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Bibliothek der Unterhaltung

und des Willens

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Zu der Erzählung „Die beiden Chauffeure“ von H. Giersberg. (S. 84) Originalzeichnung von Th. Volz.

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Unterhaltung und des Willens

Mit Original-Beiträgen der hervorragendſten Schriftſteller —— und Gelehrten ſowie zahlreichen Zllujtrationen

Jahrgang 1911. Dritter Band

Union Deutſche Verlagsgeſellſchaft 1: Stuttgart, Berlin, Leipzig ::

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Union Deutſche Verlagsgefellfdyaft in Stuttgart

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Etwas vom Radium .

Zeitungſchnurreeeꝛdennnndn

Der große Glockenmarkt in Niſhnij Nowgorod Mit Bild.

Napoleon und die Studenten .

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Seite Alter Schwalbenaberglaube . : . 2 .. 224 Aus der Barifer Conciergeriie . . 225 Handarbeit und Kopfarb eie. . 227 Ein Orcheſter, das etwas aushält. . . 228 Die größte Antilooettt k: 229 Mit Bild. Ein freiwillig Gefangenen.. 231 Das „Trotz haus? 2232 Vielweiberei in Deutſch lad... 253 Der Trompeter der Hummeln . 235 Diebesverſtecke 5 i e ee Die vertriebenen Spiritiſten Br ee 2 Neuentdeckte Tier 238 Mit Bild. Ein höflicher Gläubigne 239 Die ſchwediſche Nachtigall. 240

Schlagfertiger Aufſchnittlt. 240

Der Geſchworene. Roman von Otto Hoecker.

V V FERN: (Fortſetung.) (Nachdruck verboten.)

Zwölftes Kapitel.

arry war's wirklich, und er brachte ſicherlich H gute Botſchaft mit. „Oho, Frauchen,“ be- gann er und gab ihr einen herzhaften Kuß, „was meinſt du wohl, was ich mitbringe?“ Sie vermochte nicht zu ſprechen, ſondern ſchaute nur erwartungsvoll zu ihm auf. | 1 Er ſtrich ihr das lodige Haar aus der Stirn. „Ja- wohl, Herzensſchatz, du haft mir mit dem Briefe heute morgen wirklich Glück gebracht, denn ich habe einen feinen Auftrag von dem alten Croß bekommen. Da, ſchau mich einmal an,“ rief er aufgeräumt, als er mit ihr ins Wohnzimmer eingetreten war, „der Gentleman, den du vor dir ſiehſt, wird binnen heute und einer Woche ausgerechnet dreihundert Dollar verdienen. Kleinig- keit was? Na, komm her, Schatz, gib mir einen Kuß und frage, was koſtet New Vork! Hohoho! Drei— hundert Dollar, Schatz,“ ſchloß er jubelnd und nahm ſie in die Arme, „ſo viel Geld gibt's ja überhaupt gar nicht!“ Sie konnte ſich nicht helfen, ſie mußte, diesmal vor Freude, wieder weinen. „Du weinſt, Schatz!“ ſtammelte er. „Sit etwas paſſiert hat Erik etwa geſchrieben?“ Ä

6 Der Geſchworene. 2

„Ach nein,“ ſagte ſie ausweichend, indem ſie ſeinem Blick zu begegnen vermied, „komm, Lieber,“ drängte ſie und nahm ihn bei der Hand, „das Eſſen wird ſonſt kalt, und du kannſt mir die gute Neuigkeit auch bei Tiſche weitererzählen.“

„Nein, Schatz, du täuſcheſt mich nicht,“ beharrte

ihr Gatte, „ſag mir doch, was dich bekümmert.“ Es half ihr' nichts, fie mußte Farbe bekennen, und ſeine Mienen verfinſterten ſich, als er nun hörte, welche Beſucher während ſeiner Abweſenheit in der Wohnung vorgeſprochen hatten.

„Es iſt ein Elend, daß ich mein kleines Frauchen nicht vor ſolchen Dingen bewahren kann!“ rief er miß— mutig. „Scheußliches Pech, das unſereiner immer hat! Aber nun ſei ganz ruhig, Schatz, denn daß du's auch weißt, Croß hat mich auf morgen früh zehn Uhr wieder beſtellt, da ſoll ich ihm die Rohſkizzen zeigen, und ge— fallen ſie ihm, fo zahlt er mir gleich hundert Dollar Vorſchuß. Was ſagſt du nun?“

Aber die an ſeinem Halſe Hängende ſagte vorläufig gar nichts, ſondern weinte weiter vor Glück und Freude. Dann lachte fie auch ſchon wieder übermütig, nicht anders, wie ein Aprilſchauer von leuchtendem Sonnen- ſchein verdrängt wird.

„Ach, Schatz, ich kann dir ja gar nicht ſagen, wie glücklich ich bin,“ geſtand ſie und tanzte gleich einem ausgelaſſenen Kinde in der Stube herum. „Ich kam mir wie eine verbrecheriſche Schwindlerin vor. Du lieber Himmel, ich habe ja in meinem ganzen Leben noch nicht ſo viel zuſammengelogen wie heute. Und nun kommſt du plötzlich mit ſo märchenhaften Ver— heißungen! Hurra, Schatz, da können wir ja alles bezahlen, und vielleicht fällt ſogar noch ein neuer Hut für mich ab. Weißt du, ich gehe immer noch mit meinem

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Sommerhut, und in der 23. Straße habe ich ein ent- zückendes Pelzbarett geſehen einfach ſüß. Koſten- punkt nur zehn Dollar. Darin müßte dein Frauchen noch einmal ſo hübſch ausſchauen und —“

„Aber ſelbſtverſtändlich kaufe ich dir das Barett und obendrein noch eine Garnitur. Du brauchſt ſowieſo eine,“ verhieß er.

„Ah, wie ich mich darauf freue, morgen unſere Schulden zahlen zu können das kannſt du dir kaum vorſtellen,“ verſicherte Margot. Dann ſtellte ſie ſich vor ihm auf und nahm eine äußerſt würdevolle Haltung an. „Hier, mein Lieber,“ ſagte ſie, indem ſie einem unſichtbaren Dritten gegenüber eine gönnerhafte Miene aufſetzte, „hier haben Sie die Kleinigkeit, die wir Ihnen für die Milch ſchuldig geworden ſind. So werde ich zum Milchmann ſprechen. Ins Wöbelgeſchäft gehe ich natürlich perſönlich und ſage: Ich komme, um die Bagatelle zu berichtigen, mit der wir im Rückſtand geblieben ſind. Übrigens, nebenbei bemerkt, Ihr Kaſſierer hat keine Lebensart, er unterſteht ſich, Ladies in Verlegenheit zu bringen. Daß mir das nicht wieder vorkommt! Und dann die Wonne, Schatz,“ jauchzte ſie, „wenn ich Miſter Phelps in ſeiner Office aufſuche und zu ihm, jeder Zoll an mir Lady und verletztes Selbſtbewußtſein, ſagen werde: Bitte, geben Sie mir die Quittungen, von denen Sie geſtern ſprachen. Wie- viel macht der kleine Betrag? Ah, richtig ſiebzig Dollar. Unſereiner kann ſich derartige Lappalien mit dem beſten Willen nicht immer merken. Sollte unſer Bankier in Zukunft wieder einmal die pünktliche Zu— ſchickung unſerer fälligen Zinſen vergeſſen, ſo mahnen Sie, bitte, nicht gleich in ſolch unhöflicher Weiſe! Ja, Schatz, ſo werde ich ſprechen, aber zu Bode werde ich die Liebenswürdigkeit ſelbſt ſein, werde ihm die

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fünfzehn Dollar auf den Tiſch legen und zu ihm ſagen: Ich danke Ihnen recht ſchön, lieber Herr Bode, Sie ſind wirklich ein Gentleman! Und dann wird er vor Vergnügen über ſein ganzes Geſicht lachen und mir die Butter doppelt gut wiegen!“

Beluſtigt hatte Harry ihr zugehört. Nun ſaß er am einladend gedeckten Tiſche, hatte einen Bleiſtift zur Hand genommen und begann auf ſeiner Gummiman— ſchette, die er aus Erſparnisrückſichten trug, zu rechnen. „Was bekommt der Milchmann, Schatz? Fünf Dollar vierzig. Und der Möbelhändler? Sechsunddreißig Dollar. Und ſiebzig Dollar ſind wir mit der Miete rückſtändig, kommen noch die fünfzehn Dollar für Bode dazu hm, das wären bloß hunderteinund— zwanzig Dollar vierzig!“ Er lachte kurz auf. „Ach, Schatz, da fällt dein Barett ins Waſſer! Aber nein,“ beſchwichtigte er raſch, als er in ihr betrübtes Geſicht ſah, „Croß ist kein Unmenſch, er rückt auch mit hundertfünfzig Dollar heraus, und dann kaufen wir das Barett doch noch, und zur Belohnung ſpeiſen wir dann morgen mittag bei Shanley. Ganz billig, Schatz, höchſtens zwölf Dollar mit Trinkgeld. Nun ſage ſelbſt, ſind wir nicht glückliche Leute?“

Damit nahm der junge Mann ſeine zierliche, rei— zende Frau in die Arme und küßte ſie, bis ihr ſchier der Atem verging.

Dann, als ſie endlich anfingen zu eſſen, wollte Margot wiſſen, welcher Art der ihrem Gatten erteilte Auftrag war.

„Well, ich bin ſelbſt nicht recht klug draus geworden,“ berichtete Harry kauend. „Es handelt ſich um irgend einen Schriftſteller, der über Nacht plötzlich in die Mode gekommen iſt. Er ſoll jemand totgeſchlagen haben, wie mir Croß erzählte, und da will der Verlag nun von ihm eine Anzahl Geſchichten, die früher einmal in den

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Sonntagsbeilagen erſchienen ſind, zu einem Band vereinigt, herausgeben, und die Slluftrationen dazu ſoll ich binnen einer Woche fertigſtellen, da höchſte Eile notwendig iſt, um Maſſenauflagen zu verkaufen, ſolange das Intereſſe des Publikums vorhält.“

„Armer Schatz, da wirſt du tüchtig arbeiten müſſen,“ bedauerte ihn Margot, indem ſie ein beſonders lecker ausſchauendes Fleiſchſtückchen mit der Gabel aufſpießte und ihm ohne weiteres in den Mund ſteckte.

„Muh, ſchmeckt das aber gut!“ ſchmunzelte Harry und verdrehte dabei die Augen. „Schätzchen, ſchon wegen deiner Kochkunſt allein verdienteſt du, die glüd- lichſte aller Frauen zu werden.“

„Daß bei euch Männern immer die Liebe durch den Magen geht!“

„Nicht bei mir,“ verwahrte ſich der Zeichner. „Als ich dich zuerſt ſah und auf den erſten Blick lieben lernte, da war ich aufs Schlimmſte vorbereitet, denn ich ſagte mir, daß ich bei ſo viel Schönheit nicht auch noch gutes Kochen verlangen könnte.“

„Ach, das Schmeicheln ſteht dir ſchlecht!“ kicherte fie und blickte doch glückſelig. „Da wirſt du wohl die Abende zu Hilfe nehmen müſſen, Schatz was?“ |

„Ja, das läßt fich nicht ändern,“ gab er zurück, indem er den Teller von ſich ſchob. „Heute nacht werde ich ſo ziemlich durcharbeiten müſſen, denn es handelt ſich im ganzen um zwölf Slluſtrationen. Weißt du, beim Durchleſen könnteſt du mir helfen,“ fuhr er fort, „wie du's immer machſt. Du ſagſt mir einfach, welche Szene du für am geeignetſten zum Zlluftrieren hältſt, dann leſe ich mir das Zeug ſchnell durch, und dann wird der Bleiſtift in Bewegung geſetzt. Es handelt ſich um Tuſchzeichnungen, die gehen flink vonſtatten.“

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„Haft du denn die Erzählungen mitgebracht?“ er- kundigte ſich Margot.

Ihr Gatte nickte und zog aus der Taſche eine Anzahl Ausſchnitte.

„Wie heißt denn der Verfaſſer? Ach ja, hier ſteht. ja ſein Name Ben Slotery. Du, ich glaube, von dem habe ich auch ſchon einmal etwas geleſen. Und der Mann ſoll zum Verbrecher geworden ſein?“ ſagte ſie mit einem fragenden Blicke. „Wohl doch nicht gar aus Not! Das wäre ja ſchrecklich, ich habe mir immer ſagen laſſen, daß es Schriftſtellern auch nicht beſſer geht wie uns Künſtlern!“

Nun lächelte Harry im Bewußtſein feiner Fertig- keit doch ein wenig geringſchätzig. „Ich bitte dich, Schatz, was iſt denn. ſo ein Schriftſteller heutzutage, wo jeder leſen und ſchreiben gelernt hat! Da denkt man ſich was aus und bringt's dann aufs Papier. Aber zeichnen das kann nicht ein jeder!“

„Gottlob, ſonſt ginge es uns womöglich noch ſchlechter,“ platzte ſie heraus, und dann lachten ſie beide um die Wette.

Angeregt plauderten fie weiter miteinander, wäh- rend die junge Frau in der Küche den Kaffee eingoß und dann die dampfenden Schalen ins Eßzimmer brachte.

„Du, Schatz,“ meinte ſie dann plötzlich, „der alte Croß wird doch am Ende nicht Schwierigkeiten machen und dir nur hundert Dollar geben?“

„Fällt ihm ja gar nicht ein,“ beſchwichtigte ſie der Gatte, der ſich inzwiſchen eine kurze Pfeife angeſteckt hatte und nun behaglich die erſten Rauchwolken vor ſich hin blies. „Du hätteſt nur mit anſehen müſſen, wie liebenswürdig er war! Ja, das ſind die Herren immer, wenn ſie uns einmal nötig brauchen wie gerade jetzt,

2 Roman von Otto Hoecker. 11

wo ſich in ganz New Vork kein Zeichner findet, der den Auftrag ſo raſch auszuführen vermag wie ich.“

„Nun, Schatz, Croß bezahlt auch gut dreihundert Dollar ſind eine ganze Menge Geld.“ Sie ſaß mit in den Schoß gefalteten Händen in der Sofaecke und blinzelte ihn durch halbgeſchloſſene Augenlider fchel- miſch an. „Wir iſt's zumute wie jemandem, der eine ſchwere Krankheit überſtanden hat,“ fuhr ſie aufatmend fort. „Glaubſt du auch wirklich, daß Croß dir das ganze Geld zahlen wird? Das find ja fünfundzwanzig Dollar für ein Bild. So viel hat er noch niemals angelegt. Wenn es ihm hinterher nur nicht wieder leid wird!“

„Er wird ſich hüten, war er doch ganz gerührt, als ich ihm meine Zuſage gab. Ich hätte ſicher noch mehr aus ihm herausſchlagen können, ließ es aber lieber bleiben, denn eine Liebe iſt der anderen wert.“ Er rückte ſich die Staffelei, die vor dem einen Wohn— zimmerfenſter ſtand, zurecht und legte einen weißen Karton auf. „Das Titelbild habe ich mir unterwegs ſchon überlegt, ich glaube, es in einem Zuge ausführen zu können. Vielleicht ſtudierſt du inzwiſchen ſchon ein paar von den Geſchichten, Schatz?“

„Soll geſchehen, du weißt ja, wie gern ich leſe, beſonders ſchöne Liebesgeſchichten, wo ſie ſich am Schluß kriegen.“

Sie lachte und lief in die Küche hinaus, um dort raſch abzuſpülen. Dann kam ſie ins behaglich warme Wohnzimmer zurück, wo ihr Gatte inmitten dichter Rauchwolken ftand und mit einem wahren Feuereifer darauflos zeichnete.

Sie ſtellte ſich hinter ihm auf die Zehenſpitzen und ſagte, obgleich er über die erſten Umriſſe noch nicht herausgekommen war: „Du, Harry, ich glaube, das gelingt dir wieder großartig!“

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„Was ſtellt's denn vor?“ neckte er ſie.

„Ja, das kann ich freilich noch nicht ſagen, es iſt noch ein wenig verſchwommen,“ geſtand ſie kleinlaut. „Aber es hat ſo 'nen vorzüglichen Schwung, wie alles, was du machſt. Du biſt doch ein herziger Kerl!“

Da mußte er ſich natürlich wieder zu ihr nieder— beugen und ſie küſſen, was geraume Zeit in Anſpruch nahm.

„Du lieber Gott,“ meinte ſie dann, als ſie ſich am anderen Fenſter in ihrem Korbſtuhl zurechtgerückt hatte, „warum kannſt du einen ſolchen Auftrag nicht jede Woche bekommen? Dann hätten alle unſere Sorgen ein Ende wenn ſie's überhaupt haben,“ ſchloß ſie zaghaft, „denn ich weiß nicht, mir iſt immer noch ſo ängſtlich zumut.“

„Poſſen!“ ſcherzte er beruhigend. „Fang keine Grillen, Kleine, denn das Geld iſt uns ſo ſicher, als ob ich's bereits in der Taſche hätte.“

„Ams Himmels willen, Schatz, ſage dreimal un— berufen! Man foll das Schickſal niemals heraus- fordern.“ Und ganz leiſe, als ſchämte fie ſich, jo etwas laut zu ſagen, raunte ſie: „Ich habe vorhin in der Küche raſch einmal in die Karten geguckt, und da habe ich direkt vor mir die Grünſieben gehabt.“

„Ei was, du abergläubiſche Kartenlegerin!“ lachte er herzhaft. „Deswegen bekommen wir unſer Geld doch. Was ſollen denn ſo dumme Spielkarten ſagen können!“

„Nein, nein, ich bin nicht abergläubiſch, Harry, aber erinnere dich nur, als du den Auftrag vom , Mortimer Magazin“ erhieltſt weißt du noch, die Brücke über den Eaſt River ſollteſt du von der Vogelperſpektive aus zeichnen da haͤtteſt du das Geld auch ſchon fo gut wie in der Taſche, und dann mußteſt du dich plötzlich

G Roman ron Otto Hoeder. 13

hinlegen und hatteſt die Halsentzündung, und in der Nacht kam ſtarkes Fieber dazu. Da war auch die Grünſieben gekommen.“

Richtig, und dann wahrſcheinlich auch, als ich die Serie für die Kindergeſchichten gezeichnet hatte und die Firma zog mich von einer Woche zur anderen hin, und ſchließlich machte ſie Bankrott.“

„Ja, ja ganz gewiß. Entſinnſt du dich noch, wie du die große Titelzeichnung bei Delancy ab— lieferteſt? Du ſollteſt hundertfünfzig Dollar dafür bekommen, aber der Kaſſierer war ſchon fortgegangen, und in der Nacht brannte das Haus ab, und jie wollten dir gar nichts zahlen. Da hatte ich auch die Grünſieben vor mir. Aber über ihr lag die Herzneun, das iſt die Überwindung. Da haben wir ſchließlich unſer Geld doch gekriegt.“

Nun mußte er wieder laut auflachen, ſetzte ſich hin und zog ſie zu ſich aufs Knie. „Wie kann nur ſolch ein vortreffliches Frauchen ſo abergläubiſch ſein!“ lachte er ſie aus. „Croß iſt ſo gut wie Vanderbilt oder die Aſtors. Er hat mir die Hand darauf gegeben, und wenn ich nicht bis morgen früh tot bin oder unſer Haus brennt ab, oder ich verlerne plötzlich das Zeichnen, dann haben wir morgen früh zehn Uhr hundertfünfzig bare Dollar in unſerer Taſche, und du kriegſt dein Pelzbarett, das köſtliche Göttermahl morgen mittag nicht zu vergeſſen. Da trinken wir ſogar eine Flaſche Schampus. So, Schatz, nun muß ich wieder weiter arbeiten.“

Damit ſtand er auf und kehrte nach der Staffelei zurück.

Verſtohlen folgte fein Blick der ſchlanken Geſtalt feiner jungen Frau, die ſich im Schlafzimmer zu ſchaffen machte. Er konnte ſich wohl denken, was ſie dort

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trieb und richtig, wie er ſich verſtohlen bis zur Tür— ſchwelle ſchlich und hineinſchaute, kam er gerade noch zurecht, um ſie ein auf der Bettdecke ausgebreitetes Spiel Karten zuſammenraffen zu ſehen.

„Nun, wie ſteht es mit der Überwindung?“ fragte er mit gutmütigem Spott.

Aber ſie ging auf ſeinen ſcherzenden Ton nicht ein. „Ich ich weiß es nicht,“ ſtammelte fie erfichtlich bedrückt.

Es wollte ſchon dunkel werden, und Säres dachte gerade daran, die Gaslampe anzuzünden, als die Hausglocke unten wieder ganz kurz anklingelte.

„Der Briefträger!“ ſagten ſie beide wie aus einem Munde, und Frau Margot fügte kleinlaut hinzu: „Du lieber Himmel, Croß wird dir doch nicht abgeſchrieben haben!“

Ihr Mann lachte nur. Er nahm den Briefkaſten— ſchlüſſel vom Nagel und lief dann die Treppen hinunter, um nachzuſchauen, was der Briefträger unten in den Kaſten geſteckt hatte.

Als er wiederkam, hatte er ein bereits geöffnetes Schreiben, das einen entſchieden amtlichen Eindruck machte, in der Hand. „Weißt du auch, du kleine Un— glücksprophetin, daß du ie einmal recht behalten baft,“ begann er.

„So hat Croß wirklich abgeſchrieben?“ hauchte die lleine Frau ganz entgeiſtert.

„Er denkt nicht daran. Aber hier habe ich eine Vorladung bekommen, mich morgen früh um neun Uhr im Kriminalgerichtsgebäude einzufinden und mich zum Geſchworenendienſt zu melden.“

„Darf man dich denn ſo ohne weiteres nach dem Gericht beſtellen?“ erkundigte ſich Frau Margot, indem ſie ihn kopfſchüttelnd betrachtete.

a Roman von Otto Hoeder. 15

„Da wird nicht lange gefragt, Schatz. In unſerem freien Lande muß jeder rechtſchaffene Mann ſeine Bürgerpflicht erfüllen, ganz abgeſehen davon, daß die Behörden nicht mit ſich ſpaßen laſſen.“

„Mußt du alſo wirklich der Vorladung Folge leiſten?“

Der Zeichner hatte inzwiſchen Licht gemacht und ſtudierte nun nochmals den Text der an ihn ergangenen Vorladung. „Da wird wohl nichts helfen,“ brummte er. „Da, lies ſelbſt, Schatz, was hier gedruckt ſteht. nentſchuldigtes Fernbleiben wird als Mißachtung des Gerichts mit Geldſtrafe bis zu eintauſend Dollar oder Gefängnis bis zu drei Jahren oder mit beidem beſtraft.“

„Aber das iſt ja ſchrecklich,“ ereiferte ſich die kleine Frau, die immer noch nicht recht wußte, wie ihr eigent- lich geſchah. „Da reißt man dich ohne weiteres aus deinen Geſchäften jetzt, wo du ſo notwendig arbeiten mußt! Laß doch einmal ſehen,“ unterbrach ſie ſich, nahm die Vorladung zur Hand und durchflog fie haſtig. „Schon um neun Ahr ſollſt du dich im Rriminalgerichts- gebäude einfinden ja, dann kannſt du ja kaum um zehn Uhr bei Miſter Croß fein!“

„Schwerlich.“

„Aber was willſt du da machen?“

„Meine Pflicht erfüllen, das iſt doch ſelbſtverſtänd— lich.“ „Du willſt alſo der Vorladung Folge leiſten?“ „Aber muß ich denn nicht?“

„Ja, was wird dann aber aus uns? Wenn du nicht zu Croß gehen, am Ende ſogar nicht einmal die Arbeit rechtzeitig fertigſtellen könnteſt? O du mein lieber Gott!“ ſie ſchlug die Hände vors Geſicht und ſtand wie betäubt. „Den Gedanken wage ich gar nicht auszu— denken das wäre ja ſchrecklich!“

16 Der Geſchworene. 2

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Ihr Mann hatte die ſchwerwiegende Vorladung von allen Seiten betrachtet. Nun legte er ſie unter einem Seufzer auf den Tiſch zurück, trat neben ſeine Frau und legte ihr liebevoll den Arm um die Schultern. „Kind, keine Suppe wird ſo heiß gegeſſen, wie ſie auf den Tiſch getragen wird,“ redete er ihr zu. „Ent- ſprechen muß ich der Vorladung unter allen Um- ſtänden, aber jeden Tag, beſonders wenn große Pro- zeſſe in Ausſicht ſtehen, werden Hunderte vorgeladen, die dann der Reihe nach befragt und aus denen ſchließ— lich die Fury gebildet wird. Vorgeladen werden heißt alſo noch lange nicht zum Geſchworenen gewählt werden.“

Sie ſchaute ihn ſchon wieder einigermaßen ge- tröſtet an. „Sag einmal, Harry,“ meinte ſie dann zaghaft, „könnteſt du dich nicht damit entſchuldigen, daß es uns ſo ſchlecht geht und wir in Schulden geraten ſind und und du nun eben eine Gelegenheit zum Verdienen bekommen haſt, die verloren geht, wenn du die Arbeit nicht rechtzeitig fertigſtellſt?“

Er ſchüttelte den Kopf. „Nein, Liebling, ein ſolcher Entſchuldigungsgrund kann vor dem Geſetze nicht beſtehen. Auf unſer leibliches Wohl oder Wehe nimmt kein Gericht der Welt Rückſicht, ſolange ich geſund, Herr über meine fünf Sinne und auch ſonſt zum Geſchworenendienſte tauglich bin. Nur ein ärzt- liches Zeugnis könnte mich zur Not entſchuldigen.“

„Dann laß dir raſch ein ſolches ausſtellen,“ bat ſie, hielt aber unter ſeinem zärtlich vorwurfsvollen Blicke wieder betreten inne.

„Das kann unmöglich dein Ernſt ſein,“ meinte er dann. „Erſtens bin ich friſch und geſund, müßte alſo nicht nur einen Arzt, ſondern auch mit deſſen Beihilfe die Gerichtsbehörde hinters Licht führen, dann koſten

2 Roman von Otto Hoecker. 17

ärztliche Zeugniſſe auch Geld, und mein irdiſcher Beſitz beläuft ſich noch auf ſiebzehn Cent.“

„Dann biſt du immer noch ſiebzehnmal reicher als ich,“ ſeufzte die kleine Frau niedergeſchlagen. „Was machen wir denn da? Wir können doch nicht wegen dieſes einfältigen Geſchworenendienſtes verhungern das geht doch nicht!“

„Well, ich habe ſchon meinen Kriegsplan entworfen. Der Vorladung entſprechen muß ich unter allen Um- ſtänden, ſo viel ſteht feſt. Aber keine Erdenmacht kann mich daran hindern, die Nacht durchzuarbeiten und die Bilder im Entwurf fertigzuſtellen. Mit den Skizzen gehſt du morgen früh zu Croß, ſtellſt ihm den Sachverhalt ruhig vor, worauf er dir den zugeſagten Vorſchuß ſicherlich nicht vorenthalten wird. Dann kommſt du zu mir ins Gerichtsgebäude, inzwiſchen werde ich dort wohl fertig geworden ſein, und dann gehen wir gemeinſchaftlich nach der 23. Straße und kaufen dort dein neues Barett.“

„Das hört ſich ja ganz gut an, wenn man en jo ſprechen hört, aber ich habe ſchon häufig in den Zei- tungen geleſen, daß Geſchworene wochenlang ihrer Familie entzogen werden, wenn es ſich um einen langen Prozeß handelt. Steht denn in der Vorladung nichts darin, um was für einen Prozeß es ſich dreht?“

„Nein, ſolche Vorladungen werden immer ganz allgemein gehalten, man ſoll nicht wiſſen, zu welchem Falle man unter Umſtänden herangezogen wird. Das erfährt man erſt im Gerichtsgebäude ſelbſt.“

„Denke nur, Harry, wie ſchrecklich es wäre, wenn du in einem ſolchen wochenlangen Prozeſſe ſitzen müßteſt,“ ſtammelte fie angſtvoll. „Iſt denn wieder ein ſolch abſcheulicher Mordprozeß anhängig? Haſt du nicht in den Zeitungen etwas darüber geleſen?“

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18 Oer Geſchworene. 2

„Liebes Kind, du weißt doch ſelbſt am beſten, daß ich ſchon ſeit mehr als einem Monat keine Zeitung mehr gekauft habe. Wir brauchten unſere paar Groſchen für nötigere Dinge, und wie du weißt, mache ich mir aus Zeitungsgeſchwätz nichts, ſondern ärgere mich höchſtens über die miſerablen Bilder darin.“

„Dann müßte man raſch eine Zeitung kaufen oder ich könnte mir ja auch ſchnell eine borgen,“ ſchlug Margot vor.

Doch wie ſie zum Zimmer hinauseilen wollte, bekam er ſie noch beim Kleid zu faſſen und hielt ſie feſt. „Das wäre unehrlich gehandelt, Margot,“ meinte er ernſt, „denn wenn ich mich morgen in den Zeugen ſtuhl ſetzen und unter Eid über meine Verhältniſſe ausſagen muß, dann werde ich auch gefragt, ob ich mir über den zur Verhandlung gelangenden Fall noch keine Meinung gebildet habe, alſo nicht poreinge- nommen bin —“

„Nun, das wäre ja der beſte Ausweg, wenn du jetzt raſch ein paar Zeitungen kaufteſt,“ rief die junge Frau eifrig, „denn es müßte mich ſehr wundern, wenn die Blätter nicht ein langes und breites über die in Ausſicht ſtehende Verhandlung brächten. Weißt du das, dann haſt du dir auch ſchon deine eigene Meinung gebildet, und ſie können dich nicht gebrauchen.“

Er lächelte abwehrend. „Vergiß nicht, Kind, daß ich unter Eid ausſagen muß. Man läßt mich ſchwören, daß ich die lautere Wahrheit und nichts als die Wahr- heit ausſagen, nichts verſchweigen und nichts hin- zuſetzen werde, und wie erbärmlich ſtände ich da, müßte ich einräumen, nach Empfang dieſer Vorladung hier die Zeitung nur aus dem Grunde geleſen zu haben, um mich über die Einzelheiten eines etwa in Ausſicht ſtehenden Senſationsfalles zu unkerrichten. Nein,

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Schatz,“ fuhr er fort, „eher würde ich das Schlimmſte über mich ergehen laſſen, als wiſſentlich unwahr ſein, meine Selbſtachtung ſteht mir dafür viel zu hoch.“

Sie ſah ihn erſtaunt an.

„Nun, dazu kommt's ja ſicher nicht,“ ſetzte er hinzu, indem er ſie in ſeine Arme nahm. „Man hat mich vorgeladen, man wird mich ausfragen, und ich werde ſchon eine paſſende Gelegenheit zum Durchſchlüpfen finden. Darüber ängſtige dich nur nicht. Und wenn's zum Schlimmſten käme, Schatz,“ ſchloß er herzlich, „und ich wirklich Geſchworenendienſte verrichten müßte, dann könnte ich doch die Nächte über arbeiten und hätte immer noch Zeit genug, um mit dem Auftrage recht- zeitig fertig zu werden. Alſo Kopf hoch, Schatz.“

„Ja, aber ich habe ſchon geleſen, daß eine Jury zuweilen während der ganzen Prozeßdauer eingefchlof- ſen wird.“ |

„Nun ſeh einer einmal die kleine Schwarzſeherin!“ mußte Harry auflachen. „Wenn der Himmel herunter- fällt, dann ſind freilich alle Spatzen gefangen, und wenn der ‚Sonntagsherold‘ über Nacht bankrott wird, dann bekomme ich morgen keinen Vorſchuß, und wenn über Nacht gar Uncle Sam zahlungsunfähig wird, dann kann ich auch mit den ſchönſten Greenbacks meine Schulden nicht bezahlen. Ich will dir was ſagen, Schatz,“ ſchloß er, indem er die erhaltene Vorladung bedächtig zuſammenfaltete, „das Ding hier iſt eine von den kleinlichen Tücken des Schicksals, ein elender Nadelſtich, weiter nichts. Morgen ſtoßen wir bei Shanley auf den gehabten Schrecken mit einem ſchäu⸗ menden Glas echten Schampus an, du haſt dann natür- lich dein neues Winterbarett auf und wirſt die übrigen Damen einfach grün und gelb vor Neid machen.“

Damit wendete er ſich ſeiner Arbeit wieder zu,

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und unter ſeiner fleißig ſchaffenden Hand erſtanden wie im Zauberfluge anmutige Skizzen, die ſchon in der Anlage von dem Talente ihres Urhebers Kunde gaben und, waren ſie erſt einmal vollendet, kleine Meiſterwerke zu werden verſprachen.

Beinahe die ganze Nacht über blieb der junge Zeichner an ſeiner Staffelei. Er gönnte ſich nur eine Stunde Ruhe und war längſt wieder wach und bei ſeiner Arbeit, als Frau Margot die blauen Augen aufſchlug. Selbſt Kaffee hatte er ſchon zubereitet, brachte ihn der jungen Frau ans Bett, ſtrich ihr die lecker hergerichteten Toaſtſcheiben, und als er ſich kurz nach acht Uhr auf den Weg nach dem Kriminalgebäude machte, da geſchah es in der zuverſichtlichen Erwartung. ſchon wenige Stunden fpäter mit feiner kleinen blonden Frau wieder zuſammenzutreffen.

Dreizehntes Kapitel.

Wenige Minuten vor neun Uhr vormittags betrat er, von Centreſtreet her, das in einem mächtigen, düſter anmutenden Steingebäude untergebrachte Kri- minalgericht. Er wies ſeine Vorladung vor und wurde nach einem Saale im erſten Stockwerk gewieſen.

Nur mit Mühe vermochte er ſich ſeinen Weg durch die den Korridor erfüllende Menſchenmaſſe, zumeiſt lauter elegant gekleidete Leute und ſchier beängſtigend viel geputzte Damen darunter, zu bahnen. Ein Blick auf Harrys Vorladung genügte, um vor ihm die Flügel- tür zu öffnen. Drinnen im Saal nahm ſich wieder ein Gerichtsdiener des Vorgeladenen an und geleitete ihn zu einer Männergruppe, vielleicht ihrer hundert, die offenbar zu demſelben Zwecke wie er ſelbſt vorgeladen worden waren.

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Mechaniſch ließ ſich Harry auf einen der einfachen Holzſtühle nieder und ſchaute ſich dann mit ver- wunderten Augen im geräumigen Saale um. Er wunderte ſich über die überall vorherrſchende nüchterne Schmuckloſigkeit, der jedes feierliche Gepräge abging. Der erhöhte Richtertiſch war noch verwaiſt. Geſchäftig gingen Boten ab und zu, am Berichterſtattertiſche drängten ſich die Reporter und plauderten ebenſo lebhaft miteinander wie die für den Geſchworenendienſt vorgeladenen Männer. Man unterhielt ſich, ſcherzte und lachte. Es war beinahe wie im Theater, wenn ſich der Zuſchauerraum gefüllt hat und man ſich die Wartezeit bis zum Aufgehen des Vorhangs zu ver- treiben ſucht.

Ungeduldig verfolgte Harry den Zeiger der großen Wanduhr, die hinter dem Richtertiſch in der Höhe angebracht war. Es war ſchon neun Uhr vorüber, ohne daß die Sitzung eröffnet worden wäre. Im Geiſt verfolgte er ſeine kleine Frau auf ihrem Wege nach der unteren Stadt. Er hatte an Croß einige beſonders liebenswürdige Zeilen gerichtet und rechnete mit Be⸗ ſtimmtheit darauf, daß Margot den erbetenen Vorſchuß ausgezahlt erhalten würde. Wenn ſie nur nicht zu lange vor dem Gerichtsgebäude auf ihn zu warten hatte, das war ſeine einzige Beſorgnis, denn ſie konnte nicht einmal zu ihm in den Saal kommen, das war aus- geſchloſſen, wie er zu ſeiner Enttäuſchung bereits herausgefunden hatte. Nicht nur war der Zuhörer- raum gedrängt voll, es war ihm auch nicht entgangen, wie der Zutritt in den Saal nur gegen Vorzeigung von Eintrittskarten geſtattet wurde.

Es mußte ſich offenbar um einen Kriminalfall handeln, der das Intereſſe der großſtädtiſchen Bevölke- rung in hervorragendem Maße auf ſich gezogen hatte.

22 Der Geſchworene. 2

Der Platz, wo Harrys Vermutung nach der oder die Angeklagte ſich ſpäter zu verantworten haben würde, war noch leer. Aber vor dem Verteidigungs- tiſche lehnte ein ſchlanker, noch jugendlicher Mann, der augenſcheinlich den Mittelpunkt der allgemeinen Auf- merkſamkeit bildete. Man machte ſich gegenſeitig auf ihn aufmerkſam, tuſchelte ſich wohl auch ſeinen Namen und ſonſtige Bemerkungen über ihn in die Ohren. Einige der Herren in der Nähe verglichen ſeine Züge mit einem Zeitungsbilde, und Harry hörte ſie davon ſprechen, wie der Anwalt, den ſie Frank Ramſay nannten, faſt über Nacht berühmt geworden ſei, genau ſo wie der von ihm verteidigte Schriftſteller, den vorher kein Menſch gekannt habe, bis plötzlich das von ihm verübte Kapitalverbrechen nicht nur ihn ſelbſt in den Mittelpunkt des allgemeinen Intereſſes geſtellt, ſondern auch ſeine Werke in Mode gebracht habe. | Auch ſonſt konnte Harry aus Bruchſtücken der um ihn geführten Unterhaltung entnehmen, daß es ſich um die Aburteilung eines ſenſationellen Verbrechens handeln mußte. Man ſprach in geheimnisvollen An- deutungen über die Perſon des Angeklagten und wun- derte ſich immer wieder über deſſen Verteidigerwahl, die auf einen gänzlich unbekannten Anwalt gefallen war, während ihm die berühmteſten Kriminalverteidiger umſonſt ihre Dienſte angeboten hätten.

Um was es ſich aber in Wirklichkeit handelte, daraus wurde Harry immer noch nicht klug, er ſcheute ſich auch, ſeine Nachbarn darüber zu befragen, ſondern begnügte ſich damit, dieſe einer näheren Muſterung zu unterziehen.

Durchſchnittlich befanden ſich in der vorgeladenen Gruppe nur Mitglieder der beſſeren Geſellſchaftsklaſſen,

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dazwiſchen auch vereinzelte, ihrem behäbigen Aus- ſehen nach zu ſchließen, recht wohlſituierte Handwerks- meiſter. Harry vertrieb ſich im ſtillen die Zeit damit, die Geſichtszüge ſeiner Schickſalskollegen zu ſtudieren und aus ihnen zu erraten, welchen Berufsarten ihre Beſitzer wohl nachgehen mochten. Zumeiſt handelte es ſich offenbar um Geſchäftsleute. gener ſich fo vornehm zurückhaltende ältliche Herr mit dem ſchnee⸗ weißen Backenbart und der roſigen Geſichtsfarbe mochte ein Bankprãſident ſein; die von ihm im Vorheind getragenen Brillanten funkelten wetteifernd mit den Schmuckſtücken der hocheleganten Ladies, die ſich Kopf an Kopf gedrängt im Zuhörerraume aneinander reihten.

Ein anderer, der unweit von dem ſtill Beobachtenden ſtand und ſich mit einigen gleichfalls Vorgeladenen unterhielt, wobei er ſich einer beſonders lauten, auf- dringlichen Sprechweiſe bediente, flößte Harry un- willkürlich ein Gefühl des Widerwillens ein. Es war ein plump und maſſig gebauter Mann von vielleicht vierzig Jahren, das Geſicht bleich, aufgeſchwemmt und pockennarbig, darin ſtechend ſchwarze Augen, die immer auf unruhiger Wanderſchaft begriffen zu ſein ſchienen und niemandem gerade ins Geſicht ſchauen konnten. Die ſchwarze Haartolle, ſowie der nach aufwärts ge- drehte Schnurrbart verliehen dem Geſicht vollends etwas Unaufrichtiges, Lauerndes, das Harry gründlich mißfiel. Der Mann hörte ſich offenbar gern ſprechen und war von ſeiner Autorität anderen gegenüber durchdrungen, denn er wiederholte öfters von ihm geäußerte Bedenken und nickte ſo nachdrücklich dazu, als ſpräche er Weisheitsworte, die ſich ſeine Zuhörer gar nicht tief genug einprägen könnten.

Die meiſten Geſchworenenkandidaten aber machten einen ziemlich nichtsſagenden Eindruck, ſie ſchienen

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ausſchließlich Durchſchnittsmenſchen zu fein, von denen die große Mehrzahl gleich ihm ſelbſt ungeduldig den Zeiger der großen Wanduhr verfolgte.

Nun fiel der Blick des Zeichners ſchließlich auf eine zur Rechten des Richtertiſches ſich hinziehende Doppel- bank. In dieſer hatten bereits neun Männer Platz genommen, die ſämtlich einen recht verdroſſenen Ge- ſichtsausdruck zur Schau trugen. Harry entſann ſich, daß es bei ſenſationellen Kriminalfällen oft Tage oder ſelbſt Wochen in Anſpruch nahm, bis die Geſchwo⸗ renenbank gefüllt war.

Fröſtelndes Unbehagen beſchlich ihn bei dem Ge- danken, daß es ſich hier möglicherweiſe um einen ſolchen Fall handeln möchte. Dann konnte es vielleicht Abend werden, bis er entlaſſen wurde. Arme kleine Margot, wie würde ſie ſich dann ängſtigen, wenn Stunde um Stunde verſtrich und ſie immer noch auf ihn warten mußte! Aber ſie war ein vernünftiges und dabei praktiſches Frauchen. Schlimmſtenfalls konnte ſie ja auch von den Gerichtsbeamten in Erfahrung bringen, wie ſich die Verhandlungen im Saale anließen, und dann ging ſie vielleicht und kaufte ſich das neue Winterbarett allein. Das hätte freilich nicht Harrys Wünſchen entſprochen, denn er war fürs Leben gern dabei, wenn feine kleine Frau irgend etwas Neues an- probierte. Da konnte er ſich an ihr nicht ſatt ſehen, und die kindliche Freude, die dann immer aus ihren blauen Augen leuchtete, drang ihm ordentlich wie Sonnenſchein ins Herz.

„Es ſcheinen ſchon Geſchworene ausgewählt worden zu ſein?“ wendete er ſich endlich fragend an ſeinen nächſten Nachbarn.

„Will's meinen, wir ſind ſchon das vierte Panel,“ gab der Mann zurück. „Scheußliche Geſchichte! Wegen

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ſo einem Lumpenhund wird man von zu Haufe fort- geholt. Meine Frau hat ſich heute legen müſſen, ich weiß noch nicht einmal, was eigentlich mit ihr los iſt. Aber ſie gefällt mir gar nicht, ſie wechſelt immerzu die Farbe und fiebert. Wenn ſie mir nur nicht ernſtlich krank wird! Dabei leben wir ganz allein, haben keine Kinder, auch ſonſt niemand in New Vork, der fie pflegen könnte.“

Das brachte er alles kurz, ruckweiſe hervor, wie einer, der ſich auszuſprechen das Bedürfnis fühlt; aber was ſeine kargen Worte verſchwiegen, das kündete die Unruhe in ſeinen Blicken. Der Mann mußte ſich augenſcheinlich zuſammennehmen, um nicht die in ſeiner Seele wohnende Angſt zu verraten. Er war anſtändig gekleidet wie die überwiegende Mehrzahl der Vorgeladenen, ſeiner Beſchäftigung nach mochte er vielleicht ein Mechaniker oder Werkmeiſter ſein, denn ſeine Züge entbehrten nicht einer gewiſſen Intelligenz, während ſeine derben Hände, mit denen er in nervöſer Haſt zuweilen den kurzen Schnurrbart ſtrich, Narben und ſchlechtverheilte Riſſe zeigten, wie fie die ſtändige Hantierung mit ſcharfen Werkzeugen hervorbringt.

Ein tiefes Mitgefühl erfaßte Harry für den Mann, und er wünſchte ihm im ſtillen, daß er möglichſt bald ſeines qualvollen Wartens enthoben und entlaſſen werden möchte.

Da ging plötzlich eine Bewegung durch die harrende Menge, etwa wie ein Windſtoß, der in das raſchelnde Laub des herbſtlichen Waldes fährt. „Ruhe! Der Gerichtshof!“ kündigten die Beamten den Eintritt des Richters an, der nach engliſchem Recht, das bei Schwur- gerichtsperhandlungen keine Beiſitzer kennt, allein den Gang der Verhandlungen leiten und ſpäter auf Grund des Wahrſpruchs der Geſchworenen das Urteil fällen ſollte.

26 Her Geſchworene. | 2

Nach amerikaniſcher Gepflogenheit hatten die meiſten Männer ihre Hüte aufbehalten. Nun aber, als der Richter mit raſchen Schritten von einer Seitentür her das erhöhte Podium betrat, wurden hurtig ſämtliche Köpfe entblößt.

Der Richter ſetzte ſich nieder, rückte ſich im Stuhl zurecht, ſchlug mit der vor ihm liegenden metallenen Gabel auf den Tiſch und verkündete den Wieder- beginn der am Tage zuvor abgebrochenen Verhand- lungen über die Auswahl der Geſchworenen.

Gleichzeitig war auch auf einen Wink des Richters eine Seitentür geöffnet worden, und herein trat ein feierlich in Schwarz gekleideter Mann, zu deſſen Seiten zwei Poliziſten ſchritten, die ihm das Geleit bis zum Anwaltstiſche gaben. Dort ließ der Mann ſich, nach- dem er einen kurzen Händedruck mit dem Verteidiger, der mit ihm etwa im gleichen Lebensalter ſtand, ge- wechſelt hatte, nieder, während die beiden Beamten ſich dicht hinter ihn ſetzten.

Harrys Aufmerkſamkeit war durch das Auftauchen des Mannes, augenſcheinlich des Angeklagten, viel zu ſehr in Anſpruch genommen, als daß er das übrige Publikum hätte ſtudieren können. Und doch wäre es für ihn zu beobachten intereſſant geweſen, wie voll atemloſer Spannung die Blicke ſämtlicher im Saale anweſenden Perſonen auf der ſchlanken Geſtalt des Angeklagten hafteten und ſein bleiches Geſicht mit dem intereſſanten Profil und den fait fanatiſch glühenden ſchwärmeriſchen Augen zu ſtudieren ſuchten. Nicht anders, wie etwa das Publikum im Theater einen berühmten Heldentenor bei ſeinem erſten Auftreten muſtert.

Doch blind und taub für dieſe Wirkung, die der Angeklagte durch ſein bloßes Erſcheinen ausgelöſt hatte,

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ſtarrte Harry unausgeſetzt in deſſen männlich ſchön zu nennendes Antlitz. Es kam ihm ſeltſam bekannt vor, ohne daß er jedoch im Augenblick anzugeben wußte, wo er es früher ſchon einmal geſehen hatte. Mehr noch, er war ſich genau bewußt, daß der Angeklagte nicht zu ſeinen Bekannten gehörte, ſondern ihm vollſtändig fremd war, und dennoch hatte er einmal irgendwo, und zwar in einem bedeutungsvollen Moment, mit ihm ge- ſprochen. Vielleicht einmal während eines Gewitters, denn die unklare Empfindung herrſchte in ihm vor, als ſei dieſes ſo ausdrucksvolle und dabei doch nervös bewegliche Geſicht bei jener Gelegenheit von unnatür- lichem Flammenſchein erhellt geweſen. Aber wo nur wo?

Das Verhör der zum Geſchworenendienſt Vor- geladenen war inzwiſchen wieder aufgenommen wor- den.

Harry, der in begreiflicher Ungeduld bei jedem neuen Namensaufruf ſchier verging, da ſtatt ſeiner immer wieder andere an die Reihe kamen und ſich in den zwiſchen dem Richtertiſche und den Geſchworenen- bänken auf dem erhöhten Podium aufgeſtellten Zeugen- ſtuhl niederlaſſen mußten, gewahrte faſt mit einem Gefühl des Widerwillens, wie ſich bei der Vernehmung jedes einzelnen Kandidaten eine Art Frage; und Antwortſpiel entwickelte, in das abwechſelnd Richter, Verteidiger und öffentlicher Ankläger, letzterer ein hoher Fünfziger mit ſchneeweißem Haar und wie aus Marmor gemeißelter hoher Stirn, ſowie hart und entſchloſſen blickenden Augen, die in ihrem fanatiſchen Blick vieles mit denen des Angeklagten gemeinſchaft- lich hatten, eingriffen. Es handelte ſich um immer dieſelben Fragen, und ſehr zu ſeinem Verdruß mußte Harry erkennen, in welch unverblümter Weiſe ſich faſt

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alle Kandidaten von dem ausſchließlichen Vorhaben, dem Geſchworenendienſt zu entrinnen, leiten ließen.

Das begriff er einfach nicht. Dieſe Leute hatten doch einen Eid geſchworen, ſie waren daraufhin verpflichtet, ſtreng bei der Wahrheit zu bleiben, und doch ſtanden verſchiedene Bemerlungen, die Harry zuvor unmwill- kürlich mit angehört hatte, als die Herren noch gruppen weiſe beieinander geſtanden, in ſo unvereinbar ſchroffem Gegenſatze zu den Angaben, die dieſelben Männer nun unter Eid und zumeiſt mit einer lächelnden Selbſt⸗ verſtändlichkeit machten, daß den ſchlichten, geraden Mann bis in die Seele hinein fror.

Denſelben würdigen, förmlich Vornehmheit aus- ſtrahlenden bejahrten Mann, den er ſich nicht nur als Bankpräſidenten vorgeſtellt, ſondern der ſich jetzt als ein ſolcher auch wirklich entpuppte, hatte er im Flüſter⸗ geſpräch mit einem Bekannten eine Vereinbarung machen hören, wonach fie am nächſten Tag eine Jacht fahrt nach Florida antreten wollten. Jetzt ſagte der- ſelbe Mann unter Eid aus, daß die Geſchäfte der von ihm geleiteten Bank an einem derart kritiſchen Wende- punkt angelangt ſeien, daß nur durch ſeine perſönliche Leitung eine große Störung abgehalten werden könnte, und er wurde daraufhin ohne weiteres entlaſſen.

Gerade entgegengeſetzt verhielt ſich der Mann mit dem aufgeſchwemmten, bleichen Geſicht, dem ſchwarzen Schnurrbart und den ſtechenden Augen. Er war Verſicherungsagent, nannte ſich Louis Vallace und erklärte auf Befragen, von dem zur Verhandlung gelangenden Fall faſt noch nichts gehört zu haben und in keiner Weiſe gegen den Angeklagten voreingenommen zu ſein. Dabei hatte dieſer ſelbe Mann vielleicht zwei Stunden zuvor einer ganzen Gruppe Vorgeladener gegenüber mit feiner genauen, durch eifrige Zeitungs-

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lektüre gewonnenen Kenntnis des Falles ſich gebrüſtet und mit dem Bruſtton der Überzeugung erklärt, daß der Angeklagte ſo ſchuldig wie die Hölle ſei und von Rechts wegen auf den elektriſchen Stuhl gehörte.

Dem einfachen, ſchlichten Verſtand Harrys blieb dieſe Vielſeitigkeit, mit der die überwiegende Mehr- zahl der Vorgeladenen öffentlich es mit ihrem Gewiſſen vereinbaren konnten, mit einem von ihnen feierlich geſchworenen Eid umzugehen wie etwa ein Akrobat mit in die Luft geworfenen Meſſern, ein unverjtänd- liches Rätſel. Das waren doch Meineidige, die ſich kein Gewiſſen daraus machten, einen feierlichen Schwur mit Füßen zu treten, ſei es nun, weil fie vom Ge⸗ ſchworenendienſte entbunden oder, wie es bei dieſem Wallace der Fall ſein mußte, zu ihm herangezogen zu werden wünſchten. Aber wenn ein Mann es ſo leicht mit ſeinem Eidſchwur nahm, welches Recht beſaß er dann, über einen Mitmenſchen zu Gericht zu ſitzen und einen Urteilsſpruch abzugeben, von deſſen Ausfall vielleicht Leben oder Tod abhing!

Eine rauhe Stimme, die durch ihren lauteren Klang die einſchläfernde Einförmigkeit der Verhandlung unterbrach, lenkte Harry von feinem trüben Gedanken- gange ab. Als er wieder nach dem Richtertiſche ſchaute, da gewahrte er, daß ſich zu den Geſchworenen inzwiſchen der Verſicherungsagent geſellt hatte. Der Mann aber, der faſt ſchreiend auf den Richter einſprach, hatte zu ihm wenige Stunden zuvor von ſeinen Befürchtungen wegen ſeiner Frau geſprochen, die er hilflos in der Wohnung hatte zurücklaſſen müſſen.

„Nein, ich kann und will nicht dienen,“ hörte Harry ihn eben empört ausrufen. „Meine Frau geht mir über alles, und ich habe nicht das Geld, um ihr eine Pflegerin zu ſtellen.“

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„Ihr Wunſch und Wille kann Sie nicht befreien,“ ſagte der Richter darauf, der mit gelangweilter Miene den Gang der Verhandlungen mehr als unintereſſierter Zuſchauer beobachtet als wirklich geleitet und nur ſelten einmal, wie gerade eben wieder, perſönlich ein- gegriffen hatte. „Selbſtverſtändlich wird dafür Sorge getragen werden, daß Ihre Frau im Falle ihrer wirk- lichen Erkrankung die nötige Pflege erhält. Aber da Sie von beiden Parteien als Geſchworener angenommen worden find, fo haben Sie Ihre Bürgerpflicht zu er- füllen. Nehmen Sie auf der Geſchworenenbank Ihren Platz ein.“

Umfonft blieben die noch heftigeren Proteſte des unglücklichen Mannes, wirkungslos verhallten auch ſeine Bitten und die ſchließlich faſt ſchluchzend hervorgebrach⸗ ten Vorſtellungen.

„Wo kämen wir hin, wenn wir uns darauf einlaſſen wollten, wegen der bloßen Möglichkeit der Erkrankung eines Familienmitgliedes taugliche Kandidaten vom Zurpdienfte zu dispenſieren!“ rief der öffentliche Ankläger mit hallender Stimme. „Dieſer Mijter Cregan hier iſt, ſeinen eigenen Angaben gemäß, ein unparteiiſcher, nicht voreingenommener Geſchworener, der nichts gegen die Todesſtrafe einzuwenden und auch erklärt hat, daß vollgültige Indizienbeweiſe für ihn zur Überführung eines des Mordes Angeklagten unter Umſtänden ausreichen würden. Ich muß darauf beſtehen, daß dieſer Mann ſeine Bürgerpflicht erfüllt. Wir beſchäftigen uns nun ſchon ſeit vier Tagen mit der Auswahl der Geſchworenenbank.“

Der junge Verteidiger ſprach ähnliche Worte, und es blieb bei der richterlichen Entſcheidung. Mit ge- ſenktem Kopf, einen verbiſſenen, böſen Ausdruck um die Lippen ſchritt der elfte Geſchworene zur eingefrie⸗

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digten Doppelbank und nahm neben dem Schwarz- bärtigen ſeinen Platz ein. |

Harry aber hatte Empfindungen ähnlich denen eines Fieberkranken, ihm wurde im ſelben Moment heiß und kalt, und mit immer ängſtlicherem Blicke erforſchte er den raſtlos weiterſchreitenden Gang der Wanduhr. Nun wartete ſein Frauchen ſchon ſeit vielen Stunden draußen vor dem Portal des Gerichtsgebäudes auf der kalten, zugigen Straße, und er war immer noch nicht an die Reihe gekommen. Zetzt begriff er plötzlich gar nicht mehr ſeine frohe Zuverſicht am Vorabend, wo er es als ſelbſtverſtändlich erachtet hatte, daß es ihm ohne weiteres gelingen würde, ſich der läftigen Pflicht zu entziehen. Was konnte er auch an triftigen Entſchul- digungsgründen vorbringen, was nicht ſchon vor ihm Vernommene vorgebracht hatten! Etwa es dieſen nach- machen, und wenn alle legitimen Einwände verſagten, einfach erklären, daß er ein Gegner der Todesſtrafe oder mit den Einzelheiten des Falles zu wohlvertraut ſei, um volle Unparteilichkeit wahren zu können? Das entſchuldigte ihn freilich ohne weiteres, aber es war zugleich auch gelogen, denn er war kein Feind der Todesſtrafe, ſondern vertrat mit voller Überzeugung den Standpunkt, daß ſich die Geſellſchaft entarteten Verbrechern gegenüber im Stande der Notwehr be- findet und zu ihrer Unſchädlichmachung einfach ge- zwungen iſt. Alſo konnte er eine ſolche Ausflucht nicht gebrauchen, denn dann hätte er ſich vor dem eigenen Gewiſſen meineidig gemacht, und von dem Moment an, wo er nicht länger mehr in den Spiegel ſchauen konnte, ohne vor ſich ſelbſt rot werden zu müſſen, war die Sonne aus ſeinem Lebensglück gewichen.

Aber auf der anderen Seite wartete ſein kleines Frauchen draußen auf der Straße mit ſehnſüchtigem

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Herzen auf ihn, und was ſollte aus ihr werden, wenn man ſeine Einwände unbeachtet ließ?

„Harry M. Prendergaſt!“ rief in dieſem Moment der Beamte mit ſchnarrender Stimme.

Vierzehntes Kapitel.

Wie im Traume erhob ſich Harry und ging nach dem Richtertiſch, um ſich neben dieſem, mit dem Geſicht dem Saale zugewendet, auf dem gefürchteten Zeugenſtuhle niederzulaſſen.

Der Saal ſchien ihm plötzlich zu einem anderen geworden zu ſein, und als er nun notgedrungen den Blick auf die Zuhörermenge richten mußte und in dieſe hundert verſchiedenen Geſichter ſchaute, die ihn als den augenblicklichen Mittelpunkt ihres Intereſſes mit dreiſter Neugierde anſtarrten, da ſpürte er förmlich, wie ihm der Angſtſchweiß hervortrat.

Nun war die Entſcheidung gekommen, und in wenigen Minuten würde er wiſſen, ob er zu ſeiner ſehnſüchtig auf ihn harrenden kleinen Frau zurück- kehren dürfte, ein freier Mann, der für ſeinen Liebling arbeiten und das graue Sorgengeſpenſt aus ihrem ſonſt ſo glücklichen Heim verſcheuchen durfte, oder ob er in dieſem ſchaudervollen Holzverſchlage neben den anderen elf „guten und getreuen“ Männern Platz nehmen mußte, der Himmel allein mochte wiſſen auf wie lange.

Doch mitten in ſeinem Gedankengange zuckte er unmerklich wieder zuſammen, als er jetzt wieder das Geſicht des Angeklagten, der keine zwei Schritte entfernt von ihm ſaß und ihn mit ähnlichen Blicken muſterte wie er ſelbſt ſonſt wohl einen ſeinem Zeichenſtift verfallenen Gegenſtand, gewahrte. Jetzt wußte er mit einem Male, wo er dieſes Geſicht ſchon geſehen hatte. Das war in

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jener letzten Septembernacht geweſen, in der ſich ſeine Frau über fein langes Ausbleiben jo ungemein ge- ängſtigt hatte.

Den durch feine Unruhe ihm unterwegs im Eifen- bahnwagen auffällig erſchienenen Fremden, mit dem er auf feinem Rückwege nach der Bahnſtation auf ſtockdunkler Landſtraße zuſammengeprallt war, hatte er über die weiteren Erlebniſſe, die ihm in jener Nacht noch beſchieden geweſen waren, vollſtändig vergeſſen gehabt. Nun wußte er aber auch, wie er zu der Empfin- dung gekommen war, daß er das Geſicht dieſes Mannes in ungewöhnlicher Beleuchtung erblickt haben müßte. Einfach ſeine brennende Zigarre war es geweſen, die dieſe ſcharfmarkierten Züge ſo nahe geſtreift hatte, daß die glühende Aſche ihm die eine Wange verſengt hatte. Und dabei hatte er eine Sekunde in das blitz- artig aus der Nacht auftauchende verzerrte Geſicht des Fremden ſtarren müſſen.

So hatte er alſo die damalige Verſtörtheit dieſes Mannes doch richtig gedeutet gehabt, er war wirklich ein Verbrecher. Merkwürdiger Zufall, der ſie jetzt im Gerichtſaal wieder zuſammenführte!

Doch Harry kam nicht dazu, darüber weiter nachzudenken, denn ſchon nahm ihn der öffent- liche Ankläger ſcharf ins Gebet und legte ihm ſo viele Fragen vor, daß er feine ganze Aufmerkſam- keit aufbieten mußte, um ſie richtig beantworten zu können.

Seine Unbehaglichkeit vermehrte ſich noch, als der weißhaarige Staatsanwalt nun einen Schritt näher auf ihn zu trat und ihn kurz fragte: „Haben Sie ſich über den zur Verhandlung gelangten Fall, ſei es durch die darüber in den Zeitungen erſchienenen Berichte oder auf andere Weiſe, bereits eine feſtſtehende Mei-

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nung gebildet, die es Ihnen unmöglich machen würde, ein unparteiiſches Urteil zu finden?“

„Nein,“ ſtotterte Harry der Wahrheit gemäß, „ich weiß über den Fall faſt nichts.“

„Sie haben nichts darüber in den Zeitungen ge- leſen?“

„Ich bin ſchon ſeit Wochen nicht mehr zum Leſen einer Zeitung gekommen,“ verſicherte Harry wahr- heitsgemäß.

Das leiſe Gekicher, das ſeine Antwort im Saale hervorrief, verwirrte ihn. Freilich, es klang ja geradezu für New Yorker Verhältniſſe ungeheuerlich, daß jemand wochenlang keine Zeitung in die Hand genommen haben ſollte, noch dazu ein Mann, der einen gebildeten Eindruck machte.

„Nun, zu Ihrer Orientierung erkläre ich Ihnen alsdann, daß der Gefangene angeklagt wird, in der Nacht vom 30. September auf den 1. Oktober dieſes Jahres innerhalb der Connellyſchen Privat- beſitzung, Freehurſt genannt und auf Long Zsland unmittelbar an der Oyſterbay gelegen, vorſätzlich und mit Überlegung den damals dort zu Beſuch weilen- den Rechtsanwalt Thomas Chadwick ermordet zu haben,“ ſagte der öffentliche Ankläger.

Merkwürdig! Das war ja gerade die Nacht, in welcher er ſelbſt ſein Abenteuer mit dem Angeklagten erlebt hatte, ging es Harry durch den Kopf. Dann hatte er dieſen alſo dabei beobachtet, wie er ſich gerade auf dem Wege zur Ausführung eines fluchwürdigen Ver- brechens befunden hatte.

Aber er kam zu keinem geordneten Nachdenken. Auch die weiteren, in ſchnellſter Folge an ihn gerichteten Fragen mußte er notgedrungen in einer Art und Weiſe beantworten, die den Ausdruck gleichmäßiger Zu-

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friedenheit in den Mienen des Richters, des Anklägers und des Verteidigers hervorriefen.

„Nun geben Sie noch an,“ ſchloß der Staatsanwalt endlich ſein Verhör, „ob Sie irgend einen ſtichhaltigen Grund hervorzubringen haben, der Sie vom Geſchwo⸗ renendienſt entſchuldigen müßte.“

Harry hüſtelte verlegen. Nun war der kritiſche Moment gekommen. „Ja, ich habe ſehr dringende Arbeiten vor eine Eilbeſtellung, die noch in dieſer Woche fertiggeſtellt werden muß, wenn —“

„Aber, lieber Mann, das ſind doch Privatſachen, die nicht hierher gehören,“ unterbrach ihn der Ankläger mit ungeduldiger Handbewegung. „Ich meine, ob Sie vor dem Geſetz gültige Einwendungen gegen Ihre Tätigkeit als Geſchworener in dem Prozeſſe vorzubringen haben.“

„Ja, ich brauche dringend Geld, ich habe meine Miete zu bezahlen und und —“ ſtotterte Harry und blieb dann hilflos ſtecken, als ſich wieder leiſes Gekicher im Saal vernehmbar machte.

„Miete haben wir alle zu bezahlen, das befreit nicht vom Geſchworenendienſte,“ bemerkte der öffent- liche Ankläger ſpöttiſch, was wiederum verhaltenes Ge- kicher zur Folge hatte. „Oder wollen Sie behaupten, daß der Uumſtand, Miete bezahlen zu müſſen, Sie davon abhalten könnte, den Verhandlungen mit jener Auf- merkſamkeit und Unparteilichkeit zu folgen, die Sie mit einem Eidſchwur als oberſte Richtſchnur Ihres Handelns zu befolgen geloben?“

Harry wiſchte ſich den Schweiß von der Stirn, er konnte förmlich fühlen, wie die Blicke aller Anweſenden ſich mißbilligend auf ihn richteten. „Selbſtverſtändlich würde ich als Geſchworener meine Pflicht voll und ganz tun, wie es einem ehrlichen Manne obliegt,“ brachte er hervor, „aber gerade gegenwärtig —“

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„Das genügt vollkommen,“ unterbrach ihn ber Staatsanwalt. „Wenn Sie Ihre Pflicht als ehrlicher Mann überhaupt zu erfüllen gedenken, ſo müſſen Sie dies ſowohl gegenwärtig als zu irgend einer anderen Zeit tun können. Ich hätte wirklich nicht erwartet, daß Sie uns mit derartigen Winkelzügen kommen würden, um ſich der edelſten Bürgerpflicht zu ent- ziehen, deren Erfüllung jedem ehrenhaften Manne zur ſtolzen Genugtuung gereichen ſollte!“

Harry wurde bei den polternden Worten des An- klägers zuerſt rot und dann bleich im Geſicht. Er richtete ſich ſteif im Stuhle auf und maß den anderen mit einem blitzenden Blicke. „Ich habe durchaus nicht die Abſicht, mich meiner Bürger pflicht zu entziehen,“ äußerte er ſchroff.

„Wirklich nicht?“ höhnte der Anwalt. „Well, dann gebrauchen Sie ſicherlich ſonderbare Methoden, um uns an den Feuereifer glauben zu machen, mit welchem Sie dem öffentlichen Wohl zu dienen beſtrebt ſind.“ |

Wieder brach kaum mehr verhaltene Heiterkeit im Zuhörerraum aus. Der Richter mußte energiſchen Gebrauch von ſeiner klingenden Gabel machen, um wieder Ruhe herzuſtellen.

„Können Sie denn nicht etwas raſcher verfahren?“ wendete ſich der Richter an den Staatsanwalt. „Wie lange noch ſollen wir unſere koſtbare Zeit an die Prüfung derartiger ehrenwerter Bürger verſchwen⸗ den müſſen? Traurig genug, daß dieſe Herren zu allen möglichen Ausflüchten greifen, nur um dem Staat, der ſie ſchützt, keine Dienſte leiſten zu müſſen.“

„Ich muß Euer Ehren beipflichten, es iſt wirklich eine Schmach, mit welchen Winkelzügen und Aus- reden unſeren Bemühungen, eine Jury zuſammen⸗

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zuſtellen, begegnet wird,“ pflichtete der Anwalt bei. „Da der Fall uns jedenfalls längere Zeit beſchäftigen wird, muß ich zu meinem Bedauern beantragen, daß außer den zwölf Geſchworenen noch ein Erſatzmann gewählt wird, der im Behinderungsfall eines der Schwurrichter deſſen Platz einzunehmen hätte.“

An dieſen Antrag knüpften ſich einige Erörterungen, er wurde aber ſchließlich vom Richter genehmigt.

„Fahren Sie mit dem Verhör dieſes Zeugen fort,“ gebot der ö mit einem geringſchätzigen Blick auf

Harry. | „Würden Sie alfo imſtande ſein, als Geſchworener Ihr ganzes ungeteiltes Intereſſe den Verhandlungen zu widmen, und ſich davon in keiner Weiſe durch irgend- welche Privatintereſſen abhalten laſſen?“ richtete der öffentliche Ankläger wieder das Wort an den im Zeugenſtuhl wie auf glühenden Kohlen Sitzenden.

Gereizt durch die nichtachtende Behandlung, die er wehrlos über ſich ergehen laſſen mußte, nickte Harry lebhaft. „Selbſtverſtändlich würde ich meine Pflicht ſo gut erfüllen wie Sie oder irgend ein anderer im Saal.“ „Dann akzeptiert das Volk den Kandidaten,“ äußerte der Anwalt, indem er ſich leicht gegen den jungen Verteidiger verneigte.

Der Verteidiger beſchränkte ſich auf wenige kurze Fragen, und dann nickte auch er befriedigt.

„Die Geſchworenenbank iſt gefüllt,“ erklärte der Richter, nicht minder zufriedengeſtellt. zen nur noch die Wahl eines Erſatzgeſchworenen.“

Der kalte Angſtſchweiß trat Harry auf die Stirn. Er hätte ſich in dieſem Moment ſelbſt ohrfeigen mögen, ſo wütend war er über ſeine Unfähigkeit, ſich dieſer verhaßten Geſchworenenpflicht zu entziehen. Dann kam ihm ein, wie er hoffte, erlöſender Gedanke.

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„Ich habe den Angeklagten ſchon geſehen,“ ſtam- melte er. „Ich weiß nicht, ob ich das nicht angeben muß.“

„Aber das geht wirklich zu weit!“ donnerte ihn nun der Richter an, der bleich vor Arger im Geſicht geworden war und ihn jetzt durch ſeine funkelnden Brillengläſer mit unverhohlener Mißbilligung anſtarrte. „Sie find der hartnäckigſte Menſch, der mir je vor- gekommen iſt! Haben Sie nicht zuvor ſchon unter Ihrem Eide angegeben, daß Sie mit dem Angeklagten weder verwandt noch Fee ſind?“

„Ja, ich meinte nur

„Nun, was beliebten Sie zu meinen?“ fragte der Richter barſch.

Doch Harry antwortete nicht, denn ihm war plötzlich eine ſeinen Schwager betreffende ſchreckhafte Erwägung gekommen. Wenn er dem Richter mitteilte, daß er ſich in jener Nacht gleichfalls innerhalb der Eonnelly- ſchen Beſitzung befunden hatte, dann mochte man ihn erſt recht weiter ausfragen, und dieſem Kreuz- verhör vermochte er auf die Dauer nicht ſtandzuhalten.

Vielleicht zwang man ihn gar dazu, unter ſeinem Eide über jenen Wortwechſel, den er zwiſchen Erik und dem Unbekannten belauſcht, auszuſagen. Und wie er das dachte, da war es ihm auch ſchon, als ob direkt vor ihm der Blitz in den Boden ſchlüge, denn er entſann ſich mit grauſamer Oeutlichkeit darauf, daß fein Schwa- ger ſeinen Gegner wiederholt als Chadwick angeredet hatte und das war ja der Name des Opfers, wie er vorhin erſt erfahren hatte.

Er hatte die Empfindung, als ſenke ſich auf ihn plötzlich eine ungeheuerliche Laſt herab, unter deren Druck ihm die Möglichkeit, einen klaren Gedanken zu faſſen, verloren ging.

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Mas ſich in unheimlicher Vorahnung da in feinem Innern regen wollte, war natürlich nur Unſinn. Es war erbärmlich von ihm, auch nur in Gedanken ſeinen Schwager mit irgendwelchen Vorgängen in jener Unglücksnacht, von denen er ſelbſt jetzt zum erſten Male erfuhr, in Verbindung zu bringen. Das war ſchon an ſeiner kleinen Frau ein Frevel, die mit ſolch großer Liebe an ihrem Bruder hing. Folglich mußte er ſchweigen. Er hatte auch die dunkle Empfin- dung, als ob man ihm nicht einmal glauben, ſondern ſeine Ausſage als leere Flunkerei betrachten würde, nur darum aus den Fingern geſogen, um ſich vom Geſchworenendienſte zu befreien.

„Wir ſchreiten zur Prüfung eines Kandidaten für den Hilfsgeſchworenendienſt,“ erklärte der Richter und winkte dem Gerichtſchreiber zu.

Irgend ein Name wurde aufgerufen, aus dem Häuflein noch verbliebener Männer löſte fi eine ein- zelne Geſtalt und ſchritt auf den Zeugenſtuhl zu.

Harry, der noch immer darin ſitzen geblieben war, fühlte ſich auch ſchon von einem der Gerichtsdiener unſanft beim Arme gepackt. „Nehmen Sie Platz auf der Geſchworenenbank, Sie ſind Nummer zwölf. Merken Sie ſich das,“ raunte er ihm zu.

Wie entfernte Meeresbrandung rauſchte es Harry in den Ohren, als er ſich nun vom Stuhl erhob und die wenigen Schritte zurücklegte, die ihn von der Ge- ſchworenenbank trennten. Er hatte die Empfindung, als müſſe er ſich gewaltſam zuſammennehmen, um nicht ins Schwanken zu geraten.

Dann, als er ſich auf den ihm zugewieſenen Sitz in der Geſchworenenbank niederließ, erfüllte ihn plöß- lich eine tiefe Trauer. Er ſah im Geiſt das bange, ängſtliche Geſicht ſeiner Frau. „Liebling, du brauchſt

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keine Furcht zu haben!“ dachte er, wie ſich ſelbſt zum Troſt. „Die Nächte bleiben mir ja zur Arbeit, und ich brauche nicht einmal eine Woche, um mit den Bildern fertig zu werden.“

Doch als ob ihm das Schickſal in erneuter Tücke ſeine Macht fühlen laſſen wollte, erhob ſich, als nun auch der Hilfsgeſchworene ſeinen Platz außerhalb der Geſchworenenbank eingenommen, der öffentliche An- kläger und begründete in kurzer Rede ſeinen Antrag, wonach die Geſchworenen in Anbetracht der Wichtig- keit des Falles und der dadurch bedingten Rollufions- gefahr während der Geſamtdauer der Verhandlungen unter Verſchluß gehalten werden ſollten. Das be- deutete für die zwölf „guten und getreuen“ Männer in des Wortes ſchlimmſter Bedeutung Einkerkerung. Man überwies fie freilich keinem Gefängniſſe, ſondern ſie wurden auf öffentliche Koſten in einem anſtändigen Hotel untergebracht, aber ſowohl dort wie im Gericht Tag und Nacht derartig ſtreng überwacht, daß ſie weder mit jemand ſprechen noch auch ſchriftlich ſich mit der Außenwelt in irgendwelche Verbindung ſetzen konnten. |

Der Antrag erregte unter der Mehrzahl der Ge- ſchworenen große Beſtürzung und lebhaften Unwillen. Verſchiedene von ihnen, darunter der eine Mann, der ſich um ſeine kranke Frau ſo ſehr bangte, ſowie Harry, ſprangen von ihren Sitzen auf und legten in ungeſtümer Weiſe Verwahrung ein.

Doch der Richter wies ſie in ſchroffer Weiſe zur Ruhe. „Jeder Bürger, ob hoch oder niedrig, hat dem Gemeinwohl erforderlichenfalls ſeine Sonderintereſſen unterzuordnen,“ entſchied er. „Ich verkenne durchaus nicht die Härten, die dadurch den Geſchworenen auf- erlegt werden, wenn man ſie während der Prozeß-

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dauer abſondert und unter Bewachung ſtellt. Als Menſch hege ich beſonders mit dem einen Geſchworenen, deſſen Frau krank daniederliegt, lebhafte Sympathie. 3h werde auch anordnen, daß er über das Befinden ſeiner Gattin ſtets genau auf dem laufenden erhalten wird. Aber ich ſehe mich zu meinem Bedauern ge- nötigt, dem Antrag des Anwalts Folge zu leiſten. Die Jury bleibt während der Verhandlungsdauer unter Verſchluß und wird der Fürſorge des Scheriffs uͤberwieſen.“

Harry achtete nicht auf das verzweifelte Aufſtöhnen des unmittelbar neben ihm ſitzenden unglücklichen Gatten, der in ohnmächtiger Wut mit den Zähnen knirſchte und die Fäuſte ballte, dafür war er viel zu ſehr mit ſeinem eigenen Leid beſchäftigt. Was ſollte aus ſeiner kleinen Frau werden? Das war doch geradezu undenkbar, daß er ſie, die ſo gewohnt war, daß andere für ſie ſorgten, jetzt ſchutzlos den ſchlimmſten Sorgen preisgeben ſollte!

Wie ſich die Dinge jetzt anließen, war der Croßſche Auftrag, auf den er fo große Hoffnungen geſetzt, gegen- ſtandslos geworden. Natürlich konnte er jetzt nicht an eine rechtzeitige Fertigſtellung der ihm in Auftrag gegebenen Zlluftrationen denken, und ebenſowenig konnten ſie einen bereits bezahlten Vorſchuß behalten. Was ſollte aber Margot tun, wie den drückenden Verpflichtungen begegnen? Das waren ſo qualvolle Vorſtellungen, daß ihnen der vor Erregung dem Zuſammenbruch nahe Mann hilflos wie ein Kind gegenüberjtand.

Wie im Geiſt hörte er wieder die Stimme des Richters, der ſich an die Geſchworenen wendete und ihnen die von ihnen übernommenen Pflichten nochmals kurz klarlegte. Dann hatten ſie der Reihe nach einen

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Schwur abzulegen, und auch Harry mußte mit zuckenden Lippen die Eidesformel nachſprechen und die ihm dargereichte Bibel küſſen.

„Der Scheriff wird dafür Sorge tragen, daß die Geſchworenen ihre Angehörigen kurz verſtändigen und ſich von dieſen die nötigen Kleider nebſt Wäſche zu- ſchicken laſſen können,“ erklärte der Richter noch. „Alle die Geſchworenen betreffenden Zuwendungen, jelbit- verſtändlich auch ihr geſamter Briefwechſel mit der Außenwelt, unterſtehen der Überwachung durch den Scheriff und deſſen Hilfsbeamten. Vir treten jetzt in die eigentliche Hauptverhandlung ein, und ich erteile das Wort dem öffentlichen Ankläger zur Begründung der gegen Benjamin Slotery erhobenen Anklage auf Mord im erſten Grade.“

Fünfzehntes Kapitel.

Im Laufe der Verhandlung war der Name des Angeklagten ſchon wiederholt genannt worden, ohne daß Harry darauf geachtet hätte. Was war ihm auch an dieſem Namen viel gelegen geweſen, ſolange er noch Hoffnung gehegt hatte, zu ſeiner kleinen Frau zurückkehren zu dürfen! Nun aber ſtutzte er und be- trachtete den Angeklagten mit ganz anderen Blicken. Da hatte er ja den Schriftſteller vor ſich, der ſo plötzlich berühmt geworden war, weil er jemand totgeſchlagen haben follte, und für deſſen Erzählungen er die zwölf Zeichnungen für den „Sonntagsherold“ hatte an- ſertigen ſollen. Da hatte ihm der Mann, über deſſen Schickſal zu entſcheiden er nun mitberufen war, zuerſt Brot ins Haus geſchafft, und nun hatte er um desſelben Mannes willen die goldene Gelegenheit wieder ver- paffen müſſen!

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Der öffentliche Ankläger hatte ſich erhoben und wendete ſich nun den zwölf Geſchworenen zu. „Meine Herren von der Jury,“ begann er, „im Namen des ſouveränen Volkes des Staates New Vork, als deſſen berufener Vertreter ich vor Ihnen ſtehe, klage ich den vor den Schranken des Gerichts befindlichen Benjamin Slotery, Schriftſteller von Beruf, an, einen geachteten Bürger dieſer Stadt, den Anwalt Thomas Chadwick, nach vorhergegangenem Wortwechſel in der Nacht zum 1. Oktober dieſes Jahres innerhalb der William Connellyſchen Beſitzung Freehurſt auf Long Island durch einen Revolverſchuß in die rechte Schläfe vor- ſätzlich und mit Überlegung getötet zu haben. Die Berechtigung dieſer auf Mord im erſten Grade lau- tenden Anklage werde ich durch eine Anzahl glaub- würdiger Zeugenausſagen beweiſen.“

Harry ſaß ſteif aufrecht, und nur mit Anſtrengung vermochte er feine Selbſtbeherrſchung zu bewahren. Amſonſt ſchalt er ſich innerlich töricht, weil ihm immer wieder die Drohworte in die Erinnerung kamen, die fein Schwager in jener Unglücksnacht gegen eben- denſelben Chadwick ausgeſtoßen hatte, deſſen blutiges Ende er nun im Verein mit ſeinen elf Mitgeſchworenen zu ſühnen berufen worden war. Während der langen Wochen, die ſeit jener Nacht verſtrichen waren, hatte ihm unausgeſetzt die bange Furcht zugeſetzt, daß der damalige Wortwechſel, zu deſſen unfreiwilligem Be- lauſcher er durch eine ſolch ſonderbare Verkettung von Amſtänden geworden, mit der tags darauf erfolgten Entlobung Eriks und deſſen fluchtartig anmutender Abreiſe von New Vork in dunklem Zuſammenhange ſtehen müßte. Und nun ſtellte es ſich heraus, daß die von ſeinem Schwager in blinder Wut geäußerten Drohungen noch in derſelben Nacht ſich verwirklicht

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hatten. Chadwick war ermordet worden aber von einem anderen Manne. So behauptete der öffentliche Ankläger, und er verſprach die Erbringung eines voll- gültigen Beweiſes für ſeine ſchwerwiegende Behaup⸗ tung.

An dieſer Erwägung klammerte ſich Harry feſt. Aus eigener Wahrnehmung wußte er, wie weitläufig die Connellyſche Beſitzung war. Wie oft laufen ähnlich geſtaltete Ereigniſſe gleichzeitig nebeneinander her. Gewiß hatte Erik gar nicht daran gedacht, ſeine im Jähzorn gemachten Drohungen zu verwirklichen. Das gewaltſame Ende Chadwicks in jener Nacht mochte ihn nicht minder beſtürzt haben, als die Kunde davon jetzt ihn ſelbſt erſchütterte, dachte Harry weiter. Ihm blieb nichts anderes übrig, als ſich abwartend zu ver⸗ halten. Hatte er in jener Nacht nicht die Empfindung gehabt, als wandelte der heute Angeklagte auf dunklen Wegen? Mochte der Staatsanwalt feine Anklage ber weiſen, als Geſchworener war es ohnehin feine be- ſchworene Pflicht, erſt zu hören und dann zu urteilen.

Der öffentliche Ankläger ſprach weiter, ſachlich bei aller Schärfe ſkizzierte er in knappen Umriſſen den der Anklage zugrunde liegenden Tatbeſtand. Er ſchilderte die Entdeckung der Tat durch den Beſitzer von Freehurſt und berichtete weiter, wie zunächſt alle näheren Umſtände auf Selbſtmord hingedeutet hatten, ſo daß auch der Coroner ein dementſprechendes Urteil abgegeben hatte.

„Die Anklagebehörde,“ fuhr er mit erhöhter Stimme fort, „hatte keinerlei Veranlaſſung, der Angelegenheit in ihrem damaligen Stadium näher zu treten. Das änderte ſich erſt, als zehn Tage ſpäter eine anonyme Mitteilung einlief, in der Name und Adreſſe einer jungen Dame, die ſich in der Tatnacht gleichfalls in

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Freehurſt zu Beſuch aufgehalten hatte und imſtande fein ſollte, wichtige Aufſchlüſſe über gewiſſe Vorgänge geben zu können, die den gewaltſamen und nicht durch eigene Hand herbeigeführten Tod Chadwicks zur Folge gehabt, genannt wurden. Das mit der Zeugin an- geſtellte Verhör ergab, daß ſie kurz nach Mitternacht mit dem heute Angeklagten im Freehurſter Park, unweit des ſogenannten Ausſichtstempels, eine Zur ſammenkunft gehabt, in deren Verlauf Slotery feinen Entſchluß zu erkennen gegeben hatte, beim erſten Zuſammentreffen mit Chadwick dieſen ohne weiteres gleich einem tollen Hunde niederzuſchießen. Als darauf- hin der Angeklagte verantwortlich vernommen werden ſollte, hüllte er ſich in verſtocktes Stillſchweigen und verſtand ſich noch nicht einmal zu Angaben darüber, wo er ſich in der Tatnacht um die kritiſche Stunde auf- gehalten haben wollte. Ebenſowenig räumte er eine Zuſammenkunft mit der Zeugin ein oder leugnete ſie ab. Er verhielt ſich vielmehr vollſtändig paſſiv und verweigerte ſelbſt auf die Frage, ob ihn ein direktes oder indirektes Verſchulden an Chadwicks Tode träfe, jegliche Antwort. Var ſein Verhalten ſchon in hohem Grade verdächtigend für ihn, ſo ließen die durch die Anklagebehörde geſammelten Beweiſe an der ihn treffenden Schuld keinerlei vernünftigen Zweifel mehr. Dieſe Beweiſe, meine Herren Geſchworenen, werden Ihnen nunmehr der Reihe nach vorgeführt werden, und an deren Hand müſſen und werden Sie, wie es Ihre Pflicht iſt, zu einer Verurteilung des Angeklagten gelangen.“

Harry fiel es ſchwer, den Worten des Anklägers mit der nötigen Aufmerkſamkeit zu folgen. Immer wieder regten ſich bange Zweifel in ſeiner Seele. Auf die Minute genau konnte er ja die Vorgänge in jener Nacht

46 Oer Geſchworene. 2 nicht beſtimmen, weil er keine Uhr beſeſſen hatte. Aber wenn die Tat noch vor Mitternacht begangen worden war, ſo konnte ihr Urheber der Angeklagte nicht gut ſein, denn es war ſchon ſpäter geweſen, als er mit ihm auf der dunklen Landſtraße zuſammengetroffen war, und damals war Slotery in der Richtung auf die Connelly ſche Beſitzung zugelaufen. Freilich hatte er ihn auch vor- her ſchon einmal die nämliche Richtung einſchlagen ſehen.

Als erſter Zeuge wurde William Connelly auf- gerufen. Er ſah bleich und angegriffen aus, als er nun im Zeugenſtuhle Platz nehmen mußte, und die ihn beherrſchende nervöſe Erregung kam in ſeiner auch äußerlich an den Tag gelegten Unruhe deutlich zum Vorſchein. Seine Antworten gab er in der denkbar kürzeſten Weiſe. Ja, er hatte ſich am Vorabend mit Chadwick verabredet gehabt, ihn am nächſten Morgen in feinem Zimmer behufs einer geſchäftlichen Rück- ſprache, zu deren Erledigung der Anwalt überhaupt nur nach Freehurſt gekommen war, aufzuſuchen. Als er, deſſen Wunſch berückſichtigend, ſchon ſehr früh ſich eingefunden, hatte er die vom Korridor ins Schlaf- zimmer ſeines Beſuchers führende Tür unverſchloſſen und Chadwick ſelbſt unter Umſtänden tot im Bette vorgefunden, die nur auf Selbſtmord ſchließen ließen. Auch jetzt noch ſei er von der Richtigkeit einer ſolchen Annahme überzeugt. Den Angeklagten kenne er nicht, habe ihn ſeines Wiſſens zuvor noch niemals geſehen, jedenfalls ſeien ihm deſſen Beweggründe, die ihn in der Tatnacht nach Freehurſt gebracht, völlig unbekannt. Darüber befragt, ob er in der Nacht irgend etwas Außergewöhnliches oder Verdächtiges, das mit der Ausführung des Verbrechens in irgendwelchen Zu- ſammenhang gebracht werden könnte, wahrgenommen habe, verneinte er entſchieden.

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Nun erhob ſich der Verteidiger Ramſay, um den Zeugen einem Kreuzverhör zu unterziehen, wie es das amerikaniſche Gerichtsverfahren vorſchreibt, das den vorſitzenden Richter auf die paſſive Rolle des Un- parteiiſchen beſchränkt und die Leitung des eigentlichen Verfahrens in die Hände der Anklage und Verteidi⸗- gung legt.

Schon die erſte Frage des jungen Verteidigers brachte den Zeugen zum Stirnrunzeln.

„Sie haben eine Schweſter, die geiſteskrank iſt?“

Zögernd bejahte Connelly. Aber er gab ſich keinerlei Mühe, ſeinen Unmut zu verbergen.

„Ihre Schweſter wurde vor einigen zwanzig Jahren als gemeingefährliche Geiſteskranke in einer öffentlichen Anſtalt untergebracht?“

„Aber ich muß doch ſehr bitten!“ fuhr der Bankier auf, der dunkelrot im Geſicht geworden war. „Was hat dieſe Hereinzerrung einer traurigen Familien- angelegenheit mit dem zur Verhandlung ſtehenden Prozeſſe zu tun?“

„Darüber zu entſcheiden können Sie getroſt mir überlaffen,“ lautete die Antwort. „Sie ſtehen unter Eid und haben meine Fragen wahrheitsgetreu zu beantworten, was der Gerichtshof Ihnen beſtätigen dürfte. Übrigens handelt es ſich nur um die Feſt⸗ ſtellung aktenkundiger Tatſachen,“ fuhr der Verteidiger fort, als Connelly noch immer mit einer Antwort zau- derte. „Ich beabſichtige durchaus nicht, näher auf eine Ihnen begreiflicherweiſe peinliche Familienſache einzugehen, als dies die Intereſſen meines Klienten verlangen.“

„Ich erhebe Einwand gegen dieſe Art der Befra- gung,“ miſchte ſich nun der öffentliche Ankläger ein. „Ich habe einen derartigen Vorſtoß der Verteidigung

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vorausgeſehen und deshalb eine Zeugin zur Stelle, durch die ich beweiſen werde, daß Miß Frene Connelly mit dem uns beſchäftigenden Vorgange in keiner Weiſe in Verbindung gebracht werden kann.“ „Wir werden dieſe Zeugin hören,“ fuhr Frank Ramſay unbeirrt fort, „das aber kann mich nicht davon abhalten, an den Zeugen Connelly gewiſſe Fragen zu richten, deren Beantwortung mir im wohlverſtandenen Intereſſe meines Klienten weſentlich erſcheint.“ Er wendete ſich wieder direkt an den Bankier. „Räumen Sie ein, daß Ihre Schweſter vor etwa zwanzig Jahren, veranlaßt durch den Treubruch ihres Verlobten, den Verſtand verlor? Sie griff ihn kurz darauf an einem öffentlichen Orte tätlich an und verwundete ihn mit einer verborgen gehaltenen Waffe. Zu einer Prozeß verhandlung kam es indeſſen wegen ihres Geiftes- zuſtandes nicht, aber fie wurde durch richterliche Ver⸗ fügung einer Frrenanſtalt überwieſen.“

Connelly ſaß in fürchterlicher Erregung im Stuhl und proteſtierte lebhaft gegen die von der Verteidigung beliebte Frageſtellung. Aber obwohl der Diſtrikts- anwalt ihm hierbei zu Hilfe kam und es mit ſcharfen Worten als durchaus unzuläſſig brandmarkte, aus frivoler Senſationsluſt längſt vergeſſene Angelegen- heiten, deren Ausgrabung auf den Verhandlungsgang keinerlei Einfluß haben könnte, aufzuwärmen, entſchied der Richter doch zugunſten Ramfays und befahl dem Zeugen die Beantwortung der an ihn geſtellten Fragen.

Mit ſchwerem Herzen gehorchte Connelly. Sein Geſicht alterte plötzlich um Jahre. „Ich möchte zur Steuer der Wahrheit angeben, daß meine arme Schwe- ſter ſchon lange vor ihrer Verlobung an Verfolgungs- wahnſinn litt, leider aber ihr Zuſtand von den ſie be- handelnden Arzten nur als hochgradige, aber in keiner

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Hinſicht Grund zur Beunruhigung darbietende Ner- voſität angeſehen wurde. Als ich mich, veranlaßt durch verſchiedene Vorgänge, die ſich im engſten Familien kreiſe abſpielten, über die Natur des wirklichen Leidens meiner Schweſter keiner längeren Täuſchung mehr hingeben konnte, war ich es, der dem mir eng befreun⸗ deten Verlobten Frenes einen Zurücktritt nahe legte.“

„Nennen Sie mir den Namen des damaligen Verlobten Ihrer Schweſter.“

Wie von einem Hieb getroffen, zuckte der Gefragte zuſammen. Hilfeheiſchend richtete er zuerſt den Blick auf den Staatsanwalt, dann auf den Richter felbſt, aber beider Achſelzucken verkündete ihm, daß ſich der Verteidiger mit feiner an ihn gerichteten Frage inner- halb des Rahmens feiner Befugniſſe hielt, und er darum antworten mußte.

Im Saal war es ſtill geworden, und mit großer Spannung erwartete jedermann die Antwort; in dem ſich allgemein geltend machenden Vorgefühl, daß es eine gelinde Senſation abſetzen würde, ſah man ſich auch nicht enttäuſcht.

„Thomas Chadwick war mit meiner Schweſter ver- lobt,“ ſtieß Connelly rauh heraus.

„Derjelbe Chadwick, wegen deſſen angeblicher Er- mordung mein Klient angeklagt iſt?“

Connelly vermochte nur bejahend zu nicken, ſeine Lippen verſagten.

Im Publikum war es totenſtill geworden, auch die Geſchworenen ſchienen intereſſierter als bisher. Harry aber hatte wieder das Gefühl, als ob er auf glühenden Kohlen ſäße. Im Geiſt ſah er ſich wieder durch den dunklen Laubengang ſchreiten, hörte er wieder das unheimliche Raſcheln, ſah er wieder die weißgekleidete Frauengeſtalt auf ſich zutreten, ihm die Hand N den

1911. III.

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Arm legen und mit ihm bis in den Lichtbereich der mondbeſchienenen Rotunde hinaustreten, ihn dann mit ſtarren, irren Augen anſchauen und mit dumpfem Schredenslaute ſich abwenden und vor ihm ins Ge- büſch zurückflüchten. Welch neue Verwicklung war nun dies wieder!

Der von der Verteidigung geführte Vorſtoß konnte doch nur bezwecken, die Perſon der Geiſteskranken in den Vordergrund zu ſchieben, ſie in der Meinung der Geſchworenen zu verdächtigen. Die Berechtigung zu einem ſolchen Vorgehen ließ ſich nicht abweiſen, denn die Unglückliche hatte gegen dieſen ſelben Chadwick vor langen Jahren ſchon einmal ein Attentat ausgeführt. Daß fie im Parke mit dem darin angetroffenen Chad- wick in ähnlicher Weiſe zuſammengeraten ſein konnte, leuchtete Harry vollkommen ein, und im Grunde ſeines Herzens wünſchte er, daß die Verteidigung mit ihrer nur andeutungsweiſe vorgebrachten Verdächtigung recht behalten möchte. Denn wenn wirklich ein der- artiges Verbrechen vorlag, dann war es beſſer für ſie alle, es wurde als Täterin eine vor dem Geſetz ohnehin nicht verantwortlich zu machende Frrſinnige entlarvt, als daß der ſchreckliche Verdacht weiter um ſich griff und ſeine Schatten auf einen Mann warf, der ſeinem eigenen Herzen ſehr teuer geworden und an dem ſeine Frau mit geradezu abgöttiſcher Liebe hing.

Aber und dieſe Frage trug wieder viel Beun- ruhigung in feine Seele wie war die Wahnfinnige in den Beſitz einer Schußwaffe gekommen, und wie kam Chadwicks Leiche in das ihm im Freehurſter Herren- hauſe eingeräumte Gaſtzimmer, und wie hatte ihn Connelly dort tot auf dem Bett liegend vorfinden können, den Revolver noch in der ſtarren Totenhand?

Erleichterung brachte im Gegenſatz hierzu dem in

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ſolch düſteren Gedankengang Verſtrickten wieder die Erwägung, daß genau dieſelben Einwendungen auch zugunſten Eriks ſprachen, mit der ſchwerwiegenden Einſchränkung freilich, daß er als ſehr kräftiger Mann mit Leichtigkeit die Leiche eines anderen Mannes in die Arme nehmen und ſie forttragen konnte, was bei der Wahnſinnigen ausgeſchloſſen erſchien.

Gewaltſam zwang Harry dieſe widerſpruchsvollen Gedanken nieder und ſich ſelbſt zu gewiſſenhafter Auf- merkſamkeit, um ſich ja kein Wort von den Verhand- lungen, die jo unvermutet mitten hinein in fein eigenſtes Lebensglück unheilvolle Schatten zu werfen drohten, entgehen zu laſſen.

„Ich frage Sie, Zeuge,“ ſagte eben der Verteidiger mit erhobener Stimme, „welchen Grund Sie für die von Ihnen verſchiedentlich geäußerte Vermutung hatten, wonach Ihre Schweſter ſich in der uns hier beichäftigen- den Nacht zum 1. Oktober im Parke Ihrer Beſitzung aufgehalten haben ſoll?“

Die Erregung Connellys ſtieg womöglich noch. „Woher können Sie wiſſen, daß ich eine derartige Vermutung überhaupt gehegt habe?“

„Einerlei, woher ich es weiß, nicht ich, ſondern Sie haben Zeugnis abzulegen. Ich frage Sie nochmals, Zeuge, ob Sie Grund für Ihre Vermutung hatten, wonach Ihre Schweſter ſich in der Tatnacht der Aufſicht ihrer Wärterin zu entziehen wußte und ſich unbeauf- ſichtigt im Parke zu ergehen vermochte?“

„Ich glaube dieſe Frage heute mit gutem Gewiſſen verneinen zu dürfen,“ äußerte Connelly gepreßt.

„Mit anderen Worten, Sie haben inzwiſchen Ihre Meinung geändert,“ ließ Ramfay nicht locker. „Aber am Vormittag des 1. Oktober vermuteten Sie jedenfalls, daß Ihre Schweſter nächtlich im Parke geweſen war?“

52 Der Geſchworene. 2

Der Bankier wiſchte ſich den Schweiß von der Stirn. „Ja, ich es hatte mir von meinem Schlaf- zimmerfenſter aus jo geſchienen, als ob ich im Mond- ſchein draußen eine meiner Schweſter ähnliche Ge- ſtalt ſah.“

„Aber Sie täuſchten ſich?“

Wieder ſtockte Connelly, er ſchien angeſtrengt über ſeine Antwort nachzudenken. „Ich muß mich in der Tat getäuſcht haben,“ ſagte er endlich rauh. „Die Wärterin meiner Schweſter erklärte mir aufs bündigſte, daß ſie ihre Schutzbefohlene in jener Nacht nicht aus den Augen verloren habe.“

„Die Zeugin Betſy Greene wird ihre damaligen Be- hauptungen ſofort eidlich beſtätigen,“ rief der Staats- anwalt, ſich an die Geſchworenen wendend. „Da ich genau weiß, aus welcher trüben Quelle die Verteidigung geſchöpft hat, ſo —“

„Ich beſtreite der Anklage das Recht, einen ſpäter von mir vorzuführenden Zeugen ſchon im voraus in der Meinung der Jury herabzuſetzen,“ unterbrach ihn Ramſay erregt.

„Well, dann unterhalten wir uns ſpäter weiter über dieſen Zeugen,“ verſetzte der Staatsanwalt mit vielſagendem Achſelzucken.

Harry hatte ſchon wiederholt beobachtet, wie der Angeklagte ſeinem Verteidiger gelegentlich irgend eine Weiſung oder dergleichen zuflüſterte, ſich im übrigen aber um den Gang der Verhandlungen nicht im geringſten bekümmerte. Offenbar hatte er ganz anderes und Wichtigeres zu tun, als den Zeugenver- nehmungen zu lauſchen. Harry wurde die Empfindung nicht los, als ſähe er einen hervorragenden Schau- ſpieler in der Vorführung feiner ſorgfältig zurecht- gelegten Paraderolle begriffen. Jede Bewegung des

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Angeklagten, ſeine läſſige Art des Umſichſchauens, fein ſorglos zur Schau getragenes Lächeln und die un- geſcheute Art, wie er ſich bald mit dieſem, bald mit jenem an ihn Herantretenden flüſternd unterhielt, ohne daß ihm vom Richtertiſche eine Mahnung zuteil geworden wäre, verletzte das Empfinden des ſchlichten Mannes, dem nichts verhaßter als Unaufrichtigkeit war. Dabei ſchien dieſer Ben Slotery der eigentliche geiſtige Leiter der Verteidigung zu ſein, denn immer, wenn er ſeinem Verteidiger ein paar Worte zuraunte, holte dieſer zu einem neuen ſenſationellen Vorſtoß aus. So auch jetzt wieder.

„Sie ſtanden kürzlich in ärztlicher Behandlung?“ fragte Ramſay leichthin den Zeugen, der ihn mit plötzlich weitgeöffneten Augen anſtarrte. „Nun ja, geben Sie es nur ruhig zu, Sie ließen ſich von Doktor Murray in Long Zsland City eine oberflächliche Arm- wunde verbinden und fuhren beinahe eine ganze Woche in Ihrem Auto die annähernd ſechzig Meilen tagtäglich hin und zurück, während Doktor Byk, der ſonſt immer in Krankheitsfällen nach Ihrer Beſitzung gerufen zu werden pflegt, in Oyſterbay ſelbſt und kaum einen Steinwurf von Freehurſt entfernt wohnt.“

Connelly rief heftig: „Was kann Sie's kümmern, welchem Arzte ich mein Vertrauen ſchenke? Mein Tun und Laſſen ſollte Sie kaum intereſſieren dürfen.“

„Das tut es auch ſonſt durchaus nicht,“ lautete die kühle Abfertigung, „aber ich habe mich im Zntereſſe meines unſchuldig angeklagten Klienten der mir frei- willig angebotenen Dienſte eines mit den einſchlägigen Verhäͤltniſſen genau vertrauten Mannes, den wir ſpäter als Zeugen hören werden, bedient, und zwar hat der Mann, wie ich ſchon jetzt betonen möchte, die meinen Fragen zugrunde liegenden Ermittlungen ſchon

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lange zuvor, ehe wir mit ihm in Berührung kamen, angeftellt gehabt.“

„Ich kann mir ſchon die Perſon dieſes Zeugen denken, es handelt ſich um die rachſüchtigen Ver- leumdungen eines von mir wegen ſchamloſen Er- preſſungsverſuchs fortgejagten Dieners, der —“

„Nicht weiter in dieſem Tone, wenn ich bitten darf,“ unterbrach ihn der Verteidiger kühl. „Ich habe kein Intereſſe daran, mich für den von Ihnen derartig charakteriſierten Zeugen irgendwie zu erwärmen. Wollen Sie ihm ſpäter Ihre Auffaſſung ins Geſicht hinein ſagen, fo ſteht dies ganz bei Ihnen. Doch nun beantworten Sie meine Frage, was Sie von den Vorgängen der Tatnacht ſonſt noch wiſſen.“

Der Bankier begnügte ſich mit einem Achſelzucken. „Was ſoll ich ſonſt noch wiſſen?“ fragte er. „Ich habe geſchlafen.“

„Wann entdeckten Sie in Wirklichkeit, daß Chadwick tot war?“

„Wie ich ſchon ſagte, hatte ich mich mit ihm in feinem Zimmer verabredet, und als ich nun früh —“

„Ja, ja, das wiſſen wir bereits. Aber ich frage Sie, ob Sie in jener Nacht, alſo etwa von dem Zeitpunkt ab, wo Chadwick zuletzt von Dritten lebend geſehen worden iſt, bis zu der von Ihnen angegebenen Früh- ſtunde, von dem Ermordeten, ſei es vor ſeinem Tode oder nachher, nichts geſehen oder gehört haben?“ ſchloß er mit erhobener Stimme.

„Das iſt eine direkt beleidigende Frage!“ entfuhr es Connelly, der im Zeugenſtuhl hochgefahren war. „Wie dürfen Sie ſich erdreiſten, eidlich von mir gemachte Ausſagen zu bezweifeln?“ Er wendete ſich an den durch heftiges Aufſchlagen mit der Gabel zur Ruhe mahnenden Richter. „Euer Ehren, ich bitte gegen

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derartige Unterſchiebungen um Schutz. Wenn ich unter Eid erkläre, daß ich von dem ſchrecklichen Geſchick, das meinen Freund Chadwick in jener Nacht ereilte, erſt nach ſechs Uhr morgens die erſte Kenntnis erhielt, ſo hat die Verteidigung mir zu glauben.“

„Oder den Gegenbeweis zu führen,“ entgegnete Ramſay achſelzuckend. „Ich behalte mir das Recht zur weiteren Befragung des Zeugen vor, vorläufig bin ich mit ihm fertig.“

Mit einem tiefen Atemzuge erhob ſich Connelly von dem für ihn zum Marterftuhl gewordenen Zeugenſitze.

Als nächſter Staatszeuge wurde die Pflegerin der geiſteskranken Schweſter des Bankiers vor die Schranken gerufen.

Sechzehntes Kapitel.

Betſy Greene machte in ihrer bei aller ſchlichten | Einfachheit doch elegant und diſtinguiert wirkenden Kleidung einen entſchieden vorteilhaften Eindruck. Da ſie gleich den übrigen vorgeladenen Zeugen ſchon volle vier Tage in dem ſchlecht ventilierten Wartezimmer hatte ausharren müſſen, erſchien die Bläſſe ihrer Wangen und der matte Ausdruck ihrer Augen, denen die in der Wurzel zuſammengewachſenen buſchigen Brauen einen eigentümlich verſchloſſenen Blick verliehen, ohne weiteres begreiflich. Ohne eigentlich ſchön zu ſein, und obwohl der erſte Jugendſchmelz ſchon abgeſtreift war, hatte ſie in ihrer Erſcheinung doch etwas wohltuend Feſſelndes, man zählte ſie unwillkürlich zu jenen ſtillen, innerlich gefeſtigten Frauennaturen, die ſelten an die Offentlichkeit treten, deren ſelbſtloſes Wirken im engen häuslichen Kreiſe aber um ſo ſegensvoller empfunden wird.

56 Der Geſchworene. u

Die üblichen Perſonalfragen beantwortete die Zeugin dahin, daß fie ledig, mit keiner der Haupt- perſonen verwandt oder verſchwägert, dreißig Jahre alt und von Beruf geprüfte Krankenpflegerin ſei.

„Sie ſind mit der Pflege und Beaufſichtigung der geiſteskranken Schweſter des Bankiers Connelly be- auftragt?“ begann der öffentliche Ankläger das Verhör.

„Ich bin ſeit einem halben Monat aus meiner Stellung ausgeſchieden, und zwar auf meinen eigenen Wunſch hin,“ gab die Zeugin zur Antwort.

„Aber Sie waren in der Nacht vom 30. September zum 1. Oktober mit der Überwachung der Kranken beauftragt?“

„Das war ich.“

„Bot ſich Ihrer Schutzbefohlenen in dieſer Nacht etwa Gelegenheit, den von ihr bewohnten und von Ihnen ſtändig unter Verſchluß gehaltenen Pavillon ohne Ihr Vorwiſſen zu verlaſſen?“

„Nein!“ Die Stimme der Pflegerin klang jetzt ſehr entſchieden. „Dieſelbe Frage richtete am Morgen des 1. Oktober Miſter Connelly an mich, und das dadurch in meine Pflichttreue geſetzte Mißtrauen kränkte mich derartig, daß ich noch am ſelben Tage meine Stellung kündigte. Ich blieb aber auf Miſter Connellys Bitten jo lange, bis er eine paſſende Nach- folgerin für mich gefunden hatte.“

„Sie verſichern alſo unter Zeugeneid, daß Miſter Connellys Schweſter in jener Nacht den Pavillon nicht verlaſſen und ſich ohne Ihr Vorwiſſen im Parke er- gangen haben kann?“

Betſy ſchüttelte den Kopf. „Das iſt vollſtändig ausgeſchloſſen. Miß Connelly wurde von mir an jenem Abend früher als gewöhnlich zu Bett gebracht. Ich gebrauchte dieſe Vorſicht, weil wir Vollmond hatten

1 Roman von Otto Hoecker. 57

und ſie alsdann immer erregter iſt als ſonſt. Aber ſie ſchlief bald darauf ein das mag etwa um zehn Uhr abends geweſen fein. Ich legte mich einige Zeit ſpäter zu Bett, nachdem ich mich genau zuvor davon überzeugt hatte, daß die einzige Ausgangstür des Pavillons abgeſchloſſen war und der Schlüſſel, ſowie der zur inneren Korridortür, ſich in meiner Verwahrung befand. Das ſagte ich auch Miſter Connelly, als er mich in der Nacht wachklingelte, und ſpäter noch ein- mal, als er am nächſten Morgen zu mir kam.“

Der öffentliche Ankläger nickte befriedigt. „Ich habe an die Zeugin keine weitere Frage zu ſtellen,“ verſetzte er mit einem vielſagenden Achſelzucken. „Je- denfalls iſt durch ihre Ausſage das ohnehin faden- ſcheinige Manöver der Verteidigung, längſt ver- jährte Dinge, die mit der heutigen Verhandlung in keinerlei Zuſammenhang ſtehen, herbeizuziehen, noch durchſichtiger geworden. Sch überlaſſe es der Jury, ſich daraufhin ein Urteil über den Wert der von der anderen Seite angewendeten Methoden zu bilden.“

Ramſay quittierte über dieſen Anhieb mit einem ſpöttiſchen Lächeln. „Auch ich bin feſt überzeugt davon, daß die Jury pflichtgemäß durch ihr Schlußverdikt die frivole Weiſe, in der die Klageerhebung gegen meinen Klienten durchgepeitſcht wurde, brandmarken wird,“ äußerte er. „Im übrigen habe ich meinerſeits an die Zeugin auch einige Fragen zu richten.“

Damit wendete er ſich Betſy zu, die in gelaſſener Haltung, mit im Schoß zuſammengefaltet liegenden Händen im Zeugenſtuhl ſitzen geblieben war.

„Connelly weckte Sie in jener Nacht? Warum geſchah dies?“

„Er wollte ſeine Schweſter im Park geſehen haben

58 Oer Geſchworene. a

und von mir Auskunft darüber haben, ob fie jetzt im Pavillon anweſend ſei oder nicht.“

„Die Kranke hatte ſich alſo Ihrer Obhut nicht ent- zogen?“

„Nein, ich fand ſie ſchlafend im Bett, als ich raſch in ihr an mein Zimmer grenzendes Schlafgemach trat. Das rief ich Miſter Connelly auch durchs Fenſter zu.“

„Wann war es ungefähr, als Connelly Sie aus dem Schlafe klingelte?“

„Ich kann's nicht genau ſagen, denn ich war ziem- lich verſchlafen und hielt mich nicht lange außerhalb des Bettes auf.“

„Am darauffolgenden Morgen kam Connelly noch- mals auf ſeine nächtlichen Beobachtungen zu ſprechen?“

„Ja.“

„Diesmal betrat er den Pavillon?“

„Gewiß.“

„Bei dieſer Gelegenheit ſtellte er Ihre Wahrheits- liebe in Frage und beharrte bei ſeiner vermeintlichen Wahrnehmung, daß die Geiſteskranke ſich während der Nacht draußen im Park aufgehalten habe?“

„Ja, aber ſchließlich räumte er doch halb und halb ein, daß er ſich geirrt haben könne. Aber es geſchah nicht aus Überzeugung, ſondern weil ich ihm mit Kündigung gedroht hatte.“

„Machte Miſter Connelly auf Sie den Eindruck, als ob er ſelbſt von der Wahrheit ſeiner Behauptungen durchdrungen ſei?“

Die mit erhobener Stimme geäußerte Frage des Verteidigers bewirkte, daß die Aufmerkſamkeit im Saale ſtieg. Welche Berechnung verbarg ſich wohl hinter dieſem unfreundlichen Vorſtoß?

Die Zeugin war ſich offenbar nicht bewußt, mit welcher Spannung die Blicke aller Anweſenden auf

2 Roman von Otto Boecker. 59

ſie gerichtet waren, zögernd ſchaute ſie vor ſich nieder. „Es widerſtrebt mir, gegen einen Gentleman etwas Anfreundliches zu jagen, zumal Miſter Connelly, ab- geſehen von ſeinem Auftreten neulich, immer ſehr zuvorkommend gegen mich war,“ äußerte ſie ſchließlich. „Aber ſein Benehmen an jenem Morgen erſchien mir eigentümlich. Ich hatte die Empfindung, als wäre er in der Abſicht gekommen, um von mir wenig- ſtens ein halbes Zugeſtändnis zu erlangen.“

„Wollen Sie mit Ihren Worten etwa andeuten, daß Connelly in Ihnen ſelbſt den Eindruck hervor- zubringen wünschte, als könnte feine Schweſter mög- licherweiſe doch Ihre Wachſamkeit getäuſcht und ſich ohne Ihr Vorwiſſen im Park ergangen haben?“

„So etwa kam's mir vor.“

„Haben Sie ſich eine Meinung über die Gründe gebildet, die Miſter Connelly zu einer ſolchen Hand- lungsweiſe veranlaßt haben könnten?“

Betſy Greene ſchwieg wieder eine Weile und ſchaute in der vorigen Haltung nachdenklich vor ſich nieder. „Offen geſtanden,“ meinte ſie ſchließlich, „darüber habe ich mir bisher ſchon meine Gedanken gemacht. Mir ſchien es ſo, als wäre Miſter Connelly daran gelegen geweſen, mir die Wahrſcheinlichkeit eines Zufammen- treffens ſeiner Schweſter mit Chadwick im Park mund⸗ gerecht zu machen.“

Der Bankier hatte während des Verhörs der Zeugin ſchon wiederholt Anzeichen großer Unruhe an den Tag gelegt. Nun aber platzte er in heller Empörung heraus: „Sie ſollten ſich ſchämen, Miß Greene, denn Sie verdrehen den wirklichen Sachverhalt in unver- antwortlicher Weiſe!“ Umſonſt blieb es, daß der Richter ihn zur Ordnung rief und die Gerichtsbeamten ihn auf ſeinen Sitz zurückzudrängen ſuchten. „Nein, ich

60 Der Geſchworene. 0

will ſprechen, denn der Eindruck, den die perfiden Ausſagen dieſer Perſon auf die Anweſenden gemacht haben müſſen, darf und ſoll nicht zu einem bleibenden werden!“ |

„Die Starten Ausdrücke des Zeugen richten ſich von ſelbſt,“ erklärte nun Ramſay achſelzuckend, „ich habe aber nichts dagegen einzuwenden, wenn dem Herrn geſtattet wird, eine ihm offenbar ſehr am Herzen liegende Erklärung jetzt ſchon abzugeben.“

„Oer Sachverhalt iſt einfach genug,“ begann Con- nelly. „Ich glaubte meine Schweſter im Park geſehen zu haben und zog deshalb Erkundigung im Pavillon ein. Obwohl mir's nicht in den Kopf wollte, daß ich mich ſo ſehr getäuſcht haben könnte, beruhigte ich mich doch bei der beſtimmten Erklärung der Wärterin, wonach meine Schweſter friedlich ſchliefe, und begab mich nach meinem Schlafzimmer zurück.“

„Warum überzeugten Sie ſich nicht durch den eigenen Augenſchein davon, daß Ihre Schweſter ſich wirklich im Pavillon befand?“ wollte der Verteidiger wiſſen.

„Ich bitte,“ antwortete Connelly, „nicht zu ver- geſſen, daß ich Miß Greene aus dem Schlafe weckte, alſo unmöglich Einlaß in das nur von ihr und meiner Schweſter bewohnte iſolierte Gebäude zu ſo ſpäter Stunde verlangen konnte und auch keinen ſtichhal- tigen Grund zur Bemänglung ihrer Wahrheitsliebe hatte.“

„Sie legten ſich alſo ſchlafen und erwachten wann wieder?“ |

„Ich ſagte ſchon bei meinem Verhör vorhin, daß ich etwa um ſechs Uhr früh aufſtand und mich raſch ankleidete. Dann begab ich mich ungeſäumt nach Chadwicks Zimmer und machte dort die ſchreckliche Entdeckung.“

n Roman von Otto Hoecker. | 61

„Und warum zogen Sie nochmalige Erkundigungen bei der Krankenpflegerin ein?“

„Oer Verdacht, daß meine nächtlichen Wahrneh- mungen doch richtig geweſen und ich meine Schweſter wirklich im Parke erblickt hatte, befeſtigte ſich in mir immer mehr, und ich beſchloß daraufhin, Miß Greene nochmals zu befragen.“

„Sie gingen ſomit von der Vorausſetzung aus, daß Ihre Schweſter für das Ende Chadwicks verantwortlich gemacht werden müßte, und hielten ſie für die Täterin? Wie läßt ſich dies in Einklang mit der von Ihnen fo hartnäckig feſtgehaltenen Selbſtmordtheorie bringen?“

Connelly wechſelte die Farbe, und mit finſterem Blick maß er die ſchlanke Geſtalt des jungen Ver- teidigers. „Meine Anſicht iſt unverrückt dieſelbe ge- blieben, und ich bin auch heute noch überzeugt davon, daß Chadwick wirklich Selbſtmord begangen hat. Aber ich gebe zu, daß ſich in mir unter dem Einfluß des erſten lähmenden Schreckens der Verdacht auslöſte, als könnte meine arme Schweſter Chadwicks Ende verſchuldet haben. Da ich unter dem Eindrucke ſtand, daß meine Schweſter ſich wirklich im Parke aufgehalten hatte, mußte ich notgedrungen an der Hand früherer Ereig- niſſe meine Schlußfolgerungen ziehen. Ich bin der Zeugin Greene wirklich dankbar, daß fie ihre gegen- teiligen früheren Behauptungen mit einem Eide be- kräftigt hat, denn nunmehr weiß ich, daß ich von irrigen Annahmen, hervorgerufen durch eine mir frei- lich nach wie vor unerklärliche Augentäuſchung, aus- gegangen bin.“

„Woher könnte denn Ihre Schweſter ſich den Re- volver, mit dem Chadwick erſchoſſen wurde, verſchafft haben?“

„Wie ſoll ich das wiſſen können,“ gab der Bankier

62 Oer Geſchworene. OD

achſelzuckend zurück. „Weiteres Nachdenken brachte mich ohnehin zu der Überzeugung, daß meine arme Schweſter, ſollte fie wirklich auf einem Frrgange durch den Park mit Chadwick zuſammengetroffen ſein, ſich nicht an ihm vergriffen haben konnte. Wie hätte ſie auch die Leiche ins Herrenhaus ſchaffen können!“

„Well, man kann ſich den Vorgang auch anders ausmalen,“ äußerte Ramſay ſarkaſtiſch. „Die Wahn- ſinnige mag durch welche Verkettung von Um- ſtänden bleibe ganz dahingeſtellt doch den tödlichen Schuß auf Chadwick abgefeuert haben. Jemand, der den Park nach ihr abſuchte, mag auf die Leiche Chad- wicks geſtoßen und ſich über den wirklichen Zuſammen⸗ hang ſofort klar geworden ſein. Er mag den Leichnam ins Herrenhaus geſchafft und zur Vermeidung jeg- lichen öffentlichen Skandals derartig zurechtgelegt haben, daß das Coronerverdikt notgedrungen auf Selbſtmord lauten mußte.“

„Ich halte es unter meiner Würde, auf eine ſolche Anterſchiebung auch nur mit einem einzigen Worte einzugehen!“ ſagte Connelly eiskalt, aber mit einem Blicke voll flammender Leidenſchaft auf den Anwalt. „Wenn meine Schweſter überhaupt mit Chadwick zuſammengetroffen ſein könnte, was nicht der Fall war, wie die beſchworene Zeugenausſage Miß Greenes verbürgt, ſo hätte immerhin ihr mitleiderregender Anblick auf den Mann, der ſeine Jugendliebe bis zu ſeinem letzten Lebenstage nicht völlig zu vergeſſen vermochte, erſchütternd genug einwirken können, um ihm den Revolver in die Hand zu drücken.“

„Sehr glaubhaft!“ war alles, was der junge Ver- teidiger darauf zu bemerken hatte.

Da von keiner Seite vorläufig eine weitere Frage

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an die Krankenpflegerin geftellt wurde, durfte fie nach der Zeugenbank zurückkehren.

„Miß Nellie Freſham!“ rief die ſchnarrende Stimme des Gerichtsclerks den Namen der nächſten Belaftungs- zeugin in den Saal.

Selten geſchah es, daß einmal der Blick eines An- weſenden die Phyſiognomien der zwölf „guten und getreuen“ Männer in der Geſchworenenbank ſtreifte, denn man hatte Intereſſanteres zu beobachten. Nach und nach war jene behaglich-grufelige Stimmung im Saale entſtanden, wie ſie eine geſchickte Miſchung von Spannungseffekten und Senſationskitzel beim großen Publikum untrüglich hervorzubringen pflegt. Selbſt die Geſchworenen beachteten ſich gegenſeitig nicht. Harrys Nebenmann ſaß mit in die Hand geſtütztem Kinne da und ſtarrte unausgeſetzt vor ſich nieder. Seine Gedanken weilten ſchwerlich im Saale, ſondern mochten zu ſeiner kranken Gattin wandern.

In Harry regte ſich immer wieder der Drang, wahr- heitsgemäß mitzuteilen, was er ſelbſt in jener Nacht in Freehurſt erlebt hatte; aber da waren fo viele Be- denken, die nicht minder gebieteriſch Berückſichtigung heiſchten, vor allen Dingen die ihn verzehrende Rieſen- angſt, durch Ablegen einer ſolchen Beichte den erſten Verdacht gegen den eigenen Schwager rege zu machen. Das durfte unter keinen Umſtänden geſchehen! So lieb ihn ſeine kleine Frau auch hatte, ſo fühlte er doch inſtinktiv, daß ſie ihm eine Bloßſtellung ihres nicht minder heißgeliebten Bruders nie verzeihen würde. Schon darum mußte er unverbrüchlich weiter ſchweigen, durfte auch nichts von ſeiner eigenen Wahrnehmung jagen, die er im Park gemacht, als er mit der Wahn- ſinnigen unweit des japaniſchen Pavillons zufammen- getroffen war. Das fiel ihm um ſo leichter, als er ja

64 Der Geſchworene. 2 nicht einmal wußte, ob die Nachtwandlerin, mit der er das unheimliche Rencontre gehabt, identiſch mit der geiftes- geſtörten Schweſter Connellys war. Nein, er durfte kein Vort verlauten laſſen, wollte er nichtunabſehbares Un- heil heraufbeſchwören! Wie er freilich dieſes Stillſchwei⸗ gen mit ſeiner Pflicht und dem eigenen Gewiſſen auf die Dauer vereinbaren ſollte, blieb ihm ein dunkles Rätſel.

Gewaltſam ſuchte er ſeinen troſtloſen Gedankengang zu unterdrücken, indem er ſich zwang, den Verhand- lungen im Saale ungeteilte Aufmerkſamkeit zu ſchenken. Sein Blick fiel auf eine weibliche Geſtalt, die ſich in- zwiſchen auf den äußerſten Vorderrand des Beugen- ſtuhls niedergeſetzt hatte. Da er im Geiſte noch die ſo ſympathiſche Erſcheinung der vorigen Zeugin vor ſich ſah, blickte er unwillkürlich ſchärfer zu und konnte nicht verhindern, daß ſich in ihm etwas wie Vor- eingenommenheit gegen die neue Zeugin zu regen begann, in ſolch unüberbrückbar ſchroffem Gegenſatze ſtand zu Betſy Greenes wohltuend ruhigem und ſicherem Auftreten ihre zerfahrene Erregung, und förmlich ab- ſtoßend berührte ihn die unverhüllte Angſt in ihren geradezu klaſſiſch ſchön geformten Zügen.

Er wurde den Eindruck nicht wieder los, als ob dieſe voll unverhüllter Scheu ihren Blick vom Verteidiger- tiſche und dem dahinter ſitzenden Angeklagten fern- haltende Hauptbelaſtungszeugin, wie ſie der öffentliche Ankläger in ſeiner Eröffnungsanſprache ſelbſt genannt hatte, von Rechts wegen auf die Anklagebank gehörte. And dieſe Empfindung verdichtete ſich zur Gewißheit, verglich er die nervöſe Unraſt ihrer Bewegungen und Mienen, ihre unſtet fladernden, förmlich das böſe Ge- wiſſen widerſpiegelnden Blicke, die fortwährend den Saal durchwanderten, mit der heiteren Ruhe, die für gewöhnlich die Züge des Angeklagten erfüllte.

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Siebzehntes Kapitel.

Die an ſie gerichteten Generalfragen beantwortete die Zeugin mit ſo leiſer Stimme, daß ſelbſt die in den vorderſten Reihen ſitzenden Zuhörer kaum einige aus dem Zuſammenhang geriſſene Worte auffangen konnten.

„Ich möchte überhaupt nichts ausſagen!“ hauchte Nellie, deren Hände mit nervöſer Geſchäftigkeit ſich bald an den Seſſellehnen zu ſchaffen machten und dann wieder an dem weißen Batiſttaſchentuch zerrten, mit dem ſie ſich häufig Luft zufächelte.

„Darüber haben nicht Sie zu beſtimmen, Zeugin,“ entgegnete der Oiſtriktsanwalt in ernſtem Tone. „Unterlaſſen Sie, bitte, jegliche Wiederholung Ihrer ſchon während der Vorunterſuchung gemachten Ver- ſuche, mit Ihrem Zeugnis zurückzuhalten, denn Sie müſſen unbedingt ausſagen, und dem Gerichtshof ſtehen unter Umſtänden geeignete Mittel zur Erzwingung Ihrer Ausſage zur Verfügung.“

Im Zuhörerraum ſtreckte man die Hälſe, dieſe ein- leitenden Bemerkungen des öffentlichen Anklägers machten es auch dem Uneingeweihten ohne weiteres klar, daß die Ausſagen der Zeugin von entſcheidender Wichtigkeit ſein mußten, und man beugte ſich weit vor, um ſich davon auch fein Wort entgehen zu laſſen.

„Der Angeklagte iſt Ihnen perſönlich bekannt?“ begann der Diſtriktsanwalt.

„Ja.“

„Sie waren mit ihm verlobt?“

„Nicht nicht eigentlich verlobt, aber wir wir waren uns gut.“

„Ich möchte zur Sache bemerken,“ fiel der Ver- teidiger ein, „daß wir ohne weiteres zugeben, daß das zwiſchen der Zeugin und meinem Klienten be—

1911. III. 5

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ſtandene Verhältnis von ihrer Mutter, von der ſie pekuniär abhängig iſt, nicht gebilligt wurde, daß ferner die Verhältniſſe meines Klienten dieſes Ver- hältnis ausſichtslos erſcheinen ließen und Miß Freſham ihm bereits eröffnet hatte, daß ſie ſich dem Willen ihrer Mutter zu fügen habe.“

Ein dankbarer Blick traf ihn aus den tränenumflorten Augen der Zeugin, und dieſe nickte kaum merklich wie zur Beſtätigung ſeiner Worte.

„Well,“ äußerte der Oiſtriktsanwalt, „dann können wir gleich zu den Vorgängen in der kritiſchen Nacht übergehen. Sie hatten damals eine letzte Zufammen- kunft mit dem Angeklagten. Von wem ging die Anregung zu dieſer Zuſammenkunft aus?“

Die Zeugin antwortete nicht, verhüllte ihr Geſicht und weinte.

„Ich möchte weiter bemerken,“ fiel Ramſay wieder ein, „daß die Anregung zu dieſer letzten Zuſammen— kunft von meinem Klienten ausging. Er hatte wieder- holt brieflich um die Gewährung einer entſcheidenden Ausſprache gebeten; als er von Miß Freſham keine Antwort erhielt, ſchrieb er ihr, daß er ſich unter allen Amſtänden in der betreffenden Nacht einfinden und keinen Verſuch ſcheuen würde, die junge Dame zu ſprechen. Obwohl er auch auf dieſen letzten Brief keine Antwort erhielt, begab er ſich am gedachten Abend nach Oyſterbay, wo er durch eine Zugver— ſpätung erſt lange nach der gewohnten Stunde eintraf. Wir beſtreiten nicht, daß er ſich trotzdem nach Freehurſt begab und dort vielleicht eine Viertelſtunde lang auf Miß Freſham warten mußte. Schließlich wird auch nicht beſtritten, daß Miß Freſham mit meinem Klienten im Freehurſter Park, unweit des ſogenannten Aus- ſichtstempels am Strande, eine Ausſprache hatte, die

1 Roman von Otto Hoeder. 67 Ä„E—ñ ? ... —ͤ—e ö —Z . T —k— .ꝛ—-— . ͥ indeſſen nur wenige Minuten dauerte und nach deren Beendigung ſich mein Klient nach dem Bahnhof zurückbegab und dort den zur Abfahrt nach Long Island City ſtehenden Zug benützte. Was ſich in jener Nacht in Freehurſt ſonſt noch zugetragen haben mag, entzieht ſich darum auch ſeiner Kenntnis voll- ſtändig.“

Zu dieſen Feſtſtellungen hatte der öffentliche An- kläger nur ſarkaſtiſch gelächelt. „Ich bin der Ver teidigung für dieſe Vereinfachung des Verhörs der Zeugin in deren Intereſſe dankbar,“ meinte er nicht ohne Fronie, „ziehe es aber vor, nunmehr ohne weitere Beihilfe ſeitens der Verteidigung vorzugehen.“ Er wendete ſich der Zeugin wieder zu.

Dieſe hielt in geſteigerter Erregung wie flehend die gefalteten Hände hoch. „Muß ich wirklich ausſagen?“ ſtöhnte ſie. „Ach, es iſt für mich ſo ſo demütigend und und ſo ſchrecklich!“

„Sie gehen von falſchen Vorausſetzungen aus, geugin,⸗ unterbrach fie der Diſtriktsanwalt wohl- wollend. „Niemand im Saale wird Sie irgendwelcher unlauteren Handlungsweiſe zu verdächtigen wagen, ſondern es der Natur der Sache nach nur begreiflich finden, daß Sie dem heute Angeklagten die von dieſem ſo dringlich nachgeſuchte letzte Unterredung gewährten. And nun zur Sache!“ Er räufperte ſich, blätterte einen Moment in den vor ihm auf dem Tiſche ausgebreitet liegenden Notizen und begann dann wieder: „Sie geben zu, daß Sie bei jener letzten Zuſammenkunft dem Angeklagten eröffneten, daß an eine Fortſetzung des geheimen Verlöbniſſes nicht gedacht werden könnte, Sie vielmehr entſchloſſen ſeien, ſich dem mütterlichen Machtwort zu beugen. Wie verhielt ſich der An- geklagte demgegenüber?“

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Zaghaft blickte Nellie zum erſten Male, ſeit ſie im Zeugenſtuhle Platz genommen, auf Ben Slotery, doch fie ſchrak zuſammen und wendete haſtig den Blick, als ſie ſeine Augen feſt auf ſich gerichtet ſah; es lag etwas Herausforderndes in ſeinem Blicke, das ihr das Blut in die Wangen trieb. Unverhüllte Geringſchätzung blitzte ihr aus dieſen dunklen Schwärmeraugen ent- gegen. Sie ſchienen höhnend und verurteilend zu ſagen: Tu dein Schlimmſtes, ich mache mir nichts daraus! Du haſt mich einmal verraten und verleugnet, mir grauſam die letzte Zukunftshoffnung geraubt, und nun iſt mir's ganz einerlei, ob du ausſagſt oder ſchweigſt!

„So antworten Sie doch, Zeugin!“ drängte der Diſtriktsanwalt. „Es handelt ſich ja nur um die Wiederholung der von Ihnen bereits zu Protokoll ge- gebenen Ausſagen.“

„Dann würde es meines Ermeſſens den Gang der Verhandlungen weſentlich beſchleunigen, wenn dieſes Protokoll einfach zur Verleſung gebracht würde. Die Zeugin kann ſich ja nachher zur Sache erklären,“ be- merkte der Verteidiger.

Als auch der Richter zuſtimmte, nahm der Diftrikts- anwalt aus ſeinen Akten einen Bogen zur Hand. „Hier haben wir das Verhörsprotokoll, das die Unter ſchrift der Zeugin trägt und worin fie folgendes aus- ſagt: ‚Es iſt mir nicht bekannt, von wem die anonyme Anzeige herrührt, die auf eine von mir in der Nacht zum 1. Oktober im Park von Freehurſt einem gewiſſen Benjamin Slotery gewährte Unterredung Bezug nimmt. Eine ſolche Unterredung fand indeſſen wirklich ſtatt. Jedenfalls habe ich über dieſe Zuſammenkunft weder vorher noch nachher zu jemand, auch nicht zu meiner Mutter, geéſprochen.“ Der Diſtriktsanwalt blickte auf. „Es folgen nun die von der Zeugin bereits

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wiederholten Ausſagen über die Gründe, die ſie zum Abbruch des geheimen Verlöbniſſes mit dem An- geklagten bewogen haben, und dann heißt es weiter: „Slotery befand ſich in hochgradiger Erregung, und als ich ihm unumwunden erklärte, daß ich das ſo lange in ihn geſetzte Vertrauen röllig verloren hätte und davon überzeugt wäre, daß er es nie zur Anerkennung der Mitwelt oder zu einem geficherten Einkommen, auf Grund deſſen wir heiraten könnten, bringen würde, antwortete er mir wörtlich: Du irrſt dich in meiner Beurteilung, denn der in mir lebende Wille zur Be- rühmtheit iſt jo ſchickſalsgewaltig, daß er ſich durch- ſetzen muß und wird! Schon möglich, daß ich die Mitwelt nicht zwingen kann, mich als Dichter zu ehren, aber vergiß nicht, daß auch Heroſtratus den Dianen- tempel der Epheſer erſt in Brand ſetzte, nachdem all ſeine anderen Bemühungen, anerkannt zu werden, fehlgeſchlagen waren. Und ich habe die Empfindung, als ob es nur eines flüchtigen Anſtoßes von außen her bedürfte, um mich zum anderen Heroſtrat werden zu laſſen. Ich will berühmt oder meinethalben auch berüchtigt werden, ſchließlich kommt das auf dasſelbe heraus. Aber ich werde die Menſchheit, wenn nicht zur Bewunderung, ſo doch zum Abſcheu zwingen! Gleich- gültig ſoll niemand bleiben dürfen, wenn mein Name genannt wird!“ Auf eine Zwiſchenfrage des In- quirierenden bemerkt die Zeugin, daß Slotery ungemein exaltiert in ſeinem ganzen Weſen ſei und ſich immer zwiſchen Extremen bewege. Anfänglich habe ſie das für ein Zeichen ihm innewohnender Genialität ge- halten, und gerade fein von allen Mitmenſchen ſich eigenartig ſcharf unterſcheidendes exzentriſches Weſen habe ſie zu ihm hin gezogen. Damals ſei ſie kaum den Kinderſchuhen entwachſen geweſen und habe den

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überſchwenglichen Verſicherungen ihres Anbeters vollen Glauben beigemeſſen. Aber im Laufe der Jahre habe ſich ihr Zweifel an feiner künftigen Dichtergröße immer ſtärker geregt, bis ſie endlich die Berechtigung der ihr mütterlicherfeits gemachten Vorhaltungen habe einſehen müſſen. Wörtlich fährt fie fort: ‚Meine Mutter hatte ihr kleines Vermögen an meine Erziehung gewendet und warf mir vor, daß ich meine Jugend einem unklaren Phantaſten opferte, der ſchließlich nur meine Zukunft ruinieren, es aber niemals zu etwas bringen würde. Das ſagte ich im Laufe unſerer letzten Ausſprache unumwunden, und Slotery wurde darauf hin ſo erregt, daß er ſich zu beſchimpfenden Außerungen gegen meine Mutter hinreißen ließ und direkte Drohungen gegen fie ausſtieß. Darüber wuͤrde auch ich ärgerlich und ſagte ihm, daß ich gegen meine Mutter

Verpflichtungen hätte, die durch ſein ſtark ausgeprägtes Selbſtbewußtſein und die zu feinen Mißerfolgen fo kraß kontraſtierende Selbſtüberhebung nicht erfüllt werden könnten. Chadwick, der tags zuvor zum Beſuch in Freehurſt eingetroffen war, hatte mir viele Aufmerkſamkeiten erwieſen, ja, obwohl er mich nur oberflächlich kannte, hatte er kurz nach dem Abendeſſen meiner Mutter angedeutet, daß er ſich gern um meine Hand bewerben würde, falls er Hoffnung auf Erhörung hegen dürfte. Aus Gründen, die er nicht weiter er- wähnte, legte er Wert darauf, ſeine Verlobung mit mir noch im Laufe des folgenden Tages, als des voraus- ſichtlich letzten ſeines Aufenthalts in Freehurſt, be- kannt zu geben. Von alledem hatte mich meine Mutter gleich nach Aufhebung der Abendtafel in Kennt- nis geſetzt. Es kam zwiſchen uns zu einem gereizten Wortwechſel, Mama wollte mich durchaus zu einer Annahme des in ihren Augen äußerſt vorteilhaften

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Antrags überreden, während ich ihr unumwunden erklärte, daß ich niemals einem mir nur oberflächlich bekannten Mann, der den Jahren nach obendrein mein Vater fein konnte und zu dem ich auch nicht die ge- ringſte Neigung verſpürte, mein Fawort geben würde. Um Chadwick auszuweichen, begab ich mich bald darauf mit meiner Freundin Viola Connelly, die ſich an jenem Abend nicht wohl fühlte, nach deren Schlaf- zimmer, wo ich ihr lange Geſellſchaft leiſtete. Als ich mich endlich freimachen konnte, eilte ich in großer Haſt nach dem Ausſichtstempel, wo Slotery bereits auf mich wartete. Durch ſein anmaßendes Gebaren geärgert, berichtete ich ihm, daß Chadwick mir einen Antrag gemacht habe, und als Revanche für die vielen Anliebenswürdigkeiten, die er zu mir geſagt, ließ ich gegen meine beſſere Überzeugung durchblicken, daß ich es mir noch ſehr überlegen würde, ehe ich mich zur Zurückweiſung eines derartigen Antrags, der mich zur Frau eines reichen und mich ſpäterhin ſicherlich auf Händen durchs Leben tragenden Mannes machen würde, entſchlöſſe. Als ich, wiederum durch ſeine ausfallenden Zwiſchenbemerkungen gereizt, noch hinzufügte, daß ich lieber einen ungeliebten Mann, der mir eine geſicherte Zukunft verbürgen könnte, heiraten würde, als mich mit ſeinen ewigen Verſprechungen künftiger Größe noch länger hinziehen zu laſſen, geriet er vor Wut ganz außer ſich. Er erging ſich gegen Chadwick in wilden Schmä— hungen. Zch hatte den Eindruck, als müßte er mit ihm von früher her verfeindet ſein, beſonders als er zuletzt ſich zu der Drohung hinreißen ließ, daß er der Laufbahn dieſes gewiſſenloſen Don Juans ein Ende mit Schrecken bereiten würde, ſobald er ſeiner Perſon habhaft werden würde. Ja, er vermaß ſich, ihn beim bloßen Erblicken wie einen tollen Hund niederzuknallen. Sein Betragen

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wurde derartig ausfallend, daß ich ihm kurz erklärte, in alle Zukunft nichts mehr mit ihm zu tun haben zu wollen. Damit ließ ich ihn ſtehen und ging in hen Haſt nach dem Herrenhaus zurück.“ Der Diſtriktsanwalt legte das Protokoll wieder vor ſich nieder. Im Saale war es ſtill geworden, und das Mienenfpiel der meiſten Zuhörer verriet die ver- ſchiedenartigen Empfindungen, die die Ausſagen der Zeugin in ihnen hervorgerufen hatten. Zumeiſt blickte man mitleidig auf die im Zeugenſtuhl völlig Zufammen- geſunkene, die das Taſchentuch vor die Augen gepreßt hielt und laut weinte. Aber es war auch eine Minder- heit im Saale, die mißbilligend die Zeugin muſterte; zumeiſt waren es die weiblichen Zuhörer, deren Lippen ſich herbe geſchürzt hatten, und Ausdrücke wie: „Herz- loſe Kokette, hätte ihr Zeugnis unter allen Umſtänden verweigern müſſen!“ ſchwirrten durch die Luft, wobei die geſtrengen Kritikerinnen freilich eine Eigenart des amerikaniſchen Strafgeſetzes überſahen, das Zeugnis verweigerung als Mißachtung des Gerichts ungleich härter ahndet, als dies bei einem deutſchen Zeugnis zwangsverfahren möglich wäre. | Doch beim erſten Wort, das der Diſtriktsanwalt verlauten ließ, wurde es wieder ſtill im weiten Saale. Man witterte allgemein das Kommen der Haupt- ſenſation.

„Ihre Abſicht, ſofort das Herrenhaus e gaben Sie unterwegs wieder auf?“ „ga.“

„Sie beſchloſſen, nochmals umzukehren?“

„Ja.“ | „Zeugin, laſſen Sie ſich nicht zu jedem Worte nötigen! Wie oft ſoll ich Ihnen noch wiederholen, daß Sie unter Eid ſtehen!“ |

2 Roman von Otto Hoecker. 73

„Aber es iſt doch jo ſchrecklich, in ſolcher Weiſe aus- ſagen zu müſſen!“

„Gewiß, als Menſch gehört Ihnen meine volle Sympathie, aber als Staatsanwalt muß ich auf Ihrer Ausſage beſtehen,“ klang es kühl zurück. „Alſo noch- mals, Sie kehrten um, vermutlich in der Abſicht, dem Angeklagten noch einige Worte zu ſagen?“

„Nein, nicht gerade deswegen, aber ich ſah vom Herrenhauſe her Chadwick herankommen.“

„Er kam auf Sie zu?“

„Ja.“

„Wie verhielten Sie ſich?“

„Ich wollte nicht von ihm bemerkt werden, dazu befand ich mich in viel zu großer ſeeliſcher Erregung.“

„Sie wichen ihm alſo aus?“

„Ja. Das war verhältnismäßig leicht. gch befand mich gerade auf halber Terraſſenhöhe, wo ſich ein Springbrunnen mit einer künſtlichen Tropfſteinhöhle dahinter befindet. Dieſe lag in tiefem Schatten, und ich trat hinein, ließ mich auf der dort befindlichen Bank nieder und wartete das Vorüberſchreiten Chadwicks ab.“

„Und wie verhielten Sie ſich weiter?“

Wieder zögerte Nellie mit ihrer Antwort. Doch diesmal bedurfte es nur eines ungeduldigen Handwinks von der Richterbank, um ſie zum Weiterſprechen zu veranlaſſen. „In mir regte ſich plötzlich ein banges Gefühl. Ich dachte an die Folgen, die möglicherweiſe ein Zuſammentreffen zwiſchen dem nichtsahnenden Chadwick und meinem Ver Mijter Slotery,“ verbeſſerte ſie ſich eilig, „nach ſich ziehen konnte.“

„das iſt begreiflich. Was machten Sie daraufhin?“

„Ich ging langſam in derſelben Richtung zurück. Mein Angſtgefühl ſteigerte ſich noch, als ich wahr— nehmen mußte, wie Mifter Chadwick ſich dem Strande

74 Oer Geſchworene. 2

zuwendete und in gerader Linie nach dem Ausfichts- pavillon ging, wo aller Wahrſcheinlichkeit nach ſich Slotery noch aufhielt. Zh fühlte mich verſucht, Chadwick, der von meiner Gegenwart nichts ahnte, eine Warnung zuzurufen, ſchwieg aber in der Erwägung, daß meine Stimme auch von Slotery gehört werden mußte und dies feinen Jähzorn erſt recht entflammen würde. Ich fürchtete auch, daß Chadwick meine Ein- miſchung fälſchlich zu ſeinen Gunſten auslegen könnte. Ach, hätte ich ihn doch gewarnt!“ ſtöhnte fie und ver- hüllte das Geſicht wieder mit beiden Händen.

Bis dahin hatte der Angeklagte dem Verhör der Zeugin mit entweder echter oder zumindeſt vorzüglich nachgemachter Gleichgültigkeit gelauſcht. Nun aber ſchien ſich etwas von der nervöſen Anbehaglichkeit feines Verteidigers, der das ſtumpfe Ende ſeines Bleiſtifts in den Mund geſteckt hatte und gedankenverloren daran ſaugte, auch ihm mitzuteilen. Er wurde plötzlich auf— merkſam, richtete ſich mit einem Ruck ſteif im Seſſel auf, faltete die Hände über der Tiſchplatte und richtete den Blick durchdringend auf die Zeugin, die indeſſen nichts davon gewahr wurde, da ſie ängſtlich bemüht war, in entgegengeſetzter Richtung zu ſchauen.

Aber auch der zwölfte Geſchworene beugte ſich in fieberhaftem Intereſſe über die Brüſtung und ſtarrte aus weitgeöffneten Augen auf die Zeugin.

„Was geſchah nun weiter?“ erkundigte ſich der Diſtriktsanwalt, ohne von der ſich immer wieder in Weinausbrüchen bekundenden übergroßen Nervoſität der Zeugin Notiz zu nehmen.

Aber deren Weinen ſteigerte ſich zum lauten Schluch- zen, ſie rang die Hände, und als ſie dann wie unter äußer- lichem Zwange den Angeklagten anſchaute und deſſen durchdringenden Blick auf ſich ruhen fühle, ſtreckte fie die

2 Roman von Otto Hoecker. 75

Hände nach ihm aus und rief verzweiflungsvoll: „Ben, fo wahr der Himmel mich in meiner letzten Stunde nicht verlaſſen möge, ich habe es nicht ſagen wollen! Aber die ſchrecklichen Menſchen ſetzten mir ſo lange zu, bis ich nicht anders konnte! Verzeih mir, ich kann nicht anders!“

Der Richter ließ die Gabel klirrend aufſchlagen. „Ich rufe Sie zur Ordnung, Zeugin!“ rief er ſtreng. „Sie dürfen den Angeklagten nicht anſprechen! Fahren Sie in Ihrer Ausſage fort!“

„Mein Gott, es iſt ſo ſchrecklich!“ ſtöhnte Nellie. „Ich blieb abſichtlich weit zurück, damit ich von Chad- wick, falls dieſer ſich umſchauen ſollte, nicht wahr- genommen werden konnte. Ich ſah ihn ſelbſt nicht mehr. Und dann —“ erſchauernd ſchlug fie die Hände vors Geſicht. „Muß ich denn dieſes Entſetzliche wirklich ausſagen?“ wendete ſie ſich flehend an den Ankläger.

„Sie haben es bereits zu Protokoll gegeben, und im übrigen iſt bei Shrer Einvernahme ebenſswenig wie in der gegenwärtigen Verhandlung irgendwelcher Zwang auf Sie ausgeübt worden. Sie hörten alſo Chadwick plötzlich aufſchreien?“

Nellie nickte. „Ja, Miſter Chadwick ſchrie plötzlich auf, es klang faſt wie ein Hilfeſchrei, durchaus nicht ſehr laut, aber offenbar ängſtlich.“

„And was trug lich weiter zu?“

„Ich hörte Ben Miſter Slotery mit wutentſtellter Stimme kreiſchen: „Habe ich Sie abgefaßt, Sie ſchein⸗ heiliger Fuchs?“

„Nun, und was ſagte Chadwick darauf, Zeugin?“

fragte der Diſtriktsanwalt. „Genau konnte ich es nicht hören, aber ungefähr verſtand ich: „Laſſen Sie mich los, ein Menſch wie Sie hat keine Berechtigung, ſich um die Hand eines ge— achteten Mädchens zu bewerben.“

76 Der Geſchworene. | 2

„Weiter, Zeugin! Seien Sie doch nicht ſo. wortkarg! Sie hörten doch, was der Angeklagte erwiderte?“

Nellie ſchluckte krampfhaft, ſie zerfloß ſchier in Tränen, mit krampfig A Händen ſaß ſie ſchwankend im Stuhl.

Doch der öffentliche Ankläger kannte keine Nachſicht, zornig ſchlug er mit der flachen Hand wiederholt auf den Tiſch. „Nun, werden wir endlich hören, was der Angeklagte zur Antwort gab?“

„Ach, es iſt ſo ſchrecklich ich ich

„Heraus mit der Sprache!“

„Der der Angeklagte ſagte dann, aber mit einer Stimme, wie ich ſie nie zuvor bei ihm gehört, es war mehr ein tonloſes Ziſchen als eine wirkliche Menfchen- ſtimme: ‚Beim Ewigen, Chadwick, und wenn ich darum das Schafott beſteigen müßte, Sie werden mir entweder auf der Stelle ſchwören, meine Braut nicht länger zu beläſtigen, oder Ihr letztes Gebet herſagen“!“

Der Angeklagte war plötzlich aufgeſprungen, er ſtand totenbleich, die Linke gegen das Herz gepreßt, flammenden Proteſt in den feſt auf die Zeugin ge- richteten Blicken. „Sie lügt! Sie lügt! Sie will mich rachſüchtig verderben! Ach, Nell, was tat ich dir, daß du mich durch einen Meineid dem Henker ausliefern willſt?“ ſchrie er fie an.

Anbeſchreiblicher Tumult entſtand im Saale. Faſt ſämtliche Anweſenden waren von ihren Sitzen auf- geſprungen und ſtarrten auf die beiden Hauptperſonen des düſteren Gerichtsdramas.

So hochgradig die Erregung aber auch ein mochte, die Harry Prendergaſt uͤberkommen hatte, ſo unter- ſchied er ſich durch ſein Gebaren doch nur wenig oder gar nicht von den übrigen Geſchworenen, die durch das nun folgende Verhalten des Angeklagten

2 Roman von Oito Hoeder. 77

noch mehr aus ihrer ruhigen Haltung aufgerüttelt wurden.

Umſonſt ſchlug der Richter aus Leibeskräften mit der Gabel auf den Tiſch und gebot ſchreiend Ruhe, vergeblich ſuchten auch die Gerichtsbeamten Ben Slotery gewaltſam auf ſeinen Sitz zurückzudrängen. Er ſtieß ſie mit ungeahnter Kraft von ſich, breitete weit die Arme gegen den Zuhörerraum aus und rief: „Beim lebendigen Gott, die Zeugin lügt! Kein Wort davon iſt wahr! Nie und nimmer bin ich in jener Nacht mit Chadwick zuſammengetroffen. Sie lügt! Sie lügt! Sie will mich verderben und ich habe ſie geliebt, und ich liebe ſie noch! Aber ſie will mich verderben!“

Vier ſtarker Männer bedurfte es, um den ſich gleich einem Raſenden Gebarenden ſchließlich auf feinen Stuhl niederzuzwingen.

Der Richter erhob ſich. Er hatte ein ge Worte mit dem Oiſtriktsanwalt ausgetauſcht. |

„Ruhe! Ruhe! Zur Ordnung!“ ſchrieen die Ge- richtsdiener und fuchtelten mit ihren Knuͤppeln.

Dann, als es wieder leidlich ſtill im Saale geworden war, vertagte der Richter die Sitzung und beraumte deren Wiederbeginn auf den nächſten Vormittag an.

Noch immer erſchütterte krampfiges Schluchzen die Geſtalt des Angeklagten, als dieſer nun zwiſchen zwei Poliziſten aus dem Saale geführt wurde. Aber auch Harry Prendergaſt ſtand wie ein Bild der Verzweiflung da und ſtarrte vor ſich ins Leere, als ob ſich ihm dort eine grauſige Viſion offenbarte. Einer der Beamten mußte ihn ſchließlich durch derbes Armſchuͤtteln dazu verantaſſen, ſich dem aus dem Saale geleiteten Zuge

der übrigen Geſchworenen anzuſchließen. (Jortſetzung folgt.)

N

Die beiden Chauffeure.

Erzählung von H. Giersberg.

Mit Bildern oo von Th. Volz. Nachdruck verboten.)

chneidend fegte der herbſtliche Nordoſt über die S kahlen Stoppelfelder und die weiten Heide- flächen der ſpärlich beſiedelten Tiefebene das hin. Erſt der düſtere Föhrenwald, der wie eine unheimlich ſchwarze Mauer unter dem ſchweren, zerriſſenen Gewölk des Abendhimmels ſtand, ſetzte ſeinem tobenden Ungeſtüm einen hemmenden Wall entgegen. Stiller und geſchützter als draußen auf dem freien Felde war es ja zwiſchen den dunklen, gleich- mäßig aufgereckten Hochwaldſtämmen, aber ein dump- fer, moderiger, naßkalter Hauch entſtrömte dem regen- feuchten Boden, und geſtaltloſe Nebelſchwaden krochen geſpenſtiſch über ihn hin. | Nichts Lebendiges ſchien ſich um dieſe düſter Dämmerſtunde in dem unwirtlichen Revier zu regen. Alles Getier hatte feine ſchützenden Schlupfwinkel auf- geſucht, und die Landſtraße, die in weitem Bogen den Wald durchzog, lag fo verlaffen, als wäre fie ein Weg an das Ende der Welt. | Aus einer Vertiefung des naſſen Bodens, kaum zehn Schritte von der Landſtraße entfernt, hob ſich der Kopf eines Mannes. Er war durch nichts anderes gegen die Unbilden des Wetters geſchützt als durch das kurzgeſchorene, ſchwarze, borſtige Haar, und er

D Erzählung von H. Giersberg. 79

zeigte ein ſtarkknochiges, bartloſes Geſicht mit dunkel umſchatteten, ſtier blickenden Augen.

Der Mann mochte kaum dreißig Jahre alt ſein und war nicht häßlich zu nennen, aber ſeine Haut hatte jene fahlgelbe Farbe, die ſich nach längerer Haft bei den Inſaſſen von Gefängniſſen und Zuchthäuſern ein- zuſtellen pflegt. Das ſtark vorgeſchobene maſſige Kinn brachte einen Ausdruck von Brutalität in das ſonſt offenbar recht intelligente Geſicht.

Schwer und keuchend ging der Atem des anſcheinend ſoeben aus dem Schlafe oder aus einer Ohnmacht Er- wachten. Er brauchte offenbar einige Zeit, um dar- über klar zu werden, wo er ſich befand. Dann richtete er ſich ſtöhnend auf, wie unter heftigen Schmerzen. Er mußte nahezu erſtarrt ſein, denn ſeine Kleidung beſtand nur aus einem jener groben Orillichanzüge, wie ihn die Sträflinge tragen. Die ängſtliche Behut- ſamkeit, mit der er jetzt ſein linkes Bein betaſtete, ließ erraten, daß dort der Sitz feiner Schmerzen ſei. End- lich ſtand er auf und tat ein paar langſame Schritte bis zu einem der nächſten Bäume hin. Da aber lehnte er ſich ächzend gegen den Stamm und ſchüttelte wie in hoffnungsloſer Verzweiflung den Kopf.

Er hatte in der Tat Urſache, zu verzweifeln. Seit— dem es ihm gelungen war, durch ein todesmutiges Kletterkunſtſtück aus ſeiner Zelle in der Venzberger Strafanſtalt bis auf den Hof hinab und von da über die Umfaſſungsmauer ins Freie hinauszukommen, waren zwei Nächte und zwei Tage vergangen, und er hatte während dieſer achtundvierzig Stunden nichts über feine Lippen gebracht als Waſſer und immer wie- der Waſſer. Die Nächte hindurch hatte er ſich quer- feldein über Acker und Wieſen vorwärts geſchleppt, alle menſchlichen Anſiedlungen in weitem Bogen um-

so Die beiden Chauffeure. 0

ſchleichend; vom erſten Morgendämmern aber bis zum Einbruch der Dunkelheit hatte er ſich in irgend einem Schlupfwinkel verborgen gehalten, hungernd, frie- rend und ron immer wütenderen Schmerzen gepeinigt.

*

Denn bei dem tollkühnen Sprung von der Mauer hatte er ſich eine Verletzung am Fuße zugezogen, eine Verſtauchung oder Zerrung, die ihn anfangs nur wenig am Gehen gehindert hatte, nach der erſten Ruhepauſe

0 Erzählung von 9. Giersberg. 81

aber um jo empfindlicher fühlbar geworden war. Der Knöchel war aufgeſchwollen, und die kühlenden Um- ſchläge, zu denen er in immer kürzeren Zwiſchenräumen feine Zuflucht nehmen mußte, brachten nur wenig Lin- derung. Kurz vor dem Anbruch des heutigen Tages hatte er den Rand des Waldes und die Landſtraße er- reicht, die er ebenſogut kannte wie alle anderen Straßen und Wege in dieſer Gegend. Eine Stunde noch hatte er ſich zwiſchen den Stämmen dahingeſchleppt, dann aber war er zuſammengebrochen und hatte bis zu dieſem traurigen Erwachen regungslos wie ein Stein in der moderigen Bodenſenkung gelegen, die ihn vor den Blicken der auf der Landſtraße Vorüberziehenden deckte. Zetzt fühlte er ſich fo erſchöpft, daß er nicht einmal an den Verſuch dachte, ſeine Wanderung fortzuſetzen. Seine Hoffnungen waren tot, dieſe verwegenen, unſinnigen Hoffnungen, die ihm den Mut und die Kraft verliehen hatten, ſich allen Gefahren zum Trotz den Weg in die Freiheit zu bahnen. Zetzt wußte er, daß alles umſonſt geweſen war, daß er ſich weder ins Ausland retten noch jemals die Geliebte wiederſehen würde, der in dieſen hinter Gefängnismauern ver- brachten zwei Jahren alle ſeine Gedanken gehört hatten. Ob es für einen geſunden und rüſtigen Fußgänger auch kaum mehr als zwei oder drei Wegſtunden ſein mochten, die ihn noch von ihr trennten, er wußte doch, daß er ſie niemals zurücklegen werde. Ohne Beiſtand konnte er nicht weiter, und es gab keinen Zweifel für ihn, daß niemand ihm dieſen Beiſtand gewähren würde. Stand es doch ſicher heute ſchon in jedem Blättchen zu leſen, daß der wegen ſchwerer Körperverletzung zu vier Jahren Gefängnis verurteilte Georg Starringer aus der Strafanſtalt Venzberg entſprungen fei, und wo immer er ſich in ſeinem Sträflingsanzuge blicken 1911. III. 6

82 Die beiden Chauffeure. 2

ließ, überall würde er ſtatt der Helfer nur erbarmungs- loſe Feinde und Häſcher finden. |

In den Fluchtplänen, die er ruhelos während dieſer entſetzlichen zwei Jahre geſchmiedet, war es ihm immer als ein leichtes erſchienen, ſich weiterzuhelfen, ſo— bald er nur erſt einmal die Umfaſſungsmauer des Ge- fängniſſes hinter ſich hatte. Den letzten zwei Tagen und Nächten war es vorbehalten geweſen, ihn zu lehren, was es für den Hilfloſen bedeutet, ein Ausgeſtoßener und Geädteter zu fein.

Zetzt zerbrach er ſich nicht mehr den Kopf über einen Weg der Rettung. Sein Geiſt war müde ge- worden wie ſeine Glieder, und mit völliger Klarheit lebte darin nur der eine Gedanke: Nur nicht ins Ge- fängnis zurück! Lieber ſterben!

Sterben! Ja, das war das beſte. Gleich hier auf der Stelle ohne alle weitere nutzloſe Angſt und Qual. Wenn er doch ein Meſſer beſeſſen hätte oder einen Strick! Oder wenn ein Waſſer in der Nähe geweſen wäre, darin er ſein Elend hätte ertränken können! Aber ihm blieb gegen ſein armſeliges Leben keine andere Waffe als der Hunger und die Entkräftung. Aber ſein Körper war ſo ſtark, ſo grauſam ſtark! Wer weiß, wie viele Stunden noch vergehen mußten, bevor er erlag!

Da hob er den Kopf und lauſchte. Ein dumpfer, heulender Ton war aus der Ferne an ſein Ohr ge— drungen, ein Ton, den er ſehr gut kannte. Es währte nicht lange, bis er ſich wiederholte. Es war ohne Zweifel die Huppe eines Automobils, die da ihr War- nungſignal erſchallen ließ, und es gab für den Kraft- wagen keinen anderen Weg als die Landſtraße, die als ein heller Streifen zwiſchen den Stämmen zu Georg Starringer herüberſchimmerte.

D 2 von H. Giersberg. 83

Die zufammengefuntene Geſtalt des entſprungenen Sträflings reckte ſich, ein Ausdruck von Spannung kam in ſeine erſchlafften Züge. Mit vorgeneigtem Haupte horchte er in die nur vom Rauſchen der Bäume unter- brochene Stille hinaus.

Die Signale wiederholten ſich nicht mehr, ſie waren auf der menſchenleeren Straße ja ohnehin beinahe überflüſſig genug geweſen. Bald unterſchied Starrin- gers ſcharfes Ohr bereits das Raſſeln und Stampfen des offenbar raſch näher kommenden Gefährts. Er ver- lor ſeine Zeit nicht mit Überlegungen und inneren Kämpfen. Ohne ſich der Schmerzen in ſeinem ver- letzten Fuße bewußt zu werden oder ihrer zu achten, legte er mit einigen raſchen, ſprungartigen Schritten die kurze Strecke bis zur Landſtraße zurück, und nach- dem ein ſeitwärts geworfener Blick ihn überzeugt hatte, daß das anſcheinend ſehr große Automobil mitten auf der Fahrbahn mit äußerſter Schnelligkeit heranſauſte, warf er ſich in ſeiner ganzen Länge mitten auf die Straße.

Aber er hatte die Entfernung unterſchätzt, die ihn noch von dem Fahrzeug trennte, er hatte nicht mit der unerſchrockenen Geiftesgegenwart des Mannes ge- rechnet, von dem es gelenkt wurde. So blitzſchnell hatte der beim Anblick der hingeſtreckten menſchlichen Geſtalt die Bremſen angezogen und den Motor auf Rüdwärts- bewegung umgeſtellt, daß der lange, ſchwere Wagen wie von Geiſterhänden mitten in ſeiner raſenden Fahrt gehemmt und mit einem gewaltigen Ruck quer über die Straße geſtellt wurde kaum meterbreit von dem am Boden Liegenden entfernt.

In derſelben Minute war noch der Fahrer vom Wagen herabgeſprungen, ein mittelgroßer, ſtämmiger und breitſchulteriger Mann in der Ausrüſtung eines herrſchaftlichen Chauffeurs.

84 Die beiden Chauffeure. a

„Holla was gibt's da? Sind wir verrückt oder betrunken?“

Seine Stimme hatte einen friſchen, jugendlichen Klang, wenn auch die eben überſtandene Aufregung noch ein wenig darin nachzitterte. Indem er die Schutz- brille über die Stirn emporſchob, trat er an den noch immer in feiner Lage Verharrenden dicht heran).

Langſam, mit einem ſchluchzenden Laut, drehte Georg Starringer den Kopf, und wie fie einander an- ſtarrten, ſpiegelte ſich gleichzeitig das Erkennen auf den Geſichtern beider.

„Georg du biſt's?“

Mit dem Klange eines ſchier faſſungsloſen Entſetzens war es von den Lippen des Chauffeurs gekommen.

Der Sträfling aber richtete ſich mit einer raſchen Bewegung zu ſitzender Stellung auf. „Ja, Meinhardt ich ſelber und nicht mein Geiſt! Warum haſt du mich nicht totgefahren, wie du es ſollteſt? Dann wär's jetzt ſchon überſtanden.“

„Menſch um des Himmels willen, wie kommſt du hierher? Du biſt wohl —"

„Ausgebrochen bin ich natürlich! Was brauchſt du erſt zu fragen, da du's ja an dem Zeug ſehen kannſt, das ich auf dem Leibe habe. Zch wäre verrückt ge- worden, wenn ich's da drinnen noch länger hätte aus- halten müſſen. Ich mußte die Grete wiederſehen, ich mußte und hätte ich auch zehn Aufſeher nieder- ſchlagen ſollen, um hinauszukommen. Sie iſt doch noch auf Hohen-Lindow, die Grete?“

Der Chauffeur war um einen Schritt zurückgetreten und hatte ſich an feinen Wagen gelehnt. „Za, ſie iſt noch da,“ ſagte er, und ſeine eben ſo friſch klingende

*) Siehe das Titelbild.

2 | Erzählung von H. Giersberg. 83

Stimme war beinahe tonlos geworden. „Du aber, Georg, du darfſt nicht nach Hohen- Lindow! Sie würden dich ja auf der Stelle feſtnehmen.“

„Sie ſollten es nur verſuchen. Lebendig brächte mich keiner in ſeine Gewalt. Und daß mir vor dem Sterben nicht bange iſt, haft du ja eben geſehen. Abrigens iſt trotzdem dafür geſorgt, daß ich nicht mehr nach Hohen- Lindow komme, denn ich habe mir den Fuß verletzt und kann nicht weiter.“

„Aber was ſoll dann aus dir werden?“

Der andere lachte dumpf. „Eine Leiche was ſonſt? Steig auf, Meinhardt, und fahre über mich weg. Du ſiehſt ja, daß du nur ein gutes Werk damit tuſt. Wenn du aber nicht das Herz dazu haſt, ſo laß mir wenigſtens dein Meſſer da oder einen guten Strick, von dem ich ſicher ſein kann, daß er mich trägt.“

Ein ſekundenlanges Schweigen folgte ſeinen Worten.

Erſt nach einem ſchweren Atemzuge ſagte der Chauffeur: „Vas du da redeſt, iſt natürlich alles Un- ſinn. Kannſt du aufſtehen und auf meinen Wagen ſteigen? Oder muß ich dir helfen?“

„Ich könnt's ſchon allein. Aber wohin willſt du mich denn bringen? Nach Hohen-Lindow oder nach dem nächſten Gendarmeriepoſten?“

„Hierhin ſo wenig wie dahin. Es handelt ſich doch nur darum, daß du ſo ſchnell als möglich über die Grenze kommſt. Dazu brauchſt du einen, bei dem du dich verſtecken kannſt, bis die Gelegenheit günſtig iſt, und der dir auch ſonſt beiſteht. Mein Vetter Abromcit in Neuenhagen iſt der einzige, von dem ich weiß, daß er's für Geld und gute Worte tun wird. Zu ihm alſo will ich dich fahren.“

Der Sträfling war langſam aufgeſtanden, doch ſchien er noch keineswegs entſchloſſen, der menſchenfreundlichen

86 Die beiden Chauffeure. 2

Aufforderung Folge zu leiſten. „Es iſt ja ganz gut

von dir gemeint, Rudolf,“ ſagte er, „aber es hat alles

keinen Zweck. Ich habe kein Zeug, in dem ich mich ſehen laſſen darf, und keinen Pfennig Geld.“

ö „Für das Notwendigſte will ich ſchon ſorgen. Steig

nur erſt auf, denn wir haben keine Zeit zu verlieren.“

„Biſt du denn inzwiſchen fo reich geworden? Hat dir Graf Pernwald vielleicht dein Gehalt verdoppelt?“

„Nun, ſo viel, wie du für den Augenblick brauchſt, habe ich ſchon übrig. Und wir wir waren doch alte Freunde.“

„Haſt mich ſonſt nicht gerade viel von Freundſchaft merken laſſen, Meinhardt damals, als ich noch mit dir auf Hohen-Lindow bedienſtet war. Und was du bei der Gerichtsperhandlung über meine Gewalttätig- leit und meine blinde Eiferſucht vorbrachteſt, wollte mir auch nicht ſehr freundſchaftlich vorkommen.“

„Unter meinem Eid konnte ich als Zeuge nur die Wahrheit ſagen, Georg. Übrigens meine ich, jetzt wäre nicht der richtige Augenblick, um von alten eee zu reden.“

„Gut mögen fie in Gottes Namen vergeſſen ſein. Aber wenn du jetzt mein Freund biſt und Mitleid mit mir haſt, fo bring mich erſt nach Hohen- Lindow. Es wird Nacht ſein, bis wir hinkommen, und ich will mich ſchon bis zu dem Richterſchen Hauſe ſchleichen, ohne daß mich einer ſieht. Die Grete wird mich nicht ver- raten. Oder meinſt du, daß ſie es tun würde?“

Rudolf Meinhardt machte ſich an ſeinem Fahrzeug zu ſchaffen. Es klang merkwürdig dumpf, da er er— widerte: „Nein, verraten würde ſie dich wohl nicht. Aber nach Hohen- Lindow bring’ ich dich doch nimmer- mehr.“

„Varun denn nicht?“ fragte Starringer mit einem

Oo Erzählung von H. Giersberg. 87 SG SS leidenſchaftlichen Beben der Stimme. „Hält ſie's viel- leicht jetzt mit einem anderen? Dann wüßt’ ich freilich, warum ſie mir in dieſen zwei Jahren nicht ein einziges Mal geſchrieben hat. Aber dann erſt recht müßt' ich hin dann erſt recht! Sch will fie ſehen, und ich will mit ihr reden. Was dann weiter gefchieht, iſt mir einerlei.“ | Der Chauffeur richtete ſich wieder auf und trat vor den Aufgeregten hin. Er war beinahe um einen Kopf kleiner als Starringer, aber an Kraft der Muskeln nahm er es ſicherlich mit ihm auf. Im Ton unbeugſamer Entſchloſſenheit ſagte er: „Hör jetzt mein allerletztes Wort, Georg! Entweder wir fahren nach Neuenhagen, und du läßt dich morgen von Abromeit über die Grenze ſchmuggeln, oder ich ſetze mich wieder auf und fahre allein.“ 3 Noch ein paar Herzſchläge lang zauderte der Flücht- ling, dann erwiderte er grollend: „So muß ich denn wohl tun, was du verlangſt. Aber du kannſt dann erſt jpät in der Nacht nach Hohen- Lindow zurückkommen. Darfit du denn fo lange ausbleiben? Was willſt du dem. Strafen ſagen, wenn er dich fragt, wo du ge- weſen biſt?“ | | „3% habe den Grafen heute nachmittag nach Schloß Rabitau gefahren und ſoll ihn erſt übermorgen wieder abholen. Den anderen aber kann ich ja ſagen, daß ich eine Panne gehabt hätte. Wart, noch einen Augenblick. In dieſem Anzuge darf man dich natür- lich nicht auf dem Wagen ſitzen ſehen. Zum Glück hat der Graf ſeinen ganzen Autodreß liegen laſſen. Da iſt ſein Mantel, ſeine Mütze und ſeine Schutzbrille. Wenn du das alles anziehſt, wird niemand Verdacht

ſchöpfen.“ Er war dem Halberſtarrten, dem Muskeln und Ge—

88 Die beiden Chauffeure. 2

lenke nur widerwillig gehorchten, beim Anlegen des weiten Pelzmantels behilflich und forderte ihn auf, den Kragen in die Höhe zu ſchlagen.

„So erkennt dich kein Menſch. Setz dich hier neben mich auf den Vorderſitz. Das iſt der Platz, den der Graf immer einnimmt, wenn er den Wagen nicht ſelbſt ſteuert. Es kann nicht ſchaden, wenn die Leute, die das Auto kennen, dich für den Grafen halten.“

Der entſprungene Sträfling lachte rauh. „Eine nette Verwandlung! Man braucht alſo bloß einen Mantel und eine Mütze, um aus einem Verbrecher ein vornehmer Mann zu werden. Ah, das tut wohl“ und er ließ ſich ſchwer in die weichen Lederpolſter fallen „man ſitzt ja wie in einem Lehnſtuhl. Warum willſt du ſchon die Laternen anzünden, Mein- hardt? Es iſt ja noch ganz hell.“

„Wenn die Leute, die uns begegnen, von dem Scheinwerfer geblendet ſind, biſt du um ſo ſicherer.“

„An was alles du denkſt! Wenn ich wirklich davon komme, will ich dir aber lohnen, was du heute für mich tuſt.“

„Mach dir darum keine Sorge. Ich verlange weder einen Lohn noch einen Dank.“

Er hatte ſeine Vorbereitungen beendet und ſtieg auf den Fahrerſitz. Mit einem geſpannten Blick rich- teten ſich Georg Starringers Augen auf fein Geſicht.

„Du fährſt alſo nicht nach Hohen- Lindow, auch wenn ich dir ſage, daß du dich nicht weiter um mich zu füm- mern brauchſt, nachdem du mich da abgeſetzt haſt?“

„Nein.“

„Gut alſo meinetwegen nach Neuenhagen. Aber erzählen kannſt du mir doch von der Grete. Wie's ihr geht, werde ich ja wohl wenigſtens erfahren dürfen.“

„Es geht ihr ganz gut. Aber jetzt darfſt du, ſo—

2 Erzählung von H. Giersberg. 89

lange wir fahren, keine Antwort mehr von mir ver- langen.“

Er zog den Hebel an, und der ſchwere Wagen ſetzte ſich in Bewegung. Ungefähr zehn Minuten lang fuhren ſie, ohne daß ein weiteres Wort zwiſchen ihnen ge- ſprochen worden wäre, mit der größten Geſchwindig— keit, die die Maſchine hergab, durch den Wald. Dann, als fie hinter einer Kurve am Ende des jetzt ſchnur— geraden Weges wieder die waldloſe Ebene aufſchimmern ſahen, packte Georg Starringer plötzlich mit heftigem Griff den Arm des Chauffeurs.

„Der Menſch, der da mitten auf der Straße ſteht und winkt iſt das nicht ein Gendarm?“ fragte er heiſer.

„Ja. Er macht mir das Zeichen, daß ich halten ſoll.“

„Aber du wirſt nicht halten nicht wahr? Wenn er nicht aus dem Wege geht, fahren wir einfach über ihn weg.“

„Haſt du den Verſtand verloren? Vorläufig hat's ja noch gar keine Gefahr. Lehne dich in die Ecke und tu, als ob du ſchliefeſt. Ich will ſchon mit ihm reden.“

Er hatte bereits die Geſchwindigkeit der Fahrt ge— mindert, und der Flüchtling ſah, daß ihm nichts anderes übrig blieb, als der Weiſung zu gehorchen. Die Mütze in die Stirn rückend und den Kopf ſo tief als möglich in den aufgeſchlagenen Mantelkragen hineinziehend, drückte er ſich in die Polſterecke ſeines Sitzes.

Ein paar Sekunden ſpäter ſchon kam der Wagen zum Stehen, und der Gendarm trat ſalutierend heran.

„Habe die Ehre, gehorſamſt guten Abend zu wün— ſchen, Herr Graf! Herr Graf müſſen die Beläſtigung entſchuldigen. Aber ich habe ſtrengen Befehl, nichts Lebendiges unangehalten aus dem Walde N laſſen.“

90 c Die beiden Chauffeure. on

Der Entſprungene, an den die reſpektvolle Anrede gerichtet war, rührte ſich nicht. Rudolf Meinhardt nahm ſtatt ſeiner mit gedämpfter

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Stimme das Wort. „Er ſchläft, Herr Wachlmeifter, Wahrſcheinlich wieder ſchwere Sitzung geweſen auf Schloß Rabitau.“

Der Beamte lachte. „Na, um ſo beſſer! Sonſt

2 Erzählung von H. Giersberg. 91 hätte ich ja vermutlich auch wieder ein paar Donner- wetter an den Kopf gekriegt. Haben Sie unterwegs was Verdächtiges geſehen, Meinhardt? Einen Kerl in Sträflingskleidern vielleicht? Hier drinnen im Walde muß er nämlich noch ſtecken.“

„Wer denn, Herr Wachtmeiſter? Ein Ausreißer?“

„Freilich und einer, den Sie ſehr gut kennen müſſen. Ihr ehemaliger Kollege Starringer. Vor zwei Tagen iſt er in Venzberg ausgebrochen, und es iſt ſicher, daß er ſich noch hier in der Gegend herum- treibt. Ein Bauer aus Schmichau hat heute nachmittag auf dem Poſten gemeldet, daß er ihn geſtern abend geſehen hat, wie er ſich quer über die Felder nach dem Walde hinſtahl. Daß wir ihn kriegen, iſt außer Frage. Augenblicklich ſind mindeſtens ein a Leute auf der Suche nach ihm —“

„Ja, die werden ihn ſchon 1 9 Kann ich jetzt weiterfahren, Herr Wachtmeiſter?“

„Freilich, Meinhardt. Das gräfliche Automobil brauche ich doch wohl nicht zu durchſuchen. Sie werden den Ausreißer ja doch nicht im Wagenkaſten verſteckt haben!“ |

Er belachte feinen Scherz, und der Chauffeur ſtimmte mit gutgeſpielter Heiterkeit ein.

„Gute Nacht alſo, Herr Wachtmeiſter!“

„Gute Nacht, Meinhardt! Und grüßen Sie mir Ihre junge Frau! Der wird ja wohl vor allen anderen ein Stein vom Herzen fallen, wenn ſie hört, daß der gefährliche Burſche wieder ſicher hinter Schloß und Riegel ſitzt.“

Der Chauffeur antwortete nicht mehr, oder das verſtärkte Geräuſch des wieder in Gang geſetzten Wagens hatte ſeine Entgegnung verſchlungen.

Auch Georg Starringer ſprach kein Wort, ſelbſt dann

92 Die beiden Chauffeure. 2

nicht, als ſie den Wald und den Gendarmen ſchon weit hinter ſich hatten, und als er's ohne Gefahr hätte wagen dürfen, ſeiner Freude und Dankbarkeit für die mutige Aufopferung des Freundes Ausdruck zu geben. Wie wenn er wirklich feſt eingeſchlafen wäre, lehnte er noch immer in ſeiner Ecke, und als ſie an die Stelle gekommen waren, wo die Straße nach dem an der Bahn ge legenen Städtchen Neuenhagen von der nach dem Dorfe Lindow führenden Chauſſee abzweigt, machte er keinen letzten Verſuch, den Sinn des Chauffeurs hinſichtlich ihres Reiſeziels zu ändern.

Aber er ſchlief nicht, und noch in keinem Augenblick während dieſer fürchterlichen zwei Tage hatten ſeine Gedanken fo fieberhaft wild gearbeilet wie eben jetzt. Ein ſchrecklicher Verdacht hatte ſich ſeiner bemächtigt, und ſein Geiſt war geſchäftig, alles zuſammenzutragen, was den Verdacht zur Gewißheit machen konnte.

Irgend etwas in ihm hatte ſich von vornherein dagegen geſträubt, an die uneigennützige Freundſchaft Meinhardts zu glauben, denn ſolange fie beide im Dienſt des Grafen Pernwald geftanden, war immer etwas wie ſchlechtverhehlte Abneigung zwiſchen ihnen geweſen. Starringer hatte geglaubt, die Gründe dieſer Abneigung auch recht gut zu kennen. Dieſer Meinhardt gönnte ihm die ſchöne Margarete Richter, mit der cr ſchon vor dem Dienſtantritt des anderen verlobt ge— weſen war, ebenſowenig, als nach feiner Überzeugung irgend einer ſie ihm gönnte, und beſſer als vor zwei Fahren glaubte er jetzt zu verſtehen, auf weſſen Rech- nung er die Veränderung in ihrem Weſen, die täglich zunehmende Kälte ihres Benehmens hätte ſetzen müſſen. Damals freilich war er einer falſchen Fährte nach- gegangen. Er hatte den jungen Verwalter, der vor kurzem mit ſeiner Schweſter nach Hohen-Lindow ge—

D Erzählung von H. Siersberg. 93

kommen war, und deſſen hübſche, ſtattliche Erſcheinung dem immer Eiferſüchtigen von vornherein ein Dorn im Auge geweſen, für den Mörder feines Glückes ge- halten. Als er ihn eines Abends in der Nähe des Hauſes getroffen, das die Witwe des ehemaligen In- ſpektors Richter mit ihrer Tochter bewohnte, hatte er ihn, ſchon halb außer ſich vor leidenſchaftlicher Wut, mit rauhen und unziemlichen Worten zur Rede geſtellt. Die verächtliche Antwort des jungen Mannes hatte ihn um den letzten Reſt ſeiner Beſinnung gebracht. Mit der Eiſenſtange, die er keineswegs zufällig in der Hand getragen, war er dem Unglücklichen zu Leibe gegangen. Vier handfeſte Knechte waren nötig geweſen, das ſchwerverletzte, blutüberſtrömte Opfer aus den Händen des Rafenden zu befreien. Gefeſſelt hatte man ihn ins Gefängnis abgeführt, und nur der glücklichen Fü- gung, daß der Verwundete gegen alle Erwartung mit dem Leben davongekommen war, hatte er die ver— hältnismäßig milde Strafe zu danken gehabt. Immerhin hatte das Urteil auf vier Jahre Ge— fängnis gelautet, und er hatte trotzig gebeten, die Strafe ſogleich antreten zu dürfen. Daß Margarete ihm weder Wort noch Blick vergönnt hatte, war ihm hundertmal härter erſchienen als der Spruch des Gerichts. Aber er hatte mit Gewißheit darauf gerechnet, daß ihr Zorn ſich ſänftigen, daß Liebe und Mitleid in ihrem Herzen wieder den Sieg davontragen würden über den Ab— ſcheu vor feiner Tat. Er hatte von Tag zu Tag in ver- zehrender Sehnſucht auf das Zeichen der Vergebung geharrt, das nach feiner unerſchütterlichen Überzeugung unmöglich ausbleiben konnte. Es war nicht gekommen. Die letzten Worte des Wachtmeiſters hatten ihm nun wie im Lichte eines grell aufzuckenden Blitzes den Zufamınen- hang gezeigt, der mit einem Schlage alles erklärte.

94 Die beiden Chauffeure. 2

Die Frau, der Meinhardt die Grüße des MWacht- meiſters ausrichten ſollte, die Frau, der die Kunde von ſeiner Wiederergreifung vor allen anderen einen Stein vom Herzen nehmen mußte wer anders konnte es ſein als Margarete! Ze länger er darüber nachdachte, je deutlicher er ſich Meinhardts ausweichende Antworten ins Gedächtnis zurückrief, deſto mehr ſchwanden in ſeiner Seele auch die letzten Zweifel an dem gegen ihn verübten ſchändlichen Verrat. Sie war alſo inzwiſchen das Weib dieſes Menſchen geworden, der ſich jetzt als ſeinen Freund und Helfer aufſpielte, um ſich vor ſeiner Rache zu ſchützen und ihn für immer aus der Gegend zu entfernen! Freilich, er hätte es ja bequemer ge- habt, ihn einfach an den Gendarmen auszuliefern. Aber er mochte wohl erwogen haben, daß er ſich damit nur eine Galgenfriſt ſichern würde bis zu dem unaus- bleiblichen Tage der Abrechnung. Wenn er ihm aber über die Grenze half, war er ſicher, daß der Gefürchtete niemals zurückkehren durfte, und er konnte ſich in ruhigem Behagen feines. geſtohlenen Glückes freuen.

Es war inzwiſchen dunkel geworden. Sie hatten den Wind gegen ſich, und die großen, eiskalten Tropfen eines Regenſchauers peitſchten ihre Geſichter. Wieder führte der Weg durch ein Gehölz, und bei der raſenden Geſchwindigkeit, die er noch immer innehielt, mußte der Chauffeur feine ganze Aufmerkſamkeit daran wen- den, das Automobil geſchickt und ſicher über alle Krüm- mungen zu ſteuern. Weit vornübergeneigt ſaß er auf feinem Platze, und mit voller Deutlichkeit ſah Georg Starringer die Profillinie feines hübſchen, ruhigen Geſichts. Da packte den dumpf brütenden Flüchtling jählings dieſelbe unſinnige Wut, die an dem Unglücks abend vor zwei Jahren feine Fauſt geführt hatte. Er hatte ſprechen wollen, aber die Leidenſchaft würgte ihm

D Erzählung von H. Giersberg. 95

die Kehle zu, und vor ſeinen Augen wirbelte es wie ein Chaos feuriger Punkte.

Sollte er darum ſein Leben verdorben haben, ſollte er darum bis an das Ende ſeiner Tage wie ein gehetztes Wild ruhelos in der Welt umherirren nur damit dieſer hier ſich ſeines Triumphes freuen dürfe?

Wie ein Raubtier, das ſich lange zum mörderiſchen Sprunge niedergeduckt, fuhr er aus ſeiner Ecke auf, und in der nächſten Sekunde umklammerten ſeine Fäuſte wie eine eiſerne Schraube den Hals des Chauffeurs. So blitzſchnell war der Angriff erfolgt, daß Meinhardt nicht einmal einen Laut des Schreckens hatte über die Lippen bringen können.

Kaum eine halbe Minute lang währte zwiſchen den beiden Männern das Ringen auf Tod und Leben. Dann fühlten ſie gleichzeitig beide den Boden unter ihren Füßen ſchwinden, und während es wie das dumpfe Krachen einer Exploſion in ihre Ohren dröhnte, wälzte ſich ſchwarz und fürchterlich eine man: Laſt über lie her.

Rudolf Meinhardt war es, der ſich zuerſt aus der Nacht der Bewußtloſigkeit in das Leben zurückfand. Er ſpürte den feuchtkalten moraſtigen Boden unter ſich und richtete ſich zu ſitzender Stellung auf. Außer einem dumpfen Drud im Hinterkopf fühlte er keine Schmerzen, und feine Gedanken waren nach Verlauf weniger Augen- blicke wieder ganz klar.

Im Lichte der einen Laterne, die bei dem Anprall des ſteuerlos gewordenen Automobils an einen Baum ſeltſamerweiſe nicht erloſchen war, ſah er, daß der Wagen mit zertrümmertem Vorderteil auf der Seite lag. Von Georg Starringer aber ſah und hörte er nichts. Er rief ſeinen Namen, doch er erhielt keine

96 Die beiden Chauffeure. 2

Antwort. Da raffte er ſich vollends auf, und mit wan- kenden Schritten zwar, doch mit unverſehrten Gliedern trat er an das zuſammengebrochene Gefährt heran, um ſeinen Unglücksgenoſſen zu ſuchen.

Er hatte ihn bald gefunden. Vom Gürtel abwärts unter dem ſchweren Wagen begraben, lag Starringer regungslos im Schmutz der Straße. Weinhardt hielt ihn für tot, aber in dem Moment, als er ſich über ihn neigte, öffneten ſich langſam und zuckend die gefchloffe- nen Augenlider des Flüchtlings.

„Vie ſteht's mit dir?“ fragte der Chauffeur ſo teil- nehmend, als wäre der Mordanfall, der das Unglück herbeigeführt, über der ſeeliſchen Erſchütterung der Kataſtrophe ſeinem Gedächtnis völlig entſchwunden. „Biſt du ſchwer verletzt? Fühlſt du arge Schmerzen?“

Der Kopf des Gefragten bewegte ſich zu einem Zeichen der Verneinung. „Schmerzen hab' ich nicht. Es iſt wohl weiter nichts, als daß ich ſterbe. Aber daß ich dich nicht mitnehmen kann, daß du davonkommen ſollſt, dafür verfluche —“

Meinhardt, der ſofort erkannt hatte, daß die Kräfte eines einzelnen Menſchen, und wären es die eines Rieſen, nicht ausreichen würden, den Unglücklichen aus ſeiner furchtbaren Lage zu befreien, kniete neben ihm nieder und ſchob ihm die Hand unter den Kopf. „Ruhig, Georg du weißt ja nicht, was du redeſt, ſo wenig als du vorhin gewußt haſt, was du tateſt.“

„Willſt du leugnen, daß du mir die Grete geſtohlen halt? Zit fie nicht deine Frau?“

„Meine Frau? Die Grete? Darum alſo wollteſt du mich umbringen? Warum haſt du mich nicht gefragt?“

Die Augen des Schwerverletzten waren ſtarr und weit geworden.

a Erzählung von H. Giersberg. 97

„Lüge nicht! Du ſiehſt doch, daß ich dir nichts mehr tun kann. Lüge nicht! Zch habe wohl verſtanden,

was der Gendarm gemeint hat, als er ſagte, daß deiner Frau ein Stein vom Herzen fallen würde —“

1911. Au. 7 Digitized by Google

08 Die beiden Chauffeure. 2

„Nein, du haſt's nicht verſtanden. Meine Frau iſt ja nicht die Grete, ſondern die Schweſter des Ver- walters, den du damals —“

Ein ſonderbarer Laut, der beinahe klang wie ein Lachen, kam aus Georg Starringers keuchender Bruſt. „Und die Grete? Wenn du ein Menſch biſt, Meinhardt, ſag mir die Wahrheit! Ich hab' ja doch bald alles über- ſtanden.“

Der Chauffeur ſah wohl an dem raſch verfallenden Geſicht des Unglücklichen, daß er ſich nicht über ſeinen Zuſtand täuſchte. Nach einem letzten, kurzen Kampfe neigte er ſich ganz nahe zu ihm herab. „Sch hab's gut gemeint, Georg, als ich dir's verſchweigen und dich nicht nach Hohen-Lindow bringen wollte. Zch dachte, du wärſt auch ſo ſchon unglücklich genug und es ſollte dir wenigſtens für jetzt erſpart bleiben. Nun aber muß ich dir's wohl ſagen, daß wir die Margarete Richter ſchon vor acht Monaten begraben haben und daß ſie dir die Treue gehalten hat bis an ihren Tod.“

Georg Starringer antwortete nicht, ſeine Bruſt hob ſich in einem tiefen Aufatmen, und ein Lächeln ging über ſein Geſicht.

Wie dicht Meinhardt aber auch ſein Ohr an die ſich ſchwach bewegenden Lippen des Sterbenden bringen mochte, er konnte nichts verſtehen, und da packte ihn plötzlich die Gewiſſensangſt, daß er noch immer un- tätig hier verweilte, ſtatt Hilfe herbeizuholen.

„Verlier den Mut nicht, Georg! Es kann nur noch eine kleine Strecke ſein bis Biſchdorf. Dir wird beſſer werden, ſobald wir dich unter dem Wagen hervor- geholt haben.“

Seines ſchmerzenden Kopfes nicht achtend, rannte er dem in der Tat nicht ſehr weit entfernten Dorfe zu.

2 Erzählung von H. Siersberg. | 99

Es mochten wenig mehr als zwanzig Minuten ver- gangen ſein, als er mit einer Anzahl hilfsbereiter Männer an die Unglückſtätte zurückkehrte. Aber fie kamen dennoch zu fpät, denn fie fanden nur noch einen ſtillen Mann mit ruhigen, faſt heiteren Zügen.

gebt hatte der entſprungene Sträfling wirklich den. Weg in die Freiheit gefunden.

Weiblicher Luxus.

Von Alex. Cormans.

Mit 7 Bildern. oo Machdruck verboten.)

Ine eines raſtloſen Wetteifers in der Entfaltung äußeren Prunkes find die erſten Geſellſchafts- klaſſen vor allem natürlich in den Großſtädten allmählich zu einer Art der Lebenshaltung gelangt, die allen geſunden wirtſchaftlichen Grundſätzen Hohn ſpricht und die bei weiterer Übertreibung um des verlockenden oder aufreizenden Beiſpiels willen nicht nur für die zunächſt Beteiligten verhängnisvoll zu werden droht. Denn wir find nicht reich genug und werden in abſeh- barer Zeit auch ſchwerlich reich genug werden, um eine Nachäffung der von amerikaniſchen Milliardären oder unermeßlich reichen engliſchen Ariſtokraten geſchaffenen Vorbilder ohne ſchweren Schaden für die nationale Wohlfahrt und den ſozialen Frieden zu ertragen. Wie ſchlecht ſich die Weiterentwicklung geiſtiger und ſittlicher Kultur mit prahleriſchem Luxus und raffinierter Genußſucht verträgt, dafür iſt gerade der Tiefſtand dieſer Kultur in den amerikaniſchen Großſtädten ein ſchlagender Beweis, und wenn der britiſche Hochadel ſich neuerdings unter Verleugnung feiner alten vor- nehmen Überlieferungen immer eifriger bemüht, nach- zutun oder womöglich noch zu übertreffen, was aus New Vork von den wahnwitzigen Luxuslaunen protziger Milliardäre berichtet wird, fo ſtellt er damit feiner In- telligenz nicht eben das glänzendſte Zeugnis aus. Der Umſchwung aber, der ſich während der letzten

n Don Aler. Cormans. 101

Jahre infolge dieſer ſklaviſchen Nacheiferung, wie auch infolge der zahlreichen Heiraten zwiſchen britiſchen

S Lafayette, London. Lady Londonderry, deren Perlen und Diamanten durch ihre auserleſene Schoͤnheit beruͤhmt ſind.

Ariſtokraten und reichen amerikaniſchen Erbinnen in der äußeren „Aufmachung“ des Londoner geſellſchaft— lichen Lebens vollzogen hat, dürfte uns Deutſchen recht

102 Weiblicher Luxus. u

wohl als ein warnendes Exempel gelten. Beſchränkt er ſeine Wirkung doch keineswegs auf den kleinen exkluſiven Kreis, deſſen Angehörige ſich um ihres enormen Reichtums willen ungeſtraft jede Extravaganz geſtatten dürfen, und betätigt das ſchlechte Beiſpiel ſeine Anſteckungskraft doch um fo rapider und unauf- haltſamer, als es zuerſt das allmächtige „ſchöne“ Ge— ſchlecht iſt, das für dieſe Anſteckung in Betracht kommt.

Der rein äußerliche und für beide Teile in gleichem Maße entwürdigende Götzendienſt, der in den Ver— einigten Staaten als ein Überbleibjel aus den erſten frauenarmen Anſiedlungszeiten her mit dem weiblichen Geſchlecht getrieben wird, und der mit wahrer Ritter lichkeit nicht das mindeſte zu ſchaffen hat, iſt gleich anderen amerikaniſchen Eigentümlichkeiten ja neuer- dings auch im alten England mehr und mehr Mode geworden. Die Frau aber, wenn fie einmal zur Herr- ſchaft gelangt iſt, bedient ſich ihrer Macht natürlich auf Frauenart, und wo das weibliche Geſchlecht regiert, iſt es unausbleiblich, daß der zum Schmuck des Lebens beſtimmte Luxus zum eigentlichen Lebenszweck wird und zur unſinnigen Verſchwendung ausartet.

Als ein „altmodiſcher“ engliſcher Richter kürzlich aus Anlaß einer ehelichen Auseinanderſetzung öffent- lich die Meinung ausſprach, eine Summe von jährlich viertaufend Mark müſſe ausreichen, um die Toiletten- bedürfniſſe einer Dame der guten Geſellſchaft zu be— ſtreiten, antwortete ihm allgemeines Hohngelächter und ein tauſendſtimmiger entrüſteter Proteſt. Denn nicht einmal das Zehnfache dieſes Betrages ſieht eine „faſhionable“ britiſche Dame heute als genügend an, um ſich ſtandesgemäß zu kleiden und herzurichten. Will ſie in der Geſellſchaft nicht eine nach ihrem Empfinden geradezu klägliche Rolle ſpielen, ſo braucht ſie für den

o - Von Alex. Cormans. 103

gedachten Zweck mindeſtens- ſechzigtauſend Mark im Jahre, und ſie iſt bei ſolchem Bedarf ſicherlich noch

Copyriglit: Lafayette, London.

Die Gräfin Stradbrofe in ihrem koſtbaren Familienſchmuck.

ſehr weit davon entfernt, ſich für eine Verſchwenderin

zu halten. Man wolle doch gefälligſt bedenken, wieviel ſchon

104 Weiblicher Luxus. ö u

——

die für ein fol- ches armes, viel- geplagtes Ge— ſchöpf allerun- entbehrlichſten Dinge koſten! Auch wenn ſie nicht bei Hofe eingeführt iſt und zu ihrem Schmerz auf eine ſchier un- bezahlbare Courtoilette verzichten muß, braucht ſie doch mindeſtens je zwei koſtbare Geſellſchafts- kleider für die Oper, die Bälle, die Diners, die Konzerte, die Reſtaurants, von den Reit- und Fahr- doſtü-

1 * * N *

* * SS \ —— NE70 ©, . N

N Vopyriekt: Shadwall Clarke, London. Die Opernſaͤngerin Melba, deren Juwelen auf einen Wert von fuͤnf Millionen Mark geſchaͤtzt werden.

Digitized by Google

un Von Alex. Cormans. 105

men, den Toiletten für die Straße, den Baſar, die „Gar- tenpartien“, die Rennplätze und das Seebad, um von dem Zacht- und Automobildreß gar nicht zu reden. Einen wirklich „ſchicken“ Pelzmantel oder dergleichen kann ſie ſich bei einem Toilettenetat von ſechzigtauſend Mark dabei noch nicht einmal leiſten, denn unter zehn- bis fünfzehntauſend Mark iſt etwas Apartes auf dieſem Gebiete nicht zu haben.

Schon die unerläßlichen Kleinigkeiten verſchlingen ſo unendlich viel. Man rechne doch aus, was die fünf— undzwanzig Hüte im Fahre koſten, wenn für einen einzigen Pariſer Modellhut vierhundert Mark verlangt werden, und wenn für die allerbeſcheidenſte Ropf- bedeckung, mit der man ſich unter anſtändigen Leuten ſehen laſſen kann, ſechzig bis hundertundzwanzig Mark gezahlt werden müſſen. Dazu zwölf Automobilſchleier im Preiſe von fünf bis zehn Mark das Stück; fünfzehn Dutzend Paar Handſchuhe zwiſchen vier und dreißig Mark das Paar; zwölf Dutzend Taſchentücher zu ſechs- unddreißig Mark das Dutzend; zehn Gürtel, die im Preiſe zwiſchen zehn und ſechzig Mark variieren; ſechs Korſette, zwölf Leinenbluſen und ſechs ſeidene, die eine ganz hübſche Summe ausmachen, auch wenn man für keine mehr als hundertundfünfzig Mark ausgibt, und daneben die diskreteren Toilettengegenſtände, die fei- denen Strümpfe und Unterröcke, die natürlich den ver- ſchiedenen Kleidern angepaßt fein müſſen, die Leib— wäſche, die in kurzen Zwiſchenräumen eine Aufwendung von Tauſenden notwendig macht, und die im voraus gar nicht zu berechnenden Ausgaben für Parfüme, Schönheitscreams, Seifen, Puder, Haarfärbemittel, für Manikure, Maſſage, beſondere Bäder uſw.!

Seufzend vernimmt eine mit ſo kärglichem Nadel— geld ausgeſtattete Evastochter die wohlbeglaubigte

106 Weiblicher Luxus.

4 * S * ER f 5 . .

| 2

3

Die Opernſaͤngerin Cavalieri, die Perlen und Bril— lanten im Werte von zwei Millionen Mark beſitzt.

Bo BE

Copyright: Lallie Charles,

Kunde, daß eine glück-

liüchere Ge-

ſchlechtsge-

noſſin in

der Lage iſt, viertau-

ſend Mark

5 jährlich für

Vollbäder

in Milch

aufzuwen—- den, oder eine unge- fähr gleiche Summe

für die „Er-

neuerung“ ihrer Ge— ſichtshaut durch einen modernen „Schön⸗ beitsdof-

A tor“, Denn ſoolche klei— nen Extra-

ausgaben

ſind ihr ja durch die

gebotene

Sparſam- keit ver- wehrt, ſie

a Von Alex. Cormans. 107

bleibt ganz und gar auf die Großmut des Vaters oder Gatten angewieſen, wenn ſie ſich Modeſpielereien, wie das Halten eines Hündchens, geſtatten will, deſſen An- ſchaffung immerhin ein Opfer von drei- bis zwanzig⸗ tauſend Mark ſo viel zahlte Miß Ines Schäffer aus New Vork für den ihrigen und deſſen jtandesge- mäßer Unterhalt eine jährliche Aufwendung von etwa zweitauſend Mark erfordert.

Daß mit der Bekleidung und Pflege ihrer mehr oder weniger ſchönen Perſönlichkeit den Lurusbedürf- niſſen einer modernen Mondaine noch bei weitem nicht Genüge getan iſt, bedarf nicht erſt der Verſicherung, denn ſie würde um nichts in der Welt zum Beſuch eines Theaters oder einer Geſellſchaft zu bewegen ſein, wenn nicht auch ihr Fuwelenſchmuck jeden Vergleich mit dem der Rivalinnen aushielte. Hier in erſter Linie iſt das Gebiet, auf dem ſich weibliche Luxusextravaganz in geradezu ſchrankenloſer Weiſe betätigen kann. Alte, feudale Geſchlechter pflegen ja ihren Familienſchmuck zu beſitzen, der ſich von Generation zu Generation vererbt und durch ſtändigen Zuwachs oft zu Rleinodien- ſammlungen von ſchier unermeßlichem Werte anſchwillt. Wenn fi in ſolchem Fall britiſcher und amerikaniſcher Reichtum vereint, wie bei der Lady Londonderry, deren unvergleichliche Perlencolliers zum Teil dem vor etlichen Jahren verſteigerten franzöſiſchen Kronſchatz entſtam— men, ſo repräſentiert die Trägerin bei feſtlichen Ge— legenheiten wohl ein auf viele Millionen zu bezifferndes Kapital, und es iſt ſehr begreiflich, wenn ſo und ſo viele neidbeklemmte weibliche Herzen bei dem Anblick der— artiger Pracht von dem glühenden Wunſche erfaßt wer— den, einen Gegenſtand gleicher Bewunderung oder gleichen Neides aus ſich zu machen.

Aber außer den mit koſtbaren Familienerbftüden

108 Weiblicher Luxus. Do

gejegneten Damen der hohen Ariſtokratie und den Töchtern amerikaniſcher oder ſonſtiger Williardäre iſt es nur verhältnismäßig wenigen vergönnt, dies heiß— erſehnte Ziel weiblichen Ehrgeizes zu erreichen, und

Die ſpaniſche Taͤnzerin Roſario Guerrero im Schmuck ihrer auf vierhunderttauſend Mark bewerteten Juwelen.

dieſe wenigen es iſt leider ſchmerzliche Wahrheit gehören zu ihrem größeren Teil nicht der vornehmen Geſellſchaft, ſondern der Welt der Bretter oder ſogar des Brettls an. Familienerbſtücke kommen da ja zu— meiſt nicht in Frage, und es verdient gewiß um ſo größere Bewunderung, daß der Schmucktreſor mancher

1 Von Alex. Cormans. 109

ſchönen Künſtlerin und ſchön ſind die ſo Begnadeten ſelbſtverſtändlich immer ſich innerhalb weniger Jahre mit Schätzen füllt, wie ſie in den alten fürſtlichen, herzoglichen und gräflichen Häuſern erſt im Verlauf von Jahrhunderten angeſammelt werden konnten.

Was von dem Werte der Juwelen dieſer oder jener Diva erzählt wird, iſt ja nicht immer ganz buchſtäblich zu nehmen, ſo wenig als wir etwa vorbehaltlos an die Zahl der Hervorrufe und Lorbeerkränze glauben müſſen, von denen uns ein in der Erzählung ſeiner Erfolge ſchwelgender Mime berichtet; auch die Echtheit dieſes oder jenes taubeneigroßen Brillanten, den wir von der Bühne herüberbligen ſehen, mag nicht über jeden Zweifel erhaben fein; aber es iſt unbeſtreitbare Tat- ſache, daß einige Sängerinnen und Artiſtinnen, die gleichzeitig auch kluge Lebenskünſtlerinnen waren, über Juwelenſchätze von märchenhafter Pracht und Koſt— barkeit verfügen.

Die berühmte Sängerin Madame Melba, die ſich in der Rolle der Traviata mit ihrem geſamten Schmuck zu behängen und zu beſtecken pflegt, ſoll bei dieſer Gelegenheit nicht weniger als fünf Millionen Mark in Brillanten und anderem Edelgeſtein an ſich tragen. Der Kleinodienbeſitz der bekanntlich aus den allerbeſchei— denſten Anfängen hervorgegangenen jetzigen Opern— ſängerin Cavalieri, der gefeiertſten und bekannteſten „Poſtkartenſchönheit“ unſeres Jahrhunderts, wird auf einen Wert von beiläufig zwei Millionen Mark ge- ſchätzt. Und die auf allen größeren Spezialitätenbühnen heimiſche ſpaniſche Tänzerin Rofario Guerrero kann an ſprühendem Glanz ihrer äußeren Erſcheinung getroſt mit jeder Auslage eines großen Zuweliergeſchäftes wetteifern. Obwohl ſie an jedem Finger ihrer beiden ſchönen Hände den Daumen natürlich mit ein-

110 Weiblicher Luxus. E

begriffen nur einen Ring von allerdings gewaltigen Dimenſionen trägt und ſich im übrigen meiſt auf einen Halsſchmuck aus haſelnußgroßen Brillanten und Saphi— ren, ſowie auf Ohrgehänge von noch beträchtlicherem

EB;

Fräulein Delyſia, eine Pariſer Schaufpielerin, beſitzt eine koſtbare Sammlung der größten und 1 ſchoͤnſten Opale.

Umfange beſchränkt, iſt ſie in dieſer Ausſtattung doch immerhin auf mindeſtens vierhunderttauſend Mark einzuſchätzen.

Erheblich beſſeren Geſchmack und jedenfalls eine für eine Bühnenkünſtlerin doppelt bemerkenswerte Er— habenheit über jeden Aberglauben beweiſt die Pariſer

Fe ©

Copyriglit: Lafayette, London. Die engliſche Schaufpielerin Miſtreß Langtry in einer Pelzausſtattung von immenſem Werte.

112 Weiblicher Luxus. 203

Schauſpielerin Fräulein Delyſia, deren Extravaganz im Sammeln der ſonſt als Unglüdsbringer verſchrieenen Opale beſteht. Sie ſteht in dem Rufe, die meiſten und auserleſenſten Exemplare dieſes „tauſend ſchöne Farben ſpielenden“ Steines zu beſitzen, der in großen und vollkommen tadelloſen Stücken bekanntlich nicht allzu häufig iſt.

Wunderdinge erzählt man ſich endlich auch von den Juwelen und ſonſtigen Koſtbarkeiten der engliſchen Schauſpielerin Miſtreß Langtry, einer Künſtlerin, an deren Schönheit ſchon etliche Jahrzehnte ohne augen- fällige Spuren vorübergegangen ſind. Am meiſten bewundert aber werden allerdings die Kleider und namentlich die unterſchiedlichen Pelzgarnituren dieſer Dame. Ob ſie über einen Zobelpelz gleich dem für hunderttauſend Mark beſchafften des Fräulein Anna Held verfügt, ift dem Verfaſſer allerdings nicht be- kannt; um ein ſehr beträchtliches aber dürfte der Wert der Pelzausſtattung, mit der ſie auf unſerem Bilde „geſchmückt“ iſt, kaum hinter dieſer Summe zurückſtehen.

Natürlich ließen die hier angeführten Beiſpiele weib- licher Luxusextravaganz ſich bis ins unendliche ver- mehren, uns aber war es nur darum zu tun, an einigen aus dem Leben unſerer Tage gegriffenen Exempeln zu zeigen, wohin die kritikloſe Befriedigung töricht ver- ſchwenderiſcher, auf äußeren Schein und hohlen Prunk gerichteter Frauenlaunen ganze Geſellſchaftsklaſſen ſchließlich mit Naturnotwendigkeit führen muß, und damit zugleich den Beweis zu führen, daß vornehme Einfachheit immer die einzige ſichere Grundlage eines geſunden Wirtſchaftslebens und einer BE Kulturentwicklung bleiben wird.

2

Margareta Plaudertaſch.

Novelle von A. Noel.

(Nachdruck verboten.)

n der großen Kartonagen und Einbanddeden- fabrik Habermann & Sohn ſchrillte die Glocke, die den Feierabend verkündete. Das Puſten

und Fauchen, das Surren und Schwirren der

Maſchinen. verſtummte, und man vernahm nur noch

das Geräuſch, das die die Arbeitſtätte Verlaſſenden

machten.

Doch heute drängten ſie nicht dem Ausgange zu. Es war Samstagabend, und alles ſtaute ſich im Vor- raum des großen Zimmers zu ebener Erde, in dem die Lohnauszahlung erfolgte. Dort unter dem Licht der grünbeſchirmten Gaslampe ſaßen zwei Männer ein- ander an einem Tiſche gegenüber: ein alter, wie ver- ſtaubt ausſehender Beamter mit einem großen Buch voll Namen und Zahlenreihen und ein ſehr großer, breitſchultriger junger Mann mit energiſchen Zügen, bis auf den kleinen, kurzgeſchnittenen Schnurrbart bartlos, von ernſtem, faſt ſtrengem Ausſehen.

Doch die Schar der auf Einlaß harrenden Arbeiter wußte wohl, daß dieſe Strenge nur ſcheinbar, und daß es für ſie von Vorteil war, wenn einmal der junge Herr auszahlte. Mit dem „Rupertl“, wie die Arbeite- rinnen heimlich kichernd ſagten, war viel leichter aus- zukommen als mit dem Vater.

Zwar die, die gern „blau“ machten, unverträglich

1911. III. 8

114 Margareta Plaudertaſch. u

oder roh waren, hatten von ihm nichts zu hoffen, aber ſonſt traf man es gut mit ihm.

Eben zählte draußen eine Arbeiterin das Geld, das ſie bekommen hatte, mit vergnügter Miene.

„Aha, die Nowak!“ ſtieß eine Arbeiterin die andere an. „Gewiß hat ſie dem jungen Herrn was vorgeheult von ihren kranken Kindern, und da hat er ihr den Tag nicht abgezogen, an dem ſie nicht da war.“

„Ja, in ſo einem Fall iſt er wie Butter,“ beklagte ſich die andere. „Aber mir hat er's geſtern nit ſchlecht geben.“

„Weil Sie nicht achtgeben, Kratochwilln,“ ſagte ein blondes Mädchen, das im Außeren auffallend von den anderen abſtach.

„Es waren ja meine Finger, die beinah“ in die Maſchine kommen wären,“ erwiderte die Kratochwill ſchnippiſch. „Was geht's ihn an?“

„Er will nicht, daß ein Unglück geſchieht,“ ſagte die Blonde.

„Bei uns g'ſchiecht eh nicht ſo viel wie anderswo, weil der junge Herr immer aufpaßt wie ein Häftel- macher. Da wird er fuchtig, der Rupertl, wenn eine unvorſichtig iſt.“

„Es braucht auch nichts zu geſchehen, wenn jedes ſich an die Vorſchriften halt',“ ſagte wieder die Blonde. „Aber da kann man lang' red'n.“

„Ach was, mir paſſiert nix!“ verſicherte die Rra- tochwill, ein junges Mädchen mit einem frechen Vor- ſtadtgeſicht, über dem ſich ein wildzerzauſter Schopf auftürmte.

„Ihnen paſſiert noch ganz ſicher was, Netti!“ prophezeite die Blonde ernſt. „Entweder bei der Maſchin' oder nach der Arbeit draußen. Es gibt auch auf der Gaſſe Gefahren. Wenn Sie's jo weiter- treiben —“

0 Novelle von A. Nosl. 115

„Wie ich mich ſchon fürcht'!“ ſpottete Netti Rratoch- will.

„Marie HYugersdorfer!“ rief es von drinnen.

Es war das blonde Mädchen, das dieſem Ruf Folge leiſtete. |

„Die Gnädige!“ ſpottete Netti Kratochwill hinter ihr drein. „Was die ſich einbild't! Is auch nix Beſſeres wie unſereins.“ |

„Wer weiß, ob die nicht noch eine Gnädige wird,“ bemerkte eine andere. „Mir kommt's beinah“ vor,“ flüſterte ſie der Netti zu, „als ob der Herr Rupert ein Aug' auf ſie geworfen hätte.“

„Das wird ihm grad' einfall'n! Auf die fade Nocken!“ zweifelte die Netti.

Marie Hugersdorfer war unterdeſſen in das Zimmer und an den Tiſch des jungen Herrn getreten. Nach all den meiſt verwahrloſten und früh verbrauchten Ge⸗ ſtalten in Wolltüchern mit Löchern und Riſſen wirkte ihre Erſcheinung geradezu überraſchend. |

In einfachen, ſichtlich natürlichen Wellen legte ſich ihr Haar von reinem, hellem Blond um die Schläfen und umrahmte ein blaſſes, faſt zu bleiches Geſicht von den regelmäßigſten Linien. Raſſeloſe Zufallsprodukte waren die anderen alle, dieſe hier dagegen beſaß ein faſt römiſch zu nennendes, edel und fein gezeichnetes Profil und ein ruhig gemeſſenes Weſen.

Nie war Rupert Habermann die ſtille Würde, die das Mädchen wie eine eigene Atmoſphäre umgab, fo aufgefallen wie heute.

Als er ihr ihren Wochenlohn ein Zwanzigkronen- ſtück hingeſchoben hatte, das ſie mit einem artigen Dankesknicks hinnahm, bemerkte er auch, wie weiß und wohlgeformt ihre Hand war, die doch ſicher ſchon viel harte Arbeit geleiſtet haben mußte. Wie ſchade wäre

116 Margareta Plaudertaſch. u

es, wenn eine der mörderiſchen Schneidemaſchinen etwa dieſe Hand verſtümmeln ſollte!

„Geben Sie auch immer acht, Marie?“ fragte er, als ſie ſich ſchon zum Gehen wandte.

„Ja, ich bin ſehr vorſichtig,“ verſicherte ſie.

Es ſah ihr auch nichts unähnlicher als Unbefonnen- heit und Kopfloſigkeit.

„Nur aufpaſſen! Nur aufpaſſen!“ mahnte auch der alte Anders, der Kaſſierer. „Na, auf die Marie kann man ſich verlaſſen,“ meinte er, zu Rupert gewendet. „Die iſt vernünftig. Aber die anderen! Der Leicht- ſinn!“

„Ja, ja, 's is wahr!“ ſtimmte das Mädchen zu. „Bei uns haben's die Schutzengel nicht leicht. Dank ſchön, junger Herr! Gute Nacht wünſch' ich.“

„Wo die's nur her hat?“ verwunderte ſich der alte Anders hinter ihr drein. „Nicht nur das Äußere mein’ ich, auch das Innere. Sie iſt gar ſo verſchieden von den anderen. So wohlerzogen, möcht' ich ſagen. Die könnt' man an jeden Platz ſtellen, glaub’ ich. Es gibt viel feine Fräuleins, die nicht ſo ausſchauen und ſich an ihrer Stell' auch nicht ſo halten würden.“

Rupert antwortete nichts auf dieſe bei dem gräm- lichen Alten ſeltene Lobpreiſung, denn die Reihe der Eintretenden und Abziehenden riß ja kaum ab; aber ſeine Gedanken löſten ſich nicht ſo leicht von dem Mädchen.

Wie ſchön ſie doch war, dieſe Marie! Wie anziehend gerade durch ihre niedere Stellung im Leben, denn ſonſt wäre ſie ja kein ſolches Wunder!

Seit einiger Zeit quälte ihn der Vater mit Heirats- plänen, und er begriff ja ganz gut, daß er ihn verheiratet zu ſehen wünſchte. Schon ſo lange lebten ſie zu zweien in einem Hauſe ohne Herrin. Die Mutter war früh

5 Novelle von A. Nesl. 117

geſtorben. In einem ftillen, öden Heim war er auf- gewachſen, ohne feineren weiblichen Einfluß, und er kam auch jetzt noch wenig in Damengeſellſchaft, denn die moderne junge Dame mit ihrer komplizierten Friſur, ihrem Rieſenhut, ihrer herausfordernden Schneidigkeit und Gefallſucht und ihrem ſich ſtetig ſteigernden Luxus- trieb flößte ihm direkt ein heilloſes Grauen ein.

Er brauchte einer ſolchen jungen Dame nur zu be- gegnen, um zu wiſſen, wie ſeine Zukünftige nicht ausſehen ſollte. Aber begann es nicht in ihm aufzu- dämmern, wie ſie tatſächlich ausſehen ſollte?

Die Luft in dem Bureau fing an ihn zu bedrücken, und er war froh, als die Auszahlung beendigt war und er in die friſche Luft gehen konnte.

Vielleicht war es eine Folge ſeiner Hinneigung zum vierten Stand, die der Vater ihm gern vorwarf, daß Rupert, als er nun auf die Straße gelangte, nicht ſofort einem reicheren, von eleganteren Leuten belebten Viertel zuſtrebte, ſondern in der lauen Herbſtluft durch die ſtill gewordenen Straßen der Fabrikgegend des dritten Wiener Bezirks hinſchritt. Ihm waren ſolche Straßen lieber als ein Korſo lauter geputzter Menſchen.

Auf ſeinen einſamen Spaziergängen ſann er den Fragen nach, die ihn innerlich beſchäftigten. Wie war es denn mit ſeiner ſogenannten Neigung zum vierten Stand, wie ſein Vater immer ſagte? Eigentlich mochte er dieſe Menſchen gar nicht, unter denen es ſo viele Meſſerhelden, Trinker und Strolche gab. Er vertrug nicht einmal gut den Duft, den ihre Kleidung aus- ſtrömte. Aber gerechterweiſe mußte man zugeſtehen, daß ſie an ihren Mängeln und Laſtern nicht ſelbſt ſchuld waren, daß es die „Geſellſchaft“ war, die ſie vom Lebensgenuß und von jeder Verfeinerung ausſchloß. Er zum Beiſpiel durfte nicht vergeſſen, daß alle dieſe

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wenig äſthetiſchen Fabrikarbeiter und -arbeiterinnen an feinem Wohlſtand mitbauten, ohne mehr dafür zu er- halten, als für die alleräußerſten Bedürfniſſe genügte.

Die ſchreiende Ungleichheit der Glüdsgüter würde ſich wohl nie ausgleichen laſſen, aber er für feinen Teil hätte gern ſein möglichſtes getan, um das Los derer zu verbeſſern, die für ihn arbeiteten. Nur freilich wollte der Vater nicht viel von ſeinen Plänen wiſſen, denn er wandte nicht mit Unrecht ein, daß er ſonſt nicht mehr konkurrenzfähig wäre. Blieben aber die Käufer aus, ſo litten gerade die am meiſten darunter, denen er helfen wollte.

In dieſem Kreis bewegten ſich Ruperts Gedanken, als er in eine kleine Nebengaſſe einbog, die dem Donau- kanal zuführte. Über ihm blitzten ſchon die Sterne, ein lauer Hauch wehte über das Waſſer her. Senjeite hoben ſich die dunklen Schattenmaſſen der Praterbäume in die Luft. Dort würde es friſcher und erquickender ſein.

Gerade kam ihm ein Mädchen entgegen, das ſich mit ſchlenkerndem Gang in den Hüften wiegte. Un- willkürlich bog er ab und ging auf die andere Seite der Gaſſe hinüber.

Plötzlich ſah Rupert eine in ein Tuch gehüllte Perſon die Hand mit drohender Gebärde heben, etwas klirrte, als zerſplittere ein Glas auf dem Pflaſter, ein Schrei ertönte, und ſchon wurde es rings lebendig. Aus allen Haustoren tauchten Leute auf.

Die Straße wieder kreuzend, bemerkte Rupert ein Weib, das mit großen Schritten enteilte. Wahrjchein- lich hatte die etwas angeſtellt.

Schon befand er ſich mitten in einem Knäuel von ſchreienden, herzueilenden, lebhaft fragenden und durch- einanderrufenden Menſchen. Alle umſtanden einen

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Fleck an der Hausmauer, wo Rauch emporſtieg wie von einer ätzenden Flüſſigkeit, die dort verſchüttet war und von der noch ein Teil aus N zerbrochenen Fläfch- chen ausfloß.

Ein Mädchen mit Siebe Kopf hielt fich jammernd die Wange, während ein paar Männer eine andere gepackt hatten, die eine graue Wollpelerine um die Schultern hatte und deren Haar einen lichten Schein warf.

„Die is's g'weſen!“ ſchrie ein Weib aufgeregt. „Sie hat das Flaſcherl geworfen. Vitriol is es! Vitriol!“

Sie ſchüttelte die Fauſt vor dem Geſicht der Er-

griffenen. Di.ieſe aber blieb ganz ruhig. Mit Befremden und mit Schrecken erkannte Rupert Marie HYugersdorfer. Sie war es, die hier einer ſchnell anwachſenden und aufgeregten Menge ſtandhielt.

„Ins Waſſer mit ihr!“ ſchrieen ſchon einige.

Zornig und aufgeregt drangen die Weiber auf ſie ein, drohend hoben die Männer die Fäuſte. Blitzſchnell trat ein Bild vor Ruperts Seele: Charlotte Corday, von den Revolutionshyänen umringt. Und hier wie dort leuchtete die blaſſe, ſtille Schönheit des Mädchens nur um fo ergreifender aus dem Kreis häßlicher, ge- meiner und aufgeregter Geſichter, die ſie umgaben.

„Marie Sie?“ fragte Rupert, beſtürzt auf ſie zu tretend.

Marie Hugersdorfer blickte erkennend zu ihm auf. Sie hatte trotz ihrer unangenehmen Lage ihre Ruhe nicht verloren. „So ein Unſinn!“ ſagte ſie gelaſſen. „Leut', was wollt ihr denn von mir? Ich war's ja gar nicht!“ wendete ſie ſich an ihre Bedränger.

„Das könnt' jeder jagen!“ höhnte ein Mann mit

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einer Pfeife im Mund und in Schlappſchuhen, offenbar ein Hausmeiſter der Umgebung.

„Loslaſſen!“ donnerte Rupert die Männer an, die Marie gefaßt hielten.

Der herriſche Ton wirkte. Rechts und links wichen die Leute von Marie Hugersdorfer zurück, während die Verletzte, ſich die Wange haltend, wütend auf den Hausmeiſter einſchrie: „So blöd! Die’s geweſen is, is längſt durch! Ich hab' ſ' aber g'ſehen, ich weiß, wer's war!“

„Natürlich wiſſen Sie's, Netti!“ antwortete Marie Hugersdorfer nachdrücklich.

Rupert erkannte das Mädchen jetzt als eine ſeiner Fabrikarbeiterinnen und erinnerte ſich, gehört zu haben, daß das Mädchen einer anderen den Mann abſpenſtig gemacht hatte.

„Ich kenn' ſ' gut, ich zeig’ ſ' ſchon noch an!“ ſchrie Netti.

„Das laſſen S' lieber bleiben!“ warnte Marie, „Sein S' froh! Es iſt Ihnen ja nix g'ſchehn. Ich hab' ihr die Hand weggeſchlagen, wie ſ' das Flaſcherl werfen wollt'. So iſt es an die Mauer geflogen. Sonſt wär' Ihnen das Spaßen vergangen, Netti.“

„Ah, fo iſt die G'ſchicht“?“ fragten die Leute ringsum, den Zuſammenhang erfaſſend.

Die früher fo Erboſten wandten ſich nun teilnah m- voll an Marie, und einer davon fragte ſogar, ob er ihr nicht weh getan habe.

Aber mitten im Gedränge rief eine ſpitze, harte Stimme dem Mädchen vorwurfsvoll zu: „Was haben S' Ahnen denn dreingemengt? Hätten S' ſie nur mach' n laſſen! Der dort wär' kein Unrecht g'ſchehn, der hätt' ein Denkzettel nix geſchadet!“ Und mit dem Finger auf Netti Kratochwill deutend, fuhr das Weib

u Novelle von A. Nosl. 121

fort: „Der Mann hat 's Weib ſitzen laſſen wegen der da!“

Die Stimmung drohte nun gegen die Netti umzu- ſchlagen, und es war ein Glück für ſie, daß der Wagen der Rettungsgeſellſchaft anfuhr, die irgend jemand be- nachrichtigt haben mußte, und die ſich ja ſo nahe von hier befand, daß ſie raſch zur Stelle ſein konnte.

Rupert gab Marie einen Wink, und während nun endlich auch ein Wachmann herzukam, um zu ſehen, was es hier gäbe, löſten ſie ſich aus dem Knäuel und entfernten ſich. Ein paar Schritte führten ſie um die Ecke hinaus auf die einſam daliegende Donaulände.

Unter den funkelnden Sternen ſtanden ſie einander gegenüber.

„Sie haben die Netti vor einem ſchrecklichen Schid- ſal bewahrt,“ ſagte Rupert zu dem jungen Mädchen, das beſcheiden und mit feinem gewöhnlichen Gleich- mut, der ſchon an Seelengröße ſtreifte, vor ihm ſtand. „Wie leicht hätten Sie ſelbſt getroffen werden können.“

„O nein, das nicht,“ lehnte Marie ab.

„Vie kam es, daß Sie gerade hier waren?“ fragte er.

„Ich war bei dem Kaufmann, wo ſie das Vitriol gekauft hat, die Frau,“ berichtete Marie. „Das war mir verdächtig, und deshalb bin ich ihr nach. Die Frau war halt furchtbar gereizt.“

„Das durfte ſie aber doch nicht tun,“ entgegnete er. „Dem Morlan feine Frau war es?“

Marie zögerte mit der Antwort. „Der hilft Ihr Schweigen nichts mehr,“ meinte Rupert. „Zetzt muß ſie ihre Tat verantworten. Aber da der Kratochwill nicht viel geſchehen iſt, wird es glimpflich ablaufen. Haben Sie ſich denn nicht vor den Leuten gefürchtet, Warie?“

„Nein, ich hab' ja g'wußt, es wird ſich gleich auf

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klären,“ ſagte fie einfach. „Und jetzt dank“ ich dem jungen Herrn halt vielmals für feinen Beiſtand. Ver- gelt's Gott! Gute Nacht!“

Sie machte ihm ihre beſcheidene Verbeugung und trat von ihm weg, ſich einer Seitengaſſe zuwendend.

Rupert blieb noch einige Minuten wie in Sinnen verloren an der Donaulände ſtehen. Das Waffer rauſchte unſichtbar unten vorüber, und die Sterne glitzerten immer zahlreicher aus der Höhe herab. Von weither ertönte der Pfiff einer Lokomotive an ſein Ohr, und drüben ballten ſich die Schattenmaſſen des Praters dunkler zuſammen.

Aus ſeiner Verſunkenheit auffahrend, raffte Rupert ſich zuſammen und ſchritt der nächſten Donaukanalbrüͤcke zu, um in den Prater hinüberzukommen. Ein Spazier- gang in den abendlich einſamen Alleen würde ihm gut tun.

Warum war fie nur fo ſchnell davongegangen? Er

hätte gern Näheres von ihr gehört. Bis jetzt wußte er nur, daß ſie allein ſtand und ſich tadellos hielt. Mehr als ein paar Worte hatte er noch nie mit ihr gewechſelt. Aber heute hätte er ſie nicht ſo gehen laſſen ſollen. Ein Mädchen aus dem Volk! Aber wie hatte fie unter dieſen Leuten geglänzt wie ein Stern, der aus der Höhe herab in den Straßenſtaub gefallen iſt, man weiß nicht wie.

Sie gehörte nicht in ihre jetzige Umgebung, das war klar. Hatte nicht ſogar der alte Anders geſagt, man könne ſie an jede höhere Stelle bringen? Zwei— fellos würde ſie überall beſſer hinpaſſen als in ihre gegenwärtige Situation.

Ihn drückte ſeine Bevorzugung vor denen, die ſich für ihn plagten. Wäre es nicht der beſte Ausgleich,

e. Novelle von A. Nosl. 123

wenn er eine aus ihrer Mitte an feinem Vohlſtand teilnehmen ließe? Konnte man denn auch irgendwo ein ſchöneres und charakterfeſteres Mädchen finden als dieſe arme Arbeiterin?

Nun ſollte der Vater nur wieder von ſeinen Plänen anfangen. Er würde ihm zu antworten wiſſen.

* * *

„Rupert!“

Am Fenſter des Bureaus in dem der Expedition und dem geſchäftlichen Verkehr gewidmeten Bau neben dem Wohnhaus ſtand Rupert am Fenſter und blickte auf den Fabrikhof hinunter, den jetzt, nachdem es gerade Mittag geläutet hatte, die den Fabrikräumen entquellenden Arbeiter füllten.

Das Wohnhaus und das Geſchäftshaus, zuſammen eine Maſſe mit der Front gegen die Erdbergerſtraße bildend, ſtanden im rechten Winkel zu dem großen Backſteinbau der Fabrik, deren Haupttor ſich nach einer Quergaſſe öffnete. Viele Arbeiter und Arbeiterinnen verließen die Fabrik nach dieſer Seite hin, ſo daß ſie von den Hoffenſtern aus nicht geſehen werden konnten, allein eine große Anzahl ſtrömte auch über den langen Hof, der ſich neben dem zum Wohnhauſe gehörigen Garten lang nach hinten erſtreckte, dorthin, wo eine Planke an eine andere Seitengaſſe grenzte, in die eine kleine Tür hinausführte. |

Unter denen, die dieſen Weg zu nehmen pflegten, befand ſich auch die, nach der Rupert ausblickte.

Die anderen Arbeiterinnen, Frauen und Mädchen mit Kopftüchern oder ſtruppigen Schöpfen, kümmerlich, kränklich, ſchlecht gewachſen, gemein und keck oder ver- grämt und mühſelig ausſehend, ſchlenderten in Gruppen dahin, ſchwatzend, lachend und geſtikulierend, und der

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helle Mittag ließ nur um ſo peinlicher erkennen, was für Ausſchußware der Natur ſich hier zuſammen- gefunden hatte.

Ganz allein, in geziemendem Abſtand von dieſen Rudeln, kam nun die eine daher, auf die Rupert wartete. In der Herbſtſonne bildete ihr ausgewaſchenes Rattun- kleid einen lichten Farbenfleck. Die graue Wollpelerine hing um ihre Schultern, und ihr hellblondes Haar legte ſich in glatten, glänzenden Zöpfen an den Hinterkopf. Noch von weither ſchimmerte es, dieſes unbedeckte Haar, bis das Mädchen dann hinter der Planke verſchwand.

„Rupert!“ ertönte es ſchärfer.

Der junge Mann am Fenſter fuhr herum und wandte ſich dem alten Herrn am Schreibtiſch zu, der ungeduldig zu ihm herüberblickte.

„Dreimal ruf ich dich ſchon! Was gibt es denn da unten zu ſehen?“

Die Ahnlichkeit zwiſchen Vater und Sohn war un- verkennbar. Jedoch erſterer war weit vierſchrötiger und ungeſchlachter als der Sohn, feine Züge unregel- mäßiger, die Hautfarbe dunkler und röter.

Habermann ſenior ſah aus wie jemand, mit dem nicht gut Kirſchen eſſen iſt.

Auf dem Gang draußen erklangen Schritte. Die Bureauangeſtellten eilten jetzt huſtend, ſcharrend und ſprechend die Treppe hinab.

Dann wurde es ſtill.

Habermann ſenior wartete dieſes Verklingen der Aufbruchgeräuſche ab, dann erſt fing er mit einem Räuſpern wieder an: „Na, haft du dir's nun überlegt?“

„Vas?“ |

„Was?“ äffte der Vater, ſchon zornig, ihm nach. „Du weißt ganz gut, was ich meine. Wir haben ſchon neulich davon geſprochen. Was glaubſt du denn? Man

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plagt ſich und ſcharrt 's Geld zuſammen und nachher ſoll man nicht wiſſen, wem es hinterlaſſen! Deinet- wegen hab' ich nicht mehr geheiratet, bin Witwer ge- blieben in den beſten Fahren. Könnteſt ſonſt eine Stiefmutter haben und ein Dutzend Halbgeſchwiſter, mit denen du teilen müßteſt. Ich aber hab' alles zu- ſammengehalten für dich. Dafür ſollteſt du doch end- lich auch etwas tun.“

„Was denn?“ fragte Rupert mechaniſch, obgleich er die Antwort voraus wußte.

„Heiraten!“ ſchoß der Vater los. „Das Alter haft du dazu. Mit achtundzwanzig iſt es grad’ recht. Nur nicht das beſte Alter verpaſſen, daß man keine Freud’ mehr an den Kindern erlebt! Zebt iſt's Zeit für dich, dazuzuſchauen.“

Rupert ſchwieg.

„Natürlich, das magſt du nicht! Aber du brauchſt dich gar nicht einmal umzutun. Die beſte Partie wird dir auf dem Präſentierteller entgegengetragen. gch hab' dir doch erzählt vom Winzer. Seine Tochter iſt jetzt endlich aus Lauſanne zurück. Neun Jahre hat ihm das Mädel nicht nach Haus kommen wollen, weil er doch damals die Dummheit gemacht und feine Wirt- ſchafterin geheiratet hat. War eine hübſche Perſon, knapp dreißig. Er hat gedacht, die wird ſich machen und noch leicht alles erlernen, das zu einer richtigen Dame gehört. Sie hingegen hat anders gerechnet. Wenn ich ſchon eine Gnädige bin, was brauch' ich mich da weiter noch anſtrengen? Und aus der Form iſt ſie gegangen, daß es ſchon nicht mehr ſchön iſt. Wirklich, er hat keine glückliche Hand gehabt, der Winzer. Zt den Frauenzimmern nicht gewachſen. Nicht einmal ſeinem Mädel. Alſo, jetzt iſt ſie über neunzehn und blitzſauber. Alles, was wahr iſt.“

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Er hatte vom Schreibtiſch ein Bild genommen und blickte es an, darauf rechnend, daß der Sohn in un- willkürlicher Neugierde herzutreten werde.

Rupert jedoch machte keine Miene dazu.

„Sie iſt aber auch jetzt nur nach Haus gekommen gegen fein feierliches Verſprechen, daß er fie bald ver- heiraten will. Sie bleibt ihm nicht bei der Stiefmutter im Haus. Alſo bildſchön und gebildet, und Geld hat ſie. Kannſt dir's ausrechnen. Seine Knopffabrik geht beſſer wie je, und er vermacht der Frau nur eine Rente. Alles andere kriegt das Mädel. Ich ſchätz', es wird hübſch viel ſein. Und dabei ſo ausſchauen! Steh nicht ſo da wie ein Stock, Rupert! Anſchauen kannſt du ſie dir doch! Das koſtet nichts.“

Zögernd, die Hände in den Jaketttaſchen, trat Rupert heran und warf einen Blick auf die Photographie. Es war ein längliches Bild und zeigte eine ſehr ſchlanke Mädchenfigur in einem weißen Kleid, das mehr aus Spitzen und Einſätzen beſtand als aus Stoff. In graziös koketter Haltung lächelte ſie dem Beſchauer entgegen. Hübſch, o ja, reizend ſogar! Aber ſo weltdamenhaft, ſo raffiniert angezogen kam ſie ihm vor beinahe wie eine Bühnengröße, die jede Miene auf den Ein- druck, den ſie machen will, vorher einzuſtellen weiß.

Und er hatte doch eine andere im Sinn!

„Na?“ fragte Habermann ſenior. „Red halt ein Wörtl! Tu den Mund auf! Biſt doch nicht ſtumm! Mit dir iſt's wirklich nicht zum Aushalten!“

Rupert zuckte die Achſeln. „Die und ich? Fällt mir nicht ein! So ein modernes Früchtl paßt nicht zu mir. Wie fie ausſchaut ſchon als Penſionsmädel! Ich kann keine ſolche Weltdame brauchen!“

„And warum nicht?“ Oer Alte ſchlug auf den Tiſch, daß die Tinte ſpritzte. „Grad' ſo eine brauchſt du! Wir

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Männer verſtehen nichts mit dem Geld anzufangen. Richtig auszugeben wiſſen es nur die Frauenzimmer. Du mußt eine Feine kriegen, eine richtige Dame, die's verſteht, eine wie die Winzeriſche, die die Welt ſchon geſehen hat, die ſich anzuziehen und ein Haus auf vornehmem Fuß zu führen weiß. Juſt eine ſolche möcht' ich für dich. Haſt du's endlich verſtanden?“

Habermann ſenior war ganz wütend über die Scheu ſeines Sohnes, um ſo mehr, als der Sohn ſie von ihm hatte.

Weil er nicht mit gebildeten Angehörigen des weib- lichen Geſchlechtes umzugehen verſtand, hatte er ja dereinſt ein einfaches Mädchen geheiratet, das als Stütze im Hauſe ſeines damaligen Brotgebers lebte. Da brauchte er keine Kratzfüße, keine Komplimente zu machen, nicht zu werben und ſich vor einem Korb zu fürchten. Man ſagte einfach: „Reſi, ich werde Sie heiraten,“ und die Geſchichte war gemacht.

Sein Sohn aber brauchte es nicht ſo bequem zu haben. Der ſollte ſich nur anſtrengen und die Feinſte nehmen, die zu haben war.

„Vater, das mit der Winzeriſchen geht wirklich nicht,“ gab Rupert ſich einen Ruck. „Ich hab' ſchon eine andere in Ausſicht.“

„Ah, da ſchau her!“ rief der Vater höhniſch. „Wer ſollt' denn das fein?“

„Eine, die du kennſt, die bei uns aus und ein geht. 1 „Bei uns gehn nur die Fabrikmädeln aus und ein.“ „Und wenn's eine aus der Fabrik wäre?“ fragte

Rupert. „Die, die ich meine, die hält ſich als Fabrik- mädel ſo, daß ſie die höchſte Achtung verdient. Du weißt ſelber, Vater, was das bedeutet.“

„Biſt du ganz verrückt?“ entſetzte ſich Habermann. „Ein Fabrikmädel! Sonſt nichts? Es iſt mir ja ſchon

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geſteckt worden, daß du dich für die Marie Hugers- dorfer intereſſierſt, aber daß du gleich dran denkſt, ſie zu heiraten, ein Fabrikmädel ohne Erziehung, ohne Bildung —“

„Ohne Firlefanz!“ verbeſſerte der Sohn. „Die als Fabrikarbeiterin ſo daſteht, die hat von Geburt aus in ſich, was man den Töchtern der beſſeren Stände erſt mühſelig beibringen muß.“

„Was hab' ich von ihrer Anſtändigkeit allein?“ fragte Habermann ſenior. „Die Frau, die ich für dich will, die ſoll noch ein bißl mehr haben viel mehr ſogar! Biſt du denn ſchon einig mit der Marie, haft du ihr ſchon was verſprochen?“

Der Sohn zauderte. Er wußte, wenn er die Wahr- heit antwortete, verſtärkte er nur die Poſition ſeines Gegners, und doch konnte er nicht anders. „Ich hab' noch kein Wort mit ihr davon geredet,“ geſtand er. „Du mußt doch zuerſt ja ſagen, Vater. Wenn ich mit ihr ſpreche, muß ich ihr ſagen können, daß du ſie als Tochter aufnehmen willſt.“

Der Vater lehnte ſich in ſeinen Stuhl zurück und blickte ſeinen Sohn an. Sein zorniges Geſicht wurde plötzlich wieder heiter. Wenn es ſo ſtand, dann war es ja noch nicht fo ſchlimm. Ein Glück, daß der Bub jo anſtändig und ſo dumm war.

Rupert ahnte wohl, was ſein Vater dachte, und daß er ihn für unentſchloſſen und allzu zahm hielt. Er, der Vater, war ja im gleichen Fall ganz anders ins Zeug gegangen. Aber er wollte es eben nicht ſo machen wie der Vater. Er wollte auch nicht nur darum ge- nommen werden, weil er reich war. Erſt mußte er die Gewißheit haben, daß Marie Hugersdorfer ſich gerade ſo zu ihm hingezogen fühlte wie er zu ihr.

And dieſe Gewißheit hatte er noch nicht. Immer

Novelle von A. Noel, 129

noch war er für Marie bloß der junge Geſchäftsherr, vor dem ſie eine ehrerbietige Scheu empfand.

„Alſo ſo viel ſteht feſt, du biſt ihr nichts ſchuldig, haft ihr nichts verſprochen?“ fragte der Alte nochmals.

„Deswegen heirat' ich ſie aber doch,“ verſicherte Rupert beinahe drohend. „Die Marie paßt zu mir. Glaub mir's, Vater. Mit ſo einer, wie die Winzeriſche iſt, wüßt' ich nichts anzufangen.“

„Warum?“ fuhr ihn der Vater an. „Sonntag kommen ſie zu Tiſch, die Winzers alle drei,“ ſetzte er aufſtehend hinzu. „Das iſt ſchon abgemacht. Wenig- ſtens das bitt' ich mir aus, daß du mit dem Mädel ſprichſt und nicht wie ein Taubſtummer dahockſt. Hörſt?“

„Na, das kann ſchön werden!“ ſagte Rupert ſtarr. „Vir und Gäſte! Du und ich? Oder ſoll die Rieger —“

„Natürlich! Die Riegerova ſitzt mit am Tiſch wie gewöhnlich.“

„Ich weiß nicht, ob die Winzerſchen Damen ſehr entzückt davon fein werden, daß man ihnen die Haus- hälterin zumutet.“

„Einerlei! Wir brauchen ſie. Ein Frauenzimmer gehört dazu. Und die Riegern verſteht das. Sie iſt doch eine talentvolle Böhmin.“

Rupert zuckte die Achſeln. Wenn das Penfions- fräulein ungehalten darüber war, daß fie mit der Haus- hälterin an einem Tiſch ſitzen ſollte deſto beſſer!

Er und fe ein Modedämchen, was für ein Einfall! Hoffentlich würde auch ſie nichts von ihm wiſſen wollen. Die erwartet ſicher jemand, der ihr den Hof machte, und wenn ſie ſah, mit wem ſie es zu tun hatte, dann würde ſie ſich für die Zumutung bedanken.

Zu verwundern war es ja nicht, wenn ein junges Mädchen von dieſer Stiefmutter wegſtrebte. Aber welch einen Starrkopf mußte das kleine Mädel haben, das

1911. III. 9

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neun Jahre durchgetrotzt hatte und nicht heimkam, weil dort eine Stiefmutter das Hausregiment führte!

* * >

Frau Wanda Rieger, genannt Riegerova, ſtand in dem Speiſezimmer der Habermannſchen Wohnung an dem gedeckten Tiſch und ſah ſich kritiſch um.

„Bird ſchön die Naſe rümpfen, das Fräulein Winzer! Anſere Lederſeſſel ſind ſchon ſo abgeſchabt. Eine neue Tapete ſollten wir auch längſt haben. Und der Teppich! Das Silberzeug! Aber der Herr brummt ja immer, wenn ich was erneuern will.“

Rupert wehrte mit einer Handbewegung ihre Be- denken ab. „Laſſen Sie's nur! Es iſt ſchon gut ſo. Bei uns braucht nicht alles ſo protzig neu zu ſein. Wem's nicht recht iſt, der ſoll halt nicht wiederkommen.“

Er ärgerte ſich, weil der Vater verlangt hatte, er müſſe den Bratenrock anziehen, aber rein zufällig hatten die Herren Habermann einen guten Schneider, und Frau Rieger fand, Rupert ſehe ſehr ſtattlich aus.

Frau Rieger, in ſchwarze Seide gekleidet, mit einer großen Moſaikbroſche an ihrem weißen Jabot, machte gleichfalls eine ſtattliche Figur. Sie war eine große, breite Frau mit flachen, dunklen Wellenſcheiteln und einem bedeutenden Profil, in dem nicht einmal die ſtark hängende Unterlippe ſehr ſtörte. Sie konnte recht wohl die Hausfrau vorſtellen, und die zweite Frau Winzer dürfte froh ſein, wenn ſie nur annähernd ſo ausſähe wie die Rieger, dachte Rupert.

Die Haushälterin war in ihrer Art gebildet genug, ſie las viele Bücher und Zeitungen und ſchwelgte gern in Fremdwörtern. Seit Jahren ſammelte fie die Küchenzettel aller Hofdiners und ſonſtigen feſtlichen Veranſtaltungen, die ihr vor die Augen kamen, und

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daher hatte es ihr keine große Mühe gemacht, die heutige Speiſenfolge ins Franzöſiſche zu überſetzen. Ein ſchreibkünſtleriſch veranlagter Jüngling aus dem Bureau drüben hatte ihr Menükärtchen fabriziert, von denen ſie nun eines triumphierend Rupert vorwies.

„Aber, Riegerova,“ rief Rupert lachend, „wozu denn das?“

„Das Fräulein war doch ſo lange in Lauſanne. Sie ſoll ſehen, daß wir auch wiſſen, was ſich gehört.“

Die Rieger dachte ſich's wohl, was dieſer Beſuch bedeutete. Es verurſachte ihr jedoch keine Befürch- tungen. Wenn der Rupert auch heiratete, ihre Stellung behielt fie doch. Und überhaupt, der Zunge war groß- mütig. Sollte der Alte etwa ſterben, ohne ihr etwas zu vermachen was ihm recht wohl zuzutrauen war ihre Zukunft war dennoch geſichert. Sie konnte ſich darin ganz auf Rupert verlaſſen.

Die Gäſte langten mit dem Hausherrn zugleich an, und Frau Rieger verfügte ſich bei ihrem Nahen, von Rupert gefolgt, in das Vorzimmer, um fie zu emp- fangen.

Habermann ſenior ſtellte ſeine Hausdame den Winzerſchen Damen vor und fügte mit einem gewiſſen Nachdruck hinzu, Frau Rieger habe an Rupert Mutter- ſtelle vertreten. Damit das junge Mädchen nicht etwa gar zu hochnäſig tue.

Aber er ſah ſofort, das hatte keine Gefahr. Das junge Mädchen reichte der Rieger mit entzückender Liebenswürdigkeit die Hand und verſicherte, ſie ſei eine impoſante Erſcheinung, was der Rieger ſehr wohl tat.

Ihrerſeits betrachtete fie mit ſtaunendem Wohl- gefallen die ſchlanke, biegſame Geſtalt in dem altroſa Prinzeßkleid, deſſen Armel und Halsausſchnitt aus Tüll duftig aus der Soutacheſtickerei des Oberteils heraus-

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wuchſen, und die Fülle des ſchönen braunen Haares, das zum Vorſchein kam, als das junge Mädchen nun den Hut ablegte.

Oh, die war reizend und ſchick! Wo ſie es nur her hatte?

Vom Vater nicht, das ſtand feſt. Herr Winzer ſah recht gewöhnlich aus, das wußte Frau Rieger längſt. Ungefähr wie ein Fiakerkutſcher.

Und Frau Winzer, die zwar ein elegantes havanna- braunes Kleid anhatte und von Gold und Zuwelen ſtrahlte, paßte in dieſer Beziehung ſehr gut zu ihm. Ihre beträchtliche Fülle war ſehr ſtark zuſammengepreßt, und aus dem vollen Geſicht, das wie mit Mehl beſtäubt ausſah, funkelten zwei kleine ſchwarze Augen wie Sett- perlen, die man in eine Teigmaſſe geſteckt hat.

Dieſe Augen gaben ihr ein lebhaftes Ausſehen, das aber ſehr täuſchte, denn ſie erwies ſich eher als ſchläfrig, ſprach nur wenig und dies mit einer Stimme, die an eine knarrende Tür gemahnte.

„Das da iſt mein edler Sohn,“ ſtellte Habermann ſenior ſcherzend den herantretenden Rupert dem jungen Mädchen vor. N

„Ich kann mich noch ganz gut an Sie erinnern,“ ſagte Margot Winzer, ihm die Hand gebend. „Ich hab' Sie als Kind mehrmals geſehen. Aber Sie waren ſehr ſtolz und herriſch.“

„Tolpatſchig halt,“ verbeſſerte der Vater.

Ob ſie ſich wirklich noch ſeiner entſann? fragte ſich Rupert, Einerlei! So ein Mädel wußte doch gleich etwas zu reden. Ihm wäre es nicht eingefallen, ihr zu ſagen, daß er ſich ihrer gleichfalls erinnere als eines hübſchen kleinen Mädchens in Trauer, das ihm leid getan, wenn er es auch nicht gezeigt hatte.

Margot Winzer plauderte munter weiter, und

D Novelle von A. Nest, 133

Habermann ſenior, dem ſonſt der Zwang einer Unter- haltung mit einer Dame kalten Angſtſchweiß erpreßte, fing an, vergnügt zu ſtrahlen, weil er ſah, daß die da keine Geſpreiztheit beſtehen ließ.

Das war kein ſchüchternes Schulmädel mehr Gott ſei Dank!

Der alte Herr taute ſo weit auf, daß er Margot den Arm reichen wollte, um ſie in den Salon zu führen; er beſann ſich jedoch und reichte ihn Frau Winzer in der Erwartung, daß ſein Sohn dem jungen Mädchen den Arm bieten werde. Doch dem fiel das nicht ein. Frau Rieger mußte ihn ſogar heimlich am Armel zupfen, damit er dem Fräulein den Vortritt laſſe.

Nach kurzem Aufenthalt in dem wenig glänzenden Habermannſchen Salon mit den ſchwerfälligen Polſter- möbeln aus großblumigem Stoff und blauem Plüſch und den ſchlechten alten Familienbildern in breiten, akanthusblätterigen Goldrahmen begab man ſich in das Eßzimmer, wo ſofort aufgetragen wurde.

Das Ehepaar Winzer ſaß mit dem Rücken gegen die Fenſter, rechts von Frau Winzer hatte Rupert, links von Winzer Habermann ſenior ſeinen Platz. Neben dieſem ſaß Margot, alſo dem jungen Mann gegenüber. Die vierte Tiſchſeite nahm Frau Rieger allein ein.

Habermann ärgerte ſich, daß ſein Sohn nicht neben dem jungen Mädchen ſaß.

Die beiden älteren Herren gerieten raſch in ein Geſpräch über öffentliche Angelegenheiten, dabei aber lauerte Vater Habermann, ob denn der Rupert nicht endlich mit dem Mädel ſprechen werde.

Doch der tat den Mund nicht auf.

Margot Winzer unterhielt ſich daher mit Frau Rieger über das franzöſiſche Menü, deſſen Abfaſſung ſie lobte. Ihre Augen glitzerten vergnügt, als die

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würdige Dame mehrere ſchwierige Fremdwörter ein- fließen ließ und erwähnte, daß man mit Hilfe der Daktyloſkopie den letzten Einbrecher ſo raſch entdeckt hätte.

Sie handhabte auch ihr Eßbeſteck in tadelloſer Weiſe, dieſe Haushälterin, was man von den anderen Per- ſonen am Tiſch nicht behaupten konnte. Nur der junge Mann beging keine nennenswerten Verſtöße. Ver- mutlich dankte er dies der Haushälterin, die wirklich Mutterſtelle an ihm vertreten zu haben ſchien.

Die kluge Frau Rieger ahnte Margots Beobach- tungen genau. Sie amüſierte ſich innerlich darüber, daß dieſe ihre Stiefmutter geradezu wie Luft behandelte.

Es war aber auch eine unmögliche Perſon! Sie wußte in der Tat nicht, was ſie mit Meſſer und Gabel anfangen ſollte. Und das mußte das junge Mädchen mit anſehen, die in einer feinen Schweizer Penſion erzogen war!

Frau Rieger gab ſich Mühe, auch Rupert in ihre Unterhaltung zu verflechten. Es wäre ihr aber kaum gelungen, wenn Margot ſich nicht direkt an ihn ge- wendet hätte, indem ſie ihn auszufragen begann, welche Theater er beſuche, was für einen Sport er treibe und dergleichen.

Er gab zwar immer nur knappe Antworten, ohne den Faden weiterzuſpinnen, aber Margot ſorgte ſchon dafür, daß dieſer nicht abriß.

„Mir ſcheint, Sie leben wie ein Trappiſt,“ ſagte ſie, „oder wie ein Altruiſt. Ja, ja, wir haben ſchon gehört, daß Sie ſozialiſtiſche Neigungen haben. Komiſch! Ich hab' immer geglaubt, die Sozialiſten ſind die Leute, die wollen, daß die anderen mit ihnen teilen. Daß es Sozialiſten gibt, die was haben, hab' ich noch nicht gehört.“

2 Novelle von A. Nosl. 135

„Es gibt auch ſolche,“ antwortete Rupert gemeſſen.

„Alſo Sie gravitieren nach unten,“ entgegnete das junge Mädchen bedeutungsvoll.

Wie wiſſend ihr Blick dabei funkelte! War's mög- lich, daß ſein Vater ihn verraten hatte?

Die ſpielende Leichtigkeit, mit der Margot die Unter- haltung lenkte und ſogar ihn, den Unbeholfenen, dazu brachte, zu ſprechen, überraſchte Rupert. Ein Mund- werk hatte die, und auszudrücken verſtand ſie ſich! Und ſo was war erſt neunzehn Jahre alt!

Dunkel fühlte Rupert doch, was ſolch ein Mädchen voraushatte vor jener anderen, deren tägliches Leben der Fabrikſaal mit den ſurrenden Maſchinen begrenzte; in feinem Groll gegen die vom Glück Begünftigte ſchlug er nur die natürliche Anlage dabei zu gering an.

„Die kann was zuſammenplauſchen, wenn der Tag lang iſt!“ dachte er. Nun, man mußte ihr geradezu dankbar ſein, denn ſie gab das belebende Moment der Tafelrunde ab. Ohne fie wäre es ſehr matt zugegangen.

„Ja, die wäre wohl was!“ dachte Frau Rieger. Wie ſie lachen konnte! Es hörte ſich an wie eine Koloraturarie. Sogar Habermann ſenior hob den Kopf, wenn dieſes taufriſche ſilberne Lachen erſcholl.

„Fräulein haben eine ſchöne Stimme!“ rühmte Frau Rieger.

„Ich kann auch ſingen!“ rief Margot. „Ich werde aber noch weiterlernen.“

„Habermann, zehn Kronen will ſie zahlen für zwanzig Minuten Unterricht im Quietſchen. Haſt du ihon fo was gehört?“ fragte Herr Winzer.

„Sie iſt ja deine Einzige.“

„So koſtſpielige Kinder könnt' man auch nicht viel brauchen. Was die alles will! Jetzt tät's not, ich nähm' ihr eine Geſellſchafterin.“

136 Margareta Plaudertaſch. 2

„Nein, eine Geſellſchafterin mag ich nicht,“ wider ſprach Margot. „Lieber eine Zofe. Ich möchte eine, die jung iſt, aber geſetzt ausſchaut, die ſchneidern und friſieren und mich überallhin begleiten kann ein ſogenanntes beſſeres Mädchen.“

„Vielleicht kann ich dem Fräulein da aushelfen,“ meldete ſich Frau Rieger. „Ich weiß eine Beamten- tochter, die Ihren Wünſchen entſpricht. Sch bin ihre Firmpatin und kann die Luiſe Netzka wirklich emp- fehlen. Sie hat bis jetzt mit ihren Plätzen Pech gehabt und iſt grad’ wieder frei. Wenn Fräulein erlauben möchten, daß ich fie Ihnen ſchicke —“

„Nein, beſtellen Sie ſie, bitte, her zu Ihnen,“ ſagte Margot nach einiger Überlegung. „Ich komme dann her, bei Ihnen mit ihr zu ſprechen.“

„Das iſt doch nicht notwendig,“ widerſprach Haber- mann. „Das Mädel kann ja zu Ihnen kommen. Nicht wahr, Riegerova?“

Doch Frau Rieger merkte, daß Fräulein Margot lieber bei ihrem Vorſchlag blieb, für den ſie ſicher ihren Grund hatte.

* m *

So lange das Mahl auch durch das wiederholte Zu- greifen der beiden älteren Herren und die Umſtändlich- keit der ſtumm eſſenden Frau Winzer hinausgezogen wurde, endlich wurde man doch fertig. Winzer und Habermann ſteckten ſich Zigarren an, und bald wurde die Luft im Zimmer ganz blau.

Rupert rauchte nur eine Zigarette.

„Geben Sie mir auch eine!“ forderte Margot. „Und hier möchte ich nicht bleiben. Rauch ſchadet meiner Stimme, Zt denn nicht ein Garten beim Haus? Ja? Den könnten wir uns doch anſehen!“

2 | Novelle ron A. Noel. 137

„Wenn Fräulein wünſchen, führ' ich Sie hinunter,“ ſchlug Frau Rieger vor.

„O nein, Sie ziehen ſich zurück und machen Ihr Schläf- chen,“ gebot Margot. „Wozu iſt denn der junge Herr da.“

Rupert ſagte nichts, ſtand aber ſofort auf.

Die beiden älteren Herren grinſten hinter ihr drein, als ſie ihn ſo ins Schlepptau nahm.

Frau Rieger ging bis ins Vorzimmer mit, ſchwatzte dem jungen Mädchen ſeine Jacke auf, da es im Garten kühl ſein würde, und half ihr gleich ſelbſt hinein, denn dem „Rupertl“, wie auch fie den jungen Herrn ge- legentlich nannte, würde es ja doch nicht einfallen, ſeine Dienſte dazu anzubieten.

Widerwillig genug gab er Margot die Zigarette, die ſie nochmals verlangte, und Feuer. Sie entzündete ſie kunſtgerecht und dampfte ihm die erſte Rauchwolke mutwillig ins Geſicht.

„Lernt man das auch in der Penſion?“ fragte er halblaut.

„Natürlich! Auf dem Stundenplan ſteht es zwar nicht, aber man lernt es viel ſicherer als Kunſtgeſchichte und Aſthetik.“

Rupert ging die Treppe hinunter und wendete ſich dann unten dem Hofe zu, hinter dem der Garten lag. Die Mitte nahm eine Sandſteingruppe von mehreren ſehr pausbackigen Engeln ein, die, wie Margot ſofort ſagte, die engliſche Krankheit und Zahngeſchwülſte hatten. Um dieſe, auf einem zerhackten Poſtament ſtehende Gruppe zog ſich ein kreisrunder Raſenfleck und um dieſen ein ovaler Weg, der vier geſchweifte Weg- linien bis in die vier Ecken des rechteckigen Gartens entſandte. Sonſt war nichts vorhanden als vorne zuſammengeſchobene Tiſche und Bänke und rückwärts ein einſames Gartenhaus.

138 Margareta Plaudertaſch. u

„Der Garten wird ſeit langem nicht mehr her- gerichtet,“ ſagte Rupert.

„Wenn ich da was zu ſagen hätte, müßte er ein kleines Paradies werden,“ erklärte Margot. „Aber erſchrecken Sie nur nicht. Vor mir brauchen Sie ſich nicht zu fürchten. Ich werd' Sie nicht mit Gewalt heiraten.“

Rupert ſtarrte erſtaunt auf das Mädchen, das ſo kühn ins Zeug ging.

Die Herbſtluft ſpielte mit den feinen Härchen, die ſich von ihrer Friſur loslöſten, und hier im Freien ſchimmerte ihr unbedecktes Haar ſo eigentümlich me- talliſch, ihre Haut- und Wangenfarben hatten einen ſolchen Schmelz, daß Rupert dachte, wenn jemand ſie ſo malen wollte, müßte es beinahe unwahrſcheinlich ausſehen.

Solche Farben hatte Marie freilich nicht. Die war immer blaß.

„Darum foll ich nicht davon reden?“ fragte Margot gleichmütig. Sie warf ihre Zigarette weg. „Grad darum, weil's nichts iſt. Ich muß von daheim fort, denn ich bleib’ nicht in einem Haufe, wo fo eine Perſon regiert. Haben Sie geſehen, wie ſie ißt? So was ſchau' ich mir nicht mehr lang’ an. Deshalb muß ich eben um jeden Preis heiraten. Wir zwei paſſen ja nicht beſonders zuſammen, aber wenn alle Stricke reißen, hätt' ich Sie doch genommen. Aber da Sie, wie ich höre, ſchon vergeben find Sch brauch' doch keiner einen abzuſpitzen. Ich krieg’ ſchon noch einen.“

Das ſchien Rupert ſelber nicht zweifelhaft.

„Der Vater hat auch noch einen im Hintergrund. Einen Hufarenrittmeilter., Von Adel iſt er und hat keine Schulden. Der wird ohnehin beſſer für mich paſſen. Wenn er nur nicht einen ſo ſlawiſchen Namen

2 N Novelle von A. Nosl. 139

hätte! Andreanovitſch heißt er. Frau v. Andreano- vitſch. Das gefällt mir nicht.“

„Das bleibt ſich aber doch gleich, wie er heißt,“ meinte Rupert.

„Hurra er hat richtig den Mund aufgemacht!“ frohlockte Margot übermütig. Und wieder erklang ihr helles Lachen.

„Wenn's echt iſt, iſt's ein glückliches Lachen,“ ge- ſtand ſich Rupert.

„Vas iſt ein Name? Name iſt Schall und Nauch!“ deklamierte Margot. „Ich lege aber Gewicht auf den Namen. Habermann iſt ja auch nicht grade ſchön das iſt richtig. Ich verlier“ nichts dran. Alſo, ich ver- zichte feierlich auf Ihre Hand. Jetzt brauchen Sie mir keine finſteren Geſichter mehr zu ſchneiden. Ich bin ein guter Kerl und will Ihnen wohl. Weiß ſelber nicht warum. Ihre große Freundlichkeit iſt keineswegs dran ſchuld.“

Rupert lächelte ein wenig ärgerlich. Die Art, wie ſie mit ihm umſprang, verdroß ihn.

„Ich möchte Sie recht gern zu Ihrer Wahl beglüd- wünſchen,“ fuhr Margot fort, „aber Ihr Vater hat ſich dem meinigen gegenüber beklagt. Sit es denn wirk- lich wahr die junge Dame arbeitet in der Fabrik?“

Rupert blieb ſtumm. Zwar lag etwas Ermutigendes darin, daß ſein Vater ſeinem Freund ſogleich gemeldet hatte, es liege ein Hindernis vor, und doch ärgerte es ihn, daß er nicht den Mund gehalten hatte.

Margot faßte ſein Schweigen richtig als Bejahung auf. „O weh: Sie gravitieren doch ein bißl gar zu ſehr nach unten! Was kann denn die für eine Erziehung haben?“ ö VHunſere Volkſchulen find gut,“ entgegnete Rupert, „und die ſtehen allen offen.“

140 Margareta Plaudertaſch. a

„Ja ja. Haben Sie geſehen, wie die Gtief- mama ißt? frage ich nochmals. Wollen Sie zeitlebens mit einer Frau am Tiſch ſitzen, die —“

„Man muß doch nicht alle nach einer beurteilen. Das ſind überhaupt Nebenſachen.“

„Ach Nebenſachen?“ höhnte Margot. „Und wie ſteht es mit den Hauptſachen? Zit fie hübſch? Natür- lich, Ihnen gefällt ſie. Groß, ſchlank wie ich? Nein? Dann it fie entſchieden zu klein für Sie. Braun, ſchwarz, blond? Alſo blond? Munter, geſprächig?“

„Nein, ſie iſt ſtill und ſchweigſam.“

„Na, ich danke, wenn die auch noch ſchweigſam iſt,“ lachte Margot, „da wird das ja reizende Zwiegeſpräche geben! Mh. Mh. Mh... Mh.

Sie ahmte mit geſ chlof f enen Lippen die Unterhaltung zwiſchen zwei ſolchen Stummen ſo luſtig nach, daß Rupert ſich der Heiterkeit nicht erwehren konnte. Ein ganzes Theater führte ſie da auf! Za, die war luſtig für ein Dutzend. Nun, Marie wäre wohl auch mun- terer, wenn ihr Leben ſich ſo abgeſpielt hätte wie das Margots. Auch wäre es ſicher für ihn bequemer, wenn Marie etwas leichter geſtimmt wäre. Ihre Zurück- haltung und Wortkargheit machten ihm jeden Schritt vorwärts ſo ſchwer.

„Na, das iſt ſchließlich Ihre Sache,“ meinte Margot. „Ich habe Sie gewarnt. Engherzig bin ich nicht, und daß ſie in der Fabrik arbeitet, macht mir nichts aus. Ich will ganz gern mit ihr verkehren und hoffe nur, daß ſie nichts von der Stiefmama an ſich hat. Na, ſehen Sie, jetzt iſt es ſonnenklar zwiſcßſen uns. Wir können recht gute Freunde werden. Man unterhält ſich fo ſchön mit Ihnen, Andere Menſchen laſſen einen nie ausreden. Lachen Sie doch einmal frei heraus, und verziehen Sie nichk bloß ſo den Mund! Es wird

. Novelle von A. Noel, 141

Ihnen nicht ſchaden, und Ihre Weltanſchauung geht deshalb auch noch nicht in die Brüche. Sie müſſen mir noch etwas davon erzählen. Ich hab' ja gar nie- mand. Und Sie können auch ganz gut eine Freundin brauchen. Schließen wir einen Bund. Ja? Der Friede zu Erdberg, geſchloſſen zwiſchen Rupert dem Grimmigen und Margot Margot —“

Sie ſuchte nach einem recht ſchmückenden Beiwort, allein diesmal war der langſame Rupert ſchneller als ſie. „Margareta Plaudertaſch!“ rief er.

„Was? Was haben Sie geſagt?“ Sie zupfte ſich an ihrem Ohrläppchen, wie um beſſer zu hören, und brach in ihr helles Lachen aus. „Jetzt hat einmal ein blindes Huhn Sie wiſſen doch? Sehen Sie, wie wohltätig ich auf Sie wirke! Wann haben Sie vorher ſchon einen Witz gemacht? Margareta Plaudertaſch für Margareta Maultaſch das gilt nicht, aber das Bündnis gilt.“

Sie hielt ihm die Hand hin, die er etwas miß- trauiſch ergriff.

„Das iſt doch bloß Getue,“ dachte er. „Sie hat kaum die redliche Abſicht, ſich Maries freundlich an- zunehmen.“

Gut wäre der Umgang mit dieſem queckſilbernen Weltkind aber ſicherlich für die Stille.

Venn er nur erſt fo weit wäre! Nun ſprach die da ſchon davon. Und die es anging, wußte noch von nichts.

* * E

In dem einfachen, aber geräumigen und behag- lichen Zimmer der Frau Rieger ſtand ein ſchwarz- gekleidetes nettes Mädchen vor Margot Winzer, die eben einige Zeugniſſe mit ungeduldiger Gebärde auf den Tiſch zurücklegte.

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„Ach was, Zeugniſſe! Darauf gebe ich nichts. Sie ſtehen mir zu Geſicht, und ich probiere es mit Ihnen. Alſo Sie kommen gleich morgen, nicht wahr?“

Das Mädchen küßte ihr die Hand und ging mit froher Miene.

„Die paßt mir!“ erklärte Margot Frau Rieger. „Sie ſieht viel älter aus, als ſie iſt, und ich hoffe, ſie wird brauchbar und bei mir zufrieden fein.“

„Die wird Gott danken,“ verſicherte Frau Rieger.

„So ein Glücksfall bin ich alſo?“ lachte Margot. „Sagen Sie, Frau Rieger: ein Fabrikmädel ſteht wohl noch tief unter der Luiſ' zum Beiſpiel? Nicht?“

„Und ob! Dagegen iſt die Luiſ' eine Gräfin!“ ver- ſicherte die Rieger mit Überzeugung.

„And doch hör' ich —“ Sie brach ab und blickte die Haushälterin zweifelhaft an.

„Was haben Sie gehört?“

„Daß Ihr junger Herr, der Herr Rupert, eine aus der Fabrik heiraten will.“

„Vas?“ fragte Frau Rieger. „Davon weiß ich nichts.“

„Aber etwas wiſſen Sie doch!“ ſchmeichelte Margot. „Er ſieht das Mädchen gern. Mir dürfen Sie's ſchon ſagen. Mein Vater weiß es ja vom alten Herrn Haber- mann, daß ſein Sohn das Mädchen heiraten will. Wenn ſie aber ſo tief ſteht —“

„Ja, wenn der Herr Winzer es von unſerem Herrn hat! Na, die Fabrikmädeln im allgemeinen, das iſt eine Sorte! Aber die, um die es ſich da nur handeln kann, die Marie Hugersdorfer, die iſt doch anders. Freilich, eine Frau für den Herrn Nupert iſt fie des- halb noch lange nicht. Dem Herrn Rupert möcht' ich ſchon was Beſſeres gönnen.“

Ihr ausdrucksvoller Blick ergänzte, was ſie meinte.

Oo Novelle von A. Noel, 143 „alt ſie hübſch, dieſe Marie?“ forſchte Margot. „Ja, das ſchon. Vielleicht ſogar ſchön. Sie hat

ein Profil. Das kann nicht jede von ſich ſagen.“

Margot hielt das zwar nicht für ſo ausgemacht, ſie wollte aber Frau Rieger nicht unterbrechen.

„Nur etwas unterſetzt iſt ſie. Und dann die bleiche Farbe. Die reinſte Kellerfarbe! Und ſo ſtill iſt ſie! Es iſt kein rechtes Leben in ihr.“

„Ich möchte ſie gern einmal ſehen,“ geſtand Margot.

Frau Rieger wußte nun auch, warum die Luiſe ſich hier bei ihr hatte vorſtellen müſſen. Sie warf einen Blick auf die Ahr. „Da brauchen Sie nur ein paar Minuten zu warten. Gleich wird's zwölf ſchlagen. Dann geht die Marie über den Hof, und Sie können ſie hier vom Fenſter aus ſehen.“

Eben fing nebenan ein ohrenzerreißendes Läuten an.

„Was iſt denn das für ein gräßliches Geſchepper?“ fragte Margot.

„Die Fabrikglocke. Jetzt wird fie gleich kommen.“

Margot ſtellte ſich ans Fenſter und blickte über die niedere Remiſe, die den Hof des Hauſes von der Fabrik trennte, hinüber. Schon kamen Gruppen von Arbeitern und Arbeiterinnen aus dem inneren Torbogen. Im hellen Mittagslicht enthüllte ſich alles mit unbarm- herziger Deutlichkeit: die hängenden Schürzen und ſchlumpigen Bluſen. Sie kannte dieſe Sorte ſchon von der elterlichen Fabrik her, obgleich dieſe dem Wohn- haus nicht ſo nahe lag, wie es hier der Fall war.

Aber plötzlich erſchien eine einzelne im Torbogen, und Margot fühlte ſofort: das iſt ſie. Wie im Fauſt, wenn die Choriſtinnen in Gruppen aus der Kirche kommen und nachher das Gretchen allein auftritt.

Margot ſah das lila Kleid, die ſchwarze Schürze, den grauen Vollkragen um die Schultern und das

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blaſſe Geſicht. Die Züge konnte ſie freilich auf dieſe Entfernung nicht genau wahrnehmen. Sie empfing nur einen allgemeinen Eindruck von ernſter Schönheit, und als das Mädchen ſich nach rückwärts wendete, glänzte ihr Haar wie helles Gold aus der Ferne.

Ja, dieſes Mädchen hatte etwas an ſich, das zu der Phantaſie eines für das Einfache eingenommenen jungen Mannes ſprechen konnte. So ſauber, nett und adrett ſah ſie aus, und ſo gemeſſen, ſo zurückhaltend war ihr Benehmen!

Gerade ſprach ein alter Mann ſie an, und als ſie dieſem Rede und Antwort ſtand, trat ein junger Menſch dazu, ein ſchlanker Burſch mit ſehr dunklem Haar.

„Wer iſt denn das?“ fragte Margot. „Auch ein Arbeiter?“

„Jetzt iſt er ſchon Werkmeiſter, der Faſchan,“ gab Frau Rieger Auskunft. „Eigentlich heißt er Giuſeppe Fagiani, aber in der Fabrik heißen ſie ihn Seppl Faſchan. Er kann auch gar nicht Stalieniſch. Nur das eine hat er von den Welſchen er iſt ſehr mäßig. Trinken tut er gar nicht. Außer dem Herrn Rupert iſt er vielleicht der einzige drüben, der nie zu tief ins Glas guckt.“

„Sondern überhaupt nicht,“ ergänzte Margot lachend.

„Der Faſchan trinkt ſogar Milch zum Frühſtück,“ erzählte die Rieger.

„Und der Herr Rupert? Der trinkt Milch der from- men Oenkungsart?“ ſcherzte Margot. „Wir ſcheint, die zwei haben einen ähnlichen Geſchmack. Na, jetzt muß ich aber gehen. Adieu, Frau Rieger! Hoffentlich werde ich mit Ihrem Schützling auskommen.“

* 2 8

2 Novelle von A. Nest. 145

Vater und Sohn ſaßen über ihre Korreſpondenzen gebeugt, als ſich das Telephon an der Wand meldete. Rupert ſtand auf und ging verdrießlich zu dem Kaſten hin. Keine Ruhe hatte man.

„Margot Winzer hier,“ kam es mit der hellen Stimme zurück, die er ſchon kannte. „Rupert der Grim- mige? Ja?“

„Sie wünſchen?“ fragte Rupert kühl in den Apparat hinein.

„Wozu fragen Sie das? Was ich wünſche, das können Sie mir ja doch nicht geben. Können Sie die Stiefmama ins Pfefferland ſchicken? Möchten es ja gar nicht. Sie ſchwärmen ja für die na ja! Was gibt es denn Neues in Ihrer Herzensangelegen- heit? Darf man vielleicht ſchon gratulieren? Alſo mit der Eilpoſt geht es bei Ihnen nicht! Sch hab' fie neulich geſehen, Ihre Blonde leider nur von weitem. 3h glaube, fie paßt gut für eine erſte Liebhaberin im Volkſtück. Daraus könnte man einen Dienjtboten- roman in zweihundert Lieferungen machen. Die arme, tugendhafte Fabrikarbeiterin und der junge Fabrikanten ſohn. Aber eigentlich ſollten Sie dann ein ſchlechter Kerl fein. Oder es ſollte ein anderer Böſewicht vor- handen ſein. Sonſt gibt es keine rechte Verwick⸗ lung.“

„Haben Sie mich darum antelephoniert?“

„Nein, ſondern darum, weil mir's gerad’ fo lang- weilig iſt. Und dann hat der Vater geſtern geklagt, daß er das Telephonabonnement in der Wohnung rein umſonſt zahlt, weil nie telephoniert wird. Da will ich doch etwas dazu tun, daß das Geld nicht ganz zum Fenſter hinausgeworfen iſt Ihnen ſchadet es auch nichts, wenn man Sie ein bißl ſtört. Ja, was ich Ihnen erzählen wollte den Rittmeiſter 11 ich

1011. III.

146 Margareta Plaudertaſch. u

geſtern kennen gelernt. Sie, der iſt feſch! Und galant! Anders wie ein gewiſſer Jemand.“

„Freut mich in Ihrem Intereſſe. Sonſt noch was?“

„Aha, das heißt, ich ſoll Schluß machen. Undank iſt der Welt Lohn! Na, für heute ſollen Sie recht haben, aber ich bereite Sie darauf vor, daß ich Sie noch oft antelephonieren werde. Nein, nein ich ſpreche nicht mehr. Schluß!“

Rupert hängte die Hörmuſchel wieder an.

„Wer hat telephoniert?“ fragte der Vater.

„Die Winzeriſche.“

„Was hat fie wollen?“

„Nichts. Bloß das Telephon benützen.“

Er ſetzte ſich wieder an ſeinen Schreibtiſch.

Habermann ſenior lächelte in ſich hinein. Es er- heiterte ihn ſchon, wenn er nur ihren Namen hörte. Das wäre eine Schwiegertochter! Statt deſſen Fs es

Zum Glück war die Marie ebenſo ſchüchtern wil der Rupert. Noch war nichts geſchehen. Aber wie es verhindern, daß etwas geſchah? Darüber N Vater Habermann ſich vergebens den Kopf.

Er hatte ja nicht gehört, was Margot vorhin von dem notwendigen Böſewicht ſagte, aber es ging ihm fo allerlei im Sinne herum. Er war doch kein regieren- der Herr, daß er die Marie Hugersdorfer ertränken laſſen könnte wie eine Agnes Bernauer. Er konnte ſie höchſtens entlaſſen. Aber wenn er das tat, brachte er nur den Stein ins Rollen, und er war klug genug, zu wiſſen, daß er dem Mädchen bloß unrecht zu tun brauchte, um feinem Sohne zu dem Entſchluß zu ver- helfen, der ihm bis jetzt noch gefehlt hatte. Nein, das mußte feiner angeſtellt werden. e

* * *

1 Novelle von A. Nosl. 147

Daß es bei ihm nicht auf der Eilpoſt gehe, der Vor- wurf hatte Nupert getroffen. Er mußte ſich endlich zu einem entſcheidenden Schritt aufraffen. Immer hatte er gedacht, es ſei ſchwerer, mit jungen Damen zu verkehren als mit einfachen Mädchen, und nun fand es ſich, daß er ſich leichter mit dem Penſionsfräulein unterhielt als mit Marie. Aber endlich einmal wollte er doch Gelegenheit zu einer Ausſprache mit ihr ſuchen.

Noch ehe es Mittag läutete, nahm er ſeinen Hut und ging fort, dem Vater zurufend, er werde bald zurück ſein.

Durch das Straßentor begab ſich Rupert auf die Gaſſe hinaus und berechnete ſich alles ſo gut, daß er dem Strom der Arbeiterſchaft auswich und gerade die Seitengaſſe herabkam, als Marie aus dem rückwärtigen Tor des Fabrikhofes trat.

Sie grüßte ihn zuerſt und wendete ſich ihrem Weg zu, aber da Rupert in derſelben Richtung ſchritt, machte es ſich ganz natürlich, daß er neben ihr weiterging.

Zuerſt ſprachen ſie von Netti Kratochwill, die von Habermann ſenior entlaſſen worden war. Auch hatte der Alte dem Arbeiter Morlan derart den Kopf ge- waſchen, daß dieſer wieder zu ſeiner Frau zurückgekehrt war. Dieſe war auf freiem Fuß belaſſen worden und würde wohl mit einer milden Strafe davonkommen. Aber lange würde der Friede dieſer Ehe ſicher nicht dauern.

„Die Leut' verderben ſich ſelber das Leben,“ ſagte Marie. „Sonſt ginge es ihnen doch ganz gut.“

Gut nannte ſie das! Zu den Unzufriedenen des Arbeiterſtandes gehörte ſie ſichtlich nicht, die Marie.

„Sind Sie denn zufrieden mit Ihrem Los, e fragte Rupert.

148 Margareta Plaudertaſch. t.

„Aber gewiß! Wann ich an früher zurückdenk' du lieber Gott!“

„Es iſt Ihnen ſchlecht gegangen?“ fragte er.

„Na, und wie! Meine Eltern waren arm und krank obendrein. Alle meine Leut' ſind an der Lungelſucht g'ſtorben, Herr alle. Ich bin alleinig übrig blieben. Muß eh Gott danken für mein geſundes Beuſchel.“

Rupert liebte den Dialekt, und in Wien ſprachen Angehörige hoher Kreiſe oft auch nicht anders als dieſes Kind des Volkes, allein in dieſem Augenblick erregte es ihm doch keine ganz angenehme Empfindung, daß ſie von ihrem „Beuſchel“ ſprach.

„Möchten Sie es nicht doch noch beſſer haben?“ fragte er nach einigem Zaudern, denn da befand er ſich ja auf kritiſchem Gebiet.

„Das möcht' ein jeder.“

„Eine noble Dame werden?“

„Ich?“ Marie Hugersdorfer lachte. Es war kein ſo temperamentvolles Lachen wie das Margot Winzers, aber es ſtand ihr doch gut. „Dazu tät’ ich nicht paſſen,“ antwortete ſie.

„Darum nicht?“

„Ich könnt' mir's nicht vorſtellen. Hab' auch keine Sehnſucht danach, mich aufzuputzen und zu drahn. Nein, wirklich, ich wär' undankbar, wenn ich nicht zu- frieden ſein wollt'. Die Geſundheit und mein Aus- kommen mehr wünſch' ich mir nicht.“

Was eigentlich hinter ſeiner Frage geſteckt hatte, ahnte ſie nicht einmal. Er wollte ſie ja auch nicht locken mit ſchönen Kleidern und Vergnügungen, ſon- dern er wollte wiſſen, ob ſie ihm gut ſein könne. Sie aber verſpürte nichts von dem, was von ihm zu ihr hinſtrebte. Es war keine Verbindung vorhanden. Fremd und achtungsvoll ſchritt ſie neben ihm her,

oO Novelle von A. Noöl. 149

und als ſich ihnen gegenüber die ſchmale Gaſſe öffnete, in die ſie einbiegen mußte, machte ſie Rupert wieder ihren höflichen Knicks und entfernte ſich.

Rupert ſah ihr verdrießlich nach.

Es war ihm ſchon wegen Margot Winzer unan- genehm, daß er heute nicht einen entſcheidenden Vor- ſtoß gewagt hatte. Das naſeweiſe Mädel würde ſich gewiß bald wieder nach ſeinen Fortſchritten erkundigen.

Darin täuſchte er ſich nicht. Margot rief ihn an einem der nächſten Tage abermals telephoniſch an.

„Noch immer nichts? Herr Gott find Sie lang- weilig! Der Rittmeiſter macht mir ſchon furchtbar den Hof. Wenn Sie ſo lange fackeln, verlob’ ich mich noch früher als Sie. Sagen Sie: Sie pflegen ja keine ritterlichen Künſte, aber können Sie nicht wenigſtens reiten, Knecht Ruprecht? Der Rittmeiſter will, ich ſoll mit ihm in den Prater reiten. Ich hab' nämlich in Lauſanne reiten gelernt. Ich möcht' es auch furchtbar gern. Aber allein mit ihm das geht doch nicht. Und die Luis“ der Frau Rieger ihr Firmling, wiſſen Sie die ſagt, fie traut ſich nicht einmal auf ein höl- zernes Pferd im Ringelſpiel hinauf. Vie ſagen Sie? Sie haben einmal reiten können und ſind aus der Übung gekommen? Schauen Sie halt, daß Sie wieder hineinkommen. Den Gefallen können Sie mir ſchon tun. Ich revanchier' mich dann, wenn es gilt, Ihrer Blonden die Wege zu ebnen. Wir haben doch einen Pakt geſchloſſen.“

Das Telephongeſpräch wurde unterbrochen, ohne daß er das verlangte Verſprechen gegeben hätte. Er ſollte mit ihr und dem friſch aufgegabelten Rittmeiſter ausreiten! Was das Mädchen für Zdeen hatte!

Warum paßte der Winzer auch nicht beſſer auf? Er hatte ſich gewiß über dieſen Rittmeiſter nicht ge-

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hörig erkundigt. Wer weiß, was das für ein Menſch war! Aber dem Winzer lag eben daran, die Margot aus dem Haufe zu bekommen. Sie ging gar zu ver- ächtlich mit der Stiefmutter um, und dieſe lag wahr- ſcheinlich dem Mann mit Klagen in den Ohren.

Deshalb war ihm der Rittmeiſter gleich recht. Das war ein Vornehmer, wie er zu Margot paßte, und mit ſeinen finanziellen Verhältniſſen ſtand es ganz gut. Einen Teil ſeines Vermögens hatte er zwar angebracht, aber er hatte doch noch keine Schulden, was bei einem Offizier ja ſchon ziemlich viel war.

Um wieder Frieden im Haufe zu haben, würde der Winzer mehr als ein Auge zudrücken. Daß der Ritt- meiſter ſonſt noch Eigenſchaften haben könnte, die ihn vielleicht für ein junges Mädchen nicht als geeigneten Gatten erſcheinen ließen, daran ſchien Margots Vater nicht zu denken. Und da ſie ſelbſt um jeden Preis aus dem Hauſe wollte und ſich daher leicht entſchließen würde, ja zu ſagen, konnte ſie ſehr ſchlecht ankommen.

Er, Rupert, hatte zwar keinen Anlaß, ſich um ſie zu ſorgen, aber immerhin konnte er ihr den Gefallen tun, mit auszureiten. ö

Auch wenn er ſich von ſelber nicht dazu entſchloſſen hätte, Margots Wunſch zu willfahren, wäre er kaum losgekommen, denn ſie verſtand es, die Leute ſo lange zu quälen, bis ſie ihr den Willen taten.

Sie klingelte ihn nochmals an und ließ nicht eher ab, als bis ſie ihm die Zuſage erpreßt hatte, am nächſten ſchönen Morgen hoch zu Roß in den Prater zu kommen, um ihren „Elefanten“ abzugeben, für den er gerade das richtige Maß habe.

Vorſichtigerweiſe machte Rupert vorher noch einen Proberitt in der Reitſchule, und da er ſah, daß er es noch nicht verlernt hatte, einen Gaul zu regieren,

2 Novelle von A. Nest. 151

beſtellte er ſich ein Pferd für den morgigen Tag, der ſchön zu werden verſprach.

Zur beſtimmten Zeit hielt ein ſchöner Brauner vor dem Tor. Die Welt ſteckte noch in Frühnebeln, als Rupert ausritt, aber man ahnte, daß die Sonne bald erſcheinen werde.

Die weiten Alleen des Praters lagen kahl und durchſichtig da. Spaziergänger gab es nur wenige und Wagen kaum. Dagegen zeigten ſich in der Reitallee Offiziere und Offiziersdiener mit den Pferden ihrer Herren, und auch Reiterinnen ſah man in Begleitung ihrer Kavaliere.

Die Damen trugen faſt durchweg weiße Woll- oder Shantungjaden, was Rupert den Eindruck machte, als ritten fie in ihren Nachtjacken ſpazieren. Und alle, die ihm begegneten, waren ſo reizlos, jo aufdringlich häß⸗ lich, daß er ſich die Frage vorlegte, ob denn immer nur die Häßlichſten dieſen Sport pflegten oder ob viel- leicht die Damen eben zu Pferde häßlich ausſähen.

Aber wenn Margot Winzer wüßte, daß Reiten ver- häßlicht, dann ritte ſie ſicher nicht aus.

Eben gewahrte er an drei jungen Herren, die vor ihm ritten, ſolche Zeichen der Spannung, daß er ſo⸗ fort wußte: Jetzt kommt Margot!

Da ſah er ſie auch ſchon neben einem Huſarenoffizier heranreiten. Auch fie trug eine weiße Wolljade, aber bei ihr ſah das gar nicht ſo aus wie bei den anderen. Vielleicht bewirkte dies der große Veilchenſtrauß, den ſie vorne an der Bruſt trug.

Rupert wandte ſeine Aufmerkſamkeit ſofort dem Rittmeiſter zu. Er war unſtreitig eine glänzende Er- ſcheinung. Die Figur äußerſt feſch und flott. Sehr brünett, mit langem Schnurrbart und dunklen Augen. Offenbar Weltmann durch und durch. Vielleicht ſah

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er ſchon ein wenig verlebt aus, aber das machte ihn wahrſcheinlich nur um ſo intereſſanter für die Frauen.

„Da iſt er, mein Jugendfreund, von dem ich Ihnen geſprochen habe,“ ſagte Margot bei Ruperts Anblick zum Rittmeiſter. Dann ftellte fie ihn Herrn v. An- dreanovitſch vor, nochmals das Wort Zugendfreund betonend.

„Beneidenswert!“ ſagte Herr v. Andreanovitſch.

„Sie kehren doch mit uns um, Rupert?“ fragte Margot harmlos.

Vo fie das Komödieſpielen nur her hatte? Als ob ſie ihn nicht eigens beſtellt hätte!

Rupert kehrte alſo um, und zu dreien ritten ſie die Allee hinunter.

Herr v. Andreanovitſch war ſehr liebenswürdig, das ließ ſich nicht leugnen. Außerlich war gewiß nichts an ihm auszuſetzen. Wer weiß, wo der ſeine ſchwachen Punkte hatte!

Varum er durchaus ae Punkte bei ihm ſuchte, fragte ſich Nupert nicht.

Der Rittmeiſter ſchien in dem ſo unvermutet auf der Bildfläche erſcheinenden „Jugendfreund“ keines- falls einen Rivalen zu erblicken, und Margot nahm auch gleich die erſte Gelegenheit wahr, ihn als un- gefährlich kenntlich zu machen. Als Andreanovitſch die herrliche Farbe ihres Haares rühmte und ſich an Rupert um Beſtätigung wandte, daß man ſo etwas nicht ſo bald wiederfinden könne, ſagte Margot: „Ach, dem gefällt meine Haarfarbe nicht.“ Und geheimnisvoll flüſternd ſetzte fie hinzu: „Seine Angebetete iſt näm- lich blond.“

„Ach ſo!“ rief der Rittmeiſter lachend und blickte Rupert neugierig an.

Andreanovitſch hatte hier natürlich mehr Bekannte

2 Novelle von A. Noel. 153

als die beiden anderen. Eine ſehr üppige Reiterin mit ihrem äußerſt ſchmächtigen Gemahl begegnete ihnen und hielt den Rittmeiſter auf, der mit einer Entſchuldi- gung zurüdblieb,

„Gott, das arme Roß, das die tragen muß!“ ſpottete Margot. „Na, wie finden Sie den Rittmeiſter?“

„Sind Sie von daheim mit ihm weggeritten?“ ant- wortete Rupert mit einer Gegenfrage.

„So eine Idee! Ich bin heruntergefahren und erſt hier unten beim Pferdeſtand aufgeſtiegen. Dort wird mich auch der Wagen erwarten. Der Vater iſt außer ſich darüber, was ich für eine teure Tochter bin, und die Stiefmama hat geſagt, ich könnte mit der Elektriſchen fahren. Stellen Sie ſich das vor: im Reitkleid auf der Elektriſchen!“

„Warum nicht?“ fragte Rupert ungerührt. „Ich habe ſchon einmal eine Dame im Reitkleid auf einem Omnibus geſehen.“

„Sie ſind ein Philiſter!“ ſchimpfte Margot. „Sagen Sie ſo was wenigſtens nicht vor dem Rittmeiſter bitte! Was ſollte der von meinem Jugendfreund denken!“

„Varum haben Sie den denn fo angeplauſcht?“

„Gar nicht angeplauſcht,“ verwahrte ſich Margot. „Ich ernenne Sie einfach zu meinem Zugendfreund. Als ſolcher haben Sie die Verpflichtung, ſich um mich zu kümmern. Merken Sie ſich das!“

„Wenn man Verpflichtungen hat, ſollte man auch Rechte haben,“ wandte Rupert ein. „Ich weiß aber, wenn ich Ihnen von irgend etwas abraten werde, tun Sie es doch.“

„Wovon wollen Sie mir abraten?“ fragte Margot ſchelmiſch.

Allein der Rittmeiſter kam ihnen nun wieder nach, und ſo wurde das Geſpräch abgebrochen.

154 Margareta Plaudertaſch. a

Da es Margots erſter Ausritt war, wurde er nicht zu weit ausgedehnt, und beide Herren begleiteten ſie bis zum Anfang des Praters zurück, wo bei dem offenen Pferdeſtand ſchon der Reitknecht des Pferdehändlers und der Wagen ſie erwarteten. Der Rittmeiſter ſprang ab und half Margot vom Pferde und in den Wagen hinein, wofür er einen Teil der Veilchen erhielt, die fie vorgeſteckt hatte.

Mit den Blumen im Knopfloch kehrte er zu Rupert zurück, und als er vernahm, daß dieſer zurüdreite, um über die Kaiſer-Joſephs-Brücke den dritten Bezirk zu gewinnen, begleitete er ihn bis zur Brücke.

Er benahm ſich fo entgegenkommend, daß es bei- nahe ſchien, als bewerbe er ſich um das Wohlwollen des „Jugendfreundes“.

„Sie kennen Fräulein Winzer von ihrer Kindheit an?“ fragte er.

„Ja, ich habe fie als Kind gekannt,“ gab Rupert zu, was er immerhin ſagen konnte, ohne die Wahrheit zu beu- gen. „Sie war dann lange im Ausland in Penſion.“

„Ja, ja, ich weiß. Haben aber doch das Vorrecht einer alten Bekanntſchaft.“

Näheres über Margot und Winzers bekam er aus Rupert nicht heraus, und er ließ auch bald von dem Gegenſtand ab. Bei der Brücke verabſchiedete er ſich ſo freundlich von Rupert, daß es dieſen hätte vorteil- haft beeinfluſſen müſſen. Aber der kehrte doch mit keinem angenehmen Eindruck nach Hauſe zurück. Er nahm ſich auch vor, nicht mehr mit dieſen beiden aus- zureiten. Was hatte er da zu ſuchen? Margot würde doch den blendenden Offizier nicht ausſchlagen, wenn er ſich um ſie bewarb, und es hatte ganz den Anſchein, als ob Andreanovitſch dies tatſächlich beabſichtige.

* *

2 Novelle von A. Neil, 155

Die Veilchen hatte Margot natürlich vom Rittmeiſter gehabt. Warum war denn ihm fo was noch nie ein- gefallen? Veilchen mußten gut zu Maries blondem Haar und blaſſem Teint ſtehen.

An einem der nächſten Tage verſorgte er ſich alſo mit einem Veilchenſträußchen und ging wieder den Weg, wo er ihr, wenn ſie mittags aus der Fabrik kam, begegnen konnte.

Ihr das Sträußchen anzubieten, koſtete ihn eine große Überwindung. Er kam ſich bei einer ſolchen Galanterie geradezu abgeſchmackt vor. Aber nun hatte er ſich's einmal vorgenommen und wollte es auch aus- führen ein Sträußchen, wie man es auf der Straße um vier bis fünf Heller kaufte.

Marie Hugersdorfer geriet ſichtlich in Beſtürzung, als er es ihr bot. Eine andere wäre vielleicht über einen Brillantſchmuck nicht ſo überraſcht geweſen. War es das, daß ſie vielleicht in dieſem Augenblick zum erſten Male eine. Ahnung davon bekam, wie er es meinte? Und war es eine glückliche Beſtürzung? Eine freudige Ahnung?

Er konnte darüber nicht zum Schluß kommen, und an der bekannten Ecke verließ ihn Marie, ohne daß ein aufklärendes Wort gefallen wäre.

Immerhin würde Marie von heute an nicht mehr ſo ahnungslos ſein. Das war ſchon etwas.

Nach Tiſch betrat Rupert einen der großen Arbeits- ſäle der Fabrik, worin die Maſchinen eifrig ihre Niefen- arme rührten und ein ewig ſummendes Geräuſch herrſchte. Hier befanden ſich nur männliche Arbeits- kräfte, darunter auch Sepp Faſchan, der eben mit halbfertigen Einbanddecken beſchäftigt war. Während er mit beiden Händen unter ihnen herumhantierte, hatte er ein Veilchen im Munde hängen wie eine Zigarette,

156 Margareta Plaudertaſch. 1

und das fiel Rupert auf. Wieſo kam Faſchan zu dem Veilchen? Irgend jemand mochte es ihm wohl aus einem Sträußchen gegeben haben.

Anwillkürlich mußte Rupert an feine eigenen Veil- chen denken.

Aber das war ja Unſinn.

1 * *

Die letzten Tage waren regneriſch geweſen, und Margot war nicht wieder in den Prater geritten. Rupert wollte ja auch nicht mehr mit. Als Margot ihn aber am Samstag anklingelte und ihn erſuchte, ſie am nächſten Morgen zu Pferde von ihrem Haus abzuholen, da ſie von daheim abreiten wollte und dies unbegleitet nicht tun konnte, mußte er doch einwilligen.

Sonſt forderte ſie doch den Rittmeiſter dazu auf.

Das Wetter verſprach ſchön zu werden, und daher ritt Rupert am Sonntagmorgen pünktlich zur beftimm- ten Zeit von daheim weg und der nicht ſehr entfernt liegenden St. Marxerſtraße zu, wo die Winzerſche Woh- nung lag.

Dort hielt auch ſchon der Reitknecht mit dem ſchönen Fuchs, der den Damenfattel trug, und Rupert brauchte nicht lange zu warten, bis Margot in der Haustür er- ſchien.

Der RNittmeiſter hätte ſich natürlich vom Pferd ge- ſchwungen, um ihr auf das ihrige zu helfen. Rupert hingegen überließ dies dem Reitknecht, der dem jungen Mädchen noch einige Verhaltungsmaßregeln für das Reiten durch die Straßen gab.

Aber es war ja noch früh am Morgen und der Verkehr, der hier in dieſer Gegend zumeiſt aus Laſt- wagen beſtand, heute am Sonntag gering.

Im Schritt ritten die beiden die Straße hinunter.

Do Novelle von A. Nosl. 157

Der Himmel war auch heute von weichgrauen, duftigen Schleiern umwölkt, die auf einen ſchönen Tag deuteten. Ein angenehm friſcher Hauch wehte.

„Natürlich werden wir gleich dem Herrn Rittmeiſter begegnen, ſowie wir in den Prater hinüberkommen,“ meinte Rupert.

„Heute nicht. Er hat einen Ausflug unternommen. Heute müſſen Sie mit mir fürlieb nehmen.“

„Oder Sie mit mir,“ verbeſſerte er.

„Ich bin ſchon gefaßt darauf, Monologe halten zu müſſen. Da hat der Rittmeiſter eine andere Suada.“

„Glaub' ich.“

„Mir ſcheint, er hat Ihnen nicht gefallen.“

„O doch ſehr! Aber etwas Zeit können Sie ſich mit dem Verloben immerhin laſſen. Sie kennen den Herrn ja noch gar nicht.“

„Wie ſoll ich ihn aber kennen lernen, wenn ich mich nicht mit ihm verlobe?“ fragte Margot. „Auf dem Geſellſchaftsfuß kann man jahrelang mit einem Men- ſchen verkehren und weiß doch nichts Rechtes von ihm. Ins Haus kommen darf er nicht viel, denn wenn er einmal der Stiefmama beim Eſſen zuſieht, hat er genug. Der Vater möchte auch, daß die Geſchichte bald zum Klappen kommt.“

„Nur hineinrennen ins Unglück!“ brummte Rupert, während ſie über die Brücke hinüber in den Prater ritten.

„Alſo glauben Sie, daß ich ins Unglück renne?“ fragte Margot.

„Kann man nicht wiſſen.“

„Unken iſt leicht,“ ſchalt Margot. „Der Vater hat ſich ja in einem Auskunftsbureau erkundigt. Komiſch, nicht wahr, daß es eigene Inſtitute gibt, die den Leu- mund verteilen. Aber mir hat der Vater die Auskunft

158 Margareta Plaudertaſch. oO

nicht gezeigt, und mich geht es doch hauptſächlich an. Da möcht' ich alſo gerne Den Gefallen könnten Sie mir ſchon tun. Erkundigen Sie ſich über ihn und bringen Sie mir dann den Wiſch, auf dem die Aus- kunft ſteht. Natürlich zahle ich die Gebühren.“

„Einfälle haben Sie!“ rief Rupert unbehaglich.

„Warum? Ich finde nichts dabei. Nicht wahr, Sie tun das für mich? Ein Jugendfreund darf einem ſchon eine ſolche Gefälligkeit erweiſen.“

Über den Jugendfreund mußte Rupert lachen, und das gewünſchte Verſprechen zog ſie dann auch aus ihm heraus.

Es würde ja auch zu ſeiner eigenen Beruhigung dienen, denn er kam ſich ſeltſamerweiſe einigermaßen verantwortlich vor.

Im Prater war es heute ſehr ſchön. Die laue, milde Luft tat wohl, und Margot verſicherte, es ſei doch ſehr nett, ſo in die ſchöne Welt hineinzureiten.

Heute war es auch viel belebter. Man ſah mehr Spaziergänger, mehr Wagen und beſonders viel mehr Reiter. Alle hatten ſehr ſchöne Pferde und ſchienen gut zu reiten. Margot vermißte die ſogenannten Sonn- tagsreiter, die, wie ſie ſagte, nur in den Witzblättern vorhanden zu ſein ſchienen.

Doch gerade gewahrte ſie zwei Reiter, von denen einer ſein Pferd nicht davon abhalten konnte, die Fahr- bahn zu erklimmen, die es aus irgend einem nur ihm bekannten Grund vorzuziehen ſchien. Eben hatte der Reiter es mit Mühe und Not heruntergezwungen, als es ſchon wieder hinaufſtrebte.

Margot verbiß ſich das Lachen, als aber ein Mann, der mit feinen Kindern neben der Reitallee ſpazieren ging, dem Reiter nachblickend mit trockenem Humor ſagte: „Haben Sie mich ſchon reiten geſehen? Reiten

2 Novelle von A. Noel. 159

ſollten Sie mich ſehen!“ da hielt ſie ſich nicht mehr, ſondern brach in ihr klingendes Gelächter aus zu Ruperts großer Verlegenheit, denn die ihnen entgegen- kommenden Reiter, die Fußgänger und die Dorüber- fahrenden alles blickte erſtaunt und beluſtigt drein, angeſteckt von einer Heiterkeit, deren Grund ſie nich kannten. |

Rupert ſchalt wegen des Aufſehens, das Margot machte, und ſie ſchmollte.

„Natürlich, Sie können es nicht leiden, wenn man herzhaft lacht!“

Konnte er es nicht leiden, wenn ſie lachte? Nein, das ſtimmte nicht. Dieſer Frohmut war etwas Schönes. Er wünſchte, daß er ihr erhalten bleiben möge. Dann durfte ſie ſich aber nicht etwa unglücklich verheiraten. Ja, es war in der Tat notwendig, dem Nittmeijter etwas genauer nachzuforſchen, als es Herr Winzer wohl getan hatte.

% Pr *

Wenige Tage darauf übergab er ſeinen Auftrag einem Bureau, von dem man ihm geſagt hatte, daß nicht die Handelswelt, ſondern die „Geſellſchaft“ ſein eigentliches Bereich bilde.

Bevor er noch die gewünſchte Auskunft erhalten hatte, traf er auf einem Abendſpaziergang einen Be- kannten, der ihn heute nicht mehr losließ und ihn von Lokal zu Lokal ſchleppte, zuletzt in ein modernes Kabarett.

Was hier dem Publikum geboten wurde, war wenig nach Ruperts Geſchmack, und er wunderte ſich nur, daß es gerade von den vornehmeren Ständen beſucht zu werden ſchien.

Während er die Leute an den Tiſchen muſterte,

160 Margareta Plaudertaſch. u

erblickte er einen Herrn, der ihm bekannt vorkam, auf deſſen Namen er ſich jedoch nicht gleich beſinnen konnte, bis ihm einfiel: das iſt ja der Rittmeiſter Andreanovitſch, nur in Zivil.

Ein zweiter Herr im Frack, ein Offizier und zwei Damen ergänzten die Tafelrunde. Die letzteren waren ſehr auffallend, wenn auch mit Geſchmack angezogen und hatten in ihrem ganzen Weſen das gewiſſe Etwas, das Bühnendamen eigen iſt, die mehr durch Toiletten als durch Talent zu glänzen haben.

Ruperts Freund war in Lebekreiſen nicht uner- fahren. Ungefragt gab er Auskunft, als er Ruperts Blick in jene Ecke gerichtet ſah.

„Die Novelly von der Joſephsſtadt und die Vilka vom Raimundtheater,“ erklärte er. „Die Novelly die mit dem rotgefärbten Haar iſt ſozuſagen ver- heiratet mit dem ſchlanken Brünetten. Wie du merken wirſt, ein Offizier in Zivil. Langjähriges Verhältnis. Heiraten kann er ſie ja nicht, ſolange er noch des Kaiſers Rock trägt. Aber er kommt ihr nicht mehr aus. Man ſagt, er wird demnächſt in Penſion gehen.“

Alſo ſo ſtand es? Wozu bedurfte er da noch der Dienſte des Auskunftsbureaus? Und wenn deſſen Aus- kunft ſo lautete, wie er es jetzt erwarten mußte, was würde er Margot ſagen?

* * 1

Es klopfte. Habermann ſenior, der gerade allein war, war ein wenig erſtaunt, als er in dem Eintretenden den Sepp Faſchan erkannte, den Werkmeiſter.

Der junge Menſch war etwas blaß und erregt, was dem Blick des Fabrikanten nicht entging.

„Na, Faſchan, was gibt's denn?“ rief er ihm ent- gegen. „Zt drüben was paſſiert?“

u Novelle von A. Noel. 1610

„Nichts, gar nichts,“ beruhigte ihn der andere raſch. „Aber wenn ich mit dem Herrn ein paar Worte unter vier Augen reden dürft' —“

„Sie ſehen ja, ich bin allein,“ ſagte der alte Herr. „Alſo ſchießen S' nur los, Faſchan.“

Der junge Menſch drehte feinen Hut zwiſchen den, Händen. „Die Sad’ iſt die: heiraten möcht' ich, Herr.“

Habermann ſchnitt ein Geſicht. „Es geht Ihnen wohl zu gut was? Da müſſen Sie ſich ein Kreuz zulegen. Wer iſt's denn? Eine aus der Fabrik?“

„ga.“

Habermann zog den Mund in die Länge, als ob er pfeifen wollte. „Kind Gottes, was fallt denn Ihnen ein? Ein Fabrikmädel! Die können doch nix wie ihr biſſel Handlangerei. Keine Hausarbeit, keine Hand- arbeit nichts.“

„Es gibt Ausnahmen,“ wandte Faſchan beſchei- den ein.

„Sehr wenige. Daß Sie grad' an eine ſolche kommen ſollten, iſt höchſt unwahrſcheinlich.“

„Gegen die, die ich mein', werden der Herr nichts haben,“ erklärte Sepp Faſchan mit ruhiger Beſtimmt- heit.

Habermann blickte den jungen Werkführer auf— fordernd an.

„Es iſt die Marie Hugersdorfer,“ ſagte Faſchan. 5 Habermann blieb einen Augenblick ſtumm. „Will denn die Marie?“ fragte er dann geſpannt.

„Sonſt wär' ich doch nicht da,“ wandte Sepp ruhig ein. „Wir ſind ſchon lang' einig, und ich wollt' auch ſchon nach Neujahr heiraten, nachdem ich Werkführer geworden war, aber damals wollt' die Marie noch nicht. Denn wenn wir heiraten, will ſie nicht in der

1911. III. 11

162 Margareta Plaudertaſch. 2 Fabrik bleiben, ſondern was anderes anfangen. Jetzt aber —“

„Vermutlich hat er gemerkt, daß der Rupert ein Aug' auf die Marie geworfen hat, und tummelt ſich, fie ſich zu ſichern,“ ſagte ſich Habermann. Dieſem jungen Paar mußte man die Wege ebnen.

„Was iſt jetzt?“

„Es wär' eine gute Gelegenheit da. Die Marie kann ein Maſchinenſtrickgeſchäft übernehmen. Von einer Frau, die zu ihrer Tochter aufs Land ziehen will. Die Wohnung, die Maſchinen, die Arbeit, alles können wir billig haben. Die Frau lernt die Marie an und führt fie in das Geſchäft ein. Die Marie hätt' auch eine Freud' dazu. Es möcht' ſchon gehen, da wär' mir gar nicht bang. Nur —“

„Braucht ihr Geld?“ ermutigte Habermann den Zaudernden.

„Ja, das iſt's, Geld brauchen wir. Wir müſſen doch die Ablöſung zahlen, Maſchinen und Möbel über- nehmen, und den Zins im Mai. So etwa achthundert bis tauſend Kronen täten wir halt brauchen, und da möcht' ich halt recht ſchön bitten, ob der Herr nicht die große Güte hätte, uns was vorzuſtrecken. Ich werd' ſchon pünktlich abzahlen.“

„Sie zu verheiraten iſt beſſer, als ſie zu vergiften,“ ſpaßte Habermann. „Die tauſend Kronen ſollen Sie haben, Faſchan,“ ſagte er dann, ſeine Hand feſt auf den Tiſch legend. „Und vom Abzahlen ſoll erſt dann die Rede ſein, bis es euch ganz leicht fällt.“

„Vergelt's Gott tauſendmal, Herr!“ Faſchan ſtreckte die Hand aus und drückte die des Fabrikherrn mannhaft.

„Daß Sie mir die Marie aber gut behandeln, Faſchan!“ warnte der. |

„Da iſt keine Sorg',“ beruhigte ihn der junge Mann.

a Novelle von A. Nesl. 163

„Ich hab' ſie ja ſo arg gern. Und ſie mich auch. Ihr iſt's lieber, meine Frau werden, als das größte Glück.“ Habermann begriff ſehr wohl, was der junge Werk- führer damit ſagen wollte. Fein genug verſtand er ſich auszudrücken, der Faſchan. Und in der Tat würde die Marie mit ihm glücklicher ſein als in fremden, neuen Verhältniſſen, denen ſie doch nicht gewachſen wäre. Rupert mußte das auch einſehen. Wenn ſie doch einmal den Faſchan wollte!

Er war ja kein weichmütiger Mann, aber es war ihm doch nicht angenehm, ſeinem Sohn dieſe Neuigkeit mitzuteilen. Deshalb begab er ſich in die Wohnung hinüber und ging die Riegerova an. Sie ſollte es tun.

Auch Frau Rieger bezeigte wenig Neigung dazu, aber ſie mußte ſich dennoch zu dem Verſprechen be— quemen, mit Rupert davon zu ſprechen.

Bei ſich hoffte fie, er würde es ſchon vorher in der Fabrik erfahren.

Drüben wußten ſie natürlich ſchon alles, aber vor Rupert erwähnte niemand etwas. Er mußte mit eigenen Augen ſehen.

Als er am nächſten Tage gerade um die Mittag- ſtunde in den Hof trat, bemerkte er vor ſich Marie Hugersdorfer. Aber heute war ſie nicht allein. Der Sepp Faſchan ging mit ihr. Er hatte ſeinen Arm unter den des jungen Mädchens geſchoben, ganz wie die feinen Herren auf der Promenade, und die ſpröde Marie ließ es ruhig geſchehen. Eifrig ſprechend gingen ſie dahin wie ein glückliches Paar.

Wenn die Marie einem Manne geſtattete, ſie unter- zufaſſen, ſo konnte das nur eine Bedeutung haben.

Nur eine einzige!

Alſo das war die Löſung des Rätſels! Er kam zu

ſpät bei ihr! Vor einer verſchloſſenen Tür hatte er

164 Margareta Plaudertaſch. u

geſtanden, die ſich nicht mehr auftun konnte, weil die Herzenskammer beſetzt war! |

Er wußte felber nicht recht, was er dabei fühlte, Jedenfalls war er von Groll gegen den Glüdlicheren frei.

* Pr *

An dieſem Tag kam Rupert zu ſpät zu Tiſch. Haber- mann ſenior hatte ſchon abgegeſſen und war wieder in die Fabrik hinübergegangen. Während das Stuben- mädchen die Speiſen für Rupert auftrug, leiſtete Frau Rieger ihm Geſellſchaft, aber vorſichtigerweiſe erfüllte ſie ihr gegebenes Verſprechen erſt, als er mit dem Eſſen fertig war und ſich eine Zigarette anzündete.

„Wiſſen's der Herr Rupert ſchon?“ fragte ſie. „In der Fabrik gibt's ein intereſſantes Brautpaar. Der Sepp Faſchan iſt der Bräutigam. Der hat ſich die Schönſte ausgeſucht, die zu haben war die blonde Marie. Ein ſo paſſendes Paar ſieht man ſelten. Sie macht ihr Glück.“

Machte ſie ihr Glück? Für eine Fabrikarbeiterin war allerdings auch Sepp Faſchan ſchon eine gute Partie, und da ſie ihn liebte, würde ſie ja wohl in einer kleinen Wohnung mit ihm glücklicher ſein als mit ihm ſelbſt in einem ganzen Stockwerk.

Frau Rieger konnte aus Ruperts Benehmen nicht entnehmen, ob er erſtaunt, enttäuſcht oder erzürnt war.

„Das wäre auch noch ſchöner, wenn er ſich die Geſchichte zu Herzen nehmen wollte. Es wäre doch im Leben nichts für ihn geweſen,“ dachte ſie.

Gerade in dem Augenblick kam ein Diener von drüben und meldete, der alte Herr laſſe dem jungen Herrn ſagen, er möge hinüberkommen, es verlange ihn jemand am Telephon.

D Novelle von A. Nosl. 165

„Die Fräul'n Margot natürlich,“ vermutete Frau Rieger, als Rupert gegangen war. „Wer hat denn ſonſt noch die Telephonierwut?“

„Rupert der Grimmige?“ fragte die wohlbekannte helle Stimme. „Wie geht es Euer Ungnaden? Gut zu ruhen geruht? Schon meinen Auftrag erfüllt? Noch keine Antwort? Na, ich kann's erwarten. Aber Sie dürfen ſie mir in keinem Fall vorenthalten, ſelbſt wenn was drin ſteht, was nicht grad' für mich paßt.“

„Würde Ihnen das ſehr leid tun?“ fragte Rupert ſtockend.

„Hoffentlich pflegt er keine ſilbernen Löffel zu ſtehlen,“ ſagte Margot. „Um aber gar nichts auf dem Gewiſſen zu haben, dazu ſieht er doch zu intereſſant aus.“

„Aber wenn es doch etwas wäre, was ihn un— möglich machen würde?“

„Das wär' eine ſchöne Geſchichte!“ klagte Margot. „Dann ſitz' ich wiederum da mit die Kenntniſſe. Ich weiß nicht, was ich dann mach'. Soll ich mich etwa im Dorotheum verſteigern laſſen? Mir wird's immer unleidlicher.“

„Haben Sie wieder ein Scharmützel mit der Stief- mama gehabt?“ fragte Rupert. |

„Natürlich! Na und wie geht's denn Ihnen? Vas machen Sie denn für ein Geſicht? Was iſt Ihnen über Ihre werte Leber gekrochen?“

„Wie wollen Sie wiſſen, was ich für ein Geſicht mache?“ fragte Rupert wider Willen lachend. „So weit iſt man doch noch nicht mit dem Fernſeher!“

„Ich weiß es doch,“ antwortete Margot beſtimmt. „Sobald Sie die Auskunft haben, bringen Sie ſie mir perſönlich verſtanden? Sie ſind ja noch gar nicht bei uns gewefen.“

166 Margareta Plaudertaſch. u

Er mußte es ihr verſprechen.

Aber als er das Blatt dann in Händen hielt, ſchien es ihm unmöglich, es ihr zu zeigen.

„Angefragter ſoll zwar ſein väterliches Erbe zum größeren Teile bereits verbraucht haben, befindet ſich aber in ziemlich geordneten Verhältniſſen. Er gilt als ſchneidiger Offizier, dem man eine gute Laufbahn vor- herſagt. Über fein Privatleben wird nichts Ungünftiges berichtet. Nur unterhält er langjährige Beziehungen zu einer Vorſtadttheaterdame, von der man weiß, daß ſie nicht willens iſt, von ihm abzulaſſen. Bereits mehrere Verſuche des Angefragten, ſich zu verheiraten, ſchlugen fehl, weil die betreffenden Familien die Unterhand- lungen wieder abbrachen, aus Furcht, der Offizier werde auch nach ſeiner Verheiratung nicht imſtande ſein, ſich gänzlich von der Schauſpielerin zu löſen.“

Lange ſtarrte Rupert auf den in Maſchinenſchrift auf dünnes Papier geſchriebenen Zettel herab. Er konnte Andreanovitſch bedauern, aber ſicher war, daß er Margot Winzer nicht bekommen durfte.

Zeigen wollte er ihr den Zettel natürlich nicht, und was er ihr ſagen wollte, wußte er auch noch nicht.

Aber das würde ſich ſchon finden.

Heimlich ertappte er ſich dabei, daß das Kniſtern des Zettels in ſeiner Bruſttaſche ſeine Laune hob. Was war das? Schadenfreude? Margot würde doch ſehr enttäuſcht ſein. Sie hatte ſich wohl ſchon als richtige „Frau von“ geſehen.

Von freien Stücken hätte er ſich nicht gemeldet, aber als Margot ihn einige Tage ſpäter wieder anrief und fragte, ob er die Auskunft denn noch immer nicht habe, konnte er nicht mehr leugnen.

Alſo ſolle er kommen und ſie ihr bringen, wenn er ihr nicht durchs Telephon ſagen wolle, was darin ſtünde.

2 Novelle von A. Noöl. | 167

Telephoniſch wäre es vielleicht am leichteſten ge- gangen, aber er wollte es ſich nicht ſo bequem machen, denn er mußte doch auch ſehen, was ſie für ein Geſicht dazu machte, wenn ſie einſah, es ſei nichts.

Venn fie ihn nur nicht nach der Marie fragte! Er hatte ſich bereits in das Unabänderliche gefügt. So- gar gratuliert hatte er ihr und Faſchan, und hoffent- lich hatte ihm dabei niemand ſeine enttäuſchte Miene angeſehen.

* * R

Margot bewohnte im elterlichen Haufe zwei Zim- mer, in die man durch einen eigenen Eingang gelangte.

Die Zofe öffnete ihm und führte ihn in Margots Wohnzimmer, wo ſie am Pianino ſaß, das ſie etwas heftig bearbeitete. Es ſtand mitten im Zimmer, und auch die übrigen Möbel waren etwas willkürlich an- geordnet, ſo daß Rupert ſich den Anſchein gab, zu glauben, fie ſtünden noch ſo, wie die Möbelträger fie beim Einziehen hingeſtellt hatten.

Margot ſtand auf, um Rupert entgegenzugehen, und er bemerkte, daß fie ſehr forſchend zu ihm auf- blickte. Geſchah dies, weil ſie erſpähen wollte, was er ihr in ihren eigenen Angelegenheiten brachte, oder hatte lie ſchon von feinem Mißerfolg bei Marie vernommen? Unmöglich war das nicht.

„Alſo was iſt mit dem Rittmeiſter?“ fragte Margot etwas herausfordernd. |

„Nichts iſt's mit ihm.“

„Was heißt das?“

„Er iſt kein Mann für Sie.“

„Gründe? Was hat der hundertäugige Argus zu berichten? Heraus mit dem Geheimnis aus dem Bruſt— taſchenarch iv!“

168 Margareta Plaudertaſch. Oo

„Bedaure! Schwarz auf weiß kann ich es Ihnen nicht geben, aber Sie dürfen mir glauben: der Ritt- meiſter iſt kein Mann für Sie.“

„Iſt es etwas mit der Schauſpielerin?“ fragte Margot ganz harmlos.

„Wie? Sie wiſſen?“

„Die Luis“ hat gehört, wie der Vater mit der Stief- mama davon geſprochen hat. Er fpricht ja immer fo laut, daß man gar nicht zu horchen braucht. Na, das iſt aber eine ſchöne Geſchichte! Sch glaube, ich werde eine Annonce in die Zeitung geben laſſen: Junges Mädchen von reizendem Exterieur und noch reizenderem Interieur —“

„Alſo Sie geben den Rittmeiſter auf?“ fragte Rupert erleichtert.

„Ja, ich reiß' mich nicht um ihn. Alleinherrſcherin will man doch fein. Jetzt ſtehen wir alſo beide wieder da als gänzlich entlaubte Stämme. Sie ebenfalls nicht wahr?“

„Das wiſſen Sie auch ſchonꝰ⸗

„Die ungedruckten Nachrichten verbreiten ſich am ſchnellſten. Es iſt alſo wahr, die blonde Marie nimmt ſich einen anderen? Gewiß den hübſchen Schwarzen mit dem Schnurrbartl, den ich einmal mit ihr geſehen hab'?“

„Was? Ihnen gefällt er auch?“

„Warum nicht? Er ſieht recht ſchneidig aus. Na, wie ſteht es mit Ihrem Herzen, Rupert? Fſt es in ganz kleine Stücke gebrochen?“

Rupert ſchüttelte den Kopf. „Es ſind mir in der letzten Zeit große Bedenken aufgeſtiegen, ob es denn gehen würde mit uns beiden, mit der Marie und mir,“ ſagte er, ohne Margot anzublicken. |

„Hallen Sie ihn jetzt nicht grimmig, den Glücklichen?“

u Novelle von A. Nosl. 169

Er verneinte lächelnd. „Sonſt könnte ich ihn doch nicht den ganzen Tag vor Augen haben, ohne mich zu ärgern!“

Er wunderte ſich heimlich ſelber darüber, wie ruhig er es aufgenommen hatte. Wenn der Rittmeiſter Margot Winzer bekäme, das wäre ganz etwas anderes, ſo viel fühlte er jetzt.

Der Rittmeiſter war nun freilich glücklich unſchädlich gemacht, aber ein anderer konnte jeden Augenblick an ſeine Stelle treten, und dann fing die Geſchichte von vorne an.

Nein er hatte genug gezaudert!

Mit entſchloſſener Miene wandte er ſich an das junge Mädchen, das ihn neugierig und forſchend an- blickte.

„Wenn Sie denn durchaus aus dem Hauſe fort wollen,“ begann er zögernd, „jo —“

„Na?“

„Lieber als den erſten beſten nehmen Sie dann mich, Margot!“ ö

„Sie?“

„Als Notnagel bin ich wohl grad' ſo gut wie ein anderer.“

„Sehr hoch ſchätzen Sie ſich nicht ein.“ Sie lachte etwas nervös. „Das hätten Sie ja ſchon früher haben können. Aber ſolang' die Marie noch in Frage kam —“

Der Vorwurf ärgerte ihn. „Wenn Sie nicht wollen,“ ſagte er abbrechend, „dann —“

„Hab' ich denn ſchon nein geſagt? Mir ſcheint, Sie wünſchen ſich einen Korb. Aber juſtament, weil Sie das nur geſagt haben in der Hoffnung, daß ich Sie nicht beim Wort nehme —“

„Deshalb hätte ich's geſagt?“

„Weshalb ſonſt? Aber ich enttäuſche Sie und —“

170 Margareta Plaudertaſch. 2

„Sie wollen alſo?“

„Eigentlich ſollt' ich nicht. Aber weil ich doch nicht daheim bleiben will, und um die edle Stiefmama zu ärgern, die ſich ſchon rieſig gefreut hat, daß ich Sie nicht kriegen ſoll, weil Sie viel zu gut ſeien für mich, und um Sie über den Verluſt der Marie zu tröſten, und —“

„Und, Margot?“

„Und weil ich Sie doch gleich ſo gut leiden konnte —“

„Sit das wahr?“

„Gegen Menſchen, die man nicht mag, pflegt man ſich nicht ſo zu benehmen wie ich gegen Sie.“ | Rupert wußte nicht, wie es gekommen war, aber plötzlich hielt er Margot im Arm, und ſie hing halb

lachend, halb weinend an ſeinem Hals.

„Alſo von heute an gilt es? Lebenslänglicher Ver- trag zwiſchen Rupert dem Grimmigen und Margot Plaudertaſch?“

„Nein, ich muß umgetauft werden. Rupert der Grimmige will ich nicht mehr heißen, denn wie könnte das jetzt noch paſſen, nachdem ich dich gewonnen hab'?“ fragte Rupert mit glücklichem Lachen.

NSS r X

Etwas von den Kachelöfen. Von P. Richter.

2 tit 8 Bildern. Machdruck verboten.)

Wer immer ſich mit dem mittelalterlihen Runft- gewerbe beſchäftigt, wird auch der Keramik eine ganz beſondere Würdigung nicht verſagen können. Finden wir doch wohl kaum ein Muſeum, das nicht über eine Anzahl Altertümer dieſes Zweiges ſeien es nun Töpfe, Krüge, Fußbodenplatten oder Ofen- kacheln verfügt.

Jedenfalls aber verdienen von allen erhaltenen und auf uns gekommenen Reſten deutſcher mittelalterlicher Keramik die ſorgfältig verzierten und glafierten Ofen- kacheln weitaus das größte ſachliche Intereſſe.

Die älteſten uns überlieferten Ofenkacheln, die ſich heute in den Sammlungen von Karlsruhe, Nürnberg und Stuttgart befinden, laſſen auf das elfte Jahr- hundert, auf die romaniſche Zeit, ſchließen. Während vollſtändig erhaltene Ofen aus dieſer Periode nicht mehr beſtehen, ja ſelbſt deren Überbleibfel ſehr ſelten find, liegen aus der Gotik reichere Reſte vor.

Meift waren die Stücke jener Zeit, ſoweit fie uns heute noch bekannt find, auf Beſtellungen von hoch- ſtehenden Geiſtlichen entſtanden, die ja faſt ausſchließ— lich die Förderer der mittelalterlichen Kunſt und des Kunſtgewerbes waren.

Von den gotiſchen Meiſterwerken dürfte wohl der einſt für den Fürſtbiſchof von Würzburg, Lorenz v. Bibra,

172 Etwas von den Kachelöfen. a}

um 1500 hergeſtellte, ſorgfältig gearbeitete Kachelofen (Fig. 1) der bedeutendſte ſein. Dieſer aus Ochſenfurt ſtammende Ofen befindet ſich heute im Germaniſchen Muſeum in Nürnberg und beſteht aus achtzig bunt- glaſierten Kacheln mit Apoſteln und vielen Wappen fränkiſcher Geſchlechter. Aus den in den Sammlungen zu Bern und Zürich und in einer Privatſammlung zu Frankfurt a. M. vorhandenen runden Ofen mit vier- eckigen Sockeln iſt zu ſchließen, daß dieſe Form, die bis heute noch 1599 Anwendung findet, aus jener Zeit ſtammt.

Der Kachelofen der Renaiſſance, deſſen Fabrikation vorwiegend in Süddeutſchland, ganz beſonders aber in der Schweiz betrieben wurde, war ſtets architektoniſch behandelt, da er in Art und Farbe ganz den betreffen- den Räumen und Zimmern angepaßt wurde. Er weiſt kräftige Simſe und Profile auf. Der reichgegliederte und mit Ornamenten, Füllungen, Figuren aller Art und oft mit Krönungen geſchmückte Oberbau ruht auf wuchtigem, breitem Sockel, der auf teils modellierten Füßen ſteht und um den oft eine Bank läuft.

Häufig hatten die Ofen dieſer Stilart in der Ecke, zwiſchen Aufbau und Wand, einen bequemen Sitzplatz mit Arm- und Rücklehnen. Der plaſtiſche, mitunter übermäßige Schmuck beſteht vorzugsweiſe aus Rarya- tiden, Hermen und Pilaſtern und wird durch Füllungen mit Reliefen, ſowie Figuren in Niſchen und Medaillons vervollſtändigt.

Wie hoch man in jenen Zeiten den Kachelofen ein- ſchätzte, iſt treffend aus dem Ausſpruch des Elſäſſer Humoriſten Johannes Pauli (1519), den er in feinem Schwankbuche „Schimpf und Ernſt“ kundgibt, zu er- kennen: „Als ein luſtig Ding iſt zu ſehen eine hübſche Frau und ein hübſcher Ofen in einer Stuben.“ Es

2 Von P. Richter. 173

geht daraus hervor, wie nahe dieſer wärmeſpendende Geſelle dem Menſchen ſtand. Sah er in ihm doch einen

Fig. 1. Gotiſcher Ofen aus Ochſenfurt. (Germaniſches Muſeum, Nuͤrnberg.)

Freund, den er in einem Atemzug mit der Hausfrau nannte.

174 Etwas von den Kachelöfen. u

Die bekannteſten Ofen aus dem Germaniſchen Muſeum in Nürnberg find meiſt aus Kacheln mit per-

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EB 2 Fig. 2. Rokokoofen aus dem Koͤniglichen Schloß

in Wuͤrzburg.

ſpektiviſchen Anſichten von Hallen und Zimmern mit achteckigem Oberbau ausgeführt. Veitere Ofen, wahre

2 Von P. Richter. 175

Kunſtwerke, die durch reichen figürlichen und ornamen- talen Schmuck das Großartigſte find, was die Töpfer-

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Fig. 3. Rokokoofen aus dem Königlichen Schloß in Veitshoͤchheim.

kunſt der Spätrenaiſſance geſchaffen hat, befinden ſich in der Burg von Nürnberg und im Rathaus zu Augsburg.

176 Et was von den Kachelöfen. 2

In der Zeit nach dem unglückſeligen Dreißigjährigen Kriege ſcheint man die Freude an Farben vollſtändig verloren zu haben, und ſo finden wir denn die meiſten Stücke jener Zeit, unter ihnen auch die Augsburger Ofen, unglafiert und nur mit Graphit angeſtrichen. Auch die Reſte des in den Trümmern vom Otto-Hein- richs-Bau des Heidelberger Schloſſes aufgefundenen herrlichen Kaminoberbaues ſind unglaſiert.

Die Schweizer Produzenten dieſer Zeit legen ent- gegen ihren deutſchen Kollegen mehr Wert auf male- riſche Behandlung als auf plaſtiſche Dekorationen. Es ſind viele Exemplare dieſer Art erhalten, die faſt alle eine üppige Farbenpracht aufweiſen.

Im ſiebzehnten Jahrhundert tritt eine Anderung im Ofenſtile ein; allmählich hört die Ornamentierung der Kachel ganz auf, und der glatte weiße Tonofen mit geſtrichenen Simsteilen, wie er heute noch in Norddeutſchland, allerdings mehr und mehr abneh— mend, fabriziert und gebraucht wird, kam in Mode, der zuweilen nach dem Vorbilde der hol— ländiſchen Fayencemalerei meiſt in Blau dekoriert wurde.

Erſt die Herrſchaft des Rokokos ſtellt wieder an das techniſche Können der Töpfer ganz beſonders hohe Anſprüche, da die einzelnen Kacheln eine recht be— trächtliche Größe hatten und das Zuſammenpaſſen ihrer geſchweiften Linien eine viel ſchwierigere war als das der rechteckigen geraden Kacheln.

Mit welch großem Verſtändnis die Töpfer jener Zeit ihre Aufgaben löſten, geht aus den prächtigen, ſich in den Schlöſſern zu Regensburg, Veitshöchheim und Würzburg befindenden Ofen hervor (Fig. 2 und J.

In der Rokokozeit war die weiße Glaſur vorherr- ſchend, und auch der Ofen des Empire behielt dieſe

2 Von P. Richter. 177

vorwiegend bei. Man ſchien damals überzeugt zu ſein, daß die antike Welt nur am Weiß des Marmors, dem

Fig. 4. Biedermeierofen in einem Privathauſe zu Muͤnchen. Gelb des Erzes und des Goldes, nicht aber auch an

anderen Farben Freude gehabt hatte, und bevorzugte 1911. III. 12

178 Etwas von den Kachelöfen. 2

daher nur dieſe Farben; ſo ſind denn auch die runden Ofen vielfach in gelber Glaſur ausgeführt.

Da ſich die Ofenfabrikation zu Beginn des acht- zehnten Jahrhunderts ſehr in abſteigender Richtung bewegte, iſt es erklärlich, daß uns die Biedermeierzeit nur vereinzelte Vorbilder geben kann. Ein ſelten ſchönes Beiſpiel bürgerlicher Kunſt iſt der ſich in einem Privathauſe zu München (Fig. J befindliche Ofen, der uns ein charakteriſtiſches Muſter aus der Biedermeier- zeit bietet.

Erſt Mitte des vergangenen Jahrhunderts mit dem Aufleben der Architektur iſt die Kachelofeninduſtrie wieder in Aufſchwung gekommen, und es werden heut- zutage wieder die ſchönſten Kunſtwerke in Öfen ge- ſchaffen.

Wir geben in den nachfolgenden Abbildungen (Fig. 5—8) einige Entwürfe von Öfen und Kaminen von Profeſſor Hauſtein, Architekt Mühlbach uſw. wieder, wie dieſe in der Heidelberger Ofenfabrik Jean Heinſtein hergeſtellt wurden, und es ſei hier geſtattet, eine kleine Bemerkung über die Heizung von Kopien älterer Ofen anzufügen.

Vor allem muß der ſelbſt in manchen Fachkreiſen aufgeſtellten Behauptung entgegengetreten werden, daß derartige Prachtſtücke eben „Zieröfen“ ſeien, an die hinſichtlich der Heizkraft keine Anſprüche geſtellt werden dürften.

Dieſe Auffaſſung iſt grundfalſch und geradezu un- logiſch; ein Ofen, der nicht oder nicht genügend heizt, iſt eben kein Ofen. Dieſe Stücke können vielmehr mit jeder beliebigen Heizung, deren Wahl man je nach Art der zu beheizenden Räume und nach dem zur Ver— fügung ſtehenden Brennmaterial trifft, verſehen werden.

Meiſt wird es ſich empfehlen, die Heizung von

2 Von P. Richter. 179

Fig. 5.

außen, alſo von der Diele anzubringen, da dies der Art der alten Vorbilder am meiſten entſpricht und die

180 Etwas von den Kachelöfen. D

nicht zu unterſchätzenden Vorteile hat, daß in den Raum ſelbſt keine Kohle, keine Aſche und kein Staub kommen kann, und daß auch gleichzeitig die Diele dadurch er— wärmt oder doch angewärmt wird. Wie aus den in den Sammlungen zu Nürnberg und Stuttgart vor- handenen Kacheln hervorgeht, iſt die älteſte Art der- ſelben eine wirkliche Kachel, alſo eine auf der Scheibe gedrehte Schüſſel geweſen, deren Rand durch Am- biegen von vier Abſchnitten in eine viereckige Form gebracht wurde, damit ſie ſich zum Aufbauen des Ofens beſſer eignete.

Dieſe Urform (Schüſſelkachel) iſt inſofern von es Bedeutung, weil fie ſich bis heute erhalten hat.

Die Kachel anderer Öfen erklärt ihren Urſprung allerdings anders. Sie wird wohl von dem krugförmig gedrehten Hohlzylinder ausgegangen ſein, der, ſolange der Ton noch feucht war, der Länge nach halbiert wurde, ſo daß zwei Halbzylinder entſtanden, die mit Rahmen und unten mit Abſchluß verſehen wurden, wodurch die Kachel eine Niſche bildete. Dieſe Urform wird daher auch Zylinderkachel genannt. Die uns aus dem Mittel- ‚alter überlieferten Reſte derartiger Schülfel- und Zylinderkacheln find faſt ausſchließlich grün glaſiert, und man bedient ſich daher auch heute noch mit Vor- liebe der grünen Kupferglaſur, um den Ofen ihren altertümlichen Charakter zu wahren.

Die Heidelberger Ofenfabrik Jean Heinſtein, welche die verſchiedenen Wandlungen des Kachelofens hat mit- machen müſſen, wozu neuerdings die Umänderung der äußeren Form hinzutritt, ſtellt ihre Stubenöfen und Kacheln aus einem feuerfeſten Ton her und verſieht dieſelben mit haarrißfreien Glaſuren. Die Glaſuren weiſen dabei ſehr zarte Grundtöne und ſelbſt bei den Lüſterglaſuren ſchöne, reine Farben auf, unter denen

Fig. 6.

182 Etwas von den Kachelöfen. 1

beſonders die modernen hellen und die roten beachtens- wert ſind.

Neben Entwürfen der beſten Architekten, die an Einfachheit und künſtleriſcher Treffſicherheit allerdings das Bedeutendſte darſtellen, finden wir auch ſolche aus dem eigenen Atelier, die einem ſtrengen Urteil wohl ſtandhalten können. Eine ungemein reiche Farbenſkala und die verſchiedenſten Glaſurarten: einfarbig, gemalt, geflammt, matte und blanke Lüfter, Mattglaſuren, Gla- ſurmalereien uſw. bieten ausreichend Mittel und Wege, jeden Entwurf zu ſeiner höchſten Wirkung auszuführen.

Auch die Formwandlungen, die der Ofen infolge techniſcher Veränderungen der Heizvorrichtungen er- fahren hat, alſo in Kaminen mancher Art und in Heiz- körperumkleidungen, finden wir dort. Die Muſter- bücher veranſchaulichen eine ganz außerordentlich große Anzahl von Ofen und Kaminen jeder Art und jeden Verwendungszweckes. Alle Stilarten und alle Ge— ſchmacksrichtungen find dabei vertreten; wir finden ſowohl die einfachen glatten Ofen, wie ſolche in alt- deutſcher Art und in reichen Renaiſſance- wie Em- piremuſtern, und Kamine, die das Entzücken aller Hausfrauen erregen.

Wenn ſich früher der Kamin vorwiegend nur in den Ländern mit milden Klimaten großer Beliebtheit erfreute und in Oeutſchland nur vereinzelt in Schlöſſern, Burgen oder auch einmal im Haufe eines reichen Pa- triziers Verwendung fand, ſo iſt der Grund darin zu ſuchen, daß der Kamin an wirklich kalten Tagen für die Erwärmung des Zimmers, die faſt ausſchließlich durch Strahlung erfolgte, welch letztere aber bei Holz- feuer nur eine ſehr geringe iſt, bei uns nicht ausreichte und nur ein geringer Teil der vom Brennmaterial ent- wickelten Wärme verwertet wurde.

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184 Etwas von den Kachelöfen. 2

Seit aber die urſprüngliche Form vervollkommnet wurde, ſeit man den Feuerherd aus der Wand her— vorgerückt hat, um die ftrahlende Wärme beſſer aus- zunützen, ſeitdem der Kamin mit Feuerungen für jedes Brennmaterial ausgerüſtet werden kann, hat er auch

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o Fig. 8.

in Deutſchland in etwas veränderter, den Verhältniſſen angepaßter Form ſeinen Einzug gehalten.

Die meiſten Kamine können auch als Verkleidungen zu beſtehenden Heizkörpern verwendet werden.

Die Rippenkörper zu ummanteln, iſt nicht nur aus Schönheitsrückſichten, ſondern auch zur Verhinderung der Ablagerung und Verbrennung von Staub in ge— wiſſen Grenzen zu empfehlen, auch wird bei höherer Tem— peratur die unangenehme ſtrahlende Wärme gebrochen.

2 Von P. Richter. 185

Aber die fanitäre Bedeutung des Kachelofens macht ein namhafter Arzt folgende Angaben: Betrachtet man die Wünſche der mietsluſtigen Parteien, ſo ſtößt man auf die Tatſache, daß keine beſſere Familie ohne Warm- waſſerheizung auszukommen glaubt und die neue Wohnung nur nach deren Vorhandenſein ſchätzt. Dieſe Sucht nach Komfort birgt aber in den meiſten Fällen Gefahren für den Bewohner der Wohnung. Es iſt Tatſache, daß ſich die Inhaber von Vohnungen mit Warmwaſſerheizung nur zu raſch an die Temperatur gewöhnen, in kurzer Zeit von 15 auf 18 und ſogar 20 Grad ſteigen, weil ſie ſonſt zu frieren glauben. Hierzu kommt dann, daß durch die Gewöhnung an hohe Temperatur im erwärmten Schlafzimmer ge— ſchlafen wird, denn die Heizung iſt ja vorhanden.

Da dieſe Perſonen demnach durchſchnittlich in hohen Temperaturen zu leben gewohnt ſind, werden ſie auf der Straße für Unbilden der Witterung hochempfindlich ſein und ſich leicht erkälten. Das Zdeal iſt daher immer noch der Kachelofen, ein Ofen, der alle neuzeitlichen Anforderungen befriedigt und den hinſichtlich der Ge- ſundheit, Billigkeit, Reinlichkeit ſowie Schönheit andere Heizvorrichtungen nicht verdrängen können; er erzeugt durch feine ſtrahlende Wärme eine in allen Raumteilen des Zimmers gleichmäßige, nicht ſteigerungsfähige Temperatur, die Körperwärme bleibt auf normaler Höhe, und was die Hauptſache iſt: der Kachelofen kühlt ab und läßt uns eine Temperatur von 13 bis 14 Grad angenehm ſein, wodurch die beiden Grundbedingungen des körperlichen Wohlbefindens erfüllt ſind.

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Lieder zur Laute. Ein Lebensbild von Harry Nitſch.

7 cn

(Nachdruck verboten.) ls Gräfin Hella Renate v. Fichtenkron noch Helene Müller hieß, trug ſie keine ſeidenen Kleider, Spitzendeſſous und Lackſchuhe. Sie hatte damals aber auch noch keine Schulden. Ihre Sehnſucht ging über den Wunſch, ſich in Sahnenbaiſers einmal ordentlich ſatt eſſen zu können, nicht hinaus. Ihre Eltern waren beide tot, und ſie dankte es der Gunſt einer reichen Baſe, daß fie ihre ſympathiſche, aber kleine Stimme am Dresdener Konſervatorium ausbilden laſſen konnte. Als Lene das Reifezeugnis des Konſervatoriums erhielt, trat zugleich ein Ereignis ein, das des Mäd- chens bisher ganz beſchauliches Leben vollſtändig aus dem Geleiſe warf. Ihre Baſe war an einen vielfachen Millionär verheiratet, lebte in Paris und war doch nicht glücklich. Aſta Laſſens brennende Sehnſucht nach einem Kinde war in achtjähriger Ehe unerfüllt geblieben. Ganz plötzlich trat da das gar nicht mehr Erwartete ein: Aſta durfte auf ein Kind hoffen.

In der Seligkeit ihres jungen, ſtolzen Glückes be- ſchloß Aſta, ein gutes Werk zu tun. Sie ſandte der armen Baſe ihre ganze Ausſtattung, die ſie ja nun doch bald nicht mehr würde tragen können.

Als Lene ſich um Anſtellung an irgend einer Provinz- bühne bewarb, wurden ihr drei mächtige, elegante Koffer in ihr kleines Zimmer gebracht. Aus ihnen quollen dem ſtaunenden Mädel ſeidene Kleider, Mäntel,

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Pelzwerk, ſeidene Zupons, ſeidene Leibwäſche, Pariſer Hüte und Stiefelchen entgegen, wie ſie das arme Ding überhaupt noch nicht geſehen hatte.

Und das ſollte alles ihr gehören, das alles durfte fie tragen! Sie war wie benommen von den Herr- lichkeiten.

Endlich löſte ſich der Bann, und in Lene erwachte das junge, nach dem Leben und nach Schönheit ver- langende Weib. Zitternd vor Aufregung warf ſie ihr beſcheidenes Kleidchen, ihr Unterzeug und die Wäſche ab.

Sinnend betrachtete ſich das Mädchen im Spiegel. Sie war ſchön, das kam ihr jetzt voll zum Bewußtſein angeſichts der köſtlichen Dinge, die die natürliche Schön- heit der Frau erſt ins rechte Licht ſtellen. Ihr feines, etwas blaſſes Geſichtchen mit den wie Herzkirſchen leuchtenden Lippen würde jeden Maler entzückt haben.

Haſtig hüllte ſich Lene in die Pariſer Schätze. Die Kleider paßten wie für ſie ſelbſt angefertigt.

Erſt als Lene in Bewunderung ihrer eigenen Perſon, die ihr ſo fremd und verändert erſchien, vor dem Spiegel zu tanzen begann, entdeckte ſie auf dem Boden des größten Koffers ein goldenes, mit Brillanten beſetztes Geldtäſchchen, wie ſie gerade in Mode gekommen waren.

Faſt furchtſam griff Lene danach und öffnete ſchüch- tern die Mechanik. Gleißendes, rotes franzöſiſches Gold leuchtete dem Mädel entgegen. Aſta hatte ihrer Güte die Krone aufgeſetzt und der Baſe auch eine Summe baren Geldes mitgeſandt.

Jubelnd ſchüttete Lene ihren Goldſchatz aufs Bett und begann zu zählen: Eintauſend, zweitauſend, und immer weiter quoll der unverſiegliche Goldſtrom. Es waren fünftauſend Franken!

Der Beſitz fo vielen Geldes, ſolcher Garderoben- ſchätze machte das beſcheidene Mädel fait toll. Es ver-

188 Lieder zur Laute. d

lor den Blick für die Wirklichkeit und hielt ſich für eine Märchenprinzeſſin. Verſtohlen lugte Lene nach der Tür, ob nicht der Märchenprinz auch ſchon bereit ſtünde.

Doch es war nur Frau Lämmermann, Lenes Wirtin, die, ohne anzuklopfen, hereingekommen war. Frau Lämmermann hatte keine ganz ſaubere Vergangenheit, und ihr Temperament brach zuweilen wieder durch.

„Nee, heern Se, Freilein Helenchen,“ rief fie in ihrem ſingenden ſächſiſchen Dialekt, „Sie ſähn aus wie 'ne Prinzeſſin. Ei du liebes Goddchen, ſo was Scheenes gibd's ja gar nich.“

„Bin ich wirklich ſchön, Frau Lämmermann?“ fragte Lene glücklich und geſchmeichelt.

„Scheene, bloß ſcheene? Sie fein wunner-, wunner- ſcheene, liebes Freilein. Es is bloß ſchade, daß Sie mid fo was an ä kleenes Provinzdheader woll'n. Wo ſich de Barone un de Grafen nur ſo um Ihnen reißen würden.“

„Glauben Sie, Frau Lämmermann? Oder ſchmei— cheln Sie mir nur?“

„Ach liewer gar, wo werde ich denn! Mir is es ernſt. Es is ſchade um Ihnen, Freilein Helenchen. Das därfen Sie mir glooben.“

Lene wollte der Frau ja nur zu gern glauben, denn ihre Reichtümer hatten ſie ganz verwandelt. Sie ſchrieb dem Agenten, der ihr bereits ein Engagement nach Sondershauſen angeboten hatte, daß ſie an eine ſolche kleine Bühne nicht gehen werde. Darauf ließ der Mann überhaupt nichts mehr von ſich hören.

Lene ſiedelte zunächſt in eine vornehme Penſion über. Dann promenierte fie fleißig in der Prager Straße und beſuchte häufig das Opernhaus, um ſich bewundern zu laſſen.

And der erwartete Prinz kam wirklich. Es war

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allerdings nur ein Graf, und er hieß Egon v. Fichten- kron. Er ſah auch nicht ganz ſo aus, wie Lene ſich ihre Märchenprinzen vorgeſtellt hatte prangend in jugend- licher Schöne aber er war immerhin noch ganz repräſentabel. Daß er um zehn Jahre älter ausſah, als Egon in Wirklichkeit war, hielt das Mädchen für einen echt gräflichen Vorzug. Wenigſtens redete Lene ſich das ein. Geld mußte Graf Fichtenkron furchtbar viel haben, denn er gab es mit einer Gleichgültigkeit und Nichtachtung aus, die Lene mehr als alles andere imponierte.

Nach acht Tagen warb Graf Fichtenkron in aller Form um Lene, erhielt das Fawort, und zwei Monate ſpäter wurden fie ſchon getraut. In aller Stille, denn ſo wollte es der Graf, obgleich es Lene nicht ganz recht war. Sie hätte lieber eine große Hochzeit gehabt mit zwei Vorreitern und zahlreichen fürſtlichen und gräflichen Gäſten.

Doch Lene widerſprach dem Wunſch des Grafen nicht, weil es für ſie mit der Hochzeit höchſte Zeit war. Denn ihre fünftauſend Franken hatten es dem Schnee draußen in der Natur gleichgetan: fie waren aufammen- geſchmolzen. Die letzten tauſend Franken hatte Lene auf ein Hochzeitsgeſchenk für den Gatten verwendet. Sie durfte ſich doch an ihrem Ehrentage nicht ſchmutzig zeigen.

Als die Flitterwochen beginnen ſollten, brach das Glück der armen kleinen Gräfin ſchon zuſammen. Die jungen Eheleute hatten ſich beide verrechnet. Graf Fichtenkron hielt ſeine Frau auf Grund ihrer fürſtlichen Toiletten und ihres ſplendiden Auftretens für ebene reich, wie ſie den Grafen gehalten hatte.

Als Lene dem Gatten auf der Hochzeitsreiſe ſchüch— tern das Geſtändnis machte, daß er ein armes, aber

190 Lieder zur Laute, 0

braves und unbeſcholtenes Mädchen geheiratet habe, brach bei dem Grafen ein Tobſuchtsanfall aus. Lene mußte aus dem Hotelzimmer flüchten, denn Egon wütete wie beſeſſen und ſchlug die Möbel in Stücke. Es ge- lang auch dem Hotelperſonal nicht, den Grafen zu bändigen. Er mußte in eine Anſtalt überführt werden.

Nun erfuhr die arme Gräfin endlich die volle ent- ſetzliche Wahrheit: Graf Egon war ſchon dreimal wegen Säuferwahnſinns interniert geweſen. Als Lene ihn kennen lernte, hatte man ihn kurz vorher erſt wieder freigelaſſen. Die auch nicht mit Glücksgütern geſegneten Verwandten waren noch einmal für den Unverbeſſer- lichen eingetreten, ſtatteten ihn ſtandesgemäß aus und rieten ihm ernſtlich, ſich zu ändern und eine reiche Frau zu ſuchen.

Die Empörung der Verwandten über Lene, die den Grafen durch ihr prunkvolles Auftreten in ihr Garn gelockt hatte, war groß, und ſie blieben den Tränen der jungen Frau gegenüber unerbittlich. Als Lene am Schluß des Familienrates ſchluchzend rief: „Aber was ſoll ich denn beginnen, von was ſoll ich als Gräfin leben? Sie können mich doch nicht auf die Straße werfen?“ ſah ſie der alte Graf Lothar, ein Zyniker und Frauenverächter, prüfend an.

„Auf die Straße nicht, meine Liebe,“ ſagte er dann. „Aber Sie haben doch was gelernt! Können Sie nicht ſingen? Nun wohl! Sie ſehen nach was aus, und es wird Ihnen, der nunmehrigen Frau Gräfin, an En- gagements nicht fehlen. Wir können Ihnen den Titel ja nicht nehmen, und zum Abkaufen fehlt uns das Geld. Iſt mir übrigens auch egal, ob Sie als Gräfin Fichten- kron, geborene Müller auftreten. Wir Fichtenkrons bleiben deshalb doch, wer wir find, Sch will Ihnen was jagen: Kaufen Sie ſich ſo 'n Dings, 'ne Laute,

D Von Harry Nitſch. 191

und fingen Sie mit Ihrer weichen Stimme und der ſchmiegſamen Figur kleine pikante Chanſons. Zch garantiere für den Erfolg. Die Laute will ich Ihnen ſchenken und auch ein paar Stunden bezahlen. So was lernt ſich doch ſchnell.“

Helene nannte ſich nun Hella Renate Gräfin v. Fichtenkron und reiſte mit ihrer Laute von Stadt zu Stadt. Schon nach einem Fahr wurde fie Witwe, und die gräfliche Familie bekümmerte ſich nun gar nicht mehr um fie. Und die reiche Baſe in Paris war engherzig und geizig geworden, ſeitdem ſie ein Kind hatte.

So mußte Hella Renate allein für ſich ſorgen, und das war ſchwer. Sie hatte an eleganten Kleidern, ſeidenen Zupons und all dem koſtbaren Drum und Dran der mondainen Dame Gefallen gefunden und konnte es nicht mehr entbehren. Anſtändig wollte ſie bleiben und blieb es auch, trotz aller Verlockungen. So blieb der armen Hella nichts anderes übrig, als Schulden zu machen.

Nach vier Fahren, als Hella Renate erſt dreiund- zwanzig Jahre alt war und in der vollen Blüte ihrer pikanten Schönheit ſtand, wurde fie durch die Gerichts- vollzieher von einer Stadt zur anderen verfolgt. Doch Hella Renate war ſchon abgeſtumpft dagegen. Wer öfter mit dieſen Leuten in Berührung kommt, verträgt ſich ſchließlich auch mit ihnen.

Seit kurzem war das aber anders geworden. Auguſt Schulze, ein beſonders verbiſſener Gläubiger, der in einer großen ſüddeutſchen Stadt ein elegantes Mode- magazin beſaß und dem Hella Renate einige tauſend Mark ſchuldete ihr gräflicher Name und elegantes Auftreten verſchafften Hella Renate immer wieder Kredit hetzte Deutſchlands geriſſenſten und rück-

192 Lieder zur Laute. =

ſichtsloſeſten Gerichtsvollzieher hinter ihr her. Anton Sperr wußte ſie immer wieder zu finden. Bisher war er allerdings ſtets zu ſpät gekommen. Die gewandte Gräfin ließ ſich ihre Gage immer im voraus zahlen und wußte ſie ſo geſchickt zu deponieren, daß Sperr das Geld niemals finden konnte. Die Kleider wollte er nicht pfänden, weil ſie in der Verſteigerung doch nichts bringen würden, und die Schmuckſachen waren nicht mehr echt.

Endlich erwiſchte Sperr die Gräfin in Baden-Baden doch. Ihr wurde vom Direktor gerade ein größeres Honorar für ein längeres Gaſtſpiel, es waren mehrere tauſend Mark, auf den Tiſch gezählt, als Sperr eintrat und kalt lächelnd die Hand über das Geld breitete. Es war gepfändet. N

Hella Renate erſchrak ſehr. Sie befand ſich in wirklicher Geldnot und konnte die Summe nicht ent- behren. Sie legte ſich aufs Bitten, verſprach monatliche Ratenzahlungen und verſchwendete ihr bezaubernd- ſtes Lächeln, um das mancher Lebemann Tauſende gegeben haben würde, an den Mann des Geſetzes. Doch vergebens. An dieſer eiſengepanzerten Bruſt prallte alles ab. Nun brach Hella Renate in Tränen aus, in wirkliche, echte, keine Theatertränen. Das Herz war ihr ſchwer, und ihre Nerven hatten unter dem ſteten Umherziehen, den vielerlei Aufregungen ſehr ge— litten. Sie ſehnte ſich nach einem ſtillen, friedlichen Hafen.

Plötzlich kam ihr ein Einfall, der für ihr ferneres Leben entſcheidend werden ſollte. „Sie beſtehen alſo auf der Pfändung des Geldes?“ fragte ſie Herrn Sperr.

„Selbſtverſtändlich!“ erwiderte dieſer und lächelte höhniſch.

„Gut! Dann zerreiße ich meinen Kontrakt und

Oo Von Harry Nitſch. 193

werde überhaupt nicht auftreten,“ erklärte Hella Renate energiſch. Sie nahm ihren neben dem Gelde liegenden Vertrag und warf ihn Herrn Sperr zerfetzt vor die Füße. „Das Geld gehört nun wieder dem Herrn Direktor. Wollen Sie ſich an fremdem Gelde ver- greifen?“

„Aber der Vertrag muß doch erfüllt werden!“ ſagte Sperr unruhig.

„Nein! Er muß nicht! Denn er war von mir noch nicht unterſchrieben.“

Herr Sperr mußte ſich geſchlagen bekennen, ge- ſchlagen von der kleinen, anmutig lächelnden Gräfin. Wütend lief er hinaus und ſchlug die Türe unhöflich laut hinter ſich zu.

Als Auguſt Schulze, ein eleganter Junggeſelle Anfang der Dreißiger, von der Niederlage ſeines Vertrauensmannes erfuhr, bekam er zunächſt einen Wutanfall. Dann entlockte ihm dieſe Schlagfertigkeit Bewunderung. „Doch ein famoſes Weib!“ ſagte er. „Ich möchte dieſe lautenſpielende Gräfin wohl ein- mal ſehen.“ |

Auguſt Schulze war ein Mann ſchneller Ent— ſchlüſſe. Schon am nächſten Tage fuhr er nach Baden- Baden, wo Hella Renate leiſe weinend gerade mit Einpacken beſchäftigt war, und ließ ſich bei ihr melden.

Die arme kleine Gräfin bekam einen Todesſchreck. Nun verfolgte ſie ihr Quälgeiſt gar ſelbſt!

Der ſonſt ſo gewandte Auguſt Schulze war aber noch befangener als Hella Renate. Er ſtotterte: „Ich wollte mich wegen der Ungezogenheit Sperrs perſönlich ent- ſchuldigen. Die Sache iſt mir furchtbar peinlich.“

Schulze wurde nämlich von der graziöſen Schön- heit Hella Renates, auf deren Geſicht immer noch ein liebreizender Zug kindlicher Unberührtheit lag, ſofort

1911. III. 13

194 Lieder zur Laute. u

in Feſſeln geſchlagen. Zugleich erwachte in ihm der kluge, immer berechnende Geſchäftsmann.

Sein Geld war wohl für immer verloren. Wäre es nun nicht das beſte, die entzückende Frau ſelbſt zu pfänden? Auf Lebenszeit! Wenn dieſe elegante, graziöſe Erſcheinung ſeine neueſten Pariſer Hüte und Roben tragen würde, ſo wäre das für den Modebaſar Auguſt Schulze eine Bombenreklame.

Auch Hella Renate war von dem gefürchteten Gläu- biger angenehm enttäuſcht. Sie ſchämte ſich ehrlich vor ihm. Und ſchüchtern wie in den ſorgloſen Tagen ihrer Dresdener Mädchenzeit ſagte ſie: „Seien Sie mir nicht böſe, Herr Schulze. Ich werde nun doch ſingen, und Sie ſollen das ganze Geld haben. Ich kann ja mein goldenes Geldtäſchchen verkaufen, das ich von einer Pariſer Verwandten habe, und der Erlös wird mich einige Zeit über Waſſer halten.“

Auguſt Schulze bat ſich Bedenkzeit aus. Nur aus dem Grunde, weil er ſo gerührt war, daß er kaum reden konnte.

Am nächſten Tage kam Herr Schulze wieder und bat Hella Renate um ihre Hand.

In der Zwiſchenzeit hatte er dreihundert Mark für Telegramme ausgegeben, um ſich über der Gräfin Vor- leben zu erkundigen. Die Auskünfte fielen zu ſeiner vollſten Zufriedenheit aus.

Hella Renate zögerte ein wenig. Sie hatte ſich ſchon einmal ſchnell verlobt und verheiratet und ſehr trübe Erfahrungen dabei gemacht. Doch als fie dem Be- werber näher in die Augen blickte, ſagte ſie beruhigt ja.

So wurde aus der Gräfin Hella Renate v. Fichten- kron, geborene Müller wieder eine bürgerliche Frau Helene Schulze.

2

Die erſte Induſtrieſtadt Chinas. Bilder aus Kanton. Von E. E. Weber.

2 2 Mit 12 Bildern. Nachdruck verboten.)

Dis erſte Induſtrieſtadt Chinas kann mit vollem Recht die Hauptſtadt der ſüdlichſten Küſtenprovinz Kanton oder, wie die einheimiſche Bezeichnung lautet, Rwang-tihou-fu genannt werden. Die Induſtrie Kan- tons iſt ſehr mannigfach. Sie erſtreckt ſich auf die Seidenweberei und Seidenſtickerei, Borten? und Schnurenfabrikation, Färberei und Appretur, Lack- waren- und Papierfabrikation, Holz- und Elfenbein- ſchnitzerei, Möbelſchreinerei, Glasbläſerei und Stein- ſchleiferei. Außer dem Arbeiterheer in der Stadt ſelbſt beſchäftigen ſich noch zahlreiche Dörfer in der Umgebung mit der Herſtellung von Seidenſtoffen, Metallwaren und Porzellangeſchirr. Alle dieſe Induſtriezweige ſind von dem europäiſchen Einfluß faft unberührt geblieben, ſo daß ihre Erzeugniſſe ganz überwiegend den rein chineſiſchen Zuſchnitt aufweiſen.

Kanton, das gegen 800,000 Bewohner zählt, liegt am linken Ufer des Perl- oder Kantonfluſſes, der durch die Bocca-Tigris genannte Ausbuchtung in die Ranton- ſtraße mündet, die einen Ausläufer des Südchineſiſchen Meeres darſtellt. Da Schiffe von mehr als 3, Meter Tiefgang nicht bis nach Kanton hinaufkommen können, ſo iſt als ſeine Hafenſtadt das 50 Kilometer weiter unterhalb gelegene Whampoa aufgeblüht, in dem ſich auch der Sitz des Zollamtes, der Marineakademie und

196 Die erſte Induſtrieſtadt Chinas. a nn

Blick auf das Straßengewirr Kantons.

des Torpedode- partements, ſo- wie die großen ſtaatlichen Oocks befinden. Kanton wird von einer 10 Ki- lometer langen und 12 Meter hohen Mauer umgeben und zerfällt in die dem Fluß zuge- kehrte Neuſtadt und die durch Mauer und Gra-

ben von ihr getrennte, fünf Sechſtel der Geſamt— fläche einnehmende Tatarenſtadt, von der aber

der nördliche Teil zumeiſt Ackerland iſt. Die eigent- liche Gefchäfts- gegend iſt die Neuſtadt. Zahl- loſe enge Gäß- chen mit ein- ſtöckigen, in der Regel gemauer- ten Häuſern drängen ſich hier zuſammen. Der Platzmangel hat die Bevöl-

Eine Kanalſtraße.

—— .

2 Von E. E. Weber. 197

kerung gezwun⸗ gen, in dem Ge⸗ wirr von flachen Kanälen, die das Ufergelände durchkreuzen,

Pfahlbauten zu errichten und faſt bis in die Mitte des Stro- mes hinein ver- ankerte Boots- häuſer hinaus- zuſchieben.

In der Waſ-

ſerſtadt, wie een

man dieſen Teil Kantons nennt, wohnen die Schiffer, die Induſtriearbeiter und die Kleingewerbetreibenden.

Beſonders aber ſind hier die Handwäſche- reien vertreten. Je vier bis acht Männer arbei- ten in ihnen bis in die Nacht hin- ein. Zuerſt wer- den die Wälche- ſtücke in kaltes Waſſer gelegt, dann ausgerun- gen, mit Sei- CFC fenlöſung be—

Vor der engliſchen Bruͤcke. ſtrichen, zuſam⸗

198 Die erſte Induſtrieſtadt Chinas. u

mengerollt, jetzt auf eine Steinplatte gelegt und darauf mit ſtarken Holzſchlegeln geſchlagen. Dieſes Schlagen der Wäſche verurſacht einen durchdringenden Lärm. Iſt die Wäſche ordentlich durchgearbeitet, jo wird ſie hoch emporgeſchwungen und an der Kante der Stein- platte ausgeſchlagen. Nun wandert ſie in die Koch- bottiche, die auf keſſelartigen eiſernen Schalen ſtehen. Die Schalen ſind in der Erde eingemauert und werden mit Holzkohle geheizt. Ein Kochbottich faßt über 300 Liter Waſſer und nimmt gegen hundert Wälche- ſtücke auf. Nach dreiſtündigem Kochen wird die Wäſche herausgeholt, zunächſt in warmem, danach in kaltem Maffer geſpült, geblaut und getrocknet. Für jedes Wäſcheſtück, mag es nun ein Bettlaken, Hemd oder Taſchentuch ſein, erhält die Wäſcherei nach unſerem Gelde fünf Pfennig.

Die Bewohnerſchaft der Waſſerſtadt, die etwa 80,000 Bootshäuſer zählt, wird auf 100,000 Köpfe geſchätzt.

Ein Gang durch die Straßen Kantons, und zwar der Altſtadt, wo ſich der Palaſt des Generalgouverneurs, die Reſidenz des Tatarengenerals, das Rung-fu-tje- kollegium, die Prüfungshalle, der kaiſerliche Tempel, die Fünfſtockpagode, 120 andere Tempel und mehrere buddhiſtiſche Klöſter befinden, offenbart das regſte ge- ſchäftliche Treiben. Überall find Schilder, Inſchriften, Anſchläge und Bekanntmachungen an den Häufern ſichtbar. Gaſthäuſer und Teebuden wechſeln mit Läden aller Art ab. Da in Kanton die Provinzialprüfungen abgehalten werden, die zu dem Eintritt in den Zivil- dienſt berechtigen, ſo beſteht eine Straße aus lauter Bücherläden. Die Häufer der Mittelklaſſe haben nach der Straße zu eine hohe Mauer mit einer Tür und da- hinter einen kleinen unbedeckten Hof mit einem Brunnen,

Von E. E. Weber.

ein paar blühen- den Sträuchern oder auch einem Rebenſpalier.

Vom Hof aus führen Türen in die zu beiden Seiten liegenden Stuben. Den Ab- ſchluß des Hofes nach hinten bil- det die Familien- ſtube.

Auch die Häu- ſer der Reichen ſind zumeiſt nur

Bauer aus der Tatarenſtadt.

einſtöckig. Dagegen ſind ſie geräumiger und ſchließen mehrere Höfe und Gärten ein, in denen in Kübeln

er

Chineſiſcher Student.

Zwergbäume ge- zogen werden, und die oftmals künſtliche Grotten und kleine Teiche mit Fiſchen ver- ſchönen. Die ge- gipſten Wände dieſer Häuſer ſind ziemlich hoch und mit Vögeln, Blu- men oder Sze— nen aus Sage und Geſchichte be- malt. Die Dach- balken find ge-

200 Die erſte Induſtrieſtadt Chinas. Do

ſchnitzt, die Fußböden mit bunten Flieſen belegt. Die Zimmer ſind mit geſchmackvollen Bildhauerarbeiten und Ebenholzſchnitzereien und mit Gefäßen aus Por- zellan, Bronze und Silber ausgeſtattet.

Von Kulis gezogene Rikſchahkarren durchſauſen ununterbrochen die Straßen, zahlreiche Händler machen durch Ausrufen oder das Klingeln mit einer helltönenden Schelle auf ihre Waren aufmerkſam, Schuſter, die Leder, Nadeln, Zwirn und Wachs in einem Kaſten bei ſich tragen, beginnen auf offener Straße ihre Flickarbeit, und die Garküchenhändler, deren Speiſen einen fchar- fen Olgeruch verbreiten, werden von ganzen Haufen Appetitverſpürender umſtanden, die ſich für wenige Käſch einen Leckerbiſſen kaufen.

Am meiſten drängt ſich der Verkehr auf den ver- hältnismäßig ſchmalen Brücken zuſammen, von denen einige während der Nacht durch ein Gitter abgeſchloſſen und erſt am Morgen geöffnet werden.

An der nördlichen Grenze der Tatarenſtadt herrſcht die ländliche Bevölkerung vor. Die Häuſer dieſer Klein- bauern und Farmer, die Reis und Gemüſe anbauen, haben nur einen einzigen Wohnraum. Die Wände beſtehen aus rohem Mauerwerk, darüber ſteigt das Ziegeldach auf, das auf tannenen Sparren ruht. Fenſter gibt es in dieſen Häuſern nicht, dafür ſind in das Dach ein paar EGlasſcheiben oder durchſichtige Muſcheln eingefügt, die ein ſchwaches Licht durchlaſſen. In der Stube befinden ſich Bettſtellen und Pritſchen, ein Holztiſch, irdene Töpfe, eiſerne Keſſel und ge— wöhnlich auch die Hühner und Schweine.

Zur Zeit der Prüfungen wimmelt Kanton von Studenten, denn der Weg zu Amt und Würden führt auch hier durch den Examenſaal. Akademiſche Grade ſind ſo begehrt, daß viele, denen es anfangs nicht

a

Von E. E. Weber.

gelingt, einen ſol- chen zu erreichen, ſich Jahrzehnte hindurch immer wieder darum be- mühen. Nicht die Reichen, ſondern die Gelehrten ge- nießen das höchſte Anſehen. Wenn man auch heute daran geht, das Unterrichtsweſen umzugeſtalten, ſo bewegen ſich die höheren Prüfun-

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Prieſter beim Einſammeln von Gaben.

gen doch noch immer in den hergebrachten Bahnen. Der Urquell alles Wiſſens ſind die Klaſſiker. Bei den

Chineſiſche Amme.

Aufſätzen, die die Prüfungskom- million zur Be- arbeitung auf- gibt, kommt es nicht darauf an,

ſelbſtändiges

Denken zu bewei⸗ ſen, die Haupt- ſache iſt vielmehr, möglichſt viele Stellen aus den Werten der Klaſ- ſiker in die Be- arbeitung hinein- zuverflechten und

202 Die erſte Induſtrieſtadt Chinas. 2

dadurch die Be- leſenheit darzu- tun. Die Vor- bereitung iſt da- her auch im we- ſentlichen Ge- dächtnisübung. Auch gibt es keine verſchie- denartige Bil- dung. Dasjelbe Examen be- fähigt zum rich- terlichen, ärzt- Kleine Mädchen auf einem Schulſpaziergang. lichen und mili- täriſchen Beruf. Die vier Grade, die erteilt werden, ſind folgende: 1. Syntſchi oder aufblühendes Talent, weil dieſer Grad künftige Er- folge verheißt; 2. Kutſch, der be- förderte Mann; 35. Tſintſe, vor- gerückter Doktor und 4. Hanlin. Wer dieſen Grad erlangt, wird als Mitglied der kai- ſerlichen Akade- mie eingeſchrie- ben und erhält ein Gehalt. Wie erwähnt, | | beſitzt Kanton Junge Schoͤnheit aus den höheren Ständen.

—— ET Dr v |

D Von E. E. Weber. 203

außer einer gro- ßen Anzahl von Pagoden meb- rere buddhiſtiſche Klöſter. Die mei- ſten der Kloſter- brüder werden u. 1 ſchon als Kinde 5 von ihren Eltern . zum Kloſterleben beſtimmt oder ſie werden vom Klo- ſter gekauft, um die entſtehenden Lücken auszufül- len. Prieſter, die in ſolchen Anſtalten erzogen worden ſind, können in allen Klöſtern das Gaſtrecht fordern, wenn ſie ein von dem Abt ihres Heimatkloſters unterzeichnetes Zeugnis porwei- ſen. Zur Beitrei- tung des Lebens- unterhaltes un- ternehmen die Mönche und Prie- ſter von Zeit zu Zeit Streifzüge in die Stadt, um fromme Gaben einzuſammeln. Einer von ihnen

Eine chineſiſche Chriſtin. ſchlägt bei jedem

204 Die erſte Induſtrieſtadt Chinas. 2

Schritt auf das Gong, um die Aufmerkſamkeit auf ſich zu lenken, während die anderen die Geſchenke an Reis, Ol und kleiner Münze in Empfang nehmen, die ihnen von freigebigen Händen geſpendet werden.

Wie überall in China, ſo ſpielt ſich auch in Kanton das Frauenleben in erſter Linie in der Häuslichkeit ab. Mädchen werden bei der Geburt mit ſehr mißgünſtigen Augen betrachtet, da das ganze Sehnen eines chinefi- ſchen Familienvaters auf männliche Nachkommen ge- richtet iſt. In ärmeren Familien zieht man kaum jemals mehr als zwei Mädchen auf. Die überſchüſſigen liefert man entweder an die Findelhäuſer ab oder man verkauft fie an Familien mit Knaben als deren zu- künftige Ehegattinnen. Im übrigen aber ſind die Chineſinnen auch zu ihren Mädchen liebevolle Mütter. Drollig erſcheint es uns, daß die Kinder ſchon vom erſten Jahr an wie Erwachſene gekleidet werden.

Sind die Mädchen herangewachſen, ſo lernen ſie Kochen, Waſchen, Spinnen und Nähen. Außerdem müſſen fie frühzeitig alle die Berbeugungen und Begrüßungen üben, die für ein weibliches Weſen unerläßlich ſind. Sie werden nur in Gewänder von ſolcher Farbe ge- kleidet, denen man eine gute Vorbedeutung zuſchreibt, wie Gelb, Rot und Grün. Die geiſtige Ausbildung der Mädchen wird nur wenig gepflegt, und die große Mehrzahl beſucht nie eine Schule. Auch die Töchter der höheren Stände, die ſich vielfach durch die Fein- heit der Geſichtszüge auszeichnen, erhalten nur einen geringen Privatunterricht, der ſich auf Leſen, Malen und Sticken erſtreckt. Gleichwohl find die Jugendjahre für das chineſiſche Weib die glücklichſten. Es bricht zwar unter den Schweſtern einer Familie hin und wieder ein klei- ner Streit aus, weil die ältere vielleicht eine goldene Spange im Haar trägt, während ſich die jüngere mit

2 Von E. E. Weber. 205

Bambusſchmuck begnügen muß, aber die Einigkeit iſt bald wiederhergeſtellt, und in der nächſten Viertelſtunde ſchleckt man gemeinſam von der beliebten Birnenmarmelade.

Die Verlobung und Verheiratung erfolgt durch Ver- abredung der Eltern. Trotzdem fehlt es nicht an Liebe- leien, und ſo kommt es vor, daß ſich ein Student in ſeine ſchöne Nachbarin verliebt und auf ſie die N dichtet:

An dem Fluß am Tor

Wohnt die holde Maid,

Trägt den Ring im kleinen Ohr, Trippelt fein im Kleid.

Weiß und rot glänzt das Geſicht, Schwarzes Haar das Haupt umflicht. Wenn doch in dem Mädchenflor Dich als Braut man mir erkor!

Das Verkrüppeln der Füße beſchränkt ſich zumeiſt auf die Mädchen der reichen Familien. Dieſe klein- füßigen Frauen ſtützen ſich beim Gehen auf einen Stock oder ein Kind oder fie halten ſich, wenn es die Mittel ihres Ehemannes erlauben, eine großfüßige Sklavin, von der ſie ſich auf dem Rücken tragen laſſen.

Gebildeter als der Durchſchnitt ſind die chriſtlich erzogenen Frauen. Auch läßt man ihnen größere per- ſönliche Freiheiten. Jedoch iſt ihre Zahl verhältnis— mäßig nur gering, wenn auch für die Zukunft weitere Fortſchritte zu erwarten ſind.

Die Fremdenniederlaſſung befindet ſich auf der Inſel Schamien. VUrſprünglich war fie eine bloße Schlammbank, doch wurde fie von der chineſiſchen Regierung mit erheblichen Koſten verfeſtigt. Von dem Gelände erhielten die Engländer vier, die Franzoſen ein Fünftel. Unter den Engländern haben ſich auch Deutſche, Holländer und Amerikaner niedergelaſſen.

Mannigfaltiges.

3 Nachdruck verboten.) Originale unter den nordamerikaniſchen Präſidenten. Zu dieſen gehört in erſter Linie der ſiebente Präſident, Andrew Zadfon. Er ſtammte aus den einfachſten Verhältniſſen und blieb bis an fein Lebensende ein richtiges „Rauhbein“. Volkstümlich wurde er im Fahre 1815, als er einen Einfall der Creekindianer zurückſchlug, wobei er ſich ſelbſt am Nah- kampfe beteiligte und die Rothäute mit einer großen Streitaxt ſcharenweiſe vor ſich her trieb. Ebenſo zeichnete er ſich im Kampfe gegen die Seminolen in Florida aus. Hier erwarb er ſich den Beinamen „Old Hickory“, mit dem er ſich auch ſpäter als Präſident am liebſten anreden ließ. Von guten Am- gangsformen hatte Jackſon keine Ahnung. Am liebſten er mit ſeinem Taſchenmeſſer. Suppen tunkte er mit Hilfe von Brotſtücken aus. Am Tage feiner Amtseinführung als PBrä- ſident, 6. September 1828, bewirtete er im Weißen Hauſe jeden, der genug Ellbogenkraft beſaß, um ſich in die Feſtſäle einzudrängen. So wurde aus dem feierlichen Bankett bald ein wüſtes Trinkgelage, dem die koſtbarſten Teppiche und Möbel zum Opfer fielen. An dieſem Tage wurden aus dem Weißen Hauſe nicht weniger als fünfzehn wertvolle Gemälde geſtohlen. Die fremden Diplomaten pflegte er mit der Pfeife im Munde in der Küche zu empfangen, wo er ſich am Feuer Kartoffeln briet. Natürlich hatte ihn die gute Geſellſchaft der Bundeshauptſtadt Waſhington wegen feiner offenbaren Miß achtung aller Regeln des guten Tons ſehr bald in die Acht erklärt. Damen beſuchten ſeine Bälle nie. Nur vor der Gattin des franzöſiſchen Geſandten d' Artoille empfand er Reſpekt. Dieſe hatte ihn nämlich einmal, als er ihren Salon mit ſchmutzigen Stiefeln und in einer zerriſſenen Reithoſe betrat, durch ihre Diener einfach hinauswerfen laſſen.

2 Mannigfaltiges. 207

Kurz vor ſeinem Rücktritt gab dieſes Original noch eine Geſellſchaft, zu der jeder Geladene fein eigenes Meſſer mit- bringen mußte, um ſich ſelbſt ein Stück von dem auf der Tafel aufgeftellten Rieſenkäſe abſchneiden zu können. Bei dieſem „Käſefeſt“ wurden nur noch dicke Brotſchnitten und Schnaps in Flaſchen gereicht!

Eine ähnliche Figur war Andrew Johnſon, der fieb- zehnte Präſident. Er war zuerſt Schneidergeſelle und erhielt von ſeiner Frau Unterricht im Leſen und Schreiben. Doch bald nahm er lebhaften Anteil an der Politik, und Glück und diplo- matiſches Geſchick brachten ihn ſchnell vorwärts. Als Präſident war er beſtechlich, liebte zweifelhafte Geſellſchaft und ebenfo- ſehr den Trunk. Bei ſeinen Agitationsreden paſſierte es ihm des öfteren, daß er umfiel und fortgeſchafft werden mußte. Bezeichnend für ſeine Unſauberkeit iſt es, daß nach ſeiner Amtszeit das Weiße Haus erſt von Ungeziefer gereinigt werden mußte. | Der damalige engliſche Geſandte in Waſhington, Lord Walſer, ſtand ſich mit Zohnfon fo ſchlecht und hatte fo häufig ernſte Konflikte perſönlicher Natur mit ihm, daß er ſchon mehrmals bei ſeiner Regierung ſeine Abberufung beantragt hatte, jedoch ſtets vergebens. Da ſchickte er eines Tages einen neuen Abberufungsantrag nach London, und in einem be— ſonderen Umfchlag fügte er ein Papptäfelchen bei, auf dem drei nicht näher zu bezeichnende Tierchen in breitgedrücktem Zuſtande aufgeklebt waren. Darunter ſtanden die Worte: „Dieſes Ungeziefer iſt einem engliſchen Lord bei ſeinem letzten Beſuche beim Präſidenten Johnſon auf den Rock gekrochen.“ Die Königin Viktoria von England ſoll dieſen augenfchein- lichen Beweis von der Berechtigung des Antrages ihres Ge- ſandten herzlich belacht haben. Lord Walſer wurde darauf in der Tat abgelöſt.

Am 5. März 1877 wurde General Burchard Hayes Präſident, ein Mann, der ſich nur von einer einzigen Perſon beeinfluffen ließ von feiner Frau. Hayes war tatfächlich der vollkommenſte Pantoffelheld. Noch als Bräutigam hatte er einen guten Tropfen ſehr geliebt, aber als Ehemann trank

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er nur noch Waſſer. Während feiner Amtszeit ſoll es im Weißen Hauſe nur zu den großen Feſtlichkeiten Wein gegeben haben. In Waſhington ſcherzte man damals: „Bei Hayes fließt das Waſſer wie Champagner.“ Auf ſeinen dienſtlichen Reifen begleitete ihn feine Gattin ftets, und zu dem Gouver- neur von Ohio ſoll er einſt bei einem Beſuche geſagt haben: „Heute komme ich Gott ſei Dank ausnahmsweiſe allein.“ Dabei war er perſönlich ſehr tapfer und kaltblütig. W. K.

Zweikämpfe zwiſchen Mann und Weib. Zu den zahl- reichen eigenartigen Rechtsmitteln des Mittelalters gehörte bekanntlich auch der gerichtliche Zweikampf zwiſchen Mann und Weib, bei dem es ſich faſt ſtets um ein durch Zeugen- ausſagen nicht feſtzuſtellendes ſchweres Vergehen des Mannes gegen die Perſon ſeiner Gegnerin handelte. Wenn die Frau den Reinigungseid des Angeklagten beſtritt, dann mußte es zum Kampfe kommen, und zwar durfte die Klägerin in dieſem Falle nicht von dem ſonſt dem zarten Geſchlecht eingeräumten Vorrecht, ſich durch einen waffenerprobten Mann vertreten zu laſſen, Gebrauch machen, ſondern ſie mußte ihre Sache ſelbſt ausfechten. Jedoch wurden ihr als dem ſchwächeren Teile für den Kampf bedeutende Vorteile eingeräumt. Ihr Gegner mußte bis zur Mitte des Leibes in eine Grube treten und erhielt als Waffe nur einen kurzen eichenen Knüttel. Die Frau dagegen durfte vollſtändig frei um dieſe Grube kreiſen und ihren Feind mit einer Art Totſchläger, einem in ein Tuch eingebundenen Steine, zu verwunden oder zu be— täuben ſuchen.

Meiſt wurde bei dieſen Zweikämpfen der eine Teil nur kampfunfähig gemacht, ohne daß gerade ſchwerere Verletzungen vorkamen. Doch trat dann das mittelalterliche, ſo überaus grauſame Strafrecht gegen den unterliegenden Teil mit aller Strenge in Kraft. Nach dem Augsburger Stadtrecht wurde der oder die Beſiegte zum Beiſpiel in derſelben Grube, um die der Kampf ſtattgefunden hatte, lebendig begraben. Be- ſonders günſtig für die Sache der Frauen war das Stadtrecht von Freiſing, in dem es hieß: „Siegt der Mann, ſo ſoll man der Frau die Hand abſchlagen. Siegt aber die Frau, ſo fällt

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des Mannes Kopf. Und dieſes deshalb, weil der Frau un- geſchütztes Recht hier offenbar vom ſtärkeren Manne zu böſem Willen verletzt iſt.“

Daß dieſer Zweikampf, der ſich, wie alte Chroniken be- richten, oft ſtundenlang hinzog, etwas Unheimliches an ſich hatte, wird jeder verſtehen, wenn er ſich die einzelnen Ab- ſchnitte dieſes Ringens nur einigermaßen vergegenwärtigt. Oft ſoll es dem Manne in der Grube gelungen ſein, das ihn umkreiſende Weib zu packen und zu ſich hineinzuziehen. Dann war das Schickſal der Frau beſiegelt, da nichts ihrem Gegner verbot, ſie mit den Händen zu erwürgen. Aber die Augsburger Stadtchronik weiß auch von mehreren Fällen zu berichten, in denen das ſiegreiche Weib dem bewußtloſen Manne mit den Stiefeln das Geſicht bis zur Unkenntlichkeit zerſtampfte. Der letzte dieſer furchtbaren Zweikämpfe hat nachweislich im Jahre 1511 in Brüſſel ſtattgefunden. Er endete mit dem Siege des Mannes, und der Frau wurde als dem unterliegenden Teile nach geltendem Recht die linke Hand abgeſchlagen.

Die neuere Zeit hat mit derartigen ſonderbaren „Beweis- mitteln“ natürlich vollſtändig aufgeräumt. Trotzdem aber geſchieht es auch heute noch, daß Mann und Weib ſich nach vorher vereinbarten Bedingungen mit der Waffe in der Hand gegenübertreten, ganz abgeſehen von jenen zahlreichen Duellen, die beſonders in Frankreich zur Zeit der großen Revolution, als die modernen Anſchauungen von der politiſchen Gleich- berechtigung der Frau aufkamen, an der Tagesordnung waren.

Viel beſprochen wurde im Fahre 1899 in Verona der Zweikampf der verwitweten Gräfin Marzinelli mit dem amerikaniſchen Oberſten Walker. Dieſer hatte über die Gräfin, die er vergeblich mit Heiratsanträgen verfolgte, die ſchlimmſten Gerüchte verbreitet, und dies in einer ſo raffinierten Weiſe, daß der Schein gegen die Dame ſprach und die vornehme Welt ſich völlig von ihr losſagte.

Als der Verleumder eines Tages in einem Cafe ſaß, über- fiel ihn die Gräfin mit einer Reitpeitfche und ſchlug ihm mehr- mals über das Geſicht. Nach tagelangen Verhandlungen, die der Rechtsbeiſtand der Gräfin führte, wurden die Bedingungen

1911. III. 14

210 Mannigfaltiges. a für ein Piftolenduell feſtgeſetzt. Hierzu konnte der Amerikaner nur durch die Drohung des Anwalts gezwungen werden, daß die Weigerung des Oberſten in allen italieniſchen Zeitungen als offenbare Feigheit gebrandmarkt werden würde. Der Ausgang dieſes Duells war wirklich ein Gottesurteil. Nach viermaligem Kugelwechſel erhielt Walker eine Kugel durch die Bruſt, und jetzt endlich geſtand er, alle jene Verleumdungen gegen die Gräfin böswillig erfunden zu haben.

Mit bedeutend mehr Schwierigkeiten war ein Zweikampf verknüpft, deſſen Vorſpiel im Sommer 1909 an Bord eines deutſchen Dampfers auf der Reife nach San Francisco ſtatt- fand. Auf dem Dampfer befanden ſich unter den Paſſagieren auch eine ſehr exzentriſche ältere Engländerin und ein reicher Irländer. Dieſe beiden gerieten eines Abends im Salon in einen fo heftigen Wortwechſel, daß der Irländer zur Empörung aller Anweſenden der Dame ins Geſicht ſchlug, wobei ſein fanatiſcher Engländerhaß ſich noch in ein paar Worten Luft machte, die mindeſtens ebenſo beleidigend wie die Ohrfeige waren. Die waffengeübte Dame verlangte auf der Stelle Genugtuung. Man wollte die Sache auch ſofort ausfechten, aber der Kapitän widerſprach. An Bord ſeines Schiffes dürfe er keine derartigen Ungeſetzlichkeiten dulden. Am nächſten Tage begegnete der Dampfer einem amerikaniſchen Viehtransport— ſchiff. Und auf dem Deck dieſes alten, übelduftenden Ameri- kaners fand dann das Duell ſtatt. Es verlief unter den Augen der Beſatzungen und Paſſagiere beider Schiffe trotz dreimaligem Kugelwechſel unblutig, worauf der Zrländer um Entſchuldi- gung bat und die Gegner ſich ausſöhnten. Das beſte Geſchäft bei dieſem Zweikampf machte der Kapitän des Viehdampfers. Denn er hatte ſich für die Benützung ſeines Fahrzeugs als Kampfplatz von den Parteien volle fünfhundert Dollar be-

zahlen laſſen. W. K. Neue Erfindungen: I. Kragen- und Manfdetten- rundemaſchine. Unſere Herrenwelt verlangt eine

tadelloſe Wäſche, namentlich Kragen und Manſchetten müſſen ſchneeweiß und im ſtärkſten Hochglanze leuchten. Mit dem Bügeleiſen iſt es der geſchickteſten Hausfrau, der geübteſten

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Plätterin nicht möglich, eine derartige tadellofe Wäſche herzu- ſtellen, und vergeblich bemühen ſich unſere Frauen, ſchneeweiße Kragen mit Hochglanz zu erzeugen, die noch dazu vollſtändig rund gebügelt ſein ſollen. Wir verraten der Hausfrau, daß eine derartig hochpolierte, vollſtändig runde Kragen; und Manſchettenwäſche nur mit Hilfe von Spezialmaſchinen zu erzielen iſt, wie dieſe von der Firma Gebr. Poensgen in OQüſſel- dorf-Rath in den Handel gebracht werden.

Kragen: und Manſchettenrundemaſchine.

Unfere Abbildung zeigt eine Kragen und Manfchetten- rundemaſchine, die fo leiſtungsfähig iſt, daß eine einzige Ma- ſchine für eine große Wäſcherei vollkommen genügt. Sie be- ſitzt eine Rundewalze nebſt Stellſchrauben, mit denen die Handhabung äußerſt einfach und leicht zu erlernen iſt.

Das Ausſehen der damit bearbeiteten Wäſche iſt tadellos und kann niemals mit einem Bügeleifen erreicht werden, da die notwendige, ganz gleichmäßige Behandlung nur mit dieſer Maſchine möglich iſt.

II. Neue Salzmühle. Unter den hauswirtſchaft- lichen Artikeln hat jüngſt eine praktiſche Neuheit berechtigtes Aufſehen erregt, ein neuer Salzbehälter für die Küche, der

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in ſeinem unteren Teile eine Walze aus Hartholz beſitzt, die durch einen außerhalb befindlichen Griff derartig gedreht werden kann, daß das im Behälter befindliche Salz Wh einen Schlitz in fein zerteiltem Zuſtande heraustritt.

Vom hygieniſchen Standpunkte iſt dieſe Einrichtung ſehr

Neue Salzmuͤhle.

empfehlenswert, da das Salz niemals mit unſauberen Fingern in Berührung kommen kann, wie dies bei den bisherigen Salzbehältern wohl ſehr leicht der Fall war. Praktiſch und brauchbar iſt die Vorrichtung ohne Zweifel, denn in den Salz- gefäßen ballt ſich das feuchte Salz zuſammen, erhärtet zu kleineren oder größeren Klumpen und Stücken und muß beim Gebrauch mühfam, meiſt höchſt unhygieniſch, mit der Hand zerdrückt werden, während die Hartholzwalze dieſe Prozedur

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automatiſch vollzieht, das Salz fein zerreibt und der Hausfrau ſauber und appetitlich auf einem kleinen Anterſatz überreicht. Die Salzmühle iſt ein Fabrikat der Wächterbacher Steingut- fabrik in Schlierbach und wird in blau Delft, blau Karo, Creme mit Gold uſw. gefertigt.

Ein begehrenswerter Blumenſtrauß. Eine bekannte franzöſiſche Schauſpielerin hatte in Genf mehrere Gaſtrollen gegeben, bevor ſie ein dauerndes Engagement in Paris antrat. Sie hatte mit ihren Liebhaberinnenrollen ſehr gefallen, und ſo war es nicht gerade auffallend, daß während ihres letzten Auftretens in Genf ein elegant gekleideter Herr von verbind- lichen Manieren ſich bei ihr Einlaß verſchaffte, um ihr perfön- lich für die genußreichen Stunden zu danken, die ſie ihm be— reitet habe. Dabei erbat er ſich die Erlaubnis, ſie am anderen Morgen perſönlich vor der Abfahrt auf dem Bahnhofe noch einmal begrüßen zu dürfen.

Er erſchien auch richtig auf dem Bahnſteige mit feinem Diener, der ein ungeheures Bukett trug, jo groß wie ein Wagen- rad, aber aus ſchlichten Gartenblumen, wie man ſie in Privat- gärten ſelbſt zieht, kunſtlos zuſammengefügt. Der neue Be— wunderer der jungen Schauſpielerin teilte ihr mit, er habe in Paris einen Bruder wohnen, mit dem ihn zärtliche Liebe ver- binde. Dem habe er ihre bevorſtehende Ankunft telegraphiert, und ſein Bruder werde ſie gleich beim Eintreffen auf der Stätte ihrer neuen Wirkſamkeit begrüßen. Er ſei ein einflußreicher Bürger der Seineſtadt, der ſowohl zur Preſſe wie zu den Theaterdirektoren und zu den Behörden wertvolle Beziehungen habe und ihr vielleicht nützen könne. |

„Übrigens,“ fügte er hinzu, „wird ſchon der bloße Anblick dieſes Blumenſtraußes ihn für Sie einnehmen. Er wird näm- lich in dieſen Blumen dieſelben erkennen, die wir ſchon zur Zeit unſerer glücklichen Kindheit im hieſigen Garten unſeres Elternhauſes gepflegt haben.“

Die Künſtlerin nahm den Rieſenſtrauß dankbar in Empfang, ſtieg in ihren Zug und fuhr davon.

In Paris erwartete fie wirklich auf dem Bahnhofe ein Herr, der, ſobald er ihr Bukett erblickte, auf ſie losſteuerte.

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Er ſtellte ſich ihr vor und geleitete ſie nach dem Ausgang des Bahnhofes, wo eine hochfeine Kutſche ihrer harrte. Der Herr führte ſich ſo leicht und angenehm bei ihr ein, daß ſie bald wie alte Bekannte miteinander verkehrten, wobei immer der Genfer Bruder das verbindende Element zwiſchen ihnen bildete. Der Pariſer ſprach mit warmer Liebe von ihm und erklärte mit einem gerührten Blick auf das unförmige Bukett, ſchon dies Erinnerungszeichen an ſein heißgeliebtes Elternhaus in ihrer Hand genüge, ſie ihm wert zu machen wie eine Schweſter.

Immer wieder nahm der neue Freund Bezug auf das Bukett aus ſeinem elterlichen Garten, bis endlich die junge Dame es ihm zum Geſchenk machte. Da geriet er vor Rührung außer ſich und nahm die Gabe faſt weinend in Empfang. Vor der Tür des Hotels verabſchiedete er ſich von ihr und fuhr mit ſeinem Blumenwagenrade davon.

Wenn die junge Dame aber geglaubt hatte, auf dieſen warmen Empfang werde nun ein ebenfo freundfchaftlicher weiterer Verkehr folgen, ſo hatte fie ſich darin gründlich ge- täuſcht, denn der neue Verehrer ließ ſich nicht wieder bei ihr blicken. Wohl aber erfuhr ſie längere Zeit nachher den wahren Grund, der ihm den „Strauß aus ſeinem elterlichen Garten“ ſo begehrenswert machte. Er war nur das Werkzeug geweſen, um für fünfzigtauſend Franken feinſte Genfer Uhrfedern zoll- frei in Frankreich einzuſchmuggeln. C. D.

Etwas vom Radium. Wer hätte noch nicht von dem neuentdeckten Wunderelement, dem Radium, gehört, dem teuerſten chemiſchen Produkt, das wir beſitzen? Die Gelehrten- welt beſchäftigt ſich unausgeſetzt mit der Erforſchung des Ra- diums bezüglich ſeiner Nutzanwendung, und eine ganze Welt von Wundern tut ſich vor uns auf, je mehr wir uns mit ihm beſchäftigen. Schon feine Gewinnung als Urſtoff an ſich iſt eine wunderbare. Die Erzeugung des Radiums aus der häufig vorkommenden Pechblende iſt eine ſo ſchwierige, daß jede Unze gewonnenen Radiums ein Vermögen darſtellt. Eine Unze Radium (30 Gramm) hat den Wert von zehn Millio- nen Mark.

In London hat ſich nun kürzlich eine Anzahl hervorragender

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Forſcher vereinigt, um eine Radiumfabrik zu gründen. Sie wollen hiervon ſo viel erzeugen, daß ſie Radium verkaufen können. Mehr als fünf bis zehn Gramm oder höchſtens eine Drittelunze glaubt man innerhalb eines Jahres nicht her— ſtellen zu können. Das Radium ſoll dabei auch noch aus der Kohle der Kokosnuß gewonnen werden.

Doktor Shober in Philadelphia hat nämlich die Entdeckung gemacht, daß die Kokosnußkohle die Eigenſchaften des Radiums aufzuweiſen hat. zſt es auf dieſe Weiſe ebenfalls möglich, Radium zu gewinnen, dann dürfte es im Preiſe erheblich billiger werden, freilich immer noch teuer genug bleiben für gewöhn- liche Sterbliche.

Ein anderer amerikaniſcher Gelehrter, Doktor Stillman Baileys in Chicago, ſoll auch eine Subſtanz entdeckt haben, die Radium enthält, aber ſiebzigmal billiger iſt als das eigent- liche Radium.

Geradezu Wunderkuren ſollen mit Anwendung des Radiums auszuführen ſein. Es ſoll Magenkrebs heilen, überhaupt alle krebsartigen Haut- und Geſchwürkrankheiten, ſogar ein blind- geborenes Kind ſoll in St. Petersburg durch Anwendung von Radium ſehend geworden fein. Auch bei Lungenleiden hat man Heilerfolge überraſchendſter Art verzeichnet. Ja, es ſoll ſogar möglich fein, durch Radium das Leben zu ver- längern, den Altersverfall hinauszuſchieben, mithin alſo den Menſchen zu verjüngen. Radium würde alſo, wäre dieſe Be- hauptung richtig, das Allheilmittel ſein, die Wunderſubſtanz, die der geſamten Menſchheit Segen in Hülle und Fülle bringen würde. Nur ſchade, daß das Mittel ſo teuer iſt!

Selbſt wenn ſich dieſe kühnen Hoffnungen nicht erfüllen ſollten, wird die ſtändige Herſtellung von Radium der Wiffen- ſchaft Material zu neuen Forſchungen geben, die uns weitere Wunderdinge erleben laſſen werden. A. M.

Zeitungſchnurren. Wohl ſelten verbirgt ein Beruf unter ſeiner nüchtern realen Oberfläche ſo viel der Romantik und des zntereſſanten wie das abwechflungsreiche Daſein eines Zeitungsredakteurs. Vorbei iſt die gute alte Zeit, da es genügte, im Exiſtenzkampf des fogenannten bürgerlichen

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Berufs gründlich gejtrandet zu fein, um dann zwiſchen den Allerweltsmetiers eines Sournaliften oder Verſicherungs- agenten ſich zu entſcheiden. Viel, erſtaunlich viel an Wiſſen und Takt, an Erfahrung und vor allem Begabung wird heute von den Männern der Tagesfeder verlangt, und ſchier allzu groß iſt die Verantwortung, die auf den oft ſchwer bepackten Schultern dieſer literariſchen Volksbildner und politiſchen Er- zieher der Nation ruht.

Dafür iſt ihr Beruf immer intereffant und lehrreich ohne- gleichen. Und da der „liebe Leſer“ gewiſſermaßen der kritiſcheſte Kunde des Erzeugniſſes unſerer geſamten Lebenstätigkeit iſt, ſo will ich ihm heute aus der Hexenküche dieſes viel beneideten und noch mehr geſchmähten Berufes einiges vorſetzen, damit er in Zukunft nachſichtiger geſtimmt iſt gegen unſere Fehler und menſchlichen Schwächen, von denen natürlich auch der Redakteur nicht frei fein kann, ſchon weil es der liebe „Druck- fehlerteufel“ durchaus fo haben will.

In einer Reſidenzſtadt findet alljährlich eine große Geflügel- ausſtellung ſtatt, welche regelmäßig von dem landwirtſchafts- freundlichen Monarchen ſelbſt feierlichſt eröffnet wird. Ich höre noch den armen Kollegen, der dieſe Revue über das wahr- hafte und einzig nahrhafte Federvieh kritiſch zu beleuchten hatte, ſchimpfen von wegen der Löſung des ihm auferlegten Hühnermyſteriums. Aber pflichtgetreu vollendete er feinen Feſtbericht, um dann am nächſten Morgen nach den Begrükungs- worten des Ausſtellungspräſidenten, der da ſagte, dieſes Feld der Landwirtſchaft müſſe noch gehörig begackert werden, als wider Willen wirkungsvollſten Schlußſatz, vor Schreck erbebend, zu leſen: „Seiner Majeſtät der König wohnte auch in dieſem Fahre mit feinem geſamten Hofſtaate und umgeben von allen ſeinen Miniſtern und der hohen Generalität dem eierlichen Akte bei. ...“

Aber nicht immer iſt das Treiben des „Teufels im Setz— kaſten“, wie er in Berichtigungen ſo gern genannt wird, derart harmlos und ungefährlich. |

Es war in einer ſtolzen Raiferftadt. Der jugendliche Mon- arch beſtieg in lodernder Sturmeszeit den altehrwürdigen

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Kaiſerthron. Dieſes hiſtoriſche Ereignis mußte natürlich auch von dem offiziellen Amtsblatte der Monarchie gebührend gewürdigt werden, und deſſen mit dem Hofratstitel geſchmückter Chefredakteur ſchwang ſich höchſt eigenhändig in einem dithy⸗ rambiſchen Leitartikel zur pflichtgemäßen Verherrlichung der Größe des jugendlichen Herrſchers auf. Und er begann ſeine ehrfurchttriefende Begrüßungsrede mit dem ſicherlich wir- kungsvollen und politiſch einwandfreien Satze: „Europa zählt einen Monarchen mehr.“ Wer beſchreibt aber das Entſetzen dieſes Federgewaltigen, da er am nächſten Morgen des welt- hiſtoriſchen Tages der kaiſerlichen Thronbeſteigung an der Spitze ſeines Blattes dicht unter dem Zeitungskopf mit dem RNeichsadler aus eigener Feder die unſeligen Worte fand: „Europa zahlt einen Monarchen mehr. ...“

Man hört ſtets nur vom ſprühenden Geiſt des Schrift- ſtellers, und doch ſteht ihm der Redakteur an Schärfe der Dialektik und verſchwenderiſcher Fülle attiſchen Salzes oft in nichts nach. Sein Witz duldet nicht langes Überlegen, die Schlagfertigkeit iſt ihm ſchon durch die Kürze der verfügbaren Zeit zur zweiten Natur geworden. |

In der Redaktion, der ich meine journaliſtiſche Schulung danke, waren viele ſpäter berühmt gewordene Schriftſteller als Redakteure und Tagesſchriftſteller tätig. Unſer Redak- tionsoriginal war der vielgeliebte und mehr noch gefürchtete „ſchöne Max“, der freilich dieſen Beinamen nur ſeiner geradezu verwirrenden Häßlichkeit verdankte. Er war ſtocktaub und ent- behrte feit Jahrzehnten des angenehmen und nützlichen Schmuk— kes der Haare und Zähne. Da brachte ein boshafter Kollege über ihn das niedliche Bonmot in Umlauf, Max habe den Allmächtigen flehentlich um Haare und Zähne gebeten, doch der liebe Gott habe ihm kein Gehör geſchenkt.

Max war ein Lebemann vom reinſten Waſſer und verſtand mit Grazie rieſig viel Geld auszugeben, namentlich geborgtes. Er richtete ſich ſchließlich einen kleinen Großbetrieb zum Zwecke der ſyſtematiſchen Verſchickung von Anleihegeſuchen ein, wo— bei ihm das Adreßbuch die trefflichſten Dienſte leiſtete. Als bei zunehmendem Alter fein Redakteurberuf immer mehr

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durch dieſes mühelos einnehmende Weſen erſetzt wurde, hing ihm ein mißgünſtiger Kollege, der ſich ſeinen Lebenserwerb viel ſchwerer erringen mußte, den klaſſiſchen Beinamen „Nehmo Pumpilius“ an. Max machte dieſer treffenden Verzerrung des geſchichtlichen Königsnamens Numa Pompilius alle Ehre. Als ſeine Situation ganz unhaltbar geworden war, ſandte man ihn zur Erholung von den dräuenden Manichäern als Rorrefpon- denten nach Paris. Aber er trieb es in dem vergnügungsreichen Seinebabel womöglich noch toller und telegraphierte ſchließlich eines Tages an den Verleger des Blattes, man möge ihm ſofort dreitaufend Franken Vorſchuß zur Begleichung einer Ehren- ſchuld ſenden, ſonſt müßte er rettungslos Selbſtmord begehen. Der Verleger, der den Kunden genau kannte, depeſchierte kaltblütig zurück: „Todesart Ihnen überlaſſen. Werden für ſtandesgemäßes Begräbnis ſorgen.“ Darauf lief umgehend die folgende Drahtantwort unſeres braven Max ein: „Für Nachricht beſtens dankend, entſchied mich ſoeben für Alters- ſchwäche .“ |

Und nun ein Hiſtörchen vom leidigen Miß verſtändnis, jenem unvermeidlichen Fallſtrick einer jeden, nicht gerade durch Hexerei gefeiten Redaktion. Das beklagenswerte Opfer der folgenden fatalen Verwechſlung aber war ich ſelbſt, und zwar ſchon in den erſten Tagen meines journaliſtiſchen Werde- gangs. Ich war damals als grüner Neuling der Redaktion ſo erfüllt von dem alleinſeligmachenden Glauben an die hehre Miſſion meines erwählten Berufes, daß ich durch den tragi— komiſchen Ernſt, mit dem ich jedes geringfügige Lokalereignis, vom geſtürzten Droſchkengaul bis zum geringfügigſten Kamin- brand, das mir zur literariſchen Geſtaltung übertragen ward, behandelte, oft die Heiterkeit meiner älteren Berufskollegen erregte. Als nun gar ein unvorſichtiger Hund in einem tiefen Graben, in den er übermütig ſprang, von den nachgebenden Schuttmaſſen verſchüttet wurde und die Redaktion zur genauen Regiſtrierung der eingeleiteten Rettungsaktion mich an Ort und Stelle entſandte, glaubte ich viel eher die Blicke Europas auf mich gerichtet zu ſehen, als wenn mich in ſpäteren Jahren die höchſten Potentaten zum Interview empfingen. Und

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alle fünfzehn Minuten berichtete ich am Telephon mit der Würde eines Kuriers des Zaren der aufhorchenden Redaktion über das Reſultat meiner ſchwierigen Aufgabe. Wohl zehnmal des Tages wurde ich bei ähnlichen Anläſſen ausgeſchickt, um nur erſt einmal das Aushorchen gewiſſenhaft zu lernen. Am Ende der erſten Woche dieſer im wahrſten Sinne des Wortes journa- liſtiſchen La uf bahn überreichte ich dem Verlagsleiter ſtolz wie ein fpanifcher Grande meine erſte Speſenrechnung, die ganze acht Kronen fünfundſechzig Heller betrug. Der Kaſſengewaltige lächelte überlegen, ihm waren ſchon einige Anekdoten von meinem jugendlichen journaliſtiſchen Übereifer zu Ohren ge- kommen. Er überflog mit wichtiger Miene die mehr als ge- wiſſenhafte Aufſtellung meiner zahlloſen Trambahnfahrten und der bei Recherchen den auskunftbefliſſenen Portiers ver- abfolgten kleinen Trinkgelder und meinte dann: „Wegen eines verſchütteten Hundes im Graben dreimal hin und her gefahren?“ wobei er mich kopfſchüttelnd fragte, ob dies nicht etwas unbequem geweſen ſei. Übrigens könne er meine Spefen- nota, ſo leid ihm dies auch tue, nicht ohne weiteres anerkennen. Namentlich die Ausgaben für die merkwürdigen Fahrten wegen des verſchütteten Hundes im Graben könne er unmöglich auf eigene Fauſt verantworten. Aber er wolle ſich dem Schied- ſpruch des Doktors Steinbach unterwerfen, dem ich die Spefen- nota mit den nötigen Erklärungen perſönlich unterbreiten möge. Fände der ſie in der vorliegenden Faſſung berechtigt, ſo wolle er ſie anſtandslos honorieren.

Der argliſtige Spaßvogel verbiß gewaltſam das Lachen, indem er ſich wohl ausmalte, mit welch maßloſem Erſtaunen der Vorſitzende des Penſionsfonds der Journaliſten vereinigung, Doktor Steinbach, ob des ihm zugemuteten Schiedsrichter amts mich und meine luſtige Apothekerrechnung aufnehmen würde.

Aber ich war zu Höherem geboren. Aus der Provinz ſtammend, ſeit einer Woche Zournalift in der Metropole, hatte ich nie im Leben von einem Redakteur Doktor Steinbach gehört, der den Penſionsfonds der Konkordia verwaltete, wohl aber war mir aus der Zeitungslektüre ſeit Jahren der häufig genannte

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Name des Senatspräſidenten am Oberſten Gerichtshof, Doktor Steinbach, geläufig. Ich zweifelte keine Sekunde daran, daß von deſſen ſchiedsgerichtlichem Urteil die Anerkennung meiner erſten Speſennota von acht Kronen fünfundſechzig Heller endgültig abhing. Und ich machte mich ſofort nach dem nahen Juſtizpalaſt auf den Weg.

Der höchſte Richter des Reiches hielt eben, ea mit feinem hermelinverbrämten Talar. eine Senatſitzung ab, als ich ihm durch einen der Gerichtsdiener meine Viſitenkarte als Mitarbeiter des * ** Blattes mitten in die feierliche Ver- handlung dieſer höchſten Inſtanz mit meiner Speſennota überreichen ließ. Man muß die Liebenswürdigkeit gerade der höchſten Behörden und Würdenträger gegenüber der Preſſe kennen, um zu begreifen, daß Exzellenz Doktor Steinbach mich ſofort nach beendigter Sitzung in ſeinem Arbeitszimmer noch in der pompöſen Amtstracht leutſelig empfing. Meine Speſennota hatte ihm ſchon während der Gerichtsverhandlung, wie ich im Zuſchauerraum deutlich bemerken konnte, einiges Kopfzerbrechen verurſacht. Und nun trug ich ihm mit einer ſchönen Empfehlung von unſerem Verlagsleiter meinen ver- zwickten Fall zur Entſcheidung vor und forderte energiſch die Anerkennung meiner Barauslagen von acht Kronen fünfundſechzig Heller.

Der Präſident hörte mich ruhig bis zum Ende an und überflog noch einmal mit der ernſteſten Richtermiene meine Speſenrechnung. Ze ſtürmiſcher ich aber in ihn drang, mir doch durch ſeinen vom Verlage angerufenen Schiedsrichterſpruch zu meinem gefährdeten Rechte zu verhelfen, deſto ängſtlicher wurde der würdige alte Herr, und wiederholt ſah er ſich mit beſorgter Miene um, ob nicht ein Diener in erreichbarer Nähe ſtand. Schließlich aber ſagte er, um ſich vor mir zu retten, mit beruhigendem Wohlwollen: „Gehen Sie unbeſorgt nach Haufe, ich werde Ihre Angelegenheit wärmſtens befürworten!“ And er atmete ſichtlich erleichtert auf, als ich nach einer dank baren Verbeugung die Türklinke im Fortgehen hinter mir niederdrückte.

Am nächſten Tage erkundigte fich die Polizei beim

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Verlagsleiter nach einem jungen Zournaliſten, der von Sei- ner Exzellenz Doktor Steinbach, dem Senatspräſidenten am Oberſten Gerichtshof, durchaus die Anerkennung feiner Spejen- nota von acht Kronen fünfundſechzig Heller hatte erlangen wollen. Ludwig Binder. Der große Glockenmarkt in Niſhnij Nowgorod. Niſhnij Nowgorod, zu deutſch Nieder-Neuſtadt, die Hauptſtadt des gleichnamigen ruſſiſchen Gouvernements, iſt einer der Hauptpunkte des Varenaustauſches zwiſchen Europa und Aſien. Die Stadt, die am Zuſammenfluß der Oka und Wolga liegt, verdankt ihre Bedeutung als Handelsmetropole in erſter Linie den Waſſerverbindungen durch die Wolga und ihre Nebenflüſſe, ſowie durch das ſich daran anſchließende Kanal- ſyſtem. Infolgedeſſen können die Waren einerſeits bis zum Baltiſchen Meer, anderſeits bis zum Schwarzen und Kaſpiſchen Meer verfrachtet werden. Von Wichtigkeit iſt ferner die rege Hausinduſtrie der näheren und weiteren Umgebung.

Niſhnij Nowgorod zerfällt in drei Teile, in die Oberſtadt, die ſich auf dem hohen rechten Ufer der Wolga amphithea- traliſch aufbaut, in die Unterftadt, die ſich am Flußufer hinzieht, und in die Vorſtadt Kunawino, die zwiſchen dem linken Oka- und dem rechten Wolgaufer liegt und mit der Unterſtadt durch eine Pontonbrücke verbunden iſt. Auf dieſer durch die beiden Flüſſe gebildeten Landzunge findet die berühmte Meſſe ſtatt. Sie beſteht ſeit dem Jahre 1817, hatte aber ihre Vorgängerin in der Meſſe von Makarjew, die Zwan der Grauſame im Fahre 1550 einrichtete, um den Handel von der Meſſe der tatariſchen Stadt Arſk abzulenken. Nach dem großen Brande Makarjews wurde fie nach Niſhnij Nowgorod verlegt. Ab-

gehalten wird ſie alljährlich in der Zeit vom 15. Juli bis 10. September.

Zur Unterbringung der Handelsartikel dienen 250 Ambaren oder Warenlager und gegen 6500 Buden. Während Niſhnij Nowgorod ſonſt rund 90,000 Einwohner zählt, ſchwillt feine Bevölkerung in der Meſſezeit auf etwa 200,000 Köpfe an. Ge- handelt werden Pelze und Häute, die Sibirien und Zentral- aſien liefern, Tee und Metalle aus dem Ural. In Rauch-

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waren und Fellen beläuft fi der Umſatz auf mehr als 50 Mil- lionen Mark. Zum Export nach Aſien werden vornehmlich baumwollene und wollene Manufakturwaren auf den Markt gebracht. Der Wert der erſteren beträgt durchſchnittlich 200 Millionen Mark, der der letzteren 60 Millionen Mark. Dazu kommen dann die Erzeugniſſe der benachbarten Haus- und Großinduſtrie. Im Gouvernement Niſhnij Nowgorod ſind über 60,000 Einwohner mit der Herſtellung von Holzarbeiten, von eiſenbeſchlagenen Kiſten bis zum Schiffbau, beſchäftigt. Der Kreis Semenow liefert namentlich Holzlöffel, der Kreis Balachna beſonders Spindeln. Mehr als 70,000 Einwohner arbeiten als Schloſſer und Schmiede, indem ſie Schlöſſer, Meffer und Scheren herſtellen. Die Großinduſtrie betreibt hauptſächlich den Maſchinenbau.

Ein beſonderer Zweig von ihr iſt die Glockengießerei. Auch dieſe Glocken werden auf der Meſſe in Niſhnij Nowgorod zum Verkauf gebracht. Dieſer große Glockenmarkt gewährt einen höchſt wunderbaren Anblick. Mehrere hundert Glocken im Gewicht von wenigen Pfund bis zu zwanzig und mehr Zentner ſind an Gerüſten aufgehängt. Sie wandern zum Teil in den fernen aſiatiſchen Oſten in die buddhiſtiſchen Klöſter, und der Umſatz in ihnen beläuft ſich auf 40 Millionen Mark. Th. S.

Napoleon und die Studenten. Kaiſer Napoleon III. unterdrückte nicht nur Theaterſtücke, die ihm mißfielen, ſondern er ſuchte auch anderſeits gewiſſe Stücke auf die Bretter zu bringen, gleichviel ob ſie bei dem Publikum Beifall fanden oder nicht. Ein Dramatiker, Lemercier mit Namen, erfreute ſich ſeiner ganz beſonderen Gunſt, und als deſſen „Chriſtoph Kolumbus“, ein erbärmliches Machwerk, im Odeon auf- geführt wurde, erklärte Napoleon dieſes Stück, obgleich er es noch gar nicht geſehen hatte, für ein Meiſterwerk. Das kritiſche Studentenpublikum des Quartier Latin wagte jedoch anderer Meinung zu ſein als ſein kaiſerlicher Herr, worauf dieſer ſehr ungehalten wurde.

Drei Abende hatten die Studenten vom dritten Akte an die Handlung mit Ziſchen, Scharren und lauten Proteſtrufen begleitet, als der Kaiſer ankünden ließ, daß er ſelber der vierten

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Wiederholung des Stückes beiwohnen würde, um, wie er ſich ausdrückte, doch einmal zu ſehen, wer der Herr ſei.

An dem betreffenden Abend war das Haus gedrängt voll. Die erſten beiden Akte verliefen wie gewöhnlich. Als ſich der Vorhang zu Beginn der dritten Aktes, der fo viel Oppo- ſition hervorrief, hob, rührte ſich nichts im Haufe, und kein Laut war zu vernehmen. Der Kaiſer, der hiervon einiger- maßen überraſcht war, ließ ſeine Blicke durch den Saal ſchweifen, und ein merkwürdiges Schauſpiel bot ſich ſeinen Augen.

Das geſamte Publikum, vom hohen Olymp bis herunter zum Parkett, hatte weißleinene Schlafmützen aufgeſetzt; die Köpfe ſanken immer tiefer, als lägen ihre Beſitzer in tiefſtem Schlafe.

Der Wirkung dieſes Scherzes konnte auch Napoleon nicht widerſtehen, und er brach in ein lautes Gelächter aus. Eine fünfte Aufführung aber erlebte das Stück nicht mehr. J. C.

Alter Schwalbenaberglaube. Das Verſchwinden der Schwalben im Herbſte hat in früheren Zeiten die Phantaſie des Volkes lebhaft beſchäftigt, und wunderliche Anſichten ſind dabei entſtanden. In Frankreich erklärte man noch vor hundert fünfzig Jahren das rätſelhafte Verſchwinden der Schwalben mit einer Auswanderung derſelben nach dem Monde. Man glaubte, daß die Schwalben die kalten Wintermonate über die Gaſtlichkeit des Mondes in Anſpruch nähmen, um dann mit den erſten Lenzestagen wieder zur Erde und zu den Men- ſchen zurückzukehren.

In ſeiner „Reiſe in Lappland“ erklärt Regnard, daß die Schwalben den Winter tief unter der Eisdecke der Flüſſe im Waſſer verbrächten. „Das merkwürdigſte iſt,“ ſchreibt er, „daß die Lappländer oft ganze Reihen von Schwalben bringen, die völlig erſtarrt mit ihren kleinen Krallen ſich an Holzſtücken anklammern. Sie ſind wie tot und zeigen, wenn man ſie aus dem Waſſer zieht, keine Spur von Leben; aber ſobald man ſie dem Feuer nähert und die Wärme auf ſie eindringt, erwachen ſie allmählich, ſchütteln die Flügel und beginnen zu fliegen, als ob es Sommer wäre.“ Regnard ſelbſt hat das freilich nicht geſehen, aber man hat es ihm erzählt.

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Dieſe wunderliche Anſchauung war früher weit verbreitet; auch Johnſon aus ſeinem 1768 erſchienenen Lebenslauf geht es hervor war feſt davon überzeugt, daß die Schwalben ſich im Herbſte ins Waſſer verſenken, um in der Tiefe der Fluten ihren Winterſchlaf zu halten. „Sie vereinigen ſich fliegend zu einem großen Kreiſe, der ſich immer dichter zuſammendrängt und ſich plötzlich ins Waſſer ſtürzt, wo die Schwalben im Fluß bette ſchlafen gehen.“ Noch zu Ende des achtzehnten Jahr- hunderts hatte dieſe Anſchauung ihre Gläubigen.

Heute freilich weiß jeder, daß die Schwalben im Herbſte nach dem Süden ziehen. Doch kann man öfters beobachten, daß einzelne Schwalben ſich ver ſpäten, zurückbleiben und dann gegen den Winter einen verzweifelten Kampf führen. Noch im November hat man Schwalben geſehen, die ihr Neſt nicht verlaſſen hatten, ja bisweilen bis in den Dezember hinein; man ſah, wie die kleinen Tiere matter und matter wurden, vermutlich durch den Mangel an Nahrung, und ſchließlich ein- gingen. Im Departement Oiſe hat Naſpail einen Fall beob- achtet, wo eine verſpätete Schwalbe in einem Stalle eines Gutes zurückblieb und hier bis zum April überwinterte. Im Stall fand fie durch Spinnen und Inſekten zweifellos ausrei- chende Nahrung, an ſchönen Tagen flog fie auch aus; immer aber kehrte ſie bald zu ihrem Neſte zurück. Die Stallmägde waren auf den anmutigen Wintergaſt ſehr ſtolz, und niemals wurde abends der Stall geſchloſſen, ehe man ſich überzeugt hatte, daß die kleine Schwalbe in ihrem Neſte war. C. T

Aus der Pariſer Conciergerie. Die düſteren Räume dieſes Gefängniſſes dienten bekanntlich dazu, die Opfer der großen franzöſiſchen Revolution vor ihrem letzten Gange zum Blutgerüſt aufzunehmen.

Auf einer kleinen Wendeltreppe gelangt man zu einem großen Veſtibül, hinter dem ſich ein dunkler und feuchter Gang, die ſogenannte Rue de Paris oder die „Hölle“ erſtreckt. Hier liegen die Zellen, die während der Schreckensherrſchaft ſtändig mit den unglücklichen Opfern angefüllt waren. Die Zellen ſind kleine dunkle Räume, wo die Gefangenen wie Schafe in einem Stall zuſammengepfercht waren. Die in den Archiven auf-

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bewahrten Papiere erzählen mit größter Gemütsruhe die ver- ſchiedenartigſten erſchütternden Geſchichten von den Leiden, die die Gefangenen hier ausſtanden. In der erſten Zelle waren 26 Männer untergebracht, denen als Nachtlager ſechs Strohſäcke zur Verfügung ſtanden. In der zweiten Zelle ſaßen ſogar 75 Ge- fangene mit im ganzen zehn Pritſchen, und in einem dritten Raume waren 38 todkranke Perſonen eingeſperrt, zu deren Verfügung nur neun kümmerliche Lagerſtätten ſtanden.

Die in der Conciergerie eingeſperrten Frauen waren ebenſo

ſchlecht daran wie die Männer. So ſei zum Beiſpiel erwähnt, daß eine der Zellen 45 Frauen beherbergte, denen für die Nacht nur neunzehn Strohſäcke als Lager dienten. Neben den vielen ſchrecklichen Bildern, die die Zeit und Verhältniſſe ſchufen, läßt ſich aber doch noch manches über die Eitelkeit, die Koketterie und die Gefallſucht erzählen, die ſich innerhalb der Gefängnismauern entwickelte. Am Ende der „Hölle“ liegt der kleine Hof, in dem die weiblichen Gefangenen ſich von Zeit zu Zeit bewegen durften. Hier ſpielten ſich ſehr oft die wunderbarſten Szenen ab. Selbſt im Gefängnis unter- ließ die Göttin der Mode es nicht, ihr Zepter zu führen. Morgens erſchienen die vornehmen weiblichen Gefangenen zum Spaziergang mit elegant aufgeſetztem Haar und im allerneueſten Promenadenkleide, und abends bewegte man ſich in großer Toilette. Hinter dem eiſernen Gitter kniſterten die ſeidenen Kleider, und überall ſah man die ſchönſten und koſtbarſten Blumen.

In der erſten Etage nach dem Hofplatz liegen die Zellen, die die aus jenen Tagen bekannteſten mutigen und unglücklichen Frauen beherbergten. Hier erwartete Charlotte Corday den Tod, und hier ſaßen Zofephine Beauharnais, die fpätere Kaiſerin, und Madame Recamier und ſehnten ſich nach der Freiheit. Hier ſah auch Madame Dubarry der entſetzlichen Stunde ent- gegen, wo ſich ihr einſt mit koſtbaren Diamanten geſchmückter Hals unter das kalte, nackte Meſſer der Guillotine legen mußte.

Durch eine kleine niedrige Tür gelangt man in die Zelle der Königin Marie Antoinette, einen ſchmalen, düſteren Raum, in den kaum ein Sonnenſtrahl dringt. Hier befindet ſich ein

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alter Plüſchlehnſtuhl, in dem die unglückliche Königin den größten Teil ihrer letzten Tage verbrachte. Dort erblickt man auch ein altes Kruzifix, deſſen Elfenbein im Laufe der Jahre ganz gelb geworden iſt. Es wird erzählt, daß dieſes Kruzifix durch das eiſerne Gitter hineingeſchmuggelt worden ſei, und daß in ſeinem Innern ein wohl ausgearbeiteter Fluchtplan geſteckt

habe. Neben dieſer Zelle liegt das Zimmer, in dem Robespierre ſeine Hinrichtung erwartete. B. M.

Handarbeit und Kopfarbeit. Eine auffallende Er- ſcheinung, die aber in allen Ländern durch die Erfahrung beſtätigt wird, iſt die, daß Handarbeiter, überhaupt mechaniſche Arbeiter, ganz beträchtlich früher alt und arbeitsunfähig werden als Leute, die hauptſächlich mit dem Kopfe und dem Intellekt arbeiten. Wie oft finden wir einen Fabrikarbeiter, einen Hand- werker, einen Landarbeiter mit fünfzig Jahren ausgedient, wie ſchwer iſt es für einen mechaniſchen Arbeiter faſt jeder Branche, im Alter von mehr als fünfzig Jahren noch Stellung und Arbeit zu finden, während dagegen der Kaufmann oder Fabrikbeſitzer, der Arzt, der Richter, Rechtsanwalt oder Pro- feſſor, der Geiſtliche, der Lehrer, der Schriftſteller oder Künſtler in dieſem Alter erſt auf der Höhe ihres Schaffens und Wirkens ſtehen und mit ſechzig Fahren oft erſt den Gipfel des ſchönſten Erfolges erklimmen.

Das iſt ein großes Glück, wenn man anderſeits in Erwägung zieht, wieviel länger die Ausbildung für einen der intellektuellen Berufe dauert, wieviel ſpäter ein ſolcher zu Stellung und aus- kömmlichem Anterhalte führt als ein ſogenannter praktiſcher Beruf. Ein Arbeiter, der mit der Fauſt, dem Hammer, der Maurerkelle, der Maſchine ſchafft, gelangt gut und gern zehn Jahre früher zu einer Brotſtelle als der Ropfarbeiter Dagegen aber altert die Hand, ſein eigentliches Arbeitswerkzeug, weit früher als der übrige Körper. Schon mit dem vierzigſten Lebensjahre vermindert ſich ihre Leiſtungsfähigkeit.

Ein engliſcher Knopffabrikant hat dieſe Tatſache nachge- wieſen an der Hand der Lohntabellen, die er im Laufe vieler Jahre aufgeſtellt hat. Danach ſtehen die Leute auf der Höhe

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ihrer Leiſtungsfähigkeit zwiſchen dem dreiunddreißigſten und vierzigſten Jahre. Sie ftellen während dieſer ſieben Jahre an jedem Tage im Durchſchnitt ſechstauſendzweihundert Knöpfe her. Von da ab ſinkt das Ergebnis merkbar. Schon die fünf- undvierzigjährigen Arbeiter kommen ſelten höher als auf drei- tauſendfünfhundert Knöpfe täglich. Ein fünfundſechzigjähriger Mann kann, ſelbſt wenn er von geſunder, rüſtiger Konſtitution iſt, kaum noch mehr als zweitauſendfünfhundert Knöpfe an einem Tage liefern. Naturgemäß vermindern ſich auch ebenſo die Lohnſätze von wöchentlich fünfundvierzig Schilling auf achtundzwanzig und ſchließlich auf zwanzig lediglich des- halb, weil die Hand ihre Geſchicklichkeit und Behendigkeit mehr und mehr einbüßt.

Demgegenüber entwickelt ſich das Gehirn langſamer, um danach deſto länger vorzuhalten. Wenn man ſorgfältige Be- obachtungen und Vergleiche anſtellt über die Altersſtufen, in denen unſere Dichter, Denker und Gelehrten ihre reifſten und beſten Werke hervorgebracht haben, ſo kommt man zu dem Ergebnis, daß das menſchliche Gehirn ſeine volle Entfaltung erſt mit dem fünfundvierzigſten bis fünfzigſten Jahre erreicht. Dabei iſt der Kopfarbeiter, falls er ſich ſonſt einer geſunden Leibesbeſchaffenheit erfreut, mit dem ſechzigſten Jahre noch lange nicht an der Grenze ſeiner Leiſtungsfähigkeit angelangt. Wir haben eine ftattlihe Reihe von Männern der Runft und Wiſſenſchaft, des diplomatiſchen oder politiſchen Lebens und ähnlicher geiſtiger Berufe gehabt, die mit ſiebzig Jahren noch keine Spur von geiſtigem Verfall zeigten, und bei denen kein Menſch daran gedacht hätte, fie bereits als abgetan zu be- trachten. Und wir brauchen nur unter unſeren berühmten Zeitgenoſſen Umſchau zu halten, um dieſe ſelbe Beobachtung durch Hunderte von Beiſpielen beſtätigt zu finden: der Kopf- arbeiter betritt die aufſteigende Bahn erſt eigentlich, wenn der Handarbeiter bereits langſam vom Schauplatz abtritt. C. D.

Ein Orcheſter, das etwas aushält. Von dem etwas derben Charakter des Komponiſten Franz Lachner erzählt man ſich eine Reihe köſtlicher Anekdoten. Lachner war als General- muſikdirektor der Münchener Hofoper eine ſtadtbekannte Per-

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ſönlichkeit und ein echter Bayer. Gemütlich, humorvoll, aber, wenn ärgerlich, von einer Derbheit, die kaum ihresgleichen fand.

Bekanntlich iſt Lachner auch ein hervorragender Opern- komponiſt geweſen, er konnte ſich aber mit der neu aufkommen den Muſik Richard Wagners nicht befreunden. Als ihn einer ſeiner Bekannten einmal hierüber fragte: „Meiſter, ſind Sie auch Vagnerianer?“ ſagte Lachner nur ganz trocken: „S bin ſelber aner!“

Hans v. Bülow war Lachners Nachfolger in München. Als Bülow das erſte Mal eines der großen Sinfoniekonzerte dirigierte, wobei ihm reiche Ehren zuteil wurden, ging er nach Schluß des Konzerts auch auf den anweſenden Franz Lachner zu und ſagte zu ihm: „Nun, Herr Generalmuſikdirektor, was ſagen Sie zu dieſer prächtig gelungenen Konzertaufführung?“

Argerlich entgegnete ihm Lachner: „Freilich, das Orcheſter kann ſchon was aushalt'n. Wann i mi dreißig Jahr lang mit dem herumgeplagt hab', damit's was Ordentlichs zujtand’ bringt, da wär's eh ſchon traurig, wann's gleich beim erſten Mal, wo Sie dirigier'n, ſchon verdorb'n fein ſollt'!“ A. M.

Die größte Antilope. Die Elenantilope oder die Kanna, wie fie die Kaffern nennen, iſt die größte und maſſigſte Ver- treterin des vielgeſtaltigen Antilopengeſchlechts. Sie erreicht eine Länge von faſt 4 Meter und am Widerriſt eine Höhe von etwa 2 Meter. Altere Böcke wiegen bis 1000 Kilogramm. Die Färbung der Elenantilope, die in der ſüdlichen Hälfte Afrikas heimiſch iſt, ändert ſich nach dem Alter. In der Haupt- ſache iſt die Färbung hellbraun. Die Rückenſtreifen find braunrot. Gewöhnlich bilden die Tiere Trupps von ſechs bis acht Stück, die von einem Bock geführt werden. Zuweilen rotten ſie ſich aber auch zu großen Herden zuſammen. Sie ähneln dann in ihrem Treiben außerordentlich Rinderherden. Einige der Tiere gehen graſend langſam auf und nieder, andere ſonnen ſich, und wieder andere liegen wiederkäuend im Schatten der Mimoſen. In der Regel trollen die Elenantilopen ge- mächlich dahin. Werden ſie aber verfolgt, ſo verfallen ſie in einen raſchen Trab oder ſogar ſauſenden Galopp, bei dem die dicken Leiber auf den dünnen Beinen förmlich zu fliegen ſcheinen.

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Die Böcke find ſehr ſtreitbar und fügen ſich häufig in den gegen- ſeitigen Kämpfen mit den ſpitzen Hörnern tiefe Wunden zu. Wegen der Schnelligkeit, die die Elenantilopen entwickeln können, jagt man ſie nur zu Pferde. Aber auch ein tüchtiger Renner muß ſich anſtrengen, um ſeinen Reiter in Schußweite zu bringen. Th. S.

Ein freiwillig Gefangener. Auf einer kleinen einſamen Inſel im Agäiſchen Meer, nicht viel größer, als daß man eben ein Haus darauf aufführen konnte, das gleichzeitig als Feſtung und Gefängnis dient, wohnt der unglücklichſte Mann dieſer Welt. Sein Name iſt Sotiropoulos, Griechenlands Scharfrichter. Er weiß, daß es Hunderte von Menſchen gibt, die ihm nach dem Leben trachten, und daß er außerhalb ſeiner Klippenfeſtung verloren ſein würde.

Dieſe Tatſache hängt mit dem mehrere Tauſende von Jahren alten Glauben zuſammen, wonach die Seele eines Ermordeten mit Schmach im FKenſeits belaſtet iſt, wenn fie nicht von der Seele des Mörders begleitet wird, die in dieſem Falle der Seele ſeines Opfers untertan iſt. Deshalb iſt die Blutrache für die Hinterbliebenen eine religiöfe Pflicht, und wird fie verſäumt, ſo ſetzen ſich die Betreffenden den fürchterlichſten Strafen im Senfeits aus. Will ein Mann, daß feine Acker gedeihen, feine Arbeit Lohn bringt, ſeine Söhne ſtark werden, ſo darf er den Mord an einem Blutsverwandten nicht ungeſühnt laſſen.

Hierbei gibt es keinen Unterſchied zwiſchen Mord und dem Vollzug einer geſetzlich zuerkannten Todesſtrafe, deshalb haben die Angehörigen eines Hingerichteten die Pflicht, den Scharf- richter wie jeden anderen Mörder zu verfolgen. Das weiß Sotiropoulos, er weiß, daß ſein Leben jeden Augenblick auf dem Spiele ſteht, und daß die Blutsverwandten jedes einzelnen der vielen von ihm Hingerichteten alles aufbieten werden, um gerade ihren Angehörigen zu rächen, damit deſſen Seele Ruhe findet und ſein Stamm gedeiht.

Unter dieſen Umſtänden iſt es erklärlich, daß ſich in Griechen land kein freier Mann zu dieſem Beruf meldet, und daß die Behörden ſehr zufrieden ſind, wenn einer der zum Tode Ver— urteilten dies traurige Amt dem Geköpftwerden vorzieht.

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Sämtliche Todesſtrafen werden in der Feſtung Palamidi bei Nauplia vollzogen, und in der Bucht von Nauplia liegt auch die Inſelfeſtung des Scharfrichters, wo er, von einem Militärkommando bewacht, fein trauriges Dafein führt. Jedes mal, wenn er fein Felſenneſt verläßt, um in der Feſtung von Pa- lamidi ſeine Pflicht zu erfüllen, wagt er das Leben, obgleich der Zeitpunkt der Hinrichtungen ſtreng geheimgehalten und der Scharfrichter nur zur Nachtzeit und unter ſtarker militäriſcher Bewachung über die Bucht gebracht wird. Schon häufiger hat man in der Bucht von Nauplia die Leichen von Männern ge- funden, die es verſucht hatten, bei ſolchen Gelegenheiten den Scharfrichter zu töten, hierbei aber ertranken oder erſchoſſen wurden. B. M.

Das „Trotzhaus“. Vielleicht das kleinſte Wohnhaus der Welt war das ſogenannte „Trotzhaus“ in New Vork an der Ecke der Lexington Avenue und der Zweiundachtzigſten Straße. Der Streifen Landes, auf dem dies Haus errichtet war, weiſt nur eine Breite von zwei Meter auf. Eigentümerin war die Gattin eines merkwürdigen Sonderlings, des vielfachen Mil- lionärs Joſeph Richardſon. Als der Straßenkomplex dort gebaut werden ſollte, bot der Beſitzer des Nebengrundſtücks dem reichen Manne für den Zipfel Land die immerhin ſtattl iche Summe von viertauſend Mark. Richardſon aber war ein un- erſättlicher Geizhals und verlangte zwanzigtauſend Mark. Als ihm das abgeſchlagen wurde, ſetzte er ſich's in den Kopf, den Leuten zu zeigen, daß ſein Grundſtück nicht ſo wertlos ſei, wie ihm entgegengehalten worden war, ſondern daß ſich darauf ſogar ein Haus errichten laſſe, in dem er ſelber wohnen könne.

Das Haus wurde zum Gaudium der Leute, die es „Trotz haus“ nannten, tatſächlich gebaut, und um zu beweiſen, wie reichlich ihm der Grund und Boden dazu bemeſſen ſei, ver- wendete der Sonderling nicht einmal die ganzen zwei Meter, ſondern ließ noch eine Lücke zwiſchen feinem und dem Neben- hauſe leer. Das größte Zimmer dieſes Zwerggebäudes war anderthalb Meter breit und drei Meter lang. Hier lebte der glückliche Beſitzer bis zu ſeinem Tode. Ein ſchmales Sofa diente ihm als Schlafſtätte und ſchließlich als Krankenlager

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und Sterbebett. Sein Geiz war dermaßen groß, daß er mit eigenen Händen Holz, Kohlen und Waffer herbeitrug und es fertig brachte, bei den New Vorker Preiſen für Lebensmittel doch jährlich nicht mehr als zweitauſend Mark zu verbrauchen, während ſein Vermögen über hundert Millionen Mark be- trug! C. D. Vielweiberei in Deutſchland. Wohl nur wenigen dürfte es bekannt ſein, daß es auch einmal bei uns in Deutſchland ein Geſetz gegeben hat, das die Vielweiberei geſtattete. Kurz nach dem Weſtfäliſchen Frieden, als das Land durch den Krieg ſtark entvölkert war, wurde auf dem Fränkiſchen Kreistag in Nürnberg am 14. Dezember 1650 ein Beſchluß gefaßt, der wörtlich lautete: „Es ſoll hinfüro jeder Mannßperſon zwey Weyber zu heyratten erlaubt ſeyn. Dabey doch alle und Zede Mannßperſon ernſtlich erinnert, auch auf den Kanzeln öffters ermanth werden ſollen, ſich dergeſtalten hierinnen zu verhalten und vorzuſehen, daß er ſich völlig und gebürender Vorſorg befleißt, damit Er als ein Ehrlicher Mann, der zwey Weyber zu nemmen getraut, beede Ehefrauen nicht allein nothwendig verſorge, ſondern auch unter Ihnen allen Unwillen verhütte!“ Wie lange dieſer Beſchluß geſetzliche Kraft hatte, iſt leider nicht zu ermitteln. Er ſcheint ſchon bald wieder aufgehoben worden zu ſein. W. G. Sch. Der Trompeter der Hummeln. Es iſt erwieſen, daß jede Tierart unter ſich die Fähigkeit eines gewiſſen Sprach- oder Mitteilungsvermögens beſitzt. Sicherlich dürfte es aber wenigen bekannt ſein, daß jedes Hummelneſt einen Trompeter hat, der das Morgenſignal zum Aufſtehen gibt. Dieſes Wecken erfolgt jeden Morgen zur beſtimmten Zeit, zwiſchen drei bis vier Uhr in der Frühe, und iſt von verſchiedenen Seiten beob- achtet worden. Profeſſor Hoffer in Graz gibt hierüber eine anſchauliche Schilderung. Er beobachtete im Juli, früh gegen halb vier Uhr, wie ein Hummelweibchen aus dem Neſte kletterte, ſich bis auf deſſen höchſte Spitze begab, ſich niederſetzte, den Kopf nach unten richtete und mit den Flügeln heftig zu ſchlagen begann. Bei dieſen Bewegungen ließ die Hummel einen ſcharfen, trompetenartigen Ton aus ihren Luftlöchern hören,

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der wie ein Weckruf auf die im Neſt befindlichen Hummeln wirkte, die ihre Köpfe zum Neſt herausſtreckten. Dieſes trom- petenartige Rufen wiederholte ſich mehrere Male bis gegen vier Uhr morgens. A. M.

Diebesverſtecke. Wenn ein Detektiv in irgend einer Wohnung eine Hausſuchung vornimmt, fo geht er felkftver- ſtändlich gründlich und ſyſtematiſch zu Werke und benützt ſo viel als möglich alle Erfahrungen, die von ihm oder anderen in ſolchen Fällen gemacht worden find. Die meiſten Diebes- verſtecke ſind nämlich für den Eingeweihten verhältnismäßig leicht aufzufinden, weil in der Regel immer wieder dieſelben benützt werden.

Falſchmünzer zum Beiſpiel haben eine ausgeſprochene Vorliebe für Hohlräume unterhalb der Flieſen neben Koch- herden oder im Innern der Schornſteine, jedenfalls weil ihre Hauptarbeit auf und bei der Feuerſtätte ſich abſpielt und ſie hier am ſchnellſten ihre Werkzeuge ſowohl wie die hergeſtellten Münzen aus dem Wege räumen können. Einbrecher dagegen bevorzugen den Raum unter den Dielen zur Unterbringung ihres Raubes, ſoweit er ſich verſtecken läßt, obgleich ſie wiſſen könnten, daß man bei jeder Hausſuchung in erſter Linie auf die Spuren gewaltſam aufgehobener und neuerdings wieder eingefügter Dielen achtet.

Außerdem ſind die häufigſt Porte selten Verſtecke, die ſtets zuerſt unterſucht werden: Blumentöpfe, die Höhlungen von metallenen Lampenfüßen, die Zwiſchenräume zwiſchen Bildern und ihren Rüdbelleidungen, Gipsfiguren, hohle Metallſtangen zum Aufhängen von Gardinen und Vorhängen und ſcheinbar ausrangierte leere Bierkrüge oder Glasflaſchen, letztere namentlich, wenn ſie von grünem oder braunem Glaſe find. In einer ſolchen, die noch einen Reft ſauergewordenen Bieres enthielt, entdeckte ein gewiegter Detektiv dreiundvierzig loſe Diamanten, die aus geſtohlenen Schmuckſachen heraus- genommen waren.

Daß Diebe ſich nicht allzu häufig beſonders konſtruierte Verſtecke einrichten, hängt ſchon damit zuſammen, daß ſie aus naheliegenden Gründen ſehr oft die Wohnung zu wechſeln

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pflegen. So umgeben ſie ſich denn faſt ausſchließlich mit ganz unauffälligen Haushaltungsgegenſtänden, wie jeder ſie braucht, und vertrauen ihnen auch die Diebesbeute an in der Hoffnung, daß ein etwaiger Rechercheur ſie als ganz harmlos überſehen wird. Durch Erfahrung gewitzigt, durchſucht man jetzt aber gerade die Dinge zuerſt, die fo umherſtehen oder liegen, als hätten die Bewohner ſie keiner Beachtung für wert gehalten, wie zum Beiſpiel ſcheinbar nachläſſig unters Bett geſchleuderte alte Hausſchuhe, die man ſchon oft genug mit Juwelen und Banknoten ausgeſtopft vorfand, ein unſcheinbares Uhrgehäuſe, einen gänzlich unverdächtigen Globus, der doch in ſeinem hohlen Innern ein Vermögen an Geldſcheinen oder Edel- geſtein beherbergen kann, Rückenkiſſen, Muſikinſtrumente, Polſterfußkiſſen vor allem aber Kinderwagen jeglichen Syſtems, die in erfter Linie dazu dienen, das Erträgnis irgend einer Räuberei von einem Orte nach dem anderen zu ſchaffen, ohne daß es Verdacht erregt.

Wiewohl aber Kriminalbeamte immer und immer wieder bei Hausſuchungen das geſtohlene Gut an den nämlichen alt- vertrauten Stellen finden, ſind ſie doch ſtets auf dem Lugaus, nach unvorhergeſehenen Überraſchungen. Einer von ihnen zum Beiſpiel, der einen verdächtigen Wandſchrank unterſuchen wollte, mußte, um an ihn heran zu können, einen ausgeſtopften Hund wegnehmen, der im Glaskaſten auf einem Tiſchchen gerade vor dem Schranke ſtand. Es fiel ihm auf, daß der ſo ſorgſam konſervierte alte Hausfreund fi un verhältnismäßig ſchwer erwies, und er beſah ihn ſich etwas näher. Dabei fiel ihm ſogleich weiter auf, daß der Glaſerkitt, mit dem das Glas- gehäuſe zuſammengeklebt war, an einer Schmalwand noch nicht erhärtet war. Als das Glas entfernt worden war, wurde der Hund genau unterſucht. Er war von einer langhaarigen Art und ſah ganz und gar nicht aus, als habe er ſich zu einem Diebes- verſteck hergegeben. Trotzdem verbarg er unter ſeinem Pelze ein Türchen, das fürs Auge kaum aufzufinden war, das aber ausgereicht hatte, in das hohle Innere des Tieres Geſchmeide aller Art einzuführen, fo daß es geradezu ein Vermögen ent- hielt.

236 Mannigfaltiges. | E

Auf ähnliche Weiſe fand ein anderer Detektiv auf einem auffallend hoch angebrachten Küchenbrett ein aus Korken zuſammengeſetztes Modell zu einer Kirche. Es erregte ſeine Neugier, und er betrachtete es ſich näher. Es erwies ſich als ein Schlupfloch für die geſamten Diebeswerkzeuge des verdächtigen Mannes.

Außerſt erfinderiſch zeigen ſich Frauen darin, für das von ihren Männern heimgebrachte Diebesgut die unauffindbarſten Verſtecke zu erſinnen. So hatte ſich ein Beamter viele Stunden vergeblich bemüht, den Ertrag eines großen Zuwelendieb- ſtahls bei dem mutmaßlichen Hauptſchuldigen ans Licht zu be- fördern. Er mußte ſeine Arbeit als reſultatlos aufgeben und wollte ſich nur noch die Hände waſchen, ehe er fortging. Da kam es ihm vor, als glitzere etwas Goldenes in der Seife, die er auf dem Waſchtiſche vorfand. Er ſchabte daran umher, und ſiehe da eingebettet in die Seife fanden ſich zwanzig goldene Ringe! Der Reit wurde wohlverwahrt in dem übrigen Seifenvorrat entdeckt. Die Hausfrau war es geweſen, die dieſe unvergleichliche Seife erdacht und eigenhändig geformt hatte. f

Eine andere hatte den ganzen Raub ihres Gatten, der bei einem Uhrmacher erbeutet worden war, in einen mächtigen Kochtopf geſchüttet und dieſen auf die Kochmaſchine geſetzt. Als nun die Kriminalbeamten kamen, auf deren Erſcheinen ſie gefaßt ſein mußte, da ließ ſie ſie zwar, wie es nicht anders ging, ein, ſagte ihnen aber, ſie möchten nur allein ihres Amtes walten, ſie habe in der Küche notwendig zu tun. Und als einer der Herren einen forſchenden Blick in die Küche warf, ſah er die Frau neben dem Herd ſtehen und emſig Mohrrüben ſchaben, in Stückchen zerteilen und in einen umfangreichen Kochtopf werfen. Nachdem die Männer das ganze Haus um und um gekehrt hatten, ohne das mindeſte Belaſtende zu finden, kamen ſie ratlos auf den Korridor zurück, wo ſie durch die offene Türe in die Küche ſchauen konnten und die Frau noch immer neben dem Herd ſtehen ſahen, wo ſie nunmehr Kartoffeln ſchälte, jede einzelne gleich wuſch und gleichfalls in den Topf warf.

„Für wie viele Leute kocht denn die Frau, daß ſie einen ſo

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großen Topf braucht?“ überlegte der eine der Beamten. Ohne langes Zögern ging er hinein und ſah ſich den Inhalt des Topfes an. Er war bis faſt an den Rand mit Gemüfe gefüllt. Der acht- ſame Mann aber unterſuchte das Gemüſe genauer, und da fand er die Uhren und wußte nun, weswegen die Frau ſich von ihrem Kochtopf nicht hatte trennen können.

Ahnlich verfuhr eine dritte Frau. Sie rührte einen Brot; teig an und verbarg in ihm ein ledernes, wohleingewickeltes Taſchenbuch mit Banknoten im Werte von dreihundertdreißig- tauſend Mark, die ihr Mann erbeutet hatte. Als die Detektive bei dem als Spezialiſten bekannten Manne Nachforſchungen anſtellten, fanden ſie nichts im ganzen Hauſe, was ihn hätte überführen können. Die Backmulde voll Teig, der zum Auf- gehen neben das Herdfeuer geſtellt worden war, erregte ſchließ- lich das Intereſſe der gewiegten Leute. Einer verſuchte, den Teig mit einem Meſſer zu durchſchneiden. Als er dabei auf ein Hindernis ſtieß, ſpürte er ihm eifrig nach, und das führte zur Entdeckung der Beute. C. D.

Die vertriebenen Spiritiſten. Im Jahre 1890 ſuchten die Spiritiſten ſich auch in einer Stadt des weſtlichen Nord- amerika eine Anzahl von Anhängern zu werben, indem mehrere talentvolle Medien in öffentlichen und Privatzirkeln höchſt ver; blüffende Kunſtſtücke angeblich mit Hilfe der Geiſterwelt aus führten. Doch dieſen Feldzug wußte ein Arzt, ein ſehr energiſcher Gegner der Spiritiſten, ſchnell zu beenden. Eines Tages erſchien in ſämtlichen Zeitungen ein Inſerat, in dem der Arzt anzeigte, daß er in Gegenwart eines Notars auf der Unionbank eine Tauſenddollarnote mit der Beſtimmung nieder- gelegt habe, die Note ſolle dem Medium ausgehändigt werden, das imſtande ſei, die Nummer des Scheines anzugeben. Alles wartete nun mit größter Spannung auf den Erfolg dieſer Stichprobe. Von allen Seiten wurden die Spiritiſten auf- gefordert, nunmehr ihre Verbindung mit übernatürlichen Kräften endgültig nachzuweiſen. Doch Tag auf Tag verging, ohne daß ſich jemand bei der Unionbank meldete, um die Banknote für ſich zu beanſpruchen. Die Zeitungen brachten ſpöttiſche Artikel, und ſchon nach einer Woche zeigte ſich das

238 Mannigfaltiges. 2

Reſultat der Maßregel: die Spiritiſten verſchwanden aber

ohne die Tauſenddollarnote mitzunehmen. W. K. Neuentdeckte Tiere. Aus der Welt der Inſekten und der niederen Pflanzen bringen die Forſchungsreiſenden faſt

beſtändig von ihren Expeditionen noch unbekannte Arten mit.

Viel ſeltener ſind dagegen die Entdeckungen im Reich der

A N ni nn nennen a ne ei ann

Ein Rieſenblei aus dem Albertſee.

höheren Tiere. Gleichwohl iſt auch hier die Forſchung noch nicht völlig abgeſchloſſen. So wird neuerdings in den Ver— öffentlichungen des Smithſonian-FInſtituts in Waſhington von der Auffindung bisher unbekannter höherer Tiere berichtet.

Die Mehrzahl dieſer Neuentdeckungen bezieht ſich auf Britiſch-Oſtafrika. Man fand hier mehrere neue Arten von Nagetieren. Das eine der Tiere gehört zur Gattung der gewöhnlichen Maus und iſt dadurch ausgezeichnet, daß die Länge des Schwanzes die des ganzen übrigen Körpers über- trifft. Nicht viel größer dagegen als die Hausmaus iſt eine

0 Mannigfaltiges. 239

ebenfalls in Britiſch-Oſtafrika neuerdings aufgefundene Maul- wurfmaus. Ferner wurde ein neues Raubtier feſtgeſtellt, das zur Gattung der Löffelhunde gehört. Das Tier, das rötlichgelb gefärbt iſt, gleicht im allgemeinen dem Fuchs. Doch trägt es ungeheuer vergrößerte, löffelförmige Ohrmuſcheln und wird über ein halbes Meter lang. Unter den Fiſchen glückte es dem früheren Präſidenten der Vereinigten Staaten, Theodore Rooſevelt, auf feiner Jagdexpedition im Albertſee in Zentralafrika einen neuen Rieſenfiſch aufzufinden. Er gehört zur Gattung der Bleie. Das Tier erreicht faſt die Länge eines erwachſenen Menſchen und das Gewicht von bei- nahe einem Zentner. Endlich iſt noch auf den Philippinen ein neuer Rieſenfroſch entdeckt worden, der eine Länge von mehr als 11 Zentimeter hat. Auf Java und den Malaiiſchen Inſeln gibt es eine verwandte Art, die ausgewachſen dieſen Froſchrieſen noch um einige Zentimeter Länge übertrifft. Th. S. Ein höflicher Gläubiger. Es gibt wohl kaum einen höflicheren Gläubiger als den Hindu. Eine Probe mag folgen- der Brief eines Schuhmachers in Benares geben, der einen Engländer um Bezahlung einer Rechnung im Betrage von vierundzwanzig Rupien erſucht: „Dem ſehr ehrenwerten und ſehr ehrwürdigen Sahib M. Zch, der Verfertiger von Schuhen und Stiefeln, der ich wie der Staub unter den Füßen des ſehr ehrenwerten Sahib bin, der mir gegenüber daſteht wie Sonne, Mond und Sterne gegenüber der auf dem niedrigen Boden kriechenden Ameiſe, der ich ein verächtliches Ding bin, ein Sklave des Sahib, begehre demütig und ängſtlich die Be- zahlung einer kleinen Schuld von vierundzwanzig Rupien zu einer Zeit, da es dem ehrenwerten Sahib gefallen möge, ſich in feiner Hoheit herabzulaſſen, die Auszahlung einer jo geringen Kleinigkeit, wie die genannte Summe iſt, in Erwägung zu ziehen; und ich erflehe, begehre und erbitte demütig ſeine Verzeihung, daß ich ihn mit dieſer Bitte quäle, denn ich weiß nur zu gut, daß er mich mit Pracht, Ehre und Ruhm überſchüttet, dadurch, daß er mir erlaubt, ſeinen Fuß mit den Gaben meines Hand— werks zu ſchmücken. Elend, wie ich bin, unter zeichne ich mich des ehrenwerten und verehrungswürdigen Sahib niederſter Sklave.“

240 Mannigfaltiges. 2

Hoffentlich hat der ehrenwerte und ehrwürdige Sahib ſofort nach Empfang dieſes rührenden Erguſſes das Geld geſandt, ſonſt iſt zu fürchten, daß fein „niederſter Sklave“ fo- gleich die Klage bei dem Zbvilgerichtshofe eingereicht hat. Das würde er nämlich trotz der in der Epiſtel an den Tag gelegten Demut und Höflichkeit unweigerlich tun. O. v. B.

Die ſchwediſche Nachtigall. Im Jahre 1887 fand im Haufe der Baronin Burdett-Coutts in London ein Gartenfeſt ſtatt.

In einer Laube ſaßen mehrere Herren, und einer derſelben erzählte, daß Chriſtine Nilsſon wieder in Paris eingetroffen ſei, und daß man daraus die Hoffnung ſchöpfte, ſie gedenke zum Theater zurückzukehren.

„Das wäre ja herrlich!“ rief ein anderer. „Schon längſt wünſchte ich mir, die ſchwediſche Nachtigall zu hören.“

Bei dieſen Worten blieb eine alte Dame, die am Arme einer anderen im Garten promenierte, ſtehen und ſagte: „Ich habe zufällig Ihr Geſpräch gehört und muß Sie eines Beſſeren belehren. Chriſtine Nilsſon iſt ohne Frage eine große Sängerin, aber die ſchwediſche Nachtigall iſt ſie nicht. Das bin ich allein. Ich heiße Jenny Lind!“ M. N.

Schlagfertiger Aufſchnitt. Ein Nachfolger Münch- hauſens erzählte in einer Geſellſchaft, daß er alle fünf Erdteile geſehen habe. Unter allen Merkwürdigkeiten ſei ihm in Sibirien ein unermeßlicher Kohlkopf, der ſo groß war, daß jedes ſeiner Blätter einer Truppe von fünfzig Mann als Regenſchirm oder Zelt dienen konnte, am meiſten aufgefallen. a

„Und ich,“ erwiderte ſogleich der in der Geſellſchaft anweſende Abgeordnete Lasker, „bin auch viel gereiſt und habe in Japan drei- hundert Keſſelſchmiede um einen ungeheuren Keſſel herum be— ſchäftigt geſehen, während ihn hundert andere innen reinigten.“

„Was Sie ſagen!“ rief der andere. „Zu was konnte wohl dieſer ungeheure Keſſel beſtimmt ſein?“

„Selbſtverſtändlich nur dazu, um Fhren Kohl darin zu kochen!“ T. Fr.

Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Theodor Freund in Stuttgart, in Oſterreich⸗Ungarn verantwortlich Dr. Ernſt Perles in Wien.

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