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Bibliothek der Unterhaltung und des Wiſſens

Zu der Novellette „Der Ruf des Kindes“ von Elſe Krafft. (S. 18)

Originalzeichnung von F. Mukarovsky.

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ibliothek der Unterhaltung und des Wiſſens

mit Originalbeiträgen der hervorragendſten Schriſtſteller und Gelehrten ſowie zahlreichen Aluſtra tionen >

Jahrgang 1913 + Zehnter Sand

Union deutſche verlagsgeſellſchaſt Stuttgart + Berlin Leipzig

druck der

Union Deutfche verlagsgeſellſchaſt in Stuttgart

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Inhalts - verzeichnis.

| * Der Ruf des Rindes.

Novellette von Elfe Krafft. Mit Bildern von J. Mu- karovsky Be e Die Apachen.

Ein Pariſer Roman von Fritz Levon (Fortſetzung). Die Jukunft Marokkos.

Von E. E. Weber. Mit 8 Bilden Souſous erfte Liebe. Eine Geſchichte aus der Sommerfriſche. Von Karen Fugerdt „. a a er Sr Das Spiegelbild in der Photographie. Von Reinhold Ortmann. Mit 11 Bildern .

Miß violet. N Novelle von Luiſe v. Rohrſcheidt . Franzöſiſche Soldaten. Von Alex. Cormans. Wit 15 Bildern Mannigfaltiges: Das Unterrockbanner Die gefährlichſten Schiffe. Heldenmut bei Operationen . 5 Die älteſte Tabakspfeife Deutſchlands . Mit Bild. 5 Der Poſtſchein des Grenadiers . Zur Aſthetik des Blumentopf¶es Anterſeeſchlitten für ſchlauchloſe Tauchapparate .. Mit 2 Bildern.

Seite

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4 Inhalts-Verzeichnis. 2

Seite

Eine Herzogin, die mit der Nähmaſchine gemacht wurde er re fa. 220 Ein japaniſcher Winkelried 0

Unterhaltungskoſten eines großen gotels 33280 Die goldenen Hemdknöpfe des Herzogs von Argyll. 232

Vom Wunderreich des Mikroſkops. 232 Mit Bild.

Vom Ziegenmeldʒde hk 234 Die vier Nationen 3 8 „„ 235 Das Nachtwandeln der Mondſüchtigen Fe re Geſellſchaftsſpiele der Kaiſerin Eugenie. . 258 Der Weg im Wege Eine amtliche Rorrefponden z 240

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Der Ruf des Kindes.

RNovellette von Elfe * Mit Sildern von % J. Mukarovskp. na choͤruck verboten.)

Sie hatte nicht von den Kindern gehen wollen. Alle Schmerzen trug ſie heimlich, und wenn der Huſten kam, preßte ſie das Taſchentuch vor den Mund, damit man ihn nicht im Hauſe höre.

Aber es half alles nichts. Ihre Kräfte ſchwanden, ihre Nerven verſagten, im Haushalt ging alles drunter und drüber.

Ihr Mann, der zuerſt ungehalten war über ihren Zuſtand, holte ſchließlich den Arzt und klagte dem ſein Leid. „Da denkt man nun, eine geſunde Frau ge- heiratet zu haben, Herr Doktor, und nun ſehen Sie ſich mal die Fammergeſtalt an. Nach dem vierten Rind iſt fie überhaupt noch nicht wieder recht hochgekommen. Bei uns zu Haufe waren's acht, und meine Mutter lief herum wie ein Wieſel!“

Der Arzt nahm die Hand der jungen Frau und blickte aufmerkſam in das feine und ſchmale Geſicht. „Aus- ſpannen, gnädige Frau, vier bis ſechs Wochen an die See gehen, und nur an ſich ſelber denken! Der Storch iſt zu ſchnell hintereinander zu Ihnen ins Haus ge— flogen. Und Sie nehmen Ihre Mutterpflichten viel zu ſchwer, das wiſſen wir ja. Laſſen Sie doch die kleine Bande brüllen, das iſt geſund und heilſam. Es genügt

6 Der Ruf des Rindes. 2

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vollſtändig, wenn Sie die Tagesſtunden Zhren Kindern opfern, die Nacht iſt zum Schlafen da.“

„Siehſt du!“ ſtimmte der robuſte Hausherr eifrig ein. „Das hab' ich ihr ſchon lange geſagt, Herr Doktor. Aber ſie hört ja nicht, fährt ſofort im Bett hoch, wenn eines der Kinder ſich nur herumdreht. Nun

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2 a Novellette von Elſe Krafft. 7 muß ich natürlich darunter leiden. Nichts klappt mehr im Hauſe, wenn die Frau alle Augenblicke auf der Naſe liegt. Schrecklich iſt's!“

„Haben Sie denn niemand, der herkommen könnte, wenn Ihre Frau für ein paar Wochen zur Erholung fort iſt? Es täte ihr bitter not!“

„Gewiß, Herr Doktor das wär's wenigſte. Meine Schweſter kann ſofort kommen. Ach, red doch nicht, Frau! Die Marie iſt mindeſtens fo tüchtig wie du und tauſendmal energiſcher. Ich ſchreib' ihr noch heute!“

„Na gewiß, es wird ſchon gehen!“ tröſtete der Arzt, als er das verzweifelte Geſicht der jungen Frau ſah. Bei ſich aber dachte er: „Arme Seele, da ſpricht ſicher noch mehr mit wie das körperliche Leid allein!“

And er ſetzte es ſchließlich durch, daß fie es einſah, in ein Bad zur Erholung reiſen zu müſſen.

Ihr war ſchließlich alles gleich. Immer müde und ſchwach war ſie. „Nur einmal ausſchlafen können!“ dachte ſie in ſtummer Sehnſucht. „Ein einziges Mal nur!“

Wie oft fie ihre vier Kinder geküßt, wie oft fie das Kleinſte ans Herz gepreßt, ſie wußte es kaum noch. Stumm und abgehetzt fuhr ſie zur Bahn, immer in Gedanken überlegend, ob ſie der Schwägerin, die ſo reſolut und laut ihre Pflichten übernommen hatte, auch alles gejagt hatte, was zur Pflege der Kinder gehörte. Das junge Dienſtmädchen war ja noch fo ſehr uner- fahren, auf das konnte man ſich unmöglich verlaſſen.

Karl hatte ſie zur Bahn gebracht. Selbſt die beiden Großen durften nicht mit. Der Vater wollte das nicht. So ein Abſchied für ſo kurze Zeit ſei doch nicht der Rede wert, meinte er. Beinahe vergnügt war er in dieſer letzten Stunde des Beiſammenſeins, die ihm die Frau entführte. u

8 Der Ruf des Kindes. 2

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Sein lautes, dröhnendes Lachen klang Frau Lisbeth noch ſchmerzhaft in den Ohren nach, als ſie nun in die Fremde hinausfuhr.

Da kamen auch die Tränen ſchon wieder.

Daß er lachen konnte, wo er doch wußte, wie ſchwer ihr dieſe Reife wurde! Daß er beinahe wie erlöſt die breiten Schultern hob, als er ſie zum letzten Male geküßt, ſie in den Wagen hineingeſchoben hatte!

„Daß du mir aber ganz geſund wirſt, wo's ſo viel Geld koſtet!“ hatte er dabei brutal geſagt.

Nein, von ihm wurde ihr der Abſchied wahrhaftig nicht ſchwer. Wie ein ganz kleines, befreites Aufatmen war das ja auch in ihr geweſen, als ſie ſein rotes Geſicht nicht mehr ſah und ſein lautes Lachen nicht mehr hörte.

Aber die Kinder, die vier kleinen Rinder

„Aber weinen Sie doch nicht ſo,“ ſagte da plötzlich eine Stimme. Und die Hand der ſchlanken, ſehr modern gekleideten Dame, die ihr gegenüber in der Ecke des Abteils ſaß, zog ihr die Finger direkt von den naſſen Augen fort. „Wollen Sie auch zur Erholung an die See?“

„Ja,“ flüſterte Frau Lisbeth.

„Das iſt doch kein Grund zum Traurigſein, wenn man eine ſo ſchöne Zeit vor ſich hat!“ meinte die Fremde wieder. „Kennen Sie das Meer ſchon? Nein? Oh, da werden Sie aber Augen machen! Stundenlang kann man am Strand liegen und in die blauen Wellen hineinträumen, dem Rauſchen zuhören, in Sonne, Luft und Waſſer baden. Sie ſollen mal ſehen, wie bald Sie da geſund werden!“

Die Blicke der Frau ſtreiften neugierig das müde Geſicht unter dem dunkelbraunen Haar.

„Ich habe aber Kinder daheim zurückgelaſſen,“ ſagte Frau Lisbeth noch einmal aufſchluchzend. „Vier Kinder, von denen das jüngſte kaum ein Jahr iſt!“

2 Novellette von Elſe Krafft. 9 Die andere lachte. „Seien Sie doch froh, die kleinen Quälgeiſter für eine Zeit los zu ſein! Ich habe auch

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Kinder, und fie find mir gewiß lieb und wert. Aber mich zur Sklavin machen, ihretwegen ſelbſt krank wer— den nein, ſo viel Opfer darf man ihnen doch nicht bringen, das vergelten ſie ja doch nie im Leben. Und

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dann die Väter dieſer Kinder darf man auch nicht verwöhnen!“

Die junge Frau trocknete langſam ihre Tränen. Ob die Fremde recht hatte? Wie ein kleiner Troſt war das plötzlich in ihr, zu wiſſen, daß es noch mehr Mütter gab, die ihre Kinder allein Regen um ihre Erholungs- reiſe zu machen.

Sie lehnte ſich feſt in ihre Ecke zurück, und es fiel ihr ein, daß ſie ſeit vielen, vielen Wochen nicht ſo ſtill und bequem geſeſſen hatte. Wie wohl das tat!

Die Fremde plauderte weiter, verriet, daß fie das— ſelbe Ziel hatte wie Frau Lisbeth, und ſchilderte das Kurleben des kleinen Oftjeehades in ſehr anſchaulicher und amüſanter Weiſe.

„Das willſt du ja alles gar nicht,“ dachte Frau Lis- beth müde. „Konzerte, Bälle, Segelfahrten, gemein- ſame Waldausflüge nein, das brauchſt du doch nicht zum Geſundwerden! Nur ſchlafen, ruhen, aus- ſchlafen können, von niemand geweckt und ee ben!“

Zwiſchendurch aber überkam ſie doch immer wieder das große Angſtgefühl. „Das kannſt du ja gar nicht, ſchlafen, wenn du die Kinder nicht um dich haſt und nicht weißt, ob ſie geſund und gut verſorgt ſind!“

Aber die Angſt verſchwand mit dem leichten Ge— plauder der Fremden immer mehr. Die wohltuende und ungewohnte Ruhe, in der ſie während der Fahrt ſtundenlang auf einem Fleck ſitzen bleiben konnte, tat ihren erſchlafften Nerven gut.

Als fie am Ziel ihrer Reife angelangt war, über- ließ ſie ſich willig der Führung ihrer Fahrtgenoſſin, die ſich ihr als Frau Apotheker Hermann vorgeſtellt hatte, und mietete in derſelben Penſion ein Zimmer wie dieſe.

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2 Novellette von Elſe Krafft. 11

N Und nun begann eine ſeltſame und wunderſchöne Zeit. f

Frau Lisbeth hätte es nicht für möglich gehalten, daß Sie ihre Sehnſucht nach den Kindern fo ſchnell über- winden lernte. In wunſchloſer, ſüßer Müdigkeit konnte ſie ſtundenlang am Strande liegen und über die weiten Waſſer ſchauen. In den erſten Tagen verlangte ſie weiter nichts als dieſes köſtliche und gedankenloſe Aus- ruhen, das in ihr Leben gekommen war.

Die zufriedenen Briefe ihres Mannes und der Schwägerin trugen viel dazu bei, dieſe Ruhe in ihr zu verſtärken, und wenn ſie in der erſten Zeit einen großen Schmerz empfunden, als die Frau Apotheker meinte: „Sehen Sie, man braucht uns zu Hauſe gar nicht, es geht auch ſo alles ſeinen Gang weiter“ da verlor ſich der auch ſchließlich mit all dem Neuen und Wunder- baren, das jetzt ihre Tage ausfüllte.

Sie hatte das ja gar nicht gewußt, daß es ſo viele Schönheit, Eleganz und Freude auf der Welt gab. Sie war bisher ſchon glücklich über das Gedeihen ihrer Kinder geweſen, über ein neues Kleid, ein Geſchenk von Verwandten und Freunden, mit dem ſie ihr kleines Heim ſchmücken konnte. Ihr Mann, der bedeutend älter war wie ſie, hatte ſie nicht verwöhnt, ſie war ihm eine pflichttreue und gehorſame Frau, wie er es von ihr verlangte. Außerdem ging er ſeine eigenen Wege, über die ſie nicht zu beſtimmen hatte, und die ihn immer weiter von ihrem Herzen fortführten. Seine kurzen, zufriedenen Briefe ſagten es ihr ja nur zu deutlich, daß ſie ihm durchaus nicht fehlte.

Die neue Freundin brachte ihr allerlei Menſchen an den gemeinſamen Strandkorb, die ſehr nett zu ihr waren, Damen und Herren, die nur ans Lachen und Fröhlichſein dachten.

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Vor allen gefiel ihr einer, ein junger Maler mit hellen Augen unter dem hellen Haar, das gelockt in die hohe, ſchöne Stirn fiel.

Dicht neben ihrer Sandburg, in der ſich's ſo gut und bequem ausruhte, lag ein Fiſcherboot am Strand, auf dem der Maler das Meer ſkizzierte, den nahen Leuchtturm an der waldbekränzten Küſte und die Sonne, wenn fie rotglühend im Waffer verſank. Und einmal hatte er ſogar Frau Lisbeth im weißen Kleide mitten auf ſein Bild geſetzt, und ſeine Blicke waren bei der Arbeit ſtundenlang über ſie hinweggeglitten. Alles fand er ſchön an ihr, das Haar, die Augen, den Mund und die feine, ſchlanke Geſtalt.

Sie hatte nie gewußt, daß ſie ſo ſchön war wie auf dem Bilde.

Früher, als Mädchen, hatte ſie wohl gern in den Spiegel geſehen und ſich geſchmückt, wenn die FZreun- dinnen zu ihr ſagten: „Wenn man doch auch ſo hübſch wäre wie du!“ In ihrer Ehe aber hatte fie nie Zeit gehabt, an ihren eigenen Menſchen zu denken. Bei- nahe vergeſſen hatte ſie in ihren vielen Pflichten, daß außer Mann und Kindern noch vieles andere da draußen in der Welt auf ſie wartete.

Sie hatte jetzt Muße genug, über dieſes alles nachzu- denken. Beinahe wie als Mädchen fühlte ſie ſich wieder, jung und erwartungsvoll jedem Morgen entgegenblickend, als müſſe er das große Glück bringen, das in heimlicher Sehnſucht durch ihre Zugendträume gegangen war.

Die Frau Apotheker ſprach viel von Liebe zu ihr, von jener Liebe zwiſchen Mann und Weib, die Berge verſetzt und Seligkeiten wachruft, um die man Not und Tod freudig ertragen lernt.

Frau Lisbeth ſaß dann mit großen, ſtaunenden Augen da und vermochte kein Wort darauf zu erwidern.

2 Novellette von Elſe Krafft. 13

Des Nachts aber lag ſie oft ſchlaflos in ihrer kleinen Stube, hörte das nahe Rauſchen der See, wußte aber nicht, ob es nur die Waſſer waren oder auch das Blut in ihrem eigenen Körper. Und ihre Gedanken, die ſonſt immer einen weiten Weg gewandert waren, flatterten nur ſcheu am nahen Strande umher und ſuchten das Boot, auf dem ein blonder Mann ſaß und mit lachenden Lippen ſagte: „Wie ſind Sie ſchön, gnädige Frau, ſo ſchön und lieblich, wie man ſich als Mann und Künſtler nur die Herrlichſte von allen vorſtellt!“

Dazu kam der Trotz, kam es wie bittere Auflehnung gegen den Mann, dem ſie bisher im blinden Gehorſam gefolgt war. War das wirklich Liebe geweſen, was ſie zu ihm geführt? Oder hatte fie auch da nur als gehor- ſames Kind ihrer Eltern zugeſagt, als Vater und Mutter ihr von dem großen Glück ſprachen, das fie machen ſollte? Ein Staatsbeamter, ſo eine prachtvolle Partie, eine ſichere Gewähr für die Zukunft, und fo ein dum- mes, armes Mädel, die als Alteſte von ſechs Ge— ſchwiſtern froh ſein müſſe, überhaupt einen Mann zu DS DIMEN

Geſtern war Frau Lisbeth zum erſten Male mit den anderen zum Ball im Kurhaus geweſen und hatte getanzt getanzt, als ſei ſie noch achtzehnjährig. Und die Herren hatten ſich um die junge Frau gedrängt, die mit ſo weltfremden Augen in das glänzende Treiben hineinblickte und in ihrem ſchlichten, weißen Kleide lieb- licher denn je ausſah.

In der Nacht, als ſie heiß und verwirrt neben den anderen heimſchritt, hatte ſie plötzlich leicht und ſchützend einen Arm in dem ihren gefühlt.

„Sie geſtatten, gnädige Frau. Es iſt jo dunkel, der Weg ſo ſchlecht

14 Oer Ruf des Kindes. 2

Und ſie hatte dem Manne nicht widerſtrebt, der ſie ſicher und gut durch die ſchmalen Gaſſen führte.

Vor und hinter ihr tönte Lachen und Scherzen, jede Dame hatte ihren Herrn zur Seite, mit dem ſie am meiſten getanzt.

Sie ſelbſt aber wußte nichts zu ſagen. Wie eine ganz, ganz andere ſchritt ſie neben dem Maler her. War fie plötzlich verwandelt und gar nicht mehr die kleine, ſchwache Frau und Mutter, die nichts kannte und wollte, als die Körper und Herzen der Kinder hegen und pflegen, dem Manne das Eſſen kochen, das Zeug flicken, ſeiner Willkür preisgegeben, den eigenen Willen untergrabend?

Nein vielleicht war ſie das gar nicht! Die kleine, dumme Frau ſaß daheim in den engen drei Stuben der Großſtadt, ſie aber war frei und feſſellos, Jung und voller Sehnſucht!

An demſelben Abend noch kam die Freundin zu ihr in das Zimmer. Leiſe lachend ſetzte ſie ſich auf den Bettrand neben die erhitzte junge Frau und ſtrich ihr die dunklen Locken aus der Stirn.

„Wie Sie heute wieder ausſehen entzückend, Liebſte! Na, mir können Sie's doch ruhig erzählen, ich bin doch auch nicht ſo! Hat hat er irgendwas geſagt?“

„Wer?“ fragte Frau Lisbeth erſchrocken.

Da lachte die andere noch mehr. „Man könnte Sie um Fhre köſtliche Naivität beneiden! Den Maler meine ich natürlich. Denn daß Sie beide regelrecht ineinander verſchoſſen find, merkt doch ein Kind!“

Die junge Frau begann plötzlich zu zittern. Was war denn das? Woran rührte dieſe Frau? Hatte ſie ſelbſt an ſo unfaßliche Dinge gedacht? War ſie denn verzaubert, daß ſie nicht einmal widerſprechen konnte?

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Mühſam ſuchte fie nach Worten. „Ich bitte Sie nein, Sie dürfen ſo etwas nicht ſagen!“

„Warum denn nicht? Das iſt doch keine Sünde, ein kleiner, harmloſer Flirt hier! Glauben Sie denn, daß unſere Männer daheim als Tugendhelden unſerer Rück- kehr harren, keine Frau anſehen? Seien Sie doch nicht

16 Der Ruf des Kindes. 2

ſo ſchrecklich ſpießbürgerlich, kleine Frau! Ich weiß doch, wie es mit Ihnen ſteht, ſehe doch, wie Sie hier aufblühen ach, ſträuben Sie ſich doch nicht vor der Erkenntnis, daß wir Frauen die gleichen Rechte beſitzen wie unſere Männer! Wie du mir, ſo ich dir! Beherzigen Sie das doch! Sie haben mir ja oft genug erzählt, daß Ihr Mann ſelbſt ſo kleine Liebeleien hat, wenn Sie da ſind, daß er —“

Sie ſchwieg mitten im Satz, denn Frau Lisbeth hatte leidenſchaftlich die Arme gegen die fie umſchlin— genden geſtemmt. |

„Laſſen Sie mich! Bitte, gehen Sie, ich will daran nicht denken ich kann das nicht hören! Das iſt längſt vorbei, daß ich mich darüber aufgeregt habe. Mir war alles gleich, was er tat, . Ruhe wollte ich haben, nur immer müde war ich

„And nun?“ fragte die Besucherin, indem ſie ſich gähnend erhob.

„Nun?“

Frau Lisbeth ſtarrte einen Augenblick in das triumphierende Frauenantlitz, dann barg fie auffchluch- zend den Kopf in die Kiſſen.

„Ich wünſchte, ich brauchte ihn gar nicht wieder— zuſehen,“ ſagte ſie haltlos und verzweifelt.

Da ging die neue Freundin befriedigt aus dem Zimmer. Wieder eine Seele mehr, die ſie aus un— würdiger Knechtſchaft wachgerüttelt!

Am nächſten Tage ſah man Frau Lisbeth den ganzen Tag nicht am Strande.

Erſt als die Sonne hinabgeſunken war, der Wind brauſend das Meer peitſchte, ſchlich ſie zu dem leeren Strandkorb hinunter und blickte in die Nacht hinaus. Sie fror, obwohl fie einen Mantel trug und um den

N Novellette von Elfe Krafft. 17 A —— .

Kopf den hellen Seidenſchal gelegt hatte, von dem der Maler geſagt, daß er aus Indien ſtamme, und daß ſie ihn zum Geſchenk von ihm nehmen müſſe, wenn ſie nur ein ganz klein wenig an ſeine treue Freundſchaft glaube.

Sie träumte ganz gewiß, ſie träumte dieſes wunderliche Leben nur. Und wenn ſie aufwachte, würde Karl vor ihr ſtehen, ſie mit ſeinen ſtarken Händen rütteln, daß kein winzig Teilchen ihres ſchwülen Traumes übrig blieb. Und kleine Betten würden umherſtehen, in dem die Kinder weinten, und

Sie dachte nicht weiter, denn neben ihr hatte eben jemand „Guten Abend“ geſagt.

Sie rückte unwillkürlich noch mehr in die Ecke ihres Strandkorbs hinein.

Er ſchien das für eine ſtumme Aufforderung an- zuſehen, Platz zu nehmen, denn er ließ ſich neben ihr nieder und blickte unverwandt in das weißleuchtende Geſicht, in dem er weder Mund noch Augen deutlich erkennen konnte.

„Ich habe Sie ſchon den ganzen Tag ſehnſüchtig geſucht, gnädige Frau.“

Sie antwortete nicht. „Ach, ſträuben Sie ſich doch nicht vor der Erkenntnis, daß wir Frauen die gleichen Rechte beſitzen wie unſere Männer!“ vermeinte ſie die raunende Stimme der Freundin wieder zu hören.

„Sind Sie mir böſe?“ fragte er weich.

Sie träumte doch wohl. Denn ſie ſaß willenlos, unfähig, auch nur den Arm zu heben. Eine ſüße, nie vorher gekannte Schwäche lähmte ſie, und ſie konnte ſich eigentlich nichts Schöneres denken, als ſo ſtill und ſelig auf ein Glück zu warten, das ſie bisher nur geahnt

Neben ihr erhob ſich ein Arm und legte ſich um ihre Schulter.

1913. X. | 2

18 Der Ruf des Rindes. u

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Sie rührte ſich nicht. Da beugte ſich der Kopf des Mannes über ſie, daß ſie ſeinen Atem ſpürte.

Sie fuhr zurück. Irgendwo, vom Wind zum Strand getragen, war ein Rufen zu ihr gedrungen, ein Kinder- rufen, kurz und hell widerhallend.

„Mutti Mutti!“

Verſtört ſprang ſie auf, ſtrich mit der Hand über Mund und Augen und lauſchte.

Es war aber nichts mehr zu hören nur der Wind und das Rollen der See zu ihren Füßen, die jetzt vom Monde hell beſchienen war.

„Aber gnädige Frau!“ rief der Maler erſchrocken ob ihrer Heftigkeit, mit der ſie ihn zurückgeſtoßen.

Sie rang nach Atem. „Haben Sie das eben gehört?“)

„Was denn?“

„Mutti!“ rief es eben wieder ganz laut und deutlich.

Er lachte gezwungen. „Und darüber regen Sie ſich ſo auf? Aber meine liebe, geliebte Freundin, den Ruf hört man doch hier von früh bis ſpät am Strande. Wo man hintritt, ſpielt doch ſo ein Kleines im Sand und —“

Frau Lisbeth ſchüttelte heftig den Kopf. „Nein, ſo hab' ich's bisher noch nicht gehört. Meine Kinder waren das, meine kleinen, fernen Kinder! Eine Minute ſpäter hätte ich es vielleicht nicht mehr gehört, nie mehr! Aber jetzt, gehen Sie, ich bin ſchon wieder ganz ruhig. So gehen Sie doch!“

Er gehorchte beſtürzt und war bald hinter den Strandkörben verſchwunden. |

Sie blieb allein zurück. Ein Weilchen ſtand fie noch

*) Siehe das Titelbild.

u Novellette von Elfe Krafft. 19

regungslos, immer dasſelbe erwartungsvolle Lauſchen im Herzen.

„Mutti!“

Sie hatte es wieder ganz deutlich gehört.

Ja, fie würde kommen! Morgen ſchon! Sie war ja wieder kräftig und geſund.

Nein eine Frau, eine Mutter beſaß doch wohl nicht die gleichen Rechte wie ein Mann. Die Frau, die ihres Mutternamens wert ſein will, muß vor den Augen ihrer Kinder rein daſtehen und ſündlos, und mag ihr Herz noch fo viele Dornenwege kennen. Ein Straucheln und ſie wäre ihren Kindern verloren für alle Zeit, hätte die jungen Seelen nicht mehr führen dürfen, die zarten Körper nicht mehr feſthalten im Sturme des Lebens.

„Mutti!“ |

Das Wort war wie ein Fels im Meer, es rief fie heim zu Pflicht und Treue.

*

Die Apachen.

Ein Parifer Roman von Fritz Levon.

lgortſetzung.) * knachdruck verboten.)

Aa dem Montmartrefriedhof am Marmorſarkophag Theophile Gautiers ſangen die Vögel. In ihrem Gezwitſcher lag ſchon der leiſe Anlaut einer Wanderfehn- ſucht, denn wenn auch die Luft noch vom Sonnenſchein erfüllt war, ſo ſchwebten doch ſchon die Spinngewebe des Altweiberſommers von Baum zu Baum, und über das ſatte Grün der Blätter lief der erſte rötliche Hauch.

Käthe ſaß oft und gerne an dieſem Platz.

Es war der erſte Ruhepunkt, den fie bei ihrer An- kunft in Paris getroffen hatte, und er war ihr ſchon aus dieſem Grunde lieb geworden, aber auch das kleine, wehmütige Gedicht von der geſtorbenen Liebe ging ihr häufig durch den Sinn, und ſie wiederholte es oft in jener ſchlichten Überſetzung, die Egbert ihr einſt unter zärtlichen Küſſen gegeben hatte.

Dieſe Liebe war tot, und ſie lag unter der Erde wie die Schläfer des Montmartrefriedhofs, aber an ihrer Stelle war eine große und mächtige Leidenſchaft aufgewachſen, die das Herz des Mädchens zerwühlte. Von Tag zu Tag verſpürte ſie mehr das heiße galliſche Blut in ihren Adern, und wenn ihr Auge von dem hochgelegenen Standpunkt auf die Seineſtadt nieder- blickte, dann fühlte ſie, daß nirgend anderswo ihre Heimat und nur an dieſer Stätte ihr Grab ſein könnte.

2 Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 21

Denn dieſes gewaltige, ſchimmernde Häuſermeer war anziehend und geheimnisvoll und grauenhaft zugleich. Anziehend in ſeinem Glanz, wenn die Sonne darauf niederſtrahlte oder ein Meer von Licht aus ſeinen Straßen emporflammte geheimnisvoll in der Er- kenntnis, daß die Genoſſenſchaft von drei Willionen Menſchen das Individuum vernichtete und ſein Schickſal in der Maſſe auflöſte grauenvoll in dem Gedanken, daß alle Laſter und Verbrechen der Erde ſich hier ver- ſammelten, wie die kranken Säfte des Körpers in einem Geſchwür ihren Ausgang ſuchen.

Käthe wußte jetzt ſchon mehr von dem letzteren als früher. Sie wußte, daß abends ihre Hand den Feinden der Geſellſchaft den Trunk kredenzte, daß das „Kanin- chen“ bei der Polizei einen ſchlimmen Ruf genoß, daß die Stunde kommen konnte, da ſich auch an dieſer Stelle einer jener Kämpfe entwickelte, die den Zei- tungen das tägliche Brot brachten, die von dem ſatten und ſicheren Leſer bei der Morgenſchokolade ver- ſchlungen werden, ohne die unſere nervenſchwache Zeit nicht mehr leben kann, weil ſie Peitſche ſind und Stachel und Elixir.

Ohne Zean wäre Käthe längſt davongelaufen. Barfuß hätte ſie ſich von Paris bis Jena zurückgebettelt, jene langen grauen Landſtraßen entlang, die mit ihren ſchrecklichen Pappeln in Käthes Erinnerung ſtanden. Aber an dieſem Manne, an ſeinem Vorte und ſeinen Verſprechungen hing ihre ganze Seele, wie ſie in ihrer Mädchenliebe an feinem Halſe gehangen hatte.

Er mußte kommen und ſie erlöſen aus dieſer Hölle, denn die wilden Augen der Gäſte des „Kaninchen“ begannen ſie ſchon zu verſchlingen; es konnte nicht mehr lange währen, dann führte ſie den Namen einer Apachenbraut.

22 Die Apachen. a

Täglich harrte das Mädchen auf die Rückkehr des Geliebten. Es war ja eine lange Fahrt nach dem Thüringer Land, und man durfte dabei nicht mit einem einzelnen Tage rechnen; aber Jean hatte ſich doch nur die Einwilligung des Vaters holen wollen. Welcher Bräutigam zögert denn länger, wenn ihm die fehn- ſüchtigen Lippen ſeines Mädchens entgegenglühen!

Zuletzt wurde dieſer Zuſtand faſt unerträglich. Es kamen auch noch andere Dinge hinzu, die mit ihrem geheimnisvollen und ſchleichenden Gang Argwohn er- regten. Jules Renard hatte plötzlich fein Logis auf- gegeben und war in unbekannte Fernen verſchwunden. Als Käthe deswegen bei ihrer Tante anfragte, erhielt ſie nur ein mürriſches Achſelzucken zur Antwort, und als ſie endlich Jeans Wohnung wiſſen wollte, da ent- gegnete ſie: „Ich weiß ſie ſelber nicht. Laß den Kerl doch laufen es gibt beſſere, denen du dein Herz ſchenken kannſt.“

Dann kam ein Brief aus Jena.

Wunderlich war der alte Tonndorf immer geweſen, denn das ewige Grübeln über ſeinen Scharteken machte ihn hinterſinnig; aber dieſes Schreiben übertraf alles, was ein Menſch an Unklarheit und Zweideutigkeit leiſten kann.

Jean Lecocq ſei dageweſen und habe um Käthes Hand angehalten. Er habe einen ſehr günſtigen Ein- druck gemacht; er ſcheine ein tüchtiger und intelligenter Mann zu ſein. Aber man wiſſe doch ſo gar nichts über ihn und feine Vergangenheit, man kenne nicht die Kreiſe, in denen er verkehre, und nach ſeiner ſehr raſch erfolgten Abreiſe habe ſich ein Verdacht heraus- geſtellt, der zur größten Vorſicht mahne.

„Prüfe nicht Dein Herz, ſondern Deinen Verſtand,“ ſchrieb der Alte. „Ich habe lange Jahre in Paris ge-

u Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 23

lebt und weiß aus Erfahrung, daß an keinem Platz der Welt das Verbrechen und das Laſter unter einer ſchöneren Hülle einhergehen; Tugend und Verworfen- heit können niemals in derſelben Bruſt beiſammen wohnen, aber ſie wohnen in Paris zum mindeſten Wand an Wand. Forſche nach, ob der Mann, dem Du Dich zu eigen geben willſt, eine makelloſe Vergangenheit hat, ſieh ſeinen Freunden in das Auge, ob es rein iſt, und vergiß niemals, daß die Blindheit der Liebe am beſten durch ein ſorgendes Vaterauge erſetzt wird.“

Es war ein unfreundlicher Tag, an dem dieſe Zeilen eintrafen ein Tag, der den herannahenden Herbſt ahnen ließ. Aber obwohl der Regen drohte und ein häßlicher Wind den Straßenunrat aufwirbelte, rüſtete Käthe ſich doch zum Ausgehen und ſagte zu ihrer Tante, daß ſie eine unaufſchiebbare Beſorgung vorhabe, die vielleicht mehrere Stunden in Anſpruch nehmen werde. Ihr Geſicht war ſo blaß, daß Madame Vernot ſtutzte und das Mädchen mißtrauiſch betrachtete; aber dann erfolgte eine gleichgültige Antwort und die Mahnung, bis zum Einbruch der Dunkelheit zurückzukehren.

„Paris wird immer unſicherer. Heutzutage iſt jeder dritte Kerl ein Spitzbube.“

Das waren die letzten Worte, die Käthe von der Schweſter ihrer Mutter hörte, und ſie klangen ihr in den Ohren nach, als der Montmartre ſchon längſt außer Sicht war und das gewaltige Treiben der großen Boulevards ſie umrauſchte.

Mit einem Fiaker fuhr ſie auf die Polizeipräfektur. Sie paſſierte den Louvre und entſann ſich jenes Tages, da Jean neben ihr die göttliche Schönheit der Venus von Milo bewunderte. Sie kam über den Pont des Arts, und es fiel ihr ein, daß irgend ein deutſcher Dichter eine rührende Novelle geſchrieben hatte, die

24 Die Apachen. 12 von einer Bettlerin handelte. Aber es waren unklare, flüchtige Gedanken, die wie Schatten vorüberhuſchten, die jenen Wolken glichen, deren Fetzen am Himmel entlang jagten.

Erſt als das Portal des Polizeigebäudes ſich vor ihr auftat, klärte ſich das Denken in ihrem Kopf, und ſie zögerte einige Sekunden. Dann wurde ſie von dem Portier nach ihrem Begehren gefragt, und nun war es zu ſpät, um dieſen unheimlichen Räumen wieder zu entrinnen. |

Wenige Minuten ſpäter befand fie ſich in einem etwas düſteren Zimmer, deſſen Luft nach Akten roch, man hatte ihr einen Stuhl angeboten, und ſie ſah hinter dem großen Schreibtiſch einen noch ziemlich jungen Beamten mit intelligenten Zügen, der ſie höflich nach ihrem Begehren fragte. zgch möchte die Adreſſe meines Verlobten er- fahren,“ ſagte Käthe.

Der Herr ſtutzte und nahm ſeinen Klemmer ab. „Habe ich Sie recht verſtanden, mein Fräulein? Bräute pflegen doch im allgemeinen zu wiſſen, wo ihr Ver- lobter wohnt!“ ch weiß es nicht, mein Herr.“

„So hm. Wie iſt der Name des Betreffenden?“

„Jean Lecocg.“

„Und ſein Beruf?“

„Werkführer in einer chemiſchen Fabrik, deren Arbeiter momentan ſtreiken.“ i

Der Beamte ſchüttelte den Kopf. „Es wird ja viel geſtreikt in Paris, mein Fräulein, aber davon iſt uns nichts bekannt. Wie heißt die Fabrik, und wo liegt ſie?“

„Ich weiß es nicht,“ entgegnete Käthe ebenſo ein- fach wie vorhin.

„Aber das wird ja immer ſeltſamer ich bin da

1 Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 25

wirklich in Verlegenheit. Sie wiſſen wohl nicht, mein Fräulein, daß ein eigentlicher Wohnungsanzeiger für Paris nicht geführt wird?“

„Doch, das iſt mir bekannt,“ ſagte Käthe entſchloſſen. „Venn Paris ein amtliches Adreßbuch hätte, dann wäre ich nicht hier in dieſem Hauſe. Aber ich denke, daß die Herren von der Polizei mitunter doch etwas wiſſen, was anderen Leuten verborgen iſt und daß fie es auch unter Umſtänden mitteilen.“

Der Beamte nickte lächelnd. „Allerdings, wir wiſſen manches, und wir teilen es auch mit, obwohl ſehr ſelten angenehme Nachrichten dabei ſind. Wünſchen Sie wirklich von mir zu erfahren, mein Fräulein, ob der Name Ihres Verlobten in den Polizeiakten enthalten iſt?“

Das war der Augenblick, da Käthe bereute, dieſen ſchrecklichen Ort betreten zu haben. Und ſie erkannte ſehr deutlich, daß der humane Beamte ihr eine Brücke bauen wollte, daß er ſeine Hand warnend erhob, wie die Prieſter des Saistempels es taten, als der fürwitzige Züngling den Vorhang lüftete.

Dann raffte fie ſich gewaltſam auf. „Ich bitte darum, mein Herr.“

Nun wurde jener ganz Automat. Er ſprach einige Worte in das Telephon, lehnte ſich in ſeinen Seſſel zurück und betrachtete aufmerkſam ſeine Fingernägel. Aber Käthe merkte ſehr wohl, daß unter feinen ge- ſenkten Lidern ein raſcher Blick zu ihr hinüberſchoß. Eine Braut, die ſo wenig von der Vergangenheit ihres Verlobten kannte, war ihm wohl noch niemals vor- gekommen, obwohl die Pariſer Polizei in den Irr- gärten der Liebe keines Ariadnefadens bedarf.

Es vergingen einige atemloſe Minuten, und Käthe hoffte mit jedem Herzſchlag, daß aus der Tiefe des Fernſprechers eine tröſtliche Stimme heraufklingen

1

26 Die Apachen. 1

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werde, eine Stimme, die meldete, daß über Jean Lecocq keine Akten vorhanden wären

Dann öffnete ſich die Tür. Ein altes, gebücktes Männchen mit einem harmloſen und gutmütigen Ge- ſicht kam herein; und dieſer Greis, der keinem Kinde Furcht einflößen konnte, trug unter ſeinem Arm ein dünnes Aktenheft, bei deſſen Anblick Käthe von Ent- ſetzen erfüllt wurde.

Er legte es auf den Schreibtiſch und ſagte mit ſeiner dünnen, trockenen Stimme: „Hier find die Perfonal- akten von Jean Lecocq. Es liegt nichts Neues gegen ihn vor, aber man ſucht ihn, denn er hat keine Woh- nung und ſoll ſich im Apachengelände herumtreiben.“

Als das Männchen wieder gegangen war, nahm der Herr hinter dem Schreibtiſch das dünne Heft in die Hand. Käthe ſaß nahe genug, um die Aufſchrift zu erkennen, und ſie las nicht nur den fett geſchriebenen Namen ihres Verlobten, ſondern fie ſah auch noch da- neben ein kleines, geheimnisvolles Zeichen, einen auf- geklebten roten Zettel, der dieſem Namen eine be- ſondere Bedeutung verlieh.

Sie biß die Zähne zuſammen, um einen Schrei zu unterdrücken.

Da ſagte auch ſchon die kühle, höfliche Stimme des Beamten: „Es tut mir leid, mein Fräulein, Ihnen über Ihren Verlobten keine beſonders günſtige Aus- kunft geben zu können. Er iſt keineswegs Werkführer in einer chemiſchen Fabrik, ſondern ſtellenlos und, wie Sie ſoeben gehört haben, ohne Wohnung. Übrigens beſitzt er akademiſche Bildung und ſoll ein geſchickter Chemiker ſein. Der Zuſammenbruch ſeiner Exiſtenz iſt wohl wie in fo vielen Fällen lediglich darauf zurück- zuführen, daß er nach Verbüßung einer Strafe von der Geſellſchaft ausgeſtoßen wurde. Und nun frage ich

u Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 27

Sie, mein Fräulein, auf Ihr Gewiſſen, ob Ihnen das alles wirklich unbekannt geblieben iſt, oder ob Sie nur die Polizei aushorchen wollen? Wir werden Ihnen die Wahrheit nicht verargen, denn es find keine Ge- heimniſſe, die ich Ihnen hier mitteile, und wenn Sie von hier aus in den Schlupfwinkel Ihres Freundes gehen wollen, ſo wird Ihnen niemand etwas in den Weg legen.“

Nun war Käthe plötzlich ruhig geworden. Es lag etwas Feindſeliges in ihrer Stimme, als ſie den Kopf hob und entgegnete: „Ich habe Ihnen die Wahrheit geſagt, mein Herr. Als ich dem Mann, der dort in Ihren Akten ſteht, mein Herz ſchenkte, wußte ich von feiner Vergangenheit nicht mehr als vor einer Viertel- ſtunde, denn die Liebe pflegt nicht nach Namen und Stand zu fragen, und darum wird ſie auch ſo oft betrogen. Ich will damit nicht ſagen, daß man mich betrogen hat, mein Herr, ich habe nur noch eine einzige Bitte: wenn das Geſetz es Ihnen geſtattet, ſo teilen Sie mir das Verbrechen meines Verlobten mit es iſt ja wohl das wenigſte, was ein Weib verlangen kann, und Sie fagen ja ſelbſt, daß es kein Geheimnis iſt.“

Der Beamte zuckte die Schultern. „Sie wollen es alſo, mein Fräulein. Jean Lecocq hat ganz einfach ſeine chemiſchen Kenntniſſe dazu verwendet, um eine Nahrungsmittelfälſchung zu begehen, und da wir in ſolchen Sachen ſehr ſtrenge ſein müſſen, ſo hat man ihn deswegen mit einem Jahr Gefängnis beſtraft. Das iſt keine Romantik, und viele teilen dasſelbe Los, aber der Niedergang vollzieht ſich um ſo raſcher, je größer die Pflichten ſind, die Bildung und ſoziale Stellung uns auferlegen.“

Käthe verbeugte ſich dankend und ging. Starr blickte ihr Auge. Als ſie den Fuß des Montmartre

23 Die Apachen. no

wieder erreicht hatte, begannen die erſten Schatten des Abends niederzuſinken. Der Wind war ſtärker ge- worden und brauſte durch die Bäume der Anlagen. Es war eine große Verwirrung in der Natur, aber die Gedanken des Mädchens gingen noch mehr durchein⸗ ander.

Wo war ſie eigentlich in der letzten Stunde ge- weſen, nachdem der Portier der Polizeipräfektur die ſchwere Tür hinter ihr geſchloſſen hatte?

Richtig, unten am Seinekai, wo die Mauer mit den ſchwarzen Käſten ſich entlang zieht, in denen Trödler ihre Waren feilhalten. Sie hatte mit einem der alten „Bouquiniſten“ geſprochen und ihn angeſichts des auf- geregten Fluſſes gefragt, ob ſich dieſer mühſelige Schacher denn lohne und ob es nicht beſſer ſei

Zu Ende gebracht hatte ſie den Satz nicht, und es war ihr auch gar nicht ernſt damit geweſen; ſie wollte nur mit dieſer letzten Möglich keit ſpielen und nebenbei etwas Wildes, Kämpfendes, Ringendes ſehen, wie die Wellen der Seine es waren, wenn ſie gegen die Pfeiler des Pont des Arts und des Pont Neuf angurgelten.

Dann war ſie über die vornehmen Boulevards gegangen.

Bei dieſem unfreundlichen Wetter waren ſie freilich ziemlich verödet geweſen, und die Händler mit Zei- tungen und Anſichtskarten machten ſchlechte Geſchäfte; aber um ſo unverhüllter protzte der Reichtum und der Glanz durch die großen Spiegelſcheiben der Läden und Cafes es war heute ein Tag, um den grellen Gegen- ſatz zwiſchen arm und reich, zwiſchen Glück und Elend auch ohne elektriſches Licht zu beleuchten.

Wie hatte doch der Mann mit dem glitzernden Klemmer hinter feinem grünen Aktentiſch geſagt? „Der Niedergang vollzieht ſich um ſo raſcher, je größer die

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Pflichten ſind, die Bildung und ſoziale Stellung uns auferlegen.“ Ach ja, das war eine Binſenwahrheit, die auch das Kind der Saalgaſſe begriff, aber wer trug denn die Schuld an dieſem Zuſammenbruch, an dieſem jähen Sturz?

Käthe beſaß von dem, was Zean Lecocq gefehlt haben ſollte, keine klare Vorſtellung. Wenn unter Frauen von Verbrechen die Rede iſt, ſo denken ſie an alles, was die Senſation wachruft, an Mord und Tot- ſchlag oder an den Frevel gegen das eigene Geſchlecht, der immer am höchſten bewertet wird. Aber was in das Erwerbsleben fällt oder unter den Begriff der ſozialen Pflichten, das wird von dem weiblichen Denken gering eingeſchätzt, denn es iſt nicht mit den Händen zu greifen und nicht an ſeinen Folgen zu bemeſſen.

Was hieß Nahrungsmittelfälſchung? Die beging Mutter Vernot tagtäglich, wenn ſie ihren Gäſten Fuſel vorſetzte und Roßfleiſch für Hammelbraten und es fiel keiner Menſchenſeele ein, ſie darum ins Gefängnis zu ſtecken und obdachlos zu machen.

Vielleicht hatte Zean nur eine Erfindung gemacht, die den Neid wachrief und in fremde Erwerbſphären eingriff, und da kamen dann die Denunzianten und die Konkurrenten und die Polizei mit ihren tauſend Paragraphen das Ende aber war die brutale Ver- nichtung einer Exiſtenz, die doch nur den Kampf um ſich ſelbſt geführt hat.

Wo die Liebe nicht in ihrem eigenen Lebensnerv verletzt iſt, findet ſie immer einen Entſchuldigungsgrund. Käthe konnte ſich fo lebhaft die Scham dieſes Unglück⸗ lichen vorſtellen, der ſeine Vergangenheit angſtvoll zu verbergen ſuchte, der von Tag zu Tag auf eine neue Lebensſtellung hoffte und vielleicht in dieſem Augen- blick darum kämpfte, während ſie ſelbſt ihn für falſch

30 Die Apachen. o

und treulos gehalten hatte, für fähig, eine Stunde zu vergeſſen, die das Weib niemals aus feiner Erinnerung löſchen kann.

Unter dem Widerſtreit dieſer Gedanken war Käthe in die Anlagen des Montmartre gelangt und empfand plötzlich das Unheimliche ihrer Umgebung. Denn wenn auch die Dämmerung noch immer gegen das Dunkel rang, ſo waren doch die Wolken ſcheinbar bis zu den Wipfeln der Bäume niedergeſunken, und die Schatten der bewegten Aſte tanzten einen tollen Wirbel auf Rafen und Kies.

Damals, an jenem Vollmondabend, waren noch ſchleichende Geſtalten hinzugekommen, die heute zu der frühen Stunde fehlten; aber das Gefühl der Verein- ſamung wurde deshalb nicht geringer, und es geſellte ſich noch ein anderes hinzu.

Der Ekel vor jener widerwärtigen Kneipe, die Abend für Abend den Abſchaum des Volkes in ihren rauch- ſchwarzen Wänden barg.

Dort ſtand die Bank, auf der das junge Paar den erſten Liebeskuß getauſcht hatte. Es ſaß einer darauf. Er machte den Eindruck eines müden, verwehten und heimatloſen Menſchen.

Es war Zean Lecocgq.

Käthe erkannte ihn, als er den Kopf hob. Sie ſtürzte mit einem Schrei auf ihn zu, ſchlang die Arme um ſeinen Hals, ſetzte ſich auf ſeine Knie und küßte ihn, wie nur ein Weib küſſen kann, das liebt.

Und dann, immer wieder ſeine Lippen verſchließend, ſagte ſie atemlos: „Still, ich weiß alles! Du haſt mir aus dem Wege gehen wollen, du haſt dich geſchämt. Aber deine Liebe war größer als dein Wille wir gehören zuſammen, es gibt nichts Mächtigeres als die Liebe!“

2 Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 51

Er war fo verwirrt, daß ihm die Vorte fehlten; aber fie ließ ihm auch gar keine Zeit dazu, fon- dern ſie überſtürzte ſich in ihren Reden wie ein ſchluchzendes Kind, das endlich ſein Unrecht bekennt und nun nicht ſchnell genug mit der Beichte fertig werden kann.

„Oh, mein armer Schatz, wie unendlich leid du mir tuſt! Sieh, ich weiß ja alles! Ich bin ſchlecht geweſen und dachte, du wollteſt mich verlaffen, und da war ich auf der Polizei, um mich nach deiner Wohnung zu erkundigen ich wußte ja nicht, daß du keine haſt, daß du heimatlos und verfolgt und verachtet biſt. Sie haben mir alles geſagt mit ihrem kalten, gleichgültigen Lächeln, mit ihrer glatten Höflichkeit aus ihren ſchrecklichen Akten! Als ich die Akten ſah, Jean, da ging ein Riß durch meine Seele, aber es löſte mich nicht von dir los, ſondern von der unbarmherzigen Welt, von allem, was hinter mir liegt. Nimm mich mit, Jean, ich will deine Frau werden! Irgendwo in Paris wird ſich ja wohl ein Maire finden, der uns zuſammentut. Sie haben ja andere Geſetze in Frankreich wie in Deutſch⸗ land nimm mich mit dir, und wenn du es nicht tuſt, dann gehe ich in die Seine oder ſtürze mich vom Eiffel- turm, denn in die Räuberhöhle dieſes ſchrecklichen Weibes will ich niemals zurück, lieber mit dir hinter einen Zaun oder in eine Bretterbude oder ſonſtwohin in die weite Welt!“

Er hatte ſie leiſe von ſeinen Knien geſchoben, aber den Arm behielt er um ihren Nacken. Und dann ſagte er plötzlich: „Ich habe eine Wohnung, Käthe. Willſt du ſie ſehen?“

„Ja; führe mich hin!“

Nun war es wirklich dunkel geworden. Die Laternen der Anlagen flammten auf, wie von einer unſichtbaren

32 Die Apachen. ns

Hand belebt, und zu derſelben Zeit erſtrahlte auch Paris in einem Meer von Licht.

Aber ſie gingen nicht dieſem Licht entgegen, ſondern Zean wendete ſich nach der entgegengeſetzten Seite, wo die Laternen immer ſpärlicher wurden, wo fie zu- letzt in einem breiten ſchwarzen Gürtel verſanken, der die Stadt von den Lichtern der weit draußen liegenden Forts trennte.

Und Käthe hatte eine Empfindung, wie der Schwim- mer ſie hegen mag, wenn er immer weiter in eine unbekannte Meeresweite hinausſchwimmt hinter ſich das ſichere Land, vor ſeinen Augen aber das Schweigen des Todes.

„Wohin gehen wir?“ fragte ſie endlich leiſe.

„Zu den Ausgeſtoßenen, Kind. Einige von ihnen haſt du bereits bei Mutter Vernot kennen gelernt, dieſer alten Kupplerin, die der Teufel ſicher noch holen wird. Aber das ſind ſolche, die noch eine Dachkammer haben oder ein paar Sou für das Aſyl. Die ganz Elenden hamſtern in Strohmieten und in Gartenlauben und in Erdlöchern. Du haſt auch ihren Kriegsnamen nennen hören, der von einem wilden Indianervolk entlehnt iſt, und vor dem ſich ſelbſt die Polizei fürchtet. Sie tut recht daran, denn es ſind ſchlimme Geſellen darunter, Leute, denen das Menſchenleben nicht mehr gilt als eine Pfeife Tabak ihr eigenes und ein fremdes, wie es gerade kommt. Sie ſind ſchon in Verbrecherkreiſen groß geworden, ſie wiſſen es nicht anders und wollen es nicht anders es iſt eine Verſchwendung an Mit- leid, wenn man fie bedauert, und es ift eine Danaiden- arbeit, wenn man fie beffern will. Das iſt der Stamm, Käthe, aber es kommen Zugewanderte, das ſind die eigentlichen Ausgeſtoßenen, das ſind alle, die nicht hinter dem Zaun geboren wurden. Ein wenig Schuld

u Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 33

haben fie alle, es gibt ja jo viele Dornen am Lebens- weg, daß keiner ohne einen Riß davonkommt; aber wenn er ihn nicht gleich zudecken oder flicken kann, dann zeigen die Leute mit Fingern darauf: „Seht den Vagabunden!“ Das werden die Schlimmſten mit der Zeit, denn ſie haben keine Gleichgültigkeit in ſich, ſondern ſie tragen einen Haß im Herzen, und der muß heraus!“

„Du biſt nicht ſchlecht, Jean!“

„Nein, ich habe noch keinen totgeſchlagen, und Geld geſtohlen habe ich auch noch nicht. Vor dem einen graut mir, und das andere iſt häßlich. Aber den Krieg mit der Geſellſchaft führe ich doch. Einmal kommt es dann ſo weit, daß das Grauen auch aufhört, und dann fängt es bei dir an, darüber darfſt du dich nicht täuſchen.“

Es begann ſachte zu regnen, und Jean Lecocq legte ſeinen Arm um die Schultern des Mädchens.

„Sieh, gegen die paar Tropfen kann ich dich ſchützen. Aber wenn uns beiden das Waſſer an die Kehle ſteigt, dann kommt die ſelbſtſüchtige Beſtie zum Vorſchein. Apachenbraut zu ſein, iſt kein Roſenweg ich kenne welche, die von ihren Beſchützern totgeſchlagen wurden, und es war nicht immer aus Eiferſucht.“

„Ich will deine Frau werden,“ ſagte Käthe zitternd.

Jean lachte leiſe vor ſich hin. „Wenn du Gewicht darauf legſt, warum nicht? Die Komödie vor dem Maire iſt bald erledigt. Aber erſt ſollſt du meine Woh- nung ſehen, ich hatte es dir ſchon damals verſprochen, als deine Augen noch nicht aufgetan waren.“

Sie kamen in das Gelände, wo die verlaſſenen Bau- ſtellen ſind und die Zäune und die wüſten Gärten. Der Wind hatte ſich gelegt, und der Regen hörte auf; hinter den Wolken kam ein wenig Mondlicht zum Vorſchein und tauchte die ganze Gegend in fahle Dämmerung.

1918. X. 3

ne

34 Die Apachen. u

Käthe ſchmiegte ſich an ihren Begleiter. „Sind wir hier ganz allein?“

„O nein, das darfſt du nicht glauben. Aus irgend einem verſteckten Winkel werden uns ſchon Augen ge- ſehen und Ohren gehört haben, denn es lauſcht und lugt hier alles. Du glaubſt eine Vogelſcheuche vor dir zu haben, und es iſt ein Menſch. Zwar ſie kennen mich alle, ſie wiſſen, es iſt der, ſchöne Jean“ mit ſeiner Braut. Aber du ſollteſt es mal erleben, daß hier einer im Zylinderhut und mit der goldenen Uhrkette ſpazieren geht: ich glaube nicht, daß ſo was vorkommt, aber du mußt dir klarmachen, was dann geſchehen würde. 1

„Halt du mit ihnen Umgang, Jean?“ |

Er blieb ſtehen und ſah ſich um. Er lauſchte, Re es blieb ſtill nur weit aus der Ferne, von der Notre Dame kam das berühmte Glockenſpiel, das Ave Maria.

„Ich dachte, es ſei eine Razzia unterwegs,“ ſagte er, „aber die Sinne werden von der Nacht genarrt. Hier draußen verkehrt keiner mit dem anderen, es iſt ein ungeſchriebenes Geſetz, daß jeder für ſich unterkriecht. Aber drinnen in Paris haben wir unſere Lokale. Das „Kaninchen“ iſt eines davon, in einem anderen haben wir zum erſten Male zuſammen getanzt. Wußteſt du wirk- lich nicht, in welchem Kreis du bis heute gelebt haſt?“

„Nicht genau, Jean, aber nun weiß ich, daß ich ſchon längſt zu euch gehöre. Sind wir immer noch nicht bei dir angelangt?“

„Ja,“ entgegnete er, „hier liegt meine Sommer- villa. Es iſt die ſchönſte in der ganzen Umgegend. Mein nächſter Nachbar wohnt in einem ausrangierten Möbelwagen, auch die leeren Hundehütten ſind beliebt, denn die Eigentümer dieſer Gelände laſſen bisweilen ihre Grundſtücke von Hunden bewachen, aber es be- kommt den lieben Tieren ſelten gut.“

6 Ein Parifer Roman von Fritz Levon. 35

Er ſtieß die Tür der Baubude auf und zündete einen Lichtſtumpf an, der in einer Schnapsflaſche ſteckte.

Käthe ſchaute ſich um.

„Raum genug für zwei,“ ſagte Jean. „Aber ich fordere nicht von dir dieſes Opfer, denn über kurz oder lang werden die Polizei und der Herbſt mich doch aus- weiſen. Ich habe noch Geld genug, um dir irgendwo eine Dachſtube zu mieten, und bevor dieſes Jahr zu Ende geht, ſollſt du deine Hände in Gold eintauchen. Dieſe Nacht wollen wir einen Apachenball beſuchen, wo ſie unter der Erde zwiſchen Fledermäuſen und Ratten tanzen es iſt ein luſtiges Völkchen, und keiner fragt danach, ob der Tod oder der Teufel ihnen auf- ſpielt.“

* 4 *

Eines Vormittags ſaß Willibald Specht in ſehr ſchlechter Laune an ſeinem Zeichentiſch und mühte ſich vergeblich ab, einen lahmen Witz zu illuſtrieren und dadurch für das Publikum einigermaßen genießbar zu machen. Es war eine Aufgabe, der er ſich nicht ge- wachſen fühlte, denn der Humor lag überhaupt nicht im Zeitgeiſt, und Frau Eugenie hatte ihm vorhin eine Szene gemacht, bevor ſie das Haus verließ, um in die Markthallen zu gehen.

Es ginge ſo nicht weiter, hatte ſie geſagt und ihr Lady-Macbeth-Geſicht aus der Vergangenheit hervor- geholt. Die Kaſſe ſei leer, man müſſe ſich zu irgend einer Tat aufraffen

Dann war ſie davongerauſcht und überließ die Löſung des Problems ihrem Gatten. Nur noch Bertas Namen hatte ſie zwiſchen Tür und Angel genannt, und dieſer Wermutstropfen machte den Becher vollends überlaufen.

36 Die Apachen. ö

Wie fo viele Künſtler gehörte auch Willibald zu jenen ſchwachen Naturen, deren Liebe ſich nur rein paſſiv zu äußern vermag; er erkannte ſehr deutlich, daß ſeine Tochter durch ihre raſtloſe Tätigkeit allein den ganzen Haushalt aufrecht erhielt; es ſchmerzte ihn, wenn fie bis tief in die Nacht hinter ihrer Schreib- maſchine ſaß, und er ſchämte ſich gelegentlich darüber. Aber jeder Anlauf zur eigenen regelmäßigen Arbeit ſcheiterte an ſeiner grenzenloſen Faulheit, und außer- dem waren die Zeiten wirklich miſerabel.

Am liebſten hätte er in die Lotterie geſetzt, denn der Gedanke an einen plötzlichen und großen Gewinn dünkte ihn ſehr verlockend; aber leider fehlte ihm auch das Geld zum Ankauf eines Loſes, und Frau Eugenie konnte ungeachtet ihrer Karten die richtige Glücks- nummer nicht herausfinden. Alſo galt es wieder ein- mal zu ſtricheln und zu ſchraffieren, mußte abermals die ausgepreßte Phantaſie einen neuen Tropfen her- geben und das alles um ein paar lumpige Mark, die auch noch erſt am Ende des Quartals gezahlt wurden. =

Im Haufe war es ſehr ſtill. Berta weilte auf der Redaktion, und Egbert hatte geſtern von einem großen Prozeß geſprochen, über den er berichten müſſe; nur der Inſaſſe der blauen Stube, dieſer geheimnisvolle Franzoſe, mochte daheim fein, Er ſaß ja ſeit mehreren Tagen wie angenagelt am Schreibtiſch und ſudelte Gott weiß was zuſammen.

Plötzlich hörte Willibald ſeinen leiſen, katzenartigen Schritt.

Charles Renard kam herein, wünſchte einen guten Morgen und ſetzte ſich auf die andere Seite des Zeichen- tiſches. Er tat das öfters, und zwar unter dem ſchmeichel⸗ haften Vorwand, daß die Kunſt des Meiſters ihn feßle.

2 Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 37

Aber heute fand er einen ſchlechten Empfang.

„Es iſt dem Teufel fein guter Morgen,“ ſagte Willi- bald unwirſch. „Wenn Sie etwa denken, daß ich hier als Dukatenmännchen ſitze, dann find Sie gründlich auf dem Holzweg. Es iſt eine elende Schinderei, und dabei klebt mir die Zunge am Gaumen wie Pappe.“

Der Franzoſe nahm ganz gelaſſen das Blatt und betrachtete es. „Im famos! Wie lange Zeit brauchen Sie dazu?“ |

„Wenn ich bei Laune bin, ein paar Stunden ſonſt ebenſoviele Tage.“

„And das Honorar?“

„Na zwanzig bis dreißig Mark je nachdem.“

Renard murmelte etwas von Perlen und Säuen.

Specht ſchlug auf den Tiſch. „Sie haben recht, es iſt eine Entwürdigung der Kunſt! Aber was ſoll ein armer Familienvater machen?“

„Seine Gaben beſſer verwerten, Herr Specht.“

Willibald warf einen ſchiefen Blick in die Ecke, wo feine Staffelei ſtand. Es war ſeit Fahren eine Lein- wand eingeſpannt, und man konnte den Staub davon herunterblaſen. „Meinen Sie das dort?“

„Nein,“ entgegnete Renard, „das meine ich nicht. Es laufen genug Schmierfinken in der Welt herum. Kennen Sie die Geſchichte von den beiden Malern, die miteinander wetteten, wer in einem Jahr etwas ſchaffen könne, was keiner nachmache?“

„Nein. Wie war das?“

„Der eine brachte ein großartiges Gemälde, der andere ein leeres Stück Papier. Und dann zog er aus freier Hand einen Kreis, ſetzte das Zentrum hinein, und als ſie mit dem Zirkel nachmaßen, da klappte die Sache aufs Tüpfelchen. Sie verſtehen mich doch, Herr Specht: der eine hatte Talent, der andere war ein

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Genie. Der eine ſchuftete, der andere machte es fpie- lend. Ich glaube, Sie ſind ein Genie.“

Renard hatte während dieſer Worte ein leeres Blatt genommen und die Sache mit dem Bleiſtift vor- demonſtriert. Dann betrachtete er den ziemlich un- geſchickt gezogenen Kreis, ſetzte ſeinen Namen darunter und ſagte lachend: „Das hier würde wohl kaum ſtimmen, wenn wir es mit dem Zirkel nachmeſſen wollten, aber der Name des Künſtlers ſteht doch darunter wie bei ſo manchem Schund. Und nun zeigen einmal Sie mir den Meiſter, verehrter Herr Specht. Es iſt ja doch in den Künſtlerkreiſen bekannt genug, daß Sie nur den Stift anzuſetzen brauchen, um jedes Menſchen Hand- ſchrift nach Charakter und Eigenart in untrüglicher Weiſe nachzuahmen. Es iſt eine wunderbare Gabe, und ich möchte das wirklich mit eigenen Augen ſehen, zumal ich ſelbſt einen Namenszug führe, der den Graphologen ſchon viel Kopfzerbrechen gemacht hat.“

Er ſprach dieſe Worte ganz leicht und ohne beſondere Betonung, aber ſeine Hand ſchob dabei das Blatt über den Tiſch, und dann klopfte er ſcherzend mit dem Finger auf die Platte. |

„Eins, zwei, drei oder ich glaube, daß Sie es gar nicht können, und daß Sie nur ein großer Re- nommiſt find. Schließlich iſt jo was überhaupt unmög- lich, und ich habe mir einen Bären aufbinden laſſen.“

Mit dem Maler war eine eigentümliche Verände- rung vorgegangen. Er richtete ſich auf, und ſeine ſonſt ſo ſchlaffen Züge nahmen einen geſpannten Ausdruck an. Er hatte anſcheinend nicht die geringſte Ahnung, um was es ſich im Grunde handelte, aber ſein Ehrgeiz war geweckt, und er fühlte ſich wirklich als Meiſter.

„Ich kann es,“ ſagte er, „es iſt wirklich eine Gabe, die vielleicht ſehr ſelten vorkommt. Ich kann es ohne

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jede Mühe und mit vollkommener Sicherheit, aber ich muß mir erſt die Geſichtszüge des Originals betrachten, bevor ich die Züge ſeiner Hand nachahme. Denn die Schrift iſt nichts weiter als ein Spiegel der Seele, und die Augen find gewiſſermaßen die Fenſter der Seele. In Ihren Augen aber, verehrter Herr Renard, ſteht allerlei Geheimnisvolles zu leſen, und darum ſchreiben Sie auch einen Namenszug, der die Grapho- logen narren könnte.“

Es vergingen ein paar Sekunden, dann ſetzte Willi- bald Specht den Stift an. Und er begann nicht zu malen, wie die Fälſcher wohl tun, fo daß die Unficher- heit der Striche unter der Lupe offenbar wird, ſondern ſeine Hand fuhr ganz ſchnell über das Papier, und dann reichte er dem Franzoſen mit ſtolzem Lächeln das Blatt hinüber.

Es war in der Tat ein Meiſterwerk, das er vollbracht hatte, ähnlich jenem Kreiſe, der das Nachmeſſen durch den Zirkel vertrug, denn Renard mühte ſich vergeblich, zwiſchen den beiden Namenszügen auch nur den ge- ringſten Unterſchied zu entdecken.

Und dann wurde er plötzlich ſehr ernſt.

„Wiſſen Sie auch, Herr Specht, daß dies eine ſehr gefährliche Kunſt iſt?“

„Ich weiß,“ ſagte der Maler gelaſſen. „Wenn ich den Namen von Rothſchild oder Bleichröder fo bin- ſchreiben wollte, dann könnte es mir eine Million oder fünf Jahre Zuchthaus einbringen je nachdem der Haſe läuft.“ 8

Renard nickte. „Sie haben recht, die Gefahr liegt auf beiden Seiten, und überdies iſt die Urkunden- fälſchung eine gemeine Handlung. Aber jede Medaille hat auch ihre Kehrſeite. So würden Sie zum Beiſpiel imſtande ſein, durch Ihre Kunſt die ganze gebildete

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Welt in einen Taumel des Entzückens zu verſetzen, ohne der Geſellſchaft auch nur den geringſten Schaden an- zutun. Man darf niemals vergeſſen, daß in allen Fällen, wo die Menſchen ſich gerne betrügen laſſen, der Betrug feine häßlichen Züge verliert und das Ge- ſicht eines lächelnden Schalks annimmt.“

Der Maler dachte einige Sekunden nach. „Das klingt ja recht nett, aber ich verſtehe es nicht ganz.“

„So kommen Sie mit auf mein Zimmer.“

Es war noch immer ſehr ſtill im Hauſe, als ſie nebeneinander über den Korridor gingen, und der Maler horchte unwillkürlich auf einen Laut. Es wurde ihm ſo unheimlich zumute, daß er am liebſten davongelaufen wäre, aber ſein Begleiter hatte ihn untergefaßt und zog ihn vorwärts.

Wenige Sekunden ſpäter ſaß der Maler in Renards Stube auf dem Sofa und trocknete ſich die Schweiß— tropſen von der Stirn, während der Franzoſe in ſeinem Schreibtiſch kramte und ein vergilbtes Blatt zum Vor- ſchein brachte. Es war von oben bis unten beſchrieben, und die kleinen Buchſtaben krochen wie Ameiſen durch- einander, aber dennoch war jedes Wort deutlich zu leſen, denn der Charakter dieſer Handſchrift unterſchied ſich ſehr merklich von dem haſtigen Gekritzel der ner- vöſen Gegenwart.

„Was iſt das?“ fragte Renard und ſetzte ſich feinem Gaſt gegenüber.

„Ein Fakſimile Schrift des achtzehnten Jahr- hunderts.“

„Wenden Sie um und leſen Sie die Unterſchrift.“

Der Maler gehorchte und ſtutzte. „Teufel, was iſt das?! ‚Wolfenbüttel, den 12. Auguſt 1776, G. E. Leſſing.“ Wie kommen Sie dazu?“

Der Franzoſe lächelte ein wenig. „Sie ſagen ja

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ſelbſt, das iſt ein Fakſimile, wie man es in jeder Runit- handlung erwirbt ein Liebesbrief Leſſings an ſeine Braut Eva König, die er im Herbſt 1776 heiratete. Der Inhalt it herzlich unbedeutend, wie alle Liebes- briefe zu ſein pflegen, aber Ihr Erſtaunen freut mich doch, denn es iſt ein Beweis dafür, daß Leſſings Name noch immer in den deutſchen Köpfen ſpukt. Hier habe ich ein Bild Ihres großen Klaſſikers, mit Zopf und Perücke und allem Zubehör verſenken Sie ſich nach Ihrer Methode in die Züge des Mannes, und dann ſagen Sie mir, wie es mit der Nachahmung ſeiner Handſchrift ſteht.“

„Dieſes Briefes?“ fragte der Maler zögernd.

Renard lachte ihm geradezu in das Geſicht. „Nein, Freundchen, dazu iſt Ihre Zeit denn doch zu koſtbar! Es handelt ſich ganz einfach um folgendes: Sind Sie imſtande, binnen kurzer Friſt die Handſchrift Leſſings jo gründlich zu erlernen, daß fie Ihnen wie Ihre eigene aus der Feder fließt? Beſitzen Sie die Fähigkeit und die Willenskraft, dieſe Anpaſſung an den fremden Cha- rakter durch dreißig bis vierzig Bogenſeiten feſtzuhalten, ohne auch nur eine Sekunde lang aus der Rolle zu fallen?“

Der Gedanke war ſo neu und originell, daß Willi- bald Specht unwillkürlich die Augen ſchloß, um ihn in ſich zu verarbeiten.

Dann ſchlug er mit der geballten Fauſt auf den Tiſch. „Wenn keine Menſchenſeele dazu imſtande iſt, ich bring's fertig! Aber nun herunter mit der Maske und heraus mit der Sprache! Um was handelt es ſich bei der ganzen Sache?“

„Um eine literariſche Fälſchung,“ ſagte Renard kühl. „Das zweite Wort ſchmeckt vielleicht nach dem Straf- geſetzbuch, aber das erſte hebt dieſen Geſchmack wieder

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auf. Literariſche Fälſchungen werden zu Tauſenden begangen, und wenn ein Gelehrter ſie begeht, dann handelt er vielleicht gegen den geheiligten Zopf der Wiſſenſchaft, aber die Gerichte kümmern ſich nicht darum, ſolange nicht gewiſſe Erwerbsmomente hinzutreten, die den Betrugsparagraphen anſchneiden. Davon iſt in dem vorliegenden Fall nicht die Rede, denn Sie ſollen mir nur dazu verhelfen, ein berühmter Mann zu wer- den. Ich bin Schriftſteller, ich habe ein Werk ge- ſchrieben, eine Dichtung, die von klaſſiſchem Geiſte durchweht iſt, ein Bühnenſtück in deutſcher Sprache, ich, der Franzoſe Jules Renard. Wenn ich damit heute zu einem Theaterdirektor gehen wollte, dann würde der Biedermann mich auslachen, und wenn er es nicht täte, dann beſorgte das Publikum es um fo gründ- licher. Darum will ich einen anderen Weg einſchlagen. ich verkünde der ſtaunenden Welt, daß ich ein un- bekanntes Werk Leſſings ausgegraben habe, und die Welt wird ehrfurchtsvoll auf dem Bauche liegen. Wem geſchieht damit ein Schaden? Bin ich nicht beſcheiden, daß ich mein eigenes Licht unter den Scheffel ſtelle, um den Ruhm eines Toten zu vergrößern? Bin ich nicht ein Wohltäter der Menſchheit, wenn ich ihr ein gutes Werk zugänglich mache, und wird das Werk dadurch ſchlechter, daß es unter einer falſchen Flagge ſegelt? Wo liegt da ſtrafbare Fälſchung? Leſſings Werke ſind für Bühne und Buchhandel frei, den Namen eines Leſſing kann ſich jeder beilegen. Das Vermögen des Leſers und des Zuſchauers wird nicht geſchädigt, denn er bekommt für ſein Geld einen geiſtigen Genuß und dabei wird das Andenken des Mannes von Wolfenbüttel keineswegs geſchädigt, denn er iſt nie- mals ein Dichter geweſen, ich erſt gebe ihm den Namen eines Dichters!“

u Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 43

Jules Renard hatte ſich in eine Begeiſterung hinein- geſprochen, die nicht ganz unecht war, und nun öffnete er noch einmal ſeinen Schreibtiſch.

„Ich gebe zu, daß es ein kühnes und großartiges Unternehmen iſt; aber wenn ich Ihr Gewiſſen beruhigt habe, ſo will ich auch Ihre Sorge beſeitigen. Es kommt lediglich darauf an, daß die Hand des Schreibers das Auge der Gelehrten täuſcht. Im übrigen iſt das Ma- terial, das ich Ihnen zur Verfügung ſtelle, vollkommen echt. Es wird vielleicht eine mühſelige Arbeit, und an dem Ruhm des Herausgebers können Sie nicht teil- nehmen, Sie bleiben hinter den Kuliſſen als ein un- bekannter Mann. Für dieſe Reſignation zahle ich Ihnen drei Monate nach Vollendung des Werkes —“

Die letzte Maske zwiſchen den beiden Männern war gefallen, denn der Franzoſe hatte eine Summe ge— nannt, die unzweideutig erkennen ließ, daß es ihm nicht auf den Ruhm eines Entdeckers, ſondern lediglich auf ein gutes Geſchäft ankam.

Willibald Specht trocknete ſich den Schweiß von der Stirn. „Sie wollten meine Sorge beſeitigen,“ ſagte er, „Sie haben recht. Ich bin in Not, und Ihr Angebot macht mich zu einem wohlhabenden Manne. Damit ſind die Sorgen aus der Welt geſchafft. Aber ich war bis heute ein ehrlicher Mann.“

„Kein Menſch iſt ehrlich,“ entgegnete Renard. „Unſer ganzes ſoziales Leben beruht auf Schwindel. Ehrlich ſein heißt nur unbeſtraft bleiben. Handeln Sie etwa ehrenhaft, Herr, wenn Sie in den Kneipen herum- liegen, anſtatt zu arbeiten? Handeln Sie edel, wenn Sie das Brot eſſen, das Ihre Tochter verdient? Sch biete Ihnen eine Arbeit, die keinen Schaden anrichtet, und ich biete Ihnen dafür einen glänzenden Lohn. Die ſittlichen Werte werden in unſeren Tagen um-

geſtempelt wie abgeſchliffene Münzen; wenn wir die Moral von geſtern unter den Prägſtock legen, ſo wird heute eine Narrheit daraus.“

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Hans Lux kam jetzt faſt täglich in das Haus hinter der Heiligegeiſtkirche, und zwar meiſtens um die Abend- ſtunde, denn ſeine Kräfte geſtatteten ihm nicht mehr die Nachtarbeit, obwohl er tagsüber noch gewiſſenhaft den Redaktionspflichten oblag.

Man konnte nicht eigentlich ſagen, daß er hinfällig wurde, und in Bertas Gegenwart hatten ſeine Augen einen fröhlichen Ausdruck, aber das Mädchen beobachtete ihn mit heimlicher Sorge, obſchon ihre Gedanken gerade jetzt vielfach durch andere Dinge abgezogen wurden.

Faſt immer waren ſie bei dieſen Plauderſtunden zu dritt. Während Lux meiſtens das Wort führte und Berta ihn durch kluge Fragen zu neuen Gedanken anregte, ſaß Egbert daneben und ſtenographierte alles, was der Freund ſagte. Es ſollte eine Übung ſein, und der junge Journaliſt hätte ebenſogut in Moabit eine öde Verteidigungsrede nachſchreiben können; aber Berta ſammelte die Bogen ſorgfältig und übertrug ſie für ſich auf der Maſchine. Und einmal ſagte ſie, als Lux gegangen war, das ſei ein Vermächtnis ſeines Geiſtes für die Zeit, da er nichts als ein Geiſt ſein werde.

Sie blieben auch zu dritt, obwohl noch das Haus drei Mitbewohner barg. Denn Frau Eugenie hatte gerade in den Stunden zwiſchen acht und zehn den meiſten Zuſpruch für ihren Hokuspokus, der Franzoſe hatte niemals Familienanſchluß geſucht, und mit Willi- bald Specht, der ſonſt ſelten daheim war, ging etwas Beſonderes vor ſich.

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Eine Wandlung, die anſcheinend das Licht des Tages ſcheute und dennoch an das Licht wollte.

Eines Abends war Lux beſonders aufgeräumt. Er lobte einen Sitzungsbericht, den Egbert geliefert hatte, als beſonders gelungen und ſagte plötzlich: „Ihre Lehrzeit muß in ein neues Stadium treten, Kollege, denn ich habe es nun einmal übernommen, Sie zu einem tüchtigen Journaliſten heranzubilden. Das Lokale und der Gerichtſaal ſind die erſten beiden Stufen, aber jeder, der die höchſte der Weltbegebenheiten er- klimmen will, muß erſt unter den Strich.“

Er ſah Berta an und lächelte.

„Sie wiſſen es ja, daß ich unter dem Strich bin. Es iſt vielleicht Egoismus, wenn ich unſeren Freund mit hinabziehen möchte. Können Sie ein Feuilleton ſchreiben, Linde?“

„Geben Sie mir Stoff,“ ſagte Egbert eifrig.

„Der liegt in Haufen auf der Straße. Aber ich will Ihnen einen Horizont ſchaffen. Es handelt ſich näm- lich um ein Unternehmen unſeres Verlags, wie es moderner nicht gedacht werden kann. Doktor Bark- haufen intereſſiert ſich dafür, er will damit fünfzig- tauſend Abonnenten mehr anwerben, dieſer San— guiniker!“

Berta horchte auf. „Eine Reiſe an den Pol?“ fragte ſie.

„Sie ſind eine Seherin, ich bleibe dabei. Nur nicht an den Pol, ſondern unter die Wilden zu den Apachen in Paris. Das Kriminelle beherrſcht unſere Zeit, und alles, was damit zuſammenhängt, iſt des Intereſſes der Leſer ſicher. Wir wollen einen Reporter an die Seine ſchicken, der uns in einer größeren Artikel- ſerie das Milieu dieſes ſeltſamen Völkchens ſchildern ſoll. Später wird dann ein Buch daraus gemacht,

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und der Verfaſſer kann ſich dabei ſeine literariſchen Sporen verdienen. Ich habe Sie dem Chef vorgeſchla- gen, Linde, und er iſt damit einverſtanden. Es iſt eine Gelegenheit, die vielleicht niemals wiederkehrt, und ich möchte Ihnen raten, die Offerte anzunehmen. Aber das muß Ihr freier Wille ſein, denn es läßt ſich nicht verhehlen, daß —“

Hans Lux brach ab und warf einen Blick auf Berta. Die war ein wenig blaß geworden und faltete die Hände im Schoß.

„Es iſt Gefahr dabei, nicht wahr?“ fragte ſie leiſe.

„Es iſt Gefahr damit verbunden,“ entgegnete Lux gelaſſen. „Diefe Menſchen find Feinde der Geſellſchaft, und wer unter die Feinde geht, der trägt ſeine Haut zu Markt. Aber der Zournalift gleicht dem Soldaten, nur daß ſeine Waffen andere ſind und ſeine Ziele andere. Ich habe Berichterſtatter gekannt, die mitten im Kugel- regen ihre Notizen machten und ihre Zigarre rauchten es iſt ſchließlich alles Gewöhnung, und der Tod ſteht überall neben dem Leben.“

„Ich gehe!“ ſagte Egbert entſchloſſen.

Lux wendete ſich wieder zu Berta, als ob dieſe Antwort für ihn ſelbſtverſtändlich geweſen wäre. „Er ſoll nicht allein gehen. Das Buch wird mit Zlluftrationen erſcheinen, denn die großen Kinder wollen auch ihre Bilder haben, und ich kenne einen Zeichenſtift, der ſeine beſten Leiſtungen den Nachtlokalen verdankt.“

Da fuhr ein neues Erſchrecken über das Geſicht des Mädchens, aber es war anders als vorhin es war mit Scham gemiſcht.

„Mein Vater —“

Er nickte. Und dann horchten ſie alle hinaus, denn die Stimme des Briefträgers wurde auf dem Korridor laut. N

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Dann ſteckte Frau Eugenie ihren Künſtlerkopf durch den Türſpalt. „Ein Brief, Herr Linde.“

Wãhrend Egbert in ſein Zimmer hinüberging, blieben die beiden anderen allein. Sie ſchwiegen und hörten auf das Singen der Lampe.

Dann ſagte Berta: „Ich weiß es, Hans, das iſt Ihr Werk. Sie wollen meinen Vater aus ſeinem Müßiggang aufrütteln, Sie wollen ihm Arbeit und Verdienſt geben, und Sie tun es der Tochter wegen.“

„Vegen meines Kameraden!“ entgegnete er. Und dann ſetzte er hinzu: „Nein, Berta, nicht nur deswegen allein. Der da ſoeben hinausging, iſt Ihnen lieb ge- worden, und ich hoffe, daß er einmal mehr als Ihr Freund fein wird. Wenn ich auch hinausgegangen bin, Berta. Darum ſoll Ihr Vater einen Begleiter haben, einen Mann, deſſen gutem Willen ich vertraue, wenn die Verſuchung in ihm einen ſchwachen Gegner findet.“

„Wiſſen Sie das auch ſchon?“ fragte ſie erregt. „WViſſen Sie auch ſchon, daß der Verſucher in unſerem eigenen Hauſe herumgeht?“

Hans Lux hatte das willensſtarke Mädchen noch niemals nervös geſehen, aber in dieſem Augenblick zuckte ihr ganzer Körper, und ſie ſah hinter ſich in das Dunkel des Zimmers wie nach einem Geſpenſt.

„Ruhe!“ ſagte er. „Was gibt's?“

Sie entgegnete flüſternd: „Ich weiß es nicht, aber es droht uns ein Unglück. Seit jener Fremde ſich bei uns eingeniſtet hat, ſeit jenem Tage, den ich niemals vergeſſen werde. Dieſer Renard hat meinen Vater in ſeinem Netz, fie ſtecken die Köpfe zuſammen, fie ſchmie⸗ den ein Komplott. Ich dachte erſt, er ſei ein Spion, wie ſie heute unſer Land überſchwemmen, indeſſen ſolche Leute durchſtreifen die Gegend und führen eine ausgedehnte Korreſpondenz, der Franzoſe aber hockt

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den ganzen Tag auf feinem Zimmer er fchreibt, aber es kommt keine Zeile über feine Schwelle hinaus. Und nun tut mein Vater es ihm gleich. Sie wiſſen ja, wie ſpärlich die Aufträge eingehen und wie gerne er das bißchen Arbeit von ſich abwälzt; da iſt es doch unnatürlich, daß er jetzt hinter verſchloſſenen Türen ſitzt und kaum Zeit findet, um das bißchen Eſſen hinunterzuhaſten. Ich dachte, er hätte ſich end- lich zu dem großen Gemälde aufgerafft, von dem er ſeit zehn Jahren ſpricht, und in meiner Herzensangſt erniedrigte ich mich zum Lauſcher und beobachtete ihn durch das Schlüſſelloch. Wiſſen Sie, Hans, was ich geſehen habe?“

Sie ſprach jetzt ſo leiſe, daß er ſein Ohr an ihre Lippen neigen mußte, und die Ruhe begann auch allmählich ihn zu verlaſſen.

„Was haben Sie geſehen, Berta?“

„Er ſchreibt etwas ab. Das Konzept liegt neben ihm, und er zirkelt Wort für Wort auf wunderliches altes Papier, wie man es heute in den Läden gar nicht mehr bekommt. Berlin hat zwei Millionen Ein- wohner, aber glauben Sie, daß unter dieſer Menge auch nur einer iſt, der noch mit Gänſekiel ſchreibt? Mein Vater tut es, was er nie getan hat, und ich ſah, daß es ihm Mühe machte, denn nach jeder Zeile legte er die Feder hin und trocknete ſich den Schweiß von der Stirn. Vielleicht iſt es auch das Gewiſſen, das ihn quält, denn nun habe ich zu viel geſagt, um das letzte zu verſchweigen: mein Vater iſt unter die Fälſcher gegangen, er war immer ein Künſtler, der alle Hand- ſchriften nachahmen konnte, und nun betreibt er dieſe Kunſt geſchäftsmäßig!“

Es raſchelte und tuſchelte wieder auf dem Korridor. Frau Eugenie begleitete wohl eine Kundin an die Tür.

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Berta faltete die Hände krampfhaft ineinander. „Betrug rechts und links. Es iſt eine Schande, in dieſem Hauſe zu wohnen. Und Sie ſitzen neben mir, anftatt den Staub von Ihren Füßen zu ſchütteln! Ich wollte, daß auch Sie gingen, um niemals wiederzu- kommen. Die Liebe iſt zwiſchen uns beiden begraben, was ſoll da noch das Mitleid!“

Lux ſtand auf und nahm die beiden Hände des erregten Mädchens zwiſchen ſeine kühlen Finger. „Ich möchte Ihnen helfen, Berta, mein ganzes Streben gehört dieſem Wunſche. Das iſt die Form meiner Liebe, der einzigen, die ich Ihnen geben darf, und der einzig ſelbſtloſen, die es auf dieſer Welt gibt. Was Ihren Vater betrifft, ſo hoffe ich, daß eine Täuſchung vorliegt, aber ich werde die Sache prüfen und zu einem guten Ende hinausführen. Heute wollen wir Abſchied nehmen, aber das Wiederkommen dürfen Sie mir nicht verwehren ich komme wieder, verlaſſen Sie ſich auf mich, und wenn es das allerletzte Mal ſein ſollte.“

Als er gegangen war, ſah ſie noch immer nach der Tür und hatte die Empfindung, als wenn ein Schatten ſich von ihr gelöſt hätte. Sie hörte die Uhr fchlagen, es war erſt um die neunte Stunde, und die Geiſter warten doch bis Mitternacht, aber dieſes Gehen und das Verſprechen der Wiederkehr hatte etwas Geiſter— haftes an ſich gehabt, ohne daß die Veranlaſſung dazu gegeben ſchien.

Aber wenn die Nerven ſchweigen, dann wachen die Ahnungen auf.

Nach einer Weile kehrte Egbert zurück. Er wollte wohl nur fein Übungsheft holen, das auf dem Tiſch liegen geblieben war, aber als er es an ſich nahm, da ſah Berta ſein verſtörtes Geſicht.

1913. X. 4

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Sie fragte ihn, ob er eine ſchlimme Nachricht be- kommen habe.

„Nein,“ ſagte er, „nur einen Abſchied. Einen letzten Abſchied, denn das Ende war ſchon längſt da. Ich habe Ihnen ja von meiner Studentenliebe erzählt, und die begräbt man mit dem Studentenleben. Jetzt ſchreibt mir das Mädchen, daß ſie ſich in Paris verheiratet habe, ſie könne aber keine Adreſſe angeben für einen Glückwunſch, und ſie wolle auch keinen. Es ſind nur wenige dunkle Worte, ich kann keinen Sinn darin finden.“

„Darf ich ſie leſen?“

Er nahm neben ihr Platz und legte das Blatt in ihren Schoß. Die Köpfe dicht aneinandergeſchmiegt, wie fie es wohl bisweilen taten, wenn es in der Lehr- ſtunde eine Korrektur galt, ſo laſen ſie dieſe kurzen Zeilen, unter denen nur Käthes Vorname jtand, und die auch im übrigen den Eindruck der Haft und der Unficherheit machten.

Plötzlich fiel eine Träne auf das Papier nieder.

„Sie ſollen nicht weinen,“ ſagte Egbert halblaut, „ich bin längſt darüber hinaus. Es war keine Liebe, ſondern nur eine Tändelei, das fühle ich heute deut— licher als je und es wird auch die Stunde kommen, da Sie den Grund dieſer Erkenntnis wiſſen ſollen.“

Berta nickte und faltete den Brief zuſammen. „Es überkam mich nur ſo plötzlich. Schildern Sie mir doch den Charakter dieſes Mädchens, die jetzt eine Frau geworden iſt. War ſie heiter veranlagt, nahm ſie das Leben von der leichten Seite, oder kannte ſie es in feiner ganzen Tiefe?“

„Nein,“ entgegnete er, „ſie war eine Libelle. Das Sonnenlicht zog ſie an, und vor der Dunkelheit ſchloſſen ſich ihre Augen.“

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„Das ſind ſolche, die von der Nacht geſucht werden,“ ſagte Berta. „Sie iſt in ſchlechte Hände geraten; wer keinen Glückwunſch zu ſeiner Hochzeit begehrt, der hat auch kein Glück gefunden.“

Egbert ſchwieg.

Ev„Sie werden jetzt nach Paris gehen und die Schlupf⸗ winkel der Ausgeſtoßenen aufſuchen,“ fuhr das Mädchen fort. „Forſchen Sie auch nach ihr, und wenn es Ihnen möglich iſt, fo retten Sie die Armſte vor dem Unter- gang, denn Sie haben doch ganz gewiß mehr als ein- mal ihre Lippen geküßt. Es iſt ein gutes Wert, das Sie damit unternehmen, und der Himmel wird Sie dafür auf Ihren Wegen behüten. Meine Gedanken und Wünſche reichen dazu nicht aus, denn Sie ſollen es wiſſen, Egbert, daß die heute noch unſtet und ſchwan⸗ kend ſind wie die Flammen einer Kerze im Wind.“

Ganz leicht ſtrich fie mit der Hand über feinen Kopf, der eine Sekunde lang an ihrer Schulter lehnte. Dann ging er wieder in ſein Zimmer hinüber mit verwirrtem Sinn und bewegtem Herzen. Denn fie waren einander nahe geweſen und hatten beide eine Zukunft angedeutet, die noch dunkel und verworren vor ihnen lag.

Und wenn die Löſung kam, dann führte fie wohl durch Dornen und Geſtein.

* * *

Hans Lux ſaß auf ſeinem Redaktionszimmer und erledigte wie immer die laufenden Geſchäfte; aber er war mit ſeinen Gedanken nicht bei der Arbeit, ſondern horchte bisweilen nach der Tür und auf jeden Schritt, der über den Korridor ging.

Nach einer Weile kam der Bureaudiener herein und übergab eine Karte von Willibald Specht, die nicht gedruckt, ſondern geſchrieben war, und zwar in einer

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wundervollen Frakturſchrift, die als ein kleines Meifter- werk gelten konnte.

„Ich laſſe bitten,“ ſagte der Redakteur. „Solange dieſer Herr bei mir iſt, will ich von niemand geſtört werden. Wir haben wichtige Geſchäftsſachen mitein- ander zu verhandeln.“

Der eintretende Künſtler machte den Eindruck eines müden und gebrochenen Mannes. Alles, was ſonſt an ihm flatterte, war welk und ſchlaff, ſelbſt der Schnurr- bart hing ihm trübſelig über die Mundwinkel, und die Augen lagen über dunklen Ringen tief im Kopf.

„Nehmen Sie Platz, Herr Specht,“ ſagte Lux. „Ich habe Sie wegen einer geſchäftlichen Angelegenheit her- bitten laſſen und danke für Ihr Kommen. Es geht Ihnen nicht gut, das kann ein Blinder ſehen.“

„Es geht mir hundsmiſerabel,“ entgegnete der Maler. „Die Arbeit wird immer weniger, und die Sorgen wachſen mir über den Kopf. Ich kann nicht mehr ſchlafen, und meine Hände fangen an zu zittern ich bin alt und verbraucht.“

Lux tippte lächelnd auf die Karte, die er noch in der Hand hielt. „Na, na, wer ſo prachtvoll ſchreiben kann, der leidet noch nicht am Zittern! Dieſer Namens- zug ſoll wohl nächſtens unter einem Gemälde ſtehen, und das Werk wird in der Künſtlerwelt Aufſehen erregen.“

Willibald Specht fuhr mit dem Kopf herum. „Wer ſagt das, Herr Lux? Wer hat das behauptet?“

„Ihre Tochter,“ entgegnete jener gelaſſen. „Sie ſchließen ſich ein und arbeiten im geheimen. Was ſollte das anders werden als ein Meiſterwerk, wie wir 4s ſchon längſt von Ihnen erwarten?“

Specht wurde immer unruhiger. „Ich male nicht, verlaſſen Sie ſich darauf. Ich kann nicht malen, ich bin ein elender Stümper.“

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„Können Sie auch nicht mehr zeichnen, Herr Specht?“

Der ſchuldbewußte Mann ſaß da wie auf der An- klagebank. Er murmelte etwas Unverſtändliches und trocknete ſich den Schweiß von der Stirn.

Hans Lux aber fuhr fort: „Sie müſſen aus dieſem Milieu heraus das iſt alles. Ich habe Ihnen im Namen der Redaktion ein Anerbieten zu machen. Ihr Hausgenoſſe —“

Der Redakteur machte wie zufällig eine kleine Pauſe, und Specht zuckte nervös zuſammen.

„Mein Hausgenoſſe? Wen meinen Sie damit?“

„Unſeren Herrn Linde natürlich. Ach ſo ich vergaß, daß noch ein anderer da iſt. Alſo Herr Linde wird in den nächſten Tagen nach Paris gehen, um in Verbrecherkreiſen Studien zu machen. Es ſoll ein Buch werden, und zwar mit Illuſtrationen, denn das Publikum verlangt das nun einmal ſo. Wir haben Sie als Zeichner ins Auge gefaßt, und ich glaube, daß die Sache Ihnen behagen wird, denn ein Mann von Ihrem Charakter liebt das Neue, und mit Verbrechern und Verbrechen haben Sie ſich ganz gewiß noch niemals in Ihrem Leben befaßt.“

Über das Geſicht des Malers glitt der Schatten eines matten Widerſpruchs. „Ich lehne ab. Ich kann es nicht ich will es nicht.“

„Oh,“ meinte Lux bedauernd, „ſollte ich mich wirk- lich in Ihnen getäuſcht haben? Ich hielt Sie für einen mutigen Mann, und überdies iſt gar nicht viel Gefahr dabei. Dieſe Apachen, um die es ſich hier hauptſächlich handelt, ſind trotzige Burſchen, die kein Hehl aus ihren Taten machen und der Gewalt die Gewalt entgegen- ſetzen; aber wer ihnen harmlos und freundlich ent— gegentritt, dem ſind ſie weniger gefährlich als jene

ſchleichenden Verbrecher, die ihr Opfer mit Trug und

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.

Liſt umgarnen und es ſchließlich doch in den Abgrund ſtoßen.“

Ganz leicht und ſcheinbar abſichtslos ſprach Hans Lux dieſe Worte, aber ſie übten eine mächtige Wirkung aus. Der von Alkohol und Sorgen entnervte Mann brach plötzlich zuſammen, er legte das Geſicht in die Hände und begann zu weinen.

Lux hatte dieſe Kriſis vorausgeſehen und wartete geduldig, bis der Maler ſich ein wenig beruhigte; dann fing er einen Blick auf, den jener heimlich nach der Tür richtete, und legte ſeine Hand auf Willibalds Arm.

„Das iſt nun zu ſpät, mein Lieber. Wir können eine Weile mit der Maske unter den Leuten herum- gehen, aber wenn die Mitternacht herangekommen it, dann müſſen doch alle Larven fallen. Sie ſtehen jetzt unter dem Bann der Mitternacht und ſollen mir dant- bar ſein, daß ich Sie davon erlöſe es hätte ſonſt eine Kataſtrophe geben können.“

„Ich ging mit Selbſtmordgedanken um,“ ſagte Specht leiſe.

„Ja, das iſt die moderne Löſung, wenn die Schuld ihren Wechſel präſentiert. Schämen Sie ſich nicht, Herr, mit dieſem Gedanken zu ſpielen, wo Sie nur die Augen zu öffnen brauchen, um Leben und Kraft in Ihrer nächſten Nähe zu ſehen? Es muß ein ſchlimmer Dämon ſein, der Ihr Denken und Handeln verwirrt, und wenn ich Ihnen helfen ſoll, dann müſſen Sie mir die volle Wahrheit bekennen. Ich möchte Ihnen näm- lich beiſtehen, Herr Specht, und ich habe deshalb dieſe Stunde herbeigeführt, denn ich will nicht, daß die eigene Tochter als Anklägerin auftritt und die Schande or Familie vor das Gericht bringt.“

Da legte Willibald Specht feine Beichte ab. Er ſchilderte, wie Jules Renard allmählich das Netz nach

D Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 55 ihm ausgeworfen und Maſche für Maſche um ſein Gewiſſen geknüpft; wie er mit überlegenem Geiſte alle rechtlichen und moraliſchen Bedenken beſeitigt und geſchickt den richtigen Augenblick benützt hatte, um aus dem Vertrauten ſeiner Pläne einen Bundesgenoſſen zu machen.

„Sie ſollten ihn nur kennen lernen,“ ſagte der Maler. „Dieſer Dämon aus der Tiefe gehört zu den Männern, die unendlich Großes vollbringen könnten, wenn ihnen nicht die Verachtung gegen alles eingeboren wäre, was die menſchliche Geſellſchaft zuſammenhält; feine Ver- brechen ſind nicht eine Notwehr gegen das Leben, denn er könnte ſich mit ſeinen Gaben ſpielend den Unterhalt ſchaffen, ſondern fie find ein Spott über Narrheit und Blindheit, den der Willensdrang in die Tat umſetzt. Solche Männer löſen Bewunderung und Haß aus, wie die Welt ſie gegen einen Napoleon ge— hegt hat, und wen fie zu ihrem Bundesgenoſſen er- küren, der fällt ihnen als Sklave anheim. Er hat mir ein Vermögen geboten, und das iſt für einen armen Teufel die ſchwerſte Verſuchung, aber wenn ich dafür hätte ſtehlen ſollen, dann ſäße er heute hinter Schloß und Riegel. Was mich bezauberte, das war die Zdee, das war die gigantiihe Vorſtellung, der Wiſſenſchaft und der Kunſt und der Kritik eine ungeheure Naſe zu drehen, mich für alle Demütigungen zu rächen, die ich ſelbſt als Künſtler erfahren habe. Durch meine Kunſt, Herr. Denn wenn Renard auch das Größere vollbracht hatte, das ſcheinbar Unmögliche Sie ſollten ſie nur leſen, dieſe Gedanken und Formen, die eines Leſſing würdig ſind! ich war doch nicht nur der Hand— langer und der mechaniſche Abſchreiber, ſondern ich hatte die Aufgabe, ſo gut wie jener einen Charakter wiederzugeben, denn die Schrift des Menſchen iſt wirk⸗

56 Die Apachen. 0 lich ein Spiegel des Charakters. Man foll unfere Graphologen nicht als Narren und Phantaſten brand- marken. Es war ein Kunſtwerk, zu dem ich mich durch Lektüre und Studien und Phantaſie vorbereiten mußte, wie der Schauſpieler es tut, wenn er eine Rolle in ſich verarbeitet, anſtatt ſie mechaniſch auswendig zu lernen, und ich wäre ſtolz darauf geweſen, wenn ich meinen Namen hätte darunter ſetzen dürfen.“

Hans Lux lächelte unmerklich. „War es nur die verletzte Eitelkeit, die Zonen das Werk verleidete?“

„Nein,“ ſagte der Maler und ſuchte mit den Augen die Erde, „es war doch etwas anderes. Die Akademie- profeſſoren haben mich einen Stümper genannt, und die Kritik nannte mich einen Harlekin. Aber das Volk ſuchte und fand dennoch in den grotesken Linien meines Stiftes fein Beſtes: den Humor. Das deutſche Volk nannte mich dennoch einen Künſtler, und ich fand nicht den Mut, das Volk in einem ſeiner beſten Geiſter zu betrügen. Ich bin eben ein ſentimentaler Deutſcher, und es wurmte mich, daß ein Franzoſe uns alle narren wollte. Das iſt der Schluß meiner Beichte.“

Der Redakteur hatte ſich erhoben und durchmaß nachdenklich das Zimmer. Plötzlich blieb er vor dem Maler ſtehen.

„Übermorgen gehen Sie mit Linde nach Paris.“

„Nach allem, was ich Ihnen geſtanden habe?“

„Ja nach allem. Glauben Sie, daß ich ein Polizeiſpitzel und ein Denunziant bin? Was Sie von dieſem unſeligen Werk fertiggeſtellt haben, iſt ein Stück Papier, weiter nichts. Solange es nicht in die Welt flattert, haben die Gerichte nichts damit zu ſchaffen. Werfen Sie es ins Feuer, oder heben Sie es zur War— nung auf. Die Bilder, die wir von Fhrer Kunſt er— halten, werden echt ſein. Den anderen —“

2 Ein Pariſer Roman von Fritz Levon.

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„Wenn Sie ihn anzeigen, bin ich verloren.“

„Den anderen nehme ich auf mich. Er ſoll ver— ſchwinden und ſeinem Schöpfer danken, daß er es darf. Wo treffe ich ihn am beſten unter vier Augen?“

„Doch nicht in meiner Wohnung?“

„Nein, Ihre Wohnung iſt mir heilig. Vielleicht ahnen Sie nicht einmal warum. Kriecht er denn nie aus ſeinem Bau?“

„Doch,“ entgegnete Specht zögernd. „Seitdem ich ſelbſt bei der Arbeit bin, geht er jeden Nachmittag in den Tiergarten. Er hat jetzt Zeit, und ich muß für ihn ſchuften in zwei Wochen ſoll alles fertig ſein.“

„Gut, alſo nun geben Sie acht. Sie gehen jetzt nach Haufe und bringen das Manuſkript des Franzoſen unter ſicheren Verſchluß. Dieſes Teufelswerk darf nicht in ſeine Hände zurückgelangen, denn wenn ſonſt nichts hilft, dann brauchen wir es gegen ihn als letzte Waffe. Um das weitere kümmern Sie ſich nicht, denn ich hoffe die ganze Angelegenheit in der Stille zu erledigen. Die blaue Stube, mein altes liebes Quartier, iſt lange genug von unſauberen Händen entweiht worden; es wird Zeit, daß wir ſie auslüften und einer beſſeren Beſtimmung entgegenführen.“

* * %

Als Berta um die Mittagszeit von der Redaktion nach Hauſe ging, flogen ihr unter den Linden gelbe Blätter vor die Füße. Es war Herbſt geworden über Nacht.

Sie hatte einen freien Nachmittag vor ſich. Von zwölf bis ein Uhr war ſie noch mit Hans Lux auf deſſen Bureau zuſammen geweſen, um nach ſeinem Diktat einen Feuilletonartikel niederzuſchreiben.

Da hatte der Redakteur geſagt: „Für heute wollen

58 Die Apachen. 2

wir Feierabend machen. Sie müſſen Ihrem Vater beim Packen helfen, denn der Chef hat die Abreiſe ſchon auf morgen feſtgeſetzt. Im journaliſtiſchen Beruf geht es genau wie bei einer Mobilmachung. Sie dürfen auch ein Auge auf Egberts Koffer werfen, daß er nicht etwa aus Verſehen ſein Herz hineinlegt und nach Paris mitnimmt. Auf den Boulevards der Seineſtadt braucht er nur die Augen und den Verſtand, das dumme Herz bleibt beſſer unter einer ſicheren Obhut.“

Es war nicht das erſte Mal, daß er ſo ſcherzte, und in den letzten Tagen hatte er öfters dieſe Andeutungen gemacht.

Berta ging immer langſamer, und ihre Gedanken flatterten wie die Blätter auf dem Aſphalt.

Ach ja, fie wußte, daß die Liebe dieſes jungen Haus- genoſſen ſich ihr zugewendet hatte und daß Hans Lux dieſe Neigung in ſeiner ſtillen Weiſe behütete. Sie fühlte es auch: Jugend gehört zur Zugend und Leben zum Leben. Aber es war noch mehr als ein Schatten dazwiſchen, und die Schatten müſſen erſt in der Nacht untergehen, bevor das Auge einem kommenden Tage entgegenblicken darf.

Ungeachtet dieſer nachdenklichen Stimmung, die das tatkräftige Mädchen ſonſt nicht kannte, verlief das Mittageſſen heute heiterer, als es in der letzten Zeit der Fall geweſen war. Der Vater zeigte ſich auf- geräumt, machte für die bevorſtehende Reife allerhand Pläne und ſprach davon, daß das geplante Buch ihn noch zu einem bekannten Künſtler machen werde.

„Wenn zwei fixe Kerle zuſammenwirken,“ ſagte er, „dann kommt immer was Geſcheites heraus. Der Titel muß freilich aktuell ſein. Die Apachen in Bild und Wort, meinetwegen auch: in Wort und Bild. Der Einband wird natürlich mit einer Vignette verſehen.

2 Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 59 Ein richtiger Apachenkopf, für den ich die Züge ſchon im Stift habe vergiß nicht, meine Zockeimütze ein- zupaden, Berta. Wir müſſen im Näuberkoſtüm herum- laufen, ſonſt haben die Kerls kein Vertrauen zu uns. Du haſt doch keine Angſt um deinen Papa, Mädchen?“

Sie freute ſich über die gute Stimmung ihres Vaters, und daß endlich ſeine Energie aufgewacht war. Nur ein wenig ſchrak ſie zuſammen, als er von dem Apachenkopf ſprach und dabei einen ſeltſamen Blick nach der Tür warf.

Wenn es nur nicht ſo dunkel und ſtürmiſch draußen geweſen wäre und dabei doch ſo regenlos, wie ein Verhängnis, das ſich nicht aus den Wolken loslöſen kann!

Während ſie packten und Berta ſich heimlich über- zeugte, daß das unheimliche Schreibwerk verſchwunden war, kam Egbert heim. Er pfiff auf dem Korridor ein luſtiges Studentenlied und zerrte ſeinen Reiſekoffer vom Flurſchrank herab.

Nach einer Weile ſagte Berta: „Ich muß nun hin— über und ihm ebenfalls helfen, Vater. Herr Lux hat es mir anbefohlen.“ |

Der Alte ſah fie pfiffig an. „Vergreif dich nur nicht in der Tür, Kleine. Ich glaube, der Franzos wird auch nächſtens packen.“

Das war ſeltſam und hing offenbar mit dieſem Stimmungswechſel des Vaters zuſammen. Aber Berta ſchwieg und verließ das Zimmer.

Auf dem Korridor begegnete ihr Charles Renard. Er trug Hut und Überzieher und ſuchte im Ständer nach ſeinem Schirm.

„Ich will einen Spaziergang in den Tiergarten machen,“ fagte er. „Aber es wird wohl regnen. Zſt Ihr Herr Vater zu Haus, Fräulein Specht?“

60 Die Apachen. Do

„Ja. Er hat fih wie gewöhnlich eingeſchloſſen. Er arbeitet.“

Einen Augenblick ruhten die Blicke der beiden in- einander, forſchend, mißtrauiſch und feindſelig. Dann grüßte der Franzoſe höflich und verließ das Haus.

Und die beiden jungen Leute begannen zu packen. Es galt einen Abſchied, vielleicht für längere Zeit, aber ſie ſprachen nicht darüber, ſondern das Mädchen kniete ſtumm vor dem Koffer und legte ſorgſam die Sachen hinein, wie Egbert ſie ihr reichte. Aber ein Herz war nicht dabei, das glaubte ſie nur klopfen zu hören, wenn er ſich über ſie beugte. Vielleicht war es auch ihr eigenes.

Endlich ſagte er: „Ihr Vater war heute auf der Redaktion bei Lux. Sind Sie ihm begegnet?“

„Nein,“ entgegnete Berta und hielt den Atem an. Aber dann ſetzte ſie ruhiger hinzu: „Es wird wegen der Pariſer Reife geweſen fein. Ich wüßte ſonſt nicht —“

„Nein, ich auch nicht. Es fiel mir nur auf, daß Lux auswich, als ich ihn danach fragte er war über- haupt ungewöhnlich wortkarg und ſah etwas angegriffen aus. Wir haben jetzt die rauhen Herbſttage zu erwarten, und ich würde ihm eine Reife in den Süden anraten.“

Berta ſeufzte. „Sie wiſſen ja, wie ſehr er an der Arbeit hängt; kaum zu einem Spaziergang gönnt er ſich die Zeit.“

„Na, heute wollte er wenigſtens einen Bummel in den Tiergarten machen. Denken Sie nur, bei dieſem Wetter!“

Damit war die Unterhaltung zu Ende. Gleichgültige und leere Worte, die über den Gedanken des Abſchieds hinweghelfen ſollten, und dann waren ſie doch plötz— lich mitten darin.

Denn Berta ſagte: „Werden Sie uns zuweilen

-D Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 61

aus Paris ſchreiben? Wie das mit meinem Vater gehen wird, weiß ich ſchon im voraus; er hatte niemals große Neigung für Familienbriefe.“

„Sie können ja meine Berichte in der Zeitung leſen, Fräulein Berta.“

„Ach ja, was für alle Welt geſchrieben iſt! Man will aber doch auch etwas Eigenes haben.“

„Alſo etwas über mich ſelbſt —“

„Ja. Die Wahrheit. Unter dem Strich, im Feuilleton wird immer ausgeſchmückt. Aber ich will wiſſen, wie es Ihnen ergeht auch wenn Sie in Gefahr geweſen ſind.“ | Ä „Oder wenn ich leichtſinnig war. Denn Sie dürfen nicht vergeſſen, daß ich nach Paris gehe.“

Es ſollte ein Scherz ſein, aber ſie blickte ihn ſo ernſthaft an, daß es ihm leid tat und er ihr die Hand gab.

„Sie ſollen mit mir zufrieden ſein, Berta. Ich bin kein Knabe mehr, und wenn auch noch kein Examen über mich abgehalten iſt, dieſe Zeit ſoll dafür gelten. Wenn ich dann zurückkomme —“

„Ja,“ ſagte ſie haſtig, „hier iſt doch Ihre Heimat. Und nun haben wir den Koffer abgeſchloſſen, und das Zimmer macht einen öden Eindruck. Kommen Sie mit hinüber, ich werde Ihnen die letzte Unterrichts- ſtunde geben. So geht der Reft des Tages herum.“

Es wurde aber nicht viel aus dem Unterricht, denn fie horchten beſtändig auf das Wetter, deſſen Ungeftüm immer mehr anwuchs, als ob alle Blätter von den Bäumen herunter müßten.

Berta begann plötzlich von Lux zu ſprechen. Jene hingeworfene Bemerkung, daß er einen Spaziergang in den Tiergarten hätte machen wollen, kam ihr wieder in den Sinn, und obwohl es ſo unendlich alltäglich iſt,

62 Die Apachen. u

daß ein Mann auch im Herbſtſturm zwiſchen Bäumen und Büſchen wandert, fo begann fie doch immer un- ruhiger zu werden, ohne daß Egbert einen Zufammen- hang herausfinden konnte.

Der Maler hatte ſich zu den beiden jungen Leuten geſellt, nach ihm kam auch Frau Eugenie, und die nervöſe Unruhe des Mädchens wirkte ſo anſteckend, daß fie alle zuſammenfuhren, als plötzlich im Neben- zimmer das Telephon anklingelte.

Willibald Specht ging hinüber und rief gleich darauf nach Egbert. Es war von der Redaktion eine Anfrage gekommen, und der Maler hörte das Geſpräch mit an.

Ob vielleicht der Redakteur Lux zufällig dort ſei, wurde gefragt. Es ſei eine dringende Arbeit zu er- ledigen, und man habe vergeblich in der Wohnung angefragt.

Egbert antwortete: „Herr Lux wollte einen Spazier- gang in den Tiergarten machen. Aber er müßte ſchon längſt zurück ſein. Weitere Auskunft kann ich nicht geben.“

Als er das Hörrohr wieder an den Haken hing, fühlte er eine Hand auf ſeinem Arm. Es war Willibald Specht, der geiſterhaft blaß in die niederſinkende Däm- merung hinausſtarrte und einige Worte murmelte, aus denen nur der Name Renards zuſammenhanglos her- ausklang.

Dann ſchellte es an der Rorridortür, und als die beiden Männer in das Wohnzimmer zurückkehrten, fanden ſie Berta allein, während Frau Eugenie draußen mit jemand verhandelte, eine Zimmertür öffnete und wieder hinter ſich ſchloß.

Die drei horchten.

„Wer war das?“ fragte Egbert. „Die Stimme kam mir bekannt vor.“

0 Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 63

Keine Antwort. Sie wußten ja alle, daß Frau Eugenie Kunden empfing, die nicht geſtört werden wollten, aber es war eine ungewöhnliche Zeit, und es war die Stimme eines Mannes geweſen.

Deſſen Schritt eilte jetzt plötzlich wieder haſtig über den Korridor.

Gleich darauf kam Frau Eugenie wieder herein.

Es war jetzt ſo dunkel geworden, daß Berta die Lampe angezündet hatte, und nun ſahen fie das ver- ſtörte Geſicht der Frau, die auf einen Stuhl ſank und die rechte Hand krampfhaft geſchloſſen hielt.

„Ich weiß nicht,“ ſagte ſie tonlos und ohne jeden theatraliſchen Affekt, „das iſt fo ſonderbar. Da kommt Herr Renard, während ihr drinnen ſeid, bittet mich haſtig um Licht, und wie ich nach ſeinem Zimmer komme, hat er ſchon den Schreibtiſch aufgeſchloſſen und wühlt in einem Haufen Geld. Er ſtopft es nur ſo in ſeine Taſchen, wirft mir ein paar Goldſtücke zu, ſagt, daß er eine Depeſche bekommen hätte, und rennt wieder davon. Wenn das eine Kündigung ſein ſoll, ſo iſt ſie jedenfalls ſehr auffällig, denn die Sachen ſind alle zurückgeblieben.“

Sie öffnete die Hand und zählte mechaniſch die Goldſtücke. Sie war ganz geiſtesabweſend und reihte die blitzenden Doppeltronen vor ſich auf den Tiſch es war faſt ein unheimlicher Anblick.

Willibald Specht brach den Bann. „Wirf es von dir,“ ſagte er plötzlich, „an dieſem Gelde klebt ein Ver brechen. Ich weiß nicht, ob es mit Blut erworben iſt, aber ein ehrlicher Menſch nimmt das nicht in die Hand, und ich bin von heute ab ein ehrlicher Mann geworden. Eine ODepeſche will er bekommen haben, dieſer Schwindler? Was er redet, iſt Lüge, und was er handelt, iſt Betrug wir werden ihn nicht wieder-

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ſehen, oder die Gerichte müßten ihren Arm nach ihm ausſtrecken. Kommen Sie mit mir, Herr Linde, wir wollen in die Nacht hinaus und unſeren Freund ſuchen. Wir werden in Paris dunkle Wege zu gehen haben, aber dies iſt vielleicht der dunkelſte von allen. Der Himmel gäbe, daß er nicht vergeblich iſt und nicht zu ſpät.“ |

Es war eine Haft und eine Unruhe über ihn ge- kommen, die um fo unheimlicher wirkte, weil die anderen ſeine Andeutungen nur halb begriffen.

Aber Berta drängte die Männer nach der Tür und ſagte zu Egbert: „Wenn ihm etwas zugeſtoßen iſt, bringt ihn hierher. Er hat ſchon einmal unter unſerem Dache eine Zuflucht vor dem Schickſal gefunden, und das Verhängnis ſucht immer wieder die alten Wege.“

Dann brach ſie in Schluchzen aus, und es waren die erſten Tränen, die Egbert in dieſen klaren und mutigen Mädchenaugen ſah.

Die beiden nahmen eine Droſchke und fuhren zu- nächſt nach der Wohnung des Vermißten, denn Willi- bald Specht gebrauchte ſchon dieſen Ausdruck, und er verſteckte darunter offenbar einen anderen.

Hans Lux war noch nicht zu Hauſe eingetroffen. Aber die Witwe, bei der er wohnte, war ſchon zum zweiten Male von der Redaktion angerufen worden, und ſie meinte, es müſſe irgend etwas paſſiert ſein, denn ihr Mieter lebe ſehr regelmäßig und ſei um dieſe Zeit immer zu Hauſe.

Dann fuhren die Männer nach dem Brandenburger Tor.

Es war ſchon vollſtändig dunkel geworden, und die Linden lagen unter einem Meer von elektriſchem Licht. Als fie durch das Tor gefahren waren, rauſchte ihnen das Geheimnis der Bäume entgegen.

2 Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 65

Specht ließ den Wagen halten.

„Hier müſſen wir zu Fuß gehen,“ ſagte er. „Anſer Weg führt jetzt abſeits. Wenn wir etwas finden, dann iſt es da, wo das Leben ſchweigt.“

Er nahm den Arm ſeines Begleiters.

„Sie find verwirrt, Sie wiſſen nicht den Zufammen- hang. Aber wir ſollen Kameraden ſein. Es würde mir das Herz abdrücken, wenn ich neben Ihnen her- gehen müßte mit einem Geheimnis.“

Dann begann er zu erzählen von dem Verſucher, der an ihn herangetreten war, von feiner eigenen Schwäche und Reue, und was Hans Lux geplant hatte.

„Sie ſind zuſammengetroffen,“ ſagte er, „hier unter dieſen Bäumen, an dieſem dunklen, ſtürmiſchen Nach- mittag, wo die Seitenwege des Tiergartens ſo einſam ſind wie der Grunewald zur Nachtzeit. Gehen Sie einmal mit einem Verbrecher Seite an Seite und ſagen Sie ihm ſein Verbrechen ins Geſicht Sie haben es in Moabit gelernt, was dann geſchehen kann. Denn was dieſer Franzoſenhund unter meinem Dach aus- brütete, das iſt nicht feine einzige Untat. Wenn wir morgen zu den Apachen gehen, ſo weiß ich, wie ſie ausſehen, ich habe ja einen davon im Haufe gehabt und vielleicht den Schlimmſten von allen, denn er iſt ſo klug wie ein Teufel.“

So ſprach Willibald Specht in feiner haſtig flattern- den Art, und währenddeſſen irrten ſeine Augen zwiſchen die Bäume, deren Wipfel unter einem regenloſen Winde rauſchten.

Sie waren noch nicht ganz in die Dunkelheit ge— kommen, denn hie und da brannten noch Laternen, die ihr unſicheres Licht auf wirbelnde Blätter warfen und jetzt über einen Polizeihelm hinblitzten.

Egbert, der weniger planlos war als ſein Begleiter,

1913. X. 5

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rief den Beamten an und fragte, ob er ſchoͤn lange hier auf Poſten ſei.

„Seit vier Stunden,“ ſagte der Mann. „Ich er- warte jeden Augenblick meine Ablöſung.“

„Sind viele Leute hier vorübergekommen?“

„Nein. Es iſt ein vorgeſchobener Poſten, und bei dieſem Wetter —“

„Ganz recht. Vielleicht aber doch zwei Männer, ein großer bartlofer, der andere kleiner und mit einem ſchwarzen Henriquatre?“

„Ja, die ſind mir aufgefallen. Sie gingen dort links nach dem einjamften Teil des Tiergartens.“

„Stritten ſie miteinander?“

„Daß ich nicht ſagen könnte. Weshalb?“

„Es iſt ein Verbrechen geſchehen,“ ſagte Willibald aufgeregt. „Der eine wird vermißt, der andere hat die Flucht ergriffen. Er wird um dieſe Stunde Berlin ſchon verlaſſen haben.“

Die Ablöſung kam in dieſem Augenblick heran, und die beiden Beamten ſprachen halblaut miteinander.

Dann ſagte der zweite: „Mein Kollege wird Sie führen, meine Herren. Wenn wirklich etwas an der Sache iſt, dann kann es ſich nur um einen einzigen Platz handeln, der wenige Minuten von hier und tatſächlich ſehr einſam liegt. Ein Hilferuf iſt nicht gehört worden, aber bei dieſem Sturm will das nichts bedeuten. Waren die beiden Männer verfeindet? Für gewöhnlich geht man dann nicht zuſammen ſpazieren.“

Willibald Specht ſchüttelte den Kopf. „Sie ſind erſt auf dem Wege Gegner geworden. Mehr kann ich auch nicht ſagen.“

Der abgelöſte Schutzmann hatte ſeine elektriſche Taſchenlaterne angeknipſt und die Browningpiſtole ge- lockert, mit der die Beamten ſeit einiger Zeit in den

fe) Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 67

entlegenen und von Geſindel durchſtreiften Gegenden des Tiergartens ausgerüſtet wurden. Er winkte nur mit den Augen, aber dieſe ſtumme Gebärde und ſein tiefernſtes Geſicht verrieten hinreichend, daß er auf alles gefaßt war.

Es kam noch hinzu, daß der Wind urplötzlich auf- hörte, als ob die Natur den Atem anhielte, um zu lauſchen, und jetzt vernahm man auch einen ſchwachen Ruf, der ſich indeſſen nicht wiederholte und die erneut eintretende Stille um ſo unheimlicher empfinden ließ.

Sie drangen in das Gebüſch. Der Laut hatte ihnen die Richtung gegeben, und er machte das Einhalten der Wege überflüſſig. Der Schutzmann war mehrere Schritte voraus, und der Lichtfunke feiner kleinen La- terne wurde bisweilen durch die Stämme verdeckt. Dann war es ganz finſter.

Egbert ſagte zu ſeinem Begleiter: „In den Ver- brecherkneipen von Paris werde ich mich nicht fürchten, aber dies iſt ſchrecklich, denn wir wiſſen nicht, was die nächſte Minute bringen wird.“

Ein ſchriller Pfiff.

Sie glaubten zuerſt, daß eine ganze Bande aus ihren Schlupfwinkeln aufgeſtöbert ſei, denn der Tier- garten war plötzlich lebendig geworden, und es rauſchte überall in den Büſchen. Aber das waren nur die Krähen, die in den Zweigen der Bäume niſteten.

Dann erhob ſich die Stimme des Schutzmanns: „Hierher, meine Herren!“

Hans Lux lag unter einem Baume zwiſchen zu— ſammengewehten Blättern, und das Licht der Laterne fiel auf ſein blaſſes Geſicht. Als Willibald Specht und Egbert herankamen, hatte der Beamte ihm bereits Nock und Weſte geöffnet und feine Verbandtaſche zum Vor-

ſchein gebracht.

68 Die Apachen. 2

„Es iſt ein Stich in die rechte Bruſt,“ ſagte er ge- dämpft. „Der Blutverluſt ſcheint ziemlich ſtark, aber er lebt und hatte noch die Kraft zu rufen. Jetzt hat die Schwäche ihn ohnmächtig gemacht. Aha, da kommt mein Kollege!“

Nun war die Einſamkeit plötzlich unterbrochen. Die Notſignale der Beamten wurden ſchnell beantwortet, und es ſammelte ſich nach und nach ein ganzes Auf- gebot von Schutzleuten um den Ort des Verbrechens. Von dem Hauptwege wurde eine Droſchke requiriert, auch ein Arzt fand ſich zufällig, der die Unterſuchung vornahm.

Der Mann der Wiſſenſchaft gab das erſte vorläufige Gutachten ab. „Der Stich iſt durch die Kleidung ab- geſchwächt worden,“ ſagte er, „es ſind keine edleren Teile verletzt. Aber der Verwundete leidet im hohen Grade an der Lungenſchwindſucht, und bei dem ver- hältnismäßig ſtarken Blutverluſt iſt eine ernſte Kom- plikation nicht ausgeſchloſſen. Frauenpflege iſt hier nötiger als alle Medizin. Aber ich ſehe, daß der Herr keinen Trauring trägt.“

Willibald Specht entgegnete: „Es werden zwei Frauen um ihn fein, Dieſer Mann ſoll nicht von be⸗ zahlten Händen gepflegt werden. Es gibt eine Dank—- barkeit und eine Liebe, meine Herren, die manchmal noch über den Trauring hinausgeht.“

* * *

Im Laufe des nächſten Tages reiſten Willibald Specht und Egbert Linde ab, denn der Chefredakteur Doktor Barkhauſen hatte ſie nun einmal für das Pariſer Unternehmen engagiert, und wo es das Intereſſe feiner Zeitung galt, kannte er keine Kückſichten und keine Sentimentalität.

2 Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 69

„Die Preſſe lebt ſtets im Felde,“ hatte er zum Abſchied geſagt, „und die Lücken der Gefallenen werden ſofort ausgefüllt.“

Dennoch beabſichtigten fie einen Umweg über Jena, denn Egbert wollte ſeinen Vater begrüßen.

Hans Lux war in die Wohnung des Malers gebracht worden und dort bald zum Bewußtſein gekommen; er fühlte ſich imſtande, noch an demſelben Abend einem Polizeikommiſſar gegenüber ſeine Ausſage zu erſtatten, die freilich ſpärlich genug ausfiel.

Er habe den bei Willibald Specht wohnenden Fran- zoſen Renard dort kennen gelernt und ſchon ſeit längerer Zeit im Verdacht der Spionage gehabt, obwohl keine greifbaren Beweiſe vorlagen. Um ſich Gewißheit zu verſchaffen, ſei er wie zufällig mit dem Manne im Tiergarten zuſammengetroffen und habe das Geſpräch auf Politik gebracht. Der Franzoſe müſſe an Verrat und Verhaftung gedacht haben, denn an einer ein- ſamen Stelle des Tiergartens ſei er plötzlich über ihn hergefallen, hätte ihn mit einem Oolchmeſſer verwundet und die Flucht ergriffen.

Der Kommiſſar hatte ſodann die verlaſſene Woh- nung des Verbrechers durchſucht, aber nichts Ver— dächtiges vorgefunden; eine Verfolgung erſchien zu- nächſt ausſichtslos, denn man wußte nicht einmal, ob der Name richtig angegeben war.

Aber dieſe Dinge redeten die beiden Neiſenden mit- einander, und obwohl ſie wußten, daß Hans Lux aus Rückſicht auf Bertas Vater den wahren Zuſammen— hang verſchwiegen hatte, ſo machten ſie doch den Ver— ſuch, ſich darüber hinwegzutäuſchen.

Bis der Zufall es fügte, daß ſie beide allein im Abteil waren und kein Lauſcher ſich in der Nähe befand.

Da legte Willibald Specht die Hand auf den Arm

70 Die Apachen. 2

ſeines Gefährten und ſagte halblaut: „Ich habe das Manuſkript des Franzoſen an Lux gegeben. Es war zuerſt meine Abſicht, dieſes unheimliche Schriftſtück zu vernichten, aber Lux beſtand darauf, es zu leſen, und als ich von ihm Abſchied nahm, lag es unter ſeinem Kopfkiſſen. Glauben Sie, daß der Verfaſſer jemals daran denken wird, ſein Eigentum von uns zurück— zufordern?“

„Ich werde ihn danach fragen,“ entgegnete Egbert, und als der Maler verwundert aufblickte, fuhr er fort: „Neben der Aufgabe, die wir in Paris zu erfüllen haben, gibt es für mich noch eine zweite zu löſen. Geſtern haben Sie mir gebeichtet, ich will heute Ihnen gegenüber Gleiches mit Gleichem vergelten.“

Und dann begann er von Käthe zu erzählen und den beiden Briefen, die ſie miteinander gewechſelt hatten, und von den Briefen ſeines eigenen Vaters.

Zum Schluß ſagte er: „Hier laufen die Fäden der Begebenheiten zuſammen. Es iſt wie einer jener Kri- minalromane aus dem Leben, die ich in Moabit kennen gelernt habe. Das Papier, das Jules Renard Ihnen zur Verfügung ſtellte, ſtammt offenbar aus dem Dieb- ſtahl bei Tonndorf, und damit iſt ein Zuſammenhang zwiſchen Renard und Käthes damaligem Verlobten hergeſtellt. Wiederum wußte kein Menſch in Paris etwas von Ihren Fähigkeiten als das Mädchen allein, denn ich ſelbſt hatte es ihr, allerdings ganz beiläufig, geſchrieben, und dieſe Tatſache ſchließt den Ring der Beweiſe. Wir gehen jetzt zu den Apachen, und mir ſagt meine Ahnung, daß wir in dem Kreis dieſer Ver— worfenen jene drei Menſchen wiederfinden werden. Ob wir die Verlorene retten können, weiß ich nicht, der nächſte dazu iſt ihr eigener Vater, und aus dieſem Grunde machen wir den Umweg über Jena. Aber

D Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 71

die beiden anderen will ich ſo lange ſuchen, bis ſie in meinen Händen ſind, und dann werden wir miteinander abrechnen. Wenn Sie, Herr Specht, nun noch eine Frage zu ſtellen haben, dann bin ich bereit, ſie offen und ehrlich zu beantworten.“

„Eine einzige,“ entgegnete Willibald Specht. „Ihre Liebe zu dieſem Mädchen iſt tot?“

„Sie war eine Täuſchung von Anbeginn. Mein Herz gehört einer anderen, und ich brauche Ihnen den Namen nicht zu nennen. Dieſe Liebe geht vielleicht über Gräber, aber es iſt ein wahres Wort, daß den Lebenden die Welt gehört, denn das Leben behauptet überall ſein Recht.“

* * *

Als über dieſen Tag der Abend niederging, begann Hans Lux von den beiden Reiſenden zu ſprechen und ſagte, daß er demnächſt ſelbſt eine Reiſe antreten werde.

Sie hatten ihn in Egberts Zimmer untergebracht, und Berta wich nicht von ſeiner Seite. Als aber dieſe Andeutung von einer bevorſtehenden Reiſe fiel, da wurde ſie unruhig und wollte nach dem Arzt ſchicken.

„Tun Sie das nicht,“ bat er, „ich möchte viel lieber mit Ihnen plaudern. Wir wollen die Lampe anzünden und die Vorhänge niederlaſſen. Draußen iſt es ja doch dunkel geworden.“

„Nicht fo dunkel wie geſtern um dieſe Zeit,“ ent- gegnete ſie. N ö

„Das iſt eine Täuſchung, Berta. Geſtern waren Sie um mich in Sorge, obwohl kein Menſch dieſen Ausgang ahnen konnte. Wiſſen Sie noch, an meinem Geburtstag verglich ich Sie mit der germaniſchen Seherin Velleda. Ich glaube, Sie haben wirklich einen Blick für das Kommende.“

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Als ſie dann etwas erwidern wollte, hob er die durchſichtige Hand und drohte mit dem Finger.

„Nein, davon ſollen Sie nicht ſprechen. Ich weiß, daß Liebe ahnen kann, aber zwiſchen uns beiden iſt es niemals ſo geweſen wie zwiſchen zwei jungen blühen⸗ den Menſchenkindern. Nur Freundſchaft, Berta, und ein bißchen gegenſeitige Achtung. Wollen wir uns nicht ‚Du‘ nennen? Wir hätten das längſt tun ſollen.“

Sie hatte die Lampe angezündet und glättete ihm das Kiſſen. „Du ſollteſt ſchlafen, Hans.“

„Später. Zetzt ſetz dich auf dieſen Stuhl, ſo daß dein Geſicht im Lichtkreis iſt. Schön biſt du doch, das kann ich dir jetzt ganz ruhig ſagen, und ein anderer weiß es auch. Der arme Kerl, er muß jetzt unter die Apachen und würde gewiß viel lieber hier ſitzen.“

„Er iſt in ſeinem Beruf, Hans.“

„Natürlich, deshalb habe ich ihn ja hinausgeſchickt. Wenn er ſeine Schuldigkeit tut, dann ſoll er feſt bei der Redaktion angeſtellt werden, ich habe ſchon mit dem Chef darüber geſprochen. Er kriegt meine Stelle.“

„Die haſt du doch ſelbſt, Hans!“

„Die Stelle, die ich kriege, wünſche ich ihm nicht. Warum weinſt du, Berta?“

Sie konnte es nicht mehr ertragen und ging hinaus wohl auch in der Hoffnung, daß er zur Ruhe kommen und einſchlafen würde.

Aber als ſie nach einiger Zeit leiſe zurückkehrte, las er in dem Manufkript, das unter feinem Kiſſen gelegen hatte.

„Dies iſt das Werk, mit dem die deutſche Literatur betrogen werden ſollte,“ ſagte er. „Ich bewundere den Geiſt des Verfaſſers. Es iſt ſeltſam, wie nahe die Gegenſätze beiſammen wohnen. Und es iſt traurig,

2 Ein Pariſer Roman von Fritz Levon. 73

daß wir fälſchen müſſen, um das Ohr der Menge zu gewinnen. Haſt du ein Licht?“

„alt es dir zu dunkel?“ fragte fie angſtvoll. „Die Lampe brennt doch ganz hell!“ |

„Nein, das, woran du denkſt, kommt erft ſpäter vielleicht um Mitternacht oder gegen Morgen. Aber ich möchte dennoch die offene Flamme ſehen.“

Als fie ihm den Willen getan und eine Kerze an- gezündet hatte, nahm er das Manuſkript in die Hand.

„Es iſt ſchade darum. Aber die Literaturgeſchichte will wiſſen, daß Leſſing es mit ſeinem Original ebenſo gemacht habe. Und wenn die Aſche zerſtoben iſt, dann hat auch die Erinnerung ihr Grab gefunden.“

Ein loderndes Aufflammen, dann legte Hans Lux ſich in die Kiſſen zurück und wurde ganz ſtill.

Aber die Genoſſin ſeiner Arbeit ging nicht wieder hinaus, ſondern ſie verſchleierte nur ein wenig die Lampe und ſetzte ſich dicht neben das Lager, denn ſeine Stimme hatte ſehr matt geklungen.

Sie wußte jetzt, daß er ſterben werde. „Etwas früher und ſchneller, als es ſonſt der Fall geweſen wäre,“ dachte ſie bei ſich „wer weiß, ob das nicht ganz gut iſt.“ |

Denn dieſer Ritter vom Geiſt war immer ein großer Arbeiter geweſen, der das Dämmern und die lang- ſamen Übergänge haßte. Wenn fein ſchleichendes Übel ihn zur Untätigkeit gezwungen hätte, dann wäre er grämlich und mißmutig geworden, nun aber war es nur wie ein Sonntag nach der heißen Werktagswoche und morgen war es nichts mehr.

Das Dämmern aber kam dennoch.

Da ſprach er halblaut vor ſich hin und offenbarte ſeine tiefſten Gedanken, denn die kommen erſt zualler— letzt, und ſie ſind wie ein umflortes Licht.

74 | Die Apachen. u

„Trauern um Tote iſt eine Torheit,“ ſagte er. „Denn die Toten haben es ſehr gut.“

Und zuletzt kam es flüſternd heraus, daß Zugend und Liebe alle Lücken ausfüllen.

Um zehn Uhr ging Berta hinüber zu ihrer Mutter. Die hatte noch ſoeben einer ſpäten Kundin die Zukunft gewahrſagt, die Karten lagen noch verſtreut auf dem Tiſch, nur das Treffas, das nach den Geſetzen der ſchwarzen Kunſt allemal den Tod bedeutet, war her- untergefallen.

Berta hob es auf und ſagte ſehr leiſe: „Diesmal haben die Karten recht. Er iſt ſoeben eingeſchlafen.“

Die müde und vergrämte Frau nickte mit dem weißen Kopf. „Ich wußte es. Der Doktor hatte mir davon geſagt. Wollte er keinen Notar?“

„Nein, Mutter. Aber ich kenne ſeinen letzten Willen.“

„Ein Vermächtnis?“

„Ja und ich will es erfüllen.“

(Fortſetzung folgt.)

_ *

87 J TER

Die Zukunft Marokkos. von E. E. Weber.

mit s Bildern. N * lnachoͤruck verboten.)

Nochdem Frankreich das Protektorat über Marokko übernommen hat, werden nicht nur im Lauf der Zeit die inneren Verhältniſſe die bisher fehlende Sicher heit erhalten, ſondern es wird nun auch zur Nutzbar— machung der natürlichen Reichtümer dieſes vielfältig bevorzugten Landes geſchritten werden können. Be— kannt iſt, daß die gebirgigen Teile große Mineralſchätze bergen, die heute noch ſo gut wie völlig brachliegen. Mehr aber noch wird Marokko ein Betätigungsfeld für den Landwirt werden. Es bedarf hier für weite Ge- biete nur der modernen Bearbeitung und einer Ver- beſſerung der Verkehrsmittel zur Erleichterung des Ab- ſatzes der landwirtſchaftlichen Erzeugniſſe, dann wird ſich bald ein wahres Dorado für tatkräftige, fachmänniſch geſchulte Landwirte auftun.

Ein breiter Gürtel fruchtbarer Schwarzerde durch- zieht die ſubatlantiſchen Ebenen. Weiter landeinwärts, im Steppengebiet, kann ſich die Viehzucht aufs beſte entwickeln. Man zählt dort ſchon jetzt 40 Millionen Schafe, die zumeiſt ſehr gute Wolle liefern, 11 Millionen Ziegen und 6 Millionen Rinder. Dazu kommen noch bedeutende Mengen von Pferden, Eſeln, Maultieren und Kamelen. Am Fuß des Atlas zieht ſich die Zone

76 Die Zukunft Marokkos. 2

der Fruchtbäume hin, die alle Fruchtarten des ſüdlichen Europas aufweiſt.

An Feldfrüchten gewinnt man gegenwärtig in Marokko Weizen, Gerſte, Mais, Hirſe und Bohnen. Wenn die Landwirtſchaft heute noch auf einer erſtaun— lich tiefen Stufe ſteht, ſo iſt dies auf verſchiedene Gründe zurückzuführen. Die meiſte Schuld daran trägt die

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Beaderung des Feldes mit dem Holzpflug.

Stumpfheit der Bewohner und ihre Abſchließung von den europäiſchen Fortſchritten. Der marokkaniſche Bauer wollte abſichtlich nichts von ausländischen Neue— rungen wiſſen. Und ſo beackerte er und beackert er noch jetzt ſein Feld mit einem äußerſt primitiven Holzpflug, deſſen ſchmale Pflugſchar den Boden nur ganz ober— flächlich durchfurcht.

Sodann ließ das herrſchende Ausbeutungsſyſtem eine kräftigere Regſamkeit auf die Dauer überhaupt nicht aufkommen. Erfreute ſich ein Bauer wirklich ein—

D Von E. E. Weber. 5

mal einer größeren Wohlhabenheit, ſo fand der als Gouverneur eingeſetzte Paſcha alsbald Mittel und Wege, ihn gehörig anzuzapfen. Unter irgend einem Vorwand wurde er gefänglich eingezogen, man erhob gegen ihn eine Anklage und ſetzte ihm ſo lange zu, bis er ſich zu einer Ablöſungsſumme verſtand, die dann in die Taſche des Paſchas wanderte. Unter dieſen Umſtänden war

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Einſammlung des Getreides in Baſtnetzen.

es für den marokkaniſchen Bauer erſprießlicher, feine Acker nur ſo weit zu beſtellen, daß ſie ihm den not— dürftigſten Lebensunterhalt gewährten. Er ſäte ſein Korn aus, ſammelte das Getreide in Baſtnetzen ein und ſchaffte die geringe Ernte auf dem Kamel nach ſeiner verfallenen Lehmhütte.

Endlich wurde der landwirtſchaftliche Aufſchwung dadurch gehemmt, daß die Ausfuhr der Landeserzeug— niſſe entweder gänzlich verboten oder nur in beſchränktem

tape geſtattet war. Erſt mit der Feſtſetzung der Fran—

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zoſen in Caſablanca wurden dieſe hinderlichen Ver— ordnungen etwas erleichtert. Jetzt zogen zwar die Kamele, beladen mit den das Getreide enthaltenden Lederſäcken, nach der Hafenſtadt, aber dort fehlte es wieder an Lagerräumen zur Unterbringung der an- geſammelten Vorräte. Man ſchüttete das Getreide einfach in großen Haufen im Freien auf und mußte oft wochenlang warten, bis man es zum Verkauf und zur Verſchiffung bringen konnte.

Dieſe Verzögerung hatte allerdings auch eine gute Seite. Der marokkaniſche Bauer reinigt das Getreide für den eigenen Bedarf überhaupt nicht. Während der Lagerzeit in Cafablanca fand ſich nun wenigſtens Ge- legenheit, die Körnerfrüchte mit der Fege von den gröbſten Beimiſchungen zu befreien.

Wenden wir uns jetzt zu der Frage, wie die Be— dingungen für europäiſche Landwirte liegen, die ſich in Marokko unter dem Schutz der franzöſiſchen Herr— ſchaft als Anſiedler niederlaſſen, und nach welchen Ge— ſichtspunkten ſie dabei zu verfahren haben.

Als Koloniſationsgebiet für europäiſche Landwirte kommt in erſter Linie die Schauja, die große Ebene, in Betracht, die etwa 20 Kilometer von Caſablanca be- ginnt und ſich über 40 Quadratkilometer erſtreckt. Sie weiſt für den Anbau von Getreide, für die Anlegung von Weingärten ſowie für die Zucht von Rindern, Schafen und Schweinen trefflich geeignete Striche auf. Man kann ſie mit einer großen Schüſſel vergleichen, an deren Rand die Schwarzerde nur 25 bis 30 Zenti- meter ſtark iſt, während in der Mitte ein großes Rechteck liegt, wo die Fruchterde eine Stärke von 2 bis S Metern erreicht. Dieſes Rechteck iſt nach der einen Seite hin etwa 20 Kilometer von Mediauna, auf der anderen etwa „0 Kilometer von Caſablanca entfernt, fo daß

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der Transport der landwirtſchaftlichen Erzeugniſſe mittels Ochſenkarren nicht zu teuer zu ſtehen kommt. Denn dieſes Transportmittels wird man ſich für längere Zeit immer noch bedienen müſſen, vorausgeſetzt, daß die Entfernung nach dem Exportplatz nicht mehr als 40 bis 50 Kilometer beträgt. Selbſt wenn in Zukunft Eiſenbahnen gebaut werden, wird ſich daran vorerſt

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Beladung des Ramels mit den Baſtnetzen.

nichts ändern. Denn die Frachten werden anfänglich wahrſcheinlich ſo hoch ſein, daß eine Beförderung der Landesprodukte auf der Eiſenbahn zu teuer wird. Der Transport auf Ochſenkarren beläuft ſich aber für die erwähnte Entfernung bei 100 Kilogramm Getreide nur auf etwa 80 Pfennig.

Die Schauja iſt faſt allenthalben durch die Marok— kaner urbar gemacht. Zwar finden ſich an einigen Punk- ten Stümpfe von Palmen und Unkrautflächen, aber ſie laſſen ſich mit dem Pflug leicht umbrechen. Auch braucht

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man nicht die Urbarmachung im erſten Jahr nach dem Ankauf vollſtändig durchzuführen, ſondern kann dabei ſchrittweiſe vorgehen.

Die Bodenankäufe werden erleichtert durch die fo- genannten Arabiſchen Bureaus, die die franzöſiſche Regierung in Caſablanca und anderen Orten errichtet hat. An ihrer Spitze ſteht ein Offizier. Durch die Abwicklung des Kaufgeſchäftes in dieſen Bureaus ent⸗ geht der Käufer der Gefahr, betrogen zu werden. Denn der Kaid darf den Verkauf nur vor dem Offizier vornehmen, und der Kadi liefert den Kaufvertrag nur dann aus, wenn er ſich überzeugt hat, daß der Ver— käufer auch der rechtmäßige Eigentümer des betreffen- den Landſtückes iſt. Der Ankauf kann entweder un- mittelbar von den Marokkanern oder durch Agenten erfolgen. Der erſtere Fall iſt indeſſen nur empfehlens- wert, wenn der Käufer die Landesſprache und die Eigenart der Eingeborenen kennt und ſich ſchon längere Zeit in der Gegend, wo er ſich anſiedeln will, auf— gehalten hat. Von den Eingeborenen kann man den Hektar für 80 bis 100 Mark erſtehen, aus zweiter Hand koſtet er dagegen bis zu 160 Mark. Der Preis hat ſich innerhalb zweier Jahre verdreifacht und wird auch weiterhin noch ſchnell ſteigen.

Nur ſelten kann man darauf rechnen, ein großes Gelände auf einmal anzukaufen. Meiſt kann man anfänglich nur ein kleines Beſitztum erwerben. Zſt man aber in der Nachbarſchaft bekannt geworden, ſo laffen ſich weitere Bodenankäufe ſehr ſchnell zur Aus- führung bringen.

Waſſer iſt überall in der Ebene vorhanden. Ein reicher Grundwaſſerſtrom durchzieht ſie in einer Tiefe von 50 bis 50 Metern. Die hier nach europäiſchem Syſtem angelegten Brunnen ſind unerſchöpflich. Auch wer

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keine Viehzucht treiben will, ſoll doch auf die Anlegung eines modernen Brunnens auf ſeiner Farm bedacht ſein. Denn die vorhandenen marokkaniſchen Brunnen ſind ſehr eng und leiden unter häufigen Einſtürzen. Die Marokkaner heben das Waſſer aus den Brunnen in Säcken aus Schaffellen heraus, die von Mauleſeln

Getreidetransport in Lederſäcken.

heraufgezogen werden. Dieſes Verfahren wird auf einer größeren Beſitzung, wo tagtäglich Waſſ er gebraucht wird, ſehr koſtſpielig, da ſich die Säcke und Seile ſehr ſch nell abnützen.

Bevor man ein Gelände erwirbt, muß man ſich klar ſein, was man hauptſächlich treiben will. Weite Ackerflächen mit tiefgründigem, mergel- und kalkhaltigen Kulturboden für den Anbau von Getreide ſind in großer Anzahl zu haben. Die Randgebiete mit leichterem, rötlichem Boden können zur Anlage von Weinbergen benützt werden. Die mehr ſteinigen Gegenden bieten

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treffliche Gelegenheit zu Hutungen von Schafen. Die

niedrigeren, feuchten Striche in der Nähe der Wälder laſſen ſich zur Aufzucht von Rindern und Schweinen verwerten. Man muß ſich alſo entſcheiden, welchen

Lagernde Getreidehaufen bei Caſablanca.

dieſer landwirtſchaftlichen Zweige man wählen will, und danach das betreffende Gelände ankaufen.

Die Preiſe für Getreide ſind augenblicklich noch gering. Aber trotzdem wird ſich das in die Acker hin— eingeſteckte Kapital mit der Zeit gut verzinſen. Denn einmal wird ſich der Wert der Landgüter in kurzem ſteigern, ſodann werden aber auch die Erträge aus ihnen durch eine zweckmäßige Kultur weſentlich zunehmen. Doch iſt es nötig, daß der neue Anſiedler über ein aus— reichendes Kapital verfügt. Rechnet man den Ankaufs— preis, die Beſchaffung der Saat und die Unkoſten für die Bearbeitung zuſammen, ſo ſind für jeden Hektar rund 240 Mark in Anſchlag zu bringen.

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Der ſchwere Boden muß ſehr ſchnell bearbeitet und beſtellt werden. Denn nach den großen Regen llebt er förmlich zuſammen, und nach der lange andauernden Trockenheit wird er ſo hart, daß in ihn kein Ackergerät eindringen kann. Es iſt daher unumgänglich notwendig, daß die Beſtellung der Felder im Frühjahr ausgeführt wird. Zn dieſer Zeit verläuft die Feldarbeit nicht nur am leichteſten, ſondern es wird auch durch die recht- zeitige Beſtellung eine Austrocknung der Fruchterde vermieden, die Zerſetzung der Nährſtoffe gefördert und für eine feine Zerkleinerung des Bodens geſorgt. Die Folge der Frühjahrsbeſtellung iſt dann, daß ſich in den

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Feldern auch noch im Sommer genügende Feuchtigkeit vorfindet, wodurch natürlich ihre Erträge wachſen. Bei einer ſolchen Beſtellungsweiſe liefert in guten gahren ein Hektar 30 Zentner Hafer und 20 bis 30 Zent- ner Brotgetreide. Aber man muß auch ſchlechte Jahre

84 Die Zukunft Marolkos. n in Betracht ziehen. Berückſichtigt man auch dieſe, fo läßt ſich ohne Überſchwenglichkeit behaupten, daß ein Hektar durchſchnittlich 15 Zentner Getreide liefert. Für ſehr große Landgüter muß, da, wie erwähnt,

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Viehmarkt in Caſablanca.

die Beſtellung ſehr ſchnell zu erfolgen hat, ein Dampf— pflug beſchafft werden. Seine Lekomobile kann ſo— wohl mit Petroleum als auch mit Kohlen geheizt wer— den, da beide im Sommer bei der Ablieferung des Getreides in den Exportplätzen auf dem Rückweg mit heimgebracht werden können.

Die Viehhaltung wird ſich hinſichtlich der Art und Zahl der Köpfe nach der Beſchaffenheit des Geländes zu richten haben, das man erwirbt. Am beſten iſt es, wenn man anfänglich die einheimiſchen Raſſen, die an das Klima gewöhnt ſind, bevorzugt und erſt, wenn man Erfahrungen geſammelt bat, zum Import von euro— päiſchem Vieh zu Zuchtzwecken übergeht. Die ein—

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heimiſchen Raſſen find, wie ein Beſuch des Viehmarktes in Caſablanca lehrt, an ſich gut und werden ſich bei angemeſſener Pflege noch erheblich verbeſſern laſſen, ſo daß auch die Viehzucht einen anſehnlichen Verdienſt abwerfen wird.

Ausdrücllich gewarnt ſei aber davor, mit zu ge— ringem Kapital nach Marokko zu gehen. Zwergwirt— ſchaften können nur zum Ruin des Europäers führen. Denn die Koſten für die verſchiedenen Anſchaffungen find anfänglich fo bedeutend, daß eine lleine Wirtſchaft die Verzinſung und Abtragung unmöglich aufbringen kann. Einen geringeren Umfang als 150 Hektar ſollte daher eine Beſitzung auf keinen Fall haben.

Die Anſiedlung eines Europäers in der erſten Zeit.

Die beſte Zeit für die erſte Anſiedlung fällt auf die Monate März bis Zuli, wenn die großen Regen vorübergegangen ſind. Man hat dann genügende Muße zur Errichtung des einſtweiligen Wohnhauſes und des

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unentbehrlichen Geräteſchuppens, kann für die Herbei- ſchaffung der landwirtſchaftlichen Maſchinen ſorgen und ſich mit dem Betrieb, den man in Ausſicht nimmt, ver- traut machen.

Die Schauja iſt keineswegs das einzige fruchtbare Gebiet Marokkos. Tiefgründige Schwarzerde findet ſich vielmehr auch vor in den Landſchaften Gharb bei Laraſch, Dukkula bei Maſagan, Abda bei Saffi ſowie Schiadma und Haha bei Mogador.

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Souſous erfte Liebe. Eine Geſchichte aus der Sommerfriſche. von Karen Fugerdͤt.

* [Nachoͤruck verboten.)

Wöcaum ſo viele Menſchen? So hatte ich mich während meines Sommerurlaubs bisweilen mit einigem Unbehagen gefragt.

Entweder ſie mögen dich nicht leiden; dann ärgern ſie ſich, dir fühlbar, an deiner mißlungenen Naſe, deinem ſonnenverblichenen Bergkoſtüm, deiner Vor— liebe, zu früh von Tiſch aufzuſtehen, deiner Art und Weiſe, dich in Kreuzform allein mitten auf den Abhang zu legen. Sie wollen beileibe nichts mit dir zu tun haben; aber ſie finden es doch unfein, burſchikos, ja geradezu unpaſſend von dir, daß du allein und trotz— dem ſcheinbar in vollem Behagen mit den Wolken verkehrſt.

Oder ſie lieben dich. Dann ſind die Minuten deiner göttlichen Freiheit gezählt! Beim erſten Frühſtücks— brötchen mußt du bekennen, was du heute, morgen, übermorgen, und zwar je bei gutem, mittelmäßigem und ſchlechtem Wetter vorhaſt, was du dazu anziehen, wieviel Butterbrote du mitnehmen willſt, wie oft du dich unterwegs hinzuſetzen gedenkſt, ob außer ihnen und dir noch jemand aufgefordert werden fell, und

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wann du dich jeden Tag wecken laſſen willſt. Wenn du dich zurückziehſt, um einen Brief zu ſchreiben, finden ſie deine Korreſpondenz übertrieben; doch flechten ſie gern ein, daß ſie ſpäter recht oft von dir hören möchten. Sie fragen dich, wo du in den nächſten zehn Jahren deinen Sommerurlaub verbringen willſt, und wollen ſich dann gern nach dir richten; nur müßte man ſich gleich entſcheiden wohin.

Alſo diesmal klüger ſein! Vorſaiſon mit leeren Zügen, billigen Penſionen, Frühlingsblumen, herber Friſche der Temperatur und vielleicht einem neuen Freund, einer neuen Freundin, die zu gleicher Zeit wandern, plaudern, arbeiten und allein ſein möchten wie ich. |

Ja, du alte Egoiſtin, fo ſoll dir's paſſen: im Mai bereits ins Hochgebirge! Dann iſt dort kein Lackſtiefel weit und breit. Wohin aber? Leider bin ich zu alt, um nur mein Organ der Wald- und Wiefenfreude, das immer intakt iſt, zu Rate zu ziehen. Die ſchwächſten Kinder verzieht man billigerweiſe am meiſten, ich frage alſo meine Lunge.

Davos? „Da ſieht man ja vor Häuſern die Berge nicht mehr.“ Aroſa? „Zu enge.“ St. Moritz? „Da kocht der Himmel jetzt für die Gummiſchneeſchuhe Schokoladencreme mit Schlagſahne.“ Rieſengebirge? Schwarzwald? „Unter ſechzehnhundert Meter.“

Ich war ratlos, fühlte aber irgendwo im Gehirn die ſchmerzhafte Wiedergeburt einer früheren Vor— ſtellung. Ein Alpenführer mußte helfen. Sch blätterte in „Graubünden“, im „Berner Oberland“, im „Wallis“ ja, da war es doch, im Rhonetal, irgendwo vor der Einfahrt ins Simplonloch! Die Blätter flogen jetzt, ich riß im Eifer eine Seite halb durch; aber dafür ſtrahlte mir auch unmittelbar neben dem Riß ein Stern ent—

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gegen, und daneben ſtand zu leſen: „Moralavena.“ Ich atmete auf. „Mo ralavena, Moralavena!“ wieder- holte ich mehrmals und berauſchte mich an der Melodie dieſes Namens.

Schnell wurde Urlaub genommen, der Koffer ge— packt. Da las ich in der Zeitung von Neuſchnee und Sturm in den Alpen. Nun, zunächſt ein paar Tage Lugano waren auch nicht zu verachten.

O Lugano Caſtagnola, o Villa Morico! Dieſer ſüße Glyzinienduft an der Eingangspforte, dieſe Ter- raſſen voll Roſen, die klappernden Palmenwedel, die närriſch ſchwätzende Spottdroſſel, der erleichternde, er- heiternde Blick auf den friedlichen, ſonnigen See und den komiſchen Rieſenhut, den man San Salvatore heißt, die beglüdend reiche Farbenpracht von Himmel und Luft, von Waſſer und Wieſe, von Dorf und ferner Stadt! Welche Verſuchung!

Aber ich blieb tapfer. Die holde Luft, die lieb- koſende Sonne und die guten, viel zu guten Fleiſch- töpfe dort verweichlichen. Hinein alſo in die langen, weitgeöffneten Arme des Rhonctals, bis der alte Burgturm von Nogubi zum Ausſteigen mahnte.

„Facteur!“ Ja, Gepäckträger gab es noch nicht. Vorſaiſon! Aber die Drahtſeilbahn, natürlich die nach Moralavena, hatte ich vom Zuge aus geſehen. Alſo, wie ſehr auch der Handkoffer nach unten zog, ſchleunigſt über die Rhonebrücke und auf die gerade Linie zu, die da an der Zergwand in die Höhe kletterte.

GSlüdliderweife kam ein Züngling des Weges; den fragte ich, im ſtillen auf feine unverwaſchene Herzens— güte hoffend, nach einem Kofferträger. Meine Men— ſchenkenntnis übertraf meine Sachkenntnis. Er hob mein Gepäck gutmütig auf ſeine Schulter, ſagte aber

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etwas ironiſch: „Aber Madame, das iſt nicht die Draht- ſeilbahn nach Moralavena.“

Ach, die gerade Linie war ein künſtlicher Waffer- lauf. Mein Ziel aber lag entgegengeſetzt, am Nord— rande des Rhonetals. Alſo umgedreht, wieder über den Fluß, wieder am Bahnhof vorbei und auf die richtige Station zu.

Unterwegs war Zeit genug, um mit dem jungen

Manne eine Unterhaltung anzuknüpfen; ich tat es in dem Wunſche, mein ehemals klaſſiſches Franzöſiſch nun wieder zu ölen. Er ſprach es recht merkwürdig aus. Aber meine ſinkende Hochachtung ſchwoll wieder an, als er mir erzählte, fein Vater ſei „Präſident der Ge— meinde Ridogne “. Präſidentenſohn! Ridogne? Kenne ich nicht, aber im Wallis gibt es ja ſo ungeheuer reiche Ortſchaften. Durfte ich dem Präſidentenſohn ein Trinkgeld anbieten? Solche Zweifel ſind mir immer geradezu eine Qual. Am beſten, man fragt.

Ich wurde etwas rot, mein Franzöſiſch etwas blaß, aber ich fragte.

„Aber gewiß, Madame!“ ſagte er munter, und die Hand des Präſidentenſohnes blieb zärtlich mit meinem blanken, in Berlin eingewechſelten Frankenſtück bei— ſammen im Dunkel einer Ridogner Hoſentaſche, ſo— lange ich den davonſchreitenden Züngling in Sicht hatte. |

Ich nahm meine Fahrkarte. Da ſtand auch ſchon das Bähnele, genau ſo ein kecker, rotlackierter Käfer wie ſeine Kollegen am blauen Lago Cereſio. Das Kursbuch verſprach vorzüglichen Anſchluß.

Mit einem Drücker wurde mir ein Abteil geöffnet. Ich ſtieg ein. Die Tür fiel ins Schloß. Mann und Drücker verſchwanden die Maus in der Falle. Aber

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es mußte ja gleich aufwärts gehen in die freie Höhe, die unbeſchränkte Weite, die friſche, reine Bergluft.

Ich ſah mich um. Kein Menſch weiter drin. Ich ſah aus dem Fenſter. Kein Paſſagier auf dem kleinen Bahnſteig. Ich kletterte auf die Bank, um in die anderen Abteile hineinzuſehen. Alles leer. Ganz oben ſchim— merte aber der rote Rand einer Mütze. Das mußte der Führer fein. Doch er fuhr nicht ab. Er fuhr abſolut nicht ab. Es dauerte fünf, zehn, fünfzehn Minuten er fuhr nicht ab. Ich räuſperte mich. Die Mütze rührte ſich nicht.

Zwanzig Minuten, fünfundzwanzig Minuten! Sch pfauchte, ich ſchrie, ich brüllte.

Endlich rührte er ſich, ſtieg den Bahnſteig hinab bis zu meiner Kerkertür und erklärte, daß er auf ein Abfahrtsſignal von oben warten müſſe.

Ich drückte ihm mein Erſtaunen darüber aus, der einzige Fahrgaſt zu. fein.

„Aber Madame, was wollen Sie! Wir haben ja noch nicht Saiſon.“

Endlich endlich fuhren wir ab. Endlich ſchwebten wir über der alten Stadt, über ihrem kantigen Burg— turm, höher, immer höher über den vielen, weichen, ſchimmernden Bogen der Rhone.

Da plötzlich keine Ausſicht mehr! Und doch waren wir nicht in einem Tunnel, wenigſtens nicht aus Menſchenhand, ſondern mitten in einer milchigen Wolke, die mit uns aufwärts reiſte.

„St. Laquice de Maur!“ Das Drahtſeil ſchnurrte nicht mehr. Wir hielten auf einer Zwiſchenſtation, ganz ordnungsgemäß, wie der Fahrplan anzeigte. Ich wartete alſo geduldig.

Aber da kam der Mann mit dem Drücker zu mir herunter. Seine Miene war verlegen und ach! ich wußte bald warum.

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Es ſei ein Felsblock von etwa fünf Kubikmetern mitten auf das Gleis gefallen, dicht über der Station. Viel- leicht könne der Betrieb am e Tage wieder aufgenommen werden.

ich fragte nach einem Wagen, nach Hotel, Gepäd- trägern, nach allen Hilfsmitteln, die etwa in St. Laquice de Maur zu haben wären.

„Nur Ausweicheſtation iſt hier,“ war die Antwort.

Die Station hat ihren Namen nach einer nahen, einſam thronenden Bergkirche bekommen; fie ſelbſt aber erwies ſich als ein einfacher Schuppen, in dem gerade eben der kleine Zug und einige dicke Frachtſtücke Platz hatten. |

Was tun? Das Telephon mußte helfen, das amt- liche der Station, und nach einigem Zögern wurde mir erlaubt, die Kurbel zu drehen. Da war auch ein Telephonadreßbuch für das ganze Wallis. Ich fand Moralavena. Aber Madame Guin, bei der ich mich als Penſionärin angemeldet hatte, war nicht verzeichnet. Ich konnte alſo nur die Bahnverwaltung da oben an- rufen. Meine zukünftige Wirtin hatte mir geſchrieben, es ſei Bedienung an der Bahn, wenn ich käme.

Der Stationsleiter von Moralavena gab Antwort. Er war bereit, mir beſagte Bedienung entgegenzu— ſchicken; aber fie werde ſich wohl erſt in etwa andert- halb Stunden bei mir einſtellen können.

Ich blickte unterſtützungsbedürftig den rotmützigen Vertreter des ſchützenden Geſchlechtes an, der neben mir ſtand und das andere Hörrohr ergriffen hatte. Aber er geſtand mit unverhohlener Freude, daß er ſeinen Zug gleich wieder talwärts führen müſſe.

„Sie müſſen durch Riege rief er mir noch im Abfahren zu.

Ridogne? Wo hatte ich doch dieſen Namen ſchon ge—

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hört? Nach dem Schreck befann ich mich nicht gleich darauf. |

Da ſaß ich nun mit meinem Köfferlein allein im Schuppen. Es roch muffig darin; die Frachtſtücke in Mehlſackleinwand hatte ich bald gezählt. Sie knackten und krachten hin und wieder wie in Ungeduld, beſonders die hinter mir liegenden. Der Regen denn der Milchwolke war eine Tintenwolke gefolgt klatſchte windgepeitſcht gegen die Scheiben und machte den dämmerigen Raum noch unheimlicher.

Und das noch etwa anderthalb Stunden? Nein, dann lieber, unter Gepäck, Näſſe und Sturm leidend, dem Ziele Moralavena wenigſtens etwas entgegen- ſtreben. Ich nahm einen alten Kleiderrock aus dem Koffer und tauſchte den neuen Reiſerock dagegen ein. „Krrrck!“ ſagte die Schuppentür, gerade als mein Reck mir beim Überziehen die Augen verdeckte. Ich fuhr zuſammen. Natürlich war es nur das Holz. Aber die Haken meines Redes wollten ihre Geſponſe lange nicht finden.

Nun aber ſchnell biraus.

Da nur die eine Fahrſtraße aufwärts führte, war kein Zweifel möglich. Draußen war es denkbar un- gemütlich. Von oben und unten naß, ringsherum dunkel. Aber es gibt einen Grad des Unbehagens, bei dem man ſich ſeiner ſelbſt kaum noch bewußt wird. Ich ging tapfer durch den Schmutz, ließ mir den Regen ins Geſicht klatſchen und nahm die durch mein Gepäck verurſachten Muskelſchmerzen als etwas Gegebenes hin.

In der Nähe brauſte ein Bach. Weiter! Auf einer nicht ſichtbaren Wieſe brüllte eine Ruh. Weiter! Über dem Wege lag eine Kiefer, die Wurzeln noch halb im Boden haftend. Zch hob erſt den Koffer, dann mich darüber hinweg. Weiter! Der Weg ſchlängelte ſich,

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er wurde allmählich ſteiler. Luſtiger ſpielten die Waffer- rinnlein, die wie Eidechſen die Straße hinabhuſchten, mit meinen Stiefeln. Ja, nun ging es nur noch lang- ſam, ſehr langſam weiter. Ich ſah nichts mehr, dachte nichts mehr, war nur eine wenig flinke Maſchine, die vom Beharrungsvermögen aufwärts getrieben wurde. | Da hörte ich plötzlich in all dem wüſten Grau eine Menſchenſtimme, ſogar eine ungemein zärtliche Men- ſchenſtimme.

„Souſou, Souſou, Souſou Loulou, Loulou, Loulou, komm her zu mir, mein Souſou!“

Aber Souſou kam zu mir.

Da die Straße zwiſchen mir und ihm einen Buckel machte, ſah ich zuerſt nur ein wackelndes, gelbes Hörn- chen, ſeinen hochgekrümmten Schwanz. Dann ſchob ſich eine kleine, ſchwarze Schnauze davor, ein kluges, gelbes Köpfchen erſchien, ein Ohr ſpitz aufgerichtet, das andere ſchlaff heruntergeklappt. Zwiſchen vier behendeh Beinen hing ein anſehnliches Bäuchlein.

Über Souſous Raſſe keineswegs im klaren, wollte ich weitergehen. Da kam mir unter einem triefenden Schirm, ohne Hut, mit kurzem Rock und groben Stiefeln ein ländliches Mädchen entgegen, das etwa ſiebzehn Jahre alt ſein mochte. Sie ergriff mit einem kräftigen Schwunge ihres Armes ohne weiteres meinen Koffer, klatſchte mit der anderen Hand auf den naſſen Hunde- rücken und befahl: „Komm her, Souſou, gib dem Fräu— lein ein Pfötchen.“

Nach fünf- bis zehnmaliger Wiederholung dieſes Be- fehls hörte Souſou auf, mich zu beſchnüffeln wie eine Hausfrau ein zweifelhaftes Ei. Er ſtreckte mir die linke, ſchmutzigweiche Vorderpfote entgegen, etwa mit dem- ſelben Intereſſe, mit dem man ſich die Naſe putzt, wenn man mit feinen Gedanken bei ganz etwas anderem iſt.

D Von Raren Fugerdt. 95

Nach dieſem trotz des Platzregens höchſt notwendig ſcheinenden Begrüßungsakte ging ich bürdelos und zu neuem Leben ermuntert vorwärts. Doch bald wurde es mir ſchwer, mit der kräftig dahinſchreitenden Wal- liſerin Schritt zu halten. Mit leiſem Neid ſah ich ſie mein Gepäck tragen, als habe ſie eine Tüte mit Wind- beuteln in der Hand.

Des Franzöſiſchen wegen oder um ein wenig

langſamer gehen zu können? knüpfte ich eine Unter- haltung mit ihr an und hatte meine ſtille Freude daran, dieſes ſtämmige Bergbäumchen mit der krauſen, ſchwar- zen Haarkrone und den zwei dunklen, runden Beeren im Geſicht zu betrachten. - Bald wußte ich ihre ganze Lebensgeſchichte. Die Eltern wohnten in Nens, einem anſehnlichen Dorfe ein paar Stunden weſtwärts von Moralavena. Aurelie war ſchon in Martigny im Hotel du Cerf Zimmer— mädchen geweſen und hatte, wenn die Saiſon im Ab- ſterben war, auch in der Küche dort geholfen. Aber nach zwei Jahren war ein unwiderſtehliches Verlangen über fie gekommen, wieder in die altgewohnte Um- gebung von rauſchenden Tannen, leichter Bergluft und Weiden voller Kühe, Ziegen und Lämmer zurückzu- kehren, und ſo hatte ſie ſich vor kurzem als „Mädchen für alles“ ins Chalet Adorable in Moralavena vermietet. Dort hatte ſie zuerſt nur Souſou und Madame Guin, jetzt auch mich zu bedienen woraus ich entnahm, daß ich vorläufig der einzige Gaſt der Penſion fein würde.

„Gut,“ dachte ich im unverwüſtlichen Optimismus meiner ſchon ſo häufig vorbeſtraften Seele, „dann iſt's um ſo beſſer!“

In wachſender Spannung ſtieg ich nun ſchneller aufwärts. In einem kleinen, menſchenleeren Dorfe,

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das wir durchſchritten, blieben Souſou und Aurelie ſogar auffallend hinter mir zurück, ſo daß ich eine Weile ſtehen blieb und mir die armſeligen, mit Grauſchiefer gedeckten Holzhäuſer und Ställe anſah, die im Regen alle gleichmäßig betrübt in ſich zuſammenzulkriechen ſchienen. Freilich, weiter unten im Ort hatte ich ein größeres Steinhaus geſehen mit einer Freitreppe, die bis zum erſten Stock hinaufführte und ein Geländer hatte mit Verzierungen aus Schmiedeeiſen.

Meine beiden Begleiter tauchten endlich wieder auf. Aurélie tanzte mit Souſou um die Wette die Dorfgaſſe herauf und machte mich auf einen Al kürzungsweg auf- merkſam, auf dem wir Moralavena denn auch ſchließ— lich erreichten. Freilich mußten wir noch eine Weile weiterſteigen. Etwas höher als die anderen Hotels und Penſionen, ziemlich weit von ihnen entfernt und abſeits von der Fahrſtraße ſtand ein auf kecken Klippen vorſpringendes Chalet, nur nach Norden zu durch einen bewaldeten Abhang geſchützt. Das war alſo meine heimiſche Stätte für die nächſten Wochen! Ein ſchmaler Pfad, der uns hinaufführte, diente zugleich als Zu— gangsweg für ein Einfamilienhaus, das, im Schweizer- hausſtil gebaut, dem reinen Naturbild, das ich Don hatte, keinen Abbruch tat.

Hurra! Weder Dorfgaſſen noch Geſchäftsſtraßen, noch Hotelküchen, noch Läſterpromenaden in der Nähe ſo viel ließ ſich ſelbſt an ee regneriſchen Abend noch feſtſtellen. |

Am folgenden Tage lernte ich einſehen, daß ich es in den Augen der Menfchbeit ſelbſt als regelrechter Penſionär von akademiſcher Bildung mit einem zah— lungsunfähigen, raſſeloſen, undreſſierten Hundevieh an Bedeutung keineswegs aufnehmen konnte.

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Nachdem nämlich die zum Einfamilienhaus ge- hörigen Hühner morgens eine beträchtliche Weile ge- kräht und gegackert hatten, hörte man auch in unſerem Chalet den erſten Laut: Aurélie und Souſou gingen miteinander eine knarrende Holztreppe hinunter, die Haustür wurde aufgeſchloſſen, und der Hund kläffte den Nachbarhühnern ſein „Guten Morgen“ entgegen. Aurélie hatte alſo als erſtes mit Souſou einen Morgen- ſpaziergang zu machen, der je nachdem, mit welcher feiner vier Pfoten er zuerſt aus feinem Korbbett ge- ſprungen war, kürzer oder länger ausgedehnt wurde.

Dann pflegte Madame Guin ihr Frühſtück einzu- nehmen, wobei Souſou viele Butterlöckchen mit wenig Brot fraß, während ſeine Herrin ſich an ihrem Tee genügen ließ. Darauf wurde mir das Frühſtück auf meinen kleinen Balkon geſchickt, und falls der Hund ausnahmsweiſe verſäumt hatte, ſich mit meinem Kaffee- brett zugleich ins Zimmer zu ſchieben, kratzte er ſo lange an meiner Tür und an meiner Geduld, bis ich mich fügte. Gute Beiſpiele verderben eben böſe Abſichten ich teilte chriſtlich mit Souſou.

Schon nach wenigen Tagen wurde mir das aner— kennenswerte Vertrauen geſchenkt, den lieben Schatz auf meinen Spaziergang mitnehmen zu dürfen. Ich merkte dabei bald, daß er ſein Hör- und Sehorgan je nach Belieben an- und abſtellen konnte. Pfiff ein harm- loſer Dompfaff auf einem ſchwankenden Zweig nirgends ſah ich ſo viele verſchiedene Vögel wie in Moralavena —, fo raſte der Vierfüßler ſchon aus weiter Ferne auf dieſe Stätte unſchuldigen Behagens zu. Rief oder winkte aber ich ſelbſt ihm, ſo verſagten Auge und Ohr. Ging ich am Waldbach entlang, ſo ſprang er kühn hinüber und trollte ſich jenſeits außer Sehweite. Kamen wir auf ein Wieſengelände, ſo machte er durch

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ſein freches Hinſtarren und ſeinen überaus neugierig vorgeſtreckten Oberkörper die jungen Kälber wild. War irgendwo eine Bodenerhöhung, die ich vermeiden wollte, ſo lief er darauf zu, hob die linke Vorderpfote mit ſchlaffem Gelenk affektiert in die Luft, ſteifte die Hinter- beine ſo hoch wie möglich, drehte ſein Köpfchen nach rechts, nach links und blinzelte die neue Ausſicht an wie eine kurzſichtige Dame, ehe ſie zum Lorgnon greift. Am liebſten aber veranlaßte er mich, ihm folgend gerade den Wieſenfleck aufzuſuchen, wo der böſe Stier weidete, der dann bei unſerem Anblick dunkel grollende Laute des Mißfallens aus den Tiefen feines rieſigen Bruft- kaſtens hervorholte.

Doch durfte ich mich über den Unabhängigteits- trieb eines unvernünftigen Tieres beklagen? Hatte ich mir nicht für mich ſelbſt Tage gewünſcht, an denen ich herumlaufen, geſellig oder einſam ſein könnte je nach dem Augenblicksinſtinkt? War ich um ein Haarbreit beſſer als die kleine Beſtie?

WVrteer verſteht, verzeiht auch mühelos, denn beides iſt im Grunde dasſelbe.

Ich vergaß ihm ſchnell alle feine Angezogenheiten, wenn er ſich nur wieder zu mir fand, ſobald ich in die Nähe des Chalets zurückkam. Denn Madame Guin ſah ſchon von der Veranda aus uns ängſtlich entgegen; ſie fürchtete beſtändig, daß böſe Leute den ſüßen Lieb- ling an den Ohren zerren, mit Füßen treten oder mit Steinen werfen könnten. Nur wo waren dieſe Leute? Ich konnte ſtundenlang ſpazieren gehen, ohne irgend einer menſchlichen Geſtalt zu begegnen.

Vorſaiſon!

Der glücklich zurückgekehrte Souſou wurde zum Lohn für bewieſene Tugend von feiner Herrin eine Viertel- ſtunde lang geherzt, geküßt, gedrückt. Er erwiderte es

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während der erſten drei Minuten mit entſprechender Herzlichkeit.

In der Veranda ſtand an der Fenſterwand eine altmodiſche Polſterchaiſelongue, deren ſteile Kopflehne über alle übrigen Möbel des Raumes emporragte. Da oben war Souſous Ausſichtsturm. Es lohnte ſich: vom Simplon bis zum Matterhorn, vom Weißhorn bis zum Montblanc dehnten ſich beſchneite Gipfel. Darunter reihte ſich dunkel Wald an Wald. Auf lichten Wieſen- flecken ſtanden Sennhütten verſtreut und blickten auf die Dörfer nieder, von denen fie emporgeſtiegen zu ſein ſchienen. Ganz unten aber floß lächelnd die Rhone an ihren lieben, alten Talſtädten vorüber.

O Souſou, Souſou, wie ſpiegelt ſich das nur alles in deinem kleinen Hundehirn wider? Ich fürchte, ich fürchte, du ſchwärmſt da etwas daneben, und ein mir wohlbekanntes Delikateſſengeſchäft auf der Leipziger Straße in Berlin ſchiene dir ein ſehenswerteres Pan- orama. |

Dem fei, wie ihm wolle; jedenfalls konnte er ftunden- lang da oben in Betrachtung verſunken bleiben, obgleich er, da feine Plattform nur ſchmal war, ganz ſchief da- ſtehen mußte. Er half ſich und ſtützte, um Gleichgewicht zu halten, ſeine kleine ſchwarze Schnauze gegen die Fenſterſcheibe, wodurch Glasmalereien entſtanden, die wir ſehr bewunderten.

Auf dieſer Chaiſelongue ſaß Madame Guin bei den Mahlzeiten. Es lagen ſchöne Oaunenkiſſen darauf, zwei roſafarbene und eins von dunkelblauem Samt. Die Herrin des Hauſes benützte ſie nur dann für ſich, wenn Souſou ſich nicht hatte hineinbetten laſſen, „in ſein kleines Roſenbettchen“, wie ſie es nannte. Er war dann nicht eher zufrieden, bis er vollſtändig unter den weichen Federn verſchwunden war, die ſich nun

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hoben und ſenkten wie Meereswogen, ohne daß man die Urſache mit den Augen hätte wahrnehmen können. Schaute man einmal nach, wie es darunter ausſah, ſo fand man ein dickes, gelbes Knäuel; unfehlbar ruhte die ſchwarze Schnauze auf dem Schwanzende, das wie ein Bleiſtift zugeſpitzt war; die vier Beine aber waren feſt an das runde, kräftig atmende Bäuchlein gepreßt, aus dem hin und wieder gedehntere Seufzer des Wohl- behagens aufſtiegen.

Das Mittageſſen wurde durch Souſous Dabeifein weſentlich verlängert und unterhaltender. Kam die Suppe, fo hielt ihn weder Ausſichtsturm noch Rofen- bett; er ſtand mit den Hinterbeinen auf der Chaife- longue, ſtemmte die Vorderpfoten gegen die Tiſchkante und riß ſich faſt die Zunge aus dem Halſe, um an der Terrine lecken zu können. Er wurde dann zwar zärtlich gebeten, zu warten, doch hatte ſeine Herrin ein Gefühl für die ſchwere Kränkung, die darin lag, und empfand es mit, wenn er ſich enttäuſcht abwandte.

„Du liebſt deine Herrin nicht mehr? Oh, mein Bijoujou, mein Bijoujou; mein Joujoubi o du mein Cocolet, mein Cocolon!“

Dieſe Troſtworte allein hätten nichts genützt. Ein ausgedehntes, ſehr gütiges Streicheln mußte helfen, das auf Souſou in ſeinen guten Minuten eine ſuggeſtiv beruhigende Wirkung hatte. Ihm wurden dann von den feinen, leichten Händen ſeiner Herrin die langen, ſchmalen, ſchlappen Ohren zurückgeſtrichen, und all- mählich verwandelte ſich feine Straßenjungenphyſio- gnomie in die eines kleinen, ſehr fanften, ſehr glatt- gekämmten, blonden Schulmädchens mit feſt zurück- geflochtenen Hängezöpfchen.

Und die Suppe? Niemand hätte mehr daran ge- dacht, wenn ich nicht endlich, wie aus der Hypnoſe

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erwacht, meine Blicke vom Hunde weg und auf die Terrine geheftet hätte. In den erſten Tagen bewirkte ein Räuſpern meinerſeits, daß mir der Teller mit kält- licher Suppe gefüllt wurde. Aber als Hund und Haus- frau ſich ſchon zu ſehr an die neue Penſionärin gewöhnt hatten, um ſich noch durch ſie ſtören zu laſſen, hatte ſich die neue Penſionärin auch an Hausfrau und Hund gewöhnt, ergriff die Suppenkelle und bediente ſich ſelbſt, beſcheiden oder reichlich, je nach Güte des In- halts. Manchmal nämlich waren dieſe Suppen gut und appetitlich; oft aber beſtanden ſie auch aus einer Waſſerbrühe, die nur durch darin ſchwimmenden Lattich, das treue Aſchenbrödel unter den Küchenkräutern der Gegend, dunkel gefärbt war. An ſolchen Tagen war auch ich äußerſt zärtlich gegen Souſou, bis der nächſte Gang kam.

Bei dieſem war ich nun allerdings fein heraus in dieſer Vorſaiſon. Denn es gab Lenzburger Konſerven, bald ein Büchschen Sardinen, bald ein Büchschen Gänſeleberpaſtete, bald ein Büchschen Pilze. Souſou verſchmähte das, und Madame Guin tröftete den armen Souſou, der nun immer noch warten mußte. „Mein Bijoujou, mein Zoujoubi, warte nur noch ein biß— chen!“ So war das Büchschen denn hauptſächlich für mich und ich ſah es ſo lange täglich wieder, bis ſein Inneres in meinem Inneren verſchwunden war.

Aber meine Rolle war ausgeſpielt, ſowie nun die Fleiſchſchüſſel in Souſous Geruchsfeld trat. Er ſprang der luſtig aufquietſchenden Aurélie faſt auf die Schüſſel, auf der auch die Soße prangte. Und während Madame Guin das größte Stück nahm ganz gewiß nicht für ſich und es in feine Streifen ſchnitt, ſprang er in unbezähmbarer Vorfreude um ſie herum, legte ihr die Vorderpfoten auf die Schulter, leckte ſie am Haar, am

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Hals, am Kinn, an den Händen, bis fie ihm die Biſſen in die gierige Schnauze ſteckte. „Hppp!“ flog die kleine Klappe ſchließlich wieder zu, und ein merkwürdiges Vorwärtsſchieben der niedlichen Gurgel ſchien neue Erwartung auszudrücken.

Inzwiſchen hatte auch ich mein Fleiſch geſchnitten, und bald ach ſehr bald hatte ich mich daran gewöhnt, auch meine Biſſen als für Souſou beſtimmt anzuſehen. Denn ich liebte an Madame Guin ihren Heiligenſchein von weißen Haaren, ihre Freude an zierlichen Blumen, ihren verhaltenen Humor aber das Fleiſch, das ſie auftiſchte, ſehr viel weniger. Wenn ich an der Küchen- tür vorüberging, die in Rüdficht auf Souſous Bequem lichkeit meiſtens offen ſtand, und mir der Küchengeruch in die Naſe ſtieg, dann ſah meine ſchlecht diſziplinierte Phantaſie unfehlbar ein an der ſchmutzigen Mauer einer Dorfgaſſe aufgehängtes Kätzchen, auf das ein fchartiges Küchenmeſſer losfuhr oder ich zählte die Rippen an einem alten, lahmenden Pferde, das mit tiefgeſenktem Haupte zögernd der Schlachtbank entgegenhinkte.

Aber ich konnte es nicht übers Herz bringen, der Hausfrau, die ſeit langem Vegetarierin war, von den Aſtralleibern der Katzen und Pferde, die mir auf ihrer Treppe begegneten, zu berichten. Fünfzehnhundert Meter hoch und ich der einzige Penſionsgaſt! Und ihr Mann hatte ſich früh aus dem Leben empfehlen müſſen, ohne ihr einen Pfennig hinterlaſſen zu haben. Gerade ich hatte wohl hundertfach das Schickſal einſam arbeiten der alternder Frauen vor Augen gehabt, den ewigen Kampf einerſeits gegen die Grenzen ihrer Kraft, ander- ſeits aber auch gegen das blutleere und doch blut⸗ ſaugende Phantom der Mißachtung der Kräfte, die ſie hatten

Nein, Souſou ſollte unverkürzt bleiben. Er ſollte

20 Von Karen Fugerbdt. 103 nicht mit leiden unter den Eigentümlichkeiten der Vor- ſaiſon.

Infolgedeſſen freundete er ſich mit mir an, und eine leiſe, ganz verſtohlene Eiferſucht ſchlich ſich in das liebebedürftige Herz der alten Dame.

Aber ſie hatte ein geniales Mittel, ſich der Rivalität zu erwehren. Einmal, auch beim Mittageſſen, hielt ſie Souſous Vorderpfoten feſt und ſchlug mir vor: „Blaſen Sie doch einmal recht ſtark!“ Ich, nichts Böſes ahnend, beugte mich über ihn und blies kräftig in fein ſteif⸗ borſtiges Fell hinein. Noch heute fühle ich den Schrecken. Er fuhr herum, auf mich los mit gefletſchten Zähnen, mit wutverzerrten Zügen, ziſchend und kläffend, und hätte mir fraglos die Naſe weggeſchnappt, wenn Ma- dame Guin ihn nicht feſtgehalten hätte.

Acht Tage dauerte es, bis er mir wieder anders als knurrend begegnete. Sein volles Vertrauen habe ich wohl nie wiedergewonnen.

Vom Nachtiſch bekam er den Käſe. Die eingemach- ten Früchte überließ er dafür neidlos uns.

Nach dem Eſſen bewies die Chaiſelongue, daß ſie auch in ihrem eigentlichen Fache tüchtig war. Sie lud Hund und Herrin zu einer Sieſta ein und verſtand beide lange zu feſſeln. Ich riet Madame Guin ernſtlich, Souſou dabei auf ihre Knie zu legen, die ſtark rheuma- tiſch waren. Gleichmäßige animaliſche Wärme ſei ſehr ſchmerzlindernd bei ſolchen Leiden. Aber er wollte nicht. Er lag lieber am Kopfende. So wandte ich mich denn achſelzuckend der Treppe zu.

Nachmittags und abends wiederholten ſich Spazier- gang und Mahlzeit mit Souſou als Sorgenkind, Haupt- perſon und Harlekin. Nur war er beim Abendeſſen ſchon ſo müde, daß man anmöglich von ihm verlangen konnte, ſich von den Kiſſen zu erheben, um ſeine Biſſen

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in Empfang zu nehmen. Lieber ſtanden wir abwechſelnd auf und erſparten ihm das doch gar zu anſtrengende Reden des Kopfes. Manchmal beſann ich mich aller- dings auf meine alten Überzeugungen und warf einen guten Happen auf den Boden, um Souſou zur Selbit- tätigkeit zu erziehen. Was half es? Er warf mir einen verächtlichen, ſeiner Herrin einen abwartenden Paſchablick zu, und ſiehe da, der Berg kam zu Mo- hammed. Ein Niederſchlucken, ein Seufzer des Geftört- ſeins, und das müde Baby ſchlief wieder ein, bis es in ſein Bett getragen wurde, das im Schlafzimmer ſeiner Herrin ſeinen Platz hatte.

Nicht immer war ſein Tageslauf damit beendet. Irgendwelche ungewohnten Geräuſche nachts, und er ſprang in jähem Schreck mit einem Satze auf das Bett ſeiner Herrin, die ihm den erwarteten Schutz natürlich nicht verſagte.

Aber mit einem ebenſo überraſchenden Satze wurde unſer Baby eines Tages zum Manne. |

Es war ein trüber Morgen. Die Nebel, die zuerſt tief unter uns gewogt hatten, weiß wie Brandungs- wellen, waren aufwärts gezogen. Wie große Ballen Watte hingen ſie an den jenſeits des Tales liegenden Bergen. Aber dann drehte ſich der Wind und trieb ſie auf uns zu. Trat die Sonne auf einen Augenblick hervor, ſo ſtieg von Wieſe und Straße ein brodelnder, weißer Dampf auf, als ſei die ganze Welt eine Schale voll ſiedenden Waſſers. Schoben ſich Wolken vor das Licht, ſo ſpannte ſich ein eintönig grauer Schleier aus, durch den man nur das Nächſtſtehende erkennen konnte.

So verſchwand auch Souſou, wieder mein Begleiter auf dem Spaziergange, vor mir im Dunſt.

Aber die Höhen von Moralavena ſind ſo reich, daß

¹ Von Karen Fugerdt. 105

ſie auch an ſolchen Tagen noch Wundergaben haben für den Suchenden.

Ein Schritt nur auf die Wieſe, und man fühlt ſich heimiſch in einer großen, höchſt anziehenden Gefell- ſchaft. In ganzen Scharen grüßen alte, liebe Bekannte, vom Klima merkwürdig verſchönt. Die Margueriten halten ſich gerader und ſind breiter geworden. Die Schafgarbe hat roſenrote Wangen bekommen. Den Glockenblumen ſteht ein reicher Zuwachs der ſeidigſten Härchen allerliebſt. Aber neben den bekannten Ge— ſichtern begegnet man zahlreichen neuen, und alle üben ſie gleich auf den erſten Blick einen ſolchen Zauber aus, daß man den lieben alten Freunden ſchwer die Treue halten kann.

Große hellgoldene Glocken, außen metalliſch, innen wie Seide glänzend, ſo hängen die Schwefelanemonen an ihren ſamtweich bepelzten Stielen. Eine Sonnen- ſtunde, und aus der Glocke wird eine zartgeäderte, licht- durchglühte Schale mit hundert dunkelgoldenen Tröpf- lein gefüllt. Und daneben liegen dunkelleuchtende Kelche im grünen Grafe, Enziane, von fo tiefem, wun- derſamem Blau, daß, wenn ein Menſchenkind ſolche Augen hätte, man ihm folgen müßte ſein Leben lang. Selbſt dem Zauberbann der Blume kann man ſich nur ſchwer entziehen. Aber es kommen ſchlanke, weiß- gekleidete Geſtalten in rhythmiſchem Abſtand daher wie zarte Mägdlein, die weißverſchleiert und feierlich zur erſten Kommunion ſchreiten.

O ihr Berglilien von Moralavena! Wer euch lange ins Angeſicht ſchaute, muß er nicht glauben an einen Zweck der Welt Veredlung?

Zögernd nahm ich Abſchied von all dem Märchen- ſchimmer, der aus himmliſchen Farbenkrügen malender Engelein heruntergetropft zu ſein ſchien. Sinnend ging

106 Souſous erſte Liebe. tu ich dahin, bald in den Nebel, bald in tanzende Sonnen- ſtrahlen hinein. Doch der Nebel ſiegte ſo ſehr, daß unſer Chalet erſt aus dem Dunſt hervortrat, als ich . ſchon ganz nahe war.

Seine Fenſter aber ſahen mich an wie gnadenlose Augen eines Großinquiſitors: „Wo iſt Souſou?“

Ach, die robuſte Wirklichkeit, dieſes Mal in Geſtalt des kleinen Hundeviehs, wieder hatte ich ſie zu lange vergeſſen! Ich ſchämte mich. Für das Unkraut Souſou befürchtete ich zwar nichts; doch ich wußte, daß ich meiner Wirtin ernſtliche Angſt ins Haus brachte. Ihre Frage, wo ich ihn zuletzt geſehen, war ſchwer zu be- antworten. „Irgendwo bei den Blumen,“ und die meilenlangen Wieſen von Moralavena haben mehr Blumen, als hundert Jahre Sekunden haben.

Über unſerem Mittageſſen hing Nebelſtimmung. Madame Guin rührte die Speiſen nicht an; ihre Züge waren wirklich kummervoll, ſie kämpfte mit den Tränen in Erinnerung an einen früheren Hund, der verloren und nicht wiedergekommen war. Aurelies ſonſt fo fröhliches Geſicht war das Mitleid ſelbſt, und immer hielt eines von uns dreien Wache an der Haustür und bohrte ſeine Augen in die zu uns hinkriechenden Wolken hinein. Als die Fleiſchſchüſſel kam, ließ man mich allein am Tiſch. Nie war mir die Leerheit des recht geräumi- gen Chalet Adorable ſo zum Bewußtſein gekommen. Vorſaiſon! Faſt eine Erlöſung war es für mich, daß ein praſſelnder Regen einſetzte.

Gleich nach dem Eſſen wollten wir alle drei ſuchen nach verſchiedenen Richtungen hin. Die Gummiſchuhe, die Regenmäntel wurden angezogen, eine waſſerdichte Kapuze übergeſtülpt. Nach dieſen ausgiebigen Vor- bereitungen ſchloſſen wir bedrückt die Haustür hinter uns zu.

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Da kroch der vermißte Souſou hinter dem Ein- familienhaus hervor.

Kein Mathematiker könnte aus freier Hand einen reineren Bogen zeichnen, als der Hund jetzt aus freien Pfoten beſchrieb, um ſich, ohne in unſeren Bereich zu kommen, dem inzwiſchen wieder geöffneten Hauſe zu nähern. Seine Haltung war ein ſchlagender Beweis dafür, daß gewiſſe Vorſtellungen von Urſache und Wir- kung von ſelbſt gegeben ſind. Wie er, ſich duckend unter unſichtbaren Hieben, dahinſchlich und den ſchwachen Reſt ſeiner Energie in einen trotzig ſein ſollenden Blick legte, der ſeiner Herrin galt und etwa heißen ſollte: „Du wirſt doch nicht?“, war er die verkörperte Ge- wiſſensangſt, weil er auf dem Gebiete des Geſtraft- werdens gav keine Vorkenntniſſe hatte.

Vo war er nur geweſen? Was hatte er begangen? Wie würde es ihm jetzt ergehen?

Nun, er lernte, daß wahre Liebe auch Raufalitäts- geſetze zu durchbrechen weiß, und erfuhr an ſich ſelbſt die Geſchichte vom verlorenen Sohn.

Wir beſahen ihn näher. Jedes Haar an ihm tropfte. Mit dem Unterleib ſchien er in einem Sumpfe geſteckt zu haben. Hatte ihn ein böſer Menſch in feines Her- zens Roheit in einen Graben geworfen? Madame Guin glaubte es beſtimmt.

Sofort war ein großes Frottiertuch zur Stelle, und ſechs geſchäftige Hände rieben den naſſen Schelm, als ob Metall geputzt würde. Als er dann trocken daſtand und ſich zurechtſchüttelte, fand ich einen erziehlichen. Eingriff angemeſſen.

Ich wartete vergeblich.

Ich bat meine Wirtin, ihn wenigſtens jetzt nicht zu umarmen. Sie ſah verlegen drein. Da ging ich im Bewußtſein meiner Ohnmacht ſtirnrunzelnd die

108 Souſous erſte Liebe. 2 m —•—— —— ie Treppe hinauf, und hinter mir hörte ich, diesmal ge- dämpft, das Leitmotiv unſeres häuslichen Konzerts: „Mein Bijoujou, mein Foujoubi! ... O mein Cocolet, mein Cocolon!“

Aber auch die böſen Taten eines ſolchen Kleinods ſind dem Fluche unterworfen, für den Schiller jene unvergeßlichen Worte geprägt hat.

Anſcheinend hatte der Morgen den Hund zu einem außergewöhnlichen Kräfteverbrauch veranlaßt. Er mußte ausgeglichen werden. Das ihm, wenn auch verſpätet, reichlich kredenzte Mittageſſen war im Um- ſehen verſchwunden. Aber nicht genug. Als ſeine Herrin, erſchöpft von der überſtandenen Erregung, ihr verlorenes und wiedergefundenes Kleinod neben ſich, ein wenig eingeſchlummert war, ſchlich er ganz leiſe von dannen. Plötzlich erweckten wildes Hühnergeſchrei und Wehelaute aus Menſchenbruſt die arme Madame Guin aus dem Schlafe. Erſchreckt eilte fie vor die Tür, blickte zum Nachbarhaus hinüber und ſah zwi— ſchen den Bäumen des Waldes ein in Todesangſt flatterndes Huhn, dahinter den alle viere ſchleudern⸗ den Souſou, verſchwinden. Ach, es war ſchon ſein zweites Opfer!

Dieſes Erlebnis, wie übrigens auch jede andere Abwechſlung in dieſer Einſamkeit, wurde von der portugieſiſchen Familie, die das Nachbarhaus inne hatte, mit einer gänzlich unbezähmten Lebhaftigkeit erfaßt. Die Köchin, das Zimmermädchen, die eins, zwei, drei, vier, fünf, ſechs, ſieben Kinder, Papa und Mama überſchrieen einander, als gälte es, einen Tauben auf eine ihm drohende Lebensgefahr aufmerkſam zu machen.

Die arme Madame Guin ſtand unter den lärmen- den Anklägern wie ein Lamm, das unter ein Nudel

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Wölfe geraten iſt. Eine Geldausgabe war ſeit Jahren für ſie etwa dasſelbe, was ein blinkender Raubtierzahn für ein zitterndes Schäflein ſein mag. Und dazu der Schmerz, am Liebling Souſou plötzlich fo eine un- berechenbare Wildheit durchbrechen zu ſehen!

Heftiges Zahnweh war für ſeine arme Herrin die Folge dieſes aufregenden Mittags. Es mahnte daran, daß die ſeit langem geplanten Beſorgungen in Genf, verbunden mit einem Beſuche beim Zahnarzt, jetzt nicht weiter aufgeſchoben werden durften.

Dazu waren einige Vorbereitungen nötig, die bei der kleinen Frau eine ſolche Geſchäftigkeit veranlaßten, daß ſie über neue Schrecken, die der nächſte Tag brachte, etwas leichter hinwegkam.

Vor ihren Augen nämlich ſprang Souſou aus dem offenſtehenden Fenſter ein bisher nie gewagtes und deshalb höchſt überraſchendes Unternehmen. Jedem Zurückrufen aber blieb er unzugänglich. Als wir in aller Haſt aus dem Hauſe liefen, ſah man auf dem grünen Wieſenabhang noch einen Augenblick lang ſein gelbes Hörnchen ſauſend abwärts gleiten, dann war die Erde, wenigſtens für Madame Guin, wüſt und leer, und finſter war es in der Tiefe.

Nach fünf bis ſechs Stunden machte ſich an der Haustür ein mattes Scharren vernehmbar, und keu— chend, mit Augen wie ein Fremder und lang heraus- hängender Zunge, ſchlich ſich das Tier zwiſchen die vier Beine eines in der hinterſten Ecke ſtehenden Stuhles. Die Verachtung, mit der er geſtraft wurde, ſuchte er zu erwidern, und er legte ſich, als ob alles in Ordnung ſei, zum Schlafe zurecht. Aber ſein ſonſt ſo friedliches Schlummern ſchien an dieſem Abend eine Kette von aufregenden Träumen. Er knurrte auf, er jammerte leiſe, er ſtöhnte, ja er bellte wiederholt, ohne die Augen zu

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öffnen, und nur in kurzen Zwiſchenräumen kam wirk- liche Ruhe über ihn. Schließlich entrang ſich ein un- glaublich menſchlicher Seufzer ſeiner Bruſt; er erhob ſich, ſprang über ſein geliebtes Roſenneſt weg wie über eine Kröte und ſtellte ſich auf die Lauer auf ſeinem Belvedere, von dem er ſich trotz Abendeſſen, trotz ſüßen Worten, rührenden Blicken und traulichen Armen nicht trennte, bis aus der Dämmerung draußen ſchwarze Nacht ge- worden war.

Am nächſten Morgen verabſchiedete ſich die Sat e nicht ohne ihrer Sorge, Souſou unter unſerer Aufſicht laſſen zu müſſen, Ausdruck zu geben. Wir verſprachen aber unſer Beſtes. Sie mußte über Nacht wegbleiben, und bei Aurelies großer Jugend fühlte ich als Trägerin der Verantwortung das ganze Chalet Adorable mit ſeinen vielen ſtarren und wenigen lebendigen Mobilien auf meine Schultern gelegt.

Ein großer Teil des Vormittags ging damit hin, den Hund, der ſich trotz aller unſerer Vorſicht mit dem Briefträger durch die Tür geſchlichen hatte, wieder ins Haus zu locken. Er benahm ſich merkwürdig ungeſchickt, wie in einer plötzlichen Gedankenloſigkeit befangen. Zwiſchen zwei Mauern eingekeilt, hatte er bald nur noch die Wahl, ſich entweder in meine oder in Aurelies Arme zu retten. Er wählte natürlich die Jugend, was ich ihm nicht verdenke. Wie lachte es ihm aber auch entgegen, dies friſche Roſengeſicht mit den vor Luſt tanzenden Blicken! Und wie ſie weich und zärtlich ihre Herrin nachahmen konnte, die Schelmin, als ſie dem Eingefangenen Troſt zuſprach. „Mein Bijoujou, mein Joujoubi!“ |

ich aber ließ ihn bald mein Alter fühlen, indem ich, als wir wieder im Hauſe waren, alle Türen hinter

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ihm zuſchloß. Da er nun unſern Tageslauf nicht mehr beleben konnte, fehlte in den Nachmittagsſtunden jedes auch noch ſo kleine Ereignis. Für einen größeren Spaziergang war das Wetter zu unſicher. Ein Klavier war vorhanden, aber keine Noten. So konnten wir nur eine kurze Weile miteinander reden. Dann ſchlen- derte ich hierhin, dorthin und legte mich ſchließlich auf einen bequemen Stuhl, der auf der Terraſſe vor dem Hauſe ſtand. Wie tot alles war! Kein Käfer, kein Vogel, nichts Lebendiges ringsum. Alles Starre aber ſchien drückend nahe gerückt, und alles, ſogar der Schnee auf den Gipfeln, hatte einen grauen, faſt drohenden Ton. Sonſt liebte ich die Stille. Warum bedrückte ſie mich an dieſem Tage? Warum laſtete es in mir wie Blei? Warum konnte ich es nicht laſſen, auf das Klopfen meines Herzens, auf mein eigenes Atmen zu achten? Warum brannten mir Hände und Augen? Warum ſchien mir die Leere um mich her wie etwas Seiendes, mich Umkreiſendes und nimmer Greifbares? Bei anbrechender Nacht ſollte ich es erfahren. Es dunkelte früher als ſonſt, und als ich in mein Zimmer hinaufgegangen war, brach ein fo leidenſchaft- lich raſendes Wetter los, wie ich es bisher nur einmal, zwiſchen den Wellen und Dünen von Sylt, erlebt hatte. Der nahe Wald, von deſſen beruhigend auf und nieder gleitendem Geſange ich mich ſonſt fo gern be- ſänftigen ließ, wenn es in mir unruhig war, heulte auf unter der Wucht des Föhns, als müſſe er Tote erſchrecken. Ein Bach, deſſen einförmige Melodie ſonſt nur gedämpft zu uns drang, rief mit disharmoniſcher Doppelſtimme, heiſer ziſchend und dumpf grollend zu- gleich, in das Dunkel hinein wie in wildeſter und doch ohnmächtiger Empörung. Unſer totes, leeres Haus aber ſchien plötzlich der Tummelplatz irrſinniger Geifter-

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geworden. Türen, Fenſter ſchlugen krachend zu. Die Gardinen bauſchten ſich auf und wurden zu bizarren Geſtalten, geſpenſtiſches Pfeifen drang vom Treppen- haus empor, und an dem Holzdach, an den Läden rüttelten hundert unſichtbare Fäuſte in unberechen- barem Grimm. Kreiſchend ſchrieen die Eiſenſtangen der Markiſen auf wie unter unerträglichen Martern, und ein drehbarer Schornſteinaufſatz polterte und lärmte über dem allem in atemloſer Haſt, als wolle er entrinnen, ehe alles zugrunde ginge.

Ich trat vom Fenſter zurück, denn all dieſes ſinn⸗ verwirrende Toben war nur noch dem Ohre vernehm- bar. Das Auge ſchien von der auf Vernichtung los- wütenden Nacht mit Blindheit geſchlagen.

Da riß ich mich faſt gewaltſam los vom Miterleben grauenvoller Urkraft der Natur. Vor das geſchloſſene Fenſter zog ich den Vorhang und verriegelte, woran ich ſonſt nie dachte, meine Tür. Das Brauſen und Heulen, das Krachen, Sauſen und Rollen dauerte fort. Aber beim Scheine der elektriſchen Lampe hatte ich nun das Gefühl, als habe ich mich ausgeſchloſſen vom Leben des Alls. Freilich, leſen oder ſchreiben ſchien unmöglich. Auch hatte ich mich längſt daran gewöhnt, wie ein Bauer zu Bette zu gehen, wenn der Tag zu Ende war. Zch legte mich alſo nieder und verſuchte mit aller Energie, das Ummichher zu vergeſſen und ſchlafend das Ende des unheimlichen Kampfes abzu- warten.

Faſt wollte es gelingen.

Von eiskaltem Schreck gepackt fuhr ich da vom

Kiſſen auf. | Was war das? Dieſes gellende, alles durchdringende Schreien? So konnte es nicht Sturm, nicht Bach, nicht Wald; das konnte nur aus der Kehle eines Menſchen

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kommen, dem ein unfaßbares Grauen die Sinne ge- raubt hatte.

ich riß die Gardine zurück, das Fenſter auf. Kalter Regen peitſchte mir ins Geſicht, und draußen lärmte das Geheul der Natur; die todesbange Menſchenſtimme aber war erſtorben.

Da hörte ich Schritte von mehreren herbeihaſtenden Perſonen; und ich hörte, wie fie alle auf das Nachbar- haus zueilten und vor der Schwelle ſtockten. Die Er- regung ſchärfte mir die Augen. Umriſſe von Geſtalten, jetzt ſtill und bewegungslos geworden, waren vor dem Hauſe wahrnehmbar. Die Tür ſtand offen, und ein paar Kinder, die wohl in raſender Angſt hinausgelaufen waren in die Nacht, wurden lautlos wieder die Stufen hinaufgeführt. Eine Weile blieb vor dem Eingang noch ein ſtarrer, dunkler Schatten; dann bewegte er ſich, löſte ſich auf, und nach verſchiedenen Seiten gingen Menſchen auseinander, bald hier, bald dort ſtehen bleibend wie ſchwarze Klumpen. Dann verſchlang ſie das Dunkel.

Woher waren fie nur gekommen in dieſer Einfam- keit? Alle Kuhſtälle der näheren Umgebung ſchienen ihre Hirten ausgeſpieen zu haben. Der Wind pfiff langgezogene Warnungsſignale hinter ihnen her.

Ich überlegte. Diebe, Mörder in den Bergen? Ich hatte das nie erlebt.

Aber doch! Die Portugieſin war ja einmal, auch in der Vorſaiſon, mit ihren älteſten Kindern in den Wald gegangen, um ein Picknick zu veranſtalten. Gerade hatte ſie aus der mitgebrachten Thermosflaſche einen guten Schluck nehmen wollen, da hatte ihr ein Strolch von hinten den geliebten Thermos entriſſen und gedroht: „Entweder Ihr Geld oder ich ſchlage Ihnen mit der Flaſche den Schädel ein!“ Sie hatte ſich losgekauft mit drei Franken und der ſchönen Flaſche.

1918. X.

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Aber jetzt lag die Sache ſo: war dort drüben bei den Portugieſen jemand in Gefahr geweſen, ſo war entweder Rettung zur Stelle oder es war nichts mehr zu helfen. Sonſt wären die Menſchen, die ſo ſchnell herbeigeeilt waren, nicht langſam, augenſcheinlich be- ruhigt davongegangen. Sonſt müßte in dem Unglüds- hauſe Licht brennen, auch in den Räumen der uns zugekehrten Seite. Aber es ſtand da, farblos und ſtumm, und verriet keines feiner Geheimniſſe. Durfte ich, ein unbekannter Gajt, feine Schwelle mitten in der Nacht betreten, um Kenntnis deſſen zu erzwingen, was es verbarg?

Schon hatte ich Strümpfe und Schuhe an den Füßen, da kamen mir Bedenken. Ich hatte durch Zufall Geſchwätz übernimmt ſo oft die Aufträge des Zufalls gehört von Zwiſtigkeiten zwiſchen Mann und Frau dort drüben ja, dort drüben, in dem waldumrahmten Hauſe mit der ſchönen Ausſicht, auf das vom Morgen bis zum Abend die Sonne ſchien! Mein Gehirn arbeitete erregt, Zerrbilder von Mannes- zorn und Frauenangſt ſtanden mir vor Augen. Var es an mir, die Unglücklichen zu beſchämen, nachdem vielleicht auf Augenblicke maßloſer Leidenſchaft die Qual der Selbſtbeſinnung gefolgt war?

Ich horchte wieder hinaus. Die Nacht war auch jetzt noch wüſt und lärmend, aber Menſchen hatten keinen Anteil mehr daran.

Da legte ich mich wieder hin. Aus Vorſtellungen möglichen Unbeils wurden bald Träume von jähem, unklarem Mißgeſchick und Kataſtrophen, die keinen An- fang und kein Ende hatten.

Als ich mitten in der Nacht erwachte, ſchien mir eine Ewigkeit verſtrichen. Was für ein Toben um mich herum! Es war immer noch der Sturm, und ein rau-

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ſchender Regen. ſtürzte mit aller Kraft auf unſer Zink- dach nieder. Ich beſann mich auf den ſchreckvollen Beginn der Nacht; aber meine Gedanken darüber waren jetzt andere als vorher.

Ja, war es denn ſo ſicher, daß das Menſchengeſchrei wirklich aus dem Nachbarhauſe gekommen war? Waren die Schatten, die Schritte nicht eine Täuſchung geweſen, veranlaßt durch Aufregung der Sinne, Phantaſie und Dunkel? Hatte ich mich infolge merkwürdiger Schall- wirkungen der ſtürmiſchen Nacht geirrt, und waren die Wehelaute etwa aus unſerem eigenen Hauſe ge- kommen?

Mir ſtockte der Herzſchlag.

Aurélie?

Diesmal hielten mich keine Bedenken mehr. In Haſt hatte ich das Nächſtliegende übergeworfen und ging auf den Flur hinaus. Die Mädchenkammer war von meinem Zimmer nur durch eine Wand getrennt. Ich hatte die ganze Zeit über keinen Laut von dort drinnen gehört. Ich tappte mich bis an die Tür, öffnete ſie leiſe und rief: „Aurelie!“

Keine Antwort.

Noch einmal, ganz rückſichtslos laut.

Nichts regte ſich.

Da huſchten meine Finger, vergeblich den Knopf der elektriſchen Leitung ſuchend, an der kalten Wand entlang, griffen hie und da an etwas Weiches oder Hartes, alles aber ſchien unheimlich. Schließlich faßte ich das Bett. Meine Hand fuhr über das Kiſſen, die Decke nirgends taſtete ſie ein Weſen von Fleiſch und Blut.

Da graute mir vor dem leeren Raume; ich lief ſchnell hinaus und machte die Tür hinter mir zu. Am liebſten hätte ich mich unter meine Bettdecke verkrochen.

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Aber man hat ein Gewiſſen; das hat wje ein Apotheker beruhigende und aufregende Medikamente. Mir gab es jetzt einen ſtärkenden Trank.

ich rief vier-, fünfmal den idylliſchen Namen „Aurélie“ in das tragiſch düſtere Treppenhaus hinunter. Ein Ruf, auf den nicht geantwortet wird, klingt ſeltſam nach im eigenen Ohre. Zch ging die Stufen hinab, immer taſtend nach einem Lichtknopf, immer horchend auf einen Laut. Schon war ich zwei knarrende Wendel- treppen hinabgeſtiegen und ſtand auf dem unterſten Flur. Da griff ich endlich an die richtige Stelle. Es wurde hell, und das Bild, das ich ſah, war vertraut trotz aller nächtlichen Stille. Die Gummiſchuhe, die Regenſchirme, die violette Wolljacke von Madame Guin und mein grüner Sweater alles ſchlief unberührt feinen ruhigen Schlaf. Ich erleuchtete die Küche, die Vorratskammer. Derſelbe ſichere Schlummer unge— fährdeter Gegenſtände. Dann unterſuchte ich das Eß- zimmer, den Salon nirgends eine Veränderung. Schließlich ging ich auf die Veranda. Die geſchloſſenen Läden gaben ihr etwas Erſtorbenes. Ich faßte an die Haustür. Sie war von innen geſchloſſen, der Schlüſſel lag auf dem nächſten Tiſche.

Schon wollte ich wieder auf den Flur zurückkehren, da hörte ich den Atem eines lebenden Weſens. Er- ſchreckt ſuchte ich den Ausgangspunkt dieſer Laute, und ſiehe da, auf der Chaiſelongue wogten die Roſenkiſſen, und Souſous Schnauze wurde ſichtbar. Seine Augen blinzelten trübe in das Licht hinein und richteten ſich dann müde fragend auf mich. Als ich näher kam und mit ihm ſprach, ſah ich, daß ihn wiederholt ein Zu- ſammenzucken und Zittern überfiel.

Soweit war alſo alles in Ordnung, die Läden zugemacht, das Haus verſchloſſen, Souſou vorhan-

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den, wenn auch fröſtelnd und beängſtigt. Aber Aurélie?

Es gab noch einen anderen Hausausgang. Der hintere Teil des Flures war durch eine Tür mit einem Schuppen, einem einfachen Bretterverſchlag, verbun- den, in dem alte Kiſten und Brennholz, ein Schlitten und vielerlei Gerümpel umherlagen. Das elektriſche Licht beleuchtete vom Flur aus dieſen Raum nur ſchwach. Als ich ihn betrat, fiel der Schein gerade auf ein grinſendes Beil, das mitten auf der Erde lag. Brrr! Ich ſchüttelte mich. Dann lehnte ich das Mord- inſtrument an die Wand und wollte die nach draußen führende Tür des Verſchlages öffnen. Unmöglich. Sie war alſo verſchloſſen. Der Schlüſſel war nirgends zu finden. Alſo von außen verſchloſſen!

Meine Beſorgnis für das liebe, unſchuldige Kind mit den Schwarzkirſchaugen wurde jäh zu kochender Entrüſtung. Alſo auf ſolche Weiſe machte ſie ſich die Abweſenheit der Hausfrau zunutze! Und ich brachte meine ſauer verdiente Erholungszeit damit zu, mich nachts um leichtſinnige Bauernmädchen zu ängſtigen! Keinen Gedanken mehr wollte ich an die Sicherheit dieſes adorablen Chalets wenden. Mochte es ver- brennen, alles geſtohlen werden, mochte Souſou vom Satan geholt werden, wenn er nicht ſelbſt einer war!

Angſt und Empörung ſind zwei Elemente, die ſich nicht miſchen laſſen. Ich ging ohne alles Horchen und Winkelunterſuchen die Treppe wieder hinauf und legte mich zu Bett. Zum dritten Male. Aber freilich, ſchlafen wollte ich nicht. Erſt ſollte ſie die Dame aus ö reſpektieren lernen, dieſe kecke Walliſerin!

Ich las, ſoweit man leſen kann, wenn das Ohr mit äußerſter Anſtrengung anderweitig beſchäftigt iſt, in einem recht mittelmäßigen franzöſiſchen Roman. Zu-

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gleich hielt ich mir im voraus die Strafpredigt, mit der ich Aurélie empfangen wollte. Immerwährend glaubte ich das Knarren einer Tür, ein Schleichen auf der Treppe zu hören; aber wieder und wieder ſtellte es ſich heraus, daß es nur der Wind geweſen war. Er fuhr noch immer dazwiſchen, fauchte und ſchlug um ſich.

Halt das waren Schritte! Ich ließ ſie langſam, vorſichtig die Stufen heraufſchleichen dann ſtand ich plötzlich da wie ein im Dunkel weißlich leuchtender Racheengel vor der kleinen Vagabundin, die, Souſou im Arm, in Strümpfen von einem Fuß auf den anderen trat. Sch herrſchte fie an. Da floß plötzlich ein fo reißender Strom von Patois und Hotelfranzöſiſch auf mich nieder, der zwei in der ſchwarzen Nacht aufblitzen- den Zahnreihen entquoll, daß ich nur noch ein einziges Beſtreben hatte: feine Richtung zu erkennen, um mög- lichſt bald entrinnen zu können.

Schließlich wurde mir folgendes klar: Aurelie hatte ſchon ſchlafen gehen wollen, da hatte ſie bemerkt, daß der Hund auf unbegreifliche Weiſe wieder entſchlüpft war. In ihrer Angſt um das köſtlichſte Bijou ihrer Herrin war ſie in die Nacht hineingelaufen. Sturm und Regen und Dunkelheit aber hatten ihr ein ſolches Grauen eingeflößt, daß ſie froh geweſen war, als ihr ein Zufall Jean Verclas, den Sohn des Präſidenten von Ridogne, entgegengeführt hatte. Er hatte ihr ſeine Begleitung angeboten, was ſie beglückt angenommen hatte. „Der Sohn des Präſidenten“ fie wiederholte dieſe Kulturſtufenbezeichnung wieder und wieder mit unverkennbarer Genugtuung war ſehr, ſehr nett geweſen. Man war miteinander nach Ridogne ge- laufen, denn er hatte gleich geſagt, Souſou ſei ja jetzt immer in Ridogne. Und er hatte ihr auf dem Heim- weg erzählt, daß ſein Nachbar eine reizende rotbraune

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Hündin habe, mit der Souſou immer ſpiele. Auf dem Rückwege aber hatte er den in einem dunklen Gafjen- winkel aufgefundenen, frierenden, naſſen Hund auf den höchſteigenen Armen getragen. In Moralavena an- gekommen, hatte ſich Souſou nur mit heftigem Wider- ſtreben ins Haus hineinſchieben laſſen. Und dann der Redeſtrom ſtockte einen Augenblick, brach aber dann um ſo heftiger über den Damm einer plötzlich auf- ſteigenden Verlegenheit ſei man ſo naß und kalt geweſen; da habe der Präſidentenſohn zur Vorſicht gemahnt und ſie zu einem Glas Wein eingeladen. Sein Vater beſaß in Moralavena, nicht allzu weit von uns entfernt, ein Chalet, das er an einen Oeſtillateur vermietet hatte. Sie, aus Dankbarkeit, habe nicht nein ſagen mögen.

Ein leiſer Hauch von Alkohol glitt unter meiner Naſe vorbei da wandte ich mich kurz ab und zog mich in meine Kiſſen zurück. Zum vierten Male! Und in meiner Erinnerung tauchte der nette Jüngling auf, der mir da unten das Gepäck zur Station der Drahtſeilbahn getragen hatte; das ärmliche Dorf, in dem ich auf meiner Zwangswanderung von St. Laquice de Maur nach Moralavena auf die vorher fo hurtige Aurélie hatte warten müſſen; das Haus aus mächtigen Steinen mit dem Eiſengeländer an der Freitreppe, wohl ein Erbbeſitz des Präſidenten Verclas.

Im Halbſchlaf ſah ich eine ſchwerfällige Bauern- hand über einige Unterſchriften auf Aktenbogen ehr- würdigen Streuſand ſchütten. Es war ein Schreiben von mir darunter, das er legaliſieren ſollte, ein Kauf- vertrag. Ich hatte einen Kuhſtall übernommen, billig, mit ſchiefen, wetterſchwarzen Holzplanken und ſtark beſchädigtem Dach. |

Da heulte Souſou plötzlich durch unfer Haus, fo

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wie man es in Büchern lieſt, daß Hunde heulen auf dem Grabe ihrer Herren. Adieu, du ſüßes Träumen, das mich doch einmal im Leben zur Grundbeſitzerin gemacht hat! Ich hoffte vergeblich, daß auch Souſou nur träume und von feinem eigenen, ſchrecklichen Wehe⸗ lärm erwachen müſſe. Immer länger, immer leidens- voller gellten feine Klagelaute durch das Haus, faſt noch heftiger die Nerven des Zuhörers packend, als es das nun ſchon halbvergeſſene Menſchengeſchrei ein paar Stunden vorher getan hatte.

Ohne jede Vorbereitung lief ich auf den Flur und ſtieß im Dunkeln gegen Aurélie, die ganz ſchlaf— befangen die Tür vom Schlafzimmer ihrer Herrin auf- machte und Souſou, der dort wie immer fein Nacht- quartier hatte, zu ſich rief. Aber wie raſend ſauſte der Hund die Treppe hinab, und von unten her drang fein erneutes, gedehntes Jammergeheul zu uns empor. Kein Rufen half. Wir mußten zu ihm hinunter, Aurélie machte Licht, und wir ſahen, wie er an der Haustür ſcharrte und ſchnubberte. Sein ganzes Inneres ſchien zu ſchreien: „O laßt mich nach Ridogne!“ | |

Schon hatte Aurelie die Hände nach ihm ausgeftredt, gerade als die Kuckucksuhr eins ſchlug da ging das Licht aus, und wir ſahen einander nicht mehr. Während einiger Stunden der Nacht ſtellte nämlich das Eleltri- zitätswerk den Betrieb ein. | |

Als ich Kind war, fpielten wir oft „Fiſcher im Dunkeln“. Zn einer finſteren Stube verſteckten ſich die Fiſche, und einer von uns angelte hinter Schränken, unter Stühlen und Tiſchen. In dieſem Spiel übten wir uns jetzt mit Souſou, nur im umgekehrten Ver- hältnis: mehrere Fiſcher und nur ein, wenn auch dicker Fiſch. And trotzdem war es geradezu ein Wunder,

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daß er uns ſchließlich ins Netz ging. Aurelie, zwiſchen Gähnen und Schlafen, koſte den Heulenden herzig. Sie nahm ihn mit in ihr Bett, wo ſie ihn nach einer Meile zu beſchwichtigen vermochte.

Ich aber taſtete mich zum fünften Male in das meine. Wie gern hätte auch ich beſchwichtigt, wie gern hätte ich den heulenden Föhngott draußen geſtreichelt und beſänftigt. Bei geſchloſſenem Fenſter fühlte ich den Zugwind, und über meine rechte Kopfſeite zog ein neuralgiſcher Schmerz, erſt dumpf, gleichmäßig und erträglich, dann aber ruckweiſe, heiß, reißend und zerrend. ch biß die Zähne zuſammen im Ingrimm. „Pfui, Moralavena der Vorſaiſon, eine haſſenswerte Teufelin biſt du trotz deiner überwältigenden Schönheit!“ So grollte es in mir.

Und eine heftige Sehnſucht ergriff mich nach dir, Lugano —Caſtagnola.

O nächtliches Lugano, du ſtrahlender Bogen am See, geborgen im Schutze deiner Wächter, der treuen, freundlichen Berge! So reich an Licht, daß die laut- loſen Waſſer davon trinken und trinken, Nacht um Nacht, und der ſchimmernden Fülle nicht weniger wird. O milde Sommerluft, die den Atem anhält, als lauſche ſie Melodien aus fernen Gefilden der Seligen! O unermeßlich weites, unvergeßlich ſternenſtrahlendes Himmelszelt, deſſen Anblick müde Augen mit Tränen der Schönheitsfreude füllt! O ſüßer Duft aus tauſend und abertauſend ſtilllächelnden Blumen, der keinen Schlummernden vergißt! Der leiſe, ganz leiſe dahin ſtreift über die Blonden und die Braunen, die Alten und die Zungen, die Oeutſchen und die Welſchen; der friedeloſen Seelen Träume ſchenkt, in denen die Bürde ihres Kummers von ihnen abfällt wie langſam ſinkende Roſenblätter!

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O Caſtagnola, warum hatte ich dich verlaffen?

Warum? Da war es wieder, das leidige Warum. Sie kamen auf mich zu, ein ganzer Trupp, die Warum meines Lebens. Kleine und große, in engen und wei- teren Abſtänden, auf einer langen Straße ohne Anfang und Ende. Alle ſtanden ſie auf einem Bein und hatten gekrümmte Rüden und Waſſerköpfe wie Fragezeichen. Ich wollte mich abwenden, aber wieder und wieder mußte ich hinſehen und in ihren Zügen ſuchen wie in Menſchengeſichtern, bei denen man nicht weiß, ob man ſie kennt oder nicht.

Warum überhaupt?

Sit unſer Willensleben denn ein Schlamm, und ſteigt unſer Glaube, das Rechte zu ergreifen, wie eine Blaſe aus trübem Waſſer hervor, nur um an der Oberfläche zu zerplatzen? Und auf dieſe Blaſen bauen wir unſere Entſchlüſſe? Gibt es einen haltloferen Grund?

„Unſer Wille iſt gebunden durch die in Stoff und Kraft liegenden Geſetze,“ ſagt der ehrliche Naturforſcher.

„Das Problem der Willensfreiheit können wir nicht löſen,“ ſagt der ehrliche Philoſoph.

„Ich fühle, daß mein Wille frei iſt,“ ſagt der ehr

liche Ethiker.

Der liebe Gott aber ſchweigt.

Und wenn wir nicht mehr find wie die Kinder, wenn unſere Glieder oft ſchlummern und wir trotzdem, auch ſchlafend, die Laſt empfinden, die auf unſerer Seele ruht iſt es nicht, weil Gott ſchweigt?

Ob der Wille frei iſt oder nicht, man hat oft ſeinen Spaß auf dieſer Welt. Auch wenn man wie Aurelie nach einer halb in Sturm, in Jünglingsgeſellſchaft und Deſtillation verbrachten Nacht todmüde iſt und trotzdem feine Mädchen-für-alles-Pflicht erfüllen muß. Sie ſah

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abgeſpannt aus am folgenden Tage. Aber wenn ſie ſich unbeobachtet glaubte, ſtand ein heimliches Lächeln auf ihrem Geſicht, als grüßten fie hübſche Erinne- rungen oder Vorfreuden. Und wenn ſie fühlte, daß ich ſie forſchend anſah, glühte ſie auf wie eine Alpenroſe.

Wieder ſah ich beſtätigt, was man ſo ſelten gelten laſſen will: die verblüffende Ahnlichkeit aller Menſchen⸗ kinder, einerlei ob im Salon oder im Kuhſtall groß geworden. Genau fo verſtohlen und unvermittelt wie jetzt Aurélie lächelte im verfloſſenen Winter meine blaſſe kleine Nichte nach ihrem erſten Ball. Und wie ſie ſich am folgenden Morgen in einer ihr ſonſt fremden Gedankenloſigkeit mit der Nagelbürſte ſtatt mit der Zahnbürſte in den Mund fuhr, fo war auch Aurelies ſtändiges „Sofort, Mademoiſelle“, das ſo prompt und überzeugungsecht herauszukommen pflegte, am Tage nach jener Hundenacht von einer nichtsſagenden, farb- loſen Zerſtreutheit. Ich glaubte, die Fadigkeit meines Mittageſſens ſei eine Folge davon. Es gab zuerſt in einem Pfännchen trockenen Kartoffelbrei, unter dem wenige zerhackte Fleiſchreſte verſteckt waren, dann ein zähes Faſergewebe, das einer Konſervenbüchſe ent- nommen war. Aber auf eine boshafte Bemerkung von mir holte Aurélie eine kleine Schiefertafel aus der Küche, auf der in der recht eleganten Handſchrift von Madame Guin das Menü des Tages verzeichnet ſtand, und nun erſt wurde mir klar, was für intereſſante Ge- richte mir wieder geboten worden waren.

Nachdem Souſou die ganze, mir zugedachte Nation in aller Geſchwindigkeit aufgefreſſen hatte, fiel er gleich darauf wie tot auf fein Roſenbett und ließ ſich auf kein Süßholzraſpeln von unſerer Seite ein, bis die Stunde gekommen war, da er mit Aurelie die Herrin

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von der Bahn holen ſollte. Da erhob er ſich gähnend und verdroſſen.

Doch kaum hatte er die Naſe aus der Tür geſteckt, als er anderen Sinnes wurde. Große Bereitwilligkeit heuchelnd, lief er neben dem Mädchen her. Sowie aber die Straße erreicht war, die links zum Bahnhof, rechts nach Ridogne führte, ſchob er ſich hinter ſeine Begleiterin, machte leiſe kehrt und entſchied ſich für einen einſamen Dauerlauf in einer ihm wohlbekannten Richtung. Aurelie bemerkte es erſt, als jede Verfol- gung unmöglich war, und mußte ihre Herrin trotz aller Aufopferung am Vorabend nun doch mit jchuldbelade- nem Gewiſſen empfangen.

Gegen Abend ſie fand das ganz in der Ordnung wurde ſie wieder nach Ridogne geſchickt und kam erſt ſpät und ſcheinbar recht niedergeſchlagen zurück. Monſieur Verclas hatte unſeren Souſou wohl dort unten geſehen, aber der Hund hatte ſich mit feiner rot- braunen Freundin bald hier, bald dort herumgetrieben und war ihm ſchließlich aus den Augen gekommen.

Arme Aurélie! Während ſie bange und verlegen zu ihrer ſtrenge blickenden Herrin aufſah, war dieſe innerlich längſt beruhigt und amüſierte ſich. Denn ſeit einer halben Stunde etwa war ihr Bijou ſchon wieder zu Haufe, und nachdem fie ſich eine Weile an Aurelies Angſt geweidet hatte, wies ſie auf das leiſe wogende Roſenneſt. |

In den nächſten Tagen nahm Souſou zuſehends ab. An beiden Seiten der langen Naſe war ſein Ge— ſicht bald ganz eingefallen. Auf dem Rücken wurden die Rippen unter dem borſtigen Fell ſichtbar. Ver allem aber zeigte er eine an Tollheit grenzende Ner- voſität. | 7

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Da wurden die Türen, die Fenſter mit großer Sorgfalt geſchloſſen gehalten, und er jaulte wiederholt durch das Haus wie in jener Schreckensnacht. Immer der Reihe nach bettelte er bei der Herrin, bei Aurelie, bei mir, daß man ihm öffne. Vergeblich. Da ließ er ſich ſchließlich entmutigt auf einer Strohmatte nieder, und es war kläglich anzuſehen, wie er wieder und wieder das Weiße im Auge zeigte, zuſammenzuckte und ſich wie im Krampfe ſchüttelte. Dann begann wieder das jämmerliche Heulen. War denn feine Herrin uner- bittlich geworden? Er ſprang auf, legte ihr die Vorder- pfoten auf die Knie und ſuchte ihre Hände zu lecken. Aber welche Wendung! Sie fuhr ihn an und erhob die Hand wie zum Schlage. Da war er noch verdutzter als betrübt und beleidigt. Hätte er eine Sprache ge- habt, er hätte in dieſem Augenblick kein Wort gefunden. „sit fie es, oder iſt fie es nicht?“ ſchien er ſich zu fragen. Armer kleiner Mann! Schon mancher hat dem Myſte- rium der Frauenſeele nicht weniger ratlos gegenüber- geſtanden als du. Er betrachtete ſeine Herrin eine Weile, dann wurde ihm unheimlich; er legte ſich wieder auf die Matte, um ſich aus der Entfernung über dieſen Wechſel klar zu werden. Immer von neuem hob er den Kopf und blickte nachdenklich zu ſeiner alten Dame auf.

Dann kam der Racheakt. Echt männlich. Er ſtand langſam auf und ſchritt auf mich zu. Seine weichen Pfoten, von innigen Blicken aus ſeinen braunen Augen unterſtützt, tätſchelten an mir herum. Geſchmeichelt und gerührt von ſeiner Liebenswürdigkeit, ſtreichelte ich ihn ſanft und anhaltend. Da entrang ſich ihm einer ſeiner fabelhaft menſchlichen Seufzer, und in ſeinen Augen ſtanden dicke, runde Tränen.

Das war denn doch mehr, als Madame Guin aus-

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halten konnte. Plötzlich anders entſchloſſen, nahm fie ihren Liebling von mir fort mit beiden Armen, öffnete die Verandatür und entließ ihn mit zärtlichen Mahn- worten. Mit triumphierend emporragendem Hörnchen trabte er ſofort abwärts nach Ridogne.

Ein paar Stunden ſpäter bekam Aurélie den Auf- trag, ſich in einigen Bauernhäuſern nach Eiern zu er- kundigen; natürlich würde ſie in Ridogne am erſten Erfolg haben. Wenn ſie zufällig den Hund ſähe, möchte ſie ihn mitbringen.

Sie tauchte denn auch ſchließlich wieder auf, in der linken Hand einen Korb mit Eiern, in der rechten einen mehrmals zuſammengeknoteten Strick, an dem ne Souſou führte.

Sie erzählte dann die verſchiedenſten Neuigkeiten aus Ridogne. Am bemerkenswerteſten ſchien mir die, daß die rotbraune Hündin, Souſous Geliebte, nicht mehr dem Dorfſchmied, ſondern ſeit einigen Stunden dem Sohn des Präſidenten gehöre, der ſie jenem für teures Geld abgekauft habe. „Zwanzig Franken denken Sie!“

Mir fiel wieder das muntere Lächeln ein, mit dem der Präſidentenſohn auf dem Bahnhof da unten meinen Franken in die Taſche geſteckt hatte. Nun ſcheute er kein Opfer, Souſous Freundin in ſeine Nähe zu bannen. Solche Widerſprüche macht nur eines erklärlich: die Liebe! Für mich war nun kein Zweifel mehr, die Schwarzkirſchaugen von Aurélie hatten es ihm an— getan.

Meine Hände zuckten, ſie hatten nicht übel Luſt, Beifall zu klatſchen. Ridogner Geſchmack, Ridogner Schlauheit waren doch gar nicht übel. Ich nahm mir im ſtillen vor, die Haustür recht oft offenzulaſſen, damit Souſou entweichen könne, dieſer Souſou, der

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mir jetzt als Ridogner Amor in einem ganz neuen Lichte erſchien.

Ach, müßte ich ein Beiſpiel finden, um ein bekanntes Zitat aus Schillers Glocke zu illuſtrieren, ich könnte nicht beſſer wählen, als die Ereigniſſe der folgenden Tage zu erzählen. Jean Verclas und Aurélie, Souſou und ich, wir flochten den Bund mit des Geſchickes Mächten vergeblich. Madame Guin fand in einer von oben bis unten vollgepfropften Rumpelkammer trotz unüberwindlich ſcheinender Schwierigkeiten eine Hundeleine, und was ſchon ſo oft vergeblich verſucht worden iſt, hier wurde es Wirklichkeit: Amor lag an der Kette! Er lag, er ſtand und er ging an der Kette, volle fünf Tage lang.

Am erſten Tage war es faſt nicht mitanzuſehen. Ein Menſch kann nicht kummergeſchlagener daliegen als der arme Kerl. Auf Stunden quälender Sehnſucht, in denen er vergeblich an der Leine riß, in denen er vergeblich weinte, heulte, ſcharrte und kratzte, in denen er vergeblich in dem engen Kreis feiner Bewegungs- fläche eine Stelle ſuchte, wo er Ruhe für ſeine ge- marterte Seele fände, folgten Stunden, in denen aus ſeinen Augen die ganze Bitterkeit für immer vernichteter Hoffnungen ſprach. Als er endlich von ſeiner Herrin an der Strippe ſpazieren geführt wurde, hingen ihm Ohren und Schwanz ſchlaff herunter; ſcheu lief er neben ihr her, ſuchte Deckung hinter ihren Röcken, ſobald ein Menſch oder ein Tier zu ſehen war, und blickte nicht vom Boden auf, als ſchäme er ſich feiner Gefangenſchaft. Die Nachbarhunde ſahen hämiſch intereſſiert hinter ihm her. Dies war ihm aber doch noch lieber als der Ge- danke an den Zwang zu Haufe. Als Madame Guin umdrehte, ſperrte er ſich mit aller Gewalt gegen ihre Wünſche, Bitten, Befehle. Sie zog ihn trotzdem bis

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zum Chalet zurück; aber als er die Stufen hinaufgehen ſollte, ſtemmte er ſeine vier Pfoten ſo trotzig auf den Boden, daß ſie ihn hätte erdroſſeln können, er hätte ſich nicht gerührt. Sie ſchob ihn von hinten, da machte er ſich nach unten zu fo dick er konnte. Der Wider- ſpenſtige mußte ſchließlich auf den Armen ins Haus getragen werden, und ſein Brummen und len hörte den ganzen Abend nicht auf.

Ich ſehnte mich zuletzt ſo nach einer dere Muſik, daß ich noch nach dem Eſſen in den Wald ging, um, an einem Bächlein entlang wandernd, mir ein ein- ſchläferndes Abendlied murmeln zu laſſen.

Es ſollte anders kommen. Die Bauern dieſer Gegend haben eine von alten Zeiten her weitergegebene, er ſtaunliche Geſchicklichkeit darin, ihre Bäche durch Damme, Schleuſen, Nebenbetten, Rinnen bald zum reißenden Strom, bald zum feinen, vielfach geäderten Gerinnſel werden zu laſſen, je nach der gewünſchten Durchfeuch- tung der benachbarten Wieſen. Die Veränderung geht oft im Laufe von ein paar Minuten in einem ſolchen Grade vor ſich, daß man nicht mehr dahin zurückſpringen kann, von wo man vor kurzem, ohne das Waſſer überhaupt zu beachten, hergekommen iſt.

So machte ſich das ſonſt fo leiſe und friedlich ſum- mende Waldbächlein an jenem Abend ganz unglaublich wichtig. „Du hörſt doch, wie ich ſchnaufe, ſchnaufe, ſchnaufe?“ rief es mir zu, ganz außer Atem. „Von morgens früh bis abends ſpät und noch die lange, lange Nacht muß ich ſchaffen, ſchaffen, ſchaffen. Und wenn ich nicht laufe, laufe, laufe, dann geht am Ende die ganze Welt zugrunde. Was ich tue, tue, tue? Sch muß Kieſel ſchleifen, ich muß Wurzeln ſpülen, ich muß Gräſer tränken, ich muß Löcher wühlen. Drehe ich mich nicht immerzu, wie? Trage ich nicht beſtändig

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Holz und Blätter und reiſende Tiere auf meinem Rücken? Bücke ich mich nicht, und recke ich mich nicht, und ſpringe ich nicht tauſendmal, bis mir alle Glieder wund find wie? Und du? Stehſt da, die Träg- heit in Perſon, und guckſt mich an und lachſt dumm auf mich nieder! Haſt du etwa zuviel Geld in der Taſche? Nein? Hihihi! Geſchieht dir ganz recht, Menſchenkind. Unerhört iſt dieſe Faulheit, geradezu unerhört, ganz unglaublich!“

„Hahaha! Tauſend alte Kaffeetanten könnten zu- ſammen nicht beſſer ſkandalieren als du allein!“ rief ich ihm amüſiert zu.

Da ſchlug er ſo böſe um ſich, daß mir das Waſſer ins Geſicht ſpritzte. Und plumps, plumps! gab er mir ein Schimpfwort zur Antwort, das ich nicht verſtand, aber dem Tone nach war es eine fürchterliche Be— leidigung.

Lieber Bach, wenn du wüßteſt! Wenn du ahnteſt, wie gern ich es dir gleichtäte in deiner plötzlich ge- ſteigerten Kraft, deiner Arbeitsfülle und deinen ſauſend ſchnellen Schritten! O Sonne von Moralavena, o wunderbare Luft voll ſtärkender Düfte, die aufſteigen von jungen Tannen und frühlingsfriſchem Wieſengrün! Könntet ihr mich ſtark und tätig machen wie den raft- loſen Geſellen zu meinen Füßen! Oürfte ich ſkanda- lieren wie du und täte es doch nicht ſieh, böſes Bächlein, dann wäre ich wirklich ein Menſch. -

So denkend und das Herz voller Hoffnung verließ ich ihn und den Pfad an ſeinem Ufer. Quer durch den Wald, die breiten, bis zum Grunde ſchön ent— wickelten Aſte zur Seite ſtreifend, ging ich wohl hundert Schritte, bis ich an eine Lichtung kam, zu der es mich wieder und immer wieder hinzog wie zu einem Freunde, den man nie verläßt, ohne ein liebes, un—

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130 Souſous erfte Liebe. oO vergeßliches Wort gehört zu haben. Goldener Ginfter bedeckte einen Teil des Bodens; daneben breitete ſich Wieſengrund aus, ein willkommenes Lager für den glücklichen Entdecker. Er konnte ſich niederſtrecken unter einen herbe duftenden Strauch, der überſät war mit den dunkelroten Knoſpen und Blüten der Alpenhecken— roſe, die an langen, ſchwanken Ranken hinunterhingen, als wollten ſie ſich ſelber dem Gaſte ſchenken. Er konnte, den Kopf auf weiche, mooſige Kiſſen lehnend, die Blicke aufwärtsſteigen laſſen an einer einzeln jtehen- den, hoheitsvollen, uralten Tanne, deren ſchweigende Aſte viel Wahres und Ernſtes predigten von Sein und Wollen, von Fährnis und Sieg. Er konnte an Baum und RNoſenſtrauch vorüber weit, weit, weit in die blaue Ferne ſehen: zur Linken unendliche Matten, von denen verwitterte Hüttendächer emporlugten, graubraun, niedrig und in Gruppen gefchart wie Pilze auf grünem Grunde; zur Rechten die ſilbern ſchimmernden Schnee- rücken des Simplon und des Monte Leone, deren weiche Linien, deren leichte, zarte Farbentönung ſchon er— zählten von den jenſeitigen Gefilden Staliens; in der Tiefe das lichtgraue Seidenband der Rhone, das ſich um Dörfer und Städte fchlang, als wolle es vereinen, was das Leben getrennt. u

Der Abend war warm, und mein geliebter Wieſen— fleck hielt mich lange feſt. Meine Augen folgten dem Abendnebel, der ſich langſam weitete und ſich fein und duftig über die Hänge und Bäche und Häuslein der Seitentäler legte.

Da knackte ein Zweig im Walde hinter mir. Das Eichhörnchen, das ich gerade an dieſer Stelle ſchon einmal beobachtet hatte, wie es trotz meiner Anwejen- heit furchtlos über die Wieſe weg auf die einſame Tanne zu huſchte, das mir im Gedächtnis geblieben war wegen

2 Von Karen Fugerdt. 131 ſeiner leuchtend hellen gelben Schnauze an ſeinem faſt ſchwarz gefärbten Körper, hatte wohl einen Aſt geknickt. Doch meine Träumereien waren unterbrochen. Ich ging, wenn auch ungern.

Als ich den Bach wieder erreicht hatte, ſah ich zwiſchen den Stämmen zwei Menſchen vor mir her ſchreiten, häufig ſtehen bleibend, als hätten ſie ſich viel zu ſagen. Dann waren ſie mir eine Weile durch einen dicken Baum verborgen. Nur ein weißer Schürzenzipfel mit einer bunten Kante war ſichtbar und verriet mir die brave Aurélie!

Hörte ich wirklich einen Kuß, oder ziſchte der Bach?

Ich weiß es heute noch nicht. Aber das weiß ich, daß unmittelbar darauf der Präſidentenſohn ohne Weg und Steg den Wald hinablief allein, und daß die bekannten Schürzenzipfel vor mir auf und nieder tanz ten und im Chalet Adorable verſchwanden, kurz bevor ich es betrat.

An den folgenden Tagen war unſer Kettenhund ſchon etwas ruhiger, ja ſchließlich ſchien er ganz gefaßt. Es mißfiel mir im Intereſſe der rotbraunen Ridognerin, war aber für die Mitbewohner des Chalet Adorable eine wahre Wohltat. Bald machte er den Eindruck eines durch Kummer bis zur Reſignation gereiften Greiſes, wenn er gemeſſenen Schrittes die Heine Kreis- promenade um den Pfahl machte, an dem er an- gebunden war.

Aurélies Temperament dagegen, vorher ein lächeln der Teich, war jetzt eine wogende See geworden. Ein leiſer Windſtoß, und eine Welle bäumte ſich hoch und ſpritzte um ſich.

Als Madame Guin ihr Vorwürfe machte, ſie habe zuviel Kaffee für ſich genommen, antwortete ſie trotzig, daß fie zwei Tage lang nichts eſſen wolle, um das miß-

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gönnte Gut wieder einzuſparen, und was noch tapferer war ſie hielt Wort. Es war kindiſch, aber mir gefiel's.

Als ſie in meiner Gegenwart mit unzureichendem Grunde wegen irgend einer anderen Bagatelle getadelt wurde, lief ſie ſpornſtreichs in ihre Kammer, holte ihr prächtiges Zeugnis aus Martigny herbei und hielt es mir vor die Augen.

So ſchoſſen zwei neue Aſte, Mut und Trotz, ſichtlich aus dem Bergbäumchen hervor, allem Anſchein nach unter den Sonnenſtrahlen heimlicher Liebe.

Freilich einmal es war an einem Sonntagabend rieſelten ſalzige Tropfen aus den Schwarzkirſchen nieder. Mariette, das zierliche, kokette Dienſtmädchen bei den portugieſiſchen Nachbarn, durfte nach Ridogne zum Tanzen gehen. Aurélie aber bat vergeblich um die Erlaubnis, ſie begleiten zu dürfen. In Gegenwart von Madame Guin beherrſchte ſie ſich trotz der bitteren Enttäuſchung ihres jungen Herzens. Als ich aber nachts, Wand an Wand mit ihr, nicht gleich einſchlafen konnte, hörte ich ſie in ihrem Bette ſchluchzen, unterdrückt, als preſſe ſie das Geſicht auf ihre Kiſſen.

Armes Ding!

Aber Gott ſei Hank! es wurde bald ſtiller, ſchließlich ganz ruhig dort nebenan. Nur Kinder weinen ſich ſo ſchnell in den Schlaf. Wir „Großen“ weinen uns wacher und immer wacher.

Ich war freilich an jenem Abend anders beſchäftigt. Ich malte mir Mariette aus, wie fie in einer großen, ſchwach beleuchteten Scheune, von den Klängen einer Handharmonika angeſpornt, aus einem Ridogner Arm in den anderen tanzte. Denn zu welcher Zeit man auch an dem Einfamilienhaus vorüberging, immer ſtand ein Briefträger der, nebenbei geſagt, eine fehlende

ee Don Raren Fugerdt. 133

. nn

„Gazette de Moralavena“ durchaus erſetzte, Zeitungs- enten mit eingeſchloſſen —, ein Wilchjunge, ein Hotel- portier, ein Kuhhirt oder irgend ein anderes Maskulinum vor ihrem Küchenfenſter, feſtgebannt durch den kecken Plauderton der kleinen, forſchen Zofe. Würde der Präſidentenſohn widerſtehen können? Würde er ebenſo ſchnell vergeſſen wie der vor kurzem noch ſo maßlos ergriffene Souſou?

Denn Souſou hatte ſich vollſtändig geändert. Als endlich zwei neue Penſionäre, eine gutmütige Genferin und ihr vierjähriges Töchterchen, erſchienen, war er ganz bei der Sache und hocherfreut. Immer wieder ſchaute er ſich das kleine Perſönchen an, und als Ma- dame Guin ihn gar losmachte, überzeugt von einer durchſchlagenden Veränderung in feinem Inneren, wurde er der treueſte, heiterſte Spielgefährte der neuen Freundin.

Dieſe war aber auch ein allerliebſtes Ding. Eines von den herzigen, uraufrichtigen Enfants terribles, die mit hellem Stimmchen in die Welt hinausſagen, was wir „Erzogenen“ kaum zu denken wagen. Gar oft ſehe ich ihn im Geiſte wieder vor mir, den Blondkopf mit ſeinen Haſelnußaugen, beſonders wenn irgendwo ein Schokoladenpudding aufgetragen wird. Im Chalet Adorable nämlich gab es ganz merkwürdig kleine Vor- ſaiſonpuddingsformen, wie aus dem Reiche der Lili— putaner. Nie vergeſſe ich, wie die Kleine, einen winzigen ſchwarzen Pudding auf einem großen, blanken Teller erblickend, die Händchen überraſcht zuſammenſchlug und ausrief: „Ah, was für ein großer Bonbon!“

Mit Souſou durfte ſie ſich alles erlauben. Lag er im RNoſenneſt, jo legte fie ihren Kopf auf ihn, ſtellte ſich ſchlafend und ſchnarchte laut. Lief er am niedrigen Regenfäßchen hinter dem Hauſe vorbei, ſo ſpritzte ſie

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ihn und ſich jubelnd voll Waſſer von oben bis unten. Wollte er gerade die Stufen hinuntergehen, zu einem Spaziergang entſchloſſen, ſo packte ſie ihn am Hörnchen und ließ ihn nicht fort. Er fand das augenſcheinlich alles reizend, denn er war immer um ſie herum, leckte an ihren kleinen gelben Schuhen, zerrte an ihren roten Haarſchleifen und lief noch hinter ihr her die Treppe hinauf, wenn ſie zu Bett gebracht wurde.

Was alſo Souſous ſeeliſches Gleichgewicht betraf, konnte ich ruhig ſein. Er hatte in kaum acht Tagen einen Liebesſchmerz, der alles von mir an Menſchen Erlebte zu überſteigen ſchien, abſolut vergeſſen. Es war, als kenne er den Weg nach Ridogne überhaupt nicht mehr. Sein Bäuchlein rundete ſich wieder, und ſein ganzes Benehmen war das eines befriedigten Philiſters. Nur ſelten begleitete er mich noch auf meinen Spaziergängen. Da ich ſie weiter und weiter ausdehnte, immer von neuem belohnt durch die viel- ſeitige Schönheit Moralavenas, verließ er mich meiſtens ſchon lange vor meinem Ziel; ſo zog es ihn in das Chalet Adorable zurück.

Aber ich mußte mich um jemand anders ängſtigen, deſſen Empfinden Wurzeln hatte, die immer tiefer und tiefer in friſches Erdreich hineinwuchſen um Aurelie.

Eines Tages bemerkte ich, daß ſich ihre Baden- knochen deutlich abzeichneten, und wenn ich an der Küche vorüberging, ſah ich ſie im Sitzen ihre Karotten ſchaben, den Rücken müde gegen die Stuhllehne legend.

Ich fragte ſie einmal, ob ſie nicht lieber zu ihren Eltern nach Rens zurückkehren wolle. Sie ſtritt es ab mit ſehr aufrichtiger Energie. Aber daß ſie unter einem, wenn auch lieben Kummer . war unver- kennbar.

So kam der letzte Sonntag meines dortigen Auf-

D Von Karen Fugerdt. 135

enthalts näher. Da hatte ich eine Zdee. ich fragte die Genferin, ob wir unſere Wirtin einmal gemeinſam zum Abendeſſen einladen wollten in einem der drei großen Hotels weiter unten. Ich ſchlug Sonntag abend vor, damit unſere vielgeplagte Aurélie endlich einmal tanzen gehen könne. Das Töchterchen flehte, mit- genommen zu werden, und da die Tiſchzeit ſchon um ſieben Uhr war und ich verſprach, eine frühe Heimkehr zu befürworten, wurde mein Plan wirklich angenommen und ausgeführt.

Aurélie tanzte den ganzen Abend in der präji- dentialen Scheune in Ridogne und ſah am nächſten Montag wieder ſtrahlend in den ſonnigen Morgen hinein.

Ein paar Tage ſpäter verließ ich das Chalet Adorable. Mein Gepäck überlieferte ich Aurélie zur Beförderung, denn ich wollte mit dem Ruckſack über die ganze, weite Hochebene nach Weſten wandern und ſchließlich nach Martigny hinunterſteigen.

Als ich dem ſchwarzäugigen Mädchen, das immer ſo flink bei der Hand geweſen war, ein Goldſtück in die Hand drückte, fühlte ich etwas Hartes. An ihrem Ringfinger ſteckte ein neu glänzender, dörflicher Reif.

Da trat ich noch einmal auf das Roſenbett zu, hob ein Kiſſen in die Höhe, faßte zwei weiche Vorderpfoten und drückte einen Abſchiedskuß auf Souſous gelbes Haupt. |

„Adieu, du borſtiger, walzbäuchiger, vierbeiniger Gebirgsamor! Stifte weiter Segen!“

ich wünſchte mir hundert Augen, um noch einmal die wunderbare Schönheit dieſer Gegend in mich auf— nehmen zu können.

O Moralavena, du Knoſpe unter den Kurorten der

Schweiz, wohl reicher an angeborenen Reizen als alle anderen ich glaube, ich betete für dich! Von ganzer Seele wünſchte ich dir, daß die Hände, die dich pflegen und hegen würden, rein ſein möchten von Taten der Prunkſucht und Habgier, des Luges und Truges. Und ich bat Gott, wo er Herzen fände, dürſtend nach Schön- heit und Frieden, daß er ſie den Weg hinaufführe zu euch, ihr herrlichen Tannen auf blumigem Wieſengrund, die ihr euch beſonnen laßt vom Morgen bis zum Abend, die ihr hinüberſchaut auf hundert Gipfel, kleine und große, bis zu dem König über alle Berge Europas.

Ihn hatte ich vor mir auf meinem Wege, und immer wieder blickte ich zu ihm hinauf, dem majejftäti- ſchen Montblanc. In Scharen grüßten Wieſenblumen, nickend mit ſchweren Köpfen, zu meinen Füßen, und Kuhglocken läuteten vielſtimmig einen freundlichen Ab- ſchiedsgruß.

Stundenlang ging ich zwiſchen ſaftigen Weiden da- hin und machte erſt Raſt, als ich ein ſauberes, ftatt- liches Dorf vor mir ſah Rens, die Heimat von Auroͤlie.

Mir fiel ein, daß fie mir erzählt hatte von der prächtigen alten Kirche dort, die durch Beiſteuer vieler Nachbargemeinden erhalten und erneuert worden ſei. So betrat ich denn den halbdunklen, kühlen, feierlichen Raum und ſetzte mich auf eine Bank, dem Hochaltar gegenüber. Seitlich neben ihm war ein Fenſter ge- öffnet; ein weißes Berges haupt und ein Tannenzweig ſchauten herein. Durch die grünen Nadeln aber ſtahl ſich ein einzelner Sonnenſtrahl und ſchien auf die Füße des Heilands an einem ſilvernen Kragifix.

Ich aber träumte vor mich hin. Ich glaubte Aurelie zu ſehen im ſchwarzen Kleid und weißen Schleier, wie fie am Altar kniete, ihren Jean zur Seite, der ganz

2 Von Karen Fugerdt. 137

ſtädtiſch ausſah im ſchwarzen Rock und im blendend weißen Kragen. Ein Prieſter im leuchtenden Meß gewand ſchaute mit Wohlgefallen auf das junge Paar nieder, dem Glück und Tüchtigkeit aus den Augen ſtrahlte. Die Kirchenſtühle waren gefüllt mit braven Bauers- leuten im Feierkleid, und unter den Männern fiel mir eine wuchtige Geſtalt mit breitem, grauem Vollbart auf, über deren entſchloſſenes Geſicht ein merkwürdiges Zucken ging: der Präſident von Ridogne.

Und ich ſah im Geiſte an einem ſonnenſtillen Sommerabend Madame Aurelie Verclas leichtfüßig von Riidogne hinauf nach Moralavena ſchreiten, denſelben Weg, den ſie mich einſt in triefendem Regen geführt. Jetzt aber ging ſie ihrem jungen Gatten entgegen, der das Heimtreiben der ſtattlichen Kühe leitete. An einer Tränke hielten die breiten, feiſten Tiere und drängten ſich ans Waſſer. |

Der Präſidentenſohn aber ſuchte Deckung hinter ihren braunen Rüden, zog das geliebte Bergbäumchen mit den beiden blanken ſchwarzen Beeren zu ſich nieder und flüſterte ſcherzend: „Mein Bijoujou, mein Zou- joubi!“

Und zwiſchen zwei lachenden Zahnreihen hindurch ſchob ſich blitzſchnell die erwartete Fortſetzung hervor: „Oh, mein Cocolet, mein Cocolon!“

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Das Spiegelbild inder Photographie, Don Reinhold Ortmann.

mit 11 Sildern. | 0 inachoͤruck verboten.)

Die künſtleriſche Porträtphotographie iſt während des letzten Jahrzehnts von berufsmäßigen Licht- bildnern auf eine ſo hohe Stufe der Vollendung ge— hoben worden, daß auch der Liebhaberphotograph, der das Stadium des unbeholfenen Dilettantismus glücklich hinter ſich hat, ſich naturgemäß zu immer heißerem Bemühen angeſpornt fühlen muß. Teuer genug hat er ja zumeiſt die Erkenntnis bezahlen müſſen, daß es für die Erzielung eines hübſchen und gefälligen Bildes mit einer genauen Beobachtung der techniſchen Regeln noch keineswegs getan iſt, ſondern daß es neben richtiger Lichtverteilung und geſchmackvollem Arrange- ment der Umgebung vor allem auf die Erfüllung künſt— leriſcher Vorausſetzungen in der rg: des Aufzu- nehmenden ankommt.

Selbſt bei tüchtigſter Anleitung 115 es immer einer langen Ubungszeit und eines gewiſſen angeborenen Talentes bedürfen, um den Amateur zu Leiſtungen zu befähigen, die berechtigten Anſpruch auf einen künſtleriſchen Wert erheben können. Sit aber dem ernſthaft ſtrebenden Liebhaberphotographen, der zu— gleich über einen brauchbaren Apparat verfügt, erſt einmal das volle Verſtändnis für die entſcheidenden Grundbedingungen des Erfolges aufgegangen, ſo darf

u Von Reinhold Ortmann. 159

Phot. Flwin Neame, London.

Abb. 1.

er mit ziemlicher Sicherheit auf ein raſches und er— mutigendes Fortſchreiten rechnen. Auch ein gelegent— liches Mißlingen, das wohl auf keinem Gebiete ſchwerer

140 Das Spiegelbild in der Photographie. 2

Abb. 2.

zu vermeiden iſt als gerade auf dieſem, wird ihm dann vermutlich nicht mehr wie dem Anfänger lediglich eine ſchmerzliche Enttäuſchung, ſondern zugleich und vor

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2 Von Reinhold Ortmann. 141

allem eine wertvolle Belehrung bedeuten, und mit der wachſenden Sicherheit in der Beherrſchung alles Hand- werklichen wird er zu immer größerer Freiheit in der

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Phot. Elwin Neam= London.

Abb. 3.

Verwendung und Ausnützung der gewonnenen künſt— leriſchen Einſichten gelangen. Dann wird er ſich getroſt auch an Aufgaben wagen dürfen, deren glückliche Lö-

142 Das Spiegelbild in der Photographie. a

fung man im allgemeinen nur als dem Berufsphoto— graphen möglich anſieht, und zu deren einer wir mit

Phat. Elwin Neame, London.

Abb. 4. dieſer Skizze den vorgeſchrittenen Amateuren unter unſeren Leſern die Anregung geben möchten.

Es handelt ſich, wie ſchon der erſte flüchtige Blick auf die beigegebenen Abbildungen erkennen läßt, um photographiſche Porträte, die das betreffende menſch⸗

2 Von Reinhold Ortmann. 143

——

liche Objekt gleichzeitig von verſchiedenen Seiten zeigen. Das zur Erzielung dieſes Effektes dienende Mittel kann natürlich nur ein Spiegel ſein, und die beab-

Fe Phot. Elwin Neame, ae Abb. 5.

ſichtigte Wirkung beſteht darin, daß das von dem ſpiegelnden Glaſe reflektierte Bild in vorteilhafter Beleuchtung und mit vollkommener Schärfe ebenfalls auf der Platte erſcheint. Der Gedanke ſelbſt kann durch-

144 Das Spiegelbild in der Photographie. 2

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aus keinen Anſpruch auf Neuheit erheben, und wir alle haben ſchon in den Auslagekäſten der Photographen derartige Porträtaufnahmen geſehen. Aber aus nahe- liegenden Gründen wird der Berufsphotograph nur ſelten in die Lage kommen, ſolche Spiegelporträte her- zuſtellen. Durch den ſcherzhaften oder intimen Charak- ter, der ihnen um ihrer Eigenart willen anhaftet, er- ſcheinen ſie für die Geſchenkzwecke, denen das bezahlte photographiſche Abbild ja zumeiſt zu dienen hat, nur in ſehr beſchränktem Maße geeignet. Auch ließen ſich gegen die Idee, ſie etwa zur herrſchenden Mode zu machen, wohl mit Recht ernſthafte äſthetiſche Bedenken erheben. Als eine intereſſante und nutzbringende Übung für den Amateur und als eine hübſche Varia— tion, die bei gutem Gelingen ſowohl dem Dargeſtellten wie dem Erzeuger des Bildes lebhaftes Vergnügen bereiten kann, iſt das photographierte Spiegelbild in- deſſen gewiß zu empfehlen, und ſchon die kleine Aus- wahl von Beiſpielen, auf die wir uns wegen des knapp zugemeſſenen Raumes beſchränken mußten, dürfte be- weiſen, in wie mannigfaltiger und eigenartiger Weiſe ſich die Idee ausnützen läßt.

Zu beachten iſt vor allem, daß ſtatt des für gewöhn- liche Porträtaufnahmen nötigen einen Hintergrundes deren zwei vorhanden ſein müſſen, und zwar einer für die aufzunehmende Perſon und einer für ihr Spiegel- bild. Weſentlich ſchwieriger als das Arrangement dieſer beiden Hintergründe iſt ſchon die richtige Einſtellung des Apparates. Der Amateur wird anfänglich immer geneigt ſein, ihn auf die vor dem Spiegel ſitzende Perſon einzuſtellen, wodurch das Reflexbild dann natürlich der Brennweite des Objektives entrückt wird. Es iſt eben immer zu bedenken, daß dies Reflexbild als ebenfo- weit hinter dem Spiegel befindlich anzuſehen iſt,

u Von Reinhold Ortmann. 145

wie ſich der Aufzunehmende vor demſelben befindet. Was die Belichtung betrifft, ſo iſt darauf zu achten, daß ſich die Lichtquelle nicht vor, ſondern hinter dem

Phot. Elwin Neame, London.

Abb. 6.

Spiegel befindet, das Geſicht des Aufzunehmenden

alſo voll beleuchtet iſt, während das Glas nur reflef-

tiertes Licht empfängt. Was das Spiegelbild dadurch

an Schärfe verliert, gewinnt es an Weichheit. Kleine 1913. X. 10

146 Das Spiegelbild in der Photographie. u

Mängel, wie Falten, Runzeln, Geſichtsflecken und der- gleichen, die bei einer ſcharfen Beleuchtung auf der Platte erſcheinen würden und durch Retuſche entfernt werden müßten, entgehen, wenn unſer Rat befolgt wird, zumeiſt der Wiedergabe, und da man Spiegel- porträte doch wohl nur von Damen anfertigt, bedürfen die Vorzüge dieſer ohne alle weiteren Hilfsmittel be- wirkten Korrektur jedenfalls keiner ausführlichen Be- gründung.

Wenn wir ſchließlich noch erwähnen, daß Spiegel- bilder nach unſerer Erfahrung am beſten bei Tageslicht aufgenommen werden, weil Verſuche mit künſtlichen Lichtquellen durchweg minder günſtige Refultate er- gaben, ſo iſt beinahe alles geſagt, was dem halbwegs erfahrenen Amateur für dieſe beſondere Art der Porträt- photographie zu wiſſen not tut.

Die einfachſte Form von Spiegelaufnahmen, mit der der Liebhaber zweckmäßigerweiſe darum auch be- ginnen ſollte, ergibt ſich aus der durch die beiden erſten der beigefügten Beiſpiele veranſchaulichten Stellung. Die aufzunehmende Perſon wendet der Kamera ihre Rüdfeite zu, und das Geſicht wird lediglich im Spiegel ſichtbar. Von einem rein künſtleriſchen Geſichtspunkt aus betrachtet, erſcheinen dieſe Aufnahmen vielleicht ſogar als die reizvollſten, und es läßt ſich jedenfalls nicht in Abrede ſtellen, daß ſie ungezwungener und natürlicher wirken als die komplizierteren Stellungen der folgenden Bilder. Da aber der ſtrebſame Dilettant nach den erſten glücklichen Erfolgen naturgemäß auf die Überwindung immer größerer Schwierigkeiten er- picht iſt, und da ſeine hübſchen jungen Verſuchsobjekte an Bildern, auf denen fie ihr Antlitz in zwei verſchie— denen Anſichten zugleich bewundern können, vermut— lich ein noch lebhafteres Vergnügen haben, jo emp-

a Von Reinhold Ortmann. 147

fehlen wir als den nächſten weiteren Schritt eine Auf— nahme von der Art der in unſerem dritten Bilde wieder-

Phot. Elwin Neame, London.

Abb. 7.

gegebenen. Hier ſehen wir das lebendige Original im verlorenen Profil, das Spiegelbild aber in voller Vor—

148 Das Spiegelbild in der Photographie. o

deranſicht, und daß die Wirkung eine außerordentlich pikante iſt, wird jeder Beſchauer unſerer Abbildung ohne weiteres zugeben müſſen. oo

Aber es handelt fich gerade bei dieſer Aufnahme allerdings auch um eine hervorragende photographiſche Leiſtung, die gleich beim erſten Verſuch zu erreichen der Ourchſchnittsamateur wohl kaum hoffen darf. Es ſei ihm darum geraten, ſich zuvor an Aufnahmen zu üben, bei denen er mit etwas einfacheren techniſchen Behelfen auskommen kann. Wir meinen damit ſolche, bei denen der pikante Gegenſatz zwiſchen Vorder- und Seitenanſicht einfach dadurch erzielt iſt, daß die Auf- zunehmende den Kopf unmittelbar an das Spiegelglas anlehnt wie auf den Abbildungen 4 bis 7. Ze nach dem Neigungswinkel des Kopfes zum Spiegel ergeben ſich da die mannigfachſten Möglichkeiten. Da der Gegen- ſtand und fein Reflexbild beinahe in derſelben Fläche liegen, vereinfacht ſich die Einſtellung des Apparates, und auch der zweifache Hintergrund iſt nur dann er- forderlich, wenn man mit der Umgebung des Porträts über den Spiegelrahmen hinausgeht, was ſich bei größeren Köpfen ja von ſelbſt verbietet.

Wieder um einen Schritt weiter gehen wir auf unſerem achten Bilde, für deſſen Herſtellung ein drei- teiliger Friſierſpiegel verwendet worden iſt. Wir ge- winnen damit die gleichzeitige Darſtellung derſelben Perſon in Rück- und Vorderanſicht, in ſcharfem und im Dreiviertelprofil, haben alſo ſozuſagen vier Porträt- aufnahmen in einer. Wenn damit auch die Grenze überſchritten iſt, die das Künſtleriſche vom Spieleriſchen ſcheidet, ſo handelt ſich's doch um eine Spielerei von recht anmutiger Art. Nur möchten wir, um Enttäu- ſchungen vorzubeugen, vor dem Glauben warnen, daß auch die Anfertigung eines ſolchen vierfachen Bildes

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150 Das Spiegelbild in der Photographie. 2

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Phot. Elwin Neame, London.

Abb. 9.

mit ſpielender Leichtigkeit zu bewirken ſei. Hier be- deutet die Belichtungsfrage ſchon ein recht ſchwieriges

2 Von Reinhold Ortmann. 151

Problem, und der Ungeübte wird vielleicht durch die jonderbarften perſpektiviſchen Verſchiebungen auf dem

Abb. 10.

einen oder dem anderen der Reflexbilder auf recht un— liebſame Weiſe überraſcht werden.

152 Das Spiegelbild in der Photographie. u

Ein Kunſtſtückchen im eigentlichſten Sinne des Wortes zeigt uns Abbildung 9 mit ihrer achtfachen Wiedergabe der nämlichen jungen Dame. Es bedarf nicht erſt der Erwähnung, daß ſich der Photograph zur Erzielung dieſes Effektes zweier Spiegel bedient hat, zwiſchen denen die Aufzunehmende Platz nehmen mußte, während die Aufnahme über den Spiegel hin- weg erfolgte, dem fie, ihr Geſicht zugekehrt hatte. Die Spiegel waren annähernd parallel zueinander geſtellt, während der Apparat auf „unendlich“ eingeſtellt wurde. Wen es zur eyabmung reizt, der mag jein ae ver- ſuchen. | | Einen Ausblick auf die reizenbſten Möglichteiten eröffnet das in unſerem zehnten Bilde vorgeführte Beiſpiel. Die Dargeſtellte erblickt im Spiegel zwar ihr Ebenbild, aber ſie ſieht es in veränderter, einer weit zurückliegenden Vergangenheit angehöriger Tracht, während ſie ſelbſt in durchaus modiſcher Gewandung prangt. Die Erklärung des hübſchen Scherzes iſt ein fach. Es handelt ſich um zwei nacheinander bewirkte Aufnahmen auf derſelben Platte. Zunächſt wird eine Hälfte derſelben verdeckt, und die Aufzunehmende tritt vor die Kamera in dem Koſtüm, das ihr Spiegelbild zeigen ſoll. Die den einfallenden Lichtſtrahlen zugäng- liche, unverhüllte Hälfte der Platte nimmt lediglich dies Spiegelbild auf. Dann wird die Bedeckung ver- ſchoben, ſo daß die andere Hälfte der Platte für eine Aufnahme frei wird, und die zu Photographierende erſcheint auf ihr in dem inzwiſchen angelegten ver- änderten Koſtüm. Es liegt auf der Hand, daß dies Verfahren unzählige Varianten ermöglicht, und es wird einzig von dem Geſchmack des Amateurs abhängen, inwieweit er dieſe Möglichkeiten für reizvolle Wirkungen auszunützen weiß.

¹ Von Reinhold Ortmann. 153

Was un- ſere letzte Abbildung uns von der Verwend- barkeit des Spiegels in der Photo- graphie er- zählt, geht allerdings wohl ſchon um einiges über den Rahmen der Liebhaber- kunſt hinaus. UmmitAus- ſicht auf Er- folg durch das Spiegel- bild den Re- flex im Waſ⸗ fer vorzu- täufchen, wie es hier ge- ſchehen iſt, bedarf es da- zu nicht nur umitänd- licher Vor- bereitungen es und eines be- ö

trächtlichen Abb. 11.

154 Das Spiegelbild in der Photographie. a

Aufwandes an Hintergrund, Requiſiten und jo weiter, ſondern auch einer vollkommenen Beherrſchung der techniſchen und künſtleriſchen Mittel, die dem wohlaus- gebildeten Berufsphotographen zur Verfügung ſtehen. Richtige Stellung und richtige Beleuchtung ſpielen hier eine ſo wichtige Rolle, daß ein Amateur, dem ſolche Wagniſſe glüden, unſerer Anregungen und Rat- ſchläge wohl überhaupt nicht mehr bedarf.

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EIESEIEIE?

miß violet. Novelle von Luiſe v. Rohrſcheidt.

* [nachoͤruck verboten.)

lſo, lieber Junge, nun rege dich vor allen Dingen

nicht auf. Du mußt einfach das Rennen gewin- nen! Und das tut man nur, wenn man einen ruhigen Sitz, einen kalten Kopf —“

„Vor allem kein Pech hat!“

„Ach was Pech! Gibt's ja gar nicht!“

„Gibt's ſchon. Bei dem verwünſchten Spiel neulich Abend zum Beiſpiel! Der Teufel ſoll mich holen, wenn ich noch einmal durch die Karten meine Verhältniſſe aufzubeſſern ſuche.“

„Freilich eine reiche Frau iſt ſicherer.“

„Aber auch umſtändlicher. Eine Ehe ſtört ent- ſchieden beim Rennenreiten.“

„Vielleicht. Aber wenn du eine reiche Frau be— kämſt, wär's für uns drei am beſten. So müſſen wir unſere letzte Hoffnung auf deine Stute ſetzen. Die „Trilby“ wird's ſchon machen was? Da fie nit als Favorit genannt iſt, zahlt uns der Totaliſator große Summen, den zehnfachen Einſatz, wenn du ſiegſt. Da- mit iſt uns dann allen geholfen.“

Leutnant v. Dennwitz ſchob ſeinen Arm in den ſeines Regimentskameraden, des Rennreiters Leo v. Wald- burg, der, die Reitpeitſche unter den Arm geklemmt, mit zurückgehakten Rockſchößen, die weiche, blaue Dra-

156 Miß Violet. u

gonermütze feſt in die Stirn gedrückt, auf dem Sattel platz ſtand. Da er ſelbſt, ſeine Kameraden Dennwitz und Kuno v. Waldburg nur auf „Trilby“ gewettet hatten, ſo intereſſierten die anderen Rennen ſie wenig. Auch zu der mit eleganten Damen, mit Ziviliſten und Offizieren gedrängt voll beſetzten Tribüne ſahen ſie zuerſt nur flüchtig hinauf. Dann nahm Kuno v. Wald- burg aber doch ſeinen Krimſtecher vor und muſterte ungeniert die Damenreihen.

„Du!“ Er ſtieß Leo etwas mit dem Ellbogen an. „Da ganz vorn ſitzt deine amerikaniſche Miß mit ihrem unmöglichen Alten.“

„Meine amerikaniſche Miß? Ich habe keine amerika- niſche Miß!“ antwortete Leo unwirſch. f

„Nimm mein Glas und ſieh hin!“ beharrte Kuno. „Da gleich die dritte vorn links, die in dem roten Chiffonkleid.“

Dennwitz meinte gemütlich: „Die Kleine iſt ſehr feſch und ſoll ein koloſſales Vermögen haben. Leo, wie wär's?“

„Was denn ſchon wieder zum Donner etterꝰ⸗

„Biſt du aber heute kratzig! Ich meine ja nur, wenn's mit der ‚Trilby“ nicht glückt, könnte man immer noch die amerikaniſche Miß in Ausſicht nehmen.“

„Nun hör aber auf! Erſt ſoll ich für euch meine Knochen riskieren und dann eine Dame heiraten, die ich vielleicht dreimal geſehen habe!“

„Nach Shakeſpeare alſo ſchon zweimal zu oft. Ein— mal genügt vollkommen. Und überdies iſt fie in dich verſchͤſſen bis über die Ohren, das hab' ich beim Ball im Kurhaus deutlich gemerkt.“

Leo v. Waldburg zog ſeine Uhr heraus. „Ich ſteige jetzt auf!“

„Noch viel zu früh!“

= Novelle von Luife v. Nohrſcheidt. 157

„Laß ihn nur. Mit ihm iſt jetzt doch nichts an zufangen. Wenn er im Sattel ſitzt, kommt ihm ſein Verſtand zurück. Sch gehe jetzt auf meinen Tribünen- platz zu deiner Miß, Leo. Sie ſoll dir den Daumen halten.“ | |

Leo antwortete nicht. Mit Dennwitz zuſammen ging er den Ställen zu. Die geſattelten Pferde, die im nächſten Rennen laufen ſollten, wurden von den Trainern langſam hin und her geführt.

Beim Anblick der ſchmal gebauten Vollblutſtute „Trilby“ erheiterte ſich Leos Geſicht, „Wir werden's ſchon ſchaffen was?“

Der Trainer nickte. „In Frage kommt überhaupt nur der da.“ Er wies mit dem Daumen nach rückwärts.

Ein Stalljunge in roter Zade lief da mit einem großen Rappen im Kreiſe herum.

„Das iſt „Diable“, auf den alle elde Der Be- ſitzer, Herr de la Roche, reitet ſelber. Herr Leutnant müſſen ihn zunächſt ruhig führen laſſen, „Trilby“ ver- halten und dann erſt kurz vorm Ende los!“

Leo nickte. Er trat mit dem linken Fuß in den Bügel und ſaß, faſt ohne das kniſternde Leder des Sattels zu berühren, gleich darauf in der bekannten vornüber— geneigten Rennhaltung auf ſeiner „Trilby“. | Die Reiter, drei Offiziere und vier Herrenreiter,

ſtellten ſich in eine Reihe. Der Tribüne zunächſt ſtand „Trilby“, Waldburgs braune Vollblutſtute.

„Wie reizend! Nun kann ich ihr gut ſehen,“ ſagte eine helle Mädchenſtimme in fremdartig klingendem Deutſch zu ihrem Vater, dem dicken Mr. Marſton aus New Vork, der nur ſeiner einzigen Tochter zu Gefallen ih in Baden- Baden zur Kur ſtatt in New Vork in ſeinen Geſchäftshäuſern aufhielt.

Trotzdem fühlte er eine gewiſſe Hochachtung vor

158 Miß Violet. 2

ſeiner Tochter, die hier bereits ein Pferd vom anderen unterſcheiden konnte. Oder ſollte ſie vielleicht ſtatt der Stute den Reiter meinen?

„Wer iſt der Mann?“ fragte er leiſe.

„Herr v. Waldburg, glaub' ich.“

Der ſchwarze Hut verbarg die heiße Nöte ihres hübſchen Geſichtes.

„alt das der Offizier, mit dem du neulich im Kur- haus ſo oft getanzt haſt?“

„Oft? Dreimal höchſtens. Papa, du machſt immer eine Elefant aus eine Mücke!“

Mr. Marſton war daran gewöhnt, Schelte und Ver— haltungsmaßregeln zu bekommen. Er klopfte darum nur ſänft begütigend auf die kleine Hand in dem langen, perlgrauen ſchwediſchen Handſchuh und ſog dann weiter an der Elfenbeinkrücke des Spazierſtockes, den er zwi— ſchen ſeinen gewichtigen Beinſäulen hielt.

Die Fahne am Start ſenkte ſich, und eine Sekunde darauf begann der Ablauf.

Violet preßte die Hände feſt zuſammen. Sie war durchaus kein ängſtliches Gemüt, aber heute bangte ſie um die ſchlanke, blaue Reitergeſtalt auf der lang— geſtreckten braunen Vollblutſtute.

Sie nickte, als Kuno v. Waldburg, der dicht hinter ihr ſaß, ſie begrüßte und irgend etwas Erklärendes, was ſich auf das Rennen bezog, hinzufügte, aber ſie ließ das Opernglas nicht von den Augen und ſah immer nur das eine Pferd, den einen Reiter.

Herr de la Roche auf „Diable“ übernahm die Füh— rung in ſcharfem Tempo. Dicht hinter ihm kam Wald- burg auf „Trilby“. Die übrigen Pferde blieben weiter zurück. N

Das ganze Intereſſe des Publikums konzentrierte ſich bald ausſchließlich auf die zwei erſten Pferde.

2 Novelle von Luiſe v. Rohrſcheidt. 159

Durch eine geſchickte Wendung gelang es plötzlich Waldburg, ſeinen Rivalen zu überholen und auf die innere, vorteilhaftere Seite des Seils zu gelangen.

Jetzt führte „Trilby“ das Rennen. Leos Erregung legte ſich. Er war nun ſeines Sieges ſicher.

Jetzt kam die letzte hohe Schranke dicht vor der Tribüne. Das Pferd hob ſich.

Plötzlich ſpürte Waldburg einen heftigen Ruck. Etwas Anerhörtes mußte geſchehen ſein.

Ganz nahe an ihm vorüber ſah er den weißen Hinter- fuß des „Diable“ aufblitzen, der an ihm vorbei jagte, während „Trilby“, die beim Springen ſich die rechte Feſſel gebrochen hatte, ſchwer röchelnd auf die Seite fiel.

Leo ſtand unverletzt auf der Erde neben dem zu— ſammengebrochenen Pferd. Von der Tribüne her wehten Taſchentücher. Ein lautes Hurra erklang, als de la Roche auf ſeinem eee Rappen durchs Ziel jagte.

Man hatte den Sturz der „Trilby“ geſehen. Offi- ziere, Trainer, Stallburſchen liefen nach der Unglüds- ſtelle voran natürlich Leutnant v. Dennwitz und Kuno v. Waldburg.

Leo ſah immer noch wie verfteinert auf „Trilby“ herunter, die vergebliche Anſtrengungen machte, ſich zu erheben.

„Die Feſſel iſt gebrochen. Da hilft nichts, die Stute muß totgeſchoſſen werden,“ ſagte Waldburgs Trainer. „Schade! Das Rennen war ſo gut wie gewonnen. Herr v. Waldburg wird mir gewiß das Geld, das ich auf ‚Zrilby‘ ſetzte, zurückzahlen?“

„Schweigen Sie von Zhrem Geld!“ herrſchte Leo den Mann an. „Was liegt an dem Bettel? Aber daß mir das paſſieren muß! Dies arme, treue Tier habe ich zugrunde gerichtet und —“

160 ih Violet. | u

Er brach ab, weil er vor Bewegung und Aufregung nicht weiterſprechen konnte.

Eine Piſtole war bald zur Stelle, denn es kam oft vor bei dieſen gefährlichen Rennen, daß ein Pferd ſtürzte und erſchoſſen werden mußte.

„Willſt du ſelbſt?“ fragte Dennwitz.

Leo ſchüttelte den Kopf. „Meine Hand iſt jetzt nicht ruhig genug. Mach du's, Dennwitz. Aber um Gottes willen mach's kurz! Hinters linke Ohr ins Gehirn —“

„Veiß ich. Geh weg mit Kuno. Du ſiehſt aus wie ein Geſpenſt. Laß dir einen Kognak geben. Wir treffen uns dann im Hotel Stephanie.“

Der Weg, der an der Tribüne vorbeiführte, wurde zu einem Leidensgang für Leo. Vorgeſetzte und Be— kannte drängten ſich mit Fragen an ihn heran. Die Tribünen leerten ſich raſch. Vor allem die Damen wurden ungeduldig. Man mußte doch die eleganten Toiletten zeigen, den Sieger und die Beſiegten ſehen.

Neugierig drängten ſie ſich an Leo heran, der mit kurzem Gruß weitergehen wollte, als plötzlich eine ſchlanke Mädchengeſtalt in mohnrotem Chiffonkleid vor ihm ſtand und ihm den Weg verſperrte.

Violet Marſton ſtreckte dem jungen Offizier beide Hände entgegen. „Du tuſt mir ſo leid!“ ſagte ſie ganz laut.

Die Umſtehenden lächelten vielſagend. Sollten die beiden etwa ſchon heimlich verlobt ſein? Dann ſchadete freilich das verlorene Rennen nicht. Mr. Marſton hatte Geld genug, um ſeinem Schwiegerſohn einen ganzen Rennſtall zu halten. | Leo hielt die kleinen Hände in den grauen Hand- ſchuhen feſt und ſah in die großen braunen Augen, über denen es wie ein Tränenſchleier lag. Zum erſten

Male heute berührte ihn die ihm ausgelprichene Teil- nahme wohltuend. „Ich danke Ihnen von Herzen, Miß Marſton,“ antwortete er trotzdem etwas kurz und befangen.

Die vertrauliche Anrede, die ihrem mangelhaften Deutſch entſprang, klang ſo lieb von ihren roten Lippen. Ihr ſonſt ein bißchen hochmütiger Ausdruck war ganz verändert. Nur weiche Hingebung lag in dem reizenden Geſicht unter dem ſchwarzen Federhut.

Sie wußten beide nicht, daß ſie zur Beluſtigung der klatſchſüchtigen Badegeſellſchaft dienten, als ſie ſo Hand in Hand auf dem gelben Sand der Rennbahn ſtanden und ſich in die Augen ſahen.

Nr. Marſton, dem es manchmal einfiel, daß er feine Tochter behüten und belehren müſſe, kam an- gekeucht. „Well, Mr. Waldburg, das war vorbei— geglückt!“ meinte er offenherzig.

Waldburg ließ Violets Hände los und trat mit einer Verbeugung zurück.

„Verden wir Sie heute abend auf dem Rennball ſehen?“ fuhr der Amerikaner, der fließend Deutſch ſprach, fort. „Ich wette, beim Tanzen ſchlagen Sie den Franzoſen ganz ſicher.“

„Ich weiß noch nicht, ob ich kommen werde,“ wies Leo ab. „In Stimmung bin ich nicht.“

„Oh, du mußt tanzen, um zu vergeſſen!“ bat Violet.

Die Umſtehenden lächelten wieder vielſagend über die offenherzig gezeigte Vertraulichkeit der jungen Dame. |

Violet wurde rot. „Was gibt's denn? Alle ſehen mich ſo an?“ fragte ſie ihren Vater leiſe, der ihren Arm nahm, um ſie fortzuführen, während Leo ohne ein bindendes Verſprechen wegen des Balles weiterging.

„Well, in Oeutſchland nennt man nur die Herren

1918. X. 11

162 Miß Violet. 2

Du, mit denen man verwandt, verheiratet oder wenigſtens verlobt iſt,“ belehrte Mr. Marſton.

„Solchen Fehler kann jeder machen. Dieſe ſchreck— liche Sprache! Du er ſie es! Wie ſoll ich da behalten, was gerade richtig iſt?“ entgegnete Violet. „Er hat auch gar nicht gelacht wie die übrigen albernen Leute.“

„Gefreut wird er ſich haben,“ beruhigte Mr. Marſton.

„Meinſt du? Dann tut mir's nicht leid, daß ich es falſch geſagt habe. Ich möchte ihn aufheitern.“

Am Arm des Vaters ging Violet dem Hotel Stepha- nie zu. Mehrere Herren redeten ſie an und erbaten einen Tanz für heute abend. Aber ſie antwortete ſehr kühl abweiſend, es ſei noch gar nicht beſtimmt, ob ſie tanzen würde. Das Rennen habe ſie ſo müde gemacht, als ob ſie ſelber mitgelaufen wäre.

Ein Witz, den alle ſtürmiſch belachten, obgleich gar nichts Komiſches dabei war. Aber Violet Marſton war hübſch und ſehr reich. Alle verſchuldeten und unver— ſchuldeten Herren huldigten ihr, ihrer reizenden Perſon und den Millionen des Vaters.

* * *

Der Rennball im Hotel Stephanie bildete den Höhe- punkt der Saiſon. Eine elegante internationale Ge- ſellſchaft verſammelte ſich in den glänzend eingerichte- ten, mit Blumen reich geſchmückten Räumen. Alle Sprachen der Welt ſchwirrten durcheinander.

Auf der mit Lorbeerbäumen verkleideten Eſtrade ſaß eine Kapelle ungariſcher Muſiker in ſcharlachroten, verſchnürten Röcken. Wie ein einziger Strich klangen die ſingenden Geigenſtimmen. In allen Regenbogen- farben ſchimmernd ſchwebten die venezianiſchen Kron— leuchter aus geſchliffenem Glas von der weißen, reich-

8 Novelle von Luiſe v. Rohrſcheidt. 163

ſtukkatierten Decke herab, um all die Toilettenpracht der Damen hell zu beleuchten. |

Leo v. Waldburg hatte ſich endlich doch durch das Zureden ſeiner Freunde bewegen laſſen, den Ball zu beſuchen. Ihm ſelbſt nicht klar bewußt, trieb ihn das Verlangen, Violet Marſton wiederzuſehen. Durch das Gewühl von ſeidenen Kleidern, ſchwarzen Fräcken und bunten Uniformen ſah er ſich nach ihr um.

Richtig da ſtand fiel Neben ihrem Vater, um- ringt von Herren, die bisher alle vergeblich um einen Tanz gebeten hatten.

Sowie Violet Leo erkannte, änderte ſich der Aus- druck ihres Geſichtes. Schnell gab ſie Mr. Marſton ihren Fächer und ihren Strauß zu halten, trat neben Leo und legte ihre Hand auf ſeinen Arm.

Ein eigentümliches Gefühl durchrieſelte den jungen Offizier, als er die ſchlanke Geſtalt beim Tanzen leicht an ſich gedrückt hielt. Den weißen Kreppfalten ihres Kleides entſtieg ein zarter, einſchmeichelnder Duft. Leiſe hob und ſenkte ſich die von feinen blauen Adern durchzogene Bruſt bei jedem Atemzug des ein wenig geöffneten Mundes. Ein raſendes Verlangen, dieſen ſüßen roten Mund mit ſeinen Lippen zu ſchließen, ſtieg plötzlich in Leo auf.

Mühſam bezwang er ſich. Erſt 5 die Muſik ver- ſtummte, gab er Violet frei.

„Soll ich Sie zu Ihrem Herrn Vater führen, Miß Marſton?“ fragte er.

„Nein, mein Vater darf nicht geſtört werden. Er ſpielt jetzt im Herrenzimmer, denn er will doch auch fein Vergnügen haben,“ wies Violet ab. „Im Winter- garten wird's kühl ſein.“

Leo raffte vom nächſten Stuhl einen liegengebliebenen Spitzenſchal auf und hing ihn über Violets Schultern.

164 Miß Violet. 2

„Danke! Za, der Walzer machte mich heiß.“

Ihre Augen ſahen in ſeine. Er konnte den Blick nicht ganz enträtſeln. Aber wieder lief jener fröſtelnde Vonneſchauer über ihn hin.

Unbetümmert um die übrige Geſellſchaft, die ihnen mit wohlwollenden oder ſpöttiſchen Blicken nachſtarrte, führte Leo ſeine Dame quer durch den Saal in den Wintergarten, der an den Tanzſaal ſtieß.

Unter großen Fächerpalmen, ſaftigen Muſa und feinfederigem Phönix ſtanden helle Korbſtühle und Sofa. Violet ſchmiegte ſich in einen der niedrigen, mit buntſeidenen Kiſſen belegten Seſſel. Sie hielt den Kopf geſenkt. Leo blieb vor ihr ſtehen und ſah auf den reichen, braunen Haarknoten mit den weißen Perlen- ſchnüren herunter. Sein Atem ging raſch.

„Wollen Sie ſich nicht auch hinſetzen?“ bat Violet.

Etwas an ihrer Anrede kam ihm fremd und gezwun⸗ gen vor. „Heute nachmittag auf dem Rennplatz nann- ten Sie mich anders. Das klang fo reizend,“ mur- melte er. | | |

Sie hielt beide Hände gegen ihre Heinen Ohren, in denen große Brillanten an feinen Silberdrähten hingen. „Papa hat mir geſagt, welchen ſchrecklichen Fehler ich habe gemacht. Man darf in Oeutſchland nur Du zu einem Herrn ſagen, mit dem man verwandt oder verlobt iſt.“

Mit einem zärtlichen Lächeln ſah Leo in ihr reizen- des, zu ihm emporgewandtes Geſicht. „Zu mir können Sie ruhig Du ſagen, ſo oft Sie wollen.“

„Weshalb gerade zu Ihnen?“

„Weil ich dieſes Vorrecht zu ſchätzen wiſſen und nicht mißbrauchen, auch keine übertriebenen Hoff— nungen daran knüpfen würde, wie es viele andere viel- leicht täten,“ antwortete er ſchnell.

2 Novelle von Luiſe v. Rohrſcheidt. 165

„Was für übertriebene Hoffnungen?“

Eine leichte Verlegenheit überkam ihn und ließ ihn mit der Antwort zögern.

„Sie meinen, wenn ich einen Herrn Du anrede, wird der mich gleich heiraten wollen?“

Ihr Ton klang etwas ironiſch.

„Dieſe Möglichkeit iſt allerd ings nicht ausgeſchloſſen,“ antwortete er ſteif.

„Ach wiſſen Sie, das macht mir nichts aus. Ein Heiratsantrag mehr oder weniger ſchadet nichts. Um mich ſchon viele angehalten haben, die mich überhaupt nie geſehen hatten.“

„Empörend!“

„Weshalb? Ich brauchte ja nur nein zu ſagen!“

„Natürlich haben dieſe Erfahrungen Sie bewogen, ſtets nein zu ſagen und in jedem einen Glücksjäger zu ſehen?“

Mit atemloſer Spannung wartete er auf ihre Antwort. | VM Nein, das tue ich nicht,“ ſagte Violet nach einer

kleinen Pauſe langſam. Ein ſüßer Blick lag in den

großen Augen, als ſie die ſanftgebogenen Wimpern hob und ihn voll anſah. „Aber der Mann, den ich hei— rate, der muß mir gefallen, den muß ich liel en.“

„Und bisher konnten Sie das nicht?“

„Diejenigen Männer, die um mich anhielten, ſicher⸗ lich nicht.“

Leo atmete wie von einem Druck befreit auf. Schnell trat er einen Schritt vor und beugte ſich über ihren Stuhl: „Violet!“

Aber gleich darauf fielen ihm ſeine verwirrten, durch „Trilbys“ Tod hoffnungslos zerrütteten Ver— hältniſſe ein, und er trat wieder zurück. Nechaniſch zupften ſeine Hände an der Vanillepflanze, die ſich um

166 Miß Violet. | u den dicken Palmenſtamm ſchlang. Die reifen Schoten hauchten einen durchdringenden Wohlgeruch aus.

„Es wird hier zu kühl für Sie, Miß Marſton. Er- lauben Sie, daß ich Sie in den Tanzſaal zurückführe?“

Sein Ton klang ſo kalt beherrſcht, daß ihr nichts anderes übrig blieb, als aufzuſtehen.

„Sie haben recht. Die Atmoſphäre hier kühlte ſich plötzlich merkwürdig ab, beinahe bis zum Gefrieren,“ antwortete ſie. „Aber es kann ja auch wieder werden wärmer. Meinen Sie nicht auch?“

„Gewiß. Trotzdem darf ich Sie der Gefahr einer Erkältung nicht ausſetzen.“

Wieder legte er den herabgeglittenen Spitzenſchal um ihre Schultern. „Viele Herren erwarten Sie ge- wiß bereits ungeduldig, um mit Ihnen zu tanzen, Miß Marſton.“

„Laſſen Sie die nur warten! Was kümmert mich das!“

„Würden Sie lieber hier mit mir im Wintergarten ſitzen bleiben?“ fuhr es ihm unwillkürlich heraus.

„Ja, das möchte ich.“

Ein tiefer Seufzer hob feine Bruſt. „Miß Marſton, ich danke Ihnen für Ihre Teilnahme, für Ihr Ver- trauen für alles!“ ſagte er heiſer. „Aber ich ver- diene weder Ihr Vertrauen noch Ihre Güte. Zzch bin ein einſamer, heimatloſer Menſch. Wir iſt nicht zu helfen. Meine letzten Hoffnungen brachen heute beim Rennen zuſammen.“

„Sie ſind ſehr deutſch, Herr v. Waldburg.“

„Was meinen Sie damit?“ fragte er erſtaunt.

Sie hob ihre ſilbergeſtickte Schleppe ein wenig hoch. Zwei kleine Füße in weißen Atlasſchuhen kamen zum Vorſchein, an denen feine Blicke wie magnetiſch feſt— gebannt blieben. „Wenn uns Amerikaner etwas fehl—

2 Novelle von Luiſe v. Rohrſcheidt. 167

ſchlägt, dann raffen wir allen Mut, alle Energie zu- ſammen und warten auf die nächſte günſtige Gelegen- heit, um das Glück zu faſſen, wenn es will wieder vorbeigehen.“

„Sie haben recht, Miß Marſton, aber trotzdem gibt es Verhältniſſe, in denen mehr Mut zum Zurück- weichen wie zum Erobern gehört,“ entgegnete er ernſt.

„Alſo führen Sie mich zurück in den Saal. Hier iſt es wirklich kühl, kühler kalt geworden.“

„Wollen Sie doch noch tanzen?“ fragte er, denn etwas in ihm ſträubte ſich dagegen, ſie in den Armen eines anderen über das blanke Parkett gleiten zu ſehen.

„Nein, ich gehe in mein Zimmer hinauf,“ antwortete ſie langſam.

Er atmete wie befreit auf. Dann nahm er ihre Hand, ſtreifte den langen Handſchuh zurück und küßte das feine Gelenk, um das Ketten und Spangen mit blißen- den Edelſteinen hingen. |

Violet errötete. Mit einem leichten Ropfneigen verabſchiedete fie ſich von Leo am Ausgang des Saales, der ihr gedankenvoll nachſah, bis ihn jemand von hinten auf die Schulter klopfte.

„Du biſt's, Dennwitz? Tanzeſt du nicht mehr?“ fragte er ſchnell.

„Jetzt wollen wir in Kunos Zimmer, um ein ver- nünftiges Wort mit dir zu reden, Leo.“

Ohne dem Freund Zeit zur Erwiderung zu laſſen, ſchob er ihn der Tür zu.

Kuno v. Waldburg folgte, nachdem er dem Ober- kellner noch eine Beſtellung zugerufen hatte.

„So, nun ſind wir ganz unter uns und können frei von der Leber weg reden.“ Dennwitz nahm Kuno v. Waldburgs rotſeidenes Taſchentuch und ſteckte es

168 Miß Violet. D

um die elektriſche Stehlampe, deren Glühfäden ihn blendeten. „Menſch, wie kannſt du Chypre als Parfüm verwenden!“ ſchalt er dabei mit ärgerlichem Nafe- rümpfen. „Das iſt ja ganz veraltet.“

„Was iſt denn jetzt die neueſte Neuheit?“

„Ideal. Koſtet zwar zwanzig Mark das Fläſchchen, aber man braucht nur wenige Tropfen. Du parfümierſt dich viel zu ſtark.“ N

„Heute mußte ich die Stallatmoſphäre überbieten.“

„Gut aber nicht mit dieſem Zeug!“

„Man ſollte denken, ihr wäret zwei Friſeure und prieſet eure Fabrikate an,“ ſagte Leo gelangweilt.

Er ſaß, den beiden Freunden halb den Rücken zu- kehrend, im Schaukelſtuhl und rauchte eine Zigarette nach der anderen.

„Gar kein ſo übles Geſchäft, Friſeur zu ſein!“ meinte Dennwitz. „Vielleicht ziehen wir die Grün- dung eines ſolchen Geſchäftes bei unſeren Zukunfts- plänen in Erwägung. Kuno ſchlägt Schaum. Das verſteht er ausgezeichnet in jeder Beziehung. Du, Leo, lernſt friſieren. Denke dir das aus, wenn dir Violet Marſtons braune Locken durch die Finger gleiten.“

„Hör auf mit dem Blödſinn! Zch dulde kein un- gehöriges Wort über Miß Marſton!“ rief Leo ärgerlich.

Dennwitz hob ſeinen Champagnerkelch hoch und beſah intereſſiert die ſcharfen Lichtreflexe in dem ge- ſchliffenen Glas. „Ich kann doch annehmen, daß Miß Marſton ſich ab und zu kämmen läßt,“ meinte er dann gelaſſen, „findeſt du das ungehörig?“

„Jedenfalls bitte ich dich, Miß Marſtons Namen bei dieſer Unterredung von nun an auszuſchalten.“

„Das wird ſich ſchwer machen laſſen, denn ſie iſt der Punkt, um den ſich alles dreht. Und nun bitte

2 Novelle von Luiſe v. Rohrſcheidt. 169

ich dich, trinke nichts mehr, Kuno! Wir müſſen mit kühlen Köpfen einen Entſchluß faſſen.“

Leo ſtand auf. „Heute abend nicht mehr. Ich gehe ins Bett.“

„Du bleibſt gefälligſt.“ Dennwitz drückte den Freund wieder in den Stuhl. „Was zwiſchen uns zu bereden iſt, muß noch heute erledigt werden.“

Der Kellner betrat nach diskretem Klopfen das Zimmer, räumte das Geſchirr zuſammen und ſchwang das vollbeſetzte Brett mit der Geſchicklichkeit eines Songleurs auf feine Schulter. „Sonſt noch Befehle?“ fragte er. | |

„Papier, Tinte, Federn!“

„Bitte ſchön alles ies ſich auf dem SIE tiſch am Fenſter.“

„Schön. Dann können Sie verduften.“

„Ich weiß nicht, was mir an dem Schafsgeſicht dieſes Menſchen ſo unangenehm iſt,“ ſagte Leo, als die Tür ſich wieder hinter dem Kellner ſchloß.

„Unſinn! Einer ſieht aus wie der andere.“

Dennwitz holte einen großen Bogen Papier, Tinten- faß und Feder.

„Was ſoll denn die Schreiberei e am ſpäten Abend?“

„Unſere Schulden will ich aufnotieren. Du weißt, Leo, wir haben für dich mit gutgeſagt bei dem Geld- verleiher. Der wartete nur den Rennerfolg ab. Da- mit iſt's nun nichts geworden. Bezahlen wir ihn nicht, verklagt er uns beim Kommandeur. Was dann?“

„Leo, du mußt unbedingt um Wiß Marften an- halten!“ bat Kuno. „Eine reiche Heirat reißt uns raus.“

„Es tut mir namenlos leid, euch ins Unglück mit. geriſſen zu haben. Hätte ‚Trilby“ geſiegt, dann hättet ihr heute noch euer Geld, aber —“

170 Miß Violet. 0

„Wiſſen wir. Du biſt der anſtändigſte Menſch auf der Welt, Leo. Nun ſei aber auch einmal ein ver- nünftiger dazu!“ ſagte Kuno. „Man muß für feine Freunde zu einem Opfer bereit ſein.“

„Zu jedem wäre ich

„Nur nicht zu dem, um das wir dich bitten.“

. „Nein, dagegen ſträubt ſich mein Ehrgefühl. Ich müßte mich vor Miß Mariton direkt en

„Sie gefällt dir aber doch?“

„Gewiß. Zuerſt hatte ich nur einen unbestimmt an- mutigen Eindruck von ihr, aber heute nach dem Rennen, als ſie mich fo mitleidig mit ihren ſchönen Augen an- ſah ſeitdem bin ich ihr gut. Ja, wahrhaftig das bin ich! Sie war die einzige, die begriff, daß, Trilbys“ Tod nicht nur einen Geldverluſt für mich bedeute, ſondern mir direkt ins Herz ſchnitt.“

„Nun, dann iſt ja alles in ſchönſter Ordnung!“

„Wieſo?“

„Miß MVarſton iſt in dich verliebt. Du biſt ihr gut. Ihr Vater iſt Millionär. Das Vermögen iſt ſicher angelegt und beſteht nicht, wie ſo oft, aus noch nicht eingefangenen Büffelherden oder ähnlichem amerika— niſchen Schwindel. Ich erkundigte mich genau nach allem. Was hindert dich alſo, glücklich zu ſein, ſelbſt zu beglücken?“

„Meine verwirrten Geldverhältniſſe.“

„Die ordneſt du doch gerade durch dieſe Heirat! Leo, du biſt ebenſo bockig und begriffsſtutzig wie mein alter Chargengaul,“ ſchalt Kuno.

„Ich kann nicht, und ich will nicht!“ beharrte Leo. „Venn Violet Marfton mir nicht fo liebreizend erſchiene, brächte ich es vielleicht um euretwillen fertig, ſie zu hintergehen. Aber jo nein, das wäre Tempelſchän— dung, wie wenn man ein Heiligtum in den Staub zieht.“

u Novelle von Luiſe v. Nohrſcheidt. 171

„Dummes Zeug!“

„Laß ihn! Mit ihm iſt heute nicht zu reden.“ Runo zwinkerte Dennwitz vielſagend zu. „Ich kenne den Waldburgſchen Oickſchädel. Wir müſſen uns allein helfen.“

„Wie denn?“

„Vir zwei loſen einfach, wer um Miß Marſton an- halten ſoll.“

„Sie nimmt keinen von euch!“ fuhr Leo mit rotem Kopf dazwiſchen.

„Mein Lieber, du willſt die hübſche Miß ja durchaus nicht heiraten. Nun rede alſo auch nicht mehr mit, ſondern verſchwinde vom Schauplatz, damit der durch das Los Begünſtigte ungeſtört um ſie werben kann.“

„Ihr habt ja gar keinen Urlaub mehr!“ |

„Der Katzenſprung von Bruchſal bis Baden-Baden hindert uns nicht. Aber du mußt uns dein Wort geben, nicht wieder herzukommen, bis die Sache geordnet iſt.“

„Sie nimmt ganz entſchieden keinen von euch!“ beharrte Leo.

„Das hatteſt du bereits die Liebenswürdigkeit uns zu verſichern.“

Dennwitz riß von dem Bogen Papier drei Stücke ab. Zwei Zettel ließ er leer. Auf den dritten ſchrieb er mit großen Buchſtaben „Violet Marſton“. Sorgfältig zuſammengerollt legte er die drei Loſe auf einen Teller, den er mit einer Serviette bedeckte.

„Jetzt wetten wir erſt mit dieſem Zwanzigmark- ſtück darum, wer anfangen ſoll. Kopf oder Schrift, Kuno?“

„Schrift.“

„Stimmt. Alſo, Kuno, du fängſt an. O ſchickſals- ſchwerer Augenblick! Gleich werden wir wiſſen, wer die braunlockige Miß freit.“

172 Miß Violet. E

„Halt!“ Leo ſtieß den Teller beiſeite, ehe Kuno die Hand unter die Serviette ſtecken und ein Los heraus- ziehen konnte.

„Willſt du dich alſo doch noch beteiligen?“ fragte Dennwitz gemütlich. „Na, das dachte ich mir im voraus, darum habe ich gleich drei Loſe gemacht. Du, als von der Dame Bevorzugter, haſt jedenfalls die Vorhand und darfſt anfangen. Nicht, Kuno?“

„Bitte ſehr. sch trete gern zurück.“

„Ihr werdet ſie nicht heiraten,“ ſagte Leo feſt. Sein Atem ging kurz und gequält. „Oavor will ich Miß Marſton denn doch bewahren. Ihr ſeid gute Freunde und ganz nette Offiziere, aber ihr würdet miſerable Ehemänner werden.“

„Danke verbindlichſt!“

„Keine Urſache. Du, Dennwitz, biſt egoiſtiſch und ein eingefleiſchter Zunggeſelle. Nach wenigen Mo- naten würde deine Frau ſich vernachläſſigt und unglüd- lich fühlen. Kuno aber läuft jeder Schürze nach und iſt unverbeſſerlich leichtſinnig im Geldausgeben.“

„Ausgezeichnet, daß gerade du mir das vorwirfſt! Dir borgte ich mein Kapital, damit du dir ein Renn- pferd halten konnteſt.“

„Auf ſolche unſichere Chancen hin ſein Geld zu ver— borgen, iſt eben leichtſinnig, mein verehrteſter Kuno. Das ſiehſt du doch an den Folgen.“

Kuno v. Waldburg griff ſich an den Kopf. „Ich weiß bald nicht mehr, bin ich verrückt, oder biſt du's, Leo!“

„Vahrſcheinlich ſeid ihr's beide. Familienähnlich- keit!“ meinte Dennwitz lachend. „Das merke ich aber heute ſchon, unſer ſchneidiger Rennreiter und genialer Haushalter, Leutnant Leo v. Waldburg, gibt einmal einen vorzüglichen Familienvater ab. Statt Rennen

reitet er künftig nur noch Prinzipien und wiegt die kleinen Marſtons.“

„In dieſem Fall dürften ſie wohl Waldburg heißen,“ verbeſſerte Kuno.

„Ihr ſeid frivol und brutal zugleich. Euch laſſe ich nicht um Violet Marſton anhalten, obgleich ihr ſicher mit langen Geſichtern und einem Vaſchkorb abziehen würdet.“

„Schön aber ſicher iſt ſicher. Nimm endlich ein Los!“ 3

Leo fuhr mit der Hand unter die Serviette. Langſam rollte er den Zettel auf. „Violet Marſton!“ las er, und unwillkürlich hob ein erleichterter Atemzug ſeine Bruſt.

Er rollte den Zettel um den Finger und warf ihn dann achtlos auf den Teller. „Nun, auch ohne dieſen Zufall würde ich euch nicht erlaubt haben, Violet un-

glücklich zu machen.“ | „Schon gut erhitze dich nicht! Das Schickſal ſelbſt hat ein Einſehen.“

Dennwitz klopfte dem Freund auf den Rücken. „Mach deine Sache gut, lieber Zunge. Ein paar Tage ſchmachte fie meinetwegen noch an. Dann aber 'rin ins Vergnügen!“ |

„Sag dem alten Amerikaner gleich ein paar tauſend Dollar mehr. Das geht in einem hin!“ rief Kuno.

„Ja, und meine Ehre dazu!“ antwortete Leo plöß- lich mit ganz veränderter, heiſerer Stimme. Mit merf- würdig kaltem, faft feindſeligem Blick muſterte er feine beiden Freunde. „Euer Geld iſt euch ſicher. Aber ich weiß nicht, mir iſt, als ob unſere Freundſchaft durch dieſen Abend einen Riß bekommen hätte. Gute Nacht!“ a |

Dennwitz und Kuno v. Waldburg ſahen ihm ver- blüfft, mit ſeltſam ernüchtertem Gefühl nach.

174 | Miß Violet. u

Violet Marſton ſaß vor dem Friſiertiſch in ihrem Schlafzimmer und ließ ihr langes Haar von ihrer fran- zöſiſchen Jungfer Zuliette ſorgfältig kämmen und bürſten.

Dies war die Stunde, in der das Mädchen mit ihrer Herrin plaudern durfte.

Heute blieb Juliette merkwürdig ſchweigſam. Ihre ſonſt ſo leichte Hand fuhr mit ſcharfen Bewegungen durch das dichte, braune Haar der vor ihr Sitzenden. Jeder Bürſtenſtrich bedeutete anſcheinend einen ener- giſchen Proteſt gegen irgend etwas. Ab und zu warf fie ſchnell einen fragenden Blick auf das reizende Ge— ſicht des jungen Mädchens. Ein tiefer Seufzer folgte dann jedesmal.

„Warum puſten Sie denn wie ein Lokomotiv, Juliette?“ fragte Violet. „Mein Haar weht ja ordent- lich. Fehlt Ihnen etwas? Sie reden ja heute gar nichts! Sind Sie krank!“ |

„Nein, Mademoiſelle, krank bin ich nicht. Aber ich habe etwas erfahren, was mir ſehr weh tut.“

Juliette brannte offenbar darauf, ausgefragt zu- werden. Violet tat ihr auch den Gefallen.

„Was hörten Sie denn? Es wird wohl nicht ſo ſchlimm ſein. Vielleicht iſt's nur halb oder gar nicht wahr?“

„Doch, Mademoiſelle. Leider gibt's keinen Zweifel. Und daß gerade Sie, Mademoiſelle —“

„Nur weiter!“ ermunterte Violet.

„Mademoiſelle kennen den Kellner Louis? Er be— dient in dieſem Stockwerk und iſt gewiſſermaßen mein Landsmann. Wir plaudern oft miteinander.“

„Das kann ich mir denken.“

„Als der Ball geſtern noch im Gange war, mußte Louis für drei Offiziere Braten und Champagner nach

2 Novelle von Luiſe v. Rohrſcheidt. 175

Zimmer 17 bringen. Die Herren ſtritten lebhaft mit- einander, verſtummten aber ſogleich, als Louis eintrat. Aber der, wie die Kellner fo find, war neugierig ge- worden. Er blieb im Nebenzimmer. Da konnte er jedes Wort mitanhören.“ |

„Was geht das mich an?“

„Aber Mademoiſelle, es betraf ja gerade Sie. Denn zwei der Herren beredeten den dritten, den ſie mit Leo anredeten, um Mademoiſelle anzuhalten.“

„Und das wollte er nicht?“

„Nein, mit Händen und Füßen ſträubte er ſich, ſagte Louis. Aber die anderen überſtimmten ihn ſchließlich, das Los zu ziehen, wer Mademoiſelle hei— raten und dann ſpäter von der Mitgift die gemein- ſamen Schulden bezahlen ſolle.“

„Das iſt gewiß eine Lüge!“

„Nein. Heute früh, als Louis das Zimmer auf- räumte, fand er die Zettel.“

„Weiß Louis vielleicht auch, wer von den dreien gewann?“

„Jawohl der Offizier, der seiten das Rennen verloren hat.“

„Juliette, ich verbiete Ihnen, über dieſe Geſchichte zu ſprechen. Hören Sie kein Wort mehr davon!“

„Mademoiſelle, über meine Lippen kommt kein Laut mehr.“

„Deſto beſſer. Als Siegel können Sie noch mein lila Seidenkleid, das Ihnen ſo gut gefällt, darauf legen.“

Juliette küßte Violets Hand. Ganz verſtehen konnte ſie das Benehmen ihrer jungen Herrin nicht. Welche Dame würde nicht empört ſein, wenn ſie er— fuhr, daß drei verſchuldete Offiziere um ihren Beſitz loſten? Violet aber blieb ganz ruhig, kaum daß ſie die Farbe wechſelte.

176 Miß Violet.

Aber fie ſetzte auch allen Verſuchen einer weiteren Unterhaltung ein ernſtes Schweigen entgegen, ſo daß Juliette endlich verſtummte und die Toilette beendete.

Violet erhob ſich und verließ ihr Zimmer. Nr. Marſton erwartete feine Tochter bereits ungeduldig an dem zierlich gedeckten Frühſtückstiſch auf der Veranda, um deren Säulen der rötliche Wein ſeine graziöſen Ranken hing. Dazwiſchen ſchimmerten die dunklen Sternblumen der Klematis. Ein feiner Duft ſchwebte von den Reſedarabatten des Gartens herüber, wenn der warme Atem des Sommerwindes ſie anhauchte.

Violet goß den Tee ein und legte dem Vater Schin— ken und Eier vor. Sie ſelbſt zerkrümelte nur zerſtreut den Toaſt auf ihrem Teller. Die Erzählung der Jungfer beſchäftigte fie lebhaft. Ein leiſer Schmerz ſaß in ihrein Herzen feſt. Sie glaubte die Stelle zu fühlen, die körperlich weh tat.

Aber ſie war keine Natur, die lange grübelte. Naſch gewann ſie ihre heitere Zuverſicht zurück. „Beeile dich mit deinem Tee, Papa,“ bat ſie. „Vir müſſen unſeren Morgenſpaziergang machen.“

Mr. Varſton ſtieß gedankenvoll ein paar blaue Rauchringe aus dem kreisrund geöffneten Mund, die in. der ruhigen, warmen Luft eine Sekunde ſtillſtanden, ehe ſie langſam zergingen. „Ich bekam einen Haufen Geſchäftsbriefe aus New Vork, Violet, die ich beant- worten muß.“

„Das iſt nur eine Ausrede, um dich vom Spazier- gang zu drücken. Nichts da, Maſter Faulpelz! Die Briefe können warten.“ |

„Diesmal nicht. Das Schreiben meines Kompagnons iſt dringend.“ |

„Das find deine geſchäftlichen Angelegenheiten immer:“

2 Novelle von Luiſe v. Rohrſcheidt. 177

„Heute aber eiliger denn je.“

„Du wirſt doch nicht Bankrott machen, Papa? Das paßte mir augenblicklich gar nicht.“

„Im Gegenteil, Kind. Ein Projekt liegt vor, bei dem wir viel verdienen können.“

„Haſt du denn noch nicht genug, du Nimmer— ſatt?“

„Geld kann man nie genug beſitzen und für wen will ich's denn erwerben?“

„Für mich, das weiß ich wohl, du guter, fleißiger alter Papa!“

„Violet, wäre es dir ſehr unangenehm, Baden- Baden zu verlaffen und mit mir nach New Vork zurück- zureiſen?“

„Jetzt ſoll ich fort von hier?“

„Nur für ein paar Wochen.“

„Unmöglich, Papa jetzt kann ich nun einmal nicht weg!“

„Weshalb nicht?“

Violet zögerte. Dann faßte fie einen raſchen Ent- ſchluß. Wenn Leo v. Waldburg wirklich um fie an- halten wollte, war es beſſer, wenn ſie ihren Vater vorbereitete, was er antworten ſolle.

„Papa, du hatteſt mit deiner Neckerei geſtern beim Rennen nicht ganz unrecht,“ fing ſie endlich an.

„Mit welcher Neckerei, Kindchen?“

„Ach, du meinteſt doch, der eine von den Bruch— ſaler Dragonern, der das Rennen verlor, huldige mir ein wenig. Nun, geſtern abend kam mir das auch ſo vor.“

„Du glaubſt, daß er anhalten wird? Das kann ja brieflich erledigt werden, Violet. Ich habe ſchon eine gewiſſe Übung, abſchlägige Antworten zu erteilen.“

Violet legte ihre Hand auf die des Vaters. „Und

1913. X. 12

178 Miß Violet. 2

wenn ich dich nun bitten würde, diesmal nicht nein ſondern ja zu ſagen?“

„Violet, Kind, du kennſt den jungen Offizier ja kaum! Wir wiſſen nichts von ihm, als daß er ein gut- gerittenes Rennen im letzten Augenblick verlor.“

„Darum ſoll er in dem Rennen um meine Hand nicht auch noch verlieren!“ entgegnete ſie etwas gezwungen lachend. „Du kannſt dich ja nach ihm erkundigen.“

„Das kenne ich. Die Regimentskommandeure loben ihre Leutnante immer über den grünen Klee, wenn eine reiche Heirat in Frage kommt.“

„Venn er wirklich ein paar tauſend Dollar Schulden hätte, wäre das ſo ſchlimm?“ ſchmeichelte Violet. „Der Arme verlor geſtern fein ſchönes Pferd. Und Renn- pferde ſind ſehr teuer.“

„Seine Schulden könnte ich natürlich bezahlen, wenn's nicht gar zu arg iſt. Aber der Gedanke, daß er dich heiraten will, damit ich dies tue, der beleidigt mich.“

„Mich auch. Aber ich glaube, er würde mich auch ohne deine Millionen mögen. Das viele Geld ſtört ja weiter nicht.“

Mr. Marſton mußte lachen. Violets nüchterne Auffaſſung aller Verhältniſſe ſagte ihm ſehr zu. Man konnte fo gut ohne Gefühlsüberſchwang mit ihr reden.

„Alſo, Papa, hör zu. Du weißt, ſchließlich tuſt du doch immer, was ich will. Du mußt in Baden-Baden bleiben, bis Herr v. Waldburg um mich angehalten hat.“

„Hoffentlich beeilt er ſich wenigſtens damit.“

„Daran zweifle ich nicht. Weißt du, er wird ſchnell ein neues Pferd brauchen. Seine Verlobung mit mir hebt ſeinen Kredit.“

„Ja, daß er dich heiraten möchte, finde ich ſehr begreif- lich. Aber warum willſt du dich eigentlich mit ihm ver- loben? Du könnteſt noch ganz andere Partien machen.“

D Novelle von Luiſe v. Rohrſcheidt. 1789

„Nun er gefällt mir. Darum will ich ihn haben. Alſo ſei nett mit ihm, Papa. Stelle keine indiskreten Fragen nach feinen Schulden. Die follen alle Leut nante haben.“

„Bruchſal iſt ein Neſt, Violet. 1 |

„Ja nicht ganz fo groß wie New Vork und etwas weniger elegant wie Paris.“

„Und dein alter Papa kann allein in New Vork ſitzen und Trübſal blafen, wenn Mrs. Waldburg in Bruchſal wohnt.“

„Mein alter Papa wird vernünftig ſein, die Ge— ſchäfte abwickeln, ſich zurückziehen, in Baden- Baden eine ſchöne Villa bauen und alle paar Tage ſeine Tochter in Bruchſal beſuchen.“

„Darüber ließe ſich reden.“

„Abgemacht, Papa! Wenn Herr v. Waldburg dir ſchreibt, dann will ich deine Antwort vorher leſen. Hält er mündlich an, ſo ſagſt du ja und bieteſt ihm ganz vorſichtig an, zunächſt den Verluſt des Rennpferdes zu erſetzen.“

„Darf ich dann reiſen, wenn Mr, Waldburg ſich mit dir verlobt und gütigſt das Geld angenommen hat?“

„Ja, aber beeile dich, bald zurückzukommen. Wäh- rend deiner Abweſenheit ſtelle ich mich unter den Schutz der alten Mrs. Homer. Sn drei Wochen kannſt du gut zurück ſein.“

„Venn's durchaus ſein muß geht's.“

„Das muß fein. Länger kann ich dich nicht ent- behren. Du biſt alſo mit meinen Plänen einverſtanden, du guter, lieber alter Papa?“

Wozu hätte Nr. Marfton nicht ja geſagt, wenn Violet ihn dafür zärtlich anlächelte?

Im Grunde konnte er es ihr auch nicht verdenken, wenn ihr der ſchlanke, hübſche Dragonerleutnant beſſer

180 Miß Violet. D

gefiel wie die Herren in Amerika, die meiſt recht nach- läſſige Manieren und den Kopf ausſchließlich von ihren Geſchäften voll hatten. Warum ſollte ſein einziges Kind nicht ganz nach Gefallen heiraten? Sein Leben lang hatte er nur dafür ee daß er ihr jeden Wunſch erfüllen konnte.

Den ganzen Morgen über ſchaute Violet vergebens nach Leo v. Waldburg aus. Weder auf dem von alten Bäumen umſtandenen, ideal ſchön gelegenen Tennis- platz noch bei ihrem Spaziergang mit dem Vater konnte ſie ihn entdecken.

Die Allee, die ſich von Baden- Baden bis Lichtental hinzieht, beſteht aus vier Reihen ſchöner Bäume. Ka- ſtanien wehen mit grünen Fächern zwiſchen ſtreng duftenden Nußbäumen. Dazwiſchen ſchieben ſich die Zweige des Ahorns mit den ſcharfgezackten Blättern.

Mr. Marſton ging heute ganz ſtumm neben ſeiner Tochter her. Die Nachrichten aus New Vork beſchäftig- ten ihn, daher ſtörte er Violets Gedanken nicht. Ihr ungewöhnlich nachdenkliches Weſen fiel ihm zwar auf, aber das ſchob er hauptſächlich auf die Unannehmlichkeit ihrer baldigen Trennung. Der Gedanke, einen Heirats- antrag mehr oder weniger zu haben, konnte ſeiner An- ſicht nach Violet wirklich nicht beſonders erregen. Ganz erſchrocken ſah er ſie daher an, als ſie plötzlich mit faſt ſchmerzhaftem Druck ſeinen Arm umklammerte.

„Da da geht er, Papa! Du mußt ihn mir bringen. Er iſt in Zivil und will gewiß abreiſen. Aber ich will ihn vorher noch ſprechen.“

„Wen denn nur?“

Violet ſtampfte vor Ungeduld mit dem Füßchen. „Herrn v. Waldburg natürlich!“

2 Novelle von Luiſe v. Rohrſcheidt. 181

„Aber Kind, du ſagteſt doch, der wolle um dich anhalten?“

„Ich weiß das doch nicht gewiß. So geh doch nur, Papa lauf raſch, bitte, vielleicht war alles nur Einbildung von mir und —“

„Der wird ſchon wollen!“ brummte Nr. Marſton. Der Gedanke, bei dieſer Hitze einem zögernden Be- werber nachlaufen zu ſollen, erſchien ſelbſt ihm, trotz ſeiner ſprichwörtlichen Gutmütigkeit, als eine ſtarke Zumutung.

„Beeile dich doch!“ befahl Violet aufgeregt.

Mr. Mariton ſetzte ſich ſeufzend in Bewegung. Dabei winkte er mit dem Stock und ſchrie aus Leibes- kräften den Namen des jungen Offiziers, bis dieſer end- lich hörte und ſich umwandte gleichzeitig aber auch alle anderen auf der Lichtentaler Allee ſpazierenden Menſchen. N

„Papa, du biſt von einer unglaublichen Ungeſchick— lichkeit!“ tadelte die herankommende Violet. „So etwas macht man doch unauffällig!“

„Der Schlag rührt mich beinahe,“ ſchalt der alte Amerikaner. „Dort kommt dein phlegmatiſcher Leut- nant. gebt halte ihn feſt, damit die Geſchichte erledigt wird und ich abreiſen kann. Ich gehe jetzt nach Hauſe. Wenn du etwas von mir willſt, weißt du, wo ich bin.“

„Schön, Papa! Herr v. Waldburg wird mich gewiß ſpäter nach Hauſe bringen. Zch brauche dich alſo jetzt nicht mehr.“

Mr. Warſton machte, daß er weiterkam. Diesmal war er wirklich etwas ärgerlich über Violet. Länger wie eine halbe Stunde pflegte das aber nie zu dauern, es beunruhigte die junge Dame daher keineswegs.

Als Leo v. Waldburg vor ihr ftand, gab fie ihm unbefangen herzlich die Hand und bat ihn, ſie auf

182 Miß Violet. a

einem Umweg nach Haufe zu begleiten, da es ihrem Papa zu heiß geworden ſei.

„Sehr gern.“ Leo beugte ſich tief über Violets Hand.

In ſeiner immer korrekten Haltung ging er neben ihr her. Ab und zu ſtreifte ſein Blick ihr ihm zugewandtes Profil. Wirklich fie war bei Tageslicht in dem ein- fachen Anzug noch tauſendmal ſchöner als mit ihren Perlen und Brillanten im Schein der elektriſchen Be— leuchtung. Ein Seufzer hob feine Bruſt.

„Warum ſeufzen Sie denn ſo tief?“ ſpöttelte Violet. „Venn ich das nun auch tun wollte!“

„Sie? Was haben Sie für einen Grund, ſich zu beklagen?“ forſchte Leo mit plötzlich erwachtem Miß— trauen. Sein ſchlechtes Gewiſſen regte ſich. Sollte ſie etwas erfahren haben? Der alte Marſton kehrte ja auffallend plötzlich um, obwohl er ihm zuerſt nach- gelaufen war. „Miß Marſton, ich verſichere Zonen —“

„Aber was iſt denn? Warum machen Sie ſolch komiſches Geſicht?“ lachte ſie. „Sagen Sie mir den Grund öhres tiefen Seufzers, dann will ich Ihnen auch

„Mein Seufzer galt dem Abſchied von meinem ſchö— nen Pferd und ſodann meinen troſtloſen Verhältniſſen.“

„Beides hängt wohl zuſammen?“

„Sehr eng. ‚Trilby“ iſt tot. Ob ich mir jemals wieder ein Rennpferd halten kann, erſcheint ſehr fraglich. Der Trainer hieb mich bei unſerer letzten Unterredung natür- lich nech gehörig übers Ohr. Auch das Geld, das er beim Totaliſator auf ‚Zrilby‘ ſetzte und durch meine Schuld verlor, wie er ſagte, mußte ich ihm erſetzen.“

„Dieſe Unverſchämtheit!“

Leo zuckte die Achſeln. „Mit ſolchen Leuten kann man ſich doch nicht um Geld ſtreiten.“

2 Novelle von Luiſe v. Rohrſcheidt. 183

„Oh, mein Lieber, den Kaſſenſchlüſſel behalte ich, wenn wir heiraten!“ dachte Violet. Laut ſagte ſie nur: „Herr v. Waldburg, Sie ſcheinen recht wenig praktiſch zu denken.“

„Was hätten Sie denn an meiner Stelle getan?“

„Den Spieß umgedreht und geſagt: „Lieber Freund, wenn Sie das Pferd beſſer trainiert hätten, würde es nicht gefallen ſein.“ Sehen Sie, ſo macht man das in Amerika.“

„Wahrhaftig, das wäre wohl das richtigſte geweſen. Miß Marfton, ich bewundere Ihren praktiſchen Blick.“

„Ich bin die Tochter eines Kaufmanns. Glauben Sie, daß man Geld bekommt, ohne zu rechnen?“

„Ich habe nie zu rechnen verſtanden und werde das wohl auch nie lernen.“

„Vermutlich nicht. Vielleicht aber gefallen Sie mir gerade deshalb ſo gut.“ Wieder traf ihn jener zärtlich bewundernde Blick der ſchönen, ſprechenden Augen, der ihm wie ein Feuerſtrom durch die Adern ging.

In ihr Geſpräch vertieft, hatten beide es nicht be- achtet, daß der Himmel ſich immer mehr verfinſterte. Die ſoeben noch ſtechend heiße Sonne kroch hinter eine ſtahlblaue Wolkenwand. Kurze Windſtöße wirbelten den Sand der Allee in großen Wolken auf. Die meiſten Spaziergänger ſuchten ſchnell ein ſchützendes Dach zu gewinnen.

Leo und Violet wurden erſt aufmerkſam, als ein dumpf rollender Donner zu grollen begann und ein paar ſchwefelgelbe Blitze aus der gewitterſchwangeren Wolke herniederzuckten.

Erſchreckt ſah Violet auf. „Ein Gewitter oh, wie ich mich fürchte davor!“

„Wir ſind jetzt weit ab vom Hotel Stephanie, und Sie haben nur Ihren Sonnenſchirm —“

184 Miß Violet. oO

„Der Regen tut mir nichts. Aber die Blitze find ſo gefährlich!“ rief Violet und lief ängſtlich weiter.

Leo nahm ihren Arm. „Seien Sie ruhig. Es ſoll Ihnen nichts geſchehen!“ tröſtete er. „Hier ganz in der Nähe iſt ein Pavillon, in dem wir Schutz finden.“

„Und wenn der Blitz dort hineinſchlägt?“

So ſchnell ihre Füße ſie tragen konnten, eilte ſie vorwärts. Als die erſten großen Tropfen hernieder- rauſchten, erreichten ſie glücklich den Pavillon.

Tief aufatmend ſetzte ſich Violet auf das ſchmale Bänkchen, Leo dicht neben ſie.

In ihrer Angſt erſchien ſie ihm ſo rührend kindlich und hilfsbedürftig, daß er den Arm um ihre Schultern legte und ihren Kopf gegen ſeine Bruſt lehnte, damit ſie die grellen Blitze nicht ſehen könne.

Violet ließ wie willenlos alles mit ſich geſchehen. Ein träumeriſches Wohlbehagen überkam ſie. Das eintönige Fallen der ſchweren Regentropfen hatte etwas Einſchläferndes in dem Halbdunkel des kleinen, engen Pavillons. Sie fühlte das ſtarke Pochen von Leos Herz, das dicht neben ihrem ſchlug, und die Anſpannung der Muskeln in dem Arm, der ſie umfaßte. Im Geiſt ſah fie ihn wieder wie geſtern beim Nennen über Hürden und Gräben fliegen mit dem Zug eiſerner Entſchloſſen⸗ heit in dem ſchöngeſchnittenen Geſicht.

And plötzlich, ſie wußte ſelbſt nicht, wie es tam, hatte ſie ſeine gebräunte Hand zwiſchen ihren weißen Fingern.

Erſtaunt, entzückt beugte er ſich zu ihr und las die große Liebe zu ihm in ihren zu ihm aufgeſchlagenen Augen. Mit einem Ruck ſchob er ihr den kleinen Hut vollends aus ihrer Stirn, hob das reizende Geſicht, das an ſeiner Schulter lag, in die Höhe und drückte heiße Küſſe auf den roten Mund.

2 Novelle von Luiſe v. Rohrſcheidt. 185

Violet gab die Küſſe leidenſchaftlich zurück. Was kümmerten ſie jetzt Blitz, Donner, Hagel und Regen- ſchauer. Sie lag ja in ſeinem Arm, trank ſeine Küſſe, hörte ſeine ſtammelnden Liebesworte.

„Wann haſt du zuerſt gefühlen, daß du mir liebſt?“ fragte ſie endlich. |

Wenn fie nicht ſehr auf ſich achtete, kam öfter ein grammatikaliſcher Fehler beim Sprechen vor, der Leo entzückte und den er darum nicht verbeſſerte. Gerade dieſes ein wenig unbeholfene Sprechen fand er zu reizend im Gegenſatz zu ihrem ſicheren, weltgewandten Auftreten. |

„Von dem Augenblick an, als du Du zu mir ſagteſt,“ antwortete er mit einem langen Kuß.

Sie machte ſich mit einem etwas enttäuſchten Aus- druck frei. „Das iſt nicht lange. Ich habe dir geliebt, ſeit oder heißt es dich?“

„Dich.“

„Alſo dich geliebt gleich in der erſten Minute ſchon.“

Ein Schatten ging über ſein Geſicht. Der geſtrige Abend mit dem frivolen Loſeziehen fiel wie eine Zentnerlaſt auf fein Gewiſſen.

„Violet, du mußt mir verzeihen, ich bin —“

Schweiß trat auf ſeine Stirn. Er wollte ihr alles erklären, aber im ſelben Augenblick rollte ein heftiger, betäubend lauter Donner über ſie hin.

Violet ſchrie entſetzt auf.

„Um Gottes willen, Violet!“ Leo richtete die hilflos zuſammengeſunkene Geſtalt in ſeinen Armen auf.

Violet war totenblaß. Zuerſt konnte ſie nicht ſprechen, ſondern ſchüttelte nur mit ſchwachem Lächeln den Kopf zu ſeinen beſorgten Fragen.

Mit dieſem letzten, entſetzlichen Schlag ſchien die

186 miß Violet. 2

Gewalt des Gewitters gebrochen zu ſein, nur der Regen rauſchte immer ſtärker.

Balſamiſche Luft wehte durch das kleine Fenſter, das Leo aufſtieß, und in den Pavillon herein. Violet er- holte ſich jetzt raſch. Sie fühlte ſich vollkommen wohl, aber ein bißchen bemitleidet zu werden, machte ihr Spaß.

Sie ließ ſich darum von Leo die Schläfen mit Regenwaſſer erfriſchen, das gelockerte Haar feſter ſtecken und lobte ihn, wie geſchickt er alles anfaſſe, beſſer ſogar wie ihre Pariſer Jungfer Juliette.

„Ich will ihr nicht nehmen mit in unſer Haus nach Bruchſal,“ erklärte ſie energiſch.

„Violet dein Vater wird unſere Heirat gewiß nicht zugeben,“ meinte Leo bedrückt.

„Veshalb denn nicht?“

„Weil ich ganz arm bin und außerdem —“

Aber ſie hob befehlend die Hand. „Nicht ausreden, Leo lieber Leo! Von heute an biſt du nicht mehr arm, wie du das nennſt. Was mir gehört, gehört jetzt dir auch. Papa wird dir ein Freund ſein, und von Freunden kann man ſich ruhig helfen laſſen nicht wahr?“

Mit wiedererwachtem Mißtrauen, ob ihre Worte wohl eine Anſpielung bedeuten ſollten, ſah er ſie an. Aber Violet ſchien wirklich ganz arglos zu fein. Ihre Großmut bedrückte ihn. Aber in dieſer Stunde konnte er ihr das beſchämende Geſtändnis nicht machen.

Da das Gewitter in einen nachhaltigen Landregen überging, traten ſie endlich den Rückweg an. Zum Schutz diente nur Violets rotſeidener Sonnenſchirm, den ſie mit über Leos Kopf hielt, trotz ſeiner Abwehr. Zum Glück war's ſo menſchenleer auf der durchweichten Allee, daß ihnen niemand begegnete. Aber aus den

n Novelle von Luiſe m Rohrſcheidt. 187

N

Fenſtern des Hotels Stephanie ſah manch neugieriges Auge auf das regennaſſe junge Paar, das in eifriger Unterhaltung ankam, als ob es im ſchönſten Sonnen- ſchein und nicht bei klatſchendem Regen luſtwandelte.

„Wenn du trocken biſt, gehſt du zu Papa!“ ſagte Violet. „Oh, wie ich ſehe aus!“

Sie ſchüttelte ihren triefenden Rockſaum. Große Waſſerlachen bildeten ſich auf dem hellen Baſtteppich, der den reich mit blühenden Gewächſen dekorierten Eingang des Hotels bedeckte.

Da Leo zögerte, fuhr ſie raſch fort: „Papa reiſt in den nächſten Tagen nach New Vork zurück.“

„Du auch?“

„Ich ich bleibe hier bei Mrs. Homer. Aber vor- her muß mein Vater wiſſen, daß wir uns haben ver- lobt nicht wahr?“

„Gewiß!“ |

„Papa iſt ſchon bereitet vor. Du brauchſt nichts zu ſagen, als daß du liebſt mich.“

„Das kann ich mit gutem Gewiſſen tun.“

„Für alles andere werde ich ſein beſorgt.“ Sie hielt ihm ihre kleine, naſſe Hand hin. „Auf Wieder- ſehen! Papa wird dir laſſen ſagen, wann er dich ſprechen will. Lieber Leo, ich bin ſo glücklich!“

Leo ſah ihr nach, als fie die Treppe hinaufſtieg. Voller Anmut und elaſtiſcher Kraft war jede Be— wegung. Und welch reines, liebeheißes Herz ſie beſaß!

Der junge Offizier ſtöhnte, als er ſich in ſeinem Zimmer in die Sofaecke warf. „Das größte Glück der Welt fällt mir mit der Liebe dieſes entzückenden Mäd- chens in den Schoß, und ich verderbe mir ſelbſt alles durch das blödſinnige Loſeziehen! Wenn meine zwei

188 Miß Violet. ö D Mitſchuldigen mich auch nie verraten, fo fällt mir doch bei ihrem Anblick immer alles ein, und ich kann meiner Braut nie frei ins Auge ſehen!“

Doch jetzt ruhig Blut! Er ſprang auf und drückte auf den elektriſchen Knopf der Klingel.

„Herr Leutnant befehlen?“ Der Kellner Louis ſtand in der Tür.

Leo ftreifte das glattraſierte Geſicht, die waſſer- hellen Augen, die roten Haare mit flüchtigem Blick. Irgend eine unangenehme Erinnerung hing mit dieſem Nenſchen zuſammen. Aber er kam nicht gleich darauf, was es war. „Telephonieren Sie in das Blumen- geſchäft nebenan,“ befahl er. „Ich will ſofort einen loſe zuſammengebundenen Strauß roter Roſen haben. Ausgeſucht ſchöne Roſen ſollen es fein!“

„Wird ſogleich beſorgt. Sollen die Blumen zum Herrn Leutnant oder direkt an Miß Marſton geſchickt werden?“

Leo ſah überraſcht und ärgerlich auf. „Natürlich zu mir. Wem ich die Blumen ſchenken will, iſt meine Sache. Sparen Sie ſich Ihre überflüſſigen Bemer— kungen!“ |

„Gewiß, Herr Leutnant. Ich dachte nur, weil der Herr Leutnant ſich doch jedenfalls mit Miß Marſton verlobt haben —“

„Das wird wirklich zu toll!“ brauſte Leo auf. „Sie ſind ja ein ganz zudringlicher Menſch!“

„Bitte um Verzeihung, Herr Leutnant. Aber geſtern abend ich bediente doch hier im Zimmer. Die Herren fprachen ſehr laut und heute früh dieſer Zettel —“

Der Kellner zog das von Dennwitz mit Violets Namen beſchriebene Los aus ſeinem Notizbuch und hielt es Leo hin.

D Novelle von Luiſe v. Rohrſcheidt. 189

Der warf nur einen anſcheinend gleichgültigen Blick darauf und machte ſein hochmütigſtes Geſicht. „Seien Sie froh, mein Freund, daß ich meine Reitpeitſche nicht bei der Hand habe,“ ſagte er ruhig. „Sie könnten ſonſt außer dieſem Zettel noch einen Denkzettel mit- nehmen, der Ihnen eine ganze Weile in unliebſamer Erinnerung bleiben dürfte.“

„Aber Herr Leutnant ich meinte ja nur,“ ſtotterte der ganz bleich gewordene Menſch, „daß Herr Leutnant vielleicht Wert darauf legten, den Zettel zurückzuhaben, da wollte ich |

„Geld dafür erpreſſen? Eine mißglückte Spetu- lation!“ Leo lachte. „Wir ſchrieben Tiſchkarten zum Verlobungseſſen, da Ihnen meine Angelegenheiten ja ſo intereſſant ſind. Den Zettel können Sie behalten, der hat für mich gar keine Bedeutung. Aber wenn ich noch einmal Ihr unverſchämtes Geſicht in meinem Zimmer ſehe, ziehe ich ſofort aus, Mr. Marſton wird dann auch ſeine Etage verlaſſen und Ihr Direktor ſoll den Grund erfahren.“

„Herr Leutnant, machen Sie a nicht unglücklich!“

„Raus!“

Der Kellner verſchwand wie der Blitz. Diesmal hatte Leo nach Violets Rat gehandelt und den Stier bei den Hörnern gepackt, ftatt ſich auf Unterhandlungen einzulaſſen und ſchließlich nachzugeben. Aber trotz ſeines Sieges blieb ihm ein widriger Geſchmack von dieſer Unterredung im Munde zurück. Der Gedanke, jetzt ſogar drei Mitwiſſer zu haben, von denen der eine noch dazu ein käuflicher Lump war, brachte ihn halb um den Verſtand.

„Sie ſoll jetzt alles wiſſen heute noch, ehe die Verlobung veröffentlicht wird!“ beſchloß er.

Sein Herz ſchnürte ſich zuſammen bei dem Gedanken,

190 Miß Violet. .

das kurze Glück ſich wieder entgleiten laſſen zu müſſen. Aufgetaucht wie eine ſchöne Viſion entſchwand es, ehe es ſich verwirklichen konnte. Noch fühlte er den leiſen Gegendruck ihres roten Mundes auf feinen Lip- pen, atmete den Duft ihres lockigen, braunen Haares, ſah den unſchuldig verliebten Blick ihrer holden Augen und ein Seufzer, der einem Schluchzen glich, hob ſeine Bruſt.

Es klopfte. Das Zimmermädchen brachte Leo einen Brief von Mr. Marſton, in dem Violets Vater die Bitte ausſprach, Leo möge ihm die Freude machen, in einer Stunde bei ihm auf ſeinem Zimmer zu ſpeiſen.

Leo übergab dem Mädchen den gleichzeitig ein- getroffenen Strauß ſchwer duftender roter Roſen, an den er ſeine Viſitenkarte befeſtigte. „Sagen Sie Mr. Marfton, ich würde pünktlich bei ihm fein. Die KRoſen find an Miß Marfton abzugeben.“

„Jawohl, Herr Leutnant!“

Das Mädchen verſchwand mit einem befriedigten Lächeln. Eine Verlobung lag in der Luft. Das witterte ſie. Hohe Trinkgelder gaukelten verführeriſch vor ihren Augen.

Die Zeit verſtrich.

„Vor einer Hinrichtung kann einem nicht ſchlimmer zumute ſein,“ dachte Leo verzweifelt, als er in die Armel ſeines hellblauen Waffenrockes fuhr und ſein kurz verſchnittenes, dunkelblondes Haar mit zwei harten, ſtielloſen Bürſten bearbeitete.

Große innere Aufregung verbarg ſich bei ihm immer hinter einer etwas ſteifen Kälte, die eine gewiſſe Ent- fernung zwiſchen ihn und die übrige Menſchheit legte. Nr. Marfton, der, als der junge Offizier ihm ge- meldet wurde, ſeinem Gaſt mit ausgeſtreckter Hand

u Novelle von Luiſe v. Rohrſcheidt. 191

freundlich entgegenkam, ſchien aber nicht das geringſte davon zu bemerken. Er ſchüttelte kräftig Leos Hand und gab wortreich ſeiner Freude Ausdruck, ihn heute bei ſich zu ſehen.

Violet war nirgends zu erblicken.

Leo wartete ab. Aber auch Nr. Marfton ſchwieg, nicht ſtrategiſcher Regeln wegen, ſondern weil ſeine Gedanken zu dem neuen Geſchäft hinſchweiften. An- zählige Briefe und Depeſchen gab's heute noch zu er- ledigen.

Das Schweigen wurde allmählich drückend. Leo war ſtehen geblieben, während Mr. Marſton mit auf dem Rücken zuſammengelegten Händen in dem mit großer Eleganz ausgeſtatteten Salon hin und her ging.

„Miſter Marſton, Ihr Fräulein Tochter geſtattete mir, bei Ihnen um ſie anzuhalten,“ ſagte endlich Leo ſteif.

Marſton blieb ſtehen. „Well, und ich lud Sie ein zu kommen. Das genügt,“ antwortete der Amerikaner. „Da ich aber ſo bald wie möglich nach New Vork fahren muß, wollen wir die Verlobung erſt veröffentlichen, wenn ich zurück bin.“

Leo atmete auf. „Gleich heute möchte ich aber noch ſagen,“ fuhr er eilig fort, „daß ich gar kein Ver- mögen und nur eine geringe Zulage beſitze, die mit dem Tode meines Onkels erliſcht. Außerdem —“

Marſton war gut von feiner Tochter inſtruiert wor- den. „Ich denke, alle geſchäftlichen Auseinander- ſetzungen ſchieben wir ebenfalls auf bis zu meiner Rück- kehr,“ fiel er dem jungen Offizier ſchnell ins Wort. „Violet bleibt in Baden-Baden unter Mrs. Homers Schutz. Sie können ſich täglich ſehen und genauer kennen lernen. Wenn ich wieder hier bin, will ich mich über Sie noch näher erkundigen.“

192 Miß Violet. .

Da ſteckte Violet endlich ihren Kopf durch den Tür- vorhang. „Sehr lebhaft geht's nicht zu unter euch,“ ſagte ſie lachend, indem ſie vollends eintrat. „Seid ihr einig?“

Sie hielt ihrem Vater die eine, Leo die andere Hand hin. |

„Ganz einig!“ beteuerte Marſton. „Mr. Waldburg will auch, daß ihr euch erſt verlobt, wenn ich wieder da bin.“

„Wir ſind ja ſchon verlobt, Papa. Du haſt gewiß wieder gemacht Unſinn!“ |

„Ich meine nur, die Anzeigen und alles das kann warten. Zetzt wollen wir endlich eſſen. Nachher habe ich zu ſchreiben. Violet, du mußt unſeren Gaſt allein unterhalten.“

„Sehr einverſtanden.“

Marſton ging voraus. Sein Kammerdiener ſchlug den Samtvorhang zum nächſten Zimmer zurück.

Leo und Violet folgten langſam.

„Du haſt mir Roſen geſchickt?“ Violet ſah ihren Verlobten vorwurfsvoll an.

„Durfte ich das nicht?“

„Nein, nicht ſo ſo ſteif. Bringen ſollſt du mir ſelbſt eine Roſe. Die hätte ich angeſteckt und mich daran gefreut ſehr.“

„Verzeih, ich muß erſt lernen, mit Damen um- zugehen.“ |

„Du haſt keine Mutter auch keine Schweſtern?“

„Nein niemand!“

Das rührte Violet. Zärtlich ſtrich ſie über ſeinen Arm.

In dem großen, runden Salon verriet nichts, außer der gedeckten Tafel, ſeine heutige Beſtimmung. Die Anrichtetiſche wurden von dreiteiligen Wandſchirmen

2 Novelle von Luiſe v. Rohrſcheidt. 195

verdeckt, jo daß man das Walten des Herrn Ober kaum bemerkte. Die weiße Stukkatur der Decke, die vielen Spiegel, die in den Wänden eingelaſſen waren, warfen das Licht der elektriſchen Kerzen ftrab- lend zurück. Orangegelbe Vorhänge verhüllten Fenſter und Türen. Der goldige Ton wirkte zu dem ſonſt ganz in Weiß gehaltenen Raum wunderbar belebend und ſchön.

Auf dem für drei Perſonen gedeckten, in die Nähe des Fenſters gerückten Tiſch verſchwand der feine Da— maſt des Tafeltuchs unter der Fülle der lichtgelben Roſen, die aus blitzenden Kriſtallſchalen herauswuchſen, ſich mit Farn und Aſparagus zuſammengebunden über den ganzen Tiſch verſtreuten. In dem offenen Pavillon, dicht unter den Fenſtern des Salons, ſaßen die Violin ſpieler der ungariſchen Hotelkapelle, und abgedämpft, wie verſchleiert, klangen die ſüßen, ſchmeichelnden Töne herauf.

Das vorzügliche Eſſen, die alten, richtig temperierten Weine erhöhten bald Mr. Marſtons Laune. Zn beſter Stimmung neckte er ſeine Tochter und ſtieß mit einem verheißungsvollen Blick, als der Champagner in den flachen Schalen perlte, mit Leo auf „neue Renn- erfolge“ an.

Dieſen Witz belachte er ſelbſt laut, während Leo nur ein erzwungenes Lächeln fertig brachte.

Violet wußte, daß ihr Vater in dieſer Laune oft taktloſe Außerungen vorbringen konnte. Sie ſtand darum raſch auf und ſchlug vor, den Kaffee auf der Veranda draußen zu trinken.

Der ſtarke ſchwarze Mokka ernüchterte Marſton. Er wurde ſtiller. Das Geſchäft trat wieder in den Vordergrund, und als der Herr Ober den weißen Rokokoſalon in Ordnung gebracht und das Zimmer

1913. X. 13

194 Miß Violet. 2

verlaſſen hatte, kehrte er ſchleunigſt an feinen Schreib- tiſch zu ſeinen Berechnungen zurück.

Das junge Paar blieb allein auf der Veranda.

Violet ſaß in ihrem niedrigen Korblehnſtuhl zurück- gelehnt. Die fließende Schleppe ihres weißen Kleides lag auf dem roten Baſtteppich. Leo ſtand mit halb abgewandtem Geſicht vor ihr. Sein ſchöngeſchnittenes Profil zeichnete ſich ſcharf ab. Man ſah deutlich das Spiel der Muskeln unter der leicht gebräunten Haut. Seine zuſammengeballte Hand, die er auf die Beatem des Balkons legte, zuckte.

„Willſt du nicht rauchen?“ fragte Violet und hielt ihm das geöffnete Etuis hin, während ſie ſelbſt eine Zigarette zwiſchen die Zähne nahm.

„Danke, ich rauche jetzt nicht.“ Seine Stimme klang gepreßt. „Ich muß dir etwas ſagen, Violet.“

„Eine Beichte! Zit’s intereſſant? Haft du vorher ſchon geliebt eine andere, Leo? Ich meine, nicht ſo ein wenig geflirtet, ſondern ernſthaft geliebt?“

„Nein, ich habe nie eine Frau geliebt vor dir,“ antwortete er einfach. „Ich habe immer nur an meine Pferde gedacht, meinen Dienſt, meine Freunde bis ich dich kennen lernte.“

„Wie lieb von dir! Setze dich ganz nahe zu mich. Oder noch beſſer, mir gegenüber, damit ich kann ſehen in deine Augen.“

„Die muß ich vor dir niederſchlagen, Violet.“

„Weshalb?“

„Veil ich dir etwas mich tief Beſchämendes ſagen muß.“

„So laſſe es doch ſein, wenigſtens bis nach unſerer Hochzeit.“

„Nein, denn wenn du's weißt, wirſt du mich nicht mehr heiraten wollen.“

2 Novelle von Luiſe v. Rohrſcheidt. 195

„Du haſt doch nicht ſchon eine andere Frau in irgend einem anderen Lande ſitzen? Das kommt immer in engliſchen Seeromanen vor.“

„Bitte, Violet, ſei ernſt. Zum Scherzen iſt mir's wahrhaftig nicht!“

„Gut ich bin ernſt. Ganz finſter bin ich!“

Ein verhaltenes Lachen zuckte um ihren Mund. Trotzdem tat er ihr leid. Denn ſie las deutlich die Seelenqual in ſeinem Geſicht, als er, die Augen auf die graue Steinmauer heftend, wie wenn er dort ab- leſen könne, was er zu ſagen habe, eintönig, manchmal ſtockend, die Geſchichte ſeines Lebens, die den Prolog zu dem geſtrigen Abend bildete, zu erzählen anfing. Von ſeiner elternloſen, liebeleeren Kindheit ſprach er, den freudlofen Knabenjahren im Kadettenkorps mit ſeiner ſchablonenmäßigen Erziehung, ſeinem brennen- den Wunſch, Kavalleriſt zu werden, wie ſein verſtorbener Vater es geweſen war. Endlich hatte der Onkel und Vormund ſeine Einwilligung dazu gegeben. Aber die Zulage reichte nie aus. Das kleine Vermögen, das er beſaß, war ſchnell verbraucht. Da fing er den Renn- ſport an. Zuerſt nur, um ſich durch die Gewinne über WVaſſer zu halten. Dann aus Leidenſchaft, die alle anderen Intereſſen zurückdrängte und ihn gänzlich ausfüllte. Bald gab es aber auch Verluſte. Teuer gekaufte Pferde ſchlugen nicht ein. Der Trainer koſtete immer mehr. Er geriet in drückende Geldnot. Sein Freund Dennwitz und ſein Vetter Kuno halfen ihm, kamen aber dadurch ſelbſt in Schulden. Die letzte Möglichkeit, ſich und ihnen zu helfen, mißglückte durch „Trilbys“ Sturz beim geſtrigen Rennen.

Leo hielt inne.

Violet ſah zu ihm auf. „Das iſt alles ſehr traurig, mein armer Leo, aber nun iſt's doch Ende,“ ſagte ſie

196 Miß Violet. u

ſanft. „Du kannſt den Herren das geliehene Geld zurüd- zahlen. Mein Vater ſtellt dir alles gern zur Verfügung. Wir wagten nur nicht, dir das anzubieten, obwohl wir uns ſofort dachten, daß —“

„Violet, du beſchämſt mich immer tiefer!“ Er wußte ſelbſt nicht, wie es kam, aber er lag plötzlich auf den Knien vor ihr und beugte ſeinen Kopf über ihre Hände. „Geſtern abend, als wir nicht mehr ein und aus wußten, rieten Dennwitz und Kuno mir, um dich anzuhalten. Ich weigerte mich meiner Schulden wegen. Da wollte einer der anderen um dich werben. Um das zu verhindern, tat ich ihnen den Willen. Wir zogen Loſe ich gewann. So, nun ſtoße mich von dir. Sch habe nichts Beſſeres verdient, denn wenn ich dir auch ſchwöre, daß ich dich liebe dich, nur dich und nicht deinen Reich- tum, ſo wirſt und kannſt du mir das ja nicht glauben!“

Immer noch blieb ſie ſtumm. Er wagte nicht in ihr Geſicht zu ſehen, ſondern preßte nur ihre kühle Hand gegen ſeine heiße Stirn.

„Violet einmal noch lege deinen Arm um meinen Hals und ſage wie geſtern auf dem Rennplatz: Du tuſt mir ſo leid!“

Im nächſten Augenblick fühlte er ihren weichen Arm ſeinen Hals umfaſſen, mit der anderen Hand hob ſie ſeinen Kopf und ſah in ſeine Augen. „Du tuſt mir gar nicht leid!“ flüſterte ſie dabei in ſein Ohr.

„Violet wo ich durch eigene Schuld mein ganzes Glück vernichtet habe!“ |

„Lieber Leo, die Geſchichte mit den Loſen, die du mir erzählteſt, war mir gar nicht neu. Die hörte ich heute früh bereits von meiner Jungfer, die es von dem Kellner Louis erfahren hatte.“

„Aber du glaubteſt nicht daran? Du hielteſt mich deſſen nicht für fähig?“

2 Novelle von Luiſe v. Rohrſcheidt. 197

Übermütig ſchüttelte fie feinen Kopf hin und her. „Wäre ich ein deutſches Mädchen, lieber Leo, dann würde ich jetzt ſeufzen und weinen: ‚Er hat mich nie geliebt, ſondern nur meine Dollars gewollt, wie bin ich unglücklich! Alles iſt aus!“ Aber nein, ſo dumm bin ich nicht. Ich habe dich lieb, und du mich auch. Das fühle ich ganz tief hier drinnen in das Herz. Das iſt die Hauptſache, da macht die kleine Dummheit mit das Loſen nichts aus. Hätte ich dir nicht gefallen, ſo würdeſt du gelaſſen haben mich ruhig deinen Freunden. Aber ich hätte genommen keinen von denen!“

„Violet, liebe, ſüße Violet, kannſt du mir wirklich verzeihen?“ Er zog ſie in ſeine Arme und bedeckte ihr Geſicht mit Küſſen. „Niemals ſollen Dennwitz und Kuno dir vor die Augen kommen!“ beteuerte er.

„Weshalb denn nicht? Ich bin ſehr dankbar den beiden Leuten. Wenn ſie dir nicht hätten zugeſetzt, wer weiß, ob du gefaßt hätteſt endlich den rechten Mut!“

„Du gibſt mir ſo viel, und ich habe dir ſo wenig zu bieten!“

„Ich ſage nicht alles das, was ich denke. Sonſt wirſt du eitel. Aber das eine ſage ich dich, Leo: auch ich bin geweſen einſam und heimatlos. Ich kenne nur das Leben in Hotels, in Penſionen, im Dampfſchiff und in den Eiſenbahnen. Alles verſchaffte mir mein Vater, aber eine Heimat gab er mir nie. Wollen wir uns jetzt zuſammenſchaffen ein Heim, und wenn wir Kinder haben, dann ſollen die auch haben ein Heim!“

Er konnte nicht antworten. Die Rührung machte ihn ſtumm. |

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Sranzöfifhe Soldaten.

von Alex. Cormans.

mit 13 Sildern. Y (nachdruck verboten.)

Die furchtbaren kriegeriſchen Ereigniſſe, die ſich in der allerjüngſten Zeit auf dem Welttheater ab- geſpielt, haben wohl auch die leidenſchaftlichſten Vor kämpfer der Friedensidee davon überzeugt, daß die Hoffnung auf eine allgemeine Abrüſtung der waffen ſtarrenden Völker Europas nicht nur für die nächſte, ſondern auch noch für eine ziemlich ferne Zukunft ein ſchöner Traum ohne alle Ausſicht auf Verwirklichung bleiben wird. Statt an eine Verminderung ſeiner Streitkräfte und der durch ihre Erhaltung bedingten Volkslaſten denken zu können, muß heute jeder große Staat unter Anſpannung aller Kräfte auf die größt- mögliche Steigerung ſeiner Wehrfähigkeit bedacht ſein, und die allgemeine Weltlage geſtattet keine Erörterung der bangen Frage mehr, wohin dieſe äußerſte Rräfte- anſpannung und dies fieberhafte Wettrüſten ſchließlich führen ſollen.

So ſteht unſer weſtlicher Nachbar ſoeben im Begriff, die dreijährige Dienſtzeit ſtatt der bisherigen, die nur zwei Fahre betrug, einzuführen, und es wird ſicherlich eine tunlichſt genaue Orientierung über die Streit— kräfte derjenigen Nation, die uns möglicherweiſe eines Tages wieder als Feind gegenüberſtehen wird, allge- mein intereſſieren. Denn wie man ſich in Frankreich

2 Von Alex. Cormans. 199

ſehr angelegentlich mit der Stärke und dem Zuſtande des deutſchen Heeres beſchäftigt, ſo kann auch uns die gegenwärtige Beſchaffenheit der franzöſiſchen Armee nicht gleichgültig ſein.

Daß man nach den bitteren Erfahrungen des Feld—

Ausgehobene, die mit ihrem Los zufrieden ſind. .

zuges von 1870/71 in der galliſchen Republik mit raft- loſem Eifer bemüht geweſen iſt, das Heer zu reorgani— ſieren und es dem deutſchen ebenbürtig zu machen, iſt zu ſelbſtverſtändlich, als daß man es notwendig mit der feſten Abſicht eines Revanchekrieges erklären müßte; aber es darf doch auch nicht ganz unbemerkt bleiben, daß dieſer Eifer ſich gerade in den beiden letzten Jahren

200 Franzöfifche Soldaten. 14

bis zu außerordentlichen Leiſtungen geſteigert hat. Im Fahre 1872 war auf Betreiben Gambettas durch das Rekrutierungsgeſetz die allgemeine Wehr- pflicht eingeführt worden, und das Militärgeſetz vom Jahre 1889, das alle bisherigen geſetzlichen Befreiungen, auch die Einrichtung des Einjährig-Freiwilligen-Dienſtes aufhob, ſetzte als Altersgrenzen für dieſe Wehrpflicht das zwanzigſte und das fünfundvierzigſte Lebensjahr feſt. 1892 wurde ein neues Wehr- und Dienſtpflicht- geſetz angenommen, das die Dienſtzeit im aktiven Heere auf drei Fahre feſtſetzte, und das Kadergeſetz von 1895 beſtimmte, daß alle Wehrfähigen auch wirk- lich einzuſtellen ſeien. Eine Herabſetzung der aktiven Dienſtzeit wurde durch die Geſetzesvorlage von 1900 herbeigeführt, denn fie beſtimmte, daß jeder waffen taugliche Franzoſe ohne Ausnahme einen aktiven Militärdienſt von zwei Jahren zu leiſten habe, und ſie ſetzte ferner eine elfjährige Verpflichtung in der Reſerve und eine zwölfjährige in. der Territorial- armee feſt. |

Der ftändige Rüdgang der französischen Bevölke- rungsziffer, gegen den es ein Heilmittel eben nicht gibt, mußte die Rekrutierung naturgemäß mehr und mehr erſchweren, zumal ſich auch in der körperlichen Tüchtig- keit der Militärpflichtigen ein ſtändiger Rückgang be- merklich machte. Schon vor einer Reihe von Fahren erging daher die Beſtimmung, daß bei ſonſtiger Taug— lichkeit auch unter das bisherige Mindeſtmaß von 1,34 Meter bei der Aushebung hinuntergegangen werden dürfe, und man wird denn auch ſchwerlich in einer anderen europäiſchen Armee ſo viele kleine Leute finden als in der franzöſiſchen.

Waren einer Vermehrung der Friedenspräſenz— ſtärke aus dieſen und anderen Gründen alſo gewiſſe

2 Von Alex. Cormans. 201

unüberſchreitbare Grenzen gezogen, ſo ließ ſich doch nach der Anſicht der militäriſchen Autoritäten für eine

Von der Übung zurückkehrende Infanterie.

202 Franzöſiſche Soldaten. 2 beſſere Organiſation der Armee noch ſehr viel tun. Aus folcher Erkenntnis heraus entſtand das neue fran- zöſiſche Kadergeſetz, mit deſſen Durchführung man ſeit dem Fahre 1909 mit großer Energie und zweifelloſem Erfolge beſchäftigt iſt.

Als dringendſtes Bedürfnis erſchien eine durch—

Ablöſen der Wache vor dem Elyſée.

greifende Neugeſtaltung der Artillerie, denn ihrer Minderwertigkeit gegenüber der deutſchen wurde ein großer Teil der Schuld an den Niederlagen des großen Krieges zugeſchrieben. Sie konnte am 1. Januar 1911 als in der Hauptſache vollendet angeſehen werden. Danach hat jetzt jedes Armeekorps ein Regiment Korpsartillerie zu 12 Batterien in 4 Abteilungen und für jede Infanteriediviſion ein Regiment Diviſions-

2 Don Alex. Cormans. 203

artillerie zu 9 Batterien in 5 Abteilungen. 7 Diviſions— regimentern iſt eine Abteilung zu drei 155-mm-Bat-

Der Gruß der Fahne. (Jeder Franzoſe grüßt die vorübergetragene Fahne, die das Symbol des Vaterlandes darſtellt,

durch Abnehmen des Hutes.)

204 Franzöſiſche Soldaten. a

terien und 8 Regimentern eine Abteilung zu zwei reiten- den Batterien zugeteilt. Beim 14. und 15. Armeekorps befinden ſich 2 Gebirgsregimenter mit je einer Batterie für die 15 Alpengruppen. Die früheren 18 Fuß- artilleriebataillone ſind in 11 Regimenter in Frankreich

6

Artilleriſten auf einem Bummel.

und 2 Abteilungen in Afrika umgewandelt. Im Mobil- machungsfall ſoll jedes Armeekorps noch 6 Verſtärkungs— batterien aus Reſerviſten und 1 Reſerveinfanterie— brigade erhalten. Insgeſamt find jetzt, wenigſtens auf dem Papier, 689 Batterien vorhanden.

Nun ging man daran, auch den Reſt des neuen Kadergeſetzes zu verabſchieden, bei dem es, wie ſchon

2 Von Alex. Cormans. 205

erwähnt, weniger auf eine eigentliche Vermehrung der Präſenzſtärke als auf eine ausgiebige organiſa—

Alpenjäger auf dem Marſch.

205 Franzöſiſche Soldaten. 2

toriſche Vorbereitung des Überganges aus dem Frie— dens- in den Kriegszuſtand abgeſehen iſt. Die Kaval- leriediviſionen werden von 8 auf 10 vermehrt, 2 neue Regimenter werden aus fünften Eskadronen der Chaf- ſeurs d' Afrique in Nordafrika errichtet, wofür dort die

Zuavenreſerviſten kommen in Paris an.

Spahi vermehrt werden. Bei der Infanterie bringt die Neuorganiſation eine Vermehrung der bisherigen 561 Bataillone auf 567. Außerdem werden ſtatt der bis- herigen 4 algeriſchen Schützenregimenter mit zuſammen 26 Bataillonen 12 algeriſche Schützenregimenter mit zu- ſammen 56 Bataillonen errichtet. Die geſamte Friedens- ſtärke der franzöſiſchen Armee wird künftig 675 Batail-

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lone betragen, gegen 651 der deutſchen Armee. Davon werden jedenfalls auch die afrikaniſchen bei einem

Vormittagsexerzieren an den Feſtungswällen.

208 Franzöſiſche Soldaten. D

europäiſchen Kriege zum großen Teil mit verwendet werden, da man die weißen Truppen in den Kolonien mehr und mehr durch Eingeborene zu erſetzen ſucht. Den Gedanken, die allgemeine Wehrpflicht auch bei den Eingeborenen Nordafrikas zur Durchführung zu

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Spahi aus Algerien auf Urlaub in Paris.

bringen, hat man zwar vorläufig wieder aufgegeben, aber die Aushebungen in Algerien und Tunis erfolgen doch in viel größerem und ſtändig wachſendem Maße. Außerdem hat man neuerdings verſucht, ſenegaleſiſche Negertruppen in Algerien zu verwenden. Schon 1910 wurde verſuchsweiſe ein Bataillon nach Algerien über- geführt, und im verfloſſenen Fahre hat man ihm ein zweites folgen laſſen.

a Von Alex. Cormans. 209

Von beſonderer Wichtigkeit für die benachbarte Nation ſind natürlich die für den Mobilmachungsfall

Trommler üben in den Pariſer Feſtungsgräben.

gelrͤfſenen organiſatoriſchen Varkehrungen. Es ſoll

da eine ſehr große Zahl von Reſerveregimentern auf-

geſtellt werden, und es iſt ein nicht zu unterſchätzender

Vorteil, daß in dem zahlreichen „cadre complémen— 1013. X. 14

210 Franzöſiſche Soldaten. 2

taire“ (für jedes Infanterieregiment 4 Stabsoffiziere und 6 Hauptleute) auch ein ausreichendes Führer- perſonal für dieſe Regimenter vorhanden ſein wird. Vorgeſehen iſt weiterhin eine erhebliche Vermehrung der Kapitulantenſtellen, namentlich an der Oſtgrenze, und eine Einreihung des ſich bei den Aushebungen für die Marine über den Bedarf hinaus ergebenden Uberſchuſſes von angeblich 50, 000 Mann in die Armee.

Von der Beſchaffung eines leichteren Geſchützes für die reitenden Batterien und von der Einführung eines Selbſtladegewehres iſt zwar in den Zeitungen des öfteren die Rede geweſen; beide Neuerungen aber ſcheinen doch vorderhand noch auf Schwierigkeiten zu ſtoßen, da man von praktiſchen Verſuchen bisher nichts gehört hat.

Was nun die beiden obenerwähnten Urſachen der ſtetig wachſenden Rekrutierungsſchwierigkeiten betrifft, ſo iſt man in Frankreich mit ſehr nachahmenswertem Eifer bemüht, wenigſtens der einen von ihnen, der verminderten Tauglichkeit der Dienſtpflichtigen, ent- gegenzuwirken. In keinem anderen europäiſchen Staate arbeitet man ſo zielbewußt und ſo energiſch an der militäriſchen Zugenderziehung. Eine große Zahl von der Regierung autorifierter und unterſtützter Geſellſchaften befaßt ſich damit, die heranwachſende männliche Jugend hauptſächlich durch turneriſche, Schieß; und Reitübungen für den Militärdienft vor- zubereiten, und die guten Erfolge ſind ſchon jetzt ganz unzweifelhaft. Zeder Nekrut kann ſich beim Eintritt in die Armee einer Prüfung unterziehen, deren Te- ſtehen ihm das Recht gibt, ſich den Truppenkörper ſelbſt zu wählen und nach Verlauf von vier Monaten zum Korporal befördert zu werden.

Auch für die Hebung des Unteroffizier und des

fe] Von Alex. Cormans. 211

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Offizierſtandes geſchieht recht viel. Bekanntlich ließ ja das Offizierkorps der franzöſiſchen Armee an Einheit-

*

lichkeit bis jetzt erheblich zu wünſchen übrig. Ungefähr die Hälfte aller Offiziere war aus dem Unteroffizier- ſtande hervorgegangen, und nur wenig über 50 Prozent waren Leute, deren Ausbildung ungefähr denen der

Unterricht in einer Infanteriekaſerne, von einer Dame erteilt.

212 Franzöſiſche Soldaten. 1 deutſchen Offiziere entſpricht. Durch bedeutende Ver- beſſerung der Offizierſchulen, die in Rang und Lehrplan durchweg auf dieſelbe Stufe gebracht werden ſollen, hofft man das Verhältnis günſtiger zu geſtalten.

G7 Manns Je} apkın

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Ein „reitender Jäger“ läßt ſich die Stiefel putzen.

So viel von der Organiſation des heutigen fran- zöſiſchen Heeres. Was nun das Wichtigſte, nämlich das Soldatenmaterial ſelbſt, betrifft, ſo werden die beigefügten Augenblicksbilder vielleicht am eheſten ge- eignet ſein, dem Leſer eine anſchauliche Vorſtellung von dem franzöſiſchen Soldaten, ſeiner äußeren Er— ſcheinung und ſeinem militäriſchen Gehaben zu ver— mitteln. Sie ſprechen durchweg für ſich ſelbſt und

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a Von Alex. Cormans. 213

bedürfen keiner anderen Erläuterung als der Bemer- kung, daß es voreilig wäre, aus der ſcheinbaren Schlapp- heit und Läſſigkeit dieſer Kriegsmänner ungünſtige Schlüſſe auf das Maß ihrer ſoldatiſchen Brauchbarkeit zu ziehen.

Iſt der Ourchſchnittsfranzoſe wenig danach angetan, durch ſeine Geſtalt und ſeine Haltung zu imponieren, jo wohnen ihm doch gewiſſe Eigenfchaften inne, die

Eingezogener Infanteriſt geht mit feiner Tochter ſpazieren.

ihn im Kriege zu einem nicht zu unterſchätzenden Gegner machen. Das ſind, ganz abgeſehen von dem vielge— prieſenen franzöſiſchen „Elan“, der doch zuweilen ſchon bedenklich verſagt hat, ſeine große Genügſamkeit und

214 Franzöſiſche Soldaten. 2

feine ſchwer zu erſchütternde Heiterkeit zwei Tugen⸗ den, die ihn zur Ertragung von Strapazen und Ent- behrungen hervorragend befähigen.

Bei der Ausbildung der Leute wird auf den ſo— genannten Drill in der franzöſiſchen Armee kein über- großes Gewicht gelegt, ein viel geringeres jedenfalls als in der deutſchen oder öſterreichiſchen Armee. Ge- fechtsexerzieren, Schießübungen und Erziehung zu be- trächtlichen Marſchleiſtungen werden indeſſen mit dem- ſelben Nachdruck betrieben wie anderswo, und un- parteiiſche Beurteiler haben dem franzöſiſchen Soldaten der jüngſten Zeit auf Grund der im Manöver gemachten Beobachtungen ſchon wiederholt hohes Lob geſpendet.

Was uns auf den beigegebenen Abbildungen be— fremdlich oder gar lächerlich erſcheinen mag, erklärt ſich aus dem franzöſiſchen Volkscharakter und darf uns nicht verleiten, von vornherein die Tüchtigkeit einer Soldateska zu unterſchätzen, mit der wir uns vielleicht eines Tages, wenn auch gewiß nicht auf eine deutſche Herausforderung hin, in ernſtem Kampfe werden zu meſſen haben.

= *

EIEJEIFIEIEN

Mannigfaltiges.

* Machoͤruck verboten.)

Das Unterrockbanner. In dem Armeemuſeum der Ver- einigten Staaten in Waſhington wird neben anderen ruhm- reichen Trophäen auch eine Fahne aufbewahrt, die vielleicht das ſeltſamſte militäriſche Wahrzeichen dieſer Art iſt. Aufs engſte verknüpft mit dieſer Fahne iſt die Lebensgeſchichte einer merkwürdigen Frau.

Zu den ſchönſten Erſcheinungen der Pariſer Salone in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gehörte die Baroneſſe Jeanne de Brunvillières. Da der Reichtum ihrer Familie aber in den Stürmen der Revolution verloren gegangen war, fand ſich ſo leicht kein Freier für die arme Adelige. Da tauchte in Paris ein Graf Murat auf, ein noch junger Mann, der, ob- wohl mit Glücksguͤtern ebenſowenig geſegnet wie die Baroneſſe de Brunvillières, ſich ſofort eifrig um deren Hand bewarb und auch erhört wurde. Im Jahre 1854 heiratete das Paar, mußte aber bereits vier Jahre ſpäter fliehen, weil Murat ſich bei einer politiſchen Verſchwörung ſchwer kompromittiert hatte. Die jungen Eheleute ſchloſſen ſich einem Auswandererzuge an, der von Bremen aus durch Agenten der Vereinigten Staaten nach dem neuerſchloſſenen Koloradogebiete geleitet wurde.

Völlig mittellos trafen die Murats nach Verlauf von drei Monaten in ihrer neuen Heimat an, wo man damals noch jeden Fußbreit Boden den Indianern mit der Büchſe in der Hand abringen mußte. Der Graf erhielt an den Ufern des Palma— ſees ein Stück Land angewieſen, errichtete dort, unterſtützt von ſeiner energiſchen Gattin, ein Blockhaus und verſuchte es mit der Rinderzucht. Bereits hoffte er, hier eine bleibende Heimat gefunden zu haben, als bei Gelegenheit eines Einfalles der

216 Mannigfaltiges. a

Rothäute die Farm vollftändig niedergebrannt und ſämtliches Vieh fortgetrieben wurde. Das Ehepaar ſelbſt rettete zwar das nackte Leben, aber feine beiden ein- und zweijährigen Knaben wurden von den Indianern erbarmungslos abge- ſchlachtet.

Dieſer furchtbare Schlag verwandelte den bisher ſanften Charakter der jungen Gräfin vollſtändig. Unſtillbarer Rache⸗ durſt erfüllte ihr Herz. Gemeinfam mit ihrem Gatten durch- ſtreifte fie fortan heimatlos die Prärien, und ihrer ſicheren Kugel fielen unzählige Rothäute zum Opfer. In den Grenzorten war ſie eine wohlbekannte Erſcheinung. Stets trug ſie dieſelbe Kleidung, einen fußfreien hirſchledernen Rock und eine grüne Bluſe aus dickem Wollſtoff. Von ihrer Körperkraft und Ge- wandtheit im Reiten und Schießen erzählte man ſich Wunder- dinge.

Als dann im Jahre 1863 in Kolorado das Erſte Freiwilligen regiment gebildet wurde, um die Rothäute endgültig aus der Nähe der Anſiedlungen zu verdrängen, ließ ſich das Ehepaar Murat in die erſte Kompanie einreihen. In dem erbitterten Gefechte bei Cottny-Springs war es, wo das Regiment ſeine Fahne verlor. Als am Abend nach dem Kampfe dieſer Verluſt im Biwak bekannt wurde, herrſchte allgemeine Beſtürzung. Aber die Gräfin Murat wußte Rat. Aus ihrem blau und weiß geſtreiften Unterrod nähte fie ein neues Fahnentuch zurecht, auf das mit ſchwarzer Ölfarbe ſchnell die nötigen Sterne und der Name des Truppenteils gemalt wurden. Dieſes an eine einfache Zeltſtange befeſtigte Fahnentuch hat dann das Erſte Freiwilligenregiment von Sieg zu Sieg geleitet.

Das Ehepaar Murat ſetzte ſein abenteuerliches Leben noch bis zum Fahre 1872 fort. Dann ließ es ſich auf ſeiner alten Farm am Palmaſee nieder und verſuchte es abermals mit der Viehzucht. Aber das Glück blieb ihm fern. Als bald darauf Graf Murat plötzlich ſtarb, blieb feine Witwe in den dürftigſten Verhältniſſen zurück.

Erſt nach Fahren hörten ihre alten Kampfgenoſſen von ihrer Not. Es wurde ſofort eine Sammlung veranſtaltet, die, unter- ſtützt von der ganzen nordamerikaniſchen Preſſe, nicht weniger

2 Mannigfaltiges. 217

als dreihunderttauſend Dollar einbrachte. Allein die Gräfin lehnte die Annahme dieſer Ehrengabe ab. Sie beſtimmte, daß das Geld als Stiftung zur Unterſtützung armer Soldaten witwen Verwendung finden ſollte. Dies geſchah denn auch im Jahre 1885. Um der Greifin aber doch die letzten Lebens-

jahre zu erleichtern, brachte der Vertreter des Staates Kolorado im nordamerikaniſchen Kongreß den Antrag ein, der Gräfin in Anerkennung ihrer Verdienſte einen Ehrenſold von monat- lich zweihundert Dollar bis an ihr Ende zu bewilligen. Ber Antrag fand allſeitigen Beifall. Dieſen Ehrenſold hat die einſame Frau bis zum 9. April 1909 erhalten. An dieſem Tage ſtarb fie kurz vor Vollendung ihres ſechsundachtzigſten Lebens- jahres. Ihr Begräbnis fand unter allen militäriſchen Ehren und auf Staatskoſten ſtatt.

Das „Unterrodbanner“ führte das Erſte Freiwilligenregi- ment, das 1868 in das Vierte reguläre Schützenregiment um- gewandelt wurde, bis zum Jahre 1882. Dann erſt wurde die arg zerfetzte Fahne, die eine ſo merkwürdige Geſchichte hatte, dem Armeemuſeum überwieſen. W. K.

Die gefährlichſten Schiffe, die das Meer befahren, ſind die ſogenannten „Oltanke“. Es gibt wohl keinen Matroſen, der ſich zu einer Reiſe auf einem ſolchen Schiffe verpflichten würde, wenn er eine andere Heuer fände.

Der Öltant iſt ein Schiff, deſſen Ladung aus Petroleum beſteht, das in großen Behältern, die bis zu je 500,000 Liter faſſen, transportiert wird. Zwei Gefahren bedrohen beſtändig das Schiff: die, daß das Ol ſich erhitzen und explodieren kann, was die ſofortige Vernichtung des Schiffes mit Mann und Maus zur Folge hätte, oder, daß die Tanke platzen, was mit dem Brande des Schiffes gleichbedeutend wäre.

Dann liegt auch noch die freilich entferntere Gefahr vor, daß das Ol „dampft“. Wenn das Ol „dampft“, wird das Arbeiten auf dem Schiffe faſt zur Unmöglichkeit. Auf einem „dampfenden“ Oltank kann niemand länger als zehn Minuten unter Deck verweilen, denn ſonſt wird er von den Oldämpfen betäubt, und dieſe ſind für den menſchlichen Organismus wohl hundertmal ſchädlicher als Kohlengas. f

218 Mannigfaltiges. a

Die ſchrecklichſten Tragödien des Ozeans haben ſich ſchon auf dieſen Oltanken abgeſpielt.

Vor einigen Jahren wurde ein ruſſiſcher Oltank, der „Omar“, auf der Fahrt von Batum nach Bombay mit einer Ladung Pe- troleum an Bord von einem deutſchen Dampfer geſichtet. Der „Omar“ gab Notſignale, und als man näher herankam, merkte man auch, daß ſeine Maſchinen ihn nicht vorwärts brachten.

Die See war vollkommen ruhig, und der Kapitän des deutſchen Dampfers fuhr bis auf Rufweite an das notleidende Schiff heran, erhielt aber auf ſeine Fragen keine Antwort. Da ſandte er ein Boot zu dem ſtummen Schiffe, und als man auf Deck des „Omar“ kam, fand man dort fünf Matroſen liegen, von denen drei bereits tot waren; die beiden anderen lebten zwar noch, befanden ſich aber im Zuſtande äußerſter Erſchöpfung.

Der Steuermann, der das Rettungsboot führte, vermutete ſofort, daß das Ol „gedampft“ hatte, wahrſcheinlich während der Nacht. Nur mit großer Mühe und unter vielen Gefahren gelang es den Leuten, unter Deck zu dringen, denn das Ol dampfte noch immer. In den Kajüten fand man ſechs Mann der Beſatzung tot, die Gaſe hatten ſie im Schlafe erſtickt. Die beiden Überlebenden waren, als das Ol zu dampfen anfing, auf Deck geweſen, und bei ihren Bemühungen, die anderen zu retten, hatten ſie ſelber beinahe den Tod gefunden.

Die Bemannung eines norwegiſchen Oltanks, „Helios“ mit Namen, hatte vor einigen Jahren mitten auf dem Atlantiſchen Ozean ein fürchterliches Erlebnis. In einem ſchweren Sturme, in dem die „Helios“ ſich nur mühſam ihren Weg durch die aufgeregte See bahnen konnte, barſten ihre Tanke. Das Ol ergoß ſich in die Kohlenbehälter, und die Gefahr war groß, daß es bis in den Feuerraum kam, was den ſofortigen Brand des Schiffes zur Folge gehabt hätte.

Wie Wahnſinnige warfen ſich die Mannſchaften auf die Pumpen. Bald aber fing das Ol zu dampfen an, und keiner konnte länger als wenige Minuten an den Pumpen verweilen, wenn er nicht von den Gaſen betäubt werden wollte. Einen jo verzweifelten Kampf um ihr Leben führten fie, wie ihn

2 Mannigfaltiges. 219

der Ozean wohl ſelten geſehen. Unmittelbar nachdem der Tank geborſten war, hatten die Heizer Befehl erhalten, den Keſſelraum zu verlaſſen. Zum Löſchen der Feuer war keine Zeit mehr, denn bei jedem Verſuche hierzu wären die Heizer erſtickt, wenn ſie noch länger unten verweilt hätten. Elf Stunden lang arbeiteten Offiziere und Mannſchaften der „Helios“ ver- zweifelt an den Pumpen, und wahnſinnige Anſtrengungen machten ſie, das Ol nicht in den Feuerraum gelangen zu laſſen. Nach Ablauf dieſer Friſt lagen acht Mann der Beſatzung be- wußtlos auf Oeck, teils infolge der großen Anſtrengung, teils aber auch infolge Einatmens der tödlichen Gaſe.

Nur noch zwei Pumpen konnten jetzt bedient werden, und es unterlag keinem Zweifel mehr, daß, wenn nicht in der nächſten Stunde Hilfe kam, das Schiff mit Mann und Maus verloren war, denn während des Sturmes hatte die „Helios“ ihre ſämt⸗ lichen Rettungsboote verloren.

Zuletzt arbeiteten nur noch der Kapitän und der Steuer- mann an den Pumpen. Der Untergang des Schiffes war nur noch eine Frage von Minuten. Zn dieſem kritiſchen Augen- blick wurde der Oltank vom „Majeſtic“ von der White Star- Linie geſichtet, und nach zehn Minuten war die Beſatzung des dem Untergang geweihten Schiffes auf dem Paſſagier- dampfer untergebracht. Kaum hatte der letzte Mann das Boot verlaſſen, das man vom „Majeſtic“ zur „Helios“ geſandt hatte, als vom Ded des Öltants aus eine Flammenſäule emporſchoß, und gleich darauf verſank das brennende Schiff im Waſſer.

Manchmal treiben die Oldämpfe in den Wahnſinn. Vor einigen Jahren wurden von einem engliſchen Kriegſchiffe auf hoher See zwölf Mann in einem kleinen Boote aufgefunden. Fünf davon waren tobſüchtig und lagen, an Händen und Füßen gebunden, auf dem Boden des Bootes. Die Inſaſſen waren Norweger, die einen Oltank verlaſſen hatten, auf dem die Olbehälter geplatzt waren. Als die Beſatzung das ausfließende Ol aus dem Schiffe pumpen wollte, fing es zu dampfen an. Mehrere Stunden lang arbeiteten ſie an den Pumpen, dann wurden fünf Mann von der Tobſucht befallen, und faſt wäre es ihnen geglückt, das ausfließende Ol in Btand zu ſetzen.

220 | - Mannigfaltiges. 8)

Daran aber hinderten fie ihre Rameraden, indem ſie fie feſſelten und in ein Rettungsboot warfen, in dem dann die Beſatzung das Schiff verließ. Zehn Minuten waren fie von ihrem Ol- tank weg, als das Ol in den Keſſelraum lief und der Tank in einem Flammenmeer aufging. g. C.

Heldenmut bei Operationen. Bevor die bekannten Be- täubungsmittel aufgekommen ſind, galt es bei den Operationen hohen Mut im Ertragen von Schmerzen zu beweiſen; heute ſchreckt der Kranke, der einer Operation entgegenſieht, davor nicht mehr zurück, denn die furchtbaren Leiden, die früher die Patienten im Operationsſaale des Chirurgen überwinden muß- ten, beſtehen nicht mehr, und niemand unterzieht ſich einem ſchweren operativen Eingriff, ohne vorher mit Hilfe von Be- täubungsmitteln feine Schmerzempfindungen bis zur Unemp- findlichkeit mildern zu laſſen.

Die Geſchichte der Heilkunde erzählt aus vergangenen Zeiten Fälle, in denen Patienten unter dem Meſſer des Chirurgen geradezu Heldenmut bewieſen und ihre Willenskraft bis hart an die Grenze des Übermenſchlichen anſpannen mußten.

Als der Admiral Dolbau von Doktor Nélaton, dem be- rühmten Pariſer Chirurgen, an einer Eiterbeule in der Bruft- höhle operiert wurde, verfolgte er genau die Handgriffe des Arztes, und mit aufgeſchnittener Bruſt daliegend erklärte er: „Ein wenig zu hoch, dieſer Einſchnitt ſo vorſichtig Obacht ſchnüren Sie die Ader ab!“ Nelaton verlor dabei ſeine Kaltblütigkeit, ſeine Hand begann zu zittern, aber der Patient beruhigte ihn: „Nicht aufregen, faſſen Sie Mut aber geben Sie Obacht, Sie ſind jetzt ganz nahe am Herzen!“

Ein anderer Patient, der von Profeſſor Reclus in einem Fall von eiterigem Knochenfraß operiert wird, wiederholt unter dem Meſſer des Chirurgen immer wieder die Mahnung: „Nur den Knochen ordentlich auskratzen, damit ja nichts zurück— bleibt!“

Dieſe Patienten waren vom Schlage des franzöſiſchen Arztes, von dem erſt kürzlich berichtet wurde, daß er an ſich ſelbſt eine ſchmerzhafte und gefährliche Operation vornahm und glücklich beendete. C. T.

oa Mannigfaltiges. 221

Die älteſte Tabaks pfeife Deutſchlands. Die auf unſerem Bilde dargeſtellte Tabakspfeife iſt, ſoweit darüber nachgekommen

die älteſte Tabakspfeife Deutſchlands aus dem Jahre 1602.

werden kann, die älteſte Pfeife Deutſchlands. Es iſt eine foge- nannte „kurze Pfeife“, die aus vier Teilen zuſammengeſetzt iſt. Das Pfeifenrohr hat am oberen Ende ein kleines verlängertes Aſtſtück, das als Mundſtück dient; Pfeifenkopf, Deckel und

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Abguß ſind aus je einem aſtigen Holzſtück herausgearbeitet. Von kunſtfertiger Hand iſt die Pfeife mit ſechs ſauber geſchnitzten Köpfen verziert und ferner die Jahreszahl 1602 eingeſchnitzt.

Herzog Chriſtian von Braunſchweig-Lüneburg Celle hat in Rechtenfleth den erſten heimiſchen Tabak aus dieſer Pfeife geraucht und fie dann einem angeſehenen Marſchbauern ge- ſchenkt. Lange Zeit erbte ſich die Pfeife als teures An- denken in der Familie des Genannten von Generation zu Generation fort, bis ſie um die Mitte des vorigen Jahrhunderts der Dichter Hermann Allmers erwarb. Von dieſem erhielt ſie ſpäter deſſen Freund, Fabrikant Dobert in Duderſtadt im Eichsfeld. of. Gottlieb.

Der Poſtſchein des Grenadiers. Im Jahre 1763 ließ ſich bei einem Barbier in der engliſchen Stadt Doncaſter ein Soldat rafieren. Wie es in Barbierläden jo Sitte iſt, knüpfte der Verſchönerungsrat während ſeiner Verrichtung ein Ge— ſpräch an, und der Grenadier erzählte, daß er genötigt ſei, zu Fuße nach Vork, feiner Garniſonſtadt, zu wandern, weil er zu arm ſei, um die Fahrt in der Poſtkutſche bezahlen zu können. Nun liegt Vork von Doncaſter eine beträchtliche Strecke entfernt, und das Aprilwetter war ſo ſcheußlich, daß man keinen Hund hätte hinausjagen mögen.

Der Barbier war ein gutmütiger Menſch, dem der mittel- loſe Sohn des Mars leid tat; es hatte ja auch für ihn ſelbſt eine Zeit gegeben, in der er die Entbehrungen der Armut kennen gelernt hatte. Er bot daher feinem Runden an, ihni das Geld für den Fahrſchein zu borgen; ſobald er es erübrigen könne, möge er es ihm zurückſchicken.

Gerührt nahm der Soldat das Geld an, benützte die Poft- kutſche und darbte ſich nach und nach die Summe ab, um mög- lichſt bald feiner Schuld ledig zu werden. Indem er fie zurück- ſandte, fügte er in ſeinem Briefe als Ausdruck ſeines Dankes ein Rezept zu einer Stiefelwichſe bei, die er für den eigenen Gebrauch ſtets danach bereite, und die gewiß auch Herr Martin ſo hieß der Barbier gut finden werde, wenn er ſie erſt einmal probiert habe.

Der Barbier war ſehr erfreut über die Rechtlichkeit und

Dankbarkeit feines Schützlings. Er ftellte fih nach deſſen Rezept eine Portion Wichſe her, die er ſo vorzüglich fand, daß er ſeinem Freunde, dem Sattler Day, davon abgab. Auch dem gefiel die Wichſe außerordentlich. Er war aber ein unternehmender Kopf, dem es ſchnell einleuchtete, daß dies großartige Produkt zu wertvoll ſei, um auf den Privatgebrauch beſchränkt zu werden, daß ſich vielmehr ein gutes Geſchäft damit machen laſſe. Er überredete ſeinen Freund Martin, die Wichſe im großen herzuſtellen, und zwar mit ihm zuſammen. Der Barbier ging darauf ein, ſie gründeten unter der Firma Day & Martin eine Stiefelwichſefabrik, nahmen den Soldaten als Teilhaber auf und hatten einen Bombenerfolg damit. Noch heute wird das Gefchäft von ihren Nachkommen weiterbetrieben und iſt jetzt eine der reichſten Firmen der Welt. C. D.

Zur Aſthetik des Blnmentopfes. An der Ausſchmückung unſerer Wohnungen haben die Pflanzen einen hervorragenden Anteil. Leider ſind die Blumentöpfe, in denen wir ſie pflegen, ſo unſchön, daß wir ſie meiſt zu verbergen ſuchen. Man ſtellt ſie, wo es auf feinere Ausſtattung ankommt, in Töpfe aus Porzellan oder Behälter aus glaſiertem Ton. Auch bei Ge- ſchenken wirkt der gewöhnliche Blumentopf ſo unvorteilhaft, daß man ihn dem Auge zu entziehen ſucht, indem man ihn mit einer Hülle aus Seidenpapier umgibt.

Anſcheinend hat es einen triftigen Grund, daß wir an der gewöhnlichen Tonware ſo ängſtlich feſthalten. Seit alters her wird ja gelehrt, daß die Pflanzen Töpfe aus poröſer Maſſe erhalten müſſen. Durch die vielen kleinen Öffnungen foll Luft von außen in die Erde im Topfe eindringen können, denn die Wurzeln brauchen zu ihrem Gedeihen ſauerſtoffhaltige Luft. Fehlt dieſe, fo verſauert die Erde, und die Pflanze geht zu- grunde. In glaſierten Töpfen ſoll nun dieſer Luftaustauſch behindert ſein.

Ohne Zweifel iſt die Durchlüftung des Bodens für das Gedeihen der Pflanzen notwendig. Ob ſie aber durch die Wandungen der Blumentöpfe erfolgt, iſt eine andere Frage. Solange der Topf neu iſt, mag dies, wenn auch in beſchränktem Maße, der Fall ſein. Sobald aber der Topf in Benützung ge—

224 Mannigfaltiges. 2

nommen wird, beginnt die Verſtopfung der Poren, und zwar nicht allein durch den Schlamm, der ſich in ihnen ablagert. Während wir die Pflanzen begießen, dringt Waſſer in die engen Offnungen ein und verdunſtet an der Oberfläche. Aber dieſes Waſſer iſt nicht chemiſch rein. Es ſind in ihm verſchiedene Salze und organiſche Verbindungen aufgelöſt. Dieſe verdunſten nicht mit dem Waſſer, ſondern bleiben als feſter Rückſtand zurück. Es erfolgt hier derſelbe Vorgang, den wir beim Kochen des Waſſers in einem Keſſel beobachten. Auch in den Poren der Blumentöpfe lagern ſich namentlich Kalk- und Magneſiaſalze als eine Art Keſſelſtein ab, und in verhältnismäßig kurzer Zeit find die meiſten Poren verſtopft. Die Lüftung durch die Topf- wandung hört alsdann ſo gut wie gänzlich auf.

In Anbetracht dieſer Tatſachen iſt es wirklich erſtaunlich, daß die Lehre von der Notwendigkeit der poröſen Töpfe ſich ſo lange hat erhalten können. Man müßte ja längſt bemerkt haben, daß bei ſachverſtändiger Pflege die Pflanzen auch in Behältern mit luftundurchläſſigen Wänden gut gedeihen. In botaniſchen Laboratorien werden häufig ſogar Gläſer mit Er- folg zu Kulturen verwendet. Für Balkonpflanzen empfiehlt man immer mehr Zinkkäſten.

Sehr intereſſant iſt ein Verſuch, über den neuerdings M. Löbner berichtet hat. Man hat Azaleen ſieben Jahre lang, ohne ſie umzutopfen, in Glasgefäßen gepflegt; ſie haben ſich vortrefflich gehalten und ſahen ſchließlich beſſer und ſchöner aus als Azaleen gleicher Art, die man zur Kontrolle in ge- wöhnlichen Blumentöpfen kultiviert hatte.

Wir können alſo wohl Zimmerpflanzen in gefällig aus- ſehenden glaſierten Tontöpfen oder Porzellantöpfen pflegen, ohne deren Fortkommen zu ſchädigen. Die Hauptſache iſt, für einen richtigen Waſſerabzug im Topfe Sorge zu tragen, denn ſtagnierendes Waſſer bildet die Haupturſache des Ver- ſauerns der Blumenerde.

Auf eines wäre noch beſonders zu achten. Vom Gebrauch des Küchengeſchirrs her wiſſen wir, daß im Handel gute und ſchlechte Topfglaſuren vorkommen; die letzteren geben Blei an die im Topfe ſtehende Flüſſigkeit ab. In Blumentöpfen könnten

u Mannigfaltiges. 225

alſo ſchlechte Glaſuren unter Umftänden vergiftend auf die Pflanzen wirken. Die Möglichkeit dieſer Schädigung iſt aber ſehr gering, da ja die Blumentöpfe nur an der Außenſeite glafiert zu fein brauchen und die Poren der Innenſeite ſich bald verſtopfen. Bei guten, giftfreien Glaſuren und bei Por- zellan oder Glas fällt dieſe Gefahr völlig fort. Für gewiſſe Pflanzen ſind Töpfe dieſer Art ſogar ſehr zu empfehlen. Die gewöhnlichen Blumentöpfe, die aus kalkreicherem Ton her- geſtellt werden, geben den Kalk an das Gießwaſſer ab, und in ihnen kommen kalkſcheue Pflanzen wie zum Beiſpiel verſchiedene Erikaarten nicht gut fort. In Porzellan- und Glasbehältern iſt dieſer Übelſtand ausgeſchloſſen.

Es ſteht uns ſomit nichts im Wege, gefälligere Blumentöpfe für unſere Zimmerpflanzen zu wählen. Im Maſſenbetrieb, in Gärtnereien uſw., werden die poröſen Blumentöpfe ihrer Billigkeit halber ſelbſtverſtändlich unentbehrlich bleiben. Wo es aber auf geſchmackvollere und gefälligere Ausſchmückung des Heims ankommt, dürfen wir getroſt ſchöneres und edleres Material benützen. Dasſelbe empfiehlt ſich auch zu Geſchenk— zwecken; denn in einem wirklich ſchönen Blumentopf wird die Pflanze gewiß auf den Empfänger einen vorteilhafteren Ein- druck machen als in einem gemeinen Topf, wenn auch deſſen kunft- loſe Form mit Seidenpapier notdürftig verhüllt iſt. v. 8.

Unterſeeſchlitten für ſchlauchloſe Tauchapparate. Man nennt unſer Fahrhundert nicht mit Unrecht das Jahr- hundert der Technik. Der immer vorwärtsſtrebende Menſchen- geiſt hat uns die Luft erobert, und ein Gegenſtück hierzu bildet der Anterſeeſchlitten für ſchlauchloſe Taucherapparate, die dem Menſchen die Möglichkeit geben, die ſtillen tiefen Waſſer des Meeres zu beobachten und handelnd zu durchqueren.

Bevor wir uns den Anterſeeſchlitten ſelbſt näher anſehen, ſeien einige Worte über den freitragenden ſchlauchloſen „Dräger- taucherapparat“ vorausgeſchickt, der den Taucher unabhängig macht von der atmoſphäriſchen Luft. Der Apparat iſt ein Luftregenerator und Sauerſtoffverſorger; er beſteht aus einem torniſterartigen Rüdenapparat, in dem die in Helm und Anzug zirkulierende Luft ſelbſttätig gereinigt und durch Zuſatz von

1918, X, 15

220 Mannigfaltiges. 15

Sauerſtoff aufgefriſcht wird. Dem Taucher ſtehen ſtündlich 3600 bis 4200 Liter Luft zur Verfügung, eine Luftmenge, die ſelbſt für die angeſtrengteſte Arbeitsleiſtung ausreicht. Statt der üblichen Bleigewichte trägt der Taucher auf der Bruſt ein Gewicht, das aus Stahlflaſchen beſteht; in ihnen iſt Preßluft oder hochkomprimierter Sauerſtoff aufgeſpeichert.

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N zug x 82 Falle...

Unterſeeſchlitten für Orägertaucher, Seitenanſicht.

Will alſo der Taucher ohne Hilfe von außen die Waffer- oberfläche wieder erreichen, dann öffnet er das Ventil des Gewichtes. Nun ſtrömt Luft in feinen Anzug, und der Tau— cher kann auch bei drohender Gefahr in wenigen Augenblicken an die Waſſeroberfläche gelangen.

Die beſonderen Eigenſchaften des neuen Apparates er— wachſen alſo aus folgendem: Der Taucher kann ohne Ver- bindung mit Land oder Schiff ſtundenlang unter Waſſer arbeiten, wenn aus irgend einem Grunde die Sicherheits-

——

D Mannigfaltiges. 227

leine gekappt oder die telephoniſche Leitung unterbrochen werden mußte. Pumpen und Bedienungsmannſchaften fallen ganz fort, da der Taucher ſeinen Luftvorrat mit ſich führt, die Betriebskoſten ſind ungemein gering.

Wir ſehen alſo, daß durch freitragende ſchlauchloſe ane

Orägertaucher mit Unterfeefölitten auf offener See.

apparate die Bewegungsfreiheit des Tauchers eine unbegrenzte geworden iſt.

Was bedeutet nun der Unterfeefchlitten? Zweck desſelben iſt zunächſt die ſchnelle Beförderung des Tauchers von einem Ort zum anderen, wie ſie bei dem Suchen und Bergen ver— lorener Torpedos erwünſcht iſt. Außerdem leiſtet die Ver— wendung des Unterſeeſchlittens bei der Feſtſtellung der Lage

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untergegangener Wracke gute Dienſte. Der Taucher iſt hier- durch befähigt, in ſehr kurzer Zeit ein großes Gebiet in Tiefen bis zu 40 Metern aufzuklären.

Der Taucher kann den Schlitten an Bord beſteigen und zugleich mit dem Gefährt entweder auf einer Gleitbahn oder mittels Schiffskrans zu Waſſer gelaſſen werden. Auf zwei langgeſtreckten Gleitkurven, die vorn zu Kurven gebogen und durch einen ellipſenförmigen Bogen verbunden wurden, ruhen Taucherſitz und Schutzmuſchel, an den Seiten befindet ſich je ein Tank für Preßluft, die in eingebauten Stahlzylindern aufgeſpeichert iſt. Zwiſchen dem Vorderbügel find die Tiefen- ſteuer, am Schlittenſchwanz die Kurvenſteuer angeordnet, die Steuerung wird vom Taucherſitz aus bedient. Das Zu- und Ablaſſen der Tankluft geſchieht durch Benützung der freiliegen— den Anſchlußventile. Solange nun die Tanke mit Preßluft gefüllt ſind, wird der mit dem Taucher beſetzte Schlitten im Oberwaſſer ſchwimmen; er kann in dieſer Lage unbeſchränkt fortbewegt werden. Für das Niedertauchen auf Grund ift entweder das Ablaſſen der Tankluft oder das Niederdrücken der Tiefenſteuer erforderlich. Sofort ſteigt der Schlitten abwärts und erreicht den Grund ohne Aufſtoß. Nach der Wiederzu— führung der Preßluft oder dem Hochdruck in dem Tiefenſteuer kehrt das Gefährt unter dem zunehmenden Druck der Tank- luft zur Waſſeroberfläche zurück. Während der Ruhelage an der Waſſeroberfläche oder auf Grund ſind die Manöver mit Hilfe der Tanke ausführbar durch Einblaſen oder Auslaſſen von Luft.

Die Dauer einer Unterſeefahrt hängt von der Funktion der Luftwiedererzeugung im Taucheranzuge ab, doch beträgt ſie im allgemeinen bis zu drei Stunden. Zur Zeit der Tages- höhe iſt die Lichtzufuhr zu den Tiefen ausreichend, um die Verhältniſſe auf Grund klar ermitteln zu können. Für Dunkel- arbeit iſt der Taucher mit Unterwaſſerlampen auszurüſten oder der Schlitten mit einem Scheinwerfer zu verſehen, der von dem in dieſem Falle beigegebenen Motorboot aus geſpeiſt wird. Gegen alle Zufälligkeiten bietet die Ausrüſtung, die der Tau— cher auf dem Leibe trägt, den wirkſamſten Schutz.

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Die Bedeutung dieſer neuen Erfindung beſonders für Kriegs- mittel iſt heute noch gar nicht abzuſehen, zumal durch den Unter. ſeeſchlitten die Selbſtändigkeit und Bewegungsfreiheit des Tauchers mit dem freitragenden ſchlauchloſen Apparat ganz beſonders gehoben wird, ja, es ergibt ſich aus der Eigenart der ganzen Verhältniſſe auch faſt die Möglichkeit für die Entwick- lung eines Unterwaſſerſportes. H. H.

Eine Herzogin, die mit der Nähmaſchine gemacht wurde. Vor kurzem iſt in Paris Herzog Elie Decazes geſtorben, deſſen Tod Veranlaſſung gibt, eine kleine Anekdote aufzu- friſchen, deren allerdings unfreiwillige Heldin die Gemahlin des Herzogs, Herzogin gſabella Decazes, war.

Des Herzogs Vater und Vorgänger, Herzog Louis Decazes, hatte ſtets mit ſeinen Gläubigern zu kämpfen, und man ſagt, daß fein Noch ſich eines Tages im letzten Augenblick weigerte, ihm und ſeinen Gäſten die Mahlzeit anzurichten, bevor er nicht feinen ruͤckſtändigen Lohn und feine Auslagen erhalten hätte. Um ihrem Wirt aus der Verlegenheit zu helfen und ſich ſelbſt nicht um den Genuß einer guten Mahlzeit zu bringen, ließen die Gäſte, die ſich ſchon zu Tiſche geſetzt hatten, einen Teller herum gehen, bis die Summe beiſammen war und dem Koch übermittelt werden konnte. Genug, Herzog Elie Decazes ſah ſich ſchließlich ge- nötigt, den Glanz feines Wappens neu zu vergolden, und ver- mählte ſich im Jahre 1888 mit Miß Iſabella Blanche Singer aus New Vork, einer Tochter des weltbekannten Nähmaſchinenfabri- kanten, die ihm eine Mitgift von mehreren Millionen in die Ehe brachte. Die Herzogin Decazes erregte aber durch ihr freies und ſelbſtbewußtes amerikaniſches Weſen das Mißfallen einiger alten würdigen Matronen des Faubourg Saint-Germain, und als eine dieſer Hüterinnen der Etikette und der Überlieferung ein- mal während einer Abendgeſellſchaft gefragt wurde, wer denn eigentlich dort drüben jene durch ihr lautes und lebhaftes Sebaren auffallende junge Dame ſei, antwortete fie boshaft: „Es iſt die Herzogin Decazes. Aber ſie iſt keine richtige Her— zogin, ſondern nur eine, die mit der Nähmaſchine gemacht wurde.“

Dieſer Spitzname „die Herzogin, die mit der Nähmaſchine

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gemacht wurde“, blieb der Gemahlin des Herzogs Decazes bis an ihr Ende. O. v. B.

Ein japaniſcher Winkelried. Von einem ſolchen erzählt ein engliſcher Kriegsberichterſtatter. Es handelt ſich dabei um ein Ereignis aus dem ruſſiſch-japaniſchen Kriege, in dem die Japaner eine ruſſiſche Stellung ſtürmen wollten. Wieder und wieder wurden ſie zurückgeſchlagen, bis ſchließlich ein japaniſcher Unterleutnant die ruſſiſche Stellung zu Fall brachte, indem er ſich opferte wie einſt Winkelried in der Schlacht bei Sempach. Er ließ ſich acht Handgranaten bringen, legte ſeinen Degen und was ihm ſonſt hinderlich ſein konnte, ab, band die Granaten um ſeinen Körper in gleichmäßigen Ab- ſtänden, verknüpfte die Enden der Zündſchnüre miteinander, zündete ſich eine Zigarette an und ging kaltblütig auf die feind- liche Stellung los. Dann ſetzte er, dicht vor einem Graben an- gekommen, mit der Zigarette die Zündſchnüre in Brand, nahm einen Anlauf und ſprang in die feindlichen Bajonette, die ſich ihm entgegenſtreckten. Ehe noch die Ruſſen die Bajonette aus der Leiche des Japaners herausziehen konnten, gab es eine fürchterliche Exploſion. Der japaniſche Leutnant und die Gruppe ruſſiſcher Soldaten, in die er geſprungen war, waren verſchwunden, und ſtatt deſſen raſſelte ein Hagel von zer- fetzten menſchlichen Körperteilen hernieder, der alle in der Nähe Kämpfenden mit Blut überſchüttete. Sofort ſtürmten die Japaner, und kurze Zeit fpäter wurde die japaniſche Sonnen- fahne auf dem genommenen Hügel aufgepflanzt. O. v. B.

Unterhaltungskoſten eines großen Hotels. Die Unter- haltungskoſten für ein großes Hotel, das von dem allerbeſten Publikum beſucht wird, ſind von Jahr zu Fahr geſtiegen, bis ſie heute eine Höhe erreicht haben, die man noch vor zehn Jahren für unmöglich gehalten hätte. Der erſte Küchenchef eines der größten Hotels in London bezieht ein Jahresgehalt von 40,000 Mark, und die einzige Mahlzeit, deren Zubereitung er zu beaufſichtigen hat, iſt das „Dinner“. Ihm ſtehen zwei „Adjutanten“ zur Seite, von denen der erſte 14,000 und der zweite 10,000 Mark Gehalt hat. Dieſe beiden bereiten das Frühſtück und das Abendbrot.

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Außer den drei „Chefs“ unterhalten ſämtliche große Hotels ein ſehr zahlreiches weiteres Küchenperſonal. Da gibt es „Herdleute“, die die verſchiedenen Feuer- und Heizungspor- richtungen inſtand zu halten haben, „Keſſelleute“, die nach den Keſſeln ſehen, ein großer Stab von „Maga ziniers“, denen die Küchen vorräte unterſtellt find, und ein ganzes Heer von Küchen- und Abwaſchmädchen. Außerdem ſind an anderen größeren Gehältern noch zu zahlen: dem Solmetſcher 12,000 Mark, dem Arzt 12,000 Mark und dem Inſpektor 9000 Mark. „Ferner be- ſchäftigen wir,“ berichtet der Hoteldirektor, „100 Hausmädchen, von denen jede 600 Mark Lohn bezieht, und auch in unſerem Bureau und der Buchhalterei ſind eine ganze Reihe von Per- ſonen tätig. Die Gehälter aller bei uns angeſtellten Perſonen belaufen ſich im Jahre auf etwa 500, 000 Mark, und dieſe Gehälter bilden nur einen kleinen Teil der Roften, die die Unter- haltung eines vornehmen Hotels, das nach modernen Grund- ſätzen geführt wird, erfordert.“

Ein erſtklaſſiges, vornehmes Hotel liefert bei jeder Mahl- zeit reine Tiſchtücher und Servietten. Nehmen wir an, daß im Reftaurant 30 Tiſche für vier Perſonen ſtehen, fo heißt das, daß täglich 90 reine Tiſchtücher und 360 Servietten ge- liefert werden müſſen. „Reine Betttücher,“ erklärt der Oirektor weiter, „werden in jedem Zimmer allabendlich aufgelegt, das heißt wir müſſen Tag für Tag mindeſtens 120 in die Wäſche ſchicken. Unſere Wäſche, die kontraktlich an einen Unternehmer vergeben iſt, koſtet jährlich 60,000 Mark. Viele reiche Gäſte haben beſondere Wünſche, denen wir Rechnung tragen müſſen. So zum Beiſpiel müſſen wir das Zimmer einer reichen Ameri- kanerin, die während der Londoner ‚Seafon‘ mit ihrer Tochter ſechs Wochen bei uns wohnt, jeden Tag mit La-France-Roſen dekorieren und für fie und ihre Tochter nach beſonderer Vor— ſchrift parfümierte Bäder bereiten. Gäſte, die ſolchen Luxus wünſchen, müſſen zwar erhöhte Preiſe zahlen, dieſe erhöhten Preiſe decken aber keineswegs unſere Mehrkoſten.“

Manche der erſten Hotels haben auch ſtets eine ganze An- zahl tüchtiger Diener und Kammerjungfern für ſolche Gäſte ausſchließlich zur Verfügung, die aus dem oder jenem Grunde

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nicht mit ihrer eigenen Dienerſchaft reifen wollen. Auch da- durch entſtehen der Verwaltung be deutende Ausgaben, und die den Gäſten hierfür berechnete Gebühr deckt nur in ſeltenen Fällen die Selbſtkoſten.

Zu den Ausgabepoſten, die ſich nicht vermeiden laſſen, muß man aber auch noch die faulen Schulden ſtellen, die gemacht werden. Leute, die im Hotel ſpeiſen und Geſellſchaften geben, machen ſich wenig Kopfzerbrechen, wenn ihr Konto auf 20,000 Mark anwächſt, und mit bewundernswerter Raltblütig- keit erklären fie dann der Direktion, daß fie „jetzt im Augen- blick“ nicht zahlen können. Kein Hotel klagt gern wegen einer nicht bezahlten Rechnung gegen eine Perſon, die in der Ge- ſellſchaft einen hohen Rang einnimmt. Lieber ſtreicht man den Poſten. g. C.

Die goldenen Hemdknöpfe des Herzogs von Aral. Der Herzog, der im Jahre 1685 die Partei Monmouths gegen König Jakob II. von England ergriffen hatte, teilte das un- glückliche Schickſal des Prätendenten auf dem Schafott, denn Jakob verzieh bekanntlich niemals etwas. Während Monmouth feige um ſein Leben bettelte, zeigte Argyll die vollkommenſte Seelenruhe eines Mannes, deſſen höchſtes Gut nicht das Leben iſt. Als er ſich eben zu ſeinem letzten ſchweren Gange rüſtete, ſchickte ſein Weib zu ihm und ließ ihm ſagen, er möchte doch nicht vergeſſen, ſeine goldenen Hemdknöpfe herauszunehmen und ihr zuzuſchicken. Tief empört über die Herzloſigkeit ſeiner Gattin, blieb er doch ruhig und fragte die Botin nur, ob es wohl jetzt Zeit ſei, an ſo etwas zu denken. Als er dann auf dem Schafott ſtand, fragte ihn einer ſeiner Freunde, ob er nichts mehr an ſeine Gattin zu beſtellen hätte. „Richtig,“ ſagte da der Herzog mit einem feinen Lächeln, „das hätte ich beinahe ganz vergeſſen. Bringen Sie ihr dieſe goldenen Hemdknöpfe.“ Damit machte er fie heraus und legte kaltblütig fein Haupt auf den Block. C. T.

Vom Wunderreich des Mikroſkops. Wenn das Fern- rohr die Aufgabe hat, uns Einzelheiten von Körpern ſichtbar zu machen, die weit außerhalb des Bereichs unſerer Erde liegen, ſo hat umgekehrt das Mikroſkop den Zweck, uns Einzel—

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heiten ſehr kleiner Körper zu enthüllen, die unſer bloßes Auge längſt nicht mehr zu unterſcheiden vermag. Es iſt ja unnötig, ausführlich davon zu ſprechen, welch tiefeingreifende Wirkung dieſes Inſtrument auf die Entwicklung vieler Wiſſenſchaften ausgeübt hat, aber von Zeit zu Zeit ſoll man doch wenigſtens daran erinnern. In der Hand des Mediziners wird es zu einer der furchtbarſten Waffen gegen die Feinde der Menſch⸗ heit, die Krankheitserreger. Mag die Bakterie noch ſo klein, noch ſo waſſerklar ſein, ein winziges Farbtröpfchen macht ſie unter dem Mikroſkop dem Auge des Arztes ſichtbar. Für den Richter wird das Urteil des Gerichtschemikers ein unwiderlegliches Indi- zium, das alle Künſte des Banknotenfälſchers zunichte macht, das das Blut des Opfers in dem unſcheinbarſten Fleckchen am Kleide des Mörders nachweiſt.

Und welch großen Fortſchritt hat es in der Biologie gebracht! Schon ein Mikroſkop von ganz ſchwacher Vergrößerung enthüllt den Auf-

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bau des pflanzlichen und tierifhen Leibe, IE | d zeigt, wie ſich Zelle an Zelle reiht, jede der anderen ähnlich und doch davon verſchieden nden

ein Individuum für ſich. Kein zoologiſcher Garten vermag ein Schaufpiel zu bieten, wie Ein Mikroſkop es der Waſſertropfen eines Tümpels unter der Firma dem Mikroskop gewährt. Denn dort find die Saran. Tiere ihrer Freiheit beraubt und unter fremde Bedingungen verpflanzt, hier aber ſind ſie ſamt ihrer Heimat fortgeſchafft worden, und das Mikroſkop macht es uns möglich, fie in ihrer natürlichen Umgebung zu beobachten. Es zeigt, wie fie ihrer Nahrung nachgehen, wie ſie ſich nach Beute auf die Lauer legen und vor ihren Feinden verſtecken. Ganz wie die Men- ſchen müſſen fie ſich in ſtetem Kampfe durchs Dafein ſchlagen, und wer dazu zu ſchwach iſt, der geht zugrunde.

Es iſt ſchade, daß ſich nur ſo wenige Menſchen in ihren Mußeſtunden mit dieſer Welt des Kleinen beſchäftigen, es iſt ja ſo leicht möglich gemacht, denn Wikroſkope ſind in allen

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Preislagen, ebenſo Präparate und Utenſilien zum Mikro- ſkopieren zu erhalten, wie zum Beiſpiel aus den Preisliſten der Firma F. Saran in Berlin W 57 zu erſehen iſt. Verſtändnis gewinnen für das Leben der kleinſten Weſen, heißt zugleich Verſtändnis gewinnen für den eigenen Organis- mus und den Organismus der Menſchheit und des Weltganzen. Dies ſollte man nicht vergeſſen. H. Sch. Vom Ziegenmelker. Oer Ziegenmelker, der nach dem Volksglauben nächtlicherweile den Ziegen die Euter austrinken ſoll, iſt unſtreitig einer der merkwürdigſten Vögel der Erde. Unter feinen Eigenſchaften iſt feine große Neugier beſonders auffällig. Sie zeigt ſich wirklich auf eine ſehr auffallende Art. Sobald der Vogel etwas Ungewöhnliches bemerkt, beginnt er zu „rütteln“, das heißt ſich durch ſchnellen Zlügelichlag oder durch eine faſt zitternde Bewegung der Schwingen auf einer Stelle zu halten, um den ihm fremden Gegenſtand recht ins Auge faſſen zu können. Erſt wenn er ſeine Neugier hinlänglich befriedigt hat, fliegt er weiter. Zuweilen wird ihm dieſe fon- derbare Sucht verderblich. Ein ſchlechter Schütze braucht zum Beiſpiel nur den einen Lauf ſeines Gewehres abzuſchießen, um ihn zu veranlaſſen, ſich zur bequemſten Zielſcheibe ſelbſt zu ſtellen, denn nach dem Schuß beginnt der Vogel ſofort zu „rütteln“ und kann dann mit Leichtigkeit geſchoſſen werden. Von dieſer Neugier erzählt ein Naturforſcher folgenden weiteren Zug. „Anfangs Zuli ging ich abends von dem be- nachbarten Orte K. nach R. zurück. Der Weg führte durch einen etwa eine halbe Stunde breiten Nadelwald. Ich war kaum eingetreten, da flog ein Ziegenmelker über meinen Weg, erblickte mich, rüttelte, beſah mich ganz genau, ſetzte ſich dann auf eine wenig entfernte Kiefer nieder und begann zu ‚fpinnen‘, wie ſein Geſang genannt wird. Ich mochte noch nicht hundert Schritte weitergegangen ſein, da erſchien mein lieber Freund ſchon wieder, ſchwebte neuerdings über mir herum, beſah mich noch einmal und flog auf einen anderen Baum, wo er ſein Spinnen wieder aufnahm. Sch ſetzte meinen Weg fort und mochte, während der Ziegenmelker unverdroſſen fortſpann, um etwa fünfhundert Schritte weitergegangen ſein. Da erſchien

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der Dogel zum dritten Male und begleitete mich wieder ein Stückchen. Der Weg hatte mich jetzt tief in das Tal hinab- geführt. Als ich aber den jenſeitigen Hügel heraufgeſtiegen und dahin gekommen war, wo der Weg wieder frei wurde, erſchien auch der Ziegenmelker abermals und flog längere Zeit als gewöhnlich über mir herum, gerade als wolle er mir ſagen: ‚Hier iſt meines Reiches Grenze, an dieſer will ich Abſchied nehmen.“ Er tat dies denn auch und kehrte über das Tal nach ſeinem Brutorte zurück, wie ich aus ſeinem von rückwärts zu mir hertönenden Geſchnurre erkannte. Er hatte mich über eine Viertelſtunde weit begleitet.“ C. T.

Die vier Nationen. Eine hübſche Anekdote, die die Eigen- art der verſchiedenen Nationen ſehr luftig und dabei treffend charakteriſiert, erzählte mir ein alter Schiffs kapitän, deſſen ſtets originelle Einfälle freilich nicht immer einer ſtrengen Prüfung in bezug auf Wahrhaftigkeit ſtandhalten konnten.

„Auf einer meiner Fahrten durch den Indiſchen Ozean hatte ich ein recht internationales Publikum an Bord, unter anderen einen engliſchen Weltreiſenden, einen deutſchen Profeſſor, der Gott weiß welche Unterſuchungen in Japan anſtellen wollte, und einen Amerikaner mit Tochter, einer recht niedlichen, ſtets zum Flirt bereiten Miß, der ein Franzoſe, der vierte in dem

internationalen Konzert, recht eifrig den Hof machte. | Eines Mittags, wir ſaßen gerade bei Tiſch, verkündete der Poſten auf Ausguck, daß Land in Sicht ſei. Ich ging ſofort auf Oeck und konſtatierte die Richtigkeit der Beobachtung. Da in den Schiffskarten dieſer Gegend keinerlei Land eingezeichnet war, konnte es ſich nur um eine neu aufgetauchte Inſel vulkani- ſchen Urſprungs handeln, ein Naturereignis, das in dieſen Breiten nicht allzu ſelten iſt. Trotzdem hielt ich es für meine Pflicht, die Paſſagiere zu verſtändigen, die ſich ſofort auf Deck verſammelten. Während wir uns dem kleinen, kahlen, ſteinigen Eiland näherten, hielt uns der deutſche Profeſſor einen gründ- lichen Vortrag, der das ganze einſchlägige Gebiet der Wiſſen- ſchaft ausführlich und erſchöpfend behandelte. Der Amerikaner hörte ſorgſam zu, erbat ſich von mir die näheren Daten über Länge und Breite, fragte, ob ſolche Inſeln einen praktiſchen

Nutzen hätten, und zog ſich nach Verneinung dieſer Frage wieder in den Speiſeſaal zurück, wo er ſeelenruhig ſeine Mahl- zeit beendete. Der Franzoſe, den die Sache ſichtlich wenig intereſſierte, benützte die Gelegenheit, um der Miß heimlich ein Briefchen zuzuſtecken. Der Engländer ſtand ſteif wie ein Stock an der Brüſtung. Als wir uns der znſel bis auf kurze Entfernung genähert hatten, warf er plötzlich den Rock ab, zog die Schuhe aus und ſprang über Bord. Mit wenigen Stößen war er auf dem Eiland und zog aus der Hoſentaſche eine engliſche Fahne, die er auf den Felſen hißte, um das Eiland im Namen des Königs für die vereinigten Königreiche in Beſitz zu nehmen. Dann ſchwamm er an Bord zurück und verſchwand in ſeiner Kabine, um nach einer Viertelſtunde wieder, tadellos gekleidet, beim Diner zu erſcheinen.

Vierundzwanzig Stunden fpäter, als wir einen kleinen Hafen anliefen, ſtieg der Amerikaner eilig ans Land und kam in einer halben Stunde wieder zurück. Er hatte ein langes Tele- gramm an den ‚New Vork Herald“ abgeſandt, das unter Ver- wertung des deutſchen Wiſſens und meiner nautiſchen An- gaben das ganze Ereignis ſchilderte. Seelenvergnügt ſchrieb er in fein Reiſetagebuch:, Ausgaben: ein Telegramm 40 Dollar, Einnahmen: ein Zeitungsbericht 150 Dollar,‘

So behandelte jeder einzelne das Ereignis nach feiner Art.“ A. S.

Das Nachtwandeln der Mondſüchtigen. Es gibt wohl keinen Menſchen, der ſich nicht erinnerte, einmal geträumt zu haben, daß er über irgend etwas Angenehmes oder Unan- genehmes lachen oder weinen mußte. Wenn nun dieſe Vor- ſtellung des Lachens oder Weinens ſich verwirklicht und in Handlungen übergeht, ſo fängt der Schläfer tatſächlich an, hörbar zu lachen, zu weinen, zu reden, zu ſtöhnen. Auch träumt man öfters, daß man irgendwohin geht oder irgend eine Beſchäftigung ausführt. Mit der bloßen Vorſtellung, daß man geht, hat es in der Regel ſein Bewenden.

Es gibt aber Leute, bei denen ſich auch dieſe Traumvor— ſtellung in die entſprechende Handlung umſetzt, die alſo nicht nur träumen, daß ſie gehen, ſondern wirklich ſchlafend ihr Bett

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verlaſſen und umhergehen oder die Handlungen ausführen, die ſie ſich im Traume vorſtellten. Der Breslauer Arzt Dr. Ebers beobachtete ſeinen elfjährigen Pflegeſohn, wie er im Schlafe laut ſprach, zur Zeit des Vollmondes aufſtand, umherging, Gegenſtände anfaßte, abſichtlich hingeſtellten Hinderniſſen aus- wich, das Fenſter öffnete, hinausſchaute und ſchließlich wieder ins Bett ſtieg, ohne am anderen Morgen die geringſte Er- innerung an das Vorgefallene zu haben.

Derartige Perſonen nennt man Nachtwandler, Schlaf- wandler oder Somnambulen. Der Volksmund hat für ſie auch die Bezeichnung „Mondſüchtige“, um damit den Einfluß des Mondes auf ihren Zuſtand anzudeuten. Wie weit dies zu- trifft, iſt noch nicht erwieſen. Allerdings ſcheint es, daß das grelle Mondlicht auf nervöſe Schläfer einen Reiz ausübt, der Traumvorſtellungen hervorruft und einen ſomnambulen Zu— ſtand begünſtigt.

Die ſtaunenswerte Sicherheit, mit der die Nachtwandler oft recht ſchwierige Leiſtungen ausführen, erklärt Dr. J. Finckh aus ihrem außerordentlich feinen Muskelgefühl in dieſem Stadium, das ihnen leicht die Erhaltung des körperlichen Gleich- gewichtes und die Vermeidung von Hinderniſſen, die ſich in den Weg ſtellen, geſtattet. Dazu kommt der Umſtand, daß die ganze Aufmerkſamkeit ſich ausſchließlich der Ausführung der Tat zuwendet, ohne durch etwas anderes abgelenkt zu werden. Alſo andere Vorſtellungen, zum Beiſpiel die Furcht, zu ſtürzen, oder Bedenken gegen die Ausführung des Unter- nehmens treten nie auf. Dadurch fällt der Hauptumſtand weg, der einen Wachenden in ähnlicher Lage unſicher macht. Der Nachtwandler führt ſeine Handlungen aus wie ein ahnungsloſes Kind. Er kennt die Gefahr nicht, hat daher keine Angſt, keinen Schwindel. Über gefährliche Wege zu gehen, iſt nicht ſchwierig, wenn man nicht weiß, daß ſie gefährlich ſind. Legt man zum Beiſpiel eine Holzlatte auf den Erdboden, ſo wird man ſich nicht ſcheuen, auf ihr von einem Ende zum anderen zu gehen. Erhöht man ſie aber auch nur um ein Meter, dann werden die meiſten ſchon mit großer Zaghaftigkeit darauf herum— balancieren, obgleich die Latte dieſelbe und vor allem gleich

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breit geblieben iſt; aber die zur richtigen Ausführung nötige Aufmerkſamkeit wird abgelenkt durch die Angſt und Furcht, zu fallen. Es könnte jeder auch über die Dächer gehen, wenn ſie auf ebener Erde ſtänden. Der Nachtwandler wird nun durch Ablenkungen nicht geſtört, ſolange er nicht erwacht. Tritt Er- wachen ein, dann kommt ihm auch die Erkenntnis der Gefahr, er erſchrickt, verliert das Gleichgewicht, und oft iſt ein Sturz in die Tiefe die Folge.

Nicht nur körperlich ſchwierige Leiſtungen vollbringen die Nachtwandler, ſondern auch ſolche auf geiſtigem Gebiete. Dr. Finckh berichtet folgenden Fall. Ein Rechtsanwalt hatte in einer ſchwierigen Rechtsangelegenheit ein Gutachten abzu- geben. Nachdem er einige Tage lang darüber nachgegrübelt hatte, bemerkte ſeine Frau, daß er ſich in der Nacht vom Lager erhob und an ſeinem Schreibtiſch längere Zeit ſchrieb. Dann ging er wieder zu Bett. Am anderen Morgen erzählte er ſeiner Frau, er habe nachts im Traume das Gutachten in einer äußerft klaren Weiſe erledigt; leider ſei aber deſſen Inhalt ſeinem Gedächtnis vollkommen entſchwunden. Zu ſeinem großen Erſtaunen fand er, von ſeiner Gattin zum Schreibtiſch geführt, dasſelbe dort geſchrieben vor. Es erwies ſich als durchaus ſachgemäß und klar abgefaßt.

Im allgemeinen iſt das Nachtwandeln als ein tranthaftes Träumen aufzufaſſen. Die davon befallenen Perſonen ſind meiſt nervös belaſtet. Die Hauptmittel dagegen ſind: Abends recht zeitig und wenig eſſen, die ganze Nacht hindurch in friſcher, kühler Luft ſchlafen. Das Bett ſei nicht zu dick und warm; Woll- und Steppdecken ſind beſſer als Federbetten. Dr. Th.

Geſellſchaftsſpiele der Kaiſerin Eugenie. Um die Lang- weile fernzuhalten, vergnügte ſich öfters abends die Geſellſchaft der Kaiſerin bei allerlei Geſellſchaftsſpielen. Die anweſenden - Berfonen bildeten einen großen Kreis; darauf legte jeder die Hände auf eine Schnur, die rund um den Kreis lief, und zwei Perſonen, die in des Kreiſes Mitte ſtanden, bemühten ſich, den Händen, die die Schnur hielten, einen Klaps zu geben. Die Hände mußten durch raſche Bewegungen dem zu entgehen ſuchen, durften aber die Schnur nicht loslaſſen. Da regnete

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es Hiebe. Die Kaiſerin gab und empfing recht kräftige und lachte dabei auf wie ein vom Schulzwang befreites Penſions- mãdel.

Die Damen zogen ſich dann in ein beſonderes Zimmer zurück und bewaffneten ſich mit gefalteten Servietten, deren Enden in der Hand vereint waren; die Serviette bildete ſo eine Art Waffe, mit der man ziemlich ſtark zuſchlagen konnte. Jede Dame wählte ſich einen Herrn, aber ſo, daß kein Herr wußte, welche Dame ihn gewählt hatte. Nachdem das alles verabredet war, traten die Herren einzeln ins Damenzimmer, und jeder mußte eine Dame begrüßen. Hatte er das Glück, die Dame, die ihn gewählt hatte, zu treffen, jo durfte er in der Gefell- ſchaft der Dame bleiben. Wenn er aber daneben riet, fielen ſofort ſämtliche Damen über ihn her und prügelten ihn mit den Servietten ſo lange, bis er fluchtartig den Salon verlaſſen hatte. Den Kaiſer Napoleon ſah man einmal, von den Damen verfolgt, über Stühle und Tiſche ſpringen, und der deutſche Geſandte Graf Hatzfeld der ebenfalls falſch begrüßte, bekam die ſchönſten Schläge.

Die Kaiſerin zeigte ſich bei dieſem Spiele ungemein aus- gelaſſen, ſie ſchlug nach rechts und links, kämpfte, lief, ſchrie und hatte: rein gar nichts von der Majeftät einer Kaiſerin. C. T.

Der Weg im Wege. Bei Naturvölkern, die buſch- und waldreiche Gebiete bewohnen, iſt der „Gänſemarſch“ allgemein üblich, da hierbei der ſchmale, von dem Vordermann getretene Pfad am beſten vom Hintermann ausgenützt wird. In Amerika war die „Indianerreihe“ wohl bekannt, und wenn die Indianer in die Städte kamen, fo taten fie es nicht anders als im Gänſe- marſch, was auf den breiten Straßen ſich recht wunderlich aus- nahm.

Der Gänſemarſch iſt auch den Eingeborenen im Bismarck archipel in Fleiſch und Blut übergegangen, und ſie halten an ihm feſt, ſelbſt wenn die deutſche Regierung Straßen bauen läßt, worüber neulich der Südſeeforſcher Dr. G. Friederici berichtete. Jedem Beſucher von Neu-Mecklenburg fallen die prachtvollen Straßen auf, die im nördlichen Teil der Znſel angelegt worden ſind und peinlich ſauber gehalten werden.

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Aber auf dieſen häufig ſchnurgeraden Straßen kann man einen ganz ſchmalen Pfad innerhalb des breiten Weges ſehen, der im Gegenſatz zu dieſem in geradezu lächerlicher Weiſe ſich in Zickzack- und Schlangenlinien dahinwindet. Das iſt der Weg im Wege, der Pfad der Kanaken, die, ihren Urwaldgewohn- heiten getreu, auch auf dieſen breiten Straßen einer hinter dem anderen gehen, die tadellos Vordermann halten, aber nicht geradeaus marſchieren können. v. 3.

Eine amtliche Korreſpondenz. Bei den naſſauiſchen Behörden war um die Mitte der vierziger Jahre ein Verkehrs- ton üblich, deſſen wohltuende Sachlichkeit und Kürze mit dem berüchtigten „Amtsdeutſch“ nichts zu tun hatte.

So handelte es ſich einmal um die Beſchwerde eines Her- borner Fabrikanten, der einen Dorfſchulzen für einen Rad- bruch wegen ſchlechter Beſchaffenheit des Weges haftbar machen wollte. Auf Grund der Beſchwerde erließ der in der Sache tätige Amtmann Kniſel in G. folgende Verfügung:

„Der Schultheiß Weyl zu Schönbach hat innerhalb acht Tagen auf feine Koſten dem p. p. Kempf ein neues Wagenrad machen zu laſſen, außerdem hat er eine Strafe von drei Gulden zu zahlen. Herzogliches Amt: Kniſel.“

Der Schultheiß erwiderte auf demſelben Schriftſtück: „Ich laſſe das Rad dem Kempf nicht machen und bezahle auch keine Strafe. Weyl, Schultheiß.“

Der Amtmann: „Wieſo? Kniſel.“

Der Schultheiß: „Bei der Einteilung der Wege wollte ich den Weg nach Amdorf als Vizinalweg gebaut haben, der damalige Amtmann hat aber kurzweg entſchieden, daß ein Verbindungsweg genügt. Weyl, Schultheiß.“

Der Amtmann: „Was war das für ein Amtmann? Kniſel.“

Der Schultheiß: „Der Amtmann hieß Kniſel. Weyl, Schult— heiß.“

Der Amtmann: „Sie brauchen dem Kempf das Rad nicht machen zu laſſen. Die Strafe iſt erlaſſen. Kniſel.“ O. v. B.

Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Theodor Freund in Stuttgart, in Oſterreich-Ungarn verantwortlich Dr. Eruſt Perles in Wien.

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freiungskriegen. Von Wilhelm Arminius. Mit einem Titelbild und 28 Textilluſtrationen von Theo- dor Rocholl. Elegant gebunden 4 Mark 50 Pf.

Das Bade Volk rüfte ſich zur 100jährigen Erinnerungs ſeier der großen Ereigniſſe von 18131815. Auch die Jugend wird daran teilnehmen mit der nur ihr eigenen Begeiſte⸗ rung. Sie in die Zeit der Erhebung Deutſchlands gegen die Fremdherr⸗ 00 hinein zu verſetzen, ihr am

enſchenſchickſal das Verſtändnis der Vergangenheit zu erleichtern, ſie mit⸗ fühlen und im Geiſte mitlämpfen zu laſſen in dem großen Bölterringen und damit deutſches Bewußtſein und deutſche Tatkraft in die Herzen derer au pflanzen, denen die 7 nuft unſeres

aterlandes gehört, iſt der Zweck der obigen Erzählung, bie eine ſchön⸗ ſten Gaben des bekannten Verfaſſers genannt werden darf.

Zu haben in allen Suchhand lungen.

Gegründet 1872.

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