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ibliothek der Unterhaltung und des Wissens

Zu der Erzählung „Mentzels Glück“ von Maximilian Böttcher. ($. 85) Originalzeichnung von Enrico Buffetti.

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Unterhaltung

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| Inhalts- Verzeichnis. | *

Ein Wille ein Weg. Roman von Ada v. Gersdorff,

(Baronin Maltzahn) (Fortsetzung) .

Mentzels Glück. Eine einfache Geschichte. Uon mx

milian Böttcher h Mit Illustrationen von Enrico Buffetti. Im Boulogner Wäldchen. Pariser Sederzeichnungen. Lon

Ernst Montanus . Mit 12 Illustrationen.

Die verfemte Prinzessin. Geschichtliche Novelle von Lud.

Sallentien-Wewer Ein wertvolles Gewürz. Botanische Streifzüge von Franz Westege Mit 7 Illustrationen. Familie und Haus nach dem Neuen Bürgerlichen Gesetz- buch. Uon Lorenz Stüben VII. Scheidung der Ehe. Die soziale Frage im Tierreich. Naturgeschichtliche Studie von Dr. O. Stein Mit 15 Illustrationen. Der Anlass des Krieges in Südafrika. Aus den Gold.

gebieten Transvaals. Uon Georg hellbrunn Mit 8 Illustrationen.

Seſte

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Mannigfaltiges:

Inhalts-Derzeichnis.

Die Auspfändung einer königlichen Hoheit . Neue Erfindungen: I. Die Kaiserin-Frisierlampe . mit 2 Illustrationen.

II. Die Brille „Autokorrekt“ mit Illustration.

Liebe und Eifersucht

Die letzte französische Nationalflagge über Metz .

Das schwächere Geschlecht Ein verhängnisvolles Geschenk

Burenpaar auf der Hochzeitsreise Mit Illustration.

Die letzte Proklamation Die Fische des Nilstromes Zweideutig

Das Mahagoniholz . Nichts Neues! . Einträgliche Küsse

Ein Wille ein Weg.

Roman von Ada v. Gersdorff (Baronin Maltzahn).

(Fortsetzung.) ¢ ¢ (Nachdruck verboten.)

£ Vierzehntes Kapitel.

P war ein Tag Anfang des Winters, wie geſchaffen für Katharine Wollskis Ankunft. Ein klarer, reiner, milder Tag, ein ſtiller, blauer Himmel, mit ruhig ziehenden, weißen Wölkchen. Ueber Feldern und Gärten, über Hof und Haus war eine reine, weiße Schneedecke gebreitet, die ein klares, freundliches Licht in die düſteren Zimmer warf, welche Uhlenſteins bewohnten.

Man hatte noch keinen beſtimmten Beſcheid, an welchem Tage man fie erwarten konnte. Leona ſaß am Nad: mittag mit ihrem Manne am Kaffeetiſch, wo er ſich an Butterbrot ſtärkte, da das Mittageſſen, welches vom Sn: ſpektorentiſche herübergeholt werden mußte, eiskalt geweſen war. Phila war nämlich entlaſſen, und Ulrich wollte in der Zwiſchenzeit keinen neuen Dienſtboten engagieren, um dies Geſchäft lieber Katharine zu überlaſſen, und ſo behalfen ſie ſich mit einem der Hofmädchen für grobe Arbeit und dem Eſſen von drüben. Leona war ganz ver—

8 Ein Wille ein Weg.

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zweifelt; dies Eſſen fand ſie in der That ungenießbar. Kartoffeln mit Speck und ſüße Hafermehlſuppe; hartes Pökelfleiſch mit Sauerkohl es war ihr unmöglich, der— gleichen zu genießen, und Leona fing ſchon an, ärgerlich auf Katharine zu werden, die fie, nachdem fie doch ein: mal zugeſagt hatte, nun ſo unverantwortlich lange warten ließ.

Ulrich ſeufzte auf. Der Schreibtiſch lag voll von Papieren und Abrechnungen und anderen Schreibereien, und das mußte heute noch erledigt werden. Dann kam das endloſe Geſchäft des Lohnzahlens, denn es war Sonn⸗ abend, und dabei durfte jeder, der etwas zu bitten oder zu klagen hatte, einige Minuten privates Gehör beim Herrn Verwalter fordern. Das dauerte oft bis ſpät in den Abend hinein, und da konnte man wirklich ſchlapp werden, wenn man nichts Ordentliches im Magen und auch zum Abendeſſen nichts Gutes zu erwarten hatte.

Da ſprang Ulrich plötzlich in die Höhe und eilte nach dem Fenſter.

„Sollte das nicht iſt das nicht Katharine Wollski ſieh doch nur, Leona, da auf dem Hühnerhof, die kleine Dame mit dem Jungen, der den Koffer trägt! Ja, natürlich, das iſt ſie. Na, Gott ſei Dank, endlich ein Ende mit dem Elend!“

Es klang wirklich wie ein Jubelſchrei aus tiefſtem Herzen.

Leona ſtand einen Moment ſehr unangenehm berührt, obwohl ſie ſelbſt ja ebenſo empfand, aber ſei dem, wie dem ſei, wenn der Mann, den man über alles liebt, ſo entzückt einem anderen weiblichen Weſen entgegenſtürzt, ſo muß das für jede Frau ſein Peinliches haben.

Als das junge Mädchen dann aber vor ihr ſtand, ſo ſchlicht und einfach, ſo ganz als Untergebene, mit dieſer ſchmalen, dürftigen Geſtalt, dieſen farbloſen, unbedeuten—

Roman von A. v. Gersdorff. 9

den Zügen, in denen der freundlich kluge Blick der grauen Augen doch ſo ſympathiſch anſprach, da ſchwand jede Pein in Leonas Gefühlen, und ſie war nun reizend liebens— würdig mit dieſer kleinen Stütze, wie ſie Katharine zu⸗ weilen bezeichnete, was Ulrich mit etwas ironiſchem Lächeln zu begleiten pflegte.

Beide Gatten führten ſie dann in die Haushaltung ein, und Katharine mußte oft lächeln über die drolligen und ſo verſchiedenartigen Klagen.

Sie war mit allem zufrieden und fand eine Menge ſehr brauchbarer und vortrefflicher Einrichtungen, von denen Leona und Ulrich gar nichts geahnt hatten, in Küche und Keller. Einſtweilen ſollte ihr das Hofmädchen noch weitere Dienſte leiſten, bis ſie ſelbſt ein anderes Weſen gemietet habe. Als ſie dann eine Weile mit Ulrich allein war, während er ihr einige Bücher und Schreibmaterialien, um die ſie bat, in ſeinem Zimmer einhändigte, bat er ſie raſch, nicht etwa Leona ganz zu übergehen, ſondern zu verſuchen, ihr ein wenig Intereſſe für die Wirtſchaft beizubringen. Dann kam unter anderem auch der Fall der ehemaligen Entlaſſung der Jette zur Sprache, welche Ulrich nicht ge— billigt hatte, und Katharine erklärte, wenn möglich das Mädchen gern wieder haben zu wollen. Ulrich war ſehr zufrieden damit, denn Jette war wenigſtens ſauber ge: weſen und hatte mit den ländlichen Verhältniſſen Beſcheid gewußt; auch viel billiger und beſcheidener war ſie, als die ſchmutzige Phila.

Am ſelben Abend ſchon hatte man ein recht angeneh— mes Abendeſſen, denn Katharine konnte natürlich kochen und durfte ſich des begeiſterten Lobes ihres erſten Ber: ſuches hier ſehr freuen. Die armen Leute müſſen rein verhungert ſein, dachte ſie mitleidig, als ſie ſah, mit welchem Appetit ſie dem Eſſen zuſprachen. Das Brot war ſauber geſchnitten, ſonſt kam immer der ganze Rieſen—

10 Ein Wille ein Weg.

laib Schwarzbrot auf den Tiſch, was äußerſt unbequem war, und die Butter ſah nicht aus, als wenn die Hühner darin herumgehackt hätten, wie ſonſt, ſondern lag auf friſchen Kohlblättern.

Katharine hatte ſogleich mit kameradſchaftlicher Nettig⸗ keit das Hofmädchen gewonnen und ſich, was nicht im Keller war, vom Hof herüberholen laffen. Herr Kieke⸗ buſch hatte in angeborener Galanterie jedem weiblichen Weſen gegenüber anfragen laſſen, ob er noch anderes her⸗ überſchicken ſollte, etwa für den morgenden Mittagstiſch, was Katharine nach einer kleinen Beſprechung mit Ulrich angenommen und ihm einen Zettel herübergeſchickt hatte mit ihren Wünſchen.

Herr Kiekebuſch hatte nämlich als Tiſchökonom den Monat.

Dann hatte Katharine den Tiſch gedeckt und die Lampe darauf geſtellt, welche fie auf das ſauberſte zurecht ge: macht hatte.

Und wie nett und ſauber und freundlich ſaß ſie dann ſelber am Tiſch, mit ihrem derben, dunkelgrünen Kleide mit dem weißen Latzſchürzchen und den blonden glatten Zöpfen um ihren niedlich geformten Kopf. Das Haar hatte wirklich eine hübſche Farbe und mußte recht weich ſein, dachte Leona.

Als ſie dann mit Ulrich allein war, meinte Leona: „Wirklich ein ſehr netter Abend, ſo etwas Angenehmes hat ſie in der Stimme. Nicht laut, nicht leiſe, nicht ſchnell, nicht langſam, und dabei ſo aufmerkſam, wenn man etwas braucht.“

„O Leona,“ ſage Ulrich, ſie umarmend, „wie freut es mich, daß du zufrieden biſt! Möchte ſich das gute Mäd⸗ chen hier dauernd glücklich fühlen! Man kann ſich doch eigentlich nichts Idealeres denken, eine Gattin wie du und eine Hausfrau wie Katharine.“

Roman von A. v. Gersdorff. 11

Leona lachte laut auf. Fand ſie das Kompliment wirklich nach ihrem Geſchmack?

Katharine hatte übrigens gebeten, ſie einfach bei ihrem Vornamen zu nennen, nicht Fräulein, es ſei viel be: quemer.

Leona ging wie immer früh zu Bett, weil ſie es liebte, im Bett noch zu leſen, und Ulrich hatte es aufgegeben, ihr dieſe „einzige Freude“ abzugewöhnen, als ſchädlich für Augen und Nerven.

Er ſelbſt blieb gewöhnlich noch lange auf und ſchrieb oder las, denn es war ihm unmöglich, bei Licht zu ſchlafen, und ſo ſaß er bei ſeiner Arbeit oft weit länger in ſeiner Stube, als ihm ſelbſt gut war angeſichts der frühen Stunde, zu welcher er morgens genötigt war, ſich zu er— heben.

Als er die Hausthür ſchloß für die Nacht, ſah er noch Licht durch die Küchenthür und trat ein, um zu fragen, ob Katharine noch irgend einen Wunſch habe, und da er am anderen Tage zu ſehr früher Zeit fort müſſe, ihr wegen ſeines Frühſtücks Beſcheid zu ſagen, da er ſich bis— her den Thee hatte ſelbſt machen müſſen.

Das junge Mädchen ſaß am Küchentiſch und ſchien ihre Ausgaben in ein kleines Heft einzutragen. „Sie wünſchen noch etwas, Herr v. Uhlenſtein?“ ſagte ſie, ſich erhebend. |

Er ſprach ihr feine beſcheidenen Frühſtückswünſche aus, und auf ihre Thätigkeit weiſend, fragte er ſie, ob ihr das nicht eine recht unangenehme Seite ſei am Wirtſchaften, das Bücherführen. Leona ſage immer, das ſei das aller— gräßlichſte.

Katharine lachte ein wenig verlegen. „Das bißchen Rechnen iſt ſchnell abgemacht. Aber ich ſchreibe immer ſo eine Art Wirtſchaftstagebuch, das Hauptſächlichſte, was paſſiert iſt, und da läuft dann ſo manches andere, was

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mir Eindruck gemacht hat, mit unter. Man kann ſich ſpäter dann nach manchem ſo ſchön richten, was man ſonſt vergißt.“

Ulrich fand, daß die ſtille Stunde ganz geeignet ſei, die doch notwendigen näheren Beſprechungen über ver— ſchiedene wirtſchaftliche Wünſche mit ſeiner jungen Haus⸗ hälterin abzumachen, und bat ſie, herüberzukommen in ſein Schreibzimmer.

Er fragte, ob Leona ihr ſchon einige Anweiſungen ge⸗ geben hätte. Aber ſie ſagte, daß dieſelbe über das Wirt— ſchaftliche ſie an die Beſprechung mit ihm ſelbſt gewieſen habe, da vor allem ſeine Wünſche maßgebend ſeien, und ſie mit allem zufrieden ſei, was Ulrich beſtimme. Er verſtände alles viel beſſer als ſie. So nahm Katharine auf dem Stuhl neben Ulrichs Schreibtiſch Platz und ließ ſich von allem unterrichten, was ihr zu wiſſen nötig war für die Wirtſchaftsführung.

Klar und verſtändig ruhte ihr ſtilles Auge auf ihm, und fo war auch ihr Auffaſſen und Begreifen, ihre ge: legentlichen Antworten und Einwendungen. Es war Ulrich, als habe fie ſchon Jahr und Tag neben ihm ge: ſeſſen, die Anforderungen des kommenden Tages, die Ge: ſchehniſſe des vergangenen mit ihm beredend.

Schließlich zeigte ſie auch auf all die verſchiedenen Papiere, blauen Aktenhefte und Bücher, die er offen vor ſich hatte, und fragte in beſcheidener Weiſe, welche Arbeit denn in ſo ſpäter Stunde noch geleiſtet werden müſſe. Er ſagte es ihr und zeigte ihr einiges. Es war alles mehr zeitraubend als ſchwierig, jeder hätte es machen und erledigen können, dem man volles Vertrauen ſchenken konnte in Bezug auf Ehrlichkeit, Zuverläſſigkeit und Pünkt⸗ lichkeit. Aber wem konnte man das wohl ſchenken? Denn verantwortlich blieb er allein.

Katharine ſchwieg einen Moment und ſagte dann

Roman von A. v. Gersdorff. 13

ſchüchtern: „Würden Sie mir nicht probeweiſe einen Teil davon anvertrauen, Herr v. Uhlenſtein?“

„Ihnen? Auch das noch? Sie werden ſchon über: genug zu thun haben hier,“ meinte er überraſcht, „und ſehen wahrhaftig nicht ſo aus, daß man Sie mit Arbeit überladen möchte.“

„Es ſieht wirklich nur ſo aus, in Wahrheit habe ich eine ſehr geſunde, ſtarke Natur, und wenn im Haushalt erſt alles in Ordnung iſt, dann läuft er von ſelber, und es braucht ſozuſagen nur eine Hand am Griff der Maſchine, die andere iſt frei und müßig. Alſo, wenn ich Ihnen helfen kann, bitte ſehr, ich thue es gern, die Zeit dazu wird ſich finden.“

Ulrich ſah ſie in freundlicher Dankbarkeit an.

„Wenn Sie es gern wünſchen, warum nicht? Eine Verpflichtung haben Sie ja nicht übernommen, es iſt Ihr freier Wille, wenn Sie gerade Zeit haben. Aber warum können Sie die Zeit nicht für ſich ſelbſt verwenden?“

„Für mich ſelbſt? Was ſollt' ich da wohl thun?“ lachte ſie, als ſei das ungeheuer komiſch, daß jemand ſeine Zeit für ſich ſelbſt verwenden könnte.

Es machte ſich ganz natürlich, daß ſie gleich an die neue Arbeit ging. Ulrich zeigte und erklärte, und ſeine anfänglichen Zweifel, ob fie überhaupt genügende Schul: bildung habe, um dieſe ſchriftlichen und rechneriſchen Ar— beiten leiſten zu können, ſchwanden bald vor ihrer be— ſcheidenen Sicherheit.

„Ich habe ja einen ſo netten Tiſch in meinem Stüb— chen, mit einem ſo ſchönen, großen Schubfach,“ meinte ſie, als ſie ſich verabſchiedete, „da kann ich recht gut ſchreiben und alles hineinlegen, bis ich es abgebe. So— bald ich Zeit habe, hole ich mir Arbeit. Gute Nacht, Herr v. Uhlenſtein, und haben Sie recht herzlichen Dank, daß Sie ſich meiner erinnert haben. Ich werde Ihre

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Güte von damals nie vergeſſen. Es war ein ſolcher Zu⸗ fall, daß gerade Sie es waren. Die meiſten anderen hätten fih wohl kaum fo große Unbequemlichkeiten auf: erlegt, um einem fremden Menſchen aus der Not zu helfen.“

Ulrich arbeitete noch, als ſie gegangen war. Dann ging er noch eine Weile nachdenkend, faſt träumend in unbeſtimmten, aber wohlthuenden Empfindungen im ſtillen Zimmer auf und ab.

„Aber das muß ich ſagen,“ ſagte Leona erwachend, als er endlich bei ihr eintrat, „ich habe ſchon lange ge— ſchlafen. Haſt du bis jetzt mit Katharine zuſammen⸗ geſeſſen?“

„Bewahre!“ entgegnete er ſchnell. „Wie kannſt du das denken! Die braucht doch ihre Nacht zum Schlafen, wenn ſie arbeiten will.“

„Ja, und es iſt am Ende auch beſſer, wenn die wirt— ſchaftlichen Beſprechungen möglichſt bei Tageslicht ſtatt— finden.“

„Was fällt dir ein? Was meinſt du damit?“ fuhr er auf.

„Daß ich es unpaſſend finde, wenn du in der ſinken— den Mitternacht mit der „Stütze“, die kaum zwanzig Jahre alt iſt, allein in deiner Stube ſitzeſt.“

Sie hatte recht. Er fühlte es und ärgerte ſich ſchreck— lich über ſie und über ſich.

„Und ich finde es unpaſſend, daß ich dazu gezwungen bin, überhaupt lange wirtſchaftliche Konferenzen mit ihr zu haben. Das wäre deine Sache geweſen, ſtatt ſie an mich zu weiſen, da du doch weißt, daß ich ohnehin mit Arbeit überhäuft bin, während du nicht einmal das Wort Arbeit kennſt, und ich nur ſagen kann, es iſt ein Glück, daß wir keine Kinder haben. Welches Beiſpiel hätteſt du ihnen wohl gegeben?“

Roman von A. v. Gersdorff. 15

So zornig, ſo bitter war er noch niemals geworden. Ganz erſchreckt ſtarrte ſie ihn an.

„Das iſt ja recht ſchön,“ ſagte ſie nach einer Pauſe, „am erſten Tage, an dem ſie hier iſt, entſteht ſchon Streit ihretwegen zwiſchen uns. Ich dachte, es ſollte nun ge— rade ein ungetrübter Friede entſtehen.“

„Weſſen iſt die Schuld?“

„Meine natürlich, wie immer!“ rief ſie.

Er ſchwieg und legte ſich nieder. Aber Ruhe konnte er nicht finden. Leona hatte einen häßlichen Mißton in die freundliche Harmonie ſeiner Empfindungen gebracht, und doch durfte er ihn nicht ſo ohne weiteres überhören, das fühlte er.

In der Folge ließ ſich die Gefahr, welche dem Frieden im Hauſe drohen zu wollen ſchien, weniger groß an, als es ihm in dieſer Nachtſtunde erſchien. Es machte ſich ganz von ſelbſt, daß die längeren Beſprechungen mit Katha⸗ rine wegfielen, denn ſie bedurfte recht bald derſelben über⸗ haupt nicht mehr, und Gelegentliches war in wenigen Worten abgemacht.

Wenn man nun glaubte, daß Leona in der That ſo äußerlich, ſo geradezu unerträglich gleichgültig gegen ihr Hausweſen ſei, wie es den Anſchein hatte, würde man doch irren. Sie war ja froh, daß ſie entlaſtet wurde, und ſo lange, als die troſtloſe Wirtſchaft allein in ihren Händen lag, hatte ſie die Idee Ulrichs glücklich gefunden und konnte es kaum erwarten, daß Katharine endlich kam, ihr die Zügel abzunehmen. Aber nicht ohne Pein wurde ſie ſich jetzt ihrer grenzenloſen Unkenntnis und Gleichgültigkeit gegenüber der Behaglichkeit und Ordnung, die ihr Mann ſo ſchwer vermißte, bewußt, und faſt mit Neid ſah ſie, wie raſch und ſicher Katharine das Rechte und Praktiſche traf und auf ihres Mannes Geſicht wieder und wieder das Lächeln der inneren Befriedigung hervorrief. Leona

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ſelbſt fühlte ſich mehr und mehr als fünftes Rad am Wagen. Während bei Tiſch Ulrich und Katharine mit größtem Einverſtändnis allerhand beſondere und allgemeine wirtſchaftliche Fragen erörterten, während ihr Mann dem vorzüglich bereiteten Mahle die größte Ehre anthat, ſaß ſie ziemlich ſtumm dabei und ſah ſich mehr oder weniger als ein großes Kind behandelt, das ja doch kein Intereſſe an dieſen Geſprächen bekundete.

Und Leona ſelbſt verſtand nicht, irgend ein Thema anzuregen, worüber man allgemeine Unterhaltung pflegen konnte. Sie ſaß von Tag zu Tag mehr wie ein ein— geladener Gaſt an ihrem eigenen Tiſch und mußte ſich ſagen, daß ſie niemand die Schuld geben konnte als ſich ſelbſt.

Träumeriſch, in gefährlicher Weiſe ſich iſolierend, lebte ſie in ihrem Müßiggang dahin, ſehr wenig glücklich durch den ſo heißerſehnten Wechſel, die ſo brennend gewünſchte Entlaſtung von ihrem Pflichtenkreiſe.

Aber eine innere Stimme warnte ſie dringend davor, auch nur das geringſte von ihrem veränderten Denken merken zu laſſen.

Sie war faſt zu freundlich gegen Katharine und ab und zu von einer oſtentativen Zärtlichkeit gegen Ulrich, während ſie ein andermal wieder eine abſichtlich ver— letzende Gleichgültigkeit zur Schau trug.

So ſtanden die Sachen, als Ulrich eines Morgens einen Brief bekam, der ihn zunächſt in faſt unangenehme Ueberraſchung zu bringen ſchien, während er Leona in ſtrahlende Laune verſetzte.

Es war an einem Sonntagvormittag. Ulrich ſaß am ſauber gedeckten Tiſche, wo Leona ihr erſtes, er ſelbſt ſein zweites Frühſtück einnahm. Katharine war in der Küche beſchäftigt. Sonntags kam die Poſttaſche immer etwas ſpäter, und Ulrich entnahm ihr heute ein Schreiben des Gutsherrn.

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Er hatte ſchon öfters mit Herrn v. Stangenberg kor— reſpondiert, aber nichts als ganz kurze und geſchäftlich gehaltene Mitteilungen von allen möglichen Städten und Plätzen Europas erhalten. Der heutige Brief kam aus Antwerpen, und Herr v. Stangenberg ſchrieb, daß er demnächſt nach Kempzin kommen werde, um zu verſuchen, ob ihm das Klima und die Lebensweiſe dort dauernd be: kommen könnten. Er fühle fih geſünder und ſehr ge: kräftigt, und allerhand Veranlaſſungen und Verhältniſſe, die hier nicht hergehörten, nötigten ihn jetzt, zur Winters⸗ zeit, mindeſtens für einige Wochen ſeinen Aufenthalt in Kempzin zu nehmen. Was Ulrichs Dienſtverhältnis be— träfe, ſo würde darin nichts geändert werden, denn er ſelbſt könne und werde ſich um gar nichts kümmern als um die Jagd, von der ihm Ulrich ja ſo Erfreuliches melde, und um Beſuch der nachbarlichen Güter in anregender Geſelligkeit. Er käme nicht allein, ſondern in Begleitung ſeiner Schweſter, der Gräfin Caßbrough, in deren Villa er augenblicklich weile. Die Villa ſei verkauft worden, und die Gräfin wünſche ſich, wenn ihr der Umgangskreis gefiele und die Terrainverhältniſſe für ihren Reit- und Jagdſport, in der Nähe von Schloß Kempzin anzu: kaufen. Wie er gehört hätte, ſei dort verſchiedenes zu haben.

Dann kam die Bitte an Ulrich, ſich auf jeden Fall nach dieſem und jenem Beſitz näher zu erkundigen. Ferner möge er Sorge tragen, daß das Schloß in wohnlichen Zuſtand geſetzt werde, und die Möbel und Geräte, welche ankommen würden, einſtweilen nach ſeinem eigenen Ge— ſchmack aufſtellen. Den oberen Stock ſolle die Gräfin Caßbrough bewohnen, er ſelbſt die alten Gemächer ſeines Vaters im Erdgeſchoß. Namentlich bäte er dringend, die Ställe bereit zu halten und keine Koſten zu ſcheuen, wenn nicht genügend Räume vorhanden, oder dieſe nicht ganz

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18 Ein Wille ein Weg.

tadellos ſeien. Die Pferde der Gräfin, zehn an der Zahl, kämen mit der Bahn Anfang Dezember, ebenſo ihre Meute, für welche der vorhandene Zwinger ebenfalls in beſten Stand zu ſetzen ſei. Bei allen Anordnungen ließe er Ulrich völlig freie Hand und vertraue ſeiner Um— ſicht und feinem Geſchmack als ehemaligem Offizier voll⸗ kommen. Gräfin Caßbrough brächte fünf Leute mit: Kutſcher, Reitknecht, Pikeur, Kammerdiener und Zofe. Für ihn ſelbſt bäte er Ulrich, paſſende Leute zu engagieren. Schließlich bat er noch in liebenswürdigſter Weiſe um Entſchuldigung, daß er ſo über ſeine Zeit verfüge und ihm eine ſolche Arbeitslaſt aufbürde, was mit ſeinem Dienſt eigentlich gar nichts zu thun habe, aber ihm bleibe leider ſonſt niemand, dem er dies alles vertrauensvoll übergeben könne. Ueberhaupt war der ganze Brief in vornehmſter Höflichkeit gehalten, wie ein Kavalier ſie nur dem anderen zu bieten vermag, wenn er ihn um eine Gefälligkeit bittet.

Ja, Arbeit gab's nun allerdings eine Menge für Ulrich. Zum Glück war es Winter, in der Landwirtſchaft die ftillfte Zeit im Jahre, und die ſchriftlichen Plackereien hatte Katharine ihm ſehr erleichtert. Aber doch ſah er mit gewiſſem, ernſtem Bedenken dem geräuſchvollen Treiben entgegen. Leona aber war voll inneren Jubels. Nun hatte ſie doch wieder etwas zu denken, zu planen, zu hoffen, ſich auszumalen. Tauſend Fragen und Vermutungen, die ihr Ulrich kaum beantworten konnte, kreuzten ihr Hirn.

Nur die Hauptſache, ob die Gräfin und ihr Bruder ſie wohl in ihren Kreis ziehen würden, hatte Ulrich zu ſeinem Bedauern mit einem Ja beantworten müſſen. Er glaubte allerdings, daß Herr v. Stangenberg ihn und Leona kaum ignorieren würde in geſelliger Hinſicht. Für die Gräfin konnte er natürlich nichts ſagen. Schweſter und Bruder ſind oft ſehr verſchieden in ihren Auffaſſungen.

Roman von A. v. Gersdorff. 19

„Aber da muß ich mir doch durchaus einige Kleider machen laſſen. Ich habe ja rein gar nichts anzuziehen, Ulrich!“ rief Leona ganz erſchrocken. „Denke doch, wie ich ausſehe! Altmodiſch, unmodern, alles, was ich habe, zerriſſen und ſchlecht geworden.“

„Schlimm genug,“ meinte Ulrich tadelnd, „daß du alle deine eleganten Kleider hier aufgetragen haſt für nichts und wieder nichts. Ich weiß nicht, wie ich dir jetzt eine elegante Garderobe ſchaffen ſoll. Du kennſt unſere Mittel. Das Geringe, was ich zurücklegte, darf nicht angegriffen werden, es ift unfer einziger Notgroſchen. Ich fürchte, es bleibt dir nichts anderes übrig, als dich ſo viel als möglich zurückzuhalten von dem Umgange, der ohnehin gar nicht für unſere Verhältniſſe paßt. Von ſeiner Seite mag ja wohl die Höflichkeit berechtigt ſein und angenehm, daß er uns fein Haus geſellſchaftlich öffnet, aber von un: ſerer, das wirſt du einſehen, iſt es ebenſo geboten, nicht mit beiden Händen zuzugreifen, ſondern ſehr zurückhaltend zu fein. Wir dürfen durchaus nicht vergeſſen, daß ich Unter: gebener bin, und du, meine Frau, die ſich eins fühlt mit mir, wirſt dich darin nicht von mir trennen wollen und können. Auch kann man ſehr wohl manche Dinge den Leuten anbieten und es nebenbei ſehr taktlos finden, wenn ſie annehmen, was man angeboten hat. Vorſicht und Selbſtachtung laß uns üben und bewahren, damit wir uns keiner Zurückweiſung ausſetzen nach anfänglichem, ſcheinbarem Entgegenkommen. Du haſt dein Los dem meinen freiwillig verknüpft und nicht gezagt, obwohl du wußteſt, daß es kein glänzendes iſt, und, Leona, nicht wahr, du haſt es nicht bereut noch nicht bereut?“

In Leona rangen jo viel widerſpruchsvolle Empfin— dungen, ſie war während ſeiner langen Rede ſo oft in Verſuchung gekommen, aufzufahren, ihn zu unterbrechen, wenn nicht jener ihr wohlbekannte, ernſte, faſt harte Blick

20 Ein Wille ein Weg.

ſeiner blauen Augen, ein gewiſſer, ihr bekannter Ton ſeiner Stimme ſie gewarnt hätten.

Ein nervöſes Zittern lief über ihre ganze Geſtalt, und mit einem leiſen Aufſchrei kreuzte ſie die Arme auf dem Tiſch, legte ihr Haupt darauf und brach in krampfhaftes Schluchzen aus.

Hätte ſie ihren Mann angeſehen! Dieſer düſtere, gram— volle Blick, mit dem er ſie einen Moment ſchweigend be— trachtete!

Dann ſtand er auf, zog einen Stuhl neben den ihren und legte die Arme um ihre Schultern, ihr Haupt auf— richtend und an ſeinem Herzen bergend.

„Still, ſtill! Nicht weinen! Das arme, kleine Herz— chen ſoll nicht kummervoll ſein, ſolange ich's in den Grenzen meiner Macht habe, es zu ändern. Es muß ja auch grauſam ſein, ſo jung, ſo ſchön, und auf alles ver— zichten ſollen, was das Leben reizvoll macht,“ ſagte er leiſe. „Du ſollſt alles haben, was du brauchſt!“

Fühlte ſie den bitteren Vorwurf nicht, der in dieſen ſchlichten Worten für ſie lag?

Jetzt nicht. Leona brauchte immer Zeit, um ſich zu beſinnen und die Wahrheit zu erkennen. Mit innigen Dankesworten, durch Thränen lachend, umſchlang ſie ihn und verſprach aus aufrichtigem Herzen, alles ſo praktiſch und ſo billig einzurichten wie irgend möglich. Nur ein hübſches, helles Seidenkleid wollte ſie in Poſen machen laſſen und die Stoffe dorther kommen laſſen für ein Haus— kleid und ein Sonntagskleid, ſo einfach natürlich wie möglich. Die könnte die kleine Schneiderin in Kempzin ſicher machen. Sie ſelbſt und Katharine und Jette könnten ja ein wenig helfen.

Er nickte ergeben und machte ſie nur darauf aufmerk— ſam, daß ſie mit dem hellen Seidenkleid lieber noch warten ſolle, da fie ja gar nicht wiſſen könne, ob ſie es über:

Roman von A. v. Gersdorff. 21

haupt gebrauchen werde. Sogleich würde ſich doch die Gräfin nicht in Bälle und Feſte ſtürzen. Vielleicht thäte ihr irgend ein anderes Garderobeſtück zu irgend einer Ge- legenheit not, und unbegrenzt, um dann auch dies zu ge— währen, ſeien ſeine Mittel leider nicht.

Leona war in den nächſten Tagen glücklich und viel geſchäftig in ihrem eigenen Intereſſe, Katharine fleißig und zufrieden, im Intereſſe anderer Leute zu wirken, und Ulrich von früh bis ſpät an der Arbeit, um ſtillem Nad: denken aus dem Wege zu gehen.

Er ging jetzt zuweilen allein ins Städtchen oder zum Onkel und ließ ſich von dem etwas erzählen aus alter Zeit und von längſt geſtorbenen Menſchen. Aber der alte Herr machte ihm Sorge. Ulrich fand ihn merkwürdig ge— altert und verfallen. Er ging ſo gebückt, und ſeine Augen hatten einen fo ſonderbaren, weit hinausſchauenden Blick, hinweg über alle irdiſchen Intereſſen der Zeit.

Er war ja auch ſchon recht betagt und mochte ſich wohl innerlich bereit machen, abgerufen zu werden.

Fünfzehntes Kapitel.

Welch eine intereſſante, aufregende, amüſante Zeit wurde das nun für Leona, ſogar Ulrich wurde etwas mitgeriſſen! Schon als die Pferde und die Meute der Gräfin Fernande Caßbrough als Fräulein v. Stangen: berg hatte ſie auf gut deutſch ſich Ferdinande genannt ankamen, war das ſehr intereſſant.

Schöne, prächtige Tiere, Wagen- und Reitpferde, der Pikeur, ein rothaariger Schotte, ſprach nur gebrochen deutſch.

Und dieſe Hunde! „Wunderſchöne Meute, zur Fuchs— und Haſenhetze famos dreſſiert,“ ſagte Ulrich. Dann der perſönliche Begleithund der Gräfin, eine mächtige engliſche Dogge, wie eine Löwin ſah ſie aus, ließ keinen an ſich

22 Ein Mille ein Weg.

heran als den Pikeur und ſonderbarerweiſe Ulrich, den es außerordentlich amüſierte, wie das Tier ſich ihm unter⸗ ordnete, gleichſam den Herrn in ihm anerkennend, und ihn mit ſo eiferſüchtiger Wut förmlich bewachte, daß es Ulrich oft läſtig wurde, beſonders da Leona eine entſetzliche Angſt vor dem zähnefletſchenden Ungeheuer hatte und ſich gar nicht mehr auf den Hof wagte ohne ihren Mann.

Nun, ſie hatte andere Intereſſen und Freuden. Die Sachen und koſtbaren Möbel der Gräfin, die Kammerzofe mit den rieſigen Toilettenkoffern kamen an. Bei der Ein⸗ richtung und Unterbringung wurde Leonas Rat und Bei⸗ ſtand gern in Anſpruch genommen, und ſie gewährte ſie ſtolz.

Pflanzen- und Blumenkübel aus dem Treibhauſe ließ

ſie in den Zimmern der Gräfin überall aufſtellen und kümmerte ſich ſelbſt um jeden Gegenſtand, jedes Kleid, und war ein Herz und eine Seele mit der allerliebſten Zofe, die ſo herrlich das Deutſch mißhandelte.

Leonas Neugier, ob die Gräfin jung und ſchön ſei, wurde nun auch befriedigt. „Oh Madame est tres-belle entzückend, hat goldige Haar und fein énormément reich.“

Leona ſtaunte. „Ach, iſt ſie auch noch jung? Ihr Bruder iſt doch ſchon älter?“

Die kleine Belgierin lachte ein bißchen komiſch. „O, genug jung, um laſſen verdrehen die Köpfe alle messieurs,” radebrechte ſie.

Die Pracht und Schönheit der Toiletten, welche Leona nun ſah, machte ſie ganz verwirrt, ganz ſtarr vor Be: wunderung, und mit neidiſchem Entzücken ſtrich ſie lieb— koſend über die wunderbaren Sammete, den weichen Atlas, das koſtbare Pelzwerk, in allen denkbaren Farben und ungewohnten Farbenzuſammenſtellungen. Wie ent— ſetzlich armſelig mußte dagegen das roſa und weiß ge— ſtreifte Seidenkleid mit dem billigen Spitzenbeſatz ausſehen,

Roman von A. v. Gersdorff. 23

m

das ſie ſich gegen den Rat ihres Mannes in Poſen doch beſtellt hatte. Schon bereute ſie den Kauf und fand alles entſetzlich ordinär, unfein, plundrig. Sie hatte ja wahr⸗ haftig auch ſehr reiche, ſehr geſchmackvolle Toiletten als Mädchen gehabt und überall als Modekönigin gegolten. Aber dies hier! Jetzt wußte fie erft, was ſchöne Toi- letten waren. Himmel, mußte man darin ausſehen!

Die Zofe lachte, amüſierte ſich über Leonas Entzücken und zeigte ihr mit vielem Stolz alle Schätze ihrer Herrin. Einmal ging ſie ſogar über die Grenze hinaus, die ihr wahrſcheinlich geſtattet war: ſie ließ Leona einige Kleider, die ihr ganz beſonders gefielen, anprobieren. Beſonders in einer Ballrobe von goldgelber Seide mit einer Flut gelber, alter Spitzen, in deren Roſetten altertümlich ge: faßte Gold⸗Topas⸗Agraffen blitzten, ſah Leona fo ent: zückend aus mit ihrem ſchwarzen Haar, ihrem roſigen Teint und den großen, dunklen Augen, daß Marguerite die Hände zuſammenſchlug und begeiſtert ausrief: „Oh Madame! Plus belle, plus ravissante que Madame la comtesse, und daßu fo jong mon Dieu quel charme de jeunesse.“

Man wird ſich nicht wundern, daß Leona ganz be— rauſcht war. Dazu der wundervolle, fremdartige Duft, der all dieſen Sachen anhaftete!

Ach, lange hatte ſie kein Veilchenparfüm mehr gehabt, das ſie doch ſo ſehr liebte und als Mädchen ſo maſſen⸗ haft brauchte!

Allem entſagt auf alles verzichtet um Ulrichs willen!

Und er? Dankte er es ihr eigentlich? War er nun zufrieden? War er nun ſo glücklich, wie ſie ihn machen wollte, mit all ihren hohen Liebesopfern?

Sie dachte an ſeine Worte, als Katharine ankam: „Gottlob, daß das Elend hier nun endlich ein Ende hat!“

24 Ein Wille ein Weg.

und an die anderen ſchlimmeren: „Gut, daß wir keine Kinder haben! Welch ein Beiſpiel müßteſt du ihnen geben!“ Wie undankbar war es doch von ihm geweſen, und wie wenig Liebe ſprach daraus!

Sie zog das Kleid aus, das ihr übrigens viel zu weit und zu lang war, und ihr eigenes, vertragenes, ſchlechtes Lodenkleid mit dem ganz zerriſſenen Seidenfutter wieder an und ſchämte ſich ſchrecklich vor der Zofe.

An einem ſtrahlenden Winternachmittag kamen die Herrſchaften an im offenen Schlitten, denn die Bahn war gut.

Leona und Katharine hatten ſich ein verſtecktes Plätz⸗ chen in der Nähe der Auffahrt geſucht, wo fie nicht ge- ſehen wurden, aber Leona war gar zu aufgeregt, zu neu: gierig; Katharine mußte mit ihr hinauslaufen, die An— kunft der Herrſchaften zu ſehen.

Schon der Schlitten mit den Pelzdecken, den Blau: weißen, wallenden Schutzdecken über den ſchönen Pferden, das helle, klingende, ſilberne Geläut, dazu das tiefe, freudige Bellen Ogres, der däniſchen Dogge, die in ge— waltigen Sätzen nebenher ſprang, war imponierend.

Von der intereſſanten Gräfin ſah Leona allerdings nicht viel. Ein dunkelgrauer Sammetpelz, der eine hohe, anſcheinend üppige Geſtalt umſchloß, ein Barett mit wehen⸗ dem Reiherbuſch und ein dichter Schleier über einer Maſſe rotblonder Haare. Aber Leona meinte mit ihren erregten Sinnen den fremdartigen Duft zu ſpüren, der zu ihr her— überwehte, als der Schlitten ziemlich dicht an ihr vorüber— brauſte.

Vor Entſetzen faſt gelähmt aber war ſie, als die Dogge plötzlich ſtillſtand und ſich mit fletſchendem Gebiß nach dem Strauchwerk wandte, hinter dem Leona mit Katharine ſtand. |

Ein befehlender Zuruf feiner Gebieterin: „Ici, Ogre!“ rief das Tier aber ſofort zurück.

Roman von A. v. Gersdorff. 25

Dann waren fie alle im Schloß verſchwunden. Den eigentlichen Herrn des Schloſſes hatte Leona dabei gar nicht beachtet. WW Wie ſah er eigentlich aus?“ fragte fie Katharine. „Blaß und ein bißchen traurig oder kränklich.“ „Alt, nicht wahr?“ „Nein. Alt nicht ich glaube nicht, daß er alt aus: ſah.“ | „Jedenfalls nach beſonders viel muß er nicht aus: ſehen,“ lachte Leona, „ich habe ihn ganz überſehen.“ Ulrich hatte keine Verpflichtung, bei dem Empfang des Gutsherrn zugegen zu ſein. Er war deshalb in ſeinem Zimmer geblieben und erwartete erſt eine Aufforderung. An dieſem Abend aber kam keine.

Es war am Vormittag des anderen Tages; Ulrich war auf der Sägemühle, wo er dringend zu thun hatte, Leona ſaß und ſchrieb an die Schneiderin nach Poſen, ſie ſolle keine Spitzen auf das ſeidene Kleid nehmen, ſondern Perlbeſatz, wenn es auch ein wenig teurer ſei. Da kam Katharine herein und meldete, daß Herr v. Stangenberg draußen ſei.

„Er ſelbſt? O Himmel! Mein Mann iſt ja nicht da! Wir müſſen ſofort Jette nach der Sägemühle ſchicken.“

„Er ſcheint aber nicht nur für Herrn v. Uhlenſtein gekommen zu ſein, denn als er hörte, daß dieſer nicht da ſei, fragte er, ob er Frau v. Uhlenſtein ſprechen könne.“

„Natürlich ja. Laſſen Sie ihn nicht noch länger warten, Katharine. Wie dumm, daß ich nicht mein roſa Morgenkleid anhabe, ſo ſehe ich wirklich aus wie eine kleine Inſpektorsfrau.“

Herr v. Stangenberg trat gleich darauf ein.

„Ich treffe Ihren Gemahl nicht zu Haus, wie ich eigentlich vermutet hatte, gnädige Frau, und ſo benutze

26 Ein Wille ein Weg.

ich gern die Gelegenheit, Ihnen meine Aufwartung zu machen. Ich hoffe, wir werden in freundlichen Beziehungen zu einander bleiben. Sie müſſen ja ſehr einſam hier leben bei Ihrer Jugend keine ganz leichte Sache,“ ſchloß er, ſie mit unverkennbarer Ueberraſchung und Bewunderung betrachtend.

Wahrſcheinlich hatte er fie ſich ganz anders oder viel: mehr gar nicht vorgeſtellt. So frappierte ihn die jugend: lich ſchöne Erſcheinung außerordentlich als Gattin ſeines Untergebenen. Leona dankte ihm mit anmutigen Worten für ſeine Liebenswürdigkeit und betrachtete ihn mit nicht geringerer Aufmerkſamkeit.

Er hatte eine mittelgroße, etwas unterſetzte Geſtalt, ein blaſſes, bartloſes Geſicht mit einem Leidenszug um Augen und Lippen, einen klugen, ernſten Blick, und ob— wohl keineswegs hübſch oder beſonders vornehm ausſehend, machte er doch einen äußerſt gewinnenden Eindruck. Es lag etwas Ruhiges, Gefeſtigtes über ſeiner Perſon, und wenn er lächelte, ſah er ſehr viel jünger aus, als er war, ſonſt ſah man ihm wohl die fünfundvierzig Jahre an.

Die Unterhaltung führte er in geſchickter Weiſe nur über allgemeines, mit keinem Wort Leonas Privatver— hältniſſe berührend. Zuletzt bat er ſie, in nächſter Zeit mit ihrem Manne einer kleinen Feſtlichkeit beizuwohnen, mit welcher ſeine Schweſter ihre Ankunft in Zu feiern wolle. Sehr erfreut ſagte ſie zu.

Sich erhebend, ohne Ulrichs Ankunft abzuwarten, fragte er ſchließlich: „Wer war das junge Mädchen, welches mich anmeldete?“

„Das iſt meine Wirtſchaftsſtütze, Fräulein Wollski,“ ſagte Leona und wußte ſelbſt nicht, warum ſie dabei er— rötete, denn das konnte ſie ſich doch nur einbilden, daß er einen raſchen, verwunderten Blick auf ſie heftete.

Vielleicht dachte er aber wirklich, wie ſie denn ohne

Roman von A. v. Gersdorff. 27

Kinder ohne ein gaſtliches Haus zu machen, jung und geſund, eine Wirtſchaftsſtütze brauchen könne bei dieſem kleinen Haushalt.

Sie vergaß den peinlichen Gedanken aber wieder in der entzückenden Ausſicht auf das Feſt im Schloß, und daß man ſie wirklich in die Geſelligkeit ziehen wolle. Manchmal hatte ſie Furcht gehabt vor einer Enttäuſchung in dieſer Hinſicht.

Als er hinausging, trat gerade Katharine ein, um den Tiſch zu decken. Er ſah ſie mit einem merkwürdig prüfenden und forſchenden Blick an und verneigte ſich, zur Seite tretend, wie vor Leona.

Und eigentlich iſt ſie doch keine Dame, dachte dieſe ein wenig verwundert. Freilich, Katharine ſah ſehr nett aus in ihrem dunkelgrünen einfachen Kleide; ſie hatte eine ſehr zierliche Figur und hatte ſich ſchon recht erholt, ſeit ſie in Kempzin war. Ihre Farbe war nicht mehr ſo fahl, ſondern nur zart zu nennen, und die dicken, goldblonden Zöpfe ſo rund um den kleinen Kopf waren eigentlich eine ſehr maleriſche Friſur.

Und wie hübſch ihr das Rotwerden ſtand, als der Gutsherr ſie ſo höflich grüßte!

Sechzebntes Kapitel.

Das Schloß ſtrahlte im Lichterglanz. Wagen auf Wagen fuhr in den ſonſt ſtillen Park, durch die prächtige Allee, die auf die Einfahrt zuführte.

Oben in den Salons der Gräfin Caßbrough war der Empfang, und unten in dem kleinen Speiſeſaal, der ſich an die Zimmer Herrn v. Stangenbergs anſchloß, wurde das Mahl eingenommen.

Es waren eine Menge Beſuche in der Nachbarſchaft, ſogar auf recht weite Entfernungen hin, gemacht und

28 Ein Wille ein Weg.

wieder empfangen worden. Aber es war heute nur ein kleiner, ausgewählter Kreis, den die Gräfin für gut genug befunden, an dieſer erſten Feſtlichkeit, die ſie gleichſam zur Probe gab, teilnehmen zu laſſen.

Bei Leona war ſie nicht geweſen und hatte nur einige Tage nach dem Beſuche ihres Bruders ihre Karte hinüber⸗ geſchickt; Ulrich hatte mit Leona ſofort einen Beſuch bei ihr gemacht, war aber nicht empfangen worden.

Leona ſah ſie ziemlich oft, aber immer nur von fern, reiten oder in den verſchiedenſten extravaganten Fuhr- werken die Pferde ſelbſt lenken. Wunderſchön ſah ſie freilich immer aus. Ihr Haar ſtrahlte förmlich in Tizian— ſchem Goldrot, ihre Figur war tadellos, ganz ſchmal in der Taille und ſehr breit in den Schultern, wie ein Pariſer Modebild, dachte Leona.

Leonas Kleid war angekommen, aber es ſaß leider gar nicht beſonders. Ihre wirklich ſchöne Geſtalt kam nicht zur Geltung. Der ſchillernde Perlbeſatz ſah überladen ſchwer aus auf der leichten, billigen Seide, und Ulrich ſchüttelte den Kopf dazu.

„Ich weiß nicht,“ meinte er zögernd, „es iſt ja ſehr prachtvoll, möchte ich fagen, aber ich habe dich ſonſt ſchon. ſchöner geſehen, und dann liegt ſo etwas Eigentümliches darin, ſo etwas Abſichtliches. Meiner Anſicht nach wäre ein einfaches Kleid hübſcher geweſen für ein ſo junges Frauchen in deiner Stellung.“

„Ich will dir ſagen, woran es liegt,“ ſagte Leona betrübt, „es liegt an der Sparſamkeit. Erſtens durfte ich nur eine billige Schneiderin nehmen, zweitens hätte ich durchaus nach Poſen herüberfahren müſſen zum Anpro— bieren, wenn ich ihr auch eine ſehr gut ſitzende, alte Taille zum Danacharbeiten geſchickt hatte. Früher habe ich mindeſtens dreimal anprobiert und immer in den aller— erſten Ateliers arbeiten laſſen“ die Thränen ſtiegen ihr

N

Roman von A. v. Gersdorff. 29

heiß in die Augen „aber wenn man ſo lebt wie wir hier verliert man ja jeden Geſchmack, jedes Gefühl für Schönheit und Mode, und nachher ſieht man immer häß— lich und unpaſſend aus.“

„Hm, von häßlich iſt keine Rede,“ ſagte Ulrich und dachte bei ſich: Unpaſſend freilich ſieht ſie aus. Armes Kind, in gewiſſer Weiſe muß man ſie bedauern, und wenn ich's irgend könnte, ſollte ſie gewiß ihre reizende Figur nicht mit ſolch einer ſchlecht ſitzenden Taille ent⸗ ſtellen. | |

Zu Leonas Erſtaunen, das faſt an Mißvergnügen ſtreifte, war Katharine nachträglich ebenfalls eingeladen worden. Sie hatte natürlich dankend abgelehnt.

Jedenfalls hatte das junge Mädchen dieſe ſchmeichelhafte Einladung der Gutsherrſchaft Ulrich zu danken. Er hatte in ſehr wohlwollender Weiſe voll Anerkennung und Lob von ihr zu Herrn v. Stangenberg geſprochen.

Katharine war wirklich eine kleine Perle in ihrer Art. Das mußte Leona bereitwillig zugeben, denn nicht nur, daß ſie die Einladung in die Feſträume des Schloſſes ablehnte, fie bot auch noch in harmloſeſter Weiſe ihre Dienſte der Frau Gräfin an beim Servieren des Thees oder in den Küchenregionen. Man dankte ihr verbind— lichſt und meinte, daß genügend Hilfe vorhanden ſei; aber der alte Koch war anderer Meinung und ließ ſelbſtändiger— weiſe das Fräulein dringend bitten, ihn ein wenig unter— ſtützen zu wollen, denn die Hilfe, die ihm beigegeben, war ihm ein wenig zu ländlich unbeholfen.

So ſchlüpfte Katharine im weißen Latzſchürzchen zur Küchenthür herein, während Leona und Ulrich in den ſtrahlend erleuchteten Salon der Gräfin traten.

Alſo das war ſie?

Leona hatte zuerſt für nichts anderes Auge als für dieſe ſchöne und imponierende Frau.

30 Ein Wille ein Weg.

Welch eine Geſtalt in der himbeerfarbenen Sammet: robe, die Hals und Arme freiließ, wie von Alabaſter ge⸗ formt, in ſtolzer Ueppigkeit förmlich leuchtend! Dies Haupt mit dem duftig hoch friſierten, goldroten Haar, in welchem ein Halbmond von Brillanten blitzte! Dieſer blaſſe, perl⸗ mutterweiße Teint und die großen, lichtblauen Augen mit dieſem Blick einer Herrſcherin über alles, was ihr nahte!

Einen angſtvollen Blick warf Leona auf ihren Gatten, der zum Glück nicht ſo geblendet zu ſein ſchien wie Leona, und doch war es ganz unmöglich, daß ſie ihm nicht ge— fallen ſollte. Gut nur, daß ſie ihm ſo ſehr fern ſtand im Leben und ſchwerlich oft mit ihm zuſammen ſein würde.

Sonſt wäre die Eiferſucht wohl angebracht geweſen.

Obwohl Leona das für ſie ſchreckliche Gefühl hatte, ſehr wenig gut auszuſehen, erregte ſie doch vielfach Be— wunderung, und man zeigte ſich ſtaunend die reizende junge Frau des Verwalters, der freilich ſelbſt ein tadel— loſer Kavalier zu ſein ſchien, und man bedauerte, daß er ſich ſelbſt und ſeine junge Gattin ſo außerordentlich zurückgehalten hatte von jedem Verkehr. Man wußte ja doch, daß er Offizier geweſen war, und hätte das Paar gern willkommen geheißen, auch ohne daß der Mann eine ſelbſtändige Stellung gehabt hätte.

Gräfin Caßbrough ſprach ebenfalls einige Zeit recht freundlich mit Leona und Ulrich, wenn auch unverkennbar ein wenig von oben herab, und es lag, wenn auch viel— leicht ungewollt, etwas Herablaſſendes in ihrer Freund— lichkeit. Jedenfalls forderte ſie Leona auf, doch ganz un— geniert öfter in das Schloß zu kommen, was Leona, ganz benommen von der Ausſicht, in näheren Verkehr mit dieſer hochintereſſanten Frau der vornehmen Geſellſchaft zu fom: men, dankbar annahm.

Herr v. Stangenberg zog Ulrich vielfach an fih heran

Roman von A. v. Gersdorff. 31

und in den Kreis, mit dem er gerade eine Tagesfrage beſprach. Ulrich konnte ſich nur ſagen, daß er kein ge— ringes Glück gehabt habe, gerade dieſen Mann als Guts⸗ herrn zu bekommen. Denn wie leicht hätten ſich aus der Anweſenheit der Herrſchaften ſehr peinliche Zuſtände, eine ſehr ſchiefe, unhaltbare Lage für ihn ſelbſt und ſeine Frau entwickeln können.

So hatte Stangenberg die Angelegenheit auf die ein— fachſte, natürlichſte Weiſe gleich im Anfang geordnet.

Auch ſonſt konnte Ulrich nicht über Stangenberg klagen. Er kümmerte ſich um gar nichts und ließ Ulrich ſo ſelb— ſtändig und frei walten, wie man es in der That auch dieſem pflichttreuen, fleißigen und zuverläſſigen Manne gegenüber ohne Sorge konnte.

So viel des Neuen war auf Leona eingeſtürmt in dieſer Zeit und heute abend, daß ſie gern ihres Mannes Wunſch, ſich ungeſehen bald zu entfernen, nachkam, und, ſo thöricht es auch erſcheinen mußte, ſie genierte ſich wegen ihres ſchlechten Anzuges, und es machte ihr deshalb nicht die erwartete Freude, ſich in dieſer Geſellſchaft zu bewegen.

Nein, das ging nicht, das durfte nicht ſo fortgehen. Da mußte eine Aenderung geſchaffen werden. Wenn Ulrich ihr keine Hilfe bringen konnte, nun ſo mußte ſie ſich eben ſelber helfen, und das Wie ſollte nun die Ge— danken ihres Tages ausfüllen.

Als ſie mit Ulrich in ihr Heim zurückgekehrt war, und beide noch einige Worte ſprachen über das eben erlebte Feſt, ſchwärmte Leona in übermäßiger Bewunderung von Gräfin Fernande Caßbrough. Ja, das war eine Frau der großen Welt! Die verſtand es, zu leben! Welche Hoheit und Schönheit dabei!

„Ja,“ ſagte Ulrich, „eine Theaterprinzeſſin großen Stils.“

„Ulrich was für eine Idee!“

32 Ein Wille ein Weg.

„Ich hätte kaum gedacht, Leona, daß du, ein Berliner Kind, das auch die Spezialitätenbühnen beſucht hat, dich von dieſer Dame blenden ließeſt. Du haſt doch ſonſt einen recht ſcharfen Blick für andere Frauen und ihre Vorzüge. Wie konnteſt du hier nur ſo verblendet ſein? Es mag wohl die lange Zurückgezogenheit in unſere ſchlichten, natürlichen Verhältniſſe ſein, durch die dir das Unterſcheidungsvermögen abhanden gekommen iſt zwiſchen Echtem und Falſchem.“

Leona war ganz ſprachlos vor Staunen und ſtand immer noch auf der Schwelle, während Ulrich im Zimmer auf und ab ging, ebenfalls ohne an Ruhe zu denken.

„Ich weiß gar nicht, was ich von dir denken ſoll,“ ſagte ſie endlich, „was hat die Gräfin Caßbrough mit einer Spezialitätenbühne zu thun?“

„Das iſt das Genre, dem ſie angehört. Kein Haar auf ihrem Haupte, kein Atom ihres Geſichtes und Halſes iſt Natur. Alles, alles iſt Kunſt, Nachahmung, Schminke, Emaille, was weiß ich! Jedenfalls alles Falſchheit, Lüge, Blendung!“ f |

Leona hatte ſich geſetzt, und der Ausdruck entſetzten Staunens in ihrem friſchen, jungen Geſicht wich allmählich dem Nachdenken.

„Mein Himmel, ich weiß ja nicht aber es iſt ja wohl möglich, daß du recht haſt,“ meinte ſie ſehr kleinlaut.

„Wirſt es ſchon ſelbſt ſehen, wenn du ſie 'mal bei Tage beſuchſt. Sie ift jedenfalls Schon ihre vierzig Jahre alt. Nun bitte ich dich dringend, Leona, laß dich warnen vor dieſem Umgang, er kann nur ſchädlich, vielleicht ſogar Gift für dich ſein, obwohl ich glaube, daß dein geſundes, natürliches Gefühl dich ſehr bald vor dieſer angemalten Puppe Ekel und Mißtrauen empfinden laſſen wird. Ich habe dir jetzt die Augen geöffnet, laß ſie dir nicht wieder ſchließen durch einen neuen Kunſtgriff. Sie will dich

Roman von A. v. Gersdorff. 33

an ſich ziehen, wenn mich nicht alles täuſcht, du gefällſt ihr als Spielzeug, denn etwas anderes kann ſie nicht gerade von dir erwarten.“ |

„O, danke ſehr!“ rief Leona verletzt. „Du bit ja ſehr freundlich: alfo zu etwas anderem wie zum Spiel: zeug bin ich nicht zu gebrauchen?“ |

Ulrich, der ſchon die Lampe gelöſcht hatte und die Lichter, die Katharine vorſorglich auf den Tiſch im Schreib— zimmer geſtellt hatte, anzündete, hielt in dieſer Beſchäfti⸗ gung inne, erſchreckt über das, was ſo unwillkürlich aus ſeinem Herzen auf die Lippen getreten war.

Er wußte nicht, wie er ſich bei der Tiefgekränkten entſchuldigen ſollte, und ſo ſagte er, entſchloſſen weiter redend, ſanft: „Willſt du denn etwas anderes ſein, Leona?“

„Allerdings,“ ſagte ſie trotzig, „ich möchte die Frau ſehen, die es angenehm findet, von ihrem Manne für ſich und andere Menſchen nur als gut genug zum Spielzeug müßiger Stunden betrachtet zu werden.“ 8

„Wenn du wüßteſt, wie ſehr du dich mit dieſen Zu: geſtändniſſen ſelber zu meiner Anſicht bekennſt. Was möchteſt du mir denn ſein, was biſt du mir denn ſonſt, als mein liebes, geliebtes Spielzeug, eine Freude meiner müßigen Stunden?! Und deren ſind ſo wenige. Alles andere Hausfrau, Gefährtin, Gehilfin —“

„Iſt Katharine dir. Ich weiß es.“

„O, das iſt ſchlimm, ſehr ſchlimm,“ ſagte er leiſe, von ihr abgewendet am Tiſche ſtehen bleibend, „daß dies ausgeſprochen wurde und ſo geſprochen!“

„Von dir oder von mir?“ fragte ſie ſcharf.

„Von uns beiden, Leona.“

„Gott, da iſt freilich ſchon ſo manches geſprochen wor— den, was ſchlimm genug war, und wir leben immer noch ganz vergnügt und froh.“

1900. VII. 3

34 Ein Wille ein Weg.

Er wandte ſich erſtaunt um. „Was heißt das? Was iſt dir denn? Du ſprichſt ja auf einmal förmlich frivol über das Heiligſte, was wir haben, das Glück, den Frie— den unſerer Liebe, die du mit ſo ſchweren Opfern erkauft paft.” |

„Ach, laß doch nur heute,“ bat fie, verlegen werdend und das unter einem Gähnen verbergend, „es iſt ſchon ſo ſpät; wir wollen das Kriegsbeil für heute begraben und ſchlafen gehen. Ich kann mir ja denken, daß du gar nichts Beleidigendes gemeint haſt mit dem „Spiel⸗ zeug“; na, und im Grunde haſt du ja recht.“

„Ich verſtehe dich nicht, Leona. Soeben noch ſo mit Recht empört und aufgebracht über dies mir entſchlüpfte Wort und nun im Handumdrehen ſo ganz anders?“

„Nun ja. So bin ich eben. Du kennſt mich doch. Laß nur den feierlichen Ton, heute paßt er gar nicht hierher.“

Sie bot ihm lächelnd die Lippen, und als er den Kopf zur Seite wandte, zuckte ſie die Achſeln, nahm ihr Licht und ging ſo gelaſſen hinaus, als ſei der ſchönſte Frieden zwiſchen ihnen.

Er aber blieb noch eine Weile ſinnend ſtehen. „Da iſt etwas da iſt etwas Neues in ihr etwas Gefährliches, das ich noch nicht erkenne,“ murmelte er nachdenklich.

Als Ulrich in das Schlafzimmer trat, ſagte Leona freundlich: „Weißt du, du ſagteſt doch vorhin, die Caß— brough erinnere dich an eine Theaterprinzeſſin. Iſt es nicht merkwürdig, mich erinnert ſie auch an irgend jemand, oder ich muß ſie ſchon vor langer Zeit 'mal geſehen haben. Aber das war ganz beſtimmt nicht auf der Bühne auch nicht in der Geſellſchaft.“

„Jedenfalls nimm dich in acht vor ihr,“ Sie Ulrich, dem allerlei ſchwere Gedanken durch den Kopf gingen.

Roman von A. v. Gersdorff. 35

Siebzehntes Kapitel.

Die Lichter im Schloß waren erloſchen. Still und friedlich lag es da im glitzernden Sternenſchein und Schnee. Leiſe ſtrich der Nachtwind durch die kahlen Zweige der Bäume des Parkes und ſpielte mit der Fahne, die ſchwer und müde am Flaggenmaſte hing.

Aber auch hier waren Frieden und Ruhe nur äußer⸗ lich. Im Innern ſchlugen ſchwere Herzen und klangen ſchwere Worte.

Herr v. Stangenberg ſtand im Boudoir ſeiner Schweſter. Sie war im Hausgewande, in weißer, pelzbeſetzter Seide. Erſchauernd wickelte ſie ſich hinein, trotz des hellen Kamin⸗ feuers fror ſie.

„Fernande,“ ſagte Herr v. Stangenberg jetzt, das ſchon früher begonnene Geſpräch fortſetzend, „laß dir raten. Es iſt zu ſpät für dich, einen ſolchen Plan zu faſſen und wieder gutzumachen, was du vor vielen Jahren ge— fehlt Haft."

„Nein. Wo ein Wille it, iſt ein Weg!“ | |

„Leider findeſt du immer Wege, deinen Willen durch— zuſetzen.“

„Ja, immer.“

„Wie ein wildes Tier ſich ſeine Beute nicht aus Pranken und Zähnen reißen läßt, ſo ließeſt du niemals, was dein Wille gepackt hatte, fahren, wenn auch Liebe, Vernunft, ehrliche Sorge dir den Weg als falſch klarlegten.“

Es war ein müder, hoffnungsloſer Ton in ſeiner Stimme, während er mit der ſchmalen Hand über ſeine blaſſe Stirn ſtrich, in deren Schläfen nervöſer Kopfſchmerz ihn pei— nigte. Aber Fernande hatte ihn bitten laſſen, noch zu ihr heraufzukommen.

„Kann ſein,“ verſetzte ſie. „Wir wollen nicht über Charaktere ſprechen, ſondern über —“

36 Ein Wille ein Weg.

„Deinen Willen,“ vollendete er. 5 |

„Ich bin des Weges müde, den ich bis jetzt gegangen bin. Ich fühle das Alter kommen und das Leiden in meinen Adern, das körperliche Leiden, Rudolf.“

„Wenn du wüßteſt, wie ſehr ich dich beklage, Fernande, aber was du jetzt willſt, kann ich nie und nimmer gut⸗ heißen. Ich muß es ein ſchweres Unrecht nennen, weit ſchwerer als vor Jahren jenes Unbegreifliche, das du kaltblütig begingeſt.“

„Ich bin nicht hierher gekommen, um unverrichteter Sache wieder fortzugehen. Ich kann es nicht, ich will es nicht.“ | „Ja, ich glaube wohl, daß ich vergeblich rede, wie ich vor Jahren vergeblich ſprach und warnte.“

Sie ſchien den Vorwurf zu überhören. „Wozu noch länger warten?“ ſagte ſie. „Ich bin deinem Rate gefolgt und habe einen langen und ermüdenden Umweg gemacht. Ich will jetzt die Entſcheidung herbeiführen. Das Glück tötet niemand, wenn es auch noch ſo überraſchend kommt.“

„Töten? Nein. Aber weißt du denn, ob es Glück iſt, was du zu geben haſt? Iſt jemals Glück und Frieden von dir ausgegangen? Haſt du allen Gram, allen Unfrieden, allen Fluch vergeſſen, der von dir ausging auf jene Menſchen, die das Unglück hatten, dir in den Weg zu kommen, die Laune in dir erweckend, die einen zu gewinnen, die an— deren zu beherrſchen? Ich halte es für das ſchwerſte Un— recht, das du jetzt begehen willſt. Du willſt auch nicht das Unrecht gutmachen, das du begangen haſt, ſondern du denkſt nur an dich dabei an dich allein. Schon jene einfache Predigerswitwe, der du das kleine, ſchwache Weſen damals anvertrauteſt, erkannte dich richtig und fürchtete für dein Kind. Darum nahm ſie dir das heilige Verſprechen ab, daß du tot ſein ſollteſt für das Kind. Du hatteſt die Herzloſigkeit, das Verſprechen zu geben,

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Roman von A. v. Gersdorff. 37

Fernande, in dem raſenden Wunſch und Wollen, Gräfin Caßbrough zu werden. Du wollteſt in den Genuß dieſes Reichtums, dieſer Stellung kommen, ebenſo rückſichtslos, wie du vordem dem ſchlichten, beſcheidenen Menſchen Herz und Hand boteſt, als die Laune dich anpackte, beglückende Göttin zu ſpielen und einen armſeligen Sterblichen zu dir in den Himmel zu erheben. Die Laune verrauſchte und wurde durch eine andere erſetzt. Widerwillen und Haß gegen den Unſeligen erwuchſen in dir, mit dem Willen, ihn los zu werden. Das gelang. Was wäre deinem Willen wohl unüberſteiglich erſchienen? Und er ſtarb dann und wußte nicht einmal, daß er eine Tochter, ein Kind hatte. O Fernande, ſchaudert es dir nicht, wenn man dir ſo in den Grund deiner Seele hinableuchtet, wie ich es jetzt thue, wie ich es ſchon oft that?“

Sie wandte ſich ſtolz um und zuckte die Achſeln. „Du weißt, daß mein erſter Gatte die Scheidung verweigert hätte, wenn wir ein Kind gehabt hätten. Ich aber ich wäre geſtorben, wäre wahnſinnig geworden aus Wider⸗ willen, der mir Leib und Seele gegen ihn zu erfüllen an: fing. Ich war getäuſcht worden, ich hatte nicht gefunden in ihm, was ich geſucht. Du weißt, welch trübſeliger Geiſt er im Grund war.“

„Ja, ja, ich weiß, du mußteſt dich ausleben. Das iſt ja wohl auch das Recht des Menſchen. Wie ſteht es aber mit der Pflicht dabei? Jahrelang haſt du das Wort in ſeiner heiligſten Bedeutung verleugnet, und ſelbſt gegen das unſchuldige Geſchöpf deines Blutes behaupteteſt du, unüberwindliche Abneigung zu haben um ſeines Vaters willen. Jahrelang haſt du ein Leben geführt, wie es dir gefiel, und kannteſt gegen niemand Pflichten als gegen dich ſelbſt. Und nun, nun auf einmal ſoll ich glauben, daß das verleugnete Muttergefühl in dir ſich ſo macht— voll meldet, daß du ihm folgen mußt? Wiederum rück—

38 Ein Wille ein Weg.

ſichtslos, diesmal gegen dein Kind und ſein Wohl und Wehe.“

„Ich ſagte dir, ich fühle in meinen Adern etwas heran: ſchleichen, das mich mit anderen Gedanken erfüllt, als ich bisher gehabt, ich fühle mich krank, ich fürchte die Zu⸗ kunft.“

„Das iſt es, Fernande, unglückliche Schweſter das iſt es. Der letzte Egoismus des Menſchen, der ihn zu: weilen zu edlen Regungen und Thaten treibt, regt ſich in dir. Aber bedenke wohl, daß du Schlimmeres damit thuſt als mit all deinen begangenen Sünden und Fehlern. Du willſt dir den Segen natürlicher Liebe und Treue für ſchwere Zeit gewinnen, weil du hörteſt, welch ein Schatz an Güte und Seelenreinheit und Heiterkeit deine Tochter iſt. Du willſt die ſchlichte Blume aus dem Boden reißen, in dem ſie feſte, geſunde Wurzeln ſchlug, und willſt ſie in die ſchwüle, verdorbene Atmoſphäre deiner Nähe bringen, um deine überreizten Nerven, deine kranken Sinne aus: zuruhen vor dem grellen Farbenglanz der Freudenblumen, die bis jetzt dein Leben dir bot. Selbſtlos ſind die Gründe nicht, Fernande, die den Wunſch und Willen in dir ſo ſtark, ſo abſolut zwingend machen, jetzt deine Tochter zu haben, dich jetzt Mutter nennen zu laſſen. Du kannſt nicht einmal ſagen, daß du ſie in den Genuß deines Reich— tums, deiner Lebensſtellung einzuführen für deine Pflicht hielteſt, ehe du ſtirbſt. Das Caßbroughſche Vermögen ge— hört den Kindern aus deines Mannes erſter Ehe. Du haſt während deines Lebens nur den Zinſengenuß.“

„Und du glaubſt wirklich, daß du mit dieſer Anklage, aus der ſo wenig brüderliche Liebe, ſo wenig Verſtändnis und Gerechtigkeitsgefühl ſpricht, meinen Willen brechen wirſt?“ fragte ſie mit Verachtung und Bitterkeit.

„Nein, die Hoffnung habe ich nicht. Nur dies letzte Mal mußte ich meine Stimme erheben zum Schutze der

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zufriedenen Exiſtenz eines Menſchen, die du gekommen biſt, in ihren Grundfeſten zu erſchüttern. Iſt es wirklich Mutterliebe, ſpät erwachte, ſo giebt es andere Wege, ſie deiner Tochter zu zeigen nach deinem Tode. Du kannſt ſelbſt, trotz deiner Einkünfte, über kein Vermögen ver⸗ fügen, aber ich bin wohlhabend genug, dir die Hand dazu zu bieten. Aber dein augenblickliches Vorhaben iſt nur von deiner Selbſtſucht geboren, Fernande, und dabei ſeltſam ungeſchickt eingeleitet. Statt ſchlicht und mütterlich an dein Kind heranzutreten, das einfache Herz damit zu erobern, kommſt du mit all dem falſchen Glanz, all dem Scheinglück, mit dem du bei dem großen Troß minderwertiger Charaktere bisher leichte Siege erfochteſt. Was ſoll das hier?“

„Erſtens mußte ich doch leben,“ ſagte ſie mit einem ſonderbaren Lächeln, das ihn in feinem faſt irren Aus: druck erſchreckte, „und ich bin mit meinen Gewohnheiten im tiefſten Sein verwachſen; und zweitens ich wollte ihr kein falſches Bild von mir geben, denn ſo, wie ich mich hier zeige, fo bin ich in Wahrheit.“

„Jawohl, in Wahrheit falſch in Wahrheit eine Lügnerin, ſogar vor dir ſelbſt,“ rief er in ſchmerzlichem Zorn ſich erhebend, denn er war zu Ende mit ſeiner Logik. Er ſah ein, daß er hier nichts mehr aufhalten konnte. Seine Hoffnung, daß ſie bei dem Anblick des ſchlichten, unbedeutenden, dienenden Mädchens anderen Sinnes wer— den würde, hatte ſich nicht erfüllt.

Er hatte ſeiner und Fernandes ſterbender Mutter in die Hand verſprechen müſſen, Fernande nie ganz ſich ſelbſt zu überlaſſen, ſie, ſo viel in ſeiner Kraft läge, zu warnen, zu ſchützen, ihr zu raten. Nicht nur ſeiner Ge— ſundheit wegen, auch um der unſteten Schweſter, die Jahre hindurch ihren Wohnſitz beſtändig wechſelte, nahe ſein zu können, war er, ſeitdem ſie Witwe geworden, ſeinem eigenen Hauſe fern geblieben.

40 Ein Wille ein Weg.

Und nun? Wie er ſie jetzt dort ſitzen ſah ohne die Maske, ohne die glänzende Rüſtung, die ihr noch immer den Anſchein der Jugend und Kraft verlieh, nun, wo ſie ſich nicht in der Gewalt hatte und ſich gehen ließ, wo auf den ehemals ſo ſchönen Zügen ein unverkennbarer Stempel lange verheimlichten ſchweren Leidens lag, nun konnte er's nicht hindern, daß in ſeinem Herzen für dieſe wilde, ruhe⸗ loſe Natur noch eine Hoffnung neu ſich hob eine letzte freilich auf Ruhe und Frieden, und daß ſie ihn bald finden möge. Auf Erden ſah er keine andere Ruhe für ſie.

So trat er neben ſie und in grenzenloſem Mitleid ſich überbeugend, küßte er ſie auf die kalte Stirn mit einem gemurmelten Segenswunſch, in dem all ſeine treue Bruder⸗ liebe, ſein edles, kummervolles Herz ſich ausſprach.

Sie antwortete mit einem Zucken der feinen Brauen, einem abwehrenden Blick, und er ging raſch hinaus, ſie ſich ſelbſt überlaſſend.

War es doch nicht das erſte Mal, daß er ſie ſo elend und verzweifelt traf und doch am anderen Morgen, voll: kommen friſch, ſchön und geſund erſcheinend, zu Pferde ſteigen ſah. Es war ihm ſelbſt ein Rätſel. Er kannte den Zauber nicht, der dies bewirkte, er ahnte nicht, daß ſeine unglückliche Schweſter ſeit Jahren in den Fängen eines Dämons lag, des Morphiums, der ſeine Opfer any ſam, aber ſicher in Tod oder Wahnſinn treibt.

| Achtzehntes Kapitel.

Das Weihnachtsfeſt war vorüber. Wie anders hatte es ſich angelaſſen als in vergangenen Jahren, wo es ſo ſtill und ſo weihe- und friedvoll geweſen war, ſo viel Liebe, ſo viel Hoffnungen auf die Zukunft in dem Herzen Leonas und dem ihres Gatten geherrſcht hatten. Wohl war für die junge Frau die Enttäuſchung damals ſchon recht bitter

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Roman von A. v. Gersdorff. 41

geweſen, daß ihre Mutter ſo hart und unnatürlich ſein konnte, nicht die kleinſte Gabe zu ſenden; aber das war im Glück, nun doch ihren geliebten Ulrich zu beſitzen, bald untergegangen. l

Viel hatte fich ſeitdem in der kleinen, beſcheidenen Häus⸗ lichkeit verändert, viel in den Herzen, welche ſie gegründet in höchſter Liebe, höchſtem Vertrauen auf die beiderſeitige Kraft.

Ulrich war mit ſeinem feſten Willen, ſeinem klaren Verſtand immer mehr in ſeine Aufgabe hineingewachſen, er war ein vorzüglicher Landwirt geworden, aber nicht das Weib ſeiner Herzenswahl, nein, eine Fremde hatte ihm geholfen, ihn geſtützt, ihm beigeſtanden! Mit Bitter⸗ keit und Weh war die Liebe gemiſcht, mit unausgeſproche⸗ nem Vorwurf die Zärtlichkeit, die er für ſein junges, ſchönes Weib empfand, und nicht beſſer, nicht harmoniſcher wurde der Mißklang dieſer Ehe durch den hineinklingenden Selbſtvorwurf: Wie konnte ich ſo unüberlegt handeln, ſo blind der Leidenſchaft gehorchen, das verwöhnte Kind des Glücks in Verhältniſſe zu bringen, wo nur wirklich er⸗ probte Liebe, energiſche Willenskraft und wirtſchaftliche Tüchtigkeit Gutes wirken konnten! Habe ich je einen Augenblick wirklich glauben können, daß dieſe Ehe die Hauptbedingungen zum Glück beſitze? Hätte nicht das ge- ringſte, ernſt gemeinte Nachdenken mich vom Gegenteil überzeugen können? Und wenn ich ſo ſchwach gegen mich ſelbſt war, dann forderte ich von dem achtzehnjährigen Weſen, das in ſolcher Luft und Erziehung groß geworden, ſie ſollte ſtärker ſein als ich? Ach, ich kann ſie nur bemitleiden und mich ſelbſt tadeln!

Darum wurde er liebevoller und viel nachſichtiger gegen Leona, ſehr ſelten ließ er ſich hinreißen zu harten Worten wie an jenem Ballabende, um gleich darauf wieder mit verdoppelter Zärtlichkeit und kleinen Geſchenken das ver:

42 Ein Wille ein Weg.

wundete Herz zu verſöhnen, während er ſich auf die Stunden freute, wo er im ernſten, ſeine Lebensintereſſen behandelnden Geſpräch mit Katharine ſich ausruhen durfte vom Spiel mit einem Kinde.

Ach, Friede und Ruhe und Stille lagen wohl äußer: lich ſeit Katharines Einzug über dem kleinen Haushalt, aber Glück war das nicht.

Nur Leona allein war vergnügt, froh, glücklicher als früher. Kein Streit, keine Kränkungen zu Hauſe, ſie wurde nicht mehr getadelt und geſcholten, ihre kleinen Wünſche wurden erfüllt, ſoweit es irgend möglich war, keinerlei Pflichterfüllung oder Arbeit wurde ihr zugemutet, und doch, wenn ſie zuweilen ganz allein war, dann kam ein fremder Ausdruck von Sorge und Bangen in ihr Ge— ſicht, und fie weinte, als fole ihr. armes, thörichtes, ver- zagtes Herz brechen.

Katharine war ein Engel an Freundlichkeit und be⸗ ſcheidener Unterordnung und that alles, was zur Behag— lichkeit des Hauſes nötig war, in geräuſchloſer und voll: endeter Weiſe, und Ulrich konnte lächelnd die kleinen Wirtſchaftserſparniſſe, welche ſie machte, buchen. Sogar ein Schweinchen, ein paar Hühner und Gänſe hatte ſie angeſchafft und ein Stück Gartenland erbeten und freute ſich unendlich über dieſe nutzbringende Thätigkeit im Inter⸗ eſſe und zum Vorteil der Familie, in der ſie ſich ſo zu— frieden und glücklich fühlte wie noch nie in ihrem Leben. Sie war friſcher und voller geworden und ſah zuweilen ganz reizend aus, ohne irgendwie hübſch zu ſein, wenn ihr feines, ſchmales Geſicht von der friſchen Luft und Arbeit gerötet war, und die freundlichen, hellen Leinwand— kleider, die ſie ſich ſelbſt gemacht hatte, ihre zierliche Figur umgaben, mit ihrem goldenen Flechtenkranz über der Stirn, die freilich keineswegs klaſſiſch, doch ſo weiß, ſo rein war, daß Ulrich manchmal meinte, ſie leuchte ordentlich, wenn

Roman von A. v. Gersdorff. 43

er ſo im Zwielicht nach der Arbeit draußen mit ihr wirt⸗ ſchaftliche Tagesfragen beſprach, wobei Leona gewöhnlich mit Lachen und Scherzen entfloh und niemand ſie zurück— hielt, niemand es übelnahm.

Es hatte ſich ganz von ſelbſt gemacht, daß ſie recht häufig bei der Gräfin Caßbrough im Schloß war. Nach wenigen Proben ſchien die Nachbarſchaft dieſer Dame doch keine genügende Anregung zu bieten, wenn ſie auch viele Geſellſchaften gab und oft aus war, und ſie hatte es gern, wenn ihr Leona die Zeit am Kamin wegplauderte, fie anſtaunte, bewunderte, ihr Schmeicheleien ſagte, ihr fran⸗ zöſiſch vorlas, kurz, ſich allmählich mehr und mehr aus der Gattin und Hausfrau des Verwalters zur Geſellſchaf⸗ terin der Herrſchaft ausbildete. |

Ulrich hatte durch die Anweſenheit der Herrſchaften ein bedeutendes Mehr an Thätigkeit. Bei Jagden, Ritten, Pferdebefichtigungen, Herrenvereinen der Nachbarſchaft und fo weiter hatte fih der Schloßherr nicht ausſchließen fön: nen, und er ſah es ebenſo gern, daß ſich ſein Verwalter daran beteiligte, wie Ulrich dieſem Wunſche ſehr gern nachkam. Er hatte im erſten Jahr hier ein Zuſammen— ſein mit Standesgenoſſen doch ziemlich ſchwer vermißt.

Um Weihnachten herum hatte denn auch Herr v. Stangen— berg ſein Gehalt bedeutend erhöht. Merkwürdigerweiſe quälte ihn Leona trotzdem keineswegs mit neuen Toiletten— wünſchen, und er hoffte, kleine Summen von Zeit zu Zeit zurücklegen zu können, nicht ohne vorher ſeiner jungen Frau ſo viel davon anzubieten, als ſie für neue Garderobe ſich davon wünſchen würde.

Er wunderte ſich, daß ſie dies Anerbieten kurz, wenn auch mit äußerlicher Dankbarkeit ablehnte. Es ſei ganz außerordentlich freundlich von Ulrich, aber ſie wolle doch um keinen Preis mit ſeinen teuren Notgroſchen ſich Toi— letten beſorgen.

44 Ein Wille ein Weg.

Er wunderte ſich und fing an aufzupaſſen, ob ſie am Ende Schmuckgegenſtände und Sachen trug, die er nicht kannte, ob fie Geſchenke der Gräfin Caßbrough etwa an: nahm, wohl gar herausforderte. Aber er konnte nichts bemerken.

Freilich, zum Weihnachtsfeſt hatte die Gräfin wie eine Königin Geſchenke und Gaben ausgeſtreut, ſo weitgehend und ſo reichlich, daß ſelbſt der Gänſehirt nicht leer aus⸗ ging und zu Ulrichs Verdruß allgemeiner Zank und Streit und Neid die Folge waren. Dabei war natürlich auch auf Ulrich und Leona, ſogar auf Katharine, die doch mit den Herrſchaften drüben gar nichts zu thun hatte, eine mehr oder weniger unbrauchbare Spende fürſtlicher Launen ge: kommen. Namentlich war der federgeſchmückte Pariſer Rembrandthut für Leona, ſo bezaubernd er ihr ſtand, äußerſt unpaſſend in ihren Verhältniſſen, nur daß er ihre Eitelkeit und ihre Luſt an Putz und Tand noch ſchürte, indem ſie ihn zuweilen im Zimmer, wenn ſie allein war, aufſetzte, ſich mit allem, was ſie dazu irgend anwenden konnte, maleriſch drapierte und ſich an ihrem Spiegelbilde erfreute.

Katharine erhielt ein Tagebuch in gepreßtem Leder mit dem Wappen der Gräfin, worüber Ulrich kopfſchüttelnd die Achſeln zuckte. Die Gräfin hatte wohl neulich gehört, daß die „Stütze“ der Frau Verwalter ein Wirtſchaſts— tagebuch führe, wovon die Frau Gräfin wahrſcheinlich gar keine Ahnung hatte. Katharine lachte nur und meinte, es ſei ſicher ein ſchon vorhandenes Tagebuch geweſen, das die Frau Gräfin auf dieſe Weiſe noch nutzbar gemacht habe. Sie ſchenkte es Leona, die es wunderſchön fand und ſofort in Angriff nahm, den angenehmſten Zeitvertreib dabei findend.

Gräfin Caßbrough war zweimal bei Leona geweſen. Jedesmal war ſie überraſchend gekommen, jedesmal hatte

Roman von A. v. Gersdorff. 45

ſie in ſehr lobender Weiſe von Katharine geſprochen und nach dem „allerliebſten, netten Mädchen“ gefragt, ſo daß Leona ſpäter zu ihrem Manne ſagte, ſie glaube, daß die Gräfin am Ende Abſichten auf Katharine habe für ihren perſönlichen Dienſt. Ulrich war ſo erſchrocken darüber, daß ihn Leona mit einem unbeſchreiblich fragenden Blick anſah, der ihm wohl hätte zu denken geben müſſen, wenn er ihn in ſeinem Aerger bemerkt hätte.

Katharine aber tröſtete ihn, obwohl ſie ſich natürlich ungeheuer geſchmeichelt fühlte, daß, wenn ſie wirklich je daran denken könnte, freiwillig von Uhlenſteins fortzu: gehen, die Gräfin Caßbrough die allerletzte wäre, zu der fie fih hingezogen fühle. Im Gegenteil, fie könne wirt: lich nichts dafür, aber ſie habe eine förmliche Abneigung gegen dieſe Frau, und es käme ihr vor, als wenn ſogar ihr freundliches Lächeln falſch wäre, wie ihre vielgerühmte Schönheit. |

Leona tadelte Katharine heftig über dieſe reſpektloſe Bemerkung, aus der ſie nur Ulrichs Anſicht hörte. Jeden⸗ falls hatte Katharine fortan immer eine plauſible Ent: ſchuldigung für ihr Nichterſcheinen, wenn die Gräfin herüberkam und ſie zu ſehen wünſchte oder irgend einen Dienſt von ihr begehrte.

Am 15. Februar war Fernandes Geburtstag, und ſchon lange vorher war man im Schloß mit Vorbereitungen für ein großes Feſt in Maskenkoſtümen beſchäftigt. Die Gräfin war voll Eifer und Aufregung, ihr Bruder aber ſchien wenig Freude daran zu finden, wie das ja auch ganz natürlich war. Ziemlich ſchweigſam und ſchlechter Stim— mung ging er dem lärmenden Treiben möglichſt aus dem Wege.

Eines Abends verließ Leona das Haus in der Dämmer— ſtunde, um, wie ſie jetzt zuweilen that, einen einſamen

46 Ein Wille ein Weg.

Spazierganz zu machen, auf welchem fie regelmäßig dem Briefträger begegnete, der die Briefe für das Perſonal des Gutes brachte.

Heute hatte er ſogar einen Brief für ſie ſelbſt, auf welchem „eigenhändig“ ſtand. Leona nahm ihm denſelben ruhig ab, ohne beſondere Ueberraſchung, obwohl ein raſches Rot ihre Stirn überflog. Eilig ſtrebte ſie dann, ohne den Brief zu erbrechen, wieder dem Hauſe zu.

Sie war froh, daß Ulrich noch nicht da war, und ſchloß die Thür ihres Zimmers ab, um nicht etwa bei der Lektüre überraſcht zu werden. Es war ſchon recht dunkel, und ſie mußte eines ihrer buntbeſchirmten Lichter anſtecken, um den Brief zu entziffern.

Wie ihre Hände zitterten, ihr ganzes Weſen bebte, als ſie ihn geöffnet hatte und nahe an das Licht hielt!

Er lautete:

„Meine unglückliche Tochter! Dein Brief hat mich nicht überraſcht. Ich habe ſein Kommen vorausgeſehen ſchon vor Jahr und Tag, da ich wohl gehört habe von Deiner unglücklichen Ehe, und daß Dein Mann das junge Mädchen ins Haus zu nehmen gewagt hat, welches der Grund jenes Zerwürfniſſes an eurem Verlobungsabende war und die unmittelbare Veranlaſſung, weswegen er Dir den Ring zurückzugeben wünſchte. Ich beklage Dich auf das tiefſte, kann aber nichts für Dich thun, wenn Du keinen Grund zu haben meinſt, in das Haus Deiner Mutter zurückzukehren. Es ſteht Dir nach wie vor offen. Aber Dich mit Geld zu unterſtützen, damit Du dieſe elende Ehe, dieſe armſelige Haushaltung weiterſchleppen kannſt, wie Du von mir zu erbitten die Naivität haſt, das über— ſteigt denn doch meine Begriffe, ſelbſt wenn Dich der Menſch, wie ich aus Deinen Zeilen freilich erſehe, dazu angeſtiftet hat, weil er nicht Luſt hat, Deine Toiletten zu bezahlen und dies mit ſeinem jämmerlichen Inſpektors—

Roman von A. v. Gersdorff. 47

gehalt auch gar nicht kann. Nein, mein Kind, auf ſolche Unterſtützung bitte ich Deinen Herrn Gemahl gütigſt verzichten zu wollen. Ich kann Dir nur eines fagen: Wähle zwiſchen ihm und mir. An einem Grund zur Scheidung wird es Dir vermutlich nicht fehlen. Du haſt das Unglück eben ganz allein Dir zu verdanken, Deiner wahnſinnigen Verliebtheit, die nicht ſah, daß er Dich lieber heute wie morgen los geweſen wäre. Sei dem, wie ihm wolle. Dir iſt nicht zu helfen, wie Dir damals nicht zu raten war. Du wollteſt eben in Dein Elend rennen und haſt nun die Folgen zu tragen, wie Du kannſt, wenn Du nicht zurückkehren willſt in die Arme Deiner tiefbetrübten Mutter.“

Leona wußte nicht, wie ihr geſchah. Sie glaubte zu träumen, einen entſetzlich ſchweren Traum bitterſter Ent— täuſchung. |

War es denn möglich, ihre Mutter, die früher fo gut gegen ſie war, der es auf Geld gar nicht ankam, deren einziges Kind ſie war, hatte keine andere Antwort auf ihre flehentlichen Bitten, ihr aus Not und Sorge zu helfen, ihr Geld zu ſchicken zu den notwendigſten Kleider— bedürfniſſen! Und wie hatte ſie ihr geſchrieben, wie liebe— voll und ſehnſuchtsvoll, wie rührend ihr geſchildert, welche Entbehrungen ſie zu tragen habe!

Und das Gräßliche, das fie da ſchrieb, von dem jungen Mädchen, welches die Veranlaſſung geweſen, daß Ulrich ſie ſo raſch als möglich habe aufgeben wollen und los ſein, und wie er nun gewagt habe, ſie in ſein Haus zu holen!

Es war ja wahr, alles wahr! Konnte ſie das wohl noch vor ſich ſelbſt leugnen? Hätte ſie nicht noch viel mehr ſagen können, wenn ſie gewollt hätte? War ſie denn blind und taub geweſen und hatte dicht daneben ge— ſtanden und das Entſetzliche nicht geſehen, nicht begriffen,

48 Ein Wille ein Weg.

was fih ſchon die Welt draußen erzählte, die Welt, in der ſie früher eine bewunderte, gefeierte Rolle geſpielt?

Ah, nicht geſehen, nicht begriffen? Nein, nicht be⸗ greifen, nicht ſehen wollen hatte ſie, was ſo laut, ſo deutlich jede Stunde neben ihr zum Himmel ſchrie, den ſchnöden Verrat an ihrer Liebe, an ihrem Recht, die Graus ſamkeit gegen ſie, die alles, alles entbehrte aus Liebe die unfaßliche, ungeheure Undankbarkeit für das hohe Liebesopfer, welches er damals doch mit Entzücken, mit offenen Armen angenommen hatte!

Alles, was in der letzten Zeit ſtumm in ihr gearbeitet und gewühlt, kam emporgeſtürmt in ihrem leidenſchaft⸗ lichen Herzen, wirbelte ihre Sinne durcheinander, ihr das heiße Blut zu Kopfe jagend. Und als in dieſem Moment draußen die Thür ging, als ſie im Zimmer Ulrichs Schritt vernahm, da verließ ſie alle Ueberlegung.

Sie flog nach der Thür, ſchob den Riegel zurück und ſtürzte ihrem Manne entgegen, ihm den Brief hinſchleu— dernd, während ſie kaum verſtändlich, mit erſtickter Stimme hervorſtieß: „Da lies! O, ich blinde Thörin! Ich weiß alles und wollte nur nichts wiſſen von dem ſchänd— lichen Verrat an meiner Liebe, meinem Rechte. Du liebſt Katharine und haſt ſie immer geliebt. Leugne, wenn du kannſt! Aber du kannſt nicht o nein, wie du da— ſtehſt ſo elend ſo niedrig, ſo recht ein Bild der Schuld! Und wie habe ich hier ausgehalten, wie habe ich gelitten und alles entbehrt, was das Leben froh und ſchön macht! Aber ich dachte doch immer noch, du liebteſt mich, ich durfte dich nicht verlaſſen, ohne dich unglücklich zu machen und hätte doch, weiß Gott, längſt wiſſen können, woran ich war.“

Mit einem hohnvollen Lachen, das in krampfhaftem Schluchzen brach, wandte ſie ſich heftig nach der Thür. „Und nun zu ihr nun zu dieſer Perſon!“

Roman von A. v. Gersdorff. , 49

Da aber umfpannte ein fefter Griff ihre Hand und riß fie zurück, eine harte Stimme rief: „Du bleibſt, Wahn: ſinnige! Kein Wort zu dieſem Mädchen!“

„Du du ſchützeſt ſie gegen mich gegen dein eheliches Weib, diefe —“ ö

Er ſchnitt ihr das Wort ab. Seiner ſelbſt kaum mehr mächtig, riß er ſie nach dem Nebenzimmer und ſchleuderte ſie auf den nächſten Seſſel. |

Taumelnd ſtürzte fie in die Kniee, halb ohnmächtig neben dem Stuhl am Boden liegen bleibend.

„Dank es meiner Selbſtbeherrſchung und Beſinnung, daß ich dich nicht ſchlage!“ herrſchte er ihr zu. „Verdient hätteſt du es. Und nun her mit dem Wiſch!“

Ein unartikulierter Aufſchrei rang ſich von ſeinen Lippen, als er, mit einem Blick über die Zeilen der großen, deutlichen Schrift gleitend, las und begriff.

Am ganzen Leibe bebend, die Hände geballt an der Seite niederhaltend, erdfahl im Geſicht, ſtand er dicht vor ihr.

Er mußte wohl einen entſetzlichen Blick haben, denn ſie kauerte ſich halb hinter der Lehne des Seſſels zuſam⸗ men, mit einer wahren Todesangſt zu ihm aufſehend und die Arme unwillkürlich wie zum Schutz vor ihr Geſicht haltend.

Das machte ihn ruhig und kalt.

„Steh auf! Lieg da nicht ſo auf der Erde in einer Poſe, als fürchteteſt du, ermordet zu werden! Morgen früh verläſſeſt du mein Haus und kehrſt zu deiner Mutter zurück! Auf ihre und deine niederträchtige Anklage be— halte ich mir die Antwort vor. Aber wiſſe, wenn du vielleicht über Nacht wieder anderen Sinnes werden ſollteſt ich werde nicht anderen Sinnes!“

Er drehte ſich um und ging hinaus.

1900. VIII. 4

50 Ein Wille ein weg.

In dunkler, eiſiger Februarnacht, während der Wind über die ſchwarzen, regennaſſen Felder pfiff, im bleichen Mondlicht, flüchtete Leona in Todesangſt und Verzweiſ— lung aus dem Hauſe des Gatten.

Neunzehntes Kapitel.

Der alte Herr v. Uhlenſtein lag wach auf ſeinem Lager; er ſchlief ſchwer ein, und beſonders wenn das Pfeifen und Heulen des Windes das freiſtehende Häuschen umſtrich, fand er keinen feſten Schlummer. Er ſchloß nie die Vor: hänge ſeiner Schlafzimmerfenſter, und ſein Bett ſtand ſo, daß er ſtets den Himmel ſehen konnte.

Still richteten ſeine ſchlafloſen Augen ſich auf das fahle, weißliche Licht dieſer Nacht und ſahen dem Jagen der Wolken zu, wie ſie wanderten, wanderten.

Täuſchte er ſich oder hörte er ein ſchüchternes Klopfen am Fenſter?

Nein, das war undenkbar. Wenn irgend etwas paſ— ſiert wäre und wo, außer bei Uhlenſteins, ſollte das ſein? wenn es ihn anginge, würde man laut und dringend klopfen. Wahrſcheinlich ſchlug eine loſe Ranke gegen das Fenſter. Aber jetzt! Es klopfte wieder, aber draußen am Zaun ihm war's auch, als riefe jemand ganz deutlich ſeinen Namen.

Was war das? Was war geſchehen? Das. mußte vom Schloß kommen, die Gartenthür war des Nachts ge— ſchloſſen.

Er ſtand ſehr erſchreckt und eilig auf und öffnete das Fenſter, einen alten Schlafrock feſter um ſich ziehend, denn der Wind blies ſcharf herein. Suchend beugte er ſich hin— aus. Richtig, am Zaun ſah er in dem fahlen Schein eine Geſtalt, eine Frauengeſtalt, die Kleider im Winde flatternd, mit erhobenen Armen ihm winkend und etwas zurufend.

Roman von A. v. Gersdorff. 51

„Ich komme,“ rief er gedämpft hinaus, denn es war ihm unmöglich zu verſtehen, was ihm zugerufen wurde, der Wind trug den Schall ſeitwärts.

In aller Haſt und Sorge warf er die notwendigſten Kleider über, gar nicht begreifend, was in aller Welt denn paſſiert war, wer ihn eigentlich rief, und was er als alter Mann denn mitten in der Nacht helfen ſollte.

Durch das Gärtchen ſchreitend, fand er am Zaun Leona ſtehen. Er fuhr ordentlich zurück vor Schreck, als ſei ſie ein Geſpenſt.

„Leona, Kind, iſt ein Unglück paſſiert?“ ſtieß er her: vor, das Pförtchen öffnend.

Sie antwortete nur mit unterdrücktem, krampfhaftem Schluchzen, ſich an ſeinen Arm klammernd. „Rette mich, Onkel, ſchütze mich, hilf mir!“ kam es endlich, von Schluchzen unterbrochen, faſt unverſtändlich von ihren Lippen. „Ich ängſtige mich, mir graut ſo entſetzlich, ich will nicht fort ich ich werde wahnſinnig!“

Sie ſchüttelte ſeinen Arm, den ſie umklammert hielt, und dann blieb ſie mitten auf dem Wege ſtehen, in Dunkel⸗ heit, Sturm und Kälte, und ſchlug wild und verzweifelt die Arme um den Hals des Greiſes, als könne ſie keinen Schritt mehr gehen, und auf der Stelle, auf der ſie ſtand, müſſe alles heraus und geſagt werden, was ihr das Herz und den Geiſt verwirrte.

„Na na! Immer ruhig Blut, komm nur rein komm nur rein!“ ſagte er, förmlich betäubt, während ihm die Vermutung kam, ſie könne wirklich ihren Verſtand verloren haben. So ganz normal war ſie ihm überhaupt ſchon lange nicht mehr vorgekommen. Auf jeden Fall mußte Ruppke geweckt werden und in der Nähe bleiben.

„Laß mich 'mal gehen, Leona, Kind, ich will nur Ruppke ſagen, er ſoll dir etwas Warmes zu trinken bringen, was dich beruhigt.“

52 Ein Wille ein Weg.

„Nein, nein, niemand ſollſt du rufen. Ich muß mit dir allein, ganz allein ſprechen.“

„Na ja, aber doch nicht hier. Was hat es denn ge— geben?“ fragte er, ſie energiſch mit ſich ziehend und ins Haus mit ihr tretend.

„Er hat mich fortgejagt aus dem Hauſe gejagt für immer!“

„Was? Dein Mann hat dich —“ ſtotterte Onkel Kaſpar ziemlich faſſungslos, ſeinen Ohren nicht trauend „hat dich fortgejagt bei Nacht und Nebel? Du biſt wohl nicht bei Troſt oder träumſt?“

Er konnte ſich nicht entfernt zuſammenreimen, was ſie eigentlich meinte, denn ſo konnte die Sache unmöglich zuſammenhängen.

Mittlerweile hatte er die junge Frau glücklich ins Zimmer hereingebracht und fragte ſehr ernſten Tones: „Sag 'mal, du biſt doch nicht etwa wirklich verrückt?!“

„Noch nicht, aber ich werde es, wenn du mir nicht hilfſt,“ rief fie, auf das alte Sofa am Fenſter nieder: ſinkend, vollkommen erſchöpft, den Kopf auf die Seiten— lehne fallen laſſend.

Nein. Geiſtig geſtört war ſie nicht, das merkte er nun doch. Alſo hatte ſich ein ſehr überraſchendes Drama ab— geſpielt in fliegender Eile. Na ja, möglich war's ſchon bei den beiden, und wie er ſeinen Ulrich kannte, war mit dem nicht zu ſpaßen in gewiſſen Dingen. Daß es früher oder ſpäter einmal einen Bruch geben würde, hätte er ſich ſelber ſagen können. Da war ſo allerlei, was er längſt für unhaltbar gehalten hatte in dem Haushalt der jungen Leute, und dann dieſe Gräfin dieſe abſcheuliche, alte Perſon! Seitdem die auf dem Schloſſe war, fand er Leona überhaupt ſehr zu ihrem Nachteil verändert.“

„Ich muß 'mal erſt Licht machen,“ meinte er und wollte hinaus, um von Ruppke eine Lampe zu holen.

Roman von A. v. Gersdorff. 53

Aber fie ließ ihn nicht fort und hielt ihn förmlich angſt⸗ voll feſt.

„Wozu denn die Lampe? Wir können auch ſo reden, lieber Onkel.“

„Fällt mir gar nicht ein. Hier im Stockdunkeln mit dir ſitzen und riskieren, daß du dein bißchen Vernunft vollkommen verlierſt und mir an den Hals ſpringſt. Na, laß ſein! Ich geh' ja nicht fort will nur das Licht da anzünden.“

Er nahm vom Schrank in der Ecke den Leuchter, zün⸗ dete mit großer Umſtändlichkeit das Licht an und ſtellte den Leuchter auf den Tiſch vor dem Sofa. Dann nahm er in der anderen Ecke Platz und ſagte mit wiedergewon— nener Ruhe: „So, meine Tochter, jetzt ſprich dich aus und bleib hübſch in Maß und Grenzen und ſchieß mit den Ausdrücken nicht toll und wild übers Ziel hinaus. Was war das alſo für ein Unſinn, dein Mann habe dich bei Nacht und Nebel vor die Thür gejagt? Was für einen dummen Streich halt du denn begangen?“

„Gar keinen, ich —“

„Das iſt nicht wahr,“ unterbrach er ſie beſtimmt, „jetzt bleibe gefälligſt ſtreng bei der Wahrheit, Kleine, ſonſt bringt dich einfach Ruppke wieder nach Hauſe, denn Romane und andere Lügengeſchichten lefe ich nicht 'mal bei Tage.“

„Fortgejagt hat er mich, das iſt wahr, wirklich wahr! Aber erſt morgen früh ſollt' ich fort, ganz fort von ihm, für immer. Aber ich will nicht, ich will nicht!“ ſchrie ſie verzweifelt.

„Oho! Da mußt du ja Fürchterliches begangen haben,“ ſagte er, ſie mit ſeltſamem Blick ſcharf fixierend, während ſie die Lider über ihre verweinten Augen ſenkte. „Und da machſt du dich nun mitten in der Nacht aus dem Hauſe? Hör 'mal, das kommt mir ſehr zweideutig vor mit deiner Schuldloſigkeit.“

54 Ein Wille ein Weg.

„Schuldlos bin ich ja nicht, und ich bin mitten in der Nacht aus dem Hauſe gelaufen, weil ich mich ſo ſchrecklich vor ihm fürchtete und um ihn ängſtigte, denn, denke nur, er iſt gegen Abend aus dem Hauſe gegangen und noch nicht noch nicht wieder da, und drüben im Schloß iſt er nicht, und da dachte ich, er wäre bei dir; und wie ich hier alles dunkel ſah, da faßte mich erſt recht die Verzweiflung und die Angſt, und ich wollte ſo lange klopfen und rufen, bis du aufmachteſt, denn um nichts in der Welt wäre ich wieder zurückgegangen.“

Schaudernd barg ſie das Geſicht in den Händen.

„Nun laß mal fürs erſte deine Gefühle beiſeite und erzähl mir die Thatſachen. Daß er ſich das Leben ge: nommen hat —“

Leona ſchrie laut auf. „Das Leben genommen! Onkel,

mach mich nicht wahnſinnig!“ „Glaube ich nicht wollte ich fagen. Wenn du mich immer unterbrichſt, ſprech' ich kein Wort mehr! und daß er ſich irgendwo verſteckt hat, kann ich mir auch nicht denken. Wenn er nicht etwa ſelbſt das Feld geräumt hat und nach Oſtafrika gegangen iſt —“

Ihm war aber gar nicht ſpaßhaft zu Mut, und Ulrichs Fortbleiben bis gegen Mitternacht ſchien ihm weit bedenk⸗ licher, als er ſagen mochte.

Endlich entſchloß ſich Leona, ihre Geſchichte zu erzählen und vollkommen der Wahrheit gemäß; das fühlte der Alte und glaubte ihr alles aufs Wort.

Innerlich atmete er auf. Die Sache war ja ſehr böſe, aber immer noch beſſer, als er vermutet hatte. Wer weiß, ob ſich nicht auf und aus dieſem in Trümmer gefallenen Haus und Glück mit energiſcher Hilfe ein feſteres und beſſeres erbauen ließ. Freilich nur mit Zeit und Weile, Geduld und feſtem Willen allerſeits.

Leona ſchloß jetzt, in erneutes Weinen ausbrechend,

Roman von A. v. Gersdorff. 55

während der Onkel den ganz zerdrückten Brief ihrer Mutter gedankenvoll glättete und in ſeine Kniffe legte.

„Aber ich gehe nicht fort. Ich will nicht von meinem Manne fortgejagt werden, als wenn ich ein ſchweres Ver: brechen begangen hätte.“

„Und weil du deinen Mann ehrlich und wahrhaftig liebſt, liebes Kind, und im Herzen kein Wort glaubſt von der infamen Verleumdung, nicht wahr?“

„Ach, ich weiß ja nicht. Manchmal ſchien es mir ja, als wenn er Katharine ſehr gern hätte und mir vor: zog

„Das kann ich ihm wahrhaftig nicht verdenken. Ich hätte dich nicht zur Frau haben mögen. Dazu gehört ſchon eine Engels⸗ und Lammsgeduld zuſammen. Müßteſt doch aber auch dümmer ſein, wie du biſt, wenn du nicht einſäheſt, daß die Katharine an Wert und Charakter weit über dir ſteht. Warum ſoll der Mann allein denn blind ſein für den Unterſchied? Du magſt ihn arg gequält haben, daß mein herzensguter, langmütiger, vornehmer Ulrich ſich ſo weit hinreißen ließ, ein ſo energiſches Ende zu machen.“ |

„Aber ich will das nicht. Er fol kein Ende machen. Ich bin ſeine Frau und will ſeine Frau bleiben.“

„Weil du ihn liebſt und achteſt, nicht wahr? Und dich furchtbar ſchämſt und bitter bereuſt, nicht wahr, mein Kind?“ fragte der Greis mit ſehr weicher Stimme, das junge Haupt ſanft an ſeine Schulter legend.

Eine ganze Weile kam keine andere Antwort als ein heißes Umſchlingen, ein bitteres Weinen, aber er ließ nicht nach und fragte wieder, und dann hörte er's dicht an ſeinem Halſe, das leiſe geſtammelte: „Ja ja.“

„Na, gut, dann will ich dir helfen, denn ich glaube dir. Aber nun höre, was der Alte ſagt, und gehorche blind und bedingungslos, ſonſt miſche ich mich da nicht

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hinein. So, darauf gieb mir dein Wort und dein Händchen.“

„Da! Da!“ rief ſie und ſtreckte ihm ihre beiden, heißen Hände hin. „Gott ſei gedankt, der mich zu dir geführt hat in dieſer ſchrecklichſten Nacht meines Lebens!“

„Kann ſein,“ gab er ernſt zurück, „durch Nacht zum Licht! Aber Kindchen, mit der Reue allein iſt es nicht abgemacht, dahinter muß die Buße und das Beſſerwerden kommen, und wenn da nicht der feſteſte Wille dahinter ſteht, dann bleibt's bei den guten Vorſätzen, und damit iſt bekanntlich der Weg zur Hölle gepflaſtert. So, nun werde ich den Ruppke wecken, daß er mal herübergeht und ſich erkundigt, ob Ulrich inzwiſchen nach Hauſe ge— kommen iſt. Und dieſem werde ich ſchreiben, daß du bei mir biſt.“

Dies geſchah, und Leona blieb ſtill und geduldig, alles, was der Onkel verordnete, über ſich ergehen laſſend, in ihrer Ecke ſitzen. Sie war ſo müde, ſo angegriffen vom Weinen und der Aufregung, daß ſie in einen leichten, etwas fieberhaften Halbſchlummer fiel.

Plötzlich fuhr ſie mit einem Schrei empor. „Ulrich! Ulrich! Was iſt denn? Wo bin ich denn?“ rief ſie, aus ſchwerem Traum auffahrend. Und dann warf ſich die ganze entſetzliche Wahrheit ſchwer auf ihr Herz.

Sie war allein im Zimmer, aber lange mußte ſie nicht geſchlafen haben, denn das Licht war nur ganz wenig niedergebrannt. Da kam auch ſchon der Onkel wieder herein.

„So,“ ſagte er, „Ruppke iſt fort mit dem Brief, und hier habe ich dir eine Taſſe Thee gemacht und ein Butter— brötchen. Du haſt ſicher heute abend noch nichts genoſſen.“

Dankbar küßte ſie die welke, runzelige Hand, die ihr ſorglich das Theegerät zurechtſchob. Aber beide hielten in ihrem Thun erſchreckt inne.

Roman von A. v. Gersdorff. 57

Ruppke konnte doch noch nicht wieder da ſein, kaum hingelangt. Aber draußen ging die Gartenthür, und raſche Schritte, kräftige, elaſtiſche Schritte kamen näher. So ging Ruppke nicht.

„Ulrich!“ flüſterte Leona mit blaſſen Lippen und fing zu zittern an, als käme er, ſie zu töten.

„Komm,“ befahl der alte Herr, deſſen Geſicht einen ſehr ernſten, beſorgten Ausdruck zeigte, „geh da hinaus durch mein Schlafzimmer, oben in die Gaſtſtube, wo du damals gewohnt haſt, und lege dich aufs Bett. Ihr ſollt euch jetzt nicht ſehen.“

Bereitwillig ſchlüpfte Leona hinaus. Faſt im ſelben Moment trat Ulrich ein.

Die beiden Männer ſtanden ſich einen Moment ſtumm gegenüber. Dann fragte Ulrich, einen Blick durchs Zim— mer werfend, tonlos: „Sie iſt bei dir? Ich war auf dem Wege hierher, als mich Ruppke traf. Ich war eben nach Haus gekommen.“

„Wo warſt du denn hingelaufen, dies unſelige Ge— ſchöpf, das möglicherweiſe zum Entſetzlichſten fähig war, ſich ſelbſt überlaſſend, he?“ unterbrach ihn der Oheim.

„Wo ich war, ich weiß es ſelbſt kaum. Ich bin herumgelaufen, um Ruhe, Faſſung, Klarheit zum Handeln zu erringen.“

„Hoffentlich hat es dir genützt,“ war die ſarkaſtiſche Antwort. „Du mußt unglaublich brutal mit ihr geweſen ſein, denn ſie iſt ja halb wahnſinnig vor Angſt vor dir, wie vor einem wilden Tier, das ihr jeden Moment an den Hals ſpringen kann.“

„So? Hat ſie dir die Sache ſo darzuſtellen gewußt?“ fragte Ulrich bitter.

„Sie hat mir die Wahrheit geſagt, mein Sohn. Sie war nicht in der Verfaſſung, ſich etwas auszudenken, und ſie hat freilich ſchweres Unrecht gethan. Aber wenn du

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glaubſt, daß du keines thateſt an ihr, dann irrſt du recht ſehr. So viel älter, ſtärker, erfahrener biſt du und kannſt nicht einmal mit dieſem aus dem Neſt gefallenen Vögelchen fertig werden.“

„Sie ift durchaus nicht jo harmlos und unſchuldig wie ein aus dem Neſt gefallenes Vögelchen. Hätteſt du ſie heute abend geſehen und gehört, du wäreſt vor ihr zurückgeſchaudert wie ich. O nein! Sie iſt reif genug, die namenloſe Schmach, die unverzeihliche Beleidigung zu begreifen, die ſie ihrem Manne entgegenrief und glaubte. Jawohl glaubte!“

„Das ift nicht der Fall, Ulrich. Schreck und Leiden: ſchaft ſprachen aus ihr, oder vielmehr riſſen ihr liebevolles, eiferſüchtiges Herz beſinnungslos mit ſich fort.“

„Ach, es iſt empörend, iſt unfaßlich! Ein unſchuldiges Weſen zu beſchimpfen, von dem ſie nur Gutes gehabt hat, an ihre Mutter zu ſchreiben, heimlich, gegen meinen Willen, ſie um Geld, um Unterſtützung zu bitten und ihr zu klagen über ihr elendes, armſeliges Los an meiner Seite! Nun, ſie mag zurückgehen in das Haus ihrer Mutter, wohin ihr eitles Herz ſich ſehnt. Meine Geduld iſt zu Ende.“

„Und deine Liebe, die Treue, die du ihr verſprochen haſt, bis daß der Tod euch ſcheidet, iſt wohl auch zu Ende?“

„Onkel, willſt auch du meine Ehre antaſten?“

„Ehre antaſten! Denke nicht daran. Ich frage nur, ob du ſie noch liebſt und ihr die Treue halten willſt, oder dich los und ledig deiner Pflichten fühlſt.“

„Ich verſtehe dich nicht, Onkel,“ ſagte Ulrich eiſig. „Willſt du ſie entſchuldigen, ihr das Wort reden, mir etwa die Schuld zuſchieben an dem ganzen Elend, das ſie mit dieſem letzten Skandal abzuſchließen beliebte? Nein, ſie iſt nicht das Weib, das ich geliebt habe, mit dem ich

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herzliche Geduld und Nachſicht geübt habe, ſie iſt mir eine ganz Fremde geworden, die rechte Tochter ihrer Mutter.“

Der Alte ſchwieg. Wie gut, daß ſie ihn nicht hört, dachte er bekümmert.

„Und was ſoll nun werden?“ fragte er dann ernſt. „Ulrich, überlege das wohl, ehe du Unwiderrufliches thuſt. Dein Zorn mag gerecht ſein und ſehr begreiflich, aber du darfſt nicht handeln, ſolange er nicht verraucht iſt und deinen klaren Blick trübt. Willſt du ihr die Scheidung vorſchlagen?“

„Das überlaſſe ich ihr.“

„Sie wird das nie thun, ich glaube es nicht, Ulrich.“

„Das wollen wir abwarten. Vorläufig, Onkel, wird ſie gehen, wohin ſie gehört, in das Haus ihrer Mutter. Wenn du an meiner Stelle geſtanden hätteſt, wenn du geſehen und gehört hätteſt, was ich erlebte, ſah und hörte, o, du würdeſt die gutmütigen Verſöhnungsverſuche mit derſelben Empörung zurückweiſen, wenn auch dein Blut nicht mehr ſo heiß und raſch Dung deine Adern rollt wie meines.“

„Sag mal, Ulrich, biſt du dir ganz klar, daß du jene Katharine nicht wirklich liebſt, und vielleicht unbewußt dieſer raſende Zorn mehr dem Angriff auf ſie und ihre Ehre galt, als dem Betragen deiner Frau dir gegenüber? Biſt du dir ganz klar darüber?“

„Ganz klar.“

„So. Nun, das iſt die Hauptſache. Das andere wird ſich finden. Was willſt du jetzt hier eigentlich?“

„Ich will ſie holen. Sie muß dieſe Nacht noch unter meinem Dache bleiben. Ich will keinen öffentlichen Skandal haben. Morgen früh wird ſie in aller Ordnung von mir zur Bahn gebracht uns zu ihrer Mutter un Auf Tage, Wochen, Monate —“

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60 Ein Wille ein Weg.

„Jahre!“ ſchloß der Alte kopfnickend.

„Jawohl, wie ſie will.“

„Und welchen Grund willſt du eigentlich für eine Scheidungsklage angeben, Ulrich?“

„Das weiß ich noch nicht. Zunächſt ſoll ſie ihren Willen haben und das elende Los an meiner Seite mit einem ihrer würdigeren vertauſchen. Ich werde ihr nicht

im Wege ſtehen. Alſo bitte, lieber Onkel, habe die Güte,

ſie rufen zu laſſen.“

„Das werde ich nun allerdings nicht thun,“ war die bedächtige Antwort, „und du wirſt gütigſt allein nach Hauſe gehen. Kannſt meinetwegen den Leuten ſagen, ihre Mutter ſei ſchwer erkrankt, und ſie ſei heute nacht ſchon abgefahren, oder ſie ſei in ihrer Angſt, weil du nicht zu Hauſe warſt, zu mir gelaufen. Aber mitgeben thue ich ſie dir heute nicht, mein Junge. Sie bleibt unter meinem Dach und Schutz, und du magſt dir immer einen Grund ausdenken für dein Fernbleiben morgen, denn ich ſelbſt werde ſie morgen früh zur Bahn bringen, in aller Ord— nung und Stille.“

„Auch gut!“ ſagte Ulrich ſchroff.

„So, nun kannſt du gehen. Für heute nacht habe ich

genug Unterhaltung gehabt.“

„Gute Nacht,“ ſagte Ulrich finſter und ſchloß die Thür hinter ſich.

Er ging durch den finſteren Park dem Schloſſe zu. „Es kann nicht anders ſein; es wird im Leben nie etwas Gutes draus. Und wenn das Herz bricht, ich will es durchſetzen. Ich will,“ murmelte er vor ſich hin.

Mitternacht war vorüber. Der Wind hatte ſich gelegt. Der Himmel war ſternenlos, mit ſchwarzen Wolken bezogen, der blaſſe Mondſchimmer ganz verſchwunden.

Still und dunkel, wie in eiſigem Schweigen, ſtand die Nacht vor ihm, durch die er ging ſeinem öden,

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unglücklichen Hauſe zu, mit den ſchweren Fragen und Zweifeln und doch dem eiſernen Entſchluß feines Willens in dem eigenen Herzen. Er ſchloß ſeine Thür auf, trat ein und wandte ſich ſeinem Zimmer zu.

Ueberraſcht zögerte er einen Moment, denn die Thür zur Küche war weit offen und Licht darin. War Katharine noch auf? Wahrſcheinlich in Sorge und Angſt um ſein Fortbleiben, wohl auch von Leonas Flucht unterrichtet. Zum Glück wohnte Jette nicht im Hauſe, ſondern kam nur, wie Katharine dies eingerichtet, alle Vormittage zur Hilfe und zur groben Arbeit aus dem Städtchen, wo ſie bei ihren Eltern lebte und ſich Arbeit außer dem Hauſe ſuchte. Zwei Perſonen in der Küche waren zu viel in dem kleinen Haushalt, den Katharine ſehr bequem allein beſorgen konnte.

Alſo wenigſtens war kein unnützer Spion und Lauſcher mehr im Hauſe geweſen, als das Drama ſich abſpielte, flog es Ulrich durch den Sinn. Aber auch Katharine durfte nicht glauben, daß da etwas ſo Ungeheures ge— ſchehen ſei, er mußte etwas Glaubliches für ſie erfinden. Sie durfte nicht ahnen, weshalb, und daß auch ihr eigener ehrlicher Name auf dem Spiele ſtand.

Eilig trat er in die Küchenthür, nach Katharine rufend. Aber das Wort erſtarrte ihm auf den Lippen, das Blut in den Adern, und das Entſetzen bannte ihn regungslos auf die Stelle, wo er ſtand.

Auf dem Erdboden lang ausgeſtreckt, das bleiche Geſicht nach oben gekehrt, lag Katharine regungslos auf den Stein— flieſen im Schein des flackernden Lichts, das auf dem äußerſten Rande des Herdes ſtand.

Zwanzigſtes Kapitel. Katharine hatte von den Vorgängen in der That nichts bemerkt. Zur Zeit, als Ulrich den Zwiſt mit ſeiner Frau

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hatte, war fie im Stall geweſen. Von Ulrichs Heim: kommen ſpäter hatte ſie nichts vernommen, und. Leona hatte fih in ihr Schlafzimmer eingeſchloſſen, auf Katha: rines Klopfen antwortend, daß ſie ſich nicht wohl fühle und zu Bett gehen wolle.

Katharine hatte den Tiſch gedeckt und auf Ulrichs Nachhauſekommen gewartet. Als er dann nicht kam, wunderte ſie ſich nicht ſo beſonders. Er mochte ja in ſeinem Beruf Abhaltung haben. Wer weiß, was auf dem Vorwerk paſſiert war. Sie ſtellte den Thee warm und das übrige ließ ſie ruhig auf dem Tiſch ſtehen, ſich in ihre Küche zurückbegebend, um bald die Ruhe zu ſuchen. Leonas Hinausſchlüpfen war ſo leiſe geſchehen, daß ſie in ihrer Kammer im erſten Schlafe nichts davon gehört hatte.

Sie hatte ſchon eine ganze Weile geſchlafen, als ſie ſich ermunterte, denn ihr war, als habe ſie im Traum ſchon eine Weile ein leiſes, fortgeſetztes Geräuſch gehört, ganz in ihrer Nähe ein Tappen, ein Taſten und Schlürfen, als ſuche jemand den Weg zu ihr; dann das vorſichtige Aufklinken einer Thür. Eilig ſprang ſie auf. Es konnte nur Leona ſein, die ſie ja krank im Bett glaubte, und der vielleicht ſchlechter geworden war, ſo daß ſie nun doch ihrer Hilfe bedurfte.

„Ich komme ſchon,“ rief ſie, haſtig einen Rock über ihr Nachtgewand werfend und das Licht anzündend.

Leona mußte doch keines bei ſich haben, daß ſie ſo unſicher taſtete, oder ſich ſehr krank fühlen.

Sie ſtieß die Küchenthür auf und taumelte mit einem Aufſchrei des Schreckens zurück, die Geiſtesgegenwart aber nicht verlierend, ſondern raſch noch das Licht auf die . Herdecke ſetzend, das ihr beinahe aus der Hand gefallen wäre.

Vor ihr, im Dunkel des Flurs, mit einer erlöſchenden,

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hin und her ſchwankenden Lampe in der Hand, ſtand nicht Leona, ſondern eine Geſtalt, die ſie in dem erſten Augen⸗ blick und bei der unſicheren Beleuchtung gar nicht erkannte: die Gräfin Caßbrough.

Katharine war nicht langſam von Begriff und hatte viel kaltes Blut. Sie ſagte ſich ſofort, daß im Schloß irgend etwas Furchtbares geſchehen ſein müſſe, und die Gräfin den wohlbekannten Weg, welchen Leona jetzt öfter bei ihren Beſuchen drüben benutzte, genommen hatte, näm— lich den durch die kleine Verbindungsthür vom Vorflur durch einen kurzen Gang nach dem Flur der angebauten Inſpektorswohnung.

„Was iſt geſchehen, Frau Gräfin?“ fragte ſie, ihre Faſſung wiedergewinnend. „Der Herr Verwalter iſt nicht zu Hauſe. Sind Frau Gräfin erkrankt?“

Die Frau ſah furchtbar verändert aus. Graublonde, dünne Haarſträhnen hingen von ihrem Geſicht hernieder, alſo fehlte die ſchöne, rotblonde Perücke; ihr Geſicht war erdfahl, ohne Schminke, der Mund eingefallen, den ſonſt das meiſterhaft gearbeitete Gebiß wölbte; die hohe Ge: ſtalt, ohne Korſett und Kunſtunterſtützung, in dem weiß— ſeidenen, mit grauem Wolfspelz verbrämten Hauskleide, unſchön, eingefallen und ſchlaff. Sie trat, etwas vor ſich hin murmelnd, dicht auf Katharine zu, die, wieder ängſt— lich werdend, zurückwich, unwillkürlich die Hand nach der gefährlich hin und her ſchwankenden Lampe ausſtreckend, um ſie ihr abzunehmen.

Die Worte waren ſo undeutlich, daß Katharine ſie zuerſt nicht verſtand. Die Lampe ließ ſich die Gräfin ruhig abnehmen, dann aber fuhr ſie mit den Händen plötzlich nach Katharines Kehle, packte ſie und ſchrie mit zornfunkelnden Augen: „Mein Kind, mein kleines Kind will ich haben! Es iſt hier verſteckt Sie haben es Sie wiſſen, wo es iſt. Geben Sie mein Kind her

64 Ein Wille ein Weg.

ich will ich will ich will mein kleines Kind von Ihnen haben, oder ich töte Sie!“

Ihre Stimme war immer ſchriller, immer gellender geworden, und Katharine erkannte mit lähmendem Ent⸗ ſetzen, daß ſie eine Wahnſinnige vor ſich habe. Schon fühlte ſie deren Hände an ihrem Halſe, es war ihr un⸗ möglich, ein Wort hervorzubringen.

„Was ſtarren Sie mich ſo an,“ rief die Wahnſinnige heiſer, „Sie wollen nicht Sie wollen mein Kind nicht herausgeben mein kleines Kind! Ha, Sie haben es umgebracht und vergraben! Wo? Wo? Ich will es haben, ich will mein kleines Kind wieder haben tot oder lebendig aber gleich gleich! Her damit, her damit, oder ich bringe dich um!“ Und ſie begann ihr Opfer mit der Kraft des Wahnſinns zu würgen.

Ein furchtbarer Ringkampf entſtand zwiſchen den beiden Frauen. Katharine ſuchte, dumpfe Hilferufe ausſtoßend, ſich loszureißen, aber ſie fühlte, daß die Gräfin, die ſie um Kopfeslänge überragte, bei weitem die Stärkere war. Todesangſt erfaßte ſie, und ihre Sinne begannen zu ſchwin— den. Sie ſank in die Kniee.

„Verraten! Betrogen! Elende Verbrecher ſeid ihr alle! Gemordet habt ihr's, es iſt nicht da, mein Kind!“ ſchrie die Wahnſinnige und ſtieß den Kopf ihres armen Opfers auf die harte Erde. Es war das letzte, was Katharine empfand. Dann wurde es dunkel vor ihren Augen.

Mit einem gräßlichen Auflachen der Befriedigung war die Gräfin aufgeſprungen. „Rache Rache! An euch allen!“ rief ſie, dann eilte ſie nach der kleinen Thür, die in den Gang führte, durch den ſie gekommen war, und warf ſie hinter ſich ins Schloß.

Wenige Minuten ſpäter ſtand Ulrich an Katharines hingeſtreckter Geſtalt. Es gelang ihm, ſie ziemlich bald

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wieder zum Bewußtſein zu bringen. Angſtvoll überzeugte er ſich zunächſt davon, daß ſie nicht verwundet war, dann hob er ſie auf und trug ſie in das Zimmer, wo er ſie auf das Sofa niederlegte. Sie war noch zu ſchwach, um zu gehen oder zu ſprechen. Auf ſein entſetztes Fragen hatte ſie nur mit den blaſſen Lippen das deutliche Wort: „Gräfin!“ gehaucht und mit der Hand verſucht, eine Be: wegung nach ihrem Halſe zu machen.

Ulrich konnte aber natürlich nicht begreifen, was ſie meinte, und glaubte auch falſch verſtanden zu haben, denn was konnte Gräfin Caßbrough damit zu thun haben?

Nachdem er Katharine ſo weit verſorgt hatte, eilte Ulrich nun ebenfalls durch den Gang in den anderen Flur des Schloſſes, nach weiterer Hilfe, nach Aufklärung. Da merkte er allerdings, daß Entſetzliches paſſiert ſein müſſe.

Die zweite Thür am Ende des Ganges ſtand offen. Er hörte Stimmen und eilige Schritte, angezündete Lichter und Lampen ohne Glocken ſtanden im Flur auf dem großen Serviertiſch, wie man ſie eben im erſten Moment nächtlichen Schreckens zu ergreifen pflegt. Die Thür zu dem Zimmer des Hausherrn ſtand offen. Auch dort Lichter und erregte Stimmen. Ebenſo offen ſtand die Hausthür, und er hörte jetzt laut und heftig jemand ſeinen Namen rufen.

„Ich bin ſchon hier,“ rief er und wollte eben den weiteren Befehl geben, ſofort nach Kempzin zum Arzt zu ſchicken, als er Herrn v. Stangenbergs Stimme hinter ſich hörte am Fuß der Treppe.

Die Unglücksbotſchaft beider Männer prallte ſozuſagen aufeinander.

„Meine Schweſter iſt plötzlich krank geworden,“ flüſterte der Schloßherr, der an allen Gliedern zitterte und krampf— haft Ulrichs Arm umſpannte.

1900. VII. 5

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„So war alfo fie es,“ rief Ulrich entſetzt, „die Ratha: rine in der Küche überfiel und nahezu tötete!“

Stangenberg erſchrak fo furchtbar, daß er gegen den Treppenpfeiler taumelte, und Ulrich ihn nur durch raſches Zufaſſen vor dem Hinfallen bewahren konnte. Aus dem totenblaſſen Geſicht des Mannes ſtarrten ihm ſo angſt— erfüllte Augen entgegen, daß Ulrich nicht wußte, was er denken oder ſagen ſollte.

„Iſt fie ift das Mädchen ſchwer verletzt?“ ftam: melte der Schloßherr.

„Ich hoffe nicht, ich kann es noch nicht ſagen. Ein Arzt muß zur Stelle ſo ſchnell als möglich.“

„Es iſt ſchon danach geſchickt,“ verſetzte Stangenberg, „wegen meiner unglücklichen Schweſter. O, wenn das arme junge Mädchen nur gerettet wird!“

Katharine wurde noch in derſelben Nacht auf Anraten des Arztes in das Kempziner Krankenhaus gebracht, wo ſie allein ſachgemäße Pflege finden konnte.

Mit der Wahnſinnigen hatte man weniger Mühe, als man anfänglich geglaubt. Der Tobſuchtsanfall war vor— über, und ſtumpf, vollſtändig willenlos, regungslos bis auf die ununterbrochen umherſpähenden Blicke, lag ſie auf dem Diwan in Herrn v. Stangenbergs Zimmer, woſelbſt ſie nach dem raſenden Auftritte, den ſie nach ihrer Rück— kehr in das Schloß gemacht, erſchöpft niedergeſunken war.

Aus Poſen waren telegraphiſch ſofort Irrenarzt und Wärterinnen beſtellt. So lange, bis dieſe eintreffen konnten, war natürlich die entſetzlichſte Gefahr im Verzuge, da man ja nicht ahnen konnte, welchen Fortgang der Anfall nehmen konnte, und von den Dienſtboten niemand zu bewegen war, in der Nähe der Geiſtesgeſtörten zu bleiben.

Stangenberg und Ulrich übernahmen die gefahrvolle Wache, alle Vorſichtsmaßregeln treffend, die nur möglich

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waren, damit die Kranke nicht etwa fih ſelbſt oder an: deren ein Leid zufügen konnte. Eine ſchmerzliche Sorge für Stangenberg aber war es, wie es möglich ſein würde, ſie zu transportieren und nach der Anſtalt zu bringen, wo ſie ohne Zweifel hingehörte. In dem einſamen Schloß konnte ſie doch nicht bleiben! Mit Bangen bemerkten beide Männer, wie ſich zwiſchen den Brauen der Kranken eine tiefe, ſchwere Zornesfalte gebildet hatte, und erwar— teten jeden Augenblick, daß ſie wieder aufſpringen und toben würde.

Als endlich der Irrenarzt eintraf, geſchah nichts von allem Befürchteten. Ganz teilnahmslos blieb fie in der: ſelben Stellung liegen, ließ alles mit ſich machen, und die Unterſuchung ihres Geiſteszuſtandes konnte zunächſt überhaupt nicht als beſtimmend oder gar abſchließend gelten. Nur, daß alle Anzeichen auf hochgradige Morphinomanie und eine rapide Auflöſung des Organismus hindeuteten, darüber war der Arzt nicht im Zweifel. Er ordnete für einige Tage Beobachtung und Pflege in den gewohnten Räumen und Verhältniſſen an, ehe an eine Ueberführung in eine Anſtalt gedacht werden könne.

Was aus Katharine werden ſollte, die fiebernd im Krankenhauſe lag, darüber konnte Ulrich vorläufig zu keiner ruhigen Ueberlegung kommen, da ihm das eigene Geſchick eine ſo ſchwere Aufgabe auferlegte, ſelbſt als die äußere Ruhe im Schloß wiederhergeſtellt worden war, und er wie früher ſeinen Arbeiten nachging. Jedenfalls war es aus— geſchloſſen, daß ſie ſeinen Haushalt weiterführte, nachdem Leona ihn verlaſſen hatte.

Für deren plötzliche Abreiſe gab er den Wunſch ſeiner erkrankten Schwiegermutter an, damit zugleich den vielleicht wieder auftauchenden Gerüchten über das traurige Zer— würfnis die Spitze abbrechend.

Es war eine traurige, aber leider nicht allzu ſeltene

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Geſchichte, die ſpäter in ftiller Stunde Herr v. Stangen: berg Ulrich erzählte, die Geſchichte, die einen ſo ſchrecklichen Abſchluß gefunden hatte. Er ſprach von ſeiner Schweſter Ferdinande, der durch blinde, anbetende Mutterliebe ver— wöhnten, einzigen Tochter, von ihrem nie gezügelten Eigen— willen, dem lächelnden Nachgeben aller Launen, weil ihr ja alles fo „reizend ſtand“. Was fie haben wollte, das bekam ſie, denn wie konnte man Ferdinande weinen ſehen! Das ging über Mutterkräfte. Wie ſchlimm wendete ſie dann ihre Zaubermacht an, die ſie über alle Menſchen gewann, denn ſie war kein guter Charakter; von Kindheit an eine raffinierte Lügnerin, eine gefährliche Kokette, eine vollendete Schauſpielerin!

Was konnte ſie mit einem Blick, einem Lächeln, einigen leiſen Worten nicht alles ſagen, wenn ſie auch kein Atom davon fühlte! Rührſelig, ohne alle Regung von wahrem Mitleid, ohne Rückſichtnahme auf andere, egoiſtiſch bis zur Grauſamkeit. Zügellos in ihrem Willen, zu jeder geſetz⸗— loſen That fähig, etwas zu erreichen; klug genug, das Verbot in ſeiner Weisheit zu begreifen und dies Begreifen im härteſten Aburteilen an anderer Leute Fehlern und Schwächen anzuerkennen, für ſich unter allen Umſtänden die Strafloſigkeit beanſpruchend.

Mit ſiebzehn Jahren verliebte ſie ſich in blinder Leiden— ſchaft in einen jungen, ſchwärmeriſchen Mann, eine fein— begabte Dichternatur, den Sohn eines Arztes mit ſchlicht bürgerlichem Namen. Diesmal aber fand ſie bei der ganzen Familie entſchloſſenſten Widerſtand ihrer ernſthaft ſcheinenden Laune gegenüber. Dies genügte, um fie finn: los zu machen und zum Aeußerſten zu treiben; und wäh— rend ſie mit raffinierter Schlauheit beginnenden Wahnſinn aus Gram um den Geliebten heuchelte, errang ſie von der gequälten, in Todesangſt gebrachten Mutter die Ein— willigung. Der Mann war ja ehrenhaſt, und nur Standes—

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vorurteile ſtanden der Ehe entgegen. Man ließ dieſe alſo jetzt fallen, die Ehe wurde geſchloſſen. Kaum drei Jahre hatte ſie gewährt, unter den ſtürmiſcheſten, böſeſten Auf— tritten und Vorgängen, als Ferdinande ihre Heirat ſatt hatte und ihren ſchlichten Mann lächerlich und widerwärtig fand. Mit derſelben rückſichtsloſen Energie, mit der ſie die Heirat durchgeſetzt hatte, verlangte ſie nun die Schei⸗ dung und ſetzte ſie durch ohne Schwierigkeit von ſeiten ihres Gatten, dem in tiefſter Seele vor der kraſſen Egoiſtin graute. Wäre ein Kind dageweſen, hätte er ſich wohl beſonnen, ſo aber ließ er fie gern ziehen, da dies Hinder: nis der Scheidung nicht vorhanden war.

Sie aber wußte, daß ein ſolches eintreten würde, ver— ſchwieg es und ging außer Landes mit ihrem Geheimnis.

In einem verſteckten Dorf am Rhein kam Katharine zur Welt. Eine Predigerswitwe im Orte nahm ſich der Mutter und des Kindes an. Ferdinande hatte ihr auch eine gar ſo merkwürdige, rührende Geſchichte mit über— zeugender Wahrheit zu erzählen gewußt, und mit großer Barmherzigkeit übernahm die gute, einfache Frau die Pflege des armen, kleinen Weſens. Da ſie ſelbſt in ganz aus— kömmlicher Lage war, verzichtete ſie auf jede Entſchädi— gung, da die junge Mutter geſtand, betrogen und ganz unvermögend zu ſein.

Ferdinande hatte nicht die Abſicht, dem Vater des Kindes Mitteilung vom Aufenthalt desſelben zu machen, ſondern wollte das ewige Stillſchweigen über ihre nieder— trächtige Handlungsweiſe decken; auch der guten Frau Stark feſt verſprechend, ſich niemals als Mutter des Kindes zu melden. Nur unter dieſer Bedingung wollte jene die Kleine pflegen und erziehen.

Der Vater Katharines ſtarb bald nach ſeiner Ehe— ſcheidung an einem Lungenleiden, und Katharine hatte niemals Kunde von ſeinem Leben und Sterben erhalten.

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Später zog die Pflegemutter nach Köln. Dort erlag die brave Frau einem Schlaganfall, als Katharine erwachſen war, ohne ein Teſtament gemacht zu haben über ihren Nachlaß. War ſie doch ſtets bei rüſtigſter Geſundheit und noch in den beſten Jahren geweſen. So fiel das Geringe, was da war, an die nächſtberechtigten Verwandten, die in ſehr dürftigen Verhältniſſen lebten. Für Katharine konnten ſie denn auch nichts thun, als ihr beim Suchen einer Stellung behilflich ſein.

Mit Ruhe und Faſſung, vernünftig und voll prak⸗ tiſchen Verſtandes, hatte Katharine ihr Schickſal in die eigene Hand genommen.

Ferdinande aber genoß, nachdem ſie ſich ihres Kindes entledigt hatte, nun ihre Jugend, ihre Schönheit, ihr Leben, nachdem ſie zuerſt eine Zeitlang das Haus ihrer kränklichen Mutter beglückt hatte, bis dieſe ſchließlich nicht ungern ihren wilden Liebling, dem die Kurzſichtige immer noch keine wirkliche Schlechtigkeit zutraute, mit einer paſ— ſenden, älteren Gefährtin auf die von ihr ſo heiß erſehnten Reiſen ſchickte. Der läſtigen Aufpaſſerin entledigte ſich die junge Frau ſehr bald, nun neue lügenhafte Briefe nach Hauſe ſchreibend, die alles in Ruhe und Sicherheit wiegten. Jahr und Tag abenteuerte ſie in der Welt, bald in dieſer, bald in jener Geſellſchaft, umher. Die Mutter ſtarb und übergab mit dem letzten Seufzer die Schweſter dem gewiſſenhaften Schutze ihres einzigen Bru— ders Rudolf, der, ſoweit es in den Grenzen ſeiner Macht lag, dieſem letzten Wunſche der geliebten Mutter nachkam.

Bei einem Aufenthalt in Nizza lernte Ferdinande dann den belgiſchen Grafen Caßbrough kennen, einen viel älteren Mann, und heiratete ihn, da er in glänzender Lage war. Nach kurzem, kinderloſem Eheſtande ſtarb ihr Gemahl, ihr die Nutznießung ſeines großen Vermögens bis zu

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ihrem Tode überlaſſend, worauf es dann auf ſeine Kinder erſter Ehe übergehen ſollte.

Witwe geworden, noch immer anſcheinend von blen: dender Schönheit, wurde Ferdinande wieder durch ihre Reiſe⸗ und Abenteuerluſt auf die merkwürdigſten Kreuz— und Querfahrten getrieben, wo allerdings vielfach ihr Bruder ſie begleitete.

Sich nicht von ihm irgendwie beeinfluſſen oder gar in ihrem Willen behindern zu laſſen, das war ein leichtes Spiel für fie. Wie verdorben fie aber war, das ver: mochte auch dieſer edle und weichherzige Mann, der keines⸗ wegs ein Menſchenkenner war, nicht völlig zu durchſchauen. Ihr Kind hatte Ferdinande eigentlich vollſtändig vergeſſen; es war verſchenkt und dabei gut aufgehoben, außerdem ihr geradezu widerwärtig in der Erinnerung an den lächer— lichen Mißgriff ihrer erſten Heirat.

Dann auf einmal, als Ferdinande, die ſich als Gräfin Caßbrough Fernande nannte, ſo ziemlich alles, was das Leben bieten konnte, ausgekoſtet und dabei ihre Geſund— heit und ihr Nervenſyſtem völlig ruiniert hatte, als ſie mit Schrecken erkannte, daß ſie alt und krank ſei, kam ſie auf die Idee, ſich doch einmal zu erkundigen, was denn eigentlich aus dem kleinen Mädchen geworden war.

Liebe war es natürlich nicht bei einer ſolchen Natur. Es war Ueberdruß an dem bisherigen Lebenswege, der Wunſch vielleicht, Neues zu empfinden, etwas Neugier und ähnliche Gründe, vielleicht auch Furcht vor dem Tode und Gewiſſensangſt. Jetzt zog ſie den Bruder in das Geheimnis, weihte ihn ein mit dem ganzen Apparat ihrer Schauſpielkunſt, ihrer nie verſagenden überzeugenden Bered— ſamkeit.

Aber diesmal verfing alles nicht. Rudolf war zu empört, zu verſtändnislos für ſolch eine Mutter. Er ſelbſt hatte unter dieſem Namen immer nur das Heiligſte,

72 Ein Wille ein Weg.

das Treueſte und Liebevollſte verſtanden. Widerwillig nur ging er auf ihren eigenſinnigen Wunſch ein, denn er kannte ſie nun doch zur Genüge, um für das unſchuldige Weſen von dieſer Mutter und von dieſer ſpät erwachten Mutterliebe nur das Allerböſeſte zu fürchten.

Es gelang ihm, die Schlaue zu täuſchen und immer wieder jede Spur Katharines, die er ſelbſt erſt ſpät ent⸗ deckte, zu verwiſchen und die Suchende auf falſche Fährte zu leiten, denn er hatte durch ſeine Erkundigungen er— kannt, daß Katharine recht gut aufgehoben ſei.

Fernande ſchien es, als ob ihr Bruder kein beſonderes Intereſſe ihrer Idee, die Tochter aufzuſuchen, entgegen— brachte, und heimlicherweiſe ſicherte ſie ſich die Hilfe eines erfahrenen Detektives. Dieſem gelang es bald, die Spur Katharines zu finden, gerade als Katharine ihre erſte Stellung aufgegeben hatte und nach Kempzin zu Uhlen— ſteins gezogen war.

Mit nicht geringem Erſtaunen vernahm nun Spangen— berg den plötzlichen Einfall ſeiner Schweſter, ihren Wohnſitz in Kempzin aufſchlagen und ſich dort ankaufen zu wollen.

Was konnte er dagegen machen?

Er bereitete ſich alſo vor, nach dem Schloſſe auch für ſeine Perſon überzuſiedeln. Erſt unterwegs teilte ihm Fernande mit, welche Veranlaſſung ſie zu dieſem, ihm ſo ſonderbar erſcheinenden Plane habe.

Er konnte nun nichts mehr thun, als mit allen Künſten der Ueberredung ſie zu überzeugen ſuchen, daß nur ſehr langſames, vorſichtiges Vorgehen, das junge Mädchen nicht zu erſchrecken, ſondern langſam zutraulich gegen die vor— nehme Frau Gräfin zu machen, vielleicht zum Ziele liebe— vollen Anſchluſſes derſelben führen könne.

Wie falſch fing das Fernande an, mit welch alten, verbrauchten, hier ſo ganz und gar unangebrachten Zauber—

Roman von A. v. Gersdorff. 73

fünften! In allen Dingen, wo es galt, Herzenstakt zu zeigen, war ſie geradezu täppiſch und dumm.

Hier im Schloſſe bei dem nahen Zuſammenleben be— merkte Rudolf erſt vollkommen und mit großer Beſorgnis die gefährliche Zerrüttung ihrer Nerven, ihre plötzlichen, ungerechtfertigten Heftigkeitsausbrüche, den Verfall ihrer Kräfte, und ſeine Sorge begann gerade zu der ziem— lich beſtimmten Befürchtung einer nahenden Kataſtrophe zu werden, als dieſe, weit ſchneller noch, als er gedacht hatte, plötzlich eintrat und dem Scheindaſein dieſer durch und durch verrotteten Exiſtenz ein Ende machte.

(Fortſetzung folgt.)

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Mengels Glück.

Eine einfache Geschichte. Uon Maximilian Böttcher.

mit Illustrationen ¢

von Enrico Buftetti. (Nachdruck verboten.)

1. N: was manche Menſchen doch für 'n Glück haben! Da haben die Mentzels Sie wiſſen doch, der Maurer: polier, der im Hinterhaus zwei Treppen hoch wohnt von irgend 'nem ganz fremden Menſchen, noch dazu 'nem Franzoſen, tauſend Thaler geerbt!“

Das war die große Neuigkeit, die in einem Hauſe der Lietzmannſtraße, im Nordoſten von Berlin, von Thür zu Thür kolportiert wurde.

„Was Sie ſagen!“ meinte der eine, als er die welt— erſchütternde Nachricht empfing, ſchüttelte den Kopf und drehte die Augen zum Himmel, als erwarte er, daß ihm aus den Wolken ebenfalls drei Tauſendmarkſcheine zu— fliegen ſollten. N

„Natürlich,“ knurrte ein anderer mit unverhehltem Groll, „die gebratenen Tauben fliegen ja immer denen ins Maul, die Geld genug haben, ſich welche zu kaufen!“

Und ein dritter zog gar die Naſe kraus und ſagte verächtlich: „Von 'nem Franzoſen? Das Geld hätte ich gar nicht genommen.“

Das war einer von jenen Heuchlern, die, wenn ſie

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die Weintrauben nicht kriegen können, fie mit dem Fuchs aus der Fabel für zu ſauer erklären.

Der Hausbeſitzer aber ſchlug freudeſtrahlend auf den Tiſch und ſprach: „Mentzel? Na, das iſt recht. Dem hab' ich's gerade gegönnt; denn er iſt der pünktlichſte Zahler und der ordentlichſte Menſch von ſämtlichen Par: teien, die auf meinem Grundſtück haufen.”

Und fo wie der Wirt urteilten auch noch einige an- dere, die nicht neidiſch und mißgünſtig waren, ſondern jedem Menſchen das Gute gönnten, das ihm das Schickſal in den Schoß warf.

Mentzels waren ruhige, fleißige Leute. Dieſes Beug: nis mußte ihnen der Gehäſſigſte ausſtellen. Otto Mentzel war als nüchterner und zuverläſſiger Arbeiter bei den Bauunternehmern der ganzen Gegend geſchätzt, und ſelbſt in den kälteſten Wintermonaten kam es nur ſelten vor, daß er mal auf einige Tage keinen feſten Poſten hatte. Aber auch dann lag er nicht müßig zu Haufe 'rum wie ſeine Kollegen ſonſt, ſondern erleichterte ſeiner Frau die vielen Laſten ihres arbeitsſchweren Lebens, indem er ihr in der Wirtſchaft half, die Schularbeiten der Kinder be— aufſichtigte und dergleichen mehr. Die Kneipen hatten an ihm einen ſchlechten Kunden. Nur im Hochſommer ge— ſchah es manchmal, daß er ſich von einem der Lehrlinge aus der nächſten Deſtillation eine „kühle Blonde“ holen ließ. Und in den eiſig kalten Wintertagen trank er wohl ab und zu einen heißen Grog zur Erwärmung des inneren Menſchen. Seine Sonntage verwandte Mentzel meiſtens dazu, für gute Bekannte auf dem Lande, denen es nicht ſo ſehr auf architektoniſche Vollkommenheit als vielmehr auf Billigkeit ankam, Pläne und Zeichnungen für Häuſer, Scheunen und Stallbauten anzufertigen. Das brachte ihm einen hübſchen Nebenverdienſt und ſeiner Frau manch angenehme Beihilfe für die Beſtreitung des Tiſches in

76 Mentzels Glück.

Geſtalt von Eiern, Obſt, Hühnern und ähnlichen ſchmack— haften Naturalien, für deren Ankauf der ſparſamen Haus— mutter das Geld meiſtenteils zu ſchade war, denn es war ihr erſtes Lebensprinzip, das, was ihr Mann verdiente, mit eiſernen Fingern zuſammenzuhalten.

Bei Frau Martha Mentzel wurde kein Speiſereſt in den Mülleimer geworfen, und kein Kleidungsſtück in den Lumpenbeutel geſteckt, ſolange noch irgend ein Flicken darauf ſitzen wollte. Und doch gingen Mengels alle fo ſauber angezogen, daß es eine Freude war. Frau Martha fand aber auch vor Flicken, Waſchen, Nähen und Stopfen kaum noch ſo viel Zeit, daß ſie die Mahlzeiten mit Ruhe herrichten konnte. Und wenn es galt, für ſich oder die drei ſchulpflichtigen Töchter neue Kleider anzuſchaffen, dann mußte fie ſchon regelmäßig die halben Nächte für ihre Schneiderei mit in Anſpruch nehmen.

Trotz ihrer muſterhaften Sparſamkeit betrachteten es Mentzels durchaus nicht als Laſt, daß ſie Frau Mentzels alte, vollſtändig mittelloſe Mutter, die ſich kaum noch aus ihrem Lehnſeſſel fortrühren konnte, mit ernähren mußten. Sie dachten im Gegenteil beide mit wehmütigen Gefühlen an die Stunde, da die treuen Augen in dem lieben, ver— ſchrumpften Sorgengeſicht ſich ſchließen würden für immer— dar. Und trotz der Genauigkeit, mit der ſie ihre Be— dürfniſſe einſchränkten, wieſen ſie wirklich Bedürftige nie— mals unerquickt von ihrer Schwelle.

Daß das launiſche Glück gerade in dieſen geordneten Hausſtand Einkehr gehalten hatte, war ja allerdings ſelt— ſam genug. Doch war Mentzels Glück nicht ganz ſo groß, wie es die Leute in dem Hauſe der Lietzmannſtraße machten. Erſtens betrug die Erbſchaft nicht tauſend Thaler, ſon— dern nur eintauſenddreihundertachtzehn Mark und ſechzig Pfennig, und zweitens war der liebenswürdige Erblaſſer Mentzel durchaus kein Unbekannter.

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Am Abend nach der blutigen Schlacht bei Mars⸗-la— Tour war es geweſen. Otto Mentzel, der als „Fünfund⸗ dreißiger“ im Feuer geſtanden hatte, war gegen Ende des Gefechts von einem leichten Streifſchuß am Kopf getroffen worden, der ihn für eine Stunde bewußtlos zu Boden geſtreckt hatte. Als er aus ſeiner Betäubung erwacht war, hatte ſich drüben hinter einem Hügel, deſſen Baum— beſtand von Granaten zerfetzt war, die Sonne zur Rüſte geneigt. Otto hatte mit Hilfe feiner wohlgefüllten Ferd- flaſche ſeine Lebensgeiſter zu neuer Kraft entfacht und ſich aufgerappelt, um irgend eines der Feldlazarette zu ge: winnen, bei dem er ſich verbinden laſſen könnte. Unter: wegs war er auf einen blutjungen Franzoſen geſtoßen, der eine ſchwere Verwundung an der rechten Bruſtſeite erlitten hatte. Das Bürſchchen, das kaum achtzehn Jahre zählen mochte, hatte dagelegen mit totenblaſſem, eingefallenem Geſicht und leiſe und herzzerreißend gewimmert. Als Mentzel an ihm vorbeigekommen war, hatte der Verwun— dete ihn ſo flehend angeſehen, daß dem derben preußiſchen Füſilier die ſchwächliche Knabengeſtalt in der Seele weh— that. Iſt ja zwar ein Franzos, hatte er gedacht, aber hat doch auch gewiß 'ne Mutter, die ſich die Augen aus— weinen würde, wenn ihr Sohn hier mit eingeſcharrt würde in das große, große Grab. Und er hatte den Franzoſen aus ſeiner Feldflaſche erquickt und ihn ſich trotz der eigenen Wunde auf den Rücken geladen und ihn wohl eine halbe Stunde weit bis zum nächſten Verbandplatz geſchleppt. Der Zufall hatte es gefügt, daß er mit dem von ihm Geretteten in dem gleichen Lazarett geblieben war. Als er dann nach ein paar Wochen geheilt zu ſeinem Truppen— teil entlaſſen wurde, hatte der Franzoſe ihm innig die Hände gedrückt und geſagt: „Nie vergeſſe ich, was Sie für mich gethan haben, mein Lebensretter, mein Freund!“

Mentzel dachte ſchon längſt nicht mehr an ſein Erleb—

78 Mengels Glück.

nis, als er im Jahre 1874 aus Paris von dem jungen Franzoſen einen eingeſchriebenen Brief erhielt, in dem dieſer ihn unter Einſendung von fünfhundert Franken Reiſegeld um ſeinen Beſuch bat. Mentzel beſann ſich nicht lange, ſondern reiſte fröhlich und wohlgemut nach der Haupt— ſtadt der franzöſiſchen Republik. Louis Collet war ſeit dem großen Kriege ein hübſcher junger Mann geworden, empfing den „Pruſſien“ wie einen Bruder, machte ihn mit allen Herrlichkeiten von Paris bekannt und drang ſchließlich in ihn, er möge als Teilhaber ſeines großen Weingeſchäftes bei ihm bleiben. Mentzel erſchien dieſe Dankbarkeit eine übertriebene, und da er auch mit ſeiner ganzen Seele an ſeiner deutſchen Erde hing, ſo lehnte er das freundliche Anerbieten ab. Als er dann ſchon zur Heimfahrt im Bahnwagen ſaß, mußte er noch einmal ähnliche Worte hören wie im Lazarett im Jahre ſiebzig: „Ich werde nie vergeſſen, mein Freund, daß Sie mir da— mals das Leben gerettet haben.“

Herr Louis Collet aber war ein leichtlebiger Menſch; das hatte Otto Mentzel ſchon in den paar Tagen weg, in denen er ſich von ihm Paris zeigen ließ. Und als der Franzoſe nach einem tollen Leben noch in den beiten Jahren plötzlich einem Schlaganfall erlag, da hinterließ er nur ein Vermögen von etwa zweitauſend Franken. Alles andere, das Weingeſchäft und das ſchöne Haus, wurde ein Raub der Gläubiger. Laut letztwilliger Ver— fügung war Otto Mentzel zu ſeinem Univerſalerben ein— geſetzt worden und erhielt dann auch nach langen koſt— ſpieligen Formalitäten, die von den zweitauſend Franken noch rajh ein paar hundert wegfraßen, ſchließlich ein: tauſenddreihundertachtzehn Mark und ſechzig Pfennig aus— gezahlt.

„Na, Mutter, was machen wir nun mit dem vielen

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Geld, das uns da ins Haus geregnet iſt?“ fragte der Maurerpolier ſeine getreue Gattin.

„Ja, Mann, das beſte wird ſein, wir bringen es auf die Sparkaſſe.“

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80 Mentzels Glück.

„Alles? Die ganzen tauſenddreihundertachtzehn Mark und ſechzig Pfennig?“ forſchte Mentzel verſchmitzt lächelnd weiter.

„Na, die Pfennige können ja zurückbleiben. Davon kannſt du dir Zigarren kaufen,“ gab Frau Martha groß— mütig ebenſo zurück.

Der glückliche Erbe holte aus ſeiner Brieftaſche, die wohl ſchon an die zwanzig Jahre alt ſein mochte, drei funkelnagelneue Hundertmarkſcheine hervor und legte ſie prahleriſch auf den einfachen Holztiſch, vor dem er ſeiner Gattin gegenüber ſaß.

„Sieh 'mal,“ ſprach er, „ſtechen dir die drei nicht in die Augen?“

„Wieſo?“ fragte Frau Mentzel.

„Na, du willſt doch ſchon jahrelang ein neues Sofa haben für unſere gute Stube.“

„Ach, Unſinn!“ antwortete Frau Martha zögernd.

„Thu bloß nicht ſo, du beſcheidene Seele. Geſagt haſt du ja zwar noch nichts, aber ich hab's dir doch an— geſehen, wenn du an den Möbelgeſchäften mit jo ſchmachten— dem Blicke vorbeigegangen biſt. Oder wenn du nicht ge— nug 'rumbürſten konnteſt an deinem alten rotbraunen Sonntagsnachmittagsſchlummerlager.“

Frau Martha lachte und nahm mit einer raſchen Hand— bewegung die drei Hunderter an ſich.

„Na, dann wollen wir alſo morgen abend gehen und die feinſten Möbelgeſchäfte der Reſidenz einer Beſichtigung unterziehen,“ meinte Mentzel.

„Weißt du, Otto,“ erwiderte ſeine Gattin, „ich glaube, wir kommen beſſer weg, wenn wir kein fertiges Sofa kaufen, ſondern uns das Geſtell und die nötigen Zuthaten an Seegras, Roßhaar, Stoff und ſo weiter ſelber be— ſorgen und das Sofa von Schulens Jungen, dem Tape— zierer, der jetzt gerade ohne Stellung iſt, machen laſſen.

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Der junge Menſch iſt ordentlich, und wir wiſſen dann wenigſtens, was in unſerem Sofa drinſteckt, und haben die Katze nicht im Sack gekauft.“

„Oder die Motten nicht in den Bandgurten. Ein guter Gedanke, Mutterchen!“ Er tätſchelte ihr die Hand, die gerade die Nadel aus einem Strickſtrumpf auf den Tiſch niederlegte. „Da ſoll noch einer ſagen, daß die Frauen keine Gedanken haben!“

„Und was fol mit dem Gelde werden, das von den dreihundert Mark übrig bleibt?“ fragte die Frau, in deren Fingern die Stricknadeln ſchon wieder klappernd hin und her flogen. „Ich denke, für hundertfünfzig Mark kriegen wir ein Sofa, auf dem Kaiſers ſitzen könnten.“

„Weil du immer ſo 'n braves Weib geweſen biſt, kannſt du von den reſtlichen hundertfünfzig Mark für dich und die Kinder neue Kleider und Wäſche anſchaffen.“

„Und du? Was willſt du haben?“

„Ich habe ja die ſechzig Pfennig für Zigarren von dir gekriegt.“

Frau Mentzel lachte. „Alter Spaßvogel!“ ſagte ſie zärtlich und klatſchte ihrem Mann herzhaft auf die von Sonnenglut und Wetter gebräunte Wange.

„Nun bleiben aber noch die achtzehn Mark,“ fuhr der Maurerpolier fort, „denn ich denke, wenn wir rund tauſend auf die Sparkaſſe tragen, iſt's gerade genug.“

„Die achtzehn Mark nimm nur für dich.“

„Nein, nein; die ſtelle ich auch meiner geehrten Fas milie zur geneigten Verfügung.“

„Wüßte nicht, wozu.“

„Na, vielleicht wiſſen's die Gören,“ ſagte Mengel, öffnete die Thür zum Nebenzimmer, in dem ſeine drei Mädel Schularbeiten machten, und rief: „Kommt 'mal rein, ihr Geſellſchaft!“

Die Kinder ſprangen vom Tiſch auf und ſtürmten

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in die Stube der Eltern, daß die Zöpfe nur fo umher- flogen.

„Nun wünſcht euch mal irgend was, wovon wir alle was haben: ich, Mutter, Großmutter und ihr drei! Aber mehr als achtzehn Mark darf es nicht koſten.“

„Achtzehn Mark?“ In einem Atemzuge kam Diele erſtaunte Frage von den drei Paar friſchen Kinderlippen. „Solch eine Menge Geld!“

Eine Weile ſtanden die Mädchen und dachten nach. Plötzlich ſprach die jüngſte halb freudig und halb zaghaft: „Laß uns am Sonntag nachmittag alle nach Schönholz oder der Haſenheide fahren, wo die Karuſſells ſind, das Kaſperle⸗ theater, die Pfefferkuchen- und die Würfelbuden.“

„Ach ja ... ach ja!“ ſtimmten die anderen beiden jauchzend ein. |

„Na, was meinſt du, Mutter? Wollen wir? Wir haben uns ſo wie ſo ſeit 'ner Ewigkeit kein Vergnügen geſtattet, und ich möchte eigentlich auch für mein Leben gern 'mal wieder 'n Tänzchen mit dir riskieren. So 'ne Erinnerung an den ſeligen Brautſtand —“

„Mir iſt's recht,“ erwiderte die Frau.

Die Mädchen ſtimmten ein Triumphgeſchrei an und tanzten im Zimmer umher.

„Pſt, nicht ſo laut,“ beſchwichtigte die Mutter. „Ihr weckt die Großmutter aus ihrem Nachmittagsſchlaf auf.“

„Richtig, die Großmutter!“ warf Mentzel ein. „Die kommt zu kurz bei dem Geſchäft, weil ſie die Partie nicht mitmachen kann.“

„Weißt du, Papa,“ ſprach darauf die zweite Tochter, „ſchenk ihr 'ne Flaſche Ungarwein, dann hat ſie ihren Anteil weg.“

„Haſt recht, Mädel,“ lachte der Maurerpolier. „Die Sache iſt alſo abgemacht. Sonntag geht's nach der Haſenheide.“

Don Maximilian Böttcher. 83

2.

„So, Frau, wir werden jetzt wohl abmarſchieren müſſen. Es iſt ſchon ſpät, und wir verpaſſen ſchließlich noch die letzte Pferdebahn,“ ſagte Mentzel, der in heller Hoſe, ſchwarzem Gehrock und weißer Weſte ordentlich ſchneidig ausſah. |

„Ja, und du mußt morgen wieder um Fünf heraus,“ gab ſeine Frau zurück. Sie ſtand auf und rief die Kin⸗ der, die mit einigen Altersgenoſſinnen durch den Garten tollten, in dem Muſikanten in ohrenzerreißender Weiſe zum Tanz aufſpielten. Die Mädel in ihren hellen Klei- dern ließen die Unterlippen hängen, als ſie hörten, daß die feltene Freude ſchon ein Ende haben folte, und ſchließlich faßte ſich die jüngſte ein Herz zu folgenden Worten: „Ach, Vater, noch ein bißchen könnten wir wohl bleiben!“ |

„Na, meinethalben. Noch eine Viertelſtunde. Dann aber tretet ihr mir hier ſofort wieder an! Sonſt findet ihr morgen nicht aus den Federn.“

Die Mädchen eilten freudeſtrahlend davon, und Mentzel wandte ſich wieder an ſeine Gattin. „Na, Mutter, wir können uns am Ende auch noch 'nen Walzer leiſten.“ Und er nahm ſeine Frau in die Arme und wirbelte mit ihr davon. Und da es der letzte Tanz ſein ſollte für lange Zeit, ſo ſchwang er ſeine leichte Laſt wie einen Federball im Kreiſe herum und ſchlug im Uebermute bei jedem zweiten Takt mit dem rechten Fuß hinten aus. Das ging fo eine ganze Weile. Dann aber traf er plötz— lich mit ſeinem gediegenen Stiefelabſatz gegen irgend was Feſtes. Ehe er noch darüber im klaren war, was ihm da in die Quere gekommen, ertönte hinter ihm ein gellen— der Aufſchrei, offenbar aus dem Munde eines weib— lichen Weſens, und als er erſchreckt ſeine Frau losließ

84 i Mengels Glück.

und ſich umwandte, lag zu feinen Füßen ein auffallend aufgeputztes Mädchen, das in einem fort wimmerte: „Mein Fuß, mein Fuß!“

Der Tänzer dieſer Dame begann wütend loszuſchimpfen. Schnell bildete ſich ein Kreis um die beiden Paare, und es herrſchte allgemeine Aufregung.

„Halten Sie den Schnabel!“ rief Mentzel, dem die Zornadern aufquollen, dem Tobenden jetzt zu. „Sonſt —“ und er reckte den Arm gegen ſeinen Gegner.

Der ſchien ſich zu ſagen, daß mit dem muskelſtarken Maurerpolier nicht gut Kirſchen eſſen ſei; denn er ſtellte ſein Fluchen ein und brummte nur noch leiſe vor ſich hin.

„Was haben Sie denn eigentlich, Jungferchen?“ fragte Mentzel nun, indem er ſich zu der am Boden Liegenden niederbeugte und ſie in ſeine Arme nahm wie ein Kind.

„Ach .. . ach . . . ich glaube, Sie haben mir meinen Fuß zerſchlagen ... er ift gebrochen ... ja, ja... er ift gebrochen ... ich fühl es ganz genau!“

„Na, ganz ſo ſchlimm wird's ja nicht ſein,“ tröſtete der Maurerpolier und bahnte ſich einen Weg durch die Mauer der Neugierigen. Seine Frau und die Kinder, Thränen in den Augen, folgten, während der Mann, der zuerſt ſo wütend geſchimpft hatte, ſeine Dame ſchnöde im Stich ließ und ſpurlos verſchwand.

Mentzel eilte auf die Straße.

„Wo wollen Sie denn eigentlich mit mir hin?“ wim— merte die Verletzte. |

„Zum Doltor,“ ftieß der Geärgerte zornig hervor, „damit wir ſehen, was mit Ihrem Fuß los iſt.“

Ein herzzerreißendes Stöhnen quoll von den Lippen der Unbekannten.

„Martha, ſind die Kinder da?“ rief der Maurer: polier über die Schulter weg ſeiner Frau zu, die ihm mit den drei Mädchen an den Händen kaum folgen konnte.

1. Ra

= = P x

Don Marimilian Böttcher, 85

„Ja, Otto,“ antwortete fie traurig.

„Na, dann los! Da drüben halten Droſchken!“ Und ſchon hatte er den Fahrdamm überſchritten. An der erſten Laterne neben der erſten Droſchke ſtand ein Schutz⸗ mann.

„Sie, Mann Gottes, wo iſt die nächſte Sanitäts⸗ wache?“

„Finkenſtraße 137,“ antwortete der Gefragte.“

„Danke für gütige Auskunft. Heda, Sie da auf'm Bock, ſchlafen Sie morgen weiter! Jetzt fahren Sie mich 'mal erſt ſchleunigſt mit meiner ſüßen Laſt nach der Finkenſtraße!“

Der Roſſelenker fuhr aus dem Traum, brummte ein paar Worte vor ſich hin und zog ſeinem mageren Gaul träge die Decke ab.

Mentzel hatte die Verunglückte bereits in der Droſchke abgeſetzt. Sie wimmerte ſo anhaltend, daß es den ſtärkſten Menſchen nervös machen mußte. „So geben Sie ſich doch nur noch die paar Minuten zufrieden!“ rief ihr der Maurerpolier zu. Dann ſprang er ſchnell wieder aus dem Wagen, ſchob feine Frau und die drei Mädchen hin: ein, warf die Thür ins Schloß und ſchwang ſich neben dem Kutſcher auf den Bock.

Nach einer Viertelſtunde, während der die kühle Nacht: luft Mentzels erhitzte Stirn angenehm abgekühlt hatte, hielt die Droſchke vor der Sanitätswache. Alle ſtiegen aus, und das Gefährt rollte davon.

„Ihr bleibt draußen!“ rief der Maurerpolier ſeinen Angehörigen zu, während er mit der Verletzten durch die Thür verſchwand. ö

Nach zwei Minuten kam er ſchon wieder ans Freie.

„Vorwärts, Lisbeth, lauf mal die Straße runter

*) Siehe das Titelbild.

86 Mentzels Glück.

bis zur nächſten Ecke und hol 'ne Droſchke her!“ rief er ſeiner Aelteſten zu. N

Die Kleine, die ſchon ganz ſchlaftrunken war, trottete mit ſteifen Beinen davon.

„Was iſt denn?“ fragte Frau Martha begütigenden Tones, da ſie ſah, daß die Zornesadern ganz dick auf ihres Mannes Stirne lagen.

„Ach, das Frauenzimmer will ſich nicht von dem Heil⸗ gehilfen unterſuchen laſſen. Nun müſſen wir mit ihr zum Arzt.“

„Aergere dich nicht, Männchen!“ ſuchte ihn Frau Martha zu beſchwichtigen. „Vielleicht hat das Fräulein große Schmerzen.“

„Na ja.“

Endlich kam Lisbeth mit der Droſchke heran. Die Beladung wurde in derſelben Weiſe vorgenommen wie das erſte Mal, und nach zwanzig endlos langen Minuten war man an der Thür des Arztes angelangt, deſſen Adreſſe Mentzel in der Sanitätswache erfahren hatte. Nach län— gerem Klingeln erſchien ein verſchlafenes Dienſtmädchen an einem Fenſter des erſten Stockwerks und verkündete, daß der Herr Doktor vor einer halben Stunde nach der Sanitätswache in der Finkenſtraße gegangen ſei, über die er die ärztliche Aufſicht habe.“

„Da ſoll doch gleich —!“ murmelte der Maurerpolier und ließ ſein Fuhrwerk die ſoeben zurückgelegte Strecke zurückmachen.

Als er ſeine beharrlich fortwimmernde Laſt wieder in die Sanitätswache hineinſchleppte, war der Arzt ſchon wieder nach Hauſe gegangen, da er niemand vorgefunden hatte, der ſeiner Hilfe bedürftig geweſen wäre.

„Wenn Sie jetzt wieder hinfahren, treffen Sie ihn ſicher zu Hauſe,“ meinte der Heilgehilfe.

„Ich danke,“ erwiderte Mentzel zornig.

Don Maximilian Böttcher. 87

Frau Martha, die leiſe hinter ihrem Gatten eingetreten war, redete der Verunglückten zu, ſie ſolle ſich doch von dem Heilgehilfen unterſuchen laſſen.

„Nein ... nein ... das thue ich nicht,“ gab dieſe, die man auf ein Feldbett niedergelegt hatte, mit abweh— render Handbewegung zurück.

„Aber warum denn nicht?“ fragte Mentzel wütend.

„Eine Freundin von mir hat ſich mal 'nen gebrochenen Arm von 'nem Heilgehilfen verbinden laſſen, und da iſt der Arm nachher ſteif geworden.“

„Ich will ja Ihr Bein gar nicht verbinden, ich will bloß ſehen, was Sie eigentlich dran haben,“ ſuchte der Heilgehilfe ſie zu überreden.

„Das verſtehen Sie doch nicht,“ erwiderte die junge Dame ſchnippiſch.

„Kommen Sie nur, Herr Vizedoktor, und walten Sie Ihres Amtes,“ fuhr jetzt Mentzel auf, ſchritt auf die widerſpenſtige Patientin zu und packte ſie ſo feſt an den Schultern, daß ſie ſich nicht zu rühren vermochte. Als fie aber zu ſchreien begann, hielt er ihr noch feinen Unter: arm geſchickt vor den Mund. Frau Martha trat nun ebenfalls heran und redete der Unbekannten mit freund— lichen Worten zu, ſie ſolle doch vernünftig ſein, es wäre doch nur ihr eigener Vorteil.

Das Mädchen war auch einen Moment ruhig. Kaum hob jedoch der Heilgehilfe ſeine Hände gegen ihr verletztes Bein, als ſie ihm mit dem geſunden Fuß eins zu ver— ſetzen trachtete. Das rüttelte den Jünger Aeskulaps denn aber doch aus ſeinem bisher bezeigten Gleichmut auf.

„Wenn Sie jetzt nicht ganz ſtill liegen, Fräulein, dann werden Sie einfach chloroformiert!“ drohte er.

Und dies Schreckenswort verfehlte ſeine oft erprobte Wirkung auch diesmal nicht. Sie hielt ſtille.

Mentzels Abſatz hatte das linke Schienbein der Un—

88 Mentels Glück.

bekannten dicht über dem Fußgelenk getroffen. Ueber den Saum der ehemals eleganten Stiefeletten war das Fleiſch ſchon ganz dick herausgeſchwollen. Der Heilgehilfe ver⸗ ſuchte die kleinen ſchwarzen Knöpfchen des Schuhes vor: ſichtig zu öffnen. Da aber die Patientin dabei gar zu fürchterlich ſchrie, ſo ließ er ſich ein Meſſer bringen. Das entlockte der Patientin, die wohl denken mochte, ihr Bein ſolle gleich amputiert werden, zunächſt wieder ein jämmer⸗ liches Hilfegeſchrei. Nur mit Mühe beruhigte man ſie ſo weit, daß der „Vizedoktor“ den Stiefel ohne Lebens⸗ gefahr für ſie der ganzen Länge nach aufſchneiden konnte. Den alten ſchwarzſeidenen Strumpf, durch den die Zehen neugierig Ausguck hielten, traf das gleiche Schickſal.

„Schöne Sache!“ brummte Mentzel ſeiner Frau zu. „Da kann ich dem Flittchen für ihren zerſchnittenen Lumpen⸗ kram neue Stiefel und Socken kaufen.“

„Laß doch gut ſein!“ tröſtete die mitleidige Gattin. „Du haſt ja auch, wenn auch unabſichtlich, das Unheil angerichtet.“ ö

Der Heilgehilfe unterſuchte den beſchädigten Fuß mit ſo viel Vorſicht und Sachkenntnis, als ihm irgend zu Ge⸗ bote ſtanden.

„Na?“ machte der Maurerpolier geſpannt.

„Hm . . . hm. Gebrochen iſt das Bein nicht, fo viel ſteht feſt. Es kann aber ſein, daß die Knochenhaut ein bißchen beſchädigt iſt. Sie müſſen ja übrigens ausgeſchlagen haben wie 'n junges Pferd.“

„Laſſen Sie Ihre Witze!“ brummte Mentzel.

„Was ſoll denn nun werden?“ fragte Frau Martha.

„Vorläufig 'ne Eisblaſe auf die verletzte Stelle bringen, damit ſich die Geſchwulſt verzieht,“ ſagte der Heilgehilfe mit wichtiger Miene.

„Nein, nein,“ proteſtierte die Patientin. „Ich mache nichts, was mir nicht der Arzt verordnet hat.“

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„Hat er Ihnen am Ende bei Ihrer Magerkeit und Ihren blaſſen Backen auch verordnet, auf 'n Tanzboden zu gehen?“ höhnte der Maurerpolier.

„Es können nicht alle Menſchen ſo vierſchrötig aus: ſehen wie Sie,“ gab die Gefoppte ſchlagfertig zurück.

„So laſſen Sie ſich doch eine Eisblaſe auflegen, liebes Fräulein!“ bat Frau Martha.

„Unter keinen Umſtänden!“

„Sie werden aber den Schaden davon haben,“ mahnte der Heilgehilfe. „Die Entzündung in Ihrem Bein kann jo ſchlimm werden, daß Sie —“

„Iſt mir egal!“ unterbrach ihn die Widerſpenſtige.

„Mir aber nicht!“ fuhr Mentzel zornig auf. „Wo iſt hier das nächſte Krankenhaus?“

Der Heilgehilfe gab eine Adreſſe an.

„Alſo los!“ kommandierte der Maurerpolier, belud ſich wieder mit der Patientin und ging auf die Thür zu. „Vergiß nicht zu bezahlen, Frau!“ ſprach er über die Schulter zurück.

„Sie haben ja den Stiefel und den Strumpf ver- geſſen!“ rief der Heilgehilfe, indem er die Bekleidungs⸗ gegenſtände mit zwei Fingern hochhob. ;

„Die können Sie ins Märkiſche Muſeum tragen!” er: widerte Mentzel mit gezwungenem Lachen und trat ins Freie.

Der Droſchkenkutſcher von vorhin wartete an der nächſten Laterne. Er ſchien geahnt zu haben, daß man ihn noch brauchen würde.

Nach einer halbſtündigen Fahrt hielt das Gefährt am Portal des bezeichneten Krankenhauſes. Es war über— füllt. Kein Bett mehr zu haben. Die barmherzigen Schweſtern, die ſich das verletzte Bein anſahen, gaben den gleichen Rat wie der Heilgehilfe. „Eisumſchläge, bis die Geſchwulſt niedergeht. Und morgen früh laſſen Sie den Arzt kommen!“

90 | Mengels Glück.

Mentzel war mit ſeiner Patientin wieder in Gnaden entlaſſen.

„Wo wohnen Sie?“ fragte er die Unbekannte.

„Nach Hauſe kann ich nicht,“ antwortete ſie lakoniſch.

„Warum denn nicht?“

Sie machte eine Menge Ausreden und Erzählungen, die aber alle ſo unwahrſcheinlich klangen, daß der Maurer⸗ polier ſchließlich zornig hervorſtieß: „Laſſen Sie nur das Gerede, zu dem ohnehin keine Zeit iſt, und geſtehen Sie ein, daß Sie überhaupt keine feſte Wohnung haben!“

„Nein. Ich bin nicht von hier. Ich bin aus Leipzig.“

„So ſeh'n Sie auch aus!“ gab der wütende Mentzel unlogiſch zurück.

„Mutter,“ ſprach er, indem er ſeine Laſt wieder im Wagen abſetzte, „wir haben alſo Logierbeſuch auf einige Tage.“

Er warf den Schlag zu, ſchwang ſich auf den Bock und ließ den Roſſelenker nach der Lietzmannſtraße fahren. Dort mußte er ſein ſchönes breites Bett an die Patientin abtreten. „Wie heißen Sie denn eigntlich?“ fragte er ſie.

„Alma Rauſch.“

„Hübſcher Name!“ ſchrie er und ging in die „gute Stube“, um ſich da auf das Sofa zu werfen.

„So viel Aerger, wie mir das Frauenzimmer gemacht hat, iſt mir die ganze Erbſchaft nicht wert,“ knurrte er, während er ſich auf der unbequemen Bettſtatt in die er— träglichſte Lage wälzte.

3.

Am folgenden Tage kam der Arzt und verordnete natürlich Eisumſchläge. Er machte der Patientin Vor— würfe, daß ſie ſich der Anordnung des Heilgehilfen nicht gefügt hatte. Sie hätte ſich eine Menge Zeit und viele Schmerzen erſparen können.

von Maximilian Böttcher. N 91

„Wie lange wird denn die Geſchichte ungefähr dauern?“ fragte Frau Martha, als ſie den Arzt zur Thür begleitete.

„Na, ich denke etwa drei Wochen.“

Die ſparſame Hausmutter ſeufzte. Für ſo lange Zeit einen Koſtgänger mehr auf der Taſche liegen zu haben, noch dazu eine Kranke das war bitter. Und wieviel Geld ſchon draufgegangen war bei der endloſen Droſchken⸗ fahrerei geſtern nacht! Und was der Arzt verlangen würde ... ach, du lieber Gott! Am eigenen Leibe und an der Wirtſchaft ließ ſich das ja unmöglich abknapſen, da mußte man ſchon ſeine Zuflucht zu der Erbſchaft nehmen. Das ſchöne, ſchöne Geld! Wie war ihr die Freude zu Kopfe geſtiegen, als ſie vorgeſtern vormittag die tauſend Mark auf die Sparkaſſe getragen hatte! Ordentlich wie eine Kapitaliſtin war ſie ſich vorgekommen. Aber ſo ging's im Leben. Arme Leute kommen einmal zu nichts.

Wenn ſie nur das Sofa nicht beſtellt und die neuen Kleider und Wäſcheſtücke nicht angeſchafft hätte! Die für all dieſen Luxus daraufgegangenen dreihundert Mark hätten doch ſicher gereicht, dieſe dumme Krankheitsgeſchichte zu überwinden, und es wäre wohl auch noch etwas übrig geblieben. |

Ihr Mann hatte Schuld daran, daß alles Darauf: gegangen war; er konnte nichts teuer genug kriegen. So viel ſie auch gegen ſeine Verſchwendungsſucht proteſtiert hatte, Mentzel hatte nur gelacht und geſagt: „Aber was willſt du denn eigentlich, Mutter? Wir haben's ja dazu!“

Seufzend ging Frau Martha wieder in die Schlaf— ſtube hinüber zu der Kranken, an deren Bein der Eis— waſſerumſchlag alle zwei Minuten erneuert werden mußte. Eine nette Wirtſchaft! Die unglückliche Hausmutter konnte gar nicht an die Bereitung des Mittageſſens denken oder ſonſt irgend eine Verrichtung im Haushalte vornehmen.

92 mentzels Glück.

Wie eine regelrechte Krankenpflegerin, die weiter nichts zu thun hat, mußte ſie am Bette ihrer Patientin ſitzen. Ein wahres Glück, daß um elf Uhr die beiden jüngſten Mädels aus der Schule kamen. Schnell wurde der einen beigebracht, wie man kalte Umſchläge macht, und die an⸗ dere zum Vater auf den Bau geſchickt, um ihn zu bitten, er möge heute 'mal im Wirtshaus eſſen. Dann eilte Frau Mentzel in die Küche, um für die Familie eine Milchſuppe zu kochen.

Als der Maurerpolier abends nach Hauſe kam, war er ſehr ſchlechter Laune. Natürlich! Das Kneipeneſſen, das 'ne Menge Geld koſtet und nicht vorhält! Und der Gedanke an den ungebetenen Gaſt zu Hauſe!

„Haben Sie denn gar keinen Angehörigen hier, zu dem ich Sie hinbringen könnte?“ fragte er die Kranke.

„Nein.“

„Arzt, Pflege und Zeitverſäumnis will ich Ihnen ja gerne bezahlen.“

Alma Rauſch zog die mageren Schultern hoch und machte ein ſauer⸗ſüßes Geſicht.

„Sie müſſen doch aber irgendwo gewohnt haben, Menſchenskind.“

„Ja, hab' ich. Aber ſeit dem Erſten bin ich ohne Logis.“

„Und Ihre Sachen?“

„Hat meine letzte Wirtin für Miete und Koſtgeld inne: behalten.“

„Nette Geſchichte! Was ſind Sie denn eigentlich?“

„Ich nähe Steppdecken. Aber dabei iſt auch ſo wenig zu verdienen.“

„Natürlich! Find' ich auch!“ Mentzel ſtapfte wütend in die Küche hinaus, in der ſeine Frau am Herd ſtand und ihm Bratkartoffeln, ſein Lieblingsgericht, zubereitete.

„Mein Bett muß ich wieder kriegen, Frau!“

Don Marimilian Böttcher. 93

„Ja, gewiß, ich habe auch ſchon daran gedacht, bei deiner ſchweren Arbeit.“

„Das Frauenzimmer muß raus!“

„Aber wohin? In ein Krankenhaus? Das iſt ſo koſtſpielig.“

„Ich denke, wir machen ihr ein Lager in der guten Stube zurecht.“

„Auf dem Sofa kann ſie doch aber nicht liegen mit dem ſchlimmen Fuß.“

„Ich werde gehen und 'ne neue Bettſtelle kaufen. Wenn Lisbeth mal heiratet, hat ſie gleich was für die Ausſteuer.“ |

Höhniſch lachend ging er davon und ließ die Brat: kartoffeln kalt werden.

Als der Arzt am folgenden Vormittag wieder kam, befahl er die Anſchaffung einer Eisblaſe, da die kalten Umſchläge nicht die beabſichtigte Wirkung erzielten. Die Eisblaſe brauchte nur alle zwei Stunden friſch gefüllt zu werden und brachte die Geſchwulſt in drei Tagen ſo weit zum Sinken, daß ein heilender Verband angelegt werden konnte. Jeden Tag kam der Doktor, befühlte die verletzte Stelle, die immer noch dick war, und legte einen neuen Verband an. Das dauerte jedesmal knapp zehn Minuten, und jedesmal rechnete er ſich dafür in ſeinem Notizbuch drei Mark Honorar an.

Drei Wochen waren vergangen. Alma Rauſch war unter Frau Marthas Pflege ordentlich aufgeblüht. Ihre hohlen Wangen waren voll geworden, ihre Schultern und Arme begannen fih zu runden. Mentzels Porte- monnaie aber wußte ein Klagelied zu ſingen von dem unheimlichen Appetit ſeiner Patientin. Und der Arzt war nach wie vor alle Tage gekommen. Und dennoch war an dem kranken Bein keine erhebliche Beſſerung zu ſpüren.

94 Mentzels Glück.

Alma brauchte zwar nicht mehr das Bett zu hüten, ſie ſaß den ganzen Tag in Großmutters bequemem Lehn— ſtuhl, den dieſe mit ſchwerem Herzen geopfert hatte, und las Romane, die ihr Frau Martha aus der Leihbibliothek beſchaffen mußte, aber ſie war völlig außer ſtande, den verletzten Fuß auf den Boden zu ſetzen. Und wenn der verzweifelte Maurerpolier ſie zum Auftreten zwingen wollte, dann ſchrie fie wie toll und fiel jedesmal beinahe in Ohn⸗ macht. Es ſchien, als wenn die Entzündung auf das Gelenk geſchlagen wäre, und der Fuß ſteif zu werden drohte. Es war einfach zum Verrücktwerden.

Am erſten Tag der vierten Woche an einem Sonn: tag alſo präſentierte der Doktor zum erſtenmal ſeine Rechnung. Da er im Anfang der Krankheit dann und wann zweimal täglich gekommen war, ſo waren es gerade dreißig Beſuche geworden, das machte neunzig Mark. Mentzel bekam einen Wutanfall. Er erklärte dem Arzt, daß er auf fein Wiederkommen verzichte. Herr des Him- mels! Was hatte ihn das unglückſelige Weib nun ſchon gekoſtet! Es war ja nicht das Honorar für den Arzt, das neue Bettgeſtell und die Koſten für die teure Ver⸗ pflegung allein. Da Alma Rauſch außer dem, was ſie auf dem Körper trug, nichts beſaß, ſo hatte Frau Martha ſich genötigt geſehen, ihr ein Kleid, zwei neue Hemden, drei Paar Strümpfe und dazu Stiefel und Hausſchuhe zu kaufen.

Mit heftigen, ja ungeſtümen Schritten durchmaß der Maurerpolier die Schlafſtube. In das Wohnzimmer, welches neben der von Alma beſetzt gehaltenen guten Stube lag, traute er ſich ſchon gar nicht mehr hinein.

„Wenn ich höre, daß das Frauenzimmer da nebenan ſich bewegt oder 'mal huſtet, dann könnt' ich ſchon toll werden,“ pflegte er zu ſagen.

Plötzlich riß er die Thür zu der dem Schlafzimmer

Don Maximilian Böttcher. 95

benachbarten Küche mit einem fo ſtarken Ruck auf, daß Frau Martha, welche gerade das Mittageſſen bereitete, vor Schreck einen Teller zu Boden fallen ließ.

„Na ja,“ donnerte Mentzel los, „nun fang du auch noch an ... es geht ja fo noch nicht genug bei uns zum Deibel!“

Die Frau ſchwieg. Was ſollte ſie dem Erregten auch antworten?

„Sag 'mal,“ fuhr er nach einer kleinen Pauſe fort, „wieviel Geld haſt du denn nun eigentlich in den drei Wochen ſchon von der Sparkaſſe abgehoben?“

„Vierhundert Mark,“ war die unter einem ſchweren Seufzer erteilte Antwort.

„Und wieviel iſt von dieſen vierhundert Mark noch da?“

„Gegen zwei Thaler ... ich muß morgen wieder gehen und hundert Mark holen.“

„Was? Die vierhundert Mark ſind ſchon alle?“ Breit⸗ beinig, mit funkelnden Augen pflanzte ſich Mentzel vor ſeiner Gattin auf. „Das iſt ja eine Schandwirtſchaft!“

Das war ſeiner biederen Hausfrau dann aber doch zu viel. „Ja, denkſt du denn, ich habe das Geld zu meinem Vergnügen ausgegeben?“ fragte ſie mit bebenden Lippen zurück, indes ihr die Röte ins Geſicht ſtieg. „Rechne doch gefälligſt nach!“

In Mentzel ſtieg die Scham auf. Ohne ein Wort zu erwidern, machte er Kehrt und verließ die Küche.

Im Schlafzimmer nahm er ſeine unſtete Wanderung wieder auf. Alſo vierhundert Mark ſchon! Somit waren von der Erbſchaft noch ganze ſechshundert Mark vorhanden. Und das neue wertvolle Sofa ſtand oben auf dem Boden zur Privatunterhaltung der Motten, weil man in der Wohnung keinen Platz hatte, es unterzubringen.

Das mußte anders werden ... das konnte ſo nicht

96 Mentzels Glück.

weiter gehen. Ja, wenn's noch das Geld allein geweſen wäre, was hinging. Das hätte ſich ſchließlich vielleicht noch verſchmerzen laſſen. Aber die ruhige Mentzelſche Muſterwirtſchaft ging unter der Anweſenheit der hart: näckigen Patientin zum Kuckuck. Nirgends war mehr die rechte Ordnung, der rechte Schwung und Zug in der Sache. Vor der immerwährenden Bedienung Almas kam ſeine Frau gar nicht mehr an die Inſtandhaltung ihres Hausſtandes. Kaum, daß ſie ſo viel Zeit fand, die Mahlzeiten herzurichten und ihm 'mäl ein paar Arbeits⸗ hoſen zu flicken. Die Säuberung der Wohnung und die geiſtige Pflege der Kinder mußte immer Hals über Kopf vorgenommen werden. Die Mädel brachten ſchlechte Unterſchriften unter ihren häuslichen Arbeiten heim, und die Großmutter ſtöhnte ob ihres verlorenen Lehnſtuhls. Und während Fräulein Rauſch ſich ordentliche Hänge— backen zugelegt hatte, war ſeine Frau zuſehends abge— magert. Nicht annähernd mehr ſo ſauber und niedlich ſah ſie aus wie früher, hatte hohle Wangen und lief um— her mit tiefen blauen Rändern um die Augen. Und die Leute auf dem Bau hielten ihn ſchon mit ſeinem Logier— beſuch zum beſten.

Eine Woche lang wollte er's noch mit anſehen, aber dann dann mußte das Frauenzimmer aus dem Hauſe. Ganz gleich, wohin. Und wenn es ſein ganzes Vermögen koſtete. ...

Am Nachmittag dieſes ſchönen Sonntags ging Mentzel allein aus, was ſeit undenklichen Zeiten nicht vorgekommen war. Und er ging in ein Wirtshaus und kam erſt ſpät in der Nacht mit einem Rauſch wieder heim. Und Frau Martha weinte Thränen der Verzweiflung darüber.

Als Mentzel am nächſten Abend vom Bau nach Hauſe kam, ließ ihn Frau Martha durch Lisbeth fragen, was denn nun eigentlich werden ſolle. Sie ſelbſt würdigte

Don Maximilian Böttcher. ; 97

ihn, eingedenk der fürchterlichen Nacht, noch keiner An⸗ ſprache. |

„Vater, die Mutter läßt fragen, ob du nicht einen anderen Doktor beſtellen willſt für das Fräulein?“

Mit dieſen Worten entledigte ſich die Aelteſte ihres Auftrages. |

„Fällt mir gar nicht ein!“ gab der Angeredete zurück. „So 'n Doktor verſteht überhaupt nichts. Das hab' ich bei dem vorigen geſehen. Knöpft mir ſo 'n Kerl neunzig Mark ab für nichts! Für rein gar nichts. Ich könnte toll werden, wenn ich dran denke.“

„Ach, ſei doch vernünftig, Vaterchen!“ bat die Kleine und ſtreichelte dem Zornigen die ſchwielige Fauſt.

„Haſt recht, mein Kind, haſt recht. Und beſtelle deiner Mutter, daß ich alſo keinen neuen Doktor will. Aber ſie ſoll 'rumſchicken zur Frau Wudicke, die doch immer ſo wunderthätige Salben hat und ſolche geheimnisvollen Sympathiekuren macht am Ende hat die mehr Glück bei dem ... dem ... bei Fräulein Rauſch.“

Und ſo geſchah es. Frau Wudicke, eine ſechzigjährige Sibylle mit ſchmutzigen Kleidern und einer imponierenden großen Brille, kam noch an demſelben Abend, beſah Fräulein Almas Fuß, an dem keine Spur einer Ver— letzung mehr zu erblicken war, erklärte die Sache trotz alle: dem für ſehr ſchlimm und ſprach über die kranke Stelle mit Augenrollen und geſpenſtiſchen Gebärden einige Be— ſchwörungsformeln aus. Nachdem ſie zum Schluß noch eine grünliche Salbe auf den Fuß geſchmiert hatte, prophe⸗ zeite ſie, das Leiden würde dank ihrer Kur in drei bis vier Tagen gehoben ſein.

Am folgenden Tage, nachdem Frau Wudicke wieder ihre Beſchwörung vorgenommen hatte, ſagte Fräulein Rauſch zu Frau Martha: „Möchten Sie mir nicht eine Poſtkarte geben, Frau Mentzel?“

1900. VIII. 7

98 Mentzels Glück.

Frau Mentzel brachte die Poſtkarte, Alma bemalte ſie mit fürchterlichen Krähenfüßen, Lisbeth mußte ſie in den Briefkaſten ſtecken, und am folgenden Nachmittag klingelten bei Mentzels zwei auffallend aufgetakelte junge Damen und fragten nach Fräulein Rauſch. Sie wurden in das „Gaſtzimmer“ geführt, wie der Maurerpolier neuerdings ſeine gute Stube nannte, und da gab's dann bis zum ſpäten Abend ein Erzählen und Lachen ſo lauter und rückſichtsloſer Art, daß die alte Großmutter nebenan ganz nervös wurde vor Aufregung. Tags darauf kamen die beiden Freundinnen wieder und brachten noch eine Kollegin mit. Sie baten Frau Martha, Kaffee zu kochen, und dieſe war dumm genug, es zu thun, und erhielt zum Dank ein Stück vertrockneten Napfkuchen. Später ließen die Damen Bier holen und tranken tüchtig.

Frau Martha war außer ſich. Wenn ſich die Sache mit Alma Rauſch ſo weiter entwickelte, dann würde ſie Mann und Kinder im Stich laſſen und in die Spree gehen. Trotz dieſes verzweifelten Vorſatzes wollte ſie aber ihrem Gatten vorläufig noch nichts von dem jüngſten Treiben in der guten Stube ſagen, aus Angſt, er werde aus Zorn am Ende wieder ins Wirtshaus gehen und nachts mit einem Rauſch heimkehren.

4.

Als Alma am Freitag früh den kranken Fuß immer noch nicht aufſetzen konnte, ſagte Mentzel: „Du, Frau, ich meine, das Frauenzimmer verſtellt ſich, die will ſich noch den ganzen Herbſt und Winter bei uns auf die Maſt legen. Keine Arbeit, keine Sorgen und dabei immer 'ne warme Stube und gutes Eſſen . . . das gefällt der ſchon!“

„Du ſollteſt es noch 'mal mit 'nem neuen Doktor ver— ſuchen, Mann! Zu Frau Wudicke hab' ich fo wie fo kein Zutrauen.“

Don Maximilian Böttcher. 99

Der Maurerpolier ging und holte einen jungen Medi: ziner aus der Nachbarſchaft, der noch keine Praxis hatte. Dieſer, ein flotter Kerl mit blondem Schnurrbart und kräftigen Schmiſſen über Kinn und Wangen, betrachtete den kranken Fuß durch ſeinen ſchwarzumränderten Kneifer.

„Ich ſehe nichts,“ ſprach er. Und leiſe flüſterte er Mentzel ins Ohr: „Ich glaube, die verehrte Dame ſimu— liert.“

„Das habe ich ſchon zu meiner Frau geſagt,“ ſtieß der verzweifelte Hausvater eifrig hervor.

„Wo thut's denn eigentlich weh?“ wandte ſich der Doktor wieder an Alma.

„So, wenn ich das Bein ſtillhalte, gar nicht . .. bloß, wenn ich's bewegen will.“

Der Mediziner ſchmunzelte, packte mit der linken Hand das Bein der Patientin und mit der rechten den Fuß feſt an und bewegte das Gelenk kräftig hin und her. Die Patientin ſchrie dabei, als ob ſie am Spieß ſtecke.

„Hören Sie, Fräulein, Sie ſpielen Komödie! Ihr Fuß iſt vollſtändig in Ordnung,“ ſagte der Arzt, indem er die hohe Stirn in Falten legte.

„Ich verbitte mir ſolche Verdächtigungen, Herr. Was denken Sie denn eigentlich von mir?“ war die prompte Antwort.

Der junge Mediziner wiegte den Kopf bedächtig hin und her. „Alſo, Herr Mentzel,“ ſprach er, „hier iſt nichts anderes zu machen, als den kranken Fuß gründlich zu maſſieren, aber gründlich! Das können Sie übrigens ſelber thun.“ Und er machte dem Maurerpolier vor, wie man maſſiert, bearbeitete das Bein Almas ſo kräftig mit ſeinen muskulöſen Fingern, daß ihr der Angſtſchweiß aus allen Poren brach, und ihre Stimmbänder infolge des Schreiens ſchließlich verſagten. „Sie haben ja noch kräf— tigere Hände als ich,“ ſprach der a dann, während

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100 Mentzels Glück.

er ſich die Hände wuſch. „Alſo alle Abend und alle Morgen eine halbe Stunde ordentlich maſſieren. Die Kranke muß dabei ſchwitzen, als ſäße fie in einem Bad: ofen. Und dann wollen wir ſie auf halbe Koſt ſetzen. Sie ift zu fett, und das verhindert den Umlauf der heilen: den Säfte. Sie erhält in Zukunft nur Waſſerſuppe, Brot, Kartoffeln und dann und wann ein weiches Ei oder ein Stückchen ausgekochtes Rindfleiſch! Nächſtens ſpreche ich wieder vor.“

Draußen auf dem Korridor tröſtete er den unglüd: lichen Maurerpolier noch mit den Worten: „Laſſen Sie nur, die ſchaffe ich Ihnen bald vom Halſe!“

Gerührt drückte Mentzel ihm die Hand.

Und es kam wieder ein Sonntag. Jener Sonntag, der den Uebergang, von der vierten zur fünften Krant: heitswoche bildete, jener Tag, für den Mentzel ſich vor: genommen hatte, mit Alma Rauſch ein Ende zu machen.

Am Freitag und Sonnabend hatte er mit ſeinen harten, ſchwieligen Fingern an ſeiner Patientin Fuß die verord— nete Maſſage in einer Weiſe ausgeführt, bei der „kein Auge trocken bleiben konnte“. Er hatte gearbeitet und gewütet, daß nicht nur Alma, ſondern auch er ſelbſt ganz erſchöpft war. Dennoch war die Sache am Sonntag vormittag immer noch dieſelbe. Alma blieb dabei, daß ſie eher ſterben würde, als den kranken Fuß auf den Boden ſtellen.

Der junge Arzt wurde über dieſe Hartnäckigkeit doch ein wenig ſtutzig.

„Ich weiß nicht, lieber Mentzel,“ ſagte er, nachdem der Maurerpolier in ſeiner Gegenwart wieder zwanzig Minuten lang mit dem Kraftaufwand von zwei Pferde: ſtärken maſſiert hatte, „ich weiß nicht, ob es ſich hier nicht vielleicht doch um ein thatſächliches Leiden handelt. Ich meine, bei Ihrer Art zu maſſieren, möchte der Teufel

Don Marimilian Böttcher. 101

die Luſt am Simulieren einbüßen. Auf halbe Koſt haben Sie die Kranke doch auch geſetzt? ... Naja... dann iſt's gut. Immerhin wollen wir alſo noch ein paar Tage mit dieſer Behandlung fortfahren. Wenn das Fräulein fih wirklich verſtellen folte lange wird fie diefe Ver: ſtellung nicht aushalten.“

Aber Mentzels Geduld war ſo ziemlich erſchöpft.

„Nee, Herr Doktor,“ antwortete er, „ich habe keine Luſt, mir an dem Frauenzimmer meine ehrlichen Finger zu verunglimpfen. Und ich habe mir vorgenommen, wenn vier Wochen um ſind und ſie iſt nicht geſund, dann muß ſie 'raus. Und heute ſind vier Wochen um. Welches Krankenhaus können Sie mir empfehlen?“

„Nur nicht ſo hitzig, lieber Mentzel, nur nicht ſo hitzig! Meinen Sie etwa, das Fräulein hat's im Kranken⸗ hauſe ſchlechter als bei Ihnen? Wenn ſie wirklich ſimu— liert, werden wir ſie höchſtens auf die Weiſe los, die wir jetzt eingeſchlagen haben geringe Koſt und ſchmerzhafte Maſſage.“

„Na, und wenn ſie nicht ſimuliert?“

„Dann werden wir ja nachher weiter ſehen.“

„Hm. . . nun bin ich ebenſo klug wie vorher. Giebt's denn keinen Arzt, keinen Profeſſor, der ſicher feſtſtellen könnte, ob ſie ſich verſtellt oder nicht?“

„Hm, man könnt' es ja immerhin verſuchen und ſo 'ne Kapazität kommen laſſen. Die Herren ſind aber ſehr teuer.“

„Für Fräulein Alma iſt mir nichts zu teuer,“ gab Mentzel mit trockener Ironie zurück.

„Na, dann gehen Sie nur morgen hin zum Profeſſor H. und bitten Sie ihn, daß er mal bei Ihnen vorſpricht. Oder ſoll ich ihm lieber telephonieren?“

„Ach ja, wenn Sie ſo gut ſein wollen.“

„Schön. Adieu, lieber Mentzel.“

102 Mengels Glück.

Der Maurerpolier begab ſich vom Korridor aus, in deſſen Stille und Abgeſchiedenheit er mit dem jungen Arzt verhandelt hatte, in die Küche. Gerade ſah er, wie ſeine Frau, irgend etwas unter der Schürze verbergend, eiligſt in die Stube ſchlüpfte. Argwöhniſch, wie er in den letzten Wochen geworden war, eilte er ihr nach und faßte ſie noch an der Thür des Gaſtzimmers ab, das offenbar das Ziel ihrer geheimnisvollen Expedition war.

„Halt, Madamchen! Was verſtecken Sie denn da vor mir?“

„Verſtecken? Du biſt wohl nicht recht klug... Es iſt das Mittageſſen für Fräulein Rauſch.“

„Das trägſt du ihr unter der Schürze rein? Aha, es ſoll wohl nicht kalt werden?“

„Reden wir nachher davon weiter.“ Und Frau Martha ſuchte in die Stube der Kranken zu ſchlüpfen. Aber blig- ſchnell hielt ſie Mentzel am Arm feſt.

„Nee, nee, ſo haben wir nicht gewettet, verehrte Frau und Gattin. Ich will wiſſen, was in meiner Wirtſchaft vor ſich geht. Her mit dem Futter!“ Und ſchon hatte er ſeiner Gattin die kleine Schüſſel mit Almas Mittags⸗ mahl entwunden.

Was war's?

Ein Huhn, ein regelrechtes, gebratenes junges Back— huhn!

Erſt war Mentzel ſprachlos. Dann ging das Gewitter los. Mit Hagel und Donnerſchlag. Na, das ſei ja eine nette Wirtſchaft. Der Arzt befehle halbe Koſt, und ſie gebe dem Weibſtück Delikateſſen, verſchwende ruchlos das Vermögen des Mannes, mache deſſen vernünftige Maß— regeln heimlich zu nichte. Das ſei ja niederträchtig. Ob ſie etwa mit dem Frauenzimmer unter einer Decke ſtecke?

Frau Martha hatte auch eine nicht ganz ungeläufige Zunge und blieb ihrem Gemahl keine Antwort ſchuldig.

Don Maximilian Böttcher. 103

Sie hätte noch keinen Beweis dafür, daß Fräulein Rauſch wirklich eine Simulantin ſei, und ſo lange, bis ihr dieſer

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104 Mentzels Glück.

Beweis erbracht wäre, ſei ſie in ihren Augen ein armes, bedauernswertes Geſchöpf, das durch ſeine, Mentzels, Fahr⸗ läſſigkeit zu Schaden gekommen ſei. Sie hungern zu laſſen wäre eine Herzloſigkeit, eine Gemeinheit, zu der fie nie die Hand bieten würde. Ueberdies würde ſie ſich hüten, ſich ſpäter 'mal von den Leuten im Hauſe Uebles nach— reden zu laſſen. Lieber mochte die ganze Erbſchaft dar: aufgehen.

Mentzel, kochend vor Wut, ſtürmte in das Zimmer Almas. „Hören Sie, Fräulein,“ redete er ſie an, „das geht ſo nicht weiter, Sie müſſen ſich ein bißchen in meinem Hausſtand nützlich machen. Wer eſſen will, muß auch arbeiten. Sie können meine Kinder bei den Schularbeiten beaufſichtigen.“

„Das verſteh' ich nicht . . . ich habe zu wenig gelernt in meiner Jugend.“ |

„Dann danken Sie Gott, daß Sie mich nicht zum Vater gehabt haben! Können Sie Strümpfe ſtricken?“

„Nein.“

„Hoſen flicken?“

„Nein.“

„Sie können wohl überhaupt nicht viel mehr als eſſen und ſchlafen?“

„Viel mehr nicht. Da haben Sie ganz recht.“

„Altes . . .“ Mentzel ſchluckte das Schimpfwort, das er ſeinem Gaſt an den Kopf werfen wollte, herunter und ſtürmte zur Thür hinaus, riß ſeinen Hut vom Nagel und ſtürmte die Treppe hinab, um ſich in der friſchen Luft ſeinen Kopf ein wenig zu kühlen. Zum Mittageſſen hatte er ohnedies keine Luſt. Unten begegnete ihm der Haus— wirt.

„Hören Sie, Mentzel,“ ſprach er, „Sie müſſen das Fräulein, das Sie da bei ſich haben, aus dem Hauſe ſchaffen. Alle Nachmittag kriegt ſie Beſuch. Die Mieter

Don Marimilian Böttcher. 105

beſchweren ſich ſchon über den Radau, den die machen. Wenn Sie das nicht abſtellen können, muß ich Ihnen Ihre Wohnung aufkündigen, obgleich mir das ſehr leid thut.“

Der Maurerpolier hörte den Sprecher nicht zu Ende. Mit zwei Sätzen war er wieder oben in ſeiner Wohnung. „Wenn du noch ein einziges Mal die Bagage, die bei dem dem Fräulein da zu Beſuch kommt, ins Haus läßt, werf' ich dich ſamt der ganzen Sippſchaft raus!“ donnerte er ſeine erſchreckte Gattin an.

Ehe die auch nur eine Silbe erwidern konnte, war er ſchon wieder über alle Berge.

Am Nachmittag der Maurerpolier war bereits, ein wenig angeſäuſelt zwar, von ſeinem Spaziergang heimgekehrt kam ein junger Menſch in einem eleganten, aber ge— ſchmackloſen Anzug und mit einem frech-dummen Geſicht und fragte nach Fräulein Alma Rauſch.

„Wer ſind Sie denn?“ herrſchte ihn Mentzel an, der ſelbſt die Flurthür aufgemacht hatte.

„Fräulein Almas Bruder,“ lautete die mit Grinſen erteilte Antwort.

„Machen Sie, daß Sie 'reinkommen, Sie Sie Bruder!“

Der Maurerpolier ſtieß die Thür, bi zur guten Stube führte, auf und ließ den Fremden eintreten. Aber er wollte Gewißheit haben, wer der Beſucher ſei. Schließ— lich kamen ihm am Ende noch Spitzbuben ins Haus. Er lauſchte alſo am Schlüſſelloch. Geräuſch von Küſſen und Umarmungen drang zu feinem Ohr. „Liebe Alma!“. .. „Lieber Oskar!“ . .. Na, das konnten zärtliche Geſchwiſter ſich auch ſagen. Plötzlich aber lachte Oskar: „Du, dem Schafskopf da draußen hab' ich geſagt, du ſeieſt meine Schweſter.“

„Das war recht, mein Junge.“ Und Alma ſtimmte mit ein in das Gelächter.

106 Mengels Glück.

Da wurde jählings die Thür aufgeriſſen, Mentzels kräftige Arme packten den „Bruder“ an ſeinem eleganten Kragen, zerrten ihn über den Korridor und warfen ihn ſo wuchtig die Treppe hinab, daß er unten auf dem Abſatz regungslos liegen blieb. Dem energiſchen Wahrer ſeines Hausfriedens fuhr ein heilloſer Schrecken in die Glieder. Wenn ſich der Kerl nun auch noch was ge— brochen hatte! Dann kriegte er am Ende noch einen kranken Gaſt ins Haus. Aber glücklicherweiſe rappelte ſich der Elegante wieder auf, ſuchte ſeinen zerbeulten Hut und ſtapfte fluchend die Treppe hinab. Na, der würde gewiß das Wiederkommen vergeſſen! Als Mentzel, die Flurthür zuwerfend, ſich umwandte, ſtand Alma Rauſch dicht hinter ihm. Angſt und Sorge um die brüderliche Liebe ſprachen aus ihrem Geſicht.

„Was?“ ſchrie der Maurerpolier. „Sie können gehen?“

Der Wiederſchein eines grellen Gedankens huſchte über die Züge Almas. „Ich . . . ich weiß nicht . . . der Schreck . . . die Angſt —“ und während Mengels Geſicht fich freudig verklärte, machte fie Anſtalten, die zehn Schritte bis zu ihrem Lehnſtuhl zurückzuſpazieren. Sie griff mit der linken Hand nach dem Thürpfoſten und mit der rechten nach der Lehne eines Stuhles, der in der Nähe ſtand, ſetzte erſt den geſunden Fuß auf und brach, als ſie nun den kranken auf den Boden ſtellen wollte, mit dem Ruf: „Mein Fuß ... mein Fuß!“ zuſammen, fiel aber mit ſchmerzvoll entſtelltem Geſicht auf einen glücklicher— weiſe zu ihrer Aufnahme bereitſtehenden Stuhl.

Der Maurerpolier fuhr ſich mit der Fauſt in die Haare, dann nahm er Alma, trug ſie durch die Stube und ſetzte ſie ſo kräftig in den Lehnſtuhl, daß der in allen Fugen krachte.

Am folgenden Tage ging Mentzel natürlich nicht auf

-Don Maximilian Böttcher. 107

den Bau, um bei der Unterſuchung des berühmten Spe— zialiſten ſelbſt zugegen zu ſein.

Unter Hangen und Bangen wurde es nachmittag vier Uhr, als der Profeſſor endlich, gefolgt von Mentzels jungem Hausarzt, auf der Bildfläche erſchien.

Der Maurerpolier erſtattete zunächſt Bericht über das geſtrige Vorkommnis.

„Hm, hm,“ machte der große Mediziner, „das iſt ja allerdings bedenklich immerhin aber noch lange kein Beweis. Wir haben in unſerer Wiſſenſchaft Fälle —“ und der Profeſſor verbreitete ſich in zehn längeren Sätzen über jene merkwürdigen mediziniſchen Ereigniſſe, in denen jeder Phyſiologe und Pſychologe darauf geſchworen hätte, man habe es mit Simulanten zu thun, während die Erfahrung nachher dennoch gelehrt und bewieſen hatte, daß beſagte Menſchen in Wahrheit und Wirklichkeit krank, ſogar ſchwer krank geweſen waren.

Seiner langen Rede kurzer Sinn war, daß man ruhig abwarten müſſe. Wie lange? Nun, je nachdem. Drei Wochen vier Wochen. Ewig würde die Kranke ja nicht ſimulieren wollen. Selbſt den faulſten Menſchen verlange es ja ſchließlich 'mal wieder nach friſcher Luft, nach Bewegung.

Als der Profeſſor ſich empfahl, war der bedauerns— werte Maurerpolier nicht nur um keine Wiſſenſchaft reicher, ſondern noch dazu um ganze hundert Reichsmark ärmer.

5.

Am folgenden Tage es war der dreißigſte ſeit der merkwürdigen Schließung dieſer ſo überaus verhängnis— vollen Bekanntſchaft brachte Mentzel Alma Rauſch ins Krankenhaus. Die Inſpektion desſelben verlangte, daß die Unkoſten für vierwöchenliche Pflege, Wohnung und

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Beköſtigung in Höhe von hundertachtzig Mark im voraus entrichtet würden.

Als der arme Maurerpolier, der an dieſem Tage natürlich wieder nicht auf ſeinen Bau gegangen war, nach Hauſe kam, ordnete er zunächſt eine gründliche Reinigung, Lüftung und Desinfektion ſeines Fremdenzimmers an. Dann brachte er mit zwei gefälligen Hausleuten das neue Sofa vom Boden herunter und Almas Bett Lisbeths erſtes Ausſteuerſtück hinauf. Großmütterchen erhielt ihren Lehnſtuhl wieder, und das bisherige Sofa wurde in die Wohnſtube verſetzt. Als dieſer aufregende, interne Umzug beendet war, ging Mentzel mit ſeiner Fran noch einmal in die gute Stube hinüber, in der es trotz der offenen Fenſter noch kräftig nach Karbol roch.

„Sie ift alfo wirklich 'raus?“ begann der Maurer: polier, indem er ſeinen Arm um ſeines Weibes Schultern legte. „Ich kann's mir nämlich immer noch gar nicht . vorſtellen außer, wenn ich mich davon durch den Augen: fhein überführe. Weißt du, Mutter, ich bin überhaupt ſo glücklich heute, daß ich mir am liebſten wieder mit euch 'nen vergnügten Tag machen möchte.“

„Ich danke beſtens,“ gab Frau Martha mit erzwun⸗ genem Lachen zurück.

Sie kam nicht ſo leicht über unglückliche Zeiten hin— weg wie ihr weit praftifcher veranlagte Mann. Schweres, das fie erlitten, übte noch monatelang feinen nieder: drückenden Einfluß auf ſie aus.

„Aber warum denn nicht, Altechen?“ neckte der Un— verbeſſerliche weiter. „Es iſt doch heute ein richtiger Freudentag für uns nach den vier Wochen. Wieviel Geld iſt denn übrigens noch von der Erbſchaft da?“

„Knappe hundertfünfzig Mark.“

„Gott ſei Dank!“ kam es im Ton heiligſter Ueber— zeugung aus Mengels biederer Bruſt.

Don Maximilian Böttcher. 109

„Was? Gott ſei Dank?“ fragte Frau Martha er: ſtaunt.

„Ja, Mutterchen, ja. Ich bin nämlich der Meinung, daß uns dieſe Erbſchaft kein Glück gebracht hat und kein Glück bringen wird. Und darum wär' ich froh, wenn die hundertfünfzig Mark auch erſt futſch wären.“

Alle vier bis fünf Tage ging Frau Mentzel ins Kranken⸗ haus, um ſich nach dem Befinden ihrer Patientin und „Hausfreundin“, wie der Maurerpolier Alma jetzt zu nennen pflegte, zu erkundigen. Der Beſcheid, den ſie er⸗ hielt, war jedesmal derſelbe wenig tröſtliche.

Fräulein Rauſchs Bein beſſerte ſich nicht. Zu ſehen oder zu fühlen war zwar immer noch nichts von einer krankhaften Stelle, aber was half das? Alma konnte ihre unteren Extremitäten nun einmal nicht zu den von der Natur beſtimmten Zwecken gebrauchen und mußte weiter und weiter im Lehnſtuhl ſitzen. Dieſer Lehnſtuhl ſtand am offenen Fenſter des Krankenſaales, in dem außer Fräulein Rauſch noch drei andere leichtere Patien— tinnen untergebracht waren. Und das offene Fenſter ging hinaus auf den Park der Anſtalt. Da hatte Alma, wenn ihr der Mund vom ſtundenlangen Schwatzen und Plau— dern mit ihren Genoſſinnen weh that, das Vergnügen, ſich am Fall des herbſtlich bunten Laubes zu ergötzen und am Zwitſchern der Droſſeln und Schwalben, die, zu ihrer Reiſe nach dem Süden rüſtend, in dem Garten ſich ſam— melten.

Bei dieſer wenig erſchöpfenden Lebensweiſe entwickelte Fräulein Alma ſich natürlich auch hinfort prächtig zur eigenen und anderer guten Menſchen Freude.

Der Maurerpolier hatte ſich in der letzten Zeit ſo ge— ſtellt, als ob es für ihn gar keine Alma Rauſch mehr gäbe. Er hatte ſich nicht einmal von Frau Martha mehr Bericht erſtatten laſſen über der „Hausfreundin“ Befinden.

110 Mentzels Glück.

Nur, als die vier Wochen, für die er im Krankenhauſe hundertachtzig Mark Vorausbezahlung geleiſtet, faſt zu Ende gegangen waren, ſagte er doch: „Na, morgen muß ich 'mal ſelber hin und nachſehen.“

Und er ging hin, und Almas Zuſtand war unver— ändert derſelbe. Daran beſſerte alles Hin: und Hergerede mit ihr ſelbſt und mit dem Aſſiſtenzarzt nichts, welcher, im Gegenſatz zu dem Chefarzt, ebenfalls der Meinung war, Alma Rauſch ſimuliere. i

Der Aſſiſtent hatte Mengel, deffen Geſicht merklich lang geworden war, in den Garten hinausbegleitet und ihm mitfühlend die ſchwielige Rechte gedrückt. Dann war er wieder in das Innere des Gebäudes entſchwunden.

Der Maurerpolier trat grübelnd den Heimweg an. Einen, wenn auch unhörbaren Monolog hielt er mit ſich ab, der an Inhalts- und Gedankenſchwere jenem berühmten Selbſtgeſpräch Hamlets wenig oder nichts nachgab.

Krankſein oder Nichtkrankſein das war hier die

Frage, deren Ergründung wirklich des Schweißes der Edlen wert war. i

Und worüber die ſtudierten Herren Aerzte ſich vergeb: lich ihre weiſen Häupter zerbrochen, das zu finden, ſollte dem einfachen Maurerpolier vorbehalten bleiben.

Am nächſten Tage ging er wieder ins Krankenhaus. Dort ſuchte er den Aſſiſtenzarzt auf, der ihm ſo mitfühlend die Hand gedrückt hatte, und ſprach zu ihm folgende Worte:

„Lieber Herr Doktor, da Sie über das Fräulein ebenſo denken wie ich, ſo möchte ich Ihnen ſagen, daß man die Wahrheit vielleicht herauskriegen könnte, wenn man das Frauenzimmer in Schrecken ſetzte, wenn man ſich ſo ſtellt, als glaube man, der Fuß würde ſchlimmer und ſchlimmer, irgend 'ne gefährliche Krankheit ſei dazu gekommen, die unheilbar ſei; und wenn man ihr einredete, ſie müſſe operiert werden, oder gar, das ganze Bein müßte ab—

e

Don Marimilian Böttcher. 111

geſchnitten werden. Denn ſehen Sie, Herr Doktor, ich denke, wenn das Bein wirklich geſund ift...”

„Dann wird ſie ſich's nicht abſchneiden laſſen wollen, dann wird Fräulein Rauſch die Maske fallen laſſen und ſich empfehlen. Ganz gewiß, lieber Mentzel. Uebrigens eine gute Idee, auf die ich auch ſelbſt längſt hätte ver— fallen können. Es paßt übrigens ſehr gut, daß unſer Profeſſor auf acht Tage verreiſt iſt. Wenn er da wäre, dürften wir das Experiment nicht wagen. Er ſchwört nämlich Stein und Bein darauf, an Fräulein Almas ſüdlicher Pfote irgend eine neue, noch nicht dageweſene, geheimnisvolle Krankheit zu entdecken. Alſo los!“

Die beiden Verſchworenen betraten das Zimmer, in dem die hartnäckige Patientin gerade dabei war, ſich über eine Geſchichte, welche eine der drei Kolleginnen zum beſten gab, halbtot zu lachen. Sie verſtummte aber jäh, als ſie des biederen Maurerpoliers anſichtig wurde.

„Na, Fräulein Rauſch, es ſcheint Ihnen ja beſſer zu gehen,“ ſagte der Arzt.

Die Patientin gab als Antwort nur ein Achſelzucken von ſich, das von einem ſchmerzhaft-ironiſchen Lächeln be— gleitet war.

„Alſo doch nicht? Na, da irre ich mich alſo. Wollen Sie wohl ſo gut ſein und mir Ihren Fuß noch einmal zeigen? So ... ſchön ... hm ... hm. . .“

Der Doktor betrachtete und befühlte die leidende Stelle wohl zwei Minuten lang.

„Nicht wahr, hier thut's weh?“

„Ja.“

„Und hier auch?“

„Ja.“

„Hm... hm. Es wird alfo wohl fo fein, lieber Mentzel, wie ich Ihnen ſchon vor längerer Zeit andeutete Knochenmarkentzündung.“

112 | Mengels Glück.

Der Maurerpolier, der abſeits ſtand, beobachtete feine „Hausfreundin“ ſcharf. Die ſchlug aber nur die Augen zum Himmel empor und ließ einen völlig undefinierbaren Seufzer ſteigen.

Der Mediziner holte jetzt aus ſeinem Beſteck eine ſcharfe Sonde hervor und fuhr damit ziemlich tief in die „leidende Stelle“ hinein. Alma ſchrie vor Schmerz laut auf. Mit ſeinem Mordinſtrument, daran ein Tröpfchen Blut klebte, trat der Doktor ganz nahe ans Fenſter und betrachtete und prüfte, ſogar unter Zuhilfenahme einer Lupe, wieder mindeſtens zwei Minuten lang. Dann nickte er ſchwermütig mit dem Kopfe.

„Ja . .. wie ich's ſagte ... es ift ein Unglück ... Knochenmarkentzündung ... armes Mädchen!“

Er legte die Sonde beiſeite und tätſchelte mitleidig Almas fleiſchige Hand. Dann ſeufzte er auf.

„Na . . . es ift alfo nicht anders. Es hilft nichts. Man muß ſich fügen! Und immer noch beſſer Krüppel als tot! Alſo, Fräulein Rauſch: ich muß Ihnen die Wahrheit ſagen. Ihr Leiden iſt unheilbar, und abgeſehen davon, nimmt es jetzt einen Charakter an, der das Schlimmſte befürchten läßt. Es bleibt uns infolgedeſſen nichts weiter übrig, als Sie einer Operation zu unter— ziehen.“

Alma machte ungläubige Augen und betrachtete den Arzt forſchend.

Der ließ nicht ab von ſeiner Leichenbittermiene.

„Alſo morgen um acht Uhr. Da es doch geſchehen muß je eher, deſto beſſer.“

„Was wird denn das eigentlich für 'ne Operation ſein, Herr Doktor?“ fragte Mentzel.

„Eine ſehr ſchwere, lieber Freund. Amputation des Unterſchenkels.“

„O weh!“ ſtöhnte der Maurerpolier.

Don Maximilian Böttcher. 113

Alma war blaß geworden ... eine Thräne ſchimmerte in ihrem Auge.

„Ja, es iſt ja ſehr ſchmerzlich für Sie, liebes Fräu⸗ lein. Sie werden nun zeitlebens mit einem Stelzfuß ſich behelfen müſſen. Aber, wie geſagt, ich kann Ihnen nicht helfen, und beſſer ſo als ſo!“

Nun machte ſich der Arzt daran, mit kritiſcher Miene den Puls und die Herzthätigkeit Almas zu unterſuchen.

„Hm .. . hm . . . das iſt ſehr fatal,“ begann er nach einer Weile. „Sind Sie je herzleidend geweſen, Fräu⸗ lein?“

„Ich wüßte nicht.“

„Aber blutarm?“

„Das kann wohl ſein.“

„Ja, ganz ſicher. Die Herzthätigkeit iſt ſchwach, wir können Sie alſo nicht narkotiſieren, nicht betäuben. Wir müſſen die Operation leider ausführen, während Sie ſich in völlig wachen Zuſtande befinden. Das ift ſehr un: angenehm.“

Alma machte eine Bewegung, als wollte ſie aufſpringen. »Todesangſt, Entſetzen ſprach aus ihren Zügen. Der Arzt ging an den Knopf der elektriſchen Leitung und drückte darauf.

Eine Wärterin trat ein. f

„Senden Sie mal ſofort einen von unſeren Heil⸗ gehilfen her, Amalie!“

„Sehr wohl, Herr Doktor.“

Nach zwei Augenblicken war der Heilgehilfe, ein wahrer Hüne von Geſtalt, zur Stelle.

„Stelter,“ begann der Aſſiſtenzarzt, „wir haben morgen eine ſchwere Operation. Früh um acht Uhr. Sagen Sie der Frau Oberin Beſcheid, daß ſie den Operationsſaal in Ordnung bringen läßt. Und damit die Kranke, die natür- lich dieſe Nacht ſehr wenig Schlaf haben wird, vor Auf—

1900. VIII. 8

114 Mengels Glück. ; 88 regung ihre Zimmergenoſſinnen hier nicht ſtört, betten Sie ſie ſofort um in das kleine Zimmer links neben der Vorbereitungsſtube.“

Der Heilgehilfe nickte. Dann ſchritt er eilig auf die Thür zu.

„Noch eins, Stelter,“ rief ihm der Doktor nach. „Be— ſtellen Sie Ihren Kollegen Müller. Das iſt ja wohl ſo unſer Handfeſteſter. Es handelt ſich nämlich um einen Eingriff ohne Narkoſe, und da werden Sie Mühe haben, die Patientin zu halten.“

Der Heilgehilfe machte ein etwas erſtauntes Geſicht, ſagte aber doch: „Gewiß, ſehr wohl, Herr Doktor,“ und verließ das Gemach.

Die Zimmergenoſſinnen Almas flüſterten unterein⸗ ander, indem fie mitleidsvolle Blicke zu der Bedauern- werten hinüberwarfen.

„So 'ne Gemeinheit,“ ſagte die eine ſchließlich ziem— lich deutlich vernehmbar, „einer Kranken das vorher alles ſo ſchrecklich auszumalen!“

„Ach, det is in die jroßen Krankenhäuſer nich anders. Da behandeln ſie die Menſchen wie det liebe Vieh,“ ließ ſich die zweite vernehmen. „Aber kommen Sie man in die Privatkliniken, wo die Reichen ſind —“

„Ach, das iſt ganz egal!“ unterbrach ſie die dritte. „Die Aerzte haben überhaupt kein Herz.“

Alma ſaß und weinte und ſchluchzte herzbrechend.

„Na, fürchten Sie ſich nur nicht!“ beruhigte ſie der Aſſiſtenzarzt. „Die ganze Geſchichte mit dem Knochen— durchſägen dauert nicht viel länger als 'ne Viertelſtunde. Dann noch 'n paar Wochen am Blutverluſt ſterben werden Sie hoffentlich nicht und Sie können dann, wenn auch mit 'nem Stelzfuß, doch wieder draußen in der freien Natur ſpazieren gehen.“

Alma hörte nicht auf dieſe Troſtworte oder fie ver:

Don Maximilian Böttcher. 115

ſtand ſie nicht. Sie ſchlotterte mit den Knieen, zitterte am ganzen Leibe wie Eſpenlaub, krampfte die Finger

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verzweifelt in den Stoff ihres Kleides und ließ Thräne auf Thräne aus ihren Augen rinnen.

„Aber Sie müſſen doch vernünftig ſein!“ tröſtete der junge Arzt weiter, „ich will Sie doch nicht in Angſt

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116 Mentzels Glück.

ſetzen, ſondern Sie vielmehr beruhigen, indem ich Ihnen Ihr zukünftiges Schickſal klar darſtelle. Das iſt doch meine Schuldigkeit. Und nun Kopf hoch und Ohren ſteif!“ Der Arzt wandte fih zum Gehen. Da geſchah plötz⸗ lich etwas Unerwartetes. Fräulein Alma ſprang auf und ſchrie in höchſter Erregung: „Laßt mich fort, laßt mich fort! Ich will nicht operiert werden, ich bin geſund, ganz geſund!“ Und mit dieſen Worten ſtürzte ſie an dem Arzte vorüber, hatte im Nu die Thür erreicht und war in Sekundenſchnelle durch dieſelbe den Blicken der Zurück⸗ bleibenden entſchwunden.

Der Aſſiſtenzarzt brach in ein lautes Gelächter aus, während Mentzel ſich ob des plötzlichen Umſchwungs der Dinge noch gar nicht zu faſſen wußte.

„Na, da hätten wir alſo eine Wunderkur gemacht,“ bemerkte der Aſſiſtenzarzt jetzt.

Und jetzt konnte Mentzel ſich nicht länger beherrſchen; er fiel dem Aſſiſtenten ungeſtüm um den Hals, ſagte ihm heiße Dankesworte und nannte ihn ſeinen Lebensretter.

Nachdem er endlich wieder einigermaßen zu Sinnen gekommen war, holte er einen Hundertmarkſchein aus ſeinem Notizbuch, nahm zwei Zwanzigmarkſtücke aus ſeinem Portemonnaie dazu und drückte dieſen ſchnöden Mammon ſeinem nichts ahnenden „Lebensretter“ in die Hand. Als der mit Mühe begriffen, was ihm der dankbare Mentzel anthun wollte, proteſtierte er auf das entſchiedenſte gegen eine derartige Belohnung.

„Thun Sie mir den Gefallen, liebſter Herr Doktor, und nehmen Sie die hundertvierzig Mark, wenn nicht für ſich, ſo für das Krankenhaus. Es iſt das Letzte, was von meiner franzöſiſchen Erbſchaft übrig iſt. Ich will auf keinen Fall mehr was zu thun haben mit dem Un: glücksgeld.“ |

Don Maximilian Böttcher. 117

„Na, unter den Umſtänden, gut denn! Ich nehme es alſo für die Armen der Anſtalt.“

Mentzel ging, ausgeſöhnt mit der Welt und zufrieden mit ſich ſelbſt, nach Hauſe.

Das Glück Frau Marthas über die Flucht Almas war ein ſtilles, aber um ſo tieferes, innigeres.

Nach Tiſch ſetzten ſich die wiederverſöhnten Eheleute auf das neue Sofa in der guten Stube. Und Mentzel zog ſeine Frau an ſich und küßte ſie wieder und wieder, indes ſein Blick in feuchtem Glanze ſchimmerte.

Dann plötzlich lachte er laut.

„Alſo „Mentzels Glück“, von dem die Leute fo viel ge: faſelt haben, wäre nun endlich erledigt und vorbei, und wir können nun wieder daran denken, wirklich glücklich zu ſein wie früher,“ ſagte er.

Damit ſtreckte er ſich der Länge nach auf das neue Sofa, ſo daß er mit dem Geſicht gegen die Lehne zu liegen kam, und ſchlief faſt im Augenblick ſo tief und feſt ein, wie er ſeit langen Wochen nicht mehr geſchlafen hatte.

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Im Boulogner Wäldchen.

Pariser Federzeichnungen. Uon Ernst Montanus.

mit 12 Illustrationen. ¢ (Nachdruck verboten.)

mmer näher rückt der Eröffnungstermin der Pariſer Weltausſtellung, und immer eifriger rüſtet ſich die Seine⸗ ſtadt zum Empfange der Scharen von Fremden aller Län: der und Nationen, die ihr aus dieſem Anlaß zuſtrömen werden. Für dieſe fremden Beſucher bildet natürlich die Ausſtellung den Hauptanziehungspunkt, allein ſie wollen doch auch Paris ſelbſt kennen lernen, und dazu gehört unter allen Umſtänden ein Beſuch des berühmten B ou: logner Wäldchens. ' Auf den großen runden Platz, wo fid im Nordweſten der franzöſiſchen Hauptſtadt der hochgelegene Triumph: bogen erhebt, münden zwölf breite prächtige Avenuen. Die nach Weſten und Südweſten gehenden dieſer Straßen bringen uns unmittelbar nach dem beliebteſten und be— ſuchteſten Spaziergang der Pariſer, dem „Bois de Bou— logne“, von den Eingeborenen ſchlechthin das „Bois“ ge— nannt. Dieſer Pariſer Stadtpark dehnt ſich zwiſchen der Seine und der Ringmauer aus, liegt alſo ſchon außerhalb der eigentlichen Stadt, wird aber nichtsdeſtoweniger noch zu ihr gerechnet. Für den Fremden, der von der Place de la Concorde zum Boulogner Wäldchen gelangen will, iſt der nächſte

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Don Eruft Montanus. 119

und lohnendſte Weg der durch die Elyſäiſchen Felder auf: wärts bis zum Triumphbogen und dann von dort aus links durch die Avenue du Bois de Boulogne (bis zum Sturz des zweiten Kaiſerreichs Avenue de l' Imperatrice geheißen). Die Avenue de Neuilly, eine Verlängerung der Avenue des Champs Elyſées über den Triumphbogen hinaus, führt zur Porte de Maillot, dem nordöſtlichen

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Die Avenue du Bois de Boulogne mit dem Trſumphbogen im hintergrunde.

Eingang in das Gehölz, auf der Seite des nachher zu erwähnenden Jardin d' Acclimatation. Will man keinen Fiaker nehmen, ſo kann man auch die Gürtelbahn, am beſten von dem Bahnhof St.-Lazare aus, benutzen, des— gleichen die Tramways der äußeren Boulevards oder eine der entſprechenden Omnibuslinien.

Die Avenue du Bois de Boulogne, der wir bei un— ſerer Wanderung folgen, iſt eine 1325 Meter lange und 125 Meter breite dreifache Allee für Fahrzeuge, Fußgänger und Reiter. Sie bringt uns zur Porte Dauphine, dem

120 Im Boulogner Wäldchen.

Haupteingange in das Boulogner Wäldchen, das eine Grundfläche von 847 Hektar bedeckt und ſelbſt für eine nur flüchtige Beſichtigung mindeſtens zwei Stunden in Anſpruch nimmt. Des Vergleichs halber ſei bemerkt, daß der Londoner Hyde: Part 158 Hektar, der Berliner Tiergarten 255 Hektar und der Wiener Prater 1712 Hektar umfaſſen.

Die Pariſer ſind ſtolz auf ihren Stadtpark, der ja auch in der That einen höchſt lieblichen und anſprechenden Eindruck macht. Einheimiſche Laub: und Nadelbäume wechſeln mit immergrünem Laubwerk und mit Raſenplätzen und herrlichen Blumenbeeten; Kaskaden, Seen und An⸗ lagen der verſchiedenſten Art bringen einen anmutigen Wechſel der Scenerie zumege. Wenn aber ein Pariſer Schriftſteller, B. de Saint⸗Pol Lias, ſein geliebtes „Bois“ einfach für unvergleichlich erklärt und es ſowohl über den Londoner Hyde⸗Park und den Buon-Retiro von Madrid, wie über den Wiener Prater und ſelbſt über die berühmten Gärten von Buitenzorg bei Batavia ſtellt, ſo dürfte dieſe Meinung doch wohl begründeten Zweifeln begegnen. Für unſeren Geſchmack iſt die ganze Anlage etwas zu ge— künſtelt und trägt zu wenig jenen waldartigen Charakter, den beiſpielsweiſe der Berliner Tiergarten, das Leipziger Roſenthal und der Wiener Prater ſich zu wahren gewußt haben. i

Auf alle Fälle aber bietet das „Bois“ dem Fremden die bequemſte Gelegenheit, zu gewiſſen Tageszeiten die Pariſer vornehme und elegante Welt und an Sonn- und Feiertagen auch ein heiteres Volkstreiben kennen zu lernen, und ſein Beſuch darf deswegen nicht verſäumt werden.

Von der Porte Dauphine führt geradeaus ein breiter Weg, die Route de Suresnes, zum Unteren See mit ſeinen beiden grünbelaubten Inſeln, auf deren größerer ſich ein Schweizerhaus (Chalet) mit einer vielbeſuchten Reſtauration

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122 Im Boulogner wäldchen.

befindet. Ein Fahrweg trennt die 1150 Meter lange Waſſerfläche, an deren einem Ende ein Hafen für die zahlreichen Boote, die man zu Spazierfahrten vermietet, angelegt iſt, vom Oberen See, deſſen 412 Meter langer Waſſerſpiegel um mehrere Meter höher liegt. Beide Seen, die eine Menge von Schwänen und Enten belebt, ſind künſtlich angelegt und erhalten ihr Waſſer von einem arteſiſchen Brunnen und aus dem Kanal von Ourcq; der Ausfluß von beiden, am unteren Ende des größeren, bildet die Rivière de Longchamp.

Bis zu dem Punkte, der die beiden Seen ſcheidet, ging früher der tägliche Korſo der eleganten Welt in Paris, im Winter nachmittags von 2 bis 4 Uhr, im Sommer von 5 bis 7 Uhr; man nannte das „faire le tour du lac“. Neuerdings pflegt ſich „Tout Paris“ da⸗ gegen mit Vorliebe in der Allee von Longchamp, die auch die Akazienallee heißt, zu begegnen und einander zu muſtern. Von hier nehmen die neuen Moden ihren Urſprung. Namentlich bei dem Korſo am Karfreitag pflegen in jener Promenade die tonangebenden eleganten Damen, während ſie in die Kiſſen ihrer prächtigen Equipagen gelehnt da— hinfahren, die neueſten „Schöpfungen“ ihrer Schneider und Schneiderinnen zur Schau zu ſtellen, die dann als— bald in der Provinz und im Ausland eifrig nachgeahmt werden. Dieſe Allee von Longchamp iſt die hervorragendſte im „Bois“, und auf ihr ſind die Pariſer zuerſt in größerer Anzahl nach jener Gegend gepilgert, und zwar im eigent— lichen Sinne dieſes Zeitwortes, da es ſich damals noch nicht um profane Promenaden, ſondern um fromme Wall— fahrten handelte.

Urſprünglich bedeckte das ganze Gelände zwiſchen der großen Schleife, welche die Seine im Weſten der Haupt: ſtadt von St.⸗Ouen bis Billancourt macht, ein großer Wald, der Forſt von Rouvray, der das Jagdrevier der

Kreuzung der Allee de Longchamp und der Allee de la Reine Marguerite.

124 Im Boulogner Wäldchen.

merowingiſchen Könige war. Mitten darin, bei Clichy:la: Garenne, lag ihr Palaſt, in dem während des 7. Jahr- hunderts auch drei Konzile abgehalten wurden. Der heilige Ludwig gründete darin 1256 die Abtei Longchamp für ſeine Schweſter Iſabella, und das Grab dieſer von Leo X. heilig geſprochenen erſten Aebtiſſin des Kloſters wurde bald ein beſuchter Wallfahrtsort. Noch mehr Fromme zogen über die Straße von Longchamp, nachdem im 14. Jahrhundert am Ufer der Seine durch heimgekehrte Pilger zu Ehren der damals in hohem Anſehen ſtehenden Notre⸗Damekirche zu Boulogne⸗en⸗Mer eine genaue Nad: bildung dieſes Gotteshauſes aufgeführt worden war. Dieſe wurde nun Notre-Dame von Boulogne-ſur⸗Seine genannt und gab ſowohl dem um ſie herumſtehenden Städtchen den Namen, wie auch dem Walde, den man von Paris aus durchziehen mußte, um dorthin zu gelangen. Dieſe Wanderung war übrigens in jenen Zeiten nichts weniger als ungefährlich, da der dichte Forſt zahlreichem Geſindel als Unterſchlupf diente. Der Troubadour Arnold von Catelan, der bei der Gräfin Beatrix von Provence in hoher Gunſt ſtand, wurde darin ermordet, als er ſich an den Hof Philipps des Schönen begeben wollte. Erſt das ſtrenge Regiment Ludwigs XI. machte jener Unſicherheit ein Ende.

Franz I. ließ den Wald von Boulogne umzäunen und nach ſeiner Rückkehr aus der ſpaniſchen Gefangenſchaft darin das ſchöne Luſtſchloß Madrid erbauen. Dieſes ge— hörte ſpäter der Königin Marguerite (Margot), dem letzten Sproß des Hauſes Valois, die oft von dort nach der Abtei von Longchamp ſich begab, weshalb nach ihr noch heute die zweite Hauptallee des „Bois“ den Namen trägt.

Die Nonnen jener Abtei ließen im 17. und 18. Jahr⸗ hundert am Mittwoch, Donnerstag und Freitag der Kar— woche die Metten mit Muſik ſingen, und da die erſten

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ihre neuen Frühlingstoiletten zu zeigen, und fo blieben

126 5 Im Boulogner Wäldchen.

Künſtlerinnen der Oper ſich an dieſen Aufführungen bee teiligten, ſo ſtrömte die ganze vornehme Welt dorthin. Für die Damen war das eine willkommene Gelegenheit,

dieſe Spazierfahrten in der Karwoche, wie ſchon oben

Der Untere see mit den Inseln.

erwähnt, auch fernerhin in Brauch, nachdem das Kloſter längſt aufgehoben war.

Rings um das Gehölz lagen außer Boulogne noch die Ortſchaften Clichy, Chaillot, Neuilly, Montmartre, St.: Duen, Paſſy, Auteuil und Billancourt, die es auch heute noch einſchließen, aber mittlerweile zu teilweiſe ſehr anſehnlichen Ortſchaften herangewachſen find. Ferner ent:

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128 Im Bonlogner Wäldchen.

ſtanden nach dem Schloß Madrid noch verſchiedene präch— tige Landſitze und Luſtſchlöſſer an ſeiner Umfaſſung. So ließ Karl IX. an dem Orte, wo Franz I. feine Meute gehalten hatte, einen Pavillon erbauen, den Ludwig XV. zu dem Chateau de la Meute oder La Muette umgeſtaltete.

Der Pré Catelan.

Fräulein v. Charolais, die Enkelin des „großen Condé“, ließ für ſich zwiſchen Madrid und Longchamp ein kleines Landhaus, Bagatelle geheißen, aufführen; der Graf von Artois, Bruder Ludwigs XVI., wandelte es ſpäter binnen zwei Monaten in ein prachtvolles Schloß um, das nun die Pariſer wegen der rieſigen Unkoſten „Artois' Narr— heit“ tauften. Ferner entſtanden das Schloß Boulogne

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Von Ernſt Montanus. 129

mit herrlichem Park, das heute der Familie Rothſchild gehört, und verſchiedene andere. In der Zeit der großen Revolution wurden dieſe Bauten teils zerſtört, teils aus— geplündert und verwüſtet, ſowie eine große Anzahl Bäume des Gehölzes gefällt. Der Nachwuchs mußte 1814 zu Paliſſaden dienen, die man vor den Barrieren

Die Crosse Kaskade.

zum Schutz gegen die anrückenden Heere der Verbün— deten errichtete, und den Reſt hieben die 1815 dort lagernden Engländer nieder, um ihre Wachtfeuer damit zu unterhalten.

Nachdem in der Zwiſchenzeit für das Gehölz, das ſeit der Revolution Nationaleigentum, ſeit 1830 Krondomäne und ſeit 1848 wieder Staatseigentum geweſen, ſehr wenig

gethan worden war, ging es am 2. Juni 1852 in den 1900. VIII. 9

130 Im Boulogner Wäldchen.

Beſitz der Stadt Paris über, unter der Bedingung, daß dieſe in den vier nächſten Jahren zwei Millionen Franken für ſeine Verſchönerung aufwende (thatſächlich wurden aber von 1853 bis 1858 ſechzehn Millionen dafür aus: gegeben) und fernerhin alle Unterhaltungskoſten beſtreite,

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Die Windmühle am Hippodrom von Longchamp.

die ſich gegenwärtig alljährlich auf 640,000 Franken be: laufen, wovon aber 50,000 durch die Verpachtung der Reſtaurationen u. ſ. w. gedeckt werden.

Die Arbeiten leiteten nacheinander die Gartenkünſtler Varé und Alphand, denen es gelungen ift, die ſandige und dürftig bewachſene Waldebene voll Staub und Sonnen— brand in einen kühlen und ſchattigen Park mit reizenden

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Fernſichten und reichlicher Bewäſſerung zu verwandeln. Letztere kommt namentlich auch den ausgedehnten Flächen üppig grünen Raſens (die größten darunter ſind: die Raſen von Paris, Longchamp, Boulogne, Auteuil, Croix Catelan und der ehemalige Damhirſchpark) zu gute, die

Ein Reitweg im Boulogner Wäldchen.

im ganzen 178 Hektar einnehmen. Der Waldbeſtand hat nochmals im letzten Kriege gelitten, indem die nach der Stadt zu gelegene Seite des Gehölzes bis zu den Seen hin aus fortifikatoriſchen Gründen gefällt wurde, doch hat der Nachwuchs inzwiſchen ſchon wieder eine ziemliche Höhe erreicht.

132 Im Boulogner Wäldchen.

Einer der vielen ſchattigen Reitwege des Gehölzes leitet uns vom Oberen See an den Fuß der von einer hohen Zeder gekrönten Butte Mortemart. Es iſt das ein künſtlicher Hügel mit hübſcher Rundſicht nach Boulogne und St.⸗Cloud; rechts erblickt man jenſeits der Seine Suresnes, wohin das gleichnamige Thor aus dem Wäld⸗ chen führt, mit dem von ſeinem Fort gekrönten Mont Valérien dahinter, links die Höhen von Iſſy, Meudon und Bellevue. Oſtwärts neben dieſem Hügel befindet ſich ſeit 1873 der Rennplatz von Auteuil.

Wir gehen von hier wieder zurück bis zu dem Fahr: wege zwiſchen den beiden Seen und verfolgen dieſen nach links, bis auf der rechten Seite ein Fußweg, Route de la Bierge des Berceaux, fih abzweigt, der uns in zwanzig Mi: nuten zur Großen Kaskade bringt. Die aus dem Walde von Fontainebleau ſtammenden Tufffteinfelfen, über die ſich das Waſſer herabſtürzt, ſind ſehr geſchickt angelegt. Das Ganze iſt 14 Meter hoch und 16 Meter breit; auf kleinen Pfaden kann man darin umhergehen und zur Höhe em— porſteigen, von der ſich abermals eine ſehr ſchöne Ausſicht bietet.

Vor ſich hat man einen alten Turm, das einzige, was von der Abtei Longchamp erhalten geblieben iſt, und zur Linken das große Rennfeld, das Hippodrom von Longchamp, mit ſeinen Tribünen und der unmittelbar an der weſtlich vorüberfließenden Seine gelegenen grün über— wachſenen Windmühle. Auf dieſem, 68 Hektar bedecken— den Platze ließ Kaiſer Wilhelm I. am 1. März 1871 die zum Einmarſch in Paris beſtimmten deutſchen Truppen (Teile der Belagerungsartillerie, des VI. und XI. preußiſchen und des II. bayeriſchen Corps), im ganzen 30,000 Mann, Revue paſſieren. Darüber hinaus werden die Häuſer von St.⸗Cloud ſichtbar, während ſich gegenüber, jenſeits der Seine, die Hügelkette ausdehnt, auf der die Verſailler

Don Ernft Montanus. 133

Eiſenbahn hinläuft; der höchſte Punkt am Horizont iſt wiederum der Mont Valérien. Links vom Waſſerfall liegt das Café-Reſtaurant de la Cascade; außer dieſem umfaßt das „Bois“ noch zahlreiche andere, ſo zum Beiſpiel die

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Die porte de $uresnes mit dem Mont Valérien im hintergrund.

Reſtaurants von Madrid, von der Porte Maillot, den Pavillon von Armenonville, den chineſiſchen Pavillon, das bereits erwähnte Chalet des Iles u. ſ. w. Eine Ver— einigung von einem Café-Reſtaurant mit einer Milchkur— anſtalt und Waffelbude iſt der Pré Catelan, wo auch

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134 Im Boulogner Wäldchen.

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Sommerfriſchler Unterkunft erhalten können. Der Catelan⸗ Raſen führt ſeinen Namen von dem ganz in der Nähe befindlichen Croix Catelan, einem Kreuz, das ſich an der Stelle erhob, wo der provengaliſche Minneſänger dieſes Namens einſt unter den Streichen ſeiner Mörder verblutete. Das Kreuz iſt aber verſchwunden, und nur noch die ſtei— nerne Pyramide erhalten, deren Spitze es einſt krönte.

Ein Fußweg bringt uns von hier nach dem Kreuzungs— punkte der Allee de Longchamp mit der Allee de la Reine Marguerite. Weftlich davon liegt Schloß Bagatelle mit ſeinem herrlichen Park, das zuletzt dem Herzog von Bor— deaux gehörte, bis es 1832 dem Lord Hereford verkauft wurde, deſſen Erben es noch beſitzen.

Die ſich rechts abzweigende Route de Madrid führt am Cercle des Patineurs vorüber, auf deſſen See im Winter der vornehme „Schlittſchuhläuferklub“ dieſem Sport huldigt, an dem ſich ehedem auch Napoleon III. mitunter gern beteiligte. Im Sommer iſt der dortige Raſenplatz der Wirkungsbereich des nicht minder vornehmen „Club des Tireurs au Pigeon“, deſſen Mitglieder den grauſamen Sport des Taubenſchießens betreiben. Weiterhin trifft der Weg mit der Rue de la Porte St.-James zuſammen und führt dann links zum Eingang des Jardin d' Accli— matation, einem 20 Hektar haltenden, trefflich geleiteten und vielbeſuchten zoologiſchen Garten. Er wurde in den Jahren 1859 und 1860 von einer Aktiengeſellſchaft zu dem Zweck ins Leben gerufen, ausländiſche Tiere und Pflanzen in Frankreich einzubürgern.

Das Boulogner Wäldchen iſt immer belebt und inter: eſſant, allein ſeine Glanztage ſind doch der erſte Sonn— tag im Juni, an dem auf dem Hippodrom von Long— champ das große Rennen um den „Grand-Prix“, den Hauptpreis des Jockeyklubs (100,000 Franken), ſtattfindet, und der 14. Juli, der offizielle Feiertag der Republik,

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136 Im Boulogner Wäldchen.

an dem ebendaſelbſt die große Parade abgehalten wird. An dieſen Tagen flutet es wie eine Völkerwanderung durch die Anlagen des Pariſer Stadtparkes, in deſſen Haupt— alleen die Wagen in vier Reihen nebeneinander ſich vor⸗ wärts bewegen. Ganze Kolonnen von Menſchen wälzen ſich in ununterbrochenem Zuſammenhang nach Longchamp. Zu den Seiten aller Wege aber lagern ſich andere mit Frauen und Kindern und frühſtücken dort im Freien die mitgebrachten Vorräte. Die Freiheit, über die Raſen zu laufen, ſich dort zu lagern und zu ſpielen, haben ſich die Pariſer nämlich längſt errungen, und das iſt es, was auch den „kleinen Leuten“ ihr „Bois“ ſo lieb und wert macht.

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Die verfemte Prinzessin.

Geschichtliche Novelle von Cud. Sallentien-Wewer.

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(Nachdruck verboten.) 1.

n den eriten Tagen des Januar 1859 fand im Teatro

Carignano in Turin, der damaligen Reſidenzſtadt des Königreichs Sardinien, die Erſtaufführung einer neuen Oper ſtatt. Das Haus war bis auf den letzten Platz ge⸗ füllt, denn man erwartete den Beſuch des allgemein be— liebten Königs von Sardinien, Viktor Emanuels II. Man fah die königliche Loge geſchmückt und für den hohen Be: ſuch hergerichtet. Vorläufig aber ſummte und ſchwirrte das laute Geſpräch der Theaterbeſucher durch das Haus, denn man betrachtet in Italien von jeher das Theater vorzugsweiſe als einen Ort geſelliger Zuſammenkunft; der Kunſtgenuß kommt für gewöhnlich erſt in zweiter Reihe.

Die Blicke von Hunderten von Männeraugen richteten ſich auch nach der Loge, welche ſich gegenüber der königlichen Loge im erſten Rang befand, und in welcher ein blendend ſchönes Weib ſaß. Dieſe vierundzwanzigjährige junge Frau mußte ſelbſt in Norditalien, wo es ſo viele ſchöne Frauen giebt, auffallen, nicht nur durch ihr Geſicht, ſon— dern auch durch ihre herrliche Figur und ihre ſtolze Hal— tung. Ja, nicht nur die Männeraugen richteten ſich

138 | Die verfemte Prinzeffin.

auf fie, ſondern auch die der Frauen, und man ziſchelte ſich in die Ohren, daß die auffallende Fremde da die Prinzeſſin Wyſe⸗Bonaparte⸗Solms ſei.

Die ſchöne Frau war in der That aus dem Geſchlecht der Bonaparte. Sie war eine entfernte Verwandte des Kaiſers Napoleon III., der augenblicklich auf dem Throne von Frankreich ſaß. Die Damen ziſchelten ſich aber auch in die Ohren, daß die Prinzeſſin Marie Studolmine Wyſe⸗Bonaparte⸗Solms eine geiſtvolle Schriftſtellerin ſei, die eine gefürchtete, ſpitze Feder führe. Sie hatte in Paris gelebt, wo ſie eine anſehnliche jährliche Rente von Napoleon III. bezog, und hatte die ganze Hofgeſellſchaft durch ihre ſatiriſchen Schriften, die ſie drucken ließ, in Aufregung und Zorn verſetzt. Schließlich hatte ſie es ſo— gar gewagt, die Kaiſerin Eugenie in einem höchſt biſſigen Pamphlet, das ſie in den Spalten der Oppoſitionsblätter erſcheinen ließ, lächerlich zu machen, und das hatte ihr endlich die kaiſerliche Ungnade zugezogen. Napoleon III. wollte jedoch ſeine Verwandte nicht ganz fallen laſſen, aber er verbannte ſie aus Frankreich und ſetzte ihre Rente auf die Hälfte herab.

Nun war die Prinzeſſin Marie Studolmine nach Turin übergeſiedelt und erregte dort durch ihre Schönheit und den Ruf, der ihr vorherging, die allgemeine Aufmerkſam⸗ keit der guten Geſellſchaft. Es gelang ihr aber nicht, wie ſie beabſichtigte, an den Hof zu kommen, und die Kun— digen wußten ganz genau, daß ſie wohl überhaupt nie— mals bei Hofe werde erſcheinen dürfen.

Viktor Emanuels erſte Gattin war ſchon ſeit ſechs Jahren tot, aber er war bereits wieder in morganatiſcher Ehe mit der Gräfin Mirafiori vermählt. Seine diplo⸗ matiſchen und politiſchen Aktionen im Intereſſe Sardiniens wollte er ſoeben durch die Vermählung ſeiner Tochter Klothilde mit dem Prinzen Napoleon Bonaparte, einem

Don Ludw. Sallentien⸗Wewer. 139

Vetter des Kaiſers der Franzoſen, krönen. Es mußte dem Könige aljo daran liegen, fih die Freundſchaft Na: poleons III. zu erhalten. Andererſeits war er ein großer Verehrer ſchöner Frauen und ein ritterlicher Mann, der ſich für die Prinzeſſin lebhaft intereſſierte. Auch Kaiſer Napoleon hatte ſie ja trotz ihrer ſatiriſchen Schriftſtellerei nicht ganz fallen laſſen. Dieſem Zwieſpalt beim Könige entſprechend bildeten fih in der Hofgeſellſchaft zwei Bar: teien, die lebhaft darüber ſtritten, ob die Prinzeſſin bei Hofe empfangen werden würde oder nicht.

Immer mehr Blicke wendeten ſich der Loge der Prin— zeſſin zu. In der Thür derſelben war eben eine ſehr intereſſante Perſönlichkeit erſchienen, Urbano Rattazzi, der berühmte italieniſche Staatsmann, der damals am Anfang der fünfziger Lebensjahre ſtand. Noch vor einem halben Jahre war er Juſtizminiſter geweſen; jetzt war er Prä— ſident der Deputiertenkammer, und es würden wahrſchein⸗ lich nur wenige Monate vergehen, bis er wieder in das Miniſterium berufen wurde. Man wußte, daß der alternde Staatsmann toll in die ſchöne Prinzeſſin Marie Studol⸗ mine verliebt ſei und ſich eifrig um ihre Hand bewerbe. Dies war um ſo intereſſanter, als Rattazzi ſich als Staats— mann immer franzoſenfeindlich gezeigt hatte. Sein Er— ſcheinen in der Loge der Prinzeſſin konnte daher geradezu als eine politiſche Demonſtration aufgefaßt werden.

In der That, fo unterhaltend war im Teatro Ca: rignano noch ſelten der Aufenthalt für die Zuſchauer ſchon vor der Vorſtellung geweſen, als an dieſem Abend. Aber es ſollten noch eine ganze Menge anderer Zwiſchenfälle ſich innerhalb der nächſten Stunden abſpielen.

Eben war auch der Attaché der engliſchen Geſandt— ſchaft, Lord Evelyn, in die Loge der Prinzeſſin getreten, als eine allgemeine Erregung durch das Haus ging: der König war angekommen.

140 Die verfemte Prinzeſſin.

Rattazzi verſchwand ſofort aus der Loge der Prinzeſſin, um den König zu begrüßen. Donnernde Evvivarufe er— ſchütterten das Haus. Die Muſik ſpielte den Königs⸗ marſch, und Viktor Emanuel II. erſchien an der Brüſtung feiner Loge. Er verbeugte ſich nach rechts und links dan: kend, nickte den Hofwürdenträgern zu, und dann fiel ſein Blick auf ſein ſchönes Gegenüber, die Prinzeſſin Marie Studolmine. Auch die Prinzeſſin hatte ſich natürlich er— hoben, und als der König ſie anſah, verbeugte ſie ſich tief.

Ohne ihren Gruß zu erwidern, wendete ſich Viktor Emanuel aber zu dem hinter ihm ſtehenden Oberhofmar— fhal Grafen Pegoli. Er ſchien dem Grafen gegenüber eine ärgerliche Bemerkung zu machen.

Tauſend Augen hatten dieſen faſt unmerklichen Auf: tritt geſehen. Man wußte nun, die Prinzeſſin Marie Studolmine hatte auf nichts bei Hofe zu rechnen. Sie hatte ſich demonſtrativ bei dieſer Theatervorſtellung dem König in den Weg geſtellt, und hätte er für ihren devoten Gruß nur mit einem Kopfnicken gedankt, ſo hätte man ihr wenigſtens einige Hoffnung geben können. Daß aber der König den Gruß der Prinzeſſin gänzlich unerwidert ließ, war das Zeichen ſeiner Ungnade, zugleich für die gute Geſellſchaft Turins ein deutlicher Wink, daß die Prinzeſſin nicht geſellſchaftsfähig ſei.

Der König ſchien mißgeſtimmt. Er blieb ſchweigſam, applaudierte kaum, als der erſte Akt vorüber war, und verließ dann ſofort das Theater.

Kurz nach ihm trat auch die Prinzeſſin Marie Stu⸗ dolmine aus ihrer Loge in den Korridor hinaus. Sie war erblaßt, als vor aller Welt die Ungnade des Königs ſie traf; aber ſie hatte ſich meiſterhaft beherrſcht. Sie wußte, wie viele Augen ſie beobachteten, und ſie that ſo unbefangen, als ſei gar nichts vorgefallen. Sie wollte

Don Ludw. Sallentien-Wewer. ö 141

bei den Leuten, die ſie ſo neugierig beobachteten, die Vor⸗ ſtellung erwecken, der König habe wohl zufälligerweiſe ihren Gruß überhaupt nicht geſehen.

Draußen auf dem Korridor ſtand ſie einen Augenblick ſtill, und auf die Bemerkungen Lord Evelyns, der ihr ge: folgt war, antwortete ſie kaum mit einer Silbe.

Rattazzi kam in dieſem Augenblick zurück. Er hatte den König bis ans Portal begleitet.

„Hoheit wollen ſchon gehen?“ fragte er.

Ein flammender Zornesblick der ſchönen Prinzeſſin traf den Staatsmann, der unter dieſem Blick zuſammen⸗ ſchrak. Er erinnerte ſich wohl, daß er es war, der der Prinzeſſin den Rat gegeben hatte, dieſe Demonſtration dem Könige gegenüber am heutigen Abende im Teatro Carignano in Scene zu ſetzen.

Mit dem liebenswürdigſten Lächeln wendete ſich dann die ſchöne Prinzeſſin an den Engländer. „Wollen Sie mir den Mantel umlegen und mich zu meinem Wagen führen, Mylord?“

Im nächſten Augenblick rauſchte ſie am Arm des Eng— länders, der die ſchöne Prinzeſſin ebenfalls eifrig um: warb, an dem verblüfften Rattazzi vorüber.

Gedemütigt und mit zerriſſenem Herzen blieb der Staatsmann zurück. Er hatte als Mann, Diplomat und Liebhaber gleichzeitig eine ſchwere Niederlage erlitten.

22 In dem Palazzo der eleganten Via di Po, in welchem Prinzeſſin Marie Studolmine ihre Wohnung aufgeſchlagen hatte, herrſchte Stille und Trübſal. Als die Prinzeſſin aus dem Theater zurückkam, hatte fie ein Weinkrampf be: fallen, und bis tief in die Nacht hatte Nicolina, die zwanzigjährige Italienerin, die der Prinzeſſin halb als

142 Die verfemte Prinzeffin.

Zofe, halb als Geſellſchafterin diente, zu thun gehabt, um ihre Herrin wieder zu beruhigen.

Jetzt, in ſpäter Vormittagsſtunde, ſchlief die Prin: zeſſin noch, und Nicolina ſaß im Vorzimmer mit ver— weinten Augen und dem unglücklichſten Geſichte von der Welt. Es war aber nicht die Sorge um das Befin— den der Herrin allein, welche ſie bedrü dte, N eigenes Herzeleid.

Bisher war Nicolina die glückliche Braut des jungen Ingenieurs Pepe Caſſini geweſen. Dieſer hatte an der techniſchen Hochſchule von Turin ſeine Prüfung beſtanden, und durch glänzende Empfehlungen war ihm eine Stelle bei der Regierung, welche ſoeben in Sardinien mit dem Bau von Eiſenbahnen begann, zugeſagt worden. Seit einem Jahre ſchon war Pepe Caſſini mit Nicolina ver: lobt; aber die beiden konnten nicht eher heiraten, bis eine einträgliche Stelle für Pepe gefunden war. Nicolinas Mutter war eine kränkliche alte Dame, die von der färg: lichen Penſion einer Beamtenwitwe lebte. Nicolina hatte eine ſehr gute Erziehung erhalten, beſaß aber außer einer kleinen Ausſteuer nichts, und wenn die Mutter einmal ſtarb, fiel auch die Penſion fort. So war denn die Hei— rat mit Pepe, die nun, nachdem er eine Anſtellung er— halten, nahe bevorſtand, ein doppeltes Glück für Nicolina geweſen, ganz abgeſehen davon, daß ſie ihren Pepe leiden: ſchaftlich liebte und ebenſo heiß von ihm wiedergeliebt wurde.

Dann war ſogar noch ein Glücksfall für das Liebes— paar gekommen. Der Onkel Pepes, ſein einziger An— gehöriger, ſtarb in Turin. Er war Goldarbeiter und hinter— ließ ein kleines Vermögen. Pepe trat die Erbſchaft an, aber ſie wurde ſein Unglück. Einer der ſchlimmſten Wucherer und Halsabſchneider Italiens, Namens Balbazzo, wies einen Schein vor, nach welchem der verſtorbene Onkel

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Pepes ihm eine Summe von mehreren tauſend Scudi ſchuldete “). |

Pepe, der das vorhandene Vermögen geerbt hatte, mußte nun auch für die Schuld aufkommen. Er mußte nicht nur die ganze Erbſchaft herausgeben, ſowie das, was er beſaß, opfern, ſondern auch noch eintaufendzmwei: hundert Scudi ſchuldig bleiben, und da er fie nicht be: zahlen konnte, ließ ihn der Wucherer in den Schuldarreſt ſetzen. Dadurch war mit einem Schlage alles Glück und alle Hoffnung der Liebenden vernichtet. Pepe konnte die Stelle, die er erhalten, nicht antreten, er kam nach menſch— lichem Ermeſſen jahrelang nicht aus dem Schuldgefängnis heraus, und die Ausſicht auf eine Heirat war gänzlich geſchwunden.

Nicolina glaubte vergehen zu müſſen, als das Unglück ſie traf. Sie that alles mögliche, um dem Geliebten zu helfen. Sie nahm ſofort eine Stellung an, und da ſie franzöſiſch ſprach, wurde ſie Geſellſchafterin und Zofe bei der Prinzeſſin Maria Studolmine. Aber die paar Scudi monatlichen Gehaltes, die ſie hier bezog, mußte ſie zum Teil zur Unterſtützung ihrer kränklichen Mutter verwenden, die infolge der Abweſenheit ihrer Tochter anderweitiger Pflege bedurfte, und wie lange hätte es gedauert, bis Nicolina die Schuld von zwölfhundert Scudi tilgen konnte, die täglich noch wuchs durch die Zinſen und durch die Zahlungen, die der Wucherer für die Beköſtigung Pepes im Schuldgefängnis leiſten mußte!

Geſtern nachmittag war Nicolina zum erſtenmal hin: ausgewandert auf dem ſteilen Wege, der zu dem herrlich gelegenen Kloſter La Superga führt. An dieſem Wege lag das Schuldgefängnis. Was ſie dort fand, überſtieg

*) Ein Scudo war im Königreich Sardinien ungefähr vier Mark nach heutigem deutſchen Gelde.

144 Die verfemte Prinzeffin. ihre ſchlimmſten Erwartungen. Pepe hatte allen Mut verloren und war geradezu lebensüberdrüſſig. Er war auch körperlich erkrankt bei der erbärmlichen Koſt und dem traurigen Aufenthalt, und Nicolina ſagte ſich, daß er in kurzer Zeit in dieſem Gefängnis zu Grunde gehen müſſe. Das, was der Gläubiger für den Gefangenen zahlte, genügte gerade, um das nackte Leben zu friſten. Nur von Brot, Waſſer und Oliven konnte der Gefangene leben, in einem Zimmer mit verkommenen Geſellen hauſte er zuſammen, und die ſchreckliche Hoffnungsloſigkeit zehrte an ihm noch mehr als die äußeren ungünſtigen Ber: hältniſſe.

Als Nicolina das Gefängnis verließ, ſank ſie draußen einen Augenblick zuſammen, und ebenfalls gebrochen an Leib und Seele war ſie in der Via di Po angelangt. Am Abend mußte ſie ſich zuſammennehmen, um ihrer unglücklichen Herrin Hilfe zu leiſten. Aber jetzt, nach ſchlafloſer Nacht, kamen alle die ſchlimmen Gedanken wieder, drückte auch ſie die Hoffnungsloſigkeit zu Boden.

Der Diener kam und meldete, daß Seine Excellenz der Signor Rattazzi da ſei, um die Prinzeſſin zu beſuchen. Nicolina erwiderte, die Prinzeſſin ſchlafe noch und ſei unter keinen Umſtänden zu ſprechen. Gleich darauf er— ſchien der Diener wieder: Seine Excellenz habe mit Nico— lina einige Worte zu reden.

Sie ging hinaus und empfing den Staatsmann ſeinem Range gemäß ſehr devot in einem kleinen Vorzimmerchen. Sie erklärte ihm nochmals, ſie dürfe die Prinzeſſin unter keinen Umſtänden ſtören, da dieſe eine ſchreckliche Nacht gehabt habe.

Rattazzi war tief unglücklich, als er hörte, wie ſchwer die königliche Ungnade die arme Prinzeſſin getroffen hatte. Während er aber noch ſeinem Mitleid Ausdruck gab, ſchrillte die Klingel aus dem Schlafzimmer.

Don Ludw. Sallentien⸗Wewer. 145

Nicolina fand ihre Herrin, die eben erwacht war, friſcher, als ſie geglaubt hatte. Marie Studolmine, die mit ihrer Geſellſchafterin auf ſehr vertrautem Fuße lebte, zumal dieſe die einzige Perſon ihrer Umgebung war, mit der ſie franzöſiſch ſprechen konnte, war außer ſich, als ſie erfuhr, Rattazzi wünſche ſie zu ſprechen.

„Gehe ſofort zu ihm hinaus,“ rief ſie, „und erkläre ihm, daß ich für ihn nie wieder zu Hauſe bin.“

Dieſen wenig tröſtlichen Beſcheid brachte Nicolina der Excellenz. Rattazzi aber wußte wohl aus ſeiner diplo⸗ matiſch⸗parlamentariſchen Carriere, daß man durch Zähig— keit die größten Schwierigkeiten überwindet.

„Geben Sie mir Schreibmaterial, und laſſen Sie mich einen Augenblick allein,“ ſagte er zu Nicolina.

Dann ſchrieb er in fliegender Haſt ein Briefchen, in dem er die Prinzeſſin beſchwor, ihn zu empfangen, ihm zu geſtatten, ſie ſeiner Verehrung und Hingebung zu ver⸗ ſichern. Die Unterredung, welche er erbitte, ſei ſehr wichtig für ihrer beider Zukunft. Er habe ihr Worte zu ſagen, die ihr vielleicht die königliche Ungnade gleichgültig machten, wenn ſie ihn erhören wolle. Kurzum, der Brief war ein verſchleierter Heiratsantrag in beſter Form.

Nicolina ſträubte ſich anfangs, den Brief ihrer Herrin hineinzutragen. Aber einer Excellenz ſchlägt man ſo leicht nichts ab. Vielleicht dachte Nicolina ſogar daran, daß dieſer einflußreiche Staatsmann dem armen Pepe helfen könne. Sie brachte alſo den Brief ihrer Herrin, die ſoeben am Toilettentiſch ſaß und ſich friſieren ließ.

Die Prinzeſſin las den Brief und ſchrieb dann im Friſiermantel ſofort ihre Antwort. Dieſe lautete:

„Ich werde Euer Excellenz empfangen und Ihren Mit⸗ teilungen ein williges Gehör ſchenken, wenn Sie mir eine Einladung zum Hofball, der aus Anlaß der Vermählung der Prinzeſſin Klothilde mit dem Prinzen nn am

1900. VIII.

146 Die verfemte Prinzeſſin.

Fünfundzwanzigſten dieſes Monats ſtattfinden wird, über⸗ bringen. Außerdem nicht!“

Rattazzi ſchien ganz glücklich über den Inhalt des Briefes zu ſein. Er bat Nicolina, ihrer Herrin zu ſagen, er hoffe beſtimmt, ihr ſchon am nächſten Morgen das Ge— wünſchte überreichen zu können. Dann verließ er das Haus und fuhr direkt nach der Piazza del Caſtello, wo ſich das königliche Schloß befand. Er vertraute auf die Macht ſeiner Perſönlichkeit und auf ſeinen Einfluß. Es ſchien ihm nicht ſo unüberwindlich ſchwer, die geſtellte Aufgabe zu löſen. |

Im Hofmarſchallamt traf er den Grafen Pegoli, den er zuerſt vertraulich begrüßte, ohne gleich auf den Haupt⸗ grund ſeines Beſuches einzugehen. Er that vielmehr, als wollte er dem alten Bekannten nur beim Vorübergehen einen Beſuch machen. Dann aber kam er auf den Bor: fall im Theater am Abend vorher zu ſprechen und fragte, ob der König wirklich etwas Schwerwiegendes gegen Prin: zeſſin Marie Studolmine einzuwenden habe.

„Seine Majeſtät waren außer ſich,“ ſagte der alte Hofmann; „Seine Majeſtät hatten urſprünglich die Ab⸗ ſicht, der Vorſtellung bis zum Schluß beizuwohnen, ver: ließen aber das Theater, weil es ihm höchſt unangenehm war, dieſe Perſon ſich gegenüber zu haben.“

„Mein lieber Freund,“ lächelte Rattazzi, „ohne den ſchuldigen Reſpekt vor Seiner Majeſtät irgendwie vergeſſen zu wollen, muß ich doch ſagen, es iſt mir nicht ganz ver— ſtändlich, weshalb Majeſtät ſo feindſelig gegen die Prin— zeſſin iſt. Auch Kaiſer Napoleon hat ſie ja nicht ganz fallen laſſen, ſondern ſie nur zeitweilig verbannt. Und was hat denn ſchließlich die Prinzeſſin gethan? Sie hat einige Bosheiten gegen die Kaiſerin Eugenie veröffentlicht. Nun, das ſind kleine Streitigkeiten, wie ſie die Frauen oft untereinander haben.“

Don £udw. Sallentien⸗Wewer. 147

Graf Pegoli zog die Augenbrauen hoch. „Mein liebſter Freund, Sie befinden ſich im Irrtum. Nehmen Sie einen guten Rat von mir an und kompromittieren Sie ſich nicht mit dieſer Perſon. Sie waren geſtern abend in der Loge der Dame, und man faßt das in ganz Turin gewiſſermaßen als politiſche Demonſtration auf. Seien Sie vorſichtig, beſter Freund, denn dieſe Prinzeſſin iſt eine Abenteurerin!“ |

Rattazzi erſchrak. „Eine Abenteurerin? Ich hoffe, lieber Graf, daß man das nicht wird beweiſen können.“

„Ja, man kann das beweiſen,“ ſagte Graf Pegoli, immer erregter werdend. „Und eben, weil dieſe Perſon eine Abenteurerin iſt und weiter nichts, wollte Seine Majeſtät ihr ein für allemal zeigen, daß ſie in Turin unmöglich iſt. Ihre Abſtammung ſchon iſt eine beinahe

zweifelhafte, möchte ich ſagen.“ | | „Dann find Sie ſchlecht unterrichtet,“ verſetzte Rattazzi warm. „Die Mutter der Prinzeſſin war die Prinzeſſin Lätitia Bonaparte, die Nichte Napoleons I. Sie wurde von ihrem Onkel außerordentlich hochgeſchätzt und hat den Kaiſer leidenſchaftlich verehrt. Um des Kaiſers willen hat ſie einen Schritt gethan, der ſie als Weib und als Mitglied der Familie Bonaparte gleich ehrt. Der einſame, verbannte Napoleon durfte auf Helena kein Mitglied ſeiner Familie empfangen. Nur Engländer und Frauen von Engländern hatten Zutritt. Um ihrem Onkel, der krank und gebrochen war, Geſellſchaft leiſten zu können, heiratete Prinzeſſin Lätitia den Engländer Wyſe unter der Bedin⸗ gung, daß er ſie ſofort nach der Hochzeit nach St. Helena führe. Am Tage nach der Hochzeit aber traf die Mit: teilung ein, daß Napoleon geſtorben ſei. Die Tochter dieſer Frau iſt die Prinzeſſin Marie Studolmine, und die Napoleoniden ſollten doch nicht vergeſſen, was die Mutter der Prinzeſſin für den Stammherrn des Hauſes gethan hat.“

148 Die verfemte Prinzeffin.

„Das weiß man ſehr wohl,“ wendete Graf Pegoli ein; „aber was die Tochter gethan hat, iſt ſo ſchlimm, daß das Vergangene mehr wie ausgeglichen iſt. Denken Sie nur an den Skandal mit den Solms.“

„Sie meinen die deutſche Fürſtenfamilie?“

„Ja.“

„Mir iſt nichts davon bekannt.“

„Nun, die Prinzeſſin hat einen Schlächtermeiſter in Straßburg Namens Solmes geheiratet. Seitdem nennt ſie ſich Prinzeſſin Wyſe⸗Bonaparte⸗Solms, verſtehen Sie, Solms, nicht Solmes. Sie hat eigentlich nicht einmal auf den Namen Bonaparte, ganz und gar nicht aber auf den Namen Solms Anſpruch. Die Familie Solms, eine der vornehmſten in Deutſchland, hat gegen die Hin⸗ zufügung ihres Namens zu dem Namen der Prinzeſſin Einſpruch erhoben.“

„Dieſe Sache iſt doch vorüber. Die Prinzeſſin iſt von ihrem Mann geſchieden, und es wird ihr wahrſcheinlich wenig daran liegen, den Namen Solms weiterzuführen. Was aber den Namen Bonaparte anbelangt, ſo beſitzt ſie beſtimmt ein Anrecht darauf, und Kaiſer Napoleon III. hat ihr das nie beſtritten. Daß die Prinzeſſin aber mit dem Schlächtermeiſter in Straßburg eine Ehe ſchloß, kann man ihr kaum übelnehmen. Sie war in Armut und Dürftigkeit aufgewachſen, ſolange die Napoleoniden nicht auf dem Throne ſaßen, und ſpät genug hat ſich auch Napoleon III. entſchloſſen, ihr eine Rente zu zahlen. Ich ſehe hier überall nur eine vom Schickſal verfolgte und bedrängte Frau und fühle mich verpflichtet, mich ihrer an- zunehmen.“

Graf Pegoli lächelte. „Man weiß es, daß zarte Bande Sie an dieſe Dame feſſeln.“

„Mag man wiſſen, was man will,“ ſagte Rattazzi etwas ärgerlich. „Ich komme mit einer Bitte, lieber Freund. Ich

Don Ludw. Sallentien⸗Wewer. 149

muß eine Einladung zum Hofball für die Prinzeſſin haben, für den Hofball, der am Fünfundzwanzigſten ſtattfindet.“

Graf Pegoli ſank entſetzt auf ſeinen Seſſel zurück. Er ſah aus, als habe er einen Schlag vor den Kopf erhalten, und ſtarrte ſeinen Freund Rattazzi an, als halte er ihn für geiſtesgeſtört.

„Sie ſind wahnſinnig, Rattazzi!“ brach er dann los. „Gehen Sie zu einem Arzt! Wie können Sie nur an⸗ nehmen, daß ich eine Einladung der Prinzeſſin zum Hof⸗ ball befürworten werde, nachdem mir Seine Majeſtät aus⸗ drücklich erklärt hat, daß die Prinzeſſin bei Hofe unmög⸗ lich iſt! Nein, alter Freund, lieber lege ich Hand an mich ſelbſt, als daß ich mir ein derartig ſchweres Ver⸗ gehen gegen die Befehle Seiner Majeſtät zu ſchulden kommen ließe. |

Rattazzi verließ das Hofmarſchallamt ohne Einladungs⸗ karte für die Prinzeſſin. Er wußte vielmehr jetzt auf das beſtimmteſte, daß jede Ausſicht darauf geſchwunden war.

3.

Auch Lord Evelyn hatte von Nicolina den Beſcheid erhalten, daß die Prinzeſſin krank und für niemand zu ſprechen ſei. Der lange, noch ziemlich junge Engländer ſtrich feinen Backenbart, fah vor ſich hin und blieb un: beweglich ſtehen.

Nicolina betrachtete ihn erſtaunt. Als ungefähr zwei Minuten vergangen waren, ohne daß Evelyn etwas ſprach oder fich bewegte, ſagte fie nochmals: „Ihre Hoheit be: dauert ſehr, Euer Herrlichkeit nicht empfangen zu können, da ſie erkrankt iſt. Der Arzt hat abſolute Ruhe verordnet.“

Nicolina ſprach mit Lord Evelyn franzöſiſch, da dieſe Sprache dem Engländer leichter fiel als das Italieniſche. Schrecklich genug war das Franzöſiſche allerdings, das Lord Evelyn redete.

150 Die verfemte Prinzeſſin.

Als auf die erneute Bemerkung Nicolinas der Geſandt⸗ ſchaftsattaché noch immer unbeweglich blieb, befiel das junge Mädchen eine gewiſſe Beängſtigung. Für ihre italieniſche Leidenſchaftlichkeit war dieſes engliſche Phlegma etwas ganz Unbegreifliches.

Lord Evelyn griff endlich in die Taſche und zog ſeine Börſe hervor. Er öffnete dieſelbe und entnahm ihr einige Fünfſcudiſtücke in Gold. Es waren zehn Goldſtücke, die er langſam vor den Augen Nicolinas aus der Börſe nahm und in der rechten Hand behielt.

„Sie ſind eine kluge Dame,“ begann er dann in ganz gelaſſenem Tone, „und außerdem die Vertraute der Prin: zeſſin, weil Sie franzöſiſch ſprechen. Die Prinzeſſin hat es mir ſelbſt geſagt. Eine Perſon in ſolch einer Stellung hat ſtets einen bedeutenden Einfluß auf die Gebieterin. Wiſſen Sie, ob die Prinzeſſin den Hofball am Fünf⸗ undzwanzigſten beſuchen wird?“

„Ich weiß es nicht,“ verſetzte Nicolina wahrheitsgemäß.

Evelyn legte die zehn Goldſtücke auf ein Tiſchchen und ſagte: „Das iſt für Sie, um Ihnen meinen guten Willen zu zeigen. Die zehnfache Summe erhalten Sie, wenn Sie die Prinzeſſin beſtimmen, mit mir zuſammen auf den Hofball zu gehen, das heißt, wenn die Prinzeſſin es mir geſtattet, fie abzuholen und fie auf den Hofball zu führen. Haben Sie mich verſtanden?“

„Wie ſollte ich das möglich machen?“ fragte Nicolina erſtaunt.

„Das iſt Ihre Sache. Ich bin keine Frau und weiß nicht, welche Mittel Frauen anwenden. Ich weiß aber, daß es im Bereich der Möglichkeit liegt, Ihre Herrin ſo zu beeinfluſſen, daß ſie meinen Wunſch erfüllt. Auf Wiederſehen!“

Ohne eine Antwort abzuwarten, ſtieg Lord Evelyn die Treppe hinunter und ſuhr davon.

Don Ludw. Sallentien⸗Wewer. 151

Nicolina betrachtete eine Zeitlang erſtaunt die zehn Goldſtücke; dann ließ ſie dieſelben ſchleunigſt in ihrer Taſche verſchwinden. Sie dachte an Pepe. Und die zehn: fache Summe, alſo hundert ſolcher Goldſtücke, das waren fünfhundert Scudi, wollte der Engländer zahlen, wenn die Prinzeſſin mit ihm zuſammen auf den Hofball ging. Das war beinahe die Hälfte der Summe, die nötig war, um Pepe aus dem Schuldgefängnis zu befreien. Ja, vielleicht verſtand ſich der elende Wucherer Balbazzo dazu, wenn er fünfhundert Scudi bekam, dem jungen Techniker eine Friſt zu gewähren, um allmählich den Reſt zu be— zahlen.

Beging alſo Nicolina etwas Böſes, wenn ſie ihre Herrin veranlaßte, mit dem Engländer den Ball zu beſuchen? Fünfhundert Scudi welch eine Summe Geldes! Wie fabelhaft reich mußten doch dieſe Engländer ſein!

Nicolina beſchloß, ihr Beſtes zu thun. Aber noch war ſie mit ihren Gedanken beſchäftigt, als Excellenz Rattazzi wieder kam, um von ſeinem verunglückten Verſuch beim Hofmarſchall zu berichten.

„Wie befindet ſich die Prinzeſſin?“ fragte er.

„Sie iſt aufgeſtanden, fühlt ſich aber recht matt. Sie hat Lord Evelyn, der ſoeben hier war, nicht empfangen.“

„Ah, ſehr gut! Aber mich müſſen Sie auf alle Fälle melden.“

„Excellenz, das wird unmöglich ſein. Die Prinzeſſin hat mir vorhin den ſtrengſten Befehl gegeben, Excellenz unter keiner Bedingung vorzulaſſen, wenn Excellenz nicht mit der Einladung zum Hofball erfcheinen.”

„Eben wegen dieſer Einladung komme ich.“

Nicolina zuckte die Achſeln. „Ich darf nicht gegen den Befehl der Herrin handeln.“

„Aber ſo nehmen Sie doch Vernunft an!“ rief erregt

152 Die verfemte Prinzeſſin.

Rattazzi. „Ich muß in jener Angelegenheit dringend mit der Prinzeſſin ſprechen.“

„Gut. Ich will es wenigſtens verſuchen, aber es wird vergeblich ſein.“

Nicolina kehrte in der That ſchon nach wenigen Mi: nuten zurück mit der Mitteilung, Rattazzi werde erſt em⸗ pfangen werden, wenn er eine Einladung bringe, eher nicht.

Rattazzi fuhr ſich nervös in die Haare. „Dieſer Eigen⸗ ſinn!“ rief er. „Sagen Sie der Prinzeſſin, es ſei un⸗ möglich, ihr dieſe Einladung zu verſchaffen. Sagen Sie, ich hätte alles aufgeboten, was in meinen Kräften ſtand, und mehr, als für meine Intereſſen gut . Aber es war alles vergeblich. 5

Nicolina ging wieder zu ihrer Herrin, kehrte nach kurzer Zeit weinend zurück und meldete: „Ihre Hoheit läßt Excellenz ſagen, daß ſie Ihnen nichts weiter mitzu⸗ teilen habe, und daß Ihre Hoheit in den allernächſten Tagen Turin verlaſſen werde. Ach, heilige Jungfrau, dann verliere ich meine Stellung!“

Und ſie ſchluchzte ohne Rückſicht auf die Anweſenheit Rattazzis ganz verzweifelt.

„Das darf nicht ſein!“ rief Rattazzi, der in ſeiner Verliebtheit davor erſchrak, daß die Prinzeſſin für immer aus Turin verſchwinden könne. „Das darf nicht ſein, das wäre feige Flucht! Hören Sie, Nicolina, wir haben die gleichen Intereſſen. Auch ich will nicht, daß die Prinzeſſin Turin verläßt, und Sie verlieren Ihre Stellung. Sie ſind ja ein gewandtes Mädchen, es kann Ihnen nicht ſchwer fallen, die Prinzeſſin umzuſtimmen.“

„Ach, Excellenz, ich weiß ja gar nicht, um was es ſich handelt.“

Rattazzi dachte einen Augenblick nach. „Setzen Sie ſich, meine Liebe,“ ſagte er dann, „ich will Sie aufklären.“

Don Ludw. Sallentien⸗Wewer. 153

Darauf erzählte er kurz, wie die Prinzeſſin den drin: genden Wunſch habe, den Hofball zu beſuchen, wie es unmöglich ſei, eine Einladung für ſie zu beſchaffen, weil der König ausdrücklich beſtimmt habe, es ſolle keine ſolche an die Prinzeſſin ergehen. Ueber die Gründe und Motive ließ ſich Rattazzi nicht aus, aber die kluge Nicolina er⸗ innerte ſich in dieſem Moment deſſen, was vorhin Lord Evelyn geſagt hatte.

„Wir ſind alſo Bundesgenoſſen, meine liebe Nicolina, wir ſind auch Landsleute,“ fuhr Rattazzi dringend fort. „Wir müſſen uns vereinigen und gemeinſam wirken. Glauben Sie nur ja nicht, daß ich Ihre Mitwirkung um⸗ ſonſt verlange. Trotzdem es in Ihrem eigenen Intereſſe liegt, daß die Prinzeſſin hier bleibt, weil Sie ſonſt Ihre Stellung verlieren, will ich Ihnen doch jeden Wunſch er⸗ füllen, den ich erfüllen kann. Haben Sie irgend einen Wunſch, ſo ſagen Sie ihn nur.“

Jetzt oder nie! dachte Nicolina, und dann erzählte ſie in wenigen Worten das Unglück, das Pepe und ſie getroffen hatte.

„Ei, ei!“ lächelte Rattazzi. „Alſo man hat einen Bräutigam, und um den alten Gauner, den Balbazzo, handelt es ſich. Nun, ich werde mit dem Manne ein energiſches Wort ſprechen. Ich habe von früher her noch eine Abrechnung mit ihm und glaube wohl, ich kann etwas bei ihm erreichen, zum mindeſten die ſofortige Entlaſſung dieſes Herrn Pepe aus dem Schuldgefängnis. Und nun hören Sie, meine Liebe. Wenn Sie die Prinzeſſin ver: anlaſſen, in Turin zu bleiben, wenn Sie ihre Abreiſe verhindern, wenn Sie außerdem meinen Weiſungen Folge leiſten, ſo verſpreche ich Ihnen, daß Ihr Pepe aus dem Gefängnis entlaſſen werden ſoll.“

Nicolina ſchien nicht ohne weiteres den Worten des italieniſchen Staatsmannes zu glauben. „Wann ſoll das

154 Die verfemte Prinzeffin.

geſchehen?“ fragte fie. „Jeder Tag gefährdet die Geſund⸗ heit des armen Pepe.“

„Ich werde ihm ſofort einige Erleichterungen zukommen laſſen, damit Sie meinen guten Willen ſehen. Er ſoll ein eigenes Zimmer haben und gute Verpflegung, auf meine eigenen Koſten, und wenn der Hofball vorüber ift, das iſt am Fünfundzwanzigſten, und die Prinzeſſin noch in Turin bleibt, und Sie, Nicolina, das erfüllt haben, was ich von Ihnen erbitte, dann fol am Sechsundzwanzig⸗ ſten Ihr Bräutigam frei ſein.“

„Und was verlangen Excellenz?“

„Meine liebe Kleine, ich will keinerlei Geheimniſſe vor Ihnen haben. Sie wiſſen ja ganz ſicher, ebenſo wie Ihre Herrin, daß ich die Prinzeſſin liebe. Nehmen Sie alſo für mich Partei, ſuchen Sie vor allen Dingen die Prin: zeſſin dazu zu bringen, daß ſie mir nicht zürnt, weil es mir unmöglich iſt, ihr die begehrte Einladung zu beſorgen. Bringen Sie die Prinzeſſin dazu, und ich halte mein Wort. Ja noch mehr, ich werde dem Gauner Balbazzo derart zu Leibe gehen, daß er Ihrem Bräutigam min— deſtens die Hälfte der Schuld erläßt. Das kann der Schuft ganz ſicher, denn ich weiß, er nimmt dreihundert Prozent Zinſen und verdient noch ein ſündhaftes Geld, wenn er nur die Hälfte des Reſtes bekommt. Alſo abgemacht, wie?“

Und der Staatsmann hielt dem jungen Mädchen ſeine Hand hin, in die Nicolina die ihre legte.

Prinzeſſin Marie Studolmine war wirklich krank. Sorge und Kränkung drückten ſie zu Boden. Welch eine Demütigung für ſie, wenn ſie jetzt aus Turin fort mußte, weil es ihr unmöglich war, ſich in der Geſellſchaft zu halten! Und ſie war gezwungen, ſofort abzureiſen; denn dann konnte fie wenigſtens noch behaupten, fie fei ge: gangen, ehe man ſich entſcheiden konnte, ob fie zum Hof:

Don Ludw. Sallentien⸗Wewer. 155

balle geladen werden ſolle oder nicht. Wenn ſie aber erſt den Fünfundzwanzigſten herankommen ließ und nicht auf dem Hofball erſchien, dann war ſie unmöglich, dann war ihre Stellung in Turin ganz unhaltbar.

O, wenn ſie nur fünf Minuten hätte auf dem Hof⸗ ball ſein können! Dann konnte ſie Fuß faſſen in der guten Geſellſchaft, dann ſpielte ſie eine Rolle in Turin, dann konnte ſie dem Vetter, der auf dem franzöſiſchen Kaiſerthrone ſaß, trotzen, dann hatte ſie die Stellung wiedergewonnen, die ſie in Paris verloren.

Weſſen iſt ein Weib nicht fähig, deſſen Eitelkeit und Stolz verletzt ſind! Zu den ungeheuerlichſten Dingen wäre Marie Studolmine fähig geweſen, nur um auf den Hofball zu kommen.

Als Rattazzi eine halbe Stunde fort war, machte ſich Nicolina in dem Zimmer der Prinzeſſin zu ſchaffen. Dieſe ſaß am Fenſter und ſtarrte unverwandt auf einen Punkt. Sie ſchien die Anweſenheit Nicolinas gar nicht zu be— merken.

Die kluge Italienerin hatte aber alle Veranlaſſung, mit der Prinzeſſin zu ſprechen, und deshalb fragte ſie möglichſt ſanft: „Kann ich für Eure Hoheit irgend etwas thun?“

Die ſchöne Frau ſah auf, betrachtete ihre Dienerin und verſetzte wie geiſtesabweſend: „Verſchaffe mir eine Einladung zum Hofball.“

Nicolina lächelte. „Eure Hoheit wiſſen, daß ich mein Leben hingeben würde, um dieſen Wunſch zu erfüllen. Eure Hoheit können deshalb auch überzeugt ſein, daß ich die Frage, die ich jetzt ſtelle, nicht aus Neugier thue, ſondern aus wirklichem Intereſſe, aus Dankbarkeit für die Güte Eurer Hoheit.“

„Du ſprichſt ſo ſonderbar, Nicolina. Was willſt du wiſſen?“

156 Die verfemte Prinzeſſin.

„Eure Hoheit verzeihen mir die Frage: Wer iſt Ihnen lieber, Lord Evelyn oder Excellenz Rattazzi?“

„Eine etwas dreiſte Frage!“

„Ich ſtelle ſie im Intereſſe Eurer Hoheit,“ ſagte Nico⸗ lina. „Auch die Maus war einmal in der Lage, dem Löwen zu helfen, wie die Fabel erzählt. Vielleicht könnte ich diesmal die Maus ſein.“

„Wie? Du könnteſt mir helfen, Nicolina?“

„Vielleicht, Hoheit. Aber ich müßte wiſſen, ob der engliſche Herr dem Herzen Eurer Hoheit nahe ſteht.“

„Durchaus nicht,“ rief Marie Studolmine. „Er iſt ein Engländer, und ich bin eine Franzöſin. Schon der Unterſchied der Nationen hat mir den Mann von Anfang an unſympathiſch gemacht. Ich habe mir feine Huldi— gungen gefallen laffen, denn feine Stellung als Geſandt⸗ ſchaftsattaché ift eine ſehr angeſehene, und er iſt ſteinreich. Was willſt du aber mit all dieſen Fragen?“

„Hoheit verzeihen, wenn ich jetzt noch ſchweige. Dürfte ich für heute nachmittag um Urlaub bitten?“

„Welch ſeltſames Betragen!“ ſagte die Prinzeſſin. „Du machſt mich über alle Maßen neugierig, und nun hüllſt du dich in Schweigen.“

„Ich hoffe in der Lage zu ſein, Eurer Hoheit morgen vormittag Günſtiges mitzuteilen.“

„Dann mußt du eine Zauberin ſein, und ich glaube, daß dein Wille gut ift, Nicolina, aber daß du nichts er: reichen wirſt. Wenn es dir aber doch gelingt, Nicolina, ſollſt du unter meinen Schmuckſachen dir etwas Schönes ausſuchen.“

Die Prinzeſſin ſchritt nach dem eiſenbeſchlagenen, ele- ganten Kaſten, der auf einem Tiſche ſtand, und öffnete den Deckel. Diamantenſchmuck, Gold und Perlen fun— kelten Nicolina entgegen.

„Sieh dir das an, das beſte Stück daraus kannſt du

Don Ludw. Sallentien⸗Wewer. 157

dir wählen, mit Ausnahme dieſer Broſche, die von meiner Mutter ſtammt. Und ich geſtatte dir ſogar, das Schmud: ſtück zu verkaufen und den Erlös als Ausſteuer zu be⸗ nützen.“

„Sie ſind verrückt, Nicolina!“ ſagte Rattazzi in furcht⸗ barſtem Zorn und ſchleuderte ein Aktenſtück, das auf ſeinem Schreibtiſch lag, wütend auf die Erde. „Ich ſoll meine Erlaubnis dazu geben, daß die Prinzeſſin mit meinem Nebenbuhler auf den Hofball geht? Welch eine Zus mutung! Wie kommen Sie dazu, mich in dieſer Weiſe zu verhöhnen?“

Nicolina, die neben dem Schreibtiſche des Staats: mannes ſtand, blieb ganz ruhig. „Der Engländer iſt kein Nebenbuhler von Eurer Excellenz,“ verſetzte ſie, „wenigſtens kein glücklicher. Die Prinzeſſin will nichts von ihm wiſſen. Sie ſelbſt hat es mir heute früh geſagt. Und wenn der Engländer die Prinzeſſin auf den Hofball führt, ſo kommt er in Ungelegenheiten, und höchſtwahr⸗ ſcheinlich wird man ihn aus Turin abberufen. Dann ſind Euer Excellenz ihn ganz los.“

Rattazzi ſah erſtaunt in das hübſche Geſicht Nicolinas. „Das iſt richtig,“ ſagte er dann; „o, dieſe Weiberliſt! Da kann ein alter Diplomat noch etwas lernen. Was habe ich alſo bei der Sache zu thun?“

„Laſſen Eure Excellenz es meine Sorge fein, der Prin: zeſſin beizubringen, daß Sie das Arrangement getroffen haben, und ſie wird Ihnen dankbar ſein. Und ich werde alles thun, was in meinen Kräften ſteht, Excellenz; denn ich bin Eurer Excellenz ja ſo dankbar. Ich bin ſoeben bei meinem unglücklichen Bräutigam geweſen, und in der That hat er alle Verbeſſerungen ſeiner Lage bekommen, die mir Excellenz heute früh verſprachen.“

„Ich bin gewöhnt, Wort zu halten, mein liebes Kind.

158 Die verfemte Prinzeffin.

Was aber Ihren Plan anbetrifft, ſo muß ich mir ihn doch noch überlegen. Glückt er, ſo iſt uns ja geholfen; glückt er nicht —“

„Dann iſt die Sache auch nicht ſchlimmer,“ erklärte Nicolina, „als wenn der Plan gar nicht exiſtierte. Ich darf wohl hoffen, von Excellenz morgen Antwort zu haben.“

4.

Lord Evelyn war Engländer durch und durch in allem ſeinem Fühlen und Denken. Er hatte es ſich in den Kopf geſetzt, der begünſtigte Bewerber der ſchönen Prin: zeſſin Marie Studolmine zu werden, und er wollte ſeinen Zweck erreichen, wenn es auch noch ſo viel Geld koſtete. Ob er die Prinzeſſin liebte, wußte er ſelbſt nicht; ob er ſie heiraten wollte, darüber war er ſich auch noch nicht klar. Seine Verwandtſchaft, beſonders ſeine noch lebende Mutter, hätten ſich wahrſcheinlich entſetzt, wenn er dieſe abenteuerliche Prinzeſſin heiratete, die nicht überall als voll anerkannt wurde. Aber von dem alten Rattazzi wollte er fih doch nicht aus dem Felde ſchlagen laffen.

Seine Freude war daher rieſengroß, als er nicht nur von Nicolina, ſondern auch von der Prinzeſſin ſelbſt er: fuhr, daß fie mit ihm zuſammen den Hofball befuchen wolle. Prompt zahlte Lord Evelyn an Nicolina an jenem Tage die ſünfhundert Scudi und freute fih auf das ber ſtürzte und enttäuſchte Geſicht, das Rattazzi machen würde, wenn er, der engliſche Attaché, mit der Prinzeſſin am Arme auf dem Holball erſchien.

Daß die Prinzeſſin eingeladen werde, ſtand für Lord Evelyn feſt. Rattazzi hatte ihm ſo ganz zufällig Andeu— tungen gemacht, durch welche er überzeugt ſein mußte, daß man natürlich eine Prinzeſſin aus dem Hauſe Bonaparte bei einem Balle zu Ehren der Vermählung eines napoleo— niſchen Prinzen nicht mit einer Einladung übergehen könne.

Don Ludw. Sallentien⸗Wewer. 159

Am Abend des 25. Januar holte der Engländer in einer beſonders eleganten Equipage die im vollſten Schmuck ihrer Garderobe und Koſtbarkeiten, aber auch ihrer wun: derbaren Schönheit ſtrahlende Prinzeſſin aus ihrer Woh: nung in der Via di Po ab. Nach kurzer Fahrt kam man an das Portal des königlichen Schloſſes, vor welchem ſchon eine ganze Reihe von Equipagen hielt.

Lord Evelyn half ſeiner Dame aus dem Wagen, und es fiel ihm auf, daß die Hand der Prinzeſſin etwas zit⸗ terte, als ſie dieſelbe auf ſeinen Arm legte, um durch das Veſtibül nach der Garderobe zu ſchreiten. Nachdem die wärmenden Hüllen abgelegt waren, ſchritt Evelyn ſtolz mit der ſchönen Frau am Arme die Treppe zu den Feſt⸗ räumen des Königsſchloſſes empor. An der Thür ſtand einer der Hofbeamten, der die Einladungen abnahm. Lord Evelyn überreichte ihm die ſeine, ein goldgerändertes Stück Papier, und der Beamte verbeugte ſich tief vor dem ihm wohlbekannten engliſchen Attaché, ohne nach der Ein: ladung der Dame, die am Arme des Engländers ſich be: fand, zu fragen.

Daß es ſo kommen würde, hatte Nicolina ausgeklügelt, und ſie hatte recht behalten.

Im nächſten Augenblick war Prinzeſſin Maria Stu— dolmine im Feſtſaal.

„Führen Sie mich bis in die Mitte des Saals unter den Kronleuchter,“ ſagte ſie ihrem Kavalier, der mit der Miene eines Siegers durch den Saal ſchritt.

In dieſem Augenblick ertönten die Fanfaren der Muſik, die auf der Galerie aufgeſtellt war, und König Viktor Emanuel mit ſeiner Tochter und deren Bräutigam, ſowie mit dem Kronprinzen Umberto betrat den Saal.

Die Muſik intonierte auf den Wink des Oberhof— marſchalls eine Tanzweiſe; um den Kronleuchter aber bil: dete fih eine dichte Gruppe. Mit Erſtaunen, mit Leber:

160 Die verfemte Prinzeſſin.

raſchung oder mit ſelbſtgefälligem Lächeln, je nachdem man an die Einladung der Prinzeſſin geglaubt hatte oder nicht, hatte die Ballgeſellſchaft die ſchöne Frau mitten im Saale ſtehen ſehen. Nun war der Zweifel vorüber, die Prin⸗ zeſſin hatte eine Einladung erhalten; die Leute, die das Gegenteil behauptet, hatten ſich getäuſcht. Jetzt war die Prinzeſſin legitimiert, und Herren und Damen aus der guten Geſellſchaft drängten ſich heran, um nur einen Blick, ein Wort der ſchönen Frau aufzufangen.

Auch auf der Eſtrade, auf der die Fürſtlichkeiten ſaßen, fiel die dichte Gruppe auf. Aber ehe noch der König eine Frage thun konnte, ſah er ſeinen Oberhofmarſchall leichenblaß und mit ſchlotternden Knieen neben ſich.

„Majeſtät,“ ſtotterte Graf Pegoli, „die Prinzeſſin Wyſe⸗Bonaparte iſt im Saale. Sie hat keine Einladung erhalten, ich ſchwöre es bei allem, was mir heilig iſt, und dennoch iſt ſie hier!“

Der König war entrüſtet. „Unterſuchen Sie ſofort den Fall und ſchaffen Sie dieſe Perſon fort!“ befahl er.

Immer noch leichenblaß, zitternd vor Aufregung und Angſt vor der unvermeidlichen Skandalſcene, die jetzt folgen mußte, ſtieg Graf Pegoli von der Eſtrade herunter und näherte ſich der Gruppe, deren Mittelpunkt Prinzeſſin Marie Studolmine bildete.

Die Prinzeſſin ſah den alten Herrn kommen und eilte ihm mit ihrem liebenswürdigſten Lächeln entgegen.

„Mein teurer Graf,“ rief ſie, „welche Freude, Sie zu ſehen!“

Und Graf Pegoli konnte nur murmeln: „Ich muß Sie ſprechen, im Auftrage Seiner Majeſtät.“

Ungeniert nahm die Prinzeſſin den Arm des Oberhof— marſchalls und ging mit ihm nach einer der Fenſterniſchen.

„Hoheit haben keine Einladung erhalten,“ begann der Oberhofmarſchall, als er mit der Prinzeſſin allein war.

Don Ludw. Sallentien⸗Wewer. 161

„Nein. Ich bin trotzdem auf den Ball gekommen und bleibe hier. Man kann mich vielleicht mit Gewalt fort⸗ bringen laſſen; das wird aber einen furchtbaren Skandal geben, denn ich werde nicht ruhig ſein dabei.“

„Seine Majeſtät ſind außer ſich,“ ſagte faſſungslos über dieſe Dreiſtigkeit der Oberhofmarſchall. N

„Ich bin es auch, weil man vergeſſen hat, mich, eine Prinzeſſin Bonaparte, einzuladen. Ich wollte das Ver⸗ ſehen, das Sie begangen haben, indem Sie mir keine Einladung ſchickten, wieder gutmachen, indem ich hier erſchien.“ ö

„Aber Seine Majeſtät —“ ſtammelte der geängſtigte Oberhofmarſchall.

Die Prinzeſſin lächelte. „Ich will Ihnen einen Vor⸗ ſchlag machen. Ich will durch meine Anweſenheit hier niemand kränken und ärgern. Reichen Sie mir den Arm und führen Sie mich durch ſämtliche Feſträume. Wir können dabei in liebenswürdigſter Weiſe miteinander plau: dern. Dann verpflichte ich mich, den Ball zu verlaſſen.“

„Ich werde Seiner Majeſtät die Sache vortragen,“ verſicherte Graf Pegoli.

„Und fügen Sie hinzu, daß ein Skandal unvermeid— lich iſt, wenn man auf meinen Wunſch nicht eingeht. Und damit würde eine peinliche Bloßſtellung des eng— liſchen Attaches verbunden fein, der mich ohne Karte hier eingeführt hat.“

Mit einem ſüßen Lächeln ſah Prinzeſſin Marie dem unglücklichen Grafen nach, als er wieder zur Eſtrade hin— aufſtieg, um dem Könige die Meldung zu machen. Mehr als je war die Aufmerkſamkeit der ganzen Geſellſchaft jetzt auf die Prinzeſſin gerichtet.

Nach kurzer Zeit ſtieg Graf Pegoli von der Eſtrade

*) Thatſächlich wie der ganze Vorfall. 1900. VIII. 11

162 Die verfemte Prinzefjin.

herunter, reichte der Prinzeſſin den Arm und führte fie langſam durch die Feſträume. Der König hatte, um jeden Skandal zu vermeiden, die Bedingungen der ſchönen Frau angenommen. |

Graf Pegoli hatte nichts zu thun, als zuzuhören. Die Prinzeſſin plauderte, blieb demonſtrativ mit ihm hier und dort ſtehen, redete dieſen oder jenen an, der ihr ſchon bekannt war, ließ ſich durch Pegoli Leute aus der beſten Geſellſchaft vorſtellen und kam nach einer Stunde wieder in den Saal zurück. Dort erklärte ſie auffallend laut: „Mein lieber Graf, ich bliebe ſehr gerne noch, aber es iſt unerträglich heiß hier. Ich muß nach Haufe. Ent: ſchuldigen Sie mich bei Seiner Majeſtät und ſprechen Sie Seiner Majeſtät meinen eee Dank aus für alle Freundlichkeit.“

Graf Pegoli geleitete die Prinzeſſin bis zur Garde— robe, ließ durch einen Diener einen Wagen herbeirufen und kehrte dann nach dem Ballſaal zurück, um dem Könige mitzuteilen, daß ſeine ſchwere Aufgabe erfüllt ſei.

Als am nächſten Tage Rattazzi dem Könige meldete, daß er ſich mit der Prinzeſſin Marie Studolmine verlobt habe, war der König diplomatiſch genug, gute Miene zum böſen Spiel zu machen.

Die Prinzeſſin hatte geſiegt. So ziemlich allen Be— teiligten war geholfen, Lord Evelyn ausgenommen. Pepe war frei, der Wucherer begnügte ſich, durch Rattazzi ver: Ranlaßt, mit fünfhundert Scudi. Rattazzi beſchenkte Nico: lina noch beſonders und brachte ihren Bräutigam in eine gute Beamtenſtellung. Er wurde nämlich im März ſchon wieder Miniſterpräſident. Nicolina blieb bei der Prin— zeſſin, bis dieſe Frau Rattazzi wurde, dann heiratete ſie ihren Pepe. Von den Schmuckſachen der Prinzeſſin wählte ſie nur ein kleines Andenken.

Von Ludw. Sallentien⸗Wewer. 163

Die Ehe Rattazzis und der Prinzeſſin wurde, wie wohl von vornherein anzunehmen war, nichts weniger als glüd: lich. Die Prinzeſſin war eine zu „energiſche“ Dame, und Lord Evelyn pries ſeinen guten Stern, daß er nicht der begünſtigte Freier geweſen war.

Rattazzi ſtarb im Jahre 1873. Einige Jahre ſpäter heiratete ſeine Witwe zum drittenmal, diesmal einen blut⸗ jungen ſpaniſchen Edelmann, Namens de Rute. Auch dieſen überlebte ſie, denn er ſtarb Ende der achtziger Jahre, während die Schriftſtellerin Wyſe⸗Bonaparte⸗Solms⸗ Rattazzi⸗Rute noch heute in Paris lebt. Sie hat ſich durch ihre Romane und Denkwürdigkeiten auch in weiteren Kreiſen bekannt gemacht.

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Ein wertvolles Gewürz.

Botanische Streifzüge von Franz Westege.

*

mit 7 Illustrationen. (Machdruck verboten.)

chon auf den unterſten Stufen der Kultur fängt der

Menſch an, ſich die Welt der Pflanzen dienſtbar zu machen. Nachdem er einmal die ihm nützlichen Arten kennen gelernt, hat er in der Zeit, von der wir geſchicht⸗ liche Kunde beſitzen, nicht nur mit beſtem Erfolge deren Eigenſchaften auf künſtliche Weiſe noch erheblich zu ver: vollkommnen gewußt, ſondern auch aus den entfernteſten Ländern ſolche, die ſich in ſeiner Nähe kultivieren laſſen, herbeigeholt und angepflanzt. Der Handelsverkehr aber vermittelt die Produkte ſolcher Pflanzen, die in unſerem Klima nicht gedeihen wollen, und die Kulturgeſchichte weiſt zahlreiche Fälle nach, in denen durch Einführung der— artiger Erzeugniſſe fremder Zonen die erſtaunlichſten Ver— änderungen in der Lebensweiſe ganzer Völker hervor— gebracht worden ſind.

Es iſt keine Uebertreibung, wenn man behauptet, daß ſolche ausländiſchen Naturprodukte wiederholt gewaltigere Umwälzungen bewirkt haben als ſelbſt die Thaten der größten Eroberer. Man denke beiſpielsweiſe nur einmal daran, welchen Einfluß der Anbau der Kartoffel auf die Bewohner unſeres Erdteils ausgeübt hat; welche Herrſchaft

Don Franz Weſtege. Ä 165

der Genuß von Kaffee und Thee, ſowie der Gebrauch des Tabaks auf alle Stände ausübt u. ſ. w. Ä

Aruf die eine oder andere Weiſe gewähren faſt alle Pflanzenarten irgend einen Nutzen, doch beſchränkt ſich

Das Abschneiden der Zweige des Zimmetbaumes.

die Zahl ſolcher, die zu beſonderen Zwecken aufgeſucht, angebaut oder in den Handel gebracht werden, auf etwa 3000 Arten, von denen uns gegen 70 Gewürze liefern.

Im allgemeinen verſteht man unter Gewürzen alle Stoffe, die in geringer Menge den Speiſen zugeſetzt wer— den, um einerſeits ihren Geſchmack zu erhöhen und ſie

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166 Ein wertvolles Gewürz.

andererſeits genießbarer und verdaulicher zu machen. Demzufolge müßte man auch Säuren und das Kochſalz zu den Gewürzen rechnen; gewöhnlich ſtellt man dieſe aber als ſogenannte Würzen den Gewürzen im engeren Sinne gegenüber und zählt zu den letzteren nur ſolche Stoffe, die vor allem einen eigentümlichen Reiz auf unſeren Organismus ausüben. Weitaus die meiſten entſtammen dem Pflanzenreiche und werden bald aus Wurzelſtöcken oder Rinden, bald aus Blättern, Blüten, Früchten oder Samen gewonnen. Allen iſt aber gemein⸗ ſam, daß ſie gewiſſe Mengen von ätheriſchen Oelen oder von Stoffen harziger Natur enthalten, die ihnen den eigenartigen ſtarken Geruch oder Geſchmack verleihen, die unſere Verdauungswerkzeuge und das Nervenſyſtem reizen und dadurch den Stoffwechſel weſentlich beeinfluſſen. Sie ſind aber keine Nahrungsſtoffe, denn ſie vermögen nicht, wie unſere Nahrungsmittel, die im Organismus verbrauchten Muskeln, Nerven u. ſ. w. zu erſetzen.

Die erwärmende Reizung, welche der brennende und ſcharfe Geſchmack der Gewürze unmittelbar auf Gaumen und Magen ausübt, dürfte wohl die Urſache geweſen ſein, wodurch fie überall Einfluß gewannen und zum Teil ge: radezu zu Lebensbedürfniſſen geworden ſind. Sie regen die Verdauungsdrüſen an, wodurch die Auflöſung und Verdauung der Speiſen bis zu einem gewiſſen Grade be— fördert wird, falls man ſie nicht im Uebermaß gebraucht. In dieſem Falle erhitzen ſie das Blut zu ſtark, bei mäßi— gem Gebrauche wird die Ernährung geſteigert. Wie auf die übrigen Organe, wirkt ihr Reiz auch ganz beſonders auf das Gehirn ein; die geiſtige Thätigkeit wird erhöht, die Phantaſie und Denkkraft angeregt. Die Thatſache ſteht feſt, jedoch iſt der Wiſſenſchaft der Nachweis noch nicht gelungen, in welcher beſonderen Art dies geſchieht. Andererſeits iſt aber auch ebenſo feſtſtehend, daß jeder

Don Franz Weſtege. -TOF

übermäßige Genuß von Gewürzen eine Ueberreizung be— wirkt, welche die übelſten Folgen für Geiſt und Körper

Das Abschälen der Zweige.

nach ſich zieht. Zu große Gewürzmengen erzeugen er— fahrungsgemäß Entzündungszuſtände und verhalten ſich

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168 Ein wertvolles Gewürz.

überhaupt wie reizende Gifte. Kindern bleiben fie des: wegen am beſten ganz entzogen; auch bei erwachſenen Perſonen wird ſich ein Uebermaß ſtets rächen, zumal bei Konſtitutionen mit ohnehin ſchon reizbarem Nervenſyſtem. Wie überall gilt es, auch in dieſer Beziehung das richtige Maß zu halten.

In der Kulturgeſchichte der Völker reicht der Gebrauch von Gewürzen ſicherlich ebenſo weit hinauf wie das Be— dürfnis, den faden Geſchmack von Nahrungsmitteln durch Zuſätze zu verbeſſern. Bereits die Alten verbrauchten in großen Mengen Gewürze, die meiſt aus Oſtindien zu ihnen kamen. Im Mittelalter wurde dann, wie noch gegenwärtig im Morgenlande, ein wahrer Mißbrauch mit ihnen getrieben, und erſt allmählich gelang es, ihre Be— nutzung auf das heutige Maß zurückzuführen. Nach un: ſeren Gegenden wurden ſchon ſehr früh Gewürzkräuter über die Alpen gebracht und aus dem Südoſten unſeres Erdteiles eingeführt. Zu dieſen und vielfach an ihre Stelle traten ſpäter die Gewürze der tropiſchen Zone, wo die heißere Sonne unzählige Stoffe deſtilliert, zu deren Erzeugung unſere gemäßigteren Breiten unfähig ſind. Sie begreift man feit ihrer Einführung im 16. Jahr- hundert vorzugsweiſe unter dem Namen der Gewürze, und eines der wichtigſten unter ihnen iſt neben dem Pfeffer, den Gewürznelken, der Vanille und anderen der Zimmet, bei deſſen Heimat und Gewinnung wir im nach— ſtehenden eingehender verweilen wollen.

Zimmet, auch Zimt oder Kaneel, heißt bekannt— lich jenes feine Gewürz, das aus der Innenrinde ge— wiſſer Bäume aus der Familie der Laurineen oder Lor— beergewächſe gewonnen wird. Schon 400 Jahre v. Chr. trieben die Phöniker und Aegypter Handel mit Zimmet, der bereits Moſes bekannt war, wie auch Herodot, Hippo— krates und Plinius, indeſſen ſcheint ihre Kenntnis davon

Don Franz Weftege. 169

noch ziemlich ungenau geweſen zu fein, weshalb fie auch wohl verſchiedene andere aromatiſche Rinden ſo benannten. Der griechiſche Name Kinnamomon (lateiniſch: Cinna— momum) kommt von dem Zeitworte kinein = zuſammen— rollen (wegen der Form der in den Handel gebrachten

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Wegschaben der äusseren Rindenschichten.

Rinde) und a = ohne und momos = Tadel, bedeutet alfo ein aufgerolltes, tadelloſes Gewürz. Auch die bei uns ge: bräuchliche Bezeichnung Kaneel rührt von dem lateiniſchen Canella S Röhrchen, wegen der Aufrollung, ber.

Ueber das Zimmetland der Alten hat Dr. H. Schlichter in einer Sitzung der „Royal Geographical Society“ in London intereſſante Mitteilungen gemacht. Einer der

170 Ein wertvolles Gewürz,

erften Geographen des Altertums, Claudius Ptolemäus (150 v. Chr.), der nicht bloß die Lage der Küſte von Oſt⸗ afrika bis über Sanſibar gut gekannt und auf eine Karte gebracht hat, ſondern auch bereits die Lage der großen Seen im öſtlichen Aequatorialafrika ziemlich genau angab, ſuchte jenes Zimmetland ſüdöſtlich vom Viktoria Nyanza. Die allgemeine Anſicht der Alten verlegte es dagegen an die Südküſte des Golfes von Aden und das Küſtenland im Süden des Kaps Guardafui. Dr. Schlichter hält nun dafür, daß der den Alten bekannte Zimmet die ſpäter genauer zu beſprechende chineſiſche Zimmetkaſſie war, wie es ja auch feſtſteht, daß auf Ceylon, das heute die echte Zimmetrinde erzeugt, noch lange, nachdem es bereits von europäiſchen Seefahrern beſucht worden war, dieſes Ge— würz nicht hervorgebracht wurde.

Nun hat allerdings bisher die Meinung beſtanden, daß die Zimmekkaſſie nebſt anderen Erzeugniſſen des fernen Oſtens durch indiſche Kaufleute nach den Häfen am Roten Meer und der afrikaniſchen Nordoſtküſte gebracht worden ſei, wo ſie zuerſt von den Phönikern und nach dem Unter— gange von Tyrus von den Aegyptern in Empfang ge— nommen wurde, die ſie weiter nach Alexandrien und den Häfen des Mittelmeeres brachten, zugleich Sorge dafür tragend, daß die Herkunft dieſes wertvollen Gewürzes Geheimnis blieb. Da in Afrika aber, ſoweit uns be— kannt iſt, weder die Kaſſie noch der echte Zimmet in einem für den Außenhandel genügenden Maße hervorgebracht wurde, ſo ſcheint die Anſicht des Claudius Ptolemäus nicht haltbar, und die Frage nach der Lage des antiken Zimmetlandes bleibt alſo nach wie vor eine offene.

Feſt ſteht dagegen, daß im Mittelalter die Venetianer, dieſe erſten Vermittler des Gewürzhandels, auch jene als beſonders köſtlich geltende Spezerei nach dem übrigen Europa gebracht haben. Als dann der Seeweg um das

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Don Franz Weſtege. 171

Kap der Guten Hoffnung entdeckt worden war, kam dieſer Handel in die Hände der Portugieſen, welche aber 1658 durch die Holländer völlig von Ceylon verdrängt wurden. Dieſe ſchränkten die Kultur des Zimmets ein, um ſeinen Preis in die Höhe zu treiben, indem ſie ſie gleichzeitig außerhalb jener Inſel völlig unmöglich zu machen ſuchten. So wurde beiſpielsweiſe das Verkaufen oder Verſchenken

Das Glätten der Rinde.

der kleinſten Menge dieſes Gewürzes, ja ſogar das bloße Abſchälen eines Zweiges, wofern es nicht durch Regie— rungsbeamte oder auf deren Befehl geſchah, mit dem Tode beſtraft. Nachdem Ceylon dann 1798 engliſche Kolonie geworden war, wurde der Anbau und Verkauf des Zimmets Monopol der britiſchen Regierung, die letz— teres zwar 1833 aufhob, dafür jedoch eine ſehr hohe Ausfuhrſteuer einführte. Infolgedeſſen erfuhren die aus— wärtigen Zimmetplantagen eine bedeutende Vermehrung,

172 Ein wertvolles Gewürz.

und der Verbrauch der bedeutend billigeren Kaſſieſorten nahm gewaltig zu. Nach wie vor iſt aber jenes Eiland die vorwiegende Erzeugungsſtätte des echten Zimmets ge: blieben. | -

Der Ceylon: oder echte Zimmet ſtammt von dem cey: loniſchen Zimmetbaum (Cinnamomum ceylanicum), den man in neuerer Zeit auch nach anderen tropiſchen Ländern verpflanzt hat. Auf Java, in Indien, Weſtindien und Südamerika hat man ihn zu kultivieren geſucht, jedoch die Erfahrung machen müſſen, daß die Rinde nirgends der auf Ceylon gewonnenen an Feinheit und Würze gleich— kommt. Es wird deshalb von Intereſſe ſein, den Anbau des Baumes und die Zimmetgewinnung auf Ceylon ſelbſt genauer kennen zu lernen.

Man findet den Zimmetbaum, der wie ſchon er— wähnt zu den Lorbeerbäumen gehört, dort vorwiegend in der regenreichen ſüdweſtlichen Hälfte, wohin er ſchon früh gekommen ſein muß. Er liebt ſandigen Küſtenboden und eine feuchte Atmoſphäre und wird bei freiem Wachs— tum bis 9,8 Meter hoch, während man ihn in den Plan: tagen höchſtens 4 Meter hoch werden läßt; der glatte, blanke Stamm beſitzt dann etwa die Stärke unſerer Haſel⸗ ſtaude. Die Vermehrung geſchieht entweder durch Steck— linge oder Samen. Die Samenbeete müſſen gut um— gegraben und ſehr ſorgſam von Steinen und Unkraut beſreit werden. Es muß für künſtliche Bewäſſerung geſorgt ſein, auch empfiehlt es ſich, die ſprießenden Keime von naheſtehenden größeren Bäumen beſchatten zu laſſen. Zum Zwecke der Ausſaat, die im April vor ſich geht, nimmt man völlig ausgereifte Früchte, läßt ſie liegen, bis das äußere Fleiſch in Fäulnis übergeht, und befreit dann die Samenkörner davon durch Treten mit den Füßen und durch Waſchen. Man verpflanzt die Sämlinge mit den daran haftenden Erdballen und erhält dann nad)

Don Franz Weſtege. 173

zwei bis drei Jahren von ihnen den erſten Zimmetertrag; bei den aus Stecklingen gezogenen Sträuchern dagegen

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Das Abschneiden der Zimmetstangen.

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Jahren die erſte Ernte halten.

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174 Ein wertvolles Gewürz.

In jedem Jahre muß die Pflanzung drei: bis viermal ausgejätet werden; die Erde um die bis 3 Meter voneinander entfernt ſtehenden Sträucher wird dabei jedesmal gelockert und angehäufelt. Erfahrungsmäßig liefern die dünnen Zweige den feinſten Zimmet; man köpft deshalb die Sträucher, ähnlich wie bei uns die Korbweiden, damit der Stamm gezwungen wird, einen ganzen Buſch von Trieben zu bilden.

Die Ernte wird während der im Mai und November eintretenden Regenperioden gehalten. Zunächſt ſchneiden die Plantagenarbeiter mit einem ſichelartig gekrümmten Meſſer die Zweige ab. Man befreit dieſe dann von den Blättern und die Rinde oberflächlich von etwaigen Aus⸗ wüchſen und ſonſtigen Unregelmäßigkeiten, die unter dem Namen Zimmetſchnitzel (Chips) verkauft werden.

Hierauf wird die Rinde von den Zweigen geſchält und zu Bündeln zuſammengebunden, worauf man ſie ſo vier⸗ undzwanzig Stunden liegen läßt. Sie macht dann wäh⸗ rend dieſer Zeit eine Art von Gärung durch, welche die folgende Arbeit erleichtert. Es handelt ſich nämlich jetzt darum, die Außenſchichten der bitterlich zuſammenziehend ſchmeckenden Rinde wegzuſchaben. Der Arbeiter legt dabei jede einzelne Rinde auf eine runde, ſchrägſtehende Stange, welche oben in der Gabel eines in den Boden gerammten Pfahles ruht. Er hält ſie mit dem nackten linken Fuße darauf feſt, während er mit dem Schabmeſſer nur genau fo viel von der oberſten Rindenſchicht entfernt, als un: bedingt nötig iſt, wozu natürlich eine bedeutende Uebung gehört.

Man glättet nun die aus der reinen Baſtſchicht be— ſtehenden Rinden auf untergelegten Brettern und läßt ſie, nachdem man auf je eine breitere Rinde immer mehrere ſchmale gelegt, einige Stunden trocknen. Dabei rollen

ſie ſich von ſelbſt zuſammen, ſo daß ſie jetzt ineinander

Don Franz Weſtege. 175

ſteckend eine lange Röhre darſtellen, die man in etwa fußlange Stücke ſchneidet. Dieſe Stücke werden nun auf den eigentlichen Trockenplatz gebracht, wo man ſie erſt einen Tag ganz im Schatten ausbreitet, um ſie dann zum völligen Austrocknen auf beſonderen Gerüſten in die

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Ein Trockenplatz,

Sonne zu bringen. Die letzte Arbeit iſt das Verſchnüren und Verpacken des fertigen Zimmets zum Export; die Ballen (Fardelen) bekommen dabei ein Gewicht von je 40 Kilogramm.

Der auf dieſe Weiſe erhaltene Ceylonzimmet beſteht aus leicht zerbrechlichen Röhrchen von bräunlichgelber Farbe, feinem, aromatiſchem Geruch und ſüßlichem, zu— gleich aber etwas brennendem, gewürzhaftem Geſchmack. Die einzelnen Rinden haben etwa die Stärke eines Karten—

176 Ein wertvolles Gewürz.

blattes. Hauptbeſtandteil dieſes Gewürzes iſt ätheriſches Oel, ferner enthält es Zucker, Mannit, Gummi, Stärke und Gerbſäure. Den feinſten Zimmet liefern die dünnen Schoſſen der Spitzen; die unteren, ſtärkeren Zweige geben geringere Sorten, und der meiſt ordinäre Zimmet des Handels kommt gar nicht vom echten Zimmetbaum, ſon⸗ dern von der nahe verwandten, gleich zu beſprechenden Kaſſie.

Auf Ceylon ſelbſt ſind gegenwärtig über 19,000 Acker mit Zimmetbäumen bepflanzt, die an 25,000 Menſchen beſchäftigen und einen Jahresertrag liefern, deſſen Wert man auf 3 bis 4 Millionen Mark ſchätzt. Die ſchönſten Zimmetplantagen findet man in der Umgebung der Haupt: ſtadt Colombo, die auch zugleich den Zentralpunkt für den geſamten Zimmethandel bildet.

Wir kommen nun zu der zweiten, in den Handel ge— langenden Sorte Zimmet, der ſchon mehrfach genannten Zimmetkaſſie oder Zimmetkaſſia (Cinnamomum Cassia), auch chineſiſcher Zimmet geheißen, während die noch ge— ringeren Sorten meiſt als Holzkaſſie bezeichnet werden. Die erſteren ſtammen alle von einem in Südchina wie in Cochinchina heimiſchen Baume, Cinnamomum Cassia, der dort und auf den Sundainſeln gezogen wird. Die Kaſſia, welche genau ſo wie der Ceylonzimmet gewonnen wird, iſt dunkler als dieſer, faſt rötlichbraun, Geruch und Geſchmack ſind nicht ſo fein, und die einzelnen Rinden dicker. Zimmetkaſſie gelangt in Kiſten von etwa 30 Kilo— gramm hauptſächlich über Hamburg und New York in den Handel. China führte im Jahre 1893 aus: 34,329 Pikuls 60,17 Kilogramm). Das Kilogramm koſtet im Grok: handel gegenwärtig 1 Mark 20 Pfennig. Die dritte und geringſte Sorte, die Holzkaſſie (Cassia lignea), entſtammt einer verwilderten Form des ceyloniſchen Zimmetbaumes, der nach dem indiſchen Feſtlande gebracht wurde.

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Das Lerschnüren und Verpacken des Zimmets.

178 Ein wertvolles Gewürz.

Wir haben noch des ſogenannten weißen Zimmets Erwähnung zu thun, der aber kein echter Zimmet iſt, ſondern vielmehr die Rinde von Canella alba, eines auf den Antillen heimiſchen hohen Baumes aus der Familie der Kluſiaceen. Dieſer weiße Zimmet gelangt in Röhren oder riemenförmigen Stücken in den Handel, die auf der Außenſeite blaßrötlich, auf der inneren weiß ſind und einen allerdings zimmetähnlichen Geruch, ſowie einen bitterlichen, ſcharf aromatiſchen Geſchmack beſitzen. Dieſer Zimmet wurde früher als Gewürz verwendet, jetzt braucht man ihn nur noch in der Likörfabrikation.

Was die Verwendung des echten Zimmets betrifft, der bei den alten Iſraeliten als Beſtandteil des heiligen Salböles benutzt wurde, ſo dient er faſt ausſchließlich als Gewürz in der Küche, in Konditoreien, Parfümerien und zu Likören, ferner aber auch als Arzneimittel in Form von Tinkturen und Zimmetwaſſer. Dieſe Mittel wirken zunächſt auf die Verdauungsorgane, erregen Eßluſt und Magenwärme und bilden deshalb ein vortreffliches Ver⸗ dauungsmittel; außerdem wirkt der Zimmet flüchtig er⸗ regend auf die Unterleibsorgane und in großen Gaben auf den ganzen Organismus. Gegen Durchfall iſt das Kauen einer Stange Zimmet ein ſicheres und bei den meiſten Perſonen faſt augenblicklich wirkendes Mittel.

Die ebenfalls als Gewürz dienenden Zimmetblüten find die unreifen Früchte von Cinnamomum Tamala (Hinterindien und Malaiiſcher Archipel), nach anderen von Cinnamomum Loureirii (Cochinchina). Sie ſehen aus wie rundlich keilförmige, kleine Nägel und beſtehen aus einem pfefferkorngroßen dunkelbraunen Köpfchen mit einem dünnen Stil. Geruch und Geſchmack find zimmetartig; den wejent- lichen Beſtandteil dieſer noch vereinzelt in der Likörfabrikation benutzten Zimmetblüten (Preis im Großhandel 2 Mark 25 Pfennig für das Kilogramm) bildet ätheriſches Oel.

Don Franz Weſtege. 179

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Aus den gröberen Zimmetforten und aus den oben erwähnten Abfällen des feinen gewinnt man das haupt: ſächlich zu Parfümeriezwecken dienende Zimmetöl, von dem der Ceylonzimmet wie die Zimmetkaſſie etwa ein Prozent enthalten. Ein Kilogramm Zimmektkaſſiaöl koſtet 6 Mark, das gleiche Quantum Ceylonzimmetöl dagegen 65 Mark. Letzteres wird nicht auf Ceylon ſelbſt, ſondern erſt in Europa aus dem echten Ceylonzimmet deſtilliert, iſt rötlichgelb und dickflüſſig und beſitzt einen weſentlich feineren Geruch und lieblicheren, ſüßeren Geſchmack als das Kaſſiaöl, dem es jedoch in den chemiſchen Eigen: ſchaften gleicht.

Aus den reifen, ſchwarzblauen Beeren des Zimmet— baumes endlich gewinnt man durch Auskochen ein wohl— riechendes Oel, das beim Erkalten faſt wie Wachs wird und Kerzen von lieblichem Wohlgeruch liefert. Dieſe aro: matiſchen Kerzen durften ehemals auf Ceylon, bevor der Herrſcher des Königreiches Kandy von den Engländern beſiegt und abgeſetzt wurde, ganz allein an dem dortigen königlichen Höfe gebrannt werden.

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familie und Haus nach dem Neuen Bürgerlichen Gesetzbuch.

Von Lorenz Stüben.

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(Nachdruck verboten.) VII. Scheidung der Ehe.

leich den Vorſchriften über das eheliche Güterrecht tra:

ten am 1. Januar 1900 für die beſtehenden Ehen auch die Beſtimmungen des B. G. B. über die Eheſcheidung in Kraft. Doch kann die Scheidung einer Ehe aus einem vor dem 1. Januar 1900 liegenden Grunde nur dann erfolgen, wenn dieſer ſchon nach den bisherigen Landes— geſetzen ein Scheidungsgrund war.

Die Scheidung einer Ehe erfolgt wie bisher nach vor— aufgegangener Klage durch ein gerichtliches Urteil. Neben der Eheſcheidung kennt das B. G. B. noch die durch den Reichstag in dasſelbe eingefügte „Aufhebung der ehelichen Gemeinſchaft“. Dieſelben Gründe, welche einen Ehegatten zu einer Klage auf Eheſcheidung berechtigen, ſind auch für die Aufhebung der ehelichen Gemeinſchaft maßgebend.

Rückſichten auf das katholiſche kirchliche Eherecht, welches

die Ehe als ein Sakrament anſieht und ſie für unlöslich erklärt, haben dazu geführt, die thatſächlichen Wirkungen der Eheſcheidung auch bei ſolchen Eheleuten eintreten zu

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Don Lorenz Stüben. 181

laſſen, die aus religiöſen Bedenken eine völlige Scheidung nicht wollen.

Selbſtverſtändlich iſt, ſolange die Aufhebung der ehe: lichen Gemeinſchaft beſteht, die anderweitige Wiederver⸗ heiratung beider Teile ausgeſchloſſen. Die Eheleute können aber im Falle einer Ausſöhnung die Wiederherbeiführung einer gültigen Ehe zwiſchen ihnen ſehr leicht bewirken. Es bedarf nur der Wiederherſtellung der ehelichen Ge— meinſchaft. |

Nur eine Aenderung tritt nach Paragraph 1587 in dieſem Fall bezüglich der Güterverhältniſſe ein: die Ehe⸗ leute leben fortan in Gütertrennung.

Der beklagte Ehegatte kann jederzeit nach Erlaß des Urteils auf Aufhebung der ehelichen Gemeinſchaft die völlige Scheidung der Ehe beantragen; ſie muß alsdann anſtatt der zeitweiligen Trennung ausgeſprochen werden.

Dieſe Vorſchriften gelten nicht nur für Katholiken, ſondern für alle Deutſche.

Nach dem B. G. B. fol nur wegen eines Verſchuldens eines der Ehegatten oder beider eine Ehe geſchieden wer⸗ den, oder wenn einer von ihnen in Geiſteskrankheit ver⸗ fällt. Die Geiſteskrankheit gilt jedoch erft als Scheidungs⸗ grund, wenn ſie mindeſtens drei Jahre gedauert hat. Sie muß außerdem einen ſolchen Grad erreicht haben, daß die geiſtige Gemeinſchaft zwiſchen den Eheleuten aufgehoben, und die Ausſicht auf Wiederherſtellung des Erkrankten ausgeſchloſſen iſt.

Damit fallen verſchiedene in einzelnen deutſchen Staaten bisher anerkannte Eheſcheidungsgründe fort, wie zum Bei⸗ ſpiel die unüberwindliche Abneigung, die gegenſeitige Ein: willigung der Eheleute bei kinderloſer Ehe, die Verände⸗ rung der Religion des einen Ehegatten und anderes mehr.

Das B. G. B. führt als Gründe für die Eheſcheidung auf:

182 Familie u. Baus nach dem Neuen Bürgerl. Geſetzbuch.

Schwere Vergehen; Verbrechen gegen die Sittlichkeit (Paragraph 1565); Nachſtellung nach dem Leben (Tara: graph 1566); böswillige Verlaſſung (Paragraph 1567); Geiſteskrankheit (Paragraph 1569); ſchwere Verletzung der durch die Ehe begründeten Pflichten oder ehrloſes oder unſittliches Verhalten, wenn dadurch eine fo tiefe Ber: rüttung des ehelichen Verhältniſſes verſchuldet iſt, daß dem anderen Teil die Fortſetzung der Ehe nicht zugemutet werden kann; grobe Mißhandlung (Paragraph 1568).

Zu dieſen einzelnen Eheſcheidungsgründen iſt zu be⸗ merken:

Der Ehegatte, welcher der ſtrafbaren Handlung des anderen zugeſtimmt oder ſich der Teilnahme ſchuldig ge: macht hat, verliert das Recht, auf Scheidung zu klagen.

Die böswillige Verlaſſung wird vom B. G. B. genau ſeſtgeſtellt. Wir haben früher geſehen, daß die Eheleute einander zur ehelichen Lebensgemeinſchaft verpflichtet ſind, und daß es eine Klage auf Herſtellung der häuslichen Gemeinſchaft giebt, wenn einer der Ehegatten ſie wider⸗ rechtlich aufgegeben hat. Iſt ein Ehegatte rechtskräftig verurteilt worden, die eheliche Gemeinſchaft wiederherzu⸗ ſtellen, ſo muß die Frau noch ein Jahr warten, ob der Mann wieder zu ihr zurückkehrt oder ihr eine andere an⸗ gemeſſene Häuslichkeit bietet. Erft nach fruchtloſem Ab: lauf dieſes Jahres kann ſie die Scheidungsklage anſtellen.

Eine böswillige Verlaſſung liegt auch vor, wenn der Ehemann ſich ungerechtfertigterweiſe weigert, ſeine Frau wieder bei ſich aufzunehmen, nachdem er ſie fortgeſchickt hat. In einem ſolchen Fall muß die Frau den Beweis dafür erbringen, daß ſie in der Abſicht, bei dem Ehemann zu bleiben, um Aufnahme in die Ehewohnung erſucht hat, daß der Mann aber eine entgegenſtehende Erklärung ab: gegeben hat.

Die Vorſchriften des Paragraphen 1568 ſind äußerſt

Don Lorenz Stüben. 183

allgemein gehalten. Sie laſſen dem richterlichen Ermeſſen großen Spielraum. Der Wortlaut: „Schwere Verletzung der durch die Ehe begründeten Pflichten“ kann nach man⸗ herlei Richtung hin ausgelegt werden. Dieſe Geſetzes⸗ beſtimmung wird daher in viel größerem Umfange die Grundlage von Eheſcheidungen bieten, als es nach den bisherigen landesgeſetzlichen Vorſchriften, die etwas Aehn⸗ liches wollten, der Fall war. Dieſe waren genau um⸗ ſchrieben: Trunk, Verſchwendung, ſchimpfliches Gewerbe, Unverträglichkeit und Zankſucht, wenn dadurch das Leben oder die Geſundheit des unſchuldigen Teiles gefährdet wurde, entehrende Strafe u. ſ. w., während jetzt das Er⸗ meſſen des Richters mehr Spielraum hat, wenn er zu der Annahme gelangt, daß gerade in dem vorliegenden Fall die Verletzung der durch die Ehe begründeten Pflichten zu einer unheilbaren Zerrüttung des ehelichen Verhält⸗ niſſes geführt hat.

So wird die Klage auf Scheidung unter Umſtänden Erfolg haben, wenn der Mann ſich dem Laſter des Spiels hingiebt, ohne daß er gerade wie dies bisher erfordert wurde ſich durch häufige und große Verluſte außer ſtande ſetzt, ſeine Familie zu ernähren. Die bewieſene Thatſache, daß der Mann die Nächte in Spielhöllen ver⸗ bringt, und daß daher vorausſichtlich einmal der Zeitpunkt herankommen muß, wo er mittellos ſein wird, kann den Richter veranlaſſen, auf Wunſch der Frau die Ehe zu trennen. Bisher mußte in einem ſolchen Fall, wie auch bei vorliegender Trunkſucht, Arbeitsſcheu und ähnlichen Laſtern, das Gericht um Erlaß eines ſogenannten Beffe- rungsbefehls angegangen werden, und erſt wenn dieſer bei dem Schuldigen ohne Erfolg blieb, war die Klage möglich. Während bisher eine Strafe nur dann, wenn ſie entehrend war, alſo eine Zuchthausſtrafe oder min— deſtens eine mit Ehrverluſt verbundene längere Gefängnis:

184 Familie u. Haus nach dem Neuen Bürgerl. Geſetzbuch.

ſtrafe einen Grund zur Scheidungsklage gab, giebt das B. G. B. bei ehrloſem oder unſittlichem Verhalten eines Ehegatten dem anderen das Recht zur Scheidung, ohne daß notwendigerweiſe vorher eine gerichtliche Beſtrafung eingetreten ſein muß.

Grobe Mißhandlung gilt als ſchwere Verletzung der durch die Ehe begründeten Pflichten. Das iſt der Wort⸗ laut des Geſetzes. Aber es muß auch angenommen wer— den, daß wiederholte leichte Mißhandlungen, ja ſogar Beleidigungen und Beſchimpfungen den Grund zu einer Eheſcheidung abgeben können, falls die dadurch hervor: gerufenen Zerwürfniſſe zwiſchen den Eheleuten nach An: ſicht des Gerichtes vorausſichtlich nicht wieder beigelegt werden können.

Das Recht auf Scheidung erliſcht, mit Ausnahme des Falles der Geiſteskrankheit, durch Verzeihung (Para: graph 1570).

Mit der rechtskräftigen Eheſcheidung hört die Ver: waltung und Nutznießung des Vermögens der Frau ſeitens des Ehemannes auf. Er hat das eingebrachte Gut an die Frau herauszugeben und Rechnung über alles abzu: legen.

Das Urteil des Gerichts darüber, ob einer der beiden Eheleute oder beide ſchuld an der Eheſcheidung ſind, iſt von weſentlicher Bedeutung für die Betroffenen. Wenn zum Beiſpiel wegen Ehebruchs die Ehe getrennt iſt, ſo kann der nicht ſchuldige Teil innerhalb einer Ver— jährungsfriſt von drei Monaten Strafantrag ſtellen, und nach Paragraph 172 des Reichsſtrafgeſetzbuches wird der ſchuldige Ehegatte und ſein Mitſchuldiger mit einer Ge— fängnisſtrafe bis zu ſechs Monaten bedroht. Andererſeits hat die geſchiedene Frau, die nicht als ſchuldiger Teil er: klärt iſt, das Recht, ſich zu entſcheiden, ob ſie den Fami⸗ liennamen des Mannes behalten oder ihren Mädchen—

Don Lorenz Stüben. 185

namen wieder annehmen will. Frau Anna Nadler, ge: borene Fröhlich, kann ſich Frau Anna Nadler oder Frau Anna Fröhlich nennen. Wenn ſie früher ſchon einmal verheiratet war, kann ſie auch den Namen, den ſie in ihrer erſten Ehe führte, wählen. Der Mann hinwiederum kann der für ſchuldig erklärten Frau die Führung ſeines Namens unterſagen. Sie muß dann ihren Geburtsnamen führen.

Weitere Wirkungen der Eheſcheidung bezüglich der vermögensrechtlichen Beziehungen der geſchiedenen Eheleute erſehen wir aus folgendem Beiſpiel:

Ein junger Handwerksmeiſter lernt ein Mädchen kennen, das als Verkäuferin in einem dem ſeinen ähnlichen Ge— ſchäft thätig iſt, und heiratet ſie. Sie iſt im Beſitz eines Vermögens von 1000 Mark, er hat ſich bisher nichts er⸗ ſparen können. Mit Hilfe ihres Kapitals richtet das junge Paar einen Laden ein, in dem die Fabrikate des Mannes feilgehalten werden. Da beſondere Verabredungen über das zwiſchen den Eheleuten geltende Güterrecht nicht ge: troffen ſind, ſo tritt das geſetzliche Güterrecht, die Ver⸗ waltungsgemeinſchaft, ein. Die 1000 Mark der Ehefrau bleiben eingebrachtes Gut, wenn ſie das Geld auch dem Mann leiht, ihm in das Geſchäft giebt.

Das Geſchäft nimmt einen guten Aufſchwung, beſon⸗ ders durch das Geſchick der Frau, die das Verkaufsweſen vorzüglich leitet. Der ſich von Jahr zu Jahr ſteigernde Verdienſt fließt aber nicht den Eheleuten gemeinſam zu, ſondern nur dem Manne, weil nur das, was die Frau durch den Betrieb eines ſelbſtändigen Gewerbes oder durch ihre Arbeit für eigene Rechnung erwirbt, in ihr Bor: behaltsgut übergeht.

Nach zwanzig Jahren iſt das Ehepaar wohlhabend, das heißt nur der Mann, denn das eingebrachte Gut der Frau, die 1000 Mark, hat ſich höchſtens durch die Zinſen auf 2500 Mark vermehrt, dies aber auch nur dann, wenn

186 Familie u. Haus nach dem Neuen Bürgerl. Geſetzbuch.

der Ehemann die Zinſen nicht, wie es ſein gutes Recht iſt, für den Unterhalt der Familie verwendet hat.

Jetzt giebt der Meiſter ſeiner Frau einen Eheſcheidungs⸗ grund, vielleicht in der Abſicht, von ihr los zu kommen. Sie ſtellt die Scheidungsklage an. In dem Scheidungs: urteil wird der Mann für den allein ſchuldigen Teil er⸗ klärt.

Bei der Vermögensauseinanderſetzung muß er ſeiner geſchiedenen Frau das eingebrachte Gut, ſeien es nun 1000 Mark oder mit den Zinſen 2500 Mark, jedenfalls nicht mehr, herausgeben, und er iſt nach Paragraph 1537 verpflichtet, ihr einen ſtandesgemäßen Unterhalt zu ge⸗ währen, ſoweit ſie nicht aus den Einkünften ihres eigenen Vermögens denſelben beſtreiten oder ihn fih ſelbſt ver: dienen kann. Jedenfalls aber hat die geſchiedene Frau, auch wenn ſie nicht ſchuldig iſt, einen Anſpruch auf Kapitalabfindung nicht. Auch von dem durch ihre Mits arbeit verdienten Vermögen hat ſie nicht einen Pfennig zu beanſpruchen. Und wenn der frühere Ehegatte gar Kinder zu unterhalten hat oder eine neue Ehe eingeht, ſo beſchränkt ſich ſeine Verpflichtung bezüglich des ſtandes⸗ gemäßen Unterhalts auf das, was mit Rückſicht auf ſeine Vermögens⸗ und Erwerbsverhältniſſe der Billigkeit ent: ſpricht. Da bleibt, beſonders wenn der geſchiedene Ehe: mann infolge mangelnden Fleißes, Unglücksfalles, Rück⸗ ganges ſeines Gewerbes oder dergleichen ſich in ſeinen Verhältniſſen verſchlechtert, unter Umſtänden für die Frau ſehr wenig übrig.

Die allein für ſchuldig erklärte Frau hat dem ge— ſchiedenen Mann den ſtandesgemäßen Unterhalt ſo weit zu gewähren, als er außer ſtande iſt, ſich ſelbſt zu erhalten (Paragraph 1578). Die Unterhaltungspflicht erliſcht mit der Wiederverheiratung des Berechtigten (Paragraph 1581). Bei dem Tode des Verpflichteten müſſen ſeine Erben die

Don Lorenz Stüben. 187

Unterhaltungspflicht inſoweit übernehmen, daß ſie höchſtens die Hälfte der Einkünfte, die der Verpflichtete zur Zeit ſeines Todes aus feinem Vermögen hatte, für die aufzu: wendende Rente herzugeben haben.

Endlich kann der nicht ſchuldige Gatte von dem an⸗ deren alle Schenkungen, die er ihm während des Braut⸗ ſtandes oder während der Ehe gemacht, widerrufen.

An der elterlichen Gewalt über die Kinder und an der Unterhaltungspflicht gegen ſie wird durch die Ehe— ſcheidung nichts geändert. Der Vater behält das Recht zur Vertretung der Kinder auch dann, wenn er für den ſchuldigen Teil erklärt worden iſt; die Sorge für die Perſon des Kindes und damit die Erziehung ſteht dem nicht ſchuldigen Ehegatten zu. Sind beide Eltern für ſchuldig erklärt, ſo hat, wenn das Vormundſchaftsgericht nichts anderes beſtimmt, die Mutter die Töchter zu er⸗ ziehen, die Söhne aber nur bis zum ſiebenten Jahr. Mit dem Beginn dieſes Lebensalters hat der Vater die Sorge für die Perſon der Söhne. Die Unterhaltungspflicht aber, die Koſten der Erziehung haben beide Ehegatten zu tragen, und zwar fo, daß der, welcher das Kind in feiner Cr- ziehung hat, von dem anderen Teil einen angemeſſenen Beitrag zu den Koſten fordern kann, wenn dieſe nicht aus dem etwaigen Vermögen des Kindes entnommen werden können. Beide Eltern haben das Recht, mit dem Kinde zu verkehren. Bei Meinungsverſchiedenheiten hierüber, über die Zeit und Häufigkeit der Beſuche u. ſ. w., muß das Vormundſchaftsgericht die näheren Feſtſetzungen treffen. Endlich ſei noch bemerkt, daß die geſchiedenen Ehegatten ihres gegenſeitigen Erbrechtes verluſtig gehen.

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Die soziale Frage im Tierreich. Naturgeschichtliche Studie von Dr. O. Stein.

mit is Illustrationen. N (Nachdruck verboten.)

elche bedeutende Rolle der Geſelligkeitstrieb, das Be⸗

ſtreben, größere oder kleinere Genoſſenſchaften zu bil⸗ den, auch in der Tierwelt ſpielt, haben wir wiederholt an be: | zeichnenden Beiſpielen aus dem Reich der Säugetiere (vergl. i Jahrg. 1896, Bd. XIII, und 1898, Bd. VII), ſowie aus dem der Vögel (vergl. Jahrg. 1899, Bd. W nachgewieſen. | Auch unter den Kriechtieren, denen wir uns nun zunächſt | zuwenden, fehlt es durchaus nicht an Tieranſammlungen und Tiergeſellſchaften, allein dieſe haben bis auf geringe | Ausnahmen nichts oder doch nur ſehr wenig von einem bewußten Beiſammenleben an ſich. Durchweg haben wir in ihnen vielmehr Vereinigungen zu erblicken, die der Paarungs⸗ oder Nahrungstrieb bewirkt, oder die durch rein lokale Verhältniſſe, wenn nicht durch bloßen Zufall | herbeigeführt werden, und die ſich alsbald wieder auflöfen, wenn das urſächliche Moment zu wirken aufhört.

Die Kluft, welche die Kriechtiere von den Säugetieren und Vögeln ſcheidet, iſt ſchon außerordentlich groß. Sie | führen, entſprechend ihrer geringen Hirnmaſſe und ihrem unvollkommenen Blutumlaufe, im Vergleich zu jenen nur j ein halbes Leben, und ihre geiſtigen Fähigkeiten ſind über: | aus gering. In ein freundſchaftliches Verhältnis tritt

Don Dr. O. Stein. 189

das Kriechtier —— weder mitan: | i dern Gliedern ſeiner Klaſſe, noch mit an— deren Tieren überhaupt, und daher kann von ei: ner wirklichen Geſelligkeit unter dieſen tiefſtehenden Geſchöpfen nicht die Rede ſein. Von der Paarungszeit abgeſehen, denkt jedes einzelne die— ſer Tiere nur an ſich und handelt aus— ſchließlich für ſich, unbe— kümmert um die Neben— tiere: niemals tritt die Ge⸗ ſamtheit zum Schutze des einzelnen ein. —— Das finden wir beſtätigt, wenn wir die zu gewiſſen Zeiten jtattfindenden Vereinigungen von Fröſchen, Kröten,

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Krokodile auf ihren Ruheplätzen.

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Die ſoziale Frage im Tierreich.

Molchen, Eidechſen und Schlangen beobachten, und EUREN

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anders iſt es bei den großen Schildkröten, die ſich in Zn ee cn 3 Mengen an ge— eee "il wiſſen Eilanden

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zuſammenfinden, um dort ihre Eier | abzulegen. Auch die gruppenweiſe nebeneinander gelagerten Kro— kodile, Ga: viale und Kai: | mans, die fih auf Sandbänken in den Gewäſſern von Afrika, In⸗ | dien und Ame— rika zuſammen— | finden, laſſen wenig geſellige | Teilnahme ge ` wahren. Wohl aber halten fie | beſtimmte Lager: plätze hartnäckig feſt, wobei die jüngeren die | Lieblingsplätze der alten Tiere reſpektieren. cs heißt, daß ge— | wiſſe uralte Tiere

ſeit Generationen die gleichen Schlafplätze unverändert

innehaben,

auch folen diefe rieſigen Echſen bei An:

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Don Dr. ©. Stein. 191

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griffen auf ihre Beute einander wenigſtens zeitweilig unterſtützen. Die ſüdamerikaniſchen Kaimans treten wie die Schildkröten alljährlich größere Wanderungen an,

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\ indem fie ſich mit dem Steigen des Waſſers nach den landeinwärts überſchwemmten Sümpfen und Lachen, mit Beginn der trockenen Jahreszeit aber in die waſſerreicheren Flüſſe begeben. Am erſten laffen noch die Mauereidechſen, die ſüd—

192 Die ſoziale Frage im Tierreich.

amerikaniſchen Anolis, vielleicht auch noch einige andere Echſen, zumal ſolche, die ſich in der Nähe menſchlicher Anſiedelungen aufhalten, unter fih eine gewiſſe Geſellig⸗ keit gewähren, wenn ſie ſich ſpielend miteinander herum⸗ treiben. „Aus meinen langjährigen Beobachtungen der Eidechſen im Freien und in der Gefangenſchaft,“ verſichert Friedrich Knauer, „glaube ich wenigſtens behaupten zu dürfen, daß die echten Eidechſen, wenn ſie nicht ſchon ge⸗ ſellige Tiere ſind, doch nach und nach zu geſelligen Tieren erzogen werden können.“

Stehen nun die Fiſche ſchon in mancher Beziehung hinter den Kriechtieren nicht zurück, ſo ſind ſie ihnen in Bezug auf geſelliges Zuſammenleben ohne Frage ſogar überlegen. Wir finden nämlich unter ihnen zahlreiche, in innigem Verbande lebende Arten, die ſich gemeinſam gegen Angriffe verteidigen, gemeinſam der Jagd obliegen und ſo wirkliche Geſelligkeit verraten.

In gewaltigen Scharen findet ſich der amerikaniſche Blaufiſch an der Oſtküſte Amerikas ein, wo dieſe Fiſche, zumal gegen Anfang des Winters, in großen Geſellſchaften dem Hering nachjagen. „Den Lotſen des Hais“ nennen die Schiffer den Piloten, einen kleinen, ſilberglänzenden Fiſch. Genauere Beobachtungen haben eine derartige Be— ziehung zu der „Hyäne des Meeres“ nun zwar als Fabel nachgewieſen, wohl aber pflegt der Pilot in kleinen Trupps, und zwar meiſt in Geſellſchaft, oft viele Tage lang hinter den Schiffen herzuziehen, ohne Zweifel, um auf ins Waſſer geworfene Abfälle zu lauern. Der durch ſeinen ſägen— artig verlängerten und eine furchtbare Waffe bildenden Oberkiefer bekannte Schwertfiſch tritt beſonders gern in Geſellſchaft von Delphinen und Thunfiſchen auf.

Die letzteren erſcheinen im Frühjahr an den Küſten von Sizilien und Sardinien und des ſüdlichen Frants reich in gewaltigen, keilförmig geordneten Scharen, und

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Don Dr. ©. Stein. 193

Tauſende von Menſchen ſind dann mit ihrem Fange be— ſchäftigt. Der Stöcker, eine Makrelenart, tritt oft in

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ſolchen Maſſen ſeine Wanderung nach den weſteuropäiſchen Küſten an, daß das Meer tagelang von dieſen Fiſchen 1900. VIII. 13

Ein Trupp Baifische.

194 Die ſoziale Frage im Tierreich.

weithin wie überdeckt erſcheint. Sein Erſcheinen meldet

gleichzeitig die Heringszüge und die Schwärme der ge— meinen Makrele an.

l In dichten Scharen beiſammen, fo daß man fie fcheffel:

Töpferwespe.

beſonders anziehenden Stichlinge. Sehr geſellig ſind ferner die lebhaften Meeräſchen, die man von den Schiffen aus hoch über die Oberfläche des Meeres emporſpringen ſieht. Ein überaus intereſſantes Schauſpiel bieten die Scharen der fliegenden Fiſche, welche dem Seefahrer den Eintritt in die Tropenzone verkündigen, wenn ſie oft zu Hunderten, von Goldmakrelen und anderen Raubfiſchen

Bon Dr O. Stein 195

verfolgt, aus dem Waſſer in langem, flachem Fluge her— vorſchießen, bis ſie ermattet nach einer Strecke von 90 bis 180 Meter wieder in das gewohnte Element zurück— fallen.

Weit werden die bisher erwähnten Tiergeſellſchaften an Zahl von den ungeheuren Zügen der Schellfiſche über— troffen, die an den Küſten der kalten und gemäßigten

Exotischer Wespenbau.

Zone ſich derartig maſſenhaft einzuſtellen pflegen, daß bloß der Fang einer einzigen Art, des Kabeljaus, jahraus, jahrein Hunderttauſende von Menſchen in Anſpruch nimmt. Der ſonſt mehr zerſtreut ſeiner Nahrung nachgehende Hering aber rottet ſich zur Laichzeit zu ſo ungeheuren Mengen zuſammen, wie ſie bei keinen anderen Lebeweſen vorkom— men. Begleitet werden dieſe Züge von Heringshaien, Dorſchen, Dornhaien, Delphinen, die alle an der reichen Tafel ſchwelgen eine Fülle eng beiſammen gedrängten

196 Die ſoziale Frage im Tierreich.

Tierlebens, die uns die Produktionskraft der Natur im hellſten Lichte erſcheinen läßt. Nach beendetem Laichen verſchwinden die Heringe raſch wieder vom Schauplatz. Ein echter Wanderfiſch iſt der wohlſchmeckende Lachs, der zu den „beidlebigen“ Fiſchen gehört, die eine ſüße und eine ſalzige Saiſon haben. Im Frühjahr kommt der Lachs aus dem Meere in die Flüſſe und ſchwimmt dieſe in geordneten Scharen hinauf bis zu den raſch— ſtrömenden Quellgewäſſern. Keine Strömung, kein Waſſer— fall hält ſie auf, und ſie ſchnellen ſich im kräftigſten Sprunge ſelbſt über meterhohe Wehre und Blöcke hinweg. Nach dem Laichen treibt die Strömung die entkräfteten und abgemagerten Fiſche wieder dem Meere zu, wohin die Jungen allmählich den Eltern nachfolgen. In um— gekehrter Richtung wandern unſere Aale. Vom Mai bis in den Herbſt hinein begeben ſich die Weibchen in Scharen aus den Süßgewäſſern dem Meere zu, und im nächſten Frühjahr ſteigt dann die junge, 5 bis 9 Centimeter lange Brut, alle Hinderniſſe überwindend, in die Flüſſe, um darin jahrelang bis zu einer gewiſſen Stufe der Entwicke⸗ lung zu verharren. Sehr geſellig iſt auch der gemeine Hai, der in kleineren oder größeren Trupps hinter den Schiffen herſchwimmt und in ſeinem Gefolge ſtets noch andere Fiſche hat, wie oben bereits erwähnt wurde. Wenden wir uns bei unſerer Rundſchau nunmehr der Inſektenwelt zu, ſo begegnen wir dort faſt durchweg Tier— geſellſchaften engen Verbandes und innigen Zuſammen— hanges. Einige dieſer Genoſſenſchaften ſind ſchlechthin muſterhaft in ihrer Ordnung und zweckmäßigen Arbeits— teilung und mit ihrem einmütigen Zuſammenwirken der einzelnen für das Intereſſe des Ganzen. Sie haben die glückliche Löſung der ſozialen Frage gefunden und ſtellen den Tierverband in ſeiner denkbar vollendetſten Form dar. Die Inſekten, die für den Haushalt der Natur viel:

Don Dr. O. Stein, 197

leicht unentbehrlicher find als irgend ein anderes Tier: geſchlecht, bilden die oberſte Klaſſe der Gliederfüßler. Mit ihrer oft nur winzigen Größe und der ſtets nur ſehr kurzen Lebensdauer kontraſtiert eine ſtaunenswerte Mannig— faltigkeit der Bildungen und höchſt merkwürdiger Lebens— erſcheinungen. Die Hautflügler insbeſondere bilden Ver— bände, die als die geordnetſten und vollkommenſten im ganzen Tierreich bezeichnet werden dürfen; es ſind das

Exotischer Ameisenbau.

die geſelligen Vereine, die ſogenannten Tierſtaaten der Hummeln, Bienen, Weſpen, Ameiſen und Termiten. Die geſelligen Siedelungen der Hummeln und Weſpen ſind immer nur auf die Dauer eines einzigen Jahres be— rechnet, während ſie bei Bienen und Ameiſen mehrere Jahre dauern. Die unbeholfenen Hummeln, dieſe Bären unter den Kerfen, begnügen ſich mit ganz einfachen, ſchmuckloſen Bauten, einem Mausloch oder Maulwurfs— gang, wenn der Eingang nur recht verſteckt liegt. Die emſigen Weibchen tragen Moos, Laub und dergleichen Neſt— ſtoffe mehr ein, ſpeichern ohne erſt Brutzellen aufzu—

198 Die foziale Frage im Tierreich.

führen Honig und Blütenſtaub zu Häufchen gemengt auf und belegen jedes Häufchen mit Eiern. Sobald die ausgeſchlüpften Jungen zu fertigen Weibchen ausgewachſen ſind, helfen ſie den alten Weibchen Futter herbeiſchaffen. In einer Genoſſenſchaft von hundert Hummeln findet man etwa fünfundzwanzig Männchen und fünfzehn Weibchen, den Reſt bilden die Arbeiter. Die ganze Geſellſchaft geht

Goldafterbrutnest.

im Herbſt bis auf die im Auguſt erſcheinenden Weibchen zu Grunde; letztere allein überwintern und werden im Frühjahr die Stammmütter der nächſten Siedelung. In ſehr ſtarken Hummelgeſellſchaften iſt zuweilen ein ſoge— nannter Trompeter beobachtet worden, ein ſtundenlang mit den Flügeln ſchwirrendes und ſummendes Weibchen, deſſen eigentliche Aufgabe ſich noch nicht hat feſtſtellen laffen, da man die Hummelneſter nicht fo genau ſtudieren kann wie die Bienenſtöcke.

Don Dr. O. Stein. 199

Unter den Weſpen

bauen manche Arten, wie zum Beiſpiel die Papierweſpen und die Töpferweſpen, überaus künſtliche Woh- nungen, die bei den in größeren Geſellſchaften beiſammen lebenden ſtets mehrere Stockwerke umfaſſen. Die Weib: chen haben dieſe Bau— ten aufzuführen und die Jungen großzuziehen. Von manchen eroti: ſchen Weſpenar⸗ ten werden Neſter er— richtet, die bei einem Durchmeſſer von über 60 Centimeter eine ſehr große Anzahl von Zellenräumen aufzu— weiſen haben. Wenn aber der Winter heran— kommt, ſind alle dieſe Brutbaue verödet. Wie e, bei den Hummeln über⸗ů ⁵tñüpg A a U) dauern nur einige NEE e Stammmütter, in gu- ISAR W N a | ten Verſtecken geborgen, die rauhe Jahreszeit. Prozessionsspinner. Ueber das allgemein bekannte Geſellſchaftsleben unſerer Honigbienen brauchen wir wohl kein Wort zu verlieren; noch intereſſanter iſt das der Ameiſen, deren „Staats—

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200 Die foziale Frage im Tierreich.

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Turmhoher Mückenschwarm.

weſen“ aber auch ſchon unzäh— ligemal geſchildert worden iſt. Nicht nur in der Inſektenwelt, ſondern auch bei vielen höheren Tieren findet man keine ſo ſorg— ſame Brutpflege, keine ſo plan— mäßige Verteilung der Arbeit und keine ſolche Intelligenz, wie bei dieſen winzigen Weſen, deren Thun und Treiben

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Don Dr. O. Stein.

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Zug von Wanderheuschrecken.

Staunen und Bewunderung hervorruft. Auffallend maſſenhaft tre— ten zeitweilig gewiſſe Schmet— terlingsarten auf, ſo zum Beiſpiel die ſchädlichen Kohlweißlinge, häufiger und bekannter aber ſind die Maſſen— zuge der Schmet—

terlingsraupen, die wiederholt ſchon Eiſenbahnzüge zum Stehen gebracht haben. Betrachten wir das auf der

202 Die ſoziale Frage im Tierreich.

Rückſeite von Blättern zu findende Brutneſt des zu den Spinnern gehörigen Goldafters näher, ſo finden wir darin die Eier in Haare haufenweiſe übereinander

Termitenbau.

gepackt, die ſich das Weibchen mittels zweier Schuppen der Leibesſpitze aus ſeinem Hinterleibsknopfe rupft. Ende Juli, wohl auch ſpäter, kriechen Räupchen aus, die nun allmählich ein Neſt ſpinnen, das immer dichter gewebt

Don Dr. ©. Stein. 203

wird, je näher die rauhe Jahreszeit kommt. Dies find die großen winterlichen Raupenneſter, in denen die Raupen im nächſten Frühjahr wieder erwachen. Vor der Ueber— winterung häuten ſie ſich, Ende April erfolgt eine zweite Häutung und gegen Ende D Mai die dritte. Jetzt erſt A find die Raupen völlig aus: I 5 ee gewachſen, aus denen in 7 ei der erſten Hälfte des Juni eine ſchwarzbraune Puppe wird.

Noch viel verderblicher als der Goldafter, der den Obſtbäumen oft großen Schaden thut, ſind die Rau— pen des Prozeſſions— ſpinners, die gleich nach

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Westindische Landkrabben beim Erklimmen eines Erdhügels.

dem Ausſchlüpfen ein merkwürdiger Gemeinwille gleich den Bienen eines gemeinſamen Stockes beſeelt. Bei ge— ringerer Anzahl des Trupps, deſſen Größe von der Zahl der Eier abhängt, ziehen ſie eine hinter der anderen im Gänſemarſche, bei größerer in keilförmiger Anordnung,

204 Die ſoziale Frage im Tierreich.

eine voran, die nächſten Glieder paarweiſe, dann zu dreien, vieren u. ſ. w.; ſo führen ſie die wälderverwüſtenden Prozeſſionen aus, nach denen ſie benannt worden ſind. Zu erwähnen iſt ferner der ſogenannte Heerwurm, dem man allerlei abergläubiſche Erklärungen gegeben hat, wäh— rend er in Wirklichkeit nichts anderes ift als eine maffen- hafte Zuſammenrottung von Maden der Trauermücke.

Allbekannt find die tanzenden Mücken ſchwärme, in denen man die Hochzeitsflüge dieſer kleinen Zweiflügler zu erblicken hat. Mitunter erreichen ſolche Schwärme gegen 100 Meter Höhe, ſo daß ſie turmhohe Wolken bil— den. Nicht minder zahlreich find die Schwärme der fürchter— lichen Moskitos in den tropiſchen Regionen. Eine wahre Gottesgeißel für die von ihnen heimgeſuchten Gebiete bilden die Maſſenzüge der Wanderheuſchrecke, die überall, wo ſie einfallen, jede Spur von Pflanzenwuchs vernichten und oft ſo maſſenhaft auftreten, daß ihre Leichen ganze Strecken verpeſten.

In großen, ihrer Einteilung nach an den Ameiſenſtaat erinnernden Geſellſchaften leben die Termiten, tropiſche, ameiſenähnliche Kaukerfe, deren rieſige Bauten von den erſten Entdeckern anfangs für Negerhütten gehalten wur: den. Sie ſcheiden ſich in Männchen, Weibchen und Ge— ſchlechtsloſe (Arbeiter und Soldaten). Mit Flügeln ver⸗ ſehen ſind nur die beiden erſten Klaſſen, doch reichen dieſe dünnhäutigen Gewebe nur zu einem einmaligen Hochzeits— fluge aus und fallen dann ab. Da die flügellos ge— wordenen Männchen ſehr bald hinſterben, ſo bleibt als alleinige Trägerin der folgenden Generationen nur das unförmlich anſchwellende Weibchen übrig, deren jedes Termitenvolk nur ein auserwähltes hat, das als Königin gehegt wird. Die Soldaten und Arbeiter dagegen, ob— wohl ſämtlich blind und flügellos, ſind die ſtarken Werk⸗ meiſter und Verteidiger der großen gemeinſamen Wohn—

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206 Die foziale Frage im Tierreich.

ſtatt. Dieſe zuweilen mit ſchloßartigen Aufſätzen und Zinnen gekrönten Erdkegel zeigen in ihrem Inneren ſtets eine ſehr regelmäßige Anlage; Gänge und Galerien wech⸗ ſeln mit Höfen und Kammern, die faſt alle zu den im Mittelpunkte befindlichen Zellen der Königin und ihrer Brut führen. Als Bauſtoff dient irgend eine fette Erdart, die ſich, mit dem Speichel der Tiere befeuchtet, in einen geſchmeidigen Thon verwandelt, der ſich im N der Sonne raſch verhärtet.

Aus der Klaſſe der Krebstiere wollen wir die Qand- krabben anführen, die maſſenhaft in den Tropengegenden wohnen und alljährlich Wanderungen nach dem Meere hin unternehmen. Die weſtindiſche Landkrabbe verbringt die Zeit vom Auguſt bis zum Ende des Jahres in mit trockenem Laub ausgefütterten Höhlen. Im Februar ſcharen ſie ſich zuſammen und wandern in unterwegs immer mehr anſchwellenden Scharen dem Meere zu, um dort ihre Eier abzulegen. Dieſe Wanderungen werden bis zum April fortgeſetzt; im Mai und Juni treten ſie dann wieder die Rückreiſe an.

Höchſt intereſſante Tierſiedelungen ſtellen die Auſtern⸗ bänke dar. Auf feſtem Küſtengrunde, der gegen heftige Stürme geſichert iſt, lagern einzeln oder zu größeren und kleineren Klumpen vereinigt die Auſtern, um die ſich eine formenreiche Tierwelt drängt. Wir gewahren auf ihren unregelmäßigen Schalen Polypen, Röhrenwürmer und Bryozoen; ein kleiner Bohrſchwamm bohrt Löcher hinein; die Wellhornſchnecke und die Stachelſchnecke bohren die Auſtern an, und ein Seeſtern (Astera canthion) ſaugt ſie aus. Seeigel, Einſiedlerkrebſe, Krabben, Rochen und Plattfiſche umlagern die Bänke. Möbius fand auf einer einzigen Auſternſchale nicht weniger als 221 Tiere.

Zu immer niedrigeren Arten des Tierlebens abwärts ſteigend, wenden wir uns nunmehr den Cölenteraten zu,

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Korallenbank.

208 Die foziale Frage im Tierreich.

von denen manche dem Laien eher als eine farbenprächtige Pflanze, denn als lebendes Tier erſcheinen. Viele der korallenbildenden Polypen ſtellen ſogar ein Miſchweſen aus Pflanze, Stein und Tier dar. Aber auch bei den einſam lebenden und nackten iſt die Tiernatur ganz ver⸗ ſenkt in die Form der Pflanze. Zu Blumen, Sträuchern und Bäumen verzaubert, ſchaffen ſie den Meeresgrund in Wieſen und Wälder um. Unbeſchreiblich iſt die Farben⸗ pracht und der Tierreichtum, den eine Korallenbank gewahren läßt. Ihre Pracht zu ſchildern vermag, nach Häckel, der bei einem Beſuche der arabiſchen Küſte des Roten Meeres die dortigen Korallenriffe unterſuchte, keine Feder und kein Pinſel. „Ein Vergleich dieſer formen⸗ reichen und farbenglänzenden Meerſchaften mit den blumen⸗ reichſten Landſchaften giebt keine richtige Vorſtellung. Denn hier unten in der blauen Tiefe ift eigentlich alles mit bunten Blumen überhäuft, und alle dieſe zierlichen Blumen ſind lebendige Korallentiere. Die Oberfläche der größeren Korallenbänke, von 6 bis 8 Fuß Durchmeſſer, iſt mit Tauſenden von lieblichen Blumenſternen bedeckt. Auf den verzweigten Bäumen und Sträuchern ſitzt Blüte an Blüte. Die großen bunten Blumenkelche zu deren Füßen ſind ebenfalls Korallen. Ja, ſogar das bunte Moos, das die Zwiſchenräume zwiſchen den größeren Stöcken ausfüllt, zeigt fih bei genauerer Betrachtung aus Millionen win: ziger Korallentierchen gebildet. Und alle dieſe Blüten⸗ pracht übergießt die leuchtende arabiſche Sonne in dem kryſtallhellen Waſſer mit einem unſagbaren Glanze! In dieſen wunderbaren Korallengärten, welche die ſagenhafte Pracht der zauberiſchen Heſperidengärten übertreffen, mim: melt außerdem ein vielgeſtaltiges Tierleben der mannig— faltigſten Art. Metallglänzende Fiſche von den ſonder— barſten Formen und Farben ſpielen in Scharen um die Korallen, gleich den Kolibris, die um die Blumenkelche

Don Dr. O. Stein. 209

der Tropenpflanzen ſchweben. Noch viel mannigfaltiger und intereſſanter als die Fiſche ſind die wirbelloſen Tiere der verſchiedenſten Klaſſen, welche auf den Korallenbänken ihr Weſen treiben. Zierliche durchſichtige Krebſe aus der Garneelengruppe ſchnellen haufenweiſe vorüber, und bunte Krabben klettern zwiſchen den Korallenzweigen. Auch rote Seeſterne, violette Schlangenſterne und ſchwarze See: igel klettern in Menge auf den Aeſten der Korallenſträucher; der Scharen bunter Muſcheln und Schnecken nicht zu ge⸗ denken. Reizende Würmer mit bunten Kiemenfederbüſchen ſchauen aus ihren Röhren hervor. Da kommt auch ein Schwarm von Meduſen geſchwommen, und zu unſerer Ueberraſchung erkennen wir in der zierlichen Glocke eine alte Bekannte aus der Oſtſee und Nordſee, die Qualle.“

Durch Knoſpung und Sproſſung entſtehen bei den Korallpolypen aus zahlreichen, innig verbundenen Indi⸗ viduen zuſammengeſetzte Polypenſtöcke. In ihnen ſind die Einzeltiere in eine gemeinſchaftliche Maſſe eingebettet, ſämtlich miteinander kommunizierend, ſo daß die von jedem einzelnen erworbenen Nahrungsſäfte der Geſamtheit zu gute kommen. In dieſen Tierſtaaten begegnen wir alſo am Schluſſe unſerer Wanderung dem vollendetſten Kom: munismus bei völliger Gleichwertigkeit der Einzelweſen. Der Bau und das Leben der Polypen einzeln und in Stöcken iſt ſchon anziehend genug, aber diejenigen Formen unter ihnen, welche man als riffbauende Korallen bezeich⸗ net, haben ſich Denkmäler aufgerichtet, gegen die alle von Menſchenhänden erbauten Pyramiden in nichts verſchwin⸗ den. Sie führen uns in nachdrücklichſter Weiſe die un⸗ geheure Macht des Kleinen vor Augen, wenn es den Wahlſpruch: „Viribus unitis!“ (Mit vereinten Kräften!) verkörpert.

1900. VIII. 14

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Der Anlass des Krieges in Südafrika.

Aus den @oldgebieten Transvaals. Uon Georg Bellbrunn.

mit $ Illustrationen. t (Nachdruck verboten.)

Au Golde hängt, nach Golde drängt doch alles,“ dies

Dichterwort hat um die Zeit der Jahrhundertwende wieder einmal eine höchſt unerfreuliche Beſtätigung ge— funden. Als in London gegen den Freibeuter Jameſon und ſeine Genoſſen vor Gericht verhandelt wurde, ſprach ein Zeuge als Antwort auf die Frage, was wohl der Hauptgrund zu jenem völkerrechtswidrigen Einfall in das Gebiet der Sudafrikaniſchen Republik geweſen fei, bloß das eine Wort: „Gold!“ Und in der That iſt der Gold— reichtum des Transvaalgebietes ebenſo fraglos der eigent— liche Anlaß zu dem gegenwärtigen Kriege Englands gegen die Buren geweſen, wie vordem die Entdeckung der Dia— mantenfelder in der Gegend von Kimberley“) die mider: rechtliche Beſitznahme jenes Gebietes durch die Briten her: beiführte. |

Die ganze Geſchichte der Buren iſt bisher eine Kette langer und ſchwerer Leiden geweſen, die ſie durch die

*) Vergleiche den Aufſatz „Diamanten“ in Band VII.

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Don Georg Hellbrunn. | 211

Engländer zu erdulden hatten. Von ihnen verdrängt, unternahmen ſie 1836 den großen „Trek“ nach Natal; als auch dort England die Herrſchaft beanſpruchte, zogen fie weiter nach dem Oranjefreiſtaat, dann nach der Nieder: lage bei Bloemplaats nach Transvaal, nördlich vom Oranje—

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Der Majubaberg, wo die Engländer 1881 geschlagen wurden.

fluß. Als nun Ende der ſechziger Jahre die Diamanten: felder entdeckt, und Kimberley gegründet wurde, nahmen die Engländer 1871 unter nichtigem Vorwand auch dieſes Gebiet, aus dem bis heute für 1200 Millionen Mark Edelſteine gewonnen wurden, in Beſchlag und verleibten es als Weſtgriqualand der Kapkolonie ein. Die Frei— ſtaatburen wurden nachträglich mit einer kargen Entſchädi— gung abgefunden.

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212 Der Anlaß des Krieges in Südafrika.

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Nun wurde man auf den Burenſtaat im Transvaal aufmerkſam durch die Goldfunde, zuerſt am Tati, dann bei Lydenburg. Innere Wirren und unglückliche Kämpfe

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Nuſſell & Sons in London phet. Cecil Rhodes.

der Buren mit den benachbarten Kaffern boten England die Möglichkeit, ſich auch hier einzumiſchen und am 12. April 1877 Transvaal für eine engliſche Beſitzung zu erklären. 1880 kam es jedoch zu einem Aufſtand. Nachdem die Buren am 27. Februar 1881 die von den

Don Georg Hellbrunn. | 213

Engländern beſetzten Höhen des Ma jubaberges ge— ſtürmt und ihnen eine ſchwere Niederlage beigebracht hatten, wurde in dem am 4. Auguſt 1881 abgeſchloſſenen Vertrage von Pretoria zuerſt die ſelbſtändige Verwaltung unter engliſcher Oberhoheit, dagegen in dem Vertrag von Lon⸗ don (27. Februar 1884) die volle Selbſtändigkeit Trans⸗ vaals anerkannt, das fortan den Namen Südafrikaniſche Republik annahm; von Oberhoheit, wie engliſcherſeits nach⸗ träglich behauptet wurde, ſteht nichts in jenem Vertrage. Die Begehrlich⸗ keit Englands nach dem Gebiete der Re⸗ publik wurde von neuem rege, als ſich zeigte, daß Trans⸗ vaal thatſächlich das goldreichſte Land der Erde iſt. Man ſuchte den Buren nun | das Daſein nach Der Minenkönig Barnato. Möglichkeit zu er⸗ ſchweren, in der Hoffnung, daß ſie ſich dann ſchließlich freiwillig unter das Joch beugen würden. Dieſe Be⸗ mühungen verſtärkten ſich, ſeitdem die auf Rhodeſia ge⸗ ſetzten Hoffnungen ſich nicht erfüllten. Vier große Finanz⸗ gruppen ſuchten in der Südafrikaniſchen Republik mit Hilfe ihrer Millionen die Macht und die Geſetzgebung in ihre eigenen Hände zu bringen. Einmal die Rhodesſche Finanzgruppe, verſtärkt durch die mittels Gewinnzuwen⸗ dungen geköderten Mitglieder der höchſten engliſchen Ariſta⸗

214 Der Anlaß des Krieges in Südafrika.

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fratie, und die eng mit Cecil Rhodes, der den Plan eines britiſchen Weltreiches vom Kap bis zur Nilmündung verfolgt, verbundene Gruppe Wernher, Beit & Co. In dritter Linie kam die unter der Leitung des Minen⸗ königs Barnato ſtehende Gruppe und endlich die unter J. B. Robinſon. Als aber alle ihre Bemühungen auf geſetzlichem Wege nicht zum Ziele führen wollten, kam es 1896 zu dem Jameſonſchen, kläglich mißglückten Ein⸗ fall, der eine neue Demütigung für England bildete, da Jameſons Verbindungen erwieſenermaßen nicht bloß bis zu Chamberlain, ſondern noch viel höher hinaufreichten. Schließlich hat man dann die Südafrikaniſche Republik unter allerlei Vorwänden ſo lange gereizt und in die Enge getrieben, bis ſie ſich genötigt ſah, den Engländern den Krieg zu erklären, um ſich nicht ihnen wehrlos aus⸗ zuliefern. So hat denn das Gold im Verein mit der ſchon früher entſtandenen Diamanteninduſtrie allerdings die großartige wirtſchaftliche Entwickelung Südafrikas her: beigeführt, zugleich aber auch zu dem gegenwärtigen Kriege den Anlaß geboten.

In dieſer Vorausſicht haben die alten Buren, zumal die ſogenannten „Trekburen“, die noch immer die Vieh— zucht im Umherziehen ausüben, zur heißeren Jahreszeit mehr nach den Bergen hinaufgehen und zur kühleren in der Ebene bleiben, von jeher die Auffindung der Gold— felder als ein Unglück für ihr Land angeſehen. „Sie haben nicht unrecht,“ bemerkt ein genauer Kenner der Verhältniſſe in Transvaal, „ganz abgeſehen davon, daß es eben nur die Goldfunde ſind, die Englands Begehr— lichkeit reizen. Denn überall da, wo Goldfunde in

nennenswerter Menge gemacht wurden und infolgedeſſen

Goldſucher in größeren Mengen herzuſtrömten, fand eine Demoraliſierung der Bevölkerung ſtatt. Die Buren ſelbſt beteiligten ſich am Goldſuchen wenig; ihrem patriarchaliſchen

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Don Georg Hellbrunn. 215

Sinn war das Jagen und Haſten nach dem gelben Metall zuwider. Freilich konnten ſie nicht hindern, daß hie und da einer ihrer Sprößlinge, wenn er hörte, daß viele Gold—

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Der Markt in Barberton.

ſucher an einem Tag mehr einheimſten, als er in einem

Monat verdiente, in das Lager der Goldſucher ging, wo die ſtarken, ſehnigen Burſchen ſehr willkommen waren, um ſo mehr, als man ſich auf ihre Ehrlichkeit unbedingt ver—

laſſen konnte. Noch weniger konnten die Buren hindern,

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216 Der Anlaß des Krieges in Südafrika.

daß ihre ſchwarzen Gehilfen, die Kaffern, die von ihnen heute noch nur als Menſchen zweiter Klaſſe angeſehen werden, ihnen entliefen, um in den Goldminen zu ar- beiten. Das ſtimmte ſie gegen die Goldſucher, gegen die „Uitlanders“ (Ausländer) nicht milder. Dann kamen die Schwindeleien, durch Bankinſtitute, die von Uitlanders

Das erste Pager der Goldsucher auf der Stelle, wo sich jetzt die stadt Johannesburg erhebt.

gegründet worden waren, verübt, die das ganze Land in Verruf zu bringen drohten. Es wurden Nuggets (Gold— klumpen) eingegraben in Claims (Geländeanteile), die kein Atom Gold enthielten, und dieſe dann zu hohen Preiſen verkauft. Als das nicht mehr zog, gründete man Aktien— geſellſchaften auf ſchwindelhafter Baſis, die manchmal ſchon nach halbjährigem Beſtehen wieder zuſammenkrachten.“ Alles das war den Buren in hohem Grade verhaßt; allein es war eine unausbleibliche Folge von dem Goldfieber,

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Don Georg Hellbrunn. 217

das auf die Nachricht von den alles vorher Dageweſene überſteigenden Funden des gleißenden Edelmetalls in Transvaal folgte.

Bereits im Jahre 1854 hatte man Gold im Sande des Pokekkerivers gefunden, doch wurde diefe Entdeckung auf Wunſch der Regierung, die keine Fremden, zumal nicht die engliſchen Nachbarn ins Land gelockt wiſſen wollte, geheimgehalten, und das Suchen nach Gold ver— boten. 1858 ſtieß man von neuem auf Gold im Norden des Landes, und zwar waren es diesmal goldhaltige Quarzſtufen, die dann auch Fritſch 1866 auf ſeiner For⸗ ſchungsreiſe entdeckte. Karl Mauch fand 1867 auf ſeiner zweiten Reiſe im Matabeleland mit Hartley zuſammen goldhaltige Quarze am Tati, einem Nebenfluſſe des von Norden in den Limpopo fließenden Schaſcha. Ferner entdeckte Mauch im jetzigen Transvaalgebiet und im Ma: tabeleland an mehreren anderen Stellen Gold, darunter die Kaiſer Wilhelm⸗Goldfelder an dem bei Bonga in den unteren Sambeſi mündenden Jankombo.

Jetzt war das Verbot des Goldſuchens in Transvaal nicht länger aufrecht zu erhalten und wurde daher 1868 aufgehoben. In dieſem Jahre bildete ſich die Tati-Gold— feldergeſellſchaft in England unter dem Namen der „London and Limpopo Mining Co.“. Das Unternehmen ſcheiterte jedoch vollſtändig an den hohen Transportkoſten, und nicht beſſer erging es einer zweiten Geſellſchaft, welche die Gold— felder von Marabaſtadt in Zoutpansberg (Nordtransvaal) ausbeuten wollte. Von größerer Tragweite war die Auf— findung der Goldfelder bei Lydenburg in den Draken— bergen 1873, bei Pilgrims Reſt, Mac Mac und am Spitz⸗ kop, die von 1873 bis 1883 mit wechſelndem Erfolge ausgebeutet wurden.

Weitaus übertroffen wurden jedoch alle dieſe Funde durch die ſeit 1883 gemachten Entdeckungen. Zunächſt

218 Der Anlaß des Krieges in Südafrika.

fand man am Kaap, einem Nebenfluſſe des Krokodilfluſſes, an der nördlichen Grenze des Landes der Ama⸗Swaſi die nach dem Fluſſe benannten Kaapgoldfelder, auf denen alsbald die Stadt Barberton entſtand. Hierauf er⸗ wieſen ſich der ſeither weltbekannt gewordene Witwaters⸗ rand und das benachbarte Horge Veld nördlich von Potſchef⸗ ſtroom als würdige Nebenbuhler der Kaapgoldfelder. Die Regierung erließ Verfügungen zur geſetzlichen Grundlage eines geordneten Bergbaues, und am 20. September 1885 wurde der Plan zu einem neuen Stadtgebiete im Bereiche der Farmen am Rande abgegrenzt. Auf der Stelle, wo ſich damals die vereinzelten Zelte und Baracken der erſten Goldſucher erhoben, ift ſeither die „Goldſtadt“ Johannes: burg entſtanden, die jetzt den Mittelpunkt des Bergbau⸗ bezirkes bildet.

Im Jahre 1886 wurden die Goldlager am Sheba: riff bei Barberton entdeckt, und damit begann dann das afrikaniſche Goldfieber, die Gründungsperiode der meiſten Minen und die eigentliche Goldproduktion. Mit einem Schlage ſtrömten gegen zehntauſend weiße Anſiedler ins Land, und die Shebaaktien ſtiegen alsbald auf das Neunzigfache ihres Nennwertes.

Im Laufe von zehn Jahren wurde der Zuſtand eines ganzen, weiten Landes völlig umgewandelt und eine neue Kultur gleichſam aus dem Erdboden geſtampft. Ueber Nacht entſtanden Städte, und auf und bei den Minen wurden großartige induſtrielle Anlagen errichtet. Die primitiven Goldwäſchereien verſchwanden, und die erſten kleinen Pochmühlen machten rieſigen Bauten Platz. Zur Ausbeutung größerer Felder bildeten ſich Tapital: kräftige Aktiengeſellſchaften; denn der Betrieb, die Boh: rungen, die Förderung und die Aufbereitung erheiſchen Rieſenſummen. Die Schächte müſſen ſehr tief getrieben werden, der Quarz iſt hart, die Formation der Berge

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Don Georg Hellbrunn. 219

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wild und der Transport auf dem unebenen Gelände Schwierig und teuer. Die Ventilation und die Förderwerke verlangen die komplizierteſten modernen Maſchinerien, um

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Eingang in das Goldbergwerk am Shebariff bei Barberton.

das harte Geſtein zu zerflopfen und das Edelmetall dar: aus zu gewinnen. Vor dem Kriege war die Luft im ganzen Witwatersrandgebiet unausgeſetzt von einem ſau— ſenden, ſchnarrenden Geräuſch erfüllt, das dem Brauſen des Meeres glich und ſich kilometerweit in der Runde

220 Der Anlaß des Krieges in Südafrika.

ausdehnte. Es kam aus den zuletzt vielfach elektriſch betriebenen Pochmühlen, in denen Tauſende von Erz: ſtampfen mit neunzig Schlägen in der Minute auf und nieder gingen, von den Ventilen und Transmiſſionen, den rotierenden Keſſeln, worin man das geröſtete Erz chemiſch auslaugte, und aus den Turbinen, die endlich das reine Edelmetall in die Schmelztiegel blieſen.

Nach dem kurz vor dem Kriege erſchienenen Berichte des Staatsbergingenieurs J. Klimke in Johannesburg belief ſich das Aktienkapital der in Betrieb befindlichen 198 Gold— gruben im Jahre 1898 auf 1,455, 455,000 Mark. Der Wert der geſamten Goldausbeute betrug in jenem Jahre 233 Millionen Mark; verarbeitet wurden 5,741,311 Tonnen Erz. Man hat berechnet, daß allein das Mainriff, das reichſte Goldfeld auf dem Witwatersrand, noch vierzig Jahre lang ertragsfähig ſein wird und wahrſcheinlich noch einen Schatz von 7154 Millionen Mark in ſich birgt. Südafrika lieferte zuletzt mehr als den vierten Teil der geſamten Jahresproduktion der Erde an Gold. Die volks— wirtſchaftliche Störung, die der gegenwärtige Krieg her— vorruft, trifft daher einen empfindlichen Nerv des Verkehrs, nämlich die Zirkulationsmittel.

Meiſt beſitzt jedes Goldbergwerk im Transvaalgebiet zwei geneigte Schächte, die entweder vom Tage aus dem Einfallen des Flötzes folgen oder ſenkrecht abgeteuft ſind und dann das Flötz mit Querſchlägen erſchließen. Gebohrt wird entweder mit der Hand oder mit vom Tage aus durch Preßluft betriebenen Bohrmaſchinen; man ſprengt ausſchließlich mit Dynamit. Als Ingenieure, Chemiker oder Aufſeher ſind in den Minen Weiße thätig, während Schwarze, meiſt Kaffern und Zulus (Boys genannt), die ſchwere Arbeit verrichten. Das geförderte Geſtein gelangt in die Poch- oder Walzwerke, die es in Pulver- oder Sandform verwandeln.

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Don Georg Hellbrunn. | 221

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Zum Ausscheiden des Edelmetalls hat ſich in Südafrika das zuerſt angewendete Amalgamationsverfahren wenig bewährt, weshalb man faſt allgemein zu dem Cyanidver—

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Eine @oldwäscherei.

fahren oder dem Mac Arthur-Forreſt-Prozeß übergegangen iſt. Das in den Poch- oder Walzwerken zerkleinerte „Mahlgut“ wird zunächſt mit Waſſer oder verdünnter Natronlauge gewaſchen, hierauf je nach dem Goldgehalt t mit einer Cyankalium- oder Cyannatriumlöſung mehrere

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Stunden ausgelaugt und mit einer ſchwächeren Löſung. nachgewaſchen, worauf die Summe aller Laugen bis zu 75 Prozent des Rohſtoffs erreicht. Endlich entfernt man

pochmühle.

noch mit Waſſer den letzten Reſt der Löſung. Die Lauge wird durch Zinkſpäne gefällt, und der ſo erhaltene Gold— ſchlamm von dem beigemengten Zink mittels Salzſäure befreit, ſchließlich getrocknet und geſchmolzen. Günſtiger noch als die Zinkfällung geſtaltet fih die von Siemens &

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Don Georg Hellbrunn. 223

Halske erfundene Abſcheidung des Goldes auf elektro: lytiſchem Wege.

Trotzdem bei Ausbruch des Krieges die Regierung der Südafrikaniſchen Republik den Goldbergwerken, wie allen darin beſchäftigten engliſchen Minenbeamten und ⸗arbeitern ihren vollen Schutz zuſicherte und ſie mit allen Mitteln zu halten ſuchte, verließen ſie doch ſcharenweiſe die Gruben. Die engliſchen Minen ſtanden daher bald ſämtlich ſtill, während die unter deutſcher und franzöſiſcher Kontrolle ſtehenden Goldbergwerke in muſterhafter Weiſe weiter arbeiteten.

Es wurde daher zunächſt eine Minenpolizei organiſiert, um die Ordnung im Minenbezirk aufrecht zu erhalten. Dann nahm die Regierung den Betrieb der ſtill liegenden Gruben ſelbſt in die Hand, wodurch zahlreiche ausländiſche, nicht engliſche Arbeitsloſe Gelegenheit zu reichlichem Ber: dienſt erhielten.

Das weitere Schickſal der ſüdafrikaniſchen Goldinduſtrie wird natürlich von dem überall mit Spannung erwarteten Ausgange des Krieges abhängen.

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Wannigfaltiges.

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Die Auspfändung einer Königlichen Hoheit. Mr. Phelps war ein Schneider in London, der die Ehre hatte, für den Her: zog von York, einen jüngeren Bruder des Königs Georg IV. (1820 1830), zu arbeiten, eine Ehre, die ihm aber bald rechte Sorgen machte. Denn Seine Königliche Hoheit war ein ſehr ſaumſeliger Zahler und ſtak trotz ſeiner bedeutenden Einkünfte beſtändig ebenſo tief in Schulden wie ſein königlicher Bruder, für den zuweilen das Parlament, beſonders zu der Zeit, als er noch der luſtige Prinzregent war, große Summen bewilligen mußte, damit ſeine Gläubiger befriedigt werden konnten.

Der Schneider erhielt ungeachtet oft wiederholter ehrerbietiger Mahnungen kein Geld von dem Herzog und geriet nachgerade ſelbſt deshalb in Verlegenheit.

„Was jol man da thun?“ fragte er endlich einen Gerichts vollzieher.

„Auspfänden laſſen,“ antwortete dieſer.

„Bedenken Sie, mein Beſter, es handelt ſich in dieſem Falle um eine Königliche Hoheit!“

„Ganz einerlei! Nur das gekrönte Haupt ſelbſt iſt in Eng— land vor Auspfändung geſichert, ſein Bruder aber nicht.“

„Wollen Sie das in meinem Auftrag übernehmen?“

„Mit Vergnügen! Ich habe einen Kollegen, der gut fahren kann, den nehme ich zu Hilfe.“

„Warum das?“

„Weil ich die Equipage des Herzogs pfänden werde, und zwar in dem Augenblick, wenn er ausfahren will.“

Mannigfaltiges. 225

„Warum keine Pfändung in ſeinem Palaſte?“

„Weil das andere praktiſcher und einfacher iſt. Ich bin über⸗ zeugt, Sie werden innerhalb vierundzwanzig Stunden Ihr Geld erhalten.“

„Dann alſo nur zu! Wenn ich auch den hohen Kunden deshalb verlieren muß.“ l

„Oho, Nr. Phelps, es iſt durchaus nicht gefagt, daß Sie des Herzogs Kundſchaft deshalb verlieren werden.“

Ein gerichtlicher Pfändungsbefehl, beantragt von dem Schnei⸗ der Phelps, wurde ſchleunigſt beſchafft. Mit dieſem gejfempelten Papier verſehen, legte ſich der Gerichtsvollzieher mit einem Kollegen auf die Lauer vor dem Palaſte des Herzogs. Man wußte ungefähr die Zeit, wann er des Vormittags auszufahren pflegte. -

Bald fuhr der Wagen, beſpannt mit zwei herrlichen Pferden, vor das Portal. Der Kutſcher fap auf dem Bock, ein kleiner zierlicher Groom öffnete den Schlag.

In dieſem Augenblick trat der Gerichtsvollzieher herbei und ſprach: „Im Auftrage des Schuldgerichts pfände ich dieſe Kutſche und dieſe zwei Pferde ſamt allem Zubehör wegen einer beglau: bigten Forderung des Schneidermeiſters Phelps an Seine König— liche Hoheit den Herzog von Pork!“

Der Kutſcher ſtieg ſogleich vom Bock, ohne auch nur den geringſten Widerſtand dem Vertreter der geſetzlichen Autorität gegenüber zu verſuchen, nachdem er einen Blick auf den ihm offen vorgehaltenen Pfändungsbefehl geworfen hatte.

Der Gerichtsvollzieher ſtieg ein in den prächtigen Wagen, ſetzte ſich bequem zurecht und rief ſeinem Kollegen, der auf den Kutſcherſitz geklettert war, zu: „Zu Tatterſall!“

William Tatterſall in London, ein ausgezeichneter Geſchäfts⸗ mann, war damals Beſitzer einer großartigen Auktions- und Verkaufshalle für neue und gebrauchte Luxuswagen, ſowie für edle Pferde aller Art, ſowohl ſolche zum Reiten wie auch ſolche zum Fahren. Nach ihm haben alle die fogenannten „Tatter: ſalls“ in den großen Städten Europas den Namen erhalten.

Einige Minuten nachher erſchien der Herzog vor dem Portal ſeines Palaſtes.

1900. VIII. 15

226 Mannigfaltiges.

„Wo ift der Wagen?“ fragte er, indem er ſich erſtaunt um- ſchaute.

„Der iſt eben gepfändet, Königliche Hoheit,“ verſetzte zeſpert⸗ voll der Kutſcher. „Und auch die Pferde.“

„Was muß ich hören! Wer ſpielte mir den Poſſen?“

„Mr. Phelps, der Schneider.“

Der Herzog zeigte ſich keineswegs entrüſtet, er nahm die Sache von der komiſchen Seite und lachte darüber. Natürlich hatte er noch andere Wagen in ſeiner Remiſe und noch andere Pferde in ſeinem Marſtall. So wurde denn der augenblicklichen Verlegenheit raſch abgeholfen, und er machte ſeine beabſichtigte Ausfahrt.

Als er zurückgekehrt war, empfing er einen in ehrerbietigſter Form abgefaßten Brief des Inhalts: falls Seine Königliche Hoheit nicht innerhalb vierundzwanzig Stunden die Rechnung des Schneidermeiſters Phelps nebſt den bisher entſtandenen Koſten bezahle, würde die gepfändete Equipage nebſt den eben: falls gepfändeten zwei Pferden unverzüglich bei Tatterſall in öffentlicher Auktion zur Befriedigung der Forderung des Gläu— bigers verkauft werden.

Eiligſt brachte jetzt der Herzog die nötige Summe zuſammen und bezahlte die Rechnung nebſt den Koſten, worauf er den Wagen und die Pferde wieder erhielt. Auch nahm er dieſe energiſche Maßregel durchaus nicht übel, fand ſie vielmehr ganz ordnungsgemäß und blieb nach wie vor der Kunde des energiſchen Phelps.

Der Herzog von York ſtarb im Januar 1827 und hinterließ eine große Schuldenlaſt, die ſein Bruder, König Georg, zu der ſeinigen noch dazu übernahm. Eines Tages mußte fie das Parta: ment ja doch bezahlen. F. L.

Neue Erfindungen: I. Die Kaiſerin⸗Friſierlampe. Beim Gebrauch der bisher üblichen Friſierlampen kommen leider oft genug Unglücksfälle vor, wenn durch Zurſeiteſchlagen oder plötzliches Auflodern der Flamme Kleidungsſtücke, Gardinen u. ſ. w. Feuer fangen, oder indem die einen ſolchen Apparat benutzenden Perſonen Brandwunden erhalten. Dergleichen iſt völlig aus— geſchloſſen bei der neuerdings in den Handel gebrachten Kaiſerin—

Mannigfaltiges. 227

Friſierlampe, die zudem noch manche Vorteile vor den älteren Apparaten bietet. Ihre Konſtruktion (ſiehe die beiden Abbildungen a und b) iſt folgende: An dem Behälter für den Spiritus iſt der Mantel in ſolcher Höhe über den Brennern angebracht, daß die beiden Flammen während des Gebrauches ſich darunter frei entfalten und die unter dem Mantel eingelegte Brennſchere hin: reichend erwärmen, dagegen niemals zur Seite ſchlagen oder hoch auflodern können. Der Mantel ift innen mit Asbeſt be⸗ kleidet, ſo daß er äußerlich nicht zu heiß werden kann, während er andererſeits dadurch die Wärme mehr zuſammenhält und auf die Brennſchere beſſer konzentriert. Der zum Tragen der letzteren dienende Steg läßt fih auf: und abwärtsklappen, fo daß man

bie Kais erin-Frisierlampe: a. beim Gebrauch (Dorderfeite), b. außer Gebrauch (Rüdfeite).

jede, auch die umfangreichſte Brennſchere bequem auflegen kann. Eine zweite Stütze iſt überflüſſig, da die Schere vermöge ihres außen ſchwereren Gewichts mit der Spitze des Eiſens an dem Asbeſt anliegt. Durch das Fehlen äußerer Stützen iſt der Um: fang der Lampe gegen früher auf die Hälfte verkleinert. Dadurch, daß der Mantel, auf dem ein Griff zum bequemen Tragen an: gebracht, nach oben und unten beweglich iſt, wird es ermöglicht, nach dem Gebrauch durch bloßes Herunterſchieben des Mantels, deſſen Asbeſtfütterung die Lampe ſchließt, die Flammen der Brenner auszulöſchen. Ein außerdem vorhandener, mit Gummi gefütterter Deckel ſchließt mittels Schraube die Oeffnungen hermetiſch. Durch entſprechende Vorrichtungen läßt ſich der Mantel beliebig hoch oder niedrig feſthalten, auch kann er be⸗ hufs Reinigung der Brenner ganz abgenommen werden. Endlich

228 Mannigfaltiges.

iſt zur bequemen und gefahrloſen Füllung des Behälters mit Spiritus noch an dieſem eine durch eine Gewindekappe verſchließ⸗ barer Stutzen angebracht. Fr. R. II. Die Brille „Autokorrekt“. Zwar hat unſere ſo vollkommen entwickelte Induſtrie ſpeziell in den letzten Jahren manche praktiſche Neuerungen in Brillen- und Klemmerfaſſungen gezeitigt, doch immer noch war das Bedürfnis nach einer wirk⸗ lich praktiſchen Brille vorhanden, die, für den jeweiligen Ge: brauch entſprechend aufgeſetzt, ſtets leicht, aber feſt ſitzt, ſich jeder Naſenform anpaßt, und bei deren Gebrauch auch vor allem das ſchmerzhafte, läſtige Wundwerden des Naſenrückens vermieden wird. Da iſt es denn ſehr erfreulich, daß jetzt eine geſetzlich

Die Brille „Autokorrekt“.

geſchützte Brille auf den Markt gebracht wird, die alle oben er: wähnten Vorteile in ſich vereinigt. Dieſelbe ſitzt vermöge ihrer beweglichen, ſich jeder Naſenform anſchmiegenden Stege unter Einwirkung einer ſelbſtthätig wirkenden Spiralfeder auf den Seitenflächen der Naſe leicht, aber feſt, übt beim Tragen keinerlei Druck auf Nerven oder Blutgefäße der Naſe aus und vermeidet das bei gewöhnlichen Brillen oftmals vorkommende läſtige und ſchmerzhafte Wundwerden des Naſenrückens abſolut. Die Brille „Autokorrekt“ ſitzt ſtets an der richtigen Stelle feſt, auch beim Reiten, Turnen u. ſ. w., und kann, jedem Bedürfnis entſprechend, hoch oder niedrig geſetzt werden.

siebe und Eiferſucht. Eine in China heimiſche Enten: art, „Mandarinenente“ genannt, wird dort ſchon ſeit alten Zeiten als ein Sinnbild der ehelichen Treue angeſehen und daher bei Hochzeitsaufzügen ſtets mit im Zuge getragen.

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Mannigfaltiges. 229

Auf dem Geflügelhof eines Portugieſen auf Macao fpielte ſich einmal eine intereſſante Scene ab, die von einem Augen⸗ zeugen wie folgt berichtet wird. Von einem Mandarinenenten⸗ paar kam eines Abends das Männchen abhanden, was ſich das zurückgebliebene Weibchen ſo nahe gehen ließ, daß es wie in Gram verſunken in einer abgelegenen Ecke bewegungslos daſaß. Ein flotter Mandarinenenterich, welcher kurz zuvor ſein Weibchen durch den Tod verloren hatte, nahm die einſam Trauernde wahr; er begann alsbald ſein Prunkgefieder zu putzen, näher und näher zu rücken und ihr aufs zärtlichſte den Hof zu machen. Sie aber wies alle ſeine Bewerbungen kalt zurück und blieb ſtumm und abgeſchieden wie zuvor. Der Teich, wo ſie ſo gerne umherzu— ſchwimmen pflegte, alle Stellen, wo ſie bisher am liebſten ver⸗ weilt, blieben unbeſucht, und ihr Gefieder, früher ſtets ſpiegel⸗ blank, wurde bald ſtruppig und häßlich.

Nach Verlauf einer geraumen Zeit erlangte der Beſitzer das langvermißte Männchen wieder, das beim Anblicke des gewöhnten Geflügelhofes ſeine Freude durch heftige Flügelſchläge und laute Töne zu erkennen gab. Das Weibchen erkannte ſogleich ſeine Stimme, geriet vor Freude wie außer ſich und eilte mit aus⸗ gebreiteten Flügeln unter lautem Geſchnatter nach dem Ein⸗ gange. Als das Männchen aus dem Zuckerrohrkäfig, in welchem es zurückgebracht worden war, herausgelaſſen wurde, gab es eine wirklich rührende Scene des Wiederſehens. Sie legten die Hälſe kreuzweiſe übereinander, gingen ſogleich in den Teich und waren von dem Augenblicke an unzertrennlicher als zuvor. Das Weibchen muß aber im ſtande geweſen ſein, dem heimgekehrten Gatten die Werbungen, die ihm jener verwitwete Enterich hatte zu teil werden laſſen, kund zu thun, denn am folgenden Tage wurde das verwitwete Männchen von dem zurückgekehrten Ente: rich ſo heftig angegriffen und zugerichtet, daß es nach wenigen Tagen ſtarb. C. T.

Die letzte franzöſiſche Nationalflagge über Metz. Faft noch vier Jahre lang nach der Uebergabe der Stadt und Feſtung Metz im Jahre 1870 wehte die franzöſiſche Nationalflagge, die letzte, über der Stadt. Sie war auf der höchſten Turmſpitze der Kathedrale angebracht, und demjenigen, der ſie herunterholen

230 Mannigfaltiges.

würde, waren dafür hundert Thaler zugeſichert worden. Aber niemand wollte ſich zu dieſem Wagnis melden, denn es war lebensgefährlich, und der Steiger hatte, war er auf der Turm: ſpitze angelangt, über eine mehrere Fuß dicke Kugel zu klettern, um zu der Fahnenſtange zu gelangen. Endlich meldete ſich ein Pionier, ein Brandenburger, zu dem lebensgefährlichen Wage⸗ ſtück. Am 16. Juli 1874, kurz nach Mittag, marſchierte eine Truppenabteilung mit voller Muſik nach dem freien Platze vor der Kathedrale; inmitten dieſer Truppen ſchritt der Pionier, der, an Ort und Stelle angekommen, ſofort ſeine Arbeit begann, die mehrere Stunden währte. Die Ausführung der Arbeit ſelbſt wird folgendermaßen beſchrieben: „Zunächſt wurden von der Galerie aus, von welcher ſich die gotiſche Spitze erhebt, zwei Stangen in einem Abſtande von einem Fuß voneinander an den über der Spitze befindlichen großen Knopf gelegt. Mit Hilfe großer Nägel, die der Pionier in die Stangen einſchlug, ſtellte er fih eine Art Treppe her, auf deren Stufen er allmäh- lich höher und höher ſtieg. Auf der Höhe der großen Kugel angelangt, rutſchte der Tollkühne einmal aus. „Er fällt!“ tönte es aus dem Munde der nach Tauſenden zählenden Zu: ſchauer, welche dem gewagten Schauſpiele beiwohnten. Aber der Brandenburger fiel nicht, ſondern ſtieg unerſchrocken höher, bis er die Flaggenſtange erreicht hatte. Die blau-weiß⸗rote Flagge ſank, und an ihrer Stelle befeſtigte der Brave eine hinauf⸗ gezogene rieſige ſchwarz-weiß⸗rote Fahne. Der Pionier kletterte nun wieder hinunter, nachdem er noch die große Kugel möglichſt blank geputzt hatte. Dann erſchien er nach einer Zeit von vier Stunden wieder unten auf dem ſicheren Erdboden er hatte ſein Werk glücklich vollendet.“

Die Offiziere drückten dem tollkühnen Burſchen die Hände, und die Zuſchauer die deutſchgeſinnten wenigſtens grüßten ihn mit lautem Hurra; dann zogen die Truppen mit klingendem Spiel, wie fie gekommen waren, wieder ab. Der mutige Pio- nier hieß Karl Otto Bredenow und ſtammte aus der Nähe von Prenzlau. C. T.

Das ſchwächere Geſchlecht. Die im letzten Jahrzehnt ſo mächtig gewordene Frauenbewegung, die ihren Einfluß ſelbſt

Mannigfaltiges. 231

im ſozialen Leben der Frauen in der Türkei und in Japan kundgiebt, hat die landläufigen Anſichten über die Frauen in vielen Stücken geändert und dafür andere Meinungen als die richtigen aufgeſtellt. Gelehrte, Philoſophen, Aerzte, Pſychologen, Kriminaliſten, Moraliſten haben ſeit jeher bewieſen, daß die Frau ein ſchwächeres Geſchlecht darſtelle, in den letzten Jahren aber behaupten manche ruſſiſche, engliſche, deutſche und ameri: kaniſche Gelehrte, daß dies durchaus nicht wahr ſei, daß man überhaupt nicht von einem ſchwächeren oder ſtärkeren Geſchlecht ſprechen könne, daß vielmehr Mann und Weib gleich ſtark und der einzige Unterſchied zwiſchen ihnen der verſchiedene Dafeins: zweck ſei. Als Begründung wird folgendes aufgeführt.

Der Körperbau der Frau iſt zwar ein anderer als der des Mannes. Der Mann hat ſtärker entwickelte Muskeln, allein trotzdem iſt die Frau nicht körperlich ſchwächer als der Mann. Man gehe nur auf das Land und beobachte bei Feldarbeiten Männer und Frauen, und man wird finden, daß die Frau auch körperlich durchſchnittlich dasſelbe leiſten kann wie der Mann. Man beobachte die Frauen, welche Laſten tragen, wie gefüllte Marktkörbe, Körbe mit Wäſche, und man wird erſtaunen, welche Kraft fie entwickeln. Die in Schauſtellungen auftretenden Afro- batinnen, Red: und Hantelturnerinnen beweiſen, daß die Musku⸗ latur der Frauen durch Uebung derartig zu entwickeln iſt, daß ſie geradezu rieſenhafte Kräfte erreichen können. Bis vor kurzer Zeit gab man bei der Erziehung von jungen Mädchen leider aber gar nichts auf die Ausbildung der Körperkräfte. Selbſt das ſyſtematiſche Turnen iſt ſeit verhältnismäßig kurzer Zeit erſt für ſie eingeführt; erſt in jüngſter Zeit widmen ſich auch in Deutſch— land die jungen Mädchen dem kräftigenden Radſport, dem Spielen im Freien, wie Lawn-Tennis, Cricket und Croquet. Wenn man daher bis jetzt annahm, jede Frau ſei ohne weiteres körperlich ſchwächer als der Mann, ſo hatte das nur deshalb einige Berechtigung, weil der Frau bei der Erziehung jede Mög— lichkeit, ihre Körperkräfte zu ſtählen und zu vermehren, genommen wurde. In Zukunft wird aber dies nicht mehr der Fall ſein.

Vergleichen wir alle dieſe Momente, denken wir daran, daß es auch unter den Männern recht ſchwächliche Individuen giebt,

232: + Mannigfaltiges.

ſo muß ſich uns die Ueberzeugung aufdrängen, daß im allgemeinen auch die Frau phyſiſch nicht ſchwächer iſt als der Mann.

Wie ſteht es nun auf dem pſychiſchen, dem ſeeliſchen Ge⸗ biete? Die Frau iſt nicht ſo mutig wie der Mann, ſagt man und fügt gewöhnlich hinzu: Das ſoll kein Vorwurf für die Frau fein, denn die Frau tft eben nicht zum Kampfe geſchaffen, fon: dern zum Leiden, Dulden und Ertragen.

Auch dieſer Schlußſatz iſt falſch. Die Frau iſt nicht bloß zum Leiden, Dulden und Ertragen geſchaffen, ſondern hat dieſelben Rechte an das Leben wie der Mann. Die heutigen Frauen denken aber auch gar nicht daran, nur zu leiden, zu dulden und zu ertragen, und an Mut fehlt es ihnen auch nicht. Wenn es ſich darum handelt, in gewichtigen Augenblicken dem Tod ins Auge zu ſehen, ſo haben Frauen faſt ausnahmslos in geſchichtlichen Momenten ebenſoviel Mut gezeigt als der Mann. Gewiß giebt es feige Frauen, aber ebenſo feige Männer. Die Aerzte wiſſen, daß Frauen ſelbſt den ſchwerſten Operationen mit viel mehr Mut entgegengehen als die Männer, daß überhaupt Frauen im Ertragen von Schmerzen nicht nur bei Operationen, ſondern auch bei langwierigen Krankheiten viel mutiger und geduldiger ſind als Männer. So viel ſteht feſt, der Mann iſt viel weh⸗ leidiger als die Frau. Schon ein verhältnismäßig geringes Unwohlſein wirft den Mann darnieder, während eine Frau, die Gattin und Mutter iſt, ihre Pflicht gegen die Familienmitglieder meiſt noch erfüllt, wenn ſie ſchon von einem ſtarken Unwohlſein, ja man kann ſagen, von einer Krankheit gepackt und geſchüttelt iſt. Ebenſo iſt die Willenskraft der Frau gerade ſo groß als die des Mannes, oft andauernder und zäher. Was ſich eine Frau einmal vorgenommen hat, führt ſie auch durch, und zwar mit einer alle Schwierigkeiten verachtenden Ausdauer. Der Mann iſt viel leichter geneigt, angefangene Sachen wieder aufzugeben, er iſt in den meiſten Fällen abgeſchreckt, wenn er ſchon im Anfang der Ausführung eines Planes auf Hinderniſſe ſtößt. Die Frau iſt zähe in ihrem Willen und läßt nicht nach; ſie überwindet Hinderniſſe auf Hinderniſſe, bis ſie an das Ziel gelangt. Des⸗ halb ſind auch Frauen im Unglück ſtandhafter und feſter als der Mann, und einen unerſchütterlichen Beweis für dieſe Be⸗

Mannigfaltiges. 233

hauptung liefert uns die Selbſtmordſtatiſtik. Dreimal ſo viel Männer als Frauen nehmen ſich in ſchwierigen Lagen des Da⸗ ſeins das Leben, weil die Frau immer noch Mut hat, wo der Mann längſt verzweifelt.

Daß der Wille der Frau ſtärker iſt als der des Mannes, das beweiſen die Hunderttauſende von Ehen, in denen der Mann ſich in den meiſten Dingen dem Willen der Frau unterordnet, weil ſein Wille der ſchwächere iſt. Gewiß, es giebt auch willens⸗ ſchwache Frauen, aber weit weniger als willensſchwache Männer, und wenn ſelbſt zwei ſehr willensſtarke Charaktere in der Ehe zuſammenkommen und es jahrelange Kämpfe giebt, bis eine Einigkeit zu ſtande kommt, bis fidh die divergierenden Kräfte in den beiden Charakteren ausgeglichen haben, ſo iſt in dieſen Kämpfen in neun unter zehn Fällen die Frau der Sieger. Sie ſetzt ihren Willen durch, ſie zwingt den Willen des Mannes unter den ihren. |

Der hervorragende Gelehrte und Pſychologe Profeſſor Hans Groß ſagt: „Es iſt gewiß nicht richtig, wenn wir behaupten hören, die Schwäche der Frauen läge in ihrem Willen. Ganz anders aber in allen Fragen des Verſtandes. Handelt es ſich darum, jemand zu überreden, ſo finden wir beim normal or⸗ ganiſierten Manne, daß dies nur dann möglich iſt, wenn man ihm mit einer logiſch zuſammengeſtellten Reihe von Gründen kommen kann. Logik beſitzt der Verſtand der Frau nicht, ja wir würden das, was wir als echte Weiblichkeit an der Frau verehren, entſchieden vermiſſen, wenn ſie wirkliche Logik hätte. Weil ſie ihrer aber entbehrt, iſt ſie mit Scheingründen, mit Beiläufigem und Glänzendem zu überreden, wenn es nur den Schein eines Beweiſes hat. Wir finden, daß fie zu leicht nad: giebt, und ſchieben es auf Schwäche des Willens, obgleich es nur eine andere Konſtruktion des Verſtandes iſt. Ganz ſo macht es die Frau, wenn ſie ſelbſt überlegt. Ein Schlagwort, ein blinken⸗ der Satz, eine beruhigende Ueberredung genügt ihr ſtatt eines ganzen Bandes von Gründen, und ſo kommt ſie zu Handlungen, die wir abermals als Schwäche bezeichnen.“ |

Darauf kann man erwidern: Ja, thun denn das die Männer nicht auch? Man gehe doch einmal in eine politiſche Ver⸗

234 Mannigfaltiges.

ſammlung, um zu fehen, wie ein Redner mit ein paar geſchickt verwendeten Schlagworten eine ganze hundertköpfige Maſſe fort⸗ reißt, und wie die fortwährende Wiederholung dieſer Schlag⸗ worte, die vielleicht grundfalſch ſind, genügt, um alles andere totzuſchlagen. Gegen dieſe Schlagworte kommen alle Redner nicht auf, die mit gewichtigen und logiſchen Gründen dagegen ankämpfen. Auch die Männer ſind Scheingründen, Schlagworten und blinkenden Sätzen ſehr leicht zugänglich, und zwar um ſo mehr, wenn ihr Temperament fie dazu veranlagt. Ein ſangui⸗ niſcher Mann iſt immer Scheingründen zugänglich, und unter den Männern find die ſtrengen Logiker im Denken und Han: deln, ſoweit das tägliche Leben in Betracht kommt, doch auch nur die tieferen Denker unter den Gelehrten. Hunderttauſende von Männern, denen nicht eine hohe Geiſtesbildung zu teil wurde, ſind ebenſowenig Logiker wie die Frauen, und umgekehrt: eine hochgebildete Frau, deren Denken wiſſenſchaftlich geſchult wurde, iſt Schlagworten, Scheingründen und blinkenden Sätzen ſehr wenig zugänglich.

Der oben citierte Gelehrte hat aber noch einen anderen Be: weis für die Verſtandesſchwäche der Frau. Er ſagt: „Zur Willens⸗ ſchwäche der Frau rechnet man gewöhnlich auch ihre Geſchwätzig⸗ keit, die ſie kein Geheimnis bewahren läßt, und doch iſt es auch wiederum nur die andere Bauart ihres Verſtandes, die da wirkt. Dies beweiſt ſchon die von Kant umſtändlich auseinander⸗ geſetzte Thatſache, daß Frauen ſehr wohl die eigenen, aber nie die fremden Geheimniſſe wahren können. Wäre dies nicht im Verſtande gelegen, ſo würden ſie den Schaden, den ſie an— richten, zu ermeſſen vermögen. Jeder von uns weiß, und die Geſchichte großer Prozeſſe lehrt es immer wieder, daß die be: gangene That, ſogar der Plan zu derſelben in den meiſten Fällen von Frauen ausgeplaudert wird. Am beſten können uns in dieſer Richtung geſchickte und erfahrene Geheimpoliziſten unter⸗ richten, die fich zur Eruierung wichtiger Thatſachen ausnahmslos an Frauen, und ſelten ohne Erfolg, wenden.“

Auch auf dieſen Vorwurf iſt zu erwidern, daß die Behauptung allgemein nicht gültig iſt. Es giebt ſehr wohl Frauen, die Ge⸗ heimniſſe auf das ſorgfältigſte bewahren können. Geſchwätzige

Mannigfaltiges. 235

Frauen ſind meiſt ungebildete Frauen, denen die nötige Schulung des Geiſtes fehlt. Und giebt es nicht auch geſchwätzige Männer? Wird nicht an allen Stammtiſchen ebenſo geklatſcht als in den Kaffeekränzchen? Verraten nicht Männer ebenſo Geheimniſſe wie die Frauen? Jedermann kann eine Probe darauf machen und ein Geheimnis, an deſſen Bewahrung nicht allzuviel gelegen iſt, einer gleich großen Anzahl Männer und Frauen anver: trauen. Er wird dann herausfinden, daß Männer und Frauen durchaus gleichmäßig diskret oder indiskret ſind. |

Selbſt den Umſtand, daß das Gehirn der Weiber kleiner und geringer an Gewicht iſt als das der Männer, hat man den Frauen zum Vorwurf gemacht und behauptet, die Natur habe den Frauen überhaupt die Fähigkeit verſagt, geiſtig dasſelbe zu leiſten wie die Männer. Die letzten Jahre, in denen Frauen auf ſo vielen Gebieten geiſtiger Thätigkeit Hervorragendes ge⸗ leiſtet haben, machen auch die Schlußfolgerungen, die aus dem kleinen und leichten Gehirn der Frauen gezogen worden ſind, hinfällig. Die Frau ſtellt eben nicht ein ſchwächeres Geſchlecht dar, ſondern ift dem Manne phyſiſch, geiſtig und moraliſch eben⸗ bürtig. O. K.

Ein verhängnisvolles Gefhenk. Joao de Barros (1496 bis 1570) erwarb ſich in ſeinem Vaterlande Portugal hohen Ruhm als Dichter und Hiſtoriker. Sein Hauptwerk iſt eine vor⸗ treffliche Geſchichte der portugieſiſchen Entdeckungen und Nieder⸗ laſſungen in Indien.

Als König Joao III. den erſten Band dieſes großen Werkes geleſen hatte, war er von demſelben fo entzückt, daß er beſchloß, den ausgezeichneten Gelehrten dafür königlich zu belohnen. Seine Räte, als er mit ihnen darüber ſprach, meinten, ein hübſches Landgut in Portugal dürfte ein ganz paſſendes Geſchenk ſein, doch der König war anderer Anſicht; er hielt ein derartiges Ge— ſchenk nicht für anſehnlich genug. Deshalb ſchenkte er Barros eine ganze Provinz, nämlich die damals ſogenannte Kapitanerie Maranhao in Braſilien. Gewiß ein wahrhaft königliches Ge— ſchenk! Denn dieſe braſilianiſche Provinz war ungefähr drei— bis viermal ſo groß wie ganz Portugal.

Die großen Urwälder enthielten wertvolle Nutzhölzer, und ſonſt

236 Mannigfaltiges. bot das fruchtbare Land viele Naturſchätze aller Art. Nur war zur Zeit die Ausbeutung dieſer Schätze leider ſchwierig, ja faſt unmöglich, denn das Land war noch im Beſitze der wilden Ein⸗ geborenen, grauſamer Kannibalen. Barros aber und ſeine Söhne wollten jedenfalls einen Koloniſationsverſuch wagen. Er ſelbſt ſteckte ſein ganzes Vermögen in die Unternehmung, rüſtete mit ſeinen Söhnen zehn kleine Schiffe aus und ſegelte mit einigen hundert Koloniſten nach Braſilien. Nahe an ihrem Reiſeziele fielen ſie einem ſchrecklichen Sturme zum Opfer; ſie erlitten Schiff— bruch an der Küſte, und nur wenige, die dem Wellengrabe ent⸗ ronnen waren, vermochten nach Portugal zurückzukehren. Die Unternehmung war alſo geſcheitert, und Barros dadurch gänzlich zu Grunde gerichtet. Er verzichtete nunmehr ganz auf die Schenkung und zog ſich in die Einſamkeit zurück, um ſein großes Geſchichtswerk zu vollenden. In Armut und Dürftigkeit ſtarb dieſer vortreffliche Gelehrte, deſſen Werk noch heute geſchätzt wird. F. L. Burenpaar auf der Hochzeitsreiſe. Eine intime Scene aus dem Leben der Buren wird unſere Leſer jetzt, wo dieſe tapferen ſüdafrikaniſchen Bauern die allgemeine Bewunderung und Teilnahme erregen, gewiß beſonders intereſſieren. Alles hat bei dieſen Leuten noch einen eigenartigen Anſtrich, beſonders das Freien und Heiraten. Will der junge Bur ſich eine Frau ſuchen, ſo reitet er bei den oft Tagereiſen weit entfernten Nach⸗ barn herum, um fih die Töchter des Landes anzuſchauen. Ge: fällt ihm eine, und iſt er den Eltern als Freier nicht un⸗ angenehm, ſo erbittet er ſich die Erlaubnis, mit ſeiner Aus⸗ erwählten „opsitten“ zu dürfen, das heißt allein Rückſprache zu nehmen. Wird die Erlaubnis erteilt, ſo erhält er ein Stück Licht, an deſſen Länge er ermeſſen kann, in welchem Grade er den Eltern als Schwiegerſohn willkommen iſt, denn wenn das Licht abgebrannt iſt, muß er der Sitte nach fortgehen. Daß junge Leute, die aneinander Gefallen haben und denen das Stümpfchen zu kurz iſt, es manchmal ausblaſen, um die Zeit des Zuſammen⸗ feing zu verlängern, wird von Kennern des Landes ernſtlich be: hauptet. Sobald die Ausſteuer fertig, und das neue Heim zur Aufnahme der jungen Frau bereit iſt, folgt der Verlobung raſch

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Manniafaltiges. 237

die Hochzeit. Dann kommt der Bräutigam und die ganze beider⸗ ſeitige Verwandtſchaft mit ihren Ochſenwagen, die mit Segeltuch überſpannt und gleich einem kleinen Hauſe mit Betten, Mund⸗ vorräten u. ſ. w. verſehen ſind, auf dem Gute des Brautvaters zuſammen, wo nach der Trauung das Hochzeitsmahl. ſtattfindet.

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Burenpaar auf der Hochzeitsreise.

Dann fegt der Bur fein junges Weib zu fih in den Wagen, die Kaffernknechte treiben das Vieh, das die Braut als Mitgift bekommt, hinterdrein, und fort geht es zur neuen Heimat, die meiſt, da man nur ſehr langſam mit den ſchwerfälligen Fuhr⸗ werken fortkommt, erſt in mehreren Tagen, oft erſt in Wochen erreicht wird. Das iſt die Hochzeitsreiſe jungvermählter Buren,

238 Mannigfaltiges.

eine andere kennen ſie nicht. Unſer Bild, nach einer an Ort und Stelle aufgenommenen Photographie, zeigt uns ſolch ein eben getrautes Burenpaar, das von der holländiſchen Reform⸗ kirche in Barberton, De Kaap Valley, nun den langen „trek“ nach der fernen Heimat antritt. F. Z. Die letzte Nroklamation, die Napoleon I. erließ, hat ihre Adreſſe nie erreicht. Sie fand ſich vor in dem kaiſerlichen Wagen, den die Schützen des 15. und des 25. Regiments am Abend der Schlacht von Waterloo erbeuteten, war in Paris ge: druckt und ſollte, wie das Datum zeigte, dann verteilt werden, wenn Napoleon im „kaiſerlichen“ Palais Laeken bei Brüſſel angelangt war. Sie lautete wie folgt: „An die Belgier und die Bewohner des linken Rheinufers! Der vorübergehende Er⸗ folg meiner Feinde hat mich auf kurze Zeit von meinem Reiche losgeriſſen. In meiner Verbannung auf einem Felſen im Meer habe ich eure Klagen vernommen. Der Gott der Schlachten hat über das Schickſal eurer ſchönen Provinzen entſchieden. Napoleon iſt unter euch! Ihr ſeid würdig, Franzoſen zu ſein! Erhebt euch in Maſſe! Vereinigt euch mit meinen unbeſiegbaren Schlacht⸗ reihen, um den Reſt der Barbaren, welche eure Feinde und die meinen ſind, zu vertilgen! Sie fliehen mit Wut und Ver⸗ zweiflung im Herzen.“ Wer fliehen mußte, war allerdings Na: poleon ſelbſt. D. Die Jiſche des Nilſtromes. Zu den ſchätzbarſten Gaben des gütigen Nilſtromes gehören ſeine vielen Fiſche. Es finden ſich darunter die eigentümlichſten Formen, die mit denen euro— päiſcher Flüſſe wenig gemein haben. Darunter kommen ziemlich viele karpfenartige Fiſche, mehrere Lachsarten, einige Zahn: karpfen vor. In größter Zahl aber tritt die Familie der Welſe auf (gegen 22 Arten), von denen der Zitterwels durch ſeine elektriſchen Eigenſchaften beſonders bemerkenswert iſt. Ein ſel⸗ tener, ſehr merkwürdiger Fiſch iſt der Flöſſelhecht, faſt der einzige noch lebende Repräſentant der in der Vorwelt zahlreichen Schnalz— ſchupper. Sonderbar iſt auch das Vorkommen des Kugelfiſches, einer ſonſt ausſchließlich dem Meere, und zwar dem Indiſchen Ozean, angehörigen Gattung. Mit der Ueberſchwemmung kommen die Fiſche in alle Kanäle und auf die Ueberſchwemmungsflächen.

Mannigfaltiges. 239

Die Tiere können dann, wenn die Waſſer einzutrocknen beginnen, nicht mehr zurück, und mit leichter Mühe und in großer Anzahl werden ſie dann, ſelbſt von Kindern, gefangen. W. H. Sweideutig. Als Molière (1622 1673) fein Luſtſpiel „Tartuffe“ vollendet hatte (Tartuffe iſt die Hauptperſon des Stückes, ein ſcheinheiliger Frömmler und Heuchler, deſſen Name ſeit⸗ dem zur Bezeichnung ſolcher Charaktere gebräuchlich geworden iſt), als alles bereits zur Aufführung des Stückes vorbereitet war, und dieſe eben beginnen ſollte, wurde ſie noch im letzten Augenblick durch ein plötzliches Verbot des Polizeipräſidenten Lamoignon verhindert. Dieſer fühlte ſich durch die Perſon des Tartuffe, die er auf ſich bezog, verletzt, und ſehr wahrſcheinlich hatte der Dichter die Züge Lamoignons in der That für ſeinen Tartuffe ver⸗ wendet. Moliere war außer ſich. Er konnte ſich dem Verbot nicht widerſetzen, aber er wußte ſich zu rächen. Er trat auf die Bühne und wandte fih an das Publikum mit den Worten: „Die Auffüh— rung des „Tartuffe“ iſt ſoeben verboten worden. Herr Lamoignon wünſcht nicht, daß man ihn ſpiele.“ Dabei legte er auf das Wörtchen „ihn“ eine eigentümliche Betonung, „ihn“ konnte hier heißen: den „Tartuffe“, aber auch: den Präſidenten Lamoignon in der Perſon des Heuchlers Tartuffe. Das Publikum brach in ein lautes Gelächter und Beifall aus. Lamoignon hörte davon, allein er konnte dem Dichter nichts anhaben. Der „Tartuffe“ durfte erſt nach ſeinem Rücktritte im Jahre 1668 aufgeführt werden. J. D. Das Mahagoniholz wurde von Europäern zum erſtenmal im Jahre 1585 bearbeitet, als Sir Walter Raleigh auf der Inſel Trinidad eines ſeiner Schiffe damit ausbeſſern ließ. Nach Europa ſelbſt kam das Mahagoniholz erſt im Jahre 1724. Man hatte es als Ballaſt mitgenommen. Ein Doktor Gibbons ließ ſich die ſchweren Planken ſchenken und daraus einen Kaſten und eine Komode fertigen, nachdem die Zimmerleute das Holz wegen ſeiner Härte als unverwendbar beiſeite gelegt hatten. Beide Gegenſtände gefielen der Herzogin von Buckingham fo ſehr, daß ſie nun ebenfalls Mahagonimöbel beſtellte und ſie ſo in die Mode brachte. Aber noch am Ende des vorigen Jahr: hunderts gehörten fie zu den koſtbarſten Luxusartikeln. D.

240 Mannigfaltiges.

Nichts Renes! Auf der Löwenburg bei Kaſſel lag früher ſtändig eine Invalidencompagnie als Beſatzung. Nach Stiftung des Königreichs Weſtfalen begnügte man ſich damit, dieſe un⸗ ſchädlichen Krieger eine neue Uniform an- und einen neuen Eid ablegen zu laſſen; ſonſt blieben ſie in ungeſtörter Vergeſſenheit. Als der Kurfürſt Wilhelm I. im November 1813 nach ſieben⸗ jähriger Abweſenheit ſeine Erblande wieder in Beſitz genommen hatte, wurden auch die herkömmlichen täglichen Spazierfahrten nach Wilhelmshöhe und der Löwenburg wieder aufgenommen. Hier hatte man ſich natürlich beeilt, die alten kurheſſiſchen Uni⸗ formen nebſt Zöpfen und anderem Zugehör wieder hervorzu— ſuchen. Gleich bei der erſten Spazierfahrt trat der bejahrte Unteroffizier nach dem früheren Herkommen an den Schlag des Wagens und meldete: „Habe Eurer Königlichen Hoheit unter⸗ thänigſt zu vermelden, daß ſeit Höchſtdero letztem e nichts Neues vorgefallen iſt!“

Von 1806 bis 1813 nicht Neues! Dieſe Meldung ſoll dem Kurfürſten unter allem, was er bei ſeiner Heimkehr ſehen und hören mußte, ſo ziemlich am beſten gefallen haben. C. T.

Einträgliche Küſſe. Ein bevorzugter Liebling der Frauen war der ebenſo ſchöne wie leichtlebige König Eduard IV. von England (1461 1483), der es nicht verſchmähte, aus der Frauen: gunſt, die ihm allenthalben entgegengebracht wurde, in berechnend⸗ ſchlauer Weiſe Kapital zu ſchlagen. Er pflegte ſeine Verehrerinnen in Geldverlegenheiten ungeniert um „Kriegsbeiſteuer“ anzugehen. So küßte er einmal die alte Lady Sandford, nachdem er ihr ſeine Schulden gebeichtet hatte, zärtlich auf die welke Wange.

„Um Eurer Galanterie willen ſollt Ihr hundert Pfund haben,“ flüſterte die Lady.

Darauf verſetzte der Schlaukopf: „Noch einmal ſo ſüß iſt ein Kuß auf den Mund, Mylady!“

Und er drückte ihr raſch einen Kuß auf die Lippen.

Der Wink wurde von der Dame verſtanden, und Eduard IV. erhielt für den „noch einmal ſo ſüßen“ Kuß den doppelten Preis, alſo weitere zweihundert Pfund. J. W

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