtend hervor, es ift der Blic des Zorns, in weldem Affect und Gegenwehr zuſammentreffen. Und fo wirft das Mienenfpiel der Geſichtsmuskeln in der freundliden Glitte, in der miirrijden Abjpannung, in der affectvollen Anſpannung entfdeidend mit; aber wer je die Macht eines ausdrucksvollen Blices, in welchem die ganze Seele fic) ergoß, lebhaft empfunden, der wird ſtets den Eindruck haben daß das Sunere unmittelbar aus dem Auge felbft hervorleudtet, und dieje Gewalt des Lebens ijt cine Schinheit höchſter und eigenfter Art, der gerade um ihrer Beweglidfeit und ihres Lichtglanzes willen es feine Kunjt gleid- thun fann.

Beſonders widtig fiir den Ausdrud der Augen ift die Stel- {ung der Sehachſen. Wir neigen die Höhenpunkte der Pupillen etwas gegeneinander, wenn wir einen nabegelegenen Punkt ſcharf auffaffen wollen, jodaf der von ihm ausgehende Strahl durd die Mitte beider zur Netzhaut gelangt, zwei Linien, die wir als die Bahn des Strahles von beiden Augenmitten aus ziehen, an der Stelle des Gegenftandes fic) ſchneiden. Dies ift der fixirende Bli€, die Augenftellung der Beobadter, oder des realiftijden Sinnes der das Befondere fiir fic) deutlich erfennen und behan- deln will, Gehen wir ohne einen Gegenftand zu fiziren unbe- ſtimmt in die Ferne, fo laufen die von beiden Pupillen ausgehen- den Strahlen parallel, und dies ift je nad) der Haltung und dem

376 II. Das’ Schöne in Natur und Geift.

iibrigen Ausdrud das Stieren der Gleidhgiiltigkeit oder der Blid idealiſtiſcher Bejdhaulicfeit, die nidt am Befonderen der Außen— welt haftet, ſondern verbunden mit einer Stellung der Augen nad) oben, ſodaß unter dem Augapfel das Weiße erſcheint, Hoff- nung, Sehnjudt, Begeifterung fundgibt. Den Gegenſatz des herglid) fid) ausſchüttenden Lachens von dem feinen ironifden Lächeln Hat Harleß dahin angegeben, daß in der Bewegung der Gefidtsmusfeln das Auge ruhig mit paralleler Achſenſtellung ſchwimmt, weil es feinen Gegenftand fixirt, fondern der fomifden Luft harmlos fic) hingibt; dagegen wer einen beftimmten Gegen- ftand verfpottet der fixirt ihn, ebenjo wer jemand liebend an- lächelt. Die Achfen weintrunfener Augen neigen fic, während das erjdjlaffte obere Lid herabjinft, etwas fchielend zuſammen und bewirfen dadurch die Doppelbilder. Cin Heiterer weltoffener Sinn judjt dem Licht allfeitigen Rutritt gum Auge zu geftatten, er ſchlägt die Lider auf und hebt durd) den Stirnmusfel die Augen- brauen glatt empor; eine diiftere Stimmung zieht fic) in ſich zu— rück, fenft da8 obere Augenlid, und zieht die Stirnhaut herab und fegt fie nad) der Naſenwurzel hin im didjte Falten, ſodaß das Auge umjdattet wird.

Die Naſe tritt bet dem Menſchen bedcutjam hervor, wiihrend fie bet den Thieren an den Oberfiefer gebunden bleibt oder bei einigen wenigen jum Gebilde des Riiffels wird; fie ftellt die geo- metrijde Mitte des Geſichts dar und gibt ihm dadurch leicht ihr Gepriige. Sie ift Organ des Riechens und de8 Athmens. Wie eine volle gejunde Bruft von Muth und Lebensfraft jeugt, fo ſchwellt cin lebhaftes Athmen die Naſenflügel, gleichwie cin feu- riges Roß durch die Nüſtern ſchnauft und brauſt. Dagegen zieht das Riechen die Flügel zuſammen und macht ſie fein. Im Geruch vermittelt uns der Duft das feine ätheriſche Weſen der Dinge, und die Naſe die ſich ihm ſpitz entgegenſtreckt wird damit zum Spilrorgan, was im Zuſammenhang des Ganzen ebenſo gut Vor- wi, Nafeweisheit, al Scharfſinn bedeuten fann.

Die Kindernafe ift fein und ftumpf; bleibt diefe Form, fo deutet fie auf da8 Unentwidelte, aber bet zierlicher Bildung auf das Naive und Sdhalfhafte. Go bejonders bei den Frauen. Stumpfnafen find den Negern eigen, weit weniger den Männern unter den Kaukaſiern; wo fie hier anfgeftiilpt mit weiten Nas- löchern vorfommen, will man ihnen leere Aufgeblafenheit anfehen. Die Naje ift iberhaupt bei dem männlichen Geſchlecht größer und

Symbolif der menfdliden Geftalt. 377

in der Zeichnung ſchärfer als beim weibliden, da8 fid) auch geiftig nidt fo in einfeitiger Beftimmtheit ausbildet, ſondern in ciner harmonifden Gemiithlichfeit bleibt; eine ftarfe Naſe gibt ihm ein männiſches Gepriige. Das Extrem der fpigen Magerkeit oder der Dickfleiſchigkeit deutet fid) leicht; jenes ift eine trodene Spürkraft ohne Schwung, mehr auf Verneinung als auf begriindetes Crfen- nen geridjtet, died cine robhfinnlide, materialtftijde Fille, die häufig aud) von iibertriebenem Genuß geiftiger Getränke herrithrt; „nichtsdeſtoweniger wird jedod) bet fonft giinftiger Kopfbildung und aufgewedtem Naturell eine Naſe diefer Art jenen Sdimmer bequemer Sinnlichkeit und {ebensfrohen Humors über das Gefidt werfen finnen, welder cinen Falftaff trok feines argen Materia— lismus zu einer der merfwiirdigiten Schöpfungen des unfterbliden Dichters ausprigt’, jagt Carus; in Heinrid) LV. ijt indeß befon- ders Bardolph's Naje der Gegenjtand des fpottenden Wikes, und er gerade ift derjenige der Cuftigen Gefellen der wenig mehr hat als dieſe Naſe. Die Langgeftredte gerade Form bei guter Bildung jeugt von forfdender und productiver Geiftesart; ift fie im der Mitte aufwärts gebogen zur Adlernaje der Romer, fo ſpricht fie vordringende Energie des Willens aus, und ftimmt tm fymme- trifden Gegenfag zu einem ftarfmobdellirten Hinterfopf.

In die Mitte des Gefichts geftellt verfniipft die Naſe deffen untere Partie mit der Stirn; iff nun an der Nafenwurzel ein tiefer Einſchnitt, fo erſcheint das Antlig getheilt und der Schädel getrennt von dem iibrigen BVorderhaupt; fteigt fie dagegen von der Stirn in ununterbrodjener gerader oder leiſe geſchwungener Linie Herab, jo verfniipft fie die obere und untere Hiilfte gu einer fie beherrjdenden Cinheit. Auf diejer beruht dann die Schinheit deS griechiſchen Profils und fein Werth fiir die plaftifde Sdeal- bildung.

Naſenmenſchen nennt Mehring ſolche bei denen die Naſe den Einheitspunkt bildet, der die ganze Form beherrſcht und den vor— wiegenden Eindruck macht; er ſieht in ihnen mehr Menſchen der Berechnung als des überwallenden Gefühls. Das thieriſch Fau— niſche und das geiſtig Kluge glaubt er der Naſe anzuſehen, und bezeichnet in letzterer Hinſicht das Profil Friedrich's des Großen als ein ganz entſchiedenes Naſengeſicht, das jedes preußiſche Thaler- ſtück ſeiner Zeit bis auf die ganz ungewöhnlich ausgebildeten Naſenflügel zeige.

Der Mund nimmt die Nahrung auf, und in ihm wird ſie

378 Il. Das Schöne in Natur und Geiff.

gugleid) verarbeitet und durd) den Geſchmack gepritft und genoffen; der Mund dient dem Athmen, aber in ihm und durd ihn wird bie Luft gugleid) in jene artifulirten Sdhwingungen verfest die fi) als Gefang und Sprache fundgeben. Der Mund wird da- durch ſelber befonders fprechend, und an ihm wird fic) der Ge- ſchmack zeigen den wir an den Dingen finden, die Stimmung ſpiegeln in die fie un8 verfegen. Er ijt grifer beim Manne mit dem WAusdrud vollerer Kraft als beim Weibe, das nur im Lächeln uns die Zähne weijen foll; dod) iiber fein Maß hinaus wird er jum weitaufgeriffenen Maul; ftehen die Zähne nicht fenfredjt, ſon— dern nad) vorn geneigt, wie beim Neger, fo wird er ſchnauzen— Haft, drängt fic) hervor und die Stirn guriid, und jeigt damit ein Uebergewidt der animalijden Natur. Die Lippentinie ift fiir die Schönheit des Geſichts ſehr bedeutend; nad) oben wiederholt fie ti linderem Schwung die DOoppelwelle der Linie die beide Augen nad) oben begrengt, die Hier durch die Naje getrennt, bei dem Mund aber in ungebrodener Cinheit erſcheint; die Linie der Unter- lippe prilubdirt die des Kinns, wie die der Oberlippe cin Nadh- Fang aus der Stirnregion ijt; fo verfniipfen gerade in der Quer- fpalte ded Mundes, die gu trennen jdeint, fid) im innigen An— ſchluß beide Grenzen des Gefidhts unterhalb des Schädels, und wie die Bogen der Augenbrauen fid) nach außen jenfen oder heben, jo gehen auc) die Mundwinkel mit herab oder hinauf.

Es ift menfdlid) dak das Obere das Untere iiberrage, und fowie die Unterlippe vorfteht vor der Oberlippe, fo madt das Profil den Gindrud des Nohen und Geijtlofen; auc ſoll der Mund nidjt gu weit von der Naſe herabfallen und dadurd) fich den höhe— ren Regionen gleichſam entziehen. Magere oder vollere Lippen ſymboliſiren die verſtändig feine oder trodene und die gefiih{s- reiche, finnlid) friftige Natur. Bon der Erhebung der Unterlippe bemerft Carus nod) befonders dah fie Widerwillen und Veradtung ausdriidt; die geiftige Erhebung über einen misliebigen Anblick gibt fic) gleichſam darin fund daß aud) dies untergeordnete Glied des Angefidjts fic) aufridjtet; der Wusdruc fann durd) Wieder- holung bleibend werden, und ijt dann die Miene des Stolzes, der Aufgeblafenheit, der Schnödigkeit. In der Ermattung, im Sdmer;, im Weinen finfen die Mundwinkel; eine lebendige Spannung, Heiterfeit, Lachen giehen fie empor. Der ſchlaffe, melancholiſche, wie der (ebendige, freundliche Ausdruck des Gefidts fann aud hierdurd) gum herrſchenden werden. Herder fagt in der Plaſtik:

Symbolif der menſchlichen Geftalt. 379

„Jedermann weiß wieviel die Oberlippe über Geſchmack, Neigung, Luft und Liebesart eines Menſchen entfdeide; wie diefe der Stol; und Zorn krümme, die Feigheit fpige, die Gutmiithigfeit runde, die ſchlaffe Ueppigkeit welfe, wie an ihr mit unbefdreiblidem Zuge Viebe und Verlangen, Kuß und Sehnen hange, und die Unterlippe jie umſchließe und trage, ein Roſenkiſſen, auf dem die Krone der Herrjdhaft rut. Wenn man etwas artifulirt nennen fann, fo ift’s die Oberlippe eines Menjdjen wo und wie fie den Mund ſchließt. Gin reiner garter Mund ijt vielleicht die ſchönſte Empfehlung im gemeinen eben: denn wie die Pforte fo glaubt man fet aud) der Geift der Heraustritt, das Wort des Herzens und der Seele. Der Ausdrud: an jemandes Munde hangen; die zwo Purpur- fäden des hohen Liedes die ſüßen Duft athmen; da8 Sprichwort vom verſchloſſenen Munde iſt dünkt mich lauter Leben. Hier iſt der Kelch der Wahrheit, der Becher der Liebe und zarteſten Freundſchaft.“

Das Kinn bildet endlich die feſte Baſis für das Oval des Geſichts. Seine Eigenthümlichkeit beim Menſchen beſteht in der einheitlichen Verbindung beider Unterkiefer, und daß es nicht unter- halb der Zähne zurückweicht, wodurch der Mund Schnauze wird, ſondern vielmehr hervorragt. Lavater wagte ſogar den Aus— ſpruch: Je mehr Kinn deſto mehr Menſch. Von Fett umlagert und mit einem Doppelbart unten umgeben bezeugt es ſinnliches Behagen und weiche, wol auch phlegmatiſche Fülle; hager und ſpitz eignet es der geizigen, trockenen, ſcharfen, kritiſchen Perſön— lichkeit. Geſunde Wangenröthe auf voller Wange iſt friſche Jugendlichkeit. „Studirt man die Geſchichte ausgezeichneter Per— ſonen und nimmt zugleich Rückſicht auf die organiſchen Verände— rungen ihrer körperlichen Maſſe, namentlich auch inwiefern ſie am Kopfe durch Abmagerung oder weichliche Fettablagerung um Kinn und untern Theil der Wangen ſich kundgibt, ſo gelangt man zu vielfältig intereſſanten Reſultaten; denn während Männer wie Kant, Talleyrand, Friedrich der Große auch im hohen Alter in dieſen Gebilden eine beſondere Magerkeit ſich erhalten haben, tritt bei andern, wie Thorwaldſen und Luther, um dieſe Zeit eine ſtarke Stoffzunahme hervor, ja ſelbſt Feuergeiſter wie Napoleon ſetzen wol dann Maſſe an; indeß zeigt doch gerade die Todtenmaske des letztern, deſſen übriger Körper in ſpäteren Zeiten ſehr angedrungen war, wieder Wangen und Kinn von dieſem Ueberfluß befreit, und bietet eine Großartigkeit der Verhältniſſe dar an Schädel und

380 II. Das Sdine in Natur und Geift.

Antlitz, welche vollfommen dem Dämoniſchen feines Weſens ent- ſpricht. Merfwiirdig aud) in diejer Beziehung find die Verhilt- niffe an Goethe, an deſſen Leide ſchon Eckermann mit Begeifte- rung da8 Hohe, von aller übermäßigen Maſſe Freie der Organi- jation rithmt, während doc immer, und fo aud in höhern Sahren, eine gewiffe gejunde Fille an Wangen und Kinn anf jenen reidjen und bequemen Zug feines geiftigen Weſens deutet, welder durd) die meiften feiner Werke, aber durdaus in ſchönem Make, hindurchgeht.“ (Carns.) Der Bart um Lippen, Rinn und Wangen ift entſchieden männlich, er fehlt dem Caftraten, und jein WUnflug gibt dem Weibe einen kecken oder männiſchen Aus- druck; er jeigt die gréfere Thierähnlichkeit des Mannes, und die Cultur, weldhe die phyfifde Energie zurückdrängt, beſchneidet und rafirt den Bart; Zeiten die perfinlider Kraft huldigen laſſen ihn dann wieder wadjen, wenigftens zum Theil.

An der Seite des Kopfes fikt das Ohr; durch diefes will der

denſch fic) nicjt fundgeben, viclmehr die Welt aufnehmen; es fehlt ihm felbft die Fähigkeit durch Spiken oder Senfen des Ohrs Aufmerkſamkeit oder Mislaunigfeit (demitto auriculas ut iniquae mentis asellus fagt Horaz) anjufiindigen, wofür andere Mittel ju Gebote ftehen. Seine Größe gefillt wenn fie der der Nafe gleid) ijt. Das gu grofe obere Ohr erinnert an Efel oder Hafen, das fpige ift faunifd. Feine Durchbildung der Muſchel zeigt daß die Natur auf das Ohr Sorgfalt verwandt, den Leib fiir das Ge- hor, fiir die Weltaufnahme, fiir Muſik organifirt hat. Hier pflegt die Muſchel dann aud) etwas vom Kopf abguftehen, während fie fonft am Schädel anliegt. Befannt ift Windelmann’s Bemerfung dak in den griechiſchen Bilbwerfen die Ohren mit bejonderer Sorgfalt gearbeitet find, ſodaß man dic Copien ſpäterer Zeit daran erfennen fann dak weder die Windungen zierlich find, nod) das Rnorpelartige im Marmor wiedergegeben ift.

Immer muß id) wiederholen daß nicht der eingelne Theil fiir fid) fpricht, fondern das Zujammenwirfen aller im Angefidt, daß deshalb durd) das cine wieder gut gemadt werden fann was im anbdern minder giinftig war, und daß zuletzt die Freihett und Arbeit des geiftigen Menſchen fid) von dem leiblichen mehr und mehr unabhängig fest, was aber dann wieder in einem Ausdruck er- ſcheinen wird der auch gemeine Züge abdelt.

Sedermann erinnert fid) wie ein und daffelbe Gefidht verſchie— den nad) den Seelenftimmungen ausſieht, und das gewöhnliche

Symbolit der menſchlichen Geftalt. 381

bald abſchreckend verjzerrt, bald wunderbar verflirt erſcheinen fann; jeder hat neben dem werftigliden oder alltäglichen aud) fein fonn- tägliches Geſicht. Das erfte ift das bet dem gewöhnlichen Handeln und Leiden, da8 den Handarbeiter von dem Bummer, den Gee {ehrten vom Genußmenſchen unterjdeidet. In der erhihten Stim- mung durdgeiftigt das Ideale die finnliden Formen, alles Ge- driidte oder Mühſame verfdwindet, und eine felige Harmonie iſt iiber da8 Ganje ergoffen. Bricht dagegen das Dämoniſche im Menſchen hervor, zeigt fid) das Böſe in nadter Geftalt, fo fann e8 das Angejidjt bis gum Entfegen verzerren. Wo eins oder das andere diefer beiden Gefidjter oft vorfommt, ba werden fie im gewihnliden nadflingen. Nach einer feinen Bemerfung Sdhopenhauer’s ift der langſame Bildungsproceß des bleibenden Geſichtsausdrucks durch unzählige voritbergehende charafteriftijde Anſpannungen der Züge der Grund warum die geiſtreichen Ge— ſichter es erſt allmählich werden und ſogar erſt im Alter ihren hohen Ausdruck erlangen.

Durch Mund und Ohr ermöglicht ſich die Sprache. Wie ſie die unmittelbare Offenbarung des Gedankens iſt, der ſich in ihr erzeugt, fo wird aud) ihre Erſcheinungsform charakteriſtiſch. Rede daß id) did) fehe, fagte Gofrates. Wie jeder Menſch innerhalb des Gattungstypus und der Nationalphyfiognomie dod) fein eigenes Geſicht hat, fo ſpricht jeder nad) den Gefegen der Grammatik in der Weife feines Vols auch feine eigene Sprade: in der Wahl und Prägnanz der Wörter, in der Verbindungsart, im Ton zeigt fic) geiftige und finnlide Sndividualitit. Beginnen wir mit dem Weuferen, fo unterfcheidet fid) der Mann durd) Kraft und Tiefe der Stimme vom Weib; im hohen Alter wird die Stimme ſchwach und heifer, fie verliert ihren Klang mit der friſchen Geſchmeidigkeit des Organismus. Der gedehnt und ſchläfrig Redende zeigt lang- ſamen Gedanfengang und Phlegma; wer fortwihrend poltert als ob er im Affect wire, bet dem ift dieſer in einer barſchen Ge- miithsart bleibend geworden. Wen fein Beruf wie den Ratheder- redner gum fdarfen Accentuiren der ſinnſchweren Worte bringt, der wird dies im Leben beibehalten, aber and) in feinem Denfen felber davon geleitet werden. Ebenſo wird ernfte ftrenge Gemeffenheit, wird weide ſchmelzende Hingebung in der Haltung und dem Klang ber Rede vernehmlid. Die gezierte Sprechweife befundet ein affectirtes Wejen der Seele. Der Klang der Freude ijt Heller und höher, die Bewegung der Stimme ift fdneller, der Ernſt,

382 II. Das Schone in Natur und Geift.

der Kummer, die Trauer reden gedämpfter, langſamer, in tieferem Tone. Monotonic und Wechſel der Stimme drücken aus wie beides in der Stimmung der Geele liegt. Die Ordnung und Verfledhtung oder dic Unordnung der Gedanfen, der hiftorifde Geift, der die Sätze einfad) ancinanderreiht, und der philofophijde, der fie al8 Grund und Folge zu verknüpfen Liebt, alles dies fpie- gelt fid) in der Sprache. Ihr geiftiger Gon erinnert an den Blid. Dak die Sprache die Gedanfen nicht verberge, wie der franzöſiſche Diplomat fagte, fondern dak nad) deutſcher Art cin Wort ein Mann fei, deuten wir an, wenn wir von Rede den Namen des Redliden ableiten, welder denft wie er ſpricht, ehrlid und überzeugungstreu lebt. Ihm eignet dann der offene herzliche Ton, der die Ueberzeugung des eigenen Gemiiths aud) überzeugend fiir andere macht. Die befannten Ausſprüche dak das Herz beredt made, daß Beredjamfeit eine Tugend fei, fie gelten aud) fiir jene unnadhahmlide Klangfarbe der Stimme, weldje unverfennbar die Wahrheit und Wahrhaftigkeit von der nod) fo gewandten Sophiſtik unterſcheidet.

Carus nennt die Sprache ein luftiges Abbild des geſammten Menſchen, und Lavater ſagt: „Wer ſein Ohr zum Beobachten gewöhnt hätte der würde vor dem Zimmer einer Geſellſchaft von Perſonen, die ihm ganz unbekannt wären oder die ſogar in einer ihm ganz fremden Sprache ſprächen, ſchon viele Eigenſchaften der Redenden genau beſtimmen können. Der Ton der Sprache, die Artikulation ſammt der Schnelle und Höhe oder Tiefe, alles charakteriſirt gar ſehr, und die Sprache oder der Ton der Ver— ſtellung, ja auch der feinſten, iſt dieſem geübten Ohr ſo aus— nehmend merklich, daß ſich beinahe keine Verſtellung ſo leicht ent— deckt als die der Sprache, obwol dieſelbe ſehr weit getrieben werden kann. Aber wer will dieſe unendlich nuancirten Ton— arten mit Zeichen ausdrücken? Wenn ich einen Menſchen durchaus im geraden Ton, dem der ganzen Redlichkeit, die durch— aus jede Nebenabſicht, die nicht offenbar ſein ſoll, reſpuirt, reden höre, in dieſem ſeltenen Ton ſprechen höre, ſo hüpft das Herz in Freuden und iſt in Verſuchung auszurufen: Das iſt eine Stimme Gottes und nicht eines Menſchen! Und Schande dem der dieſe allerhabenſte Naturſprache nicht verſteht; gewiß wird er Gottes Sprache weder in der Natur, noch in der Schrift, noch in ſeinem Herzen verſtehen.“

In Bezug auf den Stamm des Menſchen, Hals, Bruſt,

Symbolif der menſchlichen Geftalt. 383

Baud und Riiden, können wir wieder der Führung von Carns folgen; ich verſuche das Wefentlide, mit dem ich einverftanden bin, kurz darjuftellen. Wie bedeutungsvoll der Hals fiir die Cha- rakteriſtik ijt feuchtet fofort ein, wenn wir bedenfen: er zeigt wie der Menſch nad) Herder’s Wort fein Haupt und Leben triigt. Gr enthält den obern Theil des Rückenmarks und damit die Communication fimmtlider Nerven des Stammes mit dem Gehirn, er enthilt die Luft- und Speiſeröhre; feine Rückſeite er- ſcheint mehr fiir das geiftige, feine Vorderſeite fiir das leibliche Leben bedentungsvoll. Die Cinfiigung der RKehlgegend in die Bruft, des Nackens in die Sehultern ift dabet in Linien und licen fiir Anmuth und Holdfeligfeit namentlid) bet den Frauen beftimmend. Sm Hal des Farneſeſchen Hercules priigt die ftarke Muslulatur des ſtiermäßigen Nadens mit ihrer ftraffen Stredung das Thatkräftige und Hartniicige der Athletennatur vortrefflicd aus; fein, ſchlank, gerundet mit leicht hervortretendem Kehlkopf ift der Hals Rafael’s auf dem felbjtgemalten Portrit, das PſychiſchSanguiniſche des Temperaments, das Senfuelle der Con- ftitution und die Schönheit des Gemiiths in den vom Haupt auf die Bruſt ebenmäßig janft herabgeſchwungenen Linien ausdriidend. Dem Reus gibt der Hals die breite grofartig edle Bafis fiir bas gewaltige Haupt, die ſchöne kühne Muskelſchwellung deutet beim Apollo von Belvedere auf die begeifterte Thatkraft und Siegesfreude. Rurzhalfige Thiere zeigen Stärke und Schwer— fälligkeit, langhalſige find leicht und beweglich; der weiblide Hals iſt ſchlanker und zarter als der kurze gedrungene des Mannes; danach urtheilen und bilden wir. Scheidler ſagt wol deshalb in ſeiner Pſychologie daß Helden kurzhalſig ſeien, weil der lange Hals Kopf und Bruſt, Ueberlegung und Muth der Ausführung auseinanderrückt; Alexkander der Große und Goethe's Egmont ſind aber bei allem Heldenthum ſo gemüthvolle phantaſiereiche Menſchen, daß ihnen der freie ſchlanke Hals wohl zuſagt.

Feſte Haltung des Rückens bezeichnet die auf eigenem Schwer— punkt des Charakters ruhende Perſönlichkeit, die hin- und her— ſchwankenden Seitenbewegungen des Rückgrats zeigen einen un— ſteten ſchlottrigen Geiſt. Der gekrümmte Rücken iſt Unterwürfig— feit, die es oft nicht ſo meint, und darum die frömmelnde Ropf- hängerei und Tartufferie bezeichnet. Das reizende Muskelſpiel des Rückens bewunderte noch taſtend der erblindete Michel Angelo am Torſo des verklärten Herakles; in ſchwellender Weichheit iſt

384 Il. Das Sdine in Natur und Geift.

e8 bei Frauen ſinnlich ſchöner, durch die klar beftimmte Entwide- lung am Manne aber geijtig bedeutender. Cine Verunftaltung deS Rückens bringt cine Verſchiebung der ganjen Bildung mit fig), und ruft in der Seele die Erbitterung oder den Humor dariiber hervor. Der launiſche, ironiſche Charafter, der {dare Wik jo manches Bucklichten iſt der Volfsbeobadtung nidt ent: gangen, und in der Aeſop-Herme ijt die Wedjelwirfung des ver- friimmten Körpers mit dem fatirifden Geifte von einem antifen Künſtler fehr gut dargeftellt; ebenfo in Ricard IIT. von Shafejpeare.

Die Bruft drückt die gemüthliche Lebensfiille der Perſönlichkeit aus. Gon Herder ſchreibt in der Plaftif: „Wie auf der Stirn Gefinnung herrſcht, jo birgt die Bruft die edeln Cingeweide und ijt ihr Benge. Gin Menſch von freier Bruft wird in aller Welt fiir fret und edel gehalten, er fann dod) athmen. Das pectus hirsutum, der eherne Banger um die Seele, ift aller Nationen Spridwort; dagegen die zufammengeflemmte, feudjende, [don von Matur fid) verbergende Therfitesbruft aud) ein natiirlides Organ ift von eingefdhloffenem, zufammengefriimmtem, friedendem Diuthe. Befannt ift daB gu diejer Misbildung nichts fo fehr beitragt als das liebe Sigleben, das arbeitende Kriechen auf der Bruft. Zagend ſchwebt das Herz in feiner engen bedriidten Hihle. Weldher Freund der fein Haupt an eine foldje Bruft lehnen und ſagen finnte: Du bijt mein Fels! welder hülfloſe Unterdriidte der fish an ihr aufridjten finnte und fagen: Du biſt meine Zufludt.” Carus jest Hingu: „Die normal größere breitere mächtigere Bruſt deS Mannes triigt offenbar das Symbol einer größern Kraft des Charakters und eines mehr leudjtenden Muthes, während die jar- tere engere Brujt des Weibes fo viel mehr nur die Dulderin be- zeichnen würde, triige nidjt wieder der an ihrer Außenfläche ſchön fic) wölbende Bujen die edelfte Beziehung auf das Gejdledt und bas unverfennbare Siegel der Liebe. (Namentlich aud) das fic Erſchließen des Weibes in der Mtutterliebe diirfte hier gu erkennen fein.) Darum alfo ijt es daß wir nist mehr einem Wejen unjer ihm juftrahlendes Gemiith, unfere Liebe bezeichnen können als in- dem wir es an die Bruſt driiden; darum find hundertfaltige auf Bruſt und Herz fich beziehende Redensarten in die Sprachen iiber- gegangen um das Regewerden der Neigung wie ihren Gipfelpuntt gu bezeichnen, und eben darum weil die Beziehung gwifden Bruft- bau und Gemiithsleben fo innig ift, wird man and) verftehen warum fogar Aenderungen dieſes Baues, infoweit fie durd) Krank—

Symbolif der menſchlichen Geftalt. 385

Hetten Hervorgerufen werden, wejentlide Umftimmungen, zwar nidt in der Schärfe des Geiftes, wohl aber in der Art des Gemiiths- guftandes Hervorzubringen vermigen.”

Liegen unter der Bruſt die beiden Herde des Biutlebens, Herz und Lunge, fo dedt die Haut des Banded die Cingeweide welche der Ernährung des Leibes dienen; das Grübchen des Nabels gibt noch den Punkt an wo der Menſch im Schoſe der Mutter ver— bunden mit ihrem Organismus erwuchs. Dicke Fettanlagerung zeigt das Behagen vegetativen Lebens; die flackernde Gemüths— flamme leidenſchaftlicher Naturen pflegt ſie aufzuzehren, phleg— matiſche Ruhe aber und ein ſicherer Gleichmuth im Genuß ſie zu begünſtigen. Das Becken umgibt ſeitwärts den Bauch; um der Mütterlichkeit willen iſt es breiter beim Weibe und ſo kündigt die Hüftenfülle deſſen ſexuelle Productivität an; einer Pallas Athene, der jungfräulichen Göttin der Weisheit, fehlt ſie darum, und tritt bei Männern ein, wenn ſie mehr weiblich weich gebildet werden, wie Dionyſos. Die Sexualorgane des Mannes wenden ſich nach außen, ſeiner Activität gemäß, während ſie bei dem Weibe im Innern umſchloſſen bleiben, und damit wieder dem Geheimniß— vollen und der ſchamhaften Zurückgezogenheit des jungfräulichen Gemiithes entfpredjen, das aud) dem reinen Weibe in der Che bleibt.

Wie die unteren Gliedmafen am Stamme des Leibes zu feiner Fortbewegung dienen, fo befonders die oberen zur Vollftredung jeines Willens, und wie elend miiften wir fein ohne Arm und Hand, oder vielmehr wie mangelhaft bliebe unfere geiftige Ent- widelung ohne fie, fo jehr daß der alte Streit jwijden Galen und Aviftoteles in unjern Tagen gwijden Bell und Herbart wieder auflebte, von denen ſeltſamerweiſe die Philoſophen behaup- teten: der Menſch fet das klügſte Geſchöpf, weil er die Hand habe, die Naturforjder aber die Sache richtiger fo ausdriidten: dag in der Vernunftbegabtheit die Hand mitbedingt fei. Der Oberarm ijt das eigentlide Bewegungsorgan, die Muskeln von Bruft, Schulter und Rücken wie die des Unterarms jegen Hier an und fo befundet cr vorzugsweiſe die phyſiſche Kraft, deren enger Zu— jammenhang mit dem Muth und der Energie in die Augen fallt. Es ift menſchlich daß der Oberarm linger fet als der Unterarm, während derjelbe bet den Affen und Fledermäuſen kürzer ift und bet den andern Vierfüßern gar nidt als freie Gliedmaße aus der Bruft hervortritt, fondern von ihrer Bedecdung mitumſchloſſen

Carriere, Wefthetif. 1. 3. Aufl. 25

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bleibt. Der Unterarm enthilt die Bewegungsmusfeln fiir die Hand, er ift dadurch reicjer und feiner geglicdert, und präludirt den Charafter der fic) dann in ihr entſchieden ausprägt; hier ent- widelt fid) ein das Gefühl mächtig ergretfender Liebreiz in den weichſchwellenden weibliden Formen, hier zeigt fic) ftraffere felbjt- herrfdjende Stärke in dem feften Gefiige de3 Mannes. Näher bemerkt nod) Carus: „Man beobachte den rauhen ſonnegebräunten fangen und jtarfen Vorderarm des griberen Handarbeiters und den mageren gedehuten eigen des gewöhnlichen Schreibers, den friftigen und dod) fein gebildeten ded Virtuojen, den ſchlanken weidgerundeten der ſchönen Frau, oder den vertrockneten vergilbten mit fpigigen Elnbogen der zänkiſchen Alten, und eine ganze Reihe fymbolijd) verjdiedener Formen wird uns entgegentreten.”

Die Hand ift fo reich) an feinen Knochen und Muskeln und an den Fingerfpigen verzweigen fic) fo jehr die zartfühlendſten Ner- vent, daß fie fid) dadurcd als Organ der Bewegung und Empfin— dung zu erfernen gibt. Sein Thier zeigt fie in der klaren Ent- widelung wie der Menſch; bald fehlt die Fingergliederung, und die Hand dient gleid) dem Fuße nur zum Gehen, und ijt mit dem Horn des Hufes umzogen, oder wo die Gliederung cintritt, endigen die Ginger in die harten Klauenſpitzen des Raubthieres, die wohl gejdidt find ihre Beute zu packen, nidt aber der tajtenden Em— pfindung dienen, die uns fo widtig iſt daß wir ir hauptſächlich die ſinnliche Gewifiheit einer Außenwelt und Körperlichkeit ver- banfen. Bet dem Menſchen legt fid) der Nagel nur wie eine diinne Platte Haltgebend iiber das Nerven- und Meustelgefledt der Pinger{pige, und erfleicdjtert das Ergreifen fleiner Gegenſtände. Kein Thier hat einen Daumen, und wie fehr alles Gefdic der Hand fiir den Dienjt des Geiftes auf demfelben beruht, drückten die Grieden fdon im Namen Gegenhand (aveiyero) aus, die Lateiner feiteter ifr Wort pollex von pollere vermögen ab; wie Hand das Symbol der Macht ift und Gott jelbft die höchſte Hand heift, jo bezeichnet die Kraft des Daumens die Herrſchaft, und daß man jemand den Daumen anf das Auge halte, driidt die volle Bewaltigung aus. Die Finger find die geſchickteſten thatigften lieder; fie nicht mehr regen gu können ift das Zeichen der Leb- fofigfeit. Mus den Vinten der Handfläche wollten friihere Jahr— hunderte das Gejdic des Menſchen Herauslefen; fie find die cine gegrabenen Spuren derjenigen Bewegungen weldje die Hand von frith am meiften übte. Die weiche warme feuchte Handfläche wird

Symbolif der menſchlichen Geftalt. 387

wie die Harte falte unempfindliche trocfene auf die durd das gleidhe Wort bezeichnete Gemüthsbeſchaffenheit gedentet.

Den erften entideidenden Schritt fiir das Verſtändniß der Handjymbolif that der Franzoſe d’'Arpentigny; ihm folgte Carus. Ganz einfach ergeben fic) vier Hauptunterfdiede: die elementare, nidjt beftimme entwidelte, dann die fiir die bewegende Thitigfeit, dann dic fiir das taftende Empfinden, endlich die dieſen Gegenſatz harmonifd) ausgleidende Hand. Die Rinderhand bietet den Aus— gangspunft der Betradjtung; die männliche ijt dem Geſchlechts— dharafter gemäß mehr motoriſch, die weiblidje mehr fenfibel. Die elementare Hand hat die grifere, fowol längere als breitere Hand- flide, die Finger find furz und did, die Bildung ijt grob und fleifdig voll. Sie dient gewöhnlich einem derben, aber wenig modellirten Schädel, fie ijt die Hand der Maſſe, ſie ballt ſich zur harten Fauſt; die Feſtigkeit und Beharrlichkeit, aber auch die Roheit des Volks wird durch ſie repräſentirt; der Geiſt der ſie lenkt wird ſelber etwas ſchwerfällig im Begreifen und nicht ſehr zartfühlend, aber mäßig und tüchtig ſein. Die motoriſche Hand iſt ſtark an Knochen, Muskeln und Sehnen, von viereckiger Hand— fläche; unter den Fingern iſt der Daumen mit vollem Ballen ausgezeichnet. Sie kündigt Wirkungsdrang, Willensmacht und ausdauernde Thätigkeit an. Sie eignete den alten Römern. Wie ſie bei Männern, ſo kommt die ſenſible Hand am meiſten und reinſten bei Frauen vor. Dieſe hat zartere Gebilde, iſt mehr nach der Längenrichtung entwickelt, und der Daumen iſt verhältniß— mäßig kleiner als die übrigen Finger, an deren fließenden Umriß— linien die Ausbiegungen der Gelenke minder hervortreten. Das ſanguiniſche Temperament, der durch Gefühl und Phantaſie beſon— ders begabte Geiſt bedienen ſich ihrer. „Ein Charakter wie Goethe's Taſſo würde ohne ſolche Hände gar nicht zu denken ſein“, ſagt Carus; fie findet ſich mehr bei Italienern und Franzoſen, d'Ar— pentigny möchte die Leichtigkeit und den pittoresken Schwung der franzöſiſchen Truppen von ihr ableiten. Die motoriſche Hand iſt mehr im Norden heimiſch. Die ideale Hand wird die der ſchönen Seele ſein, in welcher Gefühl und Wille, Verſtand und Phantaſie im Gleichgewicht ſtehen, und der künſtleriſche Trieb das Leben entwickelt und gum Ebenmaß geſtaltet. Die Handfläche iſt etwas länger als breit und nur mit einfachen größern Linien ge— zeichnet; die Finger ſind ſchlank, oben fein gerundet, der Daumen von mittlerer Stärke.

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388 IL Das Sdine in Natur und Geift.

Hier fommt nun in Vetradt dag die UArbeit ftets die Hand ſehr mobdificirt, dag fie durch anjtrengende Beſchäftigung derb, hart, ſchwielig wird, und deshalb oft die urfpriinglid) feine Anlage der Hand nidt zur Cntwidelung fommt, ſondern breit, knochig und jehnig wird, während der Geijt und das Gemiith fid) in ihrer Innerlichkeit ideal ausbilden. Die Hand des Tiſchlers wird eine andere als die des Sdhufters, die des Baders eine andere ald des Fleiſchers, die des Sajriftitellers eine andere als des Maurers, des Mufifers eine andere als des Sdhiffers. Die Hand „die SGamstags ihren Befen führt“ ift nicht die der ariftofratijden Modedame. Der darjtellende Künſtler wird dies bejonders berück— jidtigen. Sn der Hand prägt fic) die Handlungsweife aus; die gewohnte Thitigfeit wohnt fic) in fie cin. An Rafael's frenj- tragendem Chriſtus (lo spasimo di Sicilia) bewundern wir die ideale Hand, der Krieger der ihn am Strid emporreift thut es mit roh motorifder, die theilnehmenden Frauen zeigen die fenfible Hand. Von dem treffliden Bilde in diefer Hinfidt habe id friiher ſchon gefprodjen und erwähnt wie Tizian das gemeine fniffige Weſen des Phariſäers durd) die ecfige, in den Gelent- knochen ſcharf marfirte Hand, die den Rinsgrofden Hilt, und die reine Geelenflarheit und milde ruhige Weisheit des Heilandes durch die fo ſchlicht bewegte, Elar entfaltete, edel geformte, feelijde Hand deſſelben jymbolifirt Hat.

Des Menjden Statur und Gejtalt ijt endlid) wefentlid) durd jein Stehen, durch die Art wie er fid) ftellt bedingt. Durch fei- nen Willen richtet er fid) auf, und der Riidgrat Hilt die Rich— tung der Beine ein, und trägt das aufwärts gewandte Haupt. Die Kopfbildung, der frete Gebrand) der Glieder, Ginne und Stimme hingt fo fehr mit der aufrechten Stellung zuſammen, dag Herder fie von thr ableitete, Rant aber mit Fug die Sache umwandte und durd) Vernunft und Willen den Menſchen auf- geridjtet werden liek. Stand und Stellung bezeichnen das was der Menſch fich tm Leben ſchafft und behauptet, Lage dagegen dadsjenige Verhältniß in weldjes er mehr unbewufterweife durd) die Stri- mung der Weltzuftinde und deren Beziehung zu feinem Wejen gebract wird. Im Schenkelbau liegt die phyſiſche Größe des Menfden; die Lange des Oberfdjenfels ijt wie beim Oberarm wieder das vorzugsweiſe Menſchliche. Neger und Suden find furj- ſchenklig, die letztern es vielleidjt dDurd) den langen Druck gewor- den, ,,der ifnen das gebogene Knie aufzwang und den Typus der

Symbolif der meuſchlichen Geftalt. 389

Untergliedmafen verdarb“. Was die vollfdwellende Hiiftenbreite des Weibes das ift die Muskelſtärke der Schenkel beim Mann. Die Bildung des Unterſchenkels mit fraftigen Wadenmuskeln, ſchlanken Sehnen und feiner Verjiingung des Beins zeigen eine Slafticitét, die den ſchwungvollen Gang vermittelt und damit auf cine ähnliche geiſtige Bewegung Hindeutet. Nur das menjdjlice Knie geftattet dem Ober- und Unterjdenfel die gleiche fenfredte Stellung; darum ift dieſe aber aud) fo dHavafterijtijd, ſodaß in die Knie zu finfen ein Herabfinfen zur Thierähnlichkeit, eine Hal- tungsloſigkeit, Schlottrigtcit und Unterwürfigkeit ijt, die fic) mit der Wiirde des Menſchen ſchlecht vertriigt. Wie ftrahlt die Siegesbegeifterung des Belvederefden Apollo and) ans den ſchlanken Beinen hervor, die ihn emporjujdwingen ſcheinen, wäh— rend der Farnejefde Hercules auf ſeinen musfelderberen Schen— fel den fefter Stand behauptet und durd) fie die Mühe und Arbeit des Erdenlebens im Unterjdiede von jener leichten Gitter- jugend ausdrückt!

Burmeifter behauptet fogar dag das Bein und vorzugsweife der Fup es ift welder den Menſchen zoologiſch am beften von den Thieren unterfdeidet, weil nirgends mehr al8 gerade an ihm die körperliche Cigenthiimlidfeit bes Menſchen hervortrete, und fein Theil feines Leibes fic) weiter von den entſprechenden Formen der Thierwelt entferne. Nur der Menſch ijt ein Zweifüßler, und dies jenige Form feines Fußes nennen wir fin weldhe uns am wenigften an thierifde Formen erinnert. Der menfdlide Fuß befdjreibt einen rechten Winkel gegen das Bein, weldhes anf ifm rubt, aber nach angen hin madjt die gefdwungene Linie der Ferfe und mehr nod) der Bogen des Reihens den Uebergang. Wber nidjt die ganze Sohle beriihrt den Boden: der Araber fagt fogar dak unter dem Fug ded Adelichen ein Bach durchfließen könne; fondern nad) hinten ftemmt fic) das Hacenbein, nad) vorn der Ballen mit den Rehen auf die Erde, in der Mitte dazwifden aber find mehrere Knochen feilformig aneinandergefiigt, ſodaß der Fuß einen aus fejten Werkſtücken jujammengejesten Bogen darftellt, der fid) von beiden Seiten emporwilbt, ſodaß die Tragfraft der Unter- {age erhöht und von der Mitte auf die Enden verlegt, dem Fuf jelber aber cine größere Beweglichkeit ermöglicht iſt. Bet den Vierfüßern ruht die Laft des Körpers beim Gehen immer auf zwei Stiigen, bei dem Menjden muß ein Fuß fie tragen und deshalb fie vertheilen. Die Biirentage, dem menſchlichen Fug fonft vers

390 II, Das Schone in Natur und Geift.

wandt denn auch der Bär geht auf der Sohle, nidt auf den Zehen oder Nägeln, wie viele andere Thiere —, ift ein Plattfug, und folder ift beim Menſchen unfchin, indem er zugleich den Trampelgang veranlaft; außerdem ijt der Bärenfuß bretter, und die große Sehe Fleiner als die iibrigen. Nun ift gerade die Innen— zehe dicjenige weldje bet den Thieren am erften fehlt und verfiim- mert wird, bei dem Menſchen aber die andern an Stärke iiber- trifft, jodaf Burmeiſter meint fie al8 die allermenſchlichſte Form des menjdlicden Körpers anjehen ju diirfen. Iſt fie zu klein und der Hacken gu kurz, fo verliert unfer Fug feine menſchliche Schön— heit. Dod) ift die Linie die ifm nad) vorn umgrenzt dann am woh{gefalligften, wenn die gweite Ache etwas iiber die erſte, dte alferdings abjolut größer und viel ftirfer ift, nad) augen hervor- ragt, und fo etn Bogen den Fuk umſchreibt.

Die Affen haben im Fuh daffelbe Knochengerüſte wie der Menſch, aber die groke Behe ftellt fic) wie der Daumen an der Hand den andern gegeniiber, die Affen find eigentlich Vierhänder, weniger jum Gehen als zum Baumllettern gefdidt, und darum find aud) die Zehen fingerartig fang und jum Greifen gecignet. Die Hintere WAffenertremitit ift ſchmäler als der menfdlide Fuk und wölbungslos platt wie ein Handriiden, fie dient nidt als Stiite, fondern al8 Halter des Körpers, indem fie Aefte umflam- mert. Lange ſchmale niedrige Füße find affenmipig häßlich. Aber darum dürfen fid) die Zehen nicht gu fehr verkürzen, die Wölbung nicht ju fteif anfteigen, weil fonft die horizontale Wusbreitung gegeniiber der Verticallinie des Beines fehlt, und der Fup fid dem plumpen Clefantenpedal als Klumpfuß nähert. Daf die Shinefinnen durd) Einpreſſen foldhe Clefantenfiige fic) anbilden und die Fingernägel fralfenartig wachſen laſſen, zeigt ihren äſthetiſchen Sinn auf ſehr niedriger Stufe. „Der flache Fußrücken hat die Breite der Sohle zur Folge, er treibt die Ferſenknochen aus— einander und mahnt an den Plattfuß; der gewölbte Fußrücken zieht die Ferſengegend aufwärts, verſchmälert dadurch den Hacken und gibt den nach vorn ſich anſetzenden Zehen eine ſchmälere, weil gebogene Anſatzfläche. So wird der Fuß zugleich bogenförmig gewölbt und ſchmal, Eigenſchaften die im Vereine ſeine menſchliche Schönheit beſtimmen.“ So Burmeiſter, der in ſeiner Fußbegeiſte— rung den ſchönen Fuß yu dem werthvollſten Schönheitsgeſchenke des Himmels macht, weil ſeine Form die dauerhafteſte und un— veränderlichſte ſei, da ſie nicht durch das Veränderliche, Muskeln

Symbolik dex menſchlichen Geftalt. 391

und Fett, wie am Arm oder im Geficht bedingt wird, fondern auf dem Dauernden, den Knochen beruht, und von Abmagerung oder Fettanhiujung am wenigften berührt wird. Go ruft in Goethe's Wahlverwandtſchaften Charlottens ſchöner Fuk, cinft erkannt, lange vergefjen, nun nad) vielen Jahren in ungetriibter Herrlidjfeit wiedergefunden, die alte Leidenfdaft Eduard's wach, und die Getrennten finden fid) wieder im Anſchauen der Geftalt dic fie ſchon einmal entzückt hatte.

Vortrefflid) fiir unfere Zwecke ijt Burmeifter’s weitere Erör— terung: „Die Seele des Menſchen wird nicht im Buftande der Ruhe erfannt, denn aud) der Traum den fie ſchlafend träumt ift cine Thätigkeit; die Scele thut fic) fund im Sdhaffen, im Bewegen, ihre Natur ift producirvend und verräth fic) im PBroduciren. Go aud) im Fuge; der plumpe ungeſchlachte Gang zeigt ebenfo fier cine gemeine Natur an wie der zierliche und graciöſe den feinen und gebifdeten Mann, die liebenswiirdige Frau. Der Stolz, der Hodmuth, dic Vermeffenheit wodurd) verrathen fie fic) deutlicher im Aeußern als durd) die Art des Wuftretens, des Gehens; die Demuth, die Milde, die Ganftmuth wer erfennt fie nidt ſchon am Schritt des uns Begegnenden? Ferner Muth und Entidloffen- Heit wie entſchieden werden fie durch das fefte männliche Auftreten verfiindet («die Blinden in Genua kennen meinen Tritt» fagt Shiller's Fiesco) Feigheit und Zaghaftigkeit in denfelben Grabden durch den unfichern ſchlotternden Gang des Vorgefiihrten. Aller Seelenadel, alle geijtige Verdorbenheit ift im Fuge ſichtbar, vorzugsweiſe jene herausfordernde Frechheit, welche den Ucbergang bildet von der Hohe zur Tiefe der menſchlichen Seelenzuftinde. Wie feine Erſcheinung an ciner ganzen abgejdloffenen Perſönlich— feit auger Beziehung bleibt, jo aud) nicht ifr Gang. Gr ijt als die alltiglichfte hiufigfte und immer wiederholte Verridtung gerade dasjenige Begehen bei weldem der Charafter des Begehenden am Ofteften beriihrt wird und deshalb am deutlichften fid) ausſpricht. Das Gehen aber ift Thitigkeit des Fußes und nur das Sdhreiten Thitigfeit des Beines. Wir heben und fenfen unſern Körper auf dem Fuß indem wir gehen, und bedienen uns feiner als des wich— tigſten Mtittels die Bewegung yu vollenden. Darum wird er der entſchiedenſte Ausdruck der Art unfjerer Bewegung, und dieje Art ijt nur ein Stück unferer ganjen Art, nur cine befttmmte Form des Ausdruds unferer ganzen Perjinlichfeit, unjers Charafters. Der Fug reprijentirt aljo aud) darin den Menſchen am erften

392 Il, Das Schöne in Ratur und Geirft.

und am beften, er ijt aud) von diefer Seite genommen fein wefent- lidjjtes (?) Merkmal, d. h. fein Kennzeichen, und eben deshalb ein fo widjtiger Gegenftand fiir die Beobachtung.“

Der ſchmale Frauenfug ift fiir die leichte ſchwebende Bewe- gung, der breitere de8 Mannes fiir den feften Stand und fidern Gang am geeignetften. Durch den Tanz, die freie Entfaltung des Beweguugstriebes um ihrer felbft und um der Schinheit wilfen, wird der Fup in da8 Gebiet der Kunjt hereingezogen.

Wenn Stellung und Haltung des Menſchen auch hauptſächlich auf den Beinen ruht, fo fetst fie fic) doc) durd den ganzen Körper fort, und zeigt den Gebrauch weldhen ein jeder von feiner Geftalt macht, Es ijt, wie friiher fdjon bemerft, der Wille welder dic Geftalt aufridtet, und daher fehen wir aud) diefelbe fic) gerade dann energiſch erheben, wenn ein fraftiger Entidlug in der Seele erwadt und lebt; daher gibt fid) die Schlaffheit und Abſpannung des Geiftes aud) in dem nachläſſigen Zujammenfinfen der Geftalt fund, und wirft fic) der Stolz, der ſcheinſame Muth pomphaft in die Bruſt. Der Menſch gewinnt allmählich erft die freie Herr— ſchaft über feine Glieder, und fo zeigt fic) gerade bet dem Heran- wadjenden jene Tilpelhaftigfett und Unbeholfenheit, die mit dem erften Erwachen des Ideals in der Seele der Friihjugend den humorijtijdjen Contraft bildet. Die körperliche Uebung, aud) die militäriſche, tritt da erzichend cin. Bon dem Weibe wollen wir dak die leiblidje Natur der Seele fic) leicht und wie von felber anjdmiege; von dem Manne daß wir den Sieg und die Herr— ſchaft des Geiſtes ſehen; darum wollen wir dort Anmuth, hier Wiirde und Kraft. In der Haltung zeigt fic) der Wdel der Ge— ftalt, die aud) in Lumpen finiglid) erjdjeinen fann, während eine andere im goldfdimmernden Prunkgewand fich bettelhaft aus— nimmt.

Wir zeigen nicht den ganzen Körper, aber wir laſſen ihn durch die Verhüllung als deren Kern durchſchimmern, und es wäre die Aufgabe der Gewandung daß ſie die Geſtalt und Haltung nicht verberge, ſondern erhöhe. Um der Scham und um des Wetters willen bekleidet ſich der Menſch; der Schönheitsſinn und Kunſt— trieb macht aus der Noth eine Tugend und ſchmückt ſich mit dem Gewande. Wenn die Menſchen ſich als Volk fühlen und erken— nen, ſo gibt ſich das unwillkürlich durch die Sitte auch in der Nationaltracht kund. Durch ſie unterſcheidet ſich ein Volk von dem andern, aber innerhalb des Volks wird das Individuelle

Gewandung. 393

wenig beriicdfidjtigt. Darum fagt aud) Mehring: ,,Nationaltrad- ten gibt e8 nur fo [ange als es blofe Nationalphyfiognomien gibt; denn unleugbar ift cine gewiffe Entwidelungsftufe im Leben eines Volfes, wo es fid) nur von andern Völkern unterſcheidet, wo cs in ihm wenige Individuen von ansgefprodener Cigenthiimlicdhfeit gibt, wo die Sndividuen wenig mehr in einer andern als quanti- tativen Weife fic) voneinander unterjdjeiden, ſodaß die hervor— ragenden Winner eben hauptſächlich die abftracte nationale Be- fonderheit im vergrößerten Maßſtabe darftellen. Cin folded Volk hat fic) nod nicht genug von feinem Naturgrunde losgerungen um der geijtigen Bejtimmung die Hegemonie einzuräumen.“ Ebenſo richtig beftimmt Mehring das Wejen der Mtode, die da cintritt wo die Vilfer fid) als Glieder der Menſchheit fühlen und das fosmopolitijd Gemeinjame das Befonderheitlide iiberwiegt. Die Mode (Kft die Stabilitit der Tracht auf, und thut es mit einer gewiſſen Sronie, indem fie das Geſchmackloſe felber an die Tages- ordnung bringt. Go dient fie mit ihren Albernheiten der National- tract zur Folic, die mit ihrem oft fo tiefen Ginn, mit ihren naturgemäß ſchönen und geſchichtlich bedeutjamen Formen ifr gegenüber beneidenswerth erſcheint. Nur darin daß ſie durch den Wechſel und die Allgemeingültigkeit die ſeitherigen beharrlichen Volksunterſchiede bricht, beruht ihre Bedeutung. Aber das Nivel— liren iſt nicht das Ziel der Geſchichte, ſondern die Ausbildung der Individualität, die perſönliche Freiheit. Und jo wird ſich, hoffen wir, aud) eine Tracht der Perſönlichkeit entwickeln, in welcher jeder das ihm Kleidjame, ihm Bufagende wählt, dabei aber die Ge- meinjamfeit ded Reitgeiftes fic) unbewußt doc) in einzelnen all— gemeinen Wrundformen geltend madt. Das Schneiderhandwerk wird damit zur Kleidermacherkunſt werden.

Ueber dic Art und Weife wie Pus und Schmuck das Lebens- gefühl ftetgern und veredeln hat Loge feine Bemerfungen gemadt, die davon ausgehen daß das Bewußtſein unfere perjonlide Exiſtenz bis in die Enden eines Körpers Hinein verlingert, den wir mit der Oberfläche unſers Körpers in Verbindung fegen. Wie wir mit dem Stod in der Hand jetzt den Fupboden und jegt die Zimmerdede berühren und ſpüren, fo wird der Scepter, der Amtsftab zum Zeichen weitreidender Macht, fo fest der Hut, die Helinjpite, die Bärenmütze, die thurmartige Frifur dem Selbft- gefühl unjerer Lange, wenn aud) feine Elle, dod) cin Betriidt- lides gu, und fraftiget das Gemiith ded Trägers mit der Em-

394 Il. Das’ Schbue in Natur und Geift.

pfindung feiner majeftitijd geſteigerten Hihe, ebenfo wie dic Ab— ſätze der Stiefel uns iiber dem Boden emportragen und doc) feft auf ihm ftehen faffen. Hängender und flatternder Schmuck läßt uns meinen dak wir jelbft in den Bahnen und Enden feiner Be- wegungen gegenwirtig feten; Troddeln, Ouaften, Ohrgehänge, Spiten, flatternde Bandſchleifen, wehende Loden, Schleier und Mintel wiegen uns in die anmuthige Täuſchung als fei e8 die cigene Exiſtenz die in all diefen Anhingen mit ſchwebt und wogt und ſchwankt und in rhythmijdem Wechſel fic) hebt und fenft. Endlich die größere oder geringere Spannung und Feftigfeit der Gewänder durd ihre Stoffe oder ihren Zuſchnitt trägt fic) auf uns felbft itber; die erften Beinfleider die durd) Stege gefpannt find erfiillen den Snaben mit Stolz durd) das Gefühl einer ge- frdftigteren und elaftifderen Exiſtenz; cbenfo wirft der Giirtel; und das Mädchen empfindet die Spanning und Feftigfeit des elaſtiſchen Corfets, und miſcht nod) dazu die Wobhlgefiihle einer jarten leichtbeweglichen Umhüllung, die in duftigen Wellen dic Geſtalt umflieft. Die Farben der Gewiinder, bligende Cdelfteine und Gold, Blumen und Kerlen fommen hingu; wir diirfen wol jagen es jet aud) hier nidjt blos die Augenweide an Formen und Farben, fondern cin Lujftgefiihl dag wir e& find dic all dieſen Glanz ausftrahlen.

Die Beftimmung des Menſchen ift Menſch yu fein; aber nur in der Gemeinſamkeit fann er fie erreidjen; mur dadurd) wird es ihm möglich feine Gabe zu entfalten, feine Cigenthiimlidfeit ans- zubilden, wenn die anderen das Gleiche thun, und nun nidt jeder alles fic) felber 3u bereiten braudt, fondern das befondere Werk ſeines Geijtes und ſeiner Hande den andern zum Mitgenuſſe beut und dafür die Fritdte ihrer Arbeit empfingt. Der Einzelne lebt im Ganzen und mit dem Ganjen, und hat um feiner felbjt willen die Bflicht fiir daffelbe gu wirfen. Bon Natur ſchon ift die Ent- jtehung ded Menjden an das Wedhfelleben der Geſchlechter ge- knüpft, jeder wird nur als die cine Hiilfte geboren, welche dic andere ergänzende zu fudjen hat. Das Finden derfelben ijt das Glück der Liebe; in ihr geht die Einheit des Menſchenthums im Unterjdiede der Geſchlechter dem Gemiithe bejeligend auf. Darum ijt fie Der Bug nad) Vervollftiindigung und feliger Lebensvollen- dung, jugleid) ein Sehnen und Verlangen und ein Haben und Geniigen, oder nad) dem Worte des hellenijden Weifen der Armuth und des Reidthums Kind. Wo die Perfinlidfeit nod wenig

Liebe. 395

entwidelt ijt dba wird e8 nur anf den Mann oder die Frau über— Haupt anfommen und ziemlich jede fiir jeden die redjte fein; wo aber cine individuclle Durchbildung des Menſchen eintritt, da wird er aud) fiir feine befondere Natur cine ganz befondere, ifm entjpredjende, eine wahlverwandte Perfinlicdfeit yur Ergänzung fordern; je feiner und eigenthiimlider feine Organifation, defto mehr wird feine Sehnfucht nur durch diefe und keine andere Er— füllung befriedigt werden. Es ijt daher feine (cere Grille, es ift vielmehr ein erhabener Gigenfinn und ein Zeugniß des Genius im Menjfden, wenn er dieje ausſchließliche und perſönliche Liebe will, Im Sudjen und Streben nad) der wahlverwandten Perſön— lichfeit fann es fich faum fehlen, da die Harmonie ja durd uns errungen werden foll, daß wir hin und wieder aud) Sdeinbilder jtatt de8 wahren Gegenbildes erfafjen, dag wir uns ganz erfiillt glauben wo dod) nur cine Saite unfered Herzens beriihrt und angejdlagen ward, oder daß wir fiir die verfdiedenen Stufen unferer auffteigenden Lebensbahn aud) verſchiedene Sdeale als ebenfo viele Entwidelungsbilder haben, wenn nidjt eine und diefelbe Per— jinlidfeit den entfpredjenden Bildungsgang mit uns durdmadt, auf weldem der Mann fic) erarbeitet und das Weib fich erlebt. Dies haben Goethe und Jean Paul im Meifter und Titan wahr und flar geſchildert.

Wo nun die wahre Liebe eintritt da fühlt der Menſch fid burd und durd von ihr erfagt und empfindet fie nicht minder alg einen magnetifden Zug feiner unbewupten wie als die flare Verſtändnißinnigkeit feiner bewuften Natur; er verliert den eigenen Schwerpunkt und findet fein Selbftbewuftfein in einem andern, er opfert fic) felbft dag er auferftehe im geliebten Herzen, und jo fic) mit dieſem zugleich, aljo doppelt gewinne: das Sh als das jelbftjiicjtige cinfame geht unter und das Ich als das im anbdern fic) wiederfindende und lebende geht auf. Go fingt Rückert im Namen von Dfdelaleddin Rumi:

Wol endet Tod des Lebens Noth, Dod) fdjauert Leben vor dem Tod; Das Leben fieht die dunkle Hand, Den Hellen Keld) nicht, den fie bot. So ſchauert vor der Lieb’ ein Herz Ale ob e8 fei vom Tod bedroht; Tenn wo die Lieb’ erwadhet, ftirbt Das Ich, der finftere Despot:

396 IL. Das Schöne in Natur und Geift.

Du laf ihn fterben in der Nadht Und athme fret im Morgenroth.

Und jo fcildert Dante das erfte Aufflammen der Liebe als cin Verwundern, ja ein Erſchrecken: der Geift des Lebens, fagt er, der in der verborgenften Rammer des Herzens wohnt, begann fo heftig zu ergittern daß er in den kleinſten Pulſen fich ſchrecklich offenbarte, und gitternd ſprach er die Worte: Ecce Deus fortior me veniens dominabitur mihi! Aber es ift ja die Ergänzung unjers Wefens, die Erfiillung unferer Natur, an welde wiv uns hingeben, in der wir alfo nur an uns felbft gebunden und damit wahrhaft fret werden, und fo haben wir in der Hingabe das Gefühl dev Lebensvollendung, der Seligkeit. Und deshalb ift dics Gefühl ein cinheitliches, ewiges und ausſchließliches, das feinen Wechſel begehrt, da der Menſch im Wechſel ſich felbft verlieren miifte; ja die blofe Beriihrung fremder Gegenſtände fann dem Liebenden fdon unangenchm fein, denn die Liebe will nur das Eine und dieS ganz bis zur organifden Vermählung, fie fieht alles in Ginem, wie Mirabeau im Gefängniß an Sophie ſchrieb: Ma chére Sophie, nous sommes notre univers.

Als diefe Ginheit in der Bweiheit, als died Sehnen und Ver- angen, „dies Glück ohne Ruh'“, ift das Liebesgefühl ,,himmel- hod) jaudjzend ju Tode betrübt“ die vollfte Lebendigfeit der Seele, weldje das Natürliche in den Geijt verflirt und dem Gei- ftigen cine finnliche Empfindung gibt. So entſpricht ihr Begriff dem der Schönheit, und darum reidt die Schiller'ſche Poefie als das Mädchen aus der Fremde dem Liebenden Paar die befte Gabe. Seit der Drang nach freier Selbftbeftimmung auf der Grundlage deS Gemiiths als das Princip des Germanenthums in die Welt- geſchichte eingetreten und einmal in der perſönlichen Liebe feine ganze Gewalt und Snnigfeit erfahren, feit dies romantifde Liebes- ideal in Heloife und Abalard wirklid) und ſelbſtbewußt geworden, haben die grofen Didjter alle und die Bildner und Muſiker mit ihnen der Liebe ihren oll entridjtet, eine Krone de8 Lebens in ihr dargeftellt. Rückert fingt:

Die Liebe ift des Lebens Kern, Die Liebe ift der Dichtung Stern, Und wer bie Lieb’ hat ansgefunger Der hat die Ewigkeit errungen.

Liebe, 397

„Die Liebe ijt fehend; blind ijt fie nur fiir das Nidhtige, fiir den Schein der Rufilligfeiten, der dem gemeinen Sinne freilid al8 das Wirkliche gilt, wihrend er nur die Trübung oder der Widerſpruch ijt, durd) welde das Licht und die Harmonie zur Offenbarung ihrer felbft gebradjt werden. Dies fiihlt die Liebe, darum fieht fie bas Wefen in der Erſcheinung und die Dinge wie fie bor Gott ftehen, und entbindet den Ferver oder Genius der geliebten Seele, daß im Feuer der Unſterblichkeit fich die irdiſche Schlacke verzehrt und im Glanj des reinen Metalls das Ideal al der Kern und die Wahrheit des Wirklichen geboren wird. Soldhes allein ijt der Betradtung werth, denn es ijt das Cwige; darum was wir erfennen wollen das müſſen wir lieben, weil aud nur vom Gleichen das Gleiche erfaft wird, weil nidts befteht was nidjt in der Wahrheit wurzelt, und dieſe wird eben von der Liebe empfunden, dic wie die Vernunft in ihrem Gegenjftande fic jelber erfennt; darum ijt nur fie ganz Rlarheit und verftindnif- innig.” Go leitete ich eine Ueberjegung der Leidensgeſchichte und Briefe von Abilard und Heloije ein. Jüngſt (a8 ich Aehnliches im Hafis:

Das ewige Myfterium der Sdhinheit fat die Liebe nur;

Der Thor fieht Mängel itberall, von eigner Wichtigkeit durddrungen;

Weil ex nichts fühlt begreift er nidjts, und glaubt als Tadler grof zu fein;

Wer wabhrhaft groß und weije ift wird von der Schönheit gang be- zwungen.

Dadurch daß die Liebe das Ideal in der Seele des Geliebten ſieht, waltet ſie in und wirkt ſie mit der Phantaſie; indem ſie ſelbſt der poetiſche Zuſtand iſt, verſetzt ſie alle Kräfte in den Aufſchwung einer frohen Spannung, ſodaß auch wer ſonſt nicht Künſtler iſt durch ſie doch die begeiſternde Weihe für dichteriſche Schöpfungen empfangen kann. „In das Gemeine und traurig Wahre webt ſie die Bilder des goldnen Traums.“

In der Ehe gewinnt die Liebe dauernd eine ſittliche Form. Sie iſt die Gemeinſchaft des ganzen natürlichen und geiſtigen Lebens, und vollzieht nicht blos in einem Rauſche der Entzückung, ſondern in den Pflichten des Tages und ihrer Erfüllung daß die Seelen ſich ineinander einleben, und das Weib im Manne Kraft und Beſtimmtheit, der Mann im Weibe ſittigende Milde und Gemüthsharmonie gewinnt. Sinnvoll nennt man Ehegatten Ge—

398 II. Das Schöne in Natur und Geift.

traute. Sm Vertrauen aufeinander bewahrt fid) die Treue. Pietiit ijt die Seele de8 Hauſes. In der Liebe ftellt fid) die Einheit der Aeltern und Kinder, wie fie tim Blute exiftirt, aud) geiftig dar; durd) die Erziehung bilden die Erwadjenen ihre Seiné- und Sinnesweije ebenfo den Kindern an, al8 fie die Anlage diejer von innen heraus entwideln. Auf der Gefittung der Familie be- ruht jede weitere Gemeinfdhaft; wenn dort Gleidgiiltigfeit, Hart- herzigkeit, Selbſtſucht an die Stelle der Liebe treten, fo geht die ganze moralijde Welt ju Grunde, und die Wefen, die fid) von ihrer Wurzel löſen, verdorren und jerfleifden fid) felbft gleid) Ungeheuern der Tiefe, wie dies Shafefpeare in feiner Weltgeridts: tragibdie, dem Lear, herrlich dargeftellt und in der echten Liebe zugleich den rettenden Engel und die das Verderben iiberwindende Macht gezeidnet hat. Die fortdauernde Gemeinjdaft leiht dem Hauſe cine bejtimmte Anfdhauungsweife, einen beftimmten Ton. Wie fer die Glieder des Hauſes fic) Fremden gegeniiber als Ganzes fiihlen, innerhalb des eigenen Kreiſes foll darum feine ſüßliche Verhätſchelung, fondern der Ernſt und die Wahrheit des Yebens walten, und gerade wo der echte Werth ftill gewiirdigt ijt, fann iiber die Fleinen Schwächen ein wechſelſeitiger Humor ſich jrei ergehen, und was Störung oder Verlegenheit bereiten finnte, fann ev in Scherz und Luft verwandeln. Go bildet die Familie im Unterjdied der Wltersftufen und Gefdledter ein reidjes menſch— heitliches Ganjes, und Vergangenheit und Zufunft verfnilpfend vererbt fie den Geift der Väter auf die Kinder und Kindesfinder. Achim von WArnim fingt:

Still bewahr’ es in Gedanfen

Diefes tief gehetme Wort:

Nur im Herzen ift der Ort

Wo der Abdel tritt in Schranken,

Wenn die Tugend in den Nöthen

Helllaut rufet mit Drommeten.

Nicht die Geifier gu vertreiben Steht des Bolles Geift jest auf, Mein, dah jedem freier Lauf, Jedem Haus ein Geift foll bleiben: Dah wir adlich all’ anf Erden Muß der Adel Bürger werden.

Wie die Familie geraume Zeit fajt das Einzige war was unjere Nation bejak, jo ift dicfelbe nur in Deutſchland zu ihrer wahren

Die menſchliche Gefell daft. 399

Geftalt durchgebildet worden. Smmermann hat das in feinen Memorabilien vortrefflic) erörtert. Nach dem Urgefiihl des Ger- manen daß in dem Weibe etwas Heiliges fet, ſuchen und fehen die liebenden Perjinlidfeiten etwas Unausſprechliches ineinander; jie vereinigen ifre Perfonen, das ganze ewige unberedjenbare Weſen des Mtenjdjen, und verjpredjen fic) Treue im fejten Glauben daß aud) ein Fehler und eine Schwäche aus dem unerſchöpflichen Schatze deS ewigen und unberedenbaren Weſens werde vergiitet werden. Dann wird auc) das Kind als eine Perjinlichfeit betrad)- tet, cingeordnet in die Fortfegung der ideellen Menſchheit und deren Zufunft angehirig. Co wächſt die Familie in Treue und Hoffnung, und wihrend fie bet andern Völkern mehr Mittel zum Rwed oder äußere Veranjtaltung ijt, bildet fie bet uns jelbft den Zweck, und alles Aeußerliche in ihr erjdeint dem Innerlichſten cingefdjrieben und aufgetragen.

Die Familie erweitert fid) gu Stamm und Volf. Das Bolf alg ein ethijder Organismus fteht fowol im Naturzufammenhange mit dem Lande, als e8 im Staate die gejeblide Ordnung jeines Beftehens hervorbringt, welche bet der Gliederung von Familien und Gemeinden, Stinden und Berufskreiſen diefe in ihrem eigenen Wejen wie in ihrer Wechſelwirkung jum freien Ganzen erhiilt. Viſcher ſagt vortrefflid): Geiftlofe, rohe Natur iſt nod) nicht, naturlofer Geijt nicht mehr afthetijdh. Der Menſch bezwingt die Erde, aber er nimmt von der bejwungenen eine Firbung an; der Seemann bewältigt den Ocean, aber feine ganze Erfdeinung befommt den Mteerton. Der Menſch der als Hirt und Jäger in der Natur lebt bewahrt ihre Friſche: aud) der Bauer, der an die Scholle gebunden den Bewegungen der Cultur langſamer folgt alS der Biirger. Für diefen beginnt die Gefahr dag er in der Cinfeitigkeit eines Berufs verhode und zum Philifter werde, wenn er aufer der freien Luft cines öffentlichen Lebens und feiner ge- meinſamen Sntereffen jteht. Wo aber der Mann Muth und Gin- ficht im Dienfte des Vaterlandes beweiſen fann, wo er ſich als freies thitiges Glied eines grofen Ganjen fiihlt, da erhebt ihn defjen Geiſt über da8 Gemeine und läßt nicht dads Leben verfinfen in der Mühe um die Mtittel des Lebens, nod) die Geele unter- gehen im Mammonismus. Wie die Theilnahme am Staat in geijtiger Weife, jo erhalt in leiblicher die Webhrhaftigfeit und Waffentiichtigteit das allgemein Menſchliche in der Befonderheit ded Berufs, und gibt dem Ropfarbeiter wie dem Handarbeiter

400 If. Das Schöne in Natur und Geift.

das Gefühl der perjinliden Kraft und den Ausdruck derfelben in minnlider Schönheit. Darum miiffen wir aud) in ajthetijder Hinfidt die allgemcine Kriegstüchtigkeit, die allgemeine Waffenehre fordern; fie erzieht das Volk und verhiitet daß der Gelehrte ver- fiimmere, fie zeigt allen Stiinden das gleiche Recht, die gleiche Pflicht und gibt jedem Einzelnen Selbjtvertrauen. Das madt die Alten in Hellas und Rom foviel werth fiir den Künſtler, das gab ihrem Leben die frijde Freudigfeit, daß aud) ein Aeſchylos und Sofrates zu Felde zogen und nidjt blos als Didter und Denker, jondern aud) als tapfere Männer den Preis errangen, daß Tapferfett iiberhaupt als eine Cardinaltugend des Manned eradjtet wurde. Wie finnig weiß Goethe in Hermann und Do- rothea ſeinem edeln wiirdigen Geiftliden jeden Unflug von Pe- danterie zu nehmen, indem er ihn geſchickt zeigt die Roſſe gu lenken. Und jo hat auch in afthetijder Hinfiht Scharnhorſt den Dant des Vaterlandes verdient.

Wenn der Staat dem Sdhinheitsfinne geniigen foll, fo miiffen Ordnung und Freiheit einander durddringen, daß weder die Cin- ténigfeit und der Dru des Zwanges den Reidthum feiner Glie- derung verdde, nod) die Wirrjal zügelloſer Vielköpfigkeit den einigen Zujammenflang des Ganzen aufhebe. Ordnung in der Sreiheit, Cinheit in der Mannichfaltigkeit ijt aud) hier die Be- dingung der Schinheit. Die wahre Gleidheit ijt die Verhiltnip- mäßigkeit. Familien, Gemeinden, Berufstreife ſollen nicht zerſtört werden um ein abſtractes Menſchenthum herzuſtellen, vielmehr be— wahrt und der Antheil an ihnen als der Mitgenuß eines Gutes jedem ermiglicdjt werden. Die Stinde mit ihrer Ehre follen beftehen, aber der Menſch in allen da8 Erfte fein; nicht fie follen alg Kaſten iiber der perſönlichen Freiheit ftehen, dieſe vielmehr foll nad) der ecigenthiimliden Begabung eines jeden den Beruf wählen fiir den er fic) tiichtig gemadt hat. Die Freifeiten der einzelnen Lebenskreiſe müſſen wie die einzelnen Tine im Accorde der allge- meinen Freiheit erfdjeinen, die Cinheit und Macht des Ganjen darf in ifnen feine Schranfe, foll vielmehr in ihnen die Verwirk— lidjung des eigenen Begriffes haben. Nur der Müßiggang ijt das Menſchenunwürdige, jede Arbeit ijt ehrenwerth, in welder jemand jein Talent bethitigt, die er deshalb mit Luft und Liebe, künſt— ferijd) vollbringt. Go viele Verjtimmung, fo viele Untauglidfeit, jo viele Pfuſcherei rührt daher, weil der Beruf der Sugend nicht nad) der cigenthiimliden Begabung gewahlt, jondern nad äußern

Die Geſellſchaft. 401

Rückſichten cine Stellung im Leben gefudt wird. Da fehnt fid dann ein ſchlechter Richter nad) der Stunde wo er da8 ihm läſtige Amt vergeffen und Papparbeit oder Gartenban treiben fann, und gedcift der Handwerfer nidt, der als Geiftlicher das Licht der Gemeinde jein könnte. Dagegen ift die Arbeit des Tages und der Pflicht feine Laſt, fondern eine Luft, wenn fie eine unjerer Natur gemäße ift, wenn wir in ihr den innern Trieb unferer Perſönlich— feit befriedigen. Das ijt der grofe Fortſchritt der neuern Zeit gegeniiber dem Alterthum daß fie die Arbeit ihres Lohnes werth eradhtet, wihrend die Lohnarbeit den Hellenen fiir philijterhaft und des Edeln unwürdig galt.

Im Organismus des Vols fteht Recht, Sitte, Kunſt, Wiffen- ſchaft, Religion im innigſten Zufammenhange: es ift eine gemein- jame Idee die fie alle erzeugt, in verſchiedenen Formen zur Er— ſcheinung fommt und fie in Wechſelwirkung fest. Wer ein Volf jo betrachtet ber fieht es afthetifd) an, und findet in der Schinheit der Geſchichte feine geringere Freude als in der Schinheit der Natur. Bh habe ſolche Bilder der Culturvilfer in dem Werk entworfen in weldjem id) die Cntwidelung der Kunſt ſchildere, dic alg die Bliite eines vielfeitigen Lebens erfaft und daher in Ver- bindung mit demfelben begriffen werden mugf.— Von dem Volfs- ganzen empfängt aud) das Individuum cin nationales Gepriige; e8 trägt leiblid) die Stammeszüge, es entwidelt fid) geiftig inner- halb der volfsthiimliden Cultur, und empfingt in und mit der Sprade den Schatz der gegenwirtigen Weltanfdauung zu eigener Fortbildung.

Die Völkerindividuen ftellen in ihrer Bewegung und Wechſel— beziehung, in Krieg und Frieden die Menſchheit dar. Wud) hier hebt das Ganje das Beſondere nicht auf, und der völkerloſe Kos— mopolitismus iſt eine undjfthetijde weil unlebendige und arme Abftraction. Vielmehr wenn jedes Volf feine eigene Art behauptet und in ihr ein Höchſtes leiftet, und wenn dann die Volker fid nicht gegeneinander abfperren, fondern einander in freudiger Mit— theilung ergänzen, fo ftellt fid) die Menſchheit in dem entfalteten Reidhthume ihrer Idee dar; diefe Idee verlangt allerdings daß die Sdranten fallen, wie innerhalb des einzelnen Staats die Kaften- unterfdjiede, ſodaß die Cinheit im Unterfdiede aud) gewußt und angeſchaut werde, und die verfdiedenen Zweige am Lebensbaum, wie fie der gemeinfamen Wurzel entſprießen, fic) zur Krone zu—

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402 Il. Das Schöne in Natur und Geift.

jammenwilben. Der Patriotismus im Kosmopolitismus, das Menſchheitsgefühl in der Vaterlandsliebe das ift das Rechte.

Mehr nod als das Handelsſchiff war es feither der Rriegs- wagen der die Cultur des einen Vols dem andern jugefiihrt, der die Nationen erfriſcht und erneut hat. Heraflit hat den Krieg den Vater aller Dinge genannt. Gleich dem Sturme, der Gee und Meer bewegt daß fie nicht in Fäulniß iibergehen, brauft er iiber die Lande und läßt die Säfte des Völkerlebens nicht in Stodung gerathen, und ruft den Muth, die Aufopferungsluft, das Werth- gefühl der Perfinlidfeit wad, und wenn im Dienft der irdiſchen Sutereffen und Sorgen der Idealismus gefangen fdeint, fo wird ex im Rriege wieder fret, und der Menſch lernt wieder um geiftiger Giiter willen das Leben einfesen. Aber wie cin Gewitter muf der Krieg voriiberziehen und der Himmel wieder hell und Heiter ftrahlen und im Frieden das Daſein verjiingt und erfriſcht ſich entfalten. Der Krieg blos um des Rrieges willen ijt roh und ein bald ermiidendeds leeres Schaufpiel, die Aefthetif fordert da um eine Idee geftritten werde, eine heilige Begeifterung die Kämpfer befeele, damit dieſe nicht blos in bildungsloſer Wildheit nod) willentos wie Mafdinen auf ein äußeres Machtgebot, etwa einer Cabinetspolitif wegen, in die Schlacht zichen, fondern alle von dem gemeinjamen Zwecke bejeelt zum Schwert greifen und ihre frete Perfinlidfeit in heroijdem Gehorjam dem Ganjen weihen. So ijt der Krieg fiir Freiheit und Vaterland eine erhabene Er— ſcheinung in der Geſchichte, und wie die Muſik ihn leiten und die Semiither befeuern Hilft, fo haben Poefie und bildende Kunſt hier cine Fülle hodherrlider Stoffe gefunden, von den volfsthiimlicden Epen an, die den Nationalfampf fingen, bis gu den Kriegsliedern und Schlachtbildern unferer Tage.

Soll die Hoffnung eines ewigen Friedens wahr werden, fo mug vorher die Bildung und Gefittung der Bilfer fid) gleid- mäßiger geftalten, nationale Freiheit überall blühen, und ein Wette eifer in den Werfen des Friedens dem heilſamen Bewegungstried der Menſchen genug thun. Die Greuel des Kriegs, welche die Leidenſchaft Hervorruft, wenn einmal der entfefjelte Kampfzorn aud) auferhalb des Schlachtfeldes fengt und brennt und gegen Wehrloſe wiithet, fie fonnen ingwifden mehr und mehr durd) die Cultur und das Völkerrecht wenigftens auf Einzelne beſchränkt werden, ſodaß im Ganzen nur die Streitenden ſelbſt die Waffe aufeinander zücken und im Gegner den Menſchen achten. Alle edeln

Die Geſellſchaft. 403

Nationen hat ein ritterlider Ginn ftets aud) in der Kriegsfiihrung geleitet, und mandem Volk ift ein tragijd) großer Heldentod ver- gönnt gewejen, der eS dem Proceß langjamen Zerfallens und Ver- wejens entriffen und das ehrenvoll gefallene mit einem immer: griinen Kranze geſchmückt hat.

Innerhalb des VBolfslebens bedingt da8 Zujammenfein und der Verkehr der Menſchen ftets werdende allgemeine Formen deffelben, und fofern in dicjem Braude fidj unbewußt aus der geiftigen Natur der Menſchen heraus ein Sittlicjes entfaltet, hat man ihn paffend Sitte genannt und mit Gefittung den Gegenſatz formlofer Roheit und brutaler Gemeinheit bezeichnet. Entbehrt die Gitte diejes idealen Gehalts, jo finft fie zur leeren Form eines Cere- moniels herab; werden Formen feftgehalten die der fortſchreitende Seift des Lebens verlaffen hat, fo kann der tragiſche Conflict der Sitte und der freien Sittlichkeit eintreten, deffen organijde Löſung eben die Neubildbung der Gitte ijt. Die Sitte umgibt den Men— ſchen mit einer idealen Atmojphire, in welder das Redjte und Wohlanftiindige ihm zur gweiten Natur wird; die Gitte befriedigt den Anfdhauungstrieb der Seele, indem fie das innere Gefeg in äußeren Formen zur Erſcheinung bringt. Sie ſoll ftets veredelt, das Heift gum reinen Ausdruck der Humanitit durch wechſelſeitiges Wohlwollen werden.

Gin gleides höchſtes Gut begriindet aud außerhalb des Fami- lienkreiſes durch freie Wahl gemüthlich fic) anziehender Perſönlich— keiten das Band der Freundſchaft. Das geſchlechtliche Element wie das blutsverwandte ſind nicht das Beſtimmende in ihr; die Wahl des Genoſſen iſt frei, er iſt nicht durch die Natur beſtimmt, und die warme Hingabe des Gemüths ſteht nicht im Dienſte der Gattung. Ariſtoteles bezeichnete die Freundſchaft damit daß eine Seele in zweien Körpern wohne. Es iſt beſonders die gleiche Geſinnung und das gleiche Ideal, welches die Perſönlichkeiten zu— ſammenbindet, und zwar um ſo inniger und feſter, wenn ſie an Begabung und Beruf verſchieden einander ergänzende Kräfte ver— einigen finnen. Der Freund ſieht im Freunde fein anderes Ich. Wahre Freunde, ſagt wiederum ſchon Aviftoteles, bezwecken für— einander das Gute an fic) und lieben den Freund um feiner jelbft willen und das Gute in ihm; darum ift ifr Bund dauernd, wihrend die duf Genuß und Mugen geftellte Gemeinſchaft aufhért, fobald dieſer oder jener verjagt. Aus dem Leben mit Guten ergibt - fid) cine eigenthümliche Tugendiibung, und ftete Kraftthätigkeit ift

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404 IL. Das Schöne in Natur und Geift.

feichter mit andern und in Bezug auf andere als im einjamen Leben mit ſich allein. Darum bedarf nidt blos der Unglückliche und Mangelleidende der Freundſchaft zu Troſt und Hiilfe, ſondern aud) der Gliicjelige, da die Gliicfeligfeit eine edle und an fid angenehme Straftthdtigfeit ijt, und im Werden begriffen ſich nidt wie ein rubiger Befig verhält. Platon fieht in der Freundſchaft, die er von der Liebe nicht unterfdeidet, den Zeugungstrieb einer edeln Seele fic) in das Gemitth eines andern einjupflanjen und jo unfterblid) fortjuleben. Auf dieſe Art idealijirt er wieder dte aus der Ruriidjesung der Frauen im Griedjenthum entfprungene {afterhafte Verirrung der Knabenliebe. Die Freundfchaft ift der Liebe verwandt durd) die Wärme und Bnnigfeit der Gemiiths- hingabe; um der Beftimmbarfeit und Empfinglidfeit der Seele und um der Frijde der Phantafie willen ift and) fiir fie die Ju— gend, das jugendlidje Mtannesalter die befte Entftehungsjeit. Die Freundſchaft erfordert Offenherzigfeit und die Bewähr der Treue. Die Seelen werden fid) aber am beften ineinander verflechten, wenn die Bildung nod) nidt abgejdloffen, fondern im friftigen Streben und Ringen begriffen ijt, die jungen Freunde nun gleide Entwidelungsproceffe miteinander durchmachen, wodurd) fie fid beffer fennen fernen und fejter ancinanderjdliefen, als wenn fie einanbder in der Reife des Mannesalters erft nahe treten. Dodd) fann auc) diejed die Bildjamfeit des Geiftes bewahren, und ein gleiches Riel, ein verwandtes Talent den Bund befiegelu, wie bei Goethe und Shiller.

Die Heldenfreund{daften des Alterthums, Achilleus und Patro- klos, David und Jonathan, dann Hagen und Volfer im deutſchen Epos, Don Carlos und Poja in der deutſchen Tragödie find be- fannte Mufter wie die Kunft das Weſen der Freundjdaft verwer- thet; das Mtittelalter war reid) an befondern Genoſſenſchaften, die germanijde Recenfitte wollte dabei den ſymboliſchen Ausdrud dag einer vom Blute de8 andern tranf. Wem in der Sugend und im aufftrebenden Mannesalter das Glück der Freundſchaft gutheil ge- worden, dex wird in ihr aud) cine eigenthümliche Schinheit des Lebens gefunden haben, die nidjts anderes erjegen fann, und wird nur eine kurzſichtige Gemiithlofigfeit darin erfennen wenn be- hauptet wird dag Liebe und Freundfdaft ein von hiheren Fragen in Anſpruch genommenes Gefiihl wenig beſchäftigen, denn gerade die religidjen und vaterlindifden Angelegenheiten fammt Kunſt und Wiffenfdaft geben der Freundfdjaft ihren Snhalt und leben

Die Geſellſchaft. 405

freudiger und gedcihlider in ihr. Das haben die alten Dovier, das hat namentlid) Pythagoras beffer gewußt als eine neumodifde Sdulweisheit, die ihre Herzensöde unter Kraftphraſen birgt. Von einfeitiger Anfpannung im Dienfte des Berufs erholt fic der Menſch im der Gefelligfeit durch naturgemäß freies Spiel jeiner Rrifte um des Dafeins in reinem Lebensgenuß inne ju werden. Das finnlid) geiftige Wohlbehagen als Gli und Gunft des Augenblids, nidt als cin mühſam Grftrebtes, ift hier das | Riel. In zwangloſem Austauſch theilen die Perſönlichkeiten ein- ander mit was in der eigenthiimliden Welt eines jeden das all- gemein Bedeutjame ijt, und im Fluffe gegenfeitig einander er- wedender und ergänzender Gedanfen ergieft fic) der Strom des Geiſtes, und der Geiſtreiche triumphirt, der nidt fteif am Be- fondern hangend vielmehr mit der Kühnheit des Wikes and) das Entlegene zuſammenbringt und neben dem Verftande die Phantafie erregt. Gin heiterer Humor, der jedem Dinge die gute wie dte lächerliche Seite zugleich abzugewinnen weif, und im Scherze der Erholung zugleich den innern Menſchen erquict und fördert, ijt die erfreulidfte Erſcheinungsweiſe des Schönen als cines werdenden in der Gefelligfeit. Oder man ſucht im Spiele den Zufall walten zu faffen um an ihm die ecigene Fertigfeit und Gewandtheit zu erproben und aus der Enge und Strenge der feften Rwede im Beruf fid) in das unerſchöpfliche Bereid) neuer Combinationen führen gu laſſen und fic) an ifnen und ihrer Bewiltigung zu er- götzen. Das Spiel ift gefellig, und alle Gefelligfeit felbft ein Spiel; man erftrebt nichts anderes als den Genuß, die Annehm- fichfeit de8 Augenblicks, und je gebildeter der Geſchmack ift defto mehr wird er hier das Schine bieten und verlangen; der gute Ton bleibt gleich fern von pedantiſcher Steifheit wie von Zügel— {ofigfeit. Gr ift freter unter Männern allein, aber anmuthiger im Wechfelverfehr der Gefchledter, der in der Gefelligkeit gerade die männliche Kraft und Entidiedenheit durch weiblide Huld mil- dernd verfdjinen, die in fic) webende weibliche Gemüthlichkeit er- jdlieBen und beleben will. Die Luft des gefelligen Zuſammen— feins erhihen geiftige Getriinfe, vor allem der Wein. Wie er in jeinem Ouft, in feiner Blume uns einen ätheriſchen Auszug der irdifden Natur, cine Verklärung ihrer Stoffe entgegenbringt, fordert er durch die Mannichfaltigkeit des Wohlgeſchmacks den äſthetiſchen Ginn des foftenden priifenden Trinfers heraus, belebt die Phantafie, befliigelt den Geift, und läßt gleich Lethes Welle

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die Sorgen des Tages vergeffen, kummerſtillend, frendebringend, herzerſchließend, cin poeſiereicher Genug, der ähnlich wie die Liebe das Sinnliche in das Bdeale fteigert.

Ueber die Reize des Spiels Hat Lazarus nenerdings cine treff- liche pſychologiſche Studie geſchrieben: Thitigfeit ijt Leben, ijt das Wefen des Geiftes; er flieht die leere Ruhe, die Langeweile, und verlangt nad) Erfüllung dér Zeit, darum liebt er es feine Kräfte nad anjtrengender zweckvoller Arbeit fic) mit freierem Be- hagen bewegen ju laſſen. Das Spiel erlift ihn vom Unwerth des reinen Müßiggangs; wie der Schlaf entftridt e8 von den Nöthen und Pflidten, den Laften und Gorgen des täglichen Lebens, wie ein Zaubermantel entfiihrt es ifn aus dem verantwortungé- reidhen Gefiige ernfter Zwecke, und läßt ihn dod) in feinem eigent- lichen Elemente der Thitigheit, die auf fein anderes Riel als das Vergniigen geridjtet ijt und das Wellenthal des ruhenden Dajeins wobhlthitig ausfüllt. Wir bedürfen der Erregung durd die Augen- welt, und finden fie im Zufalljpiel, das in Spannung und Lö— jung, Furdt und Hoffnung die Luft des Wagens erweckt und ftets cine raſche ſichere Entſcheidung bringt. Geiftige und leibliche Uebungsfpiele werden wie jede Bewegung von erhihtem Lebens- gefühl ausgelöſt, fie bereiten die Freunde wohlgelungener Kraftent- faltung und geben im Wetteifer die erquidende Siegesluft. Iſt bas Schach cin rein geiftiger Kampf, hat es mit feiner Ordnung und feinen verfdiedenen Figuren einen Feldjug gum Vorbild, jo mifdt fid) im Rartenjpiel der Cinflug des Zufalls und des Ver— jtandes. Hat der Bufall die Karten vertheilt, jo ijt es Sade ded Verftandes fie auszunutzen; ja das Ausſpielen einer neuen Karte ijt dem Gegenfpieler cin Anreiz gu neuen Combinationen. Das Hiuflein Karten, das jeder Spieler empfingt, vergleidt fid der Situation in welde cin Mtenfd) hineingeboren wird: die Um- fttinde find gegeben, der Menſch fann fie nidjt ſchaffen, fie find jein Schidjal, aber es hängt von jeiner Energie und Geſchicklich— feit ab wie er die Vortheile ausbentet und die Nadhtheile ver- mindert. Werden neue Karten nadgefauft, jo entſprechen fie den Glücks- und Unglücksfällen im Fortgang des Leben’. Dabei miiffen die beftehenden Geſetze, die Spielregeln beobadtet, das fait accompli geadtet werden. Berdienft und Glück wiegen fid auf und ab um fid) gu verfetten. Go entfiihrt uns das Spiel dem Ernſt des Lebens und ruht zugleich anf fold fliicjtigem fym- boliſchen Reflexe der Wirklidfeit; es befriedigt die Sehnjudt dem

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ſchweren Druck der Welt momentan ju entfliehen und dod unfer Thun mit den Spiegelbildern des Lebens zu erfiillen und ju befrudjten.

Das Ethijde aller Erholung bezeichnet 3. H. Fichte iiberein- jtimmend mit unjerer Darjtellung als die Wiederherftellung des Geiſtes in feine uneingeſchränkte Totalität, Abſtreifen jedes cinfeitig Anfpannenden und erfrifdendes Vertiefen in die Integrität feines Weſens ohne die Anftrengung des Willens durd) die Unmittelbar- keit des Gefühls. „Tages Arbeit, Abends Giifte, faure Worden, frohe Feſte!“ Wo man aber die gefellige Freude zur Subſtanz des Lebens felber macht, da fdrumpft fie gur Hohlheit und Nid- tigfcit gufammen, gebiert felber die Langeweile und birgt ver- gebens die innere Fäulniß mit Firnifglang; denn wer nicht einen Gehalt in fic) felber triigt und dem Ernſte des Lebens ſich hin- gegeben hat, der fann weder cigenthiimliden Geiſt entfalten nocd das Gergniigen der Erholung und feine Würze genieBen; eine eitele Gefallſucht zumal ift der Gegenfag zur unbefangenen Hold— ſeligkeit, zur naiven Anmuth. Unwahrheit, Unfittlidfeit find aud hier die Feinde der Schinheit. Und wie fie mit leeren conven- tionellen Höflichkeitsformen gleifen migen, ihre ſcheinſame An— muth entbehrt der Wiirde, des fittliden Gehaltes, und fann dDarum dem Gemüth feine wahre Befriedigung bieten.

Im gymnaftijden und dialektifden Spiel zeigt ſich die Indivi- dualitit und ihr perſönliches Geſchick, im Gejang und Tanz geben die Gingelnen fic) bem melodifden Rhythmus cines Ganjen hin, das fie trägt. Die Stimmung der Seele wie fie in der Stimme fic) verfiindet, da8 erregte Gefühl wie es im Tone laut wird, fie verlangen nad) einer Weihe der Kunſt und iiben diefe zu eigener Luft im gefelligen Liedergejang, oder der freie Bewegungstrieb fiihrt gum Tanje. Wenn das GSittlide der Gejelligfeit in den ethiſchen Schriften Schleiermacher's und Rothe’s am beften ent- widelt worden, fo finden wir bet Chalybäus die anfprechendfte Grirterung iiber den Tanz. Sie ijt vollgenitgend und möge hier eine Stelle finden.

„An fic) ift der Tang der unmittelbare Ausdrud des erhöhten Lebensgefiih{s in der anmuthigen Bewegung des Leibes, welche die Grazie ijt. Das Lebensgefithl als bewegendes Princip fommt in ihr zur höchſten Willfiirlidfeit ber Selbſtbewegung; es ift nicht mehr das Ringen danach, welded fic) ſchon im Kinde in der un- willfiirliden Bewegung der Gliedmaken offenbart und dann im

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Laufen und andern gymnifden Ucbungen fortſetzt. Da der Stoff hier unmittelbar die eigene äußere Perfintlidfeit und die Dar- ftellung anſchaulich ijt, fo liegt etwas Entwiirdigendes darin dieſe Kunſt nur als Sdhaujftellung des Leibes fiir andere zu treiben; der Genuß muß gegenfeitig, der Tanz nothwendig gefellig jein und gwar fiir beide Geſchlechter; ein Geſchlecht fiir fic) ift nur eine halbe Gefellfdaft; das Lebensgefithl aber erhöht fic) gerade durch die gegenfeitige Anniherung derjelben. Den Tang zur Ex— hibition fiir andere unbetheiligte Zufdauer, jum Gewerbe ju machen ift gweidentig oder fflavijd, wie im Orient, wo der Mann dent weiblichen Geſchlecht allein das Tanzen überläßt, diefes als Bajadere, Odalisfe auftritt; denn die Forderung der Perſönlich— feit daß der andere Theil fic) ebenfo fiir fie bemühe, ift aufge- hoben; ebenjo verliert der Dtinnertanz, wenn diefe Gegenjeitigfeit feblt, feinen Charafter, er wird jum kriegeriſchen Waffentanz, gur Pantomime der Sdhlacdht. Aber gerade aus diefem Grunde ift die jartefte Maßhaltung nöthig; ift es im Berborgenen immer die Anndherung der Gefdledter welche das Lebensgefühl erhöht, fo darf gerade diefe Bejziehung auf feine Weije hinter ihrem Schleier hervortreten; der entfernte Gerrath diefeds unbewußten Geheim- niffes ift Indecenz; die keuſche Grazie des Tanzes ift eben der unbewußte Uusdrud diefer Trennung, die nad) Vereinigung ftrebt und in der Annäherung flieht, cin fic) gegenfeitig Anmuthen und dod) nichts Gewähren. Die Grazien find unfduldig und dod nidjt mehr naiv und finderdreift, ſondern ſchelmiſch, herausfor- dernd und juriidhaltend ohne yu wiffen warum. Es ijt die Sugend- blitte im Begriff mit ahnungsvoller Sehnſucht aufzubreden, ein furze8 aber reinftes Glück des Uebergangs. Daher ift der Tan; aud) nur die Luft der Sugend und Hirt mit ihr auf; da8 Inter— effe daran erlifdt mit der Ehe und der Siinglingsjeit; es liegt cin Widerſpruch gwifden gefestem Alter und Tang. Weil diefer aber die Kunſt der unverheiratheten Jugend ift, fo muß er and beim Ausdruck der Sympathie bleiben, nur bet der Andeutung des Uebergangs vom Spiel der Kindheit gum geahnten Verhalt- nif der pathematifden Liebe.’

Die Volkstänze die man nod in Rom, auf Caprt, in den baivifdjen Wlpen fieht, zeigen das Wefen des Tanzes in feiner Schönheit. Sie find cin Suchen und necijdes Fliehen, cin halbes Entgegenfommen da8 dod der Beriihrung fliidtigen Schwunges wieder ausbeugt, fie entfalten ein finniges Spiel jiinglinghafter

Die Gefellfchaft. 409

Liebeswerbung und jungfräulich ſpröder Schalfhaftigfeit auf eine durdjaus anmuthige Weife, und die Verbindung der Paare nad Art unjers gewöhnlichen Walzers ift das Biel und der Schluß einer grofen Mannichfaltigkeit reizender Bewegungen. Die Fran- caife erjdeint dagegen als der Ausdruck der Galanterie, „als der Kanzleiſtil der Liebe’, wenn wir ein Leſſing'ſches Wort über das franzöſiſche Drama heranziehen wollen. Man tanjte luftig zur Zeit Heinvid’s LV. in Frankreich, ernſt und gravititijd am Hofe Ludwig’s XIV., aber man tanjte; heut' ift das nur ein Gehen geworden, aud) in der deutſchen Nachahmung. Wie die RKunftpoefie am Volksgejang, fo follte unfere gebildete Welt ein- inal am Volkstanz ſich erfriſchen, ehe diejer Quell im Gande der Verflachung verfiegt. Der religiöſe, kriegeriſche, fejtfreudige Tan; ift ausdrudsvoll; die Schaujtellung des Ballets gibt einen rei- jenden Wechſel bewegter Formen, der fic) decorativer Kunſt ver— gleicht.

Die Schönheit des Tanzes iſt die des bewegten Lebens, wo die Regel ſtets mit verändertem Reize aus der Freiheit ſelber ſich herſtellt; ſo ſah in ihr Schiller ein Bild der Weltordnung, eine ſittliche Mahnung.

Ewig zerſtört, es erzeugt ſich ewig die drehende Schöpfung, Und ein ſtilles Geſetz lenkt der Verwandlungen Spiel. Sprich, wie geſchiehts daß raſtlos erneut die Bildungen ſchwanken Und die Ruhe beſteht in der bewegten Geſtalt? Jeder ein Herrſcher frei nur dem eigenen Herzen gehorchet Und im eilenden Lauf findet die einzige Bahn? Willſt du es wiſſen? Es iſt des Wohllauts mächtige Gottheit, Die zum geſelligen Tanz ordnet den tobenden Sprung, Die der Nemeſis gleich an des Rhythmus goldenem Zügel Lenkt die brauſende Luft und die verwilderte zähmt. Und dir rauſchen umſonſt die Harmonicen des Weltalls? Dich ergreift nidt der Strom diefes erhab’nen Gefangs? Nicht dev begeifterte Taft, den alle Wefen dir fdjlagen, Nicht der wirbelnde Tanj, der durd) den eigen Raum Leudjtende Gonnen fdwingt in kühn gewundenen Bahnen? Das du im Spiele dod) ehrft, fliehft du im Handeln, das Maß.

Diejer Schluß weift uns überhaupt auf die ſittliche Wirkung deS äſthetiſchen Genuffes: fie drückt dem Wollen und Handeln das Gepriige de8 harmonifden Maes auf, fie lehrt uns in der An- eignung des von andern Dargebotenen uns mit ihnen einftimmig zuſammenfinden.

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Sn Feften, Wettfimpfen und Spielen gewinnt das ganze Vol cinen frendigen Selbftgenug. Sie erhalten cine ideale Weihe, wenn fie an grofe Thaten, großer Männer Chrentage anfuiipfen, und damit in Erinnerung, Hoffnung und Gelöbniß eine edle Be- geijterung alle durddringt. Aber auc) ba wo es fic) um die Sdhauftellung materieller Arbeit handelt, wo die Erzeugniffe der Gewerfe, des Aderbaucs, dev Viehzudt um den Preis ringen, jollte man die Flamme des Pariotigmus nähren, follte man nidt blos in Gejang und Tanz der Freunde einen unmittelbaren Aus— druck geben, fondern Muſik, Poefie, bildende Kunſt heranjiehen, um das Leben, dem fie entipringen, ju verherrlidjen. Erprobt fid an jenen Chrentagen die gejunde Bolfsfraft, die geiftige wie die férperlide, in Gymnaſtik und in Schießübungen, im Wettrennen ju Mok, Wagen oder Rahn, und tritt die Auffiihrung groper mufifalijder oder dramatijder Werke, die dichteriſche und redneriſche Feier des Tages und die Vertheilung der Preiſe fiir geiftige Leiſtungen hinzu, fo finnen aud) wir Volfsfefte gewinnen die das alfgemein Menſchliche allfeitig in feiner Schöne entfalten und ein gemeinfames Band um alle jdlingen. Ich jah Wagenrennen und RKahnwettfahrten in Floren; und Piſa; das Gefiihl der Ehre wirkte cleftrifd) auf die Ausfiihrenden wie auf die Zuſchauer; als die Sieger im Triumph cinhergetragen wurden, war die Wirklichkeit cin Bild wie Paolo Veronefe malt. Man zerſplittere und ver- einzele nidjt, man ſammle ju einem grofen Ganjgen, in weldem die geifjtige wie die firperlidje Tiidhtigfeit, die ideelle wie die materielle Broduction ihren Preis empfingt, und ein Sneinander- wirfen von beiden wird fid) daraus von felbft ergeben, der Ar— beiter wird am Denfen, der Denker am Arbeiten der Hinde An- thet! nehmen, und bas ganje Golf wird die geſunde Seele in dem gefunden Leibe zeigen, welche die Bedingung der Schönheit ift. Go waren die Feftfpiele der Griechen Tage des Gottes- friedens, ein Ginigungsband der Stimme, ein Mittelpunft fiir bas Rujammenftrémen aller edeln Kräfte, und wer die Schinheit des helleniſchen Volfslebens von dem Römerthum unterſcheiden will der vergleiche nur die Gladiatorenkämpfe mit Olympia! Dort im Circus die gedungenen oder gezwungenen Fechter, die vor den Augen einer hartherzigen Menge den Gang auf Tod und Leben maden, hier die Edelften und Beften der freien Biirger, deren jeder in der eigenen Vaterftadt hervorragt, jelber eintretend in den Wettfampf, der die freudige Kraft und Herrlidfeit des

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Menfdenthums zur Erſcheinung bringt, und wo ein Pindar die Tiichtigheit und das Glück des Siegers anfniipft an das Heroen- {eben der Vorzeit, und den Namen, welden das Volk jubelnd begriifte, im feierlidjen Preisgejang aud) der Nadjwelt überliefert.

Das Sdhreiberregiment, das heimliche Gerichtsverfahren haben die Schinheit im sffentliden Leben unterdriidt; e8 gilt fiir das fic) entwickelnde freiere volfsthiimlide Leben wie fiir die Volfs- geridjte neue Formen gu finden, die deren Wejen ausprägen und die widjtigen Acte und Vorginge in Staat und Gemeinde and) wiirdig und klar erfdjeinen laſſen. Jakob Grimm ſchrieb cinmal cine Abhandlung iiber die Poefie im Redht, worin er darthat wie das Redt mit der Poefie entiprungen ift, wie der Name des Schöffen als Ridters Cins ift mit dem Namen scuof als des Didhters, die ſchöpferiſche ordnende Natur beider bezeichnend; ähnlich Finder und Troubadour. Das alte Redht ift feiner Spruch— form nad) poetijd gebunbden, voll (ebendiger Wörter und bilder- reid) im Ausdrud, und die Poefie hat aud am Inhalt mitbeftimmt und die Redtshandlung mit fymbolifden Formen begleitet, die im Mund und Herzen des Volks gewaltig find. Wir können hinzu— jegen daß wir in der Poefie Geredhtigfeit verfangen und im Aus. gang ein Gottesurtheil fehen wollen.

Wenn die Reformation gegen einen leeren Ceremoniendienft ciferte und die Redhtfertigung nidt in dugere Handlungen, fondern in den Glauben, in die Wiedergeburt des Herzens fewte, fo hatte fie recht, aber unrecht war die Crniidterung und Verfiimmerung deS Cultus, in weldem die religidfe Feierlidfeit das ganze irdifde Leben dem Gittliden darbringen und mit ifm durch— dvingen ſoll. Su der Vermählung des Irdiſchen und Himm- lifden, bed Reitliden und Cwigen iſt er an ſich ſchön, und erhalt durd) die Runft, die er erzeugt, feine Vollendung. Die Baukunſt ſchafft ihm den Raum, der die Grundftimmung des Volfsgemiiths in feiner Erhebung zum Unendliden fymbolifd ausdriidt, Blaftif und Malerei ſchmücken diefen Raum mit Bil- bern des Heils gum Troft und zur Nacheiferung der Seele, die Muſik erfdhallt, die Poefie des Gemeindegefangs, das lebendige Wort der Predigt verbinden fid) gu einem grofen harmonifden Ganjzen. Wie die Weihe der Religion das ganze Leben von der Wiege bis zur Bahre umfängt, hat Sdiller’s Lied von der Glocke meifterlid) gefdildert; ift dod) der Klang dev Glocke ihre laut— werdende Verfiindigung. Der Ruhetag fiir den leibliden Menſchen

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bietet dem geiftigen Erhebung und Freude. Nur ein befchriinfter Sinn mag den Sonntag ausſchließlich einem Heiligen weihen das auferhalb der Natur und Kunſt fteht; vielmehr gerade der Genuß des Schinen auf diefen Gebieten zeigt die wahre Madt des Ewi- gen, die Feine ſcheue Flucht aus der Welt, fondern deren Ueber- windung und Befeelung ft.

Sedes Gaframent ift an ſich äſthetiſch, indem es in ſinnlicher orm oder durd) cine dufere Handlung einen idealen Begriff ver- anfdaulidt, cine göttliche Gnade vermittelt. Die Taufe des Neu- geborenen zeigt wie er durd) Chriſtus in cine Gemeinſchaft cintritt die ihm die Wiedergeburt miglid) macht, und das reine Element ift ein Zeiden der geiftigen Reinheit und Reinigung. Das Abend- mahl ftellt die innigfte Lebens- und Liebesgemeinſchaft mit Chriftus dar; durch ihn Eins mit Gott find wir in Gott and Cins mit allen Menſchen. Und die Cinfegnung der Che bejagt es deutlid daß hier ein Bund gefdjloffen werde angefidts der Cwigfeit fiir die Gwigfeit, dak zwei Weſen ihre urfpriinglide Cinheit in Gott erfannt und wiedergefunden haben und fo fie bewahren wollen. Ich verweife auf die anjzichende Erörterung Goethe's im fiebenten Bud von Wahrheit und Didtung; aud) dort wird der Mangel an Fülle und Zufammenhang im proteftantifden Cultus beflagt.

Das Religivfe oder wenn man will das Chriftlide der Kunſt befteht nicht allein im Rirdliden, fondern in ihrer fittliden Rein- heit und Vollendung, darin daß fie nicht bloßem Sinnenreiz und verführeriſchem Sinnenkitzel fröhnt, ſondern den ganzen Menſchen ins Ideale und ſeine Harmonie erhebt. Wir ſagen mit Michel Angelo: Die wahre Kunſt iſt edel und fromm von ſelbſt, denn ſchon das Ringen nach Vollkommenheit erhebt die Seele zur An— dacht, indem es ſich Gott nähert und vereinigt. In Richard Rothe's theologiſcher Ethik finden wir einige vortreffliche hierher gehörige Ausſprüche: „Indem die Kunſt ſich vom Gefühl aus an das Ge— fühl wendet, greift ſie in ihren Wirkungen viel weiter und tiefer als die Wiſſenſchaft. Ganz vornehmlich für die ſittliche Bildung des Volks in ſeiner Totalität iſt ſie ein unberechenbares wichtiges Moment, da die große Mehrheit in den niedern Schichten der Geſellſchaft eine durchgreifende ſittliche Bildung ihres Selbſtbewußt— ſeins nur als Bildung ihrer Empfindung, nicht als Bildung ihres Verſtandes empfängt. Was in den höheren Abtheilungen der Ge— ſellſchaft auch auf dem Wege der Wiſſenſchaft an den Einzelnen gelangt von ſittlich bildenden Einflüſſen, reinigenden ſowol als

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erhebenden, da8 fann in den tiefer liegenden Regtonen nur durd die Kunſt an ifn gebradjt werden. Gerade fie ijt’s die auch) den äußerlich am tiefften Geftellten und am meiften mit der Noth des irdifden Lebens Belafteten fittlid) zu heben und ju adeln vermag, und nicht wire fiir die ärmern Volfsflaffen wünſchenswerther als daß fie iiberall mit einer wahrhaft gefunden und reiden Kunſt— welt umgeben werden finnten, deren veredelnde Cinfliifje fie un- unterbrodjen auf ifnen felbft faum bemerflicje Weife cinathmeten. Weshalh denn aud) der Staat ernjtlid) darauf bedadt fein foll diefen Rlaffen cinen guten Kunftgenug ju eröffnen. Weſentliche Hiilfe fann freilid) nur von der Emancipation der Kunſt aus der Bejdrinfung auf den Bereid) des Privatlebens fommen. An die- jem hat die Kunſt feinen ihrer wiirdigen Hintergrund und Halt; ſchon deshalb mug fie, wenn fie auf daffelbe beſchränkt ijt, ihre Wiirde mehr und mehr verlieren, betdes gleichſehr ihre reflerions- loſe Unjduld, thre findlid) unbefangene Demuth anf der einen Seite und das ftolje Selbftgefiihl um ihren Adel auf der andern. Auf das Privatleben beſchränkt und feinen bedeutungslofen Intere eſſen dienftbar gemacht wird fie kleinlich wie diefe und damit 3u- gleid) gefallſüchtig. Sie wird unvermeidlid) cine Sade des Luxus und der Citelfeit, was fie nie werden darf, und tiberhaupt fie verfiimmert in fid) und ihr Lebensmark verdorrt. Die Kunſt immer vollftindiger in die Oeffentlidfeit cingufithren, darauf muß das Hauptaugenmerf geridjtet fein, darauf einer wirklid) guten Kunſt eine grogartige öffentliche Wirkſamkeit gu verſchaffen. Der Staat fann die Kunſt gar nicht zweckmäßiger pflegen als wenn er fie mit der Fülle aller ihrer mannicfaltigen Darftellungsmittel mitwirfen läßt bet der Oarftellung feiner eigenen allgemeinen Lebensfunctio- nen, wenn er fie die sffentlidjen Lofalititen jdmiiden und die öffentlichen Feſte verherrlidjen läßt. Und died ift zugleich der fiderfte Weg zur allgemeinen Verbreitung fiinftlerifder Bildung, und gwar einer wahrhaft in fic) cinheitlidjen iiber alle Klaſſen der Nation.” Der Staat thut nicht genug fiir die Kunſt, wenn er Unterridtsanjtalten, Afademien errichtet, die ausgebildeten Künſtler dann aber fich jelbjt überläßt; aud) das ift nidjt das Befte dag er Galerien fiir Were lebender Meiſter anlegt, denn die Gamm- lungen find fiir das gelehrte Studium nothwendig, fiir den äſthe— tijden Genuß aber immer nur ein Nothbehelf; fie zerftreuen, fie iiberfittigen, während das einzelne Bild fiir fid) Sammlung und Hingebung fordert; und wo man von vornherein fiir fie meipelt

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oder malt, da fällt mir der Vers ein: ,,denn bet uns was vegetiret alles feimt getrodnet auf’. Sondern der moderne Staat laffe es allerdings nidt vom Zufall abhingen ob der Fürſt der Kunſt fid annimmt, aber er fiihre fie in das unmittelbare Leben cin. Cin ond beftehe aus den sffentlidjen Geldern fiir monumentale Kunſt. Da erridtet eine Stadt einen Brunnen, die Bürgerſchaft beftreite die Roften des Nothwendigen, der Staat gebe den plaftifden Schmuck; er ftifte der nenen Kirche die Portalfiguren, das gemalte Fenſter, dem MRathhausjaale das hiſtoriſche Gemiilde, er laſſe meifterhafte Entwürfe fiir die öffentliche Aufſtellung ausführen, und wo er felber baut da werde das Parlamentshaus, das Museum, die Hohe Schule, das Theater, der Sik der Regierung gugleid) ein Denfmal, fiir weldhes nist blos Architeftur, Sculptur und Malerei zuſammenwirken, fondern bis in das Kleinſte hinein werde die harmoniſche Vollendung angeftrebt und das Kunſthandwerk herangezogen und ansgebildet. Ich ſchweige von dem materielfen Gewinn welden Belgien oder Minden und damit Baiern durd die RKunftpflege erflangen, und Hebe hervor dak dem fachfifden Staate die Ehre gebiihrt als folder den erſten Schritt auf der bezeichneten Bahn gethan ju haben. Dak das Leben felbft des Lebens höchſter Bwed, die Lebenstunft, die Bildung und Geftal- tung der Menſchheit ſelbſt gur Schönheit unjere Aufgabe fei, hat cinft Ludolf Wienbarg dem Heranwadjenden Gejdledte begeifternd gugerufen. Seine ajthetijden Feldzüge waren gegen da8 Unfdjine im Leben geridjtet, weil nur dann eine (ebendige Kunſt aufwadfen finne, wenn die Wirklichkeit, thr Boden, fiir fie bereitet fet; ein wiedergeborenes Griedenthum, das Sinnlide durdgeiftigter als im Ulterthum, aber aud) das Geiftige finnenfreudiger als in der darauf folgenden Epode, das war fein Ruf, wie es die Sehn- ſucht Hölderlin's geweſen. Der Geift foll nidjt wie ein Magazin die Kenntniffe aufhäufen, wie eine Cifterne den Regen des Wiffens auffangen; er foll der Blume gleiden die ihren Kel) dem Thau- tropfen auffdlieft und aus den Brüſten der Natur Nahrung faugt, aufzublühen, Farben ausjuftrahlen, Diifte ausguhauden. Die wahre Sdinheit foll die ſchöne Wahrheit, die Harmonie ded Lebens fein.

Wie wir das ethifdhe Gebiet betreten, gibt es nicht blos That— ſächliches gu beridjten, fondern aud) Ziele und Forderungen aufzu- ftellen; denn die Sdee des Guten verwirllidt ſich durch die fittlidje That, und der Proceß ihrer irdiſchen Entwidelung ift die Geſchichte.

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Das Leben der Menſchheit erſcheint in der Gefdhidjte als ein Ganges, da8 die nacheinander folgenden Gefdjledjter zur Einheit verfniipft und die Aufgabe hat das Wejen der Menſchheit allfeitig und harmonijd zur Erſcheinung ju bringen; ihre Bejtimmung liegt nicht auger ihr, fondern ift die ſelbſtbewußte Geftaltung des eigenen Seins. Iſt aber die Geſchichte Darftellung einer Idee durch Perſönlichkeiten und Thaten, fo ſchließt fic) ihr Begriff von ſelber dem der Kunft an, jo fällt fie unter den Begriff der Schön— Heit. Go nennt denn aud) Sdjelling die Geſchichte das ewige Gedidt de8 gittliden Verftandes, den groken Spiegel des Welt- geiftes, und wo das fehende Auge fie durchſchaut, fet es mit dem findlidken Blick eines Herodot oder dem männlichen eines Thufy- dides, da breitet fie wie cin Epos fic) aus oder wirfen die Kräfte gur Löſung eines tragifden Conflictes zuſammen.

Die Geſchichte ijt die Offenbarung einer ewigen Idee in der Menſchheit und durd) die Menſchheit, das erhabene Drama der göttlichen Menjdwerdung. Es ift Cin Geift der in allen waltet um das grofe Weltgedidt darjuftellen, und die Einzelnen find nicht die Marionetten die der Schöpfer an Drähten lenft ohne daß fie wiffen was fie thun, nod) find fie die Schauſpieler die eine fdjon fertige Rolle nur reproduciren, fondern jeder hat eine freic Wirklichfeit fiir fich und wird geboren um felbjtfriftig feine Rolle gu erfinden und auszufiifren, aber die Stelle wo er ins Leben tritt die ift ihm beftimmt, die Rraft mit der er ins Leben ein— greift ijt ihm verliehen und ſeine Sudividualitit urjpriinglid) auf das Ganze und deffen gegenwiirtige Entwidelungsjtufe bezogen. Wie in der Seele des Mtenjdjen die Vorjtellungen auffteigen jede von den andern und vom Sch unterſchieden und dadurch ſelbſtän— dig fiir fic), wie fie fich trennen und verbinden, miteinander ringen und dann wieder in der Gewinnung eines gemeinfamen Zieles tuhen um von neuem einen höhern Kreislauf zu beginnen, fo die einzelnen Geelen in Gott als die Strahlen feines Lichtes, al8 die fic) jelbft erfaffenden Gedanfen feines Geiftes, die dadurd) jum Selbſtbewußtſein fommen daß fie fic) von allem andern unter- ſcheiden, und deshalb meinen fiir fic) gu fein, bis fie ihre Wefen- gemeinſchaft darin erfennen daß fie aufeinanbder zu wirfen, einander zu verftehen vermigen, dak fie liebend fic) ein im andern wieder- finden. Auch fie ftehen bald im Kampf, und bald vereinen fie fic) fiir gemeinſame Zwecke. Und wie die menfdlide Seele leer und leblos wäre ohne die Fille der VBorftellungen, die fie erzeugt,

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in denen fie fid) das eigene Innere zur Anſchauung, gum Bewuft- fein bringt, jo wiirde Gott „der ewig Einſame“ fein ohne die Geifterwelt, die er fraft feines Willens aus fic) hervorgehen läßt, die die Unendlichfeit feines Wefens entfaltet, in der er lebt und webt wie fie in ihm. Erlöſche das Selbſtbewußtſein der Seele in ihren bejondern Gedanken, Anfdhauungsbildern, Gefiihlen, ſodaß fie jelber nur den Ort bite wo diefe hin- und Herwogten, fo wire alferdings eine jufjammenhingende und verniinftige Entwidelung nicht möglich, aber wir wiirden aud) ſagen der Menſch fei auger ſich, und habe fich felbft verloren. Erſchöpfte fic) Gott in der Schöpfung, ſodaß alles Bewuftfein nur den endliden Wefen, nicht der unendlichen Subſtanz zukäme, und trieben die endliden Wejen ihr Spiel unabhingig von feinem [eitenden Willen, dann wire aud) eine Geſchichte, ein Zuſammenhang des geiftigen Lebens und ein Plan in feiner Entfaltung nicht möglich, fondern alles wiire der Verwirrung de8 Zufalls dahingegeben. Die Wirklichkeit der Geſchichte beweiſt daß es nicht fo ift, denn fie zeigt Vernunft in ihrer Entwidelung, und in ihren Geridjten wie in ihrem Segen zeigt fie da Gott nicht abweſend, geiftesabiwejend, fondern allge— genwirtig, aller Dinge und feiner felbft miidtig iſt. Aber er fteht aud) ebenfo wenig auferhalb der Natur und der Geifter wie die menſchliche Seele neben dem Leib und neben ihren Gedanfen; vielimehr wie er alles aus fid) hervorbringt, fo bleibt er ihm aud) einwohnend, und wenn aud) die einzelne Vorjtellung nidts von der andern und bon der ganzen Seele wei, die Seele weiß von jeder und von allen gufammen. Ob wir Gott und die andern nidt fennen, er fennt uns, und wir vermigen ihn ju erfennen weil wir von ihm erfannt find. Wie das Spiel der Vorjtellun- gen den Willen der Seele, jo vollzieht der Kampf der Sndividuen in der Geſchichte den Willen Gottes; denn er ift der Grund ihres Weſens und der Ouell ihrer Kraft. Wie fie aber unabhingig voneinander fic) geftalten und wirfen, jo fann in ihrem Getriebe und durd) dafjelbe ein allgemeiner Weltplan nur dann volljogen werden, wenn er in der vorfdauenden Weisheit entworfen ift, und ob aud) den Gingelnen verborgen, dod) im einen und allge- meinen Geifte gewollt wird; oder um mit Wilhelm von Hum- boldt gu reden: „die Weltgeſchichte ift nidjt ohne cine Weltregie- tung verſtändlich“. Der Dichter offenbart und entfaltet fid) in dem Gedichte, aber es ift nicht ohne ifn.

Sd) evinnere daran daf die ſittliche Weltordnung, das Geſetz

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des Geiftes, ihrem Begriffe nad) nicht mit gwingender Natur- gewalt wirft, fondern das Seinfollende ijt, das durd) den gött— lichen Willen befteht und dem der menſchliche fic) verpflidtet fühlt; darum ift feiner Freiheit Spielraum gegeben, und er Fann in die Srre gehen und Zeit verderben, er fann vom Rechten fid abwenden und damit fid) dem Schein zukehren und das Wefen verlieren; er mug da8 Gute nicht thun, aber fein Heil ift daran gefniipft, und darum fann er fic) felbft nur behaupten und vollen- den wenn er es thut. Go war e8 die Beftimmung der euro- päiſchen Menſchheit daß fie aus dem mittelalterliden Feudalismus Heraus den freien Volksſtaat erricdjte; wie das gefdehe war den einzelnen Nationen anheimgegeben. Die Schweiz that es zuerſt und leicht auf organijde Weiſe: Bauern und Städte verbanden fic) zur Wahrung ihrer Freiheiten und traten zur Cidgenoffen- ſchaft, zum Bundesftaat zuſammen; der Adel ging im Biirger- thum auf. In England madhte fid) die Ariftofratie zur Führerin des Staats, indem fie die Rechte des Volts in der Magna Charta aufftellte, 3um Hans der Edeln das Haus der Gemeinen fiigte, und danach tradtete durd) die Wahl yur Vertretung der Biirger und zur Regierung durch da8 Königthum berufen yu werden. In Frankreich ftellte da8 Rinigthum die Souveränetät des Staats nad) innen her, centralifirte aber und vernidjtete die Freiheit; das Volk begritndete diefe auf abftracte Weife durd) die Revolution, weit mehr zerſtörend als anfbauend, und nod heute ſchwankt die Nation gwifden Anardie und Despotismus auf und ab, weil ein jelbftfiidjtiger Napoleon fie mit Kriegsruhm verblendete, während ein edler Cromwell in England der Zuchtmeiſter gur Freiheit war. In Deutſchland ſcheiterte die politifde Neugeftaltung zur Refor- mationszeit an der BVereinzelung der Kräfte; Ritter, Bauern, Stidter wirkten nicht zuſammen, und Luther verjagte fid) einer gewaltfamen Grhebung; fo blieben feudale und republifanifde Ele- mente nebeneinander in einer madtlofen Rleinftaaterei, bis end- lich aus idealem Zug de8 Geiftes durd) die Didter und Denker ein Nationalbewuftfein entftand, dem der langſam erftarfte preu- ßiſche Staat mehrmals in fchicfalvollen Stunden ſich gum Halt und Triiger bot, bis aud) hier der Bundesftaat in der Verſöhnung von Hreiheit und Ordnung gegriindet ward. Go ftedt die Vor- jehung das Ziel und läßt uns die Wege wihlen, und das Biel ijt uns ja nidjt fremd, fondern nur unſere eigene Beftimmung. Aber wie wir diefe fo oft verfehlen, wie wir in Siinde und Irr-

Carriere, Mefthetif. J. 3. Muff. 27 .

418 II. Das Shine in Natur und Geift.

thum uns von ihr abfehren, fo nithigen wir die Vorſehung felbft uns nadgugehen und erleuchtend, erlöſend wieder eingugreifen, nidt von aufen, fondern im Snnern, pfydologifd, in den Crregungen des Gemiiths und Willens gottbegeifterter Männer, die wenn fie das Walten des Ewigen fpiiren aud) den Muth haben es auszu- fpreden und ju bethitigen. Und fo diirfen aud) wir mit Ter- tullian fagen: der Ruhm Gottes ift größer wenn er gearbeitet hat. Und wo unfere Rraft, die Rraft der Wohlmeinenden gu ſchwach erfdien, da (apt er die Selbſtſucht gewähren, die nun fiir fic) gu arbetten meint, am Ende aber filr das Gemeinwohl gearbeitet hat. Der grofe Kurfürſt, der große König wollten zunächſt ify Brandenburg ftarf und midtig maden, an Deutſch— fand dadjten fie faum, aber fie und ihre Nachfolger Hatten die Erfolge weil fie arbeiteten, und fo fdjufen fie den feften Kern des neuen deutſchen Staats, und verdienten es feine Leiter gu werden.

Der Wille der Vorſehung ijt der Wille der Geſchichte. Ihn fann feine Perſönlichkeit hemmen nod) ihm fich entziehen, vielmehr wer ihm wibderftrebt der gribt fic) felber fein Grab, weil er vom Wahren und Ewigen fid) gum Eiteln und Unmigliden abwendet, weil er voreilig nad) der unreifen Frudt greift, weil er den Wei— zen auf die Eisſcholle wirft ftatt gu warten bis bas Land auf- gethaut ift, oder weil er Trauben von den Dornen und Feigen von den Difteln leſen will. Nichts rächt die Geſchichte mehr als den leeren Sdealismus, der feine Cinbilbungen mit der Wirklidfeit verwechſelt; aber nidjt minder ſcheitert in ihr der Unglaube an die Sdee, der mit Fluger Beredhnung äußerer Umftinde alles zu thun und zu begreifen meint. „Die Weltgeſchichte ift das Weltgericht“, jo fautet das befannte Wort des deutſchen Dichterphilofophen. Das Geridt ijt nidt ohne den Ridjter gu denfen, aber das Schickſal fteht nit auger den Ereigniffen, fondern es waltet in ihnen und durd) fie. Der Ausgang wird gum Gottesurtheil, aber freilid nicht der Erfolg des Augenblics entfdjeidet, der dem Böſen oder der Energie der Selbſtſucht flüchtiges Glück verleifen fann, und die Geſchichte ift oft „lankräche“ wie die Chriembilde ded Nibe- lungenliedes. Am Ende aber miiffen die verfehrten Plane fid aufldfen wie in einer Romddic, ſodaß etwas gan; anderes heraus- fommt als was jene gewollt, wie die Briider Joſeph's den Bruder verfaufen um den Triumer loszuwerden, und dadurd) Aeghpten und fid) felbft vom Hungertod erretten und ihm zur höchſten Ehre

Die Geſchichte. 419

verhelfen, ſodaß er fagen fann: Shr gedadhtet es böſe zu machen, aber Gott hat e8 gut gemacht. Wlle befondern Zwecke werden gu Mitteln deffen was die Geſchichte will, und wer ein anderes be- gehrt der dient wider Willen der Verwirflidung ihrer Sdee. In der Geſchichte waltet die göttliche Geredhtigfeit im Untergang der Einzelnen wie der Völker, wenn fie vom der fittliden Weltordnung, von der eigenen wahren Wefenheit abfallen, und derjelben gum Trog fic) geltend gu machen begehren. Rein Blig aus hHeiterer Luft braucht fie gu zerſchmettern und feine Flut gu verſchlingen: durd den Orud und die Ungeredhtigkeit felber wedt der Tyrann die ſchlummernde Macht de6 Guten und den edeln Manneszorn, und ftatt der Bande, die er ſchmiedete, pflangt das erwadjte Volt den Baum der Freiheit. Cine Gottesgeifel, eine Zuchtruthe in der Hand des Herrn ift jeder blutige Eroberer, und iiber ifn hinaus fdjreitet cin wiedergeborenes Gefdjledjt auf dem Wege der Geredtigfett und des Friedens. Nur der ift wahrhaft fret und erreidt am Ende das was er erftrebt, wer feinen Willen einftim- mig madjt mit dem Schickſal. Nur derjenige mag fic) danernd mit dem Lorber des Siegs die Schläfe ſchmücken, deffen perfin- liches Streben mit der fittliden Weltordnung, deffen eigene Leiden- ſchaft mit der Forderung der eit übereinſtimmt.

Und die Forderung der Zeit erfiillt fid) nur durch Individuen, denn die Geſchichte ift fein mechaniſches Räderwerk, fondern ihre lieder find lebendige Menſchen, ihre Triebfedern Ruhm, Liebe, Begeijterung. Wer in ihr nur Nothwendigkeit, blinde Noth- wenbdigfeit fieht, erniedrigt fie gum menſchenleeren Formalismus, pur Schidelftitte des Geiſtes““. Wer in ihr nichts fieht als in- dividuelle Willfiir, wer alles ans der Begehrlichkeit oder Schlau— heit der Einzelnen ableiten möchte, der verfliidtigt fie gum finnlofen Sutriguenfpiel, da8 mit Schlägereien beginnt um mit Lumpereien gu enden, der verfennt bas Höhere und Größere was fid) iiber der meiften Handelnden BVerftehen und Wollen entwidelt, und es bleibt unbegreiflid) wie in dem wirren Getriebe der Zeiten ſich ein organifdes Entwidelungsgefes behaupten und der Gang des Ganjen dadurd) ein verniinftiger fein fann. „Das freie Auge”, ſagt Chriftian Rapp fo ſchön als wahr, ,,fieht in der Geſchichte den Baum aufwachſen des Leben und des Erfennens, die Eſche Ygdrafil: es fieht in ihren Stiirmen, in ihrem Wehen nur den Ruf an die Nationen gu diejem Baum fid) felber gu entfalten, das wahre, das wirkliche Paradies fic) ſelbſt wieder gu ſchaffen in

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420 Il. Das Schöne in Natur und Geift.

alfer Rraft und Fiille reifender Vermittelung. Die Sahresjeiten des Baumes find die Weltalter der Gefchidte, feine Früchte die Gaben der Freude, die Herrlidfeit des Geiftes. Die Gonne ihres Himmels ift das Auge der Liebe, die das Wefen aller Sdhipfung ift, ift der Blick einwohnender Vorfehung, die in ihren Werken fid) ſelbſt darfegt und anfdjaut und eines mit fic) im anbdern, jelber alfo Liebe und Leben ift und Anmuth.”

Gemäß diefer ihr allein geniigenden, die Thatſachen in ihrem Grunde erfennenden Auffajfung ift die Wirklichkeit der Geſchichte Poefie Gottes, die fidjthare Gegenwart des tiefjten Gein’. Go erreidt fie die Bedingungen der Schinheit, Cinheit in der Mannich— faltigfeit darguftellen, ein heiliges Geſetz nit im Zwange der Nothwendigfeit, fondern in der Entfaltung individueller Triebkraft gu erfiillen, Freiheit und Ordnung gu verſöhnen.

Wer in der Geſchichte nur auf das Ganje als folches blidt, wie Hegel, der mag fic) erfreuen an der Vernunftgemapheit ihres Weges, wodurd) fie zur Theodicee wird; aber er Hat feinen Troft fiir den Untergang der Millionen die da fterben auf der Wande- rung in der Wüſte ehe das gelobte Land erreicht wird; er ver- gift bas Redjt deS Sndividuums und des Moments itber dem Proceffe der logijden Idee. Dagegen fagt Gubfow: An jedem Tage wird das Räthſel der Geſchichte gelöſt, fie hat feinen andern Zweck als die Sittlidjfeit des Cingelnen, daß wir recht thun und niemand jdeuen. Die Freiheit ijt der eingige grofe Factor in der Gefchidjte; die Verfchiedenheit der Sitten und Zeiten dient nur dagu die höchſte Vollfommenheit der Tugend miglid) ju madden, dag fie nämlich nidt nachzuahmen brauche, fondern unter den verinderten Verhiltniffen neu und original fein finne. Go ridjtig bier erfannt ift dag jedem Augenblid nur das fehlt was die Tugend und das Genie ded zeitgenöſſiſchen Individuums ers ſetzen und erringen foll, und daß Leiner Zeit die Vorausfegungen mangeln um einen dem Himmel wobhlgefalligen Charakter ju ge- ftalten, fo entbehrt dod) dieſe Anfidjt, der die Erziehung des Menſchengeſchlechts fiir cine Ungereimtheit gilt, das Verſtändniß eines GEntwidelungsganges der Menſchheit, die da wächſt und voranjdreitet gleid) dem Sndividuum, weil ihr das einmal Er— rungene nicht verloren geht, jondern aufbewahrt bleibt in der Grinnerung, und als Erbe von einem Sahrhundert dem anbdern, von einem Bolf dem andern iiberliefert wird. Der Wedel der Beit ijt mehr als eine bloße Decorationsverinderung, jonft ware

Die Geſchichte. 421

er des Schweißes und Blutes der Edelften und Beften nicht werth, die da leben und fterben um allgemeine Zuſtände hiherer Erleudtung und Gefittung herbeizuführen, und all die tiefften Geifter und heldenhafteften Herzen Hatten umſonſt alles daran- gefest ,,auf daß das Gute wirke, wachſe, fromme, auf daß der Tag dem Edeln endlich komme“. Gerade jene Betradtung welche ber erjiehenden Thätigkeit Gottes in der Gefchidjte nachſpürt, hat ben ftufenweifen Fortidritt des Menſchengeſchlechts und damit fein Leben als ein einiges Ganjes, nidt blos als eine Summe von individuellen Handlungen und Geſchicken dargethan. Uns die wir nicht am erreidjten Biel in der Freude feines Fricdens ftehen, fondern auf dem Rriegs- und Wanderzuge nad) dem- felben begriffen find, dient dabet allerdings die Betradjtung gum Troft: daß das Erringen feine befondere Luft und Ehre hat, dak in der Nadt der Stern perfinlider Tüchtigkeit um fo heller ftrahlt, und dak in das Gottesreid) auf Erden, das fiir das Ganje das Riel ift, jeder Einzelne ftets mit feinem Geiſt und Willen eintreten fann.

Wie dem Einzelnen nicht verloren geht was er erlebt und ge- dacht, fo aud) dem Menſchengeſchlechte nicht; die Thaten gehen voriiber, aber ihre Grfolge bletben, e8 bleibt der Gewinn den fie alg Uebung der Kraft, als Exprobung des Muths in energifdem Aufſchwunge gebradht, und aud) von den Leiden gilt das alte Wort: der Menſch fteht hiher, wenn er anf fein Unglück tritt. Alle wahre Gefdidte ijt Culturgefdhidte; in der Gefittung und Bildung haben wir den bleibenden Niederſchlag aus den Gärungen und Bewegungen. Und fo erflimmt durch jede Generation das Ganje eine hihere Stufe. Mur diejenigen Voller find gefdicht- lid) welde die Erbjdaft der Vergangenheit antreten, nur die- jenigen Menſchen welche fortbedingend in die Zukunft eingreifen. So ift Geſchichte die im Bewuftfein fic) gujammenfaffende Cin- eit, und Völker die fid) auferhalb derfelben befinden, erftarren oder verwildern, und ftellen den höher ftehenden die Aufgabe von ihnen wieder in den Strom der allgemeinen Entwidelung hineine gezogen ju werden. Aber allerdings geht der Weg nidt gerade voran, wie e8 der Fall fein wiirde, wenn ein und derjelbe Menſch alle Proceſſe der Geſchichte in fid) durchmachte, wenn die Menſch— heit nur Geift wire. Aber fie ift Geift und Natur. Schon Salomon fagt: Es gejdieht nichts Neues unter der Gonne, und Shiller fingt klagend: WAlles wiederholt fic) nur im Leben. Mean

499 IL. Das Schöne in Natur und Geift.

redet bon cinem Kreislauf aller irdifdjen Dinge, aud) der menſch— lidjen. Nach der Naturfeite hat dies feine Beredjtigung; denn e8 herrfdt cin beftiindiges Geborenwerden, Wachſen, Reifen, Altern, Wbfterben der Sndividuen, und jeder Lebenslauf fteht als ein in fic) geſchloſſener Ring in der allgemeinen Rette; jeder ſcheidet mit ſeinem Wiffen und Rinnen von hinnen, und der Madhfolgende muß ftets von neuem fiir fid) erwerben und erfahren. Allein der Nachfolgende wächſt dod) in die Bilbungsatmofphire jeiner Zeit Hinein, was die Vorgiinger mit Mühe gefunden haben fann er lernend fic) leicht aneignen, und mas fiir fie der Zweck der Arbeit war wird dadurd) fiir ifn das Mittel eine höhere Aufgabe zu löſen. Beftindig leben zwei Geſchlechter und wachſen ineinanbder, das alte welches das Gewonnene nun ruhig erhalten, das junge das fic) fortbewegen und Neues erjagen will; das Princip des Beharrens und das der Bewegung wirfen auf dieje Art in- einanbder, und die Linie ded Fortidjritts wird dadurch zur Curve gebogen. Ebenſo ift der Entwicelungsgrad und die Altersftufe der gleichgeitigen Völker verfdjieden. Dort weiden nod) die Stimme ihre Heerden, und hier ift eine Civilifation durch Ueber- feinerung matt und haltlos geworden, und bie friſche Naturfraft einer jugenbdlidjen Nation riiftet fid) bereits das Erbe derfelben angutreten und fid) an die Stelle des finfenden Volkes gu feben. Dadurd) gefdieht eS dak wie fiir jede Gegend die Jahreszeiten wechſeln, auf der Erde aber Friihling und Herbft, Sommer und Winter ftets vorhanden find, fo auch in der Gefdidte Tod und Leben, Jugend und Alter fid) ineinanderfdlingen.

So greift nicht blos die Naturordnung in die Geſchichte Hinein und fie gibt fid) aud im Zuſammenhang von Land und Leuten fund —, fondern es wirfen dabei auch diefelben Gefege der fitt- licen Weltordnung gleichmäßig in den verfdhiedenften Verhält— niffen. Das Verbredhen findet feine Strafe, der Ucbermuth feine Demiithigung, und in der Neuzeit brandten wir nur an Napo- {eon und Louis Philipp gu erinnern um gegenitber jedem Schein— erfolg einer der fittlidjen Sdee entfrembdeten Macht die Ueber- zeugung der unausbleibliden Geredtigfeit gu behaupten. Nicht minder bleibt diejelbe menſchliche Natur in allen Lagen und zu allen Reiten dicjelbe. Wer ihren Rern erfaßt dev errith leicht wie er unter befondern Umftinden fic) entfaltet. Und fo fann man denn wol mit Shakefpeare fagen:

Die Geſchichte. 423

Gin Hergang ift in aller Menfdjen Leben Abbildend der verftorb’nen Zeiten Art; Wer den beadtet fann gum Ziele treffend Der Dinge Lauf im Ganzen prophejein, Die ungeboren nod in ihrem Gamen

Und fdwaden Anfang eingejdachtelt liegen.

Doh bedarf der Analogienſchluß groker Behutjamfeit, denn was filr die eine Beit oder das eine Volk auflöſend und jerftdrend wirft, das ift gerade oft das neue Princip der nachwachſenden Menſchheit. Man denfe an das Subjectivititsprincip, das der alten Welt verderblid) und der Edftein des Neubaues im drift licen Germanenthum wurde. Wenn im Alterthum die Poetik des Ariftoteles erft nad Homer und Sophofles fam, und das Philo- fophiren iiber den Staat erft eintrat als deffen frete Kraft ge- brodjen war, fo haben wir dagegen erlebt dak Leffing und Windel- mann einem Goethe und Thorwaldfen vorausgingen und daß das Leben nad) politijden Theorien geftaltet wird. Und es fann nidt anders fein, wenn wir in ein Zeitalter ded Geiſtes eintreten, und die Menſchheit auf den menſchlichen Standpunft fommt, wo nicht mehr blos der injtinctive Drang ihrer Natur und der Blicd des Genius, fondern aud) das bejonnene Selbftbewuftjein den Willen fenft und durch Erleuchtung leitet.

Deshalb können wir jene zwei obigen Sätze umkehren, und ſie haben gleichſehr ihre einſeitige Wahrheit: Es geſchieht nichts Altes unter der Sonne, und nichts wiederholt ſich im Leben. Es ſind immer neue originale Individualitäten, welche aus der Tiefe des göttlichen Lebensgrundes in die Gefdhidjte eintreten, und denen bie vorhergehenden Gejdledter wol das leiblide und gemiithlide Material der Selbjtgeftaltung bieten, die aber das Princip ihrer GCigenthiimlidfeit in fic) felbft tragen; es find immer andere Ver- hialtniffe, in denen fic) die Menſchen bewegen, und die Lebensauf- gabe der Gegenwart läßt fid) nicht dadurch löſen daß man dads Wort des Mathfels der Vergangenheit nod einmal ausfpridt.

Aus alledem folgt: Die Geſchichte bewegt fid) in auf- und abgehenden Wellen. Cin Sieg der Sugend regt das Alter an nun fejt den Stand ju behaupten, und fein Beharren madt wieder das Gefühl und Bedürfniß der Bewegung rege. Freiheit und Ord- nung, die Principien des gefdidtlidken Lebens und die Bedingun- gen feiner Schinheit, find allerdings in einem fortwährenden Procefjfe der Verſöhnung, aber eben in einem Proceffe, weil die

424 II, Das Schöne in Natur und Geift.

Gejdidte und ihre Schönheit nidt fertig, fondern werdend find, und darum wedjelt das Ucbergewidt des einen mit dem des andern, Gin Freiheitsdrang, der die Grenze ded Maßes iiber- ſchreitet, ruft dadurch das Verlangen nad) dem Gliide der Ord- nung Hervor, und eine Ordnung, die nun alles maßregeln und in fefte Form bannen will, erwedt gerade dadurd die Thatluft der voranftrebenden individuellen Triebfraft. Go folgen Begeijterung und Erniidjterung, Idealismus und Realismus, weil es unfere Aufgabe ift beide ineinander gu arbeiten, und niemand wire thi- vidjter alS wer nad) der Spanne weniger Sahre das Ganje be- meffen wollte, ftatt in der fic) fenfenden Welle die wieder auf- fteigende vorauszuſchauen und gerade aus der Liefe die Hoffnung des nahen Umſchwunges zu ſchöpfen.

Und es folgt ferner aus dem Geſagten: Der Fortſchritt der Geſchichte geht weder in der geraden Linie, noch hebt er ſich auf im Kreis durch die Rückkehr zum Ausgangspunkte, vielmehr ge— ſchieht dieſe letztere mit der Kraft und dem Geiſte die das ent— wickelte Leben bereichert hat, und andererſeits muß ſich das Vor— angehen verſöhnen mit der Kreisbewegung des Naturverlaufs und der Stetigkeit ethiſcher Geſetze. Daraus ergibt ſich uns die Lebenslinie der Spirale auch für den geſchichtlichen Organismus. Alle Rückgänge ſind in ihr nur ſcheinbar, ſie bewegen ſich in er— weiterten Ringen, eine Umkehr geſchieht um die Zurückgebliebenen nachzuholen, um das Gute früherer Standpunkte nicht zu ver— geſſen, und wenn der Kurzſichtige meint jetzt ſei ein fortwährendes Sinken, ſo iſt es nur ein Vertiefen, und der Umſchwung iſt nahe der wieder aufwärts ſtrebt; dann hofft man wol ſogleich zu einem Ziele gu gelangen, das gwar nahe liegt, aber doch mur durch cin neues Umfreifen de8 Mittelpunktes in einem ausgedehnteren Bogen erreidjt wird. Go fdjreitet die Geſchichte in der Wechfelwirfung von Action und Reaction langſam aber allſeitig voran, und die Linie der organifden Schinheit finnen wir aud) als die ihrer Bewegung ausfpredjen.

Es herrſcht eine prajtabilirte Harmonie zwiſchen der Lage der Dinge und den Perfinlidfeiten die in fie hineingeboren werden, gwifden dem Material und der formenden Rraft des Geiftes die ſich durd) fein Geftalten und Fortbilden felber entwidelt. Ich fonnte nie ein Ereignif maden, fagt ein Mann in weldem wir die perfonificirte Helden- und Herrjderfraft bewundern, Napoleon; jo ift unfere Freiheit verfnitpft mit der Nothwendigfeit, wie wir

Die Gefdhidte. 495

dies friiher erdrterten. Uebereinſtimmend bemerft aud) Rapp, naddem er die Weltalter der Geſchichte fiir die Acte des grofen Dramas der Menſchheit erflirt hatte: ,,Das antife Drama lebt in der Sdee des Schidfals; das moderne ſchwelgt in der Idee ber Freiheit und Liebe; beide Seiten haben ihre Rechte, beide laſſen fic) verzerren. Verzerrt herrſchen fie in modernen Theorien der Geſchichte. Die citeln dem Cicero halbgelehrt abgelernten Verjude von Budividuen alles gu erwarten find thiridt wie die Meinungen die ftatt der Freiheit, ftatt der Vorfehung nur den Sehatten eines blinden Schickſals fehen. In der Gefchidte wirkt was in uns Natur und Geift ift zugleich und in Einem Begriffe und Acte. Mtit dem Leben der Natur gehen ihre Proceffe Hand in Hand, und mit aufgefdloffenem Auge fiihrt die Gefchidte den Menſchen durd) Tod und Leben. Wem fie verfdjloffen bleibt der geht wie das Opferthier gum Schlachtaltar unbewnft den ernften Gang.”

Auf einen Ausfprud) von Auguftinus hindeutend vergleidt Lafaulz die geordnete Reihe der Sahrhunderte einem antiftrophijden Gefang, der auf cinent grofen Parallelismus beruht, dem Rufe Gottes und der Antwort des Menſchen. Diefen göttlichen Ruf möchte id) nun in den Sdeen erfennen, weldje die beftimmenden Mächte fiir den Charafter der Volker und ihrer Lebensalter find. Aus der innerften Tiefe des Geiftes fteigen fie empor wie die Quellen aus dem Schoſe der Erde, und da und dort bewegen fie die Gemiither, die unabhingig voneinander durd denfelben Ge— danfen erregt, berührt, ergriffen werden. Gr bildet das Band der Geelen, fie erfennen fic) Gins in bem Worte das thn aus— fpridjt, und darum allt es in Tauſenden wider. Wir finden diefe Sdeen auf zweifache Weife verwirklicht. Cinmal find fie das Gefammtproduct des Gangen. In der Kindheit, in der Jugend der Volker, wo nod) die Individualititen in ihrer unterfdheidenden Cigenthiimlicfeit fid) weniger ausgebildet haben, wo eine gemein- fame Gefittung, ein gemeinfamer Glaube nod) iiber die Subjectivi- tit Herrfdjt, die nocd weniger nad) einer eigenen Weltanjdanung ringt als daß fie der allgemeinen fid) anſchließt, da herrſcht jene inftinctive Gefammtthitigfeit, die wir im Gebiete der Phantafie ganz befonders als Mtythen- und Sagenbildung, unter den Künſten im epifchen Volfsgejang, im Architefturftifle werden fennen lernen. Aber die Entwidelung des Gndividualititsprincips, de8 eigenthüm— fiden Genius in einem jeglidjen, gehirt gu den Aufgaben der

426 II. Das Schöne in Natur und Geift.

Weltgeſchichte, und feine Ausbreitung ift cin Kennzeichen des hiſto— riſchen Fortidhrittes. Und fo find es in Zeiten vorwiegender Gub- jectivitit eingelne Perfinlidfeiten, die in der Idee des eigenen Lebens gugleid) das vollbringen was fiir die Fortgeftaltung des Ganzen von Bedeutung ift. Bhnen gehen gewöhnlich einzelne fometarifde Geifter al8 BVorboten voraus, die das Nene ahnen und enthufiaftifd verfiindigen, aber noc) nicht verftanden werden, daher fie den Spott der Mtenge oder die Dornenfrone davontragen. Sie jelber zahlen hiufig die Schuld eines Mangels an Mak und Klarheit, oder fie ſtürzen fic) opferluftig in jenes tragiſche Feuer, das gugleid) verzehrt und verflirt. Wie jeder Menſch befähigt ijt jein Selbſtbewußtſein gum Weltbewuftfein ju crweitern, den Pro— ceß der Geſchichte im eigenen Innern durchzumachen, und wie fein Verſtändniß der Oinge beweift dag feine eigene Urfraft ihnen con- genial ift, fo feudjtet in der Seele fernhafter aufridtiger Naturen wie denn Carlyle die Wahrhaftigteit als Grundlage jeder echten Gripe nachgewieſen hat in feinen Vortrigen über Helden, Heldenverehrung und Heroenthum in der Geſchichte —, es leuchtet, ſage id, in wabhrhaften Menſchen als eine innere Gottesoffen- barung der Gedanfe auf, welder das Sdeal de8 Sahrhunderts darftellt und damit zur Vilferfahne wird, und fie find Eins mit diefem Gedanfen und fegen ihr Alles an feine Hinausfiihrung. So erfdeinen fie wie ein Auszug der Zeit und ihrer beften Kraft, und find die geborenen Reprifentanten der Völker und der Menſch— Heit. Go ftellt Chriftus das Urbild der Menſchheit dar und wie- der her, und vollbringt dadurd ihre Verſöhnung mit Gott. So driidt Moſes dem Budenthum den Stempel feines Geiftes auf, und in dem tapfern, poeſiereichen Muhammed erfennt jeder edle Araber fid) felber wieder, und folgt feiner Mahnung, die ihn vom Dienft der heiligen Steine und Geftirne yur BVerehrung Gotteds des Geiftes beruft. Alexander der Jüngling reprijentirt die Sugendlidfeit von Hellas, wie Cäſar der Mann die Männlichkeit Roms, In dem Augenblick wo Griechenland fidh in innern Kimpfen aufzuretben in Gefahr ift, nadjdem es feine originale Wefenheit in That, Kunſt und Wiffen herrlid) ausgepriigt hat, knüpft Alexan— der an die Homeriſche Vorzeit wieder an, und jugleid voll jenes jo didjterijden als unbezähmten UAchilleijden Heroismus wie ge- nährt von der Weisheit eines Ariſtoteles erobert er Afien und pflangt die hellenifde Cultur ihm ein, und bridjt er die Natio- nalitätsſchranken und faßt und vollzieht gum erften male den Ge-

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banfen ciner im Unterſchied der Völker beftehenden Menſchheit, hier Chrifti Vorlaiufer, der mit dem Schwerte dem Friedensfiirften den Weg bereitet. Oder blicen wir auf den Gothen Theodorid und den Franken Karl, wie fie mit Recht die Grofen heifen, weil fie fid) und mit fid) ify Volf und das ganze Germanenthum in die Erbſchaft der antifen Cultur einjeben und das Ideal eines chriſtlich deutſchen Reichs als Fortjesung des römiſchen dem gan- zen Mtittelalter aufftellen. In Friedrich II. verfirpert ſich das Preußenthum mit feiner Stärke, mit feiner pflidhtgetrenen rück— fichtslofen UArbeit fiir den Staat, wie nidt minder die Aufklärung des achtzehnten Sahrhunderts mit ihrem Lidt und ihrem Schatten, und der edle Selbftherrjder nennt fic) felber den erften Diener des Staats. Und fteht in cinem Perifles nidt das ganze Athen vor uns mit Helm und Sdwert, mufenjinnig, freiheitsluftig, geiftesgemandt? Oder find nicht Rant, Goethe, Schiller die plajtifden Trager deutſchen Denkens und Didhtens in feinem unerſchrockenen Zieffinn und feiner durddringenden Klarheit, in feiner volksthümlichen Innigkeit und feiner Verſchmelzung mit dent UAlterthume, in feinem idealiſtiſchen Schwung und feiner fitt- lichen gur That entflammenden Begeifterung ?

So veranjdaulidt die Geſchichte felber den in einzelnen Völ— fern oder Gpodjen waltenden Geift, indem er in grofen Männern perjonificirt erſcheint, ſodaß das ſonſt Serftrente und Auseinander- liegende zur Cinjzelgeftalt gujammengedidtet ijt, und wir erfennen nun um fo flarer inwiefern die Gejdhidte ein Gedidt des Welt- geiftes heißen fann. Die Kunft hat fic) hier ihr nur anzuſchließen um wiederum Ddasjenige was fic) tm Reidthum und der Dauner eines ganzen Lebens entfaltet, mit wenigen grofen Zügen weſen— Haft zu offenbaren.

Sch verweife hier nod auf den glangvollen Abſchnitt in Laſaulx' Philofophie der Geſchichte ber die Heroen, der alfo beginnt: „Zu den fchinften und erhabenften Erfdeinungen im Leben der Menſchheit und der Völker gehiren die geijtigen Heroen derfelben, die grofen Männer, welche gerade zur redjten Zeit in den Ent— widelungsperioden des Vilferlebens, da wo cine lange Vergangen- heit ihren Abſchluß erreicht und cine weite Zukunft fic) sffnet, wo bas Ende der alten und der Anfang einer neuen Zeit, wo Er- löſchen und Neuſichentzünden gufammentreffen, wie lidte Götter— geftalten oder wie cin Blig vom Himmel erfdeinen, und als die Triiger der neuen das Leben geftaltenden Idee, als Griinder und

428 II. Das Sdine in Natur und Geift.

Wiederherfteller der Religion und der Staaten auftreten, jene Miinner die wie Sproffen aus dem urfpriingliden Lebensteime ihres Volfes, ja aus dem Herzen der Menſchheit felbft geboren und eben darum mit urfpriingliden elementaren Kräften aus— geriiftet nidjt blog fiir ihre Beit, fondern anf lange Sahrhunderte hinaus thatkräftig wirken.“ Dies lebtere weift Laſaulx am Bei- fpiel Homer’s nad, und erflart augerdem daß alle neuen Ideen zuerſt menfdwerden miiffen, wenn fie im Leben der Menfdjen realifirt werden follen. In denen aber die wir als die Verfirpe- rungen neuer geſchichtlicher Sdeen anſehen können, offenbart fid cin bis dahin verborgener göttlicher Wille, der die Welt durd- waltet und geftaltet.

Aud in der tieffinnig Haren Abhandlung Wilhelm von Hum- boldt’s itber die Aufgabe des Geſchichtſchreibers finden wir folgende Sige, die wir unferer Darftellung als erliuternde Beſtätigung anſchließen können: ,, Sede menſchliche Individualität ift eine in der Erſcheinung wurzelnde dee, und aus einigen leuchtet diefe fo ftrahlend hervor, dag fie die Form des Sndividuums nur ange- nomimen ju haben fdeint um in ihr fic) felbft zu offenbaren. Wenn man das menfdlide Wirken entwidelt, fo bleibt nad Abzug aller daffelbe beftimmenden Urſachen etwas Urfpriinglides in ifm zurück, das anftatt von jenen Ginflilffen erftidt ju werden vielmehr fie umgeftaltet, und in demfelben Element liegt ein unaufhirlid thitiges Beftreben feiner inneren eigenthiimliden Natur äußeres Daſein ju verjdaffen. Nicht anders iſt es mit der Individualitit der Nationen, und in vielen Theilen der Geſchichte ift es fidt- barer an ihnen als an den Einzelnen, da fic) der Menſch in ge- wiffen Epochen und unter gewiffen Umftinden gleichſam heerden- weife entwidelt. Witten in den durch Bedürfniß, Leidenfdjaft und ſcheinbaren Zufall geleiteten Begebenheiten der Völker wirkt daher und mächtiger als jene Elemente das geiftige Princip der Individualitit fort; es fucdht der ihm imwohnenden Idee Raum zu verfdaffen, und es gelingt ifm, wie die jartefte Pflanze durd das organifde Anſchwellen ihrer Gefäße Gemäuer fprengt, das fonft den Cinwirfungen von Jahrhunderten trogte. Neben der Ridjtung welche Volker und Einzelne dem Menſchengeſchlecht durd) ihre Thaten ertheilen, faffen fie Formen geiftiger Indivi- dualität zurück, dauernder und wirffamer als Begebenheiten und Ereigniſſe.“

Wie einzelne Männer das Volk repräſentiren, ſo gibt es auch

Die Gefdhichte. 429

eingelne Zeiten in welden das Leben deffelben in feiner Bliite fteht, und von der gu Grunde liegenden dee fo villig durd- geiftigt und durchdrungen ift daß fie in der Erſcheinung klar fid verfiindigt. Golde find vorzugsweiſe die Tage der gefdhidtliden Schönheit; wir erinnern an die Größe Athens von den Perfer- friegen bid zu Perikles, oder an das Sahrhundert der Kreuzzüge, aud) an Florenz und Nürnberg im Aufgang der neuen Zeit, wo dieſe Städte felber wie große Runftwerke geftaltet wurden. Es gehirt dazu dag ein Ginflang von Religion und Politif, von Wiffenjdaft und Kunſt vernehmlid) wird, und diefe erlebte Har- monie ftimmt dann wieder die Phantafie ein ideales Abbild der Wirklichkeit yu erzeugen.

Was endlich das große Ganze der weltgeſchichtlichen Entwicke— lung angeht, ſo glaube ich hier das Walten jener Trias von Kategorien zu erkennen die allem Leben zu Grunde liegen und die Bedingung der Schönheit ſind; in der Realität bezeichnen wir ſie als Einheit, Unterſchied und Harmonie, in den logiſchen Formen unſers Denkens als Begriff, Urtheil und Schluß.

Danach iſt die erſte Periode die der Einheit, in welcher das Menſchengeſchlecht nod) nicht in verſchiedene Völker auseinander- gegangen iſt, in welcher die mannichfaltigen Kräfte der menſch— lichen Natur noch im Keime liegen, aber der Vernunftinſtinet die Unſchuld kindlicher Gemüther behütet und leitet, das Gefühl der Pietät die Einzelnen verknüpft, das Gefühl der Gottinnigkeit ſie dem Ewigen verbindet, ohne daß dieſe religiöſe Stimmung ſchon zur mythiſchen Darſtellung oder zur denkenden Betrachtung des Göttlichen fortginge, oder daß ein äußerlich angeordnetes Geſetz die Gemeinſamkeit regeln müßte. Nachklänge haben wir im Pa— triarchen⸗ und Heroenthum, wie wir es bet Moſes und Homer gefdhildert finden; eine Erinnerung hat fic) erhalten in den man- nidfaltig geformten Erzählungen vom Paradies oder goldenen Reitalter. Der Menſch ift Menſch, fein Erwachen fonnte darum weder thierifdje Wildheit fein, noch eine entwicelte Cultur, welche immer durd) eigene Arbeit erft gefdaffen wird, ſondern war die Ginheit feiner finnlid-geiftigen Natur in fittlidem Gefühl, unter der Leitung der ihm eingeborenen, wenn aud) nod) nicht zur be- wußten Selbftbeftimmung gereiften Vernunft.

Die feimartige Cinheit follte fic) entfalten, die vielfaden Kräfte des menſchlichen Wefens follten hervortreten, e8 follte feinen Be- griff felbft beftimmen. Dazu gehirte der Gegenjak, die Scheidung

430 II. Das Schöne in Natur und Geift.

der befonderen Lebens{phiren, die Sdheidung der befonderen Men— jdenmaffen, die nun von einer eigenthiimliden Idee geleitet mit ihr zu eingelnen Vilfern werden; indem jedes nun feinem Grund- gedanten fid) hingibt, und ihn ausſchließlich auspriigt, gewinnt es cinen Kreis von Anfdauungen die zunächſt nur ihm angehören, in feiner Sprache dargeftellt werden, den andern aber unverjtiind- lich find, und fo ijt mit der Völkerſcheidung die Trennung der Spradjen und das Hervortreten der Mythologie vergefellfdaftet, da durd) Selbftfudt und Siinde das Bewußtſein der Cinheit unfers Wejens mit Gott getriibt wird, und die Phantafie die der Seele cingeborene Gottesidee an Naturerfdeinungen oder Lebens- erfahrungen, die fie erweden, anfniipft. Der Unterſchied wird zum Gegenfas im Kampf der Cingelnen wie der Nationen, aber des Rampfes Biel ift der Friede, und jede Beriihrung zeugt von der gemeinjamen Menſchheit. Das Menfdheitlide wird wieder- gewonnen, wenn das Menſchliche in feiner urfpriingliden Weſen— heit und Fille verwirklidt ift. Dies geſchieht in Chriftus, der das Urbild unferer Natur, das göttliche Ehenbild in der Ueber- windung der Sünde wiederherftellt, und fo das Gittlide und Menſchliche verſöhnt, zugleich als der reine Held in der Scheidung der Völker die allgemeine gleide Rindfdaft, das Bruderthum aller verfiindigt. Go ift er die Copula, die verbindende Mitte in der Periode des Urtheils, und fein Kreuz ward die Achſe fiir die Geſchichte der Welt wie fiir die Gejdidjte der Seele, und er jelber erfdeint nad) Sean Paul's Wort ,,als der Reinfte unter den Miidtigen, der Mächtigſte unter den Reinen, der mit feiner durdftodenen Hand Reide aus der Angel, den Strom der Jahr— hunderte aus dem Bette hob, und nod) fortgebietet der Zeit”. Das Menſchheitliche innerhalb der Sdheidung, alſo im Bunde der Völker darzuſtellen dies war die Sdee nad) welder die Wlte Welt hin- ftrebte, dies ift die Wufgabe welche die Nationen feit dem Jahre des Heils gu vollbringen haben. Iſt fie erfiillt, alsdann ijt Chrijtt Reid) gegriindet, das Menſchliche in der Organifation der Geſellſchaft vermirflidt. Wlsdann hat die Menjdheit durd cigene That ihre Beftimmung erreidt, und dies wird die Periode der Harmonie oder des Schluſſes fein.

Sn der Periode des Urtheils ward es nothwendig daß die- jenigen fittliden Normen ohne welde cine Gemeinjamfeit nidt miglid) wire, als Gefeg und Recht ausgefproden und mit einer swingenden Gewalt begleitet wurden. So entftand der Staat, und

Die Geſchichte. 431

ſeine verfdiedenen GVerfaffungen find Ausdrücke fiir die Cultur- ftufen der Völker. Die treibende Kraft der politijden Entwide- {ung ift die Sdee der Freiheit. Nad) Hegel’s gutreffendem Worte manifeftirt fie fid) in Ddreifader Folge. Bn den orientalifden Despotien ift Giner frei, und alle andern feine Sflaven, der Ge- waltherr gebietet iiber Land und Leute unbeſchränkt; in der helle- niſch-⸗römiſchen Welt find Cinige fret, die Vollbiirger der Repudli- fen, aber die Mehrzahl find Unterworfene, Heloten und Sflaven; in der dhriftlid-germanijden Welt follen und wollen Alle frei fein. Wir finnen hinzufiigen dak auch intenfiv die Freiheit wächſt: in Hellas und Rom gilt der Cinjelne nicht fiir fich, er gehirt dem Staate an, und foll in dem Rhythmus und in der Wohlordnung deS Ganzen feine Ehre finden; „nicht ihrer felbft find die Biirger, fondern des Staates“, fagt Ariftoteles; da’ Germanenthum be- ginnt mit dem Gefühl der felbftindigen Perfinlidfeit, und Chrijtus {ehrt dak das Gefes um des Menſchen willen da fei. Der Staat ift nidjt mehr der höchſte Swed, er wird gum Mittel daß jeder Einzelne durd) Freiheit, Wohlftand, Bildung des Ganjen diefe Güter and) fiir fic) erwerben fonne, daf fie ihm dargeboten und gefichert feten, ihm die vollmenſchliche Entfaltung feiner geiftigen Natur möglich werde.

Wie der Einzelne fein Naturell zum ſelbſtbewußten fittliden Charafter geftalten foll, jo and) die Menſchheit. Die Frage anf welder Stufe wir ftehen, beantwortet Fidhte’s Ethik mit der Be- zeichnung der werdenden Sittlichkeit. Das Gute fteht nod im Kampf mit den felbftifdjen Trieben, es wird anerfannt als da8 was gelten foll, aber im Leben herrſcht die Weltflugheit, und man ift weit entfernt ſtets den fittlidjen Maßſtab an die politijden Creigniffe gu legen; das äußere Handeln ftimmt mit der Moral der Schule nicht iiberein, da8 Redjte wird wol in Augenbliden der Erhebung gewollt und erreidjt, aber e8 befteht nod) nicht als geficjerter Buftand. ,,Dies ift ecigentlid) der Zwieſpalt der unfer ganjes gegenwirtiges Dafein zu dem innerlid) gebrodjenen madt, der gerade die Edelften von uns fteten Kämpfen preisgibt: unfere fitt- lichen Anforderungen find im Wideritreite mit dem Grunddaratter der Umgebung: was bleibt iibrig als in diejem Rampfe entweder ermattet abzulaſſen und die Welt fiir verworfen zu erklären, oder fic) ihrem Maßſtabe angubequemen, da8 Nichtſeinſollende gut zu heifen und auf da8 ſchlechthin Gebithrlide gu verzicjten? Hier fann uné nur die Cinfidt retten dag wir innerhalb des

432 II. Das Sdine in Natur und Geift.

Entwidelungsproceffes ftehen, in welchem die Welt der Ideen anerfannt, aber nod) nidjt erobert, die Welt der Thatjaden von ihr nod) nicht innerlic) durchdrungen und umgebildet ift, und dag wir demnad) die Aufgabe haben jeder fiir fid) in feinen Dingen das Rechte gu thun, fic) felbft gur harmonijfden Perfinlichfeit gu geftalten, und dadurd) and) da8 Ganje gu veredeln und ju fördern.

Wir ſind herausgegangen aus der Herrſchaft der Autorität, kein Wunder daß oft Irrthum und Willkür an die Stelle der Wahr— heit und Freiheit treten; dod) find die wahre Fretheit wie die freie Wahrheit nur in dem felbftindigen und eigenen Geift gu erreiden. Das Ringen nad) diefen Giitern gibt unferer Zeit ihre Schönheit, die Zuſtände in weldjen fie errungen find wiirden bet aff ihrem Gli dod) den Reiz deS neuen und erften Findens entbehren, wenn nicht dennod jeder Menſch als ein Myſterium geboren wiirde, deffen Offenbarung er fic) felbft gu erarbeiten hat.

Tiefdenfende Männer des Mittelalters haben dem dreieinigen Gott entipredend dret große Weltperioden angenommen, das Reid) des Vaters im Alten Teftament, da8 Reid) des Gohnes das Chri- ftus geftiftet, und das Reid) des Geiftes ober des ewigen Evan- geliums; effing, der hieran wieder anfniipfte, ift felber cin Herold dieſes Reiches des Geiſtes geworden, das in unjern Tagen von jedem betreten werden fann der mit reinem Muth und Willen fid anfdict fein Birger gu werden. Dafür bedarf es der Philo- fophie, das heißt der Erfenntnig der ewigen Sdeen, um nad dem geſchauten Sdeal ſelbſtbewußt das Leben in künſtleriſch fortbildender Reform der gegebenen Zuſtände gu gejtalten. Wer blos Ber- gangenes reftauriven oder Thatjidlides conferviren will, odcr wer nur an den revolutionären Umſturz denft, ohne gu erwägen was nad) demfelben fommen foll, der bedarf allerdings der Philoſophie nidjt, der wird fie vornehm verſchmähen, aber nicht fie, fondern er ift dadurch geridjtet. Das ift das Schöne und Große unjerer Beit daß bereits die Einſicht erwacht ift: der Gedanfe fteht an der Spike des Lebens, der Weg foll mit dem Blick auf das Ziel zu— riidgelegt, die Idee de8 Guten foll der Welt eingebildet und fie damit aud) von uns jum Bilde Gottes geftaltet werden.

„Der Urfprung und das Ende alles getheilten Seins ift Cin- Heit.” So fdreibt einmal Wilhelm von Humboldt in einer gram- matifalijden Abhandlung iiber den Dualis. Dies ift eine allge- meine Wahrheit, denn nur innerhalb einer höhern Cinheit finnen

Die Gefdhi hte. 433

Gegenſätze unterjdieden werden, das Unterjdeiden ijt ein Beziehen aufeinander und auf die Einheit. Ginheit im Unterjdiede, Har- monie ift darum aud) da8 Ziel der Gejdidjte, und damit ift ihre Erſcheinung Schinheit. Wir ſchließen darum mit Holderlin: „Von Kinderharmonien find cinft die Vilfer ausgegangen, die Harmonic der Geijter wird der Anfang einer neuen Weltgejdichte fein. Bon Pflanzenglück begannen die Menſchen und wuchſen auf und wud) jen bis fie reiften, von nun an gärten fie unaufhirlid) fort von innen und außen, bis jest das Menſchengeſchlecht unendlid) auf- gelöſt wie ein Chaos daliegt, dag alle die nod) fiihlen und fehen Schwindel ergreift; aber die Schinheit fliidtet aus dem Leben der Menſchen fid) herauf in den Geift; Sdeal wird was Natur war, und wenn von unten gleid) der Baum verdorrt ijt und ver- wittert, ein friſcher Gipfel ijt nocd) Hervorgegangen aus thm und griint im Gonnenglanje wie einjt in den Tagen der Bugend; Sdeal ijt was Natur war. Daran, an diejem Sdeale, diejer ver- jüngten Gottheit, erfennen die Wenigen fic); und Cins find fic, denn es ijt Cins in ifnen, und von diejen, Ddiejen beginnt das neue Yebensalter der Welt.”

Su meinem Buch fiber die Kunſt im Zuſammenhang der Culturentwidelung bin ic) davon ansgegangen dak Sein, Selbjt- empfindung und Bewußtſein die drei Urmomente unfers Wejens ausmachen, daß wir Natur, Gemiith und Geift find; geboren als Rind der Natur erwaden wir zum Selbſtgefühl und erheben uns zum Bewuftfein. Collte, fragte id), der Gang der Menſchheit im grofen Ganjen ein anderer fein? Auch fie fteht zunächſt unter der Herrſchaft der Natur, ringt mit ihr und priigt dann den Geiſt in der eigenen Natur (ebendig ans; fie findet fic) darnach in fich felbft, fehrt in der Innerlichkeit des Gemiiths cin und läßt ſich von diefem leiten; fie ſchreitet endlich zum Erfennen fort und macht den ſelbſtbewußten Gedanfen gum Princip und Leitftern ifres Wirfens. Daraus ergeben fic) drei Weltalter der Natur, des Gemiiths und de8 Geiftes. Das Naturideal tft das Ziel der Alten Welt, und die antife Kunſt, vor allem die griechiſche Plaftif ijt feine Verwirflidung; mit Chrijtus beginnt das deal des Semiiths, es herrjdt durch das Mittelalter, es findet in Rafael, Shakejpeare, Mozart ſeine meifterhaften Darfteller; mit dem freien Denfen, der Naturforjdung, der Aufklärung bridt cin neuer Welttag an, und Goethe, Schiller, Byron, leuch⸗ ten bereits in ſeiner Morgenröthe.

Carriere, Aeſthetik. J. 3. Aufl. 28

434 Il. Das Schone in Natur und Geift.

Aber nod weift uns der Kampf und die Noth des Lebens in die Bufunft, ja iiber die Erde hinaus fordert das Gemiith eine jelige Lebensvollendung, wie fie die Wonne der Liebe, wie fie das Glück der Schinheit uns in eingelnen Momenten bietet. Die Phan- tajie entwirft das Bild des Himmels, in weldem Gott und fein Reich Cins geworden find, die Natur in den Geift verklärt ijt, und die Harmonie de8 Paradiejes im Cinklang aller Lebenstriebe auf immer neuc Weife fid) herftellt. Gerade weil die gegenwirtige Welt uns nicht geniigt, jdafft die Phantafie eine Welt wie fie jein foll und zeigt uns zunächſt hienieden das Wahre und Ewige im Spiegel der Runft.

Ill. Das Schone in der Kunf.

1. Die Phantafie und das künſtleriſche Schaffen.

a. Dic Phantafie als leibgeftaltende, bilderfaaffende und idealifirende Kraft.

Welder Unfterblidjen

Soll der hichfte Preis fein? Mit Miemand fireit’ id), Aber ic) ged’ ihn

Der ewig beweglidjen, Immer neuen

Seltjamen Todjter Novis, Seinem Schoskinde,

Der Phantafie.

So fagt Goethe der Dichter. Und wenn er es einem Helden geftatten miiftte dag diefer die That fiir das Höchſte erflirt, einem Denker daß er mit Avijtoteles in dem philojophijden Crfennen das Süßeſte und Bejte fieht, jo glaube id) dod) verlangen zu joflen dag die PBhantajie neben der Bntelligens und dem Willen als die dritte Grundfraft und Grundridtung der Seele anerfannt werde. Der endliche Geift hat jeiner Natur nad) eine Welt außer ihm, ev bedarf ihrer und vermittelt fic) mit ihr, indem er ent- weder fie in fic) aufnimmt oder ihr feinen Stempel aufdrückt. Das Erſte gejdieht im Erfennen: da erfiillen wir uns mit dem Inhalt der Welt, da fuchen wir unfere Vernunft mit dem Geſetze und Wejen der Oinge in Cinklang ju bringen. Handelnd dagegen äußern wir die innern Regungen des Willens, verwirfliden ihn in Sitte, Staat und Geſchichte und beherrſchen oder verwenden die Natur nad unjerm Sinn. Goll Beides, das Erfennen wie das

28 *

436 III. Das Schöne in der Kunft.

Handel, fic) anf geifteswiirdige Weije vollziehen, jo muß die Seele wiſſen was fie will, fo muß ifr ſchon vor der Verwirk- lichung das Riel ihrer Bewegung als der leitende Zweck derſelben gegenwirtig fein, und es ijt die Phantaſie welche dies Bild des Erſtrebten erzeugt und damit ftets das Denfen und Handeln be- gleitet und durdbdringt, es ijt die Phantafie welche dann neben die fortwihrende Aufgabe des denfenden und fittliden Geiftes die Löſung derjelben, die vollbradjte Harmonic des Geiſtes und der Matur, in der Runft fiir die Anſchauung hinſtellt. Alle grofen Entdecergeifter find phantafievolle Naturen. Denn jede planvolle Beobadtung jest ſchon in der Seele cine Ahnung und Vorftellung deffen voraus was fie ſucht, fonft ift fie nur ein blindes und zu— fälliges Taften, und jedes Crperiment ijt eine Frage an die Natur, ob fie wol die Antwort gebe welde die Cinbiloungsfraft des Forſchers vermuthet. Eine innere Anſchauung jeigt dem Philo- jophen das Wort fiir das Räthſel der Welt, und dann ſucht er dent dialeftijden und erfahrungsgemifen Beweis fiir die von der Phantafie erfakte Wahrheit gu gewinnen. Der Handelnde trigt ein Phantafiebild deſſen im der Seele das er verwirfliden will, ein Bild der Welt wie fie durd) feine Thaten werden ſoll. Und wer die Schriften Platon’s und Kepler’s oder das Leben von Co- {umbus fennt der wird den großen Antheil der Phantafie an ihrer Thätigkeit und deren CErfolgen wiirdigen.

Das Erfennen hat gu feiner leiblichen Grundlage die Nerven, weldje der Seele die Cindriide der Außenwelt vermitteln, in den Muskeln hat der Wille die Werkzenge der Ausführung und Be- wegung, aber Nerve und Muskeln miiffen durd) das innere Ver- mögen de8 Organismus geformt, ernährt und erhalten werden. Ich fehe im der Seele ſelbſt dieſe leibgeftaltende Vebensfraft. Sie wirft nicht ohne die phyfifalijden und chemifden Geſetze und Rrifte der Natur, nod) gegen diefelben, aber fie ordnet und come binirt die materiellen Atome nad) cigenem Rwed, und ohne ein jolcjes formbeftimmendes Princip ijt der vielgeglicderte Organis- mus fo wenig zu verftehen, als die Einheit ded Lebensgefiihls aus der Vielheit der Stoffe, bas bleibende Bewuftfein aus dem Wechſel derfelben gu erklären. Nod) ohne Bewußtſein, aber fiir das Bewußtſein erbaut fic) die Seele den Veib, und die erfte Aeußerung ihrer geftaltenden und bildenden Kraft oder das Walten der Phantafie in der Sphiire des Unbewuften haben wir in der Thätigkeit urd) welche fie dem inneren Wefen cine ihm entſprechende

1. Die Phantafic: a. als Geftaltungsfraft. 437

fidhtbare Form in der Körperlichkeit bereitet. Daher denn and die Macht der Cinbildungsfraft auf leibliche Zuſtände, die namentlich auc) Heilungen vollbringt, welche fo lange fiir Wunder gelten als man die Wirkſamkeit der Phantafie verfennt.

Mtan muK fic) einmal flar gemadt haben wie in dem neun- monatliden Bilbungs- und Umbildungsprocefjfe der menſchliche Organismus aus dem einfaden befrudteten Ci zu fold reicher Gliederung erwächſt, man mug fic) im Cinjzelnen, etwa bet dem Auge Har gemadt haben wie feine mannichfachen Theile jo fein und zuſammenſtimmend geformt find dag fie nidjt blos die Licht— empfindung fondern das Sehen der Außenwelt ermigliden, um zur Ueberzeugung zu kommen daß weit cher die Lettern des Seger- fajtens fid) 3u Goethe's Fauft und Kant's Kritik der reinen Ver- nunft von felbft gujammengefunden haben, als dak unfer Leib aus zufälliger Zuſammenwürfelung blinder Atome entftanden fei. Aber auch allgemeine Bildungsgejeke reidhen nicht aus, denn es entfteht immer cin Cigenthiimltdes, und wir brauchen nur auf die Erhaltung und Neubildung zu adjten um ju fehen daß and) hier cine blofe Einrichtung nidjt geniigt; bet der Ernährung zieht aus derſelben Mutterflüſſigkeit des Blutes jedes Gewebtheilden die Stoffe an ſich heran die hier für den Knochen, dort für die Muskelfaſer oder die Nervenzelle die erforderlichen find, und aus der Fülle diejer Vorgiinge erbaut fic) fortwihrend der Leib fraft einer innenwaltenden Harmonifirenden und geftaltenden Macht, weldje eben das Vermigen ift die cigene Innerlichkeit und ihre Triebe fiir fic) jelbjt wie fiir andere in ciner äußern Erſcheinung ju formen, das Bild ihres eigenen Wefens in den Stoffen der Materie auszupriigen. Dies Vermigen ift die Phantafie, und ihre erfte unbewußte Thitigheit ijt die fortwihrende Leibgeftaltung, und wie fie gemäß der Sdee des Schinen geſchieht das haben wir bet der äſthetiſchen Betradtung des Menſchen uns flar gemadt.

Sn dieſer erften Lebensiugerung, in ihrem körperlichen Orga- nismus empfindet dic Seele fich felbft und durd) denjelben hängt fie mit dem Univerfum zuſammen und erfiihrt deffen Cinfliiffe. Immer nod) unbewußt, aber bereits fiir das Bewußtſein beginnt hier cine zweite Stufe der Phantafiethitigkeit und gwar auf dop- pelte Weije. Die Kräfte und Bewegungen der Dinge treffen auf unfere Ginneswerfzeuge, und ed find deren Energien welche die verfdiedenen Sdwingungen zur Cmpfindung der Wärme, der Tine, des Lichtes, des ſüßen Duftes oder bittern Geſchmackes

438 Ill. Das Sdhine in der SKunft.

madjen; cine und dieſelbe Elektricität fniftert dem Ohr, erfcheint dem Auge alS Funfen, erregt cin ftedendes Gefiihl, cinen ſäuer— iden Geſchmack und cigenthiimliden Gerud. Es ift die Arbeit des Verftandes dieſe vielfultigen Eindrücke zu ſondern, es ift die Arbeit der Phantaſie die unterſchiedlichen Empfindungen zu formen, aus dieſer Fülle der Reize die Anſchauungen der Dinge, die Sinnen— welt der Erſcheinung zu entwerfen, die innern Erregungen in dieſen Bildern ſich vorzuſtellen. Indem dann die Seele ſie betrachtet und ſich von ihnen unterſcheidet, kommt ſie zum Bewußtſein der Welt und ihrer ſelbſt. Sodann bewegt ſie den eigenen Orga— nismus nach den innern Strebungen und Stimmungen, und gibt dieſe durch die Stimme wie durch Mienenſpiel und Geberden kund. Auch dies geſchieht zunächſt mit inſtinctiver Nothwendigkeit, unwill— kürlich und reflexionslos. Wie unſer bleibendes Weſen in den feſten Raumformen des Leibes, ſo erſcheinen die wechſelnden Affecte in den Bewegungen unſerer Züge, unſerer Glieder. Im Schrei des Schmerzes und im Jauchzen der Luſt, im Blick der Liebe und mit den aufeinandergepreßten Zähnen, der geballten Fauſt und dem dräuenden Arme des Zornes antworten wir durch Reflex— bewegungen auf die Eindrücke der Außenwelt, machen wir unſere Empfindungen hörbar oder ſichtbar, überſetzen die Welt der Ge— fühle in die Welt der Formen, und können dadurch wieder die Formen verſtehen, weil wir auf die Innerlichkeit zurückſchließen, und uns mit unſerer Phantaſie in das Weſen der Dinge verſetzen. Wir äußern den eigenen Sinn in Lauten, im Mienenſpiel, in Geberden, und ſo werden dieſe zum Sinnbild, zum Symbol; ſie ſind bedeutungsvoll und wir verſtehen ſie zu deuten. Wir erin— nern uns daran daß ja auch die Töne, die Farben nur die Aequi— valente der Empfindung für die Schwingungen der Luft und des Aethers, nur die Symbole der Innerlichkeit für reale Bewegungen ſind. Indem wir die Empfindungen des eigenen Weſens in den Anſchauungen und Lauten außer uns verſetzen, uns vorſtellen, lichtet ſich das chaotiſche Dunkel ihrer ungeſonderten Fülle, ſind wir nun nicht mehr von ihnen bewältigt, vielmehr erkennen wir uns als die erzeugende Macht der Bilder und erfaſſen uns ſelber als Ich. So bringt die Phantaſie das eigene Sein und die Welt uns zur Anſchauung und vermittelt uns das Bewußtſein. Es iſt das Weſen des Geiſtes ſich nicht blos als die bleibende Einheit im Wechſel der Zuſtände und in der Fülle der Vorſtel— lungen zu behaupten, ſondern auch dieſe in ſich zu erhalten, ſie zu

1. Die Phantafie: a. als Geftaltungstraft. 439

behalten, das einmal Gewonnene als cine Errungenſchaft ju be- wahren, wodurd) der Gefichtstreis fich erweitert, die Kraft wächſt, cine fort}dreitende Bildung möglich wird. Geſchichte und Erinne— rung find innigft verfniipft, und finnig hießen den Griechen dic Muſen Töchter des Zeus und der Minemojyne, der freifdaffenden Gottesmacht und des Gedidjtniffes. Nur wenn dem Geift im In— nern cine reiche Bilderwelt gegenwirtig ijt, fann er fic) jelbft- thitig in ihr bewegen, fie verbinden, fic) über das äußerlich Ge- gebente erheben. Gr könnte aber die Bilder nidjt in fic) bewahren und wieder hervorrufen, wenn nicht jedes von den andern unter- ſchieden und felbftindig wire, wenn jedes nicht mit einer gewiffen Selbſtkraft in der Secle waltete. Sie ruhen, der Außenwelt ent- nommen, im Schachte des Gedächtniſſes, die Naturordnung ijt nicht mehr ihr Band, die Seele felbft iſt es geworden; fie find Yebensacte der Seele und dadurd) mit geijtigem Leben begabt. Sie regen und bewegen fid), fie ftreben hervor nad) dem Lidhte des Bewußtſeins, fie gefellen fic) ecinander nad cigener Wahl- anjichung. Gie find das Material fiir das fernere Wirfen der Phantafie. Aber mie dieſes als leibgeftaltende Lebensfraft unbe- wußt und ohne Abſicht thatig war, fo dauert aud) in ihrem frei- gewollten und ſelbſtbewußten Schaffen der unbewußte Naturgrund und cin Element de Unwillkürlichen fort. Der Geift faßt fic) zu feiner Einheit energijd jujammen und lenkt feine Gedanfen herrfdjend auf das Biel das er ihnen jest, aber mitten in feiner Arbeit ftellen fic) ungerufen, ja gegen feinen Willen oft gan; fremdartige Bilder ein; dann aber (ft er dieſe Anjpannung, ge- währt der Mannidfaltigfeit des eigenen Inhalts freiereds Spiel und ergötzt fic) zuſchauend an der Bewegung der Vorftellungen, wie fie vor ifm auf- und abſteigen und einander hervorrufen. Gerade das unwillfiirlide Anftauchen der Bilder aus dem dunfeln Grunde des Unbewuften in die Helle Klarheit des Bewuftfeins bebiitet uns davor dak unfer Geift in der Ridtung auf einzelne Ideen oder Vorftellungen erftarrt, e8 bietet ihm ungejudtes Neues und erhilt die Flüſſigkeit des Seelenlebens friſch. Das Kreijen der Vorftellungen, wie fie ihren Reigen vor uns aufführen, können wir dem Umlaufe des Blutes vergleiden. Dieſer bringt nad und nad die einzelnen Blutfirperden gu Herz und Lange, jener aud) ſcheinbar längſt vergeffene Gedanfen wieder ins Bewußtſein, beide wirfen anregend, fortbildend fiir das Leben. Die Seele be- darf nun der äußern Eindrücke nicht, die Fille und der Wechſel

440 III. Das Schöne in der Kunſt.

der innern Bilderwelt bietet ihr Erjak und Geniigen, und in dieſen Reichthum felig verjenft mag fie das Auge ſchließen um ungeftirt der Bilder fich gu erfreuen, die ihr die Gegenftinde and) ohne deren ſinnliche Gegenwart darjtellen; daher die Gage von der Blindheit der alten Sanger.

Wir haben die Bedeutung des Schlafes darin erfannt daß er die Glieder aus der Arbeit im Dienſt des Willens entftridt und im allgemeinen Naturleben ruhen ligt, wo ihre verbraudjte Kraft fic) erneut; wir ſahen wie er in ähnlicher Weife fiir die Seele cine Ginfehr in fich felbft aus dev Zerſtreuung durd) die äußern Gindriide oder aus dem Verfolgen cinfeitiger Thitigtcitsridtungen ift. Go zeigt fid) uns jest das Einſchlummern dadurd an daf das Sch fic) der lenkenden Herrſchaft iiber die Vorftellungen begibt und fie nun vor uns dabingaufeln. Das Auge fchlieBt fic, aber bie Energie der Sinnesorgane (apt nun nad) den innern Ein— drücken die Bilder der Vorftellungen uns ſichtbar umtanzen und ineinander verſchweben, wie dies das Schlummerlied in Goethe's Fauſt jo reizend ſchildert. VBernunft und dugere Anſchauung wirfen zuſammen im waden Leben; hat der Schlaf die SGinnespforten feft gefcdhloffen und das felbftbewufte Oenfen zur Ruhe gewwiegt, dann tritt die Cinbildungsfraft im Traume zugleich an beider Stelle; die Seele, verjunfen in die eigene unwillfiirlidhe Bor- ftellungswelt und nicht mehr fähig fie von ciner objectiven Außen— welt zu unterſcheiden, meint dic innern Bilder in äußerer Realitit vor fic) gu fehen oder ihre Stimme ju Hiren, und die Bilder, von Raum und Zeit wie von dem Zügel des Verjtandes entbunden, gaufeln und wogen nad) ecigener Wahlanziehung einher oder flieBen faleidoffopifd zuſammen.

G8 ijt ein Triumen im Waden, wenn wir unjern Vorftel- lungen willenlos folgen, der Außenwelt vergeffend nur in ihnen {eben und fie nicht ſelbſtbewußt nad) einem Ziele hinlenfen, fondern uns von ihren Wellen tragen und ſchaukeln laffen, und im Traume jelbjt gibt fid) uns das Wejen und Wirfen der Phantafie auf mehrfache beadhtenswerthe Weife fund. Der Traum verwandelt dunfle Reguugen innerer Zuſtände in Geftalten und Vorgiinge; cs ift uns leicht zu Muthe und wir glauben uns im Flug durd ſonnige Luft über ſchöne Gegenden hinzuwiegen; cin Blutandrang bedingftet uns und wir meinen daß ein Thier uns verfolge und umflammere, cin Alp uns driide. Go iiberfebt demnach die Phantafie die Kunde welche wir in der Sunerlidfeit des Gefiihls

1. Die Phantafie: a. als Geftaltungstraft. 441

von unfern Zuftinden erhalten, in anſchauliche und ſymboliſche Formen, und Hierin fehen wir iiberhaupt cin Wejentlidjes in allem Phantafieleben. Als die der Idee des Schönen geweihte Geiftes- fraft wirft fie im der Verſchmelzung des Sinnliden und Geiftigen; fie wurzelt im fiihlenden Geijte um ihn durch das Schone erregen zu können, das ihm eignet und in ihm als folded erzeugt wird. Wo das Sebilde der Bhantafic dads Gemiith ergreifen und rithren foll, da muß es dem Gemiith entiprungen und von deffen Wärme durchdrungen fein. Ewig wahr erfdallt das Fauſtiſche Wort:

Wenn ihr's nicht fühlt, ihr werdet's nicht erjagen, Wenn es nicht aus der Seele dringt,

Und mit urkräftigem Behagen

Die Herzen eurer Hörer zwingt!

Sitzt ihe nur immer, leimt zuſammen,

Braut cin Ragout aus and'rer Schmaus,

Und blaft die kümmerlichen Flammen

Aus eurem Aſchenhäufchen ‘rans. Berwunderung von Kindern und Affer,

Wenn cud) danach der Gaumen fteht!

Dod) werdct ihr nie Herz gum Herzen fchaffer, Wenn es nicht end) vow Herzen geht.

Wir preijen die Sunigfeit der Empfindung in den Zeichnungen Fieſole's, wir ſehen feine fromme Seele durd) die Fingerſpitzen im Zuge der Linien wirfen, er copirt nidt nad) Mtodellen, foudern aus der Tiefe des Gefühls geftalten fic) ihm die Formen. Wie wir aud) lautlos in Worten denfen, fo treibt uns das Gefühl zur ausdrudsvollen Geberde, und wenn wir fie and) körperlich nicht vollziehen, fie fpiegelt fic) dod) in der anſchauenden Seele; es ift die Phantafie welde der Gemiithsregung cine Form ver- leiht, und dieſe könnte nur falt, Leer und äußerlich copirt fein, wo das Gefühl febhlte, das fie von innen heraus geftaltet und exfüllt. Wie dem Träumenden die körperlichen, fo verwandeln fic) dem Riinftler die geiftigen Stimmungen in anfdaulide Bilder und Vorgänge, und gwar weit weniger durd) Reflexion als durd) cin unmittelbares organiſches Werden, das an die Gejtaltung des cigenen Leibes nad) Maßgabe der innern Wefenheit erinnert.

Sm Traume vervielfiltigt fic) das Ich, die Seele ift zugleich Didter, Mitſpieler, Zuſchauer des Dramas, das in ihr anfgefiihrt wird. Dak unfer geijtiges Dajein in der Weehfelwirfung mit vielen andern Perſönlichkeiten befteht, die durch ihren Ginflug auf

4492 Ill. Das Schöne in der Kunft.

uns, durch ihre Thaten in uns fortleben, erfdeint im Traum, wenn das Denken als cin Geſpräch mehrerer fic) entwicelt und cine vor uns liegende Schwierigkeit oder cin cigener Zweifel zum Einwurf wird, den wir dann einem andern in den Mund legen um uns jelber in die Enge gu treiben.

Die Phantafie ijt diefe Kraft der Selbſtvervielfältigung; durch jie verfegen wir uns in die Gemiithslage, in die Zuftiinde frembder Berfonen, um dann ihr Thun und Laffen and) von innen heraus organijd) ju geftalten. Wir brauchen nicht alles felbft gefehen oder gehort ju haben, aud) was uns durch andere iiberlicfert wird das faßt die Ginbildungstraft lebhaft auf und macht fic) nad) der Ana- fogie eigener Anfdauung ein Bild davon.

Der Traum, ,,dicjer verftedte Poet in uns”, wie Sdubert ihn nennt, geht iiber da8 Gegebene hinaus und bewegt fid) fret im Reidhe des Möglichen. Er nimmt die Faden ju feinem Gewebe aus der Wirklidfeit, er verfährt nad) den Kategorien de8 Denk: baren, aber ev erfüllt fie mit neuem Inhalt; die Phantafie ift productiv, fie wiederholt nicht blos Vorſtellungsbilder, fondern fie bringt fic in nie dagewefene Verfledhtungen und ſchafft nach ihrer Analogic aud) nie gejehene Geſtalten. Sic hängt goldene Aepfel an griine Baume, fie läßt den gefliigelten Drachen vom Kuß des Mädchens zum holden Prinzen werden. Sie ergänzt mitunter im Traume das wade Leben, fie erſetzt wonach dicjes fic) ſehnt, wie jener Apothefer des Nachts feiner Neigung jum Soldatenftand gemäß ftets im Feld und in der Schlacht zu fein glaubte.

Die wade Phantafie herrjdjt liber die Verbindung der Bilder und priift fie felbft an der Gefeslidjfeit der Natur und des Gei- ſtes; fic ift fret von der Tiufdjung des Traums; aber je ſchwung— voller und rajder der Reigen der Geftalten oder BVorftellungen fid) bewegt, je reicher ihre Fiille, je friſcher ihr Glanz, deſto {ebhafter und leichter fann jene ihr Werk vollbringen.

Mad Sdhopenhauer’s treffendem Ausdruck verhalt fide gum Phantafiebegabten der Phantaficlofe wie zum freibewegliden, ja gefliigelten Xhiere die an ihren Felfen geittete Muſchel, welde abwarten muf was der Zufall ihr zuführt. „O wüßten dod) die Menſchen“, ruft Schleiermacher cinmal, „dieſe Götterkraft der Phantaſie zu brauchen, ſie die allein den Geiſt ins Freie ſtellt, ihn über jede Gewalt und jede Beſchränkung weit hinausträgt, ſie ohne die des Menſchen Kreis ſo eng und ängſtlich iſt! Wie vieles berührt denn jeden im kurzen Lauf des Lebens?“ In der

1, Die Phantafie: a. als Geftaltungstraft. 443

That das Weben in der innern Bilderwelt madt uns das räumlich und jcitlid) Entfernte zur Gegenwart; die PBhantafie ijt der Zaubermantel Fauft’s, der uns in fremde Linder triigt, fie das Wunſchhütlein Fortunat’s, das uns in verfloffene oder fommende Jahrhunderte verfest, in Verkehr mit den Heroen des Alterthums bringt oder uns ju Biirgern der Zufunft macht. Sie triftet uns im Leid, indem fie uns die Geftalten der Freunde vorfiihrt, fie mäßigt unfere Luft, indem fie uns de8 Daſeins Schmerz; und Ernſt enthiillt; fie erhebt un$ aus den Schranken der Sinne in die Hreiheit des Gedankens.

Darum fragt der Dichter: „Welcher Unſterblichen ſoll der höchſte Preis ſein?“ Und er gibt ihn „der ewig beweglichen immer neuen ſeltſamen Tochter Bovis, ſeinem Schoskinde, der Phantaſie“. Er ſchildert ſie nach ihrer heitern wie nach ihrer düſtern Seite:

Sie mag roſenbekränzt Mit dem Lilienſtengel Blumenthäler betreten, Sommiervögeln gebieten, Und leichtnährenden Thau Mit Bienenlippen

Von Blüten ſaugen;

Oder ſie mag

Mit fliegendem Haar Und düſt'rem Blide

Im Winde fanfer

Um Feljenwande,

Und taufendfarbig

Wie Morgen und Abend, Sumer wechſelnd

Wie Mondesblicte

Den Sterblichen ſcheinen.

Er preiſt den Vater der ſie huldvoll uns geſellt als treue Genoſſin in Freud' und Elend, und fügt hinzu:

Alle die andern Armen Geſchlechter Der kinderreichen Lebendigen Erde Wandeln und weiden In dunkelm Genuß Und trüben Schwmerzen

444 UL Das Schöne in der Kunſt.

Des angenblidliden Beſchränkten Lebens Gebeugt vom Joche Der Nothdurft.

Darum heißt er fie hochachten. „Und daß die alte Schwieger— mutter Weisheit das zarte Seelchen ja nicht beleid'ge!“ Gr nennt endlich die edle Treiberin, Tröſterin Hoffnung die Schweſter der Phantaſie, und es iſt klar daß die Zukunftsbilder der Hoffnung ein Gewebe der Phantaſie ſind.

Aber auch die Gefahr des Phantaſielebens und die zarte Grenzlinie die es vom Wahnſinne ſcheidet oder zu dieſem hinüber— leitet, hat Goethe im Taſſo meiſterhaft dargeſtellt. Wer vorzugs— weiſe in der innern Bilderwelt lebt wird blind für die äußere Wirklichkeit, ſpinnt ſich in ſeine Vorſtellungen ein und hält ſie für das einzig Wahre; je lebhafter dic Phantaſiegeſtalten vor dem Auge des Geiſtes ſtehen, deſto mehr entrücken ſie den Menſchen aus der unmittelbaren Gegenwart und ziehen ihn in ihr Reich, daß er alles andere vergißt und träumend ſich in ſie verſenkt; und wenn ſie nun ſo lebhaft erſcheinen daß der Dichter an ihre Ob— jectivität glaubt, wenn er ihren Zug nicht mehr beherrſchen kann, ſondern wenn das Bewußtſein von ihnen fortgeriſſen wird, fo ver— liert es ſich ſelbſt in ihnen, und ſtatt der ihrer ſelbſt mächtigen Vernunft lagert ſich die Nacht des Wahnſinns über die Seele, welche dann nur noch der Ort iſt wo die Vorſtellungen in hal— tungsloſem Taumel hin und her wogen. Daher die Nothwen— digkeit ſittlicher Selbſtbeherrſchung, klarer Verſtandesbildung im Studium der Natur oder Geſchichte, und einer zur Ordnung leitenden Schule des Lebens für den Künſtler. „Begegnet ihr lieblich wie einer Geliebten!“ mögen wir darum mit Goethe in Bezug auf die Phantaſie ſagen, die „Würde der Frauen im Haus“ ihr aber doch nicht laſſen, ſondern dem ſittlichen Selbſtbewußtſein, der Vernunft bewahren. Der ebenſo hochbegabte als unglückliche Nikolaus Lenau, der nach dem Höchſten und Tiefſten rang und dem Kampf unſerer Zeit eine melodiſche Stimme war, hat in dieſer Beziehung zwei bedeutende Aeußerungen gethan. „Du kennſt“, ſagte er zu einem Freunde, „die Geſchichte von Phaeton und den durchgehenden Sonnenroſſen? Wir Dichter ſind ſo phantaſtiſche Wagenlenker, die ſehr leicht einmal von ihren eigenen Gedanken geſchleift werden können.“ Und in einem lichten Momente ſeiner Krankheit: ,,Gott iſt ſehr gut daß er mid) durch die Natur

1. Die Phantafie: a. als Geftaltungsfraft. 445

beftrafen (aft und nicht durch das Gefeg; denn ich Habe gegen beides gefehlt, id) habe das Talent nod) iiber das Sittengeſetz geftellt und dieſes ift dod) das Höchſte.“

Wie die Energie der Sinnesnerven auf die Reize von außen die Ton- und Lidjtempfindung hervorruft, fo fann fie aber aud) zufolge innerer Grregungen das fubjective Bhantafiebild der Seele mit dem Scheine der Realität ansftatten, daß wir es zu fehen, zu hiren glauben. Die Phantafie ijt die Meutter der Vifion. Sie ſchafft ein Symbol der Crideinung fiir Regungen die von innen ftammen, aus dem eigenen Gelbft, mag es mum von fic) ans oder mag es von ideafen geiftigen Cinfliiffen bewegt fein. So fühlte fid) Muhammed von Tinen wie eines Glöckleins umflungen, er meinte dann den Engel des Herrn ju fehen, der ihn mahnte vor dem Bolf gu verfiindigen daß nur Ciner der Ewige, der geiftige Gott fei; er hatte gemeint von Geiftern bejeffen und dem Wahn- finn nahe zu fein; es waren feine Gemiithsfimpfe, es war fein Ringe nad der Wahrheit, es war der Durchbruch einer höhern Ueberzengung, was auf ſeine Phantafie wirkte, daß fie dieje Vor- gänge auf jene Art einfleidete. Go find die Stimmen, die Vie fiomen zu deuten welche die Sungfran von Orleans hirte und jah, jo die Grideinung die Paulus von Chriftus hatte. Für mich ijt der gittlide Geift, in dem wir weben und find, ,,der uns innerlider ift als unjere Herzader“, fagte Muhammed, auch hier der Grreger in dev Tiefe der Geele, im Grund unferer Natur; aber auc) wer die Sndividualitit ifolivt wird doc) die Thatſache anerfennen daß die von innen bewegte Phantafie mit Hiilfe der . Sinnesenergien die Vorftellungen leibhaftig gu fehen, zu Hiren glaubt, indem wie im gewöhnlichen Veber der empfundene Reiz objectivirt wird.

Wir bleiben nidjt bet der Anfdhauung einer Erſcheinungswelt ftehen, wir unterjdjetden die Dinge innerhalb derfelben vonein- ander, wir beziehen fie aufeinander, wir ordnen fie nad den Ge- jesen unjers Verftandes, die gugleid) in der Objectivitiit herrſchen, weil ſonſt gar fein Erfennen möglich wire, weil diejelbe göttliche Vernunft, der Logos, im der Natur wie im der Seele waltet. Wie unfer Selbſt Eins ijt in der Fiille feiner LebenSacte und Vor— jtellungen, fo judjt eS aud) die Cinheit in der Mannichfaltigkeit der Welt, und will thr Weſen im Gedanfen beftimmen und ergriin- den wie es denfend fic) ſelbſt erfaßt. Hier ſchlägt die Phantafie die Brücke von der finnliden Erſcheinung jum Begriff. Als

446 III. Das Schöne in der Kunft.

Einbildungskraft madht fie aus vielen Bildern eins, fei es daß fic aus den wechſelnden und fic) verändernden Erjdeinungseindriiden eines und deffelben Gegenftandes, etwa eines Menfden, ein Ge- jammtbild deffelben entwirft, oder daf fie viele einander ähnliche Dinge zu einem gemeinfamen Bilde verſchmilzt, und danach andere derfelben Art erfennt, wonad) wir 3. B. fagen finnen: died ift eine Gide, oder die Eiche ift cin Baum; tm erſten Falle ftimmt der neue Gegenftand zu dem innern Bilde das wir aus der Be— tradjtung vieler Eichen im Unterjdiede von Tannen und Budden gewonnen haben, der zweite Sab weift anf da8 allgemeinere Bild hin, da8 aud) Tannen und Budden unter fic) befaft.

Diefe ,,verborgene Kunſt in den Tiefen der menſchlichen Seele”’ wie Rant fie nennt, erzeugt aljo Vorjtellungen, welche zwiſchen Sinnlidfeit und Denfen in der Mitte ftehen und an beiden theil- haben; fie ift alfo cin Mtittleres und Vermittefndes aud) im Wir- fen des Verjtandes oder der Vernunft yur Erkenntniß der Wahr- Heit, und in dieſer Beziehung hat fie Rant in der Kritik der reinen Vernunft gewiirdigt; der Hier gewonnene Begriff der Cinheit im Mannidfaltigen ftellt das Phantafiebild fogleid) in Bezug auf die Schönheit, der er ja ebenfalls gu Grunde liegt, und die Verfdmel- jung von Ginnesanfdauung und Gedanfe bleibt aud da ein Wefentlides, wo die Phantafie fret fiir fic) waltet. Aehnlich ſpricht and) Fichte's Wiffenfdaftslehre von dem wunderbaren Ver- migen der productiven Einbildungskraft, ohne weldhes gar nidts im menſchlichen Geift fic) erklären laſſe und auf welded gar leidt der ganze Mechanismus des Geiftes fic) griinden dürfe. Es ſchwebt zwiſchen Unendlidem und Endlidem in der Mitte, und. fniipft aus fteten Gegenſätzen cine Cinheit zufammen, und macht alfein Leben und Bewußtſein möglich.

Sn der finnliden Grfdeinung den géttliden Gedanfen, im einzelnen Halle das Geſetz anzuſchauen ijt überall der Phantafie- blid de8 Genieds. Die vor Galilei’s Augen an längern und kür— zern Seilen ſchwingenden Rirdenleudter jeigen ifm das Wefen des Pendels, ein vor Newton’s Augen vom Baum fallender Apfel leitet die Phantafie de8 Denfers gum Geſetz der Gravitation; dic Beobadtung, die Rednung beftitigt und begriindet das durd) dic Cinbilbungstraft zum voraus Grfannte. Goethe fagt, uns eine weitere Perjpective erdffnend: Wes was wir Erfinden, Entdecken im höheren Sinn nennen, ift eine aus dem Snnern und Aeußern fid) entwidelnde Offenbarung, die den Menſchen feine Gottähn—

1. Die Phantafie: a. als Geftaltungstraft. 447

lidhfeit vorahnen läßt; es ift cine Syntheje von Welt und Geift, welde von der Harmonie des Daſeins die feligfte Verficherung gibt.

Die Phantafie ijt fo wenig blos fubjectiv wie die Sntelligen; und der Wille; gleic) beiden bedarf fie der Außenwelt, die fie zur Thätigkeit erregt und fich ihr gum Stoffe bent. Aber wie der Gedanfe von der Sinnesanfdhauung jum allgemeinen Begriff fic) erhebt, der ihm nicht durd) jene gegeben wird, den er vielmehr aus der Tiefe des eigenen Wefens, aus dem Urquell des Geijtes erzeugt und jum Bewußtſein bringt, wie der Wille die ethifden Sdeen als die Sterne ſeines Handelns und Strebens in fich felbjt triigt und Neues, Befferes und Groferes als das Vorhandene ju verwirklichen tradjtet, jo ift aud) die Phantaſie ihrem Weſen nad ſchöpferiſch. Das Bdeal, die Urgeftalt und das Muſterbild der Dinge im gottlidjen Geift, ijt fiir fie was der Begriff fiir die Vernunft, was die Sdee des Guten fiir den Willen; das Ideal innerlid) anzuſchauen und duferlic) darjuftellen ift der Zweck in weldem fie ihre Bejtimmung erfüllt. Aber auch ihre Freiheit it nicht Gefeplofigfeit. Wo fie vom Verftand fid) löſt oder das MNaturwidrige bildet, da verirrt fie fid) in eine haltungslofe Will- fiir, die wir Phantafteret nennen. Die echte Phantafie fieht in der Natur die Verwirklidung der Gedanfen Gottes, und wei den eigenen Gebilden dadurd) Objectivitiit zu verleihen daß fie diefelben gemäß den Formen der Wirklichkeit geftaltet.

Die Aupenwelt, fagen wir, gibt der Phantafie Anregung und Stoff. Weil fie das Ewige in finnlider Erſcheinung fieht und darftellt, hat diefe legtere fiir fie gréfere Bedeutung als fiir den Mann der Wiffenfdaft, dem es überall auf das Allgemeine an- fommt, al fiir den handelnden Menjden, dem Reinheit und Wiirde der Gefinnung das Werthvolle ift. Cine frijde flare Sinnlichkeit erfdeint daher als Bedingung fiir die Cinbildungs- fraft. Der Maler wird entziidt von feinen Unterfdieden und Reflexen der Farben, wo das ftumpfere Auge theilnahmlos voriiber- geht, und er erfennt charafteriftijde Formen des individuellen Vebens, die er fefthalt, an denen er feine Luft hat, während die andern gleidjgiiltig nur da8 Gattungsmafige wahrnehmen. Und wie hat ein Shakeſpeare das Leben weltoffenen Geiftes in fic aufgenommen, ſodaß fid) dic Natur in feinen Werken fpiegelt, und ftet8 der bezeidjnende Zug der Dinge diefe in klarer Beſtimmtheit lebenswirklich hinſtellt! Auch die Homerijden Geſänge zeigen wie der Dichter die Welt bis ins Einzelnſte mit treuer Liebe betrachtet

448 III. Das Shine in der Kunft.

hat. Darum ſpricht Numohr in Bezug auf die grofen italieniſchen Maler mit Redt von einer leidenſchaftlichen Hingebung an den finnlid) geiftigen Genuß des Schauens, und Goethe erzählt von fic): „Ich ſuchte mid) innerlicd) von allem Frembden gu entbinden, das Aeußere fiebevoll zu betradten und alle Weſen jedes in feiner Art auf mic) wirfen gu laſſen. Dadurch entftand eine wunbder- jame Verwandtidaft mit den einzelnen Gegenftinden der Natur, und cin inniges Anflingen, cin Mitftimmen ins Ganje, ſodaß ein jeder Wechſel, es fei der Ortſchaften und Gegenden oder der Tages- und Sahreszeiten, oder was fonft fic) ercignen fann, mid) anfs innigfte berührte.“ Dieſe Liebe zur Sache gerade nad) der Seite ihrer Erſcheinung hin ijt das Bweite, ja fie ift das Erſte, weil ohne den Herjzensantheil fein Aufmerfen vorhanden ijt, und ohne dieſes aud) dem ſcharfen Sinn nur fliidtige Cindriide zutheil werden. Wir müſſen die Eindrücke der Außenwelt uns zu eigen madhen, fie feft in unfer Inneres aufnehmen, wenn wir fie im der Erinnerung aufbewahren und wieder hervorrufen wollen.

Das Leben der Natur und des Geiftes verfolgt feine eigenen Zwecke; wenn es dabei gugleid) in einem betradjtenden Gemiithe das Gefühl des Schönen erwedt, fo ijt dies cin voriibergehendes Glück, indem entweder im Gegenftande der Augenblic der vollen und reinen Bliite fid) der Anſchauung erſchließt, oder gerade der giinftige Gtandpunft fiir die Auffaffung gewonnen war. Wir ändern diefen, und die Geftalten verjdjieben fid); und wenn wir jelbjt auch beharrten, fo wechſeln die Dinge, der Wind enthlittert die Blume die uns ergötzte, das Abendroth, das uns eine Gegend verfliirte, weidht der Nacht, die lebendige Gruppe handelnder Menſchen, die fid) vor unfern Augen rhythmifd aufgebaut hatte, {oft fid) auf. Dadurch entiteht in der Sehnſucht der Seele nad) Harmonie und Lebensvollendung das Bedürfniß und das Streben Schönes um der Sdchinheit willen zu bilden, ſodaß es gum Grund und Zwede des Gegenftandes wird und nicht voriibergehend, ſon— dern dauernd fic) dem Gemiith gum Genuffe bietet. Dieſe freie Geftaltungstraft des Schinen vollendet die Phantafie.

Alfo nicht blos als das freibewegliche Schalten und Walten in der innern Bilderwelt zeigt fid) die Phantafie, fondern in ihr offenbart fid) nod) hauptſächlich der Verklärungstrieb der Seele oder die Sehnſucht und das Streben nad) dem Vollfommenen, nad) dem Unendlichen als dem in fic) Vollendeten. Weil der Geift göttlicher Abkunft ift und die gittlide Wefenheit in ihm wohnt

1. Die Phantafie: a. als Geftaltungstraft. 449

und wirkt, geniigt ifm nidt da8 Stiichwerf oder da8 Endlide, und was die Anſchauung ihm gibt das nimmt er jum Anlaß um fich fiber fie emporzufdwingen. Mythiſch drückt Platon dies mit der Wen- dung aus: daß die Seele durd) den Anblick einzelner ſchöner Gegen- ftiinde an die Sdeen derfelben als die Ur- und Muſterbilder der Dinge erinnert werde, die fie in einem friihern himmlijden Leben geſchaut habe; und demgemäß fingt Dtichel Angelo im zweiten Sonett: nidts Sterblides habe er gejehen als ihm die heitern Augenfterne der Geliebten anfgeleudjtet, fondern die Seele habe fid) gur Urgeftalt emporgefdwungen.

Der Menſch ijt Sdealift von Haus aus. Dem Glauben an das Sdeal entflieft die Schinheit der Sugend, die Kraft und Be- geifterung des Mannes an der Fortbildung der Menſchheit ju arbeiten, itber da8 Gegebene zum Beffern hinanjuftreben. Schon das Rind fieht in der Fußbank den Wagen, mit dem e8 fahren wilf, und reitet die vom Zaun gefdjnittene Gerte als fein Pferd, und es ift ganz verfehrt und dumm diefen ſchaffenden Tried der Knaben durd) realijtijd) zurecht gemadjtes Spielzeug erſetzen ju wollen oder die Mädchen in der Puppenküche bet Spiritus nad Recepten wirklid) fochen gu laſſen. Wir alle haben den Hang das was wir erfahren haben in der Crinnerung und Erzählung ju vergrifern und auszuſchmücken; das ift fein unfittlidjes Lügen, vielmehr cine Nothwendigfeit, wenn durd) die Mittheilung der Gindrud des Erlebten gemacht werden foll, da wir nie die ganze Breite des wirkliden Geſchehens wiedergeben finnen und nad den bedentenden Ziigen fudjen müſſen, die wir dann fo verftirfen und verbinden dag in ihnen ein Crjag fiir bas Uebergangene und Weg- gelaffene geboten wird.

Der Zug jum Groen und Schönen, gum in fid) Vollendeten liegt im Gemiith, und die PBhantafie gibt ihm am leichteſten Be- friedigung. Aus der Anſchauung vieler gleidartiger Gegenftiinde macht fie ein gemeinfames Bild, und fo erwächſt aus den Bruch— ſtücken cin organijdes Ganzes. Seinen Wirfungsfreis, feine Kenntniffe will der Menſch ausdehnen, erweitern, das Leere aus- füllen, und fo eine in fid) abgerunbdete Totalitit erlangen, jenes in fic) reicje und dod) anfdaulide Ganje, das als Cinheit in der Mannidfaltigfeit die Grundlage des Schönen ausmadt. Die Phantafie entwirft fein Bild. Weil fie felber dem Unendlicden entftammt, weil die gittlidjen Gedanfen in ihr reflectiren, deshalb nimmt die Seele aus fid) felbft was den mangelhaften Erfdeinungen

Carriere, Mefthetif. J. 3. Aufl. 99

450 III. Das Schöne in der Kunft.

fehlt, um fie gu deren Bdee gu erheben, oder der Gegenjtand gibt ifr den Anſtoß daß fie die Sdee in fic) Hervorbringt, die ihm vorfteht, die er felber nicht erfagt hat. „Alle Dinge find durd göttliche Smagination entſtanden und ftehen nod in folder Geburt und Regiment”, fagen wir mit Jakob Bshme; gu dem Bilde der gdttlichen Smagination erhebt fid) die Bhantafie, wenn die Dinge, dem Medhanismus des Naturverlaufs in Raum und Beit dahin- gegeben, da8 innere Wefen nicht fo voll und lar zur Erſcheinung bringen daß e8 in der Form fiir andere ganz gegenwirtig wire. Die Phantafie bringt fid) zur Anſchauung was in der Abfidt und Anlage der Natur ruhte, aber bei der Verwirklichung im Leben verfiimmert ift. Sie ift die ibealbildende Kraft der Seele. Wie die Menſchheit voranfdreitet im Grfennen und Handeln um das Wahre und Gute yu erfaffen und zu verwirfliden, fo gibt die Phantafie ihren Ahnungen und Gedanfen Geftalt; die Verfirpe- rung der Idee in individueller Form ift ja das Sdeal. In ſeinen Xdealen der Vollfommenheit, in feinen Géttern malt fic) der Menſch; was er erftrebt das ftellt ihm die Phantafie in Vor— bildern feines Thuns und Leidens hin, und wie fie dem vor- ſchauenden Blick des erfinderifdjen Denkers, des genialen Forſchers die Ziele zeigt nach denen die Entdeckungsreiſen gehen, wie ſie dem Manne der That ein glänzendes Bild der Zukunft enthüllt und zu deſſen Verwirklichung den Plan entwirft, ſo treibt ſie vor allem den Künſtler um in der Darſtellung der Gedanken und Handlungen eine Welt wie ſie ſein ſoll, ein in ſich harmoniſches Ganzes, Charaktere voll Hoheit und Lebensfülle zu ſchaffen, in welchen die Ideen ſelber Menſch werden, das Individnelle gum entſprechenden Ausdruck des Allgemeinen emporgehoben iſt. Es iſt der höhere Gehalt welcher Geſtalt gewinnt, die geſtaltende Kraft iſt dieſelbe wie bei der eigenen Verleiblichung und bei der Ver— anſchaulichnng ſinnlicher Gefühle; ſtatt dieſer ſind es die Er— hebungen des Gemüths jum Göttlichen und iſt es das Gewahr- werden der Ideen was nun zum Bilde wird und in faßlicher Gegenwart ſich uns bietet. An ſolchen innern Bildern, den Idealen, meſſen wir dann die Dinge, und nennen ſie mehr oder minder ſchön, je nachdem fie jenen nahe kommen. Die Schätze des Erkennens werden in ſolchen Idealen niedergelegt, und ſie ſind es welche dann erleuchtend und begeiſternd auf die Menſch— heit wirken und zur Verwirklichung im geſchichtlichen Leben antreiben.

1. Die Phantafie: a. als Geftaltungsfraft. 451

Auf einer Reije in Deutſchland ward Goethe jene fentimentale Stimmung in fid) gewahr, die Sterne fo ſchön in feiner Em- pfindjamen Reiſe darftellt, die aud) dem Gewöhnlichen und Un- bedentenden feine Cigenthiimlicfeit, feine allgemein menſchlichen Be- züge ablaufdt und es im eigenen Herzensantheil idealifirt. Goethe ſchrieb darüber an Shiller: „Ich habe die Gegenftiinde die einen jolden Effect hervorbringen genau betradjtet und gu meiner Vere wunderung bemerft daß fie cigentlid) fymbolijd) find, das Heift, wie id) faum zu fagen braude: es find eminente Fille, die in einer charakteriſtiſchen Mannichfaltigkeit als Nepriifentanten von vielen anbdern daftehen, cine gewiffe Totalität in fid) ſchließen, eine gewiſſe Reihe fordern, Aehnlides und Frembdes in meinem Geift aufregen, und fo von außen wie von innen an eine gewiffe Ginheit und Allheit Anſpruch machen. Sie find alfo was ein glückliches Sujet dem Dichter ijt, glückliche Gegenftiinde fiir den Menſchen, und weil man, indem man fie mit fic) felbft recapitutirt, ihnen feine poetijde Form geben fann, fo mug man ihnen dod cine ideale geben, cine menſchliche im höhern Sinn, das id and mit einem fo ſehr misbraudten Wusdrud jentimental nannte.” Schiller antwortete dem Freund, dem er oft feine Träume aus- zulegen, feine Zuſtände gu deuten hatte: „Es ijt cin Bedürfniß poetiſcher Naturen, wenn man nicht tiberhaupt menſchliche Gemiither jagen will, fo wenig Leeres als möglich um fich 3u leiden, fo viel Welt als nur immer angeht fid) durd) die Empfindung anjueignen, die Tiefe aller Erjdeinungen gu fuden, und überall ein Ganjes der Menſchheit zu fordern. Iſt der Gegenftand als Sndividuum feer und mithin in poetijder Beziehung gehaltlos, fo wird ſich das Ideenvermigen daran verjuden und ihn von feiner fymbolifden Seite faſſen und fo eine Sprade fiir die Menſchheit daraus machen. . . . Sie drücken fic) jo aus als wenn es hier fehr auf den Gegenſtand ankäme; was id) nicht zugeben kann. Freilich der Gegenſtand muß etwas bedeuten, ſo wie der poetiſche etwas ſein mug; aber zuletzt kommt es auf das Gemüth an ob ihm cin Gegenftand etwas bedenten foll, und fo däucht mir das Leere und Gehaltreidhe mehr im Subject als im Object gu fliegen. Das Gemüth ijt e8 welded hier die Grenze ftedt, und da8 Gemeine oder Geiftreidje fann id) aud) hier wie iiberall nur in der Be- handlung, nidjt in der Wahl des Stoffes finden... . CEntfernen Sie ja diefe fentimentalen Gindriide nidt, und geben Sie den— jelben einen Ausdrud fo oft Sie finnen. Nidts auger dem

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452 Ill. Das Sdhine in der Kunft.

Poetijden reinigt das Gemiith fo fehr von dem Leeren und Ge- meinen als diefe Anſicht der Gegenftiinde, eine Welt wird dadurd in das Einzelne gelegt und die fladjen Erfdeinungen gewinnen dadurd) eine unendlidje Tiefe. Bit es auc) nidt poetifd, jo ijt es, wie Sie felbft e8 ausdriiden, menjdlid), und das Menſch— lice ift immer der Anfang des Poctifden, das nur der Gipfel davon ijt.

Der Schluß diefer Stelle fpridjt das Wort ans zu dem id hinleiten wollte, die ſchaffende idealifirende oder idealbildende Phan- tafie ift nicjt eine befondere Gabe einzelner Bevorjugten, jondern eine allgemein menſchliche, und der Künſtler macht fie nur zum feitenden und tonangebenden Princip feines Wefens. Luge das Sdeal nicht in jedem Gemiith, fo finnte es durch die Werke der Kunſt nicht erwedt werden; der Genuß und das Verſtändniß der- jelben ijt aber ja dod) nichts anders als da wir fie in uns nad erzeugen. Der Geift ded Künſtlers wirft, wie Schiller an Goethe iiber diefen fdjreibt, in cinem augerordentliden Grade intuitiv, und alle denfenden Kräfte fdjeinen auf die Smigination als ihre ge- meinſchaftliche Repriijentantin gleichſam compromittirt zu haben. Im Grund ift dies das Höchſte was der Menſch aus fid) madjen fann, fobald e8 ihm gelingt feine Anſchauung zu generalifiren und jeine Empfindung gejeggebend zu madden.

Künſtler ijt wer ein Sdealbild der Phantaſie nicht blos in ſich zu ergeugen fondern es aud) yu äußern, gegenftindlid) zu madden vermag, ſodaß e8 andere gu feiner WAnfdjauung miterhebt. Da- durd) wird er cin Vorbildner fiir die andern, die mun den leichteren Weg der Nachſchöpfung haben. Oder um aud) Hier wieder Shil- fer reden ju laſſen: ,,Seden der im Stande ift feinen Empfin— dungszuftand in ein Object gu legen, ſodaß diejes Object mid nbthigt in jenen Empfindungszuftand überzugehen, folglid) {ebendig auf mic) wirft, heiße id) einen Poeten, einen Macher. Der Grad jeiner Vollfommenheit beruht auf dem Reichthum, dem Gehalt den er in fic) hat und folglid) außer fic) darftellt, und auf dem Grad von Nothwendigkeit die fein Werf ausübt. Be jubjectiver fein Empfinden ift defto zufälliger ift es; die objective Kraft beruht anf dem Bdeellen. Totalitit des Ausdruds wird von jedem didjterifdjen Werk gefordert, denn jedes muß Charakter haben oder es ift nichts, aber der vollfommene Didhter fpridt das Ganze der Menſchheit aus.” Gr fann es nur dadurd dak er das Einzelne liebreid) erfaft, aber auf den Zujammenhang mit

1, Die Phantafie: b. Eingebung und Offenbarung. 453

ber Sdee zurückführt und das Allgemeine, den Begriff in der Er- ſcheinung darſtellt.

b. Das Weſen der Eingebung und Offenbarung.

Wenn große Künſtler alter und neuer Zeit von der Ent— ſtehung ihrer Werke reden, ſo bekennen ſie aus eigener Erfahrung wie jene ſowol eine That ihres ſelbſtbewußten, beſonnen erwägen— den Denkens als ein unfreiwilliges Ereigniß ſind das ihnen wird, wie hier Eingebung, Begeiſterung, Offenbarung dem ſelbſtkräf— tigen Sinnen und Erfinden, dem prüfenden Erwägen vorangehen oder es begleiten. Schiller, der Dichterphiloſoph, ſchreibt an Goethe: Auch der Dichter fängt mit dem Bewußtloſen an, ja er hat ſich glücklich zu ſchätzen wenn er durch das klarſte Bewußtſein ſeiner Operationen nur ſo weit kommt um die erſte dunkle Total— idee ſeines Werks in der vollendeten Arbeit ungeſchwächt wieder— zufinden. Ohne eine ſolche dunkle aber mächtige Totalidee, die allem Techniſchen vorhergeht, kann kein Kunſtwerk entſtehen, und die Poeſie beſteht eben darin jenes Bewußtloſe ausſprechen und mittheilen zu können, das heißt es in cin Object überzutragen. Der Nichtpoet kann ſo gut als der Dichter von einer poetiſchen Idee gerührt fein, aber er kann fie in fein Object legen, er kann fie nidjt mit einem Anſpruch auf Nothwendigfeit darftellen. Ebenſo fann der Nidjtpoet fo gut als der Dichter ein Product mit Be- wußtſein und mit Nothwendigleit hervorbringen, aber ein folded Werf fängt nit aus dem Bewußtloſen an und endigt nicht in demjelben. Es bleibt nur cin Werk der Befonnenheit. Das Vewußtloſe mit dem Beſonnenen vereinigt macht den Künſtler aus. Bewuftlofigkcit und Bewußtſein verhalten fic) beim Künſtler wie Rettel und Einſchlag ſchrieb Goethe an Wilhelm von Humboldt.

So preift Homer den Geſang als cin Geſchenk der Muſe, dic dem Dichter alles der Wahrheit gemäß enthiillt und mittheilt, ja es ift Reus felbjt der das Wort den erfindjamen Menfdjen eingibt und jo wie er will fie begetftert; der Sanger fingt wie das Her; ihm erwedt wird. Gerade fo will Srhiller’s Graf von Habsburg dem Sanger nidt gebieten; denn:

Gr fteht in des höheren Herren Pflicht,

Er gehordt der gebietenden Stunde:

Wie in den Lüften der Sturmwind faut,

Man wei} nidjt von wannen er fommt und brauft,

454 III. Das Schöne in der Kunft.

Wie der Onell aus verborgenen Tiefen,

So des Singers Licd aus dem Innern ſchallt, Und wedet der dunfeln Gefühle Gewalt,

Die im Herzen wunderbar fdjliefen.

Oder Goethe fagt:

In ganz gemeinen Dingen Hängt viel von Wahl und Wollen ab, das Höchſte Was uns begequet fommt wer wei wobher.

Es fommt fret von den Göttern Herab, fingt Schiller; der Funke der Begeifterung gut vom Himmel in die irdifde Seele.

In dem erften Bud Mofis beruft Sehova felber den Bezalecl und erfiillt ihn mit dem Geift Gottes, mit Einſicht und Geſchick— lichfeit fiir funftvolle Arbeit in Silber, Gold und Erz; ganz ahn- lid) fagt Diirer: das Gemiith der Riinftler ijt voller Bildniffe; Gott gibt dem funjftreiden Menſchen viel Gewalt, denn Gott weiß allein wie man ein ſchön Bild machen foll, und wem er was offenbart der weiß es aud. Als Haydn die Tine vernahm durd) die er das Hervorbreden des Lichtes darftellt, da rief er mit aus- gebreiteten Urmen und lauter Stimme: Das fommt nidt von mir, bas fommt von oben!

Est Deus in nobis, agitante calescimus illo, Impetus hic sacrae semina mentis habet!

fingt Ovidius unter den Rimern, und bei den alten Germanen verleiht Odin den Tranf der Begeifterung und der Unſterblichkeit. Wie Iehova den Hirten Amos jum Prophetenamt beruft, fo er- fcheint dem Aeſchylos, als er des Weinbergs hütet, Dionyjos und heißt ihn Tragödien dichten, fo fühlt jener Bauer unter den neu— befehrten Sachſen fid) von Chriftus felber getrieben daß er deffen Leben feinem Wolf in der Weife des vaterlindijden Helden- gefanges darjtelle, fo fagt Walther von der Vogelweide dak er beides, Wort und Weife, von Gott habe. Jakob Grimm belehrt uns daß die Biene aus dem goldenen Zeitalter oder dem Para- biefe iibriggeblicben. Ihre Tugend und Reinheit driidt das Lied vom heiligen Gavan fo ſchön aus, wenn Gott drei Engel vom Himmel in die Welt gehen heißt ,,wie die Biene auf die Blume”. Der lautere ſüße Honig, den fie aus den Bliiten faugt, ijt des Kindes erfte Speife, ift Hauptheftandtheil des Göttertranks der Begeifterung. So laffen fid) denn Bienen auf Pindar’s Lippe

1. Die Phantafie: b. Cingebung und Offenbarung. 455

nieder, und er wird dadurch gum Sanger. Und der fagt felber: wenn er irgend mit himmelgeſegneter Hand den herrlidjen Garten der Gharitinnen pflege, jo ſei es weil diefe ſelbſt ihm des Schinen Luſt verliehen: von der Gottheit werden Sterblide weiſ' und grok. ,,Verleihe Fiille des Gefangs aus meinem Geiſt!“ fagt er jur Muſe. Das Lied ift zugleich die ſüße Frucht feined Gemiiths und das Gejdenf der Gottheit. Wir haben dies näher zu be- tracjten ftets an der Hand der Riinftler felbft, die als die Prie- fter, welche in das Allerheiligfte gefchaut, uns von ihm Runde geben. Diefe ſuchen wir ju erklären, gu deuten, in Zuſammenhang ju bringen und tm Zujammenhang unferer Sdee von Gott und Welt gu begreifen. Gelingt dies, jo ift es zugleich cin Beweis fiir dieſe letztere.

Die geiſtige Erzeugung beſteht wie die leibliche in That und Empfängniß, nur daß das männliche und weibliche Princip hier in einer und derſelben Seele vereinigt ſind, wie in der Selbſt— beſtimmung des Geiſtes das Beſtimmende und das Beſtimmbare zuſammenwirken. Die Aeltern bieten körperlich wie gemüthlich den Stoff für das Leben des Kindes, und geben ihr Bewußtſein einem ſeeliſchen Rauſche dahin, in welchem der gemeinſame geiſtige Lebensgrund des Alls, die göttliche Schöpfermacht erregt wird den Gedanken des neuen Menſchen zu denken, ſodaß derſelbe nicht blos ein aus den Aeltern Zuſammengeſetztes, aus ihnen völlig zu Erklärendes iſt, ſondern als eine originale und neue Perſönlichkeit in die Welt tritt, und Vater und Mutter mit Recht ſagen daß ihnen ein Kind geſchenkt worden ſei. Und ſo ſind bei allem Ringen und Streben die großen Gedanken nichts das wir ertrotzen und erjagen können, ſondern unſer Ringen und Streben bereitet ihnen den Boden und erweckt ebenfalls die göttliche Schöpfer— macht, die Ideen leuchten nun in dem Gemüth wie der Blitz in der Wolke, und unſer Geiſt wird erhellt und erhöht von ihnen.

Es gilt da Goethe's Vers:

Ja das iſt das rechte Gleis Daß man nicht weiß Wenn man denkt

Daf} man denft,

Alles ift alé wie gejdentt.

Wir haben ſchon geſehen wie im Leben und Weben der Bilder- welt unferes Gemiiths das Freiwillige mit dem Unfreiwilligen

456 III. Das Schöne in der Kunft.

zuſammenwirkt. Gin Gleiches zeigt fid) uns bet der Empfingnif eines beftimmten Stoffs fiir die fiinftlerifde Geftaltung, mag der- jelbe mun ein Gedanfe fein welder ans der Tiefe des cigenen Gemiiths emporfteigt, oder ein Gegenftand welder fic) der An- jdauung darbietet. „Das Univerſum“, ſchreibt einmal Sean Paul, „ſchlüpft leife dem Dichter ins Herz, und ruht ungefehen darin und wartet der Didhterjtunde.” Niemand fann dieſe hergebieten. Das Forcirte, das Gemacdte und Erzwungene taugt nidts in der Kunſt, Hier mug alles organifd) erwadfen und fic) von jelbft geben. Wol darf der Riinjtler nach Stoffen fuchen, aber das Sinden beruht dod) immer auf dem Glück daß eine Sdee oder ein Gegenftand auf die verwandte Stimmung trifft, dak das Gemiith gerade dafiir vorbereitet oder feiner individuellen Natur nach dafiir geeignet ift, daß eine Fülle des aufgejpeiderten Reichthums vor- handen ift, mit weldem eine neue Anſchauung nun in Verbindung tritt, ſodaß fie wie fiir jene prabdeftinirt erfdeint, ein Magnet der nun das mannidfaltige WAndere an fid) Herangieht, ein Kryftalli- jationspunft und Centrum der Bilder und Bdeen. Go fchreibt aud) Mozart: ,,Wenn id) recht fiir mid) bin und guter Dinge, etwa auf Reifen, im Wagen oder nad guter Mtahlzeit beim Spajierengehen, und in der Nacht wenn id) nidjt ſchlafen fann, da fommen mir die Gedanfen ftrommeis und am beften. Woher und wie da8 weiß id) nicht, kann aud) nichts dazu. Die mir nun gefallen die behalte id) im Ropfe, und fumme fie aud wol vor mid hin. Halt id) das nun feft, fo fommt mir bald eins nad) bem andern bet, wozu fo ein Broden ju brauden wire um eine Paſtete daraus gu maden, nad) Contrapunft, nad) Klang der ver- ſchiedenen Snftrumente u. ſ. w. Das erhigt mir nun die Seele, ba wird es immer größer, und id) breite es immer weiter und heller aus.”

Die Freiheit des Künſtlers liegt hier beſonders darin daß er fid) tiichtig ausbildet; denn von feiner geiftigen Reife hängt es ab weldje Stoffe fic) ihm als fruchtbare und verſtändliche bieten finnen, und aus der Wahl des Stoffs, aus dem was ihn im Stoff anjzieht, und aus der Art und Weiſe der Auffaffung er- fennen wir feinen Charafter.

Der Antrieb zur Phantafiethitigfeit fann von augen fommen, ber Riinftler empfiingt cinen Auftrag, es wird ein Werk bet ihm beftellt. Se größer, fruchtbarer, reidjer fein Geiſt ijt, defto leichter wird er Anknüpfungspunkte fiir die Aufgabe finden, ſodaß dieje

1. Die Phautafie: b. Cingebung und Offenbarung. 457

wie von einem Mutterſchos von feiner Eeele empfangen und ge- nährt wird und yu eigenthiimlicer Geftalt heranwächſt. Wo dics nicht gefdhieht, wo fiir den gegebenen Stoff fein Mlittelpunft or- ganijden Bildens in der Seele vorhanden ijt, da wiirde das Werf nur fabricirt werden, äußerlich mühſam zanmengeſat. nicht frei aus dem Herzen geboren ſein.

Wie äußerlich aber oft die Anregung zur innerlich organiſchen Geſtaltung ſein kann, das belege eine Scene in Goethe's Fauſt. Wagner deſtillirt den Homunculus. Daß der trockene Büchermenſch ohne die friſche Fülle der Natur auch einen Menſchen künſtlich bereiten will, liegt allerdings in ſeinem Charakter; der Dichter kam aber dazu daß er las, der Philoſoph J. J. Wagner habe in öffentlicher Vorleſung geäußert es müſſe der Chemie noch gelingen Menſchen durch Kryſtalliſation zu bilden; der Name erinnerte Goethe an ſeinen Wagner und ſo ließ er den philologiſchen Pe— danten des erſten Theils ſich an die Retorte ſetzen, und „der zärt— lichſte gelehrter Männer ſieht aus jetzt wie cin Kohlenbrenner“. Von Michel Angelo wird erzählt er habe um das Beabſichtigte und Gemachte aus ſeinen Compoſitionen gu entfernen bet ſeinen Studien den Zufall ſelbſt herbeigerufen, indem er eine Wand mit Farbe beſpritzt und aus den ſo entſtandenen Flecken Figuren zu— ſammengetragen habe; natürlich mußte dabei der Grundbau des Ganzen feſtſtehen und mußte ſeine Phantaſie beurtheilen wo ſie anknüpfen und ihre Geftalten in das Chaos hineinſchauen fonnte, etwa wie wir je nad) unferer Stimmung und Gigenart mannicd- faltige Gebilde in den Wolfen yu erfennen glauben. Der ju hiufige Gebraud) welden Sean Paul von feinen Zettelfijten madte, gab ſeinen Werfen das unorganijd buntſcheckige Ausſehen, und 30g ihm den Vorwurf ju daß er feinen Reidhthum nidt zu Rathe ju halten wiffe.

Iſt der Stoff vom Gemiith empfangen und ein Organifations- mittelpunkt gefunden, fo wird der Riinftler nun Eins mit dem @egenftande, der ebenfowol in jein perfinliches Ideal eingeſchmol— jen wird, als dies felber in ihm Halt und Geftalt gewinnt. Mod) erfaft er nidjt das Befondere, aber bas Ganze ergreift, iiber- wiltigt ifn, und geht wie ein begliidendes Licht in ihm anf. Diejer felige Rauſch der Stimmung aber fann nicht hergeboten werden, aud) nidjt dadurch erjenugt werden dak man ins Blane fieht oder Ghampagner trinft; er gehirt der unwillkürlichen Ent— widelung der geiftigen Natur an, und ergtbt fic) oft unter duferen

458 III. Das Schöne in der Kunft.

Einflüſſen. Schiller ſchreibt einmal an Goethe: ,, Mid hat die Ankiindigung ded Friihlings durch dieje freundlicdjen Februartage recht erquidt, und iiber mein Geſchäft, das deffen ſehr bedurfte, ein neues Leben audsgegoffen. Wir find dod) mit aller unjerer geprablten Selbftindigfeit an die Kräfte der Natur angebunden, und was ift unfer Wille, wenn die Natur verjagt? Woriiber id jon fiinf Wochen Lang briitete das hat cin milder Gonnenblid binnen bdret Tagen in mir gelift, freilid) mag meine bisherige Beharrlichkeit dieſe Entwickelung vorbereitet haben, aber die Ent: widelung felbft bradjte mir dod) die erwiirmende Sonne mit.” Goethe antwortet: ,,Wir können nichts thun als den Holzſtoß erbauen und redjt trodnen, er fängt alsdann Feuer zur rechten Beit, und wir verwundern uns felbft darüber.“ Die Zu— viiftungen zu cinem Drama, fdreibt Sdhiller cin andermal, ver- fegen das Gemiith dod in eine gar jonderbare Bewegung; und dann äußert er iiber diejen Geelenzuftand, den wir wol als die Schwangerſchaft des Geijtes bezeichnen können: „Bei mir ift die Empfindung anfangs ohne beftimmten und klaren Gegenftand; dieſer bildet ſich erſt ſpäter. Eine gewiffe muſikaliſche Gemiiths- ſtimmung geht vorher, und auf dieſe folgt bei mir erſt die poe— tiſche Idee.“ Otto Ludwig ſpricht davon wie der Ideenklarheit bei ihm eine muſikaliſche Stimmung vorausgeht, die wird zur Farbe, und in deren Schein treten Geſtalten in beſtimmter Hal— tung und Geberde hervor; nun ſucht er die Idee der Erſcheinung, die Geberde der Handlung, den Cauſalnexus ſich deutlich zu machen. Der Muſiker Mozart vergleidht ſeine künſtleriſche Weihe— ſtimmung dagegen mit der Anſchauung eines Gemäldes; er meint das Ganze mit einem Geiſtesblick zu umſpannen; er ſchreibt von ſeiner beſten Compoſition: ſie gehe in ihm wie in einem ſchön— ſtarken Traum vor, und er überhöre noch im Geiſte das Muſik— ſtück nicht ſo wie es nachher gehört werden müſſe, das heißt eins nach dem andern, ſondern alles zugleich, ſodaß er ein Muſikſtück im Geiſt auf einmal überblicke wie ein Bild oder einen hübſchen Menſchen.

Die Phantaſie vergißt die Außenwelt, weil in der Innenwelt der Geiſt ſich ſelber gegenſtändlich wird; daher ſcheint der Menſch der gewöhnlichen Umgebung entrückt; daher die Frage des jüngern Philoſtratos auf Anlaß von Sophokles' niedergeſenktem Blicke als Melpomene zu ihm tritt: „Iſt dies vielleicht ein Zeichen daß du ſchon poetiſche Gedauken ſammelſt, daß deine Seele ſchon ganz in ein ſüßes

1. Die Phantafie: b. Cingebung und Offenbarung. 459

Sinnen und Träumen verſunken ijt, weldjes fie fiir die Außenwelt unempfanglid) madt?” Der Künſtler verjenft fein Ich in feine Schöpfung und lebt in feinen Geftalten. Ich vergeffe mid) felbft um meine Perjfonen 3u fehen, befannte Glud, und meinte daß das enitgegengejebte Verfahren allen Künſten verderblich jet. Bacchos, der Gott ded Weins, ijt zugleich der Gott der fiinftlerifden Be— geijterung, das Drama jeine Feftfeier. Hafis preift den Rauſch vor der Niidjternheit, da in jenem der Menſch allein das Licht der Phantafieoffenbarung empfange. Unter den griedhijden Phi- fofophen hat Oemokrit die gemeinverftindigen Didter vom Helifon ausgefdlojjen, und Platon von der Seher und Sanger heiligem Wahnfinn am entidhiedenften gefproden.

Aus einem durch göttliche Gunft verliehenen Wahnſinn, fagt Platon im Phädros, entftehen uns die gréften Güter. Denn die Prophetin zu Oelphi und die Priefterin zu Dodona haben unſerer Hellas in prophetifder Begeijterung viel Gutes gugewendet, fo was bejondere als was öffentliche Angelegenheiten betrifft, bei Verftande aber Kümmerliches oder gar nidts. Die von den Muſen fommende Begeifterung ergreift cine zarte und heilig ge- ſchonte Seele und regt fie auf und befeuert fie, und bildet dic Nachkommen, indem fie taujend Thaten dev Urviter in feftliden Gejiingen ausjdmiidt. Wer aber ohne diefen Wahnſinn der Muſen in den Vorhallen der Poefie fich einfindet, meinend es geniige fdjon Kunſt allein ein Dichter zu werden, cin folder ift ſelbſt ungeweiht, und aud) feine, de3 Verſtändigen, Didtung wird von der des Vegeifterten verdunfelt. Und im Son Heift es: Alle redjten Dichter alter Gagen fpredjen nidjt durch Kunſt, jondern als Begeifterte und Befeffene alle dieſe ſchönen Gedidte, und ebenjo die rechten Liederdidter, wenn fie der Harmonie und des Rhythmus voll find. Es fagen uns nämlich die Didter daß fie aus honigftrimenden Quellen, aus gewiſſen Garten und Hainen der Muſen pfliicend uns diefe Geſünge bringen wie die Bienen und ebenfo umberfliegend. Und wahr reden fie. Denn cin leidtes Weſen ift ein Oidhter und gefliigelt und heilig, und nicht cher im Stande gu dichten bis er begeiftert worden. Nicht alſo durd Kunſt didtend fagen fie fo viel Schönes über die Gegenftiinde, fondern durch göttliche Schidung ift jeglider das {chin gu dicdten vermigend wozu die Muſe ifn antreibt. Die Didter find Spredher der Gitter im Befits deffen der jeden befist.

Die Kunſt bedarf der göttlichen Begeifterung, weil fie nidt

460 Ill. Das Schöne in der Kunft.

Nachahmung der Natur, fondern Neuſchöpfung, Bdeengeftaltung ijt und den Erſcheinungen der Welt weniger ihr Nadbild als ihr Urbild jur Seite ftellt. In der Begeifterung fühlt fich der Menſch aus den Engen und Rückſichten des gewöhnlichen Daſeins befreit und in fein eigenes wahres Sein erhöht; ev fühlt fic) von einer höheren Macht beherrjdt, dieſe ift ihm aber nichts Fremdes, vielmehr fommt durd) fie fein eigenſtes inneres Wefen gu Tage.

Von der Nothwendigkeit einer Kraft Gottes im Menſchen ſpricht aud) ein Didhter den man gewiß nidt eines falfden My— ſtiecismus befduldigen wird; Goethe äußert gu Cdermann: „Wenn man die Leute reden Hirt, fo follte man faft glanben fie feien der Mteinung Gott habe fic) ganz in die Stille zurückgezogen und der Menſch wire blos auf cigene Füße geftellt und miiffe fehen wie er ohne Gott und fein tägliches unfidjtbares Anhauden zu— rechtromme. Sn religidjen und moralijden Dingen gibt man nod allenfalls cine göttliche Cinwirfung ju, allein in Dingen der Wiſſenſchaft und Kunſt glaubt man es fei lauter Brdijdes und nidjts weiter als cin Product reinmenfdlider Kräfte. Verſuche es aber dod) nur Giner und bringe mit menfdlidem Wollen und menſchlichen Kräften etwas Hervor das den Schöpfungen die den Namen Mozart, Rafacl und Shakefpeare tragen ſich an die Seite jesen laſſe!“ Sd) habe in meinem Werk über die Runft im Zu- jammenhange der Culturentwidelung den geſchichtlichen Beweis geführt wie alles Große und Menſchheitbeglückende und Menſchen— gefhicbegwingende in dem Zujammenwirfen géttlider und menſch— licher Thätigkeit gefchieht. Ucbereinftimmend hiermit jagt 3. H. Fichte in feiner Pfydologie: „Ohne den fteten befruchtenden An— hand) aus der ewigen Welt der Bdeen, ohne Cingebung von innen her wiire der menſchliche Geiſt im bloßen Sinnenleben erftorben, jeder Perfectibilitit bar, dem werthlofen Kreislauf der Natur ver- fallen, das unfeligfte widerſpruchsvollſte mie unfertigfte unter allen Sebilden der Schipfung. Die eigenthümliche Würde feines Geiftes ijt Organ des ewigen Geiftes ju werden.” Aus der Quelle der Urphantafie ſchöpft der Riinftler wie der fein Werf Anfdhanende, in der durch beide hindurdhwirfenden Urphantafie liegt der Grund des Schaffens und Geniefens, der Uebereinjtimmung beider, der Allgemeingiiltigfeit des Sdinen. „Ja das wahrhafte Kunſtwerk und jede eigentliche Runftwirfung legt durd) das univerjale afthe- tiſche Wohlgefallen, welded fie begleitet, da8 unwiderfpredlide und thatſächliche Zeugniß ab von der durchwirkenden Macht der

1. Die Phantafie: b. Cingebung und Offenbarung. 461

Urphantafie in den Gingelgeiftern, von der ununterbrodjenen Ueber- windung ihrer endliden Sdhranfen und ihrem Cingeriicdtwerbden, ihrer Mittheilnahme am Bewußtſein des Ewigen, wie eine foldje auf unmittelbare müheloſe Weife in jedem edhten Kunſtgenuß uns aufgejdloffen ift. Es ift derjelbe Durchbruch des Ewigen ins endlide Bewußtſein den wir als theoretijde Evidenz der Wahrheit, als fittlidje Begeifterung des Willens fiir da8 Gute haben.” Und hier nun erinnere ic) wieder an die unbewußt bildende Lebens— fraft: fie wirft mit dieſer Sicherheit ber Natur, des Inſtinetes, weil eben die ſchöpferiſche Urphantajie in thy waltet, weil fic felber dicjer entftammt, aus dem Quell der göttlichen Natur fid erhebt und in derfelben begriffen bleibt. Die Seele baut fic ihren leiblichen Organismus felber als Organ der ſchöpferiſchen Geftaltungsfraft Gottes, die fic) ja nidt am erften Schöpfungs— tage erjdipft und zur Ruhe geſetzt hat, fondern fortwahrend lebt und wirft, in uns fiber ung, fiir uné das Unbewufte, aber fiir fid) Hellfehend und ſelbſtbewußt.

Wie aber ift dieje göttliche Cinwirfung gu erfliren? Nicht auf dem Wege des dualiftifden Deismus, der Gott und Menſchen trennt und feine Brücke gwifden ihnen ſchlagen, nur einen Stoß von außen annehinen fann. Gr redet von Offenbarung, aber er jagt dann ſelbſt dag fie etwas Uebernatiirlides, Abnormes, dak fie cin Winder, alfo unerflirbar und gefeslos fei. Die gewöhn— liche Inſpirationslehre hebt die Thitigfeit des Menſchen auf, der nur Schreiber ift; und doch wie verfchieden zeigt fic) der Stil des Sohannes oder Lufas von dem de8 Paulus! Die Sdeale find das innerlid) Gigenfte de Künſtlers, worin er gerade feine Specialitiit hat, und er empfindet feine Anfprade von augen, fondern ein Aufgehen in der Tiefe des Gemiithes, und es bewährt fid) hier das alte tieffinnige Wort daß Gott uns innerlider fei als wir jelbft. Ebenſo wenig reicht der Pantheismus aus, da er Gott und Welt vereinerleit und fein Gott des Selbfthewuftfeins entbehrt, und anfgeldft in die Vielheit der Oinge nur infofern etwas von fic) felber weif als der Menſch, ein Glied feines Lebens, ihn denft, weshalb folgeridjtig Gott hier allerdings nur cin Gedante des Menfdjen ijt. Wber die Verwirklidung von Sweden und zu— jammenftimmenden Gejegen in der Natur und die Gefdidte des Geiftes weifen auf einen zweckſetzenden gefesgebenden Geift hin, und die Unendlichfeit wiirde als foldje gar nicht exijtiren, wenn fie nicht fic) ſelbſt erfaffende Cinheit wire, und wie follter aus

462 III. Das Schöne in der Kunſt.

bem Bewuft- und Liebelojen Erkenntniß und Liebe fommen? Go ergibt fid) and) hier daß wir Gott faffen müſſen als den allgegen- wiirtigen Yebensgrund aller Dinge, der ihrer und feiner felbft mächtig ijt, als das innerfte Princip und die allburddringende Geele der Welt, als das ewige Sch, im weldem die einjelnen Seelen wie die Gedanfen in unjerm Gemiith geboren werden, als ben Geift, der fein unfidtbares Wefen durd) die Schöpfung offen- bart wie der Dichter im Werke, der in Allem waltet und über Allem Er SGelbft bleibt, der Quell und da8 Meer aller Lebens- ſtröme als fic) felbjt erfaffende Einheit, Freiheit, Liebe, Perſön— lichfeit! Halten wir an der Lehre Chrifti feft: daß Gott der Vater ijt und wir die Rind{daft empfangen haben, daß wir durd Chri- ſtus mit Gott Eins find; halten wir an der Lehre von Paulus fejt: in Gott (eben, weben und find wir, von ihm, durd ihn, zu ifm alle Dinge; und an der Lehre von Sohannes: dak das Wort, in weldem Gott fein eigenes Weſen ansfpridt, der Lebensgrund aller Dinge und das Licht der Menſchen ift, fo werden wir diejenige Weltanfdauung gewinnen oder behaupten welde diefe ganzen äſthetiſchen Entwickelungen durddringt, und fraft welder mun aud) eine gittlide Begeifterung als Gabe an uns nidt von augen, fondern von innen, ein Empfinden des alldurdwaltenden Geijtes im den Tiefen unjerer Seele, ein Aufleudjten feiner Sdeen in unjerm Bewußtſein, ein Theilhaben an den Urbildern feines Gemüths durd) unfere Phantafie erflirlid) und verſtändlich wird. Daz aber diefe Bdee des der Welt einwohnenden und zugleich ſelbſtbewußten Gottes im Gemiithe der grofen Dichter felber lag, habe id) durd) dic Sammlung ihrer Ausſprüche dargethan, welde alg Grbauungsbud fiir Denkende erſchienen find.

Mian hat friiher viel von angeborenen Ideen geredet, dann dagegen angeliimpft, weil die Erfahrung lehrt dak fein Begriff fertig in der Seele liegt, fondern ein jeglicer erft unter der Cin- wirfung der Sinnesempfindungen und Wahrnehmungen gebildet wird. Go ridtig dies ift, fo feft fteht aber aud) der Sat daß die Augen und Oren uns nur Erfdeinungen vorfiihren, der allge- meine Begriff derjelben und ihr Geſetz erft durd) das freithitige Denfen erzeugt wird. Sedes Erfennen ijt nidt ein blobes Em— pfangen oder Aufnehmen einer aufer uns fertigen Wahrheit, fon- dern ein Hervorbilden derjelben aus dem eigenen Snnern, ein Erzeugen, ein Schöpfen aus der Tiefe des gemeinjamen Lebens- grundes, da die gefundene Wahrheit ja nicht unfere Erfindung,

1. Die Phantafie: b. Eingebung und Offenbarung. 463

fondern das ewig Giiltige, nicht blog unfer fubjectiver Befiz, jondern ein alfgemeines Gut und ein objectiv Wefentlides ift. Darum aber ijt ihr Quell aud nicht blos unfere, fondern die alfgemeine Vernunft, der Logos der and) in uns vorhanden ift. Der Möglichkeit oder der Anlage nad war fie im uns fdon da, und es war unfere Wufgabe fie durch unfere Thitigfeit uns gum Bewuftfein ju bringen. Hierbei verfihrt das Denfen nad) Normen die es felbjt erſt durch das logiſche Studium fennen lernt, die in ihm wirkſam find wie das Geſetz der Blattitellung in der Pflanze. Shr Bejtehen und ihr Herrjden ift die That des weltordnenden Geiftes, der die Nothwendigkeit feines eigenen Weſens in ihnen Offenbart und die Formen der Vernunft fowol der Materie wie der Seele einbildet, wodurd) daun Natur und Geijt das Band ihrer Wedhfelwirfung haben. Go vollzieht fic) unfer Denfen angeregt von der Natur unter der Einwirkung des gbttlidjen Geiftes. Und wenn feine äußere Wahrnehmung etwas Unend- fides uns zeigt, wir aber die Dinge als endlide nur im Unter- ſchiede von der Unendlichkeit bezeichnen können, fo mug die Sdee derfelben in uns fliegen, eine Mitgift und ein Siegel des wirk— liden Unendlichen in unferer Seele fein; die Seele erfteht in ihm und es offenbart fid) ihr als das alfgemeine Wejen das auc) das ihre ift.

Dies gilt im allgemeinen; aber auch im befondern ergibt fid jeder grofe neue Gedanfe nidt als ein Grredjnetes oder Errechen— bares ans den Vorausfegungen, als ein Erzeugniß der willkür— lichen Reflexion, fondern er wird in der Seele geboren und offenbar alé ein ihr unmittelbar Einleuchtendes, das fie nun näher betradtet und in Zuſammenhang mit fid) und der Welt in ihrem Bewuft- fein bringt, das heißt er ift eine Offenbarung des unendlichen Geiftes an den endliden. „Die Wege der Götter find kurz“ jagt Pindar; der Allgegenwiirtige ift ja ſchon allerwarts; oder wie das franzöſiſche Sprichwort mit Goethe's Ueberſetzung lautet: En peu d'heure Dieu labeure: In wenig Stunden hat Gott das Rechte gefunden. Als Einfälle, als etwas das uns einfällt oder zufällt, bezeichnen wir ſolche Gedanken deren Zuſammenhang mit dem Kreis unſerer bewußten und willkürlichen Denkoperationen uns verborgen iſt, die plötzlich in uns auftauchen. Nun „die rechten Einfälle ſind diejenigen welche aus der Ewigkeit in die Zeitlichkeit fallen’ ſagen wir mit Melchior Meyr. Goethe ſchreibt einmal: „Nach einem Stillſtand von einigen Wochen hab' ich

464 Ill. Das Schöne in der Kunft.

wieder die ſchönſten ic) darf wol fagen Offenbarungen. Es ift mir erlaubt Blide in das Wejen der Dinge und ihre Verhalt- niffe ju werfen, die mir einen Abgrund von Reidjthum eröffnen.“ Und Fichte der jiingere: ,, 3c) möchte wiffen ob eine wahrhaft geniale Entdedung je fid) anders geftaltete denn als plötzlich über— wiiltigende Erleudtung aus dem Gegenftande, als das Wort weldhes des Dinges Wejen felbft gu unferm Geiſt gefprodjen? Was wir im eben gliidliden Bli yu nennen gewohnt find, die wabhr- haftige Gabe des Sehers ift aud) die cinjige redjte Führerin in dic Wahrheit. Und finnen wir die naheliegende Betradtung ver- geffen dag iiberhaupt was wir theoretifde oder künſtleriſche An— {age nennen im weitejten Ginne immer, wenn fie wirft, etwas Unwillfiirliches ijt, ein in uns, nidt durd uns fic) Geftaltendes ? Der langgeſuchte Gedanke, das löſende Reſultat, felbjt der ab- ſchließende Reim iſt da, blitzähnlich hervortauchend aus der Tiefe unſers Geijtes, felten herausgerechnet oder durd) logiſchen Zwang heraufbefdworen. Die Form, die methodifde Behandlung ijt erft Werf der Bearbeitung, der Leib welder nachher dem bejeelenden Gedanfen angejogen wird, faft niemals aber der Weg zur Er— findung.“

An dieſe Thatſachen aus dem Gebiet des intellectuellen Lebens reihe ich ſolche aus der ſittlichen Erfahrung, damit zunächſt klar werde wie das für die Phantaſie Behauptete auch im Denken und Wollen ſeine Analogie hat. Wie die Idee des Unendlichen in unſerm Denken, ſo iſt das Gewiſſen in unſerm Handeln gegen— wärtig; es iſt die Stimme Gottes als des Guten in unſerm Ge— müth, es iſt der Ausdruck der ſittlichen Weltordnung in unſerer Seele, und wenn wir unſer Wollen und Thun nicht nach ihr richten, ſo richtet ſie uns. Das Gewiſſen iſt das Band der Geiſter wie die Schwere das Band der Körperwelt; es iſt erhaben über das jubjective Belieben des Einzelnen, es iſt durch keine Sophiſterei auf die Dauer zu betäuben, es iſt das uns durch— waltende Göttliche, das uns mahnend und ſtrafend erfaßt, wenn wir von ihm abweichen, das uns mit ſeiner Seligkeit beſeligt, wenn wir ihm treu ſind und durch unſer Streben und Wirken ſein Geſetz erfüllen. Wird unſer Wille für Hohes und Heiliges be— geiſtert, ſo iſt dies in ihm, nicht außer ihm, und doch iſt es zu— gleich über ihm.

Auch in ſittlicher Beziehung wird uns das Höchſte, wird uns das Heil durch göttliche Gnade. Wir haben uns durch die Sünde

1. Die Phantafie: b. Eingebung und Offenbarung. 465

dem Nidjtigen zugewandt, wir haben unfer Wejen verfehrt und wiirden in der Verfehrung verharren, wenn nidt Gott in uns jelber zur Rückkehr mahnte, wenn er nicht fic) fortwährend uns wieder bite, da er als unfer wahres und eigenes Sein in uns gegenwirtig bleibt. Das Paradies läßt fic) nidt ertrogen, es will in Oemuth empfangen fein, diefe Weifung wird Alexander dem Grofen im mittelalterlidjen Epos; nad) demfelben läßt der Gral fid) nicht durd) menſchliche Cigenmadt erobern, man muf für ihn berufen werden, dann aber and) nad) ihm fragen. Wir vermögen unfere Selbjtjudjt ju iiberwinden und der Wiedergeburt theilhaftig gu werden, weil ein höheres Ich als das endlide in uns wohnt und die Trennung des Endlichen und Unendlicden, die durch das Boje fiir Bewußtſein und Willen volljogen wird, zur Harmonie wieder aufhebt.

Sn 3. H. Fichte’s Ethik find diefe Fragen neuerdings vor- trefflicd) erértert worden, und es ijt vielfad) gelungen dadsjenige mit der Schärfe des Begriffs zu fafjen und in klarem Verſtänd— nif gu deuten was in der innerjten Tiefe des Herzens rut und nur in den feltenften Auffliigen de Geiſtes ins Bewußtſein tritt, freilic) aber wird zur redjten und leichten Anerfennung die har- moniſch ſittliche Gemiithsbildung erfordert, die dann den Begriff deffen erhält was fie felber in fic) erfahren hat. Die fittlide Lebenserfahrung gehirt alferdings ebenfo nothwendig zur vollen Einſicht in das Ethiſche, wie die Erfahrung iiberhaupt zur ge- niigenden Wiffenfdaft. Ich verweife auf Fichte’s ausfiihrlide und beweiſende Darftellung, und entlehne ihr die Refjultate fiir unfere RBwede. Gr fagt unter anderm: „In der ftrengen Forderung mit welder die fittlidje Sdee der ſcheinbaren Al{gewalt des Sinnlicen und der Selbjtiudt gegeniiber die einfache Unterwerfung unter das Gebot befiehlt und feinen andern Preis verſpricht als welder darin liegt ihm gehordjt 31 haben (Kant's fategorijder Smperativ), in diefem ſchmuckloſen Ernſte verrith fie eben dak ihre Macht «nidt von diefer Welt», dak fie cin Göttliches im menſchlichen Willen fei. Wn diejer erhabenen fic) felbft geniigenden Majeſtät, init welder fie von der Selbſtſucht alles fordernd ifr dennod) gar fein Zugeſtändniß madjt, gibt fic) der wahre Charafter ded Unbedingten in allen bedingten, ungeniigenden und fich ſelbſt auf- zehrenden Beftrebungen des Menſchen zu erfennen. Mitten unter die felbftfiichtigen oder ungewiß in ſich ſchwankenden Regungen jeines Willens tritt jenes höhere Wollen hinein und verleift damit

Carriere, Mefthetif. J. 3. Aufl. 30

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dem Menſchen die ungeheuere Macht fic) jelbft zu überwinden. Niemand kann jedod) Sieger fein über jene gleichfalls dem tiefften Urfprunge der Dinge entftammte menſchliche Selbſtheit, als das Göttliche jelber in feiner höheren geiftigen Macht. Darin findet der Sinn jenes rithjelhaften Ausfprudjes: nemo contra Deum nist Deus ipse, feine tieffte Aufklärung. Deshalb ijt aud) Enthuſiasmus in feiner reinften und edelſten Form, die ftiffe Energie der Willensbegeifterung, das eigentliche Wahrzeichen echter Sittlichfeit; durch fie bewährt fic) immer von neuem die welt- iiberwindende Macht, welche in dem menſchlichen Willen eingefehrt ijt. In allen Wendepunften der Geſchichte, die ein höheres Da- fein der Menſchheit vorbereiten, in allen Menſchen gropen und reinen Strebens jeigt fid) dieje Rucht des göttlichen Geiſtes. Daf in Gott ein ewiger Wille des Guten jet erfahren wir eben an ung felbft, wenn wir wahrhaft ergriffen find von jener heiligen Begeifterung. Wir find dann praktiſch in den Standpuntt ein- geriidt welder zwar dem Erkennen als der metaphyfijde oder theofophijde zugänglich ijt, da aber nod) immer aus uné heraus- geftellt werden fann als cine idealiſtiſche Hypotheſe. Dies ijt hier nidjt mehr möglich, fobald wir unfern Zuſtand nur begreifer. Der ewige, Welt und Selbftheit iiberwindende Wille in uns beweiſt uns thatſächlich das Dafein cines unendliden heiligen Geiſtes jo gewiß wir Organe feines Willens geworden find, und unjer Wille ſchwankt nicht mehr nod) kämpft er mit fic), fondern mit be- wufter Freude ijt er in fic) entſchieden. Es ift die Liebe Gottes die nad) unten gewendet immer von neuem den Grund der Sitt— lichfeit, die Entjelbftung und ethiſche Begeifterung erzeugt. Der die Welt und Selbftfucht iiberwindende Wille der Yiebe in uns ijt jelbjt nur der im Menſchen wirfende Wille der ewigen Liebe, ein Funke der gittliden, das ganze Weltall umſchließenden Liebes— macht, welde im Rreife des endlidjen Seiftes zur Selbſtempfin— dung Hervorbredjend ebenjo in ihm das Gefühl der Vollendung, Beſeligung, erzeugt, wie fie in Gott ewig empfunden der Quell jeiner Geligfeit ijt.”

Wir finnen weiter bemerfen dak weil die Sittlichfeit es ijt die dem Menſchen ſeinen Werth verleiht und über fein eigentlides Sein entſcheidet, die erlöſende Offenbarungsthitigkeit Gottes fid vorzugsweiſe an den Willen wendet; weil das Grundwefen Wille ijt, wird die wabhre und felbftbewufte Cinheit Gottes und des Menſchen durch die Hingabe des Willens vollzogen, der nun nidt

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mehr das Verginglide und Selbftifde, fondern das Cwige erftrebt und vollbringt.

&8 fam mir darauf an daß eingeſehen werde wie einmal unferm Denfen und Handeln fortwihrend das Göttliche cinwohnend gegenwartig ijt und die Idee weder von uns erfannt nod ver- wirflicht witrde ohne dies göttliche Mitwirfen, und wie anderer- ſeits der innerweltliche Gottesgeift fic) nocd) befonders in einzelnen Momenten erleuchtend, befeligend, febenernenend offenbaren fann und fid) fundgibt im Gemüthe de3 Menſchen, damit überhaupt ridjtig verftanden werde wie die Phantafie fraft der uns imma- nenten Idee des Vollfommenen vergrifernd, verfdinernd, ideali- ſirend waltet und ſchafft, und wie fic) in der Bhantafie der gitt- fiche Geift ideenoffenbarend, ſeine Sdeale enthiillend bezengt. Und id) habe deshalb mehrmals der Worte eines befreundeten Forjders gedadht, der da8 Verwandte auf dem Gebiete der Sntelligen; und des Willens dargethan, damit fein unabhingiges Zeugniß daffelbe was id) bereits vor Jahren über die Phantaſie gelehrt habe, aud) im Reich der Bntelligen; und Sittlidjfeit erweife. Auf beide Sphiiren hatte ic) übrigens jelbft ſchon in meinem Bud) itber das Wejen und die Formen der Poejie Rückſicht genommen, und dort den fdjon viel friiher in meinen Jugendſchriften aufgeftellten Begriff der Offenbarung wiederholt.

Wir ftehen leiblich im Naturganzen, freibeweglic), ein Mittel— punft eigenen Empfindens und Wirfens, aber dod) einbegriffen in die elementarijden Rrifte und unter ihrem Ginflug, und unjer Yeben zeigt in regelmäßigem Wechſel bald das VBorwiegen indivi- dueller Selbftiindigfeit im Wadden, bald die Rückkehr in den Mutterfdos der Natur und das Borwalten ihrer allgemeinen PBildungsthatigfeit tm Schlaf. Sollte es in geiftiger Beziehung anders fein? Im freien Forfden, im beſonnenen Handeln und bewuften Bilden zeigt fic) unfjere eigene Kraft. Auf dem Weg der Wahrheit und der Tugend wirft fie eintradtig jujammen mit dem gittliden Geift. Wir nehmen die Vernunft der Welt in uné auf und jtimmen cin in da8 Gejes der Vorfehung. Aber wie wir im Irrthum und in der Giinde uns von der allgemeinen Vernunft und der fittliden Weltordming löſen, in der Willkür des Denfens und Handelns unfere Freiheit, unſere Cigenmadt nod) befundend, wie der Wille als Cigenwille, als Selbſtſucht gegen das göttliche Geſetz fic) richten kann, jo greift das ewige und alfgemeine Denfen und Wollen, der göttliche Geift auch iiber den

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endlichen herrſchend hinüber, bethiitigt fid) in ifm, halt in ihm inneres Gericht oder befeligt ifm mit feiner Geligfeit, und ent- hüllt ihm Bilder feiner urbildliden Schöpferkraft, Ideen feiner allweifen Bernunft. Offenbarung ijt alfo das Mächtigwerden und fic) Bezeugen des alfgemeinen Geiftes im Cinjelnen. Gott ift das Princip unfers Seins, er febt in uns und wir leben in ihm, darum können und feine Gedanfen im Sunerften unſers eigenen Gemüths aufgehen, und da8 tft immer der Fall wo etwas Neues, Grofes und zugleich Allgemeingiiltiges ins Bewuftfein tritt und unfer, ja der Menſchheit Bewußtſein erweitert und erhöht. Es ift nidt eine Smpulfion und Mittheilung von aufen, fondern von innen, vom Centrum alles Lebens aus; es ift aud) nicht ein medhanijdjes Mittheilen und fertiges Ueberliefern, fondern wie alles geiftige Ginwirfen die Erregung zu der Geftaltung und yu dem Grfaffen derjelben Sdeen, fodag wir den Gott zwar [eiden, zugleich aber ſelbſt den Gindrud feines Waltens in uns zum Wort, zur That, zum Bilde formen, und feine thitigen Organe find. G8 ift des Menſchen Sache dak er mit der göttlichen Cin- gabe etwas anzufangen wiffe; ihr Verſtändniß und ihre Dar: ftellung ift de8 Menſchen eigenfte That. In Bezug auf Gott miiffen wir eben uns daran erinnern daß er nicht anger der Welt ſich auf fic) felbft zurückzieht und fie fic) überläßt, fondern dak er in ifr als der Entfaltung und Objectivirung feiner eigenen Snnerlidfeit, ale der Enthiillung und Ausbreitung feiner eigenen Yebensfiille mit feiner Kraft erhaltend und fortbildend gegenwiirtig bleibt. Warum follte er nicht gleid) uns feine Vorftellungen walten faffen und an ihrem Spiele fic) ergiten, dann aber aud wieder fic) im eine derſelben vertiefen, ihr feinen ganjen Inhalt leihen und durd) fie dem Gange der Gedanfenentwidelung eine beftimmte Ridtung geben?

Der Begriff der Offenbarung enthalt nur dann ,,cinen une vollziehbaren Gedanken“, wenn man mit der Hegel’fden Schule, die dies behauptet, das allgemeine und urfpriinglide Wefen nit als Geift und Perſönlichkeit begreift; er erjdeint als etn Wunder, wenn man Gott und Menſch auseinanderhilt. Auf unferm Standpunft ergibt er fic) als cin, nothwendiges Glied im Lebens- proceffe der Gott-Menſchheit, in der Entfaltung und Selbjtgeftal- tung des wahrhaft Unendliden, da8 weder in die Endlichkeiten zerrinnt, nod) an ihnen, da wo fie find, fein Ende hat und fomit jelber endlich wird, fondern das im Endlichen fic) felber entfaltet,

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ihm einwohnt und über allem Endlichen zugleich bei fich jelbft jetende Einheit bleibt.

Dap weil wir göttlichen Geſchlechts find, in der Offenbarung uns das Sunerjte des eigenen Weſens enthiillt wird, dak wir die freithdtigen, fortbildenden Organe des allgemeinen Geiſtes find, hat Goethe in dem dramatifden Fragment Prometheus tieffinnig und abnungsvoll angedeutet. Sch liebe did), Prometheus, fagt Pallas Athene, und Prometheus antwortet:

lind du bift meinem Geift

Was ev fic) felbft it;

Sind von Anbeginn

Mix deine Worte Himunclslidt gewefen! Immer als wenn meine Seele yu fich felbft fprade, Sie fic) öffnete

Und mitgebor'ne Harmonien

In ihr erklängen ans fic) felbft,

lind eine Gottheit fprad

Wenn id) gu veden wabhute,

Und wähnt' id) cine Gottheit ſpreche, Sprach id) felbft.

Und fo mit dir und mir.

So ein, fo innig

Ewig meine Liebe dir!

Wie der ſüße Dämmerſchein

Der weggefdied'nen Sonne

Dort herauffdwimmet

Bom finitern Kaufafus

Und meine Geel’ umgibt mit Wonneruh’, Wbwefend mir and immer gegenwittig, So haben meine Kräfte fich entrwicelt Mit jedem Athemgug aus deiner Himmelstuft.

Ginen Anflang an unjere Erirterung gibt aud) Spinoja, wenn er (ehrt: dag die Anſchauung der Vernunft, welde höher ift als das reflectivte Denfen, die Dinge im Lidte der Ewigkeit, sub specie aeterni, betradte, wenn er Chriftus den Mund Gottes nennt, und von ifm ſagt er habe alles in feiner ewigen Wabhr- heit erfannt. Ginen Anflang gibt Schelling, wenn er von Rafacl bemerft: Wie er die Dinge darftellt fo find fic in der ewigen Nothwendigkeit geordnet. Beethoven that den Ausfprud dak Kunſt und Wiffenfdaft uns ein befferes Leben geigen. Bede wahre Kunſtſchöpfung fet mächtiger als der Künſtler, unabhingig von ihm fehre fie gu ihrer Quelle zurück und bezeuge die Daz wijden-

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funft des Göttlichen im Menſchen. Und J. G. Fidhte ward felber didjterifd begeiftert, wenn ev dics Geheimniß und Wunder der innern Welt, durd) das der Menſch vergbttlidt und das Himm- liſche den irdiſchen Wugen entjchletert wird, in cinem Sonette ver- fiindigte:

Was meinem Auge diefe Kraft gegeben Daß alle Misgeftalt ihm ift zerronnen, Daf ihm die Nächte werden heit're Sonnen, Unordnung Ordnung, und Verivefung Leben?

Was durch der Zeit, des Naums verworr'nes Weben Mid) fidjer leitet hin zum ew'gen Bronnen

Des Schönen, Guten, Wahren und der Wonnen, Und drin vernichtend eintaucht all mein Streben?

Das iſt's! Seit in Urania's Aug’, die tiefe Sid) felber flare blane ftille reine Lidjtflamm’, ic) felber ftill hineingeſehen, Seitdem ruht dieſes Aug’ mir in der Tiefe lind ift in meinem Sein: das ewig Cine Lebt mir im Leben, fieht in meinem Sehen.

Von Wlters her hat man das Cinwirfen des göttlichen Geijtes auf den menſchlichen als Erleuchtung bezeichnet: es ift ein Klar— werden früher dunkler Begriffe oder Formen, es iſt eine Erhellung von Gebieten des Gemüths die ſeither noch im Schatten der Nacht lagen, es iſt eine Stärkung des menſchlichen Blickes durch den Iſisſchleier die göttlichen Züge im Antlitz der Natur zu erkennen und im einzelnen Ereigniß das Geſetz unmittelbar anzuſchauen. „Ich ſah, es war wie Licht hell“, ſpricht Heſekiel; „du erleuchteſt meine Leuchte“, ſpricht der Pſalmiſt; Muhammed erklärt ſeinen Widerſachern daß die Offenbarung, welche er erhalte, ein Licht ſei das in ſeinem Innern aufgehe. Goethe erwähnt des inneren Lichtes, bei deſſen Schein er ſeine poetiſchen Geſtalten bilde; des Menſchen Verdüſterungen und Erleuchtungen machen ſein Schickſal, ſagt er ein andermal; und Pindar ſingt:

Des Tages Kinder was ſind wir, was nicht? Des Schattens Traum ſind Menſchen,

Uber wo ein Strahl vom Gotte geſandt naht, Glänzt Hellleucdjtender Tag dem Mann

Zum anmuthigen Leber.

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Alles Rlarwerden in unferer Seele beruht mun darauf dak wir den Sujammenhang und das Geſetz dev Erjdeinungen erfennen, dag uns feine ſpröde Vercinzelung, feine verworrene Mtaffe unbe- gviffen gegeniiberfteht, fondern daß wir die cine Idee erkennen dic in dem Vielen fid) fpiegelt und zu mannidfadem Reichthum aus- breitet. Die Idee aber nennen wir das Muſterbild der Dinge oder den ſchöpferiſchen Gedanfen im Geijte Gottes; fie mu der Riinftfer als den Geftaltungsgrund des Lebens und das Princip der Form erblidt haben, wenn er cin ebenjo allgemein wares als cigenthiimlides und neucs Werf hervorbringen foll: fie ijt es alfo die der bejcelende, begeiſternde Gott ihn ſchauen ligt. Sie ijt das erhabene Schinheitsbild, das nach Cicero's Wort im Geifte des Phidias thronte, auf das hinblicdend er feinen Zeus und feine Pallas geftaltete. Naiv ſchreibt Rafael an Cajtiglione: „Da gute Richter und ſchöne Weiber felten find, bediene ic) mic) einer ge- wiffen Idee, die mir vorſchwebt; Hat dieje uun etwas Gutes in der Kunſt, id) weiß es nidjt, aber ich bemiihe mic) darum.” Auf die Frage nach weldjem Lehrbuch er die Theorie der Muſik ſtudire, gab Mozart zur Antwort: „Ich brauche fein Buch, ich halte mic an cine gewiffe Sdec, dic mir in den Ginn kommt, und wie dieje mir vorjagt ſpiele id), und fo meine ic) muß es recht fein.” Wocthe, dev die Frauen fiir das einzige Gefäß erflarte was den Neueren nod) geblieben fei um cine Idealität hineinzugießen, be- kannte da er feine Sdee der Weiblichfeit nidt aus dev Erfahrung der Wirklichkeit abjtrahirt habe, ſondern fie fet ihm angeboren, oder in ihm entftanden, Gott wiffe woher.

Diefe Offenbarung der Idee, die uns Hier das übereinſtim— mende Zeugniß dreter Riinftler erften Ranges bekräftigt hat, ijt wie alles Geiftige zugleich Gabe und Aufgabe fiir den Menſchen. Mur im reinen Herzen fann fie geboren werden, und der reine Wille zur Wahrheit ijt des Menſchen eigenfte Bhat. Die Läu— terung der erfahrungsmäßigen Formen, die Geftaltung des Stoffs zum addquaten Ausdruck der Idee ijt das Werk der Bejonnenheit. Sene korybantiſche Begeifterung, von der ergriffen ein Michel Angelo mit unbarmberzigen Streiden die Geftalt aus dem Mar— mor herauszuſchlagen gliihete, cin Schiller feine Crftlingswerfe unter Stampfen und Sdnauben jur Welt bradhte, fie weicht bei der Ausführung dem iiberlegenden Verftande, und die priifende Kritik, die beffernde Feile behaupten dann ihr Recht. Um die unmittelbaren und lebhaften Regungen des Gemiithes feſtzuhalten,

472 Ill. Das Schöne in der Kunft.

um den innern Antrieb in klarer anfchaulider Form auszuprägen bedarf es der denfenden Cinjidt. Crgriffenfein und Ergreifen, Hingeriffenwerden und freie geftaltende Arbeit find in aller Kunſt verfdmolzen. Alles Größte in RKunft und Wiſſenſchaft ijt der Begeifterung Werf, und wir fehen mit Leffing im Enthufiasmus die Spike und Bliite aller Poefie und Philofophie; aber die Be- geifterung ware nur cin voriibergehender Rauſch des Geiftes, wenn ſich ihr nicht ſogleich die ſelbſtbewußte Befonnenheit gefellte um ſich was ihr durch Cingebung geworden durch freies Crfaffen und abrundendes Geftalten gu cigen zu maden. AWllerdings ijt das Erſte und Hidfte in der Phantafie ,,jene lebendige Quelle, die durd) cigene Kraft fid) emporarbeitet, durd eigene Rraft in jo reichen, fo frijden, fo reinen Strahlen aufſchießt“, wie Leffing bie Sade meifterlid) bejeidjuet hat; aber das erwägende und ver- fttindige Fefthalten und Verwirkliden der idealen Anſchauung hat aud) fein Recht, ift aud) unentbehrlich. „Es hoffe einer obne tiefes Denken den ew'gen Stoff zur ew’gen Form ju bilden“, ſagt darum Platen, und Schiller fdjreibt an Goethe: Nur ftrenge Beftimmtheit der Gedanken hilft gur Leidtigfeit un Produciren; fo wenig man mit Bewußtſein erfindet, jo ſehr bedarf man des Bewußtſeins befonders bet längeren Arbeiten. Oder wie id in meiner Denfrede auf Leffing es ausgedriidt habe: Sn der Mtufif, in der Lyrik wird das unbewufte Auftauden der Gefiihle und ihe ungefudtes Werden zur Melodie der Tine und Worte vor- herrjdjen; in der bildenden Runjt, im Epos und Drama wird bie Thitigfeit des iiberfegenden Formens und Geftaltens, dic priifende Betradtung und Ordnung des Beſondern in jeiner Be- jiehung gum Ganjen mehr hervortreten; aber nur im gemeinfamen Wirfen beider Clemente wird das Schöne vollendet, und wo man friiher nur wilde Naturfraft und regellojen Flug der Phantafie jehen mochte, wie bet Shakeſpeare oder Pindar, jeigt fic) bei griindlidjer Cinficht eine fo glangvolle Weisheit der Compofition, daß der Verftand der Meiſter unfere Bewunderung erregt.

Wie auch die erfte Erjeugung oder Empfängniß des Keimes eines Kunſtwerks in der Seele unbewuft gejdieht, fo ift dod die ganze Summe der gewonnenen Bildung und Einſicht dabei bether- ligt, und es hängt von der ſelbſtbewußten Höhe, von der Reife und dem Umfang des Geifteds ab weldje Sdeen er erfaffen und darftellen fann. Dann aber ift die Ausführung ſelbſt nicht blos cin Werf der Ueberlegung, fondern die productive Naturfraft wirtt

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in ihrem dunfelu Drange beftiindig mit; das Geje der Kunſt ift iby eingeboren, fie erfüllt es in der Entfaltung ihrer Individua- litét, und der Sujammenflang von Freiheit und Nothwendigfeit, von allgemeiner Wahrheit und oviginaler Cigenthiimlidfeit, das Incinanderwirfen de8 Bewuften und Unbewußten tritt uns aud hier entgegen. Go löſt jeder Menſch feine Lebensaufgabe dadurd daf er die Verwirklidung feiner Naturanlage, feines Wefens in fittlid) ſelbſtbewußter Arbeit vollbringt; nidjt daß dieſe fic) in ifm vollzige wie die Muſik einer aufgezogencn Spieldofe fic) abfpiett, nidjt dag er fid) cine andere Gabe gu geben vermöchte als ifm verfichen ijt. Goethe jagt: Alles auger uns ijt nur Clement, ja id) darf wol fagen and alles an uns; aber tief in uns Liegt dic ſchöpferiſche Kraft, dic da8 gu erfdaffen vermag was fein foll, und ung nidjt ruhen und rajten [apt bis wir eS außer uns oder an uns auf cine oder die andere Weife dargeftellt haben. Der ganze Geift mit ſeinem Denfen und Wolfen geht dann hier im Schaffen und Bilden, im Ordnen der Geftalten, im Entfalten und Abrunden des Ganzen auf; umgefehrt ift aud ein angeftrengtes reflectirtes Denfen nothwendig von der Energie des Willens ge- tragen und niemals ohne Bhantafie, nur treten beide nicht fiir fid in das Lidt des Bewuptfeins. Der Geift ijt ja nicht blos Den- fen, aud) Anſchauung und Gefühl haben ihre cigenthiimlicde Wefenheit und Bedeutung in feinem Organismus; fie leiften und féunen was der Gedanfe als folcher weder vermag nod) crfebt. So find das Schönheitsgefühl und die lebendigen Bilder in der Seele de8 Künſtlers mächtig, und ihnen fommt jest zugute was er an Rlarheit des Verftandes und Willens in fich trägt, wenn der erfte Wurf oder die Conception gefdehen ijt und in den Pauſen des Bildens treten fie an das werdende Werk heran um es mit Ueberlegung ju priifen und ſelbſtbewußt durchzuführen. Gin Totalbild fteht vor der Phantaſie aud) des Forſchers, aud) de8 handelnden Menfden. Es ift der Stern des Helden, der ihn leitet, wenn er nun aud) mit realiſtiſchem Blicke die Lage der Welt und den Sinn der ihn umgebenden Charaftere erwiigt, um jenes ihnen gemäß ing Leben zu rufen. Es ift das voraus— gefdjaute Ziel, dem die dialektijde Entwickelung des Philofophen juftrebt, ohne das fie fcine beftimmte Ridjtung hatte. Aber hier wie dort wird das innerlid) offenbarte Totalbild durch die felbft- bewufte bejonnene Kraft herausgeftaltet und dem Leben oder der Wiffenfdhaft gu eigen gemacht. Hierher gehört das Prophetifde

474 Ill. Das Schöne in der Kunft.

der Poejie, died daß fic der Geſchichte und der Wiffenfdjaft vor- auseilt, und nidjt minder cin Achilleus auf Wlerander hinweift, alg cin Giller und Goethe für die Philofophie der Gegenwart von groper Bedeutung geworden find, oder erft cin Kepler durd feine Entdedungen das Wort von der Harmonie der Sphären wahrmacht.

Erhebet euch mit kühnem Flügel

Hoch über euern Zeitenlauf,

Fern dämmere ſchon in euerm Spiegel Das kommende Jahrhundert auf!

Dieſen ſeinen Zuruf an die Künſtler hat Schiller vorher ſchon motivirt:

Was erſt nachdem Jahrtauſende verſloſſen

Die alternde Vernunft erfand,

Lag im Symbol des Schönen und des Großen Voraus geoffenbart dem kindlichen Verſtaud. Lang eh die Weiſen ihren Ausſpruch wagen Löſt eine Ilias des Schickſals Räthſelfragen Der jugendlichen Vorwelt auf:

Still wandelte vor Thespis’ Wagen

Die Vorfidjt in den Weltenlanf.

Scuof, Schöpfer, trobaire, trovatore (troubadour) Finder, Erfinder heißt darum der Dichter im Altdeutfden, bei Proven- jalen und Stalienern im Mittelalter. Die Phantafie nimmt aller- dings den Stoff aus der Geſchichte des Herzens oder der Welt, oder fie Fleidet Sdeen in die Form von Begebenheiten und Cha- rafteren, die der erfahrungsmäßigen Wirklidfeit ähnlich find; aber wie Zeuxis fiir fein Gemiilde der meerentfteigenden Liebesgittin von fiinf der ſchönſten Sungfrauen nur injofern eingelne Züge entlehnen fonnte als er fie mit dem Sdealbild in feinem Geijte verglid) und bald den Fuß der einen, bald den Naden der andern zumeiſt ent{predjend fand, fo mug jeder Riinftler am innern Lidt erkennen was von feinen Grlebniffen, Beobadjtungen oder durch Studinm gewonnenen Kenntniſſen poetiſch ift, was fiir die Dar— ftellung de8 in ciner Zeit waltenden Gedanfens Bedeutung hat. Denn dak ev nur das Weſentliche, dies aber ganz gebe, darauf beruht der große Stil. Es ift das innere Wahrheitsgefihl das hier der Phantafie Maß und Halt verleiht.

Aber wer vermag die ganze Summe von Lebensverhialtniffer,

1. Die Phantafie: b. Cingebung und Offenbarung. 475

Seelenjtimmungen, Chavrafteren, Leidenſchaftsäußerungen zu itber- biden und in fic) aufzunehmen, die im Perſonenreichthume der Menſchheit, im Wechſel der hiftorijden Situationen vorfommen, ſodaß cr fagen diirfte er habe nun alles Bedentende evfahrungs- mäßig erfannt? Auf die Bemerfung Ceermann’s, dak im ganjen Fauſt feine Zeile fei die nicht die Spuren ſorgfältiger Ourdfor- ſchung der Welt zeige, antwortete Goethe: er wiirde mit fehenden Augen blind geblieben und alle Forſchung wiirde cin vergeblides Bemiihen gewefen fein, wenn er nit die Welt durch Anticipation bereits in fid) getragen hitte. Dieſe Vorwegnahme cines Bildes vor der Erfdeinung glaube id) jo gu erklären. Der Riinjtler ift jelber Menſch und erfagt in fic) Kern und Wefen des Menſchen— thums und der Menſchheit. Natur und Gefdhidte, in denen er als Glied fteht, find aber cin Organismus, in weldem cins das andere bedingt und in wedfelwirfendem Zujammenhange mit allem jteht, fodag in cinem Gandforn fic) das Univerfum fpiegelt. Wie daher cin Cuvier, nachdem ihm der Gedanke der animaliſchen Organifation Har geworden, bet einem einzelnen Knochen fagen kann welchem Thier er angehirt, die Geftalt deffelben nach jenem conftruiren fann, fo ijt die’ gerade der geniale Bli€ der Phan- tafie was Phidias zuerſt mit dem Wort bezeichnet hat: ans der Klaue den Lowen ju erfenuen, das Heift alfo in den Gefiihlen und Trieben des cigenen Herzens das allgemein Menjdlide zu erfaſſen und ans einzelnen durd) Erfahrung oder Mittheilung gee wonnenen Zügen landſchaftlicher Natur oder gefdhichtlider Ver— hältniſſe ſofort das Bild des Ganzen zu entwerfen und es mit einer Folgerichtigkeit darzuſtellen, welche dann von der geſetzmäßi— gen Wirklichkeit beſtätigt wird. Co betrachtete ſich Schiller das Wehr einer Mühle und beſang danach wie der Strudel des Waffer- ſturzes wallet und fiedct und brauſet und ziſcht, und Goethe mußte der Naturwahrheit dieſes Verfes gedenfen als cr am Rheinfall ftand. Und Shiller zeichnete im Tell nach Gocthe’s Sdhilderun- gen und cinigen Büchern über dic Schweiz diefe fo dah fein frem- der Zug fic) findet, fein wefentlider Zug der WAlpenwelt vergeffen ijt und Hintergrund wie Atmoſphäre mitfpielend vortrefflid) zur Handlung ftimmen. Wud) Goethe hat die herrlichen Lieder: ,,Der Wanderer’, und wol aud) „Kennſt du das Land?” eher gedidtet alg er Stalien gefehen. Go ftellte Shakeſpeare lebenswahre Menſchen in römiſche, in engliſch mittelalterliche Verhiltniffe, und fie ſprachen dort die grofen Staatsgedanfen, fie wirften dort mit

476 III. Das Shine in der Kunft.

plaftifder Rlarheit und Größe, fie glider Marmorbildern, wäh— rend fie hier wie aus Erz gegoffen fchicnen, mit den Schärfen und Cen einer ecigenwilligen Subjectivitit begabt, in der Leidenſchaft des Biirgerfriegs felber verwildert, oder durd) patriotifd ritter- liche Begeifterung geadelt, iiber dic Engen und Schranken des Feudalismus wie der eigenen Perfinlidfeit in der Freiheit des Humors fic) emporfdwingend. Aus der Leftiire von Plutard oder von Holinjhed’s Chronif gewann er einzelne Züge, die ihm die Handhabe wurden um den Geift der Geſchichte zur Beit Cäſar's, Heinrich's V., Richard's III. zu erfaffen, und von dieſer innern Anſchauung aus geftaltete er das Geſammtbild der eit mit treuer Benutzung der Einzelzüge gu cinem in fic) geſchloſſenen Ganzen. Das ift aber das Weſen ſchöpferiſcher Kraft und Phan- tafie daß fie nicht äußerlich zuſammenſetzt aus vorher fertigen Beftandftiiden, fondern daß fie den Mittelpunkt, den innerften Yebensquell eines Charafters, ciner Geſchichtsperiode erfaßt und von da aus alles Mannidfaltige erwachſen läßt.

Mur weil die künſtleriſche Phantafie den Schöpfergeiſt des Alls in fic) ſpürt, fühlt und vernimmt, darum verfteht fie aud jein Walten und Bilden in der Natur, und fann fie ganz und rein ausfpredjen was in der Wirklichkeit des Endlidjen mangelhaft oder getriibt und verworren bleibt. Und dak nun die Andern von dem Gebilde der Phantafie entziidt in ihm fein Product fubjectiver Willkür, fondern die Erfüllung eigener Ahnung, die Befriedigung der eigenen Sehnfudt nad) Lebensvollendung finden, daß fie das Sdeal ſogleich in fich felbft nacherzeugen, died beweift wieder daß ein gemeinfames Wefen ihrem Geifte wie dem des Künſtlers ju Grunde liegt, denn nur vom Gleiden wird bas Gleide erfannt und hervorgebradt. Das Ideal aber ift gleidweit entfernt von reinen und allgemeinen Gedanfen wie vom Sndividbuum mit feinen Zufälligkeiten und Abjonderlidfeiten und Schwächen; ber das äußere Dafein und feine Schranfen erhebt es fid) gur Freiheit und Wahrheit des Gedankens und bleibt dennod) zugleich in finnen- filliger Anjdaulichfeit; die Perfon wird Reprafentant der Gattung, der Begriff ſelbſt ju einem cigenthiimliden Wefen der Wahrneh- mung geftaltet, deffen Formen das Innere völlig ausdriicen. Gerade fo ift die Begeifterung, die Mutter des Ideals, cin Frei- werden des Menſchen von den Schranfen und aus den Engen der nur auf fid) geftellten Sndividualitit, die fic) hier iiber das Gewöhnliche hod) emporſchwingt und fic) einer Idee Hingibt, von

1, Die Phantafie: c. Idealismus und Realismus. 477

der bejeelt und getrieben fie des eigenen ewigen Wefens mitten in der Reitlidjfeit inne wird und den perſönlichen Willen mit dem Mothwendigen erfiillt.

ec. Sdealismus und Realismus; Symbol, perfonificirende Idealbildung und Allegorie.

G8 ijt der ganze Geift welder in der Phantaſie bildet und ſchafft; nach der Verjdhiedenheit der Menfden und Dinge wird alfo aud) fie einen mannidfaltigen Charafter und eine mannid- faltige Ausdrucksweiſe annehmen. Unjer geiftiges Leben nun bewegt fid) in den Anſchauungen die wir nad) den Gindriiden der Außen— welt entwerfen, in den Gefiihlen welde die Reſonanz unferer Perſönlichkeit zu diefen Cindriiden oder den Wechſel der eigenen Zuſtände bezeidhnen und fo die Snnenwelt ausmaden, und endlich in den Gedanfen die wir hervorbringen und in denen wir das alfgemeine Wejen der Dinge ergriinden und ausſprechen. Eins oder da8 andere ift vorzugsweiſe ftarf im Menſchen, und er ijt dana) bald mehr fiir die Anjdauung oder das Auge organifirt, bald webt er mehr im Gefühl und in dem Reid) der Tine, oder er fiebt es über das Sinnliche fic) ju erheben und mit Sdeen zu verfehren. Wir werden fehen wie daraus der Unterfdied der bildenden, tinenden, redenden Runft hervorgeht; hier bemerfe id nur nod) daß ftets zur Vollendung des Schinen ein Sneinander- wirfen von Anfdaunng, Gefühl und Gedanke nöthig ift. Sonſt entſtehen Cinjeitigfciten, cin weideds Gefühlsſchwebeln ohne Klar— heit und Wahrheit, ein duperlider Bilderluxus ohne Tiefe und Snnigfett, eine lehrhafte Reflexion ohne Wärme und Geftaltung. Außerdem fann bei dem Menſchen der Ginn fiir die Natur oder fiir das fittliche Leben vorwiegen, und es wird die Phantafie dann zur maleriſchen Darftellung landſchaftlicher Schinheit oder zur dichteriſchen Entwidelung ethiſcher Conflicte fdhreiten; oder es fann das individuelle Leben vorzugsweiſe anjiehen, wie es Goethe's Fall war, während Sdiller den allgemeinen Angelegenheiten der Menſch— heit jeine Stimme lieh. Cntbehrt die PBhantafie des ordnenden Verftandes, fo wird ihre Fruchtbarfeit ordnungslos wild, wir nen— nen fie phantaftijd); entbehrt fie der Vernunfteinfidt, fo bleiben ihre Gebilde flad und (eer.

Bedeutſamer find uns die Unterfdiede weldje Schiller mit dem

478 ITI, Das Schine in der Kunft.

Ausdruck des Naiven und Sentimentalen bezeichnete, an die er das Realiftijdhe und Idealiſtiſche anreihte; an jene Unterſcheidung knüpft fid) die Theorie des Claffifden und Romantiſchen, diefe beiden {esteren Begriffe bedingen cinen Stilunterjdicd in allen Riinften, der bald als das Kennzeichen verſchiedener Cpodjen, bald als die Cigen- thiimlichfeit gleichseitiger Anffaffungen und Darſtellungen anftritt.

Wir lieben, jagen wir mit Schiller, in der Natur das ſtille ſchaffende Leben, das ruhige Wirken aus fic) felbft, die ewige Einheit mit fid) felbft, das Daſein nad) cigenen Gejesen; wir jelbft waren Natur, und unjere Cultur foll uns auf dem Wege der Vernunft und der Freiheit zur Natur zurückführen. Nur wenn beides fid) fret verbindet, wenn der Wille das Gefeg der Noth- wendigkeit befolgt und bet allem Wechſel der Phantafie die Ver- uunft ihre Regel behauptet, geht das Géttlide oder das Ideale hervor. In der Sehnfucht der Neneren nad) der Natur, nad der verforenen Rindheit liegt der Grund der Sentimentalitit, die dem Sugendalter der Menſchheit fremd war; die Griechen empfan- det natiirlich, wir empfinden das Natiirlide. Die Riinftler find dic Bewahrer der Natur, fie ſtellen ja in finnenfilligen Formen das Ewige dar, und werden entweder Natur fein oder die ver- forene fucken, und dies bedingt den Unterſchied des Naiven und des Sentimentalen. Die Kunſt foll der Menſchheit ihren mög— lichft vollftindigen Ausdruck geben, da8 Individuelle idealifiren, das Ideal individualifiren. Die Natur in ihrer Harmonie und Fülle ift der Ausgang der naiven, der Gedanfe in ſeiner Freiheit und Unendlichfeit der WAusgang der fentimentalen Phantafie; jene ift mächtig durd) die Kunſt der Begrenzung, dieje ift es durch hie Kunſt des Unendliden. Weil cin Wer fiir das Auge nur in der Begrenzung feine Vollfommenheit findet, find die Alten in der Plaſtik unübertrefflich; in Darftellungen des Gefiihls, in Werken fiir die Ginbildungstraft, in der Muſik und in der Poefie finnen wir durd abnungsvolle Tiefe der Empfindung, durd) Geift und Fülle des Stoffs fiegen. Dem naiven Riinftler hat die Natur dic Gunſt erwieſen immer als eine ungetheilte Cinheit ju wirken, in jeden Moment ein felbjtindiges und vollendetes Ganzes zu fein und dic Menſchheit ihrem vollen Gehalt nad in der Wirk— lichfeit darzuftellen; wir erinnern beifpielsweife an das heroiſche Reitalter Homer’s, an Athen von den Perſerkriegen bis zu Perifles. Oem fentimentalen Künſtler einer ſpätern eit, wo die verjdhie- denen Richtungen und Kräfte des Geiftes auseinandergegangen

1. Die Phantafie: c. Fdealismus und Realismus. 479

find und anf die jugendliche Poefie des Lebens die Proſa einer ver- ſtändigen Wirklichkeit folgt, ift die Macht verliehen und der Tried eingepragt die verforene Harmonie und Einheit aus fic) ſelbſt wieder- herzuſtellen, die Menſchheit in fic) vollftiindig gu maden und aus einem beſchränkten Ruftand gu einem unendlichen überzugehen. Hieran reiht Schiller eine theoretijde Betrachtung des Grund- unterfdhiedes der Menſchheit, den er im Wallenftein, Goethe im Taſſo meifterhaft dichteriſch dargeftel{t hat, und fagt im wefent- lichen Folgendes über Sdealismus und Realismus. Der Realift Halt fic) in feinem Wirfen und Wiffen an das Gegebene, anf dem Wege der Erfahrung ftrebt er durd) die Betradtung des Einzel— nen jum Ganzen, nicht in einer einzelnen That, jondern in der ganzen Gumme feined Lebens ruht feine fittlide Größe. Der Sdealift nimmt aus ſeiner Vernunft Erfenntniffe und Motive des Handelns, er dringt iiberall anf die oberften und letzten Griinde und gerath in Gefahr da8 Befondere gu verſäumen, indem er das Allgemeine tm Auge hat. Sein Streben geht über das ſinnliche Leben, itber die Gegenwart hinaus, fiir die Ewigkeit will er ſäen und pflangen, während der Realift die Erde fein nennt und ſich jeines Befikes freut. Der Realiſt fragt wozu cine Sache gut fei und ſchätzt fie nad) ihrem Nutzen, der Idealiſt fragt ob fie gut fei und ſchätzt ſie nach ihrer Würde. Was der Realift liebt will er begliiden, der Sdealift will es veredeln. Der Realift will den Wohlftand des Volts, auch wenn es von deſſen moraliſcher Selb- ſtändigkeit etwas foften follte, der Sdealift will die Freiheit, wenn fie aud) ein Opfer der weltlidjen Güter erheifdt. Cer Realijt (ciftet 3war dem Vernunftbeqriff der Menſchheit in feinem einzelnen Augenblick Geniige, dafiir aber widerjpridt er niemals ihrem Ver— jtandeSbegriff; der Idealiſt kommt gwar in einzelnen Filler dem höchſten Begriff der Menſchheit näher, bleibt aber nicht felten ſogar unter dent niedrigſten. Run fommt es aber in der Praxis ded Lebens weit mehr darauf an dak da8 Ganze gleidfirmig menſchlich gut, als daß das Einzelne zufällig göttlich fei, und wenn aljo der Idealiſt gefdjictter ift uns von dem was der Menſchheit miglid) ift cinen grogen Begriff zu erweden und Adtung fiir ihre Beſtimmung einzuflößen, jo fann nur der Realiſt fie mit Stetig- feit in der Erfahrung ausfiihren und die Sattung in ihren ewigen Grenjzen erhalten. ener ift zwar cin edleres, aber ein ungleich weniger vollfommenes Weſen; diejer erſcheint zwar durdgiingig weniger edel, aber er ift dagegen vollfommener; denn das Cole

480 Ill. Das Sdhine in ber Kunft,

liegt fdjon in dem Beweis cines grofen Vermigens, aber das BVollfommene liegt in der Haltung des Ganzen und in der wir: lichen That.

Drum paart gu euerm ſchönſten Glid Des Schwärmers Ernſt, des Weltmanns Blid!

Die Verſöhnung des Idealismus und Realismus gejdah im Bunde Sdiller’s und Goethe’s; fie ijt da8 Riel der Menſchheit in der Runft. Sie ift miglid, „weil die Geſetze ded menſchlichen Geiſtes jugleid) die Weltgefege find’, wie Schiller mit einer fiih- nen Anticipation der neuern Logif fagt, weldje die Lehre vom Logos oder vom den weltgeftaltenden weltordnenden gittliden Gedanfen ijt, die unfere Vernunft zu vernehmen und in der eigenen Wefen- heit wiederjufinden hat. Wan vergleide hier die Grundjiige des Sdealrealismus in meinem Buche von der fittliden Weltordnung.

Die idealijtijde Phantafie alfo wird von fid, von dem Geijti- gen und Allgemeinen ausgehen und die Idee in einer beftimmten Erſcheinung verfdrpern und unmittelbar darftellen; die realiftifde wird mit der Crfahrung, mit den Thatſachen der gegebenen Welt beginnen und fie jo ordnen, läutern und zum Ganjen geftalten haf aus diefem die Sdee Hervorleudtet. Die idealijtijde wird Typen ſchaffen, welde ganze Gattungen und Lebensridjtungen repriijentiren, und in denen nidts vorhanden ift als die harmo- niſche Erfdeinung eines allgemein giiltigen und nothwendigen Seins; die realiftifde wird fid) der Fiille des Individuellen er- freuen und deffen charafteriftijde Befonderheiten gern aufnehmen um naturgetren den Reichthum der Wirflichfeit in einer Reihe cinanbder ergänzender Gejtalten abjubilden. Die idealiſtiſche Phan— tafie wird die Cinheit der Stimmung fefthalten und ihr alles cin: ftimmig machen, die realiftijde wird der Erregung des Augenblicks auc) in ſchroffem Wechſel der Tine folgen, um mit aufgeliften Diffonanjen eine Harmonie yu erzeugen. Die realiftijdhe Phantafie wird darum aud) das Häßliche oder Profaifde in das Bereid ihrer Darjftellung ziehen, während die idealijtijde es erft fiir fid iiberwinden und verklären mug, ehe fie e8 in den Rreis ihrer Formen aufnimmt.

Man vergleiche in dieſer Beziehung den idealiſtiſchen Sophokles mit dem realiſtiſchen Shakeſpeare, oder die griechiſche Plaſtik mit altdeutſchen oder niederländiſchen Malereien, oder ein realiſtiſches Werk wie Goethe's Götz mit der ideal gehaltenen Iphigenie.

1, Die Phantafie: c. Idealismus und Realismus. 48]

Aber es ift ebenjo echt fitnftlerijd) was Schiller an Goethe riifmt, die Blame de8 Dichteriſchen von einem Gegenftand rein und glücklich abbredjen, oder was Shiller felber häufig gelungen ijt, das im Geift geborene Sdeal durch ein Bild der Welt offenbaren; dort wird der Gegenftaud in fein Ideal erhiht, hier bildet das Ideal als Seele fich feinen Leib in den Formen der Gegenſtändlichkeit. Auf beide Weiſe herrſcht die Phantafie in ihrem Wefen und ift da8 Geiftige und Sinnliche innig ver- ſchmolzen. Man citirt dagegen wol cine Stelle aus Goethe's Maximen und Meflexionen: „Es ift ein grofer Unterfdhied ob der Didhter zum Allgemeinen das Befondere fudjt oder im Be- jondern das Allgemeine jchaut. Ans jener Art entfteht Allegorie, wo das Bejoudere nur als Beifpiel, al8 Exempel des Allgemei- nen gilt, die letzte aber ift etgentlid) die Natur der Poefie; fie jprict ein Bejonderes aus ohne ans Allgemeine ju denfen und hinzuweiſen. Wer min dieſes Befondere lebendig fat, erhält zugleich das Allgemeine mit ohne es gewahr gu werden, oder erft ſpät.“ Was id) nidt gewahr werde erhalte ic) geiftig nidt; viel richtiger hieß es oben daß der Dichter im Befondern das Allgemeine ſchaue, durch ihn alfo auch der Lefer. Wber and) das Allgemeine tft feine Whftraction, es trägt die Fille des Bejon- dern in fic), und warum follte es minder poetifd fein das All— qemeine in feiner Befonderung zu erfaffen? G8 ift gleidgiiltig ob der Dichter dic Novelle von Romeo und Julie (as und ihm in der Geſchichte das Wejen der Liebe aufging und flar ward, oder ob er vorher vom Wejen der Liebe befeelt und begeiftert nach einem Stoff für diefe Sdee fudjte und dabei auf die Er— zählung traf: ficher ift daß er die Erzählung fo ausbildete daß das allgemeine Wefen der Liebe allfeitig in feinem Drama offen- bar wird. Goethe verftand als Realift feine Weife, aber der idealiſtiſche Didhterphilofoph Shiller wußte beiden Arten geredt au werden. Derfelbe warnt gegen die Cinjeitigfeit. „Zweierlei gehirt zum Künſtler, dak er fic) iiber das Wirkliche erhebt und daß er innerhalb des Sinnliden ftehen bleibt. Wo beides ver- bunden ijt da ift äſthetiſche Kunſt. Wher in einer ungiinftigen formloſen Natur verläßt er mit dem Wirklichen nur gu leicht aud das Sinnliche und wird idealiſtiſch, und wenn fein BVerftand ſchwach ijt, gar phantaftifd); oder will er und muß er durch jeine Natur genöthigt in der Ginnlicfeit bleiben, fo bleibt er gern and) bei dem Wirflidjen ftehen und wird in befdriinfter

Carriere, Aeſthetik. J. 3. Aufl. 31

482 III. Das Shine in der Kunft.

Bedeutung des Wortes realiftifdh, und wenn ed ifm ganz an Phantafie fehlt, Enedjtijd und gemein. In beiden Fillen alfo ift er nicht äſthetiſch.“ Dieſes Knechtiſche und Gemeine aber, dieje bloße Copie dev äußern Realitit und die Verleugnung der ideal- bildenden Bhantafie ift es was uns heutzutage vielfaltig als Rea- lismus angepriefen wird. Chiller äußerte bet ciner andern Ge— fegenheit: „Der Neuere ſchlägt fic) mühſelig und ängſtlich mit Rufilligfeiten und Nebendingen Herum, und iiber dem Bejtreben der Wirklichfeit recht nahe gu fommen beladet er fid) mit dem Leeren und Unbedentenden, und dariiber läuft er Gefahr die tief- liegende Wahrheit zu verlieren, worin eigentlid) alles Poetiſche liegt. Gr möchte gern einen wirfliden Fall vollfommen nade ahmen, und bedenft nicht daß eine poctifde Darjtellung mit der Wirklichfcit eben darum, weil fie abjolut wahr ift, nicht coinci- diren kann.“ Und fo erflirt denn Schiller ausdrücklich daß alle poetiſchen Geftalten fymbolifd feien und immer das Allgemeine der Menſchheit darſtellen.

Völlig zutreffend ſcheint mir was Schiller an Goethe ſchreibt, die Correſpondenz auf eine kühne Weiſe mit einer Betrachtung ſeiner und der Goethe'ſchen Natur eröffnend: „Beim erſten Anblick ſcheint es als könnte es keine größern Oppoſita geben als den ſpeculativen Geiſt, der von der Einheit, und den intuitiven, der von der Mannichfaltigkeit ausgeht. Sucht aber der erſte mit keuſchem und treuem Sinn die Erfahrung, und ſucht der letzte mit ſelbſtthätiger freier Denkkraft das Geſetz, ſo kann es gar nicht fehlen daß beide auf halbem Wege einander begegnen werden. Zwar hat der intuitive Geiſt nur mit Individuen und der ſpecu— lative nur mit Gattungen zu thun. Iſt aber der intuitive genia— liſch und ſucht er in dem Empiriſchen den Charakter der Noth— wendigkeit auf, ſo wird er zwar immer Individuen, aber mit dem Charakter der Gattung erzeugen; und iſt der ſpeculative Geiſt genialiſch, und verliert er, indem er ſich darüber erhebt, die Er— fahrung nicht, ſo wird er zwar immer nur Gattungen, aber mit der Möglichkeit des Lebens und mit gegründeter Beziehung auf wirkliche Objecte erzeugen.“ Goethe ging, um die Sache durch ein erläuterndes Beiſpiel zu beſtätigen, von ſeinen eigenen Erfah— rungen und von der wirklichen Lebensgeſchichte Taſſo's aus, aber er hob das allgemein Bedeutſame hervor und ordnete und ergänzte es zu einem Geſammtbilde, in welchem er die Tragödie der allein— waltenden Phantaſie und des in ſich webenden Gemüthslebens,

1. Die Phantafie: c. Symbol, Allegorie, Sdealbildung. 483

damit das alfgemein Menſchliche darjtellte. Auf dem umgefehrten Wege ſchuf Schiller tm Wallenjtein ein ebenbiirtiges Werk; ihm war dev Begriff des Realismus in feiner Größe wie in feinem Gegenfas zum Idealismus das Erſte, er fand in dem Heerfürſten des Dreißigjährigen Kriegs einen Triiger fiir feinen Gedanfen, er verfirperte diejen nun in den Zügen und Beftimmtheiten der Geſchichte, und lief gleihfalls das Allgemeingiiltige, das alfge- mein Menſchliche durchweg hervortreten. Shakeſpeare's Dar- ſtellungsweiſe ijt zwar individuell charakteriſtiſch, aber überall erhebt er feine Gejftalten und deren Geſchick in dads Licht der Idee.

Der Dichter iſt, nach Spielhagen's glücklichem Ausdruck, Fin— der und Erfinder in einer Perſon; alles ſcheint gegeben, nach Modellen gearbeitet, und doch iſt nichts gegeben, denn nichts kann ſo verwandt werden wie es gegeben iſt, und ob dies Phantaſie— bild das Erſte war und ſich aus der Wirklichkeit mit Realität ſättigte, oder ob der reale Eindruck die Phantaſie zur Verwen— dung reizte, beides wird Zettel und Einſchlag des Gewebes ſein. Der Dichter wählt ſchon den Stoff nicht willkürlich; ſeine eigene Entwickelung im Fluſſe ſeiner Zeit, ſeiner Umgebung, drängt ihm denſelben auf; er denkt in Formen, er ſieht den Helden mit ſeinem Geſchick, den Werther, den Hamlet; in dies erſte Bild drängen ſich die weitern Geſtalten, und er läßt ſie walten, aber prüft ob ſie in das Weltbild und wohin gehören; er ſieht das Ziel; er hat den erſten Theil des Weges klar vor Augen, das andere findet ſich. Nur arbeitet jeder echte Künſtler mit jenem Fleiß der an den Parthenonfiguren auch die Rückſeiten völlig ausbildete.

In den obigen Behauptungen unſerer beiden Dichterheroen waren zwei Worte gebraucht welche äſthetiſche Grundbegriffe be— zeichnen, Symbol und Allegorie, über die in der Wiſſenſchaft wie in der allgemeinen Bildung, unter Künſtlern und im Publikum viel Unklarheit, Verwirrung und Widerſpruch herrſcht, wie ich glaube beſonders deshalb weil man ein Mittleres zwiſchen und zugleich Höheres über ihnen nicht unterſchied und aufſtellte, ich meine die perſonificirende Idealbildung. Viſcher hat namentlich in ſeinen „Kritiſchen Güngen“ den künſtleriſchen Unwerth der Allegorie ſchlagend dargethan, aber weder dort noch in ſeiner Aeſthetik das Symbol ausreichend beſtimmt, und den Begriff auf welchen in der freien und ſelbſtbewußten Kunſt es vor allem ankommt, die perſonificirende Idealbildung von Gedanken und

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484 III. Das Schöne in der Kunft.

alfgemein geiftigen Mächten, ecigentlid) gar nicht bejproden, fon- dern die Werfe derjelben, wenn er fie berithrte, bald dem cinen bald dem anbdern jener Gebiete zugetheilt. Wir werden fehen daf fie dic fiinftlerifdye Mitte cinnimmt swifden Symbol und Alle- gorie, und daß weder Phidias nocd) Rafael, weder Homer nod Dante ridtig verftanden werden, wenn man nidt die angegebenen dret Begriffe fondert und fic) far made.

Durd) Natureindriide und Sinneswahrnehmungen kommt unfer Geijt zum Selbftbewuptfeiw, indem er fie in fic) anfnimmt und jid) von ihnen unterfcheidet; wenn er fid) äußern und andern Geiſtern mittheilen will, mu er fic) wieder der in der Natur ge: gebenen Formen und Mittel bedienen um dadurd) feine Vorftellun- gen zu cinem Sinneseindrucd fiir andere zu maden. Wir fonnten mit unferm Denken die Welt nidt anffaffen und verftehen, wenn nidt ihre Normen mit den Geſetzen unferer Vernunft Eins wiiren. Die erfannte Wahrheit löſt fiir die Sntelligen; den Gegenjab der Sdee und der Realitit, indem fie beide einander gemäß madt, indem fie in der Uebereinflimmung unferer Anfidhten mit dem Wefen der Oinge befteht. Wenn fic) Natur und Geift fiir unjere Anfdhauung verſöhnen, indem der eine in den Formen der andern flar und ganz erjdeint, fo gewinnen wir da8 Gefühl des Schönen al8 die bejeligende Empfindung der Weltharmonie, in die wir ſelber mit einbegriffen find.

Der erwadhende Geift nun entdedt in einzelnen Naturerſchei— nungen Anklänge an die nod) in ihm ſchlummernden deen, die dadurd) urjpriinglid) mit jenen verwoben find, durch fie erwedt werden und in thnen ihren erften Ausdruck finden, indem der Menſch die analogen finuliden Formen jum Ausdruck des Ge- danfens madt. Der Menſch empfindet im Licht cine wobhlthatige Macht, und wie ed die Nacht erhellt und die Dinge fidtbar wer- den Lift, ijt es cin Bild fiir das geiftige Klarwerden im Bewußt— jein; den Aufgang der Wahrheit im Gemiith bezeichnen wir als Erleuchtung, und der alte Parfe fieht im Licht den Urquell alles Guten und die Offenbarung des Geiftes der Wahrheit; der alte Athener fieht im Hellen unbefledten Aether eine jungfraulicd reine Wejenheit, die er als Göttin der Weisheit verehrt, indem er von diejem Naturgrund aus ihre Idee weiter fortbildet nad den reli- giöſen Vebenserfahrungen die ihm jutheil werden. Solche fichtbare Zeichen des Gedanfens, die ihm urfpriinglid) verwandt find und an denen er fic) entwicelt und manifeftirt, nennen wir Symbole.

1. Die Phantafie: c. Symbol, Allegorie, Idealbildung. 485

Gtwas Sinnlideds wird in da8 Geijtige erhoben, durch cin Sinn liches das Geiftige ansgedriidt, aber fo daß cin’ unmittelbar an das andere anflingt, wie das Wafer als körperlich reinigendes Element jum Symbol jittlider Wiedergeburt wird, wie das Blut der Thiere tm Opfer vergoffen ward zum Erſatz für das eigene durch die Sünde veriwirfte Leben und durd) die Weihe der Gefin- nung aud) dazu gemadt wurde, Wie der Menſch aud) ungefehen einen entlegenen Gegenſtand mittels des Geſchoſſes erreicht, jo gibt ex feinen Göttern, deren Wirken in die Ferne er erfahren ju haben glaubt, als deffen Symbol Pfeil und Bogen in die Hand. Wie das Samenkorn in die Erde gefenft wird und dann aus ihm eine neue Pflanze hervorſprießt, wie die Raupe in der Buppe erjtor- ben fcjeint und dann als Schmetterling wiedergeboren wird, fo tnüpft fid) die Unjterblidfeitshoffnung des Menſchen an diefe Naturerfdeinungen und nimmt fie zum Sinnbild. Die allerniih- rende Natur erhiclt als Diana von Epheſos viele Brüſte. Auf einem antifen Spiegel ijt Kalchas gefliigelt dargeftellt um den auf Schwingen dev Begeifterung vorwärts dringenden Sehergeift ju veranjdaulidjen, der fic) adlergleid) in cine Höhe erhebt von der er in der Gegenwart jugleid) da8 Vergangene und Zufiinftige in einem Augenblick erfaßt.

F. G. Welcker ſagt mit Recht in ſeiner Griechiſchen Götter— lehre: daß ein glücklich gefundenes Bild für die jugendliche Menſch— heit die im Geiſt aufkeimende Idee ſelbſt war, eine lebendige augenſcheinliche Offenbarung, eine Inſpiration des von der Phan— taſie erleuchteten Verſtandes, welche auf das nachmals Begriffene hindeutet, es im voraus zur Ahnung und Anſchauung bringt, ungefähr was in andern Zeiten die eigentliche Erfindung des Dich— ters iſt, in andern das wiſſenſchaftliche Apercu eines Kepler oder Newton. Das wunderfame Zufammentreffen der Naturerſcheinung und des Inhaltes im eigenen Gemiith dient gum Pfande der Wahrheit und Gewißheit. Das Symbol ift Mittel und Werkzeug jum finnlidh-geiftigen Verſtändniß der Dinge.

Mit Recht mahnt Volfelt daran daß dev lichte Menſchengeiſt ſich niemals von ſeinem dunkeln Naturgrunde losreiße, daß das ſchwankende Spiel der Stimmungen ſeine Gedanken umſchwebe; für das Geheimnißvolle, Unſagbare greift er nach Naturformen die an daſſelbe anklingen, und in Farben und Tönen, in Wolken und Pflanzen findet er für das räthſelhafte Wogen und Quellen im Gemüth einen Spiegel. Wie im äſthetiſchen Genießen ſo iſt

486 Ill. Das Schöne in der Kunft.

aud) im Schaffen das centrale Sd) des Menſchen thatig, wir fühlen uns in die Dinge hinein und madjen fie wieder zum Aus— druck unjerer Stimmungen. Das Symbolifde ift darum nidt blos hiſtoriſch yu faffen, e8 iſt bleibend; muß ja doch jedes Kind ‘pom Friſchen dic Entwicdelungsprocefje der Menſchheit durchmachen.

Das Symbol ijt nicht unfiinjtlerijd, fondern beginnende, wer- dende, nod) nidt vollendete Runjt. Das Aeufere deutet auf das Sunere Hin, e8 ijt ihm verwandt, es erweet die Ahnung deffelben, das Bild fiihrt unmittelbar zum Sinn, weil es in der Sphäre der Erſcheinung ifm analog ijt, und der Seift hat den Sinn gar nod nicht in der Form des reinen oder alfgemcinen Begriffes und Gedantens, fondern nod) vermiſcht und verfniipft mit der An— ſchauung die ihn ermedt. Das Symbol eignet der jugendliden Menſchheit wie der Mythus, in welchem auc) unmittelbar und untrennbar Sdeelles und Factijdes verſchmolzen und verwadjen find, oder nad) Otfried Müller's treffender Bezeichnung: der Mythus erzählt eine That wodurch fid) das göttliche Weſen in jeiner Kraft und Cigenthiimlidfcit offenbart, bas Symbol veran- ſchaulicht ſie dem Sinn durd einen in Zujammenhang damit ge- jesten Gegenjtand.

Dagegen hat die Allegorie cinen Gedanken bereits in der Form des Begriffs und nimmt nun einen dugern Gegenftand um jenen durch einen Vergleichungspunkt mit ihm zu verbinden; fie entzieht dem Gegenftand fein cigenes Leben um cine fremde Bedeutung in ihn Hineingulegen, die ihm nicht naturverwandt ijt, darum aud) nicht durd) die unmittelbare Anſchauung, jondern erjt durd) Re- flexion in ihm gefunden wird, und deshalb ift die Allegorie un- fiinftlerifdh, weil fie das Geiftige nicht unmittelbar im Sinnliden offenbart, jondern eS erft auf dem Umwege des Nachdentens er- rathen (apt, da fie nur gleichnipweife redct, und man das Ver— glicjene fennen muß um ju verftehen welche bejondere Seite ded Segenjtandes in Betracht fommen foll. Gedante und Crjdeinung find nicht in Eins geboren in der Allegorie, ſondern urſprünglich getrennt und nur willkürlich und äußerlich verfniipft; der Gedanfe ift nidjt die leibgeſtaltende Seele der Erſcheinung, fondern wird einem bereits fiir fic) fertigen, aber in feiner Eigenthümlichkeit abgetidteten Gegenſtand nur gleichnißweiſe wie ein Zettel angeheftet oder in ihm verſteckt.

Geben wir zunächſt ein paar Beiſpiele. Die weiße Farbe ift uns durd) die unbefledte Neinheit, mit der fie alles Licht zurück—

1. Die Phantafie: c. Symbol, Allegorie, Idealbildung. A487

wirft, das Symbol der Unſchuld, der Lauterfeit der Seele. Wenn aber Overbec auf feinem grogen Gemälde des Bundes der Kirche mit den Riinjten Rafael einen weißen Mantel gibt, nicht um die Reinhcit ſeines Kiinftlergemiiths in einer laren lichten Geftalt er- jdeinen ju laſſen, ſondern um dadurd) auszudrücken daß er dic verfdiedenen Richtungen der Malerei wieder vereinigt habe, und man in ifm wieder verbunden finde was man bei andern verein- zelt bewundert, fo hat da8 mit dem Cindrud der weißen Farbe unmittelbar gar nichts zu fdaffen; wir müſſen uns erft aus der Phyſik eriunern daß die Farben de8 Regenbogens oder Prismas wieder weif erfcheinen, wenn fie in einem Brennpunft verbunden werden, wenn man fie durd) ein Brennglas fallen (aft, und wir wiirden ſchwerlich dieje ſeltſame Beztehung errathen haben, wenn der Maler fie uns nicht in ſeinen Erläuterungen de8 Bildes ge- jagt hatte. Es ijt eine Allegovie, bet welder Begriff und Aus- drud verfdieden find, dic Erſcheinung den Gedanfen nidt un— mittelbar fiir die Anſchauung, fondern mittelbar durch die Re- flexion fundthut, oder wie das Wort Allegorie befagt: zAdro péev myoosver, GAMO SE voet, ein anderes weiß fie und cin anderes fpridjt fie ans. Gine Allegorie ift’s, wenn Vaſari den Harpo- Frates nidt blos mit grofen Augen und Oren malt, weil evr viel gejehen und gehirt habe was dod) gar nidjt nothwendig damit verbunden ift —, fondern wenn er ifm aud) cinen Kranz von Mispeln und Kirſchen auf den Kopf ſetzt, weil dies die letzten und erften Früchte des Bahres find, und hier angebradt worden um anjudeuten daß herbe Erfahrungen mit der Zeit den Menſchen zur Reife bringen. Hier fallen Bild und Bedeutung ganz aus- einander, Kirſche und Mispel gelten nicht fiir ſich, noch folfen fie durch ihr ganzes Weſen einen Gedanfen ausdrücken, ſondern ed wird nur eine Seite ihres Daſeins herausgenommen, die aber gar nicht an ihnen ſichtbar iſt, die Zeit ihrer Reife, und dieſe ſoll wieder auf eine Vorſtellung bezogen werden die ſie gar nichts angeht. Lyſippos hat die Gunſt des Augenblicks (xarpoc) ge— bildet: geflügelt, denn das Glück iſt flüchtig, das war ſymboliſch; mit flatterndem Stirnhaar, aber am Hinterhaupt glatt geſchoren, das geht ſchon ins Allegoriſche über, denn es drückt unſer Ver— hältniß zum günſtigen Augenblick aus, man muß ihn friſch er— faſſen, ſpäter läßt er ſich nicht mehr feſthalten; aber es iſt doch dieſer ſprichwörtliche Gedanke durch die äußere Erſcheinung ſelbſt veranſchaulicht. Nun gibt Lyſippos ſeinem Kairos auch eine Wage

488 IL], Das Sdhiue in der Kuuſt.

und ein Raſirmeſſer im die Hinde. Apoll fchiekt mit feinem Bogen, Zeus ſchwingt jeine Blige, Pallas fiihrt ihre Lanje, aber der Kairos will weder wägen nod ſchneiden, cr ijt fein Kramer und Bartidherer; Heide Attribute bedeuten nicht was fie find, dDienen nidt als Werkzeuge ju Handlungen des giinftigen Augen: blicks wenn er ftatt der Wage einen Loffel hatte, könnte man glauben ev wolle iiber diefen barbiven —, fondern fie follen an das griechiſche Sprichwort erinnern: daß das Glück auf der Schärfe des Schermeffers fteht, alfo feine breiteſte Grundlage des feften Standes hat, und an jenes andere von Goethe wiedergegebene: „Auf des Glückes goldner Wage fteht die Bunge felten cin! Mit Recht fagt Brunn in der Geſchichte der griechifden Künſtler: daß fold) cin Gebilde fiir die claſſiſche Beit der Plaftif durchaus frembartig fet, das Erzeugniß einer unkünſtleriſchen Reflexion, unkünſtleriſch weil fie die Formen, durch welche die Kunſt fpreden joll, zur Bezeichnung von etwas anderem misbraudt als dieſe durd) fic) felbft darzuftellen vermigen. Allen allegorijden Be- ziehungen liegt lediglid) cin Vergleid) gu Grunde; er fann geift- reid) fein, aber cbenfo oft wird ev Hinfen; auf diefem Wege ijt jtetS nur eine willfiirlide Verbindung des Innern und Aeußern, feine nothwendige, allgemein verftindlide und allgemein giiltige orm ju erreidjen. ,,Die Zeit enthiillt die Wahrheit’ ijt in der Sprade cin jymbolijd) flarer Sak. Der franzöſiſche Maler des 18. Sahrhunderts madt ifn durch bildneriſche Darſtellung ju froftig unflarer Wlegoric. Cin Greis mit dem Zeiden der Sanduhr hebt eine Dede auf, unter welder cine nadte Frau fidhtbar wird. Wir ſehen in ihr unmittelbar fo wenig die Wahr- heit wie in ihm die Beit; die Gleichgiiltigheit beider gegencin- ander läßt uns alferdings feine finnlide Lebensbeziehung zwiſchen ihnen erfennen, und fo findct das Ganze nicht durch ſich ſelbſt, ſondern erſt durch das erläuternde Wort ſeine Erklärung.

Mit Recht eifert darum Viſcher gegen die Allegorie in der bildenden Kunſt und in der Poeſie, weil in jener das Verhältniß von Idee und Bild cin blos äußerliches, durch cin tertium com- parationis vermitteltes fei, weld) letzteres bet der Vielfeitigtcit der Dinge in jedem einzelnen Falle unflar bleibe. Cr verweift auf dic abgeſchmackte Sdhilderung die der fonft geſchmackvolle Horas von der saeva necessitas entwirft, „große Balfennigel und Keile in der Hand tragend, aud) fehlt die ftrenge Klammer nidt und das fliiffige Blei“; diefe Figur, meint Vifdher, lönne ebenſo gut wie

1. Die Phantafie: c. Symbol, Allegorie, Idealbildung. 489

die Nothwendigheit aud) den Begriff de8 Zimmerer- und Maurer- handwerfs ausdrücken; er ſchlägt felber cine Frau mit der Licht— pube als allegorifde Darftellung der Aufkllärung vor. Dann zieht er aber aud) gegen alles Symbolijde zu Feld, und behauptet es fet aud) Hier diefelbe Entjeclung und Entkörperung, daffelbe blos äußerliche Sucinanderfdieben von Idee und Bild, daffelbe blos vergleidjende, dem wahren Schönen fremde Lerhiltnig beider. Aber wie fann man Idee und Bild incinanderjdieben, wenn fic in ihrer Sonderung nod) gar nidt jum Bewußtſein gefommen find, was Vijder beim Symbol gugibt, und wie finnte, was er wieder zugibt, das Volk an die Symbole, das heift an die Gegen- wart der geiftigen Wahrheit in der finnliden Hille, glauben, wie fiunten dem mythifden Bewußtſein feine Perjonen (eben, wenn jenes äußerliche Verhiltnig ftattfinde? Das Volk fieht das Geijtige in einer urfpriinglid) verwandten finnliden Erſcheinung, erhebt fid) an dieſer gu jenem, und trennt beide eben nicht; des— halb ſpricht im Symbol das Sdcale durd den äußern Gegenftand unmittelbar jum anfdauenden Gemüth, und die Phantafie ijt feine Erzeugerin, während die Allegorie ein Product der Reflexion ift und fid) an dieſe wendet, den Verftand anregt cine bereits als Gedanke fiir fic) beftehende Beziehung in die Sache hincingulegen; der Gedanke jpridjt hier nidjt unmittelbar durd) die Erſcheinung zur Anſchauung, fondern irgendeine Seite des Gegenftandes wird zum Gleichniß gemadt, da8 unjer Nachjinnen finden ſoll, oder das uns conventionell iiberliefert wird. Wir gewöhnen uns an folde übereinkömmliche Zeiden und verftehen fie bet haufiger Wiebderfehr, wenn fie aud) mit dem Wefen der bezeichneten Gade cigentlid) jo wenig zu thun haben wie der Sirohwifd) mit dem verbotenen Weg oder die ſchwarzweiße Rofarde mit dem Preußenthum. Wir gejtatten conventionell allegorijde Attribute in der bildenden Kunſt alg den Erſatz einer Inſchrift, ftatt des Rettels welder alten Gemialdefiguren am Mtunde hingt. Die Kunſt aber fteigt um fo höher je verjtindlider fie unmittelbar in der dugern Form das Sunere ausdriidt und in der Erſcheinung jelber die Idee ſichtbar madt. Dies gejdhieht durch die perjonificirende Bdealbildung, plaſtiſch durd) Einzelgeſtalten, malerifd) durd) Gruppen in beſtimm— ter Thätigkeit, didjterifd) durd) den Mythus und die ihm analoge freie Darftellung allgemeiner Wahrheiten und Geſetze in cingelnen Begebenheiten.

Die Phantafie ijt ſchöpferiſch von Haus aus; fie ijt nidt blos

490 III. Das Schöne in der Kunft.

wiederholende Spiegelung der äußern Wirklichfeit, fondern fie Eleidet geiſtige Gefühle und Begriffe in anſchauliche Formen und erhebt das Reale in fein Ideal. Aber der Geift der fic) äußerlich offenbaren will thut es nit gegen das Naturgejey und gegen die gottgewirkten Formen der Wirklichkeit, fondern in ihnen und durd) fie, ſodaß cr fie um jo klarer hervorhebt je tiefer cr die cigene Wefenheit erfaft hat und jum Ausdruck bringt; die völlige Verſöhnung und Durchdringung des Geiftes und der Natur iſt ja die Schönheit und das Werk der Kunſt. Als Erfdjeinung des perſönlichen Geiftes nun tritt uné der Leib des Menſchen, der bejeelte aufgeridjtete Naturorganisinus entgegen; in feinen Zügen pragen fid) Cigenthiimlicdfeiten de3 Charafters, in jeinen Bewe— gungen und Geberden Gemiithsregungen und Empfindungen aus. Dies erfaßt dev Plaftifer, die Selbftverleiblidung der Seele ijt die Grundlage feiner Kunft, und wo er Leben und zweckvolle Thätigkeit in der Natur fieht, ahnt ev den darin waltenden Geift; wo er im Reid) des Geiſtes das Wirken allgemeiner Mächte ge- wahrt, gibt er ifnen cine Perjintlicjfeit gum Träger, und ver- anſchaulicht fie fo gut wie jene feclenvollen Naturerjdeinungen in der Naturgejtalt des Geijtes, in der menſchlichen. Das ijt ja der Kunſt eigenthiimliches Wefen das Allgemeine zu individuali- jiren, die innewaltende unfidjtbare Kraft in einem organifd) ent- jpredjenden Leibe ſichtbar zu machen. Wie der Menſch Biirger zweier Welten, der finnlidjen und überſinnlichen ijt, hat er das Bedürfniß der Kunſt und das Vermögen der Phantafie um iiberall nicht in einer Sphäre allein zu verharren, fondern dte urjpriinglidje Ginheit beider Hervorjuheben und wiederherftellend gu genieBen, im Stoff die Form als das Maß innerlich bilden- dev Lebensfraft, und im Geift das fic) offenbarende Vermigen dev perſönlichen Verleiblidung darjuftellen. Wenn der Menſch cine Freunde empfindet, fo ahnt er einen Bringer derfelben, fagt Shakeſpeare, und fiigt hinzu:

Des Didhters Aug’, in ſchönem Wahnfinn rollend,

Blikt auf zum Himmel, bligt zur Erd' hinab,

Und wie die ſchwang're Phantafie Gebilde

Von unbekannten Dingen ausgediert,

Geftaltet fie bes Dichters Riel, benennt

Das luft'ge Nits, und gibt ihm feften Wohnſitz.

Die Belebung der Natur beginnt durch Unterfdeidung des Geſchlechts der DOinge in der Sprache, darauf hat Windelmann

1. Die Phantafie: c. Symbol, Allegorie, Sdealbildung. 491

jo gut wie Safob Grimm hingewieſen. Zu dem Geſchlecht ver- leiht dann der Geiſt den Dingen aud) Menfdjenart und Seftalt; die Sleidhartigfctt der Natur mit dem eigenen Wejen führt iu Daj, gerade dic Wejenhaftigfcit der Dinge oder Gedanten drückt cr dadurd) aus daß ev fic perjonificivt, ihnen felbftindige Geiftig- feit gibt. Aus dieſem Triebe der Perjonification ijt der Polytheis- mugs entiprungen; Welder ficht im jenem den widtigften Gegen- ftand fiir die Pſychologie dev alteften Periode der Vilfer, neben der Erjzeugung des Bildes evinnert er an die Geneigthcit dieſe Phantaſiegeſtalten gleich den Dingen felbft als wirklich anzuſehen, und evinnert an die Schauſpielerei der Kinder, welche fid) Sachen perſönlich maden und fic) cinbifden was fie wollen. „Leichte Phantafiedilder gleid) flüchtigen Geiſtererſcheinungen geben den Anlaß; allmählich bilden fie fic) beftimmter aus, verkörpern fid gewiſſermaßen. Oft und viel ſchwanken dicfe Vorjtellungen in den Gemüthern zwiſchen Bild und wirflidem Daſein, Perſon und Cade, wie 3. B. Cos und Morgenroth, werden jest zuſammen und jet gefondert gedadt. Daß die Phantafiebilder, oft bei Namen genannt, unter allen nach diejen Namen verftanden, unter— cinander bedcutjam verfniipft, bei vielen zu realen Exiſtenzen wer- den, von der Wirklichkeit der Dinge nicht mehr als bloke Bilder unterfdieden, ift vollfommen begreiflid. Verfidjert uns dod) cin wiſſenſchaftlich ausgebildeter Dichter, Klopftod, es finnen die Vor— ftellungen von gewiffen Dingen fo lebhaft werden, daß fie als gegenwärtig und beinahe die Dinge felbft gu fein deinen, und daß dem der fehr glücklich oder ſehr unglücklich und dabei lebhaft ift, ſeine Vorftellungen oft zu fajt wirklichen Dingen werden.” Ueber das Schipferijde der Phantafie tm Vergeiſtigen der Natur und Verfinnliden des Geiftes durd) die Perfonbildung hat aud) Ludwig Uhland ein claffifdes Wort gejproden: ,,Das Innere des Menſchen ftrahlt nichts zurück ohne e8 mit feinem cigenen Leben, feinem Sinnen und Empfinden getränkt und damit mehr oder weniger umgejdaffen ju haben. So tauchen aus dem Borne der Phantaſie die Kräfte und Erjdeinungen der Natur als Per- jonen und Thaten in menjdlider Weife wieder auf. Ebenſo werden aud) abgezogene Begriffe wie dic Formen und Verhiltniffe ber Zeit als handelnde Weſen geftaltet. Der Gedanke fteht nie- mals abgejdicden neben dem Bilde, wohl aber theilt er den ans der Natur und aus der menfdliden Erſcheinung entnommenen Gebilden feine eigene ſchrankenloſe Bewegung mit, und fo erhilt

492 III. Das Schöne in der Kunft.

das Natürliche, indem es theils feinen gewohnten, theils frembden und höheren Geſetzen folgt, den Zauber des Wunderbaren, die Wtythendidtung im Ganzen aber den Charafter des Tiefſinns und dev ſichern Kühnheit.“

Der Grieche fühlt Schmerz und Freude mit der verwelkenden und wiederaufblühenden Natur, er leiht ihr ſelber dieſe Empfin— dungen und ſieht im Wechſel des Jahres ein göttliches Geſchick, die Thaten und Leiden des Dionyſos, den Raub und die Wieder— lehr der Perſephone. Aus dem Naturvorgang, daß die Sonne den Froſtpanzer der Erde mit ihren Strahlen ſpaltet und fic, die Schlummernde, wad) küßt, wird der deutfde Mythus von Sieg- fried und Brunhild. Bede Weije geiftigen Lebens deren Cinheit man erfenut, wie Sugend, Liebe, Geſetz, Anmuth, wird nidt in ihrer reinen Allgemeinheit oder als blokes Pridicat genommen, joudern zu cinem Gipfel concentrirt, als Perſönlichkeit in einer entſprechenden Geftalt angejdaut. Die Liebe wird als Gros ver- fdrpert, ein jarter gefliigelter Siingling, der mit feinem Pfeil die Herzen trifft, felber ſchön ift um Licbe zu erwecken, felber in der erſten Sugendbliite fteht, und in ſüßes Sinnen verfenft den Be- ſchauer erfennen (aft daß er im cigenen Herzen von dem Gefühl erfüllt ijt weldjes er in Andern erwedt, daß cr die plaftifde Dar- ftellung diefes Gefühles ſelber iſt. So hat ihn Praxiteles gebildet, dex Torſo de8 vaticanijden Cros jeigt es uns nod) heute. An- muth cignet bejonders dem weibliden Gejdledt, fie ijt die unge- jwungene Erfüllung des Geſetzes im Trieb der Natur, das Sid: anjdmiegen der Materic an den Geijt; fo wurde die Charis weiblid) gebildet, aber nicht vereingelt, ſondern, um dies ſich hin— gebende Sein fiir Andere ſogleich ſichtbar zu maden, in cinem Dreivercin von Schweſtern die liebend fic) umfdlingen, jede cin- zelne in auffnospender Sugendlidfcit holdſelig und im reizenden Spiel leidter rhythmifder Bewegung den andern angejdloffen. Diejer Amor, diefe Grazien find feine Allegorien, denn ihre Cr ſcheinung fpielt nidt auf ctwas anderes an, fondern driidt das eigene innere Weſen klar und erfrenend aus; fie find feine Sym- bole, das Natürliche erweckt nidjt die Ahnung oder Crinnerung an das verwandte Seijtige; fie find Verfirperungen des Begriffs in angemejfener Form, ſinnlich fidjtbare Perjiulichfeiten die cin alfgemeines ideales Wefen unmittelbar offenbaren; fie find ſchön, Schöpfungen freer Phantafice, Meiſterwerle echter Kunſt.

Es war bald ſymboliſch bald mehr allegoriſch, wenn die begin—

1. Die Phantafie: c. Symbol, Allegorie, Idealbildung. 493

nende chriſtliche Kunſt den Heiland durd) das Bild des Orpheus, des guten Hirten, de8 Opferlammes mit der Siegesfahne dar- ftellte, den Gekreuzigten durd) das Kreuz repriifentirte, und Gleid)- niffe der Heiligen Sdhrift zum Ausgangspunkt nahm um durd dic Aufzeichnung der Naturgegenftiinde anf das mit ifnen Ber- glichene ans dem religiöſen oder fittlidjen Gemiithsleben hinzu— deuten. Go ward der Hahn das Bild chrijtlider Wachſamkeit, mehr ſymboliſch, während der Hirſch mehr allegorijd) an den Spruch evinnerte dag die Seele nach dem Herrn fich fehne wie der Hirſch nad) der Quelle des frifden Waffers. Die Anfänge der Sdhrift waren Bilder, die Bilderſchrift fonnte nicht blos MNaturdinge abbilden, fie mute and) Gedanfen ausdrücken, einen eigenen Sinn des Geiſtes durd) das Bild darftellen, da8 damit jum Cinnbild oder Symbole ward, gerade wie das Sinnliche des Worts vom Geijtigen durddrungen, da8 Geiftige in ihm aus— gejprodjen wird. Wir müſſen es bewundern wie finnvolf und phantaſiereich Aegypter und Chinejen in dicfer Beziehung ver- fahren find, indem fie da8 Wortbild ans dem Gebiete de8 Tons in das Gebiet der Form iibertrugen. Go bezeichnen die Hiero- qlyphen den Honig durch ein Gefäß mit einer Biene dariiber, den Durft durd cin Kalb neben dem Wafer, da8 Gute, Schöne durch cine Leier al da8 Suftrument der Harmonic, da8 Oeffnen durd) eine Thiir, die Gerechtigheit durd) cine Elle, da fie das redjte Mak gibt; zwei abwehrend ausgeſpreizte Arme verneinen eine Sache, ein Auge und zwei vorſchreitende Beine bejzeidnen die nad) augen geridjtete Thitigfeit. Noch heute ijt uns die Schlange welde fid) in den Schwanz beift als cin in “fic) geſchloſſener Kreis das Symbol der Unendlidfeit der Beit, der Ewigkeit.

Sn der chriſtlichen Kunſt gingen die Moſaiken weldje den Typus Chrifti und der Apoftel feftftellen, die mittelalterlichen Maler die denjelben zur freien Schinheit durdbildeten, fie gingen jage ich, über das Symbolijde und Allegoriſche hinaus und er- öffneten die Pforte ciner nenen Sdealgeftaltung. Go gab aud) die helleniſche Plaftif erſt feit Phidias die Idee de8 Gottes in einer iy entfpredjenden Geftalt; vorher machte man die heiligen Bildfiulen fenntlid) durd) fymbolijdes Beiwerf, durch conventio- nelle Attribute, ſodaß fie den Gedanfen mehr andenteten und erwedten als wirflid) veranfdaulidten. Dies letztere that zuerſt Phidias und fein Genius wies der Nachwelt den Weg. Wer in der Runft anf jenen Realismus dringt der nur die Aukenwelt

494 III. Das Schöne in der Kunft.

abbifdet und die Geftaltung der Idee verſchmäht, der erniedrigt fie zur blofen Copiftin, und wenn man heutzutage die Ideen— gejtaltung bei Raulbad) durch da8 Stichwort der Gedanfenmalerei meinte abfertigen ju können, fo fonnte darin mur die Gedanfen- fofigfeit fid) einen wobffeilen Triumph bereiten; alte lederne Hoſen, AWlltagsgefidhter und Steine abzuconterfeien oder die Miſere des gewöhnlichen Thuns und Treibens, das Cinjtecen filberner Löffel und das Pfänderſpiel auf dic Biihne zu bringen wäre danach das Riel der Kunſt; e8 wiire ihr Ende! Wer jenem fale ſchen RealtSmus Huldigt der habe den Muth die griechiſche Plajtif zu verwerfen.

Freilich muß der Gedanke in der Kunſt durch Geſtalten oder Handlungen ausgeprägt werden; der geiſtige Begriff verlangt Ver— körperung, das Wort will Fleiſch werden, die Menſchwerdung ijt der Wille des Gottliden. Der Künſtler darf dabei nicht willfiir- lid) verfahren, er mug mit offenem hellem Auge erfennen tn wel- hen Formen die Natur den Sinn ihrer Geſchöpfe ausprigt, in welden Formen der mannicdfaltigen Menfdhenleiber fid) Charafter- eigenthümlichkeiten oder Seelenridjtungen deutlich ansfpredjen. Wie die Natur das Cingelne dem Ganzen und das Ganze dem Ein— zelnen fo gemäß macht daß man nad) einem einzelnen Glicd den Sefammtorganismus conftrniren fann, fo hebt der Künſtler den Theil oder die Form der Natur, weldje der darjzuftellenden Adee gemäß ijt, rein heraus, und madjt dies zum herrjdenden Princip der Gejtaltung, indem er alles Gleichgiiltige oder Zufällige ans- {heidet und alle iibrigen Formen und Theile fo bildet daß fic jenen Grundzug fortſetzen und fic) organiſch ifm anſchließen. Go {chafft cr cin Neues, über die Natur Hinausliegendes und doch ihrem Gefes Gemäßes, und das im Geift gefdaute Sdeal erhilt die Wusjtattung der Lebenswirflidfeit und objectiven Wahrheit. Dadurch erfannte Griechenland im Zeus und in der Pallas Athene des PBhidias, in der Aphrodite des Praxiteles und dem Apollo des Sfopas die Verfirperung der religidjen Bdeen, die es im Walten diejer Gottheiten verehrte, und darum erfennen wir aud) nod) heute den Hermes im Unterjdiede vom Bacdos, die Suno im Unterfdied von der Venus, weil die Folgezeit die einmal vollendete Sdealbildung als Grundlage und Typus bewahrte. In unjerer Zeit verdanfen wir Thorwaldjen’s Meißel einige folder Schöpfungen, 3. B. die Reliefs von Nacht und Morgen. Michel Angelo ſchuf die Statue der Nacht fiir die Mediceergriiber,

1, Die Phantafie: c. Symbol, Allegorie, Sdealbildung. 495

eine grofartige ganz in Gram verjunfene Gejtalt; fie ward ifm zugleich das Symbol fiir Florenz, die geliebte Vaterftadt, die ihre Freiheit verloren, und der ganze Schmerz feiner edlen Seele ift in ihr ju Stein geworden. Wer will da von froftiger Wlle- gorie reden?

Aber aud) der Maler fucht mit dem Bildhauer zu wetteifern, und wiewol jener vornehmlic) die Wechfelwirfung der Menſchen untercinander und mit der Natur darftellt und durch cinen Reich— thum von Figuren und durd Handlungen das Seelenleben offen- bart, jo unternimmt er es dod) aud) in Cingelgeftalten und deren ruhigem Sein die Totalität eines in ſich gejdlofjenen Charafters zu veranſchaulichen, wenn er auch foldje Geftalten nidjt von alfen Seiten zeigen fann, während died Gade der Sculptur ijt, die aber aud) ihrerſeits in Gruppenbilbung und Relief der Malerci zuftrebt. Und wer hätte Diirer’s Melandjolie gefehen ohne daf ihre individnelle ausdrucksvolle Lebendigkeit fid) ihm fiir immer eingepriigt? Wie ſchwermüthig finnend fit die gefliigelte hohe rau, da8 Haupt auf den linken Arm geftiigt, den Zauberftab in der Redjten, unter ihrem Geriithe der Forjdung, wihrend draufen die Abendjonne ins Meer finft! Der fauſtiſche Orang, die Sehn— ſucht nach dem Unendlidjen und jugleid) das Gefühl vom Unver- migen des Brdifden, von der Unzulänglichkeit der Menſchenkraft bejeelt die ganze Seftalt, in welder das Kaſſandrawort verfirpert erjdjeint: Wer erfrente fic) des Lebens der in feine Tiefen blickt? Gin Maler der zugleich Bildhaucr war und die Bildhanerei als feine eigentliche Kunſt eradjtete, Michel Angelo, hat das Hidhfte erreidjt in jeincn Gibyllen und PBropheten an der Decke der Six— tinijdjen Rapelle in Rom. Es find mächtige Geftalten, von einer iiberwiltigenden Hoheit des Geijtes erfüllt und befeclt, ſtark genug um den Schmerz der Menjdheit zu tragen, grok genug um fid liber die Sdhranfen des Raumes und der Beit ju erheben. Diefe Delphierin in ihrer helleniſchen Schinheit, im Adel ihres urbild— lichen Gliederbaues, wie ift fie des Gottes voll, deffen Begeifte- rung aus ifrem Auge ftrahlt und iby cinen überirdiſchen Aus— dbrud verleiht! Diejer Jeſaias wie verftindnigfinnig lauſcht er den Offenbarungen des Engels von einem jufiinftigen Heil! Diefer Ezechiel wie ſchaut er hochentzückt nad) dem Geſicht das der Herr ihm fandte, das unjern Augen verborgen bleibt, aber auf jeinem Antlitz widerleudtet, und ifn mit Chrfurdt und Be- jeligung zugleich in alfen Nerven durchſchauert!

496 III. Das Schöne in der Kunft.

Wer neben diejen Mann fid) wagen darf Verdient flir feine Kühnheit ſchon den Kranz!

Und Cornelius und Kaulbach diirfen es in diefer Hinfidt. Ich erinnere an die fieben Celigfeiten welche Cornelius fiir den Sampo-Ganto in Berlin entworfen hat. Zwiſchen die Bilder die in bewegten Handlungen die Schrecken des Todes und Chriſtus als Gieger über den Tod zeigen, reiht der Künſtler als Ruhe— punfte de8 Gefühls und Gedanfens finnvoll die Darftelfung derer dic Chrijtus im den fieben erften Sprüchen der Bergpredigt jelig preift; bet den meiften ijt e8 ihm gelungen den tief empfundenen Begriff in villig zuſagender Form treffend zu veranſchaulichen. Weld) cin weider Flug der Linien umfdjreibt die Geftalt des Sanftmiithigen, und wie edel im Gram, wie wiirdevolf in der Trauer erjdjeint die Leidtragende, da fie den Troft der Gott- ergebenheit in fic) hat! In fich felbft erhoben und befriedigt ift die Barmbherzige, aber voll inniger Hingabe an andere, indem fie in der emporgehobenen Linfen einem Mädchen die Trinffdale reicht und mit gefenfter Redjten das Fiillhorn voll Friidte einem Rnaben in den Schos gieft; das Ganze jzugleid) cin Muſter glücklichſter Raumerfüllung durch cine im RHythmus einer un- unterbrodjenen Linie fic) anfbauende Gruppe. Die Arme an Seift hat die Hinde in den Sehos gelegt wie gum Almoſen— empfangen, aber der Blic ijt mit rührendem Vertrauen nad oben gewandt, woher alle gute und vollfommene Gabe fommt; das Ganze cin Bild heiliger Ginfalt. Die nad) der Gerechtigfeit Hungernde und Dürſtende ift in (ebhafterer Bewegung ganz zur Seite gefehrt und Hat die Arme erhoben voll fehnfiidtiger In— brunft nad) dem Quell des Heils; die durd) da8 reine Her; Be jeligte hat die Hinde yu beiden Seiten des Körpers ruhig aus— gebreitet, fie bedarf und verlangt nidjts mehr in der Wonne des Gottſchauens, es tft als ob fie in edelfter Anfridtigfeit, die nidts au verbergen braudjt, ifr ganzes Weſen vor uns erjdliffe.

Su ähnlicher Weife werden die Bilder welde den Entwicke— lungsgang der Weltgejdichte darftellen (im neuen Muſeum ju Berlin) durch Kaulbach von einzelnen Geftalten eingerahmt, die theils grofe Geſetzgeber und Staatengriinder, theils die in der Geſchichte waltenden Culturmidte veranfdauliden; denn daß alle Geſchichte ihrem Kern, Werth und Weſen nach Culturgeſchichte ijt, Hat der anf der Hohe feiner Zeit ftehende geniale Künſtler ridtig

1. Die Phantafie: c. Symbolif, Allegorie, Idealbildung. 497

erfaßt; er hat ridjtig erfaft daß leitende Sdeen den Charafter der Völler und Sahrhunderte beftimmen und die Seele der epodje- madenden GEreigniffe find, und daß die edhte hiftorifde Malerei vor allem die ewige Bedeutung und den alfgemeingiiltigen Ginn der Begebenheiten ergreifen und in ihnen ausprägen mug. Go bildet er die Sage und Gefdidte, die Runft und die Wiffen- ſchaft. Die Muſe der Gefchichte hat ſchon durd) die Griedhen ihre Darjtellung gefunden, der deutſche Meiſter hat in der Be- wahrung der klaren und edelſchönen Formen des Hellenenthums gugleid) die verftiindig flare Tageshelle des eigentlich geſchicht— lidjen Lebens ausgedriidt, wihrend die Sage, ganz feine eigene Schöpfung, in der Morgendimmerung der Zeiten webt und wirft. Mit kühnem gliiclidem Griff hat ihr Kaulbach das nordiſche Gepräge verliehen, die dämoniſche Grife der altgermanifden Didtung fdeint in ihr verfirpert; ein Rieſenweib figt fie auf einem feltijdjen Hiinengrab, den Stab in der gejenften Redhten, den linken Arm mit dev ausgebreiteten Hand vor fic) hingeftrectt, das Haar theils unter dem Halſe gujammengefniipft, theils um Stirn und Antlig von innerer Erregung wie eleftrijd) aufwogend, ja man möchte fagen anfflammend, die fehr ftarf mobdellirte Stirn fenft fic) tief Herab mit den Brauen, an die das weit- gedffnete Auge nahe heranreicht, das Weiße fidjtbar unterhalb der Pupille und des Augapfels. Odin's Raben bringen ihrem Ohr geheimnifvolle Kunde, e8 ijt alS ob Weltaufgang und Welt- - untergang mit ifren Schauern vor ihrem Blick voriibergzigen. Das mächtige Bild wird von Candelabern eingerahmt, an denen jid) die Sagen von Siegfried und Brunhild im heiteren Spiel charafteriftijder Figuren aufbauen, jugleid) eine Verfinnlicdung wie Gittermythe, Heroendidjtung und Kindermärchen auseinander hervorwachſen.

Von den beiden Geſetzgebern des Alterthums, Moſes und Solon, vertritt der eine den orientaliſchen Charakter religiöſer Offenbarung, der andere vollzieht ein Werk menſchlichen Forſchens, Sinnens und Selbſtbeſtimmens. Solon iſt einer der Weiſen Griechenlands, er trägt darum die griechiſchen Züge, er hat die Beine übereinandergeſchlagen, den Elnbogen darauf geſtützt und das Kinn auf die Hand gelehnt, hinabblickend in ernſtem Nach— denken auf die Tafel die er in der Linken hält; man wird an den Anfang der Sprüche erinnert in welchem Walter von der Vogel— weide ſein eigenes Sinnen über den Lauf der Welt ſo deutlich

Carriere, Mefthetif. J. 3. Aufl. 32

498 Il. Das Schöne in der Kunft.

gezeichnet hat. Moſes halt in bewegtercr Stellung die Geſetzestafeln empor; er trigt den femitijden Typus; es waltet etwas Ekſta— tijdes in ihm, feine Lippe ſpricht da8 Herrſcherwort gebietender Autorität. RKaulbad hat es mit Recht nicht vermicden an den gewaltigen in Stein gehauenen Moſes Michel Angelo’s anju- fniipfen, aber die heftig bewegte Geftalt des Bildhauers ijt mehr malerijd, wihrend das Werf des Malers mehr die fid) felbjt be- herrjdende Wiirde monumentaler Plafti€ zeigt. Michel Angelo’s Moſes gleicht feinem Urheber; er ift im Begriff fic) mit zürnen— der Leidenjdjaft ju erheben um die Gefegestajeln vor dem unwür— digen Volfe zu zertrümmern; Kaulbach's Moſes hat den linken Fuß bereits ſiegreich auf das goldene Kalb geſtellt, und weiſt das Volk auf das Geſetz des Geiſtes hin.

Viſcher nennt das einfache Hinſtellen einer Einzelgeſtalt außer— halb des Porträtzweckes ſtreng genommen unmaleriſch; ich nannte es weſentlich plaſtiſch; aber wenn beſonders das innere Leben in ſeiner Seelentiefe und Geiſteskraft charakteriſirt wird, ſo iſt die Malerei zum Wettkampf berufen. Der genannte Aeſthetiker mag ſelber ſehen wie er angeſichts der Kaulbach'ſchen Geſetzgeber, der Michel Angelo'ſchen Propheten, der vier Apoſtel Dürer's ſeine Behauptung rechtfertige, dak das porträtartige Hinſtellen einer Figur, das doch nicht Porträtzweck hat und nicht auf dem Wege des Porträtirens zu Stande gekommen iſt, ſondern zur hiſtoriſchen Gattung gehören ſoll, einem vollen Hieb ins Leere gleiche; mir ſcheint daß der Künſtler etwas echt Künſtleriſches, treffend Treff— liches leiſtet, wenn es ihm gelingt uns einen hiſtoriſchen Charafter, deſſen Züge nicht überliefert ſind, ſo darzuſtellen daß der Geiſt deſſelben fic) im von ihm gebauten Leibe deutlich verfiindigt. Er— freuen wir uns nicht alle der Büſte Homer's, der doch keinem der alten Künſtler zum Porträtiren geſeſſen hatte? Aber ein großer Meiſter erzeugte ſich innerlich aus den Werken das Bild von der Perſönlichkeit des Sängers, und als er daſſelbe dem Marmor eingeprägt, da erkannte Griechenland das Zutreffende der Züge, und die folgenden Künſtler hielten ſie feſt; auch hier war eine perſonificirende Idealbildung gelungen. Viſcher kam zu ſeiner An— ſicht, weil er gegen Symbolik und Allegorie ſtreitet ohne den Be— griff ideeverkörpernder Perſonbildung gefaßt zu haben, und dieſer Mangel treibt ihn einem äußerlichen Realismus und Materialis— mus in die Arme; wenn die philoſophiſche Weltanſchauung der Aeſthetik nicht bei dieſem anlangen ſoll, muß ſie Gott in der

1. Die Phantafie: c. Symbolif, Allegorie, Sdealbildung. 499

Natur und die Natur in Gott auffaffen und einen felbftbewuften Geift alg Quell des Lebens und Princip feiner Formen er- fennen.

Das Wefen der Malerei befteht darin das Leben in feiner Bewegung, die Charaftere in beftimmten Handlungen, die Wechſel— wirkung der Individuen untereinander und mit der Natur darzu— ftellen; an die Stelle der Einzelgeſtalt, die fic) felbft genug ijt, tritt die Gruppe, deren Glieder auf cin gemeinjames Centrum bezogen find, fet es daß fic einen Zuſtand oder eine Begebenheit veranſchaulichen. Auch Hier fann die beginnende Kunſt jymbolifd, die alternde allegorijd) verfahren, die volfendete aber ftellt wahre und bedeutende Gedanfen in entſprechender Weiſe finnenfillig dar. Der gute Hirt, der das Schaf aus den Dornen löſt, ift ein Sym— bol der jeelenrettenden erlöſenden Thätigkeit des Heilandes; Chri- ſtus im cine Relter gezwängt, ſodaß ftatt des Weines Blut in die Kelche aus ſeinen Händen träuft, ift cine widerwiirtige WAllegorie des Spruches, in welchem er fic) mit dem Weinftod, die Biinger mit den Reber vergleidjt, und der Cinfegungsworte des Abend- mahles, wo er den Wein jum Symbole feines Blutes madt, und jymbolifd) durch da8 Trinfen feines Blutes die innigfte Lebens- gemeinjdjaft bezeichnet. Betrachten wir dagegen Rafael's Sijti- niſche Madonna. Sie ijt die Triigerin Chriftt als des fleifd- gewordenen Wortes; in dem Rinde felbjt ift das Kindliche mit tieffinnigem Ernſt und gottlider Hoheit wunderbar verſchmolzen, und Maria ijt verflirt dadurch daß fie das Heil in fic) aufge- nommen, fie ijt das Bild der in der Gottedsliebe befeligten Men— ſchenſeele. Unter ihr jdweben zwei Rinderengel; ju ihren Seiten niet eine Sungfrau und ein Mann an der Schwelle des AUlters; der Ausdrud der Unfdhuld, der Sugendwonne des glinbigen Ge- miiths, des männlichen Geiftes welder in der Arbeit des Denfens und Wollens fic) der göttlichen Gnade bereitet, ijt in dieſen Ge- jtalten flar ausgeprägt, fie find alfe auf Chriftus als den Mittel— punft des Ganjen bezogen, da8 Ganze ijt ein Bild der Weihe und Berflirung des Lebens durd) Chriftus, durch die Religion. Iſt ed cin Symbol? Nein, denn die Erjdheinung weift nicht auf einen Hiheren Sinn blogs hin, jondern drückt ihn felber deutlid) aus; fie drückt ifn unmittelbar aus, fie meint nidts anderes, hat nichts anderes im Hintergrund als die Sdee weldhe in ihr fidtbar wird; das Bild ift alfo auch feine Allegorie. Es ift ein Bdeal, ver- wirflidjt durch eine maleriſche Gruppe.

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500 III. Das Sdhine in der Kunft.

Der dichteriſche Scher der Apokalypſe verfdrpert den Krieg und den Hunger, die Peft und den Tod in vier Reitern, die ver- Heerend und niederfdjmetternd iiber die Erde dahinbraufen; Diirer und Cornelius haben fie gezeichnet; in der Wucht ihres Cindruds beweift diefe freie Phantaſieſchöpfung ihr Recht. Betradten wir Rafael's Sdule von Athen: auch fie ijt weder ſymboliſch nod allegorijd), denn die hier vereinigten Weifen wollen nidjts anderes alg ihr geiftiges Sein und Thun veranfdauliden, und fie driiden es jelber in ihren Geftalten und Handlungen aus; fie ift eine maleriſche Sdealbildung, die Darſtellung des philojophifden Lebens in feinen verfdiedenen Stufen durd) finnvoll charakteriſirte Grup— pen griechiſcher Forſcher und Denker, die fid) hier gu einem Gan- zen ordnen, nidjt wie fie einmal in einer Halle auf Erden ver- einigt waren, fondern wie fie im Pantheon de8 Geiftes ewig vereinigt find. Betradten wir Kaulbach's Homer. Die Aufgabe war eine Darjtellung der ſchönen Culturbliite Griedenfands. Der Maler erfannte daß die erſte melodijde Stimme derfelben der Geſang Homer's war, dak diefer die ganze folgende Geſchichte durchklungen hat, dag die olympifde Götterwelt durd) ihn den ſchönen Ausdruck fiir die volfsthiimlide Religion fand, und fo zeidjnete er uns in Homer nidjt blos den lautenſchlagenden Dich— ter, fondern den Ausgangs- und Meittelpunft der helleniſchen Bildung. Homer fandet die Leier fpielend an der griedhijden Riifte; am Strand ſitzen griechiſche Männer, unter denen wir Aeſchylos und Sophofles erfennen, die ihre Tragödien Brojamen jeines Göttermahles nannten, andere Didter und Denfer, ein Herodot und Pythagoras, find ihnen gefellt; Solon und Iltinos, der Grbauer des Parthenons, ftehen hinter ihnen. Den Kahn Homer's fteuert eine tieffinnige ernfte Frau, cine der Sibyllen; Nereiden mit Schwänen ſcherzend umgaufeln ihn, Thetis folgt ihm mit der Aſche des Achillens. Im Hintergrund vom Beſchauer rechts tanzen Siinglinge cinen Waffentan; um den brennenden Opferaltar, und über deffen Dampfwolken thronen die olympifden Gitter; ihren Reigen fiihrt Eros mit den Grazien, Apoll mit den Mufen, auf einem Regenbogen ziehen fie cin in den nenerbauten dovifden Tempel, der das Bild zur Linken begrenzt. Vor dem Tempel Hat Phidias an einer Marmorſtatue gearbeitet, fic) aber eben der Erſcheinung der Gutter zugekehrt; war es dod) fein Ge- nius der die Bhantafiegeftalten Homer's in Gold und Elfenbein ausprägen follte guy Unbetung des AUlterthums, zur Berehrung

1. Die Phantafie: c. Symbolif, Allegorie, Idealbildung. 501

und Bewiunderung aller Zeit. An der Sehwelle des Tempels grabt Bais die Weiffagung von der Schlacht bei Salamis cin; die Griedjen felber fahen in den Perjerfriegen die Fortſetzung und Vollendung des erften Zuges gegen Aſien, gegen Troia, dev erften Nationalthat, durd) die fie ihr volfsthiimlidkes Selbſtbewußtſein und dann durd) Homer die Grundlage ihrer Kunſt und Bildung gewonnen. Dies febtere ijt eben der Gedanfe des Bildes, den der Maler finnvoll und vielfeitig veranfdaulidt hat. Die Men- ſchen erfdjcinen hier, wie anf allen großen Bildern des Meiſters in weldjen er weltgeſchichtliche Creigniffe darftellt, in ihrer perfin- iden Eigenthümlichkeit und Lebensfülle zugleich als Culturtriger, als Reprifentanten ganjer Weltalter, ich erinnere nur an die drei Gruppen dev Völlerſcheidung, wo die Stammoiiter der Raffen zugleich wie Perjonificationen von der Sitte und dem geſchicht— lidjen Geifte der Semiten, Hamiten und aphetiten auftreten. So find Fanjt und Helena in Goethe’s Dichtung (ebenswirflide Sndividualititen und zugleich die Reprajentanten der Vermählung des antifen Griechenthums mit dem germanijden Mittelalter; aber fie find nicht Allegorien, fondern Verfirperungen eines geſchichts— philoſophiſchen Gedanfens; die Bhantafie einer grofen dichte— rijden Perſönlichkeit hat hier daffelbe gethan und hat daffelbe Redht wie die Phantafie des gejammten Volksgemiiths in der Mythenbildung.

Bei aller beredhtigten Abneigung gegen WAllegorien, die nicht zur Anjdjauung und Empfindung reden, fjondern dem Verftand etwas gu rathen geben, fann aud) unfere eit der Germanien und Victorien, der Muſen und Amors nicht entbehren. Es gilt eben fie ausdrucksvoll zu geftalten, die in ihnen waltende Seele in den Formen erſcheinen zu laſſen. Hermann Grimm, als Didter und Kunftfenner bewährt, hat Perfonificationen und Symbole bei Dante und Michel Angelo erirtert; Dante befingt cine Geliebte in einer Ganjone, die er felber auslegte und anf die Philoſophie deutete; als cine vervehrte Frau, die ihnen Leid und Luft gewährt, die fie gu gewinnen Hoffen, iiber dic fic trauern, daun wieder als Sonne begriifen fie ihr BVaterfand, Florenz. Grimm ſchließt daran folgende vortreffliche Betradjtung:

„Als Napoleon auf Sanct Helena geftorben war, durchſchauerte die Welt eine Erinnerung feiner voriibergegangenen Größe. Die zwanzig Jahre jeiner Macht waren faft cin Sahrhundert fiir fic, das nun abſchloß. Wan fah auf ihn zurück wie auf etwas längſt

502 Ill. Das Sdhine in dev Kunſt.

Vergangences. Man fafte mit einem Gedanfen nod) einmal alle die Erwartungen, die Bewunderung, die Furdt, den Hak und bas Mitgefühl zuſammen das er erregt hatte, und Manjoni’s Ode (von Goethe und Hebfe iiberjest) jprad) den Zuſammenklang diefer Empfindungen aus. Was enthalt dieſes Gedidt? Nicht eine Silbe Detail oder Chronologie oder Erzählung. Nur Ge- fiihle, abgeriffene QBetradjtungen, cin wehmuthvolles Urtheil. Weder Napoleon’s Name, nod) Paris oder Franfreid) werden darin genannt. All das verfteht fic) von felbft. Das was dem Dichter allein wichtig {djeint der ungeheuern Erſcheinung des Mannes gegeniiber ift- die Darlegung der Empfindungen ciner Generation der es bereits mythifd) geworden war. Und dod) enthilt die Ode den ganzen Napoleon und alle feine Thaten, die eingeſchmolzen aber gleichſam in neue menjdlide Formen gebradt nicht mehr gemeine Achnlidfeit mit ihrem Urbilde zur Schau tragen, fondern den Begriff Napoleon wie in einer Perfonification darbieten.” Wenn id) cinen Band meines Kunjtbuds mit Hellas und Rom bezeichnete, fo fate id) in beiden Werfen den Gefamme- cindrud jujammen den die Bildung und die Thaten beider Völker madjen, und fo perfonificirte fid) der allgemeine Begriff oder die Totalanfdhauung ganz unwillfiirlid. Wenn wir Hellenen fagen, bemerft einmal Welder, fo nähern wir uns in der BVorjftellung cinem Sndividbuum, in dem wir das Eigenſte, Hervorſtechende, Bleibende Hervorheben und verbinden. Cr, der Hiftorifer, nähert jih einer Anſchauung, zu welder der Künſtler fortſchreitet, wenn er nun Hellas in finniger Anmuth, Rom in ftoljer kriegeriſcher Wiirde frauenhaft geftaltet. Als Markos Bokaris gefallen war und fein Heldentod die Theilnahme Curopas fiir das fid) erhebende Griedhenland in cinen Brennpunkt jammelte, da erwadjte in David d'Angers' Phantafie der Gedanfe dem Todten cin Grabmal ju erridjten. Grimm fart fort: „Sein ſchönſtes Werk ijt fo ent- jtanden, ein Griedenmidden da8 auf dem Grabjtein des Helden fiegend mit dem Griffel den Namen Bogaris darauf fdreibt. Cin Abbild de8 nad) Sahrhunderten wiederaufbliihenden Volfes wollte der Bildhaucr geben: halb kindlich nod) in den unverhiillten For- men aber mit gedanfenjdwerer Stirn; nadt um die Hiilflofigtcit des jugendliden Volkes anzudeuten; nod) unfertig gleichſam, aber alles verfpredjend fiir die Zukunft: jo jagt der Künſtler habe er Griedenland darjtellen wollen. Nicht cine officielle Perfon in Geftalt einer conventionellen Gräcia follte geſchaffen werden, fon-

1. Die Phantafie: c. Symbolift, Allegorvie, Idealbildung. 503

dern cin Bild deffen was dic Begeifterung des Augenblids in der Seele des Meiſters Hhervorgerufen hatte. Go and ftand Dante und Michel Angelo der Inbegriff deffen vor der Seele was Florenz ifnen war. Nur zuweilen in menſchliche Formen eingehiillt, eine Fran, eine Geliebte. Go denen wir auc) heute. Unfere offictellen gegoffenen oder gemeifelten Germanien, Boruffien, Bavarien, mögen fie nod) fo ſchön oder foloffal fein, werden mit unferm patriotifden Gefühl meijt mur wenig ju thun haben. Wir jehen dergleiden nidjt vor uns, wenn wir das Vaterland anveden. Trotzdem können wir den Begriff des perfonificirten Vaterlandes nicht entbehren.” So Leopardi in feiner Ode an Stalien:

Mein Vaterland, ic feh’ dte Mauern ragen, Die Bogen, Säulen, Bildniſſe, dte leeren Thiirme der Väterzeit,

Dod) feh’ ich nicht den Ruhm,

Den Lorber und das Schwert, das fie getragen Die grofen Ahnen. Machtlos did) gu wehren Mit nacdter Bruft und Stirne trägſt du Leid. Weh, welche Wunden feh’ id

Und Todtenblaffe! Muh ich fo dich fchauen, Du aller Frauen Sdhinfte? Sagt, o fagt, Gud), Erd' und Himmel fleh’ id:

Wer hat ihr das gethan? Und wer o Granen Belaftet ihr mit Ketten beide Arme,

Daß fie geldften Haars, von Gram jernagt

Am Boden liegt, verlaffen, ſchleierlos,

Und ihr Geſicht, die Arme,

3m Sdofe birgt und weint?

Sa, wein’, Stalien! Du Haft Grund gu weinen; Dir fiel das herbe Loos

An Gliid und Elend unerreicht zu ſcheinen.

Der Dichter beginnt mit realen Anſchauungen: das Land bedect von den Ruinen und ruhmvollen Grinnerungen des Wlterthums liegt bor ihm ausgebreitet, Staliens Geſchicke ſchweben in großen Bildern ihm vor Augen voriiber, plötzlich redet er es als Fran au: wer hat div, ſchönes Weib, das angethan? Der bloke Be- griff ftryftallifirt in einem gegebenen Momente begeifterter An- ſchauung ju menſchlicher Geftaltung. Gewiß. Und darum follte Grimm nidt von Allegorie reden, follte mit uns befennen daf es ein höheres Drittes gibt als fie und Symbol, die edjte

504 III. Das Schöne in der Kunſt.

künſtleriſche Perſonification, die aus der Innerlichkeit der Em— pfindung Form und Geſtalt gewinnt und mit lebendigem Ausdruck jedes empfängliche Gemüth unmittelbar anſpricht.

Man kann im weitern Sinne mit Goethe das die wahre Sym— bolik nennen „wo das Beſondere das Allgemeine repräſentirt, nicht als Traum und Schatten, ſondern als lebendige augenblick— liche Offenbarung des Unerforſchlichen“. Dann ijt die Scene der Ofternadt in feinem Fauſt cin Symbol fiir die troftreide Macht der Religion, fein Taffo ein Symbol fiir den Idealismus ded Gemiiths wie fiir Goethe’s eigenen Kampf jwifden Weltmann und Dichter. Dante erfdeint in der Géttlidjen Komödie als diefer beftimmte Staliener mit feiner Liebe und feinem Haf, feinen po- litiſchen und religiöſen Anſichten, feiner Feuerſeele, und ijt zugleich Repräſentant der Menſchheit, wie ſie aus der Nacht der Sünde und Gottesferne ſich läutert, und verſöhnt zur Beſeligung der Wahrheit und des Guten kommt. Beatrice iſt keine Allegorie der Theologie, ſie iſt dazu viel zu lebendig individuell, und das Ge— fühl des Dichters für die Geliebte bricht viel zu innig hervor wie er ſie anſchaut oder von ihr redet; ſie iſt dieſe ſchöne früh verſtorbene Florentinerin, aber zugleich das Symbol der in Gott verklärten Seele, die dem Dichter nun die Wahrheit und Gnade Gottes ſelbſt entgegenſtrahlen läßt, ihn leitet in der Führung zum Heil, was die Religion für die Menſchheit thut. Vergil iſt der römiſche Dichter, aber als der Sänger vom Weltreich zugleich der Vertreter der menſchlichen Vernunft und Thatkraft in weltlichen Angelegenheiten, hier Dante's Leiter. Das Kunſtwerk regt den denkenden Geiſt zu Gedanken an, die in der Seele des Künſtlers vorhanden waren, die ſein Werk umſchweben und unausgeſprochen aus demſelben hervorblicken. Alle echte Kunſt ijt Darſtellung all- gemeiner Ideen in ſinnenfällig individuellen Formen und Geſtalten.

d. Sprach- und Sagenbildung.

Die Phantaſie iſt eben ein Beſitzthum der Menſchheit, und erſcheint als ſolche nicht blos in der Empfänglichkeit und im Genuß des Schönen, die immer ein Nacherzeugen ſind und auf der ge— meinſamen Weſenheit der menſchlichen Natur beruhen, ſondern aud) als gemeinſame Volksthätigkeit in der Spraden-, Mythen— und Sagenbildung. Sie gehören allerdings hauptſächlich der Jugendzeit unſers Geſchlechts an, und es war Jahrtauſende hin—

1. Die Phantafie: d. Sprade und Sage. 50D

durch feine Aufgabe in der Spradje und in der Mythologie cinen Ausdrud fiir das geiftige Leben in feiner Wedhfelwirfung mit Gott und der Natur zu gewinnen; id) Habe darum mein Werk über die Kunſt im ZBujammenhange der Culturentwidelung mit der Dar- ſtellung jenes erften vorhiſtoriſchen Weltalters begonnen, in welchem durd) Mythologie und Sprade die Grundlage fiir Poefie und Bildneret bereitet wird, und gezeigt wie Hier dev fiinftlerifde und dev wiffenfdhaftlidje Trieb nod) gemeinjam arbeiten, die aufdim- mernde Poefie und Philofophie der Menſchheit nod) darin anfgeht bas Wort, das Bild yu priigen das den Gedanken verſinnlicht. Aber die ſprachen- und fagenbildende Thätigkeit iſt nidt erloſchen, vielmehr ijt ja das Spredjenlernen des Kindes cin Crweden {eines Spradvermigens, und jeder Menſch redet feine eigene Sprache, wie er fein eigenes Gefidjt Hat; er bildet fie fid) innerhalb des Typus feiner Nationalitét nad) allgemein menſchlichen Geſetzen. Das aber ijt Sache der Phantafie und beftitigt das über deren Cigenthiimlidfeit Gejagte.

Der offene Sinn des Menſchen empfiingt cbenfo ſehr äußere Eindrücke, al8 fic) Empfindungen und Ideen in der Tiefe des Seiftes regen; beide verfdwinden wieder wie fic famen, bis es gelingt Zeichen fiir fie gu fdjaffen und dadurch ihnen einen Aus— drud fiir das cigene Bewußtſein wie fiir die Mittheilung an andere ju geben. Wie uns gu Muthe ift, welden Cindrud die Dinge auf uné madjen da8 äußern wir durd) Geberde und Laute; da- durd) wird es uns felber gegenftindlid), klar und vernehmlich. Wir haben die Naturbeftimmetheit in den Sprachwerkzeugen und im Gehör; der Laut bridt unwillkürlich im Schrei des Schmerzes und der Freunde aus unferer Bruft Hervor, und wenn wir mit ihm die Empfindung ausdriicen die etwas in uns erregt, fo Hat der aubere dafjelbe Gefühl und er verſteht unſern Ausdruck und behält ihn bei, wiederholt ihn, wenn er dem eigenen Cindruc ent{pridt. Wol mögen wir bet dem was wir durd) das Ohr auffaffen den Shall felber nadahmen, wie wir den Kukuk nad feinem Ruf nennen und Säuſeln, Poltern, Sdnarden, Donner, Krad, Ge- ligpel fagen; daran reiht fic) fogleid) die Nothwendigfeit hörbare Bezeichnungen fiir die Erſcheinungen der fidjtharen Welt zu ſchaffen, und die Phantafie pragt nun dic Sade ſymboliſch oder im ana- fogen Tonbild ab; wir mögen hier an Wirter wie Blik, zackig, fpig, Quell denfen; die Bewegung der Welle, des Schwebens ſchattet im Rang des Wortes fic) ab, weid), dumpf, fpig, Mar

506 Ill, Das Schöne in der Kunft.

maden dem Ohr einen verwandten Gindrud wie die dadurch be- zeichneten Vorjtellungen dem Gemüth. Go wird der artifulirte Yaut, der durch Confonanten begrenzte Vocal jum Triiger der Anſchauung, dann des Gedanfens; mit sta bezeichnen alle indo— germanijden Bilfer das Stehende, Starre, mit plu und flu das Aufquellende, fließend Bewegte. Und von da aus fucht dann die Phantafie aud) dem geiftig Innerlichen cine Naturform zu geben dic ihm veriwandt ijt oder entfpridjt; mit Harte und Nadhgiebig- feit bezcidjnen wir dann Charaftercigenjdaften, mit Begreifen amd Schließen die logiſchen Denkformen.

Neben dem Trieb nach charakteriſtiſcher Bezeichnung waltet zu— gleich auch bei der Wortbildung der Schönheitsſinn; ſchwer aus— ſprechbare oder übellautende Zuſammenſtellungen von Buchſtaben werden vermieden und umgebildet, entlegene Laute durch Ueber— gänge verſchmolzen, ſtatt eintöniger Wiederholung ein verwandter Vocal genommen, in der Zuſammenſetzung der Wörter ein Con— ſonant dem andern aſſimilirt. Doch wird die Sprache weichlich und ſchlaff wenn ein Volk der Leichtigkeit der Ausſprache, dem körperlichen Mechanismus zu ſehr nachgibt, die Schönheit verliert dann das Charakteriſtiſche, und die Arbeit des Geiſtes wird nicht mehr gewahrt; die wollen wir aber ſehen, mur nicht in einem fruchtloſen Ringen mit dem widerfpenftigen Stoff, fondern in feiner glücklichen Bewältigung; Schönheit ift Siegesfreude.

Wie wir früher ſchon erwähnten, weil der Geift in fic fetber Sins ift in der Fille feiner Empfindungen und Anſchauungen, fo ſucht er aud) Ginheit in der Mannidfaltigfeit auger ihm, und er fann dieſe fegtere nur dadurd) bewiiltigen daß er fie unterſcheidet und das Unterjdiedene wieder vergleidt und anfeinander bejieht, daß er dic Dinge ordnet; indem er da8 gattungsmäßig Gemeinjame vieler befondern Erſcheinungen findet und fo feine Vorftellungen bildet. Sie find ein Allgemeines, das als ſolches aufer dem Denfen nidt exiftirt; es gibt feinen Baum als folden, fondern nur dieſe Palme, jene Vinde; aber wir bediirfen fiir unfere Vor- jtellungen um fie feftzubalten, andern ju bezeichnen und uns ju erinnern einen Triiger, cinen finnliden Halt, und diejen gibt der artifulirte Laut, gibt das Wort, das hier feinen Begriff erreidt: Ausdrud der VBorjtellung zu fein. Das Wort ijt die Verkniipfung von Begriff und Laut, beide find in Eins gebildet durd) die Phan- tafic. Wilhelm von Humboldt hat darum die Sprade als das bildende Organ der Gedanfen bezeichnet, die felber erft durd) das

1. Die Phantafie: d. Sprade und Sage. 507

Wort zur Klarheit und Beſtimmtheit kommen; die Sprache iſt nichts Fertiges, ſondern die fortgeſetzte Arbeit des Geiſtes den artikulirten Laut zum Leib und Bild des Gedankens zu machen.

Mit Einem Blick gewahren wir einen Reiterkampf, und ſehen nicht blos Männer und Roffe, jondern auc) Cigenjdaften der-

jelben, und ihre Thätigkeit und Weehjelbeziehung, Angriff, Erliegen, Vertheidigen und Siegen; und fold) cin Totaleiudruc gewinnt zunächſt unwillkürlich feinen Ausdruck in dem Laut dev aus unjerer Bruft hervorbridt. Aehnlich ijt in unſerer Stimmung, in unſerm Gefühl ſo vieles verwoben was uns in Leid und Luſt bewegt. Die Thätigkeit des Denkens beſteht nun auch hier im Unterſcheiden und Entfalten, und wenn urſprünglich das eine Wort den ganzen Satz vertritt, ſo werden nun mannichfache Dinge durch beſondere Worte im Satz hervorgehoben und zugleich aufeinander bezogen, in ihrer Einheit erhalten; der Satz iſt Organismus, Einheit im Unterſchiede, Beziehung des Unterſchiedenen aufeinander. Und wenn dieſe Beziehungen nun nicht blos beſonders ausgedrückt werden, ſondern wenn ſie mit den Wörtern verſchmelzen und dann wie Flexionen aus dem Subſtantivum und Verbum herauswachſen und in ſolchen Umwandelungen und Beugungen der Wörter zu— gleich der Einfluß geſetzt und vernehmlich wird den eins durch das andere, eine Sache durch die andere erfährt, dann wird der Satz zum lebendigen Organismus.

Das Weſenhafte der Dinge, der Thätigkeiten, der Eigen— ſchaften zu erkennen, es bezeichnend zu benennen, und dadurch zu beſtimmten Vorſtellungen zu kommen iſt die erſte wiſſenſchaftliche Arbeit des Geiſtes; er denkt dann in benannten Vorſtellungen. Die Phantaſie aber wirkt hier verſinnbildlichend, das Ideale des Gedankens, das Reale des Lautes und der Erſcheinung in Eins bildend. Die Sprache iſt dadurch ſelbſt die erſte Naturdichtung der Menſchheit, und es wird daraus verſtändlich daß jene am vollkommenſten und friſcheſten erſcheint in jener Jugendperiode unſeres Geſchlechts in welcher die Poeſie ſelbſt noch in der ſprachbildenden Thätigkeit aufgeht. Aus einigen hundert Wur— zeln als Bezeichnungen weſenhafter Begriffe und Thätigkeiten bildet die Sprache ihren Wortreichthum durch geiſtvolle Ver— werthung derſelben, und gerade hierin zeigt ſich der Cha— rakter des Volks, wenn der Inder, der Deutſche den Menſchen nach der Wurzel man, mens als den Denkenden, der Grieche mit avSouro¢ als den Aufgerichteten, das Antlitz Empor—

508 Ill. Das Schöne in dev Kunft.

fehrenden, der Lateiner mit homo von humus als den Erden— ſohn bezeichnet.

Die Sprache iſt keine willkürliche Erfindung. Dies würde in der Seele ein Wiſſen von der Sprache und einen Gebrauch der— ſelben vor ihrem Daſein verlangen, denn der Vorſatz eine Sprache erſinden zu wollen müßte als ſolcher in dieſer ſeiner Beſtimmtheit ſchon in Worte gekleidet ſein. Zudem iſt die Sprache ein Orga— nismus, in welchem eins auf das andere hinweiſt und durch das Ganze alles Beſondere geſetzt und beſtimmt wird, und thatſächlich erfahren wir erſt durch Studium und Nachdenken die Geſetze der Sprache, die wir unbewußt befolgen; ja die Sprache als Beſitz des Volks hat eine Geſchichte gleich dieſem, die über alle Einzel— nen hinausragt und ſich auf organiſche Weiſe vollzieht.

Erkannte man daß die Sprache nicht eine Erfindung des menſch— lichen Witzes fei, fo fag es nahe fie als cin göttliches Geſchenk zu betrachten. Aber es iſt völlig undenkbar in die noch ſprachloſe Seele eine fertige Sprache hineinzulegen. Wie ſollte ſie die Worte handhaben ohne Gedanken, ohne Kenntniß der Dinge die ſie be— zeichnen? Und id) mug wieder daran erinnern daß man nieman- den Gedanken in den Kopf ſteckt wie Aepfel in einen Sack, ſondern daß alle geiſtige Mittheilung nur die Anregung gibt das was ſie bringt in der empfänglichen Seele ſelbſt zu erzeugen. Die Sprach— fähigkeit iſt eine göttliche Mitgift an den Geiſt, ohne ſie wäre kein klares Denken und entwickeltes Selbſtbewußtſein möglich; aber das Wirken dieſer Fähigkeit, die Verwirklichung der Anlage iſt nun des Menſchen Werk. Nicht des Einzelnen, ſondern der Geſammtheit. Dem einen gelingt dieſe, dem andern jene Bezeichnung die das Weſen der Sache trifft und darum von den andern verſtanden und angenommen wird; mit der Uebung der Kräfte wächſt die Auf— gabe. Das einmal Gewonnene wird bewahrt und ijt das Ma— terial womit und der Grund worauf weiter gebaut wird.

Daf die Spradbildung cin Werk gemeinjamer Thitigkeit und dak iiberhaupt cin wedhjelfeitiges Verſtändniß möglich ijt, beruht auf der gemeinjamen Vernunft in allen cingelnen Geelen. Die Phantaſie verfaihrt fpradbildend unter der Anregurng und dem Ein— fluß der Naturformen und Naturlaute, aber die Rede ift feine nachahmende Wicderholung derfelben, fondern eine geiftige Neu- ſchöpfung. Die Freiheit und Selbftindigfeit der PBhantafie, die fic) namentlich auch in der BVielheit der Spraden bezeugt, wird aber ihver ſelbſt unbewußt gelenft und geleitet vom gittliden Geift,

1. Die Phantafie: d. Sprade und Sage. 509

deffen Geſetz fie erfiillt, und jo wirft and hier das Freiwillige und da8 Unfreiwillige, das Menſchliche und Göttliche zuſammen, und ſchlägt aud) hier die Phantafie die Brücke zwiſchen der idealen und realen Welt, eine in der andern offenbarend.

Wie eine Sprade da fein muß wenn die Poefic möglich fein joll, jo ift aud) der Mythus fein Gebilde fiinftlerijden Bewußt— ſeins, wohl aber vielfad) cin Ansgangspunft und Stoff fiir daffelbe; gleid) der Sprache ijt aud) der Mythus ein Werf der nod) reflexionslos waltenden Phantafie, wie fie unter dem Einfluß des fid) offenbarenden Unendlidjen und der Cindriide der endliden Er— ſcheinungen zugleich fteht. Die Mythologie herrſcht im Geifte des Volks, fie wird geglaubt, fie ift dem Volk fo wenig wie jeine Sprade von einzelnen Schlauköpfen zurecht gemadt, die bereits die Wahrheit in der Form des Begriffs, der Gedanfenallgemein- Heit erfannt, fiir die Faffungsfraft der Menge aber in allerhand Erzählungen und ſinnliche Formen cingefleidet hitten; vielmehr hat das mythenbildende Bewußtſein das Bdeelle und Factijde in ur- jpriinglider Cinheit, indem die Erfahrungen der Außenwelt dic im Gemiith ſchlummernden Gedanten erweden und zu ihren Trä— gern werden, indem die innern Regungen und Anſchauungen der Seele fid) nur in den Formen der Natur äußern und mittheilen können. Es find die gleiden Gindriide der Natur, die gleiden Erfahrungen des geſchichtlichen Lebens, die zu derſelben Zeit auf viele wirfen, und dieje alle haben dicjelbe Vernunft, diejelbe Geiſtesanlage, dicjelben fittlidjen Mormen, diejelbe Wefengemein- ſchaft mit dem Unendlichen: fo wird aud) in vielen zugleich ein nahverwandtes oder ſehr ähnliches Bild entitehen, wenn jene Cin- driide und diefe innern Bedingungen zuſammenwirken; diejelben natiirlichen und geiftigen Wntriebe fiihren die Seelen zu eine miithigen Stimmungen, und wer das bejftimmende Wort, das be- zeichnende Bild fiir fie findet der ijt nur der Mund aller andern, der gibt nur demjenigen was in allen Herzen liegt Geftalt, und darum verftehen ihn die andern und erfennen fiir wahr und richtig an was er ausſagt oder darftellt. Und fie arbeiten mit. Seder jpridjt fic) aus, und die eine Sade wird dadurd) vielfeitig be- ftimmt und in der gemeinjamen Thitigkeit aller erwächſt die fym- bolijd) ausgejprodene Idee zur Rlarheit und Vebensfiille.

Der Grund und Gehalt des Mythus ijt die religiöſe Wahr- heit, wie fie als innere Offenbarung im Gemiith aufleudhtet, oder wie fie das Walten des Schipfergeiftes in der Natur und Ge-

510 Ill, Das Shine in der Kunft.

ſchichte veranſchaulicht; die Stimmungen und Gefiihle, die auf beide Weife in der Seele erregt werden, driingen nad Geftaltung und Ausdruck fiir fic) felbft und andere, und es ijt anfänglich nidt das begreifende Erfennen das fie in die Form des Gedanfens erhebt, fondern die Phantafie die im Bilde fie ausprägt. Das urſprüngliche Gchopferifde in aller Mythologie ijt die religiöſe Sdee; nicht die Naturerjdeinungen oder gejdhidtliden Thatſachen jind das Erſte was den Menſchen bewegt und ergreift daß er fic alg ein Höheres verehre, perfonificire und dichteriſch geftalte, fon- dern dem Geift iſt der Gedanfe des Unendlichen eingeboren, in ſeinem Gewiffen weif fid) der Menſch von Gott gewuft, fein Gemüth fühlt fic) abbingig von ihm. Die Offenbarung Gottes, in dem wir [eben weben und find, fommt nidt von augen, fon- dern quillt aus dem innerften Lebensquell in das Licht des Be- wuptfeins; das Gemiith ſpricht aber diefe Regungen und Erfah— rungen nicht fofort in der Form des Gedanfens aus, fondern Jahrtaujende fang werden fie durd) die Phantafie ju Bildern ge- ftaltet, und dazu werden die Gindriide der Außenwelt, die Erſchei— nungen der Natur und des gefdhictlidjen Lebens verwendet. Das Gefühl des Umfangenfetns von der göttlichen Allmacht fieht dieje nun im allumfaffenden Himmel; jelbft im umgefehrten Falle wiirde der Anblick des Himmels dem Menfden die Gottesidee dod) nie- mals von außen geboten, fondern die in feiner Seele Tiefen ſchlummernde nur erwedt oder dem Geijt fie gu denfen den Anſtoß gegeben haben. Das äußere Licht wird nun zum Symbol des innerlic) erleudjtenden, offenbarenden Gottes, und jeine wobl- thitigen Wirfungen in der Natur find nun eine Bethitigung des guten Geiftes und feiner Sdhipfermadt. Der Kampf des Lichtes mit der Finſterniß veranfdaulidt nun den Kampf des Guten und Böſen, das Tagewerf des Menſchen. Dies ijt die urjpriinglide und reine religidfe Anſchauung der Arier, fie war das Gemein- gut der Völker die fic) nad) der Scheidung als Sunder und Perfer, als Grieden, Romer, Germanen, Slawen jo mannichfach ent: widelten.

Die Sonne erfdeint dann als der gewaltigfte Held des Lichts, als der Sohn de8 Himmelsgottes, ihre Wirkungen, ihr Lauf wer- den wie Thaten eines (ebendigen Wejens aufgefakt, ethiſche Sdeen an weldje jene anflingen, deren äußere Analogic fie find, werden nun ſymboliſch in der Gefdhidte de Gonnengotted oder Sonnen— Helden ausgepragt. Das urſprünglich Geiftige, diefen idealen

1. Die Phantafie: d. Sprade und Sage. 511

religidjen Kern in den Mythen, diefen fittliden Wahrheitsgehalt darf man nidjt vergeffen, fonjt wiirde man häufig nur didterifde Bilder des Naturlebens, der Naturverhiltniffe und Naturmächte jehen, wo in dem innigen und frommen Glauben der Vilfer jelbft dod) die Hinweijung auf cine hihere Weihe liegt, zumal der Menſch das Gittlide erft im Gemiith erfahren haben mug, wenn er es in der Außenwelt erfennen foll; in den Formen derfelben fann er es dod) nur dann ausprigen, wenn er eS bereits hat.

Wie der Menſch feine Subjectivitit als den Trager feiner Ge- danfen und Handlungen weif, jo jest er mit Recht iiberall wo er Ordnung und Leitung der Dinge nad einem Ziel und Zweck, wo er Gedanfen verwirklidt oder ſittliche Geridjte vollftredt fieht, eine Perſönlichkeit voraus die dies vollbringt. Und will er fid ein Bild von thr maden, foll fie ihm gum Erſcheinen fommen, weldje andere Geftalt könnte er wählen als die menſchliche, da fie ihm ja von dev Grfahrung als die ded perſönlichen Geiſtes dar- geboten wird? So jchaffen Gott und Menſch einander nad) ihrem Bilde. Die Menſchheit beginnt mit der naiven Erfaſſung der vollen Wahrheit, die fie aber nidjt wijffenfdaftlich entwickelt, ſon— dern unmittelbar im Gefiihl hat, und da ijt thr Gott der jowol liber ihr Stehende als in ihr Waltende. Der Polythetsmus der Folgezeit ſcheint mir feine Entartung des Monotheismus und and fein Grftes, fondern cine UAuseinanderlegung des Inhalts des All— Ginen, deffen verjdiedene Seiten und Lebensoffenbarungen oder Ausjtrahlungen feines Weſens als bejondere Götter neben und unter ifm verehrt werden, Oder einzelne Stämme und Gejdledter erfajjen cine Geite de8 gittliden Sein’ und Wirfens, und be- nennen es nad) diejer, heben dieje fiir fic) hervor, und in der Ver- einigung der Gefdhledjter und Stiimme treten dann auch mehrere verwandte Gitter ju einer gemeinjamen Götterwelt zusammen. So ftehen dann nod) drei Welthiiter neben Sndra, dem Himmels- gott, bei den Indern der alten Zeit, und ſpäter bringen die Priefter den Siwa und den Wifhnu zu Brama, um fie zu einer Dreieinheit zu verbinden. So fteht neben dem Zeus des Himmels der de Meeres und der Unterwelt, oder feine verjdiedenen Söhne und Töchter. Der bildliche Ausdrucd, den die Phantafie der innern religidjen Grfahrung gegeben hat, wird von finnliden Menjden fiir die Sache genommen, und dadurd) wird das Naturelement in vielen afiatifden Religionen iiberwiegend. Wie Zarathuftra im Ahuramasda den Schipfergeift des Alls, der fic) im Licht

512 III. Das Schöne in der Kunft.

offenbart, reformatorijd) wiederherftellte, fo hielt aud) Abraham unter den zur polytheiftifden Naturvergbtterung herabſinkenden Vorderafiaten den Glauben der Urzeit an einen geiftigen Gott fejt, und nun ward im Gegenſatz gegen die naturaliſtiſche Vielgotterei der Monotheismus ausgebildet, wihrend in Indien die Gotterfiille wieder in die Cinheit der Weltjecle guriidgenommen und pan- theiftifd) aufgefagt wurde. Aber wer immer in Hellas oder In— diem gu einem der Götter betet der ruft den Gott in ihnen an, und es wird von den meerbewohnenden Soniern im Pofeidon, von den Doriern im Apoll, von den Athenern in der Pallas ebenjo wie von allen Hellenen wiederum im Beus das eine und ganje gitt- lidje Wefen verehrt, wiihrend die mafloje Phantafie der Inder immer neue Cigenfdhaften oder Attribute der Götter perjonificirt, aber die Umriſſe aller Geftalten fo fließend Halt dag alle in jeder wiedergefunden werden können.

Steht uns auf der einen Seite die religidje Wahrheit im Mythus fejt als das nicht Erdichtete, fondern als der Reflex des gottlidjen Wefens und Wirfens in der Seele, als göttliche, nur nicht dugerlide und mechaniſche, jondern innerliche, gu felbftandiger Geftaltung anregende Offenbarung, fo bildet die Phantafie die einmal gewonnenen Anfdjauungen weiter aus, und hier fommen dann mannichfach äußerliche oder zufällige Anläſſe hingu, wie wir fie aud) anderwirts ſchon fennen fernten. Hierher gehiren die Beijpiele welche Otfried Miller in ſeinen Prolegomenen anfiihrt, und von denen Schelling allerdings mit Recht behauptet: daß fie das Räthſel nicht löſen wie die Menſchen dazu famen von der Griften; und dem Wirken Apollon’s überzeugt zu fein; aber fie zeigen wie die Erzählungen fic) bildeten die auf mannidfade Weije das Weſen Apolfon’s fundthaten. Willer erinnert an den Anfang der Slias: Agamemnon hat dem Priefter Chryfes die Auslöſung der Tochter verweigert und eine Peft ijt unter den Griedhen aus— gebrodjen. Gr fährt fort: „In diejem Falle erfennt man leicht wie alle die welche die Facta fannten und von dem Glauben an Apollon’s ftrafende und rächende Gewalt erfiillt waren, jogleid mit villiger Ucbereinjtimmung die Verbindung madten, und daß Apollon die Peft auf Bitten feines Priefters gefandt mit eben folder Ueberzeugung ausſprachen wie das was fie ſelbſt geſehen und erfahren fatten. Hier ijt der Sdhritt, den die mythenſchaffende Thiitigfeit thut, nur klein; in den meiften Fallen iſt er weit be- deutender und die Thitigfeit felbft complicivter, indem mehr als

1. Die Phantafie: d. Sprade und Gage. ~ 513

cin Umftand auf die Entftehung de8 Mythus Cinflug hat. Go ijt Mehreres im Mythus des Apoll und Marſyas verfdmolzen. Bei Apollonifden Feften war Kitharſpiel gewöhnlich, und es war dem frommen Gemiithe nothwendig den Gott felber als den Urbheber und Erfinder deffelben anjufehen. In Phrygien dagegen war Flötenmuſik einheimifd, die anf diefelbe Weije auf einen ein- heimijden Dimon Marſyas zurückbezogen wurde. Die alten Hellenen fiihlten daß diefe jener im innern Charafter entgegen- gejekt war; Apollon mufte den dumpfen oder pfeifenden Fliten- faut verabfdjenen und den Marfyas dazu. Nicht genug, er mufte, damit der fitharfpielende Griede auch des Gottes Erfindung fiir das vortrefflidjte Inftrument anfehen fonnte, den Marjyas über— winden. Aber warum mufte der ungliidlide Phryger aud) gerade gefunden werden? Die Sache ijt einfad) die. Sn der Felfen- grotte an der Burg von Kelind in Phrygien, aus welder cin Slug Marfyas hervorbridt, hing cin Schlauch, der Schlauch des Marjyas bei den Phrygiern genannt. Warum es ein Sdlaud) war erhellt daraus dag Marfyas in feinem Wejen dem griedhijden Gilenos glich, daher ifn and) Herodot Marfyas den Silenen nennt; er war ein Dimon der faftftrogenden Natur, daher aud) Quelfengott. Aber wenn ein Hellene oder Hellenifd) gebildeter Phrygier den Schlauch fah, fo mußte ihm flar werden wie Mar- fias geendet; Hier hing ja nod) feine abgezogene ſchlauchähnliche Haut; Apolfon hat ihn ſchinden faffen. In allem diefen ijt feine willkürliche Dichtung; es fonnten viele zugleich darauf fommen, und wenn es einer zuerſt ausſprach, ſo wußte er daß die andern, von denſelben Vorſtellungen genährt, keinen Augenblick an der Richtig— keit der Sache zweifeln würden. Der Hauptgrund aber warum die Mythen in der Regel ſo wenig einfach ſind, liegt darin daß ſie großentheils gar nicht auf einen Schlag entſtanden ſind, ſondern ſich allgemach und ſucceſſiv, unter der Einwirkung gar verſchieden— artiger äußerer und innerer Zuſtände und Ereigniſſe, deren Ein— drücke die im Munde des Volks fortlebende, durch keine Schrift befeſtigte und erſtarrte, immer bewegliche Tradition ſämmtlich auf— nahm, im Laufe langer Jahrhunderte zu der Geſtalt, in welcher wir ſie nun erhalten, ausgebildet haben.“

Ich füge als ein Beiſpiel für dieſen Schlußſatz Müller's die Heraklesmythe an. Mehrere locale Heldenſagen von verſchiedenen Orten wuchſen zuſammen; aber auch kleinaſiatiſche Götterbilder, Sandon, der bogenbewehrte Löwenwürger, erinnerten an ihn, die

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514 IIL. Das Schöne in der Kunſt.

Hellenen identificiven beide, und wenn die Kleinafiaten um die Ureinbeit de8 männlichen und weibliden Princips in ihren Göttern zu veranfdauliden dem männlichen das Frauengewand, der weib fidjen die Manneswaffen gaben, jo meinten die Hellenen hier ihren Herafles in der Dienftbarfeit zu erbliden, und fie wuften nun wo er als freiwilliger Sflave die wilden Ausbrüche feiner Leidenſchaft gebüßt. Das Opfer der eigenen Perſönlichkeit zur Siihne und Rettung des Volfs war den Semiten geliufig, in der Glut der Sommerjonne, didjteten fic danad, habe aud) ihr Gott um das Furchtbare und Boje in fic) zu überwinden, den Scheiterhaufen angeziindet, aus deffen Flammen er verjiingt und wohlthitig milde wiedergeboren wird. Wie die Grieden die Heraflesmythe durch— aus zu einem fittlichen Vorbilde der Menſchheit geftalteten, fo ließen fie thn nun fic) aud) das Läuterungsfeuer bereiten, durch das verflirt er zu den Göttern emporftieg.

Die Völker haben die Traditionen der Urzeit, aber fie bilden jie fort und verweben fie mit den eigenen nenen Crfahrungen, unter dem Einfluß der Linder im denen fie fic) anſiedeln und nad Mafgabe der Lebensridjtung die fie einſchlagen. Die praftijden Römer heben nur die Bezichung der Menſchen und Götter nach den Bediirfniffen und Zweden des Dafeins Hervor, die phantafie- reichen Inder und Griedhen erfrenen fic) mit felbftindiger Geftal- tungstuft an einem Reichthum von Mythen, der die Gitter nad deren freier Wefenheit fchildert. Aber wenn in den Veden eine naive Frijde und der Heldenhafte Sinn der Urzeit ſich auch in der Götterſage fpiegelt, jo tritt in fpiaterer Zeit nad) der Cinwande- rung an den Ganges ein träumeriſches Grübeln auf, und der Grundgedanke wird jest der veränderten Naturanjdauung gemäß das cine Leben mit jeinen vielfadjen Verwandlungen, den befondern Dingen, die es alle wieder in fich juriidnimmt. Die Brahmanen madjen den Geijt des Gebets und Opfers, dem die Gitter Folge leiſten, zum höchſten Gott, aber das Volf hat fiir dieſe Abjtraction wenig Ginn, und ihm erwächſt im Norden cin Geift der Donner: wolfe, der aus dem Schrecken der Zerftirung da8 Leben entbindet, alg Siwa, im Gilden ein milder Genius der blauen Himmelsluft jum alfumfaffenden, allbelebenden Gott der Welterhaltung als Wiſhnu. Seder der beiden ijt feinen Verehrern der höchſte und wahre Gott; die Prieſter leugnen das nidt, und bringen fie mit Brahma jujammen. Nun fah man Wiſhnu's erhaltende und {citende Macht aud) in der Vorzeit, nun hatte er anch die Gefcide

1. Die Phantafie: d. Sprade und Sage. 515

in der Heldenperiode gelenft, nun waren Hauptgeftalten derfelben, ein Rama und Kriffna, feine Sncarnationen. Wuch in der ſpätern griechiſchen Zeit wird gwar der Cultus der ergbewaffneten olym— pifden Götter nidjt verdringt durch die Eleuſiniſchen Myſterien, aber die Weihen von Demeter und Dionyſos geniigen dod) einem Heilsbediirfnif der Seele und befriedigen ein Sehnen und Hojfen, dem jener nicht geniigen fonnte.

Gern trage id) hier nod) einige Worte aus Welder’s Griechiſcher Götterlehre nach; fie geben cine im Wefentliden übereinſtimmende Grflirung der Sade. „Der eigentlide Mythus gehirt der Zeit an wo die Begriffe fic) nod) nicht ohne die Vermittelung der Phantafie dem Bewußtſein darftellten (das thun fie auch jest nicht, aber gegenwärtig find ausgebildete Begriffe in der Allgemeinheit des Gedankens ausgedriict vorhanden, in der Urzeit war das nicht der Fall, da ſchlummerten fie nod) im Gemiith, und ihr Erwaden gab fid) in ber Verſchmelzung mit dem Gegenftande fund der fie erwedte); der Mythus bildete fic) nicht ans einer Idee heraus cine Thatſache, jondern unbewuft vermittels einer befannten That- jade einen Begriff, der ohne fie nicht gefaßt und ausgefprodjen werden fonnte. Gr ift immer ein Ganjes, wenn aud) nur als Embryo, und auf cinmal gegeben oder eingegeben, im Gegenſatz de8 Bedadten und Gemadten. Gr ift der Erweiterung und Aus— jdjmiidung fähig, aud) der Verfniipfung mit einem andern Mythus,. nidt durch äußerliche mechaniſche Zuſammenfügung, jondern wie durch Impfen oder durch Verſchmelzung. Der Gedanke, die Wahr— nehmung innerer Geſetze rankt ſich wie eine zarte Pflanze an der Erfahrung aus dem Leben der Menſchen als an einer Stütze empor, die Phantaſie iſt die Hebamme des Gedankens; die Ana— logie, das Bild einer gegebenen äußern Thatſache mug hinzu— kommen um das Weſen eines innern Verhältniſſes aufzuklären, und ſo bricht erſt unter der geſchichtlichen Einkleidung der Begriff her— vor, tritt in und mit ihr in das Daſein. Solche Urmythen ſind das ſchönſte Gewächs auf dem Boden des der Religion ſich er— ſchließenden Gemüths. Denn dieſe Urkenntniſſe ſind die Haupt— bedingungen des Geiſteslebens der Nation in einem großen Theil ſeiner ganzen Entwickelung. Dieſelben Mythen mit Reflexion erſonnen würden Gleichniſſe aus dem Menſchenleben ſein: in der Zeit ihrer Entſtehung, des Triebes und Dranges die Natur in ſelbſtändige Götter umzuwandeln und dieſe in Handlung zu ſetzen, waren ſie wie Offenbarungen und machten ihren tiefen religiöſen

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516 III. Das Schöne in der Kunft.

Gindrud dadurd daß fie annod) der eingige und ein überraſchen— der Ausdrud grofer Wahrheiten waren, dak in dieſen Bildern gewiffe Gedanken fic) zuerſt ſelbſt erfannten und verjtanden. Der Mythus ging im Geift auf wie ein Reim aus dem Boden her- vordringt, Inhalt und Form Cins, die Geſchichte cine Wahrheit. Wenn im Fortfdritte die Urmythen entwidelt und neue Mtythen gebildet wurden, fo war das Verhältniß der PBhantafie zu dem Verftande nicht mehr daffelbe, fondern ahnlider dem Zuſammen— wirfen beider im der Production des begeijterten Didters. And bei diejem find oft Bild und Gedanfe, Erfindung und Bewußt— werden Gins. Weil aber ſchon eine Fille von Ideen und von Bildern verbreitet find, fo können fie einander ju einem neuen Erzeugnif entgegenfliegen; dem freien Zuthun ijt mehr überlaſſen alg dort wo der Durdbrud) des Gedanfens nur durch da8 Bild erfolgt. Die findliche, naive und unbewufte Natur des Mythus ift wohl ausgedrückt durch die Rnabengeftalt die ihm in dem be- rühmten Relief der Wpotheofe Homer’s gegeben ijt. Die Ent- widelung und Berfledjtung, die Nachbildung der Mythen, ihre Anwendung insbejondere im Epos, worin plaftifde und allegorijde Motive miteinander wetteifern ihn zu bereichern und auszuſchmücken zur Ergötzung wie zur Belehrung, find von dem Mythus in feiner Entjtehung und feiner Beftimmung fiir die Religion zu unter- ſcheiden. Sene zweite Stufe oder Art des Mtythus ijt nicht fo- wol ſchöpferiſch als entwidelnd, im gläubigen Sinn, dod) freier, immer weiter und weiter gehend.”

Aus der Gitterfage wird die Heldenfage. Im Géttermythus wird wol aud der Menſchen gedadt, fie ftehen aber nidt im Vordergrunde; fie fudjen nun von ihren eigenen VBejtrebungen und Kämpfen, von ihren Thaten, Leiden und Hoffnungen ein allge- meines Bild gu entwerfen, da8 ein Vorbild wird fiir das weitere Leben. Locale Gitterjagen werden iiberwadfen von dem aligemei- nen Cultus, und ihre Triiger gelten dann nicht mehr fiir Gétter, fondern fiir Heroen. Naturerjdeinungen hatte man als göttliche Thaten aufgefaßt; man hielt fic) mehr und mehr an dieje Er— zählung der Thaten, an das Abenteuerliche oder Verdienftvolle darin, und lief die Beziehung auf die Natur fallen. Go wird der Sieg des Lichts iiber die Schrecken dev Finſterniß als cin Ueberwinden der nidtliden und furdtbaren Ungeheuer dargeftellt, und wie Apollon jo find aud) Perfeus und Bellerophon Oraden- fieger, fie urſprünglich wie er etne locale Ausgeftaltung des fonni-

1, Die Phantafie: d. Sprade und Sage. 517

gen Lichtgeiſtes; er wird der allgemein verehrte Gott, und fie find dann Gonnenhelden. So klingt aud) in Siegfried’s Verhältniß ju Brunhild der Gonnengott nod) nad, der die erftorbene Erde mit feinem Kuß aus dem Winterjdlafe erwedt und ihren Froſt— panzer mit feinen Strahlen fpaltet, der fie aber dann bald wieder verläßt gleich dem kurzen nordiſchen Friihling; aud) Siegfried ijt Lindwurmfieger, aber als Held wird er cines Lidhtelfen Sohn, wie Perfeus vom himmliſchen Zeus und der indifdhe Karna vom Sonnengott erjengt wird. Bn der Jugendgeſchichte diefer drei, wie fie ausgefest werden in den Wellen, und in Niedrigfeit er- zogen nun gum Rampf gegen die Ungeheuer jiehen, haben wir nit etwa an eine Entlehnung durd) das cine Volf vom andern zu denfen, fondern cine gemeinſame Ueberlieferung aus der arifden Urjeit, deren Gitterfage ju den mannidfaltigen Heldenfagen ward.

In der Heldenjage wirken dieje Elemente zuſammen und geben dem Epos feine Tiefe und Größe: die Nachklänge der urſprünglich ethijdjen und idealen Göttermythe, Ueberlieferungen der Urzeit und die neuen Geſchicke und Crlebniffe der Vilfer. Die nad) Menſchen— art gebildeten Schickſale und Thaten der Götter fdjeinen fic) in eingelnen Helden gu wiederholen, deren Erlebniffe, deren Charafter an jene erinnern, und jo wird der Mythus mit dem neuen Er— eigniß verſchmolzen. Bet Indern und Perjern, Grieden und Germanen ijt, wie id) guerft dargethan, eins der herrlidften poetiſchen Gebilde cin jugendlid) reiner Held voll Schinheitsglan;, der in irgendeine Bezichung und Verbindung mit dem Feindfeligen, MNiederen oder Unreinen tritt, wie zur Siihne dafiir von deffen Vertretern hinterliftig ermordct wird in der Bliite der Jahre, aber ihnen den Untergang bringt durd) den Radjefampf der fid) an jeinen Tod knüpft: Karna im Mahabarata, Achilleus, Siegfried, Sijawuſch im Schahnameh.

Achilleus der jugendlich reine Held, wie er bei allem zermal— menden Löwenmuth doch eine milde friedliche Seele hegt, was ſeine Freundſchaft zu Patroklos, ſeine Rückgabe von Heltor's Leichnam an Priamos und ſo mancher andere Zug beweiſt, erin— nert uns dadurch an Siegfried; und ſo geſchah es auch ſchon den alten Griechen, das heißt ſie gedachten bei ihm jener Geſtalt der Urzeit die in Deutſchland mit Siegfried verſchmolz, und während er nach Homer's Anſicht bald nach Heltor tim Schlachtgetümmel durch Apollo fiel, ließ man ihn ſpäter ein anderes Ende nehmen. Er ſollte bei den Verhandlungen über Hektor's Leichnam Priamos'

518 Ill. Das Sdine in der Kunſt.

ſchöne Todter Polyrena erblict haben. Bu Liebe gu ihr ent- brannt habe er fie gum Weibe begehrt und fic) erboten dic Partei der Troer gu nehmen; ev fet jum Abſchluß des Vertrags in den Tempel des thymbriifden Apollo beſchieden worden; dort habe ihn Paris meudlings in der Ferfe verwundet, wo er alfein verletzlich war. RZornentbrannt jerftirten die Grieden Troia und Polyrena ward auf Achill's Grabe geopfert. Hierin fann id) nun feine ſpätere freie Grfindung fehen. Die Idee eines Abfalls, eine Ver— bindung mit dem gegenfibliden Princip, und die Bue dafiir durd) die deffen Vertretern eigene Tide, der Meuchelmord durd bie neuen Verwandten, die Siihne durd) die Zerftirung des Reichs der Feinde, dies alles findet fic) aud) in der deutſchen, perfifden, indifden Heldenfage; es ift urſprünglich Sonnenmythus, und ward alg eine Ueberlieferung aus der gemeinjamen Urjeit im Verlanf der Geſchichte von den eingelnen Volfern an Helden oder Ereig— niffe gefniipft, die daran mabuten. Durd andere Sitten, durd andere hiftorifde Verhiltniffe fommen andere Motive in die Sage; aber durch fie hindurd) flingt der urjpriinglide Grundgedanfe als der Ausdrucd einer grofen fittlidjen Lebenserfahrung, die in der Naturanalogie der Gonne, der Gonnenwende, und des im Friih- ling neuen Siegs über die Mächte des Froſtes und der Finſterniß ein Sinnbild gefunden hatte, ſodaß die geijtige Sdee mit der äußern finnliden Anſchauung erwuds und in unlbsbarer Har- monie fid) fortentwidelte.

Gin Gleidhflang des Namens wird der Phantafie Anlaß ju Verbindungen innerhalb der Heldenjage; Erzahlungen von einem niederdeutſchen Diedref gehen auf Theodorid) den Großen iiber, und aus dem Atli, der nad) Sigurd’s und Brunhild’s Tod eine Blutradhe an den Nibelungen nimmt, wird Attila, der ja das Burgundiſche Reid) zerſtörte. Dies führt uns zur Entſtehung der Sage aus geſchichtlichen Verhältniſſen. Doch waltet auch hier in Bezug auf den Urſprung oder die Anfänge großer Männer oder ganzer Völker noch die freie Idealbildung vor ſtatt der poetiſchen Verklärung wirklicher Ereigniſſe. Denn die Anfänge des Großen waren klein, und weil niemand ihrer achtete wurden ſie vergeſſen und die Phantaſie hatte nun das Beſtreben und die Aufgabe aus dem Gewordenen auf das Keimende zurückſchließend im Beginne ſchon die Richtung auf das Ziel und die geiſtige Bedeutung bild— lich darzuſtellen. Aber dies Sagenhafte in der Jugendgeſchichte der Menſchen und Völker iſt darum nicht hiſtoriſch werthlos.

1. Die Phantafie: d. Spradje und Sage. 519

Nicht dak es von befonderm Intereſſe wire aus der ſchönen bliihenden Hiille cinen dürren profaifden Kern des Factiſchen heraus— zuſchälen; vielmehr fehen wir wie der Volfsgeift felber fein cigenes Weſen und Werden vorftellte, wie ev die Ahnung feiner Beſtimmung und jeiner Schicjale felber veranſchaulichte. Es ift ja immer der römiſche Geift der cinen Horalius Cocles, cinen Mucius Scivola, eine Lucrezia hervorbradte, und cs ijt felbft von gréferer Bedeutung fiir feine Wiirdigung und feine Erfenntnif, wenn dies nidt aus— nahinsweije abjonderlide Perfinlichfciten waren, fondern das dar- ftellen was jeder echte Romer als feine Natur und Art fiihlte; und dann haben fie als Vorbilder auf das Gemiith der nad wachſenden Geſchlechter gewirft, wie nod) heute neben dem hifto- riſchen Winkelried der mythijde Tell dic Schweizer begeiftert. Aber nicht blos in cine dunfle Vergangenheit wirft die Bhan- tafie ihre farbigen Bilder, ihr VerFlarungstrich (aft fie aud) das Gegenwirtige in fein Ideal erhöhen, zerſtreute Ziige vereinigen und den Eindruck, welden Ereigniffe und Perfinlichfeiten im Ver— {auf und in den mannichfaltigen Einzelheiten des Lebens gemadt, durch cinjelne faßlich Flare Erzählungen ausprigen. Die hifto- riſche Rritif hat dargethan dak Napoleon bet Wreole die Fahne nidt ergriff, da das beriihmte Wort von Waterloo: „Die Garde ergibt fid) nicht, fie ftirbt!“ nicht ausgefprodjen worden; aber das Volf jah in dem jugendliden Helden den muthvollen und fieg- reichen Bannertrager, um den es fid) ſcharen wollte, und was es von thm hoffte und was feiner wiirdig war da8 gewann in dem volfsthiimliden Schlachtbild von Arcole feine Form, wie die Garde einen ihrer Treue und Tapferfeit entfpredenden Schluß ihrer Thaten im Volksbewußtſein fand. In den officiellen Be- ridjten, die an den Papft während des erjten Kreuzzuges erftattet wurden, ift Gottfried von Bouillon gar nicht erwähnt; ihm ward erft, nadjdem mehrere andere fie abgelefut, die Rrone in Serujalem geboten, und als cr dort König war, wurde jein Name der im Golf befannte, und (ag die Annahme nah dak er aud von Anfang an der Fiihrer und die Seele der Unternehmung ge- wefen. Allein id) glaube es fam nod) cin anderes Moment hinzu. Die Lieder über feine Thaten, die Erzählungen von feinem An- theif! am Kreuzzug fanden aud) darum die weiteſte Verbreitung, die größte Glaubwürdigkeit, und überwuchſen im Volksbewußtſein die Kunde von den andern Fürſten, weil in ſeinem Sinn und Wirken der Geiſt der Kreuzzüge ſelbſt den geeignetſten Träger

520 Ill. Das Schöne in der Kunft.

fand; auf ihn itbertrug man nun and die Stellung und die Werfe anderer, und die Phantafie des Sahrhunderts geftaltcte ihn gu dem Helden in weldjem das Fühlen und Wollen der Zeit feine Verfsrperung fand.

Hierher gehirt aud) die Entftehung und Bedeutung der Anek— dote. Sie ſchleift der Erzählung eine Spike, wodurd fie dann aud) im Gedächtniß haftet, fie knüpft an da8 Wirklide an und liebt in ſchlagender Kürze ein prägnantes Bild der Perſönlichkeiten gu geben. Xerxes verlangt des Leonidas Waffen und diejer ant: wortet: Komm und hole fie! Wir werden por den Lanzen der Beinde die Sonne nicht fehen, fagt ein bedenflider Mann, und Leonidas erwidert: Go werden wir aud) im Sdhatten fedjten. Wenn die Erfdeinung von Cäſar's Geijt, die Brutus in Sardes jah und die ihm ein Wiederjehen bei Philippi verfiindete, vor ber hiſtoriſchen Kritik nidt Stic) Halt, jo fragen wir dod) wie denn beffer es ausgudriiden ijt dag Cäſar's Geiſt der Geift der Geſchichte war, der fid) an denen rächte die fid) an ihm ver— fiindiget Hatten. Wud) hier haben wir den Trieb der Phantafie das Allgemeine und Mannichfaltige in eingelnen treffenden Zügen ausjuprigen und aus dem Materiale der Wirklidfeit den Cha- rafteren und Greigniffen cine faflide, handgreiflide Geftalt zu— ſammenzudichten.

Goethe hat ſeine Selbſtbiographie Dichtung und Wahrheit ge— nannt, nicht weil er allerhand romanhafte Erfindungen eingewebt, ſondern weil er wohl erkannt hatte daß allmählich in der betrach— tenden Erinnerung auch das Selbſterlebte die Geſtalt annimmt die der Geiſt ihm gibt, und daß ſtets die Phantaſie arbeitet in geſchloſſenen Geſtalten das Innere und Ideale mit einem ihm ent ſprechenden Aeußeren zu bekleiden. Viele Erzählungen die uns das griechiſche Alterthum von Dichtern überliefert, ſind anderer Art; ſie gehören der Phantaſie des Volkes an, die bald das Bild von der durch die Werke ausgeprägten geiſtigen Perſönlichkeit nun auch in den Ereigniſſen des Lebens oder Todes ausgedrückt ſehen wollte; andere, wie die Geſchichten von Arion, Ibykos, Simonides haben den ethiſchen Kern- und Ausgangspunkt daß der Dichter unter dem Schutze der Götter ſteht, daß ſie ihm, der ſie mit ſeinen Liedern verherrlichet, auch wieder rettend oder rächend nahe ſind. Es ijt ziemlich gleichgültig ob die Phantaſie des Volls dabei an beſtimmte Thatſachen anknüpfte, oder die Idee ſich den Stoff er- zeugte. Bei Arion wie bei Jonas ſcheint ein Lied von einer

1. Die Phantafie: d. Sprade und Sage. 521

Rettung aus Sturmesnoth durch feinen bildlid) didjterifden Aus. dbrud das Wunderbare der Erzählung veranlaft zu haben.

Auf diefem ganzen Gebiete fann ausnahmsweiſe aud einmal eine beabſichtigte Taujdung vorfommen, im ganjen aber haben wir es mit abſichtsloſen Bhantafiegebilden ju thun, die das Wefen oder den Geijt der Thatſachen ridjtig auffajfen und den aus der Hille der Erjcheinungswelt gewonnenen Eindruck faflid) Har gee ftalten. Nicht blos in einer entſchwundenen Bugendzeit, nod immer ijt die PBhantafie fo mächtig daß ihre Gebilde in dem Geiſt deffen der fie vernimmt und der ſie ſchafft fid) gur Wirk- lidjfett verfeften finnen, wenn aud) in Tagen vorherrſchender Ver- ftindigteit der Glaube an die Reflexionen derſelben ftirfer ift. Strauß Hat hieriiber cine feine Bemerfung gemadt. Livius findet dic Ueberlieferung von religiöſen Gebriuden die Numa an- geordnet haben foll, er gibt ſogleich pragmatifirend den Grund an: damit die Menfden etwas gu thun hätten und nicdt in der Mufe ausgelaffen wiirden, und weil er die Religion fiir das befte Mittel gehalten die Menge gu zügeln. Cr erzählt weiter dag Numa freie und gefdjloffene Tage (dies fastos et nefastos) augeordnet, weil es voransfidtlid’ mandmal gut fein fonnte, wenn mit dem Volfe nidjts verhandelt werden dürfte. Diefe Beweggriinde waren ſicherlich nidt die leitenden bei der Entftehung jener Ordnungen. Aber Livius glaubt e8, und die Combination feines erwiigenden Verftandes diinfte ihm fo nothwendig daß er fie mit voller Ueberzeugung der Wirflidfeit vortrug. Die Volfs- jage erflirte die Sache anders, nämlich aus den Zuſammenkünften Numa's mit der Göttin Egeria, die ihm offenbart habe was fiir Dienfte den Göttern die willfommenjten feien. Und id meine die Volksſage hatte die tiefere Wahrheit erfaßt: daß in der Re- ligions- und Staatsgriindung ein göttlicher Wille durd) den Men— jen vollftredt wird, oder wie Heraflit fagt dak ein gittlides Geſetz alle menſchlichen nährt. So leiht Shiller in jeiner Ab— handlung liber die Sendung Mtofis dem Heroen des Ulterthums die Aufflirung des 18. Jahrhunderts, der jüdiſche Volfsgeift fafte die Sache wiederum ridtiger, wenn er aud) aus der innern Offenbarung eine äußere madjte, und fie mit allerhand finnliden Hiillen umgab.

Ich erlaube mir jum Abſchluß diefer Betradtungen auf meine Religisjen Reden gu verweifen, wo id) unter anderem Folgendes jagte: Sn der hiſtoriſchen Gage tritt der Geift der Gade, die

522 Ill, Das Schine in der Kunft.

ewig treffende Wahrheit in der Geftalt des Factums oder Ereig— nijfes auf. Die Phantafie nimmt die Liuterung dev Beit an den irdiſchen Dingen vor, indem fie das Verginglide ſchwinden (aft oder fret behandclt, und die Helden der Geſchichte ftatt durd) die Sage ju leiden gehen in reinerem Lichte wiedergeboren aus ihrer Werkftatt hervor. In der Gemiithswelt wurjelud und von ihr fortgebildet, niemals blos vom Gedächtniß, fondern aud vom Hervjensfinne getragen ijt der Mythus cin’ der geiftigiten und wirffamften Befigthiimer der Menſchheit, die fic) im ihm den eigenen Lebensgehalt, da8 eigene Werden vorgeftellt, fiir die ein- zelnen Völker den anſchaulichen Ausdruck ihrer Eigenthümlichkeit darin niedergelegt hat. Der Mythus in der Geſchichte iſt cine poetiſche Philoſophie derſelben: die große Bedeutung einer Perſon oder einer That, der Zuſammenhang mit andern Gebieten und Zeiten, der innewohnende Geiſt der Sache ſelbſt wird in ihm ſymboliſch ausgeſprochen.

Die Sage ſchafft dem Geiſt der Geſchichte einen idealen Leib und offenbart Sinn und Bedeutung epochemachender Ereigniſſe in einzelnen ſtrahlenden Bildern, die in der Wirklichkeit wurzeln, aber zum Ausdruck von dem Charakter des Volfes und der Zeit idea- lifirt werden. Go ift das Nibelungenlied der Mythus vom Volfer- fampf und Völkeruntergang in der Volferwanderung, ftatt vieler Begebenheiten während mehrerer Sahrhunderte Cin grofartiges und herrlides Gemälde, und Dietrid) von Bern, wie er einſam unter den Trümmern ſteht, reprijentirt fein Volf, das fo ſchnell alg rubmreid) aus der Gefdidjte verſchwand. Oder betradten wir die Kindheit Chrijti, von der ic) in den erwähnten Reden gejagt: Sn einer Krippe liegt der Neugeborene jum Zeichen daß fein Reich nicht von dieſer Welt ijt. Hirten find es die ihn zu— erft begriifen, denn den Armen wird er das Evangelium predigen und das einfach ſchlichte Gemiith wird ihn zuerſt verftehen. Aber aud) die Weifen des Morgenlandes ziehen heran, der Heiland ift ja der Erſehnte der Völker, und fie haben in ihrer Naturreligion den Stern, der anf Chriftus hinweift und dort ftille fteht wo er, der wahre Stern de8 Heil, aufleudtet. Simeon und Hanna, dic im Dienfte des Herrn Crgrauten, find die Reprifentanten de8 altgewordencen Judenthums, deffen Weiffagung hier unmittel- bar an die Erfiillung angefniipft wird. Die weltlide Tyrannen- madt des Herodcé iiberfallt ein Grauen vor dem König der Frei- heit und Liebe, und fie midjte thn gern erwiirgen; aber nidis

1. Die Phantafie: d. Sprade und Sage. 523

vermag die Gewalt gegen cine Idee und gegen Denjenigen weldjen Gott zum Herolde derjelben erforen hat. Man braudt die Wider- {priide nicht gu leugnen welche die hiſtoriſche Rritif bet dieſen nad) vieljtimmiger Ueberlieferung von verfdiedenen Händen anf- gezeichneten Erzählungen gefunden Hat; fie thun der Ueberzeugung feinen Abbruch dah fic) in ihnen dod) das Weſen Chrifti in feinem Verhältniß zur Welt ebenfo finnvoll als anmuthig ausprägt und fiir das Volfsgemiith nidt ſchöner dargeftellt werden fann. In der Kunſt Haben fie cine fortzeugende Macht bewährt, die Philo— fophie der Religion und Geſchichte findet fic) in ihnen wicder und erfennt ifre ideale Wahrheit an.

Sn joldem Sinn hat Weife gu ciner äſthetiſchen Auffaſſung des Lebens Seju die Bahn gebroden; irrthiimlid) hat man feine Darftellung fiir cine allegorifde auszugeben geſucht; fie fieht in den Wundererzihlungen von Chriftus nicht blos eine mechanifde Ucbertragung altteftamentlider Vorftellungen auf thn, fondern trägt dem Schopferifden in jeiner Perjonlichfeit, dem überwältigenden Cindrud ſeiner Größe Rechnung, und verfennt die Productivitit des neucn Geiftes nicht, den er erwedt hatte. Weiße felber weift jede abfidjtlidle Erdidjtung von dev Hand. Er erfennt mit uns nad) Otfried Müller's VBorgang daß der echte Mythus mit der unbewußten Nothwendigfeit eines Naturproducts aus dem Bolfe hervorwächſt. Allerdings (aft fic) nidjt anders annehmen als daf jeder einzelne Bug der Gage auch anf einen einzelnen Urheber zurückweiſt; aber dag viele Cingelziige zuſammenwachſen können, das ertweift fie fihig einem Volfsglauben, einer Sdee, die fiir die Menſchheit Wahrheit hat, gum WAusdruc gu dienen. Beder Er— zähler Eniipft an die Gejdichte und die folgenden halten fid) an die Ueberlieferung, aber unwillkürlich verſchmilzt ihnen Thatſache und Gedanke, und das Idealbild hat für ſie die gleiche innere oder geiſtige wie factiſche Wahrheit. Daß ſich Mythen bilden beweiſt eben daß cine geiſtige Subſtanz im Volksgemüth vorhan- den iſt, daß der Eindruck einer großen Perſönlichkeit auf die Ge— müther, daß das Aufleuchten einer neuen Idee in den Seelen nach Geſtaltung ringt. Wir erkennen aus den Mythen wie ein Moſes und Lykurg, ein Muhammed und Alexander oder Karl der Große im Bewußtſein der Zeitgenoſſen lebten.

Auch über das Verhältniß des Mythus zur Kunſt finde ich von Weiße das Rechte ſo übereinſtimmend mit meiner Anſicht aus— geſprochen, daß ich mich ſeinen Worten anſchließen kann. Der

524 III. Das Schöne in der Kunft.

wahre Mythus, ſagt er, ift ein Gebilde welches, fo fehr es ſich dazu eignet alé Gegenftand und Inhalt der Runft und Kunſtpoeſie zu dienen, ja fo fehr ihm fojujagen der Trieb inwohnt Kunſt— gebilde alfer Art aus feinem Schos hervorgehen ju laſſen und fic) felbft in fie hinetngugeftalten, dod) an fic) ſelbſt und von Haus aus etwas ganz anderes als wirflide Runftdidtung ift. Es ift cine durdjaus objective Poefie, die nur in der Erfindung oder Zujammenftellung von Thatſachen, aber nicht in der Form des Ausdruds und der Darjftellung beruht. Darum fann er vor der Hineinbildbung in die Form des wirfliden Runftwerfs and auf ſchmucklos ſchlichte Weiſe beftehen, und Fann auf dieſe Art friiher von der Gejdhidjtidreibung als von der Kunſt in ihr Ge— bict gejogen werden. Co finden wir bet den alten lateinifden Hiftorifern derjenigen germanijden Vilfer die mit den Römern durd) die Vilferwanderung in Beriihrung famen und dadurd eine Geſchichtſchreibung erhielten che fie nod) cin nationales Epos oder andere Formen der Kunftpoefie aus ihrer Mitte erjeugt batten, wir finden bet Sornandes, Paulus Diaconus, Gregor von Tours cine Menge fagenhafter Züge, foldje die der cigentliden Hiftorie theils vorangehend, theils in dieſelbe einverwebt genau in dem- jelben funftlofen Lone wie diefe erzahlt find und in der Form ihrer Darftellung nicht die mindefte Spur der poetifden Ent: ftehung an fic) tragen. Dod) miiffen wir ihre Quelle in der Phantafie fuden, und es werden aud) ausdrücklich Vollslieder mythijden Inhalts von jenen lateiniſchen Geſchichtſchreibern ſelbſt erwähnt. Wir finnen an das erfte Bud) ded Livius erinnern, wo aud) die Volsfage nidt vom Didjter fondern vom Hiftorifer bearbeitet ift, und dann wieder mit Weife der zahlreichen Mythen gedenfen weldje mitten in geſchichtlicher Zeit faft bet allen irgend bedeutenden Perfinlidfeiten und Creigniffen insbejondere gwar , die Mythengebärerin Hellas’, mehr aber oder weniger aud) alle Völker des pocfiereidhen Alterthums und Mittelalters, zu den nadten gefdicdtliden Thatſachen Hinguerfanden, nidt blos um dieſe durd) didjterifden Schmuck zu beleben, fondern mehr nod) um dem hinter der ftarren Unimittelbarfeit des Thatfidliden fid verbergenden Geifte einen Ansdrud ju geben. Mit weldem Laub- und Blütenſchmuck duftiger Gagengewinde umgab das Grieden- thum oft ſchon zur Zeit des Lebens, faft immer wenigftens ſehr bald nad) dem Tode faft jeden feiner grofen Manner! Nicht ctwa nur foldje deren Thaten ohnehin fdon ju didterifder

1. Die PBhantafie: d. Sprade und Sage. 525

Faſſung aufforderten, fondern aud Phifojophen, Staatsmänner, Dichter, folde deren Schickſale fic) in unbemerkter Cinjamfeit verloren und nidté weniger als einen romantifden Charafter der Anſchauung darboten. Und dieſe Gagen find feine leeren Er— findungen, vielmehr liegt in ihnen ein nidt gering ju ſchätzender geiftiger geſchichtlicher Gehalt. Sie find beftimmt die Gejdidte im einzelnen und bejondern auf entipredjende Weife zu ergdnjen, wie die großen Mythenkreiſe, die von der Götter- und Heroen- welt reden, die Weltgefdhidjte im ganzen und grofen nach rück— wärts zu ergänzen und fie an das Ewige, aus dem alle Gejdidte ihren Urjprung hat, zu fEniipfen die Beſtimmung haben. Sie enthalten bildlid) ausgedrückt in finnvreicher fiihner Gymbolif geiftige Bezüge und Charafterelemente der Begebenheiten, jolche die nicht in unmittelbarer Thatſächlichkeit erjdeinen und fic) aud nidt in einer geſchichtlichen Erzählung ohne jene tiefergehende Reflexion mittheilen laffen welde man Philofophie der Geſchichte nennt. Sie enthalten recht eigentlid) eben eine Philojophie der Gejchichte, fo eingefleidet wie die Reitgenoffen ver Begebenheiten fie einfleiden muften, wenn fie ihnen verſtändlich werden follte, oder vielmehr wie der Geift der Gefdhidte fid) fiir die Reitgenoffen

. ohne ihr Zuthun, ohne irgendeine Abſichtlichkeit ber Erfinder, felbjt

einfleibete um fic) ifnen zu offenbaren.

Gerade weil der Miythus didterijder Natur ijt, liebt er das Wunderbare, und damit zeigt er daß er fic) wiederum an die Phantafie ridtet und wie bet Kunftwerfen nidt den Glauben an cin äußerliches Gefdehenfein, fondern an die Idee verlangt. Daß jum Beifpiel Lear und feine Tichter, Glofter und feine Söhne gerade fo gelebt und gehandelt wie die große Tragödie fie dar- ſtellt, das braudjen wir nicht anjunehmen; aber daß die Verlegung der Pietät eine Zerrüttung des ganzen Dafeins mit fic) fiihrt, daß mur die Liebe felber dann der rettende Engel ijt, da8 will der Dichter da8 wir ifm glauben follen. Und fo ift das Wunder feine wirfliche, aber cine wahre Geſchichte. Gerade wo id) dad Wirfen und Walten Gottes in der Gefchicjte betone, feine aller Berechnung fic) entziehende Offenbarung im Geifte der Menjden, jeine Vorfehung, deren Wahrheit einem jeden empirijd) gewif wird der das eigene Leben nicht leichtſinnig lebt, ſondern gründlich be- trachtet, gerade wo ich dadurch vielleicht bei Vielen den Vorwurf des Myſticismus auf mich laden werde, halte ich es für erforder— lich ausdrücklich zu erklären daß ich Gott und Natur nicht trenne,

526 Ill. Das Schöne in der Kunft.

jondern in den Gefeben der Natur die Wirklidfeit vom Willen Gottes erfenne, und darum feine Macht und Größe nicht in etner Unterbredjung oder Ourdliderung des Weltzujammenhangs, in cinem Widerjprude mit ihm ſelbſt fuden fann. Will man gar durch folche Unbegreiflidfeiten, wie die Wunder im gemeinen Ginn find, nod) Wahrheiten beweijen die durch fic) ſelbſt cinleudten, will man das Denknothwendige durch da8 Undenfbare begriinden, jo ijt das cin baarer Hohn der Geiftlofigfeit gegen den Geift. Auch ijt die Herrſchaft des Geiftes fiber die Natur, die Andern das Wunder ausmadjen foll, gerade die Vernunft ihrer Geſetz— mäßigkeit, und befteht weiter darin dak der bewufte Sinn die Thitigkeiten der Natur fiir fid) verwendet und ordnet. Das Wunder heißt uns alſo nicht Mutter des Glaubens, fondern „des Gfaubens liebjtes Kind’, wie Fauft fagt; die Wundererzählung ijt ein Erzeugniß der gliubigen Anfdhauung. Die Seele, von ciner Wahrheit erfaßt und nod) unfiihig diefelbe fic) in der Sprache des Begriffs flar gu madjen, drückt fie in finnvollen Bildern aus, die wieder von der Phantafie als Triiger des Ge- danfens aufgefakt und genoffen fein wollen, die wieder anreizen unter ihrer Hiille die Idee zu ergreifen, welche ihnen das zauberiſche Gewand gewoben hat. Dak Chriftus die Trennung zwiſchen Gott und Welt aufhob, wie wollt thr es ſchöner ausdrücken als dag in der Stunde feines Opfertodes der Vorhang vor dem °Aller- heiligſten zerriß? Erkenne man die Tiefe der Idee und die ſich offenbarende Gottesmacht, erfernne man da8 Walten und Geftalten der Phantafie in der Geſchichte, erhebe man fic) zur geiftigen und phantajievollen Auffaffung ihrer Gebilde, und an die Stelle des bornirten Rbhlerglaubens und des kritiſchen Haders wird der be- jeligende Genuß der freien Wahrheit treten.

Wenn man das Poctijde proſaiſch nimmt, fo entfteht der Aberglaube. Die Milch der Wolke löſcht das Feuer des Bliges, jo lautete das urjfpriinglide Bild, aber der deutſche Baner bradjte ſpäter Kuhmilch herbei, wenn der Blitz eingeſchlagen hatte. Nod) ſchlimmer ift e8 wenn man Glaubensſätze aus Winder: fegenden macht, durd) Facten welche den Gefegen der Natur und Geſchichte widerfpreden, einfade religidje Wahrheiten beweijen will, die fiir fic) dem Gemiith einleudten, ftatt dag man erfennen jollte wie jene Erzählungen ſelber die didjterifde Cinkleidung von Gedanfen find.

Sch Habe den Mythus ein vom Herjzensfinne des Volks gehegtes

1. Die Phantafie: d. Sprade und Sage. 527

Gut genannt; da8 Volf will nidt von ihm laſſen, aud wenn eine andere Weltanfdjauung, eine neue Religion cintritt. Co iibertrugen unfere Ahnen, als fie Chriften wurden, fo viele an- muthige Züge der heidniſchen Gittinnen auf die Mutter Jeſu, oder der Heiland und feine Heiligen wanderten nun ftatt der alten Götter anf Erden. Aus der Gitterjage ging vieles in die Heldenfage iiber, und wie e8 fid) durd) die Sahrhunderte im Gemiithe des Volks erhielt, fo machten es die nachwachſenden Sefdledjter fic) mundgeredht, und ftatt des Schlafdornes von Wuotan ſticht nun eine Spindel die Königstochter daß fie cin- ſchlummert, aus dem Wall von Feuer und von Sdhilden wird eine Dornhede, und aus dem Sonnengott und dem Helden Sieg- fried wird der Königsſohn, der Dornröschen mit jeinem Kuſſe er- wedt. Mod) umfliegen die Raben Odin’s Hugin und Munin, Verftand und Crinnerung, den Kyffhäuſer um dem entriidten Barbaroffa Kunde zu bringen. Wer in der Gébttermythe anf Odin's Stuhl figt der überſchaut von dort alle Dinge; ftatt defjen [apt das Märchen durd) eine verborgene Thiir in einen Spiegel blicen der das Ferne zeigt. Weil der Mythus eines idealen und herrlicen Gehaltes voll ijt, und im Märchen feine Triimmer, fetne Nachklänge beftehen, daher bet dem ſcheinbar ganz ungebundenen und fderzenden Spiel der Rinderphantafie zugleich das geheimnigfvoll Sinnreide und namentlid) die fittlide Grund- {age oder die wunderbare Vollftredung der poetiſchen Geredhtigfeit.

Wir fiigen nod) an was Safoh Grimm iiber das Verhältniß von Gage und Gefdidte gejagt hat: „Sage und Gefdhicte find jedeSmal eine ecigene Macht, deren Gebiete anf der Grenze in- einanbder verlaufen, aber auch ihren befonderen unberiifrten Grund haben. Aller Gage Grund ijt nun Mythus, da8 heift Gitter- glauben wie er von Golf gu Volf in unendlider Abftufung wur- zelt: ein viel allgemeineres unjtetereds Element als das hiftorifde, aber an Umfang gewinnend was ihm an Feftigfeit abgeht. Ohne ſolche mythiſche Unterlage läßt fic) die Gage nicht faffen, fo wenig als ohne gefdehene Dinge dice Gefdhidte. Während die Geſchichten durd) die Thaten der Menſchen hervorgebradjt wer- den, ſchwebt über ihnen die Sage als cin Schein der dazwifden glänzt, alg cin Ouft der fic) an fie fest. Niemals wiederholt fic) die Geſchichte; die gefliigelte Gage erhebt fic) und fenft fid; ihr weilendes Niederlaffen ijt eine Gunjt die fie nicht allen Völ— fern erweiſet. (2) Wo ferne Greigniffe verloren gegangen wären

528 IIT. Das Schöne in der Kunſt.

im Dunfel der Beit, da bindet fid) dic Sage mit ifnen und weif einen Theil davon yu Hegen. Wo der Mythus geſchwächt ift und jerrinnen will, da wird ihm die Gefdhidjte jur Stiige. Wenn aber Mythus und Gefdicdjte inniger zujammentreffen und fid) vermählen, dann ſchlägt das Epos ein Geriifte auf und webt jeine Fäden.“

Wir werden bei der Betradtung der Architeftur und der Volfspoefie das Zuſammenwirken vieler gleidjartiger Kräfte in jener inftinctiven Production wiederfinden, die an die Thitigfeit erinnert wie die Bienen ihre ellen bauen; ein gemeinſchaftlicher Trieb führt voneinander unabhingige Sndividuen ju gemeinfamen Werfen; die gleide Anſchauungs- und Empfindungsweife ſtiftet einen geiftigen Zuſammenhang, innerhalb deffen der Einzelne nidt etwas fiir thn Abſonderliches vollbringt, fondern nur als ein Werkzeug des allgemeinen Geiſtes erjdeint. Shelling gedenft einmal aud) einer natiirliden Weltweisheit, die durd) Vorfälle des gemeinen Lebens oder Heitere Gejelligfeit erregt immer nene Sprichwörter, Räthſel, Gleidhnifreden erfindet. „So vermige eines Ineinanderwirkens von natürlicher Philoſophie und natür— licher Poeſie, nicht vorbedachter und abſichtlicher Weiſe, ſondern ohne Reflexion im Leben ſelbſt ſchafft ſich das Volk jene höheren Geſtalten, deren es bedarf um die Leere ſeines Gemüths und ſeiner Phantaſie auszufüllen, durch die es ſich ſelbſt auf eine höhere Stufe gehoben fühlt, die ihm rückwirkend fein eigenes Leben ver- edeln und verſchönern, und die einerjeits von ebenſo tiefer Natur- bedeutung als von der anderen Seite poetifd) find.”

Mythen bildend, Ideale ſchaffend in welchen die Errungenſchaft geſchichtlicher Entwickelung Halt und Geftalt gewinnt, bereitet die Fhantafie der Menſchheit der Kunft den Boden und arbeitet ihr vor. Die Kunſt findet hier die bereits innerlich wiedergeborenen Stoffe fiir ihre Werfe. Zeus und Athene, Achillens und Odyſſeus, Abra- ham und Sofeph, Sefus und Maria, Siegfried, Tell und Fauſt fie {ebten als Sdeale in der Bhantafie des Volfs, und Plajtif und Maleret, Mufif und Poefie erfaſſen fie nun um fie in harmonijd) abgefdloffenen Gebilden fitnftlerifd) vollendet auszuprägen.

e. Der Genius.

Gin in fic) geſchloſſenes organiſches Werf bedarf immer des Meijters. Und wenn ein dhriftlidher Bauſtil nicht die Erfindung

1. Die Phantafie: e. Der Genius. 529

eines Einzelnen war, fondern aus den Bediirjuiffen des Cultus und der Stimmung des Gemiiths fic) allmählich im Lauf der Sahrhunderte entwidelte, der Kilner Dom oder der Stragburger Münſter verlangte cinen Genius, der auf Grundlage der Ueber lieferung den Entwurf de8 Baues durchbildete; ebenfo wie der epijde Volfsgejang ſchon von Geſchlecht zu Geſchlecht die Charak— tere der Helden und die Thaten vor Troia unter den ioniſchen Griechen feſtgeſtellt und ausgeführt hatte, der organiſirende Künſt— lergeiſt Homer's aber nothwendig war um das große Ganze der Ilias aus dem ihm bereiteten Material zu ſchaffen. Das Weſen und Wirken des Genius haben wir min ju betradten.

Ich habe friiher erirtert wie jeder cin Genius ift der den Muth oder reinen Willen hat es zu fein; und gewiß jeder fann cinmal irgend etwas vollbringen was fonft niemand jo geleiftet hätte, wenn and) nur durd) die Innigkeit der Gefinnung, die den Werth der That beftimmt. Seder hat cine eigenthümliche Lebens- idee; aber mur wenige Lebensideen find weltgeſchichtliche, mur wenige Schöpfungen auf dem Felde des Handelus, Forjdens, RKunftbildens find von der Art dah fie jugleid cin Räthſel der Menſchheit löſen, das Wort eines Sahrhunderts ausfpreden, die fangfam gereifte Frucht vicler Gefdledter pfliiden. Den Urheber von foldjen nennen wir vorzugsweiſe cinen Genius.

Der Genius ift original. Gr fördert etwas Neues in der Menſchheit 32 Tage, da8 aber ein ewig Wahres ijt und durd) ihn zu allgemeiner Gültigkeit kommt, oder wie Viſcher dics ausdrückt: „er hat ein neues ſubjectives Weltbild, das zugleich vollkommen objectiv, die Sache ſelbſt iſt.“ Er erfaßt den Kern der Sache, und entfaltet an ihm ſeine Kraft; ſo verliert er ſich nicht in den Reiz der Nebendinge, ſondern kommt zum Großen und Ganzen. Der Schlag den er thut trifft des Nagels Kopf, das Wort das er ſpricht widerhallt in den Gemüthern. Vor dem Zeus des Phidias ſinkt Griechenland anbetend nieder, denn bildend hat der Künſtler den Beweis geführt daß die höchſte Macht in Gott zu— gleich die höchſte Güte iſt. Die Männer, welche die Geſchichte mit dem Namen des Großen ehrt, haben darum den Lorber des Siegs gebrochen, weil die Idee welche das Licht und das Pathos ihrer Seele war dem Geiſt ihres Volks die zuſagende Bahn wies, die entſprechende Form gab. Das Menſchengeſchickbezwingende des Genius beſteht darin daß er in der Entfaltung ſeiner Natur ein Nothwendiges und Allgemeingültiges vollbringt.

Carriere, Aeſthetik. I. 3. Aufl. 34

530 III. Das Schöne in der Kunft.

Fichte jdreibt in der Abhandlung über Geift und Budftab in der Philofophie: „Nirgends als in der Tiefe fciner eigenen Brujt fann der geiftvolle Künſtler aufgefunden haben was meinen und aller Augen verborgen in der meinigen liegt. Gr rednet auf die Uebereinftimmung anderer mit ihm, und rednet ridtig. Wir jehen daß unter feinem Ginfluffe die Menge, wenn fie mur ein wenig gebildet ijt, wirklid) in Cine Seele zuſammenfließt, daß alle individuelle Unterſchiede der Sinnesart verſchwinden, dak die gleide Furcht oder das gleiche Mitleid oder das gleide geiftige Ver— gniigen aller Herzen hebt und bemegt. Er mug demnad, inwie- fern ev Künſtler ift, dasjenige was allen gebildeten Seelen gemein ijt in fic) haben, und anftatt des individuellen Sinnes, der uns andere trennt und unterfdeidet, mug in der Stunde der Begeifte- rung gleidjjam der Univerjalfinn der gejammten Menſchheit und nur diejer in ifm wohnen.“ De sens commun c'est le génie de Vhumanité!

Aber gugleid) macht der Genius den andern nidt blos die alfgemeinen Gedanfen deutlid), fondern er gibt ifnen auch feine Seele, wie Schiller, das Individuelle betonend, in Bezug auf jene Abhandlung an Fidte ſchrieb; denn nur das, fagt der Didter, wird nie entbehrlid) worin fid) ein Individuum lebend abdriidt; e8 enthilt dadurd ein unvertilgbares Vebensprincip in ſich, eben weil jedes Sndividuum einjig, mithin unerfeglid) und nie erſchöpft ijt. Und feineswegs fiigt fid) der Genius, indem er ein Allge— meingiiltiges ans Licht fördert, der herrſchenden Zeitridjtung oder dem Ginn der Menge; vielmehr bringt er etwas Neues, das oft nicht fogleic) verftanden wird, und daher erntet er oft ftatt des Yorbers die Dornenfrone und ftatt des Beifalls Spott und Hohn. Sahrelang mußte Columbus fehen dag die Leute, wenn fie ihn jahen, nad) ihrer Stirn bdeuteten als ob ein Wabhnfinniger vor- iiberginge. Daher gerade die Strenge die der reformatorifde Geift den Reitgenoffen gegeniiber übt. „Es gibt nidjts Roheres“, ſchreibt Schiller in dem erwähnten Brief an Fidte, „als den Ge- ſchmack des jegigen deutſchen Publifums, und an der Beriinde- rung dieſes Geſchmacks gu arbeiten, nicht meine Modelle von ihm zu nehmen, ift der ernftlide Blan meines Lebens. Unabhingig von dem was um mid) herum gemeint und geliebfofet wird, folge id) nur dem Zwange meiner Natur oder meiner Vernunft.” In den Briefen über ajthetifde Erziehung ſchreibt Shiller weiter: „Wie verwahrt fid) aber der Riinjtler vor den Verderbniffen feiner

1. Die Phantafie: e. Der Genius. 531

Beit, die ifn von allen Seiten umfangen? Wenn er ihr Urtheil veradtet. Gr blide aufwarts nad) feiner Wiirde und dem Ge- jege, nidjt niederwirts nad) dem Glück und nad) dem Bedürfniß. Gleich fret von der citeln Gefchiftigfeit, die in den flüchtigen Augenblic gern ihre Spur drücken möchte, und von dem unge- duldigen Schwirmergeift, der auf die dürftige Geburt der Reit den Maßſtab des Unbedingten anwendet, überlaſſe er dem Ber- ftande, der hier einheimiſch ijt, die Sphiire des Wirkliden; er aber ftrebe aus dem Bunde de8 Möglichen mit dem Nothwen- digen das Sdeal gu erzeugen. Dieſes präge er aus in Täuſchung und Wahrheit, priige es in die Spiele feiner Cinbildungsfraft und in den Ernſt feiner Thaten, priige er ans in allen finn- licen und geijtigen Formen, und werfe es ſchweigend in die un- endliche Zeit.”

Als Kepler die Harmonie der Welt erfannt hatte, dadhte er: Sch werfe das Los und fdjreibe das Bud), ob es das gegen- wiirtige Gejdledt leſen wird oder ein jufiinftiges, das ift mir einerlet; es kann jeinen Leſer erwarten. Hat Gott nicht felber fedjStaujend Sabre lang eines aufmerkſamen Betradters feiner Werfe warten miiffen? Spinoza ſchliff Glas um feine Unab- hängigkeit ju wahren und jeine Ethif der Nachwelt als Vermiidt- nif ju hinterlaſſen. „Weß Brot ich effe, deh Lied id) finge’, jo ſagt nur der gemeine Sinn; der Riinjtler der aus Gewinnſucht dem Publifum dient oder um die Gunjt der herrjdenden Mächte buhlt, ſchändet ſeine Gaben und verleugnet den Genius. Der Genius bleibt eben nicht befangen in dem Borhandenen, jeine Sendung ift ja einen Bann gu löſen der auf der Menſchheit laſtet, ein geiftiger Befreier gu fein, einen Schleier ju heben, an den der Blic ſich gewöhnt hatte, und ein neues Licht anzuzünden, das anfangs wol die Augen blendet. Das Neue das er bringt, das ihm Eigenthümliche .hat er nicht von andern erfahren, vielmehr weif und fann er etwas das weder lehrbar nod) lernbar ijt. Gr ift freie Naturfraft beſeelt vom göttlichen Geijt. Wie Heraflit jdjon weig dak bloke Gelehrjamfeit dic Seele nicht bilde, fondern daß Gines weife fet: zu Leben in der Vernunft die Wes durch— waltet, fo fingt aud) Pindar:

Der ift weife der da Vieles weiß durd) Natur; Dod) die lernten ſchwätzig Allfertiger Zunge wie die Raben ſchreien Untauteres fie Hinanf yu Zens’ heil’gem Adler. 34*

532 III. Das Schöne in der Kunft.

Das Genie ift Naturfraft; inftinctiv, reflexionslos, einem in- nern Drange folgend fpridjt es aus was die GErfiillung fiir das Sehnen und Bediirfen der ganzen Beit bildet. Die Naturfrajt bridjt oft ftiirmtfd) und ungeftiim hervor, und fommt felten in fo zierlichem Goldfdnitt zur Welt wie ein Theil unferer neumodi- ſchen Literatur, die ebenfogut der Buchbinder als der Poct fiir die Nipptifde der fetnen Welt zierlich zurichtet. Aber das drang- volle Ungeftiim findet fein Maß in fic); maßvolle Rraft ijt ert die rechte Kraft; eine Macht die ihrer felbjt nicht mächtig ift mug vielmehr Ohnmacht heifen.

Der Genius ift bahnbredend, und die Talente gehen dann weiter auf feinem Weg und iibertragen die von ihm gefundene orm mit techniſcher Fertigfeit und Leidhtigfeit, mit Heinen Mo— dificationen auf andere Gegenjtinde, wie bet den Griedjen der Typus bewahrt wurde den die erften Meiſter aufgeftellt in ihren Gétterbildern, aber die mitftrebenden Talente formten in dem ede[n Stil aud) die Arbeiten fiir das gewöhnliche Leben, gaben dem Hausgertith die finnige Kunftgeftalt, und ſchmückten die Vaſe des Tipfers, den Fupboden und die Wand des Zimmers mit herrlicjen Gemilden. Das Genie ift ſchöpferiſch, das Talent nadbildend, reproductiv, da8 Genie erjeugt der Gache die Form von innen heraus, da8 Talent bemächtigt fic) der Form um fie an andern Gegenftinden zu wiederfolen. Das Genie gejtaltet von innen heraus, ſodaß von der Sdee, die e8 erfaft hat, der Leib felber in organifdem Wachsthum bereitet wird, da8 Talent jammelt paffende Ziige und combinirt fie ju einem Ganjen. Der geniale Sdaujpieler verjegt fid) mit lebendigem Gefühl in die Perſönlichkeit die der Dichter fdhildert, und überläßt fid) dem Pathos der Rolle, der talentvolle fudjt aus der Beobachtung der Wirklidhkeit wie aus den Worten des Didhters die befondern Be- ftanbdftiide des Charafters gufammen; bei jenem ijt die Totalidee, das Ganje das Erfte, und die Theile gehen aus ihm hervor, bei diejem find die Theile das Erſte und das Ganje wird mofaifartig aus ihnen jufammengefiigt. Darum überwiegt beim Talent das Bewußte, die Reflexion, das funftverftindige Maden, während das Genie ein Größeres oder Tieferes hervorbringt als es felber dachte oder weiß; darum find die Arbeiten des Talents mehr zu— fällige und abjidjtlidje, die des Genies aber nothwendig fiir die ſchöpferiſche Perſönlichkeit und fiir die Welt.

Wir knüpfen hieran die Beftimmungen welde Schiller gibt:

1. Die Phantafie: e. Der Genius. 533

„Naiv muß jedes wahre Genie fein, oder es ift feines. Seine Maivetit allein macht e8 jum Genie, und was es im Intellectuel- fen und Aeſthetiſchen ijt fann es im Moralifden nidt verleugnen. Unbefannt mit den Regeln, den Krücken der Schwadheit und den Zuchtmeiſtern der BVerfehrtheit, blos von der Natur und dem In— ftinct, feinem ſchützenden Engel, geleitet, geht es ruhig und fider durd) alle Schlingen des falfden Geſchmackes, in welden, wenn es nidjt fo Flug ift fie von weitem gu vermeiden, das Nichtgenie unausbleiblid) verftridt wird. Nur dem Genie iſt es gegeben außerhalb de8 Befannten nod) immer zu Hanfe zu fein, und dic Natur yu ertweitern ohne iiber fie hinauszugehen. Die verwicelt- ften Aufgaben mug das Genie mit anfprudslofer Simplicitit und Leidtigfeit löſen; das Ei des Columbus gilt von jeder genia- liſchen Entſcheidung. Dadurch allein legitimirt es fid) als Genie daß es durd) Cinfalt über die verwidelte Kunſt triumphirt. Es verfährt nicht nad) erfannten Principien, fondern nad) Ginfillen . und Gefiihlen; aber feine Cinfille find Eingebungen eines Gottes, ſeine Gefiihle find Geſetze fiir alle Zeiten und fiir alle Geſchlech— ter der Mtenfden. Mit naiver Anmuth driidt das Genie feine erhabenften und tiefften Gedanfen aus; es find Götterſprüche aus dem WMtunde eines Kindes.“

Der Genius wird nicht durd alte Regeln geleitet, ex faft neuen Moſt in nene Schläuche, er ſchafft der neuen Idee die ureigene Verfdrperung, er fiimmert fid) nidjt, wie Glu von fid jelber jagt, um die herkömmlichen Regeln, wenn er ohne fie oder trot ihrer cine Wirkung erreiden fann, aber er ift damit nidt geſetzlos, fondern fic) ſelber das Geſetz. Nur eine falfde Genia- litdt ſucht in der Regellofigkcit ihre Gréfe. Gegeniiber dem Zwang conventioneller Formeln und deren beredjnender Befolgung dran- gen jene ſtürmiſchen deutſchen Siinglinge, die man die Kraftgenies nennt, auf die originale und freie Entfaltung der Natur und Begeifterung, und in ihrem Sinn fagte Sdiller durd) den Mund Rarl Moor’s: „Das Gefes Hat noc feinen großen Mann ge- macht, aber die Freiheit brittet Roloffe und Crtremititen aus.” Viele gingen in der Regellofigfeit unter; fie waren aber, um mit Lidjtenberg ju reden, gu dem Namen Genie gefommen wie der Rellerefel gum Namen Tanfendfiipler, nicht weil er wirklich tau- jend Füße Hat, fondern weil die meiſten Menſchen nicht bis ſechs— zehn zählen finnen. Das wirflide Gente unter ifnen fang den weiſen Spruch:

534 Il. Das Schöne in der Kunft.

Vergebens werden ungebund'ne Geifter

Mad) der VBolendung wahren Hohe ftreben. Wer Großes will muß fic) gufammenrafjen, In der Beſchränkung zeigt ſich erft der Meifter, Und das Geſetz nur fann die Freiheit geben.

Das gewshnlide Urtheil erfennt indeR den Genius immer nod weniger an der flaren Tiefe, an der ruhig milden Vollendung, alg an eingelnen Ausbrüchen bejonderer Kraft und Keckheit, an wunderliden Einfällen und itberrafdenden Wendungen. Dem Auge wird das Licht eben empfindlider, wenn es plötzlich im Dunfel aufbligt, alS wenn die Sonne feft am Himmel fteht, und das Funkelnde und Glingende imponirt mehr al8 der gleiche Schein der Tageshelle. Der wahre Genius wirkt aber nidt blos rnd- und ftopweife, fondern im Ganzen und durd) ein Ganzes; er zeigt fic) dod) größer und herrlicher bei Rant und Leffing als bei Ha- mann oder Baader, bet Sophofles und Goethe als bei Sean Paul oder Novalis. Nur eine ſelbſt franfhafte Zeitftimmung mag im franfhaft Ueberreizten und Zerriſſenen vornehmlid) das Geniale fehen, in der That und in der Wahrheit tft vielmehr Geſundheit ſein erfrenendes Kennzeichen. Die falſche Genialität fudt das abnorme Wusgefliigelte, die wahre liebt das Cinfade, allgemein Menjd lice.

Wie der Genius fich felber das Geſetz ijt, fo werden ſeine Werke Mufter fiir Mit- und Nadhwelt, und er offenbart das Ge- jes der Sphäre in welder er wirft. Darum werde ich in der Kunſtlehre nicht willfiirlide Theorien aufftellen, jondern durd Be- tradjtung der größten Meifterwerfe die Erkenntniß anftreben, und nachzuweiſen ſuchen wie die fo gewonnenen Sige aus dem Begriff der Kunft und dem Wejen des Geiftes folgen, oder ſach- und vernunftgemag find. Bon Homer werden wir das Gejes des Epos, von Shakejpeare das des romantifden Dramas erfahren, Phidias und Rafael werden über Plaftif und Malerei unjfere Lehrer fein; das Thatſächliche zu begreifen und gu begriinden wird aud) hier die Aufgabe der Philoſophie. Gene Künſtler find fid deffen nicht bewußt geweſen, fie haben nidt nad) ciner erfannten Regel ihre Werke verfertigt, fondern das Redjte war ihnen ein- geboren wie dic Norm der Blattitellung und Bliitengeftaltung der Rofe oder Lilie; dem Tieferblidenden cin Beweis dak das Geſetz der Kunft wie das der Natur in einem höheren Geifte, im

1. Die Phantafie: e. Der Genius. 535

gittlidjen liegt, der es dem einzelnen Lebenskeimen cingibt einem jeden nad) feiner Art.

Der Genius ſteht im Centrum des Lebens, er ſchafft im Licht einer gittliden Offenbarung, er fieht die Dinge wie fie vor Gott ftehen, er geftaltet fie organijd) aus dem innerften Grunde des Seins; wir erinnern an unfere obigen Erörterungen über Be- geijterung und Offenbarung, und fiigen nur nod) zwei Ausſprüche der größten Didtergenien der neueren Zeit hingu. Goethe fagt von Shakeſpeare: „Wir erfahren von ihm die Wahrheit des Le- bens und wiffen nicht wie. Gr gefellt fic) gum Weltgeift, er durchdringt bie Welt wie fener, und beiden ift nidts verborgen.“ Schiller begriift den phantafievollen religiös begeifterten Entdecer- qeift deS Columbus in Diſtichen, die er zugleich zum Symbol fiir alles geniale Schaffen ausprigt:

Steure, muthiger Segler! Es mag der Wits dich verhöhnen, Und der Schiffer am Steur fenfen die laffige Hand! Jmmer, immer nad) Weft! Dort muß die Küſte fic) zeigen, Liegt fie dod deutlich und liegt ſchimmernd vor deinem Berftand. Trane dem leitenden Gott und folge dem ſchweigenden Weltmeer! Wir’ fie nod) nidt, fie ftieg’ jest ans den Fluten empor. Mit dem Genius fteht die Natur im emigen Bunde, Was der eine verfpridjt leiftet die andre gewiß.

Das Genie iſt typenſchöpferiſch, das bezeichnet feine höchſte Potenz. Es findet das redte Wort, den neuen Ausdruc fiir den neuen Gedanken, und fest jo die ſprachbildende Thitigkcit der Menfhheit fort, und wie in der Mtythenbildung die Sdeale des Gemiiths und der Natureindriide in den Göttern, die Ideale des Volksbewußtſeins und der Gefdice in den Helden fiir die Ge— fammtheit fic) auspriigen, fo fdjafft fiir Stimmungen der Zeit wie fiir Grunbdridjtungen des Geiftes auch der Künſtler cinen idealen Typus, den wir dann nicht mehr entbehren fonnen. Den Ucbergang madjt es wenn die WAhnungen und Gebilde des Volks— gemiiths zu flarer Beftimmtheit gelangen, wenn ein Phidias den Hellenen vor Augen ftellt was fie in der Idee des Zeus, der Athene verehren; ev hatte das Redhte gefunden und fo bewahrten die folgenden Riinftler die Bilge die ex dem Gott und der Gittin gegeben. Go hat Homer den Adhilleus und Odyffeus, Rafael die Madonna, Goethe den Fauft, Mozart den Don Suan vollendet, während Shalefpeare einen Hamlet und Falftaff, Cervantes einen

536 Ill. Das Schöne in der Kunſt.

Don Quixote und Sando Panja, Goethe den Werther und Wil— helm Meiſter fret erſchufen.

Wenn nun der Genius fic) dadurch auszeichnet daß er cine weltgeſchichtliche Idee verwirflidt oder zur Darftellung bringt, fo folgt daraus dak dennod) die Zeit auf ihn vorbereitet jein mug, wenn fie ifn aud) nidt ganz erfaft, um wenigftens fiir den An— ſtoß empfiinglic) gu fein den er gibt; es folgt daraus dag ihm vorgearbeitet fein muß, und das beweiſt Leffing vor Goethe und Windelmann vor Thorwaldjen, wie Philipp vor Alexander und Karl Martell nebft Pipin vor Karl dem Groken. Nur auf einer beftimmten Entwidelungsftufe des Geijtes findet er fiir ſeine Be- gabung den redjten Wirkungskreis, fiir feine Eigenthümlichkeit die nothwendige Empfänglichkeit. Dies erwiigend können wir mit Weife ſagen dak der Genius priideftinirt ijt. Und daher der Sdhicjalsglaube oder das Vertrauen des Helden anf feinen Stern, weil er das Bewuftfein einer gottgewollten Mijfion in jeiner Brujt trigt. Go fagte Napoleon dak cin aufgeldfter aber nad) neuer Geftaltung hinftrebender Zuftand des Staats den Geift und die Kraft einer Perjinlidfeit fordere, in deren Selbſtbewußtſein ſich die Strahlen der aufgeregten Kräfte concentriven. Dieſer Cingelne ift bei einer jolden Lage der Dinge jedesmal vorhanden, es kommt mfr darauf an dak er feiner felbft und feineds Berufs bewußt werde. Und Heil dem Volt wenn er es mit ſittlicher Weihe thut, wie Cromwell, der Zuchtmeifter zur Freiheit in England! Da- gegen iſt es dem Volk zum Unheil, wenn er, wie Napoleon, ſelbſt— ſüchtig verfährt. Darum aber fehen wir dann im Auftreten des Genins nidts Rufilliges, fondern vielmehr den Beweis ciner die Welt durchwohnenden und durdhwaltenden Vorjehung, wir erfennen einen der Punkte wo die Weltgefdicdte ohne cine Welt- regierung nicht begreiflic) wiire, wo dieje aber nidt als Eingriff von aufen, fondern als helfende und firdernde Macht und Weis- heit von innen wirffam ift. Die höchſte dramatifde Begabung in Shakejpeare wiirde fiinfzig Jahre friiher oder fiinfzig Jahre ſpäter fpurlos voriibergegangen jein und feine Bildungselemente, feinen Wirfungstreis gefunden haben. Die gripten Künſtler ftehen auf der Hihe und Grenzſcheide der Sahrhunderte, dort wo zwei Pe- rioden zufammentreffen, fie fammeln das warme Abendlicht cines bedeutjamen Völkertages um es in reinem Glanze den fommenden Geſchlechtern zuzuſtrahlen, fie ftehen anf dem fejtgegriindeten Bo- den einer altehrwiirdigen Cultur und find jugleid) die Morgen:

1, Die Phantafie: e. Der Genius. 537

boten cines neuen Lebens, in deffen Freiheit fie hineinſchauen, deffen treibende Gedanfen fie mit melodifder Stimme verfiindigen; fie ftehen wie Memnonsfiulen anf Bergeshsh’, und während die Thiler nod Dämmerung det, erflingen jie vom Strahl der auf- gehenden Gonne, der fie zuerſt begrüßt. Go fdaffen und geftal- ten in Perifleds’ Zeit die Phidias und Sfopas, die Aefdhylos, Sophokles, Avrijtophanes: der Ginn der Marathonſtreiter reicht dem Cofratijden Geift die Hand, die alte religidspoctifde Bil- dung und die Naturfraft des VolfSganzen Leben nod, und zugleich entfaltet fic) der fclbftherrlidje Gedanfe, die Freiheit der Perfin- lichfeit und die Philoſophie. Wehulich verhalten fic) Michel Angelo und Rafael, Shafefpeare und Cervantes jum Mittelalter und der nenern Zeit, jene als Gipfelpuntte der religidjen und fymbolifden Runjt, aber mit dem Studium der Antife und der Natur aus- geriiftet, diefe als Dichter der Weltwirklichkeit und des felbjt- bewußten Geiftes, aber in der noch fortdanernden Crinnerung des Mtittelalters und allen Zaubers der Romantif. Wie Rafael die verſchiedenen Hauptridtungen der italientjden Malerei zur Vor— ausjesung Hat, und fie nur zur Harmonie fiihren fann wenn fie für fid) entwidelt waren, jo bedarf der dramatiſche Didhter, ſoll er feine verfriihte Geburt fein, der Wusbildung des Epos und der Lyrik in der feitherigen Literatur feines Volfes, weil feine Kunſt auf der Durchdringung diefer beiden Clemente beruht.

Dies veranfdjaulidjt uns die goldene Rette der Tradition, weldje Geſchlecht an Gejdledjt Eniipft und aud) da’ Werden der Menſchheit zu einem organijden Wadhsthume madt; es veran- ſchaulicht uns wie wenig aud) der Begabtefte für fic) vermidte ohne die mit ihm arbeitende Kraft der Sahrhunderte, als deren Erbe, in deren Zujammenhang er fein Werf vollbringt. Darum bedarf er bet aller Originalitit dod) der Schule um die Ueber: lieferung der Vorwelt fowol in ihrem Bdeengehalt als in ihrer Technik in fic) aufzunehmen; nur fo fann er als ein organijd fortbildendes Glied in der Weltgeſchichte wirfen; er erſcheint ftets da am herrlichſten wo er das volfsthiimlid) Begonnene, im Ge— miith des Vols Entiprungene, im Lauf der Bahrhunderte Fort- geftaltete, Fortgewachſene jum künſtleriſch vollendeten Abſchluß bringt. Allerdings fann das Beftehende niemals dem Manne villig geniigen der cine Miſſion in feiner Brujt poden fühlt, und daher ijt das erfte Auftreten des Genius oft ein ftiirmijdes, ge- waltfames; aber er findet nicht in dem Berftdren, fondern im

538 III. Das Schöne in der Kunft.

Erbauen feine Befriedigung, denn er fommt nidjt da8 Geſetz auf- guldfen, ſondern zu erfüllen. Sene fometenhaften Talente der Regel- {ofigteit, die fic) außerhalb des gejdidtliden Zufammenhangs bewegen und die Welt erft mit fid) anfangen laffen, fie vollenden fein flar harmonijdes emiges Werk, fie verfallen vielmehr jenem Unfinne welder mehr dem Wahnwik als der Dummheit gleicht, was nad) dem Ausdrud eines unferer RKraftgenies den deutſchen Unfinn vor allem andern fennjeidnen foll. Wie darum ein Rafael bet den Umbriern und Florentinern in die Schule geht und in Rom die Untife ftudirt ehe er die Disputa, die Schule von Athen, die fiftinijde Madonna und die Verklärung Chriftt ſchafft, fo be- wegt ſich Shafejpeare in den Formen Marlowe's und Green’s, jo ſchließt er fic) an die engliſche Volkskomödie, an das Alter- thum und an den italienifden Stil nadjbildend an, bis cr die eigenen WMeifterwerfe zugleich als die naturwüchſigen claffifden Gebilde der vaterlindijden Poefie hinftellt. „Der wahre Dichter wird fowol gebildet als geboren, und ein folder war Er“, fang Ben Jonſon in dem Weihegedidt vor der Ausgabe von Shake— fpcare’8 Dramen. Und wie lange, wie mannidfaltig, wie um- faffend war Goethe’s und Sahiller’s Bilbungsgang! Hiindel ge- wann durd) das Studium der verfdiedenen Volksgeifter und ihrer Muſik die Möglichkeit das Claſſiſche gu erreichen und feinen deut- jdjen Charafter gu jenem gemeingiiltigen Ausdrud der Seelen- bewegungen gu erheben, der allen Zeiten und MNationen gleid) verſtändlich bleibt. Gr ſprach und bethitigte das claffifde Wort: Man mug lernen was gu lernen ift und dann feinen eigenen Weg gehen. Roſſini nannte das das Cinjige in Mozart's Er— ſcheinung dag er ebenjo viel Genie als Wiffenfdaft und ebenfo viel Wiffenjdaft als Genie befeffen habe. Wie griindlid) derfelbe Händel und Bad ftudirt hat ift befannt, er felbft nannte es cine irrige Meinung dak ihm feine Kunſt leicht geworden fei, er habe fic), fagte ev, Arbeit und Mühe nidjt verdriefen laffen. Go er: flirte aud) Goethe er habe es fic) fein Leben fang fauer werden faffen, und F. A. Wolf meinte geradezu: Das Genie ift der Fleif. Es ift nidjts als eine lange Geduld, hatte Buffon frither geäußert. Das Genie ift die Kraft der Concentration. Denn nit das ijt jein Vorredht dak es nidjt gu arbeiten braudt, fondern dak es fider und raſch, fo ſcheinbar mühelos das Rechte trifft. Es muß im Vollbeſitz der Kunſtmittel, der wiſſenſchaftlichen Kenntniſſe, der Technik ſein, wenn es dieſelben zweckmäßig verwenden und

1. Die Phantafie: e. Der Genius. 539

dadurch fein Ziel erreichen ſoll, fonft wiirde es irrlichteriren, feine Kraft verpuffen, oder die Pein der Wnftrengung verrathen, wo uns die Luft des Spiel ergiten fol. Schon Horatius ſagt im Brief iiber die Didhttunft: „Man hat die Frage aufgeworfen ob cin Gedicht durd) die Natur oder durd) die Kunſt ſeinen Werth erhalte; id) glaube daß meder Fleiß ohne eine reiche Didjterader, nod) rohes Genie ohne Bildung etwas Tüchtiges zu leiſten ver- mag; jo ſehr erfordert das eine die Hülfe de8 andern, daß beide fic) freundlic) verbinden müſſen.“

Man fieht heutzutage die Originalität gu fehr in der Stoff- erfindung, ofne zu erwägen daß der Stoff durch Lebenserfahrung, Sage oder Geſchichte dem Künſtler gu den echten Werken geboten wird, die dann aud) feine Grille, feine blos fubjective Meinung, jondern eine [ebenSwahre Geftaltung der Sdee find. Gerade da- durd) dak mehrere Meifter einen und denfelben Stoff behandeln, gelingt allmählich das erjdipfende und addquate Bild fiir den Gedanfen der ihm gu Grunde liegt; es ift eine falfde Originali- tätsſucht die das bereits vollgeniigende Einzelne oder glücklich ge- fundene Motive verſchmähen, und da immer nur Eines das Rechte jein fann, die Sache alſo fcjledjter madjen wollte. Das gab den Meiſterwerken der griedifden Tragödie die Hohe Vollendung, die jiife Reife, bak cin und derjelbe Mythus fo oft auf die Biihne fam, dag bier fein ftofflidjes Sntereffe die Neugier reizen, fon- dern nur die Tiefe der Idee und die Klarheit der Form - den Preis gewinnen fonnte. Aud Shakefpeare verſchmähte nicht feinen Shylock auf der Bafis von Marlowe's Suden von Malta auszu- fiihren, fiir das Drama der Liebe fid) an die italienifde Novelle und die englifde poctifdje Erzählung von Romeo und Sulie an- zuſchließen, oder Mtiddleton’s Hexen fiir die Hexenjcenen in feinem Macheth zu benugen. Auch er ließ ſich nicht abgalten feinen Lear zu didjten, objdjon cin finniges älteres Stück gleiden Namens vorhanden war, under bebielt das Gute der Vorginger gern und danfbar, und madhte es fic) durch Veriverthung in einem großen Ganzen gu eigen. Luſtſpiele Mtoliere’s weifen nad) Spanien, ja nad dem Alterthum hin; 3. B. der Geijige ward ſchon von Plau— tus nad) griechiſchem Muſter bearbeitet. „Ich nehme meine guten Gedanfen iiberall wo ich fie finde’, fagte Moliere. Händel ſuchte fortwdhrend die eigenen und aud) fremde Gedanten in fid) gu reifen und gu verfdinern. Bei der Umſchmelzung frembder Arbeit, jagt Händel's Biograph Chryfander, fommen in rein geiftiger

540 Il. Das Shine in der Runft.

wie in mufifalifder Beziehung Dinge zu Tage die von Grund aus neu und fo völlig iiberwiiltigend find, dak cin Beobachter Miihe hat fic) bet der Unterjudjung das nöthige Gleichmaß zu bewahren. Das was er Note fiir Note beibehielt und das andere was cr in ungeahnter Weife gänzlich new geftaltete, alles ift fein eigen geworden. Wie grok Hindel ijt und weldje iiberragende Stellung er den andern Tonfiinftlern gegeniiber einnimmt, wird durd) ſolche Arbeiten erft recht handgreiflid. Bei geniigender Einſicht in das hier vorliegende Verhältniß fann der Gedanfe an Beraubung gar nidt auffommen. C8 war der Drang feiner fiinftlerijden Natur Tongedanfen nicht untergehen zu laffen, die er in halber Geftaltung und auf einem fremden Gebiet liegen fah. Dak er fjogleid) erfannte wo fie hingehirten, daß fie ibm nun ohne weiteres in vollfommener Geftalt und als Verkündiger grofer Begebenhetten vor der Seele ftanden, das ift das Unbe— greiflide dabei. Hier wirfte fein Geift wie eine Naturgewalt, dic alle berechnende Ueberlegung weit hinter fic) (aft. Dieſe Urbeiten bifden das kunſthiſtoriſche Maß fiir Händel's Genius, den Pfad der uns von den Lonfiinftlern feiner Zeit und Vorzeit am nid: ften und fidjerften gu ihm hinaufführt. Man fann bemerfen wie die Tonfunft bei voller Breite ihrer Entwidelung zuletzt auf die Handel’ fhe Liuterung, auf dieje geiftige Verklärung des Klang- lebens hindringt, ganz ähnlich wie die Gefdidte des Dramas auf Shakeſpeare.

Für ſeinen Carton Paulus und Barnabas in Lyſtra betrachtete ſich Rafael ein römiſches Relief, das ein Opfer darſtellt; er nahm den Stier und die beiden Figuren, deren eine das Beil ſchwingt, die andere den Kopf des Thieres hält, aus dem plaſtiſchen Werk, aber er ließ den Stier nicht mehr die Hauptrolle ſpielen, er wollte die Aufmerkſamkeit nicht auf ihn lenken, und ließ ihn ruhig ſchnaubend den Kopf ſenken als ob er Futter ſuche, während auf dem Relief ſein Kopf durch die kniend kauernde Figur mit ange— ſtrengter Kraft vorwärts gebeugt wird; ſtatt dieſes Aufwands von Thätigkeit kann der Mann ſeinen Blick nun auf die Haupt— geſtalt des Bildes, auf Paulus, richten, und ſich in deutlicheren und ſchöneren Linien ausprägen. Die Figur mit dem Beil aber iſt energiſcher und ausdrucksvoller geworden, denn jetzt vollzieht diesmal nicht ein Opferknecht eine altgewohnte Handlung, ſondern in der Begeiſterung des Augenblicks ſoll den gegenwärtig geglaub— ten Göttern raſch ein Opfer gebracht werden. In der Darſtellung

1. Die Phantafie: e. Der Genius. 541

bes Opfers und im Coſtüme der Zeit, im Ausdruck des Alter- thums erreidjte Rafael durch diefe Anlehnung an das alte Werf die gréfte Wahrheit; die Compofition des Ganjen ijt fein, und gerade in der Verwendung des LUeberlicferten fiir feine Zwecke zeigt er feine Originalitit und Grbge. Oder nejmen wir ein anderes Beifpiel. Auf einem Frescogemalde in jener beriihmten Rapelle der Kirche Maria del carmine in Florenz hat Filippino Lippi den Wpoftel Paulus dargeftel{t, wie er troftend gu dem ge- fangenen hinter einem Witter hervorblidenden Petrus fpridt; die Geftalt ijt von ergreifender Hoheit und Mächtigkeit, der Typus fiir Paulus ift in ihr gefdhaffen; Rafael legte fie jeinem in Athen predigenden Paulus gu Grunde; er ftellte fie vor eine Verſamm— (ung, im der er eine Stufenfolge des gleichgiiltigen WAnhirens, ftillen Sinnens, ftreitenden Zweifels, voller Ueberzeugung und inniger Hingabe entfaltete; fo fam die herrlidje Geftalt als die bewegende Kraft diejer Stimmungen erft redjt zur Geltung, und Rafael madte zugleich den Ausdruc feuriger, die Bewegung leb- Hafter, er brachte zur Vollendung der erhabenen Schönheit was der ältere Meiſter grofartig begonnen hatte. Michel Angelo hat ebenfalls nichts verſchmäht was ifm das Campo-fanto ju Pija und der Dom zu Orvieto Anregendes und in der Conception des Ganjen wie in einjzelnen Motiven Bortrefflicdjes fiir fein Siingjtes Gericht boten, und Cornelius hat fiir denfelben Gegen- jtand den architeftonijden Wnfbau des Meijters im Campo-fanto wejentlid) beibehalten, die Geftalten und Gruppen aber freier be- wegt; er Hat jene drei Vorginger fammt Rubens nicht vergebens ju Vorgängern gehabt; eS wiirde ein Vorwurf jein wenn daé der wall gewefen wire. Sn Griedenfand war eine mehr als fünf— hundertjibrige Blüte der Plaftif nur dadurd) miglid) dag das einmal vollfommen Gelungene mit bewufter Einſicht treulich feft- gehalten wurde.

Der Vorwurf des Plagiats und der Tadel ijt fiir die ent- (ehnende Nadbildung allerdings am redjten Orte, wenn fie hinter dem Originale guriidbleibt, wenn die Geiftesarmuth mit fremdem Reichthum ihre Blige decfen und das Borgen verheimliden will, wodurd) es gum verwerfliden Diebftahl wird; tit aber das ans fremdem Ouell Gefdipfte gu eigenthiimlidher Schönheit wieder- geboren, wie bet Horaz und Petrarca, bet Arioft und Taffo, fo wollen wir uns die Freude daran nicht verderben laſſen. Go preijt es aud) Schack an Calderon: daß er mit vollendeter Kunſt

542 III. Das Shine in der Kunft.

ausgebildet was bei jeinen Vorgingern angelegt war, daß er das Rohe verfeinert und die Knospen gezeitiget habe; er vergleidt diejen Dichter einem Architeften, der mit gefdhidter Hand auf ſchon gelegtem Fundament und freilich griptentheils aus eigenen Stoffen baut, aber auch das von anbdern bereitete Material nit verſchmäht und es nur in allen feinen Einzelheiten auszubilden, jowie das nod) Sfolirte und Unverbundene künſtleriſch zu ver- knüpfen judt. Schack erinnert daran daß die Poefie gwar fcdhafft, aber dod) nidjt aus dem Nits, fondern aus ſchon exiſtirenden Materialien, und dag ju diefen Materialien ebenfo wie die Natur mit allen ihren Grjdeinungen aud die Schipfungen friiherer Dichter gehiren. Sa Schack tritt der gegenwirtigen Anfidjt ſcharf entgegen und erklärt e8 fiir einen grogen Srrthum unpoetijder Sahrhunderte von den Didtern in der Art Originalitit zu ver- {angen daß fie fic) der Benugung frembder Erfindungen und Ge- danfen enthalten follen. Durd) die Sfolirung von den Ouellen, weldje im den Werfen WAnderer fliegen, wird dem Künſtler der Bujammenhang mit den Wurzeln abgefdjnitten, aus denen ev rei- den und gefunden Nahrungsftoff ziehen fann; er wird auf eine affectirte Gigenthiimlidjfeit, auf da8 Hafden nad) Neuem und Abjonderlidjem Hhingefiihrt, und gewiß liegt hier cine der Urfaden warum die gegenwirtige Literatur fo ohne Einheit und organijde Fortbildung dajteht. Cine Blüte volksthümlich dramatijder Kunſt iſt wenigſtens gewiß nicht möglich ohne die fortbildende Repro— duction der Vergangenheit und ohne daß in lebendigem Wechſel— verfehr cin Austauſch de8 Cigenen und Frembden unter den Did): tern herrſcht.

Die drei Beſtimmungen welde Kant über da8 Genie aufftellt können zur bejtitigenden Wiederholung des Gefagten dtenen. Cr nennt zuerſt Oviginalitit, und fieht darin das Vermigen gu Her- vorbringungen fiir die fic) feine beftimmte Regel geben lift; zweitens follen aber feine PBroducte zugleich Muſter, exemplariſch jein; und drittens foll es als Natur die Regel geben, ſodaß es jelbjt nicht weit wie fic) in ihm die Sdeen einfinden, nod es in jetner Gewalt hat dergleiden planmiigig oder nad) Belieben aus— zudenken und Anderen Vorfdriften dafür mitzutheilen. Genie leitet er von genius ab, dem eigenthiimlicden einem Menſchen bei der Geburt mitgegebenen fchiigenden und leitenden Geift, von deffen Gingebungen jene oviginalen Ideen herrührten. Dann will Kant endlid) das Genie auf da8 Gebiet der Runft beſchränken; im

1. Die Phantafie: e. Der Genius. 543

Wiffenfdafttidhen meint er fet der größte Erfinder vom müh— feligften Nadahmer und Lehrling nur dem Grade nad), dagegen von dem weldjen die Natur fiir die {chine Kunſt begabt hat fpe- cififd) unterfdieden. Go könne man alles was Newton in feinem unfterbliden Werke der Principien der Naturphilofophie, fo ein großer Kopf aud) erforderlich gewefen dergleiden gu erfinden, gar wohl lernen, aber man finne nidt geiftreid) didjten [ernen, fo ausführlich and) alle Vorſchriften fiir die Didttunft und fo vor- trefflid) aud) die Mtufter derfelben fein migen. Offenbar hat Rant hier fic) verirrt. Man fann Newton’s Gedanfen nachdenken und jeine mathematifden Beweiſe nachconſtruiren, ebenjo wieder- holt aber and) das empfinglide Gemiith das Kunſtwerk in fid jelber, aller Genuß des Schinen ift ein Erzeugen oder Nach— erjeugen defjelben. Dagegen fann man niemand lehren ein Ent- deder von Weltgefegen gu werden. Aber das fdeint mir als Wahrheit im Hintergrund von Kant's Seele gelegen ju haben: alles geniale Wirfen ijt wejentlid) Gade der Phantafie, welde die inneren Regungen und Cingebungen des Geiftes geftaltet und aud) in der Wiffenfdaft aus eingelnen Prämiſſen ahnungsvoll fic) ein Riel veranfdaulidt, ein Bild entwirft, dem nun dte pritfende Forſchung nadfinnt wie fie es erreiche und begriinde. Die Genia- lität des Feldherrn, de8 Staatsmanns, des Forfders, fie hat in ihrem Wirken etwas fiinftlerifd) Schaffendes, fie tft an die Phan— tafie gefniipft, fie ijt nicht lehr- und lernbar, jondern original und eremplarijd) zugleich. Vortrefflich ſagt Friedrid) von Gagern iiber Napoleon: ,,Gleid) dem Riejen Antäus fühlt er fic) nur auf fejtem Boden ftarf, und er gebraudjt feine mächtige Phantafie wie der Vogel der Wüſte die Fliigel um nur die Laufbahn fdnelfer, dod) ohne den Boden gu verlaffen, zurückzulegen.“

Aber auch die fiinftlerijde Größe, auch die der Phantaſie, ver- fangt gu ihrer Bafis die reinmenfdlide. Und dies möchte id als Wahrheitsfern in der Behauptung Carlyle’s finden, welche alfo fautet: „Ich befenne feinen Begriff yu haben von einem grofen Manne der es nidjt auf cine jede Weiſe fein finnte. Der Dichter der nur anf feinem Stuhl figen und Stanzen verfertigen finnte, wiirde nie eine Stange von großem Werth maden. Er könnte den Helden der Schladt nicht fingen, wenn ihn nidt felber friege- rifdjer Muth beſeelte. Ich glaube es ift in ihm der Staats- mann, der Gejeggeber, der Philojoph, in einem oder dem andern Grad finnte er died alles fein und ift er's. Denn id

544 III. Das Schöne in der Kunſt.

verftehe nidjt wie ein Mirabeau mit feinem großen gliihenden Herzen, mit dem Feuer das er in fid) trug, mit der hervorbreden- ben Thräne die in ihm war, nicht hätte Verje ſchreiben können, Tragidien und Lieder, und alle Herzen auf diefem Weg rühren, wenn ifn Erziehung und Lebenslanf dazu gefiihrt hätten. Der große Grunddarafter ijt immer daß der Mann grog fei. Napo— {eon fat Worte gleich Aufterlisjdladten. Ludwig’s ALV. Mar- ſchälle ſind and cine Art von poetiſchen Männern; was Turenne jpridjt tit gleich der Rede Samuel Sohnion’s voll Sdharffinn und Senialitit. Das groge Herz, das Flare tieffehende Auge, da liegt’s: wer immer er fet und wo er ftehe, Reiner fann ohne dieje beiden zu glücklichem Riele fommen. Petrarca und Boccaccio and Rubens fiihrten, fo fdcint cs, diplomatijde Gendungen ganz gut aus, man fann wol glauben, fie hätten aud) Schwereres ver- mocht; Shakeſpeare id) weiß nichts das er nit im höchſten Grad hitte fein und thun können.“

Auch id) glaube daß Shakeſpeare nidt den Schild weggeworfen hitte in der Schladt und darüber ironiſche Verſe gemadt hatte wie Horaz; dafiir ijt ein viel gu guter Klang des Stahls in jeinen Verjen. Aber ſelbſt Shakefpeare der Didter, genial im Drama, ijt dod) im Epijden und Lyrifden, wie feine Lucrejia und feine Gonette beweifen, nur Talent. Es heißt das Princip der Cigenthiimlidfett verfennen, wenn man überſieht daß das allgemein Menſchliche im jedem Menſchen gu einer einzigen In— dividualitit zugeſpitzt iſt, daß jeder etwas fiir fid) allein hat und gerade dies beffer fann als die Anderen, denen er wieder in deren bejonderer Gabe nachſteht. Warum follte der Didjter der Ge- ſchichte nicht auch ſtaatsmänniſchen Sinn haben? Aber Shakeſpeare wäre ſo wenig ein Cromwell geworden, als dieſer den Hamlet hätte dichten können. Gin und derſelbe Mann wird oft auf ver— wandten Gebieten wirfen, man wird aud) da die Spur des Genius ferausfinden, aber epocjemadjend wird er in Einem fein. Go ijt Goethe aud) Naturforjder und hat aud) gemalt, Schiller hat aud) geſchichtliche und philoſophiſche Arbeiten geliefert, da er bet der Selbftthitigkeit feines Geiftes auf feinem Bildungsgang ſich nidt blos receptiv verhalten fonnte. Als Fichte meinte Schiller fet nahe daran eine Epoche in der Bhilofophie gu begriinden, hatte der fid jdjon dem Wallenjtein zugewandt um feine cigenfte That zu thun. So ift Michel Angelo in den dret bildenden Künſten grok, am größ— ten aber in den Deckengemälden der Sixtiniſchen Kapelle, und

1. Die Phantafie: e. Der Genius. 545

diefe feine malerifde Genialitit Leudjtet auc) aus den Werfen des Bildhauers und Baumeifters Hhervor. Leonardo da Vinci war nidt blos in den bildenden Riinften ausgezeichnet, ex war aud) Mufifer, Improvifator, Naturforjder und Denker, aber fein Abendmahl hat feine Kräfte concentrirt, hat ihn unfterblid) ge- madjt. G8 bejteht cin inneres Band aller Riinfte, eine gemeinfame Poeſie in ihnen, wer deren mächtig ijt wird in allen arbeiten fin- nen, aber das Höchſte immer nur nad) Mafigabe feiner Geiftesart in Giner leiften. Seder Genius hat ein Gebiet das er nidt erft gu erwerben braudjt, fondern wo jeine urfpriinglide Heimat ijt, wo er feine Dtutterfprade redet. In ununterbrodener Thitigfeit, in der Berithrung mit der Welt, in der Freunde der Crfahrung wie in dem Schweigen der Sammlung, in dem ftillen Weben in ſich felbjt, hat er einen Mittelpunkt nad) welchem alles hingezogen wird, von weldem_ ans er ſchafft. Sede Empfindung und jede Anfdhauung wird einem Mozart zur Muſik, ein Rafael erfaßt mit immer frijder Luft die Formen der Dinge, und jedes innere Er- lebniß wird ihm zur Geftalt, wie e8 einem Avriftoteles zum Ge- danfen wird und ein Rant den körperlichen Schmerz dadurd iiber- windend vergift daß er cin fdwieriges Problem ſich zur eindrin- den Betradtung vornimmt. Wuf die Frage wie er dod) fo viele Entdeckungen habe maden fonnen, gab Newton die Antwort: weil er jo viel an fie gedadjt habe.

Für jedes geniqle Wirken aber ift bas fehende Auge, das grofe Herz nothwendig, da hat Carlyle redjt. Der Blick mug in das Wefen der Dinge dringen, und das Herz mug den Muth haben die Wahrheit zu befennen, die eS in fich jelber und in der Welt gefunden hat. Das ewige Opfer des menſchlichen Herzens an die Gottheit fordert aud) Bettina von Arnim von dem der Göttliches feijten will, und ſetzt hinzu: „Und wenn es der Meiſter aud {eugnet oder nicht ahnet, e8 ift dod) jo.” Die großen Gedanfen fommen aus dem Herjen, fagt Bauvenargues und vorher Cervan- tes: Das wahre Genie fommt aus dem Herzen, nidjt aus dem Kopf, und nod) vorher Plinius: Es gibt überall Geheimniffe die jeder nur mit dem eigenen Herzen einfehen fann. Mit erhabenen Gefinnungen geboren ju fein nennt Longin das cinjige Kunftmittel um erhaben 3u reden. Der Eingang in das Himmelreid) erfor- dert iiberall das reine Rinderherz, und ohne die Liebe wäre wer mit Menſchen- und Engelzungen redete dennoch ein tinend Erz oder eine Flingende Schelle. Wer nicht die fittlicje Kraft der

Carriere, Uefthetif. J. 3. Aufl. 35

546 III. Das Sdine in der Kunft.

Arbeit und Entfagung hat, wer die Schweißtropfen ſcheut welde bie Gitter vor die Tugend gejewt, der wird feine grofe That in jahrelanger Unftrengung vollbringen; wer nicht fein felbft Meiſter ijt, wer fic) nicht felber gu zügeln und zu bebherrjden verjteft, wird nimmer vermögen ein mafvoll harmonifdes Werf zu geftal- ten, und die Macht des felbftherrlicjen Geiſtes und feiner Ginheit und Freiheit aud) am ſpröden Stoffe gu bewähren. „Er wufte fid) nicht gu zühmen und fo zerrann ihm fein Veben und Didten”’, jagt Goethe von Giinther, und Biirger gegeniiber ftellt Sdiller die Forderung auf, dab uns der Künſtler die Begeifterung eines gebildeten und fittlic) reinen Geifted biete. „Alles was der Dichter uns geben fann ift feine Sndividualitit. Dieſe mug es alfo werth fein vor Mit- und Nachwelt ausgeftellt zu werden. Diefe feine Individualität fo fehr als möglich gu veredeln, zur reinften herr- lichſten Menſchheit heraufzuläutern ift fein erftes und widtigftes Geſchäft, ehe er es unternehmen darf die Vortreffliden zu rühren.“ Daf fittlide und dichterijde Kraft in der Wurzel Cins feien, in der Erhebung von der gemeinen Realitit zum Seinfollenden, jum Ideal, in dem thitigen Glauben an die ethiſche Weltordnung, das hat niemand beftimmter als Ringer betont, wenn er in der Ge- jdhichte eines Deutſchen von feinem Helden ſchreibt: Sein Geift betrat da8 Land der reinen erhabenen Tugend, das die Menſchen idealiſch nennen, weil fie das Gefühl verloren haben daß der Menſch fid) nur als Bewohner dieſes Landes von den Thieren unterſchei— det, daß wir dies unfidtbare Land nicht nur ahnen, dak wir uns bis in fein innerftes Heiligthum fdwingen fonnen. Wer es erreidt hat ift iiber das Schickſal erhaben; ifn tragen fiir immer die Fittiche der Hohen und edhten Begeifterung der Dichtfunft, die nur aus jenem Lande die Farben und die Kraft gu ihren Darftellungen erhält. Es erdffnet fich den Geiftern der Geweihten in dem Augen- blicke da die moralijde Kraft thres Herzens die Wolfen durddringt und dort ihr Dafein mit höheren Zwecken verknüpft. Ernſt drang in die Mitte diefes Heiligthums und ward dadurd zum Dichter fiir dieſes Leben eingeweiht.“

Sm Ginflang mit dem Grundfage, den ich ftets verfodjten, jdrieb jiingft der Amerifaner Whitman: „Die rechte Frage die man in Betreff eines Buches ftellen muß ift: Hat es einer Mten- ſchenſeele genützt und geholfen? Das gilt von jedem Künſtler. Vielleicht miiffen alle Kunſtwerke zuerſt nach ihren RKunfteigen- ſchaften, ihrem bildnerifden Talent, und nad) ihren dramatifden

1. Die Phantafie: e. Der Genius, 547

malerifdjen, ftoffgeftaltenden, euphonijden und andern Talenten unterjudt werden. Dann miiffen fie, wenn fie Anfprud) erheben alg Werke erſten Ranges zu gelten, genau und ftreng nad ihrer Begriindung und Beziehung ju im höchſten Sinne ethiſchen Principien gepriift werden, inwiefern fie im Gtande find ju befreien, zu erregen und die Bruft gu erweitern.“

Wer die Macht des Böſen und die Gewalt der Leidenjdaft, wer den Retz und das Grauen der Sünde ſchildern foll der mug in die Ubgriinde des Dajeins hineingeblidt, der muß freilid) die Verjudung in der eigenen Bruft gefiihlt, aber er muß fic) gur freien Sittlichfeit, zur Verſöhnung de8 Gemiithes mit Gott empor- gerungen haben, er muß Gericht über fic) felbft gehalten haben, wenn er die Welt ricjten foll wie Dante, wie Michel Angelo, wie Shakefpeare. Händel's fiinftlerijde Kraft und Klarheit wird von der fittliden Reinheit und Stärke des Charafters getragen. Vajari preift den Zauber der von Rafael’s Perſönlichkeit Freude und Friede bringend auf feine Umgebung ausftrdmte, fie für die Harmonie der Kunftvollendung weihete; daf Rafael felber in fo wenig Sahren fo viel Herrliches ſchuf, war das Werk nit blos der äſthetiſchen Begabung, fondern eines fittliden Willens, der ihn niemal8 mit dem Gewonnenen fic) befriedigen, fondern ftets die ganze Kraft neufdspferifd an neue Aufgaben feben liek. Bon jenen vielbegabten Meiſtern der Renaiffance, von Leonardo da Vinct, Midel Angelo, Dürer haben verftiindige Zeitgenoffen ge- urtheilt: daß wer fie mur aus ihren Werfen fenne fie nidjt redjt fenne, fie felber feien mehr als ihre Werke. Go hieß es and von Goethe: Was er fpridjt ift beffer als was er fdhreibt, und was er lebt beffer als was er ſpricht! Bet ihm wie bei Schiller ging eine fittlidhe Wiedergeburt mit dem fiinftlerifden Aufſchwung Hand in Hand; die priejterlidke Wiirde in Pindar’s, in Klopftod’s Poefie floß aus der religiöſen Weihe ifrer Gefinnung, die er- habene Anmuth der Sophokleiſchen Tragödie ift etn Abglanz der milden frommen Didhterfeele.

BH *

548 Ill. Das Schöne in der Kunft.

2. Die Kunft, das Kunftwerf und die Gliederung der Künſte. a. Begriff der Kunft.

Ach dak die inn’re Schöpferkraft Durd meinen Sinn erfdolle, Dak eine Bildung voller Saft Aus meinen Fingern quille!

Durd diejen ſehnſüchtigen Seufzer in Kiinftlers Morgenlied jagt es uné Goethe daß feine Thätigkeit nicht aufgehen darf in ber Anfdhauung und Geftaltung des innern Sdealbildes, fondern daß er daffelbe aud) in die Gugere Wirklichkeit überſetzen, dag er e8 in der Materie verfirpern miiffe. Denn die Schönheit ijt Offenbarung des Geiftes an den Geift mittels der Ginne, fie ijt Verſöhnung von Geift und Natur, und die Idee mug fid im Unterjdiede von einer weſenloſen Wbjtraction dadurd) bewähren daß fie mit Werdefraft in die Formen der Anſchauung eingeht, mit Werdeluft aus dem Stoffe der Außenwelt fid) einen Leib bildet. Das Schöne foll ja nidt jo fehr Erkenntniß als viel mehr Grlebnif fein, darum muß es uns in der finnenfilligen Form der Wirklidhfeit geboten werden. Kunſt fommt von Können; aber Können ift der Wurzel nad) Kennen und Wiſſen; der hervorbrin- genden Chat liegt da8 geiftige Sunehaben gu Grunde, und der Begriff deffelben ijt wieder aus dem des Erzeugens entfprungen; in der Sprade fpielen von Anfang an die Vorjtellungen des Gr- fennens und Erzeugens ineinander, und beides ijt ein Neubilden aus dem eigenen Wefen, die Erkenntniß fein blos leidendes Auf— nehmen, fondern ein Erzeugen der Wahrheit, ein Hervorbringen des Begriffs im eigenen Innern unfers Gemiithes.. Die Analogic de8 Erkenntniß⸗ und Zeugungstriebes hat befonders Franz Baader gern betont. Was id) gu durddringen und ju ergriinden ftrebe, jagt er, dem tradjte ic) innerlic) oder Centrum ju werden und es dadurd) in meine Macht gu bringen; alles Durdjdringen ijt in jeiner Vollendung ein Umgreifen, und eben darum ein Bilden und Gejtalten, folglid) ein geftaltempfangendes Erhobenwerden des jo DOurddrungenen in da8 Ein- und Durddringende und von ihm. Der Erkenntnißtrieb geht iiberall auf Zengung, Gebärung, Aus— jprade und Darftellen eines Wortes, Namens, Bildes, und es ijt das Wefen des erfennenden Gemüthes daß es das in fic) Gefun- dene, Empfundene aud) offenbare und ausſpreche, und finnen

2. Die Kunft: a. Begriff der Kunſt. 549

wir hinzuſetzen, erft dadurch wird es deffelben mächtig, erft durd das Wort, in weldem er befaft und ausgeſprochen wird, fommt der Gedanke gur Beftimmbarfeit und Klarheit. Erkennen ijt Thun und die freie That ift vom Gedanken durdhleudtet. Go ift Kunft cin Wirken des ſelbſtbewußten Geiftes, ein Kinnen das aus dem geiftigen Sunehaben quillt.

Ehe ein freies Gedanfenleben erwacht und der Menſch es vers ſucht die Welt gu verftehen und gu erklären, freut er fid) ihrer Schönheit, der Ucbereinftimmung von vielen Erfdheinungen mit jeinem Gelbft in Empfindung und Anſchauung, und ſucht und findet er in der Verbindung von Linien, Farben, Klängen feine Luft, ſodaß er in der Darftellung derfelben fic) bethatigt um fid dies Wohlgefallen zu bereiten. Und von Anfang an geniigt ihm die bloge wiederholende Nachahmung des Gegebenen nit, und jdon mit feinen einfachen Stein{plittern vigt er in Rnoden Fi- guren die jeine Erfindung find, ein Linienfpiel in regelmäßiger Wiederfehr. Die Kunſt wird mit dem Menſchen geboren und begleitet fein Thun und Oenfen; fie ordnet feine Vorftellungen, fie beftimmt den Tonfall feiner Rede, fie formt fein Geriithe, feine Waffen, fie ftellt in Haltung und Bewegung fein Inneres dar; darauf hat and) Eugen Veron hingewiefen: ſchon der Hihlen- menſch ſucht das Mannidfaltige, das Gefillige.

Der Poet heißt und ijt ein Macher, er mug es verftehen die Geftalten feiner PBhantafie durd den Zauber des Wortes and vor die Geele der Hörer ju rufen, er muß es verftehen der Stimmung feines Gemiiths jenen woh{lautenden klaren Ausdrud ju geben, der die Hirer durch den Wellenjdjlag feiner eigenen Gefühle zu der Harmonie feines eigenen Friedens, feiner eigenen Sreiheit fiihrt. Wenn Michel Angelo behauptet man male nicht mit den Hiinden, fondern mit dem Hirn, fo weift er auf die innere Anfdauung als das Nothwendigfte und Erſte hin; aber der Rafael ohne Arme, von weldem Leffing in der Emilia Ga- Lotti ſpricht, wäre ficjerlid) nicht nur nicht der größte, fondern gar fein Dtaler gewefen, ohne die ausführende Thätigkeit hätte fi) auch das maleriſche Sehen bet ihm nicht entwidelt, er wiire auf Ton oder Wort als Ausdruck ſeines begeifterten Seelenlebens hingewiefen worden. ;

Der Kiinftler ift weniger berufen handelnd in das Leben ein- jugreifen als bildend anf daffelbe ecinguwirfen. Den Andern, dic es nicht verftehen bet der Betradjtung der cingelnen Dinge fic) zu

550 III, Das Schöne in der Kunft.

der Idee emporzuſchwingen welde denfelben als ſchöpferiſches Muſter vorſchwebt, ſoll er das ewige Urbild ſelber zeigen, indem er dieſem eine entſprechende, es ganz darſtellende Verkörperung ſchafft. Auch Goethe mochte zum höchſten Preis der Bilder Michel Angelo's bekennen, daß ihm ſelbſt die Natur nicht recht ſchmecken wolle, wenn er von jenen fomme, weil er für ſich die Natur nicht mit Michel Angelo’s Augen anzuſchauen vermige; der Daler hatte die göttliche Schipfermadt als das Lebensprincip feiner Ge- ftalten in ihnen fidtbar gemadt. Dann foll der Riinftler die Ginheit im Zerftreuten, die bem Sinne der Andern entgeht, als die Seele des Lebens durd) in fid) gefdloffene Werke veranfdau- fiden. Das ijt ein priefterlides Amt dak er Schönes bilde um der Schönheit willen. Die Schönheit, die im der Natur oder Geſchichte cin unerftrebtes Glück, deren Genuß eine Gunft des Augenblids ift, fie foll als cin Unvergängliches, als der ein— wohnende, die Entfaltung lenfende Zweck aller Entwidelung, als die erreidjte Verſöhnung und Vollendung des Seins mitten im Strome der Zeit dem Volfe vor Augen treten. Der Riinftler ijt darum weniger geeignet ju praftifder Wirkſamkeit, als das Leben darguftellen und eS dadurch fortzugeftalten daß er ihm den Spiegel der Selbfterfenntnif und das Ziel feines Ringens und Sudjens vorhalt. Wie der junge Arioft feinem ihn fceltenden Vater ruhig zuſah und zuhörte, weil er fiir feine Komödie gerade die Geftalt eines polternden Alten braudjte, fo vergaß Goethe in Malfefina der polizeiliden Plackerei, und die ifn umſchwärmenden Staliener wurden ibm gu Reprijentanten der Ariftophanijden Vogel, welde er reproduciren wollte. Wie Shafefpeare die Bilhne nidt verlief um in ein Miniſterium ju treten, aber nod) heute die englifden Parlamentéredner Staatsweisheit und Gefdhidte von ihm lernen, jo hat aud) Schiller felber fein Schwert gezogen, aber feine Ge- ſänge haben den deutiden Befreiungsfriegen den Ton ihrer Be- geifterung eingehaucht.

Sft es die fittlide Aufgabe unfer Gollen und Wollen in Cin- klang gu bringen, unfere Sndividualitit in das Weltgeſetz mite wirfend einſtimmen ju laſſen, fo fteht die Kunſt, indem fie das Seinjollende als feiend darftellt, indem fie Freiheit und Noth- wenbdigfeit vereint, auf ethifdem Boden, und fie wirkt veredelnd auf da8 Gemilth durd) die Harmonie der Schönheit. Aber darum braucht fie feine moralifirende Tendenz gu haben, und denen die folde fordern warf Sdjiller die Frage an den Kopf: „Darf denn

2. Die Kunft: a. Begriff der Kunſt. 551

des Biittels Stod auf curem Rücken nidt einen Augenblick ruben?“ Aber derfelbe große Didter und Denker erklärte pofitiv in feinem Aufſatz über das Pathetijde: „Die Dichttunft fiihrt bet dem eine zelnen Menfdjen nie cin beſonderes Geſchäft aus, und man könnte fein ungeſchickteres Werkzeug wählen um einen einzelnen Auftrag gut bejorgt zu fehen. Shr Wirfungstreis ijt das Total der menfd- lichen Natur, und blos infofern fie auf den Charafter einflieft fann fie auf feine eingelnen Wirfungen Cinflug haben. Die Poefie fann dem Menſchen werden was dem Helden die Liebe ift: fie faun ihm weder rathen nod) mit ihm ſchlagen, nod) ſonſt eine Arbeit fiir ihn thun; aber gum Helden fann fie ihn erziehen, gu Thaten fann fie ihn rufen, und gu allem mwas er fein foll ihn mit Stärke ausrüſten.“

Die Kunſt wurzelt im Leben; aber allzu häufig hält man ſie für eine Blüte politiſcher Macht und Freiheit einer Nation; man denkt an Griechenland nach den Perſerkriegen, an England in der Aera Eliſabeth's, und verallgemeinert das. Für Rom war ſie ein Erſatz der republikaniſchen Größe, ebenſo in Spanien eine troſtreiche Nachblüte des nationalen Aufſchwungs in den Tagen des kirchlichen und weltlichen Despotismus; in Deutſchland hat ſie die Erhebung des Volkes zur Einheit und Freiheit vorbereitet. Schiller ſchrieb im Oten der Briefe über äſthetiſche Erziehung im Hinbli€ auf Goethe: „Der Künſtler ift gwar der Sohn feiner Beit, aber ſchlimm fiir ifn, wenn er zugleich ihr Zögling oder gar nod ihr Giinftling ijt. Cine wobhlthitige Gottheit reife den Säugling von feiner Mutter Bruft, nähre ihn mit der Mild eines beffern Alters und laffe ihn unter feinem griedifden Him- mel gur Mündigkeit reifen. Wenn er dann Mann geworbden ift, fo fehre er, eine frembde Geftalt, in fein Sahrhundert zurück, aber nidt um es mit feiner Erſcheinung gu erfreuen, fondern furdjt- bar wie Agamemnon’s Sohn um es zu reinigen. Den Stoff zwar wird er von der Gegenwart nehmen, aber die Form von einer edleren Zeit, ja jenfeit aller Zeit, von einer abfoluten unwandel- baren Ginheit ſeines Wejens entlehnen. Hier aus dem reinen Acther feiner ddmonifden Natur rinnt die Quelle der Schönheit herab, unangejtedt von der Verderbnif der Gejdlechter und Zeiten, welde tief unter ihr in trüben Strubdeln ſich waljen. Geinen Stoff kann die Laune entelhren, wie fie im geadelt hat, aber die feujde Form ift ihrem Wechſel entzogen. Der Römer des erften Sahrhunderts hatte längſt fdon die Knie vor feinem Raifer ge-

552 Ill. Das Sdine in der Kunft.

beugt, als die Bildſäulen nod) aufredht ftanden, die Tempel blie- ben dem Auge heilig, als die Gutter längſt zum Gelächter dienten, und die Sdandthaten eines Nero und Commodus beſchämt der edle Stil des Gebäudes, das feine Hiille dazu gab. Die Menſch— heit hat ihre Würde verloren, aber die Kunſt hat fie gerettet und aufbewahrt in bedeutenden Steinen; die Wahrheit lebt in der Täuſchung fort, und aus dem Nachbilde wird das Urbild wieder- hergeftellt werden. Go wie die edle Kunſt die edle Natur über— {ebte, jo {djrettet fie derjelben aud) in der Begeifterung bildend und ertwedend voran. Che nod) die Wahrheit ihr fiegendes Licht in die Herzen ſendet, fiingt die Dichtungskraft ihre Strahlen auf, und die Gipfel dex Menſchheit werden glingen, wenn nod) feuchte Nacht in den Thälern liegt.”

Nennen wir die Runft cine finnenfillige Darftellung von Sdeen, fo fonnen wir fie hierin von der Natur, dem Handwerke und der Wiffenfdaft unterjdeiden und dadurch jugleid) ihr Wefen näher beftimmen. Aud) die Wiffenfdhaft will der Idee einen Aus- druck geben wie dieſelbe in der Wirklichfeit erfdeint und der Be- griff der Dinge ijt, aber fie wendet fic) an den denfenden Geift, an Verftand und Vernunft, während die Kunft von der Phantafie geboren zur Anſchauung fpridt. Das Gefiihl erfaßt die Sdee im Genuß des Schinen mit einer unmittelbaren Snnigfeit, in der es ein Ganzes in feiner Tiefe und Fillle auf einmal ergreift, das dann die forſchende Crfenntnif in feine Theile jerlegt und in jeinem Zujammenhang mit den iibrigen Lebensgebicten betrad)tet. Gefühl und Anſchauung laffen fid) nist durch Reflerion und Begriff erjegen, und fo wird ihnen aud in dem Kunſtwerk mehr gegeben als fid) in auslegende Worte faffen (apt. Von der Muſik wird es fdjwerlid) jemand leugnen, und ficerlic) wire der Maler oder Bildhauer ein Thor, wenn er jahrelangen Fleiß an cin Werf wendete und dies fid) dod) mit einigen Worten villig ans- driiden ließe; vielmehr liegt in der Idee die ihm vorſchwebt etwas Unfagbares, das er nur durd) Formen fiir die Anſchauung aus— jpredjen fann. Es gilt dies aud) vom Dichter, der ein Unend- lidjes in dem Gejange niederlegt, und je begabter und cinfidtiger der Lefer ift, defto vollfttindiger erſchließt fid) ihm das Gedicht. Goethe ſchreibt einmal: Die Geheimniffe der Lebenspfade darf und fann man nidt offenbaren, aber der Dichter deutet auf die Stelle hin. Den ſcheinbaren Geringfiigigfeiten in Wilhelm Meijter, Gupert er, liege ftets etwas Hiheres gu Grunde, man müſſe nur

2. Die Kunft: a. Begriff der Kunft. 553

die Augen und die Weltkenntniß beſitzen um im Kleinen das Größere wahrzunehmen; Andern möge das gezeidnete Leben als ſolches geniigen.

Die Wiſſenſchaft befriedigt im Gedanfen, die Kunſt in der finnenfalligen Darftellung. Sie priigt die Sdee im äußeren Stoff aus, und damit grenjt fie an da8 Handwerk, das ebenfalls die Materie bewiiltigt und formend dem Willen und Zwecke des Geiftes unterwirft. Aber die Erzengniffe des Handwerks ſuchen zunächſt die irdiſchen Bediirfniffe des Menſchen gu befriedigen, oder fie dienen feinem idealen Streben dod) nur zur Unterlage und jum Mittel; die Arbeit gefchieht nidjt um ihrer felbft, fondern um des Nutzens und Lohnes willen, den fie bringt, während dic künſtleriſche Thätigkeit zugleich Selbſtgenuß ijt, der ſchöpferiſche Geiſt in ihr ſich befreit und befriedigt, das Aeußere zum Ausdruck ſeines Innern macht um darſtellend ſeine Stimmung dann auch auf andere überſtrömen zu laſſen, und ihr Werk wird nicht nach ſeiner Verwendbarkeit oder Brauchbarkeit, ſondern nach ſeinem inneren Werth und nach der Schönheit ſeiner Form geſchätzt, es iſt um ſeiner ſelbſt willen da, und hat keinen andern Zweck als die Gemüther zur Harmonie ſeiner Vollendung zu erheben. Der Schönheitstrieb veredelt allerdings einerſeits das Handwerkliche, wenn es den Begriff oder Zweck eines Dinges, z. B. eines Ge— räthes, durch ſeine Form veranſchaulicht und das Nothwendige anmuthsvoll geſtaltet oder ſchmückt, und andererſeits bedarf der Künſtler für die Bewältigung des Stoffes der handwerklichen Kenntniß und Fertigkeit. In ihrer ureigenen Würde aber erhebt ſich die Kunſt dazu den Geiſt fein eigenes wahres Weſen wieder- finden zu laſſen, und in ſolchem Sinn nennt Schelling ſie eine Stufe der Seligkeit, der Wiederkehr zu Gott, indem ſie es iſt durch welche ſich das Ich dem Göttlichen ähnlich macht, göttliche Perſönlichkeit hervorzubringen und ſo zu dieſer ſelbſt durchzudringen ſucht. Da muß freilich auf ihrem Werke der Stempel freier Schöpferkraft ruhen, und es darf nicht gleich den Erzeugniſſen der Fabrikinduſtrie die mechaniſche Hervorbringung der Maſchinen— thätigkeit ſein, noch als ein Product abſtracter Verſtandescom— binationen erſcheinen, deren Ueberlegung und Berechnung in der Auffindung des äußerlich oder für anderes Zweckmäßigen ihre Stelle hat und damit die Handwerksgeſchicklichkeit begleitet, wäh— rend die Kunſt Phantaſieſchöpfung iſt.

Feinſinnig bemerft Hermann Grimm: „Das Handwerk ſetzt

554 III. Das Schone in der Kunft.

ein Bolt voraus, die Kunft cin Volf und einen Mann. Das Handwerk ijt erlernbar; die Runft muß angeboren fein. Das Handwerf hingt am Stoffe, den es formt, und fein höchſter Triumph ift den Stoff in unendlider Mannichfaltigkeit zu be- nugen und anéjubenten. Die Kunſt ift ein Rind des Geijtes, ihr Triumph ijt den Stoff fo in feiner Gewalt gu haben dak er den kleinſten Wendungen des Geiftes, der fic) mittheilen will, Reichen liefert, weldje fie den andern mittheilen. Die Kunſt ſpricht vom Geifte zum Geifte, der Stoff ift nur die Strafe die den Verfehr vermittelt. Das Handwerk wurzelt im Volk, es hat einen goldenen Boden; wir bediirfen feiner, es bebdingt unjere Exiſtenz, wir wären körperlich nidjts ohne es, wie wir nichts geiſtig wären ohne die Kunſt; und wie Körper und Geift fid nidjt ſcheiden laſſen, ſo Kunſt und Handwerk; fie gehen Arm in Arm, fie brandjen einander, aber fie find nidjt daffelbe. Lob, Ehre und Belohnung loden den Handwerfer und befriedigen ifn, bem Kitnftler aber find fie nur Symbole der Liebe cines Volfes, bem er fic) näher gerückt fühlt durd fie, und wo er fühlt daß fie ihn entfernen wilrden, verſchmäht er fie; nad) dem Ruhm ver- langt er nur als nad) einer Triftung, weldje ihm lieblid) zu— fliiftert fein Ringen fet nidjt vergeblid) gewejen, die ifm jagt dak aus feinen Werfen ſiegreich der Geift ausftrime, den er hinein verjenft.” Wie jeder Riinftler des Handwerks feiner Kunſt mächtig jein mug, fo fann der Handwerfer in die edjte Kunſt hinein- wadjen und feinem Werf den Stempel des Geiftes, der Freunde am Schönen aufdriiden, aber er fann aud) feine Gejdhidlicdfeit verwenden um im Dienfte nit ded Ideals, fondern der Mode, den Schwächen und Launen des Publifums um des Geld- gewinnes willen ſchmeichelnd, ſcheinſame Gebilde der Afterkunſt zu verfertigen. Wber fie ermangeln des originalen Geijtes, der freien Schönheit, um derentwillen der edjte Künſtler ſchafft, zu— vörderſt um ſich ſelbſt ein Genüge zu thun, den Drang der eigenen Seele zu ſtillen.

Hierdurch vergleicht ſich das Werk der Kunſt in ſeiner abſichts— loſen Nothwendigkeit und Selbſtgenugſamkeit einem organiſchen Gebilde der Natur; aber es unterſcheidet ſich von dieſem dadurch daß es ein Erzeugniß der Freiheit iſt und die Schönheit zum Zwecke hat, während das Leben als ſolches um ſeiner ſelbſt und um der Idee des Guten willen da iſt. Nur wenn wir an den göttlichen Schöpfergeiſt des Alls denken, kann uns die Natur als

2. Die Kunft: a. Begriff der Kunft. 55D

ein Kunſtwerk erſcheinen; die eingelnen Formen aber und Geftal- tungen gehen aus der unbewußt bildenden Lebensfraft hervor, der ihre Beftimmung und ihr Ziel durd einen höheren Geift gegeben ijt. Nur nad der Analogie mit menjfdliden Werfen fpridt man pon der Kunſt mit welder die Spinne ihr Nes webt, die Bienen ire Bellen bauen; aber es geſchieht mit der Nothwendigkeit des Inſtincts gleid) der Muſchelgeſtaltung der Weidthiere als eine Fortſetzung ihrer leibbildenden Thätigkeit, es geſchieht ohne Ueber- legung und ohne das Bewußtſein, welchem die Schöpfungen der Kunſt entſpringen. Das Naturſchöne erquickt uns weil die Er— habenheit oder die Anmuth ſich ungeſucht uns darbieten oder weil die Aeußerungen des unbewußten Lebens wie im Geſang der Vögel an Melodie und Harmonie, dieſe Erzeugniſſe des Geiſtes, anklin— gen; wenn eine ſelbſtbewußte Perſönlichkeit dabei ſtehen bleiben wollte, würde fie uns albern erſcheinen. Hierher gehört die artige Bemerkung Kant's: „Was wird von Dichtern höher geprieſen als der bezaubernd ſchöne Schlag der Nachtigall in einſamen Ge— büſchen an einem ſtillen Sommerabende bei dem ſanften Licht des Mondes? Indeſſen hat man Beiſpiele daß wo kein ſolcher Sänger angetroffen wird irgendein luſtiger Wirth ſeine zum Genuſſe der Landluft bei ihm eingekehrten Gäſte dadurch zu ihrer größten Zu— friedenheit hintergangen hat, daß er einen muthwilligen Burſchen, welcher dieſen Schlag mit Schilf oder Rohr im Munde ganz der Natur ähnlich nachzuahmen wußte, in einem Gebüſche verbarg. Sobald man aber inne wird daß es Betrug ſei, ſo wird niemand es lange aushalten dieſem vorher für ſo reizend gehaltenen Ge— ſange zuzuhören; und fo ijt es mit jedem andern Singvogel be— ſchaffen.“ Es iſt eine Mitbedingung für unſere Freude an der Kunſt daß das Können und Erkennen des Geiſtes in ihrem Werke hervortritt; wir laſſen ihn gern auch die minder reizenden Formen wählen, wenn ſie die bezeichnenden für ſeinen Gedanken ſind und freuen uns ſeiner Herrſchaft über das Aeußere wie er es zum Ausdruck des Innern macht, wie er ſeine Virtuoſität des Machens in der Nachbildung der Erſcheinungswelt, wie er ſeinen Sinn in der Auffaſſung der Dinge, ſeine Schöpferkraft in der Geſtaltung der Charaktere bewährt. Aber dafür wollen wir aud den Hauch des Geiſtes im Kunſtwerk ſpüren.

Gegenſtände die in der Wirklichkeit uns widerwärtig ſind, garſtige Thiere, ja Leichen, betrachten wir mit Vergnügen wenn ſie in treuer Naturnachahmung dargeſtellt ſind, das hat ſchon

556 III. Dae Schöne in der Kunft.

Ariftoteles gelehrt, und Pascal verwunderte ſich wie man die maleriſche Scheindarſtellung von Dingen bewundere, deren Ori- ginale uns in der Wirklichfeit gleidgiiltig find. Das Bild cines häßlichen Menſchen bleibt häßlich, aber die Gefchiclicdfeit des Riinftlers ift e8 die uns Frende macht. Die CSittenbilder von Molitre, von Balzac, bemerft Veron, intereffiren uns weil fie wahr find, weil wir im Gefolge diefer grofen Geifter tiefer in die Geheimnifjfe des Menſchenherzens cindringen, das wir ofne fie nidt fo gut fennen wiirden; wir bewundern die Geiftes- und Geftaltungstraft welde den Dichter befihigte auf Grund ihrer Lebensbeobadtung fo lebendige Charaftere vor uns fic) entwideln ju laſſen. Sie verdidten und ergänzen die Züge, welde die Wirklichkeit thnen bot, gum gattungsmäßigen Typus, in perjin- lider Erſcheinung. Die Sdheidung von Licht und Finſterniß durd Gott fonnte Michel Angelo der Wirklidfeit nidt nadahmend ab- ſehen; in fid) fand er die Elemente des Schaufpiels das er aus innerer Anfdhauung uns vors Auge fiihrt. Gott ſprach: es werde Licht! und es ward Lidjt! heißt es bei Moſes; die Energie des Sdipferworts fonnte er maleriſch nidt wiedergeben; er erfette die Sprache durd) die Geberde, die bewegte Geftalt, und erreidte den gleiden Eindruck ſchöpferiſcher Allmacht. So theilt uns Ruysdael in feiner Waldeinfamfeit feine Seelenftimmung mit; und das gleide Ziel hat der Dichter, der Mtufifer, wenn fie Budftaben und Noten ſchreiben. Be mehr perſönliches Gefühl in einem Werfe lebt, ſobald es nur dem Gemeinfinne der Menſch— heit gemäß ift, defto wirkfamer ift das Werf.

Schon hiernad müßte man die Zuftimmung dem alten Wort verfagen weldjes die Runft cine Nachahmung der Natur nennt. Bloke Nachahmung wire überflüſſig, fie ftritte gegen das Geſetz der Originalitit, das in der gegenftindliden Welt herrſcht und den felbftbewuften Wefen als eine Lebensaufgabe geftellt ijt. Der Schönheitsſinn treibt den Menfden zunächſt den eigenen Leib zu ſchmücken, dann feine Reider, Waffen und Gerdthe gu vergieren; ex thut es durd) fymmetrifdje oder parallele Linien, die er bald wellig, bald im Zickzack fiihrt; er flidjt die Niemen und den Baft jum Rorbe und zur Taſche in finnvoller Verſchlingung, er um— ſäumt das Ganze um es al8 foldjes anſchaulich hervorzuheben, oder läßt um und aus cinem Mittelpunft die Gliederung fid bewegen; fo fdjafft er fret cine Ginheit im Mannidfaltigen, und befolgt im Spiel der Willfiir ein Geſetz. Die Kunft felbft beginnt

2. Die Kunft: a. Begriff der Kunſt. 557

nidt mit dem Verſuche Naturerſcheinungen tiujdend wiederzugeben, jondern ihr Entftehungsgrund ift der Trieb und Drang des Geiftes jeine Gedanfen und Empfindungen in einem bletbenden Werk wie zum Denfmal ausjuprigen; fie rubt urfpriinglid) in der Wiege der Religion, und ihre erjten grofen Thaten find Geftalten welde die Gottesidee und dann den fittlidjen Heldenfinn eines BVolfes veranfdauliden. Und wo lägen denn in der Matur die Vorbilder und Muſter, welde die Urchiteftur bet der Erbauung hellenijder Tempel und gothijder Dome, welche die Muſik in einer Sym— phonie nadjahmen jollte, da dod) jdjwerlid) jemand im Grnjt an Tropffteinhihlen und Bogelgejang denfen möchte? Es gilt mir darum daß da8 Kunſtſchöne wie das Naturfdine jedes jeine ge- biihrende Stelle und Ehre erhalte; weder wird durch die Kunſt uns die Natur entbehrlid), nod ift die Kunſt eine unnithige Wiederholung der Natur.

Die Natur ijt „das Werdende, das ewig wirft und lebt“; ihre Werke erftehen und vergehen im raftlojen Wechſel der Atome, in ununterbrodener Umbildung und Neugeftaltung, und daß aud dieſe von einem Geſetz geleitet, in ihrem Entwicdelungsproceffe ſelbſt organijd ijt, daß im allgemeinen Fluffe des Seins dod) die Schön— Heit auf immer neue Weije aus den bewegten Wellen hervorjteigt, wie der farbenhelle Regenbogen durd) das Lidjt der Gonne aus immer andern Wafferperlen fic) aufbaut, das nannte id) friiher ſchon einen eigenthümlichen Vorzug der Natur, welchen die Kunſt nicht hat; hier vermag ſie die Natur weder nachzuahmen noch zu erreichen. Die Kehrſeite der Sache hat Schelling in ſeiner be— rühmten Rede über das Verhältniß der bildenden Kunſt zur Natur alſo ausgeſprochen: „Wenn die Kunſt den ſchnellen Lauf menſch— licher Jahre anhält, wenn ſie die Kraft entwickelter Männlichkeit mit dem ſanften Reiz früher Jugend verbindet, oder eine Mutter erwachſener Söhne und Töchter in dem vollen Beſtand kräftiger Schönheit zeigt, was thut ſie anders als daß ſie aufhebt was unweſentlich ijt, die Bett? Hat nad) der Bemerkung eines treff— licen Renners ein jedes Gewächs der Natur nur einen Augen: blicf der vollendeten Schönheit, fo dürfen wir fagen dag es aud) nur einen Augenblick de8 vollen Dafeins habe. In dieſem Augen- bli ijt e8 was eS in der ganzen Ewigkeit ijt; auger diejem fommt ifm nur ein Werden und ein Vergehen ju. Die Kunſt, indem fie das Wejen in jenem Augenblick darftellt, hebt es ans

558 III. Das Schöne in der Kunft.

der Zeit Heraus, fie [aft es in feinem reinen Ginn, in der Ewig— feit feines Weſens erſcheinen.“

Wir finnen alfo fagen: der Künſtler ftellt die Dinge im Lichte ber Ewigfeit dar, wie fie vor dem Auge Gottes ftehen, oder er erfaft den Höhenpunkt ihres Daſeins, weldem ihre Entwidelung zuftrebt, von weldjem aus ihre Auflöſung anhebt, in welchem aljo ihr Wefen concentrirt erfdeint; er fammelt in einem Brennpuntt die verfdiedenen Strahlen, welde in der Natur nad und nad leuchten, und verdicjtet die zerftreuten Riige der werdenden Schön— Heit gu einem vollen harmoniſchen Glanzbild ihres Geins. So offenbart er uns die innere geftaltende Geele und das Sdeal, dem fie in der Cntfaltung ihrer Kräfte nadjringt; er regt uns an durd) den Ausdruc ihrer Thitigfeit und befriedigt uns durch die Dar- ftellung von deren Erfüllung. All died ift aber nur miglid, wenn der Bli€ des Künſtlers von dem Wechſel der dugern Er- ſcheinungen gu dem bleibenden Rern Hhindurdjdringt, der diefelben bedingt, und nur wenn fein Auge fid) gur Anfdjauung jenes den Dingen eingeborenen, ihrer Entwidelung vorfdwebenden Ideals erfoben hat, fann er den Moment der Blüte erfennen, in welchem daffelbe aus ihnen hervorbridt, fann er beurtheilen weldes die einzelnen Züge find durd) die es im Fluffe des Werdens fid) an- fiindigt, und fann er Ddiefe finnvoll verbinden.

Giner der vorzüglichſten Künſtler unferer Zeit beftitigt meine Anffaffung; Rietſchel ſchrieb einmal: ,,Sft denn das Idealismus, wenn ich nach einem gewiſſen ſchematiſchen Zuge der Form eine Geſtalt, ein Gewand bilde, dem man es anſieht daß es aus der Erinnerung hervorgegangen, aus dem Kopfe gemacht iſt; und dem das Zufällige, Liebenswürdige der Natur fehlt: das nur durch immer neues Anſchauen derſelben ſich ergänzen kann? Iſt das Realismus, wenn ich in dieſem Sinne die Natur anſchaue und benutze, und meine Idee dadurch belebe und erfriſche? Ich be— nutze die Natur, ich copire ſie nie. Ein Ideal nach gewöhnlichem Maßſtab ſoll als eine muſtergültige Durchſchnittsform gelten. Damit wird das Individuelle ausgeſchloſſen, und nur individuell kann und muß die Schönheit ſein, wenn ſie die Bedingung ihrer ſelbſt in ſich tragen, in ſich lebendig und bewegt ſein ſoll. Die Schönheit iſt ſo mannichfaltig wie das Häßliche, keine bloße Ne— gation deſſelben, ſondern ein poſitiv Lebendiges, Thätiges, Wech— ſelndes. Das Höchſte und Schönſte, weil auch in ſich Natur und Lebendige, kann nur dadurch erreicht werden daß der Künſtler

2. Die Kunft: a. Begriff der Kunft. 559

fich eine Sndividualitit denft. Individuell ijt aber nod nidjt was wir gewöhnlich in Wirflidfeit fo nennen, und was meiff nur in feiner Entwidelung geftirter, deshalb ungleidartig ent- wicelter menfdlider Organismus ijt. Seder menjdliden Da- ſeinsform liegt cine befondere göttliche Uridee zu Grunde. Dent fi nun der Ritnftler ein feinem Gegenftande entſprechendes In— dividuum, und findet er dazu eins in der Natur, gu welder er ftetS juriidfehren mug, fo foll er nicht die Natur nehmen wie er fie findet, ebenjo wenig foll er fie ergänzen nad) hergebradten Sdealbegriffen, fondern er foll die göttliche Uridee, welche der Dajcinsform diefes Menfden zu Grunde liegt, fid) vorzuſtellen, fid) mit aller Kraft des Geijtes in fie hineingudenfen fuden, er joll die Natur umgeftalten wo jene Uridee nicht gu ihrem vollen Ausdrud und Verwirflidung gefommen ijt. Diefe Uridee alfo, der fein Individuum in feiner Entwidelung vollfommen entſpricht, ijt das Ideale, das der Künſtler fid) gu denfen, gu erftreben Hat.’ Vortrefflid) fagt Veron: ,, Wahrheit, Perjinlidfeit, da habt ihr in zwei Worten die vollftindige Forme! der Kunſt, Wahrheit der Sache, Perfinlidfeit des Riinftlers. Und am Ende find beide Gins. Die Wahrheit der Gade in der Kunſt ift ja die Wabhr- eit unferer eigenen Empfindungen, die Wirklidfeit wie wir fie fiihlen, jehen und verftehen fraft unferer Organe, unfers Tem— peraments, unjerer Bildung, alfo unfere Perſönlichkeit felbft. Die Wirklichfeit wie die Photographie fie uns gibt, als etwas auger uns ohne unfere Sinneseindriide, ift die Verneinung der Kunſt. Wo fie herrjdt, da fpridjt man von Realismus; aber in den Kunſtwerken ijt es gar nist anders miglid) als daß der Riinftler etwas von fic) ſelbſt hineinlegt. Erſt wo die Wahrheit der Wir". lichkeit als eine menſchliche, perjinlid) aufgefagte erſcheint, da jehen wir den Riinftler. Sn diefem Uebergewidt der Gubjectivitit iiber die Objectivitit haben wir den Unterjdied der Kunſt von ber Wiffenfdaft. Der fiir fie organifirte Menſch nimmt die Er- gebniffe der directen Beobadjtung der Dinge Hin ohne fie um- gugeftalten, er ordnet fid) ihnen unter; bet dem Künſtler dagegen find Empfindungsvermigen und Cinbildungstraft, kurz die Per— finlicfeit fo retgbar, fo lebhaft, daß fie die Gaden ganz von felbft nach fid) umgeftalten und firben, fie im Sinne ihrer Vor- züge fteigern.“

Es ift eine irrige Vorftellung Platon’s, wenn er die bilden- den Künſte geringſchätzig befpridjt, weil fie nur die dugeren Er—

560 III. Das Schöne in der Kunft.

ſcheinungen nachahmten, dieje Schattenbilder der Idee, fodak wir Dann eine Nachbildung von Nachbildungen erhalten; aber fein Tadel trifft den Naturalismus, und er erhebt fid) fofort zur rid: tigen Ginfidt, wenn er die wahre Kunſt die Fabhigfeit nennt ein von unfidjtbarer Ordnung beſeeltes Ganzes gu ſchaffen, das iiberall Rerftreute jdjauend in Cine organiſche Geftalt zuſammenzufaſſen und die Sdeen des Wahren und Guten in einer entfpredenden Er- ſcheinung auf wohlgefällige Weiſe darzuſtellen. Es ift der geiftige Zeugungstrieb der Liebe, der von der Schönheit geleitet die Kunſt hervorbringt; ihr Werk hat in dem Maße Werth als ihre ſchaf— fende Thätigkeit von den Ideen beſeelt und durchdrungen iſt. Ariſtoteles hat allerdings alle Kunſt als Nachahmung (pipuotc) bezeichnet, aber in der Art wie er ſie mit der Erkenntniß ver— bindet und an der Wahrheit theilhaben läßt, erhellt daß auch er das Allgemeine ergriffen und dargeſtellt wiſſen will, das dem Be— ſonderen und Veränderlichen zu Grunde liegt, ſodaß auch bei ihm neben die Naturtreue die Idealität tritt. Ausdrücklich ſagt er von der Poeſie: daß ſie nicht das Geſchehene, ſondern was und wie es geſchehen ſollte, ſei es nach Wahrſcheinlichkeit oder Noth— wendigkeit, darſtelle, und deshalb edler und philoſophiſcher ſei als die Geſchichte.

Unſere Auffaſſung der Welt vollzieht ſich gar nicht anders als daß wir aus der verwirrenden Menge von Eindrücken einheitliche Geſammtbilder der Dinge ſchaffen, wie wir ja auch aus den vielen Schwingungen der Luft und des Aethers die einfachen Ton- und Sarbenempfindungen erzeugen; ohne alle cingelnen Blitter und Zweige als ſolche feftzuhalten jdauen wir das Ganze des Baumes an. Wir verwifden das Charafterijtijde nicht, wir betonen es vielmehr, wenn wir aus den vielen ähnlichen Geftalten die Vor— ftellung ded Hundes, der Kage bilden und die Einzelweſen darunter begreifen, von andern Gattungen unterfdeiden. Go verfihrt das äſthetiſche Sdealifiren nad) dem Gefidtspunft der Schinheit. Aus dem Gefühlseindruck fchafft der Künſtler das Bild; er fieht die Welt mit dem Auge der Liebe und verjest fic) in diejelbe wie der Viebende in die Seele dev Geliebten. Gr will vom Individuellen nidt abftrahirven, fondern in ihm das allgemeine Bildungsgejes und das Wefen der Sade veranjdauliden. Die rechten Ideale find nidjt jene Chavafterbilder des franzöſiſchen Clafficismus, von denen Leſſing fagt daß fie mehr die perfonificirte Sdee eines Cha- rafters alé eine dhavafterifirte Perſon darftellen, ſondern jene gan;

2. Die Kunſt: a. Begriff dex Kunft. 561

eigenthiimliden und originalen Geftalten, die aber zugleich das Menſchheitliche nad) einer bejtimmten Seite oder Ridtung auf jetnem Gipfel eigen, wie Achillens und Odyſſeus bei Homer, Taſſo bet Goethe, Romeo und Sulie bet Shakeſpeare. Go find aud Mtolicre’s Hauptgeftalten individuell nad) Zeit und Sitte gezeichnet, nicht abftracte Geizhälſe oder Heuchler, fondern con- crete Menſchen, denen die eigene Natur die Conflicte mit der Geldgier, der Scheinheiligkeit bereitet. Wenn jdon der Maler in Emilia Galotti fagt: dag da8 Portrit den Menſchen wieder- geben müſſe wie die plaftifde Natur fic) ihn dachte, ohne den Abfall weldjen der widerjtrebende Stoff nothwendig madt, ohne den Berderb mit weldjem die Zeit dagegen anfimpft, fo finnen wir Hingufegen: daß der fret ſchaffende Künſtler aus der Fiille des wirfliden Lebens diejenigen Züge welde jum Ausdrud der Sdee dienen, gu einem geſchloſſenen Ganzen jujammenfiigt, und das mit Flarer Bejtimmetbheit darthut was den ewigen Sinn der Dinge, was den idealen Gang des Geſchehens iiberhaupt aus- madt. Chiller idealijirt jeinen Wallenjtein nicht dadurd) daß er aufkläreriſch ihm die Befangenheit im aſtrologiſchen Aberglauben benimmt, fondern daß er als den verborgenen Kern dieſes letztern den Gedanfen von einem grogen Weltganjzen erfaft, im weldem alles in allem im 3ufammenhang jteht, alles auf alles wirkt; mit dieſer erhabenen und wahren Anſchauung lebt nun der Held, und will nidts beginnen was nicht im Weltplan mitbegriindet jet, wie diejer tm Lauf der Sterne waltet und dadurd) die Stunde der irdiſchen Dinge beftimmt; dadurch erhebt er fic) jelbft iiber Slo, dex mur da8 Srdifde durchſchaut und nur das Nächſte mit dem Nächſten verfniipfen fann, und ſpricht jene Worte mit Faufti- ſcher Poefie und Tiefe:

Was geheimniffvoll bedeutend webt ;

Und bifdet in den Tiefen der Natur,

Die Geifterleiter, dic aus diefer Welt des Stanbes

Bis in die Sternenwelt mit taufend Sprofjen

Hinauf fid) baut, an ter die himmlifden

Gewalten wirfend auf und niederwandeln,

Die Sreije in den Kreijen, die fid) eng

Und enger jieh'n um die centralifde Gonne,

Die fieht das Ang’ nur, das entfiegelte,

Der hellgebor'nen heitern Jovistinder.

Shakeſpeare (pt feinem Cäſar das ftolze Herrjeinwollen, das dic Verfdworenen gegen ifn waffnet, aber das einfache Factum, Carriere, Mefthetif. J. 3. Aufl. 36

562 Ill. Das Schöne in der Kunft.

daß er die Zuriidberufung Cimber’s den Bittenden verweigert, madt er zum Symbol unerfdjiitterlider Herrſchergröße, die fid alg den Mittelpunkt des Staates fühlt und auf da8 grofe Gejes der Dinge hinweift, durd Cäſar's Worte:

Sd ließe wol mid) riihren, glid) id) end),

Mid) riihrten Bitten, bat? ich um zu riibren. Dod id bin ftandhaft wie des Nordens Stern, Def unverriidte ewig ftete Art

Nicht hres Gleichen hat am Firmament.

Der Himmel prangt mit Funten ohne Zabl, Und Feuer find fie all’, und jeder leuchtet,

Dod) Einer nur behauptet feinen Stand.

Go in der Welt auch: fie ift voll von Menfden, Und Menfdjen find empfindlid, Fleiſch und Blut; Dod) in der Menge weiß ich Einen nur

Der unbefiegbar feinen Plats bewahrt,

Vom Andrang unbewegt; daß ich der bin,

Aud darin {aft e8 mich ein wenig jeigen

Daf id) auf Cimber’s Banne feft beftand,

Und d’rauf befteh’ daß ex im Banne bleibe.

Was ift Smmermann’s Hofſchulze fiir eine pridtige Figur! Der Dichter Hat ihm das Grobfnodjige des Banern gelaffen, ja verftirft, er hat thn mit dem Erdgerud) der Scholle umgeben an der ‘er Haftet, aber ihn jugleid) gum Träger deutſcher Bauern- größe gemadt und an feine Perſönlichkeit das Aufleben altgejdhidt- licher Grinnerungen gefniipft, aus feinem Mund die gefunde Lebensweisheit des Volfes uns verfiindigt.

Albrecht Diirer hat das Rechte gewußt: ,,Gehe nidt von der Natur in deinem Gediinfen, daß du wolleft meinen das Beffere dir felbft gu finden. Denn wabhrhaftig ſteckt die Kunſt in der Natur, wer fie heraus fann reiffen der Hat fie. Rein Menſch fann aus eigenem Sinne ein befferes Bild machen als e8 Gott jeiner erjdjaffenen Natur zu wirken Kraft gegeben hat, es fei denn daß er durch viel Nachbilden fein Gemiith vollgefapt habe; das ift dann nicht mehr Cigenes genannt, fondern iiberfommene, und gelernte Runft geworden, die fid) bejamet, erwächſt und ihres Ge— ſchlechtes Frucht bringt. Daraus wird der verjammelte heimlice Schatz des Herzens offenbar durch das Werk und die nene Creatur, die einer in feinem Herzen ſchafft in der Geftalt eines Dinges.”

Die echte Kunſt fteht im Leben; fie gieht ihre Triebfraft aus dem Gefühl de8 Riinftlers und aus der Wirklichleit, in der er

2. Die Kunft: a. Begriff der Kunſt. 563

fic) bewegt; fie fann das nur, wenn der RKiinftler mit eigenem Herzensantheil im Glauben und Streben feines Volfs und ſeiner Beit fteht, wenn ev den Intereſſen beider nidjt entfrembdet ift, jondern fie im eigenen Gemiithe trigt. Sonſt gibt’s Kunſtwerke fiir Wfademieen, Gallerieen und formale CEnthufiaften, aber nicht fiir das sffentlide Leben, oder die Bilder und Statuen in der Rirde und auf dem Markte laffen uns falt.

Sowie es cine Poefie in der Wirklichfeit gibt, nicht blos in Büchern, haben dod) auc) die Dichter fie aus dem Leben in die Verſe geſchöpft! fo foll aud) der bildende Künſtler fort- während feine Motive aus der Natur nehmen, nicht blos das von ältern Meiſtern Gewonnene wiederfolen, und „die Nach— ahmung der Kunſt“ in der Kunſt an die Stelle der Naturnad)- ahmung jegen, vielmehr den alten Erwerb durd) nenen vermehren und empfinden laſſen daß er aud) dort wo er der Ueberlieferung fic) anfchlieBt, mit eigenem Auge gefehen und aus eigener Em- pfindung gezeichnet hat.

Goethe fagt im Aufſatz: Shakefpeare und fein Ende: ,, Wiles was bet einer grofen Weltbegebenheit heimlich durch die Liifte finjelt, was in Momenten ungeheurer Creigniffe fic) im Herzen der Menſchen verbirgt, wird ansgefprodjen; was ein Gemiith ängſtlich verſchließt und verftedt, wird Hier fret und fliiffig an den Tag gefirdert; wir erfahren die Wahrheit des Lebens und wiffen nidt wie.” Ich erinnere nod) neben Dante’s Göttlicher Komödie an die Bilder de8 Biingften Geridts von Midel Angelo und Cornelius, wie fie in einen gewaltigen Moment das ganze Leben zuſammendrängen, und in ganz perſönlichen Geftalten die Grund- ridtungen de8 menjdliden Herzens im Guten und Bijen veran- ſchaulichen. Dazu mug freilic) der Künſtler hinabftetgen zu den geheimnißvollen Quellen des Leben’ im Reich der Mütter; dazu geniigt nidjt die Copie der Erfdeinung, denn auf eine nod nie dagewefene Weiſe foll uns das Weſen der Dinge offenbart wer- den. Das Ideal bringt den Werth der Bdee gur Anjdauung und Empfindung.

Den Werth eines Kunſtwerks fann nidjt das ausmachen was man ohne die künſtleriſche Darftellung ſchon hat, was man alfo auf andere Weije mit Worten ſagen, begrifflid) ausdriiden fann, fondern er fiegt darin mas die Kunſt Cigenthiimlides ſchafft, in der Form, in der veranjdaulidenden Geftaltung der dee, in der Verbindung der Tine und Farben, die den geijtigen Gehalt gu

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564 Ill. Das Schöne in dev Kunft.

einem ſinnlich erfahrbaren, erlebbaren maden und unmittelbar uns gum äſthetiſchen Genuffe bieten. Es handelt fid) um die Sitti- gung von Form und Sdee, um die Harmonie von Begriff und Erſcheinung. Dadurd) ift die Kunſt neben der Wiſſenſchaft und neben der Natur beredhtigt. Die Kunſt fommt der Natur nidt gleid) in der werdenden Lebensfiille; dafiir ift jedes ihrer Werke cine eigenthiimlide Geiftesthat, und läßt uns die Kraft des Men- ſchen bewundern die in dieſer Leiſtung aufgeboten ift, dafiir wohnt dem Werk cine aus dem Geift ftammende Bedeutung inne; die Anſchauungen des Kiinjtlers find mit Vorftellungen und Begriffen verfniipft, die er nun im Bilde auspriigt, und dieſer Ueberſchuß des Geiftigen gibt dem Kunſtwerk einen Charakter des Symboli- ſchen, der jede Geftalt zum Trager eines Gedankens madht; diefer darf freilid) nicht anger ihr liegen, ihr fremd fein, wodurch fie zur Allegorie wiirde, vielmehr ijt er das Allgemeine und Wejen- hafte, das fie zum Reprijentanten einer Gattung, eines Geſetzes, einer Zeit madt. Der edhte Künſtler gibt im Portrit, in der Landſchaft den Gejammtcindrud der Perfon, der Gegend; er be- tont das Weſentliche, entfernt ftirende Zufälligkeiten und Halt den giinftigen Augenblick der Stinumung, der Beleudtung feft.

Das Kunftwerf wendet fid) zunächſt nidt an den Verjtand, jondern an die Phantajie, und verlangt die Productivitit derjelben m Beſchauer, und gerade darin daß dieje angeregt und zur Voll- endung des Schönen geleitet werde, befteht der äſthetiſche Genuß. Darum hat Voltaire nidt unredt gu fagen: Le secret d’étre ennuyeux c'est de tout dire. Und Schiller ſchreibt über Wil- helm Meifter: „Das Rejultat eines ſolchen Buches muß immer die cigene freie, nur nidt willfiirlide Production des Leſers jein; es mug eine Art von Belohnung bleiben, die nur dem BWiirdigen zutheil wird, indem fie dem, Unwürdigen fich entzieht’’, und Goe- the’s Sprud: „daß fid) dev Lefer felbft productiv verhalten mug, wenn er an irgendeiner Production theilnehmen will”, ijt ein An— fang an unfere grundlegende Erörterung dag ftets das Schone erft in unferm Gemüth erzeugt werde. Uebcreinftimmend bemerft aud) Kant in feiner Weife: ,,Geift in äſthetiſcher Beziehung heißt das belebende Princip im Gemüthe. Dasjenige aber wodurd) dieſes Princip die Seele belebt, der Stoff den eS dazu anwendet, ijt das was die Gemüthskräfte zweckmäßig in Schwung verſetzt, das ift ein foldjes Spiel weldes ſich von ſelbſt erhilt und felbjt die Kräfte dazu ſtärkt. Nun behaupte ich diefes Princip fet nidts

2. Die Kunft: a. Begriff der Kunſt. 565

andereS alS das Vermigen der Darftellung afthetijder deen; unter einer äſthetiſchen Sdee aber verſtehe id) diejenige Vorftellung der Cinbildungstraft die viel gu denfen veranlaft ohne daß ifr dod) irgendein beftimmter Begriff adtiquat fein fann, die folglid feine Sprache villig erreidjt und verftindlid) madt. Wenn der große Rinig fid) in einem feiner Gedichte fo ausdrückt: «aft uns aus dem Leben ohne Murren weiden und ohne etwas zu bedauern, indem wir die Welt nod) alsdann mit Wohlthaten überhäuft zu— riidfaffen; jo verbreitet dic Sonne, nachdem fie ihren Tageslauf vollendet hat, nod) cin mildes Licht am Himmel, und die lebten Strahlen die fie in die Luft ſchickt, find ihre letzten Seufzer fiir das Wohl der Welt», fo belebt er feine Vernunftidee von welt— birgerlider Gefinnung nocd) am Ende ded Lebens durch ein Attri- but, welches die Einbildungskraft (in der Grinnerung an alle An- nehmlichkeiten eines vollbradten ſchönen Sommertages, die uns ein heiterer Abend ins Gemüth ruft) jener Vorſtellung beigeſellt und welches eine Menge von Empfindungen und Nebenvorſtellun— gen rege macht, für die ſich kein Ausdruck findet.“ Das künſt— leriſche Genie weiß eine Form zu treffen durch welche der uner— ſchöpfliche Reichtſum einer Gemüthsſtimmung oder einer Idee aud) in der aufnehmenden Seele durch das angeſchaute Bild erweckt wird; nur wer ſolches vermag iſt in Wahrheit ein Künſtler, und es iſt das Kennzeichen echter Kunſt an einem Werke daß es nicht blos beſtimmte Begriffe mittheilt, ſondern das Allgemeine und Unendliche im Einzelnen offenbart und unſere Phantaſie entzündet oder beflügelt. Oder wie Schiller ſagt:

Ein Unendliches ahnt, ein Höchſtes erſchafft die Vernunft ſich, Qu der ſchönen Geftalt lebt es dem Herzen, dem Blick.

Es iſt gewöhnlich zu wenig beachtet worden daß das Schöne ſich im fühlenden Geiſte erzeugt, und das Kunſtwerk ſelber das Mittel iſt wodurch ſich der elektriſche Funke aus der Künſtlerſeele in unſere Seele zündend verpflanzt. Erregend auf die Phantaſie zu wirken daß ſie ſich über die gemeine Wirklichkeit erhebe und das Ideal in ſich erzeuge, iſt daher eine Leiſtung der echten Kunſt, und in der eigenen Thätigkeit beſteht die Würze unſers Kunſt— genuſſes. Das Werk ſoll nicht blos unſerer Einbildungskraft freien Spielraum laſſen, ſondern ihren Gang und Schwung in ſeinem Sinne fortbeſtimmen; das innere Bild überwächſt das äußere, das zu ſeiner Erzeugung den Anſtoß gab, aber es bewaährt

566 III, Das Schöne in der Kunſt.

die harmoniſchen Züge deffelben. Oft ijt es cin einzelner Zug, durch weldjen der Künſtler unferer Phantafie dieſe Befliigelung verleiht. Goethe zeigt uns in Hermann und Dorothea eine flüch— tende Landgemeinde; aber wie der ehrwiirdige Ridter in dem Ge— tümmel die Ordnung ſchafft und die Gemiither beruhigt, fagt der Geiftlide gu ihm:

$a Bhr erfdeint mir heut' als einer der alteften Führer, Die durd) Wiiften und Irren vertriebene Völler geleitet ; Denk’ id) dod) eben id) rede mit Gofua oder mit Moſes.

Sofort fteht die hohe Geftalt dieſer Männer, fteht die weltgeſchicht— lide Bedeutung ihrer Thaten vor unferm Gemiith, und wir find mit einmal auf einen erhabenen Standpunft geftellt, von dem aus das ganze Gedicht nidjt ferner als ein Idyll, fondern in feiner epiſchen Großheit fid) uns zeigt. Wie ungeheuer fteht cine immer vorwärts dringende Leidenfdaft vor unjern Augen, went Othello bas Blut des Caffio verlangt, den er des Ehebruchs fiir ſchuldig cradtet, und zu dem wunderbaren Gleichniß greift:

So wie des Pontus Meer, Def eiſ'ger Strom und fortgewaljte Flut Nie rückwärts ebben mag, nein, unaufhaltfjam In den Propontié rollt und Hellespont: So foll mein blut’ger Sinn im wüth'gen Gang Nie umſchau'n, nod) gu fanfter Liebe ebben, Bis cine voll geniigend weite Rade Ihn ganz verfdlang.

Der RKiinftler mug der Gaiten des menſchlichen Herzens fundig jein dte er rühren will, aber er [aft fie dann forttinen, und die Worte des Didhters find Bauberworte, welde Bilder in unferm Gemiith heraufbeſchwören, denen liebe Erinnerungen oder lockende Hoffnungen fid) gejellen, und aus den Schranfen der Ginne und der Gegenwart ijt der frete Blid ins Unendlide crdffnet. Darum ergötzt uns ein colorirted plaſtiſches Werk lange nidjt jo jehr als eine farblofe Statue oder als cin Gemiilde das die Körperlichkeit burd) Licht und Schatten nur andeutet. Indem der Bildhauer allein durch die Form wirft, diefe aber in ihrer Vollendung dar- ftellt, geniigt fie und um das Bild des Lebens innerlid) in uns hervorgubringen, und wir erfreuen uns andererfeits an der geiftigen Thitigteit hinter dem farbigen Schein der gemalten Fläche die

2. Die Kunft: a. Begriff der Kunft. 567

runden Geftalten ju erfennen; es ift unfere Phantaſie welde dort die Farbe, hier die volle Körperlichkeit nidt vermift, weil fie dort durch die Form, Hier durd) die Farbe im Wedfel von Helf und Dunfel zur Anſchauung de8 vollen Lebens erregt wird. Die Phantafie ift beweglich, fie will bilden, ſchaffen, thätig fein, fie will nidt beim Gegebenen ftehen bleiben. Streicht man die Statue an wie eine Wadhsfiqur, werden der Phantafie Formen und Far- ben zugleich geboten, fo läßt ihr das Aeußere nidjts gu thun librig, fie geht jum Innern fort, fie erwartet jest cin fic) felbft bewegendes Leben, und fieht fic) getäuſcht, fic findet ftatt deffen die ftarre todte Maffe und cine äußerliche Liige des Lebens. Alles Schöne muß ja innerlic) in unjerm fühlenden Geiſte erzeugt wer- den, und fo gilt ed deffen volle naturgemäße Thätigkeit zu erregen, worin feine Glückſeligkeit beſteht. Der Mufifer ftellt nur den allgemeinen Lebensgrund in feiner Bewegung dar, aber indem wir die werdende Bewegung in unjer Gemiith anfnehmen, entwerfer wir innerlid) cin Bild der Welt, das aus ihr entfpringt, und denfen wir feine Gedanfen. Oer Dichter fpridt den Begriff des Seins in Worten aus, unfere Phantafie erfapt feine Rede und mittels derjelben erftehen in uns feine Anſchauungen und Gefiible. Der Bildner veranſchaulicht die Sdee wie fie im Raume Geftalt gewonnen Hat, aber wir verfesen uns beim Anblick des Bildes in bie Thätigkeit der bilbenden Kraft und erfaffen die Idee, die in ihr waltet, aud mit unferm Denfen.

Goldene Worte hat Goethe in einem Dialog über Wahrheit und Wabhrideinlidfeit der Kunſtwerke gejproden. Er geht davon aus daß alle theatralijden Darftellungen feineswegs wahr ſcheinen, jondern nur den Sahein ded Wahren haben. Wenn in der Oper alles gufammenftimmt, gewährt fie ein lebhaftes Vergnügen. Und dod) wenn die Leute auf der Biihne Billets abfingen, fingend fic unterhalten, herumſchlagen und verſcheiden, wer fann fagen dap bie ganze Vorftellung wahr ſcheine? Aber die Oper made cine fleine Welt fiir fid) aus, in der alles nad) gewiffen Gefesen vor- geht, die nad) ihren cigenen Geſetzen beurtheilt, nad) ihren eigenen Eigenſchaften gefühlt fein will, Go foll und darf der Riinftler keineswegs danach ftreben dak fein Werk eigentlid) als cin Natur- wert erſcheine. Go erjdeint es aber dem Ungebildeten. Die Vogel die nad des grofen Meiſters Rirjden flogen, beweiſen nicht dak die Friidjte vortrefflid) gemalt, fondern daß die Lieb- Haber echte Sperlinge waren. Aus dem Kupferwerk eines Nature

568 Ill. Das Schöne in der Kunft.

forjdjers hatte deffen genäſchiger Uffe alle colorirten Kafer heraus— gefreffen. Sollte der ungebildete Liebhaber nicht ebenfo verlangen daß cin Kunſtwerk natiirlid) jet um es min auch auf eine natiire fiche, oft rohe und gemeine Weiſe genießen zu können? Nur in- fofern erjdeint ein vollfommenes Runftwerf als ein Naturwerf, weil es mit der beffern Natur des Menſchen iibereinjtimmt, weil e8 übernatürlich, aber nicht aufernatiirlic) ijt. Cin vollfommenes Kunſtwerk ift ein Werf des menſchlichen Geiftes und in diefem Sinne aud ein Werf der Natur. Aber indem die jerftreuten Gegenftinde in Eins gefaft, und felbft die gemeinften in ihrer Bedeutung und Wiirde aufgenommen werden, fo ift es über der Natur. Es will durd einen Geift, der harmoniſch entiprungen und gebildet ijt, aufgefaßt fein, und dieſer findet das Vortreff— lide, in fic) Vollendete aud) feiner Natur gemäß. Der Kenner fieht nidjt nur die Wahrheit des Nachgeahmten, fondern aud) die Vorziige des Ausgewihlten, das Geiſtreiche der Zujammenftellung, das Ueberirdijde der Fleinen Runftwelt, er fühlt daß er fic) zum Riinftler erheben miiffe um das Werk ju geniefen, er fühlt dap er fid) aus feinem jerftrenten Leben fammeln, mit dem Kunſtwerk wohnen, es wiederholt anfdauen, und id) felbft dadurd) eine höhere Griften; geben miiffe. Su den Propylien Hat Goethe cinmal fein Glaubensbefenntnif{ jo formulirt: „Der edjte geſetz— gebende Künſtler jtrebt nach Runftwahrheit; der geſetzloſe, der einem blinden Triebe folgt, nad) Naturwirflidfeit; durd jenen wird die Kunſt zum höchſten Gipfel, durch diejen auf ihre nie- drigfte Stufe gebracht.“

Shiller fagt in der Vorrede gur Braut von Meffina: Der Künſtler fann fein einziges Element aus der Wirklichkeit brauchen wie er es findet; fein Werf muß in allen feinen Theilen ideell jein; alé Ganzes aber mug es mit der Natur bereinftimmen. Goethe fagte gu Edermann: Das ift aber die wahre Idealität die fid) realer Mittel fo gu bedienen weiß daß das erſcheinende Wahre eine Täuſchung hervorbringt als fet es wirklich.

Bu dem alldurdwaltenden fdaffenden Geift alfo mug der Kiinftler fic) ervheben, in ihm die Sdeen anzuſchauen welche dic Typen und bleibenden Mufterbilder der Dinge find, und dieje, weldje in der Natur durd) eine Fiille fid) ergänzender Sndividuen in einem Wechſel der Entwidelung igre Herrlichkeit offenbaren, ſucht er in feinen Geftalten bleibend darzuſtellen, ſodaß er nidt die ſinnliche Erſcheinungswelt, fondern deren Urbild abbildet, und

2. Die Runft: a. Begriff der Kunft. 569

weniger cit Nadahmer der Natur als ein Nadahmer Gottes gee naunt werden fann, wenn er gleich diefem die inneren geiftigen Gedanfen in raumpeitlider Ausdehnung und Begrenzung durch dic finnenfallige Form objectiv madt.

Ich finde dieſen ſchon friiher veriffentlidjten Gedanfen bei Klopſtock wieder, wenn er in feiner Mteffiade fragt wie ſich der Verſöhnung und Erlöſung die Dichtkunſt nahen diirfe, und dann in Bezug auf dieje legtere fortfährt:

Weihe fie, Geift Schöpfer, vor dem id hier ftill anbete,

Führe fie mir als deine Nadahmerin voller Entgiidung,

Vol unfterblider Kraft, in verklärter Schönheit entgegen;

Riifte mit deinem Feuer fie du, der bie Liefen der Gottheit

Schaut, und den Menſchen ans Staube gemadjt gum Tempel ſich heiligt!

Ganz; ähnlich ruft Schiller den Riinftlern ju:

Dem prangenden, dem heiteren Geift,

Der die Nothwendigfeit mit Grazie umzogen,

Der feinen Aether, feinen Sternenbogen

Mit Anmuth uné bedienen heißt,

Der wo er ſchreckt nod) durch Erhabenheit entzüchket, Und jum BVerheeren felbft fic) ſchmücket,

Dem grofen Künſtler ahmt ifr nad!

Was in der Natur die Pflanzen und Thiere zu lebendigen Wefen madt, den fortwahrenden Geftaltungsprocef des Organis- mus im Wechſel der Stoffe und die raſtloſe Nenbildung der Form, dies ahmt die bildende Kunſt nicht nad), fie kleidet vielmehr ori— ginale Gedanfen des Geiftes in Formen der Natur, die fie jenen zubildet, ſodaß fie ifnen völlig gemäß werden, und darum unver- änderlich bleiben; und der Dichter verfegt die Thaten die er be- fingt, die Gefiihle die ex ausſpricht, in eine andere Sphiire als die der gewöhnlichen Erfahrung, er hebt fie aus der vielverſchlun— genen, vielfad) ftérenden Realitit der Wufenwelt rein hervor in die Freiheit feines eigenen Gemiiths, und leiht ihnen die harmo- niſche Stimmung feiner eigenen Seele bis in den Tonfall der Worte hinein. Die Kunft ijt die ummittelbare und erfdeinende Verwirklidung des Bdeals. Stiinden Idee und Wirklidfeit, Geift und Materie ohne innere Cinheit und gemeinfamen Lebensgrund einander gegeniiber, fo wire dies freilic) nicht miglid, und dic idealbildende Thitigkeit miifte in andern Formen als denen der Natur oder Geſchichte fic) offenbaren; nun aber ergreift fie diefe

570 Ill. Das Schöne in der Kunſt.

Formen in dem Wugenblice wo fie am charaftervollften und herr- lichften fid) zeigen, oder erfaßt einen eingelnen bejonders fpredjen- den Zug und nimmt ifn jum Ausgangspunkt fiir eine ihm ge- mäße Geftaltung des Ganzen, wihrend fie das Ungeniigende, Unweſentliche, Rufallige ausſcheidet, ſodaß die Form als das ſelbſtgeſetzte Maß innerer Bilbungsfraft erſcheint und der innige Bujammenhang alles Unterfdiedenen zur geſchloſſenen Ginheit wird. So erfennen wir im Factijden zugleich das Nothwendige oder das Geſetz in der Erſcheinung, und die Sdee ijt nicht etn Senfeits fiir dic Wirklichfcit, fondern ihr Kern und ihre Seele. Wenn ihr Strahl in der Vielheit der Dinge fich triibt und bricht, fo ftellt die Kunſt fie in cinem Einzelbilde rein und ganz dar, und concen- trirt den Reidjthum der Welt in einem einzelnen Werk, deffen Umfang wir 3u faffen vermigen, deffen Snhalt aber unerſchöpflich ijt, wie der Aether flar und unergriindlic) tief. Jedes Kunſtwerk ift nad) Carus eine Suleika welche fpridt: „In mir liebt Gott fiir dieſen Augenblick!“

Neuerdings gibt in Italien, Frankreich und Deutſchland ein gemeiner Naturalismus die Parole aus: Wahrheit, nicht Schön— heit! Der Gegenſatz beweiſt ſchon daß er das Niedrige, Widrige, Ordinäre oder Abſonderliche als das Wirkliche nimmt, als ob der friſche klare Quell minder wahr und wirklich wäre wie die ſtinkende trübe Goſſe, die blühende Roſe, die reife Traube minder wirklich als der Schirling. Nicht alle Arbeiter ſind verſoffen, nicht alle Mädchen feile Dirnen; die Sprache der Kneipe und des Bordels iſt nicht die allein richtige. So thun aber dieſe Schmuz— maler mit der Feder. Nicht die einzelne Thatſache, die Zuſammen— faſſung, dic Summe von Wirklichkeiten unter der Herrſchaft ded Gefeses ijt Wahrheit. Ein halbes Dutzend Photographien der- jelben Perſönlichkeit find oft einander recht unähnlich, und dod alle getrene Wiederholungen des Moments; der Maler hat das Pleibende und Allgemeingiiltige aufzufaffen und wird dadurd wahrer als jene find, und die Aufgabe des Dichters der Wirk- lichfeit gegeniiber ijt feine andere. Der falfde MNaturalismus ferner ftellt bas Phyſiſche dem Seeliſchen voran, ja er fest es an die Stelle deffelben, und madt das Viehiſche im Menſchen jum Princip, während der edjte Naturalismus aud) das Geiftige auerfennt und die Größe, Schinheit, Folgeridtigteit im Untver- jum betont.

Das wahrhaft Wirklide ijt das Thatſächliche, Erſcheinende

2. Die Kunft: a. Begriff der Kunft. 571

injofern es verniinftig ijt, das Verniinftige infofern es nidt blos gefordert und erftrebt wird, fondern in leibhafter Gegenwart dafteht, und das ift ja das Werf echter Kunſt, das realifirte Sdeal. Und in der That ftiinde nicht jeder Naturabguk und jede Photographie iiber dem plaftifden und zeichneriſchen Werf, wenn nicht die Auffaffung aus der Erjcheinung erft das Sine, das Nothwendige, Wefenhafte hervorzöge, es vom Zufälligen läuterte? Die Kunſt befriedigt die Sehnſucht des Menſchen fic in das Reid) des Vollendeten iiber die gemeine Realität der Welt gu erheben und fo feines eigenen wahren Wefens an- ſchauend inne und genieBend froh gu werden. Dieſe befeligende Wirfung ift der befte Reuge fiir das wahrhaft Sdine. In diejem Ginne ftimmt Sulius Allgeyer mit uns iiberein: ,,Grofe Kunft genießen und empfinden heißt nichts anderes als Ber- geffen des Lebens fo wie es uns unter der Herrſchaft eines unverftandenen Schickſals oder blinden Zufalls umgibt, und Ver- fenfen des ganzen innern Menſchen in da8 Schauen und Em- pfinden verflirter Buftinde, welde im Scheine einer höheren Wirklihfeit den tiefften, unterm Schutt des Alltags ruhenden Snhalt des menjdliden Dajeins in Formen und Tönen ent- hüllen.“ Was das religiöſe Gemiith ahnt und hofft, was der philofophijde Geift als die Frucht der Weisheit erwirbt, das jtellt die Runft der Anfdhauung dar. Sie verfallt wo die idea- liſtiſche Bildung und die religidje Gefinnung dem Materialismus deS Kopfes und Herzens weiden; fie verliert thre Wiirde und wird zur Gopiftin des Philifterthams oder zur Dienerin der Ueppigkeit, zur Unterhalterin in miifigen Stunden. Nicht äußern Glanzes oder ruhmreider politifder Größe bedarf fie, aber gitt- lider Begeifterung und menſchlicher Sinneshoheit. Die echte RKunft dient der Sehnſucht des Menſchen nad) Unfterblicdfeit, fie entreigt das Schöne, Edle dem Strom der Verginglicfeit; jie fdjafft thm cin Denkmal fiir die Nachwelt. Schon Hora; hat davon geredet daß Tapfere vor Agamemnon gelebt, aber von dunfler Nacht bededt ſeien, weil fie des Singers entbehren, und Schiller ſchrieb in Baggefen’s Stammbud:

Im frifden Duft, im ew'gen Lenje,

Wenn Zeiten und Geſchlechter fliehn

Sieht man des Ruhms verdiente Kriinge Im Lied bes Sangers unvergänglich blühn.

572 IL. Das Schöne in der Kunft.

An Tugenden ber Vorgeſchlechter Entglindet ex die Folgeseit ;

Er fit, cin unbeftodner Wadter,

Im Vorhof der Unfterblicfeit.

Der Krone fdbufte reicht der Ridter Per Thaten durch die Hand der Didhter.

Die Kunſt ift die Verklärung der Natur, fie befriedigt die Paradiefesfehnjudt der Menfdheit; oder um ein Wort aus den „Religiöſen Reden“ Hier 3u wiederholen, da8 Werf der Kunſt ift die Kryftallgeftalt des Lebens, es find diefelben Elemente, die aber nidt wirr und wiifte durdeinander liegen oder trib aufgären, jondern fie find geordnet nad) ihrem cingeborenen Geſetz und damit

durdfidtig dem Ange und farbenhell im freudigen Lidjt. Das Reid) der Kunſt ijt der Feftjaal der Menſchheit, in welchem fie die Bilder ihres Seins und ihrer Entwidelung in ſchlackenloſem Metallglanz aufftellt; der tieffte Gehalt des Geijtes, die religisfe und fittliche Weltanſchauung eines Volfes wird von Bilbnern und Dichtern ausgefprodjen, die wie im Spiel bas Räthſel der Welt zu löſen ſcheinen, die feine Löſung fiir die Anſchauung hinſtellen Lange bevor die PHilofophie fie fiir die denfende Vernunft vollzieht. Schlank und leicht wie ans dem Nichts gefprungen fteht vor dem erjtaunten Bli€ die Schipfung der Kunſt und dod) ift ihre Mutter das Herz das die Wehen und Wonnen der Welt und Zeit in fic) durchlebt hat, deffen fubjectivfter Stimmung fie entquillt, wenn fie von cigener Schwere getragen nur um ihrer felbft willen da ju fein ſcheint. „Schönheit ift das Weltgeheimmiz, das uns fodt in Bild und Wort” fingt Platen; die Kunſt offenbart dies Geheimniß, fie hebt den Iſisſchleier vom Antlig der Natur, auf dak wir in ihm den befeelenden Gottedsgeift erfennen. Sn ihrem Werk zeigt fie uns al8 in einem leuchtenden Punkte dak der Gin- flang des Unterfdiedenen, daß die Verſöhnung der Gegenfige, dak das Schöne wirklich ift, und wie die Noth des Dajeins, wie der Schmerz der Endlichkeit aud) unfer Gemiith gefeffelt hielt, in diejem cinen Punkte erheben wir uns wie erlöſt vom finftern Bann in das göttliche Leben, fehen die Dinge in ihrem Zufammenhang und in ihrer Wahrheit, glauben wieder an die Macht der Liebe, uchmen wieder das Leid als den Schatten tm Gemälde unjers Geſchickes, und freuen uns wieder der Harmonie der Sphiiren, die uns alfwirts umraufdt.

Der Baumeifter Ziebland ſchrieb cinmal: „Die höchſte Be-

2. Die Kunft: a. Begriff der Kunft. 573

ftimmung der Runft ift die: dem Geifte de8 Menjden von einer Ewigkeit Zeugniß ju geben und ein Sehnen nach diefem Sein in ihm ju weden. Bhre höchſten Gebilde gleichen Erjdeinungen ans ciner höhern feligen Welt, die das Auge des innern fiinftigen Menſchen fdhauen wird, wenn ihm der Kampf des Lebens gelungen und das Morgenlicht der Ewigkeit aufgegangen ijt. Mur wer jolc)’ ein Sehnen und Ahnen der Hiheren Welt in fid) tragt und die Gabe Hat died Sdeal der höchſten Schinheit, der vollfommen- ſten Ordnung und der reinften Harmonic in einjelnen Gebilden darzuftellen, fann in Wahrheit jagen daß er den Beruf eines Kiinjtlers in fid) trage.’

Wie Spinoza lehrte dag die echte Weisheit cine Betradtung des Lebens, nicht des Todes fei, fo erfreute ſich Schiller an dem Gedenfe ju leben! im Wilhelm Meiſter, und ſprach felber das ſinnſchwere Wort aus: Ernſt iſt das Leben, Heiter ijt die Kunſt. Denn das Leben hat ſeine Gegenfige und Kämpfe, es befehdet fid was fic) ergänzen jollte, und wir iiberfehen nur eine fleine Spanne der Zeit, deven Welle uns dahintrigt, und wohl dem der nidt umfommt auf der Wanderung durd das Rothe Mteer und die Wiifte, und nod) im Gonnenuntergang das gelobte Land, den Sicg der Freiheit und der Wahrheit fdjauen fann! Aber die Kunſt führt den Kampf zugleich aud) gum Sieg, fie zeigt uns im Ringen aud) die Vollendung, fie bleibt nicht ftehen beim Scheingliic des Böſen, jondern läßt es in feinem Untergang den Triumph des Guten bereiten, fie löſt die Diffonanzen auf in vollſchwellende Harmonie. Wo dieje Verſöhnung fehlt und iiber dem Sturm und den diiftern Wolfen der Wetternadt nidt der blaue Himmel mit feinen Sternen dem Auge erjdloffen wird, da haben wir aud feine echte Runft, da fehlt der jerriffenen Geele die Weihe der Schönheit, die nur da das Gemiith befeligt wo Geift und Sinn zugleich befriedigt werden und die poetiſche Gerechtigfeit unferm fittliden Selbſtbewußtſein Geniige thut. Die echte Kunft ftellt im Geienden da8 Geinfollende dar. Sie ijt, wie Lorm riddtig jagt, obwol er ſonſt die ſittliche Weltordnung leugnet, fie ijt die erf{tirende und verflirende Ergänzung des menſchlichen Lebens, und was dieſes faum im den Anfängen zu erreiden vermag das jtellt fie fdjon in Vollendung auf; das Geheimnif des Kunjtwerks liegt darin dag eS aus den vergingliden Erjdeinungen die ewigen Momente ans vLicht fdrdert und vom Geniefenden nadempfin- den läßt.

574 III. Das Schöne in der Kunft.

Hierher gehirt aud) Sean Paul's herrlider Streckvers vom Widerſcheine des Veſuvs im Meere: ,,Seht wie fliegen drunten die Flammen unter die Sterne, rothe Strime wälzen ſich ſchwer um den Berg der Tiefe und freffen die ſchönen Garten. Aber unverfehrt gleiten wir über die kühlen Flammen und unfere Bilder ficheln aus brennender Woge. Das fagte der Schiffer erfreut, und blidte bejorgt gum Ddonnernden Berg auf. Aber ich fagte: Giehe fo trägt die Muſe leicht im ewigen Spiegel den fchweren Jammer der Welt, und die Unglücklichen bliden hinein, aber anh fie erfrent der Schmerz.“ „Alle Kunſt“, ſchreibt Schiller in der Vorrede zur Braut von Meffina, ,,ift der Freude gewidmet, und e8 gibt feine hihere und feine ernfthaftere Wufgabe als den Men— ſchen gu begliiden; der höchſte Genuß aber ijt die Freiheit des Gemiiths in dem lebendigen Spiel aller feiner Kräfte.“ Endlich Heinfe fagt im Ardinghello: „Wo die Menſchen am glidlidjten waren da war aud) die Kunſt am griften, dies ift da8 Geheim- nig ihrer Gefdhidte in wenig Worten.“

Des Göttlichen, Heiligen, Ewigen wird der Menſch im Ge- fühl fid) bewußt nod eher als die wiſſenſchaftliche Gedanfenent- widelung dieje Begriffe begriindet; die begeifterte Anſchauung er- hebt uns aus den Schranken der Sinne in das unendlide Freie; das Gefiih{ verlangt nad) feinem Ausdrud, und die Phantafie verleiht ihm Geftalt. Wie der Erfenntniftried nicht raftet bis er die Gedanfen wiedergefunden die als ſchöpferiſche Macht und be- jtimmendes Gejeg die Wirklichkeit beherrſchen, fo tradtet auch fortwährend der Bildungstrieh dies ideale Wejen der Dinge fiinft- leriſch darzuſtellen. Wie der Wille durch feine Thaten, fo ftrebt dic Phantafie durch thre Werke der Idee des Guten cine allfeitige Verwirklidung zu bereiten. Alles Wirkliche ift darſtellbar fiir die Kunſt, und wo der Künſtler deffen eigenthiimlicdes Sdeal erfagt, da ſpricht er ein Ullgemeingiiltiges aus, da weet er diejelbe An- ſchauung in aller Gemiithern die fein Werk aufuehmen, denn dies Aufnehmen ift ja cin Wiedererzeugen im eigenen Innern, und jo find die Künſtler die Urheber und Vermittler der ununter- brodjenen Thätigkeit der Menſchheit das Ewige finnlid) zu ver- gegenwirtigen und das Natiirlide gum Symbole des Geiftes yu erheben, Geift und Natur yu vermählen. Indem die Kunft die Matur verflirt, hebt fie gugleid) die verborgenen Schätze der Schönheit in der Menſchenbruſt und ftellt fie in das Licht des Bewußtſeins.

2. Die Kunft: a. Begriff der Kunft. 575

Alles Schine, fagten wir friiher, ijt neu und eingig, und fo ift aud) nur der originale Künſtler der wahre Riinftler, derjenige welder neue Stoffe oder nod) unausgefprodjene Gedanfen zu fin- den und ſchön darjzuftellen weiß. Größer ift freilid) das Geſchlecht der wiederholenden Nachleirer vielgejungener Empfindungen oder der Gopiften der Augenwelt, die fic) mit dem Abklatſch der Er- jheinung geniigen, und wenn fie ihr perjinlides Vergnügen daran haben, wer wollte fie ſtören, wenn fie nur nidjt ihre Er— zeugniffe dem Volk aufdriingen und damit dite dem Groken und Echten immerhin farg zugemeffene Zeit verkürzten! Darum fagt ein Meifter dak ein Gedicht vortrefflid) fein oder gar nicht exi— ftiren miiffe, und einer der Alten meint dak weder Götter nod) Menſchen den Didhtern die Mittelmäßigkeit geftatten. Die ganze Ideenwelt wie die Erjdeinungen der Natur und Geſchichte follen und wollen eingehen in vollendete Form, und fie künſtleriſch zu geftalten ift Gace der Menſchheit. Cin jedes Volk, eine jede Beit legt ihren edelften Culturgehalt nieder in Bild und Wort, und rein und ungetriibt iiberliefern ihn die Werke der Kunſt den fommenden Geſchlechtern. Für das Volk felbft find fie ein Er- fennungszeiden, ein Band der Gemeinjdaft, Leudjtthurm und Fahne zugleid) fiir die Fahrt und den Kampf de8 Lebens; es hat in ihnen eine Stimme gewonnen, die ihm das Geheimniß feiner Brujt melodiſch offenbart und fein Schickſal wie feine Veftimmung verfiindigt; es war nidjt zuviel gejagt wenn Thomas Carlyle ein- mal ausrief: Wir Engliinder finnten eher Indien entbehren als unjern Wilhelm Shakejpeare! Nicht alle leben in ſchönen Tagen, und nur Wenigen ijt es verginnt Menſchengeſchickbeſtimmendes zu vollbringen, cin Volt gu befreien, die Sahrhunderte zu erleuchten; aber wir alle fehnen uns nad) dem Grofen und dlen, und hier tritt die Kunſt ein und gibt uné nicht blos trodenen Beridt vom Vergangenen, fondern befdwirt die Vorzeit in die Gegenwart, und läßt uns das Herrliche erleben, ligt uns die Stimmungen mitfiihlen welde die Bruft des Helden erwirmten, die Bdeen ſchauen die ihn begeijterten, läßt uns die Empfindungen theilen die das Volk erhoben und begliicdten.

Alle die Kunſtwerke find nothwendig die ein Grundgefiiht unjerer Geele, einen allgemein waren Gedanfen, eine fittliche Idee auf originale und adiquate Weije darjtellen, oder eine Er— ſcheinung der Natur, ein weltgeſchichtliches Ereigniß in der vollen Bedeutung und dem tiefften Ginne ihres Wefens ausſprechen.

576 Ill. Das’ Schöne in der Kunft.

Sedes Kunſtwerk, fagt Schelling, fteht um fo höher, je mehr es zugleich den Cindruc einer gewijjen Nothwendigkeit feiner Eriften; erwedt, aber nur der ewige und nothwendige Inhalt hebt aud gewiffermagen die Zufälligkeit des Kunſtwerks auf. Wir ftimmen ihm bei, wenn er in den Werken des griechijden Alterthums die Nothwendigfeit, Wahrheit und Realitit der Production findet; man fann bet ihnen nidt wie bet jo mandem Werke einer jpitern Runjt fragen: Warum, wou ift cs da? Cine RKunft, die fic) feiner Nothwendigfeit bewußt ijt, hat um fo mehr den Trieb durd) endlofes Produciven ihre Zufälligkeit zu verbergen, aber je anjprudjévoller fie auftritt, defto gwedlofer und vergäng— fiber find ihre Erzeugniſſe. Allein wenn Shelling von einem Verſchwinden der an fic) poetijden Gegenftiinde redet, und dic neuere Welt hinter das Wlterthum zurückſetzt, fo muß ich wider- jpredjen. Auch die Meeifterwerfe von Shatefpeare und Goethe, von Beethoven und Mozart, von Michel Angelo und Rafael, Cornelius und Kaulbach und jo manden anderen Geiftesheroen tragen den Stempel der Nothwendigkeit. Die großen Bdeen der bräutlichen und ehelichen Liebe, der Pietiit, des Verhiltnijjes von That und Gedanke, die Ghafefpeare in Romeo und Othello, Lear, Macbeth, Hamlet dargeftellt, Michel Angelo’s Sibyllen und Propheten, Goethe’s Faujt, Sphigenie, Hermann und Dorothea, Werther, Meifter, Wabhlverwandtidaften, Kaulbach's Hunnen- ſchlacht, Völkerſcheidung und Tag von Salamis, fie enthalten der Grundidee oder dem grogen Gegenftande nad) etwas Ewiges und von allgemeiner Bedeutung, dem die vollgeniigende Offenbarung durch die Kunſt nicht verfagt bleiben durjte, und alle foldhe Werte werden beftehen, während dic andern, die nur der Laune und Will- fiir den Urjprung verdanfen oder einem Modegeſchmack huldigen, vom Strom der Zeit verfdlungen werden. Aus dem Wlterthum ift uns eben erhalten was die Probe der Zeit bejtanden hat, wir erfennen da8 Urtheil der Sahrhunderte darin daß die Slias und Odyſſee, die Oreftie und die Antigone immer wieder abgefdrieben, der Typus des Olympifden Zeus oder der Prazitelijden Aphro- dite immer wiederholt wurde. Aber den neuen Erſcheinungen wollen wir allerdings wie einen jpiegelnden Schild die Frage ent- gegenhalten: Was bringt ihr Neues, fiir die Cultur der Menſch— heit Bedeutendes, welde nod unausgefprodene Gedanfen, nod der Verklärung werthe Stoffe ftellt ihr dar? Wo foldes nidt der Fall ijt, da bleibt alle afademifde Künſtelei der Form ein

2. Die Kunft: a. Begriff der Kunft. 577

eitles Spiel. Suchen aber gar die Künſtler fid) dadurch bemerk— lid) gu machen daß fie Monſtroſitäten zu Markt bringen, daß fie mit dem Hautgout der Verwejung reizen wollen und das Abfon- derliche ausklügeln, an die Stelle cinfad) geſunder Sittlidjfeit eine jpibfindige Sejuitencafuiftit ſetzen, fo verlaffen fie damit vollends den Boden der Kunjt, die das Wligemeingiiltige veranſchaulicht und durd) die einfache Wahrheit das Herz erfreut.

Dagegen ruft Schiller in feinem Weihegejang den wahren Riinftlern ju:

Der Menſchheit Wiirde tft in eure Hand gegeben, Bewahret fie!

Sie fint mit end, mit end) wird fie fid) heben! Der Didtung heilige Magie

Dient einem weifen Weltenplane;

Still fenke fie gum Oceane

Der grofen Harmonie,

Aud die Worte Goethe's in Wilhelm Meiſter mögen um fo mehr hier cine Stelle finden als ſchon Fidte in ihnen den Sdealis- mus der neueren Philojophie auf eine graziöſe Weife ausgefproden fand; was vom Dichter gefagt wird gilt vom Künſtler iiberhaupt, gilt aud vom Menſchen infofern er im Genuf des Schinen es ſich erzeugt. „Sieh die Mtenfdjen an wie fie nad) Glück und Vergniigen rennen! Bhre Wiinfde, ihre Mühe, ihr Geld jagen raftlos, und wonach? nach dem was der Didter von der Natur erhalten hat, nad) dem Genuß der Welt, nad) dem Mitgefühl feiner felbft in anbdern, nad einem harmoniſchen Zuſammenſein mit vielen oft unvereinbaren Dingen. Was beunruhigt die Men- jen als daß fie ihre Begriffe nicht mit den Sachen verbinden fonnen, dag der Genuß fid) ihnen unter den Händen wegftiehlt, dak das Gewünſchte gu ſpät fommt, und dag alles Grreidjte und Erlangte auf ihr Herz nidjt die Wirkung thut welde die Begierde uns in der Ferne ahnen läßt? Gleichſam wie einen Gott hat das Schickſal den Dichter über diefes alles hinübergeſetzt. Gr fieht das Gewirre der Leidenfdaften, Familien und Reiche fic) zwecklos bewegen, er fieht die unauflisliden Räthſel der Misverſtändniſſe, denen oft nur ein einfilbiges Wort zur Cntwidelung fehlt, unfag- lich verderblidke Verwirrungen verurfaden. Gr fiihlt das Traurige und das Freudige jedes Menſchenſchickſals mit. Wenn der Welt- menſch in einer abjehrenden Melandolie über grofen Verluft ſeine

Carriere, WMefthetif. J. 3. Aufl. 37

578 Ill. Das Schöne in der Kunft.

Lage hinjdleidt, oder in ausgelaffener Freude feinem Schickſale entgegengeht, fo ſchreitet die empfinglide leichtbewegliche Seele des Dichters wie die wandelnde Gonne von Nacht zu Tag fort, und mit leiſen Uebergingen ftimmt feine Harfe gu Freude und Leid. Gingeboren auf dem Grunde feines Herjens wächſt die ſchöne Blume der Weisheit hervor, und wenn die andern wadend trdumen und von ungehenern Borftellungen aus allen ihren Sinnen geingftigt werden, fo lebt er den Traum des Lebens als ein Wadender, und das Seltenfte was gefdieht ift ihm zugleich Vergangenheit und Rufunft. Und fo ijt der Dichter zugleich Lehrer, Wahrſager, Freund der Götter und der Menſchen. Der Held lauſcht feinen Gejiingen, und der Ueberwinder der Welt huldigt einem Dichter, weil er fiihlt daß ohne diefem fein unge- heures Daſein nur wie ein Sturmwind voriiberfahren wiirde; der iebende wünſcht jein Verlangen und feinen Genug fo taujendfad und fo harmonifd 3u fiihlen als ihn die bejeelte Lippe gu ſchildern verftand.“

Dabei gedenfen wir nod) eines tieffinnigen Ausſpruches von Solger, der fowol mit unfern friiheren Crérterungen iiber den Genius im Einklang fteht, als er uns zur Betradtung des Kunft- werls und feines Entſtehens hinitberleitet: „Die Geele ijt nicht ohne ihr Werf und ihr Werk ift ihr eigenes Dafein. Iſt nun nicht die Phantafie die Schinheit jelbft wie diefelbe aud) als Thi- tigfeit wirflicd) ijt, oder die in die Wirklidfeit und Bejonderheit eingetretene Schöpfungskraft des göttlichen Wefens? Dieſe gitt- liche Kraft ijt dod) nun wol unverwüſtlich und unveränderlich, und fann, wenngleich in die zeitliche Welt gebannt, dod) niemals der unendlicden Zerjplitterung und den fic) felbft zerſtörenden Be- ziehungen unterworfen werden! Wag aljo der Menſch aud mit- ten in der Beit und mitten in der unendliden Verwidelung be- ſonderer Verhialtniffe als ein Cinjelwejen geboren werden, fo lebt dod) im Snnerften feiner Cigenthiimlidfcit das was nidt geboren wird nod) ftirbt, die in ihm fic) offenbarende Gottheit, welche diefelbe bleibt in jedem Aagenblick feines Lebens und auf jedem Standpunfte worauf ihn die Wirklichfeit ftellt.” Iſt nun die Phantafie des Menſchen fiir den endliden Geift dasjenige was die Schöpfungskraft fiir den unendlicen, ja wirft fie als deren Organ neujdipferifd) weiter, fo wird aud) fie fid) dadurd) zu bewähren haben daf fie ihr Gebilde fret in die äußere Wirklichkeit entläßt, ihm die Objectivitit eigenen Beftehens gibt. Gott ift aud Ur—

2. Die Kunft: b. Werden und Geſetz der Kunft. 579

grund de8 Stoffs, wir mit der uns verliehenen Schipferfraft find an den Stoff und die von Gott gegebenen Formen gebunden um innerhalb diefes Reichs ein Neues zu geftalten, das nicht fdon Beftehendes nachahmt und duperlid) wiederholt, fondern den Sdeen, die in der Welt durch) eine Fillle einander ergänzender Wefen ihren Reidhthum entfalten, in Cinjelgeftalten einen völlig entfprechenden Leib bereitet, welden der ewige Gedanke mit ungetriibter Klar— Heit völlig durdjleudhtet, in weldem die reine allgemeine Wejen- Heit Fleijd und Blut gewinnt, in weldjem neue Erkenntniſſe des Geiftes, neue ethiſche Sdeen vor unfere Anſchauung treten. Wie nad) der Heiligen Schrift Gottes baumeifterlider Geift die Welt nad) Zahl und Maß geordnet hat, fo nennt ifn angefidts des organijden Lebens Giordano Bruno den innerliden Künſtler aller Dinge, und als herrlichſten Riinftler (aguoroteyvyc) Hat ſchon Pindar den Vater des Alls angerufen. Der Urfdipfer ift das Vorbhild des Riinftlers, wenn diefer als Nachſchöpfer ewige Ge- danfen in finnenfillige Formen fleidet, und im Weben und Walten der Gefiihle, im Getriebe der handelnden Charaftere und Greignifjfe den freien Sieg des Geiſtes veranfdaulidt und ver- herrlidt.

b. Die Entftehung des Kunſtwerks und feine Gefege.

Das Phantafiebild des Künſtlers mug fic als lebenswahr und lebensmächtig erweijen, indem e8 bejeelend in den Stoff ein- geht und in Raum und Beit eine Crifteng fiir die äußere An— ſchauung gewinnt. Das Kunftwerf, aus der Cinheit des Geiftes geboren gu einem Spiegel des Univerjums, mug ein Organismus jein, ohne das wire es nidt ſchön; darum ijt aud fein Werden, jein EntftehungsproceR nothwendig organifd. Nun wird nur der Mechanismus aus vorher fertigen Bejtandjtiiden zuſammengeſetzt, wie eine Uhr aus Federn und Rädern, die Theile find friiher als das Ganze, und der Zufammenhang derfelben bleibt ihnen ein diuperlicher, fie wiſſen und fühlen nidts voneinander, einer fann durd) einen andern von gleider Bejdhaffenheit erfest werden. Cin Riinftler der fo wirfte, der fic) feine Formen und Geftalten jufammenfudte, im Einzelnen fertig madte und dann aneinander- fiigte, wire ein Medjanifer. Go der Dialer der ſich PHyfiogno- mien und Geberden abjeidnet und nadtriglid) aus ifnen ein - Bild componirt, oder der Schaujpieler welder die einzelnen An- dentungen des Didjters iiber eine Rolle miihfam zuſammenſucht

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580 III. Das Schöne in der Kunſt.

und aus ihnen wie aus einzelnen farbigen Steinchen einen Cha— rakter zuſammenzuflicken ſtrebt, ſtatt ſich intuitiv in den Mittel— punkt deſſelben zu verſetzen und ihn von da aus zu reproduciren.

Dagegen wird der Organismus etwa des menſchlichen Leibes durch Unterſcheidung des urſprünglichen Einen, Homogenen, und aus dem Ganzen, das an ſich früher iſt als die Theile, treten dieſe in allmählichem Wachsthume hervor, ſodaß ſeine Einheit in ihnen gegenwärtig bleibt und ſie ein gemeinſames Lebensgefühl gewinnen; ſie beſtehen in beſtändiger Wechſelwirkung und die Ein— heit iſt in allem Unterſchiede der bleibende Zweck der Geſtaltung. Wer ſo von innen heraus das Werk gliedert und entfaltet, ſodaß ein einiges Totalbild, mit erleuchtetem Geiſtesblick erfaßt, das Erſte iſt, das den ganzen Bildungsproceß leitet und ſich in ihm ver— wirklicht, der arbeitet als Künſtler und macht ſich ſelber im Fort— ſchritte des Werls die Stimmung des eigenen Gemüths gegen— ſtändlich und klar. Go überſah Mozart nad dem ſchon mitge— theilten eigenen Bekenntniß cin ganzes Muſikſtück auf einmal wie ein ſchönes Gemälde. Der Muſiker der erft nachträglich auf In— ſtrumentirung ſänne, und ſie nicht innerlich ſogleich mit der die Melodie ſingenden Stimme vernommen, nicht urſprünglich beides als zwei Mittel für einen gemeinſamen Zweck empfunden, nicht von dem in der Phantaſie erfaßten Eindruck des Ganzen aus das Beſondere nach ihm eingerichtet hätte, er gliche dem Maler der fein Bild erſt zeichnete und ſpüter daran dächte es zu coloriren, wobei es ſich nicht fehlen kann daß die Wirkung der farblos ge— dachten Compoſition, auf den Zug und Rhythmus der Linien ge— ſtellt, durch die Farbenunterſchiede des Details geſtört und ge— brochen wird; darum ſind die Cartons von Cornelius erfreu— licher als ihre Ausführung. Das Gemälde will als Bild ur— ſprünglich erſchaut ſein, ſodaß die Gegenſätze der Farben mit den Bewegungen der Linien zu einer vollſtimmigen Harmonie zu— ſammenklingen und durch die Stärke des Lichts und Schattens aud) dem Auge der Punkt beſtimmt wird wo der betrachtende Ginn verweilen foll, und in dem tagigen oder diiftern, heiteren oder ernften Tone des Ganjen die Grundftimmung erfdeint, die e8 mit fid) bringt. Wie der Architeft fo bedarf der Muſiker eines Mittelpunktes von dem die Bewegungen ausgehen, der fie wieder ſammelt; Mtelodien verbinden fic) zum Ganjen, wenn eine ur- ſprüngliche Einheit in ihnen liegt mie in den mannidfaltigen Theilen eines Domes. Cin beftimmtes Gefiihl fpridt fid) durd

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mannidfade Bilder im Gedidte aus, aber es muß fie durd)dringen, ihre Wahl veranlaffen und fie wie Perlen am Faden aufreihen.

Ginem Künſtler wie Goethe war der Ausdruck componiven fiir künſtleriſches Schaffen cin Aergerniß. „Es iff ein ganz nieder- trächtiges Wort, das wir den Franjofen gu danfen haben, und bas wir jobald als möglich wieder [od zu werden jucen follten! Wir fann man fagen, Mozart habe feinen Don Suan componirt! Gompofition! Mls ob es cin Stück Kuchen oder Biscuit wire, das man aus Giern, Mehl und Zucer zuſammenrührt! Gine geiftige Schipfung ift es, das Ginjzelne wie das Ganze ans Ginem Geijte und Guß und von dem Hau eines Lebens durdh- drungen, wobet der Producirende feineswegs verſuchte und ſtückelte und nach Willfiir verfuhr, fondern wobet der dämoniſche Geiſt jeines Gentes ifn in dev Gewalt hatte, ſodaß er ausführen mute was jener gebot.“

Bliden wir nod) einmal auf den Unterfdhied des Organismus und Mechanismus zurück um neben der Entftehungsweife and den Rwed ins Auge ju faffen, jo ift der Organismus um fein felbft und um ded feligen Lebens willen da, der Mechanismus aber wird fiir die Erreichung äußerer Zwecke bercitet, die Uhr foll uns dic Stunde anfagen, dic Dampfmajdine unfere Laften bewegen. Das Ungeniigende der Tendenzfunft tritt hier gu Tage, ihr Werk hat feinen eigenen Dafeinsgrund, feine freie Seele, ift nicht um fein jelbjt und um bes Schinen willen da, fondern dient äußeren Rückſichten, und hat im voviibergehenden Lobe der Partet feinen Lohn dahin, während cin unverwelflider Kranz des Künſtlers Stirn ſchmückt welder nur nad) dem Schinen tradtet und da8 Werk zu feiner und der Mitmenſchen Freude wie zur Chre Gottes ins Leben ruft.

Bei einzelnen fleinen Werken wie bei einem Lied und feiner Melodie mag eS nun wol gefdehen daß in dem Augenblic wo die Idee des Gedichts innerlid) empfangen wird ſogleich die Stim- mung der Seele aud) Wort und Bild oder Ton fiir den ridtigen Ausdrud findet und der Mund oder die Hand dies unmittelbar fundgibt; bet größeren Werfen wird aber ein längeres Hegen und Pflegen im Mutterſchos de8 Gemiiths ftatthaben und die Stunde der Geburt erft längere Zeit nad) der Erzeugung oder Empfängniß folgen. Der Riinftler erfreut fic) des Verfehrs mit den heranvreifenden Geftalten, ev fiihrt ihnen fein beftes Herzblut zu, bid fie fraftig geworden um auf eigenen Füßen an das Lidt

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der Gonne hervorjutreten. Ja dieſer Reiz der geiftigen Sdwan- gerjdaft hat etwas Berlodendes, und es gefdieht oft dak cin Kiinftler an dieſem innern Verkehr mit idealen Anſchauungen ein Geniige findet und fein Beftes unausgefprodjen mit ins Grab nimmt. Das Bmprovifiren auger jenen Weiheftunden vollauf— bliihender Gefiihle ftatt der Eingebung des Geiftes durch von außen geftellte Aufgaben hervorgerufen mag der Grheiterung gefelligen Verfehrs dienen, wo es befonders in raſcher Wedhfelrede ein Spiel der Empfindung und des Wikes entfalten fann; handwerksmäßig betrieben fiihrt es ju leerem Wortflang und herjzlofer Phrajen- reimeret. Wir wiffen von Mozart dag er die Compofitionen in- nerlich reif werden fief und dann nur die Arbeit des Nieder- ſchreibens hatte, die er gern unter dem Anhören heiterer und leichter Erzählungen volljog; dak er einmal wihrend er ein complicirtes Muſikſtück gu Papier bradte, zugleich das Präludium dazu in Gedanken componirte; dak alfo die reproducirende und freifdaf- fende Thätigkeit feines Geijtes zugleich in verſchiedener Ridtung arbeiteten, grenjt an das Wunderbare, und bezeugt wie fehr er einerfeits alles Techniſchen und Wiffenfdaftliden in der Muſil Herr war und wie leicht fid) der Melodienreichthum feiner Seele ergoß. Aus der Verbindung beider Clemente erklärt fid aud fein Phantafiren, durch da8 er bald cin inneres Bedürfniß be- friedigte, bald aber auch) jufolge äußerer Anregung, indem der Antheil der Hirer feine Schöpferluſt fteigerte, eine ftaunenswerthe Meiſterſchaft bewies. Mur der höchſten Concentration aller fiinft- leriſchen Kräfte modjte es gelingen diefen Rauber gu entfalten, der die innere Erjdaffung und die äußere Darftellung der Melodie und Harmonie in einem und demfelben Momente vollbradte, nur die mächtigſte Begeifterung und die ſicherſte Beherrjdung aller Mittel madte es ihm miglid in der unmittelbaren Offenbarung jeiner fitnftlerifdjen Sndividualitéit und Stimmung jugleid dem Gefes und Wefen der Schinheit ju geniigen und den Zuhörer jum Genoffen der Entitehung des Nunjtwerfs ju maden. Von allen gréferen Leijtungen auf äſthetiſchem Gebiet gilt Goethe's Yehre:

Night Kunft und Wiffenfdaft allein,

Geduld will bei dem Werle fein;

Gin ftiller Geift ift jahrelang geſchäftig,

Die Zeit nur madt die feine Gärung kräftig.

2. Die Kunft: b. Werden und Gefets der Kunſt. 583

Der Künſtler beginnt dann damit zunächſt das Ganje im allgemeinen Umrif ju entwerfen, einen Blan der Compofition ju ſtizziren und die arditeftonifde Symmetric des Werks durd) Ord- nung und Vertheilung der Hauptgeftalten fider ju ftellen, den Rhythmus einer auf- und abwirtsfteigenden Bewegung in Sdiir- jung und Löſung de8 Knotens flar zu machen. Go bildet er von inne, von der Sdee des Ganjen aus, und erreidjt die Harmonie des Schinen durd) Beobadtung von drei Geſetzen, die unter dem Namen der Bdentitit, des Unterjdiedes und Grundes fiir da8 Denfen von der Logif längſt aufgeſtellt find, und ebenfo von der Aefthetif fiir das Kunftbilden anerfannt und angewandt werden miiffen. Sie ergeben fic) daraus dag das Schöne Organismus ift.

Reden wir zunächſt von der Cinheit. Alles Mannichfaltige mug jufammengehiren, nidjts darf leer und müßig fein, jeder Ueberfluß ijt vom Uebel, und fein Beweis von Kraft, fondern gleich) der Verfdwendung cine Schwäche, welche nicht verfteht ihre Gabe ju Rathe zu halten, alles an feinen Ort gu ftellen und fic) felber zu beherrfden. Mögen Auswüchſe fiir fic) felber reizend fein, fiir den Leth des Ganjen find fie ein Hider. Alle Epifoden die nicht als Veranſchaulichung des allgemeinen Welt- zuſtandes gleichſam den Hintergrund des Gemäldes bilden helfen, nidt in die Entwidelung des Ganjen verflodjten werden, nidt fiir feine Harmonie einen mitwirfenden Ton geben, alle Neben- figuren die nidt in die Handlung eingreifen, alle Bilder die nicht aus der Stimmung des Herjens hervorſprießen, alle Betradtungen bie fid) nicht aus der Sache ſelbſt ergeben oder wieder zur That führen, find ebenfo unnütz oder verfehrt wie jene frither beltebten mythologiſchen oder novelliftijden Staffagen in einer Landſchaft, die nur das Auge von der Natur abjiehen ohne dod) fiir fic) eine volle Befriedigung gu gewähren, und jomit die Einheit de8 In— tereffes ftéren. Seinen Reidthum und feine Macht zeigt der wahre Riinftler dadurch daß er die freie lebendige Fiille innerlich zur Ginheit bindet, indem alle Zweige aus Einem Stamm her- vorgehen, alle Blutftrime wieder in Einem Herzen miinden. Er wird die Idee ſeines Werkes dadurch verherrlidjen dak er fie als die gemeinfame Seele mehrerer Gruppen oder Begebenheiten, als dtejelbe Schickſalsmacht mehrerer Charaftere, als den gemein- ſamen Lichtquell vieler Farbenftrahlen darjtellt, aber auch folde inehrfade Handlungen in die Entwidelung des Ganjen verflidt, bie verfdjiedenen Gruppen aufeinander bezieht, wie dies die großen

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Maler, jenes Shakejpeare im Lear oder im Raufmann von Vene- dig meifterhaft gethan. Bei ihm wie bet Pindar fonnte von einer regellos wilden Genialitit mur jo Lange die Rede fein als die planvolle Weisheit ihrer Compofition nod) unverftanden war. Wir nennen Eins und Alles (Ev xai wav) zuſammen, weil das All die Entfaltung de Cinen ift; das Cine ift nicht ju denken ohne das Viele, und neben dem Vielen wiire die Cinheit nur Eins der Vielen, in Wahrheit ijt fie deren Cinigung und Zu— jammenfaffung. Go ift in der Kunſt die Cinheit fogleid) Einheit in der Mannidfaltigteit; aber daß fie als ſolche, als Einheit, ſichtbar werde, verlangt unjer Gefes. Das Werk foll nidts ent- halten was nicht mit innerer Nothwendigkeit aus der einen zu Grunde fiegenden Idee abgeleitet werden oder auf fie bezogen werden fann; was ihr hemmend oder widerftrebend entgegentritt mug von ihr überwunden werden und dadurd) ihre Dtadt ver- herrlichen, was aus der Frembde in ihren Umkreis fommt muf an fie herangejogen und in den Gang ihrer Cntwidelung ver- flodjten werden. Wir wollen feine eintönige Leerheit, weil diefe nicht ſchön, jondern langweilig ijt, wohl aber in der Fiille die Klarheit, welde dadurch erreidt wird daß alles Befondere von der idealen Ginheit durdleudjtet und damit durdfidtig ijt, wie in Gluck's Opern aud) die Tänze und Märſche von der Situation bedingt und dem Ausdrud ihres Charafters dienftbar find. Wir wollen feine Ueberladung und Verſchnörkelung, weil fie cin gwed- loſes und geiftlofes Spiel mit einer Mannichfaltigkeit ijt welder die Einheit fehlt, fondern jene Cinfadbeit, von der Curipides ſagt daß fie dem Worte der Wahrheit gufomme. Achnlid) Goethe:

Das einfach Schöne wird der Kenner loben, Verziertes aber fagt der Menge gu.

Statt der Ginfadheit und Klarheit, die fid) dadurd) ergeben daß in der Mannidfaltigteit die Cinheit herrſcht, entfteht das Triibe, Verworrene, Rebelhafte wo fie fehlt und ftatt der Beftimmt- heit, die aus dem Ganjen quillt, eine unbegrengte Vielheit fic vordrängt.

Es iſt dem Geſetz der Einheit gemäß wenn bei einem Dome der Rundbogen oder der Spitzbogen ſowol im Innern die Wölbung der Decke als im Aeußern die Bekrönung der Fenſter und des Portales bildet; das Aeußere weiſt auf das entſprechende Innere hin. Dagegen iſt der Spitzbogen an der Faſſade eines Hauſes

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liber Thür und Fenfter ein leerer di8parater Bierath, wenn die Rimmer eine flade Decke haben. Die Einheit verlangt ferner daf die Höhenrichtung entidhiedener bet dem Spikbogen als bei dem Rundbogen im ganzen Ban und feinen einzelnen Gliedern hervor- tritt. Es wird oft hiſtoriſch intereffant fein wenn beide Stile fid an einem Dome finden, an weldem mehrere Sahrhunderte gear- beitet haben, aber daß es äſthetiſch befriedigend fet muß id) leugnen. Es abſichtlich zu wiederholen wiire eine Verirrung wie jener Vor— ſchlag Wiebeling’s gu einer Normalfirde, in welder bas Aeußere griechiſch, das Innengewölbe fpikbogig gothifdh, die Säulen aber ägyptiſch fein follten. Aber wie viele Architeften geben den Wohn- hiufern eine Faffade welde die innere Einrichtung ausfpridt? Gine Statue der miindencr Glyptothef ftellt Alerander den Grofen dar, der den rechten Fuh auf einen Felfen erhoben hat, und vorgebeugt mit begeiftertem Angeſicht in die Ferne dringt; der Panzer neben dem nacten Heldenjiingling fagt uns daß er im Begriff ift fich fiir den bereits anhebenden Kampf zu waffnen: damit ftimmt Haltung und Ausdrud iiberein. Der Reftaurator gab ihm ein Oelfläſchchen in die Hand. AWllerdings badete und jalbte fid) Alexander gern, aber die Erinnerung daran hat hier nits zu thun und da8 AUttribut fällt aus der Cinheit des Ganjen ftirend heraus. Thierſch und Fenerbad) machen auf zwei Grab- denfmiiler aufmerffam, das eine von einem antifen, das andere von cinent modernen Meiſter, um die flare Anſchaulichkeit der griechiſchen Plaſtik ins Licht gu ftellen; es iſt die dort waltende, hier mangelnde Cinheit, auf welde man Lob und Tadel zurück— fiifren fann. Das Monument des Herjogs von Leudjtenberg, Eugen Beauharnais, in der Micdaclistirde 3u München hat Thor- waldfen gefertigt. Vor einer Pforte fteht der fchine Held, lang- fam dem Bejdauer entgegenfdhreitend; das Haupt ift etwas gefentt, die finfe Hand hat er an dic Bruſt gelegt, die redjte Halt einen Lorberzweig; aller irdifden Pracht hat er fic) entfleidet. Zu feiner Redhten ift cine weibliche Geftalt mit Schreiben befchiftigt, ju feiner Linfen fehen wir die Genien des Todes und der Unfterb- lichkeit. Die Pforte im Hintergrund trigt die Inſchrift: Honneur et fidélité. Hier fällt alles auseinander. Man ſagt gur Er— flirung: Der beſcheidene Herzog iibergibt feinen Lorberkranz der Geſchichte und geht dann in die Pforte des Todes; aber die fdrei- bende Figur adjtet nidjt auf ifn, er nicht auf fie, und der Pforte hat er den Rücken zugewandt, ſcheint alfo aus derfelben gu fommen.

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Andere fagen dak dic Motive jeiner Hinde durd die Worte Ehre und Treue erliutert wiirden. Go vorzüglich das Einzelne gear- beitet ift, die Gingeldinge beftehen fiir fid) und ordnen ſich nidt gur Cinheit eines Ganzen zuſammen, und daher die Undeutlidfeit. Auf einer attiſchen Graburne in der Glyptothek abgebildet in Müller's und Oefterley’s Denkmälern fehen wir im Fladhrelief cine fikende Frau, die Verftorbene, der ihr Mann die Hand jum Abſchied mit wehmiithiger Innigkeit reicht; hinter ihm eine Frau mit dem Säuglinge, bet deffen Geburt die Mutter geftorben ift; am Stuhl der Mutter lehnt ein älterer Mann, offenbar der Vater, deffen Haus fie als Braut verlaffen, mit dem nun der Tod fie wieder vereinigt. Die einfade Rube der Darftellung wirkt fdon verjihnend auf den Schmerz der Trennung. Das Mannidfaltige dient Hier dem Ausdruck Eines Gedanfens, und wirkt jujammen um ign flar ju madden.

Wenn Kalkbrenner einen Marſch, cin Donnerwetter und eine Polonaiſe zufammenftellt, jo fragt man was das bedeutet und weif nicht was; Beethoven dagegen fiihrt uns durd) Schmerz und Scherz, durd) Klage und Subel ftets zu einem Gejfammteindrud: ſchon die WAccorde die das Werk einleiten enthalten den Keim des Ganjen, eine Grundftimmung wird nad verjdiedenen Seiten wie in verjdiedenen Lebenslagen entfaltet, was ihr wideritreben wollte mug fic) ihr anſchließen, der einige Geift des Ganzen ſchreitet jiegreich durch alle Verwidelungen.

In Schiller’s Tell ift die Epifode mit Johannes Parricida cin ſtörendes Beiwerf, weil cine ganz unnithige moralifde Pa— rallele; die Liebe von Rudenz gu Berta dagegen, die ihn der Sade des Vaterlands zuführt, entfpricdt dem Geifte des Ganzen, wo ja aud) die Rettung der Familie und die Rade fiir den Cin- griff in ify Heiligthum yur Befreiung des Vaterlandes leitet. Napoleon hat das Doppelmotiv dev ungliiliden Liebe und der gefrinften Ehre in Goethe's Werther getadelt, aber Werther ver- tritt das Recht des Herzens und der Natur gegen die Sdhranfen der Convention nach allen Seiten Hin, und geht daran unter dag ev fein Herz vergirtelt und einfeitig dem Drang der Gefiihle folgt; auch die von Goethe ſpäter der gweiten Ausgabe nod) etnver- leibte Cpifode mit dem Knecht der Witwe, der den Nebenbuhler erſchlägt, ftellt die Kehrſeite zu Werther dar und wächſt aus der Sdee des Gangen organiſch hervor, ift in den Gang des Romans trefflic) verflodten. Wehnlid) die in die Wabhlverwandtidaften

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eingelegte Erzählung: fie zeigt im Gegenjag gu dem Roman wie nod) in der letzten Stunde die Naturen fic) glücklich fanden, und fenft dadurd zugleich einen Stachel in die Seele der Hirer, denen es, wenn aud) durch eigene Schuld, nicht fo gut gewor- den ift.

Der Sak verlangt eben gar hiufig feinen Gegenfak zum vollen Verſtändniß, und wie cin Gedanfe fid) in mehrern Begebenheiten fpiegelt, fo fann er aud) durch die Wechſelergänzung fid) wieder- jpredjender Cinfeitigfeiten durchgeführt und veranſchaulicht werden. Hierauf beruht die Einheit in Sdiller’s Wallenftein: den plane- ſchmiedenden Realiften und ihrem Treiben ftehen die nur in ihrer Liebe webenden idealiftijden Gemiither von Mar und Thefla gegenitber; gerade an ihnen fommt e8 zu Tage dak Wallenftein mit dem Idealismus bridt und dadurd) Schuld und Untergang fic) bereitet, wihrend fie den Halt und Boden in der Wirklichkeit nidt finden können; das ganje volle Menſchenthum in wedbhfel- ſeitiger Ergänzung des Sdealismus und Realismus war Sdiller’s Riel im Freundjdaftsbund mit Goethe, es ijt der Gedanfe den bas Werf tragijd offenbart, und die da Max und Thefla hinaus- werfen midjten damit das Stück nad) Pulver riede, haben die tiefe Sntention des Didters ſchnöde verfannt. Oder bliden wir auf eine Dichtung Goethe's, wie hätte er da8 Phantafieleben Taffo’s in das volle Licht ftellen fonnen ohne ihm den weltmin- nifden BVerftand Antonio's yur Folie yu geben?

Dies führt uns gu dem zweiten Geſetz der Compofition, zu dem des beftimmten Unterfdiedes oder de8 Contrafteds. Das Mannichfaltige hebt fic) auf verfdiedene Weife voneinander ab, und wie der Stern um fo Heller ftrahlt je dunfler die Nacht ijt, wie uns der Schmerz die Freude und das Kleine die Größe erſt redjt gum Bewußtſein bringt, jo jtellt der Riinftler nicht gleich— giiltige Gerfchiedenheiten, fondern gegenſätzliche Charaftere und Situationen jufammen, die dann cinander wechſelſeitig beleudten. Go haben wir um Rafael’s freuztragenden Chriftus nidt Freunde und Gegner durdeinander, jondern auf der einen Seite die Gruppe der Kriegsknechte, auf der andern die der Frauen; fo contraftirt mit dem von Dämonen fortgeftofenen Whasver die von Engeln geleitete Chriftenfamilie in Kaulbach's Zerjtirung von Serufalem. So zeigt uns Goethe fein Gretden am Spinnrad und feinen Fauft in der Waldeinjamfeit, und läßt abwedfelnd im Garten die beiden Paare Fauft und Gretden, Marte und Mephiftopheles

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an. uns voritbergehen; jo ftehen im Year Cdgar und Cordelia dem Edmund, der Goneril und Regan, Rent dem Oswald gegeniiber; fo hat Fauſt bald am Wagner, bald am Mephiſtopheles feinen contraftirenden Genoffen. Oder follen wir nocd weiter an die weltberiifmten Doppelgeftalten cines Don Juan und Leporello, eines Don Quixote und Sando Panja, eines Volfer und Hagen, eines Aias und Odyſſeus erinnern? Der Triumph des Künſtlers ift wenn dieſe Gegenſätze aufeinander hinweifen, und zur Dar- ftellung der menſchlichen Natur ergänzend zuſammengehören gleid den beiden Seiten eines fymmetrifden Gebäudes, deren Mittel— linie nicht ing Leere fällt, ſondern Thür, Fenfter und den Bogen oder dic Spike ded GiebelS fo durchſchneidet dak feine Halfte ohne die andere ftehen oder beftehen fann, und jomit in der Schei— dung zugleich der Verbindungspunkt gegeben ijt, ſodaß die Gegen- ſätze nidjt auseinanderfallen, ſondern im Unterſchiede die Einheit darſtellen.

Wie wir nur unterſcheiden können innerhalb einer gemein— ſamen höheren Sphäre, wie das Unterſcheiden logiſch ci Beziehen der Unterſchiedenen aufeinander iſt, ſo darf auch die Kunſt nicht anders verfahren als daß ſie die Zuſammengehörigkeit der Theile und die ſie durchwaltende Einheit mit zur Erſcheinung bringt; ſo entwickelt ſich die im Begriff des Schönen liegende Harmonie. Die Unterſcheidung iſt nun aber nicht blos ein Sondern und Aus- einanderhalten, ſondern auch eine würdigende Beſtimmung jedes Einzelnen, und die Kunſt, die das Innere ſichtbar macht, wird danach das Bedeutende auch als das Gewichtigere und Größere vor dem Unbedeutenden hervorheben. Die Theile werden dadurch ungleich werden, aber die Einheit kann bewahrt bleiben, wenn mehrere, die einem Dritten ungleich ſind, doch untereinander gleich erſcheinen, oder wenn der Wechſel des Größeren und Kleineren auf dieſelbe Weiſe ſich wiederholt.

Auf der Abwechſelung und dem Unterſchiede längerer oder kür— zerer Töne, betonter oder tonloſer Silben beruht der Rhythmus in der Muſik oder Poeſie. Nur ſo entſteht eine lebendige und ausdrucksvolle Bewegung, und da jede räumliche Ausdehnung durch eine ſolche hervorgebracht iſt, ſo können wir auch von einem Rhythmus größerer oder kleinerer Flächen und Linien reden. Die innere Kraft äußert ſich in der Wirkung, in ihrer Ausbreitung. Und im geiſtigen Innern ſelbſt erſcheint ein Rhythmus im Wechſel der Gedanken und Gefühle, wie ſie wachſen und ſich erheben,

2. Die Kunft: b. Werden und Geſetz der Kunſt. 589

wie wir bet dem einen Linger und mit größerem Intereſſe ver- weilen als bet dem andern. Die Kunſt bringt Cinheit in das wedhjelnde Unterfdiedene, indem fie Eleinere und größere Theile untereinander gleidjmadt und auf eine wiederfehrende Weiſe aufeinander folgen (aft, wie im Versmaß, in Fenftern oder Säulen und deren Zwifdenriiumen, oder durch den Talt in der Muſik.

Jedes Ganze hat Anfang, Mitte und Ende: ein Gefühl er— wacht in dem Gemüth, breitet ſich aus und wird ſeiner ſelbſt gewiß und beruhigt ſich wieder, ein Gedanke wird erfaßt, wird im Vergleich oder im Kampf mit andern erprobt und dann als Beſitzthum des Geiſtes angeſchaut, eine Handlung hat ihren Be— ginn, ihre Verwickelung und ihre Löſung. Dem Rhythmus dieſer Dreigliederung folgt die Kunſt, und kommt hier leicht zu einer ſymmetriſchen Geſtaltung, wenn ſie an die größere Mitte zwei kleinere aber untereinander gleiche Enden reiht. Andererſeits können auch die Flügel eines Gebäudes, einer das Spiegelbild des andern, die größere Ausbreitung haben und wie die ausgeſpannten Schwin— gen eines Vogels die kleinere Mitte gwifden fid) nehmen. Nur verlangt der Rhythmus dak Hohe und Tiefe, Lange und Breite des Ganjen eine verfdiedene Größe haben und gwar nad Maß— gabe ihrer Bedeutung, und daß in dem Mannidfaltigen einander Entipredhendes wiederfehrt. Bu wenig hervortretender Unterſchied, ju dürftige Gliederung würde das Ganje flac) und leer erfdeinen laſſen, unnöthig ftarfe aber ift zweckloſe Ueberladung.

Wie fic) der Verlauf eines Gefühls oder einer Handlung in drei Stadien gliedert, die Mitte als das Reichere ſelbſt aber wieder dreifad getheilt werden fann und die dramatifde Poefie daher mit Fug in dret oder fiinf Acten ihr Werk vollendet, fo finden wir diefe Oreightederung bei der Pflanze in Wurzel, Stamm und Krone, bet dem Menſchen in Fuk, Rumpf und Haupt. Die künſtleriſche Gompofition verlangt Verbindung, Verſchmelzung, Auflöſung der Gegenſätze, damit in ihnen durch fie die Harmonie verwirklicht werde; fie verlangt um de8 Unterfdiedes willen die Unterfdeidung, alfo die Ueberordnung der Hauptſache, der Haupt- perjon, des Hauptgefühls und die Unterordnung aller dienenden Glieder, aller Nebenfiguren, jedod) jo da diefe felbft wieder nach ber gleichen Ridthihe gemäß ihrer Bedeutung, ihres Sinnes einander gegeniibergeftellt werden, damit in aller Fiille ein ſchwe— bended Gleichgewidt, in aller individuellen Freiheit eine gemein-

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fame Wellenlinie der Bewegung, ein gleides Weltgeſetz erfannt werde. Die pyramidale Compofitionsweije der bildenden Kunſt findet aud) in der Poefie ihre Analogic, ift hier auch die über— ficjtlich Elarfte, und wird befonders fiir das Drama fid) eignen, in weldem eine Hauptgeftalt, ein Prometheus, Oedipus, Othello, Hamlet, eine Sphigenie oder Johanna von Orleans Triigerin der Sdee und Centrum der Handlung ift, während das Epos mehr das Nebeneinander des Reliefftils zeigt, indeß aud) feinen Höhen— punft der Begebenheiten und der Helden hat.

So wird demnad das Bedeutende und Große auch grog be- handelt, das andere aber nebenbei erwihnt oder in den Mittel— und Hintergrund geftellt. Dieſe geiftige Perjpective mangelt der mittelalterliden Kunft gum grofen Theil, Wir haben altdeutjde Schlachtbilder, eine grofe Menge kleiner Figuren ohne flare Ueber- fichtlichfeit, bet mancder Tüchtigkeit tm Cinjelnen ein unerfreulides Gewirr. So erzählen aud) jelbft die beffern Dichter der höfiſchen Epik alles mit gleicher Weitliufigfeit, und ermiiden dadurd) mit dem minder Widtigen, während das Hauptfidlide ohne bejon- dern Nachdruck vorgetragen wird und in der Maſſe verſchwindet. Selbft im Parcival find die fiir die Sdee und die Entwidelung des Helden bedeutenden Scenen feineswegs bejonders ausgefiihrt, jon- dern dem andern ganz gleid) gehalten, iiber das die rechte Kunſt rajd) hinweggehen, dafiir aber bet jenen viel länger verweilen wiirde. Die unterfdeidende Thitigheit des Künſtlers vollendet fid darin daf fie fiir jedes da redjte Maß gu finden weiß und jedem banad) die gebithrende Stelle und den gebithrenden Raum gidt, und fo das Aeußere der Erſcheinung dem innern Weſen völlig entſprechen läßt. Gin Beifpiel aus der Urdhiteftur gibt die grie- chiſche Säule: der tragende Schaft erfdjeint als die Hauptiade, dem fic) Bafis und Capitil dienend anſchließt; im den indifden Grottentempeln dagegen find beide fo ſteil und derb gebildet, daß fie der Hohe des Schaftes gleich) werden, und damit Rhythmus wie Ausdrud der Bedeutung zerftirt wird. Hierher gehirt aud) das befannte Rebhuhn des Protogenes, das neben ſeinem ſchlafenden Satyr fag, und das fo vortrefflid) gemalt war daß ed alle Augen von der Hauptiade abjog; aber der Meiſter wollte nidt daß diefe durd) ein Nebenwerk beeintridjtigt werde, und löſchte es ans. Das durd) die Idee Ansgezeidhnete foll es aud) durd) die Treff— lidfeit der Ausfiihrung fein. Wollte ein Dramatifer alle Per- jonen mit gleider Griindlidjfeit behandeln, gleich ausführlich ent:

2. Die Kunft: b. Werden und Geſetz der Kunft. 591

wideln, fo wiirde er die wohlerwogene Cinheit zerſtören und an die Stelle des Maßes eine oberflidliche Gleichheit fesen.

Hiermit hat ſich uns das Innere oder die Idee bereits als der Beftimmungsgrund ergeben, und fo wird drittens das Geſetz des jureidenden Grundes, welded die Logit fiir das Sein wie fiir das Grfennen aufftellt, indem alles Endliche auf ein Anderes hinweijt von dem es feinen Urſprung genommen hat, jede That von ihren Folgen begleitet wird, und alle Dinge in Wedhfelwir- fung ftehen, e8 wird in der Kunſt zur Forderung des Motivirens. Aud dies flieBt aus dem Weſen des Organismus, in weldem die Wefenheit des Ganzen Urjache alles Bejonderen ift und eins das andere bedingt, ſodaß Alles fogleid) Zweck und Mittel wird. Darum foll zunächſt der Stoff cin Bewegungsgrund und Aus- gangspunft ſchöner Lebensentfaltung fein, oder wir nennen ifn gut und gliidlid), wenn er frucjtbar an Motiven der Schönheit ift, wenn er durch fic) felbft dem Künſtler Gelegenheit bietet anf mannidfade Weife den Geijt zu erheben, das Herz gu riihren, oder eine Sphiire des Lebens in ihrer ganzen Bedeutung wiirdig zu ſchildern.

Ich verlange nun vor allem Einzelnen eine Seele für das Kunſtwerk, die als geſtaltende Lebenskraft in ihm waltet, und die ganze Erſcheinungsform deſſelben bedingt, gerade wie ſie in der Natur den organiſchen Leib für ſich bildet, ihre Eigenthüm— lichkeit in ihm verkörpert. Sie mug das Centrum ſein von welchem alle Strahlen ausgehen, um welches alle Beſonderheiten kreiſen; von einer Idee aus muß der Gang der Handlung, die Wahl und Entwickelung der Charaktere, die Melodie der Gefühle beginnen und geordnet werden, durch ſie der richtige und frucht— bare Augenblick für die bildliche Darſtellung und der Ton der Farbe beſtimmt ſein; ein Grundgedanke des Werks muß wirklich auch als der wirkende Grund für die Geſtaltung des Ganzen er— ſcheinen, und muſikaliſch in einem Grundton als Stimmungs- ausdruck erklingen, plaſtiſch in Bildern von Begebenheiten und Perſönlichkeiten ausgeprägt werden. Nicht dak der Künſtler die Idee in der Form des philoſophiſchen Begriffes haben und ſie mit ſelbſtbewußter Reflexion allem Beſondern einbilden müßte; aber er muß im Stoff ſelbſt mit dem glücklichen Griffe des Ge— nius die organiſirende Seele erfaſſen und ihn für deren vollen Ausdruck idealiſiren. Das gibt eben Shakeſpeare's großen Tra— gödien, das gibt der Antigone und der Iphigenie, dem Fauſt und

592 III, Das Schöne in der Kunft.

Wallenftein ihre Weltgiiltigfeit dak hier das Cwigwahre, was alle erleben, worauf alle menſchlichen Verhiltniffe beruhen, Gefithle die jede Bruft bewegen, in den befonderen Creignijjen zur Dare ftellung fommen, weshalb jeder fic) in ihnen wiederfinden fann, daß das Weſen der briiutlidjen, der ehelichen, der kindlichen Liebe, dak das Verhiltnig von Gewiffen und Rechtsgeſetz, von Staat und Familie, von That und Gedanfe, von Sduld und Ver- jéhnung, von Freiheit und Weltordnung, dak die innere Löſung der Conflicte und die Reinigung und Befreiung des Selbſtbewußt— ſeins zur Darftellung fommen, und daß in jenen Meiſterwerken ftet8 eine foldje Sdee, aber dieje aud) gang und als cin Brenn- punkt des menſchlichen Lebens, ald cine ſchickſalbeſtimmende Macht in den Charafteren und Greignifjen, daß fie als Grund, Band und Riel der Dichtung offenbar wird. Freilid) hatte es Cer- vantes zunächſt nur anf eine Satire gegen die Ritterbiider ab- gejehen, aber indem er feinen Don Quixote ausarbeitete, gab er ihm das Bild jedes einfeitigen Bdealismus im Gegenfag jum ebenfo einjeitigen Verftande gewöhnlicher Dajeinsprofa, in humo- riſtiſcher Auffaffung, wie es tragifd) im Grnft der Geſchichte Schiller's Wallenftein, in der phantafievollen Gemiithsinnerlidfeit Goethe’s Taffo aufftellen; und dadurd bewies Cervantes den in ihm waltenden Genius, dadurd) erhob er fic) iiber die bloke Unter- haltungsliteratur, iiber die bloße Zeittendenz in die Region wahrer Kunſt und nie alternder Schöpfungen. Den Malern find deshalb die Erzählungen der Cvangelien, der Genefis fo widtig, weil in denjelben die Ur- und Vorbilder des menſchlichen Lebens gegeben find, und alles Bejondere feine Gemeingiiltigfeit und ideale Be- deutung at.

Sft nun die Motivirung und Gliederung eines Kunſtwerks aus einer Sdee und die Fiihrung feines Ganges nad eigen fittliden Normen das tieffte Geheimniß und die höchſte Weihe der Kunſt, jo ift ein zweites dieſes daß die Charaftere und Handlungen einander wedhfelfeitig bedingen, daß das Pathos, welded die eine zelnen bejeelt, mit dem Geift ihrer Zeit und ihres Volfes jue jammenjtimme, dag in deſſen Weltanjdauung wie in dem Grund- tone des Werks aud) jeder bejondere Gedanfe feine Wurzel und jeinen Zuſammenhang habe. Bn dev Art wie er die oft feltjamen Begebenheiten der italienifden oder andern Novellen, die ihm den Stoff boten, durd) die eigenthiimlicdje Anlage der Charaftere be- griindet, ift wiederum Shafefpeare der grifte Meiſter; Gervinné

2. Die Kunft: b. Werden und Geſetz der Kunft. 593

hat dieje Seite ſeiner Dramen geniigend erdrtert; hier findet der Goethe’ jde Vers feine Anwendung:

Miirden nod fo wunbderbar Didhterfiinfte maden’s wahr.

Wir finnen dabei an die oben erwähnte Beftimmung des Ariftoteles iiber das Verhiltnig von Poefie und Geſchichte erin- nern und hinzufügen: Die Gefchidhte gibt Creigniffe wie fie in der Beit aufeinander folgen, die Kunſt hebt deren inneren Zuſammen— hang hervor; hier darf nidts gleidgiiltig, zufällig oder beden- tungslos fein, fondern die Thaten offenbaren den Mtenfdjen und der Menjd) erfährt die Ginwirfung der Verhältniſſe auf jein Ge- miith, und fie werden ihm ju Motiven ſeines Willens, gu Be- dingungen ſeines Wirfens. Namentlid foll der Roman, wenn er fid) in der Breite des Lebens, in der Schilderung anjiehender Gituationen, in der reizenden Fille von Begebenheiten gefällt, ftetS wieder jeigen da die Umſtände etwas aus dem Menſchen machen, wie died Goethe im Wilhelm Meiſter muftergiiltig geleiftet hat. Go erfahren wir die Wahrheit des Lebens und in diefem Sinn behauptet Shafefpeare daß die wahrfte Poefie am meiften erfinde; Byron zürnte: „Wenn die Poefie Liige wire, werft fie den Hunden vor!”

In der Architeftur müſſen Kraft und Laft cinander bedingen und im redjten Wechſelverhältniß ftehen, und fo motivirt der Dru des Gebalfs den vorquellenden Wulft des Saulencapitils, die Ornamentirung deffelben mit herabbangenden Blattern wie die feife elaſtiſche Anjdwellung in der Mitte des Säulenſchaftes. Sn der Sculptur wollen wir die Haltung und Stellung im Weſen der Geftalt begriindet fehen, in der Mtaleret muß der Geift des Ganjen mit der inneren Individualitit des Cingelnen das Maß der Bewegung abgeben; auf einem AUltarbild, das der Feierlicdfeit des kirchlichen Ritus ſich anſchließt, find dadurd) rubige heilige Geftalten und ift das Symbolijde motivirt, die Darftellung dra- matiſch erregter Handlungen und heftiger Affecte ift unmotivirt, ebenfo die fede Bewegung oder ftarfe Verfiirzung einzelner Perjonen.

Vorzugsweife das Außergewöhnliche und Wbnorme bedarf der Motivirung. Ich erinnere an das was ich bereits iiber die Be- handlung der Geiftererfdeinungen gefagt habe. Shakeſpeare's Ridard LIT. fteht im allgemeinen in der wilden Zeit de8 Biirger-

Carriere, Wefthetif. I, 3. Wufl. 88

594 Ill. Das Schöne in der Kunft.

frieges, und die Schledhtigfeit der andern, die nichts Beſſeres ver- dienen, reidjt ihm das Racheſchwert; aber der Didter weiſt aud nod) auf die körperliche Misgeſtalt hin, wodurd) Ridard meint daß er unfähig fei Liebe gu erregen, weshalb er er felbjt alletn jein und die Rrone fic) aufs Haupt fegen will, Go hat Lear, weil er nidjt blos geliebt fein, fondern aud) ſcheinen will, felbft die Heuchelet der böſen Todjter erjogen, fo ift Edmund's Baftard- thum der Grund feiner Empörung gegen die Pietit. „Wie ſchön gedacht ijt es“, ſchrieb Schiller an Goethe, ,,dag Sie das praf- tijd) Ungeheure, das furchtbar Pathetijde im Schickſal Mignon's und des Harfenjpielers von dem theoretifd) Ungeheuern, von den Misgeburten des Verjtandes ableiten, ſodaß der reinen und ge- junden Natur nidjts dadurd) aufgebiirdet wird.” Indeß muß fidh der Künſtler hüten nicht gu viel zu thun, er muß fowol der Selbjt- beftimmung, der Willensfreiheit Rechnung tragen ‘als die wahre Urfade, den Hauptgrund in das redjte Licht fegen, und ihn nidt durd) allerlei Nebenumftinde und fleine Rückſichten iiberdeden, fo ſehr die Treue fiir die Wirklichfeit, in welder ftets viele Be- dingungen zuſammenwirken, deren Andeutung verlangt. Wir wollen nidjt daß er uns einen verworrenen Knäuel zuwerfe, fondern dap er uns den Aviadnefaden fiir das Labyrinth des Crdendajeins reithe. Es ward einmal Mofes, der das Waffer aus dem Felſen ſchlägt, den Malern empfohlen, weil die Darjtellung der Diir- ftenden und der am frifden Quell fid) Labenden ein gutes Motiv fet; was braudjt es aber dann des Moſes? Stelle man das dod) fieber fiir fid) genrebildlid) dar! G8 wiirde die Aufmerkſam— feit von der Hauptſache abjiehen, die ift hier die geiftige Größe des gewaltigen gottvertrauenden Helden, die der Herr verbherrlidt indem er ifn das Volk retten läßt, und der Künſtler hat den Ginn der Erzählung aufzufaffen und zur Anjdauung ju bringen. Go malte Baffano eigentlid) nidtlide Viehſtücke ftatt der Geburt Chriftt, ded Weltheilandes, wiihrend es ein glückliches Motiv Correggio’s war das Lidjt in der heiligen Nacht von dem inde ausgehen zu laffen.

Iſt das Gange äſthetiſch bedentend, fo werden fid) im Ein— gelnen nod) befonders giinftige Motive zur Cntfaltung der Rrajt und Gchinheit ergeben, wie die Phantafiereden, in die Goethe's Taſſo feiner DOidternatur nad verſinkt, und im denen er 3. B. gegen das Ende hin das Bild ſeiner Zukunft entrollt, oder Year's Grivaden im Arme Cordelia’s, oder die Kaſſandra in Cornelius’

2. Die Kunft: b. Werden und Geſetz der Kunft. 595

Gemälde von Troias Zerftirung. Auf dieje Art ift es ein gliid- liches Einzelmotiv daß Kaulbach bei der Völkerſcheidung die Raffen zugleich durch die Thiere charakteriſirt die ſie mit ſich führen: auf einem dumpfen Büffel reitet der Hamite, weiße Stiere ziehen den Wagen des patriarchaliſchen Semiten, der Japhetide ſtürmt auf feurigem Roß in eine thatenreiche Geſchichte.

Die bildende Kunſt kann nur einen Moment darſtellen, ſie wählt alſo, wie ich beſonders erörtern werde, einen ſolchen welcher einen Bor- und Rückblick gewährt, welder die Idee als zum Durchbruch gekommen in der Fülle ihrer Erſcheinung zeigt. Aber auch das Dichtwerk muß im Fluſſe der Zeit einen beſtimmten Augenblick erfaſſen, und es kommt darauf an daß einer gefunden werde welcher beſonders zukunftsſchwanger ijt, in welchem wirklich der Beginn und Ausgangspunkt einer neuen Begebenheit liegt; wie dieſer Augenblick geworden oder die Vorgeſchichte ſeiner Helden rückſchauend anzudeuten iſt eine weitere Aufgabe, die ein Euri— pides langweilig durch der Handlung vorgeſchobene Prologe löſte, während Sophokles es trefflich verſtand ſowol in der Expoſition als im Gange des Dramas ſelbſt auf die hereinwirkende Macht der Vergangenheit hinzuweiſen. Die Spanier lieben eine lange epiſche Erzählung, Shakeſpeare, Goethe, Schiller ſind auch hier dramatiſcher, indem ſie mehr durch die Wechſelrede eine Sache entwickeln als ſie wie ein bereits Fertiges vortragen laſſen.

Das Kunſtwerk muß in ſich vollendet und abgeſchloſſen ſein, die Veranſchaulichung der Idee war das Ziel, das als der Zweck des Ganzen den Anfang und die Entwickelung bedingte. Indem alles aus ihr motivirt und das unterſchiedene Einzelne in Wechſel— wirkung geſetzt wird, ſtellt in der Mannichfaltigkeit und durch ſie die Einheit ſich her, aber wie der Begriff der Schönheit es ver— langt als vielſtimmige Harmonie. Die bildende Kunſt veranſchau— licht das räumlich Auseinandergelegte wie es von einem Einheits— punkte ſich entfaltet hat und auf ihn bezogen bleibt, wie es ſich in ſich ſelbſt trägt und rundet; die Muſik, welche ihre Töne nach— einander erklingen und nach verſchiedenen Seiten hin ſich entwickeln ligt, drängt im Finale die Strahlen auf einen Brennpunkt zu— ſammen und macht den Endpunkt zum Schlußſtein einer erhabenen Wilbung. Die Poeſie löſt den Knoten den fie geſchürzt und offen— bart den Sieg der Idee.

Aber wie das in ſich geſchloſſene Werk durch ihm vorher— gehende Bedingungen motivirt war und auf deren freien Beſtand

38 *

596 III, Das Schöne in der Kunft.

hindentet, fo erdffnet es aud) gern einen Blid in die Zufunft, denn die Gegenwart ift deren Mutterſchos fo gut wie das Re- jultat der Vergangenheit. Wie in der Natur jede Frudt aud wieder Gamen ijt, fo kennt die Gefdidte wol Knotenpunfte der Entwidelung, aber feinen fertigen Abſchluß, und das Ziel der einen Begebenheit wird gum Ausgangspunkt einer andern. Go gebhirt die Gruppe der Chriften nidt blos yur Schilderung der Zer— ftérung Serujalems und gibt uns nicht blos ein Gefühl der Be- rubigung und Verjshnung in den Greueln des Untergangs, fondern weift uns aud) auf den Fortgang der Weltgefdhidte hin. So Aeneas mit dem Vater auf dem Gemälde durch weldes Cornelins den Untergang Troias verherrlidt hat. Aehnlich gewährt der Didter am Biel feines Werkes eine Perfpective im die Zutunft, wie Goethe am Schluß von Hermann und Dorothea, wie Shake— jpeare in Ricard IT]. und im Lear. Aber ev muß es unjferer eigenen Phantafie überlaſſen dieje Zufunft weiter ausjumalen, unternähme er ihre Sdilderung, fo wiirde er der Cinheit feines Werkes ein Frembdartiges anjegen. Nifolaus Lenau ſchließt feine Albigenſer fogar mit ,,und fo weiter”, um darjuftellen wie die Ereigniffe welde er bejungen hat nur ein Act aus dem grofen Kampfe der Menſchheit feien, der fein Ende nod) nidjt gefunden hat:

Das Licht vom Himmel läßt fic) nicht verfprengen, Mod) läßt ber Sonnenaufgang fid) verhingen

Mit Purpurmanteln oder dunfeln Kutten ;

Den Albigenjern folgen die Huffiten,

Und zahlen blutig heim was jene litten,

Nah Huß und isla fommen Luther, Hutten, Die dreifig Jahre, die Cevennenftreiter,

Die Stlirmer der Vaftille und fo weiter.

Es fommt darauf an daß ein Werk die Aufgabe der Kunſt iiberhaupt erfiillt, uns einen werthvollen Lufteindrud gewährt; das ift geftattet was dazu fiihrt; aber es wird von den Mitteln der einzelnen Künſte abhängen, die wieder auf ihr Material Bezug haben, und es wird gu erwägen fein welde Idee fiir welden Stoff die geeignet{te ift. Vier Bedingungen allgemeiner Kunſtſchönheit, die Fechner aufjtellt, ftimmen mit unjern Anfidten überein: Das Ganze gewinnt durd) das Dafein jedes einzelnen Theils an kunſt— erzeugender raft, es wiirde durch Hinjufiigung eines anbdern Theils daran verlieren; es gewinnt durd) Verkniipfung der Theile mehr als die Summe der einzelnen fiir fic) leiften wiirde, und

2. Die Kunft: b. Werden und Geſetz der Kunft. 597

es fann durch feine andere Verbindung derfelben ein größerer Luft gewinn erzielt werden. Ich denfe alles da8 ergibt fid) aus dem Begriff des fiinftlerifden Organismus.

Der Riinftler wird bet der Ausarbeitung eines umfaffenden Werfes ſelbſt oft von neuen Gedanfen iiberrajdt werden, deren Keime ex dann nachträglich in das bereits Oargeftellte nod) ein— jenft. Se mehr er das Werf ans dem eigenen Snnern loslöſt, defto flarer wird es ifm. So fehr er es aus einem bereits ge- wonnenen Reidthum von Anfdauungen geftalten mag, es wird fid nun faum fehlen dag er nun dod) fiir einen oder den andern Zug die Wirklidfeit zu Rathe ziehen mug; gleichwie der Maler fiir cin bereits concipirtes, ffizzirtes Bild nod) befondere Nachſtudien madt, wird aud) der Dichter fic) von neuem in der Welt um- fehen oder dic Bücher der Geſchichte auffdlagen. So betradhtete ſich Schiller das öſterreichiſche Militär, den Marktplatz von Eger, die Lanze mit der Wallenftein den TodesftoR empfangen, fo [as cr in einer Realencyflopidie ber das Technifde ded Glocen- guffes, als er bereits mit den Dichtungen beſchäftigt war welche dieje Studien erforderten.

Wir nehmen es mit Recht mit der Coftiimtrene jetzt ftrenger alg fonft. Nachdem fid) uns das Verſtändniß fremder Volfs- individualititen, friiherer Sahrhunderte erſchloſſen hat, muß aud) der Riinftler die Vorwelt objectiv darftellen, fid) in den Geift feiner Helden verfegen, ihre wirkliche Erſcheinungsweiſe abjpiegelu. Das Mittelalter 30g den Heerfiihrern des Troianerfrieges dic ritterliche Riiftung an, und lieh ihnen die Gefiihle der Minne— ſänger; wenn nicht der Stoff, wie etwa in der Wleranderfage, der eigenen Sinnes- und Darftellungsweife verwandt war, fo gab ed Traveftien. Indeß die äußerliche Nadhahmung und Wiederholung frommt hier nichts, und läßt die Gegenwart falt; es muß eine Wiedergeburt der Vergangenheit im cigenen Geifte gefdehen, es mug das Ewigmenfdlide der Vorwelt ergriffen und damit unferer Reit nicht cin Frembdes, fondern ein der cigenen Natur Verftind- fiches geboten werden. Goethe’s Iphigenie und Taſſo weifen hier dem Didhter den rechten Weg, wie ihn Cornelius, Raulbadh, De- farodje den Malern gebahnt haben.

Von dem edhten Kunſtwerk gilt was Schiller von Wilhelm Meifter fagt: „Ruhig und tief, flar und dod unbegreiflid) wie die Natur, fo wirft es umd fo fteht es da, und alles aud dad fleinfte Nebenwerk zeigt die ſchöne Klarheit, Gleidheit ded Gee

598 Ill. Das Schöne in der Kunft.

müths aus weldem alles gefloffen ijt. Es fteht ba wie cin in fich geſchloſſenes Planetenſyſtem, alles gehirt zuſammen, und die italienifdhen Figuren (Mignon und der Harfner) fnitpfen wie RKometengeftalten, und aud) fo ſchauerlich wie dieſe, das Syſtem an ein entfernteres und griferes an.” Die Strenge der äußeren orm, die tednifde Vollendung ift dabei nichts blos Aeußerliches, jie ift der Ausflug der innern Beftimmtheit und Harmonie. Nicht etwa nur Platen behauptet:

Weitſchweifigen Halbtalenten find Präeiſe Formen Aberwig, Nothwendigkeit Iſt dein geheimes Weihgeſchenk, o Genius!

Aud Goethe fagt: Wer zu den Sinnen nicht lar ſpricht der redet aud) nit rein gum Gemiith. Aud) Schiller fchreibt an Goethe: „Es hat mit der Reinheit des Silbenmafes die cigenc Bewandtnif dak fie gu einer finnliden Darftellung der innern Nothwendigfeit de6 Gedankens dient, da im Gegentheil eine Licenz gegen das Silbenmaf cine gewiffe Willkürlichkeit fühlbar mad; aus diefem Gefidtspunft ijt fie ein grofes Moment und beriihrt ſich mit den innerften Runftgefegen.” Schiller's feine Bemerfung liber das Versmaß der claffifdhen Tragödie der Franzoſen beftitigt die Cinfidht von der Zujammengehirigfeit von Form und Inhalt: die Eigenſchaft des Alerandriners fic) in zwei gleide Halften zu trennen, und die Natur des Reims aus zwei Wleyandrinern cin Couplet gu madjen, beftimmen nidt blos die ganze Sprache, fie beftimmen aud) den ganzen innern Geift dicjer Stiide. Die Cha— rafterc, die Gefinmingen, das Betragen diefer Perjonen, alles ftellt fid) badurd) unter die Regel des Gegenfakes, und wie die Seige des Mtufifanten die Bewegungen der Tanger leitet, fo aud) die zweiſchenkelige Natur ded WAlexandriners die Bewegungen des Gemiiths und die Gedanfen.”

Die Anzahl wahrer Kunftwerke, ſchreibt Goethe in Stalien, ift feider klein. Sieht man fie aber fo hat man and) nidts zu wiin- ſchen al8 fie recht 3u erfennen und dann in Frieden hingufahren. Diefe hohen Kunftwerke find zugleich als die höchſten Naturwerke von Menjden nad) wahren und natürlichen Gefesen hervorgebradt worden. Alles Willfiirliche, Cingebildete fallt hier zufammen; da ift die Nothwendigkeit, da ift Gott. Wir haben die Erfiillung von Gefegen ohne dah dic Künſtler beim Sdjaffen, der empfan- gende Sinn beim Geniefen darauf reflectirt; wir haben die Freude

2. Die Kunft: b. Werden und Geſetz der Kunſt. 599

an der Natur wie fie zweckmäßig bildet ohne bewußten Zweck hier an einem Werfe des Menfdengeiftes, deffen PBhantafie von der Sdee der Wahrheit beſeelt im Lidjte der göttlichen Begeifterung wirft und in ihrer Schöpfung daher mehr Schinheit offenbart als wir jofort in bewuftes Verſtändniß faffen; nicht zergliedernd, jon- dern unmittelbar das Ganje in der Fiille des Bejondern, das Mannidfaltige als Glied des Einen ſchauend und fiihlend haben wir cin Bild der Lebensvollendung, einen Abglanz der Welt- Harmonie.

Wir fiigen hier die trefflidjen Worte ein mit welden Otto Sahn feine Befpredhung von Mozart's Don Suan ſchließt: „Jedes einzelne Motiv, das dem wirfliden Leben abgewonnen und daffelbe täuſchend wiedergibt, ift der künſtleriſchen Sdee des Ganjen dienft- bar gemadt und allein dadurd) fiir folde Wirfung befihigt. Wer die Statuen des Parthenon oder die Geftalten Rafael's mit Hin- gebung betradjtet und fie mit der lebenden Natur vergleidt der wird mehr und mehr inne werden wie die grofen Meiſter der bildenden Kunſt in allem und jedem der Natur folgen, wie fie ein— fad) und wahr immer da8 Motiv yu entdeden wijjen weldjes das nächſte und darum das befte ift, weil es gleichſam die unwillkür— liche Aeußerung der innern Bewegung ijt welche im Kunſtwerk ihren Ausdruck findet, wie fie aber den Schatz, weldjen fie mit bem Blick des Genius ans den Tiefen der Natur gehoben haben, in die Tiefe ber menſchlichen Bruft bergen um ans fic) heraus in freter Selbftthitigfeit das Kunſtwerk gu fdaffen, weldjes als ein Ganzes nur aus dem menſchlichen Geifte wiedergeboren und vom menſchlichen Geijte verftanden werden fann. Auf diefer Kraft alles was die Natur bietet durd) die menſchliche Seele hindurd)jufiihren ohne der Gewalt de8 Natürlichen ju unterliegen, ohne das ohn— mächtige Gelüſte fie begwingen ju wollen, beruht die Größe des ſchaffenden Riinftlers, fie ruft jene wahre Idealität hervor, welde mit dem Wefen des Riinftlerijden identiſch ijt. Nicht anders ift es mit dem Meifter der in Tönen ſchafft. Was ihn and an- regen mag, das Wort des Didhters, die Erfahrung des Lebens, der ſinnliche Gindrud durd) Form, Farbe oder Tine, daß ed in ihm wiederflingt und ihn zu künſtleriſcher Geftaltung treibt, die Sdee des Ganzen, in weldem dann alles erft gum Leben gelangt, Geftalt und Bedeutung gewinnt, geht aus dem Innerſten feines Geiſtes hervor, fie ijt die ſchöpferiſche Kraft die unabläſſig thitig ift bis das Kunſtwerk vollendet dafteht. Die Idealität des Kunjt-

600 III. Das Shine in der Kuuſt.

werfes, welches der menfdjlide Geift im Cinflang mit der Natur foweit er fie gu durchdringen vermag und deshalb frei {dafft, ijt der Ausdrud der Nothwendigfeit, welde fiir den Menſchen alfetn im Kunſtwerk und gwar nur deshalb weil es als ein Ganzes aus dem menjdliden Geifte hervorgegangen ift fafbar und anſchaulich wird, in ihr hebt fid) was fic) fonft als Gegenſatz der Horm und des Inhalts, der Schönheit und des Ausdruds dar- ſtellt, zur höchſten Einheit auf. Wo fie erreidt ift tritt die volle Befriedigung cin, weldje dem Sterbliden nur im Genuſſe der Kunſt bejdieden ift; aber unſere Freunde und Bewunderung fteigert jid, wenn dieje Harmonie aus einer reidjen vielgeftaltigen Com— pofition, die eine Fille von Motiven, welde uns in den verſchie— denften Ridtungen beſchäftigen und uns ticf im Innerſten ergretfen, vor uns ausbreitet, hell und rein emporbliifet; unmittelbarer und voller beriifrt uns dann das Wehen des Geiftes, dem das Weltall tft was dem Menſchen fein Kunſtwerk.“

ce. Der Kitnftler und der Stil.

Um das Phantafiebild materiell zu geftalten und die innere orm im dufern Stoff zu verwirklichen wird die techniſche Fertig- feit in deffen Bewältigung erfordert und das Handwerk erfdeint hier als der Boden und die Bedingung der Kunft und ijt in allen guten Zeiten lebendig mit ihr verwadjen. Sm begabten Stein- metzen regt fid) der Geift der Erfindung, der Vaſen- und Stuben- maler itbertrigt Stil und Compofitionsweife der Meiſter zuerſt nadbildend, dann freifdaffend auf Gerith und Wand, und ein Peter Vifder, der Rothgiefermeifter der ſeinem Nachbar den metallenen Leudhter verfertigt, erfinnt und vollendet fiir die Rirde jeiner Vaterftadt das bewundcrungswiirdige Kunſtwerk des Sebal- dusgrabes. Das Handwerk gibt dem Siinftler feinen Lebens- unterhalt, und läßt ifm Muße in guten Stunden eingelnes Voll- endete zu fdjaffen, während die Runft die um ded Brotes willen arbeitet fid) in den Dienft der Mtode und des Zeitgeſchmacks be- gibt jtatt ihn ju leiten. Wie es in Griedjenfand, wie es im Mittelalter der Fall war müſſen auc) bet uns Runft und In— duftrie den engen Bund ſchließen, damit einzelne grofe Kunſtwerke nicht in einer fremden Welt ftehen, fondern die in ihnen waltende cigenthiimlide Sdhinheit and) auf die Umgebung des tigliden Lebens einen Schimmer werfe und in den Formen der Gebrauchs⸗

2. Die Kunft: c. Der Künſtler und der Stil. 601

gegenftinde deren Zweck auf eine wobhlgefillige Weife ansgedriict, das Nothwendige mit Anmuth gefdmiidt werde. Der Plaftifer halte fid) nicht fiir gu gut die Formen des Gufofens anjugeben und eine oder die andere Platte mit einem finnvollen Relief gu vergieren, der Maler nicht fiir gu gut dem Fabrifanten Muſter fiir feine Zeuge ju liefern. Daß die antifen und mittelalterliden Kunſtwerke dem Material nichts Falſches zumuthen, fondern ihm gerecht werden, ift eine Folge der handwerksmäßigen Tüchtigkeit ihrer Meifter; dag uns die Geriithe aus den Gribern und ver- ſchütteten Städten Grofgriedjenlands fo ausgezeichnet erfdeinen, flieBt aus derjelben DOurdjdringung von Handwerf und Runft. Nur fo fann dieje im Volksboden wurzeln und die Schinheit in das Leben eingehen. Otto Ludwig mahnt mit Fug: ,,Sede Kunft ſchließt ein Handwerk in ſich ein, den Theil der gelehrt und ge- {ernt werden fann. Gar mancher oft nicht ſchlecht Begabte bleibt {ebendlinglid) im dramatijden Handwerk fteden; gleichwol fiihrt der Weg zur fiinftlerijdjen Vollfommenheit durd feine Werkſtätte, und die glingendften Geifter haben ihre Veradtung des Hand- werks durch die Unvollfommenheiten ihrer Kunſtwerke bezahlen müſſen.“

Schon hat wieder and anf dem Weltmarkt der Wetteifer der curopdifden Nationen begonnen um durch die gejdjmacvolle Form höhere Preije gu ergielen, und der Schönheitsſinn tritt wieder in jeiner volfswirth{daftliden Bedeutung hervor. Dem auf das Modifde, das heißt auf das immer Neue in eleganter Leichtigkeit geridjteten Talente der Franjofen werden Engländer und Deutſche die Wage halten, wenn fie da8 Gediegene mit dem Stilvollen vermählen, nidt an das Wechſelnde, fondern an das Dauernde ihre Kraft fegen. Muſeen und Kunſtſchulen, die zu diejem Zweck errichtet werden, beginnen fdjon ihre Friidjte gu tragen. Und es ift ein erfreuliches Zeichen der Reit daß die idealen und realen Gebicte des Dajeins fid) nihern, verbinden und durdjdringen, daß wie die Wiffenfdjaft in anmuthig klarer Darftellung ihre Ergeb- niffe gum Gemeingute der Volfsbildung madt, und diefe damit gu felbftindigem Crfennen und edler Geiftesfreiheit heraufführt, fo and) dic Runft fid) der Snduftrie anfdjlieht und dieſe damit alles Grobe, Rohe, Schwerfillige überwinden und durch feelen- volle Form den Stoff beherrjden und verklären lernt.

Ru der handiwerkliden Bildung des Künſtlers gefellt fid) die wiffenfdaftlide. Wer den Beften feiner Zeit genug thun, wer

602 IIL. Das Schone in der Kunſt.

den Geift des Sahrhunderts in dauernden Formen auspriigen foll, der darf nicht unberiifrt bleiben von der Arbeit des Oenfens und den Rejultaten des Erfennens. Bch will nicht daran erinnern was Shiller und Goethe alles gewuft haben, die Werke Rafael’s, Mishel Angelo’s, Shakefpeare’s geben gleidfalls Runde wie ihre Urheber in jeder Weife auf der Hohe ihrer Zeit ftanden, wenn fic aud) mehr im perfinliden Verfehr als durch einjames Stu— dium ifr Wiffen gewonnen. Die claffifden Dichtungen eines Vols find immer aud) Grundbiider feiner Cultur. Außerdem ſtellt die Wiffenjdaft mancherlei theoretifd) feft oder erflirt mas die KRunftiibung braudt und auf dem Wege der Praxis gefunden; der Plaftifer bedarf der anatomifden, der Architeft der mathe- matifden Kenntniſſe, des Verftiindniffes der Mechanik, der Muſiker mug ſich mit den afuftifden, der Maler mit den optifden Grund- ſätzen vertraut maden.

Es entfteht die Frage wie fic) der Künſtler am beften aus- bildet, wie er fid) jene handwerkliche oder techniſche, diefe wiffen- ſchaftliche Fertigteit am beften ancignet. Für den Didter wird die gelehrte Schule und das Univerfititsftudium durchzumachen das Geeignetfte fein, letteres befonders in Bezug auf Philofophie und Gefdidte, Literaturfunde und Sprachen; hier wird fid) ifm aud) die Möglichkeit bieten einen Zweig wiffenfdhaftlider Beſchäf— tigung ju finden, durd) den er einen Unterhalt gewinnen, auf den ex cinen Vebensberuf griinden fann, der fiir ihn etwas Aehnlides wie die Bafis cines verwandten Handwerks dem bildenden Künſtler ijt. Denn der Poefie allein hat weder der Minifter Goethe, nod der PBrofeffor Schiller, nod) der Schaujpieler Shakeſpeare gelebt, oder doch wenigftens erft dann al8 fie durd) grofe Werfe Anjehen und Ehre gewonnen. Best befchiftigt der Sournalismus viele Kräfte, und cin Sdhriftfteller gu fein in dem Sinne wie man im Alterthum fid) zum Volfsredner ausbildete, der Spreder der Nation zu fein wie Leffing war, ift ein grofer Beruf, deffen Wiirde durch fic) eindrängende feidte oder feile Gefellen nidt aufgehoben wird.

Der Mufifer mag bei einzelnen Lehrern ein oder das andere Snftrument fpielen, fodann Harmonielehre und die Regeln der Tonfesung ftudiren; Confervatorien bieten ju beidem Gelegenheit. Wie dem Dichter wird ihm das felbftiindige Eindringen in die pag Meifter- und Mufterwerfe fo förderlich als unentbebr- id) fein.

2. Die Kunft: c. Dev Künſtler und der Stil. 603

Die Siinger der bildenden Kunft gingen frither aus dem Hand- wert hervor, oder begaben fid) zu cinem Meifter in die Lehre, der ihnen feine Handgriffe, ſeine Wuffaffungsweife iiberlieferte. Der Schüler ging dem Meifter an die Hand, half ihm fpiter als Ge- jelle bei der Ausfiihrung, und reifte allmählich sur Selbftthitigfeit. Gr wanbderte dann, eriweiterte feinen Geſichtskreis, und ſuchte be- reidert mit den Fortfdjritten Anderer ſelbſt Meiſter zu werden. Das Verhiltnif hatte etwas Warmes, patriardalijd) Inniges. Aber nicht jeder Künſtler ift gum Lehren geeignet, und cine Reihe von Fertigfeiten find von der Art daß fie von vielen gugleid) in einer Schule gewonnen werden können; mehr und mehr find Rennt- niffe erforderlich gemorden, die nicht der Einzelne vom Cinjelnen zu lernen braudjt, die vielmehr ein geordneter Lehrvortrag am beften fiir viele zugleich darftellt. Ebenſo fordert die Reihe grofer Meifter zur Vergleidhung auf und reizt dazu von jedem die Vor- ziige Herauszuziehen, und fo ergab fid) mit dem Gflefticismus in der nachrafaeliſchen Zeit auch die Cinridtung vom Afademien als Kunſtbildungsanſtalten in Stalten. Wenn cine uniformiftifde Lehr- weife allerdings die Sndividualitit beeintridtigt, jo iſt es zugleich ein thiridjtes Beginnen Vorzüge verfdhiedenartiger Meiſter zu— jammenjutragen, die fic) oft fo wenig vereinigen laffen wie Michel Angelo’s und Correggio’s Weije, und durd das Copiven der Künſt— ler leidet der eigene frijde Naturfinn. ,,Sie malen nad) Gyps und kennen die Natur fo wenig wie cin Fiaferpferd die Weide!’ jagte cin Franjofe. Compofition, Colorit, Zeichnung wird zu leicht unter herfémmlide Regeln eingezwängt, das geiſtig Freie medha- nifirt, dafiir ein Prunken mit Sdhwierigfeiten, die man iiber- winden fann, eine äußerliche Eleganz und flache Gelecktheit, cine conventionelle Manier hervorgerufen. Neuere Cinridjtungen fuden den Reitbediirfnifjen gu geniigen und dod) die erwähnten Nadtheile zu vermeiden. Sie laſſen das Zeichnen nad) Vorlagen, nad) der Natur und Antife fowie die Maltechnik ſchulmäßig lernen, fie geben Anatomic, Perjpectivlehre, Kunftgefdidte und dergleiden durch wiffenfdjaftlide Vortriige, und laſſen den fo vorgebildeten Siinger dann das Atelier cines Meiſters beſuchen, der der Perſönlichkeit und Ridtung deffelben verwandt ift, um nun unter deffen Leitung bie erften eigenen Compofitionen ausjzufithren.

Dem Künſtler ift die Kunſt Lebensaufgabe und ein heiliger Ernſt, und es ift wahr was der Dichter, der von fic) felber jagen durfte:

604 Ill. Das Schöne in der Kunſt.

Der Kunſt gelobt’ id) gang ein ganged Leben, lind wenn idj falle, fall’ id) fiir das Schöne,

was dieſer feinen Genoffen zuruft:

Wollt ihr etwas Grofes leiften, feet euer Leben dran!

Dem ergibt die Kunft fid) völlig, der fich völlig ihe ergibt,

Der den Hunger wen’ ger flirdjtet, als er feine Freiheit liebt.

Zwar Geburt verleiht Talente, rühmt ihr end, fo fei «8 ia Doch die Kunft gehirt dem Leben, fie gu fermen feid ihr da! Miindig fei wer ſpricht vor Allen; wird er’s nie, fo fpred)’ ex mie, Denn was ift ein Dichter ohne jene tiefe Harmonie,

Welde dem beranfdjten Hirer, deffen Ohr und Sinn fie füllt, Eines reingeftimmten Buſens innerfte Mufil enthüllt?

Dagegen nennen wir denjenigen einen Dilettanten dem die Kunſt ein Spiel ift, der ohne von ihr Profeffion zu machen fid daran ergötzt (si diletta) daß er fie als Viebhaber betreibt. Zu verfdiedenen Epodjen jieht cine beftimmte Kunſt nicht blos die beften Rriifte an fid), e8 wird aud der Nachahmungstrieb bei vielen Andern rege, und die Reit der Bliite hat den Dilettantis- mus im Gefolge. Wie er auf poetijdem Gebiet zu Schiller's und Goethe’s Zeit fid) regte, haben beide Dichter ihn näher ins Auge gefakt um ju wiffer was man ſich von ihm zu verjehen habe, und Goethe hat eine Abhandlung iiber ihn als die praftijde Liebhabereit in den Künſten ffizzirt, die uns faum etwas andereds gu thun übrig (aft al8 die widtigften Sake in unferem Sinn ju ordnen.

Ohne ein befonderes Talent zu diefer oder jener Kunſt gu haben ligt der Dilettant blos den Nadahmungstrieb walten. Der Riinftler wird geboren, er ift eine von Natur privilegirte Perjon, ex iſt gendthigt etwas ausjuiiben das ihm nidjt jeder gleidthun kann. Gein Werf fordert die Menſchen, die dazu von Haus aus geneigt find, zum Genuß auf; die rechte Theilnahme ift der leb— hafte verftindnifvolle Genuß. Aber wie die Kinder es den Seil- tänzern nadmaden und Soldaten fpielen, fo finden fic) tmmer Menſchen die ohne cin unbedingted und ganzes Sntereffe und Ernft an der Runft zu nehmen fid) jum Beitvertreib damit beſchäftigen und jpielend es den Riinftlern gleichthun midten. Ohne die Mühe des griindliden Lernens greifen fie die Kunſt von der ſchwachen Seite an, und wo das Subjective fiir ſich allein ſchon viel bedeutet, nähern fie fid) dem Riinftler, wie in der Lyrif, in

2. Die Kunſt: c. Der Kiinftler und der Stil. 605

der Muſik; wo es umgefehrt ift, wie bet der Architeftur, Zeich— nenfunft (fie malen wol jauber, aber zeichnen ſchlecht), der epiſchen oder dramatijden Poeſie, da fcjeiden fie fid) ftrenger, da fieht man daß der Dilettantismus fid) zur Kunſt verhialt wie Pfuſcherei gum Handwerk. Die RKunft gibt fic jelbft Gejewe und gebietet der Beit, der Dilettantismus folgt der Neigung der eit.

Weil der Dilettant jeinen Beruf zum Selbjtproduciven erft aus den Wirkungen der Kunſtwerke auf fic) empfingt, fo verwechſelt er diefe Wirfungen mit den objectiven Urjaden und Motiven, und meint nun den Empfindungsjuftand, in den er verfest ift, aud) productiv und praftifd) ju maden, wie wenn man mit dem Gerud) einer Blume die Blume felbjt hervorjubringen gedächte. Das an das Gefiihl Spredjende, die legte Wirfung aller poe- tijden Organifjation, weldje aber den Aufwand der ganjen Kunſt jelbft vorausjegt, fieht der Dilettant als das Wejen derfelben an und will damit felbft hervorbringen. Gr verwechſelt das Paffive und das Active: weil er auf cine (ebhafte Weiſe Wirfungen er- leidet, meint er mit dieſen erfittenen Wirtungen wirfen ju können. Gr ſchildert daher aud) nie den Gegenftand, fondern immer nur jein Gefiihl über den Gegenjtand. Ihm fehlt Architeftonif im hiheren Ginn, jene ausiibende Kraft welde erſchafft, bildet, conftituirt.

Der wahre Miinftler fteht feft auf ſich felbft, fein Riel ift der höchſte Zweck der Kunſt; diejem gegeniiber ift er beſcheiden, wie ftarf aud) fein Gelbftgefiihl der Welt gegeniiber fein mag. Di- {ettanten dagegen ſcheinen nidjt nad) einem Riele gu ftreben, nidt vor fic) Hingufehen, fondern nur auf da8 was neben ihnen ge- ſchieht. Darum vergleiden fie aud) immer, haben eine unend- liche Ehrerbietung vor ihres Gleichen, und geben fic) dadurd ein Anfehen von Freundlidfeit, von Billigfeit, indem fie dod nur fid ſelbſt erheben.

Der Dilettantismus nimmt der Kunſt ihr Element und ver- ſchlechtert ihr Publikum, dem er den Ernft und den Rigorismus nimmt. Alles Vorliebnehmen jerftirt die Kunſt, und der Dilet- tantismus führt Nachſicht und Gunſt ein; er bringt die ifm näher ftehenden Künſtler auf Unfoften der andern edjteren in Anfehen. Alle Dilettanten find Plagiarier. Sie entnerven und vernidten jedeS Original {don in der Sprade und im Gedanfen, indem fie es nachäffen und ihre Leerheit damit ausfliden. Go wird die Sprade nad und nad mit jujammengepliinderten Phrajen und

606 Ill. Das Sdhine in der Kunft.

Formeln ausgefiillt, die nidjts mehr fagen, und man fann ganje Biider lejen die ſchön jftilifirt find und nichts enthalten. Anbderer- jeits bildet der Dilettantismus den Kunjtfinn aus, er nührt das Ge- fühl fürs Rhythmijde in der Poefie, er lehrt jehen in der bilden- den Kunſt, er ſtimmt gu einer idealen Exiſtenz, er beſchäftigt die productive Rraft und cultivirt damit etwas Widhtiges im Men— jden. Der Menſch erfährt und genießt überhaupt nidts ohne productiv ju werden; died ift die innerfte Cigenfdaft jeiner Natur, ja man fann ohne Uebertreibung fagen es ſei die menſchliche Natur jelbjt.

Haben wir fo die Riinftler von den Dilettanten abgegrenjt, jo finden fic) unter ihnen jelber nod) mannidfade Unterfdiede. Abgejehen von der idealiftifden und realiftijden Wuffaffungs- und Darftellungsweife zeigt fic) der eine mehr im der Erjindung und Sompofition, der andere mehr in der Durdbildung und in der Heinheit des Details grog; der cine dringt vor allem auf das Charafteriftijde, der andere auf die Anmuth der Form; der cine jpridt am liebjten durd) raſch entworfene geiftreihe Skizzen zur Smagination, der andere erreidt die Wirkung der Kunſt nur in der ſorgfältigſten Ausführung.

Iſt aber dem wahren Künſtler die Kunſt Lebensaufgabe, jo hat er dieje mit jedem Werke wie mit einer fittliden That new ju löſen, und das Ausruhen auf den Lorbern, oder die Wiederholung ohne neue fortarbeitende Anftrengung ziemt ifm nidt. Wem viel gegeben ift von dem wird viel gefordert. Stalienifde Dealer ſehen wir gleich griechiſchen Dichtern aud) als Greije Neues und Herrliches ſchaffen. „Ich lerne nod) immer” ijt die Unterſchrift eines Kupferſtichs aus dem ſechzehnten Sahrhundert, einen alten Mann auf einem Kinderwägelchen darftellend. Nur wer fid fagen fann daß er feine Miſſion evfiillt, oder wer das Nachlaſſen des productiven Vermögens fiihlt, hat der Welt feine Schuld be- zahlt. Vortrefflich ſagt Sdinkel: „Nur das Kunſtwerk weldes edle Kräfte gefoftet hat, und dem man das höchſte Streben des Menſchen, eine edle Aufopferung der edelften Kräfte anfieht, hat ein wahres Sntereffe und erbaut. Wo man fieht dak es dem Meiſter gu leicht geworden, daß er nidts Neues erftrebt hat, ſondern fic) auf jeine Runftfertigfeit verlief, und wo es ihm un- bewußt dod) gelungen ift feine befannte Formenſchönheit auszu— framen, da fängt jdon das Langweilige feiner Gattung an, und joldje Werke, fo hod) fie aud) in anderer Rückſicht über anbderer

2. Die Kunſt: c Der Künſtler und der Stil. 607

Meiſter Werke ſein mögen, ſind dod) fein nicht mehr ganz wilrdig, weil er der Welt etwas Höheres hätte erringen können.“ Daß Rafael in jo kurzem Leben fo viele herrliche Werke ſchuf ver— danfen wir dem fittliden Ginne, mit welchem er fid) niemals jdhablonenhaft wiederholte, fondern an jede neue Aufgabe von neuem feine ganze Kraft fete. Mozart madjte einmal zwei Compofi- tionen fiir eine Spieluhr. Der wunderbare Mann meinte nidt, wie fleinere Geiſter an feiner Stelle, daß er fein Genie in niederer Arbeit verſchwende, fondern er dadjte darauf innerhalb der gege- benen Bedingungen cin harmonijdes Ganze zu jdaffen, und fo bewies er auch im RKleinen wie die Ourddringung der ftrengften Geſetzmäßigkeit und des freieften Schöpfervermögens der Triumph der Kunſt iſt.

Der Genius erſchafft für neue Anſchauungen auch neue und eigenthümliche Darſtellungsweiſen. Als in den Perſerkriegen der Sturz des Uebermuths und der Sieg der freien maßhaltenden Geijtesfraft von den Hellenen erlebt war, geniigte weder das Epos nod) die Lyrif, und Aefdylos ward der Schöpfer des Dramas. Van Eye fiihrte die Oelmalerei in die Kunſt ein, als fiir den Natur- und Farbenfinn dev Neuzeit die friihere Weije nicht mehr geniigte: der Riinftler in weldjem der neue Geift am mächtigſten war, fand die Ausdrucsmittel fiir ihn. Indem fein Werk wie ein Naturproduet objectiv geworden, tragt es dod) das Gepriige jeines Schöpfers.

Der einfeitige Ausdrud einer vollfommenen Herrjdaft iiber dic RKunjtmittel ohne eigenen ſchöpferiſchen Geift ift das Birtuofen- thum. Gein Urjprung liegt darin daf bei cingelnen Riinften, vor allem bei der Muſik, das Kunſtwerk immer neu producirt und dem Genuffe durch fubjective Thätigkeit vermittelt werden mug; die Compofition liegt flanglos und ſtumm in den Noten, erſt wer des Saitenjpiels midtig ift vermag fie fiir bas Ohr vernehmlid ju maden. Der ausfiihrende ijt hier micht der erfindende Künſt— ler, fondern nur deffen Organ. Aber wie er mit den Schwierig: fetten des Spiels yu kämpfen hatte, fo will er nun aud) die Veidhtigfeit zeigen mit der er fie iiberwindet, und die Virtuoſität judjt nun biermit ju glänzen aud) wo gar feine Nothwendigfeit des Schweren vorhanden ijt, gar fein Genuß durd) die Dar- ftellung bereitet wird; fie ſetzt das Kunſtſtück an die Stelle des Kunſtwerks. Der ausfiihrende Künſtler foll in den Geift des Werkes cingehen, das erfordert Geift von ſeiner Seite, und gern

608 Ill. Das Shine in der Kunft.

mag er diejen nun aud) anf Roften des Werkes zeigen, indem er an die Stelle der urfpriingliden Intention feine Auffaſſungsweiſe fest. So drängt fich die Citelfeit des Gubjectes vor, und die Virtuoſität Hilft den Geſchmack verderben, indem fie Künſtliches jtatt des einfad) Schönen ſucht, mit ihrer Fertigfett prunkt ftatt edeln Gehalt in reiner Form ju veranfdhauliden, und die ftumpfen Merven mit greflen Effect- und üppigen Bravourftiiden reizt. Die verfloffenen Jahrzehnte haben diejen Taumel durdgemadt, es ift Musfidt vorhanden dak man jest die gewonnene Kühnheit und eidjtigfeit der Darftellnng auf die Reproduction des in fid Vollendeten ridjtet.

Allerdings joll die Subjectivitit des Riinftlers ſich geltend machen; da8 Werk ijt aus ihr geboren, in feiner Auffaſſung ſchafft er die Dinge fic) neu. Der Mann der Wiſſenſchaft ſoll objectiv jein, die Sache walten laffen, der Riinftler aber priigt feine Gub- jectivitit in feinen Werfen aus. Diejelbe Sade gewinnt ein anbderes Anfehen itm Auge von Rubens als von Rafael, ein an- deres im Geifte von Shafefpeare als von Goethe; daher tragen ihre Werle cin perſönliches, leicht erfenmbares Geprige, während die Mittelmäßigkeit weder recht mit eigenen Augen fieht, nod) eine ganze Seele in ihre Leiftungen legt, und darum fic in herkömm— lichen banalen Phrajen ergeht. Die Wlten fagten eS fet ſchwerer dem Homer einen Vers als dem Herafles feine Keule gu ent- reifen, und die Unnachahmlichkeit Michel Angelo’s und Rafael’s beruht gum guten Theil aud) darauf daß fie ihre Werke mit einer cigenthiimliden Pinſelführung malten, daß die Sicherheit der Meiſterſchaft fie in grofen kühnen Zügen arbeiten ließ, die un- mittelbar und ohne der Correctur gu bebdiirfen das Innere aus— ſprachen. Betrachtet man zum Beifpiel den Kopf der Madonna und des Chriftusfindes auf dem dresdener Bilde genau, fo muß man es bewundern wie fie durch wenige ganz fidjere und einfache Stride auf die Leinwand gezaubert find. Das fonnte nur der Mteifter, und weil hier nichts Gefiinfteltes, nichts Nachgebeſſertes vorhanden ift, bleibt e8 dem Nadahmer verfagt.

Die jubjective Anffaffungs- und Darftellungsweife des Künſt— (ers tritt alg feine Manier Hervor. Das Wort maniera heißt Handfiihrung, es wird von der bildenden Kunſt auf andere Ge- biete iibertragen. Sie wird verwerflid) wenn fie mit dem Wejen der Sache im Widerſpruch fteht, in Uebereinftimmung mit dem- felben führt fie gum Stil. Im Unterfdicde von diefem pflegt

2. Die Kunſt: e. Der Künſtler und der Stil. 609

man als das Manierirte gerade dasjenige gu betrachten wo der Gegenftand nicht zu feinem Rechte fommt und an die Stelle ſachlicher Strenge die Subjectivitit mit ihren Cigenheiten und Verſchnörkelungen getreten tft. Führt einen Künſtler feine Ge- miithsftimmung auf da8 Heroifde, fo gewöhnt er fic) an fraft- volle und grofartige Züge ber Darftellung; wollte er auf diefe Art nun aud) einmal die idylliſche Gemiithlidfeit eines beſchränk— ten Philifterfinnes fchildern, fo wäre es feine Manier, nicht die Cigenthiimlidfeit des Objects, was uns im Werke zunächſt er- ſchiene. Gin weides Gefiih{ liebt zarte Gegenftiinde, milde For- men, aber das Energiſche und ſchroff Gewaltige wiirde es verſüß— Lichen und verſchwemmen. Die lebhafte Bewegung der Gejtalten war bet Michel Angelo beredjtigt, die Erregung der Geifter, gemäß der Handlung und Idee, brachte fie hervor und fdjwellte die Muskeln; es war ible Mtanier feiner Nachahmer dies and) Dort gu wiederholen wo wir Rue und Milde verlangen miiffen. Sean Paul's Darſtellungsweiſe ward manierirvt, weil fie überall nad einer Verquidung des Wikigen und Sentimentalen hafdte, und ein Hamann verftand fic) mandmal felbft nidt mehr, weil er fid) angewöhnt hatte in Anſpielungen zu reden, und die man- cherlei Kleinigkeiten vergaß die er beim Sdhreiben im Sinn gehabt hatte. Auch bet dem alten Goethe ward eine fuperlative und vor- nehme Schreibart zur Mtanier, in welder Waiblinger den Dichter mit den Worten im Elyfium ſich einführen läßt:

Und ſo käm' ich denn behäglich, Wunderlichſt in dieſem Falle, Stets gediegen, nimmer kläglich, Jetzo in die Todtenhalle.

Homer redet von einem Stabe mit welchem Pallas Athene einen Helden berührt, ſodaß ſeine Perſönlichkeit kenntlich bleibt, aber mächtiger und herrlicher erſcheint. So heißt es einmal von Odyſſeus:

Und ihn ſchuf Athenäa ſofort, Zeus' herrſchende Tochter,

Höher zugleich an Geſtalt und völliger; auch von der Scheitel Goß ſie geringeltes Haar wie die purpurne Blum' Hyakinthos. Wie wenn mit goldenem Rand ein Mann das Silber umgießet, Sinnreich, welchen Hephäſtos gelehrt und Pallas Athene

Allerlei Weisheit und Kunſt um reizende Werle zu bilden,

So umgoß die Göttin ihm Haupt und Schultern mit Anmuth. Carriere, Aeſthetik. J. 3. Aufl. 39

610 Ill. Das Schöne in der Kunft.

Dieſer Zauberftab ijt der Stil. Stilus heift Griffel, Stijt; das Werkzeug des Sdhreibers, Zeidners gab den Namen her fiir die äſthetiſche Auffaſſungs- und Darftellungsweife, mittels welder der Riinftler Kern und Wefen der Sache ergreift und in grofen marfigen Zügen hervorhebt, da8 Gleidgiiltige und Unbedeutende aber ausfdeidet, alles Mannidfaltige einer herrſchenden Einheit unterordnet, das Ewige und Allgemeine, das Geſetz der Erjdei- nung fidjtbar madjt. Wollte der Künſtler nur die Wirklidfeit wiederholend nadbilden, fo wilrde er weder die ganze Breite des Details in fein Werk aufnehmen, nod) dem fortſchreitenden Leben geredjt werden finnen. Denn er vermag immer nur einen Mo- ment wiederzugeben, aber indem er denfelben fefthilt, nimmt er ihm gerade das Momentane, entzieht ihn dem Fluffe des Wer- dené und verfteinert ihn. Deshalb mug der Künſtler fich auf das Bleibende im Wechſel ridjten, und dies im dauernden Werk hervorheben; er mug da8 innere unfidtbare Wejen, weldes die gemeinjame Grundlage aller voriibergehenden Entwidelungsftufen bildet, fidjtbar maden, und aus der Menge des Befondern ein- zelne grofe reprifentative Riige gewinnen. Dadurch fprict er die Wahrheit des Wirklichen aus. Er ändert nicht willkürlich am Gegenftand, aber er erhiht ihn in das eigene Ideal deffelben, er verewigt denfelben indem er da8 Ewige in ihm zur Erjdeinung bringt. Das ftilifirte Bilden zeigt fic hier als das echte Idea— lificen. Gin guter Sprud von Eugen Veron fautet: „Der ftil- volle Maler fieht die grofe Seite felbft der einen Dinge, der realiftifde Nachahmer die Heinen felbft der grofen.” ,,Der fo- genannte Realift bleibt immer im Detail fteden, Stil ift ridjtiges Weglaffen des Unweſentlichen“, zeichnet einmal der Maler Feuerbach auf, und fügt dann treffend hinzu: „Der wahre Stil fommt dann wenn der Menſch, ſelbſt groß angelegt, nach Bewäl— tigung der unendlichen Feinheiten der Natur die Sicherheit er- fangt in da8 Grofe gu gehen.”

So überſetzt Goethe in Bettina’s Bud eine ihrer didterijden Empfindungen in die reine Kunſtform, und fie ſchreibt ihm: „Ich jehe mit Luft wie Ou mid in Did) aufnimmft, wie Du diefe einfaden Blumen, die am Abend fdjon welfen miiften, ins Feuer der Unfterblichfeit Haltft und mir zurückgibſt. Nennſt Du das aud) überſetzen, wenn der gittlidke Genius die idealifde Natur vom irdifden Menſchen ſcheidet, fie läutert, fie enthiillt, fie fid jelbft wieder anvertraut, und fo die Aufgabe felig gu werden lift?”

2. Die Kunft: c. Der Künſtler und der Stil. 611

Gin andermal ſucht fid) Bettina den Stilbegriff alſo deutlid) gu madden: ,,Alles Große muß einen Grund haben warum es edel ijt; wenn diefer Grund rein ohne Vorurtheil, ohne Pfufderci von Nebendingen und Abfidjten die eingige Bafis des Kunſtwerks ift, das ift der reine Stil. Das Kunſtwerk muß gerade nur bas ausdrücken was die Seele erhebt und edel ergigt, und nidt mehr.“

Goethe felbft hat feine Sphigenie zuerſt in einer Profa ge- ſchrieben die von felbft in den iambijden Vers hineinflang, aber ihn dod) nidt ftreng innehielt; in Stalien ftilifirte er die herr- lide Didhtung und gab ihr dadurd) die dem Inhalt angemeffene Geftalt; der Rhythmus wird hier als einiges herrſchendes Geſetz durchgeführt, der Stoff fiillt die Form völlig aus, und die Bilder, in denen der Gedanfe fic) veranſchaulicht, werden nidt blos an- gedentet, fonderm wie in der plaftifden Kunſt ganz und harmonifd ausgefiifrt. Go fagt Sphigenie zu Oreft in der Profa: ,,Sprid dentlidjer, damit ich's bald erfahre; die Ungewifheit ſchlägt mit taufendfiltigen Verdadt mir um das Haupt.” Im Verſe lautet die Stelle:

Sprid) dentlider, dak ich nicht länger finne; Die Ungewifheit ſchlägt mir tanfendfaltig Die dunleln Sdhwingen um das bange Haupt.

Oreft hat fid) der Schwefter genannt; da fagt dieſe in der Profa: „Deinen Rath ewig gu verehren, Todjter Latonens, war mir ein Geſetz dic mein Schidjal gang gu vertrauen, aber folde Hoff- nung batt’ id) nicht anf did), nod) auf deinen weit regierenden Vater. Goll der Menſch die Götter wohl bitten? Sein kühnſter Wunſch reidht der Gnade, der ſchönſten Todter Jovis, nidt an die Knie, wenn fie, mit Segen die Hinde gefiillt, von den Un- fterblichen freiwillig herabfommt. Wie man den Kinig an feinen Gejdenfen erfennt, denn er ift reid) vor Taufenden, fo er- fennt man die Witter an fang bereiteten, lang aufgefparten Ga- ben, denn ihre Weisheit fieht allein die Zufunft, und jedes Abends geftirnte Hülle verdedt fie den Menfden. Sie Hiren gelaffen das Slehu, das um Befdleunigung kindiſch bittet, aber unreif bridt eine Gottheit nie der Erfüllung goldne Friidte, und wehe dem Menſchen der ungeduldig fie ertrogend an dem fauren Genuß fid den Tod ift! Ans dem Blute Hyacinth’s ſproßte die fchinfte 39*

612 Ill, Das’ Schöne in der Kunft.

Blume, die Sdweftern Phacton’s weinten lieblidjen Baljam, und nun fteigt aus der Aeltern Blut ein Reis der Grrettung, das jum ſchattenreichen Baume Knospen und Wuchs hat. Was e8 aud) jet, aft mir dieſes Glück nidt wie das Gefpenft eines geſchie— denen Geliebten eitel voritbergehen.” Der Dichter läßt die my- thologijdjen Gleidjniffe am Ende, die dem Deutſchen fremd find und geſucht erjdjeinen, weg; ebenfo die Anrede an Latonens Toch— ter, da ber Ginn derjelben dem Folgenden einverleibt ift. Aber das hier nur angedeutete Bild der Gnade, welder unfere Wünſche an das Knie reichen, führt er herrlid) aus, die Erfiillung, der er {pater gedentt, zieht er hervor, und läßt fie wie eine Göttergeſtalt fofort vor Sphigeniens Geijtesauge erfdeinen; der Blick reidt derjelben faum an die Hinde, welche den Segen fpenden, die Friidte des Olympos bringen. Das Geſpenſt wird durd) das edlere Wort Schatten erſetzt; alles ift Bewegung, nirgends die Befdreibung eines Ruhenden, und der ſchwungvoll gleichmäßige Rhythmus gibt dem idealen Gehalt die gefebliche Form, gu der er mit innerer Nothwendigkeit fic) geftaltet. °

Go fteigft du denn, Erfiillung, ſchönſte Todjter Des größten Baters, endlid) ju mir nicder!

Wie ungeheuer fteht dein Bild vor mir!

Raum reicht mein Blid dir an die Hinde, die Mit Frudt- und Segenskränzen angejlillt

Die Shige des Olympos niederbringen.

Wie man den Konig an dem Uebermaf

Der Gaben feunt, denn ihm muß wenig {deinen Was Tauſenden ſchon Reidthum ift, jo fenut Man euch, ihr Götter, an gefparten, lang

lind weife zubereiteten Geſchenken.

Denn ihr allein wifft was uns frommen fann, lind fdaut der Zukunft ausgedehntes Reid), Wenn jedes Abends Stern- und Nebelhülle

Die Ausficht uns verdedt. Gelafjen hort

Shr unfer Flehu, das um Beſchleunigung

Euch kindiſch bittet; aber eure Hand

Bricht unreif nie die goldnen Himmelsfriidte; Und webe dem der ungeduldig fie

Ertrogend faure Speife fic) gum Tod

Genieft! O laft das lang ertwartete,

Nod) faum gedadjte Gliid nicht wie den Sdhatten Des abgeſchiednen Freundes eitel mir

Und dreifad) fdpmerzlider voriibergehn !

2. Die Kunft: c. Der Kiinftler und der Stil. 613

Goethe felbft fdjrich nad) der Rückkehr aus Stalien einen Auf— fag iiber Nadhahmung der Natur, Manier und Stil; darin heißt e8: ,, Wenn cin Kiinftler fich an die Gegenjtiinde der Natur wendete, mit Treue und Fleiß ihre Gejtalten, ihre Farben auf das ge- naueſte nadjahmte, fic) gewiffenhaft niemals von ihr entfernte, jedes Gemiilde wieder in ihrer Gegenwart anfinge und vollendete, cin folder wiirde immer ein ſchätzenswerther Künſtler fein, denn es finnte ihm nicht fehlen daß er in einem unglaubliden Grade wahr wiirde, daß feine UArbeiten fider, kräftig und reid) fein müßten.“ Gr fügt hinzu: daß die Gegenftinde der Darjtellung feicht und immer ju haben fein müßten um bequem geiehen und ruhig nadjgebildet werden zu finnen; das Gemiith, das fic) mit joldher Arbeit beſchäftige, miiffe ftill, in fic) gefehrt und beſchränkt, aud) in cinem mäßigen Genuß begniiglid fein. ,,Aber der Menſch fieht cine Ucbereinftimmung vieler Gegenftiinde, die er nur in ein Bild bringen fann indem er das Einzelne aufopfert, es verdrieft ihn' der Natur ihre Budftaben nur gleichſam im Zeichen nade zubuchſtabiren; er erfindet fic) felbjt eine Weiſe, macht fic) felbft cine Sprade um das was er mit der Seele ergriffen wieder nad) jeiner Art ausjudriiden, cinem Gegenftande, den er öfters . wicderholt hat, eine eigenbezeichnende Form ju geben, ohne, wenn er ihn wiederholt, die Natur felbft vor fid) zu haben, nod aud) jid) ihrer geradezu ganz lebhaft zu erinnern. Nun wird es cine Sprade in welder fic) der Geiſt des Spredenden ummittelbar ausdriidt und bezeichnet. Und wie die Mteinungen iiber fittlicde Gegenſtände fid) in der Seele eines jeden der ſelbſt denft anders reihen und geftalten, fo wird auch jeder Künſtler diefer Art die Welt anders fehen, ergreifen und nachbilden, er wird ihre Cr- ſcheinungen bedächtiger ober Leichter faffen, er wird fie gejebter oder fliidjtiger wieder Hervorbringen. Gelangt die Kunſt durd Nachahmung der Natur, durch Bemiihung fid) cine allgemetne Sprade zu maden, durd) genaues und tiefes Studium der Gee genjtinde ſelbſt endlid) dahin daß fie die Eigenſchaften der Dinge und die Art mie fie beftehen genau und immer genauer fennen lernt, daß fie die Reihen der Geftalten überſieht und die verſchie— denen charatterijtijden Formen nebeneinanderjuftellen und nach— zuahmen wei: dann wird der Stil der höchſte Grad, wo fie fid den höchſten menſchlichen Bemiihungen gleicdftellen darf. Wie die ein- fade Nadahmung auf dem ruhigen Daſein und einer liebevollen Gegenwart beruht, die Manier cine Erfdeinung mit einem leidten

614 Ill. Das Schöne in der Kunft.

fihigen Gemüth ergreift, fo ruht der Stil auf den tiefſten Grund- feften der Erkenntniß, auf dem Wefen der Dinge, infofern uns erlaubt ijt es in ſichtbaren und greifliden Geftalten zu erfennen.”

Goethe erirtert nod) wie Naturaliémus, Manier und Stil aneinandergrengen. Die einfache Naturnadahmung erſcheint im Vorhofe des Stils; je treuer, reiner, forgfiltiger fie gu Werke geht, je rubiger fie die Anſchauungen empfindet, je gelaffener fie diefelben darjtellt, je mehr fie fid) gu denfen gewshnt, das heißt je mehr fie das Aehnliche vergleichen, das Unähnliche abjondern und einzelne Gegenftiinde unter allgemeine Begriffe ordnen lernt, defto würdiger wird fie fic) machen die Schwelle des Heiligthums felbjt gu betreten. Der Dichter gedenft hier der niederlindijden Blumen- und Friidjtemaler. Indem fie die fdinften frifdeften Rofen ausfuden, tritt ſchon cine Wahl ein; die pelzige Pfirſche, die feine beftaubte Pflaume, den glatten WApfel, die glingende Kirſche, die imannidfaltigen Tulpen und Nelken haben fie im höchſten Grad der Vollfommenheit im ftillen UArbeitszimmer ‘vor ſich ftehen, und geben ihnen die giinftigfte Beleudjtung; fie lernen von Jahr gu Sahr die wefentliden Cigenfdaften der Blumen, der Früchte auffaffen, und es liegt nahe daß fie aud) botanifde Kenntniſſe erwerben, die Entwickelung der Pflanze, die Wedhfel- wirfung ihrer Theile iiberdenfen und erfennen. Go jeigen dann die Künſtler nidt blos durd) die Wahl der Gegenftiinde ihren Geſchmack, fondern aud) durd) die ridtige Darjtellung ihr Ver- ſtändniß. Und in diejem SGinne bilden fie fid einen Stil, wäh— rend fie in Manier verfallen, wenn fie nur das Auffallende, Blendende leicht auszudrücken beflijfen find. Andererſeits ijt die Manier im höchſten Sinne des Worts cin Mittel zwiſchen Natur- nachahmung und Stil, wenn nämlich die Sndividualitit, (ebhaft und thiitig wie fie ijt, das Charafterijtijde der Gegenſtände treu und rein 3u erfaffen tradjtet. Unterläßt fie es aber fid) an die Natur zu Halten, fo wird fie fid) immer mehr von der Grundfefte der Kunſt entfernen, ihre Manier wird immer leerer und unbe- dentender werden. Stil heißt Goethe den höchſten Grad den die Kunſt erreidt. ,,Diefen Grad and) nur ju erfennen ijt fdon cine große Glückſeligkeit.“

Rumohr dagegen leugnet die Erhebung der Seele als Quelle des Stils; er entſpringt ihm einzig aus einem richtigen aber noth— wendig beſcheidenen und nüchternen Gefühl einer äußern Befdrin- kung der Kunſt durch den derben, in ſeinem Verhältniß zum

2. Die Runft: c. Der Kitnfiler und der Stil. 615

Riinftler geftaltfreien Stoff. Dem Bildner, fagt er, fet das Schwebende und Fallende verfagt, nidt aus einem fittliden Grunbde, denn der Mtaler habe es mit Recht und Glück, jondern wegen der Schwere des Stoffes. Weil andererfeits die Malerei vermige des Stoffes fo Vieles in einem Bilde vereinigen finne, jo fet Uebereinftimmung im Verhältniß der Theile um fo nithiger als Vielfiltiges leicht zur Verwirrung hinneigt. Hierin liegt dad Ridtige dak Stoff und Form in einem innern Zufammenhange ftehen, weldjen die Runft gerade veranfdaulidt, dak durch die fubftantielle Form die Sdee der Mtaterie ausgedriidt wird, und die Harmonie von Geift und Natur darin erfdjeint dak beftimm- ten idealen Stoffen auch beftimmte materielle entfpreden und fiir deren Verfirperung fid) eignen. „Das yur Gewohnheit gewor- dene fid) Fügen in die inneren Forderungen des Stoffes” ift eine Bedingung des Stils, erſchöpft deffen Begriff aber nicht, fonft müßte jede rubig ftehende Statue, jedes maffig behandelte Haar aud) jdjon ftifvoll fein. Aber fiir die Unterfdeidung des Stils der einzelnen Riinfte, namentlich des malerijden und plajtijden, des mufifalijden und poetifden ijt die Gade widtig, und wir werden deshalb darauf juriidfommen, zugleich aber darthun was aus dem Gebiete des geiftigen Lebens den verſchiedenen Arten des fiinftlerijdjen Materials gemäß ift. Indem das ftilvolle Kunſtwerk bie Forderungen des Materials erfiillt, durch weldjes es gur Er⸗ ſcheinung fommt, verfihuen fid) Natur und Geift, Stoff und orm, aber nur dadurd daß es dem Wejen der Idee gemäß ift gerade diefen Bedingungen der Materie fic) zu fiigen; wo foldes alg Befdrintung von außen, nicht als begrenzende Selbftbeftim- mung fidjtbar wilrde, da mire die Wiirde und Freiheit der Idee beeinträchtigt und durd) die irdiſche Bediirftigkeit dem Geifte cin Zwang auferlegt, der die Anmuth aufhebt.

Violet le Ouc fagt vom Spikbogenftil wie ihn Nordfranfreid aufftei{te: ex war wie eine Trompetenfanfare im verworrenen Ge- töſe einer Menſchenmenge. Der Stil in der Architektur ift aber die folgeridtige methodiſche Durchführung cines Princips, eine ungefudte Emanation der Grundform; der geſuchte Stil heißt Manier; fie veraltet, der Stil nie. Der Stil entiteht wo die architektoniſchen Formen nidts find als die ftrenge Folge von conjtructiven Brincipien, weldje fic) ergeben ans dem Material und feiner Verwerthung, ans dem Zweck de Baues und aus der logiſchen Entwidelung der Theile aus dem Ganzen; je mehr das

616 III. Das Schöne in der Kunft.

Rechte, Wahre klar und fidtbarer wird deſto ftilvoller ijt cin Werf. Darum gebe man dem Cifen nicht die Form des Holz- oder Stein- baues, fondern entwidele fie ihm aus feinen cigenen Gigenfdjaften!

So wenig indeß als die Ourddringung von Geift und Ma- terie ift die Correctheit und Geſetzmäßigkeit ſchon die volle Kunſt— ſchönheit, fondern dieſe verlangt einen Abglanz und Ausdruck der fiinftlerifdjen Sndividualitit und ihres perſönlichen Lebens. In— dem in dem objectiv geniigenden Werk zugleich die Subjectivitit des Meifters fid) offenbart, erreicht es feine Vollendung, und in diefer Hinſicht ijt Stil der Stempel ciner künſtleriſchen Cigen- thümlichkeit, jeder Meiſter hat jeinen eigenen Stil, oder der Stil ift nad) Buffon’s Wort der Menſch felber. Diefe Signatur der Perſönlichkeit hat Weiße die geiftige PHyfiognomie des Menſchen genannt und fie der Wusprigung der Geele in den Zügen des Antlikes, in der Geftalt und Bewegung des Körpers vergliden. Beides gefdieht unbewußt und unwillkürlich; reflectirte Willfiir verdirbt den Stil fogleid) gu gejudter Dtanier. Gerade wo der Menſch fid) gehen läßt gibt feine Natur fid) fund, und in dieſem Sinn hat aud) Goethe gemeint dak Briefe zu den merfwiirdigiten Documenten gehören die ein bedeutender Menſch hinterlaffen fann; wie hat Rabel da ihre geiftige PHyfiognomie uns offenbart! Zur Natur fommt die Bildung, fommen die Cinfliiffe der Zeit auf den Ginzelnen; anc) fie ſpiegeln fic) ab. Und wo der Meijter im Werf aufgeht und es um der Schinheit willen geftaltet, da blidt feine eigene Geele uns doc) erfennbar an, und tritt der Charafter eines Midel Angelo und Diirer, eines Gophokles und Avioft, eines Herodot, Thufydides, Tacitus in ihren Schöpfungen uns ganz erfennbar entgegen. Wenn man will fo fann man aud von einem Stil des Handelns reden; wir haben foldes in grofem Stil und von fdarfer PHhyfiognomie im Wirfen Bismard’s er- {ebt. Das Stilgepriige das Sefus feinen Spriiden und Parabeln gab umfließt fie wie cin individueller Geifteshaud nod) nad) Jahr— taufenden aud) in fremden Sprachen.

Eine vortrefflide Bemerfung Savigny’s möge hier nod) eine Stelle finden: „Die meiften Schriftſteller haben gar feinen Stil, oder höchſtens geringe ungujammenhingende Anfinge eines Stils. Gie geben ihre Gedanfen hin fo deutlid) es gelingen will, aber eine belebende Geele wird in ihrer Darftellung nicht fidtbar. Andere haben einen Stil, aber diefer ermangelt der Wahrheit. Die Form irgendeines andern Sdjriftftellers hat ihnen durd) Kraft

2. Die Kunſt: c. Dev Künſtler und der Stil. 617

oder Schinheit imponirt, fie haben fie nachzubilden verſucht, vicl- leicht nicht ohne Erfolg, aber es ift nidjt dic Seele ihres eigenen Denkens die ſich darin ausdrückt; fie ſpielen cine Rolle, vielleicht ohne es gu wiſſen. Der redjte Stil wird durd) die innere Bil- dungsfraft des Geiſtes erzeugt. Wllerdings fest er voraus daf etwas Ausdrudswerthes in der Seele des Schriftitellers vorgehe; der Cigenthiimlicfeit diejer Gedanfen gibt er cine fidjtbare Ge- jtalt, und dadurd) werden fie fähig in der Seele des Lefers dic verwandte Thitigfeit anguregen. C8 ijt nidjt mehr blos der cin- zelne Gedanfe, der uns belehrt, fondern die Perſönlichkeit des Schriftſtellers tritt uns nahe, und durch diefe wird die Mtitthei- {ung der Gedanfen erwärmt und belebt.’’

Schopenhauer ſagt ganz ähnlich: Nur wer eigene echte Ge— danfen hat hat echten Stil.

Der Stil alfo ift die jubjective Weife, aber nicht als falſche Manier, fondern der Sade und dem Bdeal gemäß; ev berubt darauf daß perſönlich wie ſachlich das Wejen rein, Har und ganz in der Form erſcheint. So erfüllt ſich uns im Stil, welcher das Ideale und Normale hervorhebt und doch die Eigenthümlichkeit des Künſtlers ausprägt, der Begriff der Schönheit, die immer etwas Individuelles und Allgemeingültiges, freie Erfüllung noth— wendiger Ordnung iſt. Auch hier wirkt wieder das Unbewußte in der Seele, wie denn Moözart jo treffend ſagte: er lege es nicht auf Beſonderheit an, aber es ſei wol natürlich daß die Menſchen, welche wirklich ein Ausſehen haben, auch verſchieden voneinander ausſehen; daß alſo ſeine Sachen die Geſtalt annehmen dadurch ſie mozartiſch ſind, das werde ebenſo zugehen wie daß ſeine Naſe groß und herausgebogen, daß fie mozartiſch und nicht wie bet andern Leuten geworden ſei.

Die wahre Meiſterſchaft iſt indeß ſtets zugleich die Offen— barung des im Volksbewußtſein Schlummernden, und der Genius, der ſich ſelber das Geſetz iſt, gibt es zugleich ſeiner Zeit, und darum ſehen wir im Stil auch das Empfindungsvermögen einer Nation, eines Jahrhunderts in Formen ausgeprägt. So iſt im Mittelalter der Stil der italieniſchen Malerei ein anderer als der Stil der deutſchen; in jenem wiegt die formale Schönheit vor, in dieſem die Charakteriſtik des Gehalts; ſo findet die religiöſe Stim— mung des Hellenenthums im doriſchen Tempel einen Ausdruck, der das Aeußere ſchön geſtaltet und mit ruhigem Behagen auf der Erde ſich ausbreitet, während der gothiſche Dom mit der Sehn—

618 III. Das Schöne in der Kunft.

fudjt des Gemiiths gen Himmel ftrebt und das Innere gliedert und fdmiidt. Die Kiinftler find hier die Organe der Gefammt- perſönlichkeit, welde in ihnen gipfelt.

Hören wir nod einen denfenden Riinjtler unferer Zeit, Gott- fried Semper, der im umgefehrten Gang auf feine Weife die Zu- jammenfaffung der verfdiedenen Stilelemente gleidfalls betont, wenn er aud) in feinem vorgiigliden Buch iiber den Stil in den Riinften das Material vorgugsweife hervorgehoben: ,,Stil ift dic Uebereinftimmung einer Runfterfdeinung und ifrer Entftehungs- gejdidjte mit allen Vorbedingungen und Umſtänden ihres Werdens. Stil ijt der Griffel, das Inſtrument deffen fic) die Alten gum Schreiben und Reidnen bedienten, daher ein fehr bezeichnendes Wort fiir jenen Bezug gwifden der Form und der Geſchichte ihrer Entftehung. Bu dem Werkzeug gehirt aber zunächſt die Hand die es fiihrt und ein Wille der letztere leitet. So erfordert bas Treiben des Metalls einen andern Stil als das Giegen, fo jagt man aud) Donatelli und Michel Angelo feien im Stile ver- wandt. Sodann gehirt zum Werkzeug und der Hand der zu be- handelnde Stoff, und gwar zunächſt als phyfifde Materie, und wir diirfen von einem Holz-, Badftein-, Quaderftile reden, fodann cin Hiheres, die gu behandelnde Aufgabe, da8 Thema zur fiinft- leriſchen Verwerthung, die darguftellende Idee.

Indem jeder echte Künſtler im Zujammenhange mit der Welt- anjdauung feines Vols, im Anſchluß an das Gefes der Kunſt und an die allgemeinen Formen und Normen der Natur feine Werke ſchafft, durddringen fid) in dieſen jene drei Momente des Stils, Dod) werden wir es unterfdeiden, wenn der Künſtler mehr juviidtritt und der Gegenftand vor allem in feiner Bedeu- tung allgemeingiiltig veranfdaulidjt wird, was wir als den fad {ich ftrengen ober epifden Stil bezeichnen können; oder wenn in jeclenhafter Weife der Meifter feine Cebensanfidt, feine Cigen- thiimlidfeit vorwaltend ausprigt, was einen mehr fubjectiven oder lyriſchen Ton der Darftellung bedingt; und es wird endlich beides in Harmonie fein, Stoff und Individualitdt werden fid vermählen, es werden die Dinge ihren objectiven Charafter tragen wie die Perjonen eines Dramas, und das Ganze wird dod vom Sinne des ſchaffenden Genius befeelt fein. Wir finnen als Re- prijentanten der erften Weije den Homer und die Ribelungen, Phidias und Leonardo da Vinci, Bad) und Paleftrina, Cäſar und Ariftoteles nennen; die zweite Weije zeigen uns Sdiller und

2. Die Kunſt: c. Der Künſtler und der Stil, 619

Midel Angelo, Tacitus und Fidte, Beethoven und Aeſchylos; die dritte Rafael, Shafejpeare, Mozart, Goethe, Platon.

Sn der geſchichtlichen Entwidelung zeigt fid) der Fortgang von faclider Strenge gu erhabener Anmuth und freier Schönheit im Gleidhgemidt des Bildnergeiftes und Stoffes, dann gum Reiz der Horm und zur fpielenden Herrfdaft der Subjectivitit, die auf den Schein arbeitet, in Effecthaſcherei, Verſchnörkelung und Manierirt- Heit ausartet, und eine Wiedergeburt des Runftlebens nöthig macht. Verſchiedene Weltalter finden in verſchiedenen Riinften, die dann zur ſchönſten Blüte fommen, den geniigenden Ausdruc ifres Wefens; der Stil diefer beftimmten Kunſt theilt ſich dann aud den itbrigen mit. Go ijt die Architeftur die rechte Kunſt ded alten Aegyptens, und Seulptur und Maleret bleiben ifr dienend und tragen ihren Stempel; die Plaſtik herrſcht aud) in der Malerei und Poefie der Griedhen; die Baufunft und Sculptur des Mittelalters ift matlerifd. Dein Bud) über die Kunſt im Zufammenhang der Culturentwidelung thut died ausführlich dar.

Das ftilifirte Bilden ift das Bdealifiren des Künſtlers, fraft deffen er nad) Gophofles’ und Lyfippos’ Selbftbefenntniffen die Menſchen ſchafft wie fie fein follten; es ift die Wiedergeburt der Dinge im ſchöpferiſchen Geifte, die Entbindung ihres inneren RKernes und Lebensgehaltes, die Darftellung derfelben wie fie vor dem Auge der Liebe oder im Lichte der Emigfeit ftehen. Hierher gehirt Windelmann’s berithmter Sprud: „Die Idee der Schön— Heit ift wie ein aus der Mtaterie durds Feuer gezogener Geift, welder fic) ſuchet ein Geſchöpf gu zeugen nad) dem Ebenbilde der in dem Verftande der Gottheit entworfenen erften verniinftigen Creatur.“ Treffliches fagt aud) der Dichter im Vorſpiel zu Goethe's Fauft: der Cinklang in der eigenen harmonifden Seele prägt fid) im Werk aus und gewinnt die Herzen; im willfiirliden Streben und Weben der Bndividualititen enthiillt ſich dod) cin heiliges Gefeg, und died Gefes wird wieder von jedem Wefen auf originale Weife erfiillt; fo waltet Rhythmus tm Strom der Er- cigniffe und der Gefithle, das Unterſchiedene ftimmt im Accord zuſammen, das Befondere erhalt die Weihe des Allgemeingültigen; die Natur ijt vom Geifte durchleuchtet und der Geift in thr ver- férpert; der Lorberzweig wird gum Chrenfrange des Verdienſtes und die Gebilde der Phantafie gemwinnen eine bleibende Form in Raum und Zeit; was in fdwankender Erfdeinung jdwebt wird ju dauernden Gedanken befeftigt. Der Künſtler ſchärft uns das

620 Ill. Das Shine in der Kunſt.

Auge fiir die Schinheit der Welt; oder wm Goethe's Wort aus der Harjreife im Winter anjufiihren: ev öffnet den umwölkten Blick iiber die taufend Quellen neben dem Diirftenden in der Wiijte. Co ift der Miinjtler den andern Menſchen was Max Piccolomini fiir Wallenftein war, wie Sdiller diejen ſagen läßt:

Gr ftand neben mir wie meine Jugend, Er madte mir das Wirkliche gum Traum, Um die gemeine Deutlidfeit der Dinge Den goldnen Duft der Morgenröthe webend, Im Feuer feines liebenden Gemiiths Erhoben fid) mir felber gum CErftaunen Des Lebens flad) alltiiglidje Geftalten.

d. Die Gliederung der Kunſt.

Wenn wir in der Kunſt der Darſtellung der Wahrheit des Wirklichen in die Verklirung der Natur und die finnenfillige Offenbarung des Geiſtes erbliden, jo mug aud) das ganze innere wie dugere Sein, jo muß die Welt fo gut wie das Reid) ded Geiſtes von ihr umfaßt werden. Nun breitet aber die Natur in den Formen von Raum und eit ihr Wefen aus, und der Geiſt vermittelt die dupere Anfdauung und die innere Empfindung im Selbſtbewußtſein. Die Kunſt mug alfo cinmal die Dinge in ihrem räumlichen Nebeneinanderbeftehen, fie mug das Nacheinan— der in der Reitfolge, und das in Naum und Zeit fic) entfaltende Wejen ergreifer, und fie muß cbenfo die Anjdauungsbilder der Seele, ihre eigene Snnerlidfeit in ihrem Werden wie fie als Gemiithsbewegung dem Gefiihle fic) fundgibt, endlid) ihre Ge- danfen auffaffen. Da aber Natur und Geijt fiireinander da find, und in der Schönheit gerade der Ausdruck ihrer Harmonie erfannt wurde, fo entſprechen fic) auch beide Regionen, und wir gewinnen cine Dreiheit von Riinften: die Offenbarung geijtiger Anſchauungen durch die Geftaltung der Materie im Raum, oder die bildende Kunſt, die Offenbarung des gemüthlichen und natiir- lidjen Lebens im Fluſſe feiner Entwidelung durd) die Tine und ihre rhythmifd-melodijde Folge in der Zeit, oder die Muſik, die Offenbarung de8 lebendigen Weſens der Dinge und der Ge- danfen des Selbſtbewußtſeins durch das Wort, oder die Poefic.

2. Die Kunft: d. Die Gliederung der Kunſt. 621

Sede diefer drei Miinfte ift wieder dreifach gegliedert. Denn im Raume gewahren wir die unorganiſche Materie, die organifde Sndividualgeftalt, die Wedhfelbeziehung beider im Naturleben; und unſere innere Anſchauung gilt dem allgemeinen Geijt, ber Tota- fitit der Perſönlichkeit und deren einzelnen Lebensiugerungen in der Wed)jelwirkung mit andern: demgemäß gewinnen wir drei bil- Dende Künſte: Architektur, Sculptur, Malerei; die Muſik ijt In— ſtrumentalmuſik, Geſang und beider Verſchmelzung; die Poeſie iſt Epos, Lyrik, Drama.

Die bildende Kunſt gibt uns die Erſcheinung der Dinge nach Geſtalt und Farbe und erweckt dadurch den Gedanken ihrer Be— deutung; die Poeſie ſpricht dieſe Bedeutung aus, läßt aber für die Vorſtellungen wie Menſch, Baum, Liebe uns Anſchauung und Gefühl ergänzen, und dadurch hat ſie die Aufgabe die Darſtellung ſo einzurichten daß dies leicht wird; die Muſik verſetzt uns in den Bewegungsverlauf einer Stimmung, in das Werden einer Sache, und die angeregte Phantaſie kommt durch die Tonfiguren, Melodien und Harmonien auch zu Ideen und Bildern innerer Anſchauung.

Solger unterſchied zwiſchen Poeſie und Kunſt als ſolcher; dort prävalire die Idee, hier die Wirklichkeit; die Poeſie wäre das Univerſelle, das in den andern Künſten ſich beſondert. Allein die Poeſie iſt ſelber eine beſondere Kunſt, und vermag dasjenige nicht, was die wahre Aufgabe der anderen Künſte iſt, ſowie dieſen das Weſen der Poeſie, die Darſtellung der Gedanken als ſolcher, der Thaten in ihrem Hervorgang aus dem ſelbſtbewußten Willen, verſagt bleibt. Die Kunſt im beſonderen, fährt Solger fort, ſei ſymboliſch oder allegoriſch, das gebe den Unterſchied der Sculptur und Malerei; hier ſeien Begriff und Körper verbunden, dagegen eine bloße Körperlichkeit ohne individuellen Begriff zeige die Architektur, und die Muſik ſtelle den Begriff ſelbſt dar wie er ohne Körperlichkeit thätig iſt. Nun gibt es aber doch allegoriſche und ſymboliſche Sculpturen und Gemälde und Gott fei Dank aud viele foldje die weder Symbol nod) Allegorie, jondern freie Kunſt— werfe, realifirte Sdeale find, und eine geiftlofe Anhiufung von Maſſe ijt fo wenig Baukunft, als der Ton des materiellen Trä— gers, der Luft, und der Gehörnerven entbehren fann.

Hegel fest fiinf Künſte: WArdhiteftur, Sculptur, Malerei, Muſik, Poeſie. Er ſcheint nicht zu bemerfen daß zwiſchen Sculptur und Muſik doch ein anderer Unterſchied iſt als zwiſchen jener und der

622 III. Das Schöne in der Kunft.

Malerei. Nad feinem dreitheiligen Schema ſucht indeß aud er die Dreiheit, verwirft aber die Gliederung nach den aujfaffenden Organen des Gefidhts, Gehörs und der Vorftellung, wonach fid bildende, tinende, redende Kunſt ergeben wiirde, was wieder mit unferer Entwidelung jufammentrifft. Umgefehrt hatte Rant die Art wie der Menſch fein Snneres äußerlich fundgibt zum Aus- gangspunft genommen, und hier Wort, Geberde und Ton als die Grundlage der Poefie, der bildenden Kunſt und der Muſik bezeich— net; Fichte der Sohn ſchließt fid) ihm an. Ich finde aud) hierin meine Erörterung erliutert und beftiitigt. Hegel will die Sade tiefer erfaffen, verirrt fid) aber in da8 Gejdidtlide, und nimmt eine fymbolijde, clajfijde und romantifde Runftform an. Die Ardhiteftur fet der Anfang der Kunſt, die am Beginn weder das gemäße Dtaterial nod) die entipredenden Formen gefunden habe, und fid) deshalb im blogen Suchen geniigen miiffe. Go fei fie ſymboliſch. Wenn fie aber blos ſuchte, fo wire fie gar feine Kunſt. Außerdem zeigt gerade die Geſchichte der Baufunft wie innerhalb ihrer das Symbolifde, Claffifde und Romantifde felbjt hervortreten. Zweitens findet das Innere und Geiftige feinen Ausdrud in der leibliden Erſcheinung; dies gibt die Plaftif, als die claffifde Kunſt. Drittens miiffen die Künſte welde die Snner- lichfeit des Gubjectiven gu geftalten berufen find, gu einer letzten Totalitit zuſammengefaßt werden; die Malerei madjt die dufere Geftalt gum Ausdrud des Innern, die Muſik macht das Innere durch cine fic) felbft aufhebende Aeußerlichkeit fund, die Poefie gibt bem Geift das Geiftige durd) bas Mittel des Worts. Die Archi- teftur gibt die objective, die romantifden Riinfte geben die ſub— jective Seite des Abjoluten, die einheitliche Mitte bildet die Plaſtik. Hier wird die eine bildende Kunſt gerlegt, und ihrem dritten Mo— mente werden die andern Künſte nur wie anhangsweife hingugefiigt.

Hegel’s eigene Dreiheit des Objectiven, Gubjectiven und Gub- jectiv-Objectiven hat Vijder zur Gliederung der Riinfte verwandt, und das Moment der Objectivitit in der bildenden Runft, das der Subjectivitit in der Muſik, die ideale Einheit beider Gegen- ſätze in der Poefie gefunden. Sehr paffend weiſt er dabei anf die innere Organijation der Phantafie, und unterjdeidet die bildende, auf da8 Auge organifirte, die empfindende, auf das Gehör orga- nifirte, die didjtende, auf die ganze ideal geſetzte Sinnlidfeit ge- ftellte Phantafie.

Sch habe diefelbe Dreiheit auf andere Art begriindet. And

2. Die Runft: d. Die Gliederung der Kunft. 623

Weiße fommt ju ihr, aber auf verjdhiedenem Wege; ex fudjt nach einer dialeftifden Reihenfolge, er fekt den Begriff der Kunſt in die Einbildung der abjolut geiftigen Subſtanz der Schönheit in einen ſchlechthin äußerlichen Stoff, und fagt daß der Geift des Ideals ſich gunddjt als ein geftaltlofer und in fic) felbft webender in der Mufik ausfpridt, und dann gu der unendliden Vielheit der Naturgejtalten der wirklichen Welt fic) ausbreitet in der bil- denden Runft, wahrend die dichteriſche Schönheit eben dieſe aus- einandergelegte Fülle der Geftalten, ohne fie aufzugeben oder fie verfdwinden gu laſſen, im die concrete Ginheit des Gedankens durd die Sprache jujammennimmt. Weit entfernt die Bered)- tigung dieſer Auffaffung 3u beftreiten möchte id fiir den Gang von der bildenden Kunſt zur Muſik, und von diejer zur Poefie dod) das geltend machen daß beide einander viel näher fliegen als jener. Das Wort ift artifulirter Laut, die Empfindung wird im Gedanfen felbftbewuft. Die Muſik als Runft gehirt erft der neueren Zeit an, und die Inſtrumentalmuſik in ihrer freien SGelb- ſtändigkeit, gefdhidtlid) das am ſpäteſten Ausgebildete, wird be- qrifflid) bet Weiffe das Erfte. Wollen wir einen Fortgang, fo iſt e6 der von ber Materie gum Geift. In der Architektur herrſcht die Maſſe, die fid) in der Sculptur fdon ins Enge zieht, die Maleret gibt nur den Schein der Körperlichkeit; die Muſik ftellt die Empfindung als folde im Wechſel der verhallenden Tine dar, der Poefie fann die innerlide Anfdjauung geniigen. So ſpricht fid) die jugendlide Menſchheit durch große Bauwerke aus, wie im Orient, in Aeghpten; es folgt die Gculptur in der grie- hifdh-rimifden Welt, die Malerei am Ende des Mittelalters, dann die Muſik als die Kunſt der durdgebildeten Gubjectivitit, und die Poefie als Kunſt des Geiftes fängt jetzt an die Herrfdaft gu gewinnen. Die bilbende Kunſt ijt friiher als die Mtufif, das Epos friiher als die Lyrif, fowie das Rind erft ein Bewuftfein von Gegenftiinden hat, ehe es Sd) fagt und die eigene Innerlich— feit erfaßt. Die Kunſt ijt das Werk des Geiſtes, der ſich in der Bewiltigung der Materie offenbart; die einzelnen Künſte find die Stufen ihrer Vergeiſtigung. Darum glaube ich mit der bilden- den Kunſt beginnen ju follen; daß die Poefie auf ideale Weije die vorhergehenden Künſte vereinigt, darin ftimmen wir iiberein; nad) meiner Unfidt aber fingt der Riinftlergeift nidt damit an daß er fein geftaltlojes Weben in der eigenen Innerlichkeit ausſpricht, fondern damit daß er diefelbe in Bildern der äußeren Anfdauung

624 III. Das Shine in der Kunft.

darthut; von hier aus gehen wir zum Ausdrud der Innerlichkeit de8 Gefiihles als foldjen fort, und gelangen endlich zur Beſtimmt— heit de8 Gedanfens, in welder die Poefie das Selbſtbewußtſein de8 Geiſtes und das Leben der Natur auf eine fowol ATRL als plaftifde Weije offenbart.

Friedrich Thierfd) Hat ſechs Künſte angenommen und fie in zwei Driaden geordnet, von denen die erfte mit dem Körper ded Menſchen, die andere mit irdijden, von unjerm eigenen Organis- mus unabbingigen Stoffen verfehrt; fo erhilt er auf der einen Seite Tonfunft, Poefie und Mimif, anf der andern Architeftur, Seulptur, Malerei. Aber die Malerei verfehrt nidt mehr mit irdiſchen Stoffen als die Snftrumentalmufif, und die Mimik geftaltet fiir das Auge wie die Plajtif. Weil die Mimik zugleich gu den fort{djreitenden, cine Lebensentwidelung veranſchaulichenden Künſten gehirt, will Zeijing in ifr die Ourddringung des raumpeitliden Seins erbliden, und fie jehr hoch ftellen; allein fie geniigt weder dem poetijden nod) dem plajtijden Sinne; fiir jenen zu diirftig, fiir dieſen gu flüchtig und zu idealititslos wird fie fiir fid) dod nur cin Unterhaltungs{piel, und bedarf der Anlehnung an Muſik und Didjtung, wo fie dann in die Reihe der Veranjdaulidungs- mittel diefer Riinfte tritt ohne cine felbjtindige Sdee auger oder neben ihnen darjzujtellen. Die ganze Thierſchiſche Cintheilung rubt auf dem Unterfdied der Darftellungsmittel der Kunſt; wir glaub- ten im Geift und in der Natur, in dem gu offenbarenden Inhalt und in den Formen des geijtig-finnliden Lebens den Grund der @liederung ſuchen zu follen.

Einen ahulidjen Weg hat Zeifing eingejdlagen. Gr faßt mit ung die Kunjt als die Production des Schönen um feiner felbft willen aus einem felbjtbewuften Geifte heraus; danad) bedarf fie einer den äußern Stoff geftaltenden Schinheitsidee und eines ju geftaltenden Stoffes; aus den Wtodificationen beider gilt es die hervorragenden gu erfennen. Zeiſing fegt mim als folde das Aeufere und das Innere, und beſtimmt fie näher als das im Raum Beharrende und als das in der Zeit Werdende; jenes das Sidtbare, diejes das Hirbare; die Verbindung des Räumlichen und Zeitliden erjdjeine in dem bewegten Körper. Danach ergibt fid) die Kunft der Bilder, der Tine und der Mimik. Nun ijt jede Kunſt eine gweite Weltſchöpfung aus dem menſchlichen Geijt, und allen Künſten die Rosmosidee gemeinjam. Hier unterſcheidet Zeiſing den Makrokosmos, den Mikrokosmos und die Entfaltung

2. Die Kunft: d. Die Gliederung der Kunft. 625

bes Mikrokosmos zum Mafrofosmos oder die Geſchichte; die Dar- jteflung will demnach das Weltfyjtem, den Menſchen, oder die Aufhebung des Menſchen und der Welt in Gott veranjdautliden. Als mafrofosmijde Künſte nun (mit Bezug auf Raum, Zeit und Körperbewegung) nennt er: Ardhiteftur, Mufif, Tanz; als mifro- kosmiſche: Plaftif, Gejang, Pantontimif; als geſchichtliche: Male— rei, Didtfunft, Sdhaufpielfunft. Oder wir haben mit Bezug auf Mafrofosmos, Mifrofosmos und Gejdhidjte dret bildende Künſte: Architettur, Geulptur, Malerei; dret tonifde: Bnftrumental- mufif, Gejang, Poefie; drei mimijde: Tanz, Pantomimik, Sdau- fpielfunft.

Es leudjtet dod) wol ein dak Hier die dritte Reihe, die eine Durddringung der erften und zweiten und damit das Hidfte fein jollte und in der That nennt Zeiſing die Schaufpielfunft das Centrum in weldem alle Künſte gufammenfliefen, und daher das Lewte und Höchſte! da diefe ganze Reihe vielmehr einen fehr untergeordneten Rang cinnimmt. Es fehlt die ideale Weihe, es fehit der eigenthitmlide Gedanfe und die originale Schöpferkraft. Der Tanz gehirt der LebenSfreude an, die fid) ſchön geftaltet nidt um cine Sdee gu verwirfliden in einem Werk, fondern jum Selbjtgenuffe des Augenblids. Er nimmt die Kunft der Muſik ju Hilfe um in ihr den künſtleriſchen Ausdruck der Stimmung ju vernehmen, die er im Spiele der Bewegungen ausprägt, um diefe PVewegungen gu leiten und ju harmonifiren. Da fteht der Tempel von Paftum, da die Heroica von Beethoven als Herrlide, den Geift erhebende, eine Idee veranfdaulidende Werke, und in cine Reihe mit ihnen, ja iiber fie tritt der flüchtige Walser cines Ballabends oder ein Opernballet, jener der Unterhaltung, dieſes dem Sinnenreize dienend. Mozart und eine Tänzerin, der Er- bauer des Kilner Ooms und cin Balletmeifter, dort der Genius und hier da8 Gewöhnliche werden gleidgeftellt. Der Mimik hab’ id) ſchon gedacht, dic Schauſpielkunſt verhalt ſich zur dramatifden Poeſie wie das Orcheſter zur Inſtrumentalmuſik, ſie iſt das Mittel ihrer vollen Verwirklichung, wodurch die Seele der Hand— lung ihren Leib und das Wort ſeinen ergreifenden Ausdruck findet. Ja wenn der Schauſpieler zugleich der Erfinder des Stücks wäre! Aber ſo iſt der Charakter vorgezeichnet von dem Dichter, und er hat ihn innerlich zu reproduciren und äußerlich zur Erſcheinung zu bringen wie der Virtuoſe die Tonſchöpfung des Componiſten. Das Werk der Kunſt iſt ein bleibendes und

Carriere, Aeſthetil. I. 3. Mull, 40

626 Il. Das Schöne in dev Kunft.

fein vergängliches; vergänglich aber find dieſe Leiſtungen alle, in denen Reifing das Letzte und Höchſte fieht; der Bildhauer, der Maler ſchafft der Sdee cinen idealen Leib, der Tinjer, der Mime ift an feine Naturgeftalt gebunden, fein eigener ſchon geformter Leib ift das Organ mit dem er wirft, nicht der Stoff den er formt. Tanz und Pantomime entbehren der Bdee oder find eine fehr unvol{fommene und verginglide Darftellung einer jolden, der Schaufpieler erhilt die Seele feines Werfes vom Didhter. Der Schaujpicler ſchließt fic) dienend und ausfiihrend der Didt- funjt an, und zieht dabei die Pantomime in fein Beretd), der Tan; ijt ein Ausdruck gefelliger Luft, und als folder aud von uns gewiirdigt worden.

Dammit fiele die dritte Reihe Reifing’s hinweg. Außerdem it es ungehirig Inftrumentalmufif, Gejang und Poefie zuſammen— zuftellen als tonifde Künſte, da die Boefie nidt den Laut als Empfindungsausdrud und um fein ſelbſt willen verwendet, jondern die Sprade als Ausdruck des Gedanfens zu ihrem Stoffe hat, wobei e8 weniger anf den Klang als auf die Bedeutung des Wortes anfommt. Die Didhtfunft verwirklicht fic) durch Tine, wie die Mufif, aber um Geftalten zu entwerfen gleid) der Plaſtik, jedod) fo daß fie nidt aus der Geftalt Bewegung und Charatter- entfaltung erſchließen (apt, fondern durd) die Schilderung der Thaten und die Entwidelung der Gefiihle und Gedanfen das Bild der Gejtalt uns vor die Seele ruft. Die Poefie ijt jenc Kunſt des fortidjreitenden Lebens anf der Bafis fefter Charaftere, ſodaß in ifr das Plajtijde und Muſikaliſche cinander durdjdringen. Behalten wir aljo unſere Oreithei{ung in bildende, tinende, dich— tende Runjt, fo gliedern fid) dieſe nad) dent Zeiſing'ſchen Gefidts- punfte des mafrofosmifden, mikrokosmiſchen und geſchichtlichen Yebens in folgende Gruppen: Ardhiteftur, Sculptur, Malerei; In— ftrumentalmufif, Gejang, BVerbindung beider in Oratorium und Oper; epijde, lyriſche, dramatijde Poefie.

Neuerdings rühmt fic) Schasler dic rechte Cintheilung gefun- den zu haber. Er wiederholt das von mir betonte Nebeneinander der räumlichen Erſcheinung und das Nadheinander der jcitliden Bewegung; danach entwideln ſich dic Künſte in paralleler Doppel- bewegung dort fiir das Auge, Hier fiir das Obr, als Architeftur, Plaſtik, Malerei, als Muſik, Tanz und Poefie. Der Tanz als Kunſt fürs Ohr und der Muſik und Poeſie gleichgeſtellt, das tt neu; ob es andy gut ijt?

2. Die Kunſt: d. Die Gliederung der Kunſt. 627

Unbedingt verneine id) mit Weife daß der ſchaffende Genius einen volleren Sdealgehalt im die cine oder die andere der Kunſt— formen lege, cine darum an Werth höher ftehe als die andere. Sede Kunft Hat ihre eigene Sphäre, in der es ify feine andere gleidjthut, gejdjweige guvorthut, in jeder waltet der ganze Geift. Mittels der Anſchauung erwedt die bildende Kunſt Gefiihle und Gedanfen, die Poefie in der Sprache des Gedanfens Anfdauungen und Empfindungen, die Muſik Anſchauungen und Gedanfen durd) die Tine als unmittelbare Stimme des Gefühls. Auch das Bild- und Dichtwerk entfpringt der fühlenden Seele des Riinjtlers und feiert in der fithlenden Seele de8 Beſchauers feine Auferftehung zur Schinheit, aud) die Muſik veranjdaulidt das Gemiithsleben, nidjt das gedanfenlofe, fondern das gedanfenreide, durd) dic Phan- taſie. So verwirklicdt fich der Begriff der Kunſt in jeder einzel— nen, jede ijt etwas in fic) Bollendetes; die Mannichfaltigkeit der Riinjte entſpricht der Mannichfaltigkeit des geijtigen und natiir- lichen Lebens, deſſen Harmonie in jeglider offenbar wird.

Drud von F. A. Brockhhaus in Leipzig.

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; und dic Ideale der cael a Von Moriz Carriere. Fünf Bände. 8. Geh. 56 M. Geb. 63 M. 50 M. “a i A Dieſes als eine rev werthvolljten Bereicherungen unferer Literatur ~ =e anerfannte und bereits in weiten Streijen verbreitete Werk, eine Ge— 4 ſchichte aller Künſte in ihrer Wechſelwirkung und ihrem Zuſammen⸗ a. haunge mit der Lebensentwickelung der Menſchheit, umfaßt fünf Barre, von denen die erſten vier in dritter, der fünfte in zweiter per

mehrter und neu durchgearbeiteter Auflage vorliegen. Den Be” Riinftler, Philoſophen, Sprache und Gejfchichtsforjder wie jedem Ge— . bildeten bietet es eine Fülle anregender Gedanfen und umfajjender Geſichtspunkte: denn es zeigt, wie die Stimmungen und Boeen ber Voöllker und Beitalter in Bauten und VBildwerfen, in Muſik und Poefie Form und Geftalt gewinnen, und betrachtet die Lunſtſchopfungen als Denkmale der Geſchichte des menſchlichen Geiſtes. _

Grifter Band. . 7%

Die Anfainge der Cultur und das orientalijfde —— in R Dichtung und Kunſt. Geh. 10 M. Geb. 11 M. 50 By. eligion, —J

—* Zweiter Band. Pe. Hellas und Rom in Religion und Weisheit, Dichtung umd Kunſt. Geb. 10M. F

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Vierter Band,

————— und Reformation in Bildung, Kunſt und Literatur. Geb. 12 DM. 5Opf. isi Liinfter Band, 4

Das Weltalter does or im Anigange. Literatur und § UND neunzehnten Jahrhundert. Geb. 11 M. Geb. 12

Seder Band wird gu dent bemerften Preiſe anh ef einzeln abge

Druck von F. A. Brothas in Q * *

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