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Bibliothek der Unterhaltung und des Wiſſens

*

Zu der Erzählung „Der Stern von Travankore“ von W. Granville Schmidt. (S. 18)

Originalzeichnung von Adolf Wald.

ibliothek der Unterhaltung und des Wiſſens

Mit Original beiträgen der hervorragend ſten Schriſtſteller und Gelehrten ſowie zahlreichen Auſtrationen >

Jahrgang 1913 + Zwölfter Band

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Union deutſche verlagsgeſellſchaß in Stuttgart

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Inhalts = verzeichnis. 1

Der Stern von Travancore. Erzählung von W. Granville Schmidt. Mit Bildern von Adolf Waldt nn nn.

Die ſchöne Trebnitz. Roman von Hans Becker (Fortſetzung dn

Dreißig Jahre Explofionsmotor. Von Max Nentwich. Mit 11 Bildern

Eigenland. Novelle von Otto Hoe cke Pariſer Straßenberufe.

: Von A. O. Klaußmann. Mit 9 Bildern Der Gewiſſensdoktor.

Eine Geſchichte zum Nachdenken. Von A. Erbſtein

häusliche Käfebereitung. Von Th. v. Wittembergk. Mit 8 Bildern

Mannigfaltiges: Ein berühmter Meineiid 0. Raubtiere als Beſchützer ihrer Herren:.

Das Alter unſerer Kinderſpiett lk Mit Bild.

Der Kurfürſt mit den zwei Frauen Hygieniſche Bedeutung der Gewitter. Der hiſtoriſche Moment Eine Parade in Katman nm

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Seite

4 Snhalts-DBerzeichnis. 0

Naſenformen und Naſenformungen . . 228 Mit 2 Bildern. |

Den eigenen Tod gemeldde 230 Die ſächſiſchen Schöppple n . 232 Der japaniſche Kronprinz. 235 Mit Bild. 8 Eine Liebe iſt der anderen weerrtrt 235 Ein ſchottiſcher Münch hauen 2855 Die kleine Zehe ei 256 Wann darf eine franzöſiſche Frau Männertleidung tragenn??n?2snsns n 238 Nicht zu verblüffe nnn 238 Bauernſchlau heit.. 240 Die Gabe der kleinen Mädchen 240

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Der Stern von Travankore. Erzählung von W. Granville Schmidt

mit Sildern von 1

Adolf Wald. inachoͤruck verboten.)

Sat in Amſterdam! Weiß und rot flammten die Kaſtanien; ſchwerfällige Kähne glitten durch

ſtille Grachten, auf denen die Sonne wie flüſſiges Gold

lag; von weither trug der blaue u verhallendes

Glockengeläute.

Langſam folgte ich dem Laufe der Kanalböſchung und muſterte die eintönigen Faſſaden der ſchlichten, ſauberen Häuſer. Hier in den Vororten verebbte das brandende Leben der niederländiſchen Handelsmetro- pole, hier glaubte man ſich in die vornehme Ruhe einer kleinen mitteldeutſchen Reſidenz verſetzt. Nur zuweilen ſchritt ein Mynheer mit ſteifer Würde vorüber, oder ein blonder Mädchenkopf tauchte flüchtig hinter blinken den Fenſterſcheiben und farbenfrohen Hyazinthen— töpfen auf.

Wie hatte mein neuer Bekannter, der Redakteur einer großen Amſterdamer Zeitung, doch geſagt? „Ja, unſer Land iſt nüchtern, und die Menſchen darin ſind breit wie ihre Sprache; aber ich glaube, Sie würden Land und Leute bei längerem Hierſein dennoch lieb- gewinnen. Suchen Sie mich morgen nachmittag in unſerem Donnerstagklub auf; Sie werden es nicht be-

6 Der Stern von Travankore. u

reuen, denn nirgends gibt ſich der Holländer freier als bei ſolchen gemütlichen Zuſammenkünften.“

Nun war ich auf dem Wege nach dem Klubgebäude. Nur zwei Tage blieben mir noch für Amſterdam; dann wollte ich zu Schiff weiter nach New Vork. Doppelt dankbar war ich daher meinem liebenswürdigen Ve— kannten, daß er es mir durch ſeine Einladung ermög— lichte, einen tieferen Blick in das geſellſchaftliche Leben des modernen, gebildeten Holländers zu tun.

Der Donnerstagklub zählte hauptſächlich Mitglieder der Preſſe zu feinem Kreiſe; aber auch beſſere Kauf- leute, Induſtrielle und Privatleute waren allezeit will- kommen. Etwa fünfzehn bereits ältere Herren, darunter mein neuer Bekannter, waren anweſend und begrüßten mich mit ungezwungener Freundlichkeit, ſo daß ich mich ſchnell heimiſch zu fühlen begann.

Die Unterhaltung war ſehr lebhaft und drehte ſich ausſchließlich um die bevorſtehende „Jungfernreiſe“ der „Neederland“. Dieſer Dampfer war nicht nur Hollands größtes und beſteingerichtetes Schiff, ſondern ſeine Turbinen ſollten ihm auch, dank einer ſorgſam geheim— gehaltenen Verbeſſerung in der Konſtruktion, eine enorme Geſchwindigkeit verleihen.

„Ballen Sie auf,“ wandte ſich mein neuer Ve— kannter mit leuchtenden Augen zu mir, „mit dieſem Schiffe reißen wir das blaue Band des Ozeans an uns. Die ‚Neederland‘ wird alle Rekorde engliſcher und deutſcher Schiffe ſchlagen, und dann wird auch Holland wieder unter den fchiffahrttreibenden Mächten die Stellung einnehmen, die ihm nach feiner ruhmvollen maritimen Vergangenheit gebührt.“

Die anderen Herren nickten bedächtig, und ich ent— gegnete: „Um fo mehr werde ich mich freuen, dieſe für Ihr Land ſo bedeutungsvolle Fahrt mitmachen zu

2 Erzählung von W. Granville Schmidt. 7

können. Ich ſoll nämlich im Auftrage einer großen Tageszeitung an der erſten Überfahrt teilnehmen, weil man in der ganzen Welt mit Spannung den Leiſtungen dieſes neuen Rekordſchiffes entgegenſieht.“

„Sie Glücklicher!“ meinte einer der Herren, ein an- geſehener Reismakler, mit leiſem Neid. „Es ſind hier kleine Vermögen von Leuten geboten worden, die aus Luſt an Senſationen dieſe Rekordfahrt mitmachen möchten; aber alle Kabinen ſind bereits beſetzt, und Fahrkarten werden ſeit geſtern nicht mehr ausgegeben. Ja, mein Herr, Hunderte werden Sie um dieſe Reiſe auf dem ſchönen Schiff beneiden.“

„Abrahams hat es ja doch noch möglich gemacht, ſich eine Kabine zu ergattern,“ warf ein anderes Rlub- mitglied ein.

„Ja, der Glückspilz!“ rief der Reismakler. „Übrigens hat er eigentlich ſein Anrecht auf dieſe Fahrt verwirkt, denn er darf von Rechts wegen ja gar nicht mehr unter den Lebenden weilen.“

„Sie meinen, weil er den ‚Stern von Travankore“ im Beſitz hat?“ forſchte einer der Herren.

„Eben darum!“ entgegnete der Makler langſam.

Ein minutenlanges Schweigen brach in dem Raum aus, und die Herren blickten nachdenklich dem Rauch ihrer Pfeifen und Zigarren nach.

Das erſte Mal in meinem Leben hörte ich von dem „Stern von Travankore“, und ich konnte mir keinen Vers darauf machen, warum ſein Beſitz den Tod bringen ſollte. Aufklärung heiſchend, wandte ich mich an meinen Bekannten.

Mit leichtem Lächeln erwiderte er: „Sie dürfen mich nicht für abergläubiſch halten, denn ich erzähle Ihnen nur nackte Tatſachen, die für ſich ſelbſt ſprechen. Alſo der ‚Stern von Travankore ſiſt ein großer, äußerſt

8 Der Stern von Travankore. 1

koſtbarer Diamant. An dieſen Stein knüpft ſich nun die Legende, daß derjenige, der ihn im Beſitz hat, durch- aus eines unnatürlichen Todes ſterben muß.“

„Hat er dieſe zweifelhafte Berühmtheit auf Grund wirklicher Ereigniſſe erworben?“

„Ja, das iſt eben das Eigentümliche, die Tatſachen ſcheinen dem abergläubiſchen Gerede recht zu geben. Hiſtoriſch bewieſen iſt, daß er zuerſt einem Sultan ge- hörte, der ſeines Thrones beraubt und ermordet wurde; darauf kam er in den Beſitz der unglücklichen Marie Antoinette. Nach deren Tode gelangte er in die Hände der Prinzeſſin Lamballe, jener Frau, die von dem raubenden Pöbel maſſakriert wurde, und ſo gelangte er zuletzt in den Beſitz eines hier anſäſſig geweſenen Juweliers. Dieſer Mann verübte vor drei Wochen in einem Anfalle unerklärlicher Schwermut Selbſtmord. Unter dem verſteigerten Nachlaß befand ſich auch der ‚Stern von Travankore“. Unſer Klubmitglied Hendrik Abrahams, ein weitbekannter Diamantenhändler, hat den Stein nun erworben. Bis heute iſt er noch ſehr vergnügt trotz des verhängnisvollen Beſitzes. Übri- gens braucht er das Schickſal nicht mehr lange auf die Probe zu ſtellen, denn in fünf, ſechs Tagen wird er den Stein ſchon wieder abgegeben haben. Ein ameri- kaniſcher Millionär hat ihm für den Stein ein Ver— mögen geboten, und nun will Abrahams den koſtbaren Stein ſelbſt hinüberbringen. Natürlich hat er ſich die ‚Neederland‘ zur Überfahrt ausgeſucht, denn je größer, je vollkommener ein Schiff iſt, um ſo eher kann man ſich ihm anvertrauen und das müſſen Sie doch zu— geſtehen: beſſer als die ‚Neederland‘ iſt kein Dampfer gegen die verſchiedenſten Gefahren der See geſichert. Mit ſolchem Schiff zu fahren, iſt eine Luft und Er- holung.“

0 Erzählung von W. Granville Schmidt. 9

Das Geſpräch wurde jetzt wieder allgemein. Einige glaubten an die verhängnisvolle Macht des Diamanten, andere ſchoben die Schuld auf allerdings eigenartige Zufälle.

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Plötzlich ſtieß mich mein Bekannter an und flüſterte: „Da kommt Abrahams ſelbſt. Ich werde ihm erzählen, daß Sie ebenfalls die ‚Neederland‘ benützen. Dadurch werden Sie ſchnell mit ihm bekannt.“

10 Der Stern von Travankore. 2

Ich blickte nach der Tür, durch die ſoeben ein großer, breitſchulteriger Herr eintrat. Sein Haar war an den Schläfen bereits ergraut, aber ſein volles, ſtarkgerötetes Geſicht und die hellen, lebhaften Augen Berliehen ihm einen faſt jugendlichen Eindruck.

Jovial grüßte er in die Runde, und als mein Be- kannter, feinem Vorſchlag getreu, mich dem Juwelen- händler als Fahrtgenoſſe vorſtellte, zog er mich lebhaft in ein Geſpräch.

„Na, Abrahams,“ rief der Reismakler zu uns hin- über, „bringſt du es noch fertig, ſo vergnügt zu lachen, wo doch das Damoklesſchwert des Diamanten an— dauernd über deinem Kopfe ſchwebt?“

Hendrik Abrahams ging zuerſt gutmütig auf die ſcherzhaft ſein ſollende Bemerkung ein. Ernſter werdend, fuhr er zu mir gewandt fort: „Sie haben die Geſchichte von dem „Stern von Travankore“ wohl auch ſchon ge- hört? Offen geſagt, mich läßt ſie gänzlich kalt. Ich bin ein aufgeklärter Menſch, und wenn ich mich den Tat— ſachen auch nicht verſchließen darf, fo halte ich fie eben für belanglofe Zufälligkeiten. Sehen Sie, Perlen ſollen ja auch Tränen bedeuten nicht wahr? Und wie viele Perlen find ſchon durch meine Hände gegangen oder in meinem Beſitz geweſen! Aber ich habe nie Grund gehabt, zu weinen. Krankheit und Sorgen kenne ich nicht, mein Geſchäft entwickelt ſich in aufſteigender Linie, und ich habe mich wirklich über nichts zu beklagen. Bald gehört der Diamant mir ja auch nicht mehr.“

„Das Schiff kann untergehen, ehe du in New Vork anlangſt,“ rief der Reismakler wieder.

Ein allgemeines Gelächter und Proteſtrufen er— hob ſich.

„Glauben Sie auch, daß einem ſolchen Schiffe ein Unglück begegnen kann?“ meinte Abrahams lächelnd.

u Erzählung von W. Granville Schmidt. 11

Ich verneinte eifrig. „Ich würde ſonſt doch nicht ſelbſt mit der ‚Neederland‘ fahren. Das Schickſal der „Titanic“ wird uns gewiß nicht treffen, denn jeder vor- ſichtige Kapitän hat ſicherlich ſeine Lehre daraus ge— zogen.“

Abrahams nickte mehrfach zuſtimmend mit dem Kopf. Am Schluſſe meiner Ausführungen drückte er mir die Hand.

„Ganz meine Meinung, mein Herr. Sie Deutſchen bauen ja noch größere Schiffe und von Ihnen kann man lernen. Dann darf ich alſo wohl „Auf Wieder- ſehen an Bord!“ ſagen?“

„Das dürfen Sie!“ entgegnete ich und erwiderte herzhaft den Druck ſeiner Rechten.

Nun, da ich einen ſo angenehmen Reiſegefährten gefunden hatte, freute ich mich doppelt auf die viel- verſprechende Fahrt mit dem ſtolzen Schiff, deſſen Kiel ſchon in wenigen Tagen zum erſten Male die grünen Wogen des Ozeans pflügen ſollte. |

* * *

Mit unverminderter Kraft raſte die „Neederland“ in die Nacht hinein, trotzdem ein leichter Nebel, der hier, in der Nähe der Neufundlandbänke, ſo häufig iſt, ſich auf die Waſſerwüſte ſenkte.

„Sehen Sie, die Eisberge bleiben aus!“ meinte Hendrik Abrahams und hüllte ſich feſter in ſeinen dicken Alſter. „Nun, der Kapitän iſt ein alterprobter See— mann. Er wird wiſſen, was er zu tun hat. Wir fahren ſcheinbar noch mit unverminderter Kraft.“

Wir ſtanden beide an die Reling gelehnt und ſahen auf das Meer hinaus. Die langen Reihen der erleuch- teten Bullaugen ſpiegelten ſich in den dunklen, wogen- den Fluten, die mit eintönigem Rauſchen gegen den

12 Der Stern von Travankore. Oo

Leib des Schiffes ſchlugen. Vom Salon herauf erſcholl Lachen, Gläſerklingen und Klavierſpiel.

„Ich glaube, wir gehen jetzt auch hinunter. Es wird merklich kühler,“ ſchlug Abrahams vor.

Da ich mich ermüdet fühlte, ſuchte ich ſofort meine Kabine auf, während Abrahams im Salon noch ein Spielchen machen wollte.

Eben hatte ich die Oberkleider abgelegt, da ging eine leichte, kaum wahrnehmbare Erſchütterung durch den Schiffskörper, nicht einmal ſo ſtark, daß ich ins Schwanken geriet. Es war, als ob die „Neederland“ einen im Waſſer treibenden Gegenſtand geſtreift hätte. Nachdem ich einige Minuten gelauſcht hatte, ohne etwas Verdächtiges zu hören, fuhr ich mit dem Auskleiden fort und begab mich dann zur Koje. Wenige Minuten ſpäter war ich eingeſchlafen.

Plötzlich weckte mich heftiges Pochen an meiner Kabinentür. Schlaftrunken fuhr ich empor und horchte.

„Stehen Sie auf und legen Sie einen Rettungs- ring an!“ hörte ich die Stimme meines Kabinen- ſtewards.

Im Nu war ich aus dem Bett und ſchloß die Kammer- tür auf. Hell brannte das elektriſche Licht auf dem teppichbelegten Gange, und faſt aus jeder Tür blickten ängſtliche, verſchlafene oder verdrießliche Geſichter.

„Was iſt denn los, Steward, daß Sie uns im beſten Schlaf ſtören?“ forſchte eine Dame ungnädig.

Der Steward zuckte die Schultern. „Anordnung des Kapitäns, Madame. Wir ſind auf den unter Waſſer befindlichen Teil eines Eisberges geraten.“

Die Dame ftie einen Schreckensſchrei aus und ver— ſchwand im Kabineninnern.

„Sit irgendwelche Gefahr?“ wandte ich mich an den Steward.

2 Erzählung von W. Granville Schmidt. 13

„Nicht dran zu denken! Aber der Alte iſt ja ſo vorſichtig,“ erwiderte er, ſchon weiterlaufend.

Obwohl feine Antwort auf mich einen guten Ein- druck machte, hielt ich es doch für beſſer, mich ſchleunigſt anzukleiden und mich perſönlich zu überzeugen, wie es an Oeck ausſah.

14 Der Stern von Travankore. 0

Gerade wollte ich die Kabinentür ſchließen, da er- ſchien einer der Offiziere am Ende des Ganges. Er war erregt, und ſeine Stimme hatte einen trockenen, heiſeren Klang, als er rief: „Die Frauen und Kinder ſofort an Deck kommen, um in die Boote zu gehen!“

Die Wirkung dieſes Rufes war eine unerwartete, erſchreckende. War man vorher noch unbeſorgt, ja vielleicht ärgerlich darüber, daß man die Nachtruhe einbüßen mußte, dämmerte jetzt die lähmende Erkennt- nis, daß der Unfall doch wohl folgenſchwerer geworden war, als man zuerſt geglaubt hatte.

Mangelhaft gekleidet ſtürmten die meiſten Frauen, ihre Kinder auf dem Arm, in ſinnloſer Angſt an Deck.

Weil aber in den Bewegungen des Dampfers keine merkbare Veränderung vor ſich ging, ließ ich mir Zeit, mich ruhig fertigzumachen. Ich zog meinen grauen Reifeanzug an und band mir Wäſche um, dann ſetzte ich mich auf das Sofa, um meine Stiefel anzuziehen.

„Hallo, machen Sie ſich ſchon reiſefertig?“ hörte ich eine lachende Stimme am Türeingang.

Aufblickend gewahrte ich Hendrik Abrahams.

„Ich komme eben aus dem Salon. Wir ſind noch mitten im Spiel,“ fuhr er erläuternd fort.

In dieſem Augenblick fing der Dampfer an, ſich langfam mit dem Bug zu ſenken. Unwillkürlich trafen ſich unſere Augen in ſtarrem Erſchrecken.

Oben an Deck hörte man Rufen, Schreien und das polternde Geräuſch vieler Schritte.

„Der Dampfer ſinkt!“ rief ich. „Kommen Sie mit an Deck!“

Ohne mir Zeit zu laſſen, meinen Handkoffer zu nehmen, drängte ich Abrahams zum Gang hinaus auf die Treppe, die an Deck führte. Ganz mechaniſch leiſtete er Folge.

D Erzählung von W. Granville Schmidt. 15

Oben herrſchte eine unheimlich wirkende Ruhe. Die Offiziere gaben mit ſtarrer Miene ihre Befehle und halfen den Frauen beim Beſteigen der Boote. Nur unterdrücktes Schluchzen oder das Aufweinen eines Kindes unterbrach dieſe laſtende Stille. Es war, als hätte das unvermutete Unglück die Menſchen erſtarren laſſen, als leiſteten ſie nur noch automatenhaft den Befehlen der Offiziere Folge.

Ich hielt mich dicht an Abrahams Seite. Er hatte alle Farbe verloren und forſchte nur immer hilflos: „Was machen wir nun? Was ſollen wir nur machen?“

„Springen Sie da ins Boot! Vorwärts, meine Herren, wir haben keine Zeit mehr zu verlieren!“

Der erſte Offizier gab uns in barſchem Kommando— ton dieſe Aufforderung.

Wie im Halbſchlummer fprang ich aufs Geratewohl in das ausgeſchwungene Boot. Dicht hinter mir ſprang Abrahams ebenfalls nach.

Als ich wieder ordentlich zu denken vermochte, trieben wir ſchon mit unſerem Boot auf dem Meer, und ſchon in ziemlicher Entfernung leuchteten in drei Reihen übereinander die Bullaugen. Der Bug des Dampfers wurde ſchon yon den Wellen überſchwemmt, aber noch immer hörte man Rufen und Schreien an Bord.

Fröſtelnd drängte ich mich in eine Ecke des Bootes und ſtarrte teilnahmlos nach dem ſinkenden Dampfer hinüber. Ich hatte ein Gefühl, als ginge mich das alles gar nichts an, als ereigne ſich da ein höchſt gleichgültiges Schauſpiel. Ich hatte das alles ja beim Untergang der „Titanic“ in den Zeitungen zum Überdruß gelefen.

„Um Gottes willen, mein Koffer ſteht noch in meiner Kabine! Mein Koffer mit dem ‚Stern von Travankore“ darin!“ ſchrie Abrahams plötzlich und packte krampf⸗

16 Der Stern von Travankore. 8

haft meinen Arm. „Wir müſſen wieder zurück! Ich muß an Bord und den Diamanten holen!“ wandte er ſich an die rudernden Matroſen.

Die Seeleute lachten und riefen ihm zu, er ſolle nur hinüberſchwimmen, fie gäben ſich zu folder Dumm— heit nicht her.

„Es ſind ja noch Leute an Bord!“ wandte Abrahams ein und begann aufs neue zu bitten, zu befehlen, zu beſchwören. Als die Matroſen nur wortlos die Achſel zuckten, machte er ihnen Geldverſprechungen. Zuletzt bot er jedem von ihnen hundert Gulden.

Die Ruderer hielten inne. Sie waren arme Teufel und hatten alle ihre Effekten eingebüßt und für hundert Gulden kann man ſchon etwas wagen.

„Es iſt gut, Herr! Wir wollen Sie noch einmal heranrudern. Aber Sie müſſen ſchnell machen, ſonſt können wir nicht auf Sie warten.“

„Ich weiß ja genau, wo der Koffer ſteht!“ verſprach Abrahams mit erleichtertem Aufatmen.

Unter den Paſſagieren an Bord der „Neederland“, die noch nicht eingebootet waren, ſchien große Ver- wirrung zu herrſchen. Fluchen und Schreien, unter- brochen von der Donnerſtimme des Kapitäns, der, ge- treu ſeiner Pflicht, auf der Brücke ausharrte, gellte durch die Nacht und jagte mir kalte Schauer durch den Körper. Mittſchiffs hingen einige Taue und Strick- leitern bis auf die Meeresoberfläche. Darauf hielten die Matroſen zu. An einer dieſer Strickleitern klomm Hendrik Abrahams nach dem Deck empor.

Ich ſah ihn im Kajüteneingang verſchwinden.

Mehrere Minuten vergingen. Uns im Boote wurden ſie zu Stunden.

Boot auf Boot ſtieß vom Dampfer ab, und immer ſtiller wurde es an Deck. Es ſchien, als ſeien alle

u Erzählung von W. Granville Schmidt. 17

Paſſagiere gerettet, denn die „Neederland“ war aus- reichend mit Booten verſehen dank der „Titanic“.

Da, deutlich bemerkbar, legte ſich der Dampfer ſtark nach Steuerbord über.

„Er ſinkt weg!“ ſchrieen die Matroſen, und ohne Beſinnen legten ſie ſich in die Riemen. Wie in einem böſen Traum befangen hingen meine Augen gebannt

1918. XII. 2

18 Der Stern von Travankore. 2

an dem Dampfer. Konnte es möglich ſein, daß die Matroſen kaltblütig den Diamantenhändler im Stich ließen? Aber die Not, die Selbſterhaltung trieb fie an, und ich las es in ihren Geſichtern, daß ſie es nur mit innerem Widerſtreben taten.

Die Nacht hatte allmählich einer fahlen Dämmerung Platz gemacht, und deutlicher konnte man den verlorenen Dampfer erkennen.

Ein einziger Mann ſtand noch auf der Kommando brücke der Kapitän. Der brave Mann zog es vor, auf dem Meer, dem ja ſein ganzes Leben gehörte, wie ein echter Seemann zu ſterben.

Dies alles ſah ich vom Boot aus, und mein Herz- ſchlag ging ſchwer und langſam. Mit einem Male zuckte ich zuſammen. Neben dem Kapitän erſchien die Geſtalt eines Mannes. Es war Hendrik Abrahams. Er ſchwang feinen ledernen Handkoffer winkend in der Rechten.

„Ob wir's noch wagen können, ihn von Bord zu holen?“ warf einer der Matroſen fragend ein.

„Nein!“ entgegnete der Bootsmann hart. „Es wäre unſer aller Tod!“

Er hatte dieſe Worte noch nicht ausgeſprochen, da ſenkte ſich der Bug noch tiefer ins Meer, ſteil richtete ſich das Heck in die Höhe und die ſtolze „Needer— land“ ſchoß in die Tiefe“). Gurgelnd und brauſend ſchloſſen ſich die Wogen über dem unglücklichen Schiff.

Anwillkürlich entblößten die Matroſen ihr Haupt; dann aber griffen ſie mit neuer Kraft zu den Riemen, und bald entfernte ſich das Boot weiter und weiter von jener Stelle, wo ſich ſoeben eine Tragödie abgeſpielt hatte.

Der „Stern von Travankore“ hatte ſein letztes Opfer gefordert.

*) Siehe das Titelbild.

.

Die ſchöne Trebnitz.

Roman von hans Becker.

* [(Fortſetzung.) (nachoͤruck verboten.)

Woder Sophie noch Kenia oder Paul hatten etwas von dem letzten Vorgang geſehen, der von neuem ertönende Geſang ließ fie glauben, daß die Bauern ihres Wegs gezogen ſeien. Aber Sophie war ſtark erregt, auch ſcheute ſie ſich, Baumeiſter gegenüberzutreten, deſſen Warnung ſie ſo wenig beachtet hatte. Sie fühlte, daß fie Vorwürfe verdiente, Kenia und Paul nach- gegeben zu haben, was ihr durch den furchtbaren Schrecken, den ſie gehabt, jetzt faſt wie ein Verbrechen erſchien. Auch als ſie wieder im Hauſe waren, konnte ſie ſich über das Geſchehene nicht beruhigen. Was war das für ein Leben hier? Keinen Schritt konnte man ja gehen, ohne in Gefahr zu kommen, totgeſchlagen zu werden! Waren das Menſchen, war es möglich, daß es Menſchen gab, die noch auf einer ſolch niedrigen Stufe ſtanden? Wie greuliche Tiere waren fie ihr er- ſchienen mit den ſtumpfen, blöden Geſichtern, den ſtieren Augen.

Ganz ernſthaft dachte ſie daran, ſofort abzureiſen. Immer von neuem ſah ſie vor ſich, wie dieſe Halb- wilden auf ſie eindringen wollten. Aber wie geriet ſie in Erſtaunen, als Paul, kaum zu Hauſe angelangt,

20 Die ſchöne Trebnitz. a

nur von den Pferden ſprach, auch Kenia ſich anſcheinend ganz ruhig zum Frühſtückstiſch ſetzte.

Als ob nichts geſchehen ſei.

Hatte das Mädchen denn nicht geſehen, wie ihr Verehrer mitten unter dem Haufen war? Sah ſie in ihm vielleicht nur den Helden, der fie durch fein Da- zwiſchenkommen gerettet?

Wer konnte wiſſen, was in dem Kopfe des Kindes vorging!

Als bald darauf Baumeiſter eintraf, kam Sophie gar nicht dazu, ihm das Vorgefallene zu erzählen, denn Paul rief ihm ſchon, kaum daß er die Tür geſchloſſen hatte, entgegen: „Karl Karlowitſch, wiſſen Sie, was wir erlebt haben?“

„Na, was denn? Zit ein Marder in die Falle ge- gangen?“

Paul lachte. „Nein, aber eine ganz nette Prügelei hat's gegeben. Hören Sie nur!“

„Und wo war das? Doch nicht hier im Park?“

„Nein, auf dem Wege vom Geſtüt wiſſen Sie, Karl Karlowitſch, dort am Walde, wo —“

Baumeiſter ſtand ſofort wieder vom Frühſtückstiſch auf. „Ich werde ſogleich ins Dorf reiten.“

Sophie errötete. Durch Nichtbeachtung der ihr gewordenen Warnung hatte ſie alles verſchuldet, nun jagte fie den Mann wieder fort es war zum Ver— zweifeln, was ſie angerichtet. „Karl Karlowitſch, ein Vort noch,“ ſagte fie leiſe.

Baumeiſter blieb an der Tür ſtehen.

Sophie ſtand ſchnell auf und trat zu ihm. „Ih begleite Sie hinaus. Paul hat nur von ſich geſprochen, ich will Zhnen die Sache nochmals erzählen.“

Als fie draußen auf der Freitreppe ftanden, fand Sophie nicht gleich Worte. Wieder kam ihr das Ge—

u Roman von Hans Becker. | 21

fühl, daß er böfe auf fie war. Das reizte fie von neuem. Statt zu ſagen, was ſie ihm hatte ſagen wollen, ſtieß ſie plötzlich heraus: „Ich möchte fort, ich halte es hier nicht mehr aus!“

Das ſchien ihn zu erſchrecken. „Sie wollen fort? Wohin? Sophie Karlowna an dem Gedanken trägt doch wohl nur die gehabte Erregung ſchuld. Wollen Sie nicht abwarten, bis ich zurückkomme, wir ſprechen dann weiter darüber. Es iſt alles nicht ſo ſchlimm, Sie werden ſich beruhigen.“

Er hatte ihre Hand genommen, hielt ſie in der ſeinigen ganz unbewußt, als ob er fie damit zurück- halten könnte.

Sie ließ ihm die Hand, ohne nachzudenken, und ſo, Hand in Hand, gingen ſie die Treppe hinunter und ſchritten durch den Park.

Erſt hier erwachten ſie.

Sie entzog ihm ihre Hand. „Entſchuldigen Sie, Karl Karlowitſch, daß ich nur an mich denke, nur von mir ſpreche. Es iſt aber ſo, ich möchte fort, ich fürchte mich hier auch Kenias wegen. Wer weiß, was da alles noch geſchieht. Das Mädchen iſt jetzt fo ruhig, ſie muß doch geſehen haben, daß jener Student auch dabei war. Doch das habe ich Ihnen ja noch gar nicht erzählt. Alſo gerade, als wir fortliefen, ſah ich ihn aus dem Walde kommen. Zch wiederhole, das muß doch auch Kenia geſehen haben, ihr ruhiges Weſen jetzt erſcheint mir faſt unnatürlich. Das ſind alles ſo ganz andere Menſchen —“

„Frau v. Trebnitz, ich bitte Sie, faſſen Sie jetzt noch keinen Entſchluß. Und nun erzählen Sie die ganze Geſchichte.“

Sie ſchilderte alles genau und ſchloß: „Wenn ich denken muß, daß das morgen, übermorgen wieder

22 Die ſchöne Trebnitz. u

paſſieren könnte oder ſoll ich hier wie eine Gefangene ſitzen, keinen freien Schritt tun dürfen —“

„Ruhe, Ruhe, Sophie Karlowna! Die ganze Sache iſt nicht ſo ſchlimm. Nur der na, wie ſoll ich ihn nennen? der RNomanheld Kenias iſt einigermaßen verdächtig. Er wohnt beim Popen. Dem iſt auch angſt und bange geworden, als ich ihm ſagte, daß der Kerl ihn an den Galgen bringen würde, wenn er ihn noch länger bei ſich behält. Er hat mir verſprochen, ihn, ſowie er nach Hauſe kommt, einzuſchließen und mich gleich zu benachrichtigen. Ich werde dann ſchon dafür ſorgen, daß wir ihn loswerden. Sie ſehen alſo, es iſt nicht fo ſchrecklich. Die Bauern, denen Sie begegnet ſind? Ja, du lieber Gott, die waren eben betrunken. Das kommt vor, manchmal ſieben Tage in der Woche. Aber da kommt ſchon mein Pferd. Sie verſprechen mir, noch nichts zu beſchließen. Sie ſind doch hier nicht verlaſſen ich bin doch da, bin doch Ihr Landsmann!“

Am Fuße der Treppe verabſchiedeten ſie ſich, Sophie hatte auf ſeine Worte nur mit dem Kopfe genickt, das mußte ihm genügen.

In Gedanken ritt Baumeiſter dem Dorfe zu. Hatte er recht getan, Sophie gegenüber die ganze Sache ſo ſchön zu färben?

Ganz ſo, wie er es geſchildert, verhielt es ſich ſicher nicht, denn den Popen fand Baumeiſter in heller Auf- regung.

„Ich wollte gerade zu Fhnen, Karl Karlowitſch, denn es iſt Schreckliches geſchehen.“

Baumeiſter erſchrak. „Was iſt —“

„Den einen, der hier bei mir wohnt den hat man erſtochen. Zwei Reitknechte vom Geſtüt haben ihn gefunden und ins Dorf gebracht.“

2 Roman von Hans Becker. 23

„Wo iſt er?“

Der Pope ſchien etwas wie Scham zu fühlen. Er zögerte. „Ach, Karl Karlowitſch zu mir wollte ich ihn nicht bringen laſſen, Sie haben mir Angſt gemacht.

Man hat ihn alſo ins Gefängnis gebracht.“

„War der Arzt ſchon bei ihm?“

„Der war nicht zu finden auch in der Schenke nicht.“

„Kommen Sie mit!“

Baumeiſter nahm fein Pferd am Bügel und ging mit dem Popen zum Ende des Dorfs, wo ein verlaſſener Stall das Gefängnis darſtellte.

Sie fanden den Verwundeten ohne Beſinnung, ſein Kamerad, den man ſchon vorher dort eingeſperrt, hockte neben ihm auf dem Fußboden.

Baumeiſter fragte dieſen: „Lebt er noch?“

„Ja, er lebt noch, aber nicht mehr lange. Der Stich hat die Lunge verletzt.“

„Woher wiſſen Sie das?“

„Ich habe ihn unterſucht, ich bin Mediziner.“

„Was kann man für ihn tun?“ 8

„Nichts. Es iſt ja auch nichts da, kaum daß mir der Kerl, der hier Wache halten ſoll, Waſſer gebracht hat. Ich mußte ihm erſt Geld dafür geben.“

Er ſagte das höhniſch, kehrte ſich ab und ſchien ein weiteres Geſpräch vermeiden zu wollen.

Baumeiſter ſtand ratlos. Bis aus der nächſten Kreisſtadt der Arzt kam, vergingen Stunden. Mehr helfen konnte der ja auch nicht als der Gefangene, der, wie er ſagte, Mediziner war, aber man konnte doch einen Menſchen hier nicht ſo auf dem Stroh ſterben laſſen! Was getan werden konnte, mußte getan wer— den. Alles übrige war dann Sache des Gerichts.

„Wenn Sie etwas brauchen, jagen Sie es mir. Id

24 Die ſchöne Trebnitz. 2

ſchicke alles vom Gute. Vielleicht könnte man den Verwundeten transportieren?“

Der Student ſchüttelte den Kopf.

„Soll ich ein Bett herſchicken, oder was brauchen Sie ſonſt? Wir haben auf dem Geſtüt eine Apotheke.“

„Ich ſchreibe Ihnen auf, was nötig iſt.“

Der Student nahm aus der Taſche ein Notizbuch, riß ein Blatt heraus und ſchrieb etwas darauf. Das reichte er Baumeiſter. „Auch etwas ſtarken Wein Portwein und ſchicken Sie mir auch etwas zu eſſen. Ich habe ſeit geſtern abend —“

„Gut, Sie ſollen alles haben. Wer iſt der Der- wundete?“

„Das geht niemand etwas an.“

Baumeiſter öffnete die Tür, um zu gehen.

„Nehmen Sie den Mann hier mit.“

Der Pope, der angefangen hatte, laut zu beten, verſtummte, lief ſchnell hinter Baumeiſter her, und als ſie draußen waren, ſagte er: „Wer er iſt, haben Sie gefragt? Ich weiß, wer er iſt, ich habe ſeinen Paß geſehen zufällig. Ein Adeliger iſt er. Ich konnte mir nicht vorſtellen, daß ein Adeliger ſich mit ſolchen Dingen befaßt, ich glaubte ihm, als er mir erzählte, daß er Botaniker ſei —“

„Das haben Sie mir ſchon erzählt.“

„Ich wollte auch nur noch ſagen, daß er mich ge— täuſcht hat, denn —“

Baumeiſter verſtand, daß der Pope ſich fürchtete, in die Sache hineingezogen zu werden. Er beruhigte ihn. „Sorgen Sie ſich nicht, es wird Ihnen nichts geſchehen.“

Darauf ſchwiegen beide. Sie gingen noch eine Weile nebeneinander, bis Baumeiſter ſich verabſchiedete und fortritt.

B Roman von Hans Becker. | 25

Warum lajtete das alles auf ihm? Was hatte er, der Deutſche, mit all dieſen Geſchichten zu tun?

Es war das erſte Mal, daß er ſich dieſe Frage ſtellte, denn bisher hatte er nie darüber nachgedacht. Das deutſche Pflichtgefühl war es wohl, das ihn antrieb. Darüber hatte er die Pflicht gegen ſich ſelbſt vergeſſen, war hängen geblieben, älter geworden, ſtatt gleich nach dem erſten Fahre feine erſparten Groſchen zu nehmen, nach Deutſchland zurückzugehen und nach- zuholen, was er nachzuholen hatte. Nun war er ein Hauslehrer ohne Ausſichten. Wenn Paul noch ein paar Jahre älter ſein würde, war es vorbei mit dem Leben hier, und er konnte ſein Bündel ſchnüren. Ja, das ſtand ihm wohl noch ſchneller bevor, wenn Laſarews jetzt nach Petersburg gingen, Paul ins Pagenkorps trat.

An all das hatte er bisher kaum gedacht. Er geſtand ſich das ruhig ein, ſcheute auch nicht davor zurück, ſich klarzumachen, was ihm in den letzten Tagen in den Kopf gekommen. Vor ſeinen Augen ſtand das Bild der Frau, die die Schuld daran trug.

Welch köſtliches Weib! Wenn man die erringen könnte!

Aber er konnte ja nicht, er durfte ſich nicht einmal merken laſſen, wie es um ihn ſtand.

Wenn ſie nichts weiter geweſen wäre als eine arme Erzieherin, die ſich ihren Lebensunterhalt ver- diente wie er ſelbſt, aus beſcheidenen, bürgerlichen Verhältniſſen, dann würde er wohl den Mut finden, vor ſie hinzutreten. Aber ſo eine Frau v. Trebnitz, eine elegante Dame der Geſellſchaft! Sie würde ihn einfach auslachen. Für ſie war das hier wohl nur ein Übergang, eine Flucht aus ihren bisherigen Kreiſen. Erſt einmal in Moskau oder Petersburg in der Geſell— ſchaft, die ſich im Laſarewſchen Haufe verfammelte,

26 Die ſchöne Trebnitz. u

würde es ihr an reichen, vornehmen Bewerbern nicht fehlen. Sie war ein Wunder an Schönheit, die ganze Welt mußte ihr zu Füßen liegen.

Er war ſo in Gedanken verſunken, daß er verwundert aufblickte, als das Pferd plötzlich ſtehen blieb. Er hatte gar nicht bemerkt, daß er ſchon auf dem Gute ange— langt war.

Er ſtieg ab, übergab ſein Pferd und ging ins Haus.

Im Speiſezimmer traf er niemand. Sophie und Kenia waren wohl im Park, Paul hatte ſich die Frei— heit zunutze gemacht und trieb ſich bei den Hunden oder ſonſtwo herum.

Baumeiſter fühlte es wie eine Erleichterung, daß er jetzt nicht zu ſprechen, nicht zu erzählen brauchte. Er war müde, auch fühlte er im Augenblick nur ſein eigenes Leid.

Wie plötzlich das über ihn gekommen war! Nur ein paar Wochen war fie hier, die erſten Tage hatte er nur Freude gefühlt über den angenehmen Zuwachs zu dem kleinen Kreiſe, es hatte ihm Vergnügen gemacht, die ſchöne Frau zu ſehen, mit ihr zu ſprechen. Das andere, tiefere Gefühl war erſt nach und nach in ihm erwacht an jenem träumeriſchen Abend hatte es angefangen, heute, als er ſie in Gefahr gewußt, war es zum Durchbruch gekommen.

Er ſtand am Frühſtückstiſch, das Gedeck für ihn lag noch da. Aber er hatte keinen Hunger und ſchickte den Diener, der mit einer Platte hereinkam, wieder hinaus.

Dann beſann er ſich. Er mußte doch das, was der Gefangene ihm aufgeſchrieben, aus der Geſtütsapotheke holen laſſen und mit Wein, Eſſen und Bettzeug ins Dorf ſchicken.

Alſo erſt ſeine Pflicht tun. Später konnte er wieder träumen.

D Roman von Hans Becker. 27

Als er fertig war und in den Park gehen wollte, um nun doch Sophie aufzuſuchen, hörte er einen Wagen vor der Freitreppe anfahren. Der Großvater war gekommen. ä 2

Der alte Herr ſchien es eilig zu haben, ſich ſchon wieder zu zeigen. In knapp einer Woche der zweite Beſuch! Sonſt ließ er ſich im Monat kaum einmal blicken. Der neue Magnet zog ihn offenbar an.

„Na, Karl Karlowitſch, wie ſteht es bei Ihnen hier? Hab' da fo allerlei gehört und wollte doch mal nach— ſehen. Bei mir iſt übrigens der Koch beſoffen, ich muß mich alſo hier zu Tiſch einladen. Bei euch wird's wohl was Gutes geben?“ |

Er hakte ſich bei Baumeiſter ein und ging mit ihm in den Park.

Baumeiſter war bisher noch nicht zu Worte ge— kommen. Gebt ſagte er: „Ich ſuche eben die Damen, war bisher beſchäftigt nicht auf angenehme Art.“

Dann erzählte er ihm, was vorgefallen.

„Ordentlich durchpeitſchen, dann wird die Bande ſchon wieder ruhig werden. Aber was ich ſagen wollte: Schöne Frau, die neue Geſellſchaftsdame! Was das Weib für Hände und Füße hat! Die Augen nicht zu vergeſſen! Halten Sie nur Ihr Herz feſt, hier in der Einöde wirkt ſo 'ne hereingeſchneite Schönheit doppelt gefährlich. Hab' das an mir ſelber gemerkt. Donner- wetter wenn ich ein Jahr jünger wäre!“

Am Ende des Weges zeigten ſich weiße Kleider.

Boris Safronow klemmte ſein Einglas ein und ſtrich über den Bart. „Dort iſt ſie!“

Sophie kam mit Xenia heran. Der alte Herr be- grüßte ſie lebhaft, nachdem er die Enkelin, die ſich in ſeinen Arm hing, auf die Stirn geküßt.

Sophie hatte Baumeiſter einen fragenden Blick zu-

28 Die ſchöne Trebnitz. 2

geworfen, und er hätte ihr gern ein paar beruhigende Worte gejagt, doch der alte Herr ſprach ohne aufzu— hören, führte auch ſpäter bei Tiſch die Unterhaltung, wobei er abſichtlich zu vermeiden ſchien, von den Vor- gängen des Tages zu reden.

Baumeiſter beobachtete ihn mit Eiferſucht, denn er glaubte zu bemerken, daß Sophie Gefallen an ihm fand.

Das wäre vielleicht etwas für ſie. Den Alten heiraten, mit ihm in die Geſellſchaft zurückkehren. Der würde ſchon tun, was ſie verlangte. Sie war jedenfalls die Frau dazu, ihn zu leiten, ihren Willen durchzu- ſetzen. |

Er fühlte, wie es ihm bitter im Munde wurde, ſchalt ſich dann gleich wieder im ſtillen, ſich ſolchen Unſinn zuſammenzureimen, und konnte doch nicht los von dem Gedanken, daß da ein Nebenbuhler ſaß, der vielleicht noch ſchneller, als er geahnt, ſeinen Hoffnungen ein Ende machen könnte.

Er war froh, als der alte Herr bald nach dem Eſſen fortfuhr. Wenigſtens bis morgen würde er Sophie wieder für ſich allein haben.

Was half ihm das aber, welchen Nutzen hatte er davon? Für ihn blieb ſie doch unerreichbar.

Sophie trat, kaum nachdem der Wagen, bis zu dem ſie alle Boris Safronow begleitet, mit dieſem fort— gefahren war, auf Baumeiſter zu. „Gehen wir noch ein bißchen in den Park?“

Baumeiſter nickte. Trotzdem er ſah, daß ſie einen Bericht von ihm erwartete, ſchwieg er noch ein paar Minuten. Es erſchien ihm ſo köſtlich, neben ihr her zu gehen, ohne zu ſprechen, die kurze Friſt auszukoſten in dem Gefühl: ſie iſt hier bei dir, dicht neben dir, ſie gehört dir allein!

Sein Schweigen machte ſie ungeduldig. „Nun,

D Roman von Hans Beder. 29

Karl Karlowitſch, Sie ſprechen nicht iſt etwas zu fürchten?“

„Nein, nein es iſt alles in Ruhe. Es war ja auch nichts, nur iſt einer verwundet worden bei der Schlägerei. Aber damit iſt die Sache vorbei, glauben Sie mir! Eine einfache Prügelei, bei der, wie das ſo üblich, das Meſſer gebraucht worden iſt. Betrunkene Bauern da geht es nicht zart her. In Deutſchland prügeln ſich ja die Leute auch.“

„Wer iſt der Verwundete?“

Nun mußte er doch mit der Sprache heraus, denn lügen wollte er nicht, morgen würde man ja auch auf dem Gute davon erzählen. „Ein Student. Den an- deren hat man ergriffen —“

Sie ſchrie auf. „Er alſo iſt's, er, der Kenia —“

„Ja, der. Er ſoll ſich mit den Bauern geſtritten haben.“ N

„Oh, der arme Menſch! Gewiß haben fie ihn um- gebracht, weil er uns beſchützen wollte. Schrecklich, wenn Kenia das erfährt! Was ſoll man ihr ſagen? Wäre ich doch nie hierher gekommen!“

„Sophie Karlowna, ich bitte Sie, der Mann iſt doch ſelbſt ſchuld! Warum treibt er ſich hier herum?“

„Wenn ich nur ſchon fort wäre!“

An etwas anderes ſchien ſie nicht zu denken.

Wie ihm das weh tat! Wie deutlich mußte er er- kennen, welch alberner Phantaſie er ſich hingegeben, als er angefangen, ihre freundliche Liebenswürdigkeit, die fie ihm gezeigt, anders zu deuten, als dieſe wirk- lich bedeutete: Freude darüber, daß ſie hier in der Fremde nicht ganz allein ſtand.

Er war ihr ſicherlich ganz gleichgültig ein be— liebiger Herr Müller oder Schultze, den ſie hier an— getroffen, wäre ihr dasſelbe geweſen.

30 Die ſchöne Trebnitz. 0

Sie wollte fort, würde fortgehen, und er hatte nicht die Macht, ſie zu halten. Der Traum war dann zu Ende. |

Trotz feines ſchmerzlichen Denkens ſann er darüber nach, wie es möglich war, daß dieſe Frau ihn fo plöß- lich aus ſeiner ruhigen Bahn, aus ſeinem zufriedenen Leben geworfen hatte. Und immer wieder der gleiche Gedanke: Sie ſoll nicht fort, ſie ſoll hier bleiben!

Sie waren am Hauſe angelangt. An der Treppe blieb ſie ſtehen.

„Karl Karlowitſch, ſorgen Sie dafür, daß ich bald fort kann!“ N

„Ich werde an Laſarews telegraphieren. Gewiß werden dieſe ihre Rückkehr beſchleunigen.“

Sie ſeufzte. „Ich fürchte mich ſo!“

„Aber es iſt doch nichts zu fürchten, es iſt ja alles wieder ruhig. Glauben Sie mir doch!“

„Wann können Laſarews hier fein?“

„Lange kann es nicht dauern in einer Woche vielleicht.“

„Gut, ſo lange will ich noch warten.“

Sie ging ins Haus.

Eine kurze Friſt hatte er gewonnen.

Am anderen Morgen brachte der Pope die Nach- richt, daß der Verwundete geſtorben, der Gefangene entflohen ſei.

Damit hatte die Sache wohl ihr Ende gefunden.

Baumeiſter war faſt froh darüber über das eine wie über das andere.

Ein verfehltes Leben weniger. Was machte das? Der Mann würde begraben werden. Damit war die Sache erledigt.

2 Roman von Hans Becker. 31

Plötzlich fiel ihm Kenia ein. Ob er es ihr ſagte?

Vielleicht war es beſſer, ſie erfuhr es. Damit war die Sache aus ihrem Leben. Schwer hatte Baumeiſter das, was Sophie ihm erzählt, überhaupt nicht ge- nommen. Kenia war ein Kind. Wenn ſie hörte, daß der junge Menſch tot war, fühlte ſie ſich wohl eher befreit als bedrückt und vergaß ſchnell.

Sophie würde ſich weigern, ihr die Sache beizu— bringen, alſo mußte er es ſelbſt tun. Dann war das in Ordnung, ehe die Eltern ankamen.

Vas ſollte er die nervöſe Mama noch mit der Liebes- geſchichte plagen!

Mit Sophie wollte er aber jedenfalls vorher doch noch ſprechen.

Das tat er denn auch gleich nach dem Frühstück als er ſie allein auf der Veranda traf.

Er war froh, als auch ſie die Sache nicht zu tragiſch nahm. Sie dachte jetzt wohl nur an ſich, hatte, da ſie fort wollte, das Intereſſe für alles andere verloren.

„Ja, ſprechen Sie mit Kenia, Karl Karlowitſch. ich glaube auch, daß es nicht tief bei ihr ſitzt. Ich habe es vorher wohl zu ernſt genommen, mir unnütze Sorgen gemacht.“

Baumeiſter hätte ſo gerne gewußt, ob Sophie an ihrem Entſchluß, ſobald als möglich fortzugehen, feſt— halte, aber er wollte nicht fragen, nicht daran rühren.

So ging er, um mit Kenia zu ſprechen.

Sophie blieb allein zurück. Sie hatte ſich aus der Bibliothek ein Buch geholt. Sie las aber nicht, das Buch lag in ihrem Schoße, ſie träumte darüber hinweg, Gedanken ſtiegen von neuem in ihr auf, die ihr in der Nacht gekommen, als ſie ſchlaflos, ängſtlich auf jedes Geräuſch lauſchend, gelegen hatte.

Immer wieder waren die ſchrecklichen Geſichter der

32 Die ſchöne Trebnitz. u

Bauern ihr erſchienen, tanzten um ſie herum und grinſten fie an ſie hörte Flüche, ſah Meſſer blitzen, hatte kaum geglaubt, die Nacht aushalten zu können, bis endlich die Erregung ihrer Nerven nachgelaſſen, die Müdigkeit gekommen war.

Schon im Halbſchlafe hatte fie dann ein Geſicht geſehen, das ihr Ruhe brachte, das lächelnde, vornehme Geſicht des alten Herrn, des Großpapas.

An dieſe Erſcheinung, an die Gedanken der Nacht knüpfte ihr jetziges Träumen an.

Welch prachtvoller Mann! Sie hatte ſich ſo geborgen gefühlt, als er gekommen, ſeine muntere Laune, die hübſche Art, wie er ihr jetzt den Hof machte, hatte ſie erfreut, ſo daß ſie alles andere darüber vergeſſen hatte.

Großpapa! Sie mußte lächeln. Dieſe Bezeichnung paßte ſo gar nicht auf ihn, ließ ſich mit ſeinem ganzen Mefen ſo wenig in Einklang bringen wenigſtens für ſie nicht, denn ihr erſchien er als ein Mann, dem man die Jahre noch nicht anmerkte.

Und wenn doch was tat das? Wäre ein ſolcher

dann nicht Rettung für fie, aus ihrer Lage, aus allem

Damals, nach dem Unglück, das fie betroffen, hatte fie geglaubt, alle Männer zu haſſen, auch heute ſchien es ihr noch faſt unmöglich, daß ſie je wieder einem Manne ſich zuwenden, je wieder lieben könnte.

Die Erſcheinung, die jetzt in ihr Leben getreten war, milderte dennoch ihr Empfinden.

Es lag ja hier auch etwas ganz anderes vor. Ein Mann, ein älterer Mann, reich, vornehm, warb um ſie ſo mußte ſie doch wohl ſein Benehmen auffaſſen. Sie fühlte, daß es nur auf ſie ankomme, der Annäherung eine Wendung zu geben, die ihr Leben mit einem Schlag ändern würde.

Nicht mehr hier ſitzen und ſich zu Tode ängſtigen,

2 Roman von Hans Becker. 33

fort aus dieſem Lande, reiſen, alles wieder genießen dürfen, nichts mehr entbehren, jenen gleichſtehen, für die ſie jetzt doch nur eine beſſere Dienerin war!

Neben dem Geſichte deſſen, der ihr das alles bieten konnte, erſchien ein anderes Baumeiſter.

Auch er machte ihr den Hof trotz aller Zurück- haltung, trotz der Mühe, die er ſich gab, das nicht merken zu laſſen. Seine Blicke hatten ihn verraten, der Schrecken, den er nicht verbergen konnte, als ſie geſagt, daß ſie fort wolle.

Sie hatte ſich ſo wohl im Verkehr mit ihm gefühlt, war ſich nicht mehr fremd, verlaſſen vorgekommen. Allerdings die Wahrnehmung, daß er angefangen hatte, ſich in ſie zu verlieben, war ihr peinlich geweſen.

Es war ja auch undenkbar! Was wollte der Mann denn von ihr? |

Sollte fie ihn etwa heiraten und bier dann fo weiterleben: er als Erzieher, fie als Geſellſchaftsdame? Eine nette Poſition!

Oder ſollten ſie nach Berlin gehen, er Unterricht erteilen, ſie in einer engen Wohnung, ohne Mädchen, ohne Bedienung, kochen und waſchen alles entbehren, was zum Leben gehörte?

Gott bewahre ſie davor! Der Mann, dem ſie ein ſolches Opfer bringen ſollte, müßte erſt geboren werden.

Was waren das überhaupt für Betrachtungen? Wie kam ſie auf das eine, wie auf das andere?

Ihre Nerven mußten wohl noch nicht zur Ruhe gekommen fein, ſonſt hätten ſich doch nicht ſolche Ge- danken einſtellen können!

Sie wollte fort von hier, ſobald als möglich. Nur nicht mehr hier in Angſt ſitzen, hinter jedem Strauch, hinter jedem Schrank einen Mörder ſehen!

1918. XII. 3

34 Die ſchöne Trebnitz. 0

Und dann wieder bei ihrer Schweſter leben? War das möglich?

Die Erinnerung kam ihr, wie ſich das Benehmen ihres Schwagers in den letzten Tagen vor ihrer Abreiſe geändert hatte er, der vorher immer nur verſteckten Tadel, Ermahnungen für ſie gehabt, war faſt zärtlich geworden! Schon in der Stunde der Unterredung mit ihr, als er von dem Sanitätsrat, von der Stellung für ſie geſprochen dann nachher, ſolange ſie noch im Hauſe war!

Gegen die eigene Frau hatte er ſich unwirſch ge- zeigt, aber auf dem Bahnhof, beim Abſchied, hatte ſeine Stimme ſo eigentümlich geklungen, als ob er Tränen verſchluckte.

Auch das noch! Da war ihr das Haus der Schweſter von vornherein verſperrt, wenn ſie auch alles ſonſt über ſich ergehen laſſen wollte.

Das Blut ſtieg ihr in die Stirn. Warum redete ſie ſich das alles vor? Es hatten ſich ſchon elegantere, ſtolzere Frauen ducken müſſen!

Paul kam auf die Veranda gelaufen. Er hielt eine Depeſche in der Hand.

„Iſt Kenia nicht hier? Wo iſt Karl Karlowitſch? Mama hat depeſchiert die Eltern kommen!“

Die Nachricht brachte Sophie keine Erleichterung, ſie legte ſich ihr ſchwer aufs Herz. Laſarews kamen, ihr Leben mußte ſich entſcheiden!

Bei Tiſch ſah fie Baumeiſter und Kenia. Das junge Mädchen ſah bleich aus, hielt die Augen auf den Teller gerichtet und antwortete auch auf alle Anzapfungen Pauls nicht, mit dem ſie ſonſt immer zu tuſcheln hatte.

„Was iſt denn nur mit dir? Du machſt ja ein Geſicht, als ob —“

„Laß mich, Paul, ich habe Kopfweh. Ich kann

D Roman von Hans Becker. 35 auch nichts eſſen. Entſchuldigen Sie mich, Sophie Karlowna, ich muß mich hinlegen.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, ſtand Xenia auf und ging aus dem Zimmer.

Paul rief ihr nach: „Warft wohl über den Kirſchen, na ja —“

Baumeiſter herrſchte ihn an: „Schweig, Paul! Deiner Schweſter iſt nicht wohl, ſie hat es mir vorher ſchon geſagt.“

Sophie wollte aufſtehen und Kenia nachgehen.

Er hielt ſie zurück. „Laſſen Sie ſie, bitte, Sophie Karlowna. Es iſt beſſer ſo. Später —“

Sophie verſtand. Er hatte mit Kenia geſprochen.

Nach dem Eſſen ging Sophie an Kenias Tür, er- hielt jedoch auf ihr Klopfen keine Antwort.

Erſt beim zweiten Male rief Xenia von innen: „Wer iſt da?“

„Ich bin's Sophie!“

„Ach, bitte, Sophie Karlowna, iſt kann jetzt nicht öffnen, ich möchte ſchlafen.“

Sophie fühlte ſich verletzt und ging. Sie war auch beruhigt, denn ſie hatte Baumeiſter gebeten, Kenia nicht merken zu laſſen, daß ſie ihm von dem ihr an— vertrauten Geheimnis geſprochen.

Schrecklich! Wohin fie taftete Abhängigkeit, das Empfinden: Du biſt eine Dienerin, mußt dir alles ge- fallen laffen, ſelbſt von einem Kinde, das feine Tür vor dir zuſperrt!

Würde das in Deutſchland wohl beſſer ſein? Schwerlich vielleicht ſogar noch ſchlimmer, viel ſchlimmer!

Warum nahm ſie denn alles hier plötzlich ſo ſchwer? War dies neue Empfinden nicht etwas Unwahres, hatte ſie ſich denn bisher wie eine Dienende gefühlt, hatte

36 Die ſchöne Trebnitz. 2

—- nn

man ſie nicht im Gegenteil ganz wie eine Dame, wie eine Gleichberechtigte, wie einen Gaſt behandelt?

Und all das wollte ſie aufgeben wegen des bißchen Schreckens, den ſie gehabt, den ihr ein paar betrunkene Bauern eingejagt?

Wie feige fie eigentlich war, wie ihr um ihr ärm- liches Leben bangte! Da wollte ſie fortlaufen ins Ungewiſſe! Sie ſollte ſich doch vor den anderen, vor den Kindern ſchämen.

Sie nahm auf der Veranda Platz. Der Diener kam, brachte Tee, zündete die Lampe an. Ein paar Minuten dauerte das, dann ſaß ſie wieder allein.

Das tiefe Dunkel des Parks ängftigte fie von neuem, ſie fühlte, wie die Furcht wieder heranſchlich.

Endlich wurde ſie erlöſt. Baumeiſter kam, mit ihm Paul.

Nach dem Eſſen forderte Baumeiſter Paul auf, ſich ſchlafen zu legen. |

Paul zog ein Geſicht. „Es iſt erſt neun —“

„Nein, es iſt ſchon zehn. Geh nur!“

Sophie begriff, daß er den Zungen fort haben, mit ihr allein ſein wollte.

Das hätte ſie gern vermieden. Er würde wieder fragen, ob fie einen Entſchluß wegen ihrer Abreiſe ge- faßt, ſie wohl gar bitten, daß ſie hier bleiben ſolle. Das wollte ſie nicht, ſie wußte ja ſelbſt nicht, was ſie tun ſollte.

Schließlich kam es wohl gar zu einer Erklärung, er ließ ſich hinreißen, ſie mußte ihn zurückweiſen, ihn kränken.

Das wollte ſie nicht, ſie wollte ſich des Freundes, als den er ſich bisher bewieſen, nicht berauben, er konnte ihr doch nützlich ſein. Auch Mitleid regte ſich in ihr. Er war ein ſo prächtiger Menſch, zu jedem Opfer fähig.

D Roman von Hans Becker. 37

——

Sie ſtand auf. „Warten Sie, Paul, ich gehe mit.“

Baumeiſter ſah erſtaunt auf. „Sie wollen auch ſchon fort?“

„Ja. Gute Nacht ich bin müde.“

Sie reichte ihm die Hand und ging mit Paul davon.

Auf ihrem Zimmer bereute ſie, was ſie getan. Nun ſaß ſie hier, konnte ſich nicht entſchließen, zu Bett zu gehen

Plötzlich hörte ſie Schritte, die über den Korridor kamen leiſe, ſchleichende Schritte, die vor ihrer Tür halt machten.

Das Herz ſtand ihr ſtill, mit weitgeöffneten Augen ſah ſie auf die Tür, trotzdem ſie wußte, daß ſie dieſe verſchloſſen hatte.

gebt faßte eine Hand nach dem Türgriff und ſuchte zu öffnen. Als die Tür nicht nachgab, blieb es einige Atemzüge lang ſtill, dann wurde leiſe geklopft.

Sophie war entſetzt. Wer konnte das ſein, wer

Sie wollte um Hilfe rufen, brachte aber keinen Ton heraus.

Da hörte ſie ihren Namen rufen: „Sophie Kar— lowna bitte, öffnen Sie!“

„Kenia!“

Mit einem Aufſchrei war Sophie an der Tür, ess und zog Xenia ins Zimmer.

Sie preßte ſie in ihre Arme, küßte ſie, und dabei ſtammelte ſie: „Wie war ich erſchrocken! Ich dachte —“

Erſt nach Minuten beſann fie fich.

„Verzeihen Sie, ich bin durch alles, was geſchehen, ſo erregt. Kommen Sie, ſetzen Sie ſich!“

Erſt jetzt ſah ſie Xenia an, empfand, als ſie in dies bleiche Geſicht blickte, wie kindiſch ſie ihr, die gekommen war, um für einen großen Schmerz Troſt zu ſuchen, mit ihrer kleinlichen Furcht erſcheinen mußte.

38 Die ſchöne Trebnitz. u

Mit ernſten, traurigen Augen ſah Xenia zu Sophie auf, durch das dünne Nachtgewand ſchimmerten die zarten Arme und Schultern, wie ein eingeſchüchtertes Kind ſtand ſie da.

„Kommen Sie, Kenia ſetzen Sie ſich doch!“

Es blieb ſtill im Zimmer, Kenia hatte den Kopf an Sophies Schulter geſchmiegt, die Arme um ihren Hals geſchlungen. Sie ſprach nicht, ſie ſchien ſtumm ihren Schmerz ausweinen zu wollen.

Sophie war dies Schweigen eine Wohltat. Womit hätte ſie auch das Mädchen beruhigen können?

So ſaßen die beiden eine Frau, die das Leben kannte, in Verlegenheit dem Kinde gegenüber, noch immer eingeſponnen in ihre kleine Furcht vor Schred- niſſen, von denen ſie ſich bedroht glaubte die andere, ein Kind, von einem, dem erſten gewaltigen Schmerz ergriffen, bereit, ihr junges Leben zum Opfer zu bringen, wenn ſich dadurch Geſchehenes ungeſchehen machen ließe.

Aus ihren Worten, die jetzt langſam, ſtoßweiſe aus ihrem Munde kamen, ging das hervor.

„Ach, Sophie Karlowna wie ſchrecklich, wie grau- ſam! Ich, ich trage die Schuld. Wenn ich doch ſterben könnte! Warum hat Gott nicht mein Leben genommen, denn zu was bin ich nütze? Warum mußte er, der ſo viele Tauſende erlöſen, glücklich machen wollte —“

Sophie horchte auf. Was für überſpanntes Zeug ſprach das Mädchen da! Sollte ſie

„Ich habe Ihnen damals nicht alles geſagt, denn ich durfte nicht. Jetzt, jetzt kann ich ſprechen. Ein fo edler Menſch war er alle, die leiden, wollte er er- retten, ich ſollte ihm helfen, an ſeiner Seite ſtehen —“

„Kenia, was ſprechen Sie da?“ |

Sophie ſchrie es heraus. Erſt jetzt wurde ſie ſich

i Roman von Hans Becker. 39

bewußt, vor welchem Abgrunde das Mädchen geftanden. Das bißchen Verliebtſein, dieſe Kinderei was galt die gegen dieſes Eingeſtändnis!

Sie war aufgeſprungen, hatte das Mädchen von ſich geſtoßen. Mit fliegendem Atem wiederholte fie immer von neuem: „Kenia, Kenia, was ſagen Sie, was ſprechen Sie da?“

Kenia ſtand vor ihr. Die ernſten, traurigen Augen leuchteten jetzt wie im Fieber. Sie hatte die Hand erhoben, deutete hinaus in die Dunkelheit. „So dunkel, ſo traurig iſt das Leben der Menſchen, ſo troſtlos, ſo öde! Dies Dunkel wollte er erhellen, das Volk, ſein Volk zum Lichte führen —“

Das Kind war wahnſinnig oder krank. Sophie ſah ſich wirr im Zimmer um. Was ſollte ſie tun, was konnte ſie tun? Endlich ein Gedanke. Baumeiſter er allein konnte helfen!

Sie eilte auf die Tür zu, preßte die Finger auf den Knopf der elektriſchen Glocke, immer von neuem, ſo daß es laut durch das Haus gellte.

Kenia ſah nicht, was Sophie tat, fie ſtand da, die Augen auf das Fenſter, in die Finſternis gerichtet.

Endlich hörte Sophie Schritte. Es klopfte. Eines der Hausmädchen ſteckte den Kopf zur Tür herein.

Sophie ſchrie ihr zu: „Rufen Sie Herrn Baumeiſter ſofort! Das gnädige Fräulein iſt erkrankt.“

Das hatte Kenia gehört, eine plötzliche Veränderung war mit ihr vorgegangen. Der traumhafte Zuſtand, in dem ſie ſich eben noch befunden, ſchien gelöſt. Sie trat auf Sophie zu. „Ich bin nicht krank. Aber Sie ſind ſchlecht. Sie haben mein Vertrauen mißbraucht, haben mich verraten. Zetzt verſtehe ich erſt, was Karl Karlowitſch andeutete pfui!“ |

Sophie hörte nicht auf fie, jo geſpannt horchte fie

40 Die ſchöne Trebnitz. U

nach der Tür. Sie zitterte und hätte ſich Baumeiſter, der endlich durch die offengebliebene Tür ſtürzte, faſt in die Arme geworfen.

„Endlich, Herr Baumeiſter! Kenia 0 krank, ſie fiebert helfen Sie!“

Sie wußte kaum, was ſie ſprach.

Baumeiſter begriff ſofort, was geſchehen ſein konnte. Er ſah Kenia mitten im Zimmer ſtehen, die Augen zornig auf Sophie gerichtet, die Hand wie anklagend gegen ſie erhoben.

Auch ihm gegenüber, als er ihr den Tod des Stu- denten mitgeteilt, hatte Xenia ſich leidenſchaftlich ge- zeigt, geweint und geklagt, allerlei phantaſtiſches Zeug geſprochen, ſo daß es ſeiner ganzen Autorität bedurft hatte, um fie zu beruhigen. Jetzt ſah er, daß ihm das doch nicht ganz gelungen, daß es ernſter war, als er ſich vorgeſtellt, daß das Kind, wofür er ſie noch immer genommen, wohl doch ſchon den Einflüſterungen jenes Anſeligen erlegen war.

Dieſe Überlegung kam ihm erſt jetzt, denn vorher hatte er nur Augen und Sinne für Sophie gehabt.

Wie eine heiße Wolke hatte es ihn umhüllt, als die Frau, die er liebte, ihm ſo hilflos entgegengeſtürzt war, bei ihm Schutz ſuchen wollte. Ein ſehnſüchtiges Ver- langen war in ihm geweſen, die Arme auszubreiten, ſie an ſich zu reißen. Ein Glück, an das er nicht glauben, nicht denken gewollt, hatte ihn durchzuckt.

Nun war der Rauſch vorüber, er hatte ſich wieder in der Gewalt.

„Sophie Karlowna, was iſt geſchehen?“

Sophie zeigte auf Kenia. „Sie iſt krank, fie fiebert!“

Kenia ließ den erhobenen Arm ſinken. „Sch bin nicht krank, Sie können nur nicht begreifen, was in mir vorgeht.“

2 Roman von Hans Becker. 41

Ihre Stimme berührte Sophie fremd. Etwas noch nie Gehörtes, etwas Tragiſches lag darin.

Baumeiſter war zu Kenia getreten und faßte nach ihrer Hand. „Kommen Sie, Kenia, Sie müſſen ſchlafen. Ich ſchicke Ihnen Anjuta, die ſoll bei Ihnen bleiben, damit Sie nicht allein ſind.“

Kenia trat zurück. Ihre Wangen waren jetzt heiß gerötet, ihre Augen funkelten. „Ich will nicht ſchlafen, ich muß wachen —“

Plötzlich warf ſie die Arme in die Luft und wäre hingeſtürzt, wenn Baumeiſter fie nicht aufgefangen hätte.

Auf feinen Armen trug er fie zur Tür.

Als wenn er ſich erſt jetzt wieder Sophies erinnerte, blieb er dort ſtehen. „Sophie Karlowna verzeihen Sie, wünſchen Sie noch etwas?“

Seine Frage erſchien Sophie kühl, erzwungen, als ob ein Vorwurf darin ſteckte, ein Tadel, daß ſie ſich nicht beſſer beherrſcht hatte.

„Nein danke!“

Sie ſchloß die Tür hinter ihm, laut, geräuſchvoll, damit er verſtehen ſollte, daß ſie von ihm keinen Schutz, keine Hilfe mehr erwarte, entkleidete ſich haſtig und legte ſich zu Bett.

Die Dede zog fie über den Kopf. Nur nichts mehr hören und ſehen von dieſer Wirtſchaft hier!

Noch in der Nacht ſchickte Baumeiſter einen Wa- gen zum Arzt und einen reitenden Boten zu Boris Safronow.

Der alte Herr kam ſchon am Morgen angefahren. „Was habt ihr denn hier wieder?“ rief er noch vom Wagen aus. „Nicht einmal ſchlafen kann man!“

42 Die ſchöne Trebnitz. oO

„Verzeihen Sie, Boris Boriſowitſch Ihre Enkelin iſt erkrankt.“

„Was fehlt ihr denn?“

„Sie fiebert ſtark, hat phantaſiert —“

„Wer iſt bei ihr? Wohl die ſchöne Frau, die Trebnitz? Da will ich doch gleich ——?“

„Frau v. Trebnitz hat ſich ſelbſt ſtark erregt, ich wollte fie —“

„Wie beſorgt Sie find!" Er kniff das linke Auge zu und lächelte Baumeiſter an. „Wohl 'n bißchen verliebt was? Schade, daß ſie nicht da iſt. Hätte gern mit ihr gefrühſtückt. Alſo wollen wir ohne fie nach Xenia ſehen.“

Anjuta, die an Kenias Bett ſaß, berichtete, daß das gnädige Fräulein viel phantaſiert habe jetzt erſt ſei ſie ſtill geworden.

Safronow ſchüttelte den Kopf. „Da iſt's wohl beſſer, wir gehen wieder. Können ja doch nichts helfen. Zu dumm, daß meine Tochter nicht zu Hauſe iſt!“ wendete er ſich an Baumeiſter. „Ewig dieſe Reiſerei, die Kinder allein —“

„Aber ich bin doch —“

„Verzeihen Sie, Karl Karlowitſch, ich meine das nicht ſo, Sie ſind ja da, tun natürlich alles, ja, ja Sie verſäumen nichts ah —“

Die Tür hatte ſich geöffnet, vor ihm ſtand Sophie.

„Guten Morgen, meine Gnädigſte!“

Baumeiſter ſah, wie die Augen des alten Herrn glänzten. Er empfand dabei kaum Eiferſucht, hatte nur das Empfinden, daß jener in dieſem Augenblick doch weniger Kavalier und mehr beſorgter Verwandter ſein müßte, hatte er doch ſelbſt all ſeine Gefühle für Sophie zurückgedrängt in der Sorge um die Erkrankte.

Auch mit Sophie war Baumeiſter nicht zufrieden;

2 Roman von Hans Becker. 43

ſie ſchien beim Anblick Safronows gleichfalls die Kranke vergeſſen zu haben, denn ſtatt weiter in das Zimmer zu treten, blieb ſie in der geöffneten Tür ſtehen.

„Erlauben Sie, Sophie Karlowna,“ ſagte er, „daß ich die Tür ſchließe. Die Zugluft könnte der Kranken ſchaden.“

Sophie glaubte in dieſen Worten ſchon wieder einen Vorwurf zu hören, fühlte jedoch gleichzeitig ſelbſt, daß ſie im Unrecht war, geſtern wie heute. Sie kannte den Mann doch, wußte, daß ihm in erſter Reihe ſtets die Pflicht ſtand. Schnell ging ſie auf das Bett Kenias zu.

Baumeiſter ſchloß die Tür.

Safronow hatte von dem kleinen Gefecht, das ſich zwiſchen den beiden abgeſpielt, nichts gemerkt. „Gnä⸗- digſte haben wohl auch noch nicht gefrühſtückt?“ fragte er. „Wenn Sie geſtatten, werde ich warten, um in Ihrer Geſellſchaft —“

Wieder dieſer Kavalierton! Baumeiſter fühlte jetzt gehörigen Ärger, ja noch mehr, er empfand nun doch Eiferſucht. Während er, den Kopf voll Sorgen, herum- laufen mußte, würden die beiden in Gemütsruhe am Frühſtückstiſche ſitzen. Wer konnte wiſſen, wozu ſich Safronow hinreißen ließ! Oer joviale alte Herr er- ſchien ihm plötzlich wie ein alberner Geck.

Er führte ihn ins Speiſezimmer, forderte ihn auf, Platz zu nehmen, und ging dann, um Paul zu ſuchen.

Auf ſeinem Rückwege begegnete er im Korridor Sophie, die aus Kenias Zimmer herausgekommen war.

Er wollte mit kurzem Gruße an ihr vorüber. Sie hielt ihn an. Die Szene vorher, als er ſie an ihre Pflicht zu erinnern ſchien, ſtand ihr vor Augen, auch das, was ſie gedacht, war wieder zurückgekehrt.

„Sind Sie mir böſe, Karl Karlowitſch? Ich konnte

44 Die ſchöne Trebnitz. 0

doch den alten Herrn nicht einfach ſtehen laſſen, mußte ihm doch antworten —“

Baumeiſter war ſchon wieder verſöhnt. Er freute ſich, daß ſie ihn begriffen. Er reichte ihr die Hand. „Ich habe Ihnen noch gar nicht guten Morgen ge— wünſcht. Wie haben Sie geſchlafen? Geſtern abend kam ich gar nicht dazu, mich —“

„Ach Gott, die arme Kenia! Wenn es nur bald beſſer würde!“

Das klang wieder recht oberflächlich. War ſie doch ohne tieferes Gefühl?

Er hob die Schultern. „Man muß erſt den Arzt hören. Sch rufe Sie, ſobald er kommt.“

Sie nickte, ging ſchnell vorwärts, denn die Tür des Speiſezimmers hatte ſich geöffnet, und in ihr zeigte ſich die hohe Geſtalt Safronows.

Baumeiſter ſah, wie ſich Safronow tief vor ihr ver- neigte, zurücktrat, ihr den Eintritt freigab und dann die Tür hinter ihnen ſchloß.

Ein Bild aus ſeinem Studentenleben fiel ihm ein, ganz plötzlich wuchs das vor ihm auf. Er hatte einer kleinen Sängerin von einem Café chantant den Hof gemacht, war toll verliebt geweſen in ſie, ſie auch in ihn bis ſie die Bekanntſchaft eines reichen Börſianers machte. Da zog ſie ſich ſachte zurück. Erſt log ſie ihn an, hatte hundert Ausreden, wenn ſie ſich ein paar Tage nicht hatte ſehen laſſen, bis er mißtrauiſch ge- worden war und ihr eines Nachts vor dem Cafe auf- lauerte. Es war im Winter, eine kalte Nacht er erinnerte ſich noch genau, wie ihm die Füße faſt zu Eis erſtarrten, als er in der Straße auf und ab lief.

Endlich war ſie herausgekommen am Arm ihres neuen Verehrers. Ein Auto rollte heran, ſie ſtiegen ein, die Tür des Wagens klappte zu mit einem

Geräuſch, das er noch heute nicht vergeſſen, das er noch eben zu hören geglaubt, als ſich die Tür des Eßzimmers hinter jenen beiden geſchloſſen hatte.

Was für Dummheiten! Wie kam ihm nur die Ge— ſchichte jetzt in den Kopf? War da eine Ahnlichkeit, ein Vergleich möglich?

Er ſtrich ſich über die Stirn, fühlte, daß ihm der kalte Schweiß ausgebrochen war.

Sophie und Boris Safronow frühſtückten mit vollem Behagen, mit keinem Gedanken dachten ſie in dieſer Stunde an das Krankenzimmer.

Der alte Herr zeigte ſich von ſeiner beſten Seite. Hatte er ſich in Gegenwart Baumeiſters noch zurück- gehalten, ſo war er jetzt ganz der galante Kavalier von ehemals. Er fühlte ſich wieder jung und verſtand ſelbſt nicht, wie er ſich als alter Mummelgreis auf ſein Gut hatte ſetzen und ſeine Gicht pflegen wollen.

Sie plauderten über Reiſen, über Paris, über Berlin. Dabei wanderten feine Augen unausgeſetzt über ihr Geſicht, über ihre herrliche Figur, über ihre Hände wie die ſchlanken Finger ein Brötchen zurechtmachten und zum Munde führten, wie ſie die Taſſe hoben. So was gab's einfach nicht mehr in der Welt eine ſo vollkommene Schönheit.

Sophie fühlte die Huldigung, die in ſeinen Blicken lag. Schon gedachte Gedanken ſtiegen von neuem in ihr auf. War dieſer Mann ihr Schickſal?

Bilder eines ſonnigen Lebens flogen an ihr vor- über, ſie glaubte die Macht, die ſie über ihn beſaß, zu erkennen. Würde eine Frau in ihrer Lage noch Zweifel hegen, was ſie tun ſollte, tun mußte? |

Sie beobachtete ihn ihrerſeits. Ein ftattlicher, im-

46 Die ſchöne Trebnitz. u

poſanter Mann war er immer noch. Einige Atem- züge lang verdunkelten ſich ihre Augen. Ein anderes Geſicht trat in ihre Erinnerung, ein Geſicht, an das ſie nicht, nie mehr hatte denken wollen das Geſicht ihres Mannes in Jugend, in Schönheit ſtrahlend.

Aber ihre Lippen hoben ſich verächtlich. Was hatte ſeine Jugend, ſeine Schönheit ihr gegeben?

Sie atmete tief auf, ihre Naſenflügel bebten. Ein Entſchluß regte ſich in ihr.

Sie ſtieß die Hand, die ſich leiſe auf die ihrige ge- legt, nicht zurück. Sie lauſchte geſpannt, begierig auf die Worte, die neben ihr ertönten.

„Sophie Karlowna, welch ſchlimme Gedanken be— wegen Sie fo plötzlich? Darf ich es nicht wiſſen? Wollen Sie mich nicht mit Ihrem Vertrauen beehren? Viel- leicht kann ich helfen

Die Erinnerung war ſchon wieder ausgelöſcht. Sophie konnte lächeln. „Ich danke Ihnen herzlich. Aber wie könnten Sie mir helfen? Ich fühle mich hier unglücklich ich fürchte mich. Keinen Schritt wage ich zu tun, eine Gefangene bin ich hier —“

Safronow beugte ſich näher zu ihr. „Eine Ge— fangene? Wenn Ihnen nun angeboten würde, dieſe Gefangenſchaft mit einer anderen, weit angenehmeren zu vertauſchen? Sie lächeln, darf ich mir das günftig deuten, darf ich weiterſprechen?“

Ohne Antwort blickte ſie vor ſich nieder.

Da zog er ihre Hand an ſeine Lippen. „Würden Sie mir dies Händchen anvertrauen, ſich von mir führen laſſen fort von hier in die Welt, wohin Sie be- ſtimmen?“

Sophie ſah auf, ihre Blicke begegneten ſich. Sie wollte antworten, ein Klopfen an der Tür en bielt fie zurück.

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Ein Diener meldete, daß der Arzt gekommen ſei und Herr Baumeiſter Frau v. Trebnitz bitten ließe.

Sophie hatte Safronow ihre Hand entzogen und ſich ſchnell erhoben. Nur mit einer Bewegung ihres Kopfes gab fie zu erkennen, daß fie ihn nicht abwies dann folgte fie dem Diener. |

Safronow blieb am Tiſche ſitzen. Die Erregung hatte ſein Geſicht gerötet. So leicht hatte er ſich die Sache nicht vorgeſtellt. Aber ſchließlich ſie bleiben ſich doch alle gleich, die Weiber.

Er brauchte nicht einmal beſonders ſtolz zu ſein auf ſeinen Sieg. Gewiß ſie war ſchön und herrlich, aber doch nur eine Geſellſchafterin.

Plötzlich fuhr ein Gedanke in ihm auf. Am Ende hatte ſie den Antrag anders aufgefaßt, dachte an eine Heirat! Das wäre

Erregt lief er im Zimmer umher. Da wäre er ja in einer netten Patſche! Heiraten fiel ihm ja gar nicht ein!

Am liebſten hätte er ſich in ſeinen Wagen geſetzt und wäre davongefahren.

Aber was half ein ſolches Vogelſtraußſpiel? Alſo beſſer, ihre Rückkehr abwarten, ein vernünftiges Wort mit ihr reden den Kopf konnte es nicht koſten.

Ihm wurde doch bange bei dem Gedanken. Sie hatte ſo etwas an ſich, war ſo ganz große Dame an ihre Schönheit durfte er ſchon gar nicht denken. Wenn ſie wieder vor ihm ſtand oder neben ihm ſaß, machte er ſicher von neuem Dummheiten! Alſo doch beſſer: ſchnell fort, ſich die Sache erſt ordentlich zurechtlegen, das Blut abkühlen laſſen!

Er ſchlich zur Tür.

Zu ſpät er hörte ſie den Gang herunterkommen.

Freudig erregt kam ihm Sophie entgegen.

48 Die ſchöne Trebnitz. 2

Um des Himmels willen jetzt würde ſie ſich an ſeine Bruſt werfen, die Geſchichte war fertig!

Eine Sekunde lang war er entſchloſſen, alles über ſich ergehen zu laſſen, auch zu heiraten. Das Weib war zu herrlich mochten die Leute die Mäuler auf- reißen!

Doch nichts geſchah.

„Gott ſei Dank,“ ſagte fie nur, „mit Kenia geht es beſſer. In einigen Tagen wird ſie geſund ſein.“

Das gab ihm die Haltung zurück. „Ausgezeichnet! Werde gleich ſelbſt zu ihr

Damit wollte er ſich davonmachen.

Doch ſie blieb dicht vor ihm ſtehen.

Da ergriff er entſchloſſen ihre beiden Hände. „Sophie Karlowna wir haben uns doch vorhin verſtanden? Mein Antrag —“

Die Worte wollten doch nicht recht heraus, er mußte all ſeinen Mut zuſammennehmen.

„Sophie Karlowna wollen Sie mit mir kommen? Ich nehme Sie von hier fort, wir gehen auf Reifen, nach Paris, nach Berlin wohin Sie befehlen. Ich will für Sie ſorgen, Sie follen ſich nicht mehr herum- ſtoßen laſſen, ich kann das nicht dulden —“

Er trat ihr näher, ſchien ſie an ſich ziehen zu wollen.

Da hatte ſie begriffen. 5 ſtieß fie ihn zurück. „Wie können Sie es wagen

„Sophie Karlowna, bedenken Sie doch

Sie trat vor mit erhobener Hand. Er glaubte, ſie wolle ihm ins Geſicht ſchlagen.

Sein Geſicht veränderte ſich, bekam etwas Greifen- haftes, die hohe Geſtalt ſank in ſich zuſammen. Ohne ein Wort ſchlich er davon.

Sophie rang ſchluchzend die Hände. Ein großes Entſetzen kam über ſie. |

c Roman von Hans Becker. Ä 49

Durch ihre eigene Schuld war's geſchehen. Warum hatte ſie es ſo weit kommen laſſen?

Sie wäre ſeine Frau geworden ohne Liebe für ihn, ohne Neigung, nur um einen Halt zu gewinnen, ſich nicht herumſtoßen laſſen zu müſſen, hatte es ſchon als Glück angeſehen, als großes Glück, war eilig zurück- gekommen, um ihm auf ſeine Frage bejahende Ant- wort zu geben. Und nun dieſe Schmach!

Aber fie war ja nur eine Erzieherin, eine Geſell- ſchafterin der durfte man das bieten!

Sie ſtarrte vor ſich hin. Was nun?

Zukunftlos, heimatlos ihres Bleibens war doch kaum hier noch!

Aber wo ſollte ſie hin? Sie hatte doch ſchon alles bedacht, ſich die Troſtloſigkeit einer Rückkehr nach Deutſch⸗ land klargemacht, war auch ſchon halb entſchloſſen geweſen, hier ruhig auszuhalten!

Wenn Laſarews erſt angekommen ſein würden, wäre es ja auch nicht mehr ſo ſchrecklich geweſen, ſie wären wohl bald von hier fortgegangen nach Moskau oder Petersburg. Auch Kenia hatte ſich vorhin wieder lieb und gut zu ihr gezeigt. Sie hatte ihr feſt die Hand gepreßt, ſie gar nicht mehr loslaſſen wollen es lag darin wohl eine Bitte um Verzeihung.

Es war alles ſchon wieder gut geweſen, Sophie hatte ſich von neuem zu Kenia hingezogen gefühlt, vielleicht mehr noch in dem Gedanken, daß ſie ihr eine Verwandte werden ſollte.

Daran dachte ſie jetzt wieder, und dabei fiel ihr ein, daß fie ja die Großmutter Kenias hatte werden wollen. Der Gedanke erſchien ihr ſo ſpaßhaft, daß ſie trotz ihrer Verzweiflung lächeln mußte.

Das ließ ſie den Auftritt von vorhin milder, leichter beurteilen. Der alte Herr, der faſt ſchon mit dem

1918. XII. 4

50 Die ſchöne Trebnitz. 4

Leben abgeſchloſſen, hatte ſich eben durch ihre Schön- heit entflammen laſſen. Warum nahm ſie das ſo tragiſch? Wenn jemand ſich zu ſchämen hatte, war doch er es!

Sie tat alſo doch wohl beſſer, zu bleiben.

Leiſe wurde die Tür geöffnet. Pauls Kopf erſchien in der Spalte. „Guten Morgen, Sophie Karlowna! Sind Sie allein Karl Karlowitſch nicht hier?“

„Fürchten Sie ſich vor Karl Karlowitſch? Zit er fo böſe?“

Paul hob die Hand. „Gott bewahre er iſt herzens- gut. Das heißt beim Unterricht kann er manchmal fuchswild werden. Wiſſen Sie, wenn ich nicht gleich begreife oder nicht gelernt habe. Na und heut er hatte mich auf neun Uhr beſtellt, es iſt jetzt elf vor- bei —“

Plötzlich ſtellte er ſein Teeglas, das ihm Sophie eingeſchenkt und das er eben zum Munde führen wollte, wieder hin.

„Ach, Sophie Karlowna, in Ihrer Gegenwart kann man doch gar nicht ſchelten, Sie find fo ſchön, daß —“

Er beendete ſeinen Satz nicht, ſprang auf, griff nach ihrer Hand und wollte dieſe küſſen.

Sophie entzog ihm die Hand heftig. „Paul was fällt Ihnen ein! Wenn ich das Karl Karlowitſch er- zähle —“

Dabei mußte ſie doch lachen. Erſt der Großvater, jetzt der Enkel! War fie denn wirklich eine ſo gefähr- liche Schönheit?

Paul war auf ſeinen Platz cd ele er ſchämte ſich und fürchtete, daß ſie darüber ſprechen könnte. Anter halbgeſchloſſenen Augenlidern ſchielte er nach ihr hinüber, und als er ſah, daß ſie es nicht böſe meinte, lachte auch er. „Es war ja nur ein Scherz, Sophie

2 Roman von Hans Becker. 51

Karlowna. Sie werden doch nichts ſagen? Ich wollte doch nur, ich —“

Baumeiſter erſchien in der Tür.

„Alſo hier ſteckſt du? Entſchuldigen Sie, Sophie Karlowna, wenn ich hier in Ihrer Gegenwart ein Straf: gericht halte.“

Sophie wollte Paul zu Hilfe kommen. „Laſſen Sie nur, denn ich trage die Schuld. Paul hatte mich geſtern gebeten, ihn bei Ihnen zu entſchuldigen, wenn er heute länger ſchliefe, da er ſich angegriffen fühle. Er ſagte mir das, als wir zuſammen von der Veranda gingen.“

„Das iſt etwas anderes.“ Dann, ſich zu Paul wendend, fuhr er fort: „Wir wollen jetzt an die Arbeit gehen. Wir müſſen uns eilen, ein paar Stunden mehr werden es heute ſchon werden.“

Nach einigen Tagen kam Frau v. Laſarewa an. Sie war über Petersburg gereiſt, ihr Mann dort zurück- geblieben. Doch ſie kam nicht allein, in ihrer Begleitung befand ſich ihr Schwager, ein jüngerer Bruder ihres Mannes.

Frau v. Laſarewa war ſehr aufgeregt, ihre Nerven, wie ſie erklärte, aufs äußerſte angeſpannt nicht nur durch die Nachrichten über die Bauerngeſchichten, mehr noch durch die überhaſtete Reiſe. Sie war glücklich, Kenia wieder wohl und munter zu finden, von Bau- meiſter zu hören, daß auch ſonſt alles wieder ruhig wäre,

Slleich in der erſten Stunde erzählte fie, daß fie demnächſt alle nach Petersburg überſiedeln, Herbſt und Winter in der Hauptſtadt zubringen würden, denn ihr Mann ſei ins Miniſterium der Landwirtſchaft berufen

52 Die ſchöne Trebnitz. ö 2

worden, da große Veränderungen in den Krongeſtüten bevorſtänden, wobei man feinen Rat verlange.

Sophie war über den plötzlich aufgetauchten Schwa- ger ſehr erſtaunt. Bisher hatte noch niemand von ihm geſprochen. Oder doch? Richtig Paul hatte einmal von einem Onkel erzählt, der in Paris ſei.

Nikolai v. Laſarew war ein auffallend hübſcher Menſch. Groß, ſchlank, mit dunklem, ſorgſam gepfleg- tem Haar, glatt raſiert, mit ſchöngeformtem Mund, wäre er eine der Geſtalten geweſen, wie man ſie unter den Botſchaftsattachés aller Länder zu Dutzenden findet feine beſondere Schönheit lag in den Augen, wunder- baren dunklen, orientaliſchen Augen, die beim erſten Sehen gefangennahmen.

Wohl ohne daß er es wollte oder wußte, ſchienen fie zu liebkoſen, zu werben, fo daß Sophie faſt verblüfft war, als er ihr vorgeſtellt wurde.

Er aber auch. Zwei echte Raſſemenſchen ſtanden ſich gegenüber.

Seine Schwägerin hatte ihn ſchon gewarnt und ihm geſagt: „Die neue Geſellſchafterin bei uns iſt eine ſehr ſchöne Frau. Daß Sie keine Dummheiten machen, Nikolai! Vergeſſen Sie nicht, daß Sie verlobt ſind!“

Er hatte gelacht. „Fürchten Sie nichts, meine liebe Natalie. Ich komme aus Paris und bin unangetaſtet geblieben, für deutſche Schönheit habe ich nichts übrig.“

geht, als er Sophie geſehen, ging eine Wandlung in ihm vor. Seine Gedanken flogen zu feiner Ver- lobten, verglichen und machten ihn verdrießlich. Es gab alſo doch noch mehr Schönheit hier dieſe Frau. Alle mußten fie dagegen einpacken, auch Komteſſe Dalenkowa, ſeine Braut.

Er war wirklich verdrießlich, ſchon darüber, daß er einen Vergleich zwiſchen dieſer und einer deutſchen

2 Roman von Hans Becker. 53:

Geſellſchafterin angeſtellt. Er nahm feine hochmütigſte Miene an, verbeugte ſich ſteif, konnte aber ſeinen Augen nicht wehren.

Ein paar Tage hielt er ſich zurück, dann fing er an zu begreifen, daß er in ihrer Nähe nicht ruhig bleiben würde. Alſo entweder fort oder

Er blieb bei dem „oder“. Warum auch nicht? Eine ganz nette Zerſtreuung für die paar Wochen auf dem Lande. Bei aller Schönheit würde ſie in ihrer Stellung leicht zu erobern ſein.

Eines Morgens forderte er die Damen zu einem Ausritt auf. Natürlich ritt Kenia mit. Das ſtörte ja, aber er würde ſchon Gelegenheit finden, mit Sophie allein zu ſein.

Dreimal ritt Xenia mit, dann erklärte ſie, als die Pferde ſchon vor der Tür ſtanden, daß ſie heute nicht reiten könne, Onkel Nikolai und Sophie Karlowna ſollten ohne ſie reiten.

Natürlich wollte nun auch Sophie zurückbleiben, aber Kenia drang in ſie, ihretwegen den Morgenritt nicht aufzugeben, ſie lege ſich für einige Stunden, wolle gern allein ſein.

Sophie gab nach und ritt mit Nikolai fort.

Er hatte der Unterhandlung zwiſchen Sophie und Kenia ruhig zugehört, kein Wort geſagt, ſprach auch jetzt, während ſie durch das Dorf ritten, nicht, hatte immerfort mit dem Sattelgurt zu tun es ſchien da etwas nicht in Ordnung.

Erſt als ſie den Wald erreicht hatten, ſich in völliger Einſamkeit befanden, fing er an: „Wir können heute kaum galoppieren, denn der Gurt an meinem Sattel ſitzt nicht feſt genug. Ich bringe Sie um Ihr Vergnügen —“

Sie ſchüttelte den Kopf. „Durchaus nicht. Wir können auch im Schritt reiten.“ 3

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Sie fühlte ſich aber doch befangen, denn ſie war das erſte Mal mit ihm allein.

Wie er über fie, hatte ſie in den vergangenen Tagen über ihn nachgedacht. Erſt ſpöttiſch, als ſie bemerkt, wie er ſie mit ſeinen Blicken verfolgte, dann, als ſie wahrnehmen mußte, daß ihr Spott nicht ſtandhielt, mit Furcht. Sie wollte ſich nicht eingeſtehen, daß ſie Gefallen an ihm fand.

Nur das nicht! Sie glaubte an nichts Tieferes, nichts Ernſteres und zitterte doch der Minute entgegen, die ſie mit ihm zuſammenführte.

Sie war überzeugt geweſen, nie mehr lieben zu können. Durch die Härte, mit der ſie vom Schickſal behandelt worden war, ſchien ihr Herz erſtarrt. Sie hielt es für undenkbar, daß es noch einmal zum Leben erwachen könnte.

Dieſer Gedanke hatte ſie geleitet, als der alte Safronow ihr ſeinen Antrag gemacht, als ſie geglaubt hatte, daß er ſie heiraten wolle. Eine Verſorgung bot ſich ihr an, eine vornehme Verſorgung. Das war es, was ſie für ſich noch wünſchen zu dürfen glaubte.

Nikolai v. Laſarew hielt plötzlich ſein Pferd an und ſprang ab. „Ich muß um Verzeihung bitten. Da haben wir's der Sattelgurt iſt geplatzt, ich muß nebenher laufen.“

Auch Sophie hatte ihr Pferd angehalten und ſah ſchweigend zu, wie er ſich abmühte.

„So ſteige ich auch ab,“ ſagte ſie endlich. „Wir wollen zu Fuß zurückgehen.“

„Ich bitte ſehr, Sophie Karlowna das darf ich nicht dulden.“

Sie war ſchon herunter vom Pferd und ſtand neben ihm.

Prachtvoll ſah fie aus in dem grauen, für den Herren-

2 Roman von Hans Becker. 55

ſattel gefertigten Koſtüm. Sie fühlte, während ſie noch an dem Zügel ihres Pferdes ordnete, ohne aufzuſehen, wie ſein Blick auf ihr ruhte. Ein Etwas, wofür ſie keine Erklärung fand, danach nicht ſuchen wollte, erregte ſie, ſo daß ſie mit ihrer Arbeit nicht zurechtkam.

Nikolai trat heran, griff nach dem Zügel. Dabei berührten ſich ihre Hände. Ein Zittern ging durch ihren Körper ſie empfand die einfache, kleine Hilfe, die er leiſtete, wie einen kraftvollen Schutz, unter dem zu leben ſie ſich ſehnte. Zaghaft blickte ſie zu ihm auf. Da begegneten ſich ihre Augen, dieſe wunderbaren, ſchmeichelnden Augen, die auf ihr ruhten, über ſie hinglitten, ſie bannten, daß ſie ſchweigend verharrte, ſich nicht rühren konnte, als er den Arm um ſie legte und ſie küßte.

„Sophie, ich liebe Sie —“

Sie antwortete nicht, ſie wehrte ſich nicht, ſie lag in ſeinen Armen. Alles, was ſie erduldet, alles, was ihr das Leben angetan, war vergeſſen auf Umwegen war das Glück jetzt zu ihr gekommen.

Ein leiſes Lachen ſchreckte ſie auf. Sie entwand ſich ihm, ſah ihn verwundert an.

Er lachte ein ſo frohes, faſt jungenhaftes Lachen, das ſeinen Augen einen anderen, neuen Ausdruck gab.

„Können Sie mir vergeben, daß ich Sie getäuſcht —“

Wieder ſchrak ſie zuſammen. Sie verſtand ihn nicht. Hatte er nur mit ihr geſpielt?

„Mein Sattelgurt iſt nämlich ganz heil. Ich wollte Sie nur vom Pferde haben, denn ich ſehnte mich da— nach, Sie in meine Arme zu nehmen.“ Er zog ſie wieder an ſich. „Sophie, Sie vergeben mir —“

Unter ſeinen Küſſen verſuchte ſie zu lächeln. Es gelang nicht. Etwas Schweres war in ihr zurück- geblieben, ſie konnte ſich nicht zurechtfinden.

56 Die ſchöne Trebnitz. 2

—— en

Er bemerkte das, begriff, daß er gutmachen mußte. „Vergeben Sie mir! Soll ich niederknieen? Sie glauben doch an meine Liebe, ich ſehe es ja, Sie ver- zeihen mir —“

Sie blieb immer noch ſtumm.

„Sophie es war doch nichts Böſes. Sophie, ſeien Sie wieder gut —“

Sie wollte ihm ſo gern glauben, ſich von ihrer Liebe überreden laſſen, daß alles wieder gut ſei, daß das, was er getan, dieſe Liſt, die er gebraucht, ihm nur von ſeiner Liebe für ſie eingegeben war. Das Schwere, das ſie ergriffen, das ſie drückte, wich nicht der Gedanke, daß fie wieder getäuſcht, viel ſchwerer ge- täuſcht ſei, erweckte in ihr einen faſſungsloſen Schmerz. Wie eine Verzweifelte ſchluchzte ſie auf.

Er preßte ſie nur um ſo feſter an ſich. „Sophie, warum weinen Sie? Vergeſſen Sie, was ich getan, ich habe doch reumütig gebeichtet! Zch will ja alles gutmachen, nur weinen Sie nicht. Wozu Tränen, wenn zwei ſich lieben —“

Einen Augenblick kam ihr der Gedanke, all ihren Mut zuſammenzunehmen, auszuſprechen, was fie fait erdrückte, ſich Gewißheit zu verſchaffen.

Langſam löſte ſie ſich von ihm, ſuchte nach Worten, fühlte ſofort das Unmögliche ſolchen Tuns, empfand, daß die Scham fie nicht ſprechen laſſen, fie den quälen- den Zweifel, der in ihr erwacht, leichter ertragen könnte, als in dieſer Minute an etwas rühren, was jede Frau mit Scheu in ſich verſchließt die brutale Frage, wie ſie ſein Geſtändnis aufzufaſſen habe.

Als ob ſie daran noch Zweifel hegen dürfte!

Das Blut ſchoß ihr in die Stirn, als ſie ſich darauf beſann, ſich vorſtellte, daß ſie daran auch nur eine Sekunde hatte denken können.

u Roman von Hans Becker. 57

Das war ſo in ihr aufgeſtiegen bei dem Erinnern an den alten Safronow, an die Schmach, die ihr dieſer bereitet ein gehetztes Wild kehrt ſich auch gegen feinen Erretter.

Gott ſei Dank er konnte nicht wiſſen, was in ihr vorgegangen. Sie würde ſich den Tod geben, wenn er es auch nur ahnen könnte.

So fand ſie ihre Beherrſchung zurück und ging auf ſeinen Ton ein. „Ich habe ſchon verziehen. Jetzt laſſen Sie uns aber vernünftig ſein.“

Sie ließ es geſchehen, daß er ſie, als er ihr in den Sattel half, nochmals küßte.

Kaum ſaß ſie aber, da drückte ſie die Gerte feſter an den Leib ihres Pferdes, hob ihm den Kopf und ſetzte zum Galopp an.

Als ob ſie ihm entfliehen wollte.

Sofort war er neben ihr. Sie trieb ihr Pferd zu wilder Eile an, minutenlang raſten ſie nebeneinander her, bis ſie plötzlich parierte und ihr Pferd nach kurzem Trab in Schritt fallen ließ.

Der ſchnelle Ritt hatte ihr Blut erregt, ſie fühlte ſich freier, eine ſtarke Lebensluſt war in ihr, ſie wollte nicht mehr an Häßliches denken.

Der da neben ihr ritt, liebte fie. Er hatte es ihr ja geſagt.

Sie liebte ihn auch, ihr ganzes Sehnen zog ſie zu ihm. Welch köſtliche Zukunft ſtand ihr bevor!

Ruhig plauderten ſie jetzt, als ob alles zwiſchen ihnen klar und ausgeglichen ſei, nur noch beſprochen werden müßte, welches der nächſte Schritt ſein würde, um ihre Liebe ihrer Umgebung zu bekennen.

Darauf wartete fie im ſtillen und verfiel faſt wieder in ihre frühere Stimmung, als Nikolai nichts davon ſagte, nur von ſeiner großen Leidenſchaft ſprach, immer

58 Die ſchöne Trebnitz. | 2

von neuem verlangte, daß auch ſie ihm wiederholen ſolle, daß ſie ihn liebe.

Es erſchien faſt wie Abſicht, als ob er etwas anderes nicht aufkommen laſſen wollte. |

So ging es, bis fie vor der Treppe des Gutshauſes anlangten. Kein entſcheidendes Wort, das fie fo er- ſehnte, war gefallen.

Er hob ſie aus dem Sattel, preßte ſie eine Sekunde lang an ſich. Sophie entzog ſich ihm ſchnell, ſie hatte Kenia oben auf der Treppe geſehen.

Das Wetter hatte in der Nacht umgeſchlagen, der Regen klatſchte herunter, der Wind heulte um das Haus.

„Das kenne ich,“ ſagte Frau v. Laſarewa bei Tiſch. „Wir haben hier nicht mehr viel zu erwarten. Viel- leicht noch einige ſchöne Tage dann iſt es vorbei. Das halten meine Nerven nicht aus, ich muß in die Stadt. Laſſen Sie, bitte, alles fertigmachen, Karl Karlowitſch, übermorgen wollen wir fort.“

Baumeiſter verneigte ſich zuſtimmend.

Sie wendete ſich an ihren Schwager. „Ihnen, Nikolai, wird es gewiß recht fein, den Reit Ihres Ur- laubs in Petersburg zu verleben. Vielleicht kommen auch Dalenkows bald zurück. Wann erwarten Sie Ihre Braut? Oder wollen Sie, ehe Sie Ihren Londoner Poſten antreten, nochmals nach Biarritz?“

Nikolai wagte nicht, Sophie anzuſehen. Nur ein ſchneller Blick hatte fie geſtreift, und er glaubte wahr- genommen zu haben, daß ſie geiſterbleich ausſah.

Verwünſcht er hatte über ſeine Liebelei mit ihr faſt die Braut vergeſſen! Bisher war alles ſo glatt gegangen, in Sophies Gegenwart nicht die Nede davon

u Roman von Hans Becker. 59

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geweſen, mußte nun die Schwägerin auch gerade jetzt damit herauskommen!

Er fühlte ſich ſo unbehaglich wie möglich. Es half nichts, daß er ſich einzureden ſuchte, er würde ſchon darüber hinwegkommen, etwas anderes, Neues quälte ihn: er begriff plötzlich, daß es ſich für ihn durchaus nicht nur um eine Liebelei handelte, die er angefangen, um ſich eine Woche angenehm zu unterhalten, ſondern daß er die Frau, die ihn von dieſem Augenblicke an haſſen mußte, liebte, jo ernſthaft, wie er kaum je ge- glaubt hatte, lieben zu können.

Er hatte gemeint, Herr über ſich zu bleiben, mußte jetzt aber einſehen, daß er es nicht mehr war, daß er alles aufgeben würde, um ſie nicht zu verlieren.

Er war von den Frauen verwöhnt, denn ſtets waren ſie ihm entgegengekommen, müheloſe Siege hatte er errungen, die Pariſerinnen hatten ſich um den ſchönen ruſſiſchen Attaché geſtritten, jetzt ſaß er hier und fürchtete ſich, ſeine Augen zu einer deutſchen Geſellſchafterin zu erheben. Er wußte, was er darin leſen würde: Verachtung.

Frau v. Laſarewa hob endlich die Tafel auf, er hatte wieder Bewegungsfreiheit, brauchte hier nicht mehr wie auf Nadeln zu ſitzen.

Ohne nach ihr hinzuſehen, hörte er, wie Sophie ſich bei der Hausherrin für den Abend entſchuldigte. Sie habe ſtarke neuralgiſche Schmerzen, und wenn Frau v. Laſarewa erlaube, möchte ſie ſich hinlegen.

„Leiden Sie oft daran?“

„Nein, Gott ſei Dank nicht, nur bei jahem Wetter- umſchlag.“

„Ich werde Ihnen ein Pulver hinaufſchicken, nehmen Sie das. Der Berliner Sanitätsrat hat es mir für meine Nervenſchmerzen gegeben, es wird auch Ihnen helfen.

60 Die ſchöne Trebnitz.

0 Auf Wiederſehen alſo, und gute Beſſerung! Ich lege mich auch hin ja, ja das Wetter!“

Sophie dankte und ging. Nikolai ſah ihr nach, ihm ſchien, als ob ſie ſchwanke.

Auch Baumeiſter hatte das wohl bemerkt. Er folgte ihr ſofort und ſprach leiſe auf ſie ein.

Das ärgerte Nikolai. Die Eiferſucht regte ſich in ihm. Es war ihm ſchon die ganze Zeit über nicht entgangen, daß der Erzieher verliebt in ſie war.

Aber jener hatte das Recht, oder hatte ſich doch das Recht genommen, ihr ſeinen Beiſtand anzubieten; er ſelbſt durfte es nicht wagen nach dem, was ſie eben erfahren, er mußte ſtehen bleiben und ſich die Geliebte von einem anderen vor der Naſe wegführen laſſen.

Ein Entſchluß reifte in ihm. Er mußte ſie heute noch ſprechen, wollte ihr nach einer Weile nachgehen und ſie auf ihrem Zimmer aufſuchen, ſobald er wußte. daß ſie wieder allein war.

Er ging mit Kenia und Paul ins Bibliothekzimmer, denn dorthin, wo ſein Zögling war, würde Baumeiſter ja wohl auch kommen.

Nikolai war unzufrieden mit ſich. Zum Teufel was hatte dieſe Frau aus ihm gemacht!

Als Baumeiſter kam, ſuchte Nikolai ſofort nach einem Vorwand, das Zimmer zu verlaſſen. Er, der ſonſt keine Rückſicht nahm, ſicher keine Rückſicht auf einen Erzieher, der in feinen Augen nichts als ein Be- dienſteter war, fühlte auf einmal das Bedürfnis, für ſein Fortgehen eine Entſchuldigung vorzubringen.

„Meine Schwägerin hat recht, das ſchreckliche Wetter fühle ich auch ſchon in allen Rnochen. Werde mich bis zum Tee ebenfalls hinlegen.“

Auf dem Korridor blieb er ſtehen und horchte. Es

0 Roman von Hans Becker. 61

war alles ſtill, die Dienſtleute wohl in der Küche zum Eſſen verſammelt. Leiſe ſtieg er die Treppe hinauf. Der dicke Läufer dämpfte ſeine Schritte, ungeſehen kam er bis zur Tür von Sophies Zimmer.

Ob ſie ſich eingeſchloſſen hatte? Dann war nichts zu hoffen, denn nach dem, was ſie erfahren, würde ſie auf ſein Klopfen nicht öffnen.

Alſo entweder oder!

Drinnen im Zimmer hörte er Schritte. Er taſtete nach dem Türgriff ein Druck, die Tür gab nach. Er ſtand Sophie gegenüber. |

Sie war erſchrocken ſtehen geblieben, die weit- geöffneten Augen ſtarrten ihn an, ihre Lippen bewegten ſich, bebten, als ob ſie um Hilfe rufen wollte.

Er war ſchon bei ihr, ſchlang ſeinen Arm um ſie. „Sophie ich mußte Sie ſprechen! Verzeihen Sie mir, daß ich hier eingedrungen! Was ſollte ich tun?“

Sie drängte ihn von ſich ab, verzweifelt, keuchend ſtieß fie heraus: „Gehen Sie, gehen Sie ſofort. oder —“

Er hörte nicht auf ſie, er hatte ſie wieder umfaßt und an ſich gepreßt. „Wenn ich Ihnen doch ſage, daß ich Sie ſprechen muß, Ihnen nicht wie ein Schuft erſcheinen will! Verſtehen Sie denn nicht, daß ich gekommen bin, um —“ |

Sie wand fih in feinem Arm. „Sie haben mir nichts mehr zu ſagen! Was wollen Sie noch von mir? Gehen Sie fort, gehen Sie zu Ihrer Verlobten! Verſuchen Sie nicht, mich von neuem zu belügen —“

Er ließ ſie nicht los. „Ich belüge Sie nicht! Hören Sie mich doch an!“

Wie zwei Gegner kämpften ſie, in beiden ſtieg die Erregung mächtig auf.

Eine plötzliche Schwäche, die Sophie befiel, ſie einer Ohnmacht nahe brachte, gab ihm Gewalt über ſie, auf

62 Die ſchöne Trebnitz. 2

—U—ñFb .,.

ſeinen Armen trug er ſie zu dem nahe ſtehenden Seſſel und wollte ſie darauf niederlegen. Sie wehrte ſich und blieb aufrecht ſitzen. Da warf er ſich vor ihr auf den Boden, umſchlang ihre Knie und preßte ſeinen Kopf in ihren Schoß.

„Sophie Sie müſſen mich hören! Was habe ich denn getan? Ihnen verheimlicht, daß ich verlobt bin nein, nicht verlobt bin, nur verlobt war, denn ich bin es nicht mehr, in dieſem Augenblick nicht mehr. Können Sie mir nicht glauben, begreifen Sie nicht, daß ich —“

Sie hatte den Kopf an die Lehne gepreßt, ihre Arme hingen ſchlaff nieder. Eine Ahnung, ein all- mähliches Begreifen fing an ſie zu erfüllen. Aber nicht das allein eine ſelige Wonne kam über ſie. Nicht nur ſeine Worte waren es, die ſie ſo ergriffen nein, das Bewußtſein, daß ſie dieſen Mann liebte, verſchlang alle Zweifel in ihr. Sie beugte ſich zu ihm herab und drückte ihren heißen Mund auf fein Haar.

Ein paar Sekunden hielten ſie ſich in köſtlicher, traumhafter Verſunkenheit umſchlungen.

Dann ſchnellte er auf, denn er fühlte, wie ſie ihn zurückſtieß. Ihr Geſicht war totenbleich, jede Spur der Erregung daraus gewichen heiſer, unveritänd- lich kam es von ihren Lippen: „Gehen Sie gehen Sie ſofort!“

Sie hatte in ſein Geſicht geblickt, in ſeine Augen. Doch das waren nicht mehr ſeine verführeriſchen, ſchmeichelnden Augen, das waren die erlöſchenden Augen eines ſterbenden Knaben, ihres Knaben.

Das hatte jäh alles Fühlen in ihr erſtickt, nur einen Schauder zurüdgelaffen. Sie war erwacht.

Er konnte nicht gleich faſſen, was geſchehen, wollte ſie von neuem an ſich ziehen.

a Roman von Hans Becker. 63

Mit weit vorgeſtreckten Händen wehrte ſie ihn ab. „Nicht ſo, Nikolai gehen Sie! Es darf nicht ſein, wir müſſen uns trennen!“

Ihre Worte klangen aber jetzt weich, nichts mehr war darin von Zorn, von Härte wie vorhin. Aber auch nichts tönte daraus zurück von dem Fühlen, das ſie mit fortgeriſſen.

Er ſtand vor ihr, beſchämt, in Verlegenheit. Auch

ihm kam jetzt die Beſinnung zurück. Ein Fröſteln ging

durch feinen Körper. Was hatte er gejagt, was ſchwören wollen? War er wahnſinnig geweſen? Seine Ver- lobung aufheben, ſeine Zukunft zerſtören?

Er fühlte, daß er nichts mehr ſagen, nichts mehr ſprechen durfte, daß alles, was er jetzt noch vorbringen konnte, leere Phraſen ſein würden, an die nicht ſie, nicht er glauben konnte.

Er bewunderte die Frau vor ſich, er glühte nicht

mehr für ſie in Leidenſchaft, er hatte Achtung vor ihr.

Faſt demütig ging er zu ihr hin, küßte ihr die Hand. „Sophie Karlowna, vergeben Sie mir!“

Der Diener hatte nach dem Eſſen das Zimmer verlaſſen. Sophie ſaß noch immer auf ihrem Platz, Kenia ihr gegenüber. N

Da fühlte Sophie plötzlich Kenias Arme um ihren Hals. „Sophie Karlowna, find Sie mir noch böſe? Wir haben uns noch nicht ausgeſprochen ſeit damals, als ich krank war. Ich wußte doch gar nicht, was ich ſagte, erſt ſpäter habe ich mich erinnert. Sind Sie mir nun wieder gut? Sonſt wage ich nicht ich habe eine große Bitte an Sie!“ |

Sophie zog Xenia an ſich und küßte fie. „Xenia

64 Die ſchöne Trebnitz. 2

warum ſoll ich Ihnen böſe ſein? Alles, was ich tun kann, will ich für Sie tun!“

„Sophie Karlowna, ich muß ich will zum Kirch- hof, ich muß ſein Grab ſehen, mir meine Ruhe holen!“

Sophie mußte lächeln. Sie war alſo noch nicht geheilt. noch immer phantaſtiſch! Aber vielleicht war gut, was ſie wollte, und ſie holte ſich wirklich Ruhe.

Kenia ſprach weiter: „Ich habe viel nachgedacht für mich allein ich durfte mich doch keinem anvertrauen, auch Ihnen nicht, auch Karl Karlowitſch nicht ich habe auch gefürchtet, daß Sie oder Karl Karlowitſch meiner Mama etwas ſagen könnten, und davor habe ich mich am meiſten gefürchtet. Mama könnte das nie begreifen, ſie iſt ſo ſtolz, ſie verachtet das Volk, ſie würde mich in eine Nervenheilanſtalt ſchicken —“

Sophie wurde es unheimlich. Zu allem eigenen Kummer auch das noch! Aber ſie mußte einen Ent- ſchluß faſſen, mußte antworten.

„Ich will mitgehen,“ ſagte ſie. „Aber bedenken Sie —“

„Sie fürchten fih, Sophie Karlowna? Das iſt nicht nötig, es wird Ihnen nichts geſchehen. Es iſt jetzt alles ruhig, Karl Karlowitſch hat es Mama geſagt. Sie haben es ja auch ſelbſt geſehen, als wir ausritten, wie uns die Bauern grüßten. Kein einziger wird ich weiß das von von ihm, von dem Toten —“

„Xenia, denken Sie nicht mehr daran, vergeſſen Sie doch dieſe ſchrecklichen Dinge! Sie, ein junges, vornehmes, ſchönes Mädchen, dem alles Glück noch bevorſteht was kümmern Sie ſich um dieſe Sachen! Und jenen, der Ihnen das alles eingeredet, müſſen Sie auch vergeſſen! Gott hat ihn geſtraft, begreifen Sie das nicht?“ |

Kenia ſann vor ſich hin. „Gott hat ihn geftraft!

2 Roman von Hans Becker. 65

Vielleicht iſt es fo, wie Sie jagen, ich finde mich nicht mehr zurecht, ich bin ſo unglücklich —“

Sophie glaubte herauszufühlen, daß der Einfluß jenes Menſchen doch ſchon im Schwinden war. Immer wieder mußte ſie bei ſich denken, daß von ernſter Liebe wohl überhaupt hier kaum die Rede geweſen ſein konnte. Was wußte dieſes Mädchen davon? Krankhafte Über- ſpanntheit war's, nichts weiter.

Sollte fie ihr trotzdem den Gang zum Kirchhof abſchlagen? ö

Sie überlegte noch, da fragte Kenia ſchon wieder: „Alſo Sie kommen mit, Sophie Rarlomna?“

Sophie nahm Kenias Hand. „Gut, ich gehe mit, aber wir müſſen Karl Karlowitſch mitnehmen.“

Kenia trat raſch von ihr fort, ihre Mienen ver- finſterten ſich.

Sophie folgte ihr. „Kenia, laufen Sie doch nicht gleich fort! Sie dürfen mir das nicht verübeln ſehen Sie, ich bin doch fremd hier, auf mich hat der Überfall damals einen ſchrecklichen Eindruck gemacht, den kann ich immer noch nicht loswerden.“

„Ich ſagte Ihnen doch, es wird Ihnen nichts ge- ſchehen. Zch will nicht, daß Karl Karlowitſch etwas weiß, er wird —“

„Fürchten Sie nichts, ich werde mit ihm ſprechen.“

Sophie ging, um Baumeiſter aufzuſuchen.

Nach einer Weile kam ſie zurück. „Es iſt alles in Ordnung. Karl Karlowitſch geht mit. Kommen Sie!“

Nach dem Regen war das Vetter kühl und neblig. Sophie und Kenia hatten Regenmäntel angezogen, Baumeiſter einen Gummirock. Wie Schattengeſtalten erſchienen die drei in dem dichten Nebel.

Im Dorf, durch das fie gehen mußten, war es ftill, die kleinen Häuschen und Hütten mit ihren von Luft

1918. XII. 5

66 Die fhöne Trebnitz. 2

und Wetter grau gewordenen Strohdächern ſahen trüb- ſelig aus, die Straße war ſchmutzig, der Boden durch den Regen der letzten Tage aufgeweicht.

Hin und wieder ſtießen ſie auf einen Haufen Kinder mit nackten Füßen. Hühner flohen gackernd vor ihnen her, wenn ſie plötzlich aus dem Nebel auftauchten. Da und dort ſtanden vor dem Waſchtrog alte Weiber, die ſich bei ihrem Herannahen ſchnell die Hände am Node abtrockneten, um ſich dann unaufhörlich, auch wenn die drei ihnen längſt den Rücken gekehrt, zu verneigen.

Aus einem der Häuſer erſchallte eintöniger Geſang, die Stimme des Popen, der einen Toten einſegnete. Vor der Tür ſtand eine Anzahl von Männern und Weibern, die ſich auf die Zehenſpitzen geſtellt hatten, mit den Fingern an dem Papier, das die zerbrochenen Fenſterſcheiben erſetzte, kratzten, um ein Loch zu machen und einen Blick auf die Leiche werfen zu können.

An der kleinen Kirche vorbei gelangten die drei zu einem von einem halbverfallenen Zaune eingefriedigten Platz, auf dem ſich graue, faſt formloſe Haufen erhoben, daneben kleine hölzerne, ſchiefſtehende Kreuze der Kirchhof.

Baumeiſter blieb ſtehen und ſah fragend auf Sophie und Kenia.

Kenia bat: „Bleiben Sie hier ſtehen, Karl Rarlo- witſch!“ Dann nahm fie Sophies Arm und zog fie mit ſich.

Durch eine lange Reihe der kleinen, unſcheinbaren Hügel gingen fie. Immer weiter führte Xenia; fie wußte, wo ſie das Grab des Unbekannten, Namenloſen zu ſuchen hatte.

Ganz am Ende des Friedhofs, dicht an der Mauer ſahen fie einen friſch aufgeworfenen Erdhaufen.

Kenia achtete nicht des naſſen, ſchmutzigen Bodens,

u Roman von Hans Becker. 67

ſie kniete nieder, ſprach leiſe Worte einmal beugte ſie ſich vor und küßte die Erde. Sophie ſtand dabei, fröſtelnd, traurig, von Mitleid erregt. Sie ſah auf die betende Kenia, auf den troſtloſen Haufen Erde, unter dem ein wildbewegtes Herz ſeine Ruhe gefunden.

Sie konnte es nicht länger ertragen, ſie wollte Kenia anrufen, als fie plötzlich Karl e neben ſich ſah.

Er trat auf Kenia zu und richtete fie auf. „Kenia, eilen Sie ſich, es kommen Menſchen ein Begräbnis, man darf Sie hier nicht ſehen —“

Kenia gehorchte ſtill, noch einen Blick warf ſie auf den Haufen Erde zurück, dann ließ ſie ſich von Bau— meiſter fortführen.

Als fie den Friedhof verließen, kam ihnen der Leichen- zug entgegen.

Voran ein Bauer, den Sargdeckel auf eh Ropfe tragend, eine Schar ſingender Knaben, fünf, ſechs halb- wüchſige Zungen, dann der Pope im Kirchenornat mit ſeinem Gehilfen, vor ihnen ein Zunge, den Weihrauch- keſſel ſchwenkend, gleich dahinter der offene, von Bauern getragene Sarg, ein gelbangeſtrichener, ſchmaler, flacher Holzkaſten, der Körper des Toten darin nur bis zur Bruſt mit der gelben Totendecke verhüllt, ſo daß das Geſicht hervorragte.

Sophie erſchauerte und wendete ſich ab. Kenia blieb am Wege ſtehen und bekreuzigte ſich, Baumeiſter hatte ſeine Mütze vom Kopf gezogen.

Wie ein Geſpenſterzug ging alles an ihnen vorüber, gleich wieder vom Nebel verſchluckt.

Am nächſten Tage reiſten ſie ab. Nur bis Moskau fuhren ſie zunächſt, denn Frau

68 Die ſchöne Trebnitz. 2

v. Laſarewa wollte hier einen Tag ruhen und erſt am anderen Abend die Reiſe nach Petersburg fortſetzen.

In einem Hotel wurde abgeſtiegen, da der ganze Troß der Diener, Köche, Hausmädchen und ſo weiter, bereits am Tage vorher nach Petersburg vorausgeſchickt worden und nur eine Jungfer für Frau v. Laſarewa zurückbehalten war. Der eine Tag im eigenen Hauſe hätte nur Unbequemlichkeiten gemacht.

Einen ſeltſamen Eindruck empfing Sophie von der großen Stadt, als vom Bahnhof ins Hotel gefahren wurde.

Durch eine lange, unendlich lange Straße ging's mit einem Gewimmel von Menſchen und Fuhrwerken, aber alles unſchön, nichts das Auge erfreuend. Immer wieder Bauern, wie auf dem Dorfe, das fie eben ver- laſſen, lange Züge einſpänniger Laſtwagen, ſchmutzige, wackelnde Droſchken, nur ab und zu ein paar beſſer gekleidete Leute, ein elegantes Geſpann, der dicke Kutſcher mit Geſchrei und Rufen ſich Raum F rückſichtslos dazwiſchenjagend.

Sie atmete auf, als man auf einem großen, freien Platz, der rings von mächtigen Gebäuden den Theatern, wie Paul ihr erklärte umitenden war, anlangte und vor dem Hotel vorfuhr.

Das vornehm eingerichtete Haus heimelte ſie an. Schon, als ſie den erſten Tritt in die Halle geſetzt, fühlte ſie ſich wie erlöſt. Koſtbare Teppiche bedeckten die Treppen, ein gutgeſchultes Perſonal, zahlreicher faſt noch wie in Berlin, umringte die Ankommenden.

Neben Kenias Zimmer erhielt Sophie das ihrige angewieſen, einen hübſchen großen Raum, der in ihr die Luſt erweckte, darin zu bleiben bis zur Weiterreiſe und keinen Fuß auf die Straße zu ſetzen.

Doch ſchon nach einer kurzen Weile klopfte Xenia

2 Roman von Hans Becker. 69

bei ihr. „Haben Sie ſich umgezogen, Sophie ar lowna? Wollen wir fahren?“

„Wohin?“ Sophie war verwundert, denn fie 128 völlig vergeſſen, daß Kenia davon geſprochen hatte, ihr Moskau zeigen zu wollen.

Was galt ihr dieſe Stadt, dieſer Häuſerhaufen? Sie hatte ſchon jetzt genug davon.

Doch fie mußte mit, es half nichts. Kenia ſchwärmte ihr von „ihrem lieben Moskau“ vor, wo ſie geboren war, wo ſie immer ſo gern weilte.

Sophie legte die Zigarette, die ſie geraucht, in den Aſchenbecher und zog ſich ſeufzend an. Das Frühſtück, das man ihr gebracht hatte, ſtand noch unberührt.

Xenia bemerkte das jetzt erſt. „Aber Sie haben ja noch nichts gegeſſen!“

Sophie raffte ſich auf. „Ich hole das ſchnell nach. Einen Augenblick nur!“

Sie ſchenkte ſich eine Taſſe Tee ein, trank haſtig, nahm ein Brötchen, und noch kauend verließ ſie mit Xenia ihr Zimmer.

Vor dem Hotel erwartete fie ein vierſitziger Lan- dauer. Sophie ſchlug das Herz. Der große Wagen für fie und Kenia? Sollte noch jemand mitfahren Nikolai?

Fragen mochte ſie nicht, ſie ließ Xenia einſteigen und folgte ihr. Kenia rief dem Kutſcher einen Befehl zu, die Pferde zogen an.

Sie fuhren alſo allein.

Hatte Sophie vorher das Herz geklopft in Furcht, daß Nikolai mitfahren würde, ſo fühlte ſie jetzt faſt Enttäuſchung.

Mas bedeutete nun das wieder? Kaum eine halbe Stunde vorher hatte fie es wie einen Druck empfunden, denken zu müſſen, daß fie noch Tage mit Nikolai zu-

70 Die ſchöne Trebnitz. u

ſammen ſein müſſe, vor ein paar Winuten hatte ſie ſich gefürchtet, mit ihm in einem Wagen zu ſitzen, und nun gleich hinterher verſpürte ſie Enttäuſchung, faſt Bedauern, daß dies nicht geſchah!

Das war ja eine Qual! Sollte ſie denn nie mehr zur Ruhe kommen, wußte ſie nicht mehr, was ſie wollte, was ſie nicht wollte? Wenn ſie doch hätte allein ſein können in dem behaglichen Hotelzimmer! Sie hatte es ſich ſo nett ausgemalt, eine Weile nicht ſprechen zu müſſen, ganz für ſich allein zu ſein.

Statt deſſen ſaß fie hier neben Kenia, mußte jeden Augenblick hören: „Das iſt die Schmiedebrücke, hier die Paſſagen, ſehen Sie das große Pelzgeſchäft dort neben dem Laden mit den Brillanten —“

Teilnahmlos warf Sophie einen Blick hierhin und dorthin. Das Straßenbild hatte ſich gegen früher etwas verändert. Schönere Häuſer, beſſeres Publikum waren zu ſehen.

Aber ſie nahm nichts in ſich auf, ſie war zufrieden, als Kenia eine Weile ſchwieg.

Plötzlich hielt der Wagen, und Sophie blickte auf. Vor ihr lag eine Mauer mit zwei Durchfahrten, da- zwiſchen eine Kapelle, die innen hell erleuchtet war.

Kenia war ſchon ausgeſtiegen, ſtand und wartete. Als Sophie bei ihr war, ſagte ſie: „Das iſt die Kapelle der Iberiſchen Gottesmutter. Kommen Sie!“

Vor der Kapelle drängte ſich ein Haufen von Frauen und Männern. Sophie und Kenia mußten warten, konnten nicht gleich eintreten, nur bis zu dem vor der Kapelle ſtehenden Tiſche, auf dem geweihte Kerzen zum Verkaufe auslagen, gelangten ſie.

Kenia nahm drei Kerzen, hielt Sophie eine davon hin. Dabei fragte ſie zaudernd: „Wollen Sie nicht auch 4

2 Roman van Hans Becker. 71

Sophie nickte. Warum ſollte ſie das nicht mitmachen? Sie verletzte das Mädchen wohl, wenn ſie es nicht tat.

Als ſie endlich in der Kapelle waren, ſtellte Xenia ihre Lichter, die fie angezündet hatte, vor dem Mutter- gottesbilde auf, kniete nieder und betete. Auch Sophie hatte einen Platz für ihre Kerze gefunden, ſtand jetzt ſtill hinter Kenia und ſah vor ſich hin. N

Immer neue Menſchen kamen herein, opferten ihre Lichtchen und beteten. In dem kleinen Raume war eine unerträgliche Hitze, es roch nach Wachs, Veihrauch und feuchten Kleidern. Sophie wurde der Kopf ganz dumpf.

Endlich erhob ſich Xenia. Sie gingen ins Freie und beſtiegen den Wagen.

Erſt jetzt ſprach Kenia wieder. „Haben Sie an jemand gedacht, als Sie Ihr Licht aufſteckten?“ Sie wartete die Antwort nicht ab, ſondern fuhr eifrig fort: „Die eine Kerze habe ich für ihn geſteckt. Die Muttergottes wird ſich ſeiner annehmen, denn er hat doch nur Gutes gewollt. Die andere —“ Sie ſchwieg ein paar Augenblicke, als ob ſie nicht ausſprechen wollte, was ſie dachte, ſagte dann aber doch: „Die andere brennt für unſer Volk, dem er ſich geopfert hat.“

Sophie ſchmerzte der Kopf, ſie konnte kaum denken. Sie antwortete nichts, ſie ſah auch kaum hin, als der Wagen vor dem Kreml hielt.

„Das iſt das Schloß,“ erklärte Kenia. „Dort ſehen Sie die große Glocke des Zwan Weliki, die herunter- geſtürzt iſt mit dem herausgebrochenen Stück. Dieſe Kirche hier rechts —“

„Sehr ſchön, prachtvoll!“

„Wollen wir hineingehen?“

Sophie preßte die Hände gegen die Schläfen. „Ver- zeihen Sie, Kenia ich kann nicht mehr!“

72 Die ſchöne Trebnitz. 2

Was galten ihr alle Schlöſſer dieſer Welt, ſie fühlte ſich elend, ſehnte ſich nach Ruhe, nach Alleinſein! Was hatte ſie mit dieſer Stadt zu tun, die ſie gleich wieder verlaſſen, in die ſie nie zurückkehren würde! Nichts mehr ſehen, nichts mehr hören mochte ſie davon. Von dem ganzen Lande nicht, dieſem Rußland, in dem man ſie gedemütigt erſt dieſer alte Mann, dann der andere, den ſie geliebt, von dem ſie ſich geliebt geglaubt, der ſie aber nur belügen und betrügen wollte. Ja, be— lügen und betrügen! Wie hatte ſie nur eine Sekunde glauben, ſich ein Glück ausmalen können! In einen ſo erregten Zuſtand hatte ſie ſich hineingedacht, daß fie nahe daran war, Kenia anzuflehen: „Helfen Sie mir fort von hier, fort aus Rußland! Ich will nach Deutſchland, ich ſehne mich nach Hauſe!“

Aber fie hatte ja gar kein „zu Haufe“! Was wollte ſie in Deutſchland? Verhungern? Sie mußte froh ſein, daß ſie hier war, zu eſſen und zu trinken hatte, in einem ſchönen Wagen fahren durfte.

Sie ſtöhnte plötzlich ſo leidenſchaftlich auf, daß Kenia nach ihrer Hand griff. „Haben Sie fo heftige Schmer- zen? Warum haben Sie das nicht früher gejagt?“

Sie fuhren ins Hotel zurück. |

Kenia begleitete Sophie auf ihr Zimmer. „Sie müſſen ſich ſofort legen,“ ſagte ſie. „Ich mache Ihnen einen Umſchlag.“

Sophie ließ alles mit ſich geſchehen, genoß es wie eine Wohltat, ſich wie ein krankes Kind umſorgen zu laffen, obgleich fie ſich ſchämte über die herzliche Güte des Mädchens, das ſie nicht verſtand, dem ſie zürnte, weil es ſeine junge Liebe nicht vergeſſen konnte, daran feſthielt, was es für gut und edel anſah, deſſen Herz von Mitleid erfüllt war. Armes Ding! Wohin wird dich das Mitleid noch führen?

u Roman von Hans Bccker. 73

Mit dem Nachtzuge wurde die Reiſe fortgeſetzt.

„Gott ſei Dank!“ dachte Sophie, als fie in Peters

burg angekommen waren und vom Bahnhofe durch die Stadt fuhren, durch eine wirkliche Großſtadt. Hier war man doch unter Menſchen, unter wirklichen Men- ſchen! Das Wetter war ſonnig, noch warm. Auf dem Newskij-Proſpekt, über den fie fuhren, ein Leben und Treiben wie in Berlin Unter den Linden. Faſt noch gewaltiger erſchien es im erſten Augenblick. Unabſeh- bare Reihen von Wagen und Autos, rechts und links Paläſte, dazwiſchen elegante Magazine Sophie fühlte ſich für den Augenblick beinahe verſöhnt mit Rußland, mit dieſem Lande, in dem fie ſich wie in der Ver- bannung vorgekommen war. Auch in Petersburg beſaßen die Laſarew ihr eigenes Haus. Als der Wagen vor dem Portal hielt, die be- kannten Geſichter der Dienerſchaft, die noch vor ein paar Tagen auf dem Gute um ſie herum geweſen, ſich zeigten, ſie das Innere des Hauſes betraten, in dem nichts erkennen ließ, daß es lange unbewohnt geweſen war, alles ſo daſtand, als ob man nur für eine Stunde ausgegangen geweſen ſei da kam ſich Sophie einige Minuten wirklich wie in einem Mär- chen vor.

Schon am anderen Tage empfing Frau v. Laſarewa zur Teeſtunde. Sophie lernte eine Menge Leute kennen, Namen der höchſten ruſſiſchen Ariſtokratie ſchwirrten vor ihren Ohren.

Und wieder wie damals, als fie ſich in Berlin im Hotel vorgeſtellt, fühlte ſie ſich frei, eine Gleiche unter Gleichen, mit keinem Wort, mit keiner Silbe oder Blick ließ man ſie merken, daß ſie doch ſchließlich nur eine Geſellſchafterin war.

74 Die ſchöne Trebnitz. .

Das verdankte ſie Frau v. Laſarewa, die, wenn ſie ſie vorſtellte, ſtets hinzufügte: „Frau v. Trebnitz, die ſo liebenswürdig war, uns hierher zu begleiten.“

Die Leute, denen das geſagt wurde, verſtanden wohl, welche Stellung Sophie im Hauſe einnahm, ſie begriffen aber auch, wie die Hausherrin dieſe Stellung aufgefaßt wiſſen wollte.

Daß Frau v. Laſarewa hier in der Stadt weniger von ihren Nerven gequält wurde wie auf dem Lande, war eine für Sophie ſehr erfreuliche Zugabe zu dem ſich täglich angenehmer geſtaltenden Leben. Frau Laſarewa fühlte ſich hier wohl angeregter, ſie zeigte wenigſtens nicht mehr das Bedürfnis, ſtundenlang auf dem Sofa zu liegen. Jeder ſchöne Tag wurde zu Aus— fahrten benützt. Aber auch den Beſuch der eleganteren Magazine verſchmähte die Hausherrin nicht, ſtets be— gleitet von Kenia und Sophie das Leben war wirk- lich recht angenehm.

(Jortſetzung folgt.)

2 *

Dreißig Jahre Explofionsmotor. von Max Hentwich.

mit 11 Bildern. * nacho ruck erde

Wer jetzt durch die Straßen einer Großſtadt geht,

dem fällt kaum mehr auf, wieviele Geſchäfts- motorräder an ihm vorüberknattern, wie lärmende Autobuſſe über das Aſphaltpflaſter ſauſen, wie unge- zählte „Autos“ ihren Weg mit Sicherheit und Schnellig- keit nehmen in einem Gewühl, in dem das unmodern gewordene Pferd eine ſehr dürftige Rolle ſpielt. Hoch über den Dächern ziehen Lenkballone ihre Kreiſe, ganz oben im blauen Ather ſchwebt ein ſurrender Vogel, auf dem der kühne Menſch die eroberte Luft durchfliegt, und unten auf dem Waſſer durchſchneidet ein Motor- boot die Fluten zu eiliger Fahrt.

Unferer jüngſten Generation fällt daran kaum mehr etwas auf; ſie kennt den Verkehr von heute kaum anders als in dieſer vielgeſtaltigen, kraftgebändigten Form. Wer aber ein paar Jahrzehnte des „Daſeins ſüße Ge— wohnheit“ nicht ganz gedankenlos verbrachte, der wird bei jedem Gang durch die Straßen ſein Staunen kaum unterdrücken können: dieſe ganze moderne Verkehrs- technik iſt ein Werk der letzten fünfzehn Jahre!

An dem Verdienſt, fie geſchaffen zu haben, be- teiligen ſich wie an allen großen, bedeutungsvollen

Neuerungen verſchiedene Machtfaktoren, deren zeit— liches und intellektuelles Zuſammenwirken den glänzen

76 Oreißig Jahre Exploſionsmotor. 2

den Aufſchwung unſerer Verkehrstechnik ſchufen. Jeder einzelne Zweig hat, abgeſehen von den theoretiſchen Vorarbeiten, eine ganze Anzahl beteiligter Erfinder, Konſtrukteure, Verbeſſerer, bevor er ſich bis zur heu—

Der erſte, von Gottlieb Daimler und Wilhelm Maybach im Jahre 1883 konſtruierte leichte Diertatt- Benz ine xploſionsmotor.

tigen Vervollkommnung durcharbeiten konnte. Die Verbeſſerung der Stahlverarbeitung, die Verbilligung des Aluminiums, die Erfindung des Pneumatiks, die aeroſtatiſchen Erfahrungen, vor allem der Wiflens- und Verſuchsdrang vieler Erfinder, deren Konſtruk- tionen der Erfolg verſagt blieb, die aber dennoch einen Schritt vorwärts getan haben, die, wie Lilienthal und Wölfert, die Pioniere in den beiden Hauptfächern des Flugweſens, ein jeder das entſcheidende Moment ſeiner Kunſt richtig erfaßt und doch noch vor dem endgültigen Gelingen ihres Werkes ihren Forſchungseifer mit dem

1 Don Max Nentwid. 77

Leben bezahlten fie alle find beteiligt an der genialen Entwicklung des modernen Verkehrsweſens, das in der kurzen Zeit ſeines Beſtehens Umwälzungen hervorrief und Neuinduſtrien ſchuf, die ähnlich gewaltig nur in der Telephon; und Elektriz itätsbranche zu verzeichnen waren.

Trotz der mannigfach geteilten Verdienſte läßt ſich aber doch ein Zeitpunkt feſtſtellen, von dem die neu- zeitliche Entwicklung ihren Ausgang nahm, und zwar jener Zeitpunkt, an dem es wiederum mehreren Erfindern gelang, die Seele jeglicher Bewegung, die Kraft, in einer für das Verkehrsweſen geeigneten Weiſe darzuſtellen. Kraftmaſchinen an ſich waren ja ſchon ſeit längerem bekannt, getrieben durch Dampf,

ä

Das erſte, von Gottlieb Daimler 1885 konſtruierte Motorrad.

ſogar auch bereits durch flüſſige Brennſtoffe, wie Petroleum, oder auch durch Gas; hier reichen die erſten Verſuche bis 1791 zurück. Auch beſtand ſeit längerem ſchon Neigung, dieſe motoriſche Kraft auf Gefährte zu

78 Dreißig Jahre Exploſionsmotor. u

Gottlieb Daimler (f 1900) konſtruierte mit Wilhelm Maybach den erſten leichten Benzinexploſionsmotor im Fahre 1885.

übertragen. Zunächſt waren es Dampfwagen, wie Cugnot 1769 bereits einen konſtruierte; ihm folgten einige andere Syſteme, und es ſollen im Jahre 1851 in London etwa zwanzig ſolcher Dampfwagen im Be—

2 Von Max Nentwich. 79

Wilhelm Maybach.

trieb geweſen ſein, die ſpäter behördlicherſeits durch eine ins Lächerliche herabgeminderte Geſchwindigkeit zur Untätigkeit verurteilt wurden.

Benz verſuchte 1880, ſeinen Zweitaktmotor auf einen Wagen aufzumontieren, und mit Erwähnung dieſes

80 Hreißig Jahre Erplofionsmotor, [>

Verſuches nähern wir uns in der geſchichtlichen Ent- wicklung jener Zeit, in welche die Schaffung des lang- Rerſehnten leichten Exploſionsmotors fällt. Es mag geſtattet fein, einem der verdienſtvollen Väter dieſer bedeutſamen Neukonſtruktion das Wort über jene Vor- gänge zu geben. Direktor Wilhelm Maybach ſchreibt mir über die Arbeiten in jener Zeit: „Brauchbare Exploſionskraftmotoren gab es ja ſchon ſeit Anfang der ſechziger Fahre. 1867 erhielten die Herren Otto und Langen in Köln auf der Weltausſtellung in Paris die goldene Medaille für ihre ſehr intereſſante und öko- nomiſch arbeitende atmoſphäriſche Gaskraftmaſchine; ſie hatte einen Gasverbrauch von nur 97 Kubikmetern pro Pferdeſtärke Stunde, wogegen die franzöſiſche Konkurrenzmaſchine von Lenoir einen dreimal größeren Verbrauch aufwies.

Im Jahre 1872 wurde von den Herren Otto und Langen Herr Gottlieb Daimler als Direktor und ich als Chefkonſtrukteur für die Gasmotorenfabrik Deutz engagiert zur rationellen Herſtellung ihrer atmoſphäri— ſchen Gaskraftmaſchine. Dieſe konnte nur in den Größen 1/, bis 4 Pferdeſtärken ausgeführt werden, fand aber vielfache Verwendung und große Verbreitung in der Kleininduſtrie.

Herr Otto widmete ſich in feiner Stellung als fauf- männiſcher Direktor nebenbei immer noch der Weiter- entwicklung des von ihm erfundenen atmoſphäriſchen Gasmotors, was im Jahre 1876 zur Konſtruktion des heute allgemein verwendeten Viertaktmotors führte. Schon mit dem atmoſphäriſchen Gasmotor dachte Herr Langen an die Verwendung desſelben für Fahrzeuge; es wurden ſogar auf ſeine Verwendung hin in Lüttich von einem ſeiner Freunde Verſuche in dieſer Richtung mit einem Trambahnwagengeſtell gemacht, die aber

D Von Mar Nentwich. 81

fehlſchlugen, weil die Kraft zu klein und das Gewicht zu groß war. Desgleichen dachte er und andere daran, mit dem nun zweckmäßigeren Viertaktmotor Wagen anzutreiben; aber auch dieſer Motor war zu ſchwer: 4 Pferdeſtärken wogen 1200 Kilogramm.

Bei der gemeinſamen Arbeit von Herrn Daimler

Das von Gottlieb Daimler 1885 erbaute vierräderige Auto. Im Wagen Gottlieb Daimler, am Steuer fein Sohn.

und mir vom Fahre 1882 ab handelte es ſich hauptſäch- lich nur um die Ausgeſtaltung des Viertaktmotors zu einem für Fahrzeuge geeigneten leichten Motortyp. Dank meiner elfjährigen Tätigkeit und den vielfachen Verſuchen in Oeutz gelang es mir, durch die Glührohr— zündung die gewünſchte höhere Tourenzahl zu ermög- lichen und dadurch den geeigneten Motor zu bauen. Ferner verwertete ich auch meine Erfahrungen von 1913. XII. 6

82 Dreißig Jahre Exploſionsmotor.

Deutz im Bau von Benzinverdunſtungsapparaten, und es entſtand hieraus der kleine Schwimmerapparat, der längere Jahre verwendet wurde, bis ich ſchließlich den heute allgemein gebräuchlichen Spritzdüſenvergaſer er- fand.“

Es entbehrt nicht eines gewiſſen Humors, daß

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6-Pferdeſtärken-Daimler-„Rennwagen“ von 1898, der erſte feiner Art, mit dem im erſten öſterreichiſchen Automobil- rennen der Sieg erkämpft wurde.

die, natürlich geheimgehaltene gemeinſchaftliche Arbeit Daimler-Maybachs die hochwohllöbliche Behörde von Cannſtatt auf die Beine brachte, die die beiden ver— meintlichen Falſchmünzer eines Abends in ihrem ver- ſteckten Gartenhäuschen kurzerhand zu verhaften ge— dachte. Die anfänglich peinliche Situation endete mit allgemeiner Heiterkeit, als die hohe Obrigkeit gleichſam die Zeugenſchaft übernahm für den erſten ſchnell— laufenden Benzinexploſionsmotor von 1885.

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i Bon Max Nentwich. 83

Gottlieb Daimler baute zwei Jahre ſpäter einen gleichen Motor in den Rahmen eines hölzernen Zwei— rades der erſte, noch etwas unbeholfene Repräfentant der hurtigen Motorräder und noch in demſelben Jahre 1885 wurde auch das erſte vierräderige Auto- mobil gebaut, das, gleichfalls noch auf Holzrädern, in den Straßen von Cannſtatt ſeine Probefahrten glänzend zurücklegte. Ihm folgte alsbald ein auf Stahlrädern aufmontiertes Auto, das ſogar ſchon vier Schnellig— keiten mittels verſchiebbarer Zahnräder entwickelte. Auch zur Fortbewegung auf Eiſenbahnſchienen wurde

Das erſte, nach den Ratſchlägen des öſterreichiſchen Generalkonſuls Zellinet-Mercedes konſtruierte und nach ihm benannte Auto.

einer Draiſine Motorantrieb verliehen. Sie alle ſtellen die erſten Typen der Daimler-Maybach-Autos dar. Man kann aber auch hier von einer Duplizität der Ereigniſſe ſprechen. Zur ſelben Zeit, da dieſe beiden Konſtrukteure in Cannſtatt ihre vorläufig noch nicht recht anerkannten Schöpfungen ans Tageslicht brachten,

84 Oreißig Zahre Exp loſions motor. a

befaßte ſich, völlig unabhängig von ihnen, der Ingenieur Carl Benz in feiner Mannheimer Fabrik mit der Ver- beſſerung des Exploſionsmotors und mit der Verwen- dung dieſer Kraft zum Antrieb von Fahrzeugen, und auch er konſtruierte im ſelben Jahre 1885 ſeinen erſten dreiräderigen Stahlmotorwagen, der in den Straßen von Mannheim Probe lief.

In jenen Zeiten wurde viel verbeſſert und geändert; jede Maſchine und jeder Wagen waren ein neuer Typ, und jeder der Erfinder war auf rationelle Brauchbar- machung des neuen Gefährtes bedacht.

Aber ähnlich wie bei der Erfindung des Telephons nach den erſten Reisſchen erfolgreichen Verſuchen lange Jahre vergingen, bevor die überaus wichtigen Arbeiten die ihnen zukommende Weiterverwertung fanden, ſo erging es auch den erſten Automobilen von 1885, die erſt ein volles Jahrzehnt ſpäter jene Würdigung er- fuhren, die ihnen gebührte. Auch war ohne den Pneu— matik die Vervollkommnung des Autos zu ſeiner jetzigen Brauchbarkeit nicht denkbar. Es ſei ferner der Ver- dienſte des öſterreichiſch- ungariſchen Generalkonſuls Jellinek-Mercedes gedacht, den Maybach 1896 kennen lernte, und auf deſſen Anraten ſowohl der maſchinelle Unterbau, das Chaſſis, bedeutend erleichtert als auch der Motor durch ein Vierzylinderſyſtem zu viel größerer Kraftentfaltung gebracht werden ſollte. 1901 kam der nach dieſen Ratſchlägen erbaute, wegen ſeiner immenſen Kraft von 35 Pferdeſtärken nicht wenig angeſtaunte Wagen heraus; er führte nach ſeinem Urheber den Namen „Mercedes“, bewährte ſich ganz hervorragend, ſtieg in ſeiner Kraftentfaltung ſchnell aufwärts bis zu 120 Pferdeſtärken und ſtellt bis heute einen beſonderen Typ mit anerkannten Vorzügen dar.

Der gewiſſenhafte Chroniſt kann aber nicht uner-

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a Von Max Nentwid. 85

wähnt laſſen, daß während des Stockens in der An- fangszeit ſich das Ausland mit vielem Eifer und vielem

....

Carl Benz fuhr bereits 1885 auf einem von ihm ſelbſt konſtruierten Auto (Dreirad) in den Straßen von Mannheim.

Erfolg der Konſtruktion des Automobils zuwendete, und daß die erſten Rennen und Konkurrenzen, die die zweifelloſe Überlegenheit des neuen Gefährtes darzutun geeignet waren, im Ausland ſtattfanden, während das

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86 Oreißig Jahre Exploſions motor. u

Auto in ſeiner Heimat bei weitem nicht in gebührender Weiſe anerkannt wurde. So gewann das Ausland auf dieſem Gebiete einen Vorſprung von Anfang an; aber auch dieſe ſeltſame Verkehrung wurde durch deutſchen Fleiß und beſonders durch die Gründlichkeit wieder wettgemacht. Heute genießen die heimatlichen Pro- dukte Weltruf.

In mannigfachen Neukonſtruktionen hat dann der Automobilismus ſich zu jener Machtſtellung in unſerem modernen Verkehrsweſen ausgebildet, die wir heute an ihm bewundern. Wir kennen ſeine ſchlechterdings nicht mehr zu überbietende Schnelligkeit (Weltrekord 228 Kilo- meter in der Stunde), ſeine unbedingte Zuverläſſigkeit bei elementaren Ereigniſſen, Schneefällen und ſo weiter, und feine durch die immenſe Kraft bedingte Brauch- barkeit zu bisher unmöglichen Leiſtungen (Laſtzüge, Armeedienit- und Feuerwehrwagen, kombinierte Wagen- pumpen, drahtloſe Telephon, Panzer-, Turmwagen und ſo weiter), es iſt „das“ Gefährt von heute, vom vornehmen Luxuswagen bis zum ſchwer arbeitenden Laſtfuhrwerk.

Als es erſt möglich geworden war, wirklich leichte, dabei aber ſehr kräftige Motoren zu bauen, konnte auch die Aviatik ihr ſeit Jahrtauſenden immer wieder er- wachendes Sehnen der Erfüllung näher bringen.

In richtiger Wertſchätzung ſeiner Erfindung führte Gottlieb Daimler im Jahre 1887 feinen neuen Motor- typ der Luftſchifferabteilung vor, die trotz ihres Inter- eſſes nicht wußte, was damit anzufangen war. Erſt am 1. September 1888 benützte der forſchungsfrohe Leip- ziger Buchhändler Dr. Wölfert einen derartigen Motor zu feinen Lenkballonverſuchen, die vom Hofe der Daim- lerſchen Fabrik auf dem Seelberg in Cannſtatt vor— genommen wurden. Ein kleiner, nur 4 Pferdeſtärken

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Von Mar Nentwich.

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ganz leichter Motor trieb eine aus einem

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Holzgerippe und Stoffüberzug hergeſtellte Schraube an;

mächtiger,

88 Oreißig Jahre Exploſionsmotor. 2

doch dieſer erſte Aufſtieg vollzog ſich nicht ohne ein ge- wiſſes heiteres Geleite. „Es zeigte ſich nämlich, daß Dr. Wölfert für ſeinen kleinen Ballon zu ſchwer war, weshalb dieſe Fahrt von feinem etwas leichteren ©e- hilfen allein ausgeführt wurde, der ſich auch noch aller entbehrlichen Kleidungsſtücke und ſogar der Stiefel und des Portemonnaies entledigen mußte. Indeſſen der Ballon ſtieg und ging hinter dem Burgholzhof, in einer Entfernung von etwa 4 Kilometern, nieder.“

Nur der Mangel an Betriebskapital hinderte Wölfert am Bau eines hinreichend großen Ballons, deſſen Ein- richtungen mehr Erfolg verſprachen, deſſen Abmeſſungen aber die Gefahr der Exploſion des Ballons vielleicht völlig verhindert hätten. Dr. Wölfert iſt, wie wohl noch erinnerlich, am 12. Juni 1897 mit feinem Mecha- niker bei einem Aufſtieg vom Tempelhofer Felde aus durch Exploſion des Ballons ums Leben gekommen. Doch die Fortichritte waren ſchon zu groß, als daß dieſes erſte Lenkballonunglück die weiteren Arbeiten auf dem von Wölfert beſchrittenen Wege verhindern konnte.

Es war aber auch hier wieder das Zuſammentreffen und Zuſammenarbeiten verſchiedener Momente, die ſchließlich zu den großen Erfolgen führten: vor allem die unbeugſame, zähe, man möchte ſagen dickköpfige Energie des Grafen Zeppelin, den alles Mißgeſchick, alles elementare Unglück, alle anfänglichen Mißerfolge, das Lächeln ſeiner „guten Freunde“ und immer wieder das ihn verfolgende „Pech“ doch nicht von dem als einzig richtig erkannten Weg abbringen konnten. Schließ lich hat ſich das Unglück zum Glück gewendet, als nach der Kataſtrophe von Echterdingen das deutſche Volk die große Flugſpende für Zeppelin zuſammentrug und damit den energiſchen und unverdroſſenen Herrn, ihm

D Don Mar Nentwich. 89

gleichſam fein Vertrauen erweiſend, auch materiell un- abhängig für ſeine weitere Arbeit machte. Über die hohen Eigenſchaften des Zeppelinſchen Luftſchiffs, das als der vollendetſte Lenkballon der Gegenwart gilt, iſt ſich die ganze Welt einig.

Auch die anderen erſtklaſſigen Syſteme: Parſeval,

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Mit Daimlermotor ausgeftattete Antriebseinrichtung des Wölfertſchen Lenkballons, der am 1. September 1888 ſeinen erſten Aufſtieg in Cannſtatt unternahm.

Groß und in neuerer Zeit Schütte-Lanz, ſowie die vielen Ausländer, die gleich zu Anfang die deutſchen Motoren richtig einſchätzten und verwendeten, waren auf den leichten, kräftigen Exploſions motor angewieſen.

Und nun gar das Flugzeugweſen, das Wunderkind der jüngſten Zeit; ihm war Lebensfähigkeit überhaupt

90 Dreißig Jahre Exploſionsmotor. a

nur befchieden, wenn bei verhältnismäßig ganz gering- fügigem Gewicht eine außerordentliche Kraftentfaltung des Motors erreicht werden konnte.

Wir alle wiſſen noch von der mißtrauiſchen Auf— nahme jener Nachrichten, die von der Wrightſchen Flug- maſchine verbreitet wurden, etwa ein Jahrzehnt nach Lilienthals Todesflug. Dann kamen nach den Hüpfver- ſuchen Zipfels die beiden Wright wirklich nach Deutich- land, und man ſah den Jahrtauſende alten Traum er— füllt, ſah Menſchen auf ihren Apparaten wirklich durch die Luft fliegen. Es währte nur noch Wochen und Monate, und, wie aus dem Boden geſtampft, erſchien ein Flugzeugſyſtem nach dem anderen; Erfolg reihte ſich an Erfolg, und zu Land- und Waſſerwegen geſellte fi der jeder vorgeſchriebenen Bahn entbehrende gerad- linige Flug durch die Luft als neue Verbindung der Völker. Wie leſen ſich heute die Zeitungsnachrichten aus jener Zeit: „Weltrekord 2500 Meter Höhe“, „Dauerflug von einer Stunde“ und ſo weiter heute ſind das gar nicht erwähnenswerte Alltäglichkeiten und waren vor fünf Jahren noch Triumphnachrichten.

Es war auch das Erfolgreiche in der Aviatik das Zuſammenarbeiten vieler Kräfte und die Unbeugſamkeit des menſchlichen Willens trotz ungezählter Todesopfer.

Was gegenwärtig an die Leiſtungsfähigkeit eines Flugmotors für Anforderungen geſtellt werden, geht am beſten aus den Bedingungen im Wettbewerb um den Kaiſerpreis hervor. Erſtens: Aufbau innerhalb drei Tagen. Zweitens: Vorprobe: Halbſtündiges Voll- laufen in horizontaler Lage, !/, Stunde Volllaufen bei 15 Prozent Steigung der Achſe, ½ Stunde Volllaufen mit Neigung abwärts bei möglichſt verminderter Touren- zahl (dem Gleitflug entſprechend). Drittens: Sieben- ſtündiger Volllauf ohne Unterbrechung bei Vollbrem—

2 Don Max Nentwich. 91

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in horizontaler Lage, ½ Stunde Pauſe, nochmals

Blick in die Fräſerei einer modernen Automobilfabrik.

92 Oreißig Jahre Exploſionsmotor. 1

Stunden Volllauf und ½ Stunde Volllauf mit erhöhter Tourenzahl durch künſtlich erzeugten Gegen- wind.

Und ſchon find die noch weitergehenden Bedingungen ausgeſchrieben für den in dieſem Sommer jtattfinden- den Wettbewerb der Waſſerflugzeuge.

Auch hier iſt kein Stillſtand, ſondern eifriges Vor- wärtsſchreiten, und die Mitwelt iſt jeden Tag zum Zeugen berufen für die Fülle von Errungenſchaften, zu denen die Konſtruktion des leichten Exploſions- motors erſt die Möglichkeit gegeben.

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EIESEIEHE?

Eigenland.

Novelle von Otto Hoeder.

* nach ruck verboten.)

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m Fenſter des ihm als Wohnung dienenden Well-

blechhäuschens ſtand Gordon Harland, der neue Betriebsleiter einer im mittleren Weiten der Ver— einigten Staaten im Bau begriffenen gewaltigen Tal- ſperre, neben ſeinem von ihm abgelöſten Vorgänger. Mit nachdenklicher Miene ließ er das ihm ungewohnte, fremdartige Wüſtenpanorama auf ſich einwirken.

Vor ſeinen Blicken dehnte ſich im Sonnenbrande, an die dreißig Meilen breit und in zumindeſt doppelter Länge, eine troſtloſe Einöde, die ringsum von hohen Lavafelſen eingeſchloſſen wurde. Sie ſollte durch die rieſige Staubeckenanlage in ihrer Geſamtausdehnung bewäſſert und dadurch aus hunderttauſendjährigem Schlafe aufgeweckt und fruchtbar gemacht werden.

„Well, wir können uns über die ſeither erzielten Fortſchritte nicht beklagen,“ meinte der bisherige Be— triebsleiter, zu deſſen Ablöſung der jüngere Kollege aus New Vork gekommen war. „Bisher iſt alles wie geſchmiert gegangen mit alleiniger Ausnahme jenes alten Querkopfs da oben, des Tom Dugan!“ ſchränkte er mit einer Verwünſchung ein. „Der Mann betreibt eine Viehranch, etwa zehn Meilen weiter ſtromauf in den Bergen. Er verſucht uns aufzuhalten, natürlich

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mit ebenſowenig Erfolg, wie etwa ein ſtörriger Büffel ſich dem heranbrauſenden Schnellzuge gegenüberſtellen würde. Aber wir werden gerade noch genug Verdruß mit ihm haben oder vielmehr Sie, Harland,“ wendete er ſich augenzwinkernd an ſeinen Nachfolger. „Denn ich will die Stunde ſegnen, wo ich dieſer Hölle den Rücken wenden darf. Hab' mir gerade lange genug hier draußen die Haut dörren laſſen!“ Rittlings ſetzte er ſich auf einen Stuhl und muſterte wohlgefällig den nunmehrigen Betriebsleiter. „Merkwürdig,“ begann er dann wieder, „wo man auch baut und bohrt, immer trifft man fo 'n vorfint- flutliches Foſſil an! Sie wurden ſchon aus der Arche mit den übrigen ODickhäutern verladen und ſiedelten ſich an, ehe noch das Waſſer ſich völlig verlaufen hatte. Laſſen ihr Vieh an die dreißig Jahre auf einem halben Königreich an Ausdehnung koſtenlos weiden, leben ihren guten Tag und bilden ſich ein, daß Gott und die Welt ihnen gehöre. Wie dieſer Tom Dugan da oben. Wir mußten ihm den Stromlauf ableiten und damit ſeine Waſſerzufuhr beſchneiden das iſt richtig. Natürlich wollten wir ihn anſtändig entſchädigen, aber er will ſich auf nichts einlaffen, ſondern behauptet, er ſei zuerſt dageweſen, und das Land gehöre ihm. Wir ſollten ihn nur von ſeinem Grund und Boden zu vertreiben ſuchen! Nun haben wir Klage gegen ihn angeſtrengt. Natürlich verliert er den Prozeß, aber bis zu deſſen endlichem Austrag müſſen wir ſeine angeblichen Rechte reſpektieren und kommen nur langſam vom Flecke.“ Er lachte grimmig auf. „Ginge es nach mir, ſo wollt' ich den Fuchs bald aus ſeinem Bau vertreiben!“ „Wie wollten Sie denn das anfangen?“ erkundigte ſich Gordon lächelnd. „Ich baute den Staudamm einfach zehn Fuß höher.

u Novelle von Otto Hoecker. 95

In Wirklichkeit liegt die Duganranch nicht viel höher als die Wüſte, aber um zu ihr zu gelangen, muß man die Lavaberge überklettern. Der ganze Grund und Boden iſt vulkaniſchen Urſprungs. Well, baute man nun den Staudamm um zehn Fuß höher als geplant, dann würde mit Fertigſtellung der Talſperre auch das Loch, in dem jener Dugan hauſt, unter Waſſer geſetzt werden. Dann aber hätte er entweder nach unſerer Pfeife zu tanzen oder er würde gleich einer Ratte erſäuft werden.“

„Nun, zu ſolch draſtiſchen Auskunftsmitteln werden wir hoffentlich nicht unſere Zuflucht nehmen müſſen,“ meinte Gordon ſorglos, während er ſich in Begleitung ſeines Vorgängers nach der kleinen Veranda vor dem Häuschen begab. |

Im funkelnden Sonnenſcheine draußen ächzte der Steinzermalmer und ſchleuderte weiße Staubwolken gen Himmel. Vom Fluß her kam das Schrillen der an langgeſtreckten Kabeldrähten hin und zurück ſchwe⸗ benden Zementbütten, und zur Rechten ſchlängelten ſich wie die Fäden eines weitmaſchigen Netzes die künftigen Abzugskanäle an den ſteilen Felswänden hoch, bis ſie oben in der ſtaubgeſättigten, amethyſtfarbigen Luft verſchwanden.

Der abgelöſte Ingenieur deutete auf die in Mittags- gluten ſchmachtende Talwüſte. „Was für Zukunfts- möglichkeiten liegen dort im Mutterſchoß der Erde noch vergraben,“ ſagte er zuverſichtlich. „Wie lange wird's noch dauern, ſo zieht die Eiſenbahn dort, wo jetzt nichts als muffiges Heidekraut wuchert, ihre Schienenſtränge. Vielleicht in fünf Jahren dehnt ſich hier eine aufblühende Stadt, und man verkauft Eckbauſtellen zu tauſend Dollar das Stück. An die tauſend Anſiedler gewinnen der neuen Heimatſcholle hundertfältigen Ertrag ab und

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da will uns ſolch ein Dickkopf in die Quere kommen und meint, wir müßten die Hände von alledem laſſen, nur weil feine Viehherden ſeit einer Reihe von Jahren hier geweidet haben?! Den Zahn müſſen Sie ihm ausziehen, Harland und das bald. Zch ſelbſt habe den Karren bei ihm verfahren und will nur hoffen, daß Sie beſſer mit ihm fertig werden!“

Als Gordon zuſtimmend nickte, umſpielte ein Lächeln feſter Entſchloſſenheit ſeinen kräftig geformten Mund. Er war ein ſtämmiger junger Mann mit einer dichten braunen Haarmähne, vorſpringendem Kinn und klug blickenden Augen.

„Da ich vor Montag die Oberleitung doch nicht übernehmen werde und am morgigen Sonntag ohne- hin gefeiert wird, ſo gedenke ich meinen Antrittsbeſuch oben in der Duganranch noch heute Mn zu machen,“ entſchied er.

„Viel Glück auf den Weg!“ ſtimmte ſein Vorgänger zu. Aber das feine Lippen umſpielende ſarkaſtiſche Lächeln kündete unverhohlen genug, welchen Erfolg er einem ſolchen Annäherungsverſuche vorausſagte.

Es war unberührte Natur, durch die Gordon Har- land eine Stunde ſpäter auf dem Rücken eines flinken Maultiers trabte braun, ſonnenverbrannt und end- los wie die See. Kein Hausdach grüßte, kein Baum ſtreckte ſchattenſpendend ſeine Zweige, nicht ein grünes Fleckchen, wohin ſein Blick auch immer wandern mochte. Die Luft war dünn und unglaublich klar; er wähnte hundert Meilen weit ſehen zu können und hatte das Gefühl, als vermöchte er bis zu den Stiefelſohlen hin— unter zu atmen.

Nachdem ſein Tier an die zwei Stunden unabläſſig

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auf kaum gebahntem Saumpfade bergauf geklettert war, erreichte er den Gipfel und blieb nun mit jähem Rucke ſtehen, denn vor feinen Hufen gähnte, wohl tauſend Fuß tief, der Abgrund. Als Harland ſich ſpähend über die dünne Halsmähne des Tieres beugte, da ſchaute er zu feiner Überraſchung in einen geräumigen Tal- keſſel, den die Lavarieſen von allen Seiten abſchloſſen. Unten in der Tiefe, wo in breitem Strombett dürftiges Waſſergerinnſel ſich durch grüne Fluren ſchlängelte, lag ein Ranchhaus mit ſeinen Nebenbauten. Schattige Bäume umſtanden es, deutlich vermochte Gordon einen ausgedehnten Gemüſegarten, ferner mit Kartoffeln und Getreide bepflanztes Land zu erkennen. Daran ſchloſſen ſich die Weidekoppel und endloſe Kleefelder alles wie eine liebliche Oaſe in die nackte, ſtarre Lava ringsum eingebettet.

Von der oberen Talbuchtung, etwa eine halbe Meile ſtromauf, wo wieder Salbeibüſche zu wuchern begannen, kam dumpfes Gepolter. Eine gelbe, raſch an Umfang zunehmende Staubwolke flog voran, und hinter ihr her ſtürmte, wie Gordon bald wahrzunehmen vermochte, eine buntſcheckige Viehherde, die ſich fächergleich aus- breitete, ſobald fie den noch durch den Stromlauf ver- engerten Zugangspaß hinter ſich hatte und nun in den geräumigen Talkeſſel einbog.

Dazwiſchen tummelten ſich wohl ein Dutzend flinke Reiter. Hin und her, auf und nieder durch die dicken Staubwolken ritten fie, trieben an und ſchnitten wie- derum den von der Herde ſich ſondernden, wildgewor- denen Rindern mit lautem Peitſchenknallen den Flucht- weg ab.

Harland ſäumte nicht länger oben, ſondern lenkte fein Tier nach der Zickzackſpur, die in endloſen Win- dungen ins Tal hinunterführte. Bald hatte er die

1913. XII. 7

98 Eigen land. u

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Korralumzäunung unten erreicht und hielt nun neben dem Gatter, um mit wachſendem Zntereſſe das nie zuvor von ihm erſchaute, aufregende Schauſpiel zu verfolgen.

Die ſcheue Herde, das kaum mit den Blicken zu verfolgende Durcheinander von Reitern und brüllen den Rindern, ſämtlich ſchleiergleich von Staubwolken eingehüllt, die natürliche Grazie und lebhafte Beweg⸗ lichkeit der die Laſſo ſchleudernden Männer, das trotzige Aufbäumen der eingefangenen Zährlinge, die indeſſen gar bald vollends gefeſſelt wurden, um zum lodernden Feuerſtoß geſchleift und dort mit dem Brandeiſen ge- kennzeichnet zu werden und auch die Duganmarke mit jähem Meſſerzucken durchs linke Ohr geſchlitzt zu erhalten, das dumpfe Schmerzgebrüll der alſo Gebrandmarkten, der brenzlige Geruch von hochaufflammendem Galbei- holz und verbranntem Fell das alles ſchien in dem Zuſchauer Inſtinkte zu wecken, die ihm ohne fein Vor— wiſſen längſt im Herzen geſchlummert hatten.

Immer näher an die Korraleinzäunung kam die Jagd herangebrauſt.

Plötzlich vermochte ein beſonders ſtörriger Jähr— ling durch einen geſchickten Seitenſprung der ſchon über ihn herabfallenden Laſſoſchlinge noch im letzten Augen- blick zu entgehen. Nun kam er mit tiefgeſenktem Kopf gerade auf Gordon Harland herangeſtampft. Deſſen Tier ſcheute ſeitwärts, und wie er ſelbſt noch nach den flatternden Zügeln haſchte, überrannte ihn auch ſchon der junge Stier.

Wohl ſchoß der alſo Überrumpelte der Länge nach ins Gras, aber er blieb geiſtesgegenwärtig genug, um den ungehobelten Geſellen bei dem einen Hinterbein zu packen und ihn, unbeſchadet darum, daß er eine Strecke weit mit fortgeſchleift wurde, daran feſtzuhalten.

a) Novelle von Otto Hoeder.

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Da kam es auch ſchon mit ſtiebendem Hufſchlag heran, einer der Reiter warf das Fangſeil, und diesmal verſtrickte ſich der Ausreißer hoffnungslos in der Schlinge.

Jetzt richtete ſich der Ingenieur wieder auf und ſtimmte in das Lachen des ihn mit beluſtigten Blicken muſternden jungen Reiters ein, als dieſer ihm ein ver- trauliches „Hallo, Freundchen!“ zurief.

Hinter ihm tauchte ein zweiter Reiter auf, ein hagerer Graukopf, der wie verwachſen mit ſeinem Pferde im Sattel ſaß und das grimmige, von einem ſtruppigen Schnurrbart beinahe in zwei Hälften geteilte, lederhart gegerbte Geſicht vergnüglich verzogen hatte.

„Hallo, Fremder!“ ſchrie er lachend. „Ihr hättet den Ausreißer beim Schwanzende packen müſſen. Dann noch 'ne Doſe Salz draufgeſtreut und das Bieſt hätt' alle viere von ſich geſtreckt! Hoho, da möchte man doch gleich Klapperſchlaͤngen ſchlucken! Auf Eure Fangmethode müßt Ihr 'n Patent nehmen!“

Zuerſt hielt Harland den verwitterten Kumpan für den Beſitzer der Ranch, aber er änderte ſeine Meinung raſch, als nun noch ein dritter Reiter herangeſprengt kam, ein alter, ſehniger Mann, der auf einem beſonders hochbeinigen Tier hockte. |

Harland konnte ſich nicht entſinnen, jemals zuvor ſchon in ein derartig wie aus Stahl gefügtes Männer- antlitz geſchaut zu haben. Das Alter hatte die in dieſem Manne lodernde Leidenſchaft noch nicht zu zügeln ver- mocht, gleichwohl lag in ſeinen Zügen wiederum eine gewiſſe rauhe Biederkeit, und wenn er lachte, wie dies eben geſchah, gewannen feine Mienen ſelbſt einen gut- mütigen Ausdruck.

„Woher des Wegs, Fremder?“ begrüßte er Harland, ohne ſich ſelbſt vorzuſtellen, was er für überflüffig halten mochte. „Oer neue Ingenieur eh?“

100 Eigenland. 2

Gordon Harland nannte feinen Namen. „Ich wollte Ihnen meinen Beſuch abſtatten,“ fuhr er fort, heimlich darauf gefaßt, daß ſich die freundſchaftliche Haltung des Alten nunmehr raſch ins Gegenteil wandeln würde.

Aber nichts Dergleichen geſchah, ſondern Tom Dugan ſtreckte ihm die Hand zum Willkommgruße entgegen. „Ihr kommt aus dem Oſten?“ erkundigte er ſich, in- dem er lächelnd die durch den Fall in Unordnung ge- ratene ſtädtiſche Kleidung ſeines Beſuchers muſterte.

„ga, ich bin, was man hierzulande wohl ein Grün- horn nennt kaum je aus der Großſtadt heraus- gekommen!“

„Well, überall iſt Gottes Gegend,“ meinte der Alte, deſſen klarer Blick noch immer den anderen muſterte. „Auch ich kam vom Oſten hierher, war jung in Chicago und urſprünglich Schriftſetzer. Iſt aber unwahrfchein- lich lange her und dünkt mich wie 'n Traum. Schalte nun ſchon dreißig Jahre auf der eigenen Scholle, da wurzelt man im Boden und wird eins mit ihm. Aber nichts für ungut, Herr,“ unterbrach er ſich. indem er nach den ragenden Felshöhen, hinter denen eben die Sonne verſchwand, hinaufſpähte. „Es wird wohl bald dunkel werden. Das geſchieht hier draußen ganz plötzlich, und wir müſſen noch einen letzten Trieb reiten. Laßt Euch einſtweilen die Zeit nicht lang werden!“

Damit riß er ſeinen Gaul wieder herum, die beiden anderen Reiter folgten ſeinem Beiſpiel, und die wilde Jagd erneuerte ſich, ohne daß das Dreiblatt die Gegen- wart Harlands weiter beachtet hätte.

Als dann die Nacht mit raſchen Schritten heran- kam, bot ſich dem Neuling ein anderer ungewohnter Anblick.

Für den eigenen Bedarf wurde eines der Rinder an Ort und Stelle geſchlachtet.

u Novelle von Otto Hoecker. 101

Ein raſcher Laſſowurf des jungen Dugan brachte einen Stier nieder. Sofort trieb der Reiter fein Pferd an, und das hilflos an Kopf und Vorderfüßen gefeſſelte Schlachtopfer wurde eine Strecke weit bis in die Nähe des flackernden Holzſtoßes durch den Staub geſchleift.

Ein paar betäubende Schläge auf den Kopf, ein die Halsader durchſchneidender Meſſerſtich des alten Joe, und ein Strom rauchenden Blutes ſchoß in den Staub. Die Herde ſog witternd und dumpf brüllend den Blutgeruch ein und drängte langſam zurück. Nie- mand bekümmerte ſich länger um fie, nun das Tag- werk vollbracht war.

Selbſtverſtändlich mußte Harland über Nacht die Gaſtfreundſchaft des Ranchers annehmen, denn bei der nunmehr herrſchenden Finſternis hätte er ohnehin an einen Heimritt nicht denken können.

Tintenſchwarz erſchienen die wie Zähne einer Säge gezackten Spitzen der Lavafelſen, und von der Schlucht blies der Nachtwind balſamiſche Düfte hinter ihnen her. Als ſich die Reiter dem Ranchhauſe näherten, lugte die ſchmale Sichel des Mondes über den Bergrand, und über ihm begannen die Sterne zu blinken.

Auf der vorderen Veranda ſtand ein offenes, waſſer— gefülltes Faß, das nun als Waſchbecken diente, und nicht minder gemeinſchaftlich wanderten auch Hand- tuch und der nahezu zinkenloſe Kamm aus einer Hand in die andere.

In dem von einer Petroleumhängelampe freundlich erhellten Wohnzimmer, wo es gar angenehm nach friſch⸗ bereitetem Kaffee und geröſteten Speckſcheiben roch, wies Tom Dugan mit ſtummer Handbewegung dem Gaſt den Platz zu ſeiner Linken an; ſein Sohn und der alte Cowboy ſetzten ſich nebeneinander oben an die eine lange Tiſchſeite, und der Reſt der Männer füllte

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bald die übrigen Plätze an der langen Tafel. Nur zur Rechten des Ranchers blieb der ihm zunächſt ſtehende Stuhl unbeſetzt, und um feine Rücklehne war, eigen- tümlich genug, eine ſchwarze Tuchſchleife gebunden.

Es entging dem Ingenieur nicht, wie der alte Ran- cher, als ſein Blick den umflorten Stuhl ſtreifte, leicht nickte, als wollte er eine unſichtbare Perſon vertraulich begrüßen.

Tom Dugan mochte wohl leiſes Befremden in feines Beſuchers Zügen wahrgenommen haben, denn als er ſich nun vorneigte und die eine Hand auf die umflorte Stuhllehne legte, meinte er: „Kehrt Euch nicht daran, hier ſaß meine Mary er iſt mir heilig, dieſer Platz, denn ſie war eine gute Frau. Und manchmal hab' ich's im Gefühl, als ſäße ſie immer noch neben mir, nur daß wir's nicht ſehen können.“

Gordon kam zu keiner Erwiderung, denn eben öffnete ſich von der Küche her eine Tür, und auf der Schwelle erſchien ein ſchlankes, hübſches Mädchen. Sie trug eine große Schüſſel mit eben dem Herd entnommenen heißen Brotſchnitten, gönnte beim Vorüberſchreiten dem Gaſt ein freundliches Lächeln und ſetzte ihre Laſt mit ſchlichtem Abendgruße auf den Tiſch.

unwillkürlich hatte der Ingenieur ſich bei ihrem Eintritt von ſeinem Sitz erhoben, und mit Staunen nahm er wahr, daß kein Gedeck für das Mädchen auf- gelegt war. „Darf ich Ihnen meinen Stuhl anbieten, denn ich habe wohl die Ehre, Miß Dugan vor mir zu ſehen?“ fragte er.

Das Mädchen nickte. „Ja, ich bin Emily Dugan,“ ſagte ſie ſchlicht. „Aber laſſen Sie ſich nicht ſtören, ich pflege immer in der Küche nachzueſſen.“

„Emily ißt nicht gern mit uns, es geht ihr bei uns nicht fein genug zu,“ zog ſie ihr Bruder lachend auf.

2 Novelle von Otto Hoecker. 103

„Unſereiner hat eben keine Zeit, fich erſt lange heraus- zuputzen.“ |

„Kunſtſtück,“ knurrte der alte Joe, „wenn man ab- geradert und ausgehungert genug iſt, um Klapper- ſchlangen zu futtern!“

„Bitte, nehmen Sie nur wieder Platz!“ drängte das Mädchen. Mit freundlicher Zuvorkommenheit wartete es dem Gaſte auf. „Lieben Sie Honig?“ Sie reichte ihm ein Glasgefäß. „Selbſtgewonnen, wie über- haupt alles auf dem Tiſche hausgemacht iſt.“

Gordon kam aus dem Staunen nicht heraus. Die ruhige Sicherheit des Mädchens imponierte ihm um ſo mehr, als ihr ganzes Weſen vorteilhaft von der zwang- loſen Art der um den Tiſch hockenden und mit vollen Backen kauenden Männer abſtach. Weit weniger wäre fie in New Yorker Geſellſchaftskreiſen als in dieſem weltfernen Ranchhauſe aufgefallen.

Schweigend wurde nunmehr die Mahlzeit verzehrt. Die Eſſenden gingen mit derſelben ernſthaften Gründ- lichkeit zu Werke, die Gordon ſchon zuvor bei ihnen draußen während der Arbeit beobachtet gehabt hatte.

Als ſich dann der Rancher erhob, ſtanden auch die übrigen unter lautem Fußſcharren und Schemelrücken auf und begaben ſich mit kurzem Nicken aus dem Zimmer.

Auch der Rancher ſelbſt wendete ſich der Tür zu. „Bin gleich wieder zurück,“ äußerte er zu feinem Be- ſucher, „will nur einen Abendtrunk aus dem Keller heraufholen.“

Als er wenige Minuten ſpäter wieder ins Zimmer zurückkam, wo inzwiſchen feine Tochter dem Gaſt Ge— ſellſchaft geleiſtet und gleichzeitig mit flinker Hand den Tiſch abgeräumt hatte, brachte er einen Steinkrug, mit einem ſchäumenden Getränke bis zum Rande gefüllt, mit und ſetzte ihn auf den Tiſch.

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Hurtig ſtellte Emily Gläſer bereit, rückte noch ein Feuerzeug in handliche Nähe des Beſuchers und ſchloß dann hinter ſich die Küchentür. Bald verriet von dorther kommendes Tellergeklapper ihre fleißige Tätigkeit ſehr zur geheimen Enttäuſchung Harlands, der beſtimmt auf die Geſellſchaft des liebenswürdigen Mädchens ge- rechnet hatte.

Bedächtig ſchenkte der Rancher die Gläſer voll. „Selbſtgebraut,“ meinte er dann nicht ohne Stolz. „Mein Vater ſelig war ein Irländer, die Mutter da- gegen deutſch und beides zuſammen gibt 'ne ſchlechte Miſchung, denn trockene Lebern haben beide. Koſtet nur, es iſt zwar kein eigentliches Bier und berauſcht auch nicht, aber es löſcht den Durſt ausgezeichnet und ſchmeckt nicht übel.“

Darüber war Gordon Harland nun freilich anderer Anſicht, denn das Zeug ſchmeckte ſtark nach Heilkräutern und mundete nicht beſſer als der Tabak, den der Rancher nun in einem mächtigen Steintopf auf den Tiſch ſetzte und der gleichfalls auf der Ranch gewachſen, an der Sonne getrocknet und rauchfertig gemacht worden war. Aber er hielt mit jeder Kritik zurück, ſtopfte vielmehr das Pfeifchen, das er immer in der Taſche nachtrug, und qualmte ergebungsvoll darauflos.

„Well,“ begann der alte Mann, indem er die Gläſer wieder vollſchenkte, „Ihr wißt's vermutlich ſchon, daß ich mit Euren Leuten drunten im Prozeß liege eh? Kalkulierte wenigſtens ſo, als ich Euch kommen ſah,“ ſetzte er bedächtig hinzu, als Gordon zuſtimmend genickt hatte. „Kann mir auch denken, warum Ihr gekommen ſeid. Aber gebt Euch keine Mühe, den alten Tom Dugan macht keiner dumm. Das Recht iſt auf meiner Seite, und niemand kann mich von der eigenen Scholle ver- lreiben. Nur ſachte,“ ſetzte er mit erhobener Stimme

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hinzu, als der andere ihn unterbrechen wollte, „laßt mich ausreden! Ich dächte, ich hätte Euch gezeigt, daß ich nichts gegen Euch habe, denn Ihr habt Eure Pflicht zu tun, dafür werdet Ihr bezahlt. Ich ſelbſt bin ein friedliebender Mann, ſeh' zuweilen auch gern ein frem- des Geſicht um mich, aber im übrigen ſoll man mich in Frieden laſſen. Die Ranch iſt mein eigen, und ſo Gott will, bettet man mich einmal neben meine Mary zum letzten Schlafe.“

Je länger Gordon die Mienen und Blicke des Alten ſtudierte, deſto deutlicher begriff er, daß man ihn einer Aufgabe gegenübergeſtellt hatte, deren Löſung nahezu unmöglich und entſchieden nicht auf dem Wege güt- licher Vorſtellungen zu erreichen war.

„In einer Zeit wie der unſerigen,“ wendete er nach einer Weile ein, „da die Menſchheit einen weiten Schritt vorwärts macht, muß das Zntereſſe des einzelnen ſich dem der Allgemeinheit unterordnen.“

„Möglich,“ knurrte der Alte, „aber ich weiß, daß ich mir jeden Fußbreit Land erarbeitet habe, zuerſt mit der Schaufel, Herr und ich weiß ferner, daß ich mein Lebtag gefront habe, Herr und da kommt plötzlich hergelaufenes Volk, ſpielt ſich als die Herren auf, leitet mir das Waſſer ab, ſo daß ich keines mehr für mein Land habe und zuſchauen muß, wie fruchtbarer Boden ſich wieder zur Wüſtenei zurückwandelt und meine Herde zehn Meilen weit zur Tränke und wieder zurückgetrieben werden muß.“

„Well,“ ſuchte Harland zu begütigen, „dafür werden viele Hunderte Farmer ein mächtiges Wüſtengebiet für die Kultur erobern, nahezu eine halbe Million Acker werden dem Pflug gewonnen werden!“

Tom Dugan ſpie verächtlich zur Seite. „Farmer nennt Ihr das Pack?“ fragte er kurz. „Maulwürfe, die

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im Sand graben, ſind es, nichts anderes! Wir brauchen hier keine Farmer! Die Gegend hier iſt Weideland mehr noch, ſie iſt mein Land!“

Er war ans offene Fenſter getreten, winkte Harland zu ſich und deutete dann auf eine Ecke des im Mondglanz liegenden Obſtgartens, wo ſich ein kurios geformter Steinhaufen erhob.

„Dort ſchläft ſie,“ ſagte er leiſe.

„Wer?“ fragte Harland, der nicht gleich feine Mei- nung erriet.

„Meine Mary. Dort unter dem Steinhaufen ſchläft ſie, ich habe ihr ſelbſt das Grab mit der Pickaxt in die Felſen geſchlagen. War ein herzliebes Weib, meine Mary.“ |

Eine Weile verharrte er ſchweigend und ſog an der Pfeife.

Dann meinte er in ruhigerem Tone: „Ihr ſpielt wie die Kinder mit dem Feuer, ihr kennt den Fluß und ſeine Tücken nicht ſo wie ich. Dazu muß man ihn durch lange Jahre ſtudiert haben. Wartet's nur ab, bis eines Frühjahrs wieder die Chinookwinde zu blaſen beginnen und den hoch in den Bergſchluchten liegenden Schnee in einer Nacht ſchmelzen machen zweimal hab' ich's ſchon miterlebt. Damm oder nicht, das bleibt ſich gleich! Aber kommt mit hinaus, in der Stube wird mir's zu eng,“ unterbrach er ſich.

Damit ging er, gefolgt von ſeinem Gaſte, ins Freie hinaus.

Dort, wo der Grabhügel ſeiner Lebensgefährtin ſich türmte, ſtand eine Bank. Auf ihr ließ der alte Mann ſich nieder und bedeutete dem anderen, neben ihm Platz zu nehmen.

„Hier ſitz' ich oft,“ begann der Rancher nach einer Weile. Er hatte ſeine kurze Pfeife ausgeraucht, nun

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klopfte er fie aus und ftedte fie in die Taſche. „Hit mir dann immer, als wär' meine Mary mir näher. Kurioſes Gefühl das, jemand plötzlich nicht mehr um ſich zu haben, der einem ſo notwendig wie die Luft zum Leben war. Ich ſeh' fie aber alle Tage, fie ſcheint immer vor mir zu ſtehen, zum Greifen nahe.“

„Ihre Gattin war Farmerstochter nicht wahr?“ erkundigte ſich der Ingenieur mehr aus Höflichkeit als wirklich intereſſiert.

Tom Dugan ſchüttelte den Kopf. „Sie war ein kleines Ladenmädel, meine Mary,“ hub er dann an, „hatte einen tüchtigen Schulſack und wollte Lehrerin werden. Aber dann ſtarb der Vater. Wie das ſo geht, ſie mußte ihre gelähmte Mutter ernähren und hungerte ſich mit ihr durch, bis wir uns fanden und heirateten. Anfänglich verdiente ich auskömmlich. Kann wohl ſagen, daß ich ein geſchickter Setzer war. Bis der große Brand halb Chicago verheerte und Hunderttauſende brotlos machte. Darunter auch mich. Nun ja, da fing das Hungern erſt recht an. Schwamm drüber! Eines Tages ſtanden wir völlig mittellos, unſer Kind war dahin— geſiecht, und auf der Suche nach einer Stelle, die ſich nicht finden laſſen wollte, lief ich Tag um Tag mit durchlöcherten Sohlen auf dem Straßenpflafter herum. Damals entſchloſſen wir uns, nach dem Welten aus- zuwandern natürlich zu Fuß, denn Geld zum Fahren beſaßen wir keines. Was wir damals an Mühſalen zu ertragen hatten, das kann ich nicht beſchreiben. So was muß man ſelbſt durchlebt haben, um ſich einen Begriff davon zu machen, wie uns die Füße ſchmerzten. Als einen der ſchaurigſten Orte in der Hölle, wo Satan ſich am vergnüglichſten an den Leiden der ihm Ver- fallenen ergötzen mag, ſtelle ich mir einen ſteinigen, ſteilen Weg vor, über den die Verdammten mit wunden,

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blutenden Füßen wandern müſſen immerzu und endlos wandern! Solch einen Weg gingen wir.“

Er ſeufzte tief auf, ſtützte den Kopf in die aufs Knie gelegten Hände und ſtarrte eine Weile ſchweigſam vor ſich hin. Dann deutete er hinauf zu den ſteilen Berg- höhen, die der Mond eben mit unirdiſchem Glanze umwob. a

„Endlich kam der Tag, wo wir dort ſtanden und in dieſes Tal hinunterſchauen durften. Nach vierzig langen Monaten unſerer Wanderſchaft. Seitdem haben wir hier gelebt, zuerſt in einer Höhle, die wir entdeckten und wohnlich machten, bis wir unſer Haus erbauen konnten nicht dieſes Haus, nein, das kam erſt im Laufe der Jahre. Dort hinter dem Hauſe, wo jetzt ein Milchkeller iſt, entdeckten wir eine Felshöhle, in ihr hauſten wir ein volles Jahr, dort wurde auch unſer Sohn geboren. Wie arbeiteten und ſchafften wir! Ganz allein auf uns angewieſen, ohne Erfahrung und Mittel. Nichts als eine Schaufel hatten wir zum An- fang und unſere Hände. Dann lief uns eine ver- irrte Kuh mit ihrem Kalb zu, das war der Beginn unſerer heutigen Herden. Jeder Stein dort am Haus iſt von mir aus den Felſen geſchlagen, zurechtgehauen und gemauert worden. Meine Mary wanderte zwanzig Stunden weit, um die Ableger zu den ſchattigen Obſt— bäumen von heute vom nächſten Nachbarn zu holen. Das waren gute Leute, ſie ſchenkten uns ein Beil, etwas Bettzeug und Ausſaat, ſpäter noch ein halb Dutzend Hühner. Und ſo fingen wir an, ich mit der Schaufel, und Mary machte unſere Höhlenwohnung aus nichts zurecht, fertigte Betten aus Moos und Laub und es ging. Eine Büchſe hatte ich ja, und ein guter Schütze war ich von jeher geweſen. Wild gab's genug, und der Fluß bot Fiſche im Überfluß.“

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Er hatte ſich immer wärmer geſprochen und ſeine Worte mit lebhaften Handbewegungen begleitet.

„Ah, Fremder,“ meinte er nun, „ich kann Euch das Entzücken nicht ausmalen, das unſere Herzen erfüllte, als wir den erſten Mais aus dem Boden kommen ſahen. An einem Sonntagmorgen war's. Wie wir vom Früh- ſtück aufſtanden damals hatte ich ſchon einen Tiſch und zwei Schemel zurechtgezimmert da gingen wir Hand in Hand nach den Feldern. Mary ſah die Mais- halme zuerſt, wir hatten in regelmäßigen Reihen geſät, und aus den handgeformten Erdhügeln lugten ſpannen- lange blaßgrüne Hälmchen und dann ſahen wir ſie Tag für Tag wachſen, keine Mutter konnte ſtolzer auf ihre Kinder ſein! Bis der Tag der erſten Ernte kam das war ein Freudentag!“

Verſonnen ſchaute er um ſich, es war ihm anzu— ſehen, wie er im Geiſte in die Vergangenheit zurück- ſchaute und wieder durchzuleben meinte, was damals geſchehen war.

„Ah, wie viel Glück wohnte gleich von Anbeginn mit uns hier im Tal! Da hatte ſich unter die erſte Mais- ausfaat ein fremdes Samenkorn verirrt. Als es aus dem Boden wuchs drei kleine grüne Blättchen wußten wir nicht, was es ſein konnte. Aber wir ließen's wachſen, ich häufelte hübſch die Erde ringsherum, und plötzlich begann's zu ranken. Da wußten wir freilich, was es war, eine Waſſermelone.“ Er lachte leiſe vor ſich hin. „Meiner Treu, ich glaube, ein Junge vergißt nie, wie man Obſt ſtiebitzen oder ſchwimmen muß und Waſſermelonen ſchmecken ganz beſonders gut. Dreizehn kleine Melonen entwickelten ſich aus den Blüten, aber eines Nachts trampelte unſer Kalb dar- über, und vier davon wurden zerquetſcht. Heute weiß ich, daß es beſſer geweſen wäre, wenn's die anderen

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neun zertreten und nur vier Fruchtanſätze verſchont hätte, weil nämlich der Stock ſo viele Früchte gar nicht reifen kann. Am erſten September war meiner Mary Geburtstag, und heimlich ſchlich ich mich in den Mais, der damals ſchon übermannshoch ſtand, und ſchaute nach den Melonen, denn ich wollte ihr doch ein kleines Angebinde geben. Dunkelgrün ſchimmerte die dickſte Frucht durch die Blätter. Ich klopfte gegen das Ge— häuſe, wurde aber nicht klug daraus, ob's den richtigen Reifellang gab. Da nahm ich mein Taſchenmeſſer zu Hilfe und richtig, wie ich einen Kerb hineinſchnitt, zeigte ſich rotes, ſaftiges Fleiſch.“ Ordentlich behaglich lachte er vor ſich hin. „War das eine Freude damals! Meine Mary weinte vor Glück, als ich ihr die Melone brachte, die erſte köſtliche Frucht vom eigenen Land.“

Er hatte ſich erhoben und ſtand nun im Mondlicht in förmlich rieſenhaften Umriſſen vor Harland.

„Vielleicht erzähl’ ich's Euch ein andermal aus- führlich, Fremder, wie wir aus einer Wüſtenei frucht- bares Land und allmählich Behagen um uns ſchufen. Aber ich wiederhole Euch, ich ſtehe auf eigenem Land, zu dem der Herrgott uns den Weg gewieſen hat. Auf dieſer Schwelle waltete mein Weib, unter ihren Füßen wurde jeder Fußbreit geſegneter Boden. Unter dieſen Steinen ſchläft ſie und ich“ er richtete ſich ſtarr auf, und in ſeine Mienen kam ein drohender Ausdruck „ich hüte ihren Schlaf, und wehe dem, ſei er hoch oder niedrig, der mich aus meinem Eigenen zu vertreiben unternimmt! Freiwillig weiche ich nicht und braucht ihr Gewalt, ſo hat's die harte Not mich gelehrt, wie man mit Hausräubern und Friedensbrechern um- ſpringen muß. Meine Hand iſt ſicher, und meine Büchſe hat ihr Ziel noch niemals gefehlt!“

Ein Schauer beſchlich Gordon Harland, als er den

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alten Mann nun mit lang ausgreifenden Schritten in der Richtung nach dem Viehkorral davonſchreiten ſah. Im flimmernden Mondlicht ſchien feine Geſtalt noch zu wachſen und übermenſchliche Formen anzunehmen, bis ſie endlich im vorſpringenden Mauerſchatten ver- ſchwand.

2:

Als Harland langſam zum Wohnhauſe zurückſchritt, erblickte er auf der Veranda die Rancherstochter, und artig ſchritt er auf ſie zu. Sie hatte einen Arm um den einen Verandaſtützbalken geſchlungen und ſtand ſo, daß der Mond wohl ihr dunkles Haar wie mit einer Gloriole umwob, aber ihre Geſichtszüge im Schatten blieben.

„Kommt Ihnen ungewohnt bei uns vor nicht wahr?“ ſprach ſie den Ingenieur an.

„Es iſt wunderſchön hier oben,“ verſicherte er. „Der Bruder ſchon ſchlafen gegangen?“

„Bill iſt müde. Halten Sie meinen Bruder nicht für ungaſtlich, aber er iſt ſeit einer Woche kaum zum Schlafen gekommen.“

„Das war ihm nicht einmal anzumerken,“ meinte Harland. „Er verrichtete ja wahre Wunder an Geſchick- lichkeit im Laſſowerfen, und reiten kann er noch beſſer!“

Sie lachte fröhlich. „Kein Wunder, er treibt ja nichts anderes!“

Harland hatte ſich auf die oberſte Treppenſtufe ge- ſetzt. Zutraulich ließ ſie ſich nun neben ihm nieder, faltete die Hände im Schoße und ſchaute ihn unbe— fangen an.

Sie ſchien etwas Beſonderes ſagen zu wollen, zögerte aber noch eine Weile, bevor ſie geradezu fragte: „Glauben auch Sie, daß Vater unſere Ranch an Ihre Geſellſchaft verkaufen muß?“ Dann, als er beſtätigend

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nickte, verſicherte ſie lebhaft: „Das geſchieht freiwillig nie! Sie können eher jene Felsrieſen dort nieder- zwingen, als Vaters Sinn ändern.“ Seufzend ſchwieg ſie wieder, fragte aber bald darauf unvermittelt: „Wie lange wird's noch dauern, bis die Talſperre voll- endet iſt?“

„Ein Jahr wird bis dahin noch ſicher vergehen, vielleicht aber auch zwei oder gar drei Jahre.“

„Ein Jahr!“ Ein Seufzer kam über ihre Lippen. „Vielleicht nur noch ein Jahr und dann —“

Gedankenvoll ſtarrte ſie auf den in Dunkel gehüllten, wie unſichtbar vorüberrauſchenden Fluß und die da- hinter tintenſchwarz ſich ſtreckenden Lavafelſen.

„Manchmal faßt mich erſchauernd die Frage an, was wohl von alledem das Ende ſein wird,“ fuhr ſie dann fort. „Dieſes Tal war immer unſer eigen. Mochte draußen in der Welt paſſieren, was da wollte, Handel und Wandel, Krieg oder Frieden kümmerten uns nicht, denn wir herrſchten auf der eigenen Scholle. Mag ſein, daß das geltende Geſetz Sie dazu berechtigt, uns von hier zu vertreiben; aber ein himmelſchreiendes Unrecht bleibt es darum doch, dieſes Stück Erden- paradies, das die Lebensarbeit meiner Eltern zu einem ſolchen gemacht hat, wieder zu vernichten. Ich kenne meinen Vater, ich liebe ihn und und mir iſt bange um ihn. Indem Sie zerſtören, was er mühſam auf- gebaut hat, machen Sie ſein Leben wertlos, Sie merzen es aus dem Buch der Menſchheit aus und ein ſolcher Gewaltakt läßt ſich mit einer Geldentſchädigung nicht ausgleichen.“

Sie war aufgeſtanden.

„Es iſt ſchon ſpät geworden,“ äußerte ſie gelaſſen, „vielleicht iſt es Ihnen angenehm, wenn ich Ihnen jetzt Ihren Schlafraum anweiſe?“

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Harland wußte kaum, was er darauf antworten ſollte, ihm war eigentümlich zumute. Er hatte die Empfindung, als habe ſich etwas von dem, was in Emily Dugans Seele lebte, zu ihm verirrt, als würden nun das monderhellte Tal, die lampenbeſchienene Veranda, das ſchlafend liegende Haus von ihrer Gegen- wart und ihrem Empfinden geſättigt. Die ſpitzen Berg- konturen wandelten ſich zu Vorpoſten, die eiferſüchtig den Talfrieden bewachten, durch das Rauſchen der vom Nachtwind bewegten Baumkronen ging ein ihm un- freundliches Geraune, ſelbſt die mit ſüßem Duft er- füllte Luft ſchien in ihm den künftigen Zerſtörer zu wittern und ſich ihm darum feindlich ſchwer auf die Lungen zu legen.

Dieſe Empfindung verließ ihn auch dann nicht, als er ſich in Emilys Stübchen, das ſie ihm die Nacht über abgetreten hatte, wiederfand. Es lag unmittelbar hinter dem Eßzimmer, war ſchlicht eingerichtet und enthielt nichts als ein ſchmales Bett, eine einfache Antleide- kommode und das übliche Moskitonetz rings um das Bett. Hinter einer Gardine aus buntem Zitzkattun hin- gen an der Wand einige Kleidungsſtücke und in fried- lichem Nebeneinander entdeckte er auf einem kleinen Wandgeſtell verſchiedene Bücher, einige Bände von Coopers Prärieerzählungen, daneben ein Lehrbuch der Algebra, ein populärer Wegweiſer durch die verſchie— denen philoſophiſchen Syſteme, die Weihnachtsnummer eines Frauenmagazins, eine kleine, abgegriffene Hand- bibel und eine nach Veilchen duftende Broſchüre über die „Kunſt, ſchön zu ſein“.

In dem kleinen Raume war es heiß und dumpf. Eine geraume Weile lag Gordon Harland wach und mit offenen Sinnen lauſchte er auf die Nachtgeräuſche, das dumpfe Brüllen der Rinder, das e Fluß-

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gemurmel, den gelegentlichen Schrei eines Coyoten das alles ſchien ſeinen Ohren, die an das auch bei Nacht nicht abebbende geräuſchvolle Großſtadtgetriebe ge- wöhnt waren, ebenſo ungewohnt wie unirdiſch geheim nisvoll. Es waren Klänge aus einer anderen Welt, von deren Exiſtenz er bisher keine Ahnung gehabt hatte, und die ihn nun bereits in ihren Bann zu ziehen ver- ſuchte.

Schließlich litt es ihn nicht länger im engen Raum. Leiſe erhob er ſich, und unhörbar öffnete er die ins Eßzimmer führende Tür. An deſſen ihm entgegen- geſetzter Schmalwand war ein Fenſter eingelaſſen, es ſtand offen, und hell wie Mondlicht funkelten die Sterne ins Zimmer herein. Sie beleuchteten ein unter dem Fenſter befindliches altes Sofa und Emilys Angeſicht. Sie lag vollſtändig angekleidet mit im Schlafe halb- geöffneten Lippen, die Hände über der Bruſt zufammen- gelegt, und ſchlummerte friedlich.

Behutſam zog ſich Harland wieder nach dem ihm zugewieſenen Raum zurück. Nun er ſich wieder nieder- legte, überkam ihn bald darauf der Schlaf. Erſt das Brüllen der Rinderherden weckte ihn wieder. Als er ſich im Bett aufrichtete, ſchien ihm die helle Sonne ins Geſicht.

Im Eßzimmer befand ſich niemand, der Frühftüds- tiſch war ſchon abgeräumt, nur für ihn ſelbſt lag noch ein Gedeck auf Schinken und Rauchfleiſch, ein halbes kaltes Huhn, daneben Kaffee, Wilch, goldgelbe Butter und Honig, ſelbſt ein Strauß friſchgepflückter Blumen fehlte nicht.

Suchend trat Harland auf die Veranda. Die näm- liche gelbe Staubwolke, die er am Vortag vom Gipfel der Lavafelſen aus erſpäht gehabt, gewahrte er wieder, mindeſtens eine Meile talaufwärts. Obwohl es Sonn-

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tag war, tummelten ſich dort die Reiter, um dem Reit der noch nicht gezeichneten Jährlinge mit glühenden Brandeiſen und Meſſern die Ranchmarke aufzudrücken.

Aber den Hof kam Emily auf die Veranda zu— geſchritten. Sie begrüßte Gordon ſchon von weitem mit kameradſchaftlichem Handwinken. Im linken Arm trug ſie ein rundes Körbchen, gefüllt mit vermutlich eben zuſammengeſuchten friſchgelegten Eiern. Wie ſie durch den Sonnenſchein näherkam, vermeinte Gordon noch nie zuvor ein ſolch anmutiges Geſchöpf erblickt zu haben. Raſſig, kerngeſund, kindlich naiv und wiederum ihren Jahren und ihrer Umgebung weit voraus, ihre taufriſche Schönheit noch gehoben durch das fürſorglich Mütterliche in ihrem ganzen Weſen.

Als er ſie auf ſich zukommen ſah, glaubte Harland in die Vergangenheit zu ſchauen und ſtatt ihrer die Mutter, damals nicht minder jung und ſchön, dem verheißenen Lande an ihres Mannes Seite entgegen- wandern zu ſehen.

Und da war es, als verſchleierte ſich ſein Blick, als ſchiene das Tagesgeſtirn nicht mehr ſo hell, als noch eben zuvor. Sein Blick wanderte zu dem ſteingetürmten Grabe der Mutter. Sie hatte ſich im Verein mit ihrem Manne eine eigene kleine Welt geſchaffen, aber die große Welt war hinter ihnen hergezogen, und ſie ſollte nun dort, wo ſie gelebt und ſegensreich gewirkt, nicht mehr ſchlafen dürfen eines Tages würden braufende Waſſer in dieſem Talfrieden hochſteigen und alles darin Befindliche fortwaſchen, auch das Grab dort. Da gab es kein Entrinnen. Sein moderner Standpunkt ließ ihn aber kein Unrecht darin erkennen. Der einzelne muß fein Intereſſe der Allgemeinheit unterordnen, das iſt der Lauf der Dinge. Aber ſein ſeltſam beunruhigtes Herz weisſagte ihm, daß dieſe ſteilen Felshänge, die

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heute eine im Sonnenſchein prangende liebliche Idylle umſpannten, auch Zeugen einer Tragödie ſein würden.

Gleich nach eingenommenem Frühſtück brach der junge Ingenieur auf, und Emily gab ihm bis zum Außen- gatter das Geleit. Dann, als er ſich in den Sattel geſchwungen hatte und ihr die Hand nochmals reichte, ging ein neckiſches Lächeln durch ſeine ſonſt ernſten Züge.

„Well,“ meinte er keck, „ich wünſchte wohl, Sie würden mir geſtatten, hier zuweilen Einkehr halten zu dürfen.“

Sie nickte freundlich. „Aber gewiß, wie Vater ſchon ſagte. Jeder muß ſeine Pflicht tun, Sie arbeiten gegen uns, aber darum können wir doch Freunde ſein. Vielleicht,“ ſetzte ſie ſtockend hinzu, „hat Sie der Himmel zu uns geſchickt. Vater ſchien geſtern abend Gefallen an Ihrer Geſellſchaft zu finden. Ah, wenn man ihm's nur klar machen könnte, daß niemand gegen die Über- macht ankämpfen kann. Aber ich fürchte, ich fürchte —“

Sie ſprach nicht weiter, ſondern winkte zum Ab- ſchied, wendete ſich und ſchritt zurück. Erſt in einiger Entfernung ſchaute ſie ſich wieder nach ihm um. Als ſie ihn noch am gleichen Flecke halten ſah, wehte ſie mit dem CTaſchentuche.

„Vater wird ſich freuen, wenn Sie wiederkommen,“ rief ſie. „Alſo auf Wiederſehen!“

„Auf baldiges Wiederſehen!“ gab er zurück. Sein Geſicht ſtrahlte vor Vergnügen.

Schon näherte ſich Gordon auf ſeinem Heimritte der zu den Talſperrbauten führenden breiten Landſtraße, als er vom Arbeiterlager her einen Reiter auf ſich zu- kommen ſah, in dem er bald darauf den jungen Dugan erkannte. Wie ſich alsbald herausſtellte, war Bill, wie allſonntäglich, zum Empfang der während der Woche eingelaufenen Poſt heruntergeritten.

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Schon aus einiger Entfernung winkte der Randher- ſohn ſeinem neuen Bekannten mit einem Briefe in der hochgeſtreckten Rechten zu.

„Botſchaft von Vaters Anwalt! Wer weiß, vielleicht iſt eure Geſellſchaft zu Kreuze gekrochen,“ ſagte er lachend, als er neben Gordon ſeinen Gaul verſchnaufen ließ.

Mit wehmütigem Lächeln wehrte der Ingenieur ab. „Die Entſcheidung über Ihren ſtillen Talwinkel iſt längſt gefallen und unwiderruflich. Dahin kommt unſer Hauptwaſſerreſervoir. So leid mir's auch tut, Ihres Vaters Lebenswerk zerſtören zu müſſen, ſo können und dürfen derartige ſentimentalen Anwandlungen doch nicht das Zuſtandekommen einer ſo wichtigen Kulturarbeit aufhalten.“

„Dann iſt's alſo unwiderruflich entſchieden, daß wir unſer Ränzel ſchnüren und uns trollen müſſen?“ fragte Bill mit verfinſterten Mienen.

„Daran läßt ſich nichts mehr ändern,“ betonte Har- land und legte dem anderen freundſchaftlich die Hand auf den Arm. „Wenn Sie's wirklich gut mit Ihrem Vater meinen, fo reden Sie ihm zu, ſich in das unver- meidlich Gewordene zu fügen, zumal ihm ja auch gar nichts anderes zu tun übrig bleibt.“

Bill ſchob die Schultern hoch. „Ich wüßt' keinen Menſchen, der Vaters Sinn ändern könnte,“ meinte er dann niedergeſchlagen. „Die Mutter hätt's vielleicht fertig gebracht, aber die iſt lang ſchon tot und muß Vater die Ranch hergeben, ſo iſt's auch ſein Tod. Es iſt hart für ihn wie für uns Geſchwiſter. Doch nichts für ungut,“ brach er ab, „aber ich denk' darüber genau ſo wie der Vater auch. Nur daß ich jünger bin und es einſeh', daß in dieſer Welt nun einmal Gewalt vor Recht geht. Aber damit bleibt euer Waſſerwerk doch immer ein Verbrechen an uns Dugans.“

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Nach flüchtigem Handdrucke galoppierte er davon, und bald hielt er vor der Ranch.

Mit einem Seufzer der Erleichterung trat er in die Küche, wo er ſeine Schweſter emſig beſchäftigt fand. Er ſetzte ſich, nahm den breitrandigen Filzhut vom Kopf und wiſchte ſich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. „Hab' Vater mit den Boys ganz oben erſpäht. Begreif' nicht, daß er's plötzlich ſo eilig hat. Früher gönnte er doch Menſch und Tier wenigſtens am Sonntag die wohlverdiente Ruh'.“

Seine Schweſter antwortete nichts darauf. Eine Weile hantierte fie am Herde, dann fragte fie: „Trafſt du unterwegs Mr. Harland?“

„Den neuen Ingenieur?“ fragte ihr Bruder un- intereſſiert zurück. „Ja, wir ſprachen ein paar Worte mit' nander. Scheint ſo weit 'n ganz netter Kerl zu fein. Haft du dich geſtern abend noch mit ihm unter- halten eh?“

Ihm entging das flüchtige Erröten Emilys, die ſich eifriger als zuvor am Bratofen zu ſchaffen machte.

„Er muß Vater gefallen haben, denn ſie plauderten eine lange Weile miteinander,“ äußerte ſie dann, ohne von ihrer Beſchäftigung aufzublicken.

„Um ſo beſſer.“ Bill zuckte die Schultern. „Aber kurz oder lang muß ſich Vater doch mit der neuen Ordnung der Dinge abfinden, das hilft nun nichts. Ich hab' übrigens einen Brief für Vater mitgebracht. Von ſeinem Anwalt. Wollt' der Himmel, er hätt' den Wiſch ſchon geleſen, denn trifft ein ſolcher bei uns ein, gibt's immer acht Tage Regenwetter.“

„Vielleicht meldet der Anwalt Günſtiges,“ wendete Emily zagend ein.

„Nicht daran zu denken. Der neue Ingenieur hat mir's auch dürr herausgeſagt, daß unſere Tage hier

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oben gezählt ſeien. Wir müſſen den Vater 'rumkriegen, Emily; was ſoll ſonſt werden?“

Er hatte inzwiſchen den von ihm mitgebrachten Brief aus der Taſche gezogen und reichte ihn nun der Schweſter.

„Am beſten gibſt du ihm den Brief, von dir nimmt er's noch am leichteſten.“ Dann ſeufzte er auf. „Lebte nur die Mutter noch!“ ſagte er niedergeſchlagen. „Sie hätt' den Vater ſicher 'rumgekriegt!“

„Vielleicht hilft ſie uns auch jetzt noch,“ ſagte da Emily ordentlich feierlich und faßte ihn bei der Hand. „Gerad' wie Vater werde auch ich das Gefühl nicht los, als weilte Mutter immer noch in unſerer Mitte und wir könnten ſie nur nicht ſehen.“

Eine Weile blieb es ſtill, dann hörten ſie draußen Pferdegetrappel. Hurtig wendete Bill ſich der Wohn- ſtubentür zu.

„Du, ich mach' mich unſichtbar, bis Vater den Wiſch geleſen hat,“ ſagte er. „Gib du ihm den Brief, ich dien’ nicht gerne als Blitzableiter.“

Draußen klangen ſchon die ſporenklirrenden Schritte des alten Ranchers.

Kaum war Bill hinter der Tür zum Eßzimmer ver— ſchwunden, trat ſein Vater auch ſchon in die Küche. Fragend irrten feine Blicke durch den Raum.

„War's Bill, der vorhin gekommen iſt?“ erkundigte er ſich. „Ich ſah jemanden den Berg herunterreiten.“

„Ja, Bill kam vor einer Viertelſtunde,“ berichtete das Mädchen, indem es dem Vater ein Gefäß zum Waſchen bereitſtellte. „Iſt hier kühler, als vorn auf der Veranda, wo die Sonne niederbrennt hier iſt auch 'n Handtuch, Vater.“

Der Rancher war ſchon dabei, das Hemd zu öffnen und Kopf und Nacken in dem erfriſchenden Naß zu

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baden. „Wo ſteckt Bill denn?“ erkundigte er ſich dann, als er mit dem derben Handtuch Geſicht und Hals bearbeitete. „War was auf der Poſt?“

„Ja, Bill hat auch einen Brief für dich mitgebracht,“ ſagte das Mädchen.

Tom Dugan ballte das Handtuch zu einem Knäuel zuſammen und warf es achtlos in die Ecke. „Laß ſchauen,“ meinte er und griff begierig nach dem Brief, den er weit von den Augen entfernt hielt. „Von dem Rechts- verdreher!“ brummte er, nachdem er die Adreſſe ent- ziffert hatte, mehr zu ſich ſelbſt gewendet.

Ohne weiter auf die Tochter zu achten, trat er vor die Tür in den Sonnenſchein, öffnete dort den Brief und las ſeinen kurzen Inhalt bedächtig durch. Wie er dann wieder in die Küche zurückkam, waren ſeine Züge abſchreckend finſter geworden, und die Brauen hatten ſich drohend zuſammengezogen.

„Keine guten Nachrichten, Vater?“ ſtammelte Emily.

„Sie ſtecken alle unter einer Dede,“ rief der alte Mann, ohne auf ihre Frage Beſcheid zu geben. „Da knöpft mir dieſer Rechtsverdreher erſt Hunderte von Dollar ab, um zum Gouverneur zu fahren und ihm meine Not vorſtellen zu können, und nun hat er die Stirn, mir rundweg zu ſchreiben, daß gegen das Geſetz nichts auszurichten wäre und ich mich ins Unvermeid- liche ſchicken müßte. Rät mir zu einem Vergleich, der Tropf!“ Er lachte grimmig auf, ballte den Brief zu- ſammen und warf ihn ins Herdfeuer. „Das Geſchreibſel hätt' er ſich ebenſo ſparen können, wie ich mein Geld oder die Herren ſich das Hierherkommen. Nächſter Tage kommt nämlich eine Kommiſſion, um die Ent- ſchädigung feſtzuſetzen, jo ſchreibt der Anwalt wenig- ſtens. Sorg dafür, Emily, daß wir den Herren etwas vorzuſetzen haben, es ſoll keiner ſagen dürfen, daß er

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die Dugan-Ranch unbewirtet verlaſſen mußte, ganz einerlei, was ihn zum Hierherkommen veranlaßt hat.“

Sie war auf ihn zugetreten. „Vielleicht machen dir die Herren einen ſo guten Vorſchlag, daß du ihn annehmen kannſt, Dad ach, dann wären wir mit einem Schlage alle Sorgen los!“

Doch erſchrocken hielt ſie wieder inne, als ſie ſeinen Blick mit dräuendem Funkeln auf ſich gerichtet fühlte.

Der alte Mann lachte mißklingend auf. „Viſt doch ſonſt 'n kluges Mädel, Emily, warum redeſt du jetzt ſolchen Unſinn?“ verwies er fie barſch. „Wenn mir die Bahngeſellſchaft meinen geſamten Grund und Boden mit funkelnden Goldſtücken belegen wollte, eines dicht neben dem anderen, ſo würd' ich ihr keinen Zollbreit davon abgeben. Es iſt mein Land, und es bleibt's auch, ſolang' ich noch einen Atemzug tun kann ſtill, darüber brauchen wir uns nicht mehr zu unterhalten,“ lenkte er in freundlich klingendem Tone ein, als er helle Tränen in ihren Augen erblickte. „Oas iſt ein für allemal erledigt. Laß nur erſt wieder die Chinook- winde blaſen, dann wollen wir ſehen, wer ſein Bündel zu ſchnüren hat ſie oder ich!“

Mit nachdrücklichem Nicken ſchritt er an der Tochter vorüber ins Wohnzimmer, wo er ſeinen Sohn vorfand. Bill ſchaute zum Fenſter hinaus und war anſcheinend in eine angelegentliche Betrachtung des jungen Pflan- zenwuchſes draußen im Gemüſegarten vertieft.

„War en nichtsnutziger Brief, den du mitgebracht haſt, Bill,“ knurrte der Alte, indem er ſich vor ſeinem Tiſchplatz niederließ, beide Arme aufſtützte und das Kinn auf die zuſammengefalteten Hände legte.

„Tut mir leid, Vater,“ gab der Sohn zurück und ließ ſich gleichfalls am Tiſche nieder. „Was hat der Anwalt eigentlich geſchrieben?“

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„Man will nun Ernſt machen und eine Kommiſſion heraufſchicken, die ſoll die Ranch abſchätzen und mir dann den Stuhl vor die Tür ſetzen.“ Dugan lachte grimmig auf. „Die Herren ſollen ſich verrechnet haben!“

Bill antwortete nicht gleich, ſondern ſchaute ſeiner Schweſter zu, die nun die dampfende Suppenſchüſſel, Braten und Kartoffelgemüſe auftrug.

„Glaub's nicht, daß ſie ſich verrechnet haben,“ meinte

er dann gedrückt. „Sie ſtellen immer mehr Arbeiter ein.“ „„ dieſe Maulwürfe!“ Der Rancher lachte gering- ſchätzig.

In raſcher Aufeinanderfolge kamen die Cowboys, als erſter Onkel Joe, ins Zimmer und ließen ſich nach geräuſchvollem Zurechtrücken der Schemel und lang- anhaltendem Fußgeſcharr an ihren Plätzen nieder, um ſich alsdann mit wahrer Wolfsgier an das Auslöffeln der lecker duftenden Brühe zu machen.

Emily eilte ab und zu und ſchenkte den Schmaufen- den nach Bedarf Apfelwein ſtatt des an Wochentagen üblichen Waſſers in die bauchigen Gläſer. Sonſt hörte man nur Schmatzen und ſah allenthalben geſchäftig kauende Kinnbacken. Erſt als der Rancher mit dem Austeilen des Bratens begann, unterbrach Bill das feierliche Stillſchweigen.

„Ich hab' heut früh einen Umweg hinauf nach den Dammbauten gemacht, Vater,“ äußerte er zögernd. „Du müßteſt auch einmal hinaufreiten und dich um- ſehen. Das iſt keine Maulwurfsarbeit mehr, Vater, ſondern was ſie dort zuſammengebaut haben, ſcheint für die Ewigkeit errichtet zu ſein. Ich ſah hunderte in die Lavafelſen geſprengte Kanäle, ein ganzes Neb- werk, das ſich durch Meilen hinzieht und die Bergwände an die zweitaufend Fuß bis hinunter zur Talſperre bedeckt. Ich hab' mir auch erklären laſſen, wie all dieſe

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Kanäle miteinander verbunden ſind. Es bedarf nur eines Hebelrucks, dann ſchließen ſich die Schleuſen und ebenſo leicht können ſie geöffnet werden. Es iſt ein Wunderwerk, Vater, und kein Chinookwind kann Schnee genug ſchmelzen, um all dieſe Abzugskanäle zum Über- laufen zu bringen. Aber uns nehmen ſie, ſobald die Stauwerke betrieben werden, den letzten Tropfen Waſſer fort. Das währt, ſobald ſie Ernſt machen, keinen Tag, dann haben wir hier im Tal nicht länger mehr einen Fluß und ebenſowenig mehr Weiden oder Trank- ſtätten das ganze Gebirge wird zur waſſerloſen Wüſtenei, damit ſie um ſo mehr davon fürs Tal zur Verfügung haben.“

Der Rancher antwortete nur mit einem gering- ſchätzigen Achſelzucken.

„Sie machen uns trocken, ſag' ich dir,“ fuhr Bill fort, „das iſt noch der günſtigſte Fall. Aber unten im Lager ſprechen ſie von nichts anderem, als daß die Dammbauten um volle zehn Fuß höher gebaut und die Sammelwaſſer ſogar auch in unſer Tal geleitet werden ſollen. Kommt's dazu, fo erſäufen fie uns wie Ratten.“

Tom Ougan lachte verächtlich. „Laß ſie's verſuchen es gibt noch Recht auf Erden! Hilft ſelbſt der Gouverneur dazu, daß mein heiliges Recht gebeugt wird, ſo gibt es noch Richter in Waſhington.“ Er ſchlug mit der flachen Hand hart auf die Tiſchplatte. „In alle Welt will ich's hinausſchreien, welch himmel- ſchreiendes Unrecht fie mir antun wollen! Ich war nicht umſonſt einmal Schriftſetzer, ich kenne die Macht der öffentlichen Meinung und wir leben in einem freien Land, wo keiner, auch der niedrigſte und ärmſte nicht, bedrückt oder gar ruiniert werden darf!“

Er hatte ſich immer wärmer geſprochen, und als

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er Joe vergnüglich vor ſich hinlächeln ſah, unterbrach er ſich ſtirnrunzelnd.

„Könnteſt auch was Geſcheiteres tun, du alter Hans- narr, als ſo blödſinnig grinſen!“ zürnte er. „Aber du haft nichts im Kopf wie deine Schnurren!“ Un- gehalten legte er ihm einige Rieſenſchnitte Braten auf den Teller. „Stopf dir lieber den Mund!“

Jedoch der alte Cowboy lachte noch immer. „Wenn ich hier Boß wäre,“ ſagte er dann, „ſo ließ ich mich auszahlen, denn wenn ich auch mein Lebtag für Waſſer nicht viel Verwendung gehabt hab', ſo muß doch das Rindvieh Waſſer zum Saufen haben. Warum? Eben weil's Vieh iſt. Uns Menſchen aber hat der Himmel nicht nur was Stärkeres, ſondern auch Verſtand ge- geben. Warum? Damit wir 'n brauchen follen und was ich von Grüße im Schädel hab', mag nicht der Red’ wert fein, aber es ſagt mir, daß man mit dem Kopf nicht durch die Wand rennen und Vieh nicht auf waſſerloſer Wüſte halten kann.“

Einen Augenblick duckte ſich Joe, denn der Rancher, deſſen Züge immer düſterer geworden waren, hatte den vor ihm liegenden großen Brotlaib mit einer Be- wegung, als wollte er ihn als Wurfgeſchoß benützen, ergriffen. Doch ließ er den Laib wieder ſinken, erhob ſich und ging, ohne ein Wort zu ſagen oder jemand dabei anzuſehen, in eee Haltung aus dem Zimmer.

Wie er aus dem Hauſe trat, da eilte er mit immer ſchnelleren Schritten durch den glühenden Sonnenbrand nach jenem vertrauten Winkel, wo ſeine Lebensgefährtin unter den Steinen ſchlief.

Dort ſetzte er ſich auf die Bank und verharrte eine lange Weile regungslos. Nur in feinen Zügen arbeitete es gewaltig. Dann prägte ſich in ihnen hilfloſe Ver-

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zweiflung aus, und er faltete die ſchwieligen Hände über den Grabſteinen.

„Mutter, ſo hilf mir doch, denn ich weiß nimmer aus noch ein!“ kam es gebrochen von ſeinen Lippen. „Selbſt die Kinder ſind im Herzen gegen mich und was ſoll ich gegen die Gewalt ausrichten? Aber ich kann nicht von der Scholle weichen, denn das wär’ ſchlimmer, als nie gelebt zu haben, Mutter! Aber wie ſoll ich unſer heiliges Recht behaupten, wenn du mir nicht hilfft, Mutter?“

Aber der verzweifelte Mann vernahm nur ſeine eigenen rauhen, halb gebrochenen Laute.

3.

Als Tom Dugan eines Nachmittags mit ſorgen- voller Miene am Wohnzimmerfenſter ſtand, hörte er draußen Hufſchlag und ſah gleich darauf eine kleine Reitergruppe herangeſprengt kommen. Hurtig trat er durch die Verbindungstür in die Küche und wendete ſich an ſeine dort beſchäftigte Tochter.

„Es find die Gerichtsherren, Em'ly,“ ſagte er gleich- gültig. „Oer neue Ingenieur iſt auch dabei. Die Leute werden hungrig ſein, ſchau zu, daß du was Ordentliches vorſetzen kannſt.“

Ohne auf ihre Antwort zu warten, durchſchritt er wieder das Wohnzimmer und begab ſich zum Empfang ſeiner Beſucher auf den Hof hinaus. Dort kam er gerade zurecht, als die vier Kommiſſions mitglieder von ihren Pferden ſtiegen. Bis auf Gordon Harland handelte es ſich um lauter ihm unbekannte Geſichter, Beamte vom Bundesdienſt, die ihr Abſchätzerberuf durch alle Staaten der Union führte.

Die gegenſeitige Begrüßung fiel ganz freundfchaft- lich aus. Der Rancher reichte in ſeiner ſchlichten Art

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ſeinen Beſuchern der Reihe nach die Hand und äußerte einige Worte des Willkomms, die der Obmann der Kommiſſion, ein korpulenter Fünfziger, obwohl er mit dem Schweißabtrocknen nicht fertig werden konnte, in jovialer Weiſe erwiderte.

„Well, unter uns gejagt, in dieſem Lavaloch be- kommt man 'nen gelinden Vorgeſchmack von den uns im Senfeits erwartenden Freuden,“ meinte er unter geräuſchvollem Lachen. „Wirklich, Mann, hier oben iſt's unvernünftig heiß, auf dem Ritt hierher bin ich ſchier geſchmolzen! Recht ſo,“ unterbrach er ſich, als Joe die Pferde in den Hausſtall zu führen Miene machte, „reibt ſie tüchtig ab, aber gebt ihnen nicht zu ſaufen, ehe ſie nicht völlig abgekühlt ſind.“

Joe lachte verſchmitzt, der Rancher aber ſchob die Schultern hoch und ſchaute plötzlich wieder ernſthaft darein.

„Angſtigt Euch nicht nutzlos, Herr,“ ſagte er. „Was

Eure Gäule hier oben bei uns zu ſaufen bekommen werden, läßt ſich mit Fingerhüten ausmeſſen. Ihr habt dafür geſorgt, daß Waſſer bei uns koſtbar iſt.“

„O weh!“ Der Dicke puſtete. „Da hätten wir uns vorſehen müſſen! Donnerwetter, ſprechen Sie im Ernſt, Mann? Ich hab' 'nen Durft wie 'n Heu- pferd, und wenn ich auch ſonſt nicht gerade für Waſſer ſchwärme —?

„Für die Herren iſt geſorgt,“ beſchwichtigte Dugan ſeine Bedenken. „In meinem Felſenkeller hält ſich der Apfelwein eiskalt, und der mundet beſſer als Waſſer,“ ſetzte er mit einem Verſuch zum Scherzen hinzu. „Ihr ſollt nicht durſten müſſen. Aber um die Kreatur iſt's ſchlimm beſtellt.“ Vorwurfsvoll ſuchte ſein Blick Gordon. „Solange ich hier oben hauſe, verſiegte der Strom zum erſten Male völlig in dieſem Sommer. Und nicht nur

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hier im Tal, ſondern auch droben in den Bergen, wo es früher immer Waſſer im Überfluß gab, ſickern die Quellen nur noch ſpärlich ich hab' kurzerhand den größten Teil meines Viehbeſtandes losſchlagen müſſen, wollt' ich die Kühe nicht elend umkommen laſſen. Ja, ja, ihr Herren, ſtatt vierzehn Cowboys, wie noch vor wenigen Wochen, beſchäftige ich ihrer nur noch drei und dieſe haben kaum zu tun. Sagt ſelbſt, was hat Euch die arme Kreatur getan?“

„Sie brauchte wahrlich nicht zu leiden, wenn Ihr Euch ins Unvermeidliche ſchicken wolltet,“ äußerte nun Gordon, indem er den Rancher überredend beim Arme faßte. „Ihr ſolltet einlenken, ſo lange es noch Zeit für Euch iſt, Eure eigenen Bedingungen zu machen. Schon um Eurer Kinder willen ſolltet Ihr die Euch zu freundſchaftlicher Verſtändigung gebotene Hand nicht zurückweiſen. Der eigene Verſtand ſollte Euch doch ſagen müſſen, daß man mit dem Kopf nicht durch die Wand rennen kann. Mögt Ihr nun wollen oder nicht, ſo müßt Ihr Euch den unabwendbaren Tatſachen 8 fügen lernen.“

„Wollen's abwarten,“ entgegnete der Rancher db weiſend. „Alle fünf oder ſechs Jahre blaſen die Chinoof- winde. Im nächſten Frühjahr ſind ſie ungefähr wieder fällig. Haben fie geblaſen, wollen wir weiter mit' nander ſprechen.“

Dann wurden ſeine Mienen wieder jovial, und er wendete ſich an die peinlich berührt ſtehenden Kom- miſſionsmitglieder.

„Nichts für ungut, ihr Herren. Vor allen Dingen werden Sie hungrig und durſtig ſein und was euch auch ſonſt zu mir geführt haben mag, darum iſt mein Tiſch doch für euch gedeckt. Wenn's alſo ge⸗ fällig iſt?“ | >

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Einladend wies er mit der Hand nach dem Haus und ſchritt als erſter dorthin voran.

Umſonſt hatte Gordon ſich bisher nach Emily um- geſchaut. All die langen Wochen über hatte er faſt täglich einen Ausflugsritt nach der Ranch geplant ge- habt, doch die Fülle der von ihm zu bewältigenden Berufs arbeiten hatte ihn nicht dazu kommen laſſen. Nun war er doppelt ungeduldig, das liebliche Mädchen, das auf ihn bei ihrer erſten Begegnung einen ſo tiefen Eindruck gemacht gehabt, wiederſehen zu dürfen. Da er ſich des rückwärtigen Eingangs durch die Küche er- innerte, ſo ſchloß er ſich den die vordere Veranda Paſſierenden nicht an, ſondern umſchritt das Haus.

Wie die in reger Tätigkeit am Herd Beſchäftigte ihn unvermutet im Rahmen der rückwärtigen Küchen- tür auftauchen ſah, erglühte fie dunkel. Einen Augen- blick ſäumte fie in hilfloſer Verlegenheit. Dann wiſchte ſie hurtig die Hand an der Schürze ab und trat mit ſchnell wiedergewonnener Faſſung und einem freund- lichen Lächeln um die Lippen auf ihn zu.

„Willkommen bei uns,“ ſagte ſie einfach.

Sie kam nicht dazu, mehr zu äußern. Kaum daß ſie ihm die Hand eine Sekunde überlaſſen konnte. Ihr Vater hatte die Verbindungstür zum Wohnzimmer halb geöffnet und nickte ihr nun auffordernd zu.

„Spute dich, Em'ly, die Herren ſind hungrig. Ich will inzwiſchen Zider aus dem Keller holen und dann den Tiſch decken.“

„Kann das nicht Bill beſorgen oder iſt er mit Joe nicht nach Hauſe gekommen?“ fragte das Mädchen zurück.

„Nein, er hat noch oben in den Bergen zu tun und kommt ſchwerlich vor Abend heim. In fünfzehn Meilen Entfernung fanden wir die erſte Waſſerlache.

D Novelle von Otto Hoeder. 129

Wollt Ihr nicht eintreten, Herr?“ wendete er ſich fragend an den Ingenieur.

„Ich wollte Miß Emily raſch guten Tag ſagen,“ erklärte Gordon. „Aber darf ich Euch behilflich ſein? Aufs Abzapfen verſteh' ich mich, denn mein alter Herr wußte einen guten Tropfen zu ſchätzen, ſo mäßig es auch bei uns zuging und Tiſch decken kann ich nicht minder.“

„Werd' ſchon allein fertig, Herr,“ beſchied ihn ab- lehnend der Rancher. „Vielleicht aber kann Euch Em'ly brauchen. Laßt Euch von ihr eine Schürze umbinden.“ Er lachte kurz auf. „Ich decke nur für ſechs, die fünf Beſucher und mich. Joe kann hier draußen eſſen, man iſt ohnehin vor ſeinem Schwatzmaul nie ſicher,“ ſagte er noch beim Verlaſſen der Küche.

„Darf ich Ihnen wirklich helfen?“ erkundigte ſich Gordon, kaum daß die Schritte des Alten verhallt waren. „Ob ich's auch kann? Oho, Fräulein Emily, unter- ſchätzen Sie meine Künſte nicht. Als Student war ich meiner Beefſteaks wegen berühmt Sie wiſſen ja, erſt muß die Butter braun werden, dann mit ihr immer übergießen und 'ne Handvoll Zwiebeln in die Pfanne, wenn man die Fleiſchſchnitte umdreht, dann werden ſie ſchön ſaftig und goldbraun.“

Nun mußte ſie doch lachen, ſie war gerade dabei, gevierteilte Hühner am Spieße zu braten, und duldete es gern, daß Harland ſie ablöſte.

„Wahrhaftig, Sie ſtellen ſich ganz geſchickt an!“ erkannte ſie an, nun eifrig mit Salatanmachen beſchäftigt. „Die Herren müſſen heute ſchon fürlieb nehmen, da ſie unangemeldet gekommen ſind.“

„Die Kommiſſion wurde aufgehalten,“ erläuterte der Ingenieur, der mit wirklicher Sachkenntnis den Bratſpieß über den lohenden Holzſcheiten drehte. „Ich

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ſelbſt wäre ſchon ein dutzendmal gerne heraufgekommen. Aber Sie glauben gar nicht, was unſereiner alles zu tun hat übrigens, mach' ich's auch recht?“ unterbrach er ſich, „die Dinger fangen an, etwas ſehr dunkel zu werden!“

Sie ſtieß einen leichten Schrei aus, denn ſie kam gerade noch zur rechten Zeit, um die Hühner vor dem Verbrennen zu bewahren.

Natürlich wollte es Emily nicht zugeben, daß Gordon ihr auch beim Auftragen der Speiſen half, aber er hatte ſchon die Schüſſel mit den Hühnern darauf ergriffen und trug fie lachend ins Eßzimmer zu den dort harren- den Kommiſſionsmitgliedern, die ihn mit lautem Hallo empfingen.

Die Mahlzeit verging unter angeregtem Geplauder. Der ſtarke Zider übte eine belebende Wirkung aus. Bald merkte man es auch dem alten Rancher, der zuſehends auftaute, nicht mehr an, daß in ihm das niederdrückende Bewußtſein lebte, wie die um ſeinen gaſtlich gedeckten Tiſch verſammelten Männer das Verdammungsurteil über ſein Lebenswerk zu ſprechen berufen waren. Er plauderte von dem und jenem und gab auf die ein- geſtreuten Fragen ſeiner Gäſte willig Beſcheid.

Der Obmann probte bei jedem neuen Glaſe den ihm vorgeſetzten Zider, roch daran, ſchmeckte und ſchüttelte mit wachſendem Mißtrauen den Kopf. „Das Weinchen hat's in ſich,“ meinte er anerkennend. „Wüßte ich nicht, daß Ihr uns Apfelwein vorgeſetzt habt, ſo würde ich von den erhitzten Köpfen meiner Kollegen ſchließen, daß wir den ſtärkſten Rheinwein tränken.“

Tom Dugan lachte und nötigte wieder zum Aus- trinken. „Well, Herr,“ ſagte er nedend, „vergeßt fein den eigenen Kopf nicht, denn der glüht auch wie ſanftes Abendrot.“

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Nun lachte natürlich die Tafelrunde beluſtigt auf Koſten des Obmanns.

Der Rancher aber ſchwenkte den Reſt in ſeinem Glaſe. „Es iſt wirklich ein trinkbarer Tropfen,“ fuhr er bedächtig fort, „jetzt bald dreijährig und durchs Lagern edel geworden übrigens Euer Vergleich mit Rhein- wein hinkt nicht, nur daß der Zider hier wohl noch ſtärker iſt. Sonſt miſch' ich ihn mit Waſſer, aber das iſt unerſchwinglich geworden, ihr Herren wißt ja, warum,“ ſchloß er, in ſeinen gewohnten Ernſt zurück- fallend.

Aber feine Beſucher waren in viel zu angeregte Stimmung geraten, als daß ſie auf ſeine zunehmende Schweigſamkeit geachtet hätten. Die Ausgelaſſenheit wuchs noch, als Gordon von dem ſelbſtgezogenen Rauch- tabake zu ſprechen begann und in den Kommiſſions- mitgliedern den Wunſch nach einem Verſuche rege machte.

Dann freilich, als man die kurzen Pfeifen in Brand geſetzt hatte, prägte ſich in den verſchiedenen Mienen ſchmerzliches Erſtaunen aus und einer nach dem anderen ließ die Pfeife wieder ausgehen. Man holte ſchleunigſt Zigarren zum Erſatz hervor. Auch Tom Dugan, der nicht länger auf das Treiben ſeiner Gäſte achtete, zündete ſich rein mechaniſch die ihm gebotene Regalia an. Aber nur, um ſie nach wenigen Zügen mit einem leichten Erſchauern zur Seite zu legen und ſich die Pfeife mit ſeinem ſelbſtgezogenen Tabak zu füllen.

„Hoffentlich ſeid ihr Herren beſſer als euer nichts nutziges Kraut,“ meinte er, ohne Notiz von der Ver- blüffung, die ſeine Worte bei den Gäſten hervorrief, zu nehmen. „Das iſt der echte Stoff!“ ſtolz ſchlug er auf den Steintopf, deſſen Inhalt Gordon Harland ſchon bei feinem erſten Beſuche unüberwindliche Ab—

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neigung eingeflößt hatte „und zum Abſchiedstrunk ſollt ihr ein Glas von meinem ſelbſtgebrauten Vier vorgeſetzt bekommen mehr nicht, denn der Vorrat iſt bald erſchöpft und zum Brauen fehlt's an Waſſer.“

Nach Tiſche willigte der Rancher ein, die Kommiſſion auf ihrem Rundritte durch ſein Gebiet zu begleiten.

Von dieſem Umritt ſchloß ſich Gordon Harland aus; ihn reizte es mehr, inzwiſchen Emily Geſellſchaft zu leiſten. Das mußte freilich in der Küche geſchehen, wo ſie wieder eifrig tätig war.

Als Gordon fie Anſtalten zum Geſchirrwaſchen tref- fen ſah, wollte er ihr auch dieſe Arbeit durchaus ab- nehmen. Aber davon wollte ſie nichts wiſſen; nicht einmal beim Abtrocknen ſollte er ihr helfen dürfen.

„Aber wir Jungen mußten im Elternhauſe feſt mit anfaſſen,“ erklärte er. „Vater ging uns ſelbſt mit gutem Beiſpiel voran und meinte, wir könnten uns nicht früh genug auf unſere Pflichten als zukünftige Ehemänner vorbereiten. Wir trugen Kohlen, putzten Fenſter, klopf— ten die Teppiche, weil das keine Arbeiten für eine auf Selbſtachtung haltende Lady ſeien, wie unſer Dienſt— mädchen ſo ſchön zu ſagen pflegte.“

„Hier oben bei uns muß man umlernen,“ verſuchte Emily auf ſeinen ſcherzenden Ton einzugehen. „Man darf das Waſſer nur tropfenweiſe verbrauchen. Seit- dem unſer Ziehbrunnen täglich nur noch drei Eimer voll hergibt, wird das Geſchirrſpülen zur halben Wiſſen⸗ ſchaft.“

Das ſollte luſtig klingen, aber es zitterte viel geheime Wehmut durch ihre Worte.

Mitleidig ſah Harland fie an, wie fie nun mit auf- geſchürzten Armeln an der Spülbank ſtand und flink den vor ihr hochgehäuften Berg von Schüſſeln und Tellern zu reinigen begann. Manches liebe Wort, mit

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dem er fie gerne getröftet hätte, ſchwebte ihm auf der Zunge; aber er unterdrückte es. Sie hatte fo viel eigenen Sonnenſchein im Herzen und war ſo kerngeſund in ihren Anſichten und Meinungen, daß ſie keines fremden Troſtes bedurfte.

„Well, es geht alles vorüber und an geſegneten Gegenden mit Waſſerüberfluß iſt hier im Weſten kein Mangel,“ äußerte er leichthin. „Ihr Vater wird ſchon mit ſich reden laſſen. Schließlich iſt er doch ein einfichts- voller Mann, der begreifen muß, daß man auf die Dauer gegen die Übermacht nicht ankämpfen kann.“

Er glaubte ſelbſt nicht an das, was er ſagte, und ihr Seufzer bewies ihm, daß fie darin mit ihm über- einſtimmte. Geſchickt änderte er darum das verfäng— liche Geſpräch und kam auf die ungeheuerliche Hitze und die ſchweren Gewitter zu fprechen, die er wäh- rend feiner kurzen Anweſenheit ſchon hatte mitmachen müſſen.

„Wir New Yorker glauben, Hitze und Unwetter ganz für uns allein gepachtet zu haben; kommt man aber hierher nach dem Weſten, ſo ändert man ſeine Anſicht,“ meinte er, trotz ihrer Einwendungen eifrig dabei, Ge— ſchirr und Beſtecke abzutrocknen. „Das ſchickt ſich nicht für mich, meinen Sie? Well, ich tu’s gern am liebſten möcht' ich's immer für Sie tun, Miß Emily,“ platzte er heraus und errötete dann womöglich noch mehr als fie. „Wirklich,“ ſuchte er unſicher ein- zulenken, „es iſt eine Abwechſlung nach dem ewigen Einerlei. Man bekommt ja in der Lavawüſte keinen vernünftigen Menſchen zu ſehen. So, da wären wir ſchon fertig,“ unterbrach er ſich fröhlich, als die Schüſſeln und Teller, Gläſer und Beſtecke wieder auf den ver- ſchiedenen Simſen, Wandbrettern und in den Schränken untergebracht worden waren. „Womit beginnen wir

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nun? Etwa Kaffeekochen? Das verſteh' ich nämlich ebenfalls vortrefflich.“

„Tut mir leid, aber zum Kaffeekochen braucht man Waſſer.“ Sie lachte. „Sie glauben gar nicht, wie wir uns damit einſchränken müſſen! Ich ſchäme mich, wie die Fenſter ausſehen. Aber was ſoll man machen? Bei dieſer ſchrecklichen Trockenheit gehen die Regen- fäſſer aus den Fugen. Sind Sie müde und wollen Sie ruhen?“ fragte ſie unvermittelt.

„Erwarten Sie von mir dieſelbe Frage?“ erkundigte er ſich lachend. „Ich bin friſch und munter.“

„Dann begleiten Sie mich vielleicht auf einem kurzen Ritt? Darin beſteht nämlich mein tägliches Ver gnügen. Nach dem Abwaſchen hab' ich zwei Stunden für mich Vater dürfte mit den Herren ſchwerlich früher zurück ſein. Ich vermute, daß die Kommiſſion gleichzeitig auch die Kanalläufe oben in den Bergen zu beſichtigen wünſcht?“

„Erraten!“ ſtimmte Gordon bei. „Hoffentlich pro- fitiert Ihr Vater von dieſem Anſchauungsunterricht.“ Als ſie nur wehmütig den Kopf ſchüttelte, ſetzte er eifrig hinzu: „Nichts für ungut, aber ich verſtehe die Hart— näckigkeit Ihres Vaters wirklich nicht. Zugegeben, dieſer Fleck Erde hier mag ihm durch Erinnerung und An- gewöhnung teuer geworden ſein. Aber man wird ihm doch eine bedeutende Summe als Entſchädigung bieten, mehr als genügend, um ſich damit in ungleich wert- vollerer Bodenlage damit ankaufen zu können. Er müßte doch auch an die Zukunft ſeiner Kinder denken nehmen Sie mir's nicht übel, Fräulein Emily, aber ich werde die Vorſtellung nicht los, als nützte Sie Ihr Vater aus.“

„Nein o nein!“ verwahrte ſie ſich ganz entſetzt. „Wir haben unſeren Vater lieb, könnten uns ohne ihn

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gar nicht das Leben denken. Es war ſchon hart genug für uns, als wir die Mutter hergeben mußten. Nun ſind wir ihm doppelt notwendig!“

Sie hatten inzwiſchen das Haus verlaſſen.

Der alte Joe ſattelte auf Emilys Wunſch bereitwillig die beiden Pferde, und als ſeine Begleitung dankend zurückgewieſen worden war, ſchmunzelte er gar viel- ſagend hinter ihnen her, als fie nun im Zuckeltrab neben- einander das Tal hinaufſteuerten.

„Mag fein, wir Dugans hängen deshalb fo anein- ander, weil wir nie in Verkehr mit anderen Menſchen traten, ſondern immer allein auf uns angewieſen waren,“ nahm das Mädchen den Geſprächsfaden unter- wegs wieder auf. „Daraus entſtand mehr als bloße Familiengemeinſchaft. Wir ſind einander im Laufe der Zeit unentbehrlich geworden. Nun gar der Vater, der überhaupt nur auf der Herzensſeite geht.“

Harland ſchaute ſie zweifelnd an.

„Ja, das tut er,“ beteuerte ſie. „Seine Rauheit iſt nur äußerlich. Freilich, er gerät leicht in Zorn, aber ich meine, das iſt bei gutherzigen Menſchen zumeiſt der Fall. Mutters Heimgang hat ihn getroffen wie der Blitz die knorrige Eiche. Ihr Tod hinterließ in ſeinem Herzen eine klaffende Wunde, die ſich nimmer ſchließen kann. Dann kamen die Sorgen dazu.“

Ihre Stimme hatte immer unſicherer geklungen, nun ſchwieg ſie eine ganze Weile.

„Nein, wir bringen unſerem Vater kein Opfer,“ fuhr ſie dann leiſe und in erſichtlicher Befangenheit wieder fort, „es beglückt uns, um ihn ſein und ihm ſein hartes Los erleichtern zu dürfen. Aber wir können ja ſo wenig tun. Zu unſerem Untergang ſcheint ſich alles verſchworen zu haben aber nein, das ſollen Sie nicht ſo tragiſch auffaſſen, es entfuhr mir nur ſo,“

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rief ſie und wie abbittend ſtreckte ſie die Hand nach ihm aus. „Ich will Ihnen jetzt mein Lieblings- plätzchen zeigen. Es kennen's nicht viele, wir müſſen auch ein gut Teil klettern. Aber daran ſind Sie bei den New Vorker Wolkenkratzern ja ſicherlich gewöhnt,“ ſchloß ſie ſcherzend.

| Gern ging er auf ihren Ton ein. „Mit der größten Leichtigkeit und fabelhaft ſchnell erklimme ich die höchſten Gebäude natürlich im Fahrſtuhl. Ich befürchte nur, daß ein ſolcher ſchwerlich zu Ihrem Lieblingsplätzchen hinaufführen dürfte.“

„Um ſo lohnender iſt die Ausſicht, die ich Ihnen oben verſprechen kann, zumal wir heute klare Luft haben.“

Schweigend trabten fie eine Weile den Weg ent- lang. Dann hielt Emily mit kurzem Zügelrude ihr Pferd an.

„Am beſten ſteigen wir hier ab,“ meinte ſie, indem ſie zugleich auf eine Art Gemſenpfad deutete, der an der ſteilen Felswand in vielgewundenem Zickzackwege bis zum Gipfel hochführte.

Gordon war ihrem Beiſpiele gefolgt. Nun ſchaute er mit dem Ausdrucke komiſcher Verzweiflung in den Mienen zu dem in ſchwindelnder Höhe über ihnen ſich türmenden Felsgipfel hinauf.

„Da hinauf ſollen wir klettern?“ rief er und rang die Hände. „Wenn der Himmel wenigſtens Einſicht haben und uns ein Luftſchiff beſorgen wollte, wenn ſchon kein Lift vorhanden iſt!“

„Es geht auch ſo, man muß nur ein wenig Aus- dauer und vor allem den guten Willen dazu haben,“ antwortete fie in gleich ſcherzhaftem Tone.

„Sollte ſich Ihr Vater eigentlich ins Stammbuch ſchreiben,“ konnte ſich Harland zu bemerken nicht ent-

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halten, ſetzte aber raſch einlenkend hinzu, als er ihren heiteren Geſichtsausdruck ſich verdüſtern ſah, „das fuhr auch mir nur ſo heraus. Aber im Ernſt geſprochen, Miß Emily, ich gebe wirklich die Hoffnung nicht auf, daß ſich zu guter Letzt alle Mißklänge noch in Wohl- gefallen auflöſen werden.“

„Nein, nein nicht bei uns!“

Das klang herb, und ihr Mienenſpiel war noch ernſter geworden. Doch nur wenige Sekunden hielt ihre Nieder- geſchlagenheit an, dann ſiegte wieder ihre natürliche Heiterkeit.

„Laſſen wir all die Alltagsſorgen hinter uns ich habe Ihnen verſprochen, Sie zu meinem Lieblings- plätzchen zu führen. Alſo vorwärts.“

„Bereits hatte ſie um einen vor Jahren vom Blitz zerſchmetterten Baumſtamm den Pferdezügel gewun- den, und Gordon Harland folgte ihrem Beiſpiele.

Unter Lachen und Scherzen ging es nunmehr den Gemſenpfad hinauf, ſie ihrem Begleiter immer um ein halb Dutzend Schritte voraus.

Leichtfüßig und dabei ſo ſicher ſich bewegend, als ſchritte fie über einen glattgebohnten Stubenboden da- hin, ſchwang ſich Emily von einem Halt zum nädhit- höheren. Harland dagegen fiel das Klettern trotz ſeiner turneriſchen Gewandtheit recht ſchwer. Zuweilen mußte er ſich krampfhaft an vorſpringenden Felsecken feſthalten, um nicht ins Rutſchen zu kommen. Dabei rieſelte ihm der Schweiß reichlich von der Stirn und blendete ihm zuweilen ſogar den Blick.

Alle dieſe kleinen Widerwärtigkeiten vermochten aber nicht in ihm das Hochgefühl zu erſticken, das die Gegen- wart des lieben Mädchens in ihm ausgelöſt hatte. Nicht müde wurde er, ihre graziöſen Bewegungen zu be- wundern. Antilopenartig überwand ſie die ſteilſten

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Stellen, die er nur mit geſchloſſenen Augen zu nehmen wagte, um nicht einem tückiſchen Schwindelanfall zu erliegen und von dem zuweilen kaum fußbreiten Pfade in die Tiefe abzuſtürzen.

Während Gordon noch mit dem letzten Wegviertel zu kämpfen hatte und immer häufiger ſich ruhen und verſchnaufen mußte, erreichte ihn vom Gipfel her ſchon ihr froher, jauchzender Zuruf.

„Da wären wir oben! Oh, die Ausſicht iſt prächtig, noch viel ſchöner und klarer, als ich gedacht hatte,“ ver- ſicherte ſie. „Kommen Sie nur ſchnell, Mr. Harland! Schade um jede Minute, die wir uns hier oben ver- kürzen müſſen!“

Als Gordon kurz darauf den ſchmalen Felsgrat, der ihnen kaum ausreichend Platz zum Nebeneinanderſtehen darbot, gleichfalls erreicht hatte, mußte er ſich not- gedrungen erſt den Schweiß aus den Augen wiſchen und herzhaft Atem ſchöpfen, ehe er an eine Bewunde- rung des zu ihren Füßen ſich ausbreitenden großartigen Landſchaftsbildes gelangen konnte.

Dann freilich entrang auch ihm ſich ein Ausruf des Entzückens.

Eine ganze Welt ſchien ſich vor ihnen zu entrollen. Wohin ihr Blick auch ſchweifen mochte, ſchien er ins Unermeßliche zu reichen.

Sonnenglanz ringsum. Kein Wölkchen trübte die wunderbare Himmelsbläue. Heilige, unentweihte Stille, der etwas Unirdiſches anhaftete. Von dieſer luftigen Höhe aus geſehen, wohnte der einförmigen Talwüſte, die ſich in ihrer ganzen Ausdehnung den Blicken der beiden darbot, etwas poetiſch Verklärtes inne. Ein ſanfter Wind ſtrich über die graugrün ſchimmernde Ebene und verwandelte ſie in eine mäßig bewegte See, deren breite Wogen ſich in der Unendlichkeit zu verlieren ſchienen.

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Emily hatte für ihren Begleiter einen Feldſtecher mitgebracht. Sie ſelbſt bedurfte keiner künſtlichen Nach- hilfe. Wie ſie zu ihren Worten erläuternd bald dahin, bald dorthin deutete, erſchaute fie mit bloßem Blicke Dinge, die ihr Begleiter ſelbſt durch das ſcharfe Fern glas nur nach eifrigem Suchen zu entdecken vermochte.

„Sehen Sie ganz in der Ferne das dünne Rauch- wölkchen kerzengerade ſteigt es zum Himmel empor? Well, dort wohnt ein guter Freund meines Bruders er hat ſich erſt vor wenigen Wochen verheiratet. Ich hatte mir ſchon immer einmal vorgenommen, ſeine junge Frau zu beſuchen. Aber wie das nun einmal ſo geht, vor lauter guten Vorſätzen kommt man nicht zur Ausführung,“ ſchloß ſie unter ſchelmiſchem Auflachen.

„Sie ſollten ſich wirklich Zeit zur Erholung laſſen. Aber dafür find Sie eben ein viel zu gutes Hausmütter- chen, Miß Emily,“ ſagte Gordon mit einem bewun- dernden Blicke auf ſie. „Ich habe tagtäglich an Sie und Ihr trautes, geſchäftiges Walten denken müſſen wahrhaftig, das habe ich getan. Jammerſchade iſt es, daß Sie Ihr junges Leben in dieſer Einſamkeit ver- bringen und all den Freuden und Genüſſen, die die Welt auch Ihnen zu bieten hat, entſagen müſſen!“

Ganz erſtaunt ſah ſie ihn an. „Und das ſagen Sie mir hier an dieſer Stelle?“ gab fie mit leichtem Kopf- ſchütteln zurück. „Kann es ein ſchöneres Leben geben, als wir es bisher in unſerem ſtillen, friedlichen Tale führen durften? Kann die laute Welt draußen reinere Genüſſe bieten, als etwa hier dieſe Ausſicht? Man fühlt ſich hier dem Himmel ſo unmittelbar nahe und verwandt ich will nicht ſagen, daß man ſich darum beſſer als andere Menſchen dünkt, die im Staub des Alltags dahinleben müſſen, aber man kommt ſich wie auserwählt vor. Da, ſchauen Sie dorthin,“ unter-

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brach fie ſich plötzlich und deutete mit der weitaus- geſtreckten Rechten nach der entgegengeſetzten Richtung, wo ſich ſchwarze Rieſenflecke mißtönig von dem farben- frohen Gepränge des ſonnenheiteren Landſchaftsbildes abhoben. „Das dort iſt der Alltag, wie Ihre Welt ihn uns zu leben zwingt und den haben Sie uns in unſere friedvolle Abgeſchiedenheit gebracht!“

Harland antwortete nicht gleich. Durch das Fern- glas ſchaute er nach der ihm bezeichneten Richtung. Tief in die Bergfelſen eingebettet, lagen dort die ſich bis zum Tal hinabziehenden flachen Wohn- und Schlaf- ſchuppen der Minenarbeiter. Bei ſchärferem Zuſchauen vermochte er ſogar feine eigene unweit des Schlucht- ausganges auf vorgeſchobenem niedrigen Felshügel ſich erhebende Hütte zu erkennen. In den Fenſterſcheiben blitzte der Sonnenſchein, und dieſes Funkeln erinnerte Gordon warum eigentlich, darüber wußte er ſich ſelbſt keine Rechenſchaft zu geben an das ernit- mahnende Licht eines rings von brüllender Flut um- tobten Leuchtturms.

„Die ganze Schlucht ſieht beinahe wie ein aus— getrocknetes Strombett aus,“ bemerkte er zu ſeiner Begleiterin. „Mit einiger Phantaſie kann man ſie ſich mit ſchäumenden Wogen gefüllt vorſtellen.“

„Dazu bedarf es keiner ſonderlichen Einbildungs- kraft, denn ich ſelbſt habe ſchon den zur verheerenden Hochflut angewachſenen Fluß ſeine gewaltigen Waſſer- maſſen durch die Schlucht wälzen ſehen,“ gab Emily zurück. „Zum Glück macht der Fluß nur ſelten von ſeinem Vorrecht, ſich derart ungebührlich zu benehmen, Gebrauch.“

Nebeneinander hatten ſie auf einem Felsvorſprung Platz genommen, und während Gordon nicht müde wurde, das wunderbare Landſchaftsbild tief unter feinen

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Füßen immer von neuem wieder anzuſtaunen, kam er ins Erzählen, berichtete von feiner eigenen, in der Groß- ſtadt verbrachten Jugend, deren ſeltenen Lichtpunkten, und ſchilderte ſchließlich den nachhaltig tiefen Eindruck, den die ihn nunmehr umgebende großartige Gebirgs- welt auf ihn ausübte.

Auch Emily erzählte in ſchlichter Weiſe von ihrem Daſein. Darüber verging der Nachmittag, ohne daß ſie es gemerkt hätten. Sie kamen aus dem Hundertſten ins Tauſendſte, fühlten ſich einander ſo vertraut, als ob ſie nicht erſt zum zweiten Male nebeneinanderſäßen, und plauderten, bis Emily plötzlich mit einem kurzen Ausruf der Beſtürzung aufſprang und ins Tal, wo ihre Pferde weideten, hinunterdeutete.

„Dort kommt Vater mit den Kommiſſionsherren ſchon zurück. Wir müſſen uns ſputen, wenn wir ſie noch unterwegs einholen wollen.“

Mit einem halben Seufzer erhob ſich Gordon.

„Na, Miß Emily, das wird 'n nettes Abſtiegver— gnügen geben. Sollte ich Hals über Kopf an Ihnen vorübergeflogen kommen, fo wünſchen Sie mir glüd- liche Reiſe,“ ſcherzte er nicht ganz aufrichtig.

Sie lachte nur zu ſeinen Bedenken, die ſich zu ſeiner großen Erleichterung auch wirklich unbegründet er— wieſen, da der Abſtieg ungleich leichter als zuvor der Aufſtieg von ſtatten ging.

* * K*

„Macht was ihr wollt, ihr Herren,“ erklärte der Rancher bei der Verabſchiedung, „aber wenn ihr auch alles Geld in der Welt für mich hinterlegen wolltet, ſo würdet ihr meinen Entſchluß dadurch doch nicht be— einfluſſen können. Ich hab's ſchwarz auf weiß bewieſen, daß ich von der Regierung mein Land auf ewige Zeiten,

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wie es in den Schriftſätzen ausdrücklich angegeben ſteht, gekauft habe, und zwar ſchon vor dreißig Jahren, als die Mehrzahl von euch Herren noch die Schulbank drückte und ihr bildet euch wohl ſelbſt nicht ein, daß ihr durch einen Machtſpruch mein beſiegeltes Recht ungültig machen könnt. Zum letzten Male alſo, ihr Herren: mein Ranch iſt mir nicht feil. Mag ſein, daß ich euch nicht daran hindern kann, mich zum Bettler zu machen, mein Vieh zugrunde zu richten, mir den letzten Tropfen Waſſer zu rauben. Aber es gibt keine Macht in der Welt, die mich von meinem Grund und Boden vertreiben kann. Damit Gott befohlen, ihr Herren!“

Auf Gordon Harlands Bitten hatte Emily ein- gewilligt, ihnen bis zur Wegſcheide, wo der Gerpen- tinenpfad ſich hochzog, das Geleit zu geben.

Natürlich wußte er es einzurichten, daß er mit ſeiner Begleiterin bald hinter den eifrig miteinander debattie- renden Kommiſſionsmitgliedern zurückblieb. Er hatte die Empfindung, als müßte er, bevor er wieder im Werkeltagsſtaube untertauchte, mit jeder Minute, die er noch in Emilys Geſellſchaft zubringen durfte, geizen. So viele ſchöne und begehrenswerte Mädchen er auch im Oſten kennen gelernt, keines davon hatte ſein Herz in ſolch ſtürmiſche Schwingungen zu verſetzen vermocht als das liebe, ſchlichte Naturkind mit feinem kamerad- ſchaftlich vertrauten, von jeglicher berechneten Koketterie meilenweit entfernten herzlichen Weſen.

„Darf ich bald einmal wiederkommen?“ fragte er, als vor ihnen zur Rechten die ſich zur Berghöhe hoch- ziehende ftaubige Wegſpur auftauchte.

Sie lächelte befangen. „Was könnte Sie in unſere Einſamkeit ziehen,“ fagte fie mit abgewendetem Geſicht.

„Die Ausſicht oben an Ihrem Lieblingsplätzchen

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hat mir's angetan, Miß Emily,“ raunte er ihr ins Ohr, um das ſich wirr die braunen Löckchen kräuſelten, und er bedurfte ſeiner geſamten Willenskraft, um ſie nicht darauf zu küſſen. „Werden Sie mir geſtatten, demnächſt wieder die Ausſicht zu bewundern?“

„Dazu bedarf es doch keiner Erlaubnis,“ entgegnete ſie und wurde unvernünftig rot dabei.

„Ja, es iſt nur hm, ja“ er räuſperte ſich ver- legen „wegen meiner Kurzſichtigkeit. Ich komme ohne ein Fernglas nicht zurecht und ich höre Sie jo gerne die Gegend erklären. Da kann man ſich fo vorzüglich orientieren. Hm ja, Miß Em' ly was ich ſagen wollte! Könnten Sie's nicht ſo einrichten, daß wir vielleicht nächſte Woche oder übermorgen hm, am beſten paßte es mir eigentlich ſchon morgen,“ verbeſſerte er ſich haſtig, „ein Stündchen abkommen könnten? Es war doch zu reizend heute nachmit- tag!“

Als er ihr tiefes Erröten gewahrte, wurde er ſelbſt bis unter die Haarwurzeln rot und ſchwieg hilflos, ſo redegewandt er all den glänzenden Damen ſeiner Be- kanntſchaft gegenüber ſich immer erwieſen hatte.

„Hallo, kommen Sie mit oder nicht?“ hörte er ſich anrufen. |

Es war der Obmann, der mit feinen Begleitern ſchon in den Bergpfad eingebogen war und nun auch Emily einen letzten Abſchiedsgruß zurief.

„Ich muß umkehren,“ ſtammelte das Mädchen und wollte ihm verwirrt die Hand entziehen.

Aber er hielt ſie feſt. „Sie haben mir noch keine Antwort gegeben, Miß Emily,“ drang er in fie. „Wer- den wir uns morgen treffen?“

„Aber warum denn ſchon fo bald wieder?“ ent- fuhr es ihr zaghaft.

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Als fie dann feinem bittenden Blicke begegnete, erglühte fie wieder.

„Vielleicht!“ hauchte fie, warf ihr Maultier herum und galoppierte nach der Ranch zurück, ohne ſich auch nur ein einziges Mal umzuſchauen.

Als Emily in den Hofraum zwiſchen Wohnhaus und Stallgebäuden geſprengt kam, ſah fie ihren Vater ge- dankenverloren auf den Stufen der Vorderveranda ſitzen.

Tom Dugan hörte das Geräuſch der Hufſchläge nicht, und ebenſowenig achtete er auf ſeine Tochter, als dieſe mit dem Pferd am Zügel nach dem Hausſtall ſchritt.

Erſt als Emily über den Hof zurückkehrte, vor ihm ſtehen blieb und ihm die Hand auf die Schulter legte, fuhr er aus tiefem Sinnen auf und ſtarrte ſie verſtört an.

Eine ganze Weile dauerte es, bis er ſich darauf beſinnen konnte, wer eigentlich vor ihm ſtand. ö

„Ich hab' gedacht, es wär' deine Mutter Kind,“ ſagte er dann mit ſeltſam zitterig klingender Stimme. „Es iſt ſchier unheimlich, wie ähnlich du ihr ſiehſt!“

Sie ſetzte ſich neben ihn, nahm feine zögernd wider- ſtrebende Hand und drückte ſie innig. „Ach, Vater, ich wollte wohl, ich hätte etwas von Mutters gutem Ein- fluß auf dich geerbt. Ich möcht' dir ja ſo gerne zur Seite ſtehen, Vater, wenn ich nur ein Wort zu erdenken wüßte, überzeugend genug, um dich zu einer Sinnes- änderung bewegen zu können.“

Er ſchaute ſie von der Seite an, und mit kurzem Ruck entzog er ihr dann die Hand und rückte etwas von ihr ab. „Bläſt auch du ins gleiche Horn?“ fragte er fie barſch. „Fſt's nicht ſchon ſchlimm genug, wenn die Welt Unfrieden zu mir hereinbringt, muß mein eigen Fleiſch und Blut ſich wider mich empören?“

Das Mädchen ließ ſich durch feine bitteren Bemer—

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kungen nicht abſchrecken. „Du kennſt die Welt beſſer als ich, Vater,“ ſuchte ſie ihn zu beſänftigen, „aber an deinen Kindern brauchſt du niemals irre werden.“

„Ach, ſchweig mir von eurer Kindesliebe!“ brauſte er ungehalten auf, als ſie mit tränenſchimmernden Augen zu ihm aufſchaute und er aus ihren Blicken einen unausgeſprochenen Vorwurf zu leſen glaubte. „Kinder hat man nur fo lange, als man ihnen Wohltaten er- weiſen kann. Sind ſie noch klein, muß man ſie mit Süßigkeiten kirren, fühlen ſie ſich groß, ihnen demütig zu Willen ſein oder man verliert ſeine Kinder. Meinſt du, ich könnt' in deiner Seele nicht leſen? Hoho, der Tag wird kommen, wo du leichtherzig in deines Mannes Welt gehen wirſt.“

Sie wurde rot und blaß, fuhr mit der Hand nach dem Herzen, wollte reden und ſchwieg doch wie ſchuld— bewußt wieder.

„Es könnt' doch alles ſo ganz anders ſein, Vater,“ begann fie endlich nach einer Weile bedrückenden Still- ſchweigens in zagendem Tone. „Sieh, die Leute meinen es wirklich gut mit uns. Mr. Harland ſagte erſt vorhin noch beim Abſchied, daß du mit der dir zur Verfügung geſtellten Abfindung dich überall ankaufen könnteſt, falls du nicht von den Kapitalzinſen leben wollteſt.“

„Ich bin kein Faulenzer, der die Hände in den Schoß legt,“ knurrte er. „Solange mein Tag ſcheint, rühr' ich mich.“

Unter hervorſtrömenden Tränen faßte fie trotz feines Widerſtrebens ſeine beiden Hände. „Vater, mach dieſem ſchrecklichen Zuſtande ein Ende!“ flehte ſie mit von Schluchzen halberſtickter Stimme. „Lebte unſere gute Mutter noch, fie wäre die erſte, die dir riete, nachzu- geben.“

Er fuhr nach ihr herum und ſtarrte fie an. „Lebte

1918, XII. 10

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deine Mutter noch, dann wär' freilich alles anders,“ ſagte er aufſeufzend. „Sie brauchte nur ein Wort zu ſagen, und ich griffe zum Wanderſtab. Was gält' mir hier das Land, ſo teuer es unſer Fleiß auch erkauft haben mag. Überall ift Gottes Erde, und weihte fie deiner Mutter Fuß und ſtände ſie, die mir mehr als Leben und Ewigkeit geweſen iſt, wieder neben mir bettelarm wollt’ ich von dannen gehen, den Staub von meinen Füßen ſchuͤtteln und mit friſcher Kraft anderswo wieder anfangen. Könnt' ich für deine Mutter ſchaffen und ſie mit mir nehmen Kind, alle Mühſal ſollte mir Seligkeit bereiten, denn durch deine Mutter erſt wurde das Land hier meine Heimat und weil ſie hier in der Erde ſchläft, darum kann ich auch vom Boden nicht laſſen und keine Macht auf Erden kann mich von ihm vertreiben!“ |

Aufſtöhnend barg er das Geſicht in beide Hände. Er ſpürte es kaum, wie ſich ſeine Tochter an ihn ſchmiegte und erſt nach einer Weile hörte er wieder, was ſie zu ihm ſprach.

„Aber es muß doch ſein!“ ſtellte ſie ihm vor. „Du kannſt nicht gegen das Geſetz ankämpfen, das iſt un- möglich man wird uns ſchließlich mit Gewalt ver- treiben.“

Er nickte kurz. „Mag ſein.“

„Ach, Vater, es weht doch überall Gottes Odem, und wohin wir auch gehen mögen, im Geiſte geht unſere tote Mutter mit uns.“

Er ſeufzte, ſtrich ſich mit der Hand langſam über das Geſicht und ſchüttelte dann den Kopf. „Kind, du kannſt mich nicht verſtehen,“ ſagte er dumpf. „Mein Leben hat nicht die Aufeinanderfolge von Tagen und Nächten, Wochen, Monaten und Fahren ausgemacht, ſondern was in ihm wertvoll war, das ging von deiner

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Mutter aus. Sie war mein guter Engel und Gott weiß, wie bettelarm er mich hat werden laſſen, als er ſie von mir nahm.“

Er faßte Emily bei der Hand und führte ſie vor das Grab. Schweratmend legte er dort die Hand auf die Steine.

„Wie ſoll ich dir nur erklären, Kind, was mich an unſere Scholle bannt,“ begann er leiſe. „Denn hier iſt deine Mutter für mich nicht tot nicht einmal fern iſt ſie, ſondern ſie wandert auf Schritt und Tritt mit mir, jeder Fußbreit Erde erinnert mich an fie, ich brauch nur die Augen zu ſchließen, dann ſeh' ich ſie wieder vor mir, wie fie Blumen gepflanzt oder Unkraut ge- jätet hat, hör' ihre Stimme wieder, vertraut und lieb, denn ſo ſehr die Arbeit auch drängen mochte und wie unermüdlich fleißig ſie auch ſchaffte, für ein gutes Wort zu mir gebrach ihr's nie an Zeit. Die innige Gemein- ſchaft mit deiner Mutter, die ich immer um mich weiß, wenn ich mit meinen Sinnen ſie auch nicht ſehen und fühlen kann, hält mich ganz allein noch auf Erden. Darum kann ich von der Scholle nicht fort, denn ginge ich in die Welt hinaus, ſo ginge deine Mutter nicht mit mir und ich hab' ſie notwendig, deine Mutter,“ ſchrie er auf. „Ich könnt' mir das Leben denken, ohne atmen zu müſſen, aber nur einen Tag lang weiter leben zu ſollen, ohne deine Mutter um mich zu wiſſen, ſie treulos allein und unbeſchützt auf der Stätte ſchlafen zu laſſen, wo wir miteinander glücklich waren, hofften, ſtrebten und aufbauten, wo um uns das Glück lebendig zu werden begann nein, ich wiederhol' es dir, Kind, ſcheiden von dieſem Grab, das kann ich nicht!“ |

Ein dumpfer, halberſtickter Laut entrang fich feinen Lippen. Nicht länger ſeiner ſelbſt mächtig, warf er ſich über die rauhen Steine.

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4.

Hatten die Bewohner der Duganranch früher ſchon die Mahlzeiten in gemeſſenem Stillſchweigen einge- nommen, fo herrſchte nun meiſt eine trübſelige Kirch- hofſtimmung bei Tiſche.

Als Joe ſich eines Morgens wieder wortlos vom Frühſtückstiſche erhoben hatte und, wie gewöhnlich, mit ſtampfenden Schritten der Ausgangstür zuſchritt, blieb er nahe dieſer ſtehen und kehrte ſich nach dem Rancher um, der bereits wieder die abgegriffene Hausbibel zur Hand genommen hatte und ſich mit ihr gerade in den Lehnſtuhl neben dem Fenſter ſetzen wollte.

„Werd' mich demnächſt verändern müſſen, Boß,“ meinte er kurz.

Tom Dugan hatte gerade die Brille aufſetzen wollen. Nun ließ er die Hand mit den Gläſern auf den ihm im Schoße liegenden Band herabſinken und ſchaute den alten Cowboy, der in langen Jahren enger Zuſammen- gehörigkeit förmlich zu einem Inventarſtück der Ranch geworden war, ſcharf an. „Gehen willſt du? Hab' ich dir's an etwas fehlen laſſen? Schmeckt dir's Eſſen nicht mehr? Oder zahl' ich dir zu wenig?“

Joe wehrte mit beiden Händen ab. „Gerad' das Gegenteil. Ich werd' fürs Faulenzen bezahlt. Nicht das Salz in der Suppe verdien’ ich mehr. Das wurmt mich, Boß. Komm mir wie 'n Bummler vor, der Euch das Geld aus der Taſche ſtiehlt.“

Nun lachte Tom Dugan kurz auf. „Sieh einmal an, unſer alter Joe hat ſein Gewiſſen entdeckt!“ Dann wurde er ſchnell wieder ernſt. „Wenn das deine ganzen Bedenken ſind, dann bleib' nur ruhig falls du Luſt dazu haſt. Sonſt geh, ich zwing' keinen Menſchen zum Bleiben.“ |

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Joe kraute ſich hinterm Ohr, trat von einem Fuß auf den anderen und wiegte unmutig den Kopf. „Wer ſpricht davon! Ihr ſolltet's am beſten wiſſen, daß ich am liebſten bliebe. Bin ich hier nicht daheim? An Eurer Behandlung liegt's nicht. Sie iſt ſo, daß ich mir einbilden könnte, ſelbſt Boß zu ſein.“

„Nun alſo!“

„Sagt aber ſelbſt, Voß, es gibt ja nichts mehr zu tun, nun wir kaum mehr Vieh oben haben. Für jede Hantierung ſind drei Mann da, man tritt einander die Hühneraugen ab, nur um auch 'ran zu kommen! Und wenn noch Hoffnung wäre, daß wieder beſſere Zeiten kommen! Aber ſtatt deſſen wird's mit jedem neuen Tage ſchlechter. Muß es ja auch werden. Hier oben gedeiht kein Gras mehr und und Statt deſſen wächſt einem das Maul zu. Man verlernt auch das Reiten, Boß. Das iſt's. Man wird ſteif. Unſereiner hält ſich nur im Sattel jung. Ja, wenn Ihr friſch beginnen wolltet, irgendwo draußen, wo der Herrgott die Men- ſchenpeſt noch fernhält da ſollt' mich ſelbſt Euer Wille nicht von Euch trennen können. Aber hier hat's keinen Zweck. Ich komm' mir nicht nur überflüſſig vor, ſondern bin's auch wirklich.“

„Dann geh!“ Weder Miene noch ak des Ranchers ließen erkennen, was in ihm vorging. Aus einer Schrankſchublade nahm er ein altes, abgegriffenes Schreibheft zur Hand, in dem er ſeit langen Jahren alle wichtigen Daten vermerkt hatte. Er blätterte eine Weile in dem Heft. „Richtig,“ ſagte er dann, „da ſteht's. Biſt am erſten Oktober eingetreten, dein Jahr geht mit dem Septemberletzten zu Ende. Alſo ab- gemacht, am letzten September gehſt du das iſt gerad' heut über vier Wochen,“ ſchloß er nach einem informierenden Blicke auf den Wandkalender.

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„Well, dann geh' ich,“ ſagte Joe, der auf eine ſolch bereitwillige Annahme ſeiner Kündigung kaum gefaßt geweſen ſein mochte, denn vor Verblüffung ſtand ihm der Mund halb offen.

Für den Rancher war die Angelegenheit erledigt. Er vertiefte ſich in ſeine Bibel und achtete nicht weiter darauf, daß Joe noch eine kurze Weile überlegend neben der Tür ſtehen blieb, um dieſe dann beim Verlaſſen des Zimmers derber, als es durchaus notwendig ge— weſen wäre, ins Schloß zu wettern.

Um ſo erſchrockener war Emily, die inzwiſchen den Tiſch abgeräumt und dabei die Unterredung zwiſchen den beiden Männern mitangehört hatte. Als ſie den alten Cowboy an der Küche vorüberſchreiten ſah, winkte ſie ihm eifrig zu.

„Aber Onkel Joe,“ meinte ſie vorwurfsvoll, als er nähergekommen war, „hab' ich recht gehört, du willſt uns verlaſſen?“

Der Gefragte nickte energiſch. „Kalkulier' ſo.“ Er lachte kurz vor ſich hin. „Wird wohl am beſten ſein man kann ja nicht wiſſen, ob's für immer iſt. Noah ſchickte auch 'ne Taube aus, bevor er feine Arche ver- ließ. Und wer weiß, ob dein Vater nicht noch mal das bewußte Olblatt brauchen kann.“ Sein Lachen verſtärkte ſich und die durchtriebenen Spitzbubenfältchen kamen in ſeinem vielgerunzelten Geſicht wieder zur Geltung. Vielſagend zwinkerte er dem Mädchen zu. „Lange macht's ja dein Vater hier oben ohnehin nicht mehr, denn kommt hier ins Tal die Sintflut, dann hilft nicht mal 'ne Arche. Da heißt's einfach fortlaufen. He?“

„Verſteh' dich nicht ganz, Joe. Meinſt du wegen der Talſperre?“

„Well, das Waſſer treibt ihn fort, und wenn fein Schädel härter wär' als die Felſen ringsum. Aber ſo

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lange dauert's vermutlich gar nicht. Will er nicht allein Trübſal blaſen, muß er ſchon früher ans Einpacken denken, der Vater. Hähähä, in vier Wochen ſchnür' ich mein Bündel, und was 'ne gewiſſe junge Lady anbetrifft, die neulich ſtatt Zucker Gipsmehl in den Pudding gerührt und die Geſchichte auf den Tiſch ge- bracht hat, ohne es überhaupt zu bemerken —“

Bei der ihr wohl verſtändlichen Anſpielung des Alten war Emily purpurrot geworden. Nun ſchaute ſie ihn entrüſtet an. „So nachtragend biſt du, Joe? Sollteſt dich was ſchämen! Als ob man ſich in der Eile nicht einmal vergreifen könnte!“

„Beſonders wenn man's eilig hat, nach einem ge— wiſſen Ausſichtspunkt zu kommen, hähä! Wie neulich, wo du in der Zerſtreutheit zwei Pfund Salz und 'ne Handvoll Mehl in die Klöße gerührt haft. Hoho, hat das prächtig geſchmeckt! Bei jungen Leuten nennt man 'n ſolches Vergreifen nicht Zerſtreutheit, ſondern —“

„Still! Ich will's nicht hören!“

„Das ändert an der Tatſache nicht das geringſte und wenn ich mir vorſtellen könnt', in welches Manns- bild eigentlich, ſo nähm' ich einen Schwur darauf, daß unſere Em'ly nicht minder verliebt iſt, wie“ da unterbrach er ſich plötzlich, beſchattete die Augen mit der Hand und ſpähte den Talkeſſel hinab, wo ſich eben eine hochaufwirbelnde, ſich raſch dem Hauſe nähernde Staubwolke zeigte „nun ja, wie etwa der gewiſſe Jemand dort, der da ſo eilig herangaloppiert kommt.“

Einen Augenblick weidete ſich Joe noch an der hilf- loſen Verlegenheit des Mädchens, dann nickte er ihr gutmütig zu.

Emily gab ihm keine Antwort und eilte mit allen Anzeichen großer Verwirrung nach ihrem Stübchen, in das ſie ſich einriegelte. Auch als Joe bald darauf

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meldete, daß Gordon Harland zu Beſuch gekommen fei, wollte ſie zuerſt nicht wieder zum Vorſchein kommen. Es bedurfte erſt des ärgerlichen Zurufs ihres Vaters, der dem Gaſte eine Erfriſchung vorzuſetzen gebot, daß ſie ſich zum Verlaſſen ihres Zufluchtsortes entſchloß.

Sie fand den Ingenieur noch auf der Vorder— veranda, eifrig mit dem Abſtäuben ſeiner Kleidung beſchäftigt, während ihr Vater unter der offenen Tür ſtand, unverhohlenes Befremden über den unerwar— teten Beſuch in ſeinen Mienen.

Als er ſeiner Tochter wiederholt Anweiſung geben wollte, einen Imbiß bereitzuſtellen, wehrte Gordon dankend ab, indem er zugleich auf Emily zuſchritt und der mit ſeltſamer Befangenheit ihn Anblickenden beide Hände zum Gruß entgegenſtreckte.

„Nein, nein, ich bin nicht im mindeſten hungrig, und auch der Durſt plagt mich nur wenig mich führt auch keine beſondere Sache hierher, ſondern ich bin nur gekommen, um mich nach dem Befinden meiner lieben Bekannten zu erkundigen und nebenbei herauszuhören, ob wir uns die Sache nicht inzwiſchen überlegt haben. Die Kommiſſion dringt nämlich auf Entſcheidung.“

Ein ſpöttiſches Lächeln kräuſelte des Ranchers Lippen. „Schön von Euch, Herr wie Ihr ſeht, ſind wir noch nicht völlig verdurſtet, was freilich wieder nicht Euer Verdienſt iſt,“ äußerte er ſarkaſtiſch. „Und was die gewünſchte Entſcheidung anbelangt, jo hab' ich fie den Kommiſſionsherren längſt mit deutlichen Worten ge- geben. Aber nehmt Platz und ruht Euch ein Weilchen wo ſteckt denn Billy?“ wendete er ſich fragend an feine Tochter, die ihm indeſſen nur mit einem Achſel— zucken antwortete.

„Ach ja, wird wohl hinuntergeritten ſein. Schade, er wäre vielleicht für Euch ein beſſerer Geſellſchafter

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als ich. Mich müßt Ihr ſchon entſchuldigen es geht einem ſo manches durch den Kopf, was einem das müßige Schwatzen verleidet.“ | V„Begegneten Sie meinem Bruder nicht?“ erkundigte ſich Emily mit unſicher klingender Stimme.

„Ja, wir begegneten einander auf halbem Wege. Er ritt nach der Station hinunter, wie er ſagte.“

„Nun, tiſch endlich was auf, Em'ly!“ heiſchte Tom Dugan ungeduldig. „Was du gerade zur Hand haſt. Große Auswahl gibt's bei uns nicht mehr,“ ſagte er, zu Gordon gewendet, im Tone halber Entſchuldigung.

„Aber ich übrigens ich“ des Beſuchers Stimme wurde immer ſtockender, als er nun Emily hurtig nach der Küche eilen ſah „ich will doch raſch mal nach meinem Pferd ſehen, es hat ſich warm gelaufen. Merkwürdig heiß für 'nen Septembertag heute findet Ihr nicht?“

„Indianerſommer!“ brummte Tom Dugan, der im Begriffe ſtand, ſich wieder auf ſeinem Fenſterſitze nieder- zulaſſen. „Man ſagt vom September nicht umſonſt, daß er der „Brater“ iſt. Wären die kühleren Nächte nicht, ſo wäre er noch ſchlimmer als der Hochſommer. Aber ſo bleibt doch,“ rief er hinter ſeinem Beſucher her, „Joe kann nach Euerm Gaul ſehen klagt ohne- hin übers Nichtstun, der Alte.“

Dann, als er ſah, daß ſein Zuruf unbeachtet blieb, zuckte er gleichmütig die Achſeln und ſetzte ſich nieder. Aber zur Bibel griff er vorläufig nicht wieder, ſondern ſtarrte müßig durchs Fenſter und ſeine Mienen nahmen raſch einen nachdenklichen Ausdruck an.

Darüber ſchien er gar nicht gewahr zu werden, daß Emily keine Anſtalten zum Tiſchdecken machte, wie er ihr doch anbefohlen hatte, und ebenſowenig der In- genieur ins Zimmer zurückkehrte. Dafür hörte er die

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beiden mit gedämpften Stimmen miteinander draußen in der Küche verhandeln.

„Es ſteht geſchrieben, daß das Weib Vater und Mutter verlaſſen foll, um dem Manne anzuhangen,“ ſagte er leiſe vor ſich hin. „Aber daß die eigenen Kinder gerade den Feinden, den Maulwürfen, die mit aller erdenklichen Liſt mein Lebenswerk untergraben und zerſtören, anhängen müſſen das tut weh!“

Er ſchaute zum Fenſter hinaus nach dem Steinhügel und nickte grüßend hinüber. „Du haſt's gut, Mutter ich wollt', ich dürft' bei dir liegen!“

Dann ſetzte er wieder die Brille auf und verſenkte ſich in feine Lektüre, ohne der Anweſenheit feines Be— ſuchers auf der Ranch weitere Beachtung zu ſchenken.

„Warum haben Sie ſich die ganze Woche über nicht ſehen laſſen?“ ſragte draußen in der Küche Gordon die eifrig ſchaffende Emily. „Ach, wenn Sie wüßten, mit welcher Ungeduld ich Ihre Antwort auf meine Frage erwartet habe,“ ſetzte er mit nicht länger zu verhehlender Erregung hinzu. „Haben Sie bedacht, wie viele fchlaf- loſe Nächte und Herzenspein mir Ihr Fernbleiben ver- urſacht hat? Muß ich darin ein Ausweichen oder gar, was der Himmel verhüten möge, eine Ablehnung meines ehrlichen Werbens erblicken?“

Wieder ſtand Emily blutübergoſſen. Sie Ba ihm nicht zu wehren, als er nun bittend ihre beiden Hände faßte, aber auch fein inniger Druck vermochte ihm nicht ihre Blicke zuzuwenden. Dieſe ſchauten vielmehr an ihm vorüber, ſuchend und wie wehmütig darüber trauernd, daß fie aus einem holden Traume hatte zur rauhen Wirklichkeit zurückerwachen müſſen. Gordons Welt war ja eine andere als die ihrige, in der ſie mit allen Faſern ihres Seins haftete. Das hatte fie ſchon damals gewußt, als er um ſie warb, aber ſie hatte es

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ihm nicht ſagen können, der Gedanke an die unvermeid- liche Enttäuſchung, die ſie ihm bereiten mußte, hatte ſie immer wieder zum Schweigen gezwungen gehabt. Das war zugleich auch der Grund, warum ſie ſeitdem ihre Ritte nach ihrem Lieblingsplatz aufgegeben hatte. Hätte ſie doch dort Gordon Harland ihrer harrend antreffen und ihm dann notgedrungen künden müſſen, daß ihrem ſchönen Traume nunmehr das unausbleib- liche Erwachen folgen mußte.

Als fie endlich, wie einem magiſchen Zwange ge- horchend, ſeinem heißen Liebesblicke begegnete, da ſchwand die Röte aus ihren Wangen und gab jäher Bläſſe Raum. Tränen füllten ihre Augen. „Ja, Gordon,“ hauchte ſie, „Sie haben meinen Grund, der mich ein weiteres Zuſammentreffen mit Ihnen ver- meiden ließ, richtig erraten. Dürfte ich unbeirrt nur der Stimme meines Herzens folgen, ſo würde meine Antwort vielleicht anders lauten. Aber ich habe Pflichten gegen den Vater zu erfüllen. Er braucht mich, ich bin ihm notwendig darum darf ich nicht von ihm gehen.“

„Aber du liebſt mich doch,“ raunte er ihr heiß ins Ohr. „Ja, da hilft kein Ableugnen, magſt du auch den Kopf noch ſo entſchieden ſchütteln, deine Blicke verraten dich doch nein, nein, es hilft auch nichts, wenn du zur Seite ſchauſt, denn fie haben mir's ja ſchon viel früher verraten. Süßes Kind, ich liebe dich und du haſt mich lieb und mit meinem letzten Tropfen Herzblut werde ich unſer Glück zu erringen wiſſen! Warum dein junges Leben einem Wahne opfern? Denn was iſt die Hartnäckigkeit, mit der dein Vater Geſetz und Recht zu leugnen ſich anmaßt, im Grunde genom- men anderes? In ſpäteſtens einem Fahre haben ſich die Verhältniſſe hier oben ohnehin geklärt, und hat ſich dein Vater bis dahin nicht eines beſſeren beſonnen —“

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„Niemals!“ widerſprach Emily ihm. „Daß das un- vermeidliche Ende kommen muß, ſagt mir mein eigenes Empfinden, aber was alsdann geſchehen wird, daran wage ich nicht zu denken. Ich weiß nur, daß ich zu meinem Vater halten muß und bräche mir darüber auch das Herz!“

Sie wollte ſich von ihm losmachen, als er ſie bei der Hand nahm und mit ſanfter Gewalt der Wohn- ſtubentür zuführen wollte. Aber da wurde die Tür ſchon von innen geöffnet, und auf der Schwelle erſchien der Rancher.

„Was ſoll das Verſteckſpielen?“ fuhr er die Tochter barſch an, als dieſe ſich erſchreckt von Gordons Hand losreißen wollte. „Daß die Verſtellung euch Frauen- zimmern doch immer im Blute liegt ſogar deine gute Mutter hat ſich zieren müſſen, ehe ſie mein Weib wurde. Na, darum brauchſt du dich nicht zu entichul- digen, hab's lange vorausgeſehen, daß es ſo kommen mußte, denn um unſerer guten Waſſerverhältniſſe wegen iſt Freund Harland ſicherlich nicht jo oft zu uns herauf— gekommen!“

Dabei lachte er ſo bitter auf, daß Emily ſein Lachen ins Herz ſchnitt. Sie hatte ſich inzwiſchen energiſch von Gordons Hand befreit. Nun eilte ſie zu ihrem Vater und ſtellte ſich neben ihn.

„Du brauchſt nicht ſchlecht von mir zu denken, Vater,“ ſagte ſie in großer Haſt. „Mr. Harland hat mir ge— ſagt, daß daß ich ihm nicht gleichgültig ſei, aber ich habe ihm rundweg zu verſtehen gegeben, daß ich deine Tochter bin und ihm darum in alle Ewigkeit nichts ſein kann.“

Fragend ſchweifte Tom Dugans Blick zu dem jungen Ingenieur.

Dieſer trat mit einem tiefen Atemzuge näher an

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den Rancher heran. „Emily liebt mich, wie ich fie liebe,“ begann er. „Aus mißverſtandener Kindespflicht glaubt ſie uns unglücklich machen zu müſſen, weil ich im Dienſte der Geſellſchaft ſtehe, die Euer Beſitztum beanſprucht, aber ich weiß, daß es nur Eurer Einwilli— gung bedarf, um das liebe Mädchen anderen Sinnes zu machen. Wollt Ihr mir Eure Tochter zur Frau geben?“

„Wollt Ihr meiner Ranch das ihr gebührende Waſſer zurückgeben und mir ihren Beſitz verbürgen, Herr?“ fragte der Alte rauh zurück.

„Ihr wißt recht gut, daß Ihr von mir Unmögliches verlangt!“

„Nun, dann habt Ihr Euch die Antwort mit Euren eigenen Worten gegeben. Verſteht mich recht. Ihr ſelbſt ſcheint mir ein wackerer Mann zu fein, und ge- hörtet Ihr nicht zu jenen, die mein Lebenswerk unter- graben, ſo möcht' ich Euch wohl als Eidam willkommen heißen. So aber kann zwiſchen Euch und mir keine Gemeinſchaft beſtehen.“

Entrüſtet flammte es in Gordons Augen auf. „Aber das iſt ja unmenſchliche Härte! So nehmt doch Ver- nunft an, Mann!“ rief er.

Mit ſchroffer Handbewegung unterbrach ihn der Rancher. „Was berechtigt Euch zu der Annahme, daß ich unvernünftig rede?“ gab er ſcharf zurück. „Ich kann keinen Schwiegerſohn brauchen, der mit an meinem Untergange gräbt. Und ich kann auch keine Tochter brauchen, die zu meinen Widerſachern hält ſtill, wart’ bis du gefragt wirſt!“ fuhr er Emily rauh an, als ſie die Lippen zu einer Rechtfertigung öffnen wollte. „Zch ſag' nicht, Herr,“ fuhr er mit ſtarker Stimme fort, „daß ich meiner Tochter verbiete, Euer Weib zu werden nein! Em'ly ſoll ſich aus freien Stücken

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entſchließen, genau ſo, wie Herz und Gewiſſen ihr's vorſchreiben und will ſie Euer Weib werden, ſo ſoll ihr das väterliche Erbe einmal nicht vorenthalten werden. Aber nicht mehr und nicht weniger kommt ihr von mir zu, ſonſt weder Segen noch Fluch. Aber ſie kann alsdann meine Tochter nicht länger ſein das iſt alles. Ich kann um mich keine lauen Menſchen brauchen für oder wider mich. Und nun fragt ſie ſelbſt!“

Da löſte ſich das Mädchen von des Vaters Bruſt, wendete ſich langſam nach dem geliebten Manne um und ſchaute ihn mit einem erloſchenen Blicke an. „Nr. Harland, ich habe Euch keine Erlaubnis erteilt, bei meinem Vater um mich zu werben,“ brachte ſie tonlos hervor. „Wenn Ihr für mich im Herzen wirklich etwas übrig habt, ſo verlaßt unſere Ranch und kommt nie und nimmer wieder zu uns.“

Gordon Harland ſtand wie vom Donner gerührt. Er vermochte fie nur ungläubig anzuftarren.

„Übereil dich nicht!“ mahnte der Rancher. „Keinem zulieb oder zuleid ſollſt du dich entſcheiden. Auch wenn jener Mann dort mir willkommen wäre und ich eure Hände ſegnend zuſammenlegen könnte, müßte ich dich doch an ihn verlieren. Das hat nun einmal der Himmel ſo gefügt, daß die Frau ihre neue Welt im Manne und ſpäter in ihrer eigenen Familie findet. Ich wiederhole dir: ich will von dir kein Opfer gebracht haben und wenn wir uns künftig auch fremd werden müſſen, ſo denk' ich darum nicht geringer von dir.“

„Mein Entſchluß iſt gefaßt,“ ſagte die leiſe vor ſich hin weinende Emily. „Ich bleibe bei dir, Vater.“

„Etwa, weil du's deiner ſeligen Mutter in ihrer Sterbeſtunde verſprochen haſt?“ fragte der Rancher.

„Nein, Vater, die Mutter war ja ſo gut, daß ſie

= Novelle von Otto Hocder. 159

mir ſelbſt verzeihen würde, bräche ich ein ihr gegebenes Verſprechen,“ rief ſie bewegt. „Aber ich will bei dir bleiben, weil ich nicht anders kann. Du müßteſt mich gerade von dir treiben und ſelbſt dann käm' ich doch wieder!“ ſchluchzte ſie laut hinaus. |

Eine Weile blieb es ftill im Zimmer. Man hörte nur das ſchwere Atmen des in felten bei ihm wahr- zunehmender Rührung auf feine Tochter herabſchauen- den Ranchers und deren Weinen.

Dann ließ Tom Dugan den Blick nach dem verſtört ſtehenden Freier ſchweifen. „Ihr habt die Entſcheidung meines Kindes gehört?“ fragte er.

„Nein nein, das kann nicht Emilys wahre Mei- nung fein!“ widerſprach Gordon heftig. „Ich weiß, daß fie mich liebt und nicht fähig iſt, mit meinen bei- ligſten Empfindungen nur ein ſchnödes Spiel zu treiben.“

Bittend wollte er ſich dem das Geſicht an der Bruſt des Vaters verbergenden Mädchen nähern. Doch Tom Dugans abwehrend erhobene Hand hielt ihn zurück.

„Mit Verlaub, Herr, laßt mich erſt ausſprechen,“ ſagte der Rancher rauh. „Wir waren immer ehrliche Gegner, und ich denke, wir werden's auch in Zukunft bleiben. Verlaßt Euch auf mein Wort, in keiner Weiſe werde ich Em'ly zureden oder fie irgendwie zu beeinfluſſen ſuchen fie bleibt freie Herrin ihrer Ent- ſchlüſſe, ob heute oder ſpäter, das bleibt ſich gleich. Leichtſinn wäre es geradezu, wollte ſie über ihr ganzes zukünftiges Schickſal unüberlegt entſcheiden. Aber ich kenne meine Tochter, ſie wird mit ſich ins reine kommen. Der über uns allen regiert, wird ihr dazu helfen und wie immer ihr Entſchluß auch ausfallen mag, ich laß ihn Euch wiſſen.“ |

Emily richtete ſich auf. „Zürnt mir nicht,“ wendete fie ſich zu Gordon. „Ich könnte nicht glücklich an Eurer

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Seite werden. Laßt meinem Vater ſein Eigenland, rührt nicht an meiner heiligen Heimatfcholle, und ich will Euch gehören. Und nun ſei Gott mit Euch!“ ſchluchzte ſie auf.

Gordon Harland nahm feinen Hut vom Tiſche, ver- neigte ſich ſtumm und verließ ohne ein weiteres Wort zu äußern das Zimmer.

Nach einer kurzen Weile ſah ihn der Rancher mit verhängten Zügeln davonreiten.

5.

Die Chinookwinde blieſen.

Eiſig kalt und froſterſtarrt hatte ſich noch der ſpäte Märzmorgen angelaſſen. Hinter dichten Dunftichleiern war die Sonne verborgen geblieben, bis um die frühe Nachmittagsſtunde unvermittelt ein tiefer Atemzug durch die noch im Winterſchlafe liegende Natur gegangen war. Mit einem zweiten ſchwülen Atemzuge war die Erde wach geworden, hatte die Bruſt geweitet und ſich gereckt. Und dann hatte es zu blaſen begonnen, gleich zu Beginn verſengend warm. Mit jeder weiteren Stunde hatte der Sturm an Stärke gewonnen und ſchließlich mit vollen Backen Feuersgluten über das winterliche Land getragen. Dann hatten ſich die himm- liſchen Schleuſen geöffnet, und die wolkenbruchartigen Regenmaſſen waren vom glühenden Windhauch an— gewärmt worden.

Als früh die Nacht herniederſank, da weinte der Schnee nicht länger. In ſeine fußhohen Mauern war nicht nur Breſche gelegt, ſondern abertauſend Bäche ergoſſen ſich aus ihnen über Weg und Steg, duckten ſich unter den heulenden Windſtößen und ſtoben kaskaden— gleich vor ihnen her.

Die Chinookwinde blieſen.

u Novelle von Otto Hoecker. 161

In ihr Heulen miſchte ſich dumpfes Donnerrollen. Je weiter die Nacht voranſchritt, deſto häufiger zuckten flammende Blitzgarben durch die Finſternis und krachten brüllende Donnerſchläge hinterdrein.

Kein Auge ſchloß ſich in dieſer Schreckensnacht in der Duganranch.

Kurz nach Einbruch der Dunkelheit war Bill, un- geachtet der flehentlichen Bitte ſeiner Schweſter, zu Pferde nach dem oberen Tal, wo der Reit ihrer früher ſo ſtattlichen Viehherde untergebracht war, aufgebrochen, um den Ausbruch einer Stampede zu verhindern, ob- wohl er im Falle des Scheuwerdens und Ausbrechens der Tiere als einzelner wenig oder gar nichts auszu- richten vermochte.

Emily weilte mit ihrem Vater im Wohnzimmer. Aber obwohl dort die Hängelampe trauliches Licht ver- breitete und die Außenläden geſchloſſen waren, leuchtete der Widerſchein der Blitze immer häufiger durch die Ritzen.

Der alte Rancher ſchritt mit auf dem Rücken zu- ſammengelegten Händen in der Stube hin und her. Das zunehmende Wüten der draußen entfeſſelten Ele- mente hatte ihn ruhelos gemacht; aber er wurde nicht müde, mit geneigtem Kopfe auf das Sturmgeheul und die mit jeder neuen Minute an Heftigkeit zunehmende himmliſche Kanonade zu lauſchen.

„Wäre nur wenigſtens Bill daheim!“ klagte Emily, als die Oonnerſchläge draußen nicht mehr aufhören wollten, ſondern ſich wie gegen eine belagerte Feſtung gerichtetes ſchweres Geſchützfeuer anhörten und da— zwiſchen der zum Orkan erſtarkte Sturm mit gewaltigen Fäuſten an den Grundmauern des Hauſes rüttelte. „Wo willſt du hin, Vater?“ unterbrach ſie ſich dann erſchreckt, als ſie wahrnahm, wie der alte Mann ſeinen

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Kragen hochſchlug und den breitrandigen Hut tief in die Stirn drückte.

Tom Dugan trat auf ſein Kind zu, und mit un— gewohnter Zärtlichkeit ſtreichelte er ihre bleichen Wan- gen. „Viſt doch ſonſt fo klug und tapfer, Em'ly,“ ſagte er in aufmunterndem Tone. „Warum willſt du jetzt verzagen, wo unſere Befreier im Anzug ſind eh? Hab' ich's nicht immer geſagt, daß die Chinookwinde blaſen würden? Nun find fie da, und ich will fie be- grüßen gehen!“

„Die Chinookwinde —“

„Hörſt du das orgeltönige Brauſen? Ja, das ſind ſie! Nun mögen die Herren da unten ihre Dämme hüten!“ |

Er Schritt zur Tür hinaus. Doch ſchon wenige Mi- nuten ſpäter kam er zurück.

„Der Fluß ſteigt gewaltig,“ ſagte er. „Er hat den Aferrand beinahe ſchon erreicht. Aber ſollte er auch austreten, ſo laß dich's nicht kümmern. Einmal, als du noch in der Wiege lagjt, hatten wir das Waſſer ſogar fußhoch hier in der Stube, bis es ſich mit dem ſchwin⸗ denden Unwetter wieder verlief. Das da iſt die Höhen- marke, höher kann das Waſſer nicht ſteigen. Dafür ſorgen die unterirdiſchen Abflüſſe.“

Damit trat der alte Mann wieder in die Nacht hinaus.

Vom Himmel goß es in Strömen, und in ſchier unaufhörlicher Folge flimmerten die Blitze von einem Talende zum anderen und hüllten es in unirdiſche, blaugrüne Beleuchtung. Der Rancher achtete kaum darauf. Er ſpürte auch die Waſſergüſſe nicht, die der heulende Sturm ihm ins Geſicht peitſchte. Der Fluß begann immer raſcher zu ſteigen. Davon überzeugte ſich der Rancher bei neuem Blitzesleuchten, als ſein

2 Novelle von Otto Hoecker. 165

Blick das gewohnte ſchmale Flußbett ſuchte und ſtatt ſeiner eine bewegte, ſtrudelnde Waſſerfläche, die ſchon den Korral erreicht hatte und wie einziehende Flut Wellchen um Wellchen weiter voranwarf, wahrnahm.

Sein Herz frohlockte. Die unnatürliche Schwüle in der Luft erfüllte ihn mit wohligem Behagen.

Die Chinookwinde blieſen. |

Sie raunten ihm verheißend in die Ohren, was ſie wirken und ſchaffen würden. Hei, wie ſie von den Höhen herabfegten! Lauter ungebändigte Rieſen, die ſpielend jedes Hindernis nahmen und zerdrückten, das ihrem Siegeszuge Einhalt gebieten wollte; die von den Wegen, die ſie ſeit urewiger Zeit gezogen, nicht ließen; die den zu reißenden Bergſtrömen gewandelten Schnee in die alten Bahnen treiben würden. Und dann kam die Stunde des Gerichts! Wenn die mauerdiden dämme ins Wanken gerieten, wenn die wilden, ungebärdig tal- wärts ſchießenden Waſſermaſſen ſich nicht länger in den künſtlich für fie geſchaffenen Kanalläufen eindäm- men ließen, wenn mit ihnen die ſchwere Artillerie kam, die entwurzelten Rieſenſtämme, die aus hundert- tauſendjähriger Ruhe losgebröckelten Felſen! In ihrem unaufhaltſamen Zerſtörungslaufe zerrieben ſie im Laufe einer einzigen Nacht, was Hunderte von Menſchen— zwergen im Laufe von Jahren geſchaffen hatten, machten die entweihte, bedrohte Erde wieder zu Gottes Land, verhalfen dem Herrn der Scholle zu gerechtem Siege über ſeine Bedränger und Widerſacher!

Mit wehendem Haar, das Geſicht von Sturm und Regen gepeitſcht, ſtand Tom Dugan vor dem Grabe ſeiner Frau und rüttelte an den ſchweren Felsſteinen, als wollte er die Schläferin darunter zur Witwiſſerin des ſeine Seele mit übermächtigem Drange erfüllenden Jubels machen.

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„Mutter, die Chinookwinde blaſen! Sie halten Ge- richt, Mutter ſie ſorgen dafür, daß niemand deine Ruheſtätte ſtören darf!“ 5

Je näher die Mitternacht heraufzog, deſto entfeſſelter wüteten die Elemente. Von den Höhen kam es mit Brauſen. Die Schneekronen wankten und ſtürzten, und ſtatt ihrer plätſcherte es kaskadengleich die ſteilen Lava- wände herab, kamen die unterwaſchenen Gipfel ſelbſt unter polterndem Getöſe herunter.

Jauchzend breitete der alte Mann die Arme nach den leuchtenden Blitzen und den zum Tale nieder— ſtrömenden Waſſermaſſen aus.

Seine Retter und Befreier!

Sie meinten es freilich beinahe allzu gut. Aber Tom Dugan lachte ſorglos, als die Haustür aufgeriſſen wurde, in deren Rahmen die zitternde Geſtalt Emilys ſichtbar wurde, das aus der Wohnzimmertür ſtrömende Licht in ſchwärzliches Gewäſſer blinkte und er die unterſte Verandaſtufe ſchon von der bereits an der nächſt höheren leckenden Flut bedeckt ſah.

„Hat nichts zu ſagen, Kind, ängſtige dich nicht!“ rief er. „Mag ja ſein, daß wir einen naſſen Eſtrich bekommen das ſpart ein Aufwaſchen! Hohoho, nun haben wir wieder Waſſer und glaub mir, daran wird es in unſerem Tale nun nimmer fehlen!“

Nur weitergeblaſen, ihr Chinookwinde! Schafft gründliche, ganze Arbeit!

Gordon Harland war mit einem Häuflein Frei— williger nach der Duganranch unterwegs. Die Sorge um das Schickſal Emilys und ihrer Angehörigen hatte ihn die Gefahren eines Nachtritts verachten laſſen. Eine kleine Schar beherzter Männer hatte ſich ihm ange— ſchloſſen, um der hartbedrängten Rancherfamilie Hilfe

2 Novelle von Otto Hoecker. 165

und Rettung zu bringen. Mitleidlos trieb Gordon Har- land feinen Gaul immer wieder zu erhöhter Schnellig- keit an. |

Auf einmal, noch ungleich plößlicher als er zum erſten Male tief unter fich die Duganranch erblickt gehabt, ſah er fie wieder, graugrün im unirdiſchen Lichte der niederzüngelnden Blitze. Dann, als lichtloſe Finſternis ſie wieder umgab, da hörten die Reiter durch das Krachen der Oonnerſchläge und das Heulen des fie mit heimtückiſchen Stößen zuweilen ſchier aus den Sätteln ſchleudernden Orkans von unten herauf dumpfes Rindergebrüll.

In ſauſendem Lauf ging es den Zickzackweg hin- unter. Faſt unaufhörlich leuchteten die Blitze den Pferden. Unten trafen die Reiter mit Bill Dugan zuſammen, der unter lautem Geſchrei und Beitichen- knallen die vielhornige, im Leuchten der Blitze ſich wie eine kompakte Maſſe ausnehmende Herde den Ser— pentinenweg hinaufzutreiben verſuchte.

Sie reichten ſich ſtumm die Hände.

„Reitet voran!“ rief Bill dann rauh. „Ich muß das Vieh erſt noch in Sicherheit bringen! Steht meinen Leuten bei!“ Seine Stimme zitterte plötzlich. „Oer obere Taleingang iſt durch Stämme und Felsſteine wie vermauert, ſonſt hätten wir die volle Uberſchwem- mung ſchon hier unten! Aber wie lange widerſtehen ſie dem Waſſer? Ich fürchte, daß für unſer Tal der Jüngſte Tag angebrochen iſt!“

Weiter jagten Gordon Harland und ſeine Leute mit verhängten Zügeln. Den Tallauf hinunter. Als ſie den freien Platz vor dem Ranchhaus erreichten, ſpürten fie, wie ihre Pferde mit den Hufen im Waſſer planſchten. Wie fie abſprangen, reichte ihnen das heftig ftrudelnde Waſſer ſchon bis zu den Knien.

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Ein greller Blitz zeigte Gordon den Rancher. Wie verzückt ſtand dieſer auf der Vorderveranda, deren oberſte Stufe ſchon in der einen weiten See bildenden Flut verſchwunden war, und ohne auf den Ankömm— ling, den er für ſeinen Sohn halten mochte, weiter zu achten, breitete er begrüßend die Arme nach den gur- gelnden Waſſermaſſen aus.

„Gerichtstag!“ rief er mit vor Bewegung zitternder Stimme.

„— und Verſöhnungstag!“ ging es Gordon Harland durch den Sinn.

Er hielt ſich nicht länger bei dem Rancher auf, denn unter der Wohnzimmertür erblickte er Emily.

Als dieſe ihn erkannte, kam ein leichter Schrei über ihre Lippen. Verſtört wich ſie ins Zimmer zurück.

„Ihr habt geſiegt!“ ſchluchzte ſie auf. Geblendet von einem niederflammenden Blitzſtrahl ſchlug ſie die Hände vor das Geſicht. Der zugleich dröhnende Donner ſchien das Haus zerſplittern zu wollen. „Ah, das iſt unſer Letztes nun kommt das Ende!“

Aber Gordon packte ſie beſchwörend beim Arm. „Jetzt iſt keine Zeit zu unnützem Klagen!“ rief er ihr zu. „Wir wollen das Wertvollſte zu packen und zu retten ſuchen. Faßt tüchtig mit an,“ wendete er ſich an ſeine ihm ins Zimmer nachgefolgten Begleiter. „In ſpäteſtens einer halben Stunde muß das Haus aus— geräumt und wir wieder unterwegs ſein!“ Dann wieder zu Emily gewendet: „Bill hab' ich weiter oben ge- ſprochen er wird bald hier ſein und uns helfen.“

Da kam er auch ſchon herangepreſcht. Waſſergarben ſpritzten an dem vor der überſchwemmten Veranda ſein Pferd Zügelnden hoch.

„Kommt mit, wir werden die Pferde vor den großen Wagen ſpannen!“ rief er Gordon zu.

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„Unſinn!“ unterbrach ihn der herzutretende Rancher. „Laß dich nicht einſchüchtern, Bill das Waſſer kann nicht höher ſteigen, es hat ſeine Höchſtmarke bereits erreicht!“

„Das Waſſer hat ja erſt zu ſteigen begonnen!“ rief Gordon Harland. „Wollt FIhr's noch immer nicht be— greifen, daß kein Abfluß mehr exiſtiert, Mann? Das Waſſer von den Höhen bleibt hier im Tal und wandelt es zum See!“

„Das lügt Ihr, Mann!“ ſchrie Tom Dugan. „Ich hab' es ſteigen und wieder fallen ſehen, da waret Ihr noch nicht geboren! So hoch war's wie heute auch und fiel doch wieder. Hinten im Felswinkel ſtürzt der Fluß in die Tiefe, und dorthin ziehen die Waſſer ab!“

Ungeduldig rang Gordon die Hände. „Früher wohl, aber heute nicht mehr! Heute wehrt ihnen die Tal- ſperre den Ablauf. Eure Chinookwinde haben nur verfrüht zuſtande gebracht, was die Talſperre nach ihrer Vollendung für immer bewirken wird: in wenigen Stunden wird Euer Tal zum See!“

Das fanatiſche Lachen des alten Mannes unterbrach ihn. „Es braucht ſtärkere Leute als euch, um mit den Chinookwinden fertig zu werden!“ rief er. „Schaut zu, was morgen aus euern Dämmen geworden iſt!“

Vorüber an ihm eilte Gordon wieder ins Haus, während Bill draußen einen harten Kampf mit den geängſtigten Pferden zu beſtehen hatte. Was immer ihm in die Hand kam, trug Gordon hinaus und brachte es in dem inzwiſchen von Bill vor die Veranda ge— ſchobenen Wagen unter. Geiſterbleich, mit ſtoßweiſen Atemzügen wie ein vor ſich hinſchluchzendes Kind half Emily den im Schweiße ihres Angeſichts ſchaffenden Männern.

Es blieb nicht mehr viele Zeit übrig. Nur die leich-

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teren Möbelſtücke, ferner Kleider, Haus- und Küchen- gerät in Körben und Säcken konnte man noch unter die waſſerdichte Wagenplane ſchaffen.

Schließlich war das Waſſer an den im Zimmer Weilenden ſchon kniehoch gekrochen. Nur mit Mühe konnte Emily ſich noch aufrecht halten. Unausgeſetzt rüttelte das verheerende Element an den Grundpfeilern des Hauſes, immer bedrohlicher gerieten die Mauern, ſo feſt gefügt ſie auch waren, ins Wanken.

„Das geht vorüber. Mit dem Morgen zieht das Waſſer wieder ab!“ erklärte Tom Dugan.

„Dann kehren auch wir wieder zurück!“ rief Bill von draußen. „Jetzt aber kommt kommt endlich!“

„Flieht ihr,“ ſagte Tom Dugan, „ich hüte mein Haus!“

„Aber das iſt ja der helle Wahnſinn!“ rief Gordon.

Emily warf ſich dem Vater ſchluchzend an die Bruſt. „Komm, Vater oder ich bleib' bei dir!“

„Ich hüte mein Haus!“ beharrte der alte Mann. „Geht ihr nur ich fürchte mich nicht. Das Waſſer verläuft ſich und morgen iſt alles, wie es war, ehe ihr mit eurer Talſperre kamt!“

„So geht an Euerm Eigenſinn zugrunde, wenn FIhr's durchaus ſo haben wollt! Aber Emily darf nicht blei- ben fie gehört mir! Verſteht Ihr, mir gehört fie und ich rette ſie auch gegen ihren Willen!“

In großer Erregung ſuchte Gordon die Geliebte von ihrem Vater loszumachen.

Aber ſie klammerte ſich laut aufſchluchzend an deſſen Bruſt. „Laßt mich ich will bleiben, mit meinem Vater will ich leben und ſterben!“ ſchluchzte fie krampf— haft auf.

Aber Harland ließ in ſeinen Bemühungen nicht nach. „Magſt mich hinterher ſchelten, fo viel du willſt,“

o Novelle von Otto Hoeder. 169

raunte er ihr zu, „aber jetzt mußt du dich von mir in Sicherheit bringen laſſen komm!“

„Ich bleib’, wo mein Vater iſt!“ ſchrie fie noch ein- mal verzweifelt.

„Wollt Ihr Euer eigen Fleiſch und Blut morden?“ ſchrie der Ingenieur den Rancher nun an. „Soll das liebe Mädel Eures Dickkopfs halber elendiglich ertrinken müſſen?“

Wie aus einem Traume erwachend, ſtarrte Tom Dugan mit weitgeöffneten Blicken um ſich. „Em'ly mein Kind mein Liebling!“ ſtöhnte er auf.

„Ich bleib' bei dir, Vater und muß es geſtorben ſein, ſo erbarme Gott ſich unſer. Ich verlaſſ' dich nicht!“

Noch eine Sekunde voll verzweifelten Seelen kampfes verſtrich. Dann preßte Tom Dugan fein Kind an ſich und hob es hoch. „Nein, Em''ly, ſterben ſollſt du nicht müſſen! Wie ſollt' ich ſonſt der Mutter unter die Augen treten können komm!“ |

Mit Emily in den Armen watete er zur Tür.

Gordon wollte die Hängelampe auslöſchen.

Da wehrte er mit energiſchem Kopfſchütteln ſeinem Vorhaben. „Wenn ſchon mein Glück untergehen muß, jo mag’s mit brennenden Lichtern geſchehen!“ ſagte er dumpf.

Als letzter, immer noch die an feinem Herzen wei- nende Tochter im Arme, verließ er das Haus. Das Tor konnte er nicht mehr ſchließen, denn das Waſſer ſtand ſchon über dem Türſchloß.

Unter dumpfem Angſtgewieher zogen die Pferde an. Als das Gefährt ſich ſeinen Weg durch die ſtrudelnde Flut, vorüber am wellenumtoſten Grabe, mühſelig er— kämpfte, kam ein Schluchzen über die Lippen des alten Mannes, der neben dem Wagen einherritt, ohne Emilys Hand loszulaſſen. a

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„Mutter, ich komm' wieder zu dir wir bleiben beiſammen, Mutter!“ ſchrie er durch das Brüllen der Donnerſchläge.

Nun ging es das Tal hinauf, und endlich war die ſichere Höhe erreicht, und die abgerackerten Pferde durften ſich verſchnaufen.

Das Gewitter hatte ſich ausgetobt, und auch der Sturm ebbte ab. Dafür ſenkten ſich rieſige Wolten- maſſen tief zur Erde, und der Regen goß weiter. Auch die laſtende Schwüle hielt an, und ſtatt der grollenden Donnerſchläge hörte man nun das geſchwätzige Plät- ſchern der an den Felsmauern niederrieſelnden Schnee- gewäſſer und das hohle Raufchen des unten im Tal- keſſel noch unabläſſig ſteigenden Fluſſes.

Emily litt es nicht länger im Wagen. Sie ſprang ab und trat dicht an den Abgrundrand, wo bereits Gordon Harland ſtand, der ſein Pferd mit der einen Hand beim Zügel gefaßt hielt.

Von unten herauf grüßte noch immer das von der Hängelampe im Wohnzimmer ausſtrahlende Licht. Durch die Fenſter, bis zu deren Simſen die gefräßige Flut bereits hochgeſtiegen war, leuchtete die Lampe auf ein wildbewegtes und unüberſehbares Meer.

Durch die ſchweren Wolken begann der junge Tag zu dämmern und ließ die Taltiefe noch ſchwärzer und troſtloſer verlaſſen erſcheinen.

„Verloren heimatlos!“ kam es aufſchluchzend von Emilys Lippen. |

„Das Tal unten konnte nicht immer grünen feine Zeit iſt um!“ ſagte Gordon ernſt. „Aber heimatlos biſt du darum doch nicht geblieben, arme liebe Emily. Datf ich dir fortan Vaterhaus und Heimat erſetzen, darf ich deines Vaters Sohn werden willſt du?“

Als er ſie an ſich zog, da fühlte er keinen Widerſtand

2 Novelle von Otto Hoecker. 171

mehr. Weinend ließ ſie ſich von ihm an die Bruſt ziehen, und mit geſchloſſenen Augen, wie um das Schreckliche unten in der Tiefe nicht länger ſehen zu müſſen, ruhte ſie an ſeinem Herzen.

Auch Tom Dugan war vom Pferd geſtiegen und bis dicht an den Abgrundrand vorgetreten wie damals vor langen Fahren, als ſein verheißenes Land ihn zum erſten Male von der nämlichen Stelle gegrüßt hatte. Damals war ſein junges Weib neben ihm ge— ſtanden, hatte verklärt lächelnd ihn angeblickt, zum Tal hinuntergedeutet und geſagt: „Dort ſoll unſere Heimat ſein!“

Für die Ewigkeit hatten ſie geplant und gebaut. Nun wankte unten das Haus. Das Waſſer wuſch zwiſchen den aufeinandergetürmten Steinen. Längſt hatte es die Scheiben eingedrückt. Das Wohnzimmer war noch der einzige lichte Fleck. Und jetzt begann auch die Lampe zu flackern. Vom Waſſer getragen hob ſich der Tiſch, der ein Menſchenalter unter ihr geſtanden, zu ihr empor. Nun ſtieß er gegen ſie, und ſie begann pendelnd zu ſchwanken. Immer ſtärker flackerte die Flamme und dann erloſch ſie plötzlich.

Nun war es völlig Nacht da unten geworden. Da unten ſtarb, was ſie liebgehabt ſie konnten es nicht abwenden.

Dann kam aus der Tiefe ein Krachen und Splittern, dazwiſchen das klatſchende Anſchlagen hochſpritzender Wellen. f

Angſtvoll ſuchte Tom Dugans Blick die Stelle, wo er das Grab ſeines Weibes wußte. Fahl leuchtete nun der junge Morgendämmer auch in die Tiefe. Dort war jetzt alles verſchwommen grau in grau. An den feſtgetürmten Steinen kroch die zerſtörende Flut hoch. Wenn zuweilen eine Giſchtwelle brandend hochſchlug,

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konnte man meinen, auf den Steinen ſtände eine weiß— verſchleierte Geſtalt und winke.

Tom Dugan ſtand mit weitgeöffneten, ſtarren Augen. Er wenigſtens ſah ſein verklärtes Weib in ſchimmernd— weißem Gewande auf dem Grabhügel ſtehen und ihm zuwinken. Durch das ungewiſſe Dämmerlicht glaubte er ihre vertrauten Züge, ihre winkenden Hände deut- lich erkennen zu können.

Bis die Flutmaſſen auch am Grabe ihr Zerſtörungs- werk vollendet und die hochgetürmten Steine unter- wühlt hatten. Wie ſie nun auseinanderbrachen und in der hochaufſchäumenden Flut verſchwanden, da ſah es ſich beinahe an, als ſchwebe über ihnen ein weißes, ſchleierhaftes Gebilde, winke und flöge aufwärts zu den in ergriffenem Schweigen Stehenden.

Der Wind ſchlug plötzlich um und wehte den Regen gegen die Geſichter der kleinen Gruppe, weich und lind, als wolle er ſie tröſtend liebkoſen. |

Ein Schauer ging durch Tom Dugans mächtige Geſtalt, und er ſtreckte die Hände aus, als wolle er etwas Unfichtbares, das plötzlich neben ihm ſtand, begrüßen.

„Mutter nun verſteh' ich deine Meinung!“ flüſterte er und blickte ſo ſeltſam eigen, als ſchaue er in ein gütiges Lächeln, das außer ihm niemand ſehen konnte. „Du weilſt nicht länger mehr da unten, du kamſt zu mir und du bleibſt bei mir! Ach, Mutter, nun mögen die Waſſer brauſen! Ich hab' dich und ich halt' dich du biſt wieder bei mir!“

Der Rancher achtete nicht auf die verwunderten Blicke der um ihn Stehenden. Wie er ihnen zunickte, waren ſeine Augen klar wie immer.

„Vorwärts!“ ſagte er. „Wir ſind wieder beiſammen, keiner fehlt uns mehr und nun des Weges weiter, wohin der Herr uns führt!“

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* %

2 Novelle von Otto Hoecker. 173

Gordon ſuchte den Rancher in der Bretterhütte auf, in der die Familie einſtweilen Unterkunft gefunden, nachdem ſich herausgeſtellt hatte, daß das Hochwaſſer fein Zerſtörungswerk gründlich beſorgt und den Tal— keſſel dauernd unter Waſſer geſetzt hatte.

Mit einem Briefe in der Hand trat er vor den alten Mann.

„Joe hat an mich geſchrieben,“ ſagte er mit einem ſtrahlenden Seitenblicke auf die errötende Emily, „er weilt jetzt in Neumexiko, und ſeiner Behauptung nach gibt es dort gutes Land zu wahren Spottpreiſen zu kaufen. Er läßt Euch durch mich den Vorſchlag machen, dorthin zu kommen und Euch dort anzukaufen. Was meint Ihr dazu?“

In den letzten Wochen war Tom Dugan ein ganz anderer geworden. Er hatte in ſeiner Streitſache mit der Baugeſellſchaft dem Ingenieur völlig freie Hand gelaſſen und die ihm bewilligte Entſchädigungsſumme angenommen, ohne ein Wort dazu zu ſagen.

„Überall iſt Gottes Erde,“ erklärte er nun, „und Joe weiß, was wir für Land gebrauchen. Nun die Mutter wieder bei mir iſt, geh' ich bis an das Ende der Welt. Aber was ſoll aus Euch werden, Gordon ich kann mich nicht von Emily trennen!“

„Das ſollt Ihr auch nicht, denn wir bleiben bei— ſammen!“ erklärte Gordon im Tone freudiger Zu— verſicht. „Ich habe von der Geſellſchaft meine Ent— laſſung erbeten und erhalten. Die Dammbauten ſind ohnehin nahezu fertig und haben die Waſſerprobe glän- zend beſtanden. Was noch zu tun bleibt, kann auch ein anderer vollbringen. Laßt mich Euer Sohn ganz fein Eure rechte Hand im Verein mit Bill auch bei der Arbeit. Die Erde lockt und ruft mich. Nachdem ich die Freiheit gekoſtet, mag ich nicht mehr zum Bann

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der Großſtadt zurückkehren ein freies, glückliches Daſein an Emilys Seite winkt mir als höchſtes Lebens- glück!“

Da ſchlug Tom Dugan wortlos in die ihm dar- gebotene Hand. Er war viel zu bewegt, um ſprechen zu können, und als die Liebenden ſich in ſeliger Am- armung hielten, nickte er immer wieder vor ſich hin.

„Mutter,“ flüſterte er mit zitternder Stimme, „nun hat uns der Himmel noch einen neuen, lieben Sohn dazugeſchenkt. Nun wird auch unſere Emily wieder klare Augen bekommen und morgen gehen wir. wieder zuſammen auf die Suche nach neuem Eigen- land, du und ich, zuſammen mit unſeren lieben Kindern.“

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Darifer Straßenberufe. von A. O. Klaußmann.

mit 9 Bildern. Y (nachdruck verboten.)

Mi vollem Recht hat man die Boulevards von Paris, beſonders die großen Boulevards, das „Herz Frankreichs“ genannt. Auf dieſen breiten, zu- ſammenhängenden Straßenzügen, die Napoleon III. durch ſeinen Präfekten Haußmann durch das Gewirr der engen und ſchmutzigen Gaſſen der Pariſer Altſtadt brechen ließ, ſpinnt ſich in der Tat bei Tage und bei Nacht das Leben und Treiben des Pariſers ab, ſowohl deſſen, der feinen Beſchäftigungen nachgeht, als des- jenigen, dem es feine Verhältniſſe geſtatten, zu „Tla- nieren“. Die Elyſäiſchen Felder und der Zuilerien- garten ſind der große Feſtplatz von Paris, auf dem ſich die offiziellen Veranſtaltungen abſpielen. Aber wer das eigentliche Leben und Treiben der Bevölkerung von Paris kennen lernen will, der muß ſeine Studien auf den Boulevards machen. |

Beginnen wir unfere Wanderung auf dem Baſtille- platz, und gehen wir den Boulevard Beaumarchais hin- auf. Hier begegnen uns eine Menge von Menſchen, denen man es anſieht, daß fie nicht nur zum Spazieren- gehen, ſondern ihrer Geſchäfte halber unterwegs ſind. Man findet bei ihnen nicht das überhaſtete Eilen des: Berliners, noch den finſteren Geſchäftsernſt des Eng— länders. Dieſe Leute haben noch einen Augenblick Zeit

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übrig neben ihren Geſchäften. Auf den GStraßen- dämmen flutet ein ungeheurer Verkehr von Omnibuſſen, Straßenbahnwagen, Droſchken und Equipagen. Die fünf- bis ſiebenſtöckigen Häuſer zur Rechten und Linken des breiten Fahrdammes weiſen in ihren Erdgeſchoſſen ausnahmslos glänzende Läden auf. Es fällt uns vor allem auf, daß Schuhwaren, Korſette, Delikateſſen, Hüte und Modewaren zum Verkauf gehalten werden, und ſchon nach kurzer Zeit entdecken wir, daß es ungemein viele Friſeure und Haarhändler in Paris gibt.

Man ſollte alſo kaum glauben, daß auf den Boule- vards noch ein anderer Verkauf als in dieſen glänzen— den, mit allem Raffinement der Schaufenſterdekoration und des modernen Komforts ausgeſtatteten Läden mög- lich wäre. Aber es drängen ſich uns neben den Blumen- verkäuferinnen und den Camelots, die beſonders Zei— tungen und politiſche Flugblätter verkaufen, noch andere Typen auf, ſo charakteriſtiſch und eigenartig, wie man ſie eben nur auf den Pariſer Boulevards finden kann.

Das find Leute, die ihr tägliches Brot auf den Boule- vards erwerben, die ſich ihre Einnahme dadurch ver- ſchaffen, daß fie in origineller Weile etwas zum Ver- kaufe anbieten oder eine Kunſt vorführen. Erfolge für ſie ſind nur bei einem Publikum möglich, das den Wohltätigkeitsſinn hat, den der Pariſer, noch mehr aber die Pariſerin beſitzt. Sie ſind nur möglich dort, wo eine außerordentlich nachſichtige Polizei niemand etwas in den Weg legt, der die Abſicht hat, ſich ein paar Centimes zu verdienen, ſelbſt wenn ſein Gewerbe nichts anderes iſt als ein verkappter Bettel. Aber die Paſſanten ſowohl wie die Poliziſten gönnen dem Unglücklichen den „Selbſtbetrug, der durch fein Gebaren glaubt, er ſei ein „Händler“ oder ein „Künſtler“, während er doch nichts weiter tut, als Almoſen zu fordern.

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Gegen ſolche Zumutung würde ſich zwar gewiß der „Geſchäftsmann“ ſträuben, der eine Menſchenmenge um ſich verfammelt, um auf einer ſchwarzen Tafel mit Kreide Rechenexempel niederzuſchreiben und zu löſen. Wir ſehen es auf dem Bilde, daß ſich kein weibliches

Der Erfinder eines neuen Rechenſyſtems erklärt feine | Methode, bevor er ſeine Broſchüre anbietet. Weſen für ſeine Künſte intereſſiert; aber die Männer, beſonders die jüngeren, lauſchen ſeinen Erklärungen und haben Intereſſe daran, denn er zeigt eine neue Methode des Rechnens, ein abgekürztes Verfahren für Subtraktionen, Multiplikationen und Diviſionen. Für den Mathematiker und den routinierten Kaufmann ſind dieſe abgekürzten, angeblich neuen Methoden etwas 1918. XII. 12

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ſehr Altes; das Publikum aber, vor dem der Rechen- künſtler ſeine Gratisvorleſung hält, folgt gerne ſeinen Ausführungen, denn es ſcheinen da allerlei Vorteile in der ſchwierigen Kunſt des Rechnens geboten zu werden. Natürlich erzählt der Rechenkünſtler auch von ungeheuren Vorteilen, welche die abgekürzte Methode bringen werde; er verſpricht den Zuhörern, ſie würden ſich niemals verrechnen, wenn ſie ſich ſeiner Methode bedienten, und ſchließlich greift er in die Taſche und bietet Broſchüren an, in denen das „neue“ Rechen- ſyſtem erklärt und mit Beiſpielen und Erläuterungen verſehen iſt. Sein ganzes Jackett hat inwendig Taſchen, die dick mit dieſen Broſchüren vollgeſtopft ſind, die nur wenige Centimes koſten und von Intereſſenten gekauft werden, weil das Riſiko eben kein allzu großes iſt. Weiter oben an dem alten Triumphbogen der Porte St. Denis, auf dem Boulevard gleichen Namens, ſehen wir wieder einen Haufen Menſchen um einen Mann verſammelt, der auf der Erde hockt und große weiße Bogen mit Schriftzügen bedeckt. Er hat dieſe weißen Bogen mit Steinen beſchwert, damit ſie der Wind nicht entführt. Mit kühnem Schwung und kräftiger Hand zieht er Schriftzüge auf die weißen Bogen es iſt ein Händler mit Füllfederhaltern, der hier ſeinen Zu— ſchauern vor Augen führt, welch wundervolle Leiſtungen man mit den bei ihm gekauften Schreibwerkzeugen erzielen kann. Es iſt freilich wohl hundert gegen eins zu wetten, daß der Füllfederhalter, mit dem der Händler ſchreibt, der beſte ſeines ganzen Vorrats iſt, daß die anderen Exemplare, die er für billigen Preis verkauft, an Schreibfähigkeit und Dauerhaftigkeit dem Parade— füllfederhalter, den er da vorführt, bei weitem nicht gleichkommen, und daß ſie in noch höherem Maße als ſonſt alle die Tücken beſitzen, durch die ein Füll-

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federhalter ſeinen Beſitzer über kurz oder ng zur Der- zweiflung zu bringen pflegt.

Wir haben den Boulevard des Ftaliens . und kommen an der Oper vorüber. Jetzt find wir auf dem Höhepunkte der großen Boulevards, dem Dorado der

Ein Verkäufer von Füllfederhaltern breitet ſeine Schriftproben auf der Erde aus.

Fremden, dem Hauptquartier der vornehmen Flaneure, die hierher kommen, um zu ſehen und geſehen zu wer- den, und für welche die Arbeit keine Notwendigkeit iſt. Man ſieht es auch den zahlreichen Paſſanten an, daß ſie lediglich ihrem Vergnügen und nicht einer ernſten Beſchäftigung nachgehen. Sie find alle in beſter Stim-

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mung, ſie haben Geld in der Taſche und huldigen dem Grundſatz: Leben und leben laſſen.

Wieder eine Menſchenanſammlung, die ſich be- ſtändig vergrößert. Wir treten neugierig heran und

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Der „Weltweiſe aus dem Morgenlande“ verſammelt eine ungeheure Menge, um nachher Zigarettenpapier zu verkaufen.

trauen unſeren Augen nicht, als wir inmitten der Menſchenmenge, die ſich langſam fortſchiebt, einen echten Magier erblicken. Wir kennen ja aus den Märchen- büchern und von der Bühne her das Koſtüm des Ma— giers, zu dem nach ungeſchriebenem Geſetze ein lang herabwallendes, talarartiges Gewand in bunten Farben und eine hohe ſpitze Mütze gehört. Einen ſolchen Magier

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haben wir vor uns. Der lange Bart paßt vortrefflich zu dem Magiergewande, und das Benehmen dieſes Weiſen aus dem Morgenlande iſt ein höchſt ſonderbares. Hängt er geheimnisvollen Zauberproblemen nach, ſucht er den Stein der Weiſen, iſt er der Welt entrückt durch die ernſten Gedanken, die ihn bewegen? Er blickt zu Boden, bleibt endlich ſtehen, geſtikuliert, murmelt un- verſtändliche Worte und geht weiter. Die neugierige Menge folgt ihm. Wiederum bleibt der Magier ſtehen, hebt die Hände beſchwörend zum Himmel empor, wenigſtens die eine Hand, denn in der anderen trägt er einen großen Karton, und blickt nach den Dächern und den zahlreichen Kaminröhren, die auf jeden Schorn- ſtein des Pariſer Hauſes aufgeſetzt ſind.

Auf den Geſichtern der Leute, die dem Magier neugierig folgen, ſieht man ein liebenswürdiges Lächeln. Nirgends hört man ein Wort der Verhöhnung oder des Spottes. Jetzt bleibt der Magier ſtehen und be- ginnt zu reden. Ein zehnfacher Kreis von Neugierigen umſteht ihn. Er ſpricht gut und mit dem ganzen Pathos und dem lebhaften Gebärdenſpiel des Franzoſen. Er erzählt in humoriſtiſchem Tone von den Forſchungen, die er auf dem Gebiete der höheren Magie gemacht hat, und bietet dann aus ſeinem Karton Zigaretten papier zum Kauf an. Die Käufer find überraſcht, aber ſie lachen. Zigarettenpapier braucht jedermann, denn der Pariſer dreht ſich ſelbſt feine Zigaretten, um nicht für die Zigaretten, die aus den Staatsmonopolfabriken ſtammen und die teuer und ſchlecht ſind, unnützes Geld auszugeben. Es hat zwar wohl jeder der Raucher, die anweſend find, ein oder mehrere Pakete Zigaretten- papier bei ſich, aber ſie kaufen doch. Sie freuen ſich über die originelle Art und Weiſe, in der dieſer Mann ſeine Ware loszuwerden ſucht. Und nicht nur Ware

182 Pariſer Straßenberufe. u

und Geld werden zwiſchen dem Magier und den Käufern ausgetauſcht, ſondern auch verbindliche, höfliche Redens- arten. |

Der lange Marſch hat uns müde gemacht; wir be- ſchließen, auf der Terraſſe eines Cafés auszuruhen.

Der Degenfchluder, der ſich vor einem Café produziert.

Das Wort „Terraſſe“ muß man nicht in dem Sinne verſtehen wie bei uns in Deutſchland. Die Cafetiers, welche ſich an gewiſſen Stellen der Boulevards faſt in jedem Hauſe finden, ſetzen einfach im Sommer einen Teil ihrer Stühle und Tiſche auf das Trottoir, ſpannen ein Leinwandſchutzdach darüber und fertig iſt die „Terraſſe“. Es ſitzt ſich köſtlich in dieſen Pariſer Kaffee-

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häuſern auf den Boulevards, weil man hier wie in einer Theaterloge das geſamte Auf- und Abfluten des Pariſer Lebens ſo bequem beobachten kann.

Da erſcheint ein Mann, der ſich vor den Tiſchen aufſtellt, ſich höflichſt verbeugt, ſeinen Strohhut auf die Erde legt, unter ſeinem etwas fadenſcheinigen Jackett einen Degen mit dünner Klinge herausholt und ſich dann hinſtellt, um dieſen Degen durch den Mund regel- recht in die Speiſeröhre hinabgleiten zu laſſen. Es iſt ein ſogenannter Oegenſchlucker, der feine Künſte produziert. Er ſpricht kein Wort, er ſchreit nicht, er geht auch nicht etwa, nachdem er den Degen wieder aus dem Leibe herausgezogen hat, mit dem Hute in der Hand ſammeln. Aber hier und dort von den Tiſchen winkt man ihn heran und drückt ihm ein Kupferſtück in die Hand. Einen Sou hat man für einen ſolchen Mann immer übrig. Manchem Kaffeehausbeſucher und mancher Be- ſucherin mag es unappetitlich geweſen ſein, dem Mann bei ſeiner Degenſchluckerei zuzuſehen; aber ſie äußern ſich nicht abfällig über ihn, noch weniger machen ſie ihm Vorwürfe, und ſchließlich reichen ſie ihm doch eine Kupfermünze. |

Wir nehmen unſeren Spaziergang wieder auf und gehen nach Nordweſten über den Boulevard Haußmann, bis wir nördlich von dem Platze, auf dem der Triumph- bogen ſteht, in die ſogenannten Außenboulevards ge- langen, die wir nunmehr nach entgegengeſetzter Him- melsrichtung als bisher verfolgen. Über die Boulevards de Courcelles und de Batignolles gelangen wir in die Arbeiter- und Studentenviertel von Paris. Noch immer ſind die Boulevards gewaltig breit und von hohen Häuſern beſetzt; auch die doppelten Baumreihen fehlen nicht, und ſelbſt hier wird man Eleganz und verlockende Aufmachung in den Läden nicht vermiſſen, wenn auch

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natürlich die Ausſchmückung und die ausgeſtellten Waren ſich mit den Schaufenſtern auf den großen Boulevards nicht meſſen können.

Hier fallen uns unter den Paſſanten die Soldaten aus den benachbarten Kaſernen auf, die Kindermädchen,

Der Feſſelungskünſtler auf einem der äußeren Boulevards.

die Dienſtmädchen und Köchinnen, die Arbeiterfrauen, die Studenten, die Künſtler in ihren etwas gewagten Koſtümen. Hier hat man nicht viel Zeit zum Flanieren und Bummeln, aber doch immerhin noch ſo viel Zeit, um ſeine Neugier zu befriedigen. Hier finden ſich die eigenartigen Darbietungen der Leute, die ſich ein paar Centimes verdienen wollen, in derberer Geſtalt und

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eben auf ein anderes Publikum berechnet als auf den großen Boulevards. Und mit wie geringen Mitteln werden dieſe Vorführungen inszeniert! Unſer Bild auf Seite 184 zeigt uns einen Feſſelungskünſtler oder vielmehr einen Befreiungskünſtler. Ein altes Stück Pack- leinwand wird auf die Erde gelegt. Der Befreiungs- künſtler benützt dieſe Packleinwand als Unterlage und

Ein Kopfakrobat auf den Boulevards. wird von feinem Genoſſen (links auf dem Bilde) nach allen Regeln der Kunſt ſo gefeſſelt, daß es unmöglich ſcheint, ſich ohne fremde Hilfe zu befreien. Während aber dann der Gehilfe des Feſſelungskünſtlers plaudernd im Kreiſe der Neugierigen herumgeht, um ihre Auf-

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merkſamkeit auf fich zu lenken, hat ſich der Feffelungs- künſtler mit einigen kühnen Griffen raſch fo weit be- freit, daß er von ſelbſt aufſtehen und einige Ze herumgehen kann.

Man ſpendet einige Kupferſtücke, und die beiden Geſchäftsleute nehmen die Stricke und die alte Badlein- wand auf, um eine Strecke weiter ihre Künſte von neuem zu produzieren. Der Pariſer iſt eben wohlwollend, auf den Außenboulevards vielleicht noch wohlwollender als dort, wo die vornehme Welt ſich ein Rendezvous gibt; ſagt doch das Sprichwort, das bei allen Völkern Gültig- keit hat: „Ein armer Menſch hat ein gutes Herz.“ Des- halb findet auch noch der „Gamin“ eine kleine Ein- nahme, der vor den Kaffeehäuſern der äußeren Boule- vards Rad ſchlägt, auf dem Kopfe ſteht oder andere Künſte ſehen läßt, die beweiſen, daß der menſchliche Kopf ebenſogut als Ramme und Hammer, wie zum Denken benützt werden kann.

Eine verſteckte Bettelei und nichts weiter betreibt die Wahrſagerin, die an einer Hauswand ſitzt, ſich von den Paſſanten die Hand zeigen läßt und dann für zehn Centimes dem Bezahlenden auf einen Zettel Angaben niederſchreibt, wie ſich ſeine Zukunft geſtalten wird. Der Franzoſe iſt abergläubiſch, und es macht ihm Spaß, den Zettel, der Andeutungen über ſeine Zukunft ent- hält, ſeinen Familienangehörigen und ſeinen Freunden zu zeigen. Er weiß auch, daß die Prophezeiung für die Zukunft um ſo beſſer ausfällt, je wertvoller das Geldſtück iſt, das man in die Hände der alten Sibylle legt, und deshalb hat dieſe Pariſer Boulevardpythia wahrſcheinlich eine vielfach größere Einnahme, als wenn ſie nur die Hand ausſtrecken würde, um eine Gabe zu heiſchen.

Gutmütige Menſchen ſind auch immer ſentimental

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und ſind dankbar, wenn man ihnen etwas Sentimentales bietet, ihnen vielleicht ſogar Tränen der Rührung ent- lockt. Das haben ſich auch die beiden Straßenmuſikanten

Eine Wahrſagerin ſchreibt jedem zntereſſenten feine Zukunft auf.

daß ſentimentaler Geſang noch rührender wirkt, wenn er von den ſanften, klagenden Tönen eines Harmoniums begleitet wird. Mit großer Geſchicklichkeit haben ſie ſich ein altes Harmonium ſo hergerichtet, daß ſie es mit Leichtigkeit in den Straßen herumtragen können. Ein zuſammenklappbarer Stuhl für den Harmoniumſpieler, ein Kaſten, der die Noten enthält, wird von den beiden

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. * kräftigen Männern leicht mitgetragen. In den Arbeiter- vierteln, in der Nähe von Kaſernen und Hoſpitälern ſetzen ſie das Harmonium mitten auf die Straße nieder und beginnen ihre Vorführungen. Bald iſt auch ein

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Pariſer Straßenmuſikanten, die ein Harmonium mit ſich führen.

zahlreiches Publikum verſammelt, das andächtig laufcht. Der „Piou-Piou““) denkt bei dem ſentimentalen Ge— ſang an die ferne Heimat und an das liebe Mädchen, das er dort zurüdgelafjen hat, und die auf einem Ein- kaufsgange begriffene Köchin erinnert ſich vielleicht bei dem Geſang mit Rührung des Ungetreuen, der ſie erſt

*) Spottname für den franzöſiſchen Infanteriſten.

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vor kurzem ſitzen ließ. Sie alle haben eine Kupfermünze übrig für die ausübenden Künſtler, die mit Muſik und Geſang ſich in ihr Herz ſtehlen und ihre Rührung wecken.

Längſt haben wir unſere Schritte nach Süden ge- lenkt und find auf den Boulevard de Sébaſtopol ge- langt, der uns an den rieſigen Markthallen vorüber- führt. Außer den Gemüſeverkäuferinnen, die den prunkenden Namen „Händler der vier Jahreszeiten“

Der Verkäufer eines neuen Schuhknöpfers.

führen, und den Suppenverkäufern, die eine dunkle, nicht übel duftende Suppe, nach deren Zutaten man ſich nur nicht allzu genau erkundigen darf, an Lieb- haber abgeben, finden wir noch einen abſonderlichen

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Verkäufer, der Schuhknöpfer an Mann und Frau bringen will. Die liebe Weiblichkeit und Männlichkeit in Paris hält außerordentlich viel auf ihr Außeres und verſteht ſelbſt mit geringen Mitteln ſich modern und elegant herauszuſtaffieren. Weil geknöpfte Schuhe einen ele- ganten Fuß machen, iſt der Knöpfſchuh, den man bei uns ſelten findet, in Paris allgemein verbreitet. Einen Schuhknöpfer braucht daher jedermann, und ein neu- artiger Schuhknöpfer, mit deſſen Hilfe man raſcher fertig wird als mit dem alten Modell, kann immer auf Käufer rechnen. Die Hauptſache iſt, daß man dem Publikum praktiſch vorführt, wie ſehr ſich der Schuhknöpfer be- währt.

Der Verkäufer hat ſich ein dreibeiniges Stativ aus Eiſenſtangen hergerichtet, das er überall leicht auf- ſchlagen kann, und das zur Stütze für den Fuß dient, deſſen Schuh er knöpfen will. Natürlich muß der Ver- käufer einen kleinen eleganten Fuß und neue elegante Fußbekleidung haben und große Gewandtheit im Auf— und Zuknöpfen der Schuhe beſitzen. Dann zieht er nicht nur Neugierige, ſondern auch Käufer heran und kann mit ſeinem Tagewerk zufrieden ſein, wenn das Nacht- dunkel wie eine Wolke von oben her in die Straßen hineinſinkt und überall die elektriſchen Lichter auf- flammen.

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Der Gewiſſensdoktor. Eine Geſchichte zum Nachoͤenken. von A. Erbſtein.

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[Nachoͤruck verboten.)

(Ki Kaſpar, feit einem halben Jahre wohlbeſtallter Doktor der Philoſophie, ſaß ſehr traurig auf ſeiner Bude. Seine Niedergeſchlagenheit war leicht begreif- lich, denn er litt buchſtäblich Hunger. Sein reiches Wiſſen nützte ihn gar nichts, mit dem Beweiſe, daß in einem Kubikzentimeter Gas ſiebenundzwanzig Trillionen Atome enthalten ſind, konnte er kein Brot ſchaffen, kein Schneider gab ihm Kleider für die Mitteilung, daß die Apfelbäume zu blühen beginnen, wenn im Erdboden in einer Tiefe von einem halben Meter eine Tempe- ratur von zehn Grad Celſius herrſcht.

Sein Sinnen und Brüten endete ſchließlich mit dem Entſchluſſe, am nächſten Tage die Stelle eines Schaff- ners bei der ſtädtiſchen Straßenbahn anzunehmen, wenn ihm bis dahin nichts Beſſeres einfallen ſollte.

Während er aber die Lampe ausdrehte, was er aus Sparſamkeit ſtets ſchon vor dem Auskleiden tat, er- heiterte ſich plötzlich ſeine Miene. Er hatte einen guten Gedanken.

Am nächſten Morgen ging er in der Tat nicht zur Direktion der ſtädtiſchen Straßenbahnen, ſondern in ein Zeitungsbureau und gab dort folgende Anzeige auf: „Gewiſſensdoktor befreit nach einer ſtreng wiſſenſchaft—

192 Her Gewiſſensdoktor. | 2

lichen Methode von jeder Seelenangſt, heilt alle Her- zenswunden, löſt peinigende Zweifel, vertreibt Ge- wiſſensbiſſe und gibt dem Leben die wahre Richtung.“ Er fügte noch ſeine Adreſſe und die Aufforderung hinzu, für den erſten Rat eine Zehnmarknote beizuſchließen.

Dann bezahlte er das Inſerat mit den letzten Nickel- ſtücken, die ihm in dem vorhergegangenen Kampfe ums Daſein geblieben waren, und ging in gehobener Stim- mung heim. Kein Zweifel, dachte er ſich, es gibt genug Leute, die von irgendwelchen Gewiſſensbiſſen gequält werden, denen an einer Banknote nichts liegt, die eine Hilfe brauchen, die nur der geben kann, der ſo wie ich alle Geheimniſſe des Lebens kennt. Ich will die Sache ganz ehrlich treiben. Wo kein Rat zu geben iſt, will ich auch kein Geld nehmen. So wird Leiſtung gegen Leiſtung ſtehen, ich muß nicht mehr am Hungertuche nagen und kann vielleicht auch Gutes ſtiften.

Der Erfolg ſeiner Idee war bald ſo groß geworden, daß er eine geräumige Wohnung ſuchen mußte, denn die meiſten Hilfsbedürftigen wendeten ſich nicht, wie er gedacht hatte, ſchriftlich an ihn, ſondern kamen per- ſönlich. Nach Ablauf einiger Wochen hatte er ſchon ſo viele Fälle, daß er zur Erledigung der ſchriftlichen Behandlung einen Sekretär aufnehmen mußte, dem er bald auch die einfacheren Sachen zur ſelbſtändigen Ent- ſcheidung überließ.

Heute herrſchte in dem Vorzimmer des vornehmen Empfangsraumes ein beſonders lebhaftes Treiben. Lauter vornehme Leute waren gekommen. Arme Schlucker erſchienen überhaupt ſehr ſelten, woraus der Doktor den kühnen Schluß zog, daß die Reichen ent weder häufiger ein belaftetes Gewiſſen haben oder doch mehr Zeit zu ſeiner Erforſchung und mehr Geld zu

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ſeiner Erleichterung verwenden können. Dieſe nicht ſehr tiefſinnige Betrachtung machte ſeinem Rufe als Wunderdoktor allerdings wenig Ehre, die Tatſache aber, an die ſich dieſe Betrachtung knüpfte, füllte prächtig ſeinen Beutel. Auf der ſilbernen Schüſſel, die auf dem Tiſche in ſeinem Sprechzimmer ſtand, lagen wieder eine Menge Banknoten; es war ein ergiebiger Tag geweſen, und alle Kunden bis auf zwei, die noch draußen im Vorzimmer warteten, waren in zweifacher Hinſicht erleichtert von dannen gegangen.

Auf das Glockenzeichen des Doktors trat der erſte der beiden, ein älterer, vornehm gekleideter Mann, ins Sprechzimmer ein. Nach der Begrüßung und einigen Fragen und Antworten ſchilderte er feinen Fall folgen- dermaßen. „Ich verſtehe mich ſelbſt nicht, denn ich fange an, an mir zu verzweifeln,“ ſagte er traurig. „Ich habe eine liebe, gute Frau und eine reizende Tochter. Ich bin beiden ſehr zugetan, doch es vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht durch einen unver- nünftigen Wutausbruch, durch meinen Jähzorn meine Frau oder meine Tochter unglücklich und mich ſelbſt verabſcheuungswürdig mache. So vergifte ich unauf- hörlich das Leben der beiden Menſchen, die ich am liebſten auf Erden habe. Sehen Sie, Herr Doktor, erſt heute früh habe ich meiner Tochter ein mit Honig und Butter beſtrichenes Brot an den Kopf geworfen. Ich weiß, daß ich eine Strafe verdiene. Helfen Sie mir, und ſtrafen Sie mich meinetwegen!“

„Können Sie denn Ihr Temperament gar nicht zügeln?“ fragte der Doktor.

„Ich ſtrenge mich mächtig an, es zuwege zu bringen, aber —“

„Wenn es ſo iſt, dann geſtatte ich mir die Frage: Sind Sie ein Freund vom Gehen in AT ar 1918. XII.

194 Der Gewiſſensdoktor. u

„Nein das bin ich keineswegs,“ beteuerte der Mann. Er ſagte aber nicht, daß er ſeine Laufbahn als Laufburſche begonnen hatte zu einer Zeit, da nur wenige Verkehrsmittel vorhanden waren, und daß er ſeither zum Unterſchiede von dieſer beſcheidenen An- fangsſtellung keinen Schritt mehr zu Fuß machte, wenn er es irgend vermeiden konnte.

„Sie haſſen alſo die Bewegung. Nun, ich kann Ihnen aber leider nicht helfen: Sie müſſen von heute an jeden Tag mindeſtens zehn und an jedem Sonntag mindeſtens zwanzig Kilometer zurücklegen!“

„Das iſt ein bißchen arg, Herr Doktor meinen Sie nicht?“

„Es iſt genau die Zahl, die Ihrem Falle ent- ſpricht.“

„Sie faſſen aber Ihre Patienten gar zu ſcharf an!“

„Sie bezahlen mich für einen ſtreng wiſſenſchaft— lichen Rat, und ich darf Ihnen keinen anderen geben. Guten Tag, mein Herr!“

„Würde ich nicht das gleiche durch eine große Spende für einen wohltätigen Zweck erreichen?“

„Ganz gewiß nicht. Zehn Kilometer täglich, am Sonntag das Doppelte das iſt das einzige wirkſame Mittel. Nun wollen Sie mich aber entſchuldigen. Es wartet noch eine Dame draußen.“

Er ging, befolgte den Rat des Doktors und wurde ſchon nach einigen Wochen der beſte und liebenswürdigſte Menſch.

Nach dem Fähzornigen trat ein ſchlankes Fräulein beim Doktor ein. Ihr ſchönes Geſicht war in dieſem Augenblicke ſo weiß wie ihr koſtbarer Schleier. Sie war anſcheinend eines der zarten Geſchöpfe, die viel Liebe und Sonnenſchein brauchen, denn ihre Augen ſchauten ſo furchtſam in die Welt, als ob ſie Angſt hätten, auf

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die unrichtige Welt gekommen zu ſein, wo es gar nicht ſo viel Liebe gibt, als ſie täglich brauchen.

„Kennen Sie mich, wiſſen Sie, wer ich bin?“ fragte ſie ſogleich mit ihrer glockenhellen Stimme.

„Nein,“ ſagte der Doktor ruhig und ſah ſie ſchaͤrf an, ſich wundernd, daß ein ſo herrliches Mädchen etwas auf dem Gewiſſen haben könne.

„Oh, da bin ich ſehr froh!“ rief ſie aus. „Ich fürchtete nämlich, Sie wüßten, wer ich bin. Darf ich mir Ihren Rat erbitten?“ Sie legte bei dieſen Worten eine blaue Banknote auf den Tiſch.

„Bitte, nehmen Sie Platz!“ antwortete der Doktor in freundlichem Tone. „Am beiten iſt wohl, Sie er- zählen mir Ihre Geſchichte ohne Umſchweife.“

„Ich glaube eigentlich nicht, daß ich etwas Unrechtes getan habe,“ ſagte ſie. „Ich bin mir keiner Schuld bewußt; aber ich brauche Ihren Rat, der fo leidenſchafts- los, oder beſſer geſagt, ſo unparteiiſch als möglich ſein ſoll. Sie dürfen aber dabei nicht gewöhnlich oder hausbacken zu mir reden, ſondern müſſen meinen Fall im ſtreng ethiſchen Sinne behandeln.“

„Gewiß, mein Fräulein, dafür haben Sie mich doch bezahlt. Rein wiſſenſchaftlich, nach den ehernen Ge- ſetzen der Ethik will ich Ihren Fall prüfen.“

„Fangen wir alſo an!“ meinte fie. „Ich bin ver- lobt.“

„Darf ich Ihnen gratulieren?“

„Nein!“ rief ſie ärgerlich aus. „Das iſt ja die Sache. Ich liebe den Mann, mit dem ich verlobt bin, nicht in dem Maße, wie ich einen anderen liebe.“

„Warum heiraten Sie dann nicht den anderen?“

„Ich will ja eben von Ihnen hören, welchen von den beiden ich nehmen ſoll, was das Richtige iſt in einem ſolchen Falle. Ich kann ja meinen Bräutigam ſo weit

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ganz gut leiden, aber den anderen liebe ich. Verſtehen Sie mich, Herr Doktor? Den anderen bete ich heim- lich an!“

Eine lebhafte Röte ſchoß bei Ra Morten in a zarten Wangen.

„Und die Schwierigkeit?“

„Geld.“

Der Doktor ſah enttäuſcht darein. Mit ſolchen Dingen hatte er doch nichts zu Schaffen! Aber es ſchien ihm immerhin eine grauſame Sache, daß dieſes ſchöne Mäd- chen verſchachert werden ſollte.

Sie erriet ſeine Gedanken und ſagte: „Es iſt nicht ſo einfach, wie Sie glauben. Sollen die Kinder den Eltern unbedingt folgen?“

„Wenn die Eltern im Rechte ſind ja.“

„Mein Vater hat mich ſehr gerne, verhätſchelt mich in jeder Hinſicht, und nur ſeine Liebe zu mir iſt der Beweggrund zu dem Wunſche, daß ich den Mann heirate, mit dem ich verlobt bin. Er will nicht, daß ich jemals Not leide. Ich bin übrigens auch gar nicht erzogen worden, um die Frau eines armen Mannes ſein zu können. Es wäre daher wohl auch nicht ſchön von mir, den anderen zu heiraten nicht wahr?“

„Wie arm iſt denn der andere?“

„Er hat ein Einkommen von zehntauſend Mark jährlich. Ich muß aber hinzufügen, daß ich beinahe mehr für meine Kleidung brauche.“

Der Doktor ſah ſinnend vor ſich hin.

„Nun, was ſoll ich tun?“ fragte die Beſucherin ungeduldig.

„Was würden Sie tun, wenn der Arme heute abend auf dem Heimwege getötet würde? Nehmen Sie an, Sie würden ihn nie wiederſehen, niemals wieder mit ihm ſprechen.“

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„Ich weiß wirklich nicht, was ich da —“

„Mehr können Sie mir nicht ſagen?“

„Verzeihung, aber er wird ja doch nicht getötet!“

„Ah, Sie weichen meiner Frage aus! Sie wollen alſo dieſer Möglichkeit gar nicht in die Augen ſehen. Oder doch? Was würden Sie alſo tun?“

„Ich glaube, ich würde überhaupt nichts mehr tun, denn ich ſtürbe vor Schreck.“ |

„Nun, dann iſt doch die Sache ſehr einfach. Da gibt es gar keinen Zweifel mehr.“

„Er kann mich aber nicht erhalten, wie ich es ge- wohnt bin.“

„Wenn ich mich nicht täuſche, find Sie aus den glei- chen Stoffen wie die anderen Menſchen gemacht: aus Kohlenſtoff, Sauerſtoff, Stickſtoff und —“

„Natürlich!“ rief ſie lachend.

„Wieſo kann er Sie dann nicht erhalten? Eine Ausgabe von zehn Mark wöchentlich genügt reichlich zur Beſchaffung von Nahrung für den normalen menfch- lichen Organismus, erhält ihn geſund und glücklich. Sie ſehen alſo, daß er Sie wunderſchön erhalten könnte.“

„Der Mantel, den ich anhabe, koſtet mehr, als er in einem Jahre verdient. Wenn ich ihn jetzt beim nächſten Kürſchner verkaufe, verlange ich mindeſtens achttauſend Mark dafür.“

„Verkaufen Sie ihn und bauen Sie mit dem Er- löſe das Haus, in dem Sie mit ihm leben werden! Es wird ein waſſerdichtes Dach und einen ausreichenden Faſſungsgehalt für e Luft haben. Was brauchen Sie nv

„Aber —“

„Liebt er Sie?“ fuhr der Doktor unerbittlich fort.

„Er hat es mir oft beteuert,“ antwortete ie er- rötend.

198 Der Gewiſſensdoktor. 0

„Und was glauben Sie, wie wird ihm zumute fein, wenn er Sie verliert?“

„Aber ich werde ihn doch auch verlieren!“

„Nein, Sie werden ihn verkaufen, oder beſſer ge- ſagt, Sie werden ſich ſelbſt verkaufen für Hermelin- mäntel, glitzernde. Stücke von Kohlenſtoff, genannt Diamanten, für ausgeſuchte ſeltene Gerichte, die Ihren Gaumen kitzeln und Ihre Verdauung verſchlechtern. Und dabei gedeiht das Weſen, das man auch Menſch nennt, am beſten bei einfacher Nahrung, lebt dabei auch länger und iſt glücklicher.“

„Sie ſagen das ſo ſchrecklich!“

„Mag ſein, doch es iſt wahr.“

„Was könnte ich ihm ſein?“ wendete ſie hierauf ein. „Ich kann nicht kochen, nicht flicken, ich weiß nicht, wie man ein Haus in Ordnung hält, ich verſtehe mich nicht auf das Einkaufen. Er würde binnen ſechs Mo- naten bankrott ſein.“

„Ah, jetzt wollen Sie mir gar einreden, daß Sie dumm und ungeſchickt ſeien!“

„Ich habe nichts Dergleichen geſagt. Warum kanzeln Sie mich wie ein Schulmeiſter ab? Ich wollte von Ihnen einen unparteiiſchen Nat!“

„Hören Sie mich nur weiter an. Sie können, wenn Sie eine Perſon von durchſchnittlicher Intelligenz ſind was ich nicht im mindeſten bezweifle das Kochen binnen ſechs Wochen erlernen, die Kunſt des Flickens in einer Stunde, Sie können Ihre Einkäufe in einem der großen Kaufhäuſer machen, wo Sie alles zum genauen Marktpreis erhalten und nicht nach Hauſe tragen müſſen. Was Fhre teuren Kleider anbelangt, iſt nur zu bemerken, daß ſie genau ebenſo notwendig für das Daſein find als Kaviar und Auſtern. Eine ge- ſtrickte Jacke iſt, wenn fie aus guter Schafwolle beſteht,

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ebenſo geeignet, den Zweck der Kleidung zu erfüllen, als ein Zobelpelz, und fie iſt überdies noch viel ge- ſünder, weil ſie gewaſchen werden kann. Folglich iſt ein Mann mit zehntauſend Mark Einkommen imſtande, ſeiner Frau nicht nur genügend Kleider zu kaufen, er würde auch

„Aber das —“ |

„Sind Sie gewillt,“ unterbrach er ihren Einwurf, „das einzig zufriedenſtellende Ding auf Erden, das billigſte, köſtlichſte und erhebendſte zugleich, die Liebe, aufzugeben, um ſich weiterhin mit Häuten von nor- diſchen Tieren vor dem natürlichen Wärmeverluſt zu ſchützen? Sind Sie in Wirklichkeit ein ziviliſiertes Weſen oder eine Wilde?“

„Ich glaube nicht, daß ich zu den Wilden gezählt wer- den kann,“ erwiderte ſie eingeſchüchtert, „und es iſt doch auch gar nicht barbariſch, ſich ſchöne Sachen zu wünſchen!“

„Dann nicht, wenn man ſie ohne Opfer erſtehen kann. Doch der Preis, den Sie dafür zahlen wollen, iſt: lebenslängliches Unglück! Das iſt viel zu hoch! Warten Sie noch einen Augenblick!“ fügte er ruhiger hinzu. „Ich habe noch etwas über die Nahrung zu ſagen. Sie eſſen, um den Abgang zu decken, der durch die Betätigung Ihrer Energien und durch die Wärme- erzeugung im Körper entſteht. Einen anderen ein- wandfreien Grund für das Eſſen gibt es nicht. Nun, gerade die einfachſten und billigſten Nahrungsmittel ſind die beſten, find diejenigen, die eine große Arbeits- kraft und das körperliche Wohlbefinden am meiſten gewährleiſten. Müſſen Sie da weiterhin hren Gaumen an immer neue Leckerbiſſen gewöhnen, die gar nicht zuträglich und ſündhaft teuer ſind?“

„So hat mit mir noch niemand geſprochen,“ 140 5 ſie kleinlaut.

200 Der Gewiſſensdoktor. u

„Wirklich? Nun, dann war es hohe Zeit, daß es geſchah. Sie wollten ja auch von mir einen wiſſenſchaft- lichen Rat, ob Sie des Geldes wegen oder aus Liebe heiraten ſollen. Sie haben mich für dieſen Rat bezahlt, und ich tat mein Beſtes.“ |

„Aber wir müßten ja dann in irgend einer ſchrecklichen Vorſtadt leben, wo lauter ſchmutzige Häuſer ſtehen!“

„Auch das iſt nicht richtig. Mit zehntauſend Mark können Sie ein kleines Landhaus vor der Stadt mieten, zwei Oienſtboten halten und ſich an den Feiertagen ein Vergnügen gönnen, eine Partie machen oder manch- mal ſogar im Kraftwagen fahren. Ja, ich würde Ihnen auch raten, den Auserwählten Ihres Herzens zu hei— raten, wenn er nur die Hälfte ſeines gegenwärtigen Einkommens hätte. Sie müßten dann freilich auf die zweite Magd verzichten und könnten ſich keine Spazier- fahrt gönnen, aber Ihr Herz wäre glücklich dabei, und Sie würden ein herrliches Leben führen.“

„Was würden aber meine Bekannten dazu ſagen? Sie würden mich nicht mehr anſchauen!“

„Sagen Sie mir auf Ehre und Gewiſſen: werden Sie ſich um das Gerede dieſer Narren kümmern, wenn Sie glücklich verheiratet ſind?“ |

„Nicht ſehr viel,“ erwiderte fie in beſtimmtem Tone.

„Ich habe keine andere Antwort erwartet. Und jetzt iſt eigentlich nichts mehr darüber zu ſagen.“

„Aber es wäre doch ein plötzlicher und großer Wechſel in allen Gewohnheiten! Und wenn er nun aufhört, mich zu lieben?“

„Das hat nichts mit unſerer Sache zu tun. Seine. Liebe kann weitergehen, auch wenn er des Kaiſers erſter Miniſter wäre. Sie haben jetzt nur zwiſchen Naſenringen, Armſpangen und den Schwänzen fetter Schafe einerſeits und warmen, einfachen Kleidern

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die auch ſehr ſchön ſein können ſowie einer geſunden, kräftigen Nahrung anderſeits zu wählen.“

„Naſenringe Schwänze fetter Schafe? Das iſt ja ſchrecklich!“

„Aber wahr! Die vornehmen Leute mancher Länder unferer Erde geben keinen Pfifferling für einen Her- melinpelz oder eine Trüffelpaſtete. Dieſe Ariſtokraten kaufen ſich kupferne Ringe für ihre Naſen, und der Schwanz eines fetten Schafes iſt ihr feinſtes Gericht. Ländlich ſittlich! Die Mode iſt verſchieden, der Grundgedanke iſt aber überall der gleiche.“

„Nun hören Sie aber gefälligſt auf! Ich bin ſchon ganz gelehrig. Allerdings muß ich Ihnen noch ge- ſtehen: wenn Ihr Arteil gelautet hätte, ich ſoll die Liebe fahren laſſen, hätte ich es zwar nicht getan nein, gewiß nicht, aber ich hätte auch zeit meines Lebens kein ruhiges Gewiſſen wegen des Ungehorſams gegen den Vater gehabt. Dieſer Zweifel iſt nun weg. Sie nahmen einen ſchweren Hammer und ſchlugen ſo lange auf meine Seele los, bis alle ihre Schlacken beſeitigt waren und ihr Erz von der friſchen, freien Luft umweht wurde. So wird es wohl immer bleiben. And dafür will ich Ihnen danken. Ich weiß, daß ich es nie genug tun kann.“

„Bravo! Sie werden alſo nicht den reichen Mann heiraten?“

„Nein. Er iſt dick, alt, und er tyranniſiert mich. Ich kenne ihn ſchon ſeit meiner Kindheit, und ich er- ſchrak, als ich hörte, ich ſolle ihn heiraten.“

„Gott ſei Dank! Nun leben Sie wohl, mein Fräu- lein, ich habe noch dringend zu tun. Laſſen Sie Ihre Seele weiterwachſen!“

„Ich will ſie zunächſt aus ihrer Pelzhülle befreien, mehr braucht ſie wahrſcheinlich nicht.“

202 Oer Gewiſſensdoktor. =)

„Da dürften Sie recht haben.“

Sie reichte ihm nun die Hand, die er lebhaft ſcuttette Dann ging ſie glücklich lächelnd fort.

Einige Wochen ſpäter ſandte ſie ihm ein Stück ihres Hochzeitskuchens. Ein Briefchen lag dabei. „Ich habe ihn,“ ſchrieb ſie, „ſelbſt gebacken, und ich meine, er iſt nicht ſchlecht ausgefallen. Mein Gatte den ich Ihnen übrigens ſicher ſende, wenn er ſich einmal nicht gut aufführen ſollte mein Männchen iſt mittlerweile Geſchäftsteilhaber geworden, und wir haben nun mehr als das doppelte Einkommen und denken faſt ſchon daran, einen feinen Kraftwagen zu kaufen. Aber das Kochen will ich dennoch nicht laſſen, denn er ſagt, ich koche wunderbar. Ja, wozu ſo eine Perſon von durch- ſchnittlicher Intelligenz alles imſtande iſt! Sie wiſſen vielleicht gar nicht mehr, von wem dieſer Brief iſt. Das wäre abſcheulich! Aber ich werde Sie nie ver- geſſen! Sie waren ſo ergötzlich grob und ſo wahrhaftig

ehrlich!“

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häusliche Käſebereitung. von Th. v. Wittembergk.

Mit s Sildern. 7 lnachdruck verboten.)

Se viele Käſeſorten, wie Brie, Camembert, Chefter- käſe, Parmeſankäſe, Roquefort, Gorgonzola uſw., es auch gibt, die zumeiſt verhältnismäßig teuer be- zahlt werden müſſen, ſo wird doch ein guter, reiner Kuhkäſe hinter dieſen Delikateßkäſen im Wohlgeſchmack nicht zurückſtehen, ja zahlreiche Liebhaber des Käſes werden ihn vielleicht ſogar den Würzkäſen vorziehen.

Leider iſt aber fetter Kuhkäſe ziemlich ſelten ge- worden. Infolge der Milchablieferung in die Städte iſt die Herſtellung von Käſe auf dem Lande beträchtlich zurückgegangen, oder man fertigt in den genoſſenſchaft- lichen Molkereien nur zur Hauptſache Magerkäſe an. Es wird daher den Hausfrauen gewiß zur Freude ge- reichen, im nachfolgenden eine Anleitung zu finden, die es ihnen ermöglicht, im eigenen Haushalt einen ſehr ſchmackhaften Kuhkäſe ohne große Umftände und für einen billigen Preis anzufertigen.

Zunächſt braucht man dazu friſchen Rahm, den man an einem kühlen Ort in einem größeren Tontopf im Winter fünf Tage, im Sommer höchſtens drei Tage aufbewahrt. Zu dieſem Rahm kommt dann nicht ab- gerahmte Milch, und zwar in dem Verhältnis, daß auf zwei Teile Rahm drei Teile Milch verwendet werden. Am beiten iſt es, wenn man die Milch kuhwarm be-

204 Häusliche Käſebereitung. 2

ziehen kann. Wo dies nicht angängig iſt, muß man fie im Waſſerbad erwärmen, da zu kalte Milh die Käſebereitung erſchwert. N

Man geht nun folgendermaßen zu Werke. In

Abfüllen des Rahms.

einen kleinen Tontopf von ungefähr 2 Liter Inhalt ſchüttet man mit einem Kochlöffel, deſſen Faſſungsraum man aus Erfahrung kennt, etwa °/,, Liter Rahm. Jetzt füllt man den kleinen Topf vollends mit unabge— rahmter Milch, wovon alſo 1 O Liter nötig find. Mit dem Kochlöffel rührt man darauf tüchtig die Mi- ſchung um.

Die angegebenen Mengen genügen zur Herſtellung eines Käſes. Natürlich braucht man ſie nur zu ver— doppeln, verdreifachen und vervierfachen, wenn man zwei, drei oder vier Käſe anfertigen will.

Haben ſich Rahm und Wilch gut miteinander ver— miſcht, ſo ſchüttet man in den Topf, auf je einen Käſe

u Von Th. v. Wittembergk. 205

berechnet, ſechs bis acht Tropfen Labflüſſigkeit zum Zweck des Gerinnens. Zur bequemen Verwendung verwahrt man die Labflüſſigkeit in einer Glasflaſche, deren Kork, um den Zutritt von Luft zu geſtatten, der Länge nach eingekerbt und deſſen Mitte durchbohrt iſt. Durch dieſes ebenfalls in der Länge des Pfropfens verlaufende Bohrloch wird eine dünne Glasröhre ge— ſchoben. Statt ihrer kann man ſich auch eines an den Enden abgeſchnittenen Gänſekiels bedienen. Dadurch fließt die Labflüſſigkeit nur tropfenweiſe heraus.

Man verrührt nun die Labflüſſigkeit innig mit dem Inhalt des Topfes mittels des Kochlöffels. Iſt dieſes geſchehen, ſo trägt man den Topf nach einem Raum,

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Hinzufügung der Milch zum Rahm. der eine Temperatur von 15 bis 18 Grad Celſius auf- weiſt, und läßt ihn dort ungefähr zwölf Stunden ſtehen. Nach Ablauf dieſer Zeit hat ſich der Quark gebildet, der nunmehr zum Käſe geformt werden ſoll. Man

206 Häusliche Räfebereitung. u —— ——— 5

bedarf dazu einer Käſeform aus Weidengeflecht. Die Form muß einen Durchmeſſer von 15 Zentimeter und eine Tiefe von 10 Zentimeter haben. Hat man größere Mengen von Rahm und Milch verarbeitet, fo iſt felbft-

Umrühren der Mijchung.

verſtändlich eine dementſprechende Anzahl von Käſe— formen anzuſchaffen. Ferner braucht man für eine jede Form ein vierediges Stück Gaze oder dünne Lein- wand, deren Rand etwa 40 Zentimeter zu meſſen hat. Da der ungebrauchte Stoff meiſt etwas ſteif iſt, ſo taucht man ihn in Waſſer und drückt ihn kräftig aus. Auf dieſe Weiſe wird er geſchmeidiger und ſchmiegt ſich beſſer der Käſeform an. Auch bleibt der Quark weniger an dem Gewebe haften. Durch die Derwen- dung des Stoffſtückes wird verhindert, daß der Quark zwiſchen das Weidengeflecht eindringt und ſich dort feſtſetzt.

Man legt nun das Innere der Form mit dem Stoff-

2 Von Th. v. Wittembergk. 207

ſtück aus, ſtellt dieſe auf einen Teller und füllt den Quark mit einem Schaumlöffel in die Form. Darauf wird die Form nach der Speiſekammer oder einem anderen kühlen Raum getragen, wo man ſie auf ein Seihblech oder eine weidene Käſehürde ſetzt, damit die Molke leicht ablaufen kann.

Schon nach einer Stunde iſt der Quark beträchtlich zuſammengeſunken. Es iſt daher nötig, mit dem noch verbliebenen Quark nachzufüllen. Dann läßt man die gefüllte Form in dem kühlen Raum ſommers wie winters etwa vierundzwanzig Stunden auf der Käſe- hürde ruhig ſtehen.

Nach dieſer Zeit iſt der in der Form befindliche Käſe

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Zugießen der Labflüffigkeit zur Miſchung.

nur noch halb ſo dick wie vorher der Quark, und jetzt iſt der Augenblick gekommen, da man ihn ſalzen muß. Zunächſt legt man die Käſehürde auf die Offnung der Form und ſchlägt die überſtehenden Ränder des Stoff-

208 Häusliche Käſebereitung. Oo

ſtückes nach unten um. Darauf hält man die Käſe— hürde mit der linken Hand feſt, ergreift die Form mit der rechten, dreht jetzt das Ganze um und legt die Hürde auf die Tiſchplatte. Nun faßt man die Form

Einfüllen des Quarks in die Räfeform.

und die Ränder des umgeſchlagenen Stoffſtückes, hebt alles vorſichtig empor, und zwar nur auf der einen Seite, und verſetzt der Form ruckende Stöße, damit ſich der Käſe ablöſt und auf die Hürde fällt. Doch darf man die Form nicht zu weit hoch heben, da ſonſt der Käſe ſeine Geſtalt verliert oder beim Herausfallen zer— bricht. |

Iſt ſo der Käſe auf die Hürde gebracht, dann be- ginnt die Salzung. Man nimmt eine kleine Priſe körnigen Salzes, ſtreut es über die Oberfläche des Käſes und drückt es mit den Fingern in dieſen hinein, damit der Käſeteig vom Salz durchdrungen wird.

Nun nimmt man eine zweite Käſehürde, legt ſie

D Von Th. v. Wittembergk. 209

über den Käſe, ergreift beide Hürden mit den Händen, dreht ſie um und legt ſie ſo auf die Tiſchplatte, daß ſich die Hürde, die früher oben war, unten befindet. Nach ihrer Abhebung wird die bisher noch nicht geſalzene Hälfte des Käſes in der gleichen Weiſe geſalzen wie vorher die andere.

Die Menge des Salzes muß man nach dem Ge— ſchmack deſſen beſtimmen, der den Käſe eſſen will. Im allgemeinen iſt es aber empfehlenswerter, lieber etwas mehr als zu wenig Salz zu verwenden. Schärfer ge- ſalzener Käſe iſt ſchmackhafter und hält ſich beſſer. Zu ſchwach geſalzener Käſe verfärbt ſich unangenehm und nimmt auch bald einen bitteren Geſchmack an.

Leeren der Form auf die Hürde.

Man bringt nun den Käſe auf der Hürde wieder nach dem kühlen Aufbewahrungsraum und hat dann in den nächſten drei bis vier Wochen weiter nichts zu tun, als ihn zu wenden. Es geſchieht dies mit Hilfe

1918. XII. 14

210 Häusliche Räfebereitung. oO

einer zweiten Hürde nach dem Verfahren, wie es eben beim Salzen beſchrieben wurde. Das Wenden iſt täg— lich zweimal, morgens und abends, auszuführen. Die Hürden, die man dabei benützt, ſind ſorgfältig mit einer feuchten Bürſte zu reinigen und danach in heißem Waſſer abzuſpülen. Bei einer derartigen Behandlung

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Salzen des Käſes.

bleiben die Hürden ſtets ſauber und geruchlos. Ver— nachläſſigt man das Wenden der Käſe, ſo werden ſie leicht mißfarbig, beginnen zu zerfließen und erhalten einen bitteren Beigeſchmack, auch wenn man ſie ge— nügend geſalzen hat.

Wie ſchon angedeutet, ſind die Käſe nach drei bis vier Wochen reif. Sie ſind dann fett und weich, ohne aber zu einem zerfließenden Brei zu werden. Nach der Reife ſollte man die Käſe ſtets innerhalb der nächſten vierzehn Tage verzehren. Denn etwa ſechs Wochen nach ihrer Herſtellung vermindert ſich die Feinheit ihres Geſchmackes.

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Von Th. v. Wittembergk. 211

Am beſten werden die Käſe in den Monaten April, Mai und beſonders Oktober geraten. Im Sommer halten fie ſich wegen der Hitze ſchlechter, und es be- ſteht hier auch die Gefahr, daß herumſchwärmende Fliegen ihre Eier in ihnen ablagern und ſie ſo von Maden befallen werden. Aus dieſem Grunde follte .

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Wenden des Käſes mittels zweier Hürden. man im Sommer die reifen Käſe wenigſtens ſo ſchnell als möglich wegeſſen, alſo auch nicht größere Mengen auf einmal herſtellen. Im ſtrengen Winter wiederum iſt die Zubereitung wegen der Kälte mit Schwierig- keiten verknüpft. Als die geeignetſten Zeiten ergeben ſich daher der Frühling und der Herbſt.

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Mannigfaltiges.

*

(Nahödrud verboten.)

Ein berühmter Meineid. Im Zahre 1774 hatte der Berliner Privatier Heuberle, dem man allgemein nachſagte, daß er ſein Vermögen nur durch Wuchergeſchäfte erworben habe, den Schneidermeiſter Törning wegen Rüderftattung eines Darlehns von dreihundert Talern verklagt. Törning behauptete jedoch in der im Oktober desſelben Jahres ſtattfindenden Gerichtsverhandlung, er habe dem Gläubiger die Summe bereits zurückerſtattet; leider ſei er aber fo unvorſichtig ge- weſen, die Quittung, die Heuberle ihm ausgeſtellt habe, ſo ſchlecht zu verwahren, daß er ſie nicht mehr finden könne. Als der Richter ihn fragte, ob er nicht Zeugen zu benennen imftande fei, die zugegen geweſen wären, als er Heuberle die Schuld bezahlt habe, verneinte der arme Mann mit Tränen in den Augen.

Zu dieſen Behauptungen lächelte Heuberle nur ſpöttiſch. „Nichts als Ausflüchte!“ erklärte er N wieder mit größter Beſtimmtheit.

Die Sache des Schneiderleins ſtand ſchlecht, obwohl er einen völlig glaubwürdigen Eindruck auf den Richter machte. Dieſer überlegte hin und her, wie dem Manne zu helfen ſei, fand aber keinen Ausweg. Schließlich vertagte er die Sache, um Törning nochmals Zeit zu geben, nach der verlegten Quittung zu ſuchen.

Heuberle war ganz damit einverſtanden. „Er wird die Quittung zwar nicht finden, denn ſie exiſtiert eben nicht,“ meinte er mit der Miene eines Biedermannes, „aber vielleicht ge- langt er dann endlich zu der Überzeugung, daß ich in meinem Recht bin.“

Nach acht Tagen ſtellten ſich die Parteien wieder vor dem

2 Mannigfaltiges. 213

Richter ein. Der Schneidermeiſter war noch niedergeſchlagener als das erſte Mal. Die Quittung hatte er nirgends entdecken können.

Der Richter befragte die Prozeßgegner wiederum nach dem genauen Sachverhalt und vermahnte ſie ernſtlich, ja die volle Wahrheit zu ſagen. Aber jeder blieb bei ſeiner Behauptung. Nunmehr mußte der Kläger nach den damaligen Prozeß- beſtimmungen den Eid leiſten. Heuberle ſollte ſchwören, daß er Törning dreihundert Taler gegeben und dieſe Summe noch nicht zurückerhalten habe.

„Will Er dieſen Eid leiſten?“ fragte der Richter den Kläger, der neben dem Bellagten vor der Schranke ſtand.

„Jawohl,“ erllärte Heuberle.

„Dann leg Er feine rechte Hand auf das Kruzifix hier und ſpreche Er mir die Eidesformel nach. Bedenke Er aber genau, welche Folgen ein Meineid für Ihn haben würde,“

Heuberle hatte in feiner Rechten einen dicken Bambusſtock mit goldenem Knopf, den er jetzt feinem Prozeßgegner mit der Bitte reichte, dieſer möge ihm das Rohr doch für einen Augen- blick abnehmen. Und dann leiſtete er den Eid, während Törning ihm gutmütig den Bambusſtock hielt.

Hiernach wurde der Schneidermeiſter zur Rückzahlung des Oarlehns verurteilt, da es durch den Eid des Klägers für er- wieſen gelten mußte, daß die Schuld noch nicht beglichen ſei.

Als der Wucherer nach dieſem für ihn fo günſtigen Prozeß ausgang das Gerichtsgebäude verließ, wurde er draußen auf der Straße von einer erregten Menſchenmenge, die neugierig das Ende der Verhandlung abgewartet hatte, mit lauten Der- wünſchungen empfangen. Denn allgemein war man der Anſicht, er habe in dieſer Sache mit vollem Bewußtſein einen Meineid geleiſtet. Um ſich einen Weg durch die Menge zu bahnen, erhob Heuberle drohend ſeinen Stock. Da ſprang aber auch ſchon ein junger Burſche auf ihn zu, entriß ihm das Bambusrohr und ſchleuderte es auf das Pflaſter, ſo daß es in mehrere Stücke zerſplitterte. Zu aller Erſtaunen rollten eine Menge Goldſtücke auf die Straße, die vorher, wie man jetzt ſah, in dem hohlen Stock verborgen geweſen waren.

214 Mannigfaltiges. 2

Bleich und zitternd ſtand Heuberle inmitten der ihn um- drängenden Menſchen. Das Schuldbewußtſein war ihm jetzt ſo deutlich vom Geſicht abzuleſen, daß einige der Leute ihn kurzerhand ergriffen und abermals vor den Richter führten, ohne jedoch zu ahnen, in welchem Zuſammenhang das gold- gefüllte Bambusrohr zu dem eben erledigten Rechtsſtreit ſtehen könne.

Der Richter hatte kaum die merkwürdige Geſchichte von dem mit Goldſtücken gefüllten Stock vernommen, als ihm auch ſofort klar wurde, aus welchem Grunde Heuberle vorhin dem armen Schneider vor der Eidesleiſtung das Rohr zum Halten gegeben hatte. Auf die ſtrengen Vorhaltungen des Richters, hauptſächlich aber wohl, weil ihm fo ſchnell keine glaubwüͤrdige Erklärung für die Aufbewahrung der Goldſtücke in dem Stocke einfiel, legte der in die Enge getriebene Vucherer ein volles Geſtändnis ab. Danach hatte der Schneidermeiſter ſeine Schuld wirklich längſt bezahlt. Auf den Gedanken, die Summe noch- mals einzuklagen, war Heuberle erſt durch einen von Törning entlaſſenen Geſellen gebracht worden. Dieſer, ein fauler, dem Trunke ergebener Meuſch, hatte dann feinem Meijter die Quit- tung aus Rachſucht entwendet und war damit zu dem Wucherer gekommen, worauf die beiden Ehrenmänner in dieſer un- ſauberen Sache Halbpart zu machen beſchloſſen. Begünſtigt wurde ihr Plan noch durch den Umſtand, daß bei der Rüd- zahlung der Darlehnsſchuld keine Zeugen zugegen geweſen waren. Heuberle gab dann auch weiter zu, daß er die drei— hundert Taler in Gold nach der erſten Verhandlung nur des— wegen in dem Stock untergebracht habe, um, nachdem er ſeinem Prozeßgegner das goldgefüllte Rohr in die Hand ge— ſpielt hatte, guten Gewiſſens beſchwören zu können, der Schneider habe die dreihundert Taler noch, was ja auch inſofern ſtimmte, als Törning mit dem Stock zugleich auch die dreihundert Taler in Gold Heuberles während der Eides- leiſtung in ſeinen Händen gehabt hatte.

Heuberle und der rachſüchtige Geſelle kamen ſchon drei Wochen ſpäter vor das Kriminalgericht. Dieſes verurteilte den Geſellen wegen des Diebſtahls und der Teilnahme an einem

2 Mannigfaltiges. 215

Betrugsverſuch zu vier Fahren, Heuberle dagegen wegen Mein- eides und verſuchten Betruges zu fünf Jahren Kerker.

Friedrich der Große, der die merkwürdigen Einzelheiten dieſes Prozeſſes bereits vorher erfahren hatte, ließ ſich das Urteil vorlegen, ſtrich darin das zuerkannte Strafmaß aus und beſtimmte für den Geſellen ſechs Jahre, für Heuberle acht Jahre Kerker. Außerdem ſollte des letzteren Vermögen ein- gezogen und an die Armen Berlins verteilt werden. An den Rand des Urteils ſchrieb er als Begründung: „Zur Schreckung for ähnliche Kanaljen und for die beſſere Aſtimierung des Eides.“ W. N. Raubtiere als Beſchützer ihrer Herren. Die Anhänglich⸗ keit mancher Raubtiere an ihre Oreſſeure und Herren iſt bis- weilen geradezu bewundernswert. In den Tropen, beſonders in Südafrika, hat der Reiſende häufig Gelegenheit, Mitglieder der Familie der großen Katzen als zahme Hausgenoſſen an- zuſtaunen. So werden auf den Burenfarmen in Transvaal vielfach Leoparden an ſtarken, eiſernen Halsbändern wie Hof- hunde gehalten.

Unlängſt brachte eine engliſche Zeitung einen Bericht von einem Vorkommnis, das die Treue und Anhänglichkeit dieſer ſonſt meiſt als heimtückiſch verſchrienen Raubtiere aufs beſte dartut. Auf der Farm des Buren van Hoeften, die am Zandfluſſe dicht an der Grenze des Matabelelandes liegt, fand ſich eines Tages eine Schar von acht Schwarzen ein, die Pulver und Blei einhandeln wollten. Da van Hoeften mit feinen beiden Knechten gerade einen Transport Getreide nach dem nahen Städtchen brachte, wollte ſeine Frau, die mit ihren halbwüchſigen Kindern und zwei farbigen Dienerinnen ohne jeden männlichen Schutz zurückgeblieben war, die zu dem übel berüchtigten Stamme der Matabele gehörigen Schwarzen mög- lichſt ſchnell wieder los werden und händigte ihnen daher das Verlangte trotz der dürftigen Bezahlung, die in ſchlechtgegerbten Tierfellen beſtand, ohne Widerrede aus.

Anſcheinend wußten die Matabele aber, daß van Hoeften und ſeine Leute nicht anweſend waren und auch erſt nach einigen Tagen zurüderwartet wurden. Sie zeigten ſich immer

216 Mannigfaltiges. 2

zudringlicher und frecher, verlangten ſchließlich ſogar, die Farmerfrau ſolle ihnen auch die an der Wand hängenden, Schußwaffen „eintauſchen“.

Da einige der ſchwarzen Spitzbuben inzwiſchen bereits ihnen nützlich ſcheinende Gegenſtände einfach hatten verſchwinden laſſen, ſuchte die reſolute Frau die gefährliche Geſellſchaft durch die Drohung, ſie habe bereits ihren Mann vom Felde herbei- holen laſſen, zu vertreiben. Aber die Kerle fühlten ſich offenbar ganz ſicher und dachten nicht daran, das Feld zu räumen. Sie hatten bereits die Gewehre von der Wand genommen, ſich übergehängt und begannen eben nach den nötigen Patronen zu ſuchen, als der Farmerfrau ein rettender Gedanke kam.

Leiſe flüſterte ſie ihrem Alteſten, einem zwölfjährigen Zungen, einige Worte zu. Dieſer eilte nach dem Wirtſchafts- hofe, wo in einem Verſchlage zwei zahme, ausgewachſene Leoparden gehalten wurden. Der Knabe nahm die beiden gelben Katzen an die Kette und lief mit ihnen ins Haus zurück.

Die ſchwarze Bande war gerade dabei, den in dem großen Wohnraum ſtehenden Schreibtiſch aufzubrechen, da erſchien Frau van Hoeften in der Tür, gefolgt von den beiden Leo- parden, die ſie ſeinerzeit mit der Flaſche großgezogen hatte, und die daher ihrem leiſeſten Winke gehorchten. Ein Zuruf, und die gelben Körper ſchnellten durch die Luft zwei Schreie, ein Angſtgebrüll, fplitternde Fenſterſcheiben. Zwei der Mata- bele lagen am Boden, die anderen hatten ſich durch die Fenſter ſchleunigſt davongemacht.

Die meiſte Gelegenheit, das Anhänglichkeitsgefühl mancher Raubtiere zu erproben, iſt aber wohl berufsmäßigen Tier- bändigern gegeben. Dieſe wiſſen denn auch allerlei ebenſo aufregende wie rührende Erlebniſſe zu berichten.

So hatte einmal der Menageriebeſitzer Helfort einen ihm als völlig zahm angeprieſenen Bären gekauft und in einem aus zwei Abteilungen beſtehenden Raubtierwagen untergebracht. In der anderen Abteilung befand ſich eine dreſſierte Hyäne. Der Bär fing nun ſofort an, die die beiden Abteilungen trennende Schiebetür mit Zähnen und Krallen zu bearbeiten, um ſich zu der von ihm gewitterten Hyäne einen Zugang zu verſchaffen.

e Mannigfaltiges. 217

Am nächſten Morgen war das Loch bereits ſo groß, daß der Bär den Kopf bequem hindurchſtecken konnte. Als durch das angſtvolle Heulen der Hyäne das Menagerieperſonal aufmerk- ſam geworden war, begab ſich Helfort in den Käfig des Bären, um dieſen anderswo unterzubringen. In demſelben Augenblick aber ſtürzte ſich der Bär auf ihn und warf ihn zu Boden. Von dem zu Hilfe eilenden Perſonal wurde das wütende Tier von außen mit Eiſengabeln und Stangen bearbeitet, ohne daß es gelang, es von ſeinem Opfer abzubringen. Da zwängte ſich die Hyäne, die von dem Menageriebeſitzer dreſſiert war und mit großer Liebe an ihm hing, durch die Offnung in der Schiebetür hindurch und ſtürzte ſich wütend auf den Angreifer ihres Herrn. Wirklich ließ der Bär von Helfort ab und wandte ſich gegen die Hyäne, die er dann auch mit wenigen Biſſen abtat. Inzwiſchen gelang es den Leuten aber, ihren Direktor in Sicherheit zu bringen.

Die Bändigerin H. erzählt folgendes: „Ich arbeitete bis vor einigen Fahren mit einer Gruppe von Löwen und ben- galiſchen Tigern. Trotzdem ich meine Tiere mit großer Liebe behandelte, war mir eine Tigerin nicht gerade ſonderlich gut gewogen. Sie machte auch kein Hehl aus ihrer Abneigung mir gegenüber. Eines Abends verſagte aus irgend einem Grunde plötzlich das Licht, und der Zirkus war ganz unerwartet in undurchdringliche Finſternis gehüllt. Ich lag eben auf der Schaukel, vor mir und hinter mir je ein Tiger und über mir auf zwei Säulen ſtehend ein Löwe. Die Tiger, durch die plöß- liche Dunkelheit unruhig geworden, ſprangen mit einem Satz ab, ich tat dasſelbe und verſuchte, mich rückwärts taſtend, meinen Rücken an dem die Manege einfaſſenden Gitter zu decken. Kaum dort angelangt, ſah ich auch ſchon zwei glühende Augen auf mich zukommen. Die Lage war nicht gerade angenehm, zumal ich nicht die geringſte Waffe in der Hand hatte, denn die Peitſche legte ich ſtets beiſeite, wenn ich die Schaukel be- ſtieg. Da rief ich meinen Lieblingslöwen Fauſt herbei, der mir ſchon manche Probe ſeiner Anhänglichkeit gegeben hatte. Mit einem Sprung war er unten, ſtellte ſich dicht vor mich, und ſich in die Höhe richtend, verabfolgte er der ſich anſchlei—

218 Mannigfaltiges. 2

chenden Tigerin ein paar derartige Ohrfeigen, daß ihr die Luſt zu jedem weiteren Angriff verging. Es waren kaum ein paar Minuten verfloſſen, bis das Licht wieder eingeſchaltet wurde; aber dieſe Minuten erſchienen mir wie eine kleine Ewigkeit. Nachher konnte ich meine Vorführungen ruhig beenden. Die Tigerin war wieder ganz brav geworden. In Zukunft war ich aber doch vorfichtiger und trug ſtets einen geladenen Re- volver in der Kleidertaſche. Denn wir Bändiger laſſen es das Publikum ungern merken, daß unſere vierbeinigen Schüler doch nicht ſo ganz ungefährlich ſind, wie es dem Laien ſcheint.“

Tiger ſind überhaupt die Schmerzenskinder der Bändiger. Hinrichſon führte vor wenigen Jahren regelmäßig zum Schluß ſeines Dreſſuraktes einen mächtigen bengaliſchen Tiger namens Nero vor, deſſen furchtbare Wildheit er trotz aller Verſuche nur ſo weit hatte brechen können, daß er die zähnefletſchende Beſtie unter atemloſer, banger Stille des Publikums einmal vor ſich her um den Manegenkäfig trieb, und dies unter ganz ungewöhnlichen Vorſichtsmaßregeln. Zu letzteren gehörte auch, daß Hinrichſon zu feinem Schutz ſtets feinen Lieblingslöwen Paſcha im Käfig behielt, während die anderen Raubtiere vorher in ihre Transportbehälter zurückgetrieben wurden. Paſcha ſaß dann regelmäßig auf einer der Holzſäulen, die mit den anderen Dreſſurgerätſchaften in der Mitte der Manege auf einem Haufen zuſammengerückt wurden.

Bei einer Vorſtellung in Petersburg war es, wo Hinrichſon beinahe ein böſes Schickſal ereilt hätte. Wie immer ſchloß Hinrichſon feine Nummer mit der Vorführung des Tigers Nero. Eine nervöſe Dame brach beim Anblick der fauchenden und ſich ungewöhnlich wild gebärdenden Beſtie, die gerade ihren ſchlechten Tag hatte, plötzlich in Schreikrämpfe aus. Durch dieſe gellenden Töne wurde der Tiger offenbar zur höchſten Wut gereizt. Er duckte ſich zum Sprunge zuſammen und hätte den Bändiger ſicher niedergeworfen und zerfleiſcht, wenn dieſer nicht in der Erkenntnis, daß er die Gewalt über das Tier völlig verloren hatte, ſich blitzſchnell hinter die auf- geſtellten Gerätſchaften geflüchtet haben würde. In demſelben Augenblick ſprang auch ſchon der Löwe Paſcha, ohne daß ſein

2 NMannigfaltiges. 219

Herr ihn durch einen Zuruf anzutreiben brauchte, von ſeinem Sitz in die Manege hinab und fiel über den Tiger her. Merk- würdigerweiſe ſetzte der Tiger ſich faſt gar nicht zur Wehr, vielleicht geblendet durch den ſcharfen Waſſerſtrahl, den man jetzt unaufhörlich auf ſeinen Kopf richtete. Jedenfalls gelang es dem Bändiger und ſeinen Leuten, die ſich mit langen, brennenden Fackeln bewaffnet hatten, ſehr ſchnell, die Raub- tiere zu trennen und den Tiger in ſeinen Käfig zurückzutreiben. Hinrichſon hat noch an demſelben Abend ſich zu einem Reporter dahin geäußert, daß er bei jener Vorſtellung für ſein Leben zum erſten Male wirklich ernſtlich gefürchtet habe, und daß er ohne Paſchas Eingreifen ſicher verloren geweſen wäre. Er iſt dann auch nie wieder mit Nero öffentlich aufgetreten, den ihm zwei Monate ſpäter der Petersburger zoologiſche Garten abkaufte. W. K. Das Alter unſerer Kinderſpiele. Die Bedeutung unſerer Rinderfpiele und ihres erzieheriſchen Wertes wird heute nicht mehr unterſchätzt. Der Kinder Spiel iſt der Kinder Arbeit. Es liegt aber noch ein tieferer Sinn im kindlichen Spiel, als die meiſten ahnen. Es gibt vielleicht nichts anderes in der Kulturgeſchichte der Menſchheit, in dem ſich die Vergangenheit ſo betätigt, nichts, in dem ſich glänzender als gerade hier das Wort: „Was du ererbt von deinen Vätern haſt, erwirb es, um es zu beſitzen“ beweiſt. Denn unſere Kinderſpiele reichen nicht nur in das homeriſche Zeitalter, ſondern ſie haben ſich auch rein erhalten, wie ſonſt nichts in der Welt. Das Kind ist in feinen Spielen und in feinen beſten Märchen fo eigen- artig und im beften Sinne des Wortes konſervativ und hängt in dieſer Beziehung ſo ſehr am Althergebrachten, daß ſich ihm hier nicht nur Schule und Haus, ſondern auch die Induſtrien beugen müſſen. Unſer Bild auf Seite 221 iſt beinahe drei- hundert Jahre alt, ein alter ſeltener holländiſcher Stich aus dem Jahre 1627, aber wir finden auf ihm faſt alle Spiele unſerer modernen Kinder! Vorn links ſpielt eine Gruppe Mädchen mit der Puppe, die bemuttert und erzogen wird. Das eine Kind macht das Bettchen im Puppenwagen, während das andere nach tüchtiger Roch- und Backarbeit und leckerem

220 Mannigfaltiges. 2

Mahl ſeinem „Kind“ zuredet, hübſch artig zu ſchlafen. Dicht dahinter ein Knabe, der den Kreiſel treibt, neben ihm ein anderer, der Seifenblaſen fliegen läßt. Hinter dieſen (links) zwei, die eine Rinderblaſe aufblaſen, um ſie zum Platzen zu bringen, und ein Knabe, der einen an einem Faden feſtgeb un- denen künſtlichen Vogel fliegen läßt. Dahinter rechts ſpielt ein Geſchwiſterpaar Kutſcher und Pferd, reitet ein Bub fein Stecken pferd, tollt ein anderer mit dem Hund, jagt ein dritter den Reifen. Oer eine ſchlägt einen Purzelbaum, der andere läßt einen Drachen ſteigen, während andere mit der „Windmühle“ laufen und (an dem Kiosk) Kegel ſchieben, die Violine ſpielen, die Kinderſchere ſchnellen, übers Seil ſpringen. Die eine Kinderſchar im Vordergrund ſpielt Soldaten, die andere Blindekuh. Ganz im Hintergrund endlich müht ſich ein Junge damit ab, ſeinem Hunde Kunſtſtücke beizubringen. Das bei alt und jung fo über- aus beliebte Stelzenlaufen wird geübt uſw. ganz wie jetzt auch noch. Faſt alle unſere Kinderſpiele find fo alt wie die Kultur- menſchheit überhaupt. Schon die griechiſchen und römiſchen Knaben ſpielten gern mit dem Kreiſel, die Mädchen mit Ball und Puppe. Ihr Nußſpiel ähnelte unſerem Murmelſpiel; ſie machten einen kleinen Kreis oder eine kleine Grube in den Boden und warfen mit Nüſſen danach. Wer ſeine Nuß in den Kreis oder die Grube warf, gewann die übrigen, die vor- beigerollt waren. Auch das „Orachenſteigenlaſſen“ war im Herbſt im alten Griechenland ein beliebter Fugendſport. Blinde- kuh, das Pfahlſpiel oder Pflöcken, faſt alle unſere Bewegungs- ſpiele wurden bei den Griechen von der Schule gepflegt. Der Lexikograph Pollux nennt etwa fünfzig Spiele, die zum großen Teil auf uns gekommen ſind und heute noch nach denſelben Regeln geſpielt werden wie vor mehr als zweitauſend Jahren. Im Harpaſton oder Epikoinos, einem Ballſpiel, in dem ein Ball von mehreren Spielern gemeinſam geſpielt wurde, haben wir das Fußballſpiel der Alten zu erblicken. Bei den Römern wurden die beiden Cato, Julius Cäſar, Mare Aurel und Alexander Severus als Meiſter im Ballſpiel, dem „Lieb- lingsſpiel der Götter“, gefeiert. Wie Zettler erwähnt, waren

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u Mannigfaltiges. 221

auch die alten Agypter leidenſchaftliche Ballſpieler. Man gab den Toten ſogar Bälle mit. Ein dreitauſend Jahr altes ägyp-

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tiſches Grabbildzeichen ſtellt vier Mädchen dar, die gleichzeitig zwei und drei Bälle auffingen. Selbſt in den germaniſchen

Die Kinderſpiele vor dreihundert Jahren. Nach einem holländiſchen Stich aus dem Jahre 1627.

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Urwäldern war das Ballſpiel bekannt, wie dieſes Spiel über- haupt ſo kosmopolitiſch war, daß es zur Zeit der Entdeckung Amerikas auch dort überall gefpielt wurde. Die alten Mexikaner hatten ſogar ihre Ballhäuſer, in denen ſie eifrig Ball ſpielten.

Auch im Mittelalter war das Ballſpiel, insbeſondere das Raketenballſpiel, der Vorläufer des modernen Lawn. Tennis, ſo beliebt, daß man überall Ballhäuſer baute: in Berlin auf dem Werder und im Luſtgarten; in Dresden an der Weſtſe ite des Schloſſes und am Opernhaus; in Hannover auf dem St. Gallenhof; in Kaſſel am Schloßplatz; in Darmſtadt und in Mannheim auf dem Schloßplatz; in Leipzig in der Reichsſtraße und in der Petersſtraße; zu Breslau in der Neuſtadt; in Halle vor der Moritzburg; in Straßburg in der heutigen Ballhaus- gaſſe; in Heidelberg in der Hiegelgaſſe, am Burgweg und am Hirſchgraben; in Hamburg in der Neuſtädter Fuhlentwiete; in Würzburg im Hofgarten; zu Stuttgart an der Planie, Ecke der Königſtraße. Das Ballhaus in Wien wurde dort erbaut, wo heute das Burgtheater ſteht. Straßburg hat noch heute ſeine Ballhausgaſſe, Breslau die Ballhauskaſerne, Wien eine Ball- gaſſe und einen Ballhofplatz.

Als das Ballſpiel im 18. Jahrhundert bei den Erwachſenen aus der Mode kam, wurden die Ballhäuſer umgebaut und an- derer Beſtimmung zugeführt, aber keines war, wie der Laie noch heute annimmt, ein Tempel der Göttin des Tanzens. „In unſeren Tagen,“ ſagt Hachmeiſter, „wo das Ballſpiel als beliebte Unterhaltung und zweckmäßige Leibesübung auch bei den Erwachſenen ſeine alten Rechte wieder geltend macht, beherrſcht es tatſächlich alle Spielplätze unſerer Jugend... Auch hat keine andere körperliche Übung für die Bildung von beſonderen Spielvereinigungen auch nur annähernd einen gleichen Erfolg gehabt wie das Ballſpiel.“

Die Treue, womit die Zugend an ihren alten Spielen hängt, iſt charakteriſtiſch für das Seelenleben des Kindes. Noch ſchärfer äußerte ſich der Nachahmungstrieb, wenn auch nur vorüber— gehend, im Kinderſpiel, und das zu allen Zeiten. Heute ſpielt man „Zeppelin“, wohl die ſchönſte Huldigung für den greiſen Eroberer der Lüfte. Vor vierzig Fahren kämpften die ein-

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zelnen Schulen den „großen Krieg“ als Deutſche und Fran- zoſen unter ſich aus. Unſer „Kommandeur“ war der leider zu früh verſtorbene Gouverneur von Tſingtau. So oft ich mit ihm zuſammenkam, unterhielten wir uns vergnüglich über unfere damaligen Heldentaten, ein Beweis dafür, wie feſt Derartiges in der Erinnerung ſich hält.

Am 22. Juni 1650 beteiligten ſich die ſämtlichen Nürnberger Knaben auf ihre Weiſe am Friedensfeſt, indem ſie in geſchloſſener Kavalkade auf ihren Steckenpferden durch die Stadt ritten. „Dafür bekam ein jeder einen ſilbernen viereckigen Friedens- pfennig.“ W. F.

Der Kurfürſt mit den zwei Frauen. Es war dies der ſächſiſche Kurfürſt Johann Georg IV., der Vorgänger Auguſt des Starken. Er hatte ein Fräulein Sibylle v. Neidſchütz zu ſeiner rechtmäßigen Frau ernannt, obwohl er mit ihr nicht rechtmäßig getraut war. Als er darauf zu einer ſtandesgemäßen zweiten Ehe mit der verwitweten Markgräfin Eleonore von Ansbach und Baireuth ſchritt, ſtellte er, um die Rechte der erſten Frau zu ſichern, folgende eigenhändig geſchriebene Ur- kunde aus, die ſich noch heute in der Königlichen Bibliothek in Dresden befindet.

„Kund und zu wiſſen, daß ich ſolches für eine rechte Ehe halte und erkenne. Sollte uns alſo Gott in dieſem unſern Eheſtande ſegnen, ſo bekennen wir frei vor männiglich, daß ſolche vor meine rechte und nicht unrechte Kinder zu halten ſein. Um aber keine Zerreitung und Streitigkeit in dem Kur- hauſe anzufangen, ſollen dieſe meine rechten Kinder keinen Theil an denen Landen und Kurwürden haben, und allein dieſe meine Ehefrau Sräffin und ſie Gräffen genannt werden, den Namen und Schild verbinde mich bei kaiſerlicher Majeſtät auszumachen, kann ihn alſo hier herein und noch bis dato nicht ſetzen. Ferner auch will ich mir ausgenommen haben frei zu ſein, noch eine Frau zu nehmen und zwar von gleichem Rang mit mir, welche der. Namen vom Kurfürſt führen und ihre durch Gottes Gnade mir geſchenkte Kinder die rechtmäßigen Erben dieſer Kur und Lande ſein ſollen. Doch haben wir geboten, ſolche Schrift niemanden zu weiſen, es ſei denn

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höchſt nöthig, fondern fie unſern Kindern zu ihrem Ausweifen und beſſerer Sicherheit verwahren, welchen denn neben ihrer Mutter, meiner vor Gott rechtmäßige Frauen, ehrlich Aus- kommen bei meinem Leben verſprochen und nach meinem Tode alſo geſorgt haben will, daß ſie ſich meiner nicht zu ſchämen haben, ſondern auch von allem rechtmäßigen Anſpruch meiner Successores befreit fein ſollen. Und obwohl fie mit eben dieſem meinen Verſprechen, ob es wohl mündlich geweſen, zufrieden geſtanden; ſo habe dennoch ſolches zu ihrer wahren Verſicherung nochmals ſchriftlich an Eidesſtatt geben wollen, und iſt dieſes Alles meine ernſte Meinung, ſo wahr mir Gott helfe. Dieſes Alles habe zu mehrer Urkund nochmalen eigenhändig unter- zeichnet und mein Kur- und Daumen Secret vorgedruckt. So geſchehen Dresden den 16. Febr. 1691. Johann Georg Kur- fürſt. zen.

Hygieniſche Bedeutung der Gewitter. Schwer laſtet des Sommers Schwüle auf Körper und Geiſt. Ze länger die Hitze andauert, um ſo geſättigter wird der Feuchtigkeitsgehalt der Luft, und dem Organismus fällt es immer ſchwerer, ſeinen Schweiß nach außen zu verdunſten. Es treten dann leicht Fälle von Hitzſchlag ein, der nichts anderes iſt als das Ergebnis innerer Wärmeſtauung. Dazu nimmt die elektriſche Spannung in der Atmoſphäre in beängſtigender Weile zu, bis ein er- löfendes Gewitter allen dieſen Schädlichkeiten ein Ende bereitet.

Durch die gewaltigen Regengüſſe wird der heiße Staub der Luft, werden Krankheitserreger, Fäulnisſtoffe und trockener Schmutz der Straßen in die Kanäle geſchwemmt oder ſickern in tiefere Erdſchichten, fo daß fie jedenfalls unſchädlich werden. Ein großer Teil der Waſſermaſſen verdunſtet, wodurch ſo viele Wärme verbraucht wird, daß die Entwärmung des Körpers nun leicht vonſtatten geht. Das heiße Straßenpflaſter, die ſonnendurchglühten Häuſerwände kühlen ſich ab, und bald bläſt ein friſcher Hauch erquickender Luft in unſere ſchwuͤlen, dunſtigen Wohnungen.

So ſtellt ſich das Gewitter als luftreinigender „himmliſcher“ Sendling dar, deſſen wohltätige Wirkungen man durch die weitgeöffneten Fenſter mit tiefen Atemzügen aufnehmen ſoll.

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Luftreinigenden Einfluß übt das Gewitter auch durch die Bildung des Ozon aus, jenes energiſchen Oxydationsmittels, das auf alle Miasmen, Fäulnis- und Krankheitserreger abtötend wirkt. Überhaupt bringt der Blitz ganz gewaltige chemiſche Veränderungen in der Zuſammenſetzung der Luft hervor, deren günſtige Einwirkung auf den Körper wir wohl fühlen, aber noch nicht genügend erklären können. Wir wiſſen zum Beifpiel, daß der Stickſtoff mit dem Wafferftoff des Regens unter Mit- hilfe des Blitzes Ammoniak bildet, und mit dem Sauerſtoff ſalpetrige Säure. Dieſe Entladungen der Luftelektrizität ſind für unſeren Körper jedenfalls ſehr bedeutungsvoll; ſie bilden mächtige Lebensreize, die eine kräftige Umftimmung in unferem Wohlbefinden verurſachen, wie jeder nach einem Gewitter mit großem Behagen fühlt.

Auf einer Wirkung der atmoſphäriſchen elektriſchen Span- nung auf die Nerven beruht wohl auch die Gewitterfurcht ſenſibler, nervöſer Perſonen, die ein Gewitter oft ſchon lange vor dem Ausbruch als Beklemmung und Bangigkeit „in den Gliedern“ fühlen. Erwachſene ſollen aber wenigſtens vor Kindern ſich nichts davon merken laſſen, ſondern bei dieſen der abergläubiſchen Gewitterfurcht durch Aufklärung vorbeugen, indem fie ihnen die höchſt wohltätigen geſundheitlichen Eigen- ſchaften des Gewitters ſchildern. Die gewaltig erſchütternden Erſcheinungen von Blitz und Donner find eben die notwen- digen Naturwehen, die eine neue reine Lebensluft hervor- bringen. Dr. Th.

Der hiſtoriſche Moment. „Eines Tages,“ fo erzählte Alexander Dumas, „hatten ich und Viktor Hugo beim Herzog Decazes geſpeiſt. Unter den Gäſten befanden ſich auch Lord und Lady Palmerſton. Um 10 Uhr ging man in den Salon, wo man den Tee nahm. Hugo und ich ſaßen etwas abſeits nebeneinander auf Lehnſtühlen. Lord und Lady Palmerſton waren etwas ſpät gekommen. Man hatte nicht Zeit gehabt, uns ihnen vor dem Eſſen vorzuſtellen, und als das Eſſen zu Ende war, hatte der Herr des Hauſes ganz vergeſſen, die Vorſtellung zu beſorgen. Nach engliſcher Sitte konnte nun das Ehepaar nicht das Wort an uns richten. Da kam der junge

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Herzog Decazes zu mir. „Lieber Dumas,‘ fagte er, „Lord Palmerſton läßt fragen, ob zwiſchen Ihnen und Hugo vielleicht ein Sitz frei wäre?“ Natürlich,“ erwiderte ich auf die Frage des Lords. Es wurde ein leerer Seſſel hingeſtellt. Nun erhob ſich endlich Lord Palmerſton, reichte der Lady Palmerſton den Arm, führte ſie zu uns hin und forderte ſie auf, auf dem leeren Seſſel Platz zu nehmen. Darauf ſprach er, ohne an uns das Wort zu richten: „Mylady, ſehen Sie auf die Ahr.“ Mylady ſah auf die Uhr. ‚Wie ſpät iſt es? fragte Lord Pal- merſton. „10 Uhr 35, erwiderte Mylady. ‚Merten Sie ſich alſo, Mylady, daß Sie ſoeben einen hiſtoriſchen Moment er- leben, daß Sie um 10 Uhr 35 abends zwiſchen den Herren Hugo und Dumas ſaßen, und daß dies eine Ehre iſt, die Sie in Ihrem Leben wahrſcheinlich nie mehr haben werden.“ Sprach's, reichte feiner Gattin wieder den Arm und führte ſie auf ihren Platz zurück, ohne auch nur eine Silbe mit uns zu ſprechen. Denn wir waren ihm ja nicht vorgeſtellt wor- den.“ O. v. B.

Eine Parade in Katmandu. In dem der angloindiſchen Regierung tributpflichtigen Himalajaſtaate Nepal, dem bisher einen Beſuch abzuſtatten nur wenigen Europäern vergönnt geweſen iſt, legt man auf den Beſitz eines tüchtigen, modern ausgebildeten Heeres den höchſten Wert.

Der Weltreiſende Otte Ehlers, der leider bei der Hurch⸗ querung Neu-Guineas den Tod fand, hielt ſich längere Zeit in Katmandu, der Hauptſtadt Nepals, auf und wurde, da er die beſten Empfehlungen feitens der indiſchen Regierung be- ſaß, als geehrter Gaſt behandelt. Er erteilt den Nepaler Streit- kräften und ihren Offizieren hohes Lob und hatte auch Ge- legenheit, eine Parade der Truppen vor dem Obergeneral Dep Scham Schir beizuwohnen, die auf dem Paradeplatz zu Katmandu ſtattfand.

Er erzählt darüber folgendes: Gegen fünf Uhr waren 13,000 Mann mit mehreren Muſikkorps verſammelt, die in Zug- oder Nompaniekolonnen auf und ab marfchierten, während ſich nach und nach etwa zwei Dutzend Generale auf einem großen gemauerten Rondell, in deſſen Mitte ſich ein breit

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kroniger Baum erhebt, einfanden. Sie kamen nicht zu Pferde, ſondern in Wagen oder zu Fuß, jeder von einem Träger be- gleitet, der einen rieſenhaften, bunten Sonnenſchirm über ihn hielt. Sobald ein neuer General anlangte, machten die Truppen halt, wo fie ſich gerade befanden, präfentierten, und während die betreffende Exzellenz zum Rundell hinaufſtieg und gravi- tätiſch um den Baum herumſchritt, ſchmetterten die Mufil- korps eine Begrüßungsfanfare. Die Uniform der Truppen beſteht teils aus ſchwarzen, teils aus weißen baumwollenen, oben weiten und an den Waden enganliegenden Hofen und ſchwarzen oder blauen wollenen Kitteln. Als Fußbekleidung Lederſchuhe, auf dem Kopfe ſchwarze Turbane mit umlaufen- dem Wulſt aus feinem Silberdraht. Bei den Offizieren iſt dieſer Wulſt aus Golddraht. An ihm befeſtigt iſt vorne ein etwa 7 Zentimeter hohes und 6 Zentimeter breites ſilbernes Schild mit getriebenem Wappen. Die Offiziere führen an Stelle ſilberner Schilder ſolche aus maſſivem Gold mit hafel- nußgroßen Edelſteinen: bei dem Leutnant in der Mitte des Schildes als Rangabzeichen ein Smaragd, bei den Hauptleuten zwei, beim Major vier, beim Oberſtleutnant fünf, die aber loſe am unteren Rande des Schildes hängen. Die Oberſten haben brillantenbeſetzte Schilder, an denen noch je drei un- geſchliffene Smaragde hängen. Die Generalskopfbedeckungen aber ſtellen eine Art Helm dar, der über und über mit echten Perlen beſetzt iſt, und an denen ganze Trauben ungeſchliffener Edelſteine von ungewöhnlicher Größe herabbaumeln. Alle dieſe Abzeichen ſind Staatseigentum und repräſentieren bei einem ſtehenden Heere von im ganzen 20,000 Mann ein ge- waltiges Kapital.

Als der Generaliſſimus endlich erſchienen war, formierten die Truppen ein Viereck, deſſen Mittelpunkt das oben erwähnte Rundell bildete, und nun kam der Haupt- und Glanzpunkt der Parade, nämlich eine ſymboliſch-allegoriſche Vorſtellung, durch die der Sieg der Nepaler über ihre Feinde verfinnbild- licht wird. Auf ein Zeichen des Höchſtkommandierenden wurde aus einem in der Nähe ſtehenden Käfig eine Antilope heraus- gelaſſen, während von der einen Seite des Vierecks vier Wind-

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hunde in langen Sätzen heranjagten, und womit eine Jagd begann, die auf den europäiſchen Zuſchauer recht widerwärtig wirkte. Die Antilope, die an Schnelligkeit ihren Verfolgern weit überlegen war, ſuchte in blitzartigen Bewegungen hin und her ſchießend zu entkommen; wo immer ſie jedoch durch das Viereck durchzuſchlüpfen ſuchte, überall fand ſie ſich von einem Wall von Bajonetten umgeben. In einem verzweifelten Augen- blicke ſchien ſie über die Linie der Soldaten hinwegſetzen zu wollen, aber ſobald ſie ſich zum Sprunge anſchickte, brach die geſamte Mannſchaft in ein ohrenbetäubendes Geſchrei aus, ſo daß das entſetzte Tier ſeinen Entſchluß änderte und wieder kehrt machte. Dieſe Hetzerei mochte etwa eine Viertelſtunde gedauert haben, als der Befehl erteilt wurde, das Viereck zu verkleinern; aber erſt als es allmählich auf ein Drittel feiner urſprünglichen Größe verringert worden war, gelang es den Hunden unter dem lauten Jubel der Soldaten das aus Er- ſchöpfung bereits dem Verenden nahe Tier zu packen und zu zerreißen.

Damit war das militäriſche Schauſpiel beendet, die Generale ſetzten ſich unter dem Tuſchblaſen der Wilitärkapellen wieder in ihre Wagen, und mit Sang und Klang zogen die Regimenter in ihre Quartiere zurück.

Als höchſt merkwürdig muß noch erwähnt werden, daß die Anterhaltung dieſes Heeres ſoweit der gemeine Mann in Frage kommt dem Staate nicht nur nichts koſtet, ſondern noch etwas einbringt. Der Soldat erhält nämlich keinen Sold, ſondern ein Stück Regierungsland in Pacht, das er bearbeitet und für das er noch Steuern zu zahlen hat. Nur die Beſoldung der hohen Offiziere iſt koſtſpielig, da zum Beiſpiel ein Oberſt monatlich 10,000 Rupien, das heißt etwa 14,000 Mark, er- hält. F. 8.

Naſenformen und Naſenformungen. Eine ausſchlag⸗ gebende Rolle für den Geſamteindruck des menſchlichen Ge— ſichtes ſpielt die Naſe, fie kann für ihren Träger zur Glüd- und Unglüdbringerin werden. Tiefe Schatten ſenken ſich auf die Seele Heranwachſender, wenn fie gewahren, daß der im wahrſten Sinne des Wortes hervorragendſte Teil des Antlitzes dieſem

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ein Gepräge verleiht, das im Widerſpruch mit dem eigentlichen Weſen ihrer Perſönlichkeit ſteht. Es dürfen daher ärztliche Be⸗ ſtrebungen, die darauf abzielen, zufällige Mißbildungen dieſes Organs zu verbeſſern und aus einem ſonſt vollendet geformten Geſicht zu entfernen, gro- ßer Anerkennung und des Intereſſes weiter Kreiſe ſte ts ſicher ſein.

Die Naſenkorrektur, ein kleiner Zweig am großen Baume der Ortho- pädie, hat, trotzdem fie erſt vor kaum mehr als einem gig. 1 Sahrzehnt in Aufnahme un gekommen ift, bereits überraſchende Ergebniſſe aufzuweiſen. Selbſt die ärgſten Mißbildungen infolge fehlerhafter Struktur des Naſenknochens gelang es durch operativen Eingriff zu be- ſeitigen oder doch weſentlich zu mildern. Nicht weniger er- folgreich erwies ſich die mechaniſche Behandlung bei den weit häufiger vorkommenden einfacheren Naſenfehlern, welche im Fleiſch beziehungsweiſe Knorpel liegen. Ihnen ſuchte man zunächſt mittels Maſſage beizukommen, und es läßt ſich nicht leugnen, daß in geeigne- ten Fällen und mit der nötigen Ausdauer auf dieſem Wege Erfprieß- liches erreicht werden kann. Weit ſchnellere und nachhaltigere Reſultate ergaben ſich jedoch bei gi 2 Gebrauch ſinnreicher klei-

e ner Apparate, als deren vollkommenſter Typus wohl der von dem Speziäaliſten L. M. Baginski in Berlin angefertigte Naſenformer „Zello“ angeſprochen werden darf. Es iſt dies ein wohldurchdachter Mechanismus, der des Nachts auf die Naſe geſetzt und mittels zwei oder drei Riemen feſtgeſchnallt wird. Auf dieſe

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Weiſe wird die Naſe in eine normale Lage gebracht. Zit fie zum Beiſpiel an der Spitze etwas zu ſtark und hochſtehend, ſo wird durch den Former ein ſeitlich wie nach unten wirkender Druck ausgeübt und ſo allmählich eine natürliche Geſtaltung der Nafe herbeigeführt, wie dies aus den beigegebenen Bildern Fig. 1 und 2 deutlich erſichtlich iſt. Analog verhält es ſich mit einer hängenden, breiten oder etwas eingedrückten Naſe. Die Umformung geht dabei in allen Fällen ganz naturgemäß vor ſich. Durch den Druck, den der Former erzeugt, werden die Gewebezellen in der Naſe verkleinert und durch die fortwährende Zirkulation des Blutes wird dann nach und nach alles „Zuviel“ hinweggenommen.

Der Naſenformer „Zello“ (vgl. auch das Inſerat in dieſem Bande) iſt ein auf wiſſenſchaftlicher Grundlage nach den An- gaben bekannter Naſenärzte hergeſtellter orthopädiſcher Apparat, der nicht nur vielen bereits wertvolle und dankbar anerkannte Dienſte geleiſtet hat, ſondern auch von zahlreichen Profeſſoren und Arzten ſtändig angewandt, verordnet und warm empfohlen wird. Der Former wird, wenn die Länge des Naſenrückens nicht angegeben wird, in einer Normalform geliefert, die faſt immer paßt. Für ganz komplizierte Naſenfehler werden auch nach Gipsabdrücken, Photographien oder Zeichnungen befon- dere Apparate angefertigt. B.

Den eigenen Tod gemeldet. Während der Schlacht bei Colombey am 14. Auguſt 1870 hielt General v. Glümer, Kom- mandeur der 25. Brigade, weſtlich von dem Dorfe Colombey auf einem Hügel innerhalb der Feuerlinie. Zu den Adjutanten des Generals gehörten zwei vor ganz kurzer Zeit zu Haupt- leuten beförderte Offiziere, die beide Müller hießen. Den einen hatte der General vor etwa einer halben Stunde zu einem der Bataillone in die vorderſte Schützenlinie geſchickt, um einen Befehl zu überbringen. Als der Ordonnanzoffizier nicht zurück- kehrte, mußte der andere Hauptmann Müller ihm nachreiten, um feſtzuſtellen, ob fein Kamerad den Bataillonskommandeur auch wirklich erreicht habe oder, was zu befürchten ſtand, vorher gefallen ſei. Wieder verging eine Viertelſtunde. Dann bog ein Reiter um das kleine Gehölz am Veſtausgange von Colombey

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und ſprengte auf den General zu. Es war der zuletzt abgeſchickte Hauptmann.

Dicht vor General v. Glümer parierte er ſein Pferd und meldete kurz und ernſt: „Befehl ausgeführt. Hauptmann Müller tot.“

Sn demſelben Augenblick wankte er im Sattel und fiel vornüber auf den Hals des Pferdes. Eine Chaſſepotkugel hatte ihm, an der linken Schläfe eindringend, den Kopf durchbohrt.

Auch aus den Napoleoniſchen Kriegen wird ein ähnlicher Vorgang berichtet. Es war am 28. Auguſt 1809 vor Regens- burg. Die Franzoſen kämpften mit den Sſterreichern, die ihnen vier Tage vorher dieſe Stadt entriſſen hatten, abermals mit höchſter Erbitterung um den Beſitz der alten Biſchofsfeſte. Napoleon, der mit ſeinem Stabe in der Nähe der. Kartauſe Prüll hielt, war ſoeben von einer verirrten Kugel leicht am Bein verwundet worden bekanntlich die einzige Schuß verletzung, die er in all ſeinen Kriegen empfangen hat und befand ſich daher in ſchlechteſter Laune. Fortwährend ſchickte er feine Adjutanten nach vorn, um Nachricht über den Ver- lauf des Kampfes einholen zu laſſen. Einer dieſer Offiziere, der Oberſt Graf Montfort, kam mit auf der Bruſt völlig blut- getränkter Uniform im ſchärfſten Galopp zurückgeſprengt.

„Regensburg iſt unſer, Sire!“ rief er mit brechender Stimme, während ſein Geſicht jede Spur von Farbe verlor und große Schweißperlen ihm über das Geſicht rannen.

„Sind Sie verwundet?“ fragte Bonaparte nicht ohne Teil- nahme. ö

„Nein, Sire ich bin getötet,“ ſtieß der Oberſt pfeifenden Atems mit letzter Kraft hervor und fiel tot vom Pferde.

Eine ähnliche Geſchichte berichtet der Engländer Burke in ſeiner Lebensbeſchreibung des mexikaniſchen Präſidenten Juarez, auf deſſen Befehl am 19. Juni 1867 der unglückliche Kaiſer Maximilian erſchoſſen wurde. Am Tage nach der Urteils- vollſtreckung an dem öſterreichiſchen Kaiſerſohn ſollten drei mexikaniſche Offiziere, die zuerſt in der Armee Zuarez’ Dienſte getan hatten, dann aber zu Maximilian übergegangen waren, gleichfalls erſchoſſen werden. Auf ihre Bitten wurden die drei

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ungefefjelt an die Mauer des Kaſernenhofes in Queretaro geſtellt. Ihnen gegenüber ſtand eine Abteilung Infanterie mit geladenem Gewehre bei Fuß. Aber noch immer zögerte der kommandierende Offizier, ein Oberſt namens Alvaro. Man wartete auf Juarez, der der Hinrichtung hatte beiwohnen wollen. Nachdem eine peinvolle halbe Stunde vergangen war, traf ein Bote mit der Nachricht ein, daß der Präſident nicht erſcheinen würde. Die Exekution ſolle aber ſofort voll- zogen werden. Man wollte nun den drei Verurteilten, die leichenblaß an der Mauer lehnten, die Augen verbinden. Auch dies unterblieb auf ihre Bitten.

Da trat einer der Todeskandidaten, ein Hauptmann namens Salteſta, ſicheren Schrittes dicht an Oberſt Alvaro heran und ſagte laut: „Ich wollte meine letzte Meldung eigentlich Benito Juarez erſtatten. Nehmen Sie ſie für dieſen Mordbuben entgegen. Oberſt Alvaro und Hauptmann Salteſta ſind tot!“

Damit riß er einen bereitgehaltenen Dolch aus der Taſche und ſtieß ihn dem Oberſt mitten ins Herz. Wenige Minuten ſpäter war auch Salteſta eine Leiche. W. K.

Die ſächſiſchen Schöppen galten im Mittelalter als die grauſamſten. So war im Fahre 1697 ganz Deutjchland empört, als der kurfürſtliche Schöppenſtuhl von Leipzig die „Maria Reinlerin, auf ihrem gethanenen Bekenntniß vor öffentlich gehegtem Peinlichen Hals-Gericht“ wegen Gattenmords ver- urteilte, „zufammt einem Hunde, Hahn, Schlangen und einer Katzen in einen Sack geſtecket, ins Waſſer geworfen und ertränket zu werden“. Dieſe Empörung war berechtigt, weil der Ermordete ein unverbeſſerlicher Spitzbube war, der ſeine junge Frau zu Verbrechen aller Arten zwingen wollte, und weil trotz dieſer Milderungsgründe „das Geſuch der Reinlerin um Ver— wandelung dieſer grauſigen Strafe in die des Schwertes“ vom Kurfürſten abgeſchlagen worden war. Der Dresdener Regijtra- turakt vom 23. Juli 1697 beſagt: „Nachdem Maria Reinlerin auf ihrem gethanen Belenntniß vor öffentlich gehegtem Hals- gericht nochmals freiwillig verharret, fo iſt fie dem Urthel zu- folge mit dem Gethier in einen Sakt geſtecket, in die Elbe geworfen und ertränket worden“.

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Die „Hals- oder Peinliche Gerichtsordnung“ Kaiſer Karls V. ſah für Gattenmord nur die einfache Strafe des Erſäufens vor, wie ſie noch heute gegen ungetreue Frauen im Orient üblich iſt. Es war dies die alte römiſche Strafe gegen Elternmörder, die Raifer Konſtantin erſtmals auf Gattenmörderinnen aus- dehnte, und zwar mit der Verſchärfung, daß entweder ein Affe mit einer Schlange oder ein Hund mit einer Katze der Ver- brecherin in den Sack beigegeben werden ſollten. Auch be- ſtimmte er, daß der Sack mit den Tieren, die furchtbar um ſich kratzten und biſſen, ſtark und luftdicht ſein müſſe, ſo daß es ſtundenlang dauerte, bis er ſank. Die Empörung des Publikums über die Grauſamkeit der ſächſiſchen Schöppen war alſo be- greiflich.

Trotzdem tat man ihnen unrecht, da es ihnen mehr um die Abſchreckung als um die Strafe ſelbſt zu tun war, wie aus der Liquidation des mit der Hinrichtung der Reinlerin beauf- tragten „Scharf; und Nachrichters der Churf. Sächſ. Nefidenz Veſtung Stadt Dresden Benediktus Wahl“ hervorgeht. Dieſer liquidierte nämlich wörtlich: „3 Groſchen vor Stricke und Leinen bei der Säckung, 4 Groſchen 6 Pfennige vor Verfertigung eines Hundes, Katzens, Hahns und Schlangen dem Bildhauer Johannes Richtern“, woraus hervorgeht, daß der Unglücklichen nur künſtliche Tiere beigegeben wurden.

Auch der Vorſitzende des Leipziger Schöppenſtuhls, Benedikt Carpzow (geb. 27. Mai 1595, geſt. 50. Auguſt 1666), dem man nachredet, an 20,000 Todesurteile gefällt zu haben, war beſſer als fein Ruf. Dadurch, daß er ſchon 1635 in einer feiner vielen Schriften „größere Strenge in Beobachtung der rechtlichen Formen, in Berückſichtigung der erforderlichen Indizien und in der Begründung des Tatbeſtandes“ forderte, hat er mehr Unheil verhütet, als er im Geiſte der fürchterlichen Zeit, in der er als oberſter Richter lebte, anſtiften mußte. W. F.

Der japaniſche Kronprinz. Hirohito oder, wie er vor ſeiner Erklärung zum Kronprinzen hieß, Michi no Miya, der älteſte Sohn des Kaiſers Voſhihito und der Kai- ſerin Sadako, einer Tochter des Fürſten Kujo Wichitaka, foll demnächſt, wie verlautet, in Begleitung eines größeren Ge—

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47 © Br a 355 er Dr - | y 2 ö Der japaniſche Kronprinz Hirohito als Unterleutnant der Marine.

folges den europäiſchen Höfen einen Beſuch abſtatten, um ſich vorzuſtellen und zugleich die ſtaatlichen Einrichtungen und die

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bedeutendſten induſtriellen Unternehmungen der einzelnen Länder kennen zu lernen, eine Abſicht, die im gemeinſamen Intereſſe freudig zu begrüßen iſt.

Er wurde am 29. April 1901 in Tokio geboren. Anfänglich von zarter Geſundheit, hat er ſich durch die Einreihung in das Kadettenkorps, wo man auf die Hebung und Schulung ſeiner Kräfte beſondere Sorgfalt verwendete, jetzt überraſchend er- holt, ſo daß er über ſein Alter hinaus entwickelt ausſieht. Von den europäiſchen Sprachen hat er namentlich das Eng- liſche getrieben. Nachdem ihm an ſeinem zehnten Geburtstag der Rang eines Unterleutnants der Infanterie verliehen worden war, iſt er kürzlich auch zum Anterleutnant der Marine ernannt worden. Hirohito beſitzt noch zwei Brüder und vier Schweſtern. Th. S.

Eine Liebe iſt der anderen wert. Eine luſtige kleine Geſchichte aus dem Eheleben Walter Scotts erzählt eine Lon- doner Zeitſchrift. Eines Tages kam ſeine Frau außer ſich zu ihm und ſagte: „Nun werde ich die Kinder aber einmal ge- hörig züchtigen müſſen!“

„Was iſt denn los, Schatz?“ fragte Scott.

„Sie haben mir meinen Nähtiſch in ſchreckliche Unordnung gebracht. Nichts, aber auch gar nichts liegt auf ſeinem Platz. Nadeln, Garnrollen, Schere, Wolle alles iſt durcheinander geworfen. Man könnte geradezu wahnſinnig werden.“

Scott neigt ſich wohlwollend zu ſeiner beſſeren Hälfte: „Mein Lieb, das waren nicht die Kinder, das habe ich getan!“

„Aber warum denn?“

„Ach, nur in dem Vunſche, deine liebevolle Sorgfalt zu erwidern. Nachdem du meinen Schreibtiſch ſo ſchön aufgeräumt und alle Papiere geordnet haſt, war es mir ein Herzensbedürfnis, auf dieſelbe Weiſe auch deinen Nähtiſch in Ordnung zu bringen.“ O. v. B.

Ein ſchottiſcher Münchhauſen. Auch in Schottland hat es einen „Münchhauſen“ gegeben; es war ein Grundbeſitzer, der Laird Durham, der im 18. Jahrhundert lebte und bei ſeinen Zeitgenoſſen in dem Rufe ſtand, die graue Wirklichkeit vermöge ſeiner reichen Phantaſie gern etwas farbiger erſcheinen zu laſſen.

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Eines Tages trat Peter, fein langjähriger treuer Diener, zu ihm ins Zimmer und ſagte: „Hiermit kündige ich zum nächſten Termin.“ |

„Du willſt gehen, Peter?“ ſagte der Laird erſtaunt. „Habe ich dich nicht immer gut behandelt? Habe ich nicht erſt neulich deinen Lohn erhöht? Worüber haſt du alſo zu klagen?“

„Ich bin mit allem zufrieden, aber das ärgert mich, daß die Leute von mir ſagen, der dient bei jemandem, der ein Aufſchneider iſt.“

„Richtig, Peter, ich ſehe wohl, daß ich mich mehr zuſammen- nehmen muß. Ich will dir etwas ſagen: wenn du bei Tiſch hinter meinem Stuhle ſtehſt und hörſt, daß ich anfange auf- zuſchneiden, ſo gib mir heimlich einen kleinen Knuff in den Rücken; dann lenke ich wieder ein, und wir beide werden uns ſchon noch länger vertragen.“

Peter empfahl ſich befriedigt.

Bald darauf hatte der Laird einige Gäſte zu Tiſch, und das Geſpräch kam auf das für die Wahrheitsliebe von jeher gefährliche Gebiet der Reiſe- und Zagderlebniffe. „Ja, auf der Reiſe, von der ich erzähle,“ ſagte der Laird, „habe ich Füchfe mit Schwänzen geſehen, die ihre zwölf Fuß lang waren.“

In dieſem Augenblick fühlte er einen kräftigen Stoß von Peters Fauſt.

„Was ſage ich,“ berichtigte ſich nun der Laird, „ſechs Fuß waren ſie lang.“

Neuer Stoß von Peter.

„Ich irre mich,“ fuhr der Erzähler fort, „drei Fuß meine ich.“

Dritter Stoß von Peter.

Da drehte ſich der Laird zu feinem Diener um und ſagte laut: „Aber Peter, wenn ich die Schwänze nun noch kürzer mache, dann iſt ja die ganze Geſchichte nichts mehr wert!“ O. v. B.

Die kleine Zehe. Zu den am meiſten mißhandelten Gliedern des menſchlichen Körpers gehört ohne Zweifel die kleine Zehe. Durch den Druck des enganliegenden Lederſtiefels wird ſchon bei Kindern eine Verunſtaltung der kleinen Zehe hervorgerufen, die mit den Fahren zunimmt und mit Beginn

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der Oreißiger ihren Höhepunkt erreicht hat: die kleine Zehe iſt dann in den weitaus meiſten Fällen ein bogenförmig gekrümmtes, völlig plattgequetſchtes und halb über die Nach- barzehe hinübergedrücktes Glied geworden, an deſſen Spitze nur noch ein winziger Reſt von einem Nagel wuchert.

Niemand wird dieſem vollſtändig verbildeten Beſtandteil des menſchlichen Fußes dann noch anſehen, daß er was den meiſten überhaupt wohl unbekannt ſein dürfte drei Gelenke beſitzt im Gegenſatz zu der großen Zehe, die nur zweigelenkig iſt.

Bereits 1824 ſtellte der Pariſer Anatom Huguet nun feſt, daß bei manchen Menſchen die kleine Zehe ebenfalls nur zweigelenkig iſt. Dieſelbe Beobachtung machte auch ver- ſchiedentlich der Wiener Profeſſor der Medizin Schennler, der 1854 über dieſe immerhin auffallende Erſcheinung eine Arbeit veröffentlichte, in welcher er die Schuld an dieſer Verwachſung des Endgliedes mit dem Mittelgliede dem Druck des Schuh- werkes zuſchreibt. 0

In neuerer Zeit hat man dieſem auffälligen Vorgang er- höhte Beachtung geſchenkt, und da iſt die Wiſſenſchaft an der Hand eines reichlichen Materials, das nicht nur in Kultur- ländern, ſondern auch unter unziviliſierten, feſten Schuhwerks ungewohnten Völkerſchaften geſammelt worden war, zu er- heblich anderen und daher weit intereſſanteren Schlüſſen ge- kommen. Beſonders der Anatom Wilhelm Pfitzner ſtellte feſt, daß dieſe Umwandlung der kleinen Zehe in ein zweigelenkiges Glied ebenſo häufig bei Menſchenraſſen auftritt, die ſtets barfuß gehen, bei den malaiiſchen Völkern, den Negerſtämmen Afrikas und den ſüdamerikaniſchen Indianern, daß mithin der dauernde Oruck der feſtanliegenden Schuhe nicht als Urſache dieſer Knochenverwachſung angeſehen werden könne. Oagegen ſpricht nach Pfitzner auch das geſunde Ausſehen der verwachſenen Knochenteile, ſodann aber auch die Tatſache, daß zweigelenkige kleine Zehen ſchon bei Kindern im zarteſten Alter ebenſo häufig wie bei älteren Perſonen angetroffen werden. Ferner iſt ſta- tiſtiſch nachgewieſen und dies iſt von größter Wichtigkeit —, daß die Zahl der Menſchen mit zweigelenkigen Zehen in den letzten fünfzig Jahren erheblich zugenommen hat.

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Es kann ſich hier nur um einen naturgemäßen Vorgang handeln, worauf auch die Art der Verwachſung der beiden Zehenglieder mit Sicherheit hinweiſt, alſo um eine Rückbildung, in der die menſchliche kleine Zehe begriffen iſt, und die als ein neues Raſſenmerkmal angeſehen werden muß, das aus einer bisher noch nicht aufgeklärten Veranlaſſung auftritt. W. K.

Wann darf eine franzöſiſche Frau Männerkleidung tragen? Es gibt bekanntlich eine franzöſiſche Frau, die regelmäßig Männerkleidung trägt. Oies iſt die bekannte Schriftſtellerin Frau Dieulafoy. Sie iſt zum Gebrauche dieſer Tracht von der Pariſer Polizeipräfektur ausdrücklich ermächtigt worden.

Dies hat nun einen Neugierigen auf den Gedanken ge- bracht, bei der Präfektur anzufragen, unter welchen Bedin- gungen denn einer franzöſiſchen Frau die Ermächtigung zum Tragen der Männerlleidung zuerteilt wird. Die Beamten der Präfektur zeigten ſich dem Frageſteller gegenüber ziemlich zurückhaltend. Schließlich aber rückten ſie mit der Mitteilung heraus, es gebe nur einen einzigen geſetzlichen Grund, der Frau die Hoſentracht zu erlauben, und dieſer beſtehe darin, daß die Frau einen Bart habe. Die Tatſache bleibt alſo, daß in Frankreich eine Frau mit einem Barte das Recht auf die Hoſentracht hat. Die betreffende Verfügung ſoll noch aus der Schreckenszeit ſtammen. O. v. B.

Nicht zu verblüffen. Nach Schluß eines Manövers, bei dem das dritte Armeekorps dem Gardekorps gegenũbergeſtanden hatte, erhielt Oberſt v. S. den Befehl, ſich bei dem bereits hochbetagten ruſſiſchen Feldmarſchall Grafen Berg, der dem Manöver beigewohnt und dem Kaiſer Wilhelm das Regiment des Oberſten verliehen hatte, zu melden, um ſeinen Befehl zu vernehmen, wann er ein Bataillon des Regiments, das noch in Berlin ſtand, beſichtigen wolle.

Graf Berg beſtimmte die Zeit der Beſichtigung und ſagte dabei zu dem Regimentskommandeur: „Ziehen Sie, bitte, die Kompanien auseinander, Herr Oberſt, damit ich nicht genötigt bin, das Bataillon im ganzen anzureden, da hierzu meine ſchon ſchwachgewordenen Stimmmittel nicht mehr ausreichen würden.“

Dies geſchah, und die Kompanien ſtanden auseinander-

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gezogen in Parade, als der ruſſiſche Feldmarſchall herankam. Dieſer hatte ſchon vieles von dem Inſtitut des Einjährig-Frei- willigendienſtes und dem großen Nutzen, den dasſelbe dem preußiſchen Heere brächte, vernommen und war daher begierig, einige Einjährig-Freiwillige kennen zu lernen und zu erfahren, wie ſtark ihre Zahl wohl in dieſem Bataillon ſein möchte.

Er wandte ſich daher, während er mit dem Oberſten die Front einer Kompanie abſchritt, plötzlich an einen intelligent ausſehenden Mann mit der Frage: „Wo haben Sie ſtudiert?“

„In Halle!“ lautete die ſchlagfertige Antwort, bei der Oberſt v. S. Mühe hatte, nicht laut aufzulachen. Denn der Gefragte war von Beruf Lackier und mochte wohl in Halle ſein Handwerk erlernt und ausgeübt haben, hatte aber ſchwerlich jemals dort akademiſche Vorleſungen gehört.

Graf Berg fragte einen zweiten: „Und Sie? Wo haben Sie ſtudiert?“

„In Greifswald!“

Der Mann war Schneider.

„Und Sie?“ wandte ſich der Feldmarſchall an einen dritten.

„on Berlin und Göttingen!“

Dieſer „Akademiker“ war Tapezier, übrigens wie alle übri- gen Angeſprochenen ein Berliner.

Auch in anderen Kompanien richtete Graf Berg noch ſeine Frage an verſchiedene Soldaten, deren Ausſehen ihm einen höheren Bildungsgrad zu verraten ſchien, und erhielt jedesmal prompte Antwort.

Da ſprach er voll Bewunderung zu dem Oberſten: „Ja, nun kann ich mir die großen Erfolge erklären, die Sie in Frank- reich errungen haben, nachdem ich mich ſelbſt davon überzeugte, daß Ihre Armee in einem einzigen Bataillon faſt ein halbes Hundert Leute mit akademiſcher Bildung beſitzt.“

Einige Tage danach hatte ſich Oberſt v. S., da das Bataillon Berlin verlaſſen mußte, bei dem allerhöchſten Kriegsherrn ab- zumelden. Bei dieſer Gelegenheit richtete Raifer Wilhelm an ihn die Frage: „Sagen Sie mir doch, wie verhält es ſich denn eigentlich mit dem halben Hundert Akademiker in dem Ba- taillon, von dem mir Graf Berg erzählte?“

240 Mannigfaltiges. A

Nun berichtete Oberſt v. S. dem Kaiſer den geſchilderten Hergang, und auf welche Veiſe Graf Berg die zahlreichen ſtudierten Leute ermittelt hatte.

Der Kaiſer lachte herzlich und ſagte: „Ja, meine Berliner laſſen ſich fo leicht nicht verblüffen.“ R. v. B.

Bauernſchlauheit. Wie oft begegnet man in Wald und Flur jenen warnenden Tafeln, mit denen die Grundbeſitzer das Publikum davon abzuhalten ſuchen, die Landſtraße durch den geraden Weg über die Wieſen abzuſchneiden. Nicht immer jedoch mit Erfolg, denn ohne hoſengefährdende Stacheldraht zäune gelingt's in den ſeltenſten Fällen.

Ein Bäuerlein in einem Seitentale des Inn hat ſich ſehr einfach zu helfen gewußt. An einer Stelle, wo jeder Wanderer bisher nach einigen mathematiſchen Überlegungen zu dem Ergebnis kam, daß eine gerade Linie immer der kürzeſte Weg zwiſchen zwei Punkten iſt, ftellte unſer Bauer eine Tafel auf, die die freundliche Einladung ausſprach: „Das Rindviech darf hier ins Gras gehen.“

Er ſoll ſeinen Zweck vollkommen erreicht haben. O. v. B.

Die Gabe der kleinen Mädchen. Als im Jahre 1870 überall für die Verwundeten geſammelt wurde, da lief auch bei dem Berliner Zentralkomitee eine Gabe von acht Talern ein, die von einem Verein „kleiner Mädchen“, die eine Lotterie veranſtaltet hatten, eingeſandt waren. Die Geldſpende war von folgenden Verſen begleitet:

Orei Pfennige nahmen wir für das Los,

Die Einnahme war trotzdem ſehr groß.

Acht richtige Taler ſind's, die wir

Dem Komitee überſenden hier.

Acht Taler, das lehrt uns das Rechenbuch ſchon,

Sind weit mehr als ein Napoleon.

Und wenn wir ihn, den ja nichts ſoll zügeln,

Mit unſern Oreiern ſchon überflügeln,

Wir kleinen Mädchen na guten Morgen!

Wie werden's ihm erſt unſere Soldaten beſorgen! —zen.

Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Theodor Freund in Stuttgart, in Oſterreich⸗Ungarn verantwortlich Dr. Ernſt Perles in Wien.

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m ben, daß heute ein großer Teil aller In⸗

ſtrumente ihren eigentlichen Zweck nicht erfüllen, denn es gibt Tauſende und Abertauſende, die das Klavierſpiel wohl ſchon verſucht haben zu erlernen, es aber trotzdem nicht zu dem bringen konnten, was ſie erſehnten. Der hauptſächlichſte Grund, weshalb die meiſten nach kürzerer oder auch längerer Zeit ihre Verſuche wieder einſtellten, dürfte in allererſter Linie auf das umſtändliche Erlernen des ſeitherigen Notenſyſtems zurückzuführen ſein. Außerdem empfinden ſehr viele, namentlich ſolche Leute, die ihrem Er⸗ werbsleben nicht allzuviel freie Zeit ab⸗ gewinnen können, es als einen läſtigen Uebelſtand, beim Lernen ſich ſyſtematiſch fremder Hilfe zu bedienen. Es dürfte wohl nur wenige geben, deren Zeit es erlaubt regelmäßig Muſikunterricht zu nehmen. Ueber alle Uebelſtände, die alſo bisher das Klavierſpiel erſchwerten, hilft nun mit einem Schlage die rühmlichſt bekannte und tauſendfach bewährte „Taſtenſchrift“ hinweg. Der Haupt⸗ wert dieſer Methode, nach der man das Klavierſpiel wirklich individuell und in allerkürzeſter Zeit ohne fremde Hilfe erlernen kann, liegt darin, daß man vorheriger Notenkenntnis keines⸗ wegs bedarf. n der Taſtenſchrift hat das bisherige Notenſyſtem eine un⸗ geahnte Vereinfachung gefunden; ſie macht ſich dadurch von dem früheren Syſtem unterſchiedlich, daß ſie weder Vor⸗ zeichen, noch Auflöſungs⸗ oder Ernied— rigungszeichen hat. Hier ſieht man bei der eigenartigen Anordnung der fünf Notenlinien jede Taſte, die anzuſchlagen

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Herr Friedrich G. aus Berlin ſchreibt am 9. 12. 12:

„Das Werk habe ich erbalten und teile mit, daß es uns ſehr gut gefällt; es iſt alles leicht begreif⸗ lich und muß einer ſchon ſchwer von Begriff ſein, wenn er mit Ihrer Taſtenſchrift nicht einig wird.“

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