VERSUCH EINER THEORIE DES

RELIGIOSEN WAHNSINNS

Karl Wilhelm Ideler

LIBRARY

OF THE

UNIVERSITY OF CALIFORNIA.

Class

te?

Werfuch ciner Theorie

des

religiöſen Wahnfinns.

Ein Beitrag

zur Kritik der religiöſen Wirren der Gegenwart

von

Dr. K. W. Ideler. if

FALIBRA OF TH—

| UNIVERSITY Un feinen Früchten follt ihr

ten Baum erfennen.

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Erſter Theil.

Die Erſcheinungen des religidfen Wahnfinnas.

Halle, ©. A Schwetſchke und Sohn.

1848,

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——

Inhalt.

Erſter Abſchnitt. Der religioſe Wahnſinn in ſeiner individuellen Erſcheinung.

Erſtes Kapitel. Der religiéfe Wahnfinn aus leldenfhattlider Liebe gu Gott.

§. 1. Mabhere Beftimmung des chengedachten Begriffs . §. 2. Antonius, Hilarion . ; ; ; . ; §. 3. Swedenborg ; '

§.

DP DOM

Po

4, Guyon, Bourignon

Zweites Kaypitel. Die Ehrfurdht vor dem géttlidhen Geſetz in ihrer leidenfhaftliden Steigerung.

5. Erläuterung des eben bezeichneten Begriffé

6. Die ubermafige Neue zines fchulbbeladenen Gewiffens

7. Leidenſchaftliche Steigerung der frommen Chrfurcht aus pathologifden der

8. Teufelswahn

Drittes Kapitel. Die Verbindung der übermäßigen Frimmigs feit mit andern Leidenſchaften.

9. Allgemeine Erlduterung des eben —— saciid

. 10, Religiöſer Hodmuth .

Seite 1

56 61 73 81

115

136. 146

Seite

§. 11. Beifpiele: Ezechiel Meth, Jacob Maylor und einige falfche Meffien . ? ; ; ; 153 .122. anatismus 159

. 13. Der dialektiſche deo ‘anati¢mus. nas von Loyola, Bouthillicr de Rancé ; ; 165 . 14. Rafender Fanatibmus. Die Manner der 5. Monat ie 174

§. 15. Die myſtiſch fromme Geſchlechtsliebe. Katharina von

Siena, Faqueline Brohon, Marie Alacoque 177

Viertes Kapitel.

Vernunftwidrige Handlungen als Wirfkungen des relig. Wabnfinns.

§. 16. Allgemeine Bemerfungen . ; . ; , 186 §. 17. Selbftverftiimmelung 188 §. 18. Gelbftfreujigung =. . ; ; : ; ; 193 §. 19. Mord. ° : ; ; ; 200 §. 20. Brandftiftung . ; ; P : ; 204

weiter Wbhfchnitt. Der religidfe Wahnſinn in feiner epidemifcen ; Verbreitung.

Fiinftes Kapitel. CTpidemie des frommen Wahnfinns aus ciner eins

fadhen Steigerung des religidfen Bewußtſeins. Die PrebigtfranEheit in Schweden.

- 21. Urfachlide Bedingungen derfelben. ; ; : ; 222 §. 22. Die Erfheinungen der Kranfheit . ; ; ; 226 §. 23. Urfprung, Berlauf und Ende der Epidemie . . . 237

Sehstes Kapitel. Epidemicen des frommen Wahns mit dem Charak— ter des Fanatismus.

Die Wiedertdufer im 16. Jahrhunderte. . 24. Allgemeine BemerEungen. . 249

é. 25. Urfprung und weitere Berseettuna Secte Wieders

Il. Die ruſſiſchen Schismatifer oder Raskolniks. §. 27. Charakter und fanatiſche Erceffe derfelben . . . 280

V

Siebentes Kapitel. Epidemieen des relig. Wahnſinns, welche aus fanatiſchen Verfolgungen hervorgingen.

I. Die erſten Quafer.

. 28. Allgemeine Bemerkungen.

. 29. Glaubensfase der Quäker : . ; : 293 * 3°. Urfprung, Verbreitung und Berfelguna bee Ouiferthums 298 Beifpiele von Wahnſinn unter den erften Oudfern . ; 308 . Der Aufruhr in den Cevennen. . 32. Hiftori en 318

§. 33. Die ————— der Cami 327

§. 34. Specielle urſachliche Bedingungen der Religionsſchwärme⸗ tei der Camiſarden 339

Achtes Kapitel. Epidemieen des religtéfen Wahnſinns in Non—

nenklöſtern. I. Teufelswahn dev Urſulinerinnen ju Aix in der Provence.

§. 35. Schilderung des Teufelswahns der Urfulinerinnen . . 356 §. 36. Der Procef des Priefters Gaufridi . ; . 361 Il. Die Befeffenen ju Loudun.

§. 37° Der Proceh des Urban Grandier , : 365 §..38. Das Befeffenfein der Urfulinerinnen in Goubun 372 §. 39, Weitere Verbreitung und Ende des Befeffenfeins ; 385

§. 40. Wahnfinn ciniger bei dem Proceß des Scaxitis Bez _ theiligten . ; : i P ; 389

Ill. Die Befeffenen su Louviers,

§. 41. Urfprung und Erſcheinungen des Befeffenfeins . : ; 396

§. 42. Fanatifche Verfolgungen, ju denen das Befeffenfein Vers anlaffung gab. ; ; ; , ; 417

1V. Ginige Eleinere Klofterepidemicen.

. 43. Das Befeffenfein der Nonnen ju Cambrai. ; 418

§. 44. CEpidemifcher Teufelswahn in dem Kloſter Uvertot in der Graffchaft Hoorn. : ; 418 §. 45. Teufelswahn im Klofter 5 Renterp im Cis , 420 §. 46. Teufelswahn im BrigittenElofter ju Lille . ; : 422 §. 47. Teufelswahn im Klofter der Benedictinerinnen r Madrid 429 §. 48. Teufelswahn in cinem Klofter ju Auronne —. . ; 431

§. 49. Epidemifches Katzengeheul in cinem Klofter in der Nabe

pon Paris. : F ; - F ; 433

VI

Neuutes Kapitel. Epidemieen des religiöſen Wahnſinns, welche i

durd cin Borherrfdhen ungeſtümer Muse (= bewequngen ausscidneten.

I. Die Convulfionairs in Paris.

. 0. Hiftorifhe Remerfungen , und Erſcheinungen der Gpibemic

1. Die Camp- Meetings der Methodiften. §. 52. des Methodismus =. , . : : 478

- Meetings ber Methodiften.

§. 55. Convulfionen in n der Methodiftentapelle * Redruth . ; 492

Zehntes Kapitel. Epidemice des religidfen Wahnfinns, weldhe

aus geiftiger und leiblicher Noth entfprangen. . 56, Die Flagellanten.

§. 57. Der Johannis- und der Beitotan; i ; ; 532

Gilftes Kapitel. Epidemic des celigidfen Wahnfinns bei Rindern.

§. 58. Die Kinderfahrten . ; ; : ; : 550

Verzeichniß der benugten Schriften,

(Adelung), Gefchichte der menſchlichen Narrheit, oder Lebensbeſchrei⸗ bungen beriihmter Schwarzkünſtler, Goldmacher, Leufelsbanner, Beis chens und iniendeuter, Schwärmer, Wahrfager und anderer pbhile- fophifchen Unholden. Leipzig 1785. in 8vo. 7 Bande.

Athanasii Opera. Parisiis 1627. Fol. Tom. Il.

Louis Blanc, histoire de la révolution francoise. Leipzig 1847. tom 1. in 8vo.

Belouino, des passions dans Icurs rapports avec la Religien etc. Paris 1844. in 8vo, 2 Bante.

Brierre de Boismont, des hallucinations ou histoire raisonnée des apparitions, visions, des songes, de l’extase, du magnétisme et du somnambulisme. Paris 1845. in 8vo.

Bruns, neues Repertorium fiir die theologifche Litteratur und Firdliche Statiſtik. 3. Theil. Berlin 1845. in Svo.

Calmeil, de la folie considerée sous le point de vuc pathologique, philosophique, historique et judiciaire depuis la renaissance des sciences en Kurope jusqu’au dix neuviéme siécle. Paris 1845. in Svo. 2 Bande.

Colloquia oder Tiſchreden und andere fehr erbauliche Gefprade des hoc etleuchteten Mannes Gottes, Dr. Martin Luthers. Leipzig 1700. Fol.

Gerardi Croesii historia quakeriana, Amstelodami 1695. in 8vo,

Dubois, tiber das Wefen und die griindlide Heilung der Hypodondrie und Hyſterie. Aus dem Franjéfifchen von Ideler. Berlin 1840. in Svo.

Einiges über die rufenden Stimmen oder die fogenannte Predigts Krank Heit in Smaland in den Jahren 1842—1843, Won einem Augens

. geugen. Aus dem Sehwedifchen. Leipzig 1843. in Svo.

Evans, a sketch of the denominations of the christian world.

13. edit, London 1814. in 8vo,

VIII

Sirfiemann, Verfud) einer Gefchichte der chriftliden Geißlergeſellſchaf⸗ ten. Im 3. Bande des Archivs fiir alte und neue Kirchengeſchicht von Stdudlin und Tzſchirner. Leipjig 1816. in 8v0.

Fuhrmann, Handworterbucdh der chriftliden Religions: und Kirchen— gefchicdte. Halle 1829. in 8vo. 3 Bande.

Giefeler, Lehrbuch der neueren Kirchengefdichte. Bonn 1840. in 8v0.

J. Girres, Emanucl Swedenborg, feine Vifionen und fein Verhältniß jur Kirche. Straßburg 1827. in svo.

Grégoire, histoire des sectes réligieuses. Nouvelle édition. Paris 1828. in 8vo. 4 Bände.

Haſe, Kirchengeſchichte. Leipzig 1844. 5. Auflage in 8v0.

(Hecquet), Le naturalisme des Convulsions dans les maladies de Yepidémie convulsionaire. Soleure (Paris) 1733. in 12mo. 3 Bande.

Scti Eusebii Hieronymi Stridensis Presbyteri Opera. Weronae 1735, Fol. Tom II.

J. § C. Heder, der ſchwarze Tod im vierjehnten Yahrhunderte. Bere lin 1832. in 8vo.

Pie Tanjwuth, cine Volksfrankhcit im Miéttelalter. Berlin 1832. in 8vo. ,

Kinderfahrten, cine hiftorifd) pathologifche Skizze. Berlin 1845. in 8vo,;

Historia Fanaticorum oder vollfommene Relation der Wiffenfchaft von den alten Anabaptifien und neuen Quäkern. Aus dem Engl. von Benedict Figen, Prediger in Danjig. Ohne Drucort 1701, Kol.

Horft, Damonomagie oder Gefchichte des Glaubens an Zauberei und daz monifche Wunder, mit befonderer Beriicfichtigung des Herenproceffes feit Den Seiten Jnnocentius VIII. Frankfurt a, M. 1818, in Svo. 2 Bande.

Ideler, Grundrif der Scelenheilfunde. Berlin 1835. in 8vo. 2 Bande.

iographicen Geiftesfranter in ihrer pfydologifchen Entwidelung dargeſtellt. Berlin 1841. in Svo.

Allgemeine Diätetik fiir Gebildete, wiſſenſchaftlich Gearbeitet. Halle 1846. in &vo.

Dev religidfe Wahnfinn, erlautert durch Krankengeſchichten. Halle 1846. in 8v0. : Juft. Kerner, Gefchichte Befeffener neuerer Zeit. Beobachtungen aus dem Gebiete kakodaͤmoniſch magnetiſcher Erfcheinungen. Karlsruhe

1834. in 8vo,

Martin Luthers reformatorifhhe Schriften, herausgegeben von OD. pon Gerlad. Berlin 1841. in 12m0. 10 Bande.

Marc, dic Geiftestrantheiten in Besiehung zur Rechtspflege. Aus dem Franz. von Dodeler. Berlin 1843. in 8vo. 2 Bande.

Ix

Macario, Etudes cliniques sur la démonomanie. In den Annales médico psycologiques. Paris. Sabrgang 1843. in 8vo.

Magazin für die Litteratur des Auslandes. Berlin. Fol. Band 2.

Moriz, Magazin zur Erfahrungsfeclenfunde. Berlin. in Svo.

Muller (Rector), Greuel der falſchen Meffien, wie aud Shasfammer des wahren Meffid. Ohne Drudort 1702. Fol.

Naſſe, Zeitſchrift fiir pſychiſche Aerzte. Leipzig 1818. in Svo. Band 1.

Meander, allgemeine Gefchichte der chriſtlichen Religion und Kirche. Hamburg 1825, in 8vo. Band 1,

Anabaptisticum et enthusiasticum Pantheon und Geiſtliches Rüſthauß wider die alten Quäcker und neuen Freigeifter. Ohne Drude rt 1702. Fo!.

Der neue Pitaval. Cine Sammlung der intereffanteften Criminalgefdich- ten aller Gander aus alterer und neuerer Beit. Herausgegeben von Dr. Hitzig und Dr. Haring. Leipjig 1844. in 8vo Band 6.

Reinhardt, Svftem der chriftlichen Moral. 2. Auflage. rey 1791. Band 1. in Svo.

Robertson, the history of the reign of the emperor Charles V. Basil 1788. in 8vo. 4 Bande.’

RK. von Rotted, allgemeine Gefchichte. Freiburg 1835, in Bvo. 11. Auflage. 3 Bande.

Schröch, chriftlihe Kirchengeſchichte ſeit der Reformation. Leipzig 187. in 8vo, Band 7 u. 8. Schubert, Gefdhidhte der menfcliden Secle. CSruttgart 1830. in Svo.

Soldan, Gefchidte der Herenproceffe. Aus den Quellen dargeftellt. Stuttgart 1843. in 8vo.

Sondén, Mémoire sur l’extase ¢pidémique qui régnoit en Suede en

1841 et 1842. Sn der Gazette médicale de Paris. Deuxiéme Serie. Tome 11. Année 1843. in 4to.

Joan. Wieri opera omnia. Amstelodami 1659. in 4to. J. von Weffenberg, über Schwärmerei. Hiftorifd) philoſophiſche Bez trachtungen mit Rückſicht auf die jebige Beit. Heilbronn 1835, inBvo.

Zeitſchrift Callgemcine) fiir Pfochiatrie, herausgegeben von Damerow Slemming und Roller. Berlin 1844, in 8vo.

Zimmermann, tiber die Cinfamfeit. 4 Bande. in Svo. allgemeine Rirchenjcitung. Jahrgang 1828. in 4to,

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Ginlcitung.

Es iſt des Menſchen ſtrenges Geſchick, daß er die theuerſten, heiligſten Guͤter im ſteten Kampfe mit mannigfachen Gefahren erringen und behaupten, ſelbſt das Leben in die Schanze ſchla— gen muß, um ſie gegen verderbliche Angriffe ſiegreich zu ver— theidigen. Denn jene Guͤter gruͤnden ſich nicht auf den aͤu— ßeren, materiellen Beſitz, zu deſſen Erwerbung und Erhaltung großentheils die phyſiſche Kraft ausreicht, ſondern ſie ſind aus— ſchließlich die Begabung eines in raſtloſer Entwickelung zur hoͤchſten Veredlung fortſchreitenden Bewußtſeins, welche nur durch das ſtaͤrkſte Aufgebot der geiſtigen Kraft zu Stande ge— bracht werden kann. Nie ſchlagen aber die Pulſe des Lebens maͤchtiger, als Angeſichts des nahen Todes, um die Kraft zu ſeiner Ueberwindung zu verleihen; nie ergluͤht die Liebe zu einem Kleinod heißer, als wenn ſie mit dem Verluſte deſſel— ben bedroht wird; nie erkennt der Menſch deutlicher ſeinen goͤttlichen Beruf zum Heldenmuthe fuͤr die Idee, als wenn er die Ueberzeugung von ihrer Nothwendigkeit gegen eine Welt des Wahns und der Finſterniß geltend machen, mit ſeinem Palladium triumphiren oder fallen muß.

Darum iſt das Menſchengeſchlecht ſiegreich hervorgegangen aus allen Niederlagen, daher kann ſeine Kraft, mit welcher er die Welt ſeiner Herrſchaft unterwerfen ſoll, gar nicht er— ſchoͤpft und zerſtoͤrt werden, weil das, wads thr Vernichtung bringen follte, gerade den entgegengefesten Erfolg hat, ihr Wirfen bis ins Unermefliche zu fteigern. Tritt demnad) der grundwefentlicje Unterfchied des Menſchen von allen anderen Geſchoͤpfen irgendwo deutlich hervor, fo beurfundet er fic) in

Ideler Theorie d. relig. Wahnſinné. 1

2 . ber welthiftorifchen Wahrheit, daß er im Miderftreit mit den duferen Elementen zur hoͤchſten Entwidelung gelangt, wab: rend jene nur in dem Maaße gedeihen, als lebtere ihnen guͤn— ftig find. Darin alfo offenbart fic) das ſchoͤpferiſche Vermoͤ— gen feiner Sdee, daß er fid) ihrer am ſtaͤrkſten bewuft wird, wenn fie ihm die Kraft verleiht, das Berftirte wieder herzu— ftellen, durch alle Verlufte reicer gu werden, weil diefe ihr eine immer grofiere Fille des Lebens entloden. Die Idee ift alfo der aus feiner Aſche in immer fchonerer Geftalt hervor: gehende Phoͤnix, und wer ſich threr als des herrfchenden Prin: cips ſeines Denfens und Wollens bemadhtigt hat, der fetert fchon diesfeits des Grabes feine Auferftehung zum ewigen Leben. Mur in diefer Bedeutung verftanden giebt die Weltge- fchichte einen rictigen Sinn, intem fie die innerfte Triebfeder erfennen (aft, welche alle ihre Greigniffe in Bewegung fest, und ihren Lauf jum Gipfel des goͤttlichen Bewußtſeins als der eigentlichen Beftimmung des Menſchengeſchlechts unaufhalt: fam fortfibrt. Wer jenen urfprimglichen Beweggrund als das x der algebraifdhen Gleichung des Lebens nicht finden fann, fir den miffen die zahlloſen Glieder deffelben als finnverwir- rende Dieroglyphen erfcheinen, mit denen ein graufames Ge: ſchick fein fataliftifehes Spiel getrieben habe, indem es das Menfchengefdleht im fdneidenden Widerfpruc mit der voll: fommenen Weltordnung, welde unter ewigen Gefeben in une wanbdelbarer Ucbereinftimmung mit fic) bebarrt, zur unaufhoͤr— lihen Selbftgerftirung verdamme. Denn nirgends bietet uns die Geſchichte das fchone Bild eines dauerhaften und harmo: niſchen Bundes der geiftigen Krafte bar, welche mit dem Fluch der Leidenfchaften behaftet in raftlofer Gabrung fid) aufreiben; faum find durd) irgend eine Madt die auf den Bod verfein: deten Partheiey zum Frieden geswungen, als fchon jede fid von neuem zum Kampfe riftet, bid ihre Krafte hinreichend ge: wadfen find, um mit Hoffnung auf Erfolg den gefchloffenen Vertrag auffindigen gu fonnen. Gleichwie es nach Hegel wenig in der Gefchichte giebt, was als voͤllig uͤberwunden an: gefehen werden Fann, eben fo hat noch keine Sdee eine folche Anerfennung erftritten, daß ihre Herrfchaft uber die Welt als vollig gefidert gelten dirfte. Es braudt daher nur irgend

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ein Gefchlecht in dem ſuͤßen Wahn eines unverduferliden Be: ſitzes feiner heiligften Guter feine ftreitgeriiftete Kraft zur Ver: theidigung Dderfelben erfchlaffen gu laffen, um ihrer ganzen Gr: rungenſchaft verluftig gu geben.

Wenn alfo der Pempel des Sanus in der ewigen Noma bed Menſchengeſchlechts nie auf die Dauner gefdloffen werden barf, wie foll, muß man fragen, in lester Bedeutung diefer ewige Kriegszuſtand auf Erden eine andere Ausficht in die Zukunft gewaͤhren, als cine unendliche Perfpective aller Greuel der Verwiiftung, won denen die Vergangenheit tbherfullt ift? Lohnt es ber Muͤhe, irgend eine Pflangung fiir die Segnun— gen des Friedens anjulegen, von welder nur die Thorheit hoffen fann, daß fie die nachften Stirme empérter Voͤlker iiberdauern werde? Aus welder Quelle follen wir alfo den Muth aud) nur zu einem Traum befferer Zeiten fchdpfen, nach: bem ibn alle bisherigen GEreigniffe Luͤgen geftraft haben? Bau: ſchen wir uns nur nicht mit gewiffen optimiftifden Orakeln, welche den baldigen Gintritt des taufendjabrigen Gottesreichs vorherverfiindigen; fo lange in ber Menfchenbruft die Leidenz fchaften toben, wird fic) der Krieg in immer erneueter Geftalt wiebderholen, und wenn arch vielleicht in der Folge der Ge: brauc der Kanonen abgefchafft, und die KRampfluft der Men: ſchen in fo weit gebandigt werden follte, daß fie fich nicht mehr wie wilde Bhiere gegenfeitig zerfleiſchen, fo wird dod der Streit der Sntereffen fortdauern, welder oft noch zerſtoͤ— rendere Elemente in fic birgt, als die offene Voͤlkerſchlacht. Wer die Leidenfchaften hinreichend kennt, um zu wiffen, daß fie aus allen Lebendverhaltniffen, ja aus dem Heiligften ihre Nahrung fdopfen, und dadurch ihre Herrfchaft befeftigen, ihre Kampfluft fteigern, und daß ihnen nod) nirgends ein ficherer Damm entaegengeftellt wird, der fann es fich leicht vorherfa: gen, daß erft eine fittlide Weltordnung, welche fic) nur in fernfter 3ufunft abnen, aber nicht vorberberechnen laͤßt, ibrem tyrannifchen Regimente ein Biel feben, und das Reid) des ewigen Friedens gruͤnden wird.

Im hoͤchſten Maaße ift das bisher Gefagte von der Entwidelung des religiifen Bewuftfeins giltig, in welchem fis) der Menſch zur Selbftanfchauung feines unmittelbar aus

1 *

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Gott entfprungenen, zur Aehnlichkeit mit Ihm berufenen, zur unendliden Vervollfommnung erfdaffenen Wefens verFlaren foll. Indem die Religion ihm im Evangelium die gottlice Urfunde feiner uͤberſchwenglichen Beftinmung ausftellt, und ihm daz burch die ewige Ceeligfeit verheift, deren Fille an Herrlicdfeit und Schinheit von feinem irdifehen Ginne faum in bdunflen Ahnungen empfunden werden fann, fpornt fie ihn gum raft: lofen Gifer im Ergreifen und Behaupten ſeines hoͤchſten Guts an. Damit nun jener Gifer nicht in der fatten Befriedigung finnlicher Wuͤnſche und felbftfiichtiger Intereſſen erkalte, fondern immer von neuem zum thatfraftigen Streben angefpornt werde, fo ſchließen die Verheifungen des Glaubens gugleid eine Menge von Gefahren in fid), ohne deren muthige Befampfung Nies mand der Segnungen der Religion theilhaftiq werden Fann. Daher haben Fabhrtaufende hindurch die in ihrem Namen an- gezettelten Kriege mit allen ihren unermefliden Screen ge: wiithet, um dem Menfchengefdhlecht die Urfunde des gottliden Gefeges im Evangelium als den Siegespreis ves Heldenmuths heilig und theuer gu machen; daber fann die Palme des Frie- dens im religidfen Bewuftfein nur nad harten Kampfen mit Glaubensyweifeln erftritten werden, in denen Alle rettungslos ju Grunde gehen, welche die durch fie Hervorgerufene Zwietracht des Gemuͤths nicht ſchlichten konnten; daher fihrt die Ent: wickelung ded religioͤſen Bewußtſeins ſogar oft durch die Ge— fahr der Geiſteszerruͤttung, damit der Menſch es erkennen lerne, daß das Heilige auch eine toͤdtende Kraft beſitzt, wenn mit deſſen Geſetz ſein Weſen im Widerſtreit ſteht.

Gs iſt immer der erſte Schritt zur Weisheit, mit uner— bittlicher Strenge und Folgerichtigkeit des Denkens jegliche Taͤu— ſchung zu zerſtoͤren, damit wir das wahre Lebensprincip nicht mit Trugbegriffen vertauſchen, um nicht aus letzteren falſche, verderbliche Geſetze abzuleiten. Wie theuer iſt es dem Men— ſchengeſchlecht zu ſtehen gekommen, daß es von dieſer einfachen Regel abwich, und ſich in ſeiner Bethoͤrung durch nichtige In— tereſſen zu einer falſchen Deutung des ungeſchriebenen goͤtt— lichen Geſetzes verleiten ließ! Denn ſelbſt das im Evange— lium offenbarte goͤttliche Geſetz iſt in einer ſolchen Allgemein— heit mißverſtanden, und durch beliebige Zuſaͤtze entſtellt wor—

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den, daß wenn uns jene gottliche Urfunde nicht in ihrer au- thentifden Geftalt erhalten geblieben ware, vom Chriftenthum felbft auf Erden wohl faum eine Spur anjutreffen fein wuͤrde. Daraus aft fic) nohl mit Buverlaffigfeit die Folgerung ablei- ten, daß aud in und felbft der Finger Gottes cin Gefes ge: ſchrieben habe, welches allererft gum deutlichen Bewuftfein fommen muf, ehe das Evangelium in feiner wabhren Bedeu- tung richtig verftanden werden fann, daß aber jenes Gefes in uns nod nicht aͤußerlich aufgefchricben fei, fondern von uns erſt erforfdt werden muf, damit wir gu derjenigen Erfenntnif unferer felbft gelangen, welde unfere geiftige Organifation mit dem Inhalte des Cvangeliums in die vollftandigfte Ueberein: ftimmung bringt. Daß die buchftablide Ancignung des Evan: geliums gu diefer Erkenntniß nicht fuͤhrt, wird dem nicht zwei— felhaft. fein, welder den unendlich grofen Unterfchied awifchen tem Geifte und dem Budftaben fennt. Man muß daber der Philofophie ihr gutes Recht unbenommen faffen, in unferm Bewuftfein das tiefverhillte gottlide Geſetz aufzuſuchen, um taffelbe im Lichte cer Wiffenfchaft gu entziffern. Wie fehr fie ſich dabei auch in Srrthiiniern verftridt haben mag, die Ueber— zeugung von der Nothwendigfeit ihrer Aufgabe hat fte nie verleugnet, daher fie fic) aud) nad) jedem miflungenen Ver— fuche. mit erneuectem Gifer ans Werk machte. Nur als ein folder Verſuch foll der Inhalt der folgenden Blatter gelten, dba eS cine wahnwitzige Germeffenheit verrathen wirde, ein Rathfel vollftandig lofen gu wollen, mit welchem bisher nod) das ganze Menſchengeſchlecht nidt gu Stande fommen fonnte. Natürlich kommt hierbet Alles auf das Princip der Forfdung an, und dod ift daffelbe einer fo unendlich verfchicdenen Auf— fafjung fabig, daß vielleicht Seder damit andere Begriffe ver: bindet. Da das Princip der Menfchenforfdung Fein anderes, alS die Sdee felbft fein Fann, fo braucht man fic) nur daran ju erinnern, daß letztere eben wegen ihred uͤberſchwenglichen Charafters von Feiner Begriffsformel umfchloffen, fondern daß fie nur mit der Vernunftanfchauung erfaft werden fann, weldye ihrerfeits in jedem Menfchen cin fo individuelles Geprage an: nimmt, daß die aus ihr abgeleiteten phifofophifchen Syfteme zahlloſe grundweſentliche Gerfchiedenheiten darbieten.

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Da alfo die Aufgabe in ihrer abftracten Allgemeinheit nod) nicht geldfet werden fonnte, das der menſchlichen Seele inwohnende goͤttliche Geſetz zur objectiven Erkenntniß zu brin- gen, und ſeine vollkommene Uebercinftinmung mit dem im Evangelium geoffenbarten goͤttlichen Gefewe gu erweifen; fo bie- tet fic) meined Erachtens fein (chidlicherer Weg dar, um uͤber— haupt in diefer fo widtigen Erkenntniß weiter ju kommen, als wenn Seder aus dem Mittelpunfte feineds Lebensberufs zu dem Bewußtſein des Gottlidhen im Menſchen gu gelangen ftrebt. G8 wird dabei nothwendig vorausgefebt, daß Jedem fein in: nerer Beruf zur Wahrheit geworden fei, d. h. daß er ſich firenge Rechenfdhaft dariiber abgelegt habe, wie der Geift fei- neS Wirfens nur dann eines frudtbringenden Gedeihens theil: haftig werden fann, wenn er fic) feine Aufgabe ald einen nothwendigen Beitrag gu der geiftig fittliden Vervollfommnung des Menfchengefchledts gedadht hat, und in bdiefem Sinne feine fpeciellen Swede verfolgt, welche auferdem ganz falſch verſtan— den werden, und gu den mannigfad(ten Mißgriffen verleiten mifjen. Denn gleidwie das koͤrperliche Leben aus dem Bue fammenwirfen der verfchiedenartigiten Organe entipringt, welche dabei einem gemeinfamen Geſetz unverbrichlid) treu bleiben muͤſſen, eben fo fpaltet fic das geiftige eben in eine Menge der verfchiedenartigften Sntereffen und Angelegenheiten, welde nur den gemeinfamen Zweck haben, das Gedeihen des Ganjen ju fordern, weldes nur gefdehen fann, wenn fie feinem oberften Gefebe unterworfen bleiben. Da nun Seder in feinem, einer fpeciellen Angelegenheit geweihten Berufe am leichteffen zur objectiven Erkenntniß der eigenthuͤmlichen Verhaͤltniſſe gelangt, unter denen die allgemeine Idee des Menſchenlebens im Be— reiche feines Wirkens fic) darftellt; fo ift ihm dadurch aud die giinftigfte Gelegenheit dargeboten, von feinem Standpunfte aus fic) jener Idee als des nothwendigen Princips und Ge- feged aller menſchlichen Beftrebungen gu bemadhtigen. Hier— durd) gewinnt er den grofen Vortheil, daß ihm die Idee nicht mehr in wager AUgemeinheit und fpeculativer WAbftraction, fon- dern als das objective Princip oder das urfachliche Element einer Reihe von Erſcheinungen entgegentritt, fo daß er fie leicht in pragmatiſche Begriffe verwandeln, naͤmlich aus ihr

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ood

praftifche Regeln fir den fpeciellen Lebenégebraud) ableiten Fann.

Zur Erlauterung diefer Sage mus id mir einige Bemer= fungen uber die Bedeutung erlauben, welde der Beruf ded pſychiſchen Arztes Hat. Seine Aufgabe ift feine andere, ald die Wiederherftellung eines vernunftgemaͤßen Bewuftfeins aus feinen Berrittungen durch die Leidenfchaften. Dieſer Zweck laft fid) auf feine andere Weife vollftandig erreichen, als in: dem die Seele einem Lauterungsproceffe unterworfen wird, in welchem fid) die angeftafhmte Sdee von ihrer Tribung und Verfaͤlſchung durch die Leidenfchaften befreit. Sie ſelbſt ift alfo in ber Geele des Geijtesfranfen nicht jerftort, nicht ein: mal ihrem innerften Wefen nad entartet, fondern fie hatte nur im Bewußtſein einen naturwidrigen Charafter angenom: men, und verleitet thn dadurch gu irrthimliden und verfebr: ten Beftrebungen, bei denen er ihr felbft getreu geblieben ju fein wabnt, weshalb er fic) oft mit der hodften Erbitterung gegen jeden Verſuch ftraubt, ihn uͤber feinen Srrthum ju ent: taͤuſchen, da er fit fiir vollig verniinftig halt. Gr Fann ja aud) nidt anders, da er das urfpriinglidhe Kennzeichen der Idee, namlid) das Streben nad) dem Unendliden in den uber: fcdhwengliden Bildern feiner maaflofen Lcidenfchaften wieder: findet; ja es ereignet fic) nicht felten, daß der Geiſteskranke in dem zuͤgelloſen Drange der ihn beherrſchenden Leidenfchaft erft wabrhaft fret, er felbft geworden gu fein glaubt, nachdem er fic) in gefunden Tagen unter den zahlloſen Beſchraͤnkungen des gefelligen Lebens dergeftalt gefeffelt, mit fic in Widerftreit verfegt fublte, daß er die laftigen Bande mit Abſcheu von fid abftreift, um erft gu fic) ſelbſt gu fommen. Alle Leidenſchaf— ten fcliefen daher dad urſpruͤngliche Wefen der Idee, nam: lid das Streben nach dem Unendlicen in fidh, und fie un- terfcheiden ſich nur dadurd von ihr, daß fie jenes Streben auf einen einfeitigen, untergeordneten Zweck, 3, B. der Liebe, Ehre, aͤußeren Freiheit, mit Zerſtoͤrung aller dbrigen nothwen— bigen Swede einfchranfen. Dadurch machen fie dad allfeitige Gedeihen des Lebens unmoͤglich, dagegen die urfpriinglide dee nad) allen dem Leben durch dad Naturgefes vorgefdriebenen Richtungen hin fic) thatkraftig gu entwideln, und dadurd) dem

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Gefammtftreben innere Uchereinftimmung, Vollftandigheit, Gleich- gewicht gu verleihen trachtet. Der Heilungsproceß der franfen Seele kommt daber nur durch den Kampf der allgemeinen Le- bengidee mit threr einfeitigen Geftaltung in den einzelnen Leis denfdhaften gu Gtande, und er fann nur dann einen glid: licen Ausgang nehmen, wenn das Bewußtſein jener Idee lebendig und ſtark genug geworden iff, um ihr Aftergebilde in einfeitiger Entartung dauerhaft gu befiegen. Die Seelen- heilfunde gewabhrt alfo recht eigentlid) die Anſchauung einer Geiſtesſchlacht, des unverfdhnliden Skteits der allgemeinen Idee mit. den von ihr abtruͤnnig gewordenen Leidenſchaften, und in: dem fie die hieraus nothwendig hervorgehenden Erſcheinungen und Wirfungen auf allgemeine Gefege und Bedingungen zu⸗ ruͤckfuͤhrt, geftaltet fie fid) zu einer Wiffenfdaft, welche im verjiingten Maafftabe alle Greigniffe der Weltgeſchichte in ihren urſachlichen Berhaltniffen zur Erfenntnif bringt. Muͤſſen wir naͤmlich lebtere in hicdfter Bedeutung die Darftellung des Ent: widelungsganges nennen, in welchem die dem Menfchen ein: geborene Idee fic gu immer freierer Herrfchaft und Geltung emporringt, indem fie in ftets erneuten Kampf gegen die fie parodirende Leidenfchaft tritt, fo hat die Gefdichte in fofern cine nahe Verwandtſchaft mit der Seelenheilfunde, als in bei— den die allgemeine Idee als Ecclesia militans ihren Sieg tiber die Leidenfchaften zu vollbringen ftrebt.

Wenn alfo der pfychifche Arzt durch feinen Beruf auf einen Standpunft geftellt wird, von weldem aus er einen Hellen Blick in die tiefften Gebheimniffe der Menſchenbruſt zu werfen vermag, in welder ihm die Rampfe der Idee unter den mannigfadften Erfcheinungsweifen entgegentreten; fo muf er fic) auch immer vertrauter mit dem Gedanfen machen, daß das Leben felbft in lebter Bedeutung fFeine andere Aufgabe hat, als jene unvermeidlicden Kaͤmpfe yu einem glicliden Ausgange zu fuhren, und daß er, fo viel an ihm liegt, die werfthatige Hand dazu bieten mus. Auferdem fieht er nur Bilder der Zerftirung und Verwuͤſtung um fic, und aus taͤglicher Anſchauung mit dem daͤmoniſchen Walten dev Leiden: fchaften vertraut, gewinnt er leicht die Ueberzeugung, daf die ſcheinbare Seelenruhe der Menfchen ein trigerifcher Waffenſtill—

fland bleibt, auf welchen leicht die argften Zerruͤttungen folgen fonnen, wenn jener §riede nicht durch die ftets bewaffnete Macht der in den Stiirmen der Leidenſchaft obfiegenden Vernunft ge- {hist wird, Denn die mildeften, beftgearteten Gemither fon: ‘nen in die verhecrendfte Empoͤrung gerathen, wenn ihre ſchwache Seite von einem furchtharen Ereigniß getroffen wird, und die Erfabrung lehrt, daß Fein Stand, fein Verhaͤltniß, fein Cha: rafter gegen den Wahnſinn vollig gefchist ift, wenn die hef— tigften Leidenſchaften Eingang in das unbewadhte Herz fanden. Das firenge Geſchick des Menſchen, wie id) es gu Anfang be: zeichnete, offenbart fid) daher dem pfychifchen Arzte in ſeiner furchtbaren Wahrheit, deren tiefere Erforfchung ihm nur die wefentlide Bedeutung feiner Aufgabe flar machen fann, und wenn er fid) mit ganzer Seele in fie hineingelebt hat, fo fin- det er eben bierin die ſtaͤrkſte Aufforderung, den Mathfeln des Menfchengefhledhts finnend nachzugehen, um in ihnen den Schlüͤſ— fel sur Deutung der Weltgeſchichte gu fuchen. Denn ihre tragi- ſchen Ereigniffe fommen ihm ja yur taͤglichen Anſchauung, und nicht darf er fic) auf ihre wiffenfchaftliche Erfldrung in beque- mer Mufie befchranfen, fondern er muß feine Erkenntniß fo- gleich) auf den Prifftein der praftifchen Anwendung bringen, durch welche ihr wabhrer oder falfder Gehalt febr bald an den Zag Fommt. Weiß qe daher den Vortheil feiner Stellung ge- horig gu benuben, fo erdffnet fid) ihm das Gebiet der ob- jectitven Menfdhenfenntnif, welche nur in fofern erlangt werden fann, als fic) ihre Ergebniffe aud) im handelnden Lez ben durch Erfuͤllung feiner nothwendigen Aufgaben bewaͤhren. Mach diefen fluchtigen AUndeutungen diirfen wir nun wohl cinen Blick auf den eigentlichen Inhalt diefer Schrift, auf den religiofen Wahnfinn werfen, um den Zweck derfelben beftimm: ter ins Auge gu faffen. Wir wuͤrden denfelben gaͤnzlich ver- fennen, wenn wir in jenem Wahn nur eine hochft untergeord- nete, von den allgemeinen Sntereffen abgeriffene Erſcheinung faben, welche unter dem eben fo feltenen als gufalligen 3u- fammentreffen ſehr verfchiedenartiger Bedingungen und bei fehr wenigen Sndividuen auftritt, und daber blos fir fie und ihre Angehdrigen, fo wie fix den mit ihrer Heilpflege beauftragten Arzt von Wichtigkeit fein koͤnnte. Wielmehr haben wir es Hier

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mit einem Greigni® gu thun, welches aus dem innerften Hei: ligthum der Seele, gendbrt durch ihr Hergzblut, entfpringt, und eben weil eS den ganzen Menfchen angeht, eine ber mannigz fachen Phafen darftellt, welche die edelfte Entwicelung ded Geiftes oft genug durchlauft, ja welded gerade dann in allen feinen Schrecken aquftritt, wenn die Beit den kuͤhnſten Auf: ſchwung gu den hoͤchſten 3weden nimmt. Denn die Erfah— rung aller Sabrhunderte hat es gelehrt, daß die Haufigkeit des frommen Wahns im geraden Verhaltniffe gu der Srarfe und Lebendigfeit der in einem Volke herrfchenden religiofen Erre— gung fteht, in welcher e6 den Antrieb gu feiner freieften Ver: edlung finden foll, Wenn Semand hierin einen verftedten Spott auf die heiligfte Angelegenheit argwohnen follte, fo er: innere ich ihn daran, daß dads Himmelslicht des Glaubens, ohne feinen goͤttlichen Urfprung nur einen Augenbli€ gu ver: leugnen, Doch die Flammen der* Religionsfriege und die gabl- lofen Scheiterhaufen entzundet hat, auf denen Snquifitoren und Herenridter Taufende von Schlachtopfern threr Wuth verbrann: ten. Giebt es wohl einen Bhoren, welcher die Gonne fir alle zerſtoͤrenden meteorologifchen Proceffe. verantwortlid macht, welche die von ibr audsftromenden Waͤrme- und Lichtftrablen erregen, ohne welche die ganze Erde in dem ewigen Polareife begraben fein witrde? Ebenſo erzeugt ere Sonne des Evan: geliums alle jene erfdittternden Umwaͤlzungen des Menſchen— geſchlechts, welches durch lebtere feine Entwidelung zu einem veredelten Dafein vollbringt, und ihre Schuld iff es nidt, wenn das von ihr audsftromende Lebenselement auf franfhaft ausgeartete Naturen trifft, welche fid) in ihm verzehren, an— ftatt in ihm ein frdbliches Gedeiben gu finden. Aber eben deShalb liegt es uns auch ob, die in letzteren ausgebrochenen Kranfheitsproceffe forgfaltig gu ftudiren, um eine gruͤndliche Grfenntnif davon gu erlangen, wie dad Gefaͤß nicht befchaf: fen fein foll, weldes das Evangelium in fic aufzunehmen beftimmt ift, damit der edle Wein nicht die alten Schlauce zerreiße, nachdem er ihren verdorbenen Snbalt in eine gerfto- rende Gabrung verfegt hat. Lehrt ferner die Erfahrung, daß die religivfen Wirren, an welden jedes gum Hoͤchſten aufſtre— bende BZeitalter laborirt, in fid) ſchon alle Elemente enthalten,

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welche im frommen Wahn nur zur hoͤchſten Ausbildung gelan— gen, ſo beſchraͤnkt ſich unſre Forſchung gar nicht mehr auf die einzelnen Ungluͤcklichen, welche wegen ihres frommen Rauſches von der Geſellſchaft als ſtoͤrend und ſchaͤdlich ausgeſchloſſen werden, ſondern ſie hat die Krankheit der Zeit ſelbſt zur Auf— gabe, von welcher ganz frei ſich zu wiſſen kaum einigen ſel— tenen Geiſtern beſchieden iſt. Denn wer hat nicht mit Glau— benszweifeln, mit dem Streit ſeines religioͤſen Bewußtſeins gegen die uͤbrigen Lebensintereſſen, mit allen hieraus nothwen— dig hervorgehenden Erſchuͤtterungen und ihren nachtheiligen Fol— gen zu kaͤmpfen?

Unſere Aufgabe wird ſich noch naͤher beſtimmen laſſen durch den aus der Pathologie entlehnten Begriff der Entwicke— lungskrankheiten. Unter letzteren verſtehen wir naͤmlich eine überaus zahlreiche Klaſſe der heftigſten, ungeftimften, und dem Anſchein nach gefaͤhrlichſten Krankheitserſcheinungen, welche allein darin ihren Grund finden, daß der nothwendige Entwickelungs— proceß des Lebens auf mannigfache Hinderniſſe in den von ihrer natuͤrlichen Beſchaffenheit abgewichenen Organen trifft, und dieſelben durch hochgeſteigerte Anſtrengungen aller Kraͤfte hinwegraͤumen muß, wenn er nicht in Stocken gerathen, und durch voͤllige Verkummerung zu Grunde gehen ſoll. Die hiers aus unvermeidlich entſpringenden Kaͤmpfe und Stoͤrungen in der Lebensthaͤtigkeit haben daher ihrem Weſen nach eine heil— ſame Bedeutung, welche ſich auffallend dadurch zu erkennen giebt, daß fie meiſtentheils eine guͤnſige Wendung nehmen, und dann eine vollſtaͤndige Ausbildung der koͤrperlichen Orga— niſation zur Folge haben, wenn der Arzt ſich jedes gewaltſam eingreifenden Verfahrens enthaͤlt, und mit weiſer Vorſicht den Beſtrebungen der Natur zu Huͤlfe kommt. Dagegen tritt un— vermeidlich ein verderblicher Ausgang ein, wenn er verblendet in den ſtuͤrmiſchen Aufregungen nur zerſtoͤrende RKranfheits-* proceſſe ſieht, welche er gewaltſam unterdriden zu mifjen glaubt. Grwagen wir nun, daß jedes Volk eine Menge von Fndividuen in fic) begreift, welche feiner Wohlfahrt durch Leis denfchaften den groften Abbruch thun, fo begreift eS fic) leicht, daß fein Gefammtleben wabhrend der nothwendig eintretenden Entwidelungéphafen gan; eben fo von Frankhaften Erſchüͤtte—

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rungen. heimgefucht werden muß, wie wir fie eben in for perlicher Beziehung kennen gelernt haben. Niemand wird deshalb behaupten wollen, daß das ganze Golf feiner Schwa— chen und Bethorten willen in feiner fortfchreitenden Ausbil— bung juriidgehalten werden miffe, bei welcher fie zu leiden haben wuͤrden. Sede Entwidelung des focialen Lebens ift cine unbedingte Naturnothwendigfeit, welche ſich durch alle Hinderniffe unaufhaltfam Bahn brechen muß, wenn das tn fener innerften Tiefe maͤchtig aufgeregte, nach einer neuen organiſchen Geftaltung feiner Grundverhaltniffe ringende Vols: thum in Uebereinftimmung mit fich bleiben, nicht im Wider: ſpruch mit feinem Wefen einer feft gegrimbdeten Griffen; ver- luftig gehen foll. Die Gefchichte lehrt es, welche heillofe Folgen jede gewaltfame Unterdriidung der zur Nothwendigfeit gewordenen Entwidelungsbeftrebungen eines Volks nothwendig nach fid) zieht. Denn daß unfer deutſches Vaterland Jahr— hunderte lang in einem focialen und politifden Scheintode ſchmachtete, findet vornamlid) darin feinen Grund, daß feine madtigen reformatoriſchen Anftrengungen im 16. Gahrhunderte turd) die fanatifchen Gieuel der Hierarchie beinahe bis zur Vernichtung niedergefampft wurden, unter dem Vorwande, daß diefelben mit dem Ghriftenthum in Widerftreit getreten feien, da allerdings ihre urſpruͤngliche Reinheit durch die Cin: miſchung weltlider Leibenfchaften ſehr getribt worden war. Auf welder Hohe der geiftig ſittlichen Cultur, der politifchen Kraft nach aufen, dek organiſchen Durchbiloung nach innen gu jeglicher Tuͤchtigkeit wuͤrde unfer theures Vaterland ftehen, wenn nicht fein innerftes Lebensprincip, welches in der Refor- mation jum freien Selbftbewufitfein zu gelangen ftrebte, fo todtlicdy getroffen worden ware, daß nicht weniger als drei Sahrhunderte mit ihren namenlofen Drangfalen erforderlid waren, um es wieder zur frifchen Thatigkcit aufzyrufen. Da» mit uns night wieder eine aͤhnliche Schmach treffe, und uns inmitten aller vorwarts ftrebenden Golfer der politiſchen und focialen Gernichtung preis gebe, muͤſſen wir den Charafter unfrer dermaligen Entwidlunggepoche forgfaltig ftudiren, um den in ihr waltenden madtigen Geift in feinem fchopferifchen Wirken nad allen Kraften gu fordern, nidt aber ibn zu

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bampfen, indem wir ihn wegen feiner Verirrungen, in denen er immer nod feinem urfprimgliden Gefes treu geblicben iſt fiir einen boͤſen Damon halten.

G8 laͤßt ſich leicht darthun, daß jedes Entwidelungsftreben eineS Volkes mit feinem innerften Wefen. das religidfe Princip in fic) feblieBen muf, wenn dadurd) eine hoͤhere Stufe der gei: fig fittliden Cultur erreicht, und auf ihr die fociale und poli- tiſche Wohlfahrt in unwandelbarer Dauer feftgeftellt werden fol. Wie wenig fic) irgend ein anderer Grundgedanfe dazu eignet, die Voͤlker ihrer wahren Beftimmung entgegenzufuͤhren, und ihnen durch Erfillung derfelben eine unerſchuͤtterliche Selbſt— fidndigfeit gu verleiben, fehen wir auffallend an den Griechen und Roͤmern beffatigt, welche mit ihrer gefammten Anſchauung und Denkweife im Kreife realer, irdifcher Gerhaltniffe befangen, dem Grundtriebe ber Menfchennatur nach unendlicher Entwide- lung nur dadurd Folge leiften fonnten, daß fie um den Preis der focialen und politifchen Freiheit rangen, welche fie auch, wenn gleid) nur auf kurze Beit, im allerreichften Maaße fid erwatben. Indeß jene Freiheit bildet nicht das Urelement. ded menfhlichen Strebens, und Fann ihm daber auch feine dDauernde Befriedigung gewabhren, welde nur im Gebiete der geiftig fitt- lichen Freiheit gerwonnen werden fann. Wenn dabher die Noth- wenbdigfeit der lebteren nidt gum Bewußtſein gelangt, um der erfteren ihr ftrenges Maaß vorzuſchreiben, fo muf diefe unauf: baltfam in die maaflofen Leidenfchaften der Selbftfucht ausar: ten, Daher denn aud) ſaͤmmtliche Volfer des AUlterthums in end- lofen Kriegen der Ehr-, Herrſch-, Gewinn- und Genuffuche ſich bis auf die letzten Refte gegenfeitig vertilgten, und deshalb fpurlos aus der Geſchichte verſchwunden find *).

*) Mit Obigem fteht nicht im Geringften im Widerfprud, was id in meiner Diätetik sum Preife der Lebensvirtuofitdt der alten Griedhen, namentlid) der Athenienfer gefagt habe. Jn foweit die Lebensaufgabe durch die Didteti€ geléfet werden fann, Hatten fie cine fo Hohe Stufe der Vortrefflichkeit erftiegen, daß fie uns hierin noch auf lange Beit uncrreichte Muſter bleiben werden, Gerade weil fie das finnlide Leben zu einer folchen Stufe der Kraftfülle ausgebildet Hatten, und hierin cing volle Befricdiguag threes Selbſtbewußtſeins fanden, mußte

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Schon inmitten der Triumphe, burch welche die alten Heldeh ihre Siege fiir das Volk verherrlichten, machte fid ein ungeftilltes Beduͤrfniß fuͤhlbar, denn anftatt aus dem da: durch gewedten ftoljen Selbftgefiihl die edlere Freude und Be— friedigung einer erreichten Beſtimmung gu ſchoͤpfen, beraufdte fid) in ihnen das Golf wie aus einem Taumelkelche gu wile den, vergehrenden Begierden, in denen es feine Befonnenheit fo ganglid) cinbifte, daß ſchon die alten Philofophen dafuͤr den richtigen WAusdrud in den Worten fanden: Quos perdere Jupiter vult, eos prius dementat. Moc) viel groper wurde die Sehnfudt nad einer Erlofung aus dem Blendwerk einer wefenlofen Freiheit tn ben fpateren Jahrhunderten des Flaffi- fchen Alterthums, welches den letzten Act feines tragiſchen Dra- mas nad Siegedjubel mit dem Wehgeſchrei toͤdtlicher Bers zweiflung ſchloß. Denn die Herrlidfeit der Heldenjahrhunderte war mit ihren Drophaen in Trimmer 3erfallen, unter denen nur nod) ein ganglic) entartetes, halb blodfinnig gewordenes Gefchlecht haufete, welches felbft die Fahigfeit einer Wiederge- burt zu einer reineren tind edleren Freiheit, ald felbft ihre hochherzigen Stammaltern geabnt hatten, vollig ermangelte, da- her denn aud) das Ghriftenthum, faſt wie Diogenes mit der Laterne, im weiten rdmifchen Reiche umberwandern mufte, um die wenigen unverdorbencn Menſchen aufzuſuchen, welche fei ner gottlidben Lehre cin empfanglices Gemuͤth bereitwillig erdffneten. Ulfo mit dem Urfprunge ded Chriftenthums feierte das Menſchengeſchlecht feine Erlofung aus der finnliden Bez fhranfung des Berwuftfein’ auf die irdiſchen Berhaltniffe, welche felbft in ihrer hichften Durdbildung zu den vollfom- menften Formen des focialen Organismus feine Sehnfucht nicht befriedigen fonnten. Diefe von Wenigen begonnene neue welt: hiftorifhe Entwickelung des Menfchengefchlechts fonnte Anfangs nur in leifen, oft gewaltfam unterdridten Regungen fid be: urfunden; aber das Princip derfelben, gegeben in unmittelba- ter und vollfidndiger Offenbarung des gottlidjen Gefebes, war

bei ihnen das religiöſe Bewußtſein juriidtreten, Baber denn legtercs den weltlichen Leidenfchaften und der durch fie bewirkten Zerſtörung des Volferhums keinen Damm entgegenfesen Founte.

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in die wirflide Grfcheinung getreten, um alle fommenden Gefclechter zu durchdringen, und durd die hichite Vervollfomme nung ihrer urfpriinglichen Beftimmung entgegengufiihren. Seit— dem ift jenes Bilbungsprincip in immer weiteren Kreifen thatig geblieben, immer mehr bat ¢3 alle 3Zuftande und Berhaltniffe durddrungen, und alle welthiftorifdhen Enwickelungsſtufen feit feinem Urfprunge find ihrer wefentlichen Bedeutung nach nur dann 3u verftehen, wenn man dad pfychologifche Verhaͤltniß, in weldem da8 Princip des Chriftenthums gu der jedesmaligen Gulturftufe der Voͤlker ftand, fcarf ins Auge faft, um fid Rechenſchaft daruͤber ablegen zu fonnen, wie durch) lebtere je nes Vildungsprincip in feinem Wirfen mannigfad) gehemmt werden mufte,. und daher bis auf den heutigen Zag nod nicht gu einer, feiner inneren Wahrheit vdllig entfpredenden allgemeinen Darftellung hat gelangen fonnen. | G8 fonnte mir in diefen einleitenden Betrachtungen nur auf die allgemeine Andeutung anfommen, daß bas Studiunr deS frommen Wahnſinns in der jebigen reformatorifchen Beit die hichfte Michtigfeit in Anfprud nimmt, weil fie den Cha: rafter der religidfen Entwidelung an fic) tragt, deren madi ger Geift manches ſchwache Gefaͤß jzerfprengen, und deshalb in feinem fchopferifdhen Wirfen von vielen Krankheitserſchei— nungen begleitet fein muß. Lebtere find aber vorzugsweiſe geeignet, die Mifverhaltniffe gur Flaren Anſchauung und deut- lichen Erfenntnif zu bringen, mit denen er in den Gemuͤthern su fampfen hat, und welche daher hinweggeraumt werden miffen, wenn fein Walten den Voͤlkern alle Segnungen brin- gen foll, welche er ihnen verheißt. Es wird fic) in der Folge sur Gewifibeit erheben laffen, daß jene Mifverhaltniffe bei den Wahnſinnigen nur im groften Maafiftabe angetroffen werden, daß fie aber im geringeren oder griferen Grade mit der Sn: dividualitat eines Jeden verwebt fein finnen, um feiner freien Gultur im religidfen Sinne die mannigfadften Hindernifie ents gegenjzuftellen. Jene Mipverhaltniffe, welche unmittelbar in den religidfen Wirren zur Erſcheinung fommen, und ihnen ein fo gefabrdrohendes Anfehen in den Augen derjenigen geben, welde nicht an ein fortſchreitendes Gedeihen des Volkslebens glauben, entfpringen vorndmlid) aus zwei Quellen, welche wir

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um -fo forgfaltiger inS Auge gu faffen haben, je mehr Auf: flarung uber fie das Studium des religiofen Wahnſinns ge— ben fann, obne weldje es niemals gelingen wird, fie vollig zu verftopfen, und das aus ihnen entfpringende Unbeil gu befeitigen.

Die erfte diefer Quellen iff in dem uͤberſinnlichen Cha- rafter des religidfen Bewuftfeins enthalten, weldes den Men— fen in eine unſichtbare Welt verſetzt, in welcher er ſich nicht mit den aus der Erfahrung gefchopften, ftreng objectiven Er— fenntniffen jurecht finden kann. Mod ift es Feiner Neligions- philofophie gelungen, den Glaubensfaben die Form ftrenger Beweife zu geben, und dadurd) das Denfen gu ihrer Aner- fenniing aus innerer Ueberzeugung gu nothigen; jede Dogma: tif fann alfo nur als der Verſuch gelten, dem Beduͤrfmiß der Vernunft nad Ergriindung ihrer drei widhtigften Probleme: Gott, Freiheit und Unfterblidfeit, Befriedigung gu verſchaffen. Die nach allen Richtungen auseinander weichenden Wege, welche die Gernunft sur Grreichung dieſes Ziels eingefchlagen hat, liefern den Beweis, daß fie felbft, wenn aud) allgemeinften Denkgefesen unterworfen, voc) faft bei jedem Menfchen eines andern Verfahrens fic bedient, welded fid) nad) der Eigen— thiimlichfeit feiner geiftigen Organifation ridtet, daß alfo cine Vereinigung der dogmatifdhen Anfichten gu den unmoͤglichſten Dingen in der Welt gehort. Wer fich alfo. durd ein unab- weisbares Beduͤrfniß angetrieben fibhlt, feinen Glauben zu be: ftimmten Begriffen- gu geftalten, und dod) nicht eine hinreichende Klarheit, Scarfe, Folgerichtigfeit und Energie des Geiftes be: fist, um mit dieſer fchwierigften Aufgabe des Denkens gli: lid) gu Stande gu fommen, der ftiirgt faft unvermeidlic in das Heer der Glaubenszweifel, welche er durch feine Erfahrungs: begriffe ſchlichten, durd) fein forgfaltiges Studium dogmatiſcher Schriften aufflaren fann; vielmehr begegnet es ihm oft genug, daf er immer tiefer in Widerſpruͤche fic). verftridt, je eifriger er an ihrer UAusgleichung arbeitet. Wie viele edle Naturen, deren Gemith heifer, als ihr Kopf hell war, find in diefem unfeeligen Kampfe ju Grunde gegangen, gumal wenn Glau: benSftreitigfciten in aufgeregten Zeiten den Charakter ter leis denfchaftlichen Erbitterung annehmen, mit twvelcher jede Parthei

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die Gegner aus dev Ueberzeugung verdammt, daß nur ibre cigetten Befenntnifformein den Weg zur ewigen Ceeligfeit babnen. Wenn man erwagt, welche wahnfinnige Monftrofi: taten de5 fubjectiven Glaubens Sahrhunderte hindurch fic mit Feuer und Schwert bewaffneten, um fic) als allein feeligma: chende Lehre dem ganzen Menſchengeſchlechte unter Baunftrahlen und Verheerungen aufzuzwingen, fo moͤchte man firdten, daß ber alte Flud, den Main durch Brudermord auf die Erde herabrief, fic) auf alle fommenden Zeiten vererbt habe. Denn find alle ReligionSfriege etwas Anderes, als die endlofe Kort: febung jenes FrevelS, in welchem jener Argliftige feinen from: meren Bruder erfehlug, damit deffen Gott wobhlgefalliges Opfer nicht fein eigenntibiges des beften Preifed beraube? Steigern fid) die Glaubenssweifel, wie dies fo oft gefdieht, bis zum wirfliden Wabhnfinn, dann dringt fic) dem Beobadhter die Ueberzeugung auf, daf der Seelenfriede niemal3 auf dauerhafter Grundlage durd) Symbole befeftigt werden fann, welche viel mebr denfelben um fo tiefer erfchuttern, je mebr fie fic) in unaufloͤslichen Widerftreit mit der Vernunft verftriden, welche der Menſch auch im frommften Gifer nidt gum Schweigen brin- gen fann, wofttr die barten Geelenfampfe der ftarfften Glau- benShelden den Beweis fuͤhren. Und forſcht man weiter dem Urfprunge diefer furchtbaren Drangfale nad, fo fann er nur darin gefunden werden, daß das religiofe Bewuftfein die prak— tifhe Grundlage des Chriftenthums, in welder feine ftarfen Wurzeln durch ftrenge Pflichterfiillung fic) ausbreiten follen, perlaffen und fic) dadurch feiner gefunden Nahrung beraubt bat, um [odsgeriffen von feinem natuͤrlichen Boden im Gebiete haltungslofer Speculationen durch unfruchtbare Anftvengungen fid) zu verzehren. Wer nicht vor Allem durch thatkraftigen Gehorfam gegen die im Cvangelium verfindeten Gebote fic Charafterftarfe und Selbſtbeherrſchung in Ueberwindung aller Leidenfchaften errungen hat, um den endlofen Widerftreit der Gefiihle zu bampfen, der wird von letzteren unvermeidlich in dem Gebiet muͤßiger Speculationen geplagt, wo fie ihm bald den flaren Blick triben, und ibn mit den Wahnbildern einer erhitzten Phantafie bethdten. Denn die ganze Macht des reli: gidfen Bewußtſeins, wenn fie nicht mehr von thatkraftiger Be- Soeler Theorie d. relig. Wahnſinns. 2

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fonnenheit gestigelt wird, muf in die heftigſten Gefuͤhlsaufwal— lungen ausbrechen, und mehr bedarf e8 nicht, um da8 durch fie erfchiitterte Gemith mit den Viſionen einer erzuͤrnten Gott- beit, mit Teufelserſcheinungen zu angftigen, und in tmmer tiefere Berrittung ju ſtuͤrzen. Diefe Erfahrungsfage, welche fic) dem pfydifchen Arzte oft genug beftatigen, koͤnnen von feinem Dogmatifer entfraftet werden, und fie gewabren den unendlichen Vortheil, daß fie uns auf das Gebiet der objecti- ven Wahrheit leiten, welche uns den ficherften Raaßſtab zur Prufung ſubjectiver Satzungen darbietet.

Es ereignet ſich naͤmlich immerfort bei den religioͤſen Streitigkeiten, daß jede Parthei die Schwaͤchen der Gegner richtig erkennt, und ſich nur uͤber die eigenen verblendet. Da aber die angegriffene Parthei es nicht an Retorſionen fehlen laͤßt, ſo geldngen im Wettkampf der Meinungen die wichtig— ſten Wahrheiten nicht zur vollen Geltung, werden vielmehr durch entſtellende Zuſaͤtze ihrer wahren Bedeutung beraubt. Die Dogmatiker z. B. werfen den Pietiſten ihre, aus uͤbertriebenen Andachtsuͤbungen entſpringende Gefuͤhlsſchwaͤrmerei und deren verderbliche Folgen vor; letztere ihrerſeits bleiben ihnen die Anklage nicht ſchuldig, daß in abſtracten Denkuͤbungen nur allzuleicht die Lebenswaͤrme des Gemuͤths erkaltet, und die religidfe Angelegenheit oft in dialektiſche Wortgefechte verkehrt wird, wobei es ſich zuletzt weit mehr um die fyllegiftifce Form, als um die Sache ſelbſt handelt. So lange aber im erbitterten Streit Niemand dem Gegner Gerechtigkeit wieder— fahren laͤßt, ſondern deſſen Denkweiſe und Geſinnung in Pauſch und Bogen verworfen wird, ſo lange muͤſſen auch die Grund— ſaͤtze in ſchroffe Extreme aus einander fahren. Wie waͤre wohl aus dieſer endloſen Fehde, bei welcher Jeder mit ſeinem gan— zen Seelenheil betheiligt iſt, ein ſicherer Ausweg zu finden, wenn uns nicht die goldene Regel des Erloͤſers leitete: an ſeinen Fridten ſollt Ihr den Baum erkennen. Mun wohl, die Früuͤchte des entarteten Glaubens find es, welche in Irrenhaͤuſern zur Prifung des letzteren dargeboten werden, wobei es ſich nicht um Bekenntnißformeln, fondern um die objective, thatfaͤchliche Erforſchung ser Natur des religidfen Bewußtſeins handelt. Denn vie Entwidelung deffelben iff

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ein beftimmter pſychologiſcher Proceß, welder an eigenthuͤmliche Gefebe und Bedingungen gebunden, nur in Uebereinftimmung mit ihnen gu einem beilbringenden Gedeihen gelangen fann; diefe Bedingungen und Geſetze miffen alfo erforfcht werden, um aus ibrer Nichterfiillung die wahnwibigen Gebrechen des verftorten religidfen Bewußtſeins gu erflaren. Diefe Aufgabe wirde mit unaufldsliden Schwierigfeiten verbunbden fein, wenn nicht die Welt= und Mirchengefchichte fo unzaͤhlige Thatſachen der religidfen Verirrungen darbote, daß man bdiefe nur in hinreichender Menge gu ſammeln braudt, um auf dem befann: ten inductiven Wege der empirifchen Forfchung zu ihrer wif- fenfcbaftlichen Ueberficht, und durch diefe gu ibrer praftifcen Grfenntnif zu gelangen. Wer fic) die Noth der Glaubens: sweifel recht gu Herzen genommen hat, Fann den Vortheil nidt hoch genug anfdlagen, einen Standpunkt der objectiven Wahrheit aufzufinden, auf welchem der Ctreit der in ihnen fampfenden Elemente mit Sicherheit gefchlichtet wird, welded inmitten der dogmatifden Gontroverfe niemals moͤglich wurde. Mie fehr alfo aud) das religidfe Bewufitfein einer uͤberſinn— lichen Welt fic) zuwendet, wo ihm die Bahn feiner Entwice: lung niemalS mit Zuverlaffigfeit vorgeseidynet werden fann; fo wenbdet es dod) in feiner pfychologifchen Begruͤndung der Forſchung eine Seite der pofitiven Betrachtung dar, auf wel: cher man in fein innerftes Heiligthum eindringen, und ihm eine gegen alle Gerirrungen ſchuͤtzende Pflege angedeihen laffen Fann.

Wir wollen zur Erlauterung des eben Gefagten ein dog: matiſches Problem betrachten, welches bis auf den heutigen Zag nod) nicht durch endlofe Gontroverfen aufgeldft worden _ ift, namlich die Lehre vom Teufel. Wer diefelbe in der Mufe des Stubdirzimmers bearbeitet, findet an ihr eine, vortreffliche Gelegenheit, feine Gelehrfamfeit, feine orthodore oder rationa: liſtiſche Denfweife, feinen dialektiſchen Scharfſinn glaͤnzen zu laſſen, unbekuͤmmert um die praktiſchen Folgen, welche ſich aus dem Geltendmachen ſeiner Anſichten ergeben werden. Denn wer berechnet wohl je die Wirkung, welche eine wiſſenſchaft— liche Lehre im Leben hervorbringen wird, wenn er an ſie ſein ganzes Denken geſetzt, und ſich daher mit der tiefen Ueber—

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xeugung von ihrer Wahrheit durchdrungen hat? Sehen wir uns nun in der Weltgeſchichte nad) der praktiſchen Bedeutung der Teufelslehre um; fo erbliden wir eine Meihe von Jahr— hunderten hindurch in allen Landern Curopas flammende Scheiterhaufen, auf denen zahlloſe Opfer einer infernatifchen Juſtiz die endlidhe Befreiung aus den Folterfammern der Snguifition fanden; wir erfennen, daß die Herenproceffe ein wahres Pandamonium croffneten, aus welchem religidfe Ber: folgungswuth, Vernichtung aller Rechte, Berrittung zahlloſer Familien, ja ganzer Lander, alle Grauel des finfterften Aber: glaubens wie Furien der Hille auf das Menfchengefchlecht einftirmten. Mod) heute qualen fid) unzaͤhlige Gemitther, ‘welche jenem Wahn zum Raube wurden, in finfterer Wer: zweiflung ju Vode, und wer taglider Augenzeuge ihrer namen: lofen Seiden ift, hat ein vollguͤltiges Recht, ja die Verpflichtung, den Dogmatifern, welche flr die Exiſtenz des Teufels eifern, die Frage vorjzulegen, vob fie auch bedachten, was fie thun, ob fie je thre Lehre nach den Fruͤchten geprift haben. Wie iſt eS moglidh, wenn man mit dem Damonenglauben nicht ein mupiges Spiel fpeculativer Wortgefechte fuͤhrt, fondern ihn in eine praftifche Lehre verwandelt, auc nur einen Augenblic den Frieden bes Herzens zu bewahren, in welchem fich oft genug tadelnéwerthe Neigungen durchkreuzen, durch welde man alsdann den Cingebungen bes Satan ausgefebt gu fein fuͤrch— ten muß? Man foll den Veufel nicht an die Wand malen, fagt ein ebrlides Sprichwort, welches feinen Ginn darin bat, daß feine beftandige Vergegenwartigung ihm leicht cinen eben fo verderbliden als heimlichen Ginflug auf das Gemith ein: raͤumt. Wie febr ich ubrigens mit diefen Saͤtzen im Einklange mit vielen Bheologen bin, erbellt namentlich aus den Bemer: fungen des berubmten Reinhardt. Er fagt (a. a. O. Th. 1. SG. 166): ,,die Frage, ob und wiefern aud) der Teufel unter die Urfaden des Sittlichbdfen auf Erden gezaͤhlt wer: den miffe, fonnen wir bier gang unberuͤhrt laffen. Die Urſa— chen der Sinden find naͤmlich doppelter Art; naͤchſte, deren Ginflug in der Erfabrung unmittelbar wabhrgenommen wird; und entfernte, deren Wirkfamfeit erft durch die nadften fiublbar werden fann. Unter diefe (ebtern, von weldyen in

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den hoͤheren Speculationen der Dogmatif und Metaphyfif zu handeln iff, wiirde den Teufel gehdren; die erfteren find hin— gegen in der Moral allein anjufiihren, weil nur ihre Er— Flarung einen praftifhen Nutzen hat.” . Sn wefent- licher Uebereinftimmung mit diefem vortrefflidhen Grundfabe erfldrt der Werf. (ebend. GS. 164) ausdruͤcklich: „Iſt alles dasjenige Suͤnde, was. der wabhren Vollfommenheit unfrer Na: tur guwider iff, fo iff jede Suͤnde im Grunde cine Ver: irrung unſeres Triebes nad BollfFommenheit, und ber edlen, vortreffliden Krafte, welche Gott in unfere Natur gelegt hat.”

Die zweite Quelle der Mifiverhaltniffe, welche fic) der naturgemafen und beilbringenden Entwidelung des religidfen Bewußtſeins entgegenftellen, ijt in feiner innigen Verbindung mit allen uͤbrigen Gemitthsintereffen enthalten. Denn obgleid ſich daffelbe urfpringlid) der unſichtbaren Welt des Ewigen und Bollfommenen juwendet, fo foll es dod zugleich als praktiſches Lebensprincip in das ganze Triebwerk der Seelen: Frafte eingreifen, um diefelben auf der Bahn der geiftig fit: lichen Freiheit aur hoͤchſten VGeredlung und Entwidelung ju füuͤhren. Das religidfe Bewuftfein fteht daher mit der ganzen Geiſtes- und Gemithsverfaffung in dem innigften Zuſammen— hange und in der vollſtaͤndigſten Wechſelwirkung, und ift in feiner cigenen Ausbildung vollig durch diefe bedingt, fo daß ibm = felbft alle Gebrechen und Widerfpriche anfleben miffen, mit denen die Seele in irgend einer Beziehung bebhaftet it, welche in ifm den hodften und vergeiftigften Ausdrud ihrer Befchaffenbeit findet. Eben deshalb iff der Menfch faft ge- ndthigt, feine bherrfchenden Lebensintereffen in fein religidofed Bewuftfein gu iibertragen, und ipnen daturd) recht eigentlid ihre volle Berechtigung zuzuſichern, weil, wenn fic) ihm ein Widerſtreit zwiſchen beiden ergiebt, die Macht und Heiligheit des Gewiffens ibn zwingt, von feinen Lieblingswuͤnſchen fid logzureifen. Die Welt und Rirchengefchichte liefert den ſchla— genden Berweis, dah das religidfe Bewufifein der Voͤlker jeders seit Durch ihre vorherrfchenden Intereſſen verfaͤlſcht war; ja die Hierarchie hat bis auf den Heutigen Tag gen ihr unterworfenen Voͤlkern die freie Forſchung im Evangelium unter den ftrengften

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Strafen verboten, um Ddiefelben nicht tiber den abfoluten Wi— derfprud) gur Vefinnung fommen zu laffen, in weldem ibre Sabungen mit feinem goͤttlichen Gefebe ftehen. Die zahlloſen gefliſſentlichen Taͤuſchungen, von denen die Litteratur der mei— ften Wiffenfchaften wimmelt, erſcheinen geringfiigig gegen die abſichtlichen Verfalfchungen, mit denen man den Geift ded Gvangeliums entftellt hat, um hinter- feinem Bollwerke die ſchnoͤdeſten Forderungen einer manflofen Selbſtſucht zu ver- ſchanzen, und daffelbe in ein fo unentwirrbares Gewebe arg: liftiger Sophiftereien gu verftriden, daß fid) angeblid) aus thm jeder Angriff auf ewige Menfchenredte vertheidigen laͤßt. Was bedeutet das reformatorifde Streben der Gegenwart, in wel—⸗ ches ſich freilich genug unlautere Beweggruͤnde einmifcden, feinem inneren Wefen nach anders, ald die tief erfannte, drin— gend gefiihlte Nothwendigfeit, das Evangelium felbft aufer dem Bereich) der Menfchenfagungen zu ftellen, um ungeblendet durch dogmatiſche Vorausſetzungen uͤberhaupt nur erft einen hellen Blick in ſeine ewige Wahrheit werfen, und deren un— verfaͤlſchte Erkenntniß zum Geſetz der eigenen Lebensfuͤhrung machen zu koͤnnen? Die ſchreienden Zionswaͤchter, welche den Untergang des Evangeliums in einer Poͤbelkirche verkunden, ſobald daſſelbe von ihrer Bevormundung emancipirt fei, haben wohl noch nie daran gedacht, daß ſeine goͤttliche Wahrheit deshalb ihre Herrſchaft uͤber die Erde ausbreitet, weil jedes unverdorbene Gemuͤth fuͤr ſie Zeugniß ablegt, und in ihrem Dienſte arbeitet.

Daß das verfaͤlſchte Chriſtenthum nicht mehr in ſeinem urſpruͤnglichen Geiſte wirken, nicht ſeine Aufgabe erfuͤllen kann, ein Reich Gottes auf Erden zu ſtiften, fondern daß es um fo gewiffer auf verderbliche Abwege leitet, je ftarfere Zuſaͤtze von felbftfichtigen Beweggriinden dem Evangelium beigemifct find, lehrt Seden die Weltgefchichte, welcher ihre Jahrbuͤcher mit unbefangenen Augen lieſet. Wo aber ift die fcharfe Grenjze zu finden, welche feinen heiligen Urtert von beliebigen Men— fhenfabungen trennt? Wer von uns fann fich ribmen, alle verdummenden Gorurtheile des focialen Lebens dergeftalt von ſich abgeftreift su haben, und 3u einer fo objectiven Erfennt: niß deffelben gelangt gu fein, daß in ihrem Lichte die urſpruͤng⸗

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lidhe Bedeutung des Evangeliums gweifellos hervortreten fann 2 Es giebt aud nicht ein einziges wichtiges Lebendverhaltnif, deffen falſche Auffaffung nicht fogleid) eine Truͤbung des reli: gidfen Bewußtſeins hervorbradte, und deshalb nicht gu folge: reichen Mifverftandniffen bes Chriftenthums fuͤhrte. Auch bier muf uns die, oben bezeichnete Lehre ded Grldfers auf den richtigen Weg fihren, die Fruͤchte, welche die religidbfe Erfennt: nif eines Seden hervorbringt, miffen-iber ihre Lauterkeit oder Entartung entfcheiden. Wo fie mifrathen find, werden wir uns durd die eifrige Schauftellung orthodorer Glaubensbe: Fenntniffe nidt irre machen laffen, vielmebr auf lestere um fo gewiffer den Verdacht dev heudchlerifchen Affectation werfen, je giltiger die Alltagserfahrung ift, daß der Menſch nur mit derjenigen Gefinnung Parade madt, welche ihm ganglich feblt, dDagegen thm feine wabhremGefiihle fo natirlicd) geworden find, daß er Fein Bedürfniß fuͤhlt, fie bei jeder Gelegenheit auszu— ſprechen. Indeß wie unverfennbar “aud jene Lehre das Ge: prage der eigen Wahrheit an fic) tragt, fo iff doch ihre Anwendung fehr grofen Sdyrwierigfeiten unterworfen, da Gott allein die Herzen durchſchaut, die in ihnen waltenden Trieb- federn fennt, dagegen felbft dem fcarfjinnigften Menfchenfen- ner die Gefinnung Anderer oft ein unerklaͤrbares Geheimnif bleibt, deffen inneres Gewebe er nicht in feine Faden aufldfen fann. Wie viel alfo auc) ſchon uͤber die leidenfchaftlide Ent: artung der Frimmigfeit gedacht worden ift, fo bleibt dod nod) Vieles zu erforſchen uͤbrig, namentlich der eigentlide Entwickelungsproceß derſelben, welcher wirklich zu den ver— wickeltſten pſychologiſchen Problemen gehoͤrt. Wie iſt es moͤg— lich, daß ein Menſch bei geſundem Verſtande nicht den uner— meßlichen Widerſpruch einſehen ſollte, welcher zwiſchen ſeiner fanatiſchen Geſinnung und den deutlichſten, ihm wohl bekann— ten Ausſpruͤchen des Evangeliums herrſcht? Was mußte Alles in ſeiner Seele vorgehen, ehe ſie ganz im Gegentheil zu ihren natirliden Entwickelungsgeſetzen gu einer fo vollſtaͤndigen Selbſt— taͤuſchung gelangen, und in ifr mit allen Trugbegriffen eines halb wahnwitzigen Verftandes ſich fir das ganze Leben erhalten fonnte? Um hier gu einer klaren Erkenntniß zu gelangen, muß man die Entwidelungsgefdichte der pſychiſchen Entartungen

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forgfaltig fludirven, wozu uns die Schwarmeret und der Fana: tismus frommer Geiftesfranfen die befte Gelegenheit darbieren. Denn bei ihnen treten jene Entartungen, welde bet den fo- genannten geiftig Gefunden nur durch fchwachere Andeutungen fic) verrathen, in fo riefenhaften Sirgen auf, daß der thnen sum Grunde liegende Entwidelungsprocep weit leichter erfannt werden fann. Auch laffen fie den Schleier der Verftellung, in weldem die Heuchler ihr Inneres forgfaltig verhillen, gaͤnzlich fallen, und fprecen ihr Denfen und Begehren in allen zuͤgel⸗ lofen Uebertreibungen fo unverhohlen aus, daf man diefe nur feft ing Auge au faſſen braucht, um ihre weſentliche Bedeu- tung fogleid) zu erfennen. |

G8 bedarf wohl faum einer naberen Erorterung- der uͤberaus grofen Wichtigfeit, welche Forfchungen diefer Art namentlic flix die richtige Beurtheilung der reformatorifchen Beftrebungen der Gegemwvart haben miffen. Nod immer iff von den ftrei- tenden Religionspartheiew die Taktik geübt worden, daß jede der anderen unlautere Gefinnungen beimift, um ihre Grund- fage, welche weit mehr aus bem Herzen, als aus dem Mopfe ftammen, wegen ihres Urfprunges aus einer triiben Quelle ju verdadtigen. Gerade deshalb nehmen die Streitigkeiten den Gharafter der heftigften Crbitterung, ja einer fo giftigen Feindſchaft an, daB der Kampf faft jedesmal erft mit der voll: ftandigen Miederlage der einen Parthei endet. Wer im Evan: gelium nicht den Zanfapfel der Gris, fondern die Verküuͤndi— gung des Friedens im kuͤnftigen Gottesreiche gefunden hat, muß vor Allem dte Wurzel der Zwietracht im Gemithe auffuchen, weil ohne ihre Zerſtoͤrung immer die alte Gaat der Drachen— zaͤhne wieder Feimeh wird. Dazu ift aber durchaus eine pfy- chologiſche Entwicelungsgefcichre der frommen . Leidenfdaften nothwendig, um ihre zabllofen Bedingungen vollftandig kennen gu lernen und dadurd) ihnen entgegenarbeiten gu fonnen. Denn da jene Leidenfchaften gleich anftecenden Krankheiten fid) durd ein von ihnen tmmerfort erzeugtes Miasma fortpflanjen, fo wird man ihnen nicht Einhalt thun fonnen, wenn die Urfachen nicht befeitigt werden, unter denen dies Miasma fic) entwidelt. Die Bahl diefer Urfachen iff aber unendlich grof, und fie haben un— fere fociale Atmoſphaͤre dergeftalt durddungen, daß wir fie

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* gleichfam mit jedem Athemzuge ‘in uns faugen, da wie fdon bemerFt fein einziges gefelliges Verhaͤltniß gedacht werden fann, defjen Entartung nicht nachtheilig auf die Entwidelung des re: ligidfen Bewußtſeins einwirfte. Inmitten der uns zur Geez wohnheit geworbdenen focialen 3uftinde fonnen wir bieritber aud) gar nicht zur deutlichen Erfenntnif gelangen, da fie nebft allen ihren Gebrechen mit un vollig Eins geworden find, und eS uns dadurch unmiglid) machen, uns außerhalb ihrer zu verſetzen, um ſie einer unbefangenen Pruͤfung zu unterwerfen. Wenn wir aber vor unſeren Augen die Schaar der wahnwitzi⸗ gen Sdwarmer und Fanatifer anderer Zeiten und Linder vor: uͤberziehen laffen, und und die Urfachen ihrer Verirrungen un— ter ganz verſchiedenen Außenbedingungen klar machen, dann wird uns deutlich, worauf es vornehmlich ankommt, und ſind wir damit erſt im Reinen, dann kann es uns auch bei red— lichen Beſtrebungen nicht ſchwer fallen, einzuſehen wo uns das Rechte fehlt. Daher kann die Forſchung nach den Quellen der religioſen Verirrungen keinen guͤnſtigeren Standpunkt finden, als das Gebiet des frommen Wahns, in welcher die Thorheit die eigene und fremde Schuld mit den bitterſten Schmerzen abbuͤßen muß.

Indem wir uns nun nach dieſen einleitenden Betrachtun— gen zu unſerem Gegenſtande ſelbſt wenden, tritt uns ſogleich die Nothwendigkeit ſeiner wiſſenſchaftlichen Beſtimmung ent— gegen, welche die Grenzen zwiſchen den religioͤſen Leidenſchaften und ihren wahnwitzigen Entartungen ziehen ſollte. Wollten wir in den Kreis unſerer Forſchungen Alles hineinziehen, was auf jene Leidenſchaften eine unmittelbare Begiehung. hat, fo muͤßten wir uns anfciden, einen vollftandigen Curſus durd) die ganze Rirchengefchichte zu machen, welche faft von ibrem erften Urfprunge an die Schilderung der mit grofter Erbitte: rung gefuͤhrten religidfen Streitigfeiten enthalt, namentlicd waren wir gendthigt, die mannigfachften Ercurfe in die Dog: mengeſchichte zu werfen, welche die wefentlicdhen Beweggruͤnde der zahlloſen Kebkerverfolgungen in fic) begreift. - Cine folche Auf: gabe Fann nur von einem Theologen mit Glicd geldfet werden, ‘und fie wurde aud) unmittelbar gar nicht das treffen, worauf es hier eigentlid) anfommt. Denn die gelehrten Streitigteiten

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iiber die Glaubensformeln gehen zunaͤchſt nur das Denfen an, deffen Richtung auf beftimmte Begriffe die fampfenden Par: theien fid) anmaafen, indem fie den Gegnern das Recht dazu ftreitig machen; vom Gemith ift dabei nur in fofern die Rede, als daffelbe der Disciplin der obfiegenden Dogmen unterworfer werden foll, daher denn fein Strduben gegen lebtere, wenn fie feinen naturmachtigen Gefiihlen Zwang auferlegen, oder feine nothwendigften Bedürfniſſe verleugnen, fofort als rebelli— ſcher Trotz angeerbter Siindhaftigfeit gegen die beliebte Heils— ordbnung mit Bannfluͤchen geadtet wurde. _ Wir werden hier: auf nur in fofern Ruͤckſicht zu nehmen haben, als wir darin die frudtharfte Quelle ber religidfen Geiſteszerruͤttung antref- fen, welche jedeSmal unvermeidlich ift, wenn der nothwendige Entwidelungsproceh der Seele in die Banden hierarchiſcher Gefese gefchlagen, gu Monftrofitaten verFriippeln mug. Der Wahnfinn hat dagegen ausſchlleßlich und unmittelbar feine Wurzel im Gemith, deffen in die mannigfadften Mißverhaͤlt— niffe gerathene Qerfaffung er zur unmittelbaren Anſchauung bringt; feine genetiſche Deutung iff daher von den urfadchlicen Bedingungen abhangig, durd) welche jene Verfaffung mit ſich in Widerſpruch verfebt wird, und diefe Bedingungen bleiben ſich, eben weil fie in der natinliden Befdaffenheit des Ge: muͤths begruͤndet find, in allen Zeiten, Voͤlkern, bei allem Weds fel der religiofen Anſchauungen und Begriffe fo durchaus gleich, daß wir ganz denfelben Erfcheinungen, Formen, Arten des re: ligidfen Wabhnfinns in allen Phafen der chriftlichen Kirche be— gegnen. . Sndem wir alfo unfere Forſchung auf dasjenige be: ſchraͤnken miffen, was eine unmittelbare Beziehung auf den Urfprung des frommen Wahns aus den religidfen Leidenſchaf— ten hat, liegt es und ob, die Grenzen zwiſchen beiden fo ge: nau alg moglid) gu beftimmen, wenn wir nicht von vorn ber: ein eine vdllige Begriffsverwirrung einreifien laffen wollen.

Indeß wie ſehr aud) diefe Forderung ihre Nothwendigkeit rechtfertigt, fo ift dod) gerade ihre Erfuͤllung mit den grofiten Sechwierigfeiten verknuͤpft, welche fic) nicht einmal in abftracter Allgemeinheit, und nod) viel weniger in den concreten einzelnen Fallen vollftandig uͤberwinden laffen. Nad) endlofen Streitig: feiten iiber die Grengen zwiſchen den. Leidenfchaften und den

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eigentlichen Geiſteskrankheiten, von deren genauer Beſtimmung die wichtigſten focidlen Lebensfragen, namentlich in Bezug auf die buͤrgerliche Freiheit und auf die perſoͤnliche Verantwortlich— keit vor den Landesgeſetzen abhaͤngig ſind, iſt man jetzt ziemlich allgemein zu der Ueberzeugung gekommen, daß jene Grenzen eine uͤberaus große Breite haben, in welder eine Menge von Uebergangsftufen® zwiſchen den Leidenfdaften und bem Wahn— finn gelegen find, die man mit gleichem Rechte der einen oder anderen Sategorie unterordnen fann. MNirgends wird aber das Schwanken der zwiſchen beiden unterfcheidenden Begriffe firbhl- barer, alS gerade im Gebiete ber religidfen Leidenfcaften, welche, wenn fie ganje Beitalter und Voͤlker beherrſchen, oft ein fo durchaus wahnwitziges Geprage annehmen, daf fie, vom Stahbdpunfte einer fortgefchrittenen Aufflarung und Cultur bes tractet, geradezu als epidemifche Geiſteszerruͤttungen angefehen werden miffen. Wer nur etnigermaagen die fanatifden Greuel des Mittelalters fid) vergegenwartigt, und namentlid) dfe Grundſaͤtze einer tieferen Pruͤfung unterwirft, nach denen die Snquifitoren und Herenrichter ihre infernalifde Praris ausuͤb— ten, findet in ihnen einen fo abfoluten Widerfpruc) mit dem Evangelium, der gefunden Vernunft und der menfcliden Ge— finnung, wie er nur in den hodften Graden der Verrüͤcktheit angetroffen werden fann. Ganje Beitalter und Geſchlechter fir wahnfinnig erflaren, hieße aber in jenen farfaftifden Spott verfallen, mit welchem Voltaire die Erde das Narrenhaus des Univerfums nannte. Dergleichen Cinfalle find nur in einer beifenden Satyre, aber niemalé in einer ftreng -wiffenfchaft- lidhen Forſchung am rechten Orte. Wie ſchwankend aud der Begriff des Wahnfinns fein mag, fo fest doch derfelbe jeder: zeit einen eben fo grofien Widerfprud gegen die Denfiveife und Gefinnung der Majoritat feines Zeitalters, als gegen die ewi— gen Wabhrheiten der Vernunft voraus. Denn felbft die epide: mifd religidfen Raſereien, mit denen wir in der Folge fo viel uns zu beſchaͤftigen haben werden, ergriffen ftets nur eine Schicht des Volkes, deffen gefunder Bheil fic) mit Grauen und Abfcheu von ihnen abwandte.

Betrachten wir in dieſem Sinne unſere Aufgabe, ſo ſcheint fie durch den Sag getdfet werden gu koͤnnen, dag die Erſchei—

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nungen der religidfen Scwarmerei und des Fanatismus nur dann in das Gebiet des wirklichen Wahnfinns verfegt werden dirfen, wenn fie aus dem Selbftbewuftfein die wirklide Welt mit allen ihren objectiven Gerhaltniffen, Beduͤrfniſſen und Ge- fegen verdrangt, und das Gemith vollig in eine uͤbernatuͤrliche Welt verfest haben. Aus diefer Begriffsbeftimmung wirrde fic) dann leicht die wefentlide Eigenthuͤmlichkeit des religiofen Wahnfinns erflaren laſſen. Denn der Geift, welder in jener iibernatirlidben Welt nicht mehr durch pofitive oder objective Begriffe geleitet werden fann, muß in Ermangelung ihrer ein Gewebe von Vrugbegriffen ausfpinnen, welche er vergeblich in einen ſyſtematiſchen Zuſammenhang gu bringen ftrebt, weil er nicht mehr unter der heilfamen Disciplin der Naturwabhrheit ſteht. Gr muß jene den Cinnen unjugangliche Welt mit den Dichtungen der Phantafie bevdlfern, weil er niemals das Den: fen in abftracten Vorſtellungen abſchließen fann, fondern durch feine Organifation gendthigt ift, lebteren einen anfchauliden Inhalt unterzulegen, welchen er aus dem Fabelreiche der Phan- tafie entlehnt, wenn ex fic) hartnddig gegen das Zeugniß der Ginne verſchließt. Ebenſo erflaren fich hieraus die zahlloſen Kampfe des Gemiiths mit fid), weil lesteres, auch wenn es in nod) fo frommer Snbrunft erglitht, dod) feine angeftammten Bedirfniffe, durch welche es gum thatkraftigen Handeln im prak: tiſchen Leben gendthigt wird, eben fo wenig auf die Dauer verleugnen, als e8 thnen in anbhaltenden Gontemplationen Be— friedigung verfdaffen fann. Wir brauchten daher nur diefe Beftimmungen als Maafftab in Anwendung zu ziehen, um in jedem Falle mit Sicherheit daruͤber entfceiden zu finnen, ob irgend ein Fanatifer ober Sdwarmer zur Zahl der wirfliden Wahnfinnigen gerechnet werden muͤſſe, oder ob er das Recht ber bitrgerlichen Freiheit geltend machen koͤnne.

Und dennoch wiirde auch mit diejer Beftimmung dem Ve: griff des Wahnfinns eine viel gu grofe Ausdehnung gegeben werden; ja wir treffen auf eine Menge von welthifforifden Thatfachen, welche nidt einmal in das Gebiet der religidfen Leidenſchaften gerechnet werden fonnen, obgleich fie bas chara: teriftifche Merfmal derfelben, naͤmlich die ganglice Verleug— nung aller irdifchen Jutereffen, und die voͤllige Hinwendung

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des Bewußtſeins nad ciner tiberfinnlihen Welt bei ungeftir: tem Verftandesgebraud an fic) tragen. Die friheften Chri: ftengemeinden, fo wie die Reformatoren des entarteten Glau: bens int Mittelalter Fonnten ihre Aufgabe, das Evangelium in feiner goͤttlichen Vollfommenbeit geltend yu machen, nur da: durch loͤſen, daß fie an diefelbe all ihre Kraft mit Berleug: nung der ubrigen Gntereffen festen, eben fo wie im RKampfe

fiir Das Vaterland ihm alle iibrigen Giter preis gegeben wer: |

den miffen, um nur erft den beiligen Boden defjelben von den Feinden gu befreien, ehe auf demfelben die Werke des Friedens gegriindet werden fonnen. Gin gu den hoͤchſten Opfern entſchloſ—⸗ fener Sinn muß aber feine unverfiegliche Quelle in todesmuthi- ger Begeiſterung finden, ohne welche er bald von den mannig- fad fic durchkreuzenden Neigungen erftict werden wuͤrde, da: ber denn and jenes Urdhriften das Martyrerthum, vor deffen furchtbarer Bedeutung alle an friedliche Verhaltniffe gewoͤhnte Gefchlechter ergittern, gang eben fo preiſen und liebgerirmen muften, wie die Krieger den rithmliden Tod auf dem Bette der Ehre. Cine Gemirthsftimmung aber, in welcher das Grab mit allen Schrecken fich. sur Siegesglorie verflart, und dadurch eine wahre Sehnſucht nad fic) entgiindet, eine ſolche Gemuͤths— ftimmung muf aber als folde eine an. Verachtung grenzende Gleichgiltigheit gegen die Giter der Erde erzeugen, weil fie mit der Neigung gu denfelben nicht beftehen kann; fie muß alfo eben deShalb in einfeitiger Richtung des Strebens verharren, welded durch keine anderweitigen Intereſſen gegiigelt und, beſchraͤnkt, nur allzuleicht cinen leidenſchaftlichen Charakter annimmt, und durch uͤbermaͤßige Steigerung deſſelben gelegentlich in dads Gebiet des Wahnwitzes hinuͤberſchweifen kann. Alle Ausbruͤche der Sarwar: merei und des Fanatismus in fruͤheren Jahrhunderten waren daher die nattirliden Folgen einer Geſinnung, ohne welche der endlidhe Sieg des Chriftenthums tuber die ſinnliche Rohheit und felbftfichtige Entartung der fruͤheren Gefchledhter nie errungen, obne welche fein Reich niemals uͤber die Erde audsgebreitet fein wurde.

Durch Nichts wird aber die Unmoͤglichkeit, den Beariff bes Wahnfinns in fcharf bezeichnete Grenzen einzuſchließen, fchlagender erwiefen, als-durch die unleugbare Thatſache, dah

einzelne Erſcheinungen deſſelben nicht ſelten aus der hoͤchſten Steigerung aller Seelenkraͤfte entſpringen, deren nur die Edelſten und Hochbegabteſten faͤhig ſind. Namentlich gilt dies von den Sinnestaͤuſchungen, jenem Gaukelſpiel der Phantaſie, welche den Sinnen, beſonders des Geſichts und Gehoͤrs, die Vorſtellung nicht gegenwaͤrtiger, nicht vorhandener Dinge, ja ſogar unkoͤr— perlicher Weſen mit einer ſolchen Lebendigkeit und Staͤrke vor—

ſpiegele, daß ſie den Bethoͤrten als wirkliche Anſchauungen er—

ſcheinen, und in ihnen die Ueberzeugung ihrer objectiven Reali— taͤt erwecken. Schon in meinem Grundriß der Seelenheilkunde hatte ich mich (Th. 2. S. 427) beſtimmt dahin ausgeſprochen, daß die Sinnestaͤuſchungen als Wahn keinesweges immer Symptome einer Geiſteskrankheit, ſondern oft ein nothwendiges Etzeugniß voͤllig geſunder Seelenzuſtaͤnde ſeien. Zum Beweiſe berief ich mic) darauf, daß Kuͤnſtler die Gebilde ihrer Phanta— ſie nicht plaſtiſch darſtellen koͤnnten, wenn ſie dieſelben nicht deutlich im Spiegel ihres Selbſtbewußiſeins erblickten, wo es dann nur einer erhoͤhten Lebendigkeit des letzteren bedarf, um jene Bilder in die aͤußere Sinnenwelt zu reflectiren, und in die— ſer als gegenſtaͤndlich erſcheinen zu laſſen. Namentlich hat Raphael es unumwunden bekannt, daß die Madonna ihm in einer Nacht als Viſion erſchien, und daß ſeine ſpaͤteren Darſtellungen derſelben nur Nachzeichnungen dieſes Urbildes waren. Zu meiner Freude hat Brierre de Boismont (a. a. D. S, Vi, 5 u 6) dieſen Gedanfen weiter ausgefiihrt. Indem er fic) auf die Thatſache beruft, daß gefdhichtlich beruͤhmte Per: fonen, Sofrates, Luther, die Jungfrau von Orleans und unzaͤh— lige andere mit Sinnestaufchungen behaftet waren, bemerft er: Elles (les hallucinations) dependaient d'une influence com- plexe; elles provenaient 4 la fois du tribut que payaient ces intelligences d’élite aux croyances du temps, de ce caracttre extatique que la contention de l’esprit fait con- tracter aux idées, et enfin de la nature de l'organisa- tion. Nulle comparaison sérieuse a établir entre les hallucinations de ces hommes fameux et celles des hak lucinés de nos jours. La, des entreprises concues, sui- vies, exéeutées avec toute la force du raisonnement,

lenchainément des fait, la puissance du génie; ici des projets .sans suite, sans but, sans actualité, et toujours frappés au coin de la folie. Mais, dira-t-on, comment se fait-il que ce genre d’hallucinations ait disparu de nos jours? Voici notre réponse a cette objection: pour étre hallucinés de la sorte, il fallait avoir des convictions profondes, des croyances ardentes, un amour éxtreme de l’humanité; il fallait vivre au milieu d’une société qui partageat ces sentiments, et sit, au besoin, mourir pour eux. On marchait alors avec son siecle. Qu sont donc aujourd’hui les croyanges? Ou _ sont les martyrs? Quelle est la voix qui domine le monde? Chacun vit pour soi et chez soi. Le scepticisme a gagné toutes les classes. Les généreux dévouements excitent le sou- rire. Le bonheur matériel, voila la devise.

Ainsi lorsqu’ un homme s’est longtemps livré a des. meditations profondes, il voit souvent la pensée qui l'ab- sorbait se revétir d’une forme matérielle; le travail intel- lectuel cessant, la vision disparait, et il se l'explique par les lois naturelles. Mais si ‘cet homme vit a une époque, ot les apparitions d’esprits, de démons; d’ames, de fantémes, sont une croyance générale, la vision de- vient une réalité, avec cette différence, que si son in- telligence est saine, sa raison droité, cette apparition n’a aucun empire sur lui, et qu'il s’acquitte des dé- voirs de la vie sociale aussi bien que celui qui n’aurait pas des hallucinations. Cette remarque s’applique a plus forte raison aux hallucinations des hommes célebres. Pour Se soustraire aux croyances de leur temps,* il eut fallu quils cussent été d'une autre nature, surtout lorsqu’elles n’avaicnt rien de répréhensible. En les adoptant, ils partageaient une erreur sociale; mais leurs entreprises, leurs actions, leurs doctrines étaient celles de philoso- phes, de moralistes,.de bienfaiteurs de leurs semblables. Iis*rempjissaient une mission nécessaire, et leur nom est inscrit a juste titre parmi ceux dont se . glorifie Vhumanité. Qui ne serait d’ailleurs frappé des différen- ces extremes qui séparent ces hallucinés de .ceux de

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nos jours? Les premiers, puissants, forts, logiques, se montrent pleins de grandeur dans leurs actes; ils sont les représentants d'une époque, d'un besoin, d'une idée; les autres faibles, indécis, rusés, ne sont |’expression d’aucun besoin, ne se proposent que des missions sans utilit¢. Les hallucinations des uhs sont les conséquen- ces du* temps, elles n’ont aucune influence sur leur rai- son, tandis que celles des ‘autres proviennent de l'orga- nisation. malade de Jl individu, et’ sont plus ou moins compliquées de folie. Lorsqu’on lit la vie d'une person- nage illustre, il ne faut jamajs perdre de vue qu'elle se compose d'une histoire et d'une biographie. L histoire, c’est la partie spirituelle; la biographie, la parti mortelle. Vouloir juger l'une sans l'autre, c'est se tromper et tromper les autres. Les enfantements- du génie donnent lieu a des phénomenes qui sortent souvent de la vie commune; ce sont les matériaux bruts, la gangue, qui disparaissent sous le ciseau de l’ouvrier, pour ne laisser voir que le chef-d’oeuvre; ce sont, si l’on veut, les hallucinations; mais elles n’ont point d’actions sur les vérités enseignées, et celles-ci subsistent avant comme apres le passage de celui qui s’en est fait l’intrepréte. Ainsi lhallucination, considérée dans son phénomene caractéristique, est la reproduction du signe matériel de Vidée. Chez le penseur, elle est le plus haut degré de tension auquel puisse parvenir son esprit, une véri- table extase. Dans les sociétés & convictions profondes, ou l'imagination n’est point éclairée par la science, elle est le reflet des croyances générales; mais dans ces deux cas, elle n’apporte aucun obstacle au libre exer- cice de la raison.

Die auferordentlide Widhtigfeit diefer Betractungen, welde uns-allein einen richtigen Maaßſtab aur Unterfceidung des wirfliden Wahnfinns won den aufergewodhnliden Erſchei— nungen des Genied und der fittliden Begeifterung geben fin: nen, und uns daher bet allen unferen Finftigen Forfchungen {eiten muͤſſen, xedtfertigt eS, wenn wir nod) bei der Unwen; dung langer verweilen, welche Boismont von obigen Sagen

auf die Lebensgeſchichte beriihmter Perfonen macht. Zuvoͤrderſt entlehne ic) von ihm das ſchoͤne Bild, welches er (a. a. D. S. 427) von der Jungfrau von Orleans entwirfe: Qu’était donc la Pucelle d’Orleans? Une jeune paysanne de dix-huit a dix-neuf ans, d’une taille noble et élevée, dune physionomie douce, mais fiere, d’un caractbre remarquable par um melange de candeur et de force, de modestie et d’autorité, et d’une conduite, enfin, qui fait Yadmiration de toutes les personnes, qui l'ont connue. Des ses premiers pas dans la carriere guerriére, dont nont pu I’éloigner des rébuts réitérés, elle devient .le parfait modele du chevalier chrétien. Intrépide, infati- gable, sobre, pieuse, modeste, habile a dompter les coursiers, et versée dans toutes les parties de la science des armes, comme un vieux capitaine il n’y a-rien dans sa vie qui ne révele une haute inspiration et qui ne porte le sceau d’une autorité divine (Charles Nodier ). A dix huit ans, sa mission est terminée; il ne lui reste qu’a la couronner par le martyre,

Ainsi, d'un c6té, une conduite intacte, une sagesae exemplaire, une raison parfaite; mais de l’autre, comme chez beaucoup de personnages célebres, des visions, des révélations. A Vage de douze ans, elle eut se premiere apparition de la.maniere suivante; se trouvant avec ses compagnes dans une prairie, elle vit pres d’elle un jeune honme qui lui dit: ,,Jeanne, courez ala mai- son, car votre mere assure qu’elle a besoin de votre aide”. Jeanne vole au - devant de sa mere, qui luj déclare qu'elle ne la pas demandée. La jeune fille veut aller rejoindre ses camarades; mais tout-a-coup une nuée claire et brillante s’offre @ ses yeux, et du milieu de la nuée, une voix lui crie: ,,Jeanne tu eg née’ pour suivre une autre carriere et pour faire des choses merveilleuses, car tu es celle que le roi du ciel a choisie pour le rétablissement du royaume de France et pour étre l'aide et Vappui du roi Charles, dépouillé de son empire. Habillée en homme, tu prendras les ar~ mes; tu seras un chef de guerre, et tout se fera par

Joeler Theorie d. relig. Wahafinns. 3

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ton conseil”. Jour et nuit, des apparitions semblables se présenterent & Jeanne; elle demeura cing ans en- tiers dans un pareil trouble. Enfin, dans une derniere vision, elle recut cette réponse: ,,Le roi du ciel l'or- donne et le veut: à l’avenir ne demande plus comment cela se fera, car si telle est la volonté de Dieu au ciel, telle elle sera sur la terre. Va donc au lieu voisin, appelé Vaucouleurs, qui seul, dans les contrées de la Champagne, a conservé sa fidélité au roi; celui qui commande en ce lieu te conduira sans difficulté comme tu le désires”. La jeune fille fit ce qui lui avait été ordonné, et le commandant de Vaucouleurs la fit con- duire au roi. Lorsque cette infortunée subit les inter- rogatoires de ses ennemis, elle dit que sainte Cathe- rine et sainte Marguerite lui avaient apparu a treize ans et lui avaient appris a se gouverner. La premiere voix qu’elle entendit fut cellesde saint Michel, qu'elle vit devant ses yeux; il était accompagné des anges du ciel: tous avoient une forme corporelle. Elle déclara qu'elle avait ‘embrassé les deux saintes, qu’elles sen- taient bon. et qu’elle les avait touchées. Lisez ces in- terrogatoires, si empreints de malveillance, d’astuce et de haine, et vous: serez frappé des déclarations simples, ingenues uniformes de Jeanne d’Arc; elle s'y montre toujours supérieure & ses juges et déjoue’ noblement leur perfidie par sa franchise, leur lacheté par son cou- rage, leur niaiserie par sa ferme intelligence , leur dévo-~ tion étroite par sa haute piété.

L’age de treize ans arrive, et c’est a ce jeune age que, dans cette nature vigoureuse, devait se manifester le plein développement de toutes ces facultés physiques, car deja les facultés morales et intellectuelles avaient eu un développement prématuré. A ce moment tous les ha- bitants des campagnes vivaient dans Ia terreur continuelle des Anglais et des Bourguignons; un profond découra- gement abattait tous les courages. La patrie semblait pour toujours perdue, La jeune imagination de Jeanne avait été enflammée par le spectacle des maux de son pays,

de son hameau, de sa famille. L’adolescence, qui_de- mandait chez elle a succéder en ce moment a |’enfance, imprimait aussi à son sang et’ à son cerveau une agita- tion extraordinaire. Dans cette espece de crise, ella tourna les yeux vers les vitraux de léglise, sur lesquels venaient se réfiéchir les rayons ardents du soleil. Elle fut eblouie et resta plongée dans une espece d’extase. C’est alors que commencerent les -visions relatives a sa mission.

Ce grand moment (hallucination passé, Jeanne ren- tre en elle-méme et doute de ce quelle a vu. Pendant plusieurs semaines, son sang plus calme ne porte a son cerveau ni les ardeurs belliqueuses, ni ces visions mer- veilleuses, ni ces inspirations d’avenir; mais chaque fois qu’au bout d’un certain nombre de semaines se manifestent en elle des symptoémes d’une grande révolution constitu- tive qui ne semble pas s’étre jamais réalisée, les mémes hallucinations se reproduisent devant ses yeux éblouis; saint Michel lui apparait, et elle retombe dans ses ré- veries extatiques, dans ses entretiens mystiques avec lui, avec l’ange Gabriel, avec sainte Catherine et sainte Marguerite, ,,dont les figures étaint couronnées de belles couronnes moult richement et moult précieusement.” Envain sa raison voulait elle résister, le retour des mé- mes phénomeénes leur donnait chaque fois plus d’autorité; et comme les voix qui se faisaient entendre a son coeur noble et pur ne murmuraient que des pensées d’honneur et de dévouement, .elle s’habituait a ne s’en plus méfier, et a les appeler avec autant d’empressenient qu’elle les avoit redoutées. Deja, depuis pres de sept ans, elle avoit vécu dans. ce commerce intime avec les plus hautes pensées, pui trouvaient un écho en elle. Dix-huit ans arriverent, Elle était dans toute la force de sa belle organisation. Elle demande a accomplir son sacrifice.

Einige Widerſpruͤche laffen fic) in diefer Darſtellung nicht verfennen; indeß theilS betreffen fie Mebendinge, theils begreift e8 ſich leicht, daf Sohanna, in eine unendliche Fille von bimmlifden Erfcheinungen juridblidend, in den Angaben der Reitverhaltniffe fic) widerfprechen fonnte. Aud) mag Manches

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von ihren fanatiſchen Ridtern unridtig in die Werhdrsproto- colle aufgenommen fein, obne daß darum dem Ganzen die in- nere Wahrheit feblte. Calmeil giebt (a. a. O. Th. J. GS, 128) eine im Wefentlidhen damit ibereinftimmende Schilderung, und bemerft noch, daß Johanna ſchon frishgeitig einen zur Con- templation und sur Schwermuth geneigten Gharafter und eine febr ſtark ausgepragte Frommigfeit zeigte. Selbſt inmitten der laͤndlichen Fefte war fie in fid) verfunfen, und bet zunehmen⸗ bem Alter fand fie vorzugsweiſe Gefchmad am Reiten und an anftrengenden Arbeiten, Won der Wirklichkeit der ihe gu Theil gewordenen himmliſchen Erſcheinungen war fie fo feft uͤberzeugt, daf die graufamfte Behandlung im Kerker, die Drohung mit bem Gcheiterhaufen fie nicht irre machen fonnten. Sie be- hauptete nod) immermabrend Befuche von den Heiligen ju em: pfangen, welde fie nicht mit dem Geifte, fondern mit dem leiblichen Auge fabe, und zugleich verficherte fie, daß fie nie— mals etwas Widhtiges gefagt oder gethan hatte, obne deren ausdriidliden Befehl. Befonders ruͤhrend war ihre Aeuferung nad ber Krinung Karls VU. in Rheims: Plust a Dieu mon créateur, je pusse maintenant partir, abandonnant les armes, et aller servir mon pere et ma mere en gar- dant leurs brebis avec ma soeur et mes freres qui moult se rejouiraient de me voir.

Eben fo fpridt Boismont (a. a O. S. 424) in den edelften Ausdriden feine reine Bewunderung der geiftig fitt- lidhen Heldengrofe Luthers aus: il nous est impossible de ne pas reconnaitre en lui une des natures les plus vigou- reuses qui aient jamais existé parmi les hommes. Quelle force de volonté, quelle puissance d’argumentation, comme toutes les parties de son oeuvre se lient les unes aux au- tres! Avec quelle persévérance il suit le plan qu'il s’est tracé, comme il repousse les attaques de.ses ennemis! Toujours sur la breche, il meurt apres avoir’ vu la doctrine du libre examen désormais triomphante. Daf id, der evan: gelifchen Kirche angeborig, hinter den Fatholifdjen Franzoſen in ber tiefften Huldigung der Verdienfte unſres Reformators nidt. zuruͤcktreten werde, darf id) wohl nidt erft ausdruͤcklich ver- fichern; dod) glaube id, daß Boismont in Begug auf. ihn

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die pſychologiſchen Gruͤnde nicht erſchoͤpft hat, ans deren ber bid zu wirklichen Sinnestaͤuſchungen gefteigerte Damonenglaube Luthers erflart werden muf. Seine Heldengrifie, welche ihn an die Spibe des deutfchen Volks ftellt, offenbart fid) vornaͤm⸗ lid) durch die unerſchütterliche Standhaftigheit, mit welder er in den Stuͤrmen der eigenen Bruft.ausdauerte, ohne nur einen Augenblid fein hohed Ziel aus dem Gefichte gu verlieren. Dem duferen Feinde in moͤrderiſchen Schlachten die unerfchrodene Stirne gu bieten, iff dagegen eine Mleinigheit, denn jeder Daz pfere vermag es, zumal wenn ihn der Muth Gleichgefinnter zum Wetfeifer herausfordert; aber im zerriſſenen Herzen, wells ches in feinen theuerften Sntereffen todtlid) getroffen ift, den befonnenen Heldenfinn zu bewahren, das haben nur die Weni— gen vermodt, welche bas dankbare Menfchengefchledht als die Gritnder und Schirmer feiner getftig fittlidhen Wohlfahrt feiert. futhers ganged Leben war ein folcher Riefenfampf im aller: groͤßten Maafftabe nach allen Richtungen des Denfens und Handelns, und wenn er, gulegt dod) aud) nur ein Menſch, in ben Stunden der Erfchdpfung und der Bangigkeit das Gefuͤhl berfelbert in fatanifchen Anfedjtungen fic) fymbolifd) gum Be— wußtſein brachte, fo tft died Michts weiter, als eine nothwen⸗ bige Folge feiner im Geifte der damaligen Beit geftalteten relt: gidfen Anſchauungsweiſe. Ya noch mehr, der Glaubenseifer muß um fo beftimmter einen ftreng orthoboren Charafter anz nebmen, je unreifer das Jahrhundert fiir eine Vernunftkritik bed réligidfen Bewußtſeins iff. Als es nod) feine Naturwiffen- ſchaft, alfo fein objectives Denfen gab, auf deffen unerfdhitter- licher Grundlage bie Philofophie allein ben feften Bau ber Bif: fenfchaften auffithren fann, um dabei zum ungetritbten Be: wußtſein der Vernunftprincipien gu gelangen, ſchlug der relt- gidfe Rattonalismus mehr ober weniger in abftrufe Scholaſtik unt, welde den Glaubenshelden nur als ein abfoluted Hinder: niß det aͤchten Frdmmmigfeit erfdheinen fonnte, und daher von ihnen mit Abſcheu wverworfen wurde. Kein urfraftiger Geift farin aber das in ifm waltende Vernunftgefeh verleugnen, es dringt fic) ihm unwiderſtehlich ins Bewußtſein, gerdth unver- meidlid) in Kampf mit den orthodsren Glaubensformen, und bringt Baburd die Quaal ber Zweifel hervor, in denen der

Glaubensheld die gefaͤhrlichſten Schlingen des argliftigen Satans fieht. Wir werden bald fehen, wie Luther damit gu fampfen hatte, und finnen uns daraus einen Theil feiner Bwiegefprace mit bem Teufel erfldren, indem er demfelben bie Einwuͤrfe fei: ner Gernunft in ben Mund legte, um fie zu widerlegen. Es gingen daraus wahrhaft dramatiſche Scenen in ſeinem Innern hervor, welche ſich meiſtentheils auf den Streit des ſtrengen Dogmas der goͤttlichen Gnadenwirkung, durch welche allein das Heil der Seele errungen werden koͤnne, und den Anforderun: gen der Vernunft bezogen, mit freier Willensbeftimmung aus eigenem Antriebe den gottlichen Gefewen gu gehorden. Faffen wir nad allen diefen Richtungen den Kampf feines glaubens- ſtarken, fittlichfraftigen Gemiths mit dem Beufelswahn auf; fo erhellt daraus unmittelbar, daß jener Kampf im Siege über denfelben die hichfte Steigerung ſeines religidfen Bewußtſeins yur Folge haben mufte, und in dieſem Sinne hat er ihn aud ausdruͤcklich als eine Nothwendigheit begeidnet. Bei einer ſpaͤ⸗ teren Gelegenheit werde id) nod) die dabei obwaltenden patholo: gifhen Bedingungen eines ſchweren Unterleibsleidens, uͤber wel: ches er fic) in feinen Briefen bitter beflagte, und die eigen: thimlichen Erfcheinungen hervorheben, welche aus dem Contrafte ber Gefuͤhle hervorgehen.

Die Vhatfadhen, weldhe Boismont in Bezug auf die daͤmoniſchen Erſcheinungen Luthers mittheilt, find febr unvoll: ftandig, daher nadfolgende bem Swed beſſer entfprechen wer: den. 3uvdrderft entlebne id) von Wyer (a. a. O. S. 54) eine febr beftimmte Angabe: Melanchthonis relatu auditum est, Lutheri aedes accessisse monachum, fores vehemeuter pulsantem. Cui cum famulus aperiret, ac sciscitaretur, quid vellet: num Lutherus domi esset, quaerit mona- chus. Ke cognita, Lutherus eum ingredi jubet, quod nullum multo tempore vidisset monachum. Ingressus hic; habere se quosdam errores papisticos ait, quorum nomine libenter cum eo conferret: proposuitque syllogismos, qui- bus haud difficulter a Luthero solutis, alios protulit ex- plicatu minus faciles. Unde offensus non nihil Luthe- rus, in haec prorupit verba: Muitum mihi facessis nego- tii; aliud etenim, quod agerem, erat. Simulque surgens,

39 loci a monacho propositi explicationem ostendit: atque in ejusmodi collatione manus monachi esse avium unguibus non dissimiles animadvertens: Tuneises? ausculta, sen- tentia haec adversus te pronunciata est. Et mox locum in Genesi commonstrat: Semen mulieris conteret caput serpentis. Inde subjungit: Nec cunctos tu degluties. Hoc dicto victus daemon, indignabundus, secumque mur- murans abiit, eliso crepitu non exiguo, cujus suffimen tetri odoris dies aliquot redolebat hypocaustum.

Befanntlid find in Luthers Tiſchreden fehr zahlreiche Aeu⸗ fierungen von ihm uͤber den Glauben an den Teufel gefammelt worden, wovon id) bier nur einige, welche auf feine eigene Per: fon Bezug haben, entlehne.

A. a. O. S. 346: Ich habe feine grifere nod. fdwerere (Anfechtung) gehabt, denn von meinem Predigen, daß ich ges padte, died Wefen ridteft du alled-an. In der Anfechtung bin id oft dahin gegangen in die Holle hinein, bis mid. Gott wieder herausgeruͤckt und getroftet* hat, daf meine Predigt dad wabhre Wort Gottes, und die rechte himmlifde Lehre fei. Aber es Foftet viel, bid mir diefer Troſt fommt. —~ Aber wenn man ibn (den Deufel) abrweifet, und fagt, bier ift der, fo fir die Sinden geFreugigt, geftorben und wieder auferftan: den ift, kennſt du aud) den? Yn def. Gerechtigheit lebe ic, nicht in meiner, habe id) gefiindigt, fo antwortet er dafür, und das ift die allerbefte Weife und Weg, den Satan gu überwin— ben durchs Wort. Der andere Weg ift, daß wir ibn durch Verachtung iberwinden, daß wir die Gedanfen, fo er uns eins giebt, ausſchlagen, und wenden das Herz auf andere Gedan: fen, als daf man Kurzweil treibt mit Spazierengehen, Eſſen, Trinken, ju Leuten gehen, mit ihnen reden und frdhlic fein, daß man ber fdweren Gedanfen [08 werde, dad iff gut, davon hat Gerfon gefdrieben. Es mug alfo fein, unfer Herr Gott greift uns redlich an, aber er (aft und dod) nicht fteden, wir follen das Unſere aud) thun; und unfred Leibes warten, ihm geben, was ihm gebithrt, effen und trinfen und guter Dinge fein nad) dem alten Sprichwort: trinf und if, Gottes nicdt vergif. Denn in. Anfedtungen ift hundertmal aͤrger faften, benn effen und trinfen. Wenn id in Anfectungen bin, fo

40 wollt id wohl in drei Vagen nicht einen Biſſen eſſen, denn is habe feinen Appetit, nod) Verlangen, oder Luft dazu, dad ift denn doppelt und dreifach Faften, daß id) effe und trinfe, und bennod obne Luft. Wenn nun die Welt folded fieht, fo fieht fie e8 fiir Brunfenheit an, aber Gott wird ridten, ob es Trunkenheit oder Faften fei. Darum halte deinen Kopf und Baud wohl, martere did nicht felbft mit Faften gu Bode, fon: derlid) wenn du in Melancholie, ſchwarzen Gedanfen und An: fechtung bift. Mit mir ift es alfo, wenn id) des Nachts erwade, fo koͤmmt der Deufel bald, und disputirt mit mit, und mat mir allerband feltfame Gedanfen, bis fo lange id mid herumwende und fage: kuͤſſe mid aufs Geſaͤß, Gort -ift nicht zornig, wie du fagft. .

S. 350. Der Veufel weif und fihlts, daß mein Her; obn Unterlaß betet, nod pflegt ber Boͤſewicht mir oft. vorgu- werfen, und mid) gu plagen, ic) bete nid.

S. 352. Alle Schwermuth und BWraurigfett fommt vom Beufel, denn ex ift ein Herr ‘des Bodes. Sonderlich wenn ein Menſch betruͤbt ift, und angftigt fic, als habe er einen un: gnadigen Gott, fo ifts gewif ded Teufels Werf und Getrieb. Die Gottedlafterung ift zweierlei, eine activa wirklich, wenn man wiffentlid) und muthwillig Urface ſucht, Gott gu laftern, dba behuͤt und Gott fir. Die andere ift eine leidende Gotted- lafterung passiva, wenn uné der Beufel wider Willen folde boͤſe Gedanken eingiebt, ehe wir es uns verfehen, und wir ihrer webren, mit welchen Gott will, daß wir geiibt werden, auf daß wir nicht liegen und ſchnarchen oder faul werden, fondern fampfen und beten. dawider. Alſo werden zuletzt ſolche Gedan- _ fen verfdwinden und ablaffen, fonderlid) am legten Ende, dann ift der beilige Geift bet feinen Chriften, fieht ibnen bei, treibt den grimmigen Deufel weg, ddmpft ihn, macht ein fein rubig, friedfam Herz und Gewwiffen.

S. 353. MNiemand Fann von. Gottes Gnave recht und eigentlic) weber reden, noch ſchreiben, er fei denn mit geiftlicen Anfechtungen wohl geuͤbt und verſucht. Ich gwar fonnte aufer folden Anfedtungen von ber Gnade Gottes nicht lehren; da ber haben die Moͤnche und Guriften nidts Cigentlides und Rechtſchaffenes davon finnen lehren und fdreiben. Wenn id

41 mit dent Teufel vom Gefes disputire, fo bin id) bald von ihm geſchlagen und gefangen, denn ic bin ein. Sider, under brddte mein Gewiffen in Bergweiflung, denn weder id) nod) jemand fann dem Gefeh Gottes genug thun. Darum mußt bu fa: gen: das Geſetz ift nidt mir, fondern den. halsftarrigen, muth⸗ willigen, unbuffertigen Suͤndern gegeben. Ich gehoͤre bem Evangelium utd Chriftus an, nicht Mofen, der geht mid, nights an. Denn Chriftus ift das Lammlein Gottes, bas bet Welt Siinde trigt. Darum find meine Simbden nun nidt mehr mein, fondern meined Hern und Heilandeds Jeſu Chri— ſti, dem liegen fie auf bem Mien, der = fire mid gebuͤßt und bezahlt am Rreuje. |

S. 356. Biſchof Albrecht gu Maing pflegte gu fagen, das menſchliche Herz fei wie ein Müuͤhlſtein auf der Mahle, wenn man Korn darauf ſchüttet, fo lauft es umber, zerreibt, germalmt, und macht es gu Mehl; iſt aber fein Korn vorhan: den, fo Iduft gleichwohl der Stein umber, abér er zerreibt fid felbft, daß er dinner, fdmaler, fFleiner wird. Alſo will dad menſchliche Herz gu ſchaffen haben, hat es nicht Werke feines Berufs fir fic, daß es diefelben ausrichte, fo fommt ber Teu⸗ fel, und fcheufit Anfechtungen, Schwerthuth und Traurigfeit hinein, dann frifit fic) bas Herz mit ber Traurigfeit, daß et daruͤber verfdmadten muf, und Mander fid) gu Bode be: kuͤmmert.

S. 357. Die groͤßte Anfechtung des Teufels iſt biefe, daß er ſagt, Gott iſt den Suͤndern feind; du biſt ein Sünder, darum iſt bir Gott ‘feind. Dieſe Anfechtungen fühlt Einer anders, als der Andere. Mir wirft er fir, nicht die Simden, ſo ich in der Jugend gethan habe, als fuͤrnehmlich, daß ich Meſſe gehalten habe, und Gottes Sohn geopfert und gemar⸗ tert, und ihn damit gelaͤſtert babe, ſondern viel andere Stuͤcke, fo diefen nicht gleid) find. Aber in diefen Syllogismen und Schlußreden foll ſtracks die major, bas erfte Stid verneint werden, naͤmlich es iff nicht wabr, daf Gott den Sündern feind fei. Gin jeglicher Chriſt folk gedenfen und wiffen, daß er Ghriftum ohne Anfechtung und Kreuz nicht redt ler: nen und erfennen Fann, das ift die Schule, : in der man den Mann und Heiland vecht erfennen lernt. Wor 2 Qahren habe

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id) erftlid) dbiefe Versweiflung und Anfechtung gottliden Borns gefuͤhlt, guvor batt id) Rube, daß td) aud) ein Weib nabm, fo gute Tage hatt id), aber dbarnad kamen fie wieder. Da ids nun D. Staupitz Flagte, fagte er, er hatte folde Anfechtun: gen niemals gefiihlt oder erfabren. Uber fo viel id) vermerfe und verftehe, fagte er, fo find fie Euch nodthiger, denn Eſſen und Zrinfen. Darum die fie fiihlen, follen fid) gewdhnen, und fie lernen tragen, denn das ift dad rechte Chriftenthum. Wenn mid ber Satan fo nicht geplagt und geibt hatte, fo hatte id ibm auc) nicht fo feind fein finnen, batte ihm aud nicht fo fonnen Schaden thun. Denn wenn die Anfedtung fommt, fo fann id) aud) nicht eine eingige, geringe, taͤgliche Suͤnde uͤber⸗ winden, barum bewahrt fie uns fir Hoffahrt, und mebrt gu- gleid) bas Erfenntnif Chrifti und Gottes Gaben. -Denn von der Zeit an, da ic) begunnte angefodten gu werden, gab mir Gott dtefen herrliden Sieg, daß id) die Moͤncherei und bas ſchaͤndliche, verfluchte, gottedlafterliche Leben, ‘fo datin ift, uͤberwand.

S. 358. Heut, da ich erwachte, kam der Teufel, und wollte mit mir disputiren, objicirte und warf mir fiir, ich ware ein Suͤnder. Da fprad id), fag mir etwas Neues Teufel, dads weiß id) vorhin wohl, id) habe fonft viel. rechter, wahrer Sins ben gethan, es muß rechtfchaffene Suͤnde da fein, nidt gedich—⸗ tete und erdachte Suͤnde, die ihm einer felbft ausſpeculirt, die Gott wvergeben fol um feines lieben Sohnes willen, der meine GSimbde alljumal auf fid von mir genommen hat, daf nun meine Sinden Chrifti eigene find. Solde Wobhlthat und Gnade Gottes will id nicht verleugnen, fondern befennen. Darnad warf er mir vor und ſprach, wo haſt du die Kloͤſter in der Welt hingethan? Antwortet id) und fagte: Da ſchlag Blei gu, du magft fehben, wo und wie deine Gottedlafterung bleibt. Ich halte, daß mid) der Teufel oft aufwedt, da ich fonft wohl ſchliefe, allein darum, daß er mid) verire und plage.

S. 359. Jd bin aud in folden Anfedtungen und Ven- tattonen gewefen, die meinen Leib gar verzehrten, daß ich nicht wohl Athem hatte, und mid) ſchier fein Menſch trdften fonnte. Der Veufel hat mic alfo oft geplagt, daß ic) mid in meinen Anfechtungen oft verwundert habe, ob ich aud nod ein Bis-

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cen Gehirn im Haupte hatte; abet er hat mich nicht uͤbertaͤu⸗ ben fonnen, denn er bat fid an Chrifto verbrannt.

S. 365. Der Teufel kommt oft, und wirft mir fir: ed fei groß Aergerniß und viel Boͤſes aus meiner Lehr entftanden. Da fest er mir wabhrlid) zuweilen hart gu, und madt mir Angft und bange. Und wenn id ſchon antworte, es fet aud viel Gutes daraus fommen, fann er's mir meiſterlich verfehren. Gr ift ein liftiger, geſchwinder Rhetor, der aus einem Splitter einen grofien Balfen, und was Guted aus der Lehre fommen, zu eitel Suͤnden maden kann. °

S. 366. Aber durchs Evangelium folvire und widerlege id ihm alle AUrgumente, wenn ich michs nur erinnern Fann, es ergreifen und ihm damit begegnen. Es fehlt mir aber zuweilen baran. Darum er mir fürhaͤlt, dad Gefes fet aud) Gottes Wort, warum id ihm denn immer bas Evangelium entgegen- halte? Sa fage id), aber ed ift weit unterfdieden vom Evan⸗ igelium, alé Himmel und Erde. Denn im Evangelium beut uns Gott an feine Gnade, will unfer Gott fein, ſchenkt uns aus lauter Liebe feinen eingebornen Sohn, der uns von Sinde, Tod erldfet, ewige Gerechtigfeit und Leben erworben hat durd fein eiden und Auferftehen, an bas halt id) mid), will ihn nicht gum Luͤgner maden. Neben dem Evangelium hat er aud bas Gefes gegeben, uüber alle Dinge gu einem andern Braud, nicht daß man dadurch foll feelig werden.

GS. 156. Waͤhrend feined Aufenthalts auf der Wartburg befand Luther ſich einft allein in feinem Zimmer, in welchem eine Kiſte voll Haſelnuüſſen ſtand. Als er in der anliegenden Kammer zu Bette gegangen war, wurde eine Haſelnuß nach der andern an die Decke geworfen, und es rumpelte am Bette, ohne daß er danach fragte. Als er eingeſchlafen war, entſtand auf ber Treppe ein Gepolter, als wenn ein Schock Faͤſſer hin: untergeworfen wuͤrde; dennod) war bie Treppe mit Ketten und Gifen wohl verwahrt, daß Niemand hinauf fonnte. Luther ſtand auf, fand die Treppenthuͤr verfdloffen, und fprad), biſt bu es, ſo fei es, und befahl ſich dem Herrn.

Wir müſſen uns fir jetzt der weiteren Bemerkungen uͤber dieſe Thatſachen enthalten, um nur nod) die Hindeutung dar—⸗ auf eingufcalten, daß uͤberhaupt Sinnestaͤuſchungen wabrend

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einer Hod) geſteigerten religisfen Erregung bet getftig voͤllig ge: funden Menfdyen gu den haufigen Erfcheinungen geboren. Gin PGeifpiel diefer Art im grofartigften Maaßſtabe haben wir an den Propheten des alten Bundes, jenen gottbegeifterten Mannern, in benen wabrend des ganalichen politiſchen und focialen Vers fall des in die ſchnoͤdeſte Abgoͤtterei verſunkenen jidifchen Volks faft ausſchließlich bie Reinheit der moſaiſchen Lehre fic) erhielt, und fie gur Ankuͤndigung des goͤttlichen Strafgeridhts und einer neu fit) begriindenden religids fittlidhen Weltordnung antried. Jn ihrer Sittenftrenge unendlid) erhaben fiber die Lafterhaftig: Feit ihrer Beit erfchienen fie alé Boten des Himmels, und ihrer Sendung fic bewuft, erglihend im heiligen Gifer, den ihre orientalifche Phantafie und ihre ascetiſche Lebensweife nod mebr entflammte, lebten fie in finnlid) unmittelbarer Gemeinfcaft mit bem Himmel und feinen Schaaren, daber fie denn aud ibve erbabenen Verkuͤndigungen jederzeit als wirkliche Offenz batungen, nicht alé ein Erzeugniß ihres eigeneh. Geiftes aus fpradjen. In den von ibnen verfaften Schriften find daher aud) die zahlreichſten Berfpiele von Vifionen und von himm⸗ liſchen Stimmen enthalten, welche Seder ohne Muͤhe im alten Seftamente auffinden Fann, daber id) nur einige dem Orte nad bezeichnen will. Um meiſten zeichnet fic) in diefer Beziehung Hefefiel aus, welder faft in jedem Kapitel die ausfirhrlid: ften Schifderungen der ihm gu Theil gewordenen Gefichte giebt. Aud Daniel erwahut umſtaͤndlich der ihm ertheilten himm⸗ liſchen Offenbarungens; kürzer, wenn auch eben fo beftimmt, Amos, Sacharja und andere. Es wuͤrde eine ſehr lohnende pſychologiſche Aufgabe ſein, aus den hiſtoriſchen Verhaͤltniſſen, unter denen jene Propheten auftraten, und aus ihrer geiſtigen Eigenthuͤmlichkeit cine Entwickelung ihres Seherthums zu ver: ſuchen, wozu fie ſelbſt cine Menge von Fingerzeigen darbieten. Endlich entlehne ich noch von Nean der (a. a. O. Bd. L Abth.1. S. 103) folgende merfwiirdige Aeußerung bes Origines: „Wenn auch Celſus ſpottet, doch muß es geſagt werden, daß Viele wie gegen ihren Willen zum Chriſtenthum gekom— men ſind, da ein gewiſſer Geiſt durch Geſichte, die er ihnen im Wachen oder im Traume vorfuͤhrte, ihre Vernunft ploͤtzlich von dem Haſſe gegen das Chriſtenthum zu einem Eifer, der

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aud das Leben fir daffelbe hingab, fortrif. Vieles dergleidyen fonnten wir erzaͤhlen, wads, wenn wir es niederſchrieben, ob: gleich wir felbft Augenzeugen waren, den Ungléubigen Beran: laſſung gu vielem Gefpott geben wuͤrde; aber Gott ift Benge unfer3 Gerwiffens, daß wir nicht durch falfche Berichte, fondern nur durch mannigfade, unleugbare Thatſachen die goͤttliche Lehre Gefu empfehlen wollen.” Mit diefen Worien des Ori— gines iff gu vergleiden, was Pertullian fagt de anima 47: Major paene vis hominum de visionibus Deum discunt. So find wir freilic) gu dem Ergebnis gelangt, daß eine ſcharfe Grenge zwiſchen der religidfen Begeifterung, den from- men Leidenfchaften und ihren Verirrungen in das Gebiet des wirklichen Wahnwitzes nidjt gefunden werden fann; indef ent: fpringt daraus fiir und fo wenig eine Berlegenheit, daß gerade dieſe Betrachtung die hochwidtige Bedeutung unferer Aufgabe in dad rechte Licht ftellt. Wir miffen nur vor Allem die gar- ftigen Gorurtheile verbannen, durch welche die Geiftedstranfen geradezu gebrandmarft werden und dadurd der allgemeinen Vheilnahme beraubt worden find, alé ob fie gang von der Men: ſchennatur abgefallen, diefelbe nur noc in Grauen und Ab- fcheu erregenden BZerrbildern darftelten. Wer fie im taglichen Umgange fennen lernt, uͤberzeugt fic) bald, daß fie Menſchen find, wie wir, begabt mit allen unfern guten und fdlimmen Cigenfchaften, daß ihrer viele durch Gefinnung und redliched Streben hocmithige Weltiluge tief beſchaͤmen, daß die foge- nannten Vernuͤnftigen unendlich viel von ihnen lernen koͤnnen, baf fie alfo in, jeder Beziehung unferer thatigften Theilnahme im vollften Sinne wirdig find. Wir duͤrfen den Wabhnfinn burdaus nidt als eine erceptionelle Erſcheinung im Bereid) des geiftigen Lebens anfehen, vielmehr werden durd ihn die tief: ſten Gebeimniffe ber Menfchenbruft offenbar, deren wiſſenſchaft⸗ lide Erforſchung die Wirren des Lebens auf die befriedigendfte Weife erflart und den Weg gu ihrer Lofung babnt. Denn wir miiffen bid in die innerfte Werkitatte der Gedanfen und Neigungen eindringen, wo durch die naturgemafe Entwidelung oder franthafte Verbildung derfelben die Schidfale der Men: fen entfcieden werden. Vergebens bemiht man fid, lebtere zu beffern, wenn es nicht gelingt, Geift und Gemith von

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ihren Gerirrungen auf die rechte Bahn zuruͤckzuführen, denn fo lange diefe fortbauern, fann das von ewigen Gefeben ab⸗ hangige Seelenbeil nie auf unerfciitterlichen Grundlagen befe: ftigt werden, und alle dufere Hilfe. lduft auf bloße Taͤuſchungs⸗ fiinfte binaué. :

Mun giebt aber die innige Verwandtſchaft der religidfen Leidenfchaften mit dem frommen Wahn ſich gerade dadurcd gu erfennen, daß beide nidt. fireng von einandey gefdieden werden finnen, beide entfpringen aus wefentlid) gleichartigen Grund— verhaltniffen der Seele, die Erfenntnif des Wahns liefert die pollftandigfte Erflarung der ihm analogen Leidenfchaften, und führt zur objectiven Cinfidjt derjenigen Bedingungen, in wel: chen legtere ihren. Urfprung finden, welde. man alfo hinweg— rdumen muß, wenn man die Leidenfdaften felbft mit Erfolg beFampfen will, Das Studium des frommen Wahns traͤgt da: her febr wefentlid) zur Begriindung der Lehre bei, durd) deren Anwendung allein jenes aus den religidfen Wirren entfprin: gende namenlofe Unbeil befiegt, und jene unzaͤhligen Hinder: niffe entfernt werden finnen, welche der freien vernunftgema: fen Gultur der Voͤlker fo madtig entgegenarbeiten. Wir brau- chen uns daher die Forſchung gar nicht -durd ein dngftliches Beruͤckſichtigen fophiftifd) erkuͤnſtelter Grenzen gwifthen Leiden: fcaften und Wabhnfinn gu erfchweren, ſondern gerade unfer Yntereffe erfordert eS vorzugsweiſe, dab wir uns auf einen gan; freien Standpunft ftellen, wo wir den innigen und allfei: tigen Zuſammenhang beider in feinem ganjen Umfange über— ſehen, und dadurch recht eigentlid) bie in ihnen obwaltenden genetifden Proceffe uns deutlid) maden fonnen. Wenn man nad beliebter Weife den Wabhnfinn als eine gang ifolirte Gr: ſcheinung auffaft, fo zerreißt man alle feine Entwidelungsfa- ben, welche fid) ald feine Wurzeln im gangen Leben nad allen Richtungen hin ausbreiten. Wenn man aber den Wabhnfinn in feiner allein moglichen pfycologifden Entwidelung betrachtet, bann verwandelt fic) die Srrenanftalt in eine Schaubuͤhne, auf. welder immerfort die Dramen von Sophokles, Shakefpeare, Galderon, Gothe und Schiller sur Auffiihrung gebracht werden. Gleichwie in diefen Meifterwerfen die innerften Beweggruͤnde des Denkens und Handelns dargelegt werden, um das madhtige

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Triebwerk der Leidenfdaften zur objectiven Anſchauung und Erkenntniß gu bringen; eben fo laffen aud) die Geiftedfranten burd) den Zwieſpalt, welder tief in bas Mark ihres Lebens eingedrungen iff, bie ganze innere Conftruction ihrer Seelenver- faffung in das hellſte Lidt treten, nachdem alle duferen Hil: len und Schaalen des conventionellen Lebens von ihr abgeftreift worden find. G8 find die gewaltigen Urfrafte der Seele, weldye fid) im Wahnſinn mit hochgefteigerter Energie regen, indem fie aus den Truͤmmern des fritheren Dafeins ein neues Leben gu geftalten ftreben, denn er entfteht eben nur aus der abfoluten Nidhthefriedigung dringendfter Vedirfniffe, und er fltichtet fid) beshalb in eine neugefchaffene Welt, wo er legteren Geniige gu leiften ftrebt. Es ftellt fid, deshalb ein uranfaͤnglicher Bil- dungsproceß ber Seele in der Entftehung des Wabhnfinns dar, um die wefentliden Bedingungen des Seelenlebens fennen gu lehren. Wenn diefe Bildung auch meiftentheils vollftandig miflingt, weil fie mit ju grofen Mipverhaltniffen pathologi- fher Bedingungen gu fampfen hat, und daher mit Berrge: ftalten abſchließt; fo bedarf es dod) nur einiger Uebung in der Deutung pſychologiſcher Vorgaͤnge, um uͤberall das Urfpriing: lide der Geelennatur in feiner wahren Geftalt hérausgufinden. Kir den Irrenarzt find die daͤmoniſchen Geftalten der Schwaͤr⸗ merei und des Fanatismus nicht die Geiſter fruͤherer Jahrhun— derte, welche der Geſchichtsforſcher nicht mehr aus dem Grabe der Vergangenheit beſchwoͤren, und zur Rechenſchaft uͤber ihren Wahnwitz ziehen kann; ihm treten ſie im Fleiſch und Blut als lebenskraͤftige Menſchen entgegen, mit denen er im taͤglichen Umgange ſich vertraut macht, deren Denkweiſe und Geſinnung er bis in die innerſten Wurzeln und fernſten Urſpruͤnge verfol- gen kann. Wenn alſo der Geſchichtsforſcher mit kuͤnſtlicher Reflexion ſich erſt eine Anſchauung von jenen Zerrbildern des Glaubens machen muß, wobei ihm dod) die eigentlichen geneti⸗ ſchen Bedingungen derſelben zum groͤßten Theil entſchluͤpfen, weil die Geſchichte blos die Thaten, aber ſelten nur ihre Quelle in der Geſinnung darſtellt; ſo erfreut ſich dagegen der Irren⸗ arzt des unſchaͤtzbaren Vofrtheils, daß die concrete, lebendige, gegenwaͤrtige Anſchauung das vollſtaͤndige objective Bild der reügioſen Verirrungen ihm vor Augen ſtellt, und ihm deshalb

bie ginftigfte Gelegenheit darbietet, baffelbe von allen Seiten qu betracdten, feinem pſychologiſchen Urfprunge nachzuforſchen, und durch fortwabrendes Prifen und Vergleiden jeden eingelnen merkwuͤrdigen Umftand aufjuflaren. Indem alfo der Yrren- arzt bie religidfen Serwirfniffe der Gegenwart in ihren folof- falen Formen ftudirt, lebt er fic unmittelbar in jene finfte- ren Zeiten binein, in denen: jene Formen als bhandelnde Per- fonen auftraten, und oft den Gang der widhtigften Begeben- beiten leiteten.

Wir haben nun den Plan gu entwerfen, deffen Befolgung uns allein ben ariadnifthen Faden durch das unermeflide Ba- byrinth des religidfen Wahnfinns darbieten fann, ohne welchen bie Betradtung bald in endlofe Verwirrung ſich auflofen wuͤrde. Ale pſychologiſche Forfchung muß mit den Thatſachen, wie ſie fic) in deutlich auSgepragten Erfcheinungen ju erfennen geben, den Anfang maden, denn eben dadurd) verfebt fie fid in das Gebiet der objectiven Wahrheit, in welcher fic die ewige Naturnothwendigfeit offenbart, dagegen etn Speculiren aus aprioriftifdhen Sagen bald in Hirngefpinnfte ſich verliert, welde nur fiir ihren Urheber von Werth fein fonnen, und bei ihrer praftifthen Anwendung gu den grobften Mifigriffen ver- leiten. Erſt nachdem die Erfcheinungen des religiofen Wabhn- finns in hinreichender Ausfuͤhrlichkeit gefdildert find, fann die Aufgabe geldfet werden, den Gefegen ihrer Cntwidelung und threr inneren organifdhen Verbindung nachzuforſchen, alfo fie in dem Zufammmenbange einer pfydologifchen Theorie barjuftellen. Hierdurd) wird der Uebergang ju den mannig: fadjen Urfacen gebabnt, denen die religidfen Verirrungen ihren Urfprung verdanfen, und da legtere in allen Zeiten und un— ter allen Vilfern zum Vorſchein gefommen find, Tiber deren inneres und dufered Leben die Geſchichte Ausfunft giebt, fo bietet fid) ein uͤberaus reiches Material der Forſchung dar, welches nur in eine iberfichtlide Ordnung gebracht gu werden braudt. Natuͤrlich fann nur das, was bei Allen gemeinfdaft- lid) wirkfam war, als wefentlid) in Betracht fommen, dagegen die fpeciellen Cigenthimlicfeiten der Zeiten und Orte eben als ſolche hoͤchſtens eine untergeordnete Beruͤckſichtigung verdie— nen. Alſo gerade die unermeßliche Menge der Thatſachen

49 fihrt am ficherften zur Unterfcheidung bes Weſentlichen und Zufalligen, und dient dazu, den GErgebniffen der Forſchung die Zuverlaffigteit der inneren Wahrheit gu geben. Die auf ſolche Weife entwidelte Theorie fuͤhrt dann von felbft zur prak⸗ tifden Anwendung, gu der Cinfidt, auf welche Weife - allein bie religidfen Leidenfehaften wirkſam befimpft werden finnen, ja wie man.-ihuen vorbeugen muf, um endlich das Menſchen⸗ geſchlecht von ihrer Geifel gu befreien, und ihre Macht gu bre: chen, wodurch bisher fein Streben nach geiftig ſittlicher Fret: Heit und nach dem durch fie allein erreichbaren Gipfel der wah— ren Gultur und Vervollfommnung nur allzuſehr gehemmt und erſtickt worden iff. ;

Im vorliegenden erften Bande haben wir uns daber mit den Erſcheinungen des religidfen Wahnſinns zu beſchaͤftigen, für welche wir vor Allem eine naturgemaͤße Eintheilung auf— ſuchen mitffen, um das Heer der Thatſachen in eine überſicht— lide Ordnung gu ftellen. An die Spike der dazu erforderliden Unterfuchungen- miffen wir den Grundfas ftellen, daß jede Gintheilung der Erfdeinungen nach irgend einem willfirlid aufgegriffenen Merkmal jedesmat ein kuͤnſtliches Sytem, ein todtes Fachwerk hervorbringt, in welches die Thatſachen nad ganz duferlichen Uehnlichfeiten und Verfchiedenheiten gewalt- fam eingezwaͤngt werden, nachdem ihr eigentlicher Rern, ihre wefentlice Bedeutung zerftirt wurde, fo: daf das Verwandte aus einander geriffen, bas Berfdiedenartigfte auf einander "ges fdjictet wird. Die natiirlide Ordnung muß ihre Eintheilungs- momente jedesmal von den wefentlicdken Erſcheinungen entleh— nen, welche ifr innereds Entwidelungsprincip deutlich erfennen, und durch letzteres ihre urfpriinglide Verwandtſchaft ober Vers ſchiedenheit mit Siderheit auffinden laffen. ede Erſcheinung, weldje losgeriffén -von ihrem inneren Entwidelungdgrunde be- trachtet wird, bleibt eben fo unverſtaͤndlich, alé ein Zweig, den man vom Stamm abgehauen hat, deffen lebendige SriebFraft ihn nebft feinen Blittern, Bluͤthen und Fruͤchten ergeugte. Da der religisfe Wahnfinn durchaus feine abgeriffene, ercepttos nelle Erſcheinung ift, alfo fein neues, der gefunden Seele frembdartiges Element enthalten fann, fondern nur die Berbils bung und Ausartung urfprimglider und nothwendiger religid=

Soeler Theorie d. relig. Wahnſinné. 4

fer Megungen darftellt, fo miffen wir ebtere auffuchen, um in ihnen feine Wurzeln gu finden. G8 wird alfo eben fo viele weſentlich verfchiedene Arten von frommen Wabhnjinn gee ben, al fic) eigenthumliche und felbftftandige Regungen des religidfen Bewußtſeins ermitteln laffen, und ſind hiermit die urfpriinglichen Formen des Wahnſinns gefunden, fo fann man algdann ipre mannigfachen. Spielarten, Verbindungen, und die hieraus fic ergebendem ungabligen Monftrofitaten des Bewußt⸗ feinS leicht im ibve wefentlichen Elemente auflofen. Died wollen wir nun verfuden.

Gs farm meine Aufgabe nicht fein, uͤber das innere We fer de8 religidfen Bewußtſeins in tieffinnige Specula ionen mic) au verfenfen, welche noc) niemals gu einem befriedigenden Ausgange gefiihrt haben, da erftereds von fo uͤberſchwenglicher Natur ift, daß eS fic in. Feine fyllogiftifche Formen gang ein: ſchließen laͤßt. Aus dem Leben ſelbſt, ans feinem unentliden Schaffen und Wirken müſſen feine Begriffe, feine Gejege ge- fcbopft werden, und es muͤßte fonderbar zugehen, wenn legtere, welche alle feine Grfcheinungen beherrſchen, nicht durch aufmerk⸗ fame Betrachtung aufgefunden werden finnten. Man mug nur weit genug in das welthiftorifde Leben hineinfeben, um bas, was zu allen Seiten werfthatig gewefen iff, von feinen untergeordneten Bedingungen abjondern gu fonnen. Ueberbli— den wir nun die Gefchichte des religidfen Bewußtſeins, wie ſich daffelbe gu allen Zeiten und bei allen Voͤlkern geftaltet bat; fo founen wir ſehr leicht gwet grundweſentliche Bejichun: gen unterſcheiden, in welche die Menſchen the Verhaͤltniß gu Gott bracten, eben weil beide gu ihrer geiftig fittliden Cultur gleid) nothwendig find, daͤher denn diejelben auch in der Anlage ihrer Seelenverfaffung gleichmaͤßig begriindet fein muften. Beide grundwefentliden Formen des religiofen Bewußtſeins find die

e gu Gott und die Ehrfurde vor feinem Geſetz, und alle pofitiven Religionen unterfdeiden fic) am meiften dain yon einander, daß fie jene Grundformen in ein verſchiedenes Ver— haͤltniß gu einander bradten. Wabhrend Chriftus die Liebe au Gott als das hoͤchſte aller Gefewe aufitellte, und. dadurd al8 bas ſchoͤpferiſche Lebensprincip in fein heiliges Recht ein: febte, das Menfchengefdledt auf gerader Bahn dem *hodften

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Gipfel der geiſtig ſittlichen Freiheit und Vollkommenheit entge: genzuführen, wichen alle uͤbrigen Religionsſtifter mehr oder weniger von dieſer Grundwahrheit ab, daher fie ihren Lehren ein Glement der Selbſtzerſtoͤrung einimpften, welches in dem unaufhaltjamen Verfall und dem politiſchen Untergange der ihnen huldigenden Bolfer offen. genug ans Licht getreten iff. Keiner von ihuen verleugnete gwar das Gebot der Liebe zu Gott ganglich, aber entweder wurde diefelbe yon ihnen zu einem finnlicden Cultus herabgewurdigt, welder geradezu die Leidenfchaften und finnlicden Begierden der Menſchen entflam: men mufte, zumal wenn die Zerfplitterung der alleinigen Gott: Heit in eine Menge von vermenfdlidten Géttern, legtere mit allen Irrthuͤmern, Schwaͤchen, ja Laftern der fimdigen Erdentewoh- ner ausſtattete, und diefe gur Nachahmung aufforderte; oder jene Religionsftifter erfannten vor Alem die Nothwendigéeit, in einem zur roheften Wildheit, ja Brutalitat Herabgefunfenen Volke eine an Entfewen grenzende Ehrfurdht vor dem gittlicen Gefes als das allein wirffamfte Bandigungsmittel ihre zuͤgel⸗ lojen Begierden und Leidenfchaften hervorzurufen. Sie erfüll— ten daher ihre Lehre mit allen Schreden und Drohungen einer erzurnten..Gottheit, verwandeltem dadurd) den“ Cultus in ein Strafgeridt inber die Ginden der Menſchen, und wuften deme felben durch. die politiſche Macht ihrer Bannftrablen einen fol- chen Nachdruck gu geben, dap die erbebenden Gemither-nur in der qudlendften Angft dem Heiligthum gu nahen wagten, aus welchem ihnen fortwaͤhrend die Donner der Verdammniß ent:

gegenfcallten, fo. daß die Liebe su Gott als das Princip des gciftigen Lebens ihnen niemals jum teutliden Bewußtſein fom: men fonnte. Ucherdenft man die bieraus nothwendig entfpringens ben Folgen, namentlic) den fortwabrenden Kampf einer ſtlaviſchen Furcht vor Gott mit den durd fie allein nie zu vertilgenden Begierden und Leidenfchaften, und die htermit im nothwenbdi: . gen Zufammenhange ſtehenden infernalifthen Greuel. ded Goͤtzen⸗ dienſtes, fo liegt hierin der uͤberzeugendſte Beweis, daß Chri- ſtus uns dag gottlide Gefeg in feiner vollfommenften Rein: Heit und ewigen Giltigfeit offenbart hat, und daß das Mens ſchengeſchlecht nur dann feine wahre Beftimmung erreicden . faun, wenn ¢3 {einer Lehre einen unverbridliden Gehorfam weiht.

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Durch diefe Gegeneinanderftelung des ſchoͤpferiſchen Gei: fies ber Liebe gu Gott, welcer das Weſen des Chriftenthums ausmacht, und ded geifttddtenden Fanatismus alles Gosendien- fies, aus weldem eine knechtiſche Scheu vor dem gottlichen Geſetze entfpringen mufte, wird eS aufer Zweifel geftellt, daß es nur zwei grundwefentliche Formen des. religidofen Bewußt— feins geben fann, die Liebe gu Gott und die Ehrfurdt vor feinem Gefeg, deren Verſchmelzung zu einer hoͤheren Einheit eben die ewige Wahrheit de3 Chriftenthums ausmadht. Denn allerdings hat bas Evangelium eben fo wohl die Ehrfurdt als bie Liebe gur abfoluten Bedingung erhoben, aber erffere nicht auf Koſten der lebteren geltend gemacht, weil der Menfa nur infofern. durch die Ehrfurcht in feinen Veidenfchaften gebandigt werden foll, alé nicht. die reine Liebe gu Gott tas fchopfe- rifche Princip ſeines Denfens und Wollens ausmacht. Wo leb- tere fic) der Herrſchaft uber die Seele bemachtigt hat, bet arf es nicht mehr des fchredenden Gefeses, und das Bewuftwer- den defjelben durch das Gewiffen uͤbt dann fo wenig mehr eine verdDammende Gewalt aus, daß gerade die Befriedigung des Gewiffens den fchonften Lohn fiir eine ſittlich-fromme Ge- finnung gewabrt, und den Boden der Seele am empfaͤnglich— ften und fruchtbarſten fur die Liebe macht.

Mir werden nun in der Folge gu betrachten haben, inwie: fern beide urfpriingliche Negungen des religidfen Bewußtſeins, die Liebe und die Ehrfurcht vor Gott durd leidenſchaftliche Steigerung ausarten, immer weiter von ihrer urſpruͤnglichen Beſtimmung fid) entfernen, und in vbllig wahnwitzige Verir— rungen gerathen fonnen, um dem Menſchen die ernfte Lehre gu predigen, Daf er felbft im Heiligften Maaß halten foll. Für jest habe ic) nur die Bemerfung eingufchalten, daß die Natur ftets unferer Bemihungen zu fpotten fceint, die . innig verwebten Elemente ihres Wirfens von einander abgu:

fondern, um ibre Erfcheinungen in beftimmte Klaffen einzu⸗ theilen. Dies beſtaͤtigt ſich auch bei vorliegendem Gegenſtande vollkommen, denn ſo verſchieden auch ihrem innerſten Weſen nach die Formen des aus der Liebe und der Ehrfurcht ent— ſpringenden frommen Wahns ſind, ſo treffen wir doch beide in den meiſten Faͤllen innig mit einander verwebt, ſo daß kaum

die eine CErfcheinungsreihe ben Vorrang vor der anderen be: hauptet. Indeß diefe ſcheinbare BWerwirrung der entgegenge fegten Formen durch einander fann dod) unfere Forfchung im Geringften nicht erſchweren, da in jedem einzelnen Falle die gegenfablichen Exfcheinungsreihen fic) febr leicht von einander™ unterfceiden lajjen. Daß beide fo haufig jufammentreffen, liegt ſchon in der Natur der Sache, da Riebe und Ehrfurcht gleid) tief im Gemisth begruͤndet find,. und bei einer leiden: ſchaftlichen Erregung des religibfen Bewußtſeins faft immer gemeinſchaftlich zum Vorſchein kommen, und wirkſam werden muͤſſen. Wenn man nur jedes concrete Gemuͤthsleiden in der Geſammtheit feiner Entwidelung aus einem vorbherrfdenden BHeweggrunde auffaft, und fic) nicht durch untergeordnete Be— Dingungen und abgeriffene Erfcheinungen irre machen laft, fo fann man feinen weſentlichen Gharafter leicht heraus finden, und ihm dadurch feinen Plak im Syſtem anweifen. Um nur erft eine Ueberficht iber das Ganze gu gewinnen, laffen avir die untergeordneten Formen jest aufer Act, um fie fpater ge: biihrend hervorjubeben.

Nachdem die beiden Elementarformen des frommen Wabhns in ihrer Entftehung aus den ibnen entfprechenden Regungen des religidfen Bewuftfeins in Betradhtung gesogen find, folgt die Erlauterung ihrer 3ufammenfebung mit den mannigfadften Leidenfchaften der Selbſtſucht und der Gefchlechtslicbe, wor: aus ungleid) verwideltere Erſcheinungsreihen bhervorgehen, welche indeß ihren Urfprung aus der Vereinigung der verfchie- denartigften Elemente deutlid) genug erfennen laffen. Hierauf haben wir uns mit einzelnen Thatfachen gu befdaftigen, welche hervorgegangen aus dem Zufammenwirfen der mannigfadften Motive eben wegen der uͤberaus grofen Verſchiedenheit derfel- ben nicht in eine fyftematifde Ordnung gebracht werden fone nen, der fie auc) nitht bediirfen, da ihre Erfldrung nicht fewer balten fann, fobald nur erft die Grundbegriffe deutlidy genug gefaft worten find.

Bisher war vom religidfen Wahnſinn nur in feiner inde viduellen Entwidelung und Erſcheinung alé dem Ergebnif der frommen Berirrung einer einzelnen Perfon die Rede, weil er eben dadurd) gu einem abgefdloffenen, in fic) gufammenban-

genden Ganjen wird, deffen Entſtehungsweiſe am leichteſten auf ſeine beſtimmten urſachlichen Bedingungen zurüͤckgeführt werden kann, ſo wie er ſich auch in ſeiner iſolirten Erſcheinung unter den ſtaͤrkſten und charakteriſtiſchſten Zugen auspraͤgt. “Mody liegt eS uns aber ob, ſeine den anſteckenden Krank— heiten vergleidbbare epidemiſche Ausbreitung ber ganze Schich— ten eines Volks einer gendueren Prifung ju unterwerfen, wo- bei cine Menge von Bedingungen in Wirkſamkeit tritt, welche ihm einen ganz anderen Charafter, eine oft vdllig abweidende Geftalt verleihen.

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Erſter Abſchnitt.

Der religiöſe Wähnſinn in ſeiner indivi: Suellen Erſcheinung.

Woenn wir bei der obigen Eintheilung der Formen des frommen Wahns das richtige Princip getroffen haben, ſo muß ſich dies dadurch beurkunden, daß ſie ſelbſt in allen ihren Er— ſcheinungen deutlich die ihnen zum Grunde liegenden Regun— gen des religioſen Bewußtſeins erfennen laſſen. Hierbei mirf ſen wir jedoch vor Allem eingedenk ſein, daß jenes Bewußtſein ſich nicht nur nad der perſoͤnlichen Eigenthumlichkeit jedes Individuums, ſondern auch nach dem religioͤſen Ideenkreiſe, den Glaubensformen, den geſellſchaftlichen und den Culturzu— ſtaͤnden, unter denen daſſelbe fic) entwickelte, unendlich ver: ſchieden geſtaltet, daher denn ſeine krankhaften Ausartungen eine gan; unuͤberſehbare Menge von Spielarten in ſich begrei⸗ fen. Daher muß ich mich ausdridlich auf den frommen Wahn, wie ex in der chrijttichen Welt gum Auftritt gelangt ijt, ein: ſchraͤnken, und werde ich, hoͤchſtens gelegentlich einen Blick in die religiöſen Verirrungen der einem andern Glanben angels: tigen Voͤlker werfen fonnen; weil deren Gefinnung unfrer Denkweife gu fern fiegt, als daß wir uns mit Leidhtigfeit in dieſelbe verſetzen koͤnnten. Erſt wenn man ſich gang in thee religidfen Begriffe und Gefühle, fo wie in ihre volksthimliche Geſchichte hineingelebt hat, Eanneman aus der Eigenthuͤmlich⸗ Feit ihres religidfen Bewußtſeins cinen fideven Bli¢ in ive

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ſchwaͤrmeriſchen und fanatifchen Beftrebungen werfen, fir welche uns auf unferm Standpunfte der Betrachtung das rich— tige Maaß feblt. Indeß ed ift eben die Aufgabe des Forfcers, fid) nicht dDurd) unwefentlidhe und untergeordnete Ziige der Er: fcheinungen irre machen gu laſſen, fondern fie felbjt in ihrem innern Sern ju erfaffen, welches eben nur gefcheben fann, wenn man fie bis auf ihre urfpriingliche Quelle zuruͤck ver- folgt. Da nun die Grundregungen des religiofen Bewußt— feins ſich mit ter gréften Beftimmtheit von einanbder unter: fceiden laffen, fo muͤſſen wir auf fie die vornehmfte* Einthei— lung der frommen Berirrungen begiehen.

Erſtes Rapitel.

Der Wahnſinn aus leidenſchaftlicher Liebe zu Gott.

§. 1. Naͤhere Beftimmung ber ebengebadten Leidenfmaft.

Die Liebe gu Gott entfpringt aus dem vergeiffigten Be- wuftfein dex Vollfommenheit und Schoͤnheit der goͤttlichen Weltordnung, als deren Glied ber Menſch in der Viefe ſeines Geiftes fic) erfennt, und erzeugt dadurd den Antrieb, fein eigenes Leben mit den Gefeben derfelben in Ucbereinftimmung gu bringen.“ Qn ihrer reinften und vollitanbdigften Ausbildung ſetzt fie daher jedergeit die hoͤchſte Cultur der Vernunft als des Organs der Ideen voraus, welche dem Menfchen als der un: mittelbarfte Ausdrud feines Wefens zur deutlichen Anfchauung fommen miiffen, damit er durd fie feine Abftammung von bem fchaffenden Weltgeifte erfenne. Da nun die Foeen zugleich den Geift des Denkens und die Seele alles Gefuͤhls und Wol—

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lens ausmachen, ſo ſind ſie die Offenbarung Gottes in uns, um unſre ganze Lebensfüͤhrung nach feinem Geſetze zu ge— fialten, und dem Ziele der hoͤchſten Freiheit “und Vervoll⸗ fommnung entgegenjufibren. Indeß nur wenige Menfchen gelangen zu diefem Gipfel der geiftigen Entwidelung, wo fie mit hellem Auge ihr perſoͤnliches Dafein als einen unmittelba- ren Ausfluß des gittlidhen Wefens in dem Lichte von Ver— nunftbegriffen erbliden, und dadurd der eigentlichen Bedeu— tung ihrer Liebe zu ihrem: Scopfer vollftandig inne werden fonnen. Bei den Meiften bleibt dies Bewußtſein cin mehr oder weniger unentiwideltes Ahnen, gleichfam cine unbeftimmte Sehnſucht, welde durch ihre das Gemisth bewegende und tret: bende Rraft erfegen muf, toads ihr an Deutlidfrit der Bor- fiellungen mangelt. . Aud) geniigt den wahrhaft Frommen, welche keinen Anſpruch auf Wirtuofitat des philofophifden Berftandesgebrauds machen finnen, die Vorftellung, daß fie gu Gott in dem Verhaltniffe liebender Kinder yu der uͤber⸗ fhwengliden Gite bes himmliſchen Vaters ftehen. . Denn bieraus entfpringt die fromme Begeifterung, welche als die Quelle hochherziger Gefiihle noch immer die Mutter großer Thaten geworten iff. Gene Liebe ſchließt natirlid) aud dad untedingte Gertrauen in fic, daf Gott in feiner Gnade, Weisheit und Allmadt den Menſchen Alles gewaͤhren werde, was gu ihrem fortfchreitenden ſittlichen Gedeihen und gu ihrer geiftigen Vervollfommnung nothwendig iff.

Gndem alfo der Menſch in der Liebe gu Gott ganz gu ſich felbft fommt, in ibr den vollftandigften Ausdruck ſeines Wefens findet, ftellt fie ſich auc im Gefiihl als die hoͤchſte Seeligfeit, alé die Selbftempfindung der mit fic vdllig Eins gewordenen Geele dar, und uͤberwiegt in ihrer Lauterfeit an Starke, Lebendigfeit und Snnigfeit alle andern Gefiihle, durd welche er fic) feiner ibrigen Lebenszuſtaͤnde bewußt wird, Sie wiirde aud in ihrer Ales beswingenden Macht nocd weit haus figer gur Erſcheinung kommen, wenn fie nicht mehr oder we— niger in Gegenfag gu den übrigen Gefiihlen.. trate, welche ben Menfchen an die irdifchen Verhaltniffe und an -feine noth: wendigen Bedirfniffe fnipfen, und ibn dadurd in feinem

58 Aufſchwunge zu Gott hemmen, ja ihn bei mangelnder reli⸗ gioͤſer Cultur voͤllig an die Erde ketten.

Hierin find nun fcbon die Bedingungen angedeutet, unter denen die Liebe gu Gott in Leidenfchaft anéarten, und da: burd bis in wahnwitzige Verwirrung fic verlieren kann. Ginerfeits nimmt jene Liebe, zumal unter raſtloſen und in brimftigen Andachtsuͤbungen leicht einen fentimentalen, cons templativen Charafter an, erjeugt<dadurd) eine Sehnſucht nad immerwaͤhrender Ceeligteit, wie fie dem Menfthen auf Erren nicht befchieden iff, und floͤßt einen Widerwillen gegen ven peinlichen Widerfireit der Gefiihle cin, welcher im thatfrafti- gen Leben niemals vermieden twerten kann. Andrerfeits wird dem Menſchen die Wirflichfeit verhaft, wenn er in ihr die bitter: fen Leiden und Drangfale erfabren hat, welche in ihm alles Sntereffe an den mannigfachen Weltverhaltniffen, alfo die An- triebe zur thatigen Mitwirfung an denfelben erffiden. Gr fluͤchtet ſich dann in die Religion, deren Heiligthum ihm ein rettendes Afyl gegen die Stiirme des Lebens erdffnet, wo ex endlid) den ſchmerzlich entbehrten Frieden wiederfindet und im glaubigen Gertrauen auf Gott feine Noth vergißt. In bei- ben Fallen bietet der Menfch alle Kraft feines Gemiths auf, in immer innigere Gemeinfehaft mit Gott gu treten, weshalb er ſich feinen Bund mit demfelben in fteten Andachtéhbun- gen gu vergegenwartigen ftrebt, gu welchem Swed er fid) von aller praktiſchen Thaͤtigkeit, von jedem anderen Intereſſe gee waltfam losreift, um feine Unterbrechung feiner frommen Sehn— ſucht zu erleiden. Nicht felten macht er Gebrauch von asce— tiſchen Uebungen, durch welche er eine voͤllige Unterdruͤckung ſeiner weltlichen Neigungen zu bewirken hofft; er entflieht ben Seinigen, um nicht zwiſchen ihnen und Gott ſeine Liebe gu theilen, er verſchmaͤht alle, ſelbſt die unſchuldigſten Freu- ten, beftraft fid) mit ausgeſuchten Martern fiir jede leiſe Mes gung weltlicher Snfereffen in feinem Gemith, legt fich die harteften Enthehrungen bei Vefriedigung dev nothwendigften Hedirfniffe auf, um die finnliche Kraft des firperlichen Be: bend gu brechen, und peinigt fic) mit Kafteiungen der Harte: ften Art, um im Ertragen bitterer Schmerzen feine ſcomme Standhaftigkeit zu bewaͤhren.

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Sweierlei Wirfungen find es vornamlidh, weldhe aus einem folden Beftreben Hervorgehen miffen, wodurd die Liebe gu. Gott nicht nur ihre urfpriingliche Bedeutung verliert, das ſchoͤpferiſche Princip bed Lebens gu bilden, fondern fogar auf eine Zerruttung der Seelenverfaffung binarbeitet. Zuvoͤrderſt muß die fromme Liebe, wenn fie fic) von allen anderen le: bensfraftigen Neigungen gewaltfam losreift, anftatt fie xu einem harmoniſchen Bunde zu vereinigen, ju einer heiligeren Bedeutung ju veredeln und gu einer freieren Entwidelung gu führen, mit-ifnen in einen vernichtenden Kampf treten, Mun find aber jene Neigungen als die Antriebe yur Befrie: digung nothwendiger VBedtirfniffe wefentlidhe und unvertilgbare Elemente der Gemithdverfaffung, welche fid) gegen einen -fie ertidtenden Zwang empdren, und deshalb in den ungeftiimften Ansbrichen fid) dem irre geleiteten Frommen wider feinen Millen ins Berouftfein draͤngen, weshalb er gewoͤhnlich fei: nen Swed einer ununterbrochenen GSeeligfeit gaͤnzlich verfeblt, und ftatt ifrer in endlofe Stinme “der tieffien Gemithéer- fhitterung geſtirzt wird. Das Leben der meiften Anachoreten war eine ununterbrochene Reihe von Kaͤmpfen mit ihren ge: waltſam fid) hervordraͤngenden Naturgefiihten, welde fie in ibrer Bethirung fir Eingebungen des Satans hielten, deffen wiithenden Angriffen fie um fo ffarfer ausgeſetzt waren, je mehr fie gegen ihn mit der Kraft der Verzweiflung anfampf: ten, und je mehr fie thre eigentliche Thatkraft durch die Wer: leugnung allet praftifehen Intereſſen gebrodjen hatten. Nir einigen frommen Schwaͤrmern, 3. B. dem Swedenborg, ſcheint es gelungen gu fein, dieſen furchbtbaren Quaalen, gu entrinnen, entweder weil fie, gumal in einem reiferen Alter, ihre weltlichen Intereſſen geſaͤttigt, oder weil fie ihrem Geifte eine methodifthe Bildung verfthafft hatten, durch welche 8 ibnen {eit wurde, ire frommen Lucubrationen in die Form wiſſenſchaftlicher Geftrebungen’ gu bringen, welche ald ſolche immer Frieder bem entzweiten Gemith gewahren.

“Die sweite Wirfung einer irre geleiteten, weil uͤbermaͤ— figen frommen Liebe ift jener Zuſtand des Bewußtſeins, wel: cher im Allgemeinen ben Namen ded Moyfticismus fihrt. Wir koͤnnen legteren am fdarfften bezeichnen, wenn wie ihn den

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abſoluten Gegenſatz gu der objectiven Beſonnenheit, naͤmlich zu dem reflectirenden Bewußtſein der wirklichen Welt in dem Inbegriff ihrer wefentlichen Verhaltniffe nennen. Durch vied befonnene Bewuftfein foll fic ver Menſch als den Birger der wirklichen Welt in feiner Abhangigfeit von ihren Gefegen, in feiner Bediirftigfeit alles deffen erfeunen, was fie ihm zur Erhaltung feines Lebens darbietet, und es ſchließt died Be: wuftfein cin objectiv wahres und logiſch rictiges Denfen in fic), ohne welded der Menſch fein Leben nicht in Ueberein: ſtimmung mit der duferen Weltordnung fahren fann, gegen deren Gefese verftofend er auf taufendfaltige Weife gu Grunde geben muß. Dieſe Befonnenheit wird nun von ber leiden: fchaftlichen Frommigfeit in dent Maaße verleugnet, ald fie dem Antriebe folgt, den unverbricliden Bundesvertrag des Menfchen mit der Aufenwelt fir ungiltig ju erklaͤren, daber fie denn bei der hochften Steigerung den objectiven Inhalt des Weltbewußtſeins als. unwabhr, das MNaturgefes ale un: gottlich verwirft, und auf eine vollige Zerſtoͤrung des bisheri- gen gefunden Denfens binarbeitet. Die nothwendige Folge davon ift eine Verdumpfung und Verddung des Bewußtſeins, deffen ſcharf ausgepraͤgte Vorftelungen ſich in einen truͤben, geftaltlofen Nebel auflofen, und ed Fann auf diefe Weife felbjt bis zu einer villigen VBetdubung kommen, welche fid als eine wirkliche Nacht ber die Seele ausbreitet. . Indeß letztere ift ihrer Natur nad gu einem raftlofen Scaffen und Umbilden derBorfiellungen gendthigt, daher denn jene voͤllige Veroͤdung und Entleerung des Bewuftfeins immer nur ein fury dauern: der Zuſtand fein Farin. Bald bilden fic) neue Reihen von PBorftellungen, jedoch aufer dem Zuſammenhange mit ihren natirliden Entwidelungsgefeben, daber fie ihren Inhalt nicht aus der witflidben Welt, fondern aus dev formlofen Gabrung im Gemitth entlehnen. Die uͤberſchwenglichen Wallungen des Iesteren find eS alfo, welche fid) ber Schwaͤrmer auf anfdau- lihe Weife gu vergegenwartigen ftvebt, und indem er erfullt von heifer Sehnſucht nad unmittelbarer Gemeinfchaft mit Gott, mit den Schaaren uͤberirdiſcher Wefen, fie fic) deuts lich vorguftellen ſucht, gaubert ibm feine erglihende Phantafie deren Bilder vor das trunfene Auge, welded fie umbullt

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vor einem glanjenden Nimbus, umgeben vor den Decoratio: nen einer himmliſchen Schaubuͤhne erblidt. Natuͤrlich halt er in feiner frommen Bethdrung diefe Ausgeburten der Phanta- fie, welche oft die volle Deutlidfeit, Lebendigfeit und plafti- fhe Abrundung finnlicer Wabhrnehmungen haben, fiir unmit: telbare gottlide Offenbarungen, in deren Anſchauung er fich mit ganzem Gemith verfenfen wiirde, wenn nicht die oben erwabnten bitteren Kaͤmpfe mit feinen natuͤrlichen Gefühlen ſich unter der Geſtalt von daͤmoniſchen und infernaliſchen Er— ſcheinungen an dem Spiegel ſeiner Seele reflectirten, und ſich unter die himmliſchen Heerfchaaren miſchten. Rechnen wir nun nod) dazu, daß dte gigellofe Phantafie ihre. Dichtungen oft in groteske, ungeheuerliche Formen ausarten (aft, fiw welde die Sprade gar feine Begeichnung hat, und daß der Geift an diefem Gaufelfpiel fic) abqualend, ifm nur mit ab- firufen, wahnwitigen Gedanfen einen Sinn unterlegen. fann, oder in villige Begriffsverwirrung gerathen muß, wabrend jede Ablenfung von diefem wiften Spiel regellos aufgeregter Krafte-durd ein befonnenes Handeln unmoͤglich wird; fo ſtellt fic) uns die ganze Seele alé ein gabrendeS Chaos dar, aus weldem feine fortfchreitende Entwidelung eines beftimmten Denfens und Handelns mehr hervorgehen fann, fondern wel: ches, wenn feinem blinden Walten fein Einhalt gethan wird, in vollige Selbſtzerruttung uͤbergehen muß.

Hiermit find nun im Allgemeinen die Zuge gegeben, in deren Berein fid) die wabhnwikige fromme Liebe abfpiegelt, wobei es fic) von felbft verfteht, daß die Indivinualitat jedes Schwaͤrmers mancherlei Befonderheiten “hineinfledten wird. Aus der unitberfehbaren Schaar der hierher gehoͤrigen Falle wable id) nachfolgende aus, welche alé Mufterbilder gelten fonnen.-

§. 2. Untonius, Hilarion.

Athanafius, welder (o. a. O. Tom. 2 pag. 450 sq.) cine ſehr ausfuͤhrliche Lebensbeſchreibung des Antonius giebt, verſichert feine Nachrichten von Minden eingezogen gu Haden, welche letzteren aufſuchten. Antonius, von chriftliden Ael: tern in Aegypten abjrammend, floh dei Umgaag mit anderen

Kindern und verſchmaͤhte jeden Durch den Tod ſeiner Aeltern reich und unabhaͤngig geworden, hoͤrte er im 18. Jahre im Tempel das Wort des Herrn gum reichen Juͤng⸗ linge.. Dieſe Gottesſtimme entſchied uͤber fein Leben. Er ſchenkte ſeine Guͤter den Armen (um 270) und zog ſich in ein Grabmal, dann in cin verfallenes Kaſtell des Gebirges zuruͤck. Eifrigen Andachtsuͤbungen und dem Leſen der heiligen Buͤcher in einem ſolchen Grade ergeben, daß er ihren Inhalt ſich unausloſchlich tief einpraͤgte, nahm ev ſich das Leben vortrefflicher Menſchen zum Muſter, ſo daß er durch Demuth, Froͤmmigkeit, Milde, feine Lebensart, Wachſamkeit, litteraͤri⸗ ſchen Fleiß ſich die Liebe und Achtung Aller erwarb. Dabei arbeitetẽ er fleißig, des apoſtoliſchen Ausſpruchs eingedenk: „wer nicht arbeitet, ſoll and nicht effen”; namentlich beſtand ſeine Arbeit im ſpaͤteren Leben, als er ſich in die fernſten Wuͤſten zuruͤckgezogen hatte, im Gartenbau, um fire ſich und feine jahlreichen Anhanger Nahrungsmittel yu fdaffen Am méiften wurde feine exaltirte Stimmung durch die firengfte, wabhrend des ganzen Lebens fortgefeste AScetif erhalten, wodurch ec die in ihm ermachenden ſinnlichen Begierden zu dampfen fuchte, indem er dads Wott ded Apoftels behersigte: cum in- firmus, tunc potens sum. Dft brachte te die Nachte ſchlaf⸗ los gu, oder er fdlicf auf einer Matte, auf bloßer Erde. Gr af taglid) nur einmal, nach Gonnenuntergang, oft nur am 2. oder 4. Tage. Geine Nahrung beftand aus. Brod, Gal; und Weffer, nie aus Fleifeh und Wein, uad fpatec fehamte ev fich fogar, in Gegenwart Anderer zu effen.

Wie immer unter gleichen Bedingungen ging auch. fir Ams tonius aus feinem beharrlichen Anfampfen gegen die Nature ordbnung eine ftarke Entzweiung des Gemiiths hervor, deſſen bei ihm ftarf ausgepragte Neigungen fic) ihm wider feinen Wil— len. gerdaltfam aufdrangen, “und ibm unter der fymbolifcen Form ſataniſcher Anfechtungen zum Bewußtfein famen, denen er aber mit unerfchitterlider Standbhaftigfeit Widerftand leiftete, ja welche er felbft trosig herausforderte. Zuerſt wollte der Teu- fel ihn von der Ascetik abbalten, indem er ihm feinen früheren Beſitz, die Corge fur feine Schwefter, feinen vornehmen Stand und den Geyuß finnlicher Vergniigungen ins Gedaͤchtniß rief,

und ihm an die Harte und Beſchwerde der Bugend, die Schwa: che ſeines Koͤrpers, die Lange der Zeit exinnerte. Dann fudte er ihn unter der Geftalt eines ſchoͤnen Weibes aur Wolluſt au regen, und als Antonius diefelbe, cingedenf der Leiden Ehri- fti und der Hollenftrafen dampfte, erſchien jener ihm als ſchwar⸗ get Knabe, nannte fid) den spiritus fornicationis, welder die Meiften befiege, und beflagte ſich, daß er ihm Nichts anhaben fonne, worauf Antonius ibm nur mit Spott und Berach-— tung antwortete. Gin anbdermal warf der Teufel ihm eine er— ftauntiche Menge Gold in den Weg, tuber welches er mit Ab— fchew hinwegfprang. Sn einer Nacht umringte ibn eine Schaar von Hillengeiftern, welche ihm eine folche Menge vow Wunden beibradjten, daß ef von Schmerzen erſchoͤpft ftumm auf der Erde lag; dennoch vief er nad) vollendetem Gebet ihnen in der naͤchſten Nacht zu: 5, bier bin id), Antonius, eure Wunden ſcheue ich nicht, wenn Shr aud) nod) Aergeres verfucht; fo foll mich doch Nichts von ber Liebe Chriſti trennen.” Hierauf porte er ein furchtbares Getdfe, wie von einem Erdbeben, die Mauern des Grabmahls, in welchem er fich befand, thaten fic auf, und eine Schaar von Teufeln unter der Geftalt von Lo- wen, Daren, Leoparden, Stieren, Schlangen, Scorpionen, Woifen ſturmte auf ibn ein, und griff ihn, jeder feiner Art ge: map unter entſetzlichem Gebrull und Zifthen ano . Ee empfand die heftigften Schmerzen unter ihren Stifen und.Griffen, rief ihnen aber fpottend gu: ,, Went For Macht befast, fo ware einer genug, mid) angugreifen; aber von Gott der Kraft be: raubt, glaubt Ihr mich durch die Menge gu fchrecten, und 08 ift cin deutliches Beichen eurer Schwaͤche, daß Ihr die Geftalt yon Shieren annehmt. Wenn Fhe etwas über mich vermigt, fo zaudert nidt, fondern greift mid) an, menn Shr aber Nichts fonnt, was flort Shr mid? Das Wertrahen auf Gott: ijt unjer Siegel und Schutzwehr.“ Durd das gedffnete Dach brang ein Lichtſtrahl gu ihm herab, als Offenbarung Gotres, weldje die Deufel verſcheuchte; er ridjtete an die Erſcheinung bie Frage: „warum erſchienſt Ou nicht gleich Anfangs, und linderteft. die Scmergen?” Cine Stimme antwortete: „Ich war sugegen, Antonius, gogerie aber, um.Deinen Kampf anzu— ſchauen. Da Du nicht unterlegtn bift, fo werde Yd frets dein

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Helfer fein, und Deinen Namen an allen. Orten berühmt ma: chen.” Zwanzig Jahre brachte er in diejer Klauſe yu, und nahm nur alle hatbe Jahre cinmal Brod von feinen Freunden ant, welche oft Seugen feiner unſichtbaren KRampfe mit den Teu— fein waren, die er durch Singen von Pfalmen befiegte. Hier- auf ging er aus feiner Ginfamfeit hervor, und. hielt an die verfammelte Menge feiner VBewunderer eine lange, merkwürdige Rede, welche bei Athanafius nachgelefen zu werden verdient. Gr pried darin die Ascetik mit begeiftertem Lobe, ermahnte, das irdiſche Leben dem himmliſchen aufzuopfern, verFiindete de- nen, welche ihm folgen witrden, daf fie, iber alle Jahrhunderte

herrfchen follten, nannte das gottfeelige Leben dad allen der.

menſchlichen Natur gemape, mit welcher alle Lufte und Begier⸗ den in Widerfpruch ftinden. Insbeſondere verbreitete er fich ausfuͤhrlich ber die erlittenen Anfechtungen des Veufels, und theilte feine Erfahrungen dariber mit, ſchilderte namentlich deſ⸗ fen Ohnmacht, Prablerei, die Anmaaßung, kuͤnftige Dinge vor- hergufagen, indem er 3. B. eine Wafferfluth in Aegypten anz fiimbdigen fonne, wenn in Aethiopien ein ftarker Regen géfallen fei, welched er ſchnell durch die Lifte fahrend leicht. erfahre. Jn diefem Sinne habe er auch aus ben griechifchen Drakeln ge- weiffagt. Ferner warnte ex gegen defjen Taͤuſchungen, dba er oft gum Beten Prmahne und in frommer Larve erfcheine,. Pſal⸗ men finge, aus der Schrift rede, ja fid) unter dem. Ramen Gottes und der Vorfehung einführe. ,

Zu meinem Bedauern muß ic) eS mix verfagen, auf alle intereffanten Gingelnheiten einzugehen, gumal auf die vielen Gee ſpraͤche, welche Antonius mit den ifm unter ungabligen For- men -erfcheinenden Teufeln hielt, deren Lift er jedergeit mit gro- fer Befonnenheit vereitelte. Jedoch kann ich mid der Bemer- fung nicht enthaltén, taf man der erwabnten Rede eine welt? hiftorifche Bedeutung beilegen mus, da fie einen fo unausloͤſch⸗ lichen Gindrud auf die gahlreihe Verſammlung machte, das Viele zur Nacheiferung fortgeriffen fidy in feiner Nahe anfiedel: ten, ihn gu ibrem geiftlichen Borftande und Vater erwahlten, und dadurd) thatfacdlicd) den Urfprung des Moͤnchsthums be- grindeten. Die allgemein erfannte unermefliche Wichtigkeit deffelben wird uns in der Folge nod) vielfach beſchaͤftigen; mit

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vollem Rechte eroͤffnet alſo Antonius den Reigen der from— men Schwaͤrmer, welche einen unendlich groͤßeren Antheil an dem Entwickelungsgange des Menſchengeſchlechts und an ſeiner jetzigen Cultur haben, als mance nuͤchterne Hiſtoriker ihnen beimeſſen wollen. Antonius ſoll damals, als er aus ſeiner Einſamkeit hervortrat, Nichts an ſeiner Kraft eingebuͤßt haben, weder abgemagert, nocd) fett geweſen, ſondern dieſelbe blihende Geſtalt wie vor ſeinem Anachoretenleben gezeigt haben. Die— ſelbe Reinheit des Geiſtes und Anmuth der Sitten, keine Spur von Gram oder wolliftiger Erſchlaffung, fein Wechſel von Lachen und Betribnif, feine Beſtuͤrzung oder Hoffahrt ber die her— beiftromende Menge, welder er in geiftiger Hohheit und Stand- haftigfeit entgegentrat. Vornaͤmlich drang er darauf, daB alle Sorgfalt bem Geifte geweiht und der Korper nur in fo weit beriidfidtigt werden folle, ald feine Beduͤrfniſſe dringend er- heifchten. Gr verrichtete nun eine Menge Wunderheilungen, tried Teufel aus, und ermunterte bie Chriften gur ftandhaften Aus: - bauer in den von Marimus gegen fie anbefoblenen Verfol- gungen, von denen er fiir feine Perfon verfdont blieb, obgleid er unerfchroden in Alerandrien auftrat. Dock fehnte er, durd) die an ihn gemachten Anforderungen tuber feine Krdfte ange: firengt, fic) in die Rube der Cinfamfeit zuruͤck, und wurde von einer Stimme belehrt, daß er fie nur in der entfernteften Wifte finden wiirde, und daß er fid) deshalb einer voriiber- ziehenden Garavane von Saracenen anfcbliefen folle. Gein dort angelegter Garten wurde ihm durch wilde Bhiere gerftort, wel: che aber auf fein Verbot nie wiederfehrten. Nod hatte er viele Anfechtungen vom Satan gu erleiden, welder ihn mit einer Heerde von zaͤhnefletſchenden Hydnen umringte, ihm beim Korb: machen als ein Ungeheuer, halb Menſch, halb Eſel, erfchien; aber er trieb ihn ftets in die Flucht. An feine Ginger richtete er fromme Grmahnungen, fie follten den Zorn dampfen, fid gegenfeitig in Nadhficht ertragen, ihre Handlungen und Gemiuths- guftande auffdreiben, ald ob diefelben Alen befannt gemadt werden follten, wo dann die Furcht davor von fimbdliden Gedanfen und Thaten zurüuͤckſchrecken werde. Oft hatte er Pifionen anderer Art, er fah z. B. die Seele des Um: mius, eines Anachoreten in Nitrien, gum Himmel auffteigen, Soeler Theorie d. relig. Wahnfinns. 5

66 empfangen von einer jubelnden Schaar, und eine Stimme belehrte ihn, daß derfelbe geftorben fei. Einmal wurde er pon mebreren Geftalten in die Luft erboben, wo fcheufiliche Kraben ihm den Weg verjperrten, welche ihn als ‘den ibrigen forderten. Seine Begleiter entgegneten aber, Gott habe vom Tage der Geburt an jede Schuld von thm genommen; thnen ftebe nur frei, ibn fiir die Zeit anjuflagen, in welcher er als Mind) fid) dem Dienfte Gottes geweiht habe. Da fie dies gu thun vergeblid) fid) bemubten, fo wurde er ploelid) auf die Erde zuruͤckverſetzt. Er fah hierin die Hindernifje auf dem Wege gum Himmel, Wenn er in Zweifeln befangen auf einem Verge faB, fo wurden fie ihm durch gottliche Offenbarungen gelofet. Machdem er mit Cinigen tuber den Weg gum ewigen Leben ge— fprochen hatte, rief eine Stimme in der Nacht ihm zu: ,, ftebe auf, fomme und ſchaue.“ Als er hinaustrat fah er eine fchred: liche, bis in die Wolfen reichende Geftalt, welche die Hand aus— ftredte, einige gum Himmel aufſchwebende gefliigelte Seelen er: haſchte, und dariiber froblocdte, wabrend fie vor Wuth mit den Zaͤhnen knirſchte, wenn andere Seelen ihr gliclich entſchluͤpf— ten. Die Stimme rief ihm gu: ,, betrachte died Geficht”, und er erfannte in bem Ungeihiim leicht den boͤſen Feind, welcher iiber die Frommen neidiſch ergrimmte, und die Gottlofen ju fei nem Dienfte zwang. Antonius errang in fpateren Jahren eine Dauernde Freudigteit des Geijtes, und war dabei fo demuͤ— thig, daß er fic den Bifchofen und Presbytern bereitwillig un: terordDnete; dabei eiferte er fiir den Kanon der Bibel und ge: gen die Arianer, welche er, da ihre Lehre verderblicher fei, als Sehlangengift, nicht nur von feinem Berge, foudern auch auf Anfuden eines Bifchofs aus Alerandrien verjagte. Dod war er fpater in tiefe Draurigfeit verfunfen, und verficherte, es fei beffer gu fterben, al3 die Erfuͤllung einer Offenbarung ju erle- ben, in welcher er den Zorn Gottes iiber die Kirche, und deren Beherrfchung durch Manner erfahren folle, welche ver: nunftlofen Bhieren glicen. Er fah namlih neben einem Altar eine Heerde von Maulefeln, welche einen fiirchterlichen Larm machten, und in das innere Heiligthum eindringen wollten, wo- bet eine Stimme rief: ,,mein Altar wird verflucht werden.” Zwei Jahre fpater erfolgte der Aufftand der Arianer in Aleran:

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drien, wofelbft fie die Kirchen erftiirmten und plimbderten. An— tonius troftete jedod die Seinigen, daf der Glanz der Kirche wieder hergeftellt werden würde.

Sehr merfwirdig waren feine Disputationen mit griechiſch gebildeten Philofophen, denen er die Nichtigfeit des heidniſchen Gultus, die Herabwirdigung der Gottheit gu Hen Leidenfchaften ber Menfchen, gu den Begierden der Bhiere, die Irrthuͤmer des Ofiris und der Iſis, die Pie des Typhon, die Fluct des Saturns, fein Verfehlingen der Kinder, den an ihm ver— iibten Vatermord, die allegorifche Verherrlichung des Feuers als binfenden Bulcan, der Luft als Juno, der Sonne als Apollo, des Mondes als Diana, des Meeres als Neptun, fur; alle Greuel der Abgoͤtterei vorwarf. Dagegen pried er die Gemithsftarfe und Podesverachtung der Chriften, den Cieg ihres Glaubens unter Verfolgungen durd) den Wetteifer einer reinen Gotteserfenntnif und der lauterften Tugenden, wabrend das Heidenthum im Beſitze der Macht, unter der Feter glan: sender Fefte verfalle. Die Philofophen mußten felbft gugeben, daß der aus dem Herzen ftammende Glaube Fraftiger fei, als alle ſophiſtiſchen Gruͤnde; daher hielt Antonius ihnen vor, daß die Dialefti® als menfchliche Kunft durd) den von Gott ftammenten Glauben tiberfliffig gemacht werde, und daß lebte- rer feine Buͤrgſchaft in den chrifilichen Tugenden finde. Beſon— ders tricb er fie in die Enge, ald fie tuber feinen Mangel an Gelehrfamfcit fpotteten. Er fragte fie: was duͤnkt Euch beffer, Geift oder Gelebrfamfeit, entfteht jener aus diefer, oder Ddiefe aus jenem? Als fie erwiederten, der Geift als Quelle der Ge: lehrfamfeit fet beffer, antwortete er: „Wer gefunden Geiftes ift, bedarf der Gelehrfamfeit nicht.” Beſchaͤmt durd) diefe und andere treffende Widerlegungen hérten fie beim Abſchiede nod yon ihm die Bemerfung: ,, Was wundert Shr Eud? Dies iff nicht unfer, fondern Chriſti Werk* (es war damit befonders feine Austreibung einiger Veufel gemeint), welder es durch die— jenigen vollbringt, die an ihn glauben. Daher glaubt und er: fennt aud) Ihr, daß unfre Kunſt nicht in Worten fteht, fon: dern im Glauben, welder in der Liebe gu Chrifto wire. Renn hr derfelben theilhaftig feid, fo werdet Ihr nicht der

orte begehren. 5 *

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Antonius, welcher Viele gum Chriftenthum befehrte, oft alg Schiedsrichter in Streitigfeiten aufgerufen wurde, ftets trd- ftete, ermabhnte, und eine grofe Schaar von Anhangern warb, erhielt fid) bis gu feinem tm Alter von 105 Jahren erfolgten Bode bei voller Gefundbheit und geiftiger Klarheit. Geinen Tod verfiindete er dey Minden mit heiterem Ginne vorher, er: mahnte fie gum Bebarren im Glauben an Chriftus, und ge: bot ihnen, feinen Leichnam an einer verborgenen Stelle gu be: graben, damit demfelben nicht die Ehre eines Heiligen wider: fabre.

Giner feiner zahlreichen Anhanger, Hilarion, deffen Leben Hieronymus (a. a. O. Tom. 2 p. 13 sq.) ausfuͤhrlich fil: dert, werdient nod) einer befonderen Erwahnung, weil er die Ascetik ſchon bis gu dem hohen Grade von Naturwidrigfeit trieb, welche den fpateren Anadoreten als Gefes galt. Er war in der Nahe von Gaza geboren, der Sohn heidnifder Aeltern, und bildete in Alerandrien bei einem Grammatifus fein groped Talent sur VBeredtfamFett aus. Bum Chriftenthum iibergetre- ten, wurde er durd den grofen Muf des Antonius gu ihm gelodt, und verweilte bet ihm gwei Monate. Nach Alerandrien guriidgefebrt vertheilte er fein Grbe unter feine Bruͤder und Armen und 30g ſich, 15 Jahre alt, in eine Einoͤde bei Gaza zurück. Er hatte einen zarten Korper, ertrug Hike und Kalte fehr ſchwer, befleidete fid) aber nur mit einem Gace und einem Oberrod aus Fellen, und af erſt nad) Sonnenuntergang 15 Fei⸗ gen. Der Veufel reigte feinen Ginn zur Wolluft, weshalb er gornig feine Bruſt ſchlug und gu ſich felbft fprad: „ich will did) Efel dahin bringen, daß du nicht ſchlaͤgſt, und dic) nicht mit Gerfte, fondern mit Spreu fiittern. Mit Hunger und Durft will id) dic) zwingen, dic mit ſchweren Laſten beladen, burd) Hike und Malte treiben, daf du vor Hunger die Wolluft vergift.” Nur an jedem 8. und 4. Page nahm er Feigen und den Gaft von Krautern ju fid), betete und fang viel, acerte mit dem Rarft, flocht Koͤrbe aus Binfen. Dabei magerte er fo ab, daf kaum die Knoden zuſammenhingen. In einer Nadt borte er Schreien und Blifen von Thieren, Gebruͤll von Loͤ— wen und Stieren, Weiberflagen, ein Getofe wie von einem Kriegsheer und anderes wunderbares Geraͤuſch. Er erfannte

hierin die Angriffe des Teufels, ſank betend auf die Kniee, befreujigte fid). Als der Mond aufging, ſtuͤrzte eine Heerde von Pferden auf ihn gu, welche aber ploͤtzlich von der Erde verfdlungen wurden, als er den Namen Fefus ausrief. Bei ag und Nadjt wurde er geplagt. Wenn er lag, nabten fid ihm nadte Weiber, beim Hunger erſchienen ihm die Foftlichften Speifen. Zuweilen floh ein heulender Wolf, ein bellender Hund voriber, wenn er fang, fibrten Gladiatoren einen Kampf vor ihm auf, und einer, welder todt gu feinen Fuͤßen niederftirste, flebte ihn um Begraͤbniß an. Als er, den Kopf zur Erde ge- neigt, betete, fprang der Teufel auf feinen Rien, geifielte ibm die Seiten mit den Ferfen, den Nacen mit einer Peitſche. » Gi, ſprach derfelbe, warum fdlafft Du, und willft Du Gerfte geniefen, wenn Du unterliegft?” Wom 16 —2O. Fabre ertrug er Hike und Megen in einer aus Binfen gefloctenen Hirtte ; barauf grub er fic) eine Hohle von 5 Fuß, niedriger als fein Wuchs und etwas langer. Bis zum Dode fcblief er auf nad: ter Erde und Binfenmatten. Den Sad, welchen er trug, wuſch er nie, und den Reg vertaufchte er erft, al8 derfelbe in Stuͤcken perriffen war. Drei Jahre genof er blos Linfen in Faltem Waſ— fer aufgeweicht, die folgenden drei Jahre geddrrtes Brot mit Waffer und Salz. Vom 27—3O0. Fabre lebte er von Krdutern und Wurzeln; von da bis gum 35. Jahre af er taͤglich 6 Un- zen Gerftenbrot und wenig, obne Del gekochtes Gemiife; dod febte er Del hingu, als feine Augen dunkel wurden und ein garftiger Ausſchlag feinen Koͤrper bedecfte. Dieſe Lebensweife ſetzte er mit Ausſchluß jeder anderen Nahrung bis zum 63. Sabre fort. Mun fiihlte er fid) fo entfraftet, daB er den nahen Zod erwartete, daher er fic) des Brotes ganglid) enthielt, und fid aus Mehl und zerriebenen Krautern eine Bruͤhe bereitete, fo baf er an Speife und Trank faum 5 Unjen genof.

In fleten Andachtsuͤbungen lebend, fo daß er betete, Pſal— men fang, und fid) den Inhalt der heiligen. Schrift einpragte, fam er bald in einen durch ganz Palaftina verbreiteten Ruf ber Heiligfeit, daher denn Schaaren von geiftig und leiblich Kranken Hilfe begehrend ihm zuſtroͤmten. Ich verweile bei ſei— nen Wunderheilungen dem obligaten Attribute aller Schwaͤrme— rei alter und neuer Zeit nicht, obgleich Hieronymus ſie mit

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grofem Mortgeprange fchildert; bemerft* gu werden verdient aber, daß nad feinem Vorgange unzaͤhlige Klofter in Palaftina geftiftet wurden, deren Mince in Schaaren gu thm ftrdomten. Zur Beit der Weinlefe befuchte er fie in thren Bellen, und hatte oft 2000 Begleiter bei fic. Gn Menge kamen Bifchofe, Pres- byter, Priefter, Moͤnche, chriftliche Frauen, gemeines Volk gu ibm, um geweihtes Brot von ihm gu empfangen. Immerfort pon diefem Andrange beldftigt, febnte er fid) nad einfamer Rube, und beflagte fic dariiber, daß er in bie Welt suri: gezogen, und wider feinen Willen mit Anfehen und Beſitz aus- geftattet werde. Er beſchloß daher auf einem Eſel abgureifen, weil er aus Schwache Faum geben fonnte. Als dies befannt wurde, verfammelten fid) mehr als zehntaufend Menfcen, um ihn zurückzuhalten. Unbewegt fprad er gu ihnen: „ich Fann meinen Gott nicht jum Luͤgner machen, Fann nicht die umge— ſtuͤrzten Altdre und Kirchen Chrifti, nicht das Blut meiner Kinder fehen.” Die Anweſenden begriffen, daß ihm eine Of: fenbarung gu Theil geworden fei, welche er verfdwieg, und be- wadten ibn. Da erflarte er, daß er nicht Speife nod) Trank zu fid) nehmen werde, wenn fie ihn nicht entlieBen. Nach fie: bentigigem Faſten befreit nahm er von den Meiften Abschied, und 30g von einer grofen Schaar begleitet nad) Vetilien, wo er die Uebrigen zur Rucfehr bewog, und 40 Monche aus: wablte, welde faftend den Weg nad) Sonnenuntergang fort: fegten. Mad unfaglidhen Anftrengungen auf mebhrtagiger Reife durch eine fcbredliche Wiifte fam er gu einem hohen Berge, wo 2 Monde wobhnten, deren einer, Ffaac, der Dolmetfcher des Antonius gewefen war. Am Fuße des Felfens fprudelten Quellen, welde fid) gu einem Fluffe vereinigten, an defjen Ufern unjzablige Palmen wudhfen. Hier wanbdelte er mit dem Schiler des Antonius, fang und betete mit ihm. Gr pflangte Baume und Weinftice, grub einen Teich zur Bewaͤſſerung des Gartens. Seine Zelle war im Quadrat nur fo grof, daß ein Menſch darin legen fonnte. Auf dem Gipfel des Berges, zu weldem man nur auf einem befchwerlichen Gchnedengange ge: langte, legte er 2 abniide Sellen an, in welche er fic flinch: tete, wenn er von der Menge der Befucher belaftigt wurde. Als eine Heerde wilder Efel feinen Garten verwisftete, gebot er

G1 einem, gu fteben, ſchlug ihn, und fragte ibn: ,, Warum fragt ihr, was ibr nicht gefdet habt?” Mie ruͤhrten die Efel wieder Gtwas an, fondern tranfen blos aus der Quelle. Spater fehrte er mit 2 Minden nad Aphroditon zuruͤck, verweilte dort in der Wifte in folder Cinfamfeit und Schweigen, daß er fagte, jest fange er erft an, Chriſto gu dienen. Ceit 3 Jah— ren batte es nicht geregnet, fo daß man fagte, die Natur trauere uber den Zod des Antonius. Verhungerte Manner und Weiber ftromten herbei, um von dem Diener Chrifti und dem Nachfolger des Antonius Regen gu erflehen. Tief betriibt richtete er die Augen gen Himmel, und betete mit er: hobenen Handen, worauf ein Regen herabftrdmte. Als die Erde getranft war, fand fid eine folde Menge von Sdlangen und giftigen Thieren ein, daß Unjablige, welche ihre Zuflucht nicht jum Hilarton nabmen, umfamen. Wenn aber die Wunden mit dem von ihm geweihten Del beſtrichen wurden, fo erfolgte “fogleid) die Heilung*). Da er auch hier mit grofer Ehre uͤber— bauft wurde, floh er nach der Wuͤſte bei Alerandrien, um in ber fernften Dafe feine Cinfiedelei aufzufdlagen. Die Monche dort wollten ibn nicht fortlaffen; er aber erwiederte, ic fliebe, um Gud) fein Unbeil gu bringen. Denn eS ſuchten ihn Ein— wobner von Gaza mit Lictoren auf, da fie vom Raifer Ju— lianus den Bod des Hilarion und des Hefydhius erbeten batten. Hilarion fam durch unwegfame Wiften nad) einer anderen Dafe, wo er ein Jahr lang blieb, aber aud) dort durd feinen Ruhm verrathen, wollte er nach einer Inſel uͤberſchiffen.

*) Man braucht fid nur Ne unjabligen Wundermahrchen in die Erin— nerung ju rufen, gu denen im neunzehnten Sabrhunderte C!!) dic Ausftellung des heiligen Mods in Trier Beranlaffung gab, um es fic) ſehr leicht erflaren gu können, wie im 4. Jabhrhunderte der Glan; der Heiligkcit cines firengen Anachoreten ganze Völker dergeftalt blendete, daß fie jufdllige und geringfiigige Ereigniffe ins Unendliche vergréferten und mit dem Nimbus einer géttliden Macht umgaben. Sene den Hilarion fo wie den Antonius betreffenden Gagen er— {angen aber Dadurd eine welthiſtoriſche Bedeutung, daß fie die Asce— tif ju einer wahren Glorie verklärten, und dadurch gur leidenſchaft— lichen Nacheiferung aufforderten, Dagegen umgekehrt der Rod in Trier bei Unjabligen die Illuſionen ihres Glaubens zerſtört, und madtig sum endlichen Siege der Vernunft beigetragen hat.

72 Sein Schiller Hadrian bracte ihm die Nadridt, daß Ju— lianus geftorben, und ein chriftlicher Kaiſer gefolgt fei; er mage daber in fein Rlofter zuruͤckkehren. Hilarion verfchmabte dies, und trat auf einem RKameel die Reife durd) die grofe Libyfde Wiifte nach der Seeftadt Paretonium an, wo Ha— brian, nad der Heimath und der Magiftratswiirde ſehnſuͤch— tig, ihn mit Sdmabungen iiberhaufte, ihn verließ, und bald darauf an der Gelbfudt ftarb. Hilarion fciffte fidh in Be— gleitung eines GreifeS aus Gaza nad Sicilien ein, dort lan- dete er am Borgebirge Pachynum, und begab fic) fief ind Land auf einen wiiften Ader, wo er Holzbuͤndel machte, um fich fir deren Erloͤs Lebensmittel gu faufen. Um diefe Zeit befand ſich in Nom ein Soldat in der Petersfirche, welder vom Teufel befeffen ausrief: „Vor einigen Tagen ift in Sicilien ein Die- ner Ghrifti, Hilarion, gelandet, welder dort verborgen ju fein glaubt; ich will ibn auffuchen und verrathen.” Vom Veu- fel geleitet fcbiffte er nad) Pachynum, und fam jum Hilarion,” vor weldem er fic) niederwarf und gebeilt wurde. Der Ruf fibrte bem Hilarion gabhllofe Fromme und Kranfe zu, wel: che von thm gebeilt wurden, unter Anderen ein vornehmer Waſſerſuͤchtiger. Cein Schiller Hefydhius fucte ibn drei Jahre vergebens uͤberall auf; endlich fand er ihn, geleitet durch den allverbreiteten Ruf des Heiligen, in Sicilien, fiel bem Mei: fler gu Fifen, und erfuhr von dem Greife aus Gaza, daß jener gu wilden Voͤlkern fliehen wolle, wo er unbefannt blei ben fonne. Wirklid) begab Hilarion fid) nad) Cpidaurus in Dalmatien, wo er nicht lange werborgen blieb, Denn ein Drache (boa genannt, weil er Stiere verfdlingen fonnte) ver- wiftete die Gegend, raubte Menfchen und Thiere. Hilarion lief einen Gcheiterhaufen errichten, befahl dem Drachen hinauf— gufriedhhen und verbrannte ifn. Er Flagte, daß er fic) aud fchweigend durch ein Wunder verrieth, und dachte wieder an die Flucht. Cin nad Julians Vode uberall ausgebrochenes GErdbeben, wodurd Sdiffe auf einen Felfen gefchleudert wur- ben, erfchredte die Epidaurier, welde den Hilarion an dads Meeresufer fihrten, wo er3 Kreuze auf den Sand ſchrieb. Dads Meer erhob fid) gu unglaublider Hohe, braufete ungeftim ge: gen das ihm gefeste Hindernif, und wid) gurid. Hilarion

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fliichtete fid) vor den ihm zugedachten Ehrenbezeugungen in der Nacht auf einem Fleinen Kahn, und beftieg nad) 2 Tagen ein Schiff, weldes thn nad Cypern brachte. Won Seerdubern be- droht trat er an den Bordertheil des Schiffes, und rief den bis auf die Weite eines Steinwurfs genahten Seerdubern ju: „bis Hierher und nicht weiter.” Aller Anftrengungen ungeach— tet widen bie Schiffe derfelben bié nad) der Kuͤſte aurid. Ald er auf Gypern angelangt war, riefen alle dDortigen Daͤmoniſchen, Hilarion, der Diener Chrifti fei angelangt; fie wollten alle ju ihm eilen. Waͤhrend 30 Tage famen 200 Manner und Weiber gu ihm. Betruͤbt, nirgends Rube finden zu Fonnen, griff er die Teufel fo mit VBeten an, daF einige Befefjene fo- gleid), alle binnen einer Woche geheilt waren. Zuletzt fiedelte er fid) in Aegypten in einer fteilen FelSgegend an, wofelbft er eine Dempelruine fand, aus welder bei Nachte unzablige Teu— fel8ftimmen fchallten. Erfreut, feine Feinde in der Mahe gu haben, wobnte er 6 Sabre dort; indeß neue Wunderheilungen jogen einen Schwarm von Verehrern und Hilfsbediirftigen her- bei, fo daß er fchon an eine neue Flucht dachte, als er im 80. Sabre unter den Worten ftarb: Wandre aus Seele, was furdteft du dic) und gogerft? Du haft 70 Sabre Chrifto ge: dient und fliehft den Bod?

§. 3. Swedenborg.

Emanuel v. Swedenborg (1688 1772), Affefjor am Bergcollegium ju Stodholm, ein vielfeitig gebildeter Ges lebrter, verfafte von feinem 21—52. Lebensjahre viele Schrif— ten tiber Mineralogie, Phyfif, Aftronomie und Mathematil, und auferdem nod mehrere Buͤcher techniſchen Inhalts uͤber den Bau der Haͤfen und Werfte, der Schleuſen und Schiffe und uͤber den Gehalt der Muͤnzen. Seine merkwuͤrdigſte Schrift heißt: Principia rerum naturalium, sive novorum tentami- num phaenomena mundi elementaris philosophice expli- candi libri tres 1734, Tomi tres in fol., ein metaphyſiſch mathematijdes Syftem im Geifte der Carteſianiſchen Wirbel. Sein ethiſcher Charafter pragt fid) darin in den edelften Zuͤgen aus, da er allem Gtreite fern, ja nicht einmal auf Anerfen-

nung begierig, blog vom Gifer der Wahrheit geleitet auf ihren Sieg hofft. Im 52. Jahre wandte er fic) den religidfen For- ſchungen gu. Bet der von diefen gu gebenden Darftellung folge id) vorndmlid) der im Verzeichniß angegebenen Schrift von Gorres, welcher dem Leben und den zahlreichen Schriften Swedenborgs ein forgfaltiges Studium gewidmet hat.

Sm Fabre 1745 wabrend eines Aufenthalts in London erſchien ihm wabrend einer Nacht die von Licht ftrablende Ge: ftalt eines Mannes, welche gu ihm fpradh: „Ich bin Gott der Herr, Schoͤpfer und GErlofer; ic) habe dic) gewabit, um den Menfchen den inneren geiftigen Ginn der heiligen Schrift ju deuten, und ich werde dir vorfagen, was du fchreiben follft.” Swebdenborg bemerft dabei: ,, Fir diesmal war id nicht erſchrocken, und das Licht, obgleid) fehr durchdringend, machte doc) feinen ſehr merflichen Gindrud auf mein Auge. Der Herr war in Purpur gefleidet, und die Erfcheinung dauerte eine Viertelftunde. Diefe felbe Macht wurden die Augen mei— nes inneren Menfchen gedffnet, und ic) gewann das Vermoͤ— gen, in den Himmel, in die Geifterwelt und in die Holle zu fhauen, wo id) mebhrere Perfonen meiner Befanntfchaft, einige feit lange, andere erft feit kurzer Zeit geftorben, fand.” Gr gab von diefer Zeit an alle Studien und Aemter auf, um dem neuen Beruf fortan allein ju leben, und gab nun in einem Alter, wo gewdhnlic) alle Seelenfrafte gu ermuͤden beginnen, eine neue Reihe von Schriften heraus, die in ſchnel— ler, ununterbrochener Folge durch 28 Sabre bis gu feinem im 85. Sabre erfolgten Vode reichen. Er ſpricht in diefen Schrif— . fen die fefte Ucberzeugung aus, daf der Here ihm wirflid eine folde Sendung anvertraut, und daß der Gefandte Forperlicd unter den Menſchen, im Geifte aber in einer hodheren Welt wanbdelnd, in voller WirklichFeit Ales gefehen, was er iiber die Geifterwelt berichtet, wobei er Gott und die Engel als Beugen feiner Wabhrhaftigfeit aufruft. ,, Wohl werden, fagt er, die Meiften, die meinen Bericht lefen, fie fir Erjeugniffe meiner franfen Einbildungskraft halten; aber ich betheure, daß Alles, was ich erjahle, fic) vor meinen hellen, offenen Augen zugetragen; ich habe es nicht fcblafend im Traume gefeben, fondern bet vollem Bewußtſein hat der Herr es mir mitge-

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theilt; er hat mir die Augen aufgethan, daß ich den Himmel geſchaut, und mit ſeinen Bewohnern verkehrt, naͤher als dies auf Erden moͤglich iſt, denn der geiſtige Menſch erkennt den geiſtigen viel beſſer, als der irdiſche mit ſeines Gleichen ſich verſtaͤndigt. Ich kann nicht wehren, daß man den Glauben mir verſagt, ich kann Andere nicht in den Zuſtand bringen, in den mich Gott geſetzt, daß ſie mit ihren eigenen Augen und Ohren ſich von der Wahrheit der Thatſachen uͤberzeugen, die ich berichte; es haͤngt nicht von mir ab, ſie mit Engeln in Verbindung zu ſetzen, noch kann ich Wunder thun, um ihrem Verſtande die rechte Empfaͤnglichkeit zu geben. Aber wenn man mit Aufmerkſamkeit meine Schriften lieſt, voll wie fie von ben Dingen find, von denen man bisher Nichts ge: wuft, fo fann man fecbliefen, daB ich obne wirfliche Erſchei— nungen und ohne Umgang mit Engeln unmodglid) Kenntnif von thnen gewinnen fonnte. Man denfe tbrigens ja nicht, bap ich ohne ausdridlicen Befehl des Herrn Dinge befannt gemacht hatte, von denen ic) wohl gum voraus wiffen fonnte, daß man fie fir Lugen halten wiirde, und die mic) nothwene dig im Ginne von Wielen lacherlid) machen mufiten. Aud diefen Befehl werden fie mir nicht glauben wollen, dann bleibt mir nur die Genugthuung, meinem Gotte gehorcht gu haben, und mit Paulus fagen 3u fonnen: Nos stulti propter Chri- stum, Si insanimus Deo insanimus.”

Was der Bifionair in folcher Weife feit jenem Tage 28 Sabre lang durch) die Dauer feines gangen ubrigen Lebens ftandhaft behauptete, bas hat er aud) tm Tode nod betheuert. Richard Shearfmith und feine Gattin, bei denen Swe— benborg tn London ftarb, machten am 24. November 1785 tiber feinen Bod die gerichtliche Anzeige, die fie eidlich erhaͤr— teten: Gwedenborg hatte um Weihnadten einen Anfall von Lahmung; er erholte fic) ein wenig, wurde aber ſchwach und franf, 15 Zage vor feinem Bode nahm er die Communion aus den Handen des ſchwediſchen Geiftliden Ferelius, dem er empfabl, bet der in feinen Schriften enthaltenen Wahrheit gu verharren. Wenige Zeit vor feinem Tobe verloren fic) feine Gefichte, er war untroftlich dariiber fo lange, bis er nach eini- gen Bagen fie wieder erhielt, was ihn iiberglidlid) machte.

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Sn feinen letzten Tagen war er, wie immer, bei voller Gei- fiedfraft, hatte fein Gedaͤchtniß ungefchwadt bis sum lebten Augenblide, und e6 ging die ganze Zeit iber fein Wort aus feinem Munde, das einer ZBurtidnahme des frither Gelehrten irgendwie aͤhnlich fah. Er felbft fditdert feinen 3uftand in drei verfdiedenen Formen, im erften gewoͤhnlich ganz rubigen und befonnenen erfchienen die Geifter um und felbft in ihm; im zweiten feierlichen band und fcarfte eine Entzuͤckung alle feine Sinne zugleich; im bdritten am fparfamften ihm gewabr- ten entridte der Geift ihn in wenigen Momenten der Beit und dem Raum, und cif ihn wher unzaͤhlige Gegenftande daz bin. Gr war ein befonnener, in fic) wohl geordneter, geiſt— reicher, wiffenfchaftlich gebildeter, guverlaffiger, religidfer Mann, den mitten in der Blithe feiner Gefundheit, und im Beſitz einer Lebendsfraft, die beinahe nod ein ganged Menfchenalter ausdauerte, auf einmal diefer Zuſtand anwanbdelte. Die Bez gtindung der neuen Rirde als bed in der Apokalypfe beſchrie— benen neuen Serufalems, nachdem Glaube und Liebe auf Er: ben erloſchen, ift der Zweck der Offenbarung, bie an den Seber, den der Herr erwedt, gelangt. Er bezeugt, daß, da ber Herr in eigener Perfon fich nicht habe offenbaren koͤnnen, und dod) fiir die Bufunft die Beit herbeigefommen, er fiir den Bau der neuen Kirche ihn gum Verkuͤndiger feiner Lehre aus: erfehen; er verfidert, dba er viele Sabre lang in der Getfter welt gewefen, Himmel und Hille ihm zugaͤnglich geworden, daß er taufend und taufend mal mit Engeln und Geiftern verfehrt, daß der Herr ihm die Augen gedffnet.

Gorres urtheilt (a. a. O. S. 79) uͤber Swedenborg: Was zunaͤchſt den Zuftand, die Hoͤhe und die Exrtenfitat fei ner geiftigen Kraͤfte betrifft; fo ift Nichts an ihm zu bemer- fen, was irgend auf ein Abnehmen oder Ermatten derfelben feit der frubeften Beit, wo er feine wiffenfchaftlicdben Schriften gefertigt hat, deuten fonnte. Diefelbe Kraft, die dort vor: geherrſcht, finden wir aud) bier im lebhafteſten Spiel; derfelbe Scharfſinn, der dort gewaltet, drangt aud) hier wberall mit immer nod) ungeſchwaͤchter Thaͤtigkeit fid) vor, und die went: ger rege Urtheilsfraft aft fic) gern von ihm den Rang abge- winnen. Diefelbe geiftige Combinationsgabe, die in jenen fri:

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heren Hervorbringungen gewirft, hat aud) diefe fpateren genau auf Ddiefelbe Stufe der Gediegenheit hinaufgehoben, und durch eine gewiffe allzu ſyſtematiſche Befchranftheit diefelbe Cintd- nigfeit daruͤber ausgebreitet. Die gleide mathematiſch ftrenge Disciplin, die dort alle Wirkſamkeit geregelt, will auch hier fic) nicht verleugnen. Darum lauft Alles in einem vollfom: men folgerechten 3ufammenhange ab; nirgends erfceint ein fic) felbft auffebender Widerfprud, nirgends das Abfpringende, Unjufammenbhangende, Willfiirliche, Unlogiſche, wie es die Er: zeugniſſe des Traumes oder einer regellofen Phantafie gu be— zeichnen pflegt; es fügt fic) vielmebr Alles in einem ftetig zu— fammenbangenden Ganzen leicht gufammen. Daffelbe Wohl: wollen, Ddiefelbe Milde des Charafters, diefelbe Rechtlicfeit, daſſelbe liebreiche Herz, kurz das ganze edle Naturell, von dem man, als der Seber nocd) Rind gewefen, gefagt, die Engel fprachen aus ihm, leuchtet aud) bier iiberall durch, und ge: winnt die Achtung und Liebe felbft deffen, der feine Sendung nicht anerfennt, und mit ibren Mefultaten fich nicht befreun: den Fann *) Das Gingige, was diefe myſtiſchen Erzeugniſſe vor den. philofophifchen Ddeffelben Gerfaffers auszeichnet, und wie es ibren natuͤrlichen Gharafter ausmacht, fo aud gang natirlid) mit der Art ihrer Hervorbringung zuſammenhaͤngt, ift die poetiſch plaftifhe Kraft, von der in der wiffenfchaft- lichen Bhatigfeit faum eine ſchwache Spur erfcheint, und die hier in einem keinesweges unbedeutenden Grade fic) wirffam erweift. Viele Bilder in feinen Vifionen find ungemein glid: lich erfunden; treffende Hieroglyphen umfchreiben fie mit fpre- chend ausdrudsvollen Formen die Ideen, die er darin vor die Anfchauung zu bringen fic) vorgefest, und uͤberraſchen dann durch jene plaftifhe Fille und Gediegenheit, durch die und oft unfre eigenen Traumbilder in Verwunderung feben. Dod died ift keinesweges durdgangig der Fall mit allen den Ge:

*) Das giinftige Urtheil des GSrres über den geiftig fittlidhen Charakter des Swedenborg erfchcint um fo unpartheiifcher, je mehr er von feis

nem befannten ultramontanen Standpunkte aus dic ftrengfte katholiſche Orthodorie gegen Swedenbhorgs angeblidhe Offenbarungen geltend macht, und fie alé cine ſyſtematiſche Selbſttäuſchung bezeichnet.

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ftalten, von denen wir uns bier umgeben finden; man fuͤhlt vielmehr bald, daf die Einbildungskraft, die hier gefchaffen, vorherrſchend metaphyfifchher Natur gewefen, und daf, weil ihr jener tiberflieBende Reichthum, jene uͤppige Fille des eigent— lid) Poetifchen feinesweges vergdunt gewefen, fie nur ausnabmé- weife ihre Geftalten mit fo lebendiger Gediegenheit auszupraͤ— gen vermodt, und eine gewiffe Nichternheit, ja Froftigfeit liber das Ganje fich verbreitet. Es will daher aud) in diefer Seite ſeines Wefens der herrfchende Charafter des Ganzen fic keinesweges verleugnen; Ddiefelbe Signatur, die den geiftigen Menſchen bezeichnet, wiederholt fid) nur im Gemuͤthsmenſchen; wie der eine dent, fo fiblt der andere, aufs Engſte find die Zwillingsbruͤder mit einander verwadfen, und einer giebt Zeug— nif fur den anderen.

Seite 89 heift es: Wir glauben nicht gu irren, wenn wir die nachfte Beranlaffung ju den Verirrungen des Sweden— borg in den kabbaliſtiſchen Studien fuchen, denen er ſich, wie faum zu zweifeln, im Gerlauf der 5 Sabre, die zwiſchen feinen wiffenfchaftliden und myſtiſchen Arbeiten liegen, hinge: geben. Es war befanntlid) ein Hauptgrundfag der Rabbiner, daß der Pentateuch, irdifches Echo deS Worts, das die Welt geſchaffen, neben dem buchftablicben Ginne, der offen vor Aller Augen liegt, einen geheimen enthalte, der unter jener Hille, wie die Seele im Rorper fic) verberge, und deffen Geheimnif nur dem tiefften Forſcher, unterſtuͤtzt durch muͤndliche Ueberlie— ferung, fic) erſchließe. Es Lag ganz nahe, diefen Grundſatz aud) auf die Buͤcher de3 neuen Teftaments auszudehnen, und den inneren Geift in ihnen gegen die Fleiſchlichkeit zu bewaff- nen, an die bisher die Kirche fid) gedrangt, und mit der fie fid) verwadfen in Eins zeigt. Der Sinnende mochte lange nadgedacht haben, auf welche Weife jenem verborgenen Sinne beigufommen fet, da, wie er fid) uͤberzeugt bielt, die mind: liche Ueberlieferung die Ratholifchen, das wiffenfchaftliche For: ſchen aber die Proteftantifchen auf Abwege geleitet hatte; als gur glidliden Stunde jener Zuſtand des Hellfehens eingetres ten, und die Vermittelung und Dollmetfdung uͤbernahm, und fomit uͤber die Zweckmaͤßigkeit des eingeſchlagenen Weges kei— nen Zweifel in ihm uͤbrig ließ. Daraus wird denn auch be—

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greiflich, auf welchem Wege fo viele andere unleugbar fabba: liſtiſche Lehren in ſein Syſtem eingedrungen, die bei ernſtem, aufmerkſamen Blick dem Betrachter in die Augen fallen. So iſt z. B. der Satz, daß das Weltall die Geſtalt des Menſchen trage, und daß die drei goͤttlichen Eigenſchaften ſich in den drei Potenzen dieſes Univerſalmenſchen eben ſo wie im irdiſchen Nachbilde deſſelben wiederholen, ein rein kabbaliſtiſcher Lehr— ſatz; nicht minder auch der andere, daß der Menſch zum Ver— mittler zwiſchen der geiſtigen und natuͤrlichen Welt geſchaffen worden. Aus der Kabbala iſt genommen, was die Viſionen uͤber die doppelte Schrift der Engel in Buchſtaben und Zif— fern berichten, und wie ſie den geheimen Sinn der Punkti— rungen und der ausweichenden Zuͤge deuten.

Werfen wir in dieſer Hinſicht einen Blick auf ſeine na— turphiloſophiſchen Arbeiten (von denen Goͤrres eine Analyſe giebt) zuruck, und vergleichen, wads er dort uͤber ten Bau deS Cternenhimmels und die Entitehung der CElementarwelt ausgemittelt, mit dem, was er in feinen Bifionen von der inneren Organifation des Geijterreihs und von der in ihr ges bildeten Hierarchie der Madte und Krafte berichtet hat; dann fann es und feinen Augenblid entgehen, daß beide Reiche genau nad einem Syſtem geordnet find, und daf die Ardi- teftur beider Welten vollfommen nad dem gleichen Grundriß und Aufrif vollendet ijt. Der Meifter, der fic in feiner Un— erforſchlichkeit verbirgt, hat fie beide durd feine Liebe nad feiner Weisheit hervorgebracht, damit die obere der unteren zum Borbilde, und hinwiederum diefe fir jene gur Pflang- ſchule der Bevdlferung in Seeligfeit und Verdammniß diene. Darum ift die erfte urfpriinglidhbe Bewegung, in der Gottes ſchaffende Thatigfeit zur Hervorbringung der Natur fic im Anfang geregt, nur der Ausfluf des Lebens, der Liebe deffel: ben Urwefens, welded, als die RKorperwelt nod nicht gum Dafein gelangt, die Himmel ſchon hervorgebracht. Und wie in der Naturwelt die Sonne als der Quellbrunnen aller Welts Frafte inmitten ihres Syſtems fteht; fo bat ter Schoͤpfer in der Geifterwelt gleichfalls in einer erft bhervorgebradten geifti: gen Sonne fid) verhuͤllt, in der ihn die gefchaffenen Geifter, die ben unmittelbaren Anblick feines Glanges und feiner Herr.

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lichfeit nicht gu ertragen vermichten, gleichfam von hinten in einem durch die Ferne lind geddmpften Abbilde fdauen.

Die Geſichte des Sehers find in den wefentlidften Punt: ten vollfommene Reflere feiner geiftigen Anſchauung; der gleide Ausdrud, daffelbe Geprage, das itbereinftimmende Geſetz der Bildung, diefelbe Megel im Fortfchritte der Entwidelung ; Alles deutet auf die Wechfelbesiehung, in der fie gu einander ftehen. Wie die heitere Sudluft, bidsweilen felbft wie hellſichtig gewor- Ben, in jener gauberhaften atmofpharifchen Erſcheinung ein Spie— gelbild der Landfdaft mit Bergen, Waldern, Fliffen und allen Reizen der Wirklidhfeit an den Himmel mablt; fo ift in der Geifterwelt diefes Sehers ein Wiederſchein feiner Naturwelt, und wir erfennen in der Luftigen und duftigen Berflarung der einen doch) immer leicht wieder, womit wir in der ande- ren fdon langft vertraut geworden. Die Wahrnehmung die: fer grofen Uebereinftimmung muf jedem Aufmerffamen den Gedanfen nabe legen, daß irgendwo ein gebeimer Verkehr zwiſchen den beiden Megionen befteht, und es wird die Ver— muthung fid) am naͤchſten bieten, was der Geifterfeher felbft- thatig und befonnen innerlich hervorgebracht, habe durch eine gebeime nod) gu erforfchende Naturwirfung in diefem Conterfei gleichſam ſeine Oberflade ihm gugewandt, und indem er dads Gebotene, ofne fein eigenftes Eigenthum in ihm wiederzuerken— nent, wie jedes andere Gegenftandlide mit handgreiflicer Ans ſchaulichkeit als cin ihm von aufen Zukommendes in fid> auf: genommen, babe er fic) und die Welt mit leerem Schein ge- taͤuſcht.

Seine Viſionen, welche er in ſeinen vielen theoſophiſchen Schriften mittheilt, ſind ſo uͤberaus zahlreich, daß allein die— jenigen, welche in den mir vorliegenden 8 Baͤnden ſeiner von Tafel herausgegebenen goͤttlichen Offenbarungen (Bu: bingen 1823— 1836) verzeichnet find, ein Buc) fuͤllen wir: den. Ginjelne von ihnen mitjutheilen fann um fo weniger meine Abficht fein, einen je groferen Ueberfluß an aͤhnlichen Scilderungen vorliegende Schrift enthalten wird. Sweden— borg verfichert auddridlid), daf er jedeSmal mit den Engeln in ihren Wohnungen verfehrt habe, welche ungleich ſchoͤner und pradtiger als die Haufer der Menfchen eine Menge von

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Bimmern enthielten, von geraumigen Hoͤfen und blumenreicen Garten umgeben in Strafen vertheilt feien, in denen er mit den Engeln umberwandelte. Schließlich bemerke id) nocd, daf feine Schriften in Schweden, Deutſchland und ſelbſt in Frank: reid) eine weite Gerbreitung gefunden haben, und daß auf dem Grunde derfelben alé heiliger Buͤcher in, England und Nordamerifa eingelne Gemeinden gu -einer neuen Kirche, feit 1815 fogar mit Generalconferenzen sufammengetreten find. Nach Evans (a, a. O. S. 299) bedienen fie fic bei ihrem Gotteé- dienſte ber abgekuͤrzten Liturgie der Church of England, und feiern denfelben mit zahlreichen Gefangen unter Begleitung der Orgel. In London follen fie drei Gotteshaufer ervichtet , und in Birmingham, Hull, Mandefter und an mehreren anderen Orten Kapellen gegrimbdet haben. |

§.4. Guyon und Bourignon.

Adelung, deffen Gefchidhte der menſchlichen Narrheit ridfidtlid) der Ausftattung mit aͤcht deutſcher, aus den Quel: len gefchdpfter Gelehrfamfeit und mit gruͤndlicher Sachkritik Nichts gu wuͤnſchen uͤbrig (aft, giebt im 5. Theile derfelben ausfuͤhrliche Lebensfdhilderungen jener beiden beruͤhmten Schwaͤr— merinnen, wovon id) die widtigften Thatſachen in einem ge: draͤngten Auszuge folgen laffe.

Sobanna de la Mothe Guyon, geb. 1648 gu Mon: targis, die Tochter eines frommen und reichen Edelmann, litt ſchon im 4. Jahre an haufigen und ſchweren Ktanfheiten, in benen fie von Braumen der Holle geplagt wurde, daber fie das Abendmahl forderte, und nad) dem Gebrauch der katho— liſchen Kirche empfing, wobei fie den Martyrertod gu fterben begehrte. Schon im 7. Jahre wabhrend iprer Erziehung in einem Kloſter ergab fie fic) einer ſchwaͤrmeriſchen · Andacht, fie betete taglid) mehrere Stunden in der Kirche, und fafteite fic vor bem Ghriftusbilde. Haufig von Krankheiten heimgefuct a8 fie wabrend einer folden im 9. Sabre binnen 3 Woden die Bibel durd, welche fie bei ihrem trefflidhen Gedaͤchtniß faft audwendig lernte. Indeß feblte es in fpateren Jahren auch

Ideler Theorie d. relig. Wabnfinns, 6

82 nicht an Gelegenbeit, ihre Gitetfeit und Neigung zum Pus zu weden. Durd den Geiz ihres Baterd gezwungen heirathete fie in ihrem 16. Sabre einen 22 Jahre alteren Edelmann, von Ddefjen Geiz, Giferfudt, Schmabfucht und haufigen Gicht— anfallen fie viel, nod) Unertraglicheres aber von ihrer bodsarti- gen Schwiegerpiutter gu leiden hatte. Daher erwadte in ihr eine fruͤher fchon gehegte Sehnſucht nad dem Rlofter, fie zehrte ab, und wurde fo fchichtern, daß fie faum auszugehen wagte. Die friher gern gelefenen Romane wurden wieder mit der Bibel und mit Heiligenlegenden vertauſcht, ganze Tage mit Weinen und Gebet jugebradt. Selbſt wahrend der erften Schwangerſchaft ftets getadelt und gefcolten, war fie in der- felben immer krank, und litt nad der Entbindung an Langer Entfraftung. Einige Zeit fpater fiel fie in eine fehr fchwere Krankheit, in welder ihr faft alles Blut abgezapft wurde, daher fie denn 6 Monate lang an einem fcleidenden Fieber gu leiden hatte. Bon einem nabe verwandten Miffionair er: fubr fie, daß derfelbe fid) unaufhorlid) mit Gott unterrede, ohne ſich dabei Etwas ju denfen. G8 wollte ihr damit lange nidt gelingen, bid ein fanatifcher Franciscaner ihr fagte, fie habe bisher Gott ftets aufer fic gefucht, fie follte ihn nur in ſich fuchen, dann werde fie ihn gewif finden. Wirklich entdedte fie aud) im 19. Sabre Gott in ihrem Herzen, nam: lid in einer uͤberaus fiifen und fanften Empfindung, welche ſich wie ein Balfam durch den ganjen Koͤrper verbreitete und ibr oft den Gebrauc aller Ginne raubte, fo daß fie die Au: gen und den Mund nicht dffnen Fonnte. Gie firhlte die Liebe su Gott als ein verjzehrendes Feuer, und verficerte, daß der befchauliche Umgang mit ihm, und das Herjensgebet ohne alle Mitwirfung des Verftandes die Quelle fei, aus welder alle Erfcheinungen, Entzuͤckungen und Offenbarungen fliefen, em- pfieblt aber Vorſicht, weil dergleichen aud vom Beufel fom: men fonne. Beſonders war fie fir Entzidungen eingenom⸗ men, welde fie in eine gaͤnzliche Vernichtung festen, wo die Seele alle Gigenthimlichfeit verfiert, und ohne Anftrengung in Gott, thren natirlicen Ort fibergeht. Denn Gort if der’ Mittelpunft der Seele, und fobald fic diefe von Alem losmacht, was fie an fic felbft und an die Rreatur feffelt,

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ſo geht ſie unmittelbar in Gott uͤber. Sie glaubte nun ſo in Gott verſenkt gu fein, daß fie nur flr thn noch Bewußt⸗ fein und Empfindung hatte, ja felbft ihre hausliden Leiden wurden ihr jest zur Luſt. Shr fanatifcher Beidtvater ſchrieb ihr nod) ftrengere Bußuͤbungen vor, welde fie aufs Aeuferfte trieb; fie geifelte ſich mit fpigigen Drathgeifeln, und vergoß dabei ſo viel Blut, daß fie oft ohnmadtig wurde. Dabei empfand fie feine Schmerzen, welded fie verdrof. Sie trug auf dem Leibe Girtel von Haaren und eifernen Stacheln, welce fie nur beim An- und Ablegen ſchmerzten; fie geifielte fih mit Dornen, Difteln, Neſſeln, wovon die Staceln in der Haut fieden blieben, fo daß fie nicht fiben, liegen, ſchla— fen fonnte. Dabei af fie fo wenig, daf fie fid) wunderte, wie fie noch leben fonnte, fie witrgte ibre Speiſen mit Wer: muth und Roloquinthen, -und legte Steine in ihre Schuhe. Auf Befehl Gottes ledte fie den Giter aus Wunden, und faute bie damit befudelten Pflafter, bis fie den Widerwillen uberwand. Dabei empfand fie eine fo brennende Liebe gu Gott, dap fie feinen Augenbli€ an etwas Anderes denken fonnte. Gie that die niedrigften Gerridtungen, und demi thigte fid) vor ihrer Uufwarterin auf die unanftandigfte Art. Sie mied alle Gefellfhaften, war immer jzerftreut und aufer fid, und wurde dadurch laͤcherlich. Beim inneren Gebet ver- ſchloß fie ftets die Augen, und war entsiidt, wobei fie ge: ftand, daf in ihrem Kopfe Nichts, defto mehr aber in ihrem Herzen vorgegangen fei. Sie liebte Gott blos, weil fie ihn liebte. Bei hyſteriſchen Verzuckungen fagte fie, Gott wohne in ihrem Herzen, und wolle alle Glieder und Fabigfeiten ing Gentrum gu fic ziehen, welches mit Gewalt geſchaͤhe. Bald empfand fie ſchreckliche Schmerzen im Gemiith, welche fie dads Fegefeuer auf Erden nannte, bald fihlte fie eine ſolche Trok— fenbeit im Herzen, daß fie die ewige Liebe geraume Beit nicht fpiiren fonnte. Mad Paris zurückgekehrt wurde fie von Lieb- habern umgeben, fie fleidete fic) nach der Mode, und verlor dadurch Gott drei Monate lang aus dem Herzen. Der Rampf der Natur mit der Gnade bradte ihr grofe Leiden. Sie hielt es fir eine Untreue gegen Gott, wenn fie Merfwirdigfeiten fab. Rad Montargis heimgefehrt verlor fie ein Mind an den 6 *

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Pocken, von denen ſie ſelbſt in ihrem 22. Jahre befallen, und zu ihrer großen Freude der Schoͤnheit beraubt wurde, welche ihr ſo viele Anfechtungen bereitet hatte. Ihr Geliebter ſprach zu ihr im Herzen: „wenn ich dich ſchoͤn haben wollte, ſo hatte ich dich gelaſſen, wie du warft.” Sie communicirte nun jeden 3. 4. Zag, lag in den Kirchen mehrere Stunden auf den Knieen, und verfcenfte Alles an Rirdhen und Arme. Dabei vernachlaffigte fie das Hauswefen, vergaß Alles, blieb bei Vorwuͤrfen ftumm, und wurde fogar von ihrem. Fleinen Sohn verfpottet. Sie geifelte fich mit Neffeln, ließ fic gee funde Zaͤhne aussiehen, frente fic) uͤber Zahnſchmerzen, ver: brannte fid) die Haut an einer Kerze. An einem Bage ver: mablte fie fid) mit Ghriftus, faftete, gab Almodfen, commu: nicirte mit einem Ringe, und unterfehried eine Eheftiftung mit Chriſtus, in welcher fie fic) ihm als Braut uͤbergab, und alg Morgengabe von ihm Kreuz, Verachtung, Sdmad und Sande forderte. Wirklich hatte fie auc) im Haufe Unfag: liched gu dulden. Abermalé entbunden verlor fie cinen Theil ihrer Schwarmerei, welches fie alé eine Strofe ihres Geliebten anfah, daber fie ſich Fafteite, betete, Almoſen gab. Jedoch umſonſt, es folgte ein fiebenjahriger myſtiſcher Tod, in wel: chem fie aller Anftrengungen ungeadhtet die fruͤheren Traͤume nicht wieder beleben fonnte. Shr Mann flarb nad) 12jabri- ger Ehe (1676), nachdem fie fury vorher noc von einer Dod: ter entbunden war. Gie ordnete darauf Alles wohl, beendete glicdlid) eine Menge von Proceffen, blieb aller Gegenanftren: gungen ungeachtet bei Befinnung, und wohnte nod lange mit ihrer abſcheulichen Schwiegermutter gufammen. Alle Heirathé: antrage wies fie jurid, um Gott getreu gu bleiben. End— lich war fie gendthigt, ſich mit ihren Rindern von der Sdywie- germutter zu trennen, und fie gerieth num in cine fo bedrangte Lage, daß fie fid) bald entleiben, bald nad Genf reifen, und ju den Reformirten tbertreten wollte. Angeregt durd) einen Fanatifer, La Combe, welder in der Sugend febr ausſchwei⸗ fend gelebt hatte, gerieth fie bald wieder in ihren friseren Buftand, fie verſank in Sraume, ſchloß die Augen mehrere Stunden, war feelig und entsidt, worin Eombe fie mit der Verficherung beftarfte, Gott habe grofie Dinge mit ihr

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vor. Bald nachbher fafte fie den Vorſatz, ihre Kinder und Alles gu verlaffen, wenn Gott eS verlange. Nach vielen Berathungen mit Geiftlichen, befonders mit Combe, beſchloß fie nad) Ger bei Genf gu gehen, um eine angefangene Stifs tung fir neubekehrte weibliche Ratholifen yy vpllenden. Um dem Widerftande ihrer Verwandten auszuweichen, traf fie im Geheimen ihre Borbereitung, reifete mit einer Tochter ab, lief die beiden anderen juriicf; gab alleS Geld weg, fam gang entbloͤßt in Anneci an, und erneuerte bei einer Meſſe feierligh ihre Vermahlung mit Gott. In Ger fand fie Alles in arm: feeligen Umftanden, ihre Tochter war franf, fie wurde Falt empfangen, follte zuvor ein Noviciat iberftehen, und rief in ihrer Moth den Gombe herbei. Cie fuͤhlte einen Strom von Gnade aus dem Innern feiner-GSeele in die ihrige, und aus Ddiefer in feine flieBen, wahrend beide Geelen in Gott waren. Getrdftet borte fie in einer Nacht die Stimme: ,,im Bude iff von mir gefehrieben, daß id) deinen Willen thue;” und eine Stimme rief ihr aus dem Innern ju: „du biſt Petrus, und auf diefem Felfen will ich bauen meine Ge: meinde, und da Petrus am Kreuz geftorben ift, fo follff du aud am Kreuze fterben.” Jn der nachften Nacht diefelbe Er: fceinung. Gie bracte nun ifve Franke Tochter nad Tonon, war aber doch ither deren Krankheit fo betribt, daß fie fid die Morderin ihres Kindes nannte, und fehete nad Ger ju: rid, woſelbſt Gombe thr Gewiffensrath wurde, mit wel: chem fie in einem verddchtigen Berhaltniffe lebte. Sie legte nun das feierliche Gelisbbe der Keuſchheit, Armuth und des blinden Gebhorfamé gegen Gott ab, obne fic jedoch an ein beftimmtes Klofterieben gu binden. Zuweilen empfayd fie den Glug des Geiſtes, wodurd) ihr Kopf mit Gewalt in die Hobe gefchleudert, und der Leib in die Luft geriffen wurde, welded fie den myſtiſchen Entzuückungen weit vorzog, Wenn fie Feb- ler beging, fo empfand fie eine Scheidewand zwiſchen fid) und Gott, welde fo durdhfidtig, wie Spinnewebe war. Zuwei— ben hatte fie fürchterliche Erftheinungen, in denen fie den Deu: fel fab, dem fie aber ihre Verachtung bezeigte. Sie und Combe predigten den Urfelinerinnen zu Ger die vollige Selbft- verleugnung, bas Schweigen der Seele, die Crtddtung allet J

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Fahigfeiten und Empfindungen, vollige Gleichgiltigkeit gegen Leben und Tod, gegen Himmel und Holle, wurde aber ver: fpottet, und wegen ihres Umganges verdadtigt. Mad) der fritheren leidenſchaftlichen Erregung ihrer Frommigfeit lebte fie jest in einer ununterbrodenen Rube und Unempfindlicfeit in und mit Gott, -wovon fie mehr wufte, als andere Menſchen. Den erften Zuftand nannte fie den des Lichts, den zweiten den des nactten Glaubens. In Ger fonnte fie es nicht lan: ger aushalten, daber ging fie nad) Donon. Sie wick jeder Reflerion aus, und fagte: die Betrachtung feiner felbft ift der Bafilist, deffen bloßer Anblick tdotet. Sie war jest 35 Fabre alt, und empfand einen unwiderfteblichen Trieb zu ſchreiben, worin Combe fie noc) beftarfte, damit der Ueberfluß der geift: lichen Mild) fie nicht erftie. Sobald fie die Feder in die Hand nahm, ftromte e3 von felbft aus derfelben heraus, obne daß dabei eine eingige Idee ihr durd) den Mopf gegangen ware, und fie betheuert, daß fie wahrend der gangen Beit nicht einen einzigen verniinftigen Gedanfen gehabt habe. Go ent: ftanden ifre Torrens spirituels, welche nebft aͤhnlichen Tracta— ten unter Dem Titel zuſammengedruckt wurden: Recueil de divers traités de theologie mystique. 8 verftrichen jest acht Sage, an denen fie nicht ein eingiges Wort ſprach. Dabei geſchahen Wunderheilungen, welche fie entweder an Anderen, oder Combe an ihr verricdtete, fo daß fie auf feinen Befebl aus den fchwerften Krankheiten plobtid) gefund aufftand. Sie hielt die Rranfheit eines Madchens fiir Befeffenfein, verjagte den Teufel, und bhehauptete nun, fie wolle alle Veufel aus der Hille treiben. Hierauf litt fie vom September 1683 bié sum naͤchſten May an einem anhaltenden Fieber mit einem Geſchwuͤr an der Naſe, wobet fie in den Stand der beiligen Kindheit gerieth, in weldem Chriſtus als ein Kind fich ibe mittheilte. Bald weinte fie, wie ein Kind, bald fcaferte fie. Combe vernadlaffigte fie, und da fie ibn in Verdadht mit anderen Nonnen hatte, fo gerieth fie ans Eiferſucht in Ver— zweiflung, lag age lang auf der Erde, und ihre Unrube horte nicht eher auf, als bis fie ihn nad einigen Jahren dabin ge: bracht hatte, wo Gott ihn haben wollte. In diefer Krank: obeit lernte fie aud) die Engelfprache, welche in einem unauds

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ſprechlichen Gefiuhl bei dem tiefften Stillfchweigen beftand. So— bald Combe ins Bimmer trat, verloren beide die Sprache; deffen ungeachtet theilten beide fic) alles gegenfeitig mit, und fie bradten Stunden lang im ſuͤßen Gefitht ohne alle Sprache su. Es war eine Fluth auésfliefender und zuruͤckſtroͤmender Gnade, denn Gott felbft ftrémte fie aus ciner Seele in die andere. Sich felbft fab fie als das Weib in der Offenbarung Sobannis, welche den Mond unter den Fifen hatte, von der Gonne umgeben 12 Sterne auf dem Haupte trug; fie follte Millionen geiftlider Kinder gebaren, welche insgefammt der Teufel verfolgen werde, ofne ibnen Etwas anhaben ju fonnen. Gin unfidtharer Drache gab ihr einen Stoß an den Sup, worauf fie von einem heftigen Fieberfrofte geſchuͤttelt wurde. Nach mebhreren Tagen heftiger Krankheit ftarb fie von den aͤußeren Theilen ab, die Convulfionen zogen fid) nad dem Unterletbe, und drangen auf das Herz, die Augen wurden gebroden, da8 Athmen unordentlidh. Combe legte ihr die Hand aufs Herz, und befahl dem Tode, nicht weiter yu gehen, wel: cher denn aud) nad dem Unterleibe und von da nad dem Fuße zuruͤckkehrte, worauf fie gang auflebte. Combe wurde nad) Wercelli in Gtalien gerufen, wobin fie thm mit ihrer Sodter nachfolgte. Er behandelte fie ftets ſehr hart, und ſchrieb iby 3. B. fie wirke auf ihn wie ein todter Rorper, Dagegen er von einer anderen Frau im Beidtftuhl gang par: fümirt werbde. Sie wollte ihre Magd befehren, fir welche, wie fac Gombe, fie leiden miffe, damit Gott diefelben auf die hoͤchſte Stufe fuͤhre; fie empfand daher in der Nahe der Magd ein Brennen wie vom hollifden Feuer. Combe noͤ— thigte fie, nach Franfreid) zurückzukehren, um feinen guten Ruf ju retten. Gn Grenoble erregte fie ein ſolches Auffehen, daB fie ungablige Befude erbhielt. Sie gerieth dabei in einen apoſtoliſchen Zuſtand, und brauchte die Menſchen nur anzu— ſehen, um fie gu duürchſchauen. Gott ſprach unmittelbar aus ihr, daher befebrte fie eine Menge, welche fie als Mutter verehrte, trieh Teufel aus. Alle Bekehrte, Monde, Nonnen, Aebte, Pralaten, Weiber, Soldaten, Ritter, hatte fie wieder: geboren. Sn fteter Aufregung fihlte fie wieder den Drang jum Schreiben, welded wieder gefthah, obne daß fie einen

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vernuͤnftigen Gedanken hatte. So kam ihre Auslegung der Bibel zu Stande, welche ſie des Nachts in unglaublicher Ge— ſchwindigkeit ſchrieb, ſo daß fie in kurzer Zeit 20 Duodez⸗ Baͤnde vollendete, waͤhrend ſie noch obendrein am viertaͤgigen Fieber litt. Jene Exegeſe fam in Koͤln 1713 unter dem Zitel heraus: La sainte Bible avec des explications et re- flexions, qui regardent la vie interieure. Durch daé grofe Auffehen, welded die Guyon erregte, erbitterte fie die Geiſt— lichen al8 die privilegirten Gewiffensrathe, ihr gweideutiges Le: ben wurde befannt, und. man rieth the, Grenoble gu verlafs fen. Gie fonnte fic) jest in der Engelſprache fogar mit den Heiligen im Himmel unterhalten, namentlid) mit dem Koͤnig David, .mit welchem fie ftillfdweigend Strome von Geelig: Feit austaufdte. Sie reifete nun wieder nad Vercelli, wo fie von Gombe ſehr bel empfangen wurde, aber den Bie fof fir fid) gu gewinnen wufte. Shr Bruder, Prior dev Barnabiten in Paris, feste eS durd, daß Combe dorthin berufen wurde, daber fie ihm 1686 nadreifete. Man wollte fie bier von ihm trennen tnd nach Montargis zuruͤckbringen; indeß fie widerfebte fid), worin Combe fie beſtaͤrkte, weil der Ruf ihrer beiderfeitigen Heiligfeit auf bem Spiel ftand. Gie war nun nod mebr an ibn gefeffelt, und madte mit ibm fo Ging aus, daß fie ibn nicht mehr von Gott unterfcheiden fonnte, da er nun aud in den Zuftand des nadten Glaubens eingetreten wars fie felbft war aus der Kindheit inden 3u- ftand des gefreuzigten Chriſtus ubergegangen, ja in denfel: ben verwandelt. Gombe, mit weldem fie gu grofem Aer: gernif viel umberreifete, wurde endlid) als Molinift in die Baftille gefest. Sie lief in allen Kirchen umber, hielt Gonz ventifel, deren Dheilnehmer verbannt wurden, wabrend man fie alé eine gefabrliche Wabhnfinnige in cin parifer Rlofter brachte. Sie fihlte fid) feelig, aber da Gott in Alem fie Chriftus gleid machte, fo lief er fie deffen Todesangſt in Gethfemane erleiden, welche von Marien bis Oftern anbielt, und eine ſolche Vernithtung zuruͤckließ, daß fie nicht wufte, ob fie fei und waé fie fei. Nach vergebliden Verſuchen wufte fie bie Maintenon fur fic gu gewinnen, und durd diefe gu

bewirfen, daf Ludwig XIV. fie 1688 in Freiheit feben lief,

nathdbem fie einen Widerruf aller Irrthuͤmer in ihren Schriften unterzeichnet hatte. Sie ftiftete nun neue myſtiſche Verfamm: lungen, warb vornebme Anhanget, fand Butritt gu der Mainte- non und gewann fogar die Zuneigung des Fenelon, mit weldem fie mebrere Sabre im Umgange ftand. Vergeblich bemihte fie fic) jedoch um die Buftimmung des Boffuct, bem fie fagte, fie habe Nichts gefdrieben, al’ was Gott ihr eingegeben, fie miffe alfo nicht mit der Vernunft, fondern mit dem Herzen beurtheilt werden. Indeß da ihr Anhang fid mebhrte, und fie grofed Auffehen erregte, fo hatte fie alé Mo- liniftin die vornehme GeiftlichFeit gegen fic), der Butritt in St. Gyr, dem von der Maintenon gegrindeten Erjiehungs: inftitute, wurde ihe verboten, und obgleid Fenelon ſich ihrer oͤffentlich annahm, fo verwarf dod) Harlay, Erzbiſchof -von Paris, thre Schriften als ketzeriſch. Es wurde nun zur Pris: fung derfelben 1694 eine Gommiffion niedergefegt, in welcher Fenelon fic viele Muͤhe gab, gu zeigen, daß bie von der Kirche Fanonifirten Myftifer mit der Guyon einerlei Sprache fabrten; indeß da der Quietismus fic immer weiter, und felbft am Hofe verbreitete, fo 309 Boffuet 30 Artifel aus ihren Seriften, welche die Commiffion alé irrig verwarf. Selbſt Fenelon mufte unterjeidnen, fiigte aber 4 apologetiſche Save, betreffend die reine myſtiſche Liebe, hinju. Die Guyon war gendthigt, den Urtheiléfprucd) gu unterfehreiben mit dem Berfpreden, nicht mehr gu lehren uhd die Gewiffen gu leiten, ſetzte jedoch den bidherigen Lebenswandel fort, und wurde auf vielfaltige Klagen zuerſt nad) Vincennes und zuletzt in die Baftitle gebracht. Nach mehrjaͤhriger Gefangenfchaft aus der: felben entlaffen, wurde fie nad) Blois verwiefen, und ftarb dafelbft 1717, nachdem fie ihrem Charatter bid ans Ende tren geblieben war.

Untoinette Bourignon de la Porte, geb. 1616 ju Ryffel in Flandern, war die Bochter eines reichen Kauf— manns, hatte al8 Kind viel von der harten Behandlung ihrer Mutter gu leiden, wurde von ihren Gefchwiftern zurüuͤckgeſetzt, und blieb daher viel fir fic) allein, welthes fie fruͤhzeitig sum Nachdenken brachte. Sie erhielt eine angemeffene Erziehung, und fand mehrere Bewerber um ihre Hand, denen fie fic

90 aber entzog. Denn ihre fchwermithige Stimmung erwadte wieder, fo daß fie im 18. Sabre eine grofe Furdt vor dem Tode und der Holle hegte. An ihrem Borfage, ins Mlofter su gehen, verhindert, ſchloß fie fic ein, weinte und betete ohne Unterlaß, faftete, wadte, trug einen haͤrenen Girtel auf dem Leibe, befuchte die Armen und genoß wochentlid dads Abendmabhl gweimal. Im Schlafe firdtete fie, von ber Erde verfclungen ju werden, da ihre Suͤnden in ihren Augen fe grop waren, daß die Hole fiir fie nicht heif genug fei. Ganje Machte brachte fie Enieend vor dem Crucifixe zu, mit weldem fie fic) unterbielt. Gm 19. Sabre fab fie einmal, daß der Himmel fic) mit einem Blige Offnete, und ein ehrwirdiger Geiftlicher mit einer goldenen Bifdofsmise auf dem Haupte gu thr berabftieg, Gr nannte ſich den Heil. Luguftin, und ſprach gu ihr: „du follft meinen Orden in derjenigen Boll: fommenbeit wieder berftellen, welche du witnfcheft.” Dabei ließ er einen berrlichen, mit. Friichten beladenen Weinftod er- fcheinen, und ſprach: ,,wenn du diefen Weinftod baueft, fo wird er folche Fruͤchte bringen.” Sie felbft war dabei mit einem grauen Mode und ſchwarzen Mantel befleidet, verlor aber diefe Vifionen, als fie aus einer Ohnmadt zur Beſin— nung jurudfebrte. Sie hatte viele aͤhnliche Erſcheinungen, und fuͤhrte von jest an febr haufige Gefprache mit Gott, welcher ihr immer ſehr deutlich antwortete, und ihr gleich Anfangs fagte: „Wenn bu nicht Ales verlagt, fo fannft du nicht mein Singer fein.” Indeß wurde fie durd grofe Her- gensangft gu neuen Bußübungen gezwungen, fie geifielte fic, af oft in 3—4 agen feinen Biffen, und vermifchte die wenigen Speiſen, welde fie genof, mit Roth und Afde. Von Gott vernahm fie jest den Ausfprud, daß fie erft dann vollfommen die feinige fet werde, wenn fie fic ſelbſt in der WMirfte abfterbe. Ihr Water wollte fie gu einer Heirath zwin— gen; died beftdrfte fie jedod) in ihrem lange gehegten Vorfage zur Flucht, welche fie auch wirklich in Ginfiedlertradt antrat. Mach einigen draſtiſchen Abentheuern langte fie bei einem ſchwaͤrmeriſchen Priefter an, welder fie langere Beit bei fid bebielt, und bei welcem fie von Gott den Befehl vernahm: „Du follft meinen evangelifden Geift in den Minds: und

91 MNonnenfloftern wieder herftellen, welche wie die erften Chriſten von allen Menfthen abgefondert leben follen. Dads wird in meiner Kirche gute Frichte bringen. Aber fobald fie nachlaſſen werden, foll dad allgemeine Gericht fommen, denn dad ift meine Leste Barmberzigheit. Ich werde gang der Deinige fein, denn dazu bift du gefchaffen.” Shr Vater fonnte fie nur mit Muͤhe bewegen, mebhrere Monate in einem Klofter gu verweilen, und endlich gu ihm juriicfzufebren, wofelbft fie. die fruͤhere ascetiſche Lebensweife fortfeste, und fid auf ihrer Stube eine Wuͤſte einrichtete, indem fie mehrere Grotten anlegte, in denen fid) Wachsbilder des Antonius, der Magdalena und der Leiden Chrifti befanden. Sie brachte ganze Nachte im Ge- bet zu, und horte von Gott: „Ich bin ein Geift, rede mit mir im Geifte, id werde finftig im Geifte und in der Wahr— beit wirfen, hore auf, und ich werde Alles thun. Diefe Cin: famfeit ift mein liebſtes Gabinet, in ifr wirft du jederzeit meine Stimme horen. In den guten Werken fiehft du nur did); aber ich erbalte dic) in der Ginfamfeit, gehe, gehe und verbirg did.” Durch diefe und eine Menge ahnlicher Offen- barungen wurde fie in das hoͤchſte Entzuͤcken verſetzt, und fie verlor oft auf ganze Stunden dad Berouftfein. Aber auch der Teufel febte ihr oft gu, er polterte in ihrer Stube, rif die Fenfter auf, verfchob bas Gerath, und ftellte fic ihr einmal alg ein grofer ftarfer Mann in den Weg. Sie ſtieß ibn fo heftig, daß er der Lange nad auf den Boden fiel, worauf fie ihn auf den Kopf trat. Beſtaͤrkt wurde fie uͤberdies nod in ihrer Schwaͤrmerei durch einen Erzbiſchof, welcher ihr fagte, daß der heilige Geift in ihr wohne, und daß ihr Leben iiber- natuͤrlich und wunderbar fei; fie werde von Gott felbft geleitet und bedirfe feines Gewiſſensrathes. Sie erbat fid) von ihm bie Erlaubnif, das newe Veftament lefen zu duͤrfen, und fand eine ſolche Uebereinftimmung zwiſchen den Evangeliften und fic), daß wenn fie ihre Gedanfen und Empfindungen hatte auffcreiben follen, eben daffelbe neue Veftament daraus gewor- ben ware. Jn einem aufgefchriebenen Gefprad mit Gott ließ fie ihn alled moͤgliche Boͤſe von der gangen Geiftlichfeit fagen, Daher er diefelbe nicht blos gichtigen, fondern aud) von der Erde vertilgen wolle. Dadurch erbitterte fie jene, und felbft

ben Erzbiſchof, der nun in ihr den Deufel fab. Mehrere Jane fcheiterten, mit einigen Nonnen eine Cinfiedelei auf bem Felde ju grimbden, fie führte daber in der nadften Beit ein unftetes Leben, und verwidelte fid) fogar mit ihrem Vater in einen Proceß wegen ihres mütterlichen Erbtheils, und nad feinem Tode hatte fie mit ihrer Stiefmutter einen abnlicen Rechtshandel, gu welchem fie von Gott mit den Worten auf: gefordert wurde: ,,Berfolge dein Recht, und nimm was dir gebort; denn du wirft deffen zur Beforderung meiner Ehre bedirfen.” Da fie bei dieſer Gelegenheit mit vielen Chifanen gu fampfen batte, fo empfing fie von Gott den Sroft: „Du wirft nod) mebr gu leiden haben, denn die ganze Wuth der Holle wird fid) wider dich empdren. Wollteft du denn niche um meinetwillen leiden?”

Sie lich ſich bereden, die Aufficht uͤber ein fir arme Madchen geftiftetes Erziehungshaus gu uͤbernehmen, in welchem fie ſowohl Unterricht ertheilte, alé auc aus Demuth die ſchmutzigſten Arbeiten verrichtete. Inzwiſchen wurde fie dod ber gehduften Andachtsuͤbungen tberdriffig, und wie faft im- mer pflidtete ihr darin die Stimme Gottes bei, welche ibe fagte, daß das haufige Gommuniciren Nichts helfe, bei den meifien Menfchen ein Mirchenraub fei, wodurd er arger ge- kreuzigt wuͤrde, alg von den Suden. Es fei Alles nur Heuchelei und Verftellung, aber er werde Alles vertilgen, und algdann erft im Geifte und in der Wahrheit angebetet werden. Aud die Predigten feien cin eitles Geprange, fie folle dabher in die Wuͤſte giehen. Sie war von Natur heftig, gebieterifd und wunderlich, wollte uͤberdies [auter Schwarmer aus den Kindern ziehen, und fchidte alle die wieder fort, die dazu Feine Anlage verriethen. Als fie einmal“ in da Arbeitszimmer kam, ſah ſie eine Menge kleiner, ſchwarzer Teufel um die Koͤpfe ihrer Maͤdchen fliegen, und hielt ihnen daruͤber eine derbe Strafpredigt; ja fie erklaͤrte dieſelben ſogar fir Heren, welche von ihrem Feinde, einem gewiſſen Saulieu, dazu eingeweiht, und zugleich angeſtiftet worden, ſie durch Gift und andere Teufeleien aus dem Wege zu raͤumen. Sie verwickelte ſich hierüber durch cine gerichtliche Klage in einen weitlaufti: gen Proceß, deſſen Proceduren wir hier nicht ſchildern koͤnnen,

welder aber, wie viele abnlice den Erfolg hatte, daß die Kinder auf Suggeftivfragen befannten, mit dem Teufel Um— gang gebabt gu haben, welches denn zu mehrmonatliden Exor⸗ ctémen von Seiten der Priefter und inSbefondere der Capuciner BVeranlaffung gab. Die Mutter der unglidliden Kinder, voll Erbitterung, daß man letztere gu Heren mache, erhoben eine Snjurienflage gegen die Bourignon, wobei denn herausfam, dap fie die Kinder aͤußerſt hart behandelt hatte, und lebtere vor Gericht ihre fritheren Ausfagen widerriefen. Sie fab fid) daher gendthigt, die Flucht ju ergreifen, und verbarg fid langere Zeit in Gent, wo fein Advocat fic) ihrer Sache an: nebmen wollte. In einem Gefprad mit Gott warf fie ihm hoͤhniſch vor, daß fie verfolgt und als die lafterhaftefte Perfon ausgefcricen, ja felbft fir eine Here gehalten werde. Gie empfing bie Antwort: „Ich werde Did in der ganzen Welt beruͤhmt maden, vereinfache deinen Geift, du fennft meine Wege nicht”. Jn einer andern Unterredung mit Gott horte fie von ihm: ,, Du follft dad fleine Genfforn fein, welches, naddem es in die Erde gepflanzt worden, feine Sweige bié an den Himmel verbreiten wird. Wie von Menfchenhanden gebauten Tempel follen jerftirt werden; ich dagegen werbde einen andern bauen, welder nicht von Menfdenhanden fon: dern vom Geifte ded Lebend gemacht fein fol.” Hierauf ver: fiel fie in eine Verzuͤckung, in welcher fie einen fchredlicen Abgrund fid) vor ihr oͤffnen fab, aud welchem eine grofe Menge von Ziwen, Drachen, Sdhlarigen und Ungeheuer mit Menfdyen: gefichtern aufftiegen, und auf fie loégingen. Sie ſchrie: ,, ac Here ich verderbe!” und evbielt gur Antwort: „fürchte dic nicht, denn ich bin bei dic! Diefer Abgrund ijt der Deufel, welder dic) verfcblingen will. Die Ungeheuer find feine An: banger, welche did) auf eben fo viele. Art verfolgen werden, als diefe Bhiere von Natur mannigfaltig find.” Dieſes Ges ſicht mattete fie fo ab, daß fie 14 Bage auf ihrem Lager gus bringen mufite, und wabrend diefer Beit ging ihr Gefprac mit Gott immer fort, in welchem ihr offenbart wurde, daß fie eine Menge geiftlider Kinder befommen, und wie die kuͤnftige Ginridtung der Kirche befchaffen fein werde, welche nur im Nothfall Priefter haben follte. Wenn fie einen geiſtlich wieder:

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gebar, fo empfand fie in den Genitalien eben fo forperliche Schmerjen, wie bei einer leiblichen Geburt, und diefe Schmer⸗ zen waren nad) dem Maafe heftig, als die gu gebdrende Per: fon von Wichtigfeit war. Diefen Liebesdienft mute fie einer grofen Schaar erweifen, unter anderen einer Nonne, welche bald nachber an der Peft verftorben, ihr erſchien, um ihr fur die Belehrung zu danfen, und anjufiindigen, daB fie nad breitagigem Verweilen im Fegefeuer unmittelbar gur Anſchauung Gottes gelangt fet. Sie verfafite jest eine Menge fpater ge: trudter Schriften, welthe ihre Viſionen, den verderbten 3uftand der Kirche, die Gnade, die Pradeftination, die Freihett des Menfchen, die Wiedergeburt u. dergl. betrafen. Auf den Rath eines Freundes, den barbarifchen Styl gu verbeffern, erfolgte ber gottlicdhe Ausſpruch: ,, welche: Verwegenheit, daß Menfchen das Werf eines Gottes verbeffern wollen”; woruͤber jener von einem folden Schreck ergriffen wurde, daf ihm die Haare ju Berge ftanden.

Um ihre Schriften drucden gu laſſen, begab fie fic, von mebreren Anhangern begfeitet, 1667 nach Amfterdam, damals dem Tummelplag aller Schwarmer, daher denn aud bald Leute von allen Religionen und Standen, Reformirte, Luthe- raner, Wiedertaufer, Gocinianer, Quaker, Theologen, Philo: fophen, Mabbiner, Propheten und Phantaften zu ihr famen, und ihre Weisheit bewunderten. Aber fie verdarb es mit den meiftén durch ihren unertragliden Hochmuth, weil fie behaup- tete, Gott habe ihrooffenbart, daß feiner ein wahrer Chriſt werden fonne, der nicht durch fie wiedergeboren werde. Die Carteſianiſche Philofophie erflarte fie fiir die verfluchteſte Ketzerei und fiir eine formliche Gottedslafterung, weil fie die verderbte Gernunft an die Stelle Gottes febe. Unter vielen aber: witzigen Schriften verfafte fie aud) eine unter den Titel: le nouveau ciel et la nouvelle terre, worin fie erjablt, wie bas Chaos und die erfte Welt befchaffen gewefen, daf Adam einen durchfichtigen Rorper gehabt habe, in weldhem man die durchfließenden Lichtftréme unterfcheidben Fonnte, daß er in fei: nem Bauche zwei Bidfen trug, in deren einer die Menſchen wie Gier wuchſen, um aus der andern befruchtet zu werden, und aus einer Wobhlgeriiche ausfirdbmenden Naſe an der Stelle

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des maͤnnlichen Gliedes in die Melt gu treten u. dgl. m. Sie war beim Schreiben fo entzuͤckt, daß fie daritber Effen und Srinfen vergaf, fid) nur al8 eine Maſchine bewegte, und oft das Bewußtſein verlor.

Es würde mic) gu weit fihren, wenn ich alle feltfamen Abenteuer bezeichnen wollte, welche fie auf ihren fchwarmeri- ſchen Landftreichereien, namentlich in Schleswig erlebte. Ueberall erregte fie großes Auffehen, ward oft verfolgt, erwarb aber aud) andrerfeits eine Menge von Anbhangern, gum Theil aus ben gebildeten Standen, unter anderen den beruͤhmten Arzt und Naturforfder Swammerdam aus Holland, welder zum unerfeblicben Gerlufte fir die Wiſſenſchaft einen Theil feiner Foftbaren Manufcripte verbrannte, und zu ihr reifete, um fick von ihr wiedergebdven ju laffen. Ueber die vielen Verfol— gungen troftete fie fid) mit der Gerfiderung: „der Deufel fieht wohl, das ich diejenige bin, durch welche Gott fein Reid gerftoren wird, daber iff er mic in Alem, im Grofen wie im Kleinen guider, und er fpionirt jede Gelegenheit forgfaltig aus, ſich mir gu widerfeben. Aber da er feine Gewalt an mir felbft hat, fo bebdient er fic) derer, mit denen ich umgebe, und fogar meine Kinder felbft, verleitet fie, mir Kummer 3u maden, und mid) wenigſtens zu jerftreuen.” Da fie feit eini- ger Zeit an einem auszehrenden Fieber, und frisher ſchon an byfterifden Zufaͤllen litt, fo war fie feft uͤberzeugt, daß died von dem vielen Gifte herruͤhrte, welded ihr der Deufel feit mehreren Jahren ungablige Male in den Leib geſchuͤttet habe. Gott offenbarte ihr dies felbft, und fie verficherte, daß die ganze Gegend voll Heren und Veufel fet. Endlich gelangte fie nad) Franefer, wofelbft fie 1680 an bem durd Furcht vor Berfolgung verfchlimmerten Fieber im 65. Lebensjabhre ftarb. Sbre lesten Worte waren: ,,wenn ich fterbe, fo fterbe ich wi- der Gottes Willen, indem ich noch Nichts von dem vollbract babe, wozu er mid) berufen und gefandt hat.” Ihre Schrif— ten gab ibr eiftiger Anhaͤnger Poiret unter dem Titel heraus: Toutes les oeuvres de Mademoiselle Antoinette Bourignon. Amsterdam 1686 in 19 Banden in 8. Wiele derfelben wurden in fremde Sprachen uͤberſetzt

Zweites RKaypitel.

Die Ehrfurdht vor dem göttlichen Gefeg in ihrer leidenſchaftlichen Steigerung.

§. 5. Erlduterung des oben bezeichneten Begrif fs.

Die in der Ueberfehrift genannte Ehrfurcht, welche in der Stimme des Gewiffens gum Selbftbewuftfein fommt, mug als das Geſetz der SittlichFeit angefehen werden, welche von der gegenfablichen Entwidelung der mannigfachen Neigungen abbangig durch ihren haufigen Widerftreit gefabrdet wird. In— dem namlicd allen, Neigungen ihrem Wefen nach ein Streben nad unendlider Entwidelung imwohnt, fo follen fie fich gegen: feitig beſchraͤnken, wibdrigenfalls fie unfeblbar in Leidenfdaften ausarten, und dadurd) auf ihre gegenfeitige Vernichtung hin: arbeitén. Indeß obgleich in diefem BWedfelfpiel oder gegen: feitigen Spannungsverhaltnif der Gemithsfrafte ſchon ein ſehr wirffamer Geftimmungsgrund liegt, fie im geregelten Berhalt: nif gu einander gu erhalten, fo gentigt dod) died bet weitem nicht zur Erfuͤllung de8 angegebenen Zwecks. Denn immer: fort weicht der Menſch von der eingefthlagenen Richtung ab, ba er anf allen Seiten durd die mannigfachſten Antriebe in Bewegung gefest, von ftreitenden Gntereffen erfillt, ja bei Be- friedigung feiner Wuͤnſche ftets dem Bufall preisgegeben, dem Rwiefpalt feines Wilkens aller angeftrengten Bemihungen un- geachtet nicht ausweichen fann, und dadurd feine Rrafte ser: fplittert und aufreibt, anftatt fie gu einem feften Gunde ju vereinigen, und durch diefen einer hoͤheren Entwidelung entge- gen zu fuͤhren. Damit alfo lebtere aller jener Stdrungen ungeadjtet dennod) fortfdreiten finne, muß ein berrfdyended Princip die Zwietracht der Neigungen einem hoͤheren Geſetz unterordnen, welded fie an ein beftimmteds Maaß bindet, und fie dadurch zur Gintracht zuruͤckfuͤhrt. Das Gewiffen verkuͤn⸗ digt dies Maaß als die Grundlage der Sittlichkeit, und indem es ſich im Selbſtbewußtſein unmittelbar als goͤttliches Geſetz offenbart, macht es die Heiligkeit und Majeſtät deſſelben mit

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einem foldjen Nachdrud geltend, daß dadurch bei geregelter’ Verfaffung des Gemüths entweder jedes Toben der Leiden: ſchaft unterdridt, jede Gewalt der Begierden geddmpft, oder jede gefchehene Ucbertretung des Geſetzes mit der ſchmerzlichſten Seelenpein beftraft wird, um Dderfelben fir die Zukunft vor: gubeugen.

Diefe Offenbarung des goͤttlichen Geſetzes im Selbſtbe— wußtſein iſt eine ſo unmittelbare, daß ſie nicht einer kuͤnſtlichen Verſtandesbildung und Gemuͤthsverfeinerung bedarf, ſondern in den ſchlichteſten Seelenzuſtaͤnden, ſo lange ſie nur gegen wirkliche Entartung geſchuͤtzt blieben, mit einer Macht hervor- tritt, welche hinreicht, alle Leidenſchaften zu beſiegen, und dauernd in’ Feſſeln gu ſchlagen. Indeß dem Menſchen iſt eine ungetruͤbte Offenbarung Gottes in ſeinem Innern nicht be: ſchieden, ſondern auch fie ſoll von ihrer erſten formloſen Regung in unbeſtimmten Ahnungen eine Menge von Laͤuterungspro— ceſſen durchlaufen, welche innig verwebt mit allen Entwidelungs: vorgaͤngen in der Seele an den Mifverhaltniffen und Entar— tungen Dderfelben Dheil nehmen. Wie fehe das Urtheil ded Gewiffens durch herrfchende VGorurtheile, durch Verbildung des Geiftes, durch Selbftfudt, ja ſogar durch edlere Leidenſchaften verfalfcht wird, fo daß gerade feine Gebote den Menfchen mit . Nothwendigkeit auf Grewege treiben, dad laͤßt fich freilid) im Ginjelnen haufig faum nachweifen, weil wir viel zu wenig in das Snnere Anderer bliden, als daß wir uͤber die Angemeffen: beit ihrer Handlungen gu den Ausfpriichen ihres Gewiffens entſcheiden fonnten. Denn jene Handlungen geftatten gwar im ANgemeinen eit ziemlich richtigeds Urtheil uͤber ihre fittliche Bedeutung, aber welde Antriebe denſelben gum Grunde lagen, und in wiefern Ddiefelben vom inneren Richter gebilligt, gefor: dert, oder im Widerſpruch mit demfelben dennod ausgeibt wurden, wer getraut fid) dariiber wohl bet der unendlid) gro: * Ben Gerwidelung der inneren Beftimmungégrinde abjufprechen? Wie oft die fittliche Rene als die wahre Stimme des Ge: wiffens mit bem Schmerz der verlebten Selbſtſucht verwedfelt wird, davon finden wir das deutlid)(te Beifpiel bet allen Fa— natifern, welche ihre despotiſche Herrſchſucht in majorem Dei gloriam walten laffen, und es fic) daber niemals verzeihen

Ideler Theorie d. relig, Wahnſinns. 7

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‘fonnen, wenn fie ihren felbftfachtigen Bweden aus Antrieben

ber Menſchlichkeit Etwas vergaben. Wir fonnen uns daher die grofen Schwierigkeiten nicht verheblen, welde mit unfrer Forfchung im dunkelſten Heilig:

thum des Gemithd verfniipft find, wenn wir die aͤchten Regun-

gen des Gewiffens von feinen Verfalfdungen durch alle ubrigen Sntereffen unterfcheiden, ja werm wir aud nur in feiner wirf: lichen Stimme den lauteren Ausdruck des gottliden Geſetzes von den Mifiverftandniffen deffelben abfondern wollen. Es muff uns bier, wie in allen Abnlichen Fallen die Regel leiten, baf wir unferen Betrachtungen foldhe Shatfadhen sum Grunde legen, deren wahre Bedeutung feinem Zweifel unterliegen Fann, burd) welche wir unferen Begriffen einen feften Inhalt und cine fcharfe Abgrenzung gu geben vermoͤgen. Wenn es alſo unſere jetzige Aufgabe iſt, den Begriff einer leidenfchaftlicen Steigerung des Gewiffens nicht ald cine theoretiſche Abftraction, fondern als eine objective Mabhrheit gu behandeln, um in iby die Erflarung der verwickeltſten Erfcheinungen des Gemisths au, finden; fo miuffen wir uns vor Alem fragen, ob jener Begriff mit dem Wefen des Gewiffens felbft nicht in einem unaufloͤslichen Widerſtreit ſtehe. Denn allerdings ſcheint der Satz ſich ſelbſt aufzuheben, daß ein Princip, welches als ge— ſetzgebendes Maaß in dem Bunde der Gemuͤthskraͤfte walten ſoll, fur ſich ſelbſt das rechte Magß uͤberſchreiten, und dadurch ſeine weſentliche Beſtimmung gaͤnzlich zerſtoͤren koͤnne. Indeß der paradoxe Anſchein dieſes Satzes verſchwindet ſogleich bei Erwaͤgung der ſehr haͤufig ſich darbietenden Erſahrung, daß der Menſch in den anhaltenden Quaalen des ſtrafenden Ge— wiſſens geiſtig und ſittlich voͤllig zu Grunde gehen kann, welche Faͤlle es gerade ſind, mit denen wir uns hier beſchaͤftigen. Man mag dieſe Erfahrung drehen und wenden, wie man will, fo laͤßt ſich ihr doch durchaus keine andere Bedeutung abgewin—⸗ nen, als daß die mit jeder Gewiſſensſtrafe nothwendig ver— bundene Gemuͤthserſchutterung die heilſamen Grenzen uͤber— ſchritten hat, innerhalb deren ſie die boͤſen Antriebe vertilgen ſollte, und daß fie im Widerſpruch mit ihrer weſentlichen Beftimmung einen verderblidhen und jerftirenden Charafter

" angenommen bat, An legterem haben wir alfo ein beftimm:

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tes Kennzeichen, welded uns mit Sicherheit auf cine leiden: ſchaftliche Steigerung ded Gewiffens ſchließen laͤßt, da eS feiner urfpringtiden Beftimmung jufolge befriedigt fein foll, fobald fein Zweck erreicht ift, eine heilfame Umgeftaltung des Gemiths burd) Vernichtung der fiindliden Begierden gu verantaffen. Freilid) hat dads ftrafende Gewiffen eben als folded immer eine zerſtoͤrende Kraft, daher verderbte Gemither gleichſam germalmt werden, wenn in ihnen endlich der ftrenge Richter erwadt; indeß zuletzt muß até diefen inneren Verwuͤſtungen wieder ein neued geiftig fittlides Leben hervorgehen, durd feine Laͤuterung felbft des liebenden Vertrauens gu Gott wie- ber fabig, und fomit des Seelenfriedend theilhaftig werden.

Die Erfcheinungen, in denen die Wirfung einer leiden: ſchaftlichen religidfen Ehrfurcht ihren zerruͤttenden Einfluß auf die geſammte Seelenthaͤtigkeit zur Anſchauung bringen, laſſen ſich ſehr leicht in 3 Gattungen unterſcheiden:

1) Ein ſchuldbeladenes Gemuͤth wird durch die zu ſpaͤt erwachende Reue in die heftigſte Erſchuͤtterung verſetzt, deren Fortdauer nur einen verderblichen Ausgang nehmen kann.

2) Die fromme Ehrfurcht artet durch pathologiſche Be- dingungen des Gemiiths in eine übertriebene Strenge aus, fo daß ſie den Gerftand zum BWerdammungsurtheil gegen die leichteften Vergehungen, ja felbft gegen pflidtmafige Handlun: gen zwingt.

3) Die fromme Ehrfurcht wird durd den Teufelswahn in ein gang falſches Verhaͤltniß zur Gerechtigkeit der goͤttlichen Weltordnung gebracht.

§.6. Die uͤbermaͤßige Reue eines ſchuldbeladenen Gewiſſens.

Alle Leidenſchaften witten deshalb⸗ ſo verderblich auf das Gemuͤth ein, weil fie in ihm die Stimme bed Ge— wiſſens unterdrimden, bei deffen ftrengem Ridhterfpruch fie ihre maaßloſen Forderungen nicht geltend machen fonnen. Cntweder fie beſtechen den Berftand durch Trugbegriffe, mit denen fie ihre Beftrebungen befchdnigen, oder fie fampfen fo lange ge- gen jedes lebendige Sittlichfeitsgefiihl an, bis fie daffelbe gum

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Schweigen gebradht, und dadurd bas ihnen entgegentretende ſtaͤrkſte Hinderniß iberwunden haben. Go lange fie nod im erften Fraftigen Fortſchreiten begriffen find, und fie dDurd den Bauber ihres glihenden Sntereffeds gu raftlofem Wirken ange: fpornt werden, gelingt eS ihnen auch meiftentheils, das wider: firebende Gemith auf ihrer Bahn fortzureißen; ja fie bewirfen nicht felten eine voͤllige moralifhe Veroͤdung deffelben, fo daß fie fid) in grundfabliche Lafter verwandeln, welche durch Nichts mehr auf dem Wege sum Werderben aufgehalten werden fon- nen. Wenn aber bas Gewiffen im fritheren Leben zur hin: reidjenden Starfe entwidelt worden war, um niemals gaͤnzlich vertilgt werden gu fonnen; fo muß in dem Werlauf der Leidenfchaften friher oder fpater ein Wendepunkt eintreten. Sie erfaufen jederzeit ihren Zweck mit fo foftbaren Opfern, daß an denfelben ihr Sntereffe frither oder fpater erfalten muß, daher ihnen dann der eigentliche Antrieb feblt; oder fie haben ihre Sflaven gu wirklichen Freveln fortgeriffen, gegen deren Holgen nur der verhartete Verbrecher gleidhgiltig bleiben fann. In beiden Fallen erwacht nun ber ftrafende Richter, deffen verdammendes Urtheil im gleichen Verhaͤltniß gu der Groͤße ihrer Schuld fteht, und fie daher mit einer Anflage belaftet, unter déren Schwere fie gu Boden gedridt in allen geiftigen Regungen erffarren und erlahmen.

Daf die Strenge des Gewiffens mit der Gumme des ausgeuͤbten Bofen im angemeffenen Verhdltniffe ſteht, darin eben offenbart fid) die goͤttliche Gerechtigkeit, welche deshalb aud) den Verirrten jedesmal auf die rechte Bahn zurüͤckfuͤhren wuͤrde, wenn er nidjt unter der langen Herrſchaft der Leiden: fchaft die Bedingungen der .SittlichFeit mehr oder weniger in fid) gerftort hatte. Wie fol der, welcher das Gute nie aus Grundfag uͤbte, nie dem fittlichen Geſetz feine Selbftfucdt zum Opfer bradhte, nun mit einem Male eine gaͤnzliche Umgeftat: tung ſeines Gemiths berwirfen, fo daß er durch wiedergewon- nene Qauterfeit der Gefinnung fic) mit ſich felbft ausſoͤhnen Finnte; wie foll er Ales wieder gut machen, mwas er geflif: fentlid) wverdarb? Die fittlidhe Cultur fann niemals impros vifitt werden, da fie jederzeit eine -gewiffenhafte Lcitung der Gemuͤthskraͤfte vorausfest. Wie bereitwillig auch der reuige

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Suͤnder gu ciner Umbehr fein mag; er fühlt die ihm entge: gentretenden Hinderniffe lebhaft und ftarf genug, um Ange: ſichts ſeines gerftorten und ſchwer wieder gu erobernden Geez lenheils fic) leicht der Vergweiflung hingugeben. Letztere fann aber nur alg voriibergehender Gemithssuftand cine wohl: thatige Erfchiitterung bewirfens bef langerer Fortdaucr artet fie jedeSmal in einen verwiftenden Sturm aus, unter deffen Voben die Organifation der Seele aus allen ihren. Fugen weidt. Man muß als Srrenarjt oft genug Zeuge von dem namenloſen Elende eines verzweifelnden Gemuͤths gewefen fein, um in den gulept audsgefprodenen Gdéen feine Ucbertreibung zu erblicen.

Wir dürfen daher unbedenklich die religidfe Verzweiflung eines fduldbeladenen Gemuͤths mit der wilden Brandung ver: gleiden, in welder der Schiffbruͤchige bas Bewuftfein der ganzen Welt verliert, und nur die Vorſtellung des ihm une mittelbar drohenten Unterganges faft, mit welder er fic) in wabnfinniger Angft an Ales anklammert, was ihm einige - Hoffnung auf Rettung gewaͤhren fann. Hieraus erflart es fi) namentlid), daß Gerbrecher durch die Folter ihres Gerif: ſens haufig gum Bekenntniß ihrer Schuld angetrieben werden, weil fie hierdurch allein eine Suͤhne der gittliden Gerechtigkeit gu erlangen boffen, daber fie fid) auch haufig durd das abge: legte Geſtaͤndniß erleichtert fuͤhlen. Was finnen Gefangenfchaft und Dod fir fie, welche Hillenquaalen erduldeten, noch Schreck: liches haben, wenn fie lebtere durch Unterwirfigfeit unter dad goͤttliche Geſetz befehwidtigen? Gewiß verfiindigt fic) hierin die Majeftat und Heiligheit des Gottesgerichts, welches den Suldigen um fo getviffer trifft, je mehr er gegen das welt: | lide Strafgericht ficher gefteNt gu fein glaubt. Aber wenn der Verbrecher in wahnwitziger Bethdrung das Verdammungs: urtheil des Gewiffens verleugnen, und dadurch der Strafe fic entgiehen gu fonnen glaubt, um den finnliden Genuß eines in feinem eigenen Gewuftfein herabgewirdigten Lebens ſich gu erhalten; dann macht oft die anhaltende Quaal in wirfli: chen Ausbruͤchen der Geiftedszerrittung fic) Luft, und reift dadurch dem Frevler den Sehleier der Verftellung ab. Denn im innerften Kern ber Seele gliht dad durch Nichts gu bee

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taubende Gefiiht der Schuld, und indem daffelbe das Bewuft- fein vollig durddringt, tritt aus lebterem die Borftellung der Srevelthat mit einer folchen Gewalt hervor, daß fie in die finnliche Geftalt des Ermordeten incarnirt zur wirfliden An— fhauung wird, und ald folce ftetS vor dem geiffigen Auge ſchwebt. Wenn daher Morder die blutige Geftalt der von ibnen Grfchlagenen in leiblich unmittelbarer Gegenwart vor fid feben, fo ift gwar thre Todesangſt die nothwendige Folge des begangenen Frevels; aber fie weicht. doch arin von den natur: gemafen Bedingungen ab, daß die phantaſtiſche Sinnestaͤu—⸗ ſchung nur aus einer wahnwitzigen Verſtoͤrung des Gewiſſens erklaͤrt werden kann, und eben als ſolche auf eine unheilbare Zerruͤttung des Gemuͤths hinarbeiten muß. Denn wie ſoll letzteres jemals wieder zur Ruhe gelangen, wenn ihm das begangene Verbrechen in jedem Augenblick durch das füuͤrchter— liche Bild deſſelben zum Bewußtſein gebracht wird?

Wir wollen nun eine Reihe von hiſtoriſchen Thatſachen zur Beftatigung des eben Gefagten jufammenftellen. Schon Semiramis foll durd das bleiche Schattenbild des auf ihr Anftiften ermordeten Ninus ftets geangftigt worden fein. Oreft und Nero wurden durch die Erfcheinung der von ihnen ermordeten Mitter oft in Versweiflung geſtuͤrzt. Plu⸗ tard berichte vom Paufanias, daß derfelbe durch den Sdhatten einer ſchoͤnen Byzantinerin verfolgt wurde, welche er mit dem Schwerte durchbohrt hatte, und daß er nad lange vergeblichen Suͤhnopfern endlich von demfelben die Verheifung vernahm, er werde, in fein Baterland zuruͤckgekehrt, bald Rube von feinem Werbrechen finden, wie er denn auch in Sparta den Hungertod in einem Tempel als Landesverrather erlitt. Eben fo erzaͤhlt Plutard in feiner Schrift de sera numi- nis vindicta, daß Beffus von Schmeidlern bei einem feft: licen Mahle umringt feine Aufmerkſamkeit auf cin Gefprad richtete,, welded Niemand anfer ihm vernahm. Ploͤtzlich fprang er rafend von feinem Sitze, auf, ergriff einen Degen, und auf ein Schwalbenneft zueilend erfchlug er die Voͤgel mit dem Ausruf: ,,die Unverfchamten, welche mir den Bod meined Vaters gum Borwurf maden!” Die Folge lehrte, daß er im Gezwitſcher der Schwalben nur die Stimme feines Gewiffens

gehort hatte. Klearch von Heraflea, ein Schuler des Plato, beblagte fic) lange vor feinem tragiſchen Tode dar: uber, daß er ftets von Phantomen umringt fei, deren Gefichts: zuͤge ihn an die Opfer feiner Tyrannei erinnerten. Caffius, einer: Der Morder des Julius Gafar, fah denfelben auf ei: nem furchtbaren Roſſe in der Schlacht bei Philippi fampfen. Bheodorich lief bethirt durch faljche AnFlagen den Senator Symmadués, einen der tugendhafteften Manner feiner Beit, hinrichten. Bon fteten Gewiffensbiffen gefoltert, ſtieß er eines Sages einen Schrei de8 Entſetzens aus, alg man einen felte: nen Fiſch auf die Tafel febte, deffen Kopf ihm als der des Symmadhus erfcien. Nad dem Bericht des Gully wurde Kart IX, in feinen einfamen Stunden durch das Geſchrei der in der Bartholomausnadt auf feinen Befehl Crmordeten gefoltert, und Zouis Blanc bemerft (a. a, O. Th. J. S. 71) ausdridlid) von ihm, daß ev fic) alle Nadte von Gefpenftern umringt fab, und daf er nie wieder froh geworten nad) Ub: lauf von nicht gwei Sabren ftarb. Geine Mutter, Katha: tina von Medici, die vornehmfte Anftifterin jenes Blutba— des, foll nad) demfelben Gefchidtsforfcher den von ihr geopfer: ten Gardinal von Lothringen, welchen fie frither in ihr Bette aufgenommen hatte, als Geift gefehen und ein Ungfigefchrei ausgeftofen haben. Die Gefchichte der Befeffenen ju Lou— bun wird uné noc fpdter Gelegenbeit geben, im Zuſammen— hange der Darfiellung der Gewiffensquaalen gu gedenfen, wel- che cinige Gchurfen fur ihre Werfolgungswuth gegen den un: glidlidben Urban Grandier erdulden muften,

Wenn fchon die Weltgefchichte, wor deren ftrengem Mich: terftubl die Maͤchtigen der Erde erſcheinen muͤſſen, uns zahl⸗ reiche Beifpiele von der aus religidfer Verzweiflung entfprun: genen Geiftesftdrung liefert, fo find diefelben im Privatleben gewiß nod) unjdblig oͤfter vorgefommen, ‘wenn fie auc) aur felten von Beobachtern aufgegeichnet wurden. Indeß fehlt es doch nicht an Erzaͤhlungen diefer Art, von denen Hier einige beſonders merfrourdige mitgethéilt werten follen, In York: ſhire lebte ein gewiſſe Raynal im verbotenen Verhaͤltniß mit der Ehefray des reiden Gutsbeſitzer Fletcher, weldhen er ermorbdete, um mit jener den verbotencn Umgang ungeftirt

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fortfeben gu fonnen. Ginige Jahre fpater, im Begriff zu Pferde gu fleigen, erblicte er den Schatten des Fletcher, welder im zurief: „o Ralph bereue, denn meine Race ereilt did)!” Unaufhorlid) von diefer Erfcheinung verfolgt, ver- lor ev den Schlaf, verrieth fein Geheimnif, und erlitt die verdiente Strafe. Beaufort, der Morder de8 Herzogs von Gloucefter, webhrte unmittelbar vor feiner Hinridtung das Gefpenft deffelben mit den Worten von fic ab: „Geh, geh, warum blidft Du mid fo an?” Cin Maufer, welder 17 Per: fonen im 3weifampf umgebracht hatte, wurde iberall von den Schatten derer wverfolgt, welche er ermordet hatte. Jarvis Matham, Zablmeifter in einem englifthen Regimente, dem Anfcein nach ein rechtſchaffener Mann, unterfehlug einen be: Deutenden Theil der ihm anvertrauten Gelder, und in Gefahe entdeckt 3u werden, erſchlug er einen fleinen Tambour, durd deffen Gegenwart er verhindert wurde, die Flucht zu ergrei: fen, welche er bierauf bewerkftelligte. Verkleidet langte er in Portsmouth an, wo er auf fein Gerlangen fruͤh Morgens er: wedt, beim Erwachen in die Worte ausbrad: ,, Mein Gott, id babe ibn nicht getddtet.” Mehrere Jahre diente er bhierauf mit Auszeichnung als Marinefoldat, worauf er verabfchiedet in Begleitung eines Gameraden den Weg nak Salisbury einſchlug. Auf ihrer Meife wurden fie von einem fuͤrchterlichen Ungewitter iiberfallen, deffen ungewoͤhnliche Blige und Don: nerfdhlage bas Gewiffen des verftodten Suͤnders aus dem Schlafe rittelten. Gr verrieth die heftigſte Angſt, und fing mit entftellten Geſichtszugen an irre gu reden, duferte, dad die Pflafterfteine ihm nachliefen, und entfeste ſich befonderd vor einem ihm nachlaufenden fleinen Vambour mit blutigen Hofen. Gein Reifegefahrte ermabhnte ibn, fein Gewiffen durd) ein freiwilliges Geftandnif gu erleichtern, und Matham be: fannte nun fein Gerbrechen mit dem Zuſatze, daß er aufer Stande fei, die Quaalen langer gu erdulden, welche er feit Jahren erfragen habe. Zwar widerrief er im Verhafte feine Ausſage; indeß feine Sndentitat mit dem frisheren Deferteur und fein unvwillfirlider Auseuf in Portsmuth reichten bin, ihn feiner That gu uͤberfuͤhren, fiir welche er den ver: dienten Lohn empfing (Boismont a. a. O. S. 345 349),

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Belouino (a. a. O. Th. 2 S. 346) erzahlt, bak er der Arzt eines Mannes gewefen fei, welder wabhrend her Schrek— kenszeit der Revolution viele Vodesurtheile unterzeichnete. Die: fer Unglicfliche Fampfte in ſeinem Bette mit Damonen, welche ibn entführen wollten. „Ich fehe fie, rief er, fie erwarten mid) feit langer Beit, ich erblide den Ort, an welthen fie mid fcleppen wollen, ein glithender Felfen, um welden fid alle Köpfe fchaaren, die ic) habe abſchneiden laffen; ich febe fie wohl, wie fie mic) anbliden!” Den Broft ded Arztes wies er mit den Worten zuruͤck: „Wie kann Gott mir ver: zeihen? Gr hat mid) dem eufel uͤbergeben; auch ſchreien alle dieſe Koͤpfe Rache gegen mid, er kann mid nicht hdren.” Schubert (a. a. O. S. 522) bemerft: Ginen auf dem Wege gum Chebrud) Begriffenen fchredte der Ruf der Wad tel am Sornfelde, einen Morder das Geſchrei und Herabſchwe— ben einiger Krahen ded Waldes, in welchem jener eben das Blut des Bruders vergoffen, denn ihm fceint e8, die Stimme der gegen ibn fliegenden Vogel will ihn beftrafen und gegen ihn geugen. Gin anderer erfennt an einem 3erftidten Thiere von giftigem Geſchlecht das Vorbild bes Schidfals, das fei: nen Leib erwartet, .fo oft gu Thaten gemißbraucht, furchtba— rer als der Biß der Natter, und gugleid) erwacht in ihm dads Berftandnif fir das Geſetz Gottes. Cin Gefdhrei, dad zu ſtiller Nat ing Ohr dringt, aͤhnlich dem Angſtgeſchrei, das ber Gemordete in feinem letzten Kampfe ausgeftofen, der An: blid ded Bluts, ſelbſt nur von einem geſchlachteten Thiere oder der Anblid der Statte, wo der Mord geſchehen, fo wie “per oͤfters wiederfebrende Schrecken eines ndchtliden Traumes haben nicht felten die entartete Menfchennatur fo maͤchtig und tiefeindringend bewegt, daß fie den leibliden Zod weit weni- ger gefuͤhlt, als die innere Angft.

Shakf peare, deffen erleuchteter Seherblick tief in bie dunkel geheimnißvolle Werkſtätte des Denkens und Wollens eindrang, und die in ihr waltenden Geſetze erſpaͤhte, hat die Regungen des Gewiſſens an Macbeth und Richard in Meiſterzuͤgen geſchildert, mit denen ſich wenige Seelengemaͤlde vergleichen laſſen. Die Vorſtellung des an Duncan zu ver— übenden Mordes verkoͤrpert ſich dem Macbeth zur Viſion

oe ee = —— -

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cines Dolchs, nad) vollovachter That drohen feine Hande ihm die Augen auszureißen, dee Geift des erſchlagenen Banco tritt ihm wiederholt beim Feftmabhle entgegen. Wielleicht nod ticfer iff die Auffaffung des Seelenzuftandes des Nidard und dev Lady Macheth, welde im Wachen jeder Mahnung des ſtrafenden Gewiſſens unzugaͤnglich, ibe dod im Schlafe nicht augweiden fonnen, aus welchem Ricard durd die Gefpen: fter der Opfer feiner Tyrannei gu quaalvotlem Erwachen auf: aelchredt wird, in welchem die nachtwandelnde £2. Macheth

vergebens ihre blutbefledten Hande rein zu waſchen fic). be⸗

muͤht, um bate darauf zu ſterben.

§..7. Leidenſchaftliche Steigerung der frommen ——— aus pathologiſchen des Gemuͤths.

Aus einer ganz entgegengeſetzten Verfaſſung des Gemuͤths entſpringt die uͤbermaͤßige Strenge des Gewiſſens. Die im vorigen § gefchilderten Erſcheinungen gehoͤren ihrer Natur nad verhaltnifmagig gu den Seltenheiten, da die Lafterhaftigfeit an. fic cinen fo hohen Grad der ſittlichen Verwilderung, Roh⸗ heit und Veroͤdung des Gemuͤths darſtellt, daß ſie nur aus einem gaͤnzlichen Verſtummen des Gewiſſens erklaͤrt werden kann, daher denn aud) die allermeiſten Verbrecher jeder wah— ren Reue unzugaͤnglich ſind, und nur durch die Furcht vor den ihr ganzes Lebensgluͤck zerſtoͤrenden Strafen erſchuͤttert werden.

Wenn Verbrecher nach veruͤbtem Frevel dem Gottesgericht in

ihrer Bruſt anheimfielen, ſo ſetzt dies jedesmal voraus, daß inmitten ihrer Leidenſchaften noch eine edlere Geſinnung waltete, welche nur waͤhrend des Tobens derſelben nicht zum deutlichen Bewußtſein kommen konnte, aber bei irgend einer Wendung ihres Schickſals ſich mit um ſo furchtbarerem Nach⸗ druck geltend macht.

Die uͤbermaͤßige Strenge des Gewiſſens kann dagegen nur unter der Bedingung als moͤglich gedacht werden, daß die Chr: furcht vor dem goͤttlichen Geſetz in anhaltend leidenſchaftlicher Spannung erhalten wurde, welche als ſolche ſchon jede grobe Verſuͤndigung von vorn herein verhindern muß. Denn es iſt

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ein Pfychologifder Widerſpruch, daß Jemand, welcher im an— haltenden Zittern und Beben vor dem goͤttlichen Strafgerichte

befangen, ſchon die geringfigigften Verirrungen, ja die un

ſchuldigſten LebenSfreuden als fludwirdige Thaten verdammt, fic) noch ſchwerere Gergehungen erlauben follte, gegen welche fid) ohnehin ſchon jedes menfehliche Gefuͤhl emport. Wenn def: fenungeachtet Perfonen, welche mit einer folden Gewiffensban: gigfeit behaftet waren, fic felbft ober Andere ermordeten; fo mus man diefe That als Ausbruch wahnwitziger Verzweiflung anfeben, womit wir uns eben hier befdaftigen. Ooi) Sdhne die Erérterung uͤber die urfachlidhen Bedingungen - diefeS Gemisthsleidens vorweg ju nehmen, muß ich mich bier auf Die Bemerfung befehranfen, daß daffelbe jedeSmal einen paffiven Charafter der Seele vorausſetzt, welche im beſchaulichen Spiel mit ihren Gefiihlen befangen, fid) in den Labyrinthen derfelben verliert. Denn der thatfraftige Charafter wird in der Mahnung des Gewifjens jedesmal den madhtigften Antrieb fin: den, ihnen durch ein ſittliches Handeln Geniige gu leiften, und. dadurch den geftdrten Frieden in feiner Bruſt wieder herſtellen. Das ift ja eben die weſentliche Bedeutung der Reue, daß fie die Leidenſchaften und Begierden niederfimpfen foll, um daz durch erft cine wahre Pflichterfitllung moglic) gu maden, welde ihterfeits Entfchloffenheit und eifrige Liebe gu dem Bwed devs felben voraudsfest, widrigenfalls der moralifde Lebenswandel nicht aus dem ſchoͤpferiſchen Princip der fittlichen Freiheit, fon- bern aus der Fnechtifchen Furcht wor dem gottlichen Zorn her: vorgebt , welche als folde jede Quelle des geiftigen Lebens ver: fiegen macht. Gin paffiver Charafter lapt fic aber felbft durch die ſtaͤrkſten und fchmerglichften Affecte nicht jum Handeln bez ftimmen, weil ipm die dazu nothwendige Bedingung der Selbſt⸗ beherrſchung felt; hoͤchſtens wird er durch fie gu convulſiviſchen Anfirengungen gezwungen, welche mit oer ganzen Gemuͤths⸗ beſchaffenheit zu ſehr im Widerſpruch ſtehen, als daß ſie von Dauer ſein koͤnnten, daher auch auf ſie eine um ſo groͤßere Entmuthigung und Erſchoͤpfung des Willens zu folgen pflegt. Denn im Sturm der Gefiihle ſich gu einem entſchloſſenen Han- deln gufammenguraffen, iff eine der ſchwerſten Aufgaben fir den Menſchen, weil er fie nur durd) dad hoͤchſte Aufgebot fei:

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ner Kraft loͤſen Fann, mit welder er den Aufruhr in feiner Bruft bandigen, aus dem Wirbel feiner das Bewußtſein tris benden Gefihle zur klaren Befonnenbeit ſich hindurchringen, . und innerlich erſchuͤttert doch eine fefte Haltung gewinnen foll, damit er nicht auf fdwierigem Wege in ein ftetes Taumeln und Sdwanfen gerathe. Wer fic) nicht in diefer fcwerften fittliden Aufgabe thatfraftig durchgeübt hat, und dadurd) Meifter feiner felbft geworden ift, lapt fic) vom Strome feiner Gefuͤhle fortreifen, aud) wenn fie nod fo peinlid), ja uner: traglid) find, und je mebr er von ihnen unterjodt wird, um fo tiefer muß die durch fie hervorgerufene Erſchuͤtterung in die innerfte Grundlage des Gemiths eindringen, bis gulegt eine vollftandige Zerruttung deffelben und des Geiftes die nothwen- dige Folge davon ift.

Ye mehr alfo der Menſch durch ein leidenſchaftlich erregtes und geſpanntes Gewiſſen zum Handeln untuͤchtig wird, um fo hoͤher muß ſeine Noth ſteigen, da er unfaͤhig zur Pflichterfuͤl— lung nicht nur jeder Selbſtbefriedigung, jeder feſten Haltung gaͤnzlich verluſtig geht, ſondern auch dieſer Unfaͤhigkeit ſich be— wußt von ohnmaͤchtiger Reue bis zur Verzweiflung gefoltert wird. Jede in voller Entwickelung begriffene Leidenſchaft findet als ſolche gar keine Schranke des Wirkens mehr; in dem Maaße folglich, als der Stachel eines leidenſchaftlich gefteigerten Ge— wiſſens tiefer in die Seele eindringt, und in ſie das Gift eines toͤdtlichen Schmerzes ergießt, arbeitet letzterer auf eine voͤllige Zerſtoͤrung der geiſtigen Organifation hin. Die hieraus unver— meidlich hervorgehenden Wirkungen laſſen ſich leicht erklaͤren. Zuvoͤrderſt vertilgt die unmaͤßige Gewiſſensſtrenge alle anderen Gefuͤhle ohne Ausnahme, jedes Intereſſe an den theuerſten Guͤ— tern des Lebens erſtirbt, oder dient hoͤchſtens dazu, die Seelen— quaal zu ſteigern. Der Verzweifelnde flieht jede unſchuldige Freude als eine Verſuͤndigung gegen Gott, deſſen ſtrenges Ge- bot das vollitandige Opfer aller Liebe und Hoffnung, ja die gaͤnzliche Selbſtertoͤdtung des Willens fordern foll. Er reifit fid) von feinen Angehdrigen (08, verabfcheut jeden Wunſch, der auf weltliche Guͤter der Ehre, Macht, des Beſitzes gerichtet von ihm als Regung der ftraflidhften Selbftfucht angefehen wird; er fühlt das Bedirfniß einer fteten Marter und Peinigung, in

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welcher er feine verderbte Natur gaͤnzlich zerſtoͤren, und in quaal: voller Buße den Zorn Gottes befanftigen will, obgleid) er uͤberzeugt ift, deſſen Gnade nie wieder erlangen gu finnen. Fede Thatigheit fliehend, welde ihn mit fic) wieder ausfdhnen koͤnnte, wiithet er in feine eigenen Gingeweide, um fein Fleifd) gu ere tddten, fein Herz gu zerknirſchen, feine ganze Perſoͤnlichkeit zu zermalmen, gleichſam als müͤßte fein Ich erſt zu einem Brei zerſtampft, und aus dieſem zu einem ganz neuen Leben geformt perden. Dies kann nur dahin führen, daß er ſich und ſein dafein foerfludt, und. daß fein Rafen gegen fic) felbft ihn e zu wahnwitzigen Thaten fortreißt, wie man denn Aeltern n geſehen hat, welche ihre Kinder toͤdteten, um ſie gegen nden des eigenen Lebens und gegen die darauf folgende Verdammniß gufchirgen. Insbeſondere ſchoͤpft feine Gewiffens: t daraus immerfort neue Nahrung, daß fie fein Urtheil g nzlich verfaͤlſchend ſein fruͤheres Leben zu einer teufliſchen Fratze entſtellt, als ob daſſelbe eine endloſe Kette der verruchte- ſien Frevel, ein immerwaͤhrender Abfall von Gott geweſen fei. Mit wahnwisigem Scharffinn werden die unſchuldigſten Gefuͤhle und Handlungen gemißdeutet und wit dem Brandmahl der Schande und Verworfenheit geſtempelt; in raſtloſer Gruͤbelei wuͤhlt det Unglüuͤckliche die dunkelſten Erinnerungen auf, um in ihnen den Fluch des Boͤſen zu finden. Natuͤrlich kann als Cre gebniß nur eine vollſtaͤndige Selbftverdammung daraus hervor⸗ geben, und nicht gufrieden damit, erdichtet er nod mit. unbeil: fdwangerer Phantafie eine Menge der Argften Verbrechen, wel: che ibm zur Laft fallen ſollen. Ja felbft dies genugt ihm nod nicht, ſondern in furchterlicher Selbſtbethoͤrung gelangt er end⸗ lich dahin, ſich fiir den Anſtifter alles Boͤſen in der Welt, fir ben Teufel felbft, als den ewigen Widerſacher Gottes, fiir den Antichrift gu halten, daher denn am Tage des. Weltgeridts als fein iiber ihn die Schaale des goͤttlichen Borns ausgegoffen wer- ben wird, oder die durch feine Schuld Verfuͤhrten ihn als den Urheber ihrer Verdammniß mit ewigen Verwuͤnſchungen verfol⸗ gen werden. ds Man muß oft in grofien Irrenanſtalten der Beobadhter fol: der grafliden Seelenzuſtaͤnde gewefen fein, um in vorftehender Schilderung derſelben nicht die geringfte Uebertreibung zu fin—

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ben, vielmebr die Ueberzeugung zu hegen, daß felbft die aus— drucksvollſte Sprache viel zu diirftig ift, um mehr als ein blei— ches Schattenbild liefern su fonnen. Um indef den Umfahg dieſes Buches nidt uͤber die Gebuͤhr auszudehnen, muff id) es mir verfagen, eine Reihe von Bildern der religidfen Verzweif— lung eingufchalten, zumal da ihre Erfceinungen in vielen der mitsutheilenden Krankengeſchichten deutlich genug hervortreten. Statt defjen fei es mir erlaubt, die von mir fruͤher verdffent: lichten Beifpiele diefer Art gu bezeichnen. In meinen VBiogra: phien Geiftesfranfer gehort hierher Nr. 7, und in meiner Schrift uͤber den religidfen Wahnfinn Nr. 3, 8, 10, 14. Wenn indeß aud) die in Rede ftehenden Gemithsleiden ihrer wefentlicden Hedeutung. nach mit eimander ibereinftimmen; fo bieten fie dod) in ihrer duferen Erſcheinung grofe Verfchiedenheiten dar, welche ſowohl durch die Individualitaͤt des Ungluͤcklichen, als durch ben Charafter feiner Bildung und durch die Befonderheit der jedesmatigen Urfacen bebdingt werden, fo daß es unmiglid ift, in überſichtlicher Kuͤrze alle’ Merkwuͤrdige zuſammen zu ſtellen. Indem ich mid daher auf eine bloße Auswahl befehran: fen muß, führe id) zunaͤchſt an, daß die wahnſinnige Gewiſ— ſensangſt in ihrer reinſten Form gerade bei vortrefflichen Men— ſchen als unmittelbarer Ausdruck ihrer allgufehr vorherrſchenden religioͤſen Ehrfurcht hervortritt. Das wichtigſte Beiſpiel dieſer Art, welches ich in meinem Grundriß der Seelenheilkunde Th. 2. S. 469 mitgetheilt habe, giebt uns unſtreitig der edle Albrecht yon Haller, deffen namentlofe Leiden fein Freund und Shit: ler Zimmermann gefdildert hat. Da Hallers ganged Lez ben hinreichend al8 ein unausgefestes Beftreben fir alles Wahre, Gute und Schine befannt ift, twomit er fic) die grifiten Ber: dienfte um die Wiffenfchaft und die sffentlichen Angelegenheiten erwarb, fo fann er uns den fitr viele Leidensgenoffen giltigen Beweis liefern, daß fogar die reinfte Sittenftrenge, wenn fie in einem Franfhaft verftimmten und dadurd) der wahren Bhat: Fraft beraubten Gemith waltet, zur religidfen Verzweiflung fihren fann. Daher ijt in Srrenhdufern der Grundfag in gro— fer AUgemeinheit-anwendbar, daß gerade den ithertriebenen Selbftanflagen dev Geiftesfranfen in den meiften Fallen eine leeve Einbildung zum Grunde liegt, und daß ſie weit entfernt,

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auf ein laſterhaftes Leben zurückſchließen gu laſſen, vielmehr zu der Vorausſetzung einer ſittlichen Geſinnung berechtigen, welche durch irgendwelche Urſachen verduͤſtert einen ſchwarzen Schleier auf di Vergangenheit wirft. Ausnahmen giebt es freilich von dieſ 77 Regel wie von jeder anderen; indeß Fann der Argt bei gewiffenhafter Forſchung leicht den weſentlichen Thatbeſtand er— hitteln, welcher dem Urtheil sum Grunde gelegt werden mug. Jn weniger reiner Form tritt die religidfe Verʒweiflung als Folge. mannigfacher Ausſchweifungen, namentlich in der Wolluſt und im Genuß ſpirituoͤſer Getraͤnke auf, weil die en dann nicht des inneren Grundes ermangeln. Indes kann ſie doch in ſofern mit vollem Rechte hierher gezogen werden, als fie niemals im richtigen Verhaͤltniſſe gum fruͤheren aswandel ſteht, ſondern die Verirrungen deſſelben in aufs endſt a ife ibertreibt, und dadurd) eine verderbliche Mick:

wirkung auf da Gemiith ausibt. Ohne jene Beritrungen im bemadnteln und verſchoͤnern gu wollen, muß ic dod

: y dafi gerade die in Ausfehweifungen verftodten und verharteten Sider, welche durch ihre robe Lafterhaftigfeit nur Abſcheu erregen fonnen, faft immer gegen jene Verʒweiflung geſchuͤtzt ſind, welcher nur diejenigen anheimfallen, in denen die beſſeren Gefuͤhle nicht erſtickt, nur eine Zeit lang. betaͤubt waz ren, um bei der unvermeidlichen Zerruͤttung des Geiſtes und Koͤrpers unter deſto heftigeren Schmerzen zu erwachen. Wer— fen wir einen vorurtheilsfreien Blick ins 2 Leben, ſo koͤnnen wir uns nicht verhehlen, daß ſelbſt gutgeartete Gemuͤ— ther oft genug in Ausſchweifungen gerathen, wenn ſie ſchwach an Charakter, von liſtigen Verfuͤhrern verlockt, durch die finn: liche Luſt berauſcht, ohne deren verderbliche Wirkungen anfangs gewahr zu werden, immer weiter auf Abwege ſich verirren. Gee ſtehen wir es uns ehrlich ein, daß unſre ſocialen Verhaͤltniſſe vielleicht weit mehr Verlockungen zum Boͤſen, als Antriebe zum Guten in ſich ſchließen, und daß die Schuld der Verirrungen weit weniger ihre Opfer als die Geſellſchaft ſelbſt trifft, welche es noch allzuſehr verſaͤumt hat, ſich ne oa Verfaſſung zu geben, in deren Elemente jeder Keim pe edeihen mifte. einmal, id) will die moraliſche Schwaͤche, welche die ur: ſprungliche Quelle aller Ausſchweifungen ijt, nicht im Entfern—

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teften in Schutz nehmen, aber als folche iff fie nicht fdon un: mittelbar moraliſche Verworfenheit, nicht der Inbegriff aller Laſter und Schandthaten. Wie oft kaͤmpft der Ausſchweifende in finſteren Stunden von bitterer Reue gefoltert gegen’ feine Begierden vergebens an; ſie ſind ihm uͤber den Kopf gewachſen, und Niemand reicht ihm, wenn er in ihrer Fluth unterſinkt, die. rettende Hand. Endlich, nachdem alle Kraft ſeines Geiſtes gebrochen, fein Koͤrper ausgemergelt ift, fpiegelt fidy da’ Bild ber allgemeinen Zerriittung in der religidfen Verzweiflung ab, welche eben im Gefuͤhl der ganglichen Ohnmacht den furdtbar: ften Gharafter annehmen muf. Gang natuͤrlich uͤberſchreitet dann die verdammende Selbftanflage jedes Maaß und Verhalt- nif zu den allerdings ſehr tadelnéwerthen Verirrungen, und zu— gleich uͤbt fie einen fo laͤhmenden, ertddtenden Einfluß auf das Gemisth aus, daf das Gerwiffen feine VBeftimmung, eine Um: Fehr gum Guten zu bewirfen,..vdllig verliert. Da in folchen Fallen immer jene hoͤchſt reizbare Schwache Her Nerven ſich hin: gugefellt, welche recht eigentlid) das phyſiſche Element einer git: - gellofen Phantafie ausmadt, und als folded in den meiften MervenFranfheiten das wahnwitzige Spiel der Sinnestaͤuſchungen hervorruft, welches wir nod) oft genug fennen lernen werden; fo erflart es fic) febr leicht, daß die religidfe Verzweiflung nach ſinnlichen Ausſchweifungen am haufigften die Erfcheinungen von Teufeln, Hoͤllenſtrafen u. dergl. dem veet Bewußtſein auf- zwingt.

Der Verlauf der religioͤſen Verzweiflung bietet in ſofern eine weſentliche Verſchiedenheit dar, als ſie entweder mit der ſchwaͤrmeriſchen Liebe zu Gott wechſelt, oder in ununterbroche⸗ ner Fortdauer die Seele foltert. -Jn erſterer Beziehung iſt ihrer ſchon im vorigen Kapitel gedacht worden, und ſie erklaͤrt ſich leicht aus der leidenſchaftlichen Steigerung des gefammten reli: gidfen Bewußtſeins, welches ſowohl die Liebe zu Gott, als die Ehrfurcht vor ſeinem Geſetz in ſich ſchließt. Je weniger der Menſch in anhaltender enthuſi aſtiſcher Spannung verharren kann, ſondern um ſo tiefer in Ermattung, ja peinliche Erſchoͤpfung verſinkt, je ungeſtuͤmer und maaßloſer fein Aufſchwung war; um ſo leichter verſiegt der Erguß der frommen Inbrunſt auf einige Zeit, wo dann faſt nothwendig das entgegengeſetzte Ge—

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fuͤhl der Bergweiflung an ber Gnade Gottes folgt. Ya die: fer Wechfel der Gefiihle iff fo ungertrennlic) mit dem Wefen des religidfen Bewußtſeins verbunden, daß ibn vielleicht alle acht frommen Menfchen erfahren haben. Auch muß er feiner urfprimaglichen Bedeutung nad als heilfam und nothwendig an: gefehen werden, weil, wenn der Menſch fic ftets nur des Liebe: pollen Verhaltniffes ju Gott bewußt wiirde, er kaum der frommen Sehwarmeret entgehen fonnte, und im hocdmithigen Selbſtgefühl fich leicht tiber die ibm anflebenden Gebrechen ver: blenden witrde.

Ganz anders geftaltet fic) die religidfe Versweiflung, wenn fie ohne Unterbrechung fortdauert. Denn da die von ihr der Seele gefechlagenen Wunden nie durd den Balfanr des liebenden Vertrauens ju Gott geheilt werden, fondern immer tiefer bis in ibre innerften Grundlagen eindringen miffen; fo findet die Zerftorung der -lesteren Feine Grengen, daber denn aud) eine mehrjaͤhrige Gewiffensangft faft unfehlbar Geiftesverwirrung und Blodfinn als Erfdeinungen einer Lahmung der geiftigen Krafte sur Folge hat, fo daß die Seele erft jenfeits des Grabed zu einem neuen Leben auferftehen fann. Ehe es foweit fommt, muf die Verzweiflung felbft in ihren finnlofen Ausbrüchen jene gaͤnzliche Verzerrung aller wefentlicben Zuͤge des menfchlichen Gharafters bhervorbringen, welche felbft die Meifterhand eines Shakfpeare nur in einzelnen Umriſſen anzudeuten wagte, weil der Anbli des Ganzen von Keinem ertragen werden Fann. Ohne die hieraus entfpringenden Folgen vollftandig aufzuzaͤhlen, beqniige id) mich mit der fchon oben erwahnten Bemerfung, daß jene Verzweiflung nicht felten dte Urheberin fchwerer Ver: brechen geworbden ift, nach dem alten Sprichwort: Moth fennt Fein Gebot. Zuvoͤrderſt giebt fie haufig den Antrieb gum Selbſt— morde, obgleich fie fic) gewoͤhnlich mit der Vorſtellung paart, daß die Schuld, welche fie fid) Dadurd) aufbiirdete, nur noch erfchwert wiirde. Indeß das Gefuͤhl der jebigen Angft ift gu groß, als daf fie nod [anger ertragen, oder von der Vorftel: lung der Finftigen Hoͤllenſtrafen unterdruͤckt werden fonnte, wiewohl es allerdings auc) Falle genug giebt, wo gerade das Entfegen vor dem Weltgerichte den Frevler mit finnlofer Angft

vor bem Tode erfillt. Gr klammert fic, wie Ludwig XL, in Soeler Theorie ov. relig. Wahnjinns. 8

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obnmachtiger Muth an jede Minute Hes verrinnenden Lebens an, eben fo wie ein Verbrecher fic) gegen den Henfer ftraubt, alg ob fein Mingen mit demfelben den Todesftreich abwebren fonnte. Immer muß aber in Qrrenhaufern die grofite Wach— ſamkeit auf alle an religidfer Verzweiflung Leidende gerichtet werden, zumal da fie oft ſehr erfinderifd find, um die Mittel zu ihrem blutigen Zweck geheim gu halten, im Stillen vorju- bereiten, und in irgend einem unbewadten Augenbli€ in Anz wendung zu ſetzen. Zuweilen geben fie fid) den Dod unter den ausgeſuchteſten Martern, als wollten fie an fic) felbft das gott- liche Strafgericht volljiehen. Cin. merfrwiirtiges Beifpiel diefer Art erzaͤhlt Mare (a. a. O.) von einem Coldaien, welder einen Gameraden bewog, ihm auf einem Klotz die Vorder- und Oberarme, die Unter- und Oberfchenfel eingeln mit einer Art absubauen, und welcher ibn dringend bat, fein Henferamt ju befchleunigen, damit der Dod ihn nicht vor tem Ende der be- ſchloſſenen Quaalen ereilte. Andere find dergeftalt von der Sind: haftigfeit des Menfchengefehledyts uͤberzeugt, welche in ihnen den Gipfel erreicht habe, daß fie ihre theuerften Angehorigen ermor- den, um durd) die Abkuͤrzung ihres Lebens thre Schuld gu ver— ringern*). In den tiefſten Abgrund verfinfen unftrettig diejeni- gen, welche eben fo unfabig zur BVefferung als unent{dlofjen gum GSelbftmorde fic) tmmer von neuem in Ausfchweifungen ftiirjen, um im wilden und betaubenden Taumel ibre Gewif- fenSangft ju vergeffen, und fie bei jedem Erwachen aus dem Sinnenraufche um fo entfeslicher gu empfinden. Vielleicht giebt es aud) Ginige, welche abfichtlic) Verbrecher werden, um durd gehaufte Frevel die lebte Spur des Gewiſſens zu vertilgen; - body wer fann die wefentlichen Beſtimmungsgruͤnde noc in ei- ner Geele erfennen, in welder alle Ordnung der Verhaltniffe

*) Gin ganz beſonderes Intereſſe erregen in dieſer Beziehung die mit der ſogenannten Mordmonomanie Behafteten, welche in fich den Au— trieb zur Ermordung ihrer Angehörigen ohne beſonderen Zweck em— pfinden, und ſie auch nicht ſelten ausuben, obgleich ſie den größten Abſcheu dagegen empfinden. Es iſt indeß dieſer Gegenſtand viel zu verwickelt, als Daf ſeine Darſtellung hier Mas finden könnte, wees halb ich mich auf meine Anmerkungen zu der genannten Schrift des Mare beziehe (Sh. 1. S. 190 - 202; Th. 2, S. 99— 110).

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zu Truͤmmern zuſammengeſtuͤrzt ift? Daß wenigftens Mande ihr ſchuldbeladenes Selbſtbewußtſein durch gefliſſentliche Aus— bruͤche des Zorns und andere leidenſchaftliche Rohheit zu unter— druͤcken ſuchen, laͤßt ſich aus einer aufmerkſamen Betrachtung ihres Betragens ſchließen, da ſie ſtets auch ohne Veranlaſſung in brutalen Ungeſtuͤm gerathen. Die meiſten Tyrannen haben davon Beweiſe gegeben, und auch im gewoͤhnlichen Leben trifft man zuweilen ſolche Despoten, denen nur die Gelegenheit fehlt, es jenen gleichzuthun.

§. 8. Der Teufelswahn.

Die Ehrfurcht vor dem goͤttlichen Geſetze iſt, wie das re— ligidfe Bewußtſein uͤberhaupt, in ihrer pfychologifchen Entwicke— lung von dem Culturzuftande des Geiftes und Gemiiths durd: aus abbangig, und deshalb zabllofer Verfchiedenheiten von der hoͤchſten LauterFeit der Vernunftbegriffe und der fittlichen Frei: Heit bid gu den grobften Verunftaltungen durch die rohefte Sinn: lichkeit fabig. Sn ihrer reinften Bedeutung als unmittelbare Offenbarung des goͤttlichen Geſetzes im tiefften Selbfthewuftfein Fiindigt fie fid) mit der Majeftat deffelben im Gewiffen an, um den Menfchen gum unverbruͤchlichen Gehorfam gegen daffelbe als der nothwendigen Bedingung der unendlichen Entwickelung feines Strebens nad) geiftig fittlicher Freiheit gu beftimmen, und eben dadurd) alle Macht der finnliden Begierden und felbft- ſuͤchtigen Leidenfcdhaften gu zerſtoͤren. Indeß weit entfernt, daß fie in dieſem Sinne auf das gelduterte Gemuͤth irgend einen peinliden Zwang ausuͤben follte, gegen welchen fic) daffelbe firdubte, oder dem es wenigftend auszuweichen ſuchte, wird der Menſch vielmehr in ihr feines Findlichen Verhaltniffes gu Gott mit tieffter Ueberjeugung inne. Denn feine Vernunft ift ia eben die Anfchauung her BWollfommenheit und Schoͤnheit der gottlicdben Weltordnung, und indem er fic dadurch bewußt iff, daß er ein Glied in derfelben werden, und nicht in finnlofer Thorheit von derfelben durch einen ſuͤndlichen Wandel fid) aus- ſchließen foll, erfennt er es auf das Deutlidfte, daß Gott ihn vor allen lebenden Gefchdpfen mit der freien Selbſtbeſtimmung begnadigt hat, damit er aus eigenem Antriebe, aus dem tmner:

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ſten Zuge ſeines Herzens in den harmoniſchen Bund jener voll kommenen Weltordnung eintrete, als liebevolles Kind in dem Hauſe des himmliſchen Vaters einkehre, waͤhrend alle uͤbrigen Geſchoͤpfe dem goͤttlichen Geſetz einen blinden, willenloſen Ge— horſam weihen, und deshalb nicht gum Bewußtſein ihrer goͤtt— lichen Abſtammung gelangen. Wenn alſo der aufgeklaͤrte Fromme nicht dem Widerſtreit der Neigungen in ſeiner Bruſt ausweichen kann, durch ſie mit ſich entzweit oft genug von dem Pfade ſei— ner Pflicht ſich verliert, und deshalb von Reue gepeinigt wird; ſo entſpringt doch daraus fuͤr ihn keine Angſt der knechtiſchen Furcht vor einem unerbittlich verdammenden Richter, und wenn er auch irgend einen Zweifel an der Gnade Gottes, welder den Yrrenden und Feblenden durch die Bufe zu Sich zuruͤckruft, hegen fonnte; fo hat ja das Evangelium die frohe Botſchaft gebracht, daß im Himmel mehr Freude herrichen foll iiber die Befehrung der Cinder als uber den Wandel der Gerechten, und daß die unerſchoͤpfliche Huld des himmlifden Vaters Fein reuiges Kind zuruͤckweiſen wird.

Wie ganz, anders muß fic) dagegen die Ehrfurcht vor dem gottliden Gefes in der Bruft des roh finnlicen Menſchen ge— ftalten, weil diefer eben als folcher noch feiner fittliden Cultur theilhaftig, und daher dem Widerftreit feiner wildeften Begier- den und Leitenfchaften verfallen ijt. Ihre heftigen und unab- laffigen Stuͤrme erfullen fo ganglid) fein Bewuftfein, daß ihr endlos zerftdrender Krieg ihm als vollftandiger Ausdrud feined Weſens, und letzteres dadurch im unvereinbaren Widerfprud mit der Heiligfeit des gottlichen Geſetzes erfcheint, bem er als einem fein ganzes Selbft verdammenden Richterſpruch mit be: bendem Entſetzen fic) unterwirft. So wie er in allem Dénfen und Begehren leibt und lebt, Fann er dem géttlichen Gefes ſich nur nach voͤlliger Ertoͤdtung feiner Perſoͤnlichkeit unterwerfen, wogegen er fic) mit der ganzen Mraft einer noc) ungeziigelten Natur flraubt, und feine ſchlummernde Vernunft iſt fo wenig sur Anfchauung der gottlichen Meltordnung erwacht, daß er in ihr nur cin Reich des Todes erblickt, in welchem bleiche Sche- men nach volliger Entleerung von ihrem lebendigen Inhalt ein gelpenftiges Dafein fiihren. Da nun jede fittliche Cultur mit der Bantigung und Ertddtung der VBegierden und Leidenſchaf—

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tert den Anfang machen muß, deren verwiiftende Anarchie jeden Keim des Guten in der Geburt erſtickt; fo muß die Ehrfurcht vor dem gottliden Gefeg unter rohen Bolfern nothwendig als ein Strafgericht fic) ankuͤndigen, bis fie hinreichend entwildert, und gum Gebhorfam gegen daffelbe gebandigt find, um nun erft den Entwidelungsgang zur geiftig fittliden Freiheit antreten gu fonnen.

Die eben gefditderten Verhaltniffe ergeben fic) mit einer folden AUgemeinheit und Nothwendigfeit aus der Menſchen— natur, daß jedes Volk ohne Ausnahme bet dem Hervortreten aus dem nod) wilden Urjuftande durch ſie zu einer reineren Gi: vilifation hindurdgehen mufte. Hiecraus erflart fic) zugleich, daß in jedem wilden Volke diejenigen, deren ftarf entwicelted religiofes Bewuftfein gu einer lebendigen Borftellung des gott- lichen Gefeses gelangte, feine Gefesgeber und Herrfcer wurden. Denn indem fie lebteres als bie ewige Grundlage jedes gefelli- gen Bundes gu einem Volfsverein erfannten, welcher außerdem in Der Zwietracht der Leidenfchaften nothwendig ju Grunde ge- ben muff, fcopften fie aus ibrer frommen BVegeifterung irgend eine Darftellung des liber die Menfchen waltenden Gottesgeridts, um ihnen daffelbe zur Anfchauung zu bringen, und dadurd ihren ebrfurdtsvollen Gehorfam gegen daſſelbe zu erzwingen, welches ihnen aud) nad) dem Zeugniß der Gefdhichte jedesmal in foweit gelang, als iiberhaupt die wilden Begierden durd) den Schrecken gebandigt werden fonnen. Da fie die Offenba- rung jenes Gottesgeridts den Voͤlkern gebradt, und durch ibre geiftige Erhebung fid) weit uͤber die nod) finnlidhe Dumpfheit des grofen Haufens hinaufgefchwungen batten; fo fiel e3 ihnen nicht fdwer, eine Bheofratie gu gruͤnden, welde auf die nad: folgende Priefterfafte. vererbt; lebtere fo lange an die Spike der Volksregierung ftellte, bis die lange unterdridten Leidenfchaften in offene Empodrung ausbracen, und dadurd) den kuͤnſtlichen Bau der Hierardhie zertriimmerten.

Die vollftandige Entwidelung diefer Sake wuͤrde einen grofen Theil der Weltgefchichte in fic) ſchließen miffen; wir fonnen fie nur in ihrer allgemeinen Andeutung als Ausgangs- punft benusen, um den pfydologifchen Urfprung des Glaubens an den Deufel gu erklaͤren, welcher freilid) unter grofen Modi—

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ficationen in allen Zeiten und Voͤlkern geberrfeht hat. Zuvoͤr— derft miiffen wir die Bemerfung voranfciden, daß der Menſch fein allgemeines Welthewuftfein und die in ihm gegrimmbdete Gorftellung von Gott nach feinem fittlichen Charafter geftaltet. Gleichwie die Lauterfeit deffelben aus fic) die Vernunftanfchauung einer vollfommneren Weltordnung erzeugt, und in diefer auf die Vorftellung eines allweifen, allgiitigen Schoͤpfers derfelben gefiibrt wird; eben fo muß umgekehrt ein von wilden Leiden: fchaften zerriſſenes Gemiith, unfabig dads Heilige in feiner ewi— gen Schoͤnheit zu begreifen, in der Weltordnung einen Wider: fein der in ihm endlos gabrenden Zwietracht erbliden, und wirflic) bietet auch die Natur einen Ueberfluß an Bildern der Zerftirung durd) Stirme, Wafferfluthen, Erdbeben, Gewitter u. dgl. dar, um jene Vorausſetzung eines furdhtgequalten Herz zens 3u beftatigen. Die Religionsftifter unter wilden Voͤlkern fanden daher in der tagliden Erfahrung eines Jeden von der verwirftenden Gewalt der Natur ein unwwiderlegbares Zeugniß fiir die Wahrheit ihrer Lehre von einem ftrafenden und zuͤrnen— den Gott, und eS bedurfte nur eines geringen Zuſatzes von paffenden Symbolen, um die Vorftellung von der zerſtoͤrenden Naturgewalt zur Grundlage eines Cultus ju. maden, deffen Geremonien, oft mit Menfchenopfern verbunden, dte wildeften Gemither mit Entfesen erfullen muften. Gene ungeheuerlichen Frabengeftalten, welche die Wilden thren Gottern ftets beilegten, und welche nod) die Entdedungsreifen auf den Inſeln des ſtil— len Oceans fennen lehrten, finden darin thre volle pfychologifche Rechtfertigung und Nothwendigfeit; denn jene Scheufale folls ten ja geradezu die Perfonificationen von Gottheiten fein, wel: che fein Grbarmen fennend, nur als verfcblingende Ungeheuer gleid) reifienden Bhieren den Menſchen entgegentreten, um thr Widerftreben gegen die Anmaafungen der Priefter zu zerſchmet— tern. Man brauct jene Fraken nur eines Blicks gu wiirdigen, um fogleid) die innere Nothwendigfeit einer Borftellung zu er: fennen, welche der rob ſinnliche Menſch fic) von einem zur: nenden, ftrafenden Gott madden muf. Daf unter der Herr: ſchaft folcher religiofen Anfchauung keine geiftig fittlide Cultur moͤglich ift, weil lebtere nur aus dem ſchoͤpferiſchen Princip der Findlidjen Liebe gu Gott entfpringen Fann, bedarf keines wei:

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teren Beweifes, daher denn aud niemals aus allen jenen bar: bariſchen Gulten etwas Anderes hervorgehen Fonnte, als ein im: merwaͤhrender Kampf der knechtiſch religidfen Furcht mit der Hyder der Leidenfchafren, wodurch wenigitens der ganglidyen Entartung der menſchlichen Gefinnung in vollendete VBeftialitat vorgebeugt, und die Moͤglichkeit einer hoheren Gefittung erhal— ten wurde. :

Da nun das religiofe Bewußtſein fic) gang nach der fitt: lichen Gemithsverfaffung geftaltet, fo miifjen aud) die Vorſtel— lungen von Gott den unmittelbaren Ausdruc des Verbhaltnif: feS darftellen, in welchem die Liebe gu ihm und die Ehrfurcht vor feinem Geſetz gu einander ſtehen. Wo erftere ganglic) man- gelt, faun die in Sflavenfinn ausgeartete Ehrfurcht ſich nur in fragenhaften. 3errbildern von Gott abfpiegein, welder dann dem Gemüth als Kafoddmon einer dem BWerderben preis gege- benen Welt erfcheint. Konnte inmitten der religidfen Schrecken doc) aus unvertilgbarer Anlage des Gemisths eine Regung Find- lider Liebe gu Gott entfpringen, dann fpaltete fic) das Welt- bewuftfein in ein Doppelreich unter der Herrfchaft eines guten und eines bofen Gottes, welche dem Menſchengeſchlecht liebe: voll oder feindlid) gefinnt, fid) die Herrfchaft uber daffelbe ge- genfeitig ju entreifen ftreben. Auf diefer Stufe der Ausbil: bung ijt der Cultus vielleicht der meiften aus roher Barbaret bervorgegangenen Voͤlker ftehen geblieben, welche unfahig, den fheinbaren Gegenfab der Liebe und Ehrfurdht gegen Gott im teligidfen Bewuftfein zur umfaffenden Idee des Vollkommenen auszugleichen, dem guten Gotte eine liebevoll danfbare Ver— ehrung weibten, dem bofen dad Opfer ihrer bebenden Furdt bracdten, um feinen Zorn gu verfohnen. Diefer Dualismus des religidfen Bewuftfeins als die urfprimglicdhe Quelle des Poly- theigmus jieht fid) durch fajt alle befannten Formen der heid- niſchen Gottesverehrung, und geftaltete fid) aus localen Bedin- gungen ju den verfchiedenartigiten Symbolen, in denen bald die fromme Liebe, bald die ſcheue Ehrfurcht vorzugsweiſe ihre Nahrung fand. Fir unfern Zweck iff vornaͤmlich die Lehre Zoroafters von der groͤßten Widhtigfeit, weil fie den Ox— muzd als guted, den Ahriman als bofed Princip er glaͤu— bigen Berehrung bhinftellend den Juden wabhrend der babylo-

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* nifden Gefangenfchaft befannt wurde, und ihnen um fo an nehmlicher erfeien, als fie ihre erduldeten unfaglicen Leiden nur aus dem Haſſe eines bdfen Princips erflaren zu fonnen glaubten. Indeß gerieth jener religidfe Dualismus, welder das gute und bofe Princip als gleichberectigt bei der Weltregierung weil auf gleiche Weife uranfanglic) darftellte, mit ihrem Mono— theismus in einen unausgleichbaren Widerfprud, denn ihr Je— hovah, welder die Welt aus Nichts erfthaffen hatte, konnte unmoͤglich feinen ewigen Widerfacher mit fid) gu gleichem Range erhoben haben, daber denn der chaldaͤiſche Ahriman ju der untergeordneten Rolle eines von Gott abgefallenen Engels her- abfanf, und fomit jum erften Male im religiofen Bewußtſein als ein der gottlicken Macht unterworfenes und dod) gegen fie mit unverfobnlidem Haſſe anfampfended boͤſes Princtp auftrat, dem fie die Namen Dzafodos, PeedleBovP, Pedtas, Saz mael, Leviathan beilegten. Jn diefer ſpecifiſchen Bedeu- tung bat fic) der Begriff vom Teufel gum weſentlichen Unter- fchiede von jedem anderen religiofen Dualismus bis auf die neuefte Beit erhalten, und der Glaube an ibn ift es, welche ald eine der frudtharften Quellen des religiofen Wahnfinns anges feben werden muff.

Die hiftorifthe Entwidelung der Lehre vom Teufel, wie fie fic) in den ganzen Verlauf der chriftlidhen Kirchengeſchichte verflodten hat, iff in den Meifterwerfen von Horft und Soldan mit einer ſolchen Vollftandigfeit dargeftellt worden, daß fpdteren Forſchern nur eine Nachlefe gu halten ibrig bleibt. Hier fam eS mir nur darauf an, den pſychologiſchen Urfprung des Damonenglaubens aus einer Entartung der religidfen Ehr— furdht im Kampfe mit ungebandigten Leidenfcaften gu erfla- ren, weil hiermit der pathogenetifche Begriff gegeben ijt, durch welchen allein die Erfcheinungen des Teufelswahns in cinen wiffenfthaftliden 3ufammenbhang gebradt werden finnen. Denn vor Allem muß dabei dte furchthare Gewalt in Betracht gexo- gen werden, mit welder jener Wahn auf eine vollftandige Zerriittung der ganzen Geelenverfaffung binarbeitet, eine Ge: walt, welche fcblechthin unbegreiflic) bleiben wiirde, wenn fie nicht ihren Grund in dem machtigiten Antriebe des Gemiths, in der Ehrfurcht vor dem gottlichen Geſetz fande. Wie ware

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es moglid), daß in einem religidfen Bewuftfein, welded auf ber unerſchuͤtterlichen Grundlage einer adten Frimmigfeit, alfo der tiefinnerlichen Ueberzeugung von der Gnade, Weisheit und Gerechtigfeit Gottes ruht, und daher dem Teufel niemals eine grofe Bedeutung einrdumen barf, dennod) die Furdt vor demſelben eine fo vollftandige Verwiftung anridten fann, daß nicht nur alle Grundbegriffe von Gott ganglid) vertilgt, fon: bern aud) jede menfdlide Gefinnung bié auf die leste Spur erftit wird wie ware eine folde Geiftedzerriittung nur moglid, wenn nicht die Ehrfurcht vor Gott fid in eine fraben: hafte Parodie verwandelt hatte? Aber eben weil in dem von Leidenfchaften jerriffenen Gemuͤth jene Ehrfurcht nicht in ihrer reinen Form auftreten fann, fondern in diefelbe alle Quaalen ſeines 3wiefpalts aufnehmen muf, findet letzterer in den allge- mein verbreiteten Borftellungen von den Berlodungen des Deu: fel8, von feiner Macht ber die Siinder, welche durd dads gottliche Strafgericht feiner ewigen Tyrannei dberwiefen wer: den, einen fo unmittelbaren Ausdrud der tief empfundenen Moth, daß das Gefiihl derfelben als unwiderlegbarer Beweis von Der Wahrheit der Deufelslehre dient, deren Schrecken nun in die innerfte Tiefe der Seele eindringen, um das Werk der Berftdrung ju beginnen und gu vollenden,

Gine umfafjende Darftellung: der Erfcheinungen des Teu— felswahns würde allein ein ſehr weitfchichtiges Werk ausma: chen, weil bderfelbe unter unjabligen Gerfciedenheiten aufge: treten, ift, welche fid) uͤberdies nod nach der Sudividualitat eines Seden bedeutend modificiren. Hier muß uns daber die Auswahl einiger charafteriftijdhen Formen geniigen, deren Bez trachtung id) nod) die Bemerfung voranfcicde, daß die meiften Beifpiele aus der mit Blut und Flammen gefchriebenen Ge— ſchichte der Inquiſition und der Herenproceffe fir unferen 3wed ganz unbraudbar find. Im Widerfprucd mit der Anficht der meiften pſychiſchen Aerate, welche in den, beflagenswerthen Opfern jener Hoͤllengerichte grdptentheils Wahnſinnige fahen, ſchließe id) mid) der entgegengefebten Ueberzeugung Goldan’s an, deffen verdienftvollen Forfchungen hierin ein entſcheidendes Ur: theil gebuͤhrt. Er fagt (a. a. O. S. 275.), nachdem er erwahnte, daß die fogenannten freien Geftandniffe der Inquiſiten ſchon

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burch eine vorlaufige Folter, ehe es noc) gur eigentlichen Tor— tur fam, oft genug erpreBt wurden: ,, Wer diefen ricterlicen Spradhgebraucd) mit den factifchen Berhaltniffen vergleiht, muß wohl an der vollen Freiwilligfeit der Geftandniffe, bem Glau: ten der Heren an ihre eigene Schuld und dem beliebten epidemifcen DHerenwabhnfinn etwas irre werden. Geben wir indeß billigermafen ju, daß in eingelnen Fallen die Verrückt⸗ beit eines Weibes fic) eben fo gut im Herenfabbath feftfabren fonnte, als e3 unbegweifelt iff, daß manche Wabhnfinnige fid fur Werftorbene oder fir Gott den Water gebalten haben. Wer Acten gelefen hat, wird geneigt fein, die Bahl folder mogliden Wabhnfinnsfalle fehr niedrig anzuſchlagen.“ Bei einer anderen Gelegenbeit beruft Soldan fic mit vollftem Rechte darauf, daß die wefentliche Uebereinftimmung aller Ge: ſtaͤndniſſe, welde die Unglicdliden in allen Beiten und Lan: dern auf der Folter ablegten, ourchaus gegen die Bethorung ihres Verftandes durch Wabhnfinn zeugt. Der Malleus ma- leficarum und aͤhnliche Werke bildeten den juriftifhen Coder, welcher die Lehre vom Teufel in eine fchulgerechte Form bradhte, wie fie dem Sntereffe des Fanatismus am beften jufagte; der Inquirent braudte alfo nur aus ihm die Richtſchnur des Ber: fabrens ju entnehbmen, und die graufamfte Dortur bot ihm das wirffamfte Mittel dar, won den Unglidlichen die Bejahung aller ihnen vorgelegten Suggeftivfragen gu erzwingen, und da: Durd den verlangten Thatbeſtand feftzuftelen, um die Ber- urthetlung gum Gcheiterhaufen in rechtsfraftiger Form auszu— fpreden. Mie wurde man Wahnſinnige, welche ihre Geifted- bethdrung jedeSmal ju einer ihrer Gndividualitat angemeffenen Cigenthimlichfeit geftalten, durch die ausgefuchteften Martern dabin beftimmen fonnen, ein vorgefchriebenes Schema von. ins quifitorifchen Fragen durchweg gu bejahen, fondern fie wirden ſich Dabei in die mannigfachſten Widerſpruͤche verwideln, und dadurch jede criminaliftifhe Procedur unmodglic madden. Die Herenproceffe finden daher ihren eigentlidhen Plas in der Ge— fchichte des Fanatismus und der durch denfelben hervorgerufe: nen Barbarei des Mittelalters, und fie haben fir unfern 3wee nur in fofern eine wichtige Bedeutung, als durch fie dem Volksbewußtſein auf Sahrhunderte der Glaube an ben Teu—

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fel mit fo unausidfdliden Zugen ettgepragt wurde, daß nod die angeftrengteften und fortgefesteften Bemihungen erforderlich fein werden, um jenes Brandmabl menſchlicher Gefinnung vollig auszutilgen. Auch brauchen wir leider nicht in den Ar- civen der Vergangenheit muͤhſam ju forſchen, um den Wahn— finn des Damonenglaubens in plaftifcher Lebendigkeit darzu— ftellen, denn noch jest wimmeln die Srrenhdaufer von Befeffe- nen, welche nur gu oft mit dem gangliden Gerlufte der Ver: nunft die fortdauernde Herrfchaft des Aberglaubens bifen mirf: fen. In meiner vieljahrigen Praris als Irrenarzt find mir fon mebhrere hundert Fale von Deufelswahn vorgefommen, daber die in meinen Schriften, namentlid) in der ther den religtdfen Wahnfinn mitgetheilten Beifpiele fic) auf eine ſehr Fleine Auswahl derfelben befchranfen, welche zugleich die außer— ordentlid) grofe Mannichfaltigfeit der daͤmoniſchen Sſcheinm gen zu erkennen giebt.

Zuvoͤrderſt bietet der Teufelswahn in ſofern eine auffal⸗ lende Verſchiedenheit dar, als er entweder ſich in beſtimmte Sinnestaͤuſchungen einkleidet, und dadurch eine objectiv plaſti— ſche Geſtalt annimmt, in welcher ev natuͤrlich den erſchuͤtternd— ſten Eindruck auf das Gemuͤth machen muß, oder jede ſinn— liche Huͤlle von ſich abſtreift, um ſich in das innerſte Gewebe

der Vorſtellungen und Gefuͤhle zuruͤckzuziehen und in ihnen

abzuſchließen. Im erſteren Falle mißbraucht er die bildende Kraft der Phantaſie zur Erzeugung der ſcheußlichſten Fratzen, wie wir fie auf zahlloſen Hoͤllengemaͤlden aus dem Mittelalter antreffen, unter denen vielleicht tas auf dem Foniglichen Mu— feum in Berlin befindlihe Bild von dem fogenannten Hol: lenbreughel den vornehmſten Plas einnimmt. Die damoz niſche Snfpiration, welche bem Maler jene ungeheuerliden Miß— geburten feined Talents vor das Bewußtſein jauberte, aft fid) nur aus einer wabren Marter ſeines Gemiths erflaren, wodurd) jede Idee des Schdnen, als der inneren Naturnoth- wendigkeit der ſichtbaren Dinge von ihm verſcheucht wurde, fo daß nun feine Phantafie von allen Gefegen der Kunſt ab- fhweifend, in ein fieberhaftes Srrefein gerieth, deffen wahn— finnige Bilder alles Maaß und Verhaͤltniß der Geffalten zu

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einem baaren Unfinn verjerrte*). Yn diefen Worten liegt ſchon die Bezeichnung der Borgange in den Viefen der Seele, welche ohne eine innere Folter niemals jene ſataniſchen Schreck— bilder .hervorbringen wird, da lebtere nicht aus dem Flaren Spiegel cines die ſchoͤne Natur rubig anſchauenden Bewuft- ſeins auftaudjen fonnen. Eben weil Zerriittung aller bildenden Kraft der Phantafie die Quelle der Teufelsfratzen ift, miffen leptere jedes Bemibhen, fie auf beftimmte Formen zuruͤckzufuͤhren, ganglid) fcheitern laffen; nur in fofern [aft fic) dabei nocd ein Affociationsgefes nachweiſen, als Ales, was fic) dem Sinne als Ubfcheu erregend oder als verderblich darftellt, in die mu: fivifche Malerei des Teufels hineingeflecdhten wird, welcher da- ber mit Hornern und Klauen, mit flammenfprihenden Augen und feuerfpeiendem gezaͤhntem Raden, mit allen mogliden efelhaften Ungeftalten des Leibes und der Glieder audsgeftattet wird, aus welden obligaten Ingredienzen fich fotann jede Franfe Phantafie ein beliebige’ Scheufal gufammenfebt. Tritt nun letzteres mit feiner plaftifden Lebendigfeit und Derbbheit in die Anſchauung, fo daß es fid) dem Bewußtſein als eine leibbafte Wirklichkeit darftellt; fo muß bei feinem Anblid das Gemith in Entfegen gerathen, gang eben fo, als wenn der Menſch fid) in unmittelbarer Nahe eined reifienden Thieres, ei— nes flammenden Abgrundes, kurz einer zerſtoͤrenden Naturges walt befande. Diefe Wirfung tritt um fo beftiger ein, wenn, wie es haufig-der Fall ift, der Teufel inmitten einer paffenz den Decoration von Hodllenbildern, umringt von infernalifden Geftalten, von Verdammten in ihren Flammenquaalen erfdeint. Aber aud) das Ohr nimmt oft genug an diefen graufigen Tau: fdhungen Theil, der Wabhnfinnige hort Verlodungen, Drohun—⸗

*) Sn Bejug auf Hillenhbreughel ift obige Bemerfung nur cine Porausfegung, welche aber durch das Schickſal des Malers S pis nello beftatigt wird. Letzterer hatte auf feinem Bilde, Fall der Engel, den Satan in fo furchtharer Majeftat gescichnet, und deffen Geſtalt fic) fo tief cingepragt, daß derfelbe nie von feiner Seite wich, ihn mit Vorwiirfen überſchüttete. Srets von Damonen verfolgt ftarb er von beftandigen Schrecken geangftigt. Auch der befannte Novellens dichter Hoffmann foll in feinen legten Jahren Seufelovifioncn gee habt haben,

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gen, Berhohnungen, Gottestafterungen des Teufels, das Angſt— gefchrei der Berfludten, fo daf ihm aus Auge und Ohr zu⸗— gleich “die Anfchauung der wirflidhen Welt verfehwindet, und er mit feinem ganzen Bewuftfein ſich inmitten der Holle gu befinden uͤberzeugt iſt. Auch dadurch wird er in feiner Tau- fhung beftarft, daß er Geftanf und Qualm der Holle. deut- lich riecht, daß er mit feiner Bunge Schwefel und Pec) beftimmt ſchmeckt, daß er in allen Glicdern von den fiirchterlichften Schmerzen gefoltert wird, wie wenn fie ihm durch Geifelhiebe, Gifesfalte, durd) die Gluth eines Schmeljofens, durch toͤdtli— che, feine Eingeweide gerfreffende Gifte gugefiigt wuͤrden.

Bei einer tragen, bilderarmen Phantafie tritt der Teu— felswahn nicht unter folchen Cchredbildern in die anfchauliche Wirklichkeit, fondern er impft fid) ald zerſtoͤrendes Princip dem gefammten Entwidelungsprocef der Gedanfen und Gefihle ein, fo daß fie ſaͤmmtlich entartend zuletzt erfterben miuffen, etwa wie eine Pflanje bleiche, verfriippelte oder monſtroͤs entartete Eproffen, Blatter, Blumen treibt, wenn an ihrem innerften Mark die Brut von bofem Gewuͤrm zehrt. Auch im diefem Galle laffen fic) die unzabligen Verbildungen der Gedanken und Gefuͤhle von ihrer natuͤrlichen Form nicht uͤberſichtlich dar: fiellen, eben weil fie von dem Gefeg ihrer Entftehung abwei- then, und den furcdhtbaren Kampf darftellen, in welchem fic Geift und Gemuth gegen eine fie vernichtende Gewalt ftrauben, wo dann das in innerer Emporung und faft beginnender Auf: ldfung begriffene Bewußtſein vergebens nad einer beftimmten Geftaltung feiner Verhaltniffe ringt.

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Indeß ſelbſt die zerſtoͤrendſte Rrankheit, durch welche das Leben aus allen feinen Fugen getvieben, und der naben Vernichtung entgegen gefiihrt wird, laft inmiften des dadurch nothwendig bedingten Aufruhrs der Erfcheinungen dod) nod gewiffe Verhaltniffederfelben ju einander wahrnehmen, in wel: chen man gwar nicht mebr dad Bild natirlic) wirfender Krafte findet, aber dod) nod die hoͤchſten und allgemeinften Gefebe erfennt, obne welche das Leben nicht einen Augenblid befte- ben fann. So verhalt es fic auch) mit dem Teufelswahn, welder gwar die Seelenverfaffung einer wilden Anardie preis⸗

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giebt, und dennoch die innerfte Nothwendigfeit ihres naturge- maͤßen Strebens nicht vernichten fann. Faſſen wir namlicd den TeufelSwahn in feiner allgemeinften Bedeutung auf, fo ftellt er den Widerftreit eines nach unendlicher Entwidelung ringenden Gemuͤths gegen eine diefelbe vernichtende Macht, alfo einen wahren Todeskampf der Geele dar. Denn der Menſch fann fic keine Gorftellung von den unmittelbaren Angriffen des Satans auf ihn machen, ohne die Ucberzeugung ju begen, daß derfelbe ihn aus dem Reiche Gottes zu entreifen und ibn einer. ewigen Vernichtung preis gu geben tradtet, wogegen er fid) natuͤrlich mit der Kraft der Veraweiflung zur Webre febt. Hieraus folgt, daß die inneren Kampfe der Seele mit dem Satan nach ihrem moraliſchen Charafter und nach ihrer der: maligen Gefuͤhlsſtimmung fic) geftalten miffen, und es erge: ben fic) demnach verfchiedene Arten derſelben, welde, wenn fie auc) vielfad) in einander tibergehen, dod im Allgemeinen durch deutliche Grenzen von ecinander gefchieden werden fonnen. Obne Anſpruch auf eine vollftandige Aufzaͤhlung diefer Arten gu mas chen, will ich wenigftens einige der merkwuͤrdigſten hervorheben.

Wir fangen mit derjenigen Form des TeufelSwahns an, mit welcher felbff die edelften, hochherzigften Gemiither behaf— tet fein fonnen, wenn fie im Geifte einer unaufgeflarten Zeit bie Ueberzeugung won der Macht des Satans fic tief in die Seele gepragt hatten, wovon auffer den zahlreichen Glaubens- Helden aller fruͤheren Yahrhunderte unfer Luther uns ein Bei: fpiel gegeben hat. Charaktere diefer Art, gleichſam aus Gra: nit gehauen, koͤnnen freilid) von dem Grauen jenes Wahns nicht tiberwaltigt werden; mit gottlider Kraft in ihrem gpli- gidfen Bewußtſein ausgeftattet, und dadurd fabig, allen Schrek— fenggewalten fiegreichen Widerftand zu leiften, vermogen fie aud gegen die Anfechtungen der Holle Stand gu halten, wenn fie aud) gewohnlid) befennen, daf gerade lebtere ihnen den harteften Kampf gefoftet haben. Aber diefem Kampfe fonnten fie ihrer geiftigen Sndividualitat wegen nicht ausweichen; denn aud in den edelften Gemithern erwachen finnliche, ſelbſtſuͤch— tige Regungen, welde von ihnen verabfdeut um. fo leichter fir Gingebungen des Satans gehalten werden, je mehr der von feiner Macht iiberzeugte Glaubensheld erwartet, von ihm

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an der Forderung des Reiches Gottes verhindert zu werden. Wie fehr der DBeufel in diefer Beziehung dem Antoninus und anderen Anadoreten zuſetzte, welche in feinen Trugbildern die objective Berfinnlidung ihrer muͤhſam unterdridten nati: lichen Beduͤrfniſſe ſahen, ift friber (§. 2) fchon bemerft wor: den. Ja es bedarf nicht einmal diefer inneren Entzweiung des religidfen Bewußtſeins mit den ihm widerftrebenden Neigun: gen, fondern dads Leben aller Glaubenshelden ift fo reich an Kampfen der furdtbharften Art, daß die dadurch bewirften Ge- muͤthserſchuͤtterungen fic febr leicht in Deufelsanfechtungen ſym— bolifd) darftellen. Sch habe mich hieruͤber ſchon in der Gin: leitung, alg von dem Kampf Luthers mit dem Teufel die Rede war, naher erflart.

Ganz anders miffen fic) natirlid) die Mirfungen des TeufelSwahnes auf ſchwache, gu heftigen Gemuͤthserſchuͤtterun— gen geneigte Gemither geftalten, da fie, ihrer geringen Wi- derftandsfraft fic) bewuft, pon der Furdht, ja von der ver: zweifelnden Ucberzeugung beherrſcht werden, den Anfechtungen des Satans unterliegen gu miffen. Grwagen wir nun, daf an dieſe Borftellung unmittelbar die grafliden Schreckbilder des unverfohnlicden Zornes Gottes und der ewigen Verdamm— nip fic) fnitpfen, fo ift damit wohl der allerhichfte Grad ent: feblicher Seelennoth bezeichnet, mit welcher vergliden die Furcht vor weltliden Strafen und feiblichem Tode als gang gering: fügig angefeben werden miffen. Rein Wunder daher, wenn unter Den genannten Bedingungen . der gedadte Wahn fick unter allen Grfcheinungen einer grengenlofen Verzweiflung, einer betaubenden, erftarrenden Angft, ja felbft der rafendften Wuth darftellt, zumal da derfelbe in den meiſten Fallen die wilde Phantasmagorie einer von Teufeln und Verdammten bevdlfer ten Hille in das Bewußtſein heraufbeſchwoͤrt, und mehr oder weniger durch die Pforten aller Ginne in die Seele eindrin- gen laͤßt. Nur in fofern finden dod verfchiedene Grade die- ſes Gemuͤthsleidens Statt, als der fittliche Charafter noch mehr oder weniger innere Haltung und Widerftandsfraft beſitzt. Schuldbeladene Gemilther finden im Teufelswahn bas Edo des ftrafenden Gewiffens wieder, weldes ihnen da8 Verwer— fungSurtheil deffelben in Donnerworten wiederhallt; indeß man

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wiirde fid) febr irren, wenn man daraus folgern wollte, daß gutgeartete Gemither nicht auc von jenem Wahn geangftict wirden,.da fie vielmebr eben wegen der grofen Empfanglic: feit und Beweglichfeit des religidfen Gefuͤhls durch die toͤdt— lide Verletzung deſſelben mit Verzweiflung erfuͤllt werden *. Sie find fich freilich noc) einer entfchieden frommen und fitt- lidhen Gefinnung bewuft, und ftofen daher mit dem groͤßten Abfcheu jede Vorffellung eines Abfalls von Gott zurück, da— her fie aud) in dieſem Abfcheu eine Kraft des Widerftandes finden, welche, wenn auc mit den fchrecflicdften Anfechtungen Fampfend, doch den Menfchen nicht ganz elend werden laft. Indeß leidet dod) diefer Sab grofe Cinfchranfungen, weil nab einem (pater zu erlduternden Gefes entgegengefeste Gefuͤhle fic wedfelfeitig um fo ftarfer bervorrufen, in je groferem Con— traft fie fteben. Se heftiger alfo in folchen Fallen ‘ber Abſcheu gegen die Berlodungen des Teufels ift, um fo qualender wer: ten eben deShalb letztere, fo dag fie oft eine unswiderftebliche Gewalt iiber das erbebende Gemith ausiiben. Wenn daber aud) der Leidende die Verfuchungen des leibhaft ibm erfchei- nenden BeufelS gu Gotteslafterungen, zu Schandthaten und Laftern aller Art mit tieffter Entriftung zuruͤckweiſet; fo wird er dod) gu feinem Entſetzen gewabr, daf in feinem innerften Gemuͤth ein machtiger Trieb rege wird, der ihn alles Straus bens ungeadchtet ju tberwaltigen, und den Geboten des Sa: tans unterwirfig zu madden drobt. Mod bofft er im inbrin: ftigen Gebct den Schus Gottes erflehen, in anhaltender Be: fhaftigung mit frommer Lectiire feine befferen Grundſaͤtze be: feftigen zu koͤnnen; vergebend, feine Gebete verwandeln fid in Hohn, Fliche und Verwiinfchungen gegen Gott, fein Sinn fiillt fic um fo gewiffer mit den verworfenften, verbrecherifch: ſten VBorftellungen, je mehr er ihn dem Guten und Heiligen zuwenden will, Mit jedem Tage wadhft feine Angſt, da die flete Wiederholung derfelben Erfahrung ihn julest nicht mehr

*) Cs verhalt fic) hiermit ganz eben fo, wie mit der Leidenfdhaftlichen Ehrfurcht vor dem göttlichen Geſetz, deffen wahnwigige Ausbriiche, wie wir frither gefehen haben, bet den beften Menfchen unter den furdhtharften Erſcheinungen fich darftellen.

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daran zweifeln laft, dap Gott ihn aus feiner Gnade verfto- fen, und ihn dem Satan tiberantwortet bat. Mun glaubt er rettungslos verforen gu fein, fein fritheres eben erſcheint ifm als der Abgrund der fchrwarzeften Frevel, alé eine immerwaͤh— rende Empoͤrung gegen das goͤttliche Geſetz, und in finnlofer Angft begeht ex zuweilen Thaten der Verzweiflung, welche das Maaß feines Elended iberfillen. Gluͤcklich fann er ſich nok preifen, wenn es nidt bis zum Aeuferften mit ihm fommt, ja wenn er felbft das Bewuftfein ſeines befferen Strebens gegen die fteten Anfechtungen des Satans behaupten, und fid dadurch in triftender und rettender Gemeinfchaft mit Gott erhalten fann. Immer aber nimmt fein Leiden einen wabr: haft dramatifden Charafter an, da fein Bewußtſein fic in zwei entgegengefebte Perfdnlidfeiten fpaltet, ald deren eine fein Sd, alS deren anbere der Veufel erfcheint, “welche beide nun in fo concreter, plaftifher Wirklichkeit angretfend und vertheiz digend einander gegeniiber treten, wie nur irgend 3weifampfer, welde auf Leben und Tod mit einander ringen.

Wenn der Teufelswahn den hochften Grad der Entwides {ung erreicht, fo identificirt fic) ber Leidende vollftandig mit ber Perfon bes Satans, um entweder in gottedlafterlider Wuth ‘ales Heitige, namentlich das Chriftenthum und feinen Urhe— ber zu verfluden, und ſich alé das- Princip alles Boͤſen in ber Welt geltend gu machen, oder um in rafender Verzweif— {ung fid) des goͤttlichen Zornes und der ewigen Verdammnif bewuft gu werden. Zuſtaͤnde folder Art find beſonders geeig: net, eine Anfchauung von tieffter Berruttung der Seele, wel: de mit allen ihren Kraͤften auf eine Selbſtzerſtoͤrung hinar⸗ beitet, gu gewabren, und dennoch erfennen gu laffen, daf al: len diefen Erſchuͤtterungen ein beftimmter pſychologiſcher Pro- ceß gum Grunde liegt, wie wir ihn in jedem voriibergehenden Anfall von heftiger Angft und Entfegen wahrnehmen, Insbe— fondere ift es in diefer Beziehung merfwirdig, wie die Phanz tafie in foloffalen Schreckbildern die innere Berriffenheit des Gemiths ſymboliſch abfpiegelt, weil der Menſch ein dringens des Bedirfnif hat, ſich feine inneren Buftande in paffenden Borftellungen gegenftandlid) gu machen. Meiſtentheils erfdeint ber Deufel dem Menfchen fichtbar, ehe lebterer ſich mit ihm

Soeler Theorie d. relig. Bahnfinns. 9

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identificirt. Daf nun die wilde Fluth folcher daͤmoniſchen Phantas: mogorieen unmittelbar aus einem inneren Wogen heftiger Gefuͤhle entfpringt, und daber mit dem Wefen des Gemisths in inni- ger Gerbindung fteht, erhellt aus den zahlreichen Beiſpielen von Sinnedstaufchungen, welche die heftiaften Gemuͤthserſchuͤt⸗ terungen. wabrend ihrer Dauer begleiten. Cine befonders meré: wirdige Beobachtung diefer Art iff der in meinem Grundrif der Geelenheilfunde (Th. J. S. 416) angefithrte Fall eines Menfchen, welder fic) unter einer in Bewegung gefesten Thurm— glode in dringendfter Lebensgefahr befand, und eben fo febr durch lebtere, wie durd) das donnernde Getdfe dev Glode er: fciittert, eine Menge von furdtharen Vifionen hatte, unter denen zuletzt der Teufel erfchien, um ihn unter Hohngelachter jum Abfall von Gott zu verleiten.

Dem Verſchmelzen des Ichs mit dem Teufel fehr nabe verwandt ijt das Befeffenfein, welches in hiſtoriſcher Bedeutung eine befondere Wichtigkeit hat, weil dahin nicht nur die zahl— reichen, in der Bibel erwahnten Falle gehdren, fondern weil daffelbe aud) vorndmlid) gu der im Mittelalter fo haufigen An- wendung des Erorcismus Veranlaffung gegeben hat. Der Be— feffene ift iberzeugt, den Teufel perfonlid) in fein Inneres auf: genommen ju baben, und von ihm mit allen nur erſinnlichen Plagen an Geiſt und Kirper heimgefucht su werden. In mei: ner Praxis find mir befonders bei Branntweintrinfern mebrere Kalle diefer Art vorgefommen. Hier ereignet fic) oͤfters die ſchon angebdeutete Erfceinung, daß dem SKranfen der Veufel zuerſt unter einer ſchrecklichen Geftalt begegnet, und ihm fodann in den Leib fabrt, wie denn namentlid) in der unten angezeigten Schrift von Fuftinus Kerner Scenen diefer Art gefchildert werden. Entweder behalten die Befeffenen nocd das Bewußt— fein ihrer Perfonlichfeit, fo daB fie in die lauteften Klagen uͤber ben Unfug ausbreden, welchen der Teufel in ifnen anridtet; oder ihr Selbftbewuftfein taufdt fid) gegen das bes Teufels aué, fo daß es den Anfchein hat, als ob ihr Leib nur gu ge: wiffen Zeiten von ihrer Seele bewohnt und beberrfcht werbde, um fodann dem Satan Pla gu machen, welder fid) jenes Lei- bes als feined eigenen bediente, um eine Menge von Verrudyt: heiten in Wort und Bhat gu uͤben. Im lebteren Falle erreicht

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bie Paufchung zuweilen einen fo hohen Grad, daß das kranke 3d waͤhrend der Teufelsbefigung aus feinem eigenen Leibe aus: gewandert, und an einen fernen Ort, in eine Kirche, in den Himmel verfegt ju fein glaubt, um in feine natürliche Behau- fung gurii gu kehren, nachdem der Teufel feine Rolle ausge- fpielt hat. Die pſychologiſche Erflarung diefer fonderbaren Gr: fcheinung Fann erft fpater verfucht werden, daber ic) mid) bier mit der Bemerfung beghige, daß aufer vielen anderen Schrift: ftellern namentlid) Adelung eine Menge folder Schilderun: gen in bem Leben berischtigter Veufelbanner gegeben hat, wo- hin befonders Mic. Selodt, Foh. Cornadus, Nic. Blume geboren.

Aus friiher fchon bemerften Gruͤnden finnen wir die mans nigfachen Formen des Veufelwahns, welche in der Gefchicte . der Herenproceffe eine fo wichtige Rolle fpielen, nicht in nabere Erwaͤgung aiehen. Groͤßtentheils find diefelben wahrſcheinlich ein bloßes Kunſtproduct der infernalifchen Inquiſitionsgerichte, welche ihren Schlachtopfern auf der Folter das Bekenntniß aus- prefiten, daß fie mit Schaaren von anderen Gofttlofen an den fogenannten Herenfabbathen dem meiftentheils unter der Geftalt eines ſchwarzen Boks anwefenden Satan einen Cultus geweiht, ihm das Geliibde des ewigen Gehorfams und des Abfalls von Gott dargebradt, bierauf an den efelhafteften Orgien Bheil genom: men batten, und nad) Beendigung derfelben eben fo, wie fie gefommen, nad) ihren Wohnungen zuricgeflogen feien, um im Dienfte der Hille mit den empfangenen Zaubermitteln den glaus bigen Ghriften jeden erdenfliden Schaden an geiftigen und leib- lichen Guͤtern augufigen, und namentlicd) fo viele AUnhanger fir ben Deufel anguwerben, als ihnen irgend moglich war. Das Meifte, was hierauf Bezug hat, eben fo wie aller Unfug der Hererei und Zauberei, fcheint den abſichtlich erdichteten Chima: ren anjugehdren, durch deren fanatifde Befampfung die Hies rarchie eben fo ihre Macht gu begruͤnden fuchte, wie in neuerer Beit die parifer Polizei Emporungen anjettelte, um durch deren Unterdridung die Herrfchaft Louis Philipps gu befeftigen. Daß die mehrhundertjahrige blutige Dradition von den Herens fabbathen in vielen aberglaubigen Gemiithern hinreichende Wur— zel fchlagen fonnte, um fie in die Noth des Veufelswahns gu

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ſtirzen, foll damit nicht einen Augenblick begweifelt werden; es biirfte aber der fcharffinnigften Kritik in den meiften Fallen un: moͤglich fein, den wabren Thatbeftand von erdichteten Anfdul- bigungen genau zu unterfceiden. Eben fo itbergehe ic) dte Kynanthropie und Lyfanthropie, naͤmlich jenen Wahn, welder die Rranfen mit der Ucberzeugung bethdrte, daß fie mit Hilfe ded Teufels beliebig die Geftalt eines Hundes ober Wolfs annehmen fonnten, um fid) mit Weibden diefer Thier⸗ artert gu begatten, und im §reien auf Mord von Menfdyen und Thieren umherzuſchweifen, unftreitig um einer bis zur hoͤch⸗ fen Beftialitdt gefteigerten finnliden Begierde zu froͤhnen. Da diefer Wahn ſchon im allen Griedentand, namentlid) in Arka— dien, viele Jahrhunderte vor alten Glaubensgeridten auftrat, und dann aud in fpdterer Beit in eingelnen ungweifelhaften allen vorgefommen ift; fo (aft ſich feine geſchichtliche Wirt lichfeit nicht begweifeln. Indeß hat er nur nod als. biftorifce Guriofitat ‘ein Intereſſe, da er nur in den Zeiten des duͤmmſten Aberglaubens moglid war, und uͤberdies miiffen wieder die mei- ften Shatfachen dbiefer Art aus -den Regiftraturen der Inquiſi⸗ tionSgerichte entlehnt werden, wo fie unftreitig dergeftalt ver- falfcht wurden, daß fie nicht mehr als Gegenftand einer grind: licen Forſchung benutzt werden koͤnnen.

Doch findet fic) unter den Formen des Teufelswahns, wel- che von den Hexengerichten verfolgt wurden, eine eigenthuͤm— liche, welche noc) jest, wenn aud) felten, beobadtet wird, und welche fiir die pſychologiſche Deutung ein befonderes Intereſſe hat, ich nteine die Ginbilbung von einer fleiſchlichen Vermiſchung bes Teufels mit den Menfchen. Wir werden nod) in der Folge vielfach Gelegenheit haben, die widtige Rolle kennen gu lernen, welde die finnliche Gefchlechtsliebe im Gebiete des religiofen Wahnſinns fpielt, woruͤber hier nur fo viel bemerft werden mag, daß die Nidtbefriedigung jener finnliden Begierde grofie Quaalen erzeugt, daher denn diefelbe aud) mit Recht ben Nae men oestrus venereus fihrt, um damit gu bezeichnen, wie ein von jener Begierde geplagter Menſch gang eben fo gefoltert, ja in Wuth verfest wird, als Rinder und Pferde von ben ih: nen fo verhaften Bremfen. Trifft nun diefe ungeftillte Brunſt mit einem vorberrfchenden Aberglauben gufammen, fo geniigt

dies vollftandig, um die Vaufchung hervorgurufen, dap der Teufel in dem lechzenden Gemith die Wolluft entzundet habe, und fid) durch feine Erſcheinung zur Befriedigung derfelben an: biete., Daf die ergliihende Phantafie, wenn fie einmal das efelhafte Spiel mit diefen obfcinen Bildern angefangen hat, nicht eher rubt, als bid fie die Taͤuſchung bid zur Vollendung deS fleiſchlichen Acts durchgefuührt hat, begreift fid) leicht, daher wir denn eine Menge von ffandalifen Erzaͤhlungen diefer Art befigen. Der Gefchlechtsunterfchied fihrte nothwendig ju der Ueberjeugung, daß der Teufel die Geftalt fchdner Weiber an: nehme, um Manner zu verfiihren, dagegen er fic) bei fterbliden Weibern weniger genirte, fondern ihnen meiſtens in feiner obli- gaten Geftalt alé Bod u. f. w. beiwohnte. Gm erfteren Fale fibrte er den Namen succubus, und madte als folder na- mentlic) mehrern Anadoreten, felbft dem Antonius viel gu ſchaffen, dagegen er alg Berfihrer der Weiber incubus genannt wurde. Wir wollen uns hier nicht bei den aberwigigen Zeu⸗ gungstheorieen aufhalten, welche einen wahren Mifbraud mit dem Scharffinn trieben, um die Moͤglichkeit einer folden diabo⸗ liſchen Vermiſchung, und die Entſtehung von Kielkroͤpfen, Wechſelbaͤlgen daraus zu erklaͤren, wenn man auch noch jetzt des Schauders ſich nicht erwehren kann, daß die rechtſchaffenſten Frauen Gefahr liefen, den Hexengerichten uͤberliefert gu werden, wenn ſie das ſo haͤufig ihnen begegnende Ungluͤck hatten, Miß⸗ geburten zu gebaͤren. Sol dan hat das Wichtigſte hieruͤber in ſeinem klaſſiſchen Werke zuſammengeſtellt. Merkwürdig iſt es allerdings, daß ſelbſt verheirathete Frauen von dieſem ſchmutzi— gen Wahn geplagt wurden. So entlehnt Boismont (a. a. O. S. 138) aus dem von Guizot herausgegebenen Leben des hei— ligen Bernhard die Erzaͤhlung von der Gattin eines wackern Edelmannes, welche den Teufel zuerſt unter der Geſtalt eines ſchoͤnen Mannes kennen lernte, und von ihm unter den ein— ſchmeichelndſten Reden gewonnen wurde. Er vermaͤhlte ſich mit ihr, indem er ihr die eine Fauſt auf das Haupt legte, und mit der anderen ihre Beine umfaßte, und mißbrauchte ſie darauf unzaͤhlige Male an der Seite ihres argloſen Gatten in dem ge— meinſamen Bette. Endlich nach ſieben Jahren konnte ſie das Entſetzen uͤber ihre Infamie nicht laͤnger ertragen, aber weder

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Beichte, nod) Andachtsibungen, nod) Austheilen von Almofen befreiten fie anus der Gewalt des Satan’. Endlich warf fie fid bem heiligen Bernhard verjweifelnd gu Fuͤßen, obgleid) der Teufel fie mit Drohungen tberfchittete, und ihr gurief, daB ihre Rettungsverfuche Nichts helfen wiirden, da Bernhard fein Freund gewefen fet, und nad feiner Abreife als ihr grau- famfter Seind auftreten werde. Bernhard troftete fie, und iberreichte ihr einen Stod, mit weldem fie ben Teufel bei fei- nem naͤchſten Beſuche zuruͤcktreiben ſolle. Es gelang ihr wire: lich, den Satan damit in Reſpect zu halten, obgleich ihr der— ſelbe ſeine fuͤrchterlichſte Rache nach der Abreiſe des Heiligen ankuͤndigte. Am naͤchſten Sonntage wurde von letzterem unter dem Beiſtande zweier Biſchoͤfe ein Hochamt in der Kirche ge— feiert, bei welchem alle Anweſenden brennende Kerzen halten mußten. Nachdem Bernhard eine Rede uͤber dieſe Angelegen— heit gehalten hatte, ſprach er unter dem Gebet der Anweſenden den Bannfluch gegen den Teufel aus. Als hierauf die geweih— ten Kerzen ausgeloͤſcht wurden, und die Beſeſſene das heilige Abendmahl empfangen hatte, fuͤhlte ſie ſich auf immer von ih— rem Verfolger befreit. Calmeil giebt (a. a. O. Th. 1. S. 219 231) nach dem malleus maleficarum die Schilderung einer Hexenverfolgung, welche zu Anfang des 16. Jahrhunderts lange Zeit in Oberitalien, namentlich in Como wuͤthete. Als bie dadurch erzeugten Schrecken ihre gewohnte Herrſchaft uͤber die Gemuͤther ausuͤbten, und ihnen die Vorſtellung von einer vertrauten Gemeinſchaft mit dem Teufel gelaͤufig machten, fand der Notar der Inquiſition an einem Charfreitage ſeine Frau nackend, unbeweglich, in unanſtaͤndiger Stellung auf einem Miſthaufen liegend. Obgleich ſie nach ſeinem Zeugniß bis da— hin einen unbeſcholtenen Wandel gefuͤhrt hatte, ſo konnte er ſich dod) in ſeiner Entruſtung kaum enthalten, fie mit ſeinem Degen zu durchbohren. Nachdem ſie zur Beſinnung und Be— wegung zuruͤckgekehrt war, geſtand fie reuevoll, daß fie die Macht auf dem Hexenſabbath zugebracht habe. Dem Verhafts— befehl entzog fie ſich durch die Flucht, und wahrſcheinlich ſtuͤrzte ſie ſich in den nahen See. Unter vier anderen Beiſpielen von Teufelswahn theilt Macario (a. a. O. Mai 1843) fol— gende Erzaͤhlung mit. Ym April 1842 wurde in bas Irren—

135 haus Mareville bei Nancy eine 59jaͤhrige Frau aufgenom: men, welche ftetS fehr devot gewefen war, und jede freie Stunde jum Befuch der Kirchhen und Gottesader benubte, um Gott fie die Rube der Verftorbenen anguflehen. Auf ihre Verwandte warf fie den Verdadt, daß diefelben fie vergiften wollten, waͤh— rend drei Geiftlidhe, fo vein wie die Gonne, unter ihrer Woh— nung liber ihre Sicherheit wachten, denn diefelben benachrich— tigten fie, wenn die Speifen vergiftet waren. Dedshalb wand: ten fic) ihre Angehorigen, nachdem ihre Bemuͤhungen vereitelt waren, um Beiftand an die Hodlle, und feitdem wurde fie bei . Tag und Nacht von den Teufeln verfolgt. Sie wurde von denſelben aus dem Schlafe aufgefchredt, bedroht, mit indecen- ten Antragen belaftigt, ja auf obfcine Weife uͤberall auf dem Leibe betaftet. Dads Fleiſch ift ſchwach, daher gab fie den er- wedten Begierden nad, obgleid fie fid) danach erſchoͤpft und vernichtet fuͤhlte. Die Bublteufel erfchienen ihr als Blige, als fdhinude Sungen in den ungiichtigften Entblifungen. Aber Gott betribt nur diejenigen, welche er liebt, daher erfabrt fie tiglid) viermal feine Gnadenwirfung; aud) braudyt fie nur bet Annabherung der unfauberen Geifter geweihte Zeichen mit der Hand ju machen, um fie in bie Flucht gu treiben. Indeß da immer neue Sdaaren derfelben auf fie einftiirmen, fo fann fie su ihrer Vertheidigung gendthigt wabhrend der ganzen Nadht Feine Rube finden. Zuweilen erſcheinen ihr auch hafliche Let: chen, welche mit Grabedsftimme gu ihr fprechen, und fie mit der Hand gu fdlagen drohen. Zwar loͤſen fie fic) haufig in Maud) auf, aber Fie kehren immer wieder, daher die Kranfe mit Sehnſucht den Anbruch des Pages erwartet. Wenn fie er- fhopft in Schlummer verfinft, erfcheinen ihr Gott und die beilige Jungfrau, troften fie, und fléfen ihr Geduld und Muth ein.

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Drittes RKaypitel.

Die Verbindung der übermäßigen Frömmigkeit mit anderen Leidenfchaften.

§.9. Algemeine Erlauterung des eben bezeichneten Begri ffs.

Die in ber Ueberfchrift dieſes Kapitels genannte Verdin: bung ftellt eins der verwideltften und ſchwierigſten Probleme der Pſychologie dar, weil fie einen abfoluten Widerfprud in fid ju ſchließen fceint, und deshalb als eine Ungereimtheit. verwor- fen werden mifte, wenn fie nicht durch zahlloſe Thatſachen zur vollften objectiven Gewifheit erhoben wiirde. Was fann es auf den erften Blick Widerfinnigeres geben, als den Sab, daß die Froͤmmigkeit, welche ihrer wefentliden Bedeutung nad allen MNeigungen den feften Ziigel ber Sittlichkeit anlegen, dadurch ihrer Ausartung in Leidenfchaften vorbeugen, wenigftens lestere burchaus bandigen foll, welche alfo durch ihre uͤbermaͤßige Stei- gerung dieſe Wirkung in einem nod) weit hiheren Grade her- vorbringen mifte, daß die Frdmmigfeit dennod in einen inni- gen Bund mit den uͤbrigen Leibenfchaften treten, ja mit ibnen fo voͤllig verſchmelzen Fann, um in den durch fie bervorgebrad- ten Handlungen jede Unterfcheidung unmoͤglich gu maden, wel: cen Antheil an ihnen die urfpriingliche Negung des religidfen Bewußtſeins, und welden die ſelbſtſuͤchtige Begierde habe. Dennod hat die Weltgefdicte die furdtharen Wirfungen ded Fanatismus als der innigen Verſchmelzung der Froͤmmigkeit mit der Herrfhfudt in einem fo foloffalen Maaßſtabe kennen gelehrt, und nod) jest begegnen wir den monftrifen Gntartun: gen des religidfen Bewuftfeins in Verbindung mit allen moͤg— lichen felbftfiidtigen und finnliden Antrieben fo hdufig, daß gegen die in Rede ftehenden Thatfachen nicht der mindefte Zwei— fel erhoben werden Fann.

Faffen wir guvdrderft lestere in ihrer unmittelbaren Er— ſcheinung feft ins Auge, fo erbhellt unmittelbar die Unmiglid: feit, fie einer fo vollftandigen Sergliederung zu unterwerfen,

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daß fic) in jedem eingelnen Falle genau beftimmen liefe, wie groß der Antheil an.ihnen fei, welchen einerfeits der Froͤmmig⸗ feit und anbdrerfeits den ſelbſtſuͤchtigen Leidenfchaften beizumef: fen fei. Wer getraut es fid) wohl, bei einem Gregor VIL, einem Dorquemada, dem Stifter der fpanifchen Inquiſition, die haarfcharfe Grenge gu ziehen, welche unterſcheiden liefe, was bei ihnen wahre Frommigfett, und was ihre maaflofe Herrfd- fucht gewirft babe? Man hat fich freilid) bet ihnen das Ur- theil oft genug erleidtert, indem man fie fir abſolute Despo— ten erflarte, welche fic) nur mit dem Nimbus der Frdmmigéeit verhillten, um ihre Tyrannei aufer dem Bereich jedes welt: licen Widerftandes gu ftellen. Indeß died Urtheil ift nicht das Ergebniß einer aufgeflarten Menſchenkenntniß, fondern nur der Ausdrud einer wenn aud urſpruͤnglich gerechten, doc) leiden: fchaftlid) gewordenen Erbitterung tiber das unermeßliche Unheil, welches jene Sheofraten anftifteten, wodurch fie den natuͤrlichen Entwidelungsgang bes Menfchengefdledhts um Jahrhunderte jurtidgebalten haben. Jetzt aber, wo alle Volfer die Sflaven: fetten abſchuͤtteln, welche die Hierarchie ihnen anlegte, geziemt es fid) nicht mehr, die fruͤheren Declamationen gegen fie gu wiederholen, wenn aud) ibre Gefdidte ftets jedes menfchliche Gefiihl mit VBodesfchauern erfillen wird. Wollen wir naͤmlich diefe ganze Angelegenheit in den Geſichtskreis der wiffenfchaft- liden Forfchung ftellen, welche, fo weit eS der priifenden Ver— nunft moglid iff, die wabre Bedeutung der hiftorifchen Bhat: ſachen ergrimbden foll; fo miiffen. wir vor Alem der grofen Wahrheit eingedenf fein, daß der Fanatismus eine weltgeſchicht— fiche Nothwendigfeit war, und deShalb in den natirliden An: lagen des Gemuͤths feinen Urfprung finden mufte, wenn in lesterem die wefentlichen Bedingungen zur fortfdreitenden Ent: widelung des Menfchengefcledts enthalten fein follen. Grin: nern wir uns nur, welde Aufgabe das Chriftenthum gu erfuͤl— len hatte, wenn aus thm als fchopferifchem Bildungsprincip die hochfte Gultur der Voͤlker zur geiftig fittliden Freiheit hervor⸗ geben follte. ebtere Fann ihrer Natur nad) erft dann in die wirflide Erfcheinung treten, wenn alle Leidenfdaften ganglid gebandigt find, wenn alles Denfen und MWollen in vdlligen Cinflang mit dem Evangelium gebradt ijt, fo daB das gottlide

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Gefes nidjt mehr als -duferer Bwang auf die Seele einwirkt, fondern im reinften Selbſtbewußtſein als die urſpruüngliche Trieb— feder derfelben fid) darftellt. Wir wollen es nur gang ebrlid) befennen, daß aud) wir nod) unendlich weit von diefem Gipfel ber geiftig fittliden Cultur entfernt find, und daß wir nur in den feltenen Augenbliden, wo unfer Selbftbewuftfein fic) von allen felbftfiidtigen Antrieben voͤllig geldutert und zur reinften Vernunfianfchauung verflart hat, die ganze Wahrheit des Evan: geliums als des unmittelbaren Ausfluffes der Weisheit und Gnade Gottes erkennen foinnen, und daß auferdem unfer reli gidfes Bewuftfein mehr oder weniger von weltliden Intereffen getriibt wird, welche als wefentlide Beftandtheile unfres Ge- muths immerfort in ihm fic regen.

Wenn alfo aud) wir nocd bei unfrem dermaligen weit fort: gefchrittenem Gulturjuftande uns nicht ruͤhmen fonnen, das Evangelium feinem Geifte und feiner Wahrheit nad vollftandig in uns aufgenommen, und. uns mit ihm dergeftalt durdbdrun: gen zu haben, daß unfre Natur mit allen ihren Neigungen und Zrieben gang in ihm aufgegangen ware, obgleid) wir es recht gut wiffen, daß uns unfre vollftandige fittlide Durchbil— dung nur mit ihm in reine Uebereinftimmung bringen Fann; fo erwaͤge man, durch welche Beiten und Vilfer das Chriften- thum bindurdbdringen mufte, um bid gu uns zu gelangen. Gine Schilderung der geiftig fittlidhen Faulnif der Voͤlker, un- ter denen dafjelbe feinen Urfprung fand, der rohen Barbarei, ja man midyte faft fagen, der VBeftialitat fpaterer Jahrhunderte, durch welche fein Entwidelungsgang fortfdreiten mufte, wuͤrde hier ganz tberfliffig fein; aber erinnern mufte ic) dDaran, um e3 fo recht fiblbar gu machen, daß unter den begeichneten Be— dingungen der reine Geift* des Evangeliums gar nicht begriffen werden fonnte. Man vergegenwartige fid) dod) nur einen Au- genbli€ die wilden Horden, denen das CShriftenthum zuerſt ge- predigt wurde, wie fie von den giigellofeften Begierden und Lei- denſchaften beherrfcht jeder Ahnung der geiftig fittlichen Freiheit ſchlechthin unfabig waren, weil lebtere eine voͤllige Zerſtoͤrung ihrer ganzen focialen Griften; durchaus gefordert hatte, um aus ibver barbariſchen Gemiithsbefchaffenheit heraus es uͤberzeugend eingufeben, daß die Verkindigung der reinen Chriftuslebre auf

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fie gang denfelben Gindrud gemadht haben wiirde, als wenn man den Lapplandern und Eskimos Vortraͤge uͤber die Kan: tifche und Hegelſche Philofophie halten wollte. ede wif: fenfchaftlide Forſchung fest nothwendig eine objectiv rictige Anfchauung der Dinge felbft voraus, und wenn wir diefer Re— gel getreu die brutale Rohheit einerfeits und die ſittliche Ver— wefung in Folge politifcher Zerruͤttungen anbdrerfeits feft ing Auge fafjen, mit denen das Chriftenthum bei. feiner erften Ver- breitung ju fampfen hatte; fo folgt hieraus mit mathematifcer Strenge und logifcher Conſequenz, daf das Evangelium Jahr— hunderte hindurch nicht viel mehr leiften fonnte, als einen Ver— nichtungskampf gegen die thm entgegengefebten unermefliden Hin: berniffe gu beginnen. Chriſtus hatte died aud) ausdritcdlic mit den Worten vorher verfindigt, daß er geFommen fei, das Schwert und nidt den Frieden gu bringen. Es war nicht genug, daß die Schaaren der chriftlicden Martyrer durch ihren Heldentod bie Menge sur nacheifernden Begeifterung ent flammten, und durd deren Macht endlich das roͤmiſche Welt: reid) ſtuͤrzten; ſondern als das Evangelium felbft sur Herrfchaft gelangt war, blieb ihm die nod) unendlich fchwierigere. Aufgabe zu loͤſen uͤbrig, die Ffoloffalen Leidenfchaften feiner meiſten Be: fenner ju banbdigen, welches niemals gelungen fein witrde, wenn nicht in feinem Namen die Hierarchie geftiftet worden ware, von deren Bannftrahlen felbft die madhtigften Zyrannen niedergefchmettert wurden, deren fchredlides Schickſal allen ge— gen die Kirche fic) empdrenden Leidenſchaften ein gleides Loos verfiindigte, wie fie denn aud) durd) die ftrengften Strafgerichte ſtets in Furcht und Bittern erhalten wurden. Welden Eindrud mufte es, um nur einige Beifpiele gu erwahnen, auf die Voͤl— fer machen, als Heinrid IV. wie ein gemeiner Suͤnder die Gnade Gregors VII. erflehte; als Innocenz UL gan; Frankreich mit dem Interdict belegte, und dadurd eine Volks. gabrung erregte, welde den RKinig Philipp Auguft swang, feine verftofene Gattin wieder in ihre Rechte eingufesen; als derfelbe Innocenz gleichfalls durd) das uͤber England ausge- fprocbene Snterdict bas Volk aur Emporung gegen den Konig Johann brachte, und lesteren dadurd ndthigte, den yom Papſte gewablten, von ihm aber verworfenen Cardinal Ste:

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phan Langton auf ben erzbiſchoͤflichen Stubl von Canter: bury gu fegen (Hafe a. a. O. S. 23), ungabliger abnlicer Beifpiele nicht yu gedenFen! Selbſt das. von Gregor VIL. er: zwungene Gilibat ber Priefter, fo entfeblic) die Folgen deffelben uns entgegentreten, erfcheint als eine Nothwendigkeit, weil da- burd) mehr, als durd irgend Etwas anderes geſchehen konnte, die Heiligfeit der Keuſchheit in allen nachfolgenden Jabhrhunder= ten geltend gemacht, und in einer Menge von dogmatifchen Streitigfeiten durchgefampft wurde, ohne welche jenes Gebot ſchwerlich zur deutlichen Erfenntnif gelangt ware. In diefem Ginne duͤrfen wir alfo unbedenflid fagen, daß die Hierardie bie fchwere Aufgabe der fittlichen Cultur der BWolfer allein an: fangen, und bid gu ber Hobe fortfihren fonnte, wo fie nicht mebr bas Ergebnif des duferen Zwanges fein, fondern ihre Wurzel in der freien Liebe gu der Heiligheit des gottlichen Ge— feges finden foll. Darum hat allein das Ghriftenthum als Bildungsprincip den Entwidelungsgang der europaifden Cul: tur anfangen, und in unaufbalifamer Folge fortfihren fonnen, wabrend alle ibrigen Glaubendslehren, welche fein fittlidyes Prin: cip gur Bekaͤmpfung der VolfSleidenfchaften in fic) fchloffen, troh der drgften bierarchifchen Anmafungen gu Grunde gegan- gen find, ober ben moralifcen, und fomit den focial- politifden Tod ihrer Befenner nothwendig herbeifiihrten *).

*) Die menfchlicen Zuftdnde ftellen ihrer gründlichen Erforſchung des- halb fo unendliche Schwierigkeiten entgegen, weil fie in ihrer abe ftracten Allgemeinheit kaum auf eine bejtimmte Bedeutung zurückge— führt werden finnen, fondern Ddiefe unter verdnderten Bedingungen

oft mit einer gang entgegengefesten vertauſchen, woraus fic) die sable lofen Widerfpriide in ihrer Darjftellung erfldren. Sn der obigen Bezeichnung der welthifforifchen Nothwendigkcit des Fanarismus glaube id) die Grengen der Wahrheit nicht wberfchritten gu haben, und dens nod ift cs eben fo gewif, daf er an und fiir fic) im abfoluten Wiz berfprud) mit dem Geifte des Evangeliums fteht, und daß er daffelbe völlig vertilgt hatte, wenn er feinen Zweck mit der ihm eigenthüm— lichen cifernen Beharrlichkeit hatte durchführen können, wenn feine Wuth fid) nicht an der Reformation und ihrem Helden Luther, dem Felfen der Glaubensfreiheit, gebrochen hatte. Go wabhr ift es, daf alle Geidenfchaften ihres zerſtörenden Charafters ungeadtet in der Hand der Vorfehung gu Beförderungsmitteln der geiftig fittlicden Cul⸗

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War alfo der chriftliche Fanatismus eine welthiftorifde Nothwendigfeit, fo mus er auch feine natirliche Begründung und Berecdhtigung im Gemith finden, und wir duͤrfen diejeni: gen, welche in feinem Ginne dadten und bandelten, nidt fo: fort alg Ungeheuer brandmarfen, welche jede menſchliche Re- gung gefliſſentlich in fic) vertilgt batten. Sie wirften nur im Geiſte ihrer Beit, fie waren die reinften Vertreter der herrfchen- den Jntereffen, und nie hat der Menſch nod) Groferes ver: modt, als ſich an die Spike der Zeitbeftrebungen gu ftellen, indem er fie in fid) gum vollftandig entwidelten Bewußtſein bradte. Erſt dann erfcheint der Fanatismus in einer verab- fcheuungswirdigen Geftalt, wenn er nichf mehr durch die Beit nothwendig gefordert, eben deshalb als Ausgeburt der unbe: redtigten Herrſchſucht fic) geltend macht, welche dann aud jededSmal ihren infernalifchen Charafter offen zur Schau tragt. Dennod dirfen wir ihm aud dann nidt jedes religidfe Ele: ment abfprechen, um ihn zur nadten Heuchelei herabzuwuͤr— digen, denn er ftimmt feiner Gefinnung nad) mit der fruͤheren Hierarchie uͤberein, und fann nur deshalb keine Entſchuldigung finden, weil er fid) an der reiferen Ginficht feiner Beit zur rid: tigern Selbfterfenntnif hatte aufflaren, und deshalb feine git gellojen Anmaafungen dampfen follen. Auch dann erfdeint der Fanatiémus im volligen Widerſpruch mit der natuͤrlichen Gemirthsverfaffung, wenn er zur Empoͤrung gegen die gefes: lide Landesverfaffung fortreift, weil er, um died moglid gu maden, ſchon jedes Bewuftfein von der Nothwendigkeit der lesteren alS der Grundlage aller menfdliden Wohlfahrt yer: ftért haben mug. Unter diefer Bedingung ftellt er fid) ſchon in dem eifernften Zeitalter der Hierarchie unter feiner durchaus verwerfliden Geftalt dar, und es wird uns fomit Flar, wie er durd) gaͤnzliche Verwuͤſtung aller angebornen Anlagen der Seele unmittelbar in das Gebiet der Geiftesftdrungen hinuͤber— ſchweifen muß.

Der Begriff des Fanatismus iſt von mir hervorgehoben worden, weil ſich an ihm die monſtroͤſe Geſtalt am deutlich—

tur werden, weil ſie in letzter Entwickelung jedesmal die ihrem Zweck entgegengeſetzten Wirkungen hervorbringen.

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ften anfchaulich machen (aft, ju-welcher die Frommigfeit in ihrem Bunde mit anderen Leitenfchaften ausarten muf. In— def aud) die Ehrſucht ohne allen Anfprud auf Herrfchaft, fo wie Die leidenfchaftlidhe Gefchlechtslicbe gehen nach dem Zeug— nif der Geſchichte oft in innige Verbindung mit dem religio- fen Bewußtſein ein, und wir miffen uns daber auf einen hoͤheren Standpunft ftellen, von wo aus wir alle Ausartun— gen defjelben tiberfehen fonnen. Auch iff mit den bisherigen Bemerfungen noch feinesweges das Mathfel geloft worden, wie die Frdmmigfeit einen fo engen Bund mit Leidenfdaften ein: gehen finne, mit welchen fie in einem grundfagliden Wider: ſpruch fteht. Jenes Mathfel Flart ſich indeß leicht auf, wenn wir erwagen, daß die uͤbermaͤßige Froͤmmigkeit eben als ſolche ſchon von ihrer urfpringlicen Beſtimmung abgewiden ift, und Daher wie jede, ihrem Geſetz ungetreu gewortene Kraft auf die mannigfachfte Weife ausarten muß. Oder um diefer ab- ftracten Bedeutung einen anſchaulichen Sinn unterzulegen, brau— chen wir. nur gu erwagen, daf die leidenfchaftlidhe Steigerung ber Frommigfeit das Verhaͤltniß gaͤnzlich verridt, in welchem su Gott der Menfch fic) erfennen fo. Iſt er deffelben in der vollen Wahrheit eingedenf, fo bleibt er fich ftetd feined unermeflicben Abftandes vom Schoͤpfer bewußt, welder in ab- foluter Vollfommenheit fo unendlidy hoch uͤber ihm erbaben ift, daß, wie febr er fic) auch mit liebendem Vertrauen durch: dbringen, und dem gottliden Geſetz mit tieffter Ehrfurcht nad: leben mag, er fic) doch fir ein eben fo unendlich fleined We: fen balten muf, wie alle ubrigen Menfchen. Aufrichtige De— muth in richtiger Selbfterfenntnif ift daber das achtefte Kenn— zeichen der wahren Frdmmigfeit, und fo lange fie im Gemith waltet, wird fie aud) feinen groben CEntartungen vorbeugen. Nun hat uns aber die Schilderung faft aller Schwarmer gelehrt, daß fie in der feften Ueberzeugung lebten, Gott habe fic) ibnen vorzugsweiſe offenbart, fie vor allem Wolfe auser- waͤhlt, mit ihnen einen unmittelbaren Bund zu ſchließen, und burd fie fein Gefes den von Ihm abgefallenen Menſchen gu verfiindigen. Alerdings waren Antonius, Hilarion und Swedenborg im Herzen demithig, fo daß fie im Gefuͤhl ihrer vorausgefesten Bevorzugung nicht zur hochmuͤthigen Be:

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thorung ſich verleiten ließen, fie feien den uͤbrigen Menfchen in der Ucberfchreitung des unermeflicden Abftandes von Gott weit guvorgeeilt, und deshalb in ihrer Gottaͤhnlichkeit ciner vollen Heiligheit thetlhaftig geworden. Aber die grofe Lauter: feit ihrer Gefinnung, welche als eine wahre Seltenbeit unter den bezeichneten Bedingungen angefehen werden mug, ſchließt doch Feinesweges die Erfahbrung aus, daß die meiften Schwar: mer, wenn fie bis zur unmittelbaren Gemeinfchaft mit Gort gelangt gu fein glaubten, eben aus diefer Ueberzeugung ein uüberſchwengliches Selbfigefiiht (chopften, welches ihnen in jedem Lebensaugenblick gegenwartig, unmittelbar in geiſtlichen Hoch: muth umfcdlagen, und fie mit dem Wahn einer angemaagften Heiligfeit bethoren mufte. Hatte lebterer fich erft ihrer gan: zen Denfweife bemadtigt; fo mufte er nothwendig als die Ueberzeugung ins Bewußtſein treten, daß fie gottgefandte Per: fonen feien. Endlich da jede wabhnfinnige Leidenfchaft nicht eher rubt, als bid fie an die auferfte Grenze des Vorſtellba— ren gelangt ift, wortn fic) eben ihr ganz maaflofer Charafter gu erfennen giebt, fo bedurfte es nur einiger zufaͤlligen An: triebe und gelegentlicben Sdeenaffociationen, um viele Schwar: mer dahin gu verleiten, daß fie fich fiir die Gottheit felbft, fir die Perfon Chrifti, des heiligen Geiſtes hielten.

Eben fo leicht artet die Schwarmerei in Fanatismus aus. Sede uͤberſchwengliche Vorſtellung, welde unter vernunftgemé- fer Form fid) als Idee darftellt, uͤbt als folde einen fraftigen Antrieb aus, fich durch die Bhat geltend gu maden, weil nur eben dadurd die Idee gu dem herrfchenden Princip der Welt: begebenheiten werden kann. Nichts ift verfehrter, als die Ideen zu leeren Gedanfendingen gu entforpern, in denen fic) die mi: Bige Vernunft befpiegeln fol, um in unfruchtbarer Gribelei den Menſchen der Anftrengungen und Gefahren zu uͤberheben, welche mit der Verwirklichung jeder Idee nothwendig verbun: den find. Die Frommigfeit, welche wegen ihred urſpruͤnglich uͤberſchwenglichen Charafters fo haufig in einen ganz maaßlo— fen Drang ausartet, Fann daher bei ihrer leidenfchaftlicden Steigerung fehr leicht bas Streben erjeugen, die Glaubens: form, zu welder fie fic) ausgepragt hat, als ein unmittelbar von Gott empfangenes Gefes geltend su machen, und alle

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Mittel ber Macht, ja der Tyrannei daran au feben, dieſen Zweck mit Vernidtung jedes. Widerftandes durchzufuͤhren, da: her denn auch der Fanatismus unbedenflid) gu Feuer und Schwert greift, um jedes Widerftreben gu vertilgen. Daher hat er oft genug den Gharafter der blutdiirftigften Graufam- feit angenommen, und wenn fdon eine abftracte Rechtsgelahrt- beit fic) nicht fcheute, den Grundſatz auszuſprechen: Fiat ju- Stitia etsi pereat mundus, fo begreift es fid) leicht, daß der Fanatismus nocd weniger gdgern wird, diefe Marime auf das Geltendmaden des gottlidhen Geſetzes anzuwenden. Weniger deutlich fpringt die Mtoglichfeit in die Augen, daß die Frommigfeit fid) mit der Gefchlechtsliebe amalgamiren finne, weil diefe ſich in fo entfchieden ſinnlichen Vorſtellungen auspragt, daß die durch beide erregten Gefishle gar nicht in dem: felben Strombette der Seele fic) vermiſchen zu fonnen fcheinen. Aud) widerftrebt die innige Verbindung beider Leidenfchaften der natuͤrlichen Gemisthsverfaffung des Mannes allzuſehr, als daß fie bet ihm zur vollen Wirklichfeit werden finnte. Denn wenn die allju inbrimftigen Pietiften fo oft ihre Seele als die Braut Ghrifti bezeichnen, und ihr Verhaltnif gu demfelben durd alle Phafen einer Gefchledtsverbindung hindurdfiihren, fo ift died doch nur ein abgeſchmacktes, zuweilen felbft unanftandiges Spiel mit ſinnlichen Bildern, mit denen ihre myftifche Phantafie jeden richtigen Begriff aus ihrem Bewußtſein verſcheuchte. Daß der Mariendienft, welcher befonders von den moyftificirenden Sefuiten auf die Spike getrieben worden ift, gelegentlicd) einen Asceten zu dem Wahn verleitet haben mag, mit der heiligen Jungfrau ein eheliches Verhaͤltniß eingegangen zu fein, ift freilich nicht gan; unwahrſcheinlich, da jener Wahn als der hoͤchſte Frevel verdammt ſein ſoll; jedoch iſt mir kein ſpecielles Beiſpiel davon bekannt, und wenn es dergleichen gegeben hat, ſo gehoͤrten dieſelben in die Kategorie der ſinnloſen Fratzen, welche ſelbſt im Gebiet des Wahnſinns keine beſtimmte Erklaͤrung mehr finden, weil fie all: zuſehr mit der Menſchennatur in Widerſpruch ſtehen, obgleich ihre Moͤglichkeit nicht abgeleugnet werden kann, da z. B. Maͤnner in Weiber verwandelt gu fein glaubten (Mare a. a. O. Bh. 2. S. 513). Anders verhaͤlt es ſich jedoch mit Schwaͤrmerinnen, welche in unmittelbarer geſchlechtlicher Verbindung mit Chri-

.

ſtus zu ſtehen glaubten, und ohne hierisber die noͤthigen Erkla—

rungen vorweg gu nehmen, begniige ic) mic) mit der Bemer-

tung, daf die Gigenthinnlicfeit ded weiblichen Gemuths eine ng ungleicy mehr b

Denn ig ‘ft die

Princip feines Seins und Wirkens zu finden. Im naturgemaͤ⸗ eon wird die fromme Liebe freilid) es nicht bis Zur voͤlli⸗ t-bringens aber es bedarf Feines weiteren Beweies, daß fie bei ihrer hichften Steigerung gleichfalls zu einer: folden führen fann. Nun iff es cin pſychologiſcher Ere fahrungsſatz, daß alle dem Gharafter nach verwandten Seelen: zuſtaͤnde eine · Neigung haben, fic) gegenfeitig hervorsutufen und innig mit einander ju verfehmelgerr, « fo daß fie’ wie chemi fee Elemente eine Mifechung bilden, in welder man jene nidt mehr von einander unterſcheiden fann,

Behufs der’ pfychologiſchen Erfldrung der Verbindungen, welche die ubermapige Frommigteit mit dew anderen Leidenſchaf⸗

jective Befonnenheit unmoͤglich maden. Wenn ger Menſch mit ——— ſeine mannigfachen Angelegenheiten uber: ſchaut / fo-wird ex eben · ſo wohl ihrer natürlichen Grenzen, als wechſelſeitigen Zuſammenhanges fic) bewußt werden, und ſeine Intereſſen dergeſtalt mit einander verwechſeln, daß t die Antriebe ſeines Handelns taͤuſchte. Mit anderen te Gott gebeny was Gottes, und. dem Kai: ſer, Kaiſers iſt, um ver heilloſen Verwirrung auszu⸗ weichen 8 der Verſchmelzung der religioſen mit den” Sinnenwelt entfprechen mifjen. In— def diefe nothwendige Unterfcheidung der religidfen und der welt: lichen. Zwecke ſetzt einen Grad von Geiſtescultur voraus, welcher mit jeder Schwaͤrmerei in unvereinbarem =e fleht.

Sdeler Theorie d. relig. Wahnfiuns.

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Denn lewtere muß eben alB ſolche auf eine vollſtaͤndige Begriffé- verwirrung binarbeiten, weil fie nur in diefer das nothwendige Element ihres Gedeihens findet. Man braudt fid nur cinen Augenbli€ an das fophiftifdhe Spiel gu erinnern, mit weldem jedesmal die Dialefti€ der Leidenfchaften alle ihr hinderlichen Bes griffe verdreht, und zu der widerſinnigſten Urtheilen und Sdhlug- folgen jufammenjwingt, wie fie die Luͤcken ihrer Beweife mit Truggrinden und phantaftifcyen Illuſionen ergangt, um es fid ſogleich klar zu machen, daf die religidfe Schwaͤrmerei diefes Kunfigriffs tm hodften Grade fic) bedient, da fie fic) unmittel- bar aufer dem Zuſammenhange mit der wirflicben Weltordnung feet, deren jede andere Leidenfchaft doc mehr oder weniger eine gedenk bleiben muf. Erſterer foftet es alfo nidt die geringfte Mie, fo viele Mahrden und Wunder zu improvifiren., als fie irgend nothig hat, um ihre auSfdweifendften Zwecke als moͤglich und wirflid) gu denfen. Faſſen wir dies recht ins Auge, fo ers Sffnet fid) uns ummittelbar das unermeflide Labyrinth des Aber: witzes, in welchem fie fith jedergeit umbergetummelt bat. Dod wir geben zu den eingelnen Arten uͤber.

§. 10. Religioͤſer Hodmut h.

Im vorigen §. habe id) fchon die Bemerfung ausge— fproden, daß jede anbhaltende Ueberfpannung des religidfen Bewußtſeins felbft beffer geartete Gemiither mit ibertriebenem Selbſtgefühl erfullen, und dadurch den Verlodungen und Fasc: nationen eines maaflofen Hochmuths preié geben fann. Dieſe Wirkung muß faft unausbleiblid) eintreten, wenn im Gemith fon von jeher cin leidenfchaftliches Ehrgefuͤhl waltete, und aus allen duferen Veranlaffungen ſtets nene Nahrung ſchoͤpfte. Gs ift dabei gang gleicbgiltig, ob das uͤbermaͤßige Ehrgefuͤhl durch vornehme Geburf, hohen Rang und durch die damit

ſo gewoͤhnlich verbundenen unverfehamten Huldigungen feiler Schmeichler, oder ob daffelbe durd das Bewuftfein audsge- zeichneter Fabigtciten, wenigftens ſchimmernder Valente gewedt und gefteigert wurde, denn in allen Fallen tritt der naͤmliche Erfolg ein, in fofern der Bethirte im Rauſch feines Hod: mufhs jedes Maaß der unpartheiiſchen Selbſtſchaͤtzung im Ver:

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gleich gu anderen Menfchen, und das Flare Bewußtſein feines ridtigen Berhaltniffes gu ihnen verliert. Ja es bedarf gur Erjeugung des Hochmuths nicht einmal der duferen Anreizung, fondern die Erfahbrung in Grrenhaufern lehrt, daß derfelbe fo: gar unter den gang entgegengefebten Bedingungen hodft duͤrf⸗ tiger, untergeordneter und befchranfter Lebensverhaltniffe im volligen Widerfprud mit ihnen zur Foloffalen Groͤße anwad: fen fann. Denn ba das aus einer angebornen Neigung ent: fpringende Ehrgefiihl in manchen Gemisthern eine vorzugsweiſe ſtark hervortretende Anlage findet, und durch diefe in der Le— bensentwidelung den tbrigen Neigungen den Vorſprung ab: gewinnt; fo fonnen alédann felbft dupere Hinderniffe nur das gu dienen, jene ftarfe Ehrliebe im fortwabrenden Kampfe mit ihnen zur leidenſchaftlichen Hohe zu fteigern. Da befchranfte Aufenverhaltniffe aber derfelben keinen freien Spielraum zur thatfraftigen Aeußerung darbieten, ihr vielmehr die Gele: genheit gum wetteifernden Streben und zur Auszeichnung ab- ſchneiden, fo artet fie ftets unbefriedigt nur allguleicht in Wahn⸗ ſinn aus, um fic) mit den Trugbildern: deffelben fiir alle Ent belprungen in der Wirklichfeit ſchadlos zu halten, und das unerfattlide Berlangen nad huldigender- Anerfennung wenig- ſtens fir Augenblicke gu ftillen. Hieraus erflart es fid), daß der religidfe Hochmuth bei Perfonen der unterften Volksklaſ⸗ fen eine verhaͤltnißmaͤßig haufige Erſcheinung in Srrenbaufern ift; Denn da ihnen die Ausſicht auf weltliden Glang verfperrt bleibt, fo fucen fie fid) gern in religidfen Gontemplationen uͤber irdiſche Verhaltniffe hinwegzuſetzen, und ihr gereigtes Selbſt⸗ gefühl auf fromme Anfchauungen uͤbertragend, in denen die Phantafie ſich fo leicht zur Schwaͤrmerei erhigt, gelangen fie bald dabin, auf die wirkliche Welt. mit um fo griferer Bers achtung berabjubliden, je mehr Rranfungen und Gerfolgun- gen fie in derfelben erlitten gu haben glauben. Jd) habe in meinen Biographieen Geiftedfranfer unter Mr. 6. und in mets ner Schrift uber den religidfen Wahnfinn unter Mr. 6, 9, 15, 16, 17, 19. DBeifpiele diefer Art gefchildert, welche gur voll: flandigen Griguterung des Ebengefagten dienen werden, und könnte aus meiner Erfahrung eine Menge abnlider Faille anz fahren, wenn fich dazu der nothige Plage fande. . 10

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Die Selbftiberfhagung jedes Hochmuths ſchließt faft im: mer eine an Verachtung grenzende Geringſchaͤtzung anderer Men: ſchen in fic), weil der Dinkelvolle von feiner ertraumten Hohe nur abwart3 in die wirkliche Welt bliden fann. Mag er aud) mit nod fo vielen Mangeln und ſchweren Gebrechen be- haftet fein, er hat von ihnen in feinem ſchwindelhaften Rauſch eben fo wenig ein Gefihl, als der durd Opium Betaubte feine Schaden und BVerlebungen empfindet, daher es feinem bethorten Gerftande ein Leichtes ift, die Vorftellung feiner mos ralifchen Fehler hinwegzuwitzeln, fie hidftens als unbedeutende Flecken an feinen ftrablenden Verdienften gelten zu laſſen, wabrend er die Schwaͤchen Anderer in Rieſengroͤße erblidt, um dadurch feine Beradtung gegen fie gu rechtfertigen. In die fem Ginne ift daher der Hochmuth als eine der ſchlimmſten Leidenſchaften angufehen, weil er nicht nur die zur fittlicden Cultur nothwendige Selbfterfenntnif geradezu unmiglid) macht, und felbft die argften Gebrechen in Schutz nimmt, fondern aud) jedes natuͤrliche Verhaltnig zu anderen Menfchen verruͤckt, jede thatige Liebe gu ihnen erftidt, und das Gemith gu jener abfoluten Selbſtſucht verhartet, in welder das Sch als ans: ſchließlicher Mittelpunft aller Beftrebungen auf often frem: der Rechte erfcheint. Daf diefe verderblicben Wirkungen beim religidfen Hochmuth den hoͤchſten Grad erreiden miffen, be: greift fid) leidt, daher fein Charafter aud oft genug unter den abfchredendften Zuͤgen mit villiger Berleugnung jeder menfdliden Gefinnung fic) darſtellt. Gr wird in diefer Be: giebung nur nod) vom Fanatismus iibertroffen, welder fic nicht mit eitler Selbftbefpiegelung begniigt, fondern geradezu auf Berftdrung der Wohlfahrt aller uͤbrigen Menſchen ausgeht, um fie gu bdleibenden Sflaven feiner Tyrannei herabzuwuͤrdi⸗ gen. Dod) erleidet obige Charakteriſtik des religidfen Hoch: muths bei Vielen eine bedeutende Einſchraͤnkung, in fofern fie in voͤlliger Verftandedsverblendung befangen nicht die nothwen: digen Confequengen aus ihrer Denfweife ziehen, und mit ihren dinFelvollen Grillen faft nur ein albernes Spiel treiben, neben weldyem beffere Gefiihle noch beftehen koͤnnen. Sie meinen es lange fo arg nidt, alé iby Bahn nach feinem woͤrtlichen Sinne es erwarten laſſen follte, und wenn man fie nur ungeftirt

afte

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traͤumen und fafeln lft, fo bleiben fie oft zeitlebens harm: los und friedfertig.

Sede Leidenfchaft arbeitet auf grengenlofe Erweiterung ihrer Anſpruͤche hin, und zwingt dadurch den Verftand, das Welt- und Selbſtbewußtſein, d. h. alle Vorftellungen, in ihrem Sinne ju geftalten. Indem alfo der religidfe Hochmuth fet nem Weſen nach die Ueberſchaͤtzung der eigenen Frommigfeit und des durd) fie bedingten Verhaltniffes gu Gott darftellt, fo betritt er eine Stufenteiter von citler Celbfthethirung, auf deren hoͤchſter Staffel ex ſich mit der Gottheit felbft identi: ficirt. . Buerft .maaft er fic) nur mit der Ueberjeugung von feiner auSgeseichneten Froͤmmigkeit den Diinfel einer die uͤbri⸗ gen Menſchen tiberftrablenden Heiligfeit an, in welder ev feine Sinden von fic abgeftreift gu haben, und deshalb allen Uebri gen als Mufter dee Nacheiferung vorleudten gu fonnen glaubt, und um. fic) in. diefem ſuͤßen Wahn gu erhalten, befleifigt er ſich eifriger Andachtsuͤbungen, um in anbaltend frommer Er— regung vor fid) ſelbſt den Beweis feiner gelauterten Gefinnung ju fuͤhren. Entweder ergiebt er fid) gleichgeitig ftrengen asce— tifhen Usbungen, um in fic) alle weltlichen Gefuͤhle zu ers ftifen, und veradtend auf Ddiejenigen herabjubliden, welche nod) in-denfelben befangen find, ja er meidet gefliffentlid jede Berufsthaͤtigkeit, welche ibn in die Schranfen der Wirk— lichkeit zurückführt, und ſchaͤmt fic) nicht, die Bettelei fur die Befriedigung feiner nothwendigften Beduͤrfniſſe eine Erhebung des ihm gebihrenden Tributs gu nennen; oder wenn aud) in ihm der alte Adam fic) regt, und ibn gu Abfprimgen von feiner Bahn gwingt, fo triftet er fid) leicht fiber diefe Wider- fpriiche mit den belichbten Worten: „dem Reinen ift wed rein.” Schon weicht ihm der Boden unter den Fuͤßen, denn er fteht nicht mehr als Birger der wirklichen Welt inmitten eines ihm gleichen Gefchledts, fondern fiber daffelbe im tau- melnden Fluge ſich erhebend fommt er in eine Lage, wo die Borftellung von feiner Perfinlidfeit fic gu einem ganz anbde- ren Gharafter auspragen muf. Gr ift ja nun nicht mehr ein Menſch im natuͤrlichen Sinne des Worts, fondern cin von der Gnade Gottes bhevorzugtes Wefen, berufen gu einer die irdiſchen Verhaͤltniſſe uberfliegenden Gendung, .und muß folg:

n

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lid) dahin ftreben, fic) lebtere unter einer beftimmten Borftel- lung zum Bewußtſein gu bringen, und daraus feine ferneren Gedanken und Entſchluͤſſe abzuleiten, naddem die friheren fiir Ihn ungiltig geworden find. In diefer Bethdrung be— fiarft er fid) um fo mebr, in je innigere und unmittelbarere Gemeinfchaft mit Gott er fcon getreten gu fein waͤhnt, da: her ifm denn feine im fchwarmerifden Gifer erglihende Phan: tafie oft die leiblihe Gegenwart Gottes vorliigt, welder in ſichtbarer Geftalt ihm erfcheinend, ihm feine Gebote in deut: lid) ausgeſprochenen Offenbarungen verfiindigt. Nach der ver: fchiedenen Jndividualitat des Schwaͤrmers ridtet es fid), ob dieſer unmittelbare Gerfehr mit Gott ihm mehr als Vifion, alg wirflide Theophanie erfcheint, oder ob er nur durch Tau: fhungen des Gehoͤrs die Stimme Gottes zu vernefmen alaubt, wie died namentlid) bei der Bourignon ver Fall war. Jedesmal entfprechen aber diefe gottliden Offenbarun- gen auf das Genauefte dem Entwidelungsgange, den die in: dividuellen Anſichten des Schwaͤrmers angenommen haben, und fieben daber gewohnlid) im innigften Ginflange mit den pers ſoͤnlichen Wuͤnſchen deffelben.

Iſt es erſt fo weit gekommen, dann hat ſich der Wahn— ſinnige wieder auf einen feſten Boden geſtellt, denn innig von der Wahrheit der angeblichen Offenbarungen uͤberzeugt, findet er in deren Verheißungen die Sphaͤre ſeines zukuͤnftigen Den— kens und Strebens, welche, wie ſehr ſie auch mit der Wirk— lichkeit in Widerſpruch ſtehen mag, doch als eine von Gott neu geſtiftete Weltordnung in ſich ihre abſolute Gewißheit traͤgt. Im Nimbus dieſer aͤtheriſchen Wolkenregion ſtreift daher der Schwaͤrmer ſein menſchliches Bewußtſein wie ein abgetragenes Kleid ab, um ſich in das Prachtgewand eines himmliſchen Pro: pheten, eines goͤttlichen Geſandten, eines Verkuͤndigers des nahe bevorſtehenden Weltgerichts gu hillen, und vertraut mit dem Inhalte der Bibel wabhlt er unter der Schaar ihrer heiligen Perfonen Ddiejenige aus, welche feinem Geſchmack am meiften gufagt, um fic) mit derfelben vollig gu identificiren. Daf der Prophet Elias vorzugsweiſe die Ehre genieft, in der Perfon religidfer Hochmithigen wiedergeboren gu werden, erflart fid theilS aus eingelnen Bibelfpriden, in denen feine Wiederkehr

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auf Erden verFiindigt wird, theils aus ſeiner hohenprieſterlichen Sendung, in welcher er zur Vertilgung des Goͤtzendienſtes als raͤchender Bote des goͤttlichen Zorns auftrat. Denn dieſe Rolle iſt wie geſchaffen für jeden hochmuͤthigen Schwaͤrmer, welcher die Suͤnden der Welt um ſo bitterer empfindet, je mehr ſie im Widerſpruch zu ſeiner angemaaßten Heiligkeit ſtehen, welche ihn zum erbarmungsloſen Eiferer gegen das ſittliche Verderben macht, dem er das Schickſal von Gomorrha und Sodom vorher verfiindigt, wie denn uͤberhaupt der Styl und das Bilderſpiel feiner Mede gewdhnlich aus biblifchen Broden mit theofophifden Phraſen gufammengefleiftert ift, in denen fic fein endlofer und defultorifcher Wortſchwall ergieft. Es verdient hierbei bemerft gu werden, daß der hodmithige Schwaͤrmer, fo lange in ihm jede fanatiſche Regung fdlummert, ein grofer Wortheld ift, welcher fid) um fo weniger um die Verwirklichung feiner from- men GaSconaden kuͤmmert, je vollftdndigere Befriedigung er aus ihrer Declamation ſchoͤpft, welche er mit einem Uebermaaß yon Salbung ju wuͤrzen nicht unterlaft. Nur gelegentlic) ver- ſpuͤrt er ein Gelifte nad frommen Ovationen, wenn ein toller Haufe ihm bereitwillig entgegenfommt, ihn im Triumph als einen Himmelsgefandten an feiner Spige einherſchreiten zu lafjen.

Gleicht nun jede Sdhwarmerei einer unaufhaltfam um fid greifenden Flamme, in welder das Gemiith gu einer raftlos fid fteigernden Anmaafung auflodert; fo bedarf eS Feines weiteren Zuſatzes, daß der religidfe Hodymuth in maaflofer Entwidelung fortfdreitend fid) endlich) mit Gott felbft identificirt, fic fir den Schopfer und Bebherrfcher der Welt, fir den Erlofer er: klaͤrt, ja fur fid) einen neuen Platz in der Dreieinigfeit als vierte Perfon derfelben erdffnet. Man Finnte fid) Angefidts einer fo rafenden Selbftbethirung verfudt fiblen, fie fir den duferften Gipfel einer frevelhaft ſelbſtſuͤchtigen Gefinnung ju halten, welche felbft die Gottheit vom Bhron der Welt vertrei- den wolle; indeß man braudt nur oft genug mit folden Tho— . ren im unmittelbaren Verkehr geftanden gu haben, um fid) gu iibergeugen, daß ihnen damit ein fchreiended Unredt gugefigt wide. Sie find oft genug gutmisthige Narren, welche ihrer unermeflichen Selbſtuͤberſchaͤtzung ungeadtet dod) mit der grof-

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ten Bereitwiligkeit fic) in die Disciplin des Irrenhauſes fiigen, gelegentlid) wohl gegen die Polizei deffelben als fchreiende Ver— letzung ihrer goͤttlichen Machtvollfommenheit mit grofer Ent- tiftung proteftiren, aber zuletzt dod) dad Gefes der Nothwen⸗ bigfeit su refpectiren, und fic damit gu troften wiffen, daß bie Stunde ihrer Allmacht bald fdlagen, und ihnen alsdann alle Feinde und Verfolger au Fuͤßen werfen wird, denen fie nicht felten fchon im Goraus BVerzeihung angedeihen laffen. Aber freilid) bedarf es dennoch oft einer ernften 3urechtweifung, um fie in den Schranfen des Gehorfams und einer wenigftens erfiinftelten duferen Gefonnenheit zu erhalten, weil’ wenn man fie ganz dem maaflofen Antriebe ihrer Schwaͤrmerei uͤberließe, eine vollige Berrittung und Geriwilderung ihres Gemuͤths ‘niet ausbleiben, und dadurd zu den verderb‘idften Ausbruͤchen ih: rer tollen Anmaafung fuͤhren wuͤrde. Wer filets ein Gott gu fein wabnt, und dadurch jedes menfchlide Gefuͤhl in fic) erſtickt hat, Fann nidt das geringfte Bedenfen tragen, einen Menfchen au ermorbden, wenn derfelbe ihm verhafit geworbden iff, und die Grfahrung hat oft genug gelehrt, daß die gutartigften Gemit- ther im frommen Wahn der argften Verirrungen fabig gewor— ten find. ene unermeflice Selbftiberfchasung des religibfen - Hochmuths erflart fid) uͤbrigens fehr einfad) aus dem natür— lichen Beſtreben der Phantafie, ihrem Bilderfpiel eine uͤber— ſchwengliche Ausdehnung yu geben, wovon man fid aus eigener Erfahrung leicht tiberzeugen fann, da e3 wohl Sedem in muͤßi⸗ gen Stunden begegnet, daß er den Gaufeleien feiner Einbil— bung fid) uberlaffend, von ihr mit allen migliden Wuͤrden und Herrlichfeiten iberfciittet wird, deren Traͤume indeß eben fo vor ber niichternen Meflerion zerfließen, wie Morgennebel vor der aufgebenden Gonne. Wenn aber der Wahn jede befonnene Meflerion unmiglid) macht, fo verfteht es fic), daß jene Luft: gebilde ber ſchwaͤrmenden Phantafie eine immer grifere Dauer und Gonfiftens; gewinnen miiffen, und dadurd die Wirklichfeit in bas Zauberreid) der orientalifchen Maͤhrchen der taufend une einen Nacht verwanbdeln. Wer alle Ausdeburten der menſchlichen Narrheit fcbitdern wollte, wiirde feine Uufgabe nicht erſchoͤpfen fonnen, aud) wenn er Methufalems Alter erreichte, und eine VBibliothef von tau-

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fend Banden fcriebe. Ich fann deShalb hier nur cinen Griff in das unerfchdpflice hiſtoriſche Magazin der hochmithigen Schwaͤrmerei thun, um wenigftens die nothwendigften Bhat: fachen gur Beftatigung der bisherigen Bemerfungen zuſammen— gubringen. Es verfteht fic, daß jeder ein Marr auf feine et gene Art war, weil der Wahnfinn jedesmal das frithere Veben ſeines Eigners in Berrbildern abfpiegelt, und nur ſo viele frembdartige Zuͤge bhineinwebt, als zur Vervollftandigung des Ganzen nothwendig iff. Nur in fofern die Entwidelung des Wabhnfinns an beftimmte pfychologifche Geſetze gebunden iſt, koͤnnen feine einjelnen Falle cine wefentliche Uebereinftimmung in ihren Grundzuͤgen darbieten, um welthe es uns, abgefehen von allen individuellen Variationen deffelben Themas, vorgzugs- weife 3u thun fein mug.

§. 11. Ezechiel Meth, Jacob Nayler und einige faljche , Meffien.

Sn der unten genannten Schrift: Anabaptisticum et en- thusiasticum Pantheon ijt S. 63 folgende Erzaͤhlung enthal- ten: Im Jahre 1644 trat der Sohn eines Mectors in Langen- false unter dem angenommenen Namen Ezechiel Meth als Prophet auf, fammelte um fic) eine Schaar, und befannte bei

dem Verhoͤr vor dem Gonfiftorium in Dresden: 1) daG er der

Groffirfi Michael, fonft Gottes Wort genannt, fei und heife. 2) Daf nicht mehr als ein Wort, das lebendige, felbft- fidndige, ewige Wort Chrifti fei und bleibe, und aufer diefem das gefdriebene und gepredigte fiir Nichts gu adhten fei. 3) Daf ihm diefe Lehre durch heimlide Offenbarungen oder fonderbare Traume von Gott dem heiligen Geifte offendart und eingege- ben worden. 4) Daf feine Anhanger das Gefes vollfommen erfillen und demfelben genug thun fonnten. 5) Daf die lu- therifche Daufe cin gauberifches Werk fet, da fie allein durd den Geift Gottes geſchehen miffe. 6) Daf ihre Kinder, weil

fie von ihnen als die ohne Suͤnde geboren, von Natur heilig und deshalb der Daufe nicht bedirftig feien. 7) Daf unfer- Nachtmahl nicht das rechte fei, fondern cin zauberiſches; das aber ware dad vechte, welches in der Offenbarung Fohannis

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Kapitel 3. Vers 2O fiande. 8) Daß die chriftliche Kirche auf Erden ohne Ginde, adel, Runzeln und Flede fein miifje, fonft ware es feine Kirche, und daf Efaias Ehriftus font Stieffel (des Meth Schwiegervater) genannt, derfelben als Braut Chrifti das alleinige Vorbild fei. 9) Daf Chriftus perfonlid) und wefentlid) mit ihm, dem Meth fei, daß er der Groffiirft das Fleiſch, das Chriftus aus feiner Mutter Leib an fic genommen, und darin am Stamme ded Kreuzes gelit- ten, an feinem Leibe habe und herumtrage, und daf Alles, was feine Anhanger thun und verridten, Chriftus mit ibnen thue, und fie ohne Suͤnde feien. 10) Daf Kraft der Beiwoh: nung Ghrifti fie unfterblid) waren. 11) Daf feine Auferfte- hung ber Dodten fei, auc) fein ewiges Leben, denn fie feien ſchon einmal in der Welt geftorben, und empfanden die Freu- den des ewigen Lebens, welche Chriftus verheife, an ihrem Leibe ſchon gewif und vollfommen. Als das Gonfiftorium yon feinen Anhangern Zeichen und Wunder verlangte, antwor- teten fie, daß die ehebrecherifehe Art von Chriftus aud Wun- derzeichen begehrte, fo ihr aber nicht wiederfahren finne. Meths Schwiegervater, Efaias Stieffel, welder weiter unten ge- nannt werden wird, verkuͤndete ſchon 1604 in Erfurt feine Lehre, daß er Gott-Menſch und unfterblid fei. Meth ftarb im Gefangnif gu Dresden und feine Anhanger wurden nad bem Koͤnigsſtein gebradt. Im Verhor nannte Meth fic) Eze⸗ chiel Chriftus, Gottes neuerftgeborenen Sohn der Heiligkeit, einen feelig berufenen ewigen Geift, Konig und Priefter auf GErden, den treuen Zeugen des Vaters im Worte des Lebens, einen beiligen Geift, den Erftgeborenen von den Todten aus der Braut Chrifti und einen Firften der Monige auf Erden, fo aus der Braut des Lanimes in alle Welt eingeht. Gott rede mit ihm alle Tage, offenbare ihm die rechte Lehre, erfdeine ihm in Traumen und Gefichten; er-verglid) fic mit den Apo- ſteln, welche nicht ſundigten, nachdem fie den beiligen Geift am Pfingftfefte empfangen. Wer ein rechter Diener Gottes fein wolle, der milffe ganz rein, beilig, obne alle fiindlide Worte, Werke und Gedanfen fein, fonft fei er nicht Gottes Diener, - fondern des Teufels, daher er denn fiir foldje Schelms- Kinder, boshafte Schaͤnder und Feinde Chrifti und gauberhafte Liugen-

propheten alle Geiftliche ohne Unterfchied der Religionen erflarte. Die proteftantifche Kirche nannte er eine blinde, gottlofe Welt, die fleifchlichen Liigenfinder Israels, die gottlofe Jeſabel, die vom fleifdliden Suͤnden⸗Meer umfloffene und ganz unver- ſchaͤnmte Satans-Inſel und Wohnung, die Tochter Elſe— bets, die das Zeichen und Brandmahl des hoͤlliſchen Vaters Satan in ihrer unzuͤchtigen von ihm geerbten Seele, Herz, Fleiſch und Bein in ſich traͤgt. Zwiſchen ſeinem (Meths) Blute und Fleiſch und dem von Chriſtus ſei kein Unterſchied, was er thue, eſſe, trinke, das thue Chriſtus in ihm, ja ſelbſt wenn er heirathe und Kinder zeuge, ſo ſei das ein Werk Chriſti.

Unter den fruͤhern Quaͤkern, deren Geſchichte uns ſpaͤter beſchaͤftigen wird, zeichnete ſich beſonders Jacob Nayler aus, fiber welchen die Historia Fanaticorum (S. 33) naͤheren Auf— ſchluß giebt. Gr war erft Soldat und verheirathet, tried, als er Qudfer geworden, Landbau, hatte beim Pfliigen fromme Gedanfen, und hirte eine Stimme, welthe ihm jurief: ,, Gebhe aus aus Deinem Gefchledht und aus Deines Vaters Haufe, Gott wird mit Dir fein.” Hod) erfreut gab er feine Wirth: ſchaft auf, theilte fein Geld aus, verlief die Seinigen ohne Ab- fcied, und irrte im Zande umber, ohne gu wiffen, wad er be- ginnen follte, bis er Gingebungen hatte. Am 24. Octbr. 1656 bielt er feinen Einzug in Griftol, reitend neben einem gewiffen Medloc; zwei verheirathete Frauen aus London fihrten fein Pferd am Zaum, und fangen: heilig, heilig, heilig ift der Herr, der Gott Israels. Unter dem Hofianna-GSingen in der Stadt entftand ein grofer Wolfsauflauf. Verhaftet erFlarte er, er fomme begleitet von feinem Gater als der allerhidjte Prophet von Gott; er fei der alleinige Sohn Gottes; die ewige Ge: rechtigfeit fet in ihm zuwege gebradt; fo fie den Vater erfannt batten, wuͤrden fie auc) ibn erfennen. Gr fei Konig in Israel, habe fein Konigreid in der Welt, herrfde aber in feinem Va— ter. Ware er nicht das Lamm, fo wiirde er nicht gefucht wer- ben um verfdlungen gu werden. Gein Gingug in die Stadt fei gum Preife bes Vaters gefchehen, er werde Nits verleug: nen, was der Here ihm gu thun befeble. Won feiner Frau fagte er, es fei cin Weib da, welded dic Welt fein Weib nenne.

Eine der ihn begleitenden Weiber erklaͤrte im Verhoͤr, ſie wolle es mit ihrem Blute beſiegeln, daß er der erſtgeborne Sohn Gottes ſei, deshalb haͤtte ſie ihre Kleider vor ihm auf dem Wege ausgebreitet; er habe ſie nach zweitaͤgigem Tode wieder auferweckt, und er werde ſitzen zur Rechten Gottes, die Welt gu richten. Nayler wurde nad London geſandt, vor einer Com— miffion des Parlamenté verhirt, wo er auf feinen Ausfagen bebarrte, namentlid) daß Chriftus, der Kinig von Israel in ihm offenbart fei. 3ugleid) behauptete er, 2—3 Woden ge- faftet gu haben. Mach langen Debatten wurde ihm die Strafe guerfannt, am Pranger gu ftehen, mit einem Bettel uͤber dem Haupte, worauf die Worte: Dies ift der Juden Minig. Fer: ner follte ibm ein gluͤhendes Gifen durd) die Bunge gebobrt, und er mit dem Budftaben B. an der Stirn gebrandmarét werden. Gndlid) wurde er nad) Vriftol gefiihrt, verkehrt auf ein Pferd gefebt, und nad) feinem Einzug in die Stadt an mehreren Orten derfelben geftdupt. Mehrere Quaker begleite: ten ibn bei diefem Aufzuge und riefen: ,,Siehe das Lamm Gottes, died iff der Edftein, ben die Bauleute verworfen haben; fie follen ſehen, in welchen fie geftocen, und wen fie geftriden haben. af alle die Engel im Himmel ihn anbeten; Ehre dem, dem Ehre gebiihrt.”

Endlich) theile ic nocd aus Millers Schrift: Greuel der falfchen Meffien, einige hierher gehorige Notizen mit. Er ſchil— dert 64 folcher Schwarmer, welche indeß wohl zum geringften Theil wirkliche Geiftesfranfe, fondern vielmebhr politiſche Fana- tifer waren, welche fir ihre herrſchſuͤchtigen Zwecke die Wahn— begriffe ihrer Zeit vortrefflid) gu benuben wuften. Dies diirfte namentlid) von dem beruͤchtigten Bar Codba gelten, welcher im Sabre 71 unter den des Meffias fehnfidtig harrenden Ju— ben auftrat, feinen Urfprung von den Sternen herleitete, ſich eine Menge von Fleden und Dorfern unterwarf, mit feinen Anhangern 200,000 (2) Roͤmer erfchlagen, und in Afrifa und Griechenland eine Menge Menfchen getddtet haben foll. Nad: dem er 2'/, Sabre regiert hatte, wurde er von Adrian über— fallen, und mit feinen zahlreichen Anhangern erſchlagen. Wiele wurden gefdpft, gefdunden, verbrannt, mit Hafen aus einan⸗ der geriffen oder von Hunden zerfleiſcht. Die Juden klagen,

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daß durch diefen. Meffias mehr ums Leben gefommen find, als bei der Zerftirung Yerufalems. Eben daffelbe gilt wohl von dem Mofes, welder im Jahre 434 unter dem Kaiſer BH eo- dofius in Greta auftrat. Er gab fic fir denfelben Mofes aus, welder die Juden durd) das rothe Meer gefuͤhrt hatte, und verhieß daber den Yuden, fie trodenen Fußes durd das Meer nach Canaan gu fiuhren. Wirklich ftirrgte fic) eine Menge von Juden auf fein Geheiß ing Meer, und da fie ertranfen, wollten die zuruͤckbleibenden den falſchen Propheten ergreifen, welder aber verfdywunden, oder wie man damals glaubte, vom Beufel geholt worden war. Aud) in Perfien, Afrifa und Spa- nien traten mebhrere falſche Meffien auf, verfiuheten viele Juden zur Emporung und zogen ihnen dadurch harte Strafen gu.

Aber ohne Brweifel ein Wahnfinniger war ein gewiffer Epiſteus Bitirigenfis, welder als falſcher Meffias im Jahre 593 in Franfreid) erfchien, naddem er im Walde beim Holsfallen dergeftalt von Fliegen gequalt worden war, daf er 2 Sabre lang vollig verviidt wurde. Hierauf legte er fid auf 3auberei, heilte Rranfe, weisfagte die Bufunft, erwarb fic) dadurch einen grofen Unhang, gab fidh nun oͤffentlich fir Ghriftus, den Sohn der Maria aus, und verlangte fir fie und fic) die Anbetung ded Volfs. Sein Anhang vermehrte fid) bis gur Bahl von 3000, und er ftrafte diejenigen Hart, welde nicht an ifn glaubten, wurde aber endlich von einem feiner Getreueften erfthlagen. Schon im Sabre 595 fand er einen Nachahmer an einem gewifjen Defiderius, welder in Bordeaur auftrat, viele Leute bezauberte, zuletzt aber aus der Stadt verjagt wurde.

Eſaias Stieffel, der mütterliche Oheim und Schwie⸗ gervater des oben genannten Ezechiel Meth, erklaͤrte ſich in ſeinen Schriften fiir Chriſtus, das lebendige Wort Got⸗ tes, durch welded derfelbe alle Dinge gemadt habe. Die wefentlide Liebe, die gittlide Stimme fei feine Braut, das Weih Gottes, mit welder er feinen Sohn gezeugt habe. Die Bibel fei cin todter, ſtummer, unbeweglicher Budftabe, das gottliche Weſen fei den Engeln und Menſchen angeboren, Gott habe Adam in feinem Chenbilde Chriftus erfdaffen, die Seele Adams fei das dreieinige spiraculum Dei, befte:

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bend in Kraft, Wort und Leben ded anerfchaffenen Ebenbil⸗ des. Es fei nichts Gutes im Himmel und auf Erden ohne den cinigen Gott, Chriftus fei im Menfchen das Wefen, fo allein gut. Der Teufel fei bid zur Schodpfung der. Welt in hoͤchſter Schmach geftanden, nad) der Beit fet das boͤſe RMefen, fo man die Erbfinde nennt, dem Teufel und den Menfchen eingepflanst. Chriſtus fei der dreieinige Gott, des ewigen WeibeS Saamen, daraus die Menfchen empfangen und geboren worden: Chriſtus habe gwei Perfonen, eine grofe und fleine, die grofe werde in ben Glaubigen nocd taglid Menſch, nad der Fleinen fei Chriftus von Ewigfeit unvoll Fommener Menfch geworden. Auch habe er die Engel erldfer. Die wahren Glaubigen, aus Goft und feiner Gemablin der Liebe wefentlic) wiedergeboren, werden Gott-Menſchen und Menfchen Gotter; fie find wefentlide Glieder des Leibes Chri⸗ fti, find allmadtig, allwiffend, ſitzen zur Mechten Gottes. Sie bilden als reine Heilige die Kirche Gottes, find ohne Flecken und Simbde, bedirfen feiner Arznei, und heilen die Kranfen durch Auflegen der Hante. Das menſchliche Pre: digtamt bat feine Kraft der Wiedergeburt, und miffe mit bem Studiren, den freien Kimften und dem roͤmiſchen Rechte ausgetilgt werden. Chriftus wird auf Erden ein ewiges Reid) ftiften, und von aller Suͤnde befreien. In diefem Reis che werden die Wiedergeborenen mit verflartem Leibe Gott vollig erfennen, und von Angefidht zu Angeficht ſchauen. Stieffel warb einen Anhang, wurde vom GConfiftorium in Leipzig, weil er nicht widerrief, gum Gefaͤngniß verurtheilt, fpater, ald er den Widerruf mit einem Gide befraftigte, frei gelaffen, fiel aber in feine fruͤheren Srrthinner gurid.

Bur Zahl der gemeinen Vetriiger gehiren aber unfteeitig folgende zwei. Der erfte, cin polnifcher Edelmann, Jacob Melfinsky, trat im Jahre 1550 als falfcher Meffias auf. Gr nannte fid) Chriftus, nabm 12 Rauber als Apoftel an, brachte Fife aus fumpfigem Wafer hervor, darin feine gewe: fen waren, machte Waffer aus Wein, heilte verftellte Kranke, wurde aber in allen feinen Gaunerftreichen entlarvt. Sm sabre 1600 trieb ein falfcher Chriftus mit 12 Apofteln fein Wefen in Braunſchweig. Unter anderem febrte er bei einem

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Miller ein, dem er aus bem Keller Wein, Bier und Fiche entwenden, aus dem Gerborgenen herein holen und gubereiten lief. Als am anderen Morgen der Miller Feine Bezahlung annehmen wollte, verhieß ihm der Meffias sur Belohnung eine Bervielfaltigung feines Gelded, welches er herausgeben mufte, damit es von bem Apoftel Fudas zweimal um das Haus herumgetragen werde. Gelb und die Schaar verfewanden; dod) wurde die Notte ergriffen und hingerichtet.

§. 12. Fanatismués.

Die Erfdheinungen der religidfen Herrſchſucht oder des Fanatismus find ohne Widerrede die madtigflen und folges reichften in der Weltgeſchichte, deren Geftalt ſie in den wefent- lidften Zugen beftimmt haben. Indem id) zunaͤchſt an die in §. 9. ausgefprodenen Bemerfungen fiber bie Nothwendigfeit des Fanatismus als Element in der Entwidelung der drift: lichen Kirche anfnipfe, und bingufiige, daß etwas Aehnliches vom Islam gilt, den man wenigftens im Gergleich gu den von ihm befampften heidniſchen Religionen einen wabhren Fort: fcritt in der Cultur des Menfchengefchledts nennen mug, wenn er aud) als voͤllig ausgelebt feinem unvermeidlichen Un: tergange fic) zuwendet; lage es mir vor Alem ob, die Gren: gen genauer, ald e6 frither geſchehen fonnte, gu beftimmen, welde den hiſtoriſch berechtigten Fanatiémus von dem willfir- licen, welder jedeSmal auf eine Zerruͤttung der geiftigen Dr: ganifation bhinarbeitet, zu unterfdeiden. Wir fonnen es uns aber nicht verheblen, daß diefe Beftimmung im Allgemeinen mit faft unauflisliden Schwierigkeiten verfnipft ift, da felbft die zur Herrſchaft ber ihre eit berechtigten Geifter thre Auf: gabe nie gang rein geldfet, fondern in fie die ihrer Perfon: lidfeit anflebenden Mangel hineingemifdt, und dadurd) ihre nothwendigen Swede mehr oder weniger verunftaltet haben. Wie grof die Gefahr ift, ſich durd abftracte Begriffe gu den ungeredhteften Urtheilen verleiten gu laſſen, davon geben befon: bers die ungabligen, auf unfren Luther geworfenen Schmaͤ⸗ hungen den einleuchtendften Beweis, an deffen Heldengrdfie fic) jedeS durch ibn verleste Sntercffe durd den bitterften Ta:

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del gu raͤchen ſtrebt. Wenn alle ihm gemachten Vorwirfe auf ihre wabre Bedeutung zuruͤckgefüͤhrt werden, fo fommt dabei jedeSmal heraus, daf man an ihn die Forderung ftellt, er habe bie ganze Denfweife und Gefinnung feiner Zeit volliq von fic) abftreifen, in der geldutertften Philofophie fid) gu einem teinen Bernunftwefen verflaren, die Ideen der Freiheit und Gerechtigfeit, deren Entwidelung nur die Arbeit von Jahr— hunderten fein fonnte, aus unmittelbarer Erleuchtung durch Gott fchdpfen follen; mit einem Worte, man zuͤrnt auf ibn, daß er aud) nur ein Menſch war, und vergifit es gaͤnzlich, daß mit alleiniger Ausnahme von Ehriftus und feinen Apo- fteln nod) nie cin Gharafter auf der Weltbihne erfchienen iff, welder inmitten der greuelvollften Anarchie der Leidenfchaften ein dauerhafteres und grofereds Reich) der Sittlichfeit geftifter hatte, um durch fie eine fortſchreitende Gultur der Voͤlker erft moͤglich gu machen.

Wir wollen uns daher der allgemeinen Betradtungen enthalten, weil fie, um zu irgend einem befriedigenden Ergeb— nif fubren gu fonnen, bei der unendlichen Verwickelung der Verhaltniffe einen die Grenzen diefes Buchs weit uͤberſchrei⸗ tenden Raum einnehmien mithten, und uns ftatt deffen dad Bild des wabhnwigigen Fanatismus in miglidfter Bollftandig: Feit sur Anſchauung zu bringen ſuchen. Gehen wir dabei von dem allgemeinen Begriff der Herrſchſucht aus, welche unmite telbar auf die 3erftdrung jedes fremden Gigenwillens, alfo auf den geiftig fittlichen Bod aller uͤbrigen Menſchen hinarbeitet, um fie zu leblofen, keines thatigen Widerftandes fahigen Werk: zeugen ihrer Swede gu madden, fo find damit die aus ihe nothwendig entfpringenden Wirkungen vollftandig bezeichnet. Sie findet ihren unmittelbaren Ausdrud in einem fyftematifcen Menſchenhaß, weil fie im unmittelbarften Gegenfabe zu jeder menſchlichen Regung fteht, welche felbft in ihren mildeften For: men in offene Empodrung gegen fie tritt. Daher winmſchte jener roͤmiſche Tyrann, daß dads ganze Menfchengefclecht nur einen Halé babe, um ihn mit einem Schwertſtreich trennen gu fonnen. Die nothwendige Wirfung der Herrfchfucht iſt Daber ein Krieg auf Leben und Tod gegen Ales, was menſch— lid) heift, gegen Vernunft, Sittlichfeit, Liebe, Gerechtigfeit

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alé die Grundlagen der Freiheit, weil fie nur auf den Trim: mern derfelben ihr Todtenreid) grimbden fann. Ware es nun dem Despoten moͤglich, feine eigene menſchliche Natur von fid abjuftreifen, und ſich vdllig in ein bdfes Princip zu verwan— deln, welches nur der inneren Nothwendigfeit gehordend, mit der kalten Strenge der Naturgefebe wirfte; fo wide er we— nigftenS in-bder eigenen Bruft gegen die Zwietracht der Leiden: fcaften gefchiist fein. Aber auch er iff dem Gebot ber menſch— lichen Bedirfniffe unterworfen, und wenn er auch jeded an: dere Gefiihl in fic) vertilgt, fo beherrſcht ihn doch die Liebe zum Leben, welches er durch feine Tyrannei den griften Ge: fabren preié gegeben hat. Seine Tollfihnheit, bas ganze Menfdhengefehlecht gum Kampfe gegen fid) heransgefordert gu haben, etbebt daher von fteter Vodesfurcht, in feinen treue: ſten Anhangern fieht er Berrather, welche nicht faumen wer: den, ihn zu ftirgen, nachdem fie ihre 3wede durch ihn er: reicht haben, jeded andere Gefuͤhl in ihm wird dabher durd ben Argwohn erftidt, welder die Driebfeder aller feiner Hand: lungen bildet, und ibre VBefriedigung nur in vollendeter Grau: ſamkeit finden fann. Stets des uͤber dem Damokles haw genden Schwertes eingedenf, witthet er mit offener Gewalt, wenn er durch fie feine Feinde niederfchlagen fann, entſchließt ſich aber auch gu jeder Arglift und Heimtuͤcke, wenn er jene nicht offen anjugreifen wagen darf. Alles gufammengenommen fann die Herrſchſucht mit vollem Rechte das toͤdtlichſte Gift genannt werden, welded die gange Organifation der Seele “bis in ihre innerften Grundlagen jerftdrt, und eben dadurd eine voliftandige Geiftedserrittung hervorbringen mifite, wenn nidyt die ftets gegenwartige Gefabr den Verftand wad erbielte und zur angeftrengteften. Reflerion gwange. Hieraus allein laͤßt es fid) erflaren, daß viele Despoten fic) eine hinreichende Melt: ° Flugheit, Menſchenkenntniß und Selbſtbeherrſchung erwarben, um ihre Rolle bei voller Befinnung durdfpielen zu finnen, obgleid) die wilde Empdrung der in ihnen tobenden Leiden: fchaften fie oft gu Ausbruͤchen finnlofer Wuth fortreift. Ueberfesen wir nun diefe in den allgemeinften Umriſſen angedeuteten Zuͤge der Herrſchſucht in den religidfen Fanatis- mus, fo nehmen fie in demfelben ein wo moͤglich nod folof: Joeler Theorie d. relig. Babnfinns, 11

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faleres Geprage an. Jn ihm tragt fie die vollendetfte Un- menſchlichkeit am offenften zur Schau, daber die-durd ihn ans gezettelten Religionsfriege, Snquifitionen und Herenproceffe an infernalifher Graufamfeit und roher Brutalitat alle uͤbrigen Scheuflidfeiten in der Gefchichte des Menſchengeſchlechts un— endlic) uͤbertreffen. Denn das wilde Wuͤthen der Horden unter einem Attila, Dhengisfan und Tamerlan war eigentlid) nur ein Raubzug reißender Thiere, da fie nod) nie- mals tuber einen. menſchlichen Begriff gum Bewußtſein gefom: men waren, Aber die chriftliden Fanatifer hatten aus dem Evangelium dad gottliche Geſetz fennen gelernt, welches fie gur Hefinnung hatte bringen follen, daher fie mit der gefliffent- liden VWerleugnung deffelben den Anfang machen muften. Wie ſchweren Kampf mit fic) felbft died vielen unter ihnen gefoftet haben mag, fiebt man Ddeutlid) an ihrem fteten Rafen, in welded der Menſch nur dann gerath, wenn feine eigene Bruft pon unvereinbarem QBWiderftreit zerriſſen iff, fo daß er fic) in eine tobende Gabrung verfegen mug, um in ffeten Ausbruͤchen de3 Jaͤhzorns feine Befinnung zu verlieren. Wer fic) feined Zwecks ent{chieden bewuft ift, und dadurd jeden Wibderftreit in feiner Bruft gedampft hat, kehrt gewif zur Rube juried, felbjt der Wahnfinnige, welcher nur fo lange tobt, als feine Leidenfchaft von entgegengefebten Antrieben durchkreuzt wird. Ware der Fanatifer fic) feiner angeblich gottlichen Miffion ent: fchieden bewuft, fo brauchte er ja nur Ddiefelbe vor fich felbft geltend gu maden, um dadurd) jeden Bweifel, jedes Wider— ftreben in fic) niedergufchlagen, wie died aud) wirklich jenen Hierarden gelungen fein mag, deren ganzes Leben ihre Falt- blitige Befonnenheit beurfundet.

Die letzte Bemerfung fuhrt uns ſchon gu der Folgerung, daß der wabnfinnige Fanatismus eine swiefade Form anneb: men fann, in fofern er ungeadtet feiner grundfabliden Ber: blendung dod gu einem geregelten Syftem ſich geftalten kann, jum Unterſchiede von jenen Rafenden, welche in ihrem maaß— lofen Withen jeder VBefinnung verluftig gehen, und daber ge: wohnlich bald ind Verderben ſtuͤrzen. Die der erften Form angeborigen Glaubensdespoten behaupten in pſychologiſcher Be— ziehung die. grofte Wichtigfeit, weil fid) der Entwidelungs-

163 proceß ihrer Leitenfchaft am beftimmteften durd alle Phaſen verfolgen laͤßt, daher wir uns vorzugsweiſe mit ifnen be: © fchaftigen wollen, wabhrend der wiithende Fanatifer von vorn herein der Anfchauung die innere Berrittung darſtellt, in welder man bald den leitenden Faden verliert, fo daß ihre Raſerei nur als Schreckbild der gangliden Geiſteszerruͤttung dienen Fann.

Werfen wir zuvoͤrderſt einen Blick auf die erfte Erſchei— nungsform des wabhnfinnigen Fanatismus, fo ſchließt der Be— Griff derfelben ſchon die Nothwendigheit einer dialektiſchen Ver— flandedvirtuofitat in fic), ohne welche die Leidenfchaften im Kampfe mit zahlloſen Hinderniffen niemals ju einer fyftema- tiſchen Conſequenz gelangen finnen, fondern im finnlofen Auf: ruhr fic) felbft bald ein Biel ſetzen muͤſſen. Alle gluͤckliche Despoten waren dabher vortreffliche Koͤpfe, ſcharfſinnige Men- ſchenkenner, welche das innig verſchlungene Triebwerk der fo: cialen Gerhaltniffe und der in ihnen waltenden Bedirfniffe tief genug durchſchaut batten, um die Mittel gu ihrem Zweck mit Sicherheit treffen gu fonnen. Denn wer. uͤber Menſchen herrfden will, muf ihre Sntereffen genau fennen, um ju wife fen, wie er diefelben feinem Plan dienſtbar machen fann, wie brigenfallé er diefelben gum Widerftande herausfordert, und dadurch feine AUbfichten zerftirt. Sede folgerechte Tyrannei ift daher cin Meifterftii von weltfluger Berednung nach etnem burdgreifenden Princip, welches allein Ordnung und Zuſam⸗ menhang in thren Plan bringen fann. Der befonnene Fana- tifer muß daher damit den Anfang machen, in fid) alle Rez gungen niederzufdmpfen, welche ihm auf feiner Bahn hinderlich entgegentreten fonnten, und indem er fic eine hinreichende ins neve Grfabrung in Ddiefer fcwerften aller Aufgaben erwirbt, wird er bdadurch befabigt, die Gemither Anderer zu lenfen, indem er deren ihm forderliche Sntereffen beginftigt, und die ihm binbderlichen befampft. Wirklich hat aud die Gefchichte. die Taktik forgfattig aufbewahrt, mit welder die Fanatifer fic) felbft und ihre Widerfacher befiegten, fo daß ſich der Ents wickelungsproceß ihrer Leidenfdaften bis in die fleinften Cin: zelnheiten darftellen laͤßt. Wenn ihr Weg fie durd) das La- byrinth des Mahnwiges führte, fo ift damit nur fo viel ge:

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164 fagt, daß jie fic) eine Aufgabe Uber den Bereich der Men— ſchennatur ftellten; aber indem fie felbft uͤber diefe den Sieg davontrugen, weil fie aus wirflicher Geiftedzerrittung wieder sur Befonnenbeit fid) hindurdhfampften, ohne ihrem Princip untreu gu werden, fo beweifet dies mehr ald alled Andere, daß die vollendete Leidenfchaft im Bunde mit einem vortreff: lid) organifirten Ropfe das ſcheinbar Unmodgliche gu leiften ver: mag, indem fie die der Seele anerfchaffene Naturordnung mit einer ganz entgegengefebten vertauſcht, und Ddiefe durd ihr Gefes in voller Ucbereinftimmung mit fic) erbalt. Selbſt in Srrenhaufern trifft man juweilen folche Charaftere, welche ungeachtet ihres abfoluten Widerfpruchs mit der ganzen Menſch— heit dennoch mit folgerichtiger Dialefti€ gegen jeden Angriff fic) vertheidigen, da es nicht moͤglich iff, fie uber ihre nature widrigen Grundfabe zu enttaufden.

Hei den in Rede ftehenden Fanatifern fallt alfo weni- ger eine rohe Harte und Graufamfeit des Charafters, welche den tiefften Abſcheu erregen muß, ald jene meifterhafte Dia: leftif ind Auge, mit welcher fie ihr verwerfliches Princip ge: gen alle Widerfacher geltend zu machen wuften, und welde nur in fofern eine wahnwitzige genannt werden fann, als fie diefelbe einer eigenen Geiftesserriittung obringen, und in Wi— derfprud mit allen menſchlichen Begriffen fesen muften. Fir ihre Perſon find fie oft nur jum geringften Theil fur die Greuel verantwortlid, welche die Ausbreitung ihrer Despotie nothwendig herbeifihren mufte, und es ijt wenigſtens erlaubt, voraussufeben, daß fie ſelbſt von ihrem wahnwitzigen Unter: nehmen zuruͤckgeſchreckt waͤren, wenn ibnen die weiteren Fol: gen defjelben lebendig vor das geiftige Auge getreten waren. Aber fie waren gu fehr von dem Glanje ihres falfden Prin: cips geblendet, thre Vernunft: war zu unaufloslid) in das Sruggewebe ihrer Herrichfucht verftridt, alles Menſchliche war ihnen nur als Berrbild eines von Gott abgefatlenen Ge: ſchlechts erfchienen, welches feinem Gefes zu unterwerfen fie fiir ihre heilige Pflicht hielten. Darum eben, weil die Ueber: zeugung fie bethorte, daf Gort mit der findigen Menſchheit in einen abfoluten Gegenfas getreten fet, und daß lestere in ibrer gangen Weſenheit gerftort werden miffe, ehe das Reid)

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des erſteren auf Erden feinen Anfang nehmen finne, darum mufte ihr ganzes Beftreben in einen grundſaͤtzlichen Mahnfinn umfdlagen, welder dann aud) als folder die furdtharften Verheerungen unter den Bodlfern angeridtet hat, und fie fiir im: mer zu jeder fortfchreitenden Cultur ſchlechthin unfabig gemacht haben. würde, wenn er nicht gerade durch feine Syrannei die Gegenwirfung aller Gutgefinnteh hervorgerufen, und deshalb inmitten aller burd ihn hervorgebrachten Greuel den Sieg der Vernunft vorbereitet und zur endlichen Entſcheidung gebradt batte. .

§. 43. Der dialeftifche Wahnfinn des Fanatismus. Ignaz von Loyola, Bouthillier de Rance. |

Bei der unermefilichen welthiftorifthen Bedeutung des Jeſuitenordens würde es unftreitig: eine leichtere Aufgabe fein, eine. vollftandige Biographie feines Stifter’, Ignaz von Lo- yvola, gu ſchreiben, als aus feinem Leben die Bhatfaden in einer buͤndigen pſychologiſchen Demonftration und im organi: fhen Zuſammenhange uͤberſichtlich zuſammen ju ftellen, welthe den firengen Beweis liefern, daß feiner gefammten Geiftesent:

widelung ein unzerftorbares Element des Wabhnfinns eingeimpft -

war, und diefelbe nach allen Rictungen hin durchdrang. Denn es wiirde gu diefem Zweck durdays nicht geniigen, die einzelnen Erſcheinungen zu erzaͤhlen, welche dafir den unwi— derlegbaren Beweis liefern; ſondern es mupte hauptſaͤchlich der determinirende Einfluß nachgewieſen werden, welchen die jenen Erſcheinungen zum Grunde liegende Geiſtesbethoͤrung auf alle ſeine ſpaͤteren Beſtrebungen ausgeuͤbt, und ihnen dadurch ei— nen ſo monſtroͤſen Charakter eingepraͤgt hat. Alles dies mit gewiſſenhafter Sorgfalt und einleuchtender Beweiskraft darzu⸗ ſtellen, namentlich wie der ganze Aberwitz ſeines religioͤſen Be— wußtſeins in der Schrift, Exercitia spiritualia Scti Ignati, nur eine Ausgeburt des Wahnfinns war, welder ihn wal: rend der entfcheidenden Wendung feined Lebensganges lange Zeit und vollftandig beherrſchte, dazu wuͤrde ein weitſchichtiges Werk erforderlid fein. Nur einige der wichtigſten Andeutun: gen . diefer Art werde ich in der Folge verſuchen koͤnnen; fuͤr

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jest muß id) mich darauf befehranfen, die tvefentlidften Er— fcheinungen gedrangt jufammengufaffen, welche als Ausgangs- punft einer folden pfycologifden Deduction dienen muffen. Ich entlehne fie aus ber mebhrfad ermabnten vortrefflichen Schrift von Boismont, deſſen Zeugniß hierin um fo unver- werflicher iff, dba er ungeachtet feiner gereiften Einſicht in das Wefen der Geiftesfranfheiten dod) in der vielen woblgefinnten Katholifen gemeinfamen irrthimliden Borausfesung von der unmittelbar beilfamen Wirfung des Jeſuitismus befangen, dem Stifter deffelben in gleiche Reihe mit der Jungfrau von Orleans und Luther als den Reprafentanten ihrer edelften Beitbeftrebungen gu ftellen fein Bedenfen tragt. Da das Leben des Loyola unzaͤhlig oft gefchildert ift, fo darf id). daffelbe als binreichend befannt rorausfeben, um mic der sufammenhangenden Darftellung deffelben uͤberheben gu fdnnen.

Brierre fagt bhieriiber (a. a. O. S. 419): Blessé dan- gereusement au siege de Pampelune, Loyola forcé a une longue inaction, tourna ses pensées vers la religion qu'il a toujours vénerée. Les bruits lointains de la révolte de Wittenberg lui parviennent dans sa retraite; son esprit ‘en embrasse toute la portée, et deja s‘illumine le projet - de cette institution qui doit rendre de si grandes services a la religion (2!). Plein de cette idée dont la réalisa- tion doit raffirmir le tréne papal ébranlé, le catholicisme Si vigoureusement attaqué, il se prepare. au combat. En face de cette lutte immense dont il saisit toutes les diffi- cultés, tous les dangers, son esprit doit atteindre le plus haut degré d’énergie, de tension, c’est-a-dire l'état le plus favorable a la transformation de lidée en signes sensibles, en images. N’oublions pas d’ailleurs, que neous sommes au commencement du XVI° siecle, en Espagne, ou rien n’était plus commun que l'exaltation solitpire, la concentration de toutes les facultés sur un seul point, de toutes les forces de l'ame dans une seule pensée.

C'est a partir de cette époque de son histoire qu’ont lieu, au témoignage des historiens, les. visions et l'extase. ii voit la Vierge qui Vencourage dans ses projets, dans la mission qu’il va entreprendre, il entend des voix céle-

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stes. Ces hallucinations, en les admettant pour telles un point de vue scientifique, n’étaient que l'expression la plus forte de ses méditations, le resultat de convictions profondes qui formaient le trait distinctif de cette période. La pensée qui le remplissait tout entier se colorait, pré- nait une forme matérielle et se présentait a l'oeil de son esprit, suivant la belle expression de Shakspeare, sans quil y et la moindre apparence de folie (?); Vidée- mére, dans ce cas, au lieu d’étre intra-cérébrale, deve- nait exterieure; elle se placait devant lindividu et le pré- cedait dans toutes ses entreprises.

Il ne faut jamais oublier, lorsqu’on fait l’examen cri- tique dun personnage illustre, de prendre en considération le temps ou il a véeu. Que l'on ‘se reporte maintenant au XVI°¢ siecle, que l’on s’entoure un moment de la bourgeoisie et de la populace espagnoles, ardentes, cré- dules, profondément animées dun enthousiasme et d’une foi sombre: alors les visions, spectres, oracles, choses surnaturelles, tout est vrai, simple, et pour ainsi dire journalier. Un fantome dans le cimitiere et un saint dans la rue n’auront rien d’étonnant.

Les privations dont Loyola accablait son corps donnerent lieu à d’autres hallucinations: ainsi il raconte qu’un serpent de feu lui apparaissait au loin; se rappro- chait de lui, charmait ses regards, puis le laissait plongé dans les ténebres. Mais cette vision, déterminée par les jeünes, les pritres continuelles, la privation du som~ meil, rentre dans celles qui sont produites par l'état de maladie, et n'implique aucunement la folie (?). Elle est une de ces mille épreuves pas lesquelles le fidele doit passer. Peut-étre aussi est-ce un avertissement pour se mettre en garde contre des sacrifices au-dessus de Vhumanité! C’est alors qu'une longue série de scrupules, de tentations, de découragements, conduit Loyola aux portes du tombeau. Il vent, ajoute l’auteur protestant de Varticle de la Revue britannique auquel nous avons emprunté une partie de ces details, mourir de fain; ses extases redoublent. Longtems l'idée du suicide ger-

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me, se développe, grandit dans sa pensée, qu'elle finit par absorber. Ainsi, continue ce méme auteur, se serait terminée misérablement cette existence qui devait avoir un retentissement si grand, si la voix d’un confesseur ne eit arraché a ses souffrances, et n’eut fait pour lui un cas de-conscience de cette mort volontaire. Quand son corps débile ressuscita, pour ainsi dire, une révolution s’opéra en lui. A I’état d’accablement, de concentration, d’enfantement dans lequel son ame était plongée, succéda une -clarté soudaine; il appergut dans tout son ensemble le plan de l’édefice le plus hardi que jamais homme ait concu.

Wenn Bouthillier de Rance, der Stifter des Moͤnchs⸗ orden3 de la Trappe, lange nicht die welthiftorifhe Beruͤhmt⸗ beit des Loyola erreicht hat, welded fid) aus der barba- rifchen Strenge feiner Ordensregeln leicht erflaren laͤßt, deren Asceti— gu jedem Verkehr mit der Welt fclechthin unfabig madte; fo muß ed eben aus diefem Grunde anerfannt wer: den, daß der fyftematifche Wahnwib bei de Rancé eine un: gleich hoͤhere Ausbildung erreicht hatte. Ungeadhtet Loyola grundfaglicd) mit der ganzen Menfchennatur in den ſchroffſten Widerftreit getreten war, fo ftrebte er doch mit der griften Gonfequeng dabin, feinen Orden allen pofitiven Weltverbhalt- nifjen moglichft anjufdrhiegen, wodurch er demfelben eben je: nen unermefliden Einfluß auf die Schidfale der Voͤlker ere, oberte. Gerade umgefehrt arbeitete de Rancé auf eine fo methodifche geiftlid) leiblide Grtddtung des Menfchen ſowohl in feinem Jnnern als in feinen Begiehungen zur Aufenwelt bin, daß mir felbft unter den tollhauslerifchen Fakiren und Bonzen des Brahamismus und Buddhaismus Fein Beifpiel von einem argeren Vernunft: und Natur -widrigen Aberwig befannt iff. Wir miffen dabei nur in Anſchlag brine gen, daß die Anhanger jener beiden heidniſchen Culten un- endlid) tief unter der gelehrten und focialen Bildung des be Rance flanden, und dabher nicht durch aufgeflarte Be- griffe von ihrer frommen Selbftbethorung zuruͤckgehalten werden fonnten. De Rancé ftand freilich bid in fein hohes Alter in den ausgedehnteſten geſellſchaftlichen Gerbindungen, und bes

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herrfehte fein Kloſter mit. einer feltenen hierarchiſchen Virtuofi- tat. Wenn man inde bhierdurd das Urtheil feines metho- difthen Wahnwitzes entfraften wollte; fo muf id) mid) dage: gen mit der Bemerfung erflaren, daß fir unfeen Zweck die populairen Begriffe von den Geiftesfranfheiten als wirflicen Zerrittungen des Verftandes gan; unbraucbar, weil villig von der duferften Oberflace abgefchopft find, und deshalb ganglid) aufer Stand ſetzen, fie einer wiffenfchaftliden Unter: fuchung gu unterwerfen. Denn lebtere hat gum vornehmften Swed, die Forfchung bis in die innerfte Grundverfaffung der Seele fortzuſetzen, um aus dem abfoluten Widerſpruch derfel- ben fm Wahnfinn mit der ihr anerfchaffenen Naturordnung, alfo aus einer gaͤnzlichen Gerunftaltung der allgemeinen Le— bensanſchauungen und Begriffe die Erflarung der eingelnen Erfcheinungen des Wahnſinns abguleiten, welder oft genug in der ftrengften logiſchen Folgerichtigfeit fid) zu entwideln, und haufig mit der Wirklichkeit in moͤglichſte Ucbereinftimmung zu treten ftrebt.

Adelung hat im 4. Theil feiner Gefchichte der menſch— lichen Marrheit cine aus den Quellen gefthopfte und kritiſch bearbeitete vortrefflihe Biographie unfres Fanatifers gegeben, wovon id) folgenden Auszug entlehne. Bouthillier de Rance, der Sohn vornehmer Aeltern, wurde 1626 in Paris geboren. Er beſaß grofe Fabhigfeiten, und machte in den Sprachen und ſchoͤnen @Wiffenfchaften fo auferordentliche Fort: ſchritte, daß er fchon im 13. Lebendjahre eine griechifche Aus: gabe des Anafreon mit eigenen griechifden Anmerfungen unter feinem Namen, und fpater eine Ueberfebung erfcheinen lieB, welche mit grofem Beifall aufgenommen wurde. Fir die Kirche beftimmt, ward er fruͤhzeitig Domberr, Abt, Prior, Hefiser von vielen Pfrinden. Gr ftudirte amfig weiter, wandte fid) zur Philofophie, Aftrologie, und befliß fic an der Sor: bonne mit befonderem Gifer der Bheologie, fo daß er mit Beifall predigte, und 1651 Priefter, 1654 Doctor theolog. wurde. Durch den Bod feines fur; zuvor verftorbenen Vaters erlangte er eine Jahresrente von 30,000 Livred aufer feinen fetten Pfrunden, und uͤberließ ſich nun Ausſchweifungen aller Art, befonders in der Liebe, dem Spiel, auf der Gagd. Au:

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ferdem wurde er von einem brennenden Ehrgeiz beherrſcht, welder in der Folge die Wolluft unterdruͤckte. In den Jah— ren 1655 57 fand eine Verfammlung der franzoͤſiſchen Geift- lidfeit Statt, wobei er durch Gelehrfamfeit glangte, daber ihm die Herausgabe des Eufebius und anderer RKirchenvater iibertragen wurde. Inzwiſchen fiel er am Hofe in Ungnade, . weil er in den Unruben der Fronde die Parthei des Cardinal Reb gegen Mazarin genommen hatte, weshalb er fid auf fein Gut Veret zuruͤckzog. Anfangs den Ausſchweifungen er: geben, wurden ibm Ddiefelben guerft verbittert.durd den Bod einer ſchoͤnen Herzogin, feiner Geliebten. Waͤhrend einer Reife war eine andere Geliebte geftorben, und man hatte der* Leiche den Kopf abgefdnitten und in eine Schuͤſſel gelegt, weil der bleierne Garg gu flein war. MRancé findet zuruͤckgekehrt, ohne Etwas davon ju wifjen, die verftummelte Leiche, welche einen erfchitternden Gindrud auf ibn machte. Auch traf ibn auf der Sagd eine Kugel, jedod ohne ihn ju verletzen, und durch den Bod eines Vetters verlor er die Hoffnung auf Be: friedigung feined Ehrgeizes. Er klagte feine Gewiffensbiffe einem Vater vom Oratorio, welcher ihm Cinfamfeit und Buß— iibungen empfabl. Gr befolgte diefen Rath, zog fic nad Veret zurück, und brachte lange Zeit unter Gebet, Faften und Kafteiungen zu. Wald wurde er von Bifionen heimgefudht ; er fah am bellen Tage ein halb nadted Weib, welded in ei: nen feurigen Pfuhl geworfen wurde, und erfannte hierin eine gdttliche Erfcheinung, welche ihn mit Furcht vor der Holle er: fiillen follte. Ueber die Wahl feiner finftigen Lebensweife unfcliffig, befragte er mebrere Priefer, welche wegen ihrer rauben Strenge beriihmt waren. Sie riethen ihm zur Cnt: fagung, daber legte er alle Pfriinden bis auf die Abtet ta Trappe nieder, verfaufte die Baronie Veret, bezahlte die Schulden feines Vaters, gab den Gefcwiftern ihren Antheil, behielt nur eine fleine Gumme zur Wiederherſtellung der ver: fallenen Abtei, und ſchenkte alles Uebrige nebft zwei Haufern in Paris den dortigen Hospitalern. Man wollte ihn zurück— halten, und aweifelte an feiner Ausdauer; indeß um gu be- weifen, daß die Standhaftigfeit der Rirchenmartyrer keine iibernatirliche Wirkung gewefen fei, ftedte ex einen Finger in

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eine Kerzenflamme, und hielt den Schmerz; lange aus, ohne eine Miene zu vergiehen. Die Abtei la Trappe lag an der Grenge der Normandie, und wurde nur von fieben Religiofen bewohnt, welche auf die Jagd gingen, waͤhrend ihre Bedien- ten mit Frauen und Mindern in dem verfallenen Kloſter hau- feten. De Rancé fam 1662 dort an, und vertrieb die Re- ligiofen, - welche er nicht gu einer GinneSanderung bewegen fonnte, an deren Stelle nun, Giftercienfer von der ſtrengen Obfervan; famen. Da er felbft nur Weltgeiftlicder war, fo mufte er zunftmaͤßiger Ordensgeiftlider werden. Er fing fein Moviciat 1663 in Perfeiqgne an, woher er feine Moͤnche be: fommen hatte. Obne Murren unterwarf er fid) den ſchwer— ſten Uebungen, legte £664 fein Gelisbde ab, und wurde nun Abt, welches man feinem Stolze gum Vorwurf madte, weil wenn es ibm nur um Demuth und Selbftverleugnung zu thun geweſen ware, er gemeiner Mind hatte bleiben miiffen. Gr führte nun die ftrengfte Moͤnchszucht aus den barbarifchen Zeiten cin. Seine Mince follten weder Wein trinfen, nod Fiſche effen, feinen Umgang mit, weltliden Perfonen haben, die ſchwerſten Handarbeiten verridten, und fid) zu einem eri: gen Stillfchweigen verdammen. Da dies eine Neuerung war, fo. konnte ex fie nicht befeblen, aber er wufite durd) fein Bei- fpiel die Untergebenen zur Folgfamfeit zu bewegen, und hielt dann mit Strenge, ja mit Graufamfeit darauf. Die Tages: ordnung war folgende. Die Moͤnche legten fid) im Sommer um 8, im Winter um 7 Ubr fclafen, ftanden um 2 Ubr in ber Nacht auf, und gingen in die Mette, welche bis 2/25 Uhr dauerte. Dann begaben fie fic) in ihre Sellen bis zur Prime, und nachdem diefe bergefagt war, verfammelten fie ſich im Kapitel, wo fie '/a Stunde lang die Ermahnung des Abtes anborten. Um 7 Uhr legten fie die Rutten ab, und verrid: teten Handarbeiten, Graben, Steine tragen u. dgl., wobei der Abt die ſchwerſte Beſchaͤftigung uͤbernahm. - Bei ſchlechtem Wetter fcheuerten fie die Wohnung, reinigten Gemife, ohne je ein Wort mit einander fprechen ju dirfen. Unr 4/9 ging es wieder in die Meffe, nach welder fie in ihren 3ellen eine Erbauungsſchrift laſen. Nach dem Gefange der Nona betra: ten fie das Speifesimmer, wo ihnen ſchwarzes, grobed Brod

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mit Kleen gebaden und Waffer, fo viel fie bedurften, nebft einer Chopine Gyder fir jeden Tag gereicht wurde. Die Spei- fen, welche mit hoͤlzernem Gefchirr genoffen wurden, beftanden aus einer Suppe von Srautern oder Linfen und Erbfen obne weiteren Zuſatz, ferner aud zwei Fleinen Portionen Gemifen, die blos mit Waſſer und Salz gefodt, nur zuweilen mit etwas Griibe und Mild) vermifcht waren, und zum Nachtiſch aus 2 Aepfeln oder Birnen. Nach Tiſche lafen fie in ihren Bel: len. Die Stunden von 1—3 waren der Arbeit gewidmet, auf welche einfame Betrachtung in den Bellen, und von 4 5 Ubr die Vesper folgte. Das Abendeffen beftand aus 8 Lorh Brod, etwas Cyder, 2 Aepfeln oder Birnen und einigen Nirf- fen. An Fafttagen wurden ibnen nur 4 Loth Brot und we- nig ju trinfen .gereicht. Um 6 Ubr hirten fie im Kapitel ein geiftlides Buch vorlefen, wohnten in der Kirche dem Complet bei, und gingen darauf in den Schlaffaal, wo Seder fic) beim Lauten der Glode in feinen RKleidern auf das Lager warf, welches aus einem Brette, einem durchnaͤhten Strobfad, mit Stroh gefilltem Kopfkiſſen und einer Dede beftand. Selbſt die Kranfen befamen fein anderes Lager, doch wurde ihnen etwas Fleifd) und Gier gereicht. War Semand dem Tode nabe, fo machte der Warter Stroh und Afche surest, und legte den Sterbenden darauf. Fremde wurden mit vieler Mildthatigfeit aufgenommen, muften fic) aber mit derfelben Koft begnigen. Kafteiungen und Buͤßungen find nicht vor gefchrieben, fondern werden der willfirlidhen Beftimmung ber laffen. Verzweiflung oder Langeweile gaben indef bald den Antrieb dazu, und brachten das Klofter in den Muf der Hei- ligfeit. Daher feblte es nicht an Andrang, -felbft aus den hoͤchſten Standen, ovbgleid) bie Mince fchaarenweife wegen der ibertriebenen Strenge ftarben. Deshalb wurden alle Schwachen zurückgewieſen, und nur vollfommen gefunde Per- fonen in der Blithe der Sabre aufgenommen. De Rance wollte diefe Barbaret auf alle Giftercienfer ausdehnen, als deren Zucht gu erfchlaffen anfing, und man fit in einer Ger- fammlung um neue Maafregeln berieth. Er reifete deshatb nad) Rom, wo er gwar wegen feiner Heiligheit bewundert wurde, aber feine Ubficht nicht durchſetzte. Mad feiner 1666

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erfolgten Ruͤckkehr fteigerte er noch die Strenge, ſchraͤnkte fic felbft auf die grofte Cinfamfeit ein, wablte fic) die niedrig: ften und fdwerften Urbeiten, und erfchopfte fic) dabei fo febr, daf er oft nicht ftehen fonnte, zumal da er auf eine uner: horte Art faftete. Auch fiihrte er die ehemaligen Proclama: tionen in feinem Kloſter ein, nach welcher jeden Mind den anbdern angeben mufte, wenn er ibn-einen Fehler hatte be: geben fehben, da dann die hartefte Strafe auf den Fuß folgte. Sin Sabre 1675 lief er feine Religiofen .ihr Geluͤbde erneuern, alle Gewohnheiten bis gum lebten Lebenshauch gu beobachten, und fic) mit allen rechtliden Mitten Denen zu widerfesen, welche irgend cine Milderung im Klofter einfiihren wollren. Gine grofe Schaar lief fic) aufnehmen, obgleich binnen we- nigen Jahren 30 feiner eifrigften Mince ftarben, und er felbft gefabrlid) erfranfte. Selbſt Bifchofe fdrieben an ihn, und ermahnten ihn, feine Strenge zu mafigen; aber wiedergenefen feste er fie eben fo fort. Gr fchrieb 1683 fein beruͤchtigtes Bud): de la sainteté et des devoirs de la vie monastique, Paris, deutſch Augsburg 1756, worin er eine bittere Gatyre uͤber die Monche aufer feinem Mlofter ausfcuttete. Cr wurde heftig angegriffen, als Heuchler und Ehrgeiziger behandelt; namentlid) gefthah died in der Schrift: Entretiens de Philo- crate et de Menandre. Man befchuldigte ihn des Fanfe- nismus wegen feiner perfdnliden Verbindungen und wegen feiner Bußuͤbungen; jedoch vertheidigte er fic), indem er im Glaubensbefenntnif das papftlidhe Verdammungsurtheil gegen ben Sanfenius ohne Ruchalt unterſchtieb. Er ſchlug die Gardinalgwiirde aus, nahm aber gern und oft vornehme Be- wunderer, felbft den Koͤnig Jacob und deffen Gattin zum BHefud an. Durd feine andactige Wuth hatte er fic) der: geftalt gefthwadt, daß er nicht mehr arbeiten fonnte, und nur felten nad dem Kapitel fam, peinigte fic) aber dod) fo febr, als es feine gefchwadten Rrafte erlaubten. Zu den Leiden feines Rorpers gefellten fid) nod) Schwermuth, Schwaͤche, Be: untubiqung des Geiftes, und er ftarb auf Stroh und Afde ant 27. Octbr. 1700 in Gegenwart eines Bifchofes und des ganzen Kloſters im 37. Sabge feiner fanatiſchen Bußübungen.

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§. 14. Raſender Fanati$smus.,

Wir miiffen nod) mit einigen Worten der finnlofen Aus- bruͤche des Fanatismus gedenfen, weil fie, ungeachtet thres ge: ringeren pfychologifden Intereſſes, doch eine gu widtige Rolle in der Weltgefchichte fpielen, und uns deshalb in der Folge nod mebrfady befchaftigen werden, ald daß wir fie bet der uͤberſichtlichen Darftellung der Erfcheinungen ganz mit Still: fchweigen uͤbergehen fonnten. Im Gegenfake gum dialektiſchen Fanatismus fest der rafende jedesmal die brutalfte Rohheit der Leidenfchaften bet geringer GeifteScapacitat voraus. Denn um fic) den wildeften Begierden giigellos hingugeben, muß der Menſch zuvor fchon allen gefunden VWerftand gaͤnzlich verloren haben, da es ihm bet der einfachften Reflexion einleuchten wirde, daß jene durch BZerftirung aller eigenen und fremden Wohlfahrt unmittelbar in das tiefſte Verderben ſtuͤrzen muͤſ— ſen. Dieſer Satz iſt fuͤr alle Begierden guͤltig, gleichviel ob ſie roh ſinnliche Antriebe der Wolluſt und Trunkſucht, oder mehr ſociale Motive in fic) ſchließen, denn fie erzeugen jedes— mal eine voͤllige Sinnloſigkeit, wie bei dem Thiere, welches unaufhaltſam auf ſeine Beute losſtuͤrzt, ohne auf die unmit— telbare Todesgefahr zu achten, welche es im ruhigen Zuſtande ſehr ſicher vermieden haͤtte. Bei den Thieren iſt eine ſolche voruͤbergehende Sinnloſigkeit naturgemaͤß, weil ihr Inſtinct ſich nur auf nothwendige Zwecke richtet, welche fie oft bei gewoͤhn⸗ lider Ruhe nicht erfullen fonnten; beim Menfchen ftellt fie aber jedeSmal die naturwidrigfte Entartung in gaͤnzlicher Un: terdriidung der Vernunft dar, mit welcher auch die Befriedi: gung feiner animalifcben Antriebe nidt in Widerfprud) treten fol. Wer einer fo rohen Verwilderung fabig ift, daf er, um bem ungeftiimen Drange feiner Leidenfchaft unmittelbar Folge gu feiften, fic) feines menſchlichen Selbfthewuftfeins ganglid entaufern fann, fuspendirt daber aud) dad Gravitationsgefes feiner Geele, durch “weldes ihre Krafte in Srdnung und Gin: tract erhalten werden follten. Die folchergeftalt entfeffelte Be— gierde artet dann in blinde Gemwalt aus, welche mit der me— chanifden Nothwendigkeit eines Pfetls in threr Ridtung fortftirmt, und daß in diefen Worten nicht die ge:

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ringfte Uebertreibung liegt, beweifet jeder Poͤbelhaufe in feiner Emyporung gegen das Gefes, welches die Wohlfahrt des Hffent- lichen Lebens fcirmt. Raub, Mord, Brandftiftung, Befrie— digung beftialifcher Lifte der Wolluft und Trunkſucht find dann ganz nothwendige und oft unjertrennlicd) mit cinander verbundene Wirfungen einer allgemeinen Raferei, welche ſelbſt nod) in Todeszuckungen thre Wuth ausfcaumt.

Dah felbft der Fanatismus, in welchem fogar bei fetner groͤßten Entartung nod) ein religidfes Clement waltet, Ddiefer ſcheußlichen Entartung fabig ift, haben alle Religionsfriege und jene Aufftande des Poͤbels, welche fowohl von der Hierarchie gegen Keger angesettelt, als gu ihrer eigenen Vernichtung von Demagogen angehetzt wurden, zur Geniige gelehrt. Wir wer- den darauf leider nod) mehrmals zurückkommen miffen, und e6 werden fid) dann fdiclidere Vceranlaffungen darbieten, die verfchiedenartigen Antriebe, welde dabei wirffam waren, einer genaueren Prifung ju unterwerfen. Fir jest mag ein ein: ziges Beifpiel dtefer Art geniigen, welches ich von Evans (a. a. D. S. 294) entlehne. Die Manner der fiinften Mo- - nardhie (the fifth Monarchy Men) bildeten eine Gecte zur Zeit Cromwells, welde auf die ploͤtzliche Erſcheinung Chri— fti sur Gruͤndung einer neuen Monardie auf Erden harrten. Diefer Taͤuſchung hingegeben beswedten Cinige unter ihnen den Umſturz jeder menfdlidhen Regierung. Gn der alten Ge— fcbichte ijt von vier Monarchieen die Rede, der Affyrifchen, der Perſiſchen, der Griechiſchen und Roͤmiſchen; jene Manner waͤhn⸗ ten daber, daf dad neue geiſtliche Koͤnigreich Chrifti die fünfte fein werde, wovon fie ihren Namen herleiteten. Bure net in feiner Gefchichte feiner Beit giebt von ihnen folgende Furze Nachricht: Cin gewiffer Venner meinte, es fet nicht genug gu glauben, daß Chriftus dereinft auf der Erde herr: fen, und die Heiligen in die Herrfchaft uber fein Koͤnig— thum einfegen werbde, fondern bebauptete, daß die Heiligen fid) felbft in den Befig jenes Konigthums feben miften. Er brachte einige der witthendften Anhanger diefer Parthei gu ei ner Gerfammlung in der Coleman street jufammen. Sie beftimmten ben Zag und das Unternehmen, Chriftus auf feinen Thron gu feben, wie fie fid) ausdriidten. Dennoch

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wollten fie in feinem Namen die Regierung fihren, und gin: gen dabei fo formlic) gu Werke, daß fie Fabnen mit ihrer Devife anfertigen liefen, und fic) mit guten Waffen ausruͤ— ſteten. An dem beftimmten Tage fam nur die geringe Schaar von 20 zuſammen. Dennod) ftirzten fie fic in die Strafen mit bem Mufe: ,, Kein Konig aufer Chriſtus“. Ginige waren uͤberzeugt, daß Chriſtus vom Himmel fommen, und fic an ibre Spite ftellen werde. Sie ftiirmten durd die Strafen zum Gntfesen Aller uͤber diefe Tollkuͤhnheit. Cie toddteten eine nicht geringe Bahl, wurden indeß von der Menge uͤberwaͤl— tigt, und entweder ſogleich erfchlagen, oder ergriffen und hingerichtet.

Aus der Historia Fanaticorum (©. 71) wofelbft jene Sanatifer den Quaͤkern beigefellt werden, ſchoͤpfe id nod folgende Notiz. Am 6.. Januar 1661 hielt Wenner, ein gewefener Weinhandler, in ihrer Verfammlung eine Rede, in welder. er fie aufforderte, flir ihren Koͤnig Jeſus gu fechten, denn einer von ihnen werde jehntaufend in die Fludt ſchla— gen, fie follten das Schwert nicht eher in die Scheive ftecten, als bis fie Babylon gaͤnzlich zerftort Hatten. Nad) der Croberung Englands follten fie Franfreidh), Deutfdland und Spanien be- Friegen und lieber fterben, als der Obrigfeit ben Eid der Sreue ablegen; fie follten die Gleichgefinnten aller Lander zur Empoͤrung wider thre Monige aufwiegeln, und diefe, fo wie den Adel in Ketten fdlagen. Seine Anhanger fauften an diefem Tage 1000 Gewebhre, und verfammelten ſich Abends 9 Uhr 300 Mann ftar— wohl bewaffnet und gepanzert. Gie erſchlugen Cinige und vertheilten fid) in Haufen von 20—30 Mannern, um die aus den Haufern tretenden bewaffneten Birger gu erfchiefen. Am nachften Tage zogen fie fid) nad Ganonword jurid, verſchanzten fic) hier, gaben in der Nat Feuer auf die anridenden Truppen und jerftreuten fic) dann. Sie liefen fic) in eingelnen Haufen noc) in London fehen, fet: ten fid) tollfiibn gur Wehre, und wurden griftentheils er: fchoffen, unter ihnen Benner toͤdtlich verwundet. Gie febten ihre heimlichen Zufammenfinfte fort, um den Eid der Treue gu verweigern. Viele wurden gehenft und geviertheilt. Die Quafer proteftirten iubrigens dagegen, daß diefe Tollhaus: ler ihrer Secte angeborten.

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§. 15. Die myftifh fromme Geſchlechtsliebe. Katharina von Siena, Jaqueline Brobhon, Maria Alacoque.

Bu den in §. 9 hieruͤber bereits audsgefprodenen Be— tradjtungen fiige ic) noc) einige Bemerfungen hingu, weldye ben eben genannten Begriff genauer beftimmen, und bie Verfdiedenheit der in ihm enthaltenen Bhatfachen naber bezeichnen follen. Wir miffen dabei guvdrderft von dem Satze ausgehen, daß bas Verhaͤltniß beider Gefchlechter gu einander eine urfpriinglid) geiftig fittlidbe Bedeutung hat, au welder die finnlide Beftimmung zur Fortpflanjung der Gattung nur alg ein untergeordneter Swed hinzutritt. Um mid fo furs alg moͤglich zu faffen, beziehe ic) mid) auf §.-65 meined Grundriſſes der Seelenheilfunde, wofelbft id) mic ausfuͤhrlich hieruͤber erflart babe. Die Natur wollte nidt den ganjen Begriff der Menfehheit in ciner eingigen Perfon zur Darftellung bringen, weil viele Attribute derfelben in einem wenigftend relativen Gegenfabe ftehen, fondern fie theilte die geiftig fitt- lichen Fabigkeiten in gwei Gruppen, als deren Reprafentanten Mann und Weib anftreten follten. Beide bilden daher nad Plato's fchoner Bezeichnung die Halften eines Ganjen, welche nad) ihrer Gereinigung ftreben, um fic) im innigen Bunde gegenfeitig gu vervollftandigen, und dadurch erft den gang aud: gepragten Begriff des Menfchen darjuftellen. Die geſchlecht— fiche Liebe ift daher in ihrer allgemeinften Bedeutung der Ausdruck dieſes Strebens nad Ergaͤnzung, hervorgegangen aus dem Bewußtſein einer Mangelhaftigfeit, und fie begruͤn— det fic) deshalb in einer fo tiefen Naturnothwendigfeit, daß fie nur dent allerftarkften Motiven entgegengefebter Art weicht. Bei dem Manne ift lebteres nod) am erften modglid, denn fein Wirfen ins Allgemeine, namentlic fire die Wiſſenſchaft und das Volksthum, nimmt oft einen fo grofartigen Charafs ter an, daß das individuelle Beduͤrfniß daruͤber vergeffen, we— nigſtens nur ſchwach empfunden wird. Anders verhaͤlt es ſich jedoch mit dem Weibe, dem ein Heraustreten aus dem engen Kreiſe ſeiner unmittelbaten Naturbeſtimmung verſagt iſt, weil es in dieſelbe mit ſeiner ganzen Organiſation auf das Innigſte

Soeler Theorie d. relig. Wahnſinns. 12

verflodten iff, Das Weib fann dabher das Beduͤrfniß feiner Ergaͤnzung durch cine andere Perſoͤnlichkeit um fo weniger vergeſſen, als es in ſich ſelbſt keine feſte Grundlage des Den— kens und Wollens findet, ſondern der eigenen Selbftftandig: keit beraubt, in ſeinen weſentlichen Pflichten auf Selbſtver— leugnung angewieſen, das Geſetz ſeines Lebens von außen empfangen muß. Ihm iſt daher die Liebe als vollſtaͤndige Hingebung an den fremden Willen eben ſo ſehr Beduͤrfniß als Quelle der reinſten Seeligkeit, und eben deshalb muß jene Liebe ſtets den praktiſchen Charakter eines wirklich . ge- ſchloſſenen Bundes annehmen, weil ſie als bloße Idee aufge— faßt fir bas Weib ein Streben in die abfolute Leere fein witrde. Fir die reine Adee fann fic nur der Mann opfern, dem Weibe muß fic fic feiner ganzen Organifation nad zu einem lebenden Wefen verforpern.

Diefe Cigenthimlicfeit nimmt daher das Weib auch in das religidfe Bewuftfein hiniiber, wenn daffelbe feine gange Welt umfaßt, und ihm die Verzicdtleiftung auf alle anderen Intereſſen als Opfer auferlegt. Nicht jede fromme Schwaͤr— merin ift fic) biertiber klar geworbden, weil weibliche Gefuͤhle fo. leicht in das ticffte myſtiſche Dunkel fic) zuruͤckziehen, wo ihre wefentlide Bedeutung gar nicht mehr erfannt und une terfchieden werten Fann. Aber jene ehelofen Schwarmerinnen, welche eine hinretchende dialeftifche Meflerion befiken, um fic von ihren Gefiihlen beftimmte Rechenfchaft ablegen zu fonnen, und welde in fromme Anfchauungen vertieft in ibnen die Ge- fammtheit ihrer Gntereffen zu erfpdben fuchen, fie find faff gendthigt, ihr perfdnliches Liebesbeduͤrfniß auf das Heilige gu fibertragen. Faßt man jenes Beduͤrfniß in feiner vorbin be- zeichneten fittliden Bedeutung auf, fo liegt bierin auch durdaus keine Herabwirdig<ung des Iebteren, da der Bug nad unmittelbarer Gemeinfchaft mit dem Wefen, dem die Liebe aus freiem Antriebe gehorchen will, ecigentlid) nur ihre innere Nothwendigkeit ausfpricdht. Sie iff ja in ihrer reinften Form noch durchaus Fein felbftfichtiges Begehren, und wenn die ſchwaͤrmende Phantafie alle Grengen der WirklichFeit uͤber— fliegend einen Himmel jaubert, in welcem die bheiligen Per: fonen der Religion ihre Heimath finden; fo befriedigt fie in

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ber Anfchauung derfelben nur die tiefe Sehnfucht des lieben: den Herzens. Daß das Weib in diefen Anfchauungen fchwel- gend die Perfon des Heilandes oder irgend eines Heiligen 3u ibrem unmittelbaren Gebieter fic) erwaͤhlt, und zu ibm in das -innigfte Berhaltnif fid) hineinlebend auf ihn die Rechte iibertragt, die es der geiftigen Ueberlegenheit eines irdiſchen Gatten eingerdumt haben wirde, ift nur eine einfache Folge: rung aus dem Bisherigen. Wirflid) hat auch in veredelten Gemiuthern die fittlide Reinheit einer myftife frommen Ge- ſchlechtsliebe fic) vollig mafellos erhalten, und einen Wahn bargeftellt, deffen Echinheit man feine Berwunderung nicht verfagen fann, wenn aud die Gernunft ibren Widerſpruch mit ihm ſtets geltend machen muf.

Das reinfte Beifpiel diefer Art bietet vielleicht die hei- lige Ratharina von Siena dar, uͤber welche ih eine Notiz von Hafe (a. aD. S. 304) entlehne. Die Tochter eines Farbers in Siena wuchs fie auf unter den Heiligthinnern der Dominicaner, deren Fuftapfen das Kind oft kuͤßte, fonnte fich immer nicht genug thun in Entfagungen und Martern, fpa- ter lebte fie allein vom Abendmahle. Sdon dem Kinde war Chriſtus mit der dreifaden Krone freundlid) erfchienen, all: mabhlig wurden feine Befude und Unterhaltungen, bald allein bald mit cinigen Heiligen feiner Familie, alltaglice Ereigniſſe, feierlid) verlobte er fic) mit der Jungfrau durd einen Ring, er nimmt ihr Herz aus ihrer Seite, und fest das feine an beffen Stelle. Co hat fie es ihrem Beichtvater offenbart. G8 ift moͤglich, daß Ordensintereffe dabei gewaltet habe, aber es ift gewif, daß die geringe Magd von dem machtigen Or- den und von ganz Stalien faft angebetet wurde. Gendthigt, fid) mit weltliden Dingen gu langweilet, verfiel fie oft in Starrfudht. Aus dem Glide ihres beſchaulichen Lebens und vom Dienfte entfeblider Kranfen hinweg wurde fie hineinge- zogen in die Streitigfeiten der Kirche und Italiens. Sie ermabnte Gregor XI. jum Kreuzzuge, vermittelte feinen Frie- ben mit Florenz, drang auf die Ruͤckkehr des Papftthums nad Rom, wurde im Streite der Bettelminche als Werkzeug be- nugt, und als die Heilige des rimifchen Papfithums bet der Spaltung ftarb fie 3u Rom (1380) in —— nach ihrem

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Verlobten. Ihre Heiligſprechung iſt durch die Ungunſt der Franziskaner verzoͤgert, und erſt durch ihren Mitbuͤrger Pius UL. (1461) vollzogen worden. Ausfuͤhrlicher berichtet über ſie Fuhrmann (a. a. O. Bh. 1. S 454) Folgendes: Katha— rina Beniniaſa wurde 1347 zu Siena geboren. Go auf: geweckt fie in ihrer Jugend war, war fie dod gum Beten geneigt, und glaubte fchon im 6. Lebensjahre Chriſtus mit den Apofteln Petrus, Paulus und Fohannes in der Luft thronend, ihr gulachelnd und fie fegnend au feben. Won Diefer Zeit an lebte fie wie eine Nonne, [ad die Gelchichte von Minden, Heiligen und Legenden, geifielte fic) oft, und befuchte einfame Derter. Ihre naturliche Froͤhlichkeit verwan— delte fic) in einen melancholifchen Truͤbſinn. Con im 7. Jahre weiht fie fid) zur ewigen Sungfraufdaft und begiebt fic) ded Fleifceffené. Bald folgen vermeinte Wunder und Entzuͤckungen. Als fie nach dem Willen ihrer Aeltern, ie fie gern verbeirathen twollten, Dubs anlegen mute, legte fie fic) daflir die ſchwerſten Bifungen auf, feit dem 20 Sabre fein Fleiſch, keine ordentlid) gubereitete Speife, fondern nur rohe Wurzeln und Krduter, ſchlief blos auf Hols, geifeite fid) taglich ſchrecklich mit einer eiſernen Rette, die fie dict um ihren Leib gefchlungen trug, und die tief ind Fleiſch ſchnitt, und ſchnitt ſich, um der Heirath gu entgehen, ihe fchoned Haar ab. Ihre Mutter wollte es gwar nicht gugeben, daß fie eine Nonne werden follte; eine Krankheit wirfte ibe aber endlich GErlaubnif aus: Sie trat in den Nonnenorden der Sertiarier de poenitentia ded Heil. Dominicus, und genaés. Seitdem uͤbte fie fid immer ftrenger im Schweigen, Faften und Wadden. Sie uberftand alle Proben des Gebhorfams ge: gen ibre Beichtvater, und widerftand allen Verfuchungen bo- fer Geifter gur Unkeuſchheit. Durd alle Abhartungen wie bewuftlos, hatte fie ſeitdem oftere Erſcheinungen und Ent: . gudungen, und fam in nabe Gemeinfchaft mit Chriftus, der Jungfrau Maria und vielen Heiligen. Sie that den Armen viel Gutes, und pflegte auch die efelhafteften Kran: fen. GSogar. Vodtenerwedungen wurden ihr gugefdricben. In ihren lebten ebensjahren mifchte fie fic) noc in fircliche und weltliche Angelegenbeiten, 3. B. die Ruͤckkehr der Papfte

isl von Avignon nad) Rom, den Frieden zwiſchen Gregor XL. und den §Florentinern. Auf den Wunſch des Papftes Ur: ban VIE. mufte fie 1378 felbft nach Mom kommen, und den Gardinalen eine Ermahnung zur Treue halten. Hier ftarb fie- aud) 1880. Die Dominicaner erneuerten jabrlic ihr Andenfen durch Lobreden, feierten jaͤhrlich das Felt ihrer Ver: lobung mit Ghrifto (wie fie felbft diefelbe in einer Viſion vollbradt hatte). Urban VIII. genehmigte e3 im 18. Jahr— hunderte, fie mit den drei Wundenmadhlen C hrifti abzubilden, die iby Ehriftusin einer Vifion eingedvidt hatte, welhhes Sirtus IV. (ein Franciscaner) 1475 verboten hatte. Deshalb ftellte man in Siena jabrlid) ein Feftan, und ein Staliener fchrieh: Triumph der Wundenmahle der heil. Katharina von Siena. Ihre Schriften find 1707 26 in 5 Banden in Quart gedrudt worden. Aber aus einer Nothwendigfeit, deren inneren Zuſammen— hang die Pfychologie wohl niemals wird ergrimden können, ift die Geſchlechtsliebe an einen Entwidelung3gang gebunden, welder ihren urfpriinglich geiftig ſittlichen Charafter zu einer finnlidhen Geftalt verforpert, und ifr dadurch phyſiſche Be: dirfniffe einimpft. Es gehdrt eine hoͤchſt feltene Sittenftrenge dazu, diefen natuͤrlichen Entwidelungsgang aufjubalten, und bie durch ihn hervorgerufenen Gelifte im erften Entftehen au daͤmpfen. Allmaͤhlig nehmen die keuſchen Bilder, ~etwa wie die jest fo beliebten Nebelbilder in faft unmerfliden Umwand— lungen fic) umgeftalten, ein immer mebr luͤſternes Geprage an, und dramatifiren fic) au Geenen, deren Anſchauung das Biut in Wallung und die Nerven in elektriſche Spannung verfebt. Auch jest ift e6 dem Gemitth, wenn es fic eine hinreidhende fittlidhe Scheu ju bewahren weif, gar wohl mig: lich, wenigften sdas Auflodern verjehrender Begierden gu verhins dern; wenn aud) die luͤſterne Sehnſucht fich im Bilde ehelicher Umar: mungen abfpiegelt. Won diefer Art find unftreitig die Falle gewe— fen, welde Grégoire (a.a.D. Bh. 2.S. 34 und 252) mittheilt. Saqueline Brobhon, geftorben in Paris 1778, wid: mete fid) fruͤhzeitig der Literatur, fchrieh 18 Sabre alt Ro- mane, Graces de lingenuité und les amans philosophes, welde 1755 erfchienen, und deren Geiff und Grazie geriihmt werden, aud) ein Drama, le sacrifice. Sie wurde ihrer An:

182 gabe nad durd) ein Wunder von Fourier befehrt, wollte Nonne werden, welches nitht gefchah, bereuete Romane ge: fcbrieben gu haben. 14 Sabre lebte fie in der Cinfamfeit, fam dann nah Paris, wofelbft fie 40 und einige Sabre alt ftarb. Sie ſchrieb nun Instructions edifiantes sur le jeune de Jesus Christ dans le désert, ferner reflexions edifian- tes et le Manuel des Victimes de Jesus. Gie ſchrieb 1774 an Beaumont, GErgbifchof von Paris, daß Gott fein Ge: richt uͤber die Wolfer halten, die Erde decimiren, fich ein neues Golf erwablen, vorher aber BWictimes (Oypferinnen) berufen werde, welche fic) ihm fortwabrend opferten. Franfreid), das Altefte chriftliche Ronigreich, voll Pietat gegen die Jungfrau, aus- gezeichnet durch Froͤmmigkeit, werde die Wiege der Victimes ; wenn aber Frankreich diefer Gnade durch) Schledtigfeit verluftig gebe, wurden Fremde, wahrſcheinlich Spanier daffelbe verwuͤ— ften. Die Victimes feien in der Bibel vorherverfiindigt; ſie follen, fage Chriftus, gu meiner Seite fein, und diefelben Dienfte verrichten, welche id) bei meinem Vater vollziehe, ſie find gewiffermaafen meine Helferinnen. Sie follen fid) auf— opfern, den Fluch der iibrigen gu ſuͤhnen, denn fie find die Gefafe der Gnade Gottes, der Kanal, durch welchen dicfelbe fid) auf die Erde ergießt. Sie haben diefelben Privilegien, und Ghriftus liebt fie fo, wie feine Puppe. Das foftliche, aus feiner Seite gefloffene Blut iff die Dinte, mit welcher ihre Na- men gefchrieben wurden, Chriſtus und die Sungfrau find ihnen Vater und’ Mutter, leben frei mit ibnen, verweigern th: nen Nichts, vertrauen ihnen ihre Gebeimniffe. Die grdpten Gerbrechen werden von Abends 6 Uhr bis Morgens 2 Ubr be- gangen, welche Zeit die Bictimes im Gebete gubringen. Da die Brohon die erfte Victime war, fo wurde fie von ihrem Beichtiger Chriftus mit Gnade tberfchinttet. Cines Tages geigte er ihr feine Wunde in der Seite. „Siehe da Dein Grab, Dein Ehebette, fuche mid) nicht mehr am Kreuze, ih habe diefe Rolle Dir abgetreten.” Ginmal fagte er zu ibr: „nimm mid mit Dir, ic) fann Dich nicht verlaffen.” Sie nabm ibn in die Arme, und den Mefpect vor ihrem Meifter vergefjend fiel fie ihm ing Wort, legte ihm felbft die Hand auf den Mund, um ihn gum Schweigen zu bringen. Eines

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Tages in Viſionen verloven wollte fie eine Prife nehmen, aber Ghriftus fprad: „laß den Tabak umd hore mid, meine Tochter.“ Im Manuel heißt es: ,, Die jebigen Menſchen, zu— mal in dieſem Mlima, fiindigen weniger mit den Sinnen, als mit dem Geifte; Eigenwille, Freiheitsliebe, Stolz, Ehrgeiz find die Quellen ihrer Verirrungen. Go lange man die inneren Shute gegen den Reig der finnlichen Gegenftande verſchließt, fann anan gegen den Gindrud, ben fie auf die duferen Sinne ma: chen, gleichgiltig fein, und ftets zuruͤckgeſtoßen werbden-fie, an: fiatt. gu befleden, der Seele gu grogerer Reinheit verbelfen. Ihr geiſtlicher Guide (’abbé du Garvy) hatte aud) Theil an ibrer uͤberſchwenglichen Gnade. Eines Pages betete er mit In— brunft; Chriſtus fprad gu ihm: ,,gewohnt dir gu gehorchen, werde ich Dir Heute ungeborfam fein fonnen?” Zugleich kuͤßte er ihm den Mund, um die Berehrung au bexeugen, welche er vor den aud demfelben fommenden Befehlen hege; auch die Hand fupte er ihm mit Verehrung, weil diefelhe uͤber das Schickſal feines Gottes und feiner Allmacht gebiete.

Marie Alacoque, Wifitamdine in der Didcefe von Autun, geftorben 1690, machte fic) durch ihre bizarre From: migfeit bemerflid. Eines Tages erfchien thr Chriftus wab- rend des Gebets, geigte ihr fein Herz und fagte dabei, daf Daffelbe. ſeine Kraͤfte arſchoͤpft habe, um den Menfchen die Be- weife feiner Liebe su geben. Gr vertangte von ihr die Feier feines Herzens, und befahl ihr, den ‘Gefuiten La Combiere sur thatigen Mitwirfung aufzufordern. Jede Nacht vor dem Genus des Abendmahls brachte fie in verbiebten Gefpraden mit ihrem Jeſus gu. Eines Tages lehnte er feinen Kopf an ihre Bruft, und verlangte ihr Her, von ihr. Sie gab es ihm, er nabm ed, legf es in dads feinige, und gab ed ibt gure. Sogleich empfawd fie cinen heftigen Schmerz an der Stelle, wo fie ihr Ber} herausgenommen und wieder hin— eingelegt hatte: Ehrift ws. ſagte zu ihr: „wenn dein Schmerz zu heftig wird, fo laß sub Ader.” Sie unterzeichnete mit ihrem Blute da6 Vermaͤchtniß ihres Herzens in folgenden Wor ten: Soeur Margierite. Marie, disciple du divin amour de Hadorable», Jésus. ~ Fur. died Vermaͤchtniß fete Chriftus fie sur Erbin ſeines Hexgens fiir die Zeit und Gwigfeit ein

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» Sei damit nicht farg, fprac er, id) erlaube dir damit nad Gutduͤnken ju fchalten, du follft das Spielzeug meines MWobl- gefallens fein.” Sogleich ergriff fie ein Meffer, und ſchnitt auf ihrer Bruſt den Namen Fefus mit grofen und tiefen Buchftaben ein. Cines Vages zeigte ihr dte heilige Jungfrau das an ihrer Bruft liegende Kind, und erlaubte ihr, dafjelbe gu licbfofen und in ihre Arme gu nehmen. Sie duferte zu Ghriftus, fie wolle Gefangene in feinem Herzen fein, bid fie ihre Schuld besahlt habe. Lauguet, Biſchof yu Soiffons, welcher ihr Leben befchrieb, nannte fie die Gattin von Ch ri- ſtus, und theilte Naͤheres ber das Eheverfpreden, die Braut: fchaft und die Verheirathung der Alacoque in fo fcandalé- fen Worten mit, daß fein Bud unterdrit wurde. Cined Tages fah fie Gott den Sohn, die heilige Sungfrau und eine unendliche Menge von Engeln um Gnade fir die indiffe- renten Qifitandinen flehen. Dieſe Gnade wurde fir den Cul- tus des heiligen Herzens bewilligt, und die Jungfrau verjagte den Veufel, welder aus Aerger das Gitter am Ghor zerbrach. Da Chriftus der Alacoque gerathen hatte, Blut gu laf: fen, fo that fie died an jedem erften Freitag jedes Monats, und fo hat fie bid gu ihrem Bode 192 mal zur Ehre des hei⸗ ligen Herzens Blut gelaffen. Noch gur Beit des Gres goire theilte cine Cordicole in Verfailles Amulete in Form eines filbernen Herzens aus, in denen ein Gebet auf einem papiernen Herzen gefchrieben lag, und welche gegen alle Su falle ſchuͤtzen follten.

Bei heißem Blute und uͤppiger Sinnlidfeit muff das ganze Bewußtſein in das Grrereden verjehrender Fiebergluth eingetaucht werden, fo daß bei volliger Geiſteszerruͤttung die letzten Hüllen der Schaam von der lodernden VBegierte durd: brocen werden, und fie nun in ihrer nadten DHaflichfeit er- fcheint. Wir muften diefer Bhatfache ber. noͤthigen Vollftan: digfeit wegen erwahnen, da fie in Nonnenfliftern eine fo wid: tige Molle gefptelt hat, und zur Erklaͤrung vieler Mlofterepide- mieen nothwendig ift. Fir jest darf ic) mid) wobl ihrer aus: fuͤhrlichen Schilderung uͤberheben, und um mid nicht abzu— ſchreiben auf Seite 490 im 2. Theil meines Grundriſſes der Seelenheilkunde mich beziehen. Nur um keine Like zu laſſen,

185 entlebne id) von Wyerus (a. a. O. S. 305) folgende Mit: theilung, bei welder man es gang in der Ordnung finden wird, daß ber Teufel als spiritus fornicationis feine Rechte wabrnabm. Haud dissimilia Coloniae passae sunt virgines religiosae in Nazareth monasterio occlusae. Quibus ta- men hoc accessit, quod licet annis aliquot antea varie et multifariam ab diabolo vexarentur, torquerentur, convel- lerenturque: tamen anno 1564 praeter aliud spectaculum horribili modo frequenter editum, prosternabantur saepe- numero deorsum, infima parte corporis succussata ad eun- dem modum, qui veneri solet asscribi, oculis interim clau- sis. Qui postea cum pudore aperiebantur, quum velut a multo labore respirarent. . Ansam autem huic malo dede- rat!-quaedam Gertrudis anno aetatis suae decimo quarto monasterio inclusa, quae ludibria haec saepius dissoluto cacchinno patiebatur in lecto, licet amasium singulis noctibus fere congredientem stola consecrata abigere conaretur ; quam velitationem quum altera virgo in secundo decum- bens lecto (hoe nomine adjuncta sociae, ut tutior esset ab amasii insultu) audire videretur, tota exhorruit, ac tandem quoque diaboli hospitium facta, miris convulsionum generibus distrahebatur, in paroxysmis quandoque coecu- tiens: ac licet mente appareret constate, varia tamen in- constanter nimis, et quae desperationem spectarent, pro- ferebat. Itidem et aliae multae. Ita pestis haec velut contagio proserpsit, maxime quum primum ad legitima non confugeretur consilia. Porro calamitatis initia submini- strasse videntur juvenes lascivi, quiper conjunctum sphaec- risterium contracta amicitia cum una aut altera, clam in monasterium conscenderunt, libidinemque explerunt. Qui- bus postea exclusis, quum re ipsa amplius frui eae ne- quirent, ejusdem imagine mentem vitiavit, taliumque mo- tionum ignominiosum spectaculum adstantium oculis objecit Mille artifex (diabolus).

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—re ——

Viertes Kapitel.

Vernunftwidrige Bandlungen als Wirkungen des religiöſen Wahnſinns.

§. 16. Allgemeine Bemerkungen.

Daß ein von Wahnvorſtellungen beherrſchtes Denken eine Menge von vernunftwidrigen Handlungen zur Folge haben, und eben dadurch die eigene und fremde Wohlfahrt zu Grunde richten muͤſſe, bedarf keiner weiteren Erlaͤuterung. Denn im— -merfort durch feine zahlreichen Neigungen zum thaͤtigen Ergrei— ſen⸗ der zu ihrer Befriedigung nothwendigen Mittel angetrie⸗ bent, muß der Menſch dabei durch eine hinreichende Beſonnen⸗ beits d: bh. durch ein objectiv richtiges Denken uͤber fein Ver— haͤltniß gu den anderen Menſchen und zur Natur geleitet wer: den, weil er dure) iede Verletzung der uͤber beide herrſchen— ben Geſetze ſich das auf ihre Uebertretung geſetzte Unheil zu— zieht. Daher iſt das Leben der Wahnſinnigen eine Kette von verderblichen Handlungen, und im vorzuͤglichen Sinne gilt dies von den frommen Geiſteskranken, weil ihre Verſtandesbethoͤ— rung in eine uͤberſinnliche Welt hinuͤberſchweifend, ſich mehr, als bei jeder anderen Seelenſtoͤrung in den ſchneidendſten Wi— derſpruch mit den Naturgeſetzen ſtellt, und in der Vorausſetzung von Wundern ſchwaͤrmend, durch ſie unmittelbar wirken zu koͤnnen waͤhnt. Hierbei muß beſonders in Erwaͤgung gezogen werden, daß vie aberwitzigen Handlungen der Geiſteskranken jedesmal im innigen pſychologiſchen Zuſammenhange mit ihrer geſammten Denkweiſe und Geſinnung ſtehen, und daber als nothwendige praktiſche Conſequenzen anzuſehen ſind, daher ſie auch nur in Verbindung mit jener gedacht richtig verſtanden werden koͤnnen. 7

Auf den erften Anblick fcheint es alfo, daß die Aufzaͤh— lung auffallend vernunftiwidriger Handlungen religidfer Schwaͤr— mer in cinem befonderen Kapitel ein Pleonasmus und unlo— giſcher Auswuds an bem Schema der Erfcheinungen des from: men Wabhnfinns fei. Indeß miiffen wir guvorderft ermwagen,

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daß die hier gu ſchildernden Handlungen an und fur fic) gu den Ausnahmen gehoren, und daher nur unter befonders un: gunftigen Bedingungen bei eingelnen Geiftesfranfen zur Wirk— lichkeit kommen fonnen, und daher bei den meiften vermift werden, wenn fic) aud) bei ihnen nicht felten die Antriebe gu jenen regen. Wir fonnen diefen Cag hier noch nicht aus- ſuührlich evortern, fontern miiffen uns mit der allgemeinen Be: merfung begniigen, daß felbft bei GeifteSfranfen noc) ein wei: ter Abftand den bloßen Antrieb von der wirflichen Bhat trennt, und daß letztere daber nicht fo gewif in die Erfcheinung tritt, alg man e6 bei der grofen Verſtandesbethoͤrung ermarten follte. Denn aud in ihnen walten noc) die nothwendigen pſycholo— giſchen Gefege und Bedingungen, welche den Ausbruch der Lei: dDenfdaften in Mord und andere gefahrlide Handlungen fo ſehr erfchweren, wenn erftere auc bei der entarteten Gefinnung einen ftarfen Antrich dazu hegen. Durch jene Gefese wer: ben daher die Wahnfinnigen entweder auf dem Wege gum Werderben flr immer juriidgehalten, oder ehe fie in letzteres fttirzen, haben fie nod) einen beftigen Kampf mit ihren beffe- ren Regungen gu beftehen, bis endlich in bofer Stunde eine voͤllige Verfinfierung ihrer Vernunft eintrift, und fie von der Gewalt verderblicher Motive wie von cinem damonifden Ver— bangnif unaufhaltfam fortgeriffen werten. Wie madtig auch in ihnen das Vernunftgefes waltet, erhellt befonders aus einer Bemerfung de6 hocerfabrenen ESqutrol CBoismont a, a. O. S. 566) bei Gelegenheit der Bequtadtung uber einen Wabhnfinnigen, der .unmitteltar nad ber Ermordung feiner - Ghefrau zu einer theilweifen Befinnung juridgefehrt war: V est arrivé a D.. ce qu’on a observé chez un grand nombre d’aliénés qui, apres une vive impression physique ou mo rale, ou qui, apres l’accomplissement d'un des- sein ourdi pendant leur délire, semblent avoir re- couvré tout-a-coup l'usage de la raison, et agissent presqu’en tout ou en partie comme sjils n’en avaient ja- mais été privés. (On a vu des aliénés guérir tout-a- coup a la suite d'une forte impression morale.) -

Wenn e8 alfo einer Sreigerung der wahnwikigen Motive gum hoͤchſten Ungeſtim oder zur hartnddtgften Ausdauer be:

188 barf, um durch fie verderbliche und gewaltthatige Handlungen zu verantaffen; fo ergiebt fid) hieraus, daß letztere nidt ohne befondere Unterfcheidbung in die allgemeine Schilderung der Geiftesfranfheiten als einfache und natuͤrliche Witfungen ver: felben aufgenommen werden dirfen, fondern daß ihnen eine abgefonderte Betradhtung gewidmet werden mus, durch welche fie allein in ihr volled Licht geftellt werden fonnen. Hierzu kommt nod, taf die einzelnen Arten derfelben, Celbftver: ftimmelung, Mord, Brandftiftung u. dgl. aus ſehr verſchie— denartigen Motiven hervorgehen fonnen, fo daß man fie nicht diefer oder jener Form der Geiftedsftorung ausſchließlich beige: fellen darf. Die von frommen Schwarmern veruͤbten Morde find 3. B. eben fo wohl aus einer bethirten Liebe zu ihren Angehorigen hervorgegangen, denen fie die Leiden des Erden— lebenS durch eine unmittelbare Verfesung in das Paradies er: fparen wollten, deffen Seeligfeit fie ſelbſt ſchon theilhaftig ge: worden ju fein wahnten, als aus Ehrfurdht gegen gottliche Befehle, welde ihnen unmittelbar offenbart fein follten, oder aus Fanatismus und religiofer Versweiflung. Hieraus folgt, daß die eingelnen Beifpiele diefer Art, um_ richtig verftanden gu werden, einer forgfaltigen Zergliederung bediirfen, und daß dabei cine Menge von VBegriffen in Anwendung gefest werden muf, welde als folde nicht ſchon aus der allgemeinen Lehre vont Wahnfinn ohne Weiteres fid) ergeben. Hier forme es nur junddft auf eine biftorifhe Sufammenftellung der That: fachen an, deren pfychologifhe Deutung erft fpater gegeben werden fann. Wir miffen uns dabei auf eine Auswahl des Wichtigſten befchranfen, weil die vollftandige Aufzaͤhlung aller wahnwitzigen Handlungen frommer Scwarmer allein ſchon ein ſehr weitſchichtiges Werk fallen wirde.

§. 17. SGelbftvoerftimmelung.

Wir werden in der Folge noch der oft ans Unglaubliche grengenden RKafteiungen und Bußuͤbungen fanatifder Schwaͤr— mer gu gedenfen haben, welche fid) im rafenden Eifer haufig die bedeutendften Verletzungen des Koͤrpers zufuͤgten. Nur beiſpielsweiſe will ith bier cinige ſolcher Falle anfiihren. Im

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2. Bande des Magazins fuͤr die Litteratur des Auslandes iſt S. 546 folgende Schilderung enthalten: Die Bretagneſchen Prieſter, hinter dem Pfluge hervorgegangen, bei denen unter dem Prieſterkleide noch der Kittel des Ochſentreibers hervor— blickt, haben eine barſche Stimme und harte Haͤnde. Wer keiner bretagneſchen Predigt beigewohnt hat, kann ſich keinen Begriff von der Gewalt dieſer Leute machen, wenn ſie einmal auf der Kanzel ſtehen. Die Menge erzittert, aͤchzt unter ihren Worten, die Thraͤnen fließen in Stroͤmen, man ſchluchzt, man ſchreit, dieſe abgehaͤrteten eiſernen Maͤnner ſchlagen mit ihrer kraͤftigen Fauſt auf ihre Bruſt. Die Frauen mit dem Antlitz am Boden, von toͤdtlicher Reue ergriffen, rufen Gnade bei die— ſer ſchrecklichen Stimme, welche von oben herab die zwei Worte erſchallen laͤßt, die ihr ganzes Weſen durchſchauern: Ver— dammniß und Ewigkeit. Es iſt ſelten, daß man nicht waͤhrend der Predigt Mehrere ohnmachtig wegtraͤgt. Wir haben einen Ungluͤcklichen geſehen, der in Folge eines Aufenthalts im Kloſter St. Pol de Leon toll geworden war. Die Predigt, die Einſamkeit und ſeine natuͤrliche Schwaͤrmerei hatten ihn in fanatiſchen Wahnwitz verſetzt. Er lebte ſeit mehreren Jahren ohne Haus, Freund und Familie. Er lehrte das Wort Got— tes in Dorfern, fchlief unter fteinernen Kreugen an den Schei- dDewegen, oder an den Thiiren einfamer Kapellen. Er nahm nur fo viel gefdenft, als er brauchte, um feinen Hunger gu ftillen, und wied das Geld, welded man ihm bot, mit Ber: achtung zuruͤck. Nie hatte feit feiner Tollheit feine Hand cine andere gefagt, nie fam aus feinem Munde ein andered Wort, als fromme Grmabhnungen und prophetifdhe Drohungen. Jn den dunfelften und Falteften Winternddten, wenn Froft und Sehnee ihn auf einfamer Strafe tiberfielen, und ihn verhinder— ten, auf feinem fteinernen Bette gu ſchlafen, blieb er ftehen mit dem Roſenkranz in der Hand, und fang mit lauter Stim: me Kirdenticder in bretagnifcer Sprache. Der Berichterftatter war gegenwartig, als diefer Srre von Guislan unter eine Verfammlung von tanjenden Landleuten trat, und ihnen die Ginbde ihrer Luft mit fiirdterlichen Farben fcilderte. Co wandte er fid) an einen jungen Mann: ,,guten Tag, Peter, tange und [ache nur mein Sohn. Du ftehft gerade auf der Stelle,

190 wo man vor zwei Jahren den Leichnam deines Bruders fand.” Sn vemfelben Done fubr er fort, nannte Feden beim Namen, withlte im Herzen die ſchmerzlichſten Erinnerungen auf, die er mit barbarifcher GSorgfalt ausmalte. Dies dauerte lange, und der ſchneidende Spott ließ keinen Augenbli€ nad. Unwille, Bewegung, Abfcheu bearbeiteten abwechſelnd die Herzen beim Anhoren diefer wie Dolche flechenden Spottreden, welche das Leben jedes Ginzelnen aufwihlten, um eine Narbe zu finden, die er aufreifen fonnte. Endlich ließ er die Perſoͤnlichkeiten bei Seite, und ſprach von den Strafen, die den Suͤndern bevor: ftiinden, und indem er Gott eine furchtbare Sronie beilegte, verkuͤndete er denen, die auf Erden den Rauſch des Tanzes und der Fefte geliebt Hatten, einen ewigen Tag in den Flammen der Holle. Er fchilderte dte fdrecliche Pein der Verdammten, welde Millionen von Sabrhunderten hindurch in einem immer: wahrenden Wirbel von Quaalen unter Heulen, Schluchzen und Zabneflappen umbergetrieben wirden. Das Wolf fidhnte laut. Diefer ſchrecklichen Schilderung ftellte er alSdann ein Ge- malde von dem Gli der Seeligen gegeniiber, aber fein Aus— druc war matt und farblos; er fand fic) nur bingeriffen, twenn er von der Nothwendigheit ſprach, fic) zu fafteien, und Gott feine Leiden darjubringen. Dann erjablte er fein Leben mit fo naturlicher, majeſtaͤtiſcher Einfalt, wie er fein Vermoͤgen, feine Frau, feine Kinder verloren habe, und bei jedem Ver— luff, den er nannte, rief er: ,, Du haft Recht gethan, Gott, Dein Mame fei gepriefen.” Die Zuhoͤrer zerfloffen in Thraͤnen. Gr gab ihnen dann gute Rathfchlage, ermahnte fie zur Bue, endlich fagte er in immer fteigendem Gifer, daß ihm feine Un— fille nod) gu gering fcienen, um feine Vergehungen abzubuͤßen. Sefus Shriftus fet ihm tm Traum erfchienen, und hatte gefagt: ,,Soan, gieb mir dite Hand, denn ich gab mein Les ben, um dic) gu erlofen.” ,, Herr fie ift Dein,” hatte er geantwortet ,, Und ic) habe Wort gehalten,” rief er, indem er feimen linfen, bis jebt verborgenen Arm in die Hohe ſtreckte; e8 war cin Stumpf, in blutige Leinen gehillt. ,, Wer fird)- tet fic), wer flirchtet fic), ſchrie der Ungluͤckliche, ich habe Gott guriickgegeben, was er mir gefchenft hat. -Seht, Chri: ftus bat eS gewollt, da8 habe ich) Chrifto gu Liebe gethan”;

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und mit epileptifder Wuth rip der Unglidlide da3 Linnen von der Wunde, und fcbirttelte den nadten Stumpf, daf ein Blut: ftrom fic) ergoß. Gin Lauter Schrei des Entfesens ertinte von allen Seiten. Gin Theil der Zuhoͤrer floh beſtuͤrzt; einige Man: ner ergriffen Joan, und trugen ihn halb ohnmaͤchtig nach der naͤchſten Hiitte. |

Bergmann theilt in der allgemeinen Zeitfchrift fiir Pſy— chiatrie (Zh. 3. S. 365) folgenden merfwirdigen Fall mit. Die Wittwe eines Steucrauffehers, 43 Sabre alt, lutheriſch, fuͤhrte ein verftandiges, fittliches, einſames Leben, befuchte die Kirche ſehr fleifig und befchaftigte fic) viel mit Leſen. Gm Suni 1836 ſchloß fie fic in ihre Schlaffammer ein, und erwicderte auf ſtarkes Anflopfen an die Shire, fie wolle diefelbe am an— dern Morgen offnen, denn alédann fei die Stunde ihrer Gr- lofung gefommen, und ihre Bue geendigt. An den nachften Ragen forderte fie alle dringend gur Buge auf, fpracd ver: wirrt, und entfleidete fid) vollig, um ihre vielen Sinden ab: guwafden, um deren Vergebung und Erbarmen fie fortwab: rend inbrinftig zu Gott und Chriftus betete. Sie gerieth nun in eine Urt von Raferet und rief: Chriftus habe Blut vergoffen, und deshalb muͤſſe auch fie Blut vergiefen, fonft fonne fie nicht feelig werden. Eingeſchloſſen fprang fie aus einem Fenfter des gweiten Stodwerfs, um gum Superinten: denten gu eilen, welcher ihr die Sinden vergeben folle. Zu— gleich) auferte fie, ihre Wirthin habe befchloffen, fie gu ermor— den, fie wolle einen Schneider, oder auch den ſchon beweibten Prediger D. heirathen. Es wurde nun eine medizinifthe Be: handlung mit auflofenden und abfuͤhrenden Argneien eingelei: tet, wabrend die Kranke ununterbroden bei Bag und Nacht mit Beten fortfubr. Im Ganzen genommen fprad fie zuſam— menhangend uͤber ihren Zuſtand, kniete jedoch viel an ibrem Bette, auf weldes fie ihren Kopf ſtuͤtzte, und beflagte fic oft uüber ihre Augen, daß diefe nur auf weltliche Gegenftande gerichtet, und daber fiindhaft waren. Gn gleicher Stellung fand man fie an einem Morgen, den Kopf mit einer Schuͤrze verballt. Bei naͤherer Unterfuchung fand man ihr Geficht von Blut befledt, und fie fragte, ob denn die Augen wirklich her— aus waren, webci fie verlangte, den Schinder gu holen, da:

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mit ibr auc) das Bein abgehauen werde. ,, Aergert Dich dein Auge, rief fie, fo reiß es aus und wirf es von Dir; argert Did dein Bein, fo nimm ein Beil, und hau’ es ab.” Wirk— lid) hatte fie fich beite Augapfel ausgerifien, welche unverletzt und nod) mit den Sebnerven verbunden auf dem Boden ge— funden wurden. Auf welche Art fie fic) DdDerfelben beraubt hatte, blieb unerflarlich, da fie fich Feines Inſtruments dabei bedient batte. Es trat nur ein maͤßiges Fieber ohne alle ſchlimmen Zufaͤlle ein, und die Heilung erfolgte unter zweck— mafiger Behandlung. Gm Auguft wurde fie in die Irren— heilanftalt ju Hildesheim aufgenommen, wofelbft fie die erfte Beit fpradlos jubradte, und gern auf der Erde lag. Am nadften Winter wurde fie vertraulid), freundlic), fogar ver- gniigt, fie befchaftigte fid) fleifig mit Spinnen, und war voll Kreude dariiber, daß fie wieder arbeiten fonnte; in Meden und Handlungen war feine Spur von Unvernunft mehr zu bemerfen. Die Beit, wo fie die Selbjtverftummelung vornabm, war ihrem Gedaͤchtniß entſchwunden; fie glaubte fogar, den Verluſt ihrer Augen habe fie erft im Srrenhaufe erlitten. Gm December des nadfien Jahres entlaffen, erfreute fie fic) auch fpater nod) eines forttauernden Wohlſeins. : Gine der merfwirdigften Selbftverftimmelungen, deren ascetiſcher Charafter Feiner weiteren Erklaͤrung bedarf, ift die von fanatifhen Schwarmern mehrmals veriibte Selbftentman- nung. Grégoire bemerft hierüber (a. a, O. Th. 4. S. 193): Origines ließ ſich durch Matthaus 19. V. 12 zur Ent- mannung verleiten, wodurch er eine verdienſtliche That zu be— gehen glaubte. Einige ahmten ihm nach, aber das Concilium zu Nicaͤa verdammte fie. Die Valeſianer, durch denſelben Bibelvers irre geleitet, entmannten ſich, und aud) Andere, wenn fie fonnten, gewaltfam. Nicht weit von Tula ift eine Secte von Origeniften auf den Doͤrfern verbreitet, welche daf: felbe thut. Alte Weiber verridten diefe Operation, welder fid) felbft Manner unterwerfen, fowohl aus Devotion, alg um der Militairpflicht gu entgehen. Im Jahre 1818 wollte man fie nach Sibirien tranéportiren, weil auch auf der faiferlichen Slotte diefe Verirrung einrif, und als Martyrerthum Bewun— dDerung und eid erregte. Man behauptet, daß devote, fana-

tiſche Weider eine aͤhnliche Operation an ſich vollziehen ließen. Mulieres ewnuchas vidit antiquitas, ſagt Salden, worüber aud) Zacchias quaestion. medic. legal lib. 2. tit. 3 ſpricht. Deffault behauptet, daß in der Champagne ein Weih Kna: ben aus Aberglauben zur Halfte entmannte.

Endlich migen wir hier nod eines Beiſpiels von from mer Selbftverftummelung gedenfen, welded Hieronymus im Leben bed Heil. Paulus (a. a. O. Tom. IL pag. 1) ges legentlich ergablt. Waͤhrend der Chriftenverfolgung unter De: cius und Balerianus wurde aud die Kirche in Aegypten und im der Thebais von vielen Stirmen heimgefudt. Viele Shrijten winfdten fir den Erloͤſer gu fterben, aber ihre VBerfolger wollfen. mehr den Geift, als den Leib tddten..- Gin fraftiger Gingling wurde nackt im Bette. feftgebunden, worauf eine ſchoͤne Hure ibn fufte, feine Genitalien zur Grection reizte, und fid) fodann auf ibn legte. Unfabig fic au helfen, big er fic) die Bunge ab, fpie fie ihr ind Geſicht, und unter: dridte die Wolluft durd den Schmerz.

§. 18. Selbſtkreuzigung.

Mehrere fromme Schwaͤrmer haben mit diefer Nachahmung der Leiden des Erldfers nur ein Spiel getrieben, welded fei- ner befonderen Erwaͤhnung werth ift; aber m nadfolgenden beiden Fallen iſt fie wirklid) in Ausfuͤhrung gefommen,

Matthien Lowat (vergl Mare aa. O. Bh. 1. S. 252) 46 Fabre alt, der Sohn armer Landleute im Bene: zianiſchen Gebiet, mußte Schuhmacher werden, und wurde des: halb finfter. und fchweigiam, weil fein Wunſch, Priefter gu werden, nicht in Erfulung geben fonnte. Dod) zeichnete er ſich durd einen mufterbaften Lebenéwandel und durch trber: triebene Frommigfeit aus. Gm Yuli 1802 ſchnitt er fic) mit einem Schufterineif die Gefchlectstheile ab, und warf fie aus dem Fenfter, entweder weil cin Maͤdchen feinen Liebesantrag mit Beradtung aufgenommen hatte, oder weil er den Ber: führungen ded Fleiſches Widerftand leiften wollte. Mit LHirlfe aufgelegter Kraͤuter brachte er felbft feine Heilung vollig gu

Stante. Bom Spotte der Dorfhewohner begab er Ide ler Theorie d. relig. Wabnfinns.

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fic) nad) Venedig, wo er ein Jahr lang fleißig arbeitete, ohne eine Spur von Wahnfinn zu vervathen. Dann uͤberraſchte man ihn aber in dem Augenblide, wo er fidh an ein aus bem Holze feines Vettes verfertigtes Krenz heften wollte, ti» dem er einen Nagel in feinen linfen Fuß hineintrich.. Er aufierte bieritber blos, der 21. September fei der Fefttag des Matthaͤus ſeines Schugheiligen, mehr dürfe er nicht fagen. Gendthigt, eime andere Wohnung zu begichen, werfertigte er fich bald wieder ein anderes hoͤlzernes Kreuz, und flocht an: ferdem cin Nes aus Bindfaden, deffen untere zuſammengezo— gene Oeffnung er an der fir die Fife beftimmte Querleiſte des Kreuzes, und. deffen obere Oeffnung er an den beiden GEnden des Querbalfens befeftiqte, welcher die Urme des Krew: zes bildete, fo daß das Mew eine Taſche darftellte, welche ibn am Kreuze fefthalten follte, Aus der Mitte der obeven Deff— nung des angebefteten Netzes ging ein ftarfed Seil hervor, welded eben fo wie ein anderes an der Vereinigungsſtelle beider das Kreuz bildenden Holzſtuͤcke geknuͤpftes ſehr ftacé an einem Balfen befeftigt wurde, welcher fic innerhalb des Bim: mers ber dem Fenfter befand, deffen Lehne fehr niedrig war. Die Lange diefer beiden Seile geftattete eS, dad Kreuz wage- recht auf den Boden des Bimmers gu legen.

Nachdem diefe Borbereitungen beendigt waren, febte Lo: vat fid) eine Dornenfrone auf, von welcer drei oder” vier Stachein in die Haut der Stirne eindrangen; ein weifes Bud, um die Weichen und Hiften gebunden; verhillte den verſtuͤm⸗ melten Bheil, der uͤbrige Morper blieh nat. Er ſteckte ſeine Beine in bas New des Kreuzes, und indem er fich auf dem: felben in figender Stellung erbielt, nabm er einen der Nagel; deren Spigen abgeplattet und wohl .gefcharft waren, und trieb ifn durch die innere Flache der rechten Hand, indem er den - Kopf des MagelS auf den Boden ſchlug, welcher dadurd bis auf die Bange feiner Halfte. durch die Hand orang. Die auf die Querleiſte geftellten Fife, der rechte uͤber dem linfen; wurden daſelbſt durch cinen 15 Boll angen Nagel beſeſtigt. Mit feiner fchon verwundeten Land fuͤhrte ec die Hammer: ſchlaͤge, waͤhrend die linke Hand den Nagel. in fenfrechter Richtung hielt. Letzterer durchbohrte feine Fife, und traf das

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in der Querleifte angebrachte Lod), in welches wiederholte Ham: merfdlage ihn tief genug bineintrieben, um ihn binreidend gh befeftigen. ovat band fic) hierauf um die -Mitte des Koͤrpers feft an das Kreuz; hierauf brachte er fic) mit dem Sdchufterfneif ‘eine Querwunde zwei Zoll unter dem linken Hy: podondrium bei (er hatte vergeffen, daß es dad rechte fein follte), ohne jedod) einen inneren Theil gu verlegen. Endlich durchbohrte er die Linke Hand auf diefelbe Weife, wie die rechte, mit einem Nagel.

Lovat hegte jedod das Berlangen, ſich dem Volfe ge: freuzigt yu zeigen. Deshalb hatte er das Kreuz wagrecht auf den Boden gelegt, fo daß das untere Ende deffelben tber die febr niedrige Bruͤſtung der Fenfter reichte. Indem er fic gewaltfam auf den Rien der erften Fingerglicder jeder Hand flemmte, da die Nagel ihm Feine andere Bewegung geftatteten, fo fcnellte er in mehreren Abfaben feinen Koͤrper und dads Kreuz in die Hohe, welches bei jedem Stoß weiter nach au⸗ fen getrieben rourde, und brachte es julebt dabin, daß dad ganze Geritft uͤberſchlug, und mit Hilfe der Stricke außerhalb bes Fenfters hangen blieb. Hierauf verfuchte er, indem er beide Arme aufhob und ruͤckwaͤrts bog, die Nagel, welche feine beiden Hande durchbohrten, in die beiden Lider zu bringen, welde er an den Enden des Querbalfens vom Kreuze an: gebracht hatte; indeß gelang ihm dies nur mit der linfen

and *). . ' ? Vom Mreuze losgemacht, verharrte er in einem bart: nddigen Stilljdweigen, nur auf dem Wege nad) dem Kran fenhaufe brad) er in die Riage aus: „ach ich bin fehr un: gluͤcklich“ Dort angelangt unterwarf er fich bereitwillig allen Heilmaafregen, durch welche aud) feine forperlichen Verletzun— gen bald befeitigt wurden; doch blieb er ftets finfter, ſprach mit Niemanden, und ſchloß faft- beftindig feine Augen. Fee doch gab er auf Fragen uber den Beweggrund feiner Kreuzi—

. *

*) 3m G6. Bande des von Hisig und Haring herausgegebenen neuen Pitaval iff aufer der mit Obigem übereinſtimmenden Geſchichts— erzählung aud) cine Abbildung feiner Selbſtkreuzigung mitgetheilt worden.

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gung die Antwort: „Der Stolg der Menfchen miiffe beftraft werden, und er mifjfe am Kreuze fterben.” Er war derge- fialt davon uͤberzeugt, der Wille Gottes habe ihm das Maͤr⸗ tyverthum der Kreuzigung auferlegt, daß er den Gerichtshof davon in Kenntniß fegen wollte, um dem BWerdachte vorgus beugen, den fein Zod auf unſchuldige Perfonen werfen fonne, In diefer Abficht hatte er ſchon lange vor feinem lesten wabhu- fiunigen Streiche feine Ideen auf ein Stud Papier geworfen, Wahrend der erfien Tage ſeiner Anwefenheit im. Hospitale beflagte er fid) uber Feine Schmerzen, erſt am 8, Dage du- fierte ex, daß fie thm den Schlaf geraubt batten. Gu lich: teren Stunden antwortete er richtig, und gab binreichende Austunft tuber feine Kreuzigung. Raum fonnte er fic feiner Hande bedienen, als er auc) das Gebetbuch nicht mehr weg: * fegte. Als man ihm feine Entloffung verweigerte, entfloh. er im Hemde, wurde aber ergriffen und am 20. Auguft 1805 in das Grrenhaus St. Servolo gebradt. Die erſten adt Tage dafelbft war er gelafjen und folgfam, aber bald fing ef an, alle Nahrung gu verweigern. Vergebens verfuchte man es mit Gewalt und Ueberredung; er blieb ſechs Bage, ohne einen Bropfen Waſſer ju geniefen, daher man feine Z3uflucht gu naprenden Klyſtiren nahm. Am Morgen des 7. Tages lies er fid) bewegen, einige Nahrung yu geniefen, womit er 14 Tage lang fortfubr, auf welche Zeit abermals-ein cilftagiges Faften folate, fo daß man wieder ernaͤhrende Klyftire anwenden mufite, Deffen ungeactet fchien fein koͤrperlicher Zuſtand nicht gu lei: den, da feine Krafte und fein aͤußeres Anfehen fich gleich blieben. Es fand eine mebrmalige Wiederholung de8 ftrengen, furge oder langere Zeit fortgefebten Faftens.Statt, welded jedoch niemalé tanger als 14 Dage dauerte. Gm Monat Sa: nuar 1806 traten die Erfcheinungen der Lungenſchwindſucht auf, an welcher er den 8. April ftarb.

3. von Weffenbherg theilt (a. a. OD. S. 548) folgende grauenerregende Schilderung mit. Im Dorfchen Wildenſpuch im RKanton Zuͤrich lebte der wobhlhabende Bauer Fohannes Peter, cin ordnungdliebender, fleifiger aber eigennuͤtziger und ſtreitſuchtiger Charafter. Seine jungfte Tochter Margaretha machte fruͤhzeitig ihre Geiftediiberlegenheit geltend, und zeichnete

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197 fid) tm religidfen Unterrithte aus. Ym Jahre 1816 fam fie mit den Separatiften su Schaffhaufen und Oehriingen in Ver— bindbung, und diefe machten fie mit den albernften Erzeug— niffen myftifeher Schwaͤrmerei befannt. Sie wurde nadfinnend und ſchwermuüͤthig, entzog fic) den haͤuslichen Gefchaften, um ihren religtdfen Gribeleien nachzuhaͤngen, durch welde fie fo reizbar wurde, Daf fie hyſteriſche Bufalle erlitt. Gie war im Kreife der Frommer ſchon gu dem Anfehen ciner Gottbegeis flerten gelangt, alS die Frau von Kruͤdener mit dem Rufe einer wundervollen Prophetin in ihre Nachbarfcdaft fam, der fte fidy innig anſchloß, und von welcher fie fo erleuchtet und begeiftert tourde, daß fie von ihr die Heilige genannt wurde, und al8 folche die Seele von Conventifeln bildete. Sie durchzog nun Stadte und Dorfer, und wufite durch ihr Schwastalent Viele fiir ſich und ihre Lehre fo eingunehmen, daf der Vicar Gan}; von ihr 1819 fagte: ,,fie fei von dem ftillen Gott der Ewigfeit vere ſchlungen worden, und wohne im Lande des Nichts, wo Gott Aes in Alem iff; fie fet in den ewigen Gottesraum verfune’ fen.” Indeß erlitt der Ruf ihrer Heiligfeit fpater dadurch einen ftarfen Stoß, daß fie wabrend einer langen Abwefen: heit heimlich von einem Kinde entbunden wurde, welches fie vot ihren Anhangern aber forgfaltig gu verhelmlichen wußte. Su ihrem Water zuruͤckgekehrt verfeste fie die Hausgendffen und mebrere Freunde durch ihre ſchwaͤrmeriſche Reden, durch die Erzaͤhlung gehabter Bifionen, und durch oftmalige Anz Fiindigung ihrer naben Himmelfahrt in Erflaunen. Sie fag zuletzt meift ſtarr vor fic) hinblidend, und unterbrach ihr fins fteres Stillfeweigen nur mit Klagen tiber ihren fchweren Kampf mit dem Satan, der ihe die Geele, die fie durch Ghriftus retten miffe, durchaus nicdt-losgeben twolle. Am 12. Mars 1823 verfammelte fie in der Frithe alle im Haufe An wefenden um fic, um ihnen die in der Nacht erhaltene Of— fenbarung mitjutheilen, zu Folge welcher Alle ohne Unterfchied mit ihr gegen den Teufel ftreiten muͤßten, damit derfelbe Gh ri- fium nicht uͤberwinde. Hieranf fing fie an, unter dem oͤfte— ren Ansrufe: | Du Sehelm, Du Seelenmoͤrder“! mit der- Fauft; dann auch mif einem Hammer bald an die Wand, bald auf dem Vif und die Stiihle gu feblagen. Nach einer Paufe

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gab fie Aen den Befeht, mit ibr nad der oberen Kammer gu geben. Sie wiederbholte hier die obige Scene. Die Kam- mer wurde auf ihr Geheiß mit Tuͤchern verhangt, und Stuͤcke von Baumſtaͤmmen, Aerte, Hammer und Keile wurden her: beigetragen, und nun wurde mit Wuth auf die Hol;ftude loSgefchlagen. Am folgenden Tage begann das namliche Spiel, und die Cingeweihten festen es mit folder Raſerei fort, daB bas Snwendige des wohlgebauten Hauſes beinahe gang zerſtoͤrt vourde. Dabei rief Margaretha mit freifchender Stimme: „haut gu, er ift ein Schelm, ein Geelenmdrder, webret enc bis aufs Blut, laft euer Leben fur Chriftus; fdlaget ju, bis ihr Blut ſchwitzt; wer fein Leben in Chrifto verliert, wird eS gewinnen, wer es bebalten will, wird eS verlieren.” Und fo fcrieen auch mebrere der Anderen. Dann rief fie wieder: fre febe den Geift ihrer (verftorbenen) Mutter, fie febe Sefum Chriſtum in der Klarheit. Cine Menge Menſchen, burd) den Larm herbeigesogen, hatte fid) um das Haus ver- fammelt. Dod) dieſes war wohl verriegelt, und ein Ketten- bund im Bereich der Hausthiire webhrte den Zugang. Am Abend, alé Alle vor Müdigkeit von dem Werfe der Zerfto- tung faft jufammenjanfen, fcrie Margaretha: Chriftus hat uberwunden! und auf ihr Gebeif muften We fic nie— derwerfen, um Gott fir feinen Beiftand gu danfen. Nun begann aber ein graufamerer Gpectafel. Die Seherin fing an, auf ibre Gchwefter Eliſabeth loszuſchlagen, um die Geifter, die in ihr waren, gu vertreiben, und nun befabl fie Allen, fic) mit den Fauften auf Kopf und Bruft gu fclagen, und als ihr Vater ihr hierin gu lajfig fchien, ſchlug fie felbft auf ibn gu, und ba er nun vor Schmerz aͤchzte, verſicherte fie, es fei nur der alte Adam, der nicht weichen wolle. Ci ner fiel jest uber den anderen ber, und unter fteten Aude tufungen fdlugen fie auf einander gu. Endlich lief die Obrig— Feit, da alles Zurufen von aufen vergeblid) blieb, die Thuͤren aufbreden. Auch jest Horte dad Laͤrmen und Bufdlagen nidt auf. Indeſſen wurden die Theilnehmer mit Gewalt zerftreut, und mit einigen wurde nachber ein Berhdr vorgenommen. Ale lein am anderen Tage lief die Margaretha die Genoffen wieder jufammenrufen, und nun erfolgten Scenen, vor denen

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bas Menfchengefiahl zurückſchaudert. Margaretha erdfinete den 10 Verfammileten, die wichtige Stunde fei gefommen, wo Blut fliefen misffe sur Rettung vieler taufend Seelen; fie feloft babe fith fir Giele verbirgt, flr die fie gerne fterben wolfe. Sie befabl ihnen bierauf, fide) mit Fauften an Bruft und Stirne ju fclagen. Sie felbft gab das Beifpiel. Aber bald ergriff fie ibven Bruder und unter dem Zuruf: ,, Der Satan will deme Geele”, verfeste fie ihm mit einem eiſernen Keile mehrere Streiche auf die Bruft, dann aud anf -den Kopf. Wie das Biut flop, rief fie: ,,Sehet wie der Deufel die Horner aus dem Mopfe des Kaspar hervordrangen will; febet, wie fie gur Bruft herausfommen.” Auch ihrer Schwe— fler Elifabeth verfeste ſie einen Schlag an den Ropf, daß dad Blut herabrann, fodann der Kuͤndig und dem Joh. Mofer. Diefer hatte fchon von einem Paar Anderen mehrere Schlage auf die Bruft erhalten. Unterdeſſen hatten ſich der. Water und die Magd mit dem verwundeten Sohne entfernt, and nun eroffnete Margaretha, bas Gefchehene fei nod lange nidjt genug; es mifje mehr Blut fliefen; fie miffe bas Leben laffen fir Chriftus, und wolle aud gerne fid opfern. Dann befragte fie die Anwefenden, ob auch fie fir die vielen armen Seelen fterben wollten?. Alle bejabhten es. Ahein Margaretha fagte sur Kündig: es fei ihr geoffen- baret, daß fie dad Leben nicht laffen muͤſſe, wohl aber die Elifabeth. Diefe verfewte fic) auch fofort felbft einige Schlage auf den Kopf, und verlangte, daß man fie fogleic) todtſchlage. Margaretha fclug fie nun juerft mit einem eifernen Ham: mer auf den Kopf, umd forderte die Kuͤndig auf, dad Werf gu.vollenden. Rach einiger Weigerung ergriff. diefe einen. ei fernen Keil, und ſchlug auf die Elifabeth fo lange gu, bis fie den Geift aufgab, obne ein Beichen bes Schmerzes von fice gu geben. Inzwiſchen fclug Margaretha fic felbft mit einem eifernen Keil an den Kopf. Auf wiederholte heftige Aufforderung verfeste ihr aud) die Rundig einige Schlage an den Ropf. Gene lies ein Becken bringen; wabhrend ihr Blut hineinſtroͤmte, ſprach fic: ,,diefes Blut werde zur Rettung vieler Geelen vergoffen.” Darauf erfolgten nod) mehrere Cine ſchnitte an Hals und Kopf mit einem Scheermeffer, theils

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durch “fie felber, theils auf ihren Befeht durch die Kuͤndig. Und nun erflarte die Martyrerin: ,, fie wolle fid) jest freu zi— gen laffen”, und verfangte von der Freundin, dah fie dies vollziehe. Umfonft waren alle ibre Thranen und Weigerungen ; die Seberin ließ nicht nach, ihr zuzuſetzen. Endlich erfüllte diefe zoͤgernd ihren Willen, und vollzog die Kreuzigung mit. Beihilfe der Magd, wabhrend Margaretha beftandig rief: ,, Gott ftarfe deinen Arm, id fuͤhle keinen Schmerz, ef iff mir unausſprechlich wohl; fei du nur ſtark, damit Ghriftus uͤberwinde.“ _Obgleid) angenagelt an*Handen und Fuͤßen, durchbohrt an den Armgelenfen, und an anderen Stel: len ſchwer verwundet, duferte fie nicht dad geringfte Zeichen yon Schmerz, fondern nur Freude. Endlich forderte fie: man folle ihr einen Nagel durchs Hers ſchlagen, oder ihr den Kopf fpalten. Die Kuͤndig verfuchte, ihr ein Meffer in den Kopf gu fteden; allein es frimmte fid. Da ergriff auf nochmalige Aufforderung Joh. Mofer ein Stemmeifen, und zerſchlug iby gemeinfchafttid) mit ber Kindig den Schaͤdel. Die übrigen Hausgenoffen wurden jest herbeigerufen. Sie fahen die Leichen ohne Entfesen; fie glaubten feft an ihre bafdige Auferftehung. Als der Amtmann erſchien, erflarten die Kuͤndig und der aͤl⸗ tere Mofer ohne Ruͤckhalt ſich als die Bhater, mit dem Bei: fab: ,, fic hatten nur den Willen Gottes erfillt, den fie pric: fen, weil er fi ie wuͤrdige, um Willen Schmach zu leiden.”

§. 19. Mord.

Der Selbfrmord ijt eine fo auferordentlid) haufige Wir⸗ fung des frommen Wahnwiges, daß eS bier, gur Erlduterung keiner Sufammenttellung von einzelnen Beifpielen bedarf, und ih es mir fir kuͤnftige ſchicklichere Gelegenheiten verfparen muß, barauf zuruͤckzukommen. Auch die Ermordung anderer Perfoz nen aus dem Antriebe ciner fanatifchen Froͤmmigkeit ift eine leider nur allzuhaͤufig vorgefommene Thatſache, eine folche ich unter anderem in meinen Biographieen Geiftedfranfer Mr. 3 mitgetheilt habe. Indeß duͤrfte doch die Erwaͤhnung einzelner merkwuͤrdiger Falle wegen der Bedingungen, unter denen fie fid ereignet haben, nothwendig - fein.

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Gruner erſtattet im 8. Bande ves von Moris her: ausgegebenen Magazins zur Erfabrungsfeelenfunde folgenden Bericht: Unter den Studirenden der Theologie auf der Leipz giger Univerfitdt beſchaͤftigte fid) ein gewiffer Nau viel mit “der Offenbarung Fohannis, welthe feinen Geift dergeftalt erbiste, daf er auf den Gedanfen fam, jene himmliſchen Bi- fionen in fich felbft bervorzubringen. Sehr bald qlaubte er, infpirirt gu fein, und von Gott Offenbarungen empfangen gu haben. Gr vernadhlaffigte feine Gefchafte, wurde leiden: ſchaftlich und tieffinnig, und glaubte uͤber dads Menfchenges ſchlecht erhaben gu fein. Erfüllt von diefer Vorftellung fing er an 3u predigen, und dridte ſich dabei folgendermaafien aus: „Wer nidt an Heren glaubt, der glaubt aud) nidt an den Teufel; wer nicht an den Deufel glaubt, der glaubt aud nit an Gott; wer nist an Gott glaubt, der wird vers dammt werden.” Am 4. Auguft 1779 hoͤrten feine Nachbaren arm, und drangen in fein Bimmer ein. Sie fanden feinen Vater im Blute fhwimmend, durdbohrt von mehr als 15 Wun- den, und mit durdfdnittener Kehle. Rau ging auf ‘und ab, indem er fic) bald dieſes entfeblichen Frevels anflagte, bald behauptete, fein Vater fei etm alter Jude getvefen, und yor einem Turfen ermordet worden. Waͤhrend des Verhoͤrs verficjerte er, dag ee niemals getauft worden fei; der von ibm Grmorbete fei nicht fein Vater gewefen, weil er feine Aehntlichfeit mit ihm habe. Sein Betragen war brutal und verrieth die grifte Beratung gegen das ganze Menfdhenge: ſchlecht. Wabhrend eines heftigen Sturms hoͤrte man thn ru- fen: „Der wilde Pring eer: id) fenne ihn wohl, id habe ibn oft gebort.”

Boismont entlehnt t. a. D. S. 546) aus einer Brirf- ſeler Zeitung folgende Erzaͤhlung. Madame X., 32 Jahre alt, war die Gattin eines Profeffors, rwelcher auf anige Tage eine Reiſe nach Tirlemont angetreten hatte. Sie ſelbſt, ſeit eini⸗ ger Zeit ſehr uͤberſpannten religioſen Begriffen ergeben, und ſogar von Sinnestaͤuſchungen heimgeſucht, glaubte in einer Nacht Engel zu ſehen, welche ihr den Befehl ertheilten, ihre Tochter, ein: reizendes Kind von 18 Monaten, zu toͤdten, wenn ſie zu ihnen gehoͤren wolle; zugleich erblickte ſie ihren

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Gatten mit einem Kranze von weifen Rofen auf dem Haupte, er war verwundet, hielt Mordinftrumente in der Hand, und fagte ibr, daß er fic) getddtet -habe; um in das Paradies ju gelangen, auch fie folle fic) mit Dem Sinde todten, um fid mit ihm bald an dem Orte der Seeligfeit zu vereinigen. Hine. geriffen von diefem Wahn, erſtickte fie ihr Kind mit den Han- dea, nachdem fie fic vergeblich bemuͤht hatte, daffelbe zu toͤd— ten, indem fie ihm den Mund mit Brod vollftopfte. Hierauf brachte fie fic) mit einem kleinen Dafchenmeffer mehre Stiche in die linfe Bruft bei; aber der Schmerz und der Tried der Selbfterhaltung fiegten, und fie begab fic) neben ihrem todten Kinde zur Rube, in der feften Ueberzeugung, daß Gott fie bald gu Sich rufen wiirde, um fie mit ihrem Kinde wieder gu vereinigen. Shr Gatte langte in Ddemfelben Augenblicke -an, alg man fie nebft der Rindedleiche nach dem Hospital bradte.

Eben fo beruft fid Boismont (a. a. O. S. 572) auf einen in OHufelands Journal dev praktiſchen Heilfunde ere wabnten Fall: Gin preußiſcher Bauer glaubte einen Engel gu feben und gu bodren, welcher ibm im Namen Gottes befabl, feinen Sohn auf einem Scheiterhaufen zu opfern. Sogleich befabl er diefem, Hol, an einen begeichneten Ort zu tragen. Der Sohn gehordte, fein Vater legte ihn auf den Scheiter- haufen, und tddtete ibn. Es war fein eingiger Sohn. Gin ziemlich abnlides Beifpiel habe ich in meinem Grundriß der Seelenheilfunde (Th. 2. S. 444) angefuͤhrt.

Um die BVeifpiele nicht gu febr gu haufen, will id nur. nod) einige aus den neueften Zeitblaͤttern zum Beweife anfüh— rem, daß gerade jetzt eine fanatiſche Frommigfeit nur allguoft den hoͤchſten Grad der Heftigfeit erreicdt.

Gin armer Leineweber, der fchon lange dem Myſticismus ergeben war, und allen derartigen Predigern nachlief, toͤdtete in einem Orte anf der preufifd) hollandifden Grenge am 29. Octbr. 1846 feine drei Fleinen Kinder, wovon das altefte 7 Sabresalt war. Die Frau war zur naben Stadt gegan: gen, und wabrend der Beit erbarmte er fic), wie ev fpater fagte, der Kinder, um fie vor der fiindigen Welt gu wabhren, und fie gu Engeln gu machen, Schleſiſche Zeit. Nov. 1846.

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In dev Graffdhaft Norfolf ermordete cin Gerbergefelle feine 4 Kinder, von denen das Altefte erſt 4 Jahre alt war. Den drei alteften Kindern fchlug er den Kopf mit einem Ham: mer ein, und das jingfte, ein 10 Wochen altes Madchen, ſteckte er fdpflings in einen mit Waffer gefiillten Topf, und ertranfte e3 auf dieſe Weife. Er glaubte Gott mit Ddiefer Unthat einen Dienft ju thun, und nannte die Erntordung fei: ner leiblidhen Rindet ein Abrahamsé-Opfer. Fa auf dem Wege nach dem Gefangnif fang er mit lauter Stimme Pfalmen. Voſſiſche Beitung 1844. Mr. 136.

Der junge Graf Liedeferfe, der feit flanger Zeit an Wahnfinn leidet, welder guweilen in Tobſucht ausartet, eilte am 20. Marg deS Abends, als feine zwei Schweftern in einer in der Nabe des Schloffes Geronhart liegenden Kapelle bete- ten, mit geladenem Gewehr dorthin, und ſchoß fie beide todt. Der Wahnfinnige entfernte fid) rubig, indem er fagte, er werde nod) andere Mitglieder feiner Familie todten. Sein Wahnfinn ift religios, feine Haltung rubig. Er hat die fire Idee, mofaifdher Religion gu fein, und will feine Schweftern getodtet haben, weil fie Gégendienerinnen waren. Als er ar: retirt wurde, vetlangte er Nichts mitzunehmen, aufier feiner Bibel. Befragt, ob er e8 nicht bedaure, feine Bhat veribt 3u haben, antwortete er, daß er fie noc) veriiben wuͤrde, ware eS nicht ſchon geſchehen. In der That war er auc fo ents ſchloſſen, daß er auf die jingere Schwefter, welche dem erften Schuſſe nidt ſogleich erlag, einen gweiten that, wobei er in ber Kaypelle das Mordgewehr gum zweiten Male (ud. Eben: daſelbſt Nr. 73, 74. des Jahrganges 1847.

Calmeil theilt fogar (a.a. O. Bh. 1. S. 140) einige Beifpiele von Mord mit, welche auf Geheiß des Satans ver- iubt wurden. Sm Sabre 1578 fdnitt Barbe Dore, welche an einen Bauer in der Nabe von Soiffons verheirathet war, mit einer Hippe ihrer eigenen Bodter und dem Kinde einer Nachbarin den Kopf ab. Wor den Richter gefiihrt erflarte fie, daß der Satan ihe unter der Geftalt eines ſchwarzen Mannes erfchienen fei, und fie, indem er ihr dad fchneidende Werkzeug geigte, angetricben habe, dad gwiefache Verbrechen gu begehen. Sie verſchmaͤhte die VBerlangerung ibres Lebens, indem fie fich

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weigerte, von der Appellation Gebraud yu madden, und ſchrie, daf fie nur gu febr den ihr guerfannten Feuertod verdient habe. Faſt gu derfelben Beit lief das Geridt gu Mailand eine Frau mit bem Rade hinridten, welche ein Rind erdroffelt rind ge- geffen hatte. Ste befannte in die Eingebungen des Satans gewilligt ju haben, welder ihr, wenn fie ihm ein ſolches Opfer bradte, verfprad , daß ibr in Zukunft Nichts zur hoͤch— ſten Gluͤckſeeligkeit fehlen ſolle.

§. 20. Brandſtiftung.

Daf fanatiſche Horden ihre Raubzuͤge mit Mord, Mim— derung und Brandſtiftung ausfuͤhrten, iſt bekannt genug. Ein beſonderes Intereſſe duͤrfte aber nachfolgender Fall von Brand: ſtiftung aus religioͤſem Wahnſinn, deſſen Marc (a. a.O. Th.2 GS. 226) gedenkt, darbieten.

Jonathan Martin, welder im Sabre 1828 die be: ruͤhmte Kathedrale in Moré angesiindet hatte, und deshalb vor die Gury geftellt wurde, erwiederte bei diefer Gelegenheit auf bie Frage einer Dame, ob er tiber feine Bhat betruͤbt fei? „Keinesweges, ware es nod nicht geſchehen, fo wuͤrde id es thun; es war nothwendig, das Haus des Herrn von den un— wiirdigen Dienern zu teinigen, welche von der traditionellen Reinheit des Evangeliums abweichen.” Aber, entgegnete bie Dame, ein fo fchdned Gebdude zerſtoͤren, war nicht bad Mittel, die Priefter zu beffern, welde in einer Mirche den Gottesdienft verrichten. Martin fing an zu lachein, und fagte nach einem augenblidlichen Stillſchweigen: „Verzeihen Sie mir, dies wird fie sum Nachdenken bewegen. Sie wer: den eS erfennen, daf es der Finger Gottes war, der. mei- nen Arm leitete. Die Chriften, welche fic) ernſtlich sur wah: ren Religion befennen, werden es beweifen, dah ich recht ge- handelt habe. Der Herr bedient fic) geheimnifvoller Wege, und fein Bile bewirft Aes im Himmel und auf Erden.” Yn dieſem Augenblide verfiindete bas Schmettern der Trom— peten und das Wirbeln der Trommeln die Ankunft des Groß richters Bayley, welder den Afjifen prafidirte, und dem mai militaitifhe Ehre exwies. „Es iſt fonderbar, rief Martin,

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man glaubt die Poſaune des juͤngſten Gerichts zu hoͤren.“ Herr Bayley, ein faſt sOjahriger Greis, hatte Muͤhe, durch bie Menge gu oringen, um ju feinem Stubhl zu gelangen. „Seht Eud dod) vor, fagte Martin gu den Umftehenden, Shr werdet diefen guten alten Mann erdriden. Man mug geftehben, daß ich eine grofe Menge von Menfden in Bewe- gung gefebt babe.” Zu den Stenographen der Journale- fpracd er: ,, Meine guten Freunde, ich made Cuch viele Arbeit, nicht wabr?” Ueber die Anwefenheit ſeines Bruders, eines ach: tungswerthen Geiftliden, als Zeugen, ſchien er entzüͤckt zu ſein. Er hatte das Recht, die Fortſetzung ſeines Proceſſes im Innern des Schloſſes von Yorf gu verlangen, weil gewiſſe Vortheile fir ihn damit verbunden waren. Als der Großrichter deshalb die Frage an ihn richtete, erwiederte er: „Es ift mir we: nig daran gelegen; beftimmen Sie, mein guter Alter, alé wenn eS fir Gie felbft ware. Richten Sie mich, wie es Ihnen am bequemften ift; wads mic betrifft, fo gefthehe der Wille ded Hern.” Der offentliche Anflager erflarte, daß er von einem andern Hauptpuntte der Anflage aufer dem der Brand= fliftung abſtehe, namlich dev Entwendung der goldenen Fran: gen und anderer foftbaren Gegenftinde, welche die Rangel ded Erzbiſchofs umgaben. „Sie thun wohl daran, fagte Mar: tin, von der Anflage des Diebftahls abzuſtehen, fie hatte feinen verninftigen Sinn. Ich hegte nicht die Abſicht, ir: gend Etwas ju entwenden; aber da ein Engel nad) dem Bil len Gottes mir befahl, Feuer th dex Kirche anjgulegen, fo mufte ich mic) wohl mit Beweiſen verfehen, daß ic) allein dieſe Shat vollbracht hatte, damit cin Anderer nicht die Ehre davon triige, ‘oder, wenn Cie lieber wollen, die Strafe zu erdulden hatte.” :

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Zweiter Abfdnitt,

Der religidfe Wahnſinn in feiner epidemi:

ſchen Verbreitung.

Es waltet in der Seele eine Mvaft, deren Wirfungen ebenfo unermeßlich find, als ihre Thaͤtigkeit ſich vollftindig der unmittelbaren Anfdhauung im Selbſtbewußtſein entgieht, Daher fie ſelbſt nur durch eine forgfaltige Zergliederung der Vhatfaden und der fie umfaffenden Begriffe aufgefunden und zur Erkenntniß gebradt werden fann, obne welche faft die meiften Erſcheinungen des focialen Lebens unerklaͤrlich bleiben miffen. DHiermit iff der Nachahmungstrie gemeint, welder alle Menſchen mit unaufldsliden Banden umfchlingend durch legtere erft ihr Sufammenteben und Wirken in geſellſchaftlichen Vereinen moͤglich macht, und lebsteren jedesmal das wefentliche aufiere Geprage, ja der Weltgefchichte wenigftens ihre dufere Geftalt gegeben hat. Die unendliche Fille, Verſchiedenheit und Grofartigheit der hierher gehoͤrigen Shatfachen macht eine Befdhrantung auf die allgemeinften Begriffe nothwendig.

Cine wiffenfchaftliche Pſychologie ift nur unter der Bor- ausfegung moglid), daß alle Aeuferungen der thatigen Seele im Denfen und Wollen auf die in ihnen enthaltenen Beweg: gruͤnde oder urſachlichen Bedingungen zuruͤckgeführt werden, weil eben Wiffenfchaft in allgemeinfter Bedeutung nichts An: deres iff, als die Darftellung des wefentlichen Verhaͤltniſſes der Erſcheinungen gu ihren Urfachen, welche nur in diefem Zuſam⸗ menhange begriffen, und durch deſſen Erkenntniß abſichtlich her⸗ vorgerufen oder verhindert werden koͤnnen. Indem folglich al—

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{es Naturwirfen in, jenem Verhaͤltniß aufgefaßt werden muß, wenn wir daſſelbe in ſeinem inneren Weſen durchſchauen wol— len, weil Naturgeſetz der nothwendige und allgemeingültige Ausdruck des urſachlichen Verhaͤltniſſes der Erſcheinungen iſt; ſo wird uns hiermit die einzig moͤgliche Bahn vorgezeichnet, welche allein zur Erkenntniß der Wahrheit fuͤhrt. Nur des— halb werden uͤber letztere ſo endloſe Streitigkeiten erhoben, und die ſo haͤufigen Klagen vernommen, daß dem Menſchen der Beſitz der Wahrheit nicht vergoͤnnt, ſondern er zu einem fteten Schwanken unter unaufloͤslichen Irrthuͤmern und unausgleich— baren Widerſpruͤchen verdammt fei, weil jene nothwendige und letzte Aufgabe aller Forſchung ſo haͤufig verkannt, und mit den willkuͤrlichſten Methoden vertauſcht worden iſt, bei denen Nichts herausfommen Fann. Seitdem die Naturwiffenfchaften fic) die Erforſchung der urfachliden Verhaͤltniſſe der Erfchei- nungen*jum ausſchließlichen Biel aller VBeftrebungen geftellt ha: ben, bilden fie einen wabren Triumphzug im Erobern ungdh- liger Wabhrheiten, durch welde erft dem Leben eine unerfdut- terliche Grundlage gegeben werden Fann; denn indem die Na: tur dem forfchenden Geifte das Gefes ihrer Erſcheinungen offenbart, legt ſie den Zuͤgel ihrer maͤchtigen Kraͤfte in ſeine Hand, durch deren Beherrſchung er allein ſein koͤnigliches Reich auf Erden begruͤnden und ausbreiten kann. Erſt wenn die Pſychologie daſſelbe Verfahren einſchlaͤgt, wird fie zur objecti- ven Erkenntniß des Menſchen fuͤhren, und durch dieſe dem ſocialen Leben eine unzerſtoͤrbare organiſche Verfaſſung geben koͤnnen.

Dieſe Bemerkungen duͤrften hier ganz am ſchicklichen Orte fein, um uns bei einer der ſchwierigſten pſychologiſchen Unter— ſuchungen richtig gu leiten. Ohne mich bei den Erfcheinungen des Borftellungsvermodgens auf den mannigfaden Abftufungen des Denfens aufzuhalten, will id) mir nur, einige Andeutungen iber dic Gemithsthatigfeit geftatten. Verſtehen wir unter Gemisth den Inbegriff aller inneren Beftimmungsgriinde gum Handeln; ſo kommt es ver Allem darauf an, die eigentliche Bedeutung des letzteren ſcharf ing Auge zu faſſen. Handeln heißt einen Zweck erfüllen, deſſen Vorſtellung den Antrieb zu ſeiner Verwirklichung geben ſoll. Alle ptaktiſchen Zwecke ſind

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aber eben. als folche Bedurfniſſe, deren Nidtbefriedigung ir gend einen Nachtheil in der fortfdreitenden Entwidelung ded Seelenlebens veranlaft, daber eben in ihrem Bewußtwerden eine fo ftarfe Nothigung zu ihrer Vefriedigung liegt. Es hangt Daher zunaͤchſt nicht von der Willkur des Menfden ab, ob et dieſen Bedirfniffen Folge leiften, oder ſich entziehen wills ſie find in feine Natur gelegt, welche ihm den Entwidelungsgang feiner Rrafte nach ewigen Gefesen vorgeſchrieben, und dedhalb feiner Geele eine ganz eigenthimlide Organifation vertiehen hat, welche eben fo mit fid) in Uebereinftimmung treten ſoll, wie jedes Thier- und Pflanjenleben. Selbft von den erkuͤnſtel⸗ ten, zur Gewohnheit gewordenen Bedirfniffen gilt died tm Aligemeinen nad dem alten Ausfprud): consuetudo est al~ tera. natura, wenn fie auch eben als erkuͤnſtelte ſchon irgend etwas Naturwidriges der Seele eingeimpft haben. In fofert ſteht daher der Menfch auf gleicher Stufe mit den Thieren, deren Handlungen gleichfalls von dem Bewuftfein ihrer Bez duͤrfniſſe ausgehen, und daber auch bei ihnen eine Gemiths- thatigfeit vorausfeben. Nur in fofern unterſcheiden fie fid ‘won thm, ald ihre Gemithsthatigfeit im Snftincte an ftarre Natur: gefebe gebunden iff, von deren Beftimmung fie. im Geringfien nicht abweiden fonnen, wabrend dem Menfchen cin weiter Spielraum offen gelaffen iff, vem Antriebe ſeines Gemuͤths Folge zu leifter, oder fic) gu entgiehen, damit er durch freie Selbſtbeſtimmung Herr feiner felbft werde, indem er fid) von dem ſtarren Gefes des Inſtinctes emancipirt.

Da folglich alle menſchlichen Handlungen aus dem Be: wufitfein von Sweden, als dem Srnewerben von. nothiendi- gen Beduͤrfniſſen entipringen; fo hat die pfychologifehe Fors ſchung die doppelte Aufgabe gu lifen, die Angemeffenheit der. Handlungen ju. ihrem Swed, und ihre dadurch bedingte Ueber— einftimmung mit der Geſammtthaͤtigkeit der Seele einer gruͤnd⸗ lichen Prifung gu unterwerfen. Dieſe Aufgabe ift nicht bles ein theoretifcbes Poftulat ber abſtracten Wiſſenſchaft, ſondern zugleich die allgemeine Nothwendigkeit des praktiſchen Lebens welches nur in ſofern moͤglich iſt, als Jeder ſich die Beweg⸗ grunde des eigenen und fremden Handelns klar machen maf, um nicht immerfort ‘in ſeinem Wirken fehl gu greifen. Man.

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braucht fic) alfo nur die wefentliden Lebenszwecke, und die in ibnen ausgefprochenen Naturbedtirfniffe deutlic) vorzuftellen, um alle urfpriinglichen VGeftimmungsgriinde des Gemuͤths als feine nothwendigen Untriebe oder Krafte in uͤberſichtlicher Boll: ſtaͤndigkeit aufgufinden, und fid) gu uͤberzeugen, daß jene Sriebe der menſchlichen Natur angeboren, immanent find, und Daher zur Wirkfamfeit gelangen miffen, wenn der Lebensent— widelung fein Abbrud) gefchehen ſoll. Wirklich halt es aud nicht ſchwer, bet febr vielen Handlungen die in ihnen thatigen Antriebe aufzufinden, welche in ihnen zur unmittelbaren Er— fheinung fommen, und fic) daraus die Macht gu erFlaren, welche die Motive der Ehre, der Liebe, der Freiheit im hoͤch— fier Maafe geltend machen. Denn fie driden nothwendige Beduͤrfniſſe aus, deren MNidhtbefriedigung den Fortgang des GSeelenlebens hemmt, und baffelbe durch unzaͤhlige Mifverhalt- niffe gu Grunde rictet. Befonnenheit heift nun eben jene BGollftandigfeit des objectiven DenFen3, in welchem der Menſch fid) aller nothwenbdigen Lebenszwecke, und zugleich ſeines realen Berhaltniffes sur Aufenwelt, gum Menſchengeſchlecht und zur duferen Natur hinreichend bewußt geworden ift, um geleitet durch diefe Erkenntniß alle feine Zwecke erfillen, und fic da: durch in Uebereinftimmung mit fic erhalten zu Fonnen.

Nun treffen wir aber bet- ben befonnenften Menschen cine Menge von Handlungen, durth welche fie nothwendig mit fic in Widerſpruch verfeat werden, und welche fie dennod aus— iiben, obgleich fie es recht gut wiffen, daß diefelben jenen fir fie fo peinlichen Erfolg hervorbringen, und ihnen dadurd) das fiftlidhe Gut des Seelenfriedend im inneren Gleichgewidhte der Krafte rauben. Es find hiermit nidt die leidenfchaftliden Handlungen gemeint, welche, wenn fie aud) oft eine Virtuo— fitat des Verftandesgebraudh$ vorausfeben, dod) nur unter der Bedingung einer auffallenden Cinfeitigfeit des Denkens moͤg— lid) wurden, und deshalb mit dem Begriff der vollen Befon- nenbeit nicht mehr vereinbar find. Vielmehr habe ic diejeni- gen Handlungen im Auge, gegen welche fid) das perſoͤnliche Intereſſe des Menfchen ftraubt, ja emport, und zu denen er dennoch durch eine faft unwiderſtehliche Macht fic) hingezogen fiblt. Hier haben wir alfo das feltfame Schaufpiel eines

Sreler Iheerie v. relig. Wahnfinns, 14

Handelns ohne inneren Zwed, ja im_auffallenden Wide mit. den inneren ——— | durch fie alle pſychologiſche Erklaͤrung ausgeſchloſſen, und ſie nur der an ſich vage, nichtsſagende Begriff eines du Widerſpruchs in ihnen aufgefunden werden zu koͤnnen ſ Denn was dem Menſchen in ſeinem Inneren widerſpricht ihn dennoch zur Thaͤtigkeit beſtimmt, muß jedenfalls ihm enthaltener Antrieb ſein, weil, wenn ein ſolcher nicht vor⸗ handen waͤre, er ſich mit aller Macht dagegen ſtraͤuben wie dies jedesmal der Fall iſt, wenn er ſeiner Würde ei ; bem duferen despotiſchen Zwange einen hartnadigen ftand entgegenftellt. * Der paradore Anſchein dieſer ſcheinbar erkuͤnſtelten wird aber ſogleich verſchwinden, wenn wir uns. erinnern, d die in Rede fiehenden Handlungen ihren Antrieb je den herrſchenden Gitten, Gebrauchen und VBorurtheilen . + denen Folge gu leiſten der Menſch fic faft unwiderfteh ndthigt fuhlt, wenn fie auch mit ſeinen deutlich erfannt terefjen im allerſchroffſten Widerſpruch ſtehen. Es kaum der beiſpielsweiſen Erwaͤhnung einzelner ſolcher lungen, z. B. des Zweikampfs, welcher oft genug bei, dem hafteſten Abſcheu wor ſeiner Unſittlichkeit und vor ſeinen ver-. derblichen Folgen von den trefflichſten Maͤnnern ausgeubt wor⸗ den iſt. Jeder ſelbſtſtaͤndige Charakter hat einen unaufhoͤrli Streit zwiſchen ſeiner freien Selbſtbeſtimmung nach n⸗ dig erkannten Zwecken und zwiſchen den Hinderniſſen durchzu— fechten, welche die herrſchenden Sitten und Thorheiten ihm ent⸗ gegenſtellen. Es ſetzt daher jedesmal eine hohe Reife und Ge-. diegenheit des Willens voraus, wenn er ſeinem Zwecke mit un⸗ beugfamer Entſchloſſenheit treu bleibt, waͤhrend die meiſten Menſchen unzaͤhlige Male von ihrer eingeſchlagenen Bahn. ver⸗ trieben, und nach den verſchiedenſten Richtungen hin und, wie⸗ der gezerrt werden, bis ihr ganzes Leben ſich in ein Chaos von zerſtoͤrenden Widerſpruͤchen aufloͤſet. ete Es ift alfo in den herrſchenden Sitten ein machtiger Be: . ftimmungsgrund enthalten, durch welchen fie den Menfchen im Widerſpruch zu ſeinen deutlich erkannten Beduͤrfniſſen noͤthigen, ihren oft nur allzu abgeſchmackten, ja verderblichen Vorſchrif—

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ten Folge zu leiſten, da derſelbe allen ſeinen Intereſſen das Gleichgewicht gu halten, fie fogar gu beherrſchen und gu unter: drien vermag. Wir wiirden jenen VBeftimmungsgrund viel gu einfeitig auffaffen, wenn wir thn in der einfachen Reflerion fucen wollten, daß der Menſch fid) den herrſchenden Sitten anſchließen miffe, wenn er nidt in Widerſpruch mit der gan: zen Gefellfehaft treten, und alle feine Zwecke dadurch unmoͤg⸗ lic) machen wolle, daf er alfo jenen Sitten ein Opfer bringen mirffe, um. nicht Alles gu verlieren. Denn obgleich diefe Rez flerion einen grofen Einfluß auf Seden ausuͤbt, fo duͤrfen wir pod) nicht in ihr die Erflarung des ganzen Problems fuden, weil darin eine fchimpflide Herabwiirdigung des Menſchen gu einer ſchmachvollen Sflaveret lage, in fofern er nicht aus eiges nem, vollen Herzen wollen und handeln, fondern nur in fo- fern ein felbftftandiger Charafter fein dirfe, alé ihm die Des— potie ded gefelligen Lebens dazu die Erlaubniß innerhalb eines ſehr eng gezogenen Kreiſes gegeben haͤtte.

Wir müuͤſſen daher den Begriff der Sitte auf einem weit hoͤheren Geſichtspunkte auffaffen, wo ſie uns nicht blos als das faſt abſolute Hinderniß aller Originalitaͤt und Selbſtſtaͤn— digkeit des Denkens und Wollens, ſondern zugleich als ein maͤch— tiges Befoͤrderungsmittel deſſelben erſcheint. Um dies einzuſehen, brauchen wir uns nur daran zu erinnern, daß jeder Menſch die allgemeinen Naturanlagen in einem rein individuellen Verhaͤlt⸗ niß beſitzt, in welchem ſie unter einer unendlich großen Verſchie— denheit zur Erſcheinung kommen. Jeder vereinigt daher die Geſammtheit ſeiner Intereſſen zu einem ihm ganz eigenthuͤm— lichen Charakter, und es verſteht ſich von ſelbſt, daß wenn der dadurch bedingten Eigenwilligkeit nicht irgend eine aͤußere Schranke geſetzt waͤre, durch fie jedes geſellſchaftliche Verhalt- niß als das nothwendigſte und urſpruͤnglichſte Element aller geiſtig ſittlichen Entwickelung abſolut unmoͤglich gemacht werden ywirde. Wir brauchen dieſen Gag nur in den gang analogen Begriff. der perſoͤnlichen Sreiheit gu verwandeln, um ihn in feiner ganzen inhaltéfdweren Bedeutung zu erfennen. Es braudt hier nur jene abgeſchmackte Bheorie ermahnt gu wer- den, welche die perfdnlide Freiheit oder den Fndividualismus

sum oberften Princip ded Lebens madte, und dadurch die 14*

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Anarchie der Leidenfchaften auf ben Thron feste, eben dadurch aber aud) bei jedem Gerniinftigen die Ueberzeugung weckte, daß die perfinlide Freiheit nur in foweit moͤglich fei, als fie mit der focialen Ordnung und bem pofitiven Geſetz beftehen fann. ebtered Fann aber die Lebensverhaltnifjfe nur in ihrem dufierften Umfange regen, und muff ihre innere Anordnung ver Gitte iberlaffen, welche daruͤber wacht, daß die perſoͤn⸗ lichen Intereſſen Aller gu einer gemeinfamen Form geftaltet werden, ohne welche bald ein Krieg Aller gegen Alle ausbres chen, und daber den Organismus de8 focialen Lebens bis in feine innerften Grundlagen und feinften Fugen zerſtoͤren wirrde. Wenn die Sitten fdledt find, fo folgt daraus eben fo wenig, daß man mit ihnen vdllig brechen foll, alé man dem pofitiven Gefebe feinen Gehorſam verweigern darf, wenn man feine Un= gerechtigfeit erfannt bat. Beide follen veredelt, vervollfommnet werden, um dem Bau ded gefellfchaftlidben Lebens eine dauer⸗ haftere Grundlage gu geben, und eben damit died gefchebe, muß Seder, der unter ihrer mangelhaften Verfaſſung gu leiden hat, die beffernde Hand an fie legen, welded gewif nicht ge- fchehen wuͤrde, wenn er fid) aufer ihrem Bereich ftellte. Wenn die Sitten und das pofitive Gefeg den Menfchen zur gaͤnzlichen Verleugnung feines geiftig fittliden Charakters gwingen, dann erft ift er gum offenen Grud) mit ihnen befugt, und er befin: ‘det fid in feinem vollen Rechte, wenn er lieber zu Grunde geht, alg daß er feiner edleren Natur untreu wird.

Wenn alfo die Sitte die Mangel des pofitiven Geſetzes ergaͤnzen, und bis in die feinften Lebensverhaltniffe vervollftan- digen foll; fo muß fie aud jene Macht uber dad Gemith ausiben, durd) welde fie das Wirken feiner Krafte nad ihren Vorſchriften regeln Fann, welche alfo auc) an Energie allen uͤbrigen Gemuͤthstrie⸗ _ ben gleichfommen muf. Soll diefe Macht nicht in einem bloß aͤuße— ten herabwiirdigenden 3wange gegriindet fein, fo muß fie ibr Organ in einem dem Gemisthe ſelbſt angebornen Streben finden, durch deſſen Bethatigung fie sin das Zufammenwirfen ſeiner uͤbrigen Krafte eingreift, und fomit gu einer inneren Nothwen: bigfeit wird. So find wir daher durch eine Reihe von Salus: folgen gu der nothwendigen Vorausfegung einer Gemithstha- tigkeit gekommen, welche fic) fpecififd) von allen uͤbrigen Snter-

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effen unterfcheidet, weil fie ihnen entweber cin fremdes Geſetz vor: ſchreibt, oder fie fogar villig unterdriidt. Wenn wir diefe eigenthuͤm⸗ liche Gemisthsthatigfeit ben Trieb der Nachahmung nennen, fo ha: ben wir nicht nur damit einen gan; populairen und daher ſprachuͤb⸗ lichen Ausdrud, fondern gugleid) den erfldrenden Begriff ihrer maͤchtigen Wirfung gefunden. Denn fehen wir uns im -Leben um, fo werden wir fogleid) gewahr, daß diejenigen der ftarfften Herrfchaft, des Nachahmungstriebes unterworfen find, welde in fic) das geringfte Vermoͤgen der Selbftbeftimmung finden, und weldje daher der aͤußeren Regel bediirfen, um gu irgend einer Form ihres Wirkens gu gelangen, wenn fic) thr Wollen nicht in endlofen Widerftreit aufléfen und dadurch zu Grunde gehen foll.. Naturgemaͤß tft daher der Nachahmungstrieb am ftarfften bei allen jungen Menfchen bis zur vollendeten Pu- bertatsentwidelung, und bet dem weiblichen. Geſchlechte (dem Slaven der Mode!), weil beiden ihrer Natur nad) durdaus feine volle Selbftftandigfeit sufommt, fondern fie die Regel ihres Wirfens in einem fremden Gefes finden follen. Krank: haft gefteigert iff aber der Nachahmungstrieb in allen ſchwa— chen Gemithern, welche zur feften Selbftbeftimmung unfabig jedem frembden Antriebe folgen, und daher wie ein fteuerlofes Schiff auf dem Lebensozean nad allen Ridhtungen hin villig widerftandélos umbergeworfen werden. In dem Maafe, als der Menſch durch frithere geiftig fittlide Cultur der freien Selbftbeftimmung und der Originalitat des Charakters theilhaf: tig wird, emancipirt er fid) von dem despotiſchen Bwange der Nachahmung, und er wird dann ben Sitten immer nur fo vielen Einfluß auf fein Denfen und Handeln einrdumen, ald mit feinen hoͤheren Sntereffen vereinbar iff, und ihnen auger: dem mit voller Befonnenheit ausweiden, ohne fic) mit thnen in einen fir ihn felbft verderblidhen Kampf auf Leben und Tod einjulaffen.

Merfen wir nun einen Bli€ in die Weltgefchidte, um den verfciedenen Urfprung der ungabligen Sitten und Ge- brauche fennen ju lernen, welche im Leben der Voͤlker ihre Herrſchaft iber diefelben der Reihe nach ausgeitbt haben; fo treffen wir vornaͤmlich auf zwei entgegengefebte Quellen, aus denen fie Hhervorgingen. Entweder irgend ein hodybegabter

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Mann, deffen uͤberwiegende Geiftes- und Gemuͤthskraft in fei ner ganzen Lebensfiihrung fic) geltend machte, rif durd die reiche, grofartige Erſcheinung derfelben die grofen Mafjen zur Nacheiferung fort; oder in Ermangelung eines folden leudten- den Vorbildes geftalteten fid) die Sitten nach dem jedesmaligen Gulturjuftande, und pragten um fo gewiffer die Mangel oder Rohheit defjelben an fic) aus, je weniger ber lebtere irgend ein reformatorifder Geift zur Vefinnung gefommen war. Im erfteren Salle erfennen wir die welterobernde Macht der Be— gcifterung, weldje uͤber verfiimmerte fociale Verhaltniffe gu dem freien Bewußtſein ihrer urfpriinglid) hoheren Bedeutung fid aufſchwingend, ein ganzes Volk gu gleicher Hohe der Lebens— anſchauung zu erheben vermag. Denn das in jeder Bruſt rege Streben nach dem Unendlichen als der weſentliche Cha— rakter des Menſchen, erzeugt das nothwendige Beduͤrfniß, eine Bahn einzuſchlagen, welche ihm. die Ausſicht auf feine grenzen— loſe Entwickelung eroͤffnet, zumal wenn letztere den herrſchen⸗ den Intereſſen entſpricht. Wenn alſo letztere von einem Manne mit jener Entſchiedenheit des Denkens und Wollens ergriffen werden, welche ſich durch keinen Widerſtreit irre machen laͤßt, vielmehr ihr Bewußtſein im Kampfe mit unzaͤhligen Hinder: niſſen zu immer großartigeren Zuͤgen geſtaltet; ſo tritt er als der aͤchte Sohn ſeiner Zeit an die Spitze ihrer Beſtrebungen, und ſchreibt durch Beherrſchung derſelben den Sitten ihr kuͤnf— tiges Geſetz vor, welches fic) den Gemuͤthern oft auf Jahrhun⸗ derte fo tief einpraͤgt, daß ſelbſt die gewaltigſten Ereigniſſe ſeine Macht nicht brechen koͤnnen. Dies gilt im vollſten Sinne von allen Religionsſtiftern, deren gebietender Einfluß oft eine lange Reihe von Menſchenaltern uͤberdauert, indem fie dem re— ligidfen Bewußtſein ihrer Anhaͤnger eine ſtereotype Form, und ihrer Lebensfuͤhrung einen derſelben entſprechenden Charakter geben, dem ſie ſich aus eigenem Antriebe nicht zu entziehen vermoͤgen. Denn eben weil das religidfe Bewußtſein den rein⸗ ften Ausdrucd des Strebens nad dem Unendliden darbietet, fo muß die. demfelben ertheilte Form fic) mit einer um fo grife: ten Hartnadigfeit behaupten, und durd) diefe alle uͤbrigen Le— benSverhaltnifjfe beherrfden. Hieraus erflart es ſich, daf in jedem Lande, wo anbhaltende Religionsfriege gur Entftehung

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ber verſchiedenartigſten Secten Veranlaſſung gegeben haben, lestere durd) ihre unaufhdrlichen Conflicte in allen Lebensbe- ziehungen nicht bewogen werden fonnen, fic) mit einander in Uebereinftimmung zu feben, und ihre gemetnfamen focialen In— terefjen im innigen Bunde ju befordern, vielmehr nur immer fcroffer fic gegen einander abjufchliefen.

Wenn aber die Ungunft des Sdhicfals einem Volke meh: rere Menfchenalter hindurd) einen aͤchten Reformator verfagte, deſſen eiſerner Gharafter alle Schranken zaͤher Gewohnheiten und eingewurzelter Vorurtheile durchbrechen fonnte; dann muͤſ— ſen letztere eine mit dem Laufe der Zeiten anwachſende despo— tiſche Macht erlangen, unter deren bleiernem Scepter jede freie Seelenregung erſtarrt, um den niedrigſten, engherzigſten Inter— eſſen den unbeſchraͤnkteſten Spielraum zu eroͤffnen, ſo daß ſelbſt dad religioͤſe Bewußtſein zum ſtklaviſchen Dienſte unter ihnen herabgewuͤrdigt wird. Wir ſehen die traurige Beſtaͤtigung da— fiir in allen ſuͤdeuropaͤiſchen Laͤndern, wo die Hierarchie Jahr— hunderte hindurch jede Geiftesfreibeit erftidte, und daber eine geiftig fittlide Entartung des Volksthums erjeugte, in wel cher erft alle focialen und. geſetzlichen Verhaltniffe gu Grunde gehen muften, ehe das Beduͤrfniß einer instauratio ab imis fundamentis allgemein gefiihlt werden} ‘und den Antrieh ju revolutionairen Beftrebungen geben Fonnte, welche zuvor das ganze Gebaͤude der Hicrarchie zertruͤmmern miffen, ehe tuber den Ruinen deffelben eine befjere Gaat feimen und gedeihen Fann. Aud unfer Vaterland ſchmachtete feit der Reformation Nahrhunderte lang unter dem Glaubenszwange, dem wir es vorzugsweiſe beizumeſſen haben, daß wahrend fo langer Beit die Sitten fic) nur ſehr langfam nad ebdleren Borbildern ge— ftalten fonnten, und nod) jest in vielen Bejziehungen das Ge- prage mittelalterlicher Rohheit (Zweifampf, ſinnliche Genuß— gier, religioͤſe Berfolgungswuth, monftrife Verbindung der Frommigfeit mit engherzigen und eigennigigen Intereſſen, Die ganze Mifere des Pfahlbirgerthums) an fid) tragen. Ja die Begeifterung fir die fortfcdreitende Cultur und Freiheit des deutſchen Vaterlandes witrde allem Anfchein nach nod jebt im tiefen Schlummer begraben fein, wenn fie nicht in den Kriegen gegen den letzten Welteroberer Napoleon zu hohen

Flammen aufgelodert ware, und in fe fortglül grofie Werf der Laͤuterung und Wiedergeburt unſres Volks voll brachte, fiir welches endlich und Fruͤhling des reidhften, freieft kraͤftigſten, ſchoͤpferiſchen Lebens angebroden iff, In dieſer fehroffen Gegeniiberftellung der durchaus ve

denen Wirfungen, welche der Nachahmungstrieb hervorb muß, je machdem ihm der Impuls entweder durch einen.r matoriften Geift, oder in Ermangelung deffelben durch di Major einer rob finnliden, von engherzigſten Lei ten beherrſchten Volksmenge gegeben wird, iſt zugleich die deutung der zahlloſen Conflicte enthalten, welche ſich jede ergeben miiffen, wenn eine neue Lebensform inmitten erſt ter, gleichſam verknoͤcherter Sitten erſt einen Raum Daſein und ihre fernere Entwickelung ſich erfampfen x Gin ſolcher ſocialer Zuſtand gleicht gan; einem Walde voll geſtorbener Baͤume, zwiſchen denen die neuaufſproſſenden nur mit Muͤhe aufkommen koͤnnen, ja oft aus Mangel an freiem Raum verkruppeln. Denn jede Griften;, felbft die au b⸗ teſte und verwittertſte, behauptet ſich mit der zaͤheſten Hartn keit, zumal wenn ſie in den poſitiven Geſetzen ihre | gung findet, deren Autoritat fie um fo nachdruͤcklicher gelt macht, je gewiffer ihr Untergang ohne den Schutz der E

iff. Wenn alfo cin reformatorifcher Geift gegen die weit ver⸗ breiteten und tief eingewurzelten Gebrechen feiner 3eit in die Schranken tritt, fo wird der Gripe ihrer Verwerflichkeit die Macht der Hinderniffe entſprechen, welche er nothwendig be: Fampfen muf. Um einer folden Aufgabe gewachſen zu fein, muf er feinen Gifer ju jener Entſchloſſenheit fteigern, welche nie wantend wird, wenn fie ihrem 3wed alle Guͤter des Le⸗ beng, ja legteres felbft sum Opfer bringen mug. Wenn ex fich wirklich ju der Hohe feiner Idee gu erheben und ihe unwandel- bar getreu ju bleiben vermag, dann ftellt er im immerwaͤhren— den Sampfe fiir fie jene Grofartigfeit des Charakters da welche empfanglice Gemiither gewif sur Nachahmung fortreigt Leider iff nur der Entwidelungsprocef der deen ein f kuͤnſtlicher und verwidelter, fo daß er nur “unter befonders ginftigen Umftanden vollftandig gelingen fann, dagegen er im umgefehrten Falle mehr oder weniger ausarten, und eine Mon-

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ſtroſitat hervorbringen muß. Denn zum reinen Bewußtſein zur objectiven Erkenntniß der Idee gelangt nur Der, wel- Her cine ausgezeichnete Intelligenz unter der Disciplin der Bifenfibaften ausbifben founte, und tvelder mit reidem und grofem Gemiith begabt in dem unvermeidliden Kampfe für fie nicht bes inneren Geelenfriedend verluftig ging: Wer aber nicht Gelegenheit fand, feinen Geift im methodifcyen” Denfen zu entwideln, fondern beim Grforfden der Wahrheit. durd) einen blinden Inſtinct geleitet wurde, und wer andrerſeits un: fer ſteten Berfolgungen lebend feine Brut nicht gegen Stuͤrme der Leidenſchaften verſchließen konnte, welche ihm vol lends die Klarheit und Folgerichtigheit der Begriffe rauben; er muß die Idee, ungeachtet ihre Nothwendigkeit ihn. ¢ errſcht, gu einem Trugbilde entftellen, weldyes mit. der. ganifation der Seele in Widerfpruch tritt, ihr ein. falſches und verderbliches Gefeg aufzwingt, und fie dadurch faft unvermeid- lid) ins Verderben reift. Die traurige Beſtaͤtigung dafi ge: ben alle Gectenftifter, welde die Nothwenbdigfeit einer Reform der herrſchenden Glaubenslehren hinreidend erfannten, aber aufer einer dunflen, unbeftimmten Ahnung der Wahrheit, und aufer einem glithenden Gifer fiir diefelbe auch gar Nichts be- fafen, was fie ju einer ſolchen Aufgabe hatte befaͤhigen koͤn⸗ nen, und welche deffenungeadytet durch die unbegre Hingebung an ihren Zweck große Scha fortriſſen, welche jenes tief empfundene Bedürfniß ſich weniger zu einem deutlichen Bewußtſein bringen konnten. Er— waͤgen wir, daß der Wetteifer aller erleuchtelen Koͤpfe bis auf den heutigen Tag noch nicht dahin gefuͤhrt hat, den Glaubens⸗ lehren cine Geſtalt zu verleihen, in welder fie ihrer Beſtim— gemaͤß als herrſchendes Princip alle menſchlichen Angel —53* und Beſtrebungen vollſtaͤndig zu durchdringen vermoͤ gen; ſo wird hierdurch mehr als durch alles Andere einleuch— tend, zu welchen maaßloſen Verirrungen dunkelgluͤhende Koͤpfe in fet aͤrmeriſchem Eifer ihre Anhaͤnger fortreifen miffen. Es it abe nothwendig, auf alle dieſe Sage den ſtaͤrkſten Nad: drud ju legen, weil fonft die rajenden Ausſchweifungen fanati- ſcher Shwarmer im Widerfprud mit der ganzen Menfchenna- tur ſchlechthin unbegreiflich bleiben muͤßten.

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Wenn indeß der Nachahmungstrieh aud) auf die Seele eine fo madhtige Zugkraft ausibt, und in rohen, willenlofen Schaaren felbft zur unrwiderftehlichen Gewalt anwadft, welche, wie wir bereits in §. 19 gefehen haben, fie gu den verabfcheu- ungswirdigften Freveln fortreifen fann; fo mirffen wir uns bod) erinnern, daß feine Wirfungen nidt aus einer inneren MNothwendigfeit bes Gemisths hervorgehen. Denn indem der Menſch nachahmt, unterwirft er fic einem fremden Gefes, nidt den Forderungen feines eigenen Snterefjes, welches mit jenem oft in den grellften Widerftreit tritt, und ihm dennod unterliegen muf, wenn es fic nicht durch Charakterſtaͤrke gel: tend machen Fann. Hieraus erflart eS fid), daß die Wirkun— gen des Nachahmungstriebes oft um fo fcneller verfchwinden, je ungeftiimer, ungeheuerlicher, ja bis zum wirkliden Wabhn- finn gefteigert fie waren; fie verfliegen wie cin Rauſch, aus wel chem der bethirte Menſch wie aus dem Zauber eines boͤſen Damon zur VBefinnung zuruͤckkehrt. Nur wenn in der eigenen Bruſt die namlichen Gntereffen fic) regen, welde in dem zur Nachahmung antreibenden Bordermanne gu fo machtiger Erfdper: nung famen, dann find aud) feine Folgen dauerhafter, und gteifen tiefer in das Finftige Leben ein. Fir beide Falle hat die Gefchichte zahlreiche Beifpiele aufgeftellt. Wie oft tft de empfangliche, leicht bewegliche Menge, zumal bei der allgemet- nen Aufregung durch Volfsfefte, von irgend einem j3ufalligen Impulſe zu finnlofen Ausbruͤchen fortgeriffen worden, als hat- ten Alle fic) gemeinfchaftlid) aus einem Taumelkelch berauſcht, um binterdrein im Kerker oder unter anderen, traurigen Fol- gen des raſch verflogenen Schwindels dariber in Erftaunen ju gerathen, wie etne ſolche Verirrung aud) nur moglid war. Andrerfeits erzeugt der anbaltende Druck gemeinſamer Drang: fale, welcher zur Emporung gegen ihre Urheber auffordert, eine leidenfchaftlide Spannung der Gemiither, welche gleich einer Pulvermine nur des zuͤndenden Funkens bedarf, um Explo— fionen hervorjubringen, denen feine menfchliche Macht wider: fteht. Denn wabhrend der Religionsfriege und der politifaen Revoluttonen wuͤhlt in allen Gemithern eine Gahrung, welche nur eines geringen Zuſatzes von Ferment bedarf, um alle Fel ſeln zu ſprengen, und jene auffallenden Widerſpruͤche in ihnen

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hervorzubringen, daß diejenigen, welche bid dahin die Girter des Lebens aͤngſtlich hiteten und pflegten, nun urpliglicd mit einer Geringſchaͤtzung fie wegwerfen, als finnten fie diefelben mit der groften Leichtigfeit wiedergewinnen.

Aber das Gefes der Nothwendigkeit herrſcht uͤber die Menſchen, und ruft fie friiher oder fpdter wieder zur Beſin— nung gurid, In ber Ucherwaltigung durd ſtuͤrmiſche Untriebe find fie der vollftandigiten Selbftvergeffenheit fabig, etwa wie Der Krieger in der Schlacht, welder jede andere Vorftellung aufier der des nothwendigen Siege’ in ſich ganglid) unterdruͤckt. Aber aud) der heftigfte Aufrubr tobt aus, gumal wenn er ſich in Handlungen erſchoͤpft hat, deren Folgen zur Reflerion nb- thigen. Daher folgt auf alle Erplofionen des Nachahmungs— triebeS eine Gemiithsrube, welche hinreicht, um die Meiften an ihre vergeffenen Beduͤrfniſſe nachdruͤcklich zu erinnern. Dadurd wird ein voͤlliger Umſchwung ihres Bewußtſeins hervorgebracht, in welchem fie Abrechnung mit ihren bisherigen Thaten hal ten fonnen. Waren diefelben allgufehr in DBiderftreit mit ihrem ganzen Lebensintereffe, fo bemuͤhen fie fid, auf irgend eine Weife in die fruͤhere Bahn wieder eingulenfen, und mit ber geſellſchaftlichen Ordnung Frieden au ſchließen, auc) wenn fie denfelben mit theuren Opfern erfaufen miffen. War ib: nen aber die Ruͤckkehr in diefe friheren Verhaltnifjfe unmoͤglich geworden, oder ftanden fie noc) unter dem geheimen Ginfluffe ded politiſchen oder religidfen Fanatismus; dann erheiſcht es ihr eigenes Sntereffe, daß fie ihre bidherige Handlungsweife auf jede Art vor fic) und der Welt gu rechtfertigen fuchen, weil fie mit dem Bekenntniß de6 Gegenthetls fic felbft auf— geben miften. Was alfo guerft der unwillkuͤrliche Drang der leidenfchaftliden Unbefonnenheit in unbewadten Augen: bliden ‘war, das wird nun nothwendiger Grundfab, um nidt mit fic) felbft zu zerfallen, daher dann die fortgeriffenen Schwaͤr⸗ mer fic) felbft im ungeftumen Trotz gegen jedes menfdlide und gdttlide Geſetz zu iiberbieten fuchen, um Recht vor dem eige- nen Gerftande gu behalten, mit deffen Vorftellung jede innere Haltung des Selbſtbewußtſeins verloren geht. Daß ein fol cher ganglider Bruch mit allen fociaten und gefebliden Ver— haltniffen wenigſtens an die breite Grenge des Wahnfinns fuͤh⸗

ren, und oft in das Gebiet deſſelben tief hineinfuͤhren muß, begreift fic) leicht, da derſelbe eben die methodiſche Zerſtoͤrung jeder objectiven Nothwendigfeit des Lebens iff.

Diefe VBetractungen, denen eine weitere Ausdehnung zu geben ic) mir fiir jest verfagen muf, laffen ſchon erfennen, daß eS ganz unmodglic iff, eine ſcharfe Grenge zwiſchen den geſetzlich zurechnungsfaͤhigen Ausbrichen der politifchen und re: ligidfen Schwaͤrmerei und ihren VGerirrungen in den vollende- ten Wahnwitz zu ziehen. Die Werbhaltniffe find hier fo un- endlich verwidelt und mannigfaltig, daß fir fie durchaus Feine allgemeine Regel der Beurtheilung aufgefunden werden fann, ‘und daf nur ein freier Blick, uneingeengt durch) pofitive Sagun- gen irgendwelder Art, fic) hier einigermaafen orientiren, und von allen jenen einfeitigen und engherjigen Borurtheilen fic fern balten fann, mit denen die ftreitenden Partheien ſich gegenfeitig dergeftalt verleumbden, daß es fchon die groͤßte Muͤhe foftet, aus ihren Darftellungen nur den ſchlichten Bhatbeftand, gefchweige denn feine menfchbeitlide Bedeutung heraudsjufinden. Oft find Jahrhunderte verfloffen, ehe ein Standpunft gefun- ben werden Fonnte, um jeder Parthei dad ihr gebuͤhrende Recht wiederfabren gu laffen, umd nod) jest find. wir unendlich weit davon entfernt, die Lodfung jedes hiftorifden Mathfels gefun: den gu haben. Um und nur einigermaafen in diefem uner: meßlichen Labyrinth jurecht finden zu finnen, miffen wie vor Alem der grofen Wahrheit eingeden€ fein, daß die Natur nad) unfern kuͤnſtlichen Begriffsfpaltungen, meift aus willkuͤr⸗ liden Jntereffen erſonnen, Nichts fragt, fondern daß fie un: endlid) grdfere Zwecke nad ihren ewigen Gefesen erfillt, als unfer Kurzblick erreichen fann. Wenn in ihrem Dienfte fo- gar die Leidenfebaften ftehen, ungeachtet wir fie methodifd befampfen miffen, fo wird fie fic) audy gelegentlic) ded Wahn⸗ finns bedienen fonnen, um durch deffen zerftirénde Kraft In— flitutionen gu ftiirjen, welche von der Schulweisheit als gitt: lid) gepriefen wurden, obgleid) fie im ſchroffſten Widerſpruch mit dem Evangelium ftanden. Dennod bleibt der Wabhniinn alé ſolcher ſtets der unmittelbare Gegenfag der Vernunft, und wenn er ein nothwendiges Erzeugniß der Zeit. war, fo bewei: fet er eben deShalb, daß legtere in volligen Widerfprud mit

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der Menfchennatur getreten war, und daß ihre Ausartungen durch das Uebermaaß getilgt werden muften, nad dem be⸗ fannten Erfahrungsſatze, daß der Peffimismus zuweilen bad wirffamfte, ja eingige Mittel ift, eine beffere Ordnung der Dinge bherbeigufihren, wabhrend die mittelmaͤßige Schlechtigkeit faft ungerftdrbar ift, weil fie nicht die Gegenwebr der Ber: gweiflung hervorruft. Der Wahnſinn ift alfo recht eigentlich ber Pulsfdlag der Beit, der ihre Kranfheit dem forfdhenden Arjte verrath, fo wie umgeFehrt eine gefunde Beit ihre Ge- ſchlechter bei Befinnung erhalt, und nur diejenigen in Wahn⸗ finn gerathen laft, welche nicht fowohl mit ihr, als mit fid felbft gerfallen find, fo daß feine Hilfe von aufien fie erret: ten fonnte.

Wenn daher auc alle hiftorifche Forfdung von dem Grundſatze geleitet werden mus, daß Feder nur im Charafter feiner Zeit begriffen werden kann; fo wird dadurch doc) nicht die Forderung ausgeſchloſſen, an ibn den hoͤchſten Begriff der Menfchennatur al Maafftab zur Beurtheilung anjulegen. Denn nie laft fic) das dem Menſchen angeftammte Geſetz un: geftraft tbertreten, und wenn daffelbe in Widerfpruch mit der Beit tritt, fo muͤſſen daraus eben jene Monftrofitaten ent: fpringen, welcde in allen Gerirrungen der religidfen und po- litiſchen Schwaͤrmerei zu Tage fommen. Wollten wir jenem biftorifdhen Grundfake, welder zunaͤchſt zur Anordnung und that: fadliden Beftimmung: der wirfliden Begebenheiten dienen muß, cine unbedingte Giltigfeit einraͤumen; fo wuͤrde eine hoͤhere Lebensphiloſophie, welche das rein Menſchliche in ſeiner urſpruͤnglichen Bedeutung zur Darſtellung bringen ſoll, ſchlecht⸗ hin unmoͤglich ſein, denn wir haͤtten es dann niemals mit dem Menſchen ſelbſt, ſondern nur mit den ganz heterogenen Erſcheinungen des Buͤrgers im 1., 10., 19. Jahrhunderte zu thun, welche, wenn ſie nicht auf einem allgemeinen Stand⸗ punkte der Betrachtung mit einander verglichen werden, faſt gar nicht mehr demſelben Gattungsbegriff angehoͤren. Halten wir aber das Ebengeſagte feſt, dann koͤnnen wir jede zeitliche Erſcheinungsweiſe des Menſchen als ein Bruchſtück ſeiner noth: wendigen Naturentwickelung anſehen, und durch gegenſeitige Ergaͤnzung dieſer Fragmente dahin gelangen, aus ihnen die

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Sdee des Gangen gufammenjzufegen. Nur in diefem Sinne ift es moͤglich, in den eingelnen Epidemicen ded religidfen Wahnſinns die charafteriftifchen Blige herauszufinden, deren deutende Zuſam— menftellung die Grundlage feiner Theorie bildben mug.

Indem ic) nun zur Schilderung cingelner widtigen Epide— mieen ded religidfen Wahnfinns uͤbergehe, bemerfe ich, daß wegen der unendliden Verfdiedenheit und Complication ihrer Erfchei: nungen gar fein Cintheilungsprincip fir fie aufgefunden werden Fann, fondern daß fie fid) nur nach gewiffen hervorftechenden Cha: rakterzuͤgen in einige grofere Gruppen vertheilen laffen.

Fünftes Kapitel.

Epidemie des frommen Wahnſinns aus einfacher Stei— gerung des religiöſen Bewußtſeins. Die Predigt— krankheit in Schweden.

§. 21. Urſachliche Bedingungen derſelben.

Der Berichterſtatter im 3. Bande von Bruns Reyer: torium flr die theol. Gitteratur, welder die genannte Volks Franfheit gwar nicht felbft beobachtet, aber iiber fie in Schwee den forgfaltige Erfundigungen eingezogen, und viele officielle Documente benubt hat, beginnt feine Darftelung mit eini— gen wichtigen Bemerfungen dber die ſchwediſche Kirche, welche fich in -einem von dem unfrigen ſehr verfchiedenen 3uftande befindet. Die Orthodorie der lutherifehen Kirche ift dort im Aeufiern noch ziemlich unerſchuͤttert, aud unter dem Volke. Das Anfehen des geiftlichen Standes fteht hoc), und Vieles, was jum auferen Triebwerf und Geriift der Kirche gehoͤrt, fleifiger Befud) und Achtung des Gotteshaufes,- Einuͤben des Katehismus u. ſ. w. ift im vollen Gebrauch. Faſt alle Schweden lernen Lefen, befonders unter dem Ginfluffe ber Kirche, und weniger in Sculen, als in der Kirche. Das her herrſcht mehr Religionsfenntnifi im Volke, als venfetben Perfonen in andern Lindern zu Gebote ftehen wirde. Die Erftarrung in den genannten Dingen aber hat die laesare

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(Lefer) Hervorgerufen und befdrdert, indem ſich das Beduͤrf⸗ nig geltend machte, mehr als died leere Geritft gu -befigen.*). Die fchwedifcen Lefer haben manches Cigenthimlicde, erftens vermoige des einfaderen Bolfscharafters und Bildungszuftan: des, Der wenigftend auf dem Lande von vielen Zerftreuungen der Givilifation verſchont geblieben iff, und eine gewiffe Kind— lidfeit bewahrt bat. Ferner werden die Bauern, welche meift in einzelnen Gebdften uber tas Land jerftreut find, durch _ die geiftlidhe Auffidht, durch den kirchlichen Sinn ded Bolfed und durch die gute alte Gitte veranlaft, viel mehr fir die geiftlidhe Erziehung der Kinder gu thun, als unfre Landleute leiften koͤnnten. Dabdurch. erhalt fic) auch bei den Erziehenden felbft cin Qntereffe und eine Fabigheit fir Beſchaͤftigung mit etwas Geiftigem, namentlich mit religiojen Dingen. Fami— lienandachten find daher eine herrſchende Gitte und ein Bez dürfniß fiir Diejenigen, welche die weit entlegenen Kirchen nicht befuchen fonnen. Es fonnte fic) daher hier und ba cine eigenthiimliche Aufregung, ein aͤußerliches Intereſſe ergeu- gen und fortpflanzen, ohne daß dergleichen cifrige Beſchaͤfti— gung mit Meligiofem felbft religibé war. Die Armuth an geiftiger und -focialer Bhatigheit waͤhlte in ſolchen Fallen den einzig vorhandenen Stoff, die Religion, gu etwas, was dod hoͤchſtens Liebhaberei war; wahrend das Bewußtſein nicht Frage tig genug eintrat, um es geradezu Heuchelel werden zu laf: fen. Noch find zwei hiftorifde Bedingungen gu nennen, eis nerfeitS die disciplinariſche Ueberwachung und Stellung der Kirche, das Satzungsmäßige in ihrem Wirken, und ihr Reich— thum an duferen Mitteln, Gefchaften und Tendenzen; au— drerfeits der Methodismus, der namentlid) in den Jahren

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Haſe bemerkt (a. a. O. S. 515) hierüber: In Schweden bildete ſich aus dem Bedürfniſſe des Hausgottesdienſtes bet dem Umfange der Kirchfpiele f. 1803 eine Parthei, von ihrem Lefen in der Schrifr und in Luthers Poftille Lafare genannt, deren frommer Cifer fic) durch Lutherifche Rechtglaubigfeit, ftrenge Sitte und erbaulide Verfamme {ungen bethatigt. Die ECifrigften hielten fid) durch den H. Geiff fur unfehlbar, und ſtörten die kirchliche, mie Die häusliche Eintracht, ins demofie gegen Anderodenfende, inshefondere gegen Geiftlicde den Fluch ausſprachen.

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1838 1842 “in Bee Perfon des Englinders Scott nice ohne Einfluß blich. Beides zuſammen mochte dazu beitra: gen, eine zwiefache Wirfung hervorzubringen, theils eine Hin: neigung gu ſchwachem, aͤußerlichem, und von Werkheiligkeit Gefahr leidendem Pietismus, theils eine BWorliebe fiir das Subjective, Zuftandliche, ein Berftetwerden in den Gnaden— wirfungen in den Empfindungen von denfelben, ein Meffen des Heiligen Geiffes nady Symyptomen, die gu fehr auf dem Lebensgebicte des natirlichen Menſchen liegen. Dent man - nun unter jenen volksthuͤmlichen Bedingungen der fdwedi: ſchen Kirche einen Sturm religidfer Ervedung uͤber irgend eine bisher todte Gemeinde gehend; wie fern iff dann Hem— mung durch Unglauben an die Schrift, und an die objective’ Wahrheit des nie Bezweifelten; wie bewandert iff dann Ge: danke und Wort in den chriftl. Lehren; wie allgemein der Beis diefer Bildung, der einzigen dort vorhandenen; wie wenig befrembdlicd) eine durch Nachbaren und Dienftleute zahl- reiche Andachtsverfammlung unter dem heimifthen Dache; wie geneigt bas patriarchalifche Bolf,-Erregungen von Gehoͤft zu Gehoͤft zu tragen, ba befanntlid) jene Lebensweiſe, obgleich raͤumlich fondernd, doch die Gemuͤther weniger iſolirt, als die Friction der Induſtrie; und endlich, wenn einmal eine Gr: ſchutterung Statt findet, wie werden alle Thatigfeiten der einfachen Seelen in Schwingung gefebt, ja Seele und Leib zugleich ergriffen, wo ein ftilled, unverfimfteltes, einfames Le ben noch alle Viefen offen gelaffen, und wo die Gefiihle und Ginne noc nicht durch haufigere Spannungen an Empfind- lidfeit verloren haben.

Sonden, Argt der Grrenbheilanftalt in Stodholm, wel: cher feine Nachrichten (a. a. O. GS. 555) aus amtlicden Be: richten fchopfte, erflarte fic) itber die Urfaden mit folgenden Worten: Ll est-historique que dans les localités, ou com- menqa la maladie il y avait. déja longtemps que les esprits avaient été inquiétés ct exaltés par les sermons particuliers et les exercices de dévotion de soi - disant prédicateurs et autres sectateurs fanatisés pas des milliéns de pamphlets fanatiques, composés par les Murbeck, les Nyman, et plusieurs autres; enfin, qué les esprits etaient peut-

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étre ca et la gatés par une instruction religieuse négligée ou erronée, parla faute des propres serviteurs de l’église. Il semble des lors évident qu'il faut chercher la cause la plus essentielle et la plus puissante de la maladie dans cette disposition dominante des esprits. M. Ponten, ecclésia- stique éclairé, qui, pendant 40 ans, a traité lui- méme des aliénés dans sa maison, ct précisément dans lendroit ou éclata la maladie, attribue a la grande activité de ces pré- dicateurs, non Seulement que des individus particuliers sont tombés dans une mélancolie religieuse mais encore expres- sément la circonstance: que le nombre des malades attaqués d’aliénation mentale s’est visible- ment accru pendant les années derniéres. Le méme témoignage a été donné par d’autres personnes éclai- rées et par les journaux publics. Silon tient compte éga- lement des efforts faits dans les derniers temps par les apotres du méthodisme pour ébranler l’ancienne foi, agiter les esprits, semer des doutes et une intolérance reciproque entre les individus, il faut convenir qu’a cette époque il ex- istait réellement plus de matériaux qu'il ne semblait néces- saire pour provoquer le fanatisme, et méme I'extase. II ne fallait donc pas d’impulsion bien forte ou extraordinaire pour pousser |’extravagance dominante jusqu’a un véritable état de folie. Une impulsion semblable arriva cependant, lorsqu'une fille, irritable et sensible a un haut degré, de- vint dévotement exaltée par de fréquentes lectures dans la Bible et autres ouvrages religieux, et finit par tomber dans un état d’extase’a la suite d’une longue maladie nerveuse. Alors l’épidémie, avec la rapidité de l’éclair, alluma la masse échauffée depuis longtemps et se répandit avec une promptitude étonnante. | |

Gonde'n gedenft ferner des Umftandes, daß die in Schweden herrfchende Trunkſucht durch einen woblgemeinten, aber methodiftifd) fanatifden Eifer mit “jenen beliebten Phra—⸗ fen bekaͤmpft worden fei, weldhe in Schilderungen der Holle ſchwelgend die Gemither gu germalmen berecnet find. Da bie Kranfen gum allergriften Bheil junge, devote Madchen .

waren, fo wurden fie gwar nicht perfinlid) von jenen Don- Soveler Theorie d. relig. Wabhnfinns. 15

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nerworten in religidfe Verzweiflung geftiirzt; aber jene Phra— fen waren ihnen gelaufig genug geworden, um fie faft im: mer in ihre efftatifchen Bufermahnungen einguflechten. End— lid) hebt Sonde'n nod als ein wichtiges Moment hervor, daß mebhrere Sabre Miferndten in Schweden vorangegangen waren, und eine fcblechte Befchaffenheit der NahrungSsmittel, namentlicd) ded Brotes zur Folge gehabt hatten. Cr erinnert mit vollem Rechte an die gu allen Beiten gemachte Erfabrung, daß Mifiwachs, alfo ſchlechte Erndhrung, epidemifche Krank: heiten mit einem hervorftechenden Leiden des Nervenfyftems hervorgebracht haben; jedoch erflart er fid), geſtuͤtzt auf forg: faltige Unterfuchungen von Vahlberg, entichieden gegen die Meinung derjenigen, welche eine Vergiftung des Brotes durd) reichlich beigemiſchtes Mutterforn (secale cornutum) und durd die Gaamen von Bromus secalinus, Ervum hirsutum et tetraspermum, Plantago, Vicia, Rumex, Raphanus Ra- phanistrum annabmen, und bdarin die vornehmite, ja aus: ſchließlichſte Urfache der Mranfheit fuchten.

§. 22. Die Erfcheinungen der Krankheit.

Die allgemeine Schilderung der Mranfheitserfcheinungen entlebne ic) von dem Berichterftatter in Bruns Repertos rium, welcher, obne Arzt gu fein, fie dod) mit grofem Ge: fdhie gufammengeftellt hat. Vorboten der Krankheit waren Mattig eit, Niedergefchlagenheit, Biehen in ten Gliedern und andere Ddergleichen Nervenaffectionen. Es ſteht feft, daß bei den meiften Kranken diefe firperlichen Anjeichen zuerſt eintraten, namentlid) alS die Epidemie im CEntftehen war. Bald zeig— ten fie fid) ohne nachweisbare Veranlaffung, bald und am baufigften aber nach Anftedung. Da lebtere durd) das An- fhauen und Anhoren ſchon CErgriffener Statt fand, fo hatte freilic) bad pfychifche Clement dann von vorn herein cine Stelle. Indem die CErfchiitterung der Phantafie vielfaltig ſchan fiir Bufe genommen wurde, die von Zuckungen Ergrif— fenen aber bet der gewoͤhnlichen Faffung des Phanomens nicht geneigt waren, die Prioritat des Forperlichen Leidens fich felbft zu geftehen, ftaufchten fie fid) auf cine vergeibliche Weife, wenn fie entweder die Buße alS tas Erſte angaben, over

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diefe reflectirende Gonbderung gar nicht madten. Sehr viele geftanden aber, guerft koͤrperlich ergriffen worden ju fein, und durch genaueres Nachfragen wurden diefe Ergebniffe bis ins Unzaͤhlige vermehrt. Natuͤrlich feblte eS aber aud nidt an Beifpielen, in denen ſolche, die durd) das, was fie fahen und borten, gu wirflider Herzensbuße bewegt waren, nad) ber aud) von der Kranfheit befallen wurden. Allmaͤhlig ftell- ten fid) nad) jenen Vorboten Zudungen ein; zuerſt in den Grtremitaten, dann traten aud) Krampfe im Ruͤckgrate, in ber Bruſt, im Halfe und im Gefichte hingu, wunderliche Gerdrehungen, Hervorftofen unarticulirter Laute und ein Ge: ful von Grftiden waren Folgen davon. Je zeitigere Hilfe man fcon in diefen fritheren Stadien anwandte, um fo hau figer wurde weiteren Ausbruͤchen vorgebeugt. Ucberhaupt tft gu beachten, daß Viele, ja die Mehrzahl, in den erften Sta: Edien ftehen blicben, und nur ein Sheil der Kranfen bis zu dem auffallenditen Symptome gefommen ift, welded der gan: gen Kranfheit den Namen gegeben hat. Die Beridte ſchil⸗ dern unzaͤhlige Faͤlle, in denen nur ein unaufhoͤrliches krampf— haftes Bewegen der Glieder, Zuckungen, Schlucken, convulſi— viſches Athmen u. ſ. w. bei klarem Bewußtſein Statt fan— den, auch ohne eigentliches Unwohlſein, außer dem leichten Drucke in Kopf und Bruſt, und der oben bezeichneten allge— meinen Nervenaffection. Es iſt alſo bei der Pred. Kr. durchaus nicht ausſchließend, nicht einmal vorherrſchend an das Rufen oder Predigen zu denken, und das Volk ſelbſt leitete auch alle jene anderen unfreiwilligen Symptome eben ſo wohl von unmittelbarem Einwirken des heiligen Geiſtes her, wie das unfreiwillige Reden. Sobald die Vorzeichen zum wirklichen Ausbruch der Zuckungen uͤbergingen, befanden ſich die Kranken wohler als vorher, auch erhobener geſtimmt. Der Ausdruck von Freude in ihren Mienen und der Glanz ihrer Augen war dann verſchieden von dem eines Geſunden. Selbſt in den Ruheperioden zwiſchen den Anfaͤllen zeigten ihre Blicke etwas bald Verwirrtes, bald Verklaͤrtes. Die Kraͤm— pfe pflegten milder zu ſein, wenn ſie in der Einſamkeit oder nur in Gegenwart der Familie eintraten, heftiger vor Frem— den, Man braucht wohl nidt den Phyſikern zuzugeben, daß 15*

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dies immer eine Folge von Oftentation war; Aufmerffameit, Gereigtheit, Befangenheit, Abneigung oder Vorliebe hat wohl unwillkuͤrlichen Einfluß ausgeuͤbt. Ploͤtzlich trat eine Betaͤu— bung ein, eine Art von Schlaf, der mit dem magnetiſchen verglichen wird. Im Bette oder mitten im Zimmer fiel der Kranke mehr oder weniger bewußtlos nieder, bald empfaͤng— lid) fir aͤußere Eindruͤcke, namentlich fiir geiſtige, bald we— der ſehend, hoͤrend, noch Nadelſtiche fuͤhlend. Dabei konn— ten auch die Zuckungen noch fortdauern. Was ſeltener in den vorhergehenden Graden der Krankheit vorkam, zeigte ſich in dieſer Betaͤubung oͤfter, naͤmlich Viſionaͤres. Die Kran: ken ſahen z. B. einen ſchwarzen Hund an Tanzenden han— gend, beſonders haͤuſig Schlangen, um die Glieder ſolcher ge— wunden, die zur Buße aufgefordert werden ſollten; abgefal— lene, verdunkelte oder hell glaͤnzende Kronen, Briefe, ein. Buch, einen Engel mit einem Zweige, einen andern mit ei— nem zuſammengefalteten Papier, den Heiland ſelbſt u. ſ. w. hoͤrten auch Worte, Deutungen der Bilder, Aufforderungen u. ſ. w. Der hoͤchſte Ausbruch des krampfhaften Ergriffen— ſeins der phyſiſchen und pſychiſchen Organe ergoß ſich endlich in das vielbeſprochene Singen und Sprechen. Die krampf— hafte Reſpiration brach in geſtoßene oder gedehnte, und aus dem Unarticulirten in modulirte Melodieen uͤbergehende Toͤne aus. Diejenige Kranke, welche die Epidemie eroͤffnete, (vergl. unten) hat zuerſt weltliche Lieder geſungen, ging dann aber vermoͤge der Richtung, welche die eigene Froͤmmigkeit und das Urtheil erſtaunter Zuhoͤrer dieſem wunderbaren Zuſtande gab, in das Singen von Kirchenliedern und in das Sprechen von Bußpredigten uͤber ). Auch dieſer letzte Ausbruch des inne— ren Kampfes nach außen, war fir Alle etwas ſehr Wohl— thuendes, und ſie erklaͤrten dann auf Befragen, wie ſie auch unter den gelinden Zuckungen antworteten: „Nie in meinem Leben iff mir fo wohl gewefen.” Alle bisher genannten Gr:

*) Sehr felten fam es in der Folge noch vor, daß etwas Anderes ge- fungen oder gefprocen wurde, 5. B. von einem Knedhte, einem Säu— fer, der ein bitterer Feind der rufenden Stimimen war, und als et feloft von 3udungen ergriffen wurde, in grauliche Flüche ausbrach.

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fcheinungen zeigen mande Verwandtſchaft mit magnetiſchen; eben fo die erbdbte, alle mit Du anredende Sprache, die ſich correcter, belebender, warmer, erhabener duferte, als die Per: fonen fonft ju reden im Stande waren. Das Sprechen war eben fo unfreiwillig, wie die beiden fritheren Hauptfymptome, die Budungen und Obnmadten, oder wie der Traum bei Schlafenden. Es fonnte weder erjwungen, nod) bezwungen, hoͤchſtens eine kurze Zeit aufgefdoben werden *). Manche gingen dann in die Ginfamfeit, wenn fie um der Obrigfeit und des Lazarethes willen nicht beobadhtet fein wollten. Wer: ſuche, die fic) mit Gewalt hervordrangenden Tine mit Ge: walt zu unterdriden, wozu fic) einige Kranfe Mund und Mafe gubielten, miflangen gaͤnzlich. Die Sprechenden, ob: gleich wie bewuftlos und durd) eine aufier ihrem Willen lie: gende Macht getrieben, waren fir das Benehmen und die Befhaffenheit Gegenwartiger oder Gintretender empfanglic, und gwar aud) ohne die Augen gu dffnen, oder den Blic auf fie gu ricten. Es iff nun darauf aufmerffam zu ma: chen, daß diefe Parorysmen der Betdubung meift zwei deuts lid) von einander gefdiedene Zuſtaͤnde enthielten; der eine war voll Unrube, Unbehaglicdfeit und Spannung, wabrend dro- hende Bilder und peinliche Vorftellungen durd) die Seele gin: gen; der andere, wenn das Gingen und Rufen gum Aus: brud) fam, voll Wonne und Erhebung. Diefe Zuſtaͤnde tra: ten, fobald die RKrankheit fid) entwidelt hatte, periodifd ein; bisweilen taglid ein, gwei, fogar vier bid fuͤnfmal; biswei— (en auch nur einige Male in der Woche, gewoͤhnlich an be: ftimmten Zagen. Das Predigen und Gingen dauerte bald zehn Minuten, bald eine wviertel oder halbe Stunde, fogar bis gu 3 Stunden. Die Vorjeichen dev seingelnen Anfalle waren denen des Grfranfens aͤhnlich, gelinder Kopfſchmerz, Schwere und Sdmerzen in den eingelnen Gliedern, Untuft, Beaͤngſtigung, beſchwertes Athmen, ein Druͤcken in dem Ner- vengeflecdt gwifchen Magen und Bruft (plexus coeliacus), geringere Efluft, MNeigung gu Schwindel, nicht voͤllige Frei: *) Eine folhe ernfte Unterdriidung des Redetriched war aber nad Ausfage.von dergleiden befonnenen Kranfen von cinem unbehagliden Gefühl im ganzen Körper begleitet.

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heit im Bewegen der Hande und Fife, Arme und des Roz pfes, Ziehen in den Gliedern, Gahnen und Sdluden. Gn den Brwifchengeiten befanden fic) die Kranfen uͤbrigens ganz wohl, und fonnten fir gefund angefeben werden, nur cine gewiſſe Abfpannung, einen eigenthimliden Ausdrud in den Augen, und haufige, durch die Anftrengung bherbeigefihrte Heiferfeit ausgenommen. Nachts fand bet Allen ein rubiger Schlaf Statt, ſowohl in den geringeren, als in den hodberen Stadien der Kranfheit. Gewoͤhnlich erfolgte die Heilung nach einigen Woden von felbft, im Lazareth, und bei Fugung un: ter aͤrztlichem Rath befonders leicht. Gewaltfame Unter: driidung der Symptome, um nur aus dem Lajareth gu fom: men, hatte freilic) oft auch die Folge, daß die Anfalle nach der Entlaſſung mit verftarfter Heftigheit wiederfehrten. Bei den Genefenen jeigten fic) bidweilen, aber felten, zurüuͤckge— lafjene Anomalieen in den vom Krampf am meiften ergriffe- nen Organen, Unordnung in der Digeftion, und Abftum- pfung der geiftigen Vermoͤgen. Jn einigen wenigen Fallen foll durch die immerwabrende Graltation des LeibeS und der Seele ein entzuͤndlicher Zuſtand des Gebhirns hervorgebracht worden ſein. Erwaͤhnung verdient noch die große Zuneigung der predigtkranken Maͤdchen zu einander; „ſie fliegen einan— der in die Arme, liebkoſen und kuͤſſen ſich, und koͤnnen kaum getrennt werden.“ Auch in der Kirche ſaßen ſie gern zuſam— men, und hielten auch ſonſt in Straßen und Haͤuſern bei einander. Was den Inhalt der Verkuͤndigungen betrifft, ſo war er keinesweges der Art, daß er hoͤhere Quellen voraus— ſetzte, als den allgemeinen kirchlichen Zuſtand des Volks und deſſen Huͤlfsmittel. Die Lieder waren theils aus dem alten und neuen ſchwediſchen Geſangbuche, theils aus den Zions— liedern genommen, welche letztere beſonders durch die Brüuͤder— gemeinde im Volke Verbreitung gefunden hatten. Sie wurs den bald in den kirchlichen Melodieen geſungen, bald auf ei— genthuͤmliche Weiſe Volksmelodieen angepaßt. Daß die Pre— digten bei denjenigen Kranken, bei denen nicht gu viel Selbſt— gemachtes und. Unwahres fich cinfchlid), nicht etwa auswendig gelernt waren, iff deutlic) gu erfennen. Denn obwohl in Dem wefentliden Inhalt und aud in individuellen Wendun-

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gen, in der Wahl der Bilder u. ſ. w. bet derfelben Perfon iibeveinftimmend, waren fie dod nichts weniger, als wort: liche Wiederholungen. Charakteriſtiſch ift ihnen ein Affociiren und Aneinanderreiben von Bildern und Worftellungen ohne inneren Fortſchritt. Sie enthielten feine neuen Lehren, widen nidt von ber Kirche hinweg, Hatten tberhaupt weder feFtire: vifthe nod) dogmatiſche Bendengen, ermahnten nur zur Bufe und Bekehrung. Drohungen oder gar Aufreigungen gegen bie widerftehenden Obrigfeiten famen nicht eigentlid) vor, nur daB ihr Benehmen und ihre Maafregeln als vom Catan fommend bezeichnet wurden. Oft betete man fir fie, fiir den Modnig, fiir die Kirche und ihre Prediger. Bur Gre wedung ber Buße diente Schilderung der drohenden Viſio— nen, Hinweifung auf die Strafen der Hille, welche in vies len finnlichen Bildern ausgemalt wurden, vielfaltige Benu- bung ber Offenbarung Johannis, und haufige Weiffagung des Unterganges der Welt nad) 3 oder 5 Gabren, oder des Cin: trittS des taufendjabrigen Reichs im nadften Sabre u. dgl. In einigen Haufern fparte man daher nidt mehr mit dem Gaatforn, und gab auch dem Vieh fo viel als es freffen wollte, Sehr haufig fagten die rufenden Stimmen ihren ci: genen Zod nad einigen Tagen oder Monaten vorher, ohne daß dgS Volf ourd) das Nichteintreffen irre wurde. Heftigen Gind machte es, wenn die Kranfen einen Geftorbenen oder nod) Lebenden in der Holle oder in den Handen des Seufels fahen; eben fo wenn auf einen der Anwefenden ge- deutet, und ihm vorbhergefagt wurde, daß er aud rufen werde. Dies wirkte auf Vieler Seelen als eine Ernennung durch den H. Geift. Hauptfacdlid aber wurden die Zuhoͤrer mit dringenden Bitten und fdmergliden Drohungen zur Buße und Beſſerung ihres Lebens ermahnt, namentlid) dabei vor Trunk, Spiel, Tanz, Spiel- und Spinnftuben, Karten, Mai- flangen, hoffartigem Leben, Schmuck, frummen Kammen und bunten SKleidern gewarnt. Oft druͤckten die Kranfen cinen Widerwillen aus gegen Alles, was am Anzuge glangte, Per- len, Glas, blanfe Knoͤpfe; rothe Mleider nannten fie bis— weilen Hoffarts-Kleider, oder des Beufels Leibfarbe. Alle Berichte ftimmen darin iberein, daß fie nicht blos bei Er:

buckung, ſondern ſchon bei Nennung widriger Dinge heftiger von Kraͤmpfen ergriffen wurden, auch waͤhrend der Ruheſtun⸗ den zwiſchen den Paroxysmen, 3. B. bei Nennung der Woͤr⸗ ter Sataͤn, Suͤnde, Karten, Branntwein, wenn man fie auch gar nicht accentuirt ausſprach; noch mehr bei Fluͤchen. Trat waͤhrend des Predigens Jemand in das Zimmer, der dem Branntwein ergeben war, vielleicht gerade getrunken hatte, ſo wendeten ſie ſich an ihn insbeſondere. In ſolchen Faͤllen, zumal da Mande abſichtlich im Putz oder mit Brannt⸗ wein kamen, um ein Aergerniß anzurichten, ſahen ſie auch wohl den Eintretenden in der Holle, mit Ketten oder Schlan⸗ gen umwunden oder einen Teufel neben ihm, was nidt fel- tert eine plogliche und weiter fuͤhrende Erſchuͤtterung des Trotzi⸗ gen zur Folge, hatte. Wiele Weiber zerbrachen ihre Kamme, warfen den Pus ind Feuer, verfteten die rothen Kleider unter dem Holze oder im Walde. Waͤhrend im Algemeinen die verlangte Buse und Befehrung nur gu fehr mit Fleinlicder Werkheiligfeit gefarbt war, fo famen jedoch aud) je nad dem frither erlangten oder jetzigem chriſtlichen Standpunkte ber Medenden viele ſchoͤne Aeußerungen dagegen vor, 3. B. „das find falſche Stimmen, die nur von rothen Kleidern re- ben, von Metallen, Farben und Perlen; der Bettler im fei: nen Lumpen fann in die Hille geworfen werden, d ber, welder in Seide gefletdet ijt, wohl in den Himmel ea. Berreifet eure Herzen und nicht eure Kleider; darf mur Jeſus in das Hers fommen, fo verfdwindet aufen die Pract.” Freilid) war aber jene Veraͤußerlichung das Vorherrſchende, aud) wo dem Worte nad) wabhre Wiedergeburt verlangt wurde. Auch 309 fic durch die ganze Erfcheinung ein anderer ent: fprechender Irrthum, naͤmlich das Herabsiehen goͤttlicher Acte in die finnlide Empfindung. Das leibliche Unbehagen wurde nidt blos, was gewif cin Werk ded H. Geiftes ware, eine Mahnung gum Erwachen, fondern man identificivte bei fid und Anderen jenes mit vor fic gehender Neue; die koͤrperli⸗ chen Zuckungen galten eben fo ſchon an und fur fic) alé ein Fortſchritt im Empfangen himmliſcher Giter; der oben begeid: nete Uebergang aus bem erften fpannenden Stadium der Krankheit in die erleichternden Ausbriche wurde als cin Aus;

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drud der Begnadigung genommen, und fo das ganze Werk der Bekehrung und das ganze Gefchaft der Gnadenordnung mit Unaͤchtem verfebt. Es ift daher wohl faum zu verwun: dern, daß gegenwartig, nachdem die Rranfheit ganglid) auf: gehort hat, der voriiberfahrende Sturm faft alle diefe Bekeh— tungen wie Spreu mit fid) gefithrt hat. Won allen den Tau: fenden, die ergriffen waren, giebt es jest Wenige, die nicht wie friber lebten; innerlic) oder duferlid) fromm,’ wie fie waren, lau wie guvor; weltlid) und ebrbar, oder nicht Fur; man moͤchte fagen: der Herr war nicht im ftarfen Winde nod) im Grdbeben.

Sd muß es mir verfagen, auf alle einzelnen Salle ein: zugehen, welche ſowohl in Bruns Repertorium, als von ei: nem ungenannten Augenjeugen in der unten bezeichneten Schrift uber die rufenden Stimmen mitgetheilt worden find. Nur um der bisherigen Darftellung die noͤthige Anſchaulichkeit zu geben, waͤhle ich ein Paar beſonders intereſſante Beiſpiele aus. Die Wittwe Ingrid Andersdotter, welche zugleich mit fuͤnf oder ſechs anderen rufenden Stimmen in einer ge— meinſamen Stube des Hospitals ſich befand, fuͤhlte gleich den uͤbrigen oft den Drang, zu rufen; aber aus Furcht vor den angeordneten Maaßregeln, kaltem Waſſerbade, Douche und Reibungen, wie auch wegen der ernſtlich drohenden Warnun— gen, zu ſchweigen, hatte ſie ein allgemeiner Schrecken ergrif— fen, wodurch der Betaͤubungsſchlaf gehindert wurde, und ſie alſo das Rufen, freilich unter großen Leiden, zurückhalten konnten. Deſſenungeachtet ſei daſſelbe im Stillen in der Bruſt fortgegangen, habe indeß in ſolchem wachen Zuſtande nicht lange gewaͤhrt. Sobald Abends der Vorgeſetzte dad Zimmer zugeſchloſſen, ſind alle jene Perſonen auf die Kniee gefallen, und haben ein Gebet zu Gott gerichtet, daß ſie doch moͤchten vom Rufen frei bleiben, ſo lange ſie im Lazarethe waͤren; doch ſobald ſie ſich ſchlafen gelegt, iſt es mit heller Stimme angegangen, bald bei der Einen, bald bei der Anderen, worauf aber die Uebrigen aus Furcht Bedacht genommen -haben, theils die Rufenden im Bette feſtzuhalten, theils ihnen ein Tuch vor den Mund zu halten, damit kein Geraͤuſch entſtaͤnde, denn ſonſt ware der Vorgeſetzte bald wie:

der heraufgekommen. Auf dieſe Art hat man gemeint, durch Medicamente und Strenge glüuͤcklich die Stimmen “gum Schwei— gen gebracht zu haben, weil man eben keinen Ruf vernom⸗ men bat. Das Weſen und der innere Charakter ihres Zuſtan— des hat ſich aber durchaus nicht veraͤnder. Ingrid wurde nach kurzem Aufenthalte aus dem Lazarethe als voͤllig geſund am Leibe und bei geſunder Vernunft entlaſſen; kaum war ſie aber aus dem Stadtthore, als mit doppelter Kraft ſich der Strom geiſtlicher Rede Bahn brach. So ging fie, unter be geifterten Meden, eine halbe Meile auf der Strafie fort, wor- auf fie fid) an Leib und Seele wohl fuͤhlte und feit ihrer Heimkehr fid) wie vorher hat vernehmen laffen.

Die Dienfimagd Marta Obot, 2 Jahre alt, fubrte fruͤher ein febr fluͤchtiges, weltliches eben, as nur zuweilen Gottes Wort, und lachte uͤber die Bußſtimmen. Im Maͤrz 1842 ließ fie fic) uͤberreden, einen predigenden Juͤngling zu hoͤren, welcher die Hoffart als Teufelsdienſt und als Weg zur Hoͤlle ſtrafte. Sie ward dadurch auf das Heftigſte bewegt, ergab ſich einer tiefen Reue und eifrigem Beten, ſo daß ſie den rubigen Schlaf verlor, und las viel in Murbed’s und Hoof’s Predigtn. Nachdem fie langere Beit in diefem Zu— ſtande zugebracht hatte, erblidte fie bet der Arbeit im Freien bor fid) ein Weibsbild, um deffen Haupt fic zwei grofe Sdhlangen wanden, und mehrere um den Hals. Wor Sacred fiel fie gur Erde, und zwei Tage lang war fie in folder Ver: aweiflung, daß fie von Ginnen ju fein fchien, und weder be: ten nod) weinen konnte. Am odritten Tage aber verbreitete fid) eine ſolche Freude und ein folder Friede uͤber ihr Her}, daß fie fid) in ihrer Seele villig berubigt fuͤhlte, bei der ge: wiffen Hoffnung der Siindenvergebung. Hierauf folgte ein fiarfer Trieb gu beten unter herzlichem Weinen. Folgendes ift cin kleines Brudftiid einer ihrer Predigten: ,, Fm Namen Gottes des Vaters, des Sohnes und des h. Geiftes Amen! Himmelfudende Freunde, betet alle fix mid) armen Erbden- wurm! Ja, wie darf id) wagen, meine Bunge gu rihren, um von Bufe gu reden, die ich felber nicht Bufe gethan habe; was ic aber fage, ift fein menfchlidher Wig und Cin: fall, es ift Gottes Wunder. Iſt da ein unredhted Wort,

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das id) fage, fo nimm, o mildefter Herr Fefu, nimm das Wort von mir! alfo dak ich) meine Bunge nicht ribren, noch auf meinen Fuͤßen ſtehen koͤnne; feid aber verſichert, daß es Gottes großes Wunderwerk iſt, und nicht mein Werk. Theure Pilger, was habt Ihr für Begleiter in dieſer kurzen Zeit? Hier gilt es Ernſt in der Sache. Die halbe Bekeh— tung taugt durchaus nicht. Hier gilt Gebet auf Gebet, Ru— fen auf Rufen in Jeſu Namen. Wir leben gewiß in der dritten Wehe. Hier ſind ſo mancherlei Verkehrtheiten, und es thut Noth vieler Kampf, viele Thraͤnen und vieles Leiden, wenn wir wollen hindurchkommen. Manche glauben hier, die Stimmen ſeien des Satans Blendwerk, und der Teufel hat ſie beſtrickt, daß ſie glauben, der Teufel koͤnne predigen Buße und Bekehrung. Das Volk erwaͤhlt die Schaale, und laͤßt fallen den Kern, Chriſtus. Daher kommt die Verblendung. Unter deiner Arbeit, welche nothwendig iſt, ſo lange du dei— nen irdiſchen Leib haſt, darfſt du nicht zehn Minuten deinen Heiland vergeſſen; nein, nein, es iſt fo Moth, fo Moth, fei ner ju gedenfen bei der tagliden Buße, fonft gehen wir bald zuruͤck. Laft uns died Irdiſche aber fo gebrauchen, wie Krippel ihre Kriiden gebrauden. Das Erfte, was wir er: fabren muͤſſen, ift die Erwedung zur Buße, ehe ein Sehritt gefdehen fann auf dem Himmeléwege. Der erfte Sdritt ift ater ein rechter Glaube an Sefunr, und dann hilft der Hei- land jeder aufricdtigen Seele, auc alle uͤbrigen Schritte gu thun. Obne den Heiland ware es unmodglid, auf dem Wege der Heiligung gu gehen. Gehet hin nad Golgatha, jum Kreuze, gu Sefus, fehet das Blut und die Wunden, dann befommt ifr Waffen gum Streit. Seht und erwaͤgt es, wie viel es tem Heilande gefoftet hat, uns gu erlofen. Go geht es nidt, daß ihr das halbe Herz der Welt, das halbe dem Heilande ibergebet. Gehet aus von dem grofen Haufen: denn eine allgemeine Bekehrung gefchieht niemals, bevor nidt entſetzliche Begebenheiten auf der Erde gewiithet haben, alfo daß, wenn es moglich ware, dann aud) die Auserwahlten ver: fibrt werden. Gerade jest ift dad Chriftenthum verfallen, und ftebt auf ſchwachen Fuͤßen, ohne Geift und Leben, und wer will fic) retten laffen? Jetzt gebrauchet Gott uns Rufer als

ein Mittel gur Mettung der Suͤnder; aber wer glaubt e6? Liebe Seelen! fehet gu, auf welchem Wege ihr wandelt! Gebt eS fort auf dem breiten Wege, fo iff vor eud eine offene Holle; aber habt ihr den Fuß gefest auf den dornichten Pfad, fo iſt der Himmel ganz nabe. Da müßt ihe dem Himmel: reiche Gewalt anthun. Ohne Glauben, Reue, Wachen und Kampf fommt Keiner in den Himmel. Alle, die hineinge: fommen find, find eingegangen durd) viel Truͤbſal, und ſind gewaſchen mit Chriſti Blut. Haſt du die Nacht über ge— ſchlafen, fo muß dein erſtes Geſchaͤft fein, Gott gu preiſen, zu danken und zu ehren. Stehſt du auf, ſo ſollſt du ge— denken deiner Auferſtehung am juͤngſten Tage. Kannſt du jemals ſehen, wie es Tag wird, ohne von Herzens Grund zu wuͤnſchen, daß es moͤge Tag werden in deiner dunklen Seele? Kannſt du jemals einen Trunk Waſſer trinken, ohne dich zu erinnern an den bittern Leidenskelch deines Heilandes? Achtet wohl auf die Zeit der Gnade, ſie iſt koſtbar! Kannſt du je ein Stuͤck Holz ans Feuer legen, ohne zu denken an die Hoͤlle? Je mehr du Holz zuſammenlegſt, je groͤßere Flamme. So wird es mit den Menſchen, welche in eine brennende Hoͤlle hineinkommen; je mehr Menſchen dorthin kommen, je groͤßer wird die Flamme, je ſtaͤrker die Pein. Daher liebe Seelen, Aeltern und Kinder, Dienſtleute und Herrſchaften! geht mit einander zum Himmel, und betet herzlich fuͤr einander. Das Gebet iſt der Schluſſel zum Himmelreich, nur daß nichts An: dered gilt, als Chrifti Gerechtigkeit, wenn ihr kommen ſollt zu dem großen, herrlichen Abendmahl im Himmel. Wir fon: nen niemals an einem Gabbathmorgen aufwaden, obne mit Bhranen gu beflagen, wie uͤbel wir denfelben feiern in des Satané Dienft, mit Spiel, Tanz, Schwelgeret, mit Handel und Wandel. Verflucht ift, wer ohne Noth am Sabbath Fauft und verfauft mit Gewicht und Maaß, ja alled Gitle . enthei- ligt den Sabbath. Branntweinsfide, finnen keine Bitten es liber euch vermigen, daß ihr von eurem Rochen abfteht? Der CSinderhaufe ift fo fred), daf wenn Gott felber auf die Erde herabftiege und ſpraͤche: Du follft nicht faufen, fluchen und gottlod leben, fo ware es umfonft fiir den grofen Suͤn— berhaufen. Gott hat und hingeftellt, Wehe und Flucd gu

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rufen tiber diefen Mein des Zornes (mit dbiefem Ausdruck bezeichneten viele rufenden Stimmen den Branntwein). Got- tes Geift fagt, daß fo viele Seelen im Abgrunde-liegen ded Trunkes halber. Mit denfelben Giinden, womit der Menſch gefiindigt hat in diefer Gnadengeit, foll er in der Holle ge- peinigt werden: dort follen Strome von bem Zornesweine Got: tes fluthen, um die Saͤufer brennen, und ihre Stallbri:- ber, welche einander verfiihrt haben. Liebe Seelen, aller Suͤnde muß abgefagt werden, um Jeſu willen, und unfren armen Geelen gu Liebe. Cine rechtfchaffene Buße miffen wir thun. Zwei Wege habt ihr vor euch; geht aur Rechten, fo daB eS nad) ber Seite gehe, wo Sefus wird Gericht hal: ten. Steht nicht am Scheidewege und befinnet end. Bur Linfen geht’s zur Hille. Ihr habt einen freien Willen. Gott reifet Seinen bei den Haaren in den Himmel. Ihr follt’s verantworten, ob ihr gum Segen oder zur Verdammniß ge- hort habt.

§. 23. Urfprung, BVerlauf und Ende der Epidemie.

Durch den Bericht des Provinjialarstes Dr. Skoöldberg in Sonfoping ift e8 außer Zweifel geftellt, daß ein dem Beité- tanze beizuzaͤhlendes Mervenleiden eines 16jdbrigen Madchens die unmittelbare Veranlaffung gum Ausbrucd der ganzen Epi: demie gab. Lifa Andres-Tochter war bis Mai 1841 von guter Gefundheit gewefen, litt aber ſeit jener Zeit an Kopf: ſchmerzen und Unterleibsbefchwerden, worauf nach einiger eit fid) Krampfe in Handen, Armen, Gefidht, Hals und Beinen einftellten. Da Ginne und Verftand in ganz guter Befchaf: fenbeit waren, fo befchaftigte fie fic) mit Leſen von allerhand geiftlichen und weltlichen Bichern, Gefchicdten und Liedern, welche fie im Auguft taut gu Tefen und gu fingen ein Be: diirfnif empfand. Das Geriicht von ihrer langwierigen Krank— heit mit wunderlichen Zuckungen und Verdrehungen des Ror: pers bei oft erhoͤhtem Wobhlbefinden fihrte juerft einige mt: fige alte Weiber dorthin, welche ihren Zuſtand nicht fiir Krank: beit, fondern fiir etwas Anderes hielten, was in ‘ihrem Leibe regierte. * Der fo gewedte Gedanfe wurde ſchnell ergriffen und

weiter verbreitet, gumal da Liſa anfing, vor andachtigen Wei- bern Verſe aus einem Gefangbude gu fingen, und einen une iiberwinbdliden inneren Vrieb fuͤhlte, laut gu reden. Skoͤld— berg, welder fie im December 1841 fah, fchildert ihren ftar- fen, vollen Rorperbau, ihr ſanguiniſches Semperament, ihre frifde und gefunde Geſichtsfarbe und das ungeffdrte Vonftat- tengehen aller forperliden Functionen, mit Ausnahme der hau: figen Krampfanfalle unter den wunbderlichfien Formen. Ihre Seelenvermigen. waren in vollfommen ungeffdrter Verfaffung. Gie hatte auch feine Vifionen, nod) Umgang mit Teufeln und Engein gehabt, und befehrich ihre Predigtverfude als ein un: widerſtehliches Bediirfnif, um Befferung ju rufen, gu fingen und gu reden. Daf fie nidt im Stande war, daffelbe nod) einmal gu wiederholen, follte hoͤhere Sendung und Beruf be- weifen. Als fie darauf aufmerEfam gemacht wurde, daß fie im Anfange weltliche Lieder gefungen, und Erjablungen von zeitlichen Dingen geliebt habe; fo wollte fie died ſchwer an- erfennen, und fagte endlid), fie koͤnne nicht erklaͤren warum fie das Eine oder Andere geredet oder gefungen habe. Ihr Zuftand mufte um fo mehr Auffehen erregen, da auch ihre 18jahrige Sdwefter Stina an einem gelinderen Veitstanze gelitten hatte; jedoch war letztere ftill und verſchloſſen, ant: wortete auf des Arztes Fragen cinfylbig und verdroffen, und fchien von der Kranfheit etwas ftupid gu fein. Das Madden Maria Svensdotter, 13 Sabre alt, war, nachdem fie Lifa im Auguft predigen gehdrt, und in ihren Kradmpfen ge— feben hatte, von gewaltfamen Gonvulfionen befallen worden, fo daß fie bid unter das Dad de3 Haufes hinaufhipfte, und wunbderlice, halsbrechende Spruͤnge machte. Als fie horte, daß Lifa mit Predigen aufhirte, und daß fic) Zuhoͤrer gu mebhreren Hunderten an den Abenden fammelten, hat fie felbft damit angefangen. Sie war von ziemlich ftarfem Koͤrperbau, hatte guten Appetit und Schlaf. Daf bei Maria, aufer der Wirkung des Nachahmungstriebes, auc) noch Cigenfinn, Muthwille und der Wunſch, Bewunderung und Gntereffe gu erregen, an ihren religidfen Ertravagationen. Theil batten, war. dem Argte ziemlich augenfallig. Sie erfldrte, daB, wann der H. Geift finge, es vollig unmoglic fei, ihn gu unterbrechen

oder zu hemmen, wenn auc Mund und Rafe sugehalten wir: ben, ja, wenn eS auch das Leben fofte.

So entftand nun die Epidemic guer{t im Gommer 1841 im Kirchſpiel Hjelmfergd in Smaland, und wurde daber zuerſt Hielmfergd- Krankheit genannt, aud, ‘weil befonders unver- heirathete Madden von ihr ergriffen wurden, Magdfrankheit. Die widerfprechendften Meinungen wurden laut. Neben den Volksgeruͤchten famena ud) die Berichte des Dr. Skoͤldberg an die Behdrden und an das Koͤnigl. Gefundheits- Collegium zu Stodholm. Das betreffende Minifterium (Ecclesiastik - De- partement) erließ nun im Februar 1842 Aufforderungen zu Beridten und zu berubigenden, vorbauenden und hemmenten Maaßregeln an die civilen, geiſtlichen und aͤrztlichen Organe. Sn diefen Sehreiben druͤckt fid) deutlid) aus, wie unentfdie- den man nocd uber den Gib und die Natur der Krankheit war. Jn dem an dad Gonfiftorium gu Merid heift fie Reli- gionsſchwaͤrmerei, und die darin gegebenen Ralhſchlaͤge laffen ſich auf nicht Phyſiſches ein, wabhrend diefed keinesweges durd) bie Natur der ſchwediſchen Confiftorien und Pfarraͤmter aus: gefchloffen wurte. Gin Schreiben an das Gefundheités- Colle: gium beridfidtigt nur die leibliche Seite, und behandelt die Grfheinung als Kranfheit. Gin anderes an den Statthalter fieht Religionsfchwarmerei als Wirfung der Kranfheit. Cin viertes der Landed: Ranglei an das Gefundheits- Collegium re: bet wieder von Religionsſchwaͤrmerei. Aud) in anderen offi- ciellen Documenten wird bald diefe, bald die koͤrperliche Krank: beit alS bas prius angefehen. Je mehr die wunderbare Epi: bemie um fic griff, um fo ernftlicere Mittel wurden dar- wider angewendet. Den Paftoren wurden gedrucdte argtlide Vorfchriften gegeben, fic) threr felbft gu bedienen, und fie dem Vole mitzutheilen; auch follten fie mit Hilfe der kirch— lichen Unterbeamten Argneien vertheilen. Die Erfranften wur- den nad den Provingial-Lagarethen gefchafft. Um die An: ftefung 3u verbindern, wurde dad 3ufammenlaufen gu den rufenden Stimmen ftreng unterfagt. Denn es hatte ſchon ein aweiter umfaffender Bericht tes Dr. Skoͤld berg vom 16. Fe: bruar 1842 mit grofer Unrube und Bekuͤmmerniß genteldet, wie ſehr fic) leider feine friihere Vermuthung, daB die Krank:

heit anftedend fei, beftatigt habe. Nachdem fie im Kirchſpiel Hjelmfergd zuerſt erſtickt fchien, trat fie mit erneuter Kraft hervor, fo daß im Februar 1842 uͤber 20 Prophetinnen dort bie erftaunte Menge um fic) verfammelten. Unter ihnen wa: ren aud) einige Gerhéirathete und Kinder *). Um Ddiefe Beit

*) Sn cinem Beridte vom 30. Sanuar 1843 heißt es von einem 4jabh- tigen Madchen: Sie hat viel gelindere Zuckungen gehabt, dagegen aber ftarfe Betiubung, welde je cine Stunde daucrt; wabhrend derz felben ruft fie eine halbe Stunde. Der Anfang des Rufes ift jedes- mal: „Im Mamen des Vaters, des Sohnes und des H. Geiftes.” Sie fagt: Gott im Himmel wolle jest die Herzen aller Sunder öff— nen. Liebe Seelen! Habt ihr eure Herjensbibel ſchon gelefen? Liebe Seelen, thut Buse, dle eit iff furs. Liebe Seelen geht hinauf auf den Berg Golgatha, da legen unfre HochscitsEleider. Reiner fann ohne Hochzeitskleider zum grofen Abendmahlstifche Fommen. Es ift ſchrecklich, daß bier zwei Abendmahlstiſche gedeckt werden follen. Wenn Jeſus ſeinen Tiſch deckt, fo paßt der Teufel auf, ſeinen Tiſch zu decken, aber ſein Tiſch muß hinten ſtehen, aber Jeſus ſetzt ſeinen Tiſch vorne hin. Liebe Seelen, glaubt an Jeſus. Es taugt nicht, daß ihr glaubt, mit verſtocktem Herzen Gott zu ſuchen. Glaubt ihr nicht der Bibel, ſo glaubt ihr auch nicht unſrem Rufen. Wenn mir Jeſus nicht geſagt hätte, was ich rufen ſollte; was würde ich denn ſagen können? Sagt mir das! Das Mind rief beſtändig, taf Buße gethan und alle Hoffart weggethan werden müßte; das Rufen war ein herzlich bittendes. Dieſer Ruf machte auf das Volk einen unbeſchreiblichen Eindruck, viel mehr als die vorzüglichſten Bußrufe älterer Perfonen, fo daß die Verſammelten, jung und alt, in großes Weinen daruber fielen, daß cin 4jähriges Kind fo reden Fonnte. Viele fagten: Nun können wir fehen, daß es von Gott fommt. Das Kind fing am Zage vor Weihnadtsabend 1842 an ju rufen, und fubr dic ganze Weihnachtszeit hindurch fort, taglid) cinmal ju rufen, aber von Meujahr an traten langere Zwiſchenräume zwiſchen den einzelnen Ruz fen cin. Daf dies’ Kind gleich andern Stimmen in Betdubung und ohne Bewußtſein ſprach, ift die ausgemadhtefte Wahrheit. Schwe— rer gu glauben ift folgende Mittheilung deffelben Bericferftatters. Sm Ry iff cin Fleines Kind, nur 2 Jahre alt, welches in Beriue bung gu Boden fiel, wahrend die Mutter, allein zu Hauſe, eben Brot baden wollte. Sie glaubte, das Kind fterbe, nahm es in ibre Arme, und legte es auf cin Bette, fand aber, daß das Rind an als ten Glicdern ftcif oder erftarrt war, weshalb fie hinauslief, und cine Magd von ihrer Arbeit ins Haus rief. Als fte guriidfam, hatte das Eleine Kind fchon angefangen, gu rufen; e6 hatte aber nicht mehr gu fagen als: Sich, der Himmel ift ein Wafer. Ach fich der Himmel

241 hatte fid) bie Epidemic auch ſchon in vielen anderen Paftora: ten auSgebreitet, und ndberte fid) Joͤnkoͤͤing. Schon mifchte fic) halbe ober villige Verſtellung ein, e3 rourden fogar Rin: der von ihren Aeltern angelernt, die Gebdrden und Predigten nachzuahmen, denn es bradte aufer der Ehre aud Geld und Lebensmittel ein *); die Gefangniffe und die rufenden Stim: men felbft, Freund und Feind geben Zeugniß von einer uͤber— grofen Zahl folder Vetriiger. Auch fie eben fowohl, als die wahre Pred.- Kr. wirkten anftedend auf die Bufchauer. An: dere fehnten fid), und beteten inbrinftig, daß dod) aud) uͤber fie und ihre Kinder fo der H. Geift fommen modte, und ad: teten gefpannt auf die leifeften Angeichen, fie mit Entzuͤcken aufnehmend und mit Begierde fic) ihnen ergebend. So wirfte in den meiften Fallen die aufgeregte Phantafie, Cinbildung, Gitelfeit mit den koͤrperlichen Urſachen zugleich und foͤrderte diefe hichlichft. . Gang beſonders anftedend erwied fid) das Zu⸗ ſchauen und Anhoren, gumal wenn das oben erwahnte Ernenz nen hinzukam. Ginige folde, von denen eine Prebdigerin ge: fagt batte, -fie wuͤrden aud) rufen, legten fic) ins Bette, und warteten Tage lang auf die erften Symptome. Nicht gu iiberfeben iff, wads fic aus dem Vergleiche der Krankheits— geſchichten ergiebt, daß die erften Falle vorherrfchend fdrper: lid), die letzten vorherrſchend feelifd) waren. Die Phantafie und ihre Reizung durd die celigidfen Materien hatte mehr

ift fo ſchön. Und damit fubr das Kind cine Vtertelftunde fort; dann erwadte es vollfommen gefund. Mur dreimal hat es auf dicfe Weife gcrufen. Zuckungen hat es nicht gehabt; fein Elciner Ruf hat auch gang aufgehért, und es ift bet guter Gefundheit.

) Dr. SEK (dHerg erzählt in einem Berichte: Ale Scheiben im Zim⸗ mer waren jetfdlagen, der Ramin befdhadigt, Thiiren ausgehoben. Da ich die Acltern wegen thres Gefchics “bedauerte, antworteten fie, die Leute feien wohlhabend, gdben Nahrungsmittel und Geld, und bas Madden laffe gu, dah fie es anndhmen, wenn es aus gutem Hers gen und mit driftlidhem Sinne gegeben werde. Die Mutter hatte mit einem jiingeren Kinde auf cin nabelicgendes Gehöft weichen miiffen, Obgleidf lange fein Feuer im Bimmer brannte, hatte es dod) aus dem Dace und den Manerrisen gedampft von der gufammengepreften Menfchenmaffe; auf dem Boden hatten fid) Einige Oeffnungen nad unten gemadt, um zuſchauen ju können. Ideler Theorie v. relig. Wahnfinns, 16

242

Antheil an der Ausbreitung als an der Entftehung der Pred. - Kr., fagt der Beridterftatter. Die Unfreiwilligfeit hat in den erften Perioden mehr in den Gliedern gelegen, nachher mehr die Seelen ergriffen durd) den allgemeinen Rauſch und burd) die ftufenweife Einmiſchung von Nadgiebigkeit, Sehn⸗ fudt, Luft, Entgegenfommen, Nachahmung und Heucheln. Gine Anfchauung von der Verbreitung finnten etwa fol: gende Zablen geben, mit welden nun aus verfchiedenen Paz ftoraten Berichte ecinliefen: Sn einem 35, in einem anderen 10, in einem Ddritten 40, in einem 15 Rranfe, von denen nur 3 predigten, in einem 12 Sranfe binnen 8 Tagen, wor: auf alles rubig wurde. Doc fehreibt Dr. Skoͤldberg nod im Marz: Die Kranfheit wachft mir uͤber den Kopf. Er berich— tet, wie erftaunlicd) fie gewachſen, und wie aufgeregt dad Bolf «fei *). Sowohl die Neugier, welche durch das GSeltfame fol: cher Scenen befchaftigt wurde, als aud) die Anficht von der Matur derfelben zog alle Gemither des Volks an. Feder wollte Augen: und Ohrenzeuge davon fein, wie der H. Geift die Serle aus ihrem 3ufammenhange mit dem Leibe, und diefen aus feinem Bufammenhange mit der Natur reife, um durch die am meiften in die Augen fallenden Mittel die himmlifchen Dinge mit Gewalt an die Herzen zu bringen, und diefe durch die Buße zu Chrifto gu fihren. Die Unwillkuͤrlichkeit und fo: gar Bewuftlofigeit nicht nur bet den Rrampfen der Glieder, fondern namentlid bet dem Gingen und Reden, der fromme und erſchuͤtternde Inhalt, das Wahrnehmen mancher Umſtaͤnde

*) Er erzählt von.cinem Mädchen, welches einen Monat lang täglich por 2—300 Perſonen gepredigt habe. „Ich fam erſt nad der Prez digt an, und hörte, daß mehrere Tauſend Perfonen verfammelt gewe⸗ fen ſeien, und die Nacht größtentheils unter freiem Himmel draußen vor der durch die neugierige Menge ziemlich verſtörten Stube juges

bracht hätten.“ In einem anderen Berichte heißt es: Bn dieſem Hauſe ging das Elend und die Verſtörung bis zum höchſten Grade. Man ſtelle ſich 8 —10 Wahnſinnige vor, die zuſammengebracht find, und nun ihrer Raferet freien Lauf laffen. Sie bellten wie Hunde, heulten wie Wölfe, fprangen, tanzten, rollten fic) auf dem Boden, Cinige fagten Gebete her, neigten fic) gu Boden, ſtromweis rannen die Thränen iiber die Wangen. *

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aud) bei gefchloffenen Augen, die gefteigerte und uͤber den fon: fligen Standpunft gehende Sprache, fogar bei fleinen Sin: dern, alle dieſe unerhirten Dinge liefen eine Erfillung der Prephezeiungen Boel 2, 28 und. Apoftelgefdichte 2, 16 ff. er: fennen, welche nicht, wie eingewandt wurde, am erften Pfingit- tage ſchon vollfommen eingetroffen feien, indem damals der Geift fic) nod) nicht. auf. Knechte und Maͤgde ergoffen habe. Viele Lefer nahmen lebhaften Antheil. Zwar wo. ein ihnen zugehoͤrender Pfarrer fie warnte, waren fie aud) wohl mif- trauifd), bielten iby Urtheil gurid, und meinten in der Schrift alle Wahrheit gu haben und nicht abermals übernatürlicher Offenbarungen gu bedirfen. Manche meinten fogar, der Teu— fel habe fic) in. tinen Engel des Lichts verFlart, und greife die Seelen mit Gottes Wort ah, wie Matthaus 4, 6, den Herrn felbft, um fie in Werkheiligheit, Sicherheit und geiſtlichen Hochmuth zu ſturzen. Jn anderen Kirchfpielen aber, wo die Lefer fchon vorher ihren Pfarrern nicht befreundet wa ren, triel fie eine fchonungslofe und ungeiftlide Behandlung ber Gache durch die Oberen geradegu erſt recht hinein. Auch abgefehen davon, daß dad Boll die Nichtachtung feiner geift- lichen Grregung und den Harter’ oder leichten Spott der Bor: nehmen iber feinen Glauben bitter empfand, wurde es ſchon durch die leiſeſte Borausfebung irgend eines phyfifden Cle: ments in ben wunderbaren Vorgaͤngen verlest, und fah, zu— mal da die Kranfen fo wenig litten, jeden Wunſch der Un- terdruͤckung und die Anwendung jedes aͤußern Mittels als Er: zeugniß ded Unglaubens an. Es fei fiindhaft, fo dem Herrn widerftehen gu wollen. Zweifel und Warnung wurde oft Got- tedlafterung genannt. Den aͤrztlichen Befuden und Medica- menten, den poliseilichen Verboten des Zufammentlaufens und dem gewaltfamen Einfuͤhren in das Lazareth widerftrebte man fo viel als moͤglich, befonders die Aeltern; ſchon die “Frage nad dem korperlichen Zuſtande *), ja die vo Gegenwart von

*) Gon dem unwillfiirlichen auch (ciblichen Ginfluf, ben cin Wider⸗ ſpruch auf die Kranken hatte, erzählt Bifchof B. 5. B. „Als ich bei meinem Befuche in Ed vor den Berfammelten meine Meinung äu— ferte, die Bucdungen feten Wirfungen eines körperlichen Krankheits—

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Honoratioren (unter denen jedoch aud) Cingelne von der An- flefung ergriffen wurden) reigte bidweilen auf das Heftigfte, und allen jenen theilS freundliden, theilS gewaltfamen Dems mungen gegeniiber betrachtete man fic), vorgiiglic) die Kran: fen, als Martyrer fir den heiligen Geift wider den Teufel. Dies hatte biéweilen fanatifche Ausbruche zur Folge. Dr. Stiloberg erjahlt 3. B. in feinem amtliden Beridte: „In R. befanden ſich in einer einzigen Stube fechs Madden Franf, die abwedfelnd predigten, im Hausflur ftanden die Menſchen eingefeilt, eftwa 100 draufien. Bei meinem Gintritt fab id ein 11jaͤhriges Madden, das von 2 Perfonen in den Armen gehalten wurde; fie fcrie laut, taf man Buße thun folle. Gin lautes Schludyen, ja ein ordentlideds VBrillen der Mens fdhenmaffe fonnte man weithin hoͤren, man fah alle mit ver: zerrten Zugen und haufigen Bhranen. Alle Vernunft -fcien verſcheucht, es war eine allgemeine Aufldfung in Gefihle und Sdhreden. Maja A. hatte 8 Tage an Budungen gelitten und Zag und Nacht gebetet, Er mochte das Band ihrer Bunge lofen; den fie hatte nod nicht gepredigt. Auf einmal nahm M. das Wort, erflarte, daf der Herr das Band ihrer Bunge gelofet habe, und fing an, iiber mid herzuziehen, und mid einen Hokenpriefter gu nennen, der die Heiligen kreuzi⸗ gen wuͤrde, wenn er diirfte. Sie ermabhnte die Leute, oft gu fommen, und fegnete fie dafiir. „Wenn die Herren fagen, daß das Geſetz es verbiete, fo follt ihr dod einer hoͤheren Obrigkeit dienen, welche uͤber allen Obrigfeiten iff. Shr feid frete Menfden in einem freien Lande und feine Knechte.” Dies wiederholte fie mehreremal, fo. daß mich duͤnkt, es ift iby von Jemand foufflirt worden. Die Leute fingen an, mich immer harter gu drangen; ich machte mid in der Klemme

guftandes, fielem alle antwefenden Kranfen auf cinmal in beftigere Krimpfe, alé id) guvor bei ihnen gefehen hatte. Da ich nun fragte, ob fie bel ndbmen, was id) aus Ueberzeugung gedufert hatte, fo wandelten fic) alle Züge ihres Gefidhts von dem finftern Ausdrud, den fie mahrend der Sudungen batten, in lächelnde Freundlidfeit, und Mehrere antworteten zugleich, daß fie gewiß nicht übel nähmen, was ich gefagt hätte; aber fie möchten wollen oder nicht, fo wären fie ges zwungen gu den Sudungen, fobald Jemand dawider redete.”

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fo ſchmal wie moͤglich, arbcitete mid) fact gegen das Fenfter bin, und fprang durch daffelbe hinaus, einigen davorftehenden alten Frauen in die Arme. Ich horte M. hinter mir gegen Tropfen und fpanifche Fliegen donnern als einen Hohn gegen den grofen Meifter, den fie in ihrer» Bruft firhite.” Gin anbdermal begegnete derfelbe auf feiner Snfpectionsreife einem Haufen von Menfchen, die ihm erzahlten, wie der Paſtor W. mit Stifen und Sdlagen von dem Orte der Verfammbting vertrieben wurde. „Nach ihrer Meinung fei er vielleidt um- gebracht worden, wenn die rafenden Menfchen ihn erreidten, indem er floh fo fchnell die Pferde laufen fonnten. Ich wurde aud ‘gewarnt, mid nicht dahin gu wagen, wenn mir. mein Leben Lieb fei. Anderswo traf ich eine Familie, die aus Furcht die Flucht ergriff, weil der Mann fic) den Andern nicht hatte figen wollen; es war ihm faum nocd gelungen, fein Haus ju verfchliefen, und er meinte, fie michten es vielleicht in Brand geftedt haben. Auch er warnte mich, und wufte nicht, ob der Prediger entfommen fei. Ich Fehrte Meile vor dem Plage ein, und nabherte mic) dann gu Pferde, um beffer fliehen gu fonnen, falls es noͤthig wuͤrde. Der Pre- diger war mit Mie entronnen, ungefabr vierzig Unfinnige hatten ihn eine Viertelmeile mit Knitteln und Steinen ver: folgt. Mur die Menge meiner Begleiter rettete mich.” Schon in einer Provinjialverfiigung vom 9. Febr. 1842 erfennt man, wie die Geiftlidfeit Grund gefunden hatte, vom Gebraud) der Gewalt in einigen Gegenden abjurathen; es wurde verordnet, die Patienten in das Provingial- Lajareth gu _bringen, ,,fofern es fich thun laft und die Gemirther nicht fo fanatifirt find, daß die WiderfeslidFeit der Maffe gu be- fuͤrchten fteht.” Meiftentheils freilid) ergab man ſich in die obrigfeitliden Maafregeln, obwohl dagegen proteftirend. Auch nad den ſuͤdlichen Gegenden der Proving, nad) Kronoborgs- Lan (Werid) verbreitete fic) die Epidemie ſchon im Februar, da einige hundert Perfonen nad) Hjelmfergd gegangen waren, um die Predigten gu hdren. Waͤhrend aber in den bisher be- trachteten Diftricten vorherrſchend weibliche Perfonen, nament: lid) unverbheirathete in der Reife der Mubertat befindliche er: griffen wurden, waren es bier an einigen Orten vorherrſchend

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Knaben. Allmaͤhlig erreichte die Krankheit in ben verſchiedenen Gegenden Smalandé ihren Gulminationspunft. Wiele aus dem Volke felbft fingen an, Heilmittel gu begehren, der Glaube an bas Uebernatirlide in den Borgdngen fanf.. Gm April wurde der Enthufiasmus in der Gegend von Hielmfergd immer geringer; in DHjelmfergd felbft war, wie Dr. Sfoloberg meldet, die Befinnung vollfommen wieder hergeftellt, obgleid nod) Mehrere an Zucungen liften. Aus einem andern Bheile der Proving fchreibt ein Argt nod) im Funi, die Krankheit fei nod im Zunehmen; im Auguft nahm fie aud hier ab. Gn: zwiſchen war fie fdon im Mai nad Weftergotland gefom- men, theils durch Ginwohner diefer Proving, die mad) Smaland gegangen waren, um dort Predigtfranfe gu hoͤren, theils durch umberftreifende Gmalander. Zuerſt fand fie nicht viel Aufnahme. Cine Gemeine bat felbft, als der erfte Fall in ihr vorfam, um Cinbringung bes Kranfen in das Lazareth, damit Anftefung verhitet wirdes ein Heuchler wurde. ertappt und dusgeladt. Bald wurde aber aud) bier die Sache ernft: hafter und griff tiefer und weiter um ſich, namentlid leiftete Der hier fo weit verbreitete Hoofvianitsmus Vorſchub. Viele Predigende ftreiften in den einzelnen Waldgehoften um- ber. Auch in diefer Proving wurden meift Weiber und nod mehr Madchen ergriffen, aud) Kinder zwiſchen 7 und 13 Sabren, felbft jingere; doch verhaͤltnißmaͤßig mehr junge Burſche, als in Sntaland. Gin Arzt, macht die Bemerfung, bas moge viel: leicht daher riibren, daß die Weiber und Madden in Wefter- gdtland den Mannern viel mehr Arbeit abnehmen muͤßten, als in Smaland. Gin anderer Unterfdjied geigte fid) darin, daß die Unfreiwilligfeit ber verſchiedenen Symptome haufiger zuruͤck— trat theils hinter Heuchelei, theilS hinter eine halb bewufite mehr pſychiſche Aufregung. Wis in das Fruͤhjahr 1843 hinein finden fid) Krankenberichte aus diefer Proving: Biſchof But fh ſchreibt im April 1843, daß im Stifte Sfara bis gu jenem Zeitpunfte im Ganzen etwa 2— 3000 Perfonen frank gewefen feien. So zog alfo die Rrankheit allmablig noͤrdlich, uͤberall einige Woden, felten Monate, verweilend, und verſchwand endlich in den firdlichen Theilen von Wermland und Nerike, ohne fid), wenige fporadifche Falle abgerednet, weiter gu geigen.

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Wie tief dev Cindrud gewefen fein mus, den der Anz blick jener Scenen felbft auf viele Gebildete hervorbrachte, (apt fich an den Aeuferungen des unbefannten Augenzeugen er— mefjen, deffen Bericht den Haupttheil der unten genannten Schrift ber die rufenden Stimmen ausmadt. Er fagt u. a.: „Was die Stimmen angeht; fo haben fie keinen freien Wil— len, fondern werden getrieben von einem unerflarliden Triebe, welthen die griften Bheologen und Aerzte ſchwerlich (2) mit: telft deS blofen Naturlichts werden erflaren finnen. Siehe! es muB als ein Beichen angefehen werden von Sedem, dev nad) oben ſchaut und glaubt, daf Gott die Welt regiert. Vor den Weifen der Welt mag dies Aled als etwas blos Natuͤrliches erfcheinen, ja ohne Ausnahme als cine mit Wabn- wif verbundene Kranfheit; aber Der, welcher die Welt er fchaffen, hat aud) die fogenannte Kranfheit als ein Seiden der Beit gefandt. Es ift Gott, der Allweife, und Niemand alé Er hat den Buferuf der Wabhrhaftigen und Redlichen zu Stande gebracht (!!), fo daß es von diefen Nufern nicht ab- hangt, was fie reden wollen, fo wenig als eS von dem Sohne der Wittwe ju Nain abbhing, fein Leben wieder zu befommen” u. ſ. w. (a. a. D. S. 32). Ganj in demfelben Geifte gedacht, nur nod mit einer ftarfen Dofis Fanatismus verfegt, iff der Bericht eines Augengeugen aus der Engliſch Biſchoͤflichen Kir— che, mitgetheilt in Hengftenberg’s Evangeliſcher Kirchen— geitung Sabrgang 1846, Margheft. Daf der Mann ſehr vor- nehm auf die Aergte und ihre Forfchungsweife herabfieht, mag ihm herzlich gerne vergiehen werden, da er uber Dinge ur: theilt, von denen er Nichts verfteht; wenn er aber von der ſchwediſchen Geiftlidfeit behauptet, ,,daf bei gar Vielen unter ihnen died wirflid) Dad Aeußerſte ift, was man von ihnen Gutes fagen fann, daß fie von der Kanzel nicht die Lette gur Siinde aufgefordert haben” (a. a. D. S. 182); fo fann ein fo frecher Fanatismus nur nod iiberboten wer: den von folgender Aeuferung (a. a. OD. GS. 191): ,, Das wabhe- haft Schmerzliche bei der ganzen Erfcheinung, und was auf einen. 3uftand der Geiftlicfeit fchliefen (aft, woruͤber man Blutthranen weinen mite, ift das Verfahren der verordne: ten Dirten und Lehrer der Kirche bei diefer fo wichtigen Ge:

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legenheit. Sollte man e8 fiir moͤglich halten, daß bei einer ſolchen Grfcheinung (wenigftens fo weit id erfabren fonnte) Fein eingiger Geiftlider da war, ber fic) als ein wahrer und trenuer Hirte der armen Leute annahm. Won der Rangel herab wurde dagegen gepredigt und geftirmt, der chriftlide Seelen: birt trieh Hand in Hand mit der weltlichen Obrigheit das Werk der Verfolgung. Wo ein Geiftlicer chriſtlicher gefinnt war, und vielleidt giinftig oder weniger unguͤnſtig uͤber die Erſcheinung dachte, jog er fic) ſchuͤchtern zuruͤck; ftatt die Gade griindlid) zu unterfucben, und Leben und Beit daran gu geben, die Wahrheit an’ Licht gu bringen, und als ein treuer Hirte die Schaafe vor dem Wolfe zu ſchuͤtzen (follte er gu der Ueber: geugung fommen, das Werk fei vom Beufel), lief er wie ein Miethling davon, verftedte fish, und mabhnte Andere davon ab, ifn an Muth, Eifer und Selbftverleugnung gu uͤbertref⸗ fen” u. f. w.

Schließlich bemerke id) noch, daß ich die feltene Gelegen: heit gehabt babe, einen Krankheitsfall gu beobachten, welder mit der ſchwediſchen Predigtfranfheit die grifte Aehnlichkeit hatte, woruͤber id) in Mr. 2 des Jahrgangs 1847 der medizi⸗ niſchen Zeitung des Vereins fir Heilfunde in Preufen Bericht erftattet habe, und uͤber welchen aud Herr Dr. Alt, welder das Lehramt auf der Frrenabtheilung ber Charité mit dem glidlidften Erfolge verwaltet, als Augenzeuge in Nr. 13 und 14 defjelben Jahrganges der Verliner Aligemeinen Kirchenzei⸗ tung vollftandige Ausfunft gegeben hat. Indem ic) mic der Kürze wegen auf beide authentifde Beridte begiehe, bemerfe id) nur im Allgemeinen, daß der Kranfe, ein 19jabriger ro- bufter Fiſcherknecht auf der Inſel Ufedom, . feit Jahren mit epileptiſchen Krampfen behaftet war, gu denen fid in der leg: ten Zeit eine religidfe Aufregung gefellte, in welder er gang auf die naͤmliche Weife, wie jene ſchwediſchen Madchen, fir: zere oder laͤngere Bufpredigten hielt. Als diefe Erfcheinung befannt wurde, ftrimten Hunderte, ja Tauſende herbei, um fid an Ddiefer vermeintlichen goͤttlichen Offenbarung gu erbauen, und bald ergriff ein wahrer Schwindel die Menge, welche von dem Kranken Heilung von ihren Gebrechen, VWergebung ihrer Suͤnden, Worherverfiindigung der Zukunft verlangten.

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Sa es wurden diejenigen gemifhandelt, welche an feiner gitt: lichen Sendung atweifelten, oder welde von ihm nicht Verge: bung ihrer Suͤnden erlangen fonnten. Eine Gemeinde fafite fogar den Entſchluß, ihn alé ihren Prediger mit eigem firir- ten Gehalt von mehreren hundert Thalern anzuſtellen, ba ihr Geelenheil unter feine beffere Obhut geftellt werden finne. Es unterliegt nicht dem geringften Zweifel, daß dieſelben Sce- nen, wie in Schweden erfolgt ſein wuͤrden, wenn nicht die Behoͤrden ſofort eingeſchritten waͤren, und den an ſich ganz unſchuldigen Kranken aus der Mitte der bereits fanatiſirten Menge entfernt haͤtten.

Sechstes Kapitel.

Epidemieen des religiöſen Wahnſinns mit dem Charakter des Fanatismus.

I, Die Wiedertäufer im 16. Jahrhundert.

§. 24. Allgemeine Bemerkungen.

Die Reformation, der große Wendepunkt in der Welt— geſchichte, an welchem, um mit & Blanc (a. a. O. S. 10) gu reden, der Rampf des Sndividualismus gegen die Autori: tat begann, mufte in ihrem erften Fortfdreiten weit mehr einen jerftdrenden, als einen fcaffenden und bildenden Cha: rafter annebmen. Denn die Hierardie hatte mit fo eiferner Conſequenz ihre Zwecke verfolgt, jede geiftig ſittliche Selbſt—⸗ fidndigfeit in allen chriftlidhen Voͤlkern gu vertilgen, um ihre Gerfaffung in den feelenlofen Mechanismus de8 chinefifden Reiches gu verwandeln, daf fie in ihren Anmaaßungen nur burd) einen Kampf auf Leben und Tod aufgehalten werden fonnte. Durd die fyftematifche Vollftandigkeit ihres Strebens war fie, da das monarchiſche Princip ihe cin unuͤberwindliches Hindernif entgegenftellte, fogar gezwungen, ein monſtroͤſes Buͤndniß anit dem Feudalismus eingugehen, um die trogigen

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Vafallen zum Aufruhr gegen ihre. rechtmafigen Herrſcher auf: zureizen, und indem fie hierdurc mehr als durch alles Andere in dad ‘innerfte Grundgewebe der politifden und focialen Ver- haͤltniſſe eingriff, um fie ganjlid) nach dem Begriff einer theo- Fratifden Despotie gu geftalten, wuͤrde fie aud) unfebhlbar ih— ten Zweck vollftandig erreicht haben, wenn nidt die Waffe, mit welder fie fampfte, dad Evangelium, von Luther gegen fie gefehrt worden ware, Ueberblidt man von diefem Stand: punfte aus den Entwidelungsgang der europaͤiſchen Bolter, fo wird e8 im hoͤchſten Grade einleudtend, daß das Cbriften- thum das wefentlice Entwidelungsprincip derfelben geworden ift, weil alle Religionsfriege, welche ihre Schickſale vorzugs— weife beftimmt haben, in lebter Bedeutung nichts Andered3 waren, als der Streit ber die richtige Auslegung der Bibel. Denn indem alle Partheien in ihe das Tribunal in lester In— ſtanz erfannten, wor welchem ihre Rechte entfdieden werden follten, fo fonnte es nicht audbleiben, dak alle menfdliden Angelegenheiten von den allgemeinften politiſchen Fragen bis gu den Bedirfniffen des Familienlebens, ja bis gu den Her: zensgeheimniſſen jedes Cingelnen im richtig oder falfd) verftan: denen Geifte der gottliden Urfunde durchdacht und begruͤndet wurden.

Hieraus erhellt, daß es eigentlid) eine große Einſeitigkeit vorausfest, wenn in ber Reformationsgefdhichte gewoͤhnlich die Glaubenéftreitigfeiten dergeftalt den Mittelpunft ausmachen, daß bie mit ihnen innig verflodtenen politifchen und focialen Umwaͤlzungen nur als hiſtoriſche Einfaffung des grofen Dra: maé in einem haltenden Rahmen beildufig erwaͤhnt werden. Mahrend alle mit Strémen von Dinte und Blut gefdriebe- nen Verhandlungen iiber die dogmatifden Gontroverfen bis in die geringfigigften Einzelnheiten gergliedert worden find, und mit nur einigen ruͤhmlichen Ausnahmen die Bornirtheit, Eng: herzigfeit und den withenden Fanatismus ber Kampfer in den abfchredendften Ziigen erfcheinen laffen, warten andere eben fo wichtige Greigniffe jener fo thatenfdhweren Beit nod) der auf: geFlarten Forfdhung, um in ihrer unermefliden Bedeutung gu erfcheinen. . Wenn 3. B. der Bauernfrieg gewoͤhnlich als eine blutige Epifode ohne wefentliden Einfluß auf den weiteren

Verlauf der Reformation ganz kurz abgefertigt wird, und neuere Bearbeiter deſſelben erſt aus einzelnen Bruchſtuͤcken ſein noch ſehr mangelhaftes Bild reſtauriren; fo vergißt man dar— uͤber gaͤnzlich, daß der ungluͤckliche Ausgang jenes Krieges recht eigentlich es war, welcher der ſocialen und politiſchen Freiheit jede Berechtigung am Reformationswerke abſprach, ſo daß letz— tered feiner nothwendigen Grundlage in den weltlichen Intereſ— ſen beraubt, wiederum in den ſtarren Dogmatismus einer fa— natiſchen Orthodoxie umſchlagen, und dadurch ſeinem Lebens: princip, der Glaubens- und Gewiſſensfreiheit, den bitterſten Hohn ſprechen mußte *).

*) Es iſt die ſchreiendſte Ungerechtigkeit gegen unfren großen Luther, wenn man ihn für alle ſchlimme Wendungen verantwortlich macht, welche das von ihm geſtiftete Reformationswerk in den nächſten Jahr— hunderten nahm. WBergeffe man doch nicmals, daß aud) der aller: größte Genius feine Zeit nicht machen, fondern ihe hidhftens einen Impuls nad) einer anderen Richtung geben Fann, in welche -fie alle iby anflebenden Gebrechen mitnimmt, und durd) fie feine reinen Zwecke zerſtört, oder wenigſtens verunftaltet, Wenn man diefe welthiſtoriſche Wahrheit nicht behersigt; fo würde man ſelbſt Chriftus anklagen miiffen, daf er nur Unbheil und Zwietracht unter feine Zeitgenoffen gebracht habe, ohne unmittelbar ein allgemeines Reich des Friedens und der fittlidhen Ordnung gu griinden, welches während der erjten Sabhrhunderte fich auf die engften. Kreife befdranfte. War es denn Luthers Sdhuld, dah nach ihm auch nicht cin einziger Mann auf⸗ fiand, dev an geiſtiger Erleuchtung und an Seelengrife ihm nur im Entfernteften Ahntich gewefen mare, und daher das von ihm begons nene Werk weiter hatte fortbilden finnen? Er hatte ja das Evanz gelium in der herrlichen Volksſprache Jedem zur freien und gewwiffenz haften Forfdung dargereicht, und wenn auch nicht ein Einziger in die Tiefe feines göttlichen Gnhalts eindrang, fondern fein Wortlaut nur zur Begriindung ciner hierarchiſchen Orthodorie diente ; fo giebt dies eben den fchlagenditen Beweis, daf die Seit cine vichtige Erkennt⸗ nif der Ojfenbarung unmöglich machte. Ba wir diirfen unbedenklich annehbmen, daf Luther feine ganze Beftimmung verfehlt haben würde, wenn er nicht im Geiſte ſeiner Zeit gedacht und gehandelt hatte, welche nur deshalb das Element ſeiner welterſchütternden Macht wurde. Als Rationaliſt in der edelſten Bedeutung würde er gar nicht verſtanden, vielmehr tödtlich angefeindet worden ſein; denn er hätte als ſolcher im Antriebe von Intereſſen der Wiſſenſchaft wirken müſſen, welche noch jest den härteſten Kampf-gegen ihre erbittertſten Wider—

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Mir finnen. natirlih diefen VBetradhtungen hier nidt weiter nadgehen, fondern haben fie nur eingeſchaltet, um ei- nedstheilé den Mangel an gentigenden Vorarbeiten hervorzuheben,

ſacher gu beftehen haben, und damals gu Niemandes Bewußtſein gee Tangt waren. Wollte man dod endlid) von dem thérigten Verlangen nad) Früchten guriidfommen, welche nist auf den Baumen ju wach— fen brauchen, weil fie wie Meteorftcine vom Himmel auf die Erde fallen follen! Wie ift namentlid) Luther der Herglofigkeit gegen das damalige Elend der unteren, Stände, der Partheinahme fiir die abfos lutiſtiſchen Principien, ja ber Redhtfertigung der Sklaverei angeflagt worden, weil feine Donnernde Schrift mider die räuberiſchen und mör— deriſchen Bauern (reform. Schrift. Th. 7. S. 183) allerdings viel ju ihrer Vertilgung beigetragen hat, und weil er aud) auferdem fiir dic völlige Trennung des geiftliden Lebens von dem weltlichen ciferte. Aber feine Tadler Hatten wohl vergeffen, in welchen edlen Zorn er gegen die weltlichen Machthaber enthrannte, wie er cine Menge ges frinter Hdupter mit fdhonungélofer Heftigfeit angriff. Wer folde Heldenworte an feinen Landesfiirften richten fonnte, wie fein unſterb⸗ lider Brief, den er auf der Rückreiſe von der Wartburg nad Wit⸗ tenberg zu Borna (5. Mary 1522) an den Churfiirften Friedrich den Weifen fdrich (ebend. Bh. 5. S. 146), unjabliger ahnlider hochher⸗ giger Acuferungen nicht gu gedenfen; der war gewiß nidt der Mann, welder den Anmaafungen der weltliden Obrigkeit aud) nur den gee tingften Vorſchub geleifter hatte. Wie tief und richtig er die Gebres chen ſeiner Zeit durchſchaut hatte, Ddapon legt feine Ermahnung jum Frieden auf die 12 Artifel der Bauernfchaft das glänzendſte Seugnif ab (ebend. Bh. 7. S. 152). Zuerſt redet er die Fiirften und Herren an: ,, Erftlid) mögen wir Niemand auf Erden danfen folches Uns rathé und Aufruhré, denn, cud) Fiirften und Herren, fonderlicd cud blinden Biſchöfen, tollen Pfaffen und Minden, die ihr noch heutiges Tages verftodt, nicht aufhört gu toben und wüthen wider das Heilige Evangelium, ob thr gleich wiffet, daß es recht iff, und aud) nicht widerlegen könntet. Dazu im weltlichen Regiment nicht mehr rhut, denn dah ihr ſchindet und ſchatzt, cure Pract und Hodmuth ju fiibren, bis der arme gemeine Mann nicht fann nod) mag line ger ertragen. Das Schwert ift cud) auf dem Halfe; nod meint ibe, ibe fist fo feft im Gattel, man werde euch nidt ausheben mö⸗ hen. Solche Sicherheit und verftodte Vermeffenheit wird euch den Hals brechen, das werdet ihe fehen. Ich hab's euch guvor vielmal verfiindet, ihe follt cud) biiten vor dem Sprud, Pf. 107: Effundit contemptum super principes, er ſchüttet Beratung auf die Fürſten. Ihr ringt darnach, und wollt auf den Kopf gefchlagen fein, da hilft fein Warnen nod Ermabhnen davor. Woblan, weil ihr denn Urſach

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welde einen fichern Blick auf die Entitehung und blutige Aus: breitung der Gecte dev Wiedertaͤufer werfen liefen, fo daß wir und mit eingelnen Bruchſtucken werden begniigen müſſen;

——

ſeid ſolches Gottes Borns, wird's ohne Bweifel auch über euch aus,

gehen, wo ihr euch nocd) nicht mit der Beit beffert. Die Zeichen am Himmel und Wunder auf Erden gelten euch lieben Herven, fein Guz t ten fie eudy, fein Gutes wird euch auch geſchehen. Es iſt ſchon des. tin grofer Theil angegangen, daß Gott fo viel falſche fehrer und eten unter uns fendet, auf daß wir zuvor mit Irr⸗ thum und G {afterung reichlich die Hille und ewige Berdammnif

verdienen. Das andere Stück ift auch vorhanden, daf ſich Die Bauern rotten, Daraus, wo Gort nicht wehret, durch unfere Buße bewegt, folgen muf Berderben, Verftirung und Verwüſtung deutſchen Landes durch graͤulichen Mord und Blutvergiefen. Denn das follt ihr wife fen, lieben Herven, Gott fchajft’s alfo, daß man nicht Fann nod) will, noch foll eure Wiitherci die Länge dulden. Ihr miiffet anders werden und Gottes Wort weiden. Thut ihr's nicht durch freund- liche, willige Weife, fo miift ihr’s thun durd) gewaltige und verderb⸗ liche Unweife. Thun's die Bauern nicht, fo miffen’s Andere thun. Und ob ihe fie Alle fchliigt, fo find fie noch ungeſchlagen, Gott wird Andere evweden. Denn ev will eud) ſchlagen und wird eud) ſchlagen. Es find nicht Bauern, lieben Herren, die fid) wider euch ſetzen; Gott it’s felber, dev fest fich wider euch, heimzuſuchen eure Wüthe⸗ rei. Sie haben 12 Artikel geftellt, unter welchen einige fo billig und recht find, daf fie eud) vor Gott und der Welt den Glimpf neh— men, und den 107. Pfalm wahr maden, dab fie Berachtung tiber Giirften ſchütten. Die andern Artifel, fo leibliche Beſchwerungen angeigen, als mit dem Leibfall, Auffage und dergleiden, find ja auch billig und recht. Denn Obrigkeit nicht darum eingeſetzt tft, daf" fic ihren Mugen und Muthwillen an den Unterthanen fudhe, fondern / Mugen und das Befte verfchaffe bet den Unterthanen. Mun iſt's ja nicht in die Länge träglich, fo gu fchagen und gu fdinden. Was hilft's, wenn eines Bauern Ader fo viel Gilden als Halme triige, fo die Obrigkeit nur defto mehr nahme, und ihren Pract damit im: met grifer machte, und das Gut fo hinfchleuderte mit Kleidern, Freſ⸗ fen, Saufen, Bauen u. dgl., als wire es Spreu? Man miifte ja den Pracht eingtehen, und das Ausgeben ftopfen, daf cin armer Mann aud ctwas bebalten fdnnte.” Hierauf wendet ſich Luther an die Bauerfchaft. „Ihr habt bisher, lieben Freunde, nichts anders * pernommen, denn daß ich Gefenne, es fei leider nur allzuwahr und gewif, daf die Fiirften und Herren, ſo das Evangelium gu predigen verbieten, und dic Leute fo unerträglich beſchweren, werth find und wohl verdient haben, daß fie Gott vom Stuble ſtürze, alé die wider

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andrerfeits aud, um es fo recht fiblbar gu machen, dag die fanatifden Greucl jener Gecte nur im 3ufammenhange mit dem Bauernfriege richtig begriffen werden Fonnen. Wenn die- felbe naͤmlich bei vielen ihrer Haupter den Charafter der Bru: talitat und Beftialitat in einem Grade hervortreten laͤßt, von weldem wir nur wenige Beifpiele in dev Weltgeſchichte haben, und wenn die dadurch hervorgerufenen Scheußlichkeiten mit aus: druͤcklicher Berufung auf deutliche Ausfprice des Evangeliums gesechtfertigt tourden; fo will eine fo gaͤnzliche Entartung der Menfchennatur zu einer Beit, welche andrerſeits fo uͤberreich

Gott und Menfchen fic höchlich verfiindigen; fie haben auch feine Entfhuldigung” u. f. vw. BWermahnung beides’ an dic Obrigkeit und Bauernſchaft. ,, Weil nun, lieben Herren, auf beiden Seiten nichts chriftliches ift, auc keine chriſtliche Sache zwi⸗

ſchen euch ſchwebt; fondern beide, Herren und Bauernſchaft, um heid— niſches oder weltliches Recht und Unrecht, und zeitliches Gut ju thun habt, dazu auf beiden Seiten wider Gott handelt und unter feinem Born ftehet, wie ihe gehört habt, fo laffet euch um Gottes Willen fas gen und rathen, und greift die Sachen an, wie foldhe Gachen anjue qreifen find, das ijt, mit Redht und nicht mit Gewalt, nod mit Streit, auf dah ihe nicht cin unendliches Blutvergtefen in deutſchen Landen anrichtet. Darum ware mein treuer Rath, daß mah aus dem Adel etliche Grafen und Herren, aus den Stddten efliche Rathsherren erwahlte, und die Sachen freundlicher Weife behandeln und ftiflen ließe, daß ihe Herren euren ftcifen Muth herunterlicfet, welchen ihr doch zuletzt laffen muft, ihr mollet oder wollet nidt, und wider ein wenig von curer Byrannet und Unterdriidung, daß der

“arme Mann aud) uft und Raum gewönne ju leben. Wiederum die Baucrn fic) auch weifen liefen, und etlidhe Artifel, die gu viel und su boc greifen, übergäben und fabren lichen, auf daf alfo die Sache, ob fie nicht mag in chriftlicher Weife gehandelt werden, daß fie doch nad menſchlichen Rechten und Vertragen geſtillet würde.“ Aber leider fanden feine Friedensworte fein Gehir, dcr Baucrnaufftand mit feinen verwüſtenden Greueln griff immer weiter um ſich, und wenn cr nun gegen letztere feine Zornes-Fackel fchleuderte; fo berweis fet dies nad) meiner innigften Ueberseugung ſeine politifde Weisheit, Da er Die Alles jerftirende Anarchie als den unvermeidliden Unters gang feines reformatorifden Werks erfannte. Angefichts folder Ge— fahr fonnte ev nur an bie Rettung feiner grofen Sache denfen, und fcine Bannflüche gegen die Bauern find nur eine nothwendige Conſe— quenz feiner richtig erfannten Beftimmung, aber nicht cin Makel feiner von reinfter Menſchenliebe befeelten Gefinnung.

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an den hochherzigſten Beſtrebungen war, vor allen.Dingen. er: flart fein, wozu die blofe Behauptung der Gegner der Wie- dertaufer, daß fie inégefammt vom Teufel befeffen feien, nod lange nicht ausreicht. Denn eine allgemein verbreitete wahn⸗ finnige Gerftandesbethdrung im Bunde mit -den robheften und wildeften Begierden iſt aud in den unterften Schichten des Volks nicht moͤglich, wenn daffelbe nidt urd die gewaltfam: ften Motive bis in die innetfte Tieſe erſchuͤttert, und dadurch von dem in thm waltenden Bewußtſein der Pflicht und des Rechts losgeriffen worden ijt. Da jede hiftorifhe Anſchauung aus einer Menge pon untergeordneten Verhaltniffen zuſammen⸗ gefest ift, deren Auffaffung nur in einer fehe umfangreiden Darftelung gerechtfectigt werden fann; fo muß ich freilich mannigfadhen Widerſpruchs gewaͤrtig fein, wenn id es verz fuche, in einigen gang allgemeinen Umriffen cine Schifderung der Bedingungen gu geben, denen dee Urfprung der Secte der Wiedertdufer beigemeffen werden mus, und die id) doc nicht mit Stillfdweigen uͤbergehen darf, wenn nidt ihr blutiger Fanatismus als ein dunkleds Rathfel ſtehen bleiben foll. Obgleich der Drud der Hievarchie und des Feudalismus ſchon feit Sabrhunbderten auf dem deutſchen Bolle gelaftet hatte, fo bewabhrte doc) legtered gu viel von feiner angeftammten Dad: tigfeit in ſchlichten LebenSverhaltniffen und unter harten An— ftrengungen, als daß es nicht ein hinreichendes Bewußtſein fei: ner Menſchenrechte lebendig genug erhalten hatte, um durch dafjelbe gur Gegenwehr herausgefordert gu werden. Als Lu- thee ihm die Vinde von den Augen rif, und fein freier Blick die Greuel des Papftthums durdhfchaute, fonnte ihm die un— ertragliche DeSpotie feiner weltlichen Bwingherren nod weniger verborgen bleiben. Die beriihmten 12 Artifel, mit welden die ſchwaͤbiſchen Bauern auf Abſtellung der argften Bedruͤckun— gen drangen, legen Zeugniß fir eine ſolche Reife der focialen Begriffe ab, daß fie mit-wenigen Ausftellungen nod) jest ald vollguͤltig erfannt, und als widtiges Document bet der un: aufbaltfamen Emancipation der arbeitenden Klaſſen vom Helo: tismus angefehen werden miffen. Es ift beFannt, wie fdnode ihre geredteften Forderungen abgewiefen, und wie fie ourd triigerifche Hoffnungen verleitet, und durd) dei politifden Fa:

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natiémus des Thomas Muͤnzer entflammt, bas God ihrer Peiniger abſchuͤtteln gu fonnen glaubten. Wie furchtbar jedes Golf feine langjdhrige Erbitterung uͤber zertretene Menfchen: rechte an feinen Unterdriidern raͤcht, hat nod) jede Revolution gclebrt, deren Wirkungen ſich am ſchicklichſten mit der Erplo- fion eines iiberheigten Dampffeffels vergleichen laffen. Denn in allen Empoͤrungen handelt eS fic gang einfad) um das blofe Sein oder Nichtſein, dergeftalt, daß jede Parthei nicht eher rubt, als bié fie die gegnerifche gu Boden gefdlagen hat, odtr von ihr vodllig vernichtet worden iff. Im anbaltenden Vodesfampfe der Verzweiflung den befonnenen Muth der lo— yalen und fittlichen Gefinnung zu bewabren, ift aber nur den wenigen Heldenfeelen moͤglich, welche, weil ihr Wirfen in Ideen vollig aufgegangen ift, durch fie fic) ſchon uͤber die wechſelnden Schickſale des Lebens haben, wie dies Horaz ſo ſchoͤn ausdruͤckt: Fractus si illabatur orbis Impavidum ferient ruinae.

Bei allen Uebrigen muß dagegen der in allen Gefahren fo machtige Inftinct der Selbfterhaltung zur wiithenden Gegen— wehr antreiben, welde als ſolche in der Schlacht bei den Meiften den Gharafter der Sinnlofigfeit annimmt, und wab: rend ihrer Dauer jedes menſchliche Gefuͤhl erftidt. Hieraus allein (aft es fid) erflaren, daß felbft gutgeartete Menfchen dann ihr Naturell gaͤnzlich verleugnen, und gleich Vigern in einem nie zuvor gefannten Blutducft entbrennen, welder nur alljuoft auc andere ſinnliche BVegierden, namentlich Trunk—⸗ ſucht und Wolluft hervorruft, um durch deren BVefriedigung cine anhaltende moraliſche Betdubung gu erregen, und dadurd jedes Faltblitige Befi nnen uͤber die von allen Seiten drohen⸗ den Gefahren unmoͤglich zu machen.

Der Bauernkrieg war demnach nichts Anderes, als ein einzelner Blitz aus der gewitterſchwangeren Wolke, welche ſich damals uͤber ganz Europa lagerte, und welche ihre elektriſche Spannung in unzaͤhligen anderen Schlaͤgen entlud. Mit die— fem Bilde düͤrfte es ſich am ſchicklichſten bezeichnen laſſen, daß eine Menge aͤhnlicher Erſcheinungen aus einer gemeinſa— men Nothwendigkeit erklaͤrt werden muß, ohne deren Voraus—

a,

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ſetzung fie ihre weſentliche Bedeutung verlieren wiirden. Bn anderen Worten, der Bauernkrieg war nut eine Acuferung des allgemein erwachten Strebens nad) einer vollftandigen Be: freiung aus allen hierarchiſchen und feudaliftifhen Banden, und je druͤckender diefe gewefen waren, deffo unvermeidlicher ſchlug der entfeffelte Freiheitsdvang in zerſtoͤrende Convulfionen um, da er nur auf dem Boden einer gegen despotiſche Willie gefchiisten focialen und gefeblichen Oronung das Princip einer Dauerhaften organiſchen Geftaltung des Lebens werden fann. Wenn in rubigen Zeiten die Formen, in denen ſich das Volks— bewußtſein nad alfen religiéfen und politifhen Beziehungen entwidelt hat, fir die Ewigkeit gefchaffen gu fein fcheinen, weil fie den naturgemafien Ausdruck deſſelben geben, weldher feinen ganzen Inhalt in fic ſchließt; fo erweifet fich dieſe Anſicht, obgleid fie Sahrhunderte lang bei einem ftationaren Gharafter des Volksthums die herrfchende fein farm, ald eine durchaus irrthimlice, wenn letzteres in cine neue Phaſe fei: nes Biloungslebens cintritt, und feine bisherigen Formen als eit viel gu enges Gefaf mit der Urfraft alles NaturiwirFens zertruͤmmert, um fic) gu einer ganz neuen Gerfaffung zu ge: ſtalten. Daher richtet fic) namentlich jene zerſtoͤrende Kraft bei jedem Zeitumſchwunge, welcher die Gemuͤther bis in die Tiefe des celigidfen Bewußtſeins ergriffen hat, gegen die be— ſtehenden Formen des Cultus, weil ſie einer fruͤheren, unent— wickelteren Bildungsepoche angehoͤrig den hoͤher geſteigerten An— forderungen nicht mehr genuͤgen. Waͤhrend es nur wenigen, gleich einem Luther erleuchteten Geiſtern gegeben iſt, einen den wahren Zeitbedürfniſſen genuͤgenden Cultus an die Stelle des verbannten zu ſetzen, außer ihnen aber Tauſende, welche zur Zerſtoͤrung des letzteren eiftig mitwirkten, durchaus jedes Geſchids zur Einrichtung eines zeitgemaͤßen Gottesdienſtes er: mangeln, koͤnnen dieſe in ſchwaͤrmeriſcher Bethoͤrung nur Mons fltofitatent hervorbringen, weil ihnen jedes flare Bewußtſein des Nothwendigen fehlt. Neben jeder aͤchten Reformation, welche and ſittlicher Begeiſterung im Bunde mit gereifter Cine “fit” entſprang, tauchte daher nothwendig eine Menge von Secten auf, deren Bekenntnißformen mehr oder weniger das Geprage der Verflandesverwitrung ihrer Stiffer an der Stirn Soeler Theorie d. relig. Wahnjinns, 17

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trugen, und welche ihren Anhingern cine um fo groͤßere Macht des Fanatismus einhaudten, je mehr fie deren. Geift mit vol: liger Blindheit gefchlagen hatten. Um daher die Rolle gu be: greifen, welche alle jene Secten in der Weltgefdidte gefpielt haben, fommt e8 weit weniger auf ihre gur Schau getragenen Dogmen, weil diefe nur die in der Eile aufgegriffenen oder intprovifirten Formeln der in ihnen waltenden Begierden fein follten, als vielmehr auf letztere felbft an, weil nur aus diefen iby Damonifder Ungeftiim erflart werden kann. Denn fo finn: los ift felbft der roheſte Haufe nidt, daß er fiir cinen leeren Aberwig fein Leben in die Schanze ſchlagen, und fic) in ein Meer von Gefahren ſtuͤrzen follte; aber er fintet in demfelben den leichtfaßlichen Ausdrud feiner Begierden, um deren durd) bas Geſetz verfagte Befriedigung eS ihm vor Adem gu thun ift. Kommt nun nod) dazu, daß die Glaubensformeln her Secten religidfen Beduͤrfniſſen ein Gentige gu leiften verfpredhen, welches in dem bisherigen Cultus nicht gefunden wurde, und daß dDaber fromme und wobhlgefinnte, wenn aud fursfidbtige Gemii- ther ihnen in Menge fic) anſchließen; fo folgt daraus von felbft, daß der durch erftere erregte Schwindel felbft diejenigen Perfo- nen und Staͤnde mit fich fortreift, welche ihrer Gefinnung nad den tiefften Abfcheu gegen jede Poͤbelherrſchaft hegen, obgleicd lebtere fic) jeder giigellofen Volksleidenſchaft zuletzt bemadhtigen muß.

§. W. Urſprung und weitere Verbreitung der Secte der Wiedertaufer.

Die nadcfolgenden hiftorifehen Umriſſe entlehne id) von Giefeler, welder feine Darftellung uͤberall auf urfundlid mitgetheilte Beweisftellen grindet. Die Zwidauifden Prophe- ten, namentlid) die zwei Tuchmacher Nic. Stord und Mare. Thoma benugten die Zeit des Aufenthalts Luther's auf der Wartburg, um fir ihre Schwadrmerei Anhanger in Wittenberg gu werben. Beſonders gefellten fic) gu ihnen zwei Studirte, ~ Mare. Sthbner und Martin Cellarius, und nament:e lid) gerwannen fie Carlftadt fir fidh, der aud) im Januar 1022 heirathete (a. a. O. S. 103). Sie verwarfen die be—

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beftehende Kirche und fagten: ,,ex illa discedendo hance in~ stitul oportere. Et quibus hoc persuaderetur et placeret, ‘eos denuo baptismo initiandos esse. Nihil recte et de- bito modo fieri gerique ‘uspiam perhibebant, quod sum- ma rerum esset penes malos. Atque decrevisse Deum ex- tinguere istud genus et sufficere alterum innocentia justi- tiaque et sanctitate praeditum. Ad cujus exordium atque imcrementa docebant necessariam esse curam et diligen- tiam in procreanda sobole. Et ideo neminem ducere uxorem debere, ex qua non sciret se liberos pios, et gratos aeterno Deo, et ad communionem regni. coe- lestis electos suscepturum esse. Id autem non aliter quam ipso Deo patefaciente sciri posse. Et jactabatur praecipuum Donum Dei in illis coetibus praedictionis eventuum futurorum, et arcanorum judicii, cujus eximiae et salutaris rei in veritate nomen est graecum Prophetia. Compertum autem est, multis hosum per quietem somni mirabilia visa, et species quasdam vigilantibus etiam ali- quibus, sed paucis, oblatas esse. © Cognitum etiam est, fuisse in coetu isto foeminas vaticinantes. Et hoc erat in legibus istorum, ne quis in otio liberali bonis artibus et literis operam deret, neu aliunde scientiae cognitionis- que facultatem quaereret, quam ab aeterna Dei benigni- tate, cui adjumentis humanis nihil esset opus.” Daber werden aud) Garlftadt, Didymus und der Knabenſchul⸗ meifter M. Georg More befthuldigt, daß fie die Knabenſchule gerftdrt, und gern aud) der Univerfitat ein Ende gemacht hat: ten. „Dieſe drei haben firgeben, man foll nicht ftudiren, aud) eine Schule balten, aud) niemand promoviren, denn fol: ches hat Chriftus felber verboten Matth. 2 mit diefen Wor: ten: Shr follt euch nicht Meifter nod) Rabbi nennen Inffen; daß alfo zur felben Zeit viel feiner mgenia von hinnen ſind himweggegangen, bas Studiren verlaffen, bie and und Leute batten fonnen nige fein. D. Garlftabt der war allbie zu den Birgern in bie Haufer gangen, und fie gefragt, wie fie den“ oder jenen Sprudy in diefem oder jenem Propheten ver: ftiinden. Und wenn fid die einfaltigen Birger feines Fragens

verwunderten, und gu ihm fpraden: Herr Doctor, wie fommt 17*

ihr damit her, daß ihr Gelehrte und Doetores der heiligen Schrift uns arme, alberne, ungelehrte Leute alfo fraget, daß wit eud) folded fagen follen, ibr folltS billig uné fagen;- da hat ihnen D. Carlftadt geantwortet, daß ihnen Gott fotched verborgen habe, wie denn der Herr Chriftus felber ſpricht, Matth. 11; Luc. 10: „Ich preife dic) Vater und Herr Him- mels und ber Erde, daß du folded verborgen haft den Weiſen und Klugen, und hafts offenbart den Unmundigen”.,-Dagu fingen nicht allein die drey Perfonen die Schule gu ftirmen, fondern aud die Kirchen und Bilder in der Rirdhen, daG fie diefelbigen Bilder aus der Kircher wurfen, und gaben fir, inan follte auch einen gelebrten Mann gu Predigern, zu Prie⸗ ftern in der Kirchen annehmen, nod) leiden, fonder eitel Layen und Handwerfsleute, die nur allein Lefen Fonnten, als id aud etliche wohl gefannt babe, die fie dazu wollten vociren und berufen”. In Uebereinftimmung hiermit fieht, was Mare. Stibner Mitte Ganuars in dex Zeitung anus Wittenberg ſchrieb: ,, Martinus hab maiftentheils rect, aber nicht in ak len Stuͤcken, es werd nod ein Under uͤber ihn kummen mit ainem hoͤhern Gaift. Stem wie dev Tuͤrk kuͤrzlich ſoll Teutſch⸗ land einnehmen. Stem wie alle Pfaffen ſollen erſchlagen wer: den, ob fie ſchun Weiber nehmen. Item daß in kurzem, un⸗ gefaͤhrlich 5. 6. 7. Gabren foll ein fold) Enderung in der Welt weren, daß Fein unfrummer oder boͤß Suͤnder folle debend uͤber pleiben. Denn werd ein Cingang, eins Taufs, eins Glauben: Die Kinder, die man ig tauf, ee fie Vernunft haben fey fein auf”.

Der weitere Fortgang diefer tollhauslerifden Schwarmerei, burd) welche die Reformation in ihrer Wiege mit volliger Ver⸗ nictung bedroht wurde, Fann hier nicht -gefchildert werden, Daher eS geniigen muf, dbaran ju-erinnern, daf Luther durdh die Erfenntnif der dringenden Gefahr bewogen wurde, gegen den Willen bes Churfürſten die Wartburg gu verlaffen, und vom 7. Marg 1522 an act Page hindurd auf oͤffentlichem Markte in Wittenberg jene dounernden act Sevmone (reform. Scr. Th. 5. S. 151 184) gu fprechen, durch welche er den Aufruhr dampfte, und die Bwidauer Propheten nebſt Carl⸗ ſtadt aus der Stadt trieb. Gir unſern wed war. die bishe—

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rige Mittheilung nothwendig, weil fie den Geift deutlich erken— nen laft, aus weldjem die Secte der Wiedertaͤufer empfangen und geboren ijt. Denn indem er den Umſturz aller Ordnung predigte, fanctionirte er die Poͤbelherrſchaft durch den Bann- fluc) gegen die Wifjenfchaft, durch die von Muͤnzer (f. u.) verkuͤndete Lehre von der Giitergemeinfchaft und durch die Emancipation der Wolluft, deren ſchaamloſe Befriedigung keine Grenjen findet, wenn Feder ſich auf angebliche gittlide Offen- barungen berufen darf, um. dadurch jedes beliebige Goncubinat gu rechtfertigen. Die Vifionen Bieler bezeugen eS deutlich, daß die Sdywarmerei ſchon vollig in das Gebiet des Wabhnfinns fid) verloren hatte. Der Ritus der Wiedertaufe war aber blogs ein aͤußeres Zeichen, mit welchem die Secte fic) von jeder ge- fegliden Form losriß.

SLuther's Miefengeift beherrfdte feine Umgebung ju mac: tig, als daß in feiner Nabe der Unfug der Wiedertaufer hatte fortdauern fonnen. . Indeß Bhomas Muͤnzer, welder als Pfarrer in Zwickau bei den 1521 daſelbſt ausgebrodenen Un: ruben ſehr betheiligt, wabricheinlid) die Seele derfelben gewe— fem, und. deshalb abgefest worden war, wandte fic) nad) Alt fiadt in Thuͤringen, um dort die Wittenbergfcden Anfange weit. guriidlafjend, in Gleichheit und Gütergemeinſchaft das Reidy Gottes auf Erdem ju griinden, und die Firften noͤthi— genfallg mit Gewalt gur Nachgiebigkeit zu zwingen (Giefeler a. a, O. S. 197)... Auf ihn hatten altere myſtiſche Schriften, namentlidy des. Abtes Foachim Weiffagungen und Taulers Schriften ſtark gewirkt. Charafteriftifd fir feine Lehre ift die Verachtung des gefdricbenen Wortes Go tres, des todten Buch ſtabens; der Menſch muß das ewige Wort des Vaters von innen veden hoͤren; Gott fpricht fein heiliges Wort, das ift feinen eingeborenen Sohn, wie in das imvendige der Geele: die Men- {chen werden durd) dieſe Menſchwerdung Chrifti unmittelbar we Bett gang vergottert, und annoch in diefem Leben gleich— fam, in den Himmel verfest. Bullinger giebt Miners Lehre alſo an: „Alle Prediger, die zur felbigen Beit das Evan— gelium predigten, waren nicht von Gott gefandt, predigten aud) nicht Das wahre goͤttliche Wort, fondern waren nur Schrift: gelehrten, und predigten den. todten Budftaben der Schrift.

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Die Schrift und bas duferlidhe Wort waren nidt das redhte, wabre Wort Gottes, denn daffelbe ware innerlid) und himm- liſch und ging obne alle Mittel von und aus dem Munde Gottes. Durch daffelbe mifite man innerlich beridtet wer: den, und nicht durch die Schrift und Predigt. Alfo achtete er aud) die Waffertaufe gering, ja ex hielt dafiir, die Kindertaufe war nidt aus Gott, darum miifte man mit einem geiftliden und rechteren Dauf wiedertaufen, wiewol er nocd gur felbigen Zeit, als dem Anfange feiner Miedertaufe, nicht felbft foll wie: dergetauft haben, daran er etwa verbindert worden: alfo daß feine Singer vor ihm anhoben wiedergutaufen. Er ward aud guvor mit feinem eigenen Blute getauft, d. i. getddtet. Er lebrete auch, e8 war erlogen, daß Chriftus vor uns genuggethan hatte, wie die garten Scbriftgelebrten fagten. Die Ehe und das eheliche Bett ber Unglaubigen und Fleiſchlichen ware fein unbefledt Bett, fondern ein Hurenbett und teufliches Huren— haus. Gr lehrete, Gott erdffnete feinen Willen durd) Traͤume, und hielt felbft viel auf Traͤumen, und gab e8 denn bar, als ob es des Heil. Geiftes Eingebung ware. Daher wurde er und die Seinigen genannt die himmliſchen Propheten, und Syiri= tuofen oder Geiftler”.

Wiederum koͤnnen wir die weiteren Schidfale diefes Schwaͤr⸗ mers nidt verfolgen, und bemerfen kuͤrzlich, daß er gendthigt war, Altftadt gu verlaffen, und fid) nad) der Schweiz gu wen: den, wo Mehrere nad einer rafeheren und durdgreifenderen Reformation der Kirche verlangten, und befonders die Kinder: taufe, welde aud) Zwingli'n eine Beit lang Bedenfen madte, fiir verwerflich hielten. An dieſen Beriihrungspunkt knüpfte nun Muͤnzer feine tibrigen ſchwaͤrmeriſchen Lehren, Waldshut wurde der Vereinigungspunft von Sdwarmern, welche von bier aus balb die Schweiz überſtroͤmten. Unglidliderweife bereitete fic) gerade bamals der grofe Bauernaufftand im fird: liden Deutfdland vor, und gab den Wiedertdufern gu gewalt⸗ thatigem Verfahren Ermuthigung. Indem id) die Rolle iber- gehe, welche Muͤnzer bei diefem blutigen Drama fpielte, und welde er nad Unterdrhidung des Aufftanded in Sdwaben bald nachher in Muͤhlhauſen wiederholte, bis er mit feiner Schaar bei Franfenhaufen den 15. Mai 15% geſchlagen, ge-

igen genommen und enthauptet wurde’), bemerfe id), daß bie Wiedertiuferei von Waldshut aus juerft in dem Gebiete von Zürich fid) verbreitete, dann befonders St. Gallen ergriff, aber bere Gantons beriihrte. Die Regierungen-verful ren mit grofer Schonung: durch Schriften und meh: rere * ſuchte man die Irrenden zurechtzuwei— * indeß bie buͤrgerliche Ordnung fortwaͤhrend bedroht ſo ging man von milderen zu haͤrteren Maaßregeln,

und endlich gu Lebensſtrafen ber. Go wurde der oͤffentliche Unfug bald unterdruͤckt; indeß erbielten fic) die Wiedertaufer Gt an im Gerborgenen, verbreiteten fid) uͤberall bin,

und ſuchten mit grofer Thaͤtigkeit allerfeits Profelyten gu maz hen: der Anabaptismus wurde iiberall mit Lebensftrafen be- legt, aber feine Opfer lieferten den Glaubigen mehr ermuntern- de Martyrergefhidten als abfchredende Beiſpiele. Go wurde

Charakterifti€ dices Mannes mögen nod folgende Züge dicnen. &h Sleidan lehrte er, man folle von Gott ein Zeichen fordern, ob man den rechten Glauben habe, und wenn er cin foldhes nicht debe, folle man dennoch fortfahren; auch dürfe man mit Gott firs wea! alé ob er unbillig handle, weil die Schrift verheife, er wolle : was man bitte, Gin folches Zürnen gefalle Gott wohl, weit et Daran den rechten Eifer erfenne. Als ex durch aufriihrerifdhe Pres digten den Magiftrat in Mühlhauſen vertrieben hatte, und sfeutlid Recht ſprach, behauptete ex, daß feine Rechtsfpriiche aus der Bibel entnommen feien. Machdem er die Giitergemeinfchaft gepredigt hatte, * verfaumten die Dandwerfer ihr Gefchaft und beraubten die Reichen. Sn feiner Anrede an die Baucrn vor der Shlacht bet Franfenhaufen ſchilderte er dic Tyrannei, Habfucht und Ucppigfeit der Fürſten, welche die Moth des Wolfs verachteten, forderte fie gu deren Bertil gung auf, und berief ſich auf einen Befehl Gottes, welcher durch Gideon, Jonathan und David große Schaaren von Feinden ge— ſchlagen habe. Er felbf— wollte dic Kugeln der Feinde mit feinen Aermeln auffangen, und deutete auf cinen am Himmel ftehenden Rez ‘genbogen als auf cin Scichen der Gnade Gorttes. Er lies cinen Edel⸗ ~ tnaben umbringen, den dic Fürſten als Parlementair gefandt Hatten. Beim Angrif lieben die-Bauern wehrlos, und fangen: fomm heilis get Geift, indem fie Hilfe vom Himmel crmarteten. Wor feiner Hinrichtung befannte Münzer, ec habe unredt gehandelt, nachdem et früher fpottend geäußert hatte, dic Baucrn Hatten es fo haben wollen.

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z. B. die Erzaͤhlung von der Hinrichtung einiger Wiedertaͤu⸗ fer zu Rothenburg am Neckar 1527 mit Wundern ausgeſchmückt.

§, 26. Fanatiſche Greuel der fpaͤteren Wieder: taͤufer.

Zwei Laͤnder ſind es nun beſonders, wo die verſprengten und durch Verfolgung zur Wuth entflammten Wiedertaͤufer ihren Namen durch alle erdenklichen Scheußlichkeiten gebrand— markt haben, Weſtphalen und Holland. Ueber ihr erſtes Auf— treten in Muͤnſter beridtet Fuhrmann (a. a, O. Bh, 3. S. 965), daß daſelbſt Bernh. Rothmann ſchon 1529 die Grundſaͤtze der Reformation vorgetragen hatte. Mit ihm hatten Mehrere dem Magiſtrate eine Schrift von den in die Kirche eingeſchlichenen Mißbraͤuchen uͤbergeben, und die Bürger hats ten ſich ſogar freie Religionsuͤbung erſtritten. Als aber 1533 die neuen Propheten in Zwickau, Thuͤringen und der Schweiz ihre wiedertaͤuferiſchen Lehren in Weſtphalen, Friesland und den Niederlanden ausgebreitet hatten, und als Melch. Hoff— mann den Joh. Matthieſen (Matthäus), einen Baͤcker aus Haarlem, zum Biſchofe ernannt hatte, begannen hier die Neuerungen. Letzterer waͤhlte ſich naͤmlich Muͤnſter zum Cen— tralpunkte feiner wiedertaͤuferiſchen Wirkſamkeit, Rothmann hatte fic) ſchon gegen die Kindertaufe erklaͤrt, und bas heil. Abendmahl dadurch profanirt, daß er Semmel in eine Schuͤſſel brockte, Wein darauf goß, und dazu die Einſetzungsworte ſprach. Der Stadtrath verbot mit allem Ernſte, die Irrlehren von der Taufe weiter zu verbreiten, und veranſtaltete ein Religionsgeſpraͤch, bei welchem jede Parthei Scheingruͤnde vorbrachte, jede den Sieg davon getragen zu haben glaubte, und doch Nichts entſchieden wurde. Gegen 1533 kamen vom ſogenannten Oberpropheten Matthieſen Geſandte nach Muͤnſter, namentlich Joh. Bo— ckelſohns, (Beuckeltz, Bockelsz, irrig Bockhold oder Beckold), ein Schneider aus Leiden, ein wohlgebildeter, ein: nehmender, fenntnifircicher, in der Bibel bewanderter Mann, um die Wiedertduferei dafelbft eingufihren. Diefer, Matthie— fen, Gerhard vom Klofter und Bernh. Knipperdol: fing durchliefen die Strafen, predigten Buße, und fdrieen,

der Konig vom Himmel werde herabfahren, und bas neue Je— rufalem oder das Reich Gottes errichten, man folle fidy tau fen faffen, die Gottlofen follten aber von hinnen weichen. Bald bewaffneten ſich die Wiedertaͤufer, bemaͤchtigten ſich des Rathhaujes, und ſuchten jeden Angriff zurückzuſchlagen Robertſon hat (a, a. O. Th. 3. S. 80) eine ſehr gute Schitderung des ferneren von den Wiedertaufern in Muͤnſter veriibten Unfuges gegeben, daher ic) ihm im Wefentlidyen folge. Als der Senat, die Geiftlichfeit, der Adel, die rechtliden Buͤr⸗ ger die Flucht ergriffen, bemdchtigte Matthiefen fich der oberften Gewalt, und lief die Todesſtrafe an Allen vollftreden, welde feinen Geboten nicht gehordten, Er plimbderte die Rir- chen, jerftirte ihren Schmuck, lief aufier der Bibel alle Bü— cher verbrennen, confiscirte die Guͤter der Entflohenen, und be- fabl, daß Ale ihr Gold, Silber und Koſtbarkeiten in einen gemeinfamen Schatz ablicfern muften, aus welchem Diako die Beduͤrfniſſe der Einzelnen beftritten. Damit unter alten e voͤllige Guͤtergemeinſchaft herrſche, waren fie fogar. pk an offentlichen Tiſchen zu effen, deren Speifen an _jedem age beftimmt wurden. Ungeachtet feiner wilden Shwarmerei traf Matthiefen dod die überlegteſten Einrichtungen zur Verproviantirung der Stadt, zur Bewaffnung der Buͤrger und gu Vertheidigungswerken, an denen Alle eifrig arbeiten muß— ten, ſo daß dem Belagerungsheere des Biſchofs von M ſter der kraͤftigſte Widerſtand geleiſtet wurde. Als ex bei. einem Ausfalle an der Spitze einer geringen Schaar erfehlagen wor: ben war, lief Fohann von L., welcher die Menge fchon durd) Bifionen und Prophezeihungen bearbeitet hatte, nat. durd) die Strafen, und verfiindete mit lauter Stimme. „das Koͤnig— reid) Zion beginne, das Hoͤchſte folle erniedrigt, das Niedrigſte erhoht werden”, Deshalb gebot er die Kirchen und die hid: Gebdude in der Stadt gu ſchleifen, ex ſetzte die von Matthiefen erwaͤhlten Senatoren ab, und machte ~ den Knipperdolling gu feinem Scharfridter, als ſolcher derſelbe faſt taͤglich ſein Henkeramt zu verwalten hatte. Statt der Senatoren ſetzte er 12 Richter nach der Bahl der jüdiſchen Volksſtaͤnme cin, und befleidete ſich ſelbſt mit der Propheten: wiitde des Moses. als Gefehgeber. Auf fein Anſtiften ref

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ein anbderer Prophet bas Volk gufammen, und verFindete dem- felben den Willen Gottes, daf Fohann von &. als Konig von Bion auf dem Stuble David's fiten folle. Er felbft empfing kniend die Botſchaft vom Himmel, und betheuerte feierlid), daß ihm die naͤmliche Offenbarung zu Theil geworden fei. Vom Wolke gum Koͤnige erwaͤhlt umgab er fid) mit bem Prunk eines folden, indem er eine goldene Krone trug, die reichſten Gewaͤnder anlegte, eine Bibel auf der einen, ein ge- zücktes Schwert auf der andern Seite neben fid) tragen und fih von einer Schaar Bewaffneter begleiten lief. Er lies Müuͤnzen mit feinem Bildniß ſchlagen, ernannte einen Hofftaat, und febte Knipperdolling als Gouverneur der Stadt ein. Munmehr feine Begierden entfeffelnd ftiftete er mehrere Prophe- ten und Redner an, mehrere Page hinter einander das Volk iiber die Gefeblidfeit und Nothwendigkeit der Bielweiberei gu belehren, welche Gott den Heiligen als eine befondere Gunſt geftattet habe. Als dadurd) der Pobel gu gleidher Brunſt ents flammt war, gab er demfelben ein Vorbild diefer fogenannten chriftliden Freiheit, indem er zuerſt drei Weiber, unter ihnen bie fchine Wittwe bes Matthiefen nahm, und gulest -feinen Harem bis auf 44 vermebhrte, unter welden allcin jene Wittwe den Vitel einer Monigin fihrte, und mit ihm den Koͤnigl. Glang theilte. Die entfeffelten Begierden des Pdbels wetteifer- ten mit ibm in Ausfdweifungen, der chriftlidben Freiheit fid nicht gu bedienen, galt als Berbrechen, und jedes junge Maͤd— den wurde aufgefucdt, und sur Ehe gezwungen). Da es

*) Prophetae et concionatorum autoritate juxta ct exemplo, tota urbe ad rapiendas pulcherrimas quasque foeminas discursum est, Nec intra paucos dies, in tante hominum turba fere ulla reperta est supra annum decimum quartum quae stuprum passa non fuerit.

. Lamb. Hortens. p. 303. Vulgo viris quinas esse uxores, pluribus senas, nonullis septenas et octonas. Puéllas supra duodecimum actatis annum statim amare. Ib, 305. Nemo una contentus fuit, neque cuiquam extra effoetas et viris immaturas continenti esse licuit. Id. 307. Tacebo hic, ut sit suus honor auribus, quanta barbaria et malitia usi sunt in puellis vitiandis nondum aptis matrimonio, id quod mihi neque ex vano, neque ex vulgi ser- monibus haustum est, sed ex ea vetula, cui cura sic vitiatarum demandata fuit, auditum. Joh. Corvinus, 316.

o = J

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zugleich in Jedes Belieben ſtand, ſeine Weiber zu verſtoßen, wobei Johann von L. durch oͤffentliche Richterſpruche nur den Schein des Rechts zu wahren ſuchte, und da weder Ge— ſetz nod) Schaamgefuͤhl der Brutalitaͤt Einhalt thun fonnte, ſo ging daraus eine Verſchmelzung beſtialiſcher Wolluſt mit wüthendem Fanatismus unter religioͤſem Schaugepraͤnge in einem ſolchen Grade der Verworfenheit hervor, daß die Ge— ſchichte kaum ein zweites Beiſpiel gleicher Art aufzuweiſen ha— ben duͤrfte. Es liegt nicht in unſerm Intereſſe, der geſchicht⸗ lichen Entwickelung dieſes greuelvollen Drama's in ſeinem blue tigen Fortgange zu folgen, daher ic) mid) nur. nod) auf Gin: zelnes befehranfe. Nachdem die Herrfchaft der Wiedertdufer 15 Monate in Miniter gedauert hatte, wahrend welcher Beit das Wolf unglaubliche Befchwerden bei der Befeſtigung und Wer: theidigung der Stadt gegen das Belagerungsheer erduldete, Fam es endlid) bis faft sur Hungersnoth. Dennoch wurde das Golf dergeftalt von Johann von L. fanatifirt, daß feine Hoffnung auf den Beiftand des Himmels nicht wankte, und eS den Vifionen und Verheifungen der Propheten unbedingten Glauben fdentte. Einige Syweifler wurden als Gottlofe mit dem Bode beftraft. Als eine von “den Weibern des Minigs aͤußerte, fie halte es nicht fiir Gott wohlgefaͤllig, daß Men- fen den Hungerfod fterben follten, berief Sohann bas Volk zuſammen, befahl der Gottedslafterin, niederzuknieen, ſchlug ihr mit eigener Fauft den Kopf ab, und erdffnete mit einer An— deren einen Tanz um die blutende Leiche, in welchem ihm die wabhnfinnige Schaar nacfolgte. Um die VBethirung des Volks gu vollenden, wurde eine Schrift unter dem Vitel Reftitution gedrudt, worin es hieß: Chriſti Reich werde vor dem jing: ften age fo befchaffen fein, daß darin die Frommen regierten, nachdem die Gottlofen umgebradt worden feien, die Untertha: nen batten die Macht, die Obrigfeit abgufesen, die Apoftel batten keine Surisdiction gehabt, aber die jesigen Diener foll- ten fic) die Geredhtigfeit bes Schwerts anmaaßen, und mit Ge— walt ein neues Regiment anridten, man folle Reinen in der Kirche dulden, der nicht ein wabrer Chrift fei. Niemand koͤnne feelig werden, der nicht fein Gut hingaͤbe, und befafe e8 ins— gemein. Guther und der Papft feien falfche Propheten, je:

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doch Luther der drgfte; die Ehe derjenigen, welche nidt von dem wabhren Glauben erleuchtet worden, fei Hurerei. An den Landgrafen Philipp von Heffen, welder die Stadt zur Ueber— gabe aufforderte, wurde eine Schrift gefandt, worn es hieß, die jebige Welt werde im Feuer verderben, damit in. der neuen die Gerechtigfeit regieve, nachdem der Antichrift offenbar und feine Gewalt unterdriit worden. Dann wirde der Stubl David's aufgerihtet, Chriftus fein Reid auf Erden inne haben, und aller Propheten Schrift erfiillt werden. Bei einer oͤffentlichen Verfammlung blies Knipperdolling den Umfte- henden in den Mund, und fprad, der Vater hat did) gehei= ligt, nimm hin den beiligen Geift. Einmal rief der Prophet alle Bewaffneten nad) der Domkirche, wofelbft fie ein Nacht— mahl bereitet fanden, an weldem 4000 Theil nahmen. Nach deffen Beendigung reidfe der Koͤnig Jedem Brot mit den Worten; ,,nehmet, effet und verfiindigt ben Dod des Herrn”; bie Monigin reichte den Keld) mit den Worten: ,,trinft und verfiindigt den Dod des Herrn”. Hierauf beftieg der Konig die Rangel, und fprad, eS fei des Vaters VBefehl, daß 28 Dre- diger des Worts in alle Welt reijfen und bie Lehre verfiimdigen follten, indem er fie namentlid) aufrief. Demnadft enthauptete ex felbf— einen Gefangenen, den er als Judas bexeichnete, weil er an dem Koͤnige Verrath ausgeibt habe. Die nach al— len Richtungen ausgefandten Prediger wurden gefangen genom: men, und befannten auf der Folter, es gabe nur 4 Propheten, 2 gerechte, David von Delft und Johann, 2 ungeredte, Luther und den Papſt; e6 fei nun die Beit, welche Chri- ftus angefagt, eingetreten, wo die Ganftmithigen die Erde befigen follten, Johann werbde die Welt erobern. Da fie nicht widerriefen, fo wurden fie enthauptet. Ohne bet dem hinreichend befannten Ausgange des Trauerſpiels gu verweilen, bemerfe ich nod) ſchließlich, daß Johanns Trotz wabhrend feiner ſchmachvollen Gefangenfchaft keinesweges gebrodjen wurde, daß er unerfchiitterlid) feine Lehren behauptete, und die grau: famften Foltern ftandhaft ertrug, Cr war 26 Fabre alt.

Sn Holland gelang es den Wiedertdufern bei der wachja: men Strenge der Obrigkeit nicht, wie in Muͤnſter, irgendwo cine bleibende Statte gu erobern, fondern fie traten uͤberall in

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offener Empoͤrung gegen diefelbe auf, welde nur in ihrem Blute erftiét werden fonnte. Go findet fic) in der Historia Fanaticorum (©. 18) die Notiz, daß fie ſich oft in grofen Schaaren verfammelten. Ihrer 300 plimbderten das MKlofter Bols Werd in Friedland, und riffen die Kirche nieder. Die Aufforderung, fic) gu ergeben, wiefen fie mit den BWor- ten ab, fie wollten ‘mit einander leben und fterben, worauf fie bis auf 60 erfchlagen und bingerichtet wurden. In Am: fterdam hatte ein Schneider Theodorus, cin anabaptiſtiſcher Prophet, in der Wohnung einer Frau ein Gonventifel geftiftet, an welchem 7 Manner und 5 Frauen Theil nahmen. Yn der erften Nacht fiel er auf die Erde, betete, und fprad in EF fiaje: „ich habe gefehen Gott in feiner Majeftat, und habe geredet mit ibm, id) ward aufgerafft gen Himmel, und dann fubr ich wieder nieder gur Hille, durdhfucdte dann alle Win: fel, der grofe Bag vom jüngſten Gericht ift fommen.” Gn einer andern Nacht predigte und betete er 4 Stunden, legte alle Kleider und das Hemde ab, warf fie in’ Feuer, und gee bot den Uebrigen, ein Gleiches gu thun, denn fie follten Wes wegwerfen, was aus der Erde fame, und es als ein Opfer dev Liebe gu Gott verbrennen. Es gefchah, und ein heftiger Geſtank verbreitete fic) durd) das Haus. Darauf lief er mit feinem nacten Gefolge auf die Strafe und rief: „Wehe, Wehe, Gottes Race, Gottes Mache!” Die Sradt gerieth im Aufrubr, als ob fie an den Feind verrathen fei. Wor den Magiſtrat gebracht weigerten ſich jene hartnadig, Reider an: julegen, da fie ald die nate Wahrheit feine Kleider anlegen diirften. Sie wurden ins Gefaͤngniß gerorfen.

| Gine ſehr merfwirdige Rolle unter den hollandifden WMiedertaufern ſpielie David Forts oder Foriffon, latein. Georgii, deffen Leben Adelung (a. a. O. Th. 3. S. 336.) aus einer Menge von fehr unfanteren Quellen zuſammenſtel⸗ len mufte, da orthobore Verketzerungswuth jenen woblgefinn: ten, wenn aud) durd) Schwarmerei irre geleiteten Mann auf das Schwaͤrzeſte gebrandmarkt bat. Gr war £501 in Delft geboren, wurde in der Jugend durd) hdufige Kranfheiten zur Schwermuth geftimmt, erlernte die Glasmalerei, vielleidht auch die Kunſt, Ehelftcine gu ſchleifen, und foll es datin gu einer

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großen Geſchicklichkeit gebradht haben. Sm Jahre 1524 wer- beirathet wuͤrde er als liebevoller Gatte und Vater ein ebren- werther Birger geworden fein, wenn nicht die religidfen Wir—⸗ ren feiner Zeit ibn in ihren Strudel geriffen batten.. Durch die Reformation gu einer ftrengen Prisfung des Katholicismus aufgefordert, [as er bei haͤuſigem Beſuch der Kirchen alle da— mals erfcheinenden theologifchen Streitfdriften, und entbrannte baburd in Eifer gegen die Mißbraͤuche des fatholifden Cultus, namentlich gegen die Proceffionen, weshalb er gefangen geſetzt, und nur auf Firbitten feiner Freunde wegen feiner Rechtſchaf⸗ fenbeit und Wobhlthatigfeit von ſchweren Strafen (Staupen⸗ ſchlag, Durdbohrung der Bunge vom Henfer) befreit, aber dod) aus der Stadt verwiefen wurde, welded wahrſcheinlich 1530 gefhah. Gr wurde mit den damalé die Niederlande uͤberſchwemmenden Wiedertdufern befannt, deren Ausſchweifun⸗ gen und. Gewaltthatigfeiten er indeß mifbilligte, weshalb er von ihnen gum Uebertritt eingeladen, fic) anfangs hartnactig weigerte, Indeß da viele von feinen Verwandten jenen fic gugefellt hatten, fo wirkte aud) auf ibn der Geift ber Schwar- merei, und beftig im Gemith beunrubigt, betete er unaufhdr: lid), daf Gott ibn nicht verlaffen, fondern ihm den rechten Weg eigen modge. Immer nod ſchwankend, lies er fic end: lid) um 1533 zum Uebertritt durch die Verſicherung eines Ana⸗ baptiften bewegen, der Herr habe es ihm befohlen, er wolle es auf deffen Wort wagen, und fei bereit, feine Lehren mit feinem Blute gu befiegeln. Die Wiedertaufer waren damals wegen ihrer Biigellofigfeiten uͤberall verhaft, fie wurden ver: folgt, und wohin fie nur famen,, da warteten Galgem und Henferbeil auf fie. Goris fand dabher in der Heimath Feine Siderheit mebr, irrte lange umber, und hielt fic) endlich heim: lid), wegen der Niederfunft feiner Frau bei feiner Mutter, eis ner reichen Frau in Delft, mit Lebensgefahr auf. Mit Ab: fcheu gegen den Aufrubr, die Verheerungen und das Blutver⸗ giefen erfillt, welde feinen Glaubensgenoffen gur Laft fieten, bemiihte er ſich vergeblid), fie gu gemaͤßigter Gefinnung gu be: wegen, und wurde fogar von ihren wuͤthendſten Koͤpfen ges haßt und verfolgt, oder fie wollten ihn mit ibrem Fanatismus anfteden, namentlich foll der Birgermeifter Battenberg zu

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Steenwik ihn in diefem Sinne mehrere Naͤchte hindurd bear: beitet haben. Joris blieb indeß bet feiner Uebergeugung, lebte tugendhaft, arbeitete bei Tage im Werborgenen, und ſchrieb in der Nacht eine Menge Feiner fliegender Blatter, wor: in er feine Glaubendgenoffen zur Frommigfeit und gu gelinden Maafregein ermabhnte, dadurd) aber bei ihnen immer verbhaf- ter wurde, Schon friber hatte er das Amt eines Lehrers ab- gelebnt, obgleid) er mehrmals baju gewablt, und mit Aufle: gung der Hande dazu beftellt war. _ Indeß die rafenden Aus: fdweifungen des Batenbergfdhen Sdhwarms gaben Ber: anlafjung, daf man ibn al8 einen gemafigten und verftandi- gen Mann wiederholt aufforderte, die inneren Streitigfeiten ber Secte gu ſchlichten, welchem Auftrage er fid) mit grofem Gifer, wiewohl ohne Erfolg unterzog. Beſonders ward er 1536 nad) Bodholt im Bisthum Muͤnſter verlangt, wo. viele Abgeordneten von den Wiedertdufern aus England, Elſaß, den MNiederfanden und Niederdeutfdland gufammengefommen waren, tiber verfchiedene fireitige Lehrpunfte, befonders uber die Wiederbringung der Dinge gu rathfdlagen. Joris reifete mit vieler Gefabr gu ihnen, fand aber fo viele wuͤthende und unbandige Koͤpfe, daf er febr bald alle Hoffnung aufgab, fie unter einen Hut zu bringen. Endlich gelang es ihm durd feine eigene Mafigung, daß er fie verglid) und ein Formular auffebte, welded fie gwar unterfchrieben, aber nachmals nicht hielten Gr fam mit vieler Gefabr und Befehwerlidfeit auf grofen Unwegen glidlid und unerfannt wieder in Delft an. Unfireitig batten alle bisherigen GErlebniffe auf feinen fittlid friedfertigen Gharafter einen erfchiitternden Cindrud gemadyt, weshalb er in anhaltendem inbrinftigen Gebet um die Berlei- bung des Geiſtes und der Kraft Chrifti flehte. Hierdurd wurde er eines Tages in vollige Ekſtaſe verfegt, er wußte nidt, ob er lebendig oder todt fei, und blieb lange Beit unbeweg⸗ lich. In diefer Entghdung hatte er die Vifion von einem. gro: fen Getuͤmmel auf Erden, und von einem heftigen Zuſammen⸗ laufen und Riederfallen der Firften. Hierauf erſchien es ibm, als wenn die Wande um ibn her voll nadter Manner und Weiber waren, wobei er fic) dachte, feine Augen misf- ten fo rein fein, daß er fid) an feinem geſchaffenen Werke

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Gottes drgern dinfe. Wis er zur Vefinnung zurückkehrte, fiiblte er fic) fo abgemattet und mide, als ob er mebrere Meilen gu Fuße gegangen ware, nahm aber dod) eine Feder und fcdvieb: „Fahret weg, alle fleifchliden Gedanken, thr feid der Bod, ihr nehmt mir dad Leben, und verunreinigt, was heilig und gut iff. Werdet blind ihe Menfchen der Simbde, nidt an den leibliden Augen, fondern die Begierde muß ferne von euch fein, fo daß ihr nicht mehr durch fie febet.” Gon diefer Beit an hatte er mebhrere ſolche Gefidhte, verlor alle bisherige Furdt und Niedergefchlagenheit, und bewieß in allen Fallen eine ungewoͤhnliche Freudigfeit. Jn diefer an- haltenden Gemuͤthsſpannung verfafte er eine Menge myſtiſcher Schriften (Adelung fihrt 88 Nummern mit dem Bitel an) und febrich viele Briefe an die Wiedertaufer im Auslande, und aud einen an Luther, welcher hier wohl eine Stelle verdient. Gr lautet fo: „In dem Namen meines Herrn! Horet Martin Luther, ein Knecht des Herrn, berufen und geftellt gu einem Lidt und Vorganger des. Vols des Herr. Sehet, daß ihr euch wohl huͤtet, damit ihr durd) eure eigene Weisheit und Bernunft euch nicht in frummen Wegen verz irrt. Seid nidt ſtolz darin, fondern widerftehet dem Teufel, dem Gigendinfel, und huͤtet euch, daß ihr nicht dem Wolfe ein Verfuͤhrer, eine Finfternif und ein Catan werdet, und euch nicht der Strafe Gottes ausfebet, welder euch und mid nod barter ftrafen und verdammen wird, al8 andere. Wenn wit nidt in dem Kleinen aufridtig und getren, und mit zer— brodenem und gereinigtem Herzen und demuͤthigem Geifte erfunden werden, “fo wird uns aud) nicht das Groͤßere ver: trauet und gegeben werden. Gebet wohl adt darauf, und inberwindet das Bife mit dem Guten, auf daß ihe es be: figen und [eben moͤget. Huͤtet -eud) vor -bdfen, verfehrten; teufliſchen Gedanfen,. ihr alle,- die ihr -den Engeln des Herrn gleich) gu werden verlanget.. Gott befohlen.” Ueber fei: nen. damaligen Gemithdjuftand berichtet ein Ungenannter: „Joris erfuhr von diefer Zeit an viele Bunder von inner: lichen Traͤumen, Gefichten und. andern Erfcheinungen, ja den ganzen Bag hindurd fahe und hoͤrte man nichts Anderes von ihm, al des Herrn Wort und Geift, und wozu es nod

273 fommen mifite, che Wes nach Gottes Her; und Ginn ware, Gott verneucte um Ddiefe Beit alle Dinge nach ihm und in ibm, daß er von allem Fleifche einen vollfommenen Abfchied nahm; alle finnlichen Lufte und Begierden verſchwan— den, und der Geift tried ihn fo heftig, daß er oft auf den Boden vor Mattigfeit niederfiel, und vor Furdt und Schrek— fen vor dem ftrengen Richter wie todt ba lag. Aber dabei hatte er auch oft febr angenehme Empfindungen, und ward von dem Geifte ermabnt, fic von diefem abgefchicbenen Cinne nicht wieder trennen oder zur Sinnlichkeit verleiten gu laffen. Mit einem Worte, er ward von allen Schlacken und Begier: den vollig gereinigt, und ward wie ein Kind.” Um ſich der hochften Maͤßigkeit gu befleifigen, af er lange Zeit Nichts wei: ter, alé Gallat, wodurd er aber fo entfraftet und abgezehrt wurde, daß er gu feinem Bedauern wieder nabhrhafte Speiſen geniefen mufte. - Dabei war er gendthigt, fir die Seinigen gu arbeiten, obgleid) er fic) dad gum Vorwurf madte. Bei feinen Glaubensgenoffen hatte er fic) durch feine Bemihungen, Frieden gu ftiften, fo verhaft gemadt, daß er ſich verbergen mufite, um nicht ermordet gu werden. Denn ald die Baten: bergifcde Motte die aͤrgſten Greuel veriibte, und die Obrig: Feit gu einem wabren Vertilgungsfriege gegen fie nothigte, foll Sorts fogar eine Parthei gegen Batenberg gebildet, und dDadurd mance Statt in Holland, Friedland und Grodnin: gen gegen Verwuͤſtung gefdigt haben. Eben fo lief er fic nicht die verlorene Muͤhe verdriefen, mit Lebensgefahr Reiſen in das Oldenburgifche und nach Strasburg zu maden, um bie Ddortigen Miedertdufer gu menſchlicher Gefinnung zuruͤck— zufuͤhren. Er hatte fic) dadurch bei der Obrigfeit eine folde Achtung erworben, daß diefelbe feinen Aufenthalt in Delft ignoritte, obgleid) fie feine Mutter, eine reiche und angefe: hene Frau verhaften, durch das Schwert hinridten, und ihr Vermoͤgen confisciren ließ, von welchem Joris jedoch einen bedentenden Theil gerettet gu haben ſcheint. Seine Traume, Offenbarungen und Gefichte waren jest fo haufig, und grif: fen ihn bei feiner Gntfraftung dergeftalt an, daß er Gott bat, ihn damit gu verfdonen, weil feine RKreatur fonft gang dDarauf gehen mifte. Durch die immer mehr verfcharfte

Ideler Theorie d. relig. Wahnſinns. 18

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Strenge gegen die Wiedertaufer fah er ſich endlid) geswungen, feine Heimath 1539 mit den zartlid) gelicbten Seinigen au verlafien, und mit ibnen mebrere Sabre ein unfteted Seben gu fubren, bid er fic) endlid) 1544 in Bafel niederlief, wo er ſih Johann von Briigge nannte, fir einen verfolg- ten Proteftanten auggab, und durch Ernft, Wirde, From: migfeit und Wobhlftand fic allgemeine Achtung erwarb. Gr hielt fic) gur reformirten Kirche, und gewann wabrend der 12 Sabre feines Aufenthalts in Bafel durch Rechtichaffenbeit und Wohlthatigfeit die Hochſchaͤtzuung und Liebe Aller. Er ſchrieb noch eine Menge Brodchiiren ascetifchen und moralt- fchen Inhalts, unterftiiste VWerfolgte, und nahm fid) des von Galvin verfolgten Gervet in mehreren Gchreiben an die evangeliſchen Ctadte der Schweiz an, worin er beweiſet, daß man feinen Menfchen um des Gerwiffens wegen verfolgen dirfe, umd daß man fein Recht habe, das Blut ves Ser- vet zu vergiefen, den man hodftend alé Reber verbannen finne. Ihm felbft wiederfuhr nad dem 1556 erfolgten Vode das Loos, daß al fein wabhrer Name befannt wurde, der Magiftrat auf Anheben der Geiftlichfett einen Inquiſitionspro— cef uber ihn eroffnete, und 1559 feinen in der Seonharts: firche beigefesten Leichnam ausgraben, und nebft feinen Schrif- ten unter dem Galgen verbrennen lief.

Aus der mir unbefannten Schrift von Catrou: hi- stoire des anabaptistes theilt Calmeil (a. a. O. Bh. 2. S. 248) mebhrere wichtige Angaben tber die Schwarmerei der Wicbertaufer, namentlich in der Schweiz mit, nacdem er vorher ned) von Memond, histoire des hérésies die No— ti; entlebnt hat, daf die Anhanger des Matthiefen fid ge genfeitig den beiligen Geift mit den Worten einbliefen: ,, em: pfange den heil. Geiſt“; ferner daß die Wiedertdufer, da der Herr ihnen gefagt hatte, ,,was ihr mit den Ohren vernom: men, tas verfiindet von den Daͤchern“, haufig auf fteile Fel: fen und Hausdaͤcher fletterten, und daß fie von dort mit iiberfauter Stimme fehrieen: ,,meine Bruͤder, beffert euch, ber Herr befiehlt e8 eud, thut Bufe, entfagt euren Sin: den, ic) bin der Bote Gottes.” Da ich in der Folge hau fig aus der angezeigten Schrift von Calmeil ſchoͤpfen werbde,

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fo diirfte bie Bemerkung nicht unwidhtig fein, daß ihm die uner: meßlichen litteraͤriſchen Schabe von Paris gu Gebote ftanden, weshalb er eine Menge Schriften benuben fonnte, um welche ich mich vergeblich bemithen wirde, daß er meiftentheils wirt: lice Ausgiige aus feinen Quellen giebt, und daß er, einer ber ausgezcichnetften und erfabrenften franzoͤſiſchen Srrenarste, bei der Auswahl feiner Notizen jene grimbdlice und vorur: theilgfreie Kritik beurfundet, welche felbft ein aufgeflarter Denker fic) nur dann zu eigen machen fann, wenn er in reicher Lebensanſchauung jenen Geift der objectiven Wahrheit in fic) entwicelte, Ddeffen priifender Blick allein die wefent- lide Bedeutung des rohen Stoffs der hiſtoriſchen Urfunden erfennt. Mad) Catrou predigte der berichtigte Wiedertau- fer Hutter beftandig im Bone der Ynfpiration, indem er jedesmal mit den Worten anfing: ,, hort die Worte des Herrn, er verfiindet euch.” Geine Gfftafen, Viſionen und angebli- chen Gefprache mit Gott erwarben ihm eine Verehrung, welde an Anbetung grengte. Man horte ifn oft wie einen Liwen briillen, welches er dem Antriebe des gottlichen Geiftes bei: maaf. Gin polnifder Edelmann lief fid) von feinen Vaſal— len anbeten, weil ihm offenbart worden, daf er Chriftus fet. Bald nachher erfchien er offentlid) unter dem Wolfe, umringt von 12 ausgewablten Apofteln. (Vermuthlich der: felbe, Ddeffen ic) ſchon §. 11 gedacht habe.) In Appengell fangen die anabaptiftifdhen Madden auf offener Strafe Hy: mnen, ehe fie gu propheseiben anfingen. Eine junge Pro- phetin rief: „ich bin Chriftus, der Meffias, der von den Voͤlkern Erfehnte. Ich fomme in eigener Perfon, um_ die zweite Taufe gu beftatigen. CErftaunt nicht uͤber das Gee ſchlecht, in weldem id) gum zweitenmale vor den Augen der Menſchen erftheine; id) habe dadurd) Eva ehren wollen, wie id) zur Beit meiner erften Geburt den Adam geehrt habe. Solche grofe Geheimniffe miffen euch nicht befremden, denn bei Gott ift Nichts unmodglid.” Hierauf erwablte fie fic ihre Apoftel, wobei fie fic) ungefahr Dderfelben Worte, wie Ghriftus, bediente, und fie befabl ihnen, erſt nach) voran: Gegangenem Unterrichte ju taufen. Der Miedertdufer Georg behauptete vom Gefchledhte Jakobs absuftammen; als fich

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eine Menge Volk um ihn verfammelte, fiel er ploͤtzlich aur Erde, blich einige Beit bewegungslos liegen, und befam hier— auf fo entfebliche Verzerrungen ded Geſichts und fo heftige Gonvulfionen des ganzen Koͤrpers, daß man ibn fir beſeſſen hielt. Darnach erhob er ſich, fing an zu prophezeihen, den Willen des himmliſchen Vaters zu verluͤndigen, und beſtimmte den juͤngſten Tag. Er fand Glauben, weshalb Einige ſich nackend auszogen, Andere Bußtleider anlegten, und ſich mit Aſche beſtreuten, Andere ihre Nacktheit mit Baumblaͤttern deckten, wie die erſten Menſchen nach dem Suͤndenfalle. In dieſem Aufzuge erſchienen fie vor dem Volke, und verkunde— ten den Untergang des neuen Ninive binnen vierzig Tagen, indem fie wiederholt Wehe uͤber dad ungluͤckliche Zuͤrich rie— fen, da die Art dem Baum ſchon an die Wurgel gelegt fet, und wiederholt zur Buße aufforterten. Hierauf betraten fie die Haufer derer, welche fie fiir ihnen woblgefinnt hielten, forderten fie ernfilid) auf, bem Tage ter Mache durch eine aufrichtige Bekehrung zuvorzukommen, und volljogen die Wie: dertaufe an ganzen Samilien mit Ausnahme ver Fleinen Kin: der. Cie fchienen wie epileptifey gu fein, und verricthen im Gefichte eine grofe Aufregung. Mitunter fielen fie auf dte Erde, verjerrten ten Mund, rollten die Augen in deren Hoh: fen, und gebardeten fic), als ob fie im Kampfe mit einem Damon begriffen feien, indem fie prophetifche Sentenzen aus: ſprachen. Zuweilen blieben fie in ihren epileptifden Anfaͤl— len wie tedt liegen, ohne Athem gu holen, waren gang fteif und empfindungsles, oter fie gitterten am ganzen Koͤrper. Won den Wiedertdufern in Minfter bemerft Catrou: auf ten offentlichen Plagen richteten Einige ftundenlang den ftarren Bli€ gen Himmel, als ob Gott ihnen die Wunder feiner Gnate offenbare; Andere fprachen mit einer unbefann: ten Perfon, und beantworteten die Fragen eines Engelé, welder vor ihren Augen ſchwebte. Andere fahen in der Luft feurige Draden, deren Zifchen gum Kampf aufforderte. Gin Sanatifer fprengte auf einem mageren Pferde durch die Stra: fen, und verflindete Dem Bolfe, daß er die Pofaunen des jing: ften GeridhtS hore, und taf die Todten ſogleich auferftehen wilrten. Andere licfen nadt durch die Strafen und febricen:

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„Wehe dir, Miénfter, Fluch dem ftokken Babylon, Race Gottes uber das verrudte Sodom! Wehe den gepubten Madchen, den in Gold und Gilber gefleideten Weibern! Werft euren Schmuck weg, Fleidet eud) in Subgewander, und beftreut euren Kopf mit Afche! Cine Beit lang beftand& der Magiftrat aus Wahnfinnigen, welche ihre Offenbarungen zu Geſetzen erhoben, und dabei in Bwift geriethen, weil jeder feine Snfpivation flr die, dchte hielt.”

Gs ift nicht angegeben, welche Wiedertaufer Catrou meinte, von denen er erzaͤhlte, daß fie fic) die Finger, die Bunge, Mafe, die Ohren abfehneiden, daß fie fic) gu Hun: derten erfaufen lieBen, ohne einen Augenbli€ die Befehle gu verleugnen, welde fie von Gott erhalten ju haben glaubten. Giner, am Galgen mit einer Kette um den Hals befeftigt, verfiindete mit Feierlichfeit: ,,icd) ſehe den Engel des Herrn, er troftet mich in meinen Drangfalen, und belehrt mid, daß di? Wiedertaufe euch nicht mehr verhaßt fein wirde, wenn ihr zu flindigen aufhortet! Toͤdte mid), Henker, ich dulde fir Sefus und feine Taufe; tidte mich, und bringe dem Ewi— gen meinen Leib als ein angenehmes Opfer dar.” Cine Wie— dertauferin glaubte in dem Gefangnip ju Bafel, daß Gort fie mit unfichtbarer Speiſe erhalten werde, wenn fie gleich Chriſtus ein 40tagiges Faften beobachtete,. und fie ftarb lie- ber, al8 daß fie ihren Vorſatz aufgegeben hatte. In Fulda geigte eim wiedergetaufter Prophet an, daß er an einem gez wiffen Tage Angefichts des ganzen Volfes trodenen Fufed uber den Fluß gehen werde. Wirklich betrat er an dem beftimmten Bage das Ufer des Fluffes, und verlangte, daß ein unſchul— diger Saugling in feine Arme gelegt werde. Cine wahnſin— nige Mutter reidjte ifm ihr Kind von der Bruft, und we: nige Augenblicfe darauf war er mit demfelben in den BWellen verſchwunden.

„Der abſcheuliche Grundſatz, bemerkt Catrou, daß der Geiſt ohne Suͤnde ſei, erſtickte bei den Wiedertaͤufern den Ab— ſcheu vor den groͤßten Verbrechen. Selbſt der Brudermord wurde ohne Bedenken, und zuweilen aus wahnwitziger From: migkeit veribt. Gn St. Gallen lebten zwei Bruͤder friedlich von ihrem Handwerk unter dem gemeinſchaftlichen Dache.

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Die Verzückungen und Weiffagungen der Propheten Hatten einem von ibnen den Kopf verriidt. Leonhard, der al tere, hatte mit dem jingeren Thomas die ganze Nacht mit Naͤhen zugebracht, und ihm in den ibertriebenften Aus— druͤcken gefcildert, bis gu weldem Grade fic der Gehorfam eines Ghriften gegen die Befehle Gottes erftreéen müßte, wenn fie ihm durch einen Propheten verfiindigt worden, wo— bet er auf den Befehl Bezug nahm, .welchen Abraham er- halten, den Sfaak gu opfern. Endlich waren beide Brider bereit, den Bod gu empfangen, oder gu geben, wenn der Wille des himmlifchen Vaters ihnen offenbart worden. Nie— mals war die Bartlichfeit beider Bruͤder gegen einander gro- fer, als in diefem CEnthufiasmus; fie umarmten ſich taufend- mal in tieffter Ruͤhrung, um Gott das vollfommenfte Opfer ihrer Liebe darjubringen. Leonhard verfammelte bhierauf feine Familie und feine Nachbaren, und ließ den Thomas in der Mitte ber Stube niederknieen, nachdem er ihn wie: derholt umarmt, und in feinen Vhranen gebadet hatte. Dann fprad) er 3u ibm, indem er ein bisher verborgenes Schwert zuͤckte: „Du erfennft, mein Bruder, in meiner Liebe gang bie Zaͤrtlichkeit, welche Abraham fir feinen Cohn hegte. Werde ic) bei dir den Muth und Gebhorfam des Iſaak fin: den, um den Todesſtreich von der Hand Deines Dich lieben: den VBruders gu empfangen? Gott der Herr gebietet mir in diefer Beit an Dir und mir den Heldenmuth ju erproben, welder gur Beit des unvollfommenen Gefebes ein Bater und ein Sohn bewiefen!” Thomas zeigte fic ftandhaft, und bot feinen Hal dem Schwerte feines Bruder dar, indem er ihm gum Abfchiede einen zaͤrtlichen Blick zuwarf. Die Umftehenden waren Ddergeftalt von Entfeben ergriffen, daß Nie: mand den Grudermord verhinderte. Leonhard durdbobhrte guerft bem Thomas die Keble, und ſchlug ihm dann kalt— blitig den Ropf ab, welder den Anwefenden vor die Fife rollte. Hierauf ftiirzte er, das vom Blute rauchende Schwert in der Fauft auf die Straße, und fchrie mit firdhterlicder Stimme: ,, der Wille des Herrn ift erfillt.” Baarfuß und baarhaupt lief er durch die Stadt, bedrohte die ihm entge- gentretende Magiftratsperfon mit dem jingften Geridt, und

forderte ſie dann auf, in ſeine Wohnung zu gehen, und von der heldenmuͤthigſten Bhat Kenntniß ju nehmen, welche ſeit ber Beit Abrahams fir die Religion geſchehen ſei. Dann fete er feinen Lauf durd die Stadt fort, und verfiindete den Untergang von St. Gallen und das Ende der Welt. Bald wurde er indeß verhaftet und gerddert. Seden Bag fielen un: ter den Wiedertdufern abſcheuliche Ereigniffe vor. Cin junger Menſch kehrte in Aagerbad in einem Gafthaufe ein, wofelbft ihm wabrend der Mablzeit ein Wiedertdufer den Hals ab: ſchnitt. Letzterer begab fid) darnach Faltblitig auf eine Wiefe, und wandelte, die Augen gum Himmel erhoben auf und ab. Verhaftet uber den Beweggrund gu feiner That befragt, er: wiederte er: „es ift ber Wille des himmlifehen Vaters.“ Endlich entlehne ich von Weffenberg (a. a. O. S. 124) folgende Angabe. Auf Antrieb des Miedertaufers Gold: fd midt febten fic) im Appengellerlande und in der alten Land- fchaft die Weibsperfonen im Hembde oder gar ohne einige Be- deckung auf die Gaffen bin, fpielten im Staube, zogen Tann— gapfen an Faden hinter ſich her, und afften alle Spiele und Gebarden der Kinder nad, weil gefcrieben ftehe: „So ihr eud) nicht den RKindern gleich) macht, werbet ihr nicht ing Him: melreid) eingeben.” Sie wollten weder huldigen, nod einen Gid ablegen, weil der Herr gebiete, nur ja und nein zu fa- gen. Ginige verbrannten die Bibel, weil es heife, daß der Buchſtabe todte, der Geift aber belebe. Weibsperſonen fcnit- ten fid) die Haare ab, um den Worten des Heilandes: ,, wenn Did) Deine Hand argert, fo haue fie ab,” Folge zu leiften. Kranfe nahmen feine Argnei an, weil ihnen ohne den Wil: len Gottes fein Haar abfallen fonne; Andere ſetzten fic, um die Stimme Gottes beffer vernehmen ju koͤnnen, nie— der, blieben in der naͤmlichen Stellung lange Beit wie Klose unbeweglid, und wads ihnen in diefem Zuſtande gu thun ein: fiel, das bielten fie fir den unbegweifelten Wilken Gottes, und volljogen es. Sn ihret Zufammenfunften fielen Einige rudwarts auf den Boden hin, gitterten und kruͤmmten ſich fo lange, bis fie anfingen, zu ſchaͤumen, und in Schweiß, Budungen und Gliederverdrehungen gu gerathen; Andere biel: ten mit Fleiß den Odem lange zuruͤck, bis fie darob blau,

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ſchwarz und aufgeblaſen wurden. Dieſes hießen ſie ſterben. Nachdem ſie das gethan hatten, fingen ſie als Leute, welche verzuͤckt geweſen, aber wiedererweckt und aus der anderen Welt zuruͤck gekommen waͤren, von himmliſchen oder bibli— ſchen Dingen allerhand unverdautes Gewaͤſch zu ſchwatzen an, welches ſie Zeugen und Wiederwerden nannten. Solches hoͤrten die Wiedertaͤufer mit hoͤchſter Andacht an, und legten ihm einen hoͤheren Werth bei, als ſelbſt dem geſchriebenen Wort Gottes.

Nicht unwahrſcheinlich find died dieſelben Anabaptiſten, von denen Zimmermann berichtet, daß ſie ſich nackt auf Stecken und hoͤlzerne Pferdchen ſetzten, und hin und her in grofen Haufen ritten. Ihre Weiber und Weibsleute gallop= pirten mit, und ebenfallé nadt. Endlich galloppirten fie alle nad) Haufe, und warfen fic) in der reinffen Unfchuld und Engelei ber einander und durch einander auf Banke und Betten.

IT. Die ruffifhen Sdhismatifer oder Raskolniks.

§. 27. Gharafter und fanatifdhe Erceffe derfelben.

Das Chriftenthum in Rufland! Wenn das chriftliche Princip der Gottahnlidfeit im unendlichen Streben nach gei— ſtig fittlidber Freiheit den Nationalcharafter der Nuffen, uͤber welche feit Sahrhunderten ein orientalifder Despotismus fet: nen bleiernen Gcepter ſchwang, durchdrungen haben wird, bann hat das Evangelium unftreitig einen feiner fchinften und fdwerften Siege errungen. Daf in einem folchen Lande der reformatoriſche Trieb, welcher ftets die Diffentirenden von der Staatsfirche lodgeriffen hat, uͤber feine weſentliche Bedeuz tung nicht gum GSelbftbewuftfein gelangen fann, fondern in ber herrfchenden Gerfinfterung dex Geifter gu armfeligen, Fin: difchen Neuerungen nothwendig verfimmmert, muß wohl erwo- gen werden, damit man nicht den Aberwik von Menſchen ganz unbegreiflid) finde, welche fiir foldhen Band das Leben mit allen Gitern ecinfeben. Wie wahr died in Bezug auf die

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um die Mitte des 17. Sahrhunderts entftandene Gecte der ruffifhen Schismatifer oder Raskolniks fet, wird and einigen ihrer von der orthodoren griechiſchen Rirche abweichen- ben Meinungen und Gebrauce erhellen, welche Fuhbrmann (a. a. O. BH. 3. S. 500) anfihrt. Statt des Sonntags feierten fie wie die Subden den Sonnabend, fiibrten die Be- fdneidung ein, fogar aud) die Gaftrirung. Gie bielten auf die Heiligfeit ſchlechter Kleider. Die ofne Priefter waren, gaben fich felbft das heilige Abendmahl; fie erwarteten, weil der Antichriſt regiere, die Sufunft Chrifti. Es ift allen Rash. gemein, daß fie beim Gotteddienfte nicht dreimal, fone dern nur gweimal Hallelujah, aber dann dreimal Preis dir Gott fagen; daß fie beim Kreuzmachen nicht den Zeige— finger und Mittelfinger mit dem Daumen jufammenhalten, fondern nur jene beiden, und dagegen den Daumen mit den fleineren Fingern, wie Sefus auf Bildern lehrend feine Hand halt, und damit die Dreicinigfeit und die zwei Naturen an: deuten, Bei dem Gebete Herr Jeſus Chrift fagen fie ftatt Gott, unfer Gottesfobn. Bei ihnen liegt das auf tas Abendmahlsbrot gedrudte Kreuz ſchraͤg, und hat drei Queers linien. Es werden folche Brote nicht wie in der herrſchenden Kirche finf, fondern fieben, naͤmlich noch befonders fir den Patriarden und fir den RKaifer genommen. Cie gehen bei gottesdienftliden Handlungen nad Often hin und nicht von Often her. -

Man wiirde Muͤhe haben, die heftigen Verfolgungen zu begreifen, welche die Raskolniks wegen dtefer albernen Meue- rungen zu erdulden Hatten, da die ruffifhe Geiftlichfett bei aller orthodoren Grftarrung wenigften8 niemals die fanatiſche Wuth der Dominifaner gezeigt hat, wenn erftere nicht einige Saͤtze aufgeftellt hatten, welche allerdings tief zerſtoͤrend in die geſellſchaftliche Ordnung eingriffen. Sie verwarfen 3. B. in der erften Beit die Ehe, fuͤhrten daher ein ſchaamloſes Le- ben und febten die neugebornen Kinder aus; die Meiften wollten feine geiftlide und weltliche Obrigfeit anerfennen. Ruffifhe Annalen eignen fich freilich nicht gu einer pragmatis ſchen Gefchichtéforfehung, und es dirfte wohl unmoͤglich fein, aus ihnen cine gufammenbangende Darfiellung der Schicfale

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gu fchopfen, welde die Raskolniks gu erdulden Hatten. Auch moͤchte eine folde al8 ein Gewebe von ftupider Rohheit auf der einen und von finfterer Despotie auf der anderen Ceite ſchwerlich ein hoͤheres Intereſſe gewahren, daher denn einige Motizen geniigen mogen, welche Gregoire (a. a. O. Bh. 4. S. 167) uͤber fie mittheilt. Gine Schaar von ihnen, Phi— lipponen genannt, hieß aud) Morder und VBrandftifter, und unter ihnen berrfdte die Raferet des Selbftmordes. Obgleich im Wefentlichen mit der ruffifchen Kirche einverftanden, ver: warfen fie dod) die Taufe, weil dabet das Amen viermal ausgefproden wurde, weshalb fie ſich und ifre Kinder um— tauften. Cie verwarfen das Heivathen, und*¥wenn Cheleute Philipponen wurden, fo trennten fie fid, und nannten fic geiftlihe Brider und Schweftern. Es galt als Glid, einen gewaltfamen Zod gu fterben, fic felbft gu toͤdten hieß eine Tugend. Sie liefen fic) lebendig begraben, thdteten fidy durch Hunger und Feuer, ermabhnten fic gegenfeitig zur Nach— abmung, und wenn ein Mitglied fid) dazu entſchloß, fo ließ man daffelbe beichten, das Gewand eines Monchs oder einer Monne anlegen. Um den Bod gu befchleunigen, ſchloß man ſolche Perfonen in ein Bimmer ein mit einer Wace vor der Thur, wofelbft fie bis gum Hungertode bleiben muften, denn man reichte ihnen feine Speiſen, aud) wenn fie flehentlid darum baten. Jn GSibirien ereignete fic) Folgendes: Gin Philipponer Mond erFlarte gegen einen anderen, daß er den Feuertod empfangen wolle. Diefer antwortete: ,, Wenn man Gruͤtze fodt, fo fpart man nicht die Butter.” Cr errichtete einen Scheiterbaufen, auf welden er eine Menge Pedy und andere BGrennftoffe warf; darauf ricdtete er an die Verfam- melten eine Grmahnung, fic) durch das Feuer gu reinigen, und Viele ftiirzten fic) in die Flammen. Da die Philipponen nicht fiir den ruſſiſchen Raifer beten wollten, fo wurden un: ter der RKaiferin Anna Commiffarien nach ihrem Klofter gefandt. Die Mince verfdloffen vor ihnen das Thor, uͤberhaͤuften die Gommiffarien mit Schimpfworten, und erflarten, daß fie fir die Kaiferin nicht beten widen. Als die Commiffarien in das von Hols gebaute SMlofter eindringen wollten, ftedten die Monche daffelbe in Brand. Es war unmiglid, das Feuer

gu loͤſchen, da die Mince die Pforten und Brunnen mit Balken verrammelt hatten, daher das Gebdude mit allen Bewohnern in Afche verwandelt wurde. Zwanzig Fabre fpa- ter folgten die Philipponen des Mlofters Zolenetzi diefem Bei- fptel. Ihre Secte pflangte fic) fort, und wenn fie verfolgt wurden, verbargen fie in ihren GStiefeln ein fcharfed Meffer, um fid) den Hals abjufdneiden. Mod) gu Ende des vorigen Sabrhunderts bracten fie fidh, ihre Weiber und Kinder um. Sie follen fic) bis jest erhalten haben, gwar nicht mebr fo fanatifh fein, jedoch den Selbftmord nod fiir ein Martyrer: thum halten, welches die ewige Seeligkeit erwirbt, und fic daber in tiefe Suͤmpfe ſtuͤrzen. Sie haben Feine Driefter, fondern jeder predigt aus gittlider Eingebung.

Siebentes Kapitel.

Epidemieen des religidfen Wahnſinns, weldhe aus fanatiſchen Verfolguugen hervorgingen.

Der alte Ausfprud): Sanguis Martyrum fomes. eccle- siae, bezeichnet mit wenigen Worten eine der madhtigften Ur ſachen zur Ausbreitung ded Chriftenthums. Denn ſchwerlich wiirde feine reine Lehre allein die unermeßlichen Hinderniffe iiberwunden haben, welche ihm feit feinem Urfprunge ents gegentraten, da feine urſpruͤngliche Bedeutung, die hodfte Gergeiftigung und fittlidhe BWervollfommnung des Menſchen⸗ geſchlechts gu bewirfen, noch jest nur allju baufig mit den engherzigſten Sntereffen der materielen Selbſtſucht verwechſelt wird, und in den erſten Jahrhunderten nur von einer klei— nen Schaar begriffen werden fonnte. Es mußten alſo nod ganz andere Hebel mitwirken, um den das Menſchengeſchlecht durchdringenden und umbildenden Erfolg hervor zu bringen, durch welchen das Evangelium ſich als die Urkunde des goͤtt⸗ lichen Geſetzes zu erkennen gegeben bat. Indem ic) mid) aude druͤcklich auf dad beſchraͤnke, was unſer Intereſſe unmittelbar

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betrifft, bemerfe ic) zuvoͤrderſt, daß ein ftaré entwiceltes re- ligidfes Gefüͤhl den Sieg tuber alle anderen Lebendsinterefjen dDavontragt, wenn eS mit ibnen in einen unvereinbaren Wie derſpruch tritt, und eben durch letzteren zur hodften Gegen— wirkung geſteigert wird. Es iſt daher haufig vorgekommen, daß Perſonen, welche wegen ihres Glaubens verfolgt, anz fangs aus Liebe gum Leben denſelben verleugneten, oder’ die Glucht ergriffen, in den fortwahrenden RKampfen ibred Ge: muͤths/ zum unerfcitterlidhen DHeldenfinn erftarften, und als— dann freudig den Martyrertod erlitten. Außer diefer .ftarfen Noͤthigung durch das religiofe Intereſſe tragt aber aud) nod eine andere in die Menſchennatur gelegte Bedingung madtig - gum Giege deffelben bei. Das Streben nad) dem Unendli- chen, alfo nach einer idealiſchen Erhoͤhung und Verflarung des Selbftbewuftfeins ift naͤmlich fo febr der Urtrieb des Men— fen, daß derfelbe wohl eine Zeit lang unterdridt, aber in fraftigen Gemuͤthern niemals erftidt werden Fann, fondern durch irgend cine ſchickliche Veranlaffung um fo ftarfer her— vorgerufen wird, und dann defto unrwiderfteblicher toirft. Sm gewoͤhnlichen Leben erfcheint der Menſch nur allyuhaufig in derfelben Flaglichen Lage, in welder ſich Gulliver bet den Li- liputianern befand, gefeffelt durch gabllofe Banden kleinlicher Intereſſen, welche er eingeln ohne Muͤhe durdreifen wire, welde aber jufammengenommen ihm jede frete Bewegung un—⸗ moglid) machen; ja er vergift daritber nur alljuleicht feine urfpriinglidbe Beſtimmung, und bleibt dann zeitlebens ein Sflave der ihm angelegten Feffeln, welche er aus Getvohn: heit fogar lieb gewinnt. Mun bedarf es aber nur irgend eines kraͤftigen Smpulfes, um fein fcdluntmerndes GCelbft- bewufitfein zu weden, und jerriffen find im Mu alle jene Schlingen, auf welche ber Freigewordene mit Veradtung, ja mit Beſchaͤmung tiber feine bisherige Unentfchloffenheit herab- fieht. Es tft nicht die Religion allein, welche diefen Auf: erftehungsruf aus den engen §Feffeln ded alltagliden Lebends an den Menfchey erfchallen (aft, fondern auch die jungfrau- liche Liebe, die Forderung der Ehre, das Anfchauen irgend einer hochberziqgen Bhat, die Erkenntniß einer hoheren Wahr—⸗ heit, fur; Alles was den Menfchen gum Selbfthewuftfein uͤber

ſeine ideale Beſtimmung fuͤhrt, und ihm in der Treue gegen dieſelbe ein erhoͤhtes und veredeltes Daſein verheißt, Alles dies ſchafft ſeine Denkweiſe und Geſinnung mit einem Zau— berſchlage voͤllig um, und verleiht ihm eine bisher ungekannte Kraft, Alles zu wagen und zu dulden. Hieraus erklaͤrt ſich auf die einfachſte Weiſe die unwiderſtehliche Macht, mit wel— cher alle Maͤrtyrer fle die Religion, ſelbſt fir einen irvthim: lichen Glauben empfanglide Gemither zur Nacheiferung an- treiben; denn fie bringen durch ihr Dulden und Handeln das Hoͤchſte des Menſchen, feine Beftimmung fir das Leben in ter Idee, zur unmittelbaren Erfcheinung, fie treten mit ih: rer Heldengrofie unter einem Pygmaͤengeſchlecht auf, und rei: fen durd) Bewunderung gum Wetteifer fort. Werfen wir in dieſem Cinne einen Blid auf alle Kahrhunderte, in denen eine finftere Barbarct unter allen moͤglichen Formen gegen den reinen Geift des Ghriftenthums anfampfte, fo wird e3 uns deutlich, daß jedes durch den Tod fir lesteres geadelte Maͤr— tyrerthum cin leuchtendes Vorbild fir die in dumpfer Gei— ftesfflaveret fchmachtende Menge abgeben mufite, fie zur Nad: folge anjufeuern. Denn nie fann der Menſch, ſelbſt nicht im matericllen Wobhlfein und in finnlicher Ueppigkeit feine geiz ftige Verarmang verſchmerzen; ja felbft die Blafirtheit in aus: mergelnden Gentiffen floͤßt gulest Ekel und Abfdeu gegen fie ein, und wuͤrde nad dem Gontraft der Gefiihle jedesmal in Begeifterung fiir das Edle und Schoͤne umfchlagen, wenn fie nicht das Marf des Lebens ausgetrocfnet hatte, und mebr al8 ein ohnmaͤchtiges Gehnen nach dem Unerreichbaren hervor- bringen fonnte. Indeß jene Blafirtheit ift nur die Geifiel des Lurus und der Schwelgerci, und blich tenen unbefannt, welche unter dem Drude geiftiger Knedtichaft ſchmachtend, bod) in ſich das Beduͤrfniß eines freieren und veredelten Da- feinS nicht erfticft batten, um Iebterem, wenn es ihnen durch eine hochherzige Bhat zur Anfchauung gefommen war, freudig Alles zu opfern.

Indeß ein ſolches Opfer gu bringen, iſt noch die leich— tefte Aufgabe der Begeifterung, denn unzaͤhlige Voͤlker haben fie mit der grifiten Bereitwilligfeit geldfet, wenn es galt, die Freiheit de3 Vaterlandes gegen fremde Byrannei auf Le-

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ben und Tod ju vertheidigen, weil der Eingelne dann nidt mebr im Antriebe feiner ifolirten perfdnlichen Kraft handelt, fondern von ‘der unwiderfteblichen Bugfraft des gemeinfamen Lebensftroms fortgeriffen wird. Unendlich ſchwieriger ift es, in dem Wirbel der durch einander ftirmenden Ereigniffe die tubige Befonnenheit gu bewahren, und durd) fie dte Kaͤmpfe der in der Bruſt ftreitenden Intereſſen gu ſchlichten, welche unter foldben Bedingungen nur alljuleiht den Charafter der heftigften Leidenfchaften annehmen. Won einem ganzen Volfe verlangen, daß es bei jedem madtigen Umſchwunge 3u einem hohen Biel durchaus nidt von der Ridctung nach demfelben abtweiche, daß die Menge den Sieg der edelften Sntereffen nicht durch manden Unfug und Frevel beflede, heift eine abgefchmact wibderfinnige weil unnatirlicde Forderung aus: fprechen. Vielmehr ift nod) der Glanz eines jeden hochhergi- gen Unternehmen’ durch mannigfadhe Fleden getriibt worden, und wenn Ddaffelbe feinen Zweck nur nicht ganglic) verfeblte, fondern wenigftens den Nachkommen bas erftrittene Gut er: rang, fo ift ihm Ddadurd ein volles Lob ertheilt. Freilich macht es einen grofen Unterfchied, ob ein fir feine beiligften Yntereffen Fampfendes Wolf den Charafter der fittlichen Nein: beit fid) bewahrt hatte, oder ob es in focialen Gebrechen ent— artet tber jene faum zum Sewuftfein fommen und in ihrem Antriebe handeln Ffonnte. Denn wabrend die erften Befen: ner des Chriftenthums, nod) ganz erfillt von dem Geifte fei: nes Stifters in den gegen fie geridteten blindwitthenden Ver— folgungen einen an Heiligfeit grenzenden Adel der reinften Gefinnung beurfundeten, haben dagegen fpdtere VolfSmaffen, wenn fie das Sod) der Hierarchie abfaiittelten, oft genug mebr aus Antrieben der niedrigften Begierden, als aus dem der Glaubens- und Gewwiffensfreiheit gehandelt, und dadurd ihre reformatoriſchen Beftrebungen zu der verruchteften Empdrung herabgewirdigt, wovon die Wiedertaufer uns ein fo abſchre— ckendes Beifpicl lieferten. Wenn wir daher den Kampf einer Religionsfecte gegen die Verfolger ihres Glaubens deshalb, weil in dem Ddabet unvermeidlichen Widerftreit der heftigften Leidenc fchaften viele ſchwachbefeſtigte Gemither dem Wahnfinn zum Raube wurden, als eine Urfache deffelben, oft in einer wabr:

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haft epidemiſchen Verbreitung, bezeichnen miffen; fo erhellt aus dem Bisherigen die Nothwendigkeit, bei der Schilderung eines jeden ſolchen Salles wenigftens im Allgemeinen die ſo— cialen Verhaltniffe angudeuten, unter denen derfelbe zur Er— fcheinung fam, weil auferdem l[ebtere nicht verftandlid fein wiirde.

I. Die erften Qudfer. §. 28. Ullgemeine Bemerfungen.

Durd feine infulare Lage von einer unmittelbaren Wed: felwirfung mit den iibrigen Voͤlkern Curopa’s abgefondert fonnte England, obgleid es an allen ihren Schickſalen und Gulturereigniffen den innigften Antheil nahm, von jeher eine große Cigenthimlidfeit und Celbftftandigfeit feiner nationalen Entwidelung behaupten, durch welde es dem Bildungscharak— ter feiner uͤberſeeiſchen Nacbaren in vielen Begiehungen ſchroff gegeniiber getreten iff. Died giebt fic) vorzugsweiſe in dem ganz anders gearteten Gharafter gu erfennen, den die refor- matorifden Beftrebungen der tiefernften religidfen Gemither feiner Bewohner angenommen haben. Nur mit wenigen Mors ten fann id) daran erinnern, daf Heinrid VIII., in def fen Gharafter Wolluft und despotifche Graufamfeit fo tber- mapig vorberrfdhten, mit der Adsertio septem sacramento- rum adversus Mart. Lutherum auftrat, um bet bem Dapfte ben Ghrennamen eines’ Defensor fidei ju gewinnen, daß er aber, als feine todtbringende Liebe auf Anna Boleyn fiel, und er von Clemens VII. nicht die Scheidung von feiner red)tmafigen Gemabhlin Catharina von Arragonien, er: langen fonnte, dennod lebtere verftie#, und jene gum Weibe nabm. Wom Papfte in den Bann gethan, bewirkte er. durd ein mehr ferviled als proteſtantiſches Parlament die Losrei— Bung des Volkes von Rom, und lief fic als das Haupt der Engliſchen Kirche anerfennen. Ym blinden Fanatismus wiithete er eben fo febr gegen Ratholifen, als gegen Lutheraner, welche oft gleichgeitig au demfelben Galgen hingen. So ging von ihm die Grimbung dex Episfopal- Kirche in England aus,

welde ald eine wibdernatirliche Verſchmelzung des Ratholicis- mus und Proteffantismus ihren hierarchifchen Charafter durch die 39 Artifel geltend machte, durch den unermeflichen poli: tifthen Gharafter der Torys und des iiberreichen Clerus bis auf den heutigen Tag behauptete, und ihren papiftifchen Geift tro6B aller entgegengefegten Demonftrationen fo wenig hat ver: leugnen finnen, daß gerade jeBt aus ihrem Schoofe die Pu— feniften bhervorgegangen find, welche fchaarenweife zur ro: mifchen Kirche zuruͤckkehren. Starre Orthodorie, welche fich wie cin geifttodtender Alp fogar auf die Naturwiffenfcaften waljt, fo daf die engliſchen Geologen fic) abqualen miffen, um die Kosmogenie mit der mofaifchen Schdpfungsgefchidte in Ginflang zu bringen (1!), und welche um fo mebr jede andere Wiffenfchaft in Feffeln gu ſchlagen ftrebt, erzeugt da- her in der Gpisfopal: Kirche einen rigoriftifchen Mitus, eine Werkheiligfeit in pharifaifther Gabbathsfeier und eine Menge anderer Auswuͤchſe der Bigotterie, fo daß eins der hochher— zigſten Voͤlker laͤngſt geknechtet ſein wuͤrde, wenn ſeine politi— ſche Freiheit nicht auf unerſchuͤtterlichen Grundlagen ruhte, und wenn nicht ſein Welthandel und ſeine Weltbeherrſchung den fanatiſchen Uebergriffen der Geiſtlichkeit einen unzerſtoͤrbaren Damm entgegenſtellte. Und dennoch wuͤrde der Ausgang die— ſes widernatuͤrlichen Kampfs, durch welchen unſtreitig dem engliſchen Volkscharakter ſo viele ſchroffe, finſtere, ja wider— ſtreitende Eigenſchaften ſo tief und unausloͤſchlich eingepraͤgt ſind, daß ſelbſt ein Englaͤnder behauptete, ſeine Landsleute wuͤrden von den beiden entgegengeſetzten Antrieben der Hab— ſucht und der zitternden Furcht vor dem goͤttlichen Zorn be— herrſcht, der Ausgang jenes Kampfs wuͤrde allem Anſchein nach ſich ganz zu Gunſten der episkopalen Hierarchie entſchie— ben haben, ganz eben fo wie in Spanien die Snquifition feine machtige Herrfchaft in allen Welttheilen zerftirte, wenn nicht gegen erftere fchon frithzeitig machtige Gegner in die Scranfen getreten waren. Denn Fohn Knox, welder Cum mich der Bezeichnung von Hafe a. a O. S. 407 ju bediencn) zwiſchen Gcheiterhaufen und Ruderbaͤnken erftarft bie Kurcht wie die Freuden des irdifchen Dafeins nicht fannte, rif durch feine ftiirmifche Beredtſamkeit die reformirte Par:

- " Tt ; 9 .

od —— * —* eg) auptete.

rfprunge a eae cries ‘ener on

sing on ra em , ſeiner Befermer ohne Mihe, daß san ngriff He evbittert, und von geiſtlichem ismus erglihend eine Heiligfeit der Geſin— “mit welther fid) Duritaner zu nennen Da die Episkopalkirche mit den —— Haß gerathen mußte, ſo hieraus die des ganze Wolk erfehitternden reli: 7 welche in der letzten Halfte des 16. und waͤh⸗

ben. 2 es keinem Zweifel, daß durch den blinden Fanatismus —— Parlamente und im Heere vorherrſchten, den

beſtehenden Verfaſſung bewirken, und Karl J. auf das Blut⸗ geruͤſt fuͤhren ** Er ſelbſt, in deſſen ‘Charatter welt:

*) Gin ———— Gemälde des —— der Presbyterianer hat Walt. Scott in ſeinem nad) ihnen benannten Romane außer an vielen anderen Orten entworfen, indem er mit gewohnter pfatholos giſcher Meiſterſchaft die Wirkung der finfterften Lehrſaͤe auf die vere ſchiedenartigſten Gemiither in den brennendften Farben hervortreten la . °

——— d. relig. Wahnſinns. 19

fluger DeSpotismus und religidfe Schwarmerei um den Bors rang firitten, Fannte “den Hebel feiner Macht im Fanatismus zu genau, als daß er zur Regierung gelangt denfelben. hatfe zerbrechen follen, Ddaber er denn aud) wabrend derfelben Die mannigfachen Ausbruͤche der Schwaͤrmerei viel weniger be— fimpfte, als er es auferdem wohl fur nothwendig haben wuͤrde.

Indeß wie ſchroff auch die Episkopalen und Preslyte⸗ rianer in ihren Lehrmeinungen, in ihrem Cultus und in ak len daraus fiir das fociale und politifche Leben fic) ergeben— ben iiberaus widtigen Folgerungen einander gegenuͤber ſtan— den; fo ftimmten fie doc) in dem Charafter einer ftarren Dre thodorie tiberein, deren Satzungen fie mit fanatifchem Gifer vertheidigten. Ware dod) nur Giner unter ihnen daruͤber zur Beſinnung gekommen, daß es die groͤßte Anmaaßung in ter Welt fei, auf das Privilegium der Mechtglaubigfeit Anſpruch gu macen, wenn dicht daneben eine vdllig entgegengeſetzte Auffafjung des Evangeliums von einer minbdeftends eben fo grofen Sdaar als ein untriglicher Kanon des Glaubens we nigftens. mit demfelben Rechte geltend gemadt wird. Aber Betrachtungen diefer Art anjuftellen war im 17. Sabrhundert im jerrifjenen England eine pſychologiſche Unmoͤglichkeit, und nod) jeBt finden fie nur bei einer verhaltnifmdfig geringen Bahl wabrhaft Aufgeflarter GCingang. . Mag ed fein, daß Sahrhunderte hindurd) die Orthodorie als ftarre Form dem religidfen Geifte eine fefte Haltung geben mufite, ohne welche er gu einer beftimmungslofen Regung zerfloſſen fein, und darin unvermeidlid) feinen Untergang gefunden haben witrde; ihre fanatiſche Gertheidigung mufte den Gemithern nach ibrer Befreiung aus der Sflaverei des Papſtthums nidt minder briidende Feffeln anlegen, dadurd nur alljufehr in ihnen die aͤcht chriſtliche Gefinnung der thatigen Menſchenliebe erſticken, und bie Froͤmmigkeit in jenen finſteren zelotiſchen Ernſt vers wandeln, welcher die kindliche Liebe gu Gott durch knechti— ſche Furcht vor feinem Zorn unterdruͤckt, und zur Befriedi— gung des letztern ein erbarmungsloſes Strafgericht gegen die Schwaͤchen und Sinden ber Menſchen verwaltet. Allen Egoi- ſten ſagt eine ſolche Glaubensform ungemein zu, weil ſie

_— 21

alle Selbſtverleugnung einer aufopfernden , und weil fie mit der. argliftigen Dia: leicht eine Stellung aufzufinden —*

durch tein

* ne ‘neal auf ibre orthodoren Anmaa⸗

entgegen. Daß die Drthodorie unzaͤhligen vortrefflichen

ein ap Bedirfnif ijt, weil fie eine Kritik

der Bibel aus vielen wichtigen Gruͤnden ſcheuen, namentlich

wegen det Ungewifiheit ihres Erfolges, um nicht dadurch den

inneren Kern des Glaubens ju jerftiren, ſoll damit keinen Augenblick in’ Abrede geſtellt werden; aber dann paart ſich au

eine folthe Orthodorie mit allen dct “cbrifilien Tugenden, bringt “ms? bas Gegentheil der fanatifdyen Verketzerungs⸗ wuth her

Es fine daher nicht ausbleiben, daß in dem Kampfe der Episkopalen mit den Presbyte n viele Gemiither von beiden Partheien ſich gleich ſehr —*2 fuͤhlten, und in ern ſter Erwaͤgung ihres religiöſen Herzensbeduͤrfniſſes den Wider⸗ ſpruch deſſelben mit den Satzungen jener fo fief und ſchmerz⸗ lid) empfanden, um ſich voͤllig von ihnen loszureißen. Died gelang ihnen auch um ſo eher, als jene Ha ptpartheien um die Herrfchaft uͤber das Koͤnigreich ſtritten, dieſelbe ie Laufe der Beiten gegenfeitig entriffen, und auferdem auch vi ben Katholiken in Athem gehalten, ihre Kraft, t 1

einzelne untergeordnete Secten richten konnten, welds dem wahrſcheinlich den Streichen der Gierardie wu fein wuͤrden, wenn legtere im ausſchließlichen Bej der der Epistopalen ober der Presbyterianer ge Unter den gegebenen Bedingungen fand aber eine Menge von ‘Secten hinreichendé Gelegenheit, fic von den beiden Hauyt: kirchen loszuſpalten, und cine denfelben entgegengefeste Rid)- tung einzuſchlagen Wie immer, fo rief auch hier jedes Er— trem ba8 entgegengefetste hervor, und gleidwie in alleti Jahr hunbderten eine in fcholaftifden Begriffen ‘perhartete Ortho:

19 *

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boric, eben weil fie bad religidfe Herzensbeduͤrfniß nicht be- friedigt, oder geradezu anfeindet, dadurd die von letzterem erfillten Gemither zuruͤckſtieß, welche unter verfdhiedenen Be nennungen als Myftifer, Pietiften u. f. w. dad fromme Ge- fibl gum Princip des Glaubens und jur Quelle des han: delnden Lebens madten, ganz eben fo gefthah es aud da: mals in England. Aus diefem Grunde erlangten die Qua: fer bald eine fo auferordentliche Ausbreitung, daß fie der wiithendften Verfolgungen ungeadhtet dennocd) immer mehr Boz ben gewannen, und dadurch 3u einer in Britannien und MNordamerifa madtig gewordenen Glaubensfchaar erftarfter. ‘Man muF die mit pragmatifcher Meifterfchaft gefchriebene Ge- fchichte der Quaͤker von Crifius lefen, um eine Iebendige Ueberjeugung von der unermeßlichen Bedeutung zu erlangen, welche ihre Gchicffale fiir die Forſchung auf dem religiofen Gebiete haben, und man witrde den fie beherrſchenden Geift hoͤchſt kuͤmmerlich und einfeitig auffaffen, wenn man fic dar: auf befchranfte, ihre Lehrmeinungen durd) die Brille der dog: matifchen Kritik gu betrachten. Sie haben fid) unftreitig in vielen Punften grobe Irrthuͤmer zu Echulden fommen laffen, auf welde vornehm herabzuſehen eine Kleinigfeit ift; aber ihre Gefchichte iff mit dem Hergblute vieler Baufende gee ſchrieben, und fie haben ihre Erfolge mit einer Celbftverleug: nung, mit einer nachhaltigen Begeifterung fiir das Heilige, mit einer Standhaftigfeit in ben fchwerften Drangfalen er: rungen, welche fie den groften Glaubenshelden wenigftend der Gefinnung nach ebenbirtig zur Seite ftellen. Um bas wee nige Mitzutheilente in bas rechte Licht yu ſetzen, entlehne id zuvoͤrderſt von Fubrmann (a. a. O. Th. 3. S. 481.) den duferft pracifen Ueberblick ihrer refigidfen Denfweife *).

*) Fubrmann [citet den Namen Quaker (deutſch itterer) davon ab, daß For im Verhör die Worte Sefaj. 22, 11 ausfprad: ,, Zitrert vor dem Worte des Herrn“; worauf der Friedensrichter hihnend gu den Um—⸗ ſtehenden ſprach: „Seht da, cin Bittercr.” Andere beziehen diefen. Namen mit gréferer Wahrſcheinlichkeit darauf, daß die erften Quäker bet ihren Verfammlungen durd ihre craltirte Frimmigfeit haufig in ein convulfiviſches Bittern verfegt wurden, wobei ihr Mund ſchäumte Sie felbft nennen fich los Freunde, Freunde und Befenner des Lichté, dab Bolf Gortes.

. 29. Glaubensfage der Quaͤker.

Die Grundidee des zur Myſtik hinneigenden Glaubens: foftems der Quaͤker iff dad innete Licht (oder dads innere Wort Gottes), weldes Gott in jedem Menſchen errege, und welded er ihm in Demuth mittheile, wenn er darauf in Demuth und Glauben harre. Daſſelbe wirke beftandig im Menſchen, ohne der fchriftliden Offenbarung undder Bernunft entgegen gu fein. Es fet die fichere Quelle aller wahren und beſeeligenden Erkenntniß Gottes. Aus diefem Lichte ware aud) die Bibel gefloffen; daffelbe habe der Sohn Gottes gegeben; es fei der in und lebende Chriſtus, die eingige Re: gel des Glaubens und Lebens, und allein im Stande, die Bi: bel. richtig auszulegen, und durch daffelbe werde der Menſch allein gum evangel. Lehrer fabig und geweihet, Mur Gott koͤnne einen folcen bilden und einfegen, und Gelehrfamfeit und Philofophie feien mehr fchadlid) als nuͤtzliich. Deshalb fei ein befonderer Lehritand unnug und ſchaͤdlich, jeder erleuchtete, wiedergeborene Chriſt fei ein Geiftlider, der in Den Zuſammen⸗ finften (Meetings), fobald die innere Anregung erfolge, frei reden Ddiurfe; Daher auc) Weiber in denfelben Predigten halten. Bur Kirche, in welche alle von Gott erleuchteten Menſchen aus allen Zeiten -gehoten, werden gar feine Symbola, feine Saufe, Fein Abendmahl (beides nur fir die Schwachen einges führte Gebraudhe und Schattenbilder des Befferen), erfordert. Das Hiſtoriſche in der chrijtl, Religion, 3. B. die Gefchichte. Jeſu, fcheinen die Quaker iiberhaupt fiir entbehrlich in der felben gehalten gu haben. Tempel, Altare, Gefange, Fefttage, Copulationen, Leicengebrauche, waren, al auf Aberglauben . begriindet, tiberflufjig. Der Staat habe auch fein Recht, ber den Glauben abjufpredhen. Die Hauptfade fei, daß man fid) eines rein ſittlichen Wandels bhefleipige, fid) vom Irdiſchen losreifie, feinem Gemithe Rube und Ernft gebe, fid) von. irdi— fhen Vergnuͤgungen (Spiel, Schauſpiel, Moden, Lurus u. f. w.) fret erhalte. Ale Menſchen miffen fic) gleid) ach: ten und lieben; der vollig ald unrechtmafig zu verwerfende Krieg und alle Zwietracht feien gu vermeiden. Man miffe Niemanden beleidigen, fic vor Niemandem beugen, das Haupt

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nicht entblofen, fic) der Ehrentitel enthalten, und zu Jedem, aud) den Konigen Du, fagen. Letzteres beruhe auf Matth. 23, 8. 9; Eph. 4, 25. Der Cid ware, da fie flets die reine Wahrheit fagen follten, nad) Matth. 5, 34 uberfliffig und fogar fchadlich (wedhalb die Quaͤker denfelben vor Ge— richt verweigern). Eben fo bejablen fie auc nidt den Behnten an die Geiftliden. Gn ihren Gerfammlungen wer den auch alle Heirathsvorſchlaͤge, Geburten und Todesfaͤlle, Verforgungen der Armen, Anfragen um Aufnahme— newer lieder verhandelt. So einfach diefelben in ihrer Mede und in ihrem Betragen find, fo fcblicht iff auch ihre Kleidung. Shr Lehrbegriff if— in neueren Beiten derfelbe geblieben.

Wie feblicht find diefe Sabe bem aufern Anſchein nad, und wie inhaltfdwer ift ihre Bedeutung! Auf ibren dogma tiſchen Charakter kommt hierbei wenig an, denn derfelbe fonnte aud) ein ganz anderer fein, und fic) doch mit denfelben prak— tiſchen Grundfagen vereinigen; ja es fceint, daß derfelbe -ab- fichtlich die Negation aller Glaubendlehren der Cpisfopalen und Presbyterianer fein follte, um die gaͤnzliche Losreifiung von denfelben auf Grund des Cvangeliums ju rechtfertigen. Um es mit einem Worte gu fagen: die Quaͤker erflarten die Anhanger jener herrfchenden Kirche, namentlich die Priefter derfelben fiir Pharifder, welche bas Chriftenthum nur zum Demantel ihrer verwerflidften Leidenfchaften machten, und. deshalb den buchſtaͤblichen Sinn der Bibel fo lange mit ſcho— -laftifther Dialektik zerrten und verrenfren, bids er in ein ihrer Selbſtſucht forderlides Syftem gebradct war. Ihnen war die Religion vor Alem Herzensangelegenheit und als folche ftrengfter Grnft, weshalb fie aud tiefem Abfcheu gegen alle Scheinheiligfeit eine Bahn betraten, auf welcher fie fic fo weit alg moͤglich von der Gefahr Dderfelben entfernten. Deshalb muften fie fogar die Autoritat der Bibel verringern, um nidt in Sflaverei unter den Buchftaben derfelben gu ge rathen, und dads ganze Geriift des aͤußerlichen Cultus wurde bis auf den Grund mit jener fyftematifden Folgerichtigkeit zerftirt, . welche dahin fuͤhren mufte, das. vollftandigfte Ge- aentheil won demſelben ins Leben treten zu laſſen. Eben darin, daß fie gum fcroffen entgegengefesten Extrem tiber

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fprangen, lag ihr vornehmſter Irrthum, weil ſie durch die ſtrenge Conſequenz ihrer Grundſaͤtze auf das innere Licht, auf den der Seele inwohnenden Chriftus als. urſpruͤngliche Offenbarungsquelle zurückgewieſen, der Gefahr myſtiſcher Ver⸗ irrungen nicht ausweichen konnten, welche ſich gar nicht ver: meiden laͤßt, wenn man in der durch zahlloſe individuelle Bedingungen getruͤbten Subjectivitaͤt den reinen Spiegel ded goͤttlichen Geſetzes zu finden waͤhnt, zumal da jene grundfag:. lich iede methodiſche Durchbildung der Vernunft verſchmaͤhten.

Wenn nun dieſer Gefahr ungeachtet, welche auch wirk⸗ lich die Urſache der Geiſteszerruttung vieler Quaͤker in der. er: ſten Seit ihrer Secte wurde, letztere dennoch zu einer pratti: ſchen Tuͤchtigkeit, ja zu einer ſittlichen Reinheit ſich gelaͤutert hat, zumal in England und Nordamerika, wo fie im ſchrof—

fen Gegenfage zur Dedspotie der materiellen Intereſſen ſteht,

ſo daß kein Unpartheiiſcher ihr ſeine innigſte Hochachtung und Bewunderung verſagen Fann; fo iſt eben. hiermit die uner— meßliche Wichtigkeit ihrer Geſchichte fuͤr die Forſchung auf re⸗

ligioͤſem Gebiete bezeichnet. Denn werfen wir einen Blick

auf die zahlloſen Schaaren der Myſtiker und Pietiſten, wie - fie in allen, Zeiten und Laͤndern im’ Widerftreite mit der

ſcholaſtiſchen Orthodoxie aufgetreten find; fo begegnen wit faft ohne Ausnahme empfindelnden Schwaͤrmern, welche gelegent—⸗

lich wohl im Gefuͤhlsrauſch ein Maͤrtyrerthum gewagt, ſelbſt gefliſſentlich hervorgerufen, ja welche in leidenſchaftlicher Ueber⸗ ſpannung ſich eine Menge von Kaſteiungen und Bußübun⸗ gen auferlegt haben, durch welche die reizbare Gemuͤths⸗ ſchwaͤche jedesmal den Mangel an praktiſcher Thatkraft er— ſetzen muß. Aber der Ausgang hat noch immer gelehrt, daß den convulſiviſchen⸗Anſtrengungen ſolcher Schwaͤrmer jede nach⸗

haltige Begeiſterung, jede gediegene Tüchtigkeit des Charat-

ters, alſo der eigentliche Kern, das Mark des Lebens fehlte, aus welchem die ſchoͤpferiſche Kraft zu einer die Jahrhunderte

ürberdauernden geſellſchaftlichen Verfaſſung entſpringen muß, daher erſtere immer fpurlos im GStrome der Zeiten verſchwun—⸗

den find, und nur der Geſchichte die Erinnerung an ihre

—— aſſen haben. bem Allen. finden wir eons: Sigalboes: bei den aul Sie ſchoͤpfen den

Antrieh gu allen ihren Handlungen aus der unverſieglichen Quelle de8 religidfen Gefishls, und find dod) die befonnen: ſten, werfthatigften, aller Gefuͤhlsſchwaͤrmerei am Entſchieden⸗ ſten abgeneigten Menſchen, die es geben kann. Niemand kann die weltlichen Angelegenheiten mit mehr Eifer und ge⸗ reifter Erfahrung betreiben, als ſie, und dennoch verſagen ſie es fic) durchaus, in der Fille ihres geſegneten Fleißes zu ſchwelgen, oder die Fruͤchte deſſelben habſuchtig aufzuſpeichern, da ſie ohne alle ascetiſche Oſtentation und puritaniſchen Hoch⸗ muth ſi ch mit der ſchlichteſten Lebensweiſe begnugen, und durch die ſegensreichſten Werke chriſtlicher Barmherzigkeit als aͤchte Samariter ihre phariſaͤiſchen Gegner tief beſchaͤnen. Ihr ganzes Leben iſt ein methodiſcher Kampf gegen alle iſchaf⸗ ten, ein unausgeſetztes Streben nach ſchlichter, we Gemuͤthsruhe, und dennoch haben fie in allen kannibaliſchen Verfolgungen ihre Grundſaͤtze ſelbſt in untergeordneten Dingen mit einer Standhaftigkeit, ja mit einer ſtarren Unbeugſamkeit behauptet, welche fie gu dem Range ver preiswuͤrdigſten Glau⸗ benshelden erhdht. Der glangenden Vorzuge ihrer, Glaubens⸗ * form vor allen orthodoren Sagungen auf das Entſchiedenſte ſich bewußt, haͤtten fie ſich leicht im Selbſtgefühl uͤbernehmen, und deshalb unduldſam, ja verfolgungsſuchtig werden koͤnnen; aber ungeachtet fie eine innere goͤttliche Erleuchtung voraus— ſetzen, haben ſie ſtets das reinſte Muſter der Toleranz aufge⸗ ſtellt. Faſt niemals haben ſie ſich durch die Grauſamkeit ihrer glaubenswitthigen Verfolger zu Handlungen der Rache fortrei⸗ ßen laſſen, und nie haben ſie der Landes⸗Regierung ihren un⸗ bedingten Gehorſam i in weltlichen Dingen verweigert, ungeach— tet dieſelbe faſt ein halbes Jahrhundert hindurch ihre geſchwo— rene. Todfeindin war. Die Geſchichte kennt keine herrlicheren Unternehmungen im Dienſte der Menſchheit, als die Gruͤndung des penn ſylvaniſchen Staats durch Penn und den langjaͤhrigen Kampf des edlen Wilberforce im. engliſchen Parlamente fuͤr die Aufhebung der Sklaverei, unzaͤhliger anderer verdienſtvollen Maͤnner und Frauen (der Mis Fry 3. B.) nicht zu gedenfen, welde in der Wiſſenſchaft und im praktiſchen Leben Vorzüg⸗ liches geleiſtet haben. Endlich gab es nie eine Secte, welche gleid) ihnen nun ſchon feit zwei Sahrhunderten, den Geift der

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reine Humanitat fo unverfaͤlſcht auf alle nachkommenden Ge- fcblechter vererbt hatte. Wenn nidt an foldhen Frid: ten. der Baum erfannt werden foll, auf weldem fie wudfen, dann fehlt uns jeder Maaßſtab gur Beurtheilung riftlider Gefinnung Dirfen wir der Hoffnung Raum geben, daf das adte Chriftenthum als das Reith des Friedens und der Freiheit in Gott die Erbe vbllig beherrfhen werde, dann iff bas Quadferthum die Morgen- rothe jener goldenen Zukunft, welche eintreten wird, wenn die Vernunft als Sonne der Wiffen- fhaft durch ibren Uufgang die lebten ———— der Bigotterie verſcheucht haben wird.

Eine ſolche ans Wunderbare grenzende, weil die ge— woͤhnlichen Bedingungen der menſchlichen Natur weit uͤber— ragende Erſcheinung will vor allen Dingen erklaͤrt ſein, und laͤßt ſchon theoretiſch auf die maͤchtigſten Urſachen zurückſchlie— fen, ohne welche fie nicht moͤglich geworden ware, ohne welche namentlid) die praktiſchen Glaubendlehren bald durd bie Einmiſchung frembartiger Gntereffen getrubt und fomit ausgeartet fein wirden. Wir finden die Deutung diefer Gr: ſcheinung in den einfacen Worten, daß die Gefinnung der Quaͤker ein in vielfaden Feuerproben geflartes Gold darftellt, welches immer mehr von feinen Schlacken geldutert, nun um fo leichter in feiner urfpriinglichen Reinheit aufbewahrt wer: . ben fonnte. Denn eben hierin iff der Grund enthalten, bag ihre Gecte zwar im gewaltfamen Losreifen von den herrſchen— den Mirchen zuerſt den wilden Gharafter der Schwarmerei an: nahm, welcye bei vielen Perfonen ſich bis gur Hoͤhe des voll: endeten Wahnfinns fteigerte, daß fie aber in grengenlofer Moth unter langjahrigen, faft beifpieofen Gerfolgungen zu jenem Heldenmuthe des religidfen Bewußtſeins erftarfte, wel: ther alS folder die Befonnenheit jedeSmal bis zur Geifted- gegenwart in Gefahren verflart, und dadurch der fittlicen Gultur eine unjerftirbare Grundlage bereitet. Es liegt mir nun ob, den’ urfundlicen Beweis diefer Sake aus der ge: nannten vorziigliden Schrift von Crofius zu fuͤhren, wel: cher. bier um fo unbedenflider als Gewahrsmann gelten fann,

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al8 er felbft an Ort ynd Stelle die forgfaltigften Erfundigun- gen einzog, aus vielen jest wohl ſchon verloren gegangenen Streitfdriften fir und wider fcopfte, und wegen ſeiner durch⸗ blicenden orthodexen Gefinnung fo wenig ein blinder “Be wunderer Der Quaker war, daß er ihre Verirrungen uͤberall in das grellfte Licht ftellt, anbdrerfeits aber auc) ihrer bod: herzigen Gefinnung volle Anerfennung jollt. Nur mus id es tief beflagen, daß ich gezwungen bin, mic auf wenige, abgeriſſene Bruchftude aus jenem wae —— Drama zu beſchraͤnken.

§ 30. Urſprung, Verbreitung und Verfolgung des Quaͤkerthums.

George For, der Stifter des Quaͤkerthums, 1624 in der Graffchaft Leicefter geboren, Der Sohn eines Webers, war alg Knabe einſiedleriſch, ernft, traurig, lernte nur lefen und Wenig fcreiben, und “wurde dann Schuſter. Die Bibel las er fo eifrig, daß er fie faft auswendig lernte, fuͤhrte dabei einen beſcheidenen, ehrbaren LebenSwandel, bildete ſich aber fpater auf fein Wiffen viel ein. Gm 19. Jahre horte er beim Spakiergange eine Stimme vom Himmel: ,, Das Men- fchengefchlecdt fei eitel, die Bosheit wachfe mit den Sabhren, im Alter erlofche das Licht der Seele, wenn es am hellften brennen folle. Gr felbft folle von dem Haufen der Gottlofen ausgehen, ein einſames Leben fubren.”- Mebrere Tage war er aufer fic, befdlof den Umgang zu vermeiden, und die bifen Begierden durch fleißiges Faften und Beten gu erſticken. Sein Handwerf tried er nur fo viel als nothig war, aufer: dem las, fpeculirte, betete er, Dabei richtete er haufige Crs mabnungen an Andere, und wurde fo von fic eingenommen, daß er fid) um cin kirchliches Amt bewerben wollte, weil der Geift Gottes den Mangel an Gelebrfamfecit erfesen werde. Gr reiſete umber, arbeitete wenig, wurde dabei Frank, und verfiel in Schwermuth, weil er vom Teufel. mit Verſu— chungen big zur Verzweiflung gequalt wurde, fo daß er fid ben Tod wiinfehte, und ſchmaͤhte diejenigen, welche ihn tros fteten und fur krank bielten, als fleiſchlich Gefinnte, welche

Feine Erleuchtung von Gott Hatten. Geinen tieffinnigen Be: tractungen nachbangend hatte er unaufhorlid) goͤttliche Offen⸗ barungen’, Erſcheinungen und Geficdte, erbhielt auf feine Fra: gen und Sweifel aliemal unmittelbar gottliche Antworten, wufite viele Dinge vorber. Go wurde er im Geifte mit ei: nem fenrigen Schwerte in das Paradies verzuͤckt, wo er nad dem Chenbilte Adams. vor dem Cimbdenfalle umgebildet, und in den gebeimften Dingen unterrichtet wurde. Die Schipfung der Welt enthillte fic) thm, und es wurde ihm gexeigt, wie jeded Gefchdpf nach feiner Natur den Namen empfange. Gr glaubte nun feine Zeitgenoffen an Ginficht und Wandel gu wubertreffen, hatte einen unwiderfteblidhen Hang zu predigen und ju unterrichten, 30g fic) aber nad) 3 Sah: ren zuruͤck, um fid) gang feinen Gingebungen zu uͤberlaſſen. Im Sahre 1647 trat er zuerſt oͤffentlich auf, erbielt einen unglaubliden Zulauf und Beifall, und-fah hierin einen goͤtt— lichen Ruf. Gein Handwerk gab er nun gang auf, lebte von freiwilligen Gaben, nahm nur dad Nothwendigſte, und befam in Kurzen einen grofen Anhang in mebreren Graf: ſchaften. Ginjelne aus dem Wolfe abmten ihm nach, pre: digten auf Strafen und Marften, ftirten den Gottesdienſt, und widerfpraden den Predigern auf der Kanzel. For, wel: cher ifnen hierin mit feinem Beifpicl vorangegangen war, wurbe deshalb 1649 auf einige Dage verhaftet,, und feine Secte datirte fic) von jenem Sabre. Zu Mansfield trieh er einer Frau den Veufel aus, machte Kranfe, welche von den Aergten verlaffen waren, gefund, und verricdtete auch noch andere Wunder. Seine Ankanger trennten fid) von dev Kirche, hielten eigene Gerfammlungen, beriefen ſich auf ihr inneres Licht, und wollten das einfache und thatige Urchriftenthum wiebderherftellen. Sn den Verſammlungen redete Seder, den der Geift trieb, welches oft unfer Bittern, Gchaumen des Mundes und heftigen Verzuckungen geſchah. Dabei waren fie rechtſchaffen, mafig, und dbertrafen an Tugend die ore thodoren Ghriften. For lief wiederholt in die Kirchen, ſchmaͤhte die Geiſtlichen, daß fie als hodmithige Weltleute ihr Amt um des Lohns willen verwalteten, eiferte gegen die Bibel, welde er nit bas Mort Gottes genannt wiffen wollte,

weil diefer Name blos dem inneren Worte gebithre. Er wurde in Mansfield deshalb verhaftet, fchimpflid aus der Stadt verwiefen, eben fo 1660 aus Derby, worauf er ein Sabre lang in’ Zuchthaus gefperrt wurde. Aus demfelben entlaffen ftreifte er weit und breit umber, vergroferte feinen Anhang, und fdrieb viele Briefe, fpater auch Bicher, welche aus 3ufammengerafften Bibelfpriden beftanden. In einem Winter fam er nach Lightfield, in deffen Nahe fruͤher blutige Schlachten geliefert worden waren; er 30g dié Schuhe aus, und lief durd alle Gaffen mit dem Gefdrei: „Wehe der blutdirftigen Stadt Lightfield.” 3u Balben ward er aus der Stadt gefteinigt, und zu Tiemont, wo er in der Kirche feine gewohnlice Rolle fpielen wollte, halb todt gefthlagen; eben fo erging e8 ihm in Ulverftone. Gr wurde dadurd fo bes ridtigt, dag ihn Mehrere mit Priigeln zuruͤckwieſen, wenn er gu ihnen fommen wollte. Gr gab died gwar fir Verfol— gung um ded Evangeliums willen aus, webrte fic) aber dod aud tapfer mit den Fauften. Die gur Zeit der Hinrichtung Karls I. herrſchende Anardhie und zuͤgelloſe Schwaͤrmerei gab Veranlaſſung, daß fic) auc) gebildete und vornehme Per: fonen ihm anfcbloffen, und mehr Ordnung in die Verfamme lungen bradten, welche nicht blos im Freien, fondern aud in Haufern gehalten wurden. Wiederholt gefangen genom: men wurde, For enbdlid) nad London gebradht;, wo Crom: well fid) mit ihm unterredete, und ibn voͤllig freifprad. Dadurd) wurde fein Anhang immer ungeftimer in ben An: griffen auf die herrſchende Kirche, und es fam. nun zu wirks lichen Verfolgungen der Obrigfeit. For wurde wieder einges ferfert, endlich frei gelaffen, und zog fortwabrend unter, Ym Sabre 1658 fand gu Bedford eine allgemeine Verfamm: lung der Qudfer Statt, wofelbft ber Gotteddienft und Kir— chenzucht verhandelt wurde. For ging nad) Sdhottland, - wo: felbft feine Gecte fic). ſchon weit ausgebreitet hatte, und burd) ihren Ungeftim die Obrigfeit ndthigte, einzuſchreiten. Bon den Bergfchotten wurde er mit Spiefen und Miftgabeln verjagt, aus Edinburgh wurde er verwiefen. Unter Crom: well, welder alle Schwaͤrmer begiinftigte, verfubr die Obrig: feit nod) glimpflid) mit ben Qludfern, welche fie nur an of:

fentlichem Unfug verhinderte. Wenn fie beftraft wurden, fo wollten fie nie ihr Unrecht einfeben, fondern beriefen fic) dar auf, daß fie auf Gottes Befehl handelten. Mun wurden fie immer tibermithiger, Gin Mupfer 3. B. verbrannte of: fentlic) feine Qnffrumente, wurde Schuhmacher, und vertrieb einen Prediger von der Kanjel, auf welder er Schube flicte. Die Quaker erfubrem daher in und auferhalb ihrer Verſamm— lungen viele Mifhandlungen, welche noc) drger wurden, als nah Cromwells ode die unterdruͤckte bifchdfliche Kirche wieder eine griftere Macht erlangte, welcheds For und feinen Anhang ju mehr Befcheidenheit ftimmte, weshalb er und An: dere in Schriften gur Ruhe und Ordnung ermabhnten. Als abet unter Karl IL. die Qudfer fic) weigerten, den Gid der Treue und Oberherrfdhaft abzulegen, und tiberhaupt ju ſchwoͤren, wurden fie feit 1662 heftig verfolgt, fo daß fie uns ter anbderem in einer Bittſchrift an den Koͤnig 4500 der Ih— tigen als Gefangene angaben, welche meift in den abfcheu- lichften RKerfern unter Verbrechern ſchmachteten und die arg: ften Mifihandlungen von ihren Kerfermeiftern zu dulden hat: ten, weshalb Viele flarben, oder nach ihrer Entlaffung elend blieben, wabrend Alle fich weigerten, ihre Befreiung durch Geld ju erfaufen, welded man von ihnen-auf die ſchaam— lofefte Weife erpreffen wollte, damit aud nicht der Schein einer gerecht erduldeten Strafe auf, fie fiele. Da alle Strenge nicht half, fo follten die Widerfpenftigen binnen Sabresfrift . aus dem Lande verjagt werden, und wirflid) wurden Gatten, Aeltern und Minder auf die brutalfte- Weife aus einander ge: riffen, um nad) den Golonieen tranéportirt gu werden, wo—

bei die Schiffer oft ihre Dien fe verweigerten, oder die Ges fangenen. wieder befreiten, weil ihr Gewiffen fid) wider die gegen letztere ausgeübte Tyrannei empoͤrte. For ſelbſt brachte drei Jahre ſeit 1662 im Gefaͤngniſſe zu, reiſete darauf nach Irland, und verhei ſich 1669 nach ſeiner Zuruͤckkunft. Im Jahre 1671 er die bermudiſchen Inſeln, Sa: maifa,” Virginien und andere Lander Amerifas, welche ſchon von feinen deportirten Anhangern bevdlfert waren. In Bir: i mufte er wegen Berweigerung des Eides wiederum ein OF sine ‘im Gefangnif ſchmachten. Mad) England zurüͤck⸗

gekehrt verbiclt er fic ftil, wurde von ſeinen Anhangern Bei ihren offentlichen Verfammlungen wenig mehr beachtet, ſchrieb Ermahningsbriefe an Suden in Amfterdam, an ven Papft, an den tuürkiſchen Kaifer. Im Jahre 1677 reifete er mit W. Penn und Anderen nach Holland, wanderte zu Fuße nadh Hamburg und Holfiein und ftarb 1691 in England, wo feine Secte feit bem Tode Karls UW. Nube genoß, weil Facob, welther 1688 zur Regierung fam, eine allgemeine Toleranz einfihrte, um ginftig fir die Ausbreitung des RKatholicismus wirken zu koͤnnen.

Niemand wird den Unfug, namentlich die Stoͤrung des oͤffentlichen Gottesdienſtes beſchoͤnigen wollen, welche Attentate gegen die ſociale Ordnung die Quaͤker ſich zu Anfang oft ges nug und in einem fo hohem Grade ju Schulden fommen lies fen, daß die Maaßregeln der Regierung bagegen hinreichend gerechtfertigt erfcheinen. Bald aber artete die nothwendige Strenge in die graufamfte Berfolgungswuth aus, zu welder bie fanatiſche Cpisfopalfirdhe nicht nur die Obrigfeit zu beftims men, fondern aud) den Podbel aufzuhetzen wußte, wodurch fie fid) mit unausloͤſchlicher Schmach gebrandmarft hat. Die Quaͤ⸗— fer fiihrten daber in ihren Vertheidigungsferiften sffentlich die Klage: videri jam et palam conspici, qui illi Evangelici sint et Reformati et Protestantes, qui olim tantopere per- secutionibus occlamitaverunt, et soli Deo suae religionis . ac. conscientiae reddendam rationem esse _ pertenderunt, cum illos ita cum suis popularibus videré sit contendere de iisdem rebus, et batuere armis carnalibus, et sic ipsos prosternere, et ipsorum quidem vitae parcere, at interim morte duriora mala infligere; sic alio nomine eandem, quae quondam fuerat, tyrannidem venire (Croͤſius a. a. 9. S. 267). Der ju allen Zeiten iblichen fanatiſchen Taktik ges treu, faumten daher auch die biſchoͤflichen Pricfter nicht, dem Konige Karl IF. vorguftellen, als im Jahre 1665 die Peft in London wiithete, daß er die Gnade Gottes auf fic und das Bolf herabrufen werde, wenn er die Quaker als cine Peſt aus dem Lande jagte. Indeß der Koͤnig ging hierauf nicht ein, weil er letzeren ſchon fruͤher Duldung zugeſagt hatte. Sehr bezeichnend flir die Rolle, welche die hoͤhere Geiſtlichkeit bei

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dieſer Gelegenheit ſpielte, iſt alten Umſtand, daß die Stu: * benten der Univerfitat Orford (Crdfius S, 167) und Gam | bridge (ebend. S. 178) gleich dem roheſten Poͤbelhaufen in die Verſammlungen der Quaker eindrangen, fie befudelten, mit Fuͤßen traten, Schwaͤrmer auf fie warfer, Bullenbeifer auf fie besten, ihre Wohnungen gewaltfam erbraden, ihnen Koth in ben Mund fiopften, fie auf jede Weife mißhandelten und in Pfuͤtzen warfen, ja fogar fie beſtahlen. Führten dann die Quaͤker bei den Profeſſoren Klage, fo. fe den fie Fein Gebdr! Hatten die Geifttichen nur im Antriebe blinder Bigotterie gee handelt, fo wuͤrden fie wenigftens —— Anſtand geret⸗ tet haben, aber ſie verriethen ihren ſchnoͤden Eigennutz nur all⸗ zudeutlich durch ihre endloſen Klagen, daß ihnen durch die Quaͤker ihre Ginkiinfte geſchmaͤlert würden, und durch die ſcho— nungsloſe Weiſe, mit welder ſie von denſelben die Zehnten einzutreiben ſuchten, daher die maͤchtigſte Triebfeder ihrer Ver— folgungswuth nicht zweifelhaft ſein kann. Gin gewiſſer Dob: fon z. B. welcher fic) mit feiner Familie redlich auf feinem Acer ernahrte, weigerte fich, den Zehnten als ſeinem Gewiſſen entgegen zu entrichten. Der Zehnteneintreiber Wiſtler ſchleppte ihn deshalb ins Gefaͤngniß, und pluͤnderte ſein Haus waͤhrend ſeiner 15 woͤchentlichen Abweſenheit. Einige Zeit ſpaͤter (1667) nahm Wiſtler ihm wieder faſt Alles, und als Dobſon ſich und die Seinigen laͤngere Zeit kuͤmmerlichſt ernaͤhrt hatte, con: fiscitte Wiſt ler fein legtes Cigenthum und kerkerte ihn aber: mals ein, worauf er im Gefangnif bis 1672 blieb. Dob: fon erwarb fic) nach feiner Entlaſſung durch Betriebſamkeit wieder ein fleines Vermoͤgen, und abermals confiscirte jener Wuͤthrich fein ganzes Cigenthum jum Werthe von⸗78 Pfund Sterling, und ſchleppte ibn 1775 in8 Gefangnif, in weldem er nebft mebreren anderen Quaͤkern bei dem verworfenften Ge: findel eingefperrt blieb. Als cin Uebelthater an der Syphilis geftorben war, verbrannte der Gefingnifwarter dad Lager: Stroh deffelben in dem Naume, wo Dobfon- mit einen Glaubendgenoffen ſich befand, und verurſachte ihnen allen durch den Qualm eine boͤsartige Kranfheit, an welcher mehrere ftar- ben. Dobfon genas Wwar wieder, blieb aber bis zu ſeinem Tode 1677 im Gefaͤngniß (Croͤſius a. a. O. S. 264).

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* Bon den vielen Scenen des eine lange Reihe von Jahren ——— mit den Quaͤkern aufgefuͤhrt ——— id bi Paar auswahlen, um meiner Darffellung den Ch anſchaulichen Wahrheit zu geben. Als in C Sold)

Quafer an einem Sonntage des Octobers in in fammelt hatter, eilte der Vorſteher des Magiftrats Schergen herbei, ließ das Haus erbrechen, gebot t fe den im Namen des Gefeses auseinander ju geben, nb be befa ſeinen Schergen, alé jene zoͤgerten, Mehrere zu ergre ins Gefaͤngniß abzuführen. Am erſten November di ef. eber wiederum in jenem Haufe eine Schaar vom DQ welche ſeinen Verhaftsbefehl nicht einmal Der freiwillig ing Gefangnif gingen. Am zehnten Novem elt bie uͤbrigen Quaͤker wiederum cine Verſammlung, a diesmal den Angriff von bewaffneten Soldaten erduld Mehrere verwundeten, ins Gefaͤngniß fuͤhrten, und t u verwuͤſteten. An die Thuͤre deffelben wurde ein Mi ſtellt, welcher Niemanden hineinlaſſen und die Qu aa a | Drohungen von ihren Zufammentinften zuruͤckſchreck fen mußte. Letztere hielten daher ihren Gottesdienſt auf der ‘Stag welches fie unbefiimmert um dad ſchlechte Metter und u ihnen bevorftehenden Gefabren an dem nddften Tage fo te Denn da fie den Gefesen einen paffiven Sl entgegenftellten, fo wurde nunmehr FriegSrechtlic) gegen gefdritten. Ein Haufe von 40 bis unter die Zaͤhne b ten Goldaten ftiirmte auf die verfammelten wehrloſen £ ein, vichtete ein Blutbad “unter ihnen an, tried | fie in die in die Flucht, und verfolgte fie bis in ihre Haufer. —— Tage wiederholte ſich derſelbe Auftritt, bei welchem ein Ver— wundeter mit riihrender Sanftmuth zu ſeinem Verſolger ſprach: „ich flehe zu Gott, daß er dir deine heutige That nicht zur Schuld anrechne”. Weit entfernt, ſich dadurch in ihrer Stand⸗ haftigkeit erſchüttern gu laſſen, hielten die Quaͤker immer von Neuem ihre Zufammenfinfte, obgleich fie jedesmal dieſelben Angriffe unter Flichen und Verwuͤnſchungen erdulden mußten, ſo daß eine ſehr große Zahl von ihnen verſtuͤmmelt wurde. Als der Vorſteher des Magiſtrats nach vielen vergeblichen Ver:

Werf pies, Paste 4

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ſuchen fie noc)mals im Namen des Koͤnigs zur Unterwerfung aufforderte, erwiederten fie, ,, da fie treue Unterthanen deffel- ben feien, aber mehr nod) Gott, den Konig der Koͤnige lied: ten, welder gebdte, daß Niemand ſich von feiner Verehrung durch Zeit und Ort zurüͤckſchrecken laffen follen’. Croifius, welder (a. a. D. S. 238) ausdruͤcklich erflart, in Colcheſter von Unpartheiifchen die Beftatiqung diefer Thatfachen vernommen gu haben, fügt hinzu, daß der Vorfteher endlid) von feinen Verfolgungen abgéftanden fei, nachdem er fic) iberzeugt habe, baf die Quaͤker lieber fterben, als ihrem Glauben abtriinnig werden wirden. Crofius ertheilte ihnen daher aud im All⸗ gemeinen (S. 238) folgendes ehrenvolle Zeugniß: Tanta Qua- kerorum omnium pro sua religione et professione suisque congressionibus obstinatio erat, ut quibus legibus essent constricti, quibus subjecti miseriis, quantum adesset, quan- tum impenderet malorum, nullum tempus a suis negotiis in- termitterent, neque uno die desisterent, quin semper conve- nirent. Imo quasi omnia infortunia non ad reprimendam aut exstinguendam, vero ad confirmandam atque excitandam au- daciam facerent, ita tantum aberat, ut illi tot calamitatibus oppressi obtorpescerent, ut etiam a minimo ad maximum adversus magnitudinem suppliciorum obdurescerent atque viviscerent. Und fpdter (S. 257) bemerft Grojius: Et quoniam Quakeri ita omni tempore suos animos induce- bant, ut nemini homini resisterent, nedum vim vi pel- lerent, imo vero quaeecunque proponebatur fortuna, eam non solum nop invite, sed etiam libenter subirent, dum- modo id esset propter conscientiam, et quantacunque mala paterentur, ea omnia quanta maxima poterant fortitudine animi ac corporis perferrent, id porro querebantur, hine omnium fere hominum de se suspicionem magis augeri, et eorundem adversus se iracundiam infestationemque magis concitari, et patere se omnium insidiis, nullis, nequaquam sibi; apertis et simplicibus hominibus, evitabilibus, et sum- mis, quae vix ulli mortales exantlent, periculis ac malis, non aliter, ac si quicquid ferebant probarent, ac susci- piendo quam putabant homines poenam, agnoscerent cul- ‘pam, et ipsorum constantia, habita pro contumacia, poe- Soeler Theorie v. relig. Wahujiuns. 20

nam juste cumularet. Wahrlich folden Heldenthaten ge: geniiber, welde nur dem Geifte des Evangeliums entſtammen fonnten, erſcheinen die dogmatiſchen Zanfereien uͤber den. bud: ſtaͤblichen Ginn einzelner dunklen Stellen deffelben in ihrer ganzen Veraͤchtlichkeit und Verwerflichkeit!

Noch miiffen wir einiger Quaͤker beſonders gedenken, weil ſie ſich durch ihre Seelengroͤße vorzugsweiſe auszeichneten. Der Lord Mayor von London, welcher wegen ſeiner erbarmungs- lofen Harte gegen die Quadfer fic) beriichtigt gemacht hatte, fudte fie vorndmlicd) burd die Verhaftung ihrer ausgezeichnetſten Red⸗ ner ju unterdriiden. Go lief er den Hubberthon im Ker: fer verfdmadten, ungeachtet derfelbe beim Ronige in folder Gunft ftand, daß die Quaͤker auf ihn die groͤßte Hoffnung feb: ten (Croͤſius S. 217); ferner den beriihmten Burroug, gewoͤhnlich der Apoftel von London genannt, welder dorthin von einer Reife mit der Ueberzeugung zuruͤckkehrte, daß er fire bas Evangelium den Tod erleiden wiirde. Wirklich wurde er aud) wabrend einer Rede verhaftet, eingeferfert, und ftarb im Gefangnif nad) acht Monaten, wabhrend welder er die ihn ſtets umringenden Seinigen ermuthigt hatte. Sterbend rictete er die Morte an fie: Ego non gravate et gratuito hucusque Evangelium in hac urbe annuntiavi, et saepe meam vitam illi impendi, et nunc in mediis vitae laboribus animam pro ea reddo, Quam autem certum sit, me vere ac sincere et egisse et agere, novit is qui omnia. Et vero tu Deus, me dilexisti tunc, quando adhuc in vulva matris cram in- clusus, et ego amavi te a cunis atque incunabulis, et a prima aetatula, et a juventa ad hoc tempus tibi opera utili, idque summa fidelitate, deservivi. Quanquam vero cor- pusculum hoc meum redeat in pulverem, tamen mihi sum conscius, esse reversurum animum meum eo unde venit, et illum Spiritum, qui in me vixit, qui operatus est in me, qui me rexit, et est moderatus in omnibus, diffusum iri in millia hominum. Condonet autem Deus, si pote, meis inimicis ipsorum malefacta. Mit den Worten: nunc anima mea in suo requiescit centro, gab er feinen Geift auf. (S. 218), Howgil, gleidfalls ein berishmter Redner, wurde wegen feiner Weigerung, den Cid der Breue gu leiften, ein

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Jahr fang eingeferfert, und bierauf abermals zur Ablegung deffelben aufgefordert. Mit grofer Befcheidenheit, aber aud eben fo großer Fejtigfeit erfldrte er: se, quod ad argumen- tum seu materiam pertinet juramenti, non defugere id effari, et polliceri, et etiam sua manu subscribere, verum jurejuran- do affirmare non posse, neque id licitum esse Christiano, neque utile hominibus, quamdiu ejusmodi asservatio ne- que bonis majus vineulum imponat suae servandae fidei, neque improbis timorem adimat, et eadem cunctis falsis animorum mortalibus modo sit * itamentum temeritatis, ae velamentum malorum, ac interdum flagitiorum maximorum. Hierauf wurde er zur Confiscation feines ganzen Vermoͤgens und zum lebenslaͤnglichen Gefaͤngniß verurtheilt, in welchem er aud) nad) 5 Jahren ſtarb, umringt von ſeiner wehklagenden Gattin und ſeinen Freunden, denen er mit dem letzten Athem⸗ zuge betheuerte: mori se in ea religione, ob quam tam multa erat perpessus. In MNordamerifa, wobhiw viele Qua: Fer fruͤhzeitig fluͤchteten, batten fie gleichfalls Unfaglices von der Verfolgungswuth ihrer Feinde gu erdulden; fie wurden _eingeferfert, verbannt, oft faft gu Tode gegeifielt, dem Ver: hungern und Gerfdhmadten preisgegeben, gebrandmarft, der Ohren beraubt, und als alle Harte nichts fruchtete, erlitten Ginige den Zod am Galgen. Giner derfelben, Nobinfon, ſchrieb vor der Hinrichtung folgende Erfldarung nieder: se non suo, at sui Domini ac Dei judicio ac voluntate huc (Bo- ston) venisse, et profectum quidem fuisse, postquam sibi, consistenti in insula Rhodo, ac quadam media die iter aliquo instituenti, mandatum esset divinitus, iret Bo- stonium atque illic vitam deponeret, atque id haberet pro servitio, quod Deus illi in illo loco praestituerat, ita fore, ut posthac ejus anima post tot errationes ac vanitates, aeternum stabili sede ac domicilio requiescat. Gin anberer, Stephenfon, erflarte: sibi, dum adhuc esset in patria Anglia, atque in suo fundo quodam die arvum aratro proscinderet, pectus totum, inflammatum fuisse amore di- vino, et factum ad se tale verbum Dei: destinavi te, ara- tor cum sis, fies orator ac propheta gentium. Et eodem momento sibi inditum, ut, quum et maritus esset, et pa- 20*

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ter aliquot liberum, hanc dilectam uxorem, sociam ac con- sortem rerum suarum omnium, et velut se alterum, et hanc caram sobolem, illa vincula ac coagula illius amici- tiae summae atque intimae, relinqueret, neque ullo sensu jacturae tot familiarium rerum tangeretur, et modo abiret in insulam Barmudum, neque dubitaret, quin Deus suis abunde prospiceret. Atque ita excurrisse se in illam insu- lam, dein Rhodum petiisse, et hinc Bostonium. Et se jam nunc paratum, propter suam religionem ac Dei testi- monium ex hac vita decedere (ebend. 413). Beide hiels ten unmittelbar vor ihrer Hinrichtung hochherzige und erſchuͤt— ternde Redeh an das Volf. Die Wuthausbruͤche des Poͤbels in Alts und Neu- England gegen die Qudfer moͤgen uner— wabnt bleiben; fie wirden nur das Papier befudeln, und laf: fen ſich nad) bem Vorbilde, weldes die Obrigfeiten und die Studenten in Orford und Cambridge gegeben im All⸗ gemeinen errathen.

§. 31. Beiſpiele von Wahnſinn unter den erſten, Quaͤkern.

Der ſtreng ſittliche Lebenswandel und die praktiſche Tuͤch— tigkeit der meiſten Quaͤker legen nicht nur das glaͤnzendſte Zeug— niß fuͤr die voͤllige Reinheit ihres frommen Eifers, ſondern aud) fir die durchaus geſunde und naturgemaͤße Verfaſſung ihres Gemuͤths ab, fo daß fie alle ſchweren Opfer mit dem vollen Bewußtſein ihrer Bedeutung bradten, und den menſch— lid) gerechten Schmerz tiber fie empfanden. Sie felbft wuͤrden daher das zweideutige Lob einer gegen die weltlichen Intereſſen bereits fuͤhllos gewordenen Heiligkeit entſchieden zuruͤck gewieſen haben, denn fie beurkundeten durch bittere Klagen ihre Seelene leiden, von denen ſie faſt zu Boden gedruͤckt wurden, ohne je in der Treue gegen thre Auffaſſung des goͤttlichen Geſetzes wan: fend ju werden. Daf indefh nicht jeder Charafter fo furcht⸗ baren Drangfalen gewadfen war, und daß Biele unter ihnen dem Wahnfinn gum Raube wurden, fag -in der Natur der ‘Sache; ja allem Anſchein nad) ift die Geiſteszerruͤttung bei den erfien Quafern weit hdufiger gur Erſcheinung gelangt, als von

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den Sehriftftellern aufgeseichnet worden, wie denn uͤberhaupt bet allen machtigen Volfsaufrequngen die durd) fie veranlaften Halle von Wahnſinn faft unbemerft in dem allgemeinen Sturm fpurlos verſchwinden. Namentlich gedenft Croͤſius folcher Falle nur gelegentlid) und meift in fo kurzen Andeutungen, daß fie fein beftimmteds Bild geben. So erwahnt er 3. B. (S. 272), daß mehrere Quafer auf einem iiber dem Feuer fte- henden Gefchirr folgende mit Capital: Buchftaben geſchriebene Worte gefehen batten. Wo to England for poysoning of Charles the If. Cardinal. Y understands Moloch. Twenty Nations with him. Englands misery cometh. (Wehe iiber England wegen der BVergiftung Karls I. Der Cardinal. Ich meine den Moloch. Zwanzig Nationen mit ihm. Die Noth Englants beginnt.) Diefe Schrift erbhielt ſich eine Stunde, bis fie verſchwand, und wurde von den Quafern auf den fpater erfolgten Bod des Kinigs und auf die iiber England herein: brechenden Unglücksfaäͤlle gedeutet. Eben fo foll ein anbderer Quaker in Hereford wenige Tage vor tem 1666 erfolgten gro- fen Brande Londons im Wachen eine deutliche Viſion deffelben gehabt haben, und durch eine Stimme vom Himmel aufgefor- dert worden fein, dies der Stadt anjufiindigen (S. 273). Gr fei deShalb nach London geeilt, und habe in grofer Beſtür— jung feinen Auftrag in einer OQudferverfammlung ausgerichtet,. fei von den Meiften aber verlacht worden. Als feine Prophe- zeihung auf den vorberbeftimmten 2. Zag eingetroffen fei, habe er dem. weiteren Umfichgreifen der Flammen dadurch Einhalt thun wollen, daf er fid) ihnen entgegenftellte. Nur mit Muͤhe fet er der Gefahr entriffen worden, und uͤber feine Tollkuͤhn— heit gur Befinnung gefommen.

AUusfiihrlicher erzaͤhlt Croͤſius (S. 159) die Gefchicdte des Jac. Naylor in wefentlicher Uebereinftimmung mit den friiheren Angaben (§. 11), gu welchen id) nur nod einige Nos tizen hingufiige. Seine Reiſe nad) Briftol erfolgte auf eine Ginladung von Mebhreren, in welder ihm folgende Ehrentitel beigelegt wurden: Pulcherrimus supra myriades, Filius Dei unigenitus, Propheta altissimi, Rex Judexque Israelis, ju- Stitiae Sol aeternus, pacis Princeps, Jesus, in quo Israe- lis spes posita. Als er bis vor die Bhore Briftols gekommen

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war, ftrimte ibm eine grofe Schaar entgegen, und empfing ihn mit den Morten: Hosanna Filio Davidis, benedictus qui venit in nomine Dei. Sanctus Jehova exercituum. In Briftol warfen fid) ihm feine Anhanger gu Fifen, welche fie thm kuͤßten, indem fie flehend die Hande gu ihm erhoben, wel: thes Naylor fid) woblgefallen lief. Jn London wegen feiner Bebauptung, daß er ein goͤttliches Wefen fet, nach richterlichem Grfenntnif. durch 300 Geißelhiebe zerfleiſcht, hatte er ſich die ihm juerfannte Wiederholung diefer Strafe erfparen fonnen, wenn er durch mebrere Geiftlidhe gum Widerruf ſich hatte be- wegen laffen. Da er died nicht that, fo wurde er dffentlicd mit dem Gudftaben B (blasphemia ) an der Stirn gebranbd- markt, wofir feine Anhanger Richus ihn gu troften fudhte, indem er uͤber feinem Haupte einen Bettel mit den Worten: hic rex est Judaeorum befeftigte, und die Brandwunde alé ein heiliges Mal belecte. Wiele befonnene Quaker mifbilligten in: deß Naylor's Benehmen, und forderten ihn ernftlid) gur Sin- nesanbderung auf.

Ferner erzaͤhlt Crofius (S. 149), daG ein gewiffer Mur- ford fid) aus Boks: und Sdaaffellen einen Nok zuſammen— nabte, und in diefem uͤberall umberlief, um feine Glaubensge: nofjen von der Neigung gum Kleiderſchmuck zurüͤckzubringen, und ihnen die Strafe Gottes anjufiindigen, wenn fie nidt davon abliefen. Mit einem aͤhnlichen Gewande befleidete fic cine Quakerin, lief ihre Haare aufgeldfet flattern, legte fic Koth auf den Kopf, und erfchien in diefem Aufjuge 7 Tage binter einander auf den Strafen und offentliden Plaͤtzen einer Stadt, um zur Bufe und Verfohnung des gittlidhen Borns wegen der Gitelfeit aufgufordern. Meiſt war fie von zwei Mannern begleitet und fie pflegte aud) wohl eine halbe Stunde regungslos wie eine Bildfdule, umringt von einem Schwarm Spottender, dazuſtehen, ohne ein Wort gu fprechen. Durch die Polizei von den Verhdhnungen und Mifhandlungen der Menge hefreit, erflarte fie im Verhoͤr, daß fie dem inneren Lichte Folge geleiftet habe, woranf fie als eine Wabhnfinnige eingefperrt wurde.

Weit ausfihrlider und belehrender find dagegen die Be- richte uber wabnfinnige Quaker, welche der Prediger Figen

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ſeiner unten genannten historia fanaticorum eingeſchaltet hat, wobei er nicht unterlaft, die engliſchen Schriften zu nennen, aus denen er fchdpfte. Johann Gilpin aus Kendal (a. a. D. GS. 2), wurde durch die Behauptung in Beſtürzung verfest, daß auch Chriftus mit Febhlern behaftet geweſen ſei, weil er am Kreuze ein Mißtrauen gegen Gott hegte. Hier— iiber von feinen Glaubensgenoffen berubigt, betriibte er fid) daruͤber, daß er noch nicht der Erfcheinung bes inneren Lichts in Bittern und Bebén gewiirdigt worden fei. Indeß bald nad): her gerieth er in feinent Zimmer in cin heftiges Bittern, fo a er cine halbe Stunde fang heulte und ſich aufs Bette werfe mufte, worauf unmittelbar cine grofe Freudigfeit folgte, in welther er behauptete, nun fonne er Zeugnif geben wider alle Prediger und falfche Propheten, weldye ſolche Wirfung nie in ihrem Anite geſpuͤrt hatten. Waͤhrend der nachften Nacht wur— den ihm im Traume alle feine Sinden offenbart, befonders bie er aus dem Gefese begangen hatte. Nach dem Erwaden fam es ihm vor, als ob ihm ein beftiger Schlag auf den Naz den gegeben werbe, welcher gelinder wiederholt wurde. Hier⸗ auf horte er eine Stimme in feinem Innern: „es iff Zag; if als es Licht iff, fo gewiß wird dir Chriſtus geben Einige Tage vergingen zwiſchen Freude und Furcht, r nicht vom Satan getaͤuſcht werde; an einem Tage legte er fic) im Garten auf die Erde, feine rechte Hand fing beftig an zu jittern, und nun erfreute ifn ein Bild feiner Vermaͤh⸗ lung mit Chriſtus. Indem ihm unter heftigem Umdrehen der Hand ſeine einzelnen Sinden in-die Erinnerung traten, hoͤrte er eine Stimme: „nun ſolche Suͤnde iſt dir verge— ben”. Darauf wurde ihm zugerufen: „bitte von dem Vater, was du willft, fo foll es dir gegeben werden”. Als er nicht wußte, was er bitten follte, lehrte ihn die Stimme um Weis: heit flehen, und da er diefen Wunſch hegte, ſo wurde ihm ver— kündet, ſeinem Begehren fei ein Geniige geſchehen, er ſolle angethan werden mit dem Geiſte der Prophezeihung, und Preis ſingen dem hoͤchſten Gott. Gn der naͤchſten Quaͤkerverſamm— lung war er ſehr erregt, fiel mit Heftigkeit zur Erde, auf wel: cher er unter mannigfachen Convulſionen die Nacht hindurch liegen blieb. Dies hielt er für eine unmittelbare Macht

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Chriſti, und ba er mit ber Hand Bewegungen wie sum Schrei⸗ ben gemacht hatte, rief eine Stimme ihm ju, daf dad Schrei— ben, welches er mit der Hand auf der Erde verrictet habe, das Gefes bedeute, gefchrieben in fein Herz. Seine Haͤnde falteten fid) tiber dem Haupte, und die Stimme verfindete ibm: ,,@briftus in Gott, und Chriftus in dir”, welches er nebft mehreren Bibelftellen gu fingen geswungen war. Nad) dem er aufgeftanden, befahl ihm die Stimme, fic) auf die Erde mit dem Gefichte niederzubuͤcken, und forderte von ifm: „nimm bas Kreuz, und folge mir nach”. Unwillfiirlids) in den Straz fen umberirrend gelangte er in das Haus eines Mufifers, er— griff eine Baßgeige, fpielte fie tragend, wobei die Stimme ibm bedeutete: „es gefchieht folded nicht, weil ich die Muſik liebe, denn id) haſſe fie, fondern damit dir fund werbde, welche Freude im Himmel tiber deine Belehrung herrſcht, und welche geiftlide Bewegungen du finftig haben wirft”. Die unfidtbare Madt fiibrte ihn auf die Strafe, und trieb ihn an zu rufen: ,, id bin der Weg, die Wahrheit, das Leben”. Nad feiner Woh: nung 3uridgefehrt, wurde er gendthigt, diefelbe zu umfreifen, wobei die Madt ihm erzablte, fie treibe ihm den alten Mens fen aus. Auf dem Flur fand er einen Stein, welder

wie ein Herz; vorfam, und die Stimme fprac gu ibm, CF ftus babe diefen Stein aus feinem Herzen gezogen, und

ein fleiſchernes Herz gegeben. Den Anwefenden wies er den Stein al8 ein Wundergeichen , und warf ibn unter fie mit den Worten: „da iff mein Herz von Stein”. Als er ruͤcklings zu Boden gefallen war, rief die Stimme ihm gu: ,,du follft 2 Engel gu Wadtern haben”, und bald famen 2 Sdwalben den Schornftein herunter geflogen, fegten fic) ibm gegeniiber, und Felrten unter feinem Ruf: ,,mein Engel, mein Engel!” in ten Sdhornftein zuruͤck. Auf allen Vieren gur Thuͤr hinaus auf die Strafe friechend, fprad er zu feiner Frau, welde ibn daran verhindern wollte, er werbe Alles verlaffen, und Chriftus nacdfolgen. Auf der Straße kroch er in dem Wahn, daß er ein Kreuz an feinem Halfe trage, fo lange, bid er in’ Haus guriidgetragen wurde. Erbittert rief er einem Weibe gu, wel: ches dabei behülflich geweſen war: „du bift ein gottlofes Weib, und haſt des Herrn Werf verhindert”. Die Stimme fragte

[Saas er

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ibn, wo fein Kreuz ware, worauf er mit den Fingern ein Kreuz auf der Erde machte, feinen Kopf darauf legte, und mit f.inem Koͤrper daffelbe umfreifete, indem er glaubte, nun das Kreuz auf fid) genommen zu haben. Dann recitirte er Stellen aus der Schrift, fing an ju laufen und zu tanjen, und brad) julest in die Worte der Bibel aus: ,,Mun habe id) vollendet das Werf, welches du mir gu verricdhten gegeben hat”. Gr wurde wieder gur Erde geworfen, und die Stimme rief ihm gu: „du haſt Gott beleidigt, indem du dir zugeeig— net, was Chriftus gw eigen ijt”. Auf dem Baudhe liegend, ledte er den Staub auf, wobei feine Hande fic jum Ropfe kehrten, und die Stimme fprad: ,,feine Sinde muß unbeftraft bleiben”. Als er im Haufe umberfrocd, fragte ihn die Stimme abermals: „wo ift dein Kreuz”? Um fich blickend fah er ein Kreuz am Fenfter hangen, welches er auf feinen Ruͤcken warf. Gr wurde bewadt, und mebhrere Quafer ermabhnten ibn: „de— miithige dich, erfenne, wer du bift, und gehorche der Stimme in dir’. Spaͤter fragte er, ob die Macht, welche ihn bisher angetrieben, gottlic) oder teuflifeh fei. Voll Furcht ergriff er unwillfiirlid) ein Meffer, febte eS an die Kehle, und hoͤrte die Stimme fprechen: ,,dffme dir ein Lod) damit, fo will ich div Worte des ewigen Lebens geben”. Er warf indeß das Meffer weg, lief fic) gu Bette bringen, und glaubte am naͤchſten Mor- gen, daf.cin Beufel aus ihm wide, .worauf er nabete, und fprah, nun iff der Veufel von mir gewiden. Er und feine Frau horten tabei einen Donner, den Niemand auferdem be- merft hatte. Dieſelbe Macht verfiindete ihm nun, es fei der Satan gewefen, der ihn bisher befeffen und gefuͤhrt hatte, nun werde Chriftus fommen, der den Satan ausgetrieben; was er bisher gethan, fei aus Gebhorfam gegen ben Satan gefche- hen, und wie er bisher dem Teufel in feinen Kleidern gethan, miffe er nun im Geifte allein aus Gebhorfam gegen Chriftus Alles thun. Ym bloßen Hembde ging er nun auf die Strafe, da hielt ihn. die Macht auf, und rief ihm gu, er miffe von 4 Meibern ing Haus getragen werden, oder er folle, wenn es nicht gefchabe, ewig dafteben, in eine Salzſaͤule verwanbdelt. Vier Weiber trugen ihn nun, ins Bette, wobei er ſprach, bis: her habe ex des Teufels Werk gethan, heute aber das Werk

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Chriſti. Als er allein war, kreiſelte er ſich im Bette umher, wobei ihm die Macht gebot, ſich nicht zu fürchten, fie wolle ihm die Kraft geben; der Teufel habe ihm zuvor befohlen, das Kreuz zu tragen, Chriſtus befehle ihm, daſſelbe niederzulegen, denn er habe keinen Gefallen am Kreuz: der Teufel habe ihn geſtern auf die Erde geworfen, ſie aber habe ihm ein Bette verſchafft, ihr Joch ſei leicht. Zugleich verſprach ſie, ihm das Brot des Lebens und das Waſſer des Lebens zu geben, damit aus ſeinem Bauche das Waſſer des Lebens fließe. Unter Zaͤhn— klappern kam es ihm vor, als ob Waſſer in ſeinem Bauche fließe. Dann machte er einen Cirkel auf dem Bette, und ſchrie aus Furcht, Uebles gethan zu haben: „Herr, was willſt du, daß id thun fol”? Die Macht erwiederte: „es fei gu fpat, gu Gott gu rufen, denn die Sentenz über ihn fei bereits gefproden”, weshalb er uͤberzeugt war, daß der Beufel ibn betrogen habe. Wiederum verfiindete ihm die Macht: „ſie habe ihm 2 Teufel ausgetrieben, fie fei mit einer Dornenfrone gefrént worbden, er aber folle mit ber Krone der Gerechtigfeit gefroént werden, und befabl ihm, feine Faufte auf den Kopf au legen, um damit bie Krone vorjuftellen”. Die Stimme tief ihm gu, daß er aud) Anderen, namentlich feiner Mutter und Frau den Veufel austreiben folle, welched er bei einem anderen Quaker wirflid) gethan gu haben behauptete. Zuletzt gerieth er in Verzweiflung, weil der Teufel ihm aurief, daß et bisher Gott gelaftert habe, und es zur Bufe nun gu fpat fei, weshalb er nicht mehr auf die Stimme hoͤren wollte, weldye ihm fagte, wenn er Chriftus nicht in ſich aufnehmen wolle, fo wuͤrden 7 drgere Veufel ibn in VBefig nehmen. Sie er— gablte ihm darauf fein ganzes Leben, wie lange er nod) leben werbde, verhieß ihm eine grofe Starfung und Vermehrung fei ner Glieder, Woblergehen und Glick auf Erden, und fragte ibn: „ob der, welder ihm Alles verfiindete, nist Chriftus fei"? Dies troftete ihn, weil Chriftus in ihm thatig: fei. Wiederum hielt er fic fir verloren, glaubte geftorben gue fein, bis bie Macht feine Glieder bewegte, und ihn aufridtete, worin er cine Auferftehung fah. Die Macht gebot ihm, alle Kleider abgulegen, welche vom Fleiſche befedt waren, daber er fie mit einem reinen Hemde vertaufdte,- und in den Garten ging.

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Abermals glaubte er vom Teufel betrogen gu fein, und fid ſchwer an Gott wegen Veradtung feines Vaters verfimdigt gu haben u. f. w. Gr diente fpdter in der Garnifon zu Car: Lisle, wurde von Anflagern der Trunkſucht befdhuldigt, aber vor glaubwirdigen Zungen geredtfertigt, welche feine Maͤßig— feit, feinen gottfeeligen Wandel, feine Gewiffenhaftigteit be: theuerten.

Ebend. S. 29. Soh. Polberry hirte in einer Quaker: verfammlung, daß in der Schrift nicht die Erfenntnif von Chriftus enthalten fei, fondern daf der Verftand fie in fid finden miffe. Gin Anterer fagte ihm, die Quaker feien von Chriftus gefandt, das Evangelium gu predigen, aber der gu Ferufalem geftorbene Chriſtus fei nicht der Erlofer, ſondern biefer wohnte in jédem Menſchen befonders als dads Licht, die Giinden zu erfennen und von ihnen gu. befreien. Hierdurch fo wie durd andere Reden erwedt verbrannte er geiftlide Schrif— ten als Seufelslehre, ließ feine Mutter darben, welche er bid dahin unterſtuͤtzt hatte, fing an gu faften, fo daß er von Rraf: ten fam, [a8 fleifig in der Bibel, glaubte, daß er der in Fee rufalem geftorbene Chriftus fet, daß im Sabre 1663 das Ende der Welt bevorftehe, daß er nebft anderen Lehrern die Juden und Heiden, weldhe bisher, dem Veufel gedient hatten, befebren folle. Gr felbft werde bis an’ Ende der Dinge leben, mit Ghriftus auf einem Berge gufammenfommen, in einen himmlifden RKérper verwandelt werden, und Chriftus Ge: ridjt halten iiber die Welt. In ihm fei eine gréfere Offen- barung, alé in Ghriftus und in den Apofteln, er miffe auf Offenbarungen warten. Zuerſt hirte er ſchoͤne Stimmen und herrliche Muſik, durch welche gottgefandte Geifter ihm die Freude bes Himmels uͤber ihn verfiindeten. Dann erfchienen ihm 2 Geiz fter, welche er fiir bie Dienenden Engel bhielt, da fie ihm Herrli- ches von Gott und Chriftus verfiindeten. Andere folgten, und erwiederten auf feinen Gruß, daf binnen 235 Tagen eine Boll: Fommenbeit in ihm fein folle; er werde dann wieder gu Serufa: lem fterben und auferfteben. Hierauf folle er das Evangelium verfiinden, Michael werde in ibm leben, ihn von der Welt tragen, und gum Predigen tichtig machen. - Wabhrend der 25 Rage folle er noc feine weltliden Geſchaͤfte beforgen, aber in

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beh Nachten diirfe er den Bewegungen nicht widerfteben, wenn er erlofet werden wolle. Auch fclief er in den Nacten faft gar nicht, fondern auf feinen Wunſch famen und verſchwan— ben jene vifiondren Geftalten, begleitet von ſchoͤner Muff, “bet welder fie tangten, und in der Stube umberliefen. In ber 3. Nacht fagte ihm eine Geftalt, drei der fieben Plagen feien ber thn ausgegoffen, weil er aber dem Geifte gehorche, waren ihm zwei erlaffen worden, zwei aber wiirden nod fom: men. Mad) feiner Auferftehung von den Todten folle er 12 unter den vornehmiten Rednern der Qudfer wablen, welche feine -Apoftel wirden. Dabei tangten die Geifter in der Stube, und als er einen Dumult horte, rief eine Stimme ihm ju, Babylon fei gefallen, wobei er glaubte; daß alle bisherige Herrſchaft durch Chriftus umgeftiirgt fei. Spaͤter tief eine Stimme ihm zu, die Schuhe auszuziehen, denn die Statte fei heilig, Gott erfcheine ihm, wie Mofen, deffen Theophanie die Figur der Erfcheinung Gottes vor ihm fei. Sn grofer Furcht zitternd 30g er die Schuhe aus, und vor Kaͤlte faft erftarrt empfand er dennod eine grofe Hike und ein Kitzeln tiber die ganze Haut, die Mufif verwandelte fid in ein Bienengefumme, und eine Stimme rief ihm gu, er fet der von Gott geliebte Johannes. Cr fragte die Geftalten: ,, ihr feid doc die Engel Gottes?” worauf eine derfelben erwiederte: „du haſt geldjtert. Bor Kalte gitternd fiel er gu Boden, und walste er fich herum, bid er wieder aufgerichtet wurde, und auf Befebl der Geijter die ganze Nacht; mit ihnen tangte. Nach langem Kaften wollte er Fleiſch effen, worauf 2 Stimmen in ibm abwedfelnd riefen: „iß und if nicht; Ich bin der Herr”, fprach die erfte, weshalb er af. Dann glaubte er den Him: mel offen gu feben, aus weldem ein ftarfed Licht herableud: tete, und auf der Erde liegend empfand er eine grofe Hike. Aus einer Quaferverfammlung von einer inneren Macht hin: weggetrieben, gerieth er in dad heftigſte Bittern und Erſchuͤt— tern ded Leibeds. In der nachften Macht wollte er ruben, und bat die Geifter, ihn gu verfehonen, fie trieben ihn aber im Haufe umber und eine Stimme fprad gu ibm: „Nicode— mus, der Berrather Chrifti in der Macht, ift in dir.” Be:

ftiirgt fiel er gu Boden, und mußte ſich immer wieder ‘nies derlegen, wenn er aufftehen wollte. Nachdem er fic) auf Ve: fehl der Stimmen vergeblich bemiht hatte, Feuer anzuzunden, flagte er den Stimmen feine Noth, und erbhielt von ihnen den Troſt, er fei noc) nicht vollfommen, folle aber bald tüch— tig» werden, Lahme und Blinde gu heilen, wie Chriftus, und diefe Wunder follten bezeugen, was in die Seele derer, welche feiner Lehre anbingen, fommen werde. Als er in einer Macht ſich faum des Schlafes erwehren fonnte, wurde ihm eine Grfrifchung eingegoffen, welche den Schlaf vertried. ‘Cin andermal wurde ihm, als er am §euer ftand, von der Stimme befobhlen, feine Beine in Saffelbe gu fteden, es folle ihm nicht ſchaden. Gr gehorchte, und verbrannte fid) "die Beine bis ans Knie, wofiir die Stimmen ihm Heilung ver- fpracden. Es trieb ihn an, fic) eine Nadel durch die beiden Daumen zu ftehen, fid dann mit dem Rücken an ein Spinde gu ffellen, beide Hande uͤber das Haupt gu erheben, und den Bod am Kreuze gu fterben. Gr fiel in Ohnmacht zur Erde, und aus ihr erwacht, ſchuͤttete er Saͤgeſpaͤne alé leinene Tuücher uͤber fich, band ein Schnupftucd um feinen Kopf, lag 3/, Stunde auf der Erde, als Nachahmung der drei Leidenstage CHhrifti. Dann wurde ihm befohlen, den Quafern feine Kreugigung fund zu thun, aus ihnen 12 Apo: ftel gu wablen. Durch die Kraft Michaels glaubte er flies gen zu founen, betribte fic) gwar, daf ihm died nicht ge- linge, eilte jedod) in die Verfammiung, und jeigte ibe feine Mundermahle, verFiindete feine Auferftehung, ward aber gur Ruhe gewiefen.

Figken erjahlt (a. a. O. S. 36) noch eine Menge an- derer Ausbruͤche von Wahnſinn bei vielen Quadfern. Jn einer ihrer Gerfammlungen in Nord Wales fing Ciner und der Andere nad langem Stillfchweigen heftig an ju beben, am Leibe aufzuſchwellen, laut aufjufehreien und gu beulen, fo daß die Zuſchauer erfchrafen, die Hunde bellten, die Schweine grungten und das Vieh davon lief. Gm October 1634 trat ein Redner in einer Werfammlung von 20 unter heftigem Beben auf; wenn er im Gebet den Namen Chrifti aus: ſprach, brillten die Quaͤker ſchrien auf die feltfamfte Weiſe,

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und geriethen in daé heftigfte Bittern. Eine Magd lief nackend aus dem Haufe, und wollte fo in London eingiehen; desglei— _ hen erfchienen mebrere Quafer nadt in den dffentlicben Ver— fammlungen. Einige Quafer, dem inneren Lichte folgend, ſchlugen ihre Mutter todt, weil jened ihnen befahl, das Ori— ginal der Suͤnde gu todten, wofuͤr fie ihre Mitter hielten. Gin gemeines Weib gerieth in einer Qudferverfammlung in Ekſtaſe, welde- 2 Page dauerte, worauf fie rafete, flucte, ſchwur, den Quafer For einen Veufel nannte, und 2 Bage barauf ſtarb. Jn einer Quadferverfammlung trat eine ſchoͤne Frau nadt auf und fprad: „ſchaut an die nadte Wahrheit, feht mid) nur recht an, id bin die Rlarheit und die Rein: heit wohnt in mir”. Das Bittern erflarte fie aus einer goͤtt⸗ lichen Rlarheit, welche fie nicht ertragen koͤnne. Sie ver: fidherte, ſchon auf Erden gang vollfommen rein und frei von allen Sinden ju fein. Bimmermann erzaͤhlt in feinem vortreffliden Werfe uber die Cinfamfeit: ,, Fothergill, der berithmte Arzt, war ein Quaͤker und verficherte vor feinem ode einem Freunde, daB er nie ein Weib berührt habe, Sn Edingburgh betrug er fish als Fingling anſtaͤndig, ebrbar, maͤßig, beſcheiden und ftill, Niemand bielt ihn fiir einen Smaginationsmann. Deſſen angeadtet hatte er einft, ohne daß ein Menſch bie Urfache errathen fonnte, den ercentrifchen Ginfall, nadt bei hellem Tage durch eine Hauptftrafe Goin: burgh 3u geben, und in einem Anfalle von Schwaͤrmerei die Rache Gottes allen Ginwohnern diefer Stadt zu verfin: digen,”

II, Der Aufruhr in den Cevennen.

§. 32. Hiftorifhe Bemerfungen.

Zwei Elemente find e& befonders, deren feindfeliges Zu— fammentreffen den Gharafter der furchtbaren religidfen Schwaͤr⸗ merei beftimmte, welche bei den Bewobhnern der Cevennen, ben fogenannten Gamifarden, zur Erſcheinung fam; einerfeits ber dogmatifd praktiſche Rigorismus der calvinifden Or- thodorie, anbdererfeits das faft unausgeſetzte Streben der

franzoͤſiſchen Koͤnige nach einem Abfolutismus, welder oft ge: nug in einen orientalifden Despotismus ausartete. Da beide Elemente fic) bis zur Strenge und Allgemeinheit eines Prin— cips entwidelt batten, welded fein anderes neben fic) gelten aft; fo muften fie in einen Kampf auf Leben und Lod gerathen, welcher auc) wirflid) bis auf die neuefte Beit fortge: Dauert hat, da fic) noch im Sabre 1816 die fanatiſchen Ver— folgungen der Reformirten im fudliden Frankreich) von Sei: ten ihrer bigott fatholifchen Landsleute im den aͤrgſten Greueln wiederholten, und erft die Sulirevolution im Sabre 1830 ihnen, wie zu boffen fteht, auf immer ein Ende gemacht hat. Daß eine volle drei Fahrhunderte hindurch fortdauernde Volks— gabrung, von welcher die parifer Bluthochzeit, bie Aufhe- bung des Edictes von Nantes und in Folge davon der Auf: ruby in den Gevennen nur eingelne Explofionen waren, bier nicht einmal in den allgemeinften Biigen ffiszirt werden fann, verfteht ſich wohl von ſelbſt, daher ic) mid auf einige wenige Bemerfungen beſchraͤnken muß, welche ſich auf die Urfachen und auf die wefentliche Bedeutung des in den Cevennen auf gefuͤhrten Trauerſpiels beziehen.

Wenn jede hiſtoriſche Anſchauung im Geiſte der unpar: theiiſchen Gerechtigkeit geſtaltet werden muß, welche das noth: wendige Beduͤrfniß jeder Zeit anerkennend, an fie nicht die Forderungen fpaterer Gahrhunderte aus dem erweiterten Ge: ſichtskreiſe ihrer gefteigerten Gultur rictet; fo mifjen wir wohl einrdumen, daß der bid zur duferften Harte ausgepragte Rigo: rigmus der Lehre Calving eine unerlaßliche Bedingung war, wenn fie fid) in Franfreich ausbreiten, und gegen zahlloſe Ver: folgungen von Seiten des Fatholifchen Glerus, namentlich der Sefuiten im Bunde mit der Krone behaupten follte. In Frank reich, Dem Lande der Vafallen von Kinigen, welche nach abfoluter Souverainitat ftrebten, gab es feine felbftftandige Firften, wie in Deutfchland, welche fir die Sache der Reformation gewonz nen fie unter den Schutz der oberften Landeshoheit ftellten, und ihr dadurd endlich einen geſetzlich und voͤlkerrechtlich un: erfthitterliden Boden eroberten. . In Frankreich blieb daber die Reformation der fatholifden Krone gegeniiber ſtets ein rez volutionares Princip, fo daß Heinrich IV. feinen. Glauben

abſchwoͤren mufte, vim fic) auf dem Throne behaupten au foinnen. Die gereinigte Kirchenlehre wuͤrde mithin allem An: ſchein nad in dem Blute ihrer Befenner erſtickt worden fein, wenn nicht die madtigen Vaſallen in ihr cine Trutz⸗ und Schutzwaffe gegen die ihr feindlid) gefinnte Krone gefunden batten, indem fie ihre Emporung in den Dedmantel der Re— ligion einbillten. Dazu witrde ein Cultus des Friedens und ber Liebe im Geifte des reinen Chriftenthums gang ungeeignet gewefen fein, und fo mufte an die Stelle deffelben ein gang in Gifen und Stabl gefleidetes Dogma treten, welded unter dem Banner der ftrengften Orthodorie fampfte. Cin folded war die Lehre Calving, deren welthiftorifche Bedeutung in ibrem bebarrliden Streben nach einer abfoluten Theokra— tie enthalten iſt, welches fie uͤberall geltend gemadt bat, wo von ihrem Geifte erfiillte gelctifche Priefter in die Schickſale ber Volfer eingreifen fonnten. Denn eS liegt in dem Wes fen jeder ihres Zwecks fid) deutlic) bewußten Orthodorie, ihre fubjective Auffaffung des Evangeliums als die unmittelbat von Gott emanirte Offenbarung ju behaupten, fie in der ganzen Strenge des Buchſtabens gegen jede fortfchreitende Ents widelung oder Ginmifdung fremder Clemente abzuſchließen, und fie in diefer erftarrten Form zum Zwangsgeſetz ju machen, welded das Leben bis in feine innerfte Tiefe durchdringt, und ihm jede Moglicfeit einer freien Selbftbeftimmung raubt. G8 war daher nur eine ‘einfadhe Anwendung der calvini- ſchen Grundfage, daß Servet bis yum Scheiterbaufen ver: folgt wurde; daß die Gynode ju Dortrecht ber alle Armi⸗ nianer, welde die unbedingte Pradeftinationslehre verwarfen, ihren Bannflud) ausfprach, durch welchen ihre Prediger aus dem Lande gejagt,. der ehrwitrdige Oldenbarneveldt auf das Blutgerisft geführt und Huge Grotius in den Kerker geſchleppt wurde, aus weldem er heimlich entflichen mufte; daß die Puritaner im fanatifhen Grimme gegen jede mil: dere Auffaffung des Chriftenthums wuͤtheten, unzaͤhliger dbnliden Folgen nidt gu gedenfen. Man mus dem Calvin wenig: ſtens die Gerechtigfeit wiebderfahren laſſen, daf er als ftrenger Logifer vor feiner Gonfequeng feiner einmal gefaften Grund: fage zuruͤckſchreckte, und in diefer Bedeutung war die furdt:

=

bare Praͤdeſtinationslehre, welche keinen Gott der erbarmen⸗ den Liebe, nicht einmal der Gerechtigkeit kannte, gleichſam der Schlußſtein ſeines ganzen hierarchiſchen Gebaͤudes, weil nur dadurch die ſchonungsloſe Verfolgung aller vermeintlichen Ketzer als der Empoͤrer gegen Gottes Geſetz gerechtfertigt werden konnte. Denn ſind ſie als ſolche nach der ewigen Vorherbeſtimmung Gottes geſchaffen, ſo verfallen ſie auch ſeinem Strafgerichte mit derſelben Nothwendigkeit, welche in der Natur nach unwandelbaren Geſetzen waltet. Der Aus: ſpruch Calvins: Nego peccatum ideo minus debere im- putari quia netessarium est, dridte dies mur im einer alls gemeinen Formel aus, und wenn diefelbe im abfoluten Wider: ſpruch mit dem Princip ber Gerechtigfeit ſtand, nad welchem die BVegriffe der Zurechnungsfabhigfeit, alfo auth ver Strafe ſchlechthin von der Vorausſetzung der Willensfreiheit abhangig find,. und obne fie allen Ginn verlieren; fo erwiederte et dar: auf: Ubi quaeritur cur ita fecerit Déus, respondendum est quia voluerit. Alſo gang; genau die Marime aller Debs poten: car tel est notre plaisir. Wir finnen uhé hier nas tuͤrlich nicht auf eine weitere Begriffsentwickelung einlaffen, fondern es ſollte mit dem Bisherigen nur bezeichnet werden, daß der Calvinismus feinem Princip nad die wahre Pflanj: ſchule des ecBarmungSlofen Fanatismus: fein mufte, mit wel: chem er nidt nur gegen alle Berfolger unbeugfam Stand hielt, fondern aud) im Kampfe gegen diefelben die Rechtfertigung fir jede Gewaltthatigfeit gab.. Da Calvin ferner den Sash aufſtellte: Minime negaverim aristocratiam vel temperatum ex ipsa et'politia ‘statum.aliis longe omnibus excellere, uriftreitig um ‘damit die Herrſchaft der von Gottes Gnade Auserwahlten iiber ‘den Pobel ‘der von ihm BVerworfenen zu begrimbden; ſo erwarb er fic) dadurch, wie & Blanc died fehe gut gexeigt hat*), unter den franzoͤſiſchen Vaſallen einen fo großen Anhang.

*) Trausportez le calvinisme de la théologie a la politique, voici les conséquences: les élus, ce sont les heureux de la terre; les réprouvés, ce sont les pauvres; entre jes uns et les

Sdeler Theorie d. relig. Wabnfinns, 21

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Wenn andvrerfeits fo oft die Klage daruͤber gefiihrt wird, » daß Deutfhland niemals gu einer Staatseinheit habe gelan- gen fonnen; fo duͤrfen wir nad) dem Cntwidelungdgange, den diefelbe in Frankreich genommen hat, wabrlid) nidt li, ftern nad) einer folden fein. Denn unfre vaterlandifdhe Ges. ſchichte kennt nicht jene ſyſtematiſche Confequen; der Krone, welche in §ranfreid) feit Ludwig XI. Fein Mittel der. offe— nen Gewalt und der Heimtuͤcke, der argliftigen Politif und des erbarmungslofen Fanatismys fcheute, um bas Volf in dad Joch der unbedingteften Knechtſchaft gu ſchmieden, und nur durd die unjerftirbare Glafticitat feined Charafter3 und durd) feinen in Grfindung neuer Vertheidigungs- und Angriffs- waffen unerfdopflidhen Geift verhindert werden fonnte, ihren Swed vollftandig gu erreichen. Allerdings umgiebt ſich der langer als 300jdbrige Kampf eines folden Volks gegen feine legitimen Unterdrider mit dem blendenden Glange dex reiche ften Talente und der grofartigften Charaftere; aber fchauen wir durch dieſen Mimbus der frangofifdhen Geſchichte auf ihren Boden, dann gewabhren wir cine Reihe von Herrſchern, welche . mit wenigen Ausnahmen methodifd) auf eine Zerftorung alles gegenfeitigen Bertrauens zwiſchen der Krone und dem Wolfe hinarbeiteten, welded die Grundlage aller focialen Wohlfahrt und aller gedeihliden CEntwidelung ausmadt, wofite unfer theureS Baterland das unwiderlegbare Zeugniß aufftellt. Daz. her muß der dem frangdfifhen Nationaldharakter unausloͤſchlich wie es ſcheint, eingepraͤgte Argwohn gegen die koͤnigliche Macht in letzter Bedeutung als die unverſiegliche Quelle aller Empoͤ⸗ rungen und Staatsumwaͤlzungen angefeben werden. Diefer Ausfprud wird nicht gu hart erfcheinen, wenn man, um nur einige Beifpicle gu erwahnen, fid) erinnert, daf Ludwig XI: mehr alé 4000 hinrichten ließ, unter ihnen die Gdelften und Vornehmſten des Landes, die meiſten ohne regelmafigen Pro- ceß auf fein bloßes Machtwort, weshalb er in religidfer. er: zweiflung fein eigner Henker wurde; daß Karl IX. heim:

autres, il est un abime, un fatal abime: Vinégalité des condi- tions; et le divin caprice qu’il faut subir en Padorant, c’est‘le hagard de la naissance, (a. a. D. ©. 56.)

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tuͤckiſch die vornehmſten Hugenotten zur Vermaͤhlung Hein— richs von Bearn, nachmaligen Heinrichs IV. nach Paris

lockte, in der Bartholomaͤusnacht ein Blutbad unter ihnen an:

richtete, bei welchem er felbft auf feine Unterthanen fchof, und

zur Erwiirgung von 70,000, nad) Anderen von 100,000 Hu-

genotten binnen wenigen Tagen den Befehl gab, woranf er nur 1/2 Sabr’ fpater ben Quaalen feines Gewiffens erlag ; dag, Heinrich UW. im zermalmenden Gefühl feiner Schuld einer Schaar von Bifenden fic beigefellte, und im groben Sacke, mit einem Stride Umguͤrtet, eine Geifel und einen madtigen Roſenkranz in der Hand bei einer feierliden Proceffion er—

fchien, und dennod als feiger Syrann wiithete, bis er von dem Dominifaner Jacob Element erftochen wurde; daß unmittelbar nad der wahrhaft vaterlidhen Regierung Heine. richs IV. unter feinem geiſtesſchwachen und dharafterlofen, Sohne Ludwig XIV. die Schreckensherrſchaft Ridelieus ihren Anfang nahm, von welcher wir bald eine charakteriſtiſche | Probe kennen lernen werden, und daf, der fpateren Bei— fpiele des verworfenen Zudwigs XV. (vwelcher fic) ber den geabnten Ausbruch der Revolution mit den Worten troftete:

apres nous le déluge) und Napoleons nicht zu gedenfen, bas Syſtem des despotiſchen Abſolutismus unter Lu dwig XIV,

jenen Gipfel des fchimmerndften Glanges erreichte, durch wel- chen ſelbſt beffere Ropfe in ihrem Urtheile uͤber ihn beſtochen wurden, tnd welder dem franzoͤſiſchen Nationalbewußtſein den verderblichen Wahn eingeimpft hat, ein Volk müſſe ſich mit dem erſtrittenen Ruhm füͤr alles ſociale Elend ſchadlos halten, durch welches derſelbe erkauft worden. Wollte man doch ſtets dieſer Thatſachen eingedenk ſein, wenn es ſich darum handelt, den hiſtoriſch nothwendig gewordenen Nationalcharakter der Franzoſen und Deutſchen mit einander zu vergleichen, um dar— aus die fuͤr die politiſchen und ſocialen Lebensfragen guͤltigen Folgerungen zu ziehen!!

Sir unſern Zweck miffen wir uns daran erinnern, daß Ludwig XIV., wie ed fo haͤufig der Fall iſt, nach einer ausſchweifenden Sugend im Alter bigott wurde, and fich des— hath gum willenloferr Werkzeuge in den Handen der ſchein— heiligen Frau von Maintenon und ſeines fanatifden

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Beichtvaters, de3 Befuiten La Chaife Der Charakter des letzteren wird dadurch am beſten bezeichnet, daß er nach dem Widerruf des Edictes von Nantes betete: „Herr, nun laͤſſeſt du deinen Diener in Frieden fahren”, und daß er den die gewaltfamen GErpreffungen vom Wolfe bereuenden Kö— nig mit der Verfiderung troftete, bas Cigenthum deffelben fet fein perſoͤnlicher Befig. Wohl wurde Ludwig durd die von ihm verſchuldeten Drangfale des Landes. mit Entſetzen erfillt, und deſſenungeachtet demuͤthigte er ſich fo wenig in feinem Dinfel, daß er offen feinen berichtigten Grundfag ausfprad: Vétat c'est moi, und daß er fich nicht des Be— fenntniffes fthamte: je crois qu’on m’éte de ma gloire, quand on peut en avoir sans moi. (Gregoire Bh. 3, S. 89.) So war der Mann befchaffen, welder von den Ses fuiten beherrſcht fein Bedenken trug, den mit, Stromen von Blut erfauften und feit beinahe einem Sabrhundert giltigen, | felbft von Ridelieu refpectirten Vertrag der Krone mit den Hugenotten gu brechen, indem er bas Edict von Nantes auf: hob. Rotted (a. a O. Th. 3. S. 280) bemerft hieritber: „Viele unwüͤrdige, ungerechte, tyranniſche Mittel Be:

ſtechung, Zurückſetzung in burgerlichen Rechten, Ausſchluß von Aemtern, Kinderraub, Verfolgung der Prediger, Entziehung von Kirchen wurden angewendet, die Reformirten zuruͤck zum katholiſchen Glauben zu führen. Einige ſchwache Verſuche des Widerſtandes beſtrafte man mit Galgen und Rad. Rohe Mis litarhaufen unterftitten den Befehrungéeifer der kat holiſchen Prieſter (Dragonaden)*). Da verließen die Reformirten in

Schaaren das Land, aber Galeerenſtrafe ward ausgeſprochen

gegen die rte und endlich erfchien das Koͤnigliche Edict,

*) Calmeil (a. a. O. Th. 2 S. 263) fagt: mangna dans les prisons, et sur les galéres pour contenir ceux qu’on arrétait aux frontiéres, ceux qui etaient convaincus d’avoir chanté des psaumes refusé les seconrs de la religion de |’Etat. Des malheu- reux qui ne purent avdler V’hostie furent passés par les flam- mes; ceux qui moururent sans avoir reclamé Padministration des sacrements farent, aprés Ja mort , trainés sur des claies et jetés Ja verde!

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welches jenes von Nantes foͤrmlich aufhoh (22: Sctbr. 1685), alle Reformirten jum katholiſchen Glauben juriidrief, und die Prediger, welche nicht Folge leiften wirden, aus dem Meiche verbannte. Aber den vertriebenen Hirten folgte auch ein groper Theil ber Heerde. Bros Verboten und Strafen_ wan: derten 500,000 Reformirte aus, und ftrugen nach England, Holland, Danemaré und Norddeutſchland, wo man inberall freudig fie empfing, franzoͤſiſches Geld, befruchfenden Kunſt— fleiß und Haß gegen den tyrannifdhen Konig. Die Heere und Flotten, die wider denfelben ftritten, verftarften ſich durch - Shaaren von rachediiftenden Flidtlingen, und ganze Provin: zen feines Reichs verarmten, ihrer Kapitalien und der, ge: winnbringenden Arbeit vieler taufend emfiger Hande durch die wahnſinnige Graufamfeit eines gefrdnten Zeloten beraubt. Und dennoch erreichte er fein engherzig geſetztes Ziel, die Aus⸗ rottung der Ketzerei in Frankreich, nicht. Eine halbe Million Reformirter blieb im Lande zurück, den tyranniſchen Verfol⸗ gungsedicten theils die Standhaftigkeit der Maͤrtyrer entgegen- ſetzend, theils durch fcheinbare* Unterwuͤrfigkeit ſich denſelben entziehend. Im Herzen waͤhrte der alte Glaube fort, und der gerechte Haß brad) bei dex erften Gelegendeit in verderb- lice Flammen aus.”

Hiermit find nun die Urfachen des Aufruhrs in den Ce: vennen und friiher nod) in einigen benachbarten Provingen be- _ peithnet. Bir koͤnnen hier natürlich feine ausfuͤhrliche Schilde- rung Ddeffelben entwerfen, fondern miffen uns mit der über— fichtlichen Skizze begniigen, welche Rotted (ebend. S. 307.) davon gegeben hat. „In Languedoc, in den Gebirgen der Ce— wennes, hatte feit der Aufhebung des Edicts von Nantes und der gewaltfamen Niedertretung aller Religionsfreiheit ein gebhei- mes Feuer gebrannt, gu deffen furthtbarem Ausbruch erneute Gewaltthaten ves Fanatismus und der finanziellen Byrannet Veranlaffung gaben. Die Emporer mordeten die katholiſchen Prieſter und Steuereinnehmer. Bald entbrannte der Aufruhr in dem ganzen Gebirg. Schwaͤrmeriſche Haͤupter, Propheten und Prophetinnen ermangelten nicht. Schadenfroh reichte dad Ausland Hilfe an Geld und Menfehen. Da fandte der Koͤ— nig nad einander die Marſchaͤlle Montrevel, Willars

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und Berwik gegen die Empoͤrer. Der erſte (1703) ſchaͤndete ſich durch unmenſchliche Grauſamkeit, welche geraͤcht ward durch Wiedervergeltung an den koͤniglichen Soldaten. Der zweite (1704) bereitete den Sieg durch geſchickte Unterhandlungen vor, und der dritte vollendete ihn durch Uebermacht und Strenge. Unter den Häuptern der Rebellen hatte zumal Cavalier, cin Bacerjunge, ſich ausgezeichnet. Der große Koͤnig ver- ſchmaͤhte nicht, mit demſelben durch den Marſchall Villars einen beſonderen Frieden gu ſchließen, wornach Cavalier als Obriſter in den koͤniglichen Dienſt trat, welchen er jedoch bald, aus wohlbegruͤndetem Mißtrauen, wieder verließ. In dieſem buͤrgerlichen Kriege waren an 100,000 Franzoſen in Schlachten und Gefechten gefallen, an 10,000 Reformirte durch Henkers— hand unter mannigfacher Marter getddtet.worden *). Languedoc war verwiiftet. Die Feinde Frankreidhs freucten fic) feines Jammers.“

Die franzoͤſiſchen Reformirten, deren religidfes Bewußt⸗ fein feine Entwickelung in der Lehre Calvins gefunden hatte, fchdpften aus derfelben unftreitig ihre fanatiſche Begeiftering, welche fie sur offenen Empdrung gegen die herrſchende Kirche antrieh, und felbft ihren wabnfinnigen Verirrungen einen gang entgegengefegten Charafter von demjenigen verlieh , weldhen wir bei den Quaͤkern angetroffen. haben. Gab es jemals. cinen durch Vernunft und Menſchenrechte gebeitigten Fanatismus, fo miiffen wir den der franjodfifchen Reformirten fo nennen, ohne daß deshalb die Ausbrüche deffelben minder grauenvoll gewefen waren. Wir wollen uns nun die wefentlidften Wirfungen und Erſcheinungen deffelben zur Anfchauung bringen, und fodann cinige Nebenbedingungen, welde eine fehr wichtige Molle dabei gefpielt haben, hervorbeben. Calmeil hat in ſeiner uiten- genannten Schrift (Zh. 2. S. 261 300) aus’ den authenti⸗ ſchen Quellen eine Menge von Beweisſtuücken woͤrtlich ent— lehnt * zuſammengeſtellt, weshalb er uns als aioe

*) Welcher Foltern man fic) bediente, erhellt unter anterem aus der von Dubois (a. a. D.) mitgetheilten Notiz, daf man mehrere Gefanz gene fo lange an den Fuffohlen HOAs bis fie. unter Convulſienen ſtarben.

| 32 Führer gelten kann, deſſen Mittheilungen wir nur kürzer zu⸗ ſammenzufaſſen brauchen.

§. 33. Die wahnwitzige Sdhwarmerei der Camifarden; my

Calmeil bemerkt zuvoͤrderſt, daß die Hugenotten in der feften Ueberzeugung lebten, Gott werbde fie auf ihr Flehen mit der Kraft des Martyrecthums ausriften, und daf fie durch die Reden ihter Geiftliden, durch) den Gefang der Pfalmen, und durch Dad Lefen der Propheszeihungen des Drabicius und bes Rotter nody mehr zum. ſchwaͤrmeriſchen Enthufiasmus ents flammt wurden. Gleichwie Muͤnzer den Seinigen den Sieg durdh Singen von Hymnen verhieß, und Matthiefen feine Schaar belehrte, fic) den hetligen Geift durch Cinblafen gegen: feitig mitzutheilen; ebenfo hielten viele Gamijarden beide Mit: tel fiir untruͤglich. Flechier, damals Biſchof von Nismes, erzaͤhlt, daß eine gefangene Prophetin taufendmal wiederholte, fdneidet mir die Arme, die Beine ab, ihr werdet mir fein Leid zufügen; fie weigerte fic) gu effen, um nicht den heiligen Geift ju beleidigen, welder fie erndbre. Ihr Bruder behaupe tete den Teufel gu fehen, aus vem heiligen Geifte gu reden, ein groferee Prophet al’ Mofes gu fein, Steine in Brod verwandeln gu fonnen, ja zuletzt Chriftus, der Sohn des ewigen Vaters gu fein, daher feine Worte bei Strafe der Ver: dammniß als Evangelium gelten muͤßten. Als eines Tages die Bruppen cinen Angriff auf die Gamifarden machten, und leBtere die Flucht ergreifen wollten, fchalten die Propheten und Prophetinnen fie als Abtrunnige; fie hatten alle den heiligen Geift empfangen, flanden unter dem Schube der Engel und braudten Richts gu finchten, da die Soldaten den Glaubigen fein eid gufiigen fénnten, und das Paradies ihnen offen ftehe. Ginige behaupteten, daß Schaaren von Engeln fie wie Fliegen umfdwarmten, andere daf Engel von der Groͤße cined Fingers weif wie Scneefldden um fie ſchwebten, Saf der weißgeklei⸗ dete Priefter Homel durch den Himmel ſchreite. Indem die Vruppen anf fie einftiirmten, theilten-fie ſich in Haufen, um: armten ſich, wabrend fie ſich gegenfeitig den heiligen Geift durd

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den Mund einblieſen; hierauf gingen ſie beherzt den Soldaten entgegen, uͤberzeugt, daß ſie unſterblich und unverwundbar ſeien, oder daß fie wenigſtens nach einigen Tagen wieder auf⸗ erftehen wiirden. Drei bis vierhundert wurden verwundet oder getddtet. Brueys, gleicdfalls ein Beitgenoffe, berichtet von einem aͤhnlichen Rampfe, bet welchem die Rebellen mit Stein- wiirfen und §lintenfciiffen die Truppen angriffen, wabhrend die Propheten und Prophetinnen mit withender Gebdrde und fdnaubend ihnen entgegenftiirgten, unter dem lauten Schreien tartara, tartara! womit fie diefelben in die Flucht fdlagen gu koͤnnen glaubten, endlich aber fic) gu Boden warfen, oder bie Flucht ergriffen. Aehnliches gefchah bei vielen anderen Ge- legenbeiten. Eine Prophetin warf ſich withend und ziſchend wie eine Schlange auf die Soldaten, bis fie erfchlagen wurde; eine andere bat die Soldaten, fie gu todten, damit fie fofort ihren Platz unter den Erwaͤhlten des Firmaments. einnehmen finne. In einem anderen moͤrderiſchen Gefechte wurde die Prophetin Gaara, nachdem fie wiithend tartara geſchrieen hatte, an der Seite ihres gefallenen Vaters ſchwer verwundet, und behauptete dennoch, daß in ihr der heilige Geiſt wohne. Erſt nach etwa 3 Tagen kehrte ſie zur Beſinnung zuruͤck, nach⸗ bem fie ſich durch Speiſe und Schlaf geſtaͤrkt hatte. Shr bOjaͤhriger Vater, fruͤher ein kraͤftiger und verſtaͤndiger Arbei⸗ ter, der Schwaͤrmerei durchaus abgeneigt, wurde zuletzt durch die Erzaͤhlungen ſeiner Kinder von den Offenbarungen und En— gelserſcheinungen in den Verſammlungen dergeſtalt ergriffen, daß er in einer Nacht heftig aus dem Bette ſprang, unver⸗ ftandliche Worte murmelte, fich fir den heiligen Paulus er flarte, und Engel durch den Kamin. herabfteigen. fah. Eine halbe Stunde lang fprad) er ein Kauderwaͤlſch, in, welchem man nur die Worte Barmbersigheit und Rene unterfcheiden Fonnte; bald glaubte er fampfende Engel, bald Sefus Chri— fius gu feben, welder durch den Ramin herunterfomme. End: lich erflarte er athemlos, er koͤnne nicht weiter, der, heilige Geift verbrenne ihn, worauf er ruͤcklings zu Boͤden fiel und in feltfame Berzudungen gerieth, welche die Anwefenden auf den Knieen bewunderten. Cine Prophetin weisfagte, daß der Ha: gel das Getreide jerfehmettern werde, daß die Unglaubigen in

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den Gebirgen umherirren winder, daß ein Stern vom Himmel herabfallen, und die Stadt des Papſtes eindfchern werde; cine andere nannte die Meffe ded Beufels Mutter und Gattin, an dere fahen weife und rothe Engel, welde in den Haͤnden Phio- len voll gittliden Borns truͤgen. Unter. gleiden Erſcheinungen breitete ſich zwiſchen 1679 1690 die Schwaͤrmerei in dem Vivarais und in der Dauphinee nach dem Ausdrucke des Brueys mit der Schnelligkeit einer von den Winden ange— fachten Feuersbrunſt aus. Propheten und Prophetinnen gab es ju Hunderten und Raufenden. 20, 30, 50 Berghewohner wurden in einer Nacht infpirirt, und es wurden Verſammlun— gen von 500 bis gu 3 und 4000 gebhalten. Gin Mann, wel cher von einer ſolchen naͤchtlichen Gerfammlung dem Anſchein nad rubig zuruͤckkehrte, fiel epileptifd) gu Boden, walgte ſich auf dem Schnee, und fing bei gefdloffenen Augen an zu pre: bigen und gu prophescihen. Wenn altere Prophetinnen die Annaherung ihrer Inſpiration fihlten, riefem fies” ,, Gott iſt ba, fein Geift durdhbdringt uns.” Dann. fielen fie anf Furze Zeit in Convulfionen, wobei ihe Mund ſchaͤumte, und eaned fingen fie enthufiaftifd) an ju propheseihen.

Seit 1700 breitete fic) die Schwaͤrmerei in den cane nen ané, und bier waren es befonders die Weiber und Kin- ber, weld davon ergriffen wurden, Tauſende von Weibern fangen Pfalmen, und propheseiten , obgleich man fie zu hun: berten erbenfte. Gn einer Stadt, beridtete der Marſchall von Villars, fcienen alle Weiber und Madchen vom Teu— fel befeffen gu fein; dffentlic) in den Strafen jitterten und prophezeiten fie. Durch Nichts wird aber die Madt der da: mals herrfchenden Schwaͤrmerei in einem hoͤheren Grade, als dadurch erwiefen, daf eine Menge von gang jungen Kindern in prophetifche Ekſtaſe geriethen, wortiber Calmeil die Be: ridhte von, vielen Augenzeugen gefammelt hat. Vergebens lies fen die Ratholifen, welde behaupteten, daß die Rinder von Betriigern gu ihrer Rolle abgeridtet feien, erftere geifeln, und mebreren die Fuffohlen verbrennen; fie wurden dadurd nicht abgefchredt, denn ihre Bahl ftieg im den Cevennen und in Mieder=- Languedoc bald auf 8000.- Det Sntendant der Pro: ving. berief die Profefforen der Medizin von der mit Recht be:

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riihmten Akademie in Montpellier nad Ujes, two cine Menge folder Minder eingefetfert war. Die Facultaͤt erflarte nad forgfaltiger Beobachtung der Ekſtaſen und Reden der Kinder, daß fie vom Fanatismus beherrſcht feien, und wirklich ver— mote aud) Nidts die Heftighcit ihrer Schwarmerei ju daͤm⸗ pfen. Wir laſſen nun einige Faͤlle der Art folgen. Gin fuͤnf⸗ jaͤhriges Kind erlitt mehrere Anfaͤlle von Convulſionen des Kopfs und des ganzen Koͤrpers, worauf es das Ungluͤck Ba— bylons und die Segnungen der Kirche verkuͤndigte, und nach— druͤcklich zur Buße ermahnte. Oft wurde ſeine franzoͤſiſch (am Gegenſatze zum Landesdialekt) gehaltene Rede durch ſeine Auf— regung unterbrochen, und haͤufig wiederholte es: je te dis mon enfant; mon enfant je t'assure. Unter 4 inſpirirten Kindern von 3—6 Jahren wurde bhefonders cin dreijaͤhriges fo ſtark ergriffen, daß es zur Erde fiel, und fic) Fauſtſchlaͤge auf die Brut verfeste, wobet es fprad, daß es wegen ber Simden feiner Mutter fo leiden muͤſſe. Es ſetzte hingu, wir lebten in der letzten Beit, man muͤſſe tapfer fiir ben Glauben fampfen und feine Suͤnden bereuen. Gufanne Jonquet, 4—5 Sabre alt, ſprach wahrend der Convutfionen deutlidy ein reines Franzoͤſiſch, welches fie aufer der Ekſtaſe nicht gefonnt haͤtte; ſie verkuͤndete die Befreiung der Kirche als nahe be— vorſtehend, und forderte gu einer Verbeſſerung des Lebenswan⸗ dels auf. Die ſechsjaͤhrige Marie Suel verfiel /, Stunde in Krämpfe de3 gangen Morpers, befonders der Bruft, dann ſprach fie, Ale thaten Nichts anderes, als Gott beleidigen, und miiften daber ihren jufiinftigen Lebenswandel beffern, Babylon (die roͤmiſche Kirche) fei dem Untergange nabe. Gang daffelbe fprad ein ſechsjaͤhriger Knabe waͤhrend feiner ton Krampfen begleiteten Efftafe, nur daß er fir den Untergang Babylons das Fahr 1708 beftimmte. Cin dreijahriges Kind hielt wabhrend feiner Krampfparoxysmen ruͤhrende Ermahnun- gen in reinem Franjofifd an die Anwefenden. Cin 6—7 jaͤhriges Madchen erwiederte auf ‘die gegen fie geduferten Zwei⸗— fel, ihre Bewegungen und ihre Sprache feien unwillküuͤrlich, eine unſichtbare Macht in ihr fei flarfer, al8 fie. Befonders haͤufig fand man folche efftatifde Kinder in den gottesdienft: lidhen Verfammlungen, und fie wurden ſo zahlreich eingeber-

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Fert, daß man julebt nicht mehr wufte, wo man fie unter: bringen follte, weshalb vom Hofe der Befehl erging, fie gu entlaffen, und in Bufunft nicht mehr gu verhaften. Ungeath- - tet der -erduldeten harten Mißhandlungen -waren fie ftets voll Freude, indem fie unaufhorlich beteten und Pfalmen. fangen. Faft unglaublic) flingen folgende Beugenausfagen, obgleich fie merfwirdig’ genug mit aͤhnlichen Angaben aus dem Bereich der ſchwediſchen Predigtfranfheit ibercinftimmen. Cin 15 mo- natlider Knabe erlitt in den Armen feiner Mutter heftige Krampfe des ganzen Mirpers, befonders der Bruſt; ſchluch— gend ſprach er in reinem Franzoͤſiſch mit lauter Stimme, wenn aud) unterbroden, als wenn Gott aus feinem Munde gere- det hatte, wobet er ſich haufig der-Worte bediente: je te dis, mon enfant... Gin 14monatliches Kind, welthed nocd nie von felbft gefproden und gelaufen hatte, fprach ſehr laut in der Wiege franzoͤſiſch, und forderte gur Buse auf, wornach ed in feinen gewoͤhnlichen Zuſtand zurückkehrte. Seine Mutter verficherte, daß es ſchon mehrere folche Anfalle gehabt hatte, denen jedeSmal Convulfionen vorangegangen feien. Man fann ſich hierbet indeB nicht des Verdachted der Uchertreibung aus Liebe gum Wunderbaren erwehren, da Cinige behaupteten, daß fogar die Kinder nod) im Leibe ihrer Mutter “propheseit hat ten. Go gedenft Flechier eines Mannes, welcher die Auf: forderung gum Gebhorfam gegen den Konig trotzig erwiederte, er firchte Michts, denn er Habe in fic) den Heiligen Geiſt. Darauf entbloͤßte er feinen Leib, und rief: „ſchießt auf mith, ihr werdet mir fein Leid jufiigen finnen.” Er fügte hinzu, binnen 14 Tagen werbe er ftaré in der Gnade fein, und dann wolle er nad Paris reifen, um den Koͤnig zu bekehren. Seine eben fo ſchwaͤrmeriſche Frau behauptete, daß das Kind, welches fie unter dem Herzen trug, fchon bei feiner Geburt prophescien und fic) von der ganjen Welt vernehmen laſſen werde. Als fie nebft ihrer Schwefter verhaftet wurde, neigte fie-fid) gu ifrem Leibe herab und fprach: „hoͤrt mein Sind, welches in meinem Leibe weiffagt”, wabhrend die Schweſter von Beit gu Beit wiederholte: „ſeht ihr nicht den heiligen Geift, welder auf meinen Handen hupft und tangt?”

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Wir laſſen nun die Ausſagen einiger Inſpirirten folgen, weil dieſelben das anſchaulichſte Bild ihres Zuſtandes geben. Sean Cavalier (wahrſcheinlich der obengenannte Bacer- junge, welcher ſpaͤter zum Obriſten befoͤrdert wurde) be— richtet: „Nachdem die Weiſſagung (eines jungen Propheten) zu Ende war, hatte id) die Empfindung eines ſtarken Ham- merſchlages auf meine Bruft, wodurch dem Anſchein nad) ein Feuer in mit entgiindet wurde, welches fid) durch alle meine Adern ergoß, worauf id) in Ohnmacht fiel. Dod) richtete ich mid) fogleid auf, frei von allen Schmerzen, und als id in einer unaudsfpredliden Grregung mein Her; ju Gott erhob, empfand id einen zweiten Schlag mit Verdoppelung der Hike. Unter inbrinftigen Gebeten fonnte id) nur tief feufgend ath: men und ſprechen. Gin dritter Schlag erfchittterte meine Bruft, und -fegte mid gang in Flammen. Hierauf hatte id einige Augenblide Rube, dann verfiel id in Convulfionen des Kopfes und bed Rirpers, welche ich feitdemt oft erlitten habe. Sie dauerten nicht lange, aber die Erregung und das Brennen im Innern erbielten fid. Bugleid war id von. dem Gefüͤhl meiner Ginden ergriffen, beſonders der mith beberrfdjenden Wolluft, welche als ein unermefticher Frevel mid in Wer: sweiflung ſtuͤrzte. Als dex Redner eine befondere Ermahnung an mich richtete, wurde id) dadurch dergeftalt ergriffen, als ob fie eine uͤbernatuͤrliche geweſen ware. Waͤhrend der Rid: kehr gu meinem Water war id in Gebet und in Erſtaunen uber die an mir und. an Andern erlebten Wunder verfunten. Ich horte nicht auf gu weinen, und die bHeftigen Rrampfe warfen mid) oft gu Boden. Neun Monate blieb ich in dies fem Buftande, die Hand Gottes züchtigte mich oft, aber meine Zunge wurde nicht geldfet. Doc feine Gnade trbftete mid oft, denn mit Freuden gehorchte ih dem inneren «Geiſte, welder mid) immerfort gu feiner Anbetung antrieb. Dabei war id) gleichgiltig gegen meine friheren GVergniigungen, und einen wabren Haß empfand ic) gegen den fatholifchen Cultus, deffen Kirchen id) nicht ohne Bittern anfeben fonnte. Endlich nad: neun Monaten voll Seufzern und fpraclofer Unruhe ge- rieth ic) an einem Sonntag Morgen wabhrend des Gebeted in cine auferordentlice Ekſtaſe, und Gott dffnete meinen Mund.

Waͤhrend drei agen wirkte in mir. der Geift in verfchiedenem Grade, fo daG id nicht effen und trinfen, nod) ſchlafen founte, und meine Rede nahm nad) Befchaffenheit der Gegenftande eine grofere oder. geringere Heftigfeit an. Meine Familie fah darin den Beweis einer, goͤttlichen Cingebung.”

Elie Marion ergzablte: „Wenn ber Geiſt Gottes mic) ergreifen will, fo empfinde ich eine gtofe Hige in meis nem Herzen und in ben benadbarten Theilen, welder zuwei⸗ len cin Froftel des ganzen Koͤrpers vorherfegangen iff, An; dremale werde ich ploͤtzlich ohne alles Gorgefiihl ergriffen. Dann ſchließen fic) meine Augen ploglid), dex Geift verſetzt mid) in Gonvulfionen, preft mir Seufger und Sdludjen aus, fo daß ich Muͤhe habe, gu athmen. Sehr oft. erleide id) aus ferordentlid) heftige Stofe, aber ohne aller Schmerz, und ohne dic Freiheit de Denkens zu verlieren. In diefem Bus flande bleibe id) etwa eine. Viertelftunde, ohne ein Wort fpte- chen ju. fonnen. Endlich empfinde ich, wie der Geift in meis nem Munde die Worte bildet, welche er durch mid ausfpre- chen will, wobei id) immer einige auferordentliche Bewegun⸗ gen erleide oder wenigftens. eine grofe Furcht empfinde, Zu⸗ weilen bat, ſich dad. auszuſprechende Wort ſchon in der Idee gebildet, ohne daß ic) weiß wie der Geiſt es gu Stande brin⸗ gen will; zuweilen glaubte ich eine Sentenz ausſprechen zu ſollen, und konnte dod) nur einen unartikulirten Gefang bers auébringen. Stets empfand id) dabei. cine außerordentliche GErhebung gu Gott, bei. welchem ich daher betheure, das ih weder durch irgend Demand beffochen oder verleitet, nod durch eine weltlide Ruͤckſicht bewogen bin, durchaus .feine anderen Morte, als folche auszuſprechen, welche der Geift. ober der Enz gil Gottes ſelbſt bildet, indem er fidh meiner, Organe be- dient. Ihm allein iiberlaffe id) daber in meinen Ekſtaſen die Lenfung meiner Zunge, indem id mid nur. beftrebe, . meinen Geiſt auf Gott gu ridten, und die Worte gu merken, welde mein Mund ausfpridt. Id weif, daß alédaun eine hihere und andere Macht durd) mid) fpridt. Ich denfe daruͤber nicht nad, und weif nicht vorher, was id) reden werde. Meine Worte kommen mir daher wie die Rede eines Anderen vor, aber ſie laſſen einen tiefen Eindruck in meinem Gedaͤchtniß

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zuruck.“ Einige Monate hindurch wurden bie Reden tes Ma— rion woͤrtlich aufgefdrieben, wenn er fic) sous I’ opération de I’'Esprit befand. Sie bilden bie Halfte des Buches, wel: ches fpater unter dem Titel erfehien: Avertissemens prophé— tiques d@’Elie Marion, l'un des chefs protestans qui avaient pris les armes dans les Cévennes. Londres 1707. Folgendes ift eine Probe davon: ,, Mein Kind, du freueft dich dariiber, Daf das Reich nahet; du thuft wohl daran. Ruft im Subelton: das Lamm wird fampfen! Ich bin nicht fern von dir, ich werde dein Herz bewegen und did) heimſuchen. Bereite did), die doppelte Gnade gu empfangen, in wenigen - Tagen werde id) mein Geheimniß offenbaren. Ich will, daß bu mein Wort verkuͤndeſt. Ich verlange von dir nur dein Herz, gieb mir dein Herz, mein Kind. Preife meinen Naz * men, empfange meine Gnade im griften Ueberfluf, bereite dich vor durch Faften und Gebet. Wohlan mein Rind, id) will dir meinen Willen erflaren. Gch werde fommen, frit: her alS die Welt erwartet. Ach welches Staunen wird bin: nen wenigen Tagen die Voͤlker ergreifen, welche Verwirrung wird an vielen Orten der Erde herrſchen! Ich werde mid ju erfennen geben. Mein Wort fann fic nidt vernehmlid maden, meine Blibe, meine Fliche und Donnerfeile werden fie mich geugen gegen ein Golf, welches fic) weigert, mid) alé Gott anjuerfennen. Win ich es nicht, der Himmel und Erde gefchaffen hat? - Habe id nicht Ales fir die Menſchen gemacht? Und ber Menfd) verlaͤßt mid! Ich will ihn zer malmen; aber, mein Rind, ic) werde meinen Weinberg pflan⸗ gens ich werde ein neues Gewaͤchs pflanzen, und der Teufel foll nicht fein Gift ftreuen, defn ich werde wachen, und der Winger fein. Meine Kinder redet dreift, verkuͤndet fin meinen’ Namen, firdtet nit den audstretenden Strom, ich werde ihn in einigen Tagen austrodnen. Baut auf meine Verheifungen, welche gewif und treu find. Meine Stimme wird in wenig Tagen vom Himmel erdonnern, und die Fiſche im Meer erfehreden. Die Erde wird zittern und ſich entfegen; die Berge, fage ich dir, werden gufammenftiirjen, die Stroͤme auétrodnen, die Walder in Staub finfen, und alle Dinge werden der Stimme des Alimadhtigen gehorden. Die wilden

Bhiere werden in ihre Hobhlen flichten. Wer, meine Kinder, wird nicht beim entfegliden. Schall meiner Stimme erbeben?- Ich werde vom Himmel donnern, und die Himmel werden exfchiittert werden, bie Fifche bes Mteered flerben. Ich werbde tufen, fage ic) dir, und die Wallfifhe im Abgrunde ded Meeres werden getddtet werden, Wer wird, mein Kind, die: fen. Schredniffen Widerftand leiften? Ich fage euch: erzittert Suͤnder, euer erzuͤrnter Richter naht, fein Grimm flammt, . wie die Lohe eines Ofens. Wo find, mein Rind, die ftum- men Hunde?” :

Ueber den Urfprung feiner Schwarmerei, welder auf den erften Tag des Jahres 1703 fallt, theilt Marion folgende wichtige Erklaͤrung mit: ,, Unfere Familie und einige Verwandte hatten fic) zurückgezogen, um einen Bheil beds Tages in. Ges beten und anderen Andadhtsubungen gugubringen; mein Gru- der befam eine Jnfpiration, und einige Augenblide darauf empfand id) ploglic) eine grofe Hike im Herzen, welche fid durch den ganzen Koͤrper audsbreitete. Dabei war id ein we: nig beflommen, und gendthigt tief au ſeufzen, welded. ich fo - viel als miglid gu unterdriden fudte. Bald darauf zwang cine unwiderfteblide Gewalt mid, gu ſchreien, gu ſchluchzen, aus meinen Augen ergoſſen ſich Stroͤme von Thraͤnen. Hef— tig wurde ich durch die Vorſtellung meiner Suͤnden erſchuͤttert, welche mir ſchwarz, abſcheulich und zahllos erſchienen. Ich fühlte ſie wie eine Laſt, welche mein Haupt preßte, und je ſchwerer ſie auf mir laſtete, um ſo lauter ſchrie ich. Doch empfand ich dabei ein Gefuͤhl von Wohlſein, welches meine Furcht verhinderte, in Murren auszubrechen. Mein Gott guchtigte und erhob mich gu gleider Beit. Die Nacht brachte id) rubig gu, aber beim Erwaden wurde id von. derfelben Unrube befallen, welche feifdem in jeder Ekſtaſe wiederkehrte, und von hadufigen Schludgen begleitet war. Drei Woden hindurd) wiebderholte fic) dies an jedem Tage drei⸗- oder vier: mal, und Gott gab mir ein, diefe Beit mit Faften und Be - ten gugubringen. Mit jedem Bage wurde ich mehr getriftet, und endlid), Preis fet meinem Gott, gelangte id) gum Bez fig jeneé -feeligen Frieden im Geifte, welder ein grofed Gut ijt. Ich tam mix. gang verwandelt vor; die Dinge, . welde

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mit bie angenehmften gewefen waren, ehe Gott mir ein neues Her; ſchuf, wurden mir guwider und felbft abftheulic. - Giner never Freude wurde idy theilhaftig, als nad einem Mo: - nate ftummer Gntzicfung es Gott gefiel, meine Bunge gu loͤſen, und fein Wort in meinen Mund gu legen. Da der heilige. Geift meinen Rirper ervegt hatte, um ibn aué feiner Erſtarrung gu erweden, und den Stolz gu ddmpfen, fo be— wegte auch feim Wille meine Bunge. und Sippen, und bebdiente ſich diefer. ſchwachen Organe nady feinem Wohlgefallen. Ich fann nidt audsdriden, wie groß meine Gerwunderung und meine Freunde war, als id) es fihlte und horte, wie durch meinen Mund ein Strom: von BWorten ſich ergoß, welche mefh Geiſt nicht hervorgebradht hatte, und welche meine Ohren ent- zuͤckten. In der -erften: Elſtaſe ſprach der heilige Geiſt zu mir: „Ich verſichere dich, mein Kind, daß ich dich zu meinem Ruhm ſeit deiner Geburt beſtimmt habe.”

Das Volk ſagte von jedem calviniſtiſchen Propheten, er habe einen goldenen Mund, die Beredtſamkeit fließe von ſei⸗ nen Lippen in’ Stromen; ° alle . zerfloffen ih Thraͤnen, wenn ein Prophet: in» Etftafe gerieth. Aud wenn der Sinn ſeiner Worte nicht verftanden wurde, welded befonders gu Anfang der Improviſation der Fall war, ftrdmten die Thraͤnen. Oft bedienten. fid) auch die Sufpirirten “fremidartiger Worter , . welthe man fir frembe Sprachen bielt, und welde ſie binterdrein wohl felbft. erflavten. (Beildufig geſagt eine: haufige Erſchei⸗ nung bei Geiftedfranfen, deren Wortgedaͤchtniß nicht fetten die fonderbarften Stoͤrungen erleidet, die in abergldubigen Seiten fie goͤttliche Offenbarungen gehalten werden.) Die Wirfun- gen dieſer ſchwaͤrmeriſchen Reden auf die bereits . fanatifirte Menge laffen ſich leicht ermeffen. Gin Inſpirirter erklaͤrte: Wenn der Geift uns fagte: „Vorwaͤrts, firrdte Nits, oder gehorde meinem Befehl, thue died oder jenes”, fo hatte Nichts uns davon: gurixfhatten finnen. Wenn es zur Schlacht ging, umd der Geiſt mid durch die Worte ermuthigt hatte: „fuüͤrchte Nichts, mein Rind, ich werde dich leiten und dix: beiftehen”, fo ſtürzte ic) mich in’ Oandgemenge, als wenn id mit Eiſen gepanzert, oder der Arm meiner Feinde von Molle gewefen ware. Unter dem Zuruf diefer bheilverfimbdenden Worte des

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Geiftes von Gott hieben unfre 12jahrigen Knaben rechts und linfS um fic) gleid) den tapferften Streitgrn. Diejenigen, welche feine Gabel und Flinten hatten, verrichteten Wunder mit Sdleudern und Stangen; vergebens durchbohrte ein Hagel von Kugeln unfre Hite und Kleider, wenn der Geift uns fagte, fuͤrchtet Nichts, fo achteten wir fo wenig darauf, wie auf einen gewoͤhnlichen Hagel”.

Sn ber bisherigen Darftellung iff ſchon vielfaltig dev Sinnestaͤuſchungen gedacht worden, mit denen die prophet: ſchen Gamifarden bebaftet waren. Nachtraͤglich duͤrften nur nod einige Bemerfungen hieruͤber einzufchalten fein. Wiele Snfpirirte beiderlei Gefchlechts erhoben wabhrend der Elſtaſe ihre offenen Augen gum Himmel, in welchem fie Schaaten von Engeln im Mampfe gegen Schladtheere von Menſchen und andere Dinge faben. Cavalier erjablte von tem Prophe: ten Compan, daß er vor dem Throne Gottes Armeen von Engeln aufgepflanzt fah, welche mit weifen Gewandern be: kleidet Preiggefange anftimmten. Gin gewiffer Charras ſprach: „Viele Menfchen haben freilic) tuber den Gefang der Pfalmen gefpottet, welche an vielen Orten aus der Luft er: ſchallten; indeß id felbft habe fie oft mit meinen eignen Ohren gebort. Defter als zwanzigmal habe id) in Gefellfchaft von verfchiedenen Perfonen diefen himmliſchen Gefang fern von Haufern, Waldern, Hoblwegen und Felfen an Orten gebhort, wo unmoͤglich Semand verftedt fein fonnte. Diefe himmlifchen Stimmen waren fo fin, daß unfere Bauern gewif nicht ein ſolches Goncert auffiibren fonnten. Gott ließ unter uns fo viele Wunder geſchehen, daß dies auch nicht das unglaublicdfte war, und zum Beweife dafiir dient, daß Mehrere Nichts davon vernahmen , wahrend Andere gang entzuͤckt waren.

Uebrigens nahmen die Gfftafen bet ten Einzelnen einen ſehr verfchiedenen Charafter an. Die ausgezeichnetſten Theo— manen waren zugleich mit Convulſionen, Ekſtaſen, Sinnes— taͤuſchungen und fixen Vorſtellungen behaftet, und fie be: ſaßen die Gabe des Improviſirens. Andere Calviniſten litten dagegen entweder nur an Convulſionen oder an Sinnestaͤu— ſchungen. Die Staͤrke der Convulſionen war verſchieden. Zitterer (trembleurs) nannte man diejenigen Propheten

9% Ideler Theorie d. relig. Bahnfinns. ae

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welche nur convulfivifde Zuckungen bes Kopfs, der Schultern, der Arme und Beine erlitten. Die Andern erfcienen als Epileptiſche. Zuweilen waren die Anfalle fo heftig, daß die Groriffenen unbewuft gu Boden geworfen wurden, daber fie nicht felten in wirkliche Gefahr geriethen. Go wurde 3. B. cin 16jabriger Burſche, welder oft wabrend feiner Inſpira— tionen bleich zur Grde fiel, beauftragt, wabhrend einer Ver— fammlung al8 Scildwade auf einen Baum ju fleigen, von weldem er in einem Parorysmus 12 Fup hod) herabftirste, ohne ſich jedoch Schaden sugufiigen. Er litt nod cine Bier: telftunde an SRrampfen, und fagte unter andern, daß in die Berfammlung Perfonen gefommen feien, um ihn zu ver: faufen. Gin Anderer fiel von cinem Felsblock wabhrend ter Krampfe 8 Fuß hoc herab, ohne fic gu verletzen, zuckte barauf nod beftig und forderte nachdruͤcklich zur Buße auf. Dergleichen plogliches Niederftiirzen ereignete fid) befonders haufig wabhrend der zahlreichen Marfche der Camifarden; Manche hatten wabrend ihrer Gonvulfionen, denen off Gabnen und Gliederſtrecken voranging, viel gu leiden, namentlic) aud an einer ſchmerzhaften Anſchwellung des Unterleibes und des Hal: fe3, fo daß wenigftens bei ihnen die RKrampfe nicht ten Gharafter der Cpilepfie an fid) trugen. Cin ganz blodfinni- ger Schafer begab fic) in eine Verfammlung, wofelbft er ſich auf die Kniee warf, und in bdiefer Lage zwei Stunden ver: barrte. Dann. ficl er wie todt um, und gerieth nun in fo ftarfe Gonvulfionen, daß 3 Manner ibn nidt halten konn— ten. Gr erlitt nod) 2— 3 Anfalle, ehe der Geift ihm den Mund offnete, und ihn fprechen ließ, daß er wegen feiner Suͤnden habe fo viel leiden miffen. Bei einigen Propheten befchranften fic) die Rrampfe auf bloße Berdrehungen ded Korpers und Verzerrungen des Gefichts vor und wabhrend der Rede. Oft ereignete es fic), daf in einer Verfammlung von 4— 500 Perfonen Alle an Krdmpfen litten, unier denen Bewegungen des Kopfes, der Bruft und des Unterleibes die baufigften waren. Dabei forderten fie zur Bufe auf, und verficherten, daf Gott bald Babylon jerftoren werde. Bei gleichgiltigeren Reden pflegten ihre Zuckungen gelinder gu fein und nur Furze Zeit gu dauern; wenn fie über das gottlide

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Gericht und die Zukunft prophegeihten, fo fielen fie vorher faft jedeSmal 3u Boden, erlitten die heftigften Convulfionen, und fonnten vor Beflemmung faum athmen. Wei Ginigen lief fid) aud) ein Poltern in den Gingeweiden hoͤren. Zuweilen nahmen die Anfalle fogar den Charafter bes Gomnambulia: mus an, toie died befonders bei der Schaͤferin Sfabeau Bincent der Fall war. Seit ihrem 17. Jahre war fie in der Dauphinee durd) die Haufigkeit ihrer Inſpirationen beruͤhmt geworden, ganzen Gantonen hatte fie die Gabe des Geiftes -mitgethei(t. Mad) ihrer VWerhaftung fprach fie, man mige fie hinrichten, doch Gott werde Schaaren von Prophe: ten erweden , weldje nocd) weit ſchoͤnere Dinge verfinden wi: den, als fie. Cie verlor fpater die Gabe de8 Prophezeihens, alg man fie gum Genus von Speifen, zur Rube und gum Schlaf nothigte, worauf fie zur katholiſchen Kirche uͤbertrat, aber als ſie noch weiſſagte, war ſie unſtreitig ſomnambul. Sie verſank dann in eine tiefe Lethargie, aus welcher man fie nicht erweden fonnte, indem man fie beim Namen rief, fcisttelte, fniff und ihr Brandwunden beibrachte. In diefem ſchlafaͤhnlichen Zuſtande fing fie dann off an, Pfalmen zu fingen, ohne die Lippen frampfhaft gu vergiehen, waͤhrend fie den Gefang mit geregelten und angemeffenen Geftifulationen begleitete. Mac) dem Gefange improvifirte fie Gebete, reci— tirte lange Stellen aus der Bibel, welde fie commentirte ; aud ermahnte fie die Gottlofen, und hielt fraftvolle Reden. Dabei tag fie im Bette, und wenn der Anfall voriiber war, wufte fie Nichts von dem, was fie gefagt und gethan hatte, vielmehr behauptete fie, rubig gefdlafen gu haben, und fid durchaus nidt angegriffen gu fuͤhlen, obgleich fie gewoͤhnlich 4—5 Stunden, wenn aud) mit Unterbrechungen und obne inneren Zuſammenhang fprad. Jedoch waren ſolche Faille yon Gomnambulismus felten.

| §. 34. Spectelle urfadhlide Bedingungen der Melis gionsfdhwarmeret der Camifarden. Wir haben jet den widhtigen Punft gu erdrtern, ob

jene Schwaͤrmerei gu Anfang nad einem wobhldurcdhdadten 22*

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Plan abfichtlich hervorgerufen fet, und fic erft fpater gleid einer willfiihrlic) angelegten Feuersbrunſt unaufhaltfam fort: gepflangt babe. Gregoire (a. a. DO, Bh. 2 S. 108) be: merft bhieritber Folgendes: „Franzoͤſiſche nad) Genf in Folge der Aufhebung des Edictes von Nantes gefluͤchtete Priefter qlaubten am leichteften den Arm der in Franfreid) zuruͤckgeblie— benen Mroteftanten gu bewaffnen, wenn man ihre Phantafie entflamme, Cte entwarfen daber den Plan gu einer Schule des FKanatismus, in welder die Kunft des Prophezeihens gelehrt werden follte. Sie errichteten diefelbe in einer Glas: hütte gu Peyra in der Dauphinee unter der Aufſicht eines Galviniffen De Serre, welder in jener Glashiitte angeftellt war. Gr wablte bet armen Galviniften 30 Sinder aus, 15 Knaben, deren Erziehung cr hatte, 15 Madchen, deren Leitung feine Frau uͤbernahm. Er flofte ihnen einen bheftigen Hak gegen die katholiſche Kirche ein, uͤberredete fie, daß er Vifionen, und die Macht, prophetifden Geift zu verleihen, yon Gott empfangen habe. Aus der Apofalypfe aeigte er ihnen, dah der Papft der Anticrift, und daß die Befreiung der Kirche der Triumph des Calvinismus fei. Flitche gegen die Meffe und gegen Mom, Gontorfionen mit Mollen der Augen und Aufblahen der Bruft und des Unterleibes waren Elemente de3 Unterricts. Wenn ein Bogling gur Einwei— hung reif war, biies De Serre ihm in den Mund, um ihm die Gabe des Propheseihens zu verleihen, und ermabhnte ibn, diefelbe Anderen mitzutheilen, welche er fir wirbdig dazu hielte. Die andern flaunenden Zoglinge warteten mit Ungeduld auf den Augenbli€, wo fie die ndmliche Auszeich— nung empfangen wuͤrden. Go ging von dort cin Schwarm von Enthufiaften aus, welche Miffionen in nabeliegenden Orten iibernabmen. Die merfwirdigften unter ihnen waren Gaz briel Ufter, ein junger Mann, welcher fic) nak dem Bie varais begab, und bie oben genannte Gcbaferin, die ſchoͤne Sfabeau. Gin calviniftifcber Priefter-in Genf, Jurie, bes eilte fic), ihrer Gendung einen uͤbernatuͤrlichen Charafter bei: xulegen. Dies gefthah im Sabre 1688 zur Beit, als der Pring von Oranien England mit Krieg überzog, um feinen Sdwtegervater gu entthronen, und den Prieftern befahl, den

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Gifer der franzoͤſiſchen Calviniſten zu entflammen, inden fc von den Kanzeln die Prophezeihungen des Furie und Du molin verfiindeten. Sfabeau wurde, wie bereits bemertt, in Grenoble gefangen genommen; Gabriel After ftand mit einer gewiffen Marie in einem unfittlidhen Verhaͤltniß, und machte fie, fo wie ihre beiden Aeltern gu Propheten. Co entftanden uͤberall Propheten zu Hunderten, unter denen es ſelbſt 7 8jaͤhrige Minder gab, welche Greifen Buße auf: erlegten, weil fie die Meffe gehort hatten. Die Fanatifer verfammelten fid) in Waldern, Hodhlen, Einoͤden, auf den Gipfeln der Berge, 400—500, oder aud) 4— 5000 Koͤpfe ftarf. Dort erwarteten fie den Geift von oben, der Prophet oter die Prophetin warf fid) auf die Knice, und rief Barm- herzigfeit, alle Uebrigen abmten nad. Daraus entftand ein verworrenes Geſchrei von abgeriffenen Phrafen und fteter Wie— derholung des Wortes Barmbersigfeit, Androhung bes jing: ften Gerichts, welches nach 3 Monaten eintreffen follte. Hier: auf fagte man Gebete her, oder fang Pſalme. Zuletzt erhodb ber Prophet feine Hande uͤber den Kopf und rief Erbarmen, worauf er rudwarts fiel, ohne fid) Schaden ju thun, indem gugleid) alle Uebrigen mit ihm fielen. Darauf rief er: ,, das Ende der Welt nahet heran, beffert euch, thut Buße dafir, daß ihr in der Meffe gewefen ſeid'. Dies war das grofte Verbrechen, denn la messe grande, fagten fie, iff die Meffe des Teufels, und la messe basse ift feine Frau. Dieſe Bor: herfagungen, begleitet von Schmaͤhungen auf den Papft und die Bifdofe, bezogen fic) faft fammtlicd) auf den Sturz der romifchen Kirche, welchen Furie auf das Jahr 1790 vorber: beftimmte, wo die fatholifden Priefter gum Proteftantismus iibergehben, und die Tempel wieder hergeftellt werden wuͤrden. Der Prophet blies in den Mund der Afpiranten die Gabe des Prophescihens mit den Worten: ,,Empfanget den heiligen Geift”. Dann prophezeibeten alle Baccalaureen des Prophetenthums nad) ihrer Weife, zitterten, waͤlzten fid) auf der Erde, ſchaͤum— ten; wenn fie obnmadtig wurden, nabmen Andere fie auf die Kniee, um fie wiederzubeleben, Die Burfchen erwiefen diefen Dienft den Prophetinnen, und gegenfeitig; Einige behaupteten, daß die prophetifcye Gabe durch ihre Schenkel eindringe, An:

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bere gaben fid) fiir die 3 Perfonen der Dreieinigfeit aus. Die reichen Galviniften nahmen hieran nicht Theil, fondern begin: ftigten bie Schwarmer nur heimlich. Die Fatholifchen Priefter bemubhten fic, durd) Belehrung das Volk aufzuklaͤren, dads Gouvernement dagegen fandte Truppen gegen die Fanatifer aus. Die Propheten verficherten, daß fie unverwundbar feien, und daß fie mit bem Rufe tartara die Truppen in die Flucht jagen wuͤrden. Einige Unglaubige bewaffneten fic) jedoch mit Steinen, und erflimmten bie Gipfel der Felfen; die Anderen warfen fic) auf die Erde, bliefen fic) gegenfeitig in den Mund, um fic) durch die Mittheilung des heiligen Geiftes gu befeelen. Angegriffen warfen einige mit Steinen; Andere, die Propheten und Prophetinnen an der Spike, fchritten mit wuͤthender Ge— barde vor, bliefen mit aller Macht auf die Truppen, und rie: fen tartara, tartara, ergriffen aber die Flucht, als fie fabhen, daß died Mittel Nichts half. Gabriel After wurde gefan- gen und erhenft; binnen weniger al8 14 Tagen wurde der Vivarais berubigt, ungeachtet mehr als 20,000 Menſchen an diefer Bewegung Theil genommen Hatten. Bald erwadte in- deß in den Gevennen diefer Aufrubr von neuem auf Anregung zweier Priefter, Brouffon und Vivens, welche Vifionen, namentlid) Engelerfcheinungen vorgaben, und bie Bewohner des Gebirges aufregten. Der in ein Syftem gebracte Fana: tismus zaͤhlte 4 Grade, lavertissement, le souffle, la pro- phétie, le don. Jede Truppe hatte einen Propheten, welcher den Beſuch der Meffe, die Abgabe des Behnten verbot, welcher um bie Behandlung der gefangenen Fatholifthen Priefter befragt und deffen Entſcheidung fogleich befolgt wurde. Man plin: Derte und verbrannfe Die Kirchen, mordete bie Priefer. 7 oder 8 fdwangeren Frauen wurden die Cingeweide heraus— gerifjfen, etwa 4000 Ratholifen und 80 Priefter wurden 1704 erfdlagen. Flechier fchilderte diefe Greuel in einem Hirten: brief”.

Eben fo erwahnt Calmeil (a. a. O. S. 280): Brueys prétend, ainsi que beaucoup d'autres catholiques, que les premiers theomanes qui parurent céder a I'élan prophéti- que n’étaient que des imposteurs inspirés par un épou- vantable calcul d’intérét, et qui mettaient en avant les

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mysteres de l’Apocalypse pour exalter jusqu’au délire des malheureux dont ils avaient l’intention d’exploiter la fureur. Daf Katholifen im Intereſſe ihres Glaubens fo urtheilten, um dem Fanatismus der Camifarden das Brandmal de3 Be: truges aufjudriden, und daraus die Berechtigung zu feiner tyranniſchen Unterdriidung herzuleiten, begreift ſich leicht; aber man muß aller Kenntniß des menſchlichen Herzens entbehren, um jener Anſicht beizupflichte. Ein Betruͤger kann wohl durch liſtig ausgeſonnene Gaufeleien einen Poͤbelhaufen bethoͤ— ren, und zu mannigfachen Ausſchweifungen fortreißen; aber nie wird er dadurch ein Volk zum Kampf auf Leben und Tod entflammen, und ihm einen wilden Rauſch einimpfen, welcher ſich blind in die ſchrecklichſten Gefahren ſtuͤrzt. Nur wenn ein Volk mit der Vernichtung ſeiner heiligſten Inter— eſſen bedroht iſt, laͤßt es ſich von Gleichgeſinnten in jene ver— heerende Gluth verſetzen, welche Alles in ihre verſchlingenden Wirbel reißt. Damit laͤßt ſich ſehr gut in Uebereinſtimmung bringen, daß die in der Glashuͤtte zu Peyra geſtiftete Schule des Fanatismus nach einem wohlberechneten Plan organiſirt war; denn man braucht nur eine Zeit lang aufmerkſamer Beobachter von Geiſteskranken geweſen zu ſein, um zu wiſſen, mit wie großer Schlauheit, Umſicht und Conſequenz ſie oft Plaͤne zur Erreichung ihrer Zwecke entwerfen und in Ausfuͤh— rung bringen.

Ungleich wichtiger ſind dagegen die Bemerkungen Fle— chier's (Calmeil 279) uͤber die Bedingungen, durch welche der bereits erweckte Fanatismus geſteigert wurde. Er ſagt: On leur ordonnait de jeuner plusieurs jours, ce qui leur affaiblissait le cerveau, et les rendait plus susceptibles de ces visions creuses et de ces vaines créances. Les cour- ses qu'ils faisaient de paroisse en paroisse, de montagne en montagne, pour y passer les jours et les nuits, sans prendre d’autre nourriture que des pommes ou quelques noix; les spectacles et les exhortations de tout quitter pour se trouver dans l’assemblée des élus et des fideles, et d’y faire, comme les autres, des prédictions imaginaires ; la petite gloire détre élevé sur un theatre, d’étre ecouté comme un oracle, de faire tomber d’un seul mot mille per-

sonnes à la renverse, de consacrer pour ainsi dire ses extravagances et de rendre sa folie vénérable par le mé- lange de quelques textes mal expliqués de l’Ecriture, c’etait autant de causes de cette corruption génerale, Aud) famen die prophetiſchen Efftafen nicht blos in den Verſammlungen yor, fondern auc) auferdem im freien Felde und ſelbſt tm Haufe, fie fingen dann mit Forftfchauern und Schwaͤchegefuͤhl wie ein Sieberparorysmus an, wobei die Ergriffenen Arme und Beine ftredten, und gabnten, che fie gu Boden fielen, wor- auf fie unter Schaumen des Mundes und unter Anfchwellung des Halfes und Unterleibes mit Convulfionen bebaftet wur- den. Sie Hatten davon mebhrere Stunden hindurd viel gu leiden, ldnger die alteren, als die juͤngeren Perfonen.

Insbeſondere unterwarfen fie fid auf Befehl des Gei- fteS oft einem anbaltenden Faften, durch welded fie deffen Gnade in der Gabe des Prophezeihens fich gu erwerben und zu erhalten ftrebten. Schon lange, nachdem er den Schau: plas der Schwaͤrmerei verlaffen, und in London einen Bus fluchtSort gefunden hatte, felgte Marion bem Befebl feiner Snfpiration, fic) ein verlangertes Faſten aufzuerlegen. Zuerſt glaubte er demfelben zu geniigen, wenn er ſich nur bis auf den Abend der Nahrung enthielte; aber am 6. Tage gebot ihm der Geift wabhrend des Gebets, drei Tage vollftan- dig gu faften. Gr erfillte diefen Befehl pinktlid, wobhnte Morgens und Abends den andadtigen Verfammlungen bei, verrichtete feine Gefchafte wie fonft, und befand ſich voͤllig wohl ohne das geringfte VBerlangen nad) Speiſe und Trank gu hegen. Dann af er wieder einige VPage, und nun faftete er auf Geheiß des Geiftes abermals 6 Tage mit Ausnahme eines eingigen kleinen Abendmahls, wobei er fic) wiederum wohl und fret von allem Verlangen befand, und taglid) feine gewohnten Snfpirationen hatte.

Durd) Nichts wird aber die Macht der gefcilderten Schwaͤrmerei ftarfer als dadurch erwiefen, daß fie fogar einige SKatholifen ergriff. Ba der beinahe GOjabrige, fittenftrenge Maire und reiche Cigenthimer Mandagre, welder friber einer der furchtbarſten Feinde dev Proteftanten gewefen war, und welcher eine fchwangere Prophetin beFehren wollte, gerieth

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dabei fo aufer fic, daß er behauptete, auf Befehl Gottes biefe Perfon fleiſchlich erkannt zu haben, und daß fie den wabren Grlifer der Welt gebaren werde. Außer diefer firen dee blieh er bei voller Befinnung. Drei Sohne eines fa: tholiſchen Pachters fingen in der Mahe von Anduze an gu prophezeihen, und begaben fic) bald in die Verſammlungen der Gamifarden. Jedesmal, wenn Katholifen von prophetifcen Snfpirationen ergriffen wurden, eiferten fie gegen. die Meffe mit derfelben Entriftung, wie die Calviniften. Die Kinder eines Maire, welder jene mit Erbitterung verfolgte, wurden vom Geifte erfuͤllt, welches den Vater gu einiger Mafigung ftimmte. Recht haufig geſchah es, daß Proteftanten in Gonvul: fionen und Ekſtaſe geriethen, welche vorher tuber ihre Glau: benSgenoffen gefpottet batten. Diefer Beifpiele bedienten fic die Gamifarden, um die Bekehrung aller Priefter zum refor- mirten Glauben vorherzuverfindigen.

Bur Vervollftandigung des bisher entworfenen Trauer— bildes durfte es nothwendig fein, die fpateren Schickſale einiger ber vornehmften Gamifarden nach ihrer Flucht aus dem Vater: lande ju ſchilden. Adelung hat mit feiner riefenhaften Belefenheit aus einer Menge von jerftreuten Quellen einige merkwuͤrdige Nachrichten hieruͤber gefchopft, und im 3. Bande feiner Gefchichte der menſchlichen Narrheit mitgetheilt. Cr war indeß fo wenig ein Renner des Wefens der Schwarme: rei, daß er bei ihe groftentheils betruͤgeriſche Abſichten vor: ausfebte, und die auffallendften Selbfttaufthungen des offen: barften Wahnfinns fir ein willkuͤrliches Gaufelfpiel erflarte. Dadburd ijt indeß der Glaubwurdigfeit der von ihm gefammel: ten Thatſachen fo wenig Abbrud) geſchehen, daß fie gerade in ſeiner Darftellung um fo greller und beweiskraͤftiger hervortreten. Co erzaͤhlt er 3. B. als unverfennbaren BWe- trug cine deutliche Sinnestaͤuſchung des Marton, dem rer Geift in einem Krampfanfalle verkuͤndete: „Ich fage dir, mein Cohn, daß eben jest cin Menſch gu einem deiner Feinde ge- gangen ijt; und fic) erbietet, dic) ihm auszuliefern. Dieſer Menſch wohnt dir zur linfen Hand, und er wird morgen der erfte in der Verſammlung fein. Ich werde dir ihn geigen”. Sogleich zeigte der Geift ihm diefen Menſchen, wie er mit

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dem Hrn. Campredon, Subdelegirten des Intendanten von Barre herumging, und er ſah ihn fo leibhaftig, als wenn er in eben dem Zimmer gewefen ware. Aber er fah ihn nicht nur, fondern er horte ihn aud) febr deutlich und vernehmlich reden. Gr fah und hoͤrte nod) mehr; er fah die Gattin des Campredon, wie fie ab- und zuging und fic) zuweilen in das Gefprad) miſchte. Campredon erfundigte ſich bet dem Bauer nad dbem Marion und la Valette, welther jest ihr vornehmfter Prediger war, und fagte, wenn man nur diefe beiden befommen fodnnte, fo witrde died das befte Mittel fein bie Ruhe in der Gegend wieder herjuftellen. Der Srulbdelegirte fagte ferner zu dem Bauer: „du wirft dir Freunde machen, und fo wohl der Sntendant als auch der Marfthall von Montreuil werden dic belohnen, du fannft dic darauf verlaffen; id fir mein Theil will dir 10 Thaler geben, und madden, daf du deinen Proceß gewinnft”. Der verfprad Alles, und verficherte, daß er den folgenden Tag in die Berfammlung gehen, und nad) derfelben den Aufenthalt der beiden gedachten Perfonen ausfpiiren wollte, damit Campredon fie dafelbft koͤnnte aufheben laffen. Adelung war unffreitig voͤllig unbefannt mit der von allen Srrendrzten beobachteten Thatſache, daß ein fyftematifcer Argwohn ein wefentlider Charafterzug der mei— ften Geiſteskranken iff, gumal wenn fie wirflichen Berfolgun: gen, wie Marion ausgefest find, und daß ihre vom Argwohn infpirirte Phantafie ganz eben folce bis in die fleinften Gin: gelnheiten ausgefuͤhrte dramatiſche Scenen den Sinnen der Be: thorten vorgaufelt, daber denn Erfcheinungen diefer Art zu den alltaglichften Greigniffen in jedem Srrenhaufe gehdren. Da Marion, gewif ohne alle fyecielle Beranlaffung, feinen Argwohn auf feinen calvinifchen Nachbarn geworfen hatte, fo ging es ganz nattirlic) zu, daß derfelbe in der nachften Ber: fammlung wirklich erfchien, und wenn derfelbe auf die gegen ihn gerichtete Anklage des Marion erblafte, zitterte, und aus der VBerfammlung entwifehte, fo befaB er unitreitig nod genug gefunden Verſtand, um die ibm von Ceiten der Fanatifer brohende Gefahr richtig gu wuͤrdigen. Gr foll gwar fpater feine Unterredung eingeffanden haben, man fieht indeß leicht, daß dies cine leere Erfindung war, womit alle Wabhnfinnigen

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ihre Erjablungen abfidtlid ausſchmuͤcken. Wir tibergehen mehrere abnlihe Anefdoten mit der Bemerfung, daß Ade: lung Me friiheren Schidfale Marions in Uebereinftimmung mit obigen Angaben gefchildert hat, und ihn als einen Advo- caten fennen lehrt, welder in den Gevennen gebirtig ſich auf der Redtsfchule in Bouloufe ausgebildet hatte, bis die Nad): richt von der in feiner Heimath ausgebrochenen Schwaͤrmerei aud) ihn, ‘welder bisher feinen reformirten Glauben verhehlt hatte, jum ernftlichen Nachdenken tiber die Gebrechen der roͤmi— fcben Kirche und zuletzt sur Ruͤckkehr in feine Heimath verz anlafte, wo er, wie oben gemeldet, am 1. Sanuar 1703 ber erften Gnfpiration theilhaftig wurde. Nachdem in den Gevennen die Schwarmerei im Blute ihrer Anhanger erftict worden war, fam Marion 1706 mit mebreren Genoffen auf ausdruͤcklichen Befehl des Geiftes als Flichtling nad Lon: don, wofelbft fic) fchon mehrere Camifarden befanden. Dort hatten ſchon viele gefluͤchtete franzoͤſiſche Reformirte die ſoge— nannte ſavoyiſche Kirche geſtiftet, deren Vorſteher den Ca— miſarden Beiſtand verſprachen, aber bald vor ihren Ekſtaſen zurückſchreckten. Durch letztere erregten die Camiſarden ein ungemeines Aufſehen in London, und ſie hofften ſelbſt, die Englaͤnder zur thaͤtigen Unterſtuͤtzung ihrer hinterbliebenen Bruͤder in den Cevennen zu bewegen; als aber ihre Erwar— tung fehl ſchlug, predigten ſie Buße, drohten den Unbußfer— tigen die Strafe Gottes, verſprachen den Frommen goldene Zeiten, verkuͤndigten den Untergang des Papſtthums, und eine bevorſtehende herrliche Erloͤſung, wobei uͤberall viele Zei— chen und Wunder geſchehen ſollten. Zugleich gaben ſie ſich oͤffentlich fur Propheten aus, welche der Geiſt Gottes zu den Englaͤndern geſandt habe. Dieſe Prophezeihungen und Offen— barungen waren von den heftigſten Bewegungen und Ver— zuckungen des Leibes begleitet, beſonders an Kopf und Bruſt, wobei ſie oft ſtehend oder ſitzend bald ploͤtzlich in die Hoͤhe fuhren, bald ſich mit der groͤßten Gewalt auf die Erde war— fen, die Augen verdrehten, und wie Beſeſſene ſchaͤumten. Wirklich fanden ſie in London mehrere Anhaͤnger, welche in kurzer Zeit eben dergleichen Verzuckungen und Offenbarungen bekamen, und zwar nidt-blos in den Klaſſen des niedrigen

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Volks, ſondern ſelbſt in den hoͤheren Staͤnden. Unter dieſen find beſonders merfwirdig Mar. Miffon, welcher die wid: tige Schrift, théatre sacré des Sevennes herausgab, die ich mir aller Muhe ungeadtet nidt habe verfehaffen finnen, fer: ner Sean Daude, Nic. Facio und Karl Portales, Die meifte Verwunderung erregte ein irlandifcher Ritter Rid. Bulfeley und ein reiher Englander, John Lacy, als fie fid) gu diefen Wahnfinnigen ſchlugen. Der lestere, ein My: ftifer, war bisher eins der vornehmften Glieder der engliſchen Gefellidhaft zur Befdrderung der Gottfeeligkeit gewefen, und gab im Jahre 1707 feine eigenen Offenbarungen unter dem itel: Prophetifhe Warnungen, in 3 Theilen heraus, fo wie Bul: Feley gu gleicher Zeit die Wahrheit diefer Offenbarungen ſchrieb. Diefer Unfug machte nun in London immer mehr Auffehen, daher aud) der Bifchof von London dem Gonfiftorio der fa: vovifden Gemeinde auftrug, diefe Sache genau zu unterfuden. Das Confiftorium hatte verfchiedene Conferenzen mit den Sehwar- mern, bemuͤhte fic) vergebens, fie zur Mißbilligung ihres Un: fuges gu bringen, und madhte hierauf oͤffentlich den Ausſpruch befannt: „daß die vorgegebenen Entzuͤckungen und Offenbarun: gen, welche ohnehin der Weisheit des heiligen Geiſtes unan— ſtaͤndig waͤren, freiwillige und ganz natuͤrliche Bewegungen waͤren, und daß auch ihre vorgegebenen Weiſſagungen unge— reimte und widerſprechende Dinge enthielten, welche zum Theil ſchon durch den Ausgang waren widerlegt worden”. Die Camiſarden antworteten dem Conſiſtorio mit einer Gegenerklaͤ— rung, worin ſie Alles fuͤr die abſcheulichſten Verleumdungen erklaͤrten, und ſich auf Gott als den Kenner des Herzens und der Geſinnung beriefen. Dieſe Erklaͤrung war von Marion, Durand Fage und Joh. Cavalier unterſchrieben. Außer— dem gaben Fage, Daude und Portales noch die Weiſſa— gungen Marions in den ſchon erwaͤhnten Advertissements prophétiques heraus, in deren Vorrede fie heftig gegen das Gonfiftorium eiferten, und unter den ſchon bekannten Wunbdern aud) nod) behaupteten, daß den Gamifarden de3 Nats der Weg in dem Gebirge durd) himmliſche Lichter und Feuerkugeln gezeigt worden ware, daß gemeine Hirten mit ihren Schleuder— fteinen und Pfalmen gange Regimenter Soldaten in die Flucht

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gefdlagen batten. Von der favovifchen Gemeinde ausgeſchloſ— fen errichteten die Gamifarden nun eine eigene Gemeinde, welche nod) mehr Auffehen in Condon erregte, zumal da fie gleid den erften Quaͤkern in ihren Verfammlungen die heftigften Convul: fionen befamen, welde die Neugier des grofen Haufens reiz⸗ ten, und vielen von aͤhnlicher Stimmung den Ropf verruͤck— ten. Dads favovifche Confiftorium fah fic) dadurch gendthigt, ben weltliden Arm gu Hilfe zu nehmen, daher denn Ma— rion, Sean Daude und Nicol. Facio im December 1707 zwei Vage hinter einander als uͤberfuͤhrte falfche Propheten am Pranger ftehen muften. Um Ddiefe Zeit ſchrieb aud Shafts: bury gegen die Camifarden feine berithmte Letter concer- ning enthusiasm. Sie wurden gwar bierdurd fo wenig ge: bemithigt, daß fie jene Verurtheilten als heilige Martyrer priefen; indeß nachdem da von thnen mit grofem Pomp an- gekuͤndigte Wunder der Wiedererwedung ihres verftorbenen Anhangers, des focinianifchen Arztes Thom. Emes ansblieb, da der damit beauftragte Mitter Lacy fic entfchuldigte, daß er vom beil. Geifte noch Feinen Befehl dazu erhalten habe, fo fiel ihr Anſehen gaͤnzlich, und felbft die Quaker, welche bis her einen hohen Begriff von ihnen gehabt hatten, zogen ſich mit Veradtung juried. Nachdem fie mehrere Fabre im Ver: borgenen gelebt hatten, erhielten Marion, Facio, Por: tales und ein gewiffer Sean Allut im Sulit 1711 von bem Geifte den Befehl, nach der Marf Brandenburg auszu— wandern. Sie famen auch Ende Juli in Berlin an, muß— ten aber wegen veriibten Unfuged auf koͤnigl. Befehl ſogleich die Stadt rdumen. Eben fo erging es ihnen in Leipzig, dem fie alleS Unglück androften, und famen im October nad) Wien, wofelbft fie abermals fo bel aufgenommen wurden, baf fie bem ganzen Deſterreich den Untergang propheseihten. Aus Noth nach London zurückgekehrt, machten fie ihre Reife- ſchickſale in der Schrift: Cri d’Alarme en Avertissement aux Nations 17142 befannt, und erjablten darin zugleich ihre eingelnen Entgidungen und Offenbarungen. Wenn 3. B. Allut die bevorftehende Ausrottung aller Gottlofen aus der Welt vorftellen wollte, fo zog er ſich nadend aus, focht auf die rechte und linfe Geite, und fiel endlich wie todt auf den

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Rien. Hierauf befahl ihnen der Geift, nach Schweden zu ziehen, woſelbſt ſie aber 1712 in Stockholm nach oͤffentlichen Weiſſagungen eine ſo derbe Lection empfingen, daß ſie ſich damit troͤſten mußten, dem Befehl des Geiſtes gehorſam ge⸗ weſen zu ſein. Nun wurden ihnen von letzterem geboten, in Conſtantinopel und Rom zu weiſſagen, wohin ſie ſich auch von Schweden aus auf den Weg machten. Nachdem ſie als ſchwediſche Spione lange Zeit in Elbing im Gefaͤngniß ge— ſchmachtet und ſich in Halle ein Jahr hindurch bei einem franzoͤſiſchen Sprachmeiſter aufgehalten hatten, langten ſie 1714 wirklich in Conſtantinopel an, von wo ſie ſich ſehr bald nach Livorno einſchifften. Dort ſtarb Marion, die uͤbrigen ſchweif— ten noch einige Zeit in Italien umher, und kehrten nach Eng— land zuruͤck, wo ſie ſpurlos verſchollen ſind. Adelung fuͤhrt noch an, daß es um dieſe Zeit und in den folgenden Jahren mehrere Propheten und Inſpirirte in Berlin, Halle und Hal⸗ berſtadt gab, denen jene Schwaͤrmer den Kopf verruͤckt hatten.

Achtes Kapitel.

Epidemieen des religiöſen Wahnſinns in Monnen: klöſtern.

Wir werden uns in der Folge mit einer ausfuͤhrlichen Unterſuchung uͤber den Einfluß des Kloſterlebens auf die gei— ſtig ſittliche Entwickelung zu beſchaͤftigen haben, um in ihm einen Verein von Bedingungen zu erkennen, welche faſt jedes— mal auf eine vollſtaͤndige Geiſteszerruͤttung haͤtten hinarbeiten miffen, wenn nicht der eigentliche Zweck der Kloͤſter faſt gong verfaumt, die Strenge ihrer Disciplin meiftentheils vollig um: gangen, und der Sinn ihrer VBewohner von einer frommen Beſchaulichkeit auf gang andere Intereffen ware abgelentt wor: den, welche mehr als binreichend waren, die Gefabr einer Steigerung des religidfen Gefuͤhls bis zur wahnwigigen Lei: denſchaft gu verhindern. Dennoch find gewif die Falle von

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frommer Geiftedftirung in Kloftern ohne allen Vergleich hau: figee vorgefommen, als in ihren Annalen aufgezeichnet wor- den, denn fie waren in jeder Beziehung die Grabgewdlbe lebendig Gingefargter, deren langwieriger Todeskampf der Kenntnif des Volkes moͤglichſt entzogen wurde. Da die Kid: ſter recht eigentlic) die auf der gangen Erde jerftreuten Ra: fernen ded Papftthums waren, in denen feine Miliz haufete ; fo forbderte fein hierarchiſches Sntereffe gebieteriſch die Aufredpt: erhaltung ihres guten Rufs, welcher ſelbſt in der Meinung des blinden PobelS unrettbar gu Grunde gegangen waren, . wenn er erfabren hatte, daß fie die Pflanzfchulen oder Brut- haufer der Geiftesserrittung feien. Man lief alfo nur fo viel von dem Aberwih in den Mldftern gu feiner Kenntnif gelangen, alS mit feiner gang verfebrten Anfchauung von der Heiligfeit der in ihnen waltenden Lebensweife recht gut in Uebereinftimmung gebracht werden konnte. Auferdem gewabrte ihre. ftrenge Glaufur eine binreichende Sicherheit, den Blicken des Volkes alle ercentrifden Ausbruͤche der religiofen Raferci gu entziehen, und wenn letztere flr ihre eigene Disciplin all: guftorend wurde, fo war man gentigend mit Hulfémitteln ver: fehen, fid) ſolche Ucberlaftige bald vom Halfe gu fdaffen, in: bem man fie in anbaltendem Faften verfdmachten ließ, oder in fcheufiliche Kerker cinfchlog, oder geradezu einmauerte. Die meiften Unthaten folcher Art deckt freilid) ein undurdhdring: licher Schleier, aber es find fo jahlreiche Beweife einer in den Kloͤſtern veriibten infernalifchen Grauſamkeit vorhanden, und e8 ftimmt das Ehengefagte fo genau mit der ganzen Politi€ der meiften Rlofterorden uͤberein, daß fic) daraus ohne ge: wagte Borausfesung eine foldhe Folgerung: ableiten laͤßt. Ohne fir jest auf Betradtungen diefer Art weiter. ein: gugeben, wollen wir nur hervorheben, daß fic) ber oft in Kloͤſtern herrfchende fromme Wabhnfinn von den Cpidemicen Deffelben im Offentlichen Leben durch mance Eigenthuͤmlichkei— ten unterſcheiden muß. Diefe Verfchiedenheit ergiebt ſich leicht aus der Erwaͤgung, daf der befonnene, weil thatfraftige Gharafter der Voͤlker gwar durch vielfache Urfachen, z. B. durch lend aller Art, namentlic) durd die Drangfale verwit- flender Striege, durch Hungersnoth, verheerende Seuchen, kirch—

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lidhen und politiſchen Despotismus geſchwaͤcht, und durd Un- wiffenheit und finfteren Aberglauben voͤllig irre geleitet wer: den fann; daß ihm aber dock) meiffentheilS eine hinreichende Befinnung tibrig oleibt, wenigftens die nothwendigen Beduͤrf— niffe des taͤglichen Lebens gu erfennen und gu befriedigen, und fic) dadurch gegen wirflichen Wahnfinn ju ſchuͤtzen. Wenn daher lesterer unter dem Zufammentreffen der ungiinftigiten Bedingungen, dergleichen wir in den bisher betrachteten Fal- fen nur allzu viele fennen gelernt haben, dennod wie eine anftedende Rranfheit ganze Schichten eines Volkes ergreift; fo tobt fic) doch gewoͤhnlich ſeine Wuth bald aus, denn die wildeften Schwarmer ftiirzen fic) durch ihre Tollhaͤuslerſtreiche ſchnell ing Berderben, oder werden wenigſtens von der Obrigs feit zur Erhaltung der Sffentliden Ordnung durch Einkerke— tung unfchadlid) gemadt, und die Uebrigen, denen der Wabhn: finn von jenen nur eingeimpft war, obne in ihrer Gemüths— befchaffenheit die Bedingungen gu feiner anhaltenden Fortdauer ju finden, werden durch die Moth, in welche fie unvermeid: lid) gerathen, bald genug aus ihrem Taumel aufgerittelt, und Febren nad dem ſchnell verflogenen Rauſch zur Befinnung gurud. Denn Hunger, Obdadjlofigfeit, mit einem Worte Mangel an allem MNothwendigen, der Anblick des Clendes, weldjes fie fic) und ben Ihrigen zugezogen haben, harte Strafen und Verfolgungen reden gu ihnen in einer allju nach— dridliden Sprache, als daß fie diefelbe uͤberhoͤren fénnten. Bur raftlofen Arbeit geswungen, um fid gegen fernere Noth gu fchiiben, und wenigftens die Truͤmmer ihres fritheren Wohl— ſtandes ju retten, oder gar in der Verbannung ein. fimmer-z liches Leben zu friften, gu weldem oft eine um fo grdfere Liebe erwacht, nachdem daffelbe in wahnwitziger Unbefonnen: heit allen Gefahren preis gegeben war, ja mit wahrem Ab— ſcheu gegen thren bisherigen Schwindel erfiillt, erfabren die gedemiithigten und enttdufchten Schwaͤrmer oft einen fo gaͤnz— lidhen Umſchwung ihrer bisherigen Gefinnung, Denfweife, ja ihres ganzen Charakters, daß fie fic) in der Folge eben fo febr durch faltblitig berechnende Befonnenheit augzeichnen, alg fie diefelbe in ihrem Maufche gaͤnzlich verleugnet batten. Wir finden mehr oder weniger den Beweis dafiir in allen

bisher betrachteten und noch gu ſchildernden religioͤſen Epide- mieen, welche entweder wie ein verwuͤſtender Sturm binnen Kurzem austobten, oder nur einen geringen Ueberreſt von Schwaͤrmern zuruͤck ließen, welche allzuſehr in ihten Wahn verſtrickt waren, als daß ſie auf irgend eine Weiſe haͤtten wieder zu ſich kommen koͤnnen.

Von allen dieſen Bedingungen finden wir das baare Gegentheil in allen Epidemieen des frommen Wahns in Kid: ſtern. Denn faſſen wir den Zweck der letzteren in ſeiner hoͤch— ſten Bedeutung auf, ſo beſtand derſelbe in einer methodiſchen Ertoͤdtung aller Selbſtſtaͤndigkeit des Charakters und des darin begruͤndeten Germodgens der Selbſtbeſtimmung im Denken und Handeln, alſo in der vollſtaͤndigen Vernichtung alles deſſen, was das urſpruͤngliche Wefen- des Menſchen ausmacht. Er: waͤgt man naͤmlich, daß die ganze ſociale Exiſtenz deſſelben auf der Grundlage- des eigenen Beſitzes und der perſoͤnlichen Kreiheit beruht, und daß das Familienleben das urfprimglicde Band ift, durch welches Alle gu einem gemeinfamen Wolfs: leben vereinigt werden “follen;. fo folgt daraus nothwendig, daß bie in allen Kloͤſtern herrſchenden Geliibde der Armuth, ded blinden Gehorſams und der Ehelofigfeit nur erfuͤllt werden fonnten durd eine Zerſtoͤrung aller Antriebe, welche den Or: ganiémus der Seelenthatigfeit in Bewegung fesen. Wenn aber der Seele die Wurzel -abgefchnitten iff, mit welcher fie die Nahrung gu ihrer fortſchreitenden Entwidelung ſchoͤpfen foll, fo gleic&t fie einer vom Boden losgeriſſenen Pflange, welche etwa in Waffer gefest nur nod fir einige Beit ein kümmer⸗ liches Scheinleben friften: fann, aber jeder Moglichfeit eines ferneren Wachsthums beraubt, bald vollig verwelfer muß. Es iff daber nur ein ganz einfad) naturgemafes Bild, kei⸗ neswegs eine metaphorifhe Hyperbel, wenn man. alle Kloͤſter Grabgewslbe fir Lebendighegrabene nennt, zumal wenn man erwaͤgt, daß in ihnen felbft dad religidfe Bewußtſein ganglih verfiummern. und audsarten mufte, weil auferdem die namen: (oS Ungliclichen aus demfelben Hatten Troſt, Muth, ja felbft geiftige Erhebung ſchoͤpfen fonnen. Denn das religidfe Bee wußtſein iff feinem Wefen nach nichts Anderes, als. die gee lauterte BVernunftanfdhauung , ‘in welder der Menſch fein gan.

‘Soeler Theorie d. relig. Wahnfinns. 23

zes Leben mit allen feinen Sntereffen gut edelften Bedeutung verfldren und heiligen foll, damit er den Swed feines Dafeins in der reinften und urſpruͤnglichen Bedeutung erfaffe, indem er feine Beftimmung erfennt, das ihm eingepragte Ebenbild Gottes ju immer grofartigeren und vollfommneren Zuͤgen gu entwideln, und dadurch dem unendlicden Streben nad) geiftig fittlicber Freiheit einen unbegrengten Naum zu erdffnen. Zu weldem religidfen Bewußtſein foll fic) aber der Sflave des Rofters aufſchwingen, er, deffen Leben gar feinen Inhalt mebr hat, an weldem der Strahl des gottlicden Lichts erſt yur wirfliden Erſcheinung fommen follte? Denn es verhalt fid) mit dem letzteren gang genau eben fo, wie mit dem Gon: nenlidte, welches nur in dem Dunftfreife der Erde, reflectirt von ihren Gegenftinden, den Vag hervorbringt, aber jenfeits der Atmofphare durch den leeren Raum ſtrahlend die denfels ben’ erfüllende Nacht nicht aufhellen fann. Demnadh mus in allen Kloſterzellen eine voͤllige Nacht ded religidfen Sinnes herrſchen, hoͤchſtens dammernd erbellt von den bleichen Sche⸗ men der Grinnerung, gleichwie villig Erblindete oft noc die féftgehaltenen Bilder friiherer Beit fic) in Viſionen sviederho- ten, und mit ihnen ein traͤumeriſches Spiel treiben.

Aber fo lange nod) der Pulsfchlag des Lebens in der Seele fortdauert, mug fie aud ihren unwandelbaren Gefegen gemaͤß wirfen, indem fie ihr Inneres gu irgend einer Erſchei— nung heraustreibt, um fic deffelben durch lebtere bewußt ju werden. Da bad der Vernunft entftrdmende Licht des Gei— fted fein voͤllig entſprechendes Gegenbild in dem Gonnentlichte findet, und in feinem Wirken genau mit demfelben itberein: ftimmt; fo ift es wiederum feine fpiclende Analogie, fondern eine gang treffende Veranſchaulichung, wenn wir fagen, daß bie des Bernunftbewuftfeins beraubte Seele eben fo entarten muß, wie cine Pflange im finfteren Keller, welche nur bleiche waſſerſuͤchtige Schoͤßlinge treibt, mit ihnen febnfichtig den Rigen entgegenranft, durch welche ein Lidtfchimmer in die falte Nacht des unterirdifchen Raumes fallt, und ſich verge: bend abmuͤht, Blatter, Blithen und Fruͤchte hervorzubringen, ohne mehr als verkruͤppelte Auswuͤchſe bilden gu fonnen, welche faum die ihnen beftimmte naturgefesliche Form errathen laffen.

Gin ſolches Gewaͤchs des Kellers mit allen ſeinen franfhaften, todtverfiindenden CErfdeinungen ift bad Leben des RKlofterbe- wohners, bei weldém Alles ausartet, bis dad Grab feinen Qualen ein Ziel fest. Es ließe ſich unftreitig aus dem vie- len Grofen und Guten, welches aus den Kloͤſtern hervorge- gangen, mit woblfeiler Muͤhe der Beweis firhren, daß obige Bezeichnung an den argften Uebertreibungen leide. Aber wenn die Benedictinee in fruͤheren Jahrhunderten fic) durch Urbar: machung wifter Landercien, durch nuͤtzliche Handwerfe, ja felbft. durd) Pflege der Wiffenfchaften die griften Verdienſte erwarben; fo erwage man dod nur, daf die grenzenloſe Noth und Barbarei der damaligen Beit dem Leben fo ſehr allen inneren Werth, alle Sicherheit und Freiheit geraubt hatte, daß die Mlofter als Afyle des Friedens und des fegenfpendenden Fleißes den in verfdlingender Brandung Schiffbruͤchigen einen tettenden Hafen erdffneten, und daß fie in ihren Werkftatten feine faule Hummeln niften ließen. Wenn die fpdteren Be— nedictiner in §ranfreid) fid) 1618 gu dem Oratorium Jeſu vereinigten, und in ihrer forglofen Muße durch den Verein der mannigfadften Kraͤfte fiir hiſtoriſche Gelehrfamfeit Uners meßliches geleiftet haben, daber ruhmvolle Namen, unfterblicde Verdienfte gelehrten Gluͤcks und Ernftes unter ibnen su Haufe waren (Hafe a. a. D. S. 437),. weshalb namentlich unter ibnen Mabillon wegen feiner Freimithigfeit, gruüͤndlichen Forſchung und feltenen Gelehrfaméeit bei ftrenger GSittenrein- heit den litterdrifchen Notabilitdten beigesahlt werden mus; fo bedarf es doc wohl nidt erft meiner Bemerfung, daß man Angefidhts folcher hochhersigen Beltrebungen die Anfchauung des Kloſterweſens gan; aus. den Augen verliert, und fid in eine Sphare verfest fieht, wo ausſchließlich die Begeifterung fiir die Wiſſenſchaft herrſcht, welche allerdings madtig genug ift, um jedes andere Sntereffe in det Bruft zu erftiden. Was haben aber ſolche ruͤhmliche Leiftungen fiir die hoͤchſten Aufga: ben der Humanitaͤt mit der wuͤſten Vrutalitat der -meiften Kidfter gemein, wo die gemifihandelte Menfchennatur oft genug zu beftialifden Begierden entartete, in welchen fie nach Ertoͤd— tung aller ebleren Jntereffen allein nod) eine aufruͤhreriſche Widerfiandsfraft gegen die Despotie der geiftlicdhen Zwingher: ' 23°

ren finden fonnte? Doc) wir miffen und fir eine fpatere Gelegenheit die weitere Entwidelung diefer Andeutungen vor- behalten, welde nur den Zweck batten, es mit einigen grel- len Schlaglichtern au bezeichnen, daß felbft der Wahnſinn in Kloftern ein ganz monftrifeds Anfeben annebmen mute, wel: ches als eine fragenhafte Uehertreibung feiner Erfcheinungen im gewdhnliden eben angefeben werden muß, wovon die Erflarung ebenfalls erft fpater gegeben werden Fann.

I. Teufelswahn der Urfulinerinnen gu Lit in Der Provence.

Nachfolgender Fall verdient eigentlid) nicht ben Namen einer Rlofterepidemie, da er fic) auf. zwei befeffene Nonnen befchranfte; er erlangte ‘aber dadurch eine grofe biftorifae Wichtigkeit, daß er den Vorgang ju den beiden grofen Trauer: fpiclen bildete, welche wir fogleid) kennen lernen werden, und gugleid) den withenden Verfolgern des unglidliden Urban Grandier alS Mufter gur Nachahmung diente. Die Ab— ſcheulichkeit der fanatiſchen Proceduren gegen Unfculdige auf blofe Anklage von Wabhnfinnigen erfceint ſchon hier in ihrer abfcredendften Geftalt. Sch entlehne die Erzaͤhlung von Cal— meil, welder feine Motizen aus der Schrift des dabei thati: gen Snquifitors Midaelié: histoire admirable de la pos- session et conversion d’une pénitente séduite par un ma- gicien. Lyon 1614, gefthopft hat (a. a. O. Thl. 1S. 489.).

. § 35° Schildertng bes Benfelswahns der Urfulinerinnen.

Zu Ende des Jahres 1609 befannte die Urfulinerin Magdalene de Mandol, 19 Jahre alt, die Tochter eines provencalifdhen Edelmannes, ihrem Beichtvater, daß fie von einer grofen 3abl von Damonen befeffen, und daß fie ſchon vor ihrem 10. Jahre von einem berichtigten Zauberer verfibrt worden fei. Faſt au derfelben Beit erflarte die Urfulinerin Louife Capel aus demfelben Kloſter, daß fie von 3 Teu⸗

feln beſeſſen fet, deren ciner fid) Verrina nenne. Da beide mit Gonvulfionen behaftet waren, fo lief der Pater Ro mil: lon fie heimlich in der Rapelle erorcifiren, damit der Ruf des Mlofters nicht gefahrdet. werde. Nachdem Langer als ein Jahr alle Bemishungen -vergeblid) gewefen waren, weil die Teufel nicht zum Sprechen bewogen werden fonnten, fo holte er den Rath des Paters Michaelis ein, welcher beide Non: nen nad) dem Klofter Sainte Baume bringen lief, wofelbft Louife gegen den Priefter Gaufridi eine heftige Anflage erhob, daß er der Firft der Bauberer in Spanien, Frankreich, ~ England und in der Tuͤrkei fei, und den Lucifer alg Damon habe. Wir lafjen jest die Folgen diefer Anklage fallen, um Die Erfcheinungen fennen su lernen, welche an der Magda: Lene beobachtet wurden. Calmeil theilt diefelben gwedma: fiig nach ihrem pathologifden Charafter in verfchiedene Neihen, yon denen er jede durch Auszuͤge aus den Procefacten erlaͤu— tert. Zuerſt fuͤhrt er folgende als Beweis an, daf Magda: lene mit hyſteriſchen Rrampfen, namentlich des Halfes und ber Glieder, felbft außerhalb der. eigentlichen Anfalle behaftet war, Am 4. Februar warf Beelsebub die Magdalene mit Gewalt zur Erde, fo daf fie bald auf den Baud), bald auf den Mien fiel, und fchnirte ihr dreimal die Meble bis jum Gritiden gu. Am 9. Mary wurde fie durch Bezauberung verhindert gu eſſen and zu trinfen, damit fie vor Hunger fter- ben, oder ihre Anflage gegen den Gaufridi widerrafen follte. Wenn fie aus Geborfam ein Wenig effen wollte, fo rif Beelsebub fie gewaltfam vom Tiſche weg, fchleuderte ihre Arme und Beine umber, verdrehte ihre Finger, fo daß die Gelenfe krachten, welches guweilen "a, Ya, eine ganze Stunde dauerte. Am 9. April erlitt fie haufige Anfalle von nod) heftigeren. Krampfen, -welche auch die Eingeweide ergrif— _fen, in denen man ein Gepolter horte, worauf fie wie todt gur Erde fiel. Zur Befinnung zuruͤckgekehrt wollte fie aus Gehorſam effen, indeß ihr Kopf wurde twiederholt bis sur Erde frampfhaft niedergezogen, ſowohl voriber als ruͤckwaͤrts, wel: ches auch wabrend der beiden Exorcismen gefdah, wobei iby Gefidht wie wom Feuer glihte. Am 10. ſtieß fie beim Grorcismus ein fiirchterlides Geheul aus, und als dex Teufel

beſchworen war, fie effen zu laffen, verſchlang fie die unge- fauten Biſſen wie ein witthender Hund. Durch eine an- dere Erfcheinungsreihe verrieth fie einen hohen Grad von ym: phomanie. Le 26. février Asmodeé, prince de la Luxure, commenca d’agiter Magdaleine, luy faisant faire des mou- vements déshonnétes, comme il avoit fait plusieurs fois a la Saincte Baume, pour l’'amener a une honte. Lors les médecins et chirurgiens luy commanderent de chemi- ner, puis de s’asseoir et s’efforcer de réprimer ces mou- vemens. Elle, estant en son bon sens, respondit qu'elle ne pouvoit en nulle facon; ny eux-mesmes aussi ne pou- © vant tenir, de la ils conclurent que naturellement cela ne pouvoit ‘étre. Cet impur démon sortoit toujours par les parties honteuses, dont luy entrant et sortant, Mag- daleine en avoit honte. Die Satalepfie wird durch fol gende Erfcheinungen erwiefen. Am 20. Januar beidtete Mag: dalene in ihrem Zimmer, wobei fie mehrmals durd dad Ge fret Beelzebubs unterbrochen wurde, welder, um ihre Abfolution gu verhindern, brillte, et wolle lieber in der Hille fein, weil deren Feuer weniger brenne,- alé die Abfolution. Chen fo fdeute er die Kirche von la Baume, gumal den Beidtftuhl, weil ihm dafelbft bie Heren nicht mit ihrer Zau⸗ berei gu Hilfe fommen fdnnten. Als man daher am Abende die Magdalene behufs des Exorcismus nach der Kirche brin: gen wollte, war fie in tiefen Gchlaf verfunfen, und ftart wie eine Marmorfadule, fo daß fie von Bieren in die Kirche getragen werden mufte, wofelbft fie febr lange in diefem Zu⸗ flande auf den Stufen des Hauptaltars legen blieb, und erft jur Beſinnung guriidfehrte, nachbem man fie in den Beicht: ſtuhl gebracht, und ihr die Hoſtienſchachtel auf das Geſicht gelegt hatte. Um 2. April faftete Magdalene aus Gebor: fam und Demuth, wabrend der Teufel murrte und foie. Als fie dem Pater-beichten wollte, raubte Beelsebub ihr die Befinnung, und lief fie gleich einer Erzſaͤule erftarren. Nad mebreren Exorcismen, Gebeten und bem Teufel auferlegten Strafen wid) diefer und fie erwachte. Aud) wabrend einer Macht war fie unbeweglidh, unfahig gu fpreden. In folgen- ben Erſcheinungen offenbarten ſich ihre Sinnestaufdhungen, ihr

359 Abſcheu vor der Veichte, ihre Neigung sum Selbftmorbde, thre. Ausbride von Wuth und Berjweiflung. Jn der Nacht zum 10. Mary fah fid) Magdalene, ald fie unfahig gu ſchlafen im Zimmer umberwandelte, von Zeufeln umringt, welche ihr guredeten, ‘nad Air zuruͤckzukehren, und alé fie fic) weigerte, fie fragten, ob fie nicht recht gut wiffe, daf fie nebft den Anderen an einem Mittwoden die Halfte ihres Herzen und ihres Leibes dem Deufel, und die-andere Halfte dem Firften Der Zauberer gewetht habe? Am 24. wurde: fie 7mal grau- fam gemartert, bid fie erft beim Abendeffen Rube fand. Hier: _ auf erfcien ihr Leviathan und fprad: ,,weder Beelze-— bub nod id find bier geweſen; du bift bet der Folter nicht geliebfofet worden, jetzt foll fie angeben.” Wier fichtbare Teu⸗ fel. marterten fie nun 3/, Stunde lang fo firdterlid), daß 3 Manner, -welde fie hielten, zuletzt die Anftrengung nicht mebr aushalten fonnten, und ganz, in Schweif gebadet twa: ren. In der darauf folgenden Nacht trieben die Veufel -fie ungeachtet der anwefenden Warter mit Gewalt aus der Stube, in welde fie guridgefithrt wurde. Nachdem fie eingeſchlafen war, wollten die Beufel fie durd) den Kamin entfihren, und man traf fie, den Ropf an die Mauer deffelben gelehnt, als ob fie durch denfelben. entweiden wollte. Am Montag Mor: gen der beiligen Woche wurde Magdalene verleitet, die Beichte gu verweigern, wobet fie bis 11 Uhr verharrte. Als um Ddiefe: Stunde der verhaftete Gaufridi nad der Kapelle zurückgeführt wurde, fingén die Deufel der Magdelene fo laut gu brillen an, daß man ibn binweg bringen mufte. Aud war man gendthigt, die Magdalene und die Couife von cinander gu-trennen, weil die in ihnen haufenden Teufel fid) nicht gegenfeitig ausſtehen fonnten, fondern gegeneinander larmten. Um MNachmittage ließ Beelzebub die Magda: tene ein Mefjer ergreifen, um fid daffelbe in die Bruſt gu flofen. Nachdem man ihr daffelbe weggenommen hatte, prefite fie die Keble mit den Handen zuſammen, um fid gu erdroſ⸗ felu, moran man fie verbindern mufte. Nachmittags 2 Uhr brilite Beelzebub fo firdterlid), daß die exoreiſirenden Prie: fter berbeiliefen, denen ec auf ihre Frage, warum er fo fdreie, ectoiederte: ,, ic bin rafend.” Am Nachmittage ded erften

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Oſtertages führten Sanger und Muſiker sur Erbauung der Magdalene eile Motette auf, wobei der Beufel fie mit grofen Martern qualte,; welche er am Abend wiederholte, als fie auf Befehl Speifen gu ſich nebmen wollte, fo daß ſie in die Hobe fprang, und die Arme und Beine fchleuderte. Daſ— felbe geſchah nun bei jeder Mahlzeit, wobei die Kranke ein lauted Geſchrei ausſtieß. Ueberdied qualte Beelzebub fie mit Ausbrüchen der Versweiflung, indem er ihr fagte, daß fie niemalé ein volles Suͤndenbekenntniß abgelegt habe. Auch trieb er fie an, ſich aus dem Fenfter gu ſtuͤrzen, fid) mit ei— nem Meffer gu tddten, ing Feuer gu fpringert, und da fie fic) deffen weigerte, fcbleuderte er fie an daffelbe, neben wel: chem man fie betdubt liegend fand. Beſonders folterte er fie bei den GErorcismen, indem er ihr ben Kopf vor= oder rind: warts bis zur Erde herabdrückte, und fie. gu Fauftfcdlagen an bie Stirn ndthigte, wobei er ihe fagte: „ich werbde 2 ren, dir deine Haare abzuſchneiden.“

Die taglichen Gefprache der Magdalene —— ſich ausſchließlich auf ihren Teufelswahn. Bald gewahrte ſie den Satan unter der Geſtalt einer Kroͤte, welche ihr an die Kehle ſprang, bald hoͤrte ſie ihn in ihrem Koͤrper reden: „wenn du ſprichſt, fo erwuͤrge ich did)”; bald fab fie durch den Ramin Schaaren von Hexen herabfommen, welche Zaubermittel nad iby warfen, um fie zur Wolluft gu reigen, ihe dad Gedddt: nif, die Vernunft gu rauben, welche mit Blaferdhren oder hoͤlzernen KRanonen ein Pulver auf fie bliefen; bald. war fie iiberzeugt, an den Satan8feften Theil genommen gu haben, und erzaͤhlte alle Abſcheulichkeiten, von denen fie wabrend des Sabbaths Zeuge gewefen war. Sie fand feine Rube, denn. iby Schlaf wurde in den Nachten durch Bumult und innere Aufregung verſcheucht; feinen Augenblid durfte man fie aus dem Gefichte verlieren, damit fie nicht entmiche, fic) verwunde, berbrenne, ermorde. Shr Gefchrei derfiindete der gangen Stadt ihre Quaalen, Wenn fie in Efftafe gerieth, oder aus Gr: ſchoͤpfung in Schlaf fiel, fo wurde fie im Geifte von den fuͤrch⸗ terlidften Sinnestaͤuſchungen und Viſionen gequalt, und faft immer erfcdien ihr Gaufridi an der Spige von Beufeln und Zauberern, deren Vorftellung fie fteté plagte. Sie ber

ſchuldigte diefen Pricfter, ihr ohne BWiffen ihrer Familie die Sungferfehaft in einer Hoͤhle in Gegenwart der Anhanger Beelzebuhs geraubt, fie oft in die Synagoge der Hexen gefubrt, fie dafelbft im Namen der Teufel. getauft, fie mit de: ren Weihol gefalbt, sur Verleugnung Gottes und des Para: dieſes gegwungen, ihrem Leibe das Zeichen des Teufels einge: brannt, thr ein bezaubertes Agnus und eine ſolche Pfirfiche ge: reicht, und in ihren Leib alle Deufel gefandt gu haben, von denen fie befefjen fei. Auch glaubte fie, die Firftin des Sab— baths gu fein, gleichwie Gaufridi deffen Fürſt fei.

Man muff geftehen, daß der erfabrenfte Srrenargt keine beffere Schilderung eines zur hoͤchſten Entwidlung gediehenen Wabhnfinns hatte liefern finnen, als ein fanatifcher Priefter in feinem feften Glauben, dic Werke des Teufels yu enthillen, uné hier gegeben hat.

§. 36. Der Proceß des Priefters Gaufridt.

Louis Gaufridi; Priefter an der Rirche des Acoules in Marfeille, war felbft nad dem Geftandnif des fanatiſchen Michaelis bis gur Zeit feiner Verhaftung ein von den Ge: bildeten und Vornehmen hochgeachteter Geiftlicher, welcher ſich durch feine Bildung auszeichnete. Selbft. waͤhrend der Eror- cidmen bei ber Magdalene verficherte ihm einer ihrer nad ften Gerwandten, daß ibr Verſtand durd) ihre Cinbildung be- thirt fei, und daf fie in ber Folge eine Beute der argften Gewwiffenspein fein werde.. Indeß, Vinquisiteur Michaélis, qui n’avait jamais laisser echapper l'occasion de perdre un malheureux, ,, ayant le tout bien considéré et jugé, qu’en vérité ces deux filles etoient possédées . . . il communiqua le tout & Mr. du Vair, premier président de la cour du parlement de Provence, luy remonstrant qu'il y avoit trois réalités infallibles en Magdaleine.” Le parlement apres avoir delibéré chargea le conseiller Seguiran de procé- der à un ‘commencement d’enquéte et de faire arréter Gaufridi. Le ‘conseiller Thoron, assisté d'un juge ecclésiastique, fut en méme temps chargé @'instruire une procédure en regle, et bientét lissue cruelle de cette af-

faire tourna & la satisfaction du pere Michaélis. Wie ware aud wobl eine Rettung des unglidliden Mannes mig- lid) gewefen, da die Raſereien zweier wahnwitzigen Weiber, mit denen er confrontirt wurde, alé urfundlide Documente galten! Hatte dod) Louiſe Capel auf die Frage, warum Gaufridi im Werhafte fo traurig fev, und faft gar nicht effe, erwiedert: „Gaufridi ftellt fic) aͤußerlich an, alé ob ec ein QHeiliger fei, aber fein Snnered iff von Sinden erfallt; er thut, al8 ob er fid) ded Fleiſches enthielte, und bod) maftete er fic) von dem Fleifche fleiner Kinder. O Mi- haelié, die kleinen Kinder, welde Sie gegeffen, die an— dern, welde Sie erftidt und dann audgegraben haben, um Pafteten daraus au machen, fdreien vor Gott Race uber ſolche abfcheuliche Verbrechen“ Magdalene figte lachend und fpottend hinzuz „Er fragt aud viel nad eurem Stod: fifd) und euren Giern, wenn er gutes Fleiſch der Kinder fpeifet, welded man ihm unſichtbar nad) der Synagoge bringt”’. Als der. Unglidlihe im Namen Gottes und der heiligen Jungfrau betheuerte, dak alle Anklagen falfch feien, erwie— derte Magdalene: „ich verftehe dic) wohl, du ſchwoͤrſt den Gid ber Synagoge. Wenn du von Gott fpridft, fo. meinft du den Lucifer, unter dem Sohn verftehft bu Beel— zebub, unter dem beiligen Geifte Zeviathan, und unter der Jungfrau die Mutter des Antichrifts, und deffen Wor: laufer, den Teufel nennft du Fohann den Paufer. Gaufridi bemihte ſich anfangs, die Anflage ber bei- den Wabhnfinnigen zu widerlegen, fo gut er fonnte. Indeß endlich wurde er durd) den Gram niedergebeugt, -und weinte unaufhorlid, ſchlief nicht, nabm faft feine Nahrung mehr gu fic. Ueberdies wurde er durd) die unaufhoͤrlichen Drohun- gen der Energumeninnen betribt, welche ibm zuriefen, daß Judas und Gain weniger fculdig feien, als er, dag Gott gu feiner Strafe eine ſechsfach ſchrecklichere Holle, als bie vorhandene erfchaffen werde, weil ev der Vorſteher aller Sabbathe fei, daß das Bolf fic bald an dem Anblick ſeiner Strafe fattigen werde. Auch lichen ihm zwei Mince bei Bag nod) Nacht nicht Ruhe, indem fie ihm vorftelten, nod fei es Beit, fid mit feinem Schoͤpfer auszuſoͤhnen. ein

Wunder daher, daß er zuletzt den Kopf verlor, und daß er nun ſelbſt dem Teufelswahn gum Raube wurde, in welchem er feinen Ridtern folgendes Befenntnif ablegte: „ich gehoͤre bem Teufel feit beinahe 14 Jahren an; id ging -verloren, ats id ein Buc aus der Bibliothe® meines Onfels Gau- fridi las Als ih meinen Bli€ auf daffelbe richtete, et: fchien mir der Teufel in Menfchengeftalt, und erbot fic, alle Weiber in mid verliebt gu machen, welde mein Hauch be: riibrte; meinerfeits machte id) mic) anbeifhig ihm meinen Korper und meine Seele preis gu geben, welden Bertrag -i& mit meinem Blute unterzeichnete. Lucifer befuchte mid feitvem haͤufig, und unterredete fid) mit mir. ur wenn id) die Kirche der Gapuciner betrat, verließ er mid, und ers wartete mic) an der Shite. Mehr alé taufend Weiber find dburd den unwiderſtehlichen Zauber meines Hands angeftect worden; die Mutter der Magdalene wurde eben fo, wie bie Uebrigen, davon ergriffen: Magdalene entbrannte in -einer finnlofen fiebe gegen mid), und ergab fic) mir fowohl wabrend des Sabbaths, als auferdem. Drei Tage fpater gefellte id ihe einen Deufel Namens Emodi gu, um thr gu dienen, fie yu unterhalten, und fie zur Liebe gegen mid gu entflammen. Als fie luſtberauſcht fic) meinem Willen uͤber⸗ lieB, ſprach id) gu ibr: Magdalene, du Biel meiner Wuͤnſche, um welde id fo oft die hoͤlliſchen Maͤchte angerufen habe, id) will dich mit dem Teufel Beelzebub, dem Firften der Damonen vermablen”.. Sie war dazu ſehr bereitwilig, wed: halb id) ifn. untec der Geftalt eines Edelmanned fommen ließ, und ihr bas demfelben gu leiftende Verſprechen vor- ſchrieb. Wenn id den Sabbath befucen wollte, fegte ich mid) in der Nacht an das offene Fenfter, ober ging zur TBhirre hinaus ; Qucifer ergriff mid dann, und fibete mid in einem Augenblide nad) dem Sabbathe, woſelbſt ich 1, 2, 3, 4 Stunden blieh, und aufer der Magdalene aud eine friefifche Pringeffin erfannt habe. Bei der. Peufelstaufe wur—⸗ den Wafer, Sdhwefel und Salz angewendet. - Beim erften Beſuch des Sabbaths wurden die Zauberer vom Veufel mit bem Fleinen Finger geseichnet, an welder Stelle man cin we: nig Hike empfand. Dies geſchah aud bei mir und auf

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meine Einwilligung bei der Magdalene, welche am Ropfe, Herzen, Unterleibe, den Ober- und Unterſchenkeln u. f. w. gez zeichnet wurde, und noc jetzt eine Nadel in ihrem Beine tragt. Seder muß am Sabbath communiciren, und wer fic) deffen tvei- gert, muß feinen Antheil von einem Veufel in Hundegeftalt ver- falingen laffen. Alle Wucherer, Zauberer und Heren find ge- halten, wenn ein Rind nad) feiner Taufe am Sabbath ftirbt, daſſelbe auszugraben, und nad dem Sabbath ju bringen, da- mit e6 von-den Teufeln verzehrt werde” u. f. w.

Nad) ſolchen Befenntniffen fonnte feine Verurtheilung nicht ausbleiben, und Michaelis beridtet hieriiber Folgendes: Le 30 avril 1611, acing heures du soir, Louis Gaufridi fut publiquement dégradé a Aix sur un echafaud. - Le bourreau le conduisit ensuite au milieu de la foule qui en- combrait partout la voie publique, dans. toutes les prome- nades, dans tous les carrefours de cette méme ville. Louis marchait, téte et pieds nus, la hart au cou, tenant en main une torche ardente du poids de plusieurs livres. Ar- rivé en face de la grande porte de |’église métropolitaine, il dut demander tout haut pardon a Dieu, au roi et a la justice; enfin arrivé a la place dite des Précheurs, il monta sur le bicher qui devait le consumer jusqu’a ses os, et ses cendres non encore refroidies furent lancées au vent.

_ Gin. junges blinded Madden, Honoren, von Louife Gapel der Hererei angeflagt, wurde gleichfalls ohne Erbarmen verbrannt. Mad) der Hinridtung des Gaufridt dauerte der Wahn dev Urfulinerinnen fort; Magdalenen fah man drei Monate fpater barfus in den Strafen von Carpentras Almo: fen cinfammeln. An mancen- Vagen fah man fie auf dffent: lichem Markte ein wenig Hols, welded fie in den Waldern ge: fammelt hatte, verfaufen, und den geringen Erloͤs dafür unter die. Armen vertheilen.

Il. Die Beſeſſenen gu Loudun.

§. 37. Der Proceß des Urban Grandler.

Ym 6. Bande der vortrefflidhen Gammlung intereffan: ter Griminalge(hidten, welche Hitzig und Haring unter bem Zitel, Oer neue Pitaval herausgegeben haben, be: findet fid) eine aus dem alteren franjofifhen Pitaval entlehnte actenmaͤßige Darftelung des obgenannten Proceffes, deſſen buͤbiſchen Proceduren in den. fchaamlofeften Betriigereien und der graufamften Berfolgung eines unfculdigen Opfers vornehmer Race in den Annalen- des Criminalredts we: nige Beifpiele gleichen mogen. Wir müſſen uns auf wenige Bruchſtucke beſchraͤnken, welche eine unmittelbare Beziehung auf unfer Sntereffe haben, und fonnen daher nur anbdeuten, dag Urb. Grandier ein-durch Geift, Menntniffe und Cha: rafterftarfe, fo. wie durch maͤnnliche Schinheit ausgezeichneter— Priefter in Loudun fic den tddtliden Has der meiften Stadt: bewohner ſowohl durd) feinen unmafigen Stolz und feine Un: verfobnlidfeit in vielfachen Rechtsftreitigfeiten, als" durch das unerlaubte Verhaͤltniß gu vielen von ihm bezauberten Damen zugezogen hatte. Insbeſondere erbitterte er die uͤbrigen Geift: lichen gegen fic), welche er durch feine uberragenden Talente tief in den Schatten geftellt hatte, und welde nach einer fir fie ſchimpflich abgelaufenen Anflage gegen feine Sittenlofigfeit nur auf die Gelegenbeit lanerten, ihre Rache in feinem Blute zu kuͤhlen, wozu fich ihnen bald folgende Gelegenheit darbot. In oudun war kurz guvor ein Urfulinerflofter geftiftet worden, welches wegen feiner befchranften Mittel Penfiondrinnen auf: nehmen mufte, und deſſen Priorin, ein junges ſchoͤnes Mad: cen, fo wie mebrere andere Nonnen nahe Verwandte der vor: nehmften Familien in Franfreic) waren. Mach bem Lode ihres erften Beidtoaters Mouffaut entftand im Kloſter das Ge: rucht, der Geift deffelben fpufe wabrend der Nachte, und meh: - rere muthwillige Roftgangerinnen benubten den Aberglauben der Nonnen, um fie durch naͤchtliches Gepolter, Rollen mit Faffern, Wegnehmen der Unterkleider, in die heftigſte Geſpenſterfurcht

zu verfegen. Ohne fir jegt bei den dadurch hervorgerufemen Krankheitserſcheinungen gu verweilen, bemevfe ich, daß der Ga- nonifus Mignon, ein erbitterter Feind des Grandier, Ge- wiffensrath des Rlofters, fehr gut um jenen Muthwillen wuGte, ohne ihn gu verhindern, weil er auf die Folgen deffelben fei- nen Racheplan grimbdete. Als nun einige Nonnen an Viſio— nen und mannigfadhen Beaͤngſtigungen litten, erklaͤrte er ihnen, bas feien untruͤgliche Merkmale des Beufels, der in ihnen feinen Wohnſitz aufgefhlagen habe. Gr nahm Beſchwoͤrungen mit ibnen vor, und da ihnen befannt war, welthe Sdmer- zen der boͤſe Geift bei Anrufung des Namens Gottes oder ‘bei Anndbherung heiliger und geweihter Dinge empfinde, und es natirlid) war, daf, was ihn verlebe, er dem Koͤrper, in bem er wobnte, mittheile, fo fiiblten fie bei den Beſchwoͤ— rungen ein Driden, Stofen und Reifen, was nothwendiger: weife Berzudungen zur Folge haben mufte. Dies Befeffen- ſein ward anftedend. Die Priorinm war fir den Ruf ihres Kloſters beforgt; denn Mignon machte ihe begreiflid, daß die Heiligen demfelben fein beſſeres Gefchen® hatten fenden finnen;. fromme und mitleidige Herzen widen, geruͤhrt durch bas Unglifef der armen Madden, fie mit milden Gaben über— ſchütten, und das ganje Rlofter dadurch in Ruf kommen. Wenn” die fatholifehen Pricfter kraft ihres Geheimniffes die unfauberen Geifter austrieben, fo finne dag nur jum Ruhme der heiligen Mirche ausſchlagen, und miglicer Weiſe aud einige von den in Loudun jablreid) wohnenden Calviniften in den Schooß derfelben zuruͤckführen. Dadurd gewann er die Priorin und noc 2 oder 3 andere Monnen, ertheilte ihnen Unterricht in der Wiffenfchaft des Befeffenfeins, und machte fie auf alle Bedenflidfeiten und Schwierigfeiten aufmerfam. Ausgemacht fei es, daß der Veufel niemals in den Leib eines Menfchen fabre, wenn er nicht ausdruͤcklich durch einen Zauberer hineingefchidt worden. Dies geſchaͤhe kraft eines Bundes (Pact), den der gottlofe Menſch zuvor mit dem Teu— fel geſchloſſen. Man müſſe alſo zunaͤchſt Denjenigen ermitteln, pon dem es wahrſcheinlich fei, daß er dieſe teufliſchen Nei: gungen hege. Leicht begreift es ſich, daß Mignon den ſchon uͤbelberuchtigten Grandier als ſolchen bezeichnete. Die Non:

nen leifteten dem Beichtoater den Eid der Verſchwiegenheit, und legterer ftellte ihnen nod) vor, daf, wenn fie widerrie: fen, fie ſich felbft als Unflagerinnen denuncirten, und daß ihrer dann ber Scheiterhaufen als Strafe warle.

Durch die ganze nachfolgende Geſchichte geht nun ein faſt unentwirrbares Gewebe von Betrug und Wahnſinn, wel⸗ cher, wenn er auch der Priorin und einigen anderen Nonnen kuͤnſtlich eingeimpft worden war, dod bei Allen, zumal un- ter dem Zuſammentreffen des mannigfachſten Widerſtreits in ihrer Bruſt, ſehr bald den hoͤchſten Grad der Heftigkeit er: reichte. Man muß -lange Beit hindurch viele Geiſteskranke beobachtet haben, um eine lebendige Anſchauung davon zu bekommen, bis zu welcher Meiſterſchaft es manche von ihnen in der Verſtellung und in der Ausfuͤhrung liftig ausgefonne: ner Plane bringen, fo daß ed felbft far den geübten Irrenarzt nidt immer leidt ift, die Wahrheit von der abficdtliden Dau- ſchung gu unterfceiden. Ferner ijt gu erwaͤgen, daß der epi⸗ demiſche Wahnſinn nie den voͤllig⸗ abgeſchloſſenen, gleidfam in feſten Formen erftarrten Character des vereingelten annimmt, fondern daf im erfteren Galle die von {hm Ergriffenen swifchen Verſtandesbethoͤrung und wirklicher Befinnurig abmedfelnd hin und wieder ſchwanken, und dadurd in zahlloſe Widerſpruͤche mit fic) gerathen. Namentlich gilt died von den Weibern, welche wie die Befeffenen in Loudun jugleid) mit der Hyfterie behaf⸗ tet, immerfort bem diefer Reanfheit fo eigenthuͤmlichen launen⸗ baften und bizarren Wechſel der ſtuͤrmiſchen Anfalle mit dem rubigften und befonnenften Woblfein wunterworfen find, fo daf Ausbridhe von wahnfinniger. Verzweiflung mit allen Erſchei⸗ mungen der Geiffedzercinttung- und. heiterer Seelenfrieden bei vol: liger Geiftestlarbeit binnen wenigen Stunden anf einander fol- gen. Ferner darf man nicht die despotifde Macht eines ſchlauen Betrigers, wie <6 Mignon unftreitig war, ber nerven⸗ Franke Weiber aufier Acht laffen, denen er durch Einimpfung von Sdhwarmerei und Leidenfchaft. jeden eigenen Willen geraubt hat, fo daß er fie geradegu wie Drahtpuppen regieren Fann. Rechnet man gu dem Allen nod), daß in Ermanglung gewiffenhafter und aufgetlarter Beobachter Vieles nicht zur offentliden Kenntniß gelangt oder auf mannigfadhe Weife entſtellt worden ift, fo ver:

ſchwindet das meifte Rathfelhafte, welches die gange Gefchichte jener Befeffenen darbietet, und wenn aud Gingelnes unerflart bleiben muf, fo fommt man dod) wenigſtens uͤber das Weſent⸗ lichſte voͤllig ins Klare.

Nachdem Mignon ſeinen Hauptzweck erreicht bate, die Monnen auf eine fo kuͤnſtliche Weife gu fanatifiren, daß er felbft ihre heftigſten Anfaͤlle von Befeffenfein unter den gewaltfamften Gerjudungen nad) Gefallen hervorrufen und wieder beſchwich— tigen fonnte, fing er feine Teufelsbeſchwoͤrungen mit ihnen an, wobei ihm einige gleichgefinnte Pfaffen eifrigen Beiftand. leiftes ten. Die Energumeninnen muften nun den ihnen eingeflifterten Namen des Grandier in ihren Parorysmen ansfprechen, und ihn ald denjenigen bezeichnen, welder mit Hilfe weifer Rofen fie dem Deufel unterwirfig gemacht habe. Natuͤrlich erregten diefe Erorcismen das groͤßte Auffehen in der Gegend, dér mit unimittelbarer Todesgefahr bedrohte Grandier wurde daduth aus feiner ſtolzen Sicherheit aufgeſchreckt, und nachdem er bei feinen nachften geiftliden Oberen vergeblich Schutz gefucht hatte, konnte er nur noch eine augenblickliche Rettung bei dem Bailli der Landſchaft, Guillaume von Ceriſey und dem Civil— lieutenant Chavet finden, twelche beide anit der amtlichen Ure terfuchung der Mlofterereigniffe beauftragt waren. Denn beide rechtlich gefinnte und einſichtsvolle Manner erhoben den Bhatbe= ftand der fchamlofeften Betrigercien beinahe bis sur Gewifheit, indem fid) herausftellte, daß die Monnen das ihnen beigebradte Latein wahrend der Erorcismen febr feblerhaft fpracen, und nod eine Menge von groben Jrrthinnern duferten, welde den ihnen angeblich inwohnenden Veufeln unmdglich beigelegt werden fonnten. Aud batten die Erorciften durch viele Chifanen und durch vor- ſaͤtzliche Beleidigungen der obrigkeitlichen Perfonen deutlich ge- nug ihre boͤſen Abfidten verrathen. Es entfpann fid nun einer fener zahlloſen Kaͤmpfe des katholiſchen Clexus, welder von je: ber danach getrachtet hat, die weltlichen Gefebe unter die Fife gu treten, mit den Dienern berfelben, und Grandier. ware wahrſcheinlich ſchon damals verloren geweſen, wenn nicht ſein Goͤnner, der Ergbifhof Escoubleau von Bordeaux im De: cembet 1633 durch eben fo ftrenge als weife Verordnungen dem fcandalofen Unfuge fir einige Beit cin Biel geſetzt hatte. Daf.

bad Befeffenfein der Nonnen mit dem Aufhoͤren der Erorcismen, . durch welche ihr Wabhnfinn immer von neuem bhervorgerufen wurde, auf langere Zeit verſchwunden gu fein ſchien, Fann nad den obigen Bemerfungen nicht befremden; aud) madte @& bie ftrenge Clauſur des Rlofters den Erorciften leicht, etwa vorgefallene. Ausbruͤche der Daͤmonomanie der dffentliden Kennt: nif yu entziehen, als es in ihrem Jntereffe lag, diefelben ges heim zu halten.

Richelieu hatte eine ſeiner feilſten und geſchmeidigſten Creaturen, den Staatsrath von Laubardemont nad Lou: bun gefendet, um die Gitadelle der Stadt gu ſchleifen. Letzte— ter erfubr dafelbft die drgerlide Kloſtergeſchichte, ihm um fo verdrießlicher, als feine eigene Gerwandte, die Priorin, ba: bei eine befonderd anſtoͤßige Rolle fpielte. Grandiers Feinde wuften alle Schuld auf ihn gu -waljen, und Laubarde: mont, der in feiner Nichte vom Priefter Veleidigte, ſchloß fid) den gu Granbdier’s Untergange Verbimndeten an. Um bie Autoritat des Erzbiſchosfs von Bordeaur zu tibergipfetn, mufite eine hoͤhere Autoritat gewonnen, Ridelieu felbft mufite in das Spiel gezogen werden. Es gefdah auf leichte Weife. Als Nicelieu einft in Ungnade gefallen, war-eine beifende Gatire gegen ihn erfcienen: die ſchoͤne Schuſte— rin, oder bie Sdhufterin von Loudun betitelt. Mi: chelieu war darin als girrender Schafer laͤcherlich gemacht, der in einer ſchwachen Stunde feiner Geliebten alle anjitg: licen Anekdoten aus feinem Leben erzaͤhlte. Ridhelieu, auf deffen gegen Privatheleidigungen unverſoͤhnlichen Charakter voͤl⸗ lig die Worte paßten: tantaene coelestibus irae » hatte fid vergebens bemuͤht, den Verfaſſer gu ermitteln. Durch Bes mithung des beritchtigten Capucinerpater’ Jofeph, denn alle Capuciner waren gegen Grandier erbittert, wurde dem Car: binal die erſte Mittheilung: es fet nicht allem ausgemadt, daß U. Grandier Werfaffer jener Schmaͤhſchrift fei, fons bern daß er auc) im heimlichen Verkehr und Schriftwedfel mit des Cardinals Geindin, der Koͤnigin Mutter ftehe. Lau— bardemont fand ihn daher bei ſeiner Ruͤckkehr hinreichend vorbereifet, als er ihm die entſetzlichſten Dinge von den Be— feffenen in Loudun hinterbrachte, und den Ergzauberer Gran:

Soeler Theorie d. relig. Wahnfinns. 4

bier alg ten Urheber ihrer Quaalen fchilderte. Ueberdies waren. nad) der Abreife des Laubardemone von Coudun alle durch die Ordonnanz des Erzbiſchofs verjagten Teufel zurückgekehrt, und batten eine nocd groͤßere Geſellſchaft mitge- bradt. G8 wirft einen unaudslifcdliden Fleden auf den Cha— rafter ded Cardinals, daf-er, perſoͤnlich uͤber einen fo plum: pen Aberglauben erhaben, fic) dennod) deffelben als Mittels bediente, feine glithende Race in dem Blute des unglück— lien Grandiet gu fihlen. Das Confeil ertheilte dem Zaubardemont den Sypecialauftrag, dem Canonicus Gran- bier und feinen Mitſchuldigen den Proceß gu maden, we: gen Zauberei, Bunded mit dem Teufel und wegen aller fet: ner anderen Werbrechen. Dabei folle er fic) durd feinen Widerfprud), durch .fein Proteftiren und Appelliren, es fet von wem oder wobhin es wolle, irre machen laſſen; viel: mehr werde ihm vollige und unbeſchraͤnkte Madt uber die Perfon befagten Grandiers ertheilt, und alle Behoͤrden an— gewiefen, ihm mit nothiger bewaffneter Macht beizuſtehen. Alle raffinirte Bosheit, Arglift und Betrigerei gu ſchil— dern, durch welche aus der nun begonnenen Procedur die leste Spur von Gerechtigfeit verbannt wurde, gebort nicht in den Plan diefer Schrift, daber nur beilaufig bemerkt wer ben mag, daf die Frau eines Gerichtsdieners den cinge: ferferten Granvier befragen mufte, um feine Aeuferungen den erxorcifirten Nonnen in den Mund gu legen; daß der Apothefer Adam, als fruͤherer Anflager Grandiers wegen iiberwiefener Verleumdung vom Parlamente zur Kirdenbufe verurtheilt, die den Befeffenen verordneten- berubhigenden Arze— neien mit folchen vertaufchte, welthe die Convulfidnen ver: fdhlimmerten; dab Ser Wundarzt Manouri,.cin Neffe Mi- gnons; bei der Unterfudung des entleideten Grandier diejenigen Koͤrperſtellen, welche er alé stigmata. diabolica be: zeichnen wollte, mit dem ftumpfen Ende einer Sonde driidte, um dadurd ihre .Unempfindlichfeit gu beweifen, waͤhrend er an anderen Stelle da8 fpibe Ende der Gonde bid .tief iné Fleiſch einbohrte, und durch das dem Gefolterten ausgepreßte Gefchrei das natirliche Gefiihl derfelben zu⸗ erkennen gab. Konute U. Grandier, cuft der frangdfifdhe Pitaval hier:

871 bei aus, in den Umftanden, in welchen er fich damals be: fond, Luft empfunden .baben, nod einen neuen Bund mit bem Deufel yu machen, da er dod wohl einfah, daß die Teu- fel wider. ihn waren, und fic) nicht geneigt fanden, feine Ge- heimniſſe gu-verfdrweigen? Noch leuchtete ein ſchwacher Schim⸗ mer von Hoffnung fir Grandier, da mehrere Nonnen Hf: fentlic) widérriefen. Die Schmefter Clara de Sazilli fing beim Erorcismus in ber Kirche an bitterlich gu weinen, und erflarte fret: Alles, was fie feit 14 Bagen gefagt, waren Unwabrheiten und Lafterungen; Wes, was fie ausgéfagt, ware ihr von Pater Lactang, vor Mignon und den Karme— litern vorgefchrieben worden, und wenn man ihr nur Schus und Sicherheit verfpreche, wollte fie noc) mehr ans Lidt brin- gen. Gang daffelbe Bekenntniß- legte die Schwefter- Ag nes ab, und beide, .alé man fie mit Gewalt zurückhielt, riefen in ihrer Wergweiflung, fie wiften wohl, was fie gu erwar- tes Hatten, daß man fie unmenfdhlid mißhandeln werde, weil fie das grofe Geheimniß ausgeplaudert; aber fie wollten Gott und der Wahrheit die Ehre geben, modge aud) daraus wer: den, was da wolle. „Der Teufel redet aus ihnen”, riefen bie Grorciften einftimmig, und fdhafften beide Nonnen fort 3a die Priorin felbft verfiel in dieſe Gewiffenéangft, Am Tage nach einem ihrer furdhtharften Wuthausbruͤche, in wel- chem fie Grandier gur Bielfdeibe ihrer entſetzlichſten Vor⸗ wirfe gemadt, lief fie im Hemde, mit bloßem Ropfe, einen Strif um den Hals und eine Kerze in der Hand, in den Hof des Kloſters, blieb dafelbft, beim heftigften Regen, 2 Stunden ftehen, und alg endlid) die Thuͤre des Sprachyim- mers gedffnet wurde, wo der. Grorcift cine andere Nonne verhirte, ſtuͤrzte fie hinein, fiel ibm gu Fuͤßen und fcries fie .wolle bas Unrecht bien, das fie begangen: „Ich habe Granbdier unfchuldig angeflagt’”. Gie lief dann in den Garten, Enipfte den Stfid an einen Baum, und hatte fid erdroffat, waren nicht die uͤbrigen Nonnen noc zu rechter Zeit herbeigefprungen. Aud) eine Befeffene “aus der Stadt verficherte wabrend des Exorcismus, Grandier fei unfcul- “dig, fie bitte Gott um Bergebung, daf fie einen Mann der Zauberei beſchuldigt, won dem fie nichts Unrechtes wiſſe.

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Aber die Sade war fo weit daß man den Grandier als Zauberer verurtheilen, oder ein ganzes Klo— ſter voll Nonnen, mehrere Canonici, Weltgeiſtliche und Moͤnche, ‘ja vielleicht auch einen Biſchof und Staatsrath als wiſſent— lid) falſche Angeber dieſes Verbrechens beſtrafen mußte. Woz hin die Wagſchaale fallen werde, und daß das Letztere an Unmoͤglichkeit grenzte, war unſchwer zu entſcheiden. Zum Scheiterhaufen verurtheilt, ſollte Grandier, da er ein frei— williges Bekenntniß ſeiner Schuld abzulegen verweigerte, durch eine Folter, welche ihm die Beine zermalmte, dazu gezwun⸗ gen werden; ohne Klagen und Verwuͤnſchungen, unter in— bruͤnſtigem Flehen zu Gott ertrug er die entſetzliche Marter, und betheuerte mit unerſchuͤtterlicher Standhaftigkeit: „Ich bin fein Zauberer, fein Gottedveradter”. Rein Schmerz, feine Drohungen fonnten ifn bewegen, die Namen der Frauen zu nennen, mit denen er Umgang gepflogen. Unter den grau— famften Mifhandlungen jum Scheiterhaufen geſchleppt (18. Auguft 1634) erwiederte er die Bitte eines durch feine See— lengroͤße erſchuͤtterten Feindes um Verzeihung mit den Wor— ten: ,,id) vergebe allen meinen Feinden von ganzem Herzen, wie id) wuͤnſche, daf Gott mir vergeben mége”. Nur dem Pater Lactanz, welder ihn nochmals vergeblid) aufgefordert hatte, bem Teufel yu entſagen, und welcher ohne Befehl den Scheiterhaufen angiindete, redete er mit fanfter Gtimme an: „Ach Pater Lactanz, wo bleibt die Liebe? Es iſt ein Gott im Himmel, der Dich und mich’ ridten wird. Ich lade did) vor ihn binnen heute und einen Monat? Yn den Flammen erftifend rief er: Deus ad te vigilo; miserere mei Deus. Gin Flug Tauben umfhwarmte den Scheiterhaufen, ohne fic). durch die Hellebarden der Goldaten und bare | dads Geſchrei des Poͤbels verſcheuchen zu laſſen.

4. 38. Das Beſeſſenſein ber Urfulinerinnen : in foudun. |

Angeſichts der tm vorigen § enthaltenen Thatfachen fonnte man fid leicht verfucht fihlen, die an den Nonnen wabhrge- nommenen Kranfheitserfheinungen fire ein Gaufelfpiel des

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Betruges . gu erfldren; aber die von Galineit (a. a. O. Th. 2. S. 7—42,) aus den Quellen geſchoͤpfte Darftellung derfelben befeitigt jeden Zweifel an ihrer Wirklichkeit, daher die diaboliſche Geſchicklichkeit um fo greller bervortritt, mit welcher die Crorciften felbft den Wahnſinn fuͤr ihre Zwecke auszubeuten wußten. Zu den hieruͤber im vorigen § ausge⸗ ſprochenen Bemerkungen fuͤge ich noch folgendes Urtheil von Calmeil: Et Von viendra nous dire, qu’a une époque ou les tétes fortes osaient à peine douter de la puis- sance des esprits; ot toute une classe de maladies était attrijuée aux coupables manoeuvres des démons; ou il était regu dans I’Eglise que ces maladies ne pouvaient -eéder qu’ à linfluence de certaines cérémonies ; que dans un couvent ou les directeurs des* consciences proclemont tous la. nécessité de courir sus aux compagnons de Sa- tan, des femmes timides, jeunes, consacrées. par gout aux exercices de'Ja dévotion et de la piété, se sont tout a coup concertées pour simuler des visions, des hallucinations viscérales, des idées fixes, la’ catalepsie, des acees convulsifs, des cris des démoniaques, 1a pro- pension au suicide, pour se donner pendant six années tout de suite en spectacle aux curieux de tout un ro- yaume; pour fouler aux pieds les liens de famille, les sentimens qui honorent le coeur de la femme, enfin pour porter l’audace jusqu’a la revolte contre Etre supréme! Wir haben oben gefehen, daß Mignon das durch Ge: fpenfterfpul-hervorgebradte und bid sum Wahnſinn gefteigerte Nerventeiden der Nonnen fon vorfand, und beforderte, bis er ibrer leidenſchaftlichen Phantafie eine beftimmte Richtung auf die Vorſtellung des Beſeſſenſeins gab, welche damals in allen Koͤpfen lebte, und nicht unwahrſcheinlich durch die kurz zuvor in Air ſtattgefundenen Vorgaͤnge zu einer erhoͤhten Le— bendigkeit aufgefriſcht worden war. Jeder Irrenarzt wird mir beipflichten, daß unter den gegebenen Bedingungen nicht mehr erfordert wurde, um nach einander ſaͤmmtliche Nonnen mit dem Teufelswahn anzuſtecken, zumal da fie methodiſch auf denſelben bearbeitet wurden. Wirklich glaubten die Non⸗ nen anfangs nur von Geſpenſtern waͤhrend der Nacht beun—

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rubigt yu werden, fie verließen dad Bette, ſiefen im den Zimmern und Gorridoren umber, und kletterten felbft auf bas Dac. Sie wahnten-von dem Geifte des verftorberten Priefters Schlaͤge empfangen gu haben, und zeigten fid) ge- genfeitig die Contufionen, welche fie ſich wahrſcheinlich in der Dunkelheit ſelbſt zugefuͤgt hatten. Jn einer Nacht verfuchte bas Phantom des Verſtorbenen eine Nonne mit wollüſtigen Reden und mit ſchaamloſen Liebkoſungen; ſie ſetzte ſich zur pia ſchlug um fic, ſchrie um Hilfe, rief den Namen Yefus an, und fiel ſchweißgebadet ih Ohnmacht. Aehnliche Scenen wiederholten fic) in der Folge tiglid) in Gegenwart viefer Zeugen, und fpater behaupteten die Energumeninnen, daß Grandier auf unbegreifliche Weiſe in ihr Bimmer dringe, fie am Beten verhindere, und zur Wolluſt reize. Wie be— deutſam iſt der Zug, daß der ihnen gefliſſentlich denuncirte Teufelsverbuͤndete durch ſeine großen Talente und maͤnnliche Schoͤnheit allen Weibern gefaͤhrlich geworden war; wie haͤtten die Nonnen in wahnſinniger Aufregung ſein Bild ſich vor- ſtellen koͤnnen, ohne dadurch zur Wolluſt gereizt gu werden? Als nun eine Schaar von Exorciſten in das Kloſter einge— drungen war, und Del in die Flammen der Schwaͤrmerei durch das Schaugepraͤnge der Teufelsbeſchwoͤrungen gegoſſen hatte, welches an ſich ſchon voͤllig hinreicht, phantaſtiſch ſchwache Gemither verruͤckt su—machen; da erreichte der Teu⸗ felswahn bei allen bald den hoͤchſten Grad der Entwickelung. Einige Nonnen forderten die Exorciſten durch wollüſtige Ge— baͤrden, obſcoͤne Stellungen und ſchaamloſe Reden zut Be- friedigung ihrer Sinnlichkeit heraus. Eine andere, auf dem Bauche liegend, die Arme uͤber den Ridden gekreuzt, die Beine bis zum Hinterhaupte hinaufgeſtreckt, bot dem Prie— ſter Trotz, welcher ihr das Sacrament darbieten wollte. Eine andere, ruͤckwaͤrts uͤbergebogen, fo daß ihr Hinterhaupt die Ferſen beruührte, bemuͤhte ſich, iin dieſer Stellung zu gehen, und ein Augenzeuge verſichert, daß mehrere auf dieſe Weiſe laͤngere Zeit ſehr ſchnell umhergewandelt ſeien. Eine andere ſchlug in aufrechter Stellung den Kopf auf die Schultern und, bie Bruſt mit der groͤßten Heftigkeit. Ihr Geſchrei war gleich dem Geheul der Verdammten, der raſenden Woͤlfe und

reifienden Bhiere, Ihr Geficht vergerrte ſich fürchterlich, oft firedtten fiedie Bunge weit aus bem Munde, fo daß fie we: gen des ftodenden Blutes ſchwarz wurde, betraͤchtlich anſchwoll, ſich hart anfuͤhlte, und ihre natiwliche Beſchaffenheit erſt wie: der annahm, wenn fie in den Mund. zurückgezogen wurde. Ginige verfielen auf Furze Seit in Matalepfie, denn fie wur⸗ den biegſam, wie eine Bleiplatte, und behielten jede~Stel: lung bei, welde man ihnen gab, ſelbſt wenn man fie feit: warts fo tief niederbengte, daß der Kopf die Erde berixhete: Alle diefe Anfalle traten vorzuͤglich bei den Exorcismen und bet ber Darreichung dev Hoſtie ein; in. den freien Seiten er: gaben fid) die Kranken dem Gebet, fie befchaftigten ſich mit ben gewobnten Arbeiten, und zeigten durchaus cin Be: ‘tragen, welthes ihrer Bildung (fie waren’, wie oben bemerft wurde, den vornehmſten Familien Frankreichs angeborig) und ihrem Berufe entſprach. Aber faft jedesmat, wenn ein Exor— cift bei ihnen eintrat, brach der Sturm 08; faum fingen die Beſchwoͤrungen des Teufels an, fo ergoſſen die Nonnen ſich in einen Strom von Gotteslaͤſterungen und Verwuͤnſchungen, fie ſtreckten die Beine hinterwaͤrts bis. jum Kopfe empor, oder ſpreizten fie dergeftalt auseinander, daß das Perindum ben Boden beruͤhrte, wollten dem Priefter das Ciborium aud der Hand reifien, oder warfen fid) in ſchaamloſer Wolluſt auf einander, und geriethen in Bewegungen, deren naͤhere Bezeich— nung der Anſtand verbietet. Im Kopfe, in der Gegend des Herzens und, Magens hatten fie Empfindungen, welche ſie der Anweſenheit von Teufeln- zuſchrieben. “Die Priorin war von 7, die Gazgilli von 8, die Schweſter Elifabeth von 5 Teu— feln befeffen. Die Priorin hoͤrte, wenn fie ſprach, daß eine frembde Stimme durch ihre Keble tedete, fo wie denn auch die * Gefprache aller Enetgumeninnen fo befchaffen waren, als wenn diefelben von Damonen herrithrten,. welche Schwuͤre, Gebeul, Fluche gegen dew Himmel und die Erde ausftiefen. Asmo di, Leviathan, Iſacharum verriethen ſich jeder durch einen be⸗ ſonderen Klang der Stimme; der eine verzerrte den Kranken das Geſicht, vin anderer ſtreckte die Zunge bids gum Kinn her: aus, ein dritter warf die Nonnen zur Erde, auf welcher ſie ſich waͤlzten, eine vierter verſetzte ſie in Wuth. Wenn letztere

auf einige Seit yur rubigen Gefinnung zuruͤckkehrten, glaub- ten fie von ben Teufeln befreit gu fein, und viele behaupte- ten, fic auf das nidt befinnen gu fonnen, wad fie wabrend der Unfalle gefproden hatten. Zuweilen blieb ihnen indeß eine Grinnerung daran, und fie bielten ſich dann fur. un: wuͤrdig, die Hoftie gu empfangen.

Am ausfuͤhrlichſten ift uns die Krankheitsgeſchichte der Priorin aufbewahrt worden, weil fie eine Hauptrolle in dem ſchauerlichen Drama fpielte. Im neuen Pitaval ift (S. 171.) eine Scene gefchildert, welche ſich in Gegenwart der obrig: feitlidben Perfonen ereignete. Sie galt fir einé der fchonften Madden; faum hatte fie aber die beidben Beamten erblidt, al& ihre Zuͤge fic). fo verffellten, daß ihr Anblick graͤßlich und firchterlih war. Sie quifte wie ein junged Schwein, und’ warf fid wie rafend im Bette umber. Mignon befdwor ben Teufel in ihr, und ndthigte ibn gu folgendem Gefprad: Fr. propter quam causam ingressus est in corpus hujus virginis? 2%.: Causa animositatis. §r.: per quod pa- ctum? %.: per flores, §t.: quales? A.: Rosas. §t.: quis misit? A.: Urbanus. §t.: dic cognomen. A.: Gran- dier. Fr.: dic qualitatem. A.: sacerdos. §r.: cujus ec- clesiae? A.: Sancti Petri. §r.: quae ‘persona. attulit flores? A.: diabolica. Nach diefer Antwort fam die Prior rin wieder gu fid), und verlangte etwas gu effen. Bei einer anderen Gelegenheit bat fie den Pater Surin, ein neun: tagiges Gebet gu Ehren des heiligen Joſeph anguftellen, - bamit fie nicht fo oft in ihren Andachtsuͤbungen unterbrocen werde. Gr willigte ein. Am odritten Bage geriethen die Veufel in Wuth, farbten ihr Geſicht blau (ein Zeichen der ftarfen Anhaͤufung des Blutes im Mopfe) und hefteten ihren Blick ſtarr auf ein Bild der Jungfrau Maria. Die Prio: - rin wurde nun in die Kirche geführt, wofelbft fie eine Menge von Gottedlafterungen ausſtieß, und die Umftehenden, fo wie ben Pater mifbandeln wollte, weshalb fie auf einer Gant fefigebunden wurde. Die Aufforderung zur Berehrung des Sefusfnaben erwiederte Sfadharum mit firdyterlichen Wer: wiinfchungen. Als ber Pater das Magnificat anftimmte, rief die Priorin aus: ,,Werfludt fei ber Vater, verfludt der Sohn,

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verflucht der heil. Geiſt, verflucht Maria und die himmli⸗ ſchen Heerſchaaren.“ Der Teufel fügte hinzu, er kuͤmmere ſich weder um Gott noch um die Jungfrau, und werde ih— nen zum Trotz in dem Koͤrper der Prieſterin hauſen. Auf bie Frage, wie er fic) gegen den allmaͤchtigen Gott empoͤren finne, entgegnete er: „ich thue es aud Raſerei, und tveder id), nod meine Gefabrten werden jemalé etwas Anderes thun”, indem er gugleid) in Verwuͤnſchungen, namentlic and gegen das neuntagige Gebet ausbrad. Co ging der Banf des Paters mit dem Teufel eine Zeit lang fort, bis die Prio- tin in Gonvulfionen verfiel, worauf man fie in der Hoffnung losband, daf der Teufel nun gu Kreuze Frieden werde. In— bef er warf die Priorin gu Boden und fdrie: ,, verfludt fei Maria und die Frucht, welche fie getragen hat.”. Ge: gen den Befehl, die Sungfrau um Verzeihung wegen diefer Lafterungen gu bitten, während er wie eine Schlange auf dem Boden friehen, und denfelben an drei Steller lecken follte, leiftete er-anfangs nocd) Widerſtand; als aber ein Hym- nué angeftimmt wurde, kruͤmmte er fic) wie ein Wurm, und frod) bié an dad Ende der Kapelle, wo er die ſchwarze Bunge weit bherausftredte, und unter fuͤrchterlichem Geheul und con- vulſiviſchem Beben das Pflafter beledte. Daffelbe that er am Hocaltar; nun aber ridtete er fich auf den Rnieen mit trotzigem Gefidjte auf, ald ob er ferneren Gehorfam verwei- gere. Nochmals gebot ber Pater amit dem Gacrament,. um Gergebung “gu flehen, da vergerrte er das Geſicht ſcheußlich, warf den Kopf ridwarts8, und fpracd mit ftarfer and bafti- ger Stimme: „Koͤnigin des Himmels und der Erde, ich flebe deine Majeftat um Verzeihung am wegen der gegen dei- nen Namen audsgeftofenen Lafterungen”. Als die Priorin um bas neuntagige Gebet bat, bielt fie eine zweiſtundige Rede, von welder -fie fpater Nichts mehr wufte. Gm Mat 1635, alfo 9 Monate nach ber- Hinridhtung des Grandier, eror: cifirtte der Pater Surin die Priorin in Gegenwart bes Ga: ſton d'Orleans, Vruders von Ludwig XIII. Zuerſt ver: ehrte “fie dag Sacrament mit den AeuGerungen einer heftigen Verzweiflung, dann gerieth- fie in firdterlide Convulfionen, ftedte bie ſchwarze, tnotige, mifigeftaltene, trodene 3unge

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weit heraus, worauf der Damon fie bem Prieſter zu Fuͤßen warf, ſo daß ſie den Boden nur mit dem Bauche berührte, und Arme und Beine dergeſtalt ruͤckwaͤrts bog, daß die Faͤuſte neben die Fußſohlen gehalten wurden, in welcher Lage ſie lange Zeit blieb. Nach dem Aufſtehen murmelte Satan auf Befehl einige Worte, als ob-er das Sacrament verehre, dann aber gerieth er in die heffigfte Wuth; biß fic in die Acme, und gerieth in die fürchterlichſten Gonvulfionen. Als Surin, welder mit dem Pringew fich unterhielt, dem Erorciémus be: endigen wollte, fuhr Sfacarum in ibn, warf thn zwei— mal 3u Boden, und. verfewte ſeine Arme und Beine in ein heftiges Erzittern, Fehrte aber, durch bas Satrament gezwun— gen, in den Morper der Priorin zuruͤck, und ſchnitt grafliche Gefichter. Als deranwefende Pater Tranquille thn fragte, wie er fid) an. der geweihten Perfon des Gurin habe ver: greifen fonnen, erwiederte er diefem: „um mid an dir. ju raͤchen“ Wir werden bald feben, daß Gurin felbft vom Teufel befeffen war. Moc im Jahre 1636- wurde die Prio: tin im Schlafe gequalt, fie hatte Wifionen von Getligen, - Hallucinationen des Geruchs und Geſchmacks, welche zum Theil nod) im Wachen fortdauerten. Eines Tages glaubte fie Klages laute git boren, welche aus dem Schlafſaale famen, unmittel⸗ bar darauf trat ein von Flammen eingehillter Leichnam in das Simmer, welder ihrer Meinung nad) aus dem Fegefeuer oder aus dem Himmel fam, fie um den Beiſtand ihrer Ge: bete gu bitten. Gie befprengte das Gefpenft mit Weihwaſ—⸗ fer, welded ziſchte, als wenn es auf glühendes Metall ges ſpritzt worden ware, wobei ihr die Hand ſchmerzte, als wenn fie von fochenden Dampfen. verbrannt worden: ware. Wal: rend einer gefabrliden Bruftentgundung hatte fie die feltfam: ften Empfindungen. Behemot, welder zuweilen ihren Ror: per verließ, um im §Frejen herumzuſpazieren, erfchien ihr an einem Abende leibhaftig unter ſcheußlicher Geftalt, Flammen aus feinem fürchterlichen Raden und aus den Augen fpri- bend. Unter dem Buruf, daf Gott fie au dem ewigen Feuer verdammt habe, und- dah er ibre Seele in die Holle febleppen wolle, ftredte er, feine grofen Krallen nad threm Haupte aus, um. fie zur Vergweiflung gu bringen. © Aber

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Gott beſchuͤtzte fie in dieſer Bedraͤngniß, welche ctwa Ye Stunde dauerte, und die Priorin des Gedaͤchtniſſes und des freien Willens beraubte, fid) im die rettendem Arme Got- tes gu werfen. Ein andermat hielt er ein langes Gefprad in ihrem Kopfe, und bielt ihr ihe bisheriges Leben feit dem 6. Sabre bis auf die unbedentendften Berirrungen vor, wobei er einen befonderen Nachdruck auf ihr Befeffenfein und auf die Gemeinfchaft ihres Geiftes mit dem des Veufels legte. Na— tiirlic) wurde fie dadurch in grofe Beſtuͤrzung verſetzt. Nach einer Bemerfung im Pitaval foll die Austreibung des einen Veufels erft gelungen fein, naddem man einen Kreuzſchnitt auf der Stirn der Priorin gemacht hatte.

* Die Schwefter Agnes, welche gleidhfalls in Gegenwart bes Herjogs von Orleans eforcifict wurde, verfiel ahfangs in cin Bittern, worauf fie von dem in Wuth gerathenen As— modi vor- und ritditber geſchuͤttelt wurde, wobei fie mit den Zaͤhnen flapperte, feltfame Bone ausſtieß, das Geſicht bis sum Unfenntlidwerden vergerrte, withende Blide ſchoß, und ihre angefthwollene, blaue und trodene Zunge weit. aus. dem Munde hervorfiredte. Der Damon Behert gab da: gegen ihrem Gefichte cin lachelnded und angenehmes Anſehen. ASmodi, zur Anbetung des Sacraments aufgefordert, er: wieberte, er wolle felbft angebetet fein, endlich bequemte er fid) bod) dazu, indem er den Morper der Agnes.gu Boden warf, welche nun einen Fuß fo weit bhintermarts bis über den” Kopf: frimmmte, daß die Ferfe beinahe die Stirn berührte. Als fie sur Befinnung juriicégefehrt war, duferte fie, fie finne fid) nur Einiges erinnern; und fie habe ihre Worte wie die Stimme eines Anderen in ihrem Munde gehoͤrt.

Als aud bie Sazilli wabrend der Anweſenheit des Herzogs erorcifict wurde, verfiel fie guerft in Betaubung und Ratalepfie, fo daß ſie Nadelſtiche nicht fühlte, fic wie Wachs biegen ließ, und die verfchiedenartigiten Stellungen, welche man ihr gab, lange Zeit beibebielt; namentlid) als man ſie feitwart8, den Kopf faft bid zur Erbe bog> Hierauf waͤlzte ber Teufel Sabulon fie in Gonvulfionen auf dem Boden umber, bog thr das linfe Bein 5—6 mal uber die Schulter bis yur Wange, vergerrte ihr das Geficht entſetzlich, und

ftredte ihr die angefdwollene, blaue Bunge bis gum Sinn heraus. Dabei athmete fie rubig, und hielt ihre ftarren Augen offen ohne gu blingeln. Dann fpreigte fie die Beine aus einander, fo daß das Perindum den Boden beriihrte, bielt fid) auf. Befehl des Paters aufrecht und faltete die Hande. Bur Anbetung des Sacraments aufgefordert, leiftete ber Feu: fel Sabulon juerft Widerftand; dann kroch er wie ein ge- frimmter Wurm nad dem Giborium hin, und gab, indem er bdaffelbe kuͤßte, dard) Mienen, Bittern, Geſchrei und Thraͤ— nen den Abfcheu zu erfennen, den diefe Selbftiberwindung ihm foftete. | | |

Gleid) den meiſten religidfen Wabhnfinnigen ſchwatzten die Beleffenen in Loudun Allerlei uͤber die Gnade, die Simbde, uber Bie Reize des Lafters, aber am Haufigften tuber die Li ften der Soͤhne bes Satans. Indem fie die Autoritdt des Satans voranftellten, enthillten fie guweilen ohne Scheu die Geheimniffe der Holle; hierauf alé wenn fie ibre Indiscre— tion bereueten, geriethen fie in Born, fluchten fie bem Namen Gottes,.gleidhfam. als wenn der Teufel: feine Tyrannei wie- ber über fie. audiibte, und: fie feine Rache fuͤhlen liege. Bfadharum, nachdem er lange durc den Mund der Priorin geſprochen hatte, gerieth in Wuth, ſtieß Gebeul aus, und wollte den Grorciften fdlagen. Denn er war daritber em- port, daß man ihn gwang, jum Beſten der Menſchen gu ſprechen, Oa er- doch nur bas Begehren Hhegte, die Werke Gottes gu zerſtoͤren; er bereute e8, in einen Koͤrper einge: | gangen in fein, in welchem er. wider feinen Willen nuͤtzlichen Nath ertheilen mufte, Er ruͤhmte fid), die Seele de’ Hiob mit Anfechtungen heimgefudt, und gu feinen Quaalen bei: getragen ju haben; damals fei es ihm, fagte er, nod nicht in den Ginn gefommen, fid in die Hohlen des menfchliden Körpers einzuſchleichen, erft die Fleifchwerdung Chrifti habe ign auf den Gedanfen gebracht, fid) diefer Urt der Plage gu bedienen. Am Wage nach dem Leichenbegdngnif des Paters Branquille fpradh Leviathan aus dem Munde einer Nonne, er fuͤhle ſich verbrannt; die Monne beſuchte bas Grab des PaterB, trat es mit Fifen, fragte in der Erde, als wollte fie die Leiche ausſcharren, waͤlzte grofe Steine weg,

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und rief mit der Miene einer Rafenden; Komm heraus, Henfer, fomm heraus!” Denn Leviathan wollte dadurd feinen Haß gegen einen Priefter bezeugen, der mit ihm in fo barten Kaͤmpfen gerungen hatte. Auf welche Weiſe die Nonnen dagu famen, den Grandjer fir den Urheber “ihrer Leiden ju halten, iſt ſchon ausfuͤhrlich bemerft worden. Er— waͤhnt gu werden verdient indeß nod) folgende Aeußerung Galmeils: Puisque, s’entre-disaient-elles, la macéra- tion, le jetme, l’arme de la priere, la lutte de la volonté soutenue par-le désir de rester fideles a leur Dieu se trou- vaient impuissantes pour les. Zarantir des Coupables entre- prises du Curé de Saint-Pierre, il fallait done que hii: méme s’appuyat sur un pouvoir surnaturel; en s’arretant donc a lidée que ce pouvoir émanait du diable, elles du- rent considérer Grandier comme un rédoutable magicien. Mit wie unpartheiifchem und ſcharfem Blicke ubrigens Cal: meit died ganze Greignif beurtheilt, erhellt befonderé aus fol: genden Worten, nachdem er den Proceß des Grandier in den allgemeinſten Zuͤgen geſchildert hat: Le féroce acharnement de ce conseiller d’Etat -( Laubardemont ), l’insolence dont il ne cessa de faire parade en foulant lentement a ses pieds une victime qui lui était livrée pieds et poings liés; mille autres preuves accablantes dont on chercherait vainement à pallier la force, attestent jusqu’a l’évidence que dans cétte circonstance, et a leur inscu, la folie ‘et le fanatisme servirent dinstrument a la vengeance de I’implacable Car- dinal; le proces de Grandier reste comme un monument irréfragable du partie que l’hypocrisie et la scélératesse ont su tirer de bonne heure des plus affligeantes infirmités de Yespece humaine pour assouvir leurs criminelles passions,

Um nicht den Eindrud durd cine Ueberſetzung gu ſchwaͤchen, fchalte ic) folgende Darftellung Calmeils wértlid ein: 0 fallait cependant, pour donner aux décisions des juges qu’en se proposait d’adjoindre plus tard & Laubardemont une apparence de fondement, recueillir les preuves de culpa- bilité que les ursulines et autres démoniaqués n’articulaient qu’avec trop de persévérance contre leur prétendu per- sécuteur. L’on attignit ce but en divisant ‘les énergume-

nes partroupes et en dressant des proces- verbaux de ce qui se passait dans toutes les églises ou les démoniaques étaient exorcisées et interrogées publiquement, mais par bandes séparées, Le scandale se trouvait ajouté & ’humi- liation inséparable d’un pareil genre de miseres. Ce fut pendant l'une de ces séances, etdevant le saint sacre+ ‘ment, qu’une ursuline acéusa le prisonnier daller porter la nuit aux filles de la ville certaine liqueur qu’on n'ose pas nommer, pour leur.faire engendrer des monstres, et que Yon entendit sortir de sa bouche des paroles qui ne se peu- vent répeter. Le 23de juin 1634, Grandier futex- “trait de sa prison, conduit en présence de l’évéque de Poi- tiers, de Laubardemont, des exorcistes, d'une af- fluence considérable de gens déglise et de peuple, dans ’église de Sainte- Croix; l'on apercévait dans le sanctuaire douze énergumeénes entourées de quelques compagnes rai- sonnables, de carmes, de récollets, de capicins, d'un chi- rurgien et de quatre médecins, On voyait sur la table de conviction quatre prétendus pactes que les démoniaques avaient, disaient elles, découverts par le moyen de leurs démons, et dont le plus énergique était censé composé de chair denfant et de beaucoup d'autres .choses dégoi- tantes, et avoir été rapporté par Urbain Grandier du sabbat d’Orleans. Apres que l'evéque de Poitiers eut denné sa bénédiction à lassistance, que le pere Lactance 8e fut apitoyé sur la maladie étrange des religieuses, sur sa longue durée; qu'il eut-insisté sur les devoirs dela cha- ‘rité, obligeant les ecclésiastiques a travailler a l'expulsion des démions, a la déliverance des misérables possédées; il -exhorta Grandier lui-méme a saisir le rituel, et avee la permission de son seigneur évéque, d’essayer, en sa qualité de prétre, dinterpeller les démons. _ L’évéque, ae- cédant a cette proposition, le eréateur est invoqué;’Gran- | dier se love, et il se prépare a interroger les énergume- nes tout en. déclarant que, sauf le respect di aux décisions de lEglise, il n'est pas pour son compte persuadé de la réalité de leur possession. Sa présence avait suffi, des le commencement de la cérémonie, pour exciter une cer-

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taine runieur parmi les malades; bientöôt il devint difficile de contenit leur exaltation. A peine eut~il ouvert la bou- che pour addresses la parole & la soeur Cathérine, que le saint lieu commengca a retentir de cris forcenés. Ma- dame de Sazilli, s’avacant de son cöté, linterpella Wabord sur son aveuglement, et continua a parler avec volubilité a fort et a travers, sans qu'il devint possible de fixer son attention. Quand il en vint a madame de Bel- fiel (la prieure), ce fut pis encore. ,,Toutes les possé- dées recommencerent leurs cris et leurs rages avec des désespoirs non pareils, des convulsions fort étranges et toutes différentes; persistant d’accuser Grandier de ma- gie et du malefice qui les travaillait, s’offrant de lui rompré le cou si on voulait le leur permettre, et faisant toutes sortes @'efforts pour l’outrager; ce qui fut empéché par les deffences de l’église et par les prétres et les religieux la presents, travaillant extraordinairement a réprimer la fu- reur dont toutes etaient agjtées. Lui cependant demeura sans aucun trouble ni émotion, régardant fixement’ les pos« sédées, protestant de son innocence et priant Dieu d’en étre le pretecteur”. Il ne s’en tint pas la; interpellant lévéque et le sieur Laubardemont, il leur dit: „qu'il implorait Pautorité eeclésiastique et royale dont ils étaient les ministres, pour commander # ces démons de lui rom- pre le cou ou du moins de lui faire une marque visible au front, au cas qu'il fut l'auteur du crime dontil était accusé, afin que par la Ja gloire de Dieu fut manifestée; l’autorité de l'église exaltée ,* et lui confondu, pourvu toutfois que ces filles ne le touchassent pas de leurs mains”. L/auteur ajoute: ,,quils ne voulurent point le permettre, tant pour n’étre point cause du mal qui aurait pu lui en arriver; que pour n’exposer point l’autorité de l’église aux ruses des démons qui pouvaient ayoir contraeté quelque pacte sur ce sujet avec lacensé”. Les exorcistes, au nombre de huit, dyant commandé le silence aux diables; on fit. ap- porter un brasier dans le quel on jeta tous les pactes les uns apres les autres. Pendant cette opération ,,lés pre- miers assauts redoublerent avec des violences et des con-

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vulsions si horribles, des cris si furieux, des postures si épouvantables, que cette assemblée pouvait passer pour un sabbat,: sans la sainteté du lieu ow elle était, et la qualité/ des personnes qui la composaient, dont le moins étonné de teus, au moins & lextérieur, fut Grandier, quoi qu'il en ett plus de sujet qu’ aucun autre; les diables continuant leurs accusations, lui cottantles lieux, les heu- res et les jours de leurs communications avec lui, ses pre- miers maléfices, ses scandales, soy insensibilité, ses re- noncements a la foi de Dieu. Grandier ayant le tout démenti, ‘il est impossible que le discours exprime ce qui tomba sous les sens, Les yeux et les oreilles regurent Yimpression de tant de furies qu'il ne s'est jamais vu rien de semblable, a moins d’étre accoutumé a de si funestes spectacles, comme le sont ceux qui sacrifient aux démons. Grandier demeura toujours lui-méme, c’est a dire, insensible a tant de-prodiges, chantant les hymnes de Véglise avec le’ reste du peuplg, assuré comme s'il eit en des Iégions d’anges pour sa garde; et de fait l'un de ces démons cria que Beelzébuth était alors entre lui et le pere Tranquille, capucin. Presqu’ aussitdt tous (les démons ou les filles démoniaques) voulurent se jettes sur lui, s’offrant de le déchirer de montrer ses marques et.de ’étrangler quoiquwil fut leur maitre. Enfin, ces violences et ceS rages crurent jusqu’a un tel point que sans le se- cours et l’empéchement des personnes qui étaient au choeur, Yauteur de ce spectacle aurait infalliblement fini la sa vie, et tout ce que l'on put faire-fut de le Sortir de l’église, et de l’éter aux furieuses qui le ménagaient. Aiusi il fut re- conduit dans sa prison sur les dix heures du soir, et le reste du jour fut employé a remettre |’esprit de ces pauvres filles hors de la possession des diables; a quoi il n’y eut pas de peine”, La moitié de la population de Loudun pou- vait étre compromise par cette dangereuse troupe de fu- rieuses. La femme du bailli, . assistant aux exorcismes, fut apostrophée par une démoniaque qui lui reproche d’avoir apporté un pacte dans l’église. La femme du magistrat, aprés avoir invoqué Dieu à haute voix, fit des imprécations

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contre les diables et contre les magiciens, puis somma lexorciste de confondre sur l'heure elle ou le témoignage de la possedée. Le démon, conjuré pendant plus de deux heures, ne put montrer le pacte, et, pour cette fois, Yaccusation de magie ne fut pas considerée comme suffi- sant valuable. -

Schließlich fann id mid nicht enthalten, nod folgende Uufforderung Grandiers an feinen Ridter anjzufiihren: Je vous supplie en toute humilité de considerer mure- ment, et avec attention, ce que le prophete dit au psaume 82, qui contient une tres sainte remontrance qu'il vous fait d’exercer vos charges en toute droiture; attendu ‘qu’étant hommes mortels, vous aurez a comparaitre de- vant Dieu, souverain juge du monde, pour lui rendre comte de votre administration. C'est l’oint de Dieu qui parle aujourd'hui, à vous qui étes assis pour juger, et vous dit: Dieu assiste en l’'assemblée du fort; il est juge au milieu des juges. Jusques a quand aurez- vous égard a l'apparence? Faites droit au chétif et a lorphélin, faites justice a l’affligé et au pauvre. Vous étes dieux et enfans du souverain, vous mourrez comme les hommes.

§. 39. Weitere Verbreitung und Ende des Befeffenfeins,

Der Wahſinn blieb nur etwa 15—16 Monate auf das Kilofter befchranft und pflangte fic) dann auf andere Weibet in Loudun fort. Cin Schriftſteller macht 7 folcher nambaft. Sufanne Ammon glaubte einen Teufel in ihrem Leibe gu beberbergen, Eliſabeth Blandhard ſechs, Francoife Fila: ftreau vier, Zionne Filaftreau drei. Die anderen Kran: fen beflagten fid) blos fiber Befeffenfein oder uͤber Bezaube- rung. Mebhrere von ihnen hatten den Beichtvater der Urfu- linerinnen als Gewiffensrath, einige gehoͤrten derfelben Familie an. Befonders jeichnete ſich Cl. SBlandard durch Krampf: anfalle und durch die Heftigfeit des Wahns aus Sie befcdhuldigte ben Granbdier, welder fie nicht fannte, fie ge: mißbraucht und ihr das Anerbieten gemacht zu haben, fie in

Socler Theorie d. relig. Wabhnfinns, 25

bie Gefellfchaft der Teufel gu führen, und fie gur Koͤnigin bes Sabbaths ju erbeben. Shr Uebel wurde durch die Exor— ciften und Beichtvaͤter bedeutend verfchlimmert. Im Mai 1635 in . Gegenwart des Herzogs von Orleans in der Kirche erorcifirt, walgte fie fid) auf dem Boden umber, und empfing darauf die Hoftie, wodurd der Veufel in Wuth ver: feat, nach beftigen Gonvulfionen fie dreimal ruͤckuͤber in Ge: ftalt eined Bogens friimmte, fo daß fie den Boden mit den Fuß— fpigen und der Naſe beriihrte, wobei fie die Hoftie auf die Erde ſtoßen wollte, aber daran -verhindert wurde. Auf Be: fehl, das Geficht gu geigen, bewirfte Beelzebub ein Klo— pfen und Anſchwellen des Bufens, welder fid) hart wie Holy anfiiblte. Gafton wuͤnſchte alle Teufel zu feben, von denen einer nach bem andern auf Befehl des Erorciften jum Geficdte emporftieg, und daſſelbe auf eine andere Weife ſcheußlich ver: gerrte. Drei Tage nad) dem Bode Grandiers gerieth die Blandard wabhrend einer Communion in Raferei. Als ſich die auf ibrer Lippe hangen gebliebene Hoftie mit Blut farbte, und fie den Urfprung deffelben nennen follte, weigerte fie fic) mit wuͤthender Hartnadigfeit, ben Namen des Heilandes auszuſprechen, fluchte fie auf Gott, knirſchte mit den Zaͤhnen, rollte mit den Augen. Als fie endlid) gegwungen wurde, den Namen laut ausjufpreden, figte fie hinzu: ,, wir fonnen nice an Gott denken, ohne unfre Quaalen zu vergrifern; ich werde rafend.” Dann verleugnete fie Gott und verfiel abermals in Gonvulfionen. Sie nannte ihre Deufel Aftaroth, Beelszes bub, Kohle der Wolluſt, Lowen der Holle, Peron und Ma: ton. Eines Tages verfpradh ihr Aftaroth fie 6 Fuß hod iiber der Erde ſchwebend in der Luft gu erhalten, Oft laͤſterte fie Gott unter Zaͤhneknirſchen, Verdrehen der Augen und Gon: vulfionen, wabrend welder fie ein gellendes Geſchrei ausſtieß. Buweilen wollte fie Wunder verrichten, und durd ihre Ruͤck— Fehr ju Gott die Sider erbauen. Shr Wabhnfinn jeigte ab: wedfelnd einen religidfen und einen irreligiéfen Charafter, und bie Scarfe ihrer Sinne war fo grof, daß Einige glaubten, fie fonne in den Gedanfen ihres Grorciften lefen.

Der Fanatiker Barré, welcer unter den Grorciften in Loudun wabrend der erften Beit eine grofe Rolle gefpielt hatte

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impfte, nad) feinem Wohnorte Chinon zurückgekehrt, den dorti: gen Weibern foͤrmlich das Befeffenfein ein und verfchlimmerte dafjelbe durch ſeine Exorcismen. Vergebens erflacten ein Gar: dinal und mehrere Bifchofe nad genauer Prifung jene Wei: ber nur fiir melancholiſch, nicht fir befeffen; Barré betheuer: te mit einem Schwur auf das Satrament feine Ueberzeugung, daß Teufel in den Gingeweiden jener Weiber haufeten, und fubr mit feinen Grorcigmen, de8 ihm von feinen Oberen ertheil: ten Verbots ungeachtet, fort. Gelbft ein Verhaftsbefehl konnte nicht vollftredt werden und fogar der Arzt Duclos vertheidigte in einer Schrift dad Befeffenfein. Nach dem Bode des Grans dDier, welchen die Energumenen bid dahin angeflagt hatten, be: fchulbdigten fie nun den Ganonifu’ Ganteron, welder, da8 Loos des Grandier befiirdhtend, den Schutz des Parlamenté nachſuchte. Uber auch der von demfelben ausgewirfte Verhafts⸗ befehl gegen Barre und feine Energumenen wurde von Lau⸗ bardemont untwirffam gemadt, daher denn der Unfug in Ghinon bié 1640 -fortdauerte. Endlich wurde demfelben ein Riel gefebt, alé der Priefter Giloire, von einer Befeffenen mit den abfcheulidften und abgefchmadteften Anflagen belaftet, es durchzuſetzen wußte, daf die Vefeffenen von einauder ents fernt; und Barre verjagt wurde.

Aud in Tournon an der Rhone zeigte fid) eine Befeffene, welde beim Grorcismus die Namen der Perfonen offentlicd nannte, durch welde die Teufel Guilmon, Garmin, Ba rabasund Beelsebubin ihrenLeib gegaubert waren. Maz ae tin, damals Vicelegat des Papfted in Avignon, verbot den Prie- ftern bei Rirchenftrafen die Fortfegung des Crorcigmus, und unterdriidte dadurd) das Uebel im Entftehen. Endlich brad aud in Nimes und in ber Umgegend eine Cpidemie aus, welde der in Loudun voͤllig glich, aber in ihrem Fortfdreiten durch weife Maafregeln gehemmt wurde, welde von der um Rath befragten mediziniſchen Facultat in Montpellier ausgingen. Galmeil bat (a. a. D. Bh. 2 S. 49) das Gutacdhten ders felben mitgetheilt, welded id) der Kurze wegen tbergeben muß. Sn Loudun felbft wabrte die Raſerei nod) mehrere Sabre fort, benn ‘die Erorciften muften diefelbe aus Politif unterhalten, um in ihrem vollen Rechte gu bleiben, indem fie zugleich bas

25 *

Urſulinerkloſter bereicherten, dem die zahllos herbeiſtroͤmenden Neugierigen Geſchenke weihen mußten. Auch ſtanden ſie ſich ſelbſt bei dem Gaukelſpiel vortrefflich, da der Koͤnig ihnen ein Jahrgehalt von 4000 Livres auszahlen ließ. Allmaͤhlig wurden aber mehrere offenbare Betruͤgereien entdeckt, aud) fie- len grobe Srrthimer vor, z. B. als ein Graf von Lude, welder die Befeffenen auf die Probe ftellen wollte, die Erors ciften bat, durd) fie ermitteln zu laſſen, ob gewiffe in einer Bichfe verfchloffenen Reliquien act feien. Man ging darauf ein, und febte die Bichfe einer Befeffenen auf den Leib, welche fic) furchtbar gebaͤrdete, als ob fie Feuer fpeien wollte, und erft rubig wurde, als man jene hinweggenommen hatte. Sn derfelben befanden fich einige abgefammte Haare mit Po- made und Federn. ,,Gnddigfter Herr, fprad der Pater, war: um fpotten Sie unfer?” „Ei Herr Pater, erwiederte der Graf, warum fpotten Ste Gottes und der Welt.” Am aͤrgſten wurde der Sfanbal, als einige Nonnen die Angft ih: res Gewiffené iiber den gefpielten Betrug laut werden liefen. Als der Grorcift den Teufel der Schwefter Clara mittelft eines Schwefelfadens ausraͤuchern wollte, machte er die Sache fo ungeſchickt, daf er fie brannte. Gie febrie auf, rif fic 108, verwiinfchte den Grorciften fo wie bas ganze Spiel und die GraufamFeit der Leute, und bat Gott, fie aus der fchredlis chen Lage gu befreien. Sie lief aus der Kirche, und fonnte durch Nichts bewogen werden, wieder darin yu erfcheinen. Nun folgten ſchon andere Befeffene dem Beifpiel, und fuchten ihr Gewiffen zu erfeichtern, indem ‘fie die GErorciften dffentlid vor den Leuten: gottlofe Leute, Heuchler, Betriiger und aͤr— ger alS ben Teufel felbft fchimpften. Die Boͤſewichter hatten fie gezwungen, einen unfechuldigen Mann anguflagen und dem Vode zu tiberliefern. Sie baten die Obrigfeit und alle An: wefende, das, was fie gefagt, zu Herzen gu nehmen. Der Tod des Pater Pranquillus im Jahre 1638 in der fire: terlichſten Raſerei, toortiber ſogleich Naheres, brachte die Sache um ihr letztes Anfehen. Die weltliden Befeffenen gingen nody hin, wie gu einer Gomddie. Fragte man fie beim Hingehen, ob fie nod) befeffen feien, fo antworteten fie: „O ja, Gott fei Dank.” Nut alte Betſchweſtern hoͤrten nod) gu, und feufsten,

daß fie nicht aud fo hoc) von Gott geliebt waͤren. Endlich zog die Negierung die ausgeſetzten 4000 Livres ein. Die noc uͤbri— gen Hauptfpieler fahen es gern, daß die Gade einſchlief, damit nicht die Race des Volkes endlich gegen fie erwedt werde, wenn Granbdiers Unfduld an den Tag fam. Die Nonnen waren mide ihrer Arbeit und froh ihres Reichthums; Mig— non mit thnen. Gr febte die Beſchwoͤrungen -angeblid nur nod im Gebeimen fort.

§. 40. Wahnfinn einiger bet demProceffe des Grandier Betheiligten.

Has Geriht Gottes war ſchon bei cinigen Erorciften eingetreten. Galmeil, welder (S. 54.) die Bemerfung eines alten Gchriftftellers mittheilt, daß die Exorciſten bei ib: rem Gefchafte Gefabr liefen, felbft vom Teufel befeffen gu werden, hat in Bezug auf die gum Untergange des Granbdier verfdrworenen Buben ausfiihrlide Nachridten zufammengeftellt. Der Pater Lactanz, dem Grandier auf dem Scheiterhau: fen den Zod binnen eines Monats vorhergefagt hatte, wurde Fur; nadber auf einer Reife mit feinem Wagen zweimal ums geworfen. Gewohnt, in allen ihn betreffenden Ereigniſſen den Zorn und Die Rache der Veufel gu fehen, erlitt er bald ihre An: griffe, perdant tantét la vue, tantöt la memoire et tantöt la conndissance, souffrant des maux de coeur, des _ infe- stations en l’esprit et diverses autres incommodités. Si Yon ne veut pas croire qu'il eut été possedé par les demons effectifs, au moins faut-il demeurer d’accord qué sa conscience lui a servi de bourreau et de démon, puis- qu'il est constant qu’il mourut dans les acces d'une fureur et d'un désespoir qui ne se peuvent exprimer. Sein aod erfolgte 30 Tage nad dem des Grandier.

Der eben fo berichtigte Pater Branquille wider fland flanger; jedocd litt er an Schwere ded Kopfes, Berwir- rung des Gedaͤchtniſſes, Hergbeflemmung und vielfacden Plagen in feinen Gingerweiden, welche er der Wuth der Veufel zu— ſchrieb, welche er mit Gebet und mit der Beihiilfe anderer Grorciften befampfte. Zuweilen verfan€ er in tiefe Schwer:

muth und in Widerwillen gegen alles Heilige, und wenn er fic baraus ermannte, waͤlzte er fic auf dem Boden, ftredte die Bunge beraus, pfiff, fludte und lafterte die Borfehung. Als er an einem Offertage die Rangel befteigen follte,. mußte gu- yor nod) der Deufel befchworen werden. Bald fing er an gu rafen und zu ſchreien, welches in der letzten Beit feines Lebens fo arg wurde, daf die Bewohner von Loudun es auferhalb ded Mlofters Hhoren fonnten. Nad feinem 1638 erfolgten Tode festen ihm die Monche folgende Grabfdrift: Cy git Vhum- ble P. Tranquille, de Saint Remy, prédicateur, capucia ; les démons, ne pouvant plus supporter son courage en son emploi d’exorciste, l’ont fait mourir par leurs vexa- tions. Ricdtiger urtheilte Aubin, VWerfaffer der histoire des diables a Loudun: -Quelle matiere a reflexions cette histoi- re imprimée en 1638 ne fournit-elle pas alors aux ineré— dules! Ils concluent que cette vexation des diables, si elle était véritable, ou au moins les tourmens du pére Tranquille, qui n’étaient que trop réels, et qui ne pou- vaient procéder que des remords et des-agitations d'une conscience bourrelée, étaient des marques bien sensibles de la sévérité des-jugemens de Dieu, qui permettait que les démons,. ou les idées des démons et de l'enfer, vins- sent ainsi tourmenter a l'heure de la mort ces prétendus exorcistes qui s’étaient si impunement joué pendant leur vie et de l’enfer, et des diables, et de Dieu meme. Manourt, der ſchurkiſche Wundarzt, welder denGrans bier betm Auffuden von Teufelsmahlen fo boshaft gequalt hatte, mufte fpater dafiir die bittern Vorwuͤrfe und den Haf der Antipofjeffioniften und der Freunde des Gemordeten ers dulden. Mun erwadchte aud fein Gewiffen, und ſtuͤrzte ifn in Gerjweiflung. Eines Abends kehrte er fpat von einem Kranfenbefude zuruͤck, begleitet von zwei Perfonen, deren einer die Laterne trug. Ploͤtzlich rief er entfept: „Ach Gran: dDier, bift du da! Was wilft du!” Bhn befiel ein heftiges Bittern. Seine Gegleiter ſahen Niemand auf der den Strafe. Mit Muͤhe fuhrten fie ihn nad) Haufe. Er redete irre, immerfort von Grandier und mit ihm. Rach einigen Tagen ftarh cr aus Geifterfurcht.

Laubardemont, fcon feinen Zeitgenoffen verhaft we gen feines rudlofen Charakters und wegen feiner Rolle in dem Proceffe des Cing Maré und di Thou, wirdig feines Benehmens in Loudun, erlebte die Kranfung, daß einer feis ner Soͤhne als Strafenrauber auf der offenen Straße von Paris, als er eine Kutfche anhalten wollte, .verwundet wurde und ftarb, ohne feinen Namen zu nennen.

Aber aud) fchuldlofe Opfer forderte das furchtbare Ereig: nif. Wir fahen, daß der Givillieutenant Chauvet in dem erften Proceffe fid) alé pflichtgetreuer Richter betrug. Dafür hatte ihn eine der Befeffenen denuncirt. Allein das Complott war von ber Gerfolgung wieder -abgeftanden, . weil Chauvet im Zande alé ein gu reiner CSharafter befannt war und durd fetne Liebenswirdigfeit und fein feines Benehmen fic in allen Kreifen Freunde erworben hatte. Aber nun war Grandier gerichtet, von deffen Unſchuld er tberseugt war. Den bebhers: ten Mann uͤberkam ein ungeheurer Schreden. Innere Angft burdbebte ihn, und er theilte fie einem Gdelmanne, einem ver: trauten Freunde, mit. Auch diefer, von demfelben Sdreden gepeinigt, den er fic nicht geftand, erflarte ihm, er bielte es fur das entfeblidfte Unglid, nur in die Gefabr gu fommen, der Zauberei befchuldigt gu averden. Ja, wenn ihn felbft dies trafe, wirde er glauben, er fei verloren obne Rettung, denn Freunde und guter Ruf vermochten Nichts gegen dad Entfeslide. Chauvet wurde fo durch diefe Erflarung er: ſchüttert, daß er wahnfinnig ward, und es fein Leben über blieb. - :

Der Pater Surin wurde erft mac dem Vode bes Lace tang nad Zoudun berufen, um die Erorcismen fortzuſetzen. Gr felbft, ein in ſeinem Orden (der Gefuiten) geadteter Mann, war von der Wirklichfeit des Befeffenfeins voͤllig über— jeugt, und er hatte nod nicdt einen Monat hindurch dagegen angefampft, aléer ſelbſt fdon davon ergriffen wurde, welded auf die Gemiither einen tiefen Eindruck machte. Zuerſt bedrob: ten die Beufel ihn aus dem Munde der Priorin mit ihrer Rade, dann empfand er im Ganuar 1635 ihre Einwirkung in fid), fo Daf er wabrend eines Exoreismus ploͤtzlich die Spra⸗ dhe verlor, von welchem Uebel er befreit wurde, ald ein anderer

Grorcift ibm das Sacrament an den Mund hielt. Diefer Bufall fehrte oft wieder, ja der Biſchof von Nimes überzeugte fic, daß Iſacharum, welcer dads Geficht der Priorin verzerrt und aus ihrem Munbde gelaftert hatte, fie verlieB, da ihr Geficht feine natuͤrliche Geftalt wieder dnnabm, in den Pater fubr, welder nun die Farbe wedfelte, verftummte und von grofer Be- aͤngſtigung auf der Bruft litt. Dok auf Befehl verlies der Teufel den Priefter, und fehrte zur Priorin zuruͤck, deren Geficht er unter Ldfterungen graͤßlich verzerrte. Der Priefter lief fid nun mit ibm in einen Kampf ein, als ob Nichts vorgefallen fei, und wurde wahrend eines Nachmittages 7 Smal von ihm befefjen und befallen. Diefen Anfallen folgten nod) weit argere vor ber heiligen Woche, nachdem 14 Lage vorher der Beufel aus bem Munde der Priefterin gum Priefter gefproden. hatte: „ich werde dir bie Paffion (Chrifti) bereiten, meine Freunde wer: den dabei helfen.” Am Abend des Charfreitages empfand der Priefter ein heftiges Herzweh, und andere Befdwerden, fo daß er fic) frinnmte, als ob er mit der Rolif bebaftet fei, und biefe Zufaͤlle wiederholten fid) fpater offentlid), wenn der Teufel ihn bedrobte, er wolle ihn agwingen, fein Gewerbe aufgugeben, und zurückzukehren, woher er gefommen fei. Haͤufig wiederbolte es fic), daß der Teufel auf Beſchwoͤrungen die Priorin verlief, und in den Peiefter fubr, ihn yu Boden warf, derb fchittelte und zum Schreien gwang, 618 derfelbe nach Ablauf einer halben oder ganzen Stunde von ihm befreit wurde, nachdem ein andes rer Grorcift bas Sacrament an den Theil der Korpers gehalten hatte, in welchem der Priefter mit bem Finger die Anwefenbeit des Satans bejeichnet hatte. Dann erfchien Lesterer wieder in der Priorin, und wurde abermalé von dem Priefter muthig befampft. Sehr widhtig iff ein im Mat 1635 geſchriebener Brief von Surin, in weldhem es unter Anderem heift: ,, id bin mit vier der machtigiten und boͤsartigſten Teufel der Hille in Kampf getreten. Gott hat es geftattet, daß diefe Rampfe hart, und daf der Exorcismus nod dad unbedeutendite Schlacht⸗ feld war. Die Sache ift fo weit gediehen, daß Gott, wie id) glaube wegen meiner Sinden, es gugelaffen hat, was viel: leicht nod) nie in der Kirche gefehen worden, daß der Teufel den Morper dex Beſeſſenen verlaͤßt, und in den meinigen bin:

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uͤberfahrend, mic) zu Boden wirft, und mich mehrere Stuns den wie einen Energumenen unter den heftigſten Bewegun— gen bearbeitet. Ich kann nicht beſchreiben, was alsdann in mit vorgeht, und wie dieſer Geiſt ſich mit dem meinigen ver: einigt, ohne mir jedod) das Bewuftfein und die Freiheit mez ner Geele ju rauben, indem er dennoc) wie ein andereds Sch waltet, alS ob id) zwei Geelen hatte, von denen die eine aufer dem Beſitz und Gebrauch ihres Koͤrpers gefest, und gleichfam in einen Winkel guridgedrangt iff, waͤhrend die eingedrungene ungebindert waltet. Beide Geifter fampfen auf demfelben Gebiete im Koͤrper und die Seele ift wie ge: theilt. Mit bem einen Theile ihres Wefens ift fie ben Ein: drucken des Teufels unterworfer, und mit dem anderen gez borcht fie ihren eigenen Bewegungen, oder denen, die Gott ifr verliehen hat. Zu derfelben Beit empfinde ich einen tiefen Frieden nad dem Wohlgefallen Gottes, ohne gu wiffen, wo- her die fuͤrchterliche Raſerei und der Abſcheu gegen ibn in mich fommt, die Wuth, mid von ihm loszureifen, wortber alle erffaunen, und gleichzeitig fiihle id eine grofe Freude und Sanftmuth, welde fid in Wehklagen und Gefchrei gleich) dem der Teufel ergieft. Ich fihle die Verdammniß und firdte fie, 26 ift mir, als fei id) von Stacheln der Verzweiflung in der fremden Serle durchbohrt, welche gleichfam die meinige ift, wab- tend die andere Seele voll Vertrauen ungehindert in Spott und Fliche gegen den Urfeber meiner Leiden ausbridt. Das Ges fchrei aus meinem Munde fommt gleidmapig von beiden See— fen, und nur mit Muͤhe fann ic) unterfdeiden, ob dabei Luft oder rafende Wuth obwaltet. Das heftige Bittern, in welded id) bei der Annaherung des Sacraments gerathe, fcheint mir eben fo wohl von dem Entfegen uber feine Gegenwart, als von der herzlichen und fanften Verehrung deffelben herzurühren, und es iff mir nicht moglid, daffelbe gu bemmen. Wenn id im Antriebe der cinen Seele das Beithen ded Kreuzes auf mei— nem Munde machen will, fo halt die andere mit der groften Schnelligkeit mid davon zuruͤck, und bringt mir die Finger zwi⸗ fchen die Zaͤhne, um fie voll Wurth gu beifen. Faſt niemals fann ich leichter und rubiger beten, als waͤhrend folcher Aufre— gung; wabrend mein Rorper auf der Erde ſich umberwalst,

394 und die Priefter mic wie den Satan mit Flüchen überſchütten, empfinde id) eine unbefchreibliche Freude, Satan geworden gu fein, nicht wegen Empodrung gegen Gott, fondern durd das Elend meiner Sunde. Indem ich mir alle Fluͤche aneigne, ver— ſenkt ſich meine Seele in das Nichts. Wenn die Beſeſſenen mich in dieſem Zuſtande ſehen, iſt es eine Luſt, wie fie triumpbiren, und die Teufel mir hoͤhnend zurufen: „Arzt, heile dich ſelbſt, beſteige jetzt gleich die Kanzel, es wird dir wohl anſtehen, zu predigen, nachdem bu dich auf dem Boren gewaͤlzt Haft’. Weld) ein Segen, ein Spielwerk der Deufel ju fein, und ſchon auf Erden wegen feiner Sinden von Gott gerichtet gu werden! Waͤhrend Andere daruͤber ftreiten, ob ein Priefter ded Gvangeliums auf ſolchen Unfug gerathen koͤnne, und Ginige darin eine Zuͤchtigung erbliden, moͤchte ic) mein Loos mit feinem anderen vertauſchen, da es nach meiner Ueberzeugung nits Befferes giebt, als fich in der griften Noth gu be finden. Meine Lage gewabhrt mir wenig Freiheit, wenn id fprechen will, werde ich gehemmt, bei der Meffe bleibe ich fieden. Bei Vifche fann ich Feinen Biffen jum Munde füh— ren, bei der Beichte vergefje ich alle meine Sinden, und der Deufel geht bet mir ein und aus, als wenn id fein Haus ware. Beim Erwachen ftellt er fic) wabhrend des Ge— betS cin, er raubt mir- nach Gefallen die Gedanfen, und erz füllt das Herz mit Wuth, wenn es fic gu Gott erheben will, Wenn ich waden will, bringt er mid in Schlaf, und durch den Mund der Priorin ruͤhmt er fidh, mein Meifter gu fein. Sch fann dem nicht widerfprechen, da mein Gee wiffen gegen mich zeugt, und tiber meinem Haupte das Ge— richt gegen die Suͤnder fchwebt;. ic) mus mic ihm unter⸗ werfen und dem Befehl Gottes gehorchen. Gewdhnlid find es zwei Veufel, welde mich bearbeiten, «und einer von ihnen iff Leviathan, der Widerſacher ded heil. Geiftes. Er ift der Oberfte der VeufelSbande, und der Lenfer der feltfamften Dinge, welche man jemals gefehen hat. Wir fehen an dem: felben Orte das Paradies und die Holle, Nonnen, heilig wie bie Urfula und andere, drger als die Verworfenften wegen ibrer Lijfternbeit, Lafterung und Wuth. Betet fir mid, denn ic) bin deſſen bediurftig. Ganze Woden hindurd bin

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ich ſtumpf gegen alles Goͤttliche, daß ich froh waͤre, wenn man mid) wie ein Rind beten lehrte. Der Teufel fagt mir: „ich will dir Alles rauben, du wirſt den Glauben nidthig haben, denn id) will dic) blodfinnig machen”. Gr hat einen Bund mit einer Bauberin gefdhloffen, um mid am Beten gu verbindern, und meinen Geift gu feffeln; um nur einige Begriffe gu haben, muß ic) das Sacrament auf meinem Haupte tragen, und mit dem Schluͤſſel Davids mein Gedadtnif Offnen”, Eines Tages fagten die Befeffenen dem Surin, der Teufel habe drei Hoftien geftohlen, um fie gu entweihen; Surin bot fein Leben Gott als Opfer an, wenn der Veus fel gezwungen wirde, die Hoftien wieder herauszugeben. Die Hoftien fanden fic) zwar wieder, aber Gurin glaubte nun fein eben verpfandet gu haben, wabnte, daß der Teufel ihn durch unaufhdrlice Plagen aufreiben werde. Nach zweijaͤh— riger Dauer des Deufelswahns reifete Gurin nad Bor: beaur, wofelb(t er wieder die Kanzel befteigen fonnte; dann febrte er nad) Zoudun zuruͤck, um bald wieder feinem Wahn gum Raube gu werden. Zwanzig Sabre hindurd hatte er nur felten lichte Augenblie, und man mufte ibn feiner eige— nen Giderbeit wegen einfperren. Gr fonnte nidt geben, ſprechen, ſchreiben, und erlitt fuͤrchterliche UAnfechtungen; doch fonnte er Gott feine Moth Flagen, und feinen geiftlichen Katehismus verfafjen. An einem Tage gwang der Teufel ibn, aus dem Fenfter des auf einem Felfen gelegenen Klofters gu fpringen, wobei er fid) ein Bein brad. Dod) Fehrte er 1658 fo weit zur Vefinnung zuruͤck, daß er wieder fein Amt verwalten, und Briefe ſchreiben fonnte, welche von RKlagen uber feine tberftandenen Leiden erfullt waren. Seine Obe— ren muften ibn von einer Ruͤckkehr nad) Loudun zurüuͤckhal⸗ ten. Im Sabre 1665 ftarb er bei voller Befinnung. Endlih wurde der Priefer Lucas, ein febr frommer Mann, ploglid) von den Beufeln befeffen, alé man dem Sranqguille die leste Oelung reichte, und er foll feitdem fietS wabhnfinnig geblicben fein. Gr wurde von heftigen Gon: vulfionen ergriffen, ftredte die Bunge lang beraus, ſtieß ein furdtbares Geheul aus, gerieth bei jeder Oelung des Kran: fen in die beftigfte Wuth, welche fid) nod) wabhrend der Dar:

reichung des Sacraments fteigerte. Sn dem Augenblide, als Branquille ftarb, iberfehritt die Maferet alle Grengen. Obgleid) viele Monde den Lucas hielten, fo. fonnten fie ibn doc) nicht verbindern, daß er mit den Fifer nach der Leiche ſtieß, bis man diefelbe hinweggebradt hatte, und bid zur Beerdigung wurde er fo graufam gequalt, daß man ftets einige Religiofen gu feiner Bewachung bei ihm lafjen mufte.

Il. Die Befeffenen gu Louviers.

§. 414. Urfprung und Erfheinungen des Be: feffenfeing.

Nachſtehende Darftellung, welche ic) gang von Cals meil (a. a. O. Bh. 2 S. 73—131.) entlebnen muf, weil mit Die von ihm woͤrtlich ausgesogenen Quellen nidt gu Ge: kote fteben, wird fiir unfern Zweck befonders dadurch wid): tig, daß fie cine vollftandige Beftatigung fir die Wahrheit der Vorgaͤnge in Loudun giebt, ohne dem Verdacht des Betruges ausgefest yu fein. Zwar fehlte e3 auch bei diefem Srauer(piel nicht an fanatifden Verfolgungen; indeß fingen legtere erft an, als die Epidemie fchon ihren Gipfel erreicht hatte. Da diefelbe nur wenige Sabre (1642) nad den Er— eigniffen in Loudun ausbrach, fo ift eine gefchidtlide Ver— bindung zwiſchen beiden nicht unwahrſcheinlich, wenn aud alle Beweife fir diefe Meinung feblen.

Merfwiirdiger Weife gab auc hier der Sob bes Prie- ſters Picard, welder als Gewiffensrath in dem Kloſter der Glifabethinerinnen gu Louviers in der Normandie fungirte, Geranlaffung gum Ausbrud) der Epidemie, welde er durd feinen gliihendfrommen Gifer und durd feinen myſtiſch con- templativen. Gharafter vorbereitet hatte. Da feine Perſoͤnlich— Feit eine fo wichtige Molle hierbei fpielte, fo ift es nothwen— dig, diefelbe mit den Worten eines Beitgenoffen gu fail: bern: Sa démarche grave et modérée, ses yeux baissés, sa barbe longe et négligée, la paleur de son visage ex- terminé a dessein, la douceur de ses entretiens, sa con- descendance envers ceux qui lui parlaient, l'ardeur de

397 son zele, l'attention de ses actions, la Suspension de son esprit marqué sur son front, le débit serieux de ses idées, sa retenue étudiée, quelques mots enflammés qui.domaient un sentiment exquis de Dieu et du paradis, quelques fer- vens soupirs, sa mine réformée en contemplativ, ses lon- ges messes pendant lesquelles il paraissait extatique, ses actions de grace entrecoupées de sanglots, .soudainement arrétés par un silence paisible tout en lui promettait quel- que chose de grand. Unſchwer gu begreifen iff es, welden Gindrud eine folde Perfinlidfeit auf das Gemiith der juͤnge— ren, faft immer zur Schwaͤrmerei geneigten Nonnen machen mufte; fie geigten einen wabren Wetteifer, feinem Borbilde sur Heiligfeit nachzuſtreben, indem fie fick) den Harteften Ras fteiungen unterwarfen, die Nachte im Gebet zubrachten, fid) im ubermafigen Faften abfchwadten, ihren Koͤrper mit Geifiel- ſchlaͤgen marterten, und fic) halbnadend im Schnee waͤlzten.

Als im Herbfte 1642 Picard ploslic) geftorben war, verfielen mehrere Nonnen, deren BWernunft ſchon yu wanten begann, in eine beunrubigende. nervdfe Aufregung, gu wel: cher ſowohl der Schmerz uͤber den BVerluft des geliebten Priv: ſters, als die tadeinden Zurechtweiſungen des neuen Beidt: vaters WGeranlaffung gegeben batten. Nach Ablauf etlicder Monate waren 18 Nonnen unter den 50 des Kloſters mit Krampfen und Wabhnfinn bebhaftet. Diejenigen, weldhe bis dahin die tieffte Ehrfurcdht vor dem Heiligen, namentlich vor den Sacramenten bezeugt batten, verviethen nun einen Ab: fcheu dagegen. Wohl hundertmal an einem Tage geriethen fie in Zorn, lafterten Gott, fpieen auf die Hoftien, und ftiefen obſcoͤne Fluͤche aus. Mitunter hatten fie formlice Un- fale von Wuth, und begingen die tollften Ausſchweifungen. WMahrend der Nachte waren fie mit Bifionen bebaftet, fie fpracen fir fic), ftorten die Rube der Ucbrigen, und liefen die Luft von ihrem Webhflagen und Gebheul wiederhallen. Thre Gefiihle, Gewohnheiten, Neigungen waren gaͤnzlich verdndert. Früher inbrimftigen Gebeten ergeben, fonnten fie diefelben nidjt herfagen, fie waren unfahig den ihrer Ergiehung, ihrem Geſchlechte und Berufe geziemenden Anftand gu beobadhten; die Gegenwart der Hoftie verfegte fie in Furdt, Wuth, Ere

bitterung, und veranlafte ihnen ftechende Leibſchmerzen. Hal— lucinationen des Gefichts, Gehirs, Getafts, Geruds und Ge- ſchmacks gaben ihnen die Ueberzeugung, daß fie vom Teufel befefjen feien, welcher fie beiße, innerlich verbrenne, daß Ga: tan Alles in Anwendung febe, fie ju erfchreen, zu verfirh= ren, ing Berderben’ gu ftirzen. Jeden Augenblick erlitten fie lange Anfalle der heftigften Gonvulfionen, fie frimmten fic nad hinten in Geftalt eines Bogens iiber, fo dah ihr Mor: per nur noc) mit der Stirn und den Fuͤßen den Boden be— ruͤhrte, und ſtießen nad den Anfallen cin lautes Gefthrei, wilde Ausrufe, Geheul aus unter Zahneflappern, Congeftio- nen des Bluts nad dem Gefichte, Hinftarren der Augen und fcheinbarer Unterdriidung des Athembolens. Auch verriethen fie eine grofe verlicbte Luͤſternheit. In den freien Zwiſchen— zeiten bewahrten fie vodllig ihren gewohnten Anſtand und fitt- lichen Gharacter, und felbft wahrend der Anfalle, wenn fie fid) fiir Teufel ausgaben, ging ihre Wuth doch) nicht fo weit, baf fie andere Perfonen beleidigt und gemifhandelt batten. Die Anfalle dauerten zuweilen 4 Stunden, zumal wéabrend der Grorciémen und wahrend der heißen Nachmittagsſtunden der Hundstages; aber wenn die Nonnen wieder zur Beſin— nung juridfebrten, fuͤhlten fie fic) fo gefund, frife. und tubig, und ihr Puls ſchlug fo regelmafig, als. ob Nichts vorgefallen fei. Einige fielen wabhrend der Erorcismen in Obn- macht, welche unter gluͤhender Mithe des Gefichts und hef— tigem Schlagen des Pulſes eintrat, guweilen 4/2 Stunde und langer Dauerte, und von einem volligen Aufhiren des Ath: mens begleitet war. Wenn fie ohne Anwendung einer Arznei wieder ju fic) famen, bemwegten fie juerft die Ferfen, dann ben Unter-, hierauf den Oberfchenfel,. fpdter den Baud, die Bruft und die Keble, lestere drei unter grofen Anſchwellun— gen, wabrend noch die Sinne fchlummerten, bid endlich Ddiefe aud unter GVerzerrungen des Gefichts, Geheul und Convul- fionen erwachten. Insbeſondere muften die Erorciften in ihrer Ueberzeugung von dem BVefeffenfein der Nonnen durch -die Wabhrnehmung beftarét werden, daß diefelben mit den feilften Dirnen in den ſchmutzigſten Zoten wetteifertens daß fie die lebendighten Schilderungen mit den geringfigigften Umftan-

den gaben von den Herenfabbathen unter dem Vorſitz des Boks, von den dafelbft veriibten Greuein; daß fie bei An- naherung der Hoftie das Geficht verzerrten, die Bunge lang herausſtreckten und in Fluͤche ausbrachen; daf fie in einem Athemzuge Gott priefen und lafterten, fromme Worte and Zoten fpracens daf fie beim Weggehen der Grorciften unter Thranen ibe tiefes Bedauern ausfpracen, deren hilfreichen und nothwendigen Gegenwart. beraubt ju fein, und unmittel: bar in Fliche .und Verwuͤnſchungen ausbrachen: „der Veufel breche dir den Hals, fchleppe dic) in die Hille, verfenfe dich in die Gingeweide Beelzebubhs”. Die Grorciften fonnten fich dies Alles nur daraus erfldaren, daß Satan in den Non- nen walte;. fie mit Verſuchungen und uͤbermaͤßigen geiftigen Anfechtungen plage, ihnén das innere Licht raube und fie auf liftige Weife bethdre, fo daß fie felbft die Urheberinnen feiner durch fie veriibten Handlungen zu fein glaubten.

Wir wollen nun einige unter den vielen -von Cal: meil mitgetheilten Kranfengefchichten folgen: laffen. Sn dem Briefe ciner Nonne an ihren Beichtvater heist eS unter an- derem: ,,mein von den haͤßlichſten Hollenbildern geſchwaͤrzter Geift geftattet, mir feinen anderen Gedanken, als Gotteslafte- tungen;, um Diefen teufliſchen Zuftand vor der Welt zu ver- bergen, giehe id) den Geift von allen Ginnen ab, ohne met: nen Swe ju erreicthen. Deshalb ſpeie ic) meine Mache gegen Dic) aus, und will meine Dunfelheit durch die Flam men der Verzweiflung erhellen. Aber adh, es wird flim: mer, Gerwirrung tritt an die Stelle der Klarheit, ich gebe zu Grunde, indem ich mich retten will, nimmer Frieden, Alles Zerriittung und Wuth. Lafferung ift meitte Nahrung, und mein Weſen erhalt fid) durch die Verachtung und Were leugnung des goͤttlichen Wortes von dem hündiſchen Erhenk— ten. Ich verſtehe nicht, was ich jetzt ſage, und erleide einen furchtbaren Aufrubr in meinem Geiſte und in meinen Sin: nen, -eine unbegreiflide Herzenshaͤrtigkeit. Ich glaube mid gewiß yu taͤuſchen, und will mir lieber mit einer metapho- riſchen Idee und mit einem Gott woblgefalligen Wandel ſchmeicheln, als fortwabrend in Wuth, Haß, Verzweiflung und Raſerei gegen Gott und die Menſchen leben. Ich weiß

recht gut, wie man handeln muß, und weiß doch nicht, was mid daran verhindert. Es iſt mir nicht geſtattet, ein ande- res Betragen anzunehmen, als ich zeige, und wenn die Crea— tur daſſelbe noch raſender und wilder ertragen koͤnnte, ſo wirde id) es thun, aber died iſt nur bei ihrem Untergange miglid. Ich muß Dir die Wahrheit bezeugen, da6 Du mir furdthare Quaalen durd) die Gebete zufuͤgſt, weldhe Du fur dies verdammte Haus verrichteſt, Ddiejenigen, welde Du bes fonders fiir mic fpricdft, bringen mich zur Verzweiflung. Ich fann mid nidt allen Deinen Worfchriften unterwerfen, verfchone mid) damit, wenn Du nicht mein elended Leben in Verzweiflung vernichten willft. Ich begehre Nichts weiter, al8 voll Schaudern mid allen Lajterungen zu ergeben, welche jemal8 ausgefproden find und fein werden. Zwinge mid nicht gu Lobgefangen, unertraglid fiir eine Perfon, welde verabfdeut, was fie oben foll. Rann eine Creatur mebr Haß empfinden, alS wenn fie einen Bund mit dem Veufel gefchloffen hat? Wie cafe id) in meinem Hajfe, wie ehre th meinen Haß, weil er mir die Kraft verleiht, der Allmacht Widerftand ju leiften! Liebe, du warft ehemals das zweite Princip meiner Schoͤnheit in Gott, und von jest an bift du ohne Rettung in das Gegentheil verwandelt. Wehe mir!” Sdywerlid) wiirde man ausdrudsvollere Begeichnungen fir daé pſychologiſche Gefes des Contrafted der Gefiihle finden fonnen, womit wir uns nod) fo oft werden befchaftigen miffen.

Die Scwefter Barbe de Saint Michel erblidte mehrmals wabhrend der Nacht eine Menge von angesiindeten Kerzen in ihrer Belle. Sie wurde dergeftalt gequalt, daß fie nicht drei Schritte thun fonnte, obne in die Kniee gu finfen, worauf fie binfiel. Auch wabhrend des Abendmahls in der Kirche fah fie eine Menge angesiindeter Fadeln am Gitter, und auferdem erfchien ihr eine Menge von Phanto- men und Mannergeftalten, welche fie verfolgten, qualten, und bierauf die Fludt durd den Kamin ergriffen.

Die Sdhwefter Marie de Saint Nicolas fah gwei entfeblide Geftalten, von denen eine als alter Mann mit langem arte bem verftorbenen Picard aͤhnlich war, fid beim Aufgang der Sonne auf das Fufende ihres Betteds febte,

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und gu ihe im Tone der Vergweiflung fprad: ,, id habe Mags dalena, die Schweſter des heiligen Gacramenté gefehen; ad wie béfe ift fie, fie gehoͤrt und villig an”. Die andere Ge: ftalt erſchien ihr am Tage als ein grofer ſchwarzer Kopf, wel: cher fie lange betrachtete, und fie in grofen Schreden verfebte. Dennod fonnte fie fid) nidt enthalten, denfelben anguftarren, bis derfelbe vom Fenfter fic) herabfenfte, worauf fie voll Ents feben die Flucht ergriff.

Die Schwefter Anna de la Nativité wurde feit dem Sabre 1642 unaufhirlid) von dem Boͤſen unter den fuͤrch⸗ terlichſten und abfdeulidften Geftalten uͤberall begleitet; ded Nachts in ihrer Belle ftand er unbeweglid) ver ihr, im Chor machte er ihr allerhand Poffen vor, um fie gu belaftigen, Erſt alé fie ihre Gifionen der Priorin klagte, wurde fie von Furdt befallen, denn der Beufel bedrohte fie, daß er fie nod) arger plagen werde, weil fie fein Geheimniß an die huͤndiſche Priorin verrathen babe, fie werde ihm endlich dennoch angebdren. Diefe Drohungen wahrten die ganze Nacht hindurd, worauf die Nonne thre Moth der Priorin Flagte, welche ihr rieth, diefe Taͤuſchungen voͤllig yu verachten, und fid) mit bem Beus fel-in fein Gefprach eingulaffen. Waͤhrend der Bußzeit (les coulpes) ergriff ev die Flucht, kehrte dann zuruͤck, und fpote tete uͤber Wes. Bei der Meſſe gaukelte er ihr abſcheuliche Bilder vor, erfchien ihe als ein graͤßliches Ungeheuer mit offes nem Raden, um fie zu verfdlingen, weil fie ſich bebarrlid ſtraͤubte, jene Bilder gu betrachten. Bei jeder Gelegenheit verfebte er iby derbe Schlage, qualte fie, lief fie auf der Sreppe und anderswo hart zu Boden fallen, und jeigte ihe Gefpenfter, Manner und Weiber, welde durch) wollirftige Taͤnze ihren Abſcheu erregten. Eines Tages wahrend der Mefje erſchien ihr ein Grucifir, welches gu ihr fprad: ,, meine Toch⸗ ter, meine Gattin, meine Geliebte, id) will did) von deiner Betruͤbniß befreien”. Gin Arm ldfete fid) vom Crucifir ab, um fie gu umfaffen, fie aber zog fich zuruͤck, eingedenk ded Raths, auf Nichts zu acten. Am Abend erfchien ihe das Gtucifir nochmals, rebdete fie mit verliebten Worten an: „meine theure Todter, meine Gattin”, verſchwand aber fo: gleich, als fie auf daffelbe fpie, worauf fie in tiefe Traurig—

Ideler Theorie v. relig. Wahnſinns. 26

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feit gerieth, weil fie Boͤſes gethan gu haben glaubte. Waͤh⸗ rend der ganzen Nacht wurde fie fehr von obfcdnen Bifionen gequalt , weldje fie zur Wolluft reijten. Am Morgen war fie gang erfddpft von einem Rampfe, den die gottliche ‘Gnade in ihr gewirkt hatte. Das Beichten Foftete ihr grofe An— firengung, weil fie die Grinnerung an ibre Sinden verloren hatte. Yn den Vagen der Communion erfchien iby das Cruz cifir und fprad: ,,woblan, meine Tochter, du haſt mid heute empfangen, babe ic) dic) nicht recht getroftet?” Sie entſchloß fic) gu einem neuntagigen Gebet gu Ehren der beil. Gungfrau und erblidte am erften Tage deffelben in der Kirche eine fo entzuͤckend ſchoͤne Sonne, daf fie nie etwas Aehn⸗ licked gefehen hatte. Ginige Naͤchte fpater madte ibt der BPeufel obfcine Antrage, wobei fie unendlich gu leiden hatte, bis jene ftrablende Gonne gu ihrem Beiftande erſchien, den ſchaamloſen Verfuͤhrer verjagte, und gu ihe die ſchmeicheln⸗ ben Worte fprach: ,,meine Sochter, meine Gattin, id fomme yu deiner Bertheidigung”. Oft nahm der Teufel die Geftalt einiger Nonnen an, welde von ihrem Beidtvater und ihren Gorgefesten Wifes in gweideutigen Worten fpraden, in: dem fie Ddiefelben auf die eine Weife lobten, und auf die andere tadelten. Eines ages glaubte fie mit der Priorin in deren Halle gu fprechen, wofelbft legtere auf dem Lehrſtuhl ſaß, und ihe Borwiirfe madte, daß fie von Gott. villig abtrinnig geworden fet, wofuͤr fie gegichtigt werden folle. Dann fithlte fie fid) wie infpirirt, ergriff die Flucht und traf ju ihrem Grftaunen in bem Moviciat die Priorin umringt von anderen Nonnen, welde ihe die Verſicherung gaben, daß diefelbe ſchon lange dort gewefen fei. Sie koͤnne fi) nur durch das Beichen des Kreuzes gegen Taͤuſchungen ſchutzen. Einige Dage fpater brachte eine der Priorin gleiche Geftalt ihe gwei eingemachte Nuͤſſe und ſprach: „nimm dies, meine Tochter, um dich gu ſtaͤrken, denn bu bift ſehr fhwad”. Sie cief: „weiche von mir, denn du bift nicht die Priorin”. Sogleid) verſchwand bas Phantom, und kehrte nicht wieder. Waͤhrend ihrer Faften fah fie die leckerſten Speiſen und menſch⸗ lide Geftalten, welde fie gum Genuß derſelben cinluden, und wo fie ging, empfand fie den Gerud Von Fleifdgerich

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ten, wodurch ihr Appetit ſehr gereizt wurde, bis ſie davon dem Beichtvater Anzeige gemacht hatte, wodurch ſie ſich ſtark genug fuͤhlte, jene Verſuchung gu verachten“ Aud hatte ſie die Viſion eines wunderſchoͤnen Engels, welcher ſich fiir einen Gottgeſandten ausgab, um fie in der Vollkommen⸗ beit zu unterweifen, weil Gott fie unmtittelbar durd die Engel leiten wolle. Der Engel Fehrte noc in zwei Nachten wieder, unterrichtete fie umftdndlid) in dem erleuchteten und anfdhauliden Leben, und ſprach: ,,died iff eine gang befor: dere Gnade, uͤber welde gu anderen Perfonen zu ſprechen eine grofe Untreue gegen Gott und die Urfache fein wuͤrde, daß Gr dir in Zukunft feine Gnade entziehen, und did) dem Teufel gu den drgften Plagen uͤberlaſſen wirde. Du haft died erfahren, weil du nicht treu und verfchwiegen gewefen bift; kuͤnftig wird es dir nocd ſchlimmer ergehen, wenn du nicht verfpridft, dic) beffer gu betragen’. Als fie dennod am folgenden Tage Alles befannte, weil fie es fir eine Lift des Satans bielt, empfand fie eine grofe Furdt, welche mehrere Tage anbielt. Es fam ihr vor, als ob man fie toͤdten wolle, und überall hoͤrte fie Degengeflirr; zugleich er: blidte fie ſchreckliche Geftalten, welche fie vor Furcht erbeben madten, gumal des Abends, und wabhrend des Gottesdienftes erlitt fie koͤrperliche Plagen. An ihren’ Fingern bemerfte man freisfirmige Eindrücke, welde fie den Krallen des Satans guferied. In einer Nacht gewahrte fie ein Phantom von be: wunderungswuͤrdiger Schoͤnheit, welches gu ihr ſprach: ,,meine Tochter, fuͤrchte Dich nicht, ich bin Maria, die Mutter der Barmherzigkeit; ich habe meinen Sohn gebeten, noch fuͤr einige Zeit das Walten ſeiner Gerechtigkeit aufzuſchieben, des— halb benachrichtige ich Dich, daß Du große Fehler begangen haſt, die Gnade meines theuren Sohnes abzuweiſen. Erſtaune nicht daruͤber, von den Teufeln beſeſſen zu ſein, dies geſchieht wegen Deiner Fehler”. Hierauf verſchwand das Phantom. Es war der Ungluͤcklichen, als ob ſie den Verſtand verloren habe, denn wenn fie ein Wort daruͤber zur Priorin ſprechen wollte, ſo kam es ihr vor, als ob man ſich neben ihr uͤber ihr Ge— ſtaͤndniß erboße. Da ſie von großer Furcht befallen war, ſo geſellte man ſie des Nachts zu zwei anderen Nonnen in einer 26 *

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gemeinfamen Stube, deren Lampe febr oft ausgeblafen wurde, Hierauf litt fie auferordentlid) an Gonvulfionen, und Erſtar⸗ rungen, fo daG fie oft fteif wie Hol; auf der Erde lag. Waͤh— rend ded Gotteddienftes wurde fie oft geswungen, bas Bud) wegzuwerfen, und beim Gebet erbielt fie ftarfe Stdfe, fo daß fie auf die Rafe fiel.

Marie vom heil. Geifte unterwarf am Weihnachts— fefte ihr bisheriges Leben einer Priifung, erneuerte ihre Gee libbe, und weibte fid) ganz dem Herrn. Um 1 Ubr gerieth fie in Wuth und brach in Gotteslafterungen aus. Sie Fonnte die fonnenartige Monſtranz nidt anbliden, weil fie darin die abſcheulichſten Dinge fab. Gn der nachften Nacht fiel eine ſchwere Laft dreimal auf ihren Ropf, die Sinne vergingen ibr, fie fonnte nicht ſprechen nod fic) bewegen, nur das Gefidt und der Geift bliecben fret. Nach einer Stunde erſchienen zwei Veufel, einer von der Grife eines Menfchen, der andere, nur eine Elle lang und von fdredlider Geftalt, hockte fid wie ein Affe ihr auf der Magengegend nieder. Beide fprachen, daß alle Nonnen des Klofters, und auc fie, ihnen angebor- ten, fie hemmten ihre Ginne, und verbinderten fie, die Worte au fpreden: Verbum caro factum est, wobei der Kleine ihe jurief: ,,fage dod) dein Verbum,” und ibr feine Sralle auf dab Herz legte. Nachdem fie nod Bieles gegen Gott gefproden, und fie aufgefordert batten, fic ihnen gu ergeben, erhoben fie fich lachend und fpottend in die Luft, und ftiefen ein firchterlidhes Geheul aus. Gn einer anderen fclaflofen Nacht horte die Ronne eine benachbarte Belle Sffnen und fcliefen, und unmittelbar darauf ein Geben nach) der ihrigen; dann trat ein eingelmer Mann herein, ſchloß bhinter fic) gu, und binderte fie, gu ſchreien. Endlich gelang es ibr dod), die Prio- rin eilte herbei, troftete fie, und befprengte die Selle mit Weihwaffer. Eine Stunde fpater erfcien ihr der Satan aber: malé unter ber Geftalt der Priorin, und forderte fie auf, Gott gu verleugnen und dem Veufel fich gu ergeben, welded ber goͤttlichen Majeftat fehr angenchm fein wirde. Hieriiber entfebte fie fic), und betheuerte herzhaft, daß fie niemals einen fo unermeflicben Frevel begehen wirde. Das Phantom ſchalt fie wiederholt eine Ungeborfame, welche durch ihre Sinne

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gefeffelt fei, gab ihr bet ihrer ftandpaften Weigerung eine derbe Obrfeige, und entfernte fich voll Verdruß. Dennod hatte fie die Priorin wegen dieſes Auftrittes in Verdacht, wurde jedoch von ihr hieriiber enttaufeht, Nach einigen Tagen erfchien das Phantom, und ſprach fogar die Worte: Verbum caro factum est, welded die Nonne auf den Rath der Prics rin von ifm forbderte. Gie wurde indeß hierdurch nicht befrie: digt, daher die Geftalt verſchwand, nad) einer halben Stunde ins Begleitung einer ander Nonne wiederfehrte, und Alles aufbot, um als wirkliche Priorin gu erſcheinen. Sie beharrte deſſen ungeadtet in ihrem Schweigen, und mufte unter vie lem Geſchrei den Vorwurf horen, daß fie einen uͤbel gefinnten Geift befise, die Dinge nicht fo aufnehme, wie man fie ihr fage, und dgl., worauf fie in ein lautes Gelaͤchter ausbrad, und beide Phantome unter ihrer wahren Teufelsgeſtalt ver- fdwinden fab. Die legte Beufelsvifion hatte fie im Chor nad einer gemeinfchaftliden Geifelung; Satan erfchien ibrin der Groͤ⸗ Be ded ftarfften Mannes, mit ſcheußlichem Kopfe, und zwei Hor: nern und graflicben Flammen aus Augen und Raden empor- wirbelnd, mit Krallen an Handen und Fuͤßen, den Morper mit Hauzaͤhnen befaet, welche aus dem Fleifche hervorragten. Gr fragte fie, warum fie bas thue, fie vertiere damit ihre Zeit, weil fie ihm doc) angehoͤre, und bald Ales werde thun miffen, was er von ihr fordere; zugleich ſtreckte er die Krallen nad ihr aus, al8 ob er fie in die Hille ſchleppen wolle, welches fie mit verdchtlichem Schweigen aufnahm. Hierauf ſpie er nad) ihr, indem er verſchwand und fie 3u Boden warf, auf welchem fie erſtarrt liegen blieb.

Marie vom heiligen Sacrament hatmit der Schil— berung ihrer Seiden ein halbes Buch angefillt, auf deffen erften Blaͤttern folgende Erzaͤhlung enhalten iff. Mathurin Picard erfchien mir einmal, und berithrte mid) an der Magengegend, worauf ic) ſogleich von beunrubigenden Gedanfen gequalt wurde ; im Gette fahe ich gu meinem Entfegen grofe Funfen von der Wand auf daffelbe fallen. Andre Male entrif man mir die Geifiel, warf fie mir ing Geſicht, und gab mir arge Schlage. Nm Krankenzimmer jupfte man mid) am Aermel und loͤſchte dad Licht aus; auf dem Speicher wurde ih am Knoten ded

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mid umgirtenden Stricks gepadt und-die Treppe hinabgeworfen. Oft wurde mir die Dede weggesogen; am age fiel eine fchwere Saft auf meine Schultern, welche mid) zu erftidfen drohte, müh— fam fcdleppte id) mid) nad dem Bimmer der Priorin, wofelbft die Laff unter grefem Gerdufd zu Boden fiel. Ich felbft wurde niedergeworfen, vermundet, und verlor Blut aus der MNafe und bem Munde. Jn einer Nacht wurde zweimal leife an die Thuͤre unfrer Belle geflopft, wobei id) Ave Maria fprac); nad dem Deffnen trat eine Geftalt wie eine Monne gefleidet, mit verfcleiertem Geſichte, die Hande in den Aer— mel verftedt, eine brennende Kerze tragend herein. Sie fprad mit trauriger Stimme: ,,meine Schwefter, ich bitte did, fei ohne Furcht, id) bin die Schwefter der Paffion. Gd war Monne in diefem Kloſter, und verweile fo lange im Fegefeuer, bis id) der gottlichen Gerechtigheit Geniige gethan habe.” Nah ciner in fcblaflofer Angft sugebrachten Nacht war id gegen Morgen eingeſchlummert, als ein Priefter durd die leife gedff- nete Shire herein trat, aber bei meinem Rufe nad gottlicder Hilfe feine Geftalt weranderte, einen grofen Rachen auftig, um mich. gu verfdhlingen und beulend mir gurief: ,,du, du, du geborft mir, wir wollen fehen, wer von und beiden der ftartfte iff.” Sch rief odreimal: „o Gott, Barmherzigkeit, Hilfe.” Sogleich fpie das Ungethim Feuer und Flammen und brillte entfeplid: „Vergebens, du wirft mir nicdt ents wiſchen, oder id) gehe gu Grunde.” Am ganzen Leibe yer: - fchagen wußte ih nidt, wohin id) mid legen follte. Sm Mai fand ih auf unjerm Vette einen rothgefcriebenen latei⸗ niſchen Brief, welden ic trop aller Bemihung nidt lefen fonnte. Der Teufel erfchien mir unter der Geftalt der Mutter Affomption und bat mid um den Brief, welden ih ihm gab, Nad) vielem Gefchwas feste er® ſich auf dads fleine Fen: fter der Belle, und ftieg dann herab, um mid arg gu qualen, indem er mid Fniff, ſtach, bif. Cine Schwefter bradte Lin— nen in die Belle und befreite mid von diefer Folter. Als der Biſchof von Eoreur an unfrer Belle voriberging, nabm der Veufel die Geftalt unfers Beichtvaters an, und fprad, ein Papier haltend, gu mir: ,, meine Vochter, dieſe Schrift habe ich vom Herrn Biſchof auffesen lafjen, du mußt fie unterzeich⸗

nen.” Ich trat in eine Nebenzelle, und wahrend id) meinen Namen unterfchrieh, fland er vor dee Bhiwe. „Ich gebe, fagte er, denn wenn man uns beide allein antrafe, fo wiirde es Auffehen erregens ich werde dir das Papier ein andermal voriefen, behalte 03.” Gr ging, ich faltete dad Papier gufam- men, und legte es auf meinen Magen, von wo es mir bald weggenommen wurde. Grftaunt und betribt ließ ic) unfern Heichtvater fchleunigh nach dem Schlafzimmer rufen, wofelbft ic) ihn nebft dem Herrn Bifchof antraf. Ich fagte ihm, daß mir das Papier genommen fei, ich wiffe nicht wie, und als ich beiden, welche nicht wuften, wovon die Rede fei, den Bor: gang erzaͤhlt hatte, ſchrieb dex Bifchof ein Glaubensbekenntniß und eine Verleugnung alles deffen, was der Teufel aus Arg: lift mic) hatte thun laſſen, nieder, und hieß mich untergeidh- nen. Alle Tage erfchien der Beufel in graflicher Geſtalt und geigte mir dad Papier; zweimal ergriff er mich bet beiden Han: ben, und lief mid) fehen, was darauf gefchrieben ftand. Es waren entſetzliche Lafterungen gegen Gott, gegen Jeſus Chri- ftus, die heilige Sungfrau, die heiligen Engel. Eines Tages erfchien mir der Teufel als Nonne, welde mix eine grofe Bus neigung begeigte, weil mir Gefahrtinnen gewefen waren, ebe wir den Schleier nabmen. Gr duferte ein großes VBedauern, mich fo leiden yu fehen, alle Tage bid auf ben Abend faften zu müſſen, man wolle mid fterben laſſen, wenigfiend mid qualen. Oft bradte er mix in diefer Geftalt Rofen und Nel- fen, und fuͤhrte mid) dann an einen entlegnen Ort, wo et mid) derbe ſchlug und mid wie ein Hund biß. Die Priorin erhielt ben Auftrag, mich dfters gu befuchen, und wiederum nahm ev ibre Geftalt an, um mir zu fagen, er fomme auf Befehl des BVBeichtvaters, worauf ich erwiederte, ich fei in gro- fier Berlegenheit, weil ic) nicht wiffe, mit wem ic fprade, und wem icy mich ‘anvertrauen folle; da der Veufel fic in alle moͤglichen Geftalten verfleidete. Cr entgegnete, Dap ich ihm ein grofed Bedauern einfldpe. Am nachften Tage erſchien er mit eben fo, und febte mid) durd eine Menge falfcher, ketzeriſcher Lehren fo in Verwirrung, daß ic) fie fix den wah— ren Glauben hielt, und mich entſchloß, mic) mit ihm darüber zu unterhalten, Acht Tage fewte ich diefe Gefprache fort, wel:

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dhe von Irrthumern und Lafterungen ftrogten. In einer Nacht erfchien ein junger, nadter Mann in meiner Belles ich rief: Verbum caro factum est, fprengte mit Weihwaffer nach ibm, woruͤber der Unverſchaͤmte fpottete. Als er mich peinigte, rief id laut: ,,mein Gott, ich vermag nidt mehr, vecleihe mir Kraft.” Im Slauben ein Gefpenft vor mir gu fehen, fprang id darauf gu, und griff mit Heftigfeit an. Als id gewabr wurde, dafi id ed nicht mit einem blofen Phantom, fonbdern mit einem wirfliden Herenmeifter gu thun habe, gerieth id in grofe Furdht, und ſchrie aus allen Kraften, worauf die Mutter Affomption fragte, was es gabe, Als id) gu fchreien forte fubr, offnete er die Thuͤre, und ſchleppte mich nad fic, weil id ihn gepadt hatte, und ibn nicht fabren laffen wollte. Gr entfernte ſich durch den Ramin, und id mufte ihn ‘endlid loslaſſen, nachdem er mic) zwei Fuß hod gehoben hatte, damit er mid nidt aus dem Rlofter wegfcdleppte. Man fand mid . auf dem Boden, die Hande mit einer rithlidh ſchwarzen, ſehr ftinfenden Galbe bedeckt, womit er fic) beftriden hatte, und welde mir mit Seinen abgewifdht wurde, Cin Engel des Lid) tes beſchwor und beredete mich, daß der Beichtvater ein Heren: meifter und in Liebe gegen mid entbrannt fei, und daß ec mit bald feine Gluth entdeden werde. Dann nahm der Bofe die Geftalt, die Gebarden, die Kleidung, die Worte deffelben an, ertheilte mir diefelben Lehren und Troftungen, und trat eines. Morgens in meine Belle, um mir feine Leidenſchaft in folgenden Worten gu entdeden: ,, Wie ift dir, meine Tochter? Ich febe wohl, daß du viel gu leiden Haft. Willft du, fo beichte und communicire, und rube darauf, du bift mein theured fleis nes Madchen, welches ih liebe, mit welchem ic frei und ver: trauensvoll reben will, aber verfprichft du mir nicht deine Dreue Ich glaubte er wolle mir Etwas zur Berubigung meines Geiftes fagen, und ertoiederte: „ja wohl, mein Water, ich. gelobe Shonen Vreue, wie ic) e8 immer gethan.” Hieranf ſprach er: „dies ift ein Geheimniß, welches ich dir wie im Beichtſtuhl an: vertrauen will.” Begierig, das Geheimniß su erfahren, gelobie ih ihm Verſchwiegenheit, morauf ex entgegnete, ex fei feit lange in Liebe gegen mich entbrannt, habe es aber nicht gewagt, fid mit gu entdeden, indeß da fid cine ginftige Gelegenheit darbiete,

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fo wolle er fic) naͤher erfldren, Dann fuͤhrte er Mehreres, an: geblich aus der Bibel an, um mir gu beweiſen, ich beginge feine Siinde, wenn ic ihn liebte, und fagte mir viel verliebte Dinge, wobei id fo in Erſtaunen gerieth, daß id) nicht wußte, was ich ſagen ſollte. Doch glaubte ich, es ſei nicht laͤnger Beit, zu ſchweigen, und rief taut: ad) mein Gott, wem foll id) mid) anvertrauen! Wie, bift du ein folcher Boͤſewicht, um mir fo abfcheutiche Antrage gu machen, und fo ſchaamloſe Ge: danfen gu fagen?” Er -erwiebderte: » Made nidt einen ſolchen farm, fprechen wir von etwas Anderem , ich will dir bas Abend: mabl geben.” ,, Nein, tief id), aus deinen Handen empfange id nicht das Sacrament, nachdem du ſolche Gefprdche anit mir geführt haft.” Dies ift nicht unfer Beidtvater, ſprach id, es ift der Teufel, welcher feine Geſtalt angenommen bat, um mic ju tdufchen, weiche von binnen Werruchter, im Namen Sefu Chrifti, damit dein Betrug offenbar werde, und id) erfabre, wer du biſt. Sh madte bas Zeichen des Kreuzes, fpengte Weihwaffer nach ihm, und et verſchwand. Mad der Dauer von etwa drei Miferere kehrte er gurid, angethan mit dem Chorhemde, das Giborium in der Hand und fprad: „Tritt heran, meine Tochter, empfange deinen Gott, er wird alle deine Pein verſcheuchen und deine Feinde befiegen.” Ich widerftand ihm beharrlich, und erklaͤrte, daß id) das Abend: mabl nur im Chor nehmen wuͤrde, worauf er verſchwand. Gin wenig fpdter lief unfer Beichtvater mid rufen, ich wollte nicht kommen, weil ich ihn in Betracht des Vorgefallenen fir einen Boͤſewicht hielt, welcher mich zur Suͤnde verleiten wollte. Doch wurde ich genoͤthigt im Sprachzimmer zu erſcheinen, wo der Beichtvater mir bewies, daß der Teufel aber nicht er mich bethoͤrt habe. Eines Nachmittages ließ er mich in das Sprach⸗ zimmer rufen, waͤhrend er auf dem Hofe mit einem anderen Prieſter ſich unterredete. Unterdeſſen nahm der Teufel ſeine Geſtalt an, und unterhielt ſich ganz auf ſeine Weiſe mit mir eine halbe Stunde lang. Ich ſprach alle meine Gefiihle mit großer Unbefangenheit aus, und er ließ mic) das Verſprechen der Treue und des Gehorſams wiederholen, wobei ich indeß aus Furcht, getaͤuſcht gu werden, ſtels hingufitate: „ja, mein Water, ich gelobe Alles, fo weit es mit dem Willen Gortes

410 iibereinftimmt.” Als der VBeichtvater ins Zimmer trat, fries ber Veufel mic fo, daß ic) hinftirste, und entwich durch das Gitter. Daran erfannte ich) die Wahrheit und meinen ungez rechten Argwohn gegen den VBeichtvater. Eines Tages erſchien er mir als Engel des Lichts und fprad: „ich habe dich fo oft gewarnt, auf deiner Hut ju fein; du vertrauft did) einem Glenden, welcher unter der Larve der Frdommigfeit und des Mitleids dir eine ſchmutzige und fimbdliche Liebe einflifen wilh, Det heuchlerifthe Beidtvater wagt es nicht, dir feine tole und abfcheuliche Leidenfchaft zu entdeden, denn er weiß es, baf er uͤbel aufgenommen werden wirde; aber er bedient fich feiner magiſchen Kunſt, um das Heil deiner Seele zu hemmen, und jededmal, wenn et dir das Abendmahl reicht, giebt ex dir einen ſehr ſchmutzigen Liebeszauber. Betrachte die Hoftie, welche er dir Ddarbietet, und uͤberzeuge did), daß fie unten roth befdrieben iff. Zweifle nicht daran, daß er es ift, wel- cher dir durch feine Zauberei einen Abfcheu gegen das. heilige Sacrament einfldft, und dir alle verhaften Borftellungen ein: giebt. O, der gottlofe und abfcheuliche Heuchler, welcher did durch feine verfluchte Magie in Siinde und ind Verderben ge: fiirgt Hat!” Halb tberredet und unendlich beſtuͤrzt ſuchte ih den Beichtvater im Spracdgimmer auf, und theilte ihm die ganze Unterredung mit. - Um ju erfabren, woran ich fei, wollte id) mit den anderen Nonnen das Abendmabhl geniefem, und wirklich bemerfte id) an der Hoftie Ales, was der Engel mic gefagt hatte, weshalb ic fie nidt annehbmen wollte. Nach ber Meffe erzaͤhlte ich dem Beichtvater Alles, was ich von bem Engel gebdrt hatte, worauf er voll Erftaunen erwiederte: „meine Vodter, du weifit, wer ich bin, und welche meine Verwandten find, ic) tberlaffe eS deinem Nachdenfen, ob cin Grund vorhanden iff, daß ic) cin folcher Bifewicht fein koͤnne. Du fennft mein Leben, habe ich jemals ein feblechtes Beiſpiel gegeben?” Nachdem er nod) andere Griinde gegen dic teufli— ſche Taͤuſchung angefiihrt hatte, ſprach er: „komm und geniefe das Abendmahl, ich werde dir alle Hoſtien einzeln zeigen, und dir diejenige reichen, welche du auswaͤhlſt.“ Dies geſchah, und id) communicirte mit großer Ruhe und Befriedigung. Gin andermal erfchien der Deufel in ſcheußlicher Geflalt wabhrend

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des Abendmahls und fprad: ,, id) habe den ausdrücklichen Befehl von deinem Beichtvater, in die Hoftie gu fahren, welche er dir reichen wird, damit er dein Herz erwerbe, und es gaͤnz⸗ lid) meinem Willen unterwerfe. Denn ich bin fein Gort, und werde aud) der deinige fein, und zum Beweife, das id die Wahrheit rede, id) werde ein Bheil der Hoftie fein, und diefer Theil wird dir unfehlbar ſchwarz erfcheinen. Es gefchab, wie er es fagte, und der Beichtvater hatte grofe Muͤhe, mid gum communiciren zu bewegen. Er geigte mir wohl 20 Hoz ftien, und alle erfchienen mir zur Halfte. ſchwarz. CEndlid fafte id) ein Herz voll Vertrauen und Liebe gegen Gott, id communicirte, gerieth aber eine halbe Stunde lang in ein bef: tiges Bittern, worauf id) rubig und frei blieb.” Der Exor⸗ cift Bosroger, welcher in diefem Drama eine grofe Rolle gefpielt gu haben fcheint, bemerft auferdem nod: ,, eines Ba: ges zeigte dev falfche Engel ihr ein großes und ſchreckliches Phantom, cin andermal einen grofen und firdhterlic haͤßli⸗ chen Beufel, ferner einen Mann mit einem Elephantenfopfe, defjen Riffel aus Flammen beftand, welchen er unter unertrag: lichem Geſtank umberfchleuderte, indem er mit Loͤwengebruͤll der Monne gurief: ,,da, da, du gehoͤrſt mir, der Engel des Herrn hat dich verlaffen, und mir befoblen, dich gu verfchlingen.” Diefelbe Geftalt erfchien ihe in einer Nacht fliegend, und rief ihr zu; „die Stunde ift gefommen.” Zuweilen zeigte er fid ibe als ein Ungeheuer, groper als cin Pferd, fliegend, Flam- men aus dem Rachen fpeiend mit dem Rufe: ,, ic) werde did fogleidy in Staub verwandeln, denn du gehoͤrſt mir an.” Dann erfchitterte er das Haus mit einem furdhtbaren Donner: flag, worauf ein Blib mit Flammenwirbeln durd dads Fen- filer fubr, die Belle erfiillte und die entfegte Nonne zu Boden warf, ohne ihr jedoch Schaden zuzufügen. Dabei lief fid) das graͤßlichſte Geſchrei und Geheul in der Luft horen, wie es Fein Menſch ertragen fann.”

Bur Bollendung des ſchauerlichen Gemaldes muͤſſen wir nod) eine Reihe eingelner Zuͤge sufammeniftellen. Die Nonnen geriethen fo aufer fic), und batten mitunter fo deutlide An— falle von Wuth, daß man fie einſchließen, feftbinden und ftets bewaden mufte. Der Teufel Dagon, welther die Schwe—

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fer Marie vom Heil. Geifte plagte, wurde’ wabrend eines Exorcismus fo rafend, daß die Nonne den’ neuen Strid, womit fie umgirtet war, mit beiden Handen ergriff, und ibn gerrif, als ob er. von Stroh gewefen ware. Als fie eines Tages die Meffe horte, gerieth Dagon wieder in’ Wurth und wollte fid) nad der Confecration auf die heilige Hoftie werfen. Der Priefter hielt fie ihm mit dem wiederholten Ausruf ent: gegen: ,,fiehe da, Den lebendigen Gott, wagft du ed, ihn gu beribren? Weiche von hinnen, Unglicdlider und Abſcheu— lider!” Unjabligemal bemihte der rafende Dagon fic wer gebens, fie gu berithren, obgleich er die Hande der Nonne daw nad) audftredte, dann warf er fie mit Ungeftim ruckwaͤrts gu Boden, fprang auf, und padte wie ein Hund die Patene, welde der Priefter ihm entgegenhielt, mit den Zaͤhnen, und alg der Priefter thm dies verbot, belectte er fie aus Spott mit der lang herausgeftredtten Bunge der Nonne. * Am Hfter tage 1644 gwang er die Nonne 4 Stunden hindurch, das Abendmabhl gu verweigern, indem er fie mit Convulfionen qualte, fie wiederbolt gur Erde warf, und fie ndthigte, in zahlloſen Spriingen und Laͤufen die Kirche yu umkreiſen, wo- bei fie die Umftehenden ftief§ und umrannte. Dann ließ er fie auf die Altaͤre fpringen, um Alles gu zerbrechen, ſchmach⸗ volle Dinge reden, bas Volk zu feiner Anbetung und zur Veradtung gegen Gott auffordern, gegen welchen er feine Prablerei, Wuth, Werleugnung der Allmacht und fuͤrchter⸗ liche Lafferungen ausſtieß. Unter den ihn beſchwoͤrenden Ge: beten der Priefter fdleuderte er die Monne vom Altar ——5 Schritte weit gegen das Gitter. Ein andermal warf er fie auf dem MKlofterhofe wiederholt mit einem folden Ungeftiim ridwarts auf den gepflafterten Boden, dah der Hinterfoyf mit grofem Gerdufd aufſchlug, obne jedoch befthddigt gu werden. Bei nod) einer anderen Gelegenheit erfletterte fie mit Hilfe alter an die Mauer gelefhnter Batten, erftere, wel: che 10 Fuß hod war, und lief an eine Stelle derſelben, wo fie auf keine Weife herabfteigen fonnte. Die Nonnen flehten ihre Gchwefter, nad) dem Orte der Mauer zuruͤckzu⸗ kehren, an welchem fie ohne Gefahr herunterkommen fonnte, und um ihe dies moͤglich gu machen, beſchwor ein Grorcift

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auf den Knieen den in ihr haufenden Dagon. Letzterer ges rieth aber in heftige Wuth, und ſchrie aus ihr: „Satan, wenn du nicht mit deinem Paternofter aufhirft, fo werde id dir dieſe Hindin gu Fuͤßen werfen”. Zugleich jagte er der Nonne durch das ploͤtzlich erwachte Bewußtſein ihrer gefaͤhr— lichen Lage einen großen Schreck ein, fo daß fie herabſturzte, ohne jedoch weiteren Schaden zu nehmen, außerdem daß ſie eine Zeit lang an Angſt und Betaͤubung litt. Als ſie ſich an einem Morgen in Ekſtaſe befand, und der Biſchof den Teufel in ihe beſchwor, gerieth fie ploͤtzlich in Convulſionen und in Wuth, wobei- der Teufel fie in die Flamme eines Kamins warf, aus welcher man fie nod) ſchnell genug evvet- tete, um. fie vor Brandwunden gu ſchuͤtzen. Der Damon Potiphar tried die Schwefter vom, heil. Gacramente auf einen Maulberbaum, deffen Gipfel fie in den kleinſten Zwei⸗ gen fo ſchnell umfreifete, daß ein Fernftehender glaubte, “fie fliege wie ein Vogel. Der Teufel lies bie Nonne die Gefahr ertennen, in welder fie fchwebte, fo daß fie erbleichte, und aus Furcht ſchrie. Eiligſt brachte man eine Leiter herbei, wor⸗ uͤber Potiphar ſpottend ausrief; „ich habe dieſe Huͤndin ohne Leiter hinaufgeführt, und werde ſie auch ohne dieſelbe wieder herunterbringen“. Wirklich fam fie uüͤber die kleinen Zweige glidlid) gum Hauptſtamm zurück. Unzaͤhligemal ver⸗ ſuchten die Teufel nad) Beendigung der Crorcismen und aud aufierdem die Nonnen in Brunnen zu flirjens wirklich fand man lebtere oftmalé frei im Brunnen fdwebend, indem fie ſich mit den Schultern an die eine, und mit den Fifen an die entgegengefebte Seite anſtemmten, oder indem fie der Binge nad im Brunnen herabbingen, und das eine Bein fret in die Luft ftredten, 3a Marie vom heiligen Geifte erbielt fich an der Deffnung des Brunnens in querer Stellung ſchwebend, indem fie nur mit Kopf und Fifen die entgegen: geſetzten Seiten beriuhrte. Ginige Befeffene neigten fic) weit uͤber das ſteinerne Geldnder, und Flammerten fic) blos mit den Fingern an den Steineden feff.

Gine befondere Erwaͤhnung verdienen auch nod die con: vulſiviſchen Bewegungen, welde oft die Geftalt equilibriftifcer Kinfte annahmen, dergleichen man bei Weibern, welde am

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Veitstanz oder am Somnambulismus leiden, gefehet haben muß, wie ic, um die Erjahlung nicht fie Uebertreibung gu hal⸗ ten. Bosroger, welcher hieriber fein Erftaunen ausdrückt, und fid) auf die Meinung einiger damaligen Aerzte beruft, daß foldje feltfame Bewegungen unmoͤglich die Wirkung dimer natuͤrlichen Krankheit fein finnten, hebt es als befonders toun- derbar hervor, daß die Nonnen nicht in den zahlloſen Wnfat- fen ju Grunde gingen, vielmehr voͤllig gefund blieben, obgleich fie 4 Sahre hindurd) bei Tag und Nadt geplagt waren, und obgleid) fie 2 Sabre hindurch wabhrend der 3— 4ftindigen Grorci8men rafeten, heulten und frien, und aud auferdem nod) 3—Amal deS Tages die Plagen des Satans ansgufte- hen batten, Beſonders haufig fam die bogenfirmige Kruͤm⸗ mung des Koͤrpers vor, wobei der ruͤckuͤber gebeugte Kopf die Ferfen beriihete, fo daß der Koͤrper ſich auf dad Geficht und def Mund ſtuͤtzte, wahrend die Arme fteif ausgeftredt gehalten wurden. Sie blieben guwweilen eine gange Stunde mit went: gen Unterbrechungen in diefer Stellung. Cine Nonne, welche ein Sabr hindurch faft taglid) an den firdterlidften Convul⸗ fionen und anderen Quaalen 2 und 3 Stunden fang zumal wabrend der Beichte und Meffe gu leiden hatte, nahm zu— weilen folgende feltfame Stellung an. Gie beruͤhrte den Bo: ben nur mit einer Stelle der linfen Seite oder des Bauches in der Lange von etwa 4 Bollen, und erbielt den übrigen RKirper fchwebend in der Luft. Dabei waren die Arme auf den Rien. gefrimmt, der Kopf bis gur Nievrengegend gurid: gebogen, und die Beine ricwarts bis yur Beruͤhrung ded Kopfes hinaufgeftret. . Einige Stellungen werden fo verwor- ren befchrieben, daß fic) fein deutliches Bild davon entwerfen last, indeß erfennt man dod) leicht dDaran die feltfamften Ver: gerrungen und Berdrehungen bes Kérpers. Die Schweſter vom Heilande Enicte vor dem Ergbifchofe von Toulouſe, und berichtete rubig uͤber die Vorgange in ihrem Innern. Plbe lich ftemmte fie fic) auf die rechte Ferfe, bog den Kopf rid wart bis faft gur Erde herab, ftrecfte die Arme fteif nad ben Seiten aus, hob aud) das linfe Bein in die Hoͤhe, und blieh in Ddiefer Stellung einige Beit, wahrend Asmodi Lifte- tungen durd ihren Mund ausſtieß.

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Die Beſeſſenen riefen ihre Unfalle gegenfeitig durch Dro Hungen und Vorbherfagungen hervor, und man glaubte dann, daß der Teufel aus der einen in die andere hinkbergefahren fei. Go ſchrie Dagon eines Tages aus der Schweſter vom heil. Geifte: „ich habe Alles verloren, diefe Huͤndin ift ſtaͤr⸗ fer, als jemalé.” Hierauf warf er fie unter heftigen Con: vulfionen zu Goden, und rief der Schwefter Marie von Sefus, welche mit anderen zur Hilfe herbeieilte, gu: „Satan, wenn du mic) nod) Langer haͤlſt, und mid nicht rubig aft, fo werde id) dem Accaron herbeirufen.” Marie, weldhe von legterem vielfad geplagt worden, jebt aber fret von ihm war, wollte ihr Liebedwerf nicht aufge— ben; aber Dagon rief den Accaron, und fogleid) walgte fic) die unglidlide Marie eben fo withend apf dem Bo- ben umber, wie ihre LeidenSgefabrtin. Gin anbdermal wurde Dagon, welder in die Magdalene Bavan gefahren war, burd) den Grorcismus in Wuth verfest, welde er in Lafteruns gen und fitrdterliden Gonvulfionen an der Nonne ausließ, indem er fchwur, daß er niemals gehorden werde. Marie von Sefus, welde gerade in rubiger Beichte begriffen war, wurde fogleid) von Accaron befeffen, welcher mit lauten und fraftigen Worten dem Dagon Muth einfprad), und ihn wegen feiner Staͤrke ruͤhmte. Gedadhte Marie identificirte fiberdied ihre Perfinlichfcit voͤllig mit der ihres Deufels, und erflarte fic) bieriiber mit folgenden Worten: ,, id habe 4 Na: men, welche meinen 4 ruhmwirdigen Cigenfchaften entſprechen. Ich nenne mid Accaron, den grofen Firften, wegen meines feinen Geiftes, denn er giebt mir die hohen Reden ein, welche ibe fo ſehr bewundert, und welde ihr gar nidt verfteben wirdet, wenn ic) fie nicht eurer Verſtandesſchwaͤche anpafte. As Beelphagor bin ih der Gott, welcher ſich auf den Herenfabbathen anbeten lapt, welder ben Aaron und Feroz beam die goldencn Kaͤlber anfertigen lief, und dieſer Name bezeichnet die Klarheit, mit welcher ic) ihnen folde Begriffe und Lebren einflifte. Sch bin derfelbe, welcher Wes iff und Nichts, welcher fid) niemals verandern fann, und welder ſtets dabei beharrt, Wes fein gu wollen, namlid) Gott, der Be: herrfcher aller Dinge. Ich bin der grofe Fuͤrſt Beelzebub,

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und diefem ruhmwuͤrdigen Namen entfpridt die Gabe der Un— empfindlidfeit, Wenn id) Quaalen erdulde, fo werden fie mir durch die Tyrannei desjenigen gugefiigt, der da oben waltet, und mid yu Boden driidt. Mein vierter Name Delphon fommt mir alé bem Gotte bed Lichts gu, denn id befibe die preiswirdige Gabe der Schnelligkeit, mit. welder die Sonne ihr Licht durch die Atmofphare ausftrahlt, und’ mit welder id mid) uͤberall hin verfebe, um mid) verebren und anbeten gu laſſen.

Ueber den weiteren Verlauf und den letztlichen Ausgang der Epidemie hat Calmeil keine naͤhere Auskunft geben koͤn— nen; doch hat ſie einzelnen Andeutungen zufolge wenigſtens 4 Jahre hindurch gedauert, und iſt durch die fanatiſche Ver— folgung einiger Ungluͤcklichen eben ſo wenig, wie die Epidemie in Loudun in ihrem Laufe gehemmt worden. Einige ſonſt unbekannte Aerzte ſtellten vergebliche Heilverſuche an, und ſie ſelbſt neigten ſich zu der Anſicht hin, daß der Teufel dabei im Spiele ſei; zu derſelben bekannte ſich auch der Biſchof von Evreux, welcher das Kloſter im Jahre 1642 mehrmals be— ſuchte, um die aufgeregten Gemuͤther, wiewohl ganz ohne Ers folg, gu berubigen. Natuͤrlich hegten alle Nonnen gang diefelbe Meinung, und diejenigen, welche bis dabhin frei geblieben wa: ren, fchwebten ſtets in der Furcht, von Daͤmonen befeffen zu werden, und fdon wabrend ded Lebens die Quaalen der Ver: dbammten erleiden gu miffen. Die Vergweiflung herrſchte in allen Gemisthern, und nie wurde eine grogere Strenge im Kiofter geibt, niemals inbrinftiger gebetet. Der Beidtvater war raſtlos bet den SKranfen bemiht, tréftete fie, donnerte gegen die Teufel; aber beim Anblid der Hoftie, des Kreuzes und dgl. brad) aus den Nonnen ein Strom von Verwuͤn— fhungen und Fluͤchen hervor, gum Beweiſe, wie wenig die: felben gegen den Wabhnfinn auszuridten vermodten. Im Ges beimen fragte man fic, ob im Kloſter nicht Baubermittel ver: ſteckt ſeien, welche allen Unfug hervorbradten.

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§. 42. Fanatiſche Verfolgungen, gu denen bas Befeffenfein Veranlaffung gab.

Gur jetzt muß id mid) auf einige Andeutungen der fana- tifchen Greuel beſchraͤnken, gu denen der damals nod in aller Standen herrſchende Aberglaube fihrte, ba fich gur ausfuͤhr⸗ lichen Schilderung fpater eine ſchicklichere Gelegenheit finden wird. Zu Ende Februars 1643 hatte ein Priefter im Mlofter eine Rede gehalten, in welder er die goͤttliche Allmacht pries, um den Einfluß des Teufels defto tiefer herabgufeben. Am Schluſſe der Predigt aͤußerte die befeffene Nonne Bavan, man werbde fehen, ob die Macht des Satans fo nichtig fei, und 409 dadurd) den Verdacht der Magie (des Bundes mit bem Teufel) auf fih. Am 1. Margy forderte der Biſchof Pévicard von Evreux 3 4 der kraͤnkſten Nonnen auf, ju erflaren, ob fie von einigen Teufeln befeffen feien, oder nicht, aud: gufagen, ob die Anfedtungen der Nonnen durd) die Gegen- wart von Zaubermitteln verurfadt wuͤrden, und laut die ruch— lofen Zauberer gu nennen, welde die Teufel in das Kloſter der heil. Elifabeth hineinbefdworen Hatten. Die Nonnen erflarten bierauf, daf fie den Deufeln gur Behaufung dienten, daß ihr verftorbener Beichtvater Picard, und die Schweſter Bavan, weldhe nad jener Predigt die Parthei des Satans genommen habe, die Geheimniffe der Zauberei aus dem Grunde verftanden, und daß beidbe das Mittel gefunden Hatten, eine Schaar von Veufeln gu gwingen, von den Leibern der Nonz nen Befig gu nehmen. Magdalene Bavan entfewte fid anfangs tiber diefe firdterliden Unfdhuldigungen, unter denen fie, obgleic) fie anfangs nod bei Vefinnung gewefen gu fein ſcheint, bald erlag, fo daß fie fic) felbft eine Teufelsverbuͤn⸗ dete nannte, und eine Menge von Bekenntniſſen ablegte, welche id) finftig mittheilen werde. Auf Grund derfelben wurde nun eine formlicde Unterfudung eingeleitet, in welche bald auc) ein achtungéwerther Priefter, Thomas Boullé«, verwidelt wurde, und welde fpdter an das Parlament in Nouen iiberging. Letzteres erfannte nad manden, eines fpanifcden Gnquifitionégeridts wirbdigen Proceduren, den Boullé fir ſchuldig, und verurtheilte ifn, nebft dem fruͤher ausgegrabenen

Sveler Theorie d. relig. Wabnfinns, 7 27

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und in eine tiefe Kloake geworfenen Leichnam des Picard oͤffentlich verbrannt zu werden. Am 21. Auguſt 1647 beſtieg Boullé den Scheiterhaufen in Rouen an derſelben Stelle, auf welcher zwei Jahrhunderte fruͤher die heldenmuͤthige Jung— frau pon Orleans den Tod in den Flammen gefunden hatte. Die Bavan wurde fir ihr ganged Leben in einem Kerker eingefperrt, in welchem fie eine Menge vergeblicher Verſuche des Selbſtmordes machte.

IV. Einige kleinere Kloſterepidemieen.

§. 44. Das Beſeſſenſein der Nonnen in Cambrai.

Sn den Sahren 1491 1494 wurden die Nonnen eines RKiofters in Cambrai, wie Calmeil (a. a. O. Bh. 1. S. 1638) nad gleichzeitigen Schriftſtellern berichtet, auf eine fuͤrchterliche Weiſe von den Teufeln gequaͤlt. Sie liefen wie Huͤndinnen quer uͤber die Felder, ſprangen in die Luft, wie Voͤgel, er: fletterten die Baume, wie Katzen, fchaufelten ſich in den Sweigen, ahmten den Dhieren nach, erriethen Geheimniffe, und weiffagten die 3ufunft. Grorcismen und andere Behand— lungsweiſen brachten ihnen keine Grleichterung, aud) nicht die Maafregel, daß ihre Namen Hffentlid) in Nom vom Papfte wahrend der Meffe verlefen wurden. Der Teufel befannte felbft, daß erin bas Kloſter durch die Nonne Fohanna Pos thiere cingefihrt worden, welder er 134mal fleiſchlich im Klofter beigewohnt habe, und daß fie erſt 9 Sabre alt gewe: fen fei, al8 fie mit thm in den Bund getreten. Sie wurde gum immerwaͤhrenden Gefangnif verurtheilt, in welchem fie ges gen das 40. Sabr ftarb. Ob fie fich felbft far fchuldig be— fannte, oder nur von den hee bezuͤchtigt wurde, wird nicht gefagt.

§. 44. Epidemifcher Teufelswahn in dem Klofter Uvertot in der Graffdhaft Hoorn, und in einem Brigittenflofter,

Wyerus hat (a. a: O. S. 299) von diefer Epidemie, welche im Jahre 1551 herrfchte, folgende Schilderung gegeben.

419 Der Aushruch derfelben erfolgte gu Ende der Faftenjzeit, nad: dem die Nonnen Langer alS 50 Tage nur den: Saft von Mit: ben genofien batten, und darnad) ein reichliches Erbrechen von ſchwarzen, bittern und ſcharfen Stoffen erlitten, wodurch 3unge und Lippen wund gefreffen wurden. Sie ſchreckten aus Dem Schlafe auf, glaubten das Wehklagen einer Franken Perfon zu horen, bildeten fic) ein, daß eine die anderen zur Hilfe gerufen hatte, fprangen eilig aus dem Bette und vere wunderten fic. nicht wenig uͤber ihre Taͤuſchung. Der Urin ging ihnen unwillfiirlid ab, und zuweilen fiblten fie ein Kitzeln unter den Fuffohlen, fo daß fie in ein endlofed Ba: chert ausbracen. Sie wurden gleichſam aus. den Betten ge: riffen, und an den Veinen auf dem Boden herumgeſchleift, Arme und Beine geriethen in. die mannigfachſten Convulfionen, wahrend 3udungen das Geficht verzerrten. Zuweilen fpran: gen fie in die Luft, und fielen gewaltſam yu Boden. Einige trugen an fid) Spuren von Schlagen, welche fie fic) unwiffent: lich gufigten. Wenn fie ganz ruhig zu fein fchienen, fielen fie ploͤtzlich ruͤkuͤber, verloren die Sprache, und blieben auf dem Boden liegen, als ob fie vollig des Bewußtſeins beraubt waren; bierauf wurden fie ploͤtzlich von den beftigften Convul- fionen befallen, fo daß die Umftehenden fie nur mit grofer. Muͤhe fefthalten fonnten, fie fprangen auf und ftirsten wieder nieder. Nach einigen Augenbliden Ruhe befanden fie fic burchaus wohl. Ginige, welche fic nicht im Gleichgewichte erhalten fonnten, rutfchten auf den Knieen, und fdleppten die Beine nach; andere fletterten in die Baume, und ftiegen hinab, indem fie den Kopf nach unten, und die Beine nad oben kehrten. Sie hielten ihre RKranfheit fir die Wirfung eines teuflifthen- Pacts. Cine Hebamme der Nachbarfchaft, deren Leben fic) durch wohlthatige und barmherzige Handlun— gen auszeichnete, zog den Verdacht der Energumeninnen auf fick, Sie wurde nebft 7 anderen Frauen, auf welche gleichfalls Verdacht fiel, ins Gefaͤngniß geworfen. Sie leugnete ftand- haft das ihr aufgebiirdete Berbrechen, wurde auf die Folter gebracht, und ftarb bald darauf an ben Folgen derfelben. Die Unfalle der Nonnen ließen erſt nach 3 Jahren in ihrer . 27* .

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Heftigheit nah; als man vad Publtifum von dem Angaffen Derfelben fern bielt.

Cine kuͤrzere Notiz giebt Wyerus (a. a. O. S. 301) von einer abnliden Epidemic, welche 10 Sabre hindurd in einem Brigittenflofter herrſchte. Die Nonnen ahmten dads Ges ſchrei der Thiere und bas Blofen der Heerden nad, zumal wenn fie fic) im Chor befanden, wofelbft fie in der groͤßten Unordnung uͤber einander gu Boden fielen. Ihr Schlund war oft dergeſtalt zuſammengeſchnuͤrt, daß fie keine Speifen ver: fdluden fonnten. Die Epidemie war von einer jungen Nonne ausgegangen, welde aus unglidlider Liebe den Schleier ge- nommen hatte, und fogleid) nad dex Aufrahme einen Anfall erlitt, welder fid) durch Anfteung auf die andern Nonnen fortpflanjte. Sie bielten fic) fire Befeffene und hérten des Nachts im Sdhlafjimmer Bone von Harfen, Bittern und an: deren mufifalifchen Inftrumenten, deren ſich der Teufel, wie man glaubte, gur Verfuͤhrung der Nonnen bediente. Cine derfelben glaubte, daß ber Teufel in Geftalt eines Hundes gu iby in’ Bette komme. Die Nonne, welde ben dbrigen Schweftern das Leiden mitgetheilt hatte, wurde eingeferfert.

§. 45. Cpibemifdher Teufelswahn im Klofter gu Kentotp im Elfaf.

Aud die Schilderung diefer Epidemie hat Wyerus (a. a. O. S. 302—304) gegeben. Zu Anfang wurden nur wenige Nonnen ergriffen, und ihre RKrampfe und Delirien rourden der Epilepfie gugefehrieben; bald aber breitete die Epis demie ſich weiter aus, und die Anfalle kuͤndigten fid) jedes— mal durch einen uͤblen Gerud) des Athems an. Sie verloren bann nidt gang die Befinnung, ftiefen Gefchret aus, fühlten ein Verlangen, um fid) gu beifen, und erfitten die furchtbar⸗ ften Gonvulfionen, wobei befonders der Schlund gufammenge: fdniirt war. Die Miederfehr und Dauer der Anfalle zeigte eine grofe Verfchiedenheit. Das Geraͤuſch, welded eine Nonne in ihrem Bette durd die Krampfe hervorbrachte, reichte bin, aud) die tibrigen Nonnen im gemreinfamen Schlafzimmer in Gonvulfionen zu verfeben. Sie Fonnten ihre Bewegungen

42t nicht beberrfchen, deshath biffen und ſchlugen fie ſich felbft, ihre Gefahrtinnen, und warfen fid) withend auf Frembde, welde fie verwunden wollten. Sie warfen ſich uͤber einander auf den Boden, und begingen hundert andere tole Streide. Tumult und Aufregung wurden arger, wenn man fie unter: druͤcken wollte; lief man fie frei gewabren, fo biffen fie und ſchlugen fic blutig, ohne dabei Schmerz gu empfinden. Anna Lemgon, welde mit guerft von Kraͤmpfen befallen worden war, wollte cine Pilgerfehaft nad dem Klofter Nonhertig an- treten, und da fie Schmerzen im Unterleibe empfand, fo wil ligte fie cin, aus dem Sdyidel des heiligen Cornelius gu trinfen, ebgleic) ihe Uebel gunahm, Auf der Hohe der An- falle redete fie, aber obgleich fie wufte, daß fie die Worte bildete, fo glaubte fie dod), daß ein fremdes Wefen aus ihr rede. Mach einem Anfalle hatte fie die Worte vergeffen, welche fie wabrend deffelben fprac. Wenn man fie an ihre tollen Streiche wahrend der Anfaͤlle erinnerte, fcien fie verlegen, und befannte, fie wünſche gu vergeffen, was gefcheben fei. Oft war es ihr unmoͤglich, gu beten, und ihre Aufmerkſam— feit auf fromme Betradtungen gu richten, fie bielt fid) fir abgeftumpft, des Gebrauchs ihrer geiftigen und moraliſchen Krafte beraubt, unfahig, einen Entſchluß gu faffen. Die Lob- gefange auf Gott vermehrten ihre Beſchwerden, und alle ihre Bufalle wurden auf Rechnung des Satan’ gefthrieben. Wenn man Befchworungen mit ihr vornahm, fo fpie. fie eine Menge Blut aus, doch fchienen ihre Bufalle ſich fir einen Augenblick su legen. Ihre vodllige Heilung erfolgte im Schooße ihrer Familie, au welcher fie auf Verlangen ihres Waters zurüͤckkehrte. Dok reichte lange Beit ein Brief aus dem Kloſter hin, fie in ein allgemeines Bittern gu verfegen, und Briefe vow der Priorin. wirften fo ftarf auf. fie, daß fie einen Ruͤckfall be: fiirdtete. Alle Befeffenen Flagten fiber einen brennenden Schmerz in den Fuffohlen, wie von kochendem Waſſer. Die jingeren, unmafig geſchwaͤtzigen Nonnen hatten fic in den Kopf gefest, daß die Koͤchin des Kloflers, Elfe KRamenfi, fic) mit dem Teufel verftandigt habe, ihnen diefe Plagen zuzu— fiigens fie behaupteten von Teufeln unter der Geftalt von Katzen und als Schatten umringt su fein, welche vie Geſichtszuge der

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Kichin, ihrer Mutter’ und ihres Bruders an fid trigen. Ucberdies gab nod ein Elender die Unglidlide fir. eine arge Here aus. Gie felbft war denfelben Zufallen, wie die Non: nen, unterworfen, gu gewiſſen Zeiten verfiel fie in einen finn: lofen 3uftand, und hielt, verwirrte Meden. Sie wurde be: fdhuldigt, den Wahnfinn und die Epilepfie gu erheucheln, um ihre Bosheit geſchickt zu verbergen. Werhaftet und zur Wabr: heit ermahnt, befannte Elſe Kamenſi, Gift unter die Speifen der Nonnen gemifcht gu haben, daber deren Zufaͤlle yon Bezauberung herruͤhrten. Cie wurde nebſt ihrer Mutter gum Scheiterhaufen verurtheilt, widertief auf demfelben gwar ihre Befenntniffe, behauptete jedod), daß thre Verwünſchungen den Monnen ihre Krankheit zugezogen Hatten, Uebrigens wurde die Wuth der Veufel durch diefe Hinrichtung nur ge: fteigert, ja die Epidemic breitete fic) fogar auferhalb bes Klo— fiers aus. Fuͤnf Bauern, deren Heilung. cin Priefter über— nahm, geberdeten fic) wie Sinnlofe.. Zwei von ihnen fpra- en von dem ſchwarzen Bod wie von einem Reitpferde, auf welchem fie ſich uͤberall hin begeben fonnten, wie ihnen be: ttebte, und ahmten auf einem Stuble das Reiten nad. Cin dritter waljte fid) auf dem Boden herum und eine Breppe hinab. Sie nannten einige BWeiber, und befthuldigten fie der Anhetung des Satans, Selbſt in dem Dorfe Howell, nabhe bei Strafburg, famen einige Energumenen gum Vorſchein, und gine. Menge von Perfonen wurde als der Hererei verdachtig ing Gefaͤngniß gefchleppt. Mad) dem Ausdruce des berüͤchtig— ten Bodinus bifiten mebhrere Perfonen mit ihrem VBlute die Berwegenbheit, fic der Religion des Satans ergeben, und ifn in die Seiber ihrer Mitmenfehen befchworen zu haben.

§. 46. Teufelswahn im Brigittenlofter gu | Lille.

Gon cinigen gleichzeitigen, mix unbefannten Schriftftet: tern entlebnt Galmeil (a. a ©. Bh, 1 S. 541) einige freilid) nur mangelbafte Notizen wher gedachte Epidemic. Kaum war Gaufridi (vergl. §. 36) todt, als die Nonnen des genannten Kloſters, denen man die Borgdnge in Aix

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erzaͤhlt hatte, ihrerſeits fic) fie befeffen bielten, und dabei. die gewoͤhnlichen Zufaͤlle erlitten. . Ginige waren geradezu vom Teufel befefjen, andere geigten nur eine Verfiandesverwirrung, oder fie hegten einen Abfcheu gegen die Beichte, oder fie ma: ren von Verzweiflung, wenigitens von grofer Unruhe ergrif- fen, fie litten an. Erſchoͤpfung, glaubten zu fierben, und wa: ren noch mit vielen anderen Beſchwerden behaftet. . Es wur- dew manche Zufaͤlle, aͤhnlich denen in. Loudun, beobachtet. Wenn. die Nomen. aus dem Mlofter entfernt wurden, befane den fie ſich gang wohl, aber bei. ihrer Ruͤckkehr in daffelbe wurden ſie von neuem geplagt. Als man nad der Urſache forfchte, gerieth Marie de Gains, welche bis dahin im Klofter im beften Rufe geftanden hatte, in den Berdacht, heimbich der Hexerei ergeben gu fein, weshalb fie, eingeferfert wurde, Ihre Lage verſchlimmerte ſich, als im Fruͤhjahr 1613 drei erorcifirte Energumeninnen erflarten, Marie habe die Toufel herbeigerufen unr, das Mlofter ing Verderben ju ſtürzen. Anfangs. entfeste fie fic diber diefe Anflage, welche indeß bald einen fo tiefen Gindrud auf, fie machte, daß fie folgendes Bekenntniß abz legte, deſſen Ausdruͤcke Calmeil gu mildern fide genothigt ſah:“ heute ays Ich habe dem Teufel meinen Kodrper,. meine Seele, meine guten Werke, Alles uͤberlaſſen, was der Menſch feinem Schoͤpfer darbringen fann.. Ich habe in der Kleidung und’ bens Bettſtroh der Nonnen ein Zaubermittel verſteckt, welches der, Teufel mir,anvertraute, und welded jene aus dev Welt fchaffen ſollte. Dies Zaubermittel wurde von Gaufridi am Herenfabbath exfunden, und der Teufel ernannte ihn. zum Lohn gum Fürſten der Zauberer, und mir wurden koͤnigliche Ehren verheifen, wenn id die Hand zur VBerbreitung dieſes Zerſtoͤrungswerks Gieten wollte. Mehrere Schweſtern des Klo⸗ ſters, welche zuerſt von dem Teufel beſeſſen wurden, erlagen ber Wirfung, dieſes Nhiltrums, .. Daffelbe war zuſammengeſetzt aus Doftien , geweihtem Biute, Pulver vom Bore, Menfchen- knochen, Kinderſchaͤdeln, aus Haaren, Naͤgeln, Fleifd) und Saamenflifjigteit, der, Hexen, nebſt Stuͤcken von Lebern, Mile zen und Gebirn, Lucifer ertheilte dieſem Gemiſch cine bis dahin unerhoͤrte Kraft, und Die Hexen opferten ihm aus

a 424 Dank eine grofe Menge won Neugeborenen. Ich habe den Nonnen bes Klofters fchwadende Palver beigebradt, wieder- bolt Verſuche gemacht, die Aebtiffin gu tddten, desgleichen den Biſchof von Dournay und feine Diener. Zwei Perfonen habe id) wirklich umgebradt. Einigen Nonnen habe ich franfma- chende Pulver gegeben, andere, welche auf den Magen und das Gebirn wirfen, dem Pater Michaelis, folche, welche die Laufefucht erzeugen, dem Pater Domptius, einGift, welded Unfruchtbarfeit bewirft , der Grafin Dair, ein fhwachendes und toͤdtendes der Grafin Destairreds. Auf die Nonnen habe it mit einem Zaubermittel gewirft, welches den Geift verwirrt, und vom Nachdenken ableitet. Vom Sabbath brachte ich Wachs: idole mit, welde die Nonnen gur Wolluft reigten, und .ih habe mic mit dem Seufel vereinigt, um den Schrecken ber: vorgurufen, welder im Kloſter herrſcht. Einer Nonne reichte id) ein Baubermittel, welded ihr einen Abfcheu gegen ihren Beruf cinflofte, und ihr durch Bellemmung Angſtgeſchrei aus: prefte. Underen erregte ic) auf Ddiefe Weife Anfalle von Verzweiflung, Schwermuth und Zorn oder ungiichtige Bee gierden. Durd) Zaubermittel verhinderte ich die Beichte, in: bem daburd) den Nonnen bas Gedaͤchtniß geraubt, und fie, von Stummbeit und Bittern befallen wurden, wenn fie dem Beichtvater fic) ndherten. Mebhrere andere Perfonen, und alle Monnen, welche feit einer gewiffen Zeit begraben~find, habe id) gemorbdet. Jedesmal, wenn ich ein Zaubermittel gebraudte, ſprach id gewiffe Morte aus, welche der Teufel mich lehrte, und welche meine Abficht ausdridten. Jd habe 'mehrere Fleine Kinder getddtet, und fie lebendig gedffnet, um fie dem Teufel zu opfern. Mehrere habe ich erwiirgt, und ihr noch lebendes Herz gegeffen, befonderé von Chriftentindern. Mehrere habe ich erft erftidt, und dann fie wieder ausgegraben, um fie nach dem Sabbath gu tragen. Ginige habe ich mit dem vom Teufel empfangenen Gifte ges todtet, andere, indem ic) ihnen die Haare ausrif; anderen habe ich mit einer Nadel das Herz und die Sdldfe durchbohrt; andere habe id) gebraten, erfauft, verbrannt, gekocht, oder id) habe fie in Latrinen, gliihende Ofen geftedt, den Wilfen, Lowen, Schlangen und anderen reifenden Thieren gum Vers ſchlingen vorgeworfen; einige habe ich an den Beinen, Armen,

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Shaamtheilen, am Halfe aufgehangt, cinigen zerſchmetterte ih ben Sehadel an der Mauer, einigen zog id) die Haut ab. Aw dere habe id) wie Ochſen erſchlagen, und ihnen die Eingeweide herausgerifjen, oder fie in Preffen zerquetſcht, oder fie an gro: fe Hunde gebunden zerreißen laſſen. Einige freusigte id) ihrem Schopfer gum Hohn, indem ich ſprach: » ith weihe den Ror: per, die Seele und alle Glieder diefeS Fleinen Kindes dir, Lucifer und dir Beelzebub und allen Teufeln."— Ma: tie befannte, am Sabbath-fic oft mit den Teufeln fleiſchlich vermiſcht, und außerdem Sodomie mit Hunden, Pferden und Schlangen getrieben, ein Gleiches mit dem Gaufridi gethan, und ihn als Fuͤrſten der Zauberer angebetet zu haben. © Mit dem Beufel hatte fie folgendes Buͤndniß geſchloſſen: „ich ge: lobe dir, Beelzebub, dir mein ganzes Leben hindurch zu dienen, dir mein Herz, meine Seele, alle Krafte meines Gei⸗ ſtes, alle Ginne’ meines Koͤrpers, alle meine Werke, Win: ſche und Seufzer, alle Gefühle meines Herzens, alle meine Gedanfen zu weihen. Ich gebe dir alle Theile meines Mor: pers, alle Blutstropfen, alle Nerven, Knochen, Adern. Ich weihe mein Leben deinem Dienſte, und wenn ich tauſend Le⸗ ben haͤtte, weil du es verdienſt, es willſt, und weil icy dich liebe” u. f. w. ,, Der Teufel bevedete mich, daß ich eS zu mei⸗ nem Heil thaͤte, wenn ich Menſchenfleiſch aͤße, er blendete mich dergeſtalt, daß ich heilig würde, wenn ich an den Abſcheulich⸗ keiten des Sabbaths Theil naͤhme, auch fürchtete ich zuweilen, daß man mich zum Tode verdammen würde. Uebrigens iſt CEhriſtus mir ſelbſt erſchienen, um mix anzuzeigen, vag e uber die Nonnen wade, und die Streiche der Teufel gegen fie abwehren werbde; die Sungfrau Maria bat mid) gebeten, meine Seele gu retten, und ihre Verwendung bei ihrem heiliz gen Sohne angunehmen; id) habe den Grlifer der Menfchen fred) angeredet, und der Maria die ſchimpflichſten Beleidigun⸗ gen geſagt. Mit meinen leiblichen Augen habe ich den heil. Dominicus, den heil. Bernhard und ander⸗ himmliſche Perfonen geſehen, und wenn id die Schweſter Peronne nicht mit einem Meſſer erſtach, ſo unterblieb es, weil maͤchtige Be— ſchutzer ihr zur Seite ſtanden. Bei einem zweiten Beſuche des Erloͤſers hatte ich einen Anfall von Wuth, ich ſtieß Laͤſterun⸗

426 gen ans, unter Beleidigungen fclug ich den Heiland ind Ge- fit, wollte ifn mit einem: fpisen Eiſen durchbobrens auc verwundete id) die heilige Jungfrau, und laͤſterte die Heiligen.” Die Ausfagen der Marie. von den Herenfabbathen erflart Cal⸗ meil unterdriden gu muͤſſen. Sie befchried Tag fir Bag bie bet den Teufelsfeſten verüͤbten Scheuflicfeiten, bet denen fie cine grofe Molle fpielte, und wiederholte mit cyniſcher Ges ſchwaͤtzigkeit die langen Litancien und Gebete ded Teufels, sel che ſowohl Beelsebub, sald die ubrigen Anwefenden ſpra⸗ chen. Die Dreieinigfeit der Holle wird gebildet von aes fer, dem Gater, Beelsebub, dem Sohne, und eWewhas than, dem heil. Geifte. Unter den Geboten heist cds du follft Vater und Mutter haffen, Manner, Weiber und kleine Kinder tddten, Wucher, Diebftahl. und Raub. begehen.“ Maz rie ſprach ausfuͤhrlich ber den Antichrift und» ſeinen Vor—⸗ laufer, uber den freien Willen und die Apokalypſe, und. wußte das Gebet auswendig, welded Beel ze bub bei Der Geburt © des Antichriſts hielt. Lewterer iff der Sohn einer Judin und eines Ineubus, am Sabbath von Gaufridi getanft worden; wobei fie Pathin war. Beelzebub nahm ibn als Sohn an, fein Mame iff wabhrer Meffias, und er ſpricht alle Spra⸗ chen geldufig. Seiner Mutter ift der Gonnabend ale Sab- bath gur Anbetung geweiht. Der Vorlaufer iſt ein Sohn der Magdalena von Mandel und. des Gaufridioder ded Beelzebubz aͤlter alS der Antichrift mind er fricher als diefer auf Erden erfeheinen, umringt von ciner Schaar vou Teufeln, welche fic in die Geftalt von Menſchen verkleidet haben; alle werden den Volfern die Anfunft des Ant ichr iſts und einer neuen Gonne vorberverfiindigen. Dann wird die chrifilide Meligion mit ihren Tempeln und Kloͤſtern verſchwinden, man wird in Synagogen dad Bild des Teufels anbeten, Gotteslaͤ⸗ fterung und Wolluſt werden in großem Anſehen ftehens . Ma— rie erflarte, vom Firften des Sabbaths geſchwaͤngert zu fein, und bereits zwei Kinder geboren gu haben, von denen eins bem Gaufridi gehoͤre. Beide Kinder beſuchten den Gabbath, und wurden von den Teufeln ergogen, Dft brad M awse in’ Shranen anus, ibre Lage flopte ihr Abfthew cin, und ſie wiinfthte den Muth sum Selbſtmorde su haber. 3, Es iſt entſetz

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lid, fagte fie, Gott gu fennen, und ſich dod dev Laͤſterun— gen gegen ihn nidjt erwebren gu fonnen, dem Teufel den Vor- sug geben gu müſſen, und ſtets gendibigt ju fein, auf neue Empoͤrung gegen Gott gu finnen. Um dem. Lucifer entfas gen gu fonnen, muͤßte ihr dad Herz ausgeriſſen und cin, ane dered gegeben werden, die Liebe gum Herrn. rege fid in ihr nicht mehr, der Veufel habe nur allzuſehr Recht, wenn er ihr unaufhorlic vorbalte, daß fie von Gott und. den. Menfehen verworfen fei, ihre einzige Doffnung fei anf. den. Teufel gefese, Dok fiehte fie mitunter Gott um Veiffand an, indem er ihre Geele in Befis nehme, und den Haff durch die Liebe verdrange, Aber der zuhoͤrende Beufel erwiederte, daß fie nicht erhort werbde, daß Alles unnuͤtz fei, und nur ihre Cage verſchlimmere, ev werde nicht von der Stelle weichen.

Die Schweſter Péronne, eine der drei Cnergumeninnen, welche gegen fic zeugten, weigerte fic), die Hoſtie gu empfan: gen, und nabm fie aus dem Munde. Cie, fo wie die beiden anderen grimbeten ihre Ausfagen awar nicht auf das Zeugniß ber Sinne, bildeten fic aber ein, ihre Kunde vom Teufel felbft erhalten gu haben. Alle drei fafelten viel Aber das Dew felSwefen, und fie gogen die Aufmerkſamkeit der fie erorcifirens den Pricfter auf die Geburt des Antichrifis, auf fein Erfchetnen am. Gabbath, auf ben Schaden, welden er der Religion und den Menfchen aufiige, auf die Fefie, welche die Verdammten in. feinem Mamen feicrten, auf die Abſcheulichkeiten, welche man ibm, dem Furften der Verbrechen und der Wolluft zu She ren erfande, Cie fpracen -von den §reveln der Marie, von dem Mange, den fie am-Gabbath behaupte, von ihrem mit dem Gaufridit erjzeugten Sohne, welder an- dem Hofe des Antichriſts erfcheinen, und eine bedeutende Molle in der Herrſchaft de Boͤſen fpielen werde. Nach diefen Anflagen wurde Marie ihres Kloſtergewandes beraubt, und zu harter Buße in immerwéhrender Gefangenfdaft in dem Lerler des geiſtlichen Gerichts in Tournay verurtheilt.

Kaum war das Urtheil vollſtreckt, als eine neue Unter ſuchung gegen die Nonne Simonie »Dourlet eroͤffnet wurde, da die Energumeninnen in Gegenwart der Exorciſten uw zaͤhligemal fie beſchuldigten, fie begebe ſich jede Macht in die Bers

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fammiung der Veufel, laffe durch diefe ihre zahlreiche Kinder erziehen, und fei überhaupt noc weit verrudter, alé die Ma— rie. Gimonie vertheidigte fit mit eben fo grofer Ganft- muth als Sefonnenheit. Fuͤnf Tage hindurd wurde fie mit unerhorter Graufamfeit von ben Grorciften und den Befeffenen gequalt, wobei fie nur mit Thranen und verftandigen Erklaͤ— rungen die verridten Anfchuldigungen ihrer erbarmungstofen Henfer beantwortete. Man begichtigte fie, Umgang mit dem Beufel Lucem zu pflegen,. die Hoftie aus Hohn mit den Fire fien ju treten, fid) mit den Teufeln im Roth der Wolluſt zu waͤlzen, fic) dem Beelzebub vor die Fife geworfen, die Vaufe ihrer Kinder am Sabbath durd die Heren bewirft ju haben. Man enthleidete fie faft ganz, durchbohrte fie mit ei— nem fpigen Eiſen am Bufen, an den Handen, Fifen und vielen anderen Stellen, um ju erfahbren, ob dafelbft Teufels⸗ male verborgen feien, man bedrohte fie mit der Folter und ewiger Berdammnif. Sie behauptete bebharrlid), unſchuldig, und der chriftlichen Religion ergeben gu fein, und Nichts von den Anflagen der Energumeninnen, welde ein fo fcheuflides Bild von ihrem Leben entwarfen, zu begreifen. ,, Befenne, gehorche, Verrudte, fchrie eine Beſeſſene ihr gu, preife Gott, wenn du nod) einige Zeit gogerft, fo wirft du die madtige Hand de Beufels fihlen, welder meine Quaalen verurſacht, warum fann id mid nit auf dic) werfen, und dit in Stuͤcke jerreifen?” Die wabhnfinnige Marie de Gains ſprach gu ihr: „ich bin eine Here, eine Bauberin, das elens defte Geſchoͤpf, ich habe gottlofe Handlungen ohne Zahl ver: übt, id) habe Umgang mit den Deufeln gehabt, alle’ Boͤſe gethan, welches auf Erden moͤglich iff, befenne, dab du nicht weniger ſchuldig bift, als ich.” Am Gten Page verfiel Simo: nie im Gaale fir die Grorcismen in Bittern, brad in Thraͤ⸗ nen aus, lief fid) bas Sacrament auf den Ropf legen, und iberbot nun nod) die AnFlagen der Energumeninnen. In ihrem fuͤrchterlichen Seelenkampfe wurde fie an ‘fic felbft irre, in: dem fie mehrmals wiederholte: ,, ad es fcheint mir, daß id befenne, was mir im Traume widerfahren ift, und daß id uur Luͤgen ausſpreche; dod) fiible ih, daß es nicht von mei: nem Willen abbangt, gu ſchweigen, und eine andere Sprache

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gu fuͤhren.“ Man hielt fie ein Jahr lang im Kerker, ſchor ihr die Haare ab, und behandelte fie mit der graufamften Strenge. Mod) gegen eine dritte Nonne wurde eine Unters fuchung eingeleitet.

Das Befeffenfein ſcheint 10 Jahre lang im Grigitten: Flofter geberrfdt gu haben. Cine Nonne gab fidy dfterd fir er- leuchtet aus, alle improvifirten lange Reden, in. welden re: ligidfe und irreligidfe Motive fic) durchkreuzten. Einige Be— feffene ftarben, andere vernachlaffigten ihren Koͤrper dergeftalt, daß fie von Snfecten faft aufgesehrt wurden, und das elens defte Leben fuͤhrten. Ueberdies wurden fie ein Gegenftand ded Spotted und der Veradtung, denn Niemand fie fir franf, und beflagte fie.

§. 47. VeufelSwahn im Klofter der Benedicti« nerinnen in Madrid.

Aus der berihmten Gefchichte der ſpaniſchen Inquifition von 2lorente theilt Calmeil (a. a. O. BH. 2. S 1—7) wortlid) folgende (abgekuͤrzte) Schilderung der ebengenannten Epidemie mit. Gin vor kurzem in Madrid geftiftetes Kloſter der Venedictinerinnen ftand unter der geiftliden Leitung ded Prieſters Fran; Garcia, eines gelehrten und frommen Man: ned, und unter dem Priorat der Bherefe de Sylva, wel che, obgleid) erft 26 Jahre alt, wefentlid) zur Begruͤndung des Kiofters beigetragen hatte, in weldhem 30 Nonnen lebten, deren Gittlichfeit und freie Neigung au ihrem Stande nicht be: groeifelt wurde. Als das neue Kloſter im beften Rufe ftand,. erregten die Handlungen, Gebarden und Worte einer Nonne deffelben Auffehen, weshalb fie fir eine Energumene erflart wurde, welche Garcia im Septemb. 1623 zu erorcifiren ans fing. Bald geriethen andere Nonnen, ja im December die Priorin in denfelben Buftand, bis nad .einiger Beit 25 von demfelben ergriffen wurden, daber man die Gegenwart von 25 Seufeln vorausfebte, von denen einer Peregrino als ibe oberfter genannt wurde. Gelehrte und fromme Manner biel: ten eine Verathung, und erflarten fammtlide Nonnen fiir bes feffen, und der Beichtvater fete bei Zag und Nacht feine Be:

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febworungen fort, lief das Gacrament in den Verſammlungs⸗ faal bringen, und ftellte 40ftindige Gebete an. Nach dreie jabriger Dauer der Epidemie nahm die Gnquifition Kenntniß davon, und ließ in ihre Gefangniffe zu Toledo den Beichtva— ter, die Priorin und einige Nonnen abfihren, welche lebtere man fpater in andere Klofter brachte, nachbem fie die ihnen auferlegte Buße ausgeftanden batten. Durd das Erkenntniß des geiftlidien Gerichts wurden der Beichtvater und die Mons nen fur verdadhtig der Kegerei des Illuminatismus erklaͤrt. Grfterer wurde zum Gefangnif und zu offentlichen und gehei— men Bußen verurtheilt. Die Priorin erlitt die Strafe der Berbannung, und wurde nod auf 4 und 8 Sabre verfchiedener geiſtlichen Borrechte beraubt, nach welder Beit fie in ein an: bereS Kloſter eintreten, und auf Mevifion ihres Proceffes an: tragen Ddurfte. Sn ihrem Geſuch fchildert fie aufrictig und bemuthig ihren Zuſtand, und bemerft darüber: „ich fuͤhlte in meinem Innern fo auferordentliche Bewegungen, daß ich die Urfache derfelben fur uͤbernatuͤrlich hielt. Vergebens flehte ich Gott um Vefreiung von meinem Uebel an, dann bat ih den Beichtvater, mic zu erorcifiren, welches er verweigerte, weil er behauptete, daß meine Zufaͤlle nur aus Ginbilbung abftamm: ten. Vergebens bemupte ic) mich, dies gu glauben, denn mein gunefmendes Leiden uͤberzeugte mich vom Gegentheil. Endlich flebte der Beichtvater gu Gott, daß er mir offenbare, ob ein Teufel in meinem Leibe haufe, oder mich von meinem ine neven Uebel befreie. Wabhrend des Exorcismus fuͤhlte ih mid frei und gluͤcklich, dann war ic plislich wie vernichtet, ſchwatzte irrfinnig und that Dinge, an die id in meinem Leben nie: mals gedact habe. Als mir ein hoͤlzernes Crucifir auf den Kopf gelegt wurde, fchien mir daffelbe fo ſchwer, wie ein Thurin gw fein, und dies dauerte 3 Monate, wahrend welder ich mich felt ten in meinem natuͤrlichen Zuſtande befand. Stets beſaß id einen fo rubigen Gharafter, daß ich felbft als Kind feine Neiz qung gum Spiel und yur Frohlicdfeit hatte. Um fo wnerflar- licher mute es fein, daf id) als Aebtiffin im 26. Fabre Streis che beging, deren ich niemalé fabig gewefen war. Zuweilen befand fic der Damon Peregrine im Sechlafzimmer - des zweiten Stockwerks, wabrend ich im Sprachzimmer war, und

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er fprach Dann: ,,empfangt Donna Therefe Beſuch? ich werde fie bald fommen laffen.” Ich hoͤrte weder diefe Worte, nod fab ith den Peregrino, aber ich fühlte in meinem Snnern eine unausſprechliche Unruhe, und nabm ohne Ueberlegung von den Fremden Abſchied. In meinem Korper empfand ich die Gegen- wart des Peregrino und fing an yu laufen, indem ich die Worte murmelte: „Peregrino ruft mid,” und mid an den Ort begab, wo er fic befand, und ſchon alles dad ausfprac, wortiber man fic ohne mein Vorwiſſen unterhalten hatte”. Endlich vertheidigt fic nocd) die Aebtiffin gegen den Berdacht, alS ob fie oder die 25 Nonnen jene Zufalle erdichtet Hatten, wodurch fie nur Furdht und Abſcheu hatten einfloͤßen Fonnen.

§. 48. TeufelSwahnin einem Klofter gu Auronne,

Den mangelhaften Bericht tuber diefe Epidemie hat Cals meil (a. a. O. Th. 2. S. 132 140) aus einem officiellen Actenſtuͤcke geſchoͤpft. Schon 10 Sabre, von 1652 1662, hatte das Uebel gedauert, al auf Befehl des Groffiegelbe- wabrers ein Erzbiſchof, drei Biſchoͤfe und 5 Aerjte in eine Commniffion zur Unterfucung deffelben gufammentraten, und daffelbe einftimmig fir Befeffenfein erflarten. Zu diefer Zeit belief fic) die Zahl der GErfranften auf 18, und eS befanden fid) darunter Nonnen und Frauen aus der Stadt, Vornehme und Geringe, Junge und Vejahrte, Novizen, Poftulanten und Profeffen. Cie geriethen gu manchen Beiten in Wuth, in Gonvulfionen, und zeigten einen irrfinnigen Haß gegen die Religion, namentlid) gegen die Beidte und das Abendmahl. Die Beichte mufte oft Stunden lang fortgefebt werden, weil fie durch das Geſchrei der Befeffenen und durch bie Beſchwoͤ—⸗ rungen der Priefter unterbrocen wurde. Wor der Communion wurden fie von Gonvulfionen befallen, und wenn fie die Ho— ftie empfingen, brachen fie in ein withended Geſchrei und Gee heul aus, fie waͤlzten ſich auf der Erde, und behielten die Hoftie auf der Zungenſpitze, welche fie auf Befehl des Erorciften heraus- ſtreckten und zuruͤckzogen. Waͤhrend der Erorcismen und der Meffe ftiefen fie oft fo grafilide Lafterungen gegen Gott und feine heilige Mutter aus, daß man fie nur mit Entfegen hoͤren

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konnte. Jedesmal wiederholten ſich dieſe Auftritte, wenn man ſie noͤthigte, den heiligen Ort zu betreten, zu beichten und dgl. Beſonders ſetzten fie die Prieſter dadurch in Erſtaunen, daß ſie waͤhrend der Exorcismen Haare, Kieſel, Wachsſtücke, Knochen und felbft-lebendes Gewuͤrm ausbrachen. Entweder auf Befehl der Exorciſten, oder zu einer vorher angekuͤndigten Beit geriethen fie in Ekſtaſe und Somnambulismus. Auf Be— fehl des Biſchofs von Chalons wurde eine Nonne fo gefuͤhllos, daß man ihr eine Nadel bis unter die Nagelwurzel ſtoßen konnte, ohne daß ſie Schmerz empfand. Eine andere wurde des Nachts verhindert, ſich wie gewoͤhnlich auf den Sabbath zu begeben; zu der beſtimmten Zeit verfiel ſie in voͤllige Be— taͤubung, Unempfindlichkeit und Sprachloſigkeit, die Arme ſo ſtarr uͤber der Bruſt gekreuzt, daß man ſie nicht beugen konnte, die Augen bald geoͤffnet, bald verſchloſſen, ſtarr. Nachdem fie tuber eine Stunde in dieſem Zuſtande zugebracht hatte, er— wachte fie, fagte, daB fie im Geifte auf bem Sabbath gewefen fei, und erzaͤhlte Alles, was fie dafelbft gefehben. Die Schwes fier vom beiligen Franz, gur Anbetung des Sacraments auf: gefordert, warf fid) gu Boden, den fie nur mit der Magen- gegend berihrte, wahrend der Kopf, die Fife und der uͤbrige RKorper frei in der Luft fchwebten. Gine andere that daffelbe, wobei ihr Koͤrper fid) in einen Kreis gufammenbog, fo daß bie Ferfen an“ die Stirne reichten. Andere berihrten den Bos ben nur mit dem Ropfwirbel und den Fuffohlen, wabhrend der Morper fic) aufwarts friimmte, und fie gingen in diefer Stellung. Faft alle, wenn fie auf den Knieen lagen, kreuz— ten die Arme vor dem Leibe, und beugten den Kopf fo weit rudiiber, daf er die Fupfohlen erreichte, ber Mund die Erde kuͤßte, und die Bunge das Zeichen des Kreuzes auf derfelben machte. Die Schwefter Katharine bog beim Exorcismus ben Kopf hintenuͤber, hielt die Augen offen, verdrehte fie aber dergeftalt, daB man nur das Weife fehen fonnte. Wir mife fen die Behauptung des Biſchofs von Chalons auf ſich beruben laffen, daß alle 18 die Gabe fremder Sprachen befefjfen, und das Batein den Erorciften richtig beantwortet, ja felbft zuſam⸗ menbangende lateiniſche Phraſen gefprocen hatten, welche fie nicht aus dem Ritual wiffen fonnten. Auch follen fie die un—

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ausgeſprochenen Befehle der Grorciften errathen und puͤnktlich befolat haben. Eben fo zweifelhaft iff das, obgleid) von ei: nem der anwefenden Aergte bezeugte Vermoͤgen der einén und anderen Nonne, auf Befehl der -Erorciften den Puls bald an dem einem, bald ah dem anderen Arm zu unterdruͤcken. Galmeil findet dies gwar nicht gang unglaublid nach der Be: obacdtung des enlifhen Arztes Cheyne an dem Obrijten Toweshend, welder gegen das Ende ſeines Lebens willkuͤrlich ber Herz: und Pulsſchlag unterdriien fonnte. Indeß ſelbſt dieſe Thatſache erflart nod) nicht die Moglidfeit, den Puls: flag abwechſelnd an dem einen oder andern Arm zu hemmen.

§. 49. Epidemiſches Katzengeheul in einem Klofter in der Nabe von Paris.

Gon alteren frangofifchen Aerzten entlehnt Calmeil (a. a, O. Bh. 2. S. 312) folgende Schilderung: Die Non- nen eines jablreid) bewohnten Kloſters wurden. alle Page zu der ndmliden Stunde inggefammt von einem feltfamen Uebel befallen. Man hodrte in dem ganjen Kloſter ein allgemeines Katzengeheul, welches mehrere Stunden anbielt, und der Nach: barfcaft sum grefen Aergernif gereichte. Man fand Fein beffered, fcbnefleres und wirffameres Mittel, um der Franfen Phantafie der Nonnen eine andere Richtung ju geben, als daß man ihnen auf Befehl des Magiftrats anfindigte, eine Sthaar Soldaten wiirde an der Klofterpforte aufgeftelt werden, um beim erften Gerdufd) eingudringen, und bdiejenigen gu zuͤchtigen, welche ein Miauen horen lichen. Dies wirkte auf der Stelle.

Mit feiner ausgebreiteten Belefenheit hat Calmeil nod) einige dbnliche Beifpicle aufgefunden, welche fic) indeB nicht int Kldftern ereigneten. Das erfte derfelben wurde in der Ge: meinde Amou in der Nahe von Dar (Acqs) beobachtet (a. a. O. Bh. 1. S. 503). Viele Weiber wurden bald von heftigen epileptifchen Kraͤmpfen befallen, bald fingen fie ein lautes Hundegebell an, weshalb ihre Krankheit in der Landes— fprache. mal de laira genannt, und dem Teufel gugefchrieben wurde. Oft erhoben-ihrer 40 in der Kirche ein folded Gebell wie wenn Hunde den Mond anbellen, daß der Gottesdientt

Ideler Theorie d. relig. Wabhnfinns, 28

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dadurch geffdrt wurde, und der Larm fam jedesmal gum Aus- brud, wenn eine Here in die Mirche trat, Aber auch ohne Gegenwart der. Heren fingen fie oft an gu bellen, und fie machten dann jene nambaft, welde ihnen died Uebel durch Sauberei cinimpften. _ Died gab nun zu geridhtliden Verfolgun— gen Anlaf, und viele vermeintliche Heren wurden jum Gee ſtaͤndniß gebracht und eingeferfert. Man war von ihrem boͤſen Ginfluffe tergeftalt üͤberzeugt, daß wenn eine Frau in ihrer Mohnung ein Gebell erhob, und dabei den Namen eines Wei- be3 nannte, der Mann auf die Strafe eilte, und die Boriber- gebende verbaftete, fobald fie von der Kranken bezeichnet war. Calmeil iff indeß geneigt, die Krampfe nicht fur epileptifche, fondern fir hyſteriſche zu balten, weil die Kranken nicht alle Befinnung verloren, und ein deutlicheS Beftreben acigten, An- dere gu verleben. Der beriichtigte Delancre, welder bei diefer Gelegenheit cine fehr thatige Rolle fpielte, zahlloſe Heren auf: fpiirte, und fid) bitter daruͤber beklagte, daß das Parlament fie nicht nad alter guter Gitte haufenweife aufhingen lief, erzaͤhlt folgende Gefdichte, welche fic) in feiner eignen Behau— fung zutrug. Die gebildete Gattin eines Capitans, feit 2 Jah⸗ ren mit dem mal de laira behaftet, betradtete in einem Saale einige Geindlde, als mehrere von ihr genannte Heren, ohne von ihr bemerft gu werden, ing Haus traten. Gogleid brad fie in ein füͤrchterliches Gellen aus, weshalh Delan— cre die Heren entfernte, und ihr Muth einfpradh. Da fie ſehr Fraftig und beherzt war, verficherte fice, keine Furcht gu empfinden, indeß bei Anndherung der Heren fing fie wieder eine Giertelftunde lang laut gu been an, indem fie die Arme in bie Seiten ftemmte. Endlich gelang doch die Confrontation. Aber diefelben Auftritte wiederholten fic) noch zweimal an oͤf— fentlider Gerichtéftatte mit fo grofem Ungeftiim, daß man die Heren entfernen mute. Cine gewiffe Biolonne, mit dem Uebel bebaftet, wurde auf die Folter gebracht, weil der fanatifche Delancre die Ueberzeugung hegte, daf die Befeffenen auf ben Rath des Satans fid) gegenfeitig das Uebel mittheilten,. um ibre Schuld gu verbergen, und im Gebeimen mehr Schaden ftiften gu fonnen. Vergebens betheucrte jene Unglicliche ihre Unfdhuld, und auf der Folter gerieth fie in ein fo entſetzliches

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Bellen, daß der herglofe Unhold fie davon zu befreien fir noths wendig bielt. Die Broqueron, weldhe wirklich hingerichtet wurde, hatte in den Verhoͤren ihre Bheilnahme am Sabbath befannt, und geftanden, daß fie einer Frau das Uebel mitge: theiit, Voͤgel mit CEpilepfie geplagt habe, daß fie in jedem. Sabre einen Baum verderbe, indem fie feine Aefte mit Sal; beftreuey und daß man am Sabbath die Abrede treffe, dad mal de laira denjenigen Weiber mitzutheilen, welche’ noch da: von fret geblieben waren.

Bim Jahre 1700 beobadhtete der engl. Arzt Willis, wie Galmeitl (2. 2. S. 341.) angiebt, in Blacdthorn bei Or: ford ein aͤhnliches Uebel, welches großes Auffehen erregte. Fn einer Familie waren 5 Dichter damit behaftet, ifr Gebel, weldes man in weiter Ferne horen fonnte, war von heftigem Kopfidhittein und haufigem Gahnen begleitet, jedoch) litten fie nidt an’ Gonvulfionen. Das Gebell glich mehr dem Heulen und Webflagen der Hunde, und das Ginathmen gefdah unter Schluchzen. Sie Hatten zuweilen rubige Paufen, wabhrend welden fie bei villiger Befinnung waren, und fic unterbal: ten fonnten. Zuwellen fingen fie ploslid) an gu beulen, und fubren damit fort, bid ifnen die Krafte feblten, und fie fie- len dann wie epileptifd auf bingelegte Betten. Sie lagen darauf einige Zeit in tiefem Stilfchweigen, ſchlugen fic fpater auf die Bruft und andere Mbrpertheile, und belaftigten die Hilfeleiftenden. Die Kranfen waren von 6 bis ju 15 Jahren alt, und der Gharafter der Aeltern geftattete feinen Verdacht auf Betrug.

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Neuntes Kaypitel.

Gpidemicen des religivbfen Wabhnfiuns, welche fich durch ein Vorherrſchen ungeftimer Muskelthätigkeit auszeichneten.

Die dieſes Kapitels der Kritik leicht zu dem Tadel der Einſeitigkeit Veranlaſſung geben, weil die heftigſten Convulſionen unzertrennliche Begleiter ſaͤmmtlicher reli⸗ gioſer Epidemieen darſtellen, und daher nicht als charakteriſti⸗ ſches Merkmal einer Gattung angeſehen werden duͤrfen. Dies ift fo wahr, daß jene merkwuͤrdige Erſcheinung ald ein außer— ordentlich wichtiges Moment zur Erklaͤrung jener Epidemieen benutzt werden muß. Ohne ſpaͤteren ausfuͤhrlichen Eroͤrterun— gen hieruͤber vorzugreifen, bemerfe id) in aller Kuͤrze nur Fol— gendes. Die mannigfachen Krompfformen der frommen Sdwar mer bieten alle Entwidelungsftufen einer dad natirliche Maaß uͤberſchreitenden Musfelthatigfeit bar von ihrer zu großen Erre— gung an, wo fie nod) unter der felbftandigen Leitung des Willens fteht, welder fie, wenn aud) nur mit grofer Unftrengung, nod unterdruden fann. Hierauf folgen die feltfamen Gruppirungen der VBewegungen im Weitstange, denen ein Ueberreft des Wil- len3 noc ein rhythmiſches Geprage nad beftimmten 3weden des Singens, Declamiren’, dex equilibriftifchen Kuͤnſte giebt, wiewohl dod) ſchon der blinde, automatifche Zwang eines pa- thologifcen Antriebed vorwaltet, dem der Kranke feinen Wi— derftand mebr leiften fann. Auf einer noch hdheren Entwide- lung8ftufe find die Krampfe gwar nod mit einem mebr oder weniger Ddeutlidhen Selbftbewuftfein verbunden, haben aber fon gang den Charafter der Zweckmaͤßigkeit verloren, bilden nur nod automatifche Zuckungen, welche fid) nicht mehr zu rhythmifdhen Gruppen gufammenfiigen, und werden dann von den Pathologen in diefer Form als hyfterifche bezeichnet. In einer ſeltener vorfommenden Geftalt erfcheinen die franfhaften Muskelbewegungen als Somnambulismus, in welcem die Seele gegen die Außenwelt durch gaͤnzliche Unterdruͤckung der

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Sinnesthatigkeit vollig abgefdloffen ijt; aber unter dem aͤuße— ren Anfchein des Schlafs waltet fie in einem voͤllig wachen, geregelten Bewußtſein, welded fie durch zuſammenhaͤngendes, meift woblgeregeltes Reden, und durd willfiirlide Bewegungen verrath, welche ben ausgefprochenen Gorftellungen durdaus an: gemeffen find, obgleich von allen diefen Borgangen bem Kran: Fen nad) dem Grivacen aus diefen Buftanden nicht die gering: fte Grinnerung bleibt. Endlich erreicht die Umkehrung des na: turgemafen Verhaltniffes, in welchem das Selbftbewuftfein zur willfiirlidhen Bewegung fteht, in der CEpilepfie dein hoddften Grad; die Kranfen verlieren den lesten Reſt von Bewußtſein, und ihre meiſt hoͤchſt ungeſtumen und regelofen Convulfionen geben / auch nicht die geringfte Spur von Zweckmaͤßigkeit mebr gu erfennen. Zuweilen ſieht es gwar fo aus, als ob ibre Bewegungen, namentlich ihr verzerrtes Mienenfpiel, nod) bez ſtimmte Affecte bes Borns und der Furdt verviethen, und die Moͤglichkeit muß allewdings jugegeben werden daß nod ein dunfles Berwuftfein derfelben Statt finde; indeB ein ftrenger Beweis laͤßt fic) dafuͤr nit fihren, weil die Pforten der Seele fo gaͤnzlich verſchloſſen find, daß fein Blick in ihre vielleicht vorhandene Gabrung dringen fann, und weil die Kranken nicht die geringfte Erinnerung davon zuruͤckbehalten.

Alle diefe hoͤchſt mannigfaltigen Krampfformen bei from: men Wahnfinnigen miffen nun als unmittelbare und nothwen- dige Wirfungen des in ihrem Gemisth tobenden Aufruhréd nad) bem fpater zu erdrternden Gefege der Harmonie zwiſchen dem geiftigen und forperliden Leben angefehen werden; fie bilden im Gebiete bes lebteren das Echo, in weldem die Stuͤrme der Seele wiederhallen, und bezeichnen mehr ald alles Andere die Heftigkeit derfelben, ohne welche wenigſtens bei vorher gei- ftig Gefunden der Wahnſinn nicht hatte gum Ausbrud) fom: men fonnen. Denn betracdten wir den unermefliden Abftand deffelben von der naturgemafen Gerfaffung der Seele; fo be- greift es fic) von felbft, daß ein Antrieb, welder letztere bin: nen wenigen Stunden in ihr baared Gegentheil verwandelt, cin außerordentlich machtiger und geraltfamer fein muß, rweil, wenn ſchon geringere Motive eine gleiche Wirkung hervorbrin: gen fonnten, fein Menſch auch nur einen Augenblick der Fort:

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bauer feiner gefunden Bernunft gewif fein wirde. Da nun in Zeiten frommer Aufregung das religidfe Antereffe iberall mit grofem Nachdrud in die Erſcheinung tritt, fo wiirde Nie— mand gegen die Gefahr des frommen Wahns geſchützt fein, wenn die epidemifche Verbreitung deffelben nidt nod an die Macht de Nachahmungstriebed geknippft ware, welder, wie wir oben gefeben haben, nur iber fchwache Gemuͤther feine des: potifche Herrfthaft ausuͤbt, aber felbftandige Charaftere nur wie cin leichter, flichtiger Dauch anftreift, ohne fie im geringften aus der Faffung zu bringen. Aber die Macht des Nachah— mungstriebes, welche als das eigentliche anftecfende Princip der religidfen Epidemicen angefeben werden muß, iff auc ein we: fentliches pathogenetifdyes Element der fie ohne Ausnahme bez gleitenden Gonvulfionen, und wie wabr died fei, erbellt un: widerfpredlid) aus der ungablig. oft beobachteten Thatſache, daß ohne alle anderweitige pſychiſche Aufregung der Anbli€ won hef— tigen Krampfen vollkommen hinreicht, fie auch in ganzen Schaa⸗ ren von mifigen, zur Sympathte geftimmten Zuſchauern hervor: gurufen. Go bewirfen alfo Nachahmungstrieh und fromme Gemirthserfcitterung in allen religidfen Epidemicen mit verein= ter Gewalt jene Krampfe, welche ihrerfeits durch hoͤchſt un: geſtume und regelwidrige Erregung des Nervenfyftems zur Brit- bung des Bewußtſeins und zur Bethorung der Vernunft mach- tig beitragen, alfo durch ihre Ruͤckwirkung auf die Geele den Aufruhr derfelben auf den hoͤchſten Grad fteigern, und dadurch jene frabenbaft wilden Erſcheinungen cined in allem Denfen und Wollen voͤllig zerriffenen Bewußtſeins Hervorbringen, wie wir fie beinr ifolirten Wahn entiweder niemals oder unter gang anderen Bedingungen wabhrnehmen.

Aus den Hisherigen Grorterungen erhellt zugleich der Grund, weshalh Krampfe beim ifolirten Wahnſinn an und fir fic) faft niemals, fondern nur dann auftréten, wenn dabei et genthiimliche individuelle Mifiverhaltniffe des koͤrperlichen Lebens obwalten, welche mit dem Wefen des Wabhnfinns nichts gemein haben, fo daf fie alfo faft immer nur eine jufallige Com plication deffelben bilden, mit alleiniger Ausnahme der Beis fpiele, wo der Wahnſinn aus Krampfen, namentlich aus der Epilepſie hervorgeht, womit wir uns aber bier nidt zu bes

fhaftigen haben. Nur in febr feltenen Fallen ijt der ifolirte Wahnfinn das alleinige Erzeugniß einer ploglicen und- gewalt- famen Gemithserfcitterung, und fommt dann unmittelbar-in derfelben gum Ausbrud), woes denn allerdings gefchehen fann, dap der heftige Sturm fofort auc) in Gonvulfionen uͤberſchlaͤgt. In den allermeiften Fallen war die Gemithsverfaffung ſchon fiirgere oder laͤngere Zeit innerlich aus ihren Fugen gewichen, oder tod in ifren Grundlagen fo ſchwach befeftigt, daß ein verhaͤltnißmaͤßig geringer Anſtoß hinreicht, ihren Umſturz gu be: wirfen, welches mithin nicht unter jenen tief innerlichen Gre fchiitterungen gefchieht, wodurch eine feſt gegrindete Organifas tion der Seele aus ihren Angeln gehoben werden fann. Es feblt daher durchaus das wefentlice urfachliche Element der Krampfe, und felbft in der reinen Tobſucht, wo der Aufruhr des Gemuͤths einen fo auferordentlich hohen Grad erreicht, ge- horen die cigentlichen Gonvulfionen gu den grofen Seltenbeiten, was aud) mance Aergte dagegen behaupten mogen. Denn die oft loͤwenſtarken Bewegungen der Rafenden Haben nur das automatifche Anſehen unwillfirlicder Zudungen, da man bei ihrer aufmerffamen Beobachtung leicht die Ueberzeugung ge: winnen fann, daß fie mit bdiefen, im Ungeſtuͤm freilich unge⸗ regelten Bewegungen den fehr beftimmten Zweck verbinden, ſich sur Wehre gu feken, ihre Rache gu kuͤhlen, fic) von den ihnen angelegten Banden gu befreien, oder wenigftend den ihnen felbft unettraglicben Aufruhr in Berftirung vorliegender Gegenſtaͤnde austoben ju laffen, und dadurd einige Rube gu gewinnen. Deutliche Convulfionen, bei welchen fich fein wenigftens dunfel bewußter Zweck nachweiſen ließ, erinnere ich mic) bei den vie: len hundert obfichtigen, welche ic) beobachtete, kaum je mals, aufer in ſolchen Fallen bemerft gu haben, wo die Kranz fen zugleich mit einem deutlichen Gehirn- und Merventeiden, mit Gehirnentzundung, Schlagfluß, Lahmung, Epilepſie, Hyfte- rie und dgl. behaftet waren.

Wenn alfo die Gonvulfionen eine fo außerordentlich wid): tige Rolle in der Gefchichte ver religidfen Epidemieen fpielen, daß fic) an ihnen ber charafteriffifehe Unterſchied derfelben von tem ifolirten frommen Wabhnfinn am deutlichften erkennen laͤßt; fo erheifcht es unfer dringended Intereffe, cinige folder Epide:

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mieen unter einen Gefichtspunft ju ftellen, wo diefe Bedeu- tung der Gonvulfionen ganz befonders -grell in die Augen fpringt. Zu Ddiefem Zweck duͤrften fid) beſonders einige Epide- mieen eignen, bei denen fich gwar ein mitwirfendes religidfes In— tereffe durchaus nicht verfennen (aft, jedod) durch die Cinmifdung einer Menge frembartiger Motive fehr getribt, gefchwadt, ja vollig in den Hintergrund guriidgedrangt, und dadurch bis gum Unfenntliden entftellt wurde. Denn meiftentheils ftammten dieſe Motive aus den unfauterften Quellen einer gemeinen, rohen Ginnlidfeit, in welder” der Rigel einer frivolen Neugier, ei— ner erregungéfucdtigen Faulheit, einer eitlen Oftentation, ja felbft einer fchaamlofen Wolluft um den Preis rangen. Daz durd) erlangen diefe Epidemieen ein fo eFelhaftes, Abſcheu er- regendes, beftialifdes Anfehen, daß nur die Nothwendigfeit ei- ner allfeitigen Forfdung den Muth, die Beredhtigung, ja die Gerpflidtung gu ihrer Betrachtung und Darftellung geben fann, von welder ein conventionelled Schicklichkeitsgefühl, welded durch jene hoͤheren Ruͤckſichten nicht beftimmt wird, fid mit Entſetzen abwendet. Jenes hoͤhere, geiftig fittlide Intereſſe, welches alle uͤbrigen religidfen Epidemieen als ſehr lehrreiche Pa: rodieen und Carricaturen der heiligſten Angelegenheiten gewaͤh— ren, verſchwindet hier faſt voͤllig; aber wer den Menſchen ganz kennen lernen will, muß ihn auch dann noch mit kaltblütiger Beſonnenheit betrachten, wenn das wilde Thier in ſeiner Bruſt ſich von allen ihm durch die Geſetze der Vernunft und Sitt— lichkeit angelegten Banden losreißt, und blind ins Verderben rennt, Anderen zur abſchreckenden Warnung, weil ſelbſt Gut— geartete in den raſenden Schwindel hineingeriſſen werden koͤn— nen, wenn ſie der Herrſchaft über ſich nicht gewiß ſind.

I, Die Convulfionairs in Paris. § 50. Hiftorifhe Bemerfungen.

Die mit religidfem Wahnfinn verbundenen GConvulfionen, welde in Paris gu Anfang de8 vorigen Jahrhunderts ein fo großes Auffehen erregten, und fid) fpdter beinahe bis gur Zeit der Revolution in Frankreich ausbreiteten, bilden eben fo den

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leidenfchaftlicben Culminationspuntt der janfeniftifchen Religions: ftreitigfeiten, alS in ber Theomanie der Gamifarden fic) der Vodesfampf der Calviniften gegen die fanatifden Verfolgun: gen nad) der Aufhebung des Edicts von Nantes abfpiegelt. Die erftgenannten Convulſionen koͤnnen alfo nur im hiſtoriſchen Zuſammenhange mit ihren Urſachen richtig verſtanden werden, weshalb ich ihrer Schilderung einige aus den unten genannten Schriften von & Blanc, Schroͤckh (7. Theil.) und Fuhr⸗ mann geſchoͤpfte geſchichtliche Andeutungen voranſchicke.

In Laufe des 17. Jahrhunderts hatten die Jeſuiten ihre Herrſchaft in Frankreich immer -weiter ausgebreitet und tiefer begrundet, und als fie in der Perſon des berüchtigten Paters La Chaiſe ſogar den Gewiſſensrath Ludwigs AIV. bildeten, war ihr Geiſt in der Staatsregierung ſo uͤbermaͤchtig geworden, daß von ihnen vornaͤmlich die fanatiſchen Greuel ausgingen, durch welche die Wohlfahrt des Landes bis in die innerſten Grundlagen erſchuͤttert und zerrüttet wurde. Insbeſondere hatte ihre ruchloſe Caſuiſtik, welche den Suͤnden der Vorneh⸗ men ſchmeichelte, um dieſelben unaufloͤslich in ihre Netze zu verſtricken, ſehr viel zu der grenzenloſen Sittenverderbniß des franzoͤſiſchen Hofes beigetragen, welche unſtreitig im vorigen Jahrhunderte maͤchtig den Ausbruch der Revolution befoͤrderte. Gegen ſie traten zwei Prieſter auf, welche in einer flamlaͤndi⸗ ſchen Schule eine enge Berbriderung geſchloſſen hatten, der Belgier Fanfenius und der Franzoſe Bearnais Düver— gier De Hauranne, welcher fpdter als Abt von Saint Cyran eine grofe Beruͤhmtheit erlangte. Beide ftellten die fchon faft in Vergeffenheit gerathene Au guftinifche Lehre in ihrer haͤrteſten Gonfequeng wieder her, namentlich beendete Sanfenius fur; vor feinem 1638 erfolgten Tode fein Were, an weldem er 22 Jahre gearbeitet hatte, und welches in den fpater ausgebrodenen Streitigkeiten den vornehmiten Vertheidi: gungs- und Angriffspunkt bildete. Es fihrte den Vitel: Au- gustinus, seu doctrina Augustini de humanae naturae sa- nitate, aegritudine et medicina, adversus Pelagianos et Massilienses, bildete cinen ftarfen Folianten, und erlebte meh: rere Uuflagen. Louis Blanc hat (a. a. O. S. 184.) ei: nige janſeniſtiſche Saͤtze zuſammengeſtellt, welche beſſer als alles

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Andere den emporenden Migorismus dieſes fibertriebenen Au: guftinismus bezeichnen. Iésus Christ n’est pas plus mort pour le salut de ceux qui ne sent pas ‘¢lus, quiil n'est mort pour le salut du diable Dieu a pu avant la pré- vision du péché original prédestiner les uns et réprouver les autres :.. tout cela est arbitraire en Dieu Dieu a fait par sa volonté cette effroyable différence entre les étus et les réprouvés Dieu seul fait tout en nous L’homme criminel, sans l'aide de la grace, est dans la necessité de

Der Abt von Saint Goran, tin Mann von eiferner Strenge, wirfte mit dem griften Erfolge fur die Ausbreitung diefer Lehre, als er ber Beichtvater des in der Nahe von Paris gelegenen Kloſters Port Royal des Champs geworden war, in weldem Angelika Arnauld ſchon im 11, Lebens: jahre alg Aebtiffin, und ihre Schweſter Agnes im 6. Fabre alg Goadjutrice waltete. Unter ihren jablreichen Bruͤdern hatte der eine bereits alé Advofat einen grofen Ruf erlangt, und ein anderer fic) als Coldat ausgezeichnet; und beide, nebft den anderen Briidern wurden Ddergeftalt von der wm Kloſter herrſchenden heiligen Cittenftrenge ergriffen, daß fie nebft vielen, durch ifr Veifpiel fortgeriffenen BWornehmen in der Mahe deffelben ein ascetiſches Leben fuͤhrten. MRiche- lieus Genie erfannte in dieſen unfceinbaren Anfangen ſchon den Reim gu gefaͤhrlichen Staatsummalzungen, und lief ohne nahere dringende Veranlaffung den Abt von Saint Cyran in Bincennés cinfperren, ohne verhindern zu fonnen, daß diefer Fanatifer, welcher erft nach dem. Vode des Cardinals feine Freiheit wiedererlangte, um bald darauf zu fterben, aud bem Serfer feine Anhanger gu immer groferer Kuͤhnheit ent: flammte. Bald nachber gab Anton Arnauld fein Bud, frequente communion heraus, welded unmittelbor die fcblaffe Moral der Gefuiten angriff, und einen unglaubliden Erfolg fogar bei Weltleuten und galanten Frauen hervorbrachte. Die gedemithigten und erbitterten Sefuiten erflarten den Arnauld fur einen Kegwer, weil er die Apoftel Paulus und Petrus einander gleich geftellt hatte, und wirften einer Befehl der Konigin Mutter aus, den Schuldigen nach Rom

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zu fenden; indeß gleichzeitig erhoben fid) gegen fie der Price: fterftand, das Parlament, die Univerfitat, die Sorboyne und alle Kirperfchaften des Reichs.

Der bisher rein dogmatifche Streit hatte nun auf ein: mal einen politifden Charafter angenommen, weil es fich nach Enthillung der verrudten Moral der Sefuiten fir letztere, deren Despotie in den hodheren Standen ſchon die groͤßte Er: bitferung erregt hatte, um dew Kampf auf Leben und Bod handelte. Wir fonnen lebteren nicht in allen feinen Phafen verfolgen, fondern nur das fir unfern 3wed Wichtigſte davon hervorheben. Befonders nachtheilig war den Sanfeniften ihre geheime Verbindung mit den Unruhen dér Fronde, nament:- lid) mit dem Haupte derfelben, dem Cardinal Rebs, gerwor- dens die Sefuiten. wuften es daher durdyufegen, daf Anton Arnauld, bisher ein Mitglied der Sorbonne, aus derfelben ausgeftofen, und als Reber verfolgt wurde. Wielleicht hatte ſchon damals die Angelegenheit der Sanfeniffen eine ſchlimme Wendung genommen, wenn nicht gu ihrem BVeiftande Pas: cal mit feinen Provingialbriefen aufgetreten wares Wir wer: den fpater anf died unvergleichliche Meifterwerf der beifendften Ironie und des edelften Borns eines durch den Jeſuitismus emporten Gemuͤths juridfommen, und bemerfen fir jest nur, dag burd) bie. Blige de8 GenieS die armen Singer Loy o- las fir einige Beit in den Staub gefchmettert wurden.” Bald erholten fie ſich indeß von ihrer Miederlage, und als Lud: wig XIV. im Jahre 1661 den Thron beftieg, lich er es eine feiner erften Gorgen fein, dad Kloſter Port Roval faft gaͤnz— lich aufyubeben, obne den Sanfeni$mus vertilgen gu koͤnnen, welder in dem allgemeinen Haff gegen die Sefuiten das Fraf- tigfte ebenSelement gefunden, und namentlicd) die Parlantente jum Widerftande gegen die Foniglidhbe Gewaltherrfhaft berausgefordert hatte '). Spaͤter gelangten gwar die Janſe—

1) Wie weif um diefe Beit am franzoſiſchen Hofe die fanatiſche Bers folgungstouth getrieben wurde, erbellt beſonders aus der Verurtheis fung des unglücklichen Simon Morin (vel. Calmeil a. a. O. 3h. 2. S. 256). Jn cinem bem Koͤnige ‘gewidmeten Buche erflarte Morin, daf der Sohn Gottes ſich in “thm gum zwetten Male vers

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niſten wieder zu hoͤheren Anſehen, da fie als erbitterte Geg> ner wider die Calviniſten auftraten, mit denen fie im iiber- triebenſten Auguſtinismus fo weſentlich ibereinflimmten, und da fie fic) durch cine Menge gelehrter Werke auszeichneten; indeß fie. verloren unwiderruflich die Gnade des erjirnten Monardhen, als fie wabhricheintid) um fid) mit Rom auszu- fohnen, welches im Kampfe gegen fie Parthei genommen hatte, feine Anmaafungen befampften, die Einkuͤnfte der erledigten

firpert habe, daß feine Anfunft cine allgemcine Reform der Kirche und dic Bekehrung aller Volker gum wabhren Glauben herbeifubren würde. Bald werde man auf Erden cine Armee von Streitern oder vollfommencn Seelen, erfiillt von dem heiligen Wefen Chriſti ers ſcheinen fehen, um ihm bei der Erfüllung feiner göttlichen Sendung Beiftand gu leiſten. Als der Präſſdent Lamoignon ihn fragte, ob es irgend wo gefdrichen ftehe, daf der neue Meffias im Feuer umkom— men werde, erwicderte er darauf: ,, unterwerfen Sic mich Der Feuer— probe, id) werde obne Flecken erfunden werden.” BWoltaire gab folgende pifante Schilderung von der gegen ihn gerichteten Verfolgung: Ce fut au milieu des fétes d'une cour brillante, parari les amours et les plaisirs, ce fut méme dans le temps de, la plus grande licence que ce maltheureux fut brulé a Paris en 1663- C’ était un insensé qui croyait avoir eu des visions et qui poussa la folie jusqu’a se croireenvoyéde Dieu ctasedire encorporéen Jésus - Christ. Le parlementle condamna trés sagement à étre enfermé aux Petites Maisons, Ce qui ést extrémement singulier, c’est qu’il y avait alors dans ceméme hopital un autre fou qui se disaitle pére éter- nel, de qui méme la démence a passé en proverbe. Simon Morin fut si frappé de la -folie de son compaguon, qu'il recannut la sienne, Il parut rentrer pour quelque temps dans son bon sens, il exposa son repentir aux magistrats, et malhcureusement pour lui, ilobtint son ¢largissement. Quélque temps aprés, il retomba dans ses accés; il dogmatisa. Sa mauvaise destinée voulut, qu'il fit connaissance avec Saint-Sorlin Desmarest, qui fut pendant plusieres mois-sou ami, mais qui, bientét, par jalou- sie de metier, devint son plus cruel persécuteur. Desmarest n’était pas moins visionnaire que Morin. Kt aprés avoir avoué qu'il avait engagé des femmes dans lathéisme, il s’érigea en prophéte. Il prétendit, que Dieu lyi avait donné en sa main la clé du tresor de l’Apocalypse; qu’avec cette elé il ferait ane reforme de tout le genre humain et qu'il allait commander une armée de cent quarante mille hommes contre les jansénistes, Ricn u'éut été plas raisonnabte ect plus juste que de le mettre dans la méme loge que Simon Morin; mais pourra -t‘en s'i-

Biſchofsſtuͤhle bis zu deren Wiederbeſetzung als ein Regale einzuziehen, und uͤberhaupt die Kirchengüter widergeſetzlich zu beſteuern. Diesmal leiſtete ihm das Parlament kraͤftigen Bei ſtand, da es galt, die verhaßte Oberherrſchaft des Papſtes einzuſchraͤnken, und an der Spitze ded franzoͤſiſchen Clerus mußte Boſſuet 1682 die beruͤhmten 4 Artikel der gallika— niſchen Kirche entwerfen, durch welche dem Papſte die Auto— ritaͤt in weltlichen Dingen abgeſprochen, er ſelbſt dem Aus: ſpruch der Concilien unterworfen, die Freiheit der franzoͤſiſchen Kirche fuͤr unverletzlich, und die Entſcheidung des Papſtes in Glaubensſachen nur dann fuͤr unwiderruflich erklaͤrt wurde, wenn die Kirche fie angenommen habe. Die Janſeniſten waren nun einer fchonungslofen Verfolgung preisgegeben, viele von ihnen muften daher nad) Belgien flichten, wenn aud das Klofter Port Royal erft 1710 jerftirt wurde, naddem eine rohe Soldatesfa ſchon friher unter empdrenden Greueln die Nonnen daraus vertrieben hatte. Die heftigſten Anfeindungen Hatten aber die Janfeniften in Folge der Strei- tigfeiten ju erdulden, welche durd) Quesnel’S Werk hervor- gerufen wurden: le nouveau Testament en Francois avec des reflexions morales sur chaque verset, pour en ren- dre la lecture plus utile et la méditation plus. aisée. Boffuect felbft hatte diefen Commentar in Schutz genommen, und der Cardinal Noailles, Erzbiſchof von Paris, denfelben auf das Marmite empfohlen, obgleid cin Breve des Papftes 1708 das Berdammungéurtheil uͤber die darin herrſchende janfeniftifdhe Ketzerei ausſprach. Indeß die papftlicde Ent: ſcheidung wurde in Franfreich nicht als giltig anerfannt, und

maginer qu’il trouva beaucoup de crédit du jésuite Annat, con- fesseur du roi? 11 lui persuada que ce pauvre Simon Morin établissait une secte presque aussi dangereuse que le jansénis- me méme. Enfin ayant porté Vinfamie jusqu'a se rendre déla- teur, il obtint du lieutenant criminel un décret de prise corps contre son malheureux rival. Osera-t-on le. dire? Simon Morin fut condamné a é@tre brulé vif, Lorsqu’on allait le con- duire au supplice on trouva dans un de ses bras un papier dans le quel il demandait pardon à Dieu de toutes ses erreurs. Ce- la devoit le sauver; mais la sentence etait confirmée, il fut ex~ éculé sans miséricorde.

446 fie ware in Gergeffenheit gerathen, wenn nicht der rudchlofe Vellier, welder nach dem Bode des Pater’ La Chaife Gewiſſensrath des Koͤnigs geworden war, zum Theil aus Haß gegen den Erzbiſchof wegen deffen heimlichen Widerſtant es gegen die Sefuiten, den Koͤnig beftimmt “hatte, vom Pabfte Glemens XI. im Jahre 1713 die berichtigte Bulle Unigeni- tus Dei filius ju: erwirfen, durch welde eine Brandfadel in das Koͤnigreich gefchleudert wurde. Zunaͤchſt enthielt die Bulle nut das Berdammungéurtheil ber 104 Lehren, welche aus bem Quesnebſchen Commentar mit einer fo blinden Ueber: eilung ausgezogen waren, daß die. theologifchen Kenntniſſe und da8 Anfehen des Papftes dadurch in das uͤbelſte Licht geftellt wurden, weil viele der verworfenen Sage unverfaͤlſchte Bibelſtellen enthielten. Jedoch weit verderblicer nocd wirkte ber Geift der Bulle, weil derfelbe auf eine unmittelbare Ber: nichtung der von den Ronige felbft begriindeten Freiheit der gallifanifden Kirche hinarbeitete, fo dah nur die fanatifde Verblendung des alterfehwaden und durd) die Sntriguen Tel - tiers und der Frau von Maintenon irre geleiteten Mo- narchen die Annahme der Bulle von Seiten der widerftreben- den Geiftlidfeit und der Parlamente wenigftens theilweife ers zwingen fonnte. 2 Blanc fcildert (S. 222) die dadurdh bervorgebrachte Wirfung mit folgenden Worten: Qu' après les troubles excités par YAugustinus, il ait été donné & un ouvrage du méme genre de disputer lattention des hommes -aux événements les plus fameux, et que de cet ouvrage. soient sortis comme d'une source empestée des maux sans nombre; des persécutions inouies, |’empri- sonnement pour les uns, pour les autres l’exil, le sou- lévement dela magistrature par toutle royaume, des seditions, des scenes d’une bouffonnerie tragique au pied des autels ou au milieu des tombeaux , un affreux débordement en- fin des haines de scandales et de folies, qui n’en éprouverait un sentiment profond de surprise et une pi- tié melée Whorreur? Telle fut pourtant la destinée du livre de. Quesnel intitulé: Reflexions morales sur le nouveau Testament. Man muf bei Schroͤckh die febr ausfiihrlide Schilderung der durch die gedadte Bulle hervor:

447 gebrachten Partheiungen im Reiche bid gur Mitte des vorigen Sahrhunderts leſen, um eine Anſchauung von einem faft un: entwirrbaren Gewebe der ſchaamloſeſten Cabalen, Redtsvers legungen und Gewaltſtreiche zu bekommen.

Daß in der auf dieſe Weiſe hervorgebrachten Gaͤhrung der Nation die von der Regierung mit Wuth verfolgten Fau- feniften, welche fic) überdies durch ihre Cittenftrenge und. durch ascetifche Frommigfeit auszeidneten, als wahre Marty- rer erfchienen, und die Sympathte des Volks gewannen, be greift fid) eben fo leicht, ald es nothwendig bervorgehoben werden muf, weil bierin vorndmlicd die Urſachen enthalten find, welche die. burlesk tragifchen Auftritte der Convulfio: nairé in Paris und ihre weitere GVerbreitung durch bas ganze Koͤnigreich bewirkten, da dieſelben außerdem unmoͤglich gee: fen, oder wenigſtens auf eine weit geringere Bedeutung cit: geſchraͤnkt geblieben waren. Sndbefondere muf- dabei ber dutth Verfolgungen gefteigerte myſtiſch fanatifde Character der Jan— feniften in Anfehlag .gebracht werden, worüber Schridh (S. 402) Folgendes bemerft. „Die Ganfeniften, welche die Mo- ral der Sefuiten fo ausgeartet gelinde fanden, fie beftritten und verfpotteten, entwarfen dagegen fir fic) eineandere, die gwar vollfommen das Gegentheil von jener, aber Feinedweged die * act chriftliche war. Bufammengefest aus myſtiſchen Grund- faben und aud der hohen Meinung von dem Werthe der här— teften Selbfipeinigung in Gottes Angen, fehrieb fie fix das ganze eben eine immerwabrende Buße vor, welche nicht fel: ten dad Leben und die Gefundheit angriff. Wirklich richteten fich Mande dadurch villig ju Grunde, und’ Fontaine ſchreibt von einem’ Edelmanne aus Poitou, welder eine wid tige Molle in Port Royal fpielte, ex fei Durd die Buse, welche er bié gu dem Aeuferften trieb, die Freude der Engel gewefen, ja man finne von ibm fagen, er babe fic felbft umgebradt, indem er fein Leben. und feine Gefundpeit fir Nichts achtete.” Selbft Perfonen vom hodften Range ver- richteten in Port Roval aufer ihren geifflidhen Uebunger die niedrigften und befdwerlidften Dienfileiftungen fir die Row nen. Shr Myſticismus und ihre erhiste Einbildungskraft fonn:

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ten fie vor Aberglauben und Schwarmeret nidt verwahren. Der Abt von Saint Eyran tried, wenn er Bier von Proteftanten lefen wollte, erft durch dad Kreuzeszeichen den Seufel aus denfelben weg. —- Um indef alle fchaamlofen @reuel bei den gu fcildernden Auftritten ganz ju verftehen, muß man erwaͤgen, daß der Anfang derfelben gwar in einer eraltirten Froͤmmigkeit feinen Grund -hatte, daß aber bald _ der leidtfinnige und fittlic) entartete Poͤbel von Paris in den Schwindel hineingeriffen wurde, und in ihm feine wil: deften Begierden nat sur Schau trug.

§. 51. Urfprung und Erfdeinungen der Epidemic.

Die befte Darftellung von der Entftehung diefer mora: lifdhen Seuche hat Schroͤkh (GS. 430) gegeben: ,, Das [este Rettungsmittel, weldes die Fanfeniften und Appellanten (foelche der paͤpſtlichen Bulle den von der Regierung gewalt: thatig ergwungenen Geborfam verweigerten) in Frankreich er- griffen, als die Gerfolgungen des Cardinals Fleury gegen fie ihren Anfang nahmen, war eine Reihe von Wundern, die Gott felbft gum Zeugniß ihrer Unfculd, Rechtglaubigfett und Frommigfeit gewirft haben ſollte. Gih wunbderthatiges Stid von der. Dornenfrone Ghrifti war ibnen geftohlen wor: den. Im Jahre 1725° hingegen kuͤndigte die Frau’ eines Gold- ſchmidts la Foffe ein neues Wunder an, das an ihr voll bradjt- worden fei. Gie war lange Zeit an einem Blutfluffe franf; al3 fie aber eine Proceffion begleitete, in welder ein Priefter, der ein Appellant war, die geweihte Hoftie trug, wurde fie ploglid) gefund. Der Cardinal von Noailles ließ diefen Vorfall durch Theologen und Aerzte unterfuchen, und beſtaͤtigte auf deren Bericht die Wahrheit des Wunders in einem Schreiben an feine Gemeinde. Ebenſo erzaͤhlte man bald darauf, daf bet bem Grabe eines Priefters von eben diefer Parthei in dem Erzbisthum Rheims eine Menge “von Wundern an Kranfen erfolgt fein follte. Aber Nichts glich dem. Mufe des beruͤhmten Wunderthaters Francois de Pa: tis. Sm Jahre 1690 in Paris geboren, wurde er im Jahre 1720 zum Diaconus gewablt, aber nur um dem Andringen feinet

Freunde gu folgen, nicht um in der Kirche emporzuſteigen. Vielmehr fing er nad) dem Bode feiner Aeltern an, nad jane ſeniſtiſchen Grundfagen das Leben eines fireng Buͤßenden zu fiibren. Sein anfebhnlicheds Vermoͤgen theilte er unter die Armen aus, Fleidete fic) wie ein Bettler, lebte unter denfel: ben, ober in elenden Hitten, genoß die dirftigften Nahrungs⸗ mittel, nahm fogar einen wabnfinnigen Geiftlidhen zu fic, um nocd mehr gemartert zu werden, bis er endlic) durch viels face Selbftpeinigungen unter haufigem Gebet und Faften feinen Zod im Jahre 1727 befcdhleunigte. Won feiner Parthei wurde er alS ein Heiliger bewundert, und fein Bruder lies ihm auf dem Kirchhofe des Heil, Medardus in einer Vorftadt von Parié ein marmornes Grabmal mit einer Gnfchrift feben, die fid) mit den Worten endigte, er fei mehr durch das Feuer der Liebe, als durd) Fieberhike verzehrt und ein unſchuldiges Sdhlactopfer der Buße geworden. Die Fanfe: niften liefen ein lobrednerifdes Leben von ihm drucen, welches 6 Auflagen erlebte. Kaum war fein Tod befannt geworden, fo erjablte man aud) bereits Wunderfrafte von feinem Grabe; das gemeine Bolf, welches fic) ſeines bettelhaften Nachlaſſes als eines Heiligthums bemadhtigte, kuͤßte die Erde feines Graz bes, und fammelte fie gu einem beilfamen Verwahrungsmittel. Wunbderthatige’ Heilungen, die fic) daſelbſt gugetragen haben follten, wurden gar bald in Menge verbreitet. Zwar eiferten die Wirdentrager der Kirche dagegen, Nichts fonnte jedoch das Hinftrdémen gu dem Grabe des ſchon als eines Heiligen angefehbenen Paris, und das Bertrauen auf ihn fchwachen. Diefe fo viele taufend Menſchen ergreifende- Schwarmerei ge: wann feit dem Sabre 1731 nod einen hoͤheren Schwung bis gum’ Entfesen durd) die Gonvulfionen, in welche Leute von jeder Art, felbft Kinder geriethen, die man auf das Grab des Heil, Paris legte” u. f. w.

Wir folgen nun bei der nadfolgenden Schilderung wiederum vornaͤmlich bem Calmeil, welder alé erfabrener Kenner feine Mittheilungen aus den widtigften Quellen Ca. a. O. Bh. 2, S. 315 400) woͤrtlich zuſammengeſtellt hat. Aud) ex begeichnet die Mitte des Jahres 1731 als den Beitpunft, wo eine Rranfe, auf dem Grabfteine des Paris liegend,

Sdeler Theorie d. relig. Wobrfinns, 29

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suerft von Gonvulfionen ergriffen wurde, welche fid) nun ſchnell uber die Hauptſtadt ausbreiteten. Denn von nun an wurden die Mteiften, welche wegen Krankheit das Grabmal befuchten, unmittelbar nad der Beriihrung deffelben von den mannig: fachſten RKrampfen befallen, indem fie meift an ftarfem Herz— flopfen litten, das Bewußtſein nicht gaͤnzlich verloren, ein heftiges Geſchrei ausftiefen, und gewoͤhnlich ein Kribbeln in dem (cidenden Theile empfanden. Bald hatten fie nur einen Anfall auf dem MKirchhofe, bald erlitten fie waͤhrend einiger Stunden eine Reihe von Anfallen. Cine Menge von Maͤd— chen, Weibern, und Kranfen jeden Alters machten fic unter Krampfen den Boden des Mirchhofes ftreitig; aber aud) in den benachbarten Strafen und in den Schenken fand man Zuckende, ja felbft in ihrer Wohnung wurden fpater meh— rere Weiber von haufigen Krampfen befallen. Gn ber Folge rourden aud) folche davon heimgefucht, welche früher auf dem Kirchhofe geheilt, denfelben aus Danfbharfeit befuchten, oder welde aus Devotion dem Ort der Wunder zucilten, oder aus bloßer Neugierde ſich gu dem unerhorten Schaufpiel drangten, ja felbft Gfeptifer und Gegner der Gonvulfionairs. Andere wurden in der Kirche des heil. Medardus heimgefucht, wenn fie demfelben ihren Dank fir die erlangte Heilung darbringen wollten. Ginige, welche die Kraͤmpfe dergeftalt fuͤrchteten, dak fie den Heil. Diaconus nicht um Heilung anjuflehben wag: ten, wurden wider ihren Willen durch Krampfe geheilt, nod Andere erlangten diefe Wohlthat durch eifrige Gebete. Nach wenigen Monaten belief ſich die Bahl der Convulfionairs auf 800. Mebhrere unter ihnen waren in jedem Ginne ausge— zeichnete Perfonen, aber die meiften gehorten dem gemeinen Volke an, und befonderés befanden fic) unter ihnen viele Kin— der und vornaͤmlich Madden, ja es gab unter ihnen felbft Bloͤd⸗ finnige. Mehrere litten feit einer langen Reihe von Gabren an Lahmung und Steifheit der Glieder, in denen fie dann vornaͤmlich von Zuckungen ergriffen wurden. Gewoͤhnlich lagen oder fafien die Kranken wahrend der Krampfe, nach deren Aufhoren Mehrere eines unbefchreiblicdben Wobhlfeins theilhaftig rourden.

Wir wollen nun zur deutliceren Anfchauung mebrere Krankheitshilder eingeln betrachten. Die Ojahrige Jo—

451 hanna Shenard wurde auf dem Grabe von den heftigften Krampfen befallen, wobei ihr Kérper mit einer folchen Ge: walt in die Hohe gefchleudert wurde, daß mehrere Perfonen, welche ihre Verletzung durch vas Niederfallen auf den Grab: ftein verhindern wollten, fic) aus Ermuͤdung ablofen muften. Sie befuchte lange Zeit alle Tage den Kirchhof, und bradhte gulegt den ganjen Bag unter Krampfen im Beinhauſe ju. Die Fourcroy, weldhe im December 1731 den Kirchhof be: fudte, wurde von dem Geheul fo in Schrecken gefebt, daß fie nad) einigen Zudungen fic) hinwegfuͤhren lief. Ende Mary fiihlte fie fic) Dem Bode nahe, weshalb fie die Furcht vor ben Krampfen tiberwand, und fic cin wenig Erde vom Grabe in Wein reichen ließ, indem fie inbrinftig betete. Sogleich gerieth fie in ein heftiges Bittern und in Kraͤmpfe, welche fie in die Luft ſchleuderten, ifr eine unerhodrte Kraft verlieben, ſo daß mebhrere Perfonen fie nicht halten fonnten, wobei fie dad Bewußtſein verlor. Nach dem Anfalle verfpirte fie cine unausſprechliche Ruhe und inneren Frieden, welche fie aud) iit der Folge haufig nach ihren Kraͤmpfen empfand. Die Frau Geoffroy verlor bei den Convulfionen auf dem Grabe die Vefinnung nicht, und fie war dann geswungen, den Kopf gu fcitteln, mit den Füßen auf die Erde zu fdhlagen, die Arme wurden fteif ausgeftredt, ober umberges fcbteudert. Dabei empfand fie fürchterliche Schmerzen, welche fie in lautem Schreien oder in Rlagetdnen aͤußerte. Auch in der Wohnung hatte fie oft Krampfe, und fie mußte fid bann fo lagern, daf fie nicht in das Raminfeuer fiel. Wenn fie die Befinnung verlor, waren die Krampfe am heftigften und fie empfand dann darauf die gropte Erleihterung. Aud bie Bridan, welche nicht nur auf dem SKirchhofe, ſondern aud) 3u Haufe nach dem Genus von. Wafer mit der Graberde Krampfe erlitt, empfand wabhrend derfelben, wenn fie die Befinnung nicht verlor, die heftigfter Schmerzen, als ob ihr die Beine zerfleiſcht, der Kopf gedffnet, ihr -Morper von Pfer: ben jerriffen wirde. Mit dem Anfalle verſchwanden auch die Schmerzen. Cine Baubftumme, welche man auf das Grab legte, wurde ſogleich von den heftigften Convulſionen befallen und deutete an, daß fie Schmerzen im Kopfe, In den Obren, 29 *

452 und in der Kehle empfinde. Sie blieb dann wie todt liegen, verlangte aber, zur Befinnung zurückgekehrt, daß man fie - nad dem Grabe guriidbringe, wofelbft fie, wie an den naͤch— ſten Tagen, wieder die heftigiten Kraͤmpfe erlitt. Sie foll ſchon nach wenigen Tagen ihr Gehdr erlangt haben, und fa- hig gewefen fein, einige Worter nachzuſprechen. Die Girour hatte in ibrer Gtube einen firchterliden Krampfanfall, wab- rend beffen fie mit gellender Stimme audrief: ,,id) bin gee beilt,” worauf fie pliplid rubig wurde, und erjablte, dag fie entſetzliche Schmerjen im Magen empfunden habe, von wo eine Kugel nad dem Halſe hinaufzufteigen, und zu jenem unter einem Gefuͤhl, als ob der Kérper mitten aus cinander geriffen wide, zuruͤckzukehren fchien, wobei in ihr eine laute Stimme 2—3mal tief: ,,ic bin gebeilt.” Wabhrend der Krampfe auf dem Kirchhofe lies fie ſich 6 Stunden lang von einem Manne auf den Schultern tragen, und wenn man thr diefe Hilfe verweigerte, gerieth fie im Zorn, wie. alle Con: vulfionairé, wenn man ihr Gerlangen nicht erfillte. Am 20. Sept. 1734 genoß die Wittwe Phevenet, um fic von einer Daubbeit gu befreien, Waffer mit Graberde, und fing ein neuntdgiged Gebet gu Ehren des Heil. Ganonifus an. Jn den nachften Tagen empfand fie eine grofe Unrube, und am 2, Sctober famen nad Anhorung einer Meffe die heftig- fien Kraͤmpfe gum Ausbrud), wobei fie ſich die ſtaͤrkſten Fauſtſchlaͤge auf die Schenfel verfegte, und ausrief, fie miffe Gott fur die Wobhlthat der Kraͤmpfe danken. Sie fprang hod) empor, ſprach eine Menge unverftandlider Worte, madte eine Menge der poffenhafteften Bewegungen, fclug die Her— beietfenden, welche fie verwirrt anblidte, und redete fie ver: traulid) an. Ins Bette gebradt fing fie an gu beten, und gerieth in neue Kraͤmpfe, durch welche fie nebft den Bett= deden in die Hohe gefchleudert wurde. Am Abend fam Ma- non, eine andere Krampffranfe gu ihr, beide umarmten fid unter Freudengefshret, und als Manon auf den Knieen ju bem Paris betete, verfiel die Thevenet in Wurth, fprang aus dem Bett, und gerieth in obfcine Bewegungen, wabrend fie ſchrie, daß fie beftigere Schmerzen, wie bei der @eburt eines Kindes erleide. Die Made bracte fie mit

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einer anbern SRrampffranfen unter Gefehwas, Springen, Pre: digen, Geheul und unter den. unanftandigften Berwegungen zu; beide waren gang nadt, lachten und warfen fic) mit ihren Miigen. Am nadften Morgen lag fie wieder in Krams pfen, empfand Bewegungen in allen Gliedern, und machte hoͤchſt unanftandige Geftifulationen, gu denen fie, wie fie fagte, unwillfiirlid) geswungen werde. Dann ſchlug fie fid) auf die Bruft und die geheimen Theile, um das Fleifd gu daͤm— pfen, und flagte uͤber ein heftiges Brennen im Snnern. Fn der Darauf folgenden Nadt lag fie 4 Stunden wie todt, obne Bewegung, Athem, Gefidht und Hande eiskalt, die Kiefern sufammengepreft, bis fie wieder in Rrampfe verfiel. Am 4. October erwartete fie ihren Tod, begann ju beichten, hatte argere Gonvulfionen, als je, verlor die Sprache, und ſchien gu fterten. Zur Befinnung zuruͤckgekehrt, rief fie, fie fet eine Gluͤckliche, eine Convulfionairin, eine Pradeftinirte. Bet dem Gintreten ihres herbeigerufenen Beichtvaters wurde fie von den heftigften Krampfen ergriffer, fcblug fic) mit den Fauften, jumal auf die gebeimen Zheile, und fprang hod) aus dem Bette. Abſichtlich nannte der Priefter dies ein Merk des Satans, wobei fie ſogleich wieder firchterlid gudte, und aud eine andere Rrampffranfe Convulfionen befam. Waͤhrend ved Tages gecieth fie in Ekſtaſe, fagte Stellen aus dem Buche von Quesnel her, und fprad uͤber die in thren Herzen triumpbirende Gnade. Am folgenden Tage machte ihr Bru— der, ein Ganonifus, ihr Borftelungen über ihren 3uftand, und fie willigte cin, dem Beidhtvater cin Bilde des Paris, Grde von feinem Grabe, und ein Stud von feinem Bette gu iibergeben, welche ing Feuer geworfen wurden. Sie legte dad katholiſche Glaubensbekenntniß ab, und blieb bei voller Rube und Befinnung. Jn der nachften Nacht war ſie ſchlaflos, von Gewiſſensſcrupeln gepeinigt, las in frommen Büchern; am Morgen lief fie fic mit Weihwaſſer befprengen, mufte fid) aber mit Mie tiberwinden, in die Kirche ju gehen, um eine Meffe anguboren, welche ihr Bruder fir ihre Wieder: herſtellung las. Wabhrend der Meſſe war fie von Schreden ergriffen, und fiel, alé fie das Grab eines Heiligen befteigen follte, rickwaͤrts über. Doch Febrte fie allmablig zur Befine

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nung 3urid, hatte nur eine dunkle Grinnerung von dem Borgefallenen, entfeste fid) aber nocd vor ciner Wifion in einer Nacht, welche ihr als ein Gerippe mit feurigen Augen und mit flammenfpeiendem Rachen erfchienen war. Sie galt frither fiir eine unbefchottene Frau. Calmeil bemerft bier: bet, daß die Sanfeniften, welche den Kampfkranken -geiftliden Beifland leifteten, mit ihnen nicht von TeufelSbundniffen und Grorcigmen, fondern von dem Segen der gottliden Gnade, die ihnen durch den heiligen Geift zu Bheil werde, fpraden, und daf die Kranken ſich fiir viel zu vollfommen hielten, als bag fie die Angriffe bes Teufels gefiirchtet hatten.

Der Uebertrit des koͤnigl. Secretairs Fontaine, frither eines entfchiedenen Gegners der Appellanten, gum Janfenis- mus, erfolgte unter Krampfen und religidfem Grrereden. Im Sabre 1733 fiihlte er fid) in einer grofen Gefellfchaft ploͤtzlich gezwungen, fic) mit der groͤßten Schnelligteit auf einem Beine umzudrehen, welches laͤnger als eine Stunde ohne Unterbre- chung geſchah, zugleich empfand er einen hoͤheren Antrieb zu bitten, daß man ihm ſchnell ein Andachtsbuch reiche. Man gab ihm Quesnel's Buch, und obgleich er nicht aufhoͤrte, ſich umzukreiſen, ſo las er doch darin mit lauter Stimme. Dieſer Kampf wiederholte ſich 6 Monate hindurch jeden Tag, zuletzt regelmaͤßig zweimal, bis er waͤhrend ſeiner Drehungen die 8 Baͤnde des Quesnel'ſchen Werks durchgeleſen, und fie mit frommen Herzenserhebungen zu Gott begleitet hatte. Das Drehen fing jeden Morgen Schlag 9 Uhr an, und dauerte 1—2 volle Stunden ohne Unterlaß; Nachmittags begann ein chen fo langer Anfall um 3 Uhr. Beim Aufſtehen am Mor: gen fuͤhlte er fic) fo ſchwach, daß er fic -nicht auf ben Beis nen halten fonnte. Waͤhrend des Drehens ftemmte er fich mit dem einen Bein auf einen Fle, ohne denfelben gu verlaffen, indem bas andere Bein einen Kreis in der Luft beſchrieb, oder nur leicht den Boden beriihrte. Man zaͤhlte oft 60 Um: drehungen in einer Minute. Nady dem Anfall des Morgend fonnte Fontaine etwas auf den Beinen ftehen, nach dem Anfall des Nachmittags erlangte er aber feine ganze Kraft, und fühlte fid) vollig gefund bis jum nachften Morgen. Er anderte nun feine ganze Denkweiſe in Beziehung auf die

Appellanten, hielt das Werk von Qucsnel fir eine Quelle des Lichts, des Segens, der Gnade, wodurch er bewogen wurde, fein Amt niederjulegen, feinen Sinn vom Irdiſchen abjuwenden, reichliche Almofen auszutheilen, bid er ganj ver: armte, ind in der Zuriidgesogenheit, in tieffter Demithigung und ftrengfter Bufe gu leben. Zuweilen gerieth er in Ekſtaſe und Gnfpiration, prophezeite gleid) vielen Anderen die Antunft des Elias, die Abſchaffung aller Mipbrauche, die Bekehrung der Unglaubigen im janfeniftifhen Sinne. Am 9. Mar; 1739 fuͤhlte ev fic) angetrieben, gu einem einſiedleriſchen Freunde 3u gehen, welcher ihn wie einen Gottgefandten aufnahm, und welchem er erflarte, er werde Wwabhrend der ganzen Faſtenzeit mit Ausnahme der Gonntage nur um 6 Ubr Abends Brot und Wafer geniefen, welches er aud) puͤnktlich befolgte. Nach Oftern feste er diefe LebenSweife nur mit dem Unterfchiede fort, daB er Mittags und Abends Brot, Wafer und zuwei— (en ein Dugend Oliven genof. Dann erflarte er, daß er 40 age hindurch gaͤnzlich faften werde, und fing aud) da: mit am 20. April an, weil er aller Bemuͤhungen ungeadtet Nichts geniefen fonnte. Doch ſetzte er dieſe voͤllige Enthalt: ſamkeit vorlaͤufig nur 10 Tage hindurch' fort, waͤhrend er noch Handarbeiten verrichtete, ſich waͤhrend der kanoniſchen Stun— den Andachtsuͤbungen ergab, und die Naͤchte bis 2 Uhr mit ſeinem Freunde im Gebet und Herſagen von Pſalmen zu— brachte, und um 4 Uhr in einer entfernten Kirche die Meſſe hoͤrte. Zu dieſem Allen fuͤhlte er ſich durch einen unwiderſteh— lichen Antrieb gezwungen. Eben fo noͤthigte ihn ein frank: hafter Inſtinet, vom 5. Tage an, bei Tage und Nacht ſich mit einem ſo ſcharfen Eſſig zu gurgeln, daß ihm die Haut des Mundes und der Bunge verloren ging. Wm 10. Tage war er bis gum Tode erfchdpft, und bis auf die Knochen abgemagert, fiber welche fic) feine bleifarbene und trockene Haut fpannte, fo daf er einer aͤgyptiſchen Mumie gtidh. Am 5. Mai brauchte er gum Wege nad der Kirche ſchon mebhrere Stunden in VBegleitung feines Freundes. Cr trat in mehreve Sdenfen ein, um Bier gum Gurgeln gu fordern, aber man warf ibn als einen Trunfenbold hinaus. Bn feiner Wohnung suruidgefehrt, fonnte er kaum mebr auf den Beinen fiehen,

und fublte nun, ohne dadurch erfchiittert ju werden, feinen ſchrecklichen Zuſtand, indem er fid) mit einer vertrodneten Spinne verglidh. Gr wurde fo ſchwach, dap er nicht einen Tropfen Waffer verfcdlucen fonnte, geigte aber im Gefichte cine voͤllige Ruhe und Siderheit, und fprad) haufig: non moriar sed vivam. Mod am 7. Mai Morgen wiederholte cv diefe Worte, dann aber verlor er bie Sprache, die -Bewer gung, den Puls, und fing an gu roceln, indem fein Geſicht leichenartig wurde. Um nadhften Morgen willigte er ein, daf cin Arzt gerufen wurde, und obgleich nad dem Genuß von Fleiſchbruͤhe ein Durchfall erfolgte, fo erholte er fic) doch bin: nen der naͤchſten 3 Wochen fo weit, dak er fein 40tagiged Faſten begann, wabrend deffen er jedod) feinen Durft ftillte. Gein Beiſpiel machte natirlic einen tiefen Eindrud auf die Munderglaubigen, und er wurde dazu durch die Meinung beftimmt, daB er das Emblem der Kirche auf Erden fei, welde, wie er in beiligen Bichern gelefen hatte, niemals unterliegen durfe, wenn fie aud nocd fo geſchwaͤcht fei.

Auf gleiche Weife war das Leben der vornehmften Gon: vulfionairs ein anhaltendes Martyrerthum, man ſah ibrem Ge: ſichte die ſchweren Bußuͤbungen an, denen ſich felbft junge Madchen unterwarfen. Die meiſten ſchliefen nicht mehr in Betten, ſondern in ihren Kleidern auf Brettern, auf der bloßen Erde, oder auf Holzſtuͤcken und Eiſenſtangen, im Bins ter wie im Commer. Manche afen wabrend der Faften nur am Conntage und Donnerstage, eine genof taglid) nur eine robe Paſtinakwurzel. Cinige ſchlugen fic) mit den Fauften auf die Stellen, wo fie ihr Bußwerkzeug (CStachelgirtel?) trugen, deffen Spigen in iby Fleifd) eindrangen. Wiele trugen die Holgen ihrer wabhnfinnigen Frémmigkeit davon, als Wirkung ted Faftens erlitten fie Schlundframpfe, fo daß fie Nichts mehr fdluden fonnten, und der Sod trat unter den Quaalen deS Hungers ein. Mebhrere wurden kataleptiſch, welches man état de mort nannte, worin bas von Vifionen befangene Bewußtſein feine Verbindung mit der Aufienwelt durd die Sinne gang oder gum Bheil aufhob. Manche blicben 2—3 Sage in Ddiefem Buftande ohne Gefuͤhl und Bewegung, fteif wie Todte, mit offenen Augen und bleichem Geſicht. Diefer

457 Zuftand wurde mit dem der Heil. Dherefe verglidhen, deren Geift wahrend der Entzuͤckung nidt mehr den Morper gu be: feelen fchien, denn ihre Glieder. wurden bewegungslos, ſteif, falt, dad Athmen horte auf, das Geſicht war von Todtenblaffe bededt. Bei einigen erreichte die Ratalepfie nicht einen fo hohen Grad, fie wurden wohl eine Zeit lang fteif, verloren aber dod) die Sinne und das Gefiihl nicht gaͤnzlich, andere fonnten fogar mit den Umftehenden fprechen, wenn aud) ibe Geift in himmliſche Contemplationen vertieft zu fein fchien. Mehrere wurden durch Vifionen entzuͤckt, fie fehrten bie Augen und Hande zum Himmel, wollten gleidfam gu demfelben hin: auffpringen, ihr Geſicht ſtrahlte Wonne, man fonnte thnen wabhrend des Anfalls die ſtarren Augen nicht ſchließen und fie waren ein Gegenftand frommer Bewunderung, wabhrend andere von niedrigerer Gefinnung ihr Geſicht dergeftalt verzerrten, daß man fie nur mit Widerwillen anfehen fonnte. Oft hielten fie lange Reden religiofen Inhalts, fie webhflagten uͤber die Verderbniß der Geiftlidfeit und des roͤmiſchen Hofes, verkuͤn— deten das nahe Ende der Welt, und die WiederFehr des Pro- pheten Elias, behaupteten, daß der heilige Geift ihnen ihre Worte einflofe, und fie ndthige, bei Trompetenſchall die Be: februng der Juden und dad allgemeine Reich Chrifti anzu— findigen. Insbeſondere aber richteten fie ihren Zorn gegen die Bulle Unigenitus, deren fich der Firft der Finſterniß be— diene, um die gottlichen Wahrheiten gu verdrangen, weldye fie mit dem groͤßten Gifer erlauterten. Mit Bhranen in den Augen webflagten fie ther den Mißbrauch der Sacramente, wodurch der Leib Chrifti in den Handen gottlofer Priefter ent: weiht und gleichfam ftinfenden Hunden, welche jene Priefter an die Stufen ded Altars gerufen, in den Raden geworfen wirde. Gon fdredlidhen Vorftellungen gefoltert warfen fie fic) gu Boden, befdworen die Zuſchauer, das Gefidt in den Staub ju beugen, und fic im Geifte vor dem Gottmenfden zu demuͤthigen, um die ihm in der Kirche wibderfahrene Schmach ju fiihnen und den Zorn Gottes gu befanftigen. An: dere Male verkuͤndeten fie mit entzuͤcktem Antlib, daß die feg: nende Gnade Gottes wie ein Regen zur Erde herabftrémen, und ſich der Hilfe der Juden bedienen werde, fein Reich

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in der Welt wieder herzuftellen, weil fie die reinfte Moral lehr— ten, und ihr Anbeter mit liebeglihenden Herzen erweden wiirden, Ihre Meden enthielten oft eine Fluth von Bildern und Ausdriden, wodurd) fie die in Haufen herbeiſtroͤmenden Zuſchauer in Staunen verfesten. Sie batten dann unendlic& mebr Geift, Scarffinn und Grfenntnif, als im gewoͤhnlichen Buftande, denn e3 waren meiſtens außerordentlich fchiichterne, unwiffende, fimple Madchen aus den unterffen Standen, welde in den Anfallen mit Sicherheit, Feuer, Eleganz und Erhabenheit ber die Verderbniß der Menfchen und uber die Erbfiinde fprachen. Gin Fleines Kind war gewoͤhnlich fo bloͤde, daß man faum ein Wort von ihm herausbringen fonnte, aber waͤhrend der Gonvulfionen ſprach es fo richtig und eindring: lid, alS wenn es grofe Valente und eine ausgezeichnete Er— ziehung befeffen hatte. Eine Kranke ſprach wabhrend der Con: vulfionen: ,, die Kirche liegt im Schmus und im Staube, die Wuͤrmer nagen an ihrem Fleifche, die Verwefung ift bis in ihre Knochen eingedrungen, ein unertraglicher Geſtank verbrei: tet fid von ber fie umgebenden Faulnif; eilt ihr zu Hilfe mit Gifen und Feuer, verfaumt Nichts zu ihrer Heilung, ſchnei— det und brennt, denn es miffen die ftarfften Heilmittel an- gewendet werden”. Ginige hielten die laͤcherlichſten Anreden an Gott und glaubten, dabei vom heiligen Geifte infpirirt zu fein. Eine andere Rede lautete: ,, Mein Water, fieh den Zu— ftand deines Kindes, er ift voll Leiden. Nein, meine theure Scwefter, fiirdte did) nicht, der Here wird did) nicht vers werfen, er ift dein Jiebender Vater, der dic) immer geliebt hat. Ach Herr, wie gnaddig Haft du in deiner Barmherzigkeit die Schwefter gefiihrt, wie groß find deine Abſichten. Theure Schwefter, verlieve den Muth nicht, Gott last vid aus fei: nem Kelche trinfen, bitte ihn, daß er deinen Glauben ftarft. Herr erhalte und ftarfe mid), denn fiir dich leide ich. Habe id) dir nicht gefagt, liebe Schweſter, daß du den Meld Chrifti trinfen wirdeft? Der Feind, welcher immer neben dir iff, um did) gu unterwerfen, wird did) nicht iberwaltigen, denn Chriftus ift deine Starfe. Wohlan meine Schweſter, fuͤrchte dic) nidbt, verdoppele deine Gebcte”. Manche nahmen bet ihren frommen Acuferungen burlesfe Stellungen an, 3. B.

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eine Kranke, welde das Gebet de profundis franzoͤſiſch auf eine fehr erbaulide Weife herfagte, aber vorher verlangte, daß man fie den Kopf nach unten, die Veine nad oben, den Koͤrper in der Luft fdwebend erhalte, und daß man fie nach Beendigung des Gebets einen Burzelbaum in der Luft ſchla— gen liefe, indem fie behauptete, daß damit ein widhtiges Ge- heimnif und die Umfehrung alles kirchlichen Wefens bezeichnet werde. Es kuͤmmerte fie wenig, daß Manner ihr diefen Dienft leifteten. Cine gewiffe Fnvifible ſchlug Burgelbaume, wah: rend ‘fie Zoblieder auf Gott fang. Eine andere ſtreckte beim Beten die Bunge wie eine Beſeſſene hervor, und fdnitt fuͤrch— terliche Gefichter. Eine andere ſchien bei der Eraltation von Verzweiflung ergriffen gu fein, fie wollte fid) das Geficht mit ihren Naͤgeln zerfleiſchen, und fid) aus dem Fenfter ſtürzen. Andere beteten unter der Pantomime des Nafirens, um einen Heiligen nachzuahmen, ftellten ſich, als wenn fie Suppe afen, und begingen taufend andere Narrenftreiche. Sie ließen fich z. B. den Hals gufammenbdriden, bis fie die Bunge fang herauéftredten, fic) mit einem Strid um ben Hals an einem Haken aufhangen, Manner muften fie druͤcken, ſchuͤtteln, ſchau— feln, an den Armen, Beinen, dem Bufen zerren, fie auf den Kopf ftellen, fo daß die Beine in die Luft emporragten. Ginige Manner beteten um ihre Gefundheit, indem fie heftig den Kopf fchiittelten, fic) mit Fauften ſchlugen, und fic wie Befeffene gebardeten, Weiber, indem fie wie toll umberliefen, fidy von Mannern auf den Knieen halten lieBen, oder fich auf dem Grabe des Paris in unanftandigen Stellungen ausftred: ten. Sunge, fchdne Madden machten im Beinhaufe wahrend fie fich um die Mitte des Leibes von Mannern halten ließen, ungeftiime Pirouctten, und rubten fic zuweilen auf den Gefidhtern jener aus. Gin Mind fag wabhrend der erhabenften Reden auge⸗ ſtreckt auf der Erde, von Zeit zu Zeit erhob er die Beine, um ſie einem Anderen auf den Kopf zu legen. Ueberhaupt gehoͤrten die Burzelbaͤume und unanſtaͤndige Bewegungen zu den haͤufigen Begleitern der froͤmmſten Herzensergießungen.

Mehrere Theomanen, deren Sprachwerkzeuge, wie von einer fremden Macht bewegt wurden, glaubten, daß die von ihnen geſprochenen Worte ihnen nicht gehoͤrten, weil fie derfel:

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ben ſich erft bewuft wurden, wenn fie fie ſelbſt borten. Deshalb wabhnten fie, daß der gottlidhe Geift die Stelle ihrer Geele einnehme, fie bielten fid) nur fir ein Echo, welches bie ihm jgugerufenen Worte wiederhole, ihre Stimme ſchien ibnen eine frembde ju fein. Beſonders behauptete dies von fid) ber erwabnte Fontaine, und er bemerfte hieruͤber, daß das innere Licht die Convuljionairs gum Sprechen nothige, um die Anfunft des Elias zu prophegeien, oder Faften und an: dere ſchwere Bußuͤbungen vorherjuverfiinden, damit Andere es wilften, daf fie dazu verpflichtet waren, und fie im gewdhn: liden Zuſtande daran erinnern fonnten, fo wie fie denn uͤber— baupt alé Propheten auftreten follten, durch deren Mund der Herr rede. Die Convulfionairs horten die ihnen eingegebenen Worte entweder innerlidh, oder mit ihren Obren, aber fie waren nicht immer gendthigt, Ddiefelben Laut auszuſprechen. Zuweilen war es thnen, als ob fie juerft aus ihrem eigenen Geifte redeten, dann aber vom gottliden Hauche erfüllt fpra- chen, wo fie dann gelegentlid) in der Rede ftodten, wenn jener Haud ihnen entfdwand, bis derfelbe fie abermals jum Sprechen antrieb. Haufig bedienten fie fid) beim Sprechen und Singen feltfamer Worte, welche fir fremde Sprachen gal: ten, da fie diefelben mit den audsdrudvollften Gebdrden be: qleiteten, al8 ob fie damit einen tiefen Ginn verbdnden; es fcheint aber nad) reifliher Erwaͤgung alles Mitgetheilten, dag died nur eine bei Geiftedfranfen nicht felten beobadtete Gr: ſcheinung war, ein finnlofed Sargon gan; willfirlid) gebildeter Woͤrter zu ſchwatzen. Cine gewiffe Lordelot, welche ge: wohnlid -nur mit vieler Mihe ſprach, bielt in ibren Ekſtaſen ſolche kauderwaͤlſche Reden, deren finnlofe Worter Niemand aud) nur nadfprecen fonnte, mit der groͤßten Leichtigfeit und Anmuth, und fang eben fo wie cine andere Kranfe, welche 3. lange Reden oder die Meſſe in fremder Sprache herſagte, kruͤmmte ſich dabei bogenfoͤrmig ruͤckuͤber, fo daß die Stirn die Erde berührte, oder ſie ſtreckte ſich auf dem Boden unter ſo heftigen Bewegungen aus, daß eine Perſon ihre Kleider halten mußte, um unanſtaͤndige Entbloͤßungen zu verhindern.

Calmeil fiihrt aus theologiſchen Schriften die Bemer— fung an, daß die wahren Propheten nach ihren Ekſtaſen fid

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genau deſſen erinnerfen, toads Gott ihnen wabhrend derfelben eingegeben habe, daB aber die undchten Propheten zur Beſin— nung zuruͤckgekehrt ihre innere Erleuchtung vergafen. Eben fo wuften die meiften Convulfionairs nad) ihren Rrampfen oder Ekſtaſen nicht mehr, oder nur hoͤchſt unvollftandig, was fie gefproden batten, fo daß man ihrem Gedaͤchtniß yu Hilfe fommen mufte, indem man ibnen ihre nachgefchriebenen Re: den mittheilte. Aber die auggezeichnetſten Convulfionairs be: hielten im Anfalle ihre vdllige Geiftesgegenwart, und fie er: innerten fic) nad) den Anfallen genau alled deffen, was fie gethan und gefproden batten, fo daß fie ihre aufgefthriebenen Reden verbeffern, und die darin enthaltenen Lien ergaͤnzen fonnten. Waren ihre Reden nicht aufgefchrieben, fo fonnten - fie diefelben genau wiederholen, indem fie felbft die mit be: fonderen Nachdruck ausgefprodenen Stellen wiederholten. Ueberhaupt bemihten fie fic), im rubigen Zuſtande die Grin: nerung an ihre Gfftafen feftgubalten, daher fie unter deren verderblidhem Ginfluffe blieben, weil fie diefelben fir goͤttliche Gnabdenwirfungen bielten. Ihr Wabhnfinn ließ daber in den rubigen Zeiten nur wenig nad, und viele unter ihnen verrie- then durd ihr Benehmen eine anhaltende Geiftesftorung. Dies offenbarte fic) befonders dadurd), daß fie fid) auf vielfaltige Weife bemihten, die Unglaubigen davon ju tberzeugen, die goͤttliche Gnade habe ihnen die Macht verliehen, dte griften Wunder gu verridten, Wunden und die ſchwerſten RKranfhei- ten gu heilen. Sie ſetzten Ales ins Werf, um einen glan: genden Gindrud auf die Zuſchauer gu machen. Die junge Login, die bellende genannt, weil fie wie mebrere Andere waͤhrend der Anfalle ein Hundegebell erhob, verfprad) ein tod- tes Kind wiederjuerweden, und lich die Leiche unter grofem Geprange herbeiholen. Nachdem fie diefelbe mit Waffer aus dem Brunnen des Paris gewafhen, und mit Erde von fei: nem Grabe gerieben hatte, legte fie fid), wie der Prophet Elifa tuber diefeibe, und blieb auf ihr fo lange fliegen, bid das Fleiſch in Faͤulniß uͤberging. Eine andere, welche ihre geliebte Schwefter heilen wollte, verfebte ſich felbft zuerſt derbe Bauftfhlage an den Kopf, kroch auf dem Mien aus ihrer Stube die Vreppe hinab, den Kopf nach unten, die Beine

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nad oben bid gu der Kranfen, welche fie anredete. Zuletzt fdlug fie einen Burzelbaum, und blieb auf dem Kopfe fteben, indem fie die Beine in die Luft ſtreckte. Die Deiffon ſprach zur kranken Dubots: ,, was madft du da, baft ou Gertrauen gum Francois Paris?” Hierauf erhob fie die Augen gen Himmel, legte die Arme im Kreuz übereinander, und bewegte die Lippen wie im Gebet. Bald nachher bog fie ben Koͤrper vorniber, bis dje Stirn den Boden berihrte.

Im Antriebe der. Frommigfeit forwohl, als um Auffeben “zu erregen leckten viele mit ihrer Bunge die ekelhafteſten, mit ftinfendem Eiter erfiillten Gefchwitre, bid diefe ganz rein wa— ren; fie verſchluckten den Giter ohne Nachtheil, fo wie das Waffer, in weldem fie die VBerbandftiice gewafden hatten. Anfangs empfanden fie ſelbſt Abfchen dagegen, welchen fie aber ‘aus Gehorfam uͤberwanden. Man bracte ein bleiches, hektiſches, faft ſterbendes Kind 3u einer Convulfionairin, welche freudig ausrief, daß daffelbe mit Sfrofelgefchwiren am Bein behaftet fet, und daß Gottes Gnade fie mit der Heilung beauftragt habe. „Iſt es nicht recht, o mein Gott, fpradh fie entzuͤckt, daß wir zu Mitgliedern Deiner Familie beftimmt, gegenfeitig an unfern Leiden Sheil nehmen? Nein mein Gott, id fuͤrchte mid nicht, einen Theil des Gifts, welches ſchon ein Glied diefes Minded zerſtoͤrt, in mich aufzunehmen. Bin ih nicht hochbeglicdt, da’ du mich gu diefem Werke der Barmberzigheit auserwahlft? Deine unendlidhe Macht wird nicht faumen, und beide gu heilen”. Eilig entfernte fie die Binden von dem franfen Beine, aus defjen zabllofen Ge- ſchwuͤren ein roͤthlicher, dicker Eiter quoll, auf deren Grunde man die ſchwarzen, angefreffenen Knochen bemerfte. Zugleich verbreitete fid) ein unertraglicber Geftanf im Zimmer, und felbft die Gonvulfionairin wid) voll Entfesen zurück, indem fie burd) Bhranen und heftige Bewegungen ihren inneren Kampf verrieth. Endlich vief fie, die Hande gum Himmel erhoben, aus: „o mein Grlofer, eile mir zu Hilfe, deine Gnade iff allmddtig, du fiehft meine Schwaͤche. Sch preife dich dafitr, daß du mic) beftimmt haft, died bedaucrndwerthe Kind ju heilen; aber beim Anblick feiner Wunden erfaltet mein Gifer, bas Herz feblt mir. Ad) wenn bu mir Etwas gebieteft, woe

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gegen ic) einen fo grofen Widerwillen hege; fo verleihe mir aud) die Kraft zur Ausfihrung. O, feeliger Bifender (Pa— ris) fei mein Beiftand, id) bin deine Dienerin, dein Name ift meinem Herzen eingegraben, erbitte vom Allmaͤchtigen, daß ſeine Starfe meine Schwaͤche tberwinde”. Sie war nun wie: der rubig geworden, hatte im Geſichte die natirlide Farbe angenommen, und wollte nun ihren Mund auf die Geſchwuͤre legen; indef abermals wid) fie zuruͤck, weil fie ihr Herz nod nicht uͤberwunden hatte, und ridtete den Blid gum Himmel auf. Endlich druͤckte fie den Mund. ungeftiim auf das brei- tefte Geſchwuͤr, und als fie angefangen hatte, daffelbe aus— zuſaugen, fchien fie feinen Abſcheu mehr gu empfinden, fon: bern fie danfte Gott, daß ex ihre Schwache uͤberwunden habe. Nachdem diefe Operation an dem Kinde mehrmals vollzogen worden war, foll eS gebeilt worden fein Cal: meil bemerét hierbei, daß lange Zeit hindurch das Ausfau: gen der Geſchwüre der Anwendung von Verbaͤnden vorgezogen worden fei, und filhrt aus dem Leben der Magdalene von Pazzi an, daß diefelbe einſt nach dem Empfange des Sacraz ments in Gfftafe an das Bette der Priorin Orlandi lief, welche mit dem Ausfabe, befonders am Kopfe behaftet war. Magdalene entfernte den Verband vom Kopfe, und lecte ihn vollig rei, vorziiglich an den Ohren. Jn der Bulle gu ihrer Ganonifation wird bemerft, daß fie mit der Bunge die Sauche und Wirmer aus gwei grofen Wunden ausledte, und dabei ausrief. „Ach Chriftus hat weit mehr gelitter, als wir.” Eben fo reinigte fie mit der Bunge die Schweſter Barbara von den viele Rrabfchorfen, womit ihr Koͤrper wie mit Aus: fas Behaftet war.

Wir gehen jest zu Auftritten uͤber, welche Feinen Glau: ben finden wiirden, wenn fie nidjt von zahlloſen Parifern ge: fehen, und von vielen gleichzeitigen Schriftſtellern bezeugt wor: ben waren, und welche nur alljufebr meine Bemerfung ju Anfang diefes Kapitels uͤber die Beftialitat vieler epidemiſchen Convulſionen beftatigen werden. Manches ſchweift ins Mahr- chenfafte uͤber, indeß ift cine Kritik der einzelnen Angaben mad Ablauf eines vollen Sabhrhunderts. nicht mehr moͤglich, und es muß dem Urtheile-dev geneigten Lefer uͤberlaſſen blei-

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ben, das Moͤgliche von wirklichen Uebertreibungen abzuſondern. Fir mid) bleibt nur tbrig, treu wiederzugeben, was id) vor: gefunden habe. Mod am leichteften gu begreifen iff es, daß mebrere Convulfionairs die Leiden Chrifti und die den Juͤn— gern deS Elias bevorftehenden Verfolgungen veranfdhauliden wollten. Mit dem Ausdruck ihrer Mienen beftrebten fie fich, bie Quaalen der Verdammnif und die Seeligfeit der Auser— wablten gu bezeichnen, wobet ihr Gerftand gan; aus den Fu- gen wid. Einer und der andere fftellte die Paffion Chrifti dar, indem er die Arme lange Beit wie am Kreuze unbeweg- lid) ausftrecdte, guerft mit dem Gefichte einen in grofer Ge— duld und Ergebung getragen heftigen Schmerz ausdruͤckte, foz dann mit jitterndem Koͤrper und erlofdenen Augen das Ster- ben verfinnbildlidte, und endlich mit halbgefchloffenen Augen und ſchwaͤrzlichen Lippen den Kopf niederhangen lief. Einige Gonvulfionairs gingen ſo weit, dag fie fid) audsgeftredt an einem hoͤlzernen Kreuze mit Striden feftbinden, daffelbe dann aufridten liefen, um laͤngere Zeit in der Stellnng des ſter— benden Chriftus gu verbarren. Einige follen ſich fogar Arme und Veine mit grofen Nageln haben am Kreuze be— feftigen laffen, wabrend fie Ermahnungen an die Umftehenden richteten. Andere lieBen fic) die Bunge und ihre Glieder mit Degen durchbohren, um die AbfcheulichFeit der Suͤnde zu be— zeichnen, welche nur durd) das Leiden ded himmliſchen Flei: ſches gefiihnt werden fonnte. Eine Gonvulfionairin lief fic) an den Geinen aufhangen, den Kopf nach unten gekehrt, und blieb */4 Stunden in diefer Lage. Eines Tages, ald fie auf ihrem Bette lag, riffen zwei Manner fie mit einer Serviette, welche hinter ihren Ruͤcken durchgefubrt war, 2400mal mit Gewalt empor, waͤhrend gwei andere vor ihr ſtehende Per: fonen fie eben fo oft und beftig zuruͤckſtießen. Gin andermal zogen vier Manner mehrere Minuten hindurd fie an Armen und Seinen, ald ob fie diefelbe viertheilen wollten. Eines Tages legte fie fic auf einen Tiſch, lieB fic die Hande und Sipe auf dem Riden gufammenbinden, wobet 6 Manner fie unaufhirlid) auf den Leib fdlugen, und ein fiebenter ihe die Kehle gufammendridte, bis fie bewegungslos ba lag, und die blau angefchwollene Bunge ihr weit aus dem Munde hervor-

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ragte. Cine gewiffe Nifette lies fic) am 9. Mar; 1733 guerft mit einem, fodann mit 4 Holzſcheiten auf den Kopf fdlagen, und an allen vier Grfremitaten ziehen. Hierauf traten 2 Manner auf fie, fpater einer auf ihren Rien, und endlich wippten gwei Manner fie, indem fie ihre Arme in die Hohe gogen. Dann ſtellte fic) eine Perfon auf ihre Magen: gegend, indem man fie an den Beinen jog, man bing fie an Diefen auf, und veritbte nod) cine Menge Brutalitaten an ihr, bis fie guleBt von 15 Perfonen mit den Fifen geftofen wurde. Montgeron, welcher ein großes Werk uͤber die Convulfionairs gefehrieben hat, bewog eine Kranke gur Dar: ſtellung der leidenden Kirche, indem fie fich von ihm in einen Sarg legen, und den ganzen Koͤrper mit Ausnahme des Ge— fichtS mit fauler Erde und Sand bedecken lich, worauf er fie nod) mit fharfem Eſſig uͤbergoß. Wergebens eiferten die verniinftigen Sanfeniften dagegen, indem fie den Widerfpruch diefer Greuel mit einer dchten Frommigfeit in den ſtaͤrkſten Ausdruͤcken bezeichneten; eine wahre Wurth, fich gu martern, hatte die Sinnlofen ergriffen. Sie febten fic) der FeuerSgluth aus, ließen ſich den Kopf zwiſchen Brettern sufammenflemmen, fic) auf den Bufen, den Baud, die Glieder Schlage mit Holsfcheiten, Fuͤßen, Steinen verfesen. Denn fie wollten darthun, daß Gott fie unverwundbar mace, daß feine Gnade fie durch Mittel heile, welche ibnen auferdem den Bod bringen mifter, und daf fie nicht Schmerzen, fondern Luft “bei diefen Miphandlungen empfanden. Einige rannten mit blofem Kopfe gegen eine Mauer, andere flachen fich Nadeln in den Kopf, andere wollten ſich aus dem Fenfter ftirzen. Ginige liefien Manner auf ihre Augen, ihren Hals, auf Bruft und Unterleib treten, oder an ihrem Bufen zerren. Die Bahl der Schlage, welche einen Starfen gu Boden ſchlagen fonns ten, uberfteigt allen Glauben, einer RKranfen follen auf eins mal 4000 gegeben worden fein. Montgeron giebt an, daß an 4000 Gnthufiaften den Kranken dieſen fogenannten Lies beddienft erwiefen. Gr felbjt uͤbte denfelben an einer gewif- fen Mouler, welche fid) gewoͤhnlich mit einem Feuerbocke 100 Sdlage auf den Unterleib geben fief. Einmal hatte er mit gelinden Schlagen angefangen, uͤber deren Schwache die Mouler fic beflagte, felbft ald er fie bedeutend verftarte Sveler Theorie d. relig. Wahnfinns, 30

466 hatte, weshalb er bad Gifen einem ftarferen Manne uͤberge⸗ ‘ben mufte, der nun aus allen Kraften parauf losſchlug, fo daß die Mauer bebfe, an welche fie ſich lehnte. Die Kranke, welche die Streiche des Montgeron fir Nichts achtete, ließ ſich nun noch 100 Streiche verſetzen, und erſterer, welcher die Kraft der ſeinigen erproben wollte, ſchlug beim 20. Hieb ein Loch in die Mauer. Gin anderer ergriff einen 22 Pfund ſchweren Stein, und führte damit auf die Bruſt einer auf dem Boden liegenden Kranken ſo gewaltige Streiche, daß der Boden zitterte. Eine auf dem Boden liegende Kranke ließ ſich Bretter auf Bruſt und Unterleib legen, auf welche eine Menge Menſchen, einmal ſogar 20 traten. Dennoch wurde ſie nicht erdruͤckt, beklagte ſich vielmehr oͤfters, daß die Anſchwellung ihrer Glieder dadurch nicht vermindert wuͤrde. Eine Kranke ſtützte ſich mit dem Ruͤcken auf einen Stab, ſo daß ihr Koͤrper zu beiden Seiten bogenfoͤrmig herabhing und rief: Biscuit, Biscuit! Damit war ein 50 Pfund ſchwerer Stein gemeint, welcher an einem Strick befeſtigt, mit Hulfe einer Rolle aufgezogen und bann frei gelaffen auf thren Leib herabfiel: Ohne Schmerzen gu empfinden, rief ſie: „ſtaͤrker, ftarfer”. Eine Nonne, welche die Ankunft des Elias in ihren Kraͤmpfen verkündete, aber die ſogenannten secours verabſcheute, bildete ſich zuletzt ein, daß ſie nur dadurch von einem Ausſchlage, von einem Geſchwuͤr an der Bruſt und von Kopfſchmerzen geheilt werden koͤnne, und unterwarf ſich daher den fuͤrchterlichſten Mißhandlungen. Dennoch genuͤgten ihe dieſe nicht, weshalb ſie ſich die Beine nach oben kehren, und den Kopf ſehr oft mit Gewalt auf den Boden ſtoßen ließ, Awa wie man cine Ramme beim Pflaftern handhabt. Die Delaporte legte fic) auf den Boren, und ließ fid) von den ſtaͤrkſten Manner mit aller Gewalt in die Seiten treten, ohne daß ihr damit genug geſchah. Bei einigen erforder— ten die Monate lang andauernden Krampfe bis gu 30 und 40000 Schlaͤge mit Holzſcheiten, wodurch ſie ſich ſehr erleich— tert füͤhlten. Bei der Turpin veranlaßten die haͤufigen Krampfe eine ſchmerzhafte Anſchwellung der Muskeln, wes— halb ſie inſtaͤndig bat, Schlaͤge auf dieſelben zu fuͤhren. An—

fangs gab man ihr nur gelinde, welche ihr blos eine geringe

3—

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Erleichterung brachten, weshalb fie mit Bhranen um ftarfere flehte. Man weigerte fid) guerft deffen, indeß da fie dann bleid), bewußtlos, wie todt gur Erde fiel, fo willigte man ein. Zuletzt bediente man fic) einer Reule von Eichenholz, mit welder fie fo ſtark als moͤglich geſchlagen wurde.

Hecquet, ein fehr gelehrter Arzt, welder in Paris lebte, als die Epidemie den hoͤchſten Grad erreicht hatte, fchrieb gegen den herrfchenden Wunderglauben fein beriihmted Werf, le Naturalisme des convulsions. Soleure (Paris) 1733 in 3 Banden, und bemisht fic) befonders gu zeigen, daß die gliihendfte Wolluft dabei eine der vornehmften Rollen fpielte. Es durfte nothwendig fein, einige feiner wichtigften Ausſpruͤche sufammenjzuftelen. Im 1. Bande S. 127 gedenft er unter andern des Ausſpruchs einer geiſtreichen Frau: il faut étre fille, pour connaitre les filles; c’est pourquoi les directeurs y sont si souvent trompés. Gr fiigt binju: les phéno- menes de lepilepsie, des vapeurs, de lhysterisme, et tant d'autres qui dependent du systeme nerveux, sont ils des miracles? Les personnes affectées de convulsions sont presque toutes des filles et femmes, qui ne veulent rece- voir ces prétendus secours que par le ministere des hom- mes; ce qui les place respectivement dans une atmosphetre critique, ou le sang tamisé dispose au desordre, L’ex- périence ne le prouve que trop, car ces béates tolerent des indécences dont rougiraient les femmes mondaines. Gr vergleidht damit (S. 68) die Keuſchheit friherer Marty: rerinnen, von denen er fagt: tel étoit alors lesprit de la. Religion chrétienne, que les Vierges méprisoient la mort, les tourmens de l’huile bouillante, ne demandant aux bour- reaux pour toute grace, que de Jes y plonger petit a pe- tit avec leurs habits, pourvu qu’ils ne les découvrissent point. Insbeſondere hebt er (S. 69) hervor, daß die Salage auf den Mirden der weiblidhen Convulfionairs zur Wolluſt reizen muften, und beruft fid) darauf, daß die unfruchtbaren Romerinnen ſich mit Fauften auf die Nierengegend fclagen lieBen, daß bei den Ruffen und Perfern diefer Gebraud nod) fortdauere, daher denn bei erfteren eine Peitſche gu dem vor: nehmften Gerath einer neuen Wirthſchaft gehdre, und eine

30°

468 Muffin nach dem Zeugnif des Cardanus von ihrem Manne ausdruͤcklich Schlaͤge gefordert habe, weil fie algdann erft ibn wabrhaft ebre und liebe. Auguftin und Hieronymus hatten die Lenden flr den Sig der Wolluſt erflart, und deu- teten die Bibelftelle: scrutans renes et corda mit den Wor: ten: examinans et puniens concupiscentias et cogitationes malas. Hiermit bringt Hecquet (S. 71) in Verbindung, bag nad Galen die Athleten, welche fic der Enth sitfamfeit weihten, Bleiplatten mit Rofenfalbe und faltem Waffer be- ſtrichen auf die MNierengegend legten, um Erhitzung davon absubalten, und dadurd) die Saamenerzeugung zu vermindern, Bu gleichem Zwe wurde von den Alten, namentlid von Diosforides empfohlen, Sweige von Vitex Agnus castus unter den Rien ing Bette zu legen, und aud von Neucren wurden dergleichen in das Strohlager geftopft. Indem er fic ausfiihrlic) fiber die Ausbruͤche von Wolluft bet den Convul- fionairinnen verbreitet, legt er ein großes Gewidt tarauf, daß fie allein die Fauftfchlage von Mannern befonders von jinge- ren fllr zutraͤglich erflarten, und daf die secours oft im Ge: heimen betrichen wurden. S. 146 fuͤhrt er an, daß die we— fentlichfte Leidenfchaft der Nonnen in Loudun Liebe gum Gelde gewefen fet, da fie fic) wegen ihrer Armuth zu einer Comoͤdie bereden ließen, durch welche fie reich gu werden hoff: ten. Ebenſo nahmen die weiblichen Convulfionairs , meiftens Perfonen aus unteren Standen, und oft von ublem Rufe, nicht nur gern Geld, fondern fprachen aud) mitleidige Zuſchauer Darum an. S. 170 fagt er, die weiblichen Convulfionairs verrathen ihre Obfcbnitat durch) Worte, Handlungen, Gebdr: den, entbloͤßen fic in Gegenwart der Manner, und fordern fie gur Wolluſt heraus’. Eine von ihnen entfleidete fic) ganz in Gegenwart eines Priefters, um die Entbloͤßung des Erloͤ— ferS am Kreuze nachzuahmen; eine andere forderte einen Prie- fier gum Beiſchlafe mit den Worten heraus: fac filios for- nicationum. Band 2, S. 87 erwabhnt er, daß die weiblichen Convulfionairs zur Rechtfertigung ihrer Entbloͤßungen fic auf Bibelftelen beriefen, 3. B. auf den an Iſai ergangenen Befehl, nat zu erfcheinen, gleidwie aud Mica und Caul nadt einhergingen, und Petrus und Johannes

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nadt waren, als Chriftus ihnen erſchien. GS. 92, die weib: lichen Convulfionairs glaubten, daf die Hurerei in der Schrift autorifirt fei, ba Gott dem Propheten Hofia geboten habe, eine Proftituirte zu heirathen, Mit gleichem Rechte, fuͤgt Hecquet hinzu, hatten fie fi ch auch auf den Inceſt der bei— den Toͤchter mit ihrem heilig genannten Vater Lot und der Thamar mit ihrem Schwiegervater Juda fo wie auf die Ruth berufen fonnen, welche fic) des Nachts zu Boas ind Bette legte. Gy u. 111 gedenft er gelegentlich nach Gardanus de Vi lib. 4, der Nonnen, welche ſich im 15. Jahrhunderte wie rafend Biitent® und fic) in Deutſchland, befonders in Sachſen, Brandenburg, Holland, felbft bis Nom verbreiteten, und deren Krankheit durd den Beiſchlaf geheilt wurde. Junge Manner Fletterten des Nachts in ihre Bellen, und fie waren dann fo lange gefund, bis ihr beimlicher Um: gang verboten wurde. Sm Brandenburgifchen follen allein 150 erfranft fein, und das Uebel verbreitete fic) von Ort gu Ort wie eine Peff. S. 174 wird erzaͤhlt, daß eine Convulfionai: rin mitten in ihrem Unfalle entbunden wurde, wabhrend fie {thine Meden hielt. Band 3, Th. 1. S. 6 heifit e6: Le culte religieux des Payens couvroit la honte, l'impudicité et linfamie de leurs idoles. Le culte religieux que l'on a établi pour le Convulsionat, est il exempt de vilains soupcons® Qui que ce fut, qui auroit pu voir, comme le Prophet, par le trou de la muraille, ce qui se passe dans leur sanctuaire, que d'abominations n’y auroit i] pas appercu! que d'indécences et dinfames attitudes qui se souffrent la parmi les filles convulsionaires, ot les nudi- tés ne font rougir ni elles, ni leurs spediateurs. Calmeil gedenkt gleichfallS vieler tadelnden und ftra: fenden Gréldrungen der Bifchdfe und ehrwuͤrdiger Geiftliden gegen den wollisftigen Scandal, welder von den Convulfio- nairs getrieben wurde, Insbeſondere verdtent folgende Aeuße— rung bes Dom Lataſte, eines achtungswerthen Geiſtlichen und Schriftſtellers gegen den Unfug der Convulſionairs erwaͤhnt zu werden: Quoi! des ecclésiastiques, des prétres, au mi- lieu de nombreuses assemblées composées de personnes de toute sexe et de tout rang, quitter leurs soulanes, se

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mettre en culotte et en chemise pour étre plus en état de faire les fonctions de bourreaux, jeter par terre les fil- les, les trainer ainsi pendant du temps le nez contre terre, et décharger sur elles tant et tant de coups qui'ls en sont réduits a l’épuisement, quil faut leur ramasser l'eau sur la téte! Quoi! des hommes qui se piquent davoir des sentimens de religion et d’humanité, porter a tour de bras des trente a quarante mille coups de lourdes buches sur les bras, sur les jambes, sur la téte de plusieurs filles, et faire dautres extremes efforts capables de leur briser le crane! Quoi! des dames desprit, de condition et de piété, des docteurs en droit, civil et canonique, des lai- ques de caractere, des curés méme, se taire & la vue de ce spectacle de fanatisme et dhorreur, ne s’y opposer point de toutes leurs forces, y applaudir par leur pré- sence et peut-étre par leur contenance et leurs discours! _ L/histoire ne nous fournit aucun exemple d’exces en ce genre, qui aient été si scandaleux et si multipliés. Dom Latafte erwaͤhnt an einer anderen Stelle ded Abbé Ber- cherant, welder wabhrend der Krampfe mie ein Befefjener heulte und fic) felbft bif, bed Abbé Vaillant, den feine Hallucinationen tiberzeugt hatten, daß die Seele des Prophe- ten Elias von feinem MKorper Beſitz genommen habe. DHecquet erjahlt, daß mehrere Goͤnner der Convulfionairs eine Arche bauen ließen, in welder man alle Arten von Bhie- ren gu verfammlen anfing, bis Geſtank und Schmutz fo groß wurden, daß man davon abftehen mufte.

Befonders wurde das Erftaunen Bieler dadurd) erregt, daB die Gonvulfionairs bei den ftarfften Miphandlungen, zu— mal bei Schlagen auf den Unterleib Erleichterung und Luft empfanden, 3. B. die oben erwahnte Mouler, welche dabet mit heiterem Gefichte ausrief: „o wie gut ijt das, wie wohl befinde id) mich dabei”. Hecquet erflarte dies aus einer Umftimmung des Gefiihls in vielen Krankheiten, zumal bet heftiger Erregung der Gefchlectstheile, wodurch ſchmerzerre— gende Einfluͤſſe in wolliftige Empfindungen verwandelt werden. An einer anderen Stelle (Th. 1. S. 120) erinnerte er an die Erfahrung, daß in Ekſtaſen das Gefiihl forperlider Schmer—

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zen verfchwindet, welded der alte Ausfprud) bezeichnet: Niliil crus sentit in terris, quando animus est. in coclo, und ge: denft dabei des Cardanus, welcher fic) unempfindlid gegen Gichtſchmerzen machte, wenn er fid) angeftrengt mit geiftigen Urbeiten befchaftigte. Noch ausfithrlicher - verweilt Calmeil bei der Grflarung der Unempfindlidfeit der Convulfionairs, indem er fic) auf die bei fo vielen Geiftesfranfen beobadhtete Verftimmung der Nerventhatigkeit beruft, fo daß fic ohne die geringften Zeichen von Schmerz ihren Koͤrper zerfleiſchen, und namentlid) melancholiſcher Weiber, welche fid) die Bruͤſte und Behen zuſammenſchnuͤren, fo wie er Rafender gedenft, welche durch feft angelegte Binden eine flarfe Anfchwellung des mann: lichen Gliedes und der Hoden bewirfen, wobei fie fogar Wol— laft gu empfinden fcheinen. Eben fo erinnert cr daran, daß Soldaten erſt nad der Schladht den Schmerz der empfange- nen Wunden fibhlen, daß die Flagellanten, welche wir bald naher betrachten werden, mit der Buse der Schmerzen, welche fie fic) durch Geifelungen zufügten, Parade machten, und daf ausgelebte Suͤnder durch Peitfchenhiebe auf den Hinteren die erlofchene Wolluft ween, und die luͤſternſten Bilder hervor- rufer, und daß fie fic) auch dazu der Neffeln und der in Weineffig eingeweicdten Lederftreifen bedienen. Als Gewaͤhrs— manner dafuͤr fibrt er den Abbée Boileau, ferner Coc: fius Mhodoginus, Brunsfeld und Meibom an. ES laffe fic) daher vorausfeben, daß die GConvulfionairinnen bei den empfangenen Schlaͤgen Wolluft, ftatt Schmerz empfan- den, und daß fiein ſchaamloſer Begicrde ſchwelgten, wabhrend fie ein religiofeS Intereſſe vorſchuͤtzten, infofern Gott feine Kirhe, um fie zu reformiren, durch alle moͤgliche Erniedri- gung und Befudelung hindurdgehen tafe.

Aud die angeftaunte Unverleblibfeit der Convulfionairs bet den Mifihandlungen erflart Calmeil fehr gut, indem ex zuvoͤrderſt bemerft, daß dicfelbe keineswegs fo groß war, als behauptet wurde, weil in vielen Fallen die ſtaͤrkſten Blut: unterlaufungen und Quetſchungen danad zuruͤckblieben. Cin Dominifaner foll fogar geftorben fein, jedod) wurden Falle diefer Art forgfaltig verſchwiegen. Calmeil legt mit Recht ein großes Gewicht barauf, daß die fogenannten secours nur

wahrend der Krampfanfalle angewandt wurden, wo die meteo— riftifche Auftreibung des UnterleibeS, die Spannung, Erre— gung und Anfchwellung der fleifchigen Umhilungen des Un: terfeibes, der Bruſt, der vornehmften Blutgefape und Nerven, ber Knochen weſentlich dazu beitragen muften, die Gewalt der Schlage ju mafigen oder wohl gar aufjubeben. Gang aͤhnlich verhaͤlt ¢8 fic) mit den Borern und Athleten, welche durch die madtige Anfpannung der Muskeln den mit ihrem Gewerbe verbundenen Gefabren Widerftand leiſten. Auch be: biente man fic) bei den Convulfionairs faft nur febr umfang: reicher Werkzeuge mit breiten und abgerundeten Oberflacen, wodurch eine weit geringere Wirfung hervorgebradt wurde, alé wenn man Stricke, Ruthen und abnlice biegfame und ſchmale Dinge gebraucht hatte. Deshalb fonnten die Schlage gewiffermaagen als ein beilfames Kneten (massage) angefe ben werden, und eine Mifderung der unertraglicdben hyſteriſchen Hefdhwerden hervorbringen, wenn aud die Sucht, Auffehen gu erregen, gu den barbariſchſten Mitteln ihre Zuflucht nahm.

Die Sanfeniften wuften gwar viel von Wunderheilungen gu ergahlen, welche durch die Macht des Paris gewirft wors den feien; indeß ihre Gegner fihrten den Beweis, daß faſt Alles auf Baufchung bhinauslief, wenn die Bethoͤrten von Taubheit, Kopfſchmerz, Lahmung, Mbheumatismus befreit zu fein glaubten. Mehrere Convulfionairs fchienen dagegen wah: rend ihrer Gfftafen mit den Z3ufallen der Kranken, denen fie Hilfe bringen wollten, bebaftet gu fein, 3. B. mit Blind: heit, Taubheit, Stummbeit, Hinfen, Lahmung, Kolik-, Bruft:, Kopfſchmerzen, Fieber u. Ogl. Calmeil giebt died im ge wiffen Ginne 3u, bemerft aber dabei, daß jene durd) Nach: abmung fortgepflansten Uebel bald verfdhwanden, wenn fie aud in eingelnen Fallen, 3. B. als Gpilepfie fortdauern modten, fo twie ein Schauſpieler, welder die Molle eined Wabhnfinnigen zu fpielen hatte, geiſteskrank geblieben fein foll. Wenn die Kranfen eine Grleichterung fanden, wabhrend ihre Sufalle auf die ihnen Hilfe Leiftenden uͤberzugehen ſchienen, fo muß died auf Rechnung der Umftimmung ihrer Nerven: thatigtcit gefchricben werden, daher fie auch mit ihren alten Leiden behaftet blieben, nachdem ihre Aufregung fic gelegt

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hatte. Hecquet ftellt gur Grlauterung der Macht, mit welder der Nachahmungstrieh im Bunde mit der Phantafie Krankheitszufalle anderer Perfonen im eigenen Koͤrper hervor— bringt, eine Reihe intereffanter Beobadhtungen zuſammen. Zh. 1. S. 124, Bartholin erzahlt von einem Manne, wel: cher jedesmal Kolikſchmerzen befam, wenn feime Frau an Ge: burtSweben (itt, In Paris wohnte Jemand einer Hinrichtung burd) bas Mad bei. Er empfand die lebhafteften Schmerzen in den Vheilen, welche bei dem Helinquenten vom Mabe ges troffen wurden, und mufte nad Hauſe juriidgetragen wer— den. Band 3, Th. 1. S. 64. Cin Mann fah einen Unglic: lichen, welder mit der Ferfe an bem Haken hinter einer Gaz rofje bangen geblicben war, und von derfelben durch die Straz fen gefchleift wurde. Sogleich empfand er einen beftigen Schmerz an derfelben Stelle, und blieb zeitlebens hinkend. Um die Macht der Cinbiloungsfraft nod) greller hervortreten qu laffen, fuͤhrt er Bh. 4. S. 121 an, daß bei den Convul: fionair8, welche fid) yur Nachahmung der Paffion an ein Kreuz ftellen liefen, Stigmen oder ſchmerzhafte Stellen an den Han: den entftanden, welde fogar Blutſpuren geigten. Er erzaͤhlt gleichzeitig, daß ein Mann, welchem traumte, daß ihn Sez mand mit einen Stein auf die Magengegend warf, eine bes deutende Blutunterlanfung an diefer Stelle erlitt, CG. 147 gedenkt er einer gewiffen Cadiere in Air, welche von ihrem Beichtoater Girard fir eine auferordentlide Heilige erflart wurde; fie war mit Convulfionen und obfcbnen Viſionen bez haftet, und zeigte Stigmen als Giegel ihrer Liebe zur Pal: fion, war aber cine Bubldirne, Endlich ermabnt Hecquet GS. 196 al’ Beweis der Macht, welche die Phantafie auf den Korper hat, daß ein Mann nach Opiumpillen larirte, welche er fur ein Abfuͤhrmittel bielt, ein anderer nad) Brotyillen, welde fein Arzt ihm zur Beruhigung verordnete. Virdig fagt in feiner Medicina spirituum: Sed ut devotius et avi-~ dius recipiatur medicina, et animus excitetur et confidat, liberius speret et gaudeat, quoniam anima excitata. potest in corpore multa renovare.

Calmeil erinnert daran, daß viele Hyfterifche gu Ende ihrer Anfalle ſich in. cinem traͤumeriſchen Zuftande befinden,

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und dann eine Menge Kinderpoffen treiben. Aehnliched wurde an mebreren Gonvulfionatrinnen bemerft, und fie bildeten fic nicht wenig darauf cin, weil fromme Weiber fie deshalb geift: lide Kinder nannten, und ihr Buftand als ein fymbolifcer, alg eine Quelle tiefer Weisheit angefehen wurde. Mont= geron beridtet, daß ſelbſt bejahrte und ernfthafte Matronen in dieſen Zuſtand geriethen, und daß derfelbe keineswegs fimu- lirt war. Denn bas Geprage der Kindheit erſchien ploͤtzlich in ihrem Gefichte, in ihren Beweguugen, ihrer Stimme, in allen ifren Handlungen, felbft der Ausdrud ihrer Gedanken nahm die Ginfadhbeit, Unſchuld und Schiichternheit der Kin— ber an, obgleich fie die Fraftigften und eindringlidften Wahr— heiten tuber den Zuſtand der Kirche fagten. Oft muften ge- rade dann die gewaltfamften secours in Anwendung gefest werden. Manche fpielten aud) mit Kinderklappern, oder fie angen Fleine Wagen, und gaben diefen Kindereien eine ſym— boliſche Bedeutung, namentlich rip eine die Schellen von Kin: derflappern ab, um damit die Verwerfung der Unglaubigen su bezeichnen. Sie fprang zuweilen ind Wafer und bellte wie ein Hund. Gegen den Vorwurf de3 Findifden Wahn— witzes vertheidigten fid) die Convulfionatrs damit, daß Gott mehrere beruͤhmte Fromme in den Zuftand der Mindheit ver: fest habe, dDaf namentlid) Marie de l'Incarnation wah: tend einer dreitagigen Gfftafe die Canftmuth, Grazie und Unfduld eines fiebenjahrigen Kindes gezeigt habe, daß die Schweſter Margaretha 3 Monate fang wieder ein Mind getoorden fei, und taufendfaltige Poffen getricben habe.

Auch die Gabe wurde den Convulfionairs nachgerühmt, wahrend ihrer Anfalle die Gedanken Anderer gu errathen, naz mentlid) ihre geheimften Sinden und die Vernadlaffigung der frommen Heilsmittel gu entdeden. Oft liefen dabei arge Taͤuſchungen mit unter, indeß verfidert dod) Calmeil bet Theomanen einen grofen Scharfſinn beobadtet zu haben, mit weldem fie aus den leifeften Aeuferungen Anderer die rich— tigften Schliiffe gogen. Ueberdies fann man eine faft bis zur Divination gefteigerte Erhohung der Geiftesfrafte in manden Kranfheiten, und das Erwachen fdlummernder Gaben und Kenntniffe durchaus nicht in Abrede ſtellen, und wiederum

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hat Hecquet mehrere folder Beifpiele gefammelt. Band 3. Th. 1. S. 36. Cin Bauer ſprach in der Phrenefie mit einer ſolchen Beredtſamkeit, und in fo gewablter Sprache, daf man ihn einen Cicero hatte nennen fonnen, obgleid er im ge: funden Zuftande kaum ju reden wufte. ©. 37. Der Page eines fpanifchen Granden war im gefunden Zuſtande von ſehr befchranften Fahigfeiten, aber wabhrend einer Manie entrwicelte fic) fein Geift in ſolchem Grade, daß fein Herr durd) feine Rathfchlage fid) vdllig in ben Stand gefest fah, den Staat gu regieren, und deshalb nicht von feiner Seite wid, daber er und der Page es dem Arzte, welder ihn heilte, wenig Danf wuften. Eine phrenitifche Frau fagte allen fie befu- chenden Perfonen ihre Bugenden und Febler, und dem Chi: rurgen, welder ihr gur Ader lief, werflindete fie feinen bal: digen Bod, fo wie daß feine Frau einen gewiffen Foulon heirathen wiirde. Beides traf binnen 6 Monaten ein. S. 39. Fernel erzablt von einem Pagen Heinridhs IL, welder nicht leſen, nod) ſchreiben fonnte, aber in einer Phrenefie gut griechifd) fpradh. Erasmus erwabhnt eines Staliener$, wel: cher ohne Deutſchland gefehen, oder ein deutſches Bud) gelefen ju haben, in einem RKranfheitsanfall febr gut deutſch fprach.

Calmeil giebt nun folgende Ueberficht des Verlaufs, den die Epidemie nahm. Gie entftand im Frihlinge des Jah— re3 1731, und hatte im Sabre 1744 nod nicht in Paris ihr villiges Ende erreicht. Waͤhrend der erften 8 Monate ftellte fie ſich befonderS unter der Form von Krampfen dar, welche den Charakter der Hyfterie an ſich trugen, und vornaͤmlich Weiber befielen, welche ein Beduͤrfniß empfanden, fic) von ftarfen Mannern in den Armen halten yu laffen, und den Kirchhof, fo wie die ganze Umgegend mit. ihrem Geſchrei und Gebheul er: fullten. Die benachbarten Strafen waren mit RKrampffranfen überſchwemmt, welde man nad ihrer Wohnung zuruͤckbrachte, indem fie bet jedem Schritte neue 3udungen erlitten. Die Schließung deS Kirchhofes auf Befehl Ludwigs XV. am 29 Sanuar 1732 *), die Cinfperrung vieler der vornehmften Con:

*) Bei diefer Gelegenheit trug man fich mit den Verfen: De par le Roi, defense a Dieu De faire miracle en ce lieu.

pulfionairs in der Baftille, in Bicdtre undan anderen Orten, das an die Behdrden erlaffene Verbot, die Storer der offent: lichen Ordnung zu verfolgen, damit die Aufmerkſamkeit des Volkes nicht nocd mehr auf fie gerichtet wiirde; dies Ales be— wirfte nur fiir einige Seit eine Verminderung der Aufregung, denn die Gonvulfionairs hielten bald heimliche 3ufammenfinfte, und ihr Fanatiémus wurde noc) durch die Vorftellung von ei: ner ungerecbten Verfolgung gefteigert. Das Geriicht von den Munderheilungen verbreitete fic) bald in ganz Franfreidh, und in Troyes, Corbeil und an vielen anderen Orten fam es ju aͤhnlichen Auftritten, wie in Paris. Nach der Verſchließung des Kirchhofes verfebten fic) Viele dadurch in Gonvulfionen, daß fie bie Kirche Saint Medard befuchten, daß fie Waffe von dem RKirchhofe oder ein wenig Erde von dem Grabe des Pa— rid genofjfen, oder auf ihren Magen einige Lappen, Holzſtuͤcke und drgl, von feinem Nachlaſſe legten, und dabei inbrimnitig beteten. Seit 1732 traten gu den bisherigen Zufaͤllen nod Ekſtaſen, Matalepjieen und religidfer Wahnſinn hinzu, weil bie Appellanten ihre Aufregung durch Gebete, Faften und Nadht- wachen fteigerten. Won jest an gab es Viele, welche Reden improvifirten, Prophezeihungen orafelten, wozu fie oft ausdrüuͤck— lid) gur nicht geringen Vermehrung ihrer CitelFeit aufgefordert wurden, oder welde Wunderheilungen verridten, desgleichen fremde Sprachen reden ju koͤnnen ſich anmaaften, oder die Leiden deS fterbenden Ghriftus nachahmten, und uͤberhaupt den oben gefcilderten Unfug trieben. Mehrere liefen in den Ctrafen und auf den Offentlichen Plaben umber, um unter der Menge die Juden aufzuſuchen, deren baldige Befehrung fie vorberfagten, oder den Propheten Elias auszuſpuͤren. Andere organifirten Miffionen, und reifeten in die Provingen, um die Reform des Shriftenthums anzukuͤndigen. Einige prophesciten im Namen des Heil. Geiſtes, wabrend Priefter vor ihnen auf den Knicen lagen. Mehrere Verwirrte fagten aus, daß cin gebeimer In— flinct fie antreibe, fic) offentlich gu proftituiren, um damit die Schmach gu bezeichnen, welche die Kirche vor ihrer Wiederher— ftellung erleiden miiffe. °

Sulebt wurde der Unfug fo arg, daß ſelbſt Montgeron, einer der warmften Vertheidiger der Convulfionairs, geſtehen

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mußte, daß diejenigen, welche dem Propheten Vaillant und dem Bruder Auguftin*®) nachliefen, vom Teufel beſeſſen waren. Um fo freigebiger gegen alle Gonvufionairs mit diefer Erfla- rung waren dabher die Sefuiten und Ultramontanen iiberhaupt; namentlich hielt ihnen Dom Latafte das Beifpiel des Mon— tanus und feiner Prophetinnen vor, wie ſich derfelbe ald ein finnlos Wiithender betragen, in fremden Sprachen verwirrt gee ſchwatzt, endlich gu prophezeihen angefangen, und dadurch die oͤffentliche Aufmertfamfeit des Volks auf fic gezogen habe, ded: halb gwar von Ginigen als ein Befeffener verdammt, von An- deren aber fiir einen gotterfiillten Seher gehalten worden fei. Dom Latafte verglich ferner mit den berichtigften Convul fionairinnen die Priscille und Marimille, welche nak dem Beifpiele des Montanus in Wuth geriethen, und auf eine in der Kirche unerhirte Weife gu reden anfingen, wobei denn Manche wie heutiges Tages von Krampfen befallen wurden, burch welche fie ihre Luft und Gitelfeit befriedigten, indem fie fid) mit chimaͤriſchen Hoffnungen fchmeichelten. Auch damals habe der Teufel fic), wie jest, fromm angeftellt, indem er ge gen die Simbden geeifert, und fie den Menfchen vorgehalten habe u. ſ. w.

Die Convulſionairs blieben ihren Gegnern die Antwort nicht ſchuldig, und beriefen ſich beſonders darauf, daß man unzaͤhlich oft auf den Graͤbern von Heiligen eben ſolche Kraͤm— pfe, wie die ihrigen, geſehen habe, daß die Convulſionen, die Ekſtaſen, die Gabe fremder Sprachen, der Prophezeihun— gen, der improvifirten Reden eine Auszeichnung der beften Chri— ften gewefen fet. Auf dem Grabe des heiligen Auguftinus von Ganterbury habe eine taube Hinfende’ unter RKrampfen ihre Heilung erlangt. Was die unanftandigen Bewegungen

*) Letzterer ftellte fic) namentlicd) nach dem Berichte des Heequet (Bd. 3. Th. 2. S. 59.) in einer Macht an die Spige ciner Schaar von Uns finnigen feiner Parthei, mit einem Stride um den Hals und einer brennenden Fadel in ber Hand, begab fic) nad) der Thür von Notre

t Dame pour faire amande honorable; hicrauf zog die Proceffion nach dem Greveplage, um die Erde gu weihen, wo fie verbrannt werden follten, und ju verflindigen, Daf das Werk der Convulftonairs in Rauch aufgehen werde.

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betreffe, fo habe Marie d'Oignies in ihren nervofen Kri— fen fid) die Glieder fuͤrchterlich zerbiſſen und ſich mit Faujften gefdlagen; die heilige Urfula, die Patronin der Theatinerin: nen, habe fid) wabhrend der Kraͤmpfe dermafien jerarbeitet, daß die Bufchauer fie oft fiir befeffen bielten; Margaretha von Cordova habe mit den Zaͤhnen gefnirfadt, fic) in der Kir— che in Angeficht des Volks auf der Erde gewalst und wie ein Wurm gekruͤmmt; die heil. Bherefe und Katharine von Giena hatten fo heftige Bewegungen erlitten, als ob die Glieder fid) vom Leibe trennen wollten. Jn Bezug auf die Gabe der Propheseihungen heiße eS in der Schrift, dak Eze— diel von feinen Freunden fir einen Wahnfinnigen gebalten und mit Striden gebunden worden fei; der heil. Augufti- nus bemerfe, daß der Prophet Elifa und andere beim Volfe feinen Glauben gefunden, fondern alg Sinnlofe gegolten batten, und Glarus erwabne, daß die Bofen die Propheten mit Wahnfinnigen verglicdben, weil fie oft des Gefühls beraubt ſeien. M€adhtraglid) mag die Vemerfung geniigen, daß nod) bis faft gur Zeit der Revolution mehrere Streitidriften fir und wider die Convulfionairs erſchienen, weil febtere gele- gentlid) an verfchiedenen Orten in Frankreich auftaudten.

Il. Die Camp-Mectings der Methodiften. §, 52. Urfprung des Methodismus.

Schroͤckh hat (a. a O. Th. 8 S. 681—692) aus— führliche Nachrichten uͤber die Entftehung und weitere Verbrei- tung dieſer einfluBreid) geworbenen Secte gegeben, wovon id) Folgendes entlehne. Im Jahre 1729 lebten auf der Univerfi- tat in Orford swei Bruder, Fohann und Karl Weslen, welde fid) mit zwei anderen CStudirenden, Morgan und KirEham in der Abſicht verbanden, daß fie theils griechifce und lateiniſche Schriftſteller, theils an jedem Conntage dads neue Beftament mit einander lefen wollten. Al Morgan einen Miffethater im Gefaͤngniß befudt, und gefunden hatte, daß feine Unterredung mit ifm und anderen Gefangenen gute Frichte bradten, beredete er von feinen drei Freunden die bei: den Wesley, nicht allein oͤfters ſolche Befuche anguftellen,

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fondern auch unter Cinwilligung bes Predigers vom Kirchſpiel, armen Kranken auf gleiche Weife beizuſtehen. Sie theilten uͤberdies unter tie Gefangenen Bibeln, Gebetbuͤcher, und an: dere erbauliche Schriften, felbft etwas Geld aus. Bei diefer ungewoͤhnlichen Lebensart- fonnten fie der Verfpottung nicht ent: gehen, andere Studenten nannten fie die heilige Gefellfhaft, einer unter ihnen legte ibnen Den Namen Methodiften bei, eine Anfpielung auf eine alte Schule der Medizin, nad) Anderen follte damit ein Spott auf eine gang befondere Methode, zur Seeligfeit gu gelangen, audsgedrit werden. Inzwiſchen ſam- melte fic) um jene, welche einen febr ftrengen und erbauli: chen LebenSwandel fihrten, bald ein groferer Unhang, nament: lid) gefellte im Sabre 1732 fic) gu ihnen Georg White: field, welcher nachber als der zweite Stifter diefer Parthei anz gefeben wurde, Johann Wesley, dad eigentlide Oberhaupt derfelben, empfand fribgeitig eine ftarfe Meigung, das Evan— gelium unter den Heiden gu verfiindigen, weshalb er fic) 1735 nad) Georgien einfdiffte, dort mit großem Erfolge lehrte und predigte, und 1737 nad) England guridfehrte. Whitefield, welder unterdeB durch feine Predigten, namentlid) unter den Armen einen grofen Beifall fic) erworben hatte, reifete nun nach Georgien, wofelbft er ein Waifenhaus gruͤndete, wahrend Wesley in England gu. eben fo hohem Anfehen gelangte. Es wurde nun in London eine Fleine Gefellfhaft unter dem Na: men der Methodiften geftiftet, welche ſich 11 Regeln vorfchrie: ben, 3. B. daB fie alle Woche einmal gufammen fommen wollten, um fic) nad) einander, der Ermahnung des Apoftels Sacobus gemaf, ihre Stinden gu befennen und fiir cinander su beten. Wesley, welcher ein naheres Verhaltnif mit den Herrnhuthern angefnupft hatte, wurde von einem derfelben. ibers zeugend belehrt, der Menſch werde allein durch den Glauben an Ghriftus gerecht und feelig, mithin fonnten gute Werke gar Nichts zur Rechtfertigung beitragen; er wollte auch einige age darauf die Verfiderung empfangen haben, daß ihm der Glaube an Chriftus und durd ihn Vergebung der Sinden yu Vheil geworden fei.

Inzwiſchen war Whitefield nad England zurüuͤckge— Fehrt, aber weber er, nod) Wesley durften in einer Kirche,

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. ohne Erlaubniß des Biſchofs predigen. Auch wollten fie Fei: ner befonderen Gemeinde vorftehen, fondern gogen eS vor an vielen Orten gu lehren. Sie glaubten, daB die chriftlidbe Re— ligion in England nicht mehr rein vorgetragen, und Grund- artifel derfelben, wie vom Elende des Menfchen, von der Gnade Gottes in Chrifto, von der Redhtfertigung und dal. vernachlaͤſſigt wuͤrden. Der auferordentlicde Beifall, den Whi tefield in Predigten diefer Art erbhielt, nothigte ibn, auf gro- fen Ehenen, Wiefen, Kirdhofen, in Scheuern damit fortzufah- ren. Die Anzahl feiner Zubhodrer ftieg im Jahre 1739 auf 12— 16000. Aud Wesley wurde fehr gern gebort. Zu— erft ließ Gibfon, Bifchof von London im Jahre 1739 eine Schrift gegen fie druden, in welcher folgende merkwürdige Stelle vorfommt: ,,Wir glauben uͤberhaupt, daß wir unter dem. Ginfluffe des heil. Geifted leben, welder und erwedt, Gutes au thun, und uns in den Stand febt, daffelbe gu voll: bringen. Aber daß wir wiffen follten, ob Ddiefer oder jener Gedanke, diefe oder jene Handlung eine Wirfung blos der all= einigen Bewegung, oder des unmittelbaren Antriebes des Heil. Geiſtes fei, ohne daf wir auf irgend eine Weife Etwas dazu beitriigen, oder aud) in welchem Maaße und wiefern der Heil. Geift und unfér natuͤrliches Vermoͤgen zur Hervorbringung die- fes oder jenen Gedanfens oder einer Handlung mit einander Etwas dazu beitriigen; das ift eine Sache, die wir nidt ans: maden fonnen, theilS weil unfer Heiland felbft gefagt bat, daß wir die Wirfung des Heil. Geiftes eben fo wenig verftehen, als wir wiffer, wober der Wind kommt, oder wohin er fabrt, theilS weilman, wenn man fic einer folchen Erkenntniß ruͤhmt, der Enthufiafteret und unjabligen Betrigereien die Vhir dffuet, wofern nicht diefe Erkenntniß mit deutlichen Beweifen der gottliden Cingebung begleitet if.” Whitefield fublte fid) von diefen Bemerfungen getroffen, und nannte fie eine moralifirende Bosheit der Prediger, denn er verficherte aus- dridlid in feinem Tagebuche, er habe eine auferordentlide Gemeinfdhaft mit Gott und Beichen feiner befondern Gegen- wart gehabt, er fchreibt fic) eine gottlide und unmittelbare Sendung gu, giebt vor, daß er unter der unmittelbaren Re-

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gierung des Heil. Geiftes, oder aus einer gbttliden Cingebung denfe und. handle; er rhhmet fic) der ploͤtzlichen und erftaun: lichen Wirfungen, die anf feine Predigt durch den heil. Geift veranftaltet worden; er fpricht von feiner Lehre als von einem neuen Evangelium, welches dem gropten Theile der Prediger und des Volks in einem chriftlichen Lande unbefannt fei.”

» Hiermit iſt ſchon deutlich genug die. ſchwaͤrmeriſch fanatiſche Richtung des Methodismus bezeichnet, welche von ſeinen Stif— tern auf alle Weife befoͤrdert wurde. Wesley erzaͤhlt ſelbſt um den. Anfang des Jahres 4739, daß, als er einft mit 60 feiner Mitbruͤder nach einem Liebedsmahle bis gegen 3 Ubr Morgens. im Gebete begriffen <gewefen, die Kraft Gottes maͤchtig ber fie gefommen fei, fo daß Bicle vor ſehr grofer Greude auffdrieen und zu Boden fielen. Sobald aber als fie fic) ein wenig von der heiligen Furdt vor der Gegenwart feiner Majeftat erholt Hatten, waren fie mit Giner Stimme in die Morte ausgebroden: ,, Wir preifen Did), o Gott, wir evs fennen Dich, dag Du der Herr bif—”. Sie waren ein anders mal jufammengefommen, um fic vor Gott zu demiithigen, und gu befennen, daf er mit Recht feinen Geiſt von ihnen wegen ihrer vielfaltigen Untreue genommen habe, indem fie in Zwietracht verfallen, ihren eigenen Werfen -vertraut, und feine Werke unter ihnen gelaftert hatten. Aber in einer Stunde fand fic) Gott bei thnen; Einige fielen auf die Erde, Ane dere brachen einmithig in oben und Danfer aus. Zu ander Zeiten fonnte man Wesley faum vor Seufzen und Sehreien der Zuhoͤrer uber ihren traurigen. Seelenzuſtand verſtehen. Als er aber und die Uebrigen Gott um Hilfe anviefen; fo fahen Viele von denen, die lange Zeit in Finfternif gefeffen Hatten, den Anbruc eines grofen Lichts, und 10 Perfonen fingen an, im Glauben ju fagen: „mein Herr und mein Gote’s Gin dabei ftehender Quafer, der died lauter Verſtellung nannte, fiel wie von Donner gerubrt nieder in Todesangft; auf die Firbitte der Methodiften aber richtete er fich wieder auf und ſchrie: „Nun weiß ich daß Ou ein Propher des Herrn iff.” Da Wesley auch leibliche Beſitzung des Teufels glaubte, welche ſich durch entſetzliche Zuckungen des Koͤrpers und durch die fuͤrchterliche Sprache des Leidenden aͤußern ſollte, fo wurde

Jdeler Theorie d. relig. Wahnſinns. 31

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aud biefer durd ſein Gebet geheilt. Einmal brad fogar un: ter feinen Zuhoͤrern der Geift des Lachend aus, dem fie gar nicht ausweichen fonnten; er felbft wurde davon befallen, aber aud) bier that das Gebet feine Wirfung, weil man died wie- berum dem bdfen Geifte zuſchrieb. Nod im Jahre 1776 mel: dete ein Geiftlidber der Methodiften, es fei bei ihnen etwas fehr Gewoͤhnliches, daß Manner und Weiber wabhrend der Er- mahnung wie todt ju Boden fielen; nod mehr aber ereigne fid) died wabhrend des Gebets, wo wohl 20 auf einmal gu Bo- den fallen. Andere, welchen dies nicht begegne, bezeigten die Angft, in welcher fie ſich befinden, mit Schlagen an die Bruff, mit Handeringen und mit Flehen, daß man fie fie beten wolle. Wenn e6 fo geht, fahrt er fort, fo ift der Durch: brud gur Gnade gemeiniglidh ſehr ſchnell. Bei Cinigen fommt er innerhalb einer Woche gu Stande, bei auderen in 2 oder 3 Tagen, bei anderen in einem eingigen age; ja Giz nige breden wohl innerhalb 3 Stunden durch. Wir haben fo- gar Beifpiele, daß eine Frau febr gleichguͤltig ihre Brider beim Gebet verließ und gu Bette ging, aber bald nachber auf ein— mal gang jammerlid) auffdrie, daß fie ihre Gleichguͤltigkeit ver= loren habe, und e8 dauerte nicht 15 Minuten, daß fie ſchon im Herrn froh wurde. Schroͤckh bemerft bierbei: ,, Lefer, welche mit der Kirchengeſchichte befannt find, werden fic) bier nicht nur an aͤhnliche Einbilbungen, Worte und Auftritte ans den pietiftifcben Streitigfeiten erinnern, fondern nod) mehr an Die Ruborer des berishmten Predigers im 15. Jahrhunderte, Johann Taulers denken, die ebenfall, durch feine Vor— trage erhitzt, gleich Todten zu Boden ficlen. (Kirchengeſchichte Bd. 23. S. 492.)”

Da Whitefield die calvinifdhe Lehre von der unbe— dingten Gnadenwabhl mit fanatifdem Cifer vertheidigte, fo ser: fiel ev hierüber gaͤnzlich mit Wesley, welcher fid) uͤber jenes Dogma mit folgenden Worten erflarte: ,, Wenn man alle Irr— thiimer des Papftthums, des Mohamedanismus und des Hei- denthums in Ginem jufammenfaffen fonnte; fo wurde er nicht fo grob, fo widerfinnig, nod) fo gottedlafterlid) fein, als die Lehre von der unbedingten Verwerfung gewiffer Menſchen“. Beide trennten fic) daber fir immer und die dadurch hervor—

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gebrachte Spaltung der Methodiften in Wesleyaner und Whitefieldianer befteht nod jest. Uebrigens ftimmen die Predigten aller Metiodiften darin uͤberein, daß fie voll find von ihren Lieblingsgegenftinden, von der Erbfinde, vom Ver: dienfte des Erloͤſers, von der Mechtfertigung und befonders von ber Hille. Nur find ihre Predigten, da oft auch Handwerter und andere Ungelehrte zu denfelben jugelaffen werden, Meh— rere auch diefelben ohne alle Vorbereitung halten, nicht felten verworren, und aus manderlei Materien gufammengefest. Sie malen den Menfehen uͤberaus ſchwarz ab, und wiirdigen den Werth der Tugenden und guten Handlungen fehr herab. Beide Stifter wirften bis zu ihrem Vode mit glihendem Eifer, W hi- tefield ftarb im Fabre 1770 in Amerika, und predigte, wie Gréqoire (a.a. OD. Bd. 4. S. 473.) verjicherte, in 34 Jah⸗ ren 18000°Mal, Gr erneute die Stidhomantie, bet wel: cher die Bibel als Orafel benust wird, indem der an irgend einer aufgefehlagenen Stelle guerft gelefene Vers als Prophe: zeihung gilt. Wesley erreichte das 88. Lebensjahr, ftarb 1791, und foll, wie Grégoire (ebend.) bemerft, in 52° Jahren 40560 Mal gepredigt haben.

Wir finnen hier nicht die fpateren Schickſale der Metho- diffen verfolgen, und duͤrfen als befannt vorausſetzen, daß fie ſich in grofen Schaaren bis in die entfernteften Welttheile verbreitet, an der Fortflanzung des Chriftenthums unter den Heiden mit dem grifiten Cifer gearbeitet haben. Thre Ber: dienfte hierin, fo wie in der Belebung der religioͤſen Gefin- nung unter dem roben Volfe miffen von jedenv Unpartheiifchen bereitwillig anerfannt werden. Hafe bemerft hierüber Ca. a. D. GS. 549), indem er von der in Nordamerifa herrſchen— den puritanifchen Strenge und methodiftifchen Aufrequng fpricht: 43m vollen Glanze zeigt fic) diefe Frommigfeit bei der An: funft fabrender Prediger in den Stddten und bei den ausge— fchriebenen Zuſammenkinften tun BWalde ( Camp. Meetings ). Taufende verfammein fic um eine Anzahl Prediger, Kanzel—⸗ geriifte und Belte werden erridtet, einige Tage und MNachte hindurch ertént alles von Seufzern und Predigten, meift furcbt: baren Sdhilderungen der Suͤnde, des Todes und der Hille, je ungeftiimer die koͤrperlichen und geiftigen Berwegungen der

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Bubdrer, je zahlréicher die Erwecdungen (revivals), defto gro: fier bed Feſtes Nuhm. Diefe Stimmung ift von den erften Anbauern de8 Landes ausgegangen, die meift um des Glau— bens willen Alles verlaſſen haben, und von einſamen Siedlern gwifthen Urwaͤldern fortgefest worden, die faft ohne andere get flige oder gefellige Sntereffen, oft nad) einer Beit gaͤnzlicher Vernadhlaffigung ihres inneren Lebens, diefem woblthatigen Sturme fich hingeben. Hierdurd) find die Geiſtlichen, obwohl meift ohne theologifde Bilbung, oft Abenteurer, denen Ande: res mißgluͤckte, und bet jabviger Aufflindigung von ibren Gee meinden abbangig, jedoch eine hoͤchſt einflufreiche, ja die allein privilegirte Klaſſe der amerifanifthen Geſellſchaft. Die From: men rühmen, daß, nachdem vorber nur einzelne Tropfen fielen, ſeit 1830 ein allgemeiner Gnadenregen niedergeſtroͤmt ſei. Er iſt vornaͤmlich auf die Weiber gefallen. Der kirchliche Sinn iſt neben der politiſchen Freiheit das einzige geiſtige Intereſſe ded amerikaniſchen Miſchvolkes. Doch iſt auch Erbauung von irs chen und die Sammlung von Gemeinden oft nur Speculation, der Uebertritt von einer Kirche zu anderen Sache der Mode oder Convenienz, der Volksunterricht kaum im Beginnen, und wie aufrichtig, abgeſehen von einigen fratzenhaften Erſcheinun— gen, die Froͤmmigkeit dieſes Wolfs iff, noch hat fie nicht ver— modt, durch Verbreitung fchoner Menfehlichfeit den gemeinften, Egoismus und den Dru einer geiftlofen Geldariftofratie gu brechen.“

Mit dieſen Worten iſt am deutlichſten das Theater ge— ſchildert, auf welchem die bald zu erzaͤhlenden Scenen aufge— führt werden. In dem jetzigen Europa waren fie bei-.deffen Gulturjuftande in folder Ausdehnung und Wildheit unmoglich, und wenn wir aud anerfennen miffen, daß der nod itber: aus rohe Gharafter der unteren Volkskaſſen in Nordamerifa, welcher fid) 3. B. in der. fannibalifchen Graufaméeit bei der Bollftredung des Lynd: Gefewes fo recht in feinem Lebensele: mente befindet, cine ſehr draftifde Form des Chriftenthums er: fordert, welches ihm aufierdem gang unzugaͤnzlich bleiben wuͤrde; fo verlieren dadurch dod) die raſenden Exceſſe wabrend der methodiſtiſchen Verſammlungen Nichts von ihrer wahnſin— nigen Bedeutung. Daß die ganze Grundrichtung des Metho-

485 dismus cine ſchwaͤrmeriſch⸗fanatiſche fei, wurde oben fon be: merft, jedoch fiige ic) nod) einige von Weffenberg (a. a. O. S. 167.) gefammelten Vhatfacen hingu. Schon gu Wes: (ens Beiten waren die gichterifcben Beangfligungen und Kame pfe der Wiedergeburt von folder Heftigfeit, daß fie an vollige Raſerei grenzten; meiſtens wurden jedoch nur weibliche Mit: glieder davon befallen, oft aber reichte die Kraft mehrerer Manner faum aus, fie von Angriffen gegen fic felbft und An- dere zuruͤckzuhalten. Wesley felbft betrachtete diefe Erfdet nungen, obgleid viele Spuren des Betruges darin entdedt wurden, als unmittelbare. gottlidhe Cinwirfung, gewedt durch die Gewalt feiner Rede, und gebheilt durch die Kraft ſeines Gebetes. Jn feinem von Southey heraudsgegebenen Leben feben wir mit Unwillen, wie furchtbar in einer methodiftifden Ergiehungsanjtalt die. frommen Gefithle bis gur Fieberwuth er: bist wurden. Die Lehrer forderten die Knaben auf, im hef— tigen Ringen und Gebet nidt gu ruben, bis fie ein deutli- ches Gefühl von Gottes vergeihender Liebe erlangt batten. Mun glich die Anfialt die ganze Nacht und den folgenden Bag bindurd einem (ſchlecht verwalteten!) Irrenhauſe. Alles rang und tobte bid zur volligen Erſchoͤpfung, und nun wabnten allmahlig Ue ihre Rechtfertigung gu fühlen. Man hat aber aud) mebr als ein Beifpiel, daß ſolche Anreizung des Gefuhls in bleibendyn Wabhnfinn überging, oder Den Dod herbeiführte.

§. 53. Die Camp: Meetings.

Wir befiken von Augenjzeugen cine Menge Sdilderungen diefer methodiftifchen Orgien, welche im Wefentlichen vollig mit einander iibereinftimmen, fo daß die Zufammenftellung ciniger Berichte fie unfern Zweck geniigen wird. Im Dabhrgange 1828, No. 101 der von Zimmermann. herausgegebenen alle gemeinen RKirchengeitung heift eS: Schon in den letzten Jahren des vorigen Sahrhunderts hatte fid unter den Diffidenten in Kentucy eine felifame Art religiofer Manie ausgebildet, deren Ausbriiche allen Glauben tiberfteigen. Die Leute verfammel: ten. fid) in zahlreichen Haufen auf dem Berge Pisgah, auf den Great Croſſinge und anderen, wegen Spukgeſchichten ſchon

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zur Zeit der Sndianer berüͤhmten Orten, um wabhre Tollheit zu treiben. Oft fah man an einer folden Stelle 800 Wuͤ— thende, wabrend 10 12000 Menfchen gufchauten, von wel: den nad und nad mehrere Hunderte unter Zuckungen nieder- ftirzten. Diefe Puritaner meinen namlid) Gott zu dienen, _ Wenn fie einer nad dem anderen ſchreiend mit Zuckungen fid sur Erde werfen, wo dann Manner, Frauen, Jungfrauen und Juͤnglinge in Verwirrung unter einander herumrollen, und fic ihre Zerknirſchung durd) Kragen und Beißen mittheilen. Man nennt dies den rollenden Dienft (rolling exercise.) Einer reift dabei ben Anderen nieder, und waͤlzt fic) dann, wie man einen Klotz walst. Trifft dev fid) alfo Hinwaljende bei feinem Rollen tiefen Roth, defto beffer. Se beſchmutzter er auffteht, um fo mehr findet er fich, geredtfertigt. Es foll naͤmlich diefer rollende Dienft. eine Rechtfertigung vor Gott fein. Nachdem fid fo diefe unfinnigen Tripfe mehrere Stunden unter betdubendem Gebheul hin und her gerollt haben, begin: nen fie eine Art von Veitstanz, deffen wabhnfinnige Abge- ſchmacktheit fie mit bem Beifpiele Davids entfcduldigen, wel⸗ cher ja aud) vor der Bundeslade getanst Habe. Mod) feltfamer fol eine Art von Verzuckungen fein, welche dieſe Menſchen the Jerks, die Priifung nennen, und welche in einer unbe- ſchreiblichen Bewegung oder vielmehr Verzerrung aller Muskeln und Theile deS Koͤrpers befteht. Die Befchreibung davon ift wabhrhaft graufenbaft, befonders follen die weiblicben Serfers cinen furdtbaren Anblick gewahren. Es wird uͤbrigens aber die Meinung aufgeftellt, diefes Jerking fet wahrſcheinlich eine Art von delirium tremens (Zitterwabhnfinn der Saufer), wels ches aber juerft unter und waͤhrend folder puritanifden An— dachtsuͤbungen entftanden fei. Durch mehrere Beifpiele wird gezeigt, daß Perfonen, welche gegen died unfinnige Treiten waren, und hingingen um es gu beobachten und gu bekaͤm⸗ pfen, unwillfiirlid) von den Jerks ergriffen wurden. Die Er: fabrung bat dabei gezeigt, daß je mehr der Koͤrper durch Trunk und Ausſchweifungen geſchwaͤcht ift, defto leichter folche Kram: pfe fid) einftellen. Mit diefer Tollheit fol in den Puritaner- sufammenfiinften nod) eine andere Schwaͤrmerei verbunden fein. Man abt naͤmlich aus Demuth vor Gott den Hunden nach,

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fnurrt und bellt wie diefe, fletſcht bie Zaͤhne, marfdirt auf allen Vieren umber, und was wohl gu merfen, nicht blos unwiffender Sanhagel, fondern Leute von Erziehung und An: feben fpielen diefe Hunderolle mit. Aus Sibdons Bericht iiber die vereinigten, Staaten von Nordamerifa geht hervor, daf dergleichen Dollheiten nicht blos in RKentudy, fondern aud im weit gebildeteren Peunfylvanien getrieben werden. Diefe Methodiften halten die camp-meetings, wo fid oft mehrere taufend Menfchen verfammein, fid) Hitten von Zweigen bauen, und indem fie ihre fanatiſchen Redner anbhoren, fic den wahn⸗ finnigften Ausfchweifungen iiberlaffen. Dann wird gebeutt, geftopnt, das Haar jerrauft, die Bruft zerfchlagen und died Unwefen oft fo lange fortgefest, bid fie wie todt in den in: decenteſten Ctellungen hinſinken. Siddons wobhnte einem foldhen Gottesdienfte bei, welder ded Abends begann, und bid 104/a Uhr im der Nadt dauerte und wo etwa 4000 Men ſchen von weit und brett ber verfammeft waren. Gr fprad: wer da weif, daß Ddiefe Menſchen beinahe einzig aus dem uns teren Volksklaſſen, ohne Erziehung und Bildung, und meiftenz theilS junge Leute beiderlei Gefchledts find, welche diefe Geles genheit mit Sehnfudt erwarten, und aus einer bedcutenden Ferne herfommen, der wird fic nicht wundern, wenn er als Vhatfache hort, daß nicht weniger als 80 wneblide Kinder in einem Umreife von 20 engl. Meilen, den 3 Naͤchten, welche diefe Verſammlung dauerte, ihre Geburt verdanfen.

Der ndmlide Fahrgang der allgem. Kirchenzeitung giebt in Mo. 108 folgende Schilderung: Gegen 4000 Menſchen und etwa 20 Prediger waren jgugegen. Um 10 Uhr begann der Gottesdienſt, welcher fich von dem gewoͤhnlichen Gotteddientte nur durd die unfinnigen Meden der Prediger und das tiefe Geſtoͤhne ber Subdrer auszeichnete. Nadmittags war einer der gewaltigften Enthufiaften auf der Rangel, und ſein Thema war die Liebe gu Chri ftus und der Haf gegen die Siinde. Bei den Worten: ,, ibe follt Shriftus eifrig lieben, ihr follt ibn in euren Armen halten” feufgten die Zuhoͤrer tief, und bald erfchaliten von allen Seiten Ausrufungen, welche den Sinn su verwirren drohten. Der Prediger erhibte fid) immer mehr und rief endlich: „dort febe ih Chriſtum, dort fist er.”

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Dort ift Chriſtus, rief cin Zuhoͤrer, ich halte ihn in meiz nen Armen, cin anderer. Andere ftiefen aͤhnliche Worte aus, und nun begann ein Seufzen, Cpringen, Schlagen an die Bruft, wie von einer Schaar von Wahnfinnigen. Der Prez biger begann nad) einer furzen Pauſe von der Suͤnde zu fpre- chen, wie Ghriftus und die Stinde unvertraͤglich feien, wie Sünde das Werk. des Teufels fei, und in die Holle fibre. Das Seufzen der VBerfammlung ging nun in ein Stohnen uber, weldes an ein Schlachtfeld erinnerte. Je mehr der Prediger fic) uͤber die Quaalen der Holle ausließ, defto lauter-und ties fer wurde das Stdhnen. Ploglich wurde cin Weib von hefti- gen Gonvulfionen ergriffen, ihr Geficht wurde blaß, ibre Aue gen verdreht, und wie von einer unfichtbaren Gewalt wurde fie zu Boden geworfen, in die Hohe geriffen, und fiel bes wegungslos zur Erde. Mun brad) die Verfammlung in eit lautes Geheul aus, viele Weiber warfen fic) zur Erde, ihre Bruft fchlagend, ihre Kleider zerreißend; andere. rannten um: her wie Bacchantinnen mit fliegenden Haaren und entbloͤßtem Bufen, bis fie erfchopft von ihrem Geſchrei zu Boden fanfen. Mit den Mraften fchien jeder Gedanfe von Schaam und Anz ſtand von ihnen gewichen zu fein. Der Abendgotteddienft wurde nad) der Abendmahlzeit gehalten, und dauerte bid 10 Ubr, worauf fic) Alle im ihre Huͤtten zuruͤckzogen. Auch hier wer: den die wolliftigen Ausfehweifungen angedeutet. Am folgen- den Tage wiederholte fic) derfelbe Auftritt, am 3. Tage waz ren Prediger und Zuhoͤrer fo erfehopft, daß fie nad Hauſe zu— rid kehrten.

Grégoire hat (a. a O. Th. 4. S. 489 502) cine Reihe intereffanter Notizen uber die nordamerifanifchen Metho- dDift:n gufammengeftellt. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts predigte cin Srrlander, gewodhnlid Shady Island genannt, in Bofton, daf man wuberall der heiligen Inſpiration folgen folle, und daf man durch den contemplativen Geift die Em— porung des Fleiſches dampfe. Er predigte nur nad) Gonnen- untergang ohne Licht, welches unnuͤtz fei, da er felbft es fei, welder Lid)t gebe. Cr hatte vielen Bulauf, aber die Abwe— fenheit des materiellen Lichts gab Veranlaffung gu dem argften Sfandal, welder ibn in Verruf bradte, und sur Flucht nos

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thigte. Gin Reifender erzaͤhlt, daß hie Methodiften. die Worte der Schrift buchftablid) nehmen: „das Himmelreid) muß mit Gewalt erobert werden.” Ihre Geiſtlichen predigen mit Exkla— mationen, ftampfen mit den Fuͤßen, fclagen die Haͤnde zuſam⸗ men, und laufen in einer Art von Wuth von einem Ende der Gallerie, welche ihnen alg Kanzel dient, gum anderen. St der Medner pathetifdy, fo werden die Gontorfionen fo arg; daß ein Verniinftiger ſich hinwegbegeben muf. Manner und Frauen laufen den Fanatifern nad und verlaffen die Rinder.. In ei: nem anderen Berichte uͤber einen 1806 in dem Gebicte von Mew: Yoré wahrend 4—5 Tagen gebaltenen camp=meeting heift cS: den Anfang machte cine VBerfammiung von 5— 600 Perfonen an einem Montage. An einem Orte hérte man predigen und fingen, nebenbei das Geſchrei von Mannern und. Weibern, welche ihr Gepaͤck abluden und Belte auffehlugen. Bald fah man cine Menge Anwwefender gittern, in Convulfio- nen verfallen, fic wie Wiithende gebarden, auf der Erde fid. waljen, ſchaͤumen, unter. (autem Schreien und Heulen zur Erde fallen, Diefer Aufruhr dauerte bis in die Nacht fort, welche yon vielen Laternen erhellt einen ftarfen Gindrud auf die Sinnlichkeit machte. Der Enthuſiasmus wudhs, taglich durch die Ankunft neuer Inſpirirten, deren Zahl bis auf-4000 ſtieg. Sie theilten fic) in. Gruppen von 40 50 Perſonen, in de: ren Mitte Manner, Weiber, 7jaͤhrige Minder jenen Unfug trieben, bid fie ohnmadtig niederſtuͤrzten. Der Thurmbau ju Babel war ein harmonifdes Schauſpiel im Vergleich damit. Gine junge Frau riff fic) im frommen Gifer die Kleider ab, und ftirgte fic in den Flug, worin fie ertranf. Ginige an: dere wurden fo von der Freude uber ihre Wiedergeburt ergrif⸗ fen, daß fie abortirten. Bruͤder und Schweſtern umarmten fid zaͤrtlich, als ob es das letztemal ware. Die wiedergeborenen Schweſtern theilten ihr. Lager mit Bridern, welche es nicht: waz ren. Michaud dex Sohn bereifete Kentucky, eneffee, Vir ginien und Nord: Carolina, wofelbft die Bildung nod auf eis ner tiefen Gtufe ffand. Man verfammelte fic) des Nachts um cin Feuer, und Seder bracdte feine Lebensmittel mit: Die Priefter predigten mit Heftigfeit, die Infpirirten, beſon— ders die Weiber, ficken riuber und frien Glory, Glory!

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Dann trug man fie aus der Verſammlung, legte fie unter Baume, wo fie lange unter Seufzen zubrachten. Die Con- torfionen der CEnergumenen erinnerten an die Manaden und Korybantinnen. Bedlam und Charenton waren dagegen Afyle ber gefunden Gernunft. Nach der Predigt fcienen Einige mit den Fingern in der Luft zu febreiben, Linien gegen das Fir- mament gu zeichnen, Ginige waljen ſich auf der Erde, lamen⸗ tiren, laden, umarmen fic), driiden ſich zaͤrtlich die Haͤnde, ricdten die Augen gen Himmel mit den Worten: ,, dort wer: den wir fein, uns wiederfehen. Sn einigen camp - mectings verfammeln fid) zuweilen 10—12000 Perfonen jedes Alters, jeder Farbe, beiden Geſchlechts, welde fingen, fpringen, tan: gen, fdreien, lachen, weinen, fchaumen, fid) auf der Erde waͤlzen, in Ohnmadt fallen, und gwar yu Hunderten. In einer einzigen Veiſammlung belief fid) die Bahl der Wabhnfin- nigen, welde in Ohnmacht fielen, auf 800. Bei den rolling exercises drehen fic) die Menfdjen ſchnell um, wie die Derz wiſche, bis fie mit Schweiß betedt gu Boden, bisweilen ins Waffer oder in den Koth fallen. Dann trägt man fie an ets nen fdidliden Ort, fingt und tanzt um fie. Die Ohnmaͤch⸗ tigen verlieren die Sprache; wenn fie thre Ginne wieder er: angen, nennen fie fic) ſchwere Suͤnder, versweifeln an der Gnade Chrifti, Andere behaupten, fie fchon wieder erlangt zu baben. Bei diefer Gelegenheit zeichnen fic) die Jerkers (ober Shaker’, Schittler) aus. Sie beginnen mit Schuͤtteln des Kopfs nad) vorn und hinten mit unbegreiflidher Schnellig⸗ Feit, bald theilt fid) die Bewegung den Gliedern mit, und fie foringen nad allen Geiten. Durch die Grimafjen wird ihr Gefidt unfenntlidh, und die Weiber geigen bald die haͤßlichſte Unordnung in ihren Kleidern. Oft pflanzen fich diefe Anfalle ſympatiſch mit, und nehmen bad Anfehen von Nervenzufallen an. Sn den Schenken fah man Spieler und Trinker ploͤtz⸗ lich bie Karten und Glafer wegwerfen, um ſich jenen Thor—⸗ heiten hingugeben. Die Barkers liefen auf allen Vieren, wie bie Hunde, fletſchten die Zahne, knurrten, heulten und bellten. Die Zufalle ließen meiftend durch ihre DHeftigfeir nad. Aud in Canada wurden folche Orgien gefeiert, wobei die Anwefen: den binnen furjer Beit in Raſerei verfielen, die Augen auf

491 ein Hausdad gerichtet mit dem Ausruf: „da fommt er;” Sie knieten nieder, richteten fic) wieder auf, ergriffen Stihle, und warfen fie mit wabrer Wuth an die Mauer, Cin Weib, welded auf. dem Boden lag, rang die Hande, raufte fic die Haare aus, ergriff eine andere Frau bei den Beinen, und rip fie mit Gewalt gu Boden. Mach einer Stunde endete Alles mit Gefang. Die Theiinehmenden fagten dem Reifen: den Balbot, daß fie ihren Gotteddienft immer auf diefe Weife feierten, und daß derfelbe ihnen nur dann gefiele, wenn der Geift fo machtig auf fie wirfe.

§. 54. Die Fumpers.

Die Jumpers al eine befondere Secte der Methodiften traten juerft 1760 in Wales auf. J. Evans, welcher im Jahre 1785 perfinlid) einer ihrer Verſammlungen beiwohnte, hat (a. a, D. S. 236) folgende Sdhilderung von ihnen gegeben. Sie zeichneten fig) durch Stoͤhnen, lautes Sprechen und Sin: gen aus, und pflegten denfelben Bers 30 40mal zu wie: derholen; befonders empfablen die reifenden Prieſter ihnen, Gogoniant (glory) und Amen gu rufen, fic dabei heftig zu berwegen, und zuletzt fo lange gu fpringen, bid fie ganglid erſchoͤpft waren, und gu Boden fielen. Manche diefer Prie- fter fchienen vorndmlid) im Antriebe ihrer Eitelkeit zu handeln, indem fie die Leidenfchaften der Menge durch aberwisige Dar: ſtellung des gottlichen Wefens, des Zwecks der Erldfung und des Buffandes der Menfchen erregten. Sie thaten dies, um al8 erleudjtet von Gott gu erfcheinen, da fie felbft nicht ftu- dirt batten. Go beenbdete auch der Priefter, welden Evans auf freiem Felde an einem Gonntag Abend horte, feine Pre: digt mit einer Empfehlung des Springens, und um derfelben Nachdruck au geben, ftieg er von der Kanzel herab, und fprang um Ddiefelbe herum. Gr rechtfertigte died damit, daß David vor der Bundeslade getanzt habe, dah das Kind im Schooße der Elifabeth tanjzte, und daß der Mann, welder von feiner Lahmbeit befreit war, hipfte, und Gott fiir feine Gnade pried. Weitlauftig verbreitete cr ſich daruͤber, daß fie auf gleiche Weiſe ihre Freude uͤber die Wohlthaten bezeigen

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miften, welche Chriftus ihnen bewiefen habe, wobei er pa- thetife) die Leiden des Erloͤſers fchilderte, und dadurch in einigen der Umftehenden eine leidenfchaftliche Bewegung her— vorrief. Bald fingen-etwa 9 Manner und 7 Weiber an Laut gu ſtoͤhnen, ſich beftig gu fthuttein, und mit finnlofer Wuth zu fpringen. Ginige ſchweiften nach allen Ridtungen umber, Andere ftarrten wie entfest vor fid) hin. Allmaͤhlig zerftreu- ten fic) die Uebrigen, bis auf die Springer, welche ihren Un: fug von 8— 11 Ubr in der Nacht fortfesten. Zuletzt knie—⸗ ten fie im Kreiſe nieder, und hielten fich gegenfeitig bei der Hand, wabhrend einer brinftig betete, worauf Alle ſich erhoben und auéseinander gingen. Buvor gaben fie fid) nocd) das BWer- ſprechen, bald wieder zuſammen ju fommen, und ſich niemals yon cinander zu trennen,

§, 55. Die Convulfionen tn der Methodiften: Kapelle in Redruth.

Im erften Bande von Naſſe's Zeitſchrift fur pſychi— ſche Aergte ift S. 255 folgende Schilderung jener Scene ent: halten. An gedachtem Orte rief ein Mann wahrend des Got: fesdienfted: „Was foll ich thun, um feclig gu werden”; wo— bei er die gropte Unrube und Beſorgniß über feinen Seelen— guftand gu erfennen gab. Einige andere Gemeindemitglieder wiederholten, feinem Beifpiele folgend, denfelben Ausruf, und ſchienen fur, darauf an den groften Koͤrperſchmerzen ju leiden. Diefer feltfame Vorfall wurde bald oͤffentlich befannt, und Hunderte von Menſchen, die von Meugierde getricben, oder aus anderen Griinden gefommen waren, um die Erfrant: ten gu feben, verfielen in dbenfelben 3uftand. Die Kayelle blich einige Tage und Nadhte offen, und von hier aug ver: breitete fid) die neue Kranfheit mit Blitzesſchnelle tuber die benachbarten Stadte Camborne, Helfton, Truro, Penryn und Falmouth, fo wie über die nabheliegenden Dprfer. Wahrend fie fo fortfdritt, nabm fie in den Orten, wo fig fid) fruͤher gescigt hatte, einigermaafen ab, beſchraͤnkte fid) aber durchaus nur auf die Rapellen der Methodijien. Ueberall wurde fie ‘uur von jenen Worten angeregt, und ergriff nuv Leute von

der geringſten Bildung, Die Befallenen verriethen die groͤßte Angft und verfielen in Zuckungen, Andere ſchrieen wie beſeſſen, dex Allmaͤchtige werde ſogleich feinen Born tuber, fie ausſchüt⸗ ten, dad Gefchrei der gequalten Geijter evfullte ihre Ohren, und fie ſaͤhen die Hille offen zu ihrem Empfange. Sobald die Geiſtlichen wahrend ihrer Predigten. die Leute ſo ergriffen ſahen, fo redeten ſie ihnen dringend zu, ihr Siindenbefennt: niß zu verſtaͤrken, und bemuͤhten ſich eifrig, fie gu. uͤberzeu— gen, daß ſie von Natur Feinde Chrifti ſeien, daß Gottes Borns deshalb über fie komme, und daß, wenn der Tod ſie in ihren Suͤnden uͤberraſche, die ewige Quaal der Hoͤllenflam⸗ men ihr Antheil fein wide. Die uͤberſpannte Gemeinde wiederholte dann ihre Worte, und natuͤrlich mußte dies die Wuth der Zuckungsanfaͤlle ſteigern. Wenn nun die Predigt ihre Wirkung gethan hatte, ſo veraͤnderten die Prediger den Inhalt ihrer Reden, erinnerten die Verzuͤckten an die Kraft des Heilanded wie an die Gnade Gottes, und fchilderten ibnen mit glihenden Farben die Freuden des Himmels.. . Hier: auf folgte. frither oder fpater eine auffallende Sinnesanderungs die Verzückten fuͤhlten fid) aus dem tiefſten Ahgrunde ‘ded Elendes und. der Verzweiflung zur hoͤchſten Gluͤckſeeligkeit ex hoben, und riefen triumphirend aus, daß ihre Banden geld: . fet, ihre Suͤnden vergeben, und ſie in die wundervolle Freiheit der Kinder Gottes verſetzt ſeien. Ihre Zuckungen dauerten indeß fort, und fie blieben waͤhrend dieſes Zuſtandes jedem ire diſchen Gedanken ſo unzugaͤnglich, daß ſie von krankhaften Be— wegungen ohne Nachlaß erſchuttert, und ohne Nahrung zu ſich ju nehmen oder ausjuruben; 2—-3 age und Machte lang. in den Kapellen verweilten. Nach einer maͤßigen Berechnung wur- den von diefer Verzückung binnen febr kutzer ae an ies Menſchen befallen.

Verlauf und Erſcheinungen der Anfaue waren im Aige meinen folgende. Zuerſt trat ein Gefühl von Ohnmacht mit Kaͤlte und Schwere in er, Magengegend ein, bald darauf ſchrieen die Kranken wie in großer Todesangſt, die Weiber faſt fo, wie Gebaͤrende. Dann zeigten fic Zuckungen in den Augen— muskeln, doch wurden die Augen bald ſtarr, unbeweglich. Jetzt folgte eine hoöchſt widrige Verzerrung des Geſichts, und, nun

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nahmen bie Zuckungen ihre Ridtung abwarts, fo daf die Mus⸗ feln des Halfes und Stammes ergriffen wurden, wobei die Kranfen mit grofer Anftrengung und mit Sdhludyen athme- ten. tr gleither Zeit ſchuͤttelten fie fic) und jitterten, ſchrieen entfeslid), und warfen den Ropf von einer Seite zur anderen. Befam bas Uebel mehr Gewalt, fo ergriff eS die Arme, die Kranfen ſchlugen fic) gegen die Bruft, falteten die Hande, und machten die mannigfadften Gebdrden. Der Beobadter, der von diefer Verzuͤckung Bericht erftattet, bemerfte niemals, dag aud) die Schenfel mit ergriffen wurden. Jn einigen Fallen trat ſchon nad einigen Minuten Erfchépfung cin, gewoͤhnlich bauerte aber der Anfall weit Langer, ja man hat ihn ſelbſt 70 —80 Stunden dauern gefehen. Biele von denen, die beim Gintritt bes Anfalls ſaßen, beugten wahrend deffelben ihren Körper raſch vorwarts und riidwarts, mit entfprechenden Be- wegungen der Arme, wie Femand der Holy fagt. Andere jaudsten, fprangen umber, und zerrten thren Koͤrper in jede nur moglide Stellung, bid ihre Krafte fic) erſchoͤpft batten. Gahnen zeigte fic) anfangs bei Alen; mit gunehmender Hef- tigfeit bes UebelS wurden jedoch Kreislauf und Athem be- ſchleunigt, fo daf and dad Geficht ein geſchwollenes und auf: getriebenes Anfehen erbhielt. Brat Erfchdpfung ein, fo rwur- den die Verzückten gewoͤhnlich ohnmachtig, und -blieben dann bis 3u ihrer Erholung in einem ftarren und bewegungdlofen Suftande. Die Krankheit war dem Veitstanze durchaus abhn- lid), nur fteigerten ſich die Anfalle zuweilen zu einer anfer- ordentliden Heftigfeit, fo daß einftmals der Berichterftatter cine von den Zuckungen ergriffene Frau 4 oder 5 ftarfen Man: nern, welche fie Halten wollten, wibderftehen fab. Ueberhaupt wurden die Kranfen, welde nie bas Bewußtſein verloren, bei jedem Werfuche, fie gewaltfam zu berubigen, nur nod withender, weshalb man fie meiften? gewahren lief, Bis die Matur von felbft Erſchoͤpfung herbeifiihrte. Nad den Anfallen Flagten die Behafteten uͤber grofere oder geringere Ermattung, aud) feblte es nicht an Fallen von Uebergang in anbdere Krankheiten. So verfielen nicht wenige in Melandolie, ° die fid) jedod) in Folge der religtdfen Efftafe durch die Abiwefen- heit von Furcht und Versweiflung auszeichnete, und bei einem

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Kranfen foll fogar Gehirnentzundung entflanden: fein. Rein Gefclecht, fein Alter blieb von. diefem epidemifden Nerven: fibel verfchont; djabrige Kinder, wie 80jaͤhrige Greife ſah man von ibm ergriffen werden, aud) waren ibm Manner von kraͤf⸗ tigem Koͤrperbau unterworfen; am - meiften erfranften aber Madchen und junge Frauen,

Zehutes Kapitel.

Epidemieen des religiöſen Wahnſinns, welche aus geiſtiger und leiblicher Noth entſtanden.

Das bekannte Sprichwort, Noth lehrt beten, giebt den ſchlichten Ausdruck fuͤr eine der wichtigſten Lebenserfahrungen, in welcher wir die theilweiſe Erklaͤrung der groͤßten welthiſto— riſchen Erſcheinung, der Verbreitung des Chriſtenthums fin⸗ ben muͤſſen. Go lange der Menſch ſich der Befriedigung fei: net jablreichen weltliden Jntereffen erfreut, knuͤpft ibn ein ſtarkes Liebedband an das Erdenleben, uͤber welched er nur alluleicht die uͤberſinnliche Welt, feine eigentlide Heimath, vergift. Wir wollen diefer, mit feiner ganzen Organifation ibereinftimmenden Bhatfache keinesweges die finftere Deutung aller Useeten geben, welche alles Seelenheil in der gefliffent: liden Grtddtung der weltliden. Intereffen ſuchen, damit in dem von ihnen entleerten. Herzen allein die Sebnfudt nad) dem Himmliſchen, nach einer unmittelbaren und ununterbro— chenen Gemeinfdhaft mit Gott welte, und dadurch jede Sinde im Keim erftide. Wie arg fic ihre Denkweiſe verrechnet hat, liegt in deren praftifder Ausfihrung in den Kloͤſtern am Tage, und wird nod in der Folge ausfihrlicder betrach— tet werden muͤſſen. Cie vergafen es ganglid), daß der Menſch nur im innigen Sunde mit der ihn umgebenden Welt gedei- ben fann, und im wabnfinnigen Rampfe mit ibren Gefegen nothwendig gu Grunde gehen muß; daß er in feinem Erden⸗

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leben cine Merige von Pflichten zu erfiellen hat, wozu er der erſorderlichen Kraft bedarf, welche ihm durch moͤnchiſche Ma: ſteiungen unfehlbar geraubt wird; daß die menſchliche Geſell— ſchaft ihre Beſtimmung nur erfuͤllen kann, wenn jeder an ſei— nem Theile dazu mit thatkraͤftigem und werkthaͤtigem Eifer mitwirkt; daß alle contemplativen Muͤſſiggaͤnger nur faule Hummeln im Bienenſtocke des Fleißes find, von deſſen Fruͤchten zu zehren ſie kein Recht haben, denn wer nicht arbeitet, ſagt der Apoſtel, ſoll auch nicht eſſen; und daß die erzwungene Unnatuͤrlichkeit des Anachoretenlebens die Organifation der Seele bis in ihre Grundlagen zerruͤttet, ſo daß ſie, anſtatt in unendlicher Entwickelung zur geiſtig ſittlichen Freiheit fort— zuſchreiten, oft genug in die wildeſten Leidenſchaften und Be— gierden ausartet, oder in voͤlliger Geiſteszerruͤtung zu Grunde geht. Nicht in unverſoͤhnlich feindſeeligen Widerſtreit mit dem Erdenleben ſoll das Chriſtenthum treten, ſondern es ſoll daſ— ſelbe voͤllig durchdringen, und nach ſeinem goͤttlichen Geſetz geſtalten, damit ſchon dieſſeits des Grabes jene unendliche Ent— wickelung beginne, und dadurch Buͤrgſchaft fuͤr ihre ewige ae ſetzung in emem himmliſchen Daſein leiſte.

Uber eben fo wahr iſt es andrerſeits, daß das behar« liche Vorherrſchen ber weltlichen Intereſſen im Bewußtſein zu—⸗ lethzt den religiofen Sinn erſtickt, “ober ihn wenigſtens aller Griergie betawht; Vie’ geifkig ſittlichen Kraͤfte nach dem goͤtt⸗ lichen Geſetze zu Wiser: Der! unaufhattſame · Verfall und letzt⸗ liche Untergang“ ver Boer des klaſſiſchen Alterthums liefert ben ſchlagendſten Beweis dafuͤr. Ste erreichten das Hoͤchſte, welches der Menſch mit weltlicher Gefinnung erſtreben kann, namentlich hat uns die praktiſche Lebensweispeit der Griechen Mufterbilder aufgeftellt, welche uns nod fur lange Beit uners reichbar bleiben werden, wenn wit nicht die von ihnen geeb— net?’ Bahn einſchlagen. In meiner Didteti® habe ich mid hiertiber auf das Nachdrüuͤcklichſte erFlart, und zu zeigen mich bemibt, dab alle unfre Beftrebungen ſchülerhaft bleiben, ja verklimmern müſſen, wenn wir unfetn focialen 3uftanden nicht iit vielen Bezichungen den Zuſchnitt der ihrigen gebert, fo weit died mit unfrer gaͤnzlich veraͤnderten Lebensſtellung vere einbar iſt. Aber eben weil tas ſtolze Selbſtgefühl im Wee

wußtſein ihrer errungenen Herrlichkeit, das uͤppige Gedeihen ihrer großartigſten und edelſten Beſtrebungen ihr Gemuͤth gang: lich erfuͤllte, blieb in demſelben Fein Raum fir die aͤchte Froͤm⸗ migkeit. Daß ſie ihren Cultus ganz ſinnlich geſtalteten, und ihren Goͤttern alle menſchlichen Attribute beilegten, ſo daß ſie niemals den reinen Begriff bes Heiligen faſſen konnten, viel: mehr in ihrer Mythologie geradezu die Berechtigung yu allen Begierden und Leidenfchaften fanden, moͤchte ic) hierbei weni— ger hervorheben. Denn fie waren -wenigftens über die fociale Mothwendigkeit eines fittlidjen Lebenswandels zur voͤlligen Er- kenntniß gelangt, und ihre Gefese enthtelter gum Theil fo=, gar ftrengere Strafen fir pflichtwibrige Handlungen, als die unfrigen. Uber am auffallendften trat die Mangelhaftigfeit und Ohnmacht thres religidfen Bewußtſeins in dem gaͤnzlich abgeſchwaͤchten Glauben an die Unfterblichfeit hervor, welcher fic) ihnen gleichſam wider Willen aufdrang. Dieſer Glaube ift meines Erachtens eins der ficherften Merfmale der acdhten Srommigfeit, wobei ich feinesweges die vornehme Gering: ſchaͤtzung gewiffer Dhilofophen fcheue, welche in ihrem Syſtem feinen Grund und Boden fiir jenen Glauben finden, weil fid derfelbe allerdings nidjt mit Syllogismen nach ftreng logifder Form demonftriren laͤßt. Auf eine folche Grundlage muß iberhaupt die Religion Verzicht leiften, und wem ihre ewigen Wabhrheiten nicht im Herzen leben, dem wird alle theologifde Dogmatif wenig helfen. Grinnern wir uns dod nur einen Augenblick daran, daß felbft das Chriftenthum voͤllig unvermd: gend fein wuͤrde, den unermeflicen Widerfprud des Menſchen⸗ lebenS in fic) und mit der ganzen Natur zu ldfen, wenn die Entwidelung der Menſchen auf Erden thren Abſchluß, und mit dem Bode ihre VWernichtung fande. Die ganze Welt offenbart fid) un3, fo weit unfere Vernunft tn thre Unermeß— lidfeit eindringen fann, in der hichften Vollkommenheit, nam: lid) in der unbedingteften Ucbereinftimmung ihrer Erfdeinun- gen mit ihten ewigen Gefesen, fo daf fie vor unfrem geifti- gen Auge fich ſtets in ihrer gdttliden Oronung und Schoͤn⸗ heit verflart. Nur der Menfd) allein macht eine Ausnahme in diefem Gottesreiche; immerfort ‘mit fid in Widerftreit, mit allen Mraften auf feine vbllige Zerruͤttung binarbeitend, wenn Sodeler Theorie d. relig. Wahniinns, 32

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fie nicht einem hoͤheren Gefebe mit ſchwer errungenem Gebor: fam unterworfen werden, gelangt er auch im gimftigften Falle nur an ein Biel, welches nicht den fFleinften Theil feiner Sehnſucht befriedigt. Denn der Weifefte und Beſte“ blickt am Schluß eines verdienftvollen Lebens nur mit Wehmuth auf feine verfloffenen Sabre gurid, in welcen ifm weit mehr fehlſchlug, ald nach Wunſch leidlich gerieth, und in. ſich findet er einen unaufgefdlofiencn Scab von Anlagen und Kraften, yon denen er feinen Gebraud) mehr madden fann. Ya wenn es ihm in den allerfeltenften Fallen gelang, in vdlliger Ucher- einftimmung mit fich zu bleiben, fo muß er fic fagen, daß fein eben erft rect anfange, wenn es gum Schluſſe eilt, und daß feine Sehnfucht nach ciner gottaͤhnlichen Vervollfommnung die ſchneidendſte Sronie und fchreiendfte Liige gewefen fei, wenn fie fid) nicht durch ein ewiges Streben in einem durch den Bod gelauterten Dafein ihrem Urbilde immer mehr annabern Fann. Wenn fchon die Vortrefflichften ohne den Glauben an Unfterd- lichfeit ihre ganje Beftimmung fir eine vollig zweckloſe und verfeblte im Widerfprud mit dem Vernunftbewußtſein halten miifiten (denn der Troſt, an der Wohlfahrt der Menſchen gear: beitet gu haben, wiirde in lester Bedeutung die argfte Selbft: taͤuſchung fein, wenn legtere nicht gu Birgern eines ewigen Gottesreiches erzogen werden, fondern auf ein jwedwidriges, finnlofes Erdenleben beſchraͤnkt bleiben follten); was foll man erft von jener Mehrzahl fagen, welche weder im Bernunfrbe- wußtſein zur Ahnung ihrer hdheren Beſtimmung gelangen, nod) den Thieren im naturgemafen Genuß ihres Lekens fic gleichftelen fonnen, fondern letzteres durch Bhorbheiten aller Art in eine fortwabhrénde Folter verwandeln, deren Quaalen nur auf einige Zeit von dumpfen Sinnengeniiffen unterbroden, und dann um fo berggerreifiender empfunden werden? Alfo der Menſch muß unſterblich fein, wenn nicht fein ganged Da— fein das verruͤckte Hirngefpinft von Wabhnfinnigen fein foll, welde fid) eben dadurd von gefceuten Leuten unterfcheiden, daß fie fid) in den Befig von unmoͤglichen Dingen hineintrau- mene Daher hat aud) Chriftus ſtets die Unfterblidfeit als bas urſpruͤngliche Motiv aller feiner Lehren in den klarſten und ungiweideutigiten Worten hingeftellt, gum Beweife, daß

nur in ihr die Wahrheit ſeiner goͤttlichen Sendung begruͤn— det ſei.

Indem wir nach dieſer nothwendigen Abſchweifung zu ben Griechen zuruͤckkehren, muß es und im hoͤchſten Grade auf: fallen, daß ſie zwar die Quaalen der Verdammten im Tarta— rus mit den brennendſten Farben ſchilderten, welche ihre Phan— taſie auffinden konnte, daß aber ihr Elyſium ein finſteres Schat- tenreich bleicher, lebloſer Schemen darſtellte, welche in demſelben ſo wenig Befriedigung fanden, daß ſie ihre Sehnſucht nach dem friſchen, vollkraͤftigen Erdenleben in ſteten Wehklagen laut werden ließen. Raum iſt mir ein erſchuͤtternderes poetiſches Bild bekannt, als die Schilderung Homer's, wie Odyſ— ſeus in die Unterwelt hinabſteigt, und dort ein Thier ſchlach— tet, gu deſſen Blute fic) die Schatten mit wahnſinniger Be— gierde draͤngen, um mit dem warmen Lebensfafte ihr hobled, erſtarrtes Dafein gu erfiilen, und dadurd aus ihrer Dumpfen Betaubung zu einer augenblifliden Befinnung gu erwadyen. War alfo der Glaube an Unfterdlichfeit bei den Griechen etwas Anderes, als die Vorftellung von einem ewig verlangerten Erfrieren im Polareife? Man wiirde fic) bei ihnen eine folche Garricatur jenes Glaubens gar nicht erflaren Ponnen, ba dod die roheften Voͤlker fid) ein weit lebendigeres Paradies jzauber: ten, in welchem fie wenigftend ihr ganzes Erdenleben zu einer vielfacen Potenz erhoben wiederfanden, wenn nicht eben die Griecen die ganze Kraft ihrer Seele in der Darftellung des Erdenlebens erfchipft, nicht den reichen Farbentopf ihrer Phan- tafie bei dem Gemalde ihrer weltlichen Herrlichfeit vollig ge— leert batten, fo daß ihnen nun fir die Borftellung eines ewigen Lebens fein Stoff mehr uͤbrig blieb. Eine nothwen: dige Folge davon war, daf die Griechen, in ibrem innerften veligidfen Bewußtſein vollig irre geleitet, fic mit heifer Liebe an das Grdenleben anflammerten, und daß nur ihre hoch: flammende Begeifterung fuͤr die Freiheit des Vaterlandes und die Verherrlichung ihrer Helden durch allen Zauber der Poe: fie und der bilbenden Kunſt ihnen jene todesmuthige Vapfer- feit einfléfen fonnte, welche ihnen durch ihren Wetteifer in den gymnaftifchen Uebungen, namentlid) bet den olympifcen Spielen gur anderen Natur geworden war. Blickt man tiefer

32 *

in Ddiefe ganze Lebensverfaſſung hinein, fo. wird man leicht ben Rip gewahr, welcher ihre tieffte Grindlage durchdrang, und welcher die gange fociale und politifde Exiſtenz der Grie- chen zerſtoͤrte, nachdem ihr nur von weltliden Motiven bez feelter Heroismus fein Intereſſe erfchopft, fic) voͤllig ausge— febt, und feine Wiederbelebung unmodglid) gemacht hatte. Bohr Ginn war fo durcaus an die ibm feit Fabrhunderten gege- bene Michtung gefeffelt, daß felbft die Beſſeren vergebens Rettung in dew ohnmachtigen Verfuchen der Philofophen, na: mentlic) der Stoifer ſuchten, ihrem durd innere Obnmadt geſchlagenen Selbftbewuftfein wieder aufzubelfen, und daß fie dennod) den Apoftel Paulus. verhohnten, als diefer ihnen in Athen. bas Evangelium verfiindete, fur deffen Erkenntniß und Aneignung fie jede Empfanglidfeit verloren hatten. Die ganze griechifche Gefchichte ift daher dad vollgiiltigfte, beweis- Fraftigfte Document, daß die groͤßte irdifche Herrlichfeit, felbft wenn gegrindet von den edeliten Befirebungen der Bernunft im Sunde mit den fittlicben Mraften, nur den Koloß mit thinernen Fuͤßen darftellt, und dak nur cin Volfsthum im raftlos fortfchreitender Vervollfommnung zu ftetS neugebornem Leben. fic) erfrifcyen und verjiingen fann, wenn das goͤttliche Gefes, wie es im Evangelium uns offenbart worden, die ur: fpriingliche Briebfeder aller feiner Veftrebungen geworden iff.

Darum fand das Chriftenthum die Schaaren feiner er- ften Befenner nicht unter denen, welthe unter deh Truͤmmern ihrer jerftorten Herrlidfeit nod von dec Moglichfeit ihrer Witderherftellung traͤumten, und fic) daber ftarrfinnig gegen eine zur Selbftverleugnung auffordernde Lehre ftrdubten; ja die graufamen Chriftenverfolgungen von Geiten der roͤmiſchen Kaifer und der ihnen Gleidhgefinnten hatten ja gerade darin ihren Grund, daß letztere in hodmirthiger Selbftverblendung ihr drinfendes Elend, welched fie vergebens in fthaamlofen Be: gierdén zu vergeffen firebten, nicht anerfennen mocten, und lieber mit ihrer entarteten Welt zu Grunde gehen, als dad Bekenntniß ihrer Nichtswirdigfeit ablegen wollten. Nirgends erfcheint die ſuperlative Sittenverderbniß der Romer ded - Kai- ferreich8 in einer efelerregenderen Abfcheulicdfeit, als wenn fie fid) als dad rechtsguͤltige Princip des Volkslebens durd) Bers

501 tilgung der fittlid) reinen Chriſten behaupten mufte, weil fie in der blofen Griftens der lebteren dads offenfundigfte 3eug: nifi ihrer Sdymad und Schande fand: AuGerdem wirde in dem Munde der weltflugen Romer die Anklage, daß die de: müthigen Chriften nad) dev Herrſchaft ftrebten, faft unbegreifs lich gewefen fein, und nur darin verrechnete fic) ihre ſchlaue Politif, daß fie gerade durch ihre Verfolgungen die Begeifte- rung der Shriften jum Widerftande herausforderten, eben weil fie auch nicht die leifefte Ahnung von der unüberwindlichen Kraft derfelben Hatten, Wohl mag man fragen, welches das Schickſal des Chriftenthums gewefen fein wirde, wenn es iiberall gebahnte Wege gefunden hatte, wenn nicht feine ers ften Befenner ihre Erdengiiter ihm Hatten gum Opfer bringen miffen, um in ihm uͤberreichlichen Erſatz fir alle Verluſte zu finden. Eben fo darf man fragen, ob das Chriſtenthum je— mals zur fortſchreitenden Entwickelung haͤtte gelangen koͤnnen, wenn es zuerſt nur den ſogenannten Gluͤcklichen und Satten der Erde gepredigt worden waͤre, deren blaſirter Sinn einen inſtinetmaͤßigen Abſcheu gegen jede ſehnſuͤchtige Begeiſterung hat, welche im erſchlafften Gemuͤth noch ſchneller verfliegt, als ein Weinrauſch, und dann ein um ſo elenderes Selbſtgefühl zu— ruͤcklaͤßt. Nein, das Evangelium wurde zuerſt ben Armen ge: predigt, welche in Langer Noth fdmachtend ihren Ginn von jeder moralifchen Verderbniß in Luften und VBegierden rein erhalten batten; fie theilten fid) gegenfeitig ihre hochherzige Begeifterung mit, deren Bewußtſein ihnen bald gu der Ueber: xeugung verhalf, daß die verweichlichten Glüͤckskinder clende Sklaven dev veraͤchtlichſten Sinnlichfeit feien, gumal wenn fie felbft als Knechte derfelben tiefe Blide in die erftorbenen Herzen warfen, und deren Verwefung unter fchimmerndem Prunk unmittelbar gewahr werden fonnten. Dieſe grellen Gegenſaͤtze zwiſchen innerer Hoheit und Wuͤrde des Charatters unter ſchlichter Augenfeite und der grenjenlofen Berworfenheit der Gefinnung unter glangendem Weltgeprange und den dar: aus unvermeidlid) hervorgehenden Kampf auf Leben und Tod muß man wohl ins Auge faffen, um “die erfte Entwicelungs. geſchichte des Chriftenthums im Enflange mit der Menſchen— natur gu finden. Denn eS wiirde auferdem unbegreiflid) fein,

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wie das damalige Menfchengefchlecht feine- ganze Grundverfaf- fung umgeftalten fonnte, indem es mit eben fo ascetiſchem Gifer feine Lebensguͤter wegwarf, als eS friiher nad) tber- ſchwenglichem Beſitz derfelben mit nie geftilltem Heifhunger gerungen hatte. Seder braudt nur in feine ecigene Gruff gu blien, um zu begreifen, was es heißt, den bisherigen Le— bensfaden abjureifen, um einen neuen angufniipfen, eine zur Gewohnheit gewordene Ridtung mit einer entgegengefesten gu vertaufcen, under wird fic) leicht fagen fonnen, daß die Umkeh— tung eines ganjen Weltalters auf der Grundlage feines tau- fendjabrigen Beftehend das gropte Ereigniß darftellt, welches je gu unfrer Kenntniß gelangt tft.

Wenn die Stoifer. iber die ftandhafte Erduldung von geis ftiger und leiblicher Noth declamirten, fo wird man leicht bin: ter Dem Pathos ihrer Phrafen den aufgeblafenen Stolz gewabhr, in welchem ihre ganze Gefinnung abgefcdlofjen war, und fie fonnen nur in fofern auf unfere Anerkennung Anſpruch machen, alS fie hichft confequente Denfer und fcarffinnige Menſchen— fenner waren, um die ganze Verwerflidfeit aller dem Ver— nunftbewuftfein widerftreitenden Leidenfchaften su begreifen, und den Urfprung der legteren in der Unerfattlichfeit des Gemuͤths mit pſychologiſcher Meifterfchaft aufjufinden. Kam es aber sur praftifchen Anwendung ihrer Vehren, dann blieb die alle gefellige Wohlfahrt zerſtoͤrende Tendenz derfelben nicht einen Augenblick sweifelhaft, und man wendet fic) mit Unrwillen von einer Prahlerei ab, welche oft genug zur aͤrgſten Heuchelet wurde, wegen welder Lucian fie fo unbarmberzig gegeifele haf. Wie gang anders erfcheint die geiftig leibliche Moth als erfte Pflangftatte des Chriftenthums, als die Quelle, aus wel: cher eine Begeifterung unverſieglich fprudelte, welche das ſchoͤ— pferifthe Princip einer neuen, ins Unendliche fich vervollfomm: nenden MWeltordnung gewordven iff. Indeß wenn fid aud hieraus ſehr leicht die ascetiſche Richtung erfennen (aft, welche das Chriftenthum feit feinem Urfprunge mit einer folchen Ent: fchiedenheit nahm, daß wir nod) jet die daraus in der Folge entfprungenen verderblichen Wirkungen ju befampfen haben; fo Fonnte jene Ridjtung dod) nur fo flange dev geiftig fittliden Organifation heilfam bleiben, als fie im Gegenfawe zu der vers

503 wefenden Blafirtheit de8 Heidenthums gur Bertilgung: deffelben nothwendig war. Wollte man dod) niemals bei der thorigten Ueberſchaͤtzung der Ascetik vergeffen, daß fie einen rein negati- ven Gharafter an fic tragt, und daß fie dem Princip des Ghriftenthums entgegen jene wahnwitzige Moͤnchsweisheit erzeugt hat, welche im BWiderfprud mit der Naturordnung lebtere in einen fo feindfeeligen Gegenftand gum Chriſtenthum geftellt bat, obgleich in beiden daffelbe goͤttliche Geſetz waltet, welches nur durch ibren innigften Bund in Erfidung gebracht werden fann. Eben weil die Ascetik aller ſchoͤpferiſchen Kraft ermangelt, ja in ifrer Uebertreibung Ddicfelbe wie ein wahres Gift tddtet, find auc) ibre Wirfungen in dem Maaße verderblich gewor- den, alé fie felbft zur Ausbreitung des wahren Chriſtenthums wenig mebr beitragen, fondern faft nur nod) die Herrſchaft ded hierarchiſchen Goͤtzendienſtes befdrdern fonnte. Zum Ver— zichtleiſten auf alle Lebensfreuden, in denen ſich die maͤchtig— ſten Forderungen der Natur ausfprechen, ‘wird fid) der Menſch nur dann freiwillig entſchließen, wenn er nur um Ddiefen Preis bie heiligſten Giter retten, feinem Glauben treu bleiben; die Freiheit des VWaterlandes oder feine eigene vertheidigen Fann. Wer fir andere Motive von ihm Entfagung fordert, wird ihn entweter jum Kampfe auf Leben und Dod geruftet finden, oder ibn gum Heudler machen, wenn nidt feine ganze gets ftig fittlidhe Perfontichfeit sermalmen miffen. Daß die hieraus hervorgehende Gemisthserfcitterung oft genug den Charafter der Verzweiflung annehmen wird, in welder die Berrittung ber gefammten GSeelenverfaffung ſich unter den graufenhafteften Erfcheinungen der Geiftesfranfheit gu erfennen giebt, bedarf feiner weiteren Grflarung.

Hiermit ift nun ſchon begeichnet, wie gehaufte Noth geis ftiger und leiblicher Art oft genug den religidfen Wahnſinn bervorbringt, daher unter den von mir befannt gemachten Fale len defjelben faft die Mehrzahl entweder ausſchließlich oder wee nigftend gu einem grofen Theil ihre Urfachen in Leiden jeglis cher Art fanden. Allerdings iff die Religion ein Rettungs- anfer in der wildeften Lebensbrandung, der ſichere Schutzhafen ded Friedens, in welchem ſich ber Schifforiidige mit wehmü— thiger Freude der uͤberſtandenen Noth und der erlittenen Ver:

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lufte erinnert, aud) wenn ihm aufer dem nackten eben Niches brig geblieben ift. Indeß um fic den von der Religion ge- fpendeten himmliſchen Troft oes liebendDen Gertrauens und der Hoffnung auf Gott aneignen gu fonnen, muß das Gemuͤth ſich eine hinreichende innere Haltung und Starfe errungen ba- ben, um wieder mit fic in Uebereinftimmung ju fommen, nachdem der Sturm audgetobt hat. Wo diefe nothwendige VGedingung feblt, wird-aud das Gemith nicht zur Rube zu— riidfebhren, fondern in dem heftigen Rampfe feiner emporten Gefiihle gulest mit fid) vollig zerfallen, alfo in einem Auf— rubr bebarren, toelcher als folder ſchon den Wahnſinn dar- ftellt. Mun hangt eS von der fritheren Gemisthsverfaffung ab, welchen Charafter diefer Wahnfinn annehmen folls herrſchte in demfelben die Frommigéeit vor, fo gelangt der religidfe Wahn— finn in allen feinen Formen jum Auftritt, widrigenfalls ale uͤbrigen eidenfchaften, je nachdem fie im Gemith walten, un: ter den wildeften Ausbruͤchen der Maferet oder der fchwermit- thigen Gergweiflung oder in den hartnacigften Geftalten des fixen Wabhnes ihre charafteriftifche Cigenthimlichfett zu erfen- nen geben.

Unter den bisher betradteten Gpidemicen des religidfen Wahnfinns waren es befonders die im 7. Kapitel geſchilder⸗ ten, auf welche die bisherigen Bemerfungen paffen, weil in benfelben die Betroffenen von den argften Drangfalen durch die gegen fie gerichteten fanatifden BVerfolgungen heimgefucht wurden. Indeß war e8 dod) weniger die aus Anfeindung und Vernidtung ihrer weltlidhen Sntereffen entfprungene Moth, wo- durch fie der Vefinnung beraubt wurden, als vielmehr die leidenſchaftliche Gegenwehr wider die Angriffe auf ihren Glau- ben oft alles Maaß tberfchritt, und fie deshalb in wilde Schwaͤrmerei ftirzte, deren Charafter daher in diefem Ginne aufgefaft werden muf. Um eine ganz ridtige Vorſtellung von Epidemieen des frommen Wahnfinns zu befommen, welche ihren Urfprung in einer weit verbreiteter Noth fanden, mug man fie in Zeiten auffuden, wo Alles fich vereinigte, die yur Srommigfeit geftimmten Gemither in Vergweiflung zu ſtuͤrzen, ohne daß fie dabei gerade fanatiſchen Berfolgungen audsgefest gewefen waren. Unter allen Gabrhunderten zeichnete ſich in

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diefer Beziehung das 14. zu feinem Nachtheile in dev ſchlimm⸗ ften Weife aus, und in ihm finden wir deshalb weit verbrei: tete Ausbruͤche rafender Schwaͤrmerei, wie fie auf abniiche Art nicht wieder vorgefommen find. Wir miffen uns hier mit einigen fludhtigen hiſtoriſchen Andeutungen begnisgen. :

Zunaͤchſt dinften dabei die unvermeidlichen Nadwirfungen dev Kreuzzuͤge in Betracht gu ziehen fein, welde darin nur mit dem BOjabrigen Kriege verglicyen werden fonnen, daß in beiden unter der Zerruͤttung aller focialen und polirifthen Ver: haltniffe die religidfe Begeifterung, ohne gerade erſchoͤpft zu werden, in eine leidend fromme Stimmung iberging, welde oft genug gu Ausbruͤchen eines franfhaften Gefuͤhls Beranlaf: fung gab. Eine 3ufammenftellung aller den Kreuzzuͤgen gefpen: deter Lobfpride und Verdammungésurtheile wirde allein einen Gand fillen; mir fceint es, daß man zu ihrer richtigen Wire: digung Folgendes ing Auge faſſen muͤſſe. Da das Chriſten— thum ju Anfang dieſes Jahrtauſends bei allen europaͤiſchen Boͤlkern das ausſchließliche geiſtige Intereſſe bildete im ſchnei⸗ denden Gegenſatze zu der noch uͤbermaͤßigen Rohheit der kaum aus der wildeſten Barbarei hervorgetretenen Gemuͤther, fo muß— ten ihm aud alle Kraͤfte der Seele dergeſtalt angeeignet und um terworfen werden, daß jede3 andere Beftreben fate unmoͤglich gemadt, oder von der Allmacht der Mirche fofort unterdridt wurde, wenn es gegen deren Gebot anfampfte. Es febl- ten mithin, gumal bei dem gaͤnzlichen Mangel an. geiftiger Cultur, ſchlechthin alle Bedingungen, welche dem. herrſchenden refigidfen Intereſſe eine “edlere, reine Geftalt Hatten geben, und daffelbe gur Triebfeder der Vervollfommnung des Volksthums maden Finnen. In diefer Formlofigfeit aus ganglichem Manz gel an gelduterten Begriffen mußte daber das religidfe Bes wußtſein ftets ben Charakter der Schwarmerei, naͤmlich eines vollig regels und zuͤgelloſen Wirfens annehmen, welches weit mehr den Antrieb gum Berftdren, alS gum Begruͤnden und Aufbauen gab, wou der beſonnene, werkthatige Fleiß erfor: bert wird. Nur unter folchen Bedingungen fonnten Gregor VIL, Innocenz HI. und die ibnen gleichgefinnten Papfte mit ihrer geiftigen Ucberlegenheit zu ihren Zwecken die ihnen blind erge: benen Volfer leiten und in ihr God) ſchmieden, indem fie die:

506 felben gum Aufruhr gegen ihre natuͤrlichen Herrſcher empoͤr⸗ ten, und wenigſtens für jene Zeit alle Wohlfahrt, in ſofern dieſelbe aus einer feſten Staatsverfaſſung hervorgehen muß, unmoͤglich machten. Ohne politiſche Anarchie haͤtte es niemals cin Papſtthum gegeben. Es liegt aber im Weſen der reli: gioͤſen Schwaͤrmerei, ihre zerſtoͤrende Gaͤhrung ſo lange fort— zuſetzen, bis fie ein Elend herbeigebuͤhrt hat, in deſſen fuͤrch— terlicher Noth ſelbſt der Wahnwitz zur Beſinnung kommen muß. Die durch paͤpſtliche Bannſtrahlen entzuͤndeten Religionskriege in den Aufſtaͤnden der Vaſallen gegen ihre Fürſten, in dem Wirthen der Inquifition gegen die Albigenfer, Waldenfer und anbdere fogenannten Reber erfchdpften daber fo wenig die gleid- fam überſchaͤumende Sriebfraft der damaligen frommen Schwaͤr⸗ merei, daß diefelbe gleich einer uͤberladenen Gewitterwolfe fich immer von neuem in flammenden Blitzen entladen mufte. Dies iſt meines Erachtens der wefentliche Urfprung der Kreuz⸗ zuͤge, bei denen man urfpriinglid) fo wenig an politifde Bwede gu denfen hat (wenn aud) diefe von herrſchſüchtigen Fiubrern verfolgt wurden), daß fie als ein nothmendiges Be- duürfniß der damaligen religidfen Ueberfpannung angefeben werden miffen, welche nur in ihnen gu einem thatfraftigen Ausbrud) gelangen fonnten. Wie follte man es fid aud fonft erfldren, daB ein blofer Mind, Peter von Amiens, mit der Fadel feiner glihenden Beredtſamkeit Europa in Brand fegen fonnte. Gin ganzer Welttheil lodert nicht gleich— geitig in Flammen auf, wenn nicht dberall der Brennſtoff in reichlidften Maffen aufgelagert ift, und nur des zuͤndenden Sunfens wartet, um fic in einen verbeerenden Vulkan au verwandeln. Eine durd gufallige Umftande bedingte Scwar- merei Fann wobl gelegentlid) durd einen wilden Hitzkopf her— vorgerufen werden, aber fie findet bald ihre Gegenwirfung in der unermeflichen Majoritat der Voͤlker, welche gang entge- gengefebte Intereffen verfolgen, und das raſch fid) vergehrende Geuer fdnell genug dampfen. Aber die Kreuzzuge haben 2 Sabrhunderte hindurd) faft die Gefammtfraft CEuropas nad Afien hinubergefdhleudert, und wenn man nicht die Alles ver- fdlingende Gluth der frommen Sehnſucht, welche ihe Heil im Geburtslande des Erlofers gu erobern tractete, als Die et

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gentliche treibende Macht jener ungeheuren Wilferbewegung in Anſchlag bringt, fo beraubt man eins der grdften Ereig: niffe der Weltgefchidte feiner erflarenden Urfache> Wenn man dabei auf den poetiſch abentenerlichen Charafter des Mit: telalters einen grofen Werth legt; fo hat man damit dod eigentlid) nur die duferlidhe Form des Beitgeiftes bezeichnet, wie derfelbe durch den Charafter des herrſchenden Intereſſes bedingt wurde, und wefentlid). nur bei dem Ritterftande zur Erſcheinung fam, dagegen die grofen VolfShaufen wohl ei gentlich niemals vom romantifden Schwindel ergriffen worden find, welder unter dem eifernen Joch ihrer Sflaverei fid ſchwerlich geregt bat.

Mit dem ganglidhen Sdheitern des unermeflidhen Unters nehmens mufte aud die Beageifterung fir daffelbe ſchwinden und die Sehnſucht nad Palaftina alS bem Lande der Wer: heifung und der unmittelbar gu erwerbenden Geeligfeit erfal: ten. Europa war erfddpft, weniger in fetnen materiellen Bedingungen zu Grunde gerichtet, weil der Fleif dem Bo— ben wenigftens die Exiſtenz abrang, als vielmehr jenes glü— henden Gifers beraubt, der Quelle groper Bhaten, durd) de- ten Gollbringung das Volksthum gu einer hdheren Entwicke— lungSftufe gelangen, und fid) dadurch feined veredelten Da- fein’ bewuft werden foll.- Voͤlker, welde flatt des Cieges eine hoffnungslofe Niederlage erlitten, find in ihrem innerften Leben todtlich getroffen; denn-ibr gebrochener Muth legt ein unmittelbares Zeugniß ihres vernidteten Strebend ab, fo daß fie nur in einem gaͤnzlich verdumpften Dafein fortvegetiven fonnen, gumal wenn der Krieg auc ihre weltliche Wohlfahrt in dad allgemeine Gerderben hineingeriffen bat. Go wurde unfer theured Deutfhland durch den 3O0jdbrigen Krieg auf ein ganzes Sahrhundert in die tieffie Ohnmacht geftiirgt, und wobl darf man fragen, ob es ſchon jest aus feiner Lethar: gie erwacht ware, wenn nicht Friedrichs II. Heldengeift die erftorbene Begeifterung von neuem ertwocdt, und wenn fie nidjt in den Freiheitsfriegen hinreichendDe Nahrung gefunden hatte, um maͤnnlich erftarft fortan das Lebendsprincip ded Volksbewußtſeins yu werden. Die den Kreuzzuͤgen folgenden Sahrhunderte riefen keinen ſchoͤpferiſchen Genius ins Dafein,

508 nachdem das hochherzige Gefchlecht der Hobhenftaufen, im Mie: fenfampfe gegen die Hierarchie, fdymabhlig gu Grunde gegan: gen, durch fein Schickſal alle Firften von feiner Nachfolge abgeſchreckt hatte, bis der befreiende Detter des Menſchenge— ſchlechts in demuͤthiger Geftalt aus einer Moͤnchszelle hervor— ging, um die Papfte vor den MRidterftuhl oes Evangeliums zu fordern. ,

Faßt man Alles gufammen, fo mufte die grofte gei— ftige Moth auf dem 14. Jahrhunderte laften, weil in ihm bie religidfe Begeifterung erlofd, welche doc) den fribern Bet ten inmitten ihrer grdgeren Barbarci mit einer, frifchberen Schwungkraft aud ein madtigeres Lebensgefühl verliehen hatte. Cine furchtbare Verddung mufte in den Gemithern herrichen, nachdem ihr bisheriges Intereſſe erlabmte, und fein neues an deffen Stelle getreten war; denn der erwachende Gewerbftcif der Stadte fonnte unter den Raubsiigen der Ritter nur. ein verfinnmertes Dafein friffen, und die endlo- fen blutigen “‘Fehden der VWafallen unter fic und gegen thre Fuͤrſten zerſtoͤrten alle Wohlfahrt dergeftalt, daß die jzertrete- nen Gaaten oft genug nice gegen Hungersnoth ſchützten. Won Wiffenfchaften und allen durch fie vertretenen geiftiqen Intereſſen forte in einer Beit nicht die Mede fein, wo fie nidt einmal mehr in den Kloftern die friihere Pflege fanden, fontern den wifteften Schwelgereien des moͤnchiſchen Gefin: dels weichen muften. Mit einem Worte, das 14. Fabrbun- bert, in der Mitte zwiſchen der friheren Barbaret und dem fpater erwachenden geiftigen Leben gelegen, durch jene in allen Beziehungen ganglic) zervisttet, ohne des Segens einer begin: nenden Gultur theilhaftig geworden gu ‘fein, ift ohne Frage feit der Voͤlkerwanderung die eifernfte Beit, welche fid wie ein druͤckender Alp auf das fchlaftrunfene, traumende Europa waͤlzte, und feine Kraft fiir immer ju erftiden drohte. Nicht einmal mehr die thatfraftige Befonnenbheit der grofen Kriege, wo die Gefahr den Muth und dew erfinderiſchen Geift her: vorruft, war ibm mehr geginnt, fondern in dumpfer Gab: rung britend fonnte es als hervorftedendfte Erſcheinung nur nod dic frakenbafteften Berrbilder des Wabhnfinns hervorbrin:

509° gen, von welchem wir einige der auffallendſten Ausbrüche zu— ſammenſtellen wollen.

§. 56. Die Flagellanten.

Die anerkannt meiſterhafte, unten genannte hiſtoriſche Darſtel⸗ lung der Geißlergeſellſchaften von Foͤrſtemann, von welcher id) hier einen Auszug gebe, beginnt mit einigen Bemerkungen tuber. den Gebrauch der Geißel bei den frommen Chriſten fruͤherer Zeit. Die Biographieen vieler Heiligen vom 8. Jahrhunderte be— richten, daß die frommen Selbſtpeiniger des Occidents ſich be— ſonders der Geißel als eines Werkzeugs bedienten, welches durch des Heilandes und vieler Maͤrtyrer Leiden geheiligt war. Auch wurden mit ihr die Moͤnche bei ihrer ſtrengen Zucht be— ſtraft. Indem man die Geißel mit den uͤbrigen Bußuͤbungen verband, ging daraus zuletzt eine regelmäßige Einrichtung her— vor; Bußbuͤcher beſtimmten fuͤr die verſchiedenen Suͤnden ver— ſchiedene Buͤßungen, eine gewiſſe Anzahl von Gebeten mit oder ohne Geißelung, Faſten von verſchiedener Dauer und Strenge. Um die 3 Theile der Genugthuung (Gebet, Fas flen, Almoſen) zu behalten, wurden. die genugthuenden. Geifes lungen unter den Faſten mit cinbegriffen. Die Geifelungen wurden aber aud) nod) yur Feier heiliger Tage untérnommen, Beichtvater uͤbten diefelben an fehlenden Beichtkindern, ſtrenge Heilige befampften und zerſchlugen ihr Fleifd) mit Ruthen, Steinen, Metten, buͤßten durch Geifielhiebe fiw eigene und fremde Giinden, und vergrdferten durch fie den Berg des Verdienftes. Die Geifelung hieß disciplina scoparum, fla- gelli, und wurde in die der oberen Morpertheile, diseipli- na sursum, und in bie der unteren, disciplina deorsum unterfecbieden. Dieſe Geifelungen famen befonders um die Mitte deS 14. Gahrhunderts in Stalien in Aufnahme durd mebrere heilige Moinche, namentlicy durch Dominicus den Gepangerten, von welchem eS heift: hic denique a tribus jam circiter annorum lustris lorica vestitus ad carnem, duobusque ferreis circulis in corpore cingitur, duobus item per brachiorum armos arctatur. Da 3000 Geifielfclage nad) der Ordensregel 1 Jahr Bufe ausmadten, fo grengt

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bie Verficherung feines begeifterten Lobredners, Des Abtes Peter Damiani, eines Beitgencffen GregorS VIL, ans | Unglaublice, daß er oft die Buse von 100 Jahren über nabm, indem er. mit Geifelbefen in beiden Handen ſeinen nadten Leib ſchlug. Damiani mufte eine fo ausſchwei fende Selbftpeinigung gegen mande Einwuͤrfe einer - Meuerun; wider die Rirchenfagungen, der Uunanftandigen Entbloͤßung des Nachtheils fir die Gefundheit vertheidigen, und er be: biente fic) unter den biblifhen Beweisftellen unter Anderem ded 4. Verſes aus Pſalm 150: ,,Lobt den Herrn mit Pan: fen.” Da vie Paufe, fagte er, eine trodene Haut ift, fo fobt der den Herrn wabhrhaftig mit Paufen, der fetnen vom Faften ausgemergelten Koͤrper durch die Disciplin ſchlaͤgt. Mehr wirkte jedoch feine Hindeutung auf den gegeifelten Hei: land, und er brachte es dabin, daß ſchon zu feiner Seit die Selbfigeifelung aus den Kloͤſtern im die Privatwohnungen ¢indrang. Go verbreitete fic) die Geifelung von Stalien aber bie benachbarten Sander *), und fromme Manner ahmten dar: in “befonders dem heiligen Francisfus nad, welder den Eſel feiner Geele, ben Koͤrper, hart genug geifelte, und ihn vod dabei mit bem ndthigen Futter erbielt. Denn die Selbftpei: nigung wurde als ein vortrefflihes Mittel erfannt, den fee: ligen Zuftand der Rihrung und Entzückung zu erzwingen, wenn der hartnddige Geift fic) nicht gutwillig figen wollte. Die Dominifaner und Francisfaner beforderten befonder3 die Geifeldisciplin, durd welche ſich die Stifter ihrer Gecten

*) Um das Umfichgreifen eines eben fo finnlofen als barbarifdhen Ges brauchs gu erklären, mug man meines Erachteus nicht blos dic herr ſchende fromme, Schwarmerci, fondern aud) das gebicterifche Bedurf— nif der Menfchen nach anftrengender Thatigfeit, um fic dadurch ih— rer Kräfte bewußt ju werden, in Anfdhlag bringen. 3u allen Seiten und unter den verfchicdeniten Verhaltniffen haben blafirte Faullenzer ibve Suflucht gu gewaltfamen, oft peinliden Aufregungen genommen, um aus der Quaal ifres verédeten Suftandes Herausjufommen. Bee fonders gilt dies von dex miffgen contemplativen Frimmigfeit, wels che vielleicht in allen Glaubensformen die monftrifeften Selbftpeinis gungen hervorgebradt Hat, um das religidfe Bewuftfein pom völligen

Einſchlafen zurückzuhalten.

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ausgeseichnet Hatten. Unter vielen Voͤlkern, lange vor der Ginfibrung des Chriftenthums finden wir die Gewobhnbeit, bei grofen Unglidsfallen und Landplagen - die Gottheit durch feierlihe Bußaufzüge zur Hilfe gu bewegen, eine Gewogn: beit, welche aus den Grundfagen des Aberglaubens entfprun: gen, bet den Chriſten begiinftigt ward. Schon frühe fuchten diefe Dirre und Ueberſchwemmungen, Hungersnoth,. Peft und Kriegsgefahren abzuwenden, indem fie, um ihr §Flehen vernehmlicher gu machen, und defto ficherer Gottes und der Heitigen Erbarmen ju erweden, und um die giirnende Gott: heit, welche das ſchwere Ungliid alg Strafe fir die Suͤnden der Menfchen verfiigt haben follte, gu verfibnen, im klaͤgli— chen Aufguge unter dem Vortritt der Geiftlichen, welde die kirchlichen Inſignien trugen, und unter vereinigtem Singen und Beten, Geufjen, Weinen und lautem Sammergefehrei um Vergebung der Sinden und Rettung aus der Noth, ge: woͤhnlich nad ten verehrten Heiligthimern der Gegend oder der Stadt wallten (supplicatio, litania). Hieraus gingen nothwendig die Geifielsige, zuerſt in Italien hervor. Wiel: leicht war Antonius von Padua (+ 1231) der Urheber der Geiflerprocefjionen. Seine Predigten, heißt eS, waren Feuerſtroͤme, denen Nichts widerftehen fonnte, und die cine ungablige Menge von Endern yur Buse entflammten. Da- mals fingen die Menſchen zuerſt an, ſchaarenweiſe fic geifielnd, und geiftlidhe Lieder fingend, in Proceffionen gu gehen. Dod iff die Nachricht nicht zuverlaͤſſig.

Die erfte große Geifelfahrt in Italien, welche in das Jahr 1260 faͤllt, erklaͤrt ſich aus ber großen Zerruttung der ſocialen und politiſchen Verhaͤltniſſe in Italien unter den end: lofen Kaͤmpfen der Welfer und Gibellinen, wobei fic) jedod eine gedanfenlofe Religivfitat erbielt, welche bei der wilden Aufrequng dev Leivenfchaften oft gewaltfam hervorbradh, und fi) in großen Erſcheinungen offenbarte, gumal wenn im Auf: trage des Papftes je nach den Abfichten deſſelben von den Dominifanern und Franciéfanern bald Friede, bald Krieg ge: predigt wurde. Co ftellte Johannes von Vicenza 1233 in der Lombardei , wenn aud) nur auf kurze Beit den Frieden

her, uͤberall ftrémten ibm die Schaaren entgegen, fo daß er

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am 28, Auguft an der Etſch, einige Stunden von Gerona vor einer Verfammlung von 40,000 Kdpfen predigte, und fie bewog, wieder Frieden zu ſchließen, welcher aber nicht lange bauerte. Insbeſondere wurde aber cin fanatifcher Gifer am- geregt, als im Geptember 1260 die Gibellinen grofe Siege iiber dic Welfen errangen, und dadurch den papftlidben Stuhl ernftlic) bedrohten. Won wem dieſe Aufregung ausging, ift nicht aufgeflart, worden; nur fo viel fteht fet, daß in Deru: gia, einer act welfiſchen Stadt, zuerſt die Geiflerprocefftonen gebalten wurden, und zur Nacheiferung fortriffen, da uͤberall druückende Noth herrfdte. Einige waren feft uͤberzeugt, daß jene Proceffionen eine unmittelbare gittlide Anſtalt feien, er— richtet und geleitet durch den heiligen Geiſt. Cin gleichzeiti— ger Mind von Padua giebt folgende Schilderung davon: „Im Laufe jener Jahrhunderte, als viele Lafter und’ Gere brechen Stalien fchandeten, uͤberfiel pliplich eine nie erborte reuige Stimmung der Gemither juerft die Cinwobhner von Pe- rugia, dann die Romer und endlich faſt alle Voͤlker Staliens. Die Furcht Chrifti fam fo uber ſie, daß Edle und. Unedle, Greife, Ginglinge, felbf— Kinder von 5 Gabhren nat bis auf bie bedeckten Schaamtheile ohne Scheu paarweife im feierlichen Aufzuge durch die Stadt wallten. Jeder hatte eine Geifiel aug ledernen RMiemen in der Hand, womit er fid unter Weinen und Seufzen heftig auf die Schultern ſchlug, bis das Blut danad ging. Unter Stromen von Thranen, als wenn fie mit leibliden Augen das Leiden des Heilandeds faben, riefen fie in fFlaglicher Weife um Barmherzigkeit zu Gott, und um Hilfe gue Mutter Gotte ss; ſie flebten, daß er, der unjabligen Buͤßenden verziehen hat, auch ihnen fir die erfannten Suͤnden Verzeihung.angedeihen laffen modge. Nicht nur am Tage, aud) des Nadts, im ftrengften Winter, gogen fie mit brennenden Kerzen gu bunderten, tanufenden, ja gebntaufenden, angefiihrt von Prieftern mif Kreuzen und Fahnen, durd die Stddte nach den Mirchen, und warfen fim im Demuth vor den Altaren wieder. Alfo thaten fie auc in Dorfern und Fleden, fo daß Felder und Berge wieder- gubalien fchienen von den Stimmen derer, die gu Gott ſchrieen. Es ſchwiegen zu derfelben Zeit alle muſikaliſchen Inſtrumente

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und alle Qiebedlieder, nur den Trauergefang der Buͤßenden horte man tiberall ih den Stddten und auf dem Lande; feine Flagenden Zine rubhrten fteinerne- Herzen, und die Augen der Gerftocten fullten Bhranen. Auch die Weiber nahmen Theil an diefen frommen Uebungen; in ihren Kammern thaten nicht allein die vom Bolfe, fondern aud edle Frauen und Sung: frauen mit aller Ghrbarfeit daffelbe. Damals verfdhnten fid) faft alle Entpweiten; Wucherer, Mauber eilten, das mit Unrecht Erworbene zuruͤckzugeben, und wer fonft in Laftern befangen war, beichtete demithig feine Sinden; und entſchlug fic) feiner Gitelfeit. Kerker wurden gedffnet, Gefangene ent: lafjen, und Verbannte durften zuruͤckkehren. Manner und Weis ber thaten fo grofe Werke der Barmherzigkeit, als ob fie fühlten, die goͤttliche Allmacht werde fie. mit Feuer vom Him: mel verjehren, oder durch einen Erdfall verfdhlingen, ober durch ein Erdbeben zertrummern laffen, oder andere Strafen, durch welde die gittlidhbe Gerechtigfcit fid an den Suͤndern gu raͤchen pflegt, uͤber fie verbangen. Die Schaaren zogen von einem Orte gum andern, und fanden uͤberall Nachah— mung, nur nidt in den Landen des Koͤnigs Manfred, welder die Ausibung der neuen Andadt bei. Podedsftrafe ver: bot. Die Bolognefer veranftalteten am Fefte aller Heiligen C1. Movember) eine grofe Geifielfahrt von mehr als 20,000 Koͤpfen nach Modena, deffen Cinwohner das Schaufpiel der Geifelung fogleid) nachahmten. Sie breiteten fic) überall in der Lombardei aus; nur von Mailand, wo fie mit Gewalt eindringen wollten, verfdeuchte fie Martino della Vorre durd) eine Menge (600) erridteter Galgen. In Genua wurden fie guerft verfpottet, bald aber wurden die Einwoh— ner, Gdle und Unedle, Junge und Alte, von demfelben Lau mel fortgeriffen. Bemerkenswerth find nod) folgende Zuͤge. Viele, welche Mordthaten begangen hatten, gingen mit ent: bliftem Degen gu ihren Feinden, und gaben denfelben ihre Waffen in die Hande, damit fie Rade naͤhmen, wenn fie wollten. Dod) diefe warfen die Waffen gur Erde, und fie: len geritbrt ihren Feinden zu Fuͤßen. Alle weinten, die fol: che Frommigfeit und Erhebung des Herzens fahen. Cinige der Geifiler ſchlugen fid mit beſonders ee Ries Soeler Theorie d. relig. Wahnſinnd.

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men, oder mit Dornen, andere mit eifernen Handfcuben- Obgleich die Menſchen mitten im Winter. bis auf den Gürtel nadend vom Morgen bis um 3 Ubr die Geifelung fortfesten, litt dod) Feiner durd) die Kaͤlte. Gifrig geifielten fie fid) am erften Tage, mit noch mehr Eifer und Leichtigfeit am zwei— ten. Gie fihlten die Winterfalte nicht, denn die Flamme der Liebe (richtiger wohl des Wahnfinns), die im Herzen brannte, ließ diefelbe nicht tn den Koͤrper eindringen. Wei- ber verfammelten fic) des Nachts auf den Strafen und gei- felten fich; anfangs verfpotteten Biele die neue Buße, aber beim wadfenden frommen Gifer wurde der fiir cinen Gotted- verachter gehalten, der fic) derfelben entzog. Doch der Rauſch bauerte nicht lange, und in den nadften Monaten ves Jah— res 1261 gingen die Geifielfabrten allmablig gu Ende. Dod wurde die Einrichtung ftebender Geiflergefellfchaften an vielen Orten Italiens dadurch bewirft, und bereitete dadurch ſpaͤtere Geißlerfahrten vor.

Von Oberitalien hatte ſich im Februar 1261 die Geiß— lerfabrt aud) durch Krain, Karnthen, Steiermarf, Baiern bis an ben Rhein, in Bihmen, Hefterreih, Mahren, Polen, bis Sachſen verbreitet. Viele Menfchen, Arme und Reiche, Dienft- und Kriegsleute, Bauern, Greife, Fiinglinge gingen nadend vom Guͤrtel aufwaͤrts, das Haupt mit einem leinenen Tude bedeckt. Sie trugen Fahnen und brennende Kerzen, ſchlugen fidh mit Geifeln bis aufs Blut, ſangen geiftliche Lieder. Sie gogen von Land zu Land, von Stadt zu Stadt, von Mirche gu Kirche. Wiele, die died fahen, wurden. geriihrt und wein— ten. Sie warfen fic) auf die Erde nicder, felbft in Schnee und Roth. Coldhe Buße übte Feder 33 Tage, gweimal tag: lid), Morgens und Abends. So thaten fie am Tage; aber die Nachte brachten fie hin mit Sauf- und Frefigelagen. Sie abfolvirten fic) felbft unter einanbder, nicht achtend der Firdli: chen Ordnung. Darum wurden fie von vielen Geiftlichen als Keser verworfen, durch Mirchenftrafen genodthigt, von ihrer Bufe abjuftehen, und e8 follen Viele von ihnen verbrannt worden ſein.

Eine Geißlerfahrt, welche der Dominikaner Ventu— rinus von Bergamo aus der Lombardei 1339 nach Rom

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fiibrte, und der fit) Tauſende anfdfoffen, verdient weniger unfere Aufmerkſamkeit; nur wird von derjelben bemerft, daß neun Zehntheile derfelben. aus ſchlechtem Gefindel beftanden, welded nad) der Bußfahrt meiftentheils gu dem fritheren find: lichen Lebenswandel zuruͤckkehrte.

Zu der großen Geißelfahrt der Kreuzbrüder im Jahre 1349 gab insbeſondere der ſchwarze Tod Veranlaſſung, durch welchen Aſien und Europa auf eine beiſpielloſe Weiſe verheert wurde. In China ſollen 13 Millionen, im tuͤrkiſchen Staate uͤber 23 Millionen Menſchen umgekommen fein. Heder, deſſen Verdienſte um die Begruͤndung der hiſtoriſchen Patholos gie eine gerechte und allgemeine Anerkennung finden, hat über jene Peſt, deren beiſpielloſe Furchtbarkeit und grenzenloſe Bers breitung beſonders durch ein fauliges Lungenleiden bedingt wurde, eine meiſterhafte Abhandlung geſchrieben, welche die lebendigſte Schilderung der unerhoͤrten Verheerungen giebt. Die Bahl der in den Jahren von 1347 1350 gefallenen Opfer laͤßt fich nathrlich nicht mehr naber beftimmen, Heder ſchaͤtzt ſie nach ben forgfaltigften Nachforfchungen auf 25 Mil- lionen in Europa, wovon dod) nur etwas uͤber 1,200,000 auf Deutſchland kommen follen, welches verhaͤltnißmaͤßig noch am wenigſten heimgeſucht wurde. Sn einigen Gegenden follen */s, in anderen die Haͤlfte, in noch anderen ſollen */s, ja °/so der Ginwohner umgefommen fein. Gleichwie in dec athenienſiſchen Peſt zuletzt die Gemither den zuͤgelloſeſten Ausſchweifungen ſich hingaben, um das Leben noch eiligſt zu genießen, und die Furcht vollends zu uͤbertaͤuben, ſo geſchah es auch beim ſchwarzen Tode, wo das Gefuͤhl der Menſchen ſehr abgeſtumpft wurde durch den beſtaͤndigen Anblick des unendlichen Jammers, und die Rohheit der Voͤlker erlangte eine Staͤrke, welche hin: reichte, alle Zucht unter die Fuͤße zu treten. Uber dieſe Rohs heit wurde gezuͤgelt durch die Religion. Man verlor das Fegefeuer, den Himmel, die Hoͤlle nicht aus den Augen, auch der Froͤmmſte erkannte ſich als argen Suͤnder vor dem ſtarken, eifrigen Gottz Jeder ermahnte den Anderen, ſich in den Willen des Herrn zu ergeben, und ſelbſt Kinder erwarteten unter Singen und Beten freudig den Bod. Der Papſt ver⸗ fiindete allen Sterbenden vollen Ablaß, und als er ein Jus

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hilaum auf bad Saht 1350 anfimbdigte, war. das 3uftrémen der Bifenden nad Rom ungeheuer, obgleid) von 100 Men: ſchen faum einer lebend guriidfehrte. Man ftellte auc) aufer- dem Proceffionen nad Reliquien, und Geifielfahrten an, bet denen befondere Gefege gegeben, und Abzeichen vorgefdrieben waren. Libed, damals das nordifche Benedig, welches die guftrémende Volksmenge nidt mehr faffen fonnte, gerieth beim Ausbrud) der Peft in fo grofe BVerwirrung, daß feine Buͤr— ger wie im Wabhnfinne von dem Leben Abfchied nabhmen. RKaufleute, denen Erwerh und Befig uber Alles ging, entfag- ten falt und willig ihren irdifchen Gitern. _ Sie trugen ihre Shake in. die MKlifter und Kirchen, um ſich ihrer auf den Stufen der Altare gu entledigens aber fiir die Monde hatte des Geld feinen Reitz, denn es brachte den Bod. Sie ſchloſ— fen die Pforten, dod) warf man es ihnen nod) uͤber die Kloftermauern; man wollte Fein Hindernif® an dem lebten, frommen Werte, gu dem die flumme Gergweiflung gerathen. Die Gefahr erfcien den Mleinmisthigen -als Gewifheit ded odes, viele ftarben vor Furcht beim Herannahen der. Kranks beit, und felbft die Standhaften verloren die Buverfidt. Ueber das Leben und die Zerruͤttung in dem Innern der Haufer wabrend diefer Weltſeuche haben wir faſt nur aus Stalien glaubwirdige Nachrichten von guter Hand, weldhe der Vor: . fiellung von dem Buftande ber Familien in gan; Curopa, bei Erwagung des Volksthuͤmlichen in jedem Lande yu Hilfe fom: men koͤnnen. Heder entlehnt von bem Boccacio folgende Schilderung hieriiber: ,, Als das Uchel allgemein geworden war (es iff von Floreng die Rede), da verfchloffen fich die Herzen der Ginwohner der Menfchentiebe. Sie flohen die Kranfen, und Ales, was ihnen angehorte, und hofften auf diefe Weife ſich gu retten. Andere verfchloffen fic) mit ihren Weibern, RKindern und Gefinde in ihre Haufer, aßen und tranfen, was theuer und Foftlid) war, aber mit aͤußerſter Maͤßigkeit und mit Befeitigung alles Ueberfluſſes. Niemand erhielt gu ihnen Zutritt, feine Todes- und keine Mranken- nachricht durfte ihnen bhinterbradht werden, im Gegentheil ver: trieben fie fid) bie Zeit mit Gefang, Mufif und mancherlei anberer Kurzweil. Andere dagegen hielten dafür, viel Effen

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und Zrinfen, Vergnuͤgen aller Art und Befriedigung aller Meigungen fei, mit letchtem Sinn über Alles, was dba vorfiel, verbunden, die befte Arznei, und handelten aud danad. Gie wanderter Bag und Nacht von einem Wirthéhaufe zum an: bern, und zechten ohne Maaß und Biel, foviel fie geliftete. Auf diefe Weife widen fie ftets, fo gut es gehen wollte, je: dent Kranfen aus und tberliefen Haus und Gut dem 3Zufall, . wie Menfchen, deren Vodesftunde geſchlagen hat. Unter die- fem allgemetnen Jammer und Elende war in ver Stadt dte Kraft und das Anfehen gottliden und weltlichen Gefeses verſchwunden. Die meiften Beamten waren an der Pelt ge: ftorben, oder tagen franf, oder batten fo viele Glieder der Hamilie verloren, dak fie Fetne Dienfte verrichter fonnten; daher that ein Seder, was ihm beliebte. Andere wablten. in ihrer Lebensweife einen Mittelweg. Sie aßen und tranfen nad) Gefallen, gingen aus, und trugen woblriechhende Blu— men, Kraͤuter oder Gewuͤrze mit ſich herum, am denen fie von Zeit gu Beit rochen, im der Meinung, dadurch das Haupt gu ftarfen, und den ſchaͤdlichen Einfluß der durch die vielen *Peftleichen und Kranfen faul gewordenen Luft abzuwehren. Andere trieben die Vorfidht nod weiter, und dadten, Fein beſſeres Mittel fei, dem Bode gu entrinnen, als zu fliehen. Dicfe verlieBen daher die Stadt, ihre Wohnungen, thre Ver— wandten, und zogen, Weiber wie Manner, auf bas Land. Dennod ftarben aud) Viele von dieſen, und gwar gewoͤhnlich einfam und von aller Welt verlaffen, weil fie friiher felbft das Beifpiel dazu gegeben Hatten. Go gefthah es denn, daß nun bereits ein Birger den anderen, eit Nachbar den an: beren, der. Verwandte ben Verwandten floh, oder unbefucht teh, und zuletzt (fo weit hatte der Schreden alle Gefiihte er: flict) der Bruder den Bruder, dite Schwefter die Schweſter, die Gattin den Mann, und endlich fogar der Water feine eigenen Kinder verlieB, und unbefudt und ungepflegt ihrem Sdhicfale preis gab! Alfo blieben alle Jene, welden Hilfe gebrach, die Beute einiger habfiicdtigen Dienftboten, die um hohen Lohn den Kranken blos Speife und Arznei reichten, und bet ihrem Tode zugegen waren, aber nicht felten cin Raub des Todes, und ihres fchandlichen Gewinns nidt froh wur—

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ben. Da erlofd auc alle Schaam und Bucht bet den Hilf: lofen. §rauen und Sungfrauen vergaßen des Schaamgefuͤhls, und tiberliefien die Sorge ihres Koͤrpers ohne Unterfdhied Wei— bern und Mannern des nicdrigften Standes. Die Frauen, Verwandten und Nachbarn fanden fic nicht mehr wie fonft im Haufe des Verftorbenen ein, um mit den Angebhorigen deffelben Leid gu tragen. Die Leichname wurden nicht mebr von den Nadbarn, nicht von einer gablreichen Priefterfchaft, unter Gefang und mit brennenden Wachskerzen, gu Grabe begleitet und von anderen Biirgern ihres -Standes hinausge- tragen. Viele ftarben ohne eines Menſchen Gegenwart an ihrem Sterbebette, und nur ſehr wenige waren fo glücklich, unter Thraͤnen und Beileid ihrer Freunde und Berwandten von binnen gu fceiden. An die Stelle des Schmerzes und ber Brauer war Gleichgiltigfeit, Lachen und Scher; getreten, weil man died, und befonders von Geiten ded Frauenvolfs, fiir beilfam hielt. Selten folgten 10 oder 12 Begleitende dem Sarge, und an bie Stelle der gewohnliden Leichentrager waren gedungene Menſchen von den niedrigften Volksklaſ— ten getreten,} die um den Lohn das Gefchaft übernah— men, und von wenigen MPrieftern, oft obne eine eingige Kerze, begleitet, den Leichnam in die erfte, naͤchſte Mirche trugen, und dort in dad naͤchſte, befte Grab verfenften, das nod) Raum fiir denfelben hatte. Unter der Mittel- klaſſe, befonders aber unter dem gemeinen Volke, war bas Glend nod) weit groper, Da blieben die allermei: ften entwebder aus Armuth oder aus Sorgloſigkeit in ihren Wohnungen oder den naͤchſten Umgebungen, und ftarben ba: ber gu Baufenden dabin. Viele endeten bei Bage oder bei Macht thr Leben auf der Strafe. Von Vielen gab erft der Geftan€ ihrer verwefenden Leichname die Kunde des Todes den Nachbarn. Um nicht angeftet gu werden, liefen diefe gewoͤhnlich die Leiden aus den Wohnungen wegnehmen, und vor die Hausthiir legen, wo jeden Morgen der Voriiberge: bende ganze Meihen derfelben antreffen fonnte. Man hatte nicht mebr fiir jeden Leichnam feine Bahre; gewoͤhnlich wur: den deren 3 und 4 gufammengelegt, und es gefchah, daß Gatte und Gattin, Vater und Mutter, fammt 2—3 Soͤhnen mit

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einander in derfelben Babre gu Grabe getragen wurden. Oft ereignete es fic), daß 2 Priefter unter Vortragung des Kreu— zes; einen Garg begleiteten, auf dem Wege aber 4 5 ane dere an den Zug ſich anfcdloffen, fo daß nun ftatt eines ein: gigen Todten 5—6 gu begraben waren.”

Heder figt hingu: ,, Ueber dad Verhalten der Priefter bemerft ein anderer Beitgenoffe, in Fleinen und grofen Stad- ten batten fie ſich furchtſam zurückgezogen, einigen Pflichttreuen und Muthvollen die geiftlidhen Verrichtungen uͤberlaſſend. Die wohlthatigen Orden haben fic) wahrend der ſchwarzen Peſt trefflich bewabrt, und fo viel Guted geftiftet, als eingelnen Korperfchaften in Zeiten fo grofer Noth und Verderbniß ver- ftattet iff, wo Ergebung, Muth und edle Gefuͤhle nur bei MWenigen angetreffen werden, und Kleinmithigfeit, Selbftfudt und bofer Wille, mit verwandten Leidenfchaften im Gefolge, dte Herrfchaft behaupten. Es war fo viel Frevelhaftes und in fo grofer Ausdehnung gefdhehen, daß die Blithen frisherer Entwidelung verwelften, und die Menfehheit in den nadften Gencrationen ein bofes Gewiſſen zuruͤckbehielt.“

Ueber den Anfang der Geifielaufziige in diefer Schredends zeit ſchweigt die” Geſchichte. Sie wurden allmablig gebildet von reuigen Suͤndern, die durch) oͤffentliche Buße, unter Gebet, Thraͤnen und Geißelſchlaͤgen Gottes Barmherzigkeit erwecken wollten zur Abwendung des ſchrecklichen Todes. Aus faſt ale ten Gegenden Deutſchlands melden Chroniken, daß daſelbſt Geißelzuͤge veranftaltet wurden. 200 Geißler kamen im Juni aus Schwaben nach Speier. Sie hatten einen Hauptanführer und 2 Meiſter. Unter großem Zulauf des Volks bildeten ſie vor dem Müuͤnſter in Speier einen weiten Kreis, in deſſen Mitte fie ihre Kleidber und Schuhe ablegten. Sie trugen einen Schurz ftatt der Beinkleider von den Hiften bis auf bie Fuffnichel. Sie gingen im Kreife herum, und Giner nad) den Anderen warf fid in Geftalt des Grucifires zur Erde, indem die Uebrigen über fie hin fchritten, fie fanft ſchlagend mit der Geifiel, welche Knoten mit 4 Spitzen hatte, indem fie in einem Gefange in der Landesfprache ten Herrn um

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Hilfe anflehten. Aber mitten im Kreife ftanden drei, welde cine tichtige Stimme Hatten, und fangen vor unter Geifel- fclagen. Das trieben fie fo lange, bis auf gewiffe Verfe der Borfanger Alle die Knice bogen, in Crucifires Geftale auf a8 Geſicht fielen, und unter Schluchzen beteten. Die Meifter durchgingen den Kreis, fie ermahnend, daß fie den Herrn anflehten um Gnade fiir das Volk, fie alle ihre Wohl— thater und Uebelthater, fir alle Suͤnder, fiir alle im Fege— feuer Lcidenden und fiir viele Andere. Darauf erbhoben fie fic), ſtreckten knieend die Hande gen Himmel und fangen. Dann ftanden fie auf und geifelten fic lange, indem fie um— gingen, wie vorber, und wenn fie fic) anfleideten, zogen die Anderen fic aus, die ihre Kleider bewacht hatten, und tha: ten das Naͤmliche. Endlich trat Giner auf, der eine vernefm: lide Stimme hatte; und las einen Brief vor (denn es wa: ren unter ihnen Geiftlihe und Gelehrte, Edle und Mnedle, Weiber und Kinder) welder dem Inhalte nach durd einen Engel in Sct. Peters Kirche in Jeruſalem gegeben worden fein follte, worin es hieß, Chriftus fei erzuͤrnt uͤber die Laſterhaftigkeit ber Welt, und viele nambafte Verbrechen, Ent: heiligung des Sonntages, Vernadhlaffigung der Freitagdfaften, Zinſenwucher, Ehebrud), und auf der heiligen Jungfrau und. der Engel Bitten um Barmberzigfeit habe “er geantwortet, daß fie 34 Vage von Haufe giehen, und fic geifeln follten, um Gottes Barmbersigfeit gu erlangen. Die Geifiler nah— men nicht fir fic, aber fir die Gefelifchaft Almoſen an, um Wachsferzen und foftbare Fahnen von Seide und Purpur, fchon bemahlt, angufchaffen. Sene frommen Uebungen nabmen fie 2mal am Rage vor in der Stadt. oder auf dem Lande, und einmal geifelten fie fic) in, der Nadt im Verborgenen. Ueber 100 Gpeierer traten in ihren Bund und gegen 1000 Strafiburger, indem fie jenen Meiftern fiir die genannte Beit Gehorfam gelobten. Nach Strafkburg famen gegen 200 Geif: ler, Sie batten 8—10 foftbare Fahnen von Sammt und Seide, und cine Menge gewundener Kerzen, de man ihnen vortrug, wenn fie in Stddten und Dorfern umgingen. Man lautete alle Gloden, wenn fie ankamen. Zweie fangen vor,

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die Anderen ſangen nach. Wenn fie in cine Kirche kamen, Enieten fie nieder, und fangen:

Shefus der wart gelabet mit gallen

Des fullen wir alle an erüce fallen. Dann fielen fie kreuzweiſe zur Erde, daß es Flapperte. Nach einer Weile fingen ihre Vorfanger an gu fingen:

Nu hebent uf uwer Hende

Das Got dis große ſterben wende,

Nu hebent uf uwere armen

Das ſich Got tiber uns erbarme*), Alsdann ftanden fie auf. Dieſe Bufibungen dauerten 3 Stunden. Hierauf luden die Leute, ein Seder nach feinén Umftanden, der Cine 20, der. Andere 10 gum Imbiſſe, und bewirthete fie wohl, Seder mufte auf 34 Tage taglid 4 Pfennige aussugeben haben, Keiner durfte betteln, um Her: berge bitten, ohne Ginladung in ein Haus fommen, mit einer Srau fprechen, Geiſtliche durften unter ibnen fein, aber Fei: net derfelben fonnte ihr Meifter werden, oder in ihren heili- gen Rath fommen. Wenn fie bifen wollten (zweimal tag: lid), Morgens und Abends) und auf die Geifielftatte famen, gogen fie die Reider aus bids auf die Hofen, und thaten Kittel oder leinene Schirjen an, welche vom Nabel bis auf die Fife reichten. Nun legten fie fic in einem weiten Kreiſe nieder, Seder nachdem er gefiindigt hatte, fo daß man eines Feden Side leicht erfannte. War er ein Meineidiger, fo legte er fic) auf die Seite und recite die Finger in die Hohe; war er ein Ghebrecher, fo legte er fidh auf den Baud, Als: dann ſchritt ber Meifter uͤber Geden weg, beruͤhrte ihn mit der Geifel, und fprad) die Worte:

Stant uf burd der reinen martel ere (Marter Ehre) Und hüte dich vor den ſünden mere (ferner).

Alſo ſchritt er uͤber ſie Alle, und uͤber welchen er ſchritt, der ſtand auf, und ſchritt dem Meiſter nach, bis We aufgeſtan

*) Foörſtemann hat noch eine Menge anderer Geißellieder aufgezeich⸗ net, und auch Hecker theilt (a. a. O. S. 88) ein ſehr ausführliches mit, welches äußerſt charakteriſtiſch iff.

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ben waren. Hierauf fangen fie, und geifelten fic mit ihren Riemen, weldhe. vorn Knoten hatten, ih denen Nadeln ftafen, und fangen mancherlei Lieder, Wenn fie fic) gegeifelt und gefungen batten, wurde jener Brief ded Engels vorgelefen. Dann jogen fie unter Gefang mit Fahnen und Kerjzen in die Stadt, welche fie unter Glocengelarte verlaffen hatten. Bei ihren Geifelungen war grofer Zulauf, das Wolf weinte, und war febr andadtig, denn es glaubte, der Brief fei vom Him: mel gefommen, und man glaubte ihnen mehr, ald den Prie: fiern. Sn jeder Stadt traten viele Einwohner der Bruder: ſchaft bei. Sie trennten fic) in StraBburg, und zogen gum Sheil am Rhein aufwarts, gum Theil abwarts. Nad einer anderen Nachridt heift es, die Geifieln der Kreuzbruͤder wa: ren Stdde, an denen 3 Strange, vorn mit grofen Knoten, berabbingen. Durch die Knoten waren 2 eiferne Stacheln ‘freugweife getrieben, fo daß 4 Spiten, laͤnger als ein Wai- genforn, bervortraten. Damit geifielten fie fic), daß ihr Kor: per grin und blau wurde, und auffdwoll, und. daß dads Blut an ihm herabfloß und an die Wande ſpritzte. Zuwei— len ſchlugen fie die eifernen Spitzen fo feft in die Haut, daß fie mehr als einmal ziehen muften, um fie wieder herauszu— reißen. Die Geifiler erregten den Verdacht und Haß der Pricfter, da fie eine ecigene Buße einfihrten, die Geiftlicen in Betradt des iuppigen Lebens und ihrer eigenen Strenge verachteten, durch Gifionen und Wunder ibre Buße behaupte: ten, und auf deren Frage, warum fie prebigten, ba fie nidt gefandt feien, und nicht verftanden, was fie lehrten, erwieder: ten: „wer bat denn euch gefandt, und wobher wift ihr, daß ihr Chriſti Koͤrper confecrirt, und daß ihr das wabhre Evan: gelium predigt?” Sie follen mebhrere gegen fie audsgefandte Priefter erfchlagen haben. Wiel ſchlechtes Gefindel gefellte fid gu ibnen, und an mebreren Orten, 3. B. in der Marf Bran- tenburg follen Bewaffnete fic als Geifiler verfleidet, und durch diefe Lift verfchiedene Stadte eingenommen haben. Sie wurden auf mannigfade Weife von Bifdhofen und Magifraten verfolgt; endlid) erließ Papſt Glemens VI., von den pari: fer Bheologen und Kaifer Karl IV. aufgefordert, eine Wer- bammungsbulle gegen fie am 20. October 1349, worin ihnen

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Ausfdweifungen, ihr Abweiden von der Kirdenordnung und Lehre, bas Verfiihren der Geiftlichen, die Grauſamkeit gegen Yuden, Blutvergiefien vorgeworfen wurden. Der Gifer. der Gecte war felbft ſchon erfaltet. Theils aus . religidfer Scheu, theilé aus Furdht wor Strafe ftanden die Meiften nad Befanntmachung der papftliden Bulle von. der neuen Bufe fogleidh ab. Die Hartnadigeren wurden, da fie aus bem Schoofe der Kirche herausgutreten ſchienen, durch Zwangs⸗ mittel gendthigt, fic) in denfelben zuruͤckzuziehen. Die Dauer der Buffahrt feben einige alte Sebriftfteller auf 1 Jahr, ans bere auf 4/e oder noch kuͤrzere Zeit. Wahrſcheinlich dauerte die Blithe derfelben an jedem Orte nur wenige Woden, in dem die Bußzeit der erften und cifrigften Bifer in 33 Ba: gen verftrid), und die meiften ihrer ae derfelben bald uberdriffig wurden.

Da mit diefer Geifielfahrt eine der graufamften Juden— verfolgungen im unmittelbaren 3ufammenbange ftand, fo iff eS nothwendig aud) ihrer bier gu gedenfen, um dad Bild des barbarifchen Fanatismus gu vervollftandigens Heder bat (a. a. D. GS. 52) von den hieraus entfprungenen Greueln eine aus den Quellen gefchdpfte ergreifende Schilderung gege- ben, welche id) bier einſchalte. Bei jeder moͤrderiſchen Seuche denft das Volk guerft an Vergiftung (wie wir died auch bei 4 erften Gholera-GEpidemie erlebt haben). Meine Belehrung friichtet, der vermeinte Augenfcein ift ihm Beweis, und ed fordert gebieterifc) die Opfer feiner Rade. Und wen fonnte biefe damals wohl anders treffen, als die Suden, dte wuchern- ben und in Grbitterung gegen die Chriften lebenden Fremd⸗ linge? Ueberall glaubte man, fie batten die Brunnen ver: giftet, ober die Luft wverpeftet; fie allein follten bas grauſe Sterben uͤber die Chriftenheit verbreitet haben. Dafuͤr wurden fie mit fchonungslofer Grauſamkeit verfolgt, und der Wuth ded Volks entweder unmittelbar preisgegeben, oder von Blut: gerichten verurtheilt, die nad) aller Form der Gefebe bie Schei⸗ terhaufen errichten liefen. Sn Zeiten diefer Art ift gwar viel die Rede von Schuld oder Unſchuld, aber Haß und Radfudt reifen den Gerftand mit fic fort, und der geringfte Anſchein fteigert den Verdacht zur Ueberzeugung. G8 zeigt fich in die:

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fen Blutſcenen, die Europa im 14. Gahrhunderte befledt ha: ben, eine aͤhnliche Manie des Beitalters, wie in den Werfol- gungen der Heren und Bauberer, und fie beweifen, wie diefe, baf der Wahn, der ſich mit Haß verbriidert, und mit den niedrigften Leidenfchaften verflochten iff, in ganzen Voͤlkern madtiger fein fann, als Religion und gefeslide Ordnung, ja felbft ded Anſcheins Heider ſich gu bemaͤchtigen weiß, um das Schwert der lange verbaltenen Race defto ficherer mit Blut su tranken,

Ihren Anfang nahmen die Judenverfolgungen in Chil— fon am Genferfee im September und October 1348, we man die erfte peintiche Unterfudung gegen fie vetanlafte, nachdem fie ſchon lange vorber von dem Bolke der Brunnenvergiftun: gen befcbuldigt worden waren; dann folgten abntide Berfol⸗ gungen in §reiburg und Bern im Sannar 1349. Wor Schmerz getrieben geftanden die Gefolterten. das Verbrechen ein, und nachdem man in Bofingen wirklich) Gift in einem Brure nen gefunden haben wollte, fo waren ſolche Beweife fur alle Welt überzeugend, und die Verfolgung gegen die verhaften Schuldigen ſchien gerechtfertigt, Nun modgen wir aud gegen dicfe Thatſache eben fo wenig einwenden, als gegen die tau— fendfaltigen Geftandniffe der Heren, denn die Fragen der fae natifdhen Blutgerichte waren fo verwebt, daf mit Hilfe dev Solter die Antwort, die man haben wollte, erfolgen wn & aud entfpricht es der menfdliden Natur, dap Werbrecen, tie in alley Mund find, wirflich von Ginigen aus Muthwil⸗ len oder Race, oder wahnfinniger Erbitterung begangexr ‘werden. Verbrechen und Befdhuldigung find aber unter Um— flanden Ddiefer rt nichts weiter, als die Ausgeburt eines wuthfranfen Geiftes dee Voͤlker, und die AnFlager nad fitt- lichen Begriffen, vie uͤber allen Zeiten fieben, die ſchuldigen Frevler.

Schon im Herbſte 1348 verbreitete ſich ein paniſcher Schrecken ob der geglaubten Vergiftung unter alle Voͤlker, und vornaͤmlich in Deutſchland uͤberbaute man aͤngſtlich alle Quellen und Brunnen, damit Niemand aus ihnen trinken, oder die Speiſen mit ihrem Waſſer bereiten moͤchte; die Ein— wohner unzaͤhliger Staͤdte und Doͤrfer bedienten ſich lange

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Beit Hindurcdh nur des Regen: und Flufwaffers. Auch vere wahrte man mit grofer Strenge die Gtadtthore, nur Zuver— laffige wurden eingelaffen, und fand man bet Fremden Arze- neien oder andere Dinge, die man fir giftig halten fonnte (viele mogen dergleichen gu eigenem Schutz bei fid) gefuͤhrt ha- ben), fo gwang man fie, davon einjunehmen. Durch diefen peinlichen Zuftand von CEnthehrung, Miftrauen und Argwohn fteigerte fid) begreiflid) der Haß gegen die vermeintlicdben Bere gifter, und artete oftmald in groge Volksbewegungen aus, bie nur nod) mehr geeignet waren, die wildeften Leidenſchaf— ten durd) einander toben gu laffen. Vornehme und Geringe verſchworen fic) ohne Scheu, die Suden mit Feuer und Schwert zu vertilgen, und fie ihren Beſchuͤtzern zu entreifien, deren ſich fo wenige fanden, daß in gan; Deutſchland nur einige Orte genannt werden fonnten, an denen man jene Unglid: liche nicht als Gedehtete betrachtet und fie gemartert und ver: brannt hatte. Won Vern ergingen feierliche Aufforderungen an die Stddte Bafel, Freiburg im Breisgau und Strafburg, bie Suben als Giftmifcher zu verfolgen. Nun widerfesten, fic) gwar die Biwgermeifter und Rathsherven diefem Anjinnen, in Bafel nodthigte fie aber das Volk gu einem eidliden Bers: fprechen, die Juden gu verbrennen, und ibren Religionsver- wandten auf 200 Sabre die Stadt gu unterfagen. Hierauf wurden ſaͤmmtliche Juden in, Bafel, deren Anzahl gewiß nicht unbedeutend war, in ein hoͤlzernes, hierzu erbautes Behalt: nif cingefperrt,- und mit diefem verbrannt, blos auf das Ge: ſchrei des Volks und ohne Uctheil und Recht, das ihnen tiber: dies Nichts gefrommt haben wirde. Bald darauf gefchah dafe felbe in Freiburg. Nun wurde aud) ein formlicer Landtag in Bennefeld im Elſaß gehalten, wo die Bifchdfe, Herren und Barone, fo wie AUbgeordnete der Grafen und der Sradte fic) beriethen, wie fernerhin gegen die Yuden zu verfabren fei, und als fic) hier die Abgeordneten von Strafburg (nicht aber der Bifchof diefer Stadt, der ſich als ein withender

Fanatiker zeigte) zu Gunften der Verfolgten vernehmen ließen,

da fie nichts Nachtheiliges von ihnen wiften, fo erregten fie

lauten Unwillen, und man fragte fie ftirmifd), warum fie

denn ihre Brunnen verdedt, und die Eimer abgenommen bats

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ten? Go fam ein blutiger Beſchluß gu Stande, und man fend unter bem Pdbeb, der dem Rufe der Grofen und der hohen Geiſtlichkeit folgte, nur alljubereitwillige Vollſtrecker. Wo man nun die Fuden nicht verbrannte, da verjagte man fie wenigftens, und fo fielen fie umberirrendD den fandleuten in die Hande, die mit Feuer und Schwert gegen fie wuͤthe— ten, obne menfdlices Gefuͤhl, und ohne Scheu vor irgend einem Geſetz. Gn Speier verfammelten fic) die Suden in wil: der Vergweiflung in ihren Haufern, und verbrannten fic felbit mit den Shrigen. Die wenigen Uebriggebliebenen wurden aur Taufe gendthigt, die Leichen der Ermordeten aber, die auf den Strafen umberlagen, ftedte man in leere BWeinfaffer und rollte fie in ben Rhein, damit fie nicht die Luft verpefteten. Rugleid) wurde das Wolf verhindert, in die Brandftatten der Sudengaffe einzudringen, denn der Rath lief felbft nach den Schaͤtzen ſuchen, und foll deren betradhtliche gefunden haben. In Strafburg wurden 2000. Suden auf ihren Begrabnifpla- gen vevbrannt, wo man ein großes Geriift aufgebaut hatte; Wenige, die verfprachen, Chriften gu werden, lief man leben, und nabm ihre Kinder wieder vom Scheiterbaufen. Aud erz regte die Jugend und Schoͤnheit einiger Fungfrauen Mitleid, und man entrif fie wider. ihren Willen dem Mode, Wiele aber, die von der Brandftatte gemaltfam entfprangen, wur— den in den Strafen ermordet. Alle Pfander und Schuldbriefe lief der Rath den Schuldnern zuruͤckgeben, und das vorgefun: dene Geld unter die Handwerfer vertheilen. - Doch wollten Viele ein fo fdmddes Blutgeld nicht annehmen, fondern fcent: ten es nad) Beftimmung ihrer Beichtvaͤter den Kloͤſtern, em: port ifber die Auftritte mordgieriger Habfucht, uͤber die dad wuthberaufate Golf die Peft gu vergeffen ſchien. Gn allen theinifden Stddten wiederholten fid) wahrend der nadften Mo: nate diefe Greuel, und nachdem einige Rube wiederhergeftellt war, glaubte man ein gottgefalliges Werf gu thun, wenn man von ben Steinen der verbrannten Haufer und den Grabmalern der Juden verfallene Rirchen wiederbherftellte und Glodenthirme erbaute.

Sn Maing allein follen 12,000 Suden einen quaalvollen Zod gefunden haben. Geißler hielten hier im Auguft ihren

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Einzug, Juden geriethen hierbei mit den Chriften in Streit, und toͤdteten deren viele; alé fie aber ſahen, daß fie. der an⸗ wachfenden Uebermadht weichen muften, und Nichts fie vom Untergange retfen fonnte, fo verbrannten fie fid) in ihren Haͤuſern mit allen Ihrigen. So gaben denn aud) an anderen Orten fanatifde Geifelfabrten die Lofung zu blutigen Auf: tritten, und ba man iiberall mit ber Mordgier eine unfeelige Befehrungsfudt verband, fo wurde aud unter den Juden ein fanatiſcher Gifer rege, als Martyrer ihres alten Glaubens gu fterben. - Wie hatten fie auch mit Uebergeugung dem Chri: ftenthume fic) in die Arme werfen finnen, deffen Gebote nie frevelbafter iibertreten worden find? Gu Eßlingen verbrannte fic) die ganze jiidifche Gemeinde in ihrer Synagoge, und oftmals fah man Mitter mit eigenen Handen ihre Rinder auf den Scheiterhaufen werfen, damit fie nicht getauft wer den follten, und dann felbft in die Gluth nachfpringen. Kurz, wozu Fanatismus, Raubfudt, Habgier und BWergweif: lung im furdtbaren Verein den Menſchen irgend treiben fins nen, bas gefdah im Sabre 1349 in gan; Deutfdjland, in Stalien und Frankreich) ungeftraft und vor aller Welt Augen. Es fcien, alé waren der Peft nur Sdandthaten und wah finniger. Taumel, nidt aber Trauer und Betruͤbniß gefolgt; die Meiften, welde Erziehung und Standpunft beriefen, die Stimme der Vernunft gu reden, fuhrten felbft den rohen Hau: fen gu Mord und Pluͤnderung. Faft alle Juden, die in der Taufe das Mittel gu ihrer Rettung gefunden, wurden fpater: hin nad und nad) verbrannt, denn man ließ nidt ab, fie der Vergiftung ded Waffers oder der Luft gu befchuldigen; aud wurden mit ihnen viele Ghriften gefoltert und hingerichtet, bie ihnen aus Menfchentiebe oder Cigennug Schutz batten an: gedeiben laffen. Andere gum Ghriftenthum Uebergetretene be reueten ihren Abfall, und fucten, ihrem Glauben ‘treu, den - Lod.

Der Menfchlidfeit und Wernunft Clemens VI. ijt aud) in Ddiefer Angelegenheit mit ebrender Anerfennung ju gedenfen; dod war felbft die hodfte Firchlide Macht unjzu- teihend, der zuͤgelloſen Wuth Einhalt yu thun. Gr befdhigte nit nur die Juden in Avignon, fo viel er vermodte, fon:

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bern erließ auc) zwei Bullen, in denen er fie. fir unfduldig | erflarte, und die chriſtlichen Voͤlker, wenn aud) ohne Erfolg, ermahnte, von einer fo grundlofen Berfolgung abzuſtehen. Aud Kaifer Karl IV. war ihnen.ginftig, und fudte das Gerderben von ihnen abjuwenden, fo viel er nur fonnte; doc) durfte er nicht das Schwert der Gerechtigfeit siehen, amd fah fid) fogar gendthigt, bem Gigennug der boͤhmiſchen Edel— leute nachzugeben, die. eine fo giinflige Gelegenheit nidt un: benugt laſſen wollten, fid) ihren juͤdiſchen Gldubigern mit Hilfe eines kaiſerlichen Mandats gu entziehen. Herzog Al— bert von Deſterreich brandfchabte und pluͤnderte feine Staͤdte, die fid) Sudenverfolgungen erlaubt hatten, doc) fonnte er in feiner eigenen Feſte Kyburg eintge hundert aufgenommene Suden nicht ſchuͤtzen, die von den Gingeborenen ſchonungslos verbrannt rourden. Noch einige andere Furften und Grafen, wie Ruprecht von der Pfalz, nahmen fid) der Juden gegen gro- fies Schubgeld an; dafur nannte man fie aber Sudenherren, und fie geriethen in Gefabr, von dem Volke und ihren maͤch— tigen Nachbarn bekaͤmpft zu werden. Den Verfolgten und Gemifhandelten blich zuletzt, wenn nidt Menfdenfreunde auf eigene Gefabr fid) ihrer erbarmten, oder ihnen Reichthir- mer 3u Gebote ftanden, fic) Schus gu erfaufen, feine Frei: ſtaͤtte, als das ferne Litthauen, wo der Herzog von Polen, Boleslaw V. ihnen ſchon fruͤher Gewwiffensfreiheit bewilligt hatte, und Konig Gafimir der Grofe, den Bitten fei: ner juͤdiſchen Geliebten Either nachgebend, fie aufnahm, und ibnen ferneren Schutz angedeiben lief, woher died Land nocd gegenwartig von einer grofen Anzahl Juden bewohnt wird. Noch gu Ende bes 14. Jahrhunderts (1399) fanden in Stalien grofe Geifilergiige der fogenannten Weißen ftatt, wel: che im Wefentliden nur die friiheren Ausſchweifungen wieder: bolten, WBeranlaffung ju ihnen gaben die im Often von Eu— ropa ſiegreich fid) ausbreitenden Tuͤrken, der Schrecken, wel: den Tamerlan, Sultan von Gamarfand, in weiter Ferne erregte, Peftfeuchen und Hungersnoth in vielen Gegenden, politifhe und fociale Zerruͤttungen uͤberall, der Kampf der Gegenpapfte, fo dag fromme Chriften darin die Vorboten des bereinbrechenden Endes der Welt fahen. Der Urfprung die:

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fer Secte wird ſehr verſchieden angegeben, ‘in Spanien, Eng: land, Schottland, Briand. In Stalien geigten fie fic) zuerſt in der Mahe von Turin, und breiteten fic) dann weiter nah Mom aus Sie erhielten ihren Namen, weil fie in weife Bufgewander fid) huͤllten, und durch fie fam befonders das stabat mater in Aufnahme, welded fie nebft anderen Liedern bet ihren Proceffionen fangen. Sie verbreiteten fid) im Aus guft und September durch gang. Oberitalien, und namentlich in Florenz nahbmen 40,000 an der Proceffion Theil. Alle bereuten ihre Suͤnden und verfopnten fic) mit ibren §einden, alle umarmten und fiften fic, und fangen Buflieder. Es gefchaben viele Wunder, Blinde und Lahme, Mranfe und Befeffene wurden durd) das Kuͤſſen des Crucifires fogleid) ge- heilt. Auch Scheintodte Fehrten ind Leben zuruͤck. Das Grucifir wedfelte die Farben, vergoß Blutstropfen, die Hei- ligenbilder feufsten und weinten, Teufel ftellten Proceffionen in der Luft an. Mach Rom fam ein grofer, ſchwarzer, bar: tiger Alter an der Spike von 30,000 Weifen , pon diefen Johannes der Paufer genannt. Cr ftellte ein Crucifir in einer Kirche auf, und rief dreimal, ,, Cruicfir, jeige ein Wunder”, worauf daffelbe 3 Blutstropfen vergop. Der Papft verfammelte ein Gonfiftorium, und Bonifacius yeigte fid bereit, die paͤpſtliche Wuͤrde niederzulegen, wenn. die Sens bung und die Wunder des Manned acht feien. Der Sena: tor von Mom, Zacharias Trevifani, ließ das Crucifir unterſuchen; man fand daffelbe Hohl, in der Seite mit einem fleinen Lode verfehen, aus weldhem man 3—4 ropfen ded barin enthaltenen Blutes oder Waſſers herauslaffen fonnte. US dennoch der Pfeudo-Fohannes auf feiner Ausfage beharrte, lief der Senator ein großes Feuer anglinden, und befabhl .ign hineinzuwerfen, indem er fagte: ,,wenn du unver- fehert herausfommft, wollen wir an dich glauben”. Da rief er: ,, Barmbergigfeit um Gottes willen!” und geftand, daß er ein Sube fet, daß er eS durch Veufelsfinjte gethan, und was er Boͤſes habe thun wollen. Der Papſt lies ihn hierauf in8 Feuer werfen und gu Aſche verbrennen. Chen fo erging e8 auf Befehl des Papfted einem Priefter, welcher ein blut- vergiefendes Grucifir zeigte, mit welchem Wunder er den Id e ler Theorie d. relig. Wahnſinns 34

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Papſt abfesen, und deſſen Stelle einnehmen wollte. Gin Gleiches wird von einem zweiten Priefter berictet, welcher cin weinendes Grucifir geigte, und wie jener grofe Cchaaren verfammelte. Vielleicht treffen beide Angaben die ndmliche Perfon. Ferner heift es, daß einige Betriiger aus Schottland nad) Stalien famen. In hoble Grucifire goffen fie Blut, und preßten eS vor dem Wolfe auf eine feine Weiſe heraus. Aud beſtrichen fie die Crucifire imvendig mit Oel, und liefen fie in der Gonne erhitzt ſchwitzen. Faft das ganze Volk in Rom und in der Nachbarſchaft, felbft einige Cardinale wurden von dieſen Betrigereien getaͤuſcht, legten Sade oder weiße Hem- den an, und zogen in Proceffionen, neue Lieder fingend 13 age nach einander durch die Stddte und benachbarten Orte, ebe fie nad Haufe zuruͤckkehrten. Des Nachts lagen fie bei ben Kirchen und Kliftern, indem fie diefelben haͤßlich befudel= ten, und alle Frichte der Baume wegiehrten. Bei den Pro— ceffionen und Stationen-fielen viele Unordnungen vor, befon- ders zur Nadticit; denn Alte und Junge, Weiber und Mad- chen ſchliefen des Nachts gufammen auf einem Lager, Endlich wurde ein Liigenprophet ergriffen, auf der Folter zum Geftand: nif der Betruͤgerei gebracht und verbrannt; er hatte fid den wiedergefehrten Elias genannt. Seine Genoſſen entfern- ten fic) beimlic.

Mod) gedenft Firftemann bes fpanifchhen Dominifa ners und Inquiſitors Bincenttus Ferrer, welcher ju Ene des 14. und zu Anfang des 15. Jahrhunderts ein groBer Freund ber Geißelbuße und ein Befdrderer der Hffentlichen Ausubung derfelben war. Er foll ſchon im Mutterleibe bellend feine unerhoͤrte Predtgerqabe angeFindigt haben, und man vernahm in Avignon feine Stimme, wenn er in der Bre— tagne predigte. Sm Jahre 1357 yu Valencia geborens wurde er von dem Papfte Benedict XIII. in Avignon 1395 zu fei: nem BVeichtvater gemacht. Als er in Avignon an cinem hitzi— gen Sieber darniederfag, tvelches er durch feine Raftciungen verſchlimmerte Cer getfielte fic jede Nacht mit Striden, und lief fich von Anderen geifeln, wenn die Krankheit ihn verhinderte, ſich zu züchtigen), erfchien ihm Chriſtus von einer Engels ſchaar umgeben, und berief ihn felbft gum Prediqtamte mit

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dem befonderen Auftrage, daé wegen der Sinden ber Men: ſchen herannabende Ende der Welt gu verfiindigen. Er legte nun fein Amt nieder, und durchzog 20 Sabre al’ Miffionair Spanien, Stalien, Franfreidy, Belgien, Grofbritanien und Srland. Es begleitete ihn eine grofe Menge Wolf entweder aus Andact, oder um begangene Sinden Offentlid gu bifen; deshalb erdachte er eine gewiffe Weife, um die Andacht diefer feiner geiftliden Kinder gu leiten und gu erhoͤhen. Er fuͤhrte Priefer aus den verfchiedenen Monchsorden mit fid), um Beidhte gu horen und Meffe gu lefen, und wablte Notarien, welche die bewirften Ausfohnungen und Wertrage fogleid ſchriftlich befeftigen muften. Er ftand an der Spite einer grofen wandernden Gemeinde, welde fogar ihre tragbaren Orgeln hatte, und deren Ubgang uͤberall durd einen neuen Zuwachs ergangt wurde. Die Buͤßenden, welche ihm folgten, muften feiner Gorfchrift gemaͤß taglic) nad) Sonnenuntergang in den Stadten und an anderen Orten, wo fie eingekehrt waren, gewiſſe Proceffionen anfiellen unter Abfingen von geift: lichen Liedern, die ev felbft gu Ddiefem Zwecke gedichtet hatte. Alle mußten fic) die entbloften Schultern geifeln, und dabei ausrufen: „das fei gum Gedddtnif der Leiden Jeſu Chrifti und gur Gergebung meiner Sinden.” Bei diefen Geifelune gen, herrfdte eine folde Froͤmmigkeit und Andadt, ſolche Trauer und Zerknirſchung, dak die Cinwohner gu Thraͤnen geruͤhrt wur— den, und Biele durch das Beifpiel jener Frommen bewogen, dent Manne Gottes und feiner heiligen Gefellfhaft durch viele Lander nadfolgten. Daher waren in jener Geſellſchaft oft uͤber 10,000 Menfden, und um jenes Schaufpiel gu feben, und ded wunderbaren Predigers Lehre zu horen, liefen fo Viele gufammen, dab haufig, fo wohl in volfreidhen Stadten, alg auf dem Lande, 80,000 Menſchen verfammelt waren. Obgleich jene Geifelungen oft in der Kalte, im Winde und Regen vorgenommen wurden, erfranfte dod) Niemand danad, welches Viele einem Wunder gleichſchaͤtzten. Damit feine Verwirrung wegen der zuſtroͤmenden Menge entſtaͤnde, ſtellte Vincentius rechtliche Maͤnner an, welche die polizeiliche Aufſicht fuͤhrten, fuͤr die Lebensmittel, Stationen und Her— bergen ſorgen mußten, fo daß aud) die Laien von den Geiſt—

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lichen, die Manner von Ben Frauen abgeſondert wurden. Der heilige Bufprediger, welcher, wie fic) von ſelbſt verfteht, eine Menge von Wundern vervichtete, Todte erwedte, und aud) durch das Wunder der Sprachen fid) auszeichnete (die Garacenen verffanden feine lateiniſche Predigt), foll gegen 40,000 Sffentlide Sunder (Morder, Rauber, Huren u. f. w.) 8000 Garacenen, 20,000 Suden, 100,000 andere Cinder befebrt haben. Wo er anfam, wurde er von den Einwoh— netn in Triumph eingeholt, Niemand arkeitete, wenn er pre: digte, und die Profefforen febten ihre Borlefungen aus. Cr wurde aud) von Furften verehrt, und hatte wns geringen Gin: fluß in Staatsſachen.

§. 51. Der Johannis- und Veitstanz.

Heer hat in feiner meifterhaften Monographie tuber die Tanzwuth eine Reihe von feelenvollen Schilderungen jener furchtbaren Raferei gegeben, welche mebhrere Sabrhunderte hinz durch bei den verfchiedenften Voͤlkern unter mannichfachen For— men gum Auftritt gelangt iff. Wir fonnen ihm hier nur fo weit folgen, al8 ein leidenfchaftlich gefteigerted religidfes Inter— effe cine machtige Molle dabei fpielte. | Mod) waren die Nachwebhen des ſchwarzen Tode3 nicht verſchwunden, und die Graber vieler Millionen faum einge- funfen, als in Deutfdland ein feltfamer Wahn die Gemiithee ergriff, und der gottliden Natur des Menfchen Hohn fprechend, Leib tnd Seele in den Zauberkreis hoͤlliſchen Aberglaubens fortrif. Es war eine Verzuͤckung, die den Koͤrper rounder: bar durchrafte, und Langer als 200 Sahre da’ Staunen der Beitgenoffen erregte, feitdem aber nicht micder gefehen worden ift, Man nannte fie den Dang des heiligen Fohannes odet des heiligen Beit, bacchantifcher Sprimge wegen, mit denen die Kranfen im wilden Meigen fereiend und wuth— ſchaͤumend den Anblic von Befeffenen darboten. Sie blieb nicht auf eingelne Orte befchranft, fondern verbreitete fic, vorbereitet durch die herrfchende Sinnesart, uͤber gan; Deutſch— land und dte norbwefflid) angrengenden Lander, durch den Anblick der Leidenden, wie eine daͤmoniſche Volkskrankheit.

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Sdon im Jahr 1374 fah man in Aachen Schaaren von Mannern und Frauen aus Deutſchland anfommen, die verz cint durd) den gemeinfamen Wahn in den Straßen und Sir: chen dem Volke dies fonderbare Sdhaufpiel gewahrten. Hand in Hand feloffen fie Kreife, und ihrer Ginne anſcheinend nicht madhtig, tangten fie flundenfang in wilder Raferei, ohne Scheu vor den Umffehenden, bid fie erfchopft nicderfielen; dann Flagten fie tiber grofe Beflemmung, und achsten, als ftande ihnen der Tod bevor, bié man ihnen den Unterleib mit Tichern gufammenfdnirte, worauf fie fid) erholten und fret blieben bis gum nadjten Anfalle. Dieſe Ginfchnirung geſchah wegen der Trommelſucht, welche fich nad) dem krampf— haften Toben einftellte, oft Half man aber nod funftlofer mit Fauftfdhlagen und pt ey auf den Unterleib. Waͤhrend bes anges Hatten ſie Erſcheinungen, fie fahen nicht, fie hor: ten nicht, ihre Phantafie gaukelté thnen die Geifter vor, de— ren Namen fie hervorfradyten, und fpaterhin fagten Cinige aus, fie waren fich fo vorgefommen, wie in einem Strom ‘von Blut getaucht, und hatten deshalb fo hod fpringen muͤſ— fen. Andere fahen in ihrer Verzückung den Himmel offen mit Dem thronenden Heilande und der Mutter Gottes, wie denn ber Glaube des Beitalter$ fid) in ihrer Phantafie wun: derfam und mannigfaltig fpiegelte: Waͤhrend fie vaften, fan: gen fie: ,, Here fent Soban, fo fo, vriſch ind vro, Here fent Sohan.”

Wo die KranFheit vollfommen entwidelt war, da began: nen die Anfalle mit epileptifchen Budungen. Die Bebhafteten fielen bewuftlos und ſchnaubend gu Boden, Schaum trat. ihnen vor den Mund, dann fprangen fie auf und hoben den Tanz an mit unbeimliden Verzerrungen. Doc trat das Ucbel ohne Sweifel fehr verfdiedenartig auf, und veraͤnderte fid) nad) Beit und Ort, worüber die nicht aͤrztlichen Beitgenoffen die nothigen Angaben nur unvollftandig aufgezeichnet haben, ge- wohnt mit ihren Begriffen ber die Geifterwelt die Beobach— tung natüuͤrlicher Verhaltniffe gu verwirren.

Mur weniger Monate bedurfte es, um diefe damonifde Krankheit von Aachen aus, wh fie ſich im Juli geigte, über bie .benachbarten Niederlande gu verbreiten. In Littich, Ube

534 recht, Bongern und vielen anderen belgifchen Stadten erſchie— nen die Sohannistanger mit Kraͤnzen im Haare, den Unter= leib mit Tuͤchern umgirter, um ohne Verzug Crleidterung gu finden, wenn nad dem Rafen die Drommelfudt fic ein= ftellte. Die Einſchnuͤrung bewirfte man leidt durd) das Um— dDrehen eines eingeftedten Stoded, Viele gogen aber die Fuß— tritte und Fauftfdhlage vor, wobei es an Hiilfeleiftenden nicht feblte; denn wo dergleichen vorging, da fief das Volk ſchaa— renweife gufammen, um fic) mit gierigen Bliden an dem gtauenvollen Schauſpiel gu weiden. Endlich erregte die an: wadfende Menge der Behafteten nicht weniger Beforgnif, als die Aufmerffamfeit, die man ibnen fcbenfte. Gn Stddten und Dorfern nahmen fie bie Gotteshaufer ein, uͤberall wur- Den ihretwegen Umpiige veranftaltet, ffen gelefen und kirch— liche Gefange angeftimmt, uͤberall Vetwunderung und Ent: feben tiber die Krankheit, deren teuflifchen Ucfprung Niemand beaweifelte. Sn Littid) nahmen die Priefter ihre Bufludt zu Beſchwoͤrungen, und ſuchten dem Uebel, das ihnen gefaͤhrlich gu werden drohte, mit all ihrer Macht gu ſteuern. Denn oft” ftieBen die Befeffenen, zu Schaaren vereint, Verwuͤnſchungen gegen fie aus, und wollten fie tédten, aud) lief man ſich fo von ihnen einfchichtern, daß eine eigene Gerordnung er- ging, Feine andere, als ftumpfe Schuhe angufertigen, weil die Befeffenen einen frankhaften Widerwillen gegen vie Schuh: ſchnaͤbel fundgegeben batten, die bald nad bem grofen Ster- ben im Sabre 1350 in die Mode gefommen waren. Noh mehr wurden dieſe durd) den Anblid der rothen Farbe auf geregt, deren Einfluß auf die erfranften Nerven eine wun- derbare Uebereinftimmung frampfhafter Uebel mit dem 3uftande withender Vhiere erfennen laͤßt, bei den Sohannistangern aber wahrſcheinlich mit Bildern ihrer Verʒückung in Verbindung ſtand. Auch gab es Einige unter ihnen, die den Anblick von Weinenden nicht ertragen fonnten. Daß die Behafteten eine Art von Sectirern waͤren, davon glaubten die Geiſtlichen ſich taͤglich mehr zu uͤberzeugen, deshalb eilten ſie mit der Be— ſchwoͤrung, damit das Uebel ſich nicht unter die hoͤheren Staͤnde verbreite, denn bid jetzt wareh faſt nur Arme ergriffen wor: den, und bie wenigen Wohlhabenden und Moͤnche, die man

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unter ihnen fab, geborten gu denen, deren Leichtfertigheit bem Reiz der Neubheit nicht au widerftehen vermodte, follte diefer aud) vom damonifdhen Schwindel ausgehen. Wirklich Hatten nun aud Bebhaftete unter dem Einfluß geiftlidher Beſchwoͤrungs⸗ formeln geaufert, man hatte den Damonen nur nod einige Woden Zeit laffen follen, fo witrden fie in die Leiber der VGornehmen und Fuͤrſten gefahren fein, und durch diefe den Glerus vernichtet haben. Reden diefer Act, welche die Befef- fenen in einem Zuſtande vernebmen liefen, der mit dem mag: netiſchen Schlafe vergliden werden fann, wurden iiberall ge: glaubt, und gingen mit 3ufaben von Mund gu Mund; defto eifriger fuchten die Geiftlidben, jeder gefabrlidhen Stimmung des Volks guvorzufommen, als ob die beftehende Ordnung der Dinge von dem Unjinn ernftlid) hatte bedroht werden koͤnnen. Shre Bemuhungen hatten Erfolg, denn im 14: Sabhrhunderte war die Beſchwoͤrung ein madhtiges Heilmittel, oder es fand aud) die wahnfinnige Ueberfpannung in der von felbft ein: getretenen Grfchlaffung iby Ende, und fo fah man nad 10 oder 11 Monaten Feine Fohannistanger mehr in den belgifchen Stadten. Doch war dads Uebel gu tief ici aa um fo Leich: ten AUngriffen zu weiden. ; Einen Monat fpater, alS in Aachen, zeigte ſich die Tanz— fucht in Rodin, wo die Bahl der Befeffencn auf mehr als 500 anwuds, und um Ddiefelbe Beit in Mes, wo 1100 Ban: zer die Strafen angefiillt haben follen. Landleute verliefen den Pflug, Handwerkfer die Werkftatte, Hausfrauen den Heerd, um fid) dem wilden Reigen anzuſchließen, und die gewerbreide Stadt wurde der Schauplas verderblichen Unheils. Heimliche Begierden wurden aufgeregt, und fanden nur au bald Gele- genbeit gu wilder Befriedigung, aud) benützten viele Vettler, von Lafter und Elend gedrückt, die wilfommene neue Krank: Heit gu Furgweiligem Erwerb. Madchen und Rnaben entliefen ihren Ueltern und Dienftboten ihren Brotherren, um fic an den Taͤnzen der Beſeſſenen gu ergdgen, und dads Gift der geiſtigen Anſteckung begierig eingufaugen. Ueber 100 unver- Heirathete Weiber ſah man an geweihten und ungerweihten Statten umberrafer, und es zeigte fic) bald, welche Gluth in ihnen gelofcht worden war. Beſeſſene diefer Art genafen dann

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aud) ſehr bald, viele ſchon innerhalb 10 Tagen, anvere blie- ben jedod) unerfattlid), fo daß man fie den ſchwangeren Leib mit Tuͤchern umguͤrten und immer wieder und wieder an den Taͤnzen Bheil nehmen fah. Schaaren verfunfener Muͤſſiggaͤn— ger, welche die Geberden und Zuckungen der Vefefjenen trefflich nachzuahmen verftanden, gogen Unterbalt und Abenteuer fuchend von Ort zu Ort, und verbreiteten das widrige Krampfiibel wie cine Seuche, denn bei Kranfheiten diefer Art werden Empfang= liche eben fo leicht vom Schein, wie von der Wirklicdfeit er— qviffen. Zuletzt verjagte man diefe Unheil bringenhen Gafte, die den Beſchwoͤrungen der Priefter eben fo, wie den Heil- mitteln der Aerzte unzugaͤnglich waren, dod fonnte man in den rheiniſchen Stadten erft nac) 4 Monaten des Bruges und der Lafterhaftigfcit Here werden, die das urfprimgliche Uebel fo bedenflid) vergrofert Hatten. Einmal ing Leben gerufen ſchlich indeß die Geuche weiter, und fand iberreichlide Nab: rung in der Sinnesart ded 14. und 15. Sahrhunbderts, ja aud nod) im 16. und 17. dauerte fie, wenn aud vermindert fort als cine ftehende Geiftedsfranfheit, und erregte in Stadten, deren VBewohnern fie neu war, eben fo wunderbare und vers abſcheuungswerthe Auftritte.

Straßburg wurde von der Tanzplage im Jahre 1418 heim— geſucht. Es war nod derfelbe Wahnſinn unter dem Volfe, wie in den miederrheinifchen und belgifchen Stadten. Ergriffen vom Anbli€ ver Befallenen erregten viele Crfranfende Beforgnif burch wirres und verfehites Benehmen, dann folgten fie unaufhaltfam ben Schwaͤrmen der Vanjenden, die Tag und Nacht durch die Strafien zogen, begleitet von auffpielenden Gadypfeifern und zahlloſen Meugierigen, denen fic bekuͤmmerte Aeltern und Verwandte anfchloffen, zu fehen, wie es den ver: irrten Shrigen erginge. Brug und Verworfenheit trieben aud in diefer Stadt ihr finfteres Spiel, doch fcheint wohl der frank: hafte Wahn vorgeherrfcht gu haben. Deshalb fonnte nur vor: laufig die Religion Hilfe bringen, und in dicfem Ginne nahm fid) der Stadtrath der Unglicfliden menſchenfreundlich an. Man theilte fie in abgefonderte Haufen, und gab ihnen vers antwortlide Auffeher, damit thnen Fein Leides geſchaͤhe, viel: leicht aud) um die Rohheit unter ihnen gu zuͤgeln. Go wur:

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den fie denn gu Fuß und gu Magen gu den Kaypellen ded heiligen Beit nad Zabern und MNotheftein gefihrt, wo ihrer Priefter warteten, um durch das Hochamt und andere hHeilige Gebrauche auf ihre verirrten Sinne gu wirfen. Nach voll: brachtem Gottedsdienfte fuͤhrte man fie im feierlichen Umguge um den Altar, lief fie von ihrem Almofen ein Geringes opfern, und Viele migen durch Andacht und die Heiligfeit des Ortes von ihrem troftlofen Irrwahn genefen fein. Man beachte bier wohl, daB fic) in diefer Beit die Tanzwuth an den Altaven deS Heiligen nicht erneute, daß man von diefem nur Hilfe flehte, und von feiner Wundertharigfeit Genefung hoffte, wel: che aufer dem Bereich) menfchlider Cinficht lag. Die Perfon des heiligen Veit tft hier feinesweges ohne Bedeutung. Cr war ein Knabe in Gicilien, der gur Beit der Diocletia- nifden Chriftenverfolgungen im Sabre 303 zugleich mit Mo— deftus und Crescentia des Martyrerthum erlangte. Seine Legenden find dunfel, und er ware gewif unter den zahlloſen apofryphifden Martyrern der erften Fahrhunderte unbefannt ge: blieben, wenn ihm nidt die Uebertragung feineds Leichnams nad St. Denis und von da nad) Gorvey im Jahr 836 ei: nen hodheren Rang verliehen hatte. Seit diefer Beit geſchahen begreiflid) viele Wunder an feinem neuen Grabe, das zur Be: feftigung des roͤmiſchen Chriſtenthums unter den Deutfchen weſentliche Dienfte leiftete, und Veit wurde bald unter die 14 heiligen Nothhelfer oder Apothefer verfest. Seine Altare mehrten ſich, bas Volk nabhte ihnen in allerlei Noͤthen mit qlaubiger Buverficht, und verehrte ihn als hilfefpendenden Fir: ſprecher. Wie nun aber die Anbetung von diefer Art Heiligen aller hiſtoriſchen Beziehungen entfleidet war, welde von den Prieftern abfichtlig verwifht wurden, fo trug man fid) gu An— fang de8 15. Jahrhunderts, vielleidht auc ſchon im 14. mit der Legende, St. Beit habe, ehe er fic unter das Schwert gebeugt, gu Gott gebetet, er moͤge Alle, die feinen Abend faften und feinen Bag feiern twirden, vor dem Tanz bewabren, worauf eine Stimme vom Himmel vernommen worden ware: » Vite, du bift erhort.” Go wurde St. Beit der Schub: heilige der Vangfichtigen, wie einft St. Martin von Tours der Nothhelfer ber Podenfranfen, der Heil. Antonius der

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am hollifhen Feuer Leidenden und die hHeilige Marga: retha die Juno Lucina der Gebdrenden.

Gs muf dem geneigten Lefer iberlafjen bleiben, bei Heer die Schilderung fruͤherer und fpaterer Tanzplagen in Deutſchland aufzufuden; diefelben verloren in der Folge voͤllig den religidfen Gharafter, und pflangten. fid) als eine epidemi: fhe Tanzwuth eben fo durch) die bloße Nachahmung fort, wie in Stalien mebrere Jahrhunderte hindurd) der Taranti$mus, von weldem Heder gleidhfalls eine meifterhafte Darfteung in derfelben Schrift gegeben hat. Hier intereffiren uns nur nod) die widhtigen Auffcdhliffe, welche er (a. a. O. GS. 10) tiber die Urfaden gegeben hat. Die Beziehung Fohannes des Taͤufers zur Tanzwuth des 14. Jahrhunderts ijt eine gan; verſchiedene. Er war urſpruͤnglich durchaus nidt der Schutzpa— tron der Befallenen, der diefen Befreiung von einem fir Teu— felswerk gebaltenen Uebel verheißen hatte; in der Art feiner Verehrung liegt vielmehr ein twichtiger und recht einleuchten— der Grund der Entwidelung dieſes Uebels. CSeit den alteften Zeiten, vielleicht fdhon im 4. Sabrhundert feierte man feinen Tag mit allerlei -fonderbaren und wwilden Gebrauden, deren urfpriinglid) mythiſche Bedeutung bei eingelnen Voͤlkern durch bingugefiigte heidnifche Ueberbleibfel mannigfad entftelt wurde. So tibertrugen die Deutſchen das ihnen vom heil. Boni: facius verbotene Anzinden der Nodfyr, einen uralten Heid: niſchen Gebraud, auf die Feier des Fohannisfeftes, und ed hat fic) nod) bid auf Ddiefen Dag der Glaube erhalten, dag Menſchen und Bhiere, die durch diefe Flammen oder ihren Raud hindurdfprangen, von Fieber und anderen Mranfheiten, wie durch eine Art von Feuertaufe, ein ganzes Jahr lang ge: ſchuͤtzt wuͤrden. Bei diefer heidniſch-chriſtlichen Feier ging es nicht ab ohne bacchantiſche Tanje, die durch aͤhnliche Urſachen bei allen BWolfern der Erde veranlaft worden find, und obne wilde Ausfehweifungen der gereigten Cinbildungsfraft. Nun waren es nidt blos bie Deutſchen, die das Feft Fohannes des Taͤufers mit Ausbruͤchen fanatifcher Raſerei begingen, auch von den ſuͤdeuropaͤifchen und aſiatiſchen Voͤlkern kaͤßt ſich Aehn— liches nachweiſen, und es iſt mehr als wahrſcheinlich, daß die Griechen einen Theil ihrer Bacchusmyſterien auf den Tag des

aud) von den Mohamedanern hochgefeierten Tugendpredigers uͤbertragen haben, eine Verkehrtheit, die ſich in menſch— lichen Angelegenheiten nur allzuoft wiederholt. In wiefern hierbei das Andenken an die Todesgeſchichte des heiligen Jo— hannes von Einfluß ſein konnte, wollen wir gelehrten Theo— logen zu entſcheiden uͤberlaſſen. Hier bleibt es nur noch von Wichtigkeit anzufuͤhren, daß noch bids auf dieſen Tag in Abyſ— ſinien, einem von Europa durchaus abgeſchiedenen Lande, wo das Chriſtenthum in uranfaͤnglicher Einfachheit gegen den Is— lam ſich bewahrt hat, Johannes als Schutzheiliger der von krampfhafter Tanzſucht Befallenen gefeiert wird. Hiſtoriſcher Zuſammenhang laͤßt ſich in dieſe Bruchſtuͤcke aus dem Reiche der Myſtik und des Aberglaubens nicht bringen; wenn wir aber bemerken, daß die erſten Taͤnzer in Aachen mit dem Na— men des heiligen Johannes im Munde im Juli erſchienen, ſo liegt die Vermuthung nahe, daß die wilde Feier des Jo— hannistages im Sabre 1374 die Veranlaſſung zu der geiſtigen Seuche gegeben habe, die von jebt an fo viele Tauſende mit heillofer VWerkehrtheit und widrigen Vergerrungen des Koͤrpers Heimfudhte.

Dies wird um fo wabrfdeinlider, da einige Monate vorher die Rhein= und Mofelgegenden grofe Unglicsfalle er: litten batten. Schon im Februar waren beide Fliffe hod aus ihren Ufern getreten, die Mauern der Stadt Koln an der Rheinſeite ftiirsten gufammen, und febr viele Ortſchaften geriethen in dad duferfte Elend. Hierzu fam der troftlofe Buftand des weftliden und fudlidhen Deutfchlands: fein Ge: fes, fein Machtſpruch fonnte den unablaffigen Fehden der Burgherren fteuern, und namentlich ſchienen in Franken die uralten Beiten des Fauftrechts wiedergefehrt gu fein. Sicher— heit des Eigenthums war nirgendé, freche Willkuͤhr herrſchte iiberall, verderbte Sinnesart und robe Kraft fanden nur bier und da ſchwachen Widerftand, wobher es denn fam, daß die graufamen aber eintragliden Subdenverfolgungen nod) died ganze Sahrhundert hindurd) an vielen Orten mit hergebrachter Wild: Heit wiederholt wurden. An Elenden und Niedergefchlagenen fehlte eS alfo nirgends im weftliden Deutidland, am wenig: ften in ben Rheingegenden, und erwagt man nod auferdem,

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daß unter den Schaaren derfelben nod) Viele umberirrten, de— ren Gewiffen von dem Bewußtſein begangencr Greuel wah: rend der ſchwarzen Peft gefoltert wurde; fo wird es begreif- lich, wie ihre Verjweiflung im Rauſche einer hergebracdten Raferei fic) Luft gu machen ſuchte. Es iſt hieraus mit gu: tem Grunde anzunehmen, daß die wilde Feier de3 Johannis— tages im Sabre 1374 ein lingft vorbereitetes Uebel nur zum Ausbruch gebradt hat, und wollte man weiter forſchen, wie ein bis dabin unſchaͤdlicher Gebrauch, der wie viele andere nur den Aberglauben unterhalten hatte, in eine fo große Krank— heit augarten fonnte, fo liegt es nabe, die ungewoͤhnliche Spannung der Gemiither, und die Folgen von Mangel und Noth in Anſchlag gu bringen. Gerade der Unterleib, der bei Vielen durch Hunger und ſchlechte Nahrung gefchwadt war, wurde bet den Meiften von angftvollen Leiden befallen, und die Trommelſucht deutet dem umfichtigen Argte auf eine wohl gu beachtende Urfache ded Uebels.

Gilftes Kapitel. Cpidemie des religidbfen Wabhnfinns bei Kindern.

Daf aud) Kinder, felbft im garteften Alter bet den mei— flen bisher betrachteten religidfen Epidemieen eine nicht unbe- deutende Rolle fpielten, ift in ihrer Darſtellung gebuͤhrend her— vorgehoben worden. Wir haben in diefer Bhatfache abermals cinen fchlagenden Beweis von der furchtbaren Gewalt, welche die religidfe Schwaͤrmerei auf die Gemither in einem folden Grade ausubt, daß fie felbft die tieffte Grundlage der Men: fhennatur gu erfchiittern und umguftirzen vermag, wie died aus nadfolgenden Betradhtungen nod mehr erhellen wird. Auf ten erften Blick Fonnte es freilich fcheinen, als ob gerade um: gekehrt das unbedingte Vorherrfchen des Nachahmungstriebes im Findlichen Gemiithe daffelbe vorzugsweiſe fir den Einfluß maͤchtiger Aufregungen empfanglic) maden muͤſſe. Denn fost

541 man die Gefammtheit der Gemuthsthatigfeit des Rindes ind Auge, fo laͤßt fich nicht verFennen, daß diefelbe faft ausſchließ— lid) durd) den Nachahmungstried beftimmt und geleitet wird, und deshalb des Charafters der eigenmadhtigen Selbftbeftim: mung, alfo der Selbftftandigfeit ganglic) ermangelt. Der na: turgemafe Grund diefer allgemein befannten Thatſache lagt fid) auch leicht einfeben. Da der Menfcdh nicht gleid) dem Thiere durch einen untriglichen Inſtinct geleitet wird, def: fen Antrieben er- nur zu folgen brauchte, fondern da fein ganzes Seelenleben den Sigel und die Richtſchnur in der Re- flerion finden muff, wobdurd er allein befahigt werden Fann, fic) den zahllos verfchiedenen Verhaltniffen feines Wirkens an: zuſchmiegen, und mit ibnen feine Entwidelung in moglichfte Uchereinftimmung gu bringens fo folgt hieraus fdon von felbft, daß er nicht eher felbftftandig werden fann, als bis er die ndthige Verftandesreife in einer hinreichenden Ausbildung fei- ner Denffrafte und in einem gentigenden Befig von Lebens— erfabrungen gewonnen bat. Beide Bedingungen fehlen bem Kinde gaͤnzlich, daffelbe findet daher in fic) nicht eine Spur . von Regel und Maas in der Veflimmung feines Wirkens, fondern Ddiefe miffen ibm durch die Erziehung gegeben. wer- den. Ferner muß das Mind die Empfanglicfeit fir alle Lebensintereffen berwahren, won denen keins in ihm erftidt werden darf, damit nicht von vorn herein eingelne Neigungen cin vorherrſchendes Uebergewicht uͤber die anderen erhalten und dadurch den unjerftorbaren Grund gu den unbefiegbarften Lei: denfchaften Tegen. Ga dieſe EmpfanglichFeit muß fogar fo groß fein, daß fie nicht einmal durch eine verfebrte und ein: feitige Grziehung, welche das Kind unfehlbar auf Abwege verleiten wiirde, gerftort werden Fann, denn nur unter diefer Bedingung ift es moͤglich, daß fein Gemisth die Fehler ciner ſchlechten Erziehung moglidft twieder gut macht, indem es die Organe fiir feine allfeitigen Beftrebungen lebendig erhalt. Wie ware es fonft wohl denfbar, daß der Giingling Gigen: fchaften des Charakters entwideln könnte, welde oft in dem ſchneidendſten Widerfprud) mit den Sweden feiner Aeltern und Lehrer fiehen, wenn nicht Neigungen in ihm rege geblieben

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waren, weldje fie nicht mit allen Mifgriffen einer Padagogif in ihm erftiden fonnten.

Es ift alfo durd) eine unjerftirbare Naturcinricht fiir geforgt, daß die wechſelnden Ginfliiffe des Lebens findliche Gemitth auf allen Punkten berihren, und die im” fhlummernden Anlagen und Krdfte zur Entwidelung b in oder mit anderen Worten, daß in ibm alle Neigungen den verſchiedenen Graden und Zuftanden ihrer Thaͤtigkeit ben mannigfachen Werhaltniffen ihres Zuſammenwirkens wedt werden, weil bierin die urfpriinglide Bedingung * emer naturgemdfen Cntwidelung des Geelenlebend gegeben Mun find aber alle Neigungen des Kindes bids zur vodllig Kormlofigfeit unbeftimmt, denn fie treten nicht als deu erfannte 3wede in das Bewuftfein, da erft die viel ſpaͤ— MReflerion ihre wefentlicdhe Bedeutung einfehen, ſie dadurch nothwendigen Antrieben des Denfens und Handelns machen, und die Mittel gu ihrer Befriedigung mit Ucberlegung aus wahlen fann. Alfo indem das Kind fid ruͤckſi chtslos ſeinen Neigungen hingiebt, folgt es einem bewußiloſen, gleich ſam automatiſchen Drange, welchen man eben deshalb einen in— ſtinetmaͤßigen nennen koͤnnte, wenn ihm nicht das Weſen des Inſtincts, naͤmlich die feſte und ſichere Regel durchaus fehlte, durch welche es genau innerhalb der naturgemaͤßen Schranken erhalten werden ſollte. Jedes Wirken der Geiſtes- und Ge— muͤthskraͤfte ohne beſtimmt gedachten Zweck ſteht als ein der Reflexion kaum unterworfenes im vollſtaͤndigen Gegenſatze zum eigentlichen Handeln, und wird demnach mit dem Worte Spiel bezeichnet, deſſen Bedeutung darin enthalten iſt, daß die Kraͤfte um ihrer ſelbſt und ihrer eigenen Uebung willen ſich in Tha tigfeit feben, ohne daß diefelbe in die von einem duferen Zweck bhedingten Grenzen eingefchloffen wiirbde. Mrafte, welche sur voliftandigen Entwidelung gelangen follen, miffen nicht fofort einer Dreffur nach willfiirliden Regeln unterworfen werden, fondern threm freien Untriebe folgen, tn welchem die bewegende Feder ihres Wirfens liegt. Daher muß die Ents widelung ded Findliden Geiftes und Gemiths unter der Ge: ftalt des Spiels oder der fcheinbar gwedlofen Thatigfeit be: ginnen; es follen nicht beſtimmte Abſichten erfuͤllt, nicht aͤußere

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GErfolge gu irgend einem unmittelbaren Nutzen erreicht werden, fondern die Seele foll in allen ihren Organen zur - regften Lebendigtcit erwaden, um im freudigen Bewuftwerden der: felben den Zweck ihrer fpateren Beftimmung gu abnen und eine liebende Sehnſucht nad derfelben empfinden gu lernen. Jene Spiele der Kinder aber, wenn fie nicht ganz bedeutungé- los bleiben, nicht die Anlagen der Seele verwirren und zer— ruͤtten follen, miffen eine beftimmte Beziehung auf das fpa: tere, ihnen nod) voͤllig unbefannte Leben haben, damit das Kind fic wenigftens traumend und vorahnend in daffelbe hin: einlebt, und in dunklen Gefuͤhlen dasjenige lieb gewinnen lernt, was ihm feinem wabren 3wed nad) nod) gang unbegreiflicd bleibt. Daher ahmt das Kind in feinen Spielen Alles nach, was es an Grwachfenen fieht, es affectirt fogar deren Ernſt in poſſierlicher Naivetdt, um foviel an ihm ift wenigftend als Schaufpieler fic) in feine kuͤnftige Rolle hineinguftudiren, welche es Flinftig wirflid) durchfuͤhren ſoll. Das findlide Bewußt— fein ift folglic) ein treuer Spiegel, in weldem fic) die Bil- der ſeiner ganzen Umgebung abzeidnen, und indem diefe Bil: der an die Oberfladhe feiner noc) unaufgeſchloſſenen Seele tre- ten, weden fie fdon deren mannigfadhe Krafte, damit deren Entwidelung beginne, und fie fir ihe kuͤnftiges Wirken vor: bereite und eintibe.

Hierin iff der holde Zauber und die Hohe Poefie des findlichen Bewußtſeins begruͤndet, in fofern es als dramati- ſches Spiel das Leben mit allen feinen Verhaltniffen zur bild: liden Darſtellung bringen foll, welche deshalb einen idealen Gharafter an fic) tragt, weil fie nicht auf den duferen Nu— ten, nicht auf Erreichung beftimmter Zwecke gerichtet, aus: fchlieBlid) ihre Bedeutung darin findet, daß fie das Leben felbft in feiner mannigfadhen Crfcheinung zur Wahrnehmung und Grfenntnif bringe, und fomit den Menſchen uͤber fic felbft gur Befinnung fibre, dagegen er im Drange des han— delnden Lebens nur alljuoft fich fo fehr in die dufere Welt vertieft und verliert, daß er durchaus ein Frembder in feinem Innern wird, und deffen Geſetz und Bedürfniß nicht mehr verfteht. Aber aus demfelben Grunde, warum die Schau: bine, um dad Leben in dem ganzen Reichthum feiner Er:

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fcheinungen zur Anfdauung zu bringen, ihre Darftelungen immerfort wedfeln muß, und nichts Wibderfinnigeres gedacht werden fonnte, als ein Bheater, auf welchem immer Tur daffelbe Drama aufgefiihrt wirte, mus aud die Schaubiihne des Findliden Bewußtſeins fid) gu immer neuen Darftelungen umgeftalten, da ihm noch Feine beftimmte Rolle befchieden. iff, fondern ihm die Fabigfeit fur eine große Zahl derfelben bei der Auswahl eines fiinftigen Berufs erhalten bleibe. Dieſer flete Wechſel in der Geftaltung des fFindlidhen Bewuftfeins bildet daher feinen wefentlicften Charafter in einem fo hervor— ſtechenden Grade, daß jede Cinformigfeit feines Wirkens fchon geradezu einen franfhaften 3uftand bilbet, wogegen das Rind einen fo tiefen Abſcheu empfindet, daß eS mit feinem ganzen Wefen fid) gegen eine Dreffur ftraubt, welche feine proteifchen Regungen in pedantifche Formen eingwangen will. Faßt man diefe Cake, welche fid) Sedem durch einen Ruͤckblick in feine Kindheit durchaus beftatigen. werden, in ihrer vollen Bedeu- tung auf; fo liegt in ihnen jugleid) der Beweis, daß das Kind fir die cigentliche Leidenfchaft vollig unfabig ift, welche in ifm nur durd eine gaͤnzliche Entartung feiner Naturein- ridhtung bhervorgebracdht werden fonnte. Denn im vollftandis gen Widerfprud) mit dem fFindlichen Gemithe iſt Leidenfchaft tas despotiſche Vorherrfchen einer Neigung uͤber alle uͤbrigen, und die dadurch bedingte ftarre Conſequenz und Ginfeitigfeit tes Denfens und Handelns nach einem dominirenden Zweck mit Ausflug aller anderen Beftimmungégrinde. Mur bis zu beftigen Affecten, felbft mit Franfmachendem und wobl gar toͤdtlichem Erfolge, fann das Kind im ungeftiimen Gefuͤhls— Drange fortgeriffen werden; aber der Sturm tobt ſchnell aus, und das Gleichgewidht der Mrajte kehrt fo bald zuruͤck, daß der naͤchſte Zag nach einer Hinreichenden Nachtrube faum mehr cine Spur von der geftrigen Erfchittterung wahrnehmen aft. Denn dite Natur waltet nod) mit mitterlicher Gorgfalt. und fhiugender Macht fiber das Kind, um daffelbe unverfebrt durch bie Bhorheit und Sdhlechtigfeit des Lebens hindurchzu— führen, damit es nidt von den Sinden der Ygitern unwider- ftehlic) ing Berderben geriffen werde. Wer nur des Segens einer unverdorbenen RKindheit theilhaftig wurde, der Fann nic

545 fo gang entarten, daß nicht immer nod beffere Regungen in dem leidenfchaftlidhen Drange fpdterer Jahre erwadten, um feine Umkehr gum Guten moͤglich gu madden.

G8 bietet fid) uns aber noch eine andere Betracdhtung dar, welde im Mindesalter die Entftehung der Leidenſchaft faft unmdglid) macht. Letztere fest naͤmlich jedeSmal die ſte— tige Richtung des Denfens auf einen beftimmten Zweck vor: aus, und fordert daber eine dialeftifde Fertigkeit, ja felbft Virtuofitat des VWerftandes, um das unermeßliche Heer der Vorftelungen jenem Zwecke unterwirfig gu machen. Das Kind fann wohl wigig im fluͤchtigen Ergreifen hervorfpringens ber Aehnlichfeiten der Vorftellungen, gelegentlich ſelbſt fdarfe finnig im Auffinden ihrer feineren Unterfchiede fein; beides aber nur in Bezug auf ihre rein finnliche Form, niemals in Betreff ihrer tieferen inneren Bedeutung. Gigentliche Dialet: tif im finftliden Zergliedern und Verknuͤpfen der Vorſtellun- gen nad) ihrem wefentlidben Gehalte iff bem an die Anſchau— ung gefeffelten Findliden Verſtande unmodglid), denn fie febt jene, nur durch felbftftandiges Denken erworbene Fertigfeit voraus, von den Borftellungen thre ſinnliche Hille abzuſtrei— fen, um ihren Inhalt in abftracte Begriffe gu verwandeln. Dazu wird aber eine Energie der Denkthatigfeit erfordert, de: ren UAnftrengung die zarte Organifation des kindlichen Gehirns geradezu zerſtoͤtr, und dadurch den Grund zu unbeilbaren, toͤdtlichen Kranfheiten des ganzen Koͤrpers legt, indem fie die Entwidelung des LebensprincipS in eiferne Feffeln ſchlaͤgt. Ich habe mic uͤber die ſchreiende Gerfiindigung der Pada: gogif gegen das kindliche Leben, deffen Triebfedern durd die wahnfinnige Gitelfeit, fammtlide Kinder in Profefforen - Weis: heit ecingufchulen, fiir immer geldbmt und gebroden werden, in meiner Didteti€ auf eine fo nachdrückliche Weiſe erklaͤrt, daß id) mich hier darauf besiehen darf*). Nun ift gwar die

*) Die Natur ſcheint gwar zuweilen felbft von ihrer Megel abzuweichen, indem fie in cingelnen Fallen den geiftigen Entwidelungéstrich ſchon in friiher Rindheit fo mächtig hervortreten läßt, daf daraus die Ere ſcheinung der frühreifen Genies entfpringt, welche mit der Geiftes- capacitdt reiferer Manner wetteifern. Indeß wohl in den meiften,

Soeler Theorie d. relig. Wahnſinns.

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Dialektik der Leidenfchaften allerdings keine akademiſch arifto- teliſche nach dem Kategorieen einer kunſtgerechten Methode;

Fallen lagen Krankheitsbedingungen jum Grunde, oder wurden ihrer— feité Durd) das Mifiverhaltnif der geiftigen Anftrengungen ju der gars ten und unreifen Organifation des Körpers hervorgerufen, daher denn die meijten Wunderfinder bald dahin welften und ftarben. Go er wadte in Pascal ſchon in feinen Knabenjabren cin fo augerordent- liches mathematifdes Talent, daf er die erften Lehrſätze des Euklid durch cigenes Nadhdenfen auffand, und fdon als Sungling ju den ausgezeichnetſten Mathematifern feiner eit gehörte. Indeß bald wurde fein Leben eine ununterbrochene Rette der heftigften Krank— heits beſchwerden, welche ihn nach unſäglichen Seiden im 39. Fabre ins Grab ftiirjten, und feinem Gemüth cine tribe ascetiſche Richtung ga- ben, welche felbft von feinem mächtigen Geifte, der ſich in feinen Provinjialbriefen cin unvergdnglides DenEmal gefest hat, nicht bers rounden werden fonnte. Sehr chara€teriftifd ift noch der Umftand, daß er unbefchadet feiner geiftigen Birtuofitdt während der letzten 8 Lebensjahre unaufbérlid von der Viſion cines flammenden Abgrundes an feiner linfen Seite gefoltert wurde, wozu ein beftiger Schreck bei ber Gefahr, ins Wafer gu ſtürzen, Weranlaffung gegeben hatte. Hecquet hat (a. a. O. Bh. 2% S. 62 65) cine Reihe ähnlicher Beifpiele von ungewöhnlich ſchneller Entwidelung der Geiftestrafre sufammengeftellt, welche id) Der Merkwürdigkeit wegen mittheile. Fn Lübeck wurde 1721 cin Kind geboren, welches 1725 ftarb. Daffelbe fptad) im 10. Monate, mit dem 1. Sabre wußte es die widhtigiten Ereigniffe im Pentateud), im 13. Monate die Gefchichte des alten Bee ftaments, im 14. des neuen. 2'/, Jahre alt befaf e6 geographifche Kenntniffe, bald darauf fprad es Latein, dann Franzöſiſch und fannte am Ende des 3. Jahres die Genealogie der vornehmften Haufer Euros pas. Es lernte ſchreiben, ehe e6 Faum die Feder halten fonnte, war aber oft krank, und ftarb mit einer driftliden Standhaftigkeit, welche nod) mehr Berwunderung erregte, als feine Geiftesentwidelung. Der Cardinal Lugo fonnte ſchon im 3. Jahre lefen, Daf fo fing vor bem 3. Sabre an, Grammati€ gu ftudiren, und verftand im 7. Fabre ſehr gut Latein und cin wenig Griedhifh. Der Spanier Herman: des konnte fdon vor dem 7. Sabre ſehr gut die griechiſche, lateini« fhe, franzöſiſche, italienifche und fpanifhe Sprache. Im Sabre 1703 lebte cin Kind, weldes die ganze Gefchichte des alten Veftaments inne hatte. Ja cinem Klofter fand es Flitterpug, und hüpfte um dens felben mit den Worten: ,, fo tangten die Israeliten um das goldenc Kalb.” Ein junger Mann wiederholte 36000 Namen in derfelben Ord- nung, welde er nur einmal gehört hatte. Die Königin Eliſabeth von England fdrich ſchon im 4. Jahre einen merfwiirdigen Brief.

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aber fie fest doc) jedesmal eine Fertigfeit im abftracten Den: fen voraus, ohne welche die Mannigfaltigfeit der Perfonen, Dinge und Verhaltniffe nidt in uͤberſichtlichen Zufammenhang gebradt werden fann. Gine Leidenfhaft, welche nicht durch eine ſolche Dialektik beginftigt wird, muß fofort in felbft serftorenden Ungeftim audsarten, weil in Grmanglung einer gentigenden Reflerion nicht die Mittel gur Erreichung ihres Bweds aufgefunden twerden fdnnen, fondern letzterer durd plantofes und verfehrteS Handeln vernidtet, fie felbft alfo ihrer Befriedigung beraubt werden muf. Geſetzt alfo, Kin— der fonnten aud) unter gewiffen Bedingungen dergeftalt ihr Maturell verleugnen, daß ihr Gemisth die bleibende Richtung auf eine Leidenſchaft nahme; fo wuͤrden fie doch bald durd diefelbe gu finnlofen Handlungen angetrieben werden, und fid) dadurch entweder ing Gerderben ſtuͤrzen, oder nod zur rechten Zeit in ihrer Gefihlshibe abgekuͤhlt werden.

Werfen wir nun nach diefen Betradtungen einen Blick auf die im Borgen mitgetheilten zahlreichen Beifpiele von Kindern, welche durch das fie umgebende Schaufpiel religidfer Graltation fortgeriffen gleichfalls in Krampfe verfielen, und felbft Reden improvifirten, welde mit der geiftigen Capacitdt ihreS Alters im vodlligen Widerſpruch ftehen; fo miffen wir befennen, daß Manches hierbei nicht aufgeflart werden fann, weil niemal8 hinreichend unterrictete Beobachter zugegen was ren, welde die grofen Liden ihrer Mittheilungen auf eine befriedigende Weiſe hatten ausfillen fonnen. Sie haben und nur abgeriffene Bruchftide gegeben, welche immer nod dha: rafteriftife) genug find, um die forgfaltigfte Beridfidtigung yu verdienen, aber doc) den inneren 3ufammenhang dev Gr- fheinungen und ihre wefentlidhbe Bedeutung faft nur abnen

Morel von Barcelona (1604) verſtand im 12. Jahre Latein, Gries chiſch, Hebräiſch, und disputirte in Lyon über Logifthe und metaphye fifthe Thefen. Antontano, ſpäter Cardinal, überreichte faum 12 Jahre alt eo X. einen Blumenftraugs mit einem improvificten Gee dichte. Leo gab ihm bas Bhema ciner fdlagenden Uhr, uber wels ches er cin langes und fchines Gedicht improvifirte, welches aufbes wahrt worden ift. 35*

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laffer. Zu einem grofen Theil werden fie freilidh burch den Drang der Umftdnde entfdhuldigt, denn inmitten eines raſen— den Volkshaufens ift keine Moͤglichkeit zur unbefangenen pfs chologiſchen Forſchung vorhanden, welche den Entwickelungs— gang eines -jeden individuellen Seelenguftandes nad allen Ride tungen und Ausgangen verfolgen foll. Wir miiffen uns alfo in unfrer Deutung auf einige allgemeine Bemerfungen be: ſchraͤnken, welche ihren Gegenftand lange nit erſchöpfen fone nen. Am leichteften erflarlid) iff nod) die Fortpflanjung der Gonvulfionen der Erwadfenen auf die Kinder, deren fo über— aus maͤchtiger Nachahmungstrieb fiir fie eine hohe Gefabr be- dingt, beim Anblid von Krampfen anbderer Perfonen gleic: falls mit denfelben bebaftet gu werden. Die Wahrheit die: ſes Satzes wird durd) uͤberaus zahlreiche Thatſachen beftatigt, welche in den Annalen der Medizin verzeichnet ſind. Um nicht die nothwendigen Grenzen dieſer Darſtellung zu uͤber— ſchreiten, will ich mich auf ein einziges Beiſpiel dieſer Art beſchraͤnken, bei welchem ein daͤmoniſcher Einfluß vorausge— ſetzt wurde.

Wyer berichtet (a. a. O. S. 296) Folgendes. Zu Ende des Winters von 1566 wurden die meiſten Findelkinder im Waiſenhauſe zu Amſterdam von Convulſionen und Irrere— den befallen. Dreißig Knaben und Maͤdchen, nach Anderen 70 boten das abſchreckendſte Schauſpiel dar; ſie fielen ploͤtzlich zu Boden, und waͤlzten ſich wie Beſeſſene eine halbe oder ganze Stunde in Kraͤmpfen. Nach den Anfaͤllen, welche zu unbeſtimmten Zeiten wiederkehrten, glaubten ſie getraͤumt zu haben, und wußten nicht, was vorgefallen war. Aerztlicher Beiſtand gewaͤhrte ihnen keine Erleichterung, man hielt ſie daher fuͤr beſeſſen, und nahm ſeine Zuflucht zu Gebeten, Be— ſchwoͤrungen und Exorcismen. Die Kraͤmpfe dauerten fort, und bald gaben die Kinder durch Erbrechen Naͤgel, Nadeln, Flocken von Wolle, Lumpen, Stuͤcke von Haut u. dgl. von ſich, welche ſie heimlich verſchluckt hatten. Calmeil entlehnt noch aus einer anderen Quelle (a. a. O. Th. 1. S. 266) die Notiz, daß die Kinder wie Katzen auf die Mauern und Daͤcher kletterten, und einen entſetzlichen Anblick gewaͤhrten.

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Gie redeten fremde Sprachen, und wuften, was an entfernten Orten geſchah. Da fie furchterliche Gefichter und fonderbare Stel: lungen vor den Thuͤren gewiffer Frauen zeigten, fo hielt man lebtere fir Deren. Selbſt nachdem fie von ihrem Uebel be: freit waren, follen fie fiir ihr ganged Leben ſchlimme Folgen davon getragen haben.

Weit ſchwieriger ift ſchon die Entſcheidung, ob die effta: tifthen und prophetifcden Aeuferungen der Kinder ausſchließ— lid) als Producte ihres Nachahmungstriebes angufehen find, in fofern fie nur ald blofed Echo den reinen Wieder: hall der gehorten Worte geben. Daß fie oft vernommene Phrafen leicht wiederholen fonnten, ohne damit einen tieferen Ginn gu verbinden, begreift fic) freilic) ohne Muͤhe, erflart aber meines Erachtens nidt Wes. Denn man muß fic den Nachahmungstried nidt als einen todten Mechanismus denfen, welder nach phyfifthen Gefeben bie mitgetheilte Bewegung unverandert reproducirt, etwa wie auf einem muſikaliſchen Sn: firumente auger den angeſchlagenen Gaiten auch die ubrigen in leiſe tonende Schwingungen gerathen; fondern indem bie nachahmende Geele fic) die frembden Buftdnde aneignet, um fid) in fie gu verſetzen, verarbeitet fie diefelben nach ihrer in: dividuellen Gigenthimlicfeit. Go find alfo aud) die nachah— menden Spiele der Minder Feineswegs bedeutungslofe Repro: buctionen frember Lebensaͤußerungen, fondern durch fie werden die eigenen Seelenfrafte gewedt, und in eine ihren Anlagen gemaͤße Selbjtthatigfeit verfest, widrigenfalld fie niemals ju einer eigenmaͤchtigen und fortfchreitenden Entwidelung gelangen fonnten. Der aufmerffame Beobachter fann daher an den Spielen der Kinder leicht die Verfchiedenheit ihres Naturelles und die dadurch bedingte CigenthiimlichFeit ihres kuͤnftigen Gharafters erfennen, namentlic) ob fie mit ganger Seele daz bet thatig find, oder ob fie das Spiel nur als einen mifigen Beitvertreib an der Oberflache ihres Bewußtſeins voriberglei- ten laſſen, ohne dadurd in ihrem Gnnern tiefer bewegt gu werden. Aud) das Kind ift fehr ftarfer und inniger religid- fer Gefiihle fabig, und fann daher durch eine madtige Auf: tegung derfelben in eine Gemithsfpannung verfest werden, welde weit über feine Sabre hinausgeht. Da in jenen reli:

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gidfen Epidemieen eingelne Kinder wirFlide Dheophanieen und antere Viſionen und Sinnestaufchungen hatten, da ibr gan: zes Wefen in einen pathetifchen Schwung verfebt wurde, wel: cher in hochtonenden Declamationen, Geftifulationen, ſchwaͤr— merifchen Gefuͤhlsausbruͤchen sur Erſcheinung fam; fo fest dies Alles mehr als mechanifche Nachaͤffung voraus, und laͤßt mit Sicherheit auf cine wirflid) leidenſchaftliche Steigerung ihres dDammernden religidjen Bewußtſeins zurückſchließen, fir deffen fcharfere Bezeichnung uns indeffen alle Nachrichten fehlen, da: her fic) aud) nicht angeben laft, welche Folgen daraus fir fie hervorgingen.

Indeß befinden wir uns doch bei der Gefchichte der bis— her betrachteten religidfen Epidemieen in Bezug auf die Theil: nabme ber Kinder daran nod in fofern auf feftem Grund und Boden, als ihnen das erfchitternde Drama der frommen Ra: feret in ihrem ganzen Lebensfretfe unter den furdtbarften Er— fheinungen zur Anfchauung fam, und fie unaufhaltfam in die Wirbel der Alles verfhlingenden Fluth fortrif. Aber gang rdthfelhaft bleibt jeneds denfwirdige Ereigniß, welded Heder, ausgeriftet mit umfaffender kritiſch hiftorifther Ge— lebrfamfeit aus den Quellen dargeftellt hat in feiner Schrift: „Kinderfahrten. Cine hiſtotiſch-pathologiſche Sfizze”. Denn hier wurden zahlloſe Kinder von einem Schwindel ergriffen, und wie von einem Orfan mit weg aus ihrer Heimath ge: fchleudert, obne daf dem Anfchein nach eine obwaltende fana- tif) wilde Aufregung der Aeltern dazu eine unmittelbare Ver: anlaffung gab. Wir wollen uns fir jest aller weiteren Bee trachtungen dariiber enthalten, und uns darauf befdranfen, Heckers meifterhafte Scilderung treu wiederzugeben.

§. 58. Die Kinderfabhrten.

Die grofartigfte Erfcheinung diefer Art, der die Gefchichte iberhaupt nichts Aehnliches sur Seite feben fann, war der Knabenkreuzzug vom Jahre 1212. Jn diefer Beit war das heilige Land bekanntlich fchon langft wieder unter die Herre ſchaft der Saracenen gefommen. Der Schmerz uͤber diefen Verluft und mit ibm die Sehnfucht nach dem Wiederbefig des

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theuerften Gutes der Chriftenheit verbreitete fid) mit erneuer: ter Snnigfeit und Gewalt unter alle Voͤlker des Abendlandes. Den erften Anſtoß gab ein Hirtenfnabe Etienne aus dem Dorfe Cloied bei Vendome, von dem fic) wunderbare Erzaͤh— lungen mit unbegreiflider Gchnelle uͤber gang Frankreich ver: breiteten. Gr hielt fic fiir einen Abgefandten des Herrn, der ihm in Geftalt eines unbefannten Fremden erſchienen fei, pon thm Brot angenommen, und ihm einen Brief an den Konig eingehandigt habe. Seine Schaafe follten vor ihm niedergefniet fein, um ifn mit einem Heiligenfdein gu um— geben. Die Hirtenfuaben der Umgegend verfammelten ſich um ifn, und bald ftromten uͤber 30000 Menſchen zufammen, um feiner Offenbarungen theilhaftig zu werden, und durd feine Reden in Vergiiddung gu gerathen. Jn St. Denys wirfte er Wunder, er war der Heilige des Bages, der Gott- gefandte, vor bem bas Golf die Kniee beugte, und ald der Konig, beforgt ob dieſes Taumels einer unabfehbaren Menge, aber nicht ohne die Hochſchule von Paris befragt gu haben, die Verfammlungen verbot, fo achtete Niemand der weltlichen Macht. Taͤglich erhoben fic) neue 8- oder 10jahrige Prophe- ten, predigten, wirften Wunder, begeifterten, und fuͤhrten ganze Heere verzuͤckter Kinder dem heiligen Stephanus gu. Sragte man diefe Knaben in Pilgerroden, wohin fie wollten, fo antworteten fie wie aus einem Munde: gu Gott. Bhren geordneten Zuͤgen wurden Oriflammen voraufgetragen, viele erfcienen mit Wachskerzen, Kreuzen und Raudfaffern, und fie fangen unablaffig Hymnen in begeifterter Andacht und nad neuen Weifen, in denen die Worte oft wiederfehrten: ,, Herr, erhebe die Chriftenheit” und ,, gieb und da8 wahre Kreuz tvieder.”

Die VBeftirzung der Aeltern uͤber diefe Begebenheit war ohne Grenzen. Meine Ueberredung, nicht die Bhranen, die Vergweiflung der Mitter fonnten die Knaben zuruͤckhalten. Sanden fie Hinderniffe, fo weinten fie Zag und Nacht, verfie- len in verzehrenden Gram und erfranften mit Bittern der Glie- der, fo daß man fie endlich ziehen lief. Andere fpotteten der Schloffer und Riegel und wuften die tvadfamften Warter zu tberliften, um fic) den Stellvertretern des Hir— tenfnaben Stephanus anzuſchließen, und dieſes heiligen

Ideler Theorie d. relig. Babnfinns. 36

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Kreuzprieſters endlich ſelbſt anſichtig zu werden. Auch war fein Unterſchieid des Standes. Die Kinder der Grafen und Barone entflohen wie die Sdhne der Birger und die arm: lichſten BauernEnaben, nur gaben die reichen Aeltern ihren Kindern, die fie nicht juriehalten founten, Fubrer zur Be: qleitung, die in der Stille viele gerettet haben moͤgen. Viele Aeltern forderten ihre Kinder felbft auf, tas Kreuz zu neh: men, andere liefen gefchehen, wad fie nicht hindern fonnten. Sie wagten nicht den Lobrednern der Fleinen Keeugprediger au widerftehen, Nur wenige Verftandige, unter ihnen felbft Geiftliche, fchiittelten die Koͤpfe, allein fie verfuchten verge: bend die Menge von der VBethorung, von einem Schwindel suriidgubalten, der bald genug zu einem Abgrund firbren mufte. Cie durften ihre Stimme nicht einmal laut werden laffen, aus Furcht, verfegert gu werden; hatte man dod) felbft den Befehl ves Koͤnigs nicht geachtet.

Die Bewegung wahrte nicht lange, fo hatte fich bei Vendome ein unabfehbares Heer bewaffneter und unbewaffne: ter Knaben verfammelt, viele gu Pferd, die meijten gu Fup, und unter ihnen nicht wenige verfleidete Madchen. Ihre Zabl wird auf mehr als 36000 angegeben. Gie erfannten alle den geliebten Stephanus als ihren Herrn und Fibrer nad dem heiligen Lande, da8 fie den Saracenen entreifen wollten, fegten thn auf einen Wagen, den fie mit Fahnen und Tey: pichen ſchmuͤckten, und die Vornehmſten bildeten in ftattlicher Ritterriftung feine Leibwade, deren er bedurfte, um den An- drang der Glaubigen zuruͤckzuhalten, denn Seder fcagte fich gliclid), auc) nur einige Faden feines Gewandes davonju: tragen, wenn feine Worte die Flamme der Andacht und Be: geifterung zur Gluth angefacht hatten. Bei Verantaffungen die: fer Art entftand zuweilen cin fo ftarfes Gedrange um den Wa: gen des Kinderpropheten, daß nicht Wenige erdrüͤckt wurden. So febte fic) nun diefer wunderlide Zug von BWenddome nad Marfeille in Bewegung. Der Juli war heiß und trofe fen, aber keine Beſchwerden der Pilgerfchaft, nicht der Durft auf der heißen und ftaubenden Erde der Provence, nicht der Mangel, dem die Aermeren wohl ſchon nach den erften Bage- reiſen ausgefebt waren, erftidte die Flamme der Andacht und

Begeiſterung. „Nach Serufalem” fchrieen die Kinder, wenn fie von erjtaunten Zuſchauern gefragt wurden, wohin fie wall: fabhrteten und Feiner sweifelte an der Verheifung des Stepha— nus, das Meer wuͤrde vor ihnen zuruͤckweichen, und fie wir: ten trodenen Fuses das heilige Land erreichen. Es fonnte nicht feblen, dag der gewobhnliche Troß der Heere ſich ihnen beigefellte, cine Schaar von NichtSwiirdigen, die fic) wie Aas: vogel auf die willfommene Beute warfen, fie gu Ausfchwei- fungen verfubrten, und durch Spiel und offentlicen Raub fo weidlich auspliinderten, daß wohl die Meiften nur durd) die Mildthatigfeit der Cinwohner erhalten wurden. Die Schlimm: ften aber erwarteten ihrer in Marfeille. Zwei Kaufleute, Hugo Ferreus und Guilelmus Porcus wetteiferten mit den Ginwohnern in liebevoller Aufnahme der jungen Pile ger, wohnten mit frommer Miene ihren Andachtsubungen bei, und verfpracen ibnen, fie nur um Gottes Lohn nach Pala: ftina zu fubren. Das Knabenheer war nod fo zahlreich, daß 7 grofe Schiffe damit gefillt wurden, und fo gingen die Flet: nen Kreuzfahrer begeifterten Muthes und voll Dank fir ihre Wohlthater unter Segel. Allein 2 Page nach ter Abfahrt er: bob fic) ein Sturm, 2 Schiffe fcheiterten bei der Snfel St. Pe: ter, und nicht Giner wurde gerettet; man fonnte nur die Lei chen der Schifforiichigen fammetn, die in einer von Gregor IX zu ihrem Andenfen erbauten Kirche (Ecclesia novorum Inno- centium) beigefest wurden. Die tbrigen 5 Schiffe ftenerten nach Bugia und Alerandrien, und die jungen Kreuzfabrer wurden hier fammtlid) den Saracenen al Slaven verfauft, von denen gewif keine ihr Vaterland wiederfahen. Die beiden Verraͤther fanden fpater ihren Lohn. Kaifer Friedrid) II. ließ fie in Sicilien auffnupfen.

Gin folches Ende nahm die Kinderfreugfahrt in Frank: reich. Nicht gang fo uͤbel erging es den jugendliden Kreuz— fabrern aus Deutfchland, wo die Bewegung der Gemuther in berfelben Zeit eben fo machtig war, wie in Franfreid), befon- ders in ben Rheinlanden und weit nad Often; doch find wir nicht im Stande, ihre Grenzen genau anjugeben. Auch hier erftanden Rinderpropheten und riffen ihre Gefpielen gu demfel: ben Schwindel der Kreusesandacht fort, dic das Heilige Grab

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su ihrem eingigen Getanfen madte. Es twiederholte fid) bud ſtaͤblich daſſelbe, was in Frankreich gefthah, ohne daß die klei— nen Fanatiker die geringſte Nachricht von den Vorfaͤllen in Vendöme erhalten haben konnten. Sie bekleideten ſich, wie die unbewaffneten Wallfahrer in den fruͤheren Kreuzzuͤgen mit der Sclavina, an der das Kreuz nicht fehlen durfte, und nah— men Pilgerſtaͤbe und Raͤnzel (burdones, sarcellas). An Zahl iibertrafen fie vielleicht noch das franzoͤſiſche Kinderheer, und uͤberall vernahm man ihre Hymnen, mit denen ſie ſich zu ih— rem heiligen Vorhaben begeiſterten. Sie waren nicht unter einem Fuͤhrer vereinigt, man ſah ſie in 2 Heerhaufen dem Meere zueilen, das vor ihnen, ſo glaubten auch ſie mit Zu— verſicht, zuruͤcktreten werde.

Das eine Heer, Nicolaus hieß ſein Fuͤhrer, es iſt aber unbekannt, von welchem Alter, und aus welchem Orte er war, ging den Rhein hinauf iber den Mont Cenis und crreicte nod) 7000 ſtark im Auguft Genua. Man fann nicht obne Grund annehmen, daß es anfanglid) mindeftens nod einmal fo zahlreich war, denn die Alpenpaffe waren im Mittelalter ſehr befchwerlidh. Nur die Ruͤſtigſten und mehr Erwachſenen fonnten cin fo fernes Biel erreichen, die Schwachen erfranften auf der Reiſe und verfehmachteten in den Gebirgsſchluchten. Biele von ihnen waren aus edlen Familien, und flr fie war beffer geforgt. Man hatte ihnen Fihrer und Warterinnen mit: gegeben, denen fid) Dann bald die gewoͤhnlichen Schwarme fab: render Schweftern anfcdloffen. Gn Genua glaubte man, taf die vorforglichen Aeltern auc) auf die Unterbaltung bedacht ge: wefen waren, welche diefe VBegleiterinnen ihnen gewabren konn— ten. Dod) wollen wir dies dahin geftellt fein laffen. Die Genuefer glaubten uͤberhaupt nicht an ihre Andacht, fie erflar: ten das Unternehmen fiir eine Art von Muthwillen und fin- diſchem Leichtfinn, fuͤrchteten Bheurung der Lebensmittel, oder irgend eine Gefabr fiir ihre Stadt, glaubten dem Raifer Bor: ſchub gu leiften, der mit dem Papfte in Feindfcaft lebte, wenn fie die Fleinen Ritter und Pilger aufnahmen, genug fie verſchloſſen ihnen geradegu die Thore. Mur erft nach einigen Unterhandlungen wurden fie am 24. Auguft eingelaffen, aber eS waren nun ſchon Viele der Kreuzabenteuer tberdriiffig, fie

fuchten und fanden Gaftfreundfchaft, und fo blieben fie denn in aller Stille zuruck. Einige von ihnen, die durch ihre vor: nehme Abfunft empfohlen waren, verbanden ſich enger mit paz triziſchen Familien, und follen die Stammvater einer reiden und madtigen Nachkommenſchaft geworden fein. Die uͤbrigen wurden gendthigt, fcon in wenigen Tagen abzuziehen. Cie gingen nicht ju Sdiffe, fondern zerſtreuten fic) nad) verſchiede— nen Richtungen. Viele verfudten die Ruͤckkehr nad) Deutſch— land, geriethen ins duferfte Elend, und denen erging es viel: leicht nocd) beffer, die als Dienftleute hier und da auf dem Lande jurtidbehalten wurden. Die Wenigen, die ihr Vater: land wiederfahben, wurden mit Hohn und Spott, vielleidt aud) von denen empfangen, die ihnen mit frommelnder Zuthaͤ— tigfeit beim Auszuge bebilflid) gewefen waren. Denn falfche enthuſiaſtiſche Regungen fchlagen leicht in den entgegengefeb: ten Zuftand um, befonders wenn der Erfolg fie als nichtig gexeigt Hat, nad dem die Menge allein urtheit. Gerechtfer— tigt waren aber alle Befonnenen, die das Unternehmen ald ein Abenteuer ohne Sinn und Werftand erflart, die Manie der Minderfahrt fir ein Blendwerk des Satans gehalten hat: ten. Gin Theil des Heeres blieb indeß feinem Vorhaben treu, trennte fic) aber in vereingelte Haufen, die von Ligurien aus einen Theil von Stalien durchzogen. Cine Anzahl Knaben wallfahrtete nad) Rom, und fie fanden Gelegenbheit, fid) dem Papfte vorzuſtellen, der fie huldreich empfing, aber fie nicht von der Berpflidtung des Kreuzes losſprach, fondern ihnen das Geluͤbde abnahm, wenn fie herangewadfen fein wirden, sur Croberung von Serufalem auszuziehen. So hart und geift- lid) graufam died Verfahren in einer Beit erfcheint, in der mindeftens 60000 Familien durd) thirigt angeregten Fanatis- mus in die tieffte Trauer gerathen waren, fo entſprach es dod gang der Politif des roͤmiſchen Stuhls. Denn von Hier aus war der Kreuzestaumel in Franfreid) und Deutfdland durch Sendlinge angeregt worden, und ald der Papſt von den Vor: fallen bei Vendome Munde erhalten, fo hatte er tief gefeufst uber die Bheilnahmlofigkeit der Erwachfenen, unter denen fic nirgends ein Arm fir die heilige Sache regen wollte.

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Von dem andern Kinderheer haben wir feine genaue Kunde, Wir Fennen nicht ecinmal den Namen ſeines Fiubrers, vielleicht hatte e8 deren auch viele, und um fo grofer war feine Zerruttung durd Rauber und Gauner, die fic) ihm an— fehloffen. Der Kinderfchwarm, welcher gewif nicht Fleiner war, alS das Heer des Nicolaus, das fid) in Ligurien gerftreute, nahm feinen Weg durd) die rauhen Schlucten von Uri uͤber ten St. Gotthart, einjelne Haufen mogen auc) uber den Splüuͤ— gen gegangen fein. Sn der Lombardei empfing man aber die (einen Kreuzfahrer mit groper Malte und verhohnte ihren Minden Glauben, daß das Meer ibnen einen trodnen. Weg nad) Serufalem oͤffnen wuͤrde. Viele famen vor Hunger und Elend um, und andere wurden fir Speife und Trank als Dienftleute aufgenommen, die Glaubigften und Starfften, die fic) durd Nichts von ihrem Vorhaben abbhalten liefen, gelanaten bis Brundufium, und hier wie in anderen Seeftadten ftelen fie Skla— venhaͤndlern in die Hande, die fie als eine willfommene Beute den Saracenen zuführten.

Es ſcheint, daß der deutſchen Kinderfahrt mehr Erwach— ſene und Weiber ſich anſchloſſen, als der franzoͤſiſchen. Aud) ſoll die Zahl der unerwachſenen Madden groͤßer geweſen fein. Um fo aͤrger war die moraliſche Verderbniß, der nirgends Schran— ken zu ſetzen waren, ſo daß von den Ueberlebenden wohl nur Wenige davongekommen ſein moͤgen, die nicht der Verfuhrung und Schande anheimficlen.

Die gweite Kinderfahrt fallt nur 25 Jahre fpater, fo daß die Annahme einer franfhaften Erregbarfeit der Kinderwelt in diefer ganzen Beit gerechtfertigt erſcheint. Cie beſchraͤnkte ſich nue auf die Stadt Erfurt, und war nur eine Fur; voruͤ— bergehende Erſcheinung, die nichts deffo weniger die allgemeinen Kriterion der religidfen Verzuͤckung und mehr Kranfhaftes darbie— tet, als bei anderen Kinderfabrten vorfommt, wenigſtens als der Nachwelt hberliefert iff Am 15. Juli 1237 verfammelten fic ohne Wiffen dev Aeltern mehr als 1000 Kinder, verliefien die Stadt durch bas Lober Thor und twanderten tangend und fprins gend aber den Steigerwald nad) Arnftadt. Gin ſolches Zuſam— mentreten wie auf Gerabredung gleid einer inflinctartigen Re— gung, wie fie bei Shieren vorlommt, als wenn die Schwalben und

557 Stoͤrche ſich gum Abzuge fammeln; diefelbe Erfcheinung hat ohne Zweifel bet allen Rinderfahrten Statt gefunden, und ift auch von Augenzeugen der erften Minderfahrt in der Weife ded Mittelalters bemerft worden, Erſt am andern Tage erfubren Die Aeltern vom Vorgange, und holten ihre Kinder auf Wa: gen zuruͤck. Niemand konnte fagen, wer fie weggefihrt hatte. Wiele von ihnen follen noc) lange franf geblieben fein, und namentlich an Bittern der Glieder, vielleicht aud) Kraͤmpfen qgelitten haben. Der Vorfall iſt dunkel, und von den Beitge- noſſen fo wenig beachtet worden, daß die Chroniften nur vor ber Bhatfache, aber nicht von der Urfache fprechen. Man fann nur mit WabhrfcheinlichFeit vermuthen, daß die mancherlei lau— ten und pomphaften Feierlichfeiten, die mit der Canonifation ber Heil. Eltfabeth, der Landgrafin von Thiringen, verbun— den waren, einen foldben Andachtsfigel in der Kinderwelt von Grfurt erregt haben.

Moch viel dDunfeler ift eine Kinterfabrt von 1458, von der die Motive gang offenbar religioS waren. Es moͤchte wohl jest faft unmoglic fein, die Sreenverbindung, die fie veranlafte, nod gu ermitteln, genug fie galt der Verehrung des Erzengels Michael Mehr als 100 Kinder aus Hall in Schwaben wanbderten wider den Willen ihrer Acltern nah Mont St. Michel in der Mormandie. Cie Fonnten auf feine Weife zu— tildgehalten werden, und gefchah died mit Gewalt, fo follen fie ſchwer erfranft und felbjt geftorben fein. Der Magiftrat, welder die Fahrt nicht gu hindern vermodte, gab ihnen we: nigftens auf die weite Reife einen Fuhrer, und gum Tragen des Gepaͤcks einen Efel mit. Cie follen wirflid) in der damals weltberühmten Abtei, dte jest bekanntlich ein Staatsgefaͤngniß iſt, angekommen ſein, und dort ihre Andacht verrichtet haben. Weitere Nachrichten fehlen aber durchaus, und es ſcheint, daß dieſe Kinderfahrt, welche in die Zeit faͤllt, wo der St. Veits— tan; in Deutſchland haufig, und an vielen Orten vorkam, von den Zeitgenoffen noch viel weniger beadtet worden ift, als die Wanderung der Kinder ven Erfurt tm Sabre 1237.

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Halle, GBebauerfde Buchdruderei.

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