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Inhalts⸗ Verzeichnis. Y

Frau Wallis Freiersfahrt. | Eine wahre Geſchichte. Von B. Rittweger. Mit Bil- dern von J. Mukarobvs as 5 Das Noſazimmer. Venezianiſcher Roman von E. v. Adlersfeld⸗Balleſtrem

(Fortſetzu nnd 19

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Eine Tanzftudie. Von R. Hendrichs. Mit 5 Bildern 89 Das Weib an der Krücke.

Novelle von Carola v. Eynatten . . 99

Der Berliner Tiergarten. Von Ernſt Seiffert. Mit 8 Bildern . » x... 155 henkersrecht. Eine Erzählung aus der en alten Zeit. Von Wilhelm Hille e

Wohlfeile Schmuckfebern. Von Gerd Harmstorf. Mit 18 Bildern. . 187 Mannigfaltiges:

Das rätfelhafte Armband . . d 202 Fingierte Stummbeit . s e s ee e e e e 208

Laufende Blätter » er 11 Mit 2 Bildern.

Wie vor zweihundertfünfzig Jahren ein Verwalter angeſtellt wurde. 213

Snbalts-Derzeichnis. ¹

Die geheimnisvollen Brie·frt “ec Die KNataſtrophe von Para-Dfþhala . » . . 216

Aus einer Mönchrepub lik . 221 Mit Bild.

Das Lampenfiebrrrteeeeeee 223 Von der Schärfe des Sehvermögens der Raubvögel 224 Eine Königin als erſte Perückenmacherin . 227 Sechs Stunden von Potsdam g . . 228

Weihnachtsnarziſſe n. 228 Mit Bild.

Cartouche in Oeutſchland d . 230 Eines der finnigften Geſchentte« 832 Giftia dd 234 Tage der RRoe n 8257 Eine ſchwierige Aufgadte 238 Teure Liebesbriec fc 239 Ein Kaiſer, der befiehlt, und ein zweiter, der geporgt 240

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Frau Wallis Freiersfahrt. Eine wahre Geſchichte. Don 8. Rittweger.

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J. Mukarovsky. (Nahörud verboten.)

Fs Walli Kampel ſaß mit nachdenklicher Miene bei ihrem Nachmittagskaffee. Sie tauchte einen

Butterkringel in das wohlgeſüßte Getränk und biß mit

ihren blanken Zähnen ein Stück nach dem anderen da—

von ab. Zwiſchendurch ſeufzte ſie tief auf.

Sonderbar! Sie hatte es doch nach Anſicht ihrer ſämtlichen Bekannten ſehr gut. Der ſelige Kampel hatte ihr ein ſchönes Vermögen hinterlaſſen. Sie konnte leben, wie fie wollte, konnte fih hübſch an- ziehen, ins Theater gehen, Reiſen machen jawohl, alles das konnte ſie. Aber es genügte ihr nicht, ſie ſehnte ſich nach mehr. f

Nach einem zweiten Mann?

Nun ja, es wäre ihr ſchon recht, wenn ſich ein paſſender fände. Das Glück ihrer erſten Ehe war nur ein ſehr mageres Glück geweſen. Auf Zureden ihres Vormunds hatte das junge, hübſche Ding Herrn Anton Kampel geheiratet und hatte mit dem ſchon ältlichen Mann eine ganz friedliche Ehe geführt, zwölf Jahre lang, bis zu Herrn Kampels vor vier Jahren erfolgtem Tod. Nun war ſie ſechsunddreißig und eigentlich, wenn ſie's recht überlegte, noch viel zu jung, um nur zu ihrem eigenen Behagen auf der Welt zu ſein. Sie war ge—

6 E Frau Wallis Freiersfahrt. A

ſund und kräftig und hätte gern ihre Kräfte nutzbringend verwendet.

Natürlich fehlte es ihr nicht an Gelegenheit, ſich wieder zu verheiraten, doch immer war etwas dabei, was fie ſtörte. Auf ſchwärmeriſche Leidenſchaft konnte ſie natürlich nicht mehr rechnen, trotzdem ſie noch eine recht anſehnliche Perſon war, friſch, geſund, nur etwas zu rundlich. Bei dem gar zu bequemen Leben, das ſie führte, kein Wunder!

Alſo einen Mann hätte ſie ſchon längſt wieder haben können. Aber die Art, wie die verſchiedenen Freier ſich ihr näherten oder ihr von befreundeter Seite näher gebracht wurden, war ihr doch gar zu plump. Nein, fie wollte lieber das Steuer ihres Lebensſchiff— leins ſelbſt in die Hand nehmen, anitatt fih von anderen führen zu laſſen.

Seit längerer Zeit ſchon durchſchaute Sii Walli Kampel ſchon um dieſen gräßlichen Namen loszu- werden, wünſchte fie ſich zu verändern täglich die „Neueſten Nachrichten“, ihr Leibblatt, nach Heirats- geſuchen. Aber ſie hatte bis jetzt keines gefunden, das ſie gereizt hätte.

Frau Walli überdachte das alles bei ihrem Nach- mittagskaffee, und gerade, als ſie mit dem zweiten Butterkringel zu Ende war und wieder einen tiefen Seufzer ausſtieß, ertönte die Flurglocke. Halb vier, da ſteckte die Zeitungsfrau die „Neueſten“ in den Kaſten! Frau Walli erhob ſich raſch, denn ſie war jetzt täglich geſpannt auf ihr Blatt, durch das ſie ſchließlich doch ihr Ziel zu erreichen hoffte. Sie holte ſich dann auch ſofort die Zeitung aus dem Kaſten und machte ſich an die Lektüre. Ihre Augen gingen haſtig über die Spalten mit den Heiratsgeſuchen. „Witwer mit drei Kindern, nahrhaftes Handwerk“ nichts! „Reiſender, der ſich

o Von B. Rittweger. ER;

ſelbſtändig machen möchte in der Schuhwarenbranche“ nein, Ledergeruch war ihr von jeher verhaßt. „Aka-

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demiker ſucht paſſende Gefährtin, nicht über dreißig Sabre“ „Techniker wünſcht Briefwechſel mit ſchlanker Blondine behufs ſpäterer Heirat. Vermögen er- wünſcht.“ Walli aber war brünett und ſchlank,

8 Frau Wallis Freiersfahrt. o

nein, auf dieſes Beiwort konnte fie auch keinen Anſpruch machen! Aber da das klang annehmbar: „Gaſt- hofbeſitzer in aufblühender Thüringer Sommerfriſche, Witwer, ſtattlicher Manni, achtünddreißig ig Jahre alt, mit zwei Kindern, Sohn und Tochter im Alter von ſechs und acht Jahren, wünſcht die Bekanntfchaft einer geſunden, tatkräftigen Witwe ohne · Anhang oder eines

nicht unter dreißig Jahren zu machen. Ber- mögen erforderlich, da Suchender feinen Gaſthof ver- größern möchte. Offerten unter „„ an die Expedition dieſes Blattes erbeten,“ ; k

Frau Walli las dieſes Geſuch wieder und wieder, und dabei tauchten vor ihren geiſtigen Augen dunkle Tannen und grünleuchtende Waldwieſen auf, fie hörte das Mur- meln eines Forellenbachs und das melodiſch abgeſtimmte Geläut der Kuhglocken. Ach, ein einziges Mal war ſie mit dem ſeligen Kampel in Thüringen geweſen, und: mit ſtiller Sehnſucht hatte ſie oft an all dieſe Herrlichkeiten zurüd- gedacht. Entſchieden dieſem Geſuch wollte ſie näher⸗ treten! Es gefiel ihr i in ſeiner ungeſchminkten Offenheit.

And ſie war ja nicht ganz unerfahren in der Branche. Ihr Vormund hatte ein Reſtaurant gehabt, und fid hatte von ihrer Konfirmation an bis zu ihrer Deri heiratung in ſeinem Hauſe gelebt und tüchtig mit- helfen müſſen. Oh, dazu würde fie fih gut eignen, einem Hotel in einer Sommerfriſche vorzuſtehen! Daş lockte ſie mächtig. Und die Kinder, nicht zu groß, nicht zu klein, ein Bub und ein Mädel wie das paßte! Frau Walli war ſehr für Kinder, aber mit ganz kleinen wär's ihr doch wohl zu beſchwerlich geweſen.

Frau Walli war nicht für langes Zögern, wenn ſie einmal etwas beſchloſſen hatte. So ging denn bereits eine Stunde ſpäter der Brief unter „Sommerfriſche“ an die Expedition der „Neueſten“ ab.

2 Von B. Rittweger. 9

Die Antwort ließ nicht lange auf ſich warten. Nach drei Tagen ſchon erhielt ſie einen Brief aus Thüringen, den ſie mit hochklopfendem Herzen öffnete. Eine Photo- graphie fiel heraus ach, ein hübſcher Mann mit kühner Nafe, hellen Augen und einem flotten Schnurr- bart. Wäre Frau Walli nicht gar zu neugierig auf den Inhalt des Briefes geweſen, ſie hätte ſich gar nicht von dem Bild wieder losreißen können.

Zuerſt ſuchte ihr Blick die Unterſchrift: Walter Vogelſang Himmel, dieſer entzückende Name! Alles, was an Poeſie in Frau Walli verborgen ſchlummerte, erwachte, und ihr Antlitz überzog ſich mit hellem Freuden- rot. Walter Vogelſang Anton Kampel, welch ein Anterſchied!

Nun aber erſt leſen, was dieſer Walter Vogelſang ſchrieb.

„Geehrte Frau! Habe mit Vergnügen aus Ihrem werten Schreiben erſehen, daß Sie nicht abgeneigt find, meine Frau zu werden. Was Sie über Ihre Ber- hältniſſe geſchrieben haben, freut mich ſehr, und werde ich in acht Tagen bei Ihnen vorſprechen, wenn es Ihnen recht iſt. Bitte ſehr um baldige Antwort. Wenn wir miteinander fertig werden, dann könnte bald Hochzeit ſein, damit der Bau noch vor Winter unter Dach kommt. Es grüßt einſtweilen

Ihr geneigter Walter Vogelſang, Gaſtwirt.“

Der Brief war nicht beſonders gewandt geſchrieben, aber das ſtörte Frau Walli nicht. Sie ſtand ſelbſt mit der Rechtſchreibung auf etwas geſpanntem Fuß, trotz- dem fie eine Mittelſchule beſucht und fogar etwas von Walther ron der Vogelweide gehört hatte. Und „Walter Vogelſang“ klang beinahe ebenſo ſchön.

Nach einem halben Stündchen hatten ſich die er—

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regten Wogen in Frau Wallis Gefühlen fo weit ge- glättet, daß fie daran denken konnte, ihrem Minneſänger zu antworten. Sie ſchrieb und zerriß den erſten Bogen, den zweiten, den dritten nein, es war doch ſchwerer, als ſie gedacht, die rechten Worte zu finden.

Plötzlich warf ſie die Feder weg und lachte fröhlich auf. Sie wollte gar nicht ſchreiben, ſie wollte auch nicht warten, bis Walter Vogelſang ſie aufſuchte nein, in den nächſten Tagen ſchon, am beiten gleich über- morgen wollte ſie nach Thüringen fahren, um ihren künftigen Wohnort kennen zu lernen. Sie hatte von dieſem Ort, der am Kopf des Briefbogens ſtand, noch niemals etwas gehört, aber die Spielwarenſtadt, in deren Nähe er, wie gleichfalls angegeben war, lag, war ihr dem Namen nach wohl bekannt.

Ohne große Mühe fand fie im Kursbuch ihre Reife- route. In ſechs Stunden Bahnfahrt war die Stadt zu erreichen und, einmal dort, würde ſie ſchon erfahren, wie ſie an ihr Ziel gelangte. Oh, Frau Walli war nicht unbewandert in Reiſe angelegenheiten. Anton Kampel war febr bequem geweſen und hatte ihr, wenn fie zu- ſammen ins Bad reiſten, ſtets alles überlaſſen.

Eifrig traf fie ihre Vorbereitungen. Nicht nur Un- geduld war's, die ſie zu dieſer Reiſe trieb, ſie hielt's auch für richtig, ſich von der Stätte ihres künftigen Glücks durch den Augenſchein zu überzeugen. Es handelte ſich doch nicht nur um den Mann, es war noch gar vieles ſonſt zu bedenken, das Anweſen, die Kinder, der Ort vor allen Dingen. Sie durfte ſich doch nicht unbeſonnen wie ein junges Mädchen benehmen. Fetzt, bei dieſem herrlichen Frühſommerwetter war ja eine Reiſe in die Sommerfriſche durchaus nichts Ungewöhnliches.

So fuhr denn Frau Walli an dem beſtimmten Tag frühmorgens ab und langte mittags wohlbehalten in

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der Spielwarenſtadt an. Sie am Bahnhof etwas Warmes und erkundigte ſich dann beim Portier, wie ſie das Ziel ihrer Sehnſucht am beſten erreichen könnte.

Ob vielleicht eine Poſt ginge? Nein, das kleine Neſt lag nicht an der Poſtſtraße, ſie mußte ſich einen Wagen nehmen, anders ging's nicht. Es waren immerhin drei gute Wegſtunden.

Der Portier erbot ſich, ihr einen Wagen zu beſorgen. Ob die Sommerfriſche wohl in dieſer Saiſon gut be—

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fucht fei, fragte Frau Walli noch. „Ja, darüber kann ich Ihnen nichts verraten, ich hab' überhaupt noch gar nichts davon gehört, daß Sommerfriſchler dahin gehen,“ lautete die Antwort.

Nun, was kümmerte der Mann fig ſchließlich um Sommerfriſchen!n -

Eine halbe Stunde fpäter jab Frau Walli im Wagen und fuhr zwiſchen tannenbeſtandenen Bergen, unter ſonnenhellem Himmel, an grünen,, von einem filber- hellen Bach durchſchnittenen Wieſen voxüber ihrem Ziel zu. Es war ein ganz wonniger Sommertag, und es wurde ihr förmlich andächtig zu Sinn.

Dazwiſchen überkam ſie a doch ein Linas bäng- liches Gefühl. Vielleicht war's doch nicht ganz richtig geweſen, ſo ins Blaue hinein Der Breiersfapt anzu- treten!

In ſolchen Augenblicken des Zweifels zog ſie Walter Vogelſangs Vildchen aus der Taſche, und die hübſchen Züge, die hellen, treuherzigen Augen, die ſie daraus anſchauten, gaben ihr neuen Mut. Und beim Ge— danken an die N Kinder wurde ihr das Herz warm.

Man kam jetzt durch einen ſtattlichen Ort. Der

Kutſcher fuhr langſamer, drehte ſich um und fragte: „Will die Madame vielleicht 'ne Taſſé Kaffee trinken? Das Wirtshaus iſt gut, und meine Gäul' waren ſchon heut früh auf der Tour, denen tut's auch gut, denn 's ift noch 'ne gehörige Steige bis 'nauf.“ Der Vorſchlag kam Frau Walli ſehr gelegen. Sie konnte bei der Taſſe Kaffee vielleicht unter der Hand ſchon etwas Näheres über den Schauplatz ihrer Zukunft erfahren. In Thüringen ſind die Menſchen leicht zu— gänglich und tragen das Herz auf der Zunge.

Und ſiehe da ſie traf's gut. Es waren keine Gäſte

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weiter da; der Wirt, ein ſchon ziemlich bejahrter Mann, ſaß mit einer kurzen Pfeife bei der Zeitung. Während ſeine Frau hin und her ging und den Kaffee beſorgte, knüpfte Walli eine Unterhaltung mit dem Mann an. Sie fragte, wie weit ſie wohl noch zu fahren hätte, und er meinte, anderthalb Stunden. ſei 8 ſchon noch, da es gar fo arg ſteige

„And wo kehrt man am fin ene Ich meine, in welchem Hotel? 6

„Hotel?“ Der Wirt lachte. i „Ja, ſehn Sie, ein Hotel werden Sie da oben vergeblich ſuch en.“? : „Aber die Sommerfriſchler paien doch irgendwo wohnen?“?

„Sommerfriſchlers Nu ja, ſo ein Berliner N hat die Jagd da oben und hat ſich 'n Jagdhaus am Wald bauen laſſen, und der kommt jeden Sommer mi ſeiner Familie und bringt manchmal noch ein paar gute. Freunde mit. Die nehmen halt fürlieb im Wirte- haus.“

„Beim Bogelfangt“ . = |

„Nee, ber hat keine Loſchiergelegenheit. Aber der Ziegenkäs, der 8 Wirt, por ſich für Gäſte ein- gerichtet“

„Aber ich. hörte ne der "Yogelfang wolle fein

Anweſen vergrößern. Da muß doch der Gaſthof ſehr deſlicht fein?“ Der Wirt lachte 15 ließ ‘feine Zeitung ſinken: „Nu, der Walter ſteckt alle Sonntag fein Bierfaß an, und wenn's nicht- alle wird, zieht er den Reſt auf Flafchen. Die holen die Leute die Woche über. Das iſt der ganze Betrieb.“

„Aber davon kann doch keine Familie leben?“

„Nee, davon lebt der Vogelſang auch nicht. Er malt halt Docken für die Fabrik.“

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„Docken?“ „Nu ja, Puppen malt er, wie alle Leute da 'rum.“ „Iſt denn eine Puppenfabrik im Ort?“

ae die iſt in der Stadt.“

„Da hat der Vogelſang wohl Pferd und Wagen?“

„Haha, Pferd und Wagen! Nee, die Dogen werden mit dem Buckelkorb hin und her getragen, alle Wochen ein- bis zweimal. Solange dem Vogelſang ſeine Frau

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noch halbwegs geſund war, hat die's getan, nachher hat er ſich anders helfen müſſen. Nun iſt die Frau ſchon beinahe ein ganzes Jahr tot, und er möcht' wieder heiraten, eine mit Geld, daß er einen Tanzſaal bauen kann. Wo getanzt wird, da gibt's mehr Einkehr und beſſeren Verdienſt. Ja, ja, der Vogelſang iſt fleißig und möcht's gern weiterbringen. Aber wenn Sie ſich da oben einlogieren wollen, da müſſen Sie's ſchon beim Ziegenkäs probieren. Schönen Wald und gute Luft gibt's ſchon.“ |

Frau Wallis friſche Wangen waren bei dieſer an- ſchaulichen Schilderung des geſprächigen Wirts erblaßt. Es wurde ihr ſehr ſchwer, den Kaffee, der inzwiſchen fertig geworden war, hinunterzubringen. Dann be— zahlte ſie für ſich und den Kutſcher, der auf einer Bank vor dem Wirtshaus ein Glas Bier getrunken hatte, und die unterbrochene Fahrt konnte fortgeſetzt werden.

Als ſie den Ort ſchon eine ganze Weile hinter ſich hatten und wieder durch den ſchönſten Hochwald fuhren, erhob ſich Frau Walli plötzlich und klopfte dem Kutſcher auf die Schulter.“)

„Nu, was gibt's denn ſchon wieder?“

„Ich will umkehren, hab' mir die Sache anders überlegt. Es ſcheint, mit der Sommerfriſche iſt's da oben nicht weit her, da geh' ich lieber nach Oberhof oder nach Elgersburg.“

„Na, mir kann's recht ſein, aber beim ausgemachten Preis bleibt's, ich kann doch heut nichts weiter mehr anfangen.“

„Natürlich bleibt's dabei!“

Der Kutſcher wendete den Wagen, bremſte und langſam ging's bergab.

Aus Frau Wallis Augen rollten dicke Tränen.

*) Siehe das Titelbild,

16 Frau Wallis Freiersfahrt. 2 Ade, du ſchöner Traum von neuem Glück und friſcher Tätigkeit ade! Sie war aus allen Himmeln gefallen. Nein, ſo ein abſcheulicher Betrug!

Betrug? Am Ende doch nicht. Walter Vogelſang hätte ihr gewiß bei ſeinem Beſuch reinen Wein über feine Verhältniſſe eingeſchenkt. Bei Heiratsgeſuchen wird natürlich immer etwas ſchön gefärbt immer! And Gaſthofbeſitzer war er ja doch wirklich, wenn's auch nur ein ſehr kleiner Betrieb war. Und konnte man nicht mit Fug und Recht den Bau eines Tanzſaales Vergrößerung des Betriebs nennen? Aufblühende Sommerfriſche? Nun ja, wenn einmal drei, vier Stadt- leute regelmäßig kommen, die ziehen ſicher mit der Zeit noch mehr nach ſich. Nein, Lug und Trug war's nicht, das Geſuch!

Frau Walli ſeufzte und zog aus ihrer Taſche die Photographie des Mannes mit dem herrlichen Namen. Wie der Name hierher paßte in dieſe wundervolle Waldgegend! Von der ſie nun wieder Abſchied nehmen mußte, um in das Häuſermeer der großen Stadt zurück- zukehren, in das alte, leere Dafein, wie ſie's nun ſchon feit vier Fahren als Witwe Kampel führte! Für nie- mand zu ſorgen, nur dazu da, zu eſſen und zu trinken und die Zeit totzuſchlagen.

Ganze Kaften voll geſtickte und gehäkelte Decken, Spitzen und Einſätze hatte ſie ſchon liegen ach, für ſechs Logierzimmer würden ſie reichen. Jedesmal zwei aufs Sofa, eine auf den Tiſch. Und die Spitzen und Einſätze fürs Bettzeug!

Wieder ein leiſer Seufzer. Aber es war ein er- löſender. Und ſchon huſchte ein Lächeln über ihr eben noch ſo bekümmertes Antlitz. Mußte ſie denn wirklich ihren ſchönen Plänen entſagen? Konnte man nicht an Stelle eines Tanzſaales einen Anbau mit Zimmern

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für Sommerfriſchler errichten? Wo doch der Platz ein- mal da war? Und wenn ſie dann zunächſt ihre guten Bekannten hierher lockte ſonderbar müßt's zugehen, ſollte es ihr nicht gelingen, aus dem kleinen Neſt eine wirkliche Sommerfriſche zu machen?

Wieder klopfte ſie dem Kutſcher auf die Schulter. „Drehen Sie nur wieder um. Ich hab' mich doch noch entſchloſſen, mir die Sache wenigſtens anzuſehen.“

„Meinetwegen. Aber natürlich müſſen Sie mir noch drei Mark zulegen, denn für nix fahr' ich den Berg nicht noch einmal 'rauf!“

„Schön. Die drei Mark bekommen Sie.“

Deer Roſſelenker ſchmunzelte. Das war gefundenes Geld, von dem ſein Herr nichts zu erfahren brauchte. Wirklich ein Glück, daß es ſo verrückte Frauenzimmer gab, die nicht wußten, was ſie wollten! |

Aber Frau Walli wußte ganz genau, was fie wollte. Sie wollte hier in dieſem lieblichen Thüringen bleiben, und ſie wollte dem hübſchen Mann mit dem herrlichen Namen helfen, daß er aus ſeiner kümmerlichen Enge herauskam, und ſeinen Kindern wollte ſie eine gute Mutter werden.

Wozu hatte ſie ihr Geld und ihre Kraft? Beides wollte ſie nützen.

Es wurde ihr ganz fromm im Sinn. Mit gefalteten Händen ſaß ſie im Wagen und ſchaute zu den dunklen Tannen auf, über denen der Himmel blaute. Und ſie ſummte, ohne es recht zu wiſſen: „Wer hat dich, du ſchöner Wald, aufgebaut ſo hoch da droben!“

Und dann, als es ihr zum Bewußtſein kam, mußte fie lächeln. Dieſes Lied hatte das Quartett des Männer- gefangvereins „Eintracht“ ihrem feligen Kampel zum fünfzigſten Geburtstag geſungen im Hausflur!

Frau Wallis Rührung machte nach und nach einer

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stillen Heiterkeit und Zuverſicht Platz und frohgemut ſah ſie dem Kommenden entgegen.

Faſt zwanzig Jahre find ſeit Frau Wallis Freiers- fahrt vergangen. Heute iſt das früher ſo unbedeutende Walddörfchen eine gut beſuchte Sommerfriſche. Das Hotel „Zur Vogelweide“, ſo genannt auf Frau Wallis beſonderen Wunſch, ift ſtets beſetzt. Herr Walter Vogel- ſang und Frau ſind noch rüſtig und ſchaffensfroh und freuen ſich an Kindern und Enkeln. Daß es nicht ihre leiblichen ſind, ſtört Frau Walli nicht, denn ſie wird von ihnen geliebt und geehrt wie eine rechte Mutter und Großmutter.

Wenn ſie beſonders gut a iſt, dann gibt ſie den bevorzugten unter ihren Gäſten die Geſchichte von ihrer Freiersfahrt gern zum beſten.

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Das Rofazimmer.

venezianiſcher Roman von E. v. Adlersfeld- Balleſtrem.

($ortfetsung.) * N nachoͤruck verboten.

m frühen Morgen des folgenden Tages, dem frühen Morgen der Milchwagen, der Bäckerjungen und der Straßenkehrer, langte don Gian in Rom an. Er fand den Miniſter ſeiner wartend, denn er wurde ſo— fort und ohne Meldung in deſſen Privatkabinett geführt. Seine Exzellenz, der Conte San Maurizio, war trotz der frühen Stunde nicht allein. In einem der tiefen Lederſeſſel, die um den großen Witteltiſch ſtanden, fa ein älterer Herr mit glattraſiertem Geſicht und ſcharfen Zügen, der Don Gian bekannt vorkam, ohne daß er ihn im Augenblick hätte nennen können. Er erhob ſich zwar zu einer leichten Verbeugung beim Eintritt des jungen Diplomaten, aber da der Miniſter es anſcheinend vergaß, die Vorſtellung zu übernehmen, ſo blieb Don Gian auch vorläufig im dunkeln über die Perſönlichkeit dieſes Beſuches zu einer Stunde, die die meiſten Leute noch zur Nacht zu rechnen pflegen.

„Ah da iſt er ja!“ rief Exzellenz aus, als Gian eingetreten war. Er erhob ſich nicht und ſtreckte dem jungen Mann auch nicht die Hand entgegen, was dieſer mit Recht als ein ernſtes Zeichen ſeiner Ungnade anſah das erſte wahrſcheinlich von vielen folgenden. Aber er war ja darauf vorbereitet, daß er ſich zu rechtfertigen

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hatte, ſich rechtfertigen mußte, ehe er den Kopf wieder erheben durfte.

„Ich habe Ihre höchſt erſtaunliche und peinliche Mitteilung erhalten, Marcheſe Terraferma,“ fuhr der Miniſter fort, und Don Gian zuckte wieder zuſammen, denn bisher hatte ſein Chef ihm ſeinen Titel niemals gegeben. „Sind Sie fih der Tragweite derſelben be- wußt?“

„Voll bewußt, Exzellenz,“ erwiderte Don Gian heiſer vor innerer Erregung. „Durch Ihre eigene Inſtruktion ſowie durch meine perſönliche Auffaſſung. Vermöge dieſer Erkenntnis war ich gezwungen, dem Verdacht Worte zu geben, den ich ſonſt kaum ausgeſprochen haben würde.“ |

„Wir werden darauf zurückkommen,“ fiel der Mi- niſter ein. „Wiederholen Sie jetzt Ihren telegraphiſchen Bericht mündlich.“

Don Gian ſchöpfte Atem und trat einen Schritt näher, indem er den Fremden anſah, der kaltblütig ein Notizbuch hervorzog und offen vor ſich hinlegte. der Herr Doktor ift eingeweiht,“ ſagte der Minifter, den Blick auffangend. „Wenn einer dies Myſterium, wie Sie es etwas konfus ſchildern, löſen, das verlorene Dokument zurückbringen kann, ſo iſt er es. Er hat die Güte gehabt, dieſen Fall zu übernehmen, Sie mög- licherweiſe von einer ſchweren Anklage zu reinigen, Terraferma. Sie werden daher gut tun, etwaige Fragen des Herrn rückhaltlos zu beantworten!“

Jetzt begriff Don Gian: es hatte ihm jemand ein- mal dieſen Mann genannt und gezeigt als einen in Rom wohnenden deutſchen Gentleman Detektiv, der ſchon viele ſcheinbar hoffnungsloſe Fälle gelöſt, man- chem Verzweifelten die Hoffnung und das Leben wie- dergegeben hatte. Und gleichzeitig hörte Don Gian

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in dem diesmal fortgelaffenen Titel vor feinem Namen und in einem vielleicht nur ſeinem empfindlichen Ohr bemerkbaren Unterton in der Anrede feines Chefs etwas heraus, das ſeine Lebensgeiſter wieder erfriſchte: er hielt ihn nicht für einen Landesverräter, nicht für einen läſſigen Beamten, ſondern er glaubte an ihn. Eine leichte Röte ſtieg bei dieſem Gedanken in ſein blaſſes, übernächtiges Geſicht, und ein dankbarer Blitz leuchtete aus ſeinen Augen.

„Windmüller,“ murmelte der Fremde, ſich ſelbſt vorſtellend, und dann plötzlich ſcharf aufblickend fuhr er mit dem leiſen, klaren Tonfall des Gebildeten fort: „Herr Marcheſe, es find vierundzwanzig Stunden, viel- leicht dreißig ſchon über dem Verſchwinden des Dotu- ments vergangen Zeit genug, um feine Wieder- erlangung unmöglich zu machen. Sie dürfen von mir keine Zauberkünſte erwarten, ſondern nur die Möglich- keiten eines für ſolche Dinge geſchulten Kopfes. Wollen Sie, bitte, Ihre Erfahrungen von Anfang an erzählen, auch nicht übergehen, was Ihnen vor Ihrer Ankunft in Venedig aufgefallen oder nachträglich eingefallen iſt. Sind Sie ſicher, daß das Dokument noch in Ihrem Beſitze war, als Sie in Venedig eintrafen?“

„Ganz ſicher,“ erwiderte Don Gian ohne Zögern. „Ich habe mich davon noch überzeugt, als ich in der Gondel nach meinem Hauſe fuhr. Ich hatte das Ab- teil ganz allein für mich, habe mir das Eſſen aus dem Speiſewagen bringen laſſen und keinen Augenblick ge- ſchlafen. Ich habe auch keinen Wein getrunken, ſondern nur Mineralwaſſer, deſſen Flaſche der Kellner vor meinen Augen geöffnet hat. Ich habe mich von dem Vorhandenſein des Dokuments in ſeinem verſiegelten Umſchlage in der inneren, zugeknöpften Taſche meiner Weſte überzeugt, als ich mein Zimmer für die Nacht

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betrat, und war entſchloſſen, diefe wachend zuzu- bringen —“

„Gut. Fangen Sie jetzt mit Ihrer Ankunft in Venedig an,“ unterbrach ihn Doktor Windmüller mit dem kurzen Ton eines Menſchen, der es gewohnt iſt, zu befehlen und ſeine Wünſche geltend zu machen. Don Gian hatte etwas bei dieſem Ton hinunterzu— ſchlucken, denn dieſer Mann war doch ſchließlich nicht ſein Vorgeſetzter; aber Don Gian war ein Menſch, der Selbſtbeherrſchung gelernt hatte, und überdies ver- nünftig genug, um ſofort zu begreifen, daß der Mann dort genau fo einſchneidend feine Intereſſen vertreten wollte und konnte wie die des Staates, der der erſte Leidtragende in dieſer furchtbaren Sache war. Er überwand daher, ſo ſchnell wie ſie gekommen, die Auflehnung gegen den Kommandoton des fremden Nothelfers und begann ſeine Erzählung, die nur ein paarmal durch dazwiſchengeworfene Fragen Doktor Windmüllers unterbrochen wurde.

„Und wie kommen Sie darauf, Ihre Schwägerin mit dem Verſchwinden des Dokuments in Verbindung zu bringen?“ fragte der Miniſter.

„Ich weiß in der Tat nicht, was ich darauf antworten foll, Exzellenz,“ erwiderte Terraferma offen. „Es iſt ein Verdacht, nichts weiter.“

„Aber man muß doch für einen Verdacht mindeſtens einen Grund haben! Wer A jagt, muß auch B fagen heraus mit der Sprache! Es hängt zuviel davon ab, als daß Sie etwas zurückhalten dürften!“

Don Gian holte tief Atem. „Ich weiß das alles, Exzellenz, und doch ich habe ſo wenig dazu zu ſagen. Meine Schwägerin hat von Hauſe aus nichts ſie iſt ohne jede Mitgift in unſere Familie getreten, hat viel verbraucht, und mein Bruder hat auch noch Schulden

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ihres Vaters bezahlt. Ihr Wittum ift kein ſehr glän- zendes es würde für beſcheidene Anſprüche und mit der Wohnung in Venedig ſtandesgemäß geweſen ſein, aber meine Schwägerin erklärte, in dem düſteren Palaſte umkommen zu müſſen, und zog nach Rom zurück, wo ſie ja auch mit ihrem Gatten, meinem Bruder, gelebt über ihre Verhältniſſe, wie ſich's nach ſeinem Tode herausſtellte. Und in Rom trat ſie nach kurzer Zeit mit dem Luxus einer Frau mit un- beſchränkten Mitteln auf; fie zeigte Juwelen, die ich nie an ihr zuvor geſehen; ſie führte einen Haushalt, der Rieſenſummen koſten mußte kurz, ich, der ich doch nur zu genau weiß, was ſie hat, ich mußte mich fragen: Woher auf einmal das viele Geld?“

„Hm,“ machte Doktor Windmüller trocken.

„Es iſt mir aber nie ein Skandal über meine Schwä- gerin zu Ohren gekommen,“ beantwortete Don Gian prompt den Laut ohne Worte. | |

„Mir auch nicht,“ fiel der Minifter ein. „And ich habe genug Klatſchbaſen, männliche wie weibliche, in meiner Verwandtſchaft, die ſicher gewußt hätten, wenn es etwas zu klatſchen gegeben hätte. Und die Prin- cipeſſa hat Ihnen nie eine Erklärung ihrer glänzenden Lage gegeben?“

„Nie. Ich habe mich auch, als ich mir darüber klar war, ſehr von ihr zurückgezogen,“ erklärte Don Gian. „Aber man macht ſich doch ſeine Gedanken, und dann dann habe ich einmal bei einem Diner, bei dem ich unerwartet mit meiner Schwägerin zuſammentraf, einen Blick aufgefangen, den ſie mit dem gleichfalls anweſenden türkiſchen Geſandten wechſelte einen Blick, der mich auf eine Spur zu leiten ſchien und mich veranlaßte, mich noch mehr, in faſt unhöflicher Weiſe von ihr fernzuhalten.“

24 Das Roſazimmer. 11

„Hm,“ machte Doktor Windmüller wieder und ſetzte dann hinzu: „Es wäre vielleicht im Gegenteil weiſer geweſen —“

„Es widerſtrebte mir, bei meines Bruders Witwe den Spion zu ſpielen,“ erwiderte Don Gian ruhig und mit Anſtand.

„Das ift begreiflich. Nun noch eine Frage: Ihre Frau Schwägerin hat in Ihrem venezianiſchen Palaſte jedenfalls ein Abſteigequartier. Liegt dieſes weit von dem Ihrigen ab?“

„Ja. Es liegt im dritten Stock über den Wohn- räumen meiner Großmutter, wo es ihr auf eigenen Wunſch nach dem Tode meines Bruders eingeräumt wurde. Letzterer hatte früher die öſtliche Zimmerſeite bewohnt, von der ich mir dann zwei Räume zum eigenen Gebrauch nahm. Aber meine Schwägerin hat, als ſie vorgeſtern ſo unerwartet in Venedig eintraf, ihre Zimmer nicht bezogen, ſondern in ihrer Launenhaftig- keit im erſten Stock, dem Piano nobile, zu wohnen verlangt.“

„Ah!“ machte Doktor Windmüller ſehr intereſſiert. „Warum erwähnten Sie dieſen Umſtand nicht vorher?“

„ont er von Wichtigkeit?“

„Es iſt alles von Wichtigkeit in ſolchen Fällen, Herr Marcheſe. Darf ich weiter fragen: Wo liegen dieſe Zimmer, die die Principeſſa während der verhängnis- vollen Nacht bewohnte?“

„Genau unter den meinen.“

„Ich nehme an, daß das Piano nobile bei Ihnen wie in den meiſten Paläſten Italiens der Repräſentation dient. Es mußte wohl demnach erſt ein Bett für die Principeſſa dort aufgeſtellt werden?“

„Nein,“ entgegnete Don Gian, „das Piano nobile enthält ein ſogenanntes Staatsſchlafzimmer, das feiner-

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zeit für den Beſuch der Königin von Polen und Kur- fürſtin von Sachſen, Maria FJoſepha von Sſterreich, eigens eingerichtet wurde und mit ſeinem thronartigen Bett und ſeinem Silbergeſchirr auf der Toilette ſo blieb. Mein Bruder wollte nach ſeiner Verheiratung die Zimmerreihe, in der ſich dieſes Schlafgemach befindet, mit ſeiner jungen Gemahlin beziehen, aber meine Schwägerin behauptete damals, die Farbe der Tapeten und Vorhänge in dieſem Zimmer ſtände ihr nicht, und fo wurde der öſtliche Teil des darüberliegenden Stock- werks eingerichtet. Offen geſagt, die Laune meiner Schwägerin, auf einmal das Roſazimmer zu bevor- zugen, hat mich vorgeſtern geärgert —“

„Ah!“ machte Doktor Windmüller wieder. „Dem- nach alſo liegt dieſes Staatsſchlafgemach, das Ihre Frau Schwägerin plötzlich haben wollte, ſo ziemlich unter Ihren Zimmern, Herr Marcheſe?“

„Es liegt genau unter meinem eigenen Schlaf- zimmer.“

„Aha! Fit Ihnen dieſer Umſtand nicht aufgefallen?“

Don Gian ſah den Detektiv erſtaunt an. „Ehrlich geſtanden nein,“ erklärte er kopfſchüttelnd. „Und warum hätte er mir auffallen ſollen? Es beſteht doch keine Verbindung der beiden Zimmer miteinander.“

„Wiſſen Sie das genau?“

Jetzt ging Don Gian ein Licht auf, worauf Doktor Windmüller hinzielte. „Das wäre in der Tat eine Möglichkeit zur Löſung des Rätſels,“ rief er lebhaft. „Aber,“ ſetzte er gleich hinzu, „dann hätte ich dieſe Verbindung doch finden müſſen! Ich ſagte ſchon, daß ich keinen Fleck nach einem geheimen Eingang in meine Zimmer ununterſucht gelaſſen habe.“

„Das will noch nichts fagen,“ entgegnete Windmüller trocken. „Geſetzt den Fall, Sie haben recht mit Ihrem

26 Das Rofazimmer. D Verdachte, daß Ihre Frau Schwägerin Ihnen das Dokument geraubt, ſo muß ſie auf einem ihr bekannten Wege in Ihre Zimmer gelangt fein und außerdem noch auf einem ebenſolchen geheimen Wege das Haus ver- laffen haben, falls Ihr Vertrauen, das Sie in Ihre Dienerſchaft ſetzen, Sie nicht getäuſcht hat.“

„Das denke ich nicht,“ entgegnete Don Gian. „Bei näherer Überlegung habe ich gefunden, daß eine ſolche Täuſchung eine ganz überflüſſige Sache geweſen wäre. Donna Xenia hat ja einen Brief hinterlaſſen, daß fie fort müſſe ſie hatte es alſo gar nicht nötig, meinen Portier, der die Schlüſſel verwahrt, zu beſtechen. Sie brauchte ihn nur zu wecken und ihm zu befehlen, das Tor zu öffnen. Aber ſie hat das nicht getan. Wie alfo ift fie aus dem Haufe gekommen? Die Idee, daß ſie die Zeit verſchlafen hat und ſich dann verbarg, um Fragen zu entgehen, iſt mir ja auch gekommen, aber der Portier hatte Befehl, die Ausgänge und Waſſerpforten verſchloſſen zu halten. Tatſache iſt, daß bis zur Stunde meiner Abreiſe geſtern, alfo bis mittags, Donna Xenia keinen Verſuch gemacht hat, das Haus zu verlaſſen. Daß fie mit dem von ihr bezeichneten Zug nicht ab- gereiſt iſt, ſteht ebenſo feſt —“ |

„Wie die Tatſache, daß fie geſtern abend in Rom nicht eingetroffen iſt und auch nicht das Schiff benützt hat, mit dem Sie nach Trieſt abreiſen ſollten,“ fiel der Miniſter ein.

„An das Schiff habe ich gar nicht gedacht,“ rief Hon Gian.

„Aber ich,“ ſagte der Minifter trocken. „Ich habe das gleich nach Eingang Ihrer Depeſche feſtgeſtellt durch unſere Trieſter Agenten. Donna Kenia hat zweifellos Kenntnis von einem verborgenen Ausgang aus Ihrem Haufe und dieſen benützt. Anſer koſtbares

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Dokument ift wahrſcheinlich ſchon im Beſitze unſerer Gegner. Nun,“ fekte er hinzu, als Don Gian, un- fähig, ſich länger zu halten, auf den nächſten Stuhl ſank und ſtöhnend das Geſicht mit den Händen bedeckte, „nun, Terraferma, nehmen Sie ſich zuſammen. Ich glaube nämlich an Ihre Schuldloſigkeit bis man mir das Gegenteil beweiſt. Ich kann es Ihnen nicht einmal zur Laſt legen, daß Sie mit Ihrem Verdacht gegen Ihre Schwägerin nicht früher herausrüdten, denn Sie haben nach Ihrer Ausſage alles getan, ſich gegen einen nächtlichen Überfall zu ſchützen, und wer wird an ſolche Teufeleien denken, wenn er in ſeinem eigenen Hauſe Fruchtſaft mit Sodawaſſer trinkt? Wir haben eben den Fehler begangen, den Feind auf einer anderen Stelle zu vermuten, und find auf die ſehr geſchickt gelegte Falle, die Tatarennachricht, daß auf der Strecke zwiſchen Pontebba und Wien eine Attacke gegen das Dokument beziehungsweiſe feinen Überbringer geplant war, glatt hereingefallen. Wo wir den Feind im eigenen Haufe zu ſuchen haben, der es früher wie Sie, Terra- ferma erfahren hat, wann und durch wen der Ber- trag nach Wien befördert werden ſoll, dieſe Aufgabe zu löſen, hat Doktor Windmüller übernommen, denn das Objekt ſelbſt, das durch ſolch raffinierte Gegenmine uns entriffen wurde, wiederzuerlangen, ſcheint mir eine Unmöglichkeit, wennſchon wir wiſſen, daß Sie, Herr Doktor, der Mann der unbegrenzten Möglichkeiten ſind.“

Windmüller lächelte fein. „Exzellenz, ein jeder Menſch hat ſeine Grenzen er muß nur wiſſen, wo ſie ihm gezogen ſind. Es iſt wahr ich habe ſchon mehrere ſolche diplomatiſchen Dokumente wieder- erlangen können, aber ich kann natürlich nicht dafür bürgen, daß es mir auch mit dieſem gelingt, denn es

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ift ſchon zuviel koſtbare Zeit darüber verloren worden. Aber meine Fühler ſind trotzdem ſo ausgeſtreckt, daß eine direkte Unmöglichkeit noch nicht behauptet werden kann. Wenn es nicht verlorene Zeit wäre, forſchte ich am liebſten nach, wie das Myſterium im Palazzo Terra- ferma ſich vollzogen —“

„Ich werde ihn niederreißen laffen, um es zu er-

gründen!“ rief Don Gian, bei dem die Überreizung der Nerven anfing, ſich merkbar zu machen. „Sie werden das hübſch bleiben laffen, denn man kann ſolche Dinge ſchon noch etwas weniger draſtiſch ergründen,“ entgegnete Windmüller, indem er ſich erhob. „Einſtweilen aber, bis ich einige telegraphiſche Nach- richten erhalten kann, auf die ich warten muß, möchte ich Sie, Herr Marcheſe, bitten, mit mir der Wohnung Ihrer Frau Schwägerin einen Beſuch abzuſtatten. Sie wohnt im Palazzo Barberini nicht wahr?“

„Gewiß. Aber ich kann doch in ihrer Abweſenheit nicht —“

„Doch, Sie können,“ fiel Windmüller ſeelenruhig ein. „Mehr noch Sie müſſen. Ich glaube freilich nicht, daß wir in der Wohnung einer Dame von ihrer Qualität, ihrer Umſicht und ihren Inſtinkten große Schätze heben werden, aber meiner langjährigen Er- fahrung nach find es gerade ſolche Leute, die im Ber- trauen auf ihre Umſicht und Geriſſenheit Spuren über- ſehen und für unwichtig halten, die für Leute meiner Qualität geradezu als Wegweiſer wirken. Wer weiß alfo gehen wir. Und um es vorweg zu fagen: er- ſchweren oder vereiteln Sie mir meine Arbeit, die ja auch in Ihrem Zntereſſe geſchieht, nicht durch Ein- wände und Zweifel, ſondern laſſen Sie mich ruhig tun, was ich für gut halte, ſelbſt wenn es Ihnen unbegreif- lich oder nicht ſchick erſcheinen ſollte.“

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Don Gian begriff und nachdem er die ihm jetzt gereichte Hand ſeines Chefs vor innerer Erregung faſt zerdrückt, folgte er dem Oetektiv, von deffen Fähigkeiten und Erfolgen er ſchon Wunderdinge gehört hatte.

Sie ſtiegen, auf der Straße angelangt, in den nächſten freien Taxameter ein, der ſie bald vor den Palazzo Barberini in der Via Quattro Fontane brachte.

Kein Menſch, der es nicht geſehen, hat eine Ahnung von der geradezu fabelhaften Größe dieſes Gebäudes, das zwar ſeine berühmte Vildergalerie behalten hat, von den Erben des ausgeſtorbenen Geſchlechtes der Barberini nun aber zur Vermietung geſtellt iſt. Von Carlo Maderna um die Mitte des ſiebzehnten Jahr- hunderts durch Papſt Urban VIII. Barberini errichtet, iſt der Palaſt eines der Wahrzeichen der vergangenen Größe Roms; er hat nicht nur Raum für die Repräfen- tations- und Wohnräume einer Geſandtſchaft, die kleinſte der zahlreichen anderen Mietwohnungen darin enthält mindeſtens zwanzig Zimmer, und wenn auch die ftatt- liche Bibliothek durch Kauf der vatikaniſchen Bibliothek einverleibt wurde, ſo bleiben darin immer noch die Gemäldeſammlung, die Fresken Cortonas in der riefen- haften Halle, die Statuen, Büſten und andere Antiken.

In dieſem Palaſt ſtiegen Don Gian Terraferma

und Doktor Windmüller die lange Flucht der weißen, bequemen Marmortreppen zu der Wohnung der Prin- cipeſſa hinauf erſterer mit dem natürlichen Wider- willen des Gentlemans, in Räume einzudringen, in denen er kein Recht hat. Fhr Einkommen würde vielleicht gerade dazu rei- chen, dieſe Wohnung zu bezahlen woher alſo kommt das übrige?“ fragte er ſich zum hundertſten Male. „Gott weiß, daß ich ihr kein Unrecht tun möchte, aber was bleibt mir zu denken und zu glauben übrig?“

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„Vielleicht hat ſie eine Erbſchaft gemacht,“ beant- wortete Windmüller laut dieſe Gedanken, ſo daß Don Gian zuſammenfuhr und ſeinen Begleiter faſt entſetzt anſah. „Man muß allen Möglichkeiten Raum laſſen. Indeſſen ah, da ſind wir ja!“

Eine junge, zierliche Kammerzofe war es, die endlich nach wiederholtem Läuten die Tür öffnete.

„Iſt meine Schwägerin, die Frau Prinzeſſin, zu Haus?“ fragte Don Gian die ſichtlich ob des frühen Beſuches Überraſchte kurz.

„Aber nein, Herr Marcheſe,“ war die in entſchieden anklagendem Ton gegebene Antwort. „Altezza ſind vorgeſtern abend verreiſt und wollten geſtern abend zum Baſar bei der Signora Conteſſa zurück ſein, ſind aber nicht angekommen, haben keine Nachricht gegeben, und Herr Marcheſe ſehen mich in größter Beſtürzung ich weiß nicht, was ich denken ſoll.“

Durch Windmüller vorher inſtruiert, trat Don Gian, von ſeinem Begleiter gefolgt, ohne weiteres in den mit orientaliſchen Teppichen und Waffen geſchmückten großen Vorraum ein.

„Nun, ich denke, die Frau Prinzeſſin wird wohl in dieſem Falle aufgehalten worden ſein,“ murmelte er unbehaglich.

„Aber Durchlaucht haben nur einen ganz, ganz kleinen Koffer mit dem Nötigſten für eine Nacht mit- genommen,“ erwiderte die Zofe ratlos.

„So?“ fragte Don Gian. „Wie kommt es aber, daß Sie öffnen, Ceſarine? Wo iſt denn der Diener?“

„Er iſt ſchon ganz früh fort, um auf den Bahnhof zu gehen, für den Fall, daß Durchlaucht die Nacht gereiſt ſein ſollten,“ erklärte Ceſarine gekränkt. „Er ift noch nicht zurück, der hohe Herr Jwan! Natürlich hat er den zweiten Diener mit einer Menge Aufträge

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fortgeſchickt, und ich muß nun jedesmal laufen, wenn es läutet!“

„Der erſte Diener ift ein Ruffe?” warf Windmüller zu Don Gian gewendet ein, und als dieſer nickte, trat er in Aktion. „Hören Sie mich an, Mademoiſelle Ceſarine,“ wendete er ſich in ihrer Landesſprache an die Franzöſin, die er vorher ſcharf beobachtet. „Wir der Herr Marcheſe und ich haben natürlich gehofft, die Frau Prinzeſſin anzutreffen, da ſie aber verreiſt iſt und Sie ohne Nachricht über ihren Verbleib ſind, ſo beunruhigt uns das einigermaßen. Sie müſſen uns daher genau und wahrheitsgetreu ſagen, was Sie über dieſe plötzliche Abreiſe Ihrer Herrin wiſſen, und je auf- richtiger Sie das tun, um ſo weniger ſoll dies Ihr Schade fein.“

Das Aufleuchten in den ſchwarzen Augen der Fran- zöſin belehrte Windmüller, daß ſein Scharfblick ihn nicht getäuſcht, als er das Mädchen auf den erſten Blick als habgierig taxierte.

„Aber ich weiß ja nichts, gar nichts!“ jammerte Ceſarine. „Durchlaucht ſagten plötzlich: „Ich verreiſe in einer Stunde, packe mir Nachtzeug und eine einfache Abendtoilette ein‘ das war alles! Nicht eine Silbe, wohin Madame reifen will nur den Befehl: ‚Lege mir das Zigeunerinnenkoſtüm für den Baſar zurecht, ich werde zur rechten Zeit morgen abend zurück fein‘ nichts, nichts weiter! Aber unter uns, Monſieur Iwan, der Kammerdiener, der verſtockte Menſch, weiß ſicher mehr ſicher! Er hat Madame auf den Bahn- hof begleitet, er muß wiſſen, wohin ſie gereiſt iſt, er hat Madames Vertrauen. Einmal wird es ihm ja belieben, zurückzukommen, und wenn Monſieur warten können —“

Monſieur wollte nicht warten im Gegenteil, er

32 Das Rofazimmer. o

pries feinen guten Stern, der ihm den Kammerdiener aus dem Wege geräumt, und hoffte inbrünſtig von eben dieſem guten Stern, daß ſeine „Geſchäfte“ den Würdigen noch für eine Weile fernhalten würden. „Was Sie mir fagen können, würde Jwanwahrſchein- lich nicht wiſſen,“ erwiderte er in dem überzeugend zu- redenden Ton, der ihm ſchon fo oft gute Dienſte ge- leiſtet hatte. „Oer Herr Marcheſe iſt, wie er mir ſagte, der Frau Prinzeſſin am Nachmittag vor ihrer Abreiſe in der Villa Borgheje begegnet, und fie ſchien damals noch nichts von dieſer plötzlichen Reiſe zu wiſſen. Sie ſcheinen mir aber eine kluge Perſon zu ſein, die ein Paar ſcharfe Augen im Kopf hat. Aber ſicher ich ſchmeichle Ihnen nicht, Mademoiſelle ich ſehe, was ich ſehe. Nun wohl Sie müſſen doch etwas gemerkt haben, was Ihnen dieſen plötzlichen Entſchluß Ihrer Herrin begreiflich gemacht hat nicht?“ „Oh wenn es das iſt, was Monſieur wiſſen will voilà!“ machte Ceſarine mit raſchem Verſtändnis. Dann ſchloß ſie die noch offene Tür des Vorraums, nicht ohne vorher nach der Treppe gehorcht zu haben, und ſchob einen Riegel vor eine ſcheinbar überflüſſige Handlung, die ſich der alles ſehende Detektiv ſehr richtig dahin deutete, daß Mademoiſelle Ceſarine ſich bei dem, was ſie auszuplaudern entſchloſſen ſchien, nicht von dem gefürchteten Kammerdiener überraſchen laſſen wollte. „Hören Sie alfo, Monſieur! Madame kamen vor- geſtern nein, vorvorgeſtern von ihrer Ausfahrt zurück, und ich öffnete ihr die Tür, weil der Herr Jwan wieder einmal nicht da war und Beppino, der zweite Diener, gerade den Tiſch deckte. Madame waren kaum über der Schwelle, als ein Herr ſchnell die Treppe herauf- kam, Madame ein paar Worte in der barbariſchen Sprache zurief, in der Madame immer mit dem Jwan

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ſpricht, und ihr einen Brief überreichte, worauf er wieder die Treppe hinablief —“

„Wer war der Herr?“ warf Windmüller ein.

„Weiß ich nicht,“ entgegnete Ceſarine achſelzuckend. „Ich habe ihn nie vorher geſehen, und Madame em- pfängt oft Beſuche, die ihren Namen nicht ſagen, die gehen, ohne wiederzukommen, mit denen ſie Ruſſiſch redet, ſo daß man nicht au kann, warum fie samen und was fie wollen, kurz

„Rückſichtslos gegen Sie, Mademoiselle . i agte Wind- müller teilnahmvoll. „Nun, und die Gran Prinzeſſin las den Brief natürlich und —“

„Gewiß,“ fiel Ceſarine bereitwillig ein. „Madame öffnete den Brief gleich hier, überflog ihn, und ohne ſich Zeit zu nehmen, Hut und Mantel abzulegen, ſetzte ſie ſich damit vor das Tiſchchen dort am Kamin, zog die Handſchuhe aus und las den Brief mindeſtens zehn- mal durch, Monſieur, denn ich ſchielte natürlich hin, während ich die Handſchuhe aufnahm, und ſah ganz genau, daß er nur wenige Zeilen enthielt. Eh bien, Madame achtete nicht auf mich, ſchien mich évidemment ganz vergeſſen zu haben, und natürlich blieb ich, wo ich war, denn ich mußte doch meine Befehle abwarten nicht?“ | |

„Sehr korrekt, ſehr!“ lobte Windmüller mit Enthuſiasmus. u

„Ich ſehe, Monſieur haben den richtigen Sinn für meine Pflicht,“ fuhr Ceſarine mit einem nur einer Franzöſin möglichen Augenaufſchlag fort. „Eh bien, Madame nahmen, was mich natürlich ſehr wunderte, nachdem ſie über dem Brief eine Weile gegrübelt, einen der Papierbogen, die immer hier bereit liegen, für den Fall, daß ein Beſuch, der Madame nicht antrifft, eine Votſchaft hinterlaſſen will, den daneben liegenden Biei-

1914. v. 3

34 Das Roſazimmer. DO ——ꝛ ——— .

ſtift, zog damit über das Blatt lauter Quadrate und ſchrieb Nummern hinein, und dann, den Brief in der

Hand, ſchien ſie ihn abzuſchreiben, aber nicht etwa in einer Linie, ſondern einmal ein Wort hier, ein Wort“

da, ganz durcheinander —“

„Ganz merkwürdig!“ meinte Windmüller. „Und dann —2“

„Dann tippte ſie mit dem Stift auf die Quadrate, in die ſie geſchrieben in das eine zwei, drei Worte, in andere wieder nichts, ſah plötzlich auf und fuhr mich an, was ich hier mache, lachte dann kurz auf, tippte noch einmal das ſonderbare Geſchreibſel mit dem Bleiſtift ab, ballte den Bogen zuſammen und warf ihn ins Feuer, denn es iſt ſchon kühl am Abend, und wir müſſen immer den Kamin hier heizen —“

„Natürlich!“ fiel Windmüller ein. „Und nachdem der Bogen verbrannt war —“

„Hab Madame den Befehl, zu packen. Voilà tout!“

Windmüller zog ein Goldſtück aus der Weſtentaſche und drückte es in Ceſarines raſch hingehaltene Hand.

* *.

„And was machte Madame mit dem Briefe, den fie

erhalten?“ fragte er in gewinnendem Ton.

„Das weiß ich nicht. Ich habe darauf nicht geachtet,“,

war die ſichtlich ehrliche Antwort. „Sie wird ihn wohl mit dem Bogen verbrannt haben.“ f „Jedenfalls jedenfalls,“ ſtimmte Windmüller zu, indem er in ſeiner Weſtentaſche herumfingerte und den gierigen Blick auffing, mit dem Ceſarine das verfolgte. „Nun, das wäre wohl alles. Hm. Ja, was ich noch ſagen wollte die Signora Principeſſa iſt dann wohl in dem Anzuge abgereiſt, den ſie am Nachmittag trug?“ „Aber Monſieur!“ machte die Zofe mit Entſetzen. „Madame hatte ein weißes Tuchkleid an, eine Robe, die erſt tags zuvor aus Paris gekommen war, ein Traum

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von einer Robe Rod, Paletot und Weſte mit Geiden- galonen beſetzt. Das hätte gut ausgeſehen nach einer Fahrt in der Eiſenbahn! Und von dem weißen Hute gar nicht zu reden, Faſſon Marquis, mit einer köſtlichen weißen Pleureuſe darauf. Nein, nein, Monſieur, ſie hat. gewechſelt und ein graues Reiſekleid mit grauem Staubmantel angezogen, während ich den kleinen Koffer packte.“

Windmüller lächelte gewinnend. „Ja, wenn ich gewußt hätte, daß Madame ein weißes Kleid anhatte, ehe ſie abreiſte, dann hätte ich die dumme Frage nicht getan,“ ſagte er mit rührender Einfachheit. „Alſo ein „Traum“ war dieſes Kleid! Ich ſchwärme für ſolche Träume, Mademoiſelle —“ wieder fingerte er in ſeiner Weſtentaſche und zog noch ein Zwanziglireſtück hervor. „Sehen Sie,“ machte er naiv, „da habe ich ja noch ſolch ein Ding hier hübſche Münzen, Mademoiſelle nicht wahr? Zch gäbe dieſes Stück darum, wenn ich das neue weiße Koſtüm der Frau Prinzeſſin aus Paris einmal ſehen könnte.“ |

„Wenn es weiter nichts ift, Monſieur ich hole das Koſtüm ſofort,“ rief Ceſarina mit funkelnden Augen. „Madame hat es ſelbſt in der Garderobe aufgehängt, während ich den Koffer packte, denn ſie iſt ſehr eigen mit ihren Sachen.“ |

Windmüller hob beide Hände beſchwörend auf. „Wie würde ich Sie ſelbſt bemühen wollen, Made- moiſelle!“ rief er in dem Tone eines Menſchen, dem man eine Unwürdigkeit zumuten will. „Das ſei fern von mir! Zudem müſſen Sie doch hier an der Tür ſein, für den Fall der Herr Kammerdiener zurückkehrt, der ſicher die Hintertreppe verſchmähen dürfte wenig- ſtens ſolange Ihre Herrin nicht da iſt! Nein, nein, nein! Ich gehe ſelbſt, dieſen Traum von einer Pariſer

2.

36 Das Rofazimmer. o

Robe zu bewundern natürlich in Geſellſchaft des Herrn Marcheſe Oh, haben Sie ſich erkältet?“ unterbrach er fih teilnahmvoll, durch einen Huften- anfall Don Gians veranlaßt, deſſen blaſſes Geſicht plötzlich purpurrot geworden war. „Nicht erkältet, fon- dern nur die Luft verfangen?“ erläuterte er ein un- deutliches Murmeln des ſichtlich wortloſen Diplomaten. „Hm deſto beſſer. Alſo haben Sie die Güte, Herr Marcheſe, mir den Weg zu zeigen. Und Sie, Made- moiſelle, würden mich unendlich verbinden, für den Fall, daß der Herr Kammerdiener zurückkehrt, ehe wir den „Traum“ geſehen haben, wenn Sie dieſen Würdigen mit Ihrer Konverſationsgabe aufhalten wollten, bis ich fertig bin. Sie verſtehen mich nicht wahr?“

Ceſarine nickte mit blitzenden Augen ſie verſtand.

Mit ſehr widerſtreitenden Gefühlen folgte Don Gian einer einladenden Handbewegung des mild lächelnden Detektivs und ging ihm voraus. Durch eine Reihe eleganter Salone, alle mit ausgeſuchtem Geſchmack ein- gerichtet, führte er ihn unter einem Schweigen, das eine Exploſion verhindern ſollte.

In der offenen Tür des raffiniert luxuriöſen Schlaf- gemachs aber ſtand er ſtill. „Herr Dottor, wollen Sie mir jetzt erklären —“ begann er.

Aber Windmüller ſchob ihn einfach zur Seite. „Später, lieber Marcheſe, ſpäter. Es iſt jetzt keine Zeit dazu, Ihnen meine Methode auseinanderzuſetzen. Wir müſſen fertig ſein, ehe der Spion kommt. Jawohl, Zwan, der Kammerdiener! Ich kenne ihn und er mich, was weſentlich dazu beiträgt, daß ich vor ihm zum Tempel wieder hinaus ſein möchte. Nicht, daß ich ihn fürchte, aber warum einen Zuſammenſtoß heraufbeſchwören, wenn er zu vermeiden ift! Hm dieſes Schlafzimmer iſt ſehr gut aufgeräumt wir

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können darüber zur Tagesordnung übergehen, denn hier dürfte Ceſarine, diefe Perle, ſchon Muſterung ge- halten haben. Welches iſt die Tür zur Garderobe? Ah, das können Sie natürlich nicht wiſſen, alſo öffnen wir die erſte mir ſcheint, wir haben die richtige gefunden. Mein altes Glück, Herr Marcheſe! Hoffen wir, daß es mir auch mit dem „Traum aus Paris“ zur Seite bleibt.“

Es war ein hübſch proportioniertes e das in langer Reihe die Garderobenſchränke, einen dreh- baren, dreiteiligen großen Spiegel mit Teppich davor und ein niedriges Sofa enthielt. Windmüller machte ohne Federleſens den erſten dieſer Schränke auf, in dem auf breiten hölzernen Bügeln an meſſingener Stange eine Reihe von Kleidern hing und darunter ein weißes von feinem Tuch mit ſeidenen Galonen beſetzt.

„Mir ſcheint, das war's, das meine Schwägerin am Vorabend ihrer Abreiſe trug,“ ſagte Don Gian darauf deutend.

Vb Ah ein perfektes Schneiderkleid!⸗ machte Wind- müller bewundernd, indem er mit geübten und ge- ſchickten Fingern an den Säumen des fußfreien, engen Rodes entlang fuhr. „Natürlich hat es keine Taſche in einer ſolchen Schlangenhaut würde ja ein Bogen Papier ſchon die Faſſon verderben. Auch im Paletot nichts von ſolch einem nützlichen Behältnis. Dieſe Taſchenklappen an den Vorderteilen ſind Blendwerk der Hölle, nichts weiter. Wird dasſelbe mit dieſer ärmelloſen, eleganten Weſte ſein, die gleichfalls durch ſchneidige Klappen Taſchen heuchelt alfo eine ver- gebliche Hoffnung, die mit zwanzig Lire in Gold zwar etwas teuer bezahlt ift, doch das muß man eben ris- tieren. Halt! Was bedeutet dieſer durch Druckknopf geſchloſſene Schlitz? Eine ſehr geſchickt und raffiniert

I

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angebrachte Bruſttaſche! Und in dieſer Bruſttaſche ein etwas läſſig gefaltetes Papier Herr Marcheſe,“ ſchloß Windmüller faſt andächtig ſeinen Monolog, „hier haben Sie wieder einmal den Beweis, wie unvorſichtig vorſichtige Leute fein können! Wenn wir uns den Vor- gang rekonſtruieren, ſo können wir ſehen, wie Ihre Frau Schwägerin, in Gedanken verſunken, auf dem langen Wege bis zu ihrem Schlafzimmer das dünne Blatt überſeeiſchen Papiers, das ihr der Unbekannte im Augenblick ihrer Heimkehr überreicht, dieſer Taſche an- vertraut, von deren Exiſtenz Ceſarine wahrſcheinlich keine Notiz genommen hat. Während die Perle ein- packt, entledigt ſich die Herrin ſelbſt des Pariſer Trau- mes‘, hängt das Kleid ſelbſt, da fie ſehr ordentlich iſt, in dem Schranke auf, des Papiers darin vergeſſend, das ihr eine Aufgabe ſtellt, die ihre ganze Aufmerkſam- keit, ihr ganzes, fieberhaft arbeitendes Gehirn in An- ſpruch nimmt es fällt ihr wahrſcheinlich erft auf der Reiſe ein, daß ſie dieſes wichtige Papier vergeſſen hat, und ſie tröſtet ſich damit, daß Ceſarine kaum das Kleid berühren wird, und ſelbſt wenn ſie es tut, würde ihr dieſes Blatt nichts ſagen, ſie um nichts klüger machen, denn wie käme ſie auf den Gedanken, daß ein gewiſſer Franz Xaver Windmüller fo verrückt fein könnte, die neueſte Schöpfung ihres Schneiders bewundern zu wollen?“

Don Gian trat haſtig einen Schritt näher. „Herr Doktor glauben Sie, daß es in der Tat dieſer Brief ift?“ fragte er mit erwachtem Intereſſe, das feinen ſtummen Proteſt gegen die „Methoden“ des Oetektivs völlig überragte.

„Irren ift menfchlih, Herr Marcheſe. Unter dieſer Reſerve glaube ich Ihre Frage bejahen zu können,“ erwiderte Windmüller, das Blatt ſorgfältig in ſeiner

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Brieftaſche verwahrend. „Es ift hier nicht der Ort, die Probe aufs Exempel zu machen. Laſſen Sie uns daher dies leere Neſt verlaſſen und zu mir fahren, wo Sie außer der Löſung des Rätſels auch ein Frühſtück erhalten ſollen, das Ihren Lebensgeiſtern, wie ich ſehe, ſehr vonnöten iſt. Wie lange haben Sie denn nichts mehr an leiblicher Nahrung zu ſich genommen?“

„Seit geſtern mittag nichts mehr aber das ijt Nebenſache und —“

„Pardon, wenn ich widerſpreche: es ift von weſent- licher Bedeutung, wenn Sie Ihre Nerven in dieſem Falle nicht verlieren, Herr Marcheſe. Sie würden bald abgewirtſchaftet haben, wenn Sie unterlaſſen, Ihrem Körper und Ihrem Gehirn die notwendige Nahrung zuzuführen. Sie müſſen mir ſchon verzeihen, wenn ich mich auch darum kümmere. Ich betrachte Sie eben als meinen Klienten, weil die Sache Sie doch verteufelt nahe angeht, und es iſt Gewohnheit bei mir geworden, auch ein wenig über das leibliche Wohl derer zu wachen, deren moraliſchen Zuſtand ins Gleichgewicht zu bringen die ideale Seite meines Berufes iſt.“

Don Gian ſah den Detektiv erſtaunt an. „Ihr Klient?“ wiederholte er. „Sie ſind doch beauftragt worden, herauszubekommen, ob nicht vielleicht ich ſelbſt das Dokument veruntreut und und verkauft habe?“

Windmüller machte eine Bewegung. „Das war nur eine Möglichkeit, mit der gerechnet werden mußte, weil die menſchliche Seele Tiefen verbergen kann, die man in ihr nicht vermutet,“ ſagte er ernſt. „Ihr Chef hat dieſe Möglichkeit nicht zugeben wollen und iſt von vornherein mit großer Loyalität für Sie eingetreten. Ich indes, der mit der dunklen Seite der menſchlichen Seele zu tun hat, mußte mich erſt überzeugen, und ich freue mich, ſagen zu können, daß ich jetzt ganz auf

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Ihrer Seite ſtehe. Ob es möglich ſein wird, das ver- lorene Dokument wieder zu erhalten, kann ich jetzt noch nicht fagen, aber ich denke, daß Ihre Unſchuld zu be- weiſen nur noch eine Frage von kürzeſter Zeitdauer iſt. Wenn mich nicht alles täuſcht, habe ich dieſen Beweis hier in meiner Brieftaſche. Alſo eilen wir, ihn der Prüfung zu unterwerfen!“

Don Gian verlor keine Worte. Stumm reichte er dem Detektiv zu kräftigem Drucke die Hand und folgte ihm mit einem Gefühl der Erleichterung, als ob jemand ihm eine unerträglich werdende Laſt von den Schultern genommen hätte. Weil er aber ein guter Menſch mit tiefem Gemüt war, ſo miſchte ſich in die perſönliche Erleichterung die Trauer darüber, daß ſeine eigene Rehabilitierung auf Koſten der Witwe ſeines Bruders zu geſchehen hatte.

Im Vorzimmer fanden ſie Cefa arine auf ihrem Poſten vor. Der Kammerdiener war noch nicht zurückgekehrt, und mit wiederholten Knickſen nahm ſie ihr zweites Goldſtück von Windmüller entgegen.

„Die Robe von Madame iſt in der Tat ein Traum, ſagte letzterer. „Aber fie hat doch einen Fehler ſie beſitzt keine Taſchen!“

„Aber Monſieur!“ rief Ceſarine, den Simmel mit unnachahmlichem Augenaufſchlag zum Zeugen für ſolch eine Barbarei anrufend. „Madame iſt doch keine Bäckersfrau, die ſich ihre Taſchen mit allem möglichen vollſtopft! Madame ſteckt ihr Taſchentuch in den Armel und trägt die Börſe in ihrem Ledertäſchchen. Und wo wollen Monſieur, daß man Taſchen in einem modernen Kleide anbringen ſoll, das wie ein Handſchuh ſitzen muß?“

„Ah ja, natürlich! Daran denkt man als Mann nicht, wenn man nicht zufällig ein Schneider iſt,“ er- widerte Windmüller.

o Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 41 AAA ————Äů ————«—ke, r. .—.——

Vp So iſt's!“ beſtätigte Ceſarine, indem fie mit einem Knicks die Tür hinter den beiden Herren zuſchloß, von denen fie den älteren entſchieden bevorzugte. Liebe- voll klimperte ſie mit ihren beiden Goldſtücken in dem Täſchchen ihrer koketten Schürze und pries ihr Glück, das den Kammerdiener weggeführt hatte. „Alſo Taſchen hat er in dem Kleide geſucht!“ dachte ſie achſelzuckend. „Ich hätte ihm die Mühe ſparen können, wenn es das war, was er wollte. Taſchen! Wenn das Kleid Taſchen hätte, wären fie von mir längſt nachgeſehen worden!“

„Woraus erhellt,“ murmelte Windmüller noch auf der Treppe, „daß auch einem Schneider Ideen kommen können, die ihm ſelbſt eine Kammerfrau nicht zutraut!“

* *

Auf der Straße vor dem Palaſte angelangt, hielt Windmüller ein vorüberfahrendes leeres Auto an und gab dem Chauffeur die Adreſſe feiner Villa am Jani- culus mit der Weiſung, daß er ya a würde zu warten haben.

V dch vermute nämlich, daß wir Ihrem Chef P mitzuteilen haben werden,“ fagte er, als fih das Auto in Bewegung geſetzt hatte, indem er feine Brieftaſche hervorzog und das Blatt daraus entnahm, das er in der Garderobe der Marcheſa v. Terraferma entdeckt. Er ſah es eine Weile an und reichte es dann Don Gian. „Was machen Sie daraus?“ fragte er. |

„das ift in deutſcher Sprache geſchrieben!“ rief der junge Diplomat überraſcht. „Ich wußte nicht, daß meine Schwägerin Oeutſch verſteht.“

„Die meiſten gebildeten Ruſſen ſprechen Deutfch,“ erwiderte Windmüller. „Donna Kenia hatte in Ihrer Familie vielleicht nur keine Gelegenheit, dieſe Kenntnis anzuwenden.“

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„Doch, fie wußte, daß ich febr eifrig deutſche Sprach- ſtudien treibe, die mir für meinen Beruf neben dem Franzöſiſchen und Engliſchen ſehr von Wert ſind.“

„Natürlich ein Diplomat muß alle Sprachen kennen. Bitte, leſen Sie das Blatt durch und ſagen Sie mir, was Sie daraus machen.“

Don Gian tat, wie ihm geheißen, und las folgendes:

Braunschweig, 27. Februar 1912.

Morgen (erlangt) Zug sofort Festland (sie) Venedig Meldung eintreffen Frühschiff (Nachtzug) mit Reisen cheut) Weiterreise wahrscheinlich (Rom) voraussichtlich wird (Wenn) nächsten Venedig Abend (Objekt) Triest.

Don Gian gab das Blatt, nachdem er es geleſen, mit einem Achſelzucken der Enttäuſchung zurück. „Ge— heimſchrift natürlich, für die ſich vielleicht der Schlüſſel finden ließe. Aber wozu? Das Billett ift über ein halbes Jahr alt, kann alfo das nicht fein, welches meine Schwägerin zu ihrer plötzlichen Abreiſe veranlaßt hat, wenn ſchon das Wort „Venedig“ zweimal darin vor- kommt. Eine alte Mitteilung, vom 27. Februar datiert, die Donna Kenia in ihrem Kleide vergeſſen hat.“

„Das war auch mein erſter Gedanke, als ich das Blatt überflog,“ gab Windmüller zu. „Indes, mein Beruf weiſt darauf hin, nichts zu überhören und nichts zu vergeſſen, und darum fiel mir auch gleich wieder ein, daß Ceſarine geſagt, ihre Herrin habe das Kleid, dies weiße Kleid mit Paletot und Weſte, erſt vor ein paar Tagen aus Paris erhalten. Wäre es anzunehmen, daß Donna Kenia Zeit gehabt hätte, ein altes Schreiben in dieſe verborgen angebrachte Taſche zu ſtecken, ſelbſt den Fall geſetzt, daß es ihr ‚zufällig‘ beim Auskleiden in den Weg gekommen iſt? Kaum! Ferner iſt das Papier hier nicht verlegen, nicht monatelang irgendwo

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aufbewahrt worden es iſt ganz friſch; nicht weich geworden wie altes Papier, ſondern glatt und tadellos weiß. Die Tinte“ damit zog er ein Vergrößerungs- glas hervor und betrachtete damit genau die Schrift „die Tinte iſt friſch, wenige Tage nur auf dem Blatt oh, ich kann das genau beſtimmen. Dies Spezial- ſtudium gehört zu meinem Beruf. Folglich iſt das Datum nur ein Blender, beſtimmt, irrezuführen für den Fall, daß die Mitteilung in unrechte Hände ge- raten wäre, oder beim Zeus, ich hab's! es ent- hält den Schlüſſel für die chiffrierte Mitteilung ſelbſt!“

„Den Schlüſſel?“ wiederholte Don Gian elektriſiert.

„Es kann das nur ſein,“ entgegnete Windmüller mit einer bei ihm ungewöhnlichen Erregung. „Der Umſtand, die Mitteilung, die durch perſönlichen Boten in Rom am 6. September überbracht wurde, von Braun- ſchweig mit einem über ein halbes Jahr alten Datum zu verſehen, kann nur einen ganz beſtimmten Zweck verfolgen, und daß dieſes Blatt wirklich nicht vor ſechs Monaten geſchrieben worden iſt, dafür ſtehe ich mit Hilfe dieſer allerſchärfſten Vergrößerungslinſe ein! Erinnern Sie ſich, daß Ceſarine beobachtet hat und uns genau beſchrieb, wie Donna Kenia nach Empfang des Billetts fih in der Vorhalle hinſetzte, einen Bogen Papier mit Quadraten einteilte, dieſe numerierte und dann, das Billett in der Hand, in dieſe Quadrate ſchrieb? Wohl, es war nicht (hwer zu erraten, daß fie die er- haltene Mitteilung dechiffrierte. Das bedarf kaum der Erwähnung, aber daß es dieſes Blatt war, das fie ent- zifferte, daß ſie es auf dem Weg in ihr Schlafzimmer ‚einjtweilen‘ in die Bruſttaſche ihrer Weite ſteckte, end- lich, daß gerade dieſes irreführende Datum den Schlüſſel der Chiffre enthält dafür möchte ich das ſchönſte Stück meiner Sammlung verwetten! Wo ſind wir

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eben? Oh, erft auf der Piazza Cairoli! Alſo laffen Sie uns keine Zeit verlieren und den Reſt des Wegs dazu benützen, dem Rätſel nachzuſinnen!“

Und das Billett in der Hand, den Blick feſt darauf richtend, verſank der berühmte Gentlemandetektiv in ein tiefes Kombinationsſtudium, aus dem er erſt auf- ſah, als das Automobil vor der kleinen, hübſchen Villa auf der halben Höhe des Janiculus jenſeits des Tibers vorfuhr.

Windmüller befahl dem Chauffeur, zu warten, öffnete die verſchloſſene Pforte zu dem zierlich be- pflanzten Gärtchen, das die Villa umſchloß, mit einem Patentſchlüſſel, während er gleichzeitig die elektriſche Glocke drückte, und bat Don Gian, einzutreten.

Ehe die Herren den kurzen, mit Blumenrabatten eingefaßten Gang bis zu dem Hauſe zurückgelegt, wurde deſſen Tür von einem kleinen, drollig ausſehenden Menſchen mit beweglicher Spitzmausphyſiognomie und kleinen, funkelnden Schweinsaugen geöffnet, den die ruhige, dunkle Livree, die er trug, wie etwas Ungu- gehöriges kleidete, beſonders da er die Ankommenden mit militäriſchem Gruß empfing.

„Der Kerl kann ſich die Faxen nicht abgewöhnen,“ murmelte Windmüller ärgerlich. „Schnell ein Früh- ſtück in mein Arbeitszimmer, Pfifferling!“ befahl er, noch auf der Türſchwelle. „Tee, Gebäck, Schinken, Eier aber raſch! Jemand hier geweſen? Briefe gekommen?“ |

„Verſteht ſich, Herr Doktor,“ verſicherte Pfifferling höchſt inkorrekt für feine Livree. „Briefe, mehrere Telegramme und ein zierliches Schreiben, für das ich dem Überbringer, einem ſchäbigen Individibum, eine Quittung ſchreiben mußte. Es liegt noch keine zehn Minuten oben.“

(a) Roman von E. v. Adlersfeld-Balleftrem. 45

„Gut. Nehmen Sie dem Herrn hier Paletot und Hut ab und trollen Sie ſich. Verſtanden?“

ö „Vollkommnement, Herr Doktor!“ erwiderte Pfifferling mit einem Kratzfuß, der in einer Poſſe auf einer Volksbühne Effekt gemacht hätte. „Ich ver- dufte!“ Zu.

„Wenn Sie mal einen korrekten Diener brauchen ſollten, Herr Marcheſe, dann holen Sie fih den Men- ſchen,“ ſagte Windmüller lachend, als er ſeinen Gaſt die Treppe hinaufgeleitete, die wie die kleine Vorhalle mit ſeltenen alten Waffen aller Länder dekoriert war, „Die Livree ift aber nur Blendwerk Pfifferling ift nämlich mein Faktotum, zu dem er ſich aus eigener Machtvollkommenheit gemacht hat. Er führt mit mir das alte Märchen von Sintbad, dem Meerfahrer, auf, in- dem er den Meergreis mimt, den ich nicht mehr los- werden kann. Aber er fängt an, ſich zu machen, was ſeine beſcheidene Mitwirkung an meiner Arbeit betrifft zum Diener hat unfer Herrgott ihn in feinem Borne werden laſſen.“

Don Gian folgte ſeinem Wirte mit unwillkürlich erwachter Aufmerkſamkeit in das Gemach, das er als ſein Arbeitszimmer bezeichnet hatte. Es war mehr eine Bibliothek, denn die Wände waren mit Bücher- regalen bis auf Manneshöhe bedeckt und zuoberſt mit allen nur möglichen Gegenſtänden beſtellt: Büſten, Vaſen, antiken Fragmenten; Gemälde wechſelten in zwangloſer Reihe miteinander ab, aber in dem ganzen Arrangement verriet ſich der wohlgeſchulte Liebhaber, der ſeine Schätze nicht wahllos hier aufgeſtapelt. In der Mitte des ſchönen, großen Raumes ſtand ein großer, koſtbarer Schreibtiſch von Boule, bedeckt mit Papieren, Akten- faſzikeln, Büchern, und auf der ledernen Mappe mit dem davorgeſchobenen Lehnſeſſel, einem Prachtſtück des

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Cinquecento, lagen wohlgeordnet die eingelaufenen Briefe und Telegramme.

Windmüller bat feinen Gaſt, vor einem leeren ein- gelegten Tiſch in der einen Fenſterniſche Platz zu neh- men, und ſetzte ſich dann ſelbſt vor ſeinen Schreibtiſch, um die Depeſchen zu durchfliegen, die er nebſt dem einen markenloſen Briefe mit einem Stück orientaliſchen Jaſpis beſchwert neben ſich hinlegte, und Don Gian, der ihm mit unverhohlen brennendem Intereſſe zuſah, machte die Beobachtung, daß ſein Wirt während dieſer mit Methode betriebenen Beſchäftigung febr nachdent- lich ausſah, als ob ihm ein neues Rätſel in den Weg getreten wäre.

„Alles zu feiner Zeit, Herr Marcheſe,“ ſagte Wind- müller, das Geſicht ſeinem Gaſt zuwendend, der erſtaunt zurückfuhr und fidh fragte, ob er feine Beobachtung un- bewußt in Worte gekleidet. „Es ſcheint in der Tat, als ob wir in eine neue Phaſe der Angelegenheit getreten wären. Ehe wir jedoch auf dieſe eingehen, müſſen wir ſuchen, das chiffrierte Billett zu enträtſeln. Wenn der Schlüſſel paßt, auf den ich unterwegs geraten bin, dann werden wir bald klüger ſein. Ich habe ſo viel mit Geheimſchriften zu tun, die ein ganzes Studium für mich gebildet haben und immer noch bilden, daß mir ſo leicht keine unzugänglich iſt. Alſo, ans Werk!“

Don Gian ſah mit fieberhafter Spannung zu, wie Windmüller einen leeren Papierbogen in Quadrate mit

dem Bleiſtift einteilte, diefe Quadrate von 1 bis 24

numerierte und dann, den linken Zeigefinger gewiljer- maßen als Weiſer auf dem chiffrierten Blatte führend, in die Quadrate zu ſchreiben begann.

Er war damit noch eifrig beſchäftigt, als Pfifferling mit dem Frühſtück erſchien, das Brett auf einen Wink

2 Roman von E. v. Adlersfeld-Balleſtrem. 47

ſeines Brotherrn auf den Tiſch vor den Gaſt ſtellte und dann ſchleunigſt wieder verſchwand.

Mechaniſch goß Don Gian ſich eine Taſſe Tee ein und trank ſie raſch aus, aber ſeine Nerven waren in einem Zuſtande der Erwartung, daß er vorläufig noch keinen Biffen hinuntergebracht hätte.

Da ſah Windmüller auf. „Die Sache war einfacher, als ich gedacht,“ ſagte er. „Das Datum iſt's, das den Schlüſſel enthält, wie ich es angenommen; es war der „Vogel, der die Geſchichte verraten hat‘. Einen Augen- blick wollten mich die eingeklammerten, einfach und doppelt unterſtrichenen Worte aus dem Sattel heben, aber auch ſie fügten ſich dann wie von ſelbſt dem Ganzen ein. Doch ich will Sie nicht länger auf die Folter ſpannen. Der dechiffrierte Inhalt des Villetts lautet: „‚Feſtland“ das ift die deutſche Überſetzung Ihres Namens Terraferma ‚Feitland wird morgen abend vorausſichtlich Venedig eintreffen. Weiterreiſe Trieſt Frühſchiff wahrſcheinlich. Reifen Sie heut mit Nacht- zug Venedig. Wenn Objekt erlangt, nächſten Zug Rom. Sofort Meldung.“ Nun, Herr Marcheſe, dieſes toft- bare Blättchen beſtätigt zwar Ihren Verdacht über die Beſchäftigung und Einnahmequellen Ihrer Frau Schwägerin, aber es iſt auch Ihre eigene, vollſtändige Rechtfertigung, zu der ich Sie von Herzen beglüd- wünſche —“

„Und die Beſtätigung, daß dieſes inhaltſchwere Dokument in den Händen derer iſt, die es gegen mein Vaterland bis zum äußerſten ausnützen werden!“ rief Don Gian aufſpringend.

„In dieſer Beziehung iſt das letzte Wort noch nicht geſprochen,“ erwiderte Windmüller mit Nachdruck. „Auf alle Fälle ſtehen Sie rein da; Sie ſind das Opfer eines Verrates und einer Intrigantin geworden, die ihre

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Netze mit einer Berechnung gelegt hat, die fait alles Dageweſene überſteigt. Doch davon ſpäter. Hier dieſe Depefhen meiner Agenten melden mir, daß Donna Kenia auf keiner der Etappen, die fie auf ihrer vermut- lichen Weiterreiſe berühren mußte, eingetroffen iſt. Eine Verkleidung, die ja eigentlich anzunehmen war, ſcheint nach den Berichten zwar ausgeſchloſſen, aber es iſt immerhin möglich, daß ſie unter einer ſolchen doch noch durchgeſchlüpft iſt. Nun aber ſehen wir aus dieſem chiffrierten Billett, daß Donna Kenia den Befehl hatte, mit dem erlangten Objekt nach Rom zurückzukehren und ſich damit ſofort bei ihren Auftraggebern zu melden. Daß fie in ihrer Wohnung jedoch nicht eingetroffen ift, da- von haben wir uns vorhin überzeugt, und dieſer Zettel, den mein Agent vor unſerer Ankunft in meinem Hauſe hier abgegeben hat, meldet mir, „daß das Ausbleiben der Marcheſa Terraferma an zuſtändiger Stelle‘ um keine Namen zu nennen „Unruhe und Beſtürzung verurſacht hat“. Mithin ift ‚man‘ auch dort ohne Nach- richt über fie, hat was für Ihre Regierung das Weſentliche iſt das bewußte Dokument nicht oder wenigſtens noch nicht in Händen.“

Windmüller hielt ein und ſah ſeinen Gaſt an, der näher getreten war und ſich über den Schreibtiſch a überlehnte.

„Sie hatte Befehl, nach Rom mit dem Hokument zurückzukehren, und hat es nicht getan!“ rief Gian aus. „da, um alles in der Welt wo aS fie dann þin- gekommen?“

„Das zu ergründen, wird meine Arbeit ſein,“ er- widerte Windmüller ſinnend. „Es gibt ſoweit ich es im Augenblick überſehen kann drei Möglichkeiten: fie ift beſeitigt worden von Leuten, die auch ein Inter- effe an dem Dokument haben, oder fie hat dieſer an-

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deren Seite das Dokument freiwillig ausgeliefert und findet nun für gut, ſich ihren Auftraggebern zu ent- ziehen, bis es wieder ſicher iſt —“

„Meine Schwägerin hat ihren kleinen Koffer, der nur das Nötigſte für die Nacht und eine einzige Abend- toilette enthält, in Venedig zurückgelaſſen,“ unterbrach ihn Don Gian kopfſchüttelnd. „Eine Perſon von ihren Anſprüchen geht nicht mit ſozuſagen nichts auf eine Reife von unbeſtimmter Dauer.“

„Mit Geld in der Hand kann man alles kaufen, was man braucht oder zu brauchen glaubt,“ entgegnete Wind- müller ruhig. „Es war ſehr geſchickt, den Trick, wenn ſie einen beabſichtigt hat, ohne Reiſegepäck auszuführen. Das macht den Verdacht einer Beſeitigung wahrſchein- licher, und der Befehl für Ceſarine, das Maskenkoſtüm für den Baſar zu geſtern abend bereitzulegen, unterſtützt ihn, unterſtreicht ihn gewiſſermaßen. Anderſeits blieb ihr nichts anderes übrig, als Ihr Haus in Venedig unbeſchwert von jedem Reiſegepäck zu verlaſſen, wenn ſie es unbeobachtet tun wollte, tun mußte, um heil und ungefragt herauszukommen. Und dann iſt noch die dritte, aber unwahrſcheinlichſte Möglichkeit, daß Donna Kenia ſich dadurch, daß ſie alle Ausgänge des Hauſes verſchloſſen fand, genötigt fah, fih in demſelben zu verbergen, bis die Gelegenheit ſich bot, unbemerkt hinauszuſchlüpfen.“

„Das iſt ſo ungefähr, was mein Portier behauptete,“ ſagte Don Gian kopfſchüttelnd. „Ich glaube zwar nicht daran, habe aber für alle Fälle einen Geheimpoliziſten in mein Haus genommen, der die Ausgänge nicht nur zu bewachen, ſondern auch zu verhindern hat, daß Donna Xenia den Palaſt verläßt. Ob das erlaubt ift oder nicht, darum konnte ich mich nicht kümmern. Meine Großmutter verſprach mir, auf alle Fälle =. zu

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geben, und diefe liegt wohl jetzt ſchon in meiner Woh- nung. Ich zweifle nicht, daß fie eine negative ift, denn meine Schwägerin dürfte ſich vorher verſichert haben, wie und auf welchem Wege fie das Haus verlaſſen konnte. Sie hat es ſicher nicht darauf ankommen laſſen, ob ſie die Schlüſſel in den Schlöſſern der Ausgänge finden würde oder nicht, ſondern ſich vorgeſehen. Das Sonderbare dabei ift und es gibt Ihrer dritten Mög- lichkeit das meiſte Recht daß mein Portier darauf ſchwört, alle Ausgänge ſeien früh innen verriegelt ge- weſen.“

„Was für einen Ihnen unbekannten geheimen Aus- gang ſpräche,“ ſchloß Windmüller aufſtehend. „Und nun, Herr Marcheſe, effen Sie ſchnell etwas einen Biſſen Schinken, ein paar Eier. Ich helfe Ihnen dabei, und dann wollen wir über Ihre Wohnung, um dort nachzuſehen, ob und welche Botſchaft Sie von daheim erwartet, zu Ihrem Chef zurückkehren und ihm Bericht erſtatten. Und da es ihn freuen wird, Sie frei von jedem Verdachte zu wiſſen, ſo wollen wir uns beeilen abgeſehen davon, daß auch ich ſo raſch wie möglich in Aktion treten muß, um zu verſuchen, das geraubte Dokument wiederzuerlangen.“ |

Don Gian fah ein, daß gegen Windmüllers menjden- freundliche Anordnung nichts zu wollen war, und zwang ſich, das vorgeſetzte Frühſtück zu ſich zu nehmen.

In der Tat fühlte er ſich danach und nicht zum mindeſten im Verein mit dem in Windmüllers Bruſt- taſche ruhenden Beweis feiner Schuldloſigkeit wejent- lich gekräftigt, als er nach wenigen Minuten wieder neben dem Detektiv im Automobil fap und zunächſt ſeiner Wohnung an der Piazza Colonna auf dem kürzeſten Wege entgegenfuhr.

Windmüller ſprach unterwegs keine zehn Worte;

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er war in tiefes Sinnen verſunken, und Don Gian hatte auch genug zu denken, um ein Geſpräch zu vermiſſen. Als das Auto vor dem alten Palaſt, in dem er ſeine Mietwohnung hatte, hielt, eilte er allein hinauf, um nach einer etwa eingetroffenen Nachricht zu ſehen.

Er fand ein Telegramm ſeiner Großmutter, in früher Morgenſtunde aufgegeben, vor, das, wie er es eigent- lich ja auch erwartet hatte, nur die Worte enthielt: „Von Kenia nichts gehört und geſehen. Grüße. Nonna.“ Er eilte damit wieder zu dem Wartenden zurück und fuhr mit ihm zu feinem Chef, der die Gemeldeten fo- fort vorließ und ihnen mit einem, feine Ungeduld ver- ratenden „Nun was gibt's Neues?“ entgegentrat.

„Viel und nichts,“ erwiderte Windmüller und erſtattete ohne Verweilen ſeinen Bericht, indem er das gefundene Billett und deffen Oechiffrierung vorlegte. „Exzellenz haben damit auch die nicht ganz wertloſe Kenntnis der angewendeten Geheimſchrift erlangt,“ ſchloß er. „Dieſe muß ja natürlich gewechſelt werden, wie wir Eingeweihten alle wiſſen um dem Vorteil vorzubeugen, den die nicht Zuſtändigen daraus bei einem etwaigen Verrat ziehen können; indes wird dieſe Formel wohl jetzt die ‚dort‘ angewendete bleiben, falls der Verdacht, daß dieſes Billett in unſere Hände ge- fallen iſt, nicht zur Gewißheit wird. Die Ohren jedoch, die gehört haben, daß der Marcheſe Terraferma be- auftragt werden würde, das bewußte Dokument nach Wien zu bringen, können in dieſem Augenblick auch hören, daß der Auftrag an die Principeſſa in unſeren Händen und der Schlüſſel der Geheimſchrift gefunden iſt.“

„Ich hoffe und glaube das nicht,“ erwiderte der Minifter grimmig. „Ich habe vor kaum einer halben Stunde den Bericht des Chefs unſerer Geheimpolizei erhalten, daß ſich an dem verhängnisvollen Tage, an

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welchem die Reife Terrafermas beſchloſſen wurde, unter den Arbeitern, die hier im Miniſterium eine neue elektri- ſche Anlage zu machen hatten, ein Mann befand, der ſich nach Angabe der Dienerſchaft mehrmals in dem großen Haufe ‚verirrt‘ haben wollte. So gab er wenigſtens an, als er zu wiederholten Malen in dieſem Teil des Palaſtes betroffen wurde. Der Mann, der Baſilio Mamerti zu heißen vorgab, war den anderen Arbeitern unbekannt und nach ihnen erſchienen mit der Angabe, daß der Padrone des Geſchäfts ihn nachgeſandt habe, um gewiſſe Teile der Anlage nachzuprüfen. Dieſe an ſich recht unglaubwürdige Angabe wurde indes an- ſtandslos hingenommen, und ich zweifle nicht, daß dieſer Mann es war, der wahrſcheinlich mit Hilfe eines beſtochenen Individuums in dem Haufe einen be- quemen Lauſcherpoſten fand.“

„Daran zweifle ich auch nicht,“ meinte Windmüller trocken. „Hoffen wir alfo, daß dieſer Poſten im Augen- blick unbeſetzt iſt, denn wenn auch die Geheimpolizei nach dem ſchönen Grundſatz: „Eile mit Weile“ dieſen rätſelhaften Baſilio Mamerti jedenfalls nicht im Geiſte dingfeſt gemacht haben dürfte, wobei es ja auch bleiben wird, fo hat doch der Mann inzwiſchen längſt Zeit ge- habt, zu verduften. Allein er liegt außer dem Bereiche meiner Aufgabe, die jetzt wohl einzig und allein darin beſteht, die Marcheſa Terraferma zu ſuchen. Daß ſie von von der Seite, in deren Auftrage ſie ihre Fahrt nach Venedig unternahm, vermißt wird, wiſſen wir —“

„So ſagten Sie,“ unterbrach ihn der Miniſter. „Darf ich fragen, wie Sie zu dieſer Information gekommen ſind?“

„Gewiß dürfen Exzellenz fragen,“ erwiderte Wind- müller liebenswürdig, „aber eigentlich dürfte ich darauf nicht antworten. Indes erkenne ich das Recht an, mit

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dem Exzellenz eine Garantie für die Zuverläſſigkeit dieſer Angabe verlangen können. Nun, ich habe an eben jener Stelle, welche die Marcheſa Terraferma als politiſche Agentin beſchäftigt, eine kleine Aufgabe zu löſen oh, keine politiſche, nichts, was unſere Sache ſtört, nur ein ganz gewöhnlicher Fall von hm Kleptomanie. Da ich es für Kraftvergeudung halte, mir meine Zeit damit zu vertrödeln, ſo habe ich einen meiner Agenten in der hübſchen und netten Rolle eines Kronleuchterreinigers, der gerade dort gebraucht wurde, eingeſchmuggelt. Er iſt ein intelligenter und geſchickter Mann, mein Agent, der ſeine Ohren und Augen zu gebrauchen weiß ein hübſcher Menſch außerdem, der dieſen Vorzug bei Stubenmädchen und Kammerzofen zur Geltung zu bringen verſteht. Die Hauptſache aber ift: er ift ſehr zuverläſſig in feinen Angaben, und er wird noch ein paar Tage mit dem Reinigen der vielen Kronleuchter in dem Botſchaftspalaſte zu tun haben, ſo daß die Nachrichten über die Marcheſa Donna Kenia uns ganz warm erreichen werden Sie wenigſtens, Exzellenz, denn ich werde mich unverzüglich auf die Suche nach ihr begeben und als Ausgangspunkt Venedig wählen, wo ich mir eine kurze Gaſtfreundſchaft von dem Herrn Marcheſe erbitte.“ Don Gian wollte ſofort bejahend antworten, aber der Miniſter fiel ihm ins Wort. „Sie ſollen den Herrn Doktor begleiten, Terraferma,“ rief er freundlich. „Einmal dürfte Ihre Anweſenheit dort an ſich von Nutzen ſein, und dann ſollen Sie ſich daheim bei den Ihrigen von dem Nervenchok erholen, der, wie ich nur zu gut ſehe, ſelbſt Ihre geſunde Natur ſtark ins Wanken gebracht hat. Ja, ja, Sie haben Ur- laub ich will mir meinen Sekretär erhalten und ihn nicht gleich in das Joch der Arbeit ſpannen Sie

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würden ja doch jetzt nichts leiſten können. Nein, faſſen Sie es nicht falſch auf: Sie haben mein volles Vertrauen und hatten es ſelbſt im Augenblick des erſten Schreckens, und niemand freut ſich mehr als ich, daß Ihre Schuldloſigkeit, für die ich gleich und ohne Zögern eingetreten bin, ſo glänzend bewieſen worden iſt. Doktor Windmüller iſt mein Zeuge, daß ich an Ihnen nicht gezweifelt habe, und wenn er erſt ſehen und prüfen wollte und mußte, ſo war dies nicht mehr, als auch ich zu tun verpflichtet war. Es iſt Ihnen doch recht, Herr Doktor, daß der Marcheſe Sie begleitet?“

„Exzellenz ſind mir damit zuvorgekommen ich hatte darum bitten wollen,“ erwiderte Windmüller ver- bindlich. „Und nun laſſen Sie uns keine Zeit verlieren wir können den Mittagszug noch erreichen.“

„Sie haben jedenfalls aber noch Zeit, um mir einen Wink über den Schlüſſel der Chiffre dieſes wich- tigen Billetts geben zu können,“ bemerkte der Miniſter, auf das im Kleide der Marcheſa gefundene Schriftſtück deutend, das auf ſeinem Schreibtiſche lag.

„Gern,“ entgegnete Windmüller mit einem Blick auf die Uhr. „Die Sache iſt eigentlich von größter Einfachheit wenn man fie erſt weg hat. Das Datum war's, das mir auf die Spur half das Datum vom 27. Februar auf einem friſchen Papier mit ebenſo friſcher Tinte geſchrieben und dieſer Zettel in einem Kleide, das erſt vor ein paar Tagen vom Schneider aus Paris gekommen iſt. Ferner die von der Zofe beobachtete Einteilung eines anderen Papiers in Qua- drate, das Numerieren derſelben. Gut. Ich numerierte auch von 1 bis 25, fo viel Ziffern, als das Alphabet Buchſtaben hat. Und dann verſuchte ich, die Worte der chiffrierten Botſchaft in der Reihe, in der fie ſtanden, in die Quadrate einzutragen. Doch das klappte nicht,

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und ich ſah, daß die eingeklammerten, einfach und doppelt unterſtrichenen Worte ihren beſonderen Sinn haben mußten. Nochmals das Datum durchprüfend, kam mir die Erleuchtung: es enthält mehrere Buchſtaben doppelt, einen, das r, dreifach, zwei Buchſtaben fogar vierfach, denn die Ziffern in 27 und 1912 ſind natürlich gleichbedeutend mit den entſprechenden Lettern der Alphabetreihe. Die Klammern und Unterſtreichungen konnten alſo nur die erſte, zweite, dritte und vierte Wiederholung desſelben Buchſtabens bedeuten, und ſo trug ich denn den Wortlaut des Billetts nach dem Schlüſſel des Datums oder Buchſtabenzeigers in die entſprechend bezifferten Quadrate ein, das zweite a, b, u, r einklammernd, das dritte einfach, das vierte zweimal unterſtreichend, las dann, abermals der Buch- ſtabenfolge des Datums nachgehend, den Text im Zu- ſammenhange ab und ſchrieb ihn ſo unter die Chiffre, wie er vor Ihnen liegt.“

„Höchſt geiſtvoll!“ rief der Miniſter, welcher der Erklärung mit dem Stift in der Hand gefolgt war und das gleiche Reſultat wie die ihm vorliegende Ent- zifferung erzielt hatte. „Und zu dieſer Löſung, die unſere Experten vielleicht eine Woche und dann noch ohne Reſultat beſchäftigt hätte, haben Sie eine halbe Stunde gebraucht! Es iſt wunderbar!“

„Exzellenz Sie ſchmeicheln mir,“ rief Windmüller abwehrend, aber doch nicht ohne ein befriedigtes Schmunzeln. „Zwiſchen mir und Ihren Sachver- ſtändigen iſt eben der Unterſchied, daß hinter ihnen nicht die Notwendigkeit der Eile ſteht, die bei mir die Rolle des Wetzſteines für die Klinge meiner Gehirn- tätigkeit ſpielt. In einem Falle wie dieſem, wo jede Stunde von dringendfter Wichtigkeit für ſchnelles Han- deln iſt, darf man die Löſung eines im Wege ſtehenden

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Rätſels nicht einer weitſchichtigen Analyſe unterziehen, ſondern muß ſich aufs Raten verlegen. Es gibt ſehr kluge und ſehr gelehrte Leute, die im Leben nicht im- ſtande ſind, die einfachſte Scharade zu raten, und wiederum notoriſch Beſchränkte, die ſofort auf das richtige Wort kommen. Zwiſchen dieſen beiden Sorten ſtehe ich; ich lebe von meiner Fähigkeit, raſch zu denken, und ſchließlich ift ja alles im Leben nur Übungs- und Gewohnheitsſache. Nun aber wollen wir uns emp- fehlen, Exzellenz, denn ich muß noch heim, um meine Befehle zu geben für die Zeit meiner Abweſenheit.“

* * *

Das wartende Automobil entführte Windmüller allein nach ſeinem Hauſe, während Don Gian den kurzen Weg nach ſeiner Wohnung zu Fuß zurücklegte, dort noch einige Sachen packte, auf den Bahnhof fuhr und dort, nachdem er fein Gepäck aufgegeben und die Fabr- karten für ſich und Windmüller beſorgt hatte, auf den letzteren, wie verabredet, am Eingang bei dem Zeitungs- verkauf wartete.

Die Zeit drängte nicht gerade, aber ſie ſchritt doch merklich vor, und Don Gian fing an beſorgt zu wer- den, ob ſein Begleiter auch noch rechtzeitig eintreffen würde. Um das Warten abzukürzen, kaufte er die neueſten Zeitungen, und als er ſich damit umwendete, ſtand er dem ruſſiſchen Kammerdiener ſeiner Schwä- gerin gegenüber, der eben in die Eingangshalle getreten war und beim plötzlichen Anblick des jungen Diplomaten zwar ſofort den Hut zog, aber den Ausdruck ſeiner Überraſchung über diefe unerwartete Begegnung nicht verbergen konnte.

„Der Herr Marcheſe wollen die Frau Marcheſa auch empfangen?“ fragte er zwar reſpektvoll, aber doch ſo

Z er —— 1

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dringlich, daß Don Gian den Mann etwas hochmütig muſterte, ehe er, ganz auf der Hut, nach einer kleinen Pauſe antwortete: „Erwarten denn Sie die Frau Marcheſa jetzt?“

Der Kammerdiener räuſperte ſich. „Durchlaucht haben zwar nicht befohlen, aber ich denke doch, fie wer- den mit dem Expreßzug jetzt eintreffen, und daher wollte ich nicht ermangeln, auf alle Fälle zur Stelle zu ſein.“

„Sehr richtig,“ murmelte Don Gian ſcheinbar un- intereſſiert, indem er ſich mit einem Kopfnicken ab- wandte und Windmüller langſam folgte, der, während Zwan ſprach, hinter ihm in die Halle getreten war und ſeinem Reiſegefährten ein Zeichen gemacht hatte, das dieſer nicht mißverſtand.

Der vorausgehende Detektiv hatte ſich inzwiſchen {hon mit dem Mann an der Bahnſteigſperre verſtändigt und war, als Don Gian dieſem die beiden Fahrkarten vorwies, ſamt ſeiner Reiſetaſche, die er ſelbſt trug, ſchon weit vorausgeeilt und in ein leeres Abteil erſter Klaſſe geſtiegen.

„Tun Sie, als ob Sie nicht zu mir gehörten,“ ſagte er haſtig, als Don Gian ſich gleichfalls anſchickte, ein- zuſteigen. „Gehen Sie in ein anderes Abteil und kommen Sie erft während der Fahrt hier herein. Iwan dürfte ſeine Bahnſteigkarte ſchon haben, aber ich glaube nicht, daß er mich geſehen hat.“

» Oon Gian tat, als ob er fih eines anderen beſonnen hätte, und ſchlenderte zum nächſten Wagen, aber ein raſcher Blick nach dem Eingang hatte ihn davon über- zeugt, daß Jwan in der Tat den Bahnſteig ſchon ber. treten hatte. Die Abſicht war klar, denn da der Eilzug Venedig Mailand auf einem anderen Gleis einlief, ſo war es nicht ſchwer zu erraten, daß er zu wiſſen

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wünſchte, ob der Schwager ſeiner Herrin mit dieſem Zuge abreiſen oder jemand Abreiſenden ſehen wolle.

Da es nun unvermeidlich ſchien, dem Manne dieſe Gewißheit zu verſchaffen, ſo blieb Don Gian nichts übrig, als in den Zug zu ſteigen, aber er lehnte ſich, ſcheinbar das Publikum betrachtend, aus dem Fenſter, um fidh zu vergewiſſern, ob Zwan ſonſt noch die Reifen- den zu beobachten die Abſicht hatte. Natürlich wußte er, daß Windmüller nur auf den Gang auf der dem Bahnſteig abgekehrten Seite des Wagens zu treten brauchte, um ſich dem Blick des Kammerdieners zu entziehen, aber es war doch immer gut, zu wiſſen, ob er von dem letzteren doch vorher geſehen worden war. Es ſchien ja nichts darauf zu deuten, indes wollte das noch nichts ſagen.

„Ich glaube nicht, daß er mich geſehen, wenigſtens nicht, daß er mich beachtet hat,“ war Windmüllers erſtes Wort, als Don Gian, nachdem der Zug den Bahnhof verlaſſen, herüber in ſein Abteil gekommen war. „Ich fab ihn dermaßen in Ihren Anblick verſenkt, daß ich, wie ich denke, unbeachtet an ihm vorbeihaſten konnte. Was wollte denn der Menſch von Ihnen?“

„Iwan war fo überraſcht, mich auf dem Bahnhof zu finden, daß er ſich ſo weit vergaß, mich zu fragen, ob ich die Frau Marcheſa auch zu empfangen käme. Demnach iſt ſie nicht nur nicht inzwiſchen eingetroffen, ſondern man weiß im Hauptquartier auch noch nicht, wo ſie iſt. Noch nicht!“

„Ich möchte danach prophezeien, daß ‚man‘ dar- über auch noch einige Zeit in Ungewißheit bleiben wird,“ meinte Windmüller nachdenklich. „Die Sache fängt nun nachgerade an, ein ernſtes Geſicht anzu— nehmen. Die Möglichkeit, daß Ihrer Schwägerin etwas zugeſtoßen iſt, tritt vor der Annahme, ſie könnte mit

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dem Dokument eigene Zwecke verfolgt haben, ſtärker in den Vordergrund. Fn beiden Fällen aber ſcheint es faſt ſicher, daß jemand anderes dem Dokument nach- geſtellt hat, um es wahrſcheinlich für ſeinen eigenen Nutzen zu verwerten, entweder alſo es den Abſendern zum Rückkauf oder den Intereſſenten für einen Phan- taſiepreis anzubieten. Natürlich iſt damit noch nicht gejagt, daß eine Mitwirkung von Donna Xenia aus- geſchloſſen iſt, obwohl ich perſönlich dieſe Annahme ausſchalten möchte. Ich kenne die Dame nicht, kann alſo für ihre Integrität nicht eintreten, aber wenn ſie ſo klug iſt, wie ſie ſein muß, um von jener Seite politiſch beſchäftigt zu werden, fo wird fie wiſſen, daß die Ge- fährlichkeit eines ſolchen Spieles mit dem Einſatz in keinem Verhältnis ſteht.“

Don Gian zuckte die Achſeln. „Meine Schwägerin poſiert als ‚kapriziöſe Frau“, aber fie ift dreimal fo klug, als ſie launiſch und unberechenbar iſt. Sie wird ſicher ihren Hals nicht in eine Schlinge legen, die ſich zu- ziehen könnte. Ich habe keine anderen Sympathien für ſie, als daß ſie meines Bruders Witwe iſt, aber aus dieſem letzteren Grunde und rein menſchlich ge- ſprochen, hoffe ich von Herzen, daß ihr nichts zu- geſtoßen iſt, wie Sie eben ſagten.“

„Es deutet alles darauf hin, Herr Marcheſe,“ er- widerte Windmüller ernſt. „Damit brauchen wir frei- lich noch nicht gleich das Schliminſte anzunehmen.“

„Aber man läßt die Leute doch heutzutage in einem Kulturſtaate nicht mehr einfach en fiel Don Gian ein.

„Hm meinen Sie?“ fragte Windmüller trocken. „Wir müſſen jedenfalls auch mit dieſer Möglichkeit rech- nen, und wenn ſie Wirklichkeit iſt, ſo werden wir ſehr bald darüber hören. Wie die Sachen ſich bis zur Stunde

60 Das Rofazimmer. o

entwickelt haben, dürfen Sie aber nicht unbedingt dar- auf rechnen, daß ich das Rätſel werde löſen können. Einer kürzlich veröffentlichten Statiſtik zufolge ver- ſchwinden jährlich ungefähr zweitauſend Perſonen ſo ſpurlos, als ob die Erde ſie verſchlungen hätte. Freilich beſteht der größte Prozentſatz dieſer Vermißten aus Vergnügungsreiſenden. Ich gebe jedenfalls keine Schlacht für verloren, ehe ich mich nicht geſchlagen fühle, und das tue ich im Falle der Donna Kenia durch- aus noch nicht. Ich bezweifle zunächſt, daß die Marcheſa mit dem Zuge, der den unſeren eben gekreuzt hat, in Rom eintrifft; wir werden es in Florenz, wohin ich mir eine Depeſche beſtellt habe, erfahren. Aber ich zweifle nicht, daß man, dank dem Herrn Zwan, in ſeinem Hauptquartier jetzt ſchon weiß, daß Sie mit dieſem Zuge abgereiſt ſind; daß ich mit Ihnen in der Wohnung der Marcheſa war, weiß man feit Stunden ſchon, denn Ceſarine, diefe Perle, wird mit ihrer Per- ſonalbeſchreibung vor dem Kammerdiener ebenſo be- redt geweſen ſein, wie ich ſelbſt ſie gefunden, beſonders wenn was ich annehme der Herr Jwan diefe Be- redſamkeit gut bezahlt hat.“

Wie Windmüller es vorausgeſehen, enthielt das ihn in Florenz erwartende Telegramm die Nachricht, daß Donna Kenia in Rom wiederum nicht eingetroffen war, und damit begann Don Gian eigentlich zum erſten Male eine gewiſſe Beunruhigung in bezug auf ſeine Schwä- gerin zu empfinden.

„Es muß ihr in der Tat etwas zugeſtoßen ſein,“ bemerkte er unbehaglich.

„Ich fürchte es auch,“ gab Wind müller lakoniſch zu.

In Bologna ſtieg er aus, um beim Bahnhofvor- ſteher ein zweites und drittes Telegramm, die dort auf ihn warteten, in Empfang zu nehmen. Er gab beide

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Don Gian zu lefen. Das erſte war von dem Minifter und teilte mit, daß keinerlei Anzeichen gemeldet worden wären, die darauf ſchließen ließen, daß das bewußte Dokument in den Händen oder zur Kenntnis der türti- ſchen Regierung gelangt ſei.

„Gott ſei Lob und Dank dafür!“ kam es Don Gian dabei aus vollſter Seele. „Und doch kann die nächſte Stunde ſchon das Gefürchtete bringen. Und ich bin die mittelbare Urſache dazu!“

„Wie der Blitzableiter, den man vergeſſen hat zu vergolden, und trotz welchem es nun in der Kirche ein- ſchlägt,“ bemerkte Windmüller und ſetzte ſcharf hinzu: „Verrennen Sie ſich nicht in dieſe Vorſtellung, Herr Marcheſe! Sie find an der ganzen Sache fo ſchuldlos wie ein neugeborenes Kind, und ſolange Ihr Gewiſſen Sie von der kleinſten Nachläſſigkeit freiſpricht, dürfen und ſollen Sie eine ſolche Laſt nicht auf ſich laden!“

Don Gian ſeufzte und las das zweite Telegramm, das Windmüller ihm reichte. Es kam von ſeinem Agenten und berichtete, daß in Rom die Unruhe und Beſorgnis über das Ausbleiben Donna Kenias im Zunehmen begriffen ſei, um ſo mehr, als die Rückkehr des Marcheſe Terraferma und ſeine neue Abreiſe, namentlich aber ſein Beſuch in früher Morgenſtunde in der Wohnung ſeiner Schwägerin als ein Beweis, daß auch er nichts über den Verbleib der Dame wüßte, geradezu Be- ſtürzung hervorgerufen habe.

Beide Herren ſchwiegen und lehnten ſich in ſchweren Gedanken in ihre Ecken zurück. Gian wurden die Augen ſchwer; ſie brannten ihm vor Übermüdung, aber die Gedanken hielten ihn wach, alle Nerven in ihm bebten freilich war ja der Verdacht von ihm genommen, ein Landesverräter zu ſein, aber noch ſchwebte das Damoklesſchwert unberechenbarer Folgen über feinem

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Vaterlande, falls das Dokument nicht wiedergefunden wurde, und ein Mitglied ſeiner Familie war es, das den Verrat ausgeübt, ſich für ihn hatte bezahlen laſſen! Darüber kam er nicht weg: ſeines eigenen geliebten und betrauerten Bruders Witwe eine bezahlte Spionin gegen das Land, dem ſie geſetzlich angehörte! Die alte Marcheſa hatte ſchon recht: dieſe ausländiſchen Heiraten brachten keinen Segen! Und das früher be- ſtandene Verbot, nach dem ein Diplomat keine Aus- länderin heiraten durfte, war ein ſehr richtiges. Natür- lich, da der verſtorbene Marcheſe Terraferma nicht in der diplomatiſchen Laufbahn ſich befunden, war dieſe Betrachtung auch nicht zur Sache gehörig; Don Gian aber hatte damit einen Rückblick verbunden, indem er vor Jahr und Tag ſelbſt drauf und dran geweſen war, eine ſehr hübſche und ſteinreiche Amerikanerin aus gutem Hauſe zu heiraten. Sie hatte unverhohlen mit ihm geflirtet und ihm dadurch ebenſo unverhohlen ge- ſchmeichelt, doch als er ſo weit mit ſich im reinen war, das entſcheidende Wort zu ſprechen, teilte fie ihm freund- licherweiſe ſelbſt mit, daß ſie ſich mit einem engliſchen Herzog verlobt habe.

Dieſes Erlebnis hatte Don Gian wie der Menſch nun einmal ift im Zuſammentreffen mit der ihm jo unſympathiſchen Schwägerin gegen das Ausländer- tum im allgemeinen und gegen feine weiblichen Ver- treterinnen im beſonderen ungünſtig beeinflußt. Nicht, daß ſein Herz ſonderlich beteiligt geweſen wäre. Er hatte die hübſche, muntere Amerikanerin eben durch- aus ſchick gefunden und feſt geglaubt, auch ohne jenes tiefere Gefühl, das man die Liebe nennt, die Reife durchs Leben machen zu können und auf dem Fuße einer ausgezeichneten Kameradſchaft mit ihr das be- rühmte „große Los“ zu ziehen das war alles

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auf dem Hintergrunde ihres Reichtums, der ihm für feine Laufbahn recht wünſchenswert erſchien. Was alfo bei dieſer Angelegenheit ihn traf, war die Verletzung ſeiner Eitelkeit und Eigenliebe, denn auch der beſte Menſch iſt nicht frei davon.

Don Gians Gedanken gingen immer weiter ſpazieren, und endlich ſchloß er die ſchmerzenden, brennenden Augen und zwang ſein Sinnen auf lauter nichtige, unweſentliche Dinge und Perſonen. Aber ſobald er ſich eine ſolche recht deutlich vorgeſtellt, verwandelte ſie ſich in die kleine, elfenhafte Geſtalt ſeiner Schwägerin mit ihren gleitenden Bewegungen, die ihn immer an die einer Schlange erinnerten; er ſah ihr kleines, feines, blaſſes Geſichtchen mit den übergroßen Augen vor ſich ſie ſchienen ihn flehend anzublicken, der ſüße Mund öffnete ſich, um zu ſprechen und mit einem Schrei fuhr er in die Höhe. Er war eingeſchlafen und hatte geträumt.

Es war lange nach Mitternacht, als der Zug in Venedig anlangte. Da Don Gian feine und Wind- müllers Ankunft telegraphiſch gemeldet, ſo erwartete ſie die Gondel der alten Marcheſa, und die beiden Ruderer brachten das lange, ſchlanke Fahrzeug durch die jetzt ganz ſtillen und verlaſſenen Kanäle raſch vor den Palazzo Terraferma dalla Luna, in deſſen Portal Agoſtino, der Portier, der Kammerdiener ſowie ein Lakai wartend ſtanden, um das Gepäck in Empfang zu nehmen und die Herren in ihre Zimmer zu führen.

„Ihre Exzellenz die Frau Marcheſa und Donna Loredana find auf den Wunſch des Herrn Marcheſe ſchlafen gegangen und haben nicht gewartet,“ meldete Sebaſtiano, der Kammerdiener, in dem diskreten Ton des Dieners eines großen Hauſes. „Ein kalter Imbiß für die Herren ſteht in ihren Zimmern ſerviert.“

Neues? Die Signora Principeſſa ift nicht wieder- gekommen?“

„Nein, Herr Marcheſe. Es iſt auch keine Order gekommen, ob und wohin der Koffer von Altezza zu ſenden iſt,“ erwiderte Sebaſtiano, indem er zur Treppe vorausſchritt.

Don Gian ſah Windmüller an, aber dieſer ſchien in den Anblick der rieſigen Halle verſenkt, in die ſie direkt aus der Gondel eingetreten waren, eine Halle, wie ſie nur ein venezianiſcher Palaſt haben kann, mit Marmorflieſen, einer Decke von vergoldeten und bemalten Balken, von der ſchmiedeeiſerne Laternen in rieſigen Dimenſionen herabhingen, und wenn das elek- triſche Licht fih auch darin als ein Zeichen der Neu- zeit eingeſchlichen hatte, ſo konnte auch dieſes nur einen gewiſſen Radius durchdringen, und in all den ent- fernteren Ecken und Winkeln ſchliefen die Schatten der Vergangenheit und hüllten fie in tiefes, geheimnis- volles Dunkel, während in dem Hofe der uralte Brunnen über der längſt geſchloſſenen Ziſterne von dem darüber ſtehenden goldenen Monde phantaſtiſch beleuchtet wurde, um die den Hof umgebenden Säulenhallen in um ſo tieferer, faſt ſamtſchwarzer Finſternis erſcheinen zu laſſen.

„Darf ich bitten, Herr Doktor?“ lud Don Gian ſeinen Gaſt ein, ihm voranzugehen. „Oh, und ehe ich's vergeſſe,“ ſetzte er, zu dem Majordomo gewendet, hinzu, „ich ſah beim Kommen von der Gondel aus oben im erſten Stock ein Fenſter offenſtehen, ein Fenſter des Roſazimmers. Es ift wohl vergeſſen worden, beim Aufräumen zu ſchließen?“

„Nein, Herr Marcheſe,“ erwiderte Sebaſtiano mit ſichtlicher Verlegenheit. „Die die fremden Herr-

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ſchaften find heute nachmittag im Piano nobile ein- gezogen und —“

„Die fremden Herrſchaften?“ wiederholte Don Gian ſtehen bleibend. „Welche fremden Herrſchaften?“

„Herr Marcheſe haben alfo den Brief Ihrer Erzel- lenz doch nicht mehr erhalten! Ich ſagte es gleich, als das Telegramm des Herrn Marcheſe heute mittag ein- traf —“

„Einen Brief? Nein, ich habe keinen Brief mehr erhalten. Der liegt jedenfalls ruhig im Briefkaſten meiner Wohnung ich habe in der Eile vergeſſen, nachzuſehen. Alſo, wer iſt angekommen und wohnt im Piano nobile?“

„Herr Marcheſe halten zu Gnaden, aber den fremden Namen habe ich noch nicht ausſprechen gelernt,“ er- widerte der Kammerdiener kopfſchüttelnd. „Die Frau Gräfin v. Candiani kamen, kaum daß Herr Marcheſe vorgeſtern abgereiſt waren, mit den Herrſchaften her, und diefe haben das Piano nobile, das heißt den ein- gerichteten Teil, gemietet und ſind heute nachmittag eingezogen!“

„Das Piano nobile alſo vermietet!“ murmelte Don Gian beſtürzt. Die Vermietung war ja verabredet und beſchloſſen und doch berührte ihn die Tatſache wie etwas Wehes, Widerſtrebendes, etwas, das ihm auf die Nerven ging und ihm das Herz zuſammenzog. „So, ſo!“ ſagte er laut. „Und meine Tante Candiani hat die Herrſchaften ſelbſt hergebracht? Afo müſſen es doch Bekannte von ihr ſein, eh?“

„Gewiß, Herr Marcheſe,“ beſtätigte Sebaſtiano, aber ohne ſonderliche Begeiſterung. „Die Frau Gräfin reiſen ſo viel im Auslande und kennen ſo viele, viele Leute. Sie empfangen immer wieder neue.“

Don Gian kannte dieſe Manie ſeiner Tante, aber

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er wußte auch, daß ſie trotzdem wähleriſch war. Darin lag eine gewiſſe Garantie. Sie würde ſicherlich nicht eine beliebige „Rotte Korah“ in ſein Haus gebracht haben. „Sind es viele Perſonen?“ fragte er, den unterbrochenen Weg wieder aufnehmend.

„Nur drei. Ein alter Herr, eine alte und eine junge Dame Deutſche,“ berichtete Sebaſtiano, ſichtlich über die geringe Zahl befriedigt. „Und eine Kammerzofe,“ ſetzte er hinzu.

Don Gian war nicht neugierig; da ſeine Großmutter für gut befunden hatte, dieſen Leuten das Piano nobile zu vermieten, fo mußten ihre Referenzen auch befriedi- gende ſein. Der Name war dabei gleichgültig.

„Die Hauptſache iſt, daß Ihnen, Herr Doktor, da- mit der Weg zu den Zimmern abgeſchnitten iſt, die meine Schwägerin hier zuletzt bewohnt hat,“ wandte er ſich in franzöſiſcher Sprache an ſeinen Gaſt.

„Durchaus nicht,“ erwiderte Windmüller gleich- mütig. „Auf derartige kleine Hinderniſſe muß ich immer gefaßt ſein. Sie ſind nicht der Rede wert!“

„Va bene!“ murmelte Don Gian, nicht ganz über- zeugt, denn er konnte ſich nicht gut vorſtellen, wie man fremden Leuten ohne weiteres und doch ſicherlich ohne genügende Begründung „auf die Bude“ rücken wollte.

„Die Begründung liegt ganz auf der Hand,“ be- antwortete Windmüller dieſen Gedanken, als ob Don Gian ihn ausgeſprochen hätte. „Übrigens, ich vergaß, Ihnen zu ſagen, daß ich der Architekt bin, den Sie ſich mitgebracht haben, um in dieſem Haufe einige Ande- rungen zu begutachten. Was war es doch, das Sie längſt beabſichtigten hier machen zu laſſen?“

„Einen Perſonenaufzug!“ erwiderte Don Gian prompt. Er hatte begriffen.

„Richtig. Ich werde alfo wegen des Perfonenauf-

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zugs morgen den Palaſt gründlich beſichtigen,“ fagte Windmüller italieniſch zur Befriedigung Sebaſtianos, der aber ſtill für ſich den Kopf ſchüttelte. Denn wozu ein Aufzug, wenn doch das Piano nobile vermietet wurde? Freilich, der alten Exzellenz wurden die Treppen ſchon recht ſauer, aber die Ausgabe, das ſchwere, ſchöne Geld, das ſolch ein Aufzug koſtete! Und Sebaſtiano ſeufzte ſchwer, denn die Ausgaben und finanziellen Schwierigkeiten des Hauſes Terraferma gingen dem treuen alten Diener und Vertrauten aller dieſer Sor- gen ſehr zu Herzen.

Inzwiſchen waren die Angekommenen oben im zweiten Stockwerk angelangt, und Don Gian führte ſeinen Gaſt in die ihm beſtimmten Fremdenzimmer, die unmittelbar an ſein eigenes Schlafzimmer anſtießen, wünſchte ihm eine gute Nacht und zog ſich in ſeine Wohnung zurück. Dort fiel ſein erſter Blick mit einem Schauder des Entſetzens auf die zurechtgeſtellte Flaſche mit Fruchtſaft, die ihm die im Nebenzimmer in tiefem, unnatürlichem Schlafe verbrachte Nacht fo leb- haft wieder ins Gedächtnis zurückführte, daß es ihm ſchien, als wollte die Luft in den geſchloſſenen Räumen ihn erſticken.

Er machte das eine der Fenſter auf, und den Riegel des Ladens zurückſtoßend, wollte er dieſen eben heftig zurückſchlagen, um der Nachtluft, der ſchönen, reinen, ſalzgetränkten Nachtluft Venedigs Eingang zu ver- ſchaffen, als er ſich erinnerte, daß ja das Zimmer, das Roſazimmer, unter ihm bewohnt war und er ein Fenſter drunten offen geſehen hatte. Um alſo den Inhaber dieſes Zimmers nicht in ſeinem Schlafe zu ſtören, legte er die Läden leiſe und vorſichtig zurück und lehnte ſich dann ſelbſt hinaus, um Luft zu ſchöpfen.

Der Mond ſtand hoch am dunkelblauen, ſternen⸗

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geſtickten Himmel und ſtreute Tauſende von ſchimmern- den Goldflittern auf das dunkle, von der Nachtbriſe leichtgekräuſelte Waſſer der Kanäle, die ſich an der Ecke des Palaſtes kreuzten. Kein Ton, kein Klang unter- brach die Stille der weit vorgerückten Nacht, nur das leiſe, leiſe Plätſchern der ſteigenden Flut, wenn das Waſſer ſich an den Ecken der Häuſer brach oder gegen die Marmorſtufen vor den Waſſertoren ſchlug, gab Zeugnis davon, daß alles Leben nicht erſtorben war, machte die tiefe, tiefe Stille nicht laſtend. Don Gians müde, übernächtige Augen folgten dem flimmernden Spiel des Mondlichtes auf dem Waſſer in dem Sad- kanal unter ſich, und im ſelben Augenblick zog ſich ſein Kopf mit einem Ruck zurück. Er hatte unter ſich einen anderen Kopf geſehen, der aus dem Fenſter des Roſazimmers herausſchaute.

Einen Kopf, den Ströme von lichtem Haar um- floſſen, das im Mondſchein wie flüſſiges Platina ausſah.

Leiſe beugte er ſich von neuem hinaus, um dieſes krauſe, metalliſch ſchimmernde Haar noch einmal zu ſehen, weil ihm ein ähnliches noch nie im Leben vor- gekommen war und ihm das Bild der auf der Welt- kugel thronenden Venezia von Paul Veroneſe im Dogen- palafte dabei in den Sinn kam, das auch ſolche Haare hatte. |

In der kleinen Pauſe aber, die zwiſchen feinem erſten und zweiten Herauslehnen aus dem Fenſter lag, hatte ſich das Bild unter ihm verändert: zwei weißbekleidete Arme hatten ſich mit ineinandergeſchlungenen ſchlanken, weißen Händen über die Fenſterbrüſtung geſtreckt, und der Kopf mit der Flut metalliſch ſchimmernden Blond- haares hatte ſich müde darauf geſtützt. Das Haar, auf das der Mond gerade ſchien, legte ſich wie ein Mantel halb über die rechte Schulter ſeiner Beſitzerin, ſo daß

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von oben von ihrem Profil nichts zu ſehen war; aber Don Gian fürchtete, daß durch einen Blick unter dem ſchimmernden Schleier zu ihm ſelbſt heraufgeſehen werden könnte, und lautlos zog er ſich wieder zurück.

„Solches Haar! Ich hätte nie geglaubt, daß es ſolches Haar geben könnte, das Haar der ‚Venezia‘ des Veroneſe!“ dachte er lächelnd zum erſten Male lächelnd ſeit ſeit er mit ſeiner Schweſter geſprochen. Ob's dieſes Lächeln war, ob ein Zauber von dieſem mondlichtbeleuchteten Haar ausging, das den eiſernen Bann brach, der ihm Herz und Seele umklammert hielt, er wußte es nicht und fragte auch nicht danach. Ohne den im Nebenzimmer bereitſtehenden Imbiß zu berühren, kleidete er ſich raſch aus, legte ſich zu Bett, und der Schlaf völligſter Erſchöpfung rettete ihn in das traumloſe Land der zur dringenden Notwendigkeit ge- wordenen Erholung hinüber.

* * *

Als Gian die Augen wieder aufſchlug mit dem Unter- bewußtſein, daß irgend eine gegenwärtige Perſon wegen irgend einer Pflicht ihn geweckt, war es heller Tag, aber ſpät konnte es noch nicht ſein, denn die Sonne war noch nicht über das gegenüberliegende Ge- bäude geſtiegen.

„Eh?“ machte er erſtaunt, als feine noch halb ge- ſchloſſenen Augen von dem offenen Fenſter an das Fußende ſeines Bettes glitten, denn dort auf dem davorſtehenden Stuhl ſaß Doktor Windmüller, die Hände überm Knie gefaltet, und ſah ihn wohlwollend an.

„Es tut mir ſehr leid, lieber Herr Marcheſe, Ihnen den ſo notwendigen Schlaf verkürzen zu müſſen,“ ſagte er mit ſeinem wohlmodulierten Organ, das auch ein Vorrecht oder eine Errungenſchaft der Bildung iſt. „Da

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Sie aber die ſchlechte Gewohnheit haben, bei offenen Türen zu ſchlafen —“

„Warum hätte ich fie denn zuſchließen follen?“ unter- brach ihn Don Gian, im Bette aufſitzend. „Ich habe ja heute nichts bei mir, was mir hätte geſtohlen werden können! Schlimm genug, daß ich für eine Nacht in meinem eigenen Hauſe das Gefühl der Notwendigkeit hatte, mich gegen eine eigene Verwandte verrammeln zu müſſen mit welchem Erfolge, wiſſen Sie ja! Ich hätte ebenſogut, vielleicht ſicherer, auf offener Straße ſchlafen können.“

„Vermutlich ſicherer im Eiſenbahnwagen,“ gab Wind- müller unumwunden zu. „Aber die Gewohnheit des Schlafens bei offenen Türen iſt doch eine ſchlechte, ſelbſt im eigenen Hauſe. Beſonders in Ihrem Falle. Indes, das war nur eine Nebenbemerkung, eine pädagogiſche Abſchweifung. Alſo, ich fand Ihre Tür offen ſie war nicht einmal eingeklinkt und trat ein, um Sie zu wecken. Es ift noch früh am Tage, wenigſtens für Leute, die nichts zu tun haben; weil wir aber in Ge- ſchäften hier find, die uns über die notwendigſte Raft nicht erlauben hinauszugehen, ſo mußte ich mir die Freiheit ſchon nehmen. Der anſtoßende Raum ift Ihr Wohnzimmer, nicht wahr? Und vor dem großen runden Tilh ſchliefen Sie Ihren verhängnisvollen Schlaf, wenn mir recht iſt. Hm. Zeit iſt nicht nur Geld, lieber Herr Marcheſe, ſondern auch Wiſſen. Wäh- rend Sie ſich alſo anziehen, werde ich die Topographie Ihres Wohnzimmers ſtudieren die des Vorraums für Ihr Schlafzimmer habe ich ſchon, allerdings nur oberflächlich, in Augenſchein genommen. Nein, be- mũhen Sie den Diener nicht, ich werde die Fenſterläden ſelbſt öffnen. Übrigens ſind dieſe Patenttürſperrer, deren Sie ſich bedienten, noch verbeſſerungsfähig, denn

o Roman von E. v. Ablersfeld-Balleftrem. 71 ſie haben, wie ich wenigſtens an der Tür dort ſebe, das Holz leicht verkratzt.“

„Ich war wohl beim Abnehmen ein wenig haftig in der Aufregung es iſt meine Schuld,“ murmelte Don Gian, der ſich durch ſeinen Gaſt etwas geniert fühlte, nachdem er heroiſch einen inneren Proteſt über deſſen ungeniertes Eindringen in ſein Schlafzimmer unter- drückt hatte.

„Ah ja, natürlich Sie mußten ja ſelbſt die Dinger wieder entfernen, die ſonſt entſchieden einen Einbrecher ſtark aufgehalten hätten,“ meinte Windmüller, der in- zwiſchen aufgeſtanden war und die Augen in dem Schlafzimmer herumſchweifen ließ. „Die Bettitelle iſt ſchwer ſie ließe ſich ſelbſt von einer kräftigen Frau nicht ohne Anſtrengung und Geräuſch abrücken, weil die Füße, die ſehr niedrig ſind, keine Rollen haben,“ bemerkte er, das Möbel prüfend anſehend.

Don Gian machte eine abwehrende Bewegung. „Ich habe das Bett abrücken laſſen, um nachzuſehen, ob darunter, dahinter oder daneben jemand eindringen könnte,“ verſicherte er lebhaft. „Ich fand nur glatten, undurchbrochenen Steinboden, ſolide Wände, glatt mit der Tapete beſpannt, die Sie im ganzen Zimmer ſehen. Nichts nichts, was auch nur den Verdacht, hier möchte eine verborgene Tür ſein, erwecken könnte.“

„Und die Tür, die in mein Schlafzimmer geht, trägt, wie ich ſehe, noch den Patentſperrer,“ ſagte Wind- müller, der den verhüllenden Vorhang zurückgeſchlagen hatte. „Überdies habe ich ſchon von meiner Seite feſtgeſtellt, daß die Tür ſehr lange nicht mehr geöffnet worden iſt,“ fuhr er fort. „Es liegt Staub auf der Schwelle jenſeits der geſchloſſenen Flügel, alter, un- berührter Staub. O ja, mangelhaft aufräumende Stubenmadchen haben ſchon oft geholfen, ſolch wichtige

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Dinge zweifellos feſtzuſtellen. Auch fand ich an der ganzen Wand nichts, was darauf ſchließen laſſen könnte, daß ſie vielleicht den Vermittler geſpielt. Aha, und dort ſteht auch die Saftflaſche, deren Sie erwähnten diesmal unberührt, wie ich ſehe. Ich vermute, es wird Zeit brauchen, bis Sie ſich wieder überwinden werden können, Saft aus ſolch einer Flaſche in Ihr Sodawaſſer zu gießen fo etwas bleibt lange an einem hängen, kann einem den unſchuldigſten Genuß gründ- lich verleiden. Ah, was haben wir denn da?“ unter⸗ brach er ſeine Betrachtung, die dem armen jungen Diplomaten die ganze Bitterkeit feines Erlebniſſes zurückbrachte.

Mit Verwunderung ſah er dem berühmten Manne zu, wie dieſer ſich neben dem Tiſchchen, auf dem das Tablett mit den Flaſchen und dem Glaſe, der Zucker-, ſchale und der diesmal nicht fehlenden Zitrone ſtand, auf die Knie niederließ und den Boden von glatter, bunter Breccia, dem zuſammengeſetzten Marmorguß, aus dem die Fußböden hergeſtellt werden, mit tief herabgebeugtem Kopfe betrachtete, denn der große, türkiſche Teppich, der das Zimmer bedeckte, ließ rings um die Wände einen faſt meterbreiten Streifen frei, auf dem die Kaſtenmöbel und eben der erwähnte Tiſch ſtanden. Don Gian konnte um die Welt nicht ſehen, was Doktor Windmüller dort zu betrachten fand, aber er hatte doch ſchon etwas über die verſchiedenen Me- thoden von Oetektiven gehört, und vermutete alfo feinen Gaſt nicht mit Unrecht auf einer ſogenannten „Spur“.

„Nein,“ beantwortete der letztere laut dieſen Ge- danken. „Nach dem, was wir wiſſen, iſt das keine Spur mehr, ſondern einfach eine Beſtätigung. Können Sie von dort aus dieſen matten Fleck auf der glänzenden Breccia ſehen? Er iſt etwa ſo groß und rund wie ein

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Liraſtück. Gut. Nun, wenn wir noch nicht wüßten, daß Ihnen in jener Nacht mit dem Fruchtſaft ein Schlaf- trunk beigebracht worden iſt, wenn noch ein Zweifel darüber wäre, dann würde dieſer Flecken uns helfen. So wird er uns jedenfalls ſagen können, womit man Sie unſchädlich gemacht hat. Der Fleck hier iſt ein Tropfen, ein großer, reichlicher Tropfen, der unbeachtet beim Einfüllen des Schlafmittels daneben gefallen und ſpäter beim Reinigen des Zimmers unbeachtet geblieben iſt. Zimmermädchen, lieber Herr Marcheſe, beachten gemeinhin nur das, was ſie nichts angeht. Der Tropfen iſt ziemlich dick an den Rändern und nach der Mitte konkav, alſo beſteht er aus einer dickflüſſigen Maſſe, die, wie ich ſehe, noch nicht ganz trocken, ſondern noch ziemlich zähe iſt.“

Windmüller zog ein Taſchenmeſſer mit vielen Klingen hervor, klappte von dieſen eine lange, ſehr dünne auf, hob damit den Tropfen von dem glatten Grunde ab, ſtrich die Maſſe auf ein Stückchen weißes Pergamentpapier, das er aus ſeiner Brieftaſche nahm, faltete das Papier ſorgfältig zuſammen und ſteckte es zu ſich. |

„Ich vermute, es iſt eine ſirupartige Chlorallöſung, was ja auch der brennende Geſchmack, deffen Sie er- wähnten, beſtätigen würde,“ ſagte er, das Meſſer mit dem Taſchentuche reinigend. „Viel Wert, es zu er- fahren, hat das ja nicht mehr, indeſſen wer weiß? Man ſoll den Pfennig, den man am Wege findet, nicht liegen laſſen, denn er fehlt dann am Ende, um den Taler voll zu machen. So, und nun verlaſſe ich Sie, damit Sie aufſtehen können. Was das für eine auffallend dicke Wand zwiſchen Ihren beiden Zimmern iſt! Ich meine, ſie ſei viel dicker als die, die Ihr Schlafzimmer von dem meinen trennt.“

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„Glauben Sie?“ fragte Don Gian zweifelnd. „Mir iſt in in jener Nacht eigentlich zum erſten Male dieſe tiefe Türniſche aufgefallen —“

„Ja fie ift tiefer wie zum Beiſpiel jene, die in das jenſeitige Zimmer führt,“ beſtätigte Windmüller. „Ich ſchätze natürlich nur nach dem Augenmaß. Alſo entweder ift diefe enorm dicke Wand eine architektoniſch- techniſche Notwendigkeit geweſen, oder ſie hat einen anderen Zweck —“

„Das war auch meine Idee,“ fiel Don Gian ein. „Aber dann würde ſie oder die Holzverſchalung des Türdurchbruchs hohl klingen. Ich habe überall ver- ſucht es iſt alles ſolides Mauerwerk!“

„Es ſcheint ſo,“ bemerkte Windmüller, mit dem Taſchenmeſſer die hölzernen, mit ſchönſter Intarſia- arbeit verzierten Paneele zwiſchen den Türrahmen be- klopfend, mit geübten Fingern Ritzen befühlend und dem eingelegten Muſter folgend, hie und da auch feſt darauf drückend. „Es ſcheint wirklich alles in Richtig keit, womit natürlich das letzte Wort noch nicht ge- ſprochen fein foll. Wir wollen fpäter darauf zurück- kommen. Und jetzt laffe ich Sie allein.“ |

Don Gian beeilte ſich mit feiner Toilette und trat nach ihrer Beendung in ſein Wohnzimmer, in dem er Windmüller am offenen Fenſter ſtehend vorfand.

„Oh,“ machte er mit einem Blick auf den unberührt auf dem Tiſch ſtehenden Imbiß, „da haben Sie bei meiner verſchmähten Mahlzeit von geſtern abend ſein müſſen! Wie ekelhaft das kalte Fleiſch doch gleich aus- ſieht, wenn es der Luft ausgeſetzt war und den Fliegen! Wollen wir zum Frühſtück in den Speiſeſaal hinübergehen, oder wünſchen Sie es hier ſerviert?“

„Hier, wenn es Ihnen recht iſt,“ erwiderte Wind- müller. „Dieſe dicke Wand dort intereſſiert mich

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ich hoffe noch auf eine Inſpiration durch ſie. Ja. Ja, und noch eines: ich möchte gern den Koffer ſehen, den Ihre Frau Schwägerin hier zurückgelaſſen hat. Macht es Mühe, ihn hierher zu bringen?“

„Durchaus nicht,“ verſicherte Don Gian, indem er läutete und dem alsbald erſcheinenden Diener ſeine Befehle gab.

Während der Mann abräumte und bis das Frühſtück kam, redete Windmüller nur von allgemeinen Dingen, er ſtreifte mit einigen ſcheinbar unweſentlichen Fragen die Topographie des Palaſtes und feiner Umgebung, und fein Frühſtück methodiſch und ohne Haft. Wäh- rend desſelben wurden ihm zwei Telegramme über- geben, die er, nachdem er ſie geleſen, ſeinem Wirte über den Tiſch (hob. Das eine von dem Miniſter ent- hielt die Mitteilung, daß über den Verbleib des Doku- ments noch nichts bekannt und eine beunruhigende Nachricht nicht eingelaufen fei; das andere von Wind- müllers Agenten berichtete, daß Donna Kenia in Rom immer noch nicht angekommen und man ohne jede Nachricht von ihr ſei. | |

„Das wären nun, rund gerechnet, ſechsunddreißig Stunden, feit die Botin mit ihrem Naube fällig ift die Zeit ungerechnet, die fie zur Reife gebraucht hätte,“ beantwortete Windmüller den beunruhigten Blick des Diplomaten. „Die Annahme, daß noch etwas mit dem Dokument beabſichtigt und in Vorbereitung iſt, wird damit noch nicht hinfällig, denn es können ja uner- wartete Gründe zu der Verzögerung eingetreten ſein. Anderſeits iſt es aber auch möglich, daß eine Attacke auf die Agentin inſofern mißglückt ift, als diefe viel- leicht noch in der Lage war, das koſtbare Schriftſtück zu verbergen oder zu vernichten, ehe ſie das Opfer eines Anſchlages darauf wurde. Das ſind aber alles

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nur Theorien, Herr Marcheſe. Ah,“ unterbrach er ſich, „da kommt der Koffer. Ja, laſſen Sie ihn nur auf den erſten beſten Stuhl ſtellen!“

Windmüller hielt fich bei feinem Frühſtück nicht mehr auf, nachdem der Diener den eleganten Handkoffer von dunkelrotem Juchtenleder niedergeſtellt und ſich entfernt hatte. Haſtig trank er ſeine Taſſe aus, zog den Stuhl, darauf das Kofferchen niedergeſtellt war, neben den ſeinen und prüfte das Schloß.

„Zugeſchloſſen!“ ſtellte er feft. „Den Schlüſſel hat die Beſitzerin mitgenommen, ſetze ich voraus. Ganz richtig, ſie hat den Koffer gepackt, ehe ſie ſich entfernt und Sie haben ihn ſo vorgefunden, wie er hier iſt. Hm. Das Schloß ift gut, aber zum Glück nicht un- überwindlich. Ordentliche Handarbeit dieſer Koffer. Ruſſiſche Arbeit ſchätze ich.“

Damit zog er aus der Weſtentaſche einen kleinen, flachen Haken, ſchob ihn in den ſchmalen Schlüſſelritz des Patentſchloſſes ein und klappte im nächſten Augen- blick den Koffer auseinander, aus dem der feine und doch ſo ſchwere, ſchwüle, exotiſche Duft von Gardenien herausſtieg und faſt das ganze Zimmer erfüllte.

„Per Bacco! War das nötig?“ fuhr Don Gian auf.

Jetzt mußte Windmüller lachen. „Ich meine ſchon, daß es nötig war, da meine Augen ja leider keine X -Strahlen find, die den Inhalt eines Juchtenkoffers durchleuchten können! Wenn Sie mir das aber zu- getraut haben, fo danke ich Ihnen für dieje hohe Mei- nung meiner Fähigkeiten.“

„Pardon!“ murmelte Don Gian beſchämt. „Es iſt nur, weil es für unſereins ſo ungewohnt iſt, fremder Leute Eigentum zu zu —“

„Durchſtöbern,“ half Windmüller ein. „Meine Privatleidenſchaft iſt das auch nicht, aber im Namen

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des Geſetzes, das mich beauftragt, darf man ſich nicht mit ſolchen Bedenken aufhalten.“

„Glauben Sie, daß meine Schwägerin ihren Naub hier in dieſem Koffer —“

„Hm, es wäre das eine kühne Idee geweſen, frei von dieſem gefährlichen Schatz die Reife zu machen und ſich ihn harmlos in dieſem Köfferchen nachſchicken zu laffen!“ meinte Windmüller. „Eine kühne Idee, die ins Konverſationslexikon zu kommen verdiente. Nein, ich glaube nicht, daß wir das Dokument hier finden werden, aber vielleicht doch ein paar nützliche Winke. Laſſen Sie uns nachſehen. Dieſe Abteilung enthält ein ſchwarzes Kleid, wie ich meine, ein, Traum“ von ſpinnwebdünnem Florſtoff mit Pailletten geſtickt.“

„Das trug ſie an dem Abend, als ich in Venedig eintraf,“ rief Don Gian.

„Ah ſo! In dem Täſchchen der Klappe des anderen Abteils iſt, wie Sie ſehen, Briefpapier, ein paar Bogen nur und paſſende Umfchläge. Sonſt nichts? Nein. Gehen wir weiter. Das verſchloſſene Abteil enthält was? Ein unbenütztes Nachthemd unbenützt! Sie hatte alſo gar nicht die Abſicht, hier zu ſchlafen. Kämme, Bürſten, Handſpiegel von getriebenem Silber und Elfen- bein Taſchentücher, davon einige benützte in die Ecken geſtopft einen Spitzenſchal, ſeidene Strümpfe was man ſo für einen kurzen Ausflug braucht. Nichts weiter. Doch! Hier in dieſem gebrauchten Taſchentuch iſt etwas Hartes eine Flaſche! Eine ganz gewöhnliche, leere Apothekerflaſche, ohne Etikette, ſogar ohne Stöpſel, Inhalt hundertfünfzig Gramm. Und ein kleiner Reit ihres ehemaligen Inhalts noch auf dem Boden —“

Windmüller ließ von dem kleinen Neft, der langſam floß, ein paar Tropfen auf ſeinen Handrücken fallen und koſtete davon.

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„Pfui Teufel!“ machte er. „Wiſſen Sie, was das ift, Herr Marcheſe? Eine febr ſtarke Chloralhydrat- löſung! Glauben Sie, daß Donna Xenia die ſelbſt gebraucht hat? Ich nicht. Chloralhydrat nimmt man, um ſchlafen zu können, was ſie doch nicht vorhatte. Hm. Wenn die Flaſche hier voll war, als fie den In- halt in Ihre Fruchtſaftkaraffe ausleerte, dann wundert es mich nicht, daß Sie von der genoſſenen Portion wie ein Siebenſchläfer geſchlafen haben! Ein Glück nur, daß Sie nicht noch eine zweite Gabe nachſtürzten, ſonſt hätten Sie das Aufwachen ohne Schwierigkeit ganz vergeſſen können! Ein recht nettes Kapitel, ‚Ihwägerlihe Fürſorge“ betitelt. Na, dafür iſt's noch gnädig abgelaufen! So, dieſe Abteilung hat uns ſonſt weiter nichts zu fagen. Laſſen Sie uns nun ein- mal das Kleid betrachten. Es ift ordentlich zufammen- gelegt. Wenn ich's ſo nicht wieder hineinbringe, kann ich nicht helfen. Hm. Ceſarina würde dies Gebilde wohl auch einen „Traum“ nennen, trotzdem der Saum mitſamt dem des ſeidenen Untergewandes recht ſtarke Spuren des Gebrauchs zeigt. Sehr intereſſante Spuren! Wofür halten Sie dieſen Schmutz, Herr Marcheſe?“

„Für Staub, dicken Staub,“ erklärte Don Gian, der noch mit einem gewiſſen Übelkeitsgefühl kämpfte, das die leere Flaſche und Windmüllers Kommentar dazu in ihm wachgerufen hatten.

„Staub!“ entgegnete der Detektiv energiſch. „Ja, es iſt Staub, gewiß, aber vermoderter, verrotteter Staub, den kein Beſen, keines Menſchen Schritt ſeit Generationen aus feiner Ruhe geſtört! Und Donna Kenia hat ihn mit ihrer eleganten, glitzernden, ſchwarzen Chiffonrobe mitgenommen, ehe ſie ſich anſchickte, den Palaſt zu verlaſſen das ift ſehr verdächtig, nicht wahr? Weil es verrät, daß ſie auf einem nur ihr bekannten,

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verborgenen Wege in Ihr Zimmer drang, wahrſchein- lich in der Zeit, während Sie bei Ihrer Schweſter waren, um Ihnen den Trank für die Nacht zu mifchen. Und ſehen Sie das Spinngewebe, das hier in dieſer Nanke der Paillettenſtickerei hängen geblieben iſt? Daran ſind Ihre Zimmermädchen unſchuldig: es iſt ſchwer, zum dichten Stoff geworden durch denſelben vermoderten Staub, den der Saum des Kleides zuſammengefegt hat. Eine ſehr intereſſante Dame, Ihre Frau Schwä- gerin, und abſolut ſkrupellos. Es wäre ganz logiſch, wenn ihr ein gleich ſkrupelloſer Gegner gegenüber- getreten wäre und ich fürchte, daß dies ihr Schickſal war!“ |

Don Gian fab wie im Traume zu, während Wind- müller das Kleid in den Koffer hineinſtopfte und dieſen dann mit ſeinem Patentſchloßdietrich wieder zuſchloß. „Aber ich muß wiſſen, wie ſie hier eingedrungen iſt!“ rief Don Gian, ratlos die vier Wände betrachtend.

„Das hat Zeit, Herr Marcheſe. Es iſt jetzt viel weſentlicher, zu wiſſen, wie ſie aus dem Hauſe hinaus- gekommen iſt. Iſt es Ihnen recht, wenn wir jetzt gleich einmal die Topographie des Palaſtes ſtudieren? Wenn Sie aber jetzt lieber oben bleiben, kann ich das unter der Führung Ihres Majordomo auch allein beſorgen.“

„Nein, nein ich begleite Sie natürlich!“ raffte Don Gian fih aus feinem Hinbrüten auf. „Ich bin als Knabe in dem großen Haufe überall berum- gekrochen und weiß annähernd Beſcheid darin, aber ich denke, wir nehmen Sebaſtiano dennoch mit, denn dieſe alten Diener kennen die Traditionen oft beſſer als ihre eigene Herrſchaft, die dafür leider wie zum Beiſpiel ich den Sinn, das Gedächtnis und das Intereſſe für ſolche Dinge nicht hat. Meine Entſchuldi- gung, wenn's dafür gelten kann, iſt, daß ich ja bis vor

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einem Fahre der jüngere Sohn, nicht der Erbe war, früh aus dem Haus kam, um zu ſtudieren und einen Beruf zu ergreifen. Mein Bruder kannte die Geſchichte unſeres Hauſes nicht nur aus dem Grunde, ſondern auch die des Palaſtes, ſeiner Legenden und vielleicht auch ſeiner Geheimniſſe. Ich bin überzeugt, daß dieſes alte Haus ſolche hat, denn alle unſere Paläſte haben ſie, trotzdem man das heute gern ins Reich der Märchen ver- weiſen möchte.“

„An die die Leugner nur darum nicht glauben, weil ſie nie etwas anderes als die nüchterne Luft ihrer reizloſen Miethäuſer eingeatmet und gekannt haben,“ fiel Windmüller ein. „Die Geheimniſſe der alten Paläſte ſind eine ganz logiſche Folge der Zeiten, die über ſie hingegangen ſind: ſie waren genötigt, Geheim- niſſe zu haben. Manche werden von ſpäteren Gene- rationen entdeckt, die meiſten bleiben, was ſie waren Geheimniſſe. Als ob unſere Generation keine hätte! Das weiß niemand beſſer als ich, deſſen Beruf es iſt, gelegentlich eines oder das andere ans Licht zu bringen.“

Die Herren waren inzwiſchen hinausgetreten und die Treppe zum erſten Stockwerk hinabgeſtiegen, wo Sebaftiano mit einem großen Schlüſſelbunde bewaffnet auf den ſchon vorher erteilten Befehl ſeines Herrn hin wartete.

„So iſt's recht,“ ſagte Windmüller, den Mann freund- lich grüßend. „Dieſe Schlüſſelſammlung verſpricht ja eine kleine Reiſe. Zeigen Sie uns nur alles, Signor Majordomo, ganz beſonders aber verborgene Gelaſſe und Winkel, die man, ohne die Zimmerflucht zu ſtören, etwa für den hm Perſonenaufzug benützen könnte.“

„Zu Befehl, Signor,“ erwiderte Sebaſtiano, indem er den Marcheſe mit einem Blick anſah, der eine Welt

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von Vorwurf ausdrückte. Dann räuſperte er ſich und ſagte reſpektvoll, aber mit Entſchloſſenheit: „Wollen gnädigſt entſchuldigen, wenn ich mir erlaube daran zu erinnern, daß der Herr Architekt, der im vorigen Jahre wegen des Aufzuges hier war, die Niſche neben der Treppe in der Halle für ſehr geeignet erklärte, weil die Decken bis zum Oberſtock ſich auf dieſer Stelle leicht durchbrechen laffen, ohne daß die Zimmer dadurch ge- ſtört werden. Es würde in jedem Stock nur ein Teil der dunklen Garderoben fortfallen. Der Herr Architekt meinten, den Aufzug in dem ganz unbewohnten Nord- trakt anzubringen, hätte wegen der damit verbundenen Unbequemlichkeit für die Herrſchaft keinen Zweck.“

„Das wollen wir eben nachprüfen,“ entgegnete Windmüller ruhig.

Was der letztere aber mißverſtanden, hatte Don Gian aus Sebaſtianos Blick ſofort begriffen. „Was hut dir die Marcheſa, meine Großmutter, über den Beſuch des Herrn hier geſagt?“ fragte er, als ſie das erſte der aufzuſchließenden Gelaſſe betreten hatten, in- dem er dem Manne die Hand auf die Schulter legte.

Aber das glattrafierte Geſicht des alten Dieners ging es wie Wetterleuchten von widerſtreitenden Ge- fühlen. „Don Gian wollte fagen Herr Marcheſe,“ ent- gegnete er nach einer Pauſe der Unentfchloffenbeit, „Ihre Exzellenz haben mir eigentlich nichts geſagt, weil ſie ſelbſt nicht wußten, was der Signor hier wollten. Aber Eccellenza haben mich oft mit Ihrem Vertrauen beehrt und ließen durchblicken, daß der Signor wahrſcheinlich wegen der Abreiſe der Frau Principeſſa herkämen. Altezza ſeien nämlich nicht in Rom eingetroffen, geruhten Eccellenza mir vertraulich mitzuteilen. Ich habe natür- lich niemand etwas davon mitgeteilt. Die Angelegen- heiten meiner Herrſchaft ſind gut bei mir aufgehoben

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und Eccellenza wiſſen das. Bene. Als nun der Signor geſtern abend bei der Ankunft ſagten, er käme wegen des Aufzuges, dachte ich im Augenblick auch nichts anderes, dann aber überlegte ich mir, daß der Herr Marcheſe wegen dieſer Sache die Neiſe von Rom zweimal in ſechsunddreißig Stunden nicht machen würden, indem der Herr Marcheſe doch Ihren Beruf haben. Alſo, dachte ich mir, wenn ich den fremden Signor in dem Teil des Palazzo herumführen ſoll, wo höchſtens die Ratten einen Aufzug brauchen, ſo werden ſchon Eccellenza wohl recht haben, und der Herr Marcheſe hätten dem alten Sebaſtiano, der ihn als Kind auf den Armen herumgetragen hat, ein klein wenig mehr Vertrauen ſchenken können.“

Zu Windmüllers Entſetzen umarmte Don Gian den Majordomo kurzweg und rief, ehe ſein Gefährte ihm noch ein Zeichen machen konnte: „Du haft recht, mein Alter alles Vertrauen will ich dir ſchenken! Ja, der Signor Dottore hier iſt gekommen, um zu erfahren, was aus Donna Kenia geworden iſt —“ Wpardon,“ fiel Windmüller, vor Ungeduld in die Hände ſchlagend, ein, „meinen Sie nicht, Herr Mar- cheſe, daß wir dieſe dieſe Dinge beſſer etwas leiſer beſprächen? Soweit ich mich orientiere, ſtößt dieſer Naum, in dem wir ſtehen, direkt an die Zimmerflucht an, die geſtern von ſtockfremden Menſchen mietweiſe bezogen worden ſind. Zum mindeſten geht dieſe Leute doch nichts an, was Sie und mich nach Venedig ge- bracht hat nicht wahr?“

Her Bacco! An diefe fremden Leute habe ich nicht mehr gedacht!“ rief Don Gian überraſcht aus. „Wie ſollte ich auch? Sie ſind eine ſolche Neuheit hier im Hauſe! Aber wie ſollten ſie uns hier gehört haben? Neben dem Roſazimmer liegt zwiſchen ihm und dem

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Saal, in dem wir ſtehen, ein ziemlich großer Raum, deſſen Türen mit ſchweren Samtvorhängen verſehen ſind, die den Schall abſolut dämpfen —“

„Wenn ſie zugezogen ſind,“ murmelte Windmüller grimmig.

„Und die Tür iſt abgeſchloſſen hier iſt der Schlüſſel,“ ſagte Sebaſtiano. „Ich habe alles nach- geſehen und beſorgt, ehe die fremden Herrſchaften ein- zogen. Sie haben gerade die Hälfte der Räume zehn im ganzen, aber ihr Teil iſt größer, weil ja der große Saal über der Halle dabei iſt. Ebbene, der Signor Dottore ſoll den unbewohnten Teil ſehen, wie er es wünſcht. Es gibt darin ein paar ſehr gut und geſchickt verſteckte Kammern zur Aufbewahrung von Koſtbar- keiten und als Verſtecke, das ift richtig, aber als Aus- gang kann die Signora Principeſſa ſie nicht benutzt haben gewiß nicht!“

„Das eben wollen wir feſtſtellen,“ erwiderte Wind- müller, der inzwiſchen den Fußboden in dem Saal, in dem ſie ſtanden, einer genauen Prüfung unterzogen hatte. Er war, wie die Zimmer alle, von Breccia“), ungewichſt, jedoch ganz ſtaubfrei. „Es iſt hier unlängſt ausgekehrt worden,“ bemerkte er, fich in dem nur ſpär- lich möblierten Naum umſehend, wie nebenbei.

„Ich habe reinmachen laſſen, als ich geſtern zuſah, ob die Tür nach der vorderen Flucht auch abgeſchloſſen fei,“ erwiderte Sebaſtiano und ſetzte achſelzuckend hinzu: „Sie war natürlich zu.“ |

„Natürlich!“ murmelte Windmüller. „Sind die anderen Zimmer auch reingemacht worden? Ich meine die nichtvermieteten.“

„Nein, Signor

wenigſtens jetzt nicht,“ erklärte

*) Marmorguß.

nn

84 Das Rofazimmer. o der Majordomo bereitwilligſt. „Es kommt das ganze Jahr kein Menſch hier herein,“ fuhr er entſchuldigend fort, „für wen ſollte man da immerzu ein Heer von Leuten beſchäftigen? Zwei-, dreimal im Jahre wird alles nachgeſehen und geputzt und gelüftet ja, zu Zeiten des Herrn Marcheſe Federigo, Don Gians Groß- vater, da wurden noch Feſte, große Feſte im Palazzo Terraferma gegeben, Feſte, von denen die Leute in ganz Venedig ſprachen, und da waren alle dieſe Zimmer und Säle offen, und man hatte alle Hände voll zu tun, um ſie in Ordnung zu halten. Aber ſchon der Herr Marcheſe felig ich meine Don Gians Vater waren ja nur ſelten hier, und Don Pietro vielmehr die Frau Principeſſa hat es ja länger als ein paar Tage hintereinander in Venedig nicht ausgehalten. Die fremde Herrſchaft hätte dieſe Hälfte des Piano nobile auch noch mieten follen, dann wäre fie bewohnt geweſen, und das iſt gut gegen Mäuſe, Motten und Moder.“

Sebaſtiano war, während er mehr vor ſich hin als zu den anderen redete, vorausgegangen und öffnete die Fenſterläden. Das ſelten in dieſe Zimmerreihe eingelaſſene Tageslicht machte fie aber nicht freund- licher, ſondern beleuchtete nur ihre Verlaſſenheit, die ihnen durchweg den Stempel aufdrückte, um ſo mehr als diefe Flucht wohl immer nur der Repräjentation gewidmet geweſen war. Dementſprechend war die Ein- richtung auch nur die, wie man ſie in ſolchen Räumen zu ſehen gewohnt iſt: Sofa, Lehnſtühle und Taburette an den Wänden aufgereiht, mit Marmorplatten verſehene Konſoltiſche zwiſchen den Fenſtern, hie und da ein koſtbar eingelegter und geſchnitzter Schrank, ein paar Gueridons, ein paar Poſtamente mit Bronze- oder Marmorbüſten darauf, an den mit gepreßten Leder- tapeten oder Seidendamaſt beſpannten Wänden große,

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ſtark nachgedunkelte Gemälde, da und dort ein Spiegel in geſchliffenem Glasrahmen, und von den Degen, die noch zumeiſt die urſprünglichen dekorierten Balken auf- wieſen, hingen Glaslüſter von Murano herab. Die hohen, ſchmalen Spitzbogenfenſter mit ihrer arabifieren- den Form venezianiſcher Gotik, die allen liebevoll be- obachtenden Freunden der Lagunenſtadt ſo vertraut iſt, ließen von Oſten und Norden nur ein ſpärliches Licht in dieſe verlaſſenen Räume durch halberblindete Fenſterſcheiben fallen, und auf den teppichloſen fteiner- nen Böden ſchallten die Schritte der drei Männer wie eine Entweihung der Grabesruhe und weckten allent- halben leiſe, geiſterhafte Echo auf.

Doktor Windmüller hatte nur flüchtige, wenn auch alles umfaſſende Blicke für die Einrichtung der Räume; er ſchien auch nur ein ganz geringes Zntereſſe für die verborgenen Kämmerchen und Winkel zu haben, die Sebaſtiano mit Wichtigkeit zeigte feine Aufmerk- ſamkeit galt vor allem den ſteinernen Böden, auf denen wie ein ganz feiner, dünner Schleier die Staubſchicht lag, die ſich ſeit der letzten Reinigung mit dem Beſen darauf angeſammelt. |

In Venedig gibt es den Staub der Städte nicht, in denen der Straßenverkehr die Lungen der Einwohner mit Bazillen und Bakterien füllt; man kann dort tage- lang umherlaufen, ehe die Schuhe den Glanz verlieren. Aber natürlich wird auch der verrottende Kehricht in den Callen und auf den Plätzen zu Staub und der Wind trägt ihn in die Häuſer, und wenn ihm Zeit gelaſſen wird, ſich zu ſetzen, dann wird er zu der feinen, fchleier- artigen Patina, die den alten Spiegeln und Lüſtern von Murano, den Vergoldungen und Skulpturen das „cachet“ der Zeit verleiht, das dem Auge des Lieb- habers und Kenners ſo lieb und wert iſt.

80 Das Roſazimmer. | | ü

„Rein,“ fagte Windmüller, als fie, aus den wenigen weſtlichen Zimmern zurückgekehrt, in den großen Saal traten, der den Hauptteil der Nordfront einnahm, „nein, Donna Kenia hat, welchen Ausgang ſie auch gewählt, dieſe Zimmer dazu nicht berührt. Es iſt nicht eine Stelle des Fußbodens, die darauf ſchließen ließe, denn der wenige Staub, der in den zwei Tagen darauf ge- fallen iſt, würde nicht hinreichen, ihre Spuren zu ver- wiſchen. Wenigſtens hier in Venedig nicht und oben- drein in Räumen, die fo abgeſchloſſen find wie diefe. Wir müſſen uns alſo anderswo nach einem Ausgang umſehen, denn es ſteht außer jedem Zweifel, daß Donna Kenia einen ſolchen gekannt kennt und benützt hat.“

„Mit Verlaub, Signor warum ſteht das außer Zweifel, wenn die Signora Principeſſa doch nur den Agoſtino zu wecken brauchte, um durch die Tür hinaus- zugehen, die ſie zu benützen wünſchte?“ fragte der Majordomo.

„Hm da fie das aber niht getan hat, fo haben jedenfalls gute Gründe ſie bewogen, dieſen einfachen Weg nicht zu wählen,“ erwiderte Windmüller trocken. „Und da die Signora Principeſſa ſich auch nicht gut faſt drei Tage lang ohne jede Nahrung im Hauſe ver— bergen kann, ſo liegt es ganz nahe, daß ſie es eben auf einem nur ihr bekannten Wege verlaſſen hat —“

„Wozu aber auch eine Tür gehört,“ warf Don Gian achſelzuckend ein.

„Oder ein Fenſter!“

„Signor Dottore, die Fenſter im n erſten Stock waren alle geſchloſſen und die des Erdgeſchoſſes ſind ſämtlich vergittert!“ rief Sebaſtiano, über die Hartnäckigkeit des Gaſtes in ſeinem Innern empört. „Bleiben nur noch die Keller auf den Landſeiten doch dort kommt keine

2 Roman von E. v. Adlersfeld-Balleſtrem. 87

Ratte hinaus, wenn fie einmal drin ift. Proprio! Mein Großvater ſelig, der ſchon Majordomo im Palazzo Terraferma war und uns Kindern oft davon erzählte, wie herrlich es zu ſeiner Jugend darin zugegangen, kannte auch alle die alten Legenden und Geſchehniſſe aus früherer Zeit und verſtand ſchön davon zu reden. Von geheimen Zimmern hat er geſprochen, und daß die Leute aus den drei Stockwerken zueinander gelangen konnten, ohne die Treppen zu benützen —“

„Ah!“ rief Windmüller aufmerkſam.

„Ja, aber er ſagte nicht, wie und wo das geſchehen konnte,“ fuhr Sebaſtiano geſchmeichelt fort. „Er hat es wohl ſelbſt nicht gewußt. Er erzählte auch, daß es in dem Palaſte eine Trappola geben ſollte, eine Falle für für Menſchen —“

„Anfinn! Eine Oubliette hier im Haufe!“ fiel Don Gian ein. |

„Warum Anſinn?“ fragte Windmüller. „Dieſe menſchenfreundlichen Vorrichtungen gegen unbequeme Zeitgenoſſen waren namentlich in der Renaiſſance febr beliebt. Ich kann Ihnen in Rom wenigſtens zehn Paläſte nennen, wo Oublietten exiſtiert haben, von den Bergſchlöſſern ganz zu ſchweigen —“

„Gewiß, Signor!“ rief Sebaſtiano. „Auch hier in Venedig gibt's ſolche Trappole! Hat man im Palazzo Candiani nicht eine gefunden, als man den Aufzug dort anlegte? Gefüllt mit Skeletten! Der Herr Mar- cheſe werden ſich erinnern, welches Aufſehen der Fund machte es ſind noch keine drei Jahre her!“

„Ja, ja, ich erinnere mich!“ gab Don Gian un— behaglich zu. „Aber hier im Haufe! Davon müßte ich doch etwas gehört haben!“

„Wer hatte es im Palazzo Candiani gewußt, Herr Marcheſe? Kein Menſch. Mein Großvater ſelig hat's

88 Das Rofazimmer. a

noch von ſeinem eigenen Großvater gehört als ein großes Geheimnis.“

„Was es meinetwegen auch bleiben darf,“ ſagte Windmüller. „Mich intereſſiert es mehr, wieſo und wo die Leute hier im Hauſe ungeſehen und ohne die Treppen zu benützen in die verſchiedenen Stockwerke kommen und ebenſo das Haus verlaſſen konnten. Ich fürchte, ich werde die fremden Herrſchaften in der Rolle des Architekten doch noch inkommodieren müſſen. Später. Es eilt jetzt nicht. Ich werde jetzt einmal ausgehen, und wenn Sie mich begleiten wollen, Herr Marcheſe, ſo ſoll's mir recht ſein. Nötig iſt es nicht, falls Sie etwas anderes vorhaben, Ihre Verwandten begrüßen wollen oder —“

„In der Tat ich möchte meiner Großmutter und meiner Schweſter guten Tag ſagen,“ erwiderte Don Gian unentſchloſſen. „Doch nein das muß warten,“ ſetzte er hinzu, ſeinen Gefühlen als Menſch Zwang antuend. „Sebaſtiano, du ſollſt der Frau Marcheſa und Donna Loredana ſagen, daß ich mit dem Herrn Doktor ausgehen mußte. FIſt die Gondel zur Stelle?“

„Ich werde ſie ſogleich beſtellen, Signor Marcheſe.“

(Jortſetzung folgt.)

2 *

DA | | DA

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Tango. Eine Tanzftudie. Von R. Hendrichs.

mit 5 Bildern. v (nachdruck verboten.)

E⸗ mögen ungefähr zehn Fahre vergangen fein, ſeildem die große Revolution in unſeren Ball- ſälen ihren Anfang nahm, und wie alle gewaltſamen Umwälzungen zunächſt das Chaos an die Stelle der ab- geſchafften Ordnung zu ſetzen pflegen, ſo wurde uns auch auf dem Gebiet des modernen Geſellſchaftstanzes ſtatt der alten, angeblich überlebten Formen ein Wirr- warr von Seltſamkeiten beſchert, aus dem fih wenig- ſtens ſo weit es ſich um deutſches Empfinden handelt der neue, wirklich zeitgemäße Tanz noch nicht hat ent- wickeln können.

Seitdem Herr Philipp Souſa aus New Vork unſere für amerikaniſche Vorbilder begeiſterte Jugend mit ſeiner „berühmten“ Waſhingtonpoſt in helles Ent— zücken verſetzte, haben wir unſere Salone bereitwillig allem geöffnet, was von der anderen Seite des großen Waſſers an neuen Tanzformen zu uns herüber kam. Je ſtumpfſinniger und geſchmackloſer die Schöpfungen der eigen gearteten Vankeephantaſie auf dieſem Ge- biete waren, deſto freudiger wurden ſie aufgenommen und von hoch und gering zur „großen Mode“ erhoben. Nichts war ſo ungraziös, ſo widerwärtig oder ſo dumm, daß fih ihm die Ballſäle unſerer guten Geſellſchaft verſchloſſen hätten. Cakewalk und Machiche, Boſton

90 Tango. 2

und Twoſtep löſten einander ab, um, wenn auch jeder nur für eine knapp bemeſſene Zeitdauer, unumſchränkt zu regieren und unſeren Tanzveranſtaltungen ein nichts weniger als anmutiges und erfreuliches Gepräge zu geben.

Sehr hübſch und liebenswürdig hat ſich eine der gefeiertſten und originellſten Tanzkünſtlerinnen unſerer Zeit, die ſchöne Madame Saharet, jüngſt über die fieg- reihe Invaſion des Zweivierteltakts geäußert. Sie ſagt: „Der arme Walzer! Er ift wirklich pafje. Er war ja eine Welt für ſich, war leiſes Wiegen, träumendes Schweben, ſüßes Dahingleiten. Der Walzer, das war das goldene Wien Wien mit ſeiner koſenden, weichen, zerfließenden Stimmung. Es war die ſchönſte, ſanfte, gute alte Zeit. Der Twoſtep iſt Moderne. Kein Wiegen, kein Schweben, kein Träumen er iſt Draufgehen. Der Walzer, das war Wien der Twoſtep, das iſt Amerika. Die Biedermeierei hat ausgeſeufzt. Die Flöte wird an die Wand gehängt. Wir laſſen die Pauken bumbſen und die Trompeten ſchmettern.

Neue Zeiten künden ſich in neuen Tänzen an. In neuen Rhythmen, neuen ‚Bewegungen‘ der Menſch- heit. ‚Heil dem, der neue Tänze ſchafft!“ ruft Bara- thuſtra, weil ſie die Herolde neuer Zukunft ſind. Die junge Generation hätte den Twoſtep nicht mit fo viel Enthuſiasmus akzeptiert, wenn ihr ſein Rhythmus nicht ſchon im Blute geſchlummert hätte. Denn fie iſt un- romantiſch. Sie will nichts mehr wiſſen von Träumen und Walzeridyllen. Sie iſt auf dem Aſphalt erwachſen, wo man feſter auftreten muß, wo das Leben nach neuen, ſtrafferen Rhythmen pulſt. Die neue Genera— tion und der Twoſtep und feine Geſchwiſter, der Bären- tanz und der Tango ſie gehören zueinander.

Hier fand ſich, was fidh finden mußte: Fſadora

92 Tango. o

Duncan, ihr bolben Schweſtern Wieſenthal und Ihr, Profeſſor Dalcroze! Euer Mühen um eine neue deutſche Rhythmen- und Tanzkunſt ift umſonſt. Was und wie die Völker tanzen, das bringen ihnen keine Schulen bei.

Ba ſſano.

Fig. 2.

Sie lernen es ſelber. Tänze werden nicht anerzogen. Sie kommen wie die neuen Zeiten, die neuen Genera— tionen, von ganz allein. Kommen und verſchwinden. Jetzt iſt der Walzer im Sterben. Der ſchöne, liebe Walzer mit ſeinen weichen Melodien und ſeinen fließenden Linien. Es geht viel Schönes mit ihm aus der Welt, viel Zartes und Feines. Der Twoſtep regiert, der eckige, kantige, derbe Twoſtep. Die Welt iſt eben ſtraffer geworden. Wir müſſen uns darein finden. Der

o Von R. Hendrichs. 93

Twoſtep hat geſiegt. Mit Pauken und Trompeten iſt er gekommen wie eben Sieger kommen.“

Das iſt, wie geſagt, ſehr hübſch, aber doch wohl glücklicherweiſe nicht ganz zutreffend. Sicherlich kommt der Geiſt einer Zeit auch in der Art ihrer Tänze zum Ausdruck, und wir können rückſchauend die mannig- fachſten Wandlungen der Tanzformen verfolgen. So gering aber können wir von dem Geiſt unſerer Zeit denn doch nicht denken, daß wir in den Barbareien

Baſſano.

Fig. 3.

amerikaniſcher Unkultur fein getreues Spiegelbild zu erblicken vermöchten. Man möge ſich dieſe aus Amerika importierten „Tänze“ doch nur auf ihren Urſprung hin anſehen. Der eine entnahm ſeine Figuren den grotesken

94 Tango. o

Sprüngen und Gliederverrenkungen der Negerftlaven, die anderen benützten als Vorbilder mimiſche Indianer- tänze, in denen das Gebaren von Tieren nachgeahmt wurde. Solche Tänze werden ja bekanntlich von den Naturvölkern oft mit erſtaunlicher Meiſterſchaft aus- geführt, und wenn ein Indianer die Bewegungen des Bären oder das Liebeswerben des Truthahns tanzend darzuſtellen ſucht, ſo wird er ſchon durch ſeine genaue Naturkenntnis vor allen Abgeſchmacktheiten und wider- wärtigen Plumpheiten bewahrt. Aber man ſehe ſich dieſen Bären- oder Truthahntanz in einem modernen Ballſaal an! Kann man ſich überhaupt noch etwas Abſcheulicheres denken? Auch in Deutſchland haben ſich ja noch einige Volkstänze erhalten, die nichts anderes als eine mimiſche Darſtellung von Vorgängen aus dem Tierleben bedeuten. Der bekannteſte von ihnen iſt der oberbayriſche Schuhplattler, in deffen Figuren jeder Weidmann ſofort das halb leidenſchaftliche und halb drollige Liebeswerben des Birkhahns oder des Auer- hahns erkennt. Warum, wenn man doch die Natur- tänze der Neger und der Indianer nachmacht, iſt man noch nicht auf die naheliegende Idee verfallen, auch den Schuhplattler in unſeren eleganten Ballſälen heimiſch zu machen? Vielleicht, weil die ungeheure Einfältig- keit und Geſchmackloſigkeit ſolchen äffiſchen Gebarens dann ſogleich auch dem Blödeſten offenbar werden müßte. Gerade um dieſer unausbleiblichen Wirkung willen wäre der Verſuch auf das wärmſte zu empfehlen.

Aber man ſucht neuerdings ſeine Vorbilder für den wahrhaft „modernen“ Tanz, der ſich trotz aller heißen Bemühungen noch immer nicht zu feſten und bleiben— den Formen geſtalten will, nicht bloß bei den Natur- völkern, ſondern man fängt an, ſich auch unter den exotiſchen Nationaltänzen umzuſehen. Dieſen Be-

2 Bon R. Hendrichs. 95

ſtrebungen verdanken wir die allerneuſte Errungenſchaft, den argentiniſchen Tango, der von Paris aus ſeinen Siegeszug durch das alte Europa angetreten und ſich in Ermanglung eines würdigen Nachfolgers bis heute

Baſſano.

Fig. 4.

auf dem Parkett unſerer Salone und in unſeren öffent— lichen Tanzlokalen behauptet hat.

Wit Cakewalk, Bären- und Truthahntanz hat er allerdings nichts gemein, und wenn er von geſchmeidigen Südamerikanerinnen, denen das ſpaniſche Blut heiß durch die Adern ſtrömt, in Buenos Aires, Cordoba oder Santa Fe nach den Klängen einer feurigen Habanera getanzt wird, mag er wohl auch dem Auge des Zu— ſchauers höchſt erfreulich ſein. Denn er beſteht aus

94 Tango. 2

Sprüngen und Gliederverrenkungen der Negerſklaven, die anderen benützten als Vorbilder mimiſche Indianer— tänze, in denen das Gebaren von Tieren nachgeahmt wurde. Solche Tänze werden ja bekanntlich von den Naturvölkern oft mit erſtaunlicher Meiſterſchaft aus- geführt, und wenn ein Indianer die Bewegungen des Bären oder das Liebeswerben des Truthahns tanzend darzuſtellen ſucht, ſo wird er ſchon durch ſeine genaue Naturkenntnis vor allen Abgeſchmacktheiten und wider- wärtigen Plumpheiten bewahrt. Aber man ſehe ſich dieſen Bären- oder Truthahntanz in einem modernen Ballſaal an! Kann man ſich überhaupt noch etwas Abſcheulicheres denken? Auch in Oeutſchland haben ſich ja noch einige Volkstänze erhalten, die nichts anderes als eine mimiſche Darſtellung von Vorgängen aus dem Tierleben bedeuten. Der bekannteſte von ihnen iſt der oberbayriſche Schuhplattler, in deffen Figuren jeder Weidmann ſofort das halb leidenſchaftliche und halb drollige Liebeswerben des Birkhahns oder des Auer- hahns erkennt. Warum, wenn man doch die Natur- tänze der Neger und der Indianer nachmacht, iſt man noch nicht auf die naheliegende Idee verfallen, auch den Schuhplattler in unſeren eleganten Ballſälen heimiſch zu machen? Vielleicht, weil die ungeheure Einfältig- keit und Geſchmackloſigkeit ſolchen äffiſchen Gebarens dann ſogleich auch dem Blödeſten offenbar werden müßte. Gerade um dieſer unausbleiblichen Wirkung willen wäre der Verſuch auf das wärmſte zu empfehlen.

Aber man ſucht neuerdings ſeine Vorbilder für den wahrhaft „modernen“ Tanz, der ſich trotz aller heißen Bemühungen noch immer nicht zu feſten und bleiben- den Formen geſtalten will, nicht bloß bei den Natur— völkern, ſondern man fängt an, ſich auch unter den exotiſchen Nationaltänzen umzuſehen. Dieſen Be—

2 Bon R. Hendrichs. 95

ſtrebungen verdanken wir die allerneuſte Errungenſchaft, den argentiniſchen Tango, der von Paris aus ſeinen Siegeszug durch das alte Europa angetreten und ſich

in Ermanglung eines würdigen Nachfolgers bis heute

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Baſſano. Fig. 4. auf dem Parkett unſerer Salone und in unſeren öffent— lichen Tanzlokalen behauptet hat.

Wit Cakewalk, Bären- und Truthahntanz hat er allerdings nichts gemein, und wenn er von geſchmeidigen Südamerikanerinnen, denen das ſpaniſche Blut heiß durch die Adern ſtrömt, in Buenos Aires, Cordoba oder Santa Fe nach den Klängen einer feurigen Habanera getanzt wird, mag er wohl auch dem Auge des Zu— ſchauers höchſt erfreulich ſein. Denn er beſteht aus

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einer Reihe von Figuren, die in ihrem phantaſtiſchen Wechſel reiche Gelegenheit zu leichten und graziöſen Bewegungen bieten. Nicht weniger als zehn Varia- tionen, die ſich auf einer geſchickten Verwendung des Polkaſchritts aufbauen, löſen ſich in bunter Folge ab und bieten gewandten Tänzern die Möglichkeit, eine ganze Skala ſeeliſcher Empfindungen vorzuführen. Daß man aber dieſen Tango auf einer unſerer gewöhnlichen Tanzgeſellſchaften niemals zu ſehen be— kommt, braucht kaum erſt geſagt zu werden. Was da unter ſeinem Namen geht, iſt zumeiſt nichts weniger als erbaulich, und wenn man auch über die Zweckmäßig- keit polizeilicher Zenſur im Ballſaal ſehr verſchiedener Meinung fein kann, fo wäre es doch durchaus wünſchens— wert, wenn der gute Geſchmack hier die Rolle des Zenſors übernehmen und allen häßlichen Auswüchſen, die der Tango gleich den berüchtigten „Schiebetänzen“, bereits gezeitigt hat, durch entſchiedenſte Mißbilligung ein Ende machen würde. Als Kunſttanz aber wird man den Tango viel eher gelten laſſen dürfen als alle ſeine Vorgänger aus den letzten fünf oder ſechs Jahren, und wo er als Schauſtück von geſchmackvollen Berufs- tänzern vorgeführt wird, kann man an ihm wohl eine reine äſthetiſche Freude haben. Die beigefügten Abbil- dungen Figur 1 bis 5 veranſchaulichen einige beſonders charakteriſtiſche Poſen eines ſolchen kunſtmäßig aus- geführten Tango, und wenn ſie auch keine erſchöpfende Vorſtellung von dem Weſen dieſes argentiniſchen Tanzes geben können, ſo dürften ſie doch immerhin dartun, daß die Ausführung nicht jedermanns Sache iſt. Denen aber, die ſo laut nach einer angemeſſenen Ausdrucksform des modernen Geiſtes auch im Tanze rufen, möchten wir zu bedenken geben, daß gerade dem Geſellſchaftstanz mehr als allen anderen Er-

1914. V.

7

Baſſano.

98 Tango. å

ſcheinungsformen des öffentlichen Lebens ein febr konſervativer Zug eigen iſt, und daß erfahrungsgemäß allen neuen Tänzen und Tanzarten gegenüber die alten Völker- und Nationaltänze mit der en immer wieder das Übergewicht gewinnen.

Vielleicht alſo ift der liebe alte Walzer doch noch nicht ganz tot, ſondern erlebt eines Tages, wenn wir uns aus unſerer Amerikaſchwärmerei heraus wieder ein wenig auf uns ſelbſt beſonnen haben, eine deſto fröh- lichere Auferſtehung.

Sr *

Das Weib an der Krücke.

| Novelle von Carola v. Eynatten.

* nachoͤruck verboten.)

Si waren beide verſtimmt. Vielleicht trug das Wetter die Schuld. Obgleich ſeit einigen Tagen die Septembermitte überſchritten war, lag eine brü— tende, lähmende Schwüle über Waſſer und Land. Matt hing das Laub an Baum und Strauch vom Geäſte, die Dünen, ſcheinbar dem hochgelegenen Garten greif— bar nahe, brannten gelb in der Sonnenglut, und die Nordſee dahinten dehnte ſich grau und ſchwer wie did- flüſſiges Blei. Kein Segel weit und breit, nicht einmal eine kreiſende Möwe. So hielt ſich das Wetter ſchon ſeit Tagen, nur daß die Queckſilberſäule mit jedem Tage höhere Grade zeigte und das Ausſehen des Meeres immer drohender wurde.

Über eine halbe Stunde war verſtrichen, ohne daß ein Wort zwiſchen dem Maler Franz Wels und ſeiner Frau Nina gewechſelt wurde. Sie gähnte abwechſelnd hinter der vorgehaltenen Hand, abwechſelnd verſetzte ſie die aus himmelblauen Seidenſchnüren geknüpfte Hänge- matte in ſchwingende Bewegung, um ſich ein wenig Kühlung zu verſchaffen. Er ſaß mit breit aufgelegtem Ellbogen ihr zur Seite an einem Marmortiſchchen, eine Kanne Eislimonade vor ſich, und ſchaute unter leicht geſenkten Wimpern hervor ins Weite, hinaus aufs Meer, deſſen Waſſer hier und dort im metalliſchen

100 Das Weib an der Krücke. *

Glanze ſchimmerten unter dem Überfluß an Sonnen- ſchein.

Wieder hob ſich die über den Rand der Hängematte niederhängende Hand, um ein Gähnen zu verdecken, dann endlich ſagte Nina leiſe, matt: „Troſtlos, dieſe Hitze!“ i

Ob er es wohl gehört hatte? Er blieb fo regungslos wie bisher, kein Zug feines verträumten Geſichtes ver- änderte ſich.

„Franz!“

Dieſer Ruf fand fo wenig ein Echo wie die Be- merkung von vorhin.

Und wieder, noch lauter: „Franz!“

Ein leiſes Regen wie bei einem aus tiefem Schlafe Geweckten ging durch ſeine Züge, dann durch ſeine Geſtalt. Langſam drehte er ihr den Kopf zu und fragte: „Haſt du etwas geſagt, Liebe?“

„Daß diefe Hitze troſtlos ift!“ antwortete fie un- geduldig, diesmal ohne jeden Beiklang von Mattigteit.

Wels nickte. „Ja, das iſt ſie. Sie wird Herr über uns, wir mögen uns noch ſo wehren! Seit geſtern kann ich nicht einmal arbeiten, und das iſt das Schlimmſte!“

Seine Frau machte eine jähe, unmutige Bewegung, die ihr Ruhelager in kräftige Schwingung brachte. „Nein,“ rief ſie, „das Schlimmſte iſt die Langweile, die ſich bei einer, derartigen Temperatur noch härter erträgt!“

„Ich habe keine Langweile natürlich nicht,“ ſetzte er raſch hinzu, wie entſchuldigend. „Wenn wir von einer allbeherrſchenden Idee erfüllt find, ift und gibt ſich uns alles anders, ſind unſere Bedürfniſſe, ſind wir ſelber andere.“

Nina hob die Schultern. Sie ſah ſehr unmutig aus. „Ich verſtehe nicht, wie man ſich und anderen zur Qual

(a) Novelle von Carola v. Eynatten. 101

jahrelang einem Phantom nachjagen mag!“ fagte fie und machte auf ihrem luftigen Lager eine halbe Wen- dung, die ſie ihrem Manne näher brachte.

Mehr und mehr verlor ſich der verträumte, ver- ſunkene Ausdruck in ſeinen Augen, und leiſe den Kopf ſchüttelnd antwortete er überzeugt: „Es tut mir leid, Nina, daß du ſo denkſt, denn es iſt kein Phantom, dem ich nachjage. Damals, an jenem Januarmorgen auf San Hilario, war ich fogar recht nüchtern geſtimmt. Der Anblick der ſo zahlreich vor der Kirche verſammelten Eſel, die der prieſterlichen Weihe warteten, intereſſierte mich ungemein, und ich machte zu Rudolf Leinz gerade eine Bemerkung darüber, als ein Wagen vor die Kirch- tür fuhr und zwei hinzuſpringende Männer voll Bor- ſicht und Ehrfurcht einen uralten Mann im bunten Flickenmantel heraushoben und in das Gotteshaus führten. Verwundert ſchauten wir ihm nach, als ein wunderliebes Mädchen, halb noch ein Kind, an uns vorüberhuſchte und ebenfalls in der Kirche verſchwand dicht hinter dem Greiſe und ſeinen Führern. Ich ſtand wie gebannt, während es mir durch den Kopf zuckte: Da das ift deine „Verheißung“, die du ſchon ſo lange ſuchſt, ohne ſie finden zu können!“

Wels ſeufzte tief auf, und ſein Blick wollte ſich ins Weite, ins Unbeſtimmte verlieren.

Nina aber rief ungeduldig: „Das weiß ich alles, du haft mir diefe Geſchichte ſchon dutzendmal erzählt! Ich weiß aber auch, daß dein Vetter Leinz dir in meinem Veiſein wiederholt ſagte, du bildeſt dir diefe wunderbare Erſcheinung bloß ein. Mit dem armſeligen Alten hätte es ſeine Richtigkeit, gefolgt wäre ihm aber keine Seele, und das hätten auch alle die Umſtehenden beſtätigt, das hätteſt du ſelbſt ſehen müſſen, als die Leute nach beendetem Gottesdienſt die Kirche wieder

102 Das Weib an der Krücke. D

verließen, denn der Alte wäre allein herausgekommen, wie er hineingegangen war.“

„Das alles mag ſeine Richtigkeit haben geſehen habe ich meine Verheißung aber doch, freilich nur wäh- rend eines flüchtigen Augenblicks und nie mehr wieder!“ ſagte der Maler bekümmert. Dann ſetzte er wie in jäher Entſchloſſenheit hinzu: „Ich werde ſie aber trotz allem wiederfinden, denn ich muß es! Ich finde keine Ruhe, ehe ich mir die Verheißung von der Seele gemalt habe, ich werde auch nicht eher etwas wirklich Bedeutendes, künſtleriſch Vollkommenes leiſten!“ |

Die junge Frau fab febr unglücklich aus. In ihrer Sorge die Hände ineinander preſſend ſagte fie: „Ein- bildungen nichts als Einbildungen! Geh in dein Atelier, ſtelle alle die „Verheißungen“, die du ſeither verſucht haſt, nebeneinander und betrachte ſie ohne Vorurteil. Du wirſt ſehen, daß wundervolle Stücke dabei ſind, denen ein beſſeres Los gebührte, als gegen die Wand gelehnt zu ſtehen. Die aus blitzdurchzuckter Nebelwand herausſchwebende Verheißung iſt ein Meifter- werk, das ſagen alle deine Genoſſen, deine alten Lehrer, die Kritiker, die Kunſtkenner von Ruf. Sie würde dich in die vorderſte Reihe der Maler ſtellen, könnteſt du dich entſchließen, ſie fertig zu malen!“

Nina hatte ſich ſo heiß geredet, daß ſie die äußere Hitze im Augenblick nicht mehr empfand. Ihr Mann mußte zur Einſicht gebracht, mußte überzeugt werden. Bei ihrer gegenwärtigen Lebensweiſe ging er künſt— leriſch zugrunde, und ſie ſie hielt es einfach nicht mehr aus, kein Jahr, kein Vierteljahr mehr. Dieſe Lang— weile, dieſe Ode um ſie, das Verlangen nach der Welt, nach Verkehr mit gebildeten Menſchen tötete ſie, ſo übermächtig war es ſchon!

D Novelle von Carola v. Eynatten. 103

Er hatte eine Weile ſtill vor ſich hin geſchaut, jetzt erwiderte er melancholiſch: „Es mag ja ſein, daß unter den Entwürfen manches Gute vertreten iſt, für mich aber ſind ſie alle Stümperwerk, denn ſie bleiben meilenweit hinter dem zurück, was ich will, was mir vorſchwebt, was ich oft greifen zu können glaube und doch weder aufs Papier noch auf die Leinwand bringe!“

Eine ſolche Erregung war über die junge Frau ge- kommen, daß jeder Nerv in ihr hüpfte, ſie ſich erſt beruhigen, ſammeln mußte, ehe ſie wieder ſprechen konnte. Und als es fo weit war, ſagte fie ſanft und über- redend: „Sei doch vernünftig, Franz, überlege und ſage dir dann ſelbſt, ob es ſo bleiben kann!“

„Sobald ich ſie gefunden habe, wird es anders werden, eher nicht!“ verſetzte er hartnäckig.

„Hör mich doch nur an —“

„Jedes Wort iſt überflüſſig, ich ändere nichts, ich weiche, ich ruhe nicht, bis ich am Ziele bin, bis meine Verheißung ſo vor mir auf der Leinwand ſteht, wie ich ſie vor mir ſehe!“

„Denk doch an deinen Künſtlerruf! Du kommſt ja in Vergeſſenheit, alle Mühen, alle Arbeit deiner früheren Jahre gehen dir verloren, ſpielſt du fortgeſetzt den Einſiedler!“

„um mich ift dir's ja gar nicht zu tun nur um dich! Nach München möchteſt du wieder, dich feiern ie das iſt's!“

Mit einem Ruck ſchwang ſich die junge Frau aus der Hängematte und ſtand vor dem Ciſchchen. „Dieſer Vorwurf iſt ungerecht! Ich habe dir zur Genüge be- wieſen, denke ich, daß ich auf das Gefeiertwerden ver- zichten kann. Wenn es aber auch ſo wäre, dürfteſt du, dürfte irgendwer es mir verargen? Ich bin noch keine fünfundzwanzig, ich bin weltgewöhnt, ich bin Künſt—

104 Das Weib an der Krücke. D

lerin fo gut, wie du Künſtler biſt, dennoch habe ich feit zwei Jahren auf alle Gaben, die mir die Welt bietet, verzichtet und mich mit dir, um deinetwillen in dieſer Einſamkeit begraben. Für einen einzigen Winter wollten wir München verlaffen —“

„Vorausſichtlich, habe ich damals geſagt voraus- ſichtlich!“

„Vitte, bis April wollten wir in Nervi bleiben, dann vielleicht noch für etliche Monate in Rom ſo haſt du gejagt! Und Rom, das wäre auch etwas geweſen. Wir ſind aber nicht nach Rom gegangen. Wir gingen von dem gräßlichen Nervi direkt nach Tirol, weil du dich nach der ‚erhabenen Ruhe“ des Hochgebirges ſehnteſt, und dort haben wir uns in einem unter Schnee und Eis verſunkenen Einödhof eingerichtet. Nach der Ode des Klauſentales begann die noch troſtloſere Strandidylle, die wir heute noch genießen —“

„Im November nimmt auch ſie ein Ende.“

„Gott ſei Dank!“

„Ich will es dann noch einen Winter mit Nervi verſuchen und dann —“ |

Nina ließ ihn nicht ausreden. Entſchieden erklärte ſie: „Da tue ich nicht mehr mit, Franz! Wieder den ganzen Tag allein in einem froſtigen Hotelzimmer oder unten an der Marina ſitzen, während du von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang deiner Ber- heißung“ nachläufſt, die ſich nirgends wiederfindet, weil ſie niemals exiſtierte nein, dazu bringſt du mich nicht!“

Des Malers Züge verfinſterten ſich wie unter einem ſchweren Wolkenſchatten. Aber ruhig, als wäre es ſo ſelbſtverſtändlich, ſagte er: „Halte das, wie du willſt. Ich zwinge dich nicht zum Witgehen, wenn dir's widerſtrebt, obgleich ich das volle Recht hätte —“

„Bitte, das haft du nicht, denn du wußteſt, daß

0 Novelle von Carola v. Eynatten. 105

eine Geigenkünſtlerin in der Welt leben muß. Und ich habe mir zudem die fernere Ausübung meiner Kunſt vorbehalten. Woher alſo willſt du das Recht nehmen, mich daran zu hindern?“

„Laß das! Es iſt zwecklos, ſich um Nebendinge zu zanken. Ich gehe unter allen Umſtänden wieder nach Nervi. Vorige Woche war ich in drei einander folgenden Nächten dort, und jedesmal habe ich das Mädchen von San Hilario genau ſo wiedergeſehen wie damals —“

„Aber, Franz, das iſt doch kraſſer Aberglaube!“ rief Nina entſetzt.

Läſſig hob er die Schultern. „Mag fein. Ich habe aber auch noch mehr im Traum erſchaut in den drei aufeinander folgenden Nächten. Daß ich nach Nervi gehe, ſteht alſo feſt du aber kannſt meinetwegen für den nächſten Winter nach München oder wohin du ſonſt willſt. Im Frühling zeigt ſich's dann, was ich weiter tue. Biſt du damit einverſtanden?“

Die Augen der jungen Frau waren immer weiter, ihre Züge waren immer bleicher geworden. Er ſah es nicht, er ſchaute wieder hinaus aufs Meer.

Alles hätte ſie erwartet alles, nur das Angebot einer Trennung nicht. Sie zauderte mit der Entſchei⸗ dung. Die Großſtadt, das Leben lockten mächtig, Nervi grinſte fie an wie eine Fratze aus hohlen, leeren Augen- höhlen aber es iſt nicht leicht, ein Band zu lockern, das fürs Leben geknüpft wurde. Sie hatte die Emp- findung, daß ihr Mann ſie vor eine ſchwerwiegende, folgenreiche Entſcheidung geſtellt habe. Dann ſtand auch der Trotz auf. Wenn ihm nichts an der Trennung lag, wenn er nur an fih und feine perſönlichen Inter- eſſen dachte, wenn er vielleicht lieber allein

„Ich bin einverſtanden, ich gehe nach München!“ erklärte ſie feſt.

104 Das Weib an der Krücke. o

lerin fo gut, wie du Künſtler bift, dennoch habe ich feit zwei Jahren auf alle Gaben, die mir die Welt bietet, verzichtet und mich mit dir, um deinetwillen in dieſer Einſamkeit begraben. Für einen einzigen Winter wollten wir München verlaſſen —“

„Vorausſichtlich, habe ich damals geſagt voraus- ſichtlich!“

„Bitte, bis April wollten wir in Nervi bleiben, dann vielleicht noch für etliche Monate in Rom ſo haſt du gejagt! Und Rom, das wäre auch etwas geweſen. Wir ſind aber nicht nach Rom gegangen. Wir gingen von dem gräßlichen Nervi direkt nach Tirol, weil du dich nach der ,‚erhabenen Ruhe“ des Hochgebirges ſehnteſt, und dort haben wir uns in einem unter Schnee und Eis verſunkenen Einödhof eingerichtet. Nach der Ode des Klauſentales begann die noch troſtloſere Strandidylle, die wir heute noch genießen —“

„Im November nimmt auch ſie ein Ende.“

„Gott ſei Dank!“

„Ich will es dann noch einen Winter mit Nervi verſuchen und dann —“

Nina ließ ihn nicht ausreden. Entſchieden erklärte ſie: „Da tue ich nicht mehr mit, Franz! Wieder den ganzen Tag allein in einem froſtigen Hotelzimmer oder unten an der Marina ſitzen, während du von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang deiner Ber- heißung“ nachläufſt, die fih nirgends wiederfindet, weil ſie niemals exiſtierte nein, dazu bringſt du mich nicht!“

Des Malers Züge verfinſterten ſich wie unter einem ſchweren Wolkenſchatten. Aber ruhig, als wäre es ſo ſelbſtverſtändlich, ſagte er: „Halte das, wie du willſt. Ich zwinge dich nicht zum Mitgehen, wenn dir's widerſtrebt, obgleich ich das volle Recht hätte —“

„Ditte, das haft du nicht, denn du wußteſt, daß

2 Novelle von Carola v. Eynatten. 105

eine Geigenkünſtlerin in der Welt leben muß. Und ich habe mir zudem die fernere Ausübung meiner Kunſt vorbehalten. Woher alſo willſt du das Recht nehmen, mich daran zu hindern?“

„Laß das! Es iſt zwecklos, ſich um Nebendinge zu zanken. Ich gehe unter allen Umftänden wieder nach Nervi. Vorige Woche war ich in drei einander folgenden Nächten dort, und jedesmal habe ich das Mädchen von San Hilario genau ſo wiedergeſehen wie damals —“

„Aber, Franz, das iſt doch kraſſer Aberglaube!“ rief Nina entſetzt.

Läſſig hob er die Schultern. „Mag ſein. Ich habe aber auch noch mehr im Traum erſchaut in den drei aufeinander folgenden Nächten. Daß ich nach Nervi gehe, ſteht alſo feſt du aber kannſt meinetwegen für den nächſten Winter nach München oder wohin du ſonſt willſt. Im Frühling zeigt ſich's dann, was ich weiter tue. Biſt du damit einverſtanden?“

Die Augen der jungen Frau waren immer weiter, ihre Züge waren immer bleicher geworden. Er ſah es nicht, er ſchaute wieder hinaus aufs Meer.

Alles hätte ſie erwartet alles, nur das Angebot einer Trennung nicht. Sie zauderte mit der Entſchei⸗ dung. Die Großſtadt, das Leben lockten mächtig, Nervi grinſte fie an wie eine Fratze aus hohlen, leeren Augen- höhlen aber es iſt nicht leicht, ein Band zu lockern, das fürs Leben geknüpft wurde. Sie hatte die Emp- findung, daß ihr Mann ſie vor eine ſchwerwiegende, folgenreiche Entſcheidung geſtellt habe. Dann ſtand auch der Trotz auf. Wenn ihm nichts an der Trennung lag, wenn er nur an fih und feine perſönlichen Inter- eſſen dachte, wenn er vielleicht lieber allein

„Ich bin einverftanden, ich gehe nach München!“ erklärte ſie feſt.

106 Das Weib an der Krücke. D

Wels nickte. „Gut. Willſt du gleich gehen oder war- ten bis nach Vollendung meiner angefangenen Bilder?“

„Wie es dir lieber iſt.“

„Mir iſt's gleichgültig. Ich überlaſſe es dir, zu be- ſtimmen.“

Wieder zögerte Nina, dann ſagte ſie: „Ich warte.“

„Gut. Es wird aber wahrſcheinlich November werden, bis ich zum Aufbruch bereit bin.“

„Habe ich hier ſo lange ausgehalten, ſo halte ich's auch noch ein paar Wochen länger aus.“

„Wie du willſt,“ erwiderte er aufſtehend. „Das übrige zu beſprechen und zu regeln, bleibt uns noch lange Zeit.“

Damit wendete er ſich und ging dem Hauſe zu, in dem er verſchwand.

Nina Wels warf ſich wieder in die Hängematte fo ungeſtüm, daß fie eine ganze Weile heftig ſchwang. Eine tiefe, eine brennende Bitterkeit quoll in ihr auf.

Franz ſah, dachte und fühlte ſeit zwei Jahren nichts als ſeine Verheißung, die ein ewiger Traum zu bleiben drohte. Dieſer Egoiſt! Ob ſie ſich in Langweile, in Sehnſucht verzehrte, ob ſie in dieſer ihr aufgezwungenen troſtloſen Einſamkeit als Künſtlerin zugrunde ging, dafür hatte er keinen Gedanken übriggehabt, nicht einen einzigen! Es war empörend empörend!

And fie redete fidh fo hinein in ihre Bitterkeit, daß das erſt nur Gedachte ſich in Gefühle umſetzte, die ſie bis zur Unempfindlichkeit gegen alles Außerliche beherrſchten.

Wer ihr dieſe Wendung vorhergeſagt hätte, als ſie,

die raſch der Ruhmeshöhe entgegengehende junge.

Künſtlerin, dem preisgekrönten Maler der gen Himmel ſchwebenden „Sehnſucht“ zum Altar gefolgt war! Wer es ihr vorhergeſagt hätte!

o Novelle von Carola v. Eynatten. 107

Als wäre es erft vor wenigen Wochen gewefen, fo deutlich ſtand der Tag vor ihr, an dem fie ihn zum erſten Male geſehen, und der ſie ſofort zu ſeiner Braut gemacht hatte. Es war der Mittag nach ihrem zweiten Münche- ner Konzert geweſen, als er vor ſie hin getreten war und ohne jede Einleitung ernſt und ſchlicht gefragt hatte: „Nina Brückner, Sie ſind für mich die Erfüllung des Frauenideals, Sie ſind die Künſtlerin mit der echt weiblichen Seele wollen Sie meine Frau werden? Meine „‚Sehnſucht“ fie ift der Ausdruck der in mir webenden hat mich zum bekannten Maler gemacht, meine, Verheißung“ wird mich zum berühmten machen. Sie iſt zwar bis jetzt nur ein mich umſchwebender Traum, aber ſie wird Wirklichkeit werden. Ob in einem, ob in zwei, ob erſt in zehn Jahren bleibt ſich gleich, denn mein Onkel, der Großinduſtrielle Edelmeyer in Nürnberg, bewilligt mir mit meiner Verheiratung eine Jahresrente von zwölftauſend Mark. Davon läßt ſich's leben. Auch habe ich ſelbſt ein kleines Kapital und verdiene ſchon jetzt ein paar tauſend wollen Sie alfo?“

Und fie hatte, fortgeriſſen von den Impulſen des Augenblicks, fortgeriſſen von ihrer Bewunderung für ſeine „Sehnſucht“, geantwortet: „Ich will es, Franz Wels! Nur will ich nicht, daß Sie ſich an mich binden, ohne mich zu kennen. Wir wollen uns in einem halben Jahr verloben.“

„Nein, heute noch ſoll es geſchehen. Ich habe Sie geſtern ſpielen hören, und Ihre Geige hat mir geſagt, daß in Ihnen alles wohnt, was gut iſt auf Erden.“

So war ſie ſeine Braut geworden, wenige Stunden nachdem er zu ihr gekommen, und keine Sorge für die Zukunft war in ihr wach geworden, kein Zweifel an ihm, kein Zweifel am Glück. Wer die Sehnſucht fo

108 Das Weib an der Krücke. D

groß, fo edel darzuſtellen wußte, war noch mehr als ein guter Menſch!

Drei Monate ſpäter hatte ſie an einem Samstag die von Neugierigen dicht beſetzte Frauenkirche an ſeinem Arm als ſein Weib verlaſſen, und dieſem Gange war ein Jahr brauſenden Glücks gefolgt.

Sie hatten es in München verlebt unter mancherlei künſtleriſchen Erfolgen, unter unermüdlicher Arbeit, unter unermüdlichem Streben.

„Daß ihr beide euch gefunden habt, iſt ein großes Glück beſonders für Franz!“ hatte Onkel Edelmeyer allemal geſagt, wenn er zu ihnen nach der Reſidenz und wenn ſie zu ihm nach Nürnberg gekommen waren.

Als aber das zweite Weihnachtsfeſt, das ſie als Mann und Frau begingen, herankam, da hatte ihn die Erinnerung an das „Mädchen von San Hilario“, da hatte ihn auch die unbezwingliche Ztalienſehnſucht ge- packt, die dem Germanen unausrottbar im Blute liegt da hatte er nicht geruht, bis ſie eingewilligt, das traute Feſt auf fremdem Boden mit ihm zu feiern. Wochenlang hatte er ihr vorgeſchwärmt von dem Zauber Nervis, vom Zauber der liguriſchen Küſte, die ſich unermeßlich dehnt in ihrer tiefen und doch kriſtall- klaren Bläue, daß ſie ſchließlich freudig gegangen war ihrem Elend entgegen.

Die Feſttage waren ihre letzten Glückstage geweſen, dann hatte die atemloſe Jagd nach dem „Mädchen von San Hilario“ begonnen, dann hatte ſich der Raum, den ſie im Leben ihres Mannes einnahm, von Tag zu Tag enger zuſammengezogen. Heute nun ſtand ſie vor der Trennung von ihm. Nur vor einer zeitweiligen, aber es konnte doch nie wieder ſo zwiſchen ihnen werden, wie es geweſen war!

Gegen Abend wurde die Schwüle noch unerträg—

o Novelle von Carola v. Eynatten. 109 licher, obgleich der Himmel allmählich die Farbe des Meeres angenommen hatte, die Sonne hinter dichten Dunſtſchleiern in die Flut ſank. Nina, hingenommen von ihren Gedanken und gärenden Gefühlen, empfand es nicht. Sie ſchaukelte läſſig weiter in ihrer Hänge- matte, ankämpfend gegen das heiße Naß, das ſich unter ihren dunklen Wimpern hervordrängen wollte.

Erſt als die Dämmerung ſtärker wurde, ſuchte auch ſie das Haus auf.

Ninas Zimmer, die gemeinſchaftlichen Wohn- räume und die Wirtſchaftsgelaſſe befanden fih im Erd- geſchoſſe, der obere Stock und die ihm als Atelier dienende Giebelſtube waren Wels allein überlaſſen. Er wollte ganz ungeſtört ſein, niemand ſehen noch hören, wenn er nicht ſelbſt Geſellſchaft ſuchte.

In ihrem Studio, wie fie das neben dem Schlaf- zimmer liegende Gemach nannte, war es erſtickend heiß, und ihr erſter Weg führte nach den einander gegenüber- liegenden Fenſtern, deren eines der See, deren anderes dem Lande zugekehrt war. Weit ſchlug ſie beide zurück, jo daß ein Lufthauch kühlend den Raum durchzog, fie doch wieder atmen konnte. Heute, unter dem Doppel- druck der Gemütsverſtimmung und der großen Hitze, heute, wo ihr zumute war, als hätte ſie jemand ſehr, ſehr Liebes begraben, war ihr der Atem ohnehin beengt.

Dann trat ſie an ein Hängeſchränkchen an der Wand und holte ihre Geige heraus, ein unſcheinbares Inſtrument im ſchlichten, gebrauchsſchwarzen Holz- gehäuſe und doch Tauſende wert, denn es war eine Alt- Cremoneſer Geige. Zärtlich betrachtete fie die treue Freundin, die ſie ſo lange nicht mehr beachtet hatte aus Nüdficht für ihren Mann, den jeder Laut in der Umgebung des Hauſes ſtörte und verdroß.

110 Das Weib an der Krücke. D

Jetzt konnte fie nicht anders, jetzt mußte fie fie hervor- holen und in der Zwieſprache mit ihr dem Ausdruck geben, was in ihr wogte und nagte.

Ob ſie wohl noch ſpielen konnte wie ſonſt, oder ob ihre Kunſt gelitten hatte in dieſer öden Dünen; und Waſſerwildnis? Eine jähe Angſt befiel ſie. Am offenen Fenſter ſtehend, führte ſie den Bogen faſt zaghaft prüfend über die leiſe erklingenden Saiten.

Es ging noch!

Bald quollen die Töne wie Perlen unter dem wieder feſt und ſicher geführten Strich ihre Geige hatte das Klagen und Weinen, das Singen und Jauchzen noch nicht verlernt, der Bogen gehorchte ihrem Willen wie zuvor, wie in ihrer beſten Zeit.

Sich ſelbſt vergeſſend, ſpielte und ſpielte ſie, ſpielte ſie ſich die Ruhe, ſpielte ſie ſich ein neues Hoffen in die gequälte Seele hinein.

Brauſend flog ein Windſtoß um das Bohlenhaus, rüttelte in zügelloſer Wut an Türen und Fenſtern, ein wilder Vorreiter des heraufſteigenden Kampfes der Elemente. Nina hörte, fühlte ihn nicht. Blitze ſchoſſen über den Himmel, der Donner miſchte ſich mit dem Brauſen und Heulen der vom Sturm aufgepeitſchten Fluten zu einer erſchütternden Sinfonie. Nina achtete nicht darauf. Die Geige jauchzte, triumphierte hinein in den Aufruhr der Natur, als könnte ſie ihn mit ihrem Singen und Klingen meiſtern, übertönen.

Ihre Kunſt wenigſtens beſaß ſie noch und mit u. auch ein gut Teil Glück!

Und fie war es auch nicht, die das Geſpenſt berbei- gerufen, das heute zwiſchen fie und Franz getreten. Vielleicht hatte er es ebenſowenig gerufen, war es von ſelbſt gekommen. Daß ſie endlich ungeduldig geworden, daß ſie ſich nach dem Klausnerleben, das

o Novelle von Carola v. Eynatten. 111

hinter ihr lag, geweigert hatte, nochmals nach Nervi zu gehen, konnte ihr wirklich nicht angerechnet werden.

An dieſem Abend ſah ſie ihren Mann nicht mehr. Wie ſo oft in letzter Zeit ließ er ſich die Mahlzeit in ſeine Arbeitsräume hinaufbringen, in denen er auch die Nacht auf einem Schlafdiwan zubrachte. Das war ebenfalls nichts Neues, alſo ohne tiefere Bedeutung. Es geſchah allemal, wenn eine Idee ſich zu feſter Geſtalt verdichten wollte und er jede Ablenkung ſcheute.

Am anderen Morgen kam er zum Frühſtück herunter, und ſeine erſten Worte waren: „Du haſt geſtern abend wundervoll geſpielt, Nina.“

Sie errötete vor Vergnügen.

Er aber fuhr fort: „Willſt du mir einen Gefallen tun, ſo ſpiele jeden Abend um die Zeit wie geſtern. Es erleichtert mir das geiſtige Geſtalten.“

Von da ab ſpielte Nina Abend für Abend, und als es zu kühl wurde, um am offenen Fenſter den Bogen zu führen, öffnete ſie die Tür nach dem Vorraum, wie Wels es oben in ſeinem Atelier tat.

Dieſes Spielen und dieſes Lauſchen war aber ſo ziemlich die einzige Beziehung zwiſchen ihr und ihm. Sie ſahen ſich felten, höchſtens bei Tiſche, und wenn er zu den Mahlzeiten im Eßzimmer erſchien, war er faſt ſtets wortkarg, in ſich verſunken und hielt ſich ſelten lange unten auf. Von ſeinen Winterplänen ſprach er ſo wenig, als er nach den ihrigen fragte, und auch über ſein künſtleriſches Schaffen äußerte er ſich nicht. Sie wußte nicht einmal, was ihn gegenwärtig beſchäftigte, woran er arbeitete, bis ſie eines Tages ſich danach erkundigte.

„An meiner „Verheißung“ natürlich, und ich glaube, ſo nahe wie diesmal bin ich dem mir vorſchwebenden Bilde noch nie gekommen,“ erwiderte er.

112 Das Weib an der Krücke. 2

„Wie mich das freut!“ rief Nina voll Wärme.

„Komm mit hinauf,“ forderte Wels ſie auf. „Das Bild iſt zwar noch nicht fertig, aber was noch fehlt, ſind Kleinigkeiten, deren Mangel weiter nicht ſtört.“

Die junge Frau blieb auf der Schwelle überrafcht ſtehen. Alle Staffeleien waren beſetzt mit mehr oder minder vorgeſchrittenen Gemälden, und an den Wänden hingen mehrere vollendete, die ihr gleichfalls fremd waren. Er mußte ſehr ſehr fleißig geweſen ſein in der letzten Zeit.

„So habe ich wenigſtens nicht umſonſt in dieſer Einſamkeit vegetiert!“ dachte ſie ehrlich erfreut.

Während ihre Augen langſam den beinahe faal- artigen Naum durchliefen, den der Maler fih durch das Niederlegen zweier der hölzernen Zwiſchenwände geſchaffen, hatte er eine gewaltige Doppelſtaffelei, auf der eine Leinwand von mehreren Quadratmetern ſtand, vorſichtig herumgeſchoben, ſo daß das volle Licht auf die bemalte Fläche fiel, und nun wies er ſeiner Frau einen Platz an, von dem aus ſie ſein Werk beſichtigen ſollte.

Eine feine Nöte floß über ihr ausdrucksvolles Ge— ſicht, als fie ſtumm, mit verſchlungenen Händen davor- ſtand, und in ihren dunklen Augen leuchtete freudige Bewunderung auf.

Dann wendete fie fih zu Wels und ſagte ſtrahlend, lebhaft bewegt: „Franz, diefe auf goldig durchleuch- teter Wolke erdenwärts ſchwebende „Verheißung“ über- trifft deine berühmte „‚Sehnſucht“ noch bei weitem! Dieſes Werk wird dich unter die größten Meiſter deiner Kunſt reihen!“

Der Schimmer eines Lächelns ging über ſeine bleichen, ernſten Züge, und er ſagte leiſe: „Kleine Enthuſiaſtin! Wenn nicht ich das Bild gemalt hätte, würdeſt du viel nüchterner und richtiger urteilen!“

o Novelle von Carola v. Eynatten. 113

„Du biſt doch nicht unzufrieden damit?“ rief fie faſt angſtvoll.

„Ja und nein. Es ift kein erſtklaſſiges Meiſterwerk nach meiner Schätzung, aber es iſt ein gutes Bild. Das aber, was ich will, was vor mir ſteht, ift es jeden- falls noch immer nicht, und ſolange mir feine Verwirk— lichung nicht gelungen iſt, werde ich immer wieder von vorne anfangen,“ erwiderte er.

„So ſoll auch dieſe „Verheißung“ in eine Ede wan- dern?“ fragte Nina bekümmert.

„Höchſt wahrſcheinlich wird das ihr Los ſein.“

Nina ſah bitter enttäuſcht und unglücklich aus. Ihres Mannes fixe Idee ſchien unheilbar er ging noch zugrunde an ihr.

Er aber, als hätte er erraten, was ſie dachte, was in ihr vorging, verſetzte: „Heute hältſt du mich für einen Narren ich hoffe jedoch, es wird ein Tag kommen, an dem du dich freuſt, daß ich deiner Verſucherſtimme kein Gehör gegeben habe.“

Nina ſah nicht aus, als ob ſie daran glaubte.

„Du biſt doch auch nie vors Publikum getreten, ehe du die zum Vortrag gewählten Stücke nicht ſo ſpielen konnteſt, daß du vollſtändig zufrieden mit dir warſt!“

„Gewiß nicht, nur war ich nicht ſo anſpruchsvoll,“ antwortete ſie. |

„Im!“ |

„Auch du warſt es früher nicht, Franz, ſonſt hätteſt du nicht die, Sehnſucht“ hinausgehen laſſen, die, ſo ſchön ſie iſt, doch nicht heranreicht an dieſes überwältigende Bild.“

„Damals war ich drei oder vier Jahre jünger, als ich heute bin. Die Leiſtungen müſſen mit den Jahren ſteigen. Zudem kann ich nicht anders, ich muß ſuchen ſuchen und verſuchen. Es zwingt mich dazu, es iſt

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ſtärker als ich! Die Kunſt ift keine Magd, die uns dient ſie iſt eine abſolute Herrſcherin, die uns zertritt, ſind wir ihr nicht blind untertan.“

Nina, die ihren Mann während dieſer Rede nicht aus den Augen gelaſſen, erſchrak über ſein Ausſehen, über die ſeltſame, die beinahe fanatiſche Glut ſeiner Augen. Wenn er ſo weitermachte, verzehrte er ſich in dem Ringen um etwas, das wohl unerreichbar war. Sie ſchwieg aber, ſie ſchwieg aus der Überzeugung heraus, daß jedes weitere Wort verloren wäre, ihn bloß aufregen würde.

So trat ſie ohne eine Bemerkung vor die übrigen, ihr noch unbekannten Gemälde ihres Mannes, die alle die ſichere Hand des Meifters, den edlen Charakter zeigten, der alle ſeine Werke auszeichnete.

„Eines ſo ſchön wie das andere!“ ſagte ſie endlich halblaut, mehr zu fih als zu ihm.

„Lückenbüßer Alltagskitſch, wie er von Taufenden fabriziert wird! Ich habe ſie nur gemalt, um wieder einmal genannt zu werden, ein paar Bilder zu ver- kaufen,“ ſagte er abweiſend.

Über eine Stunde hatte der Beſuch im Atelier ge- dauert, und als Nina ging, ſagte Wels: „Heute und morgen arbeite ich noch, dann geht's ans Packen.“

„Und an die Trennung!“ ſetzte ſie in Gedanken hinzu. | Eou

Am anderen Tag ftieg fie ungerufen in den oberen Stock hinauf und leiſtete Wels ſtillſchweigend Gebilfen- dienſte beim Einpacken, die ebenſo ſchweigend an— genommen wurden.

Dabei beſſerte ſich aber ſeine Stimmung ſichtlich. Er nahm an den Mahlzeiten wieder regelmäßig teil, begleitete feine Frau bei ihren gewohnten Spazier- gängen am Strand, und des Abends ſaßen ſie zuſammen

OD Novelle von Carola v. Eynatten. 115

in dem behaglichen Wohnzimmerchen im Kajütenſtil. Dann holte Nina ihre Geige, oder Wels plauderte von Nervi und von ſeinem Verlangen, die ihm ſo liebe Stätte wiederzuſehen, wieder hinauszuſchauen auf die ſaphirblauen Fluten des Liguriſchen Meeres, wieder unter Olbäumen und Palmen zu ſitzen.

Nichts aber in feinen Äußerungen ließ erkennen, ob er noch mit einer längeren Trennung von ihr rech- nete, ob er dieſen Gedanken aufgegeben oder ob er die ganze Sache vergeſſen hatte.

Das Packen der Bilder, der Geräte und der vielen präparierten Seetiere, die der Maler im Laufe der Zeit gekauft hatte, war eine heikle Arbeit und nahm länger in Anſpruch, als er gedacht hatte. Dann kam noch die Übergabe des Haufes an den Bevollmächtigten des Beſitzers, eines Handelskapitäns, und an einem trüben, feuchten Novembermorgen ſtand endlich der Wagen vor der Tür, der das Ehepaar nach der Bahnſtation bringen ſollte. |

Nina ſtand reiſefertig im Eßzimmer, und Wels legte eine zierliche Brieftaſche von Schlangenhaut vor ſie auf den Tiſch.

„Nimm das,“ ſagte er. „Es ſind tauſend Mark drinnen. Bis zum Erſten wirſt du mit ihnen auskommen, denke ich. Unſere Münchener Wohnung iſt ja mit allem Nötigen ſo reichlich verſehen, daß du nicht viel anzuſchaffen haben wirſt, und bis Frankfurt am Main geht die Neiſe auf meine Koſten.“

Alfo doch Trennung! N

Nina ſchob die Brieftaſche zurück und ſagte leiſe: „Danke es ift überflüſſig. Du weißt, meine Erſpar— niſſe und mein Erbe liegen auf der Bank und bilden ein ſehr anſtändiges Kapital.“

Er aber wiederholte: „Nimm! Ich will nicht, daß

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meine Frau aus ihrer Taſche lebt. Du erhältſt jeden Monat fünfhundert .

„Es iſt nicht nötig

„Bitte!“ fiel er ihr mit einer eee Ge- bärde ins Wort.

Die junge Frau fügte fih. Als aber der Wagen ſchon ſeit einer längeren Weile die naſſe Landſtraße entlang fuhr, begann ſie doch nochmals: „Getrennt von dir, iſt es mir peinlich, von deinem Gelde zu leben, Franz. Nicht deinetwegen, mir iſt's um Onkel Karl. Er hat ſeine eigenen Anſichten und wird es höchſt unpaſſend finden, daß wir für einen ganzen Winter auseinander gehen.“

„Das kommt anderswo auch vor. Ich werde ihm die erforderlichen Erklärungen geben.“

„Er wird fie nicht gelten laffen, und nach allem, was er für uns tut, (hulden wir ihm große Rückſicht. Du willſt aber wohl jedenfalls lieber allein nach Nervi gehen?“

Man hörte die ſchwere Überwindung, die dieſe Frage ſie koſtete.

„Ja,“ antwortete er ruhig, „mir iſt's lieber, wenn du's bei den Veſtimmungen bewenden läßt, die wir getroffen haben. Ich werde tagelang, mitunter viel- leicht wochenlang von Nervi abweſend ſein, und es wäre mir peinlich, dich allein dort zu wiſſen. Begleiten aber könnteſt du mich auf den Streifereien, wie ich ſie vorhabe, auch nicht.“

„Gut,“ ſagte Nina mit einem ſtolzen Neigen ihres Kopfes, „für mich ift München natürlich weit an-. genehmer.“

„Das denke ich auch.“

Sie war tief verletzt. Wie töricht, daß fie ihm wenig- ſtens indirekt ihre Begleitung angeboten hatte! Er

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wünſchte fie doch gar nicht, er wollte allein fein und ſie hätte das wiſſen können, wiſſen müſſen. |

Nun, er follte feinen Willen haben, fie war ſogar jetzt zu einer dauernden Trennung bereit! Als Künſt— lerin konnte ſie ihr nur vorteilhaft ſein!

Der Winter war raſch vergangen, war ſchon bis in die letzte Faſchingswoche vorgerückt. Wenige Wochen noch, dann brach der Frühling an, wenigſtens der Kalenderfrühling.

Als fie das überdachte, fak Nina Wels im Ankleide- zimmer ihrer eleganten Münchener Wohnung und ließ ſich von einem Friſeur den hübſchen, edel geformten Kopf in ein Meduſenhaupt verwandeln. Heute hielten die Münchener Künſtler ihr großes Maskenfeſt ab, zu dem auch ſie geladen war. Sie wollte als Meduſa erſcheinen in einem weißen Griechengewand von Leinenbatiſt, von deſſen Gürtel ſich einige Dutzend Schlangen bis an den breiten Purpurſaum nieder- ringelten.

Sie hatte fich febr gut abgefunden mit ihrer Stroh- witwenſchaft. Über die erſte, die ſchwerſte Zeit hatten ihr die Verſtimmung über die ihr widerfahrene Krän— kung, über ihres Mannes Gleichgültigkeit und der enthuſiaſtiſche Empfang hinweggeholfen, den ihre Freunde, den die Münchener Geſellſchaft ihr bereitet hatten. Dann waren die Gewohnheit gekommen und die Zerſtreuungen eines ſehr lebhaften Verkehrs. Sie war in die Fluten des geſellſchaftlichen Treibens viel tiefer hineingezogen worden, als fie gewollt hatte. Sie ver- brachte nur ſelten einmal einen Abend allein daheim. Auch öffentlich geſpielt hatte ſie ſchon zweimal, freilich nur in Wohltätigkeitskonzerten größten Stiles. Das ſchadete aber nicht. Mit dem Verdienen hatte ſie es

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nicht eilig, und der Erfolg war nicht ausgeblieben. Die Zuhörerſchaft und die Preſſe hatten ihre Dar- bietungen mit ungeteilter Begeiſterung aufgenommen. Wo ſie ſich zeigte, wurde fie noch eifriger, noch ftürmi- ſcher umdrängt, umſchmeichelt, umworben als vor ihrer Verheiratung. Ihrer Kunſt und deren Wirkung auf die Gemüter, ihrer geſellſchaftlichen Stellung war fie ſicher, und das war gut, denn ihr Mann ſtrebte offenbar nach der Wiedererlangung ſeiner Freiheit, und ſie mochte nicht lebenslang ſeine Penſionärin ſein. Auf eigenen Füßen wollte ſie ſtehen, ſelbſtändig nach jeder Rich- tung, und ihre dreijährige Ehegemeinſchaft mit Franz Wels als eine Epiſode betrachten, die nur kurze Zeit ein flammendes Licht in ihr Leben getragen hatte.

Sie wußte ſehr wenig von ihrem Manne. Briefe hatte ſie ganze drei erhalten, die zwar einige Seiten lang waren, doch ſo wenig enthielten wie ſeine zweimal in der Woche pünktlich eintreffenden Anſichtskarten, die ſie regelmäßig, aber ebenſo kurz beantwortete. Es ginge ihm gut, er ſei zufrieden und arbeite ſehr viel, das war der ganze Inhalt ſeiner Mitteilungen. Das war auch alles, was ſie wußte, freilich nicht alles, was ſie vermutete. Denn ſie las zwiſchen den Zeilen, daß er ſich in der gehobenſten Stimmung befand, und ſie ſchloß daraus, daß er ſich ſeines Alleinſeins freute. Seit etwa zehn Tagen vermutete ſie auch, daß er allein zu bleiben, die zeitweilige Trennung in eine dauernde zu wandeln wünſchte.

Das kam ſo.

Der Impreſario Robitſchek hatte ihr vor einigen Wochen eine ſommerliche Konzertreiſe durch die deut- ſchen und öſterreichiſchen Alpenländer vorgeſchlagen, und ihr Mann ließ ihr freie Hand. Ohne ſeiner ferneren Pläne nur andeutungsweiſe zu gedenken, hatte er ihr

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geſchrieben: „Auch mir erſcheint Nobitſcheks Angebot äußerſt vorteilhaft, und ich bitte dich in dieſer Angelegen- heit, unbekümmert um mich, nur deinen perſönlichen Wünſchen zu folgen. Ich will und kann mich dir nicht hemmend in den Weg ſtellen. Handle, als wäreſt du nicht verheiratet, und ſei verſichert, daß ich mich über deine zweifellos großen Erfolge herzlich freuen werde.“

Das war doch ſonnenklar, Vetter Leinz mochte noch ſo entſchieden das Gegenteil behaupten! Es hieß nicht mehr und nicht weniger als: „Geh du deine Wege, wie ich die meinigen gehe!“

Als ſchlangenſtarrende Meduſa ſtand nun die junge Frau vor dem Spiegel, als Zetti, ihr Mädchen, ein buntprächtiges Chamäleon hereinführte. Es war Vetter Leinz, der bevorzugte Maler ſchöner Frauen.

Er blieb unter dem hellen Türbehang ſtehen und rief: „Unheimlich ſchön!“

Über Ninas Geſicht flog ein Lächeln der Freude.

„Hat dir Franz das Koſtüm entworfen?“

Nina wendete halb den Kopf und antwortete ſpöttiſch: „Als ob er ſeiner Würde ſo ſehr vergeſſen könnte!“

„Wenn's für dich iſt!“

„Viſt du naiv!“ entgegnete fie mit ſcharfem Lachen.

Da wußte Rudolf Leinz, daß ſich die Wolken noch nicht verflüchtigen wollten. „Ich glaube, du kennſt Franz trotz eures dreijährigen Zuſammenlebens noch recht wenig,“ ſagte er vorwurfsvoll. „Er iſt der beſte Menſch auf der Welt und hat ein ſo anhängliches Gemüt wie wenige.“

„Er beweiſt es mir ja täglich!“

„Nina!“ bat Leinz bekümmert.

„Warte nur feine Antwort auf meinen nächſten Brief ab, in dem ich ihm die gerichtliche Löſung unſerer Ehe anbieten werde.“

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Áe

„Nein, das wirft du nicht tun!“ rief der Malcr außer ſich.

Sie trat vor ihn hin und bohrte ihre aufflammenden Augen in die ſeinigen. „Glaubſt du, ich gehöre zu jenen Frauen, die fih jo allgemach, gewiſſermaßen auf Um- wegen abſchütteln laſſen, wenn man ihrer überdrüſſig geworden iſt?“

„Franz iſt deiner nicht überdrüſſig, will dich nicht abſchütteln! Daß fein Betragen ſonderbar ift, gebe ich ja zu, und hätteſt du es erlaubt, ſo würde ich ihn längſt zur Rede geſtellt haben. Ich feke aber nur ein Miş- verſtändnis voraus und —“

„Darum müßte ich wiſſen!“

„Das iſt nicht geſagt.“

„Das iſt nicht geſagt? Bei einem ſolchen Egoiſten!“

„In gewiſſem Sinne iſt jeder Künſtler ſelbſtſüchtig. Er muß es ſein, denn er unterſtellt ſeiner Kunſt alles, auch das eigene Behagen. Tut er's nicht, fo leidet ſeine künſtleriſche Entwicklung not.“

Was Leinz aber auch ins Treffen führen mochte, es blieb ohne Wirkung.

Das Feſt ſtand auf ſeinem 9 der Nauſch des Mumenſchanzes hatte auch die Ernſten, die Älteren ergriffen, und prickelnde Witzreden ſchwirrten wie Leucht- kugeln durch die in das Brillantfeuer elektriſcher Licht- fluten getauchten Säle.

Wie verſtimmt auch Nina Wels gekommen war, ſie erlag ſchließlich doch der Anſteckung, die von den über- mutstollen Männlein und Weiblein ausging. Sie wurde fortgeriſſen von der ſprühenden Luſt ringsum, vom Humor, vom Witz und Geiſt, deren Gaben ver— ſchwenderiſch ausgeſtreut wurden, fortgeriſſen auch von dem wogenden Formen- und Farbenmeer, das feinen

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Zauber vor ihr entfaltete. Sie machte ſchließlich mit, ſie überbot ſich gar an launigen Einfällen. Das bunte Treiben wurde ihr zum Ventil, das der künſtlich nieder- gehaltenen Erregung der beiden letzten Wochen einen Ausweg gewährte.

Rudolf Leinz beobachtete ſie kopfſchüttelnd.

War das herzloſer Leichtſinn oder die verzweifelte Fröhlichkeit jener, die jauchzend und jubilierend dem Abgrunde entgegentanzen, den ſie ſich wahngeſpornt ſelber gruben?

Er kannte die Frau ſeines Vetters zu wenig, um ih ein Urteil zu bilden.

Aber er wollte ſie kennen lernen!

Ein von Straußen gezogener RNoſenwagen wurde kurz vor der großen Pauſe in den Saal gefahren, um- geben von weißgekleideten Genien. Einige Pierrots, die Nina ſeit einer längeren Zeit ſchon umſchwirrten, ſchloſſen jetzt einen Kreis um ſie und baten, ſie auf ihren Thron heben zu dürfen. Und ehe ſie noch antworten konnte, fühlte ſie ſich ſchon auf eine rieſige Geige ge— hoben und unter dem Rufe: „Heil der Geigenkönigin!“ nach dem Wagen getragen. Hier richtete einer aus der geflügelten Schar eine kurze Anſprache an ſie, ſich und ſeine Brüder in ihre Dienſte ſtellend, dann überreichte er ihr eine Geige, ein wundervolles altes Inſtrument, deſſen Wert den der ihrigen wohl 12 überſteigen mochte.

Nina, die ungeachtet ihrer Verblüffung ſogleich be- griff, daß es ſich um eine ihr vom Feſtkomitee zu- gedachte Huldigung handelte, zögerte mit ihrem Dank nicht. Stolzerfüllt, mit ſtärker ſchlagendem Herzen und ſchneller kreiſendem Blute hob ſie die Geige an das Kinn, während der Wagen langjam mit ihr weiter- zog. Einige prüfende Striche, dann ſetzte ſie mit voller

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Kraft ein, umbrauſt von ſtrömenden Melodien, be- feuert von dem Gedanken: „Jetzt gilt's, dein Beſtes zu geben!“

And fie ſpielte, wie fie in ihrem ganzen Leben noch nicht geſpielt hatte. Ein Schluchzen, ein Singen und Klingen, ein Jubeln und Jauchzen ſtieg aus den Saiten des Inſtruments hervor, daß es ihr ſelbſt bald wie Eis, bald wie glühendes Entzücken durch die Adern rann.

Als Ninas Vortrag beim Stilleſtehen des be— täubende Wohlgerüche aushauchenden Gefährtes an ſeinem Ausgangspunkte jäh abbrach, ſprach ihr der Genius, der die Begrüßungsrede gehalten, im Namen der geſamten Münchener Künſtlerſchaft ſeinen Dank aus. Die Pierrots mit der Rieſengeige ſtanden bereit, ſie wurde wieder darauf gehoben und in der gleichen Weiſe wie vorhin in den Speiſeſaal und an die Tafel des Komitees getragen, wo ihrer ein mit Blumen- gewinden umflochtener Ehrenſitz wartete.

Die Tafelgenoſſen erhoben die Sektkelche, die hell zuſammenklangen unter dem Rufe: „Heil der großen Geigenkönigin!“ |

Wer an den übrigen Tiſchen fak, wer fih zwifchen ihnen bewegte, ſtimmte ein in dieſen Nuf, und Nina, durchſtrömt von einer ſtolzen Freude, einem Triumph- gefühl wie nie zuvor, neigte ſich dankend nach allen Seiten.

Sie beſaß den höchſten Schatz, der Menſchen werden kann: die Kunſt, die Herz und Sinne beſtrickende Kunſt der Töne! Was blieb ihr noch zu wünſchen?

„Tanzen und ſpielen tuſt, feiern und umanand tragen laßt di, dein’ Mann aber hat 's Unglück beim Krawattl packt! Schamft di net, du!“ ziſchelte es ſchadenfroh in ihre überſchäumende Siegesfreude, in ihren Künſtlerjubel hinein.

o Novelle von Carola v. Eynatten. 123

Mit einem haſtigen Ruck wendete Nina den Kopf, durch das Gewühl der ub und zu ſtrömenden Masken ſchob ſich eilig die in graue Lumpen gehüllte gebückte Geſtalt eines alten Weibes, das an einer Krücke bum- pelte.

Was war das? Franz ſollte im 1 Anglück ſein fern von ihr? | |

Der Kopf wirbelte ihr.

Hatte ſie nur das Geziſchel der Bosheit, des Neides vernommen, das ihr den eben erlebten Triumph ver- gällen wollte? Aber ſicher, es war nichts weiter, es konnte nichts weiter ſein! Wie es auch ſtand zwiſchen ihrem Mann und ihr ein Unglück hätte er ihr doch nicht verſchwiegen!

Oder ſollte es plötzlich über ihn gekommen ſein, konnte ſie es noch nicht wiſſen? Wie aber wußte es dann die häßliche Sorgengeſtalt an der Krücke? l

Der Gemütserſchütterung folgte eine ſtachelnde Un- ruhe. Mit ſtarrem Lächeln ſaß Nina an der. Tafel, nahm fie die Liebenswürdigkeiten der Komiteemit⸗ glieder auf. Sie plauderte zwar auch, doch nur mecha- niſch, und ihr Auge glitt immer wieder durch den Saal auf der Suche nach Leinz. Er war nicht zu ſehen, und in ſeiner auffallenden Maske hätte ſie ihn ſicher bald gefunden.

Faſt vier Uhr wurde es, als er endlich hinter ihrem Rofenfiße auftauchte, fie erlöſend aus einer namen- loſen Pein.

„Willſt du heimfahren, oder bleibſt du noch?“ fragte Leinz.

Die junge Frau ſtand ſofort auf, ohne auf die ſtürmiſchen Proteſte der Tafelgenoſſen nur zu ant— worten. Sie vernahm ſie kaum, beherrſcht von dem einzigen Gedanken: Franz im Unglück!

124 Das Weib an der Krücke. D

An Rudolfs Arm und geleitet von mehreren Romitee- herren durchſchritt fie den Gual und ſtieg die breite Steintreppe hinunter. Der Wagen kam auf den Nuf eines Dieners vors Portal, Ninas Geduldprobe war aber damit noch nicht zu Ende. Ihre Begleiter dankten ihr nochmals für den Genuß, den ſie den Feſtgäſten bereitet hatte, eine neue Flut liebenswürdigſter Schmeicheleien rauſchte über ſie hin.

Endlich klappte der Wagenſchlag, und die Pferde zogen an.

„Weißt du, daß Franz im Unglück ift weißt du, was ihm zugeſtoßen iſt, ob er krank oder was es ſonſt iſt?“ ſtieß ſie angſtvoll heraus und preßte die Hand ihres Begleiters.

„Seit wann leideſt du an Halluzinationen, Frau Nina?“ verſetzte er ſcherzend.

Mitt haſtigen Worten berichtete fie ihm ihr Erlebnis mit dem Weib an der Krücke.

Da ſagte er mit einem zwar nur flüchtigen, doch merkbaren Zögern: „Aber ich bitte dich was wird

es fein? Ein Schabernack, den eine Konkurrentin, eine Neiderin dir ſpielen wollte vielleicht aber auch bloß ein Dummerjungenſtreich. Mir wenigſtens iſt nichts bekannt. Die letzte Karte von Franz war ganz munter, die fällige läßt freilich länger auf ſich war- ten als ſonſt, doch ſcheint mir das eher ein gutes als ein ſchlechtes Zeichen zu ſein. Wem es übel geht, der ſchreibt.“

„Es kommt auf den Charakter an. Franz iſt anders als andere. Es mag ja töricht ſein, aber ich bin in ſchwerer Sorge. Wie eine Hexe wirkte das abſcheuliche Weib auf mich, als es ſo eilig davonhinkte.“

Rudolf Leinz lachte. „Du biſt doch ſonſt nicht ſo ſchreckhaft!“

D Novelle von Carola v. Eynatten. 125

„Nichts weniger als das, aber ich kann mir nicht helfen T ö

„So ſchicke eine Depeſche nach Nervi,“

„Weiß ich denn, ob Franz mir die Wahrheit be- . richtet? Er iſt mitunter ſo ſonderbar, und in der letzten Zeit vor unſerer Trennung konnte ich öfter ein gewiſſes Mißtrauen an ihm beobachten.“

„Nun, krank iſt er nicht, deſſen bin ich ſicher. Wann ſollteſt du wieder Nachricht von ihm haben?“

„Am Freitag.“

„Alſo übermorgen. Warte ſie zunächſt einmal ab, dann wird ſich ja zeigen, was iſt.“

„Sollte ihm wirklich ein Unglück begegnet ſein, wüßte ich dann gar nichts, hätte aber zwei koſtbare Tage verloren. Darum denke ich, das beſte wird ſein, ich fahre ſelbſt nach Nervi.“

„Aber bedenke doch, daß ſich das kaum paßt, wenn man die Scheidung einleiten will,“ erwiderte Leinz ſpöttiſch.

„Das iſt eine Sache für ſich, und in einem ſolchen Fall kommt ſie ſchon gar nicht in Betracht.“

„Ich verſtehe wirklich nicht, wie du ein dummes Maskengeſchwätz fo tragiſch nehmen kannſt!“

„Ich verſtehe es auch nicht, aber es iſt nun einmal jo und fo bleibt es bei der Reife.“

Der Wagen bog in die Leopoldſtraße ein, in der ſich Ninas Wohnung befand, und die junge Frau bat: „Komm mit, Rudolf, und hilf mir ordnen. Ich muß manches verſchließen und meinen Koffer packen.“

„Aber —“

„Sag nichts mehr dagegen! Ich würde ſchon mit dem erſten Zug fahren, müßte ich nicht auf der Bank Geld erheben.“

„Dieſen Gang kannſt du ſparen. Ich bin zufällig

126 Das Weib an der Rrüde. o

bei Kaſſe und ftrede dir vor, was du brauchſt,“ erbot ſich der Maler.

„Danke. Ich will eine bedeutende Summe mit- nehmen für alle Fälle, denn man weiß nicht, wie man ſie braucht.“

Der Wagen hielt, und die verſchlafen dreinſchauende Jetti machte ein äußerſt verblüfftes Geſicht, als ihre Dame ihr erklärte, an Schlaf ſei für dieſe Nacht nicht mehr zu denken. Sie müßten ſofort ans Packen gehen. „Vorher aber kochſt du raſch für uns einen ſtarken Kaffee und bringſt alles herbei, was ſich Eßbares im Hauſe findet.“

Dabei ſchob ſie dem Mädchen ein Fünfmarkſtück in die Hand als Entſchädigung für den Raub ihrer Nacht- ruhe.

„Und jetzt an die Arbeit!“ ſetzte fie zu dem Vetter gewendet hinzu.

„In dieſem wundervollen Koſtüm?“

Auf den Lippen der jungen Frau erſchien ein mattes Lächeln, als ſie mit der Hand über die Stirn ſtreichend ſagte: „Natürlich werde ich mich zuvor umkleiden, ich dachte nur im Augenblick nicht daran. Bitte, ſieh in- zwiſchen den Fahrplan nach er hängt im Vorzimmer.“

„Du ſollteſt ein paar Stunden wenigſtens ſchlafen!“

„Dazu habe ich im Zuge Zeit genug. Wenn aber du müde biſt —“

„Mir kommt's auf eine durchwachte Nacht nicht an.“

Als Nina eine Viertelſtunde ſpäter in einem grau— wollenen Schneiderkleide wieder erſchien, wurde ſie von Rudolf mit der Bemerkung empfangen, daß um zehn Uhr ein direkter Schnellzug abginge.

„Das paßt mir ich danke.“

Zimmer für Zimmer wurde vorgenommen, dabei

ü Novelle von Carola v. Eynatten. 127

gab es für den Maler jedoch nichts weiter zu tun, als die feiner Obhut beſtimmten Schlüffel zu den Schränken und Truhen in Empfang zu nehmen, in denen die junge Frau alles einſchloß, was ſie an Wertſtücken beſaß.

„Kann ich dir denn ſonſt gar nichts helfen?“ fragte er nach einer Weile.

Nina ſchüttelte den Kopf. „Du hilfſt mir durch dein Hierſein,“ antwortete ſie. „Es bannt wenigſtens einigermaßen die mich verfolgenden unheimlichen Ge- danken. Verzeihe nur, daß ich dich aus ſo ſelbſtſüchtigen Gründen des Schlafes beraube.“

„Im Gegenteil, ich freue mich, wenigſtens zu etwas nütze zu fein. Was find denn das aber nur für un- heimliche Gedanken?“

Ein brennendes Rot breitete ſich jählings über ihre Wangen, kroch die Stirn hinan. Leiſe, zögernd ant- wortete ſie: „Ich fürchte das heißt ich denke ſeine Nervoſität könnte um ſich gegriffen, bedenkliche Er- ſcheinungen hervorgerufen haben —“

„Heißt im ehrlichen Deutſch: Du fürchteſt, Franz könnte verrückt geworden ſein?“

Nina umging eine direkte Antwort und ſagte ſtockend: „Denke doch an die abſonderliche Art ſeiner einſtigen Werbung, denke an das Mädchen von San Hilario, an unſere Lebensführung in den beiden Jahren unſeres Beiſammenſeins. Wie er es trieb, wie fonder- bar er war, habe ich dir ja erzählt.“

„Das hat nichts zu bedeuten, Bäslein,“ meinte Leinz beruhigend, denn quälende Angſt ſprang aus jedem ihrer Züge. „Wie ich ſchon geſagt habe, Franz ſtand und ſteht vielleicht noch heute im Bann einer großen Idee, die ſich nicht klar und feſt geſtalten wollte. Darum hatte er keine Ruhe, darum wollte er niemand ſehen, nichts hören die Scheu vor der Ablenkung, vor dem Ein—

128 Das Weib an der Rrüde. a)

greifen der Außenwelt in die feiner Gedanken. Nein, krank iſt er nicht, eher vermute ich Geldſorgen.“

Nina ſah ſehr verwundert aus bei dieſer Eröffnung. „Daran habe ich noch mit keinem Gedanken gedacht, und ich glaube das auch am wenigſten. Er ift anſpruchs- los und ſparſam. Auch erhalte ich mein Geld pünktlich an jedem Erſten.“

„Auch jetzt noch?“

„Ja.“

„Und doch bleibe ich bei meiner Vermutung.“

Nina blieb einige Augenblicke ſtill, ehe ſie antwortete: „Ich kann mich ihr nicht anſchließen. Franz war ſo nervös —“

„Alſo, dann ſollſt du alles erfahren, was ich weiß. Mit Onkel Edelmeyer ſoll es das bleibt aber unter uns ſehr ſchlecht ſtehen, und Tatſache iſt, daß der alte Herr das letzte Mal, da ich ihn geſehen, ſehr ſorgenvoll war. Er hat große geſchäftliche Verluſte gehabt. Ob der Zuſammenbruch der Fabrik noch abwendbar iſt, erſcheint ſehr fraglich, und ſo dürfte er gegenwärtig kaum in der Lage ſein, die Franz ausgeworfene Rente weiterzuzahlen.“

In Ninas Augen ſtrahlte es auf. „Wenn das alles wäre, welch ein Glück!“ rief ſie tief atmend.

„Na, das Glück wäre doch recht mäßig!“

„Sit die Geſundheit nicht unvergleichlich mehr wert? Zudem brauchen wir die Rente ja gar nicht. Franz hat ein kleines Vermögen, ich habe ein ganz anſehn— liches Bankdepot, und wir können beide tüchtig ver— dienen. Hätteſt du's doch gleich geſagt, ſtatt mich in dieſer Angſt zu laſſen!“ |

„Ich wußte nicht, wie du es aufnehmen würdeſt.“

Ein finſterer Schatten überflog ihr Geſicht, und ſie rief heftig: „Du das iſt eigentlich eine Beleidigung!

U Novelle von Carola v. Eynatten. 129

Ich habe Franz doch nicht wegen feiner Rente ge- heiratet!“

„Das hab' ich auch nicht behauptet —“

„Na, viel beſſer war das, was du ſoeben ſagteſt, nicht!“

Leinz zuckte die Schultern. „Die Verhältniſſe liegen eben heute ganz anders als vor drei Fahren, ihr ſteht nicht mehr, wie ihr damals zuſammen geſtanden habt.“

„Eine Verſtimmung nichts weiter, die fih augen- blicklich ausgleicht, wenn ein bedeutungsvolles Ereignis eintritt! Und bedeutungsvoll wäre ja der Verluſt der Rente, nur meine ich, daß er eher eine glückliche, als eine unglückliche Bedeutung hätte.“

„Das iſt eine überraſchende Auffaſſung!“

Nina ſchüttelte den Kopf. „Gar nicht fo über- raſchend, wie es ſcheinen will,“ widerſprach fie lebhaft. „Gezwungen, ans Verdienen zu denken, werden ſich ſeine Schrullen verlieren, wird Franz das Geſpenſt von San Hilario laufen laffen, fih mit feiner letzten wunder- baren „Verheißung“ begnügen, fie an die Öffentlichkeit bringen und mit einem Schlage ein ganz Großer ſein!“

„Du marſchierſt in flottem Tempo!“

„Hätteſt du das Bild geſehen, ſo würdeſt du dasſelbe ſagen es iſt von überwältigender Wirkung!“

„Und du glaubſt, daß Franz auch gleich einen Käufer dafür findet?“

„Das weiß ich nicht, und es iſt mir auch gleichgültig. Verkauft er vorerſt weder dieſes noch ein anderes, ſo leben wir eben von dem, was ich verdiene.“

„Das wird er nicht wollen.“

„Nein, ich werde wohl Mühe haben, ihn zur Ver— nunft zu bringen, aber ich ſetze es ſchon durch. Daß er ſo wurde, liegt zum Teil auch an mir, ich hätte ſchon damals, als wir zuſammen in Nervi waren, meinen

1914. V. 9

130 Das Weib an der Krücke. 2

ganzen Einfluß aufbieten follen, um ihn von dem Un- finn loszueiſen. Ich habe mich aber anſtecken laffen von ſeinem Wahn. Übrigens werde ich noch vor meiner Abreiſe dem Robitſchek mitteilen, daß ich nächſte Woche die Unterhandlungen wegen der vorgeſchlagenen Kon- zertreiſen aufnehme.“

„Nichts überſtürzen, Nina! Ich würde erft Franz hören, ehe ich mich bände,“ warnte der Vetter.

„Ich binde mich nicht, will aber auch nichts ver- ſäumen,“ antwortete ſie, entflammt für den Plan, der ihr bedeutende Einnahmen in Ausſicht ſtellte. Fünf Stunden ſpäter ſtand Rudolf Leinz in der Ausfahrthalle des Bahnhofs. Mit lächelnder Miene ſchaute er dem Schnellzuge nach, der Nina Wels nach Genua entführte.

Mit ängſtlich klopfendem Herzen ließ Nina die freudige Begrüßung des lebhaften Signor Amati über ſich ergehen, als ſie am anderen Tage das Hotel Colombo in Nervi betrat, in dem ſich ihr Mann auch diesmal wieder häuslich eingerichtet hatte.

Wels war wie immer, ſolange die Sonne am Him- mel ſtand, oben an der Arbeit. Einen fleißigeren Pittore hatte Herr Amati noch in ſeinem ganzen Leben nicht geſehen, er gönnte ſich keine Erholung, keine Ruhe, und das Gemälde wunderbar überirdiſch unver- gleichlich! Wenn es ſeinen Schöpfer nicht weit über die Grenzen Europas zu einem berühmten Maler machte, dann verſtand die Welt nichts mehr von Kunſt und Malerei. Die Signora käme wohl, es zu ſehen, ehe es verpackt und fortgeſchickt würde?

Nina verging faſt vor Ungeduld bei dem haſtigen Geplauder ihres alten Freundes, den ſie durch eine Unterbrechung nicht kränken mochte. Als aber der Rede—

o Novelle von Carola v. Eynatten. 131

ſtrom beim Treppenſteigen ſtockte, fragte fie, ob ihr Mann trotz der vielen Arbeit geſund und munter wäre.

Die heilige Jungfrau und die lieben Heiligen feien geprieſen, Signor Wels wußte nicht, was Unwohlſein oder üble Laune war. Überhaupt genöſſen die deutſchen Künſtler einer beſonderen Gnade, ſie hielten mehr aus als alle anderen.

Dabei öffnete der Hotelbeſitzer ihr die Tür eines faſt ſaalartigen Raumes. Drei Perſonen waren drinnen. Eine ſtrickende Alte, Franz Wels, der, auf einer Treppenleiter rittlings ſitzend, an einem Gemälde von etwa drei Meter Höhe arbeitete, und auf einer teppichumhangenen Kiſte wie auf einem Throne der Schönheit ein junges Mädchen, eine liebreizende, ſtrahlende Erſcheinung.

Das Herz der jungen Frau ſchlug heftig. Sie war ſo aufgeregt, daß ſie kaum hörte, als der Wirt ſchmetternd rief: „La Signora!“ Vor ihren Augen lag ein Schleier, ſie ſah nur ſchattenhaft, wie ihr Mann herunterſprang von ſeinem Sitze; wie die beiden Frauen ſie neugierig betrachteten.

„Nina mia!“ rief Wels und umſchlang fie, küßte ihren Mund, ihre Augen, ihre Wangen. „Nina mia! Nina mia!“

Und den Arm unter den ihrigen ſchiebend, führte er fie im weiten Bogen um das auf dem Boden auf- ſtehende Gemälde und gab ihr dicht an der jenſeitigen Wand ihren Platz, daß ſie die ganze Leinwandfläche mit einem Blicke zu überſchauen vermochte.

Aus ſtrahlendem Atherblau, in einem Halbkranz muſizierender Engelchen ſchwebte in duftigen Schleiern, getragen von goldig durchleuchteten Flügeln die fadel- ſchwingende „Verheißung“ zu der tief unter ihr grünenden Erde. Es war das Mädchen auf der Kiſte,

152 Das Weib an der Krücke. o durchgeiſtigt, idealiſiert und doch kenntlich auf den erſten Blick.

Mehrere Minuten ſtand Nina Wels wortlos vor der neueſten Schöpfung ihres Mannes, und als ſie ſich zu ihm wendete, ihm ſtill die Hand gab, ſtanden ihr die Augen voll Tränen der Freude.

Er beugte ſich über ihre Hand und küßte ſie.

„Du haſt recht gehabt, Franz, als du dich weigerteſt, die Vorgängerin dieſer „Verheißung“ in die Welt zu ſchicken. Sft fie das Mädchen von San Hilario?“

„Ja Giulietta Zerbi ift das Kind einer genueſiſchen Brezelverkäuferin, die Alte hier ihre Großmutter, die ich mit ihr hier im Hauſe eingemietet habe.“ Und ihre beiden Hände in die feinen faſſend, fuhr er fort: „Und was bringt dich in das verabſcheute Nervi, du meine ſchöne Königin?“

And als fie ihren geflüſterten Bericht beendet hatte, rief er froh: „Gerade das Gegenteil iſt wahr, Nina ich ſitze dem Glück im Schoße wie nie zuvor. Die Rente iſt allerdings verloren vielleicht für immer, denn der arme Onkel weiß es ſelbſt noch nicht. Doch das iſt jetzt belanglos. Sei gütig zu Giulietta willſt du? Sie iſt ein liebes, ein braves Kind!“

Ein Händedruck Ninas, begleitet von einem freund- lichen Blick auf das junge Mädchen, verſprach es ihm.

„Und geſegnet fei das „Weib an der Krücke“, das dich mir wieder in die Arme geführt hat!“ jubelte er jetzt und hob ſein junges Weib in die Höhe ſeiner „Ver— heißung“ entgegen.

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Der Serliner Tiergarten. von Ernſt Seiffert.

mit s Bildern. * (Nahörud verboten.) Bean hat fünf größere Parkanlagen: für den

Weſten den Tiergarten, für den Norden den Humboldthain, im Nordoſten den Friedrichshain, im Often den Treptower Park und im Süden den Vit- toriapark mit dem Kreuzberg.

Auf dem Stadtplan geſehen, erſcheinen ihre gerad— linigen, wohlverteilten Komplexe wie die Atmungs— organe des ſtädtiſchen Rieſengebildes.

Obwohl nun die anderen vier Parkanlagen an Größe dem Tiergarten zum Teil nicht viel nachſtehen, an landſchaftsgärtneriſcher Kunſt ihn ſogar in manchen Fällen übertreffen, hat der Tiergarten es doch nur allein zu nationalem und internationalem Rufe bringen können.

Das hat ſeine guten Gründe.

Bedeutungsvoll für den Tiergarten iſt vor allem natürlich feine Tradition ein gut Stück preußiſch-ber⸗ lineriſcher Geſchichte knüpft ſich an ihn. Er, deſſen grüne Front ſich am Brandenburger Tor, am Reichstags— gebäude, dann am Schloß Bellevue bis hin zum Zoologiſchen Garten zieht, er, der die Verbindungs- ſtraßen zur weſtlich gelegenen Nachbarreſidenz Pots— dam in ſich aufnimmt heute merkt man ja wenig mehr davon, aber einſtmals war dieſe Straße für den

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154 Der Berliner Tiergarten. 2

Verkehr zwiſchen beiden Städten ſehr wichtig er war ſchon durch dieſe Lage von Anbeginn an der geeignetſte Tummelplatz für die elegante Welt der Hauptſtadt. Unzählige Male find die farbenprächtigen Bilder höfiſchen Prunkes durch ſeine grünen Alleen gezogen, mehr und mehr erhielt dadurch der Tiergarten im Laufe der Jahre ſeinen heutigen hohen hiſtoriſchen Reiz.

Vornehmlich durch ihn wurde der „Weſten“ der feine Stadtteil Berlins. Wohnte der Kronadel einft- mals faſt ausſchließlich in der inneren Stadt, namentlich Unter den Linden, fo ließ er nun feine Paläſte und Villen in den Straßen bauen, die den Tiergarten ein- ſäumen. Als dann der große wirtſchaftliche Aufſchwung Deutſchlands und damit Berlins gekommen war, da dauerte es denn gar nicht lange, bis fih zu den beſtehen⸗ den Ariſtokratenvillen die der Hochfinanz gefunden hatten, und heute ſehen wir alſo die Tiergartenſtraße mit ihren vielen vornehmen Nebenſtraßen, die Straße In den Zelten kurz alles, was um den weit— gedehnten Park herumgelagert ift, als Berlins vor- nehmſten Stadtteil unter dem Namen „Tiergarten viertel“ vereinigt.

Dabei iſt der Tiergarten ſtets volkstümlich geblieben.

Hierin alſo iſt ſein Vorrang zu ſuchen, gelingt es doch ſelten, einer Sache durchaus feinen Charakter zu geben und ihr dabei die populäre Geſtaltung nicht zu nehmen.

Es war mit Rückſicht auf diefe Prinzipien daher nicht ungeſchickt, daß man mit zahlreichen Denkmälern dem Tiergarten eine gewiſſe Feierlichkeit gab, ihm gewiſſermaßen ſeinen hiſtoriſchen Wert in Stein ge— meißelt beſcheinigte. Für die aus grünen Büſchen grüßenden weißen Marmorbilder wußte man maleriſche

D Von Ernſt Seiffert. 135

Plätze zu finden. So ſind in der Siegesallee der Hohen— zollern, nicht weit davon die wundervollen Standbilder der Königin Luiſe und König Friedrich Wilhelms III.

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Reitweg am Zoologiſchen Garten,

aufgeſtellt, am Goldfiſchteich find Haydn, Mozart, Beethoven zu einem Komponiſtendenkmal vereinigt, an der Steingartenſtraße fand Richard Wagners Monu- ment den gebührenden Platz, und mitten im Grünen, an einem der ſtillen Teiche ſteht Lortzings Ebenbild.

136 Der Berliner Tiergarten. o

Viele andere Gruppen, Tuaillons „Amazone“, die Jagdgruppen am Großen Stern, einzelne Tiergruppen ſtehen dazwiſchen.

Der Tiergarten hat im Sommer nur wenige ſtille Augenblicke. Kaum ift die fünfte Morgenſtunde an- gebrochen, fo öffnen die Neithäuſer am Kurfürſtendamm, am Zoologiſchen Garten, am Brandenburger Tor ihre Pforten, und ganze Scharen reitluſtiger Frühaufſteher ſtrömen aus. Zu denen gefellt fih noch das edle Pferde- material privater Ställe, die Offizierburſchen warten ihrer Herren mit den Dienſtpferden, und nun dauert es kaum ein halbes Stündchen, bis eines der glänzend- ſten Bilder weltſtädtiſcher Eleganz aufgerollt iſt. Durch die gutgepflegten Reitwege, die meiſt von geſchorenen Hecken eingeſäumt ſind und längs deren Fußgängerwege führen, galoppieren ganze Kavalkaden. Hier ſieht man luftige Geheimratstöchterchen an einem bedächtig trabenden Trupp ſorgenſchwerer Diplomaten vorbei- ſprengen, zwiſchen den ſchneidigen Rennreitern der Garde ſieht man Miniſter, den Reichskanzler, dazwiſchen finden ſich Könige der Börſe bei dem Morgenritt, Schauſpieler und Brettlſterne fehlen auch nicht kurz, es iſt ein Bild, vielgeſtaltiger und geſellſchaftlicher kaum auszudenken. Um die ſechſte Stunde nähert ſich vom Schloß den Reitweg der Linden entlang zu— meiſt der Kaiſer mit ſeinem Gefolge. Früher befand ſich faſt immer unſer Prinzeßchen dabei, nun aber muß der Tiergarten dieſen liebenswürdigen Gaſt ent— behren.

Von Spaziergängern ift der Park in dieſer Zeit noch faſt völlig frei. Hie und da ſieht man einen Frühaufſteher einſame Wege gehen, meiſt aber find die Fußwege unbelebt.

Umſäumt von üppigen Büſchen liegt der Hippo-

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Von Ernſt Seiffert.

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138 Der Berliner Tiergarten. u

Rund- und Hindernisbahnen, Hecken, Waſſergräben, Sprunghügel, wie es ſich eben für den erſtklaſſigen Reitplatz Berlins gehört. In der Mitte der grok- zügigen Anlage ſteht der Muſikpavillon, den der Kaiſer

Im Hippodrom.

errichten ließ, um durch Kavalleriemuſik dem reiter— lichen Berlin ein Morgenkonzert geben laſſen zu können. Mit Freuden wurde damals dieſe unterhaltſame Neue— rung aufgenommen, man nannte fie „das Konzert- reiten“ und erhob fie zum großen Stelldichein der vor- nehmſten Welt. Bei dieſer Gelegenheit gab es neben den geſellſchaftlich bemerkenswerten auch originelle ſportliche Momente, beſonders an den Sprüngen. Be— ſtaunt und beneidet jagte der nun nach außerhalb ver-

a Von Ernſt Seiffert. 139

ſetzte Herrenreiter Champion Graf Hold feinen Voll- blüter über den Kurs, an anderer Stelle übte der be— liebte Hofſchauſpieler Karl Clewing feinen ſchnee—

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Morgenpromenade der Füngſten von Berlin W.

weißen Zelter im Hügelſprung, tüchtig gefolgt von dem überall ſcharmanten und in allen Sätteln gerechten Metropoltheater-Star Madge Leſſing.

Die in immer kürzeren Zwiſchenräumen vorbei—

140 Der Berliner Tiergarten. fa) brauſenden Stadtbahnzüge zeigen das Erwachen der werktätigen Großſtadt an, langſam verliert fih nun der Reiterſchwarm. An der „Giftbude“ wird noch ſchnell ein Satteltrunk eingenommen, dann traben ſie davon der Offizier in den Dienſt, der Geſchäftsmann zu ſeiner Frühpoſt, das Geheimratstöchterchen ins Bad. Hof- geſellſchaft und hohe Diplomaten ſind längſt wieder verſchwunden, ſie hatten ſogar meiſt kaum Zeit, der „Giftbude“ den eigentlich ſelbſtverſtändlichen Beſuch zu machen.

Das ſeltſame, ganz im Laubwerk verſteckte Lokal kennen ſelbſt die meiſten Berliner nicht, denn eigentlich iſt es nur eine höchſt primitive Wirtſchaft, der man ihre hohe Kundſchaft gewiß nicht zutrauen würde. So klein iſt ſie, ſo inmitten reitwegumfaßter hoher Sträucher und Laubbäume liegt ſie, daß der Fußgänger ſie gar nicht wahrnehmen kann.

Gegen die neunte Morgenſtunde bekommt der Tier- garten ein anderes Bild. Wohl huſchen noch ſchnelle Reiter lautlos zwiſchen den Gebüſchen vorbei, bald aber ſind auch dieſe Nachzügler nicht mehr zu ſehen. Inzwiſchen iſt das Heer der Ammen, Kindermädchen und Bonnen mit ihren Schutzbefohlenen angerüdt.. Keine der vielen Bänke bleibt unbeſetzt, Kinderwagen und Kinderlachen ſind überall.

Langſam ziehen nun auch würdige alte Rentier— geſtalten ihres Weges, bleiben hie und da vor einem Kinderwagen ſtehen und freuen ſich an der jungen, roſigen Menfchheit, Eine warme, weiche Stimmung liegt um dieſe Zeit auf allen .

Dort, wo die ſogenannten „Buddelplätze“ ſind, findet ſich dann das Kindervolk zuſammen. Emſig ſieht man Hunderte kleiner Hände fih regen, um Sand- bäckereien, Burgen oder ſonſt was zu ſchaffen; rings-

141

Don Ernſt Seiffert.

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142 Der Berliner Tiergarten. u

durch die Büſche. Von der fernen Siegesallee klingt ein luſtiger Reitermarſch der heimkehrenden Garde- ulanen herüber.

Auch die Alten hören die Weiſen, auch ſie wiegen Kopf und Hände ein wenig nach dem Rhythmus der Militärmuſik, deren Klänge weiter und unbeſtimmter werden. Längſt ift die Wärme der Vormittagſonnen- ſtrahlen zu fühlen, die koſend und zitternd zwiſchen Stämme und Blätter helle tanzende Lichtflecken malen. Im „Roſarium“ es liegt an der Straße, die Char- lottenburg mit dem Brandenburger Tor verbindet iſt das bunte Blühen aufgewacht. Aber Tauſende edler Rofen leuchten mit brennenden Blättergründen der Sommerſonne entgegen, ungezählte Knoſpen ſieht man ſchwellen, ſich dehnen, aufbrechen. Es liegt eine mär- chenhafte Poeſie in dieſem Noſengarten Berlins.

Zwiſchen dunklen Teichen ſchwermütiger Waffer- roſen ſteigt ſchlank und weiß das Marmorbild unſerer Kaiſerin auf. Duftbetäubt geht man mit leiſe fnir- ſchendem Schritt auf den gelben Kieswegen und läßt ſich gern ganz hinnehmen von dem weichen Zauber.

Schwerer fängt die Sonne an zu lajten, und tiefe Stille wird umher; nur dann und wann tönt von der Straße der jähe Warnungston eines Automobils.

Die Tiſchzeit rückt heran, es leert ſich der große Park. Aber nur wenige Stunden, ſo rauſcht wieder der Menſchenſtrom durch ſeine Wege, ſeine Adern, diesmal Fremde im Schwarm. Das Leben in den „Zelten“ beginnt, Nachmittagskonzerte tönen, ſchon ſieht man auch Einheimiſche ſpazierengehend den frühen Feier- abend nützen.

Nun wird mit den neigenden Spätnachmittag— ſtunden der Tiergarten im wahrſten Sinne Volkspark. Ungewöhnliches Leben herrſcht auf allen Wegen, Ge—

D Von Ernſt Seiffert. | 143

ſchäftsdebatten, Klatſch, Familienrat, tändelnde Flir— terei das alles rauſcht an dem Ohr vorüber.

Am Neuen See.

Der Berliner Tiergarten, o

In dem neueren Teil des Tiergartens, am fo- genannten Neuen See, der im Winter die ſchönſte Eis—

Tiergarten im Nebel.

bahn iſt, entwickelt ſich friſches Leben auf dem Waſſer. Überall plätſchern Mietsgondeln umher, und Scherz- worte fliegen hinüber und herüber. Schließlich ſieht

z Don Ernſt Seiffert. 145

man ein Boot, „bemannt“ mit lauter Warenhaus- dämchen, mit dem anderen übermütiger Studenten um die Wette rudern. Wer weiß, welches das Ziel ſein wird? | |

Langſam kommt der Abend herauf. An der Peri-

Das Brandenburger Tor im Schnee.

pherie des Tiergartens blitzen die Lichter der Lokale auf, mit vollen Händen werfen ganze Lichtgarben die „Zelte“ herüber. Im Augenblick ſpäter flackern auch die weißen Bogenlampen an den Hauptwegen empor und gießen ihre weißes Licht magiſch durch die Dunkel- heit. Das laute Sprechen, das laute Lachen, die vielen Menſchen haben ſich verſtreut, nur tiefgeheimſte Heim- 1914. 10

146 Her Berliner Tiergarten. u

lichkeit flüſtert an den Wegen, und nur ſelten geht ein Einſamer.

Nur auf den Alleen brandet noch Leben. Das Publikum ſieht man in Gruppen vorübergehen, die vom Theater nach Haufe ſtreben.

Auf Bänken die Pärchen In Liebe verſunken, Schäfer und Schäferin Grad wie im Märchen.

Wie lange dauert's, dann ſchickt der Morgen ſeine

jungen Strahlen, und der neue Tag erwacht. Im Winter und bei nebeligem Wetter liegt der Rieſenpark freilich meiſt ſtumm da. Nur wenige Sonder- linge finden ſich dann, ihn zu beſuchen, aber, wahrlich, ſie haben nicht das ſchlechteſte Teil erwählt!

Jedem Städter liegt etwas wie Stolz im Wort, ſpricht er von dem Park ſeines Ortes wer wollte es den Berlinern verdanken, daß ſie mit der weichen Betonung liebevoller Anhänglichkeit fagen: „Anſer Tier- garten!“ Und fo weit geht des Berliners Freude an ihm, daß er in ihm ſogar ſeine bekannten Unſitten vergißt: Papiere liegen zu laffen und Zweige abzureißen.

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EEEREN

Henkersrecht.

Eine Erzählung aus der guten alten Zeit. von Wilhelm hille.

* (Nachoͤruck verboten.)

Och habe es noch gekannt, das „Henkerhaus“, wie wir N es nannten. Es lag unweit des heutigen Prinzen- parkes im Oſten der alten Welfenſtadt Braunſchweig, ziemlich genau da, wo fih heute die neue Garnijon- kirche erhebt. In meinen Erinnerungen ſteht ein un- geſchickt gewölbtes ſteinernes Tor, in deren Ritzen wir Knaben Spinnen von außergewöhnlicher Dicke fingen; über dem Tore ein in den Stein gehauenes Rad, das ringsum mit Buchſtaben beſetzt war, von denen mir mein Vater einmal ſagte, ſie bedeuteten das Wort justicia, und das heiße Gerechtigkeit; und neben dem Tore, rechts und links, zwei große Akazien, die ihre Arme weit über das bröcklige Mauerwerk ausſtreckten und es im Frühling mit ihren wohlriechenden Blüten be- ſtreuten.

Dieſe Akazien hat Meiſter Andreas Wetzel, Scharf- richter der Stadt Braunſchweig, um das Ende des ſiebzehnten Jahrhunderts eigenhändig gepflanzt. |

Das Henkerhaus lag eine gute Viertelſtunde vor dem Tore. Fünf Minuten weiter entfernt, begann der Wald, ein ungeheurer, meilenweiter Wald, von dem die heute noch vorhandene „Buchhorf ein geringes

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Bruchſtüͤck ift. Dieſe Waldungen gehörten den Herzögen von Wolfenbüttel; auf Wilddieberei in ihnen ſtand die Todesſtrafe.

Der Henker war damals unehrlich, auf feinem Ge- werbe ruhte die Verachtung der Menſchen. Die Henkers familien verkehrten infolgedeſſen nur untereinander und heirateten ineinander. Aber trotz dieſer Ehrloſigkeit, die ſie wohl mitunter ſchwer empfinden mußten, hüteten fie das Richtſchwert ſorgfältig und waren darauf bedacht, daß das einträgliche Amt bei der Familie blieb. Vom Vater auf den Sohn vererbte der ſchwere Beruf; ja, erwurde ſogar gelegentlich auf Minderjährige übertragen. So berichtet der bekannte Scharfrichter Sanſon in ſeinen Memoiren, daß einer ſeiner Vorfahren als achtjähriger Knabe auf Betreiben der Familie offiziell zum „Meiſter von Paris“ ernannt worden ſei und als ſolcher bei allen Exekutionen und Folterungen zugegen ſein und die Protokolle unterzeichnen mußte, während ſeine Gehilfen bis zu ſeiner Großjährigkeit die Hantierungen allein beſorgten.

In einigen Städten, zu denen auch Braunſchweig gehörte, beſaß der Henker noch ein beſonderes Privi- legium, das ihn faſt in eine Reihe mit den reichs- unmittelbaren Herren ſtellte. Er hatte die Jurisdiktion über die in ſeiner eigenen Sippe, wozu auch das Dienſtperſonal gerechnet wurde, vorkommenden Ver— gehen. Nur mußte er jeden ſolchen Fall nachher dem Gericht melden und nachweiſen, daß er „geziemend nach gutem Henkersrecht“ gehandelt. Man wollte wohl mit dieſem uns ſeltſam anmutenden Henkersrechte ein Gegengewicht gegen die allgemeine Verachtung ſchaffen, die der Henker zu tragen hatte. Auch mochte es not— wendig erſcheinen, ihn ſeinen Knechten gegenüber, meiſt rohen Burſchen, mit erhöhter Machtvollkommenheit aus-

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zuſtatten. Furcht und Schrecken allein konnte dieſe Geſellen in Schranken halten; die Folterwerkzeuge, Galgen und Rad, konnten ſich auf einen Wink des Meiſters gegen ſie ſelber kehren, das wußten ſie, und das hielt ſie im Zaume.

An einem Juniabend des Jahres 1673 hatte fich die ganze Familie des Meiſters Andreas Wetzel in einem an das eigentliche Haus angebauten niedrigen, faal- artigen Gemadh, das man die gute Stube nannte, ver- ſammelt. 9

Jedesmal, wenn eine Hinrichtung ſtattfand, wurde am Abend vorher im Henkerhauſe gebetet. Das war ſo Brauch ſeit undenklichen Zeiten.

Die drei breiten, nach der Rückſeite des Hauſes hin liegenden Fenſter waren durch dichte ſchwarze Vor- hänge verhüllt. In den vier Ecken des Raumes brannten Fackeln, deren Qualm an den Wänden emporſtieg und oben an der Decke aus mehreren dachlukenförmigen Offnungen abzog. An der Hinterwand hing, als einzige Verzierung, ein großes Kruzifix. Aus vielen Wunden blutend ſah der Heiland mit bereits brechenden Augen auf einen Altar herab, der mit ſchwarzem Samt aus- gelegt war. Auf dem Altar lagen eine Bibel, ein zu- ſammengefaltetes Schreiben und ein Strick.

Vor dem Altar ſtand Meiſter Andreas. Man hätte ihn für einen Geiſtlichen halten können, ſo ehrwürdig ſah er aus in ſeinem weitärmeligen, bis auf die Knie herabreichenden Samtrocke und dem entblößten Haupte, das bereits an einigen Stellen zu ergrauen anfing. Aber freilich ein Blick auf die großen, harten Hände, auf die muskulöſen Arme und den Stiernacken belehrte den Unkundigen bald darüber, daß dieſer Mann gewohnt war, mehr mit den Händen als mit den Lippen zu predigen.

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Dicht neben dem Altar ſaß in einem Lehnſtuhl die ſtocktaube Großmutter, Verſe aus alten Kirchenliedern vor ſich hin murmelnd. Hinter ihrem Stuhle ſtanden die beiden Söhne des Scharfrichters. Der Ältere, nach ſeinem Vater Andreas genannt, ein ſtämmiger Burſche mit grober Haut und luſtigen, gutmütigen Zügen, mochte vierzehn Jahre zählen. Dem Jüngeren, einem niedlichen Knaben von neun Jahren, fab man das Mutterſöhnchen an. Seine reichen, wohlgepflegten Locken, der weiße Teint ſtanden in auffälligem Gegen- ſatz zu dem bäueriſchen Ausſehen ſeines Bruders. Die mütterliche Eitelkeit hatte es ſich nicht nehmen laſſen, ihn zu dieſem feierlichen Akte gebührend herauszu— putzen. Er trug blaue Kniehoſen aus Kattun, die unten mit ſilbernen Schnallen geſchloſſen waren. An ſeinem Halſe hing, von einer roten Korallenkette gehalten, ein ſilbernes „Nürnberger Eilein“, wie man die vor kurzem aufgekommenen Taſchenuhren nannte.

An den Wänden entlang reihten ſich die Knechte und die Mägde. Frau Magdalene, die Mutter des Hauſes, ſaß abſeits von ihnen in einer Fenſterniſche und drückte ein buntbemaltes Taſchentuch gegen die Augen.

Meiſter Andreas las mit eintöniger Stimme den Bußpſalm Davids aus der geöffneten Bibel vor. Er las geläufig, denn die edle Schreib- und Leſekunſt war ſeit jeher in ſeiner Familie heimiſch. Dann entfaltete er das Schreiben und las es ebenfalls vor.

„An Ludicke Hollandt, den Ratsherrn: Hat der ge- fangene Hans Ebenſtein von Kremlingen, genannt der lahme Hans, nachdem er von Euch geziemenderweiſe peinlich befragt worden, bekannt, daß er den Müller Adam von Kremlingen erſtochen und zwölf Gulden geraubet, und iſt Inquiſit auf dieſem ſeinem Bekenntnis

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freiwillig verblieben, ſo möchte er der Übeltat wegen

an ſeinem Halſe aufgehängt werden. Vorher peinlich

zu befragen, ob er Mitſchuldige gehabt und wie ſolche heißen. Von Rechts wegen.

| Die Braunſchweigiſchen Freiſchöffen.“

Die Worte „von Rechts wegen“ las der Henker mit erhobener Stimme. Dann ergriff er den auf dem Altar liegenden Strick und tauchte das eine Ende in ein Gefäß mit Waſſer, das neben dem Altar ſtand, indem er drei- mal das Zeichen des heiligen Kreuzes machte. Darauf zog er ein Meſſer hervor und ſchnitt ein Stück von dem Strick ab.

„Dem Sünder zur Buße, dem Gericht zur Ehre, dem Kranken zur Geneſung!“ ſagte er und warf das Stück dem vortretenden erſten Gehilfen Gros zu. Der ſchnitt ebenfalls etwas davon ab und reichte es weiter. Es machte die Runde. Feder ahmte ſeinem Beiſpiele nach und verbarg die Reliquie ſorgfältig an ſeiner Bruſt.

Der Henker ergriff nun den Strick, machte noch ein- mal das Zeichen des Kreuzes über ihm und ſprach: „Mögeſt du dem Sünder nicht zum ewigen Verderben gereichen! Amen!“ |

Damit war die Zeremonie beendet. Die Dienft- boten und Knechte verließen das Zimmer.

„Andreas,“ ſagte der Meiſter zu ſeinem Alteſten, „morgen gehſt du mit!“

Die Augen des Knaben funkelten vor Vergnügen. Es war ſchon ſeit Jahren fein heimlicher Wunſch ge- weſen, endlich alles zu ſehen, wovon die Knechte ſo ſchauerlich zu erzählen wußten.

Die Mutter blickte ihren Gatten erſchrocken an. „Morgen ſchon?“ ſeufzte ſie.

„Ja, morgen! Zch meine, er iſt alt genug. Es wird Zeit, daß er die Hantierung kennen lernt. So hat's mein

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Vater auch mit mir gehalten. Vom fünfzehnten bis zwanzigſten Jahre erlernte ich das Handwerk, und mit einundzwanzig machte ich mein Meiſterſtück.“

Das Weib wußte nichts mehr einzuwenden. Plöß- lich aber umfchlang fie den kleinen Knaben und rief: „Du ſollſt kein Henker werden! Du ſollſt ein ehrliches Gewerbe lernen!“

„Aber ich will einer werden!“ entgegnete der Kleine lebhaft. „Und morgen will ich auch mit und ſehen, wie es gemacht wird.“

„Bravo!“ ſagte der Meiſter beifällig und klopfte ſeinem Sprößling auf die Schulter. „Ja, du ſollſt's auch lernen, wenn auch morgen noch nicht. Es iſt ein edles Handwerk, was die Leute auch ſagen mögen. Doch nun ins Bett mit euch!“

Als die beiden Knaben ſich in ihrer Kammer ent— kleideten, waren ſie in gewaltiger Aufregung. Andreas freute fih auf den morgigen Tag wie auf einen eft- tag, er war ganz ſtolz auf feine neue Würde als Scharf- richterlehrling.

Der kleine Hans beneidete ihn gewaltig. „Andreas,“ flüſterte er, als ſie in ihrem gemeinſchaftlichen Bette lagen, „verſprich mir, alles zu erzählen und zu zeigen, was du geſehen haſt.“

„Ich werde dir's erzählen.“

„Aber auch zeigen?“ beharrte Hans.

„Auch zeigen!“ antwortete Andreas gähnend und zog fih die Bettdecke über die Ohren.

* * *

Vater und Sohn ſprachen kein Wort miteinander, als fie der Stadt zuſchritten. Der Meiſter, düſter und in ſich gekehrt, hielt den Blick auf den Boden geheftet, Andreas, der den Vater ſo ungeneigt zum Plaudern

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fand, blieben die zahlreichen Fragen, die er auf dem Herzen hatte, in der Kehle ſtecken.

Es war ein herrlicher Junimorgen. Noch lagen feuchte Dünſte über den Feldern und trübten den Hori- zont. Die von einem nächtlichen Regenguß erquickten Kräuter begannen fih unter der Wirkung des neu er- wachten Lichtes aufzurichten und hauchten jenen un- nennbaren Duft aus, der die wiedererwachende Lebens- kraft der Natur ſelbſt zu ſein ſcheint. Mitten in den ruhigen Atemzug der noch ſchlafenden Natur hinein erklang von der Stadt her ein einſames Glöcklein, dürr und hart wie die Herzen der Menſchen, ſchneidend und wimmernd wie die Klage des Verdammten.

„Nimm die Mütze ab, Andreas,“ ſagte der Meiſter und entblößte ſein Haupt.

„Was iſt denn das für ein Glöcklein, Vater?“

„Das Armeſünderglöcklein. Wir müſſen eilen.“

Je näher ſie der Stadt kamen, deſto belebter wurde die Straße. Aus den umliegenden Dörfern kam's herbeigeſtrömt in hellen Haufen. Landleute, Marktweiber, Handwerker ließen ihre Arbeit im Stich, um den lahmen Hans hängen zu ſehen. Das Glöcklein erklang auch gar ſo einladend.

In der Nähe des Rathauſes nahm der Tumult über- hand. Da begann Meiſter Andreas zu rufen: „Platz dem Henker! Platz dem Henker!“

Und wie der Berg Seſam auf ſeine Zauberformel, ſo öffnete ſich auf dieſen Ausruf die lebendige Mauer. Erſchrocken drängten die Neugierigen zurück und ließen für Vater und Sohn einen breiten Raum. Alle, die der Henker am Rocke geſtreift hatte, blieſen dreimal darüber und bekreuzigten ſich.

Auf dem Hagenmarkte, dem RNathauſe gegenüber, war der Galgen errichtet, an deſſen Fuß der Karren des

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Scharfrichters, von zwei Knechten bewacht, hielt. Sie vertrieben ſich die Zeit damit, das Volk zu necken und den Mutigſten, die ſich am weiteſten vorgewagt hatten, den Inhalt des Karrens zu zeigen und zu erläutern.

„Iſt Gros ſchon unten?“ fragte der Meiſter, der einen prüfenden Blick auf den Galgen und den Karren geworfen hatte.

„Ja, Meiſter,“ antworteten die Gehilfen.

„So komm!“ ſagte er zu dem Knaben.

Sie betraten das Nathaus und bogen in einen langen finſteren Gang ein. Am Ende dieſes Ganges war eine Treppe, die nach unten führte, von einer an der Decke hängenden Ampel trübe beleuchtet. Unten, am Fuße der Treppe, ſtand ein Mann, der dem Henker ein Zeichen machte, worauf dieſer mit einem Kopf- nicken antwortete. Abermals gingen ſie einen langen ſchmalen Gang entlang. Die Luft war hier eiſig. An den Wänden liefen langſam Waſſertropfen nieder. Am Ende dieſes zweiten Ganges war eine eiſerne Tür, hinter der man Gemurmel wie von ſehr fernen Stimmen hörte.

Der Knabe zitterte. „Was iſt hinter dieſer Tür, Vater?“ fragte er mit unſicherer Stimme.

„Die Hölle!“ antwortete Meiſter Andreas. „Aber der Gerechte geht ohne Zagen auch durch die Hölle.“

Er klopfte dreimal an die eiſerne Tür.

Da tat ſich die Folterkammer vor ihnen auf.

* * %

Eine Stunde Später wurde der lahme Hans nach allen Regeln der Kunſt aufgehängt. Als er auf dem Platze erſchien, halb geſchleift, halb getragen, denn ſeine Beine hatten die „ſpaniſchen Stiefel“ ſchlecht ver- tragen, brach ein endloſer Beifallſturm aus. Frauen

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hoben ihre Kinder in die Höhe, damit ihnen nichts von dem herrlichen Schauſpiel verloren ginge. Alle dieſe gutmütigen Bürger, dieſe zärtlichen Frauen und Mütter waren in Tiger und Hyänen verwandelt.

Der Delinquent ſtellte diefe Betrachtung nicht an; er dachte nicht mehr, er fühlte nur noch. Seine glanz⸗ loſen Augen ruhten, ohne zu begreifen, auf der großen ſchwarzen Leiter, vor der man halt machte, ſein Geſicht hatte bereits die Farbe des Todes.

Und doch war einer unter der Menge, der faſt ebenſo blaß war wie der lahme Hans. Das war der junge Scharfrichterbub.

Er war ſo blaß, weil er die Hölle geſehen hatte.

Meiſter Andreas ſtieß den Burſchen unſanft an. „Aufgeſchaut!“ rief er. „Ich mache jetzt den Knoten in die Schlinge. Iſt ein Geheimnis unter uns Henkern, mein Sohn! Er muß ſich ihm ſo um den Hals legen, daß er ihm die Hauptader zuſammendrückt. Das hat uns ſchon mancher Spitzbube zu Dank gewußt, der ſonſt lange hätte zappeln müſſen. Nur der Henker kann recht henken. Siehſt du ſo! Nun mache du den Knoten auch einmal! In deiner Schlinge foll der lahme Hans heute zappeln.“

Mit zitternder Hand zog Andreas die Strickenden zuſammen.

„Bravo!“ rief ſein Vater, ihm auf die Schulter klopfend. „Gleich zum erſten Male den rechten Henters- knoten getroffen! Hab's meiner Zeit nicht ſo ſchnell begriffen.“

And er zeigte die Arbeit ſeines gelehrigen Schülers den Gehilfen.

Da röteten ſich die bleichen Wangen des Burſchen wieder. Seine Eitelkeit war erwacht und begann über die Menſchlichkeit den Sieg davonzutragen.

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Meiſter Andreas fah mit Vergnügen die Umwand- lung, die ſich in der Bruſt ſeines Sprößlings vollzog; er glaubte daher, ihm den Schlußakt des Dramas nicht länger vorenthalten zu dürfen.

Er gab den Gehilfen ein Zeichen. Die Knechte bemächtigten ſich des lahmen Hans und zogen ihn die Leiter hinauf. Sie ſchienen in ihrer Eile nicht mit der nötigen Vorſicht verfahren zu fein, denn der Ber- urteilte ſtieß ein lautes Gebrüll aus und griff nach ſeinem rechten Bein. Ein donnernder Beifallſturm tönte als Echo von unten herauf. Schnell ward dem armen Sünder das Kunſtwerk des jungen Andreas um den Hals gelegt, und ſowie es in der richtigen Lage war, ſtießen ihn die Gehilfen von der Leiter herunter. In demſelben Augenblicke ſprang einer von ihnen dem mit dem Tode Ringenden auf die Schulter, ein anderer hängte ſich an ſeine Beine, um das Ende zu beſchleunigen.

Das war zu viel für den armen Andreas. Er fiel in Ohnmacht.

* * *

„So, nun will ich es dir zeigen!“

Mit dieſen Worten ſetzte Andreas den großen Korb, den ihnen die Mutter mitgegeben hatte, um beim Waldhüter Klaus Erdbeeren zu holen, auf die Erde. Sie befanden fih an einer lichten Stelle im Tannen- wald, etwa eine halbe Stunde vom Hauſe entfernt.

Hänschen ſtrahlte vor Freude. Sein Bruder hatte ihm alles haarklein berichtet, was er geſtern erlebt: vom lahmen Hans, wie er gebrüllt hatte in der Folter- kammer und gezappelt am Galgen, von der Schlinge mit ihrem wunderlichen Knoten, und wie er ſelbſt den Delinquenten darin gehängt habe. Nur eines hatte er

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verſchwiegen, weil er fühlte, daß es der großartigen Rolle, die er geſpielt, einigen Abbruch tat: bab er dabei in Ohnmacht gefallen war.

Aber Hänschen wollte nicht nur hören, er wollte auch ſehen.

Andreas zog alſo einen ſtarken Bindfaden aus der Taſche, den er zu dem Zwecke mitgenommen hatte, und begann ſeine kunſtgerechte Schlinge zu machen. Als er damit zuſtande gekommen war, ging er auf eine kleine Tanne zu, ſuchte einen geeigneten Zweig aus und prüfte ihn auf ſeine Feſtigkeit, indem er ſich daran hing. Dann befeſtigte er den Bindfaden an dem Zweige, ſtellte den Korb unter den improviſierten Galgen und lud ſeinen Bruder ein, hinaufzuſteigen und den Kopf in die Schlinge zu ſtecken.

Dem Kleinen kam die Sache nicht recht geheuer vor. „Wenn der Korb nun aber umfällt?“ meinte er mit bedenklicher Miene.

„Dann reißt der Bindfaden,“ beſchwichtigte An- dreas. „Meinſt du vielleicht, daß der hielte? Man kann ihn ja mit den Händen zerreißen.“ Und er tat, als wollte er ihn zerreißen.

Das leuchtete Hänschen ein. Er ſtieg auf den Korb. Als ihm aber ſein Bruder die Schlinge um den Hals werfen wollte, zog er ſchnell den Lockenkopf weg und ſprang auf die Erde.

„Ich fürchte mich!“ ſagte er. „Komm, laß uns zum Vater Klaus gehen.“

Andreas aber hatte ſich ſchon darauf gefreut, den Lehrer zu ſpielen. Er blickte mit Verachtung auf ſeinen Bruder. „Pfui, biſt du feige!“ ſagte er.

Das half. Hänschen kletterte aufs neue auf den Korb, und diesmal ſteckte er den Kopf in die Schlinge. Und wie er's einmal gewagt hatte, fand er nichts

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Schlimmes mehr darin. Er lächelte feinem Bruder zu, und dann zog er den Kopf wieder heraus.

„Du mußt aber die Kette mit dem Nürnberger Eilein abmachen,“ ſagte Andreas. „Sonſt kann ich dir nicht zeigen, wie die Schlinge ſitzen muß.“

Der Kleine löſte das Kettlein vom Halſe und legte das Schmuckſtück neben dem Korb ins Gras. Dann ſtieg er wieder hinauf und ſteckte abermals den Kopf in die Schlinge.

Andreas zog den Knoten nach hinten. „So, und nun will ich dir das letzte zeigen,“ ſagte er lachend und ſtieß den Korb um.

Da geſchah etwas Unerwartetes. Hänschen ſtieß keinen Schrei aus, er zappelte auch nicht. Er ſchloß nur die Augen, als wenn ihn eine Müdigkeit über- kommen hätte, und hing regungslos da.

Erſchrocken griff Andreas nach feinem Taſchen- meſſer, um den Bindfaden, deſſen Haltbarkeit ſich ſo gut bewährte, zu zerſchneiden. Er fuhr in die rechte, er fuhr in die linke Hoſentaſche; es war nicht da. Von tödlicher Angſt ergriffen ſtürzte er ſich auf ſeinen Bruder, hob ihn in die Höhe und verſuchte die Schlinge zu löſen, die ſich feſt um den dünnen Hals des Knaben zugezogen hatte. Vergebens! Er entfernte den Bind- faden von dem Aſte, legte den kleinen Körper auf ſeine Knie und bemühte ſich, die Schlinge mit den Zähnen zu zerbeißen. Endlich gab ſie nach.

Es war zu ſpät.

Da dämmerte in ihm die Einſicht, daß er den Scharf- richterknoten in feiner Wirkung unterſchätzt hatte. Er ließ den Leichnam fahren. Jetzt fab er noch bleicher aus als geſtern, da der lahme Hans abgetan wurde.

Wie angewurzelt ſaß er da und ſtierte auf den kleinen Gehängten. Es war ihm, als wäre die ganze

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Welt untergegangen und er mit dem Leichnam allein übriggeblieben. l

Plötzlich überkam ihn das Grauſen. Da ſtieß er einen lauten Schrei aus und ſtürmte in den finſter werdenden Wald hinein.

* * *

Im Scharfrichterhauſe wunderte man ſich, daß die Kinder fo lange ausblieben, und als die Nacht herein- brach, verwandelte ſich die Verwunderung in Sorge und die Sorge in Beſtürzung. Frau Magdalene jammerte die ganze Nacht, und als der Tag graute, machte ſich Meiſter Andreas ſelbſt mit den Knechten auf die Suche nach den Verlorenen. Er ſchimpfte und fluchte dabei unaufhörlich und erklärte, er werde den unnützen Buben, wenn er ſie finde, die Knochen im Leibe zerſchlagen; aber in der Stille ſeines Herzens folterte ihn die Sorge, denn er war nicht nur ein guter Henker, ſondern auch ein guter, wenn auch ſtrenger Familienvater.

Als man einige Stunden lang im Walde geſucht hatte, ſah man unter einer mächtigen Eiche einen jungen Schläfer liegen, der mit halbgeöffnetem Munde atmete. Sein Geſicht war vom Tau der Nacht beſprengt.

Glückliche Jugend, die in tiefen Schlaf verfällt, nachdem ihr das Schlimmſte zugeſtoßen iſt!

„Geht, Leute!“ ſagte der Henker. „Es hat nichts mehr zu fagen. Bringt der Mutter die Botichaft, daß alles gut iſt. Aber eine Tracht Prügel hat er verdient.“

Er ſchnitt ſich im nahen Geſtrüpp eine tüchtige Gerte ab, während die Knechte ſich entfernten. Dann trat er dicht an den Schläfer, holte weit aus und ließ die elaſtiſche Rute pfeifend auf die ſtraffen ledernen Hoſen des Burſchen niederſauſen. Der fuhr mit einem

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Schmerzensſchrei in die Höhe und ſtarrte das zornige Geſicht des Vaters an.

„Daß Gott dich ſtrafe, verdammter Schlingel! Wer heißt dich bei Nacht und Nebel im Buſch liegen! Sprich, wo iſt Hans?“

Bei dieſen Worten zuckte Andreas zuſammen. Mit grauſiger Deutlichkeit ſtand plötzlich alles, was ſich er- eignet hatte, vor ſeinen Augen. Er ſah ſein Brüderchen, bleich und mit weitoffenem Munde, vor ſich auf der Erde liegen, mit dem dünnen, unſcheinbaren Bindfaden um den Hals, er erinnerte ſich an die wahnſinnige Angſt, mit der er nach ſeinem Taſchenmeſſer geſucht hatte, an das blinde, zielloſe Umberirren im Walde, bis ihn die Erſchöpfung niedergeworfen hatte. Und fo gewalt- ſam wirkte die plötzliche Erleuchtung, daß er, wie ein vom Blitz Getroffener, alles Gefühl des Dajeins verlor. Er merkte es nicht, wie ein Hieb nach dem anderen auf ihn niederſauſte; wie aus weiter Ferne ſchien ihm die Stimme des Vaters zu kommen, der zwiſchen jedem neuen Hiebe brüllte: „Bube, Satansbengel, fo ſprich doch! Wo iſt dein Bruder?“

Die ſtumpfe Gleichgültigkeit, mit der ſein Sohn die Züchtigung hinnahm, begann den Meiſter allgemach zu verwundern. Er zerbrach die Gerte und warf die Enden von ſich. Dann faßte er den Jungen unter das Kinn und betrachtete ihn aufmerkſam. Er las in ſeinen Augen einen Ausdruck, den er vorher nicht darin be— merkt hatte.

„Nun, Andreas, es war nicht ſo ſchlimm gemeint!“ ſagte er begütigend. „Den kleinen Oenkzettel mußt du ſchon hinnehmen für die Sorge, die du mir und der Mutter gemacht Daft. Aber nun fag auch, wo du deinen Bruder gelaſſen baft!“

Bei den milden Worten brach plötzlich der Burſche

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in Schluchzen aus, und ſchon wollte er dem Vater das ganze gräßliche Unglück erzählen, da begann dieſer aufs neue.

„Hat ihm jemand was zuleid getan? Wer das ge— wagt hätte, wäre übel beraten geweſen. Wehe dem, der dem Sohne des Henkers ein Härchen krümmte! Er ſollte ſterben, wie noch niemand geſtorben ift!“

Ein eiſiger Schauder drang dem Burſchen ins Herz. Wer tötete, verfiel dem Henker! Hatte er nicht getötet? Hatte er nicht vor zwei Tagen mit eigenen Augen geſehen, was es bedeutete, dem Henker zu verfallen?

Da ſchlug er die Augen nieder, und als der Vater nochmals in ihn drang, ihm zu ſagen, was mit Hänschen ſei, antwortete er wie Kain: „Ich weiß es nicht.“

Da kamen die Knechte zurück und ſchleppten etwas wie eine Tragbahre mit ſich.

Der Henker erbebte und biß die Zähne zuſammen.

Auf der Tragbahre lag eine kleine Leiche, außerdem trug einer der Männer einen Handkorb und einen Bind- faden. Sie ſetzten ihren traurigen Fund ſchweigend nieder und nahmen die Mütze ab.

Lange ſtarrte der Vater auf den entſeelten Körper ſeines Zweitgeborenen. Er war furchtbar anzuſehen; feine dunklen Augen ſtrahlten ein unheimliches Feuer aus, ſeine kurzen Haare waren gejträubs, fein Geſicht glänzte wie rötliche Bronze.

„Wehe dem Mörder!“ ſagte er feierlich. Dann wandte er ſich an Andreas. „Erzähle uns alles, was du weißt!“

„Ich weiß aber nichts, ich weiß nichts!“ ſchrie An- dreas mit ſo unverkennbarer Angſt, daß in ſeinem Vater ein unbeſtimmter Verdacht aufſtieg.

„Du weißt nichts? Junge, wirſt du das auch vor Ludicke Hollandt fagen? Haft du ſchon . was

1914. V.

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wir mit dem lahmen Hans gemacht haben? Willſt du mich zwingen, meinem eigenen Fleiſch und Blut die ſpaniſchen Stiefel anzuziehen? Sprich, oder ſo wahr ich der Henker bin —“

„Meiſter,“ ſagte Gros, der die kleine Leiche auf- merkſam betrachtet hatte, „ich glaube, es gibt da ein Indizium, wie Herr Ludicke Hollandt es nennt.“

„Ein Indizium?“

„Ja. Hatte Euer Kleiner nicht immer ein ſilbernes Eilein aus Nürnberg an ſeinem Halſe hängen? Nun, dies Eilein iſt nicht mehr da!“

So war es. Man drehte die Leiche nach allen Seiten hin, man kehrte ihre Taſchen um, das ſilberne Ding war verſchwunden.

„Da das Eilein fort iſt,“ fuhr Gros fort, „ſo muß es geſtohlen ſein. Da es geſtohlen iſt, ſo gibt es einen Dieb, und ein Dieb, wie Ihr wißt, Meiſter, iſt oft zugleich ein Mörder.“

Die Logik in dieſer Beweisführung war ſchlagend. Auf Andreas aber übte ſie eine Wirkung aus, die der Sprecher nicht beabſichtigt hatte. Der Burſche hatte begriffen, was ſeine Rettung ſein konnte und ſein mußte. Ohne Phantaſie und etwas beſchränkt, wie er war, wäre er von ſelbſt gar nicht auf die Idee gekommen, eine Geſchichte zu erfinden. Gros hatte ihn erſt darauf gebracht. Und ſo begann er dann, auf nochmaliges Befragen, ein Märchen zu erzählen von einem großen, ſtruppigen Kerl mit einem dicken Knotenſtock, der Hans das Eilein hätte wegnehmen wollen. Da ſeien ſie beide davongelaufen, und ſchließlich ſei es dunkel geworden, und da habe er ſeinen Bruder aus den Augen verloren.

„Und warum haſt du uns das nicht gleich erzählt, Schlingel?“ rief der Henker, als ſein Sohn ihm das Mär— chen aufgetiſcht hatte.

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„Weil ich mich ſchämte, daß ich Hans im Stich ge- laſſen habe.“

Das klang nicht unglaubhaft.

„Gut, wir werden den Kerl finden. Kommt jetzt nach Hauſe, Leute! Und du, Gros, gehe in die Stadt und melde Herrn Ludicke Hollandt, was ſich zugetragen hat.“ l

„Meiſter,“ murmelte Gros zitternd, „ich glaube, wir brauchen nach dem Mörder nicht zu ſuchen.“

„Warum, Gros?“

„Der Mörder iſt unter uns.“

„Unter uns?“ rief der Scharfrichter, mit gräßlichem Blick die Knechte muſternd.

„Ja, ſeht Euch doch den Bindfaden genauer an.“

Der junge Andreas erbleichte. Sein Vater beugte ſich über den dünnen Faden, der das ganze Unglück angerichtet hatte.

„Wahrhaftig, das iſt merkwürdig!“ murmelte er, Gros anſehend. l

„Der echte Scharfrichterknoten, das Geheimnis unſerer Zunft. Außer Euch und mir kennt niemand im Umkreiſe von mindeſtens dreißig Meilen dieſen Knoten. Wenn Ihr alfo den Kleinen nicht mit eigener Hand erwürgt habt, ſo muß ich es geweſen ſein.“

„Du, Gros?“

„Ja, ich würde Herr Ludicke Hollandt ſagen.“

„Aber das iſt ja unmöglich!“

„Warum, lieber Meiſter?“

„Weil du den ganzen geſtrigen Nachmittag bei mir geweſen biſt. Bis Mittag waren wir in der Folter- kammer. Als wir zurückgekehrt waren, haben wir im Schuppen aufgeräumt; als wir aufgeräumt hatten, aßen wir zu Abend; als wir zu Abend gegeſſen hatten —“

Der Meiſter ſtockte.

164 Henkersrecht. D

„Bliebet Ihr zu Haufe, was ſonſt Eure Gewohnheit nicht iſt, und hießet mich an Eurer Stelle zur Stadt gehen und die Befehle des Richters einholen. Eine volle Stunde war ich allein. Glaubt Ihr nicht, daß eine Stunde hinreichen würde, in den Wald zu laufen, Euren Kleinen zu erwürgen und zurückzukehren?“

Der Scharfrichter warf ſeinem erſten Gehilfen einen ſchrecklichen Blick zu.

Gros lächelte. „Eine Stunde würde hinreichen. Aber wißt Ihr, wozu fie nicht hingereicht hätte? Um zugleich zum Markt zu gehen und Euch die verſiegelte Inſtruktion zu bringen.“

„Alſo kannſt du es nicht geweſen ſein,“ ſagte der Henker, tief Atem holend. „Wie ſollteſt du auch fo etwas tun, Gros, du, der die Redlichkeit ſelber iſt, der ſo reichen Lohn von mir erhält, daß er ſich jeden Monat ein Nürnberger Eilein kaufen könnte, ohne deswegen Hunger zu leiden!“

„Ach was, ein genkersknecht iſt zu allem fähig! So ſagen wenigſtens die Leute. Und ſeht, Meiſter, wie gut es mein Schickſal mit mir gemeint hat. Ich bat Euch geſtern um Urlaub, und Ihr ſchluget es ab. Hättet Ihr mir den Urlaub gegeben, ſo wäre ich heute verloren. Nichts hätte mich vor dem ſpaniſchen Stiefel geſchützt, und wer den erſt auf dem Schienbeine ſitzen hat, der bekennt alles, was er bekennen ſoll.“

„Gros,“ ſagte Meiſter Andreas leiſe, „es gibt außer dir und mir noch ee der den echten Scharfrichter- knoten kennt.“

„Ja,“ flüſterte Gros und warf einen eigentüm— lichen Blick auf den Jungen, „der ihn ſeit zwei Tagen kennt, der die Schlinge gemacht hat, mit der wir den lahmen Hans henkten.“

Der Weiſter antwortete nicht, er trat an feinen

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Sohn heran, faßte ihn mit der rechten Hand unter das Kinn und ſchaute ihn länger als eine Minute unver- wandt an.

Das war eine furchtbare Minute. Andreas wußte, daß er verloren war, wenn er mit der Wimper zuckte. Die Todesangſt verlieh ihm eine übernatürliche Kraft, und er hielt den forſchenden Blick dieſer mächtigen Augen, die Herz und Nieren zu ergründen ſchienen, mit wildem Trotz aus, während ihm der kalte Angſt- ſchweiß an den Gliedern klebte.

„Durchſuche ſeine Taſchen, Gros,“ ſagte der Henker.

„Er wird es fortgeworfen haben,“ meinte der Ge- hilfe, indem er dem Gebote nachkam.

Das Nürnberger Eilein fand ſich nicht.

„Er iſt unſchuldig,“ ſagte Meiſter Andreas. „Ich habe es in ſeinen Augen geleſen. Nein, ſo verderbt ſind auch die Kinder eines Henkers nicht, daß ſie ein— ander erwürgten um eines elenden Spielzeugs willen. Das mit dem Knoten kann Zufall fein. Meiſter Boll- hardt in Düfjeldorf und Meiſter Emmerich in Magde— burg machen auch ſolche Knoten. Vielleicht, daß einer ihrer Knechte auf der Wanderſchaft hier durchgekommen ift. Kommt nach Haufe. Und du, Gros, melde die Untat Herrn Ludicke Hollandt, ſchweig aber über den Knoten. Gott wird's ſchon ans Licht bringen.“

* * K

Es nimmt alles ein Ende. Das Menſchenherz wird es müde, fruchtlos mit ſeinem Schickſal zu hadern. Man erträgt, was nicht zu ändern iſt, macht einen Strich durch die Vergangenheit und ſchaut in die Zu— kunft.

Als der kleine Hans begraben war, als die friſchen Rofen, mit denen die liebende Mutterhand den kleinen

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Hügel beſtreut hatte, ſich zum Verwelken neigten, gingen die Geſchäfte im Scharfrichterhauſe wieder ihren gewohnten Gang. Meifter Andreas Wetzel ſah noch etwas härter und menſchenfeindlicher aus als früher, wenn er in Ausübung ſeines Amtes ſchraubte, brannte und peitſchte. Frau Magdalena weinte noch häufiger als ſonſt und betete fleißiger mit der tauben Großmutter. Und Andreas wurde ein fleißiger, brauch- barer Scharfrichterlehrling, der dem Vater geſchickt zur Hand ging.

Er war kein fröhlicher Knabe, man hörte ihn nicht mehr lachen. |

Er trug an feiner Schuld.

Früher, wenn die häuslichen Verrichtungen, zu denen er herangezogen wurde, abgetan waren, ſchlug er ſich zum Hausgeſinde oder trieb allerhand Kurzweil; jetzt ſchlich er, ſobald der Vater ihn freigegeben, in ſein Kämmerlein, warf ſich aufs Lager und brütete ſtill vor ſich hin. Er ſchrak zuſammen, wenn er unvermutet dem Vater begegnete; ſelbſt die Mutter, deren ſanfte Augen ihn oft mit einem ſo ſonderbaren Ausdrucke ſtiller Trauer anſchauten, mied er nach Möglichkeit. Es kam ihm immer vor, als ob ſie das Geheimnis ahne, das ſeine Seele bedrückte.

Aber Frau Magdalena ahnte nichts.

Sie ſah wohl die Veränderung, die im Innern ihres Sohnes eingetreten war, aber ſie ſchrieb es dem ſchrecklichen Beruf zu, auf den der junge Mann ſich vorbereitete.

„Siehſt du nun, was du angerichtet haſt?“ fragte ſie eines Tages ihren Mann. „Warum hörteſt du nicht auf mich, als ich dich bat, ihn noch einige Jahre davon— zulaſſen? Du haſt ſeine Seele verdorben. Er wird von Tag zu Tag roher, mürriſcher. Und er kennt kein

o Von Wilhelm Jille. 167

Mitleid mehr. Vater Klaus ſagt, er fange Kaninchen und zerquetſche ihnen im Schraubſtock die Pfoten.“

Der Meiſter zuckte die Achſel. „Oer Henker muß hart werden, liebes Weib! Hab's dem Jungen ſelbſt geraten, ſich an Tieren zu üben.“

„Oh,“ klagte ſie, „dann wollte ſicherlich der liebe Gott, als er mir meinen Liebling, meinen kleinen Hans nahm, ſeine Seele retten! Er wollte einen Engel aus ihm machen. Du dagegen machſt einen Teufel aus dem anderen. Du biſt ſelbſt ein Teufel, ein Un- geheuer!“

„Ich bin das unwürdige Werkzeug der irdiſchen Gerechtigkeit,“ erwiderte der Henker gelaſſen. „Man befiehlt mir zu ſchlagen, und ich ſchlage, man ſagt mir: Foltere!“ und ich foltere, man ſagt mir: Töte!“ und ich töte. Der Verbrecher, der dem Henker fluchen wollte, wäre wie das Kind, das den Tiſch verflucht, an dem es ſich geſtoßen. Die Geſetze ſind grauſam, nicht der Henker. Weib, Weib, mit deinem Erbarmen im Herzen wäre ich hundertmal grauſamer, als ich es jetzt bin! Die barmherzige Hand zittert, wenn ſie töten ſoll, ein gerührtes Auge ſieht ſchlecht. Gott behüte mich davor, einen mitleidigen Henker zum Sohne zu haben!“

In der Tat ſchien dieſe furchtbare Gefahr, vor der der Henker zitterte, an ihm vorüberzugehen. In der Er- tötung aller der Triebe, die man unter dem Namen „Menſchlichkeit“ zuſammenfaßt, machte Andreas berr- liche Fortſchritte. Es wandelte ihn jetzt keine Schwäche mehr an in der Folterkammer; die Bläſſe der gemarter- ten Unglücklichen teilte ſich ſeinen Wangen nicht mehr mit. Er legte kräftig Hand mit an, wenn es galt, den Angeſchuldigten auf der Bank feſtzubinden, mit ge- waltigen Hieben den Keil in den ſpaniſchen Stiefel zu treiben, ſo daß das Blut zwiſchen den Fugen des

168 Henkersrecht. 0

Inſtrumentes hervorſchoß. Kurz, er verſprach ein tüd-

tiger Henker zu werden, der ſeinem Amte Ehre machte.

* * *

Zwei Jahre waren vergangen.

Da kam eines Abends Meifter Andreas Wetzel in ſonderbarer Aufregung nach Hauſe zurück. Die ſonſt ſchon etwas gebückte Geſtalt war hoch aufgerichtet, feine Augen glänzten. Er hatte fih etwas verſpätet. Frau Magdalena, der Gehilfe Gros und der junge Andreas ſaßen bereits um den runden, weißgeſcheuerten Tiſch und verzehrten aus einer großen irdenen Schüſſel den in Milch gekochten Roggenbrei. Dazu aßen ſie Brot. |

„Hol die Bibel aus der guten Stube, Andreas,“ ſagte der Henker und warf Mütze und Überrod von fid). Andreas ſtand ſchweigend auf. Die Frau warf einen ängſtlichen Blick auf ihren Gatten. Es hatte immer etwas zu bedeuten, wenn der Henker betete.

And dann ſchlug der Meiſter das große Bibelbuch beim hundertunddritten Pſalm auf und begann mit lauter Stimme: „Lobe den Herrn, meine Seele, und, was in mir iſt, ſeinen heiligen Namen!“ Er las den ganzen Pſalm, darauf ſchloß er das Buch und fügte hinzu: „Ich danke dir, Gott, daß du ihn in meine Hände gegeben haft. Gott, du biſt gerecht! Gott, du biſt weiſe! Die Untat bringſt du ans Licht, den Ber- brecher überantworteſt du der Strafe. Und ob ſie flöhen vor dir auf den Flügeln der Morgenröte, dein Arm ereilet ſie dennoch. Gott, gelobt ſei dein Name! Amen!“

Wie verſteinert ſaß der junge Andreas da. Frau Magdalena aber brach in Schluchzen aus. Da breitete der Henker mit einem bei ihm ſo ſeltenen Ausbruche

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von Zärtlichkeit die Arme aus, zog fie an fih und drückte einen Kuß auf ihre blaſſe Stirn. „Ja, weine, arme Mutter!“ ſagte er. „Weine vor Freude! Ich habe den Mörder meines Sohnes gefunden.“

„Steht nicht geſchrieben: Mein iſt die Rache, ich will vergelten, ſpricht der Herr?“ flüſterte ſie.

„Ja, aber es ſteht auch geſchrieben: Auge um Auge, Zahn um Zahn, Blut um Blut! Wehe dem Mifie- täter, dem der Henker zugleich der beleidigte Vater iſt! Auf dem Rade ſoll er ſterben, und die Vögel ſollen ſich an ſeinen Eingeweiden ſättigen.“ |

„Erzählet uns, lieber Meiſter, wie Ihr ihn gefunden habt,“ ſagte der immer nüchterne Gros.

„Hab's meinem geſtrengen Herrn Ludicke Hollandt zu verdanken, der in der Stille fleißig der Tat nach- geforſcht. Heute abend, als ich mir die Inſtruktion holte, ließ er mich in ſeine Stube kommen und fragte mich: „Kennt Ihr dies Spielzeug, Meiſter Andreas?“ Dabei hielt er mir ein kleines Nürnberger Eilein vor die Augen. Es war dasſelbe, das ich einſt dem Kleinen geſchenkt, erkannte es an den Buchſtaben des Wortes justitia, die ich mit eigener Hand hineingeritzt habe. Als nun Ludicke Hollandt mein Erſtaunen ſah, fuhr er fort: „So merket denn den Finger Gottes, Meiſter Andreas, denn dies Eilein hat geſtern der Windmüllersſohn Peter Zeidler, ſo ſchon zweimal wegen Vogelſtellens von Euch mit Ruten geſtrichen worden iſt, an Martin Broſchen, den Silberſchmied, verkaufen wollen, der ſich aber des Handels nicht trauete und es dem Gerichte meldete. Den Zeidler habe ich nun ins Gewahrſam führen laffen, und wie- wohl er dabei bleibt, daß er das Kleinod im Wald ge- funden habe und von ſonſt nichts wiſſe, wollen wir die Wahrheit jego ſchon ans Licht bringen.“ So ſagte

170 Henkersrecht. u

Ludicke Hollandt und reichte mir die Hand, da niemand weiter im Zimmer war, der es ſehen konnte, daß er den Henker berührte. Und morgen iſt das erſte Verhör. Ah, Ludicke Hollandt hat recht, wir werden es ſchon ans Licht bringen! Nicht wahr, Andreas?“

Der Burſche nickte ſchweigend und wich dem Blick des Vaters aus, der tapfer dem Roggenbrei zuſprach. In der ſchon herrſchenden Dämmerung konnte man nicht ſehen, wie blaß er geworden war.

Er benützte denn auch die erſte Gelegenheit, die ſich ihm bot, in ſein Dachkämmerchen hinaufzuſteigen.

Aufrichtig freuen tat ſich außer dem Henker nur noch Gros, der immer im geheimen befürchtet hatte, wegen der merkwürdigen Beſchaffenheit des Knotens in der damals neben der Leiche gefundenen Schlinge doch noch ſelbſt in Verdacht zu kommen.

Frau Magdalena hatte ein zu weiches Gemüt, um fich an dem Gefühle der bevorſtehenden Rache berau- ſchen zu können. Ihr Knabe wurde ja dadurch doch nicht wieder lebendig.

* * *

Wenn der Unterſuchungsrichter Ludicke Hollandt gemeint hatte, daß nun alles ans Licht kommen werde, ſo hatte er ſich in einem bedauerlichen Irrtum befunden. Der Windmüllersſohn gab ihm eine harte Nuß zu knacken auf. Seine Ausſage lautete klar und beſtimmt. Er habe vor einigen Wochen das ſilberne Spielzeug in der Nähe der Stelle gefunden, wo man vor Jahren die Leiche des Knaben aufgeleſen habe. Von dem Morde wiſſe er nichts und könne nichts darüber an— geben. Daß das Eilein lange Zeit im Walde gelegen habe, könne man ihm anſehen. Befragt, warum er feinen Fund nicht ſogleich zu Gelde zu machen ver-

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ſucht habe, erklärte er, er habe ſich nicht ſogleich getraut, das zu tun, um nicht in den Verdacht zu kommen, das Ding geſtohlen zu haben. Bei dieſer Ausſage blieb er, und alle Verſuche, ihm einen Widerſpruch nachzu- weiſen, waren vergebens.

Um ſo verworrener waren die Angaben des jungen Andreas, den man dem Angeſchuldigten gegenüber- ſtellte. Befragt, ob er den Angeklagten in dem Manne, der ſie damals verfolgt habe, wiedererkenne, erklärte er, ſich nicht mehr erinnern zu können. Seine Dar- ſtellung des damaligen Vorganges war unbeſtimmt, lückenhaft und widerſprach in wichtigen Punkten ſeinen früher abgegebenen Ausſagen. Kurz, er verſagte als Belaſtungszeuge vollſtändig, zum größten Verdruſſe Meiſter Wetzels, der dem Verhöre beiwohnen durfte.

„Das iſt eine ſchwierige Sache, lieber Meiſter,“ ſagte der Unterſuchungsrichter nachdenklich, als der An- geklagte abgeführt worden war. „Wenn wir keine anderen Indizia finden, werden wir ihn laufen laſſen müſſen.“

„Laufen laſſen?“ ſchrie der Henker. „Ei, warum laßt Ihr mich nicht machen, anſtatt viele Worte zu ver- lieren? Einige Schrauben, einige Keile, und alles iſt glatt und klar.“

„Ihr kennt die Geſetze nicht, ſonſt würdet Ihr nicht alſo ſprechen,“ entgegnete der würdige Richter. „Wir dürfen nur peinlich fragen, wenn indicia gravia et praegnantia et sufficientia ad torturam vorliegen. Käme ſonſt mancher Unglückliche in Eure Hände, der's nicht verdient hat. Die Folter ſoll nur die Indizien beſtätigen.“

poit das Eilein kein Indizium?“

„Es iſt ein Indizium, ob aber grave et praegnans et sufficiens ad torturam darüber muß vorerſt das

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Obergericht entſcheiden. Alfo faſſet Euch in Geduld und greifet nicht der irdiſchen Gerechtigkeit vor, der Ihr, wie wir alle, untertan ſeid.“

Als der Scharfrichter um Mittag nach Hauſe kam, war er in ſehr ſchlechter Laune. Schweigend verzehrte er ſein Eſſen. Niemand wagte ein Wort zu ſprechen. Als Frau Magdalena ihm Wein einſchenkte, hatte er des nicht acht und ſtieß den Krug um, daß der Wein über den Tiſch floß. Da ergriff er zornig den Krug und ſchleuderte ihn auf den Boden, daß die Scherben in der Stube umherflogen.

„Der Satan mag Ludicke Hollandt holen!“ ſchrie er grimmig. „Brauchte mich bloß ein bißchen ſchrauben zu laſſen, ſo wäre das Ding fertig. Aber wahrlich, wenn der Zeidler es fertig bringt, dem Gerichte eine Naſe zu drehen, mir ſoll er doch nicht entwiſchen! Und wenn ich ſelbſt darum aufs Schafott müßte! Ich werde ihm auflauern, ich werde ihn fangen. In der guten Stube

werden wir das Hochgericht halten, unter dem Kruzifix werde ich ihn aufs Rad flechten, ſo wahr ich der Henker

bin!“

Sein zornentflammtes Auge traf auf den jungen Andreas, der erbleichend aufſtand, um die Stube zu verlaſſen.

Da bückte ſich der Meiſter, las eine Scherbe vom.

Fußboden auf und warf damit nach ſeinem Sohne. „Und du Elender biſt an allem ſchuld!“ brüllte er. „Halt wie ein Jammerlappen vor Ludicke Hollandt ausgeſagt. Wie ein altes Weib haſt du gezittert, als du deinen leiblichen Bruder rächen ſollteſt. Ah, warum hat der Zeidler nicht dich erwürgt, ſtatt des anderen! Fort mit dir, du Feigling!“

Andreas flüchtete ſich auf ſeine Kammer und warf fich laut ſchluchzend auf fein Strohlager. Zn dieſer

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u Von Wilhelm Hille, 173

Nacht tat er kein Auge zu und litt Folterqualen, die denen des Miſſetäters auf dem Rade gewiß nicht viel nachgaben. Sein einziger Wunſch war, daß Gott ihn möchte ſterben laſſen.

Sterben, wie andere Menſchen ſterben, nur nicht von der Hand des Henkers! f

* * * 1

Sechs Tage lang lag finſteres Gewölk auf Meiſter Wetzels Stirn, wenn er zum Mittagefien heimkam, ſechs Tage lang ſchalt er auf die Federfuchſerei und lahme Juſtiz ſeines Herrn Ludicke Hollandt.

Am ſiebenten Tage aber ſchwenkte er den Hut und umarmte, kaum daß er ihrer anſichtig geworden, ſeine Frau mit jugendlichem UAngeſtüm. „Gerechtigkeit!“ rief er aus und warf ein großes Schriftſtück auf den Tiſch. „Rufe Andreas und das Geſinde zuſammen, daß ſie's alle vernehmen!“

Schnell füllte ſich das Zimmer. Die Knechte blieben, die Mütze in der Hand, an der Tür ſtehen. Andreas, von geheimem Schrecken erfüllt, drückte ſich in den entfernteſten Winkel. Ach, er hatte ſchon gehofft, man würde das Verfahren gegen den unglücklichen Finder des Eileins einſtellen.

Der Meiſter warf einen triumphierenden Blick auf die Runde, dann entfaltete er das Schreiben und las: „„An den Ratsherrn Ludide Hollandt. Auf ergangene Anfrage in Sachen Peter Zeidlers, des Windmüllers- ſohnes, Ew. Liebden zum Beſcheide, daß der Angeklagte propter gravem facinoris suspicionem peinlich von Euch zu befragen ift.

Die Braunſchweigiſchen Freiſchöffen.“

And nun laſſet uns fingen,“ ſagte der Meiſter, als er ausgeleſen hatte. Und er begann anzuſtimmen:

174 Henkersrecht. o

„Run dantet alle Gott Mit Herzen, Mund und Händen,“

Die Knechte fielen mit ihren rauhen Stimmen ein, und auch Frau Magdalena, deren weiches Gemüt die Befriedigung geſättigter Nahe nicht kannte, fang an- dächtig mit.

Aber ein anderer, ſeltſamer Ton, erſt leiſe, halb erſtickt, dann immer lauter, miſchte ſich in den freudigen Choral, ein Ton, der wie ein qualvolles Stöhnen klang und aus der Tiefe des Zimmers hervorkam, wohin der junge Andreas ſich geflüchtet hatte.

Der Scharfrichter erblaßte. Wie ein wildes Tier ſtürzte er auf den unglücklichen Knaben zu und riß ihm den Kopf in die Höhe. Als er das von Tränen ganz durchnäßte Geſicht des Burſchen gewahrte, bemächtigte ſich ſeiner eine ſinnloſe Wut. „Bube! Bube!“ ſchrie er und rang nach Atem. Dann riß er den kurzen Dolch, den er immer bei ſich trug, aus der Scheide und ziſchte ſeinem Sohne ins Ohr: „Wer den Mörder ſeines Bruders beweint, ſoll ſterben! Sterben ſoll er, verſtehſt du?“

„Mann, lieber Mann!“ kreiſchte die Frau auf und warf ſich auf den Henker.

„Laß nur, Mutter!“ ſagte plötzlich Andreas, deſſen Tränen zu fließen aufgehört hatten. Dann riß er ſich mit einem heftigen Nude das Lederwams auf, ent- blößte die Bruſt und ſagte: „Stoß zu, Vater! Ich will gerne ſterben.“

Klirrend fiel der Dolch zu Boden. Vater und Sohn ſahen ſich an. Die Knechte wagten nicht zu atmen.

„Weshalb willſt du ſterben?“ fragte plötzlich der Henker mit harter Stimme.

„Weil ich dich haſſe!“ antwortete Andreas.

„Und weshalb haſſeſt du mich?“

(2) Bon Wilhelm Hille. 175

„Weil du der Henker biſt!“

Scharf wie ein zweiſchneidiges Schwert kam es von des Burſchen Lippen.

Der Henker zuckte zuſammen; wie eine Wolke ſenkte ſich einen Augenblick die ungeheure Schmach ſeines Gewerbes auf ihn nieder. Aber nur einen Augenblick. Dann richtete er ſich ſtolz in die Höhe. „Entferne dich!“ ſagte er kalt. „Wollte Gott, daß ich keine Kinder ge-

habt hätte!“ Andreas verließ das Zimmer. Sein Schritt war zum erſten Male wieder feſt. Seine Augen glänzten. Er hatte einen Sieg erfochten, der ſelten jemand gelingt. Er hatte die Furcht vor dem Sterben beſiegt.

* * %

Wieder ſchritten Vater und Sohn in der Frühe des Morgens der Stadt zu. Der Wagen mit den Folter- werkzeugen und den Knechten war vorausgefahren.

Wie innig hatte Meiſter Andreas Wetzel den heutigen Tag herbeigeſehnt, der ſeinen heißen Rachedurſt be— friedigen ſollte! Und nun es ſo weit war, wollte es ihn nimmer freuen. Hatte ihm doch der glückliche Tag zugleich die Erkenntnis gebracht, daß ſein einziger Sohn für den Beruf verdorben war. Von ſeinem eigenen Fleiſch und Blut ward er verachtet! Das Vorurteil der Welt gegen den Henker war in den Schoß ſeiner Familie gedrungen, bis an den häuslichen Herd ver- folgte ihn die Ehrloſigkeit des Amtes!

Schweigend gingen die beiden nebeneinander her. Plötzlich begann der Alte: „Alſo du haſſeſt mich, weil ich der Henker bin?“ | j

Andreas nickte.

„Weißt du nicht, daß der Henker der Diener der Gerechtigkeit iſt, und daß es kein höheres Amt gibt als

176 Henkersrecht. o

das, der Vollſtrecker der irdiſchen Gerechtigkeit zu fein, wie Gott der Vollſtrecker der himmliſchen Gerechtig- keit ift?“

Andreas ſchwieg eine Weile. Dann antwortete er: „Du biſt aber kein gerechter Henker.“

Meiſter Wetzel runzelte die Stirn, auf der die Born- ader anzuſchwellen begann. Aber er tat ſich Gewalt an und ſagte: „Haſt du mich ſchon jemals einen foltern ſehen, der nicht alles bekannt hat? Haſt du mich ſchon jemals einen hinrichten ſehen, der nicht auf dem Be- kenntnis ſeiner Schuld freiwillig verblieben iſt?“

„Du würdeſt auch bekennen, was man will, wenn man dir die ſpaniſchen Stiefel und die Mundbirne gäbe,“ ſagte der Burſche.

„Junge, Junge,“ rief der Alte unwillig, „willſt du klüger fein als Ludicke Hollandt? Willſt du beffer wiſſen, wer ſchuldig iſt und wer nicht, als die hoch-

gelehrten Freiſchöffen? Meinſt du, wir prüfen nicht

ſorgfältig, ehe wir die peinliche Frage verhängen? Ich ein ungerechter Henker! Jefus! Kennſt du die Ge- ſchichte von Matthias Ehrenberg, der vor zwölf Jahren wegen Hexerei gebrannt wurde?“

„Nein.“

„Sieh, das war ein guter, wackerer Mann und Ge— lehrter, um den es ſelbſt dem Henker in der Seele leid tat. Glaub's noch heute, daß er nur durch die Lift bös- williger Leute auf den Scheiterhaufen gekommen iſt. Als er auf der Marterbank feſtgebunden war und Ludicke Hollandt mir zurief: „Schraubet!“ da ſagte er zu mir: „‚Meiſter, ich weiß, daß Ihr ein ehrlicher Mann ſeid. So Ihr nun glaubet, daß ich der Tat ſchuldig bin, ſo ſchraubet getroſt. Gott wird mich ſtärken. So Ihr aber zweifelt und Eurer Sache ungewiß ſeid, ſo wird mein Blut über Euch und Eure Kinder kommen.“

———— —jä—4

o Don Wilhelm Hille. 177

Als er fo ſprach, winkte ich den Knechten, ihn loszu- binden, und erklärte meinem geſtrengen Herrn Richter, ich müſſe auch meiner Seele Seligkeit bedenken. Wollten mich von Amt und Brot jagen wegen der Geſchichte. Aber Ludicke Hollandt nahm mich insgeheim vor und redete mir zu, ich ſolle ſagen, ein plötzliches Gebreſten habe mich befallen, ſo daß ich nicht habe meines Amtes walten können. Wußte wohl, daß er ſobald keinen beſſeren Henker bekommen würde. Und ſie ließen Meiſter Bollhardt aus Düſſeldorf kommen, dem ich für die Reiſe dreiunddreißig Taler bezahlen mußte. Tat's aber gern, um der Sache loszukommen und in meinem Gewiſſen nicht beſchwert zu ſein. Nein, Junge, niemals war dein Vater ein ungerechter Henker und wird's auch nie ſein, ſo wahr ihm Gott helfe! Und auch du, wenn du einmal an meiner Statt hier die Sprüche der Freiſchöffen vollſtreckſt, ſollſt immer dein Gewiſſen fragen, ob's auch recht gerichtet iſt oder nicht, und lieber ſelbſt den Kopf auf den Block legen, als den Anſchuldigen foltern und töten. Das ift die wahre Henkersehre, mein Sohn, und die iſt, wie die Ehre der Ritter, von Gott ſelbſt dem Stande ge- geben, was auch die Menſchen ſagen mögen, und wir ſollen ſie rein und unbefleckt erhalten und vererben von Vater auf Sohn und von Sohn auf Enkel.“

Der Henkersſohn hatte aufmerkſam zugehört. Als der Alte ſchwieg, warf er ſtolz das Haupt zurück und ſagte: „Gut, Vater, ich werde es ebenſo machen wie du. Ich werde den Zeidler nicht foltern.“

„Den Zeidler nicht foltern? Viſt du verrückt, Junge? Dieſen Nichtswürdigſten aller Nichtswürdigen, den Mör- der deines Bruders nicht foltern? Und warum nicht?“

„Weil er unſchuldig iſt und weil du ſelber geſagt haft, ich folle nicht wider mein Gewiſſen foltern.“

1914. v. 12

178 genkersrecht. a

„Ich habe das geſagt, weil ich nicht wußte, daß ich einen ſolchen Narren wie du zum Sohne habe. Hätte ich das gewußt, ſo hätte ich noch hinzugefügt, daß ein Bengel von ſechzehn Jahren noch kein Urteil über ſchuldig und unſchuldig haben kann, daß er ſich dem Spruche erfahrener Männer zu beugen hat.“

„Ich weiß aber, daß er unſchuldig iſt!“

„Bube!“ ſchrie der Meiſter, unfähig, ſich länger zu beherrſchen. „Du wirſt ihn foltern, wie ich ihn foltere, oder —“

„Oder?“

Vater und Sohn blieben ſtehen und ſahen ſich an. Und da erſchrak Meiſter Wetzel über die Wildheit und Kraft, die ihm aus den Augen ſeines Erſtgeborenen entgegenleuchteten. Es war nicht mehr der Knabe, der vor ihm ſtand, es war der plötzlich zum Manne Ge— wordene. Es war er ſelbſt, ſeine eigene wilde Raſſe, die ihm den Krieg erklärte.

„Gut,“ ſagte der Henker nach einer Weile mit veränderter Stimme, „ich will dich nicht zwingen. Was ich geſagt habe, habe ich geſagt. Da du ihn für unſchuldig hältſt, magſt du die Hände von ihm laſſen. Ich und Gros werden es ſelbſt beſorgen. Aber du ſollſt mit dabei fein, damit du von feinen Lippen fein Schuld- bekenntnis hörſt.“

„Und auch du wirſt ihn nicht foltern, Vater! Nein, du wirſt es nicht tun!“ rief Andreas. „Verſprich mir, es nicht zu tun, und ich verſpreche dir, ein tüchtiger Henker zu werden. Ich werde dir Ehre machen. Nächſtes Jahr werde ich mein Geſellenſtück ablegen. Bitte, lieber Vater, tue es nicht!“

Ein Hohngelächter war die Antwort des Henkers auf dieſen Appell an ſein Herz. „Verrückter Bengel!“ ſchrie er. „Dir verſprechen, den Mörder meines Kindes

o Von Wilhelm Hille. 179

nicht zu foltern! Amt, Ehre, Gewiſſen fahren laſſen um einer elenden Knabenlaune willen! Ah, lieber wollte ich mir meine zehn Finger einzeln abſägen laſſen, als darauf verzichten, den Zeidler unter den Daumenſchrauben wimmern zu hören! Und nun will ich nichts mehr von dir hören! Wenn du zur Vernunft zurückgekehrt biſt, wollen wir wieder miteinander ſprechen.“

Andreas ſchwieg. Eine harte Falte legte ſich um ſeinen Mund.

So kamen fie am Rathauſe an.

* * *

„Somit übergebe ich dich der peinlichen Frage, bis du bekannt haft. Meiſter Andreas Wetzel, nehmt ihn in Eure Hände und tut mit ihm nach Eurem Amte.“

Alſo ſprach Ludicke Hollandt und zerbrach den birkenen Stab, mit dem er auf den CTiſch geklopft, zum Zeichen, daß die Verhandlung ihren Anfang genommen habe.

Der Unglückliche, dem die Anrede des Richters galt, lag bereits mit vollſtändig entblößtem Oberkörper auf der Folterbank. Dieſe befand ſich in der Mitte des großen düſteren Raumes, dem Richtertiſche gegenüber, und hatte ungefähr die Form einer Dachrinne, in die der Körper des zu Befragenden gerade hineingezwängt werden konnte. Sie lief ſchräg aufwärts, aber ſo, daß der Kopf tiefer lag als die Füße, die etwas über das obere Ende hinaushingen. Schon das längere Liegen in dieſer Mulde mußte äußerſt qualvoll ſein.

Peter Zeidler, der junge Windmüller, war ein kräftig gebauter Menſch von etwa fünfundzwanzig Jahren, von dem man wohl erwarten konnte, daß er ſich nicht ohne Kampf in ſein Schickſal ergeben würde.

180 Henkersrecht. TE o

Er war totenbleih, aber feine Lippen waren feft geſchloſſen.

Meifter Andreas, der mit Gros und feinem Sohne neben der Folterbank ſtand, ergriff die Hände des Delinquenten und legte die Daumen, mit der Rück- ſeite aneinander gepreßt, in den Schraubſtock. Dann ſah er erwartungsvoll zu dem Richtertiſche auf.

Ludicke Hollandt hatte mit den Beiſitzern zu ſeiner Rechten und Linken geſprochen und erhob ſich: „So frage ich dich, Peter Zeidler, zum letzten Male, ob du in Güte bekennen willſt?“

Der Angeklagte ſchüttelte den Kopf und biß die Zähne aufeinander.

„So ſchraubet, Meiſter,“ ſagte der Richter gelaſſen und ſetzte ſich wieder.

Der Henker ergriff die Kurbel des Schraubſtockes.

Da flüſterte ihm eine Stimme ins Ohr: „Laßt es nicht bis zum Außerſten kommen, Vater! Ihr würdet es hernach bereuen.“

Sinnlos vor Zorn wandte ſich der Henker um. Und wie er ſeinen Erſtgeborenen bleich und mit flehend emporgeſtreckten Armen vor ſich ſtehen ſah, verließ ihn die Beſonnenheit. Er holte weit aus und gab ihm eine ſchallende Ohrfeige, daß Andreas zurücktaumelte. Dann drehte er dreimal die Kurbel um.

Peter Zeidler ſtieß einen einzigen kurzen Schrei aus; ſeine Augen ſchloſſen ſich. Zwiſchen den Fugen des Marterinſtrumentes fab man das Blut hervor- quellen.

Da trat der junge Andreas vor den Richtertiſch und ſagte mit feſter Stimme: „Fit es auch erlaubt, einen Unſchuldigen peinlich zu fragen?“

Überrafcht ſahen ſich die Richter an.

Ludicke Hollandt aber ſprach zornig: „Was foll

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das heißen, Burſche, daß du das Gericht zu unter- brechen dich erdreiſteſt?“

„Das ſoll heißen,“ rief Andreas laut, „daß Peter Zeidler der Tat unſchuldig iſt. Denn ich bin's geweſen.“

„Er lügt!“ ſchrie Meiſter Andreas, vorſtürzend. „Er hat ſich's in den Kopf geſetzt, den Zeidler der Strafe zu entziehen. Überlaßt ihn mir! Eine tüchtige Tracht Prügel wird ihm feinen gefunden Verſtand wieder- geben.“

„Ich lüge nicht, ich bin wohl bei Sinnen,“ ſagte der junge Mann. „Und wenn Euer Gnaden mir den Bindfaden vorlegen würden, mit dem mein armer Bruder erwürgt worden, ſo wollte ich es bald beweiſen, daß ich die Wahrheit ſpreche. Darum nehmt mich in Haft und tut mit mir, wie ich's verdient habe. Ich will alles erdulden, nur daß kein Unſchuldiger ge- peinigt wird.“

Der Richter ſprach mit den Beiſitzern, dann klopfte er auf den Tiſch und gebot Stille. „Schraubet den Angeklagten los, Meiſter,“ ſagte er zu dem wie ver- ſteinert daſtehenden Scharfrichter. „Die peinliche Frage iſt für heute aufgehoben. And du, Burſche,“ wandte er ſich an den jungen Andreas, „kommſt mit uns hinauf in das Ratszimmer, wo du uns alles berichten magſt, was ſich begeben hat. Ihr aber, Meiſter Andreas, haltet Euch hier zur Verfügung des Gerichtes, falls man Euer bedürfen ſollte.“

* * *

„Alſo entſcheidet Euch, Meiſter Andreas,“ ſagte der Richter. „Denn ob der Knabe auch freimütig feine Schuld bekannt, und obgleich erhellet, daß er nicht in böſem Willen, ſondern in kindiſchem Anverſtande die SGreueltat vollbracht, fo ift er doch nach dem Geſetze

182 Henkersrecht. u

des Todes ſchuldig. Wollt Ihr ihn nun mit Euch nehmen und richten nach Henkersrecht, ſo habt Ihr mir, bis daß die Sonne untergegangen, anzuzeigen, daß der Ge- rechtigkeit Genüge geſchehen; wo nicht, ſo bleibt er hier in Verhaft, bis das Obergericht ſeinen Spruch gefällt.“

„Ich will ihn richten nach Henkersrecht,“ erklärte der Meiſter mit ruhiger Stimme. Er hatte ſich feſt in der Gewalt. Keine Muskel in ſeinem harten Geſichte zuckte; nur in den Augen brannte ein düſteres Feuer.

„Somit werde ich dem Büttel anbefehlen, daß er den Knaben dem Henker übergebe. Meiſter, es er- barmt mich über Euch, aber das Geſetz ift ſtreng. Be- denket es wohl: bis die Sonne untergegangen. Saget dem Knaben, daß er die Zeit gut ausnütze.“

* *. *

Auf dem Heimwege ſprachen Vater und Sohn kein Wort miteinander. Jeder wußte, was kommen mußte. Der Alte, der vor Ludicke Hollandt feine Haltung be- wahrt hatte, ging jetzt gebückt und atmete ſchwer; der Junge, hoch aufgerichtet, die Hände auf dem Rücken gefeſſelt, ſchritt neben ihm her wie der Sieger neben dem Beſiegten. In feiner Seele lag kein Grauen, ſondern eine unausſprechliche Erleichterung darüber, daß er die Laſt, die er feit zwei Jahren getragen, end- lich von ſich abgewälzt hatte. Mochte nun kommen, was da wolle: er fühlte es, er war über das Schwerſte hinaus.

Als ſie vor dem Henkerhauſe angekommen waren, zog Meiſter Andreas mit einem heftigen Ruck ſeinen Dolch aus der Scheide. Der Sohn ſah ihn an und lächelte. Aber es war noch nicht das, was er erwartete.

Der Alte ſchnitt die Feſſeln durch. „Der Mutter

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wegen!“ ſagte er herb. „Sie ſoll nichts erfahren, ver- ſtehſt du? Will nicht um der Geſchichte willen auch noch die Frau verlieren, wie ich meine Kinder verloren habe.“

Andreas ſah, wie eine große Träne an der harten, verwitterten Wange herablief. Da überkam es ihn wie Reue. „Verzeih mir, Vater,“ murmelte er, die ſchlaff herabhängende Hand des Alten ergreifend. „Ich konnte nicht anders. Haft du nicht ſelbſt mir geſagt, die wahre Henkersehre beſtehe darin, keinen Unſchuldigen leiden zu laſſen?“

Der Meifter entzog ihm die Hand. „Schweig!“ ſagte er rauh. „Was geſchehen iſt, iſt geſchehen, und wir müſſen beide die Folgen tragen. Biſt du bereit?“

„Ja.“

„Alſo heute abend in der guten Stube, wenn die Veſper einläutet. Du haſt noch drei Stunden. Geh in den Wald bis dahin, daß dich die Mutter nicht ſieht.“

„Ich darf mich nicht von ihr verabſchieden?“

„Nein. Und noch eins! Die letzten Worte von Ludicke Hollandt waren: ‚Saget dem Knaben, daß er die Zeit gut benütze.“ Merke dir die Worte. Und nun geh!“

Er wandte, kurz entſchloſſen, dem Burſchen den Rüden und trat ins Haus. In der Wohnſtube ange- kommen, ließ er ſich in den Stuhl niederfallen, der vor dem gedeckten Tiſche ſtand.

Frau Magdalena ſchrie, als ſie ihres Mannes anſichtig geworden war, entſetzt auf. So verſtört hatte ſie ihn noch nie geſehen.

Mechaniſch ergriff er den hölzernen Löffel und ſeine Suppe. Dann ſtützte er den Kopf in die Hände und verſank in tiefes Brüten.

„ums Himmels willen, Mann, was ift geſchehen?“ rief ſie.

184 Henkersrecht. u

„Mach die gute Stube zurecht, Frau,“ ſagte er auf- ſchauend. „Wir beten heute abend.“

„Für den Zeidler?“

„Für den Mörder meines Sohnes!“ ſprach der Henker mit dumpfer Stimme.

* * %

Andreas ſtrich planlos im Walde umher. Dann, als er eine kleine Lichtung erreicht hatte, von der aus man das väterliche Gehöft ſehen konnte, warf er ſich ins Gras und ſtarrte vor ſich hin.

Ach, wie hatte er ſich die ganzen letzten beiden Jahre hindurch vor dem Sterben gefürchtet! Und jetzt, da es ſo weit war, ſchien es ihm nichts zu ſein. Er hätte weinen mögen und fühlte ſich doch ſo frei, ſo giugno, dak er mit niemand hätte taufhen mögen.

Sein Selbſterhaltungstrieb war in der langen Seelenpein ertötet. Ja, er wollte ſterben und mit allem Schluß machen. So kam ihm denn gar nicht der Gedanke, ob es denn ſo ausgemacht und ſicher ſei, daß ein Vater ſein eigenes Kind töten würde. Und noch ein anderer Gedanke, der ſo nahe lag, kam ihm gar nicht: ſich einfach in den dunklen Wald zu ſtürzen und ſich dem Arme der Juſtiz zu entziehen. Ei, man hätte ihn lange ſuchen können hier! Er kannte ſeinen Wald; hier konnte er ſich wochenlang verbergen und dann in die weite Welt hinauswandern. Als ſtarker, kräftiger Burſche konnte er ſich anwerben laſſen und vielleicht gar ſein Glück machen.

Wie geſagt, er kam nicht auf dieſen Gedanken. In der wunderlichen Stimmung, die ſich ſeiner bemächtigt hatte, fühlte er ſich wie eins geworden mit der Natur um ihn und als wäre er ebenſo unſterblich wie ſie. Eine nie gekannte Zärtlichkeit gegen alles Lebende

o Don Wilhelm Hille. 185

bemächtigte fidh feiner. Ein großer goldgelber Käfer kletterte an ſeinem Schuh empor; er hob ihn ſorgfältig auf und ließ ihn fliegen. In einiger Entfernung eilte ein Reh dahin; er breitete die Arme nach ihm aus und hätte es am liebſten ans Herz gedrückt.

Plötzlich fielen ihm die vielen Kaninchen ein, denen er die Pfoten im Schraubſtock zerquetſcht hatte, und er begann bitterlich zu weinen. Aber bald erhob er ſich, riß einige Blätter Sauerampfer ab, der am Wege wuchs, und trocknete damit ſein naſſes Geſicht.

„Gott wird mir verzeihen, was ich Böſes getan habe,“ murmelte er. „Ich fühle es, daß er mir verziehen hat. Ich würde mich ſonſt mehr vor dem Tode fürchten.“

Da begann von der Stadt her die Veſper zu läuten.

„Oh, ich muß eilen,“ ſagte er zu ſich. „Man wird ſchon auf mich warten.“

And er begann zu laufen, erſt langſam und dann immer ſchneller.

Da kam von ferne ein Mann auf ihn zu, der einen Sack in der Hand trug. Der Mann winkte ihm, epen zu bleiben.

Es war fein Vater. |

Was wollte der hier? Kam er, ihn zu holen, weil es ſchon ſo ſpät war?

Demütig und mit niedergeſchlagenen Augen ſtand der Burſche da. Meiſter Andreas Wetzel betrachtete mit einem verwunderten Ausdrucke ſeinen Erſtgeborenen. Dann holte er weit aus mit der harten Rechten und ver- ſetzte ihm eine Ohrfeige, die an Spürbarkeit der vom Vormittage in der Folterkammer nichts nachgab.

„Da, nimm das für alles!“ rief er aus.

Andreas taumelte, aber er hielt ſich auf den Beinen.

„Oh, du Hansnarr!“ fhalt der Alte. „Kannſt du denn gar nichts begreifen? Muß der Henker ſelber dir

186 Henkersrecht. u

noch Beine machen? War es nicht deutlich genug, als ich dir ſagte, du ſollteſt die Zeit bis zur Veſper gut benützen? Sitzt der nichtsnutzige Bengel da ſtundenlang im Graſe und träumt, während die Häſcher ſchon auf dem Wege find! Konnteſt ſchon über die Grenze fein, Dummkopf!“

Andreas ſtarrte den Vater verſtändnislos an.

„Doch nun nicht gefadelt, Junge,“ fuhr der Henker fort. „Ludicke Hollandt hat dir nur bis zur Veſper Friſt gegeben. Er will dir auch nicht gern ans Leben, hätte dich ſonſt gleich in Haft behalten. Hier, nimm den Sack. Die Mutter hat ihn gepackt. Hüte das Geld wohl, es find bei dreißig Taler. Frage dich auf Umwegen durch nach Magdeburg zu Meiſter Emmerich, der einen Ge— hilfen braucht. Leb wohl, Junge! Wir wollen das übrige vergeſſen. War eine Schickung des Himmels.“

Der Henker ſeufzte tief auf und drückte einen Kuß auf die Stirn ſeines Jungen.

„Grüß die Mutter!“ ſagte Andreas und wandte fih zum Gehen. Er verſtand noch nicht alles. Nur das Eine, Wunderbare, ſah er ein, daß er weiterleben ſollte.

Langſam, mit ſchwankenden Schritten, ſchlug er den Waldpfad ein. Da hörte er den Vater pfeifen. Er wandte ſich um. Der Alte ſtand noch an derſelben Stelle und wies mit dem Finger nach der Landſtraße, wo in der Ferne drei Geſtalten auftauchten, die der Scharfrichterei zuſtrebten.

Waren das die Häſcher, die kamen, um ihn zu holen?

Da trat das Bild des Todes wieder vor ſeine Seele. Jetzt aber hatte es ſo abſchreckende, furchtbare Züge, daß ihn ein unnennbares Grauen erfaßte.

Da begann er zu laufen, wie er noch nie in ſeinem Leben gelaufen war.

Ne >.

090900

NANAS YINYIN YINYIN

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Wohlfeile Schmuckfedern.

von Gerd Harmstorf. Mit 18 Sildern. y (Nahdrud verboten.)

Esgebnielos, wie es noch jeder Männerkampf gegen eine eben herrſchende Frauenmode geweſen iſt, waren alle tierfreundlichen Bemühungen, der Der- wendung von Vogelfedern und Vogelbälgen als Hut- ſchmuck gewiſſe vernünftige Grenzen zu ziehen. Die Agitation zugunſten der erbarmungslos hingefchlachteten und vielfach fogar mit vollſtändiger Ausrottung be- drohten Vogelgattungen war gewiß zu loben; aber nur ein ſehr naives Gemüt konnte ſich der Hoffnung hingeben, daß ihr auch nur der beſcheidenſte Erfolg vergönnt ſein werde.

Das Opfer der Auflehnung gegen eine herrſchende Mode iſt eben das einzige, das man niemals von einer Frau fordern darf. Hier verſagt der Appell an die geſunde Vernunft ebenſo vollſtändig wie die Berufung auf die Güte und das Mitleid des weiblichen Herzens. Auf alles kann die normal veranlagte Frau ſchließlich verzichten, nur nicht auf das Vorrecht ihres Geſchlechts, ſich kleidſam anzuziehen.

Und kleidſam ift nach ihren Begriffen nur das, was modern iſt. Hier iſt dem männlichen Einfluß eine Schranke geſetzt, die wohl bis in alle Ewigkeit unüberſteiglich bleiben wird. Darum müſſen wir uns wohl oder übel damit abfinden, daß eine von der Mode- laune lebende Induſtrie fortfährt, rückſichtslos unter

188 Wohlfeile Schmuckfedern. a

den ſchönſten und ſeltenſten Vogelarten, unter Edel- reihern, Paradiesvögeln, Kolibri und fo weiter auf- zuräumen, und nicht auf die Einſicht oder die Warm- herzigkeit des zarten Geſchlechts, ſondern einzig auf die Wandelbarkeit des Modegeſchmacks dürfen wir eine Hoffnung auf das endliche Aufhören dieſer ſinnloſen Maſſenmorde gründen. Eines frei- lich kommt den Beſtrebungen der Tierfreunde ſchon heute wirt- ſam zu Hilfe, die Koſtſpielig- keit jenes Fe- derſchmuckes nämlich, der nur durch die Lö- tung ſeltener Vögel gewon- nen werden

kann. Eine Hut-

Großer, weicher Schweif aus ſchwarzen ier a 3 Hahnenfedern mit grünlich ſchillernden ô i Ä

Spitzen. oder Paradies-

vogelfedern iſt ſo teuer, daß nur verhältnismäßig wenige das hohe Glück auskoſten dürfen, mit ihr zu prunken. Die Modeinduſtrie, die in ſolchen Fällen immer darauf bedacht fein muß, auch den Bedürfnifjen der minderbemittelten Frauenwelt Rechnung zu tragen, war alſo genötigt, ſich nach wohl- feileren Erſatzmitteln umzutun, die ſich im Ausſehen nicht allzuſehr von jenen unerſchwinglichen Koſtbarkeiten unterſcheiden. Ein Blick auf die Auslagen der groß—

o | Von Gerd Harmstorf. 189

ſtädtiſchen Putzgeſchäfte muß uns überzeugen, daß der Erfolg ſolchen Bemühens geradezu erſtaunlich geweſen iſt. |

Wie das unſcheinbare Fell unſeres in unerſchöpf— licher Menge zur Verfügung ſtehenden Kaninchens mit beſtem Gelingen zur Herſtellung der „edelſten“ und

Weiches Pikett aus Hahnenfedern mit farbig ſchillernden Spitzen.

„ſeltenſten“ Pelzarten verarbeitet wird, ſo iſt man neuerdings dahintergekommen, aus dem Federkleid unſeres in der Hauptſache ganz anderen Zwecken dienenden Nutzgeflügels Hutzierden herzuſtellen, die zwar keine Straußen-, Reiher- oder Paradiesvogel- federn vortäuſchen können, in Form und Farbe aber vielfach ſo reizvoll und gefällig wirken, daß ſie einen Vergleich mit jenen um fo vieles teureren Schmuck- ſtücken nicht zu ſcheuen brauchen.

190 Wohlfeile Schmuckfedern. o

Nur eine kleine Ausleſe aus der Fülle folcher durch die herrſchende Mode hervorgerufenen Phantaſie— ſchöpfungen iſt es, die wir unſeren Leſerinnen mit den beigegebenen Abbildungen vorführen können. Es mangelt ihnen überdies wegen der Unmöglichkeit, die

Großer Schweif aus Hahnenfedern mit farbig ſchillernden Spitzen.

mannigfachen Farbentönungen auf der photographi— ſchen Platte wiederzugeben, ein ſehr weſentlicher Reiz der Originale. Immerhin aber werden auch dieſe Bilder hinreichen, die Richtigkeit der Behauptung zu erweiſen, daß fidh mit dem nötigen Geſchmack und Ge- ſchick auch aus ſimplen Hahnen-, Gänſe- und Enten- federn allerliebſte Gebilde verfertigen laffen, die vor der unleugbaren Eintönigkeit der Straußfederpleu— reuſen und der Reiherſtutze neben der größeren Wohl-

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D Von Gerd Harmstorf. 191

feilheit auch noch den Vorzug ſchier unbegrenzter Ab- wechſlungsmöglichkeiten voraus haben.

Solange die Alleinherrſchaft der wagenradgroßen Rieſenhüte währte, ſtanden der Verwendung dieſes billigeren Materials beträchtliche Schwierigkeiten ent— gegen, weil ſich gefällige Gebilde von der zum Schmuck dieſer Ungeheuer

erforderlichen Länge und Größe aus ihm nicht wohl herſtellen laffen. Mit der Rückkehr zu vernünftigen, den Maßen der menſchlichen Ge— ſtalt einigermaßen

entſprechenden Kopfbedeckungen aber hat die Mode der Schmuͤckfe— derninduſtrie ein Betätigungsgebiet eröffnet, auf dem mit den allerein— fachſten Mitteln die hübſcheſten und überraſchendſten Leiſtungen her— vorgebracht werden können.

In wie verſchiedenartiger und wirkſamer Weiſe ſich die Schweiffedern unſeres gewöhnlichen Haushahns verwenden laffen, lehren uns die fünf erſten Abbil- dungen, deren Originale zum Schmuck der mannig- fachſten Hutformen beſtimmt ſind und ſich durchweg als äußerſt kleidſam erwieſen haben. Fſt es bei dem kühn gebogenen, großen Schweif aus ſchwarzen und

Puff aus gebrannten ſchwarzen Hahnenfedern.

192 Wohlfeile Schmuckfedern. o

dem fanfter geſchwungenen aus weißen Hahnenfedern mit farbigen Spitzen neben der hübſchen Linie der dieſem Gefieder eigene metalliſche Schimmer, den man als charakteriſtiſche Beſonderheit anſprechen kann, ſo nimmt das weiche, von jedem Windhauch bewegte Pikett durch ſeine anmutige Leichtigkeit für ſich ein.

Großer Schweif aus gebrannten ſtrohgelben Hahnenfedern (Paradiesvogelnachahmung).

And von ausgeſprochener Eigenart ift der Puff aus „gebrannten“ ſchwarzen Hahnenfedern, deſſen pikante Wirkung ſich durch die photographiſche Nachbildung leider nur ſehr unvollkommen wiedergeben läßt. Der Eindruck des Zerzauſten und Borftigen, der auf dem Vilde etwas zu ſtark hervortritt, wird bei dem Original vollſtändig aufgehoben durch die graziöſe Feinheit und

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o- Von Gerd Harmstorf. 193

Zartheit der einzelnen Federn, die jedes Lüftchen und jede leichte Kopfbewegung der Trägerin in launenhafte Schwingungen ver— ſetzt. |

Wenn ſchon in diefem Buff faſt die Wirkung des Paradies— vogelgefieders erreicht ift, fo er- ſcheint fie bis zur wirklichen Täu- ſchung geſteigert in dem großen Schweif aus gebrannten, ſtroh— gelben Hahnenfedern auf dem nächſten Bilde. Hier iſt ſogar nach unſerem Dafürhalten ſchon die Grenze des bei der Verwen— dung eines minderwertigen Ma— terials Zuläſſigen überſchritten.

Flaumiger Pompon aus Hühnerfedern.

Großer Schweif aus Gänſe- und Entenfedern.

1914. V.

13

194 Wohlfeile Schmuckfedern. o

Aus dem Beſtreben, die vorhandenen natürlichen Reize dieſes Materials durch geſchickte Anordnung und Bu- ſammenſtellung zur Geltung zu bringen, iſt die bewußte Abſicht geworden, ein edleres und koſtbareres Natur- produkt vorzutäuſchen ein Bemühen, das niemals

Locker angeordnetes Pikett aus an den Spitzen gekräuſelten Gänſefedern.

den Beifall einer geſchmackvollen Käuferin finden wird. Sehr anſpruchslos und trotzdem gewiß nicht weniger anſprechend wirkt dagegen der nette Pompon aus weißen, flaumigen Hühnerfedern, der aus ſieben kleinen, zu einem weichen, duftigen Federball vereinigten Einzel— piketts beſteht und ſich namentlich zu dem Geſicht einer ſehr jugendlichen Trägerin wunderhübſch ausnimmt. Der heimiſche Geflügelhof aber liefert der modernen

o Von Gerd Harmstorf. 195

Putzfederninduſtrie nicht nur Hahnen- und Hübner- federn, denn auch das ſchlichte Gefieder der weniger um ihrer äußerlichen Schönheit als um ihrer Schmad- haftigkeit willen geſchätzten Gans und der noch be— ſcheideneren Ente kann bei richtiger Verarbeitung als

Pikett aus weißen Truthahnfedern, durchſetzt mit blumenförmig angeordneten Gänſefedern.

Schmuck und Zier für unſere holden Frauen Ver— wendung finden. Der abgebildete Schweif aus Gänſe— und Entenfedern wirkt durch die graue Färbung der letzteren ſehr lebhaft und gefällig; auch iſt er von einer Schmiegſamkeit und Leichtigkeit, die der einer Strauß federpleureufe um nichts nachſteht.

Sehr hübſch iſt auch das locker angeordnete Pikett aus weichen, mittellangen Gänſefedern, die an den Spitzen ein wenig gerollt und gekräuſelt ſind. Das

196 Wohlfeile Schmudfebern. a

Arrangement hat den beſonderen Vorzug, daß ſich den einzelnen Federn mit Leichtigkeit jede gewünſchte Stel- lung geben läßt, wie es die Form des Hutes und das Geſicht der Trä- gerin eben wün- ſchenswert machen. Auch eine Art von Nachahmung, aber ohne eigentliche Täuſchungsabſicht, ſtellt das große Pikett aus zarten Truthahn? und kurzen Gänſefe- dern dar, das auf den erſten flüchti- gen Blick wohl wie ein Gebild aus Marabufedern er- ſcheinen mag. Was die Zuſammen- ſtellung beſonders originell macht, iſt der Einfall, die matt glänzenden Gänſefedern zu blumenartigen Ge- bilden zu vereini-

Sehr große Flügel aus Schwanen, Enten- und Gänſefedern.

gen, die dem Auge in dem etwas ſtumpfen Weiß des

Truthahnflaums angenehme Ruhepunkte bieten. Aus Gänſe-, Enten- und Schwanenfedern ſehr kunſtvoll zuſammengeſetzt ſind die beiden großen blau—

o Von Gerd Harmstorf. 197

gefärbten Flügelauf dem nächſten Bilde. Man kann ſich leicht vorſtellen, daß ſie ſehr impoſant wir- ken und darum nicht für jede Hutform und nicht für jede Trägerin geeignet ſind. Zierlicher und reizvoller wollen uns die beiden „Pal- men“ aus pfauen- blau gefärbten Gänſefedernerſchei— nen, die ſehr ge— ſchickt mit einem

breiten aD? an Palmen aus pfauenblauen Gänfefedern, „gebrannten“ En- mit gebrannten Entenfedern beſetzt.

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Phantaſtiſche Flügel aus Gänſefedern.

198 Wohlfeile Schmuckfedern. D

tenfedern beſetzt find. Die Verbindungsſtelle der beiden Palmen verbirgt ſich unter einem Tuff ganz kurzer, in zwei Farben getönter Schwanenfedern, und das ganze Arrangement iſt von ſo vornehmer Wirkung, daß man

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Aus Schwanen-, Gänſe-, Einfache Flügel aus Schwanen-, Enten-, Pfauen- und Fa- Enten- und Gänſefedern. ſanenfedern hergeſtellte Flügel. dem Material nichts mehr von der Beſcheidenheit fei- ner Herkunft anmerkt.

Sehr auffallend und darum wohl nicht nach dem Geſchmack jeder Dame ſind zwei rieſenhafte Flügel aus maulwurfsgrauen Gänſefedern, die durch eine gigan- tiſche runde Agraffe zuſammengehalten werden und wegen ihrer Dimenſionen nicht eben als praktiſch be- zeichnet werden können. Um ſo größeren Beifall fanden mit vollem Recht zwei durch die aufgewandte Arbeit allerdings ziemlich koſtſpielig gewordene Flügel,

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o Von Gerd Harmstorf. 199

zu deren Herſtellung Schwanen, Gänje-, Enten, Pfauen- und Faſanenfedern Verwendung gefunden hatten. Nur eine farbige Wiedergabe könnte den da— durch erzielten Effekt anſchaulich machen. Namentlich die beiden nach der Art von Schmetterlingsfühlern an— gebrachten Pfauenfedern machen dies hübſche Gebilde zu einem überaus heiter und anmutig wirkenden Hut- ſchmuck.

ungleich einfacher, aber ebenfalls von gutem Ge-

Buſch aus ringförmig Agraffe aus dachziegelartig gekräuſelten Bfauen- übereinander gelegten federn. Taubenfedern.

ſchmack find die aus Schwanen, Enten- und Gänſe— federn gebildeten künſtlichen Flügel auf dem nächſten Bilde. Zur Garnierung eines wohlfeilen Hutes be- ſtimmt, wollen ſie nicht für mehr gelten, als ſie ſind,

200 Wohlfeile Schmuckfedern. 2

und ſind darum be— ſonders ge— eignet, ein ſchlichtes Straßenko— ſtüm zu ver- vollitändi- gen. Die DPfauenfe- | der allein 5 erſcheint Ey trotz ihrer | Fi | | Farben- 11ͤ » pvpracht als Perlhuhnflugel in Form eines Schiffſegels, Hutzierd mit Schwanenfedern beſetzt. wenig an- gebracht, weil fie p ſich wegen ihrer Steifheit zu Ar- rangements von reizpollem Li- nienſpiel kaum verarbeiten läßt. Immerhin hat es nicht an mehr oder weniger ge- lungenen Verſu— chen gefehlt, ſie ebenfalls für die gegenwärtige Ti : Moderichtung | i [ee Dunn an ma' gleine Flügel aus Perlhuhnfedern, mit chen. Wir führen Medaillons aus Entenfedern verziert.

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o Von Gerd Harmstorf. 201

mit dem im Bilde wiedergegebenen Buſch aus ring- förmig gekräuſelten Pfauenfedern ein Beiſpiel dafür an, glauben aber nicht, daß der Erfolg des Experiments danach angetan iſt, zur Nachahmung zu reizen.

Damit nicht eine einzige Gattung unſeres heimiſchen Nutzgeflügels unbeſteuert bleibe, hat man auch für die Federn der Taube wie für die des Perlhuhns eine zweckentſprechende Verwendung geſucht und gefunden. Daß etwas ſonderlich Beſtechendes dabei nicht heraus- kommen konnte, liegt freilich auf der Hand. Die aus vier Reihen dachziegelartig übereinander gelegter Tau— benfedern beſtehende Agraffe iſt zwar nicht ohne eine gewiſſe Keckheit, wird ſich der Gunſt ihrer Trägerin aber ſicherlich nicht allzulange zu erfreuen haben, und der mit Schwanenflaum beſetzte Perlhuhnflügel in Form eines Schiffſegels iſt ebenſo wie das mit bunten, metalliſch ſchillernden Entenfedern in Form kleiner Medaillons geſchmückte Flügelpaar aus dem gleichen Material nur für die Befriedigung beſcheidener An- ſprüche berechnet.

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Mannigfaltiges.

+ (nachoͤruck verboten.)

Das rätſelhafte Armband. Herr Weißenberg junior ſaß hinter dem Ladentiſch über die Glasplatte gebeugt, hielt die Lupe vor das rechte Auge und prüfte mit Kennerblick eine Anzahl kleiner roher Edelſteine, die ihm von einem Händler laut des beigefügten Verzeichniſſes zum Rauf angeboten worden waren. Ihm den Rücken zuwendend, machte ſich ein junger Mann, Herr Adolf Meyer, die erprobte Stütze der Firma, in dem großen Spind mit dem Tafelſilber zu ſchaffen, und in dem an den Laden grenzenden Kontor ſaß Herr Weißenberg ſenior an ſeinem Schreibpult und ſah die angekommene Poſt durch.

Das Zuweliergeſchäft Elias Weißenberg Söhne gehörte zu den älteſten und angeſehenſten Berlins, aber heute war es noch ziemlich früh am Vormittag, und Kundſchaft ließ ſich alſo noch nicht blicken. Der Laden Unter den Linden und ſein großartiges, durch ein Gitter geſchütztes Schaufenſter mit den vielen darin aufgeſtapelten Koſtbarke iten zählte geradezu zu den Sehenswürdigkeiten. Es war ein ſchöner Herbſttag, der Berliner Fremdenverkehr ſtand auf der Höhe, die Hotels waren überfüllt. Unter ſolchen Umſtänden pflegte die bekannte Firma die beſten Geſchäfte zu machen.

Gerade hatte Herr Weißenberg junior einen apfelgrünen Smaragd unter der Lupe, deſſen Schönheit leider durch ein eingewachſenes Glimmerblättchen beeinträchtigt wurde, als ein ſehr elegant gekleideter noch junger Herr in den Laden eintrat. Er trug Zylinderhut, Monokel, einen Stock mit goldener Krücke die übliche Kavaliererſcheinung.

Weißenberg ließ ſeine Steine Steine ſein, verſchloß ſie in eine der vielen flachen Schubladen, die auf der Rüdfeite des

u Mannigfaltiges. 203

Ladentiſches angebracht waren, und fragte, womit er dem Herrn dienen könne.

Der Fremde nahm den Hut ab, wobei fein rötliches wohl- geſcheiteltes Haar zum Vorſchein kam, ſtrich ſich den Schnurr- bart und ſagte mit näſelnder Stimme: „Möchte einen Schmuck- gegenſtand haben für eine Dame.“

„Bitte recht ſehr. Was darf es ſein? Ein Armband? Ein Kollier? Ein Ring?“

„Ein Armband!“

Herr Meyer war näher herangetreten, auch Weißenberg ſenior erſchien nun im Hintergrunde. Mannigfache unliebſame Vorgänge im Zuweliergewerbe in der jüngſten Zeit forderten Unbekannten gegenüber zur Vorſicht auf, und ſechs Augen ſahen mehr als zwei. |

„Darf ich wiſſen, in welcher Preislage?“ ſetzte Weißenberg junior ſeine Fragen fort.

„Der Preis ſoll keine Rolle ſpielen,“ erwiderte der Fremde mit vornehmer Gelaſſenheit.

„Sehr wohl!“

Gleich darauf öffnete der Juwelier vor ſeinem Kunden eine Anzahl Etuis mit ſchimmernden Brillanten, Rubinen, Smaragden und Saphiren. Es waren die teuerſten Sachen. Mit Kennerblick nahm der Fremde ein Stück nach dem anderen in die Hand, trat damit an die Tür, ließ die Steine in der Sonne ſpielen und unterließ auch nicht, die Faſſungen genau zu ftu- dieren. |

Endlich nach langem Wählen entſchied er ſich für ein drei- reihiges Brillantenarmband, das nicht nur durch die Schön-

heit und Reinheit der Steine, ſondern auch durch den Geſchmack

und die Zierlichkeit der Arbeit ausgezeichnet war. Von allen vorgelegten Sachen gehörte es mit zu den wertvollſten. Die Wahl machte ſeinem fachmänniſchen Verſtändnis alle Ehre.

„Vas ſoll das koſten?“ erkundigte er ſich.

Weißenberg junior beſah ſich den kleinen dem Zuwel angehängten Zettel. „Sechstauſendvierhundert Mark,“ lautete ſeine Antwort.

„alt dies der äußerſte Preis?“

204 Mannigfaltiges. u

„Der alleräußerſte, mein Herr.“

„Ich möchte bitten, daß das Armband an eine gewiſſe Adreſſe geſchickt wird. Kann das geſchehen?“

„Aber ſelbſtverſtändlich.“

„Bedingung für mich wäre, daß mein Name nicht genannt wird. Kann ich darauf rechnen?“

„Ganz gewiß, mein Herr.“

„Die Adreſſe lautet: Fräulein Alice Vanderport, Bellevue- ſtraße 70.“

Herr Weißenberg, der ſich ſchon zum Schreiben angeſchickt hatte, hielt inne. Er bemühte ſich, ein gewiſſes Erſtaunen zu verhehlen. „Fräulein Vanderport von der Hofoper?“ fragte er höflich.

„Jawohl. Um elf Uhr begibt ſich Fräulein Vanderport zur Probe. Kann ſie das Armband bis dahin erhalten haben?“

„Gewiß!“

„Alſo ich verlaſſe mich darauf bis elf Uhr! Ich will auch gleich bezahlen.“ Der Fremde griff in ſeine Bruſttaſche, ſtutzte, griff in eine andere und ſagte dann: „Ich ſehe, ich habe meine Brieftaſche in meinem Hotel liegen laffen, Hier meine Difiten- karte. Wollen Sie den Betrag zwiſchen elf und zwölf im Hotel Briſtol abholen laſſen. Aber die Sendung erleidet dadurch doch keine Verzögerung?“

Graf Stillfried, wie er laut der Viſitenkarte hieß, griff nach Hut und Stock, nickte noch einmal mit ſeiner nachläſſigen Vornehmheit und verließ den Laden.

Wer in Berlin kannte nicht die berühmte Vanderport? Der Ruhm dieſer Sängerin war ja in der ganzen Welt ver- breitet. Das Erſtaunen von Herrn Weißenberg, als er ihren Namen hörte, hatte nur darin ſeinen Grund, daß die berühmte Künſtlerin zufällig eine Kundin ſeines Hauſes war, daß er ſie perſönlich gut kannte, auch ihren Lebensgewohnheiten nach, die gut bürgerlich und gänzlich einwandfrei waren, und daß ſie, was dieſen letzteren Geſichtspunkt betraf, wenigſtens nach Herrn Weißenbergs Wiſſen nicht zu denjenigen Vertreterinnen ihres Berufes gehörte, denen von der Herrenwelt derartige Geſchenke zu Füßen gelegt werden durften.

D Mannigfaltiges. 205

„Alſo die Vanderport!“ ſchmunzelte Weißenberg junior, nachdem ſich hinter dem Grafen die Tür geſchloſſen hatte. „Nu ſieh einer an! Alſo einen Verehrer hat ſie ſich nun doch noch angeſchafft!“

„Jetzt auf ihre alten Tage?“ erlaubte fih Meyer, der in Theaterdingen Autorität war, dazu zu bemerken.

„Warum ſoll ſie nicht?“ entſchied der alte Weißenberg aus dem Schatze ſeiner Lebenserfahrungen heraus. „Sie iſt doch unberufen noch eine ganz ſtattliche Perſon. Vielleicht handelt ſich's um eine Heirat!“

„Aber er will ja nicht mal ſeinen Namen genannt haben!“ ſagte ſkeptiſch Weißenberg junior.

„Sie wird ſchon wiſſen, von wem das Armband kommt,“ meinte Meyer.

Weißenberg ſah auf die Ahr. „Wenn ſie das Armband bis elf Uhr haben ſoll, dann muß es gleich hingeſchickt werden. Oder ob man nicht lieber wartet, bis das Geld bezahlt iſt? Man kennt doch dieſen Grafen Stillfried nicht!“

„Was kann da paſſieren?“ beſänftigte der alte Herr das Mißtrauen ſeines Sprößlings. „Selbſt angenommen, man hätte es mit einem Schwindler zu tun die Vanderport iſt uns doch gut dafür. Kriegen wir das Geld nicht ſchön, holen wir das Armband wieder von ihr ab. Sie läuft uns nicht fort. Jedenfalls kann man im Briſtol anklingeln, ob dort ein Gaſt mit dieſem Namen überhaupt abgeſtiegen iſt.“

Dies geſchah. Ein Graf Stillfried war in der Tat im Hotel Briſtol abgeſtiegen. Um übrigens ganz ſicher zu gehen, ſollte nicht der Hausdiener zu Fräulein Vanderport geſchickt werden, ſondern Meyer ſelbſt ſollte ſich mit dem Schmuckſtück zu der Dame begeben. Meyer kannte Fräulein Vanderport perſönlich, und keiner anderen als ihr perſönlich ſollte er es in die Hände geben.

Graf Stillfried mußte über Fräulein Vanderport falſch berichtet geweſen ſein wenigſtens in einem Punkte. Es war gar nicht wahr, daß fie um elf Uhr zur Probe mußte. Sie hatte heute überhaupt keine Probe. Vielmehr ſaß ſie, als ihr Herrn Meyers Beſuch gemeldet wurde, nach ihrer Gewohnheit am

206 Mannigfaltiges. u

Klavier und übte. Schon die ganze Einrichtung des Zimmers wies darauf hin, von welchem korrekt- bürgerlichen Geiſte feine berühmte Bewohnerin beſeelt war. Alles blitzte und funkelte darin vor ſtrenger Sauberkeit und Sachlichkeit. Das altmodiſche Polſtermobiliar, ein Erbſtück von einer Tante, war ſorgſam mit gehäkelten Deckchen behängt, keine prunkenden Lorbeer- kränze mit goldbedrudten Atlasſchleifen zierten die Wände, und ein Bild gutbürgerlicher Solidität bot auch die große Künſtlerin ſelbſt. Ihre ſtrengen Geſichtszüge, denen erſt die Schminke, das Koſtüm und das künſtliche Rampenlicht einen gewiſſen verführeriſchen Reiz verliehen, hatten jetzt im nüd- ternen Lichte des frühen Vormittages und in der proſaiſchen Gewandung eines ſelbſtgeſchneiderten Negliges faſt etwas Nonnenhaftes, und ihre hohe Geſtalt hielt jeden Gedanken an irgendwelche Zärtlichkeiten meilenfern. Eine böſe Jugend- erfahrung hatte ſie ein für allemal zu einer grundſätzlichen Männerfeindin gemacht, und gerade darin beſtand die Tragik ihres Lebens, daß fie fo häufig dem Publikum Gefühle vor- heucheln mußte, die in ihrem Innerſten nicht den geringſten Widerhall fanden.

Ein grenzenloſes Erſtaunen malte ſich in ihrem Geſicht, als Meyer ſich ſeines Auftrages entledigte.

„Das muß ein Frrtum, das muß eine Verwechſlung fein,“ waren ihre erſten Worte.

„Pardon, mein gnädiges Fräulein,“ erwiderte Meyer taktvoll, „ein Irrtum iſt ausgeſchloſſen!“

„Und ich ſoll nicht einmal erfahren, wer der Abſender iſt?“

„Wie geſagt, Verſchwiegenheit iſt uns zur Pflicht gemacht, mein gnädiges Fräulein!“

„Iſt es ein Herr oder eine Dame?“

„Ich bedaure, mein gnädiges Fräulein, aber eine Antwort darauf würde meine Befugniſſe überſchreiten!“

„Geſchenke von Unbekannten nehme ich nicht an. Nehmen Sie das Armband wieder mit!“

„Gnädiges Fräulein verzeihen, aber in dieſem Falle müßte ich darum bitten, daß Sie ſich ſchon ſelbſt in unſer Geſchäft bemühen und das Armband dort zurückgeben. Ich bin nur

2 Mannigfaltiges. 207

Angeſtellter meiner Firma. Ich habe mich nur meines Auf- trages zu entledigen. Empfehle mich, mein gnädiges Fräulein!“

„Aber ich wiederhole Ihnen, hier hat eine Verwechflung, ein Irrtum ſtattgefunden!“ ö

„Selbſt wenn dies wirklich der Fall ſein ſollte, mein gnädiges Fräulein,“ bemühte ſich nun Meyer mit gut geſpielter Schein heiligkeit auf die offenbare Komödie, die ihm die Dame nach ſeiner Auffaſſung vormimte, einzugehen, „ſo ließe ſich ja dieſer Irrtum jederzeit leicht rückgängig machen. Wir laſſen dann das Armband einfach wieder abholen Adieu, mein gnädiges Fräulein, empfehle mich!“

Alice Vanderport war wieder allein, und nun trat Minna herein, um ihre Herrin zu fragen, was zu Mittag gekocht werden ſollte. l

„Das ift mir ganz egal,“ erwiderte Alice ungeduldig, „ich wünſche jetzt nicht geſtört zu werden.“

Sie war in Nachdenken verſunken. Wie hübſch das Arm- band war und wie wertvoll! Sie war Kennerin in dieſem Artikel und beſaß ſelbſt ſchon mehrere derartige koſtbare Schmuck- ſtücke, die ſie bei ihren Gaſtſpielen an großen Hoftheatern ſtatt des Honorars erhalten hatte. Andere große Künſtlerinnen, wenn ſie ohne Honorar auftraten, ließen ſich dafür einen Orden geben. Alice aber zog das Praktiſche vor.

Wenn es nun doch kein Irrtum war? Aber wer konnte dann dieſer Unbekannte fein? Wie reich mußte er fein und wie taktvoll! Der großen Künſtlerin, die ſonſt die Männer verachtete, wurde es plötzlich ganz weich ums Herz.

Mitten in dieſem Gedankengange wurde ſie unterbrochen. Es hatte eben geſchellt und abermals erſchien nun Minna, um zu melden, draußen ſei ein Herr, der das gnädige Fräulein ſehr dringend zu ſprechen wünſche. Sie hätte dem Herrn geſagt, das gnädige Fräulein wünſche nicht geſtört zu werden, aber der Herr ließe ſich nicht abweiſen. Er käme von der Firma Weißenberg wegen des Armbandes, das vorhin an das gnädige Fräulein abgeliefert worden ſei.

„Laſſen Sie den Herrn herein!“

Kaum hatte Alice Zeit, ihr hochklopfendes Herz zu beruhigen,

208 Mannigfaltiges. D

denn fie erwartete nun des Rätjels Löſung, als die Tür ſich öffnete und der Gemeldete erſchien. Es war ein elegant ge- kleideter noch junger Mann, deſſen beſonderes Kennzeichen fein rötliches Ropfhaar war.

„Pardon, mein gnädiges Fräulein,“ ſagte er, und man merkte ihm eine gewiſſe Verlegenheit an, „ich komme von der Firma Elias Weißenberg —“

„Wegen des Armbandes?“

„Ich habe tauſendmal um Entſchuldig ung zu bitten, aber es ift mit dem Armbande ein Irrtum paſſiert.“

„Ein Irrtum? Das Armband iſt alſo falſch abgegeben worden? Es ift gar nicht für mich?“ fragte fie mit bewunderns- werter Ruhe.

„Allerdings, mein gnädiges Fräulein. Der Irrtum iſt nämlich auf folgende Weiſe geſchehen —“

„Bitte, Sie brauchen mir gar nichts zu erklären,“ fiel die Künſtlerin dem Abgeſandten ins Wort. „Hier haben Sie das Armband!“

„Nochmals, mein gnädiges Fräulein, tauſendmal Pardon!“

„Aber bitte!“

„Ich habe die Ehre!“

„Adieu!“

Als Herr Meyer im Hotel Briſtol erſchien und nach dem Grafen Stillfried fragte, erhielt er zu ſeinem Erſtaunen den Beſcheid, der Herr Graf ſei plötzlich abgereiſt. Sofort nahm Meyer ein Auto und fuhr zu Fräulein Vanderport. Aber dort mußte er erfahren, daß das Armband bereits von einem Kollegen von ihm abgeholt worden ſei. Hatte Fräulein Vanderport ihm nicht gleich geſagt, daß es ein Irrtum ſein mußte?

Elias Weißenberg Söhne warten noch heute auf die Be- zahlung des Armbandes, das der großen Künſtlerin ein ſo intereſſantes Nätfel aufgegeben hatte. H. Lee.

Fingierte Stummheit. Im Lande des Spleens haben fih innerhalb des letzten Jahrzehnts mehrere Fälle ereignet, bei denen Mädchen, die mit vollkommen geſunden Sprechwerkzeugen

2 ö Mannigfaltiges. 209

begabt waren, Stummheit fimulierten, und zwar beide Male, um einen Mann zu bekommen.

Das erſte Mal handelte es ſich um eine nicht mehr ganz junge Liverpoolerin. Sie lernte in einem befreundeten Hauſe einen ſchon bejahrten Mann kennen, der ihr ſo gut gefiel, daß ſie ihn zu heiraten wünſchte. Sie hatte erfahren, daß er Witwer war, aber nicht abgeneigt fei, eine zweite Verbindung einzu- gehen. Nur hatte er von Anfang feiner Witwerſchaft an er- klärt, er würde ſich zu dieſem Schritte nur dann entſchließen, wenn er eine Stumme fände, die ihn haben wolle, denn ſeine erſte Frau ſei tagaus, tagein keine Minute ſtill geweſen und habe ihn faſt zu Tode geredet.

Die Heiratsluſtige blieb von Stund' an ſtumm und die Ver- bindung kam zuſtande. Ihr Gatte lebte mit ſeiner „ſtummen“ Frau febr glücklich und hinterließ ihr fein ganzes großes Ber- mögen.

Der zweite Fall verlief etwas anders. Von zwei Zwillings- ſchweſtern in Birmingham war eine ſtumm. Sie lernten einen Mann kennen, in den ſich beide verliebten. Er aber liebte die Stumme, warb um ſie und verlobte ſich mit ihr. Als ſie dicht vor der Hochzeit ſtanden, ſtarb die Braut gänzlich unerwartet.

Die beiden Mädchen, die ſich zum Verwechſeln ähnlich ſahen, wohnten ganz allein, und ſo ſpielte die übrigbleibende die Rolle der Verſtorbenen, ließ für die andere den Totenſchein auf ihren, der Lebenden, Namen ausſtellen und zeigte dem in London wohnenden Bräutigam den Tod nicht ſeiner Braut, jondern feiner zukünftigen Schwägerin an. Infolge ihrer Ahnlichkeit mit der Verſtorbenen merkte auch der junge Mann nichts von dem Betrug, und die ſonſt febr Redeluſtige brachte es fertig, die Stummheit der Verſtorbenen durchaus natürlich nachzuahmen. Die Hochzeit fand ſtatt, und die jungen Gatten lebten ſich gut miteinander ein.

Auf die Dauer konnte aber die glückliche junge Frau das ewige Schweigen doch nicht aushalten. Sie beendete die eine Täuſchung durch eine zweite, indem ſie ein Jahr nach der Hochzeit ſich ſtellte, als gewinne ſie nach und nach die Sprache wieder.

1914. v. 14

210 Mannigfaltiges. | u

Ihr Mann war nun doppelt glücklich.

Eine unechte Stumme hat auch Amerika aufzuweiſen. Hier war aber ſowohl der Anlaß wie der Ausgang verſchieden von den beiden engliſchen Vorkommniſſen. In der Nähe von Boſton ſollte im Juli des Jahres 1852 der Liebesbund zweier junger Herzen durch die Hochzeit gekrönt werden. Die Braut war eine Miß Guilford, ein zwanzigjähriges Mädchen aus gutem Hauſe, der Bräutigam ein Mr. William Simpſon, Lehrer im Orte. In letzter Stunde aber zogen die Eltern ihre Einwilligung zurück, weil in dem kleinen Städtchen plötzlich allerhand Ungünftiges über den Bräutigam gemunkelt wurde wie ſich ſpäter herausſtellte durch grundloſe Verleumdungen. Die Braut hing von ganzem Herzen an dem Lehrer und ſchwur ihren Eltern: „Laßt ihr mich ihn nicht heiraten, ſo will ich fünfzig Jahre lang kein Wort ſprechen.“

Man nahm die Drohung nicht ernſt, ſondern hob die Ver- lobung auf.

Miß Guilford hielt jedoch ihr Wort. Von Stund' an ver- nahm niemand mehr eine Silbe von ihr. Ihre Eltern ſtarben, fie zog nach und nach von einem aus ihrem Geſchwiſter- kreiſe zum anderen, machte ſich überall nützlich, war überall gern geſehen; nur zum Sprechen war ſie nicht zu bewegen.

An dem Tage, da fie eigentlich ihre goldene Hochzeit hätte feiern müſſen, am 18. Juli 1902, verſammelten ſich all ihre Freunde und Verwandten um ſie, weil ſie Zeugen ſein wollten, wenn ſie ihrem Schwur gemäß wieder zu ſprechen anfangen würde. Um zwei Uhr, der urſprünglich feſtgeſetzten Stunde der Trauung, trat ſie lächelnd in den feſtlich geſchmückten Kreis, auch ihrerſeits geſchmückt mit den damals für ſie angefertigten Brautgewändern, und machte den Mund auf, um die Anweſen— den zu begrüßen.

Aber ſiehe da auch nicht einen Ton konnte fie heraus- bringen! Die Stimmbänder, die fo lange Jahre nicht gebraucht worden waren, verſagten jetzt völlig den Dienſt. Der Schreck machte ſie krank, ſo daß der Arzt geholt werden mußte. Die Sprache konnte er ihr nicht zurückgeben. Das konnten auch die Boſtoner Spezialärzte nicht, in deren Behandlung ſie ſich gab,

2 Mannigfaltiges. 211

und ſo mußte ſie ſich darein ergeben, bis an ihr Ende das Miß— geſchick weiter zu tragen, das fie vor einem halben Jahrhundert in Trotz und Arger freiwillig über ſich verhängt hatte. C. D. Laufende Blätter. Es gibt eine ganze Anzahl von Inſekten, deren Zugehörigkeit zur Tierwelt auch einem fcharfen Auge entgehen kann, weil ſie aufs täuſchendſte in der Färbung und Form den Blättern oder ſonſtigen Pflanzenteilen gleichen, auf denen ſie ſich für gewöhnlich aufzuhalten pflegen. Erſt

Photo. W. S. Berridge.

Ein Schmetterling, der einem Laubblatt gleicht.

wenn ſie zu laufen beginnen, merkt man, daß man nicht ein Zaubblatt, ein Blütenblatt, ein Borkenſtück oder einen abge- brochenen und vertrockneten Zweig, ſondern ein Tier vor ſich hat.

Dieſe Anähnelung an die als Wohnſitz dienende Unterlage iſt ein Schutzmittel gegen Feinde, die durch die Überein- ſtimmung von Inſekt und Pflanzenteil irregeführt und von einem Angriff abgelenkt werden.

Erklärlich wird die Nachahmung pflanzlicher Gebilde durch. Inſekten durch die natürliche Ausleſe. Im Laufe der Zeiten wurden diejenigen Vertreter einer Art, welche von ihrem

212 Mannigfaltiges. o a He MWohnfi durch Färbung und Form auffällig abſtachen, von ihren Feinden, wie Vögeln, in erſter Linie erbeutet. Exemplare, die der Unterlage bereits etwas glichen, entgingen den Nach-

Photo. W. S. Berridge.

Schmetterlinge, die dem Blütenblatt einer Orchidee gleichen.

ſtellungen ſchon leichter. Sie übertrugen ihre ſchützenden Eigenſchaften auf ihre Nachkommen, von denen einige dem Aufenthaltsort noch mehr als ihre Vorfahren ähnelten. Wieder blieben die geſchützteren eher erhalten als die weniger geſchützten,

u Mannigfaltiges. 213

und abermals hatten jene gewiſſe Nachkommen, bei denen die Übereinſtimmung noch größer war. Durch die zahlloſe Wieder- holung dieſer natürlichen Ausleſe bildete ſich allmählich der heutige Zuſtand heraus.

Die Formenverſchiedenheit auf dem Gebiet der Nach- äffung, wie man die Erſcheinung genannt hat, iſt ziemlich anſehnlich. So gleicht eine braſilianiſche Rindenwanze in den graugrünen Farbentönen und den ſcheinbaren Riſſen und höckerigen Erhebungen völlig der Borke des Baumes, auf dem fie hauſt. Die Raupe unſeres Holunderfpanners täuſcht ein vertrocknetes, braunes Zweigſtück vor, ein oſtindiſcher Schmetter⸗ ling erweckt die Vorſtellung eines dürren, graubraunen Blattes, das am Strauch ſitzen blieb, und ein ſüdamerikaniſcher Schmetter- ling gleicht in der Ruheſtellung einem verwelkenden grüngelb- lichen Blatt, das angefreſſen iſt. Unſere Bilder geben zwei Schmetterlinge wieder, von denen der erſtere bis auf die Blatt- rippen mit einem grünen Laubblatt übereinſtimmt, der zweite durch die eigenartige Form und ſeine gelbe und rote Farbe das Blütenblatt einer Orchidee naturgetreu nachahmt. Th. S.

Wie vor zweihundertfünfzig Jahren ein Verwalter an⸗ geſtellt wurde. Einen kulturgeſchichtlich intereſſanten Rüd- blick gewährt eine aus dem Jahre 1663 datierende „Beſtallung“ eines Gutsverwalters im Kurfürſtentum Sachſen. Sie gibt ein anſchauliches Bild von den Rechten und Pflichten eines ſolchen Beamten wenige Jahre nach Beendigung des Dreißig- jährigen Krieges.

Sie lautet wortgetreu, mit nur einigen Abänderungen in der Schreibweiſe: „In nomine Jesu! 5b, Johann Georg v. Meußbach auf Frießnitz hiermit urkunde und beſtimme, daß ich Johann Heſſelbarthen, von Niederpöllnitz bürtig, über die mir von Gott beſcherten Güter und meine anderweit habende Dorf- und Pfandſchaften, zu einem Verwalter beſtellet und angenommen habe, dergeſtalt, daß er zuvörderſt gottesfürchtig mir und denen Meinigen treu, hold und gewahrſam fein, meinen Nutz und Beſtes werben und befördern, dagegen aber Schaden, Schimpf und Nachteil ſeinem möglichſten Verſtande nach wenden und verhüten, daß ihm untergebene Geſinde zu

214 Mannigfaltiges. 2

fleißigſtem Gebet und Arbeit anhalten, alles was ihm auf- getragen und anbefohlen, treulich, fleißig und nach ſeinem Vermögen unnachläßig verrichten, es betreffe ſolches meine Güter, die Beſtellung und Beſamung, das Getreydig, Saat und Ernte, Dreſchen und Aufheben, Erb-Getreide und davon außenſtehende Kapitalienzinſen, Wieſenwachs, Teiche, Gehölze, Pachtgeld von denen Mühlen, Schäfereien, vermieteten Fiſch⸗ waſſern, Lehengeld und anderes mehr, in Summa er ſich alſo erzeigen und beweiſen ſoll, wie einem treuen, frommen und fleißigen Verwalter geziemet und oblieget und ich deßfalls in ſeine Perſon mein ſonderliches Vertrauen geſetzt habe, auch damit er ſolchen allen fleißiger vorſein möge ohne meine Verlaubnis nicht verreiſen, und von allen dem, fo ihm anver- trauet wird oder er ſelbſten erfähret, auch bereits erfahren hat, ohne meinen Vorbewuſt und Willen niemanden das geringſte eröffnen, ſondern bis in ſeine Grube verſchwiegen halten ſoll.

Weil er denn ſolches alles treulich inhalten mit einem leib- lichen Eide beſchworen, tue ich ihme nicht allein in dieſer ſeiner Verwaltung möglichſten Schutz verſprechen, ſondern will ihm auch zu einer ordentlichen Jahresbeſtallung reichen und folgen laſſen: fünfzig Gulden an Gelde, 12 Scheffel Korn, zweitauiſch Gemäß, 5 Viertel Faß Bier (tut 15 Eimer), 1 halben Zentner Karpfen, einen Stein Hechte, ein jährig Schwein, ein Kalb, zwei Schöpſe, zehn alte Hühner oder zwanzig Fullhühner, ſechs Klaftern Scheit- und 12 Schock Reißholz. Und iſt ihm nachgelaſſen von jedem Scheffel verkauften Getreidig 4 Pfen- nige vom Käufer zu empfangen. Hierüber wird ihm eine Kuh, ſo ſein eigen, in Futter gehalten. Zu Kraut, Rüben, Lein und dergleichen ſoll ihm ein ſechſtel Feld eingeräumt werden. Und weil ſeine Verrichtungen etwas weitläufig, er auch hierzu zu— weilen verreiſen muß, ſoll ihm ein Klepper aus dem Stall, oder aber, wenn er fein eigen Pferd hält, zu deffen Verhaltung jährlich 20 Scheffel Haaber und vier Gulden zu Heu gegeben werden. Und hat er über dieſes von allen Käufen, Lehenſcheinen, Verzichten, Quittungen, Vormundſchafts-Beſtätigungen, Erb- teilungen, Geburtsbriefen und dergleichen, ſo unter denen zuvor geſetzten Gütern gehörigen Untertanen und Lehenleuten

D Mannigfaltiges. 215

vorgehen, die gewöhnlichen Kopiales einzuheben. Und weil neben meinen Dienſten er auch die Chur- und Fürſtl. Steuern von meinen Untertanen in Ober- und Unter-Gerichten ein- nehmen und an gehörige Oerter überliefern muß, ſo ſoll er nicht Reſte aufwachſen laſſen, dadurch hernach die Untertanen ruiniret werden möchten, dargegen ihme die deswegen ge- bräuchlichen Gebühren gegönnet werden ſollen.

Um deſto beſſerer Nachricht willen iſt dieſe Beſtallung unter meiner Hand und Siegel ihm ausgeſtellt worden, am Tage Lichtmeß des 1663ften Jahres.“ v. E.

Die geheimnisvollen Briefe. Nach dem polniſchen Auf- ſtand war ein erheblicher Teil des polniſchen Adels nach Frankreich ausgewandert und lebte dort in einem meiſt recht bitteren Exil. In dieſem Falle befand ſich auch ein junger polniſcher Graf, der ſich in der Hauptſache mit Unterrichterteilen mühſam durchbrachte. Bei einem Pariſer Poſtamte kam nun mehrere Jahre lang regelmäßig in den erſten Tagen des Quartals ein poſtlagernder Brief aus irgendeinem ſibiriſchen Orte, bald aus dieſem, bald aus jenem, an dieſen jungen Mann adreſſiert. Der Pole erſchien auch ſtets am Schalter, erhielt den Brief vorgelegt und ſollte nun den ſehr erheblichen Portobetrag es handelte ſich immer um mehrere Franken zahlen. Langſam zog jedesmal der Pole ſeine Börſe und beſah ſich währenddeſſen die Adreſſe. Merkwürdigerweiſe fand es ſich dann aber immer, daß der Brief nicht für ihn beſtimmt war. Die Adreſſe ſtimmte angeblich nicht ganz, ein Vorname war anders, kurz, der junge Mann gab das Schreiben immer zurück.

Es konnte nicht ausbleiben, daß diefe ſeltſame, fih regel- mäßig wiederholende Erſcheinung ſchließlich eine Unter- ſuchung veranlaßte. Wenn man die Briefe aber öffnete, ſo enthielten ſie ſtets nur weißes, unbeſchriebenes Papier. Die ganze Sache mußte geradezu rätſelhaft erſcheinen. Was war der Zweck dieſer Briefe? Man verhaftete alſo kurzerhand beim nächſten Eintreffen eines ſolchen geheimnisvollen Schreibens den wieder am Schalter erſcheinenden Polen, und nun be- quemte ſich dieſer dazu, das Rätſel dieſer Briefe zu löſen.

Er gehörte einer Familie an, deren ſämtliche Glieder,

216 Mannigfaltiges. o

fein Vater, drei Brüder und zwei Oheime, infolge der Creig- niſſe während des Aufſtandes nach Sibirien verbannt worden waren. Ihm allein war es gelungen zu entkommen. Da nun weder feine Verwandten noch er die Mittel zu einer Korre- ſpondenz beſaßen, die in jenen Zeiten noch außerordentlich teuer war, hatte man ein ebenſo einfaches, als kluges Aus- kunftsmittel erſonnen. Jedes verbannte Familienmitglied ſchrieb ein Wort an der Adreſſe, ſo daß er, der ihre Handſchriften genau kannte, beim bloßen Leſen der Adreſſe ſofort wußte, daß alle feine Lieben noch am Leben waren. Aus dem Poft- ſtempel der Aufgabe erfuhr er überdies ihren jeweiligen Aufent- haltsort.

Die franzöſiſchen Poſtbeamten waren ſehr gerührt, aber die Fortſetzung dieſer ſonderbaren Korreſpondenz konnten ſie trotzdem nicht geſtatten. O. Th. St.

Die Kataſtrophe von Para⸗Dſchala. Bereits im Jahre 1851, als die Oſtindiſche Kompanie, damals noch die eigent- liche Herrin des indiſchen Kolonialreichs, die erſte Eiſenbahn von Bombay nach Tanna bauen ließ, wurden ihr von ſeiten der eingeborenen Bevölkerung Schwierigkeiten in den Weg gelegt. Fürchteten die Inder doch nicht mit Unrecht, daß die Herſtellung eines Schienennetzes, das die ſchnelle Herbei- ſchaffung von Truppen und Kriegsmaterial aller Art in das Innere des Landes geſtattete, ihre letzte Hoffnung auf eine Befreiung von dem engliſchen Zoch endgültig zerſtören würde.

Zunächſt war es faſt unmöglich, die nötigen Arbeiter für jenen Streckenbau anzuwerben. Dann wurden ſpäter auch die fertiggeſtellten Teile des Schienenſtranges nachts immer wieder aufgeriſſen und zerſtört, Brücken verbrannt und die leitenden Ingenieure aus dem Hinterhalt niedergeſchoſſen. Schließlich mußte die Oſtindiſche Kompanie, um das Projekt überhaupt ausführen zu können, den Schienenweg Tag und Nacht durch Militär überwachen laffen. So kam es, daß die nur 32 Rilo- meter lange Strecke erſt nach faſt zweijähriger Bauzeit beendet werden konnte. Die ſcharfe Bewachung des Schienenſtranges mußte aber noch jahrelang fortgeſetzt werden.

Wer als treibendes Element hinter dieſem gefährlichen,

D Mannigfaltiges. 217

offenbar febr gut organiſierten Widerſtand gegen den Bahn- bau geſteckt hatte, iſt nie herausgekommen, obwohl nach dem Bericht des damaligen Generalgouverneurs von Indien, Earl Dalhouſies, nicht weniger als dreiundvierzig Eingeborene allein wegen der Mordanſchläge, die ſie auf die Ingenieure verübt hatten, gehängt wurden, nachdem man ihnen vergeblich durch das Verſprechen gänzlicher Begnadigung ein Geſtändnis abzu- locken verſucht hatte.

Schon zu jener Zeit gab es eben wie noch heute in Indien eine große Anzahl von Geheimgeſellſchaften, die lediglich das Ziel verfolgten, ihre Heimat von den fremden Eindringlingen zu ſäubern. Und Mitglieder einer ſolchen Vereinigung waren es auch zweifellos, die der Oſtindiſchen Kompanie das Anlegen dieſes erſten Schienenweges nach Möglichkeit zu erſchweren wußten und auf deren Konto auch die furchtbare Kataſtrophe von Para-Oſchala zu ſetzen ift.

Ein Jahr ſpäter wurde trotz dieſer ſchlechten Erfahrungen der Bau einer zweiten Eiſenbahnlinie von Bombay nach Manmad beſchloſſen. Im Mai 1854 hatten die Ingenieure die neue Strecke vermeſſen und abgeſteckt, eine Aufgabe, deren Löſung wiederum nicht ohne allerlei unliebſame Zwifchen- fälle vonſtatten ging. Dann begann die eigentliche Bau— ausführung. Das ſchwierigſte Geländehindernis bot das Sinpan- gebirge, das man nicht umgehen, ſondern durchſchneiden mußte. Zu dieſem Zweck war es nötig, den Para-Oſchala, den Heiligen Berg, einen ſchlanken Bergkegel, auf dem ſich ein uralter Hindu- tempel befand, zum Teil wegzuſprengen. N

Im Herbſt 1855 hatte man die Arbeit ſo weit gefördert, daß die erſten Sprenglöcher in das Geſtein des Para- DOſchala getrieben werden konnten. Wir folgen bei der weiteren Schilde rung der Ereigniſſe einem 1885 in London erſchienenen Buche des engliſchen Ingenieurs Thomas Marling, eines der Ru Überlebenden der PBara-Dfchala-Rataftrophe.

„Vom 14. November 1855 ab verging keine Woche, in der wir nicht ein paar Mann durch heimtückiſche Kugeln verloren hätten. Wir lebten wie im Kriege, nur daß wir von unſeren Gegnern höchſt ſelten etwas zu ſehen bekamen. Die wild—

214 Mannigfaltiges. u

fleißigſtem Gebet und Arbeit anhalten, alles was ihm auf- getragen und anbefohlen, treulich, fleißig und nach ſeinem Vermögen unnachläßig verrichten, es betreffe ſolches meine Güter, die Beſtellung und Beſamung, das Getreydig, Saat und Ernte, Dreſchen und Aufheben, Erb-Getreide und davon außenſtehende Kapitalienzinſen, Wieſenwachs, Teiche, Gehölze, Pachtgeld von denen Mühlen, Schäfereien, vermieteten Fiſch- waſſern, Lehengeld und anderes mehr, in Summa er ſich alſo erzeigen und beweiſen ſoll, wie einem treuen, frommen und fleißigen Verwalter geziemet und oblieget und ich deßfalls in ſeine Perſon mein ſonderliches Vertrauen geſetzt habe, auch damit er ſolchen allen fleißiger vorſein möge ohne meine Verlaubnis nicht verreifen, und von allen dem, fo ihm anver- trauet wird oder er ſelbſten erfähret, auch bereits erfahren hat, ohne meinen Vorbewuſt und Willen niemanden das geringſte eröffnen, ſondern bis in ſeine Grube verſchwiegen halten ſoll.

Weil er denn ſolches alles treulich inhalten mit einem leib- lichen Eide beſchworen, tue ich ihme nicht allein in dieſer ſeiner Verwaltung möglichſten Schutz verſprechen, ſondern will ihm auch zu einer ordentlichen Jahresbeſtallung reichen und folgen laſſen: fünfzig Gulden an Gelde, 12 Scheffel Korn, zweitauiſch Gemäß, 5 Viertel Faß Bier (tut 15 Eimer), 1 halben Zentner Karpfen, einen Stein Hechte, ein jährig Schwein, ein Kalb, zwei Schöpſe, zehn alte Hühner oder zwanzig Fullhühner, ſechs Klaftern Scheit- und 12 Schock Reißholz. Und iſt ihm nachgelaſſen von jedem Scheffel verkauften Getreidig 4 Pfen- nige vom Käufer zu empfangen. Hierüber wird ihm eine Kuh, ſo ſein eigen, in Futter gehalten. Zu Kraut, Rüben, Lein und dergleichen ſoll ihm ein ſechſtel Feld eingeräumt werden. Und weil feine Verrichtungen etwas weitläufig, er auch hierzu zu- weilen verreiſen muß, ſoll ihm ein Klepper aus dem Stall, oder aber, wenn er fein eigen Pferd hält, zu deſſen Verhaltung jährlich 20 Scheffel Haaber und vier Gulden zu Heu gegeben werden. Und hat er über dieſes von allen Käufen, Lehenſcheinen, Verzichten, Quittungen, Vormundſchafts-Beſtätigungen, Erb- teilungen, Geburtsbriefen und dergleichen, ſo unter denen zuvor geſetzten Gütern gehörigen Untertanen und Lehenleuten

D Mannigfaltiges. 215

vorgehen, die gewöhnlichen Kopiales einzuheben. Und weil neben meinen Dienſten er auch die Chur- und Fürſtl. Steuern von meinen Untertanen in Ober- und Unter-Gerichten ein- nehmen und an gehörige Oerter überliefern muß, ſo ſoll er nicht Reſte aufwachſen laſſen, dadurch hernach die Untertanen ruiniret werden möchten, dargegen ihme die deswegen ge- bräuchlichen Gebühren gegönnet werden follen.

Um deſto beſſerer Nachricht willen iſt dieſe Beſtallung unter meiner Hand und Siegel ihm ausgeſtellt worden, am Tage Lichtmeß des 1663ften Jahres.“ v. E.

Die geheimnisvollen Briefe. Nach dem polniſchen Auf- ſtand war ein erheblicher Teil des polniſchen Adels nach Frankreich ausgewandert und lebte dort in einem meiſt recht bitteren Exil. In dieſem Falle befand ſich auch ein junger polniſcher Graf, der ſich in der Hauptſache mit Unterrichterteilen mühſam durchbrachte. Bei einem Pariſer Poſtamte kam nun mehrere Jahre lang regelmäßig in den erſten Tagen des Quartals ein poſtlagernder Brief aus irgendeinem ſibiriſchen Orte, bald aus dieſem, bald aus jenem, an dieſen jungen Mann adreſſiert. Der Pole erſchien auch ſtets am Schalter, erhielt den Brief vorgelegt und ſollte nun den ſehr erheblichen Portobetrag es handelte fih immer um mehrere Franken zahlen. Langſam zog jedesmal der Pole ſeine Börſe und beſah ſich währenddeſſen die Adreſſe. Merkwürdigerweiſe fand es ſich dann aber immer, daß der Brief nicht für ihn beſtimmt war. Die Adreſſe ſtimmte angeblich nicht ganz, ein Vorname war anders, kurz, der junge Mann gab das Schreiben immer zurück.

Es konnte nicht ausbleiben, daß dieſe ſeltſame, ſich regel- mäßig wiederholende Erſcheinung ſchließlich eine Unter- ſuchung veranlaßte. Wenn man die Briefe aber öffnete, ſo enthielten ſie ſtets nur weißes, unbeſchriebenes Papier. Die ganze Sache mußte geradezu rätſelhaft erſcheinen. Was war der Zweck dieſer Briefe? Man verhaftete alſo kurzerhand beim nächſten Eintreffen eines ſolchen geheimnisvollen Schreibens den wieder am Schalter erſcheinenden Polen, und nun be- quemte ſich dieſer dazu, das Rätſel dieſer Briefe zu löſen.

Er gehörte einer Familie an, deren ſämtliche Glieder,

216 Mannigfaltiges. o

fein Vater, drei Brüder und zwei Oheime, infolge der Creig- niſſe während des Aufſtandes nach Sibirien verbannt worden waren. Ihm allein war es gelungen zu entkommen. Da nun weder feine Verwandten noch er die Mittel zu einer Korre- ſpondenz beſaßen, die in jenen Zeiten noch außerordentlich teuer war, hatte man ein ebenſo einfaches, als kluges Aus- kunftsmittel erſonnen. Jedes verbannte Familienmitglied ſchrieb ein Wort an der Adreſſe, ſo daß er, der ihre Handſchriften genau kannte, beim bloßen Leſen der Adreſſe ſofort wußte, daß alle feine Lieben noch am Leben waren. Aus dem Poft- ſtempel der Aufgabe etfuhr er überdies ihren jeweiligen Aufent- haltsort.

Die franzöſiſchen Poſtbeamten waren ſehr gerührt, aber die Fortſetzung dieſer ſonderbaren Korreſpondenz konnten ſie trotzdem nicht geſtatten. O. Th. St.

Die Kataſtrophe von Para⸗Dſchala. Bereits im Fahre 1851, als die Oſtindiſche Kompanie, damals noch die eigent- liche Herrin des indiſchen Kolonialreichs, die erſte Eiſenbahn von Bombay nach Tanna bauen ließ, wurden ihr von ſeiten der eingeborenen Bevölkerung Schwierigkeiten in den Weg gelegt. Fürchteten die Inder doch nicht mit Unrecht, daß die Herſtellung eines Schienennetzes, das die ſchnelle Herbei— ſchaffung von Truppen und Kriegsmaterial aller Art in das Innere des Landes geſtattete, ihre letzte Hoffnung auf eine Befreiung von dem engliſchen Zoch endgültig zerſtören würde.

Zunächſt war es faſt unmöglich, die nötigen Arbeiter für jenen Streckenbau anzuwerben. Dann wurden ſpäter auch die fertiggeſtellten Teile des Schienenſtranges nachts immer wieder aufgeriſſen und zerſtört, Brücken verbrannt und die leitenden Ingenieure aus dem Hinterhalt niedergeſchoſſen. Schließlich mußte die Oſtindiſche Kompanie, um das Projekt überhaupt ausführen zu können, den Schienenweg Tag und Nacht durch Militär überwachen laffen. So kam es, daß die nur 32 Rilo- meter lange Strecke erft nach faſt zweijähriger Bauzeit beendet werden konnte. Die fharfe Bewachung des Schienenſtranges mußte aber noch jahrelang fortgeſetzt werden.

Wer als treibendes Element hinter dieſem gefährlichen,

D Mannigfaltiges. 217

offenbar febr gut organiſierten Widerſtand gegen den Bahn- bau geſteckt hatte, iſt nie herausgekommen, obwohl nach dem Bericht des damaligen Generalgouverneurs von Indien, Earl Dalhouſies, nicht weniger als dreiundvierzig Eingeborene allein wegen der Mordanſchläge, die ſie auf die Ingenieure verübt hatten, gehängt wurden, nachdem man ihnen vergeblich durch das Verſprechen gänzlicher Begnadigung ein Geſtändnis abzu- locken verſucht hatte.

Schon zu jener Zeit gab es eben wie noch heute in Indien eine große Anzahl von Geheimgeſellſchaften, die lediglich das Ziel verfolgten, ihre Heimat von den fremden Eindringlingen zu ſäubern. Und Mitglieder einer ſolchen Vereinigung waren es auch zweifellos, die der Oſtindiſchen Kompanie das Anlegen dieſes erſten Schienenweges nach Möglichkeit zu erſchweren wußten und auf deren Konto auch die furchtbare Kataſtrophe von Para-Oſchala zu ſetzen ift.

Ein Fahr fpäter wurde trotz dieſer ſchlechten Erfahrungen der Bau einer zweiten Eiſenbahnlinie von Bombay nach Manmad beſchloſſen. Im Mai 1854 hatten die Ingenieure die neue Strecke vermeſſen und abgeſteckt, eine Aufgabe, deren Löſung wiederum nicht ohne allerlei unliebſame Zwifchen- fälle vonſtatten ging. Dann begann die eigentliche Bau- ausführung. Das ſchwierigſte Geländehindernis bot das Sinpan- gebirge, das man nicht umgehen, ſondern durchſchneiden mußte. Zu dieſem Zweck war es nötig, den Para-Oſchala, den Heiligen Berg, einen ſchlanken Bergkegel, auf dem ſich ein uralter Hindu- tempel befand, zum Teil wegzuſprengen.

Im Herbſt 1855 hatte man die Arbeit ſo weit gefördert, daß die erſten Sprenglöcher in das Geſtein des Para-Oſchala getrieben werden konnten. Wir folgen bei der weiteren Schilde- rung der Ereigniſſe einem 1885 in London erſchienenen Buche des engliſchen Ingenieurs Thomas Marling, eines der Fo Überlebenden der Para-Oſchala-Kataſtrophe.

„Vom 14. November 1855 ab verging keine Woche, in der wir nicht ein paar Mann durch heimtückiſche Kugeln verloren hätten. Wir lebten wie im Kriege, nur daß wir von unſeren Gegnern höchſt ſelten etwas zu ſehen bekamen. Die wild—

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zerklüftete Natur des Sinpangebirges kam unſeren fanatiſchen Feinden ſehr gelegen. Da gab es Schleichwege, von denen wir keine Ahnung hatten, weite unterirdiſche Höhlengänge, in denen die meuchleriſchen Schützen wie Geſpenſter verſchwanden. Das uns reichlich zugeteilte Militär half wenig. Am Tage hielt es uns die erbitterten Eingeborenen wohl vom Leibe, kam aber die Nacht, ſo kamen die Schrecken. Wir alle waren in kurzer Zeit in faſt lächerlicher Weiſe nervös geworden. Rieſelndes Erdreich, ein rollendes Steinchen trieb uns das Blut aus den Wangen. Gewiß, bisweilen glückte es uns auch, dieſen oder jenen der braunen Bande abzufaſſen. Dann wurde kurzer Prozeß gemacht. Er wurde an dem Gerüſt eines der Geſteinsbohrer aufgeknüpft. Tagelang ließen wir die Leichen dort baumeln, um die anderen abzuſchrecken. Es half nichts. Jede Nacht dasſelbe Spiel. Bald hier, bald da laute, in den Felstälern widerhallende Schüſſe. Und zumeiſt waren wir die Leidtragenden bei der Partie.

Dabei blieb's jedoch nicht. Wir hatten über die beiden Quellflüßchen des Godawari zwei Brücken gebaut, zur Vor- ſicht ſchon in Eiſenkonſtruktion, da unſere Erfahrungen, die wir bei der Strecke Bombay —Tanna mit Holzbrücken ſammeln durften, nicht gerade ermutigend geweſen waren. Eines Tages traf dann an unſerer Arbeitſtelle die Nachricht ein, daß beide Brücken in einer Nacht in die Luft geſprengt worden waren, nachdem man die dort poſtierten Wachen, je fünf Mann und einen Unteroffizier, hinterrücks erſchoſſen hatte. Das war ein harter Schlag für uns. Denn nunmehr waren wir für lange Wochen von der Küſte ſo gut wie abgeſchnitten und mußten außerdem die Arbeit am Para-Oſchala vorläufig einſtellen. Erſt Anfang Dezember waren die Brücken wieder ausgeflickt, und der Tanz am Heiligen Berge konnte aufs neue beginnen. Die Weſtſeite des Para-Dſchala mußte auf eine Ausdehnung von etwa dreihundert Meter niedergelegt werden.

Unſere Widerſacher blieben rührig wie vorher. Die ewigen Beläſtigungen durch pfeifende Kugeln hörten nicht auf. Über ganz Indien lagerte es ja damals ſchon wie eine drohende Gewitterwolke. Dieſe Anfeindungen, denen wir Eiſenbahner

D Mannigfaltiges. 219

ſtändig ausgeſetzt waren, bildeten ſozuſagen das warnende Grollen des Unwetters, das fih kaum ſechs Monate ſpäter in Geſtalt des großen Aufſtandes über ganz Zndien entladen ſollte. Die Eingeborenen ſchlichen um uns herum wie mord- gierige Raken. Ihre Mienen waren freundlich, aber in ihren Augen brannte tödlicher Haß. Und die mutigſten, die fanatiſch- ften und ehrlich geſagt die begeiſtertſten Vaterlands- freunde von ihnen waren eben die, die nachts mit der modernen Feuerwaffe in der Hand unſern Schlaf ſtörten und unſeren Spaten unliebfaine Arbeit zum Gräberauswerfen gaben.

Nachdein wir in der erſten Januarhälfte des Jahres 1856 genügend Sprenglöcher gebohrt hatten, um einen $elsvor- ſprung, den wir ſcherzend ‚die Naſe“ getauft hatten, als erſtes Hindernis beiſeite zu räumen, wurden die Zündfchnüre gelegt und alles für den Morgen des 17. für die Sprengung bereit- gemacht. Dieſe gelang vollſtändig. Die „Naſe“ war ver- ſchwunden. Nun ging es rüſtig vorwärts. Anfang April hatten wir in dem Para-Oſchala ſchon eine recht erhebliche Aus- buchtung freigelegt und auch bereits gegen zweihundert Meter Geleis eingefügt. Es galt jetzt nur noch die letzten ſiebzig Meter zu bewältigen. Dieſe gedachte unſer leitender Ingenieur auf einmal zu erledigen. Hatten wir doch mit der Zeit ſo viel Neues hinſichtlich der Anlage der Sprengſchüſſe hinzugelernt, daß uns die Aufgabe gar nicht ſo rieſengroß vorkam, wie es dem Laien ſcheinen mag. Es handelte ſich nach unſeren Be- rechnungen um ungefähr fünfzehnhundert Kubikmeter Geſtein, die zu ‚bewegen‘ waren, wie der Fachmann ſagt. Nicht weniger als achtzig Sprenglöcher, die meiſten bis zu drei bis vier Meter Tiefe, wurden in den Heiligen Berg getrieben und dann im Laufe des 18. April mit Pulver gefüllt, wovon wir genau hundertundacht Zentner verbrauchten. Am folgenden Tage legte ich mit Hilfe zweier Kollegen die Zündſchnüre und Pulver- bahnen. Aber ein Regenguß, der am Abend einſetzte und einige Stunden andauerte, machte unſere ganze Mühe zu- ſchanden. Die Zündſchnüre waren durchgeweicht und die Pulverbahnen, die das gleichzeitige Explodieren aller Ladungen herbeiführen ſollten, weggewaſchen.

220 Mannigfaltiges. 2

Dann brach der Unglüdstag, der 19. April 1856, an. Die Nacht war kühl und ſternenklar geweſen und ohne jede Störung verlaufen. Der Morgen brachte warmen Sonnenſchein. Unſere Arbeiter ſollten zuerſt die über den Felsabhang ver- teilten Sprenglöcher nachprüfen, ob auch kein Waſſer ein- gedrungen war. Der leitende Ingenieur und meine ſieben Kollegen verließen gleichzeitig mit ihnen unſer Lager, das etwa ſechshundert Meter von der Bauſtelle entfernt war. Zch ſelbſt verſpätete mich etwas. Dies ſollte meine Rettung werden. Denn als; gerade aus dem Talgrunde emporſtieg, erſchütterte urplötzlich ein ungeheurer Krach die Luft. Gleichzeitig fühlte ich mich wie ein Federball hochgehoben und fortgeſchleudert. Ich verlor die Beſinnung und erwachte erſt wieder nach Stunden in meinem Zelt. Mein rechter Arm war gebrochen, und an der Stirn klaffte mir eine große Wunde. Soldaten unſeres Bedeckungskommandos hatten mich gefunden und fort- geſchafft. Einer von ihnen war es auch, der den Verlauf dieſer furchtbaren Kataſtrophe aus der Ferne mitangeſehen hatte.

Aus ſeinen Angaben ging folgendes hervor: Als unſere Arbeiter und die Ingenieure bis dicht an die Sprengſtelle gelangt waren, tauchte mit einem Male hinter einem Felſen ein Hindu auf, der eine brennende Fackel drohend um den Kopf ſchwang. Noch ahnte niemand etwas Böſes. Da rief der Inder unſeren Leuten ein paar Worte entgegen und ſtieß urplötzlich die Fackel auf die Erde. In demſelben Augenblick ſchoß es wie feurige Schlangen über den Abhang hin, das Ge- ſtein wankte, Pulverdampf und Steinſplitter verfinſterten die Luft. Als es wieder klar wurde, bot fih den Augen der ent- fegt herbeieilenden Soldaten, die in weitem Umkreiſe wie täg- lich Poſten geſtanden hatten, ein grauenvoller Anblick. Nicht einer von all den Menſchen, die fih in der Nähe der Spreng- ſtelle befunden hatten, war mit dem Leben davongekommen. Einhundertvierundzwanzig zum Teil bis zur Unkenntlichkeit zerfetzte Leichen lagen dort umher. Das Felsgeröll war weit- hin mit Blut beſpritzt.

Der Para-Oſchala hatte den fremden Eindringlingen den Weg freigegeben, aber unter welchen Opfern!“

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So weit Thomas Marling, der glücklich dieſem in der Geſchichte des Eiſenbahnbaues einzig daſtehenden Attentat entrann. Deſſen Urheber ſind nie entdeckt worden, trotzdem der Generalgouverneur mit aller Energie und rückſichtsloſer Strenge die Unterſuchung betrieb, denn bereits am 10. Mai desſelben Jahres brach der große indiſche Aufſtand aus, der mit feinen Tauſenden von Opfern das Blutbad von Para- Oſchala ſchnell in den Hintergrund drängte. Der Bau der Bahnſtrecke Bombay - Manmad wurde erft acht Jahre ſpäter wieder aufgenommen. Bis dahin hatte England alle Hände voll zu tun, um die rebelliſchen Völker Indiens niederzuzwingen. Am 5. März 1866 dampfte dann der erſte Eiſenbahnzug von Bombay nach Manmad ab. Auf Befehl des Vizekönigs hielt er am Para-Oſchala, und in würdiger Weiſe wurde eine dort in die Felswand eingelaſſene Erztafel enthüllt, die die Aufſchrift trägt: „Zur Erinnerung an den 19. April 1856“. W. K.

Aus einer Mönchrepublik. Einzig in ihrer Art iſt die

Mönchrepublik auf dem Bergmaſſiv des Athos und der zuge- hörigen Landzunge, die als der öſtlichſte der drei Finger der Halbinſel Chalcidice in das Agäiſche Meer hinausgreift. Bis jetzt zahlte dieſe große Mönchvereinigung noch einen Tribut an die Türkei. Infolge des Balkankrieges beabſichtigten aber Rußland und Griechenland, auch dieſes lockere Abhängigkeits- verhältnis aufzuheben und für die Mönche völlige Selbſtändig⸗ keit herbeizuführen. Nicht weniger als 20 Klöſter, 11 Mönchdörfer, 250 Zellen und 150 Einfiedeleien find über den bis zu 1935 Metern auf- ſteigenden Athos und ſein von prächtigen Laubwäldern, üppigen Wieſen und fruchtbaren Obſtgärten bedecktes Hinterland verſtreut. Der Nationalität nach ſind die Mönche Griechen, Bulgaren, Serben und Ruſſen. Das ganze Gebiet wird von ungefähr 3000 Mönchen und Einſiedlern bewohnt.

Die Klöſter wurden in der Zeit von 970 bis 1385 erbaut. Den Ruſſen gehört eines der ſchönſten Klöſter, Vatopädi. In ihm blühte im 18. Jahrhundert eine gelehrte Akademie, die beſonders durch den Korfioten Eugenius Bulgari gehoben wurde. Er verſammelte gegen 200 Schüler um ſich. Jedoch

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wurde er wegen feiner philoſophiſchen Anſchauungen ge- zwungen, ſein Amt niederzulegen, und die Akademie wurde aufgelöſt.

Die ruſſiſchen Mönche in Vatopädi ſtehen unter einem Abt, dem Hegumenos. Sie erhalten alle ihre Bedürfniſſe vom Kloſter geliefert. Ihre Mahlzeiten beſtehen nur aus Gemüſe, Brot und Waſſer. Der Genuß von Fleiſch iſt verboten. Der

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Ruſſiſche Mönche vom Kloſter Vatopädi auf dem Athos.

Gottesdienſt dauert für gewöhnlich ſechs, an Feſttagen zwölf Stunden. In der Mußezeit beſchäftigen ſich die Mönche mit Ackerbau und Gartenarbeit; auch ſchnitzen ſie Heiligenbilder.

Vatopädi hat in Rußland große Beſitzungen, die von Mönchen verwaltet werden. Die Einkünfte werden an das Kloſter abgeliefert.

Kürzlich brach in Vatopädi zwiſchen dem Hegumenos und den Mönchen wegen einer religiöſen Frage ein Streit aus, der ſich ſo zuſpitzte, daß der Hegumenos das Kloſter verlaſſen mußte. Th. S.

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Das Lampenfieber, dieſer oft ins Lächerliche gezogene Erregungszuſtand mancher Künſtler und der meiſten anderen Sterblichen vor einem öffentlichen Auftreten, iſt, wie der Turiner Profeſſor Moſſo durch langjährige Beobachtungen und verſchiedene Verſuche feſtgeſtellt hat, tatſächlich als eine be- ſondere Krankheitsform anzuſehen, die durch Störungen im Blutkreislauf entſteht und in ihren Einzelerſcheinungen einem wirklichen Fieberanfall vollſtändig gleichkommt.

In einer Turiner Theaterſchule fand der genannte Gelehrte die beſte Gelegenheit, die Schüler bei den Aufführungen auf ihr jeweiliges körperliches Befinden zu unterſuchen. Bei den meiſten Anfängern ſtellte er ſchon vor der Vorſtellung eine Vermehrung der Pulsſchläge um etwa ein Drittel feſt. So- fort nach der Vorſtellung hatte der Puls der meiſten eine Frequenz von über 150 Schlägen in der Minute, ebenſo war auch die Körpertemperatur regelmäßig bis auf 38 Grad ge- ſtiegen. Im Verein mit der trockenen Haut und der unnatür- lichen Rötung des Geſichts ergab dies das vollſtändige Bild leichter Fiebererkrankungen.

Erſt nach häufigem Auftreten verloren fih diefe Erſchei- nungen bei einem Teil der Schüler vollſtändig, während durch- ſchnittlich zwei Drittel das Lampenfieber niemals überwanden. Bei einigen fteigerte es fih fogar von Aufführung zu Auf- führung derart, daß ſich infolge der wachſenden Erregungs- zuſtände Gedankenflucht, Stottern und ſogar gänzliches Verſagen des Gedächtniſſes einſtellten.

Der Gelehrte ging noch weiter und beauftragte einige ſeiner Schüler, an feiner Stelle die Vorleſungen abzuhalten. Hier- bei fand er, daß einer dieſer jungen Leute ſchon vor dem Be- treten des Hörſaals 116 Pulsſchläge, nach Abhalten der Bor- leſung ſogar 139 hatte. Ein zweiter hatte eine Minute vor ſeinem erſten öffentlichen Vortrag Fieber mit 156 Pulsſchlägen und 37,8 Grad Körperwärme, nach Beendigung 160 Schläge und 38,7 Grad. |

Umgekehrt konnte Profeſſor Moſſo aber auch konſtatieren, daß bei Leuten, die keine Neigung zu Lampenfieber zeigen, ſogar eine Abnahme der Pulsſchläge zu beobachten iſt. Das

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befte Beiſpiel hierfür bietet der italieniſche Abgeordnete Ferri, der vor, während und nach einer Parlamentsrede nur 36 bis 58 Pulsſchläge gegen 68 bis 73 feiner normalen Anzahl hatte. Dabei macht der berühmte Redner auf der Tribüne ſtets den Eindruck, als ob jedes ſeiner Worte einem leidenſchaftlich erregten Geiſte entſpränge. Erinnert ſei hier daran, daß ſchon Profeſſor Schweninger, der Leibarzt Bismarcks, ähn- liches bei dieſem feſtſtellte. Bismarck hatte eine außergewöhnlich hohe Pulszahl, 85 bis 85, die ſich jedoch bei großer geiſtiger Anſpannung, ſo hauptſächlich während ſehr lebhafter Parla- mentsdebatten und längerer Reden, bis auf 73, die normale Durchſchnittszahl jedes erwachſenen Mannes, verringerte. Auch bei Napoleon I., der ohnehin nur die anormal niedrige Pulsfrequenz von 45 bis 48 Schlägen in der Minute hatte, wurde von ſeinem Leibarzt Hervieux ähnliches beobachtet. So ſchrieb Hervieux: „Wie ſeltſam die Herztätigkeit des Kaiſers von ſtarken Aufregungen beeinflußt wurde, zeigte ſich mir am deutlichſten nach der verlorenen Schlacht bei Leipzig. Als Napoleon die Nachricht von dem Eindringen der Verbündeten in die Mauern der heiß umkämpften Stadt erhielt und er nun einſah, daß er das ungeheure, tagelange Ringen verloren hatte, überlief ein minutenlanges Zittern ſeine Geſtalt. Wir ſtanden damals auf einem Hügel, von wo aus deutlich die Flammen der brennenden Vorſtädte ſichtbar waren. Der Kaiſer wies mit der Hand nach jener Richtung hin und ſagte dumpfen Tones: ‚Alles vergeblich!“ Dann ließ er fih fein Pferd vorführen und ſtieg in den Sattel. Zch merkte, daß ſein ganzer Körper wiederum von einer furchtbaren Erregung hin und her geſchüttelt wurde. Angſtlich geworden bat ich ihn, ihm den Puls fühlen zu dürfen. Er ſtreckte mir die Rechte hin, wobei ein Lächeln über fein Geſicht glitt. ‚Es wird nicht anders ſein als ſonſt, meinte er. Wirklich hatte er auch in

dieſem Augenblick, wo er feinen Thron zum erſten Male er-

ſchüttert ſah, nur 39 Pulsſchläge.“ W. K. Von der Schärfe des Sehvermögens der Raubvögel kann

der Menſch mit ſeinen verkümmerten Sinnesorganen ſich kaum

eine Vorſtellung machen. Während Gehör und Geruch bei

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den gefiederten Räubern nicht über das Normale ausgebildet find, beſitzen ihre Augen eine Sehſtärke, die nach den Beob- achtungen des Pariſer Zoologen Vaular die eines mit vor- züglichen Augen ausgeſtatteten Menſchen etwa um das Zwanzig- fache übertrifft.

Der genannte Forſcher hat in feiner Schrift „Der Raub- vogel und fein Schutzorgan“ ein reiches Material von Erleb- niſſen aus aller Herren Ländern geſammelt. „Die peruaniſchen Bauern,“ heißt es an einer Stelle, „pflegen Adler, Geier und kleinere Raubvögel, die ihrem Viehſtande ſchädlich werden können, auf folgende Art zu jagen. An einem beſonders klaren Tage werden auf einem freien Felde ungefähr fünfzig Meter von einer durch Geſträuch verdeckten, niedrigen Hütte die Ein- geweide von Rindern, Schafen ufw., kurz alles, was man gerade an größeren Fleiſchabfällen zur Hand hat, vergraben und zwar ſo, daß nachher die Erde über der Grube wieder glatt eingeebnet wird. Läßt man nämlich das Geſcheide offen auf dem Boden liegen, ſo kann man vergeblich ſtundenlang auf einen der ſehr argwöhniſchen Vögel warten. Die Arbeit des Eingrabens müſſen mindeſtens ſechs Perſonen beſorgen. Während ſich dann fünf nachher entfernen, verbirgt ſich der ſechſte, der eigentliche Jäger, in der FJagdhütte. Würde man diefe Vorbereitungen mit Hilfe von nur zwei oder drei Per- ſonen treffen, ſo bliebe der Erfolg ebenſo aus, als wenn man die Fleiſchabfälle nur auf den Boden wirft.

Hierfür gibt es meines Erachtens nur eine Erklärung: Die Raubvögel, die in unendlichen Höhen im Ather ſchweben und alle Vorgänge auf der Erde genau verfolgen, haben ſehr bald geſehen, daß an der bewußten Stelle reichliche, unſchwer zu erlangende Nahrung verſcharrt wird, und beobachten daher das Tun und Treiben der ſich dort hin und her bewegenden Menſchen beſonders genau. Handelt es ſich hierbei vielleicht nur um drei Perſonen, von denen ſchließlich nur zwei den Platz wieder verlaffen, dann merken die Vögel das Fehlen der einen Perſon ſehr wohl, wodurch ihr Argwohn ſofort rege wird, jo daß fie fih hüten, auf den lockenden Köder herabzu— ſtoßen. Ich möchte daher nach meinen Erfahrungen geradezu

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behaupten, daß die gefiederten Räuber und ſo wohl auch die meiſten übrigen Vögel außerftande find, eine Gruppe von Menſchen, deren Zahl über fünf beträgt, auf ihre Anzahl hin zu ſchätzen, während ihnen dies bei nur vier Perſonen noch möglich iſt. Anders ausgedrückt: Die Vögel können höchſtens bis vier zählen. Jede darüber hinausgehende Anzahl von Menſchen oder Gegenſtänden verſchmilzt für ſie zu einer ihrer Zuſammenſetzung nach nicht mehr zu zerlegenden Gruppe.

Viermal war mir Gelegenheit gegeben, diefe Jagdmethode perſönlich auszuprobieren. Regelmäßig habe ich dabei, wahrend meine Begleiter das Geſcheide eingruben, mit einem guten Glaſe den Himmel abgeſucht, um die Anweſenheit etwaiger Raubvögel feſtzuſtellen, was mir aber nur zweimal gelang. Im übrigen ſchien, ſoweit meine bewaffneten Augen reichten, der Ather ausgeſtorben zu ſein. Schien denn kaum hatte ich nachher etwa eine Viertelſtunde in der Jagdhütte geſeſſen, als auch ſchon mit leiſem Rauſchen der erſte geflügelte Räuber, bald ein Adler, bald ein Geier, ſich wenige Meter von dem verſcharrten Geſcheide niederließ und ſich dann vorſichtig der Stelle näherte. Meiſt folgte dem erſten Vogel umgehend ein zweiter, bis dann im Verlaufe von weiteren zehn Minuten ſtets acht bis zehn Tiere der verſchiedenſten Arten verſammelt waren, unter denen ich mir in aller Ruhe ein Opfer für meine Kugel auswählen konnte. In kurzer Zeit hatten die Vögel die Erde über dem Aaſe fortgekratzt und begannen krächzend und ſich ſtreitend ihr ekles Mahl, bis der Knall meiner Büchſe die ganze Geſellſchaft, mit Ausnahme des erlegten, für alle Zeiten verſcheuchte. Nie werden Raubvögel einen ſolchen Hinterhalt, der einem der Fhren das Leben koſtete, zum zweiten Male aufſuchen. Die Peruaner, beſonders aber die viehzuchttreibenden Indianer an den Weſtabhängen der Anden, pflegen daher auch mit Schrotflinten ſehr großen Kalibers, deren Ladung aus gehacktem Blei beſteht, unter die verſammelten Vögel zu ſchießen, wobei ſie dann meiſt drei bis vier Tiere derart verletzen, daß ſie nicht abſtreichen und leicht vollends getötet werden können.“

In dem die europäiſche Raubvogelwelt behandelnden

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Kapitel berichtet der franzöſiſche Zoologe über den über ganz Europa verbreiteten Habicht folgendes: „Auf dem Landſitz eines Bekannten in der Nähe von Paris machten wir auf meine Veranlaſſung hin einige Male ein etwas grauſames Experiment, um die Sehſchärfe des Habichts, der in der dortigen Gegend ziemlich häufig iſt, zu erproben. Wir begaben uns auf ein abgeerntetes Feld und ließen dort zunächſt einige Tauben in längeren Abſtänden aufſteigen. Die Tauben kehrten ſtets, ſich der ihnen drohenden Gefahr wohl bewußt, in pfeil ſchnellem Fluge niedrig dahinſtreichend, zu ihrem nahen Stalle zurück. Dann ſuchten wir mit unſeren Gläſern den Himmel ab. Bemerkten wir einen in der Höhe kreiſenden Habicht, ſo führten wir das Experiment nicht zu Ende. Nur wenn wir nirgends eine Spur des gefährlichen, windſchnellen Geſellen entdeckten, gaben wir die letzte unſerer Tauben frei, der wir vorher die Flügel zuſammengebunden hatten, ſo daß ſie nur etwa einen Meter vom Boden hochflattern konnte. Sodann faßten wir in einem nahen Wäldchen Poſto und warteten das weitere ab. Nie vergingen mehr als fünf Minuten, bis ein Habicht urplötzlich über der ängſtlich flatternden Taube auf- tauchte, erſt langſam in immer enger werdenden Kreiſen ſich herabwand und ſchließlich wie ein losgeſchnellter Pfeil auf ſein Opfer herabſtieß. Der Raubvogel hatte alſo zweifellos aus einer Höhe, in die ſogar unſere bewaffneten Augen nicht zu dringen vermochten, zuerſt das Auffliegen der erſten Tauben bemerkt, uns dann weiter beobachtet und ſo auch ſein gefeſſeltes Opfer erſpäht.“ W. K. Eine Königin als erſte Perückenmacherin. Ludwig der Heilige, König von Frankreich, ift der Schutzpatron der Perücken macher. Als nämlich der Monarch von dem ſechſten Kreuzzuge (1248 1254), den er angeführt hatte, nach feinem Lande zurückkehrte, war er ein Kahlkopf. Eine Krankheit in dem mörderiſchen Klima Afrikas hatte ihm feinen ganzen Haar- ſchmuck geraubt. Künſtliche Perücken gab es damals noch nicht, Mutterliebe aber macht erfinderiſch. Des Königs Mutter, Königin Bianka von Kaſtilien, konnte die Entſtellung ihres Sohnes nicht mitanſehen. Sie erſuchte jeden ihrer Höflinge,

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befte Beiſpiel hierfür bietet der italienische Abgeordnete Ferri, der vor, während und nach einer Parlamentsrede nur 36 bis 58 Pulsſchläge gegen 68 bis 75 ſeiner normalen Anzahl hatte. Dabei macht der berühmte Redner auf der Tribüne ſtets den Eindruck, als ob jedes ſeiner Worte einem leidenſchaftlich erregten Geiſte entſpränge. Erinnert ſei hier daran, daß ſchon Profeſſor Schweninger, der Leibarzt Bismarcks, ähn- liches bei dieſem feſtſtellte. Bismarck hatte eine außergewöhnlich hohe Pulszahl, 85 bis 85, die fih jedoch bei großer geiſtiger Anſpannung, fo hauptſächlich während febr lebhafter Parla- mentsdebatten und längerer Reden, bis auf 73, die normale Durchſchnittszahl jedes erwachſenen Mannes, verringerte. Auch bei Napoleon I., der ohnehin nur die anormal niedrige Pulsfrequenz von 45 bis 48 Schlägen in der Minute hatte, wurde von ſeinem Leibarzt Hervieux ähnliches beobachtet. So ſchrieb Hervieux: „Wie ſeltſam die Herztätigkeit des Kaiſers von ſtarken Aufregungen beeinflußt wurde, zeigte ſich mir am deutlichſten nach der verlorenen Schlacht bei Leipzig. Als Napoleon die Nachricht von dem Eindringen der Verbündeten in die Mauern der heiß umkämpften Stadt erhielt und er nun einſah, daß er das ungeheure, tagelange Ringen verloren hatte, überlief ein minutenlanges Zittern ſeine Geſtalt. Wir ſtanden damals auf einem Hügel, von wo aus deutlich die Flammen der brennenden Vorſtädte ſichtbar waren. Der Kaiſer wies mit der Hand nach jener Richtung hin und ſagte dumpfen Tones: „Alles vergeblich! Dann ließ er fih fein Pferd vorführen und ſtieg in den Sattel. Zh merkte, daß ſein ganzer Körper wiederum von einer furchtbaren Erregung hin und her geſchüttelt wurde. Angſtlich geworden bat ich ihn, ihm den Puls fühlen zu dürfen. Er ſtreckte mir die Rechte hin, wobei ein Lächeln über fein Geſicht glitt. ‚Es wird nicht anders fein als ſonſt,“ meinte er. Wirklich hatte er auch in dieſem Augenblick, wo er ſeinen Thron zum erſten Male er- ſchüttert ſah, nur 39 Pulsſchläge.“ W. K. Von der Schärfe des Sehvermögens der Raubvögel kann der Menſch mit ſeinen verkümmerten Sinnesorganen ſich kaum eine Vorſtellung machen. Während Gehör und Geruch bei

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den gefiederten Räubern nicht über das Normale ausgebildet find, beſitzen ihre Augen eine Sehſtärke, die nach den Beob- achtungen des Pariſer Zoologen Vaular die eines mit vor- züglichen Augen ausgeftatteten Menſchen etwa um das Zwanzig- fache übertrifft.

Der genannte Forſcher hat in feiner Schrift „Der Raub- vogel und fein Schutzorgan“ ein reiches Material von Erleb- niſſen aus aller Herren Ländern geſammelt. „Die peruaniſchen Bauern,“ heißt es an einer Stelle, „pflegen Adler, Geier und kleinere Raubvögel, die ihrem Viehſtande ſchädlich werden können, auf folgende Art zu jagen. An einem beſonders klaren Tage werden auf einem freien Felde ungefähr fünfzig Meter von einer durch Geſträuch verdeckten, niedrigen Hütte die Ein- geweide von Rindern, Schafen uſw., kurz alles, was man gerade an größeren Fleiſchabfällen zur Hand hat, vergraben und zwar ſo, daß nachher die Erde über der Grube wieder glatt eingeebnet wird. Läßt man nämlich das Geſcheide offen auf dem Boden liegen, ſo kann man vergeblich ſtundenlang auf einen der ſehr argwöhniſchen Vögel warten. Die Arbeit des Eingrabens müſſen mindeſtens ſechs Perſonen beſorgen. Während ſich dann fünf nachher entfernen, verbirgt ſich der ſechſte, der eigentliche Jäger, in der FJagdhütte. Würde man diefe Vorbereitungen mit Hilfe von nur zwei oder drei Per- ſonen treffen, ſo bliebe der Erfolg ebenſo aus, als wenn man die Fleiſchabfälle nur auf den Boden wirft.

Hierfür gibt es meines Erachtens nur eine Erklärung: Die Raubvögel, die in unendlichen Höhen im Ather ſchweben und alle Vorgänge auf der Erde genau verfolgen, haben ſehr bald geſehen, daß an der bewußten Stelle reichliche, unſchwer zu erlangende Nahrung verſcharrt wird, und beobachten daher das Tun und Treiben der ſich dort hin und her bewegenden Menſchen beſonders genau. Handelt es ſich hierbei vielleicht nur um drei Perſonen, von denen ſchließlich nur zwei den Platz wieder verlaſſen, dann merken die Vögel das Fehlen der einen Perſon ſehr wohl, wodurch ihr Argwohn ſofort rege wird, fo daß fie fih hüten, auf den lodenden Köder herabzu- ſtoßen. Ich möchte daher nach meinen Erfahrungen geradezu

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behaupten, daß die gefiederten Räuber und ſo wohl auch die meiſten übrigen Vögel außerſtande find, eine Gruppe von Menſchen, deren Zahl über fünf beträgt, auf ihre Anzahl hin zu ſchätzen, während ihnen dies bei nur vier Perſonen noch möglich iſt. Anders ausgedrückt: Die Vögel können höchſtens bis vier zählen. Jede darüber hinausgehende Anzahl von Menſchen oder Gegenſtänden verſchmilzt für fie zu einer ihrer Zuſammenſetzung nach nicht mehr zu zerlegenden Gruppe.

Viermal war mir Gelegenheit gegeben, diefe Jagdmethode perſönlich auszuprobieren. Regelmäßig habe ich dabei, während meine Begleiter das Geſcheide eingruben, mit einem guten Glaſe den Himmel abgeſucht, um die Anweſenheit etwaiger Raubvögel feſtzuſtellen, was mir aber nur zweimal gelang. Im übrigen ſchien, ſoweit meine bewaffneten Augen reichten, der Ather ausgeſtorben zu ſein. Schien denn kaum hatte ich nachher etwa eine Viertelſtunde in der Jagdhütte geſeſſen, als auch ſchon mit leiſem Rauſchen der erſte geflügelte Räuber, bald ein Adler, bald ein Geier, ſich wenige Meter von dem verſcharrten Geſcheide niederließ und ſich dann vorſichtig der Stelle näherte. Meiſt folgte dem erſten Vogel umgehend ein zweiter, bis dann im Verlaufe von weiteren zehn Minuten ſtets acht bis zehn Tiere der verſchiedenſten Arten verſammelt waren, unter denen ich mir in aller Ruhe ein Opfer für meine Kugel auswählen konnte. In kurzer Zeit hatten die Vögel die Erde über dem Aaſe fortgekratzt und begannen krächzend und ſich ſtreitend ihr ekles Mahl, bis der Knall meiner Büchſe die ganze Geſellſchaft, mit Ausnahme des erlegten, für alle Zeiten verſcheuchte. Nie werden Raubvögel einen ſolchen Hinterhalt, der einem der Ihren das Leben koſtete, zum zweiten Male aufſuchen. Die Peruaner, beſonders aber die viehzuchttreibenden Indianer an den Weſtabhängen der Anden, pflegen daher auch mit Schrotflinten ſehr großen Kalibers, deren Ladung aus gehacktem Blei beſteht, unter die verſammelten Vögel zu ſchießen, wobei ſie dann meiſt drei bis vier Tiere derart verletzen, daß ſie nicht abſtreichen und leicht vollends getötet werden können.“

In dem die europäiſche Raubvogelwelt behandelnden

ü Mannigfaltiges. 227

Kapitel berichtet der franzöſiſche Zoologe über den über ganz Europa verbreiteten Habicht folgendes: „Auf dem Landſitz eines Bekannten in der Nähe von Paris machten wir auf meine Veranlaſſung hin einige Male ein etwas grauſames Experiment, um die Sehſchärfe des Habichts, der in der dortigen Gegend ziemlich häufig iſt, zu erproben. Wir begaben uns auf ein abgeerntetes Feld und ließen dort zunächſt einige Tauben in längeren Abſtänden aufſteigen. Die Tauben kehrten ſtets, fih ber ihnen drohenden Gefahr wohl bewußt, in pfcil- ſchnellem Fluge niedrig dahinſtreichend, zu ihrem nahen Stalle zurück. Dann ſuchten wir mit unſeren Gläſern den Himmel ab. Bemerkten wir einen in der Höhe kreiſenden Habicht, ſo führten wir das Experiment nicht zu Ende, Nur wenn wir nirgends eine Spur des gefährlichen, windſchnellen Geſellen entdeckten, gaben wir die letzte unſerer Tauben frei, der wir vorher die Flügel zuſammengebunden hatten, ſo daß ſie nur etwa einen Meter vom Boden hochflattern konnte. Sodann faßten wir in einem nahen Wäldchen Poſto und warteten das weitere ab. Nie vergingen mehr als fünf Minuten, bis ein Habicht urplötzlich über der ängſtlich flatternden Taube auf- tauchte, erſt langſam in immer enger werdenden Kreiſen ſich herabwand und ſchließlich wie ein losgeſchnellter Pfeil auf ſein Opfer herabſtieß. Der Raubvogel hatte alſo zweifellos aus einer Höhe, in die ſogar unſere bewaffneten Augen nicht zu dringen vermochten, zuerſt das Auffliegen der erſten Tauben bemerkt, uns dann weiter beobachtet und ſo auch ſein gefeſſeltes Opfer erſpäht.“

Eine Königin als erſte Perückenmacherin. Ludwig der Heilige, König von Frankreich, ift der Schutzpatron der Perücken macher. Als nämlich der Monarch von dem ſechſten Kreuzzuge (1248 1254), den er angeführt hatte, nach feinem Lande zurückkehrte, war er ein Kahlkopf. Eine Krankheit in dem mörderiſchen Klima Afrikas hatte ihm feinen ganzen Haar- ſchmuck geraubt. Künſtliche Perücken gab es damals noch nicht, Mutterliebe aber macht erfinderiſch. Des Königs Mutter, Königin Bianka von Kaſtilien, konnte die Entſtellung ihres Sohnes nicht mitanſehen. Sie erſuchte jeden ihrer Höflinge,

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der Haare von der Farbe Ludwigs beſaß, um eine Locke von

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feinem Haupt, die ihr natürlich mit ſtolzem Eifer geſpendet

wurde. Eigenhändig nähte fie nun ein Haar nach dem anderen auf eine feine Stoffkappe und brachte fo die erſte Perücke zu- ſtande, die denn auch ihren Zweck ganz gut erfüllte, wenn ſie auch gewiß noch viele Mängel an ſich gehabt hat. Der erſte Träger dieſes neuen Kopfſchmuckes und zugleich der erſte Kunde der erſten Perückenmacherin, eben der heilige Ludwig, wurde deshalb von der fich ſpäter bildenden Zunft der Perücken macher zu ihrem Schutzpatron ernannt. C. D.

Sechs Stunden von Potsdam. Die preußiſche Garde- landwehr ſtellte im Deutſch-Franzöſiſchen Kriege öfters die Ehrenwachen beim König und beim Generalſtabe und vertrieb ſich in den Mußeſtunden gern die Zeit durch theatraliſche Vorſtellungen.

Auch Moltke wohnte mit ſeiner Umgebung eines Abends einer ſolchen Aufführung bei, unterhielt ſich köſtlich und ließ ſich ſchließlich einen Unteroffizier vorſtellen, der in einer Perſon Dichter, Hauptdarſteller und Regiſſeur war. In ſtreng dienft- licher Haltung, die Hände an den Hoſennähten, trat der Mann mit ernſtem Geſichtsausdruck an den General heran.

„Ihre Vorſtellung war ſehr nett. Wie heißen Sie denn?“ fragte Moltke gütig. N

„Zu Befehl, Exzellenz Schulze.“

„Wo ſind Sie denn her?“

„Sechs Stunden von Potsdam, Exzellenz,“ lautete die Antwort.

Moltke lächelte und fragte weiter im Potsdamer Dialekt: „So ſechs Stunden von Potsdam? Wie hecht denn det Neſt?“

Der Feldherr und ſein ganzer großer Generalſtab brachen in lautes Lachen aus über die mit unerſchütterlich dienſtlichem Ernſt abgegebene Antwort des militäriſchen Komikers. O. v. B.

Weihnachtsnarziſſen. Die Blumenzwiebelzüchtereien in Holland ſind in den letzten Jahren beſtrebt geweſen, nicht nur die alten Zwiebelarten zu vervollkommnen und ihnen

„Berlin, wenn Sie et noch nich kennen ſollten, Exzellenz!“

2 Mannigfaltiges. 229 in Farbe und Form ein neues Gewand zu geben, ſondern ſie haben auch Blumen herangezogen, die bereits im Frühwinter ihren Flor entfalten. Dahin gehören auch die Weihnachts- narziſſen. |

Die Weihnachtsnarziſſe gehört zu den fogenannten Erom-

Weihnachtsnarziſſe.

petennarziſſen, die wegen ihrer großen Blütenform und ihrer leuchtenden Farbe fih der beſonderen Beliebtheit der Garten- freunde erfreuen. Die Weihnachtsnarziſſe ift von hellprimel- gelber Farbe und ſetzt mit ihrem Flor bereits Ende Dezember bis Mitte Januar ein. Als Gartenpflanze blühen ihre Blumen

230 Mannigfaltiges. 2 von allen zuerſt. Auf Beeten halten ſie im Winter ohne jede Deckung aus. Will man aber gleichwohl ſicher gehen, ſo genügt ein leichter Schutz von trockenem Laub. Will man ſie im Topfe und im Zimmer im Frühwinter zur Blüte bringen, ſo füllt man im Herbſt Töpfe oder Schalen mit lockerer leichter Erde, Sand oder Torfmull bis an den Rand und drückt ſie mäßig an. Sodann macht man in der Mitte ein der Größe der Zwiebel entſprechendes Loch, legt auf ſeinen Boden etwas Sand, ſetzt die Zwiebel auf, drückt ſie ein wenig an, ſo daß der Kopf mit dem Rande des Topfes in gleicher Höhe iſt und füllt nun die Erde darum mäßig auf, daß ein etwa ein Zentimeter hoher Rand zum Gießen übrig bleibt. Die benützte Erde muß mäßig feucht ſein. Dann ſtellt man den Topf an einen kühlen und dunklen Ort. Haben die Wurzeln die Topferde ganz durch- zogen, ſo kommen die Töpfe, in denen der Keim bereits aus dem Zwiebelkopf hervorgetreten iſt, zum Antreiben, das heißt ſie werden im Zimmer untergebracht. Zuerſt werden ſie kühler geſtellt und nach acht bis zehn Tagen ans Fenſter des Wohnzimmers gebracht. Zunächſt deckt man kleine Häubchen von Pappe oder Papier darüber und gießt regelmäßig. —dt.

Cartouche in Deutſchland. Der berühmte franzöſiſche Gaunethäuptling Louis Dominique Cartouche (geboren 1693 in Paris, daſelbſt 1721 gerädert) hat, was weniger bekannt iſt, als die franzöſiſche Regierung einen Preis von hunderttauſend Franken auf ſeinen Kopf geſetzt hatte, eine Gaſtſpielreiſe nach Deutſchland unternommen, die ihn nach Wien, Dresden und Leipzig führte.

In Wien machte Cartouche, der mit Hilfe von ge— fälſchten Empfehlungsſchreiben als franzöſiſcher Marquis auf- trat, die Bekanntſchaft eines Grafen v. Schönfeld, der den vornehmen, geiſtreichen Fremden in ſeinen Zirkel zog, wo dieſer durch feine glänzende Unterhaltungsgabe bald der Lieb- ling der Damen wurde. Eines Tages weilte man in großer Geſellſchaft auf dem Landſitze des Grafen. Cartouche hatte ſeine Equipage und ſeine Dienerſchaft, die aus ſeinen beſten Genoſſen beſtand, bereits insgeheim nach Dresden voraus- geſchickt; nur fein „Rammerdiener“ weilte bei ihm. Mit dieſem

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erſchien er gut beritten im gräflichen Schloß. Cartouche war an dieſem Tag in glänzender Laune und unterhielt die vor- nehme Geſellſchaft, die ein Vermögen in Gold und Edelſteinen an ſich trug, von ſeinen eigenen Heldentaten. Man erging ſich in bewundernden Ausdrücken über die Verſchlagenheit dieſes kühnen Verbrechers. |

„Er ift ein Zauberer,“ ſagte Cartouche. „Zch ſelbſt war Zeuge, wie er in einer Geſellſchaft ſich eine große Anzahl Ringe, Hals- und Armbänder, Uhren uſw. geben ließ, dieſelben in ſeinen Hut tat, ſich in ein Nebenzimmer einſchließen ließ und von dort durch die Türe alle Schmuckgegenſtände wieder ihren Beſitzern zuſtellte. Einem meiner Freunde hat er das Geheim- nis dieſes Kunſtſtückes offenbart. Darf ich es Ihnen zeigen?“

Er ergriff ſeinen mit einer wundervollen Diamantagraffe verzierten Hut und ſammelte die wertvollſten Kolliers, Ringe und Uhren ein, die man lachend dem Freund des Grafen an- vertraute. Dann ließ er ſich in einem Nebenzimmer einſchließen, nachdem er der Geſellſchaft angekündigt hatte, das Kunſtſtück beanſpruche nur zehn Minuten Geduld. Man wartete an- ſtandshalber fünfzehn Minuten, die Cartouche vortrefflich be- nützt hatte. Eine ſeidene Strickleiter kündete der Geſellſchaft das Geheimnis des Kunſtſtückes Cartouches an, der auf ſchnellem Roß in dieſer Nacht einen ſolchen Vorſprung gewann, daß er die Verfolger weit hinter ſich ließ.

Einige Wochen ſpäter tauchte er in Dresden und dann in Leipzig auf. Hier fuhr er in ſpäter Abendſtunde vor dem Ge- wölbe eines reichen Juwelenhändlers vor, deffen Leute gerade im Begriff waren, das Gewölbe zu ſchließen. Der Beſitzer wollte den vornehmen Fremden, der für tauſend Taler Juwelen kaufte, nicht abweiſen und machte ihn ſo nicht nur mit ſeinen Vorkehrungen gegen Einbrecher, ſondern ſelbſt auch ſcherzend mit einem kleinen Hund bekannt, den er Cartouche als ſeinen treueſten und tüchtigſten Wächter vorſtellte.

Zehn Tage ſpäter erhielt der Juwelier einen gewichtigen Wertbrief aus Dresden, der Wappen und Vnterſchrift eines bekannten ruſſiſchen Fürſten trug. Der Fürſt benachrichtigte ihn, daß er, da er ſein Haus als ſolid kenne, einen Koffer mit

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Pretioſen ihm mit der Bitte überſenden werde, ihm denſelben bis zu feiner Ankunft in Leipzig in feinem feuerſicheren Ge- wölbe aufzubewahren. Zum Zeichen ſeines Dankes ſende er anbei vorläufig einen Ring. Der Ring war koſtbar. Er war der einzige, den Cartouche noch von ſeinem Gaſtſpiel im Schloſſe des Grafen Schönfeld übrig hatte.

Eine Woche ſpäter wurde der angekündigte Koffer, ein mit Eiſenbändern und großen Vorlegeſchlöſſern verſehenes ſchweres Monſtrum, von „Poſtknechten“ gebracht und von dem durch die Gnade und das Vertrauen des ruſſiſchen Fürſten ganz betörten Juwelier angenommen. Seine Leute machten fih über das Ungeheuer luftig und bezweifelten beffen Inhalt, den man doch unterſuchen ſollte, wie einer riet. Der Zuwelier machte dieſen Witzeleien ein Ende, indem er Befehl gab, das Gewölbe zu ſchließen und den Hund hereinzulaſſen, der ſich über ſein bereitſtehendes Freſſen hermachte. Einige Stunden ſpäter vernahm ein über dem Gewölbe ſchlafender Diener das wütende Gebell des Hundes. Er alarmierte ſofort feine Kame- raden und ſeinen Herrn. Das Hündchen bellte und ſchnüffelte um den Koffer herum und war auf keine Weiſe zu beruhigen. Da die Sache verdächtig ſchien, machte einer den Vorſchlag, den geheimnisvollen Koffer aufzubrechen. Da repetierte eine Taſchenuhr deutlich die zwölfte Stunde aus dem Koffer. Alle lachten über das wütende Gebell des Hundes, und beruhigt ging man ſchlafen. Es waren alſo Uhren in dem Koffer, deren Repetieren den Hund alarmiert hatte!

Eine Stunde ſpäter entſtieg Cartouche dem Koffer. Das Bellen des Hundes beunruhigte jetzt niemanden mehr. Der kühne Räuber tötete ſofort den Hund und plünderte das Ge— wölbe ſo gründlich aus, daß ihm für mehr als hunderttauſend Taler Schmuck und Edelſteine in die Hände fielen. Einige Wochen ſpäter war er in Amſterdam, wo er ſeinen Raub ver— ſilberte; von dort begab er ſich wieder nach Paris zurück. Als hier ſeine Wiener und Leipziger Verbrechen bekannt wurden, erkannte man ſofort den Löwen an ſeinen Krallen. W. F.

Eines der ſinnigſten Geſchenke, die je gemacht wurden, war das Geſchenk des Großherzogs Georg Friedrich von Meck—

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lenburg-Strelitz an Goethe, als dieſer im Jahre 1825 die Feier ſeines fünfzigjährigen Aufenthaltes in Weimar beging. Der gemütvolle Fürſt gab ſeinem Geſchäftsträger in Frankfurt am Main Auftrag, ein Stück von der längſt verkauften Wirt- ſchaft des Goetheſchen Hauſes zu beſchaffen, das geeignet ſei, in dem greiſen Dichter eine lebhafte Erinnerung an ſeine ſchöne Jugendzeit zu erwecken.

Dem Beauftragten gelang es, die große alte Schlaguhr mit dem ſtattlichen Gehäuſe zu erwerben, die in der Familien- ſtube des Ratsherrn Goethe zu Frankfurt geſtanden hatte. Sie wurde nach Weimar geſchafft und abends vor dem Zubel- tage, ohne daß Goethe es ahnte, in ſein Haus gebracht. Der treue Diener Friedrich ſtellte fie, während der Dichter ſchlief, in den kleinen Vorraum des Schlafzimmers.

Um fünf Uhr des Morgens pflegte Goethe aufzuſtehen; auf ein paar Minuten vor fünf wurden die Zeiger der alten Uhr geſtellt. Im richtigen Augenblick ſollte der Diener den Pendel in Bewegung ſetzen.

Goethe war eben erwacht. Plötzlich hebt im Vorzimmer das ſonore Schlagwerk der Uhr aus, und durch die tiefe Stille tönt ein lang ausſummender Schlag. Der Dichter horcht, noch halb im Schlafe. Träumt er, daß er im e ſei und die Uhr ihn mahne, fih zu erheben?

Wieder klingt der Ton an ſein Ohr. Nein, das iſt kein Traum! Goethe richtet ſich in ſeinen Kiſſen auf; er fühlt, daß er wacht. Ein dritter Schlag folgt, ein vierter, ein fünfter. Der Dichter läßt ihn verklingen; er lauſcht begierig dem Aus- zittern der Tonwelle.

Dann aber zieht er die Klingel, und als der längſt wartende Diener eintritt, ruft er ihm in jubelndem Erſtaunen zu: „Aber Friedrich, was war denn das? Zch hörte eben die Uhr aus meinem Elternhauſe ſchlagen.“

Der Diener nickte lächelnd und wies mit der Hand nach dem Vorzimmer. „Die Uhr ſteht wirklich da, Exzellenz!“ ſagte er.

Mit einem Sprung iſt der rüſtige Greis aus dem Bett und eilt ins Vorzimmer. Da ſieht er die Uhr aus dem Eltern- hauſe am Hirſchgraben in Frankfurt vor ſich. Feucht ſchimmern

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feine großen blauen Augen, und lange bleibt er vor der Uhr ſtehen und horcht auf ihr gravitätiſches Ticktack, auf dieſen Herzſchlag des Elternhauſes. H. W.

Giftjagd. Anſerer Damenwelt, die ſich nur zu gern mit koſtbarem Pelzwerk ſchmückt, dürfte kaum bekannt ſein, auf welch beſondere Art und Weiſe ein großer Teil der natür- lichen Lieferanten des vielbegehrten Rauchwerks erlegt wird, damit die Felle ganz unbeſchädigt bleiben und ihren ſeidigen Glanz in voller Stärke behalten.

„Die Anſicht, daß die meiſten Pelztiere in Fallen gefangen werden, iſt überaus irrig,“ ſagte Doktor Akimoff, der zwei Winter hindurch die ſibiriſchen Jagdreviere bereiſt hat. „Die von den großen Pelzgeſchäften in die nördlichen Einöden ent- ſandten Jäger pflegen nur in der erſten Zeit, ſozuſagen als Neulinge ihres Handwerks, fih der Tellereiſen und der Raften- fallen zu bedienen. Sehr bald eignen fie fih jene Fagdmethode an, wie ich fie bei den Tunguſen, ZJakuten und den an der Kälte- grenze hauſenden Kirgiſenſtämmen gefunden habe. Dieſe hat vor allen übrigen Fangarten nach übereinſtimmender Anſicht aller Jäger, mit denen ich auf meinen Wanderzügen zuſammen- traf, den großen Vorteil, daß dabei auch nicht ein einziges Fell verdorben wird. Gerät ein Tier zum Beiſpiel in ein Tellereiſen, ſo wird es regelmäßig bei ſeinen verzweifelten Befreiungsverſuchen ſein Haarkleid an den Kanten des eiſernen Fanggerätes mehr oder weniger ſcheuern, wodurch der Pelz erheblich an Wert verliert. Nicht viel beſſer verhält es ſich mit den Kaſtenfallen, die man für die kleinſten Pelzträger, wie Hermelin, Zobel und Nerz benützt. Jedes darin feft- gehaltene Tier ſucht ſich mit Krallen und Zähnen durch das Holz einen Ausweg zu bahnen, raſt in ſeiner Todesangſt in dem engen Behälter umher und verdirbt hierbei ſein koſtbares Haarkleid ſehr häufig derart, daß der Pelz nur noch als Ware zweiter Güte in den Handel gebracht werden kann.

Alle dieſe Nachteile vermeidet man bei der ſogenannten Giftjagd, die unter den ſibiriſchen Jägervölkern ſchon feit un- denklichen Zeiten üblich iſt. Es handelt ſich nicht etwa um eine bloße Tötung der Tiere durch ein ſchnellwirkendes Gift, ſondern

u Mannigfaltiges. 235

um eine fraglos erſt nach längeren Verſuchen ausgeklügelte Methode, die vierbeinigen Pelzträger zu lähmen und zwar durch ein Mittel, das nicht wie die meiſten übrigen Gifte den Balg glanzlos macht und ſpäteren Haarausfall herbeiführt. Dieſes Mittel beſitzen die Eingeborenen Sibiriens in dem ſüßlichen Safte der Wurzel des ſogenannten Buſcheppaſtrauches, der hauptſächlich auf Moorboden wächſt, aber nicht allzu häufig iſt. Der Saft der Buſcheppa trocknet an der Luft zu kleinen, harzigen, völlig geſchmackloſen Klümpchen zufammen und wirkt ähnlich wie das bekannte Kurare, das Pfeilgift der füd- amerikaniſchen Indianer, das heißt, er lähmt, ſobald er auch nur in ganz geringen Mengen in die Blutbahn gerät, die Bewegungsnerven, ohne jedoch ſofort zu töten. i

Hat man es nun auß die kleinſten Pelztiere abgeſehen, fo werden kleine Fleiſchſtückchen durch an beiden Seiten an- geſpitzte, unſichtbare Eiſenſtacheln zuſammengeheftet. In die Mitte dieſes Köders ſteckt man geringe Mengen des Giftes. Die ſo zurechtgemachten Brocken läßt man dann, um den Geruch der menſchlichen Hände, durch den das Raubzeug leicht abgeſchreckt wird, zu vertreiben, einige Zeit in Tierblut liegen, worauf die Fleiſchſtückchen mit Stäbchen herausgefiſcht und in einen gleichfalls mit Blut ausgeſchmierten Lederbeutel getan werden. Sodann wartet der Jäger einen froſtklaren Tag ab, an dem Schneefall nicht zu befürchten iſt, und begibt ſich mit dem Köderbeutel frühmorgens in ſein Revier, wo ihm die Standorte und die Wechſel der Pelztiere genau bekannt ſind. Dort werden an den ausſichtsreichſten Plätzen oft gegen ſechzig ſolcher Giftbrocken, wieder mit Hilfe von Holzſtäbchen, aus- gelegt. ö n

Der Erfolg der Jagd hängt nun ganz von der Beftändig- keit der Witterung ab. Bleibt der Himmel den Tag und die nächſtfolgende Nacht über klar, ſo ſteht gute Beute in Aus- ſicht. Schneit es dagegen, dann ift meiſtenteils die Mühe um- ſonſt geweſen, ja der Jäger wird dann nicht einmal feine Röder- ſtückchen wiederfinden, eine herbe Einbuße, da die Eifen- ſtacheln mit verloren gehen und daher neue hergeſtellt wer- den müſſen.

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feine großen blauen Augen, und lange bleibt er vor der Ahr ſtehen und horcht auf ihr gravitätiſches Ticktack, auf dieſen Herzſchlag des Elternhauſes. H. W.

Giftjagd. Unſerer Damenwelt, die ſich nur zu gern mit koſtbarem Pelzwerk ſchmückt, dürfte kaum bekannt ſein, auf welch beſondere Art und Weiſe ein großer Teil der natür- lichen Lieferanten des vielbegehrten Rauchwerks erlegt wird, damit die Felle ganz unbeſchädigt bleiben und ihren ſeidigen Glanz in voller Stärke behalten.

„Die Anſicht, daß die meiſten Pelztiere in Fallen gefangen werden, iſt überaus irrig,“ ſagte Doktor Akimoff, der zwei Winter hindurch die ſibiriſchen Jagdreviere bereiſt hat. „Die von den großen Pelzgeſchäften in die nördlichen Einöden ent- ſandten Jäger pflegen nur in der erſten Zeit, ſozuſagen als Neulinge ihres Handwerks, fich der Tellereiſen und der Raften- fallen zu bedienen. Sehr bald eignen fie fih jene Fagdmethode an, wie ich fie bei den Tunguſen, Jakuten und den an der Kälte- grenze hauſenden Kirgiſenſtämmen gefunden habe. Dieſe hat vor allen übrigen Fangarten nach übereinſtimmender Anſicht aller Jäger, mit denen ich auf meinen Wanderzügen zuſammen- traf, den großen Vorteil, daß dabei auch nicht ein einziges Fell verdorben wird. Gerät ein Tier zum Beiſpiel in ein Tellereiſen, ſo wird es regelmäßig bei ſeinen verzweifelten Befreiungsverſuchen ſein Haarkleid an den Kanten des eiſernen Fanggerätes mehr oder weniger ſcheuern, wodurch der Pelz erheblich an Wert verliert. Nicht viel beſſer verhält es ſich mit den Kaſtenfallen, die man für die kleinſten Pelzträger, wie Hermelin, Zobel und Nerz benützt. Jedes darin feft- gehaltene Tier ſucht ſich mit Krallen und Zähnen durch das Holz einen Ausweg zu bahnen, raſt in ſeiner Todesangſt in dem engen Behälter umher und verdirbt hierbei ſein koſtbares Haarkleid ſehr häufig derart, daß der Pelz nur noch als Ware zweiter Güte in den Handel gebracht werden kann.

Alle dieſe Nachteile vermeidet man bei der ſogenannten Giftjagd, die unter den ſibiriſchen Fägervölkern ſchon feit un- denklichen Zeiten üblich iſt. Es handelt ſich nicht etwa um eine bloße Tötung der Tiere durch ein ſchnellwirkendes Gift, ſondern

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um eine fraglos erft nach längeren Verſuchen ausgeklügelte Methode, die vierbeinigen Pelzträger zu lähmen und zwar durch ein Mittel, das nicht wie die meiſten übrigen Gifte den Balg glanzlos macht und ſpäteren Haarausfall herbeiführt. Dieſes Mittel beſitzen die Eingeborenen Sibiriens in dem ſüßlichen Safte der Wurzel des ſogenannten Buſcheppaſtrauches, der hauptſächlich auf Moorboden wächſt, aber nicht allzu häufig iſt. Der Saft der Buſcheppa trocknet an der Luft zu kleinen, harzigen, völlig geſchmackloſen Klümpchen zufammen und wirkt ähnlich wie das bekannte Kurare, das Pfeilgift der jüd- amerikaniſchen Indianer, das heißt, er lähmt, ſobald er auch nur in ganz geringen Mengen in die Blutbahn gerät, die Bewegungsnerven, ohne jedoch ſofort zu töten. i

Hat man es nun auf die kleinſten Pelztiere abgeſehen, ſo werden kleine Fleiſchſtückchen durch an beiden Seiten an- geſpitzte, unſichtbare Eiſenſtacheln zuſammengeheftet. In die Mitte dieſes Köders ſteckt man geringe Mengen des Giftes. Die ſo zurechtgemachten Brocken läßt man dann, um den Geruch der menſchlichen Hände, durch den das Raubzeug leicht abgeſchreckt wird, zu vertreiben, einige Zeit in Tierblut liegen, worauf die Fleiſchſtückchen mit Stäbchen herausgefiſcht und in einen gleichfalls mit Blut ausgeſchmierten Lederbeutel getan werden. Sodann wartet der Jäger einen froſtklaren Tag ab, an dem Schneefall nicht zu befürchten iſt, und begibt ſich mit dem Köderbeutel frühmorgens in ſein Revier, wo ihm die Standorte und die Wechſel der Pelztiere genau bekannt ſind. Dort werden an den ausſichtsreichſten Plätzen oft gegen ſechzig ſolcher Giftbrocken, wieder mit Hilfe von Holzſtäbchen, aus- gelegt. |

Der Erfolg der Jagd hängt nun ganz von der Beſtändig— keit der Witterung ab. Bleibt der Himmel den Tag und die nächſtfolgende Nacht über klar, fo ſteht gute Beute in Aus- ſicht. Schneit es dagegen, dann ift meiſtenteils die Mühe um- ſonſt geweſen, ja der Zäger wird dann nicht einmal feine Röder- ſtückchen wiederfinden, eine herbe Einbuße, da die Eiſen— ſtacheln mit verloren gehen und daher neue hergeſtellt wer— den müſſen.

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In der Nähe des Städtchens Sion am Zanafluffe hatte ich einmal Gelegenheit, einen Pelzjäger zu begleiten, als er nach zwei ſchneefreien Tagen ſein Gebiet abſuchte. Wir fanden im ganzen ſieben kleine Räuber auf, die regungslos dalagen und die mein Begleiter dann durch einen ſcharfen Schlag auf den Kopf erſt vollends tötete. Darunter waren zwei Hermeline, ein ſeltener Glücksfall, wie mir der Jäger ſchmunzelnd er- klärte.

Bei einigen Tieren habe ich das Maul genauer unterſucht, um mir die Verletzungen anzuſehen, die die Eiſenſtacheln beim Hineinbeißen in den Köder verurſacht hatten. Es waren zu- meiſt kaum bemerkbare Wunden. Das Buſcheppagift muß alſo, da die Tiere, wie aus den Fährten hervorging, kaum noch dreißig Schritt gelaufen waren, faſt augenblicklich gewirkt haben. Allerdings ſind die meiſten dieſer kleinen Räuber, wie mir mein Begleiter zu ſagen wußte und ich ſpäter auch ſelbſt geſehen habe, ſo gierig nach den blutigen Fleiſchſtücken, daß fie trotz der Stacheln häufig weiterfreſſen und diefe ent- weder wieder ausſpeien oder mit hinunterwürgen.

In ähnlicher Weiſe geht man auch dem ſibiriſchen Fuchs, ja ſogar, wenn man Pulver und Blei vermeiden will, dem Bären zu Leibe, nur daß man für dieſe Raubtiere die Stacheln und die Fleiſchſtücke größer wählt. Zn einzelnen ſibiriſchen Gouvernements iſt dieſe Fangart neuerdings jedoch verboten und unter Strafe geſtellt worden, wahrſcheinlich deswegen, weil die Regierung eine zu ſchnelle Ausrottung des wertvollen Raubwildes durch die profeſſionellen Jäger der Pelzexport- häuſer befürchtet, eine Beſorgnis, die nicht ganz unberechtigt ift, da nachweislich bei der Fallenjagd nicht halb fo viel air gemacht wird wie bei dem Giftfang.

Überall geſtattet iſt aber noch heute die grauſame Aus- rottungsmethode, wie ſie von den Bewohnern Sibiriens gegen die Wölfe, beſonders in harten Wintern, angewendet wird. Auch hierbei finden mittelgroße Fleiſchſtücke, wie ſie ein Wolf bequem hinunterſchlingen kann, Verwendung, in denen man an beiden Enden angeſpitzte, eng zuſammengerollte Fiſchbein- ſtäbe verbirgt. In der eiſigen Kälte gefrieren die Fleiſchſtücke

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ſehr bald und halten die elaſtiſchen Fiſchbeinſtäbchen in ihrer Lage feſt. Würgt nun ein heißhungriger Wolf einen ſolchen Köder hinunter, fo taut das Fleiſch im Magen auf, der Filh- beinſtab ſchnellt auseinander und durchbohrt die Magenwand, ſo daß das Tier unter furchtbaren Qualen eingeht. Tunguſen haben mir verſichert, daß Wolfsrudel, die einige Tiere auf dieſe Weiſe verloren haben, von paniſchem Schrecken ergriffen werden und ſchleunigſt in ein anderes Revier überwechſeln. Auch dieſes ebenſo primitive wie unmenſchliche Vernichtungs- mittel dürfte ſchon alten Datums ſein. Es wird zum Beiſpiel bereits in einem 1814 in Moskau erſchienenen Werke Tatu- ſcheffs erwähnt.“

Auch dem Silberreiher, der ſeiner Schmuckfedern wegen, aus denen die wertvollen Reiherbüſche zuſammengeſtellt werden, eifrig gejagt wird, geht man in den Ländern um das Kaſpiſche Meer, wo er am häufigſten zu finden iſt, mit Gift zu Leibe, da bei der Anwendung der Schußwaffe es nur zu häufig geſchieht, daß die koſtbaren Federn beim Sturze auf die Erde geknickt werden. Man verwendet mit Strychnin ver- giftete Fiſche, die in der Nähe der Reiherhorſte ausgelegt werden. Merkt der Vogel die Wirkungen des Giftes, ſo läßt er ſich auf die Erde nieder und geht dort ſehr bald ein, ohne daß ſein Federſchmuck irgendwelchen Schaden erleidet. W. K.

Tage der Roſen. Anbeſchwert von Sorgen zu ſein, Gegenwart und Zukunft in ſonnigem Licht zu ſchauen, ſich des berauſchenden Hochgefühls, das fie erfüllt, zu freuen, in ver- ſchönender Liebe ſich zu umwerben, iſt das glückliche Vorrecht der Jugend, und darum ſingt ſie jauchzend:

„Noch iſt die blühende, goldene Zeit, Noch ſind die Tage der Roſen.“

So lange jugendliche Menſchenherzen ſchlagen, ſo lange ſind ſie von den gleichen erhebenden Empfindungen beſeligt worden, und immer hat ſich der Sinn auch der Stärkſten der Macht der Liebe gebeugt.

In anmutiger Form gibt dieſem Gedanken ſchon ein Lied aus dem ſechzehnten Jahrhundert Ausdruck, das in unſerer heutigen Sprache lautet:

238 Mannigfaltiges. a

Es fang ein Vöglein im Roſenhag

Am blauenden, ſtrahlenden Sommertag.

Es fang von wonniger Liebe.

Da fab es kommen ein junges Paar,

Sie roſenrot mit goldigem Haar,

Er narbig durch Schwerterhiebe.

Das Vöglein dachte: „Das iſt ein Held,

Auf ſeine trotzige Kraft geſtellt,

Ihn mußt du zur Liebe bekehren!“

Da, eh' es aufs neue ſein Lied beginnt, Vernimmt es vom Kriegsmann flehend lind: „Ihr werdet's, Fräulein, mir nicht wehren, Wenn in den Tagen der Roſenglut

Ich Liebe vertauſchte mit Schlachtenmut, Aufs innigſte Euch muß beſchwören,

Mein Sehnen gnädig zu erhören.“

Das Vöglein ift davongeſchwirrt

Und dachte: „Ich hab' mich ſchwer geirrt, Den braucht' ich die Liebe nicht mehr zu lehren, Er tat ſich ſchon ſelbſt zu ihr bekehren.“

Ein ähnliches Liebesidyll in den Tagen der Roſen ſtellt auch unfer diesjähriges Kunſtblatt dar, das auf der anliegen- den Beilage an erſter Stelle wiedergegeben ift. Ein Reiters- mann aus dem Dreißigjährigen Kriege bekennt dem adeligen Fräulein ſeine Liebe. Allen unſeren Leſern und Freunden ſteht die in freudigen Farben gehaltene Oldruckreproduktion, die einen prächtigen Zimmerſchmuck bildet, zu dem niedrigen Preis von 1 Mark 50 Pfennig zur Verfügung. Th. S.

Eine ſchwierige Aufgabe. Der Hamburger Rechtsanwalt M., der ſchon häufig in ſeiner Praxis die Erfahrung gemacht hatte, wie ſehr und oft ſich die Zeugen bei ihren Ausſagen in der Angabe von Zeiten irren, wollte ſich in einem wichtigen Prozeß davon überzeugen, wie es in dieſer Hinſicht mit der Glaub- würdigkeit eines der Hauptzeugen beſtellt war. Es handelte ſich um eine Schiffskataſtrophe, die durch den Zuſammenſtoß zweier Fahrzeuge verurſacht worden war. Der betreffende Zeuge, der dabei Verletzungen erlitten hatte, lag noch im Krankenhaus.

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Der Rechtsanwalt begab ſich zu dem Patienten, trat an ſein Bett und fragte ihn: „Können Sie mir ſagen, wie lange Zeit verfloſſen iſt von dem Augenblick an, da das Schiff von der Landungsbrücke abfuhr bis zu dem Zuſammenſtoß?“

„Nun, es mögen zehn Minuten geweſen ſein,“ lautete die Erwiderung.

„Was meinen Sie, wie lange zehn Minuten dauern?“

„Nun zehn Minuten!“ lautete die ſehr richtige Antwort.

„Gewiß ſchon recht, ich will aber einmal feſtſtellen, wie lange Ihnen das ſcheint. Das iſt nämlich die Hauptſache. Ich ſtelle mich jetzt an das Fußende Ihres Bettes, nehme meine Uhr in die Hand, und wenn Sie glauben, daß zehn Minuten verſtrichen ſind, rufen Sie: Halt.“

Der Patient war einverſtanden, legte fih wieder bequem zurecht und ſah den Rechtsanwalt an, der ihm gegenüber am Fußende des Bettes ſtand und die Uhr in der Hand hielt.

Nach Verlauf einiger Minuten ſagte der Anwalt: „Nun, wie ſteht es wie lange ſoll ich denn noch warten?“

Der Kranke lächelte nur verſchmitzt und warf einen verſtoh- lenen Blick auf die große Wanduhr, die an der ſeinem Bette gegen- überliegenden Wand hing und der der Anwalt den Rüden drehte.

Als der Zeiger endlich auf dem richtigen Punkt ſtand, rief der Kranke: „Halt, jetzt ſind es zehn Minuten!“

Der Rechtsanwalt war ſtarr vor Staunen und meinte bewundernd: „Hören Sie, lieber Freund, von allen Zeugen, die mir in meiner langen Praxis gegenübergeſtanden haben, können Sie die Zeit am genaueſten angeben.“ A. Sch.

Teure Liebesbriefe. Ein Liebesbrief, der vierzehntauſend Mark koſtet, wird wohl nicht alle Tage verſandt. Eine junge Dame in Kalkutta empfing kürzlich einen Liebesbrief, der nach dem Berichte einer engliſchen Zeitung mehr ein Beweis von der Kunſtfertigkeit des Goldſchmiedes, als ihres Verehrers war. Es war eine dünne Goldplatte, auf der ein kurzer, aber zärtlicher Gruß in Diamanten innerhalb eines Herzens von mattem Silber eingraviert war.

Ein bekannter Komponiſt ſandte von einer Konzertreiſe nicht weniger als ein Dutzend Liebesbriefe an ſeine Braut.

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Zeder koſtete fehshundert Mark. Zärtliche Worte bildeten den Text zu gefühlvollen Noten, und das Manuftript war reich vergoldet und mit koſtbaren Malereien eingefaßt. Vergoldung und Ausſtattung waren von einem japaniſchen Künſtler, der auch das Käſtchen dekoriert hatte, in dem ſie geſandt wurden.

Ein anderer Verehrer feſſelte die Geliebte ſeines Herzens dadurch, daß er ſchöne Spitzenkragen nach dem Muſter eines Herzens arbeiten ließ, deren jeder einige ſpinnwebfeine Worte der treueſten Liebe enthielt. Jede der Spitzenweberinnen erhielt vierhundert Mark, und ein Umſchlag von Gold und Seide koſtete

weitere hundertundfünfzig Mark. Dann kam ein ſchönes Käſtchen,

und der ſpinnwebartige Liebesbrief wurde abgeſandt. Z. W. Ein Kaiſer, der befiehlt, und ein zweiter, der gehorcht. Kaiſer Franz Joſef von Sſterreich und Kaiſer Wilhelm I. hatten in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zu gleicher Zeit die Kur in Bad Gaſtein gebraucht. Der öfter- reichiſche Kaiſer war eher fertig und verabſchiedete ſich mit ſeiner Gemahlin von dem deutſchen Monarchen.

Letzterer wollte es ſich nun nicht nehmen laſſen, das ſcheidende Paar noch eine Strecke Weges zu begleiten. Franz Zoſef aber fürchtete, der greiſe Freund möchte ſich dabei überanſtrengen und bat ihn daher, davon abzuſehen. Alles Abraten aber wollte nichts helfen.

Da richtete er ſich in ſeiner ganzen Höhe auf, nahm ſeine ernſteſte Miene an und ſagte, mit einem bezeichnenden Blick auf die Uniform eines öſterreichiſchen Oberſten, die Kaiſer Wilhelm der Begegnung zu Ehren angelegt hatte, während er ſelbſt Feldmarſchalluniform trug: „Hiermit befehle ich dem Herrn Oberſt, hier zu bleiben!“

Da blieb Kaiſer Wilhelm ſtehen, ſchlug die Hacken zuſammen und ſagte, militäriſch grüßend und leiſe lächelnd: „Zu Befehl, Exzellenz da bleibt mir freilich nichts anderes übrig, wie zu gehorchen.“

In fröhlichſter Stimmung ſchieden die Monarchen von- einander. C. D.

Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Theodor Freund in Stuttgart, in Oſterreich⸗Ungarn verantwortlich Dr. Ernſt Perles in Wien.

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