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Bibliothek der Unterhaltung und des Wiſſens

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Zu der Novellette „Der rote Fleck“ von Fr. Holzer. (S. 15) Originalzeichnung von A. Haushofer.

ibliothek se der Unterhaltung und des Wiſſens

Mit Original beiträgen der hervorragendften Schriſtſteller und Gelehrten fowie zahlreichen Aluſtra tionen

Jahrgang 1913 + neunter Band

Union Deutſche verlagsgeſellſchaſt Stuttgart + Berlin + Leipzig

Drud der

Union deutſche verlagsgeſellſchaſt in Stuttgart

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Inhalts = Verzeichnis. DW

Der rote Fleck. Novellette von Fr. Holzer. Mit Bildern von A. Haus- ee ⁵ß ee Die Apachen. Ein Pariſer Roman von Fritz Levon (Fortſetzung) . In den Vorbergen des Himalaja. Von R. Zollinger. Mit 9 Bilden Die Welt der anderen. Novelle von Luiſe Weſtkircge mee. Dienſtbotentrachten. Von Ola Alſen. Mit 11 Bildern nach SCH vorlagen © 2 e, 2 Die Entführung. Eine moderne Muſtererzählung. Von Heinrich Binder Inſekten als Nahrungsmittel. Von Th. v. Wittembergk. Mit 8 Bildern Mannigfaltiges: | Eine merkwürdige Liebesgefhidte . -. : a’ Ar ktiſche Reizbarkeit

Beſſeres Tageslicht in den Zimmern . à Mit 2 Bildern.

Sch lachtandenkbeeee?e?e eee Hinrichtung eines ſpaniſchen Granden im 15. Jahr-

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Seite

Snhalts-Derzeichnies.

Selbſtpeinigungen indiſcher Fakire. Mit Bild. Glanzleiſtung eines Reporters Bachſtelze und Kreuzotter . ; Anziehungskraft des Verbrechertums . Merkwürdige Särge. ' Niggergefhichten . Blüten als Wärmequelle. Mit 2 Bildern.

Zwei Zahlenwunder ; Eine unheimliche Semätdefammlung . Das gebratene Hühnchen

Die Frühjahrskraftſpeiſe .

Wie Auguſt der Starke mit Serpenite E SEN Verſchiedene Wertſchätzung der Nationen ;

Die Amulette gekrönter Häupter Schmetterlingsfälſcher

Die Rätſel des Herzogs von Altenburg.

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Der rote Fleck.

Novellette von Fr. Holzer.

mit Bildern + von A. Gaushofer. (Nahödrud verboten.) Ein eigentümliches Froſtgefühl, das mir durch den ganzen Körper zieht, überkommt mich, ſo oft ich mich im Kaffeehauſe auf meinen Platz niederlaſſe, dort an dem kleinen Marmortiſche dem Büfett gegenüber. Anfangs erklärte ich mir dieſes unangenehme Gefühl auf ganz natürliche Weiſe: es wurde hervorgebracht durch Berührung der kühlen Marmortafel mit der warmen Hand. Später ſchien mir dieſes Froſtgefühl die bloße Folge jener ſchmerzlich-ſüßen Aufregung zu ſein, die ſich immer meiner bemächtigt, wenn ich in ihrer Nähe bin. Aber das war ein Irrtum, denn ich hatte dieſes Gefühl ſchon damals, als Olga noch nicht im Büfett ſaß, ſondern ihre fade, blonde Vorgängerin. Erſt heute hat mir der alte Zahlkellner Jean, der ſchon ſo viele Offiziergenerationen der hieſigen Garniſon hat kommen und gehen ſehen, dieſe ſonderbare Ge— ſchichte erzählt. Und jetzt weiß ich, daß es nichts anderes iſt als Furcht. Furcht und Entſetzen bemächtigen ſich meiner, ſo oft mein Blick auf jenen Fleck fällt, der die Marmortafel verunziert. Ein ganz ſonderbarer Fleck iſt's von roſtig gebräunter Färbung, wie fie mit- unter in weißem Marmor vorkommt. Beobachte ich ihn etwas länger, ſo ſcheint er ſich zu röten, und am

6 Der rote Fleg. 2 Abend bei der Helle des elektriſchen Lichts kommt es mir vor, als würde er glänzen und zitternd ſtrahlen, als wäre roter Wein an jener Stelle ausgegoſſen. Gleich beim erſten Anblick kam mir der Gedanke, es wäre ein großer Blutstropfen, der da, aus irgend einer Höhe herabgefallen, auf der Platte zerſpritzte.

* * *

Ich ſaß heute ganz allein. Olga war noch nicht im Büfett. Unter dem Eindruck jener Vorſtellung netzte ich mein Taſchentuch im Wafjer und begann den Fleck zu reiben in der Hoffnung, die Platte davon zu reinigen.

„Den werden Sie nicht wegwaſchen, Herr Leut— nant,“ ſtörte mich plötzlich der alte Jean auf, der, da er nicht viel zu tun hatte, offenbar ein Geſpräch an— fangen wollte. „Jeder möchte glauben, der Fleck rühre vom Blut her, das da verſpritzt wurde. Na, was Wahres ift ſchon dran. Ich ſelbſt glaube, diefe Platte ift nicht immer fo roſtig geweſen.“

Mein Intereſſe merkend, erzählte er, vor fünfzehn Fahren habe ſich gerade auf meinem Platze ein Offizier erſchoſſen ſeinen Namen habe er ſich nicht gemerkt aus unglücklicher Liebe zur damaligen Kaſſiererin.

„Nun, bei jungen Leuten ift fo etwas nichts Gel- tenes,“ philoſophierte Jean. „Verliebt fih da und möchte natürlich auf der Stelle heiraten! Ein Leut- nant! Wohin ſoll der mit einer ſolchen Liebe? Und ſie, ein vernünftiges Mädel, das alles genau erwog, wollte ſeine Zukunft nicht zerſtören und wies ihn ab. Der Leutnant gleich den Revolver zur Hand und er— ſchießt ſich vor ihren Augen.“

Der an der rechten Ecke der weißen Marmortafel befindliche roſtigbraune Fleck grinſte mich förmlich an.

* * *

a Novellette von Fr. Holzer. 7

Ich glaube feſt, daß im Leben nichts geſchieht ohne beſtimmte Vorausſetzung, daß unſere Geſchicke von einer höheren Macht gel Dieſer Glaube und

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der rötliche Fleck auf dem Marmor bilden die Quellen meiner Angſt. Sit es nicht auffallend, daß, ohne die Geſchichte des Flecks auf dem Tiſche zu kennen, ich als einziger von den Gäſten des Kaffeehauſes den Fleck ganz blutig fah? 21 es nicht ſonderbar, daß ich, ohne

8 | Der rote Fleck. 0

der Erzählung Jeans Glauben zu ſchenken, Angſt fühle bei ſeinem Anblicke? Und erwäge ich weiter: Warum wählte gerade ich, der ich Olga liebe, mir den Platz, an dem ſich vor Fahren ein unbekannter Kamerad er- ſchoß? Warum mußte ich, der ich auf jenem verhängnis- vollen Platze zu fiken pflege, mich in die ſchöne Wirts- tochter verlieben, deren Erſcheinung in das Büfett des alten Raffeehaufes fo wenig paßt? |

Umſonſt fuhe ich eine Erklärung dafür, daß ich, fo wie mein unbekannter Vorgänger, einen Platz an dem- ſelben Tiſche wählte, um mich von dort an dem An- blick des Gegenſtandes meiner Liebe zu weiden.

Der Umſtand, daß ich den unbekannten Kameraden, den Selbſtmörder, unwillkürlich meinen Vorgänger nenne, erklärt meinen Schrecken beſſer als alle anderen Worte, die ich dafür anführen könnte. Oh, ich fürchte mich, fürchte mich entſetzlich, daß auch ich

Der Gedanke, den Verluſt Olgas nicht überleben zu können, kam mir ſchon früher, ehe ich noch die Geſchichte des roten Flecks kennen lernte. Aber früher nur dunkel und entfernt, nimmt er jetzt be- ſtimmte, drohende Formen an, aus denen ſich immer deutlicher das Bild eines bleichen, zerriſſenen Geſichtes mit der Wunde an der rechten Schläfe entwickelt. Ganz deutlich ſtelle ich mir die Szene vor, wie ſie mir Jean ſchilderte. Ich ſehe jenen Unbekannten, deffen Liebe ſo groß war, wie es meine Liebe iſt, wie er zum letzten Male aufgerichtet an ſeinem Platze ſitzt und mit langem Blicke von der Geliebten Abſchied nimmt. Dann hebt er die Waffe empor, neigt die kühle Mündung zu der brennenden Schläfe und drückt ab. Mir iſt, als höre ich den dumpfen Knall, ſchaue feinen Kopf, ſehe einen leichten Blutſtrahl aus der Wunde quellen und einen großen, auf den Marmor verſpritzten Tropfen,

a Novellette von Fr. Holzer. 9

darin die vom Kronleuchter ausgeſtrahlten Lichter röt- lich reflektieren. Und ſein bleiches Geſicht wird mir immer bekannter, die Züge ſteigen immer deutlicher aus dem Qualm und Rauch heraus, bis ich endlich mein eigenes totes Geſicht erkenne.

Die Schickſale der Menſchen wiederholen ſich. Es gibt keinen einzigen Menſchen auf der Welt, deſſen ſelbſt noch ſo verwickeltes Schickſal ausſchließlich nur ſein eigenes wäre. Welche Phantaſie und grenzenloſe Erfindungskraft wäre dazu notwendig, um für jeden einzelnen ein beſonderes Schickſal auszudenken! Das iſt ja gar nicht möglich. So wird ſich denn auch das Schickſal des Unglücklichen, der vor Jahren an dieſer Stelle hoffnungslos liebte, an mir erfüllen.

Bis jetzt wiederholt fidh ja alles mit ſtrenger Ge- nauigkeit. Ich bin Offizier, jung und kräftig, wie er es geweſen, beſuche dasſelbe Kaffeehaus wie er, ſitze auf ſeinem Platze und liebe ein junges Mädchen da drüben am Büfett wie er. Gleich aufrichtig iſt meine Liebe, meine Abſicht gleich ehrlich wie bei ihm.

Nur die Entſcheidung iſt noch nicht beſtimmt, und ich ſchiebe ſie hinaus aus Furcht vor dem Ende.

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Die Angſt vor meinem Schickſal, das mir in allen ſeinen Einzelheiten vorſchwebt, hält mich ab, mich Olga anzuvertrauen. Möglich ift, daß fie etwas ahnt. Ihr aus- drucksvolles Geſicht zeigt ſich geſpannt, wenn ich einige Worte mit ihr wechſle, ihr Blick ruht oft fragend auf mir, wenn ich auf meinem Platz ſitze und mir Mühe gebe, den rätſelhaften Fleck mit einem Zeitungsblatte zu verdecken. Weiß Olga, was in mir vorgeht? Vielleicht fühlt ſie meine Liebe heraus, vielleicht lieſt ſie mir's aus den Augen und ahnt es aus meinen Worten, wenn ich mit ihr ſpreche.

10 Oer rote Fleck. o

Aber die wirkliche Tiefe meiner Gefühle ahnt fie gewiß nicht. Sie weiß nicht, daß ich mich ſehne nach ihr wie die Blüte nach dem Morgentau. Und gewiß

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weiß fie nicht, daß mein Schickſal mir vorbeſtimmt, daß jeder meiner Blicke, jedes meiner Worte nur eine Wiederholung deſſen iſt, was vor fünfzehn Jahren war.

* * *

o Novellette von Fr. Holzer. 11

Nichts geſchieht, und nichts ändert fih. Stets die- ſelbe Empfindung, das Froſtgefühl im Körper, ſo oft ich mich an meinen Platz im Kaffeehauſe ſetze, und die ſtete Angſt vor der endlichen Entſcheidung. Umſonſt ſuche ich mich zu überreden, daß das Meinige durch- aus keine Wiederholung des Schickſals meines unglüd- lichen Kameraden ſein muß. Das hängt doch ſchließlich von Olgas Entſcheidung ab. Sagt ſie „nein“ nun, dann weiß ich, was mich erwartet. Doch kann Olga auch „ja“ ſagen.

Warum alſo frage ich fie nicht?

* * *

Zwiſchen acht und neun Uhr abends ift das Kaffee- haus meiſt beinahe leer. An einigen Tiſchen hinter dem Billard leſen einige ältere Herren ihre Zeitungen. Die Kellner gönnen fih nach einem bewegten Nach- mittag Ruhe. In dem ganzen Lokal herrſcht Stille.

In dieſer Abendſtunde beſuche ich das Kaffeehaus am liebſten. Da kann ich ans Büfett treten und mit Olga plaudern. Sie iſt nicht beſchäftigt, lieſt oder be⸗ ſchäftigt ſich mit einer Handarbeit.

Heute trat ich zum Büfett, entſchloſſen, ihr alles zu fagen. Zn dieſer ungewöhnlichen Stille ſchien mir Olga noch ſchöner wie bei Tag oder bei dem Rauch- nebel in der Nacht. Sie nähte etwas an einem weißen Stoff und hob nicht einmal den Kopf in die Höhe, als ich näher trat. Erſt beim Klirren meines Säbels ſah ſie auf und bewillkommte mich mit dem ge— wohnten, freundlichen Lächeln. Ich glaube, es war Freude, die ich aus ihren Augen las. Kräftig und warm drückte ſie mir die Hand, legte die Arbeit zurück, heftete einen fragenden Blick auf mich, als fordere ſie mich auf: „Vohlan denn, ſprich, du großer, ſchüchterner Zunge!“

12 | Der rote Fleck. | | el

Wie erwähnt, war ich entſchloſſen, ihr alles zu fagen, Aber trotzdem hielt ich mich nur an ganz gewöhnliche, gleichgültige Sachen, wußte nicht, wie ich von ernſteren Dingen anfangen ſollte. Unſicher und verlegen plau- derte ich nur von meiner Perſon. Endlich vertraute ich ihr an, daß ich nicht gerne Soldat ſei, und auf des Vaters WVunſch ſpäter den landwirtſchaftlichen Beruf ergreifen würde am liebſten dort unten in dem lieben Dalmatien, wo der Himmel ſo blau und die Sonne ſo heiß iſt.

Lächelnd hörte ſie zu, als ich ihr die Reize meines Geburtslandes ſchilderte, und ihre Augen flammten bei der Schilderung der Pracht des Meeres.

„Dort möchte ich auch leben,“ ſagte ſie gedanken— voll.

Ich fühlte, wie mein Herz bei an ihrem Wunfche raſcher klopfte.

Und dennoch ſagte ich ihr nicht, was ich ſagen wollte, forderte ſie nicht auf, dort mit mir zu leben und in meinem Hauſe als Herrin zu walten. Warum tat ich es nicht? Ihre Augen, ihr Mund, der Ausdruck ihres Geſichts riefen mir zu: „Sprich ſprich doch!“

Und ich ſchwieg, ſchwieg wie eine Memme, zurück— ſchreckend vor jener rätſelhaften Drohung.

Das Kaffeehaus begann ſich zu füllen. Sch drückte Olgas Hand und ſetzte mich auf meinen Platz, wieder mit dem froſtigen Gefühle in Leib und Seele. Der rote Fleck auf dem Marmor ſtrahlte und glänzte höhniſch und mich verlachend.

* * K*

Es gibt keine andere Erklärung, und ich glaube daran trotz inneren Widerwillens. Der alte Jean fagte mir ſoeben, wann das Schreckliche ſich ereignete. Es

a Novellette von Fr. Holzer. 15

war am 24. Dezember, am heiligen Abend, als der verhängnisvolle Schuß krachte.

Das Schickſal meines Vorgängers wiederholt ſich aljo an mir folgerichtig und ausführlich. Eine ent- ſcheidende Frage konnte ich nicht früher aus mir her- ausbringen, als er es getan. Das war die Hand, die mir die Kehle zuſammenpreßte.

Weſſen Hand?

Ah weiß es nicht, unterliege aber ihrer Macht be- dingungslos.

Ich verſuche nicht einmal, die Entſcheidung früher herbeizuführen, als mir beſtimmt ift. Sch ſehe auf Olga hin, leſe beſtändig ihre Frage aus ihren traurigen Augen heraus und ſchweige. |

‚Am mich herum das freudige Wogen der nahen Weihnacht. Nur ich fühle keine Freude. Ich leſe das Schreiben, worin mich meine Mutter einladet zu den Feſttagen, und ich antworte nicht, bedaure nicht ein- mal, daß ich zum erſten Male die Feiertage ohne ſie verleben werde. Alles ſchwindet mir vor den Augen, Freudiges und auch Trauriges, vor mir ſchwebt nur der verhängnisvolle Tag mit dem letzten Augenblick in ſchrecklicher Erwartung.

* * *

Nichts geſchieht, nichts ändert ſich. Doch heute fällt die Entſcheidung. Habe mir einen Revolver gekauft, eine wunderſchöne und treffliche Waffe.

Wit ängſtlicher Pünktlichkeit ſchreite ich in den Fub- tapfen meines Vorgängers weiter.

Im gleichen Augenblicke wie er trete ich an das Büfett, wo mich Olga erwartet, blaß und aufgeregt.

Das Kaffeehaus iſt leer. Der alte Jean ſchlummert ſanft in einem Winkel. Ich lege meinen Mantel ab,

14 Dier rote Fleck. u

und Olgas beide Hände ergreifend beginne ich zu

ſprechen. Vas ich rede, weiß ich Ge Die Worte Fa mit

dem Munde, ich fühle, wie ſich meine Kehle er- weitert, als ſchwinde der Druck der geheim- nisvollen, ſtarken, fremden . ii Hand, die mich bis jetzt zu ſprechen hinderte. Zch fühle Olgas Hände in den meinen zittern, ſehe ihre Wangen er— röten, Tränen ſtürzen in Ce Augen, ihr Kopf neigt fih zur Seite. Und dann vernehme ich wie aus der Ferne das

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a | Novellette von Fr. Holzer. ` 15

gedämpfte und dennoch fo frohlockende „Za“, höre ver- ` worrene, freudige Worte und fühle eine brennende Träne auf meiner Hand.

„Ja, ich habe Sie von Herzen lieb, und wenn Sie mit mir zufrieden ſind, wie ich bin, gehe ich gerne mit Ihnen dahin, wo die Sonne wärmer iſt und heller der Himmel!“

Sn meiner Seele klingt es wie der Freudengeſang der heiligen Nacht.

Mit einem Schlage ſchwinden alle Schrecken aus meiner Seele, ein Gefühl großen Glückes erfüllt meine Bruſt, ich fühle mich frei, ſtark und verwegen und ziehe Olgas Kopf an mich, mit wilden Küſſen ihre Lippen bedeckend.

Da erwacht der alte Zean aus feinem Schlummer und ſtört mich aus der ſüßen Berauſchung auf.

„Sean, Jean, Ihr Fleck hat gelogen! Ich bin es nicht, an dem ſich das Schickſal wiederholen wird!“ rufe ich ihm zu und lache in wilder Freude.

„Ver hat gelogen? Was fehlt denn heute dem Herrn Leutnant?“ ſtottert Jean ganz verblüfft. Vqghr roter Fleck hat gelogen! Mein Blut wird ihn nicht friſch färben!“ entgegnete ich ihm, und einer plötzlichen Eingebung folgend, ſpringe ich auf den Tiſch zu, auf deſſen marmorner Platte der geheimnisvolle Fleck ſich rötet, und ſchlage mit der Fauſt den Rand dieſer Platte, wo der Fleck ſchimmert, ab). Krachend fällt das Stück Marmor zu Boden.

4) Siehe das Titelbild.

*

Die Apachen.

Ein Pariſer Roman von Fritz Levon.

(gortſetzung.) + (nachdruck verboten.)

aris iſt nicht nur die Stadt des Tändelns und der | „Verhältniſſe“, ſondern es gibt vielleicht auf der ganzen Erde keinen Platz, wo die Liebe des Volkes ſo fröhlich und harmlos auftritt, wie das verrufene Geine- babel, in deſſen vornehmen Vierteln die Kokotte Edel- ſteine verſtreut wie Riefel und Perlen wie Rindertränen. Wenn wir ſie ſehen, dieſe Pärchen, in dem Bois de Bou— logne auf den Raſen gelagert, zwiſchen ſich eine Flaſche Wein zu achtzig Centimes und über ſich eine Million Sonnenſtrahlen auf den kleinen Seinedampfern, eingekeilt in die Menge und lachend, wenn einer dem anderen in die Arme gedrückt wird wenn wir ihre Lieder hören, in denen heute wie vor hundert Jahren das kleine Vöglein ſein Neſt baut und die Roſe ihren Duft verſtreut: dann glauben wir nicht unter einem Volke zu fein, deffen politiſche Leidenſchaft Revolutionen gebiert und deſſen Fürſten einſt die Welt verteilten. Und wir denken am wenigſten jener dunklen Nächte, in denen das Verbrechen ſeine Schleuſen öffnet und ſich gleich einem Schlammſtrom bis an die Pforten der Paläſte ergießt. Jean Lecocq, der Apache, und Käthe Tonndorf, die Philiſtertochter aus der Saalgaſſe ſie waren

o Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 17

beide ſelig wie die Kinder vor dem Weihnachtsfeſt und wie die Brautpaare vor der Hochzeit.

Der junge Chemiker hatte es verſtanden, die Rolle des Fabrikarbeiters aufrecht zu erhalten. Aber wenn Käthe ihn nach der Arbeitſtätte fragte, ſo machte er eine leichte Handbewegung und deutete auf das Häufer- meer von Paris. Da unten irgendwo die Fabrik feiere augenblicklich, es ſei Streik. Aber er hätte ſich dreihundert Franken zurückgelegt, die müßten jetzt drauf- gehen, und wenn ſie verbraucht wären, dann ſei auch der Ausſtand zu Ende.

Es waren allgemeine Redensarten, die das Licht der Gegenwart feſthielten und die Schatten der Zu- kunft bannten. Das Ohr der Liebe hört nur zu willig darauf, oder es hört neben den Liebesworten über- haupt keinen Laut. Einmal muß ja doch die Zeit kommen, da das tiefe Schweigen dieſe lachende Welt auslöſcht. |

Berlin lag unendlich weit in der Ferne. Zn den erſten Tagen ihres Pariſer Aufenthalts hatte Käthe Egberts Brief beantworten wollen, dann war jener ſeltſam berauſchende Abend gekommen, an dem ſie entdeckte, daß ihr Herz nicht verſchenkt, ſondern nur verpfändet ſei. Nun hatte ſie es ausgelöſt und einem anderen gegeben nein, nicht gegeben, ſondern ſich nehmen laſſen in jenem Sturm der Leidenſchaft, die nicht wägt und zählt und mißt.

Die fo köſtlich iſt und fo gefährlich. Die Brand- wunden macht und Balſam darauf tropft.

Die immer und ewig bleiben wird, und wenn die große Fälſcherin Zeit alle Worte der Welt umprägt.

Jeden Tag, den die Sonne hergab, waren fie bei- ſammen. Sean kam niemals in die Kneipe von Mutter Vernot, er ſprach kein Wort darüber, er tat, als wenn

1913. IX. 2

18 Die Apachen. o

Käthe ein Schmetterling fei, der des Nachts in Rofen- kelchen ſchwebt.

Aber die Alte war klug und ſchwieg dazu.

Sie wußte ganz genau, daß ihre Nichte ein Ber- hältnis mit dem jungen Chemiker angeknüpft hatte, daß ſie tagsüber mit ihm Paris und die Umgegend durchſtreifte, und in ihrem Bräutigam einen fleißigen Arbeiter fab, der nur augenblicklich durch die Verhält- niſſe zur Untätigkeit gezwungen wurde aber das alles paßte ganz vortrefflich in ihre Rechnung.

Einmal mußte ja doch der Tag kommen, da es dieſem hübſchen deutſchen Gänschen wie Schuppen von den Augen fiel und fie erkannte, daß man mit ihvem Herzen und ihrem Glück ein frevelhaftes Spiel getrieben habe. Und wenn ſie dann nicht etwa aus Gram in die Seine ging, wie die kleinen tollköpfigen Pariſer Mädchen das mitunter taten, dann war ſie reif, um eine Zierde der Apachenkneipe zu werden, das „Kanin- chen“ zum Mittelpunkt der Ritter des Montmartre zu machen.

War dies Weib eine Kanaille?

Ach, ſie war nicht viel beſſer oder ſchlechter als Tauſende ihresgleichen, die allein in der Welt ſtehen und durch das Schickſal gezwungen werden, den bitteren Kampf um das Daſein mit nicht ganz ſauberen Waffen zu führen. Sie unterſchied ſich nur von den übrigen durch das häßliche Merkmal der Verwandtſchaft mit ihrem Opfer; aber es gibt ja ſogar Mütter; die ihr eigenes Fleiſch und Blut verkuppeln. Was wollte es da groß bedeuten, daß Käthes Mutter vor Jahren den Namen ihrer Schweſter getragen hatte! Sie war ja durch die Heirat mit dem Deutſchen aus der Familie geſchieden, ſie war tot, und das Gras auf ihrem Grabe wuchs aus fremder Erde empor.

a Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 19

Käthe empfand in dieſen Tagen die WVohltat der Poſtkartenerfindung. Sie hatte ſich längſt vorgenom- men, einen ausführlichen Brief an den Vater zu ſchrei— ben, und es fehlte ihr auch nicht die Zeit dazu. Aber jo oft fie die Feder anſetzen wollte, kam ihr die Er- kenntnis, daß ſie die Bogenſeiten doch mit irgend etwas ausfüllen müßte, mit einer Schilderung ihres Lebens und Treibens, ihrer Arbeit, ihrer Umgebung.

Und fie erkannte, daß ihr das unmöglich ſei.

Sie mußte alsdann die Augen öffnen, ſie mußte Rechenſchaft geben über ſich und andere, und wenn das alles ſchwarz auf weiß geſchrieben ſteht ach, ſelbſt die Diplomaten halten lieber lange Reden, als daß ſie ein einziges Mal die Feder anſetzen. Denn es lügt ſich ſo leicht mit den Lippen, und die Wahrheit iſt ſo ſchwer zwiſchen den Zeilen zu verbergen.

Eine Sache gab es, die Käthe zwar nicht gerade beunruhigte, die ihr aber doch ein gewiſſes Ropfzer- brechen verurſachte. Sie war nun mit ihrem Schatz in halb Paris herumgeweſen und hatte ihn mehr als einmal gebeten, ihr doch ſeine Wohnung zu zeigen. Er hatte immer wieder Ausflüchte. Bald war der Weg zu weit, bald hatte er Hunger und mußte mit ihr in irgend ein Reſtaurant, oder es gab ſonſt ein unüber- windliches Hindernis.

In Wahrheit war es ihm unmöglich, den Wunſch des Mädchens zu erfüllen, denn er hauſte noch immer in jener verlaſſenen Baubude mitten im Apachengebiet, und ein einziger Blick in dieſes „Heim“ hätte die ganze Wahrheit unbarmherzig enthüllt.

Für die dreihundert Franken, die Jean von Renard erhalten hatte, wäre allerdings eine anſtändige Woh- nung zu befchaffen geweſen, aber das köſtliche Bummel- leben der beiden jungen Leute verſchlang ohnehin genug,

20 Die Apachen. 2

und ſolange der Sommer währte, und ſolange die Polizei keine Razzia anſtellte, war das jetzige Freilogis gerade

gut genug die ſchönen Fünffrankenſtücke konnten

beſſer angewendet werden. |

Aber nun fam ein Sonntag. Das Pärchen wollte ihn vom Morgen bis zum Abend zuſammen verbringen, und Madame Vernot gab Käthe auf deren Bitten bereitwillig Urlaub. |

„Wenn du nur heute abend wieder da biſt, Kind,“ ſagte ſie mit ihrem gütigſten Lächeln, „dann gönne ich dir gerne das kleine Vergnügen. Ich hab' ja doch ſchon längſt bemerkt, daß ſich was anſpinnt, und der junge Menſch ſcheint ja ſo weit ganz anſtändig zu ſein.“

Wie immer trafen ſie ſich an der Bank in den An- lagen, wo ſie den erſten Kuß getauſcht hatten.

„Heute aber wird es,“ ſagte Käthe. „Wir gehen zuerſt nach deiner Wohnung, denn die will ich endlich einmal ſehen, dann können wir irgendwo frühſtücken, und der Nachmittag bleibt uns für einen Ausflug übrig. Es muß doch irgendwo eine billige Verbindung nach deinem Stadtviertel geben, denn du biſt täglich auf dem Montmartre, und ich merke dir niemals eine be- ſondere Ermüdung an.“

Jean Lecocq war die Zärtlichkeit in Perſon. „Natür- lich, mein Liebling, heute wird es Ernſt. Aber am Sonntag ſind die Fahrgelegenheiten alle überfüllt, und wir haben ſo viel Zeit vor uns, daß wir recht gut zu Fuß gehen können. Sieh nur dieſen köſtlichen Sonnen- ſchein, und dabei iſt es nicht im mindeſten ſchwül!“

Das war ſie wohl zufrieden. An der Seite dieſes ſchönen Mannes durch ganz Paris zu bummeln denn ſeine Wohnung lag angeblich ſüdlich vom Quartier Latin dünkte ſie ein köſtliches Vergnügen, beſonders weil er heute einen funkelneuen Anzug trug, der für

o Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 21

ſechzig Franken aus dem „Bonmarché“ ſtammte. Käthe hatte ſich ja auch ſchön gemacht, und ſie ſah wirklich aus wie eines jener graziöſen Pariſer Mädchen, die mit einer Bluſe und einer Schleife Wunderdinge ſchaffen.

So zogen ſie Arm in Arm von dannen. Jean war zuerſt etwas ſchweigſam, denn er grübelte darüber nach, wie er ſich aus der Klemme ziehen ſollte; aber als ſie ſo zwitſchernd wie ein Vögelchen auf ihn einplauderte, da hob er endlich den Kopf und verließ ſich auf den Zufall. ,

So kamen fie an en Louvre. Die Pforten des berühmten Runftinftituts ſtanden weit offen, denn es war heute Volkstag und freier Eintritt.

„Du haſt noch nicht die Venus von Milo geſehen,“ ſagte Jean, „wollen wir die günſtige Gelegenheit be- nützen?“

„alt die wirklich fo ſehenswert?“

„Das Schönſte, was ich kenne außer dir.“

Die kleine Schmeichelei mußte belohnt werden, und Käthe ging mit hinein. Sie hatte ja als Jenenſer Kind und durch ihren Vater Intereſſe für die Kunſt ge- wonnen, und es durchſchauerte ſie ganz ſeltſam, wie ſie den weltbekannten langen Säulengang entlang ſchritt, an deſſen Ende die Rotunde das hehre Bild der Göttin birgt.

Es war ganz ſtill in der Nähe, denn das Volk drängt ſich nicht an dieſer Weiheſtätte, aber als ſie Arm in Arm vor der Statue ſtanden, da ſagte Käthe nach einer langen Pauſe: „Wie jammerſchade, daß die Arme fehlen! Man würde ſonſt wenigſtens wiſſen Aber komm,“ ſetzte ſie leiſe hinzu, „wir wollen gehen.“

Sie war ſehr rot geworden.

Draußen ſchien die Sonne plötzlich heißer, es flim-

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merte in der Luft. Das war wohl nur der Gegenſatz zwiſchen den kühlen Hallen des Louvre und den Häufer- maſſen, die ihre Glut aushauchten. l

Aber Käthe ſagte plötzlich: „Wenn es noch weit bis zu deiner Wohnung iſt, dann werde ich müde. Überhaupt —“

Er griff das Wort auf wie einen Ball, und weil ſie gerade auf dem Pont des Arts ſtanden, wo ſich tief unten an der Kaimauer eine Anlegeſtelle für die kleinen Seinedampfer befindet, machte er den Vor— ſchlag, daß fie zunächſt einmal den Fluß hinunterfahren wollten, um die ärgſte Hitze draußen im Grünen ab- zuwarten.

„Vielleicht bis Saint Cloud,“ ſagte er, „oder ſonſt irgendwo in die Nähe. Da find ja tauſend Gelegen- heiten zur Rückkehr, beſonders an einem Tage wie heute.“

Es war wirklich nur das Beſtreben, die fatale Wohnungefrage möglichſt hinauszuſchieben, und Käthe ging ganz arglos darauf ein. Mit ein wenig Spürſinn hätte ſie wohl merken können, daß er eines der größeren Schiffe wählte, die nicht nur die unmittelbare Um- gebung von Paris abſtreifen, ſondern weiter hinaus- fahren, ſeltener anlegen und nicht alle halbe Stunde die Rückkehr ermöglichen.

Aber ſie dachte an nichts, als was der Augenblick brachte. |

Die Nummer des Schiffes war 13, denn dieſe ſchmucken und flinken Dinger führen keinen beſonderen Namen; es find ihrer fo viele, daß fie nur durch die Zahl unterſchieden werden. Käthe meinte lachend, es fei eigentlich eine Unglücksnummer.

Aber er entgegnete ebenſo ſcherzend, auf dieſem ſchönen Fluß fei noch kein Menſch verunglückt, er müßte

2 Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 23

denn geradezu hineinſpringen, und dazu wären ſie beide doch noch viel zu jung.

Sie waren faſt alle jung, die auf dieſem Schiffe lachten und koſten und die kleinen Chanſons ſangen von dem Vögelchen, das fein Neft baut, und von dem Habicht und der Taube.

Weil es auf dem Verdeck ſehr voll war, gingen die beiden hinunter in die Kajüte und ließen ſich eine Literflaſche von dem gelblichen Landwein geben, der jo angenehm auf der Zunge prickelt und ganz unver- merkt in das Blut geht.

Als ſie aber endlich den letzten Tropfen aus dem gemeinſamen Glaſe getrunken hatten und die Treppe hinaufkletterten, da lag Paris weit hinter ihnen, und die beiden Ufer der Seine waren mit einſamen grünen Büſchen bewachſen.

„Das fährt wohl bis ans Ende der Welt?“ ſagte Käthe etwas verdutzt.

Jean zuckte die Schultern. „Wir haben uns wohl wirklich da unten ein bißchen feſtgekneipt. Aber an der nächſten Halteſtelle ſteigen wir aus es iſt ja alles ganz einerlei an einem Tage wie heute.“

Ein ganz kleines Neſt war es, wo ſie ans Land kamen. Einen Namen trug es ja wohl, aber den wußten ſie nicht und achteten auch nicht darauf. Sie ſahen nur ein kleines Wirtshaus und ein paar verſtreute Hütten dahinter aber den tiefen, grünen, dämmerigen Wald.

Das Schiff fuhr mit ganz wenigen Paſſagieren noch weiter; es mußte alſo auch zurückkommen, und vielleicht kamen noch ihrer mehr.

Weil aber die Sonne ſchon ſchräg ſtand, gingen ſie zunächſt in den Wald, denn wenn die Pariſer aus ihren Steinmauern herauskommen, dann ſuchen ſie immer

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zuerſt die Bäume auf und laufen den Libellen nach alles andere dünkt ſie dagegen eine Narrheit.

Dieſen Wald hatte ſicherlich heute noch kein Menſch

betreten. Die Wege waren ganz mit Gras überwuchert,

und das Wild zeigte ſich ſo zutraulich, als ob noch niemals eines Jägers Büchſe das Echo geweckt hätte. Selbſt die Vögel ſangen in einer abſonderlichen Weiſe ganz leiſe und ſüß, um das ſchlafende Geheimnis nicht zu wecken. |

Und es gab kein Ende in diefem Walde, Eine-ganze Stunde waren fie ſchon gewandert, ohne auch nur auf die Hütte eines Forſtwarts zu ſtoßen. Als fie aber endlich ein Stückchen Himmel vor ſich ſahen, da war das roſig gefärbt und die Sonne wollte ſich zu Bett legen.

Da meinte Käthe, es ſei nun wohl an der Zeit, umzukehren, denn man könnte doch nicht ſo genau wiſſen, ob noch viele Schiffe den Strom hinaufgingen, und eine andere Beförderungsgelegenheit ſei ſicherlich nicht mehr vorhanden.

„Es müßten denn unſere eigenen Füße ſein,“ ent- gegnete er ſorglos und betrachtete prüfend die feinen Schuhchen, die Käthe trug. „Für eine Deutfche find ſie viel zu klein,“ ſetzte er hinzu.

Nun begann fie ein wenig zu zanten und belehrte ihn, daß die Thüringer Mädels es mit der ganzen Welt aufnehmen könnten, denn die feien nicht von der ſchwer⸗ fälligen norddeutſchen Raſſe. „Und wenn wir in Zena mit den Studenten tanzen, dann färbt das auch ein bißchen ab. Haft du es nicht gemerkt, als du mich auf dem Montmartre zum erſten Male im Arm hatteſt oder ſpäter auf der Bank im Mondlicht?“ |

Als er fie darauf haſchen wollte, lief fie vor ihm davon. Es war nicht ſo ſehr ernſt gemeint, denn er

D Ein Parifer Roman von Fritz Levon. 25 ſollte ſie natürlich einholen, und er war auch ſchnell genug bei der Hand. Aber als ſie ſeinen Atem hinter fih ſpürte und im Umblicken feine leuchtenden Augen ſah, die in der Dämmerung etwas NRaubtierartiges hatten, da ſtrengte ſie ſich wirklich an und hätte faſt um Hilfe gerufen.

Da hatte er ſie. Er legte ganz feſt beide Arme um ihre Schultern und küßte ſie auf den Mund es war faſt wie bei jenen Apachentänzen auf der Bühne, die ſie nun ſchon mehrfach geſehen hatte, ohne doch ihren Namen zu kennen, und ſie verlor faſt den Atem.

„Ich bitte dich, Jean es iſt hier ſo einſam!“

Nun gingen ſie wieder ganz ehrbar, Arm in Arm wie ein ſolides Brautpaar. Sie achteten auf den Weg. Die Richtung des Fluſſes war ihnen nach der Himmels- gegend und dem Abendrot bekannt, und Jean Lecocq dachte an gar nichts weiter, als daß ſie nun gerade das letzte Schiff erreichen würden, und dann ſei es natürlich zu ſpät, um in Paris eine Wohnung zu be- ſichtigen, die es gar nicht gab.

Er dachte wirklich an nichts weiter, denn wenn er auch unter Leuten lebte, denen ſelbſt ein Menjchen- leben unter Umſtänden nicht viel gilt, ſo wollte er doch ein geſchenktes Vertrauen nicht mißbrauchen.

Endlich blickte ihnen das Waſſer der Seine entgegen. Sie kamen gerade an der Stelle wieder heraus, wo das kleine Wirtshaus lag, hinter deſſen Fenſtern be- reits die Lichter brannten, und als ſie haſtig, wie von einer unbeſtimmten Ahnung erfüllt, nach dem An- legeplatz hinuntergingen, da war der Fluß ſtille und einſam.

Es ſtand eine Tafel an der Treppe, die ſie beim Ausſteigen überſehen hatten. Jean zündete ein Streich- holz an, um nach der Uhr zu ſehen und den Fahrplan

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zu betrachten, während Käthe ganz ftare flußabwärts blickte, denn wenn noch ein Schiff kam, dann mußten ſeine Lichter jetzt auftauchen.

Plötzlich ließ ihr Begleiter das glimmende Hölzchen fallen und ſetzte hart den Fuß darauf. „Zehn Minuten zu ſpät. Das letzte Schiff iſt vorüber.“

Käthe ſchrie leiſe auf. „Aber Jean, was beginnen wir jetzt?“

„Ich denke, wir nehmen am beiten zunächſt unfer Abendbrot zu uns. Du mußt doch auch Hunger haben, Schatz.“

„ga, zum Umfallen. Aber was dann?“

Er betrachtete den Horizont, an dem nach dieſem heißen Tage dunkle Wolken aufſtiegen, und hob die Schultern. „Ja, was iſt da zu machen? Zu Fuß er- reichen wir Paris nicht mehr, und außerdem wird es ein Gewitter geben. Wir werden wohl die Nacht hier bleiben müſſen. Es iſt wenigſtens ein Glück, daß das Wirtshaus einen anſtändigen Eindruck macht.“

* * *

Der Vormittag war ſchon ziemlich weit vorgeſchritten, als Käthe Tonndorf zum Montmartre emporſtieg. Das Gewitter der letzten Nacht hatte die Luft gereinigt; ſie war ſo klar, daß man jeden einzelnen Träger des Eiffelturms zählen konnte, obwohl der gigantiſche Bau ſich nur wie ein Spinngewebe gegen den Himmel abhob.

Neben dem Eingang zum Montmartrefriedhof blieb das Mädchen ſtehen und fab nach dem Babelbau hin- über. Sie war Iden einmal mit Jean da oben ge- weſen, um die Ausſicht zu genießen, und ſie hatte damals mit leiſem Grauen das Schwanken des Un- geheuers geſpuͤrt, obwohl der Führer ihr vorrechnete,

D Ein Parifer Roman von Fritz Levon. 27

wie viele Meter tief die Grundanker des Turmes in der Erde verſenkt ſeien.

Ob einer da ſchon mal heruntergeſtürzt ſei, hatte ſie gefragt.

„Nicht geſtürzt, Fräulein, aber wohl geſprungen o ja, mehr als einer und eine.“

Daran dachte Käthe ganz flüchtig, und dann fiel ihr etwas anderes ein ſcheinbar ganz zufammen- hanglos, aber es kam wohl daher, weil ſie neben dem Friedhof ſtand:

„Die Vögel ziehn, die Blätter rauſchen nieder, Die Liebe ſtirbt im Winter wie das Grün —“

Es paßte jo ſchlecht wie möglich auf die Umgebung, denn Paris lag in einem leuchtenden Sommerglanz, es dachte kein Menſch an niederfallende Blätter und den Geſang des Vögelchens an der Gruft.

Aber die Menſchen ſind bisweilen ſo ſonderbar. Weil ihnen ein gütiges Geſchick die Kaſſandragabe ver- jagt hat, taften fie ſich in eine unbekannte Zukunft hinein, und was unter ihre Finger kommt, das ſind Rätſel.

Käthe ging weiter. Sie ſah heute vielleicht beſonders hübſch aus, denn die Leute ſchauten ihr nach.

gebt war fie vor dem „Kaninchen“.

Sonſt pflegte Käthe immer die Kleider aufzuraffen, wenn ſie das Haus durch den dunklen und ſchmutzigen Eingang betrat, aber heute trug fie eine gewiſſe Gleich- gültigkeit zur Schau. Oder fie dachte wirklich an andere Dinge, denn als ihr in der Gaſtſtube, durch die ſie ihre Kammer erreichen mußte, die fette Stimme der Ma- dame Vernot entgegenklang, fuhr fie ein wenig zu- ſammen und ſah ſich verwirrt um.

„Kommſt du endlich?“ fragte die würdige Dame. „Ich wollte dich ſchon durch die Polizei ſuchen laſſen, denn ſo was iſt in Paris keine Kleinigkeit.“

23 Die Apachen. oa

Es war immer noch ein bißchen Verſteckſpiel zwiſchen Tante und Nichte über den Charakter der Kneipe, aber die Sache war allmählich doch fadenſcheinig geworden, und die Bezugnahme auf die Polizei wirkte geradezu komiſch.

Darum zuckte Käthe mit den Lippen, als wenn ſie lachen wollte. „Reg dich doch nicht auf. Die Polizei wirſt du wohl nicht beläſtigen, denn du biſt froh, wenn ſie dich in Ruhe läßt. Und der Weg nach der Morgue ijt fo weit —“

Die Alte lenkte ein. „Wie du nur gleich biſt, Käthe! Als Tante werde ich doch wohl noch fragen dürfen, wo du geweſen biſt?“

„Veit draußen, in einem kleinen Neft an der Seine. Mir hatten uns bei einem Ausflug verſpätet, Jean und ich. Wir erreichten das letzte Schiff nicht mehr. Das iſt alles.“ |

„Na ja, das konnteſt du ja gleich fagen. Willſt du eine Taſſe Kaffee?“

Das Mädchen hatte ſich vor den Spiegel geſtellt und den Hut abgenommen. Es fehlten ihr wohl ein paar Haarnadeln, denn die loſe zuſammengeſteckte Friſur wollte nicht recht halten. Plötzlich glitt die ganze Herrlichkeit herunter auf die Schultern und zu- letzt bis zu den Hüften.

Wie wenn ein Rabe ſein Gefieder ausbreitet.

„Das kommt davon,“ ſagte die Alte, „wenn man liederlich Toilette macht.“

Da fuhr Käthe herum und fab mit zornfunkelnden Augen von einer Wand zur anderen. „Soll ich dir fagen, was liederlich ift? Willſt du es wiſſen? Jeder Tiſch und jeder Stuhl in dieſem Loch, jede Schnaps- flaſche auf dem Büfett, alles, was man mit den Händen greifen kann alles! Mein Vater wollte mich in ein

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anftändiges Haus ſchicken, und ich ſelbſt dachte zu der Schweſter meiner Mutter zu kommen na ja, das letztere ſtimmt ja auch, aber ſonſt ſtimmt nichts!“ Sie holte tief Atem und fuhr dann ruhiger fort: „Du brauchſt keine Angſt zu haben, daß ich fortlaufe. Ich bin nun einmal hier und muß bleiben, denn auf der Gaſſe ſoll man mich nicht finden. Aber lange dauert das nicht mehr. Gott fei Dank, mein Bräutigam ift ein ehrlicher Mann, und wenn der Streik vorüber iſt, dann hat er Brot für uns beide. Er wird mich heiraten, und er fährt ſchon morgen nach Deutſchland, um mit meinem Vater die Sache in Ordnung zu bringen, denn ich bin keine von denen, die man ſo um Gottes willen auf- ſammelt. Es ſoll alles ſeine Art haben. Und nun kannſt du mir meinetwegen Kaffee geben, denn den verdiene ich noch damit, daß ich deinen Apachen des

Abends die Gläſer kredenze.“ |

Da war das ſchlimme Wort heraus, zum erften Male mit unzweideutiger Klarheit.

Die Alte duckte ſich zuſammen. Aber ſie hatte trotz ihrer ſchwammigen Geſtalt eine elaſtiſche Natur, und fie rich- tete ſich wieder auf wie der Baum nach dem Ungewitter.

Eigentlich war ja alles in beſter Ordnung.

Und in dem Gedanken an die wackelige Bude da draußen im Baugelände, von der ihr Jules Renard erzählt hatte, kitzelte fie die Frage, ob Jean Lecocq denn auch ſchon für eine nette Familienwohnung ge- ſorgt hätte. Aber ſie ſchluckte den niedlichen Scherz hinunter, denn einesteils war ſie eine vorſichtige Frau, und anderſeits

Nun ja, dieſes leichtgläubige dumme Ding war zwar nur eine Deutſche, aber fie blieb doch immerhin fogu- ſagen die Tochter ihrer verſtorbenen Schweſter.

* *

30 Die Apachen. | o

Der alte Linde hatte es wirklich durchgeſetzt, daß ſeine Penſionierung ſchon zum 1. Auguſt heraus- kam, denn die im Beamtendaſein fo berüchtigten Fünf- undſechzig konnte er aufweiſen, und es waren genug Bewerber vorhanden, die aufrücken wollten.

Seitdem er in Jena geweſen war und akademiſche Luft geatmet hatte, ekelte ihn der Bureaudienſt förm- lich an, und als er das koſtbare Papier in Händen hielt, das ihm jährlich zweitauſendvierhundert Mark Ruhe- gehalt zuſicherte, fuhr er ſtracks nach Jena zurück und ſetzte ſich bei Fritz Tonndorf feſt in der Bude ſeines Sohnes wie ein richtiger Bruder Studio. Und er begann nun auch das Leben eines ſolchen zu führen, das heißt er tat nichts mehr und intereſſierte fidh leb- haft für Früh- und Dämmerſchoppen.

Niemals, ſolange er zurückdenken konnte, waren ſeine Sorgen ſo gering geweſen, denn das vorausſichtlich recht langwierige Studium des Sohnes hatte ihm doch bisweilen arg in den Knochen gelegen, und nun war der Bengel mit einem Sprung ein ſelbſtändiger Mann geworden, der faſt ſo viel verdiente, wie ein Amts- richter als Anfangsgehalt bekam.

„Es ift doch was mit dem Aufſchwung in Oeutſch- land,“ ſagte er wohl zu ſeinem neugewonnenen Freunde Tonndorf. „Überall Leben und Fortſchritt, überall Gelegenheit zum Gelderwerb nur wir kleinſtaat- lichen Beamten haben ſozuſagen nichts. Aber das haben wir wenigſtens ſicher.“

And mit dieſem etwas verſchimmelten Witz verband ſich doch ein heimliches Behagen. Es war wirklich etwas Sicheres, monatlich zweihundert Mark aus einer Kaſſe ſchöpfen zu können, die niemals verſagte, die niemals Bankrott machen konnte!

Oder das Weltall hätte zuſammenſtürzen müſſen.

el Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 31

Ruprecht Linde fing an zu ſchmökern. Er hatte ſich niemals um die Literatur kümmern können, denn wenn die acht Bureauſtunden heruntergeſchunden waren, dann kamen die Schoppen und die Zeitung und das Bett. Aber ſeitdem Egbert die ſchönen Wiſſenſchaften vertrat er drückte ſich wenigſtens ſo in ſeinen Briefen aus ſeitdem empfand der Alte die Pflicht, das Ber- ſäumte nachzuholen, und Fritz Tonndorf hatte das ganze Gewölbe voll alter Scharteken.

Aber allmählich kam der Juriſt und der Aktenmenſch wieder zum Vorſchein. Der Antiquar hatte mit ſeiner feinen Spürnaſe aus verſtaubten Winkeln eine ganze Maffe Zeug zuſammengehamſtert: Hexenprozeſſe, gegen deren langatmige Protokolle das rotgeſchriebene „fac- tum“ unter dem Schöppenſtuhlurteil mit ſchauerlicher Kürze abſtach Verhandlungen des Reichskammer- gerichts, die durch hundert Jahre verſchleppt und end- lich verſandet waren Strafakten der Juſtizkollegien, die längſt hätten eingeſtampft ſein ſollen und in irgend einem Archiv geſchlummert hatten, bis man ſie als Makulatur verkaufte.

Unter dieſen war beſonders ein Juwel: die Unter- ſuchung gegen einen berüchtigten Raub- und Mord- geſellen, der in den Fahren 1770 und 1771 die Um- gegend von Magdeburg unſicher gemacht hatte und einige Jahre ſpäter ſeine Schandtaten unter dem Rade von unten herauf büßen mußte.

Dieſe Schätze ſchleppte Ruprecht Linde aus dem Gewölbe vier Treppen hinauf in ſeine Bude. Sie waren nicht zum Verkauf beſtimmt, ſondern nur zum Liebhaberbeſitz, und man konnte an den drei dicken Bänden wochenlang leſen, obwohl hinten ſehr viel leeres Papier war und vorne noch viel mehr leerer Formel- kram. Wie hatten diefe alten Juſtizbeamten prachtvoll

32 Die Apachen. o

mit ihren Gänſekielen geſchrieben, und wie ſchien das Papier für die Ewigkeit geſchaffen!

Der Aſſeſſor denn er war wirklich mit dieſem Titel penſioniert worden ſtreichelte es mitunter voll Zärtlichkeit und gewann dadurch Fritz Tonndorfs ganzes Herz. Denn die beiden alten Knaben hatten ja nichts weiter zu liebkoſen, und das war ein Punkt, der zu- zeiten leiſe und vorſichtig zwiſchen ihnen erörtert wurde.

Die Kinder!

Daß die einander gerne gehabt hatten, wußten ſie beide, oder ſie ahnten es wenigſtens, und wenn ſie des Abends in der „Roſe“ oder in der „Guten Quelle“ beiſammen ſaßen, dann hob wohl Ruprecht Linde grüßend und mit ſeinen Augen zwinkernd das Glas.

Aber Fritz Tonndorf wollte nichts davon wiſſen.

„Es kommt vor,“ ſagte er. „Bei uns in Zena fliegen die Herzen leicht zuſammen, und wenn's keine Ramerad- ſchaft iſt, ſo wird Liebe daraus. Die Treue iſt auch im Saaltal nicht ſeltener und nicht häufiger als ander- wärts, und ſie kann ihre Brücke bis Berlin ausſpinnen. Aber in Paris weht eine andere Luft.“

„Sind auch Menſchen wie wir,“ meinte der Aſſeſſor.

„Die Menſchen machen es nicht, lieber Freund. Es iſt das Große und Gewaltige und Betäubende einer Weltſtadt, was die Gedanken nicht zur Ruhe kommen läßt und die Erinnerung verwiſcht. Ich ſelbſt war nahe daran, Oeutſchland zu vergeſſen, und ich hatte doch keinen Tropfen romaniſchen Bluts in den Adern. Meine Käthe aber iſt durch ihre Mutter eine halbe Franzöſin, oder mehr als halb, denn die Kinder haben immer das meiſte von der Mutter. Wenn ich ſie nicht hätte ziehen laffen, fo wäre fie mir ſchließlich durch die Lappen gegangen ich glaube nicht, daß ſie jemals wieder zurückkommt.“

O Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 33

„Was ſchreibt ſie denn?“

„Wenig oder gar nichts. Lieber Himmel, ſie hat wohl viel um die Ohren, und ein alter Kerl wie ich darf keine großen Anſprüche machen. Aber das Papier iſt in Paris nicht teurer als bei uns, mit den Anfichts- karten vom Louvre iſt mir auf die Dauer nicht gedient.“

Die Unterhaltung fand am Fuße des Fuchsturms ſtatt, den die beiden häufig beſuchten, und Fritz Tonn- dorf deutete auf das alte Gemäuer, aus deſſen Riſſen das Gras wucherte.

„Neulich ſchickte ſie mir zur Abwechſlung eine vom Eiffelturm, und ſie ſchrieb dabei, das wäre doch was anderes als unſer Gerümpel. Sie iſt am Fuße des Hausberg geboren und mit Saalwaſſer getauft, aber das klingt nicht nach Heimweh oder auch nur nach Heimatliebe, denn das Weh will ich ihr gerne er- ſparen.“

Er hatte die Karte hervorgeholt und dem Aſſeſſor gezeigt. Der betrachtete mit Intereſſe die wenigen geſchriebenen Zeilen, die ganz gegen alle Mädchenart nicht einmal den Raum ausnutzten und überhaupt einen ſeltſam flüchtigen Eindruck machten.

„Da könnte manches dazwiſchen ſtehen,“ ſagte er nachdenklich. „Übrigens ein pompöſes Bauwerk, dieſer Eiffelturm; ich möchte das wohl mit eigenen Augen ſehen.“

„Ich auch, Herr Aſſeſſor. Als ich Paris verließ, dachte man gerade daran, ihn zu errichten. Aber er ſtand noch nicht, es war erſt der Platz beſtimmt auf dem Marsfelde und in nächſter Nähe der Zena- brücke. Alſo geht er uns auch was an, es gibt immer wieder Beziehungen in der Welt.“

„Reiſen Sie doch hin!“ riet Linde, der ſich immer noch mit der Poſtkarte beſchäftigte, denn er Da in

1913. IX.

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Eiſenach als Schreibſachverſtändiger fungiert und ver- ſtand ein bißchen von der Graphologie.

„Ich habe ſchon ſelbſt daran gedacht,“ ſagte Tonn- dorf. „Mein Gewölbe kann ich ganz gut ein paar Wochen ſchließen, oder Sie ſetzen ſich als Vertreter hinein. Es war überhaupt ein Leichtſinn von mir, das Mädel fo in die Welt hinauszuſchicken. Fünfund- zwanzig Jahre können vieles ändern, vielleicht haben fie meiner Schwägerin auch ein anderes Geſicht gemacht.“

„Dann würde ich nicht lange zögern. Dieſe Schrift gefällt mir nicht, Herr Tonndorf. Es iſt keine Klarheit darin, ſondern jeder Buchſtabe ſieht wie ein Geheimnis aus.“

Sie brachen die Unterhaltung ab und ſtiegen tal- wärts. Es war ein ſchöner ſtiller Abend, aber hinter den jenſeitigen Höhen lagerten verdächtige Wolken.

Später löſten ſie ſich in ein Gewitter auf, obwohl die Luft nicht ſchwül geweſen war. Und als Ruprecht Linde in ſeiner Studentenbude hinter den Magdeburger Räuberakten ſaß und nebenbei darüber nachdachte, wie doch ſo viele Dinge ganz unerwartet kommen, trat Fritz Tonndorf ein und hatte einen Brief in der Hand.

„Endlich!“ ſagte er. „Der erſte und vier Seiten lang. Können Sie raten, was er bringt?“

„Eine Liebesgeſchichte?“

„Wie kommen Sie darauf?“

„Es ſtand Iden in der Handſchrift auf der Eiffel- poſtkarte. Unruhig flatternde Herzen treiben ihren Pulsſchlag bis in die Fingerſpitzen.“

„Unruhig flatternde Herzen!“ wiederholte der Alte nachdenklich. „Eigentlich iſt in dem Briefe davon nichts zu merken im Gegenteil, die Käthe ſchreibt ſehr kühl und verſtändig. Aber mit der Liebesgeſchichte hat es ſeine Richtigkeit. Sie iſt verlobt, und zwar, wie es

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den Anſchein hat, mit einem ſoliden und anſtändigen Menſchen. Nun hören Sie doch bloß den Donner- ſchlag! Das muß der Richtung nach im Paradies nieder- gegangen ſein.“

„Ja,“ fagte Ruprecht Linde, „warum gibt man der Gegend auch ſo 'nen überirdiſchen Namen? Alſo ein ſolider, anſtändiger Menſch! Ein Oeutſcher?“

„Nein, natürlich Vollblutfranzoſe Jean Lecocq heißt er. Er iſt Werkführer in einer chemiſchen Fabrik, alſo ſchon was Beſſeres. Aber darauf lege ich nicht das Hauptgewicht —“

„Sondern —“

„Er kommt in dieſen Tagen hierher. Er will meine Bekanntſchaft machen und förmlich um das Mädchen anhalten. So was paſſiert nicht alle Tage.“

„Nein,“ ſagte Linde, „einem Franzoſen hätte ich das gar nicht zugetraut. Sie wollen ihn aufnehmen?“

„Das iſt ganz ſelbſtverſtändlich. Die Liebe geht immer ihren eigenen Weg, Vater und Mutter können höchſtens Steine und Diſteln aus dem Wege räumen.“ Er ſah ſich um und lächelte. „Wenn das Mädel hier wäre, dann möchte es ſchwer halten, hier Platz zu ſchaffen. Nun kann er in ihrem Stübchen ſchlafen; es ſind noch ein paar Erinnerungen darin, die ihn wohl nicht ſtören werden, und in Paris lernt man es, ſich mit dem Raum zu beſchränken. Ich hatte ſeinerzeit ein Bett, einen Tiſch und zwei Stühle. Ich möchte wohl wiſſen, ob mein zukünftiger Schwiegerſohn es beſſer gewohnt iſt.“

Er ging, drehte ſich aber noch einmal an der Tür um.

„Ich glaube, lieber Linde, wir beiden alten Knaben ſind in den paar Wochen Freunde geworden. Das kann ſo bleiben, wenn auch das andere ins Waſſer gefallen iſt. Schreiben Sie an Ihren Jungen, daß er

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ſich unter den Berliner Mädels umſehen foll. Die Zenenſer find zu flatterig, fie können nicht auf einen Literaten warten. WVerkführer in einer chemiſchen Fabrik ei, das läßt ſich hören, es iſt doch etwas Solides daran. Ich wollte nur, die Käthe hätte ein bißchen Genaueres darüber geſchrieben.“

Als das Gewitter ſich gelegt hatte, ſchrieb Ruprecht Linde an ſeinen Sohn. Es war ein Brief, der bisweilen durch Geräuſch von der Gaſſe unterbrochen wurde, denn die Studenten kamen jetzt wie die Schnaken aus ihren Löchern heraus und entſchädigten fih durch aller- hand Unfug dafür, daß der Himmel in ihre Alleinherr- ſchaft hineingeredet hatte. Aber im großen und ganzen wurde es ein ſehr verſtändiger Philiſterbrief, der ſich mit den ernſten Aufgaben des Lebens befaßte und ganz am Schluſſe ſo beiläufig erwähnte, daß Käthe Tonndorf ſich in Paris mit einem ſoliden Manne ver- lobt habe. x x

S |

Egbert Linde war Kriminalſtudent geworden und hatte ſich in Moabit heimiſch gemacht.

Nachdem er einige Wochen lang Berlin von innen und außen kennen gelernt und jede Straßenbegeben- heit unter eine fette Spitzmarke gebracht hatte, zitierte Hans Lux ihn eines Tages in fein Redaktionszimmer und ſagte: „Es wird Zeit, daß Sie ſich verändern, Herr Kollege. Ich habe einen Weinreiſenden aufgefiſcht, der ſeinen Beruf wegen Zipperlein aufgeben muß und zum Laufen verurteilt ift er wird Ihren bisherigen Poſten würdig und mit Phantaſie vertreten. Wir ſind alle der Veränderung unterworfen, ich ſelbſt gehe zur Abwechſlung unter den Strich und bearbeite das Theater nebſt einiger Kunſt und Literatur. Sie find mir nun einmal zugeteilt und ſollen mich darin unterſtützen.“

o Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 37

Als Egbert ein begeiſtertes Geſicht machte, kam die Duſche.

„Es gibt nämlich heute zweierlei Theater,“ fuhr Lux fort. „Die einen waren ehemals Kunſtſtätten und wandeln ſich allmählich in Kientöppe um die anderen waren Tempel der Gerechtigkeit und ſind Schaubuden geworden, in denen Senſationsſtücke ſpielen. Wer heute einen guten, Gerichtſaal“ liefert mit Stimmungs- bildern und Knalleffekten, der iſt in der Preſſe ein gemachter Mann. Zeh ſtelle Ihnen zweihundert Mark monatlich in Ausſicht, und Sie können damit das, Blaue“ in der Spandauer Straße beziehen. Wie weit ſind Sie mit dem Stenographieren?“ i

„Fräulein Specht ift eine vorzügliche Lehrerin.“

„Ja,“ entgegnete Lux nachdenklich, „ich bin auch bei dieſem Mädchen in die Schule gegangen. Ich habe von ihr gelernt, wie man des Lebens Unverſtand ohne Wehmut genießt und ohne mit den Füßen zu ſtrampeln es ift eine große Kunſt. Jetzt werde ich bei Frau Eugenie in die Schule gehen.“

„Wegen der Bühne?“

„Nein, dafür genügt mir die Belehrung, die Hamlet ſeinen Schauſpielern erteilt. Aber ich werde mir die Karten legen laſſen. Neulich hat mein Leibarzt mir etwas von der Zukunft orakelt, und für ein Extra- honorar macht Frau Eugenie das wieder wett.“

Er hüſtelte in ſein Taſchentuch.

Egbert fand einen glücklichen Übergang. „Fräulein Specht wird ſich freuen, wenn Sie wieder einmal kommen. Sie beklagt ſich, daß es in der letzten Zeit nicht mehr der Fall geweſen iſt.“

„Während der letzten Zeit war ich in Soden,“ ſagte Lux bedeutſam. „Gehen Sie nie nach Soden, Herr Kollege, wenn Sie es vermeiden wollen, daß junge

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Mädchen ſich über Sie beklagen. Oder hat es eine ſchon ſowieſo getan?“

Dieſer Mann war ja wohl ein Augur, der den Flug der Raben kannte und das Raufchen ihrer Flügel hörte. Egbert Linde ſtützte den Kopf auf, nahm eine tragiſche Miene an und begann von feiner Liebſten aus Jena zu erzählen.

„Verlobt ſind wir ja nicht gerade,“ ſagte er, „aber die Treue haben wir uns doch verſprochen. Als ich in Berlin eine Stellung gefunden hatte, ſchrieb ich es ihr nach Paris. Seitdem iſt keine Antwort eingetroffen, aber der Brief iſt auch nicht zurückgekommen. Wenn jemand ſich beklagen kann, dann bin ich es.“

„Haben Sie nochmals geſchrieben, Kollege?“

„Fällt mir gar nicht ein!“

„Siebenzig mal ſieben,“ ſagte Lux. „Wiſſen Sie, wo das ſteht?“

„Irgendwo in der Bergpredigt, glaub' ich. Warum?“

„Das handelt vom Vergeben zwiſchen Feinden. Ich habe in der Liebe wenig Erfahrung, aber mich dünkt, da müßte taufend mal tauſend ſtehen. O Jena, du Schmetterlingsneſt!“

Egbert ſtutzte und dachte nach. „Alfo eine Stu- dentenliebe, wollen Sie ſagen. Warum ſollte die nicht haltbar ſein?“

„Weil fie nicht durch Arbeit geht,“ ſagte Lux ernit. „Ich war ja auch dort, fie haben mich fo gut wie jeden anderen an das Geleitshaus hinausgeſungen, und irgendwo mag auch ein Fenſter geklungen haben. Aber wenn wir an dieſe Zeit zurückdenken: es waren Tage der Roſen und des Tändelns, und die Treue lag in dem Kelche einer Mohnblüte. Es gibt nichts, was ſchneller zerflattert als der Mohn, es gibt nichts, was leichter vergeſſen macht, als ſein Saft. Gehen Sie

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nach Moabit und ſchreiben Sie Kriminalberichte, das iſt ein gutes Elixir gegen Träumen und Schmachten da lernt man die Kehrſeite des Lebens kennen.“

Seitdem weilte Egbert als täglicher Gaſt in den dumpfen Sitzungſälen der Zuftiz. Es war keine holde Tätigkeit, denn rechts und links von ihm ſaßen die waſchechten Kriminalſtudenten, und was da vorn hinter dem grünen Tiſch verhandelt wurde, das war eine ſchlechte Koſt für geſunde Geſchmacksnerven.

Aber Egbert wurde ſehr bald inne, daß das große Publikum ſeine Nerven abgeſtumpft hat und Paprika begehrt, wo man früher mit einer Priſe attiſchen Salzes fürlieb nahm; er lernte, wie man einen pikanten Stil ſchreibt, das Senſationelle mit fetten Worten unter- ſtreicht, Nebenſächlichkeiten aufbauſcht, wenn ſie nur der Mode des Tages kitzeln, und über juriſtiſche Schwie- rigkeiten tändelnd hinweggleitet. `

Vor groben Schnitzern, die man gerade in den Berichten über Gerichtſitzungen beſonders häufig findet, ſchützten ihn ſeine juriſtiſchen Kenntniſſe, ſo mangelhaft ſie ſonſt beſchaffen ſein mochten und ſchließlich lernte er, der keine Verantwortung für die Beobachtung ſtarrer Formen trug, der die ganze Tragödie eines Kriminal- falls gewiſſermaßen vom Parkett aus betrachtete, er lernte jene Menſchenkenntnis, die man den Männern am grünen Tiſche fo gern abſpricht.

Egbert machte pſychologiſche Studien. In dieſem weltſtädtiſchen Milieu, wo der Typ des Durchſchnitts- verbrechers nur eine untergeordnete Rolle ſpielt, er- kannte er febr bald den großen Irrtum Lombroſos von der geiſtigen Belaſtung des Verbrechertums, und er geſtand eines Tages ſeinem Freunde Hans Lux, daß er auf dem Wege zum Kriminalanarchiſten begriffen ſei.

„Je größer die Fähigkeiten eines Menſchen ſind,“

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ſagte er, „um ſo eher wenden ſie ſich gegen die Ge— ſellſchaft es muß nur die Möglichkeit gegeben ſein, ſie im Krieg gegen das Geſetz leichter verwerten zu können als unter ſeinem Schutze.“

Lux entgegnete: „Vielleicht find Sie auf der rid- tigen Spur. Man erklärt neuerdings den erſten Na- poleon für das bedeutendſte Verbrechergenie der Welt; und ich glaube wirklich, daß er als Moralphiloſoph nie- mals Bedeutendes geleiſtet hätte.“

* * *

Eines Tages traf der Brief des alten Linde ein, der die Nachricht von Käthes Verlobung in Paris ent- hielt. Unter Donner und Blitz war er geſchrieben, und wie ein Wetterſtrahl hätte er füglich einſchlagen müſſen. Aber es war merkwürdig genug, daß Egbert eigentlich keine abſonderliche Erſchütterung verſpürte.

Natürlich, er empfand einen Anflug jener Senti- mentalität, die der Jugend fo wohl tut, weil fie das lächelnde Abbild tieferer Schmerzen iſt, die uns aus der Pandorabüchſe des Lebens aufgeſpart bleiben mitten in den Tagen der Roſen immerzu Roſen pflücken, wird ſchließlich ein langweiliges Geſchäft; wir wollen uns auch mal den Finger visen. und mit der SH ſchlenkern. i

Egbert dünkte ſich ein wenig tragiſch. ge war wirklich, abgeſehen von einigen Jugendeſeleien, feine allererſte Liebe geweſen, und der ſagt man ſtets die Zartheit der Mohnblüte nach. Sie hatten ſich geherzt und geküßt, und ihre Küſſe waren geweſen wie das Mondlicht, wenn es über den Nebel hinſtreift und in der nächſten Stunde . man nicht mepe ER Spur.

Das alles war nun zerriſſen und verweht ind aus-

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gelöſcht. Vergeſſen konnte man es niemals, und von Rechts wegen war es zum Heulen.

Als der junge Mann bis auf dieſen Punkt gelangt war, ſchneuzte er fih die Nafe und ging hinüber in die Regionen der Familie Specht, denn es war um die abendliche Stunde, wo Berta ihm den ſtenographiſchen Unterricht erteilte. Sie hielt mit ihrem eiſernen Pflicht- gefühl ſehr pünktlich darauf, obwohl Egbert ein bißchen liederlich war und lieber plauderte als krauſe Zeichen hinmalte.

Sie waren wie gewöhnlich allein. Frau Eugenie irrlichterte immer in allen Winkeln der Wohnung herum, nur zu ihrer Tochter ſchien ſie kein rechtes Verhältnis finden zu können, und Willibald Specht war überhaupt nur zum Eſſen und Schlafen daheim. Hans Lux be- hauptete ſogar, daß er bisweilen in der Kneipe unter dem Billard nächtige.

Die Lampe ſang. Und ſie warf wohl ein trübes Licht, denn Egbert malte feine Krähenfüße immer ver- droſſener.

Berta ſagte endlich ſtrafend: „Heute find Sie wie- der recht faul. Glauben Sie denn, Herr Linde, daß fo was einem zugeflogen kommt? zch habe zwei Fahre daran knacken. müſſen, bevor ich auf den Kern kam.“

„Sie haben auch die Geduld dazu, Fräulein Specht.“

„Die kann man ſich angewöhnen.“

„Jawohl,“ ſagte er und ſchabte an ſeinem Stift, „wenn einem immer andere Gedanken dazwiſchen kommen! Dumme Gedanken meinetwegen aber ſie kommen doch.“

„Solche Anfechtungen habe ich auch durchgemacht, Herr Linde. Oder glauben Sie nicht?“

Er ſah ſie prüfend an und ſchüttelte den Kopf.

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„Kühl, blond, normal vom Kopf bis zur Zehe. Nein, Fräulein Specht, ich glaube es nicht.“

„Deſto beſſer. Alfo blond muß man vor allen Dingen ſein, um Verſtand zu beſitzen? Sie ſind ja freilich auch von meiner Farbe —“

„Und habe doch die heiße Torheit im Herzen. Oder iſt das keine, wenn man an ein treuloſes Mädchen denkt?“

Über Bertas Geſicht flog ein ganz feines Rot. Sie nahm den Stift zur Hand und begann in Egberts Heft zu korrigieren.

Nach einer Weile legte ſie ihn wieder hin. „Wie ſonderbar, daß Sie gerade zu mir das fagen! Natür- lich haben Sie eine Liebſte in Jena zurückgelaſſen. Das tun ja wohl alle Studenten ohne Ausnahme, und mit der Treue wird es auch nicht weit her fein, aber die meiſten hüten ihr Geheimnis und ver- ſchweigen ihren Schaden. Oder wollen Sie Troſt von mir?“

Sie ſah wohl aus, als ob ſie tröſten könnte, und er dachte ſich das gar nicht ſo unangenehm. Vor allen Dingen aber hatte er das dringende Bedürfnis, ſein Herz auszuſchütten, und er rückte mit ſeinem Stuhl herum, ſo daß ſie faſt Seite an Seite ſaßen.

„Ich habe auch ſchon mit ihm darüber geſprochen,“ ſagte er bedeutſam. „Sie wiſſen natürlich, Fräulein Specht, wer damit gemeint iſt, denn ich beſitze keinen zweiten Freund in Berlin. Und Ihnen geht es viel- leicht ähnlich.“

Berta nickte. „Alſo Herr Lux. Ich möchte wohl wiſſen, wie er über eine Studentenliebe denkt. Seine Anſichten ſind immer wertvoll, auch wenn ſie nicht auf Erfahrung beruhen, denn ich habe ſelten einen klügeren Mann kennen gelernt.“

o Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 43 GE m nn lerne Les

„Er fagt, fie ginge nicht durch die Arbeit, und des- halb wäre kein Beſtand darin.“

„Das ſieht ihm ähnlich. Er mißt alles an der Pflicht- erfüllung, auch die Schläge des Herzens. Und dabei iſt er doch kein Pedant.“ Sie blickte eine Weile ſtarr vor ſich hin und wendete ſich dann lächelnd wieder an ihren Genoſſen. „Alſo nun weiß ich alles, Herr Linde, denn in ſolchen Dingen kombinieren wir ſchnell. Ein ſüßes Ding, weder kühl noch blond, eine Lilie auf dem Felde, ein Sonnenſtrahl zwiſchen Wolken. Sie haben niemals über den Ernſt des Lebens miteinander geredet, aber Sie haben miteinander getändelt und gekoſt, wie es bei Verliebten Brauch iſt. Dann kam das ſchlimme Auseinandergehen, und man wollte dar- über ſterben heute iſt ein anderer gekommen, und nun hat das Herzchen wieder auf einige Semeſter Erſatz. Iſt es darum wert, Herr Linde, mit den Ge- danken in Jenas Gaſſen herumzulaufen wie der be— kannte wilde Geſell?“

„Sie iſt in Paris,“ ſagte Egbert halblaut.

Berta machte große Augen. „Das arme Ding! Sie hat hinaus gemußt aus dem Vaterhaus? Dann will ich meine ganze Zlatterrede zurücknehmen, dann braucht ſie wirklich jemand, der ihr näher iſt als Berlin von Paris. Wenn ich mir vorſtelle, daß ich aus dieſem Winkel hinter der Heiligegeiſtkirche heraus müßte —“

„Einmal werden Sie es doch müſſen,“ ſagte er und malte mit ſeinem Stift allerhand Arabesken auf das Papier.

„Wann?“

„Wenn Sie heiraten, Fräulein Berta.“

„Na endlich!“ fagte fie lachend. „Ich kann meinen Stammnamen nämlich gar nicht leiden, aber deswegen braucht man mich doch nicht unter die Haube zu bringen!

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44 Die Apachen. .

Wollen Sie ſich einen Kuppelpelz verdienen? Mein Vater wird ſehr wenig damit einverſtanden fein, denn die Witzblätter werden immer magerer, und der Geld- beutel will nicht zurückbleiben außerdem fehlt es noch zum Heiraten an einer kleinen Nebenſache: wo iſt der Mann?“

„Hans Lux!“

Egbert erſchrak, als ihm das Wort herausgefahren war, denn man kann mit einem Mädchen wohl über die Liebe ſchwatzen, aber niemals über den heimlich Geliebten da wird ſie rot und verlegen und bricht die Unterhaltung ab, oder es paſſieren noch ganz andere Dinge.

Berta Specht aber blieb ganz ruhig ſitzen.

Sie nahm Egbert nur das mißhandelte Übungsheft aus der Hand und ſah, daß er den Verſuch gemacht hatte, ihre beiden Namen in ein ſchönes Monogramm zu verſchmelzen. Sie lächelte flüchtig über dieſe Spielerei.

„Hans Lux ift ein Mann, der jedes Mädchen glück- lich machen würde,“ fagte fie. „Aber nicht jedes Mäd- chen ift imſtande, feine Anſprüche zu erfüllen. Auch gegen eine, die geiſtig unter ihm ſteht, würde er gütig und nachſichtig ſein, aber es bliebe immer das Gefühl einer Kluft auf beiden Seiten. Und nun werde ich Ihnen noch ſchnell ein paar Sätze aus dem Lehrbuch diktieren, denn ſonſt ift diefe Stunde ganz unnütz ver- trödelt oder glauben Sie, daß wir hier zuſammen ſitzen, um Stickmuſter zu entwerfen?“

Sie arbeiteten nun eifrig.

Als Egbert ſein Zimmer aufſuchte, befand er fió in einer ſeltſamen Gemütsverfaſſung.

Er hatte bis heute als ſicher angenommen, daß Hans Lux von Berta geliebt würde, wenn auch natür-

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lich heimlich und vielleicht ohne Gegenliebe. Aber dieſe kühle und verſtändige Art, mit der ſie zwiſchen ihm und ſich ſelbſt eine Grenze zog, dieſes Abwägen geiſtiger Vorzüge und Unterſchiede, das der Liebe ſo fremd iſt, machte ihn wieder unſicher.

Und was dann? |

Sein eigenes Verhältnis zu Käthe war gelöft, wenn überhaupt jemals ein feſtes Band beſtanden hatte, denn Küſſe find wie der rinnende Tropfen an einem Waffer- glas. Und wenn man ſagt, daß zwiſchen Liebe und Haß nur eines Meſſerrückens Breite liegt: wahrlich, zwiſchen einer überwundenen und einer keimenden Nei- gung iſt oft kaum die Schneide eines Meſſers.

* * *

Am letzten Abend der arbeitsreichen Woche ſaß Egbert in ſeinem Zimmer und arbeitete an einem großen Gerichtsreferat.

Sie hatten in Moabit einen jener internationalen Hochſtapler verurteilt, die durch ihre überlegene In- telligenz die Geſellſchaft täuſchen und den beiten Be- weis dafür liefern, daß unſere ganze ſogenannte Kultur im Grunde genommen nichts weiter iſt als eine dünne Firnisſchicht über Moder und Barbarei.

Heute wußte die ganze Welt, daß dieſer elegante Mann ein ganz gemeiner Verbrecher war, der jabre- lang mit dem Auswurf der Zuchthäuſer verkehrt hatte. Und dennoch war es ihm gelungen, ebenfalls geraume Zeit die Rolle eines Grafen mit Erfolg zu ſpielen, Herzen zu erobern und Herzen zu brechen hatte denn niemand ihm jemals in das Auge geſehen?

Denn fo oft Egbert während der langen Verhand- lung ſeinen Blick nach der Anklagebank richtete, wurde ihm immer wieder eines klar: die Seele des Menſchen

46 Die Apachen. (3)

kann durch Worte und Geſten und Handlungen ver- hüllt werden, aber die Augen können ſich nur mit den Lidern bedecken, niemals mit einer Lüge.

Mitten hinein in dieſes Arbeiten und Grübeln klang eine Stimme, die Egbert täglich hörte, aber in dieſem Haufe noch niemals vernommen hatte: Hans Lux be- grüßte auf dem Korridor Frau Eugenie und fragte, ob er eine Taſſe Tee im Familienkreis einnehmen dürfte.

„Wie ehedem,“ ſetzte er hinzu. „Sie wiſſen ja, Frau Specht, was dieſes Wort bedeutet. Wir leben alle mit unſerem Verſtand in der Gegenwart, aber unfer Herz hängt an der Vergangenheit. Iſt Fräu⸗ lein Berta daheim?“

Sie war es leider nicht. Sie hatte ſich ſeit einigen Wochen den Sonnabend von ſieben bis neun Uhr mit einem ſtenographiſchen Kurſus für junge Damen beſetzt.

„Auch mein Mann iſt ausgegangen,“ fuhr Frau Eugenie fort. „Sie wiſſen ja, Herr Lux, in den Rünitler- klub. Aber wenn Sie mit mir allein fürlieb nehmen wollen —“

Egbert hörte nichts mehr, die Unterhaltung war in ein Murmeln übergegangen, und die Wohnſtubentür klappte.

In Frau Eugenies Tuskulum ſchaute der Redakteur ſich um.

„Es kommt mir nicht auf den Tee an,“ ſagte er. „Was mich herführt, kann auch ohne Aſthetik erledigt werden. Wirklich, Sie haben noch immer die alten Kränze an der Wand hängen! Warum werfen Sie das Gemüſe nicht ins Feuer?“

Die verfloſſene Tragödin ſuchte den Maria-Stuart- Blick hervor. „Sagten Sie nicht ſelbſt, daß unſer Herz an der Vergangenheit hängt, Herr Lux?“

2 Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 47

„Wenn man eine hat allerdings. Aber dieſes ſüßlich duftende Zeug erinnert ſo aufdringlich an Särge und brennende Kerzen. Sie e mir das nicht übelnehmen, Frau Eugenie.“

Er hatte ſich auf einen Stuhl geſetzt und die langen Beine übereinandergelegt.

„Nämlich, teuerſte Freundin, ich feiere morgen meinen Geburtstag, und Sie begreifen wohl, daß wir da lieber an die Wiege als an den Sarg denken. Ich möchte Sie zu einer Landpartie einladen, oder wenn Sie wollen, zu einer Sandpartie, denn was Beſſeres findet man doch nicht in unſerer geſegneten Mark. Haben Sie Gefühl für ſo was, verehrte Tragödin?“

„Gefühl wohl, aber keine Toilette,“ ſagte Eugenie dumpf.

Hans Lux zog den Kopf zwiſchen die Schultern und machte ein nachdenkliches Geſicht. „Wie ſteht es mit den beiden jungen Leuten? Halten Sie mich für eine ausreichende Tante?“

„Für Berta garantiere ich,“ ſagte Frau Specht mit einer großen Handbewegung.

„Und ich forge dafür, daß Herr Linde keine Dumm- heiten macht. Auf Ihren Mann rechne ich unter allen Umſtänden. Er foll fein Skizzenbuch mitnehmen und die Narrheiten des Lebens aufzeichnen. Wir werden zuſammen ein Vierblatt abgeben, wie es noch unter keiner Schnitterſenſe gemäht wurde.“

Er ſtand auf und betrachtete noch einmal das ganze Zimmer.

„Wie mich dieſes Milieu anheimelt, Frau Eugenie! ich ſehe die Zeit wieder, als ich das ‚Blaue‘ bewohnte, als die blonden Zöpfe Ihrer Tochter ſich unter dieſen welken Kränzen ausnahmen wie ein lächelnder Ana- chronismus. Oh, daß die Jahre wie die Krebſe wären

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langſam und rückwärtsſchreitend! Sind Sie noch immer abergläubiſch?“

„War ich das jemals, Herr Lux?“

„Sonſt müßten Sie ja heucheln, denn ich weiß doch, daß Sie aus den Karten die Wahrheit ſagen. Es gibt in unſerer Zeit ſo viel umgeprägte Werte, daß auch dieſe Narrheit eine Währung beanſpruchen kann ich bitte Sie, Frau Eugenie, laſſen Sie ae auch einmal in ihnen leſen.“

Sie ſah ihn mit ihren dunklen Augen! an und ſchüttelte langſam den Kopf. „Ich bin auf Stimmungen abgetönt, Herr Lux. Wer durch das Loch im Vorhang erkennen konnte, ob das Publikum in der nächſten Stunde flat- ſchen oder pfeifen wird, der weiß auch einen einzelnen zu beurteilen. Sie haben heute irgend eine Antwort vom Schickſal bekommen. Es iſt beſſer, daß Sie die müßigen Fragen unterlaſſen. Zwiſchen uns beiden iſt das Kartenlegen ein Unſinn. Aber ich werde mich dennoch hüten, Ihnen Komödie vorzuſp ielen.“

Er gab ihr die Hand und lächelte. „Wie klug Sie find! Ich fange an, Reſpekt vor Ihrer Kunſt zu fühlen. Alſo im Ernſt: heute am Tage vor meinem Geburts- tage hätte eine gute Karte mich erfreuen, eine ſchlechte mich betrüben können. Es iſt aber vielleicht beſſer, man läßt ſie beide unter den Tiſch fallen. Im übrigen bleibt es bei der verabredeten Sonntagspartie. Wir finden uns zu dem Neunuhrzug auf dem Anhalter Bahnhof zuſammen. Das übrige bleibt dem Wetter- gott und der Stimmung überlaffen.“

* * *

Sie kamen wirklich alle drei zu der feſtgeſetzten Stunde: Willibald Specht wie immer mit einem ziem- lich bedeutenden Katzenjammer, Berta zum erſten Male,

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ſeitdem Egbert ſie kannte, in hellen Farben, die ihr vortrefflich ſtanden und ſie jünger erſcheinen ließen Linde mit einer großen Portion Neugier.

Und er fiel ſofort über Hans Lux mit der Frage her, was ſie denn mit dieſem traurigen Neunuhrzug beginnen ſollten. Der fahre ja tatſächlich und wahr- haftig bloß bis nach Fü— ter —bog und halte auf jeder unmöglichen Zwiſchenſtation! |

Lux warf einen lächelnden Blick auf Berta. „Stellen Sie dieſelbe Frage, Fräulein Specht?“

„Nein,“ entgegnete ſie ruhig. „Es genügt mir, daß Sie es ſo beſtimmt haben, denn dann iſt auch ein vernünftiger Zweck dabei.“

„Ich danke Ihnen, Kamerad. Dieſem Jüngling wollen wir den Zweck andeuten: ganz Berlin läuft heute nach anderen Weltgegenden, folglich werden wir nicht ganz Berlin ſein.“

„Fürchten Sie ſich vor dem Butterbrotpapierꝰ⸗ fragte Egbert, der noch nicht ganz den Menſchenhunger verlernt hatte.

„Ich fürchte am Sonntag alles, was Papier heißt. Nur Ihr Skizzenbuch, Herr Specht, macht eine Aus- nahme. Sie ſollen mir heute etwas zeichnen, was noch niemals aus Ihrem Stift gekommen ift, und ich will es als mein Geburtstagsgeſchenk über den Schreib- tiſch hängen.“

Berta trug eine Roſe an der Bruſt. Die gab ſie dem Schriftſteller. „Ich komme mit leeren Händen, Herr Lux, wir wußten nichts von dem heutigen Tage. Wollen Sie dieſe Blume von mir annehmen es iſt eine der letzten.“

„Ja,“ entgegnete er, „der Sommer iſt über den Berg. Man könnte ihn darum beneiden. Aber wir wollen heute nicht ſentimental werden, man feiert nur

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einmal im Jahre Geburtstag. Oh, wie wohl dieſer Anblick tut: zurückfliehende Häuſer, rückwärtswehender Rauch! Die Vorwärtsbewegung iſt das Beſte, was wir im Leben haben, und je ſchneller das geht, deſto früher kommt das Ziel.“

Sie ſaßen im fahrenden Wagen, und Lux ſetzte ſich dem Mädchen gegenüber.

„Der Frühling könnte Sie heute beneiden, Fräulein Specht. Aber dennoch fehe ich einen Zug in Ihrem Geſicht, der mir mißfällt. Muß der Menſch denn immer arbeiten und ſorgen und denken? Rann er nicht eine einzige Stunde des Lebens genießen, die ſo klar iſt wie der Tautropfen?“ Ä

„Nein,“ entgegnete ſie plötzlich, „dann wird eine Träne daraus.“ N

Hans Lux warf einen ſchnellen Blick nach der anderen Seite des Abteils. Dort ſaßen Egbert und Willibald Specht an den Fenſterplätzen und ſprachen über die Kunſt des Schreibens. Der Maler behauptete, er könne jede beliebige Handſchrift in einer Stunde erlernen; Egbert aber beſtritt das energiſch und meinte, nur ganz charakterloſe Menſchen wären einer ſolchen Anpaſſung fähig.

Lux dämpfte die Stimme. „Nun weiß ich es,“ ſagte er. „Es gibt ein Bild, das die Seherin Velleda vorſtellt, das ſchöne blonde Germanenweib, wie es im Eichwalde ſteht und nach dem Klirren der römiſchen Legionen aushorcht. So ſahen Sie vorhin aus, als das Wort von den Tränen über Ihre Lippen kam. Was ſehen Sie?“

„Leid,“ erwiderte ſie einſilbig.

Dieſes verhaltene Geſpräch konnte nicht mehr fort— geſetzt werden, denn fie waren an einer kleinen Gta- tion angelangt, wie ſie überall in der Mark verſtreut

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liegen, und Lux behauptete, hier ſei das Ziel ihrer Fahrt.

Als ſie aber ausgeſtiegen waren und den Bahnhof hinter ſich hatten, bog er in einen Hohlweg, der ſie tiefer in das Gelände hineinführte, und nach einer Meile öffnete ſich vor ihnen eine jener Erdfalten, die der Reiſende am wenigſten hinter Sandflächen und Kieferbeſtänden vermutet, mag er auch in der Geo- graphie gelernt haben, daß ſelbſt die Wüſte Sahara ihre Oaſen birgt.

An einem kleinen See lagerte ſich ein Dorf. Der Kirchturm ragte aus einem Gewirr von Erlen und Birken hervor, magere Acker zogen ſich nach den Sand— hängen hinauf, über dem Ganzen ruhte der braun- goldene Schimmer eines ſpäten Sommertages.

„Meine Heimat,“ ſagte Lux. Er hatte ſich mitten in die Sonne an einen Wall gelagert und ſah den Schwalben nach, die pfeilſchnell unter der blauen Himmelswölbung hinſchoſſen; dann wendete er den Kopf. „Wiſſen Sie, warum ich ausgerechnet heute dieſen Weltwinkel aufgeſucht habe?“

Berta gab eine ausweichende Antwort. „Es war jedenfalls keine bloße Laune, denn die habe ich noch niemals an Ihnen erlebt.“

„Gut, Sie ſollen es ſpäter erfahren. Was meinen Sie, Meiſter Willibald, würde ſich eine Skizze von dieſem Idyll über dem Schreibtiſch eines modernen Preßmenſchen gut ausnehmen?“

„Es wird auch nur eine Karikatur,“ ſagte der Maler grämlich. „Ich bin fo in das verwünſchte Verzeichnen hineingeraten, daß ich nicht einmal einen geraden Kirch- turm fertig bringe. Vielleicht ſind auch die ſchrägen Geſtalten daran ſchuld, die ich dieſe Nacht wieder mal geſehen habe.“ |

*

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Die kleine Geſellſchaft ging ins Dorf.

Sie nahmen das Mittageſſen in dem Wirtshaus ein und machten mit Glimpf und Schimpf aus der Not des Landlebens eine Tugend. Aber als der übernächtige Maler ſich für den Heuſtadel intereſſierte und Egbert gleiche Gelüſte kundgab, winkte Hans Lux mit den Augen und verließ geräuſchlos das Gaſtzimmer.

Als Berta nach einer Weile folgte, traf ſie ihn in dem kleinen Gärtchen, wo er zwiſchen Blumenbeeten ſtand und eine Herbſtaſter betrachtete.

„Sie wird ihren Stern bald aufgehen laſſen,“ ſagte er. „Wiſſen Sie auch, daß ich eine Torheit begangen habe, die beiden Großſtädter, den Eingeborenen und den Werdenden, in dieſe Wüſte hinauszuführen? Sie und ich, wir hätten dieſen Weg allein machen ſollen, denn wir wiſſen, was Einſamkeit wert iſt. Aber die Sitte war dagegen, denn Sie zählen erft zweiund- zwanzig Zahre, und ich ſelbſt bin heute ſechsunddreißig alt geworden.“

„Und dennoch würde ich mit Ihnen ohne Furcht bis an das Ende der Welt gehen,“ ſagte Berta offen.

Er ſtreifte ihre ſchöne, blühende Geſtalt mit einem nachdenklichen Blick und horchte dabei auf das Summen der Bienen. „Jetzt nehme ich Sie beim Wort. Bis ans Ende der Welt iſt gar nicht ſo weit, als mancher glaubt, und in dieſen engen Verhältniſſen ſind es keine hundert Schritte. Kommen Sie mit. Zeden dieſer Schritte könnte ich mit geſchloſſenen Augen gehen, und es gibt nicht wenige, die das wirklich tun, aber dann werden ſie getragen.“

Er ſchritt langſam mit dem Mädchen die Dorfgaſſe hinunter und ſah ſich von Zeit zu Zeit um.

„Hier hat fih in einem Vierteljahrhundert nichts verändert. Dort liegt das Pfarrhaus, unter deſſen Dach

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ich geboren wurde, und das Dach iſt noch ebenſo morſch wie damals. Nur der Efeu iſt weiter hinaufgeklettert, und er wird es nächſtens ganz überſpinnen. Wiſſen Sie, wohin wir gehen?“

„Auf den Friedhof,“ ſagte ſie und nickte vor ſich hin.

„Richtig. Sie kennen meine Gedanken und meine Ausdrucksweiſe das Ende der Welt iſt dort, wo die Kreuze ſtehen. Und nun ſollen Sie mir auch Ihr eigenes Denken aufdecken, wie Velleda, die Seherin, es tat vor zweitauſend Jahren. Was ift das für Leid, von

dem Sie ſprachen?“

ö „Ich ſah meinen Vater an,“ entgegnete ſie leiſe. „Heute iſt er wieder erſt gegen Morgen heimgekommen, und ſo geht das beinahe Nacht für Nacht. Er ſagt, die Nachtſtunden müßten Stoff geben für ſeine Skizzen, und bisweilen mag er auch etwas einheimſen, was ihm bezahlt wird, aber das meiſte, was er tut, iſt keine Ausſaat und keine Ernte, es iſt ſo öde und unfruchtbar wie die welken Kränze in der Putzſtube meiner Mutter, und es iſt ebenſo unwürdig wie ihr Gaukelſpiel mit den Karten.“ |

„Die Kinder tragen keine Verantwortung für das Handeln der Eltern,“ ſagte er ablenkend.

Über das ſchöne Geſicht des blonden Mädchens fuhr ein helles Rot. „Nein, Herr Lux, wir ſtehen in unſeren eigenen Schuhen, und meine ſind rein. Aber Sie haben bei uns gewohnt, und Sie haben hinter die Kuliſſen geſehen. Damals war ich ein junges Ding und tüm- merte mich nicht viel um die Meinung anderer aber nun ich Sie kenne und an Ihnen ſah, was Arbeit und Pflicht und Ehre bedeuten, ſeitdem werde ich rot, wenn Sie den Fuß über unſere Schwelle ſetzen. Geſtern waren Sie bei meiner Mutter, gütig und nachſichtig wie immer —“

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„Und morgen werde ich wiederkommen,“ fekte er hinzu, als ihr die Stimme brach. „Aber ich bedarf dazu einer beſonderen Erlaubnis, es muß zwiſchen uns beiden ein Vertrag geſchloſſen werden.“

Sie waren bei dem Friedhof angelangt, und Hans Lux öffnete ſeiner Begleiterin das Gittertor. Es wuchſen einige Dornen in der Nähe, und als ſich ihr Kleid darin verfing, riß er es heftig los, ohne Rück- ſicht auf das leichte Gewebe.

„Greifſt du ſchon aus der Erde? Das iſt nichts für deine Krallen!“ ſagte er wie zu einem Anſichtbaren, und dann führte er das Mädchen zu einer Bank, die neben zwei efeuüberſponnenen Gräbern ſtand.

. „Das ſind Ableger vom Pfarrhaus, Fräulein Berta.

Ich meine dieſe Ranken. Aber auch was darunter iſt, oder was darunter war, denn es iſt lange her. Meine Eltern ſtarben früh, und als ich auswanderte, war ich in Wirklichkeit heimatlos. Wiſſen Sie, was die ſpätere Zeit, was die Tage bis heute ausgefüllt hat?“

„Arbeit,“ ſagte ſie und begann mit den Augen zwiſchen dem grünen Gewirr zu ſuchen. Aber es war kein Stein und keine Nummer und kein Name mehr zu finden. Da gab ſie es auf und blickte ihm in die nachdenklichen Augen.

Er aber wiederholte ihr letztes Wort. „Arbeit? Als wenn Sie nichts anderes reden könnten als das! Meine Tage werden ausgefüllt mit der tiefen Sehn— - fucht nach einem Heim.“

Wieder kam das Suchen in ihre Augen, wo doch nichts zu finden war. Und ſie entgegnete: „Sie täuſchen ſich, Herr Lux. Was bedeutet das Heim für einen Mann, deſſen Geiſt die Welt umfaßt? Eine Laune vielleicht, eine Anwandlung, ein Spielzeug.“

„Es hätte die Probe gegolten,“ entgegnete er und

D Ein Parifer Roman von Frig Levon. 55

begann die Rofe, die fie ihm geſchenkt hatte, langſam zu zerpflücken. Als ein Blatt nach dem anderen hin- geflattert war, warf er den leeren Stiel zwiſchen die Efeuranken und richtete ſich auf. „Es iſt ſeltſam, daß wir immer den verſagten Schätzen am meiſten nach- graben, wo doch fo vieles zutage liegt, was des Auf- hebens wert ift. Da fike ich nun hier mit meinen feds- unddreißig Lenzen und male mir die Reize einer Kinder- ſtube aus, während die Bienen über den Gräbern ſummen. Ich war nämlich geſtern beim Doktor —“

Das kam fo plötzlich und mißtönend wie das Schwin- gen einer geſprungenen Saite, aber als das Mädchen ihn erſchrocken anblickte, lächelte er ein wenig und ſprach gelaſſen weiter. N

„Es hat alles ſeinen natürlichen Zuſammenhang, auch dieſe unnatürliche Fahrt zwiſchen Sand und Kreuze. Alſo man geht mal auf die Bank, um einen Kurs zu erfragen, oder zum Anwalt wegen eines Rechtsrates, und fo kommt man auch in gewiſſen An- gelegenheiten vor die Tür des Arztes. Ob er mir wohl das Heiraten empfehlen könnte, fragte ich dieſen Wahr- ſager, und er begann an mir herumzuklopfen. Nicht etwa am Schädel, ſondern anderswo, und dann kam das Orakel: er könnte es mir ganz und gar nicht anraten, denn das ſei eine Torheit und ein Verbrechen gegen die Zukunft und eine pure Unmöglichkeit. Und dabei ift der Kerl ſelbſt Bater von drei blühenden Kin- dern. Was ſagen Sie dazu, Berta?“

Sie hatte es aufgegeben, in die Efeuranken zu ſtarren und auf den Sand und in den blauen Himmel. Sie nahm ihr Taſchentuch und führte es an die Augen. Aber über ihre Lippen kam kein Laut.

„So war es nicht gemeint, Kamerad,“ fuhr Hans Lux fort. „Wir ſind doch deshalb an dieſen Platz

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gepilgert, wo man ganz leicht und ſelbſtverſtändlich von ſolchen Dingen ſpricht, wenigſtens viel beſſer als in dem lebenshungrigen Berlin. Übrigens hat der Doktor mich nicht geradeswegs hierher zu meinen Vätern ge- ſchickt, ſondern er meinte, ich könne ja recht gut noch eine Reihe von Jahren leben, nur die Familiengedanken ſollte ich mir aus dem Kopf ſchlagen und froh ſein, daß ich keine hätte. Leicht geſagt. Aber er wird wohl wiſſen, was für mich das Beſte iſt.“

Seine Art war fo ſeltſam, daß Berta ihr Tränen- tüchlein wieder einſteckte. Es lag nicht die mindeſte Sentimentalität in ſeiner Stimme, ſondern ein ſtille Heiterkeit, die dem Frieden der Umgebung vollkommen angemeſſen war.

Und dann ſah er das Mädchen von der Seite an. „Haben Sie gar keine Frage, Berta?“

„Doch,“ entgegnete ſie. „Das alles iſt ſehr traurig, und die meiſten ſchleppen es mit ſich herum. Warum haben Sie es mir geſagt? Vielleicht trage ich noch ſchwerer daran.“

„Sie?!“

Mit einem warmen Aufleuchten ſeiner großen und ſchönen Augen umfaßte er die Geſtalt des Mädchens und legte plötzlich ſeine Hand in ihren Schoß.

„Berta, wie wenig kennen Sie ſich ſelbſt, oder wie gut verſtehen Sie das uralte Frauenſpiel! Sie ſollten ſchwer an irgend einer Wahrheit tragen, Sie, deren ganzes Leben nichts als Wahrheit ift? Deren könig— liches Haupt ſich nur in Scham neigt, wenn die Lüge, die Erbärmlichkeit und die Schwachheit es mit den Fledermausflügeln ſtreifen? Nein, Kamerad! Daß der Mann neben Ihnen abwärts geht, ijt ein Verhängnis, dem wir uns fügen müſſen, aber Sie ſollen wenigſtens erfahren, daß er ohne dieſes Verhängnis ſeine Hand

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nach dem Leben ausgejtredt hätte.“ Er atmete tief auf und fuhr fort: „Daß wir uns lieb haben, Berta, wiſſen wir beide. Es iſt niemals darüber geſprochen worden, aber das gemeinſame Denken, die gemeinſame Arbeit jawohl, Berta, wir haben wirklich zuſammen gearbeitet alles das machte die Worte überflüffig, bis die Zeit herankam, wo Sie eine Tat erwarten konnten. Seit kurzem ſtehe ich auf der Höhe meines Erfolgs, bin ich ein ſelbſtändiger Mann geworden, ver- mag ich eine Familie zu ernähren. Und als ich dennoch meine Hand nicht regte, dieſe Hand, die das Glück an fidh reißen möchte, da blickten Sie fih in Ihren Wänden um und ſahen die kartenſchlagende Mutter und hörten bei Nacht den ſchweren Schritt Fhres Vaters. An Ihrem eigenen Werte konnten Sie nicht irre werden, Verta, aber an mir haben Sie gezweifelt, Sie hielten auch mich für einen Anhänger der Lehre, daß die Sünden der Väter in den Kindern ihr Echo finden ſollen. Seit dieſer Stunde, die ich Ihnen und mir ſchuldig war, ſeit dieſer letzten Minute vielleicht wiſſen Sie die Wahrheit: ich möchte zu Ihnen kommen mit meiner ſehnſüchtigen Seele, und Sie dürfen nicht zu mir kommen mit Ihrer blühenden Jugend wir find es dem Leben ſchuldig, Berta, daß die Natur in Feſſeln geſchlagen wird. Es iſt eine Welt ſo närriſch wie am Faſching, und fie ift nicht den Katzenjammer des Aſcher⸗ mittwochs wert.“

Er wartete keine Antwort ab, ſondern erhob ſich und ſchritt langſam zwiſchen den Gräbern entlang. Es waren ihrer nicht viele, aber welke Kränze lagen doch überall verſtreut, und in der warmen Luft hauchten ſie noch einen ſüßlichen Duft aus.

Als Berta wieder neben ihm ſtand, hatte ſeine Stimme den leidenſchaftlichen Klang verloren. „Wie

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im Salon Ihrer Mutter,“ fagte er lächelnd. „Ein bib- chen Moder, ein bißchen Lavendel und eine ganze Maſſe Vergangenheit. Ich habe immer gerne darin geſeſſen, als ich noch die blaue Pracht bewohnte, und es gelüſtet mich, wieder dasſelbe zu tun. Mein junger Kollege iſt ja eine vortreffliche Brücke zwiſchen Ihnen und mir darf ich ſie recht oft betreten und wieder meine freien Abende in dem Kreiſe der Familie Specht zubringen?“

Sie blickte ihn nicht an, ſondern murmelte nur einige Morte, aber fein ſcharfes Gehör hatte die doch auf- gefangen, und er ſchob vertraulich ſeine Hand in ihren Arm, um ſie dem Ausgang zuzuführen.

„Sie haben recht, Berta, an der Familie ift mir nicht ſo ſchrecklich viel gelegen. Wir brauchen uns keine Sorge darum zu machen, es wird niemand uns ſtören, und es wird keiner Einſpruch erheben, wenn wir unter den Kränzen und Schleifen zu zweit miteinander plau— dern. Es geht ja im Leben ein jeder ſeinen Weg, und wir wollen unſeren entlang wandern. Sch weiß auch, wovon wir am liebſten reden werden, Berta —“ |

Sie waren jetzt auf einem ganz einſamen Pfade, der hinter dem Dorf entlang führte und in dieſer Sonn- tagſtille wie ausgeſtorben war.

Hans Lux hob plötzlich ſeine Hand, um mit einer ganz flüchtigen Bewegung die blonden Flechten des Mädchens zu ſtreifen.

„Daß Sie eine Braut werden follen und ein jtrah- lendes Weib! Wenn wir nach dieſem kurzen Feiertag heimfahren, liegt die rote Dunſtwolke über Berlin, und wir müſſen wieder hinein in den Glutofen der Arbeit. Heute nehmen die Frauen mehr daran teil als vor fünfzig Fahren, und fie halten ſich das Schickſal alter Tanten und grämlicher Zungfern tapfer vom

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Leibe. Aber das beſte Glück findet ſich doch an der Seite eines tüchtigen Partners er darf nur nicht das Orakel der Arzte anrufen und an feinem Geburts- tag zwiſchen Gräbern herumkauern. Sehen Sie, meine ſchöne blonde Freundin, unter dieſem alten Raftanien- baum habe ich als Knabe mit meiner allererſten Jugend- liebe ein Butterbrot geteilt ſoll der Menſch nicht damit zufrieden ſein, auch wenn er das letzte Stück Brot allein eſſen muß?“

Sie waren wieder in der roten Dunſtwolke unter- getaucht und wanderten vom Bahnhof nach der Heilige- geiſtkirche. Erſt zu viert, dann trennte ſich Hans Lux ab, und bald darauf fand auch Willibald Specht einen Seitenweg, denn er war in der Dorfſchenke nicht zu ſeinem Recht gekommen.

Zuerſt blieben die beiden jungen Leute ſchweigſam.

Dann ſagte Egbert: „Dieſer Ausflug war ſeltſam. Wenn alle Berliner ihren Sonntag fo abſeits verbringen, dann unterſcheiden ſie ſich jedenfalls ſehr von anderen Hauptſtädten. So oft man die Schilderungen aus Paris lieſt —“ |

Er brach ab und ſenkte den Kopf.

„Ja fo, Paris geht mich nichts an, und doch mußte ich heute den ganzen Tag daran denken. Gibt es Ahnungen, Fräulein Specht?“

„Man ſagt, daß eine ſehr große und tiefe Liebe ſie auslöſen könne,“ entgegnete das Mädchen zögernd, „aber ich weiß wirklich nicht, ob das noch bei Ihnen zutrifft.“

„Nein,“ verſicherte er eifrig, „Sie verſtehen mich falſch. Wenn mein Herz jemals an der Seine war, heute iſt das ganz gewiß nicht mehr der Fall, und ich meine überhaupt etwas ganz anderes. Es iſt ſeltſam

60 Die Apachen. 2

und läßt ſich nur ſchwer in Worten ausdrücken, wir wollen lieber nicht mehr davon reden, ſonſt lachen Sie mich ſchließlich noch aus Sie mit Fhrem kühlen Berliner Verſtand!“

Als ſie das Haus betraten, kam Frau Eugenie ihnen auf den Fußſpitzen entgegen und flatterte mit den Händen. Theatraliſche Angewohnheiten hatte ſie ja immer beibehalten, und man durfte nicht allzuviel Ge- wicht darauf legen; aber die beiden jungen Leute wurden doch neugierig, als ſie ſie in das Zimmer mit den welken

Kränzen führte und die Tür behutſam ſchloß.

| „Endlich!“ fagte fie und fant auf einen Stuhl. „Denke dir, Berta, ich habe die blaue Stube vermietet, und der Herr iſt ſehr zufrieden damit, er verlangt nicht die geringſte Anderung, obwohl, unter uns geſagt, die Gardinen nicht mehr ganz neu ſind. Er iſt auch ſofort eingezogen und arbeitet wahrſcheinlich bereits an einem Werk. Denn als ich Sie, Herr Linde, als feinen Wand- nachbar bezeichnete, da lächelte er ſehr verbindlich und ſagte etwas von einem Kollegen.“

Berta nahm die Sache kühl auf. „Seitdem Herr Lux fort iſt, ſteht das Zimmer leer. Was für ihn gut genug war, Mutter, damit können auch andere zu- frieden ſein. Wie heißt der Herr, und was macht er für einen Eindruck?“

„Er hat die Manieren eines feinen Mannes. Er kommt aus Paris und nennt ſich Renard, aber ich habe noch niemals einen Franzoſen kennen gelernt, der die deutſche Sprache ſo meiſterhaft beherrſchte. Er muß ein berühmter Schriftſteller ſein, denn jedes ſeiner Worte klingt wie Muſik. Ich hoffe, Herr Linde, Sie werden bald mit ihm Freundſchaft ſchließen, und dann wollen wir einen ſchöngeiſtigen Kreis bilden, wie ich ihn ſeit meiner Bühnenzeit nicht mehr genoſſen habe.“

D Ein Parifer Roman von Frig Levon. 61

Bei dem Worte „Paris“ kreuzten fih Bertas und Egberts Blicke.

„Gibt es Ahnungen?“ ſagte ſie halblaut. Und dann fuhr ſie fort: „Von einem berühmten franzöſiſchen Schriftſteller Renard habe ich noch nie gehört, aber das will freilich nicht viel ſagen. Vielleicht kann Herr Lux Antwort geben —“

Frau Eugenie fuhr aufgeregt dazwiſchen. „Lux? Ja fo, wie war's denn heute mit dem Ausflug? Habt ihr euch gut unterhalten?“

Egbert hatte das Zimmer verlaſſen, und die beiden Frauen waren allein. Die Tochter ſchwieg eine Weile, dann begann ſie ihre reichen Haare aufzulöſen, bis die blonde Flut wie ein Mantel um ſie niederfiel.

„Wie wohl das tut nach dieſem heißen Tage! Ob wir uns gut unterhalten haben, Mutter? Es war wohl ein bißchen anders wie im Grunewald oder auf einem Rummelplatz wir waren in einem kleinen Neſt zwiſchen Sand und Kiefern. Hans Lux iſt dort geboren, und er wollte gerne ſeinen Geburtstag dort feiern. Vielleicht iſt es der letzte oder der vorletzte wer kann das ſo genau wiſſen.“

„Der Stärkſte war er nie,“ ſagte Frau Eugenie unſicher.

„Nein, der Arzt hat es ihm bezeugt. Und ſeit heute glaube auch ich daran. Weißt du auch, Mutter, daß er mich liebt?“ S

„Da fei Gott vor!“ ſagte die Frau erſchrocken. „Ein kranker Mann!“

Berta ſaß da und ſpielte mit ihren Haaren. Es war ein nervöſes Spiel, das ſah man an dem Zucken der ſchlanken Finger, aber ſonſt war fie ganz ruhig und konnte auch ihre Stimme beherrſchen.

„Ou brauchſt dich nicht zu ſorgen, Mutter. Wenn

62 | Die Apachen. o

Hans Lur liebt, ift das eine andere Liebe wie bei den gewöhnlichen Menſchen. Ich habe mich nie darauf angeſehen, ob ich ſchön bin und blühend, aber er ſagt es, und ich glaube ihm wie ein gehorſames Kind. Und das alles liebt er nicht für ſich, ſondern er will, daß ich es für meine Zukunft an einen anderen ver- ſchenke. Nur ein Stückchen von meiner Seele will er behalten, ſolange er lebt. Dann ſpäter ſoll das auch einem anderen gehören. Das iſt groß, Mutter kannſt du die Größe begreifen?“

„Ich habe ſie dargeſtellt,“ ſagte die Frau leiſe und zaghaft.

„Ja auf der Bühne. Aber das iſt Leben. Ein ſelbſtloſer Reſt, aber doch ſein Leben. Er wird jetzt öfters zu uns kommen, und du darfſt nichts dagegen einwenden. Das iſt für dies Haus eine Ehre. Und er wird auf den Augenblick warten, wo ich meine Frauen- pflicht erfülle und meine Hand einem anderen gebe. Ich will das tun, Mutter, fobald der andere kommt. Kann ein Weib mehr tun?“

Sie ſtand auf, warf die blonde Fülle der Haare hinter ſich und verließ das Zimmer.

Frau Eugenie ſah ihr nach und ſah auf ihre Kränze und Schleifen. „Spielen kann man das,“ murmelte fie, „es wäre eine ſchöne und tragiſche Rolle. Aber die dort ſpielt nicht, ſie hat keinen Tropfen von dem mütterlichen Blut geerbt. Es liegt in unſerer Zeit ein Rätſel, das ich nicht begreifen kann es iſt wohl die kommende Zukunft.“

* R *

Egbert Linde war auf ſein Zimmer gegangen, um den Artikel zu Ende zu ſchreiben, an dem er geſtern gearbeitet hatte.

o Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 63 ä —-— —-— —— —— —-„—-—¼ .

Dieſer enge, nach dem Hofe gelegene Raum war ſo ſtill, daß er das Summen der Mücken hören konnte, die draußen in der dumpfen Luft ihr Spiel trieben. Nach dieſem ſchwülen Tage wollte wohl noch einmal ein Gewitter heraufkommen, bevor der Herbft feinen Einzug hielt.

Egbert fühlte ſich beklommen. Er grübelte über die Urſache, denn ſeine geſunden Nerven waren von Witterungseinflüſſen unabhängig. Es mußte ein an- derer Grund vorliegen.

Und dann entſann er fih plötzlich feiner. neuen Nachbarſchaft. ö |

Die beiden Mietzimmer, das grüne und das blaue, lagen ziemlich abſeits in der geräumigen Wohnung, und da bisher nur das eine bewohnt geweſen, ſo hatte ſich in Egbert das Gefühl der völligen Alleinherrſchaft herausgebildet. Nun teilte er das Reich mit einem anderen, es lag nur eine dünne Scheidewand zwiſchen hüben und drüben. Und diefe Nähe wirkte unbehaglich, nicht etwa durch Geräuſche oder ähnliche Beläſtigungen, ſondern durch das gerade Gegenteil. |

Frau Eugenie hatte gefagt, daß der neue Mieter bereits eingezogen und daß er zu Hauſe ſei. Aber er verhielt ſich ſo lautlos, wie es kaum ein Schlafender fertig bringt, deſſen Atem doch zu hören iſt oder eine unwillkürliche Bewegung des Körpers.

Hatte er etwa den Nachbar eintreten hören und lauſchte er an irgend einer Stelle, die in dieſem alten, morſchen Bau wohl unſchwer zu finden war?

Da war es ſchließlich kein Unrecht, wenn man zuvorkam.

Es befand ſich zwiſchen den beiden Zimmern eine Verbindungstür, die natürlich verſchloſſen und außer- dem durch ein Sofa verſtellt war. In dem Schlüſſelloch

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ftedte von drüben ein Schlüffel, aber die Türfüllung klaffte ein wenig, und wo man mit Kitt nachgeholfen hatte, war die Arbeit läſſig und unvollſtändig.

Egbert ſtreckte ſich mit einem tiefen Seufzer der Ermüdung auf das ebenfalls ſeufzende Sofa. Er ſchämte ſich auch etwas und bedauerte ſeine eigene Neugier aber es war ihm ganz unmöglich, anders zu handeln, und er dachte nur daran, daß Berta ihn ſtrafend an- geſehen haben würde.

Überhaupt, dieſes ſchöne blonde Mädchen!

Zeden Tag entdeckte Egbert neue Vorzüge in ihrem Weſen, in ihren Zügen, in ihrer Geſtalt. Heute war ſie geradezu entzückend geweſen. Aber natürlich gegen einen Hans Lux konnte er nicht aufkommen, die beiden hatten ja den ganzen Nachmittag mitein- ander geheimnißt, und nächſtens gab es wohl gar eine Verlobung!

Nach dieſer Betrachtung brachte Egbert ſein Auge an den Türſpalt, und er gab fih einer anderen Be- obachtung hin.

Der Franzoſe ſaß an ſeinem Schreibtiſch. Das blaue Zimmer war tatſächlich mit dieſem Möbel verſehen. Es trug das Gepräge erſter Klaſſe, und nach Frau Eugenies Ausſpruch follte der neue Mieter einen ent- ſprechenden Eindruck machen.

Aber Egbert in ſeiner feindſeligen Stimmung konnte das nicht finden.

Gewiß, das war ein kluges und intereſſantes Ge- ſicht, einer von jenen feſtgemeißelten Köpfen, die durch ihre Willenskraft in einer ſchwachen und verweichlichten Zeit überall auffallen. Aber anziehend waren dieſe Züge keineswegs.

Der junge Reporter hatte allmählich ſeine Er— fahrungen in Moabit geſammelt, und er fand, daß

2 Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 65

dieſer Renard, wie der Franzoſe ſich zu nennen beliebte, einen kriminaliſtiſchen Einſchlag hatte, namentlich jenes unſtete Flirren der Augen, das am ſtärkſten auf der Anklagebank hervortritt, aber ſich auch in das tägliche Leben überſetzt.

Selbſt bei der Arbeit, die doch eine geiſtige Samm- lung erforderte.

Denn Jules Renard arbeitete in dieſem Augenblick bei dem Scheine der Lampe an einem Manufkript. Egbert konnte das deutlich ſehen, ſein bereits in ſolchen Dingen geſchulter Blick erkannte es an der Form des Papiers, an der Art, wie jener bisweilen innehielt, in die Luft ſchaute, wieder anſetzte und in kurzen Zeilen ſchrieb.

Das war kein Brief, bei dem die Feder das Papier nicht verläßt, es war geiſtige Arbeit, die eine Befriedi- gung erzeugt, und Egbert erkannte dieſe Seelenregung an dem ſtolzen Schürzen der bärtigen Lippen, an einem flüchtigen Triumphlächeln, das eine verächtliche Beimiſchung hatte.

Alſo wirklich ein Schriftſteller und kein politiſcher Agent, wie Egbert beim erſten Blick geargwöhnt hatte. Ein Mann, der ſich in dieſen Winkel zurückzog, um die Welt durch irgend etwas zu überraſchen.

Das blieb doch immerhin ſeltſam, denn die fran- zöſiſchen Autoren pflegen ſich ohne Ausnahme in Paris niederzulaſſen. Sie ſchöpfen ihre Ideen aus der Haupt- ſtadt des Landes; was darüber hinausgeht, iſt ihnen fremd.

Nach einer kleinen Weile änderte ſich das Bild.

Renard ſchob das Manufkript beifeite, öffnete feinen Schreibtiſch und brachte eine umfangreiche Mappe zum Vorſchein. Er entnahm derſelben einen Stoß Papiere, loſe Blätter von ſonderbarem Ausſehen, hielt jedes

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einzelne in den Lichtkreis der Lampe und unterſuchte es mittels einer Lupe.

Und nun konnte Egbert deutlich ſehen, daß keiner dieſer Bogen beſchrieben war. Es waren keine Papiere, ſondern es war Papier gelblich, rauh, vom Alter angegriffen und am Rande zermürbt. Egbert hatte dergleichen ſchon geſehen in öffentlichen Sammlungen, unter Glas und Rahmen, beſonders im Goethehaus zu Weimar und in der dortigen Bibliothek. Aber dann ſtand eine Schrift darauf, alt, verblaßt, ehrwürdig, ein Gegenſtand ſcheuer Bewunderung.

Hier nichts von dem allem. Und die Art, wie dieſer unbekannte und geheimnisvolle Mann ſeine ſcheinbar zweckloſen Unterſuchungen anſtellte, hatte etwas ſo Seltſames und Unheimliches, daß Egbert den Entſchluß faßte, feinen ganzen Scharfſinn der Löſung des Rätſels zu widmen. Mochte der neue Stubennachbar ein harm⸗ loſer Narr oder ein wunderlicher Schartekenſammler fein die Hörſäle von Moabit geben auch Gelegen- heit zu einer ernſteren Auffaſſung, und Egbert wollte ſeine Studien nicht umſonſt gemacht haben.

Übrigens geſchah während der nächſten Tage nichts Bemerkenswertes.

Der Fremde erwies fidh als ein ſtiller und anſpruchs- loſer Mann, der faſt den ganzen Tag in ſeiner Stube hockte und ſich um die Hausgenoſſen ſo gut wie gar nicht kümmerte. Frau Eugenies Verſuche, einen fhòn- geiſtigen Verkehr anzubahnen, ließ er vollſtändig un- beachtet. Dagegen wendete fih fein Intereſſe allmäh- ` lich dem Hausherrn zu.

Willibald Specht war wieder einmal im Tiefſtand der Kaſſenebbe, mußte infolgedeſſen arbeiten, und das wurde ihm ſchrecklich ſauer; er ſaß fluchend über ſeinen Witzblattzeichnungen und erklärte das ganze Daſein

2 Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 67 —— —— ——

für einen ſchlechten Witz. Jules Renard kam bisweilen zu ihm in das Atelier und ſah zu, wie unter dem Stift dieſes genialen Bummlers die tollſten Karikaturen ent- ſtanden.

Die Brücke zwiſchen den beiden Männern war ſchnell gezimmert.

Oer Franzoſe bezeichnete ſich ſelbſt als Mitarbeiter franzöſiſcher Journale, der vom „Figaro“ den Auftrag erhalten habe, eine Artikelſerie über Deutſchland und insbeſondere über Berlin zu ſchreiben, wozu ihn ſeine genaue Renntnis der deutſchen Sprache beſonders be- fähige. Es lag auf der Hand, daß er den Wunſch hegte, zu dieſem Zweck Berlin genau kennenzulernen, und Willibald wiederum konnte ſich rühmen, einen vorzüglichen Führer abzugeben.

„Nur erſt wieder Luft haben,“ meinte er. „Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, Herr Renard, dies iſt die greulichſte Fronarbeit von der Welt, und der Humor geht dabei vor die Hunde. Aber wenn erſt ein paar hundert Märker beiſammen ſind, dann ſollen Sie Berlin kennen lernen, und der „Figaro wird Ihnen jeden Ar- tikel mit Gold aufwiegen!“

„Das ift auch nicht fo glänzend,“ hatte Renard vor- ſichtig erwidert. „Vielleicht gäbe es für uns beide einen beſſeren Weg zum Verdienſt.“

Da leuchteten die Augen Willibald Spechts hell auf.

Nach Verlauf einiger Tage erhielt Egbert einen Brief von feinem Vater aus Jena.

Der Alte ſchrieb etwas grämlich: „In der letzten Zeit ift hier allerhand paſſiert. Daß die Tochter meines Freundes Tonndorf ſich in Paris verlobt hat, teilte ich Dir ſchon in meinem letzten Briefe mit, und ich fügte abſichtlich hinzu, daß der Bräutigam ein ſolider junger Mann ſei, denn Du und die Käthe, ihr habt

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doch wohl miteinander geflirtet, und fo was ift als- dann der befte Abſchluß einer Studentenliebe.

Man ſoll aber niemals in den Wind reden.

Inzwiſchen iſt der Bräutigam, wie ſich's gehört, nach gena gekommen und hat bei dem Vater in aller Form um die Hand der Tochter angehalten. Er nennt ſich gean Lecocq und will Werkführer in einer chemiſchen Fabrik ſein. Ob's wahr iſt, weiß ich nicht, denn ich konnte mich nicht mit ihm verſtändigen. Aber Du kennſt den alten Tonndorf und weißt, daß er für die Fran- zoſen ſchwärmt. Er nahm den jungen Mann in ſein Haus auf, willigte in die Verlobung und war ganz närriſch über die Ausſicht, ſeine letzten Tage in Paris verleben zu können. Nach ein paar Tagen reiſte der Bräutigam wieder ab, und nun ſtellte ſich etwas ſehr Seltſames heraus.

Du weißt, Egbert, daß ich immer viel Zntereſſe für alte Akten gehabt habe, und Tonndorf beſitzt deren eine ganze Menge. Die Perle ſeiner Sammlung bildet ein intereſſanter Kriminalprozeß aus der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, und ich hatte das ganze Bündel des bequemen Studiums halber auf mein Zimmer genommen.

Nach der Abreiſe des Franzoſen entdeckten wir, daß die Akten nicht mehr vollſtändig find. Nicht im eigent- lichen Sinne des Wortes, denn von dem Inhalt fehlt kein Blatt; aber hinten ſind eine ganze Menge leerer Seiten herausgeſchnitten, und ich konnte anfangs gar nicht begreifen, welchen Zweck der Täter damit verfolgt haben könnte. |

Aber Fritz Tonndorf belehrte mich, daß dieſes alte Papier ſehr ſelten und ſehr ſchwer zu erlangen ſei. Er ſprach von allerhand Fälſchungen, die damit vor— genommen werden, und erzählte, daß gerade Paris

D Ein Parifer Roman von Frig Levon. 69

mit feinen zahlreichen und berühmten Antiquariaten ein günftiges Feld für diefe unſaubere Tätigkeit abgäbe.

Seitdem haben wir die Angelegenheit nicht mehr berührt, aber ich ſehe es dem alten Manne an, daß er von einem Verdacht und von einer Sorge gequält wird. Denn wenn überhaupt ein Diebſtahl vorliegt, dann kann nur Lecocq als Täter in Betracht kommen. Er war der einzige Hausgenoſſe während jener Tage, er bewohnte Käthes Zimmer und konnte ohne Schwie- rigkeit in mein eigenes gelangen. Deshalb reden wir nicht über die Sache, aber ſie liegt zwiſchen uns beiden wie ein dunkles Geheimnis. Sch weiß auch, daß der Alte an ſeine Tochter nach Paris geſchrieben hat, aber der Inhalt des Briefes iſt mir unbekannt, und ebenſo, ob eine Antwort darauf erfolgte. So leben wir in Unruhe, und Fritz Tonndorf redet davon, daß er noch einmal den Wanderſtab ergreifen und die Reiſe nach Paris unternehmen müſſe.“

(Fortſetzung folgt.)

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ANIZANIANIJANIZAR EE zus) Sek

In den Vorbergen des Himalaja. Von N. Zollinger.

Mit 9 Bildern. t (Nahörud verdoten.)

Wer in den häuslichen Tugenden der deutſchen Frau | den ſchönſten und vollkommenſten Ausdruck wah- rer Weiblichkeit erblickt, der gelangt ſehr ſchnell zu einem ungünſtigen Urteil über die moderne Amerikanerin. In den Vereinigten Staaten ſelbſt erheben ſich ja neuerdings immer lauter die Stimmen, die den durch einen übertriebenen Kultus des weiblichen Geſchlechts verwöhnten und verzogenen Vankeedamen ernſtlich ins Gewiſſen reden. Aber wenn es auch unzweifelhaft wahr ift, daß die Durchſchnittsamerikanerin fih als ein Weſen höherer Gattung betrachtet, das zu nähren, zu ſchmücken und zu verhätſcheln die ſelbſtverſtändliche Pflicht des Mannes iſt, ſo wäre es doch gewiß voreilig, ihr darum alle innere Tüchtigkeit abzuſprechen.

Der anfängliche Mangel an Frauen in dem nur durch Einwanderung bevölkerten Lande hat auf die natürlichſte Weiſe zu einer Überſchätzung ihres Wertes und zu einer Art von Abgötterei geführt, die ſich in den Beziehungen der beiden Geſchlechter auch noch jetzt, wo das Zahlenverhältnis längſt ein normales ge- worden iſt, bemerkbar macht. Aber die freiwillige Unterordnung des ſtärkeren Geſchlechts hat für die Charakterentwicklung der Amerikanerin neben mandher- lei bedenklichen Wirkungen doch auch ihre Vorteile

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gehabt. Sie hat dahin geführt, daß fih bei den Mäd- chen und Frauen jenſeits des großen Teiches neben einer gewiſſen Selbſtüberſchätzung auch Selbſtändigkeit und Selbſtvertrauen in ungleich höherem Maße aus- gebildet haben als bei der in. anderen Anſchauungen aufgewachſenen ſchöneren Hälfte der europäiſchen Na- tionen. Die Amerikanerin glaubt ſich zu allem befähigt, weil man ihr von Kindheit an verſichert, daß ſie es ſei, und in dem unerſchütterlichen Glauben an ihre ebenbürtige Leiſtungskraft wagt fie ſich darum un- bedenklich auch an Aufgaben, die man anderswo als lediglich dem Manne vorbehalten anſieht.

So geſchieht es denn häufig genug, daß wir von erſtaunlichen weiblichen Kraftleiſtungen hören, die eben nur eine Amerikanerin fertig bringen konnte. Eine Vankeetochter war es, die in Südamerika nach unge- heuren Anſtrengungen einen der höchſten, bisher von Menſchen erreichten Bergesgipfel erklomm eine Ame- rikanerin, die ohne jede weiße männliche Begleitung den dunklen Erdteil durchquerte, und eine Amerikanerin veröffentlicht ſoeben ihren intereſſanten Bericht über einen zu wiſſenſchaftlichen Zwecken unternommenen Ausflug in die unwegſamen Vorberge des Himalaja, einen Ausflug, der ſich an Gefahren und Strapazen zwar nicht mit jenen erſterwähnten Unternehmungen meſſen kann, für ein weibliches Weſen aber immerhin eine höchſt achtungswerte Leiſtung darſtellt.

Die tapfere Reiſende iſt Frau Mary Blair Beebe, die junge Gattin eines Ornithologen, den fie uner- ſchrocken auf der Suche nach einer nur noch im Hima— laja vorkommenden ſeltenen Faſanengattung begleitete, und dem ſie, wenn man ihrem durchaus wahrheits— getreu anmutenden Bericht Glauben ſchenken darf, dabei eine an Ausdauer, Beharrlichkeit und unverwüſt⸗

72 Sn den Vorbergen des Himalaja. u

licher Munterkeit mindeſtens ebenbürtige N war,

Aus der erſchlaffenden Hitze und dem erſticenden Staub des indiſchen Flachlandes hatte fih das unter- nehmungsluſtige Ehepaar im Anfang des Monats April nach. dem ſchon ziemlich hoch gelegenen Darjeeling be- geben, das als ſommerlicher Luftkurort in hohem An- ſehen ſteht. Die Fahrt in den leichten, ſpielzeugartigen Wagen der von Siliguri nach Darjeeling führenden Bergbahn, die ſie aus der dumpfigen Tropenwelt des Oſchangels in raſcher Steigung zu den luftigen Höhen der erſten, noch mit üppigſter Blumenvegetation be- deckten Vorberge brachte, erregte bereits das helle Ir züden der naturfreudigen jungen Frau.

Als echte Amerikanerin, die keine Sehenswürdig⸗ keit ungenoſſen an ihrem Wege liegen läßt, hatte ſie fih natürlich darauf kapriziert, in Darjeeling den Dalai- Lama zu ſehen, der eben damals aus politiſchen Grün- den dort Zuflucht geſucht hatte. Aber ſie mußte zu ihrem Leidweſen auf die Erfüllung dieſes Wunſches verzichten, weil das göttlich verehrte Oberhaupt der tibetaniſchen Kirche in ſtrengſter Zurückgezogenheit ver- harrte, nachdem ein bekehrungseifriger Miſſionar es fertig gebracht hatte, ihm auf einem Spaziergange ein Traktätchen in die Hand zu drücken, und nachdem wie- derholt weibliche europäiſche Reiſende bis in die inneren Gemächer feines Hauſes gedrungen waren, unbeküm- mert darum, daß die Satzungen ſeiner Religion ihm auf das ſtrengſte verbieten, derartige Beſuche zu emp- fangen. ,

Innerhalb weniger Tage wurden in Darjeeling alle Vorbereitungen für die Expedition in die Berge ge— troffen. Die Ausrüſtung mußte eine ziemlich umfang- reiche fein, da die Schußhäufer, auf die man in der

o | Don R. Bollinger. 7a

Folge angewieſen fein follte, dem Touriſten nichts anderes zu bieten haben als ihre kahlen vier Wände

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Bergbahn nach Darjeeling.

From „Harper’s Magazine“

und ein Dach über dem Kopfe. Man mußte alfo außer wiſſenſchaftlichen Inſtrumenten, photographiſchen Ap-

74 Zn den Vorbergen des Himalaja. o

paraten, Schießwaffen und Munition auch Bettzeug, Kochgerätſchaften, Decken und Kleidungsſtücke, ſowie vor allem eine ausreichende Menge von Proviant mitnehmen, und JJV Frau Beebe ver- C ſichert, es fei ihr | als ganz unmög- lich erſchienen, daß alle dieſe Koffer, Kiſten und Ballen auf den Rücken menſch⸗ licher Träger über die ſteilen Gebirgspfade geſchafft werden könnten. Sie bemühte fich dar- um immer wie- der, die Aus- rüſtung zu ver- ringern, bis man g e ihr ſagte, daß ein i; in die Berge rei-

2 EL Gange SE e, REN En k

zus» 5 2 75 T e H N.

ſender Engländer

dne meme Das Reiſefaktotum Tanduk. men pflege.

In der Tat erwieſen fih ihre Beſorgniſſe als grund- los, denn als das als Koch und Reiſemarſchall enga- gierte Faktotum, der Tibetaner Tanduk, mit ſeinen zweiunddreißig Trägern anrückte, erklärte er jede der einzelnen Traglaſten als viel zu leicht. Die tibetanifchen Kuli, unter denen ſich zu Frau Beebes Überraſchung

GE ng

o Don R. Bollinger.. 75

auch ſechs weibliche befanden, waren freilich anderer Meinung. Zeder behauptete, daß gerade die ihm zu-

S 272 e een F

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From „Harper's Magazine“

0 Wade geteilte Laſt die allerſchwerſte ſei, und es würde recht ſchwierig geweſen ſein, eine Einigung zu erzielen, wenn

Aufbruch von Tonglu.

76 In den Vorbergen des Himalaja. | 2 nicht Tanduks gefürchtete Autorität raſch Ordnung ge- ſchaffen hätte. Die kleine Revolte vor dem Aufbruch war übrigens die einzige, über die ſich die Reiſenden zu beklagen hatten. Während der ganzen Dauer der

—— ä . —— DL

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Schafe mit Maulkorb.

2 ap en T Le Ze EN ö

Expedition zeigten ſich die Tibetaner gutartig, harmlos und willig wie große Kinder, und namentlich der jungen Frau bezeigten fie bald eine Anhänglichkeit und Ver- ehrung, die es trotz der Unmöglichkeit einer Verſtändi⸗- gung durch das geſprochene Wort leicht machte, mit ihnen zu verkehren. Tanduk aber erwies ſich geradezu

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als ein Juwel, und ſo vollkommen er ſich der Würde ſeines Amtes den Trägern gegenüber bewußt war, ſo dienſtbereit, aufmerkſam und ritterlich benahm er ſich gegen ſeine junge Herrin.

Der erſte Tagesmarſch, der durch eine herrliche

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Ausblick von Sandukphu.

Region von Eichen- und Ahornwäldern und über einen Blumenteppich von Orchideen und Lilien führte, endete an dem Schutzhauſe oder „Bungalow“ von Jorepokri, der nächſte, auf dem ſchon eine Höhe von faſt 4000 Meter erreicht wurde, bei dem Bungalow von Tonglu. Dieſe für die Reiſenden beſtimmten Schutzhäuſer, die in Entfernungen von je einer Tagereiſe bis in die

78 In den Vorbergen des Himalaja. d,

höheren Gebirgsregionen hinauf zerſtreut find, bedeuten eine vortreffliche Einrichtung, ohne deren Vorhanden⸗ fein größere Märſche bei der Häufigkeit jäher Wetter- umſchläge und gefährlicher Schneeſtürme überhaupt kaum durchführbar wären. Sie enthalten zumeiſt zwei kleine Schlafräume und einen Aufenthaltsraum, ſowie in halboffenen Anbauten einen Küchenraum und Ber- ſchläge für die Unterbringung der Träger und der Reit-

tiere. |

Auch diefe letzteren, ausdauernde und bergſichere tibetaniſche Ponys, finden die uneingeſchränkte An- erkennung der Frau Beebe. Allerdings mußte ſich die Dame erſt daran gewöhnen, daß die Tiere auch auf den bedenklichſten Felspfaden, über ſenkrecht abfallenden Wänden von unermeßlicher Tiefe, ſtets am äußerſten Rande dahinwandelten. Sie waren eben in ihrer Jugend zum Tragen von Laſten verwendet worden und hatten darauf bedacht fein müſſen, eine unan- genehme Berührung dieſer Laſt mit der Felswand zu vermeiden. Nun aber waren ſie zu alt, um noch von ihrer, für nicht ganz ſchwindelfreie Reiter etwas un- angenehmen Gewohnheit zu laffen.

Während die majeſtätiſchen Gipfel des Himalaja bis dahin ſtets hinter einem undurchſichtigen Nebelſchleier verhüllt geblieben waren, hatten die Reiſenden von Tonglu aus zum erſten Male die Freude, wenigſtens auf kurze Zeit des Kintſchindſchinga anſichtig zu werden, deſſen Anblick auf Frau Beebe nach ihrer Verſicherung faſt überwältigend wirkte.

Auf endloſen Zickzackwanderungen gelangte man von Tonglu aus in einem weiteren Tagesmarſch nach der Anſiedlung Kalapokri, die für den armen Tanduk zu einer Quelle bitterſter Nöte und Kümmerniſſe werden ſollte. Die beiden harmlos und unverfänglich aus-

at ea

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a) Von R. Zollinger. 79

ſehenden Hütten, aus denen diefe Anſiedlung beiteht, verdanken ihre Exiſtenz in der Bergeinſamkeit nämlich

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lediglich der allen Tibetanern und Nepaleſen eigen- tümlichen Schwäche für geiſtige Setränke. Mag der

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Die Trägerinnen bei der Toilette.

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80 Zn den Vorbergen des Himalaja. 2

Verkehr hier in der Gebirgswildnis auch ein noch ſo ſpärlicher ſein, die Bewohner der beiden Häuſer müſſen beim Schnapsausſchank doch wohl ihre Rechnung finden, denn von den eingeborenen Bewohnern des Landes, die dieſes Weges ziehen, widerſteht keiner der lockenden Verſuchung.

Auch der würdevolle, muſterhafte Tanduk fiel ihr zum Opfer und präſentierte ſich dem reiſenden Ehepaar alsbald in einem Zuſtande, der ihn zeitweilig zur Aus- übung ſeiner verantwortungsvollen Pflichten ganz und gar untauglich machte. Größer aber als ſein Vergehen war feine Reue, und es iſt charakteriſtiſch für das ritter- liche Empfinden dieſes Tibetaners, daß ihn vor allem das Bewußtſein, von einer weißen Dame in Ip un- würdiger Verfaſſung geſehen worden zu ſein, faſt bis zur Verzweiflung und bis zu ganz ernſthaften Selbſt⸗ mordabſichten trieb. Natürlich wurde ihm die demütig erbetene Verzeihung um ſo bereitwilliger gewährt, als er für die Reiſenden fo gut wie unentbehrlich war, und er gab in der Folge nie wieder einen Anlaß zur Unzufriedenheit.

Das nhächſte Wegziel war Sandukphu, und der Marſch zu dem ſchon in ſehr beträchtlicher Höhe gelegenen Bungalow bereitete den Reitern wie den Trägern er— hebliche Schwierigkeiten, die indeſſen von den weib- lichen Kuli ebenſo frohgemut überwunden wurden wie von den männlichen. Der Name Sandukphu ließe ſich ungefähr mit Akonitberg überſetzen, und über weite Strecken beherrſcht in der Tat der blaue Eiſenhut als Träger dieſes furchtbaren Giftes die Vegetation. Wie gut den Nepaleſen die gefährlichen Eigenſchaften der Pflanze bekannt ſind, beweiſt ihre Gewohnheit, den Schafen, die ſie durch dieſe Regionen treiben, einen Maulkorb anzulegen, damit ſie vor der Verſuchung

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Von R. Zollinger.

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1913. IX,

82 Sn den Borbergen des Himalaja. u

wildere Gebirgsregionen führenden wiſſenſchaftlichen Ausflüge der beiden Reiſenden abgab. Das Erwachen. am erſten Morgen nach der Ankunft brachte Frau Beebe eine gewaltige ÜUberraſchung dadurch, daß fie fid unvermutet inmitten einer prachtvollen Schneeland- ſchaft fand, denn über Nacht hatte es einen jener Schneeſtürme gegeben, die hier auch in der guten Jahreszeit zu den häufigen Vorkommniſſen gehören. Die Tibetaner aber, deren geſunder Schlaf dadurch nicht im mindeſten geſtört wurde, waren in ihren halboffenen Verſchlägen von einer zentimeterhohen Schneeſchicht überdeckt worden. Vergnügt ſchüttelten ſie ſie am Morgen von ihren dicken Gewändern, und die Ausſicht auf eine Reihe von Ruhetagen machte fie ausgelaſſen wie kleine Kinder.

Als echte Evastöchter erwieſen ſich die Frauen und Mädchen, deren erſte Sorge eine mit größter Hingebung vorgenommene Verſchönerung ihrer äußeren Erſchei— nung war. Sie gruppierten ſich zu dieſem Zweck in einem ſonnigen, geſchützten Winkel vor dem Schutz hauſe und waren ſich gegenſeitig neidlos bei der Toilette behilflich. Der Anwendung des Waſſers in irgend- welcher Form zwar gingen ſie dabei gefliſſentlich aus dem Wege, einmal, weil ſie ſich bei den Tibetanern überhaupt keiner übergroßen Beliebtheit zu erfreuen hat, und zweitens, weil fie bei der auch dem euro- päiſchen Alpiniſten hinlänglich bekannten Wirkung der Höhenluft auf die unbedeckte Haut hier in der Tat nicht ſehr zweckmäßig geweſen wäre. Sie begnügten ſich alſo, das Geſicht mit einer undefinierbaren bräun- lichen Maſſe einzureiben, die nach Frau Beebes Ver— ſicherung mit Cold- cream nur eine febr entfernte Ahn— lichkeit hatte, und ließen ihrer weiblichen Eitelkeit ledig— lich bei der Behandlung und Anordnung des ſtraffen,

1 Von R. Zollinger. 83

ſchwarzen Kopfhaares, auf das ſie erſichtlich beſonders ſtolz waren, freien Lauf. Das Kämmen und Friſieren, das jede von einer dienſtbereiten Mitſchweſter beſorgen ließ, währte ſtundenlang, und die junge Amerikanerin konnte dabei die intereſſante Beobachtung machen, daß auch dieſe von der Modekultur noch gänzlich unbeleckten

er & Brothers.

S RE DC brom Harper’s Magazine“, Copyright, 1911, by. Harp

Das Schutzhaus bei Phallut.

Damen bereits gelernt hatten, mit künſtlichen Mitteln nachzuhelfen, wo fie ſich von der Natur zu ftiefmütter- lich bedacht glaubten. Das „falſche Haar“, deffen fie ſich zur Vortäuſchung einer nicht vorhandenen Fülle bedienten, beſtand allerdings aus allerlei Materialien, wie ſie zu ſolchem Zweck ſonſt nicht verwendet zu werden pflegen. Mußten doch ſelbſt die Baſtfaſern dazu þer- halten, die vorher zur Verpackung von Tabak gebraucht

84 In den Vorbergen des Himalaja. D

worden waren. Unter der fertigen „Cléofriſur“ aber erfüllten fie ihre Aufgabe ebenſogut als irgend ein anderes Hilfsmittel, und eines der Mädchen nahm ſich nach beendeter Toilette ſogar ſo nett aus, daß Frau Beebe die naiven Huldigungen ganz begreiflich fand, | die ihr von feiten der Männer dar- gebracht wurden.

Während die Frauen auf ſolche Art der Körper- kultur oblagen, vergnügten ſich die männlichen Kuli an dieſem wie an allen fol- genden Raſttagen mit einem Spiel, das für fie offen- bar den Gipfel alles irdiſchen Vergnügens be- A IR deutete. Es be- we „Harper’s Masse? ſtand darin, daß

Copyright, 1911, by Harper & Brothers. aus einer ewif- Blick auf den Mount Evereſt, den g

böchſten Gipfel der Erde. ſen Entfernung

ein großer Stein

in eine zu dieſem Zweck hergeſtellte Aushöhlung des

Bodens geworfen werden mußte, und es gab bei dieſer

Unterhaltung, deren die Tibetaner niemals müde wur-

den, ſo viel Lärm, Gelächter und Geſchrei, wie wenn

es ſich um die aufregendſten Dinge von der Welt ge- handelt hätte.

Da es Nr. Beebe trotz aller halsbrecheriſchen Strei-

o Von R. Zollinger. 85

fereien noch immer nicht gelungen war, der geſuchten ſeltenen Vögel habhaft zu werden, unternahm das Ehepaar ſchließlich noch einen Ausflug nach dem ziem- lich entfernten Phallut, das man ihnen als einen der wenigen Aufenthaltsorte jener Faſanenart bezeichnet hatte, und während dieſes Ausflugs hätte das bisher ſtets vom Glück begünſtigte Unternehmen leicht eine recht bedenkliche Wendung nehmen können.

Die Reiſenden, die ſich um der Wegſchwierigkeiten willen nur von wenig Kuli hatten begleiten laſſen, wurden unmittelbar, nachdem ſie das Schutzhaus Phallut erreicht hatten, von einem der furchtbarſten Stürme überraſcht, die fie jemals erlebt hatten. Selbſt die immer ſorgloſen Tibetaner zeigten ſich erſchrocken und ängſtlich. Ein länger anhaltender Schneefall würde ja die kleine Reiſegeſellſchaft, die nur für zwei Tage mit Proviant verſehen war, von aller Welt abgeſchnitten haben, da er den Rückweg nach Sandukphu ungangbar gemacht hätte, und da hier oben in der weltfernen Berg- einſamkeit irgendwelche Lebensmittel nicht zu erlangen geweſen wären. |

Frau Beebe ließ fih aber auch durch diefe immer- hin recht kritiſche Lage die gute Laune und die Freude an der Großartigkeit der ſie umgebenden Natur nicht verderben, und ihre frohgemute Zuverſicht erwies ſich als berechtigt; denn am folgenden Morgen ſtrahlte wieder die Sonne vom wolkenlos blauen Firmament, und der tapferen Amerikanerin war ſogar eine befon- dere Freude vorbehalten, der Anblick der ganzen, von allen Nebeln und Wolken befreiten Kette des Himalaja mit dem Mount Evereſt, dem höchſten Gipfel der Erde, der ſein königliches Haupt ſonſt faſt immer vor den Blicken der Sterblichen zu verſchleiern liebt.

*

BER

Die Welt der anderen. Novelle von Zuife Weſtkirch.

H (Goéëärud verboten.)

Der junge Lehrer Heinz Oſterwald ſtand auf dem Flure vor dem kleinen Spiegel, rückte feine Rra- watte zurecht und knöpfte umſtändlich ſeine Handſchuhe zu, nicht aus Eitelkeit, ſondern um Zeit zu gewinnen, fünf Minuten des Alleinſeins nur mit feiner Braut. Den ganzen Abend waren Vater und Mutter Wa— ranger wieder nicht aus der Stube gewichen. Und es war doch der letzte Abend auf vier Wochen! Morgen um ſieben Uhr Wie er mit feiner Kolonne Ferien- kinder ab.

„Elli, könnteſt du mich nicht heute ausnahmsweiſe ein paar Straßen weit begleiten? Sei lieb! Setz deinen Hut auf!“

Elli Waranger ſtand an der Wohnſtubentür, zierlich und ſauber wie eine Porzellanfigur aus dem Glas- ſchrank, mit der blaſſen Hautfarbe der Städterinnen und dunklen Augen voll ſcheuer Zärtlichkeit.

„Ich käme morgen früh gern auf den Bahnhof, Heinz,“ ſagte ſie zögernd.

„Ein Abſchied vor fünfundzwanzig Schuljungen danke!“

„Daß ich am Abend mit dir allein auf die Straße gehe, gibt Mama nicht zu du weißt's. Wir ſind doch noch nicht richtig verlobt.“

o Novelle von Luiſe Weſtkirch. 87

Er warf den Kopf zurück, und faft höhniſch erwiderte er: „Mir ſcheint, deiner Verſtändigkeit könnte die Mutter wohl vertrauen, wenn ſie meiner Rechtſchaffenheit nicht vertrauen will.“ |

„Es iſt nicht Mißtrauen, Heinz. Mama ſtammt aus einer anderen Zeit. Solch abendlicher Spaziergang würde ihr Empfinden tief verletzen.“

„Und mein Empfinden, Elli?“

Sie ergriff bittend feine Hände. „Oh, Heinz, wenn ich erſt deine Frau bin, dann lebe ich nach deinem Wunſch und Willen nur nach deinem! Aber ſolange ich in meiner Eltern Haus bin, iſt es meine Pflicht, daß ich ihre Wünſche achte.“ |

„Korrekt bis zum tz verſteht fidh!“

Ihre Augen füllten ſich mit Tränen. „Geh nicht im Zorn von mir, Heinz. Hab' Geduld. Sieh, deine Liebe iſt mir ein ſo unbegreifliches, unverdientes Glück, daß ich immer in der Furcht lebe, ich verſpiel's, wenn ich mich nicht ganz brav betrage. Sei mir nicht bös.“

„Nein, du Dummerchen!“

Er küßte ſie.

Da bewegte ſich leiſe die Wohnſtubentür. Die Mutter! Der Abſchied dauerte ihr ſchon zu lang.

Heinz ſchlug die Korridortür hinter ſich zu. Er war jetzt doch böſe. Er ging noch nicht nach Haus. Er ging in den Stadtpark. Der Nachtwind ſtrich ihm um die Stirn, die Sterne funkelten. Wie war die Welt um ihn hoch und frei und wie eng gebunden ſein Leben, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft! Als Sohn eines kleinen Beamten war er zum Lehrer beſtimmt worden. Ganz programmmäßig ging er durch Schule und Seminar, immer der Erſten einer, ein Kluger, ein Streber. Früh hatte er eine Anſtellung bekommen, und ſobald er in eine Stelle einrückte, die eine Familie

88 Die Welt der anderen. u

ernährte, würde er ſich verheiraten mit einem Mädchen, das die Vollkommenheit in Perſon war an Leib und an Seele. Daran gab's keinen Zweifel.

Auch Elli hatte einſt davon geträumt, ein Gym— naſium zu beſuchen, zu einem gelehrten Beruf ſich aus- zubilden, aber Bücher und Studium warf ſie beiſeite, als ihr älterer Brudeg erkrankte. Der war der Stolz, die Hoffnung der Familie. Es verſtand ſich von ſelbſt, daß ſie ihre Ausſichten ihm zum Opfer brachte. Da ihr Vater die Mutter nicht entbehren konnte, reiſte ſie mit dem Leidenden von Heilſtätte zu Heilſtätte. Die für ihre Ausbildung unerſetzlichen Jahre gingen dabei verloren ſamt dem kleinen Vermögen, das ihr dieſe Ausbildung ermöglichen ſollte. Dann ſtarb der Kranke. Elli arbeitete jetzt Spitzenkrawatten und Kragen für ein Wäſchegeſchäft, um zum Haushaltgeld beizutragen, das knapp geworden war ſeit des Vaters Penſionierung. Und fie klagte nie. Ja, fie war ein Engel an Opfer—

willigkeit und Pflichttreue.

Heinz war geſättigt worden mit dem allem, ſeit er denken konnte. Es war das tägliche Brot in ſeinem Vaterhauſe geweſen, war's im Hauſe ſeiner Braut. And ſein junges, heißes Blut rebellierte, und ſeine Sehnſucht verlangte nach etwas ganz anderem, etwas Ungeheurem, etwas, das wie der Sturmwind über die ſich biegenden Bäume ohne Maß und Regel hinbrauſte über Sitte, Geſetz und Pflicht. Das war, nicht weil es ſein ſollte, ſondern weil es ſein mußte. Ach, über dieſe Schonſamkeit für alles Brüchige, Kranke! Dieſe Rückſichtnahme auf alles Überlebte! Dieſe grauen Spinnfäden, die überall ihm das blühende Leben ein— ſpannen!

Am nächſten Morgen marſchierte er an der Spitze

2 Novelle von Suite Weſtkirch. 89

feiner fünfundzwanzig Ferienkinder durch die Bahn- hofhalle. Er liebte feine Zungen, den noch ungebroche- nen Lebensmut, die geſunde Selbſtſucht, die ihnen aus den Augen leuchteten. Das Herz ſchlug ihm, als er einen der Jungen leiſe zum anderen ſagen hörte: „Weißte, Fritze, mein Indianerzeug hab' ich heimlich eingepackt neun rote Federn un das Kriegsbeil un Blau un Rot zum Anmalen.“ ga wenn es ihm auch nicht vergönnt war, Heldentaten zu vollbringen, fo wollte er fie wenigſtens ſpielen mit feinen Jungen! Im vorigen Sommer hatte man ihn mit ſeiner Schar in ein elegantes Seebad geſchickt. Das war ein- fach unerträglich geweſen. Verbote auf Schritt und Tritt. Die Dünen ſollten ſie nicht betreten, um ſie nicht zu beſchädigen, die vornehmen Badegälte am Strand durften ſie nicht durch Lärm beläſtigen, auf der Promenade ſich nicht tummeln. Diesmal hatte er es durchgeſetzt, daß er in die Wildnis geſchickt wurde, in ein verſtecktes Neft in der Heide, wo es nur Bradh- land gab und Föhren und ein paar Unternehmer, die mit mehr oder weniger Glück nach Petroleum bohrten. Es war ſpät am Nachmittag, als ſie aus dem Zug ſtiegen und ihren Marſch zum Endziel antraten, eine lange, ſtaubige Landſtraße zwiſchen Feldern entlang. Aber die Stadtkinder begrüßten jauchzend den friſchen Wind, der ungehemmt über die freie Fläche fuhr. Die Blumen am Rain, die Mäuschen, die aus ihren Löchern guckten, die Käfer im Gras, die Eidechſen, die quaken- den Fröſche wurden zum Ereignis. Dann kam das erſte Dorf mit ſeinem Teich voll Enten und Gänſe wieder ein Wunder. Einige der Kinder hatten ihrer Lebtage noch keine lebendige Gans geſehen. Und jetzt ſchnitt eine Herde ſchlanker Oreiecke, die Bohrtürme Olhauſens, in den leuchtenden Himmel. Hinter der Einförmigkeit

90 Die Welt der anderen. o

der Felder breitete fidh die braune Heide, von einzelnen Birken und Wacholdern überragt, an ihrer rechten Seite begrenzt vom dunklen Streifen eines Föhrenwaldes. Ein weißer, viereckiger Bau leuchtete davor, rätſelhaft, lodend wie ein Märchenſchloß.

Auf der Straße kam ein Mann daher, einen leichten weißen Panamahut auf dein Kopf, das von ſchwarzem Haar und Bart umrahmte Geſicht von der Sonne füd- licherer Himmelsſtriche gebräunt.

Oſterwald lüftete höflich den Hut. „Ich bitte um Verzeihung. Iſt das Haus dort vor dem Wald das Gaſthaus Waldheim?“

„Jawohl. Schlagen Sie nur den Seitenweg rechts ein. Sie werden erwartet. Denn Sie ſind doch der Herr Lehrer Oſterwald mit den Ferienkindern, nicht wahr? Ich bin der Ingenieur Börnholm. Wenn es Ihnen Vergnügen macht, kommen Sie doch nachher noch ein bißchen nach Neu-Pennſylvanien herüber. Wir vom Wert freuen uns auf den neuen Genoſſen in der Wüſte.“

„Verkehren die Herren nicht in Gaſthaus Waldheim?“

Der Ingenieur ſchüttelte den Kopf. „Der Beſitzer iſt von Haus aus kein Wirt. Sein Bruder, der drüben überm Waſſer reich geworden iſt und ihn ſchiffbrüchig auf dem Sand fand, hat ihn in Olhauſen angeſiedelt zu einer Zeit, als wir alle noch meinten, daß das Gold hier nur ſo ſcheffelweiſe vom Boden aufzuleſen wäre. Jetzt ſäuft er ſeinen Weinkeller leer und ſich um den Verſtand, während ſeine Tochter, ein reſolutes Mädel, den Kram ſchlecht und recht zuſammenhält. Sie brauchen darüber nicht zu erſchrecken. Seinen Knacks hat faſt jeder hier weg. Die Ziviliſation iſt ausgeſchaltet auf dieſen vier Quadratkilometern Heide. Aber für Ihre Zungen wird es das Paradies fein. Auf Wieder- ſehen!“

a Novelle von Luiſe Weſtkirch. 91

Das Märchenſchloß verlor ein wenig von feinem Glanz, als ſie näher kamen. Es war ein großes Haus mit zwei Seitenflügeln, vor Jahren einmal grellweiß getüncht. Jetzt bröckelte der Verputz von feinen Wän- den. Die grüne Farbe der Fenſterrahmen war ab- geſprungen, mehrere Scheiben waren geborſten. Die Haustür blieb mürriſch verſchloſſen. Aber in einem Seitenflügel Haffte ein Tor. Ein beladener Heuwagen ſtand drin. Und da war auch Leben. |

Ein junger Mann und ein junges Mädchen fchleu- derten um die Wette in weitem Bogen Bohnenſtangen als Lanzen in das Heufuder. Der Mann zielte kaum, ſchien gar keine Kraft einzuſetzen, aber ohne je abzu- irren, ſauſte ſein Geſchoß durch die Luft, um federnd ſich in die Heuſchwaden einzubohren. Das Mädchen warf haſtig anſpringend, weit ausholend und doch met fehlend, was ſie jedesmal mit hellem Lachen feſtſtellte. Ihr Lachen war laut, ihre Bewegungen von einer wilden Anmut. Eine helle Bluſe hing um ihre ſchlanken Schultern, am Armel bemerkte der Lehrer mißbilligend einen Riß. Aber ihr Profil war ſcharf und rein ge— ſchnitten wie eine Gemme, und die blitzenden blauen Augen und das krauſe, ſilberig flimmernde Haar, das ihren Kopf umflatterte, gaben ihr etwas Stolzes, Freies. Sie glich keinem Mädchen, das Heinz Oſterwald je geſehen hatte, und ſie gefiel und mißfiel ihm zugleich.

Als die Schar ſich näherte, wandte ſie den Kopf. „Wahrhaftig, da find unſere Zungen ſchon! Alfo, gute Nacht, Herr Macclean.“

Sie ſtieß die Haustür auf.

„Tante Hanne! Tante Hanne!“

Eine alte Frau mit grauem Struwwelkopf erſchien im Türrahmen. „Ach, du mein!“

„Ja, was ift denn? Das Effen ſteht doch bereit!

92 Die Welt der anderen. D

Guten Abend, alle mitſammen. Nur immer herein! And gleich zu Tiſch! Aber vielleicht will der Herr Lehrer erſt die Schlafſtuben ſehen?“

Eine weite, mit Steinen gepflafterte Halle tat ſich auf, dämmerig und feucht. Zu beiden Seiten Wirts- ſtuben, um deren Tiſche und Bänke die Fliegen fumm- ten. Die Treppe war breit und ausgetreten. Am Ge— länder fehlten Sproſſen. Von den Wänden rieſelte der Kalk. Oben wieder ein weiter Flur mit vielen Türen. Die Betten in den Stuben waren ſauber überzogen, aber Stühle und Tiſche ſchadhaft. Heinz hob die Laken von einigen Betten und fand darunter das blanke Stroh.

„Schadet nichts,“ verſicherte das Mädchen lachend. „Paſſen Sie nur auf, wie prachtvoll Ihre Zungen darin ſchlafen werden.“

Durch die weit offen ſtehenden Fenſter ſchien in roter Glut die Abendſonne, und der feine Duft der Föhren drang würzig herein.

„Wenigſtens werden wir gute Luft haben,“ meinte Oſterwald.

Aber auch das Abendbrot war gut Schinken, Landwurſt, kräftiges Schwarzbrot.

Als er ſeine Schar über den dämmerigen Flur zurück- führte, trat aus einer der leeren Gaſtſtuben ein kraft— voll gebauter Mann mit einem Geſicht ſo brüchig und zerfallen wie ſein Haus. Mit gebogenem Arm und ſteifer Würde bot er Oſterwald die Hand.

„Ich heiße Sie w— willkommen, Herr L Lehrer. Laſſen Sie es mich ausſprechen, es iſt mir eine große Ehre, daß der Staat meinem Gaſthaus ſeine Jugend, ſeine künftigen Bürger, auf einige Zeit anvertraut. Eine E—Ehre, ja und ein Z— Zeichen zugleich haha daß man mich da oben doch nicht ganz v— ver- g- geſſen hat ja.“

o Novelle von Luife Weſtkirch. 93

„Der Staat braucht viele Stätten für feine Ferien- kinder, Herr Braun.“

Der Wirt vom Waldheim fuhr unbeirrt fort: „Sie wundern ſich ja, ſ—ſelbſtverſtändlich wundern Sie ſich, daß Sie m—mich hier treffen, einen Mann von meinen Fähigkeiten, meiner B— Bildung, hier! Ach, mein lieber Herr, man hat nicht recht an mir gehandelt, ich muß es aus—ausſprechen, die oben nicht, mein Bruder nicht, der mich lebendig in dieſer Wüſte begräbt. Denn ich bin jemand in der Welt geweſen. Eine glänzende Zukunft lag vor mir. W— wenn ich Ihnen die Intrigen erzählen wollte, die mich

Er brach ab, ſah ſich ſcheu um.

„Was willſt du denn, Lisbeth?“

Die Haustochter war herangetreten, hatte herriſch ſeinen Arm ergriffen. „Du ſollſt ſchlafen gehen, Vater.“

„Willſt d—du mich hindern, meinen G—aſt zu begrüßen?“

„Du biſt krank. Ja, der Bater ift krank, Herr Oſterwald.“

Sie blitzte den Lehrer gebietend an. Die Jungen um ihn reckten ſchon verſtändnisvoll grinſend die Hälſe. And mit trotziger Kraft zog ſie den ſchwankenden und fih ſträubenden Mann durch eine Tür und warf fie hinter ſich ins Schloß.

Im Flur ſtand Tante Halte ſchüttelte den Kopf und ſeufzte. „Es iſt ein Kreuz ein wahres Kreuz!“

Heinz mußte an Börnholms Worte denken. Der Wirt vom Waldheim hatte jedenfalls ſeinen „Knacks“.

Sobald ſeine Pflegebefohlenen in ihren Betten lagen, ging er nach Neu-Pennſylvanien hinüber. Der volle Mond ſchien taghell. Schwarz ſtanden die Wacholderbüſche auf der weiten Heidefläche, auf der verſtreut die Häuschen der Ingenieure und Arbeiter

94 Oie Welt der anderen. o

lagen, faſt alle mit dunklen Fenſtern. Nur von der Terraſſe des roten Backſteinhauſes Neu-Pennſylvanien ſtrahlte helles Licht. Die Grillen zirpten, leiſe keuchten die Dampfpumpen, die Tag und Nacht das Ol herauf- zwangen aus dem Erdenſchoß. Und den Horizont be- grenzend, ſchnitten in den lichterfüllten Himmel die grotesken Umtifje der Bohrtürme, im ungewiſſen Mond- licht anzuſchauen wie eine Herde kauernder Urtiere, über denen als ihr heißer Atem die weiße Rauchfahne der Dampfpumpen wehte.

Oſterwalds Phantaſie, die unverbraucht und un- bändig war wie die eines Knaben, fab Wunder ringsum- her. Die Begebniſſe des Tages klangen nach in ſeinem noch nicht durch Erfahrungen ſtumpf gewordenen Ge- müt. Rätſelhaft aufregend ſtanden vor ſeinem inneren Auge die geſchmeidige, ſilberhaarige Dirne mit ihrem lanzenwerfenden Gefährten und der würdevolle Trun- kenbold, ihr Vater.

Die Terraſſe von Neu-Pennſylvanien verſtärkte den Eindruck des Wandelns in einem Märchen. Ein kunft- loſer Bau war's, deſſen Dach durch plumpes Gebälk getragen wurde, deſſen Fußboden eitel Ziegelſtein e waren. Rohe Holztiſche ſtanden darauf. Die Gäſte, über die eine einzige von der Decke herabhängende Petroleumlampe grelles Licht warf, ſchienen aus allen Raſſen und Zonen zuſammengewürfelt. Das helle Blond des Nordländers glänzte neben dem tiefen Schwarz und den braunen Funkelaugen ſpaniſcher und italieniſcher Stämme. Weitgereiſte Leute waren's ſämtlich, die von Konſtantinopel, von Syrien, von Südamerika und Auſtralien ſprachen wie vom nächſten Dorf, eine unſeßhafte Art, Schweifende durch die weite Welt. Keiner hatte mit dem Nachbarn anderes gemein als das heiße Ringen mit dem Leben, von dem die

o Novelle von Luiſe Weſtkirch. 95

meiſten die Narben ſichtbar trugen. Es band fie auch nichts aneinander als der Drang nach Gewinn, die Gier nach dem Gold, das hier flüſſig aus dem Boden quillen ſollte. Die hatte fie in dieſem Weltwinkel zu- ſammengetrieben, die würde fie morgen wieder aus- einandertreiben in alle vier Winde. Ein babyloniſches Sprachgewirr Schwediſch, Engliſch, Polniſch, Sta- lieniſch ſchwirrte mit gebrochenem Oeutſch durchein- ander. Aus ſchwarzen und grauen Augen leuchtete dasſelbe rückſichtsloſe Abenteurertum. Nur wenige Stunden Bahnfahrt hatte Heinz zurückgelegt und ſtand nun mit einem Schlag außerhalb ſeiner Welt, mitten im Land der Märchen, des Unwahrſcheinlichen, das ſeine Sehnſucht geweſen war ſeit ſeinen Knabentagen.

Börnholm ſah ſein Staunen, ſein Intereſſe. „Ja,“ ſagte er, „Sie finden eine Sammlung von Menfchen wie diefe nicht noch einmal im Deutſchen Reich. Von denen, die an dieſen Tiſchen ſitzen, hat jeder ſeine Geſchichte manchmal ſchlimm. Charakterkerle ſind die meiſten. Sehen Sie zum Beiſpiel den Burſchen drüben, der jetzt aufſteht und bezahlt, den Blonden, Schlanken.“ | i

Heinz erkannte den Lanzenwerfer.

„Ein rieſig intereſſanter Kerl,“ fuhr Börnholm fort. „Mit feinen ſechsundzwanzig Jahren hat er vier Erd- teile geſehen und iſt ſo ziemlich alles geweſen, was ein Menſch ſein kann: Cowboy, Lokomotivführer, Trapper, Händler auch Eiſenbahnräuber wird be- hauptet. Augenblicklich iſt er unſer erſter Bohrmeiſter. Aber er geht nächſtens wieder über das Waſſer zurück. Er erſtrebt die Milliarde. Und er hat das Zeug dazu, die Findigkeit und auch die ſoliden Ellbogen, die glückliche Skrupelloſigkeit. Paſſen Sie auf, der errafft ſie vorausgeſetzt, daß man ihn nicht vorher aufhängt.“

96 Die Welt der anderen. o

Verwirrt, entzückt, ungläubig ſperrte Heinz Augen und Ohren auf, lauſchte rechts und links auf Erzählungen von Begebenheiten, fo wild, wie feine wildeſte Phan- taſie ſie ihm nicht vorgemalt hatte, auf Urteile aus einer Weltanſchauung heraus, die nie zuvor mit ihrer frechen Pietätloſigkeit ſein wohlerzogenes Hirn erſchreckt hatte.

In Märchenſtimmung kehrte er ſpät am Abend heim. Konnte der Mond, der mit tollmachendem Geflimmer den hohen Himmel und die weite Heide hier erfüllte, mit unirdiſcher Glorie das weiße Haus vor der ſchwarzen Föhrenwand übergoß, wirklich derſelbe Mond ſein, der der braven Elli jetzt ins Nammerfenſter ſchien, vielleicht gerade auf das Briefblatt, auf dem ſie an ihn ſchrieb?

Er bemühte ſich, an Elli zu denken. Ihr lichtes Bild war ihm etwas wie das Schlüſſelwort, das dem in einem böſen Zaubergarten Verirrten die verrammelten Tore aufſprengt. Aber ihr Bild verſchwamm, erloſch vor dem Bild des wilden blonden Mädchens mit ſeiner heißen Lebenskraft und Lebenswonne. Er fand das erlöſende Wort nicht.

Plötzlich ſtand der Spuk ſeiner Seele in Fleiſch und Blut neben ihm auf der ſtillen Heide vor dem Haus, das mit dunklen Fenſtern ſchlief, weiß und ſchimmernd wie aus dem Mondenſtrahl ſelbſt zuſammengeronnen. Fhm war, als ob er durch Stille und Schweigen das Schickſal gewaltig ſchreiten höre ſein Schickſal.

„Die Haustür iſt offen,“ ſagte ſie. „Sie brauchen keinen Schlüſſel.“

Sein Blick ſchweifte zum Ziehbrunnen hinter dem zerfallenden Gartenzaun. „Ich bin durſtig,“ ſagte er.

„And verſtehen nicht am Brunnen zu ſchöpfen? Rommen Sie!“

Sie ſchritt ihm voran durch die offene Gartenpforte. Auf verwilderten Beeten blühten hohe, weiße Lilien.

J Novelle von Luiſe Weſtkirch. 97

Aus dunklem Buſchwerk reckten Hunderte von Sasmin- blüten die Kelche. Wie eine Wolke hing ſchwerer, ſüßer Duft über dem Garten. Und ſelbſt wie eine fremd- artige weiße Blume erſchien ihm das weiße, ſchlanke Mädchen mit dem ſilberig flimmernden Blondhaar.

Sie zog mit ruhigen Bewegungen die Kette herauf, ſchwang den Eimer auf den Brunnenrand, tauchte die Schöpfkelle in das im Mondſtrahl wie flüſſiges Silber ſchimmernde Waſſer und reichte ſie Heinz.

Während er ſie an ſeine Lippen führte, mußte er denken, daß, wenn er künftig ſeiner Klaſſe von Eleaſars Begegnung mit Rebekka am Brunnen zu erzählen hätte, er wohl leuchtendere Farben für ſeine Schilderung finden würde als bisher. Langſam trank er, mit kühlem Schauer, als fei das flimmernde Vaſſer ein Heren- trank, durch den er feine arme Seele verkaufte. Über den Rand des Gefäßes ſah er ſtarr auf das Mädchen. Seine Augen redeten dabei ohne Scheu und Bügel all das tolle ſüße Zeug, das, ihm ſelber unbekannt, unter der Schwelle ſeines Bewußtſeins auf dem Grund ſeiner Seele blühte und wucherte.

Sie ſenkte den Blick und wandte ſich.

Sogleich war er wieder an ihrer Seite. „Wie mögen Sie ſchutzlos und allein wandern in der Ein- ſamkeit der Nacht?“

„Ich bin nicht ſchutzlos,“ antwortete ſie ruhig und deutete auf einen kleinen dunklen Knopf in ihrem Gürtel.

Heinz erkannte den Griff einer Browningpiſtole. „Verſtehen Sie denn mit der Waffe umzugehen? Und halten Sie eine ſo brutale Wehr für notwendig hier?“

Sie zuckte die Achſeln. „Allerorten iſt's gut, ge- rüſtet zu fein. Zch bleib’ auch nicht hier.“

Wie eine Neſſel in einem Blumenſtrauß berührte ihn dies Wort. „Sie wollen fort?! Und Ihr Vater?

1918. IX. 7

98 Die Welt der anderen. 0

Könnten Sie es übers Herz bringen, Ihren unglüd- lichen Vater allein zu laſſen?“

Sie warf trotzig den Kopf zurück in den Nacken. „Den Vater rettet kein Engel vom Himmel. Soll ich mein junges Leben in Stücke brechen für einen Ber- lorenen?! Schlafen Sie gut, Herr Lehrer.“

Das Dunkel der Diele ſchlang fie ein.

Mühſam taſtete Heinz Oſterwald ſich feinen Weg. Hohn hatte aus ihren letzten Worten geklungen. Frei- lich, fie war keine, die wie Elli Waranger ſich büdte und Laſten anderer auflud zu ihren eigenen und darunter keuchte. Und recht hatte fiel An die Tafel des Lebens gehört, was ganz und lebendig ift auf den Rehricht- haufen die Scherben!

Nur die angeerbten, anerzogenen Vorurteile, nur der törichte Drill aus feiner Kinderſtube hatten ihn wie unter einem Peitſchenhieb zuſammenzucken laſſen, als ihre helle Stimme dieſe ſelbſtverſtändliche Moral eines modernen, kraftvollen Menſchen in die Nachtluft ſchmetterte. An ſolch ſchrillen Klang muß ſich gewöhnen, wer frei ſein will. Und er wollte frei ſein! Er wollte fie von fih abſtreifen, die roſtigen Ketten einer über- lebten Sittlichkeitslehre, gegen die er ſich heimlich empört hatte ſeit ſeinen Kindertagen.

Früh am Morgen führte er feine Zungen in den Föhrenwald. Der war voll Wunder für Lehrer wie Schüler. Weglos, ohne eine einzige Verbotstafel! Einen Kaninchenbau gab es darin, eine richtige Kanin- chenſtadt mit Röhren und Ausſchachtungen in den Haupteingang hätte ein Zunge bequem hineinkriechen können. Und auf jedem Baum gab es zwei, drei Neſter. Zu Anfang beſtand Meinungsverſchiedenheit ob Krähen; oder Eichhornneſter. Aber bald lernten

2 Novelle von Luiſe Weſtkirch. 99

ſie ſie unterſcheiden. Denn die Eichhornneſter waren oben geſchloſſen zum Schutz vor Regen und Kälte, die Krähenneſter nicht. Und auf der Heide blühte gerade das Wunderpflänzchen Sonnentau, das lebendige In- ſekten verzehrt. Da mußte manch winziges Mückchen ſein Leben laſſen. Fünfundzwanzig Köpfe beugten ſich in heißer Wißbegier vor, wenn das kleine Opfer zappelnd von dem Honigſeim der Blattfläche loszu- kommen ſtrebte, während langſam und unerbittlich der ſtachlige Rand ſich über ihm zuſammenſchloß und es einſchlang.

Und die Rieſenlibellen, die wie blaue Edelſteine durch die Luft flitzten! Die wunderbaren Käfer! Die nie geſehenen Schmetterlinge!

Sobald das Mittagmahl gegeſſen war, ſtürmte die Schar wieder hinaus. Die Zungen hatten nun ſchon Zutrauen zu dem Lehrer gefaßt, der ſich um die Wette mit ihnen freuen konnte. Ede Fiſcher wagte die Frage, ob er ſeinen Indianerſchmuck mit in den Wald nehmen dürfe? Fröhlich ſtimmte Oſterwald zu. Und ſogleich teilten ſie ſich in zwei feindliche Stämme. Häuptling des einen war Oſterwald ſelbſt. Den anderen führte der lange Hannemann. Der hatte von allen das ver- wegenſte Mundwerk.

Der eine Stamm ſteckte als Abzeichen Tannen- zapfen an die Mütze, der andere Birkenreis. Erſt leiſteten ſie Erkleckliches an Hohn und Herausforderung. Dann wurde das Kriegsbeil ausgegraben. Schwerter und Lanzen brachen ſie ſich friſch von den Bäumen. Aus Bindfaden und Weidenzweigen wurde der Bogen gebaut. Ede Fiſchers neun Federn protzten, ſeine rote und blaue Farbe klebte auf allen Geſichtern. Das Schlachtfeld war die weite Heide mit ihren Wacholder- und Ginſterbüſchen, ihren vereinzelten Birken und un-

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vermuteten Gräben, und wundervolle Hinterhalte ge- währte der dichte Föhrenwald.

Lange und heiß tobte der Kampf, mit Lift und Kühn- heit geführt, bis endlich das „Brauſende Wildwaſſer“, der lange Hannemann, überwunden, gefangen und an den Marterpfahl gebunden wurde. Der „Große Biber“, Heinz Oſterwald, ordnete an, daß jeder vom ſiegreichen Stamm der „Tannenzapfen“ den gefeſſelten Feind mit einem Föhrenzweig an der Naſe kitzle. ö

Während der junge Häuptling dieſe grauſame Tortur mit ſtoiſchem Mute, freche Herausforderungen aus- ſtoßend, erduldete, hob Oſterwald die Augen und ſah auf dem höher gelegenen Weg, von der roten Glut der tiefſtehenden Sonne angeſtrahlt, Lisbeth Braun ſtehen. Ein weißes Tuch war loſe um ihr leuchtendes Haar geſchlungen. Auf der Schulter trug ſie eine Hacke. Ihre Augen blitzten, ihre Lippen lachten.

„Jetzt, da möcht' ich gleich mittun, Herr Oſterwald!“

Heinz Oſterwald riß ſeine föhrenzweiggeſchmückte Mütze von dem mit ſchönen Tätowierungen geſchmückten Kopf. „So kommen Sie doch morgen mit uns, Fräu- lein Braun!“

Sie wies auf ihre Hacke. „Ich tät's gern. Aber ich hab' gar zu viel zu ſchaffen. Hilfe bekommt man hier nicht. Es läuft alles aufs Werk. Und wir müſſen doch Korn und Kartoffeln haben auf den Winter für uns und unſere Schweine und Hühner.“

Sie nickte und ging weiter. Heinz gebot auch Feierabend.

Sie brauchten viele Zeit und viele Seife, um ſich aus blutdürſtigen Indianern in geſittete Deutſche zurück- zuverwandeln.

Im Vorübergehen warf Heinz einen Blick in die Gaſtſtuben. Da ſaß als ſein einziger Gaſt Herr Braun

o Novelle von Luiſe Weſtkirch. 101

würdevoll vor einer vollen Flaſche. Der ſorgte ſich nicht darum, wie er zu Korn und Kartoffeln für den Winter kam.

Als die Knaben am nächſten Morgen wieder mit dem Indianerſpielen beginnen wollten, ſagte Heinz: „Nein, heute helfen wir Fräulein Braun auf dem Felde.“

Die halbwüchſige Hausmagd wurde in ganz Öl- hauſen herumgejagt nach Schaufeln, Hacken und Harken. Erſtaunt ſah Lisbeth die Schar Heinzelmännchen zur Hilfe heranrücken. Sie hatte zu tun, jedem ſeine Arbeit zuzuweiſen. Den friſchen Jungen gefiel's faſt ſo gut wie das Indianerſpielen. Sie ſchafften wie im Lag- lohn. Der junge Lehrer aber vergaß immer wieder feine Hände zu regen, verloren im Anſchauen des Mäd- chens, deſſen geſchmeidige Glieder nicht Ermüdung noch Schlappheit kannten. Wie ein Springquell erſchien ſie ihm, mit raſtloſer Kraft emporſtrebend, immer empor, und ringsum in luſtigem Tanz den Tropfenfall ihrer Anmut, Tapferkeit und guten Laune um ſich ſprühend.

Als er am Abend heimkam, fand er einen Brief von Elli vor, zarte, liebe Worte. Ein gelbbraunes Stiefmütterchen lag zwiſchen dem Briefblatt. Sein dunkler Samt erinnerte Heinz an den Samt ihrer Augen, und er fühlte ein tiefes Weh im Herzen, ein Gefühl, als treibe er auf weitem Meer einer neuen Welt ent- gegen und die auf immer verlorene Heimat ſende ihm den letzten Gruß.

Um innerlich ruhig zu werden, wollte er auf eine Stunde nach Neu-Pennſylvanien gehen. Vor der Haus- tür traf er Lisbeth.

„Ich hab' Ihnen ſchon gedankt für Ihre Hilfe mit den Jungen,“ ſagte ſie in ihrer freien, offenen Weiſe. „Ich möcht' Ihnen aber nochmals danken. Ehrlich gejagt, ich hab's Ihnen nicht zugetraut, daß Sie durch-

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halten würden. Die Landarbeit iſt Ihnen ja ganz ungewohnt. Aber Sie haben nicht locker gelaſſen. Ich ſeh', daß Verlaß auf Sie iſt. Das freut mich.“

Er wurde rot vor Glück über ihr Lob, und er ſetzte ſich neben ſie auf die Bank. Der Mondſchein lag wieder wie ein weißes Tuch auf der Heide. Aus fernem Tümpel klangen die Glockenrufe der Unten. Da be- gann er zu reden, es war wie ein Zwang. Gerade weil er ſich abtreiben fühlte von denen, die zu ihm gehörten, den Duldenden, Gebundenen, Mühſeligen, zu den anderen, den freien Tatmenſchen, zu denen bewundernde Sehnſucht ihn ſeit ſeiner Kindheit riß, bewegte das Andenken an jene ſeine Seele, mußte er von ihnen ſprechen. Von den engen Verhältniſſen in ſeinem Vaterhauſe erzählte er, von der Pflichttreue ſeines Vaters in Dienſt und Leben, ſeiner Sparſamkeit, ſeiner Fürſorge für die Seinen, von ſeiner Mutter ſtillem, unſcheinbarem und unendlich ſegensreichem Walten im Haus und in der Kinderſtube. Klein, felbit- verſtändlich waren alle dieſe Dinge ihm bisher er- ſchienen. Da er ſie auszumalen begann, entdeckte er plötzlich die Größe, die in ihrer Kleinheit ſteckte. Es drängte ihn, diefe Größe hervorzuheben vor der Unders- gearteten, fie zu beleben durch eine Fülle liebens- würdiger und rührender Züge. Er ſprach auch von Elli. Ihr Preis zwang ſich ihm auf die Lippen. Als von einer Jugendgeſpielin ſprach er von ihr, ſchilderte ihr Leben der Aufopferung und Entſagung.

Mitten im Satz brach er in einer peinlichen Emp- findung ab. Ihm gegenüber auf der flachen Heide, im flimmernden Mondlicht ſtand ein ſchwarzer Schatten regungslos wie einer der Wacholderſträuche.

„Wer iſt das?“

„Einer, der einen Abendſpaziergang macht,“ ant-

o Novelle von Luiſe Weſtkirch. 103

wortete fie ungeduldig. „Erzählen Sie weiter! Es klingt wie ein Märchen.“

„Ein Märchen?“

„Ja. Andrew Macclean, der mich manchmal be— ſucht, hat mir Wunderbares erzählt von fremden Län- dern drüben überm Waſſer, von Abenteuern, wunder- baren Menſchen. Was Sie mir erzählen, iſt aber vic! wunderbarer.“ ;

„Ich bitte Sie, Fräulein Braun, in ſolchen Ber- hältniſſen, unter ſolchen Menſchen wächſt die Mehrzahl der Bürger in unſerem Vaterland auf Gott ſei Dank!“

„Nein,“ fagte fie, „das kenn’ ich nicht. Und das glaub' ich auch nicht. Hier nimmt jeder ſeinem Nächſten, was er bekommen kann. Ein Glück, eine Bequemlich- keit, eine Hoffnung aufgeben für einen anderen? Niemals! Mein Vater hat mir nicht einen vergnügten Abend geopfert. Er ſchickte mich auf eine höhere Töchter- ſchule, hielt mir auch ein feines Fräulein zur Erziehung. Die ſorgte für ſich und nicht für mich, gerade wie er ſelbſt. Dann kam der große Krach. Vater verlor ſeine Stellung, und Onkel Fritz ſetzte uns hierher auch nicht aus Bruderliebe. Er wußte gut, daß Vater zum Wirt nicht taugt. Aber er wollte den entgleiſten Bruder nicht neben ſich haben in der Welt, in der er mit ſeinen Söhnen und Töchtern prunkt. Drum hat er uns hier in der Ode vergraben.“

Sie brach mit einer kurzen Handbewegung ab, als reue ſie die halbe Klage.

„Er hat ganz recht getan,“ ſchloß ſie trotzig. „Was aus eigener Kraft nicht ſtehen kann, das ſoll man nur gleich zuſammenſtoßen.“

Von der mondbeſchienenen Heide war der Schatten verſchwunden. Nur die Wacholder ſtarrten regungslos

104 Die Welt der anderen, o

und ſchwarz. Auf der Terraſſe von Neu-Pennſylvanien erloſch das Licht.

Lisbeth ſtand auf. „Nein, ich hab's nicht geahnt, daß es ſolche Menſchen gibt wie Ihre Eltern, wie Ihre Freundin. Ich begreife ſie auch nicht. Aber wie Sie's ſagen, klingt's ſchön. Märchen ſind immer ſchön. Sie müſſen mir wieder davon erzählen.“

Am nächſten Tag zeigte Oſterwald ſeinen Schülern das Werk. Ingenieur Börnholm hatte ihm die Er— laubnis zur Beſichtigung verſchafft. Als Führer emp- fing ihn Andrew Macclean, der Lanzenwerfer, der junge Bohrmeiſter, von dem Börnholm erzählt hatte. Oſterwald beobachtete ihn neugierig. Eine mittelgroße, ſehnige Geſtalt, ein ruhiges, faſt unbewegliches Geſicht mit ſcharfen grauen Augen, ein Benehmen von der runden Glätte, die vom Sturzbach zu Tal gerollte Steine und weit in der Welt herumgewürfelte Men- ſchen miteinander gemein haben. Ein wenig Über- hebung lag in ſeiner kühlen Sicherheit. Er gab ſeine Erklärungen in einer Weiſe, als wollte er ſagen: „Was geht denn euch das alles an?“

In Wirklichkeit intereſſierten ſich die Knaben auch weder für die Röhren, die, immer enger werdend, eine durch die andere hindurch tief in den Erdgrund getrieben wurden, noch für den regelmäßigen Fall des ſchweren Bohrers, der mittels einer ſinnreichen Vorrichtung die ausgeſchachtete Erde gleich ſelbſt mit aus der Tiefe heraufbrachte. Sie ſchnüffelten das Petroleum an, das in dickem Strahl aus den Pumpenröhren ſprudelte, ſtellten feſt, daß es barbariſch ſtänke, und waren ent- täuſcht, daß die Flaſchenzüge in den Spitzen der Bohr- türme keine Glocken waren und nicht läuten konnten.

Oſterwald aber beſchäftigte mehr als alle techniſchen

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Wunder die Frage, ob wohl Andrew Macclean geſtern der Schatten auf der mondbeſchienenen Heide geweſen fei, und wieviel feine Perſon etwa der jungen Wirts- tochter gelten möge? Und dieſe Erwägungen benahmen ihn ſo ſehr, daß er in der Reparaturwerkſtätte einem ſauſenden Treibriemen bedenklich nahe kam. Ein Arbeiter riß ihn rechtzeitig zurück. In der Verblüffung über die hart an ihm vorübergegangene Todesgefahr ſtreifte er mit ſeinem Blick zufällig das Geſicht ſeines Führers, und er erſchrak. Wahrlich, das war Haß, bis zur Mordgier ſchadenfroher Haß, was jäh in den kühlen grauen Augen aufblitzte.

Warum haßte ihn der Mann? Er wagte nicht die Antwort auf dieſe Frage zu finden. In ſeinem Gemüt, das im Gleichgewicht geweſen war, ſolange er denken konnte, fühlte er plötzlich alle Schwerpunkte verrückt, alle Stützen wanken.

Am Abend ging er nach Neu-Pennſylvanien. Er ſprach mit den Ingenieuren über den Eindruck, den die Bohrwerke auf ihn gemacht hatten. Am Nebentiſch ſaßen wie gewöhnlich die Werkführer, die Bohrmeiſter, die Magazinverwalter. Die Unterhaltung ſummte laut.

Auf einmal wurde es ganz ſtill. Andrew Macclean redete allein.

„Ja, das iſt ſo. Das beſte Geſetz für das Eigentum eines Burſchen iſt das in den Rocky Mountains. Ich hab' da mal einen Winter als Trapper gehauſt. Ge- richte gab's nicht, keine Konſtabler, keine Gefängniſſe. Wenn einer einem ein Pferd ſtahl, wurde er gehenkt. Wenn er ein Schwein ftahl, wurde er gehenkt. Stahl er ein Taſchenmeſſer, wurde er auch gehenkt. Und nahm er einem ſein Mädchen oder gab ihm beim Whisky zu verſtehen, daß er ihn nicht für einen Gentle- man halte, dann war der Prozeß noch kürzer. Es iſt

106 Die Welt der anderen. 2

wirklich der feinſte Ort für Gerechtigkeit und Höflich- keit, den ich kennen gelernt habe.“

„Oer Tauſend, Macclean,“ neckte der behäbige Magazinverwalter in das bewundernde Schweigen hin- ein, „wie viele haben Sie denn in dem geſegneten Winter aufgeknüpft?“

„Es hat nie jemand gewagt, mir etwas wegzu— nehmen,“ antwortete Macclean.

Er fab, während er redete, nicht mit einem ein- zigen Blick nach dem Tiſch der Ingenieure hinüber, dennoch hatte Heinz Oſterwald das unbehagliche Ge- fühl, als ſeien die ſonderbaren Worte für ihn, von allen auf der Terraſſe allein für ihn geſprochen worden. Kein Zweifel, dieſer Menſch, mit dem er kaum fünf Sätze geſprochen hatte, haßte ihn. Und wenn er ſich genau prüfte, fo fühlte er: er haßte ihn auch. Er hatte im Seminar Unſtimmigkeiten zwiſchen ſeinen Mitſtrebenden kennen gelernt, Eiferſüchteleien, kleine Intrigen den Haß, den wirklichen ehrlichen Haß nimmer zuvor. Und da war der Haß, der tiefe Schatten. Es mußte auch irgendwo das Licht da ſein, das dieſen Schatten warf. Die tiefſten Schatten wirft das hellſte Licht die Liebe.

Nein, das war Überſpannung, Fieberwahn! Seine Liebe gehörte Elli Waranger. Drei Tage konnten nicht fein ganzes Weſen umkehren, konnten nicht eine Emp- findung auslöſchen, die mit ihm groß geworden war.

Er vermochte ſich doch nicht zu überwinden, an dieſem Abend noch an ſeine Braut zu ſchreiben. Sie war einen in beſſerer Sammlung geſchriebenen Brief wert, ſagte er ſich.

Am nächſten Tag redete er mit Fräulein Braun.

„Wiſſen Sie, der junge Mann, der am Tag unſerer Ankunft mit Ihnen um die Wette Lanzen ins Heu

2 Novelle von Luiſe Weſtkirch. 107

warf, und der mir und meinen Jungen geſtern die Bohrwerke gezeigt hat, Andrew Macclean —“

„Was iſt's mit ihm?“

„Sie dürfen ihm nicht alles glauben, was er Ihnen erzählt. Er ſchneidet gewaltig auf.“

Heinz wiederholte lachend Maccleans Reden vom Abend vorher.

Lisbeth lachte nicht. „Hat er das geſagt?“

„Ja, Wort für Wort. Es war natürlich eine Prah- lerei.“ |

Sie fab ins Leere. „Es ift nicht gut, daß Herr Mac- clean das geſagt hat.“

„Nehmen Sie ſolche Reden ernſt?“

„Nein. Natürlich nicht. Nur Herr Oſterwald, ich wollt' Ihnen das ſchon ſagen: Gehen Sie nicht durch die Föhren, wenn Sie abends nach Hauſe kommen. Gehen Sie lieber die Landſtraße.“

„Wegen dieſes Macclean doch nicht?“

„Veil's vernünftiger ift. Es laufen Leute aus aller Herren Ländern hier zuſammen, kommen heut, reiſen morgen. Gehen Sie nicht nach Dunkelwerden durch den Wald! Verſprechen Sie mir's!“

Es war Angſt in ihren Augen, ihrer Stimme.

Da verſprach er's, von warmem Wohlgefühl durch- rieſelt, weil ſie ſich um ihn ſorgte.

Lisbeth blieb den Tag über gedankenvoll. Als die Sonne tief am Himmel hing, ſtand ſie harrend in einem Ausläufer, den der Föhrenwald zur Landſtraße hin- ſtreckte. Die letzten Arbeiter kamen von den Bohr- werken, die wenigen Anſäſſigen von ihren Feldern, das Ackergerät auf den Schultern, lange Schatten vor ſich in den Staub der Straße werfend, während ſie dem Dorf zutrotteten, deſſen paar Häuschen auf dem flachen Boden regellos ſtanden wie eine Handvoll Würfel, von

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einer Riefenfauft auf eine Trommelſcheibe geſchleudert. Dann wurde die Straße einſam. Der Tau begann zu ſinken. Aus den Schornſteinen der Häuschen ſtieg der Rauch. Endlich ſchritt noch ein einzelner Mann langjam die Straße von den Werten her. Lisbeth trat aus dem dichten Föhrenbuſch.

„Andrew Nacclean! Auf ein Wort!“

Er blieb ſtehen. „Oh,“ ſagte er, „haben Sie heute abend wirklich einmal wieder Zeit für mich?“

„Vas follen die Reden bedeuten, die Sie geſtern in Neu-Pennſylvanien geführt haben?“

„Hat der deutſche Schulmeiſter ſie Ihnen wieder— erzählt? Das ſieht ihm gleich, dem bebrillten Affen- pinſcher!“

„Was hat er Ihnen getan?“

„Es ift wundervoll, daß Sie das fragen, Miß Lis- beth. So viel ſollten Sie mich doch kennen, daß ich keinen Narren aus mir machen laſſe auch von Ihnen nicht.“

„Was wollen Sie damit ſagen? Wenn in unſer leeres Wirtshaus endlich einmal ein Gaſt einkehrt, und ich —“

Er blieb ſtehen, fab fie an, und vor feinem Blick ver- ſtummte ſie.

„Wollen Sie mir jetzt eine Lüge ſagen? Wollen Sie? Ein Gaſt! Wenn hundert Gäſte in Ihr Haus kämen, mich würd's nicht kümmern. Der Hans- wurſt wagt es aber, Ihnen Liebe vorzuwinſeln. Das iſt's, was ich nicht leiden werde.“

„Herr Oſterwald hat nie von Liebe zu mir ge— ſprochen. Aber wenn er's täte was für ein Recht hätten Sie, es ihm zu wehren?“

„Ich hätte kein Recht?“

„Nein! Und wenn ich ihn lieb hätte ich ſag'

o Novelle von Suite Weſtkirch. 109

nicht, daß es ſo iſt —, aber wenn ich ihn wirklich lieb hätte, Sie müßten's auch leiden. Ich bin frei. Ich kann mich ſchenken, wem ich will. Ich hab' Ihnen kein Verſprechen gegeben!“

„Ich pfeif' auf Verſprechen. Wenn ich nicht die Liebe, das Herz hab', ſo mag alle Verſprechen der Teufel holen. Aber Sie wiſſen wohl gar nicht mehr, wes- halb ich zu Ihnen gekommen bin an jedem Frühlings- abend? Sie haben es aus Ihrem Verſtand geſtrichen, was ich Ihnen geſagt habe von drüben? Wie ich Geld machen und ein angeſehener Mann werden will und Sie einführen in meine Welt dort? Sie haben alle die Pläne vergeſſen, die wir miteinander ausgeheckt haben, Sie und ich, daß Sie fortverlangten aus den Verhältniſſen hier, und daß ich Ihnen einen Veg brechen wollte ins Leben und meine Hände unter Ihre Füße breiten? Deshalb, Lisbeth, weil Sie zu mir gehören, weil Sie von meiner eigenen Art ſind, weil Sie wie ich den harten Willen haben und den Mut, um aufzuſteigen vom Grund, weil Sie frei ſind von den kleinen Bedenklichkeiten und Sentimentalitäten, die Frauen gemeiniglich feſtbinden an den Fleck und die Stellung, in die ihre Geburt ſie geworfen hat. Wir haben all das beſprochen, oft und oft. Sie waren ganz in Harmonie mit meinen Abſichten. Iſt es mög- lich, daß all dies ein heuchleriſcher Windmacher in drei Tagen wegbläſt?“

„Sie ſollen ihn nicht ſchelten! Herr Oſterwald iſt ein ehrlicher Menſch!“

„Veil er fih ſelbſt betrügt, indem er Sie betrügt!“

„Er hat mir von feiner Heimat erzählt, feiner Kind- heit, Andrew. Es war rührend. Wie ſeine Mutter in der Not ihren Sonntagsſtaat zerſchnitten hat zu Röckchen für ihn und ſeine Schweſter und bitterlich

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weinte, weil bei den wilden Rangen die Röckchen doch nur ein paar Tage hielten. And ſein Vater hat ge- ſchrieben die langen Nächte hindurch und fih kein Ber- gnügen gegönnt. Zuſchanden haben ſie ſich gequält für ihre Kinder, er in frühen Tod, ſie in unheilbares Siechtum. Und ſie haben kein Aufhebens davon ge— macht. Und von einer Geſpielin hat er mir erzählt. Die gab ihre Selbſtändigkeit und jede Zukunftshoffnung freiwillig auf, um einen Bruder zu pflegen, der von Anfang an verloren war. Lachen Sie nicht, Andrew! Ich hab' keine Mutter gekannt, und mein Vater ift ſchlimmer als kein Vater. Ich hab' keine Geſchwiſter, keine Freunde. Was er mir ſagte, war anders als alles, was ich je gehört habe, und es hat mich gepackt ja, noch mehr gepackt als die Wunderdinge, die Sie mir von Indien und Japan erzählt haben.“

„Sagen Sie's lieber offen: Sie ſind verliebt in den Affen!“

„Ich hab' Heimweh nach dem, was er ſchildert, Sehnſucht! Wie man Sehnſucht nach dem Himmel hat. Können Sie das nicht verſtehen? Gewiß, es iſt ſchön, Geld zu machen, hinaufzukommen, einzig nach ſeinem Willen zu fragen. Aber vielleicht iſt's noch ſchöner, ſeinen Willen zerbrechen für Menſchen, die man liebt, ſich klein machen, damit andere groß werden. Es ſteht in der Bibel, es wird von allen Kanzeln ge— predigt. Könnte es nicht Wahrheit ſein, daß ſelig iſt, wer ſich ſelbſt zunichte macht für einen, den er lieb hat?“

„Für Sie, Lisbeth Braun, iſt's jedenfalls nicht Wahr- heit! Leiden für einen anderen, ſich opfern, zunichte machen? Sie? Unſinn! Aber ich ſehe, was Sie zu dem öligen Patron zieht und den Moralbonzen zu Ihnen, einem Mädchen, vor dem ſeinesgleichen von Rechts wegen Furcht haben müßte. Es iſt zu dumm.

2 Novelle von Luiſe Weſtkirch. 111 Kein Vogel þat den Trieb, auf dem Meeresgrund herumzuſchwimmen, keinen Fiſch gelüſtet es, in den Wolken umherzufliegen. Bloß die Menſchen ſind ſo närriſch, daß ſie immer nach dem verlangen, was ihrem Talent, ihrer Art nicht liegt, nach dem ganz anderen, dem Pol ihres Weſens. Es iſt eine Krankheit. Aber Ihnen brenne ich ſie aus. Sie ſind mir mehr wert, Lisbeth, als zehn deutſche Schulmeiſter. Und ehe ich zugebe, daß der Schaumſchläger mit ſeinem blauen Dunſt Ihren klaren Sinn umnebelt, Sie ins Unglück reißt —“

„Andrew! Sie werden nichts unternehmen gegen den armen Menſchen!“

„Ehe ich das zugebe, blaf’ ich ihn aus wie ein Licht. Richten Sie ſich danach!“

Bebend vor Erbitterung ſahen ſie einander an, vier helle, ſcharfe Augen, funkelnd in einer Leidenſchaft, die zu mächtig war für Worte.

„Wie dürfen Sie ſolch eine Nichtswürdigkeit nur denken!“ ſtieß das Mädchen endlich hervor.

„Venn ich meiner Tage danach gefragt hätte, was ich durfte, fo ſtänd' ich nicht lebendig vor Ihnen. Ich bin nicht unter einer Glasglocke aufgewachſen. Ich oder du heißt's im Leben, Lisbeth Braun. Davon weiß Ihre Holzpuppe freilich nichts, die dort, wo unfer- einem ein Herz mit rotem Blut ſich abzappelt, einen Phonographen fiken hat, der Moralſprüche herunter- leiert.“

„Oſterwald iſt zehnmal beſſer als Sie! Sie werden ihm kein Haar krümmen!“

„Nein. Sch zerquetſch' ihn gleich ganz wie 'ne Sted- mücke.“

„Zwiſchen uns beiden iſt's jedenfalls aus, Macclean!

ich haſſe Sie!“

112 Die Welt der anderen. o

„All right. 3% bringe Sie ſchon wieder zur Ber- nunft.“

Als Heinz Oſterwald an dieſem Abend ſeine Knaben zur Ruhe gebracht hatte und ſich in einer ſehnſüchtigen Ungeduld, über deren Gewalt er ſelbſt verwundert war, nach der blonden Wirtstochter umſah, erblickte er auf der Landſtraße, die vom Föhrenwald zu den Bohr- türmen führte, einen Mann und ein Mädchen in eifrigem Geſpräch. Das Mädchen war zweifellos Lisbeth Braun. So frei wie die ſchritt keine ſonſt. Keine außer ihr hatte dieſe raſchen, befehlenden Bewegungen. Sie gingen mit ungleichen Schritten, blieben ſtehen, kehrten ſich zueinander, hoben die Hände in leidenſchaftlicher Er- regung.

Heinz fühlte ſich verletzt, zurückgeſetzt, hintergangen. Als das Mädchen dem Mann den Rücken wandte und mit weiten Schritten auf das Gaſthaus zukam, redete er ſich ein, daß er an dieſem Abend notwendig an Elli ſchreiben müſſe, und zog ſich auf ſeine Kammer zurück. Er ſchrieb ohne aufzuſehen, wollte das Schließen der Haustür nicht hören, nicht den herriſchen Schritt, der die Treppe heraufkam. Als er das Geſchriebene durch- las, fand er, daß er faſt nur von der Tochter ſeines Wirts erzählt hatte.

Argerlich wollte er den Brief zerreißen. Aber die Ahr ſchlug elf, und er fühlte, daß es ihm unmöglich ſein würde, heute noch ein neues Schreiben zuſammenzu— bringen. „Beſſer,“ dachte er ſchließlich, „ein unpafjen- der Brief als gar keiner.“

So ſchickte er ihn ab.

In einem Gefühl des Gekränktſeins mied er Lis- beth, und es verſtimmte ihn, daß ſie ihn nicht ſuchte. Die Gegend ſchien ihm öde, der Wald leer, ſein geliebtes

o Novelle von Luiſe Weſtkirch. 113

Indianerſpiel mit den Zungen ohne Reiz, feit er ver- gebens nach den wehenden blonden Haaren, nach der geſchmeidigen Geſtalt ausſchaute. Wiederum hielt er ſtrenge Einkehr in fein Gemüt. Denn ein Mann, der ſich der hohen Aufgabe unterzogen hat, der Jugend Lehrer und Vorbild zu ſein, muß ſorgfältig darauf achten, ſeine Empfindungen mit Namen zu nennen, ſie unter die Bezeichnungen zu ordnen, die die deutſche Sprache dafür zur Verfügung ſtellt. Er ſelbſt hatte keine eigenen Erfahrungen, aber er war vollgepfropft mit den Erfahrungen und der Weisheit anderer. Und er kam zu dem Schluß, daß das Ding, das ihm alle Speiſen geſchmacklos machte, Sonne und Mond ihren Glanz nahm und fein Gemüt mit einer ihm ungewohn- ten Reizbarkeit behaftete, am paſſendſten unter die Rubrik „Eiferſucht“ einzureihen ſein würde.

Liebte er denn Lisbeth Braun? Schonungslos beantwortete er ſich die Frage. Ja er liebte ſie, wie man den Sturmwind liebt, den WVaſſerfall, all die Wunder der Natur, die eigenwillig unſerer Geſetze ſpotten. Gerade die Unberechenbarteit ihres Weſens, ihre Rückſichtsloſigkeit, ihr nicht von Reue noch Pflicht- gefühl krank gemachter Lebensmut berauſchten ihn, der zeitlebens in frommer Ehrfurcht ſich gemüht hatte, jedes Geſetz bis auf den Buchſtaben treu zu erfüllen.

Zornig ſagte er ſich, daß ſein Gefühl übel ſei, ein Anrecht für einen, der, wenn auch nicht öffentlich, doch insgeheim feine Treue längſt verpfändet hatte. Über- dies ziemte es ſich wohl für Heinz Oſterwald, einem Mädchen nachzulaufen, das ein Stelldichein mit einem anderen Mann auf offener Straße hatte, und Hatt fidh deswegen vor ihm zu entſchuldigen, noch gar ihn trotzig mied?

Sobald er feine Zungen zur Ruhe gebracht hatte,

1913, IX, 8

114 Die Welt der anderen. D

ging er nach Neu-Pennſylvanien hinüber. Er gähnte dort viel, ſah oft nach der Uhr, redete ſich aber ein, daß er ſich vorzüglich unterhalte. Spät erſt wanderte er die breite Landſtraße durch die Heide zurück.

Auch am folgenden Tag blieb Lisbeth ihm fern. Kaum, daß er von weitem ihre Geſtalt über den Hof gleiten ſah. Er hatte einen Brief von Elli erwartet, die eine pünktliche Schreiberin war. Auch der kam nicht.

Und wieder ſaß er am Abend als unfroher Zecher in der kleinen Kneipe des Werks.

Als er heimkam, ſah er durch die Föhren einen Schatten vor ihm ins Haus gleiten Lisbeth.

Hatte die hier auf ihn gewartet? Sie mochte warten.

Am nächſten Morgen kam Ellis Antwort.

„Lieber Heinz!

Ich habe Zeit gebraucht, Deinen letzten Brief zu überdenken und zu verſtehen. Vielleicht mißverſteh' ich ihn trotzdem. Aber das wäre ein ſo großes Glück, daß ich es nicht zu hoffen wage. Das Leben hat mich nicht an Wunder gewöhnt. Du weißt, ich habe allzeit Deine Liebe als ein unverdientes Himmelsgeſchenk be- trachtet, als ein Gut, ſo groß, wie es mir müde und ſtill gewordenem Mädchen eigentlich gar nicht mehr zu- kommt. Darum habe ich jede Stunde mit Oir genoſſen, wie man einen ſchönen Herbſttag genießt, zaghaft und ſelig, aber ohne Hoffnung, daß ein Sommer ihm folgen könne. Wenn nun eintrifft, was ich immer gefürchtet habe, wenn eine Jüngere, Lebensfriſchere Dein Herz, Deine Liebe gewonnen hat, ich bei Gott, Heinz! ich will kein Hindernis auf Deinem Weg zum Glück ſein. Ich habe Dich ſo lieb, daß ich zurücktreten kann ohne Bitterkeit. Nur glücklich ſollſt Du werden, wirt-

o Novelle von Luiſe Weſtkirch. 115

lich glücklich! Wenn dies fremde Mädchen, das Dir ſo ſehr gefällt, Dir geben kann, was Du bei mir vermiſſeſt, möge Gott ſie und Dich ſegnen. Nur das eine bitte ich Dich: Prüfe ſorgfältig! Wirf Dich nicht weg! Deſſen fei gewiß, wie Du auch entſcheiden magſt, ſolange ſie lebt, wird für Dein Glück beten l Deine Elli Waranger.“

Er zerknüllte den Brief in der Hand vor Zorn, vor Scham. Es verdroß ihn, daß Elli ſofort verſtand, was er ſelbſt ſich kaum einzugeſtehen wagte, es kränkte ihn, daß ſie willig ein Band durchſchnitt, an das er nicht zu rühren wagte. Alle Dinge kränkten und verdroſſen ihn an dieſem Morgen. Er verachtete ſich ſelbſt. Die Bewegung kam zu ihm, das Schickſal, das lebendige Leben, das er erſehnt hatte endlich kam es und fand ihn nicht als den Charakter aus Granit und Bronze, als den er ſich in phantaſtiſchen Träumen gern ſah.

Am Abend ging er wieder nach Neu-Pennſylvanien. Aber er war nun völlig zermürbt von dem Hin und Her feiner Empfindungen, in das nervenzerrüttend immer wieder der Alltag brach, die Sorge für das leibliche und geiſtige Wohl, die hundertfältigen Fragen und Wünſche von fünfundzwanzig jungen, lebhaften Menſchenkindern. Früher als ſonſt ging er heim und hatte nur die eine Sehnſucht, den Kopf in die Kiſſen zu drücken, auf ein paar Stunden in traumloſem Schlaf fih, und was ihn verwirrte und ängſtigte, zu vergeſſen.

Der Weg über die Landſtraße dünkte feiner Un- geduld zu lang. Er bog in den Richtpfad durch den Föhrenwald.

Er bereute es ſogleich. Die Finſternis war faſt undurchdringlich, das Gehen auf dem mit Baumwurzeln überwucherten Pfad beſchwerlich. Und da war ein Kniſtern an feiner Seite, in feinem Rücken wie fchlei-

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chende Schritte. Er blieb ſtehen. Die Schritte ftanden auch. Er hielt den Atem an. Kein Laut. Er ging weiter. Da! Ein dürrer Zweig knackte hinter ihm. Was begleitete ihn denn? Ein Tier? Ein Menſch?

Er ging raſcher. Mitten im Wald war eine kleine, kreisrunde Abholzung. Das Licht des Mondes fiel blendend darauf. Wie auf ein Leuchtfeuer ſteuerte Heinz auf Gielen Lichtfleck zu durch die ſchwarze Finſter⸗ nis des Waldes, flüchtend vor dem leiſen Schleichen hinter ihm. Faſt laufend warf er ſich in das Mondlicht.

Da trat aus der ſchwarzen Föhrenwand vor ihm ein Mann. Der Mond ſchien ihm ins Geſicht Andrew Macclean!

Alle Schauergeſchichten aus ſeinen Kinderbüchern fielen dem jungen Lehrer ein, alle ſchienen wirklich zu werden. Nacht der ſchwarze, verſchwiegene Ur- wald der Todfeind vor ihm und er waffenlos! Er fühlte feine Stirn feucht werden und eine wunder- liche Unſicherheit in den Knien. Nie bis zu dieſem Augenblick hatte er gewußt, wie lieb ihm ſein Leben war.

Er gab ſich gewaltſam Haltung, drückte die Bruſt heraus, verſuchte gelaſſen vorüberzuſchreiten. Aber Andrew Macclean ſperrte wie ein Felsblock ihm den Weg. Stumm hob er die Hand. |

Heinz begann es vor den Augen zu flimmern.

Da ein Aufſchrei, ein Blitz, ein Knall. Mac- cleans erhobener Arm ſank ſchlaff herab.

Im grellen Mondſchein der kleinen Lichtung ſtand Lisbeth Braun, die abgeſchoſſene Piſtole in der Hand, Entſetzen im Blick.

„Hat er Ihnen ein Leid getan? Sind Sie ver- wundet?“

Von der Stelle, wo Andrew Macclean ſtand, kam

2 Novelle von Luiſe Weſtkirch. 117 ein leiſes Auflachen, dann war ſie leer. Aber die weißen Ringelblumen und der Grasbuſch, neben denen er geſtanden hatte, trugen blutigen Tau. Unheimlich dunkel und tot lagen die Tropfen auf dem mond- beflimmerten Grund. Heinz ſah es mit einem Grauen, das ihn ſtumm machte.

Lisbeth hatte ſeine Schulter gefaßt, ſchüttelte ihn. „Sind Sie unverletzt? Wirklich unverletzt? Gott ſei Dank! Hinter der Terraſſe von Neu-Pennſylvanien hab' ich auf Sie gewartet, bin Ihnen nachgeſchlichen, ſchon zwei Abende. Sie gingen trotz meiner Warnung heute durch den Wald. Sie leben! Oh, daß Sie nur leben!“ >

„Sie haben mich gerettet!“ Heinz ſprach wie unter einem Bann, die Zunge ſchwer von dem Grauſen der Stunde. „Aber ich fürchte, Sie haben einen Men- ſchen ſchwer verwundet.“ Er deutete auf das Blut im Gras.

„Ich konnte nicht anders!“ rief ſie leidenſchaftlich. „Ich konnte konnte Sie nicht ſterben ſehen!“

„Haſt du mich lieb, Lisbeth?“

Da brach ſie in ein wildes Schluchzen aus.

Ein Taumel von Empfindungen durchraſte Heinz, über alle gewaltig ein ſtolzes Entzücken, daß er von dieſem herrlichen Mädchen ſo heiß geliebt wurde, daß ſie Blut vergoß für ihn. Es war die Erfüllung all ſeiner Sehnſuchtsträume. Er riß Lisbeth in ſeine Arme, preßte ihren Kopf an ſeine Bruſt, vergrub ſein Geſicht in der ſilbern flimmernden Haarflut.

„Nun biſt du mein! Mein für ewig!“

Ihr Schluchzen wurde heftiger, wurde zum Krampf.

Plötzlich hob ſie den Kopf, ſtarren Schrecken im Blick. „Wir müffen fort!“

Den Arm um feine Schulter legend, vorſichtig hor-

118 Die Welt der anderen. o

chend und um fidh ſpähend zog fie ihn durch den Wald, in dem ſie jeden Fußbreit kannte, auf dem kürzeſten Meg hinaus auf die mondbeſchienene Landſtraße. Dort ließ ſie ihn los.

„Er iſt uns nicht nachgekommen!“ flüſterte ſie.

Er nahm ihre Hand, ſprach ſanfte Liebesworte ihr ins Ohr. Wie er ſeit Tagen nichts mehr träume, denke als an ſie. Von ihrer Zukunft zu zweien ſprach er, auch von ſeiner Familie.

Sie ſchritt haſtig aus und antwortete nicht, ſtreichelte nur ab und zu leiſe, zärtlich ſeine Hand. In kurzen Zwiſchenräumen ſchüttelte ſie noch immer ein trockenes Schluchzen, das Nachbeben der furchtbaren Erregung. Er liebte ſie darum nur um ſo mehr. Ihr Gefühl für ihn hatte ſie aus ihrem eigenſten Weſen, ihrer Mädchenzurückhaltung und Beſcheidenheit geriſſen zu einer Tat, die ihrem Geſchlecht nicht ziemte. Daß ſie nachträglich davor ſchauderte, machte ſie ihm rührend und verehrungswürdig.

Im Hausflur küßte er innig ihre Lippen. „Lisbeth! Mein Lieb mein Weib!“

Da warf ſie die Arme um ſeinen Hals, küßte ihn mit einer Glut, die ihn ſchwindeln machte. „Du lebſt! Jch frag' nach nichts ſonſt!“

In dieſer Nacht ſchlief Heinz Oſterwald nicht. Er rannte in ſeiner Kammer auf und nieder, glühend, raſend, ſchwindlig, immer wieder das Exlebnis dieſer Abendſtunde durchkoſtend, das Grauen, den Schrecken, die Gefahr, den Knall der Piſtole, das Hervorſtürzen Lisbeths, das Blut des beſiegten Rivalen und ihren Kuß, der ihm das Blut wie Feuer durch die Adern jagte. Er befühlte ſeinen Arm, er beſah ſeine Geſtalt im Spiegel. War wirklich er das? Heinz Oſterwald?

u Novelle von Luiſe Weſtkirch. 119

Und er erlebte dies? Erlebte es in einem Führen- wald ſeines ehrbaren n auf einer Reife in ſeinem Beruf?

So nahe lag das eh neben dem Alltäglichen! Das Heroiſche, nach dem ſeine Träume ſich ſehnten, es kam zu ihm, überſchüttete ihn!

An dem Maß, wie er ruhiger wurde, begann er das Kommende zu erwägen. Sicherlich würde des Bohrmeiſters Verwundung bekannt werden. Vielleicht gar es war Grauen, das zu denken erlag er feiner Wunde. Andernfalls erhob er Klage, eine Unter- ſuchung würde eingeleitet werden. Lisbeth kam auf die Anklagebank, vor das Schwurgericht, wurde viel- leicht verurteilt! Denn Maccleans Angriff war nicht zu erweiſen, ihre Tat aber zweifellos. Das Herz ſtand ihm ſtill bei der Vorſtellung. Selbſtverſtändlich würde er die nicht verlaſſen, die für ihn ſchuldig geworden war. Nein fie war ja fein, feine Braut, würde feine Frau werden!

Was wohl der Schulrat zu dieſen Dingen fagen mochte? Mit feinem Beruf als Lehrer war es jeden- falls vorbei. Eine Frau aus dem Gefängnis.

Ihm fiel ein, wie hart ſein Vater gearbeitet, ſeine Mutter gedarbt hatten, um ihm dieſen Beruf zu er- möglichen. Und wenn er ſich fragte, was für einen Broterwerb er nun ergreifen würde, ſo war Leere in ſeinem Hirn.

Gleichviel was kam, das galt. Er war kein Lump. Vor allem mußte er ſein Verhältnis zu Lisbeth klarſtellen.

Dabei ſah er plötzlich Elli vor ſich, deutlicher als die Tage vorher, ſah den Schmerz in ihren wunder- baren Augen, und das Mitleid mit ihrem Leid zerriß ihm das Herz. Aber es gab keine Wahl. Blut war wahrlich ein beſonderer Saft. Es band unlöslich.

120 Die Welt der anderen. 2

Er nahm ſein Schreibzeug aus der Lade. Das Blatt freilich, auf dem er an Elli ſchreiben wollte, blieb leer. Wie ſeine Schriftſtellerkunſt auch die Abſage faſſen mochte, ſie blieb unerträglich. Dann fiel ihm ein: derlei war überhaupt kein Männerwerk. Eine Frau mußte hier das löſende Wort finden. Er zerriß den Bogen mit dem: „Liebe Elli!“ und ſetzte auf den nächſten: „Liebe Mutter!“ Nun begann ſeine Feder zu fliegen. Rückhaltlos ſchilderte er ihr feine Erlebniſſe in der weltverlorenen Kolonie, feine Gefahr, die Helden- tat des Mädchens, ſetzte ihr ſeine Lage auseinander. „Und nun gibt es für mich keine Wahl als Ehrenmann. Ich gehöre zu der, die aus Liebe zu mir ihr Gewiſſen belaſtet, Menſchenblut vergoſſen hat. Das ſiehſt Du ein, Mutter. Du wirſt mich nicht verdammen. Du wirſt mir die Bitte erfüllen, die ich an Dich richte. Geh zu Elli. Sag ihr, was ſie wiſſen muß. Glaub mir, mein Herz ift ſchwer von Leid um das gute Mäd- chen. Aber fie wird mich begreifen, fie wird mir ver- zeihen. Und, Mutter, deſſen ſei gewiß, die Tochter, die ich Dir bringe, meine Lisbeth, iſt edel. Eine Natur voll Ehrlichkeit, voll Tatkraft, voll Lebensfreude. Du wirft fie liebgewinnen —“

Die Feder ſtockte. Vor ſeine Vorſtellung trat das Bild ſeiner Mutter, das von der Haube umrahmte faltige Geſicht, die altmodiſche, aber peinlich ſaubere Tracht und Lisbeths Bild in weißer Schlotterbluſe mit dem Riß im Armel.

Er mußte erſt ein leiſes Unbehagen überwinden, ehe er fortfuhr: „Eine unverbildete Natur iſt ſie, die Du, liebe Mutter, nach Deinem Bilde erziehen wirſt. Sie ſelbſt hat ihre Mutter ganz jung verloren. Ihr Vater iſt ein unglücklicher Mann. Was ihr etwa an äußerer Abgeſchliffenheit fehlt, weil niemand ſie's ge-

D Novelle von Suite Weſtkirch. 121

lehrt hat, Du wirft es fie lehren. Nicht, als ob fie un- wiſſend wäre. Sie hat höhere Schulen befucht, bevor das Unglück ihren Vater traf. Aber die Einöde, in der fie lebt, die ganz beſonderen Verhältniſſe und fremd- artigen Menſchen mußten abfärben auf ihr empfäng- liches Gemüt.“

Der frühe Tag ſchien durch die Scheiben, kämpfte mit dem Licht der Lampe. Heinz war es, als würde leiſe, leiſe eine Tür irgendwo im Hauſe zugemacht. Vielleicht ſchon Tante Hanne, die ihr Tagewerk begann. Er ſchloß: „Um mich mache Dir keine Sorgen, liebe Mutter. Ich bin ruhig und unverzagt. Was meiner Lisbeth und mir vorbehalten ſein mag und es kann ſein, daß eine ſchwere Zeit uns erwartet, daß ich Beruf und Vaterland aufgeben muß —, denke Du immer, daß unſer Herrgott für jeden Menſchen viele Wege zum Glück offen hält. Die Hauptſache iſt: Recht tun und den Kopf oben behalten.“

Er ſtand auf. Gott fei Dank, ja, die große Wende ſeines Lebens, das ungewöhnliche Schickſal, das er ſich erſehnt hatte, fanden ihn als Mann, als Helden, ihrer würdig. Mit Stolz ſah er ſich um. Hinter der weit offenen Tür ſchliefen ſeine Knaben, feſt, mit ruhigen Atemzügen. Ein leichtes Bedauern kam ihm, daß ihm nicht ferner vergönnt ſein würde, junge Seelen zu bilden, da er ſich doch fühlte als einer, wert der Jugend als Vorbild voranzuleuchten.

FSphm blieb nicht mehr Zeit, zur Ruhe zu gehen, er wuſch ſich und kleidete ſich um. Während ſeine Knaben ſich fertig machten, ging er hinunter, nach Lisbeth ſpähend. In dem verwilderten Garten fand er ſie am Brunnen, aus dem ſie ihm an jenem Wunderabend den Zaubertrunk geſchöpft hatte. Ein wenig blaſſer ſchien ſie ihm als ſonſt, ein wenig ſcheu. Und verſtohlen

122 Die Welt der anderen. o

glitt fein Blick an ihr herab auf ihre Hand, ihm war, als müſſe die blutig fein. Unwillig dies unwillkürliche Schaudern ſeiner Natur bezwingend, ging er raſch auf ſie zu und küßte ſie.

„Mein Lieb, ich verſtehe dich. Faſſe Mut. Ich will nachher gleich ins Dorf gehen, mich vergewiſſern, wie es um den unglücklichen Mann ſteht. Gott wird gnädig das Schlimmſte abwenden.“

„Ja,“ antwortete fie ruhig. „Andrew Macclean wird nicht ſterben.“

„Das weißt du ſchon?“

„Nur könnte es geſchehen, daß ihm der Armſteif bleibt, ſagt der Arzt. Die Kugel hat den Knochen geſtreift.“

„Haſt du denn den Arzt geſprochen?“

„Ich hab' ihn ja hingeſchickt.“

„Du? Zn Olhauſen wohnt doch gar kein Arzt!“

„Ich bin nach der Station gegangen.“

Heinz hatte eine ſehr peinliche Empfindung. Es demütigte ſeinen Mannesſtolz, daß, während er ſchwer ringend zukünftige Dinge erwog, ſie mit beſonnener Entſchloſſenheit das für den Augenblick Notwendige getan hatte, ohne ſeinen Rat, ohne ſein Wiſſen für den anderen. Ihm war, als ſei ihm etwas genommen, auf das eigentlich er ein Recht gehabt hätte.

„Mitten in der Nacht biſt du die zwei Stunden hin und her gelaufen allein? Für Macclean?“ fragte er mißbilligend.

„Ich konnt' ihn doch nicht hilflos verbluten laſſen!“

„Du hätteſt mir von deiner Abſicht ſagen ſollen,“ tadelte er. „Ich würde mit dir gegangen fein.“

Sie ſchwieg.

„Du begreifſt doch, daß es mir peinlich ſein muß, wenn meine Braut vier Stunden allein in Nacht und Nebel auf der Landſtraße herumläuft.“

2 Novelle von Luiſe Weſtkirch. 123

Sie hob bittend die Hand. „Ja, ſieh, gerade weil ich deine Braut bin. Die Menſchen, die du liebhaſt, von denen du mir erzählt haft, zu denen du mich führen willſt würden die mich nicht geringachten, wenn ſie erführen, daß ich mit dir in der Nacht herumgewandert wäre?“

Ihre demütige Rückſichtnahme auf ſeine Art und die Art der Seinen rührte ihn. „Solch außergewöhn— liche Umſtände werden fih vorausſichtlich und hoffent- lich niemals wiederholen. Laſſen wir das. Hör, Lisbeth, ich habe dieſe Nacht meiner Mutter von unſerer Liebe geſchrieben. Wenn du je über eine Sache im Zweifel biſt, frage nur meine Mutter. Sie wird dich immer richtig beraten.“

Sie ſah ihn ſtumm an. Es war eine bange Frage in ihren Augen, ein hilfloſes Staunen.

Sein Empfinden wallte heiß auf. Er riß ſie in ſeine Arme. „Mein Lieb! Bange nicht! Es wird alles gut werden!“

An dieſem ſelben Vormittag hielt er bei Eduard Braun um Lisbeths Hand an. Er kam um zehn, weil er begriff, daß die Zurechnungsfähigkeit des Wirts vom Waldheim mit den vorrückenden Tagesſtunden abnehme. Auch zu dieſer Stunde Iden fand er ihn in feinem kühlen Zimmer vor einer Flaſche, die die Etikette eines auserleſenen Weines trug. Das Glas freilich, das halb- gefüllt daneben ftand, enthielt nur waſſerklaren Korn- ſchnaps.

Braun folgte dem Blick des jungen Lehrers und lachte. „Ein fr frommer Betrug, eine Reminiſzenz an die Zeit, da dieſe Flaſche noch den edlen Tropfen enthielt, von dem fie prahlt. Illuſion! Mein lieber Herr, was wäre ein Mann wie ich in dieſem Neſt o -ohne Zllufionen?“

124 Die Welt der anderen. el

Aber als Heinz fein Anliegen vorbrachte, wurde der Wirt vom Waldheim würdevoll, Die Hand feiner Tochter begehrte der junge Mann? Hm, ja, er würde den Antrag in Erwägung ziehen, verſteht ſich. Aber Lisbeth war ſein einziges Kind. Herr wie hieß er doch gleich? richtig, Herr Oſterwald und Lehrer war er? Ein Studierter oder nur Seminariſt? Nur Seminariſt? So. Ja, er mußte bedenken, er, Braun, würde nächſtens in den Staatsdienſt zurückkehren, ja- wohl! Man hatte ihm Andeutungen gemacht es war noch Geheimnis. Aber es kam dahin, ja es kam ſicher dahin. Er würde wieder in die Stadt ziehen, ein Haus machen. Die Tochter eines ſolchen Vaters durfte Anſprüche erheben, Anſprüche, die Herr wie hieß er doch noch? richtig, Obermaier! die Herr Obermaier als einfacher Lehrer vielleicht nicht imſtande war zu erfüllen wie?

Heinz war rot geworden vor Zorn. Im Bewußt ſein ſeiner bürgerlichen Vollwertigkeit war es ihm gar nicht in die Gedanken gekommen, daß ein Kerl wie dieſer Wirt anders als mit Dankbarkeit und Rührung ſeinesgleichen zum Schwiegerſohn annehmen könne.

Während die Empörung ihn noch ſtumm machte, öffnete ſich die nur angelehnte Tür zum Nebenzimmer. Lisbeth kam herein.

„Du brauchſt nicht lange zu überlegen, Vater,“ ſagte ſie. „Heinz und ich ſind ſchon einig.“

Anſicher mit den Lidern zwinkernd, fab Braun aus ſeinen ſchwimmenden Augen die Tochter an. Sein Stolz, ſeine Würde ſanken. Unruhig bewegte er die zitternden Finger auf der Tiſchplatte. „Willſt du wirt- lich deinen alten Vater allein laſſen, Kind?“

„In unſer Haus nehmen können wir dich nicht, Vater. Ich will mit Onkel Fritz ſprechen. Waldheim

o Novelle von Luife Weſtkirch. 125

muß verkauft werden. Wenn Onkel den Erlös für dich auf Leibrente gibt, wirſt du irgendwo auf dem Land dafür leben können.“

„Ich will nicht aufs Land!“ antwortete Braun heftig. „Ich gehe in meinen Dienſt zurück, in die Stadt. Ihr wißt alle nicht, was in mir ſteckt. Ich laffe mich nicht länger unterdrücken. Ich w— werde meinen Weg ſchon machen.“

„Am fo beffer,” antwortete die Tochter gleichmütig. „Alſo, daß wir uns verſtehen, Vater, du gibſt deine Einwilligung, daß Heinz und ich heiraten nicht wahr?“

„Meinetwegen mach, was du willſt,“ brummte Braun unwirſch. „Aber beklag dich nachher nicht.“

Er fette fih wieder, ftierte in fein Glas und mur- melte etwas von Undankbarkeit.

Lisbeth zog Heinz, der antworten wollte, aus der Stube. Der junge Lehrer hatte ſich ſeine Verlobung anders gedacht.

„Ich finde, du gehſt ſehr hart mit deinem Vater um,“ ſagte er, „mit wenig kindlicher Liebe und Achtung.“

„Wie kann ich denn da lieben und achten?“

„Er bleibt immer dein Vater! War es denn gar nicht möglich, früher ja wäre es nicht ſogar jetzt noch möglich, den Unglückſeligen von feiner Leiden- ſchaft, ſeiner Krankheit zu heilen? Für eine Tochter müßte das eine herrliche Aufgabe ſein.“ Ä

Sie antwortete nicht.

„Haſt du nie daran gedacht?“

„Nein,“ ſagte ſie. „Die Eltern ſollen ihre Kinder erziehen, mein' ich, nicht die Kinder ihre Eltern.“

„Im allgemeinen gewiß. Aber es gibt doch Aus- nahmen.“ Er ſchüttelte den Kopf. „Du but in Gemüts- dingen unheimlich wie ſoll ich ſagen? ſachlich.“

126 Die Welt der anderen, 2

Sie lachte. „Ja, ich kann mir nichts vormachen. Wenn ich ſehe, daß ein Ding unmöglich iſt, wie zum Beiſpiel meinen Vater zu beſſern, ſo müh' ich mich gar nicht erſt dran ab. Amerikaniſch nennt das Andrew Macclean. Ihm gefiel’s.“

„Laß Macclean!“ Heinz zog einen Ring von ſeinem kleinen Finger, ein dünnes, ſchlichtes Ringelchen, an dem ein Kleeblatt von Türkiſen in blaſſem Blau ſchim- merte, und ſchob es an Lisbeths Finger. „Dieſen Ring hat mein Vater meiner Mutter an ihrem Verlobungs- tag gegeben. Trag du ihn nun, meine Lisbeth, meine Braut. Trag ihn würdig.“

Sie fab auf den Reif, ihre Lippen zuckten. Lang- ſam ſchlug ſie die Augen zu ihm auf, die ihm in dieſem Augenblick ſchwarz ſchienen. „Ich werde gewiß in vielem anders ſein, als du dir's gedacht haſt,“ ſagte ſie. „Aber“ ſie ergriff plötzlich ſeine beiden Hände mit einer Leidenſchaftlichkeit, die ihn faſt erſchreckte „was ich tun kann, dich glücklich zu machen, Heinz das tu' ich! Das tu' ich gewiß!“

Mit abgewandtem Geſicht lief fie davon.

Langſam ging der Tag hin, Heinz meinte ſolch langen nie erlebt zu haben. Die Wünſche und Fragen ſeiner kleinen Ferienkoloniſten fielen ihm auf die Nerven. Er hatte Mühe, mit guter Art die weitſchweifigen Glüd- wünſche der Tante Hanne hinzunehmen. Seine Ge— danken wanderten. Was nur ſeine Mutter ſagen würde? And feine Schweſter erft? Die war ſtreng! Mit der letzten Poſt heute wurde ſein Brief ausgetragen. Ob ſie am ſelben Abend noch zu Elli gingen? Morgen früh konnte dann ihre Antwort kommen.

Wär's nur erſt morgen!

Am Nachmittag ſtaud plötzlich Lisbeth neben ihm.

„Du, Heinz, ich glaub', ich muß dir was fagen. ~

D Novelle von Luiſe Weſtkirch. 127

Denk dir, ich ſoll zu ihm kommen. Er will mich ſprechen.“

„Ver?“

„Macclean.“

Sie reichte ihm ein Briefblatt. Angeſchickt mit der linken Hand darauf geſchrieben ſtanden die Worte: „Mich hält nun nichts mehr hier. Vor meiner Abreiſe möchte ich Ihnen ein Wort fagen, Miß Braun. Kommen Sie zu mir!“

„Keinenfalls wirſt du zu dem Menſchen gehen!“ ſagte Heinz heftig.

„Ich dachte mir, es würde dir nicht recht ſein.“

„Ver weiß, was der Kerl im Schilde führt!“

„Macclean gegen mich? Oh, ſicher nichts Böſes!“

„Jedenfalls ift es ganz unmöglich, daß meine Braut einen fremden Mann in ſeinem Haus beſucht. Das mußt du einſehen.“

„Ja.“

„Wir wollen Gott danken, daß er gnädig die Kugel abgelenkt hat von dem Herzen des Ruchloſen —“

„Ich hab' doch nicht auf Maccleans Herz gezielt!“ unterbrach ſie ihn. „Nur auf den Arm.“

„Du haſt gezielt?! In dem Augenblick?“

„Natürlich hab' ich gezielt.“

Wieder mußte Heinz eine peinliche Empfindung niederkämpfen. „Alſo, wir wollen Gott danken für den Ausgang. Im übrigen geht der Mordbube dich nichts an. Sollte er die Gerichte anrufen, ſo werde ich unſere Sache zu führen wiſſen, verlaß dich darauf.“

„Macclean bemüht die Gerichte nicht. Der ift da- für, ſich ſelbſt zu helfen.“

„Er tue ſein Zoe) < Du ei aber nicht zu ihm geben.“

123 Die Welt der anderen. D

——__.

„Rein,“ fagte fie, „ib tws nicht, wenn du nicht willſt.“

Die Stunden ſchlichen. Heinz lag die Nacht wach und horchte auf den heiſeren Schlag der alten Wand- uhr. Einem Bräutigam, einem, der das Weib ſeiner Liebe errungen hat über Gefahr und Tod, flammende Schüſſe und fließendes Blut weg, hätte nach ſeiner Meinung anders zumute ſein müſſen. Aber dies Bangen, das ihm den Atem raubte und kein Frohgefühl auf- kommen ließ, entſprang jedenfalls nur der Ungewiß- heit über das Kommende. Wenn er erſt ſeiner Mutter Meinung kannte, wenn erſt das Band zwiſchen ihm und Elli gelöſt war, wenn er wußte, ob der Amerikaner Klage erhob, wußte, wie ſeine Vorgeſetzten über ſein Abenteuer dachten, dann ja, dann würde mit der Ruhe des Gemüts die hohe Freude ſich einſtellen, ganz gewiß!

Der Tag kam, der Poſtbote. Der heißerſehnte Brief ſeiner Mutter kam nicht.

„Altere Leute ſind bedächtig, mein Lieb,“ ſagte er. „Es iſt Mutters Art, gründlich zu erwägen. In das Außergewöhnliche, das ich ihr ſchreiben mußte, wird fie ſich nur langſam finden können. Aber ſicher be- kommen wir heute noch Nachricht.“

Als Heinz mittags mit ſeinen Knaben heimkehrte, müde und zermürbt von den Spielen mit ihnen wie nie in feinem Leben, fuhr ein Wagen vor dem Got: haus vor. Ein junges Mädchen ſprang heraus und half einer älteren Dame ausſteigen.

Das Blut ſchoß Heinz in heißem Strom in den Kopf, alle Föhren des Wäldchens ſamt dem weißen Wirtshaus führten einen tollen Tanz um ihn auf. Seine Schweſter! Seine Mutter ſeine Mutter, die

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feit zehn Jahren auch nicht eine Stunde auf der Eijen- bahn gefahren war!

„Geht hinauf! Macht euch zum Eſſen fertig!“ gebot er rauh den gaffenden Kindern. „Wollt ihr wohl machen, daß ihr hinaufkommt!“

Während ſie mit neugierig zurückgewandten Hälſen ins Haus abzogen, trat er zum Wagen. „Mutter! Dora! Ihr kommt zu mir?“

„Später, Heinz, ſpäter!“ Frau Oſterwald neſtelte an ihrem Geldtäſchchen, ſuchte mühſam den Lohn für den Kutſcher zuſammen.

„Kann ich das nicht * dich beſorgen, Mutter?“

„Laß nur.“

Die Schweſter, ein früh verblühtes Mädchen mit ſcharfen Zügen und unruhig umherfahrenden Augen, ſah ihn vorwurfsvoll an. „Schöne Geſchichten machſt du! Mutter war ganz krank von deinem Brief! Sie ließ keine Ruh', wir mußten herfahren.“

„Ich hätte doch zu euch kommen können, Mutter.“

„Es ift beffer fo, mein Zunge. Ich kann wohl ein Zimnier hier im Hauſe bekommen nicht wahr?“

„Sicher.“ Als Heinz ſich ſuchend umwandte, trat Lisbeth in die Tür. Es half nichts. Er mußte jetzt, hier, ſeine Braut den Seinen vorſtellen.

„Mutter, Dora dies iſt meine Lisbeth.“

Sie ſtanden einander gegenüber im unbarmherzig grellen Mittagſonnenſchein, die alte Frau, erſchöpft von der Reiſe, in Tücher und Schleier gewickelt, mit faltigem, vergrämtem Geſicht, ſcheu, geblendet von der Weite, dem mitleidloſen Licht, ſie, die ihre Tage im Halb— ſchatten gelebt hatte und ihr gegenüber dieſes Mäd- chen in der Vollkraft ihrer Jugend, mit harten, bliken- den Augen in die Sonne ſchauend, mit tatkräftig auf— gerecktem Kopf, über dem wie eine Krone das blonde

1913. IX. 9

130 Die Welt der anderen. 2

Haar flimmerte, geſund, willensſtark, rückſichtslos, das Leben ſelber.

Eine Sekunde ſchwiegen beide in einem kühlen Er- ſchauern vor der Weſensfremdheit des anderen. Dann ſtreckte die alte Frau langſam die Hand aus.

„Wenn ich meines Sohnes Brief recht verſtanden habe, ſo danke ich es Ihnen, liebes Fräulein, daß mein Heinz noch lebt. Das wird eine Mutter Ihnen nie vergeſſen.“ |

Lisbeth legte ſtumm ihre Finger in die Hand Frau Oſterwalds. E

„Mach ein Zimmer für Mutter und Dora zurecht, Lisbeth,“ bat Heinz.

Lisbeth ging eilig.

„Vorläufig kommt ihr mit mir, Mutter.“

Er führte die beiden in das kleine Stübchen, das er neben den Schlafräumen feiner Zungen bewohnte, und ſchloß die Verbindungstür.

Die alte Frau ſetzte ſich auf das harte, kleine Sofa, faltete die Hände im Schoß und ſah vor ſich hin.

„Kann ich dir eine Erfriſchung bringen, Mutter, bis das Mittageffen fertig iſt? Was trinkt Mutter, Dora?“

Frau Oſterwald lehnte nur durch ein Kopfſchütteln ab. „Alſo ſo ſieht ſie aus!“ ſprach ſie vor ſich hin.

„Die arme Elli!“ ſagte Dora. „Das hat ſie ſich gewiß nicht träumen laffen, daß fo eine dich ihr weg- nehmen würde.“

Heinz wurde heftig. „Sei ſo gut und gib acht auf deine Ausdrücke! So eine! Das verbitt' ich mir. Du kennſt ja meine Lisbeth gar nicht.“

„Na, hör mal, ein junges Mädchen, das nachts in den Wäldern umherläuft, mit Piſtolen um ſich ſchießt! Und wie fie ausſieht mit dem viel zu kurzen Rock! Eine Hausfrau wird die nie.“

a Novelle von Luiſe Weſtkirch. 131

„Dora!“

„Ja, darauf mußt du doch ſehen, mein' ich! Wie wollt ihr denn ſonſt die zwei Enden zuſammenbringen?“ Sie ſah ſich um. „Reichtümer wird ihr Vater ihr wohl nicht mitgeben können. Es ſieht erbärmlich hier aus.“

„Du follft deinen Mund halten, verſtehſt du!“

„Auch darüber, daß du einem braven Mädchen dein Wort brichſt und das Herz dazu? Du weißt ſelbſt, daß Elli viel mehr nach dir fragt, als du wert biſt.“

„Still,“ bat die Mutter, „fei doch ſtill, Dora! Zankt euch nicht!“ Sie nahm ihres Sohnes Hand. „Achte nicht auf ihre Reden, Heinz. Das Kind weiß nichts vom Leben. Sie ſieht nur Schwarz und Weiß.“

„Ja, Mutter, mir iſt Recht Recht und Unrecht Un- recht. Davon laſſ' ich mir nichts abhandeln.“

„Schweig ſtill! Sch will jetzt ſprechen,“ ſagte Frau Oſterwald. „Ich kann dich verſtehen, Heinz. Sch kenne dein ſtrenges Pflichtgefühl, dein zartes Empfinden. Du biſt dem Mädchen Dank ſchuldig geworden, eine große Verpflichtung haft du gegen fie.“

„So nicht, Mutter! Ich liebe Lisbeth.“

„Auch das. Du glaubſt fie zu lieben, die für dich Ungeheures gewagt hat, die Blut vergoſſen hat aus Liebe zu dir! Wie ſollteſt du nicht? Wie ſollte nicht vor der Heiligkeit der Dankesſchuld, die du gegen fie zu begleichen haſt, die Heiligkeit jedes anderen Bandes, jeder anderen Pflicht in deiner Wertmeſſung zurück— treten? Sieh, ich verſtehe das alles, und ich ver- damme dich nicht, Heinz ich nicht.“

Er beugte ſich über ihre Hand und küßte ſie.

„Ich kenne dich ſogar beſſer, als du ſelbſt dich kennſt. And weil du jetzt an dich ſelbſt gar nicht denkſt, dein Glück, all deine künftigen Jahre nicht eines Erwägens wert hältſt in dem Ungeſtüm deiner edlen Regung,

132 Die Welt der anderen. D

darum hat es mir nicht Ruhe gelaſſen, darum hab' ich kommen müſſen, damit ich mit meinen Augen die ſehe, bis auf den Grund die kennen lerne, die das Schickſal deines Lebens werden ſoll. Denn, wenn du dich ver- gißt, mein Heinz, ich, deine Mutter, habe das Recht, dich nicht zu vergeſſen über keinen Menſchen und keine Dankbarkeit und keine Pflicht. Ich will die Augen offenhalten und dein Mädchen kennenlernen. Damit biſt du doch einverſtanden, Heinz?“

„Ja, Mutter. Und Dank, heißen Dank! Oh, wenn du nur ein wenig ihrer angeborenen Art Rechnung trägſt, mußt du meine Lisbeth liebgewinnen. Sie iſt ganz Tatkraft, ganz Leben, eine Frau, mit der zur Seite ein Mann die Welt erobert.“ Er ſtockte. Die Frage fiel ihm ſchwer. „Weiß Elli ſchon?“

„Noch nicht. Zch wollte erft ſelbſt ſehen. Aber Elli hat dich lieb, mein Junge, und fie hat nie ihr eigenes Glück geſucht. Deinem Glück wenn dies Mädchen dein Glück iſt wird ſie nicht im Vege ſtehen.“

„Nein,“ fügte Dora hinzu, „du kannſt es darauf wagen. Sie wird dir ſagen: es tut nicht weh auch wenn ſie dran ſtirbt.“ f

Es klopfte. Lisbeth meldete, daß das Zimmer bereit ſei. |

„Schon?“ fragte Dora mißtrauiſch.

Sie gingen hinüber. Jetzt, da Heinz gleichſam durch die Augen von Mutter und Schweſter ſah, kamen ihm die Mängel vom Waldheim erſt völlig zum Bewußtſein. Das Loch in der Mullgardine klaffte unverſchämt, die Bettvorlage war ausgefranſt. An der Waſſerkanne fehlte der Henkel.

Doras Blicke hafteten ausdrucksvoll auf dieſen Schäden. N

Sah Lisbeth fie nicht? Warum gab fie fidh folde Blöße?

D Novelle von Luiſe Weſtkirch. 133

Lisbeth ſtand wartend, ganz gutes Gewiſſen, guter Wille. In der Hand hielt ſie ein Brett mit Kaffee- geſchirr und Zwieback. Die Taſſen hatten Sprünge. „Vielleicht ſchmeckt's doch nach der Reiſe?“ ſagte ſie.

„Nein, Lisbeth, Mutter nimmt nichts,“ entgegnete er raſch. „Was ihr not tut, iſt einzig ein bißchen Ruhe.“

Lisbeth war ſchon an der Tür.

„Mein liebes Kind,“ ſagte Frau Oſterwald freund- lich, „Sie müſſen Nachſicht mit einer alten Frau haben. Ich freue mich darauf, recht lange und eingehend mit Ihnen zu plaudern. Wir haben einander viel zu ſagen. Ganz genau müſſen Sie mir den ſchrecklichen Vorfall erzählen. Von Ihnen und Fhrem Leben müſſen Sie mir erzählen, wenn Heinz mit feinen Jungen hinaus- zieht heute nachmittag nicht wahr?“

Ja,“ ſagte Lisbeth.

Sie ging eilig. Wie dieſe Dora ſie angeſtarrt hatte! Hatte ſie denn etwas Beſonderes an ſich? Sie betrachtete ſich im nächſten Spiegel, zupfte ihren Anzug zurecht. Richtig! Die Bluſe war zerriſſen. Sie würde die andere anziehen. Ganz heil war die allerdings auch nicht. Aber der Schaden ſaß unter dem Arm. Übrigens war das ein ganz nebenſächlicher Umſtand bei dem Wid- tigen, das zwiſchen ihnen auf Austrag harrte.

Aufatmend ſog ſie den friſchen Weſtwind ein. Sie war nicht oft verlegen. Furcht kannte ſie überhaupt nicht. Aber die beiden Frauen machten ſie beklommen. Es war, als wenn ſie alle Luft wegſaugten aus dem Raum, in dem fie ſich aufhielten. Ob die beiden ihre Hausgenoſſen wurden? Heinz hatte erzählt, daß er bei ſeiner Mutter wohne. Ach, ſie würde ſchon mit ihnen fertig werden! Seine Mutter, das war doch die Frau, die ihren Sonntagſtaat zerſchnitt, damit ihre Kinder Röckchen bekamen. Seine Schweſter hatte Bluſen ge—

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näht für ein Geſchäft vom Morgen bis tief in die Nacht, um das Geld zuſammenzubekommen, deſſen Heinz zu ſeiner Ausbildung bedurfte. Sie hatte ſich dieſe Prachtmenſchen anders vorgeſtellt. Aber was lag am Außeren! |

Jedenfalls wollte fie ſich Heinz zuliebe aber doch auf den Nachmittag ſo hübſch machen, wie ſie irgend konnte.

Inzwiſchen ſchickte Frau Oſterwald Dora hinaus. „Kümmere dich ein wenig um meine Suppe, Kind. ich kann heute nur Grießſuppe effen. Sieh, daß fie richtig gekocht wird ohne Gewürz, ohne Fett. Und daß ich Weißbrot bekomme.“

Dann zog ſie Heinz neben ſich auf das Sofa.

„Nun ſag mir von Anfang, wie das über dich ge— kommen ift, mein Zunge. Ganz ruhig, ganz ausführ- lich erzähle.“

Er verſuchte es. Aber er fand keine Stimmung in der dumpfen Stube, vor der ſeufzenden Frau im ſchwarzen Gewand. Aller Wunderglanz fiel ab von den Geſchehniſſen, alle lichte Schönheit von ſeinen Empfindungen. Wie ein zerflederter Schmetterling lag ſeine hochflatternde Liebe am Boden. Es war, als ob die nervös ſich bewegenden Finger der alten Frau alle die leuchtenden Farbenſchuppen von ihren Flügeln zupften. Er brach ab und ſtand auf.

„Ich kann's mit Worten nicht fagen. Ih ſag's ſchlecht. Lerne meine Lisbeth kennen, Mutter, und du wirft mich verſtehen.“ .

„Du fagit, fie hat keine Mutter mehr. Aber ihren Vater, den Herrn Braun, wirſt du mir doch bringen?“

Da mußte Heinz von des Wirtes Eigentümlichkeiten ſprechen. Er tat es ungern.

Frau Oſterwald ſeufzte tiefer als zuvor. „Ein

D Novelle von Suite Weſtkirch. 135

Trinker! Man jagt, daß ſolches Laſter fih vererbt bis in die zweite, dritte Generation. Haſt du das bedacht?“

„Ich hab' nur bedacht, daß ich Lisbeth liebhabe. Und fie hat auch nur an ihre Liebe zu mir gedacht, als ſie die Mündung ihrer Piſtole auf einen Menſchen richtete.“

„Ja, ja gewiß. Aber die Tochter eines Trinkers, Heinz! Wir haben Verantwortung unſeren ungeborenen Kindern gegenüber.“

„In erſter Linie doch wohl gegen die Menſchen, die lebendig ſind.“

„Ich weiß nicht. Was lebt, kann ſich wehren. Die Werdenden find ſchutzlos. Aber rege dich nicht auf. All dies Wilde, Schwankende wird ins Gleichgewicht kommen. Nur Ruhe! Wie toll das Waſſer in der Schale auch nach links und rechts über den Rand ſchlagen mag, halte nur ein Weilchen ſtill, es wird glatt und eben. Geh jetzt zu deinen Zungen.“

Am Nachmittag, als Heinz widerwillig mit den Knaben in den Wald gezogen war, ließ Frau Ofter- wald Lisbeth zu ſich bitten. Sie hatte eine Taſſe Kaffee vor fidh ſtehen. Dahinein tauchte fie vorſorglich ihren Zwieback.

Dora ſaß am Fenſter und häkelte wie toll. Die Mutter hatte ihr verboten, zu reden.

Lisbeth aber hatte die weiße Bluſe angezogen, dazu einen weißen Muſſelinrock. Ihr ſilberflimmerndes Haar hatte ſie zu einer hohen Flechte aufgebauſcht. Macclean pflegte zu ſagen, daß dieſe Haartracht ſie beſonders kleide. Im goldenen Gürtel ſteckte ein Strauß friſcher Heckenroſen. Wie eine junge Siegesgöttin ſtand ſie vor den zwei verarbeiteten, vergrämten Frauen, ſtrah—

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lend von einem Überfhuß von Tatkraft und Lebens- freude, der ihre müden Seelen ſchmerzhaft blendete.

„Mein liebes Kind, kommen Sie. Setzen Sie ſich zu mir,“ begann Frau Oſterwald. „Sie fürchten ſich doch nicht vor mir?“

„Nein, Frau Oſterwald,“ ſagte Lisbeth lächelnd. „Heinz hat mir viel von Ihnen erzählt. Da habe ich Sie liebgewonnen und ihn dazu.“

„Nicht wahr, Sie haben meinen Zungen ſo recht von Herzen lieb?“

„Gewiß.“

„Sie wollen, daß er glücklich wird! Sind Sie ſicher, liebes Fräulein Braun, daß Sie ihm das Glück geben können? Sie müſſen einer bangen Mutter die Frage verzeihen.“ |

Lisbeth wurde rot. „Wir haben einander lieb,“ ſagte ſie einfach.

„Ja, ja. Aber ehe Sie ihn liebgewannen, ging da nicht Ihre Neigung andere Wege? Ich wenigſtens weiß mir den mörderiſchen Anfall auf meinen Sohn nicht anders zu erklären. Durch Sie, nur durch Sie konnte er in die Gefahr geraten, aus der Sie ihn gerettet haben.“

Lisbeth ſah auf. Wie die unruhigen Augen des Mädchens am Fenſter fie anfunkelten! Das war un- verkennbare Feindſchaft.

„Macclean ift mir ein Freund und guter Kamerad geweſen,“ antwortete ſie feſt. „Ein Verſprechen hab' ich ihm nie gegeben.“

„Er mag ſich dieſe Freundſchaft zwiſchen einem Mann und einem jungen Mädchen wohl anders ge— deutet haben. Sie war ſehr unvorſichtig.“

Lisbeth biß die Zähne zuſammen und ſchwieg. Es war ſeine Mutter, die ſprach.

2 Novelle von Luiſe Weſtkirch. 157

„Nun, Sie werden wohl ſelbſt Ihr Unrecht ein- geſehen haben und bitter bereuen?“

„Ich hab' nichts zu bereuen,“ antwortete Lisbeth raſch. „Es ijt nichts Anrechtes geweſen zwiſchen mir und Macclean. Er hat mich liebgehabt und Heinz auch. Dafür kann ich nichts.“

Dora räuſperte ſich. „Sie verſteht dich gar nicht, Mutter.“

Frau Oſterwald ſchüttelte betrübt den Kopf. „Sie ſind wirklich ganz anders, als ich Sie mir vorgeſtellt hab', Kind,“ ſeufzte ſie.

„Ja,“ ſagte Lisbeth tapfer, „das fühl' ich wohl, daß ich anders bin als Sie und als Heinz auch. Aber als er mir von Ihnen, von ſeiner Kindheit, ſeiner Familie ſprach, da hat mich die Sehnſucht gepackt. Ich hab' ein Elternhaus ja nie kennengelernt. Ich bin wie eine Waiſe aufgewachſen ſchlimmer. und“ ihre Stimme wurde weich „Heinz verhieß mir, daß ich in Ihnen eine Mutter finden würde, Frau Ofter- wald. Eine Mutter! Zch weiß ja gar nicht, wie das iſt, eine Mutter haben.“

„Gewiß, mein Kind, gewiß will ich Ihnen Mutter ſein, wenn Sie es wünſchen und und verdienen. Das aber kann ich nicht verhehlen, daß mich die Grund- verſchiedenheit Ihrer Auffaſſung vom Leben und der Lebensauffaſſungen, die bei uns gelten, in denen mein Heinz aufgewachſen und erzogen worden iſt, beſorgt macht.“

„Wir haben einander lieb,“ wiederholte Lisbeth.

Die Häkelnadel in Doras Hand machte zornige Sprünge. Die mit ihrer einfältigen Liebe! Ein ſchöner Haushalt würde das werden! Die Perſon mit ihrer Tingeltangelfriſur und ihren ſonderbaren Freund—

ſchaften brauchte nur einmal der Frau Rektor über

138 Die Welt der anderen. a

den Weg zu laufen, dann konnte Heinz feine Bücher einpacken und Stadtreiſender in Stiefelſchmiere werden. Mutter war viel zu ſchwach! Wenn ſie ſelbſt doch reden dürfte!

Frau Oſterwald ſeufzte noch einmal. Dann ent— ſchloß ſie ſich. „Mein Kind, ich nehme an, daß Sie, wenn auch verſchieden von dem Bild, wie wir in unſeren Kreiſen uns junge Mädchen vorſtellen und wünſchen, doch das Herz auf dem rechten Fleck und ein feines Empfinden für Recht und Gerechtigkeit haben. Sie ſagen, Sie waren ganz frei, als Sie Ihr Herz meinem Heinz ſchenkten. Ich will es glauben. Bei Heinz, ſehen Sie, iſt das anders. Sie müſſen, um zu dem zu ge— langen, was Sie als Ihr Glück betrachten, ein fremdes Glück vernichten. Wollen Sie das??

„Das verſtehe ich nicht.“

„Heinz war ſeit Jahren einem lieben Mädchen, einer Zugendgeſpielin, in herzlicher Neigung verbunden. Hat er Ihnen nicht davon geſprochen?“

„Nein.“

„Wir haben ſie als ſeine Braut betrachtet.“

Lisbeth ſchwieg einen Augenblick. „Heinz tut es nicht,“ ſagte ſie dann ruhig. |

„Er hat es getan, bis er Sie kennen lernte. Das Mädchen hängt mit ihrer ganzen Seele an ihm. Wenn Sie ihn ihr nehmen, wird ſie unſäglich darunter leiden. Es kann ſein, daß ſie daran ſtirbt. Wollen Sie dieſe Schuld auf Ihr Gewiſſen laden?“

„Was kann ich dabei tun?“

„Was Sie dabei tun können?!“

„Ich kann Heinz doch nicht zwingen, ſie liebzu— haben.“

„Liebe! Liebe! Sie ſprechen immer von Liebe. Von Pflicht ſcheinen Sie nichts zu wiſſen. Aber, mein

D = Novelle von Luife Weſtkirch. 139

Kind, Liebe vergeht, Recht beſteht. Es ruht kein Segen auf unrechtem Gut. Ich hatte auf meine Mitteilung eine andere Antwort von Ihnen erwartet. Da Sie fie nicht ſelbſt finden wollen, muß ich Sie darauf bin- weiſen. Liebes Fräulein Lisbeth, geben Sie meinen Jungen frei. Sie paſſen nicht zu ihm. Nimmer werden Sie Ihr Glück als ſeine Frau finden. Um ſeinetwillen, um Ihretwillen, um unfer aller willen geben Sie ihn frei!“ i

Lisbeth ſprang auf, mit Blut übergoſſen, empört. „Alfo das war der Zweck dieſer Unterredung! Sie wollen die Schwiegertochter, die Ihnen nicht gefällt, aus Ihrer Familie ausmerzen! Aber eine Heirat iſt eine Sache zwiſchen Mann und Frau allein. Nicht um ſeiner Mutter willen, nicht um eines Mädchens willen, das Heinz einmal liebgehabt hat, trenne ich mich von ihm. Solange er mich liebhat, ſolange ich ihn lieb— habe niemals!“ |

„And wenn er aufhört, Sie zu lieben? Er wird aufhören!“

„Wenn er mich nicht mehr liebhat, dann iſt Heinz frei.“

„Auch wenn er inzwiſchen Ihr Mann geworden iſt?“

„Einen Mann feſtzuhalten, der nach mir nicht fragt, würde ich mich unter allen Umftänden ſchämen unter allen! Ich kann mir nicht vorſtellen, daß das Mädchen, von dem Sie ſprechen, anders empfindet.“

„Nicht einmal die Ehe gilt Ihnen für heilig?“

„Wenn zwei Menſchen nicht einer den anderen über alles lieben, dann iſt es jederzeit beſſer, ſie trennen ſich.“

Der alten Frau liefen die Tränen über die Wangen. „Und mit dieſen Grundſätzen wollen Sie meines Heinz Frau werden? Es liegt da ein Weltmeer zwiſchen Ihnen und uns!“

140 Die Welt der anderen. el

Dora hielt nicht mehr an fih. „Ich hab' dir's vorausgeſagt, Mutter, du redeſt in die Luft. Fräulein Braun hat beſchloſſen, Frau Oſterwald zu werden.“

Ehe Lisbeth antworten konnte, hob Frau Oſterwald abmahnend die Hand. Es lag eine ſchlichte Hoheit in der Bewegung.

„Meine Kraft iſt zu Ende. Mein liebes Fräulein, erwägen Sie ſtill für ſich meine Worte. Ich will Gott bitten, daß er uns alle erleuchten und dieſe Not zum Guten wenden möge. Ich kann nicht mehr.“

Dora ſprang zu und fing die Frau auf, die wankte.

Lisbeth ging ſtumm hinaus, verwirrt, befangen von der Echtheit dieſes Schmerzes, der in ihre heiß auf- flammende Empörung über die Aufnahme, die die Nächſten ihres Heinz ihr bereiteten, dämpfend fiel wie ein kalter Waſſerſtrahl in Feuersglut. Jedenfalls die alte Frau log nicht. Sie ſagte, wie ſie empfand, wie die Erfahrung eines langen Lebens es ſie ſehen ließ. War denn der Schatten eines Grundes für ihre Befürchtungen vorhanden? Lag wirklich, wie fie ſagte, ein Weltmeer zwiſchen Lisbeth Braun und Heinz Oſter- wald? Würde er einmal aufhören, ſie zu lieben? Oder liebte er im Grund ſeines Herzens doch die andere, die nicht ein Weltmeer von ihm ſchied? Eine heiße Angſt packte ſie. Aber ſie wollte ſich nicht verwirren laſſen. Nur Heinz konnte das Wort ausſprechen, das ſie von ihm trennte, nur er. Oh, ſie liebte ihn jetzt fühlte ſie erſt ganz, wie ſehr ſie ihn liebte, den Ton ſeiner Stimme, ſein dunkles Haar, den verträumten Blick ſeiner Augen! Nein, ſie ließ ihn ſich nicht ent— reißen!

Sie war in den verwilderten Garten gegangen, ſaß auf dem Brunnenrand, neben dem ſchwül duftend die weißen Lilien blühten, den Ellbogen auf das Knie

o Novelle von Luiſe Weſtkirch. 141

ſtützend, den Kopf in der Hand, die achtlos das hoch- gebauſchte Haar zerwühlte.

Die Zeit verrann, die Schatten wurden länger.

Auf den Arm ihrer Tochter geſtützt, wandelte Frau Oſterwald den breiten Weg vor dem Gaſthaus auf und nieder, eine gebeugte Geſtalt, umwallt von ſchwarzem Gewand und ſchwarzem Schleier, traurig, hoffnungs- los, ein düſterer Fleck in der ſonnigen Landſchaft, ein düſterer Schatten auf dem Leben eines frohen Men- ſchenkindes.

Lisbeth ſah ſie wandeln und rührte ſich nicht.

Aber jetzt trappelten junge Füße. Heinz brach an der Spitze ſeiner Schar aus dem Holz. Haſtig ſchritt er aus, dann blieb er ſtehen und ſchickte ſeine Zöglinge voran in das Haus.

Lisbeth ſprang auf. Sie wollte zu ihm, ihm klagen, was die Seinen ihr angetan hatten. Seine Entſchei— dung wollte ſie hören.

Da hatte er ſchon Mutter und Schweſter erreicht. Sie vernahm ſeine Stimme. Aufregung klang daraus.

„Mutter! Denk doch! Schulrat Doktor Wallenrodt ijt hier! Hier in Olhauſen. Eben beſichtigt er die Bohr- werke. Ingenieur Börnholm hat mir's zugerufen. Er will auch die Ferienkolonie inſpizieren.“

Die gebeugte Geſtalt der Mutter richtete ſich auf. „Schulrat Wallenrodt! Das kann entſcheidend für deine Zukunft werden, mein Junge. Seine Empfehlung könnte dir die Stelle ſchaffen, die du erſtrebſt. Sieh nur zu, daß du gut vor ihm abſchneideſt. Wie kommt er denn hierher?“

„Er beſucht Freunde auf einem benachbarten Gut. Da ſieht er im Vorbeigehen gleich nach dem Rechten hier. Der gönnt ſich ja keine Ferien.“

„Wenn du ihn nur zufriedenſtellen kannſt! Hier

142 Die Welt der anderen. o im Haus ſcheint manches nicht zu fein, wie es ſollte.“

Da Stand Lisbeth neben ihm in ſtolzer Entſchloſſen— heit. Nicht unter vier Augen, nein, vor Mutter und Schweſter wollte ſie ihn fragen, ſollte er ihr darauf antworten, ob auch er einen Abgrund ſah zwiſchen ſich und ihr. Und wenn es ſolch einen Abgrund gab, ob er feiner Liebe nicht die Schwingen zutraute, ihn dar- überzutragen.

„Heinz!“

„Lisbeth, denk doch, der Schulrat kommt!“

Wie ihm die Augen unruhig hin und her fuhren! In dieſem Augenblick erinnerten ſie an ſeiner Schweſter Augen.

„Heinz! Deine Mutter ſagt du ſollſt mir Ant- wort geben —“

„Nachher. Ich muß jetzt ins Haus. Der Schulrat ift hier. Mein Vorgeſetzter, verſtehſt du.“ Jetzt erft ſah er ſie an. „Wie ſiehſt denn du aus?!“

Ihr weißes Feiergewand fiel von Hals und Armen zurück, ihr Haar floß in ſilberner Flut zerzauſt um ihre Stirn. Die Wangen waren von Erregung gerötet, die Augen dunkel vor Leidenſchaft. Sie war ſehr ſchön in dieſer Stunde, aber von der Schönheit einer Bachan- tin. Und Heinz ſah ſie durch die Augen des geſtrengen Schulmannes.

Er entrüſtete ſich. „Ich bitte dich wie ſiehſt du aus?“

„Was denn? Wie fep’ ich denn aus?“

Ein feiner alter Herr trat aus dem Föhrenholz.

„Der Schulrat! Da iſt er ſchon. Ich muß ihn begrüßen.“ Er wandte ſich noch einmal zu Lisbeth. „Laß dich nicht vor ihm ſehen! Tu mir den einzigen Gefallen, verſteck dich!“

a Novelle von Suite Weſtkirch. 143

Er ſtürmte fort.

Sie verſtand nicht. Wie hatte er ſie nur angeſehen? War, was aus ſeinen Augen ihr entgegenſprühte, Zorn oder gar Verachtung? Verachtung ihr! Von ihm!

Verſteinert, ungläubig ſtand ſie.

Inzwiſchen kamen die beiden heran. Es war nicht mehr möglich, zu entfliehen, wie Heinz forderte. Warum auch? Der alte Herr hatte ein liebes, kluges Geſicht. Sie war in ihrer Wirtſchaft mit Schlimmeren fertig geworden. |

„Alſo, Herr Oſterwald, Sie haben die Freude, Ihre Frau Mutter und Ihr Fräulein Schweſter hier zu Be— fuch zu haben? Das ift recht,“ ſagte Wallenrodt freund- lich. „Darf ich bitten, mich mit den Damen bekannt zu machen?“

Heinz ſtellte vor. „Herr Schulrat Wallenrodt. Meine Mutter, meine Schweſter.“

Des Schulrats kluge Augen wanderten fragend weiter auf Lisbeth in Bewunderung oder Verwunde— rung.

Heinz in ſeiner Erregung glaubte letzteres. Er ſchleuderte Lisbeth einen Zornesblick zu. Hatte ſie denn kein Zartgefühl, daß ſie blieb, nachdem er ſie gebeten hatte, zu gehen? Aber er mußte ſprechen, erklären, wie dieſes auffallende Mädchen auf dieſe Stelle, an ſeine Seite, neben ſeine Mutter, ſeine Schweſter kam.

Er ſchluckte. Dann ſagte er kurz entſchloſſen: „Fräu— lein Braun unſere Wirtin.“

So. Das war gut. Für die Wirtin trug er keine Verantwortung. |

Der Schulrat machte eine höfliche Verbeugung und wandte fih an Frau Oſterwald mit einer Frage nach ihrer Geſundheit.

144 Die Welt der anderen. o

Lisbeth ſtand einen Augenblick wie eine Bildſäule. Das Blut ſchoß ihr glühend bis unter die blonden Haarwurzeln.

„Fräulein Braun unſere Wirtin!“

Wie ein Schlag trafen fie die Worte, wie ein Blitz- ſchlag in einer einzigen Sekunde erhellend, was un- durchdringlich dunkel vor ihr gelegen hatte. Sie brauchte ihre Frage nicht mehr zu ſtellen. Der Mann, den ſie liebte, hatte ihr die Antwort gegeben, klar und un- zweideutig: er ſchämte ſich ihrer. Er verleugnete ſie vor den Menſchen ſeiner Kaſte. Die alte Frau hatte die Wahrheit geſprochen: ein Weltmeer lag zwiſchen ihm und ihr, und ſeine Liebe hatte nicht die Flugkraft, ihn darüberzutragen.

Sie hörte nichts weiter. Als der liebenswürdige alte Herr ſich umwandte, um auch ihr ein freundliches Wort zu ſagen, war ſie fort. Wortlos hatte ſie ſich gewandt, war gelaufen, rafcher, immer raſcher, je weiter ſie kam, als könnte ſie durch ihr Rennen den raſenden Schmerz übertäuben, der in ihr wühlte.

Irgendwo im tiefſten Wald warf ſie ſich zur Erde, grub die Finger in das Moos, um nicht zu ſchreien.

Es war aus. „Meine Mutter, meine Schweſter Fräulein Braun, unſere Wirtin!“ Ein Nichts. Doch entſcheidend. Denn es ſchob ſie weg von ihm und den Seinen, nicht in Zorn, nicht in Erbitterung darüber führen hundert goldene Brücken ſeliger Verſöhnung nein, ganz mechaniſch, inſtinktmäßig. Die gehört nicht zu uns, die iſt fremd. Glaub ja nicht, die ſei von unſerer Art. Und der önſtinkt ift unfehlbar, unbelehrbar. Was er verwirft, das bleibt verworfen, wie auch Verſtand und Gemüt ſich mühen, es annehmbar zu machen.

Sie hatte keinen klaren Gedanken, nur das Be- wußtſein des Geſchehenen, zwei Bilder, ſchmerzhaft

o Novelle von Luiſe Weſtkirch. 145

brennend vor geſchloſſenen Augen: im ſchwarzen Föhrenwald die mondſcheindurchflimmerte Lichtung, ſie ſelbſt, die Mündung der Piſtole richtend auf einen, der auf ſtarken Armen ſie mit ſich hinaustragen wollte aus der Schmach und Pein ihres Vaterhauſes und dann das weiße Gaſthaus im Abendſonnenſchein, die Gruppe Menſchen davor, und Heinz, der, ohne mit der Wimper zu zucken, vorſtellte: „Fräulein Braun un- ſere Wirtin!“ |

Die Schatten wurden lang. Die Sonne ſchwand in violettem Dunſt. Sie hob den Kopf nicht. Sie wollte nicht heim. Nur Heinz nicht wiederſehen! Viel- leicht glaubte er, er ſei ihr Dank ſchuldig geworden, und wollte ihr die Heirat als eine Art Zahlpfennig hinwerfen. Nein, nein, der Mann, der fie nicht liebhatte über Vor- geſetzte, Stellung, Mutter, Schweſter hinweg, hinweg über Pflicht und Recht dazu, der war ihretwegen frei wie der Vogel in der Luft! Sie würde ihn nicht halten, nicht mit der Nagelſpitze des kleinen Fingers würde ſie ihn halten! Frau Oſterwald konnte zufrieden ſein.

Der Mond am hohen Himmel begann Glanz anzu- nehmen, als eine ruhige, kühle Stimme ſie aufſchreckte.

„Schon ſo weit? Ich erlaube mir feſtzuſtellen: das iſt ſehr früh.“

Sie hob den Kopf, ungläubig ſtarrte fie die bagere, raſſige Geſtalt des jungen Bohrmeiſters an. Sein rechter Arm lag feſtgeſchient in einer Binde.

„Andrew Macclean! Sie?“

„Da Sie nicht zu mir kommen, muß ich wohl Sie aufſuchen. Ich habe heute kein Fieber. Was ſoll ich in meinem Bett? Für einen alten Trapper war es

nicht ſchwierig, Ihre Fährte zu finden.“ Sie ſtand jetzt auf ihren Füßen vor ihm, zupfte das Gras und Moos von ihrem Kleid und verſuchte das 1913, IX. 10

146 Die Welt der anderen. 2

wirre Haar aus der Stirn zu ſtreichen in einer ſchmerz— lichen Scham, die ſie ſtumm machte.

„Sie ſchießen ſchlecht, Miß Lisbeth, oder Sie ſind febr unbarmherzig. Es würde verſtändiger geweſen ſein, mich gleich totzuſchießen als zum Krüppel zu machen. Wiſſen Sie wohl, ich werde ein Vierteljahr lang meinen rechten Arm nicht gebrauchen können, und wer kann ſagen, ob er je wieder ganz gelenkig werden wird? Für mich iſt das eine große Behinderung.“

„Vergeben Sie mir, wenn Sie können,“ ſtammelte ſie. „Wenigſtens habe ich Sie davor bewahrt, ein Mörder zu werden.“

Er lachte hart. „Ein Mörder! An dem Greenhorn, dem Schulmeiſter, doch wohl nicht!“

„Sie hoben die Hand —“

„Damit er ſtehen bleiben ſollte. Ich hatte ihm ein Wort zu ſagen.“

„Und in Ihrer Hand blitzte ein Gegenſtand.“

„Es war mein elektriſches Feuerzeug. Nein, kein Browning, auch kein Bowiemeſſer gar keine Vaffe!“

„Sie hatten geſchworen, Sie würden ihn um— bringen!“

„Ja, um ein kleines Mädchen zu erſchrecken, ſagt man ſchon einmal ſo etwas.“

„Es wäre alſo nicht Ihre Abſicht geweſen, Heinz Oſterwald —“

„Sollt' ich aus dem ſchlappen Kerl einen Helden machen in Ihren Augen?! Tote Menſchen benehmen fih immer wundervoll, o yes! Ein Mann muß durch- aus lebendig fein, um ſich bis auf die Knochen bla- mieren zu können. Das ſcheint Miſter Oſterwald be- reits gründlich beſorgt zu haben.“

„Oh, wenn Sie nicht dieſe Abſicht hatten, wie lächerlich bin ich dann!“

2 Novelle von Luiſe Weſtkirch. 147

„Der Tag Ihrer Hochzeit mit dem Sirupmann iſt wohl noch nicht feſtgeſetzt?“

Sie warf ſich wieder auf den moosbewachſenen Hang, ſchlug die Hände vors Geſicht und begann wild

zu ſchluchzen.

Er ſetzte ſich ihr gegenüber auf einen Föhrenſtamm, der krumm gebogen war wie eine Bank. Leiſe pfeifend wiegte er ſich auf dem ſchwanken Sitz und wartete.

Sie hob endlich den Kopf und wiſchte mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen. „Sie haben ein Recht, mich zu verſpotten, Macclean. Ich hab' mich betragen wie eine Närrin. Aber jetzt bin ich wieder vernünftig, geſund ganz geſund.“

„Es freut mich, das zu hören.“

Sie ſtand auf. „Und ſo wollen wir Abſchied nehmen. ich wage nicht, Sie um Verzeihung zu bitten. Sie müſſen mich jetzt haſſen —“

„Doch nicht wegen des Heinen Kratzers am Arm?“ unterbrach er ſie. „Meine liebe Miß Lisbeth, wer Katzen kennt, weiß, daß ſie Temperament haben und bei weitem nicht ſolch gefahrloſe Kameraden ſind wie zum Beiſpiel Kanarienvögel. Indeſſen, wen einmal die Paſſion für die wilden und graziöſen Geſchöpfe gepackt hat, der kommt nicht ſo leicht davon los. Solch kleiner Tatzenhieb ijt das Salz der Zuneigung. Ernit- haft geſprochen: ich war Ihr Freund ich bin noch Ihr Freund. Setzen Sie ſich wieder hin und ſagen Sie mir, was hat's gegeben?“

„Gegeben hat's nichts, gar nichts. Bloß, Sie haben recht behalten: was ihn zu mir zog, ihn glauben machte, daß er mich liebhätte, war einzig, daß ich anders bin als er, ganz anders, als ich ſein müßte, um in ſeiner Welt leben zu können. Und mit mir iſt's das gleiche. Dazu bin ich ſtolz. Er denkt vielleicht, ich hätte keine

148 Die Welt der anderen. o

Urſache, ſtolz zu fein Vaters wegen. Aber ich bin ich, Andrew Macclean! sch hab' meinen Wert für mich. Dem nehmen die Schulden auf Waldheim nichts und nichts meines Vaters Unglück. Mich foll man abſchätzen, mich ſelbſt, nicht meine Verhältniſſe, meine Familie!“

„All right. Das iſt auch meine Anſicht. Aber es iſt nicht die Anſicht der anderen, der Leute, zu denen Miſter Oſterwald gehört. Haben Sie ſich mit ihm ausgeſprochen?“

Sie ſchüttelte den Kopf mit einer Bewegung der Abwehr. „Es braucht's nicht. Alles iſt aus.“

„Und was wollen Sie nun tun?“

Sie ſah mit ratloſem Blick in den Mond, der jetzt hell ſtrahlte, und um fih her, wo über dem Boden der weiße Nebel ſtand.

„Ich weiß nicht.“

„Sie müſſen doch eine Idee haben, einen Gedanken, einen Wunſch.“

„Ich weiß nichts.“ Und nach einer Weile: „Ich möchte fort ja, das möcht' ich! Weit fort von all dem. Neu anfangen anderswo. Zch glaube wohl, daß das Leben mir noch etwas ſchuldig iſt. Ich glaube auch, daß ich noch etwas aus mir machen könnte und wieder froh werden ſpäter. Jetzt ift mir wie einem Rind, das fih verlaufen hat. Ich kenn' mich nicht mehr aus. Ich hab' keinen Mut. Die Dinge, die Verhält- niſſe, die Menſchen ängſtigen mich, und ich mag nicht beim. Ich mag ihn nicht wiederſehen! sch ſchäme mich. Zch ſchäme mich tot!“ |

„Sie ſchämen fih?“ `

„Daß ich fo dumm war! Daß ich glauben konnte glauben, ein Menſch könnte fein ganzes Hielen plöß- lich umkrempeln wie einen Handſchuh! So, bis heute

2 Novelle von Luiſe Weſtkirch. 149

war ich rechts, nun gefällt's mir, links zu ſein. Sich ſo was einzubilden! Ja, ſchöner mag's wohl ſein, als ſchneeweißer Schwan ſtolz ſeine Kreiſe auf glattem Teich zu ziehen. Eine Wildgans bleibt darum doch ihr Lebtag eine Wildgans.“

Macclean nahm ihre Hand. „Mik Lisbeth, ift es Ihr Ernſt, daß Sie nicht in Ihr Haus zurückkehren, daß Sie den Schulmeiſter nicht wiederſehen möchten?“

„Ein paar Jahre meines Lebens gäb“ ich drum! Aber —“

„Very well. Sie kennen meine Empfindung für Sie Nein, ich habe nicht den ſchlechten Geſchmack, Sie heute abend davon zu unterhalten. Ich will bloß ſagen: ich bin der nächſte Menſch für Sie im Leben und wenn Sie nicht heim wollen, nicht aushalten wollen in dem Haus Ihres Vaters ich bin überzeugt, Sie würden darin zugrunde gehen —, ſo packen Sie das Notwendige zuſammen. Fahren Sie noch in dieſer Nacht nach Bremerhaven. Der „‚Oeutſche Kaiſer“ geht morgen früh nach New Vork in See. JH will Ihnen die Adreſſe von einem einfachen Boardinghaus mit- geben. Da wohnen Sie. Wenn ich dann in vierzehn Tagen nachkomme, werden Sie mit ſich im klaren ſein. Wollen Sie dann meine Frau werden all right. Und können Sie ſich nicht dazu entſchließen, dann iſt Amerika der rechte Platz für Sie. Sie werden ſich dort leicht auf Ihre Füße ſtellen und ein gutes Fort- kommen finden. Was Sie brauchen für Reiſe und Aufenthalt, ſchieße ich vor das verſteht ſich, da ich den Rat gebe. Was ſagen Sie?“

Sie fab ihn ungläubig an. „Ich foll diefe Nacht noch foll ich —“

Vor ihrem inneren Auge ſtand ihr Heim, der Bater, Tante Hanne, die ewig vergebliche Mühſal, die untilg-

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baren Schulden! Und Frau Oſterwald mit den wallen- den ſchwarzen Schleiern und den Seufzern und Heinz, der ſie verleugnete! All das hinter ſich laſſen können für immer, auslöſchen wie eine mißratene Schrift! Frei und froh auf fich geſtellt ein neues. Leben anfangen! Ja, der Mann vor ihr war wirk- lich ein Starker. Was er anfaßte, wurde leicht. Die Hinderniſſe rückten ihm aus dem Weg. Der andere ſchleifte wie Schlinggewächs endloſe Schwierigkeiten hinter ſich her und warf ſie ſeinem Lebenskameraden vor die Füße, daß er ſtolpern mußte.

Sie faßte mit beiden Händen des Amerikaners Hand, beugte ſich darüber, um in heißer Dankbarkeit ihre Lippen darauf zu preſſen. „Das wollten Sie für mich tun, Andrew Macclean? Sie für mich! Zegt noch! Was ſind Sie für ein Menſch!“

Er zog haſtig ſeine Hand zurück. „Wir wollen vom Geſchäft als vom Geſchäft ſprechen ohne Aufregung. Ich habe es Ihnen oft geſagt: ich tue nie etwas für einen anderen, nur für meinen eigenen Vorteil. Wollen Sie annehmen?“

„Ich tu', was Sie mich heißen. Blind trau' ich Ihnen. Und ich will Sie ſollen Ihre Gutheit nicht bereuen.“

„All right. Kein Verſprechen. Es könnte Sie reuen, Was Sie mir fagen wollen, fagen Sie mir in New Vork falls Sie dann noch die Abſicht haben. Wir müſſen jetzt Ihren Reiſeplan feſtſtellen. Ihr Zug geht um ein Uhr nachts. Um halb zwölf fährt ein Wagen vom Werk nach der Bahn. Ich werde Sie nicht hinbringen. Sie müſſen ganz frei ſein, zu gehen oder zu bleiben nach Ihrer Einſicht.“

„Ich gehe, Andrew Macclean. Sch gehe.“

u Novelle von Suite Weſttirch. 151

Der Schulrat hatte ſich außerordentlich anerkennend über die körperliche und geiſtige Pflege der Ferien- kinder ausgeſprochen. Heinz Oſterwald fühlte ſich groß, als ginge er auf Stelzen. Er hatte Gelegenheit ge- funden, dem wohlwollenden alten Herrn feinen Her- zenswunſch auszuſprechen, den Wunſch nach einer Lehrerſtelle, die ihm erlaubte, eine Familie zu gründen. Wallenrodt ſelbſt hatte ihn auf eine freiwerdende Stelle aufmerkſam gemacht, ihm ſeine Fürſprache bei der Bewerbung zugeſichert. Morgen wollte Heinz ſeine Eingabe machen.

Die Familie ſaß beiſammen. Mit leuchtenden Augen, mit geröteten Wangen ſprach der junge Lehrer von ſeinem Erfolg, von ſeinem Beruf. Das künftige Geſchlecht heranbilden, jedes einzelne junge Reis ziehen nach feiner Eigenart zu der ihm eigenen Volltommen- heit, ſchien ihm eine Nachahmung von Gottes Schöp- fungswunder. Und weil er ſein ganzes Herz in ſein Amt legte, fühlte er ſich als ein Berufener.

Eine Weile hörten Mutter und Schweſter ſchweigend ihn ſchwärmen. Endlich ſagte Dora: „Was Heinz nur anfangen würde, Mutter, wenn er nicht mehr Lehrer ſein könnte?“

Der alten Frau begannen die Tränen ſchwer die Wangen herunterzurieſeln. „Ja, Heinz, wie ſchön könnte dein Leben ſein! Wie glatt macht der liebe Gott in- ſeiner Gnade deinen Weg! Aber hoffſt du denn, ihn gehen zu können mit dem Mädchen, das du dir zur Frau erwählt haſt? Ach, ich fürchte, du ſelbſt haſt dir dein Glück zerſtört!“

Heinz fuhr zuſammen. Lisbeth war in feinen Ge- danken zurückgetreten über der Befriedigung, die ſeinem Berufsehrgeiz heute geworden war. Nun ſah er ſie vor ſich, wie fie vor dem Schulrat geſtanden hatte.

152 Die Welt der anderen. u

Und die Erinnerung war ein Erſchrecken. Aber er wäre nicht durch und durch Lehrer geweſen, wenn er nicht auf die Wunderkraft der Erziehungskunſt gebaut hätte.

„Wir werden Lisbeth bilden, Mutter,“ antwortete er zuverſichtlich. „Sie ift nicht unedel ein unge- ſchliffener Diamant. Laß dich die Mühe des Schleifens nicht verdrießen.“

Daß ſie ſich nicht zeigte, nahm er für ein gutes Zeichen. Sie ſchämte ſich. Er ſuchte ſie auch nicht auf. Sie war ſeinem Gebot ungehorſam geweſen, Strafe gehört zur Zucht. Und er wehrte Dora, ſich nach ihr umzuſehen.

Zuletzt wurde er aber doch unruhig und fragte Tante Hanne.

„Sie wird längſt im Bett ſein,“ meinte die Alte.

Er ging dann auch auf ſeine Kammer. Mit was für einem Gefühl von Geborgenheit würde er ſich heute in die weißen Bettſtücke geſtreckt haben, wenn er den eigenſinnigen Kopf unter der ſilberblonden Haarflut nie geſehen hätte! Wenn die letzten vierzehn Lebens- tage ein wüſter Traum geweſen wären! Dann würde ſeine arme, kränkelnde Mutter heute ſeit Jahren die erſte reine Freude fühlen. Dann würden Ellis ſcheue, zärt- liche Augen aufſtrahlen in neuem Glanz. Eine Stunde ſtolzer Wonne wär's, wenn er ſie von ihren Eltern forderte, den Hochzeitstag feſtſetzte. Wohin er mit dieſer Frau ſich auch wenden mochte, der Beifall von Vorgeſetzten und Kollegen würde ihn begleiten. Ja, glatter würde fein Leben hinfließen, wenn er Ölhaufen und Lisbeth Braun nie geſehen hätte! Aber er hätte die Empfindungen und Begebniſſe der letzten Wochen doch nicht wegſtreichen mögen aus ſeinem Schickſal um vieles nicht!

Im Schlaf war es ihm, als ſei ein leiſes Gehen

u Novelle von Luiſe Weſtkirch. 153

im Haus, ein Kramen, Raſcheln. Eine Tür fiel ins Schloß, Räder rollten. Er ſchlief darüber ein.

Auch am Morgen zeigte Lisbeth ſich nicht. Frau Oſterwald fühlte fih verletzt, Dora redete von Rück- ſichtsloſigkeit. Heinz wurde unruhig.

„Aufs Feld hinaus wird ſie ſein,“ beſchied die Tante gleichgültig. Sie hatte alle Hände voll mit ihrem Bruder zu ſchaffen. Sein Abendtrunk war tief ge- weſen, es ging ihm ſchlecht.

Am Nachmittag, als Frau Oſterwald ſchon zur Ab- reiſe rüſtete, kamen mit der Poſt zwei Briefe: an Tante Hanne, an Herrn Lehrer Heinrich Oſterwald. Lisbeths Handſchrift. Poſtſtempel Bremerhaven.

Das Herz des jungen Lehrers tat ein paar haſtige Schläge. Dann zerriß er den Umſchlag und las: „Ich ſchreibe Dir vom Bord des ‚Deutichen Kaiſer“. Leb wohl. Ich hab' Deine Augen geſehen, als der Schul- rat bei Dir ſtand. Die ſagten mir deutlich: Du biſt aus der einen Welt, ich bin aus der anderen. Es führt keine Brücke von Dir zu mir. Darum gehe ich. Ich will Dir Dein Leben nicht verderben. Du ſollſt mir auch meines nicht verderben. Gib Dich dem Mädchen Deiner Art, das Dich liebhat auf Deine Art. Und forg Dich nicht um mich. Sc ſehe meinen Weg und gehe ihn ohne Furcht. Ein Freund weiſt ihn mir und hilft mir ihn gehen. Wenn Du dieſen Brief erhältſt, bin ich auf hoher See. |

Wir ſtehen an zwei verſchiedenen Ufern, Heinz Oſterwald, und das Waſſer zwiſchen uns iſt tief. Kein Menſchenverſtand und kein Menſchenwille kann die Brücke ſchlagen zwiſchen Deiner und meiner Welt. Darum leb wohl. Lisbeth Braun.“

Einen Augenblick empfand Oſterwald einen heftigen Schmerz. Es demütigte ihn, daß wieder ſie, das Weib,

154 Die Welt der anderen. u

ohne zu fragen, ohne zu zögern, ihr und ſein Schickſal entſchied, das Band zwiſchen ihnen zerſchnitt, bevor er ſich noch klar geworden war, ob es wünſchenswert ſei, es zu zerſchneiden. Und zugleich umgab dieſe ſchnelle, kraftvolle Entſchloſſenheit, der Charakterzug aus einer Welt, die anders war als ſeine, das Mädchen mit ſeltſam feſſelndem Reiz. Stolzer, reiner ſah er ihr Bild, da es ihm in die Ferne rückte. Wehmut ergriff ihn, daß er nicht die Kraft gehabt hatte, ſie zu halten. And auch Eiferſucht miſchte ſich brennend ein auf den Freund, der ſie leitete, dem ſie ſich anvertraute.

Aber aus dem wunderlichen Gemiſch feiner Emp- findungen, aus Zorn, Enttäuſchung, Eiferſucht, Be- wunderung, rang doch ſchon ganz ſacht und wohltuend wachſend ein Gefühl unendlicher Erleichterung fih her- vor, ehrliche Freude, daß ſein Beruf ihm blieb, un- gefährdet der Wirkungskreis, der ſeiner Eigenart gemäß war, und ein wunderbar zärtliches Schützergefühl dazu, wenn er an Elli dachte. Das Leben der lieben Kleinen würde er mit Glück überſchütten. Die andere, Willens- ſtarke bedurfte ſeiner nicht. Es war wohl, wie ſie ſagte: zwei Welten und keine Brücke von der einen zu der anderen. Nur in ſehnſüchtigen Träumen ſchwingen ihre Bürger ſich hinüber, herüber. Die Leiber derer, die es in Wirklichkeit verſuchten, decken die Waſſer der Tiefe. | |

Lange ſaß er einſam ſinnend, mit fidh ringend in feiner Kammer. Dann ging er hinunter und gab Frau Oſterwald den Brief.

„Wir wollen den Himmel preiſen, Mutter. Ich glaube, er hat's weiſe gemacht.“

*

Dienſtbotentrachten.

von Ola Alſen.

Mit 11 Bildern nach n Originalvorlagen. Di immer mehr fortſchreitende Anderung aller ſozialen Verhältniſſe hat auch zu einer erheblichen Anderung des Verhältniſſes zwiſchen Dienſtboten und Herrſchaft geführt. Die Rechtsauffaſſung der alten, zwar formell noch in Geltung befindlichen, in Wirt- lichkeit aber überlebten Geſindeordnung ſteht immer weniger im Einklang mit der Rechtsſtellung, die die heutigen Dienſtboten nicht ganz mit Unrecht für ſich in Anſpruch nehmen, und unſere Hausfrauen werden ſich immer mehr entſchließen müſſen, dem Zug der ſozialen Geſetzgebung folgend, das Verhältnis zum Dienſtboten nach den Grundſätzen des Vertrages einzurichten.

Naturgemäß hat die veränderte rechtliche Stellung des Geſindes auch tiefgreifende Anderungen ihrer Stellung im Hauſe zur Folge. Es mutet uns an wie Überrefte der patriarchaliſchen Verhältniſſe aus der Zeit, in der das Geſinde noch wirklich zur Familie ge- hörte, wenn wir ſehen, wie die Dienſtboten auch in ihrer äußeren Erſcheinung den Wohlſtand und die geſellſchaftliche Stellung ihrer Dienſtherrſchaft gekenn zeichnet haben. Es beſtehen heute auch noch einige von der guten Geſellſchaft anerkannte Vorſchriften über

nachoͤruck verboten.)

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156 Dienftbotentrachten. o

die Kleidung von Dienſtboten. Als aber in Amerika der Vorſchlag gemacht wurde, eine Livree für Dienit- mädchen einzuführen, fand diefe Idee in Oeutſchland keinerlei Sympathie. Es wäre dadurch eine neue Laſt für die Hausfrau entſtanden, die ſich in den meiſten Fällen gerne mit einwandfreier Sauberkeit beſcheidet.

Die verwickelten Unterſchiede früherer Zeiten wären für das Tempo unſeres Jahrhunderts undenkbar. Die Magd in Nürnberg hatte im Mittelalter eine vor- ſchriftsmäßige Tracht, wenn fie am Brunnen Waffer ſchöpfte, das Kind ſpazieren führte oder Hochzeits- geſchenke in das Feſthaus brachte. Wenn ſie gar bei einer Hochzeit bediente, zeigte ihr Anzug einen um- ſtändlichen und anſpruchsvollen Aufwand, deſſen Koſten natürlich von der Herrſchaft getragen wurden. Durch die reichen Spitzenrüſchen und Spitzenvolants, die blendenden Krauſen und faltenreichen Schürzen er— wieſen ſie den Wohlſtand des Hauſes.

In ähnlichem Aufputz trug eine Augsburger Magd die Hochzeitsgeſchenke in einem großen Korb. Der koloſſale Aufputz iſt das Zeichen der Feierlichkeit, der ſich vor dem Alltagsgewand auszeichnete.

Merkwürdig war das Kleid einer Danziger Dienſt- magd, die über der feſten Taille einen breiten Kragen und eine gekrauſte Halsrüſche trug. Im Schwabenland muß das Vertrauen der Hausfrau recht groß geweſen ſein, denn die Köchin prahlte unter ihrem aufgeſchürzten Rock mit einem beträchtlichen Schlüſſelbund. In Hol- land und Flandern unterſchied ſich die Tracht nur ein wenig bei der üblichen Kopfbedeckung voneinander. Außerdem waren die Armelwülſte und Halskrauſen bei der holländiſchen Magd umfangreicher.

Reich und geſchmackvoll von dem mit Schleifen gezierten Schuh bis zu der mit Spitzen geſchmückten,

2 Von Ola Alſen. | 157

lang herabhängenden Haube wirkten die franzöſiſchen Jungfern aus der Zeit Ludwigs XIII. Wie da die

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Kammermädchen zierlich und geziert während des perſönlichen Dienſtes bei der Herrin ausſchauten, wie

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158 Dienſtbotentrachten. 0

man ihnen anſah, daß fie es wohl verſtanden, bei der langwierigen Toilettenkunſt geſchickt zur Hand

Eine Nürnberger Magd zur Hochzeit dienend.

zu gehen; ebenſolch netten Eindruck machte die Jungfer, der die Sorge für die Verwaltung der Wäſche oblag.

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Als ſpäter die Reifrockmode auftauchte, verbreitete ſie ſich in Paris bei den Dienſtboten mit ungeheurer Geſchwindigkeit, ſo daß die Mägde damit auf den Markt

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zum Einkauf gingen und am Herd kochten. Die deutſchen Frauen waren gegen ihre Küchenfeen weniger nach— ſichtig und ließen den niederen Ständen das Tragen des

160 | Dienſtbotentrachten. o

Reifrockes verbieten. In Dresden wurden zwei Oienſt— mädchen beſtraft, weil ſie im Reifrock die Kirche beſuchten.

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* Note entbehrte, einen guten Ruf, auf den ſie noch heute mit Recht ſtolz find. Das Kleinmädchen, gleich- 1913. IX. | 11

Dienſtbotentrachten.

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Bruſttuch und ihrer ſchutenartigen Haube machte einen beſonders adretten und anſprechenden Eindruck. Der Aufputz der Berliner Köchin aus alter Zeit, bunt und

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164 Dienſtbotentrachten. fe

eigenartig, mit roten Strümpfen und niedlichen Pan- töffelchen hat vielfache Anfeindungen hervorgerufen

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Pariſer Zofe aus der Renaiſſancezeit.

und ſtrenge Verbote im Gefolge gehabt. König Friedrich Wilhelm J., der Ordnung und Fleiß in ſeinem Lande

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haben wollte, erließ ein Edikt, „wonach nach Verlauf von ſechs Monaten nach Publikation keine Dienit- mägde mehr ſeidene Kamiſöler, Röcke oder Lätze tragen

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Hamburger Dienſtmädchen aus der Einpirezeit.

durften, ſondern wofern nach Ablauf ſolcher geſetzten Zeit dennoch welche damit betroffen würden, denſelben ſolche ſeidenen Kleider öffentlich auf der Straße ab— genommen werden ſollten“.

166 l Dienſtbotentrachten. 2

Hauptſächlich putzten ſich die Mädchen am Sonntag, und die Bauerndirnen, die mit einer zerriſſenen Schürze

Berliner Köchin aus der Biedermeierzeit.

und mit einer alten Haube in die Stadt gekommen waren, hatten bald den Wunſch, ſich in der Art vor—

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Hamburger Köchin aus der Biedermeierzeit.

nehmer Frauen zu kleiden. Statt der einfachen Haube ſetzten ſie ſich eine bebänderte auf, die man damals

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168 Dienſtbotentrachten. o

„Dormeuſe“ nannte. Einer ſolchen Haube folgte bald der gefaltete Rock und ein bekräuſeltes Tuch. Sie brannten ſich nicht nur das Haar, ſondern ſie verſuchten auch, durch Puder und Pomade ihre Reize zu heben. Als in Frankreich die Fontangen ſchon vollkommen un- modern waren, bildeten ſie noch den Ehrgeiz der deutſchen Magd, die ſich auf den Kopf hohe Türme baute, in die ſie Spitzen und Schleifen ſteckte. Das Dekolleté brachte das rote Korallenkettlein zur vollen Geltung, das die höchſte Eleganz beim Dienſtmädchen darſtellte.

Intereſſant iſt eine ausführliche Schilderung der Berliner Dienſtboten, beſonders ihres Kleideraufwan- des, die wir zu Ende der achtziger Jahre des 18. Jahr- hunderts in der „Berliniſchen Monatsſchrift“ finden, und in der erzählt wird, daß die Dienſtmädchen den Stutzern in Livree zum Geſpött wurden, wenn ſie nicht die engliſchen und franzöſiſchen Pas und alle Touren der Tänze zu machen wußten.

Am den Anſprüchen ihrer Kavaliere zu genügen, wurde deshalb in verſchiedenen Häuſern und Gärten Unterricht im Tanzen erteilt. Unter anderem hören wir von einem müßigen Schneidergeſellen, der für zwei Groſchen Unterricht im Tanzen gab. Dahin eilte nun öfter die Köchin vom Markt, ſetzte ihren Eimer vom Arm, ſpannte ihre Füße ins Fußbrett oder ſtolperte ſchwerfällig eine franzöſiſche Quadrille, indes ihre arme wartende Hausfrau in der rauchenden Küche ſchwitzte. |

Diefe Beziehungen forderten natürlich den Hang zur Uppigkeit in der Kleidung. Die Mägde begnügten ſich nicht mehr mit „Raſch“, einem geringen, leichten Wollſtoff, wie man ihn vorſchrieb. Die Kleiderver— ordnungen wurden übertreten, und ſeidenes Zeug

o Von Ola Alfen. 169

war an der Tagesordnung. Ihre Anſprüche an die Großmut der Herrſchaft, die ſich in Geſchenken äußern ſollte, waren auch nicht gering.

Machte die Tochter des Hauſes Hochzeit, ſo rechnete die Magd auf ein buntes Kleid, wurde die Herrſchaft ernſtlich krank, ſo hoffte ſie auf ein Trauerkleid und war ſehr betrübt, wenn der Senſenmann an der Tür vorbeiging.

*

Die Entführung. Eine moderne Muſtererzählung. von heinrich Binder.

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(Nahöruf verboten.)

ch haſſe nichts mehr als die Ungenauigkeit, mit der deutſche Dichter Erlebtes und Geſchautes wiedergeben.

Viele Erzählungen beginnen: „Es war an einem Sommerabend.“ Oder auch, wenn der Dichter noch mehr Stimmung erzielen will: „An einem Gommer- abend war's.“ Nun gibt es aber doch wahrlich viele Sommerabende! Dauert der Sommer doch in unſerer Gegend vom 21. Juni bis zum 23. September!

Und warum ſollte man eine Erzählung nicht mit den klaren, feſten Worten beginnen: „Es war am 13. Juli dieſes Jahres. Der Zeiger der alten Dorfuhr, die in einundzwanzig Meter Höhe an dem achtund— vierzig Meter hohen Kirchturm der 1864 aus Gand- ſtein erbauten Kirche angebracht iſt, zeigte vierund— zwanzig Minuten nach acht Uhr.“

Jeder Menſch wird nun aber auch wiſſen wollen, wie das Dorf heißt, in dem die Uhr in einundzwanzig Meter Höhe am Kirchturm angebracht iſt.

Ein ganz gründlicher Menſch wird anknüpfend an die Erzählung ſogar die folgenden Fragen ſtellen:

2 Von Heinrich Binder. 171

1. In welchem Stil iſt die Kirche erbaut?

2. Von wem?

3. Iſt das Zifferblatt der Uhr an allen vier Seiten des Turmes angebracht und mithin überall ſichtbar?

4. Warum ſtand der Zeiger der beſagten Uhr auf acht Uhr vierundzwanzig Minuten?

5. Auf welchen Tag fiel der 13. Juli?

6. Beſteht ein Kauſalnexus zwiſchen der Erzählung und der Tatſache, daß am gleichen Tage des Jahres 1793 in Paris Marat von der ſchönen Charlotte Corday, einer Anhängerin der Girondiſten, ermordet wurde?

Soviel ich weiß, haben alle dieſe Fragen auf den Gang meiner nachſtehenden Erzählung keinen Einfluß. Sie ſtehen mit ihm nicht in Zuſammenhang. Nur der 13. Zuli iſt der Tag, an dem zwei Menſchen handelnd dem Schickſal entgegentraten. ö

Alſo: Es war am 13. Juli dieſes Jahres. Die Sonne war bereits geſunken “).

Wie ein Meer von Rofa und Gold, wie ein un- endlicher Teppich von violetten und ſchwefelgelben Muſtern lag die Glut des Abendrots am Himmel“).

Der kleine Badeort Salzbad ſchlummerte ſchon in ſtillem Abend frieden! ).

Die Straße herauf, die Salzbad von Norden nach Süden durchſchneidet, kam ein junges Mädchen von

*) Der Sonnenuntergang fiel an jenem Tage nach Meiers aſtronomiſchen Tabellen auf 8 Uhr 16 Minuten abends.

**) In weſtlicher Richtung.

) Salzbad liegt auf 12, Grad öſtlicher Länge und auf 50, Grad nördlicher Breite in 490 Meter Höhe an der nicht ſchiffbaren Salze. Es hat alkaliſch-ſaliniſche Säuerlinge, 2100 Cin- wohner, darunter 93 Katholiken, ift Sitz einer Königlichen Badedirektion und wird ſehr viel von Frauen beſucht. Frequenz im letzten Berichtsjahre: 8336 Rurgäfte, wobei ich mitgezählt bin.

172 Die Entführung. 2

etwa zweiundzwanzig Jahren, das anſcheinend Ellen hieß.

Man ſieht nämlich den Mädchen den Vornamen meiſtens an. Ich wenigſtens bilde mir ein, jede Trude, Marie, Lotte, Martha, Lona und Barbara nach ganz gewiſſen Grundſätzen ſofort erkennen zu können. In dem vorliegenden Falle beſtätigte ſich übrigens meine Theorie wieder einmal glänzend: die Dame hieß wirklich Ellen! Den Beweis dafür liefert die Kurliſte von Salzbad vom 5. Zuli dieſes Jahres.

Eigentlich paßte der Name Ellen nicht zu der Er- ſcheinung. Die Dame hatte etwas Energiſches, Selbſt- bewußtes, Beſtimmtes in ihrem Auftreten, während die anderen Ellen meiſtens weichgeartete Wirbelwinde ſind. |

In der Mitte der Straße, gerade vor der Billa Neptun, blieb Ellen ſtehen und blickte in das glühende Abendrot, das wie ein rotgoldener Kranz am Himmel lag. Jetzt konnte man auch Gelegenheit nehmen, die Dame näher zu betrachten. Sie trug ein Kleid aus weißem Mull mit reichen Handſtickereien und iriſchen Spitzen verziert“). Um den Hals trug fie eine wert- volle Perlenkette und an den Händen ebenfalls ſehr koſtbaren, wenn auch geſchmackvollen Schmuck.

Ihr zu Füßen, die in weißen Wildlederſchuhen ſteckten, fab ein kleiner Seidenpinſcher. Ein entzücken des, molliges Etwas, ein Gewirr von Seide, ſchwarzem Schnuppernäschen und weißen Flocken.

Von der anderen Richtung her, vom Kurhaus herunter“), kam ein junger Mann. Vielleicht fünfund- zwanzig Jahre alt, ein Meter zweiundſiebzig bis ein

*) Preis ungefähr 200 bis 250 Mark. **) 1892 aus Sandſtein erbaut.

o Von Heinrich Binder. 173

Meter fünfundſiebzig groß, blaue Jacke, weiße Flanell- hoſen, Sporthemd, langen, blauen Schlips, Gürtel, kurzgeſchnittenes, ſchwarzes Bärtchen, hübſche Zähne, gelbe Schuhe und einen Panamahut, der aber an- ſcheinend nicht echt war.

Als dieſer Herr ſich Ellen bis auf ungefähr achtzig Zentimeter genähert hatte, fuhr das oben beſchriebene weißſeidene Hundekleinod auf einmal mit wütendem, hellem Gekläff an die weißen Flanellhoſen des jungen Mannes, und ehe ſich dieſer von feinem Erſtaunen er- holen konnte, hatte das Tierchen ſchon ein großes Loch in das linke Hoſenbein des Herrn mit dem unechten Panama gebiſſen )).

Ellen entſchuldigte ſich taufendmal**), und der Herr tat ſo, als ob der Zwiſchenfall das höchſte Glück ſeines Lebens bedeute.

Er benützte natürlich ſofort die Gelegenheit, ſich vorzuſtellen: „Fritz Eggers aus Berlin.“

„Ah, auch aus Berlin?“

„Gnädiges Fräulein auch?“

Und fo kamen die beiden zuſammen .

In der nächſten halben Stunde bewunderten ſie gemeinſchaftlich das Abendrot, das einer tiefen, wohligen Dämmerung Platz machte, zumal es neun Uhr und ſieben Minuten geworden war.

Wie das in Bädern manchmal vorkommt, verlobten ſich die beiden um neun Uhr achtzehn Minuten, auf dem Wege, der vom Kurhaus rechts hinauf nach der Sabinenhöhe führt. Zwar ſoll man ſich niemals in

1) Das Loch war von dreieckiger Form, ungefähr 7 Benti- meter groß und la fih etwa 20 Zentimeter über dem Erdboden.

4 Nicht wörtlich zu nebmen ſondern nur als oft gebrauchte, aber nicht immer zutreffende Redensart.

174 Die Entführung. o

Bädern verloben, denn man heiratet die hübſche Um- gebung nicht mit. Aber es gibt eben doch eine Liebe auf den erſten Blick. Sogar eine leicht bekömmliche und manchmal auch dauerhafte Liebe!

Um neun Uhr ſechsunddreißig Minuten trennten ſich die Verlobten mit dem feſten Vorſatz, am anderen Morgen zuſammen vor die Eltern zu treten, um aus ihrer Hand das Schickſal in Empfang zu nehmen. Ellen hatte natürlich die Herrſchaften mittlerweile vorzubereiten.

Fritz Eggers, deſſen Perſönlichkeit für die Geſcheh- niſſe an dieſem Abend nicht mehr in Frage kam, ging in einem Gefühl ſeligen Wahnſinns in feine Wohnung)). Ellen ging in das Hotel Königshof, in dem ſie mit ihren Eltern wohnte, und fuhr im Aufzug“) in die erſte Etage, in der ihre Eltern eine Flucht von drei Zimmern mit Bad innehatten***).

Die Familie ſaß noch in dem mittelſten Zimmer, in dem ſogenannten Salon, als Ellen eintrat. Sie traf dort folgende Perſonen:

1. Albert Hartmann fen, Vater und gabritbeſitzer aus Berlin. Ungefähr einhundertundſechzig Benti- meter groß und neunzig Kilogramm Gewicht. Zn- haber des ſerbiſchen Takovoordens, der belgiſchen Leopoldmedaille und der deutſchen Chinamedaille für Nichtkombattantenf). Achtundvierzig Jahre alt, ziemlich beleibt. Aufſichtsratsmitglied bei fünf Geſellſchaften. Baſtſeidener Anzug, breites, joviales Geſicht, in der

*) Villa Quiſiſana, Koſt und Logis von 6 Mark ab, wobei man allerdings manchmal nicht weiß, was zur Koſt und was zum Logis gehört.

**) Tragfähigkeit: 4 Perſonen einſchließlich Führer. **) Preis: 35 Mark ohne Penſion. 1) Wegen ſtarker Beteiligung an den Liebesgaben.

2 Von Heinrich Binder. 175

Hand immer ein Taſchentuch, weil es in dem Neſt ſo warm war.

2. Frau Julie Hartmann, geborene Breslauer. Hübſche, ſtattliche Dame, die nie auf morgen verſchiebt, was ſie heute noch anziehen kann. Viel Seide, viel Diamanten, viel moraliſche Überlegenheit dem Manne gegenüber. Größe und Gewicht wie bei Herrn Albert Hartmann, nur daß ſie die Größe zugibt, das Gewicht jedoch abſtreitet.

3. Ralph Eugen Hartmann. Vierzehn Fahre alt, Sohn der Erſtgenannten, einziger Bruder von Ellen. Anterſekundaner in Berlin. Fühlt ſich aufs höchſte ge- ſchmeichelt, wenn man ihn einen Zyniker nennt. Über- ragt beide Eltern um etwa drei Zentimeter, tut aber jo, als wären fie Waiſenkinder, die feiner Obhut an- vertraut find*).

Zu dieſen drei im Salon anweſenden Menſchen ſagte Ellen zuerſt: „Guten Abend!“

Nachdem dieſer Gruß von drei Seiten faſt gleich- zeitig wiederholt war, ſagte Ellen, indem ſie ſich in einen Klubſeſſel von imitiertem Krokodilleder fallen ließ: „Ich habe mich ſoeben verlobt.“

Dieſe Mitteilung wirkte auf die drei Menſchen ganz verſchieden. |

Herr Hartmann ſagte: „Du but verrückt!“

Frau Hartmann, geborene Breslauer, ſagte: „Um Gottes willen! Gegen wen denn?“

Ralph Eugen Hartmann ſagte: „Na ja, verlobt iſt noch nicht verheiratet!“

Als einzige Antwort auf die drei Meinungen

*) Sämtliche Perſonalien ließ ich mir vom Portier des Hotels Königshof, einem Herrn Gottfried Bünte aus Leipzig, gegen eine einmalige Vergütung von 2 Mark geben.

176 Die Entführung. o äußerte Ellen: „Ich habe mich verlobt mit Herrn Fritz Eggers, Kaufmann aus Berlin.“

„Kaufmann! Kaufmann! Bin ich auch. Was iſt der Kerl denn? Wo, wie, weshalb, warum, wieſo, wenn, wann?“

Es iſt eigentlich überflüſſig zu ſagen, daß Herr Hartmann ſen. es war, der dieſe fragenden Fürwörter ſchnell hintereinander herausſprudelte.

Zwiſchendurch aber hatte Ralph Eugen Hartmann noch Gelegenheit gefunden zu der ſeinen Zynismus fo recht kennzeichnenden Außerung: „Pfui Deibel! Wie kann ein Menſch Eggers heißen und aus Berlin ſein! Ausgerechnet aus Berlin!“

Allein Ellen war, wie man im Laufe der Erzählung wohl noch manchmal wird feſtſtellen können, eine für ihr Alter ungemein energiſche Dame, und ſo ſagte ſie denn auch kurz, gehaltvoll, beſtimmt und mit Nachdruck: „Es hat keinen Zweck, daß wir uns jetzt noch darüber ausſprechen. Es wird zu neu, zu überraſchend für euch ſein. Ihr würdet lachen, wenn ich euch jetzt von Liebe auf den erſten Blick reden würde. Und im übrigen werdet ihr morgen früh ja Gelegenheit haben, meinen zukünftigen Gatten ſelbſt kennen zu lernen.“

Mit dieſen Worten, die zweifellos einen ſehr guten Abgang aus ſolchen Situationen bilden, ging ſie in das Zimmer links vom Salon, das ſie mit ihrer Mutter bewohnte, während in dem Zimmer rechts Vater mit Ralph Eugen untergebracht war.

Frau Hartmann folgte ihr auf dem Fuße, und was die beiden Frauen an jenem Abend noch beſprachen, entzieht ſich leider meiner Kenntnis, da ich Gelegenheit ſuchte, mit Herrn Hartmann noch eine Partie Ecarté in dem zu dem Hotel gehörigen Café zu ſpielen, wobei ich den Betrag von acht Mark und fünfundvierzig Pfen-

2 Von geinrich Binder. 177

nig gewann, während ein dritter Herr, ein Herr Frankfurter aus Konitz, den dreifachen Betrag ein- ſtreichen konnte. Man wird verſtehen, daß Herr Hart- mann etwas nervös war und ohne jede Berechnung ſpielte ).

Der Morgen des 14. Juli brach ſiegreich herauf. Golden ſtieg die Sonne, des Tages Königin, auf die Berge, die in grünem Kranz Salzbad umrahmen.

Schon um ſieben Uhr, geweckt durch die Klänge des Kurorcheſters““), erhob fih Ellen und zog ſich raſch an. Mit der an ſolchen Tagen üblichen Zerſtreutheit.

Die Mutter gab ihr den ſicher gutgemeinten Rat mit auf den Weg: „Mach doch keine Dummheiten! Vater war wirklich immer viel zu gut zu dir. Sieh zu, daß du ihn nicht einmal ernſtlich erzürnſt!“

Mit dieſen Worten erhob ſich auch Frau Hartmann, während Ellen in den Salon ging, in dem morgens gegen acht Uhr das erte Frühſtück gemeinſchaftlich ein- genommen wurde.

Herr Hartmann ſaß bereits auf dem Sofa und ſtrich ſich gerade viel, ſehr viel Honig auf ein Brötchen, was ihm von dem Badearzt***) dringend empfohlen war.

„Guten Morgen, Vater.“

*) Zeuge: Ein Rentier Alwin Schädlich aus Chemnitz, der zuſah und manchmal kritiſche Bemerkungen einfließen ließ, was Herrn Hartmann zu der Außerung Veranlaſſung gab: „Sie gehören ja gar nicht an unſeren Tiſch,“ was Herr Schädlich indeſſen überhörte.

**) Das Programm von jenem Tage zeigt als erſtes Stück: Frühlingslied von Kuhnot. Soll aber entſchieden Gounod heißen, während Kuhnot ein anderes Lied geſchrieben hat, das ſehr poetiſch ausklingt: Wir halten feſt und treu zuſammen, hipp, hipp, hurra! Gounod ſtarb 1893 zu St. Cloud, Kuhnot lebt jetzt noch in Bremen.

**) Sanitätsrat Dr. Suchmann. 1918. N. 12

178 Die Entführung. | 2

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Ein Brummen folgte, das Eingeweihte unter Um- ſtänden wohl als Morgengruß hinnehmen konnten.

„Vater, ich will heute morgen auf dem Kurplatz frühſtücken; ich komme gegen neun Uhr zurück.“

„Wenn der Kerl hierher kommt, laff ich ihn hinaus- ſchmeißen.“ |

Dieſe Worte, denen an überzeugender Deutlichkeit wohl nur wenig fehlte, gab Herr Hartmann ſeiner Tochter mit auf den Weg. Sie waren ſo laut geſprochen, daß ſie von dem Zimmermädchen Auguſte Havliczek aus Aſch in Böhmen deutlich gehört wurden.

Ellen eilte in ſtürmenden Gedanken auf den Rur- platz, wo Herr Fritz Eggers, friſch raſiert und ſehr friſch angezogen, ihrer ſchon in Sehnſucht harrte. Man kann wohl behaupten: in Sehnſucht, denn Herr Eggers ſaß ſichtbar nervös auf einer Bank, ſtand hin und wieder auf, ſah ab und zu nach dem Hotel Königshof hinüber, ſchüttelte den Kopf, ſetzte ſich wieder, malte mit ſeinem Spazierſtock allerhand Figuren in den Sand und ſchlug dann wieder mit demſelben Stock pfeifend durch die Luft, als wolle er alle Widerſtände, die ſich doch viel- leicht ergeben würden, totſchlagen. Kurz: alles deut- liche Symptome erwartungsvoller Sehnſucht.

Endlich kam ſie!

Die Begrüßung war unglaublich herzlich, und die Liebenden überzeugten fich, daß fie fih bei Tage ebenſo begehrenswert wie am Abend vorkamen, und ſofort berieten ſie in fiebernder Haſt, was zu tun ſei und wie man die Angelegenheit am beſten ſofort zu aller Zu— friedenheit erledigen könne.

Sie ſetzten ſich zuſammen auf die Bank, die ſchräg links der lärmenden Kurkapelle gegenüberlag, und es dauerte nicht lange, ſo ſahen die beiden Verliebten Ellens Bruder, Ralph Eugen Hartmann, über den

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Kurplatz kommen. Sie blieben beide ruhig ſitzen und ließen den Bruder, der ſie alsbald bemerkte und dieſe Tatſache durch ein leiſes Lächeln ausdrückte, an ſich herankommen.

Eggers ſtand auf und machte eine tadelloſe, ge- meſſene und doch höfliche Verbeugung vor dem zu- künftigen Schwager, was Ralph Eugen im Innern ungemein zuſagte und wodurch er ſofort die Über- zeugung gewann, daß Herr Eggers ein Mann von Welt, ein Gentleman, kurz der für Ellen einzig mögliche Mann ſei.

Nach kurzer Unterhaltung verabſchiedete ſich Ralph Eugen mit den immerhin troſtreichen Worten: „Sie können ſich auf mich verlaſſen, Herr Eggers. Was an mir liegt, will ich gerne tun.“

Nun iſt Liebe doch eigentlich reiner Wahnſinn und verdient wie jede andere Tollheit Narrenhaus und Peitſche ).

In der Liebe werden tatſächlich die dümmſten und unglaublichſten Streiche gemacht, und ſo ließ ſich Herr Eggers auch von ſeinem Gefühl dazu verleiten, gegen neun Uhr zu Herrn Hartmann hinüberzugehen, um ihn in aller Form um die Hand ſeiner Tochter Ellen zu bitten.

Ellen hingegen wartete auf einer Bank, die an dem Wege vom Kurplatz zur Bergquelle ſteht und die vom Salzbader Verſchönerungsverein vor drei Jahren dort mit einer ſehr ſtimmungsvollen Feier dem Verkehr übergeben worden war.

Die Unterhaltung, die Herr Hartmann mit Herrn Fritz Eggers aus Berlin führte, war ſehr kurz. Frau Hartmann war nicht zugegen, da die Friſeuſe ſich an dieſem Morgen zufällig erheblich verſpätet hatte.

) Ausſpruch von Shakeſpeare, der als Kenner gelten kann.

180 Die Entführung. o

Herr Eggers bat um die Erlaubnis, fih vorſtellen zu dürfen.

Herr Hartmann hatte nichts dagegen, betonte aber gleichzeitig, wenn es Herrn Eggers einfallen ſollte, eine noch durchaus nicht ſpruchreife Angelegenheit hier zur Sprache zu bringen, ſo ſähe er, Hartmann, ſich

genötigt, die Konferenz abzubrechen. ö „In welcher Branche ſind Sie denn überhaupt tätig?“ fragte plötzlich und eigentlich nicht im Sinne des vorher Geſagten Herr Hartmann.

„Wenn ich Ihnen das fage, hören Sie mich über- haupt nicht an,“ war die echt berliniſche Antwort des Herrn Fritz Eggers.

„Sind Sie ſelbſtändig?“

„Ich denke nicht daran.“

„Ja, wie kommen Sie dann dazu, hier derart auf- zutreten und einer jungen, unerfahrenen en den Kopf zu verdrehen?“

„Verzeihung, Sie ſprechen von Ihrem Fräulein Tochter. Ich kann nicht geſtatten, daß ein Herr, und ſei es auch der eigene Vater, in einer ſolchen Weiſe von einer Dame ſpricht, die ich nicht nur verehre und achte, ſondern auch liebe und zu ehelichen wünſche!“

Hier muß Herrn Hartmann anſcheinend doch wohl die Geduld verlaſſen haben, denn die Tür flog plötzlich auf und der junge Mann hinaus.

Hinterher flog dann noch der unechte Panama.

Ich will nun nicht behaupten, daß Herr Hartmann Herrn Eggers perſönlich aus dem Zimmer geworfen hat. Es wurden bei dieſer Szene einige erregte Worte geſprochen, und es kann auch möglich ſein, daß Herr Eggers aus eigener Kraft und mit eigenem Willen den Salon verließ. In der Geſchwindigkeit, mit der ſich alles abſpielte, ließ ſich das nicht genau feſtſtellen.

2 Von Heinrich Binder. 181

Tatſache jedoch iſt, daß Herr Hartmann den unechten Panama aus dem Salon geworfen hat. Denn dieſer flog etwas ſpäter hinaus als Herr Eggers, der übrigens noch das Unglück hatte, ein Stubenmädchen zu über- rennen, das gerade mit einem Waffereimer über den breiten roten Läufer ging.

Wir verlaſſen mit Herrn Eggers Herrn Hartmann und laufen mit dem abgewieſenen jungen Mann die Treppe hinunter nach der oben bereits näher bezeich- neten Bank, auf der die Geliebte wartend ſaß.

Es erübrigt ſich, die nächſte Stunde zu beſchreiben, da es doch unmöglich iſt, ſie genau wiederzugeben. Man kann unmöglich die vielen Pläne aufzählen, die von den Liebenden gefaßt und wieder verworfen wurden. Man kann auch nicht im entfernteſten ſchildern, wie empört Herr Fritz Eggers aus Berlin über die Behandlung war, die ihm von Herrn Hartmann wider- fahren war. Nur ſo viel ſteht feſt, daß auch Ellen es unerhört von dem alten Herrn fand, einen jungen Mann mit ehrlichen und offenen SISCH derart Au behandeln,

Man tann ſich mit dem Ergebnis ihrer Verhand- lungen begnügen, denn dieſes liegt klar zutage und wurde durch die Tat bewieſen.

Die Wirrungen und Wirkungen der Liebe ſind ja jo ſchreckenerregend. Liebende, die fidh ſelbſt über- laffen bleiben, find zu Brandſtiftung und Zollhinter- ziehung fähig; ſie ſollten ſofort in Einzelhaft zwangs- weiſe interniert werden, und ihre Verhandlungen müßten durch geſchickte Juſtizräte auf dem Wege über die Eltern gepflegt werden.

Und fo kann es auch weiter nicht EEN wenn ich erzähle, daß Ellen und Fritz folgendes be- ſchloſſen: Ellen geht nach Haus, als ob gar nichts ge—

182 Oie Entführung. a

ſchehen wäre, und fegt fih dort in den Beſitz des nötigen Geldes). i

Dann wollten fie mit dem nächſten Zuge nach Berlin zu Eggers' Eltern fahren, und von dort aus wollten ſie dann den Eltern ihren Entſchluß mitteilen: entweder zuſammen zu leben oder zuſammen zu ſterben ein bei Verliebten zwar oft angewandtes, aber immerhin noch wirkungsvolles Mittel, um hartnäckige Eltern gefügig zu machen.

Die nächſten Stunden innerer Unruhe und grenzen- loſer Aufregung kann man übergehen. Es herrſchte im Kreiſe der Familie Hartmann eine nicht klar zu ſchildernde Stimmung. Kam noch der Verdruß hinzu, daß es heftig regnete, und daß bei Hartmanns eine Nach- richt eingelaufen war, nach der eine entfernte Erbtante eine Blinddarmoperation ſehr gut überſtanden hatte. And dabei war die Tante achtundſiebzig Jahre alt!

Hat man nötig, mit achtundſiebzig Jahren noch eine ſolche Operation gut zu überſtehen?

Es wird aber doch intereſſieren, daß Ellen und Fritz mit dem Zug ein Uhr ſechsundzwanzig Minuten aus Salzbad abführen. Za, das taten fie!

Trotzdem können wir die Liebenden ihrem Schickſal vorläufig überlaſſen, denn es iſt doch nicht feſtzuſtellen, wohin ſie fuhren und ob ſie auf geradem Weg den Zug nach Berlin benützten, der dort bekanntlich um ſieben Ahr ſechsunddreißig Minuten auf dem Anhalter Bahn- hof einzutreffen pflegt.

Notwendig jedoch iſt es, den weiteren Gang der Dinge in Salzbad zu ſchildern.

Um ein Uhr zweiunddreißig Minuten war bereits

*) Ellen hatte ſtets ein Scheckbuch über 5000 Mark zu ihrer

freien Verfügung, da man nicht wiſſen konnte, was irgendwie einmal eintraf.

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2 Von geinrich Binder. 183

das ganze Hotel von dem Vorgefallenen ziemlich genau unterrichtet. Ellen hatte dem Portier einen Brief mit der Weiſung überreicht, dieſen Brief Punkt drei Uhr den Eltern zu übergeben.

Der Brief lautete: „Liebe Eltern! Euer Widerſtand zwingt uns zu folgendem Schritt: Wir ſind ſoeben mit dem D-Zug 1 Uhr 26 zuſammen abgefahren. Wir be- geben uns auf Umwegen nach Berlin. Gebt Euch keine Mühe, uns telegraphiſch oder ſonſt irgendwie zu erreichen, denn wir kommen natürlich nicht mit dem Zug um 7 Uhr 36 Minuten in Berlin an, ſondern fahren vielleicht über Oresden, vielleicht über Köln oder aber auch über Moskau. Aber ich gebe Euch die Verſicherung, daß ich mir nichts vergeben werde. Fritz iſt ein durchaus ehrenvoller Menſch! Das einzige iſt, daß wir Euch zwingen wollen, Euer Einverſtändnis zu unſerer Ehe zu geben. Es war und ift Liebe auf den erſten Blick, und die iſt größer und ſtärker als alles Pflichtgefühl. Verzeiht uns den Schritt und gebt uns Euer Einverſtändnis zu wiſſen! Briefe und Nach- richten erreichen uns unter F. E. 15—14 poſtlagernd, Poſtamt 9, Berlin in der Linkſtraße. Glaubt aber nicht, daß Ihr irgendwelche Schritte unternehmen könnt, um uns dort vielleicht bei der Empfangnahme der Briefe zu treffen. Auch dafür wird Sorge getragen werden. Aber wir bitten Euch nochmals herzlich: Verzeiht mir dieſen Schritt. Ich küſſe Euch und bitte Euch um gütiges Verſtehen! Ellen*).“

5) Für die wörtliche Wiedergabe des Briefes kann ich garantieren, denn Ellen hatte in der Aufregung vergeſſen, ihn zuzukleben, was den Portier natürlich nicht veranlaßte, das Verſäumte nachzuholen, ſondern ihn mir zur Abſchrift zu geben. Mir und anderen, wie ich zu meinem Bedauern feſtſtellte.

184 Die Entführung. Bi u

Der Skandal war alfo fertig!

Er wuchs von Stunde zu Stunde, und als das Rur- orcheſter um vier Uhr das erſte Stück des Nachmittags- konzertes intonierte*), da ziſchte die Schlange des Klatſches ſchon über den Kurplatz und ſpritzte ihr ſüßes Gift auf Tiſche und Bänke. |

Im Hotel Königshof hatten fih natürlich febr er- regte Szenen abgefpielt,

Herr Hartmann hatte fih, als er den Brief geleſen hatte, ſofort aus der Hotelbibliothek das Bürgerliche Geſetzbuch heraufholen laffen. Er blätterte nervös in dem kleinen, grünen Band, und da er den in Frage kommenden Paragraphen nicht finden konnte, ließ er ſich telephoniſch mit dem einzigen Rechtsanwalt von Salzbad**) verbinden, der hier allerdings nur während der Sommermonate praktizierte und gerade auf dem Gebiete der Entführungen und Eheſcheidungen eine über das Allgemeine hinausragende Kenntnis beſaß.

Dieſer klärte Herrn Hartmann vorerſt darüber auf, daß das Oelikt der Entführung nicht durch das Bürger- liche Geſetzbuch, ſondern durch das Strafgeſetzbuch feſtgelegt ſei, und daß man dort, im Paragraph 237, alles Wiſſenswerte finden könne. Zwar enthalte das Einführungsgeſetz zum Bürgerlichen Geſetzbuch im Artikel 34 noch einige Einzelheiten, aber der zitierte Paragraph 237 des Strafgeſetzbuches fei völlig in Ein- klang gebracht mit Sprachweiſe und Unterſcheidungen der zitierten Geſetzesſtelle. Im übrigen ſei er jeder- zeit bereit, die Sache in die Hand zu nehmen, zu— mal es ſich doch vermutlich um die Entführung einer Minderjährigen handle.

*) Es war „Des Negers Traum“ von Middleton. **) Herr Dr. Scharf.

o Von Heinrich Binder. 185

Als Herr Doktor Scharf belehrt wurde, daß die in Frage kommende Dame das einundzwanzigſte Lebens- jahr bereits überſchritten habe, ſah er ſich veranlaßt, das Telephongeſpräch plötzlich abzubrechen“).

l Als kluger Geſchäftsmann wußte Herr Hartmann

ſofort, daß das Verſchwinden ſeiner Tochter bereits überall bekannt war, und fo tat er das Beſte und Ver- nünftigſte, was in ſolchem Falle zu tun iſt er gab den näheren Bekannten gegenüber das Vorgefallene unumwunden zu, und diefe taktiſch richtige Maßnahme veranlaßte auch mich, nachmittags gegen ſechs Uhr Herrn Hartmann aufzuſuchen und ihn um eine Unterredung zu bitten.

ich fekte ihm auseinander, daß ich als Schrift- ſteller, der die Sache vielleicht immerhin doch aufgreifen würde, die Pflicht hätte, mich an Ort und Stelle um die Angelegenheit zu kümmern. Es wäre doch auch zu wünſchen, daß die Sache nicht entſtellt in die Blätter komme. Und zu bedenken wäre, daß ich der einzige Mann am Orte wäre, der die peinliche Affäre im Sinne der ſtrengſten Sachlichkeit und mithin ganz im Inter- eſſe der Familie Hartmann, der ſo angeſehenen und ſo hochgeachteten Familie Hartmann, behandeln könne. Er gewährte mir darauf natürlich die gewünſchte Unter- redung und ſetzte ſich zu dem Interview zurecht, nicht ohne mir vorher, als geſchäftskundiger Herr, eine Zigarre anzubieten“).

„Ich heiße Albert Emil Hartmann und bin jetzt neunundvierzig Jahre alt. Seit vierundzwanzig Jahren

*) Ein ſehr beliebtes Mittel, unliebſame Unterhaltungen ſofort zu Ende zu führen. Man hängt den Hörer einfach hin und kann ſpäter immer behaupten, man fei unterbrochen worden.

**) Anſcheinend Sumatra mit Havannadedblatt, das Tauſend nicht unter 450 Mark.

186 Die Entführung. u

bin ich verheiratet und bin jetzt Beſitzer der Chemiſchen Fabriken Hartmann & Co., Niederſchöneweide bei Berlin. Ich verſteuere ein Einkommen von hundert- zwanzigtauſend Mark, bin ſchuldenfrei und unbe- ſtraft. Meine Tochter, um die es ſich in erſter Linie wohl handelt, wurde am 11. Auguſt morgens gegen drei Uhr geboren. Sie genoß die befte Erziehung, die man ſich denken kann, ſtudierte reſpektive hörte vier Semeſter in Berlin und Lauſanne, und der einzige Fehler, der vielleicht in ihrer Erziehung gemacht worden iſt, mag der ſein, daß wir ſie von Kindheit an zur größten Selbſtändigkeit anhielten. Immer wieder prägten wir ihr ein, nur den Weg zu gehen, den ihr eigener Wille ihr vorſchreibe, und dieſe Erziehungsmethode mag ja auch zum größten Teil zu dem geſtrigen Vorfall bei— getragen haben, der uns alle natürlich aufs höchſte überraſcht hat. Den Hergang ſelber brauche ich Ihnen wohl nicht eingehend zu ſchildern, da er ja genügend bekannt iſt. Ich will nur noch bemerken, daß ſich alles mit einer mir faſt unverſtändlichen Schnelligkeit ab- geſpielt hat, und daß der junge Mann, wenn ich es mir recht überlege, gar keinen ſchlechten Eindruck hinter- ließ. Über meine weiteren Dispofitionen kann ich noch nichts ſagen. Ich denke mir, daß die Sache zum Guten ausläuft, da meine Tochter im letzten Grunde ein an- ſtändiger Charakter und ein ganz vernünftiges Mädel iſt, das ja, wie Sie ſehen, ihren eigenen Willen hat und auch ſicher wieder auf den rechten Weg kommen wird. Wollen Sie, bitte, noch das eine bemerken, daß ich meinen Aufenthalt hier nicht abzubrechen gedenke, da jetzt gerade meine Frau ſehr der Erholung bedürftig ſein wird.“

Um ſechs Uhr zwanzig Minuten war die Unter— redung ſchon zu Ende, und da Herr Hartmann ſich von

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mir in liebenswürdiger Weiſe verabſchiedete, um ſeine Freunde auf der Promenade aufzuſuchen, fand ich Gelegenheit, anſchließend auch Frau Hartmann zu interviewen und die Dame um ihre Anſicht über die ſicher ſehr peinliche Angelegenheit zu bitten.

Sie empfing mich zwanzig Minuten vor ſieben Ahr in dem gleichen Salon und begann ſofort: „Das iſt der ſchrecklichſte Sommer meines Lebens! So eine Nückſichtsloſigkeit! Man merkt eben, daß man ſchon erwachſene Kinder hat, die ihre eigenen Wege gehen!“

„Gnädige Frau haben aber doch ganz ſicher ſehr früh geheiratet —“

„Nun natürlich! Aber wenn auch es iſt und bleibt eine Rückſichtsloſigkeit! Ich fürchte nur, daß dieſer WMenſch mein armes Kind unglücklich machen wird! Wer weiß, vielleicht iſt das ſo ein Hypnotiſeur oder ſonſt fo etwas Ähnliches! Kann man denn einem Manne trauen? Und dazu noch in einem Badeort? Meine Ellen ift doch ſonſt fo klug und gebildet! Und dann: ſo ganz ohne Garderobe abzureiſen! Denken

Sie nur: wie die Zigeuner fährt ſo etwas fort. Nur

mit einem Kleid und einer Handtaſche! Zwar hat ſie ja vorläufig Mittel genug, um ſich über Vaſſer zu halten, hat auch Mittel genug, um ohne den ſchrecklichen Mann in unſere Arme zurückkehren zu können. Aber ſo etwas ift und bleibt doch immer furchtbar! gch hätte es in der Jugend einmal wagen follen, meinem Vater, dem Kommerzienrat Breslauer in Frankfurt, einen ſolchen Streich zu ſpielen! Nein Sie werden ſelber zugeben, daß ſo etwas zu unſerer Zeit doch ganz und gar ausgeſchloſſen war. Das kommt nur von dem ver— rückten Studium. Verzeihen Sie, meine Migräne meldet ſich wieder. Sollten Sie aber genötigt ſein, dem Klatſch durch irgend eine Berichtigung entgegen—

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auftreten, dann erwähnen Sie, bitte, auf keinen Fall, daß Ellen wie eine Wilde mit nur einem Kleid auf Reiſen gegangen iſt.“

Nach zehn Minuten ſchon ſtand ich auf dem Korridor vor dem Salon, und durch Zufall prallte ich dort mit Ralph Eugen zufammen.

Da es mir ſchriftſtelleriſche Gewiſſenspflicht iſt, in ſolchen Fällen alles zu erfahren und aller Beteiligten Arteile zu hören, ſo ſtellte ich mich dem jungen Manne vor.

Ich ſagte ihm, daß es fih um eine diskrete An- gelegenheit handle, die man nicht hier zwiſchen Tür und Angel erledigen könne. Sch erſuchte ihn, mit mir in die unten liegende Neſtauration zu kommen, wo man bei einem kühlen Männertrunk das Wort wirkte großartig die Sache regeln könne.

Er ging ſofort auf meinen Vorſchlag ein, und nachdem ich ihm ſagte, daß ſeine Eltern im Hartmannſchen Intereſſe mir in äußerſt liebenswürdiger Weiſe eine Anterredung gewährt hätten, zögerte er keine Minute, mir ſein Urteil über den Fall mitzuteilen.

„Der Mann hat zwar nicht wie ein Kavalier gehandelt, aber immerhin iſt zu bedenken, daß er ſich anſcheinend in einem Stadium hochgradiger Verliebtheit befindet, was ja vieles entſchuldigt. Perſönlich iſt mir dieſer Eggers nicht unangenehm. Er ſtellte ſich mir vor, und ich fand, daß der Mann Lebensart hat. Ich muß noch bemerken, daß mir an den beiden nichts Beſonderes aufgefallen iſt. Sie ſchienen ganz ruhig ihre Abſichten zu beraten na, und man will ſchließlich auch nicht ſtören, und deshalb drückte ich mich bald. Proſit, geſtatte mir Blume! Za, ich drückte mich, da ein Dritter bei ſolchen Angelegenheiten meiſtens doch überflüſſig iſt. Bezüglich meiner Eltern iſt wenig zu

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ſagen. Der alte Herr gibt der alten Dame ſchuld, daß ſie ſich gar nicht um Ellen gekümmert habe und ſich anſcheinend geniere, eine erwachſene Tochter zu haben. Die alte Dame hingegen macht den alten Herrn für alles verantwortlich, da er dem Mädel von Kindes- beinen an immer Selbſtbeſtimmung als höchſtes Menſchenrecht gepredigt habe. Zch ſtehe mehr auf ſeiten meines alten Herrn. Im übrigen kann ich, ſoweit ich heute die Sachlage überſehe, Iden mit einiger Gewißheit behaupten, daß die Geſchichte zum Guten ausläuft. Denn meine Schweſter iſt, wie mein alter Herr auch ſehr richtig uns gegenüber ſagte, im letzten Grunde ein anſtändiger Charakter und ein ganz vernünftiges Mädel. Das beſte wird ſein, daß der alte Herr ſobald wie möglich ſeine Erlaubnis zu der Verbindung gibt, zumal er damit doch der ganzen Angelegenheit die Spitze abbricht.“

Ich war jetzt über die Anſichten und Abſichten der Familie Hartmann genügend unterrichtet und ſetzte mich abends gegen neun Uhr noch an den kleinen Schreib- tiſch meines in der Villa Auguſte belegenen Zimmers) und ſchrieb an Herrn Fritz Eggers nach Berlin unter der mir bekannten poſtlagernden Adreſſe.

Vier Tage darauf erhielt ich aus München eine Anſichtskarte, die geſtempelt war: „München, 18. 7. 1—2 V.“, woraus man erſehen kann, daß die Karte erſt nachts zwiſchen ein und zwei Uhr aufgegeben war.

Herr Eggers ſchrieb: „Sehr geehrter Herr! Wir verweigern die Ausſage, haben uns Ihre Adreſſe jedoch vorgemerkt und werden Ihnen, Ihr berechtigtes Inter- eſſe vorausgeſetzt, Entſcheidungsnachricht ſenden. Fritz Eggers, Ellen Hartmann.“

5) 9 Mart den Tag mit ſehr kurgemäßer Penſion.

190 Die Entführung. 2

Mit dieſer Karte ging ich am 22. Juli, morgens gegen zehn Uhr, in das Hotel Königshof, um ſie Herrn Hartmann zu zeigen. Zch traf ihn aber leider nicht mehr an, da er am Abend vorher mit Familie nach Berlin abgereiſt war.

In aller Stille, wie der Portier mir ſagte.

Vor allem aber fiel ſeine Abreiſe durch die Höhe der Trinkgelder angenehm auf. Herr Hartmann muß anſcheinend ſehr guter Laune geweſen ſein, denn er machte ſich folgenden Scherz.

Als im Foyer alles verſammelt war, um ihm das Geleite zum Auto zu geben, als er allen Angeſtellten, vom Portier bis zum Liftboy herab, irgend etwas ſchon in die Hand gedrückt hatte, drehte er ſich inmitten der Schar um und rief mit lauter Stimme: „Sft da irgend noch ein männliches oder weibliches Weſen, das noch kein Trinkgeld von mir bekommen hat? Das ſoll ſich jetzt melden!“

Worauf die Wäſchebeſchließerin aus der erſten Etage herbeigeeilt kam und einen tiefen Knicks machte, der denn auch entſprechend belohnt wurde.

Jedenfalls hatte ich jetzt kein beſonderes Intereſſe mehr an der Angelegenheit, und ich ſandte nur dem Ehepaar Hartmann noch meine Bitte, mich über alles

Wiſſenswerte auf dem laufenden zu halten. | Ich ſelber reiſte dann am 15. Auguft ein Uhr fechs- undzwanzig Minuten nach Berlin und hatte bald in den Armen dieſer ſteinernen Sphinx die Salzbader Affäre vergeſſen.

Am 18. Auguſt bekam ich eine Vermählungsanzeige in das Haus gefandt*).

*) Sie war auf handgeſchöpftem Büttenpapier gedruckt und koſtete mindeſtens 60 bis 80 Pfennig das Stück ohne Porto!

2 Von Heinrich Binder. 191

Mit ganz klaren Lettern ſtand in dieſer Anzeige zu leſen, daß ſich Herr Fabrikbeſitzer Hartmann und Frau, geborene Breslauer, die Ehre geben, die Ber- mählung ihrer Tochter Ellen mit Herrn Kaufmann Fritz Eggers, Prokuriſt der Firma Hartmann & Co., Chemiſche Fabrik in Niederſchöneweide, allen Freunden und Bekannten ergebenſt anzuzeigen.

Hiermit iſt die Geſchichte eigentlich zu Ende; eine Geſchichte, wie ſie oft vorkommt und ſchließlich zum Guten ausläuft.

Ich bin aber den Leſern noch den letzten Beweis dieſer Tatſache des guten Abſchluſſes ſchuldig, und ſo habe ich die Vermählungsanzeige, auf der die Adreſſe und alles Wiſſenswerte verzeichnet ſtehen, verviel- fältigen laſſen“).

*) Auf Wunfch erhält jeder Lefer umgehend ein Exemplar dieſer Karte. Bitte Rückporto beizulegen!

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Inſekten als Nahrungsmittel. von Th. v. Wittembergk.

Mit 8 Bildern. Y (Nahödrud verboten.)

ber den Geſchmack ift nicht zu ſtreiten. Dieſer Satz gilt nicht nur für die Zubereitung der Speiſen, ſondern ebenſoſehr für die Wahl der Nahrungsmittel, die für die Küche und den Tiſch verwendet werden. Wir ſchütteln über die chineſiſchen und japaniſchen Speiſen den Kopf, während uns die Japaner vor- werfen, daß wir verfaulte Milch, nämlich Gate, ver- zehren. Fiſche, die bei uns zu den teuren Gerichten zählen, werden von einer Anzahl von Naturvölkern verabſcheut, da man ſie für eine Art Schlangen hält. Bis auf die Biene, die den wohlſchmeckenden und nahrhaften Honig liefert, wird das große Reich der Inſekten von uns zur Nahrungsgewinnung nicht aus- genützt. Dagegen werden Inſekten in vielen anderen Gegenden regelmäßig gegeſſen und fogar als Leder- biſſen betrachtet. | Weit verbreitet ift der Genuß der Heuſchrecken. Ihre Verwendung als Speiſe geht bis in das graue Altertum zurück. Im Britiſchen Muſeum in London befindet ſich eine Skulptur, die aus Ninive ſtammt und ſicher mehr als viertaufend Fahre alt ift. Auf dem Relief ſind Männer dargeſtellt, die Fleiſchſtücke für eine Feſtlichkeit herbeiſchaffen, und neben ihnen gehen einige Diener, die an langen Stöcken befeſtigte Heu-

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ſchrecken tragen. Man alſo ſchon im alten Meſopotamien dieſe Inſekten. Ebenſo waren ſie beiden gſrae- liten beliebt. Moſes führt ſie als erlaubte Speiſe an, und von Johannes dem Täufer iſt es bekannt, daß er in der Ein- öde von Heu- ſchrecken lebte.

Noch heute werden ſie in Paläſtina von arm und reich verzehrt, indem man fie in Se- ſamöl ſiedet. Natürlich wird hier wie auch ſonſt nur der Leib verwen- det, der mit feinzernagten Pflanzenteilen angefüllt iſt.

Märkten angeboten werden.

Durch den Magenſaft erhalten die Pflanzenteile einen pikanten, ſäuerlichen Geſchmack. In dem be—

1913. IX.

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194 Inſekten als Nahrungsmittel. u

nachbarten Arabien trocknet man die Heufchreden in der Sonne, zermahlt fie zu Mehl und backt kleine Kuchen daraus. In Zentralafrika werden ſie von zahlreichen Stämmen geſchätzt und bilden darum auch eine Handelsware, die man gedörrt und aneinander— gebunden auf den Markt bringt. Am Kongo bereiten aus ihnen die Neger eine dicke, braune Suppe, die ſie außerordentlich lieben. Die Bewohner der Znſel

a A gës ee

gunge Heuſchrecke, die für Bouillon verwendet wird,

Madagaskar backen ſie in großen Töpfen, braten ſie darauf in Fett und miſchen fie mit Reis. Die Hotten- totten verzehren mit beſonderer Vorliebe die mit Eiern gefüllten Weibchen. Die Mauren Algeriens kochen ſie und ſalzen ſie mehr oder weniger. Der Afrikareiſende G. Rohlfs verſichert, daß fie in dieſer Zubereitung einen Geſchmack beſitzen, der an unſere feinſten Ragouts erinnert. Die nordafrikaniſchen Araber dagegen dörren ſie entweder an der Sonne, zerreiben ſie und verbacken ſie zu Brot, oder ſie röſten ſie auch

2 Von Th. v. Wittembergk. 195

in Butter, zerquetſchen ſie und miſchen ſie unter den Rameltäfe, wozu dann noch gelegentlich zerkleinerte Datteln hinzugefügt werden. Die Eingeborenen Bra— ſiliens braten ſie in Fett. Endlich werden ſie auch in Südrußland genoſſen. Die Bauern räuchern ſie hier wie Fiſche und eſſen ſie als Zubrot.

Das erwähnte Urteil von Rohlfs wird in neuerer Zeit von dem amerikaniſchen Forſcher P. L. Simmonds beſtätigt. Rohen Heufchreden legt er zwar einen

Eine griechiſche eßbare Zikadenart.

ſtrengen, unangenehmen Geſchmack bei, dagegen be— richtet er, daß junge Heuſchrecken, die mehrere Stunden in Waſſer gekocht und gut geſalzen ſowie gepfeffert werden, eine ſehr wohlſchmeckende Bouillon liefern, die von der gewöhnlichen Fleiſchbouillon nur ſchwer zu unterſcheiden ſei. Ebenſo rühmt er die gebratenen und etwas angeſalzenen Heuſchrecken, die einen nub- artigen Geſchmack aufweiſen. Nach ſeiner Erfahrung gewöhnt man ſich ſehr ſchnell an die Heufchreden- ſpeiſen und vermißt ſie förmlich, wenn ſie einem nicht mehr zur Verfügung ſtehen.

196 Snfetten als Nahrungsmittel. o

Die mit den Heufchreden nahe verwandten Zikaden bildeten eine geſuchte Leckerei bei den alten Griechen. Auch die Puppen der Zikaden wurden gegeſſen, und

Eine große eßbare Grille von Zentralafrika.

Ariſtoteles hebt ihren ſüßen Geſchmack hervor. Die Eingeborenen Südamerikas ſammeln noch heute Zika— den körbeweiſe und braten ſie über einem gelinden Feuer. In Zentralafrika ſowie im öſtlichen Südafrika

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ſind die großen Grillenarten geſchätzt, die man aus— gräbt und in Blätter gehüllt röſtet.

Einen anderen Gang geben auf dem Menü der ek- baren Inſekten die Käferlarven ab. Bei den altrömiſchen Feinſchmeckern erfreute ſich eine Käferlarve großer

„S EEE DR EEE

Der Holzbockkäfer Prionus,

Beliebtheit, die fie Coſſus nannten. Heute bezeichnet man mit dieſem Namen die Larve des großen Holz— bockkäfers Prionus, der den Obſtbäumen in hohem Maße gefährlich wird. Aber dieſer Holzbockkäfer ſtrömt einen äußerſt widerlichen Geruch aus, ſo daß ſeine Larve bei den Römern kaum Beifall gefunden haben dürfte. Es ift daher wahrſcheinlich, daß ſich, wie es auch ander-

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weitig geſchehen ift, eine Namensverſchiebung voll- zogen hat und man im antiken Rom die Bezeichnung Coſſus einer anderen Larve beilegte, als es heute der Fall iſt. Unſere Naturforſcher ſind daher der Meinung, daß der Coſſus der alten Römer die Larve des Hirſch— käfers war.

In Südfrankreich gilt unter der ländlichen Be- völkerung als eine ſehr ſchmackhafte Speiſe der Ver blanc. Dieſer Ver blance Weiß wurm iſt aber nichts anderes als die Larve des Mai- käfers, der Enger- ling. Ein Rezept für die Bereitung des Weißwurmes lautet: „Man wählt möglichſt kurze und fette Würmer aus, wälzt ſie in Mehl

, und Brottrumen,

Larve des Hirſchkäfers. ſalzt und pfeffert

ſie und wickelt ſie in ein Stück feſtes Papier, deſſen Innenſeite mit Butter ausgeſtrichen ift. In dieſer Verpackung legt man ſie in heiße Aſche und läßt ſie etwa 20 Minuten ſchmoren.“ Oer Geruch der ge— ſchmorten Engerlinge ſoll überaus appetitreizend ſein, und im Geſchmack ſollen ſie die Weinbergſchnecken bei weitem übertreffen. Außerdem verbackt man auch die Weißwürmer in Eierkuchen. Vor einer Reihe von Jahren wurde in dem Reſtaurant Cuſtoza in Paris

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ein Feſteſſen veranſtaltet, bei dem auch goldbraun gebackene Eierkuchen mit Weißwurmeinlage aufge- tragen wurden. Sämtliche fünfzig Gäſte lobten dieſe Mehlſpeiſe außerordentlich, und einer großen Anzahl gefiel ſie ſo gut, daß ſie noch eine zweite Portion forderte.

In Java und Weſtin- dien verzehrt man die Lar- Ei ven des Palm- käfers. Man röſtet ſie gut gewürzt an dünnen Brat- ſpießen. Ihr

Geſchmack wird als þer- vorragend be- zeichnet. Der Reifefchrift- Heller Leb- lond, der län- | 3 = l Oer ſüdfranzöſiſche „Ver blanc“. union lebte, ſchreibt, daß er ſich zwar anfangs vor dieſem Gericht geekelt habe, nach der Überwindung des Abſcheus hätten ihm aber die Larven vortrefflich gemundet und feien fie zu einer feiner Lieblings- ſpeiſen geworden. l

an China werden von der ärmeren Bevölkerung die Puppen des Seidenſpinners viel gegeſſen. Natür- lich iſt vorher das wertvolle Seidengeſpinſt entfernt worden. In den Straßen der chineſiſchen Städte

200 Inſekten als Nahrungsmittel. 2

ziehen Händler umher, die das Pfund Puppen für 40 bis 45 Pfennig anbieten.

3n Mexiko, Texas und Kolorado ift die Honig- ameiſe heimiſch. Einzelne Tiere des Neſtes, die fo- genannten Ammen, werden von den Arbeitern ſo reich mit Blütenhonig verſorgt, daß ihr Leib kugelrund anſchwillt und größer als eine Erbſe wird. Die Ammen hängen faſt unbeweglich an der Oecke der unterirdiſchen

Der auſtraliſche Bugongſchmetterling.

Vorratskammern, und die Arbeiter, Männchen und Weibchen, entziehen ihnen zur Stillung des Hungers den aufgeſpeicherten Honig. Die Mexikaner nennen daher auch dieſe Ammen der Honigameiſe „Honig- töpfe“ und machen ſich die Honiganſammlung ſelbſt zunutze, indem ſie die mit Honig angefüllten Leiber verzehren. Man verkauft dieſe „Ammen“ in Mexiko maßweiſe.

Endlich gehört ſogar auch ein Schmetterling zu den eßbaren Inſekten. Es ift dies der auſtraliſche

0 Von Th. v. Wittembergk. | 201

Bugong. Der Schmetterling erſcheint im Frühjahr an den Abhängen der Bugong Mountains in großen Schwärmen und läßt ſich während der Nacht auf den Bäumen nieder. Unter den Bäumen zünden nun die Eingeborenen große Feuer an, deren Rauch die fchlafen- den Schmetterlinge betäubt, ſo daß ſie herabfallen. Man ſammelt die Tiere und ſchiebt ſie auf dem heißen Boden ſo lange hin und her, bis die Beine, Flügel und Fühler abgeſengt ſind. Darauf zerſtößt man die Leiber in hölzernen Gefäßen zu einem Teig, aus dem man kleine Kuchen backt.

*

EEN

Mannigfaltiges.

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(adden verboten.)

Eine merkwürdige Liebesgeſchichte. Anfang der fieb- ziger Jahre des vorigen Jahrhunderts machte in Petersburg ein junger Gardeleutnant, Graf Lichatſchew, viel von ſich reden durch ſeine tollen Streiche, bei deren Durchführung er, ohne jemals roh oder unfein zu werden, geradezu eine gewiſſe Genialität entwickelte. Lichatſchew hatte als einziges Kind von ſeinen frühverſtorbenen Eltern nicht weniger als zwanzig Millionen Rubel Bargeld und noch dazu ein ungeheures Ma- jorat, gegen hunderttauſend Morgen, geerbt. Der Dezember- tag, an dem er ſein Leutnantspatent erhielt, geſtaltete ſich zu einem nie wieder geſehenen Feſttag für die Armen der ruſſiſchen Hauptſtadt. Lichatſchew fuhr nämlich in ſeinem Schlitten zwei Stunden lang durch die Straßen der Vorſtädte und warf aus einem neben ihm ſtehenden, mit Rubelſtücken gefüllten Sack fortwährend Geld unter die Leute. Der Scherz koſtete ihm eine Viertelmillion, leider aber auch zwölf Menſchen das Leben. Oenn die meiſten der ſo unverhofft beſchenkten Leute hatten das Geld ſchleunigſt in Spirituoſen umgeſetzt, und zwar ſo nachhaltig, daß ein Dutzend der ſinnlos Trunkenen in der folgenden Nacht auf der Straße erfror. Daraufhin wurde dem jungen Offizier von der Polizei jede weitere Freigebigkeit dieſer Art aufs ſtrengſte verboten.

Vier Fahre ſpäter, 1875, wollte die ebenſo vielgefeierte wie liebreizende Wiener Operettenfängerin Jda Mölmer am Alexandratheater in Petersburg ein längeres Gaſtſpiel ab- folvieren. Bei ihrem Eintreffen in der ruſſiſchen Hauptſtadt fand ſie ihr Hotelzimmer mit einer Fülle koſtbarer Blumen

u Mannigfaltiges. 203

überreich geſchmückt. Zunächſt war ihre Freude über dieſe ſinnige Aufmerkſamkeit groß. Als fie aber erfuhr, daß Liha- tſchew, derſelbe Lichatſchew, der auch wegen ſeiner galanten Abenteuer bereits berüchtigt war, der Spender des Blüten- flores ſei, mochte ſie fürchten, es könnte ihrem Rufe ſchaden, wenn fie derartig koſtſpielige Aufmerkſamkeiten des ihr bisher per- fönlich nicht bekannten jungen Millionärs annähme, und ließ da- her die ganze Blumenpracht kurzerhand hinausſchaffen, ebenſo wie ſie es auch ablehnte, den galanten Gardeleutnant, der ſich bald darauf bei ihr anmeldete, zu empfangen. Lichatſchew, der ſich in die Photographien der Mölmer, die der Reklame wegen ſeit Wochen in vielen Schaufenſtern hingen, verliebt hatte, war infolge dieſer Abweiſung äußerſt aufgebracht und ſchwur der Künſtlerin im erſten Arger bittere Rache.

Als nach drei Tagen die erſte der Gaſtſpielvorſtellungen ſtattfinden ſollte, hatte Lichatſchew ſchon vorher ſämtliche Karten aufkaufen laſſen, ſo daß der verwöhnte Operettenſtar vor einem ſo gut wie leeren Hauſe außer ſechs Zeitungskritikern und vier Polizeibeamten auf Freiplätzen befanden ſich nur noch drei Gardeoffiziere in der großen Wittelloge ſpielen mußte. Zunächſt weigerte die Mölmer fih energiſch, vor dieſem Audi- torium überhaupt aufzutreten. Aber der Direktor pochte auf ſein Recht und meinte, der Künſtlerin könne es gleichgültig ſein, wieviel Publikum vorhanden wäre, wenn ſie nur ihre ausbedungene Gage erhielte.

Die Aufführung begann alfo. Der Beifall war ſtark, trog- dem ſich nur ſechsundzwanzig Männerhände dazu rührten. Nach dem letzten Fallen des Vorhangs erhielt die Mölmer einige wunderſchöne dunkelrote Rofen in ihre Garderobe ge- ſchickt mit einer Karte, auf der unter dem Namen Lichatſchew nur die Worte ſtanden: „Zest, wo ich Sie von Angeſicht zu Angeſicht geſehen habe, flehe ich Sie an: Verzeihen Sie mir!“ Damit hatte der abgewieſene Gardeleutnant fich ſelbſt als den Urheber dieſer „Theaterleere“ bekannt.

Aber die zierliche Wienerin, die ſchon während der Vor— ſtellung vor innerer Empörung über dieſen Streich halbkrank geworden war, zertrat die Rofen mit den Füßen und riß

204 Mannigfaltiges. l o

Lichatſchews Karte in kleine Stückchen. Das war ihre einzige Antwort.

Mit Bangen ſah ſie dem folgenden Tage entgegen. Sie fürchtete, daß ſie wieder das zweifelhafte Vergnügen haben würde, vor leerem Haufe zu ſpielen. Ihre Beſorgnis war aber umſonſt. Das Theater zeigte ſich bis auf den letzten Platz gefüllt. Auffallenderweiſe herrſchte jedoch im Zuſchauerraum, ſchon bevor der Vorhang hochging, eine Heiterkeit, die ſich immer wieder in lauten Lachfalven Bahn brach, und für die die Schau- ſpieler hinter dem Vorhang zunächſt keine rechte Erklärung fanden. Endlich wurde man gewahr, welche Urſache dieſe auf- fällige Fröhlichkeit hatte. Lichatſchew, von dem wieder fämt- liche Karten aufgekauft worden waren, hatte die Plätze auf der rechten Seite des Theaters ausſchließlich an Kahlköpfe verſchenkt, ſo daß dieſes Meer von im Lichterſchein ſtrahlenden Glatzen einen geradezu überwältigend komiſchen Eindruck machte.

Die Aufführung verlief im übrigen ohne Störung, abgeſehen von einigen ſchlechtverhehlten Heiterkeitsausbrüchen, die die Darſteller ſelbſt auf offener Szene beim Anblick der „haar- loſen“ rechten Theaterſeite nicht unterdrücken konnten. Ida Mölmer, die ihre durch dieſen neuen Racheakt nur zu febr verärgerte Stimmung meiſterlich zu verbergen wußte, erntete wahre Beifallsſtürme, an denen ſich auch die drei Gardeoffiziere in der Mittelloge eifrigſt beteiligten.

Am folgenden Vormittag ſchickte Lichatſchew der Operetten- diva zuſammen mit einem wunderbaren Roſenſtrauß einen Brief, in dem er um die Gewährung einer kurzen Unterredung bat. Unterzeichnet war das Schreiben mit: „Ein reuiger Sünder.“ Die Künſtlerin warf dem Boten Brief und Blumen

einfach vor die Füße. ) Der dritte Gaſtſpielabend war da. Nicht ohne Herzklopfen begab ſich die feſche Wienerin in das Theater. Wußte ſie doch nicht, welch neue Tücke ihr unberechenbarer Feind inzwiſchen wieder ausgebrütet hatte. Doch dieſes Mal ereignete ſich nichts. Der Muſentempel war von einem normalen Publikum bis auf den letzten Galerieplatz beſetzt, und die ſchöne Mölmer ſpielte daher mit ſo übermütigem Schneid und ſo dezenter

u Mannigfaltiges. 205

Rotetterie, daß fie nach dem letzten Aktſchluß immer wieder vor dem Vorhang erſcheinen mußte. Auffallenderweiſe fehlten heute die drei Gardeoffiziere in der Mittelloge. Als die Vor- ſtellung beendet war, verließ die Operettendiva durch den Seiteneingang das Theater und betrat die Straße, wo bereits der für ſie beſtellte Wagen wartete. Die Mölmer und ihre Kammerfrau waren jedoch nicht gerade angenehm überraſcht, daß man ihnen ein offenes Gefährt geſchickt hatte. Es war bereits herbſtlich kühl, und die Sängerin fürchtete ſich zu er- kälten. Als ſie noch zauderte einzuſteigen, wies der Kutſcher ſtumm auf zwei koſtbare Pelzmäntel, die auf den Wagenkiſſen lagen, und half den beiden Damen dann auch galant in die ſchützenden Hüllen.

In beſter Laune und wahrhaft erfriſcht von der Fahrt langten Ida Mölmer und ihre Begleiterin vor ihrem Hotel an. Aber kaum waren ſie ausgeſtiegen, als der Kutſcher auch ſchon auf die Pferde lospeitſchte und davonjagte, ſo daß die Damen gezwungen waren, die Pelze mit in ihre Zimmer hinaufzunehmen. Zn der Taſche desjenigen, den die Künſtlerin getragen hatte, fand ſie dann einen Brief, in dem Lichatſchew ſich ihr als den Roſſelenker zu erkennen gab, abermals ihre Verzeihung anflehte und die Diva bat, den Hermelinpelz als Zeichen ihrer verſöhnlichen Stimmung gütigſt behalten zu wollen. Am nächſten Morgen ſchickte Jda Mölmer die beiden Pelze in das Palais des Grafen zurück ohne jede Zeile.

Lichatſchew, der inzwiſchen ſein Herz an die feſche Wienerin vollſtändig verloren hatte, ſah jetzt endlich ein, daß er der Künſtlerin gegenüber bisher eine falſche Taktik verfolgt hatte, und verſuchte nun drei Tage hintereinander auf jede nur mög- liche Weiſe ihre Bekanntſchaft zu machen oder fie doch wenig- ſtens zu verſöhnen. Die Mölmer blieb unerbittlich. Alle Briefe, die ihr, oft auf die raffinierteſte Art, in die Hände geſpielt wurden, blieben ungeleſen, ſobald ſie erkannte, daß ſie von dem jungen Grafen herrührten.

Da nahm dieſer zu einer neuen Lift feine Zuflucht. Er hatte eines Tages erfahren, daß die Diva eine Ausfahrt in die Umgebung von Petersburg machen wollte, und wußte es

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nun durch Beſtechung des Hotelperfonals fo einzurichten, daß man ihn ihr als angeblichen Fremdenführer empfahl. Seine Hoffnung, die Sängerin würde in ihm nicht jenen galanten Kutſcher wiedererkennen, erfüllte ſich wirklich. Ahnungslos nahm die Mölmer den ſchlicht gekleideten Grafen als Be— gleiter an. )

Bei der einen gemeinfamen Spazierfahrt blieb es nicht. Der vielſeitig gebildete Fremdenführer, der das Deutſche und Franzöſiſche ebenſo fließend wie ſeine Mutterſprache beherrſchte, geleitete die Künſtlerin in die Muſeen und Kirchen und ver- ſchaffte ihr auch Zutritt zu den Zarenſchlöſſern, die ſonſt dem Publikum verſchloſſen blieben. Um die Mölmer aber nicht ſchließlich doch argwöhniſch zu machen, ſchrieb Lichatſchew in- zwiſchen immer wieder flehende Briefe an ſie, und die Sängerin ahnte tatſächlich bis zuletzt nichts von dem wahren Sachverhalt.

Dieſer bisher ſo romantiſche Liebesroman fand ſchließlich einen Abſchluß, wie er kommen mußte: Zda Mölmer verliebte ſich in ihren liebenswürdigen Begleiter, ſo daß dieſer es wagen konnte, ſich ihr nach Verlauf von kaum zwei Wochen zu er- kennen zu geben und in aller Form um ihre Hand anzuhalten, die ihm auch nicht verweigert wurde.

Ani 2. Februar 1876 wurde in Petersburg die Hochzeit des jungen Paares mit größtem Prunke gefeiert. Die Gräfin Lichatſchew hat bis zu ihrem Tode in der Petersburger Hof- geſellſchaft eine bedeutende Rolle geſpielt. Sie überlebte ihren Gatten nur um wenige Monate. Die Ehe der beiden galt überall als geradezu muſtergültig. W. K.

Arktiſche Reizbarkeit. Die Tropen erzeugen mit ihrer entnervenden Hitze unter beſtimmten Bedingungen jenen Bu- ſtand, deſſen Geſamterſcheinungen man unter dem Namen „Tropenkoller“ zuſammenfaßt, und der ſich einmal in völligem Verſagen des moraliſchen Verantwortlichkeitsgefühls, dann aber auch in einer oft lächerlichen Selbſtüberſchätzung äußert, Er- ſcheinungen, die den Betreffenden völlig ungeeignet zu weiterer Verwendung in der heißen Zone machen.

Aber auch die Gebiete des ewigen Eiſes beſitzen in der ſo— genannten „arktiſchen Reizbarkeit“ eine oft recht gefährliche

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Gemüũtskrankheit. Faft ſämtliche Nordpolfahrer berichten über diefe furchtbare Geißel, die in dem eisſtarrenden Halbdunkel der Polarländer nur zu leicht heraufbeſchworen wird. Höchſt wahrſcheinlich ſind die Zerwürfniſſe auf der Südpolexpedition des Oberleutnants Filchner ebenfalls auf „arktiſche Reizbar- keit“ zurückzuführen.

Es handelt ſich um einen Zuſtand krankhafter Erregbarkeit, der ſich häufig bis zu förmlichen Wutanfällen, ja ſelbſt bis zum Wahnſinn ſteigert. Als Urſachen der Erkrankung hat man hauptſächlich die völlig veränderte Lebensweiſe an Bord der Expeditionsſchiffe und das Bedrückende des Polarlandichafts- bildes mit ſeiner ſchaurigen Stille und Eintönigkeit zu betrachten. Gegen dieſe „arktiſche Reizbarkeit“ gibt es nur ein Mittel: ſtete Arbeit und Zerſtreuungen.

Man leſe in Nanſens „In Nacht und Eis“ nach, durch wie verſchiedenartige Mittel der kühne Forſcher immer wieder den Geiſt ſeiner Gefährten zu beeinfluſſen, ſie zu erheitern ſuchte, alles nur, um das Geſpenſt der nervöſen Gereiztheit von Bord der „Fram“ zu bannen. Nanſen glückte dies. Andere Leiter von Nordpolexpeditionen, die fih für den Seelenzuſtand ihrer Mann- ſchaft weniger beſorgt zeigten, wiſſen von wilden Schreckenſzenen zu erzählen, die aus der nichtigſten Veranlaſſung entſtanden.

So entwickelte ſich im Mai des Jahres 1832 an Bord der vom Eiſe eingeſchloſſenen „Victory“, mit der der Engländer gohn Roß den magnetiſchen Nordpol entdeckte, eine Schlägerei zwiſchen den Expeditionsteilnehmern, bei der drei Leute den Tod fanden. Und die Urſache? Der Matroſe Booth war auf Deck ausgeglitten, über die Reling in einen Schneehaufen gefallen und darob von feinen Kameraden ausgelacht worden. Wut- ſchnaubend ergriff er eine Walfiſchharpune und ſtieß fie dem Nächſtſtehenden in den Leib. Schnell bildeten ſich zwei Par- teien, und wenige Minuten ſpäter gab es drei Tote an Bord.

Ahnliche Vorfälle haben ſich bei allen Polarexpeditionen abgeſpielt. Am ſchrecklichſten aber erging es den Leuten des Robbenfängers „King Edward“, der 1897/98 ſieben Monate lang an der grönländiſchen Küſte im Eiſe lag. Das Schiff war reich verproviantiert, und die Mannſchaft lebte herrlich und

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in Freuden. Der Kapitän, ein Trunkenbold, kümmerte ſich um nichts, ſondern ließ jeden nach Belieben ſchalten und walten. Durch die fpätere Verhandlung vor dem Londoner See- gericht wurden nun die folgenden grauenhaften Vorgänge feſtgeſtellt. Am A. Dezember 1897 brach in der Mannſchafts- kajüte beim Kartenſpiel Streit aus, der jedoch durch den Steuer- mann beigelegt wurde. Trotzdem begab ſich der anſcheinend wieder völlig ruhig gewordene Matroſe Perkins in ſeine Koje, holte ſich einen Revolver und ſchoß den Steuermann, den Schiffsjungen und den Koch kaltblütig über den Haufen. Die beiden erſteren ſtarben noch an demſelben Tage, der Koch, der nur an der Schulter verletzt war, genas nach längerem Kranken- lager. Der Attentäter wurde in Eiſen gelegt. Zwei Tage darauf ſchlug ein anderer Matroſe dem Kapitän mit einer Eifenftange über den Kopf, weil er angeblich eine zu kleine Portion Tabak erhalten hatte, und entfloh dann in die Eis- wüfte hinein. Er wurde trotz eifrigen Suchens nicht wieder aufgefunden. Am Weihnachtsabend beſchuldigte der Boots- mann, ein Oeutſcher, einen Matroſen, abſichtlich ein Licht ſeines kleinen, aus Beſenreiſern hergeſtellten Tannenbäumchens ausgelöſcht zu haben. Der Matroſe griff, ohne ein Wort zu fagen, zum Meſſer und ſtieß es dem Deutſchen ins Herz. Kurz bevor der „King Edward“ dann vom Eiſe freikam, brach bei dem inzwiſchen wiederhergeſtellten Schiffskoch der Wahnſinn aus: er verſuchte das Fahrzeug in Brand zu ſtecken und mußte, da er in Tobſucht verfiel, in einer kleinen Kabine gefeſſelt mit nach der Heimat genommen werden. Als der Walfiſchfänger in London im Zuni 1898 eintraf, führte er als Beſatzung außer dem Kapitän nur noch drei geſunde Leute. Das Seegericht nahm eine ſtrenge Unterſuchung vor. Die beiden Mörder wurden jedoch freigeſprochen, da der Verteidiger geltend machte, die bisher unbeſtraften Angeklagten hätten im Wahnſinn die Verbrechen verübt: arktiſche Reizbarkeit. Dem Kapitän aber entzog man das Patent als Schiffsführer mit der Begründung, es ſei ſeine Pflicht geweſen, ſich auch um die ſeeliſche Verfaſſung feiner Leute zu bekümmern, und dies habe er in ſträflichſter Weiſe vernachläſſigt. W. K.

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Beſſeres Tageslicht in den Zimmern. Wir wiſſen alle, daß es uns in vielen Räumen, be- ſonders bei trübem Wet- ter, an genügendem Sa: geslicht fehlt. Tauſende und aber Tauſende von Menſchen haben darun- ter zu leiden. Oieſe Tatſache ift darauf au- rückzuführen, daß die Räume meiſt nur ſpitz⸗ winkliges, im günftigften Falle nur rechtwinkliges oder wagrechtes, dafür aber aus weiterer Ferne tommendes Tageslicht

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Fig. 1.

erhalten, das dann auch noch auf feinem Wege in die Räume durch Mauer- werk, ſowie durch Glas und Rahmen der Fenſter ſelbſt erhebliche Abſchwä⸗ chungen erfährt, während ein weiterer Teil durch innere Einrichtungen ab- ſorbiert wird. So be- trägt die Abſchwächung des Tageslichtes durch das Glas allein je nach der Glasart 8 bis 25 Pro- zent. Die Folge dieſer Erſcheinungen, die wohl den wenigſten bekannt ſind, iſt entweder Arbeit 14

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bei halbem Tageslicht oder die Zuhilfenahme des künſtlichen Lich tes. Wir wollen auf die ſchädlichen Einwirkungen dieſer beiden Tatſachen, die gar vielartig ſind, hier nicht näher eingehen.

Es ſind nun jetzt patentamtlich geſchützte Lichtgläſer zur Übertragung von Tageslicht in die Räume in den Handel ge- bracht worden, die alle Übelftände mit einem Schlage beſeitigen. Durch einfachſte Anbringung der Lichtgläſer an den Fenſtern, dort, wo fie das Tageslicht direkt aufnehmen können, über- mitteln ſie den Räumen eine Fülle von Licht, die jene wie in volles Tageslicht getaucht erſcheinen laſſen, und beſonders bei trübem Wetter iſt die Wirkung eine wunderbare. Die Lichtgläſer, hergeſtellt von der Deutſchen Lichtglasgeſellſchaft m. b. H. zu Leipzig, Sidonienſtraße 16, ſind das Produkt einer langjährigen genaueſten und ſorgfältigſten Beobachtung und ſchaffen durch die ſtarke Lichtabgabe eine bedeutend beſſere Ausnützung des Raumes beim Zimmerbau. Unbrauchbare Räume werden durch ſie verwertbar gemacht, und es werden Stoffe, Bilder und ſo weiter vor dem Verderben oder doch vor dem Verbleichen geſchützt. Es werden weiter erhebliche Koſten für frühzeitige künſtliche Beleuchtung geſpart. Bei ſteilem Lichteinfall, wie in engen Straßen und Höfen vorkommend, leiſten die Lichtgläſer ebenfalls Vorzügliches. Sie werden dann als Markiſen verſtellbar vor den Fenſtern angebracht und er- leuchten ſo jeden Raum mit dem Vorteil, die Lichtſtrahlen beliebig leiten zu können.

Kurz zuſammengefaßt, beſtehen die Vorzüge der neuen Erfindung in größerer und erleichterter Lichtaufnahme, fowie in leichter Lichtdurchdringung und damit in größerer Licht- weitergabe gegenüber den Gläſern mit ebener oder gerundeter Rückfläche oder mit gewellten Prismen, ferner in der Ber- ſendung völlig weißen, klaren und ruhigen Lichtes ohne jede Beimiſchung von Schatten oder Abſchwächungen und zuletzt in weiteſter Verteilung des Lichtes in dem Raume bei gleicher Nahbelichtung. Unſere Abbildung Fig. 1 zeigt uns ein Zimmer bei geöffnetem Fenſter ohne Lichtgläſer, in Abbildung Fig. 2 ſehen wir dasſelbe Zimmer bei geſchloſſenem Fenſter mit Lidt- gläſern. | H. Herzberg.

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*

Schlachtandenken. Als Mr. Crumping aus London das Muſeum in Waterloo beſuchte, hätte er gar zu gern etwas mitgehen heißen; aber alles, was da vorhanden war als Zeugnis der Schlacht, Waffen, Orden, Helme, Kugeln, Sporen, Steig- bügel und ſogar Totenſchädel und vieles andere alles war gut verſchloſſen und gut bewacht.

So mußte denn Crumping ohne ein Andenken das Muſeum verlaſſen, das ſeinerzeit vom Wachtmeiſter Cotton, einem Mit- kämpfer von Waterloo, ins Leben gerufen worden war.

Nun vielleicht glückte es ihm, auf dem Schlachtfelde ſelbſt etwas zu finden, das er ſeiner Sammlung von allerlei Raritäten einverleiben konnte. Er fuhr alſo nach Mont Saint Jean, um ſich einen Führer über das Schlachtfeld zu ſuchen. Man wies ihn zum Hauſe des alten Corbeil. Dieſer empfing den Fremden mit einer gewiſſen Würde und begab ſich ſofort mit ihm auf das Schlachtfeld.

Zunächſt betraten die beiden das hügelige Gelände ſüdlich von Mont Saint Jean, auf dem die engliſche Armee geſtanden hatte. Der Führer zeigte die einzelnen Punkte, um die befon- ders heiße Kämpfe getobt hatten: das Vorwerk, die Farm La Haye und den Kirchhof von Planchenois. Dann beftiegen ſie den Hügel von Roſſomme, auf dem eine Windmühle ſteht.

„Hier vor dieſer Windmühle,“ rief Corbeil mit Nachdruck, „hielt ſich Napoleon während des größten Teils der Schlacht auf. Sehen Sie, mein Herr, dort drüben am Saum des Waldes von Soignes beobachtete der Herzog von Wellington die Schlacht, und dort rechts kamen die erſten Preußen an.“

„Hielt ſich Napoleon auch hier in der Mühle auf?“ fragte Crumping.

„Natürlich, mein Herr,“ war die Antwort. „Er weilte längere Zeit darin.“ '

Crumping betrat jetzt, von Corbeil gefolgt und vom Müller freundlich empfangen, die Windmühle. Im Hauptraum ent- deckte er unter einem Nagel eine kleine Tafel an der Wand, die beſagte: „An dieſem Nagel hängte Napoleon in der Schlacht bei Waterloo ſeinen Hut auf.“ Crumping wurde vor Erregung ganz rot, denn der roſtige Nagel da in der Wand hatte es

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ihm fofort angetan. Er fragte, ob er ben Nagel nicht betom- men könne, und bot vorfichtig erft zwanzig Franken.

Der Müller wollte ſich von der Reliquie, die an den großen Kaiſer erinnerte, nicht trennen, doch als der Engländer erſt vierzig, dann fünfzig Franken bot, zog er ſeufzend den Nagel heraus und überreichte ihn Crumping, der ihn ſorgſam in der Brieftaſche barg.

Recht zufrieden trat er mit feinem Begleiter den Rüd- weg an. |

„Wollen Sie, mein Herr, vielleicht einmal meine Andenken ſehen?“ fragte der alte Corbeil.

Crumping ging gern darauf ein, und ſo traten ſie in die behagliche Wohnung des Führers.

Sofort fiel Crumpings Blick auf ein Geſtell, auf dem eine Anzahl Kriegsandenken lagen: eine abgeplattete Kugel, Sporen, Säbel, Schärpen und dergleichen. Der Sammeltrieb regte ſich

ſogleich, und Crumping fragte, ob Corbeil etwas davon verkaufe. i Dieſer trennte fih nur febr ſchwer von feinen Andenken, doch endlich ließ er fidh dazu herbei, die Kugel und die Schärpe eines Offiziers für fünfzig Franken abzulaſſen.

Crumping beſtieg dann ſeinen Wagen und kehrte nach Brüſſel zurück, ſehr befriedigt über ſeine guten Käufe. Er gedachte ſchon feiner Freunde in London und was die für Augen machen würden.

Einige Tage ſpäter trat der alte Corbeil in die Windmühle auf dem Hügel von Roſſomme. Er begrüßte den Müller und ſagte: „Nun wollen wir einmal abrechnen. Drei Fremde waren es dieſe Woche, einer zu fünfzig, einer zu dreißig und einer zu fünfundzwanzig Franken. Macht hundertfünf Franken, und ich bekomme alſo fünfunddreißig.“

„Schweres Geld!“ ſeufzte der Müller, indem er ihm den Betrag zahlte. „Daß ich immer ein volles Drittel abgebe muß! Ein Viertel tät's auch!“ l |

„Nur zufrieden, Gevatter!“ rief Corbeil. „Habt Euren Wohlſtand ja nur dem Nagel zu verdanken! Stets führe ich die Fremden her, die den Nagel dann kaufen, und Ihr be- haltet zwei Drittel!“

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Er zeigte alsbald auf die kleine Tafel, unter der bereits wieder ein anderer roſtiger Nagel prangte.

„Na und Ihr? Eure ſauberen Kriegsandenken tragen wohl nichts?“

„Mit Euch iſt nicht zu reden!“ polterte Corbeil ärgerlich und ging. Am nächſten Tage jedoch erſchien er ganz friedlich wieder und brachte einen Fremden mit, der dreißig Franken für den Nagel anlegte, an dem Napoleon feinen Hut auf- gehängt hatte.

Mr. Crumping hatte einige Freunde eingeladen. „Ich habe Ihnen,“ ſagte er ſtolz, „einige hübſche Sachen gezeigt, die ich von der Reife mitgebracht habe. Nun aber bitte ich um Ihre beſondere Aufmerkſamkeit.“

Er führte die Gäſte in ein anderes Zimmer. Hier lagen auf einem Kiſſen unter einem Glasſturz drei Gegenſtände.

„Vom Schlachtfelde von Waterloo!“ ſagte Crumping feier- lich. „Hier die Schärpe eines franzöſiſchen Generals, hier eine Kugel, die am Panzer eines preußiſchen Küraſſiers abgeplattet wurde, und hier,“ fuhr er fort, während feine Freunde epr- fürchtig lauſchten, „und nun hier dieſer einfache roſtige Nagel. Er ift aus der Windmühle vom Hügel von Roſſomme, auf dem Napoleon die Schlacht leitete. An dieſem Nagel,“ ſchloß Crumping mit Nachdruck, „an dieſem Nagel hat der größte Feldherr aller Zeiten ſeinen Hut aufgehängt!“

Mit tiefem Ernſt blickten alle auf das unſcheinbare Stüd- chen Eiſen. A. Thiele.

Hinrichtung eines ſpaniſchen Granden im 15. Jahrhundert. Ein böhmifcher Edelmann, Gafet v. Mezyhor, hatte mit feinen Gefährten im Jahre 1466 Gelegenheit, in der kaſtilianiſchen Stadt Olmedo der Hinrichtung eines Granden beizuwohnen, der wegen Teilnahme an einer Verſchwörung gegen König Heinrich von Kaſtilien zum Tode verurteilt war. Saſek ſchildert dieſe Hinrichtung in feinem auf uns überkommenen Reifetage- buche.

Der verurteilte Hochverräter wurde in einem reichen, gold- geſtickten Purpurgewande auf einen freien Platz geführt, auf dem ſich bereits eine anſehnliche Volksmenge verſammelt hatte,

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und dort an einen Pfahl gebunden. Ihm gegenüber poſtierten ſich zahlreiche Männer, Jäger und Bogenſchützen, die nun mit Pfeilen nach dem Verurteilten zu ſchießen begannen. Ihr Ziel waren zunächſt nur die Körperteile des Opfers, deren Verwundung nicht gleich töten konnte, alſo hauptſächlich Arme und Beine. Zeder Fehlſchuß mußte mit zwanzig Realen ge- büßt werden, wogegen jeder geſchickte Treffer einen Preis von zwanzig Realen abwarf.

Als der dieſe grauſame Hinrichtung befehligende Richter es für angebracht hielt, trat der geſchickteſte Schütze vor und tötete mit einem Herzſchuß das entſetzlich leidende Opfer.

Der über eine ſolche Art der Hinrichtung ſehr verwunderte Böhme wurde belehrt, daß dieſe Art der Todesſtrafe allgemein üblich ſei, daß die Teilnahme an der Vollſtreckung des Urteils nicht nur niemand zur Schande, ſondern den Gewinnern der Preiſe ſogar zur hohen Ehre gereiche.

Und dann kam das Wunderlichſte der ganzen widerwärtigen Szene: im Angeſicht der noch an die Säule gefeſſelten Leiche ſetzte man ſich an rohgezimmerten Tiſchen nieder, Muſikanten begannen aufzuſpielen, und die vergnügten Schützen ver- tranken gemeinſchaftlich die zahlreich eingegangenen Straf- gelder. O. Th. St.

Gute Verdauung. Wie oft hören wir darüber ſprechen, ob „Pflanzenkoſt“ oder „Fleiſchkoſt“ vorzuziehen ſei. Mit dieſer Frage aber find eine ganze Reihe anderer Fragen ver- knüpft, von denen jede für ſich größeres Intereſſe beanſprucht als gerade dieſe. i

Was find das für Fragen?

Wenn wir über die Frage der richtigen Ernährung ſchlüſſig werden wollen, müſſen wir dabei folgende Faktoren berüd- ſichtigen. Zunächſt, und das ift das allerwichtigſte, die Ber- hältniſſe, unter denen wir dem Körper Nahrung zuführen; zweitens der Zuſtand, in dem ſich der Magen und die Därme befinden, denen die Nahrung zugeführt wird; in dritter Linie erſt die Art der Nahrung ſelbſt.

Es mag auffallend erſcheinen, daß die Verhältniſſe, unter denen man Nahrung einnimmt, wichtiger ſein ſollen als die

WW: Mannigfaltiges. 215

Art der Nahrung ſelbſt. Daß dem aber fo ift, wird durch viel- fache Verſuche bewieſen. Eine Mahlzeit, die man zu ſich nimmt, wenn man ſehr ermüdet oder febr aufgeregt oder ſehr ärgerlich iſt, kann ebenſowenig verdaut werden wie eine, die in zu großer Haſt gegeſſen wird. Ebenſo iſt die Angewohnheit, unmittelbar nach dem Effen wieder zu arbeiten, überaus ſchaͤd⸗ lich. Darunter muß zweierlei leiden: die Arbeit und die Ber- dauung. Und dabei iſt es ganz gleich, ob es ſich um geiſtige oder körperliche Arbeit handelt. Wo gearbeitet wird, gleich- viel ob im Gehirn oder im Magen, oder mit den Armen und Beinen, muß Blut vorhanden ſein, und das Blut kann nicht zu gleicher Zeit im Magen und in den Muskeln fein, Ein plöß- licher heftiger Schreck während des Eſſens erregt oft Ekel oder Erbrechen. Manche Leute können ſogar nicht einmal das Eſſen verdauen, das ſie in einem lebhaften Reſtaurant zu ſich genommen haben.

Es ließe ſich noch vieles andere anführen, das beweiſen würde, daß der Magen ein ſehr empfindliches Organ iſt, das unverzüglich auf die geringſte Veränderung des Befindens und der Stimmung antwortet.

Von den vielerlei Umſtänden, die einer guten Verdauung nachteilig ſind, iſt aber der allerſchädlichſte das Studium einer höchſt wichtigen Perſon, des eigenen Ichs, und diätetiſche Experi- mente, die man an derſelben fo ſchwer leidenden Perſon vor- nimmt. Die hartnäckigſten Fälle von „Magenverſtimmung“, gegen die keine Behandlung einſchlagen will, werden nicht etwa durch ſchlechtes Eſſen oder durch zu reichliche oder durch zu knappe Nahrung veranlaßt, ſondern durch übel angebrachte Beſtrebungen des Patienten, die Nahrungsfrage durch Ver- ſuche an ſeinem eigenen Körper zu löſen. Wer viel an ſeine Verdauung denkt, wird bald an Verdauungsſtörungen leiden.

„Iſt dieſes Gericht für mich ſchädlich?“ fragte einſt ein Saft feinen Tiſchnachbarn, einen berühmten Arzt.

Ohne hinzuſehen, antwortete dieſer mit einem kurzen „Ja“.

„Aber Sie haben ja gar nicht geſehen, wovon ich ſpreche. Woher können Sie alſo wiſſen, daß es mir ſchaden wird?“

„Weil Sie mich gefragt haben, weil Sie alſo Angſt haben,

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daß Sie diefe Speiſe nicht verdauen werden. An der Be- kömmlichkeit des Eſſens zweifeln, heißt Verdauungsbeſchwerden hervorrufen.“

Um einen geſunden und richtig funktionierenden Magen braucht man ſich nicht zu kümmern, er nimmt es ſogar übel, wenn man an ihn denkt. Einer der ſchlimmſten Fälle einer gewiſſen Herzkrankheit, die der erwähnte Arzt jemals in Be- handlung hatte, wurde dadurch hervorgerufen, daß die Pa- tientin, ſobald ſie zu Bett gegangen war, aufmerkſam lauſchte, wie ihr Herz ſchlug.

Haſtiges Effen ift auch eine Angewohnheit, die ſchon viel Unheil angerichtet hat. Beim raſchen Eſſen wird nicht nur die Nahrung ungenügend gekaut und zu wenig mit Speichel durchfeuchtet, ſondern es wird ſicherlich auch zuviel gegeſſen. Bei raſchem Eſſen hat man auch häufig ein Gefühl, daß man zu großer Eile angetrieben wird, oder man befindet ſich in großer Angſt oder Aufregung. Alles das iſt von ſchädlicher Wirkung. |

Auch Effen bei zu großer Ermüdung oder unmittelbar nach ſtarker körperlicher Bewegung ſollte vermieden werden. Die Verdauung iſt auch eine Arbeit, und in ermüdetem Zuſtande können die Verdauungsorgane ihren Dienſt nicht verrichten. Verdauungsſtörungen, ernſtliche Krankheit, ja ſogar der =” können daraus entſtehen.

Das Trinken während des Eſſens wird vielfach für ſchädlich gehalten; unſere phyſiologiſchen Erfahrungen ſprechen indeſſen nicht dagegen, daß ein mäßiger Genuß von Flüſſigkeiten beim Eſſen ſchädlich ſein ſoll. Freilich darf die Flüſſigkeit nicht dazu dienen, die nur halbgekaute Nahrung hinunterzuſpülen.

Viele Leute wollen nicht einſehen, daß Flüſſigkeiten nur dann getrunken werden dürfen, wenn der Mund leer iſt. Wenn man raſch ißt, den Mund voll Eſſen nimmt, dazu einen tüchtigen Schluck Bier, Kaffee oder Waſſer trinkt, wie kann man dann verlangen, daß der Magen die großen harten Klumpen von Eſſen in blutbildenden Stoff verwandeln ſoll! Zur Regel ſollte man es ſich machen, beim Eſſen nur wenig und nur bei leerem Munde zu trinken.

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Jetzt von einem anderen Faktor der Diät: der Beſchaffen- heit der Verdauungsorgane. Mag das Befinden noch ſo gut ſein, mag das Eſſen noch ſo vollkommen ſein, wenn Magen und Eingeweide nicht in Ordnung ſind, wird das Eſſen nicht richtig verdaut. Anderſeits aber find gewöhnlich Magenver- ſtimmungen und Darmerkrankungen die unmittelbare Folge unrichtiger Angewohnheiten beim Eſſen, und um dieſe Organe wiederherzuſtellen, braucht man nur ſich daran zu gewöhnen, dem Körper die Nahrung unter normalen Bedingungen zu- zuführen.

Gute Nahrung und gute Gedanken machen einen guten Magen.

Verdauungsſtörungen gibt es der mannigfachſten Art. Manchmal verurſachen ſie nur wenig Unbehagen und werden wenig beachtet, manchmal aber auch ſind ſie ernſter Natur und recht ſchmerzhaft. Es kommt vor, daß der Magen ſo emp- findlich wird, daß er nicht einmal Waſſer, geſchweige denn Eſſen behalten kann. Magenerkrankungen äußern fih von gelegent-

lichem Kopfweh oder leichten Schwindelanfällen bis zu plöß- lichem Tode. Oft wird die Verſtimmung des Magens gar nicht bemerkt, jahrelang bleibt ſie unbeachtet, bis ſie ſich endlich als ſchwere Erkrankung fühlbar macht. Die Erkrankungen des Magens ſind ſo verſchiedenartiger Natur, daß ſich Regeln über ihre Behandlung nicht geben laſſen, man kann nur ſagen, daß richtige diätetiſche Gewohnheiten die beſten Bedingungen ſchaffen, ſich geſunde Verdauungsorgane zu erziehen und zu erhalten.

Alles, was wir von praktiſcher Diät wiſſen, läßt ſich in zwei Worten ausdrücken, die ſich jeder ſtets mit goldenen Buchſtaben vor Augen halten ſollte: Mäßigkeit und Einfachheit.

Wer mäßig und einfach lebt, der lebt würdig, zufrieden und lange. J. C.

Selbſtpeinigungen indiſcher Fakire. An den indiſchen Wallfahrtsorten, bei berühmten Tempeln, am Hofe der Fürſten oder auch als Teilnehmer an den religiöſen Feiern in Dorf und Stadt trifft man häufig auf Fakire, die ſich aus religiöſem Fanatismus freiwillig den ſchmerzlichſten Martern unterziehen.

Mannigfaltiges.

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Feuer glühen. In der Erfindung der Selbſtpeinigungen be- kunden ſie eine faſt unerſchöpfliche Phantaſie.

Berühmt war ein Fakir, der ſechsundzwanzig Jahre hin- durch in der Nähe von Benares unbeweglich Tag und Nacht auf einem Stein hockte und ſich, da er ſelbſt nicht mehr zu gehen vermochte, zweimal täglich von Freunden zum Ganges tragen ließ, um in dem heiligen Strom ein Bad zu nehmen. Eine öfter geübte Form der Selbſtpeinigung iſt die, daß ſich ein Fakir einen Arm ſenkrecht hochbinden läßt. Die Muskeln ſchrumpfen allmählich ein, und das Schulter- ſowie das Ell- bogengelenk wird unbeweglich. Jetzt werden die Binden gelöſt, und nun bleibt der Arm ſteif nach oben gerichtet von ſelbſt ſtehen.

Beliebt ift ferner das Martyrium der fünf Feuer. Stunden- lang bleibt der Fanatiker einer Bildſäule gleich in dem dichten Rauch und der unerträglichen Hitze der angezündeten Feuer ſitzen.

Höchſt ſchmerzlich wird endlich mit der Zeit das Strick— ſchweben. Zwiſchen zwei Bambusſtäben wird ein dünner Strick befeſtigt, auf dem ſich der Fakir der Länge nach ausſtreckt. Das Liegen wird allmählich, da der Strick den Körper wund reibt und immer tiefer in ihn einſchneidet, ſo martervoll, daß man es nicht begreift, wie ein Menſch dieſe entſetzliche Qual auszuhalten vermag. Gleichwohl verzieht der Fakir dabei keine Miene, ſondern auf ſeinem Geſicht liegt ein ſtiller, friedlicher Ausdruck. Th. S.

Glanzleiſtung eines Reporters. Am 19. November 1874 ging das Auswandererſchiff „Cospatrick“ in Flammen auf vier- hundert Seemeilen vom Kap der Guten Hoffnung. Bis dahin war kein Schiffsunfall ſo grauſig geweſen wie der der „Cospatrick“, bei dem über vierhundert Paſſagiere mitanſahen, wie ihr dem Verderben geweihtes Schiff zwei volle Tage in Flammen ſtand, wie der umſtürzende Hauptmaſt viele erſchlug oder verſtümmelte, wie das Vorderteil des Schiffes in die Luft flog, wie der Kapitän ins Meer ſprang, um womöglich das Leben ſeines mit weg— geriſſenen Weibes zu retten, wie zwei Rettungsboote ausgeſetzt wurden, von denen eines mit all ſeinen Inſaſſen umſchlug,

220 | Mannigfaltiges. o

während das andere umherirrte, bis die darin Sitzenden teils vor Durſt und Hunger ſtarben, teils wahnſinnig wurden.

Die Kunde von dem furchtbaren Ereignis war nach Eng- land gedrungen und hatte ſeine Bevölkerung in Aufregung verſetzt, obgleich man noch nichts Näheres wußte. Nur das war als ſicher bekannt, daß die wenigen Überlebenden irgend- wie nach der Inſel St. Helena gelangt waren, und daß der Dampfer „Nyanza“ ſie von dort nach England zurückführte.

Die Herausgeber der verſchiedenen großen Zeitungen in dem Snfelreiche, die da wußten, wie febr das Publikum auf genaue Nachrichten über die Kataſtrophe brannte, hielten nun täglich mit ihrem Redaktionsſtabe Beratungen darüber ab, auf welche Weiſe ſie wohl am eheſten in den Beſitz der heißbegehrten Neuigkeiten kommen könnten. Man fab keine andere Möglich- keit, als daß man nach Plymouth fuhr und die Ankunft der „Nyanza“ abwartete.

Die „Daily News“ aber befanden ſich in der glücklichen Lage, einen hervorragend unternehmungsluſtigen Bericht- erſtatter, Archibald Forbes, unter ihren Mitarbeitern zu haben, und dieſer erbot ſich, der „Nyanza“ in einem Spezialboote entgegenzufahren, auf irgend eine Art an Bord des Schiffes zu gelangen und die Schiffbrüchigen nach allen Regeln der Kunſt auszufragen.

Der Vorſchlag des kühnen Mannes wurde mit Freuden angenommen, und Nr. Forbes trat feine Fahrt an. Als er die „Nyanza“ erreicht hatte, ſprang er einfach ins Meer, und es gelang ihm, ſich an der Schiffskette der „Nyanza“ anzu- klammern, worauf er von der n des Dampfers an Bord gezogen wurde.

Nun hatte der Wagehals fein Spiel gewonnen. Ein ge- wiſſer Macdonald war unter den Geretteten der einzige, der kräftig und wohl genug war, um Auskunft geben zu können. Er war aber ganz und gar kein zugänglicher Menſch, und erſt als Forbes ihm eine beträchtliche Summe Geld hinzählte, raffte er ſich zu den gewünſchten Mitteilungen auf, die der erfahrene Journaliſt ſorgfältig niederſchrieb.

Sobald der Dampfer in Plymouth anlegte, war er der

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erſte, der an Land ging und feinen Bericht an die „Daily News“ telegraphierte, während die Kollegen von den anderen Blättern erſt Auskunft ſuchen mußten.

So konnten die „Daily News“ ſchon im Abendblatt den ge- ſpannten Leſern über die ſchrecklichen Vorgänge berichten, während es die übrigen Zeitungen erſt in den nächſten Morgen- blättern zu tun vermochten.

Archibald Forbes wurde ſpäter durch ſeine Kriegsberichte aus allen Weltteilen wohl der berühmteſte Journaliſt. C. D.

Vachſtelze und Kreuzotter. An einem ſonnigen Nach- mittag kam ich ſo berichtet ein bayriſcher Forſtmann auf einem Spaziergange in die Nähe eines Steinbruches, der aber Iden längere Zeit nicht mehr im Betriebe war. Lang- ſam ſchritt ich an der verlaſſenen Arbeitſtätte hin, als mich plötzlich eine Bachſtelze ängſtlich umflatterte und mit kreiſchender Stimme offenbar auf ſich aufmerkſam zu machen ſuchte. An- fangs beachtete ich das Benehmen des Vogels nicht, dann wurde ich aber doch aufmerkſam, als er wiederholt auf mich zuflog, und mir das klägliche Geſchrei des Tierchens wie Hilfe- rufe erſchien. Ich blieb ſtehen und beobachtete die Bachſtelze. Nun flog dieſe an einen nahen Abhang, umkreiſte dort einen Stein, erhob ſich dann wieder blitzſchnell und kam wieder zu mir zurück. Nun hegte ich keinen Zweifel mehr über die Ab- ſicht des Vögelchens und erſtieg den Rain. Dort gewahrte ich unter einem hervorſtehenden Steine ein Neſt mit zwei noch ſehr jungen, nackten Vögelchen. Schon hatte ich die Hand aus- geſtreckt, um fie mir in der Nähe zu beſehen, als ich noch recht- zeitig an der Seite des Neſtes eine Schlange gewahrte, die den Kopf erhoben hatte und augenſcheinlich nach den Vögel chen zielte. Ich ſprang zurück, verlor dabei das Gleichgewicht und kollerte eine Strecke den Rain hinab, wobei ich mir eine Hand verletzte. Doch rafſte ich mich raſch wieder auf, um den bedrängten Vögeln Hilfe zu bringen. Die Schlange, in der ich nun eine Kreuzotter erkannte, war inzwiſchen der Offnung, die das Neft barg, ſchon febr nahe gerückt und wandte bei meiner Annäherung drohend ihren Kopf nach mir, wobei ihre Augen funkelten und die geſpaltene Zunge fortwährend züngelte.

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Die Gefahr, in der die jungen Vögelchen ſchwebten, war groß, und es galt kein Beſinnen. Ich hatte einen ſtarken, mit Eiſen beſchlagenen Stock bei mir, mit dem ich der Kreuzotter einige kräftige Hiebe verſetzte, daß ſie den Rain hinabkollerte, worauf ich mit vielem Vergnügen ſah, daß der alte Vogel ſich alsbald, nachdem die drohende Gefahr beſeitigt war, mit großem Eifer der Pflege ſeiner geretteten Lieblinge widmete. Ich verſäumte auch nicht, öfters nach meinen Schützlingen zu ſehen, bis ich ſie eines Tages munter auf dem Geäſte des nahen Gebüſches erblickte. C. T. Anziehungskraft des Verbrechertums. Zu allen Zeiten konnte man die Vergötterung berühmter Verbrecher durch Frauen der beſten Geſellſchaft feſtſtellen. Im alten Rom waren es die eleganteſten Modedamen, die Beziehungen zu Gladiatoren und Wagenrennern, meiſt verurteilten Verbrechern, unter- hielten. In Amerika iſt es ein Modelaſter „prominenter“ Damen, die ihrer Hinrichtung harrenden Mörder mit Blumen- ſträußen und Liebesbriefen zu beſtürmen und ſie um eine Haarlocke zu bitten. Dieſelben Freuden erlebten während ihres Aufenthaltes in La Roquette die anarchiſtiſchen Maſſenmörder Ravachol, Vaillant und Henry vor ihrer Hinrichtung. Letzterer hatte durch die Art feiner Verteidigung die Köpfe feiner Ber- ehrerinnen derart verwirrt, daß ſogar eine veritable Herzogin den Direktor von La Roquette um die Erlaubnis bat, Henry in ſeiner Zelle beſuchen zu dürfen, denſelben Henry, deſſen Hände von Blut rot waren! Der Direktor ſandte das Geſuch mit der biſſigen Randbemerkung: „Wider die Ordnung!“ zurück. Ahnliches ereignete ſich im „Fall Pranzini“. Der Levantiner Henri Pranzini, einer der vielen exotiſchen Abenteurer, die in Paris ihr Glück zu machen ſuchen, oder, wie Aurelien Scholl ſich ausdrückt, „eine Blume im Knopfloch, nach irgend einer Beute ſchnappen, ſei es ein Braten, eine Banknote oder eine Frau“, hatte am 17. März 1887 in der Rue Montaigne zu Paris die Marie Regnault und deren Kammerzofe Annette ermordet und beraubt. Die eleganteſten und ſchönſten Parije- rinnen riſſen ſich nicht nur um die Einlaßkarten zu der Schwur- gerichtsverhandlung, ſondern zahlten fogar hohe Preiſe dafür.

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In den Pauſen umdrängten die Damen die Anklagebank mit ſolcher Energie, daß der Präſident Gendarmen entbot, um die Bewunderinnen des intereſſanten Mörders in den Schranken des Anſtandes zu halten. In dieſen Pauſen rauſchten die Seiden- roben, und wenn der Präſident während der Verhandlung die. Akten zu Rate zog, da ſurrten die koſtbaren Fächer, als fliege ein Volk Rebhühner auf. Nie zuvor hat man bei einer Schwur- gerichtsperhandlung fo viel Schmuck und ſolche Toilettenpracht geſehen. Ein Pariſer Sournalijt verſicherte in feinem Bericht, daß ihm am erſten Verhandlungstag eine Dame der beſten Geſellſchaft, Mutter dreier reizender Kinder, gejagt hat: „Ach, dieſer göttliche Pranzini! Ich würde fünfzig Louisdor drum geben, wenn ich ihm die Hand drücken könnte!“

Dieſer feige, heimtückiſche Mörder hat tatſächlich die ele- ganten Pariſerinnen ſo hyſteriſch gemacht, daß eine ernſte Pariſer Zeitung am Abend ſeiner Verurteilung zum Tode mit Recht die Behauptung aufſtellen konnte, daß eine mit Frauen beſetzte Geſchworenenbank Pranzini ſicherlich freigeſprochen hätte. Grévy, der damals Präſident der Republik war, erhielt Berge von Briefen aus Damenhand, die die Begnadigung des Mörders forderten, deſſen Tat ſo ſcheußlich war, daß der Präſident es nicht wagte, ihn zu begnadigen, obſchon er ſelbſt ein grundſätzlicher Gegner der Todesſtrafe war. Als Pranzini zum Schafott geführt wurde, da ſah er vor ſich eine endloſe Reihe eleganter Equipagen: alle ſeine Verehrerinnen waren gekommen, um noch einmal den Mann su ſehen, der fie fo ſehr bezaubert hatte.

Dieſelbe Erſcheinung trat auch im „Fall Gouffé“, der „Leiche im Koffer“, zutage. Der Pariſer Huiffier Gouffs ließ fid eines Tages verlocken, ein ihm bekanntes Mädchen, Gabriele Bompard, ein Stück zu begleiten. Da wurde er von ihrem Liebhaber Eyraud erdroſſelt und beraubt und ſeine Leiche in einem zu dieſem Zwecke gekauften großen Koffer geborgen. Die beiden Mörder reiſten am anderen Morgen mit dem un— heimlichen Koffer nach Lyon, wo ſie ihn mit in ihr Hotel nahmen. Tags darauf entledigten ſie ſich der Leiche in einem Gebüſch bei Millery, wohin Eyraud den Koffer in einem Wagen brachte,

224 Mannigfaltiges. a

den er ſelbſt kutſchierte. Den Koffer zertrümmerte er, die Stücke warf er ins Gebüſch, wo er auch die Leiche verbarg.

Dieſes Verbrechen bildete faſt ein ganzes Fahr die Gen- ſation der Senſationen und verſchaffte dem „kleinen Dämon“, wie man Gabriele allgemein nannte, eine ſo große Popularität, daß, als ſie nach Millery geführt wurde, um dem Geſetz gemäß die Art ihres Vorgehens darzulegen, Kavallerie ausrücken mußte, um den Ausgang des Bahnhofs freizuhalten. In dem Augenblick, in dem ſie nach Paris zurückkehrte und den Zug beſtieg, durchbrach die Menge die Kette der Gendarmen und Poliziſten und ſtürzte zu dem Wagen, an deſſen offenem Fenſter die Mörderin lächelnd ſtand. Man drückte, küßte ihr die Hand, überreichte ihr Blumen und ſchrie „Hoch!“, als der Zug ſich in Bewegung ſetzte. Gabriele, die ſpäter zu zwanzig Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, warf ihrem Publikum Kußhänd- chen zu. Dann nahm ſie lachend Platz und meinte fröhlich zu den ſie begleitenden Poliziſten: „Nicht wahr, ich hatte einen großen Erfolg!“ W. F.

Merkwürdige Särge. In der evangeliſchen Stadtkirche von Schwedt a. O. ruhen auf beiden Seiten des Altars die Überrefte des vorletzten Markgrafen von Schwedt und feiner. Gemahlin in zwei großen Särgen, die beide aus einem ein- zigen Kieſelſtein hergeſtellt wurden. Dieſer Stein lag auf einem Felde, das einem Küraſſierregiment zum Exerzierplatz diente; allein eine aus der Erde hervorragende Spitze des Steines war den Bewegungen des Regimentes hinderlich und ver- anlaßte ſchließlich den Befehl zur Ausgrabung des Steines. Als man aber beim Graben die ungeheure Größe desſelben er— kannte, begnügte man ſich damit, den Stein tiefer zu ſenken. Nach langen Fahren erinnerte ſich der vorletzte Markgraf dieſes Steines und ließ ihn mit unſäglicher Mühe und großen Koſten ausgraben. Hierauf wurde über dem Stein, der 4,10 Meter breit war, ein hölzernes Dach gebaut. Er ſollte in dünne Platten zerſchnitten werden. Das wollte aber nicht gelingen, bis ein Bildhauer aus Potsdam es unternahm, für 20,000 Taler den Stein nach Potsdam bringen zu laſſen und zwei aus demſelben verfertigte Särge nach Schwedt an Ort und Stelle zu liefern.

o Mannigfaltiges. 225

Le

Ehemals beſaß die Domkirche zu Paderborn die Bildniſſe der zwölf Apoſtel aus gediegenem Golde und einen ſilbernen Sarg, worin der heilige Liborius lag. Während des Dreißig- jährigen Krieges nahm der Herzog Chriſtian von Braunſchweig beides weg und ließ aus letzterem Taler prägen. Die Familien v. Nieſer und v. Weſtphalen legten nachher eine beträchtliche Summe in lauter ſolchen Talern zuſammen und ließen dem Hei- ligen einen neuen Sarg machen, der ungemein ſchön und tünft- leriſch gearbeitet iſt. Der Goldſchmied, der dieſen Sarg machte, hat ſich durch folgende daran befindliche Inſchrift zu verewigen ge- ſucht: „Dieſe Arwet ik Hans Krako, Goldſchmidt tom Dringen- berge, maket von lauter Dalers oſe hi bilagt ſint. Anno 1655.“

In Liſſabon ſtarb im Jahre 1817 der Baron Quatella und hinterließ ein Vermögen von 36 Millionen Franken. Sein Sarg war mit Gold überzogen, zugleich befand fih ein gol- denes Schloß daran, deſſen ebenfalls goldener Schlüſſel nach der Beerdigung den Verwandten übergeben wurde. C. T.

Niggergeſchichten. In Amerika werden viele Anekdoten erzählt, die von den Eigentümlichkeiten des Negers handeln, und nicht die wenigſten davon beziehen ſich auf die Dicke ſeines Schädels. So hätten einmal zwei Farmer in Veſtindien um eine bedeutende Summe gewettet, daß ein Neger mit ſeinem

Kopfe einen Käſe zerbrechen könnte. Ein Käſe von mächtigen Dimenſionen wurde herbeigeſchafft, in Papier gepackt und auf einen entſprechenden Unterſatz geſtellt. Während die Auf- merkſamkeit des einen Wettenden mit etwas anderem be— ſchäftigt war, vertauſchte der, der an die Härte des Negerſchädels nicht glauben wollte, den Käſe mit einem gleichgroßen Mühl- ſtein, der genau ebenſo eingepackt war. Der Neger, der von dem Tauſche keine Ahnung hatte, rannte aus vollen Leibes- kräften gegen den vermeintlichen Käſe an, und die Folge war daß der Mühlſtein in tauſend Stücke zerſplitterte. Sambo foll allerdings ſpäter behauptet haben, daß das ein ziemlich harter Käſe geweſen fei. Ä Derartige Geſchichten laffen ſich dutzendweiſe erzählen. So zum Beiſpiel von dem Neger, der aus dem zwanzigſten Stock- werk eines New Vorker Wolkenkratzers auf das Straßenpflaſter

1913. IX. 8 | 15

226 | Mannigfaltiges. a

fiel, aber dank dem glücklichen Umftande, daß er mit dem Kopfe aufflog, ſich weiter keine Verletzung zuzog; oder von dem Neger, der, als er durch die Straße ging, ausrief: „Wer ſpuckt denn hier?“ Aus einer Höhe von fünfundzwanzig Stock waren ihm nämlich mehrere Ziegelſteine auf den Kopf gefallen.

Einen weiteren Stoff zum Lachen geben die unteren Extremitäten des Negers ab. Hat die Natur den Neger mit einer unverwundbaren Schädeldede begabt, fo find dafür feine Schienbeine um fo empfindlicher. Ein leifer Schlag auf feine Beine machen ihn vor Schmerzen heulen. Anderſeits find wiederum feine Fußſohlen von einer Unempfindlichkeit, die faſt der ſeines Schädels gleichkommt, wenn man folgender Geſchichte Glauben ſchenken darf. Ein Pflanzer aus den Süd- ſtaaten war mit einigen Freunden auf der Jagd und lagerte nachts im Walde. Ein Feuer wurde angezündet, und die Ge— ſellſchaft lagerte ſich zum Schlafe ſo darum, daß jeder mit ſeinen Füßen dem Feuer zugekehrt lag. Mitten in der Nacht erwachte der Pflanzer, und ihm war es ſo, als röche es nach verbranntem Fleiſch. Der Sache wollte er auf die Spur kommen, und er weckte daher feinen ſchwarzen Diener Pompejus. Pom- pejus ſchnüffelte einen Augenblick und erklärte ſodann. „Mir iſt's ſo, Maſſa, als ob von jemand der Fuß brennt.“ Das ihien unglaublich, aber bald rief Pompejus erſtaunt: „Mein eigener Fuß brennt ja!“ Sein Geruchſinn hatte ſich alſo früher geregt als ſein Gefühl.

Wie man ſich denken kann, iſt die Schulbildung bei den Negern der Südſtaaten recht mangelhaft, und nur wenige gibt es unter ihnen, die einen Begriff von Arithmetik haben. Trotzdem ſie recht ſchlau ſind und es ihnen auch an Mutterwitz nicht fehlt, werden ſie daher oft genug übervorteilt. Ein Neger hatte mit einem Pflanzer ein Abkommen getroffen, ein Stück Land mit Mais zu bebauen, wofür er einen Teil der Ernte bekom- men ſollte. Als er ſpäter einmal davon einem feiner Freunde er- zählte, berichtete er: „Der Pflanzer wollte, daß ich den vierten Teil der Ernte nehmen ſollte, das war mir aber nicht genug. Ich verlangte den fünften Teil und kriegte ihn auch. Za, ja, ein Nigger läßt ſich nicht ſo leicht übertölpeln!“ g. C.

u Mannigfaltiges. 227

Blüten als Wärmequelle. Wer im Frühjahr die Höhen der Alpen durchwandert, wenn noch der Firnſchnee weite

S. Leonard Baſtin.

Ein Alpenglöckchen, das im Schnee emporwächſt.

(Die vordere Schneewand iſt weggenommen.)

Flächen verhüllt, wird erſtaunt ſein, mitten aus der Schnee— decke zierliche blaurötliche Blumenglöckchen hervorragen zu ſehen.

228 Mannigfaltiges. D

Diefe von Schnee und Kälte ſcheinbar unberührte Pflanze ift eine Soldanelle, das Alpenglöckchen. i

Ganz von ſelbſt taucht, bei dem verwunderlichen Anblick die Frage auf: Wie war es möglich, daß das Pflänzchen nicht nur die dicke Schneeſchicht durchbrechen, ſondern im Schnee auch ſeine Blüten entwickeln konnte? Denn daß dieſes letztere der Fall ift, lehrt eine nähere Betrachtung des Firn- feldes. An feiner Oberfläche bemerkt man nämlich halbent- faltete Blüten in kleinen, im Schnee ausgeſparten Löchern ſtecken. |

Die Exiſtenz des lieblichen Pflänzchens wird dadurch er- möglicht, daß es die zum Auftauen der Schneemaſſe nötige Wärme ſelbſt hervorbringt. Schon im Vorjahr, wenn der Schnee noch nicht feinen Standort bedeckt, legt das Alpenglöd- chen immergrüne, ſich dem Boden anſchmiegende Laubblätter von lederiger Beſchaffenheit an, die winzige Stengelchen umgeben. Dieſe Stengelchen ſind die Stiele der nächſt— jährigen Blüten. Durchfeuchtet im Frühling das Schmelz- waſſer das Erdreich, ſo beginnen die Stengel zu wachſen, und es bilden ſich an ihnen die Blütenknoſpen. Die Bauſtoffe zur Bildung der wachſenden Stiele und Knoſpen werden aus dem aufgeſpeicherten Reſervematerial der Laubblätter und Wurzel- ſtöcke bezogen.

Mit dem fortſchreitenden Wachstum ſteigert ſich der Atmungs- prozeß, das heißt die Verbrennung von Kohlenſtoffverbindungen, und hierdurch wird Wärme entbunden. Dieſe freiwerdende Wärme ſchmilzt den Schnee. Infolgedeſſen entſteht in dem Firnlager eine Aushöhlung, in dem das Pflänzchen mit ſeiner Blüte ſteht. Je höher die Alpenglocke emporwächſt, je höher rückt auch die Aushöhlung hinauf, bis zuletzt die Schneedecke an ſeiner Oberfläche durchbrochen und nun die Blüte völlig entfaltet wird.

Dieſelbe Erſcheinung zeigt ſich übrigens auch beim Enzian und der Glockenblume, bei denen das Innere der Blüten eine um 2 bis 3 Grad Celſius höhere Temperatur aufweiſt als die ſie umgebende Luft.

Die höchſte bis jetzt beobachtete Eigentemperatur entwickelt

o Mannigfaltiges. 229

aber die Blüte des italienischen Aron. Dieſe Pflanze ift im Mittelmeergebiet äußerſt häufig und wächſt an Zäunen und

S. Leonard Baſtin.

Meſſung der Innentemperatur in einem italieniſchen Aron.

Hecken. Seine von einem grüngelben Hüllblatte umkleideten Blütenkolben ſchießen Tüten ähnelnd im Frühjahr aus dem Boden hervor, und die Hüllblätter wickeln ſich unter Ver—

230 Mannigfaltiges. o

breitung eines weinartigen Duftes auf. Führt man vorſichtig ein Thermometer in die untere Höhlung des Hüllblattes ein, fo ergibt fih, daß hier die Temperatur die der Luft ſehr be- trächtlich übertrifft. Man hat bei einer Außentemperatur von 15 Grad Celſius im Inneren des italieniſchen Aron Iden 50 und 55 Grad Celſius gemeſſen. Die Wärmeentwicklung dient in dieſem Fall zum Schutz der Blüte gegen Nachtfröſte. Th. S. Zwei Zahlenwunder. 1.

1 x 9 2 = 11 12 x 9 + 3 =11 123 x 9 4 = 1111 1254 x 9 5 = 11111 12345 x 9 + 6 = 111111 123456 x 9 + 7 = 1111111 1254567 x 9 + 8 = 11111111 12545678 x 9 + 9 = 111111111 II.

123456789 x 8 + 9 = 987654321 12545678 x 8 + 8 = 98765432 1254567 x 8 + 7 = 9876543

123450 x 8 + 6 = 087654 12345 x 8 5 = 98765 1234 x 8 + 4 = 9876 123 x 8 + 3 = 987 12 x8 LO 98 1x8+1=9 3. C.

Eine unheimliche Gemäldeſammlung befindet ſich noch heute im Beſitze der Herzöge von Waverley, in deren Stamm- ſchloß ſie ſeit zweiundſiebzig Fahren aufbewahrt wird. Die Geſchichte dieſer Bilder enthüllt eines der dunkelſten Kapitel menſchlicher Geſchmacksverirrung. Sie beginnt zu einer Zeit, da der von ebenſo fanatiſchen wie phantaſtiſchen Köpfen auf- geſtachelte Volksgeiſt in Paris jede beſtehende Ordnung zer- trümmerte und das Fallbeil täglich Dutzende von ſogenannten „Verrätern“ hinſchlachtete.

Damals, während der großen franzöſiſchen Revolution, war

1 Mannigfaltiges. 231 es, als der berüchtigte Wohlfahrtsausſchuß eines Tages den Befehl gab, auch die Königsgräber des Geſchlechtes der Orleans in der Jeſuitenkirche in Paris zu zerſtören, damit auch diefe Erinnerung an das einſt monarchiſch regierte Frankreich von der Erde fortgefegt werde. Unter den Leuten, die dieſen Auftrag vollzogen, befand ſich ein junger Maler, Hektor Olivier, ein begeiſterter Republikaner. Als die Urnen mit den ein- balſamierten Herzen einſtiger franzöſiſcher Herrſcher unter den Kolbenſchlägen der Revolutionsſoldaten in Trümmer gingen und die verſchrumpften, ſteinhart gewordenen Herzen auf die Flieſen des Grabgewölbes herabrollten, kam dem jungen Maler ein ſchauerlicher Gedanke. Auf ſeinen Befehl ſammelte man alle die mumifizierten Herzen, die einſt unter königlichem Purpur

geſchlagen hatten, zuſammen und warf fie in einen Sack. Es.

waren nicht weniger als ſechzehn, wie der franzöſiſche Geſchicht- ſchreiber Lambert berichtet, und dieſe ſechzehn Herzen nahm Hektor Olivier mit in ſeine Wohnung, um ſie dort zu einem ſonderbaren Zwecke zu benützen.

Bekanntlich gebrauchte man ſchon in alter Zeit die Reſte einbalſamierter Körper nicht nur als Heilmittel, ſondern ver- arbeitete ſie auch zu einer braunen Farbe, die ihres beſonderen Tones wegen ſehr begehrt war und die Bezeichnung „Mumie“ führte. Olivier, als Maler mit der Herſtellung von Farben gut bewandert, ſtellte nun aus den Königsherzen ebenfalls „Mumie“ her und malte damit ſieben Bilder, Schreckensſzenen aus der franzöſiſchen Revolution darſtellend, die ſämtlich den- ſelben dunkelbraunen Ton beſaßen. Dieſe Gemälde erregten, als ſie im Winter 1799 in Paris ausgeſtellt wurden, allſeitig Bewunderung. Die Angabe des Malers, daß fie in ihrer Farbe die Herzen der Orleans enthielten, wurde jedoch mehr als eine geſchickte Reklame denn als Wahrheit hingenommen. Und doch war es Tatſache.

Olivier ſtarb kurz darauf. Er wurde wahnſinnig. Sein Geiſt hatte den ſteten Aufregungen der wechſelreichen Revo- lutionszeit nicht ſtandhalten können. „Vielleicht war es auch etwas anderes, das dieſem jugendlichen Feuerkopf die Ge- danken verwirrte,“ ſchreibt der erwähnte Chroniſt Lambert.

252 Mannigfaltiges. o

„Das Bewußtſein, mit menſchlichen Herzen einen fo frevent- lichen Unfug getrieben zu haben, mag Olivier dem Frrſinn überantwortet haben. Das einmal erwachte Gewiſſen iſt eine Folter, die ſchon größere Geiſter qualvoll zu Tode gemartert hat.“ i

Nach Oliviers plötzlichem Ende lagerten die fieben Bilder lange Zeit bei einem Pariſer Kunſthändler, der ſie von den Erben des Malers erworben hatte. Sie wurden auch Na— poleon I. angeboten, dem man zugleich eine handſchriftliche Erklärung Oliviers vorlegte, daß die zu den Gemälden benützte Farbe tatſächlich aus den zu Pulver zerriebenen Königsherzen gewonnen war. Napoleon beſuchte daraufhin auch das Atelier des Kunſthändlers und betrachtete die Bilder lange Zeit ſehr nachdenklich. Schon hoffte der Kunſthändler, Bonaparte würde fie käuflich erwerben; aber der Korſe ſagte nur mit einem ver- ächtlichen Lächeln: „Schade, daß dieſer Olivier nicht mehr lebt. Ich würde ihm den RNeſpekt vor ſolchen Reliquien ſchon bei- bringen.“ Damit verließ er ohne Gruß das Atelier.

Zwei Jahre darauf kaufte der Londoner Großkaufmann Shephard die ſieben Bilder und brachte ſie nach London. Er behielt ſie jedoch nur wenige Monate und veräußerte ſie mit hohem Gewinn weiter. Nachdem ſie noch mehrmals den Beſitzer gewechſelt hatten, erwarb der Herzog von Waverley ſie im Jahre 1841 und verleibte ſie ſeiner Gemäldegalerie ein. W. K.

Das gebratene Hühnchen. Kaiſer Napoleon I. mußte unbedingt jeden Morgen zum Frühſtück ein gebratenes Hühn- chen haben. Das war nun aber keine leichte Sache, denn der Kaiſer band fih nicht im geringſten an eine beſtimmte Ciſch— zeit. Zwiſchen acht und elf Uhr klingelte er nach feinem Früh- ſtück, wann er eben Muße dafür gewinnen konnte. Mochte er aber klingeln, wann er auch wollte, unverzüglich wurde ihm ein tadellos friſch gebratenes Hühnchen aufgetragen.

Eines Tages ſprach er ſich zu einem ſeiner Generale, der bei dieſem erſten Imbiß zugegen war, anerkennend über dieſen Muſterkoch aus, der ihn nie warten laſſe und zu jeder Zeit im Laufe des Vormittags ein köſtlich gebackenes friſches Hühn— chen für ihn zum Frühſtück bereit habe.

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„Das muß ja ein wahrer Hexenmeiſter von Koch fein,“ meinte der General, „denn ein Hühnchen iſt doch ſolch ein zarter Braten, daß es in Grund und Boden ausdörren und wie Stroh ſchmecken würde, wenn man es een auf dem Feuer hielte.“

Daran hatte Napoleon noch nie gedacht, und der Einwurf machte ihn ſtutzig. Er ließ den Koch zu ſich rufen. „Wie fangen Sie es an,“ fragte er ihn, „mein Morgenhuhn ſo wunderſchön zart und friſch zu halten, auch wenn ich Sie bis elf Uhr damit warten laſſe?“

„Nichts einfacher als das, Sire,“ verſetzte der Koch. „Ich laſſe jeden Morgen eine ganze Reihe von Hühnchen bratfertig zurichten, und jede Viertelſtunde lege ich ein neues auf eine neue Pfanne. Auf dieſe Weiſe bin ich zu jeder Viertelſtunde, wenn es auch Eurer Majeſtät belieben möge, zu ſchellen, im- ſtande, Ihnen mit einem friſchen und ſoeben fertigen Hühnchen aufzuwarten.“

Das war ja nun eine Erklärung, die Napoleon nicht erwartet hatte, und ſie machte ihn ſehr nachdenklich. Auf dieſe Weiſe koſtete ja ſein Huhn zum Frühſtück ein Heidengeld! In ſolchen Dingen war er aber ſehr ſparſam. So hatte er zum Beiſpiel mit großem Mißfallen bemerkt, daß ihm für den Verbrauch an Kaffee im kaiſerlichen Haushalt jährlich 54,750 Franken berechnet worden waren. Er rechnete aus, daß alſo täglich an ſeinem Hofe 155 Taſſen Kaffee müßten getrunken worden ſein, wenn ihm die Taſſe mit je einem Franken berechnet worden war. Er ſtrich dies Maſſenkaffeekochen kurzerhand weg und beſtimmte für das Hofperſonal eine Entſchädigung in Geld, wofür es für ſeinen Kaffee ſelber ſorgen mußte. Damit hatte er 35,000 Franken erjpart.

Unter dieſen Umſtänden wurmte ihn die „ganze Reihe“ täglicher Morgenhühnchen ſo, daß er ſeinen Muſterkoch anwies, nur noch eines täglich zu braten und es lieber kalt werden zu laſſen, wenn er nicht zur rechten Zeit klingle. C. O.

Die Frühjahrskraftſpeiſe. Wenn der Ofterhafe fidh wieder zeigt, dann iſt die Hochſaiſon der Eierſpeiſen da. Man ißt in dieſer Zeit oft mehr Eier als im ganzen übrigen Jahre

234 Mannigfaltiges. o

zuſammengenommen. Und mit Recht, denn jetzt find fie am friſcheſten und wohlſchmeckendſten, namentlich wenn ihre ge— fiederten Erzeuger daheim nicht im engen Hühnerhof eingeſperrt ſind, ſondern „freien Lauf“ haben.

Man muß aber wohl beachten, daß hartgekochte Eier ſchwer verdaulich ſind; Kinder ſollen alſo nur weiche Eier eſſen. Je nach dem Zuſtande der Gerinnung, in dem ſich das Eiweiß befindet, ſind Eier bald ſo leicht verdaulich, daß ſie für jeden Magenkranken paffen, bald fo ſchwer, daß fie auch einem ge- funden Magen zu ſchaffen machen, da der Magenſaft nur ſchwer in die Klumpen der harten Eier eindringen kann.

Bisweilen beobachtet man bei Kindern einen gewiſſen Widerwillen gegen Eier. Meiſt richtet ſich dieſer aber nur gegen das Eiweiß, während der Dotter gern genommen wird. Das iſt für die Ernährung der kleinen Kinder ſehr gut, denn gerade das Eigelb enthält zwei wichtige Stoffe: Eiſen und Lezithin, die zur Bildung von geſundem Blut, Gehirn, Nerven und Knochen unentbehrlich ſind. An Eiſen enthält das Eiweiß 0,57 Prozent, das Eigelb Le Prozent, alfo dreimal ſoviel. Bedenkt man weiter, daß ſich im Spinat Aas Prozent Eiſen befinden, ſo muß man als eiſenreichſte Speiſe Spinat mit Eigelb bezeichnen. Sie iſt zum Beiſpiel beinahe zehnmal ſo reich an Eiſen wie Kuhmilch. Daher ſollen Blutarme, Bleich— ſüchtige, Kinder, Schwächliche, Rekonvaleſzenten recht viel ſolche Natureiſenpillen, Spinat mit Eigelb, genießen.

Bei kleinen Kindern iſt für die Bildung und Kräftigung von Gehirn und Nerven beſonders wichtig der Lezithingehalt des Dotters. Aus dem Dotter bildet ſich der ganze Bogel- embryo, alſo enthält Eigelb alle zum Körperaufbau nötigen Stoffe. Profeſſor Zuntz hat viele Verſuche mit Dotternahrung bei Kindern gemacht. Er kommt zu dem Schluſſe: „Jungen Kindern wird ſchon vom fünften bis ſechſten Monat Eigelb als Beikoſt mit Vorteil gegeben, und auch in ſpäteren Wachs- tumsperioden wird man kaum auf Beigabe von Eigelb zur täglichen Koſt verzichten. Aber ſelbſt bei Kranken und Schwachen, deren Ernährungszuſtand gehoben werden ſoll, bei Blutarmen und Rekonvaleſzenten iſt Zuſatz von Eigelb zu den Speiſen

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ebenſo nützlich wie nötig. Nach vielfältiger Erfahrung wird es beſonders in weichgekochtem Zuſtande, gut durchgekaut, auch von ſchwachen und angegriffenen Magen febr gut vertragen.

Hierzu kommt, daß man den rohen Dotter mit den verſchie— denſten Zuſätzen zu appetitlichen und appetitreizenden Mifchun- gen verrühren kann, zum Beiſpiel mit Zucker, Wein, Bier, Kognak, Milh, Kakao, Bouillon, Suppen. Als Beigabe zu Wein, Bier und Kognak iſt der Dotter mit Zucker zu ſchlagen, worauf man das Getränk darunterrührt.

Solche anregenden und ſehr nahrhaften Genußmittel ſind beſonders für Geiſtesarbeiter vorteilhaft, deren Nahrung zu— gleich leicht verdaulich ſein muß. Wer nach dem Abendeſſen noch längere Zeit geiſtig arbeitet, ſollte vor dem Zubettegehen zwei mit Zucker und Kognak oder Rum geſchlagene Eier ge- nießen. Das iſt der geeignetſte Krafterſatz für des Gehirnes Kraftverbrauch. Solche Schlageier dürfen aber nicht getrunken werden, ſondern ſind löffelweiſe zu nehmen oder in ganz kleinen Schlucken.

Auch bei Katarrhen der oberen Atmungswege, namentlich bei der davon herrührenden Heiſerkeit, ſind rohe Eier die richtige Diät und ein gutes Heilmittel. Dieſer wohltätige Einfluß auf das Stimmorgan veranlaßt viele Sänger, kurz vor der Vor— ſtellung noch ein rohes Ei zu ſchlucken, „damit fie beffer hin- aufkommen.“ Beſonders zuträglich iſt bei Halsaffektionen das warme Eierbier, das aus Eigelb und gekochtem Bier bereitet wird.

Bei Kinderhuſten empfiehlt ſich folgendes Rezept: Man verklopft in einer Taſſe einen Eidotter mit zwei Eßlöffel Zucker und rührt zwei Eßlöffel feinſtes Olivenöl dazu. Sobald ein Huſtenanfall ſich bemerkbar macht, gibt man dem Kinde hier- von einen Kaffeelöffel voll.

Da ſchwächliche Kinder, die man mit Eiern „aufzupäppeln“ gedenkt, leicht einen Widerwillen dagegen bekommen, ſo ſei hier noch auf ein Getränk aufmerkſam gemacht, das ſie immer wieder gern nehmen: Fruchtſaft, dem ein mit Zucker ſchaumig gequirltes Ei beigefügt wird. Es iſt dies für Kinder zuträglicher als Rotwein mit Ei.

236 Mannigfaltiges. o

Mannigfach iſt alfo die Verwendung der Eier und ftets höchſt vorteilhaft für Geſundheit und Ernährung. Mögen daher alle mit dieſer Frühjahrskraftſpeiſe ſich recht reichlich laben und kräftigen! Dr. Th.

Wie Auguft der Starke mit Geſpenſtern umſprang. Als es bekannt wurde, daß Auguſt der Starke, Kurfürſt von Sachſen, die polniſche Krone erringen wolle, da erregte dies natürlich in der ganzen gebildeten Welt ungeheures Aufſehen. Während die meiſten deutſchen Fürſten auf ihn einzuwirken ſuchten, doch das gefährliche Wagnis zu unterlaſſen, war man am kaiſerlichen Hofe in Wien mit allen Kräften bemüht, ihn in ſeiner Abſicht zu beſtärken. Zu welchen Mitteln man dabei griff, davon erzählt ein Zeitgenoſſe Auguſt des Starken, der Kammerherr v. Pöllnitz, in ſeinen Memoiren folgende Geſchichte, die ſich während der Anweſenheit des Kurfürſten am kaiſerlichen Hoflager abgeſpielt haben foll. |

Eines Morgens hatte fih der Kurfürſt eben ſchlafen gelegt, denn er pflegte die Nächte hindurch gewöhnlich zu zechen, als man ihm meldete, daß der Kaiſer ihn bitten laſſe, ſogleich zu ihm zu kommen. Wie ſehr war er erſtaunt, den Kaiſer, den er am Abend vorher noch ganz wohl verlaſſen hatte, im Bette, bleich, entſtellt und verängſtigt zu finden. „Guter Gott,“ rief der Kurfürſt, „was iſt Eurer Majeſtät?“

„Das allertraurigſte Ereignis iſt mir begegnet,“ antwortete mit bebenden Lippen der Kaiſer. „Ich muß bald ſterben, und, was mich am meiſten bekümmert, Ihnen droht ein noch größeres Unglück! Setzen Sie fih einen Augenblick, lieber Vetter, und hören Sie!“

Der Kurfürſt ſetzte ſich, und der Kaiſer fuhr in ſeinem Berichte fort.

„Ich hatte dieſe Nacht die ſchrecklichſte Erſcheinung, die vielleicht jemals ein Sterblicher hatte. Zwei Stunden, nach- dem ich mich niedergelegt hatte, höre ich es in mein Zimmer treten. Ich meine, es ſei jemand von der Dienerſchaft, und will ſchon ſchellen, da da hör' ich es mit Ketten raſſeln. Ich ſehe hin und erblicke ein Geſpenſt, ganz weiß, das mir mit furchtbarer Stimme zuruft: „Joſeph, römiſcher König, ich

o Mannigfaltiges. 237

bin eine Seele, welche die Qualen des Fegfeuers ausſteht! Ich komme, von deinem Schutzheiligen geſendet, um dich vor dem Abgrunde zu warnen, in den dich der Umgang mit dem Kurfürſten von Sachſen ſtürzen wird. Entſage ſeiner Freundſchaft oder bereite dich vor zur ewigen Verdammnis!“ Hier verdoppelte ſich das Geklirr der Ketten, und wie der Schrecken mir die Sprache nimmt, ſagte das Geſpenſt: „Du antworteſt mir nicht, Joſeph? Liebſt du dein Heil fo wenig? In drei Tagen kehre ich zurück, mir deine Antwort zu holen.“ Mit dieſen Worten verſchwand der Geiſt, und man fand mich halbtot vor Schrecken. Mehr aber als für mich, mein Herr Vetter, bin ich für Sie beſorgt. Um Sie aber zu retten, gibt. es kein anderes Mittel, als daß Sie mir durch Übernahme der polniſchen Krone gefällig find.“ `

Der Kurfürſt fragte: „Waren Eure Majeſtät auch in der Tat wach, als Sie den Geiſt ſahen?“

Der Kaiſer verſicherte, daß er vollkommen wach geweſen ſei.

„Dann,“ ſagte der Kurfürſt, „möchte ich doch wiſſen, wie ein Geſpenſt, ein Geiſt, Ketten tragen kann. Zndeſſen will ich nicht glauben, daß man Eurer Majeſtät einen Streich geſpielt hat, der vielleicht mir gelten ſoll.“

„Wer könnte dergleichen wagen?“

„Ei nun, Eure Majeſtät haben Leute, die in Betrügereien erfindungsreich ſind. Aber wir wollen dem Geſpenſt bald auf die Spur kommen. Ich erſuche Eure Majeſtät, nicht weiter von dem Vorgange zu ſprechen, mir aber zu geſtatten, die betreffen de Nacht in Ihrem Zimmer zuzubringen.“

Damit war der Kaiſer einverſtanden.

Als beide nun in der dritten Nacht zuſammen waren, hörten ſie Kettengeraſſel, eine weiße Geſtalt trat herein und rief: „Joſeph, römiſcher König!“ Doc, da ſprang plötzlich der Rur- fürſt aus dem Bette und packte den Geiſt ſo kräftig an, daß dieſer vor Schreck faſt den Atem verlor, auf die Knie fiel und winſelnd um Gnade bat. Der Kurfürſt aber ließ ihn nicht los, riß ein Fenſter auf und warf ihn auf den Schloßhof. „Dies iſt der kürzeſte Weg zum Fegfeuer!“ rief er ihm nach. „Ich wollte dir wenigſtens die Treppen erſparen!“

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Der „Geiſt“ hatte ein Bein gebrochen und rief kläglich um Hilfe. Die Schloßwache kam herbei und fand den Rammer- diener des Kaiſers. —zen.

Verſchiedene Wertſchätzung der Nationen. Im Jahre 1791 war zur Auswanderung nach Amerika bei den Europäern noch ſo wenig Luſt vorhanden, anderſeits aber waren die jungen Unionsſtaaten noch des zuziehenden Menſchenmaterials fo be- dürftig, daß die Regierung der Vereinigten Staaten den Schiffs- kapitänen für jeden Auswanderer, den ſie ihnen zuführten, eine Prämie zahlte. Dabei maß fie aber nicht jeden Ein- gewanderten nach demſelben Maß, machte vielmehr einen ſtarken Unterſchied zwiſchen den Angehörigen der verſchiedenen Völkerſchaften, je nachdem ſie bei der Urbarmachung und Koloniſation des noch ſehr dünn bevölkerten Kontinents ihre Dienſte mehr oder minder ſchätzen gelernt hatte.

Es beſtand dafür ein richtiger Tarif. Die niedrigſte Wert- ſchätzung erfuhr darin der Frländer. Für ihn erhielten die Schiffskapitäne 140 Mark nach unſerem Gelde. Für den Engländer gab es 220 Mark, für den Schotten 240 Mark, für den Franzoſen 300 Mark. Der Deutſche brachte die höchſte Prämie ein, nämlich 400 Mark. l C. D.

Die Amulette gekrönter Häupter. Über dem Kühler des Automobils des Königs Georg von England ſieht man eine kleine Britanniafigur aus Meſſing, die eine Krone in ihrer ausge- ſtreckten Hand hält und zu deren Füßen ein Löwe liegt. Ohne dieſe Figur wird der König keine Ausfahrt antreten. Auch die Königin Mary hat einen Talisman, nämlich einen Heinen Hund aus Elfenbein, den ſie an einem Armband trägt.

Der Zar Nikolaus beſitzt einen Ring mit einem Stückchen Holz, das von dem Kreuze ſtammen ſoll, an dem Chriſtus den Tod erlitt. Ohne dieſen Ring geht der Zar nie aus.

Von einem Opalring des ſpaniſchen Königshauſes, der mit vielen Todesfällen in Verbindung gebracht wird, wird folgende Geſchichte erzählt. Dieſer Ring wurde dem König Alfons XII. von der Gräfin v. Caſtiglione geſchenkt. Als der Herrſcher in der Verbannung lebte, hatte er der Gräfin verſprochen, ſie zu heiraten, wenn er wieder auf den Thron ſeiner Väter komme.

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Nachdem er aber wieder König von Spanien geworden war, hielt er das Heiratsverſprechen nicht, ſondern heiratete die Prinzeſſin Mercedes. Die enttäuſchte Gräfin ſandte dem König den ſchönen Opalring. Die Königin Mercedes war ſo entzückt von ihm, daß fie fih den Ning von ihrem Gatten zum Ge- ſchenk erbat. Wenige Monate ſpäter war ſie eine Leiche. Dann trugen des Königs Großmutter und Schweſter den unheil— bringenden Ring, und auch fie ſtarben. Nun ging der Ring in den Beſitz der jüngſten Tochter des Herzogs von Mont- penſier über, die ebenfalls raſch vom Tode ereilt wurde, nach- dem ſie ihn trug. Darauf nahm die Königin Chriſtine den Unglücksring, ließ ihn an einer goldenen Kette befeſtigen und ihn dann um den Hals der Statue der Jungfrau von Almadena hängen, eines Heiligenbildes, das in Madrid in einer viel- beſuchten Parkanlage ſteht. So wertvoll auch dieſer Ring iſt, ſo verführeriſch er ſich begehrlichen Augen darbietet, ſo würde doch der ſchlimmſte Langfinger Spaniens ihn nicht zu ſtehlen wagen.

Ein Talisman der Napoleoniden ſtammte von Napoleon I, her. Es war das ein Ring, der ſicheren Schutz gegen einen vorzeitigen Tod gewähren ſollte. Napoleon III. trug dieſen Ring, aber ſein Sohn weigerte ſich, ihn anzulegen, und man hat dies fpäter in Zuſammenhang gebracht mit feinem früh- zeitigen Ende unter den Speeren der Zulus. Außer dieſem Ning trug Napoleon III. lebenslang noch ein zweites Amulett, ein Stückchen franzöſiſcher Erde in einer Kapſel. |

Auch der verſtorbene König Eduard von England trug einen Talisman, nämlich ein Armband am linken Arm, von dem er fih nie trennte. Dasſelbe hatte dem unglücklichen Kaiſer Mari- milian von Mexiko gehört und war nach deſſen Hinrichtung in den Beſitz des damaligen Prinzen von Wales gelangt. C. T.

Schmetterlingsfälſcher. Die Fälſcherinduſtrie unſerer Zeit beſchränkt ſich nicht mehr darauf, Möbel, Bilder und andere Kunſtgegenſtände zum Schaden der Sammler zu fälſchen, ſie iſt bereits dazu übergegangen, der Natur ins Handwerk zu pfuſchen. Darüber belehrt ein Prozeß, den ein Londoner Entomologe gegen einen Schwindler angeſtrengt hat, der ihm

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gefälſchte Schmetterlinge verkaufte. Die Flügel eines Falters wurden mit einer dünnen Schicht Gummi arabikum beſtrichen, und dieſer Gummiüberzug wurde mit dem Staube von Paſtell- ſtiften oder anderen Farbſtoffen überſtreut. Auf dieſe einfache Weiſe erzeugten die Fälſcher nicht nur ſeltene Abarten, ſondern auch ganz neue, den Gelehrten bisher unbekannt gebliebene. So hatte der in Frage kommende Entomologe einen roten Schmetterling mit blauen Punkten gekauft, der eine ſo ſeltene Art vertrat, daß der hohe Kaufpreis durchaus angemeſſen erſchien. Ze O. v. B.

Die Rätſel des Herzogs von Altenburg. Vom Herzog Joſeph von Sachſen-Altenburg war es bekannt, daß er, fo oft jemand das erſte Mal bei ihm Gaſt war, die Gewohnheit hatte, ſeinem Gaſte zwei Scherzrätſel aufzugeben. Das erſte lautete: „Was würden Sie tun, wenn Sie ein Zahnarzt wären?“ Von ſeiten des Gefragten blieb natürlich ſtets die Löſung aus, und der Herzog rief lachend: „Wenn man ein Zahnarzt wäre, ſo würde man der Zeit den Zahn ausziehen.“ Dann ging er zum zweiten Rätfel über: „Was würden Sie tun, wenn Sie ein Taucher wären?“ Natürlich wußte man auch dieſe Frage nicht zu beantworten, und voller Befriedigung gab der Herzog ſelbſt die Auflöſung: „Wenn man ein Taucher wäre, würde man in das Meer der Ewigkeit tauchen.“

Auch König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen hatte von dieſer Gewohnheit des Herzogs gehört, und als er bei einem Beſuche in Altenburg war, dauerte es auch nicht lange, ſo rückte der Herzog mit feinen Rätſeln heraus. Nachdem er die erſte Frage geſtellt: „Was würden Sie tun, wenn Sie ein Zahnarzt wären?“ perſank fein Gaſt anſcheinend in tiefes Nachdenken und ſagte dann: „Wenn ich ein Zahnarzt wäre, dann würde ich in das Meer der Ewigkeit tauchen.“

Überraſcht blickte der Herzog den witzigen König an und meinte dann lachend: „Da brauche ich Ihnen ja das zweite Rätſel gar nicht mehr aufzugeben!“ A. Sch.

Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Theodor Freund in Stuttgart, i in Öfterreihellugarn verantwortlich Dr. Eruſt Perles in Wien.

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Das Klavier ift heute nicht nur das Lieblingsinſtrument der deutſchen Fa⸗ milie, ſondern ein Luxusgegenſtand jeder p bürgerlichen Einrichtung. Gerade em letzteren Umſtande iſt es zuzuſchrei⸗ ben, daß heute ein großer Teil aller In⸗ ſtrumente ihren eigentlichen Zweck nicht erfüllen, denn es gibt Tauſende und Abertauſende, die das Klavierſpiel wohl ſchon verſucht haben zu erlernen, es aber trotzdem nicht zu dem bringen konnten, was ſie erſehnten. Der hauptſächlichſte Grund, weshalb die meiſten nach kürzerer oder auch längerer Zeit ihre Verſuche wieder einſtellten, dürfte in allererſter Linie auf das umſtändliche Erlernen des ſeitherigen Notenſyſtems zurückzuführen ſein. Außerdem empfinden ſehr viele, namentlich ſolche Leute, die ihrem Er⸗ werbsleben nicht allzuviel freie Zeit ab⸗ gewinnen können, es als einen läſtigen Uebelſtand, beim Lernen ſich ſyſtematiſch fremder Hilfe zu bedienen. Es dürfte wohl nur wenige geben, deren Zeit es erlaubt regelmäßig Muſikunterricht zu nehmen. Ueber alle Uebelſtände, die alſo bisher das Klavierſpiel erſchwerten, hilft nun mit einem Schlage die rühmlichſt bekannte und tauſendfach bewährte „Taftenſchrift“ hinweg. Der Haupt- wert dieſer Methode, nach der man das Klavierſpiel wirklich individuell und in allerkürzeſter Zeit ohne fremde Hilfe erlernen kann, liegt darin, daß man vorheriger Notenkenntnis keines⸗ wegs bedarf. si der Taſtenſchrift hat das bisherige otenſyſtem eine un= geahnte Vereinfachung gefunden; fie macht ſich dadurch von dem früheren Syſtem unterſchiedlich, daß fie weder Vor- zeichen, noch Auflöſungs⸗ oder Ernied⸗ rigungszeichen hat Hier ſieht man bei der eigenartigen Anordnung der fünf Notenlinien jede Taſte, die anzuſchlagen

Die Choräle können auch

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iſt, auf dem Notenblatt bildlich vor ſi

Wer nach der Taſtenſchrift lernt, trei ` nicht einſeitige Muſikſtümperei, fondern bildet ſich genau, wie nach den chulen

des bisherigen Notenſyſtems zu einem perfekten Klavierſpieler aus, wie er iiber» all beliebt iſt und auch gern gehört wird. Natürli ift die Taſtenſchrift auch für das Harmonium zu ver⸗ wenden. Für den hervorragenden Wert der Taſtenſchrift zeugt am beſten die Tatſache, daß unlängſt bereits die 5. Auf⸗ lage (31. bis 40. Tauſend) herausgegeben werden konnte. Aus den Kreiſen der nach Tauſenden zählenden Anhänger der Taſtenſchrift gehen dem untenſtehenden Verlag täglich die glänzendſten Aner— kennungsſchreiben zu, von be en nur ein einziges an dieſer Stelle Veröffentlichung i finden joll:

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