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Seite

16

172

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Frau Küſter hielt geſtrenge Wacht über ihr Kind. Das wäre ja bei der gehorſamen Annalieſe, die keines- wegs an heimliche Stelldichein dachte, gar nicht nötig geweſen, aber Frau Küſter ſagte ſich: beſſer iſt beſſer. So ließ ſie denn ihre Tochter nur in den ſeltenſten Fällen, wenn es durchaus nicht anders ging, aus den ſcharfen Augen, von denen jeder Blick ein Röntgen- ſtrahl war.

Die zu erwartende Verlobungsangelegenheit war inſofern etwas verwickelter Natur, als noch ein zweiter Bewerber um die Gunſt Annalieſes vorhanden war. Zwar kein Studierter ein Stand, der Frau Küſter

6 Her Verlobungsbraten

gewaltige Achtung einflößte dafür aber ein ſehr wohlhabender Mann, mit deſſen Gewichtigkeit ſich der vermögensloſe Arzt nicht meſſen konnte.

Herr Mehring war Fabrikbeſitzer. Er fabrizierte Haus-, Waſch- und Toilettenſeifen jeder Art, war alſo ſozuſagen ein Träger der Kultur bei den ziviliſierten, ein Pionier der Kultur bei den unziviliſierten Völkern.

Gleich dem Doktor hatte ſich auch Herr Mehring noch nicht erklärt. Doch es war zu erwarten, daß er dieſe unumgängliche Förmlichkeit demnächſt erfüllen würde. |

Annalieſe ſchwankte zwiſchen beiden Bewerbern. Der Schmiß auf der rechten Backe des Arztes machte ſich äußerſt ſchneidig und kam ihr ungeheuer anziehend vor. Dazu trat noch, daß Doktor Wagner bedeutend jünger war als der Fabrikant. Dieſer wiederum hatte ein ſo einnehmendes, herzliches Weſen, daß ſie ſich in ſeiner Nähe ſo recht geborgen und zufrieden fühlte. Dazu hatte er wirklich ſüße, weiche, braune Augen.

So pendelte Annalieſes Herz zwiſchen dem Schmiß des Doktors und den Samtaugen des Fabrikanten noch immer hin und her.

Annalieſes Eltern hingegen hatten ſich bereits ent- ſchieden. Der Vater für den Fabrikanten, die Mutter für den Arzt. Der Mutter waren von Wert Stand und Titel, der Vater erwärmte ſich für die gute Fabrik.

So lagen die Dinge unklar und verworren, und der Elternkrieg um den Schwiegerſohn tobte hinter Annalieſes zartem Rücken.

Doch die Entſcheidung ſchien plötzlich zu nahen.

An einem Sonntagnachmittag war's. Küſters ſaßen gerade beim Kaffee und ließen ſich den trefflichen Napfkuchen munden, den die Frau des Hauſes, alter Gewohnheit folgend, immer noch ſelbſt buk.

Humoreske von Zulius Knopf 7

Da klingelte es.

Das Dienſtmädchen kam mit einem Brief. Es war ein Rohrpoſtbrief. „Für das gnädige Fräulein!“ erklang es etwas fpiß*).

Annalieſe errötete ſanft und lieblich, denn ſie er- kannte die Kritzelſchrift des Doktors, der ihr jüngſt erſt ins Stammbuch ſelbſtgedichtete Verſe eingeſchrieben hatte, die übrigens von Goethe waren.

Läſſig öffnete ſie den Brief in ſchlechtgeſpielter Gleichgültigkeit. Höchſte Neugier erfüllte die Eltern.

Die Tochter las und errötete tiefer. Dann reichte ſie das Schreiben der Mutter, die es ihr in ungeduldiger Spannung faſt aus der Hand riß.

Annalieſe wandte ſich nun an den Vater, der erregt ſein Stück Napfkuchen zerbröckelte. „Von Herrn Doktor Wagner, Papa. Er ſchreibt mir, ich möchte doch ſo gut ſein und um halb ſieben in der Konditorei von Schniebel fein, wo wir ſchon öfter gemeinſam mit Bekannten waren. Er habe mir etwas Wichtiges mitzuteilen und dieſen Weg gewählt, um mich einmal allein zu ſprechen, wozu ihm bisher die e gefehlt habe.“

Der Vater machte ein Geſicht, aus dem nichts weniger als volle Zuſtimmung leuchtete.

Annalieſe ſah jetzt Frau Küſter fragend an. „Darf ich hingehen, Mama?“

„Selbſtverſtändlich, mein liebes Kind,“ lautete die flinke Antwort. „Ich bin ſicher, es gibt eine Verlobung. Was ſoll der Doktor anderes wollen? Allein gehſt du hin, und zu zweien kehrt ihr zurück das iſt ſicher, mein Kind.“

„Aber wozu denn dieſe umſtändliche Geſchichte in

*) Siehe das Titelbild.

?88 Der Verlobungsbraten i ee eee

der Konditorei?“ meinte der Vater. „Er hätte doch einfach bei uns um unſere Tochter anhalten ſollen!“

„Ach, was verſtehſt denn du davon!“ Frau Küſter warf ihrem Gatten einen hoheitsvollen Blick zu. „Erſt muß er ſich doch vergewiſſern, ob Annalieſe ihn auch mag. Alſo geh, mein Kind, geh mit meinem Segen und komm mit deinem Bräuti— gam wieder.“ Als Annalieſe nach ſechs

Humoreske von Julius Knopf 9

Ahr die Wohnung der Eltern verlaſſen wollte, muſterte Frau Küſter draußen auf dem Flur gründlich noch einmal ihre Einzige. Das Kleid ſaß gut, die Farbe war vorteilhaft, das erregte Geſichtchen noch hübſcher als ſonſt. Alſo ihre Annalieſe würde kommen, geſehen Ä Deſſen war Frau Küfter gewiß in ihrem mütterlichen Stolz und ſchwiegermüͤtterlichen Hoffen.

Noch einen letzten Kuß und ein letztes Wort: „Alſo, Kindchen, vergiß nicht, ihn mitzubringen! Ich bereite zu euren Ehren ein feines Abendeſſen vor: gefüllte Kalbsbruſt, die ich eigentlich erſt für morgen mittag beſtimmt hatte. Aber ich weiß, der Doktor ißt ſie gern.“

Annalieſe ging.

Kaum war ſie ec unden wollte ſich Frau Küſter in die Küche begeben, um den verlobungs- feſtlichen Braten herzurichten. Doch der Gatte hielt ſie zurück. „Nicht ſo voreilig, Madame Küſter, vielleicht wird aus der ganzen Sache nichts.“

„Das möchteſt du wohl!“ gab ſie gekränkt zurück.

Er ſtrich ſich über die gewaltige Platte. „Ich müßte lügen, wenn ich's verneinte. Mir wäre Mehring bedeutend lieber.“

„Der Seifenfritze!“ höhnte ſie. „Willſt du deine Tochter Frau Seifenfabrikantin werden laſſen, wo ſie eine Frau Doktor werden kann!“

Anwillig ſchüttelte er den Kopf. „Meine Liebe,“ ſprach er mit ernſter Stimme, „du leideſt an einer ſchweren, ja, an einer unheilbaren Frauenkrankheit.“

„Nanu?“ Erſchreckt ſah ſie ihn an. „Ich wüßte nicht, ich fühle mich doch ganz geſund!“ ö

„Und doch biſt du krank,“ fuhr er gewichtig fort, „charakterkrank. Du leideſt an der Titelitis. Was heißt denn Doktor? Das iſt doch ein Titel, der durch den

10 Der Verlobungsbraten

jahrhundertelangen Gebrauch ſchon reichlich abgenützt iſt und an Wert bedeutend verloren hat. Ein wohl- habender Fabrikant iſt mir unendlich lieber als ein armer Schlucker von einem Doktor. Wie will der junge Menſch denn unſer Kind ernähren? Er hat ja ſelbſt noch zu kämpfen, und die Mitgift Annalieſes iſt doch nur ſehr beſcheiden.“ "

Frau Küſter lächelte überlegen. „Da werden die Kinder mit der Heirat eben noch warten. Zch gehe jetzt in die Küche und mache den Braten zurecht.“

Sie überließ den unbequemen Ehegatten ſeinem Schickſal, das er ſich einſtweilen durch das Leſen der Sonntagszeitung verſchönte.

* * %

Acht Uhr bereits. Ungeduldig harrte Frau Küſter des jungen Paares, hoffnungsfroh und erwartungsvoll, mit gezücktem Mutterſegen und fertiger Kalbsbruſt.

Herr Küſter ſaß gleichmütig auf dem Sofa. Er rauchte behaglich ſeine Sonntagszigarre, Kuba mit Havannaeinlage zu fünfzehn Pfennig das Stück. Er war Fataliſt und ſagte ſich: Was kommen muß, wird kommen. Alſo warten wir und rauchen wir.

„Wo nur die Kinder bleiben?“ ſagte Frau Küfter. endlich unruhig. |

Er erwiderte nichts, ſondern räuſperte ſich nur und paffte weiter.

„Wie kann man nur ſo gleichgültig ſein!“ eiferte ſie. „Ich vergehe vor Aufregung, und du ſtreckſt dich auf dem Sofa und qualmſt.“

Herr Küſter ließ ſich nicht aus der Ruhe bringen. „Ich will nichts vor dir voraushaben. Wenn's beliebt auf dem Sofa iſt auch noch Platz für dich. Und wenn du eine Zigarre haben willſt auch gut!“

Humoreske von Zulius Knopf 11

Er reichte ihr ſeine Zigarrentaſche und klappte ſie wieder zu, als die Gattin ihm entrüſtet den Rücken kehrte.

„Na, denn nich!“ tröſtete er ſich.

Endlich, endlich ging draußen die Flurtür. Man hörte Schritte. ö

Frau Küſter ſprang von ihrem Stuhl auf, ließ ſich

liebevoll und hausmütterlich neben ihrem Gatten nieder, reckte ſich aufrecht empor und machte ein feierliches Geſicht. Ganz wie es ſich bei derartigen wichtigen Ge— legenheiten für eine angehende Schwiegermutter geziemt. Seelenruhig rauchte Herr Küſter weiter. „Flegel!“ ſagte Frau Küſter, doch der brave Mann ließ ſich nicht beirren.

12 | Der Verlobungsbraten —— .. —ñ— ͤ ͤͤ— —————————ͤ— ͤ—— ͤ ——

Da erſchien Annalieſe auf der Bildfläche. Aber kein männliches Weſen trottete hinterdrein. Sie war allein und hatte leicht verquollene Augen, anſcheinend die Folge vergoſſener Tränen.

Frau Küſter e N Sie fühlte ihr Blut erſtarren.

Doch das währte nur einen Augenblick, dann friſchte die Neugier fie wieder auf. „Wo iſt dein Bräu- tigam?“ wollte ſie fragen, verſchluckte jedoch den Bräutigam und verbeſſerte ſich: „Wo iſt der Doktor?“

„Gar nicht!“ ſchluchzte Annalieſe.

„Was heißt das?“ Frau Küſter erhob ſich in Die ganzen Größe. „At er tot?“

„Nein, er lebt noch aber nicht für mich!“

„So hat er dir keinen Antrag gemacht?“

„Er hat geſagt, daß er mich ſchrecklich liebhat.“

Nun griff der Vater ein. „Na, darüber brauchſt du doch nicht zu heulen.“ En

„Schweig!“ beſtimmte die entthronte Schwieger- mutter. Dann verhörte ſie die Tochter weiter: „Alſo, willſt du nicht erzählen? Ohne Umſchweife und wahr- heitsgetreu, mein Kind!“ |

Das Kind unterdrückte das Schluchzen, aber in der ſüßen, zarten Stimme zitterten doch noch Rührung, Aufregung und ein kleines Leid.

„Alſo, wie ich ſchon ſagte, hat er geſagt, daß er mich furchtbar liebhat und ſich nichts Schöneres denken könne, als mich zur Frau zu haben. Aber als Mann von Ehre und Charakter hat er geſagt müſſe er davon Abſtand nehmen, wenn ihm auch darüber das Herz brechen ſollte. Denn Vermögen beſäße er nicht, und ihr wäret ja auch nicht gar zu ſehr mit Geld geſegnet, und ſeine Praxis ſei nur klein, und es könne Jahre dauern, bis fie ſo anwachſen würde, daß er im-

Humoreske von Julius Knopf 13

ſtande ſei, eine Familie zu erhalten. Und ſo habe er ſich in ſchlafloſen Nächten hat er geſagt zu dem Entſchluß durchgerungen, zu verzichten und ſich zurüd- zuziehen. Und darum habe er mich um die Unterredung gebeten, um mir die Gründe darzulegen, damit ich nicht ſchlecht von ihm denken ſolle. Denn dieſen Ge— danken würde er nie und nimmer ertragen können hat er geſagt. Es war ſo rührend, und ich mußte weinen, und er weinte ſchließlich mit. Und dann nahmen wir beide Abſchied voneinander und gelobten uns treue Freundſchaft. Und dann küßte er mich

„Dieſe Unverſchämtheit!“ platzte Frau Küſter heraus.

„Nur auf die Hand, Mama.“

Frau Küſter nahm die Unverſchämtheit im ſtillen wieder zurück.

„Und dann brachte er mich an die Straßenbahn und nun bin ich hier!“

Es wurde ſehr ſtill m Zimmer.

Annalieſe ſetzte ſich in den Schaukelſtuhl am Fenſter und ſah voll Schmerz auf den Kanarienmatz im Bauer, der gerade eifrig futterte. Und fie dachte: „Ach, Mätz- chen, du haſt es gut, du kennſt nicht die unglückliche Liebe!“

Frau Küſter ſchien zur Salzſäule erſtarrt zu ſein, kein Muskel ihres behäbigen Geſichts rührte ſich. Sie trauerte um den entgangenen Schwiegerſohn.

Herr Küſter aber brach endlich das beklemmende Schweigen. Er zündete ſich eine neue Zigarre an und ſprach gelaſſen: „Alle Achtung! Ich finde das höchſt ehrenhaft von dem jungen Mann. Ich hätte gar nicht gedacht, daß er ſolch ein urvernünftiger Menſch iſt. Wirklich, jetzt gefällt mir der Doktor erſt!“ Die Gattin ſeufzte und ſchien nicht ganz ſeiner Meinung zu ſein. Aber ſchließlich da half nun alles nichts mußte man ſich darein finden.

14 Der Verlobungsbraten

Entſchloſſen erhob ſie ſich. „Alſo nichts! Na, dann werde ich die ſchöne Kalbsbruſt auf morgen aufheben.

Für heute abend iſt noch Schlackwurſt und Schweizer— käſe da.“

„Nichts da!“ begehrte ihr Herr und gelegentlicher Gebieter auf. „Ich beſtehe auf meiner gefüllten

22 *

—— ——

Humoreske von Julius Knopf 15

Kalbsbruſt. Während des ganzen Nachmittags habe ich mich ſchon darauf gefreut.“

Doch die ſparſame Frau wollte nichts davon wiſſen und pries die Vorzüge der Schlackwurſt und des Schweizerkäſes.

Ein heftiger Streit ſchien ſich e zu wollen. Da ſchrillte das Telephon.

Frau Küſters Mutterantlitz verklärte ſich. „Vielleicht hat 19, der Doktor die a doch nochmals überlegt und —‘

ai winkte ab. „Nein, Mama, das iſt aus- geſchloſſen. Wir haben uns beide abgefunden und dann habe ich einen entſetzlichen Hunger und möchte eſſen.“

Inzwiſchen war Küſter an den Fernſprecher ge— gangen und hatte eine wichtige Unterhaltung geführt, auf welche die beiden Damen während ihres Ge- ſprächs nicht zu achten beliebten.

Jetzt lächelte Herr Küſter. Er rieb ſich die Hände. „Kinder, wir bekommen doch noch einen Gaſt. Aller- dings nicht den Doktor. Im Gegenteil! Herr Mehring fragte nämlich eben an, ob wir heute zu Hauſe blieben, und da habe ich ihn natürlich gleich zum Abendeſſen eingeladen. Er wird ſofort hier ſein.“

Liſtig blinzelte er ſeine Frau an.

„Alte, ich denke, du biſt damit einverſtanden. Alſo laß das vierte Gedeck nur ruhig liegen. Denn nun wirſt du die gefüllte Kalbsbruſt heute doch noch herausrücken. Wie denkſt du darüber, Verehrteſte?“

Da ſchmunzelte die Verehrteſte und murmelte: „Na ja, ſchließlich hört ſich Frau Fabrikbeſitzer ja auch ganz nett an. Was meinſt du dazu, Annalieſe?“

„Ach Gott!“ ſeufzte dieſe. „Laß ihn nur kommen! Es wäre ja auch ſchade um die ſchöne Kalbsbruſt!“

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Und nähme ich flügel der Morgenröte

Kriminalroman von Theodor Kabelitz fortſetzung ( nachdruck verbdten)

zei ſeiner Heimkehr an einem der nächſten Tage | bemerkte Walter, daß die Zür zu dem Wohn- eee zimmer der Frau Kemnitz nur angelehnt war. Da ihm eine Art Ahnung ſagte, er möchte drinnen nicht unwillkommen ſein, klopfte er an.

Die Haustochter war allein in der Stube. Ein leiſes Lächeln ſpielte um ihren Mund. Dann aber ſprach ſie mit ernſtem Geſicht ihr Bedauern aus, daß die Mutter gerade ausgegangen ſei. Sie werde aber gleich wieder kommen, und Herr Schmidt möge nur Platz nehmen.

Nach dieſer Begrüßung wendete Anna ihre Auf- merkſamkeit ungeteilt der Stickerei zu, die ſie in der Hand hielt.

Walter hatte plötzlich alles vergeſſen, was er fragen könnte. Er benützte alſo die Gelegenheit, die fleißigen Hände der jungen Dame aufmerkſam zu beobachten.

„Nun, was gibt's Neues, Herr Schmidt?“ fragte Anna Kemnitz, um die Unterhaltung in Fluß zu bringen.

„Nichts von Belang. Wie geht es Ihnen, Fräu- lein Kemnitz

„Danke! Ganz gut!“

Wieder eine Pauſe.

So durfte es nicht weitergehen. Anna hatte zudem etwas auf dem Herzen, das ſich nur unter vier Augen erledigen ließ. „Wiſſen Sie, wer am Nachmittag bei uns war?“ fragte ſie.

„Doch nicht dieſer Fröhden? Was wollte denn der ſchon wieder?“

„Eigentlich gar nichts. Nur ſo ganz nebenbei hat er gefragt, ob Sie ſchon bei der Wahrſagerin geweſen - feien.“

Kriminalroman von Theodor Kabelitz 17

„Dieſe Teilnahme iſt ja geradezu rührend. Und was haben Sie geantwortet?“

„Gelogen habe ich Ihnen zuliebe gelogen. Ich wüßte nichts davon, habe ich geſagt.“

„Das war brav das freut mich!“ Walter dachte einen Augenblick nach. „Fräulein Anna, können Sie mir vielleicht ſagen, womit dieſer Fröhden ſeine Zeit ausfüllt? Ich meine, was er iſt und was er tut? Er ſcheint mir doch noch viel zu jung, um ohne Erwerb in der Welt umherzuziehen.“

„Soviel ich weiß, iſt er gelernter Ingenieur. Jetzt übt er ſich in Johannisthal als Flieger ein.“

„Welches Intereſſe kann es für dieſen Mann haben, ob ich bei der Talbot war oder nicht? Er kennt ſie, das iſt ſicher. Weshalb erkundigt er ſich nicht an Ort und Stelle? Oder war die Nachfrage bei Ihnen nur ein Vorwand? Vielleicht zieht ihn etwas anderes in dieſes Haus?“

Die Augen ſo blau wie Kornblumen begegneten den Blicken des jungen Vankbeamten völlig harmlos. Offenbar hatte Anna Kemnitz in ihres Herzens Un- berührtheit gar nicht verſtanden, worauf der Beſucher hinzielte. „Ich wüßte nicht, was ihn außer der Neu- gier herführen ſollte.“

„War an Ihrem Geburtstag nicht die Rede davon, daß Herr Schwenndieck mit Hilfe von Geiſtern das große Los gewinnen wollte?“

„Mutter ſagt es. Sie ſprachen öfter von dergleichen Dingen. Herr Schwenndieck hatte wirklich manchmal ſonderbare Anſichten.“

„Fröhden nicht?“

„Nun ja der redete auch mit. Das ging nur ſo durcheinander von Spiritismus und Okkultismus und zeitlichen Fernwirkungen wer ſoll das alles behalten!

1918. XII. 2

18 Und nähme ich Flügel der Morgenröte

Er fing ja neulich ſchon wieder davon an. Dagegen iſt doch das Kartenlegen eine ganz harmloſe Sache. So eine Art Zeitvertreib. Man braucht ja nicht zu glauben, was ſo eine alte Hexe ſagt.“

„Wann iſt Fröhden eigentlich nach Paris abgereiſt damals? Oder wiſſen Sie es nicht?“

„Reichlich acht Tage bevor Herr Schwenndieck nicht wieder nach Haufe kam. Genau kann ich's nicht ſagen, aber es war eine ganze Zeit vorher.“

Walter überlegte, ob er jetzt von ſeiner Aufgabe ſprechen ſollte. Zeit und Ort waren ſo günſtig wie denkbar. Er ſchwieg dennoch ohne Falſchheit. Es war kein Verdacht irgend einer Art, der ihm den Mund ſchloß. Er durfte die kriſtallklare Seele dieſes jungen Mädchens nicht mit ſchwarzen Möglichkeiten beun- ruhigen, für die jeder Beweis fehlte.

Draußen im Korridor ging die Tür. Frau Kemnitz kehrte heim.

„Vergeſſen Sie nicht in der Konditorei nächſten Freitag!“ konnte Anna eben noch ſagen. Ihr ganzes Geſicht ſtrahlte vor Freude über das harinloſe Geheim- nis. Sie war wirklich noch ein Kind in Herz und Ge- danken.

Zur feſtgeſetzten Zeit ſaß Walter Schmidt Sturm- ſtraße 69 B gegenüber der Frau im Lehnſtuhl. Dies- mal benützte die Talbot andere Karten, das Verfahren war aber im übrigen dasſelbe. Dennoch konnte ſich der Beſucher des Eindrucks nicht erwehren, als ſei eine Anderung eingetreten ſeit ſeinem erſten Beſuch. Wohl fühlte er wieder das Geheimnisvolle um ſich, aber es hatte nichts Schreckhaftes mehr. Selbſt die Luft ſchien weniger ſchwer, und ſein Kopf blieb freier. Vielleicht war's damals auch nur das Neue, Ungewöhnliche

Kriminalroman: von Theodor Nabelitz 19

geweſen, das heute ſich nicht mehr ſo eindrucksvoll zeigte. |

Als alles vorbereitet war, ruhten die Blicke der Wahrſagerin längere Zeit auf den bunten Blättern, um ſich dann zum Geſicht des Beſuchers zu erheben. Dabei ſchien es Walter, als ob ihn die Frau heute anders anſähe als beim erſten Beſuch. In den nachtſchwarzen Augen glomm ein eigenes, mildes, faſt inniges Licht. Auch die Stimme ſchien verändert. Die Worte hatten einen Klang von innerem Frohlocken und kamen doch mild und einſchmeichelnd über die Lippen.

„Ihre Zukunft liegt roſig vor Ihnen. Das Glück wartet auf Sie. Reichtum und Liebe —“

Sie ſtockte. Wieder ruhten die Augen der Wahr- ſagerin ſinnend und warm auf dem Geſicht des Mannes.

„Von aller Unraſt der Zeit heilt Sie ein Weib. Eine Dame tritt in Ihr Leben bald. Noch kennen Sie ſie nicht Jugend und Schönheit umfließen Sie beide Jugend und Schönheit, Reichtum und Glück, wohin ich ſehe.“

Sie ſtand auf, um Walter damit anzudeuten, daß die Sitzung beendet ſei.

Als er die Straße erreichte, wollte er lachen, konnte aber nicht. Das war doch dasſelbe Lied, das wahr- ſcheinlich da oben allen geſungen wurde! Aber in den Augen der Frau hatte etwas geglommen, das in ihm fortleuchtete, in den Worten lag ein Klang, der in ihm nachhallte.

Walter ſtrich mit der Hand über die Stirn. Sirenen klänge, hervorgelockt durch die Sucht nach Gewinn! Fort damit! Diesmal hatte Fröhden die Wahrſagerin ſicher nicht beeinflußt, das lag auf der Hand.

In der Konditorei wartete Anna Kemnitz.

20 And nähme ich Flügel der Morgenröte

„Nun? Wie war es, Herr Schmidt? . hat ſie gejagt?“

Er zuckte die Achſel. „Nachdem ich die Melodie ge- hört, erkenne ich fie wieder aus der Zeit, in der mir Märchen Wirklichkeit bedeuteten. Ehrlich geſtanden, ich bin enttäuſcht.“ i

„Aber warum denn? Erzählen Sie doch!“

„Das Glück wartet auf mich roſenrot Zugend und Schönheit Reichtum und Liebe! Das alte Lied, womit man Kinder in Schlaf lullt und klügere Leute trunken macht, daß ſie träumen in ſüßem Nichtstun. %

„Und dann find Sie enttäuſcht!“

„Nach dem vielverſprechenden Anfang vor acht Tagen hatte ich eigentlich etwas anderes erwartet.“

„Jugend und Schönheit, Reichtum und Liebe etwas Beſſeres können Sie ſich doch gar nicht wünſchen.“

„Nun, man beſitzt noch nicht, was einem ein Zi- geunerweib in Ausſicht ſtellt.“

In ihrer Wohnung ſaß die Wahrſagerin nachdent- lich im Lehnſtuhl. Vor ihr ſtand der hagere Mann, der Walter als Türhüter entgegengetreten war.

„Was haſt du eigentlich mit dieſem Lehmann im Sinn, Urſel?“ fragte er.

„Mit welchem Lehmann?“

„Meinethalben alſo mit Herrn Schmidt, der eben hinausging. Du weißt doch, wen ich meine!“

„Aber ich weiß nicht, wie du auf die Frage kommſt.“

„Ich habe mir erlaubt, nebenan ein wenig zu horchen. Da verſtand ich einiges, aber nicht alles.“

„Und nun?“

„Was du ihm geſagt haſt, bleibt ſich im Grunde gleich Speck, mit dem wir fette Mäuſe fingen, ſeit unſer Aufſtieg begann. So müßte es auch mit dieſem

Kriminalroman von Theodor Kabelitz 21

Manne ſein. Aber dein Ton, Urſel, die Stimme, mit der du ſprachſt, das war nicht mehr die kalte Pythia, das war Urſel perſönlich, das war das Weib, das ſeine eigenen Wünſche in die Form einer Weisſagung kleidet. Sag es ehrlich, Urſel! Siehſt du dieſen Mann anders an als andere Männer?“

„Und wenn ich es täte?“

„Müßte ich es bedauern.“

„Und dann?“

„Ariel, kleine Urſel, muß ich dich an alte Zeiten er- innern, als wir beide allein zurückblieben in der Welt, du in einem Kartoffelkorb, der deine Wiege war, und ich daneben als zehnjähriger Junge! Keine Seele, die um uns bangte! Lauter Hände, die ſchlugen und ſtießen, keine einzige, die ſtreichelte. Du und ich, wir beide allein, immer allein! Allen eine Laſt, niemand eine Luſt! Seit jener Zeit iſt meine Schweſter das einzige Weib, der einzige Menſch, den ich liebe.“

„Ich weiß es, George.“

„Dann kam der Tag, an dem eine rohe Fauſt mich mißhandelte, weil ein anderer etwas verkehrt gemacht hatte. Am Abend nahm ich dich bei der Hand, führte dich fort auf deinen trippelnden Füßchen, trug dich auf meinen Armen, wenn du müde wurdeſt, ſtahl für dich, wenn du Hunger hatteſt. So begann unſere Wander- ſchaft. Du noch ein Kind und ich nicht viel mehr.“

„Ich weiß es, George, und danke es dir noch heute.“

„Mit fahrenden Leuten ging's durch die Welt, hier- hin und dorthin. Du lernteſt mit meinen Augen ſehen, mit meinem Kopfe denken, mit meinem Herzen ver- achten, bis wir uns auf eigene Füße ſtellten, du und ich, wir beide allein, ohne Freund, ohne Vertrauten, nur wir beide. Weißt du das noch, Urſel?“

„Ich weiß es, George.“

22 Und nähme ich Flügel der Morgenröte

nn,

„Damals kam jenes alte Buch in unſere Hände. Weißt du es noch? Das verſchlangen wir beide wieder und immer wieder. Da ging uns das Ziel auf. Das doppelte Ziel: Rache und Reichtum! Rache an der Geſellſchaft, die uns mißhandelt hat, Reichtum, um ſie uns zu Füßen zu werfen! Noch iſt es nicht erreicht. Wir dürfen nicht rechts blicken und nicht links. Für uns gibt es keinen Freund, der unſere Geheimniſſe kennt, keinen Vertrauten und Helfer, der uns verrät. Wir dürfen keine Liebe fühlen, die uns ablenkt vom Wege. Du und ich, wir beide, nur wir beide, immer wir beide. Was neben uns liegen bleibt, worüber wir hinſchreiten, das ſind Schlacken. Keinen Blick zur Seite, keinen Blick zurück! Vor uns liegt das Ziel: Rache und Reichtum! Wer ward groß, deſſen Weg nicht über Leichen führte? unentwegt geradeaus, unter die Füße getreten, wer ſich in den Weg ſtellt! So haben wir es gehalten bis heute. Suchſt du jetzt ein Schäferidyll? Zu ſpät, Urſel! Nur du und ich, wir beide, nur wir beide! Zu uns kann niemand gehören. Wir haben eine Scheidewand aufgerichtet zwiſchen uns und den anderen.“

„Weshalb haſt du den Mann zu mir gebracht? Unfere Zelte waren abgebrochen, die Firma Talbot gelöſcht. Ohne dich hätte er den Weg hierher nicht gefunden. Zu holen iſt nichts bei ihm. Nun kehre ich die Frage um: Weshalb brachteſt du ihn her? Was haſt du mit ihm im Sinn?“

„Es mußte mich intereſſieren, was man in jenem Haufe ſprach und dachte. So ging ich hin und ſah den neuen Mieter. Er ſpielte ſich auf als ſtarker Geiſt, ge- brauchte heftige Worte. So hielt ich es für angebracht, mich nach ſeiner Perſon zu erkundigen. Er gehört zur Sippe des Alten, der früher dort wohnte. Warum ver-

Kriminalroman von Theodor Rabelit 23

ſchwieg er es den Wirtsleuten? Er will heimlich forſchen und Spuren ſuchen. Grund genug, ein Auge auf ihn zu haben. Ich gab dir Fingerzeige, daß er ſich in deinen Worten erkennen mußte, mochte er Vergangenheit oder Zukunft wählen. Zu Hauſe hat er nichts von ſeinem Hierſein gefagt, ich fragte dort nach. Er iſt ein Heim- licher, und ſolche Leute können gefährlich werden. Ich hoffte, er ſollte hier Fragen ſtellen, woraus ſich ſeine Pläne erraten ließen. Meine Erwartung hat ſich nicht erfüllt. Keinen Schritt bin ich weitergekommen. Da- gegen haſt du dich ſelbſt gebunden.“

„Noch tat ich nichts dergleichen.“

„Wirſt du es auch in Zukunft nicht tun? Bedenke den Einſatz, Urfel! Es geht um mehr, als was eine Laune wert iſt. Dieſer Zwiſchenfall hier muß ab- geſchloſſen ſein. Wir geben dieſe Räume auf, wie wir's auch anderswo getan. Du behältſt dein Heim für dich unter anderem Namen, ich desgleichen. Dann iſt jede Spur ausgelöſcht. Biſt du einverſtanden?“

„Unternimmſt du weiteres gegen den Mann?“

„Solange uns keine unmittelbare Gefahr von ihm droht nein!“ |

„Wirſt du es mir vorher jagen, wenn du etwas gegen ihn unternehmen mußt?“

„Falls es zu deiner Beruhigung dient ja.“

„Unter dieſer Bedingung bin ich einverſtanden.“

„Gib mir die Hand, Urſel! Du und ich, wir beide allein, wie bisher! Es iſt mir ganz lieb, daß die Sache hier wieder ein Ende hat. In der Tiergartenſtraße gibt's demnächſt Arbeit genug. Wir müſſen verſuchen, die Sache zu beſchleunigen, damit uns von jenſeits des Ozeans keine Überraſchung kommt.“ |

„Sit fo etwas überhaupt möglich?“

„Man muß auch das ſcheinbar Unmögliche ins Auge

24 Und nähme ich Flügel der Morgenröte

faſſen, wenn's ungünſtig iſt. Man bleibt dann ror böſen Rechenfehlern bewahrt.“

Die Wogen des Ozeans folgen einander, durch- brechen einander, verſchlingen einander, aber ſie gleichen ſich nicht. Kein Tropfen kennt den anderen, grüßt den anderen, ſorgt um den anderen. Jeder ſucht ſeinen Weg.

So iſt Berlin.

Im Oſten iſt die Menſchenwelle rauher geartet als im Tiergartenviertel. Rußige Fabrikſchornſteine blicken herab auf den wimmelnden Schwarm, der in Arbeits- kleidern mit ſchwieligen Händen ſein Werk angreift, daß in den Köpfen kein Raum bleibt für überflüſſige Ge- danken. |

In Berlin W fchauen ſchmucke Villen zurückhaltend durch das Grün der Blätter auf die Schlacht der Schmet⸗ terlinge, die jenſeits des verſchnörkelten Eiſengitters am Garten Süßigkeiten aus der Lebensblüte ſaugen.

Auch die geiſtigen Strömungen, die das Leben ge- ſtalten, ſind andere, wo der Laſtwagen mit dicken eiſernen Radreifen das Pflaſter ſchlägt, als wo das Gummirad geräuſchlos über den Aſphalt rollt. Drüben in Räumen voll Menſchen und Tabaksqualm lauter Streit der Mei- nungen über die realſten Dinge des Lebens, hüben in kleineren Kreiſen hinter geſchliffenen Fenſterſcheiben ſpintiſierende Gedanken von jenſeits der Grenzen, die dem menſchlichen Verſtande gezogen ſind.

Organiſation dort Senſation hier.

Wieder einmal erwartete die gläubige Schar der Okkultiſten mit flüſternder Sehnſucht ihre neueſte Sen- ſation. Mr. Sled ſollte ſie bringen. |

Er ſtammte aus Amerika, woher alle großen Leuchten kommen, deren Licht jenſeits der Grenzen menſchlichen Erkennens am hellſten ſtrahlt.

Kriminalroman von Theodor Kabelitz 25

Auf ſeiner Rundreiſe um den Erdball war Mr. Sled bis nach England gelangt. Von dort aus ſetzte er ſich mit Frau Konſul Götze in Verbindung, deren Teilnahme für die „gute Sache“ ihm bekannt geworden war. Unter dem Ehrenvorſitz dieſer Dame bildete ſich alsbald ein Ausſchuß, der die Vorarbeiten für Mr. Sleds Auftreten ungeſäumt in die Hand nahm.

Da Mr. Sled ſich nicht mit grob materiellen Dingen befaſſen konnte, hatte er einen Herrn Fröhden als ſeinen Berliner Vertrauensmann bezeichnet. Durch dieſen gelangten die Verhandlungen verhältnismäßig ſchnell zum Abſchluß.

Es leuchtete ein, daß Mr. Sled während feines Ber- liner Aufenthalts weder in einer Penſion noch in einem Hotel Aufenthalt nehmen konnte. Dort wie hier war viel zu viel Lärm und Störung, durch die der Herr ſeinen überſinnlichen Studien entzogen wurde.

Da man auch eines verſchwiegenen Verſammlungs- raumes benötigte, wurde in der Tiergartenſtraße für die erforderliche Zeit eine leerſtehende Villa gemietet. Ein Möbelverleihgeſchäft übernahm es, für Sled einige Zimmer auszuſtatten und was ſonſt nötig war zu beſorgen.

Die Darbietungen konnten natürlich nicht umſonſt ſein, denn dazu iſt eine Rundreiſe um die Erdkugel zu teuer, auch laſſen ſich Geiſter nicht umſonſt anrufen. Anderſeits wollte man weder die Öffentlichkeit noch das weitere Publikum mit der Sache befaſſen. So ließ der Ausſchuß in den beteiligten Kreiſen unter der Hand eine Liſte herumgehen, in die jeder ſeinen Beitrag einzeichnete und dafür Anweiſungen auf Plätze in Emp- fang nahm. Da ſich's um ganz außerordentliche, nie geſchaute Dinge handelte, kam eine hübſche Summe zu- ſammen, die nach Abzug der Koſten für die Villa dem Vertrauensmann Sleds überreicht wurde.

26 Und nähme ich Flügel der Morgenröte

Außerdem aber war, echt amerikaniſch, auf An- regung des Herrn Fröhden am Eingang eine Sperre angebracht, ſinnreich und einträglich zugleich. Wer die ſchwere Eingangspforte der Villa durchſchritten hatte, fand ſich drinnen vor einer zweiten Tür ohne Drücker. An deſſen Stelle war ein Automat angebracht, der den Zugang nach Einwurf eines Zwanzigmarkſtücks felbit- tätig öffnete und ſchloß. Dieſe Summe bildete das Eintrittsgeld für die Sitzung. |

Fröhden ſelbſt erhielt natürlich für Sled einen Schlüſſel ausgehändigt.

Auf dieſe Art war man völlig gegen den Zutritt un- berufener Perſonen geſichert. | Als Sled in aller Stille eintraf, durfte er in der Villa ungeſtört ſeinen Studien obliegen und anderen Dingen, die er etwa für nötig halten ſollte, nachgehen. Es be- durfte angeſtrengter geiſtiger Sammlung, um Seele und Leib für den großen Tag in die rechte Verfaſſung zu ſetzen. Fröhden unterbreitete dem Ausſchuß den Willen des großen Mannes, daß er jeden Beſuch höflich, aber beſtimmt ablehnen müſſe, damit er durch nichts

von ſeiner ſeeliſchen Hingabe abgelenkt würde.

Drei „Sitzungen“ waren in Ausſicht genommen. In der erſten entwickelte Sled in geiſtvoll feſſelnder Form die Organiſation des Geiſterreichs. Wer ihn geſehen und gehört hatte, wollte zwei Tage ſpäter nicht fehlen, als in nicht minder überzeugenden Worten über den Gegenſtand geſprochen wurde: Einfluß der abge- ſchiedenen Seelen auf die Menſchenwelt. Und nun, wieder zwei Tage ſpäter, ſtand die größte Senſation unmittelbar bevor. Sled wollte feine perſönlichen Be- ziehungen zur Geiſterwelt enthüllen.

An dieſem letzten Vorgang ſollte die Zuhörerſchaft im hohen Grade beteiligt werden. Sled wollte nicht

Kriminalroman von Theodor Kabelitz 27

irgend einen Geiſt aus vergangenen Jahrhunderten rufen, den niemand kannte nein, die Beſtimmung ſollte in die Hände der Erſchienenen gelegt werden oder vielmehr in das gläubige Verlangen jedes einzelnen. Im gegebenen Augenblick würde Sled das Zeichen geben. Dann hatte jeder Anweſende ſeine Gedanken mit ganzer Seelenkraft auf ein ihm liebes Weſen zu richten. Wem es gelang, in der Selbſtverſenkung den höchften Grad zu erreichen, den geliebten Geiſt am innigſten zu umfaſſen, dem würde er ſich „manifeſtieren“ in der Lage, in der er ſich gerade befand, aber nicht nur dem Beter nein, der ganzen Zuhörerſchaft in gleicher Weiſe, völlig und deutlich ſichtbar.

Auch Geiſter wiſſen die Fortſchritte der Technik zu nützen. So hatte Sled durch Fröhden verlautbart, daß die Zitation nicht ſtattfinden würde durch Tiſch- rücken und Klopftöne oder herabfallende Blumen oder auf andere, veraltete Art. In ganz neuzeitlicher Weiſe würde ſich der Geiſt in leiblicher Geſtalt auf einer Lein- wand darſtellen, fo etwa wie im Kino Bilder dar- geſtellt werden. Doch nur die Leinwand mußte man dem Geiſte bieten. Auf jede Lichtquelle wurde ver- zichtet. Geiſter haben ihr eigenes Licht und bedürfen keiner Projektionslampe. Wer am innigſten gerufen wurde, deſſen Licht ftrahlte am hellſten, der ward ficht- bar. Wer nicht ſichtbar wurde, war eben nicht in- brünſtig genug gerufen worden.

Dagegen ließ ſich nichts ſagen. Jeder hatte den Schlüſſel zum Geiſterreich ſozuſagen in der eigenen Hand. Wenn er ihn nicht zu benützen verſtand Sled war jedenfalls nicht verantwortlich dafür.

Im Hinblick auf dieſe letzte, größte, nie dageweſene Senſation war es wohl begreiflich, daß Teilnehmer an dieſer Sitzung, die einen der vorangegangenen Vor-

28 And nähme ich Flügel der Morgenröte . ———ñ— . x .:... ä

träge oder gar alle beide aus irgend einem Grunde ver- ſäumt hatten, das Eintrittsgeld nachbezahlen mußten. Leute, denen das zuviel deuchte, wünſchte Sled grund- ſätzlich nicht zu ſeinen Füßen ſitzen zu ſehen.

Seit acht Uhr war die Gartenpforte in der hohen Einfriedigung aus Gußeiſen nur angelehnt. Alsbald verſchwanden in wechſelnden Zwiſchenräumen dunkle Geſtalten unauffällig durch den Vorgarten nach der Villa hin. Jenſeits der automatiſchen Tür befand ſich die Garderobe. Dort walteten zwei Damen und zwei Herren vom Ausſchuß ihres Amtes. Sie nahmen die Eintrittskarten in Empfang und machten ſich nach Um- ſtänden nützlich. Auf die Einſtellung bezahlter Kräfte war aus Gründen der Verſchwiegenheit grundſätzlich verzichtet worden. Fröhden, der an dieſer Stelle wirken wollte, hatte wegen plötzlicher Erkrankung ſchon die beiden erſten Vorträge verſäumen müſſen und war leider noch immer nicht geneſen.

In dem großen Hauptſaal glühten die elektriſchen Flammen. Eine ältere Dame, völlig in Schwarz ge— kleidet, begrüßte daſelbſt die Eintretenden mit einer ſtummen Verbeugung. Damen und Herren ſtanden in zwangloſen Gruppen beiſammen oder nahmen Platz auf den Stühlen, die in Reihen aufgeſtellt waren. Wo eine Unterhaltung ſtattfand, erklangen die Worte nur flüfternd. Aller Augen ſtreiften, ſei es neugierig oder voll ſcheuer Ehrfurcht, wenigſtens einmal die Leinwand, die zurzeit hinter dem Rednerpult aufgerollt an der Oecke hing.

Oer metallene Ton eines Gongs hallte durch das Haus. Ein einziger Schlag nur.

Oer äußere Eingang wurde verſchloſſen. Damen, die noch nicht Platz gefunden hatten, beeilten ſich, zu ihren Sitzen zu gelangen. Eine Anzahl Herren

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zog es vor, hinter den Stuhlreihen Aufſtellung zu nehmen. i

In der Mitte, nahe der Wand, ſtand das Pult für Sled. Eine ſchwarze Decke war darüber gebreitet. Hinter dem Pult die Wand mit dunkler Tapete, im übrigen glatt und kahl. Nur oben, in der Kehle, wo Wand und Dede zuſammenſtießen, die erwähnte Lein- wand auf einer Rolle. An jeder der beiden Ecken ein Gewicht, um die Fläche glattzuziehen.

Im Vordergrund links hatte ſich die Empfangsdame niedergelaſſen. Das dunkle Haar lag in glattem Scheitel um die Stirn. Eine Harfe lehnte ſich an ihren Schoß. Vor ihr, auf ſchwarzem Sockel, brannte ein einzelnes Licht.

Und wieder der volle Metallton des Gongs. Zwei Schläge diesmal.

Selbſt die geflüſterte Unterhaltung erſtarb. Zwei Herren vom Ausſchuß gingen nach vorn. Sie rollten die Leinwand ab, bis ſie ſtraff an der Wand hing, zogen ſie dann aber wieder in die Höhe, daß alles war wie zuvor. Die Wand dahinter zeigte die dunkle Tapete glatt und kahl. Jeder wußte jetzt, daß ſich hinter der Leinwand nichts verbarg, ſich nichts verbergen konnte.

Und zum letzten Male der metallene Klang des Gongs. Drei Schläge.

Mächtige Akkorde der Harfe, lang verhallend. Der Glanz des elektriſchen Lichtes ſank auf halbe Stärke. Unbörbar öffnete ſich eine Seitentür. Sled trat in den Saal, ſchritt zum Pult, ohne Haft, ohne theatraliſche Bewegung, ſtand vor ſeinen Zuhörern hoch aufgerichtet und ſtraff. Ein ſchwarzer Talar umfloß die Geſtalt, ſchneeweiß rieſelte der Bart hinab zur Bruſt, fchnee- weiß rollten die Locken vom Haupt auf Schultern und Nacken. Weiß wie Schnee auch das Geſicht, in dem

3⁰ Und nähme ich Flügel der Morgenröte

zwei dunkle Augen Feuer ſprühten und die roten Lippen glühten.

Gewaltig rollten die Akkorde der Harfe zum letzten Male auf und erſtarben dann leiſe verklingend.

Sled begann zu ſprechen. Seine Stimme war Wohllaut, ſeine Worte Muſik. Wie ein Gewinde aus duftigen Blumen ſchlang ſich der Rede Bau um Herz und Sinne der Hörer, daß die Gedanken einſchlummerten und nichts übrigblieb als berauſchendes Wohlempfinden. Jene paradieſiſchen Tage wurden lebendig, als der Menſch eins war mit der Natur und ihre Sprache ver- ſtand, die Sprache der Tiere, die um ihn waren, die Sprache der Geiſter, die zu ihm redeten aus jedem Buſch und jedem Baum. Die Tiere lebten zuſammen wie Kameraden. Löwen und Tiger lagen wie Lämmer zu den Füßen des ſündloſen Menſchen. Dann entſchwand das Paradies den Menſchen, aber es ſchwand nicht von der Erde.

Tief in Indien, von einem Zauberwald umſchloſſen, den Menſchenfüße nie durchſchritten, Menſchenaugen, trüb durch den Fall, nur im Traum noch durchdringen, dehnt ſich der Garten Eden. An ſeinen vier Strömen wohnen die ſeligen Geiſter, die den groben Erdenleib nebſt allen Mühen und Plagen abgeſtreift haben. Sie leben daſelbſt in paradieſiſchen Wonnen. Der Zauber- wald hält ſie nicht feſt, wie er den ſterblichen Menſchen hindert. Sie finden den Weg zu uns, wenn wir ſie zu rufen verſtehen mit reinem Herzen. Dazu bedarf’s der Verſenkung in ſich ſelbſt, des völligen Vergeſſens der Welt, der Hingabe an einen einzigen Geiſt.

Dieſer Kraft, die die Geiſter bezwingt und den Wider ſtand der Materie beſiegt, war ſich Sled für ſeine Perſon in Indien bewußt geworden, als er Jahrzehnte im Ur- wald lebte. Im Schatten eines Baumes, der tiefen-

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haft aus vergangenen Jahrtauſenden herüberragte, legte er ſich nieder, eine Stunde zu ruhen oder auch zwei. Da erwachte um ihn her, was die Poeſie des Morgenlandes in die Sage geſponnen, was das Abend- land in duftige Märchen gewoben. Wirklichkeit war's, doch nur für ihn ſelbſt. Die Geiſter waren lebendig, Feen und Elfen umtanzten ihn. Sled lebte mit ihnen, lernte ihre Sprache, begriff die Art ihres Seins, die heiligen Geſetze, denen auch ſie unterſtehen vom Anfang an.

Als er aufwachte nach kurzem Schlummer, wie er meinte, war die Geiſterwelt verſchwunden. Aber zu- rückkehrend unter die Menſchen, kannte er niemand mehr, er ſelbſt war vergeſſen von ſeinem Geſchlecht. Eine andere Welt war geworden, während er zu träu— men meinte im Zauberwalde. Er fand ſich allein, ganz allein. Voll Trauer über ſeine Einſamkeit, rief er die Geiſter, die um ihn geweſen unter dem Baum aus der Vorzeit und ſie kamen! So ward er ſich ſeiner Kraft bewußt.

Das Mitleid mit ſeinem Geſchlecht lehrte ihn, ſie in den Dienſt der Brüder und Schweſtern zu ſtellen. Seitdem durchzog er die Welt, ein Künder ſeiner ſelbſt, ein Prieſter der Geiſter. Wer ſich mit ihm vereinte, ſich verſenkte mit ihm und durch ihn, dem mußte der Geiſt erſcheinen, den er herbeizwingen wollte.

Unter den vielen Leuten, die heute gekommen waren, ſollte dem die Palme zufallen, der ihm am weiteſten zu folgen vermochte auf dem Wege völliger Selbſtvergeſſenheit.

Die beiden Herren vom Ausſchuß gingen nach vorn, und wieder rollte die Leinwand mit leiſem Rauſchen hinab, bis ſie feſt und ſtraff an der Wand hing. Dann begaben ſich die zwei zurück auf ihre Plätze. Die elektriſchen Flammen fchalteten ſich aus, eine

32 And nähme ich Flügel der Morgenröte

nach der anderen, bis milde Dämmerung den ganzen Raum erfüllte. Endlich erloſch auch die letzte der Glüh- birnen. Nur die eine Kerze vor der Dame mit der Harfe brannte noch. Der ſchwarze Sockel, auf dem ſie ſtand, verſchwand in der Dunkelheit. So ſchien ein Punkt lebendigen Feuers in der Dunkelheit zu leben.

Leiſe Töne rannen durch den Raum, wie wenn Geiſterflügel über die Harfe ſtrichen. Da erloſch auch die einſame Kerze. Purpurne Finſternis überall, nur das bleiche Geſicht über dem Pult blieb erkennbar, Haare und Vart durchzittert von phosphoreſzierendem Licht. Der übrige Körper war verſchwunden.

Ein Schauer rann durch die Seele der atemlos harrenden Menſchen. Niemand vermochte zu denken. Nur ſtarren konnten fie, mit zitternden Nerven hin- ſtarren auf das geiſterhafte Geſicht mitten in der ſchwarzen Nacht.

Noch immer zitterten die Harfenklänge wie Geifter- hauch. Der Mund in dem weißen Geſicht öffnete ſich zu einem Geſang. Eine Melodie, die niemand jemals gehört, Worte, die keiner verſtand. Eine Anrufung war's wohl für die Geiſter, die das Dunkel durch- ſchwebten. Dann ſchwieg der Geſang, aber die Akkorde der Harfe brauſten gewaltig empor. Zugleich gewahrten die Hörer, daß das weiße Geſicht dort vorn mit ſeinem Glorienſchein nach unten verſchwand, gleichſam unter- ging in Finſternis.

Die Klänge der Harfe brandeten immer mächtiger. Kein anderer Ton ward vernehmbar.

Wie viele Minuten verſtrichen wer wollte es ſagen! Am allerwenigſten die Menſchen in dem grabes- dunkeln Raum, den auch nicht die Spur eines Lichtes, woher auch immer, durchfloß. Die Ekſtaſe hielt Atem und Sinne gefangen. Nur wenige erinnerten ſich, daß

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ſie ſich in ſich ſelbſt verſenken, einen Geiſt mit aller Kraft ihrer Seele umfaſſen und zur Erſcheinung zwingen ſollten.

Die brauſende Gewalt der Harfenklänge ebbte ab zum leiſeſten Pianiſſimo. Oben über die Häupter der tegungsloſen Hörer ging es hin, ein Hauch, ein Seufzer aus angſtvoller Menſchenbruſt: „Komm! O komm!“

Auf der Leinwand, ſtraff an der Wand, begann ſich's zu regen von geheimem Leben. Lichtreflexe, kaum wahrnehmbar, huſchten darüber hin wie Geifter- ſpuren. Immer deutlicher, immer häufiger wurde der huſchende Schein, wie wenn der dünne Stoff ſich innen mit Helligkeit erfüllte. Licht und Schatten kämpften mit- einander. Dann ſtand es vor den Augen der Schauen- den, in jeder Einzelheit allen klar erkennbar. Selbſt der Atem wurde ſtill in der pochenden Menſchenbruſt.

Ein Gemach war's. Im Halbkreis tropiſche Pflan- zen als Trauerausſchmückung. Inmitten dieſes Halb- runds auf dunklem Katafalk ein offener Sarg, brennende Lichter zu ſeinen Häupten, an der Seite ein junges Weib, die Hände verſchlungen, das Haupt gebeugt in herzbrechendem Jammer. Im Sarge ſelbſt der Tote mit bleichen, ſtarren Zügen, dahingerafft in der Blüte der Jahre. N |

Und über dem allem geiſterhaftes Licht.

In der Dunkelheit des Saales löſte ſich ein Weh laut aus weiblichem Munde, ein tiefſter Bruſt ent- quellendes Stöhnen. Dann gellte es herzzerreißend durch die Dunkelheit: „Mein Sohn! Mein Sohn!“

Ein dumpfer Fall.

In der nächſten Minute flammte das Licht auf im Saal. Das Bild auf der Leinwand war verſchwunden. Mitleidige Hände beſchäftigten ſich mit der Ohn- mächtigen. |

1018. XII. | | 8

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In dem Eingang zum Nebenraum, deſſen Tür er halb geöffnet hielt, ſtand Sled. Bei der allgemeinen Erregung hätte niemand ſagen können, ob er ſchon länger daſelbſt verweilte oder wie er dorthin gekommen. Sein Geſicht war unbewegt, die Stimme völlig ruhig.

„Bitte, hier herein!“ ſagte er.

Die Empfangsdame hatte ihre Harfe an den Stuhl gelehnt. Nun ſchritt fie voran in das anſtoßende Ge- mach, wo man die noch immer Bewußtloſe auf einer Ottomane niederlegte. Außer der Empfangsdame blieben noch etliche Damen der Geſellſchaft zu ihrem Beiſtand zurück.

In dem völlig erhellten Saal ſtanden die Herren in Gruppen beieinander. Mit halblauter Stimme be- ſprach man den Vorfall. |

Die ohnmächtige Dame war Frau Konſul Götze, die eifrige Förderin der Sitzungen. Drüben in Rio war ihr einziger Sohn bei einem Probeflug abgeſtürzt und ſchwer verletzt worden. Ein Telegramm hatte es vor einiger Zeit gemeldet. Weitere Nachrichten fehlten fehlten bis heute! Vor wenigen Minuten war nun die fehlende Nachricht eingetroffen. Jeder Irrtum war ausgeſchloſſen. Alle hatten geſehen und konnten be- zeugen, der Tote hatte ſich ſelbſt angekündigt.

Die Tür zum Nebengemach öffnete ſich. Die Emp- fangsdame ſprach einige leiſe Worte zu Sled, der ſich alsbald an die Verſammelten wendete.

„Der Unfall hat keine weiteren Folgen. Die be- klagenswerte Dame iſt bereits wieder bei Bewußtſein und tritt in Begleitung einer Freundin ſoeben den Heimweg an. Ih wünſche den Herrſchaften gute Nacht.“

Eine Viertelſtunde ſpäter lag die Villa dunkel und verlaſſen.

Kriminalroman von Theodor Kabelitz 35⁵ Der Hochſommer ſetzte kräftig ein. Die Glücklichen, denen Zeit und Geld eine Reife erlaubten, zogen an die See oder ins Gebirge, aber noch Millionen blieben zwiſchen den hohen Steinmauern Berlins, wo ſie trotz Staub und Sonnenbrand Tag für Tag über die heißen Steine der Bürgerſteige ihrem Erwerb nachgehen mußten. Wer es konnte, ſuchte wenigſtens am Abend einen der großen Biergärten auf, an denen in den äußeren Straßenzügen kein Mangel iſt. Bei Konzert und einem kühlen Trunk durfte man ſich einbilden, irgendwo fern von Berlin im Kurgarten zu ſitzen.

Eines Abends ſchloß ſich Walter Schmidt den Damen Kemnitz an. Bald ſaßen die Hausgenoſſen unter den dichtbelaubten Linden in einer Gartenwirtſchaft.

Über den Köpfen flüſterten die Blätter. Note, blaue, gelbe Lämpchen ſchwangen ſich in bunten Linien wie Blumengewinde an den Kieswegen entlang. Die Trompeten jauchzten in luſtigen Meilen. Die Herzen waren froh und leicht.

Walter wollte eben das Glas an den Mund ſetzen, als ein Blitz aus den nachtſchwarzen Augen einer vor- überſchreitenden Dame ſein Geſicht ſtreifte. Der aufgehobene Arm blieb in der Schwebe. Der ganze Mann ſaß wie erſtarrt. Wo hatte er dieſe Augen ſchon geſehen?

Anna Kemnitz ſah ihren Hausgenoſſen erſtaunt an. Da lachte fie leiſe. „Können Sie Rätſel raten, Herr Schmidt?“

Er inupte ſich erſt beſinnen. „Rätſel? Ich weiß nicht —‘

„Verſuchen Sie's einmal!“ rief Anna lachend. „Wel- cher Unterſchied iſt zwiſchen Ihnen und Lots Weib?“

„Swiſchen mir und Lots Weib? Ih weiß wirk- lich nicht

„Ich will's Ihnen ſagen: Gar keiner! Sie er- ſtarrten alle beide zur Salzſäule.“

Walter ſetzte jetzt das Glas an den Mund und trank. Dann neigte er ſich ein wenig zu feiner Nach- barin und fagte mit gedämpfter Stimme: „Fräu- lein Anna, ich möchte Ihnen etwas ſagen. Aber ich bitte Sie vorher, ſich nicht auffällig umzuſehen. Am fünften Tiſch hinter Ihnen ſitzt eine Dame mit ſchwarzen Augen neben einem Herrn. Ich muß ihr ſchon einmal begegnet fein, ich weiß nur nicht wo. Die Dame ging eben vorüber. Ihr Blick war es, der mir auffiel. So! Nun wollen Sie ſich umwenden. Neben dem Herrn mit dem grauen Badenbart.“

Anna Kemnitz tat, wie ihr geſagt war. Als ſie ſich wieder zu ihrem Tiſchnachbar wendete, ſchien ſie einen Augenblick nachzuſinnen. „Die Dame dort kenne ich auch nicht. Kleidung, Geſicht, Haar alles iſt mir fremd. Aber als ich hinüberſah, hat ſie mich eine Sekunde angefunkelt, als ob ſie mich mit den Augen durchbohren wollte. Geſehen habe ich ſie ſicher ſchon.“ In demſelben Augenblick leuchtete es auf in Annas Geſicht. „Und wiſſen Sie wo?“ Sie blickte Walter Schmidt wohlgelaunt an. „Bei der Talbot.“

Da wachte auch in ihm die Erinnerung auf. Im Glanz ſolcher Augen wurde ihm damals eine roſige Zukunft prophezeit. Er blickte heimlich noch einmal nach der fremden Dame hinüber. Sie hatte ſich zu ihrem Herrn gewendet und kümmerte ſich nicht im geringſten um die Gruppe der Hausgenoſſen. Die Wahrſagerin war das nicht. Erſt Anna Kemnitz hatte ihn an die Pythia erinnert.

Ein ſinnender Zug kam in Walters Geſicht. Jugend und Schönheit! Reichtum und Glück! Lag das wirklich irgendwo für ihn bereit? |

Kriminalroman von Theodor Kabelitz 37

„Und ſoll ich Ihnen das Allerneueſte jagen?“ flü- ſterte Anna eifrig weiter. „Ich wollte auch zu der Talbot, nachdem ſie Ihnen ſo hübſche Dinge geweisſagt hat. Ich wollte wiſſen, ob ich auch ſolche Ausſichten habe. Wiſſen Sie, was mir da paſſiert iſt?“

„Keine Ahnung!“ ſagte Walter zerſtreut.

„Wo laſſen Sie eigentlich Ihre Gedanken fpazie- ren gehen?“ fragte Anna lachend. „Wenn eine junge Dame Ihnen etwas anvertrauen will, müſſen Sie aufpaſſen.“

„Fräulein Anna, Sie kränken mich,“ verſicherte Walter eifrig. „Ich bin ganz und gar bei der Sache. Sie wollten mir erzählen, was Fhnen paſſiert iſt.“

„Alſo gut! Ich komme an die Tür das Schild mit dem Namen Talbot iſt verſchwunden. Ich klingle einmal, noch ein paarnial nichts regt ſich. Aber ſo leicht gibt ſich Anna Kemnitz nicht zufrieden. Wozu iſt ein Hausverwalter da? Bei dem erfuhr ich, die Talbot ſei ausgezogen, unbekannt wohin. Die Miete bis zum nächſten Termin ſei vorausbezahlt. Da ſtand ich und wußte nicht, was ich machen ſollte. Während ich noch nachdenke, lacht mir der Menſch, der Haus- verwalter, ſo recht hinterliſtig ins Geſicht. Und wiſſen Sie, was er ſagte? Wenn's nur wegen des Wahr- ſagens wäre, das könne er auch. Ich kriegte ſicher einmal einen Mann und 'n ganz ſchmucken. Dazu brauche man gar keine Karten. Na, Sie können ſich denken, wie ich ihn angeſehen habe!“

Walter mußte lachen. „Ich kann nicht finden, daß der Mann ſchlecht geweisſagt hat.“

Da wurde Anna rot bis hinter die Ohren.

„Was habt ihr denn da ſo eifrig zu tuſcheln?“ fragte Frau Kemnitz. „Wenn zwei leiſe reden, wird der dritte ſchlecht gemacht.“

38 Und nähme ich Flügel der Morgenröte

„Das glaubt ja Mutterchen ſelber nicht,“ ſagte Anna.

An dem fünften Tiſch hinter ihnen unterhielten ſich der Herr und die ſchwarzäugige Dame mit ge- dämpfter Stimme, obgleich die Trompeten der Ka- pelle dieſe Vorſicht beinahe entbehrlich machten.

„Haſt du ihn geſehen?“ |

„Vorhin im Vorbeigehen. Wer iſt übrigens die alte Dame?“ |

„Die Mutter des Fräuleins. Ich glaube, aus den beiden jungen Leuten wird wohl noch ein Paar. Meinen Segen haben ſie.“

„Weshalb erzählſt du mir das?“

„Um dich zu wecken, Urſel, um dir zu zeigen, wie die Dinge in Wahrheit liegen. Du träumſt jetzt fo oft mit wachenden Augen. Du biſt nur mit halber Seele bei unſerer Sache.“

„Haſt du dich über mich zu beklagen, George? Habe ich irgend etwas verſehen?“

„Nein, Urſel. Aber du tuſt mir leid. Ich möchte, daß du wieder ganz du ſelbſt würdeſt mein Kame- rad mit hochgetragenem Nacken. Glaubſt du, daß der dort drüben ein Mitarbeiter für uns ſein könnte, wo es um Kopf und Kragen geht?“

„Nein.“

„Ich auch nicht. Das bürgerliche Element ſteckt ihm im Blut, in der Erziehung. Er ſucht es im Um- gang. Wer uns verſtehen, mit uns arbeiten, wer ganz der Unſere fein wollte, müßte unſere Vergangen- heit haben.“

„Was hindert uns, einen Strich darunter zu ſetzen und mit dem, was wir haben, ein neues Leben zu beginnen?“

„Der Verſtand muß uns hindern, auch nur den

Kriminalroman von Theodor Rabesik 39

Verſuch zu machen. Für uns gibt es kein Leben als Bürger zwiſchen Bürgern. Wir müſſen unſeren Weg einſam verfolgen bis zur Höhe, wo uns nichts mehr erreicht. Dann ſtehen wir über den Menſchen. Dann kommt auch das ſogenannte Glück.“

„Was hat dich immer wieder in jenes Haus ge- zogen und zieht dich noch hin? Sage es ehrlich, George. War's die fürſorgende Wachſamkeit allein, oder übte auch das Mädchen eine Anziehungskraft?“

„Auch das Mädchen ſah ich gern, ich leugne es nicht. Ein Mann in meinen Fahren iſt nicht gefeit gegen weiblichen Liebreiz. Aber du hörteſt auch vor- hin, daß ich die beiden dort drüben gemütsruhig als ein Paar für die Zukunft bezeichnete. Nicht in dieſer oder jener flüchtigen Empfindung liegt für uns die Gefahr, nur die Herrſchaft darf fie nicht über uns ge- winnen, darf uns nicht hinreißen zu Unbedachtſam- keiten, die ſich rächen müſſen. Wenn wir am Ziel ſtehen dann!“ |

„Das Ziel ift jo weit, fo weit, George! Manch- mal dünkt mich, es rückt immer weiter von uns fort.“

Die Worte klangen wie ein Seufzer.

„Nicht den Mut verlieren, Urſel! Was jetzt ein- geleitet iſt, da im Weſten, bringt uns wieder ein Stück weiter. Und ſo fort Schritt um Schritt! Und gilt dir der Kampf nichts der Kampf gegen alle? Mir bereitet das Bewußtſein, die ganze Welt und ihre Geſetze zu bekriegen, das Behagen geſteigerten Selbit- bewußtſeins. Manchmal iſt mir der Kampf mehr wert als der Gewinn.“

„So weit kann ich dir nicht folgen. Wahrhaftig, George, zuweilen denke ich, es müßte ſchön ſein, die ganze Vergangenheit mit einem Strich auszuwiſchen.“ vdch weiß auch warum. Und da das nicht geht,

40 Anh nähme ich Flügel der Morgenröte rn = Se —— . ——— —V—U—⅛e .

bitte ich dich immer wieder, hänge dein Empfinden nicht an jemand, den ich vernichten müßte, ſobald feſtſteht, daß er gefährlich werden kann. Verliert ſich der Mann drüben in jene blauen Augen, ſo iſt es ein Glück für uns alle, für ihn vermutlich das größte. Laß dir daran genügen, Urſel.“

„And wenn es gelänge, ihn zu uns herüberzu— ziehen? Ein Mann wird nicht nur Vater und Mutter, er wird auch ihre Gebote vergeſſen und zu ſeinem Weibe halten.“

„Arfel, daran denkſt du? Das hältſt du für mög- lich? Dann iſt das Unheil ſchon weiter gediehen als ich glaubte. Der Verſuch wäre tödlich!“

„Deine Meinung wollte ich hören, George weiter nichts.“

„Du kennſt meine Meinung längſt, du haft fie vor- hin ſelbſt ausgeſprochen. Er kann kein Mitarbeiter ſein für uns. Niemand kann das. Du und ich wir beide allein und niemand ſonſt! Laß jede Hoff- nung hinter dir, Urſel!“

„Und wenn ich's nicht tue?“ i

Der Mann ſchwieg einen Augenblick, dann ſtreckte er ihr beide Hände hin. „Wohin verirren wir uns, Arſel! Schulter an Schulter haben wir zujammen- geſtanden, Bruder und Schweſter, nach einem Ziel. Keiner von uns kann den anderen entbehren, keiner darf den anderen verlieren! Ich kenne dich beſſer, als du ſelbſt dich kennſt. Vor die Wahl geſtellt: er oder ich, wirſt du nicht ſchwanken. Eher gehſt du ohne jenen mit mir in den Tod als mit jenem ohne mich in ein Leben, das keines wäre. Gib mir deine Hand, Urſel! Vielleicht kommſt du früher los von mir, als wir beide es denken. Die Aviatik iſt eine halsbrecheriſche Kunſt.“

Kriminalroman von Theodor Kabelitz 41

„Sprich nicht ſo, George!“ Sie legte beide Hände in die ſeinigen.

In der folgenden Nacht träumte Walter Schmidt zum zweiten Male, daß zwei ſchwarze Augenſterne ihm glückverheißend winkten.

Er wollte ihnen folgen, aber ſie wichen vor ihm zurück, immer weiter, immer unerreichbarer, bis fie in unbekannte Fernen entſchwanden. Dann ſah er ſich allein in kalter, finſterer Nacht und fand keinen Weg, den Fuß darauf zu ſetzen.

Als er am Morgen aufwachte, ſah er nach der Uhr. Sein Dienſt begann erſt um neun Uhr. Wenn er ſich beeilte, konnte er noch vorher das Meldeamt aufſuchen.

Gegen Erlegung einer Reichsmark ſchlug ihm der Beamte das Regifter auf.

„Geſchwiſter Talbot nach außerhalb abgemeldet. Aufenthalt unbekannt.“

Für Sonntag ſtand er dem Flugplatz in Johannis- thal ein Preisfliegen in Ausſicht. Die Damen Kem— nitz zeigten große Luſt, ſich die Sache anzuſehen.

Walter Schmidt war mit von der Partie. „Aber wir gehen auf den offenen Platz,“ ſagte Annas Mutter. „Was tu' ich auf der Tribüne! Auf der anderen Seite kann man ſich bewegen, wie man will, braucht nicht auf einer Stelle zu bleiben und ſieht alles ohne Angſt, daß einem einer auf den Kopf fällt.“

Das Schauſpiel verlief in bekarrtter Weiſe. Be⸗ ſondere Teilnahme erregte es, wenn eine Anzahl Flugzeuge hoch oben gleichzeitig ihre Kreiſe zogen, einer immer über dem anderen.

42 Und nähme ich Flügel der Morgenröte

anne —— ——

Ein paar Herren unterhielten ſich über die Flie- ger. „Oer da drüben mit der Albatrostaube, das iſt Fröhden. Soll ein gewaltiger Sportsmann ſein. Kürzlich hat er einen Preis erhalten für die größte Stundengeſchwindigkeit. Die Taube hat Fröhden ge- kauft. Aber er iſt ſelber Techniker und beſſert daran herum.“

„alt das vielleicht unſer Bekannter?“ wendete ſich Walter zu den Damen. |

„Natürlich!“ rief Anna Kemnitz. „Neulich wußte Grete Neumann zu erzählen, daß er oft hier draußen iſt.“

Drüben ſchraubte ſich Fröhdens Flugzeug in immer kühneren Kreiſen nach oben. Höher und höher ging der Flug. Zuletzt war wenig mehr als ein Punkt im blauen Ather zu unterſcheiden.

„Vielleicht gilt es einen Höhenrekord,“ meinte Walter.

Nach längerem Harren ſenkte ſich die Taube wieder zur Erde. Von Minute zu Minute wuchs ſie an Größe, um nach prachtvollen Gleitflug genau vor der Tri- büne die Erde zu berühren.

Drüben begrüßte ſtürmiſches Händeklatſchen den Flieger.

„Ich verſtehe ja nichts davon,“ rief Walter, „aber alles was recht iſt. Nach meiner Meinung war das eine brillante Leiſtung.“

„Jeder kann ſeine Haut zu Markte tragen, wie er will,“ verſetzte Frau Kemnitz trocken. „Ich fahre nicht mit.“

„Ich auch nicht!“ ſagte Anna mit Überzeugung.

Als Walter Schmidt am nächſten Morgen die Treppe hinunterſtieg, um ins Geſchäft zu gehen, be- gegnete ihm der Briefträger.

Kriminalroman von Theodor Kabelitz 43

„Einen Augenblick! Ich habe etwas für Sie,“ ſagte der Mann. Dabei öffnete er die Taſche.

Walter legte den Brief vorläufig in ſein Notizbuch. Erſt in der Hochbahn fand er Muße, den Umſchlag zu öffnen. Der eingelegte Bogen enthielt nur wenige Worte.

„Donnerstag abend 9 Uhr Brauerei Königſtadt im Garten.“ |

An Stelle der Unterſchrift ſtand in lateiniſchen Let- tern das Wort „Schweigen“.

Walter betrachtete Umſchlag und Einlage. Offen- bar eine energiſche Damenhandſchrift. Oder hatte ſich ein Bekannter einen Ulk gemacht? Den Brauerei— garten kannte er. Jeden Donnerstag konzertierte da— ſelbſt eine angeſehene Kapelle. Hingehen konnte er ja auf alle Fälle.

Er faltete Brief und Umſchlag zuſammen und ver- ſenkte alles in feine Rocktaſche.

Zur bezeichneten Stunde befand ſich Walter Schmidt am beſtimmten Ort. Vom Podium her klang eine flotte Marſchweiſe. Die Tiſche waren ziem- lich beſetzt, doch fanden ſich noch Lücken. Zum Zweck der Umſchau machte Walter zunächſt einen Rundgang durch den Garten. Niemand rief ihn an, er ſelbſt ge- wahrte keinen Bekannten. So ließ er ſich ſchließlich an einem Tiſch nieder, an dem bereits zwei Ehepaare Platz genommen hatten. Ein Stuhl blieb noch frei an ſeiner Seite.

Walter beſtellte ſich ein Glas Bier und zündete be- haglich eine Zigarre an. Wenn ihn jemand treffen wollte, durfte er kommen.

Die beiden Paare am Tiſch unterhielten ſich jedes für ſich. So hatte er Zeit, dem Konzert zu lauſchen. Bald kam er ſo weit, daß er die Urſache feiner Anweſen⸗

44 Und nähme ich Flügel der Morgenröte

heit völlig vergaß. Er ſchrak erſt auf, als er unmittel- bar neben ſich eine Stimme vernahm.

„alt dieſer Stuhl vielleicht noch frei?“

Walter blickte auf zu einer Dame. Wenig über zwanzig mochte ſie zählen. Die Kleidung ſehr fein, aber in keiner Weiſe auffallend. Er beeilte ſich, den Stuhl zurechtzurücken.

„Danke!“

Dabei traf ihn ein Blick aus nachtſchwarzen Augen. Zweimal hatte er ſo dunkle Augen blinken ſehen. Das erſte Mal, als er der Wahrſagerin gegenüberſaß, und dann wieder neulich im Konzert. Aber jedesmal ge— hörten ſie einer anderen Dame, und jene beiden waren längſt über die erſte Zugend hinaus, während ſeine Nachbarin |

Walter Schmidt ſuchte einen weiteren Blick zu er- haſchen. Es gelang ihm nicht. Die Dame ſaß etwas von ihm abgewendet. Nur von der Seite konnte er fie ſehen. Sie ſchien ſich ganz dem Genuß des Kon- zerts hinzugeben.

Walter wußte ganz beſtimmt, daß er die Dame nicht kannte. Ein raſcher Blick in die Runde über-

zeugte ihn, daß die Tiſche tatſächlich voll beſetzt waren. In dem Verhalten der Fremden deutete nichts darauf hin, daß ſie ihn kannte oder gar ſeine Nachbarſchaft geſucht hatte. Es waren zufällige Umſtände, die ſie auf den Stuhl an ſeiner Seite führten. Nun erinnerte er ſich auch, daß er achtlos die Hand auf die freie Lehne gelegt und fo den Platz gewiſſermaßen in Beſchlag ge- nommen hatte. Nur einer Notwendigkeit war die Dame gefolgt. Den Brief, den er in der Taſche trug, hatte ſie ganz ſicher nicht geſchrieben.

Hatte ihn überhaupt jemand im Ernſt an dieſen Ort beſtellt? Ob Weib oder Mann er hätte längſt

Kriminalroman von Theodor Kabelitz 45

hier ſein müſſen. Wahrſcheinlich wollte ihm jemand einen Streich ſpielen. Mochte es fein! Der Aufent- halt unter den grünen Bäumen inmitten der bunten Lichter war angenehm, das Konzert gut. Er wollte an nichts anderes mehr denken.

Die Nummer, in der ein Soliſt fein Beſtes ge- geben, war zu Ende. Wohlverdienter Beifall rauſchte durch den Garten. Auch Walter klatſchte in die Hände. Er war hochbefriedigt und folgte nur dieſer Empfin- dung. In ſeiner gehobenen Stimmung tat er wohl des Guten ein wenig zu viel, denn er gewahrte, daß ein Blick ſeiner Nachbarin ihn ſtreifte, wobei ein flüchtiges Lächeln um ihren Mund huſchte.

Er hörte auf zu klatſchen und lüftete den Hut. „Entſchuldigen Sie, gnädiges Fräulein! Ich vergaß, daß ich nicht allein am Tiſch ſitze.“

Sie neigte kaum merklich den Kopf. „Oeſto ehren- voller für den Künſtler! Es war wirklich eine tüchtige Leiſtung und der Beifall voll verdient.“

„Aber man braucht nicht wie ein Wilder zu klatſchen.“

„Weshalb nicht? Vorausgeſetzt, daß der Beifall einer durch die künſtleriſche Leiſtung ausgelöſten Ge- fühlswallung entſpricht. Die Wilden ſind doch ſozu⸗ ſagen Gefühlsmenſchen.“

„Dann darf ich mich mit unbeſchwertem Gewiſſen dieſen braven Zeitgenoſſen zuzählen.“

„Nicht doch! Von der Empfindung ſprach ich, die im Beifall zum Ausdruck kommt und kommen ſoll. Sit fie ſtark und echt, fo ehrt fie den Künſtler und den Hörer zugleich.“

Der Faden war angeſponnen und riß nun nicht wieder ab. So anregend fand Walter die Unterhal- tung mit der Unbekannten, daß er nicht nur das Kon- zert, ſondern auch den Brief vergaß, den er in der Taſche

46 Und nähme ich Flügel der Morgenröte

trug. Als nach Erledigung des Programms das Publi- kum von den Tiſchen aufbrach, machte er ein ganz er- ſtauntes Geſicht, dem ſich eine kleine Beigabe von Ent- täuſchung beimiſchte.

„Schon?! Wenn ich jetzt Fauſt wäre, würde ich zum Augenblick ſagen: Verweile doch, du biſt ſo ſchön!“

Aber das Geſicht der Dame huſchte ein freundliches Lächeln. Ein warmer Blick der ſchwarzen Augen traf den Sprecher. „Nun, dann will auch ich Ihnen geſtehen, daß ich mich ſo gut unterhalten habe wie wie ſelten zuvor. Aber nun iſt meine Zeit abgelaufen.“ Sie ſtreckte die Hand aus. „Leben Sie wohl und keiten Dank!“ „Auch ich will mich auf den Heimweg machen. Darf ich mich Ihnen anſchließen, gnädiges Fräulein?“

Plaudernd erreichten fie die Straße. An der Halte- ſtelle der elektriſchen Bahn ſtand das Fräulein ſtill.

„Hier trennen ſich unſere Wege,“ ſagte ſie. „Noch einmal leben Sie wohl!“

„Nicht auf Wiederſehen?“

Sie wiegte nachdenklich das Haupt. „Ich habe ſchon vorhin bekannt, daß ich mich in Ihrer Geſellſchaft recht gut unterhalten habe. Aber bis zur förmlichen Verabredung iſt doch noch ein weiter Schritt. Ich will nicht ſagen ja ich will nicht ſagen nein. Steht es in den Sternen geſchrieben, daß wir uns an irgend einem Ort wieder begegnen ſollen, ſo wird es mich freuen. Bis dahin ſehen Sie, da kommt meine Straßenbahn.“

Ruhig ſtreckte ſie ihm die Hand hin. „Noch ein letztes Mal leben Sie wohl!“

Leicht und gewandt erſtieg ſie die Stufen.

„Auf Wiederſehen!“ rief Walter, indem er den Hut zog.

Schon raſſelte der Wagen weiter.

Kriminalroman von Theodor Kabelitz 47

. —— er nn

Im Salon von Frau Konſul Götze fa Nr. Alling- ton der Hausherrin gegenüber. Der Herr war, wie er ſagte, erſt vor etlichen Tagen auf einer Geſchäftsreiſe in Europa eingetroffen. Er benutzte die Gelegenheit feines Aufenthalts in Berlin, um der Mutter feines in Amerika auf ſo traurige Art ums Leben gekommenen Freundes Alfred Götze die letzten Grüße ihres Sohnes zu überbringen.

Die alte Dame preßte das Taſchentuch an die Augen, um die perlenden Tränen zu verbergen. Ob- ſchon fie durch Sleds letzte Sitzung auf die Trauer- botſchaft vorbereitet war, brach ihr Schmerz doch mit erneuter Gewalt hervor.

Um nicht zu ſtören, wollte ſich der Beſucher emp- fehlen, aber die Frau Konſul hielt ihn zurück.

„Bleiben Sie nur noch, Mr. Allington! Bitte, bleiben Sie! Meine Tränen dürfen Sie nicht an- fechten, gelten ſie doch dem Sohne. Großer Gott, meinem einzigen Sohne! Ich habe noch ſo viel zu fragen. Und meinem Herzen tut es wohl, dem gegen- überzuſitzen, dem Alfreds letztes Wort gegolten, auf dem ſein letzter Blick ruhte. Gott, mein Gott, wenn ich denke, wie er vor drei Jahren nach ſeinem Beſuch hier Abſchied nahm! So voll froher Hoffnung war er, ſo ganz erfüllt von weit ausſchauenden Plänen! Die Herftellung von Flugmaſchinen wollte er in feinen Ge- ſchäftsbetrieb aufnehmen. Mit den bekannteſten Avia- tikern hatte er Anknüpfung geſucht, um ihre Wünſche und Anſichten zu erforſchen. Und nun ſoll ich ihm nie mehr ins Antlitz ſchauen, niemals wieder ſeine Stimme hören!“

Die Tränen der Mutter begannen aufs neue zu fließen.

Allington wiſchte ſich die Augen, als ſei er ſelbſt

48 And nähme ich Flügel der Morgenröte

von Rührung übermannt. Er war ein ſtattlicher Mann um die Mitte der dreißiger Jahre. Haar und Bart trug er nach amerikaniſcher Sitte. Auch die Klei- dung ließ den Ausländer erkennen. Beim Sprechen ſchien ihm zuweilen ein deutſches Wort zu fehlen. Er erſetzte es dann durch ein engliſches.

„Ich habe für Sie noch ein Andenken an Ihren Sohn, Frau Konſul. Es war ſein letzter Wunſch, daß nach ſeinem Tode ein Bild von ihm hergeſtellt würde, eine bleibende Erinnerung für ſeine Mutter. Aber Ihr Schmerz iſt vielleicht noch zu neu und zu heftig, um es jetzt ſchon zu ſehen. Die Aufregung könnte Ihnen ſchaden.“ |

„An meinen Tränen dürfen Sie nicht Anſtoß nehmen, Mr. Allington! Bitte, zeigen Sie mir nur das Bild! Geben Sie es mir gleich! Ich beſitze nichts aus meines Sohnes letzter Lebenszeit, kein Er- innerungszeichen. Und er hat an mich gedacht noch ganz zuletzt! Bitte, geben Sie mir das Bild!“ Nr. Allington ſuchte einen Augenblick in feinem Taſchenbuch. Dann brachte er eine Photographie zum Vorſchein, einen Abzug der Platte, die in der Sturm- ſtraße entſtanden war und darauf zur Herſtellung des Films für die Projektion des Lichtbildes in der Tier- gartenſtraße gedient hatte.

Beim erſten Blick auf die Photographie entrang ſich ein Ausruf der Verwunderung dem Munde der Frau Konſul. „Dasſelbe! Großer Gott, genau das ſelbe!“

In fliegenden Worten erzählte fie, was in der Sitzung geſchehen war.

Mr. Allington hörte ruhig, aber mit der Aufmerk- ſamkeit des teilnehmenden Freundes zu. Dann be- dauerte er, daß ihm die Geſchäfte keine Muße ließen,

Kriminalroman von n Theodor Labelitz 49

derartigen Dingen Intereſſe zu ſchenken. Aber an die Worte der Frau Konſul würde er ſich erinnern, wenn er ſich einmal vom Geſchäft zurückgezogen haben würde. Dann wollte er der neuen Lehre beſondere Aufmerkſamkeit widmen.

Die Frau Konſul verſenkte ſich in die Einzelheiten des Bildes. Immer wieder tupfte ſie mit dem Tuch die perlenden Tränen aus den Wimpern.

„Wie ſoll ich, wie kann ich Ihnen danken, Mr. Al- lington?“

Der Fremde bemerkte, daß er nur den Wunſch eines ſterbenden Freundes erfülle. Für Frau Konſul vermochte er einen Grund zur Dankbarkeit nicht anzuerkennen.

„Da ſteht eine junge Dame am Sarge. Der Tod meines Sohnes ſcheint ihr nahezugehen. Wer iſt die junge Dame, Mr. Allington?“

„Das iſt Miß Allington, meine Schweſter.“

Es waren Mutteraugen, die auf das Bild nieder- ſchauten, und dieſe Augen feuchteten ſich, bis ſie nichts mehr zu unterſcheiden vermochten. Dann ſank die Hand mit dem Bilde in den Schoß der alten Dame.

„Sagen Sie mir alles, Mr. Allington. Ihr Fräu- lein Schweſter hat meinem en nahegeſtanden ſie hat ihn geliebt?“

Große Zurückhaltung war im Ton des Beſuchers. „Ich habe Grund zu glauben, daß Mr. Götze meiner Schweſter nähertrat, daß dieſe Annäherung fie be- glückte. Die beiden ſchmiedeten Pläne, weit aus- ſchauende Pläne für die Zukunft. Ich hatte nichts dagegen zu erinnern. Da kam der Tod und zog den Schlußſtrich.“

Frau Konſul Götze ſah das Bild an. Sie mur- melte vor ſich hin: „Sie hat ihn geliebt! Mein Sohn hat ſie geliebt!“

1918. XII. 4.

50 And nähme ich Flügel der Morgenröte

Da hob fie die Augen. „Sagen Sie mir, ob mein Sohn ſich mit Ihrer Schweſter ſchon verlobt hatte, Nr. Allington.“

„Ich glaube ſagen zu dürfen, daß die Heirat be- reits verabredet war. Was aber für Mr. Götze bei Leb- zeiten eine glückliche Zukunft bedeutete, bleibt für die Mutter des Verſtorbenen ein Wort ohne Inhalt.“

„Und wo lebt Miß Allington jetzt? Wo hält ſie ſich auf?“

„Meine Schweſter befindet ſich in dieſem Augen- blick im Hotel Windſor, wo wir abgeſtiegen ſind.“

Die Frau Konſul richtete ſich lebhaft auf. Blick und Wort waren nicht frei von Vorwurf. „Und das erfahre ich erſt jetzt, Mr. Allington! Die Verlobte meines Sohnes weilt in dieſer Stadt, und ich weiß es nicht! Bringen Sie Alfreds Braut ſofort zu mir, Mr. Allington! Ich will ihr in die Augen ſehen, will die Hände ſtreicheln, die in meines Sohnes Händen ruhten. Bringen Sie mir aber nein!“ Sie ſtreckte den Arm aus nach der elektriſchen Glocke. „Laſſen Sie ſogleich ein Auto rufen, Liſa!“ rief ſie dem eintretenden Mädchen zu. N

- Und nun wandte fie ſich wieder zu dem Beſucher. „Ich ſelbſt will zu Ihrer Schweſter fahren, Mr. Alling- ton, und Sie werden mich begleiten. Ich will fie bit- ten, daß ſie bei mir wohnt, bei mir bleibt, mit mir weint.“

So kam Urſula in das Haus von Frau Konſul Götze.

Das Zuſammenleben der Damen geſtaltete ſich ſo harmoniſch wie denkbar. Die Frau Konſul tat alles, ihrem Gaſt den Aufenthalt in der Villa möglichſt an- genehm zu machen. Schon nach wenigen Tagen fing ſie an, Urſel ihr liebes Töchterchen zu nennen. Es war ihrem Herzen eine Wohltat.

Kriminalroman von Theodor Kabelitz 51

Bei alledem blieb Urſula völlig Herrin ihrer Zeit. Es war der dringende Wunſch der alten Dame, daß ſich die Geſchwiſter durch Urſulas Überſiedlung nach der Villa in keiner Weiſe in ihrer Bewegungs- freiheit beengen ließen. Der Bruder war ein für allemal geladen und willkommen, die Schweſter ſollte gehen und kommen, wie es ihrem Bedürfnis ent- ſprach.

Nur vor einem begann die Frau Konſul mehr und mehr zu bangen. Im Hotel Windſor hatte ſie Urſula in dunklen Gewändern gefunden, die zugleich dem Zweck der Reife entſprachen. Trauerkleider, die zu- gleich Reiſekleider waren, trug die junge Dame auch in der Villa. Dadurch wurde die Frau Konſul be- ſtändig an die bevorſtehende Trennung erinnert. Wie ſollte ſie das Leben ertragen, wenn Urſula wieder von ihr ging? Täglich fürchtete ſie das Wort „Abreiſe“ zu hören. Schließlich konnte ſie nicht anders, ſie mußte ihrer Sorge Ausdruck geben.

„Kommen Sie doch mit uns, Mütterchen!“ gab Ur- ſula zur Antwort. :

Die alte Dame ſah den Gaft mit erſtaunten Augen an. „Iſt das Ihr Ernſt, Urſula?“

„Weshalb ſollte es nicht mein Ernſt ſein? Glau- ben Sie, es wird mir leicht, von Ihnen zu gehen, nach- dem ich in Ihnen eine Mutter gefunden, die ich ſeit meiner Kindheit entbehrte? Was hält Sie hier? Drü- ben iſt Alfreds Grab!“

Von dieſem Tage ab ließ der Gedanke an die Reiſe die alte Dame nicht mehr los. Urſulas Bruder wurde in die Sache eingeweiht. Er hatte keinerlei Bedenken und freute ſich für ſeine Schweſter. Dabei machte er darauf aufmerkſam, daß wenn ſich niemand um die Hinterlaſſenſchaft drüben bekümmerte, dieſelbe bald

52 And nähme ich Flügel der Morgenröte

in alle Winde zerflattern würde. Selbſt im Fall die Regierung Hand darauf legte, war wenig gebeſſert. Nachher war es ungeheuer zeitraubend und recht koft- ſpielig, zu ſeinem Recht zu gelangen. Auch aus dieſem Grunde mußte er empfehlen, daß Frau Konſul wenig- ſtens auf einige Zeit mit nach Amerika kam, um ſelbſt nach dem Rechten zu ſehen.

Mr. Allington fühlte ſich noch zu einem anderen Vorſchlag gedrängt. Er wollte ſeine weiteren Ge— ſchäftsreiſen durch das Deutſche Reich ohne Urſulas Begleitung antreten und in kurzen Zwiſchenräumen immer wieder nach Berlin zurückkehren. Vorausge-⸗ ſetzt natürlich, daß den Damen ein Gefallen damit geſchah. |

Die Frau Konſul war ganz überwältigt von fo viel Liebenswürdigkeit. Sie zauderte nur, ob ſie dieſes neue Opfer von Miß Allington annehmen durfte.

Arſula beruhigte die Sorglichkeit der alten Dame. Sie wußte, daß der Vorſchlag ihres Bruders dazu diente, die falſche Vorſtellung von dem in Geſchäften nach Deutſchland gekommenen Ausländer zu ſtützen. Daneben ſicherte ſich Mr. Allington auf dieſe Art volle Bewegungsfreiheit.

Gar gern glaubte Frau Konſul Urſulas Verſiche- rung, daß ſie kein Opfer brachte, wenn ſie bei ihrem „Mütterchen“ blieb.

So reiſte Mr. Allington beruhigt ab, und ſeine Schweſter machte ſich in der Villa Götze ſo nützlich wie möglich. Wenn der Poſtbote ſichtbar wurde, ging ſie ihm ſtets bis an die Gartenpforte entgegen, um ihm die Poſtſachen abzunehmen. Es deuchte ihr ſtets ein gutes Zeichen, wenn kein amerikaniſcher Stem- pel ſich dazwiſchen zeigte.

Kriminalroman von Theodor Rabeliß 53

Als die Dame mit den ſchwarzen Augen ſich von Walter Schmidt getrennt hatte, folgten die Blicke des- ſelben ſehnſüchtig dem Wagen, der die Unbekannte forttrug. Erſt nachdem die Elektriſche an der nächſten Ecke verſchwunden war, machte ſich der junge Mann gleichfalls auf den Heimweg. Seine Gedanken ver- weilten noch immer bei der Fremden.

Wer war die Dame?

Ein ruhiges, gehaltvolles Mädchen, an das ſich kecke Zudringlichkeit ſicher nicht heranwagte. So ſtand ſein Urteil. Aber eine Meinung über den Charakter gibt noch keine Aufklärung betreffs der geſellſchaftlichen Stellung. Stand oder Beruf der Fremden war Walter ebenſo unbekannt geblieben wie ihr Name oder ihre Wohnung. Sie zog um ihre Perſönlichkeit einen Kreis, in den müßige Neugier nicht hineinblicken durfte. Und war ſie die Abſenderin der brieflichen Aufforderung?

Walter hätte gern Gründe der Beſtätigung gehabt, aber er verneinte die Frage, ſobald er ſie ſich geſtellt hatte. Wäre der Brief von der Fremden gekommen, ſo hätte ſie nicht während der ganzen Unterhaltung ſo unbefangen bleiben können. Die Dame kannte ihn ſo wenig, wie er ſelbſt etwas von ihr wußte. Daß die ſchwarzen Augen ihn an die Talbot erinnerten und noch an eine andere Perſönlichkeit, war ohne Bedeu- tung. So ſelten ſind ſchwarze Augen doch nicht, um ein ſicheres Erkennungszeichen zu bilden, wenn alles andere nicht ſtimmt. Zudem war die Wahrſagerin nach außerhalb gezogen, unbekannt wohin. Und über- haupt das Alter, die ganze Perſönlichkeit nein! Und welche Veranlaſſung ſollte die Talbot haben, ihn auf dieſe Art ins Konzert zu beſtellen?

Walter fand keinen Schlüſſel zum Verſtändnis der Sache.

54 Und nähme ich Flügel der Morgenröte 22 ͤ—:r: -r. .= ͤ•— ͤ—m—f . ..ñĩx ..(᷑ —-—¼ 2;̃᷑ —ꝛę2r —ęy—n .. —de .

Brauchte er aber einen Schlüſſel? Gab es über- haupt einen? Wozu eigentlich?

Wenn eine fremde Dame aus Mangel an Sitz- gelegenheit den freien Stuhl an feiner Seite bean- ſpruchte, ſich weiter nicht um ihn kümmerte, erſt rein zufällig in eine verfpätete Unterhaltung mit ihm ge- riet, ihren Namen nicht nannte und jede Verabredung eines Wiederſehens ablehnte, ſo gab es da weder ein Geheimnis noch einen Schlüſſel dazu.

Blieb immer wieder die geheimnisvolle Beftel- lung! Das konnte auch eine Irreführung fein. Ge- meldet hatte ſich jedenfalls niemand. Oder ſollte er glauben, die Unbekannte habe ihn anonym ins Kon- zert beſtellt, um ihm dann ein Wiederſehen abzu- ſchlagen? Dergleichen wäre wirklich noch nicht dage- weſen. |

Und dann kam der Augenblick, wo Walter mitten auf der Straße ſtillſtand und ſich mit der Hand an die Stirn ſchlug. Hatte er denn ſich ſelbſt vorgeſtellt? Wie durfte er erwarten, daß eine Dame von Welt und Erziehung damit den Anfang machte! Woher nahm er die Kühnheit, zu vermuten, daß eine ſolche Dame einem Menſchen mit mangelhaften Umgangs- formen, wie er ſie bewieſen hatte, ein Wiedertreffen bewilligen werde, ſelbſt wenn fie vorher eine An- näherung gewünſcht haben ſollte!

So gingen die Gedanken des jungen Mannes im Kreiſe herum, bis er am nächſten Abend wieder an derſelben Stelle im Konzertgarten ſaß.

Die Fremde kam nicht. Sie kam auch am zweiten und dritten Abend nicht.

Walter wurde immer aufgeregter. Die innere Un- ruhe ließ ihn nicht eher los, bis er wieder auf dem Platz im Konzertgarten ſaß, der nun beinahe ſein

Kriminalroman von Theodor Kabelitz 55 ar . ——̃ Platz war. Er wollte ſich der Unbekannten vorſtellen, wie es ſeine Pflicht war. Nur ſich vorſtellen weiter wollte er nichts. Wenigſtens redete er ſich das vor. Die Fremde ſollte und . ihn nicht für unhöflicher halten, als er war.

Aber ſie kam nicht.

Aber dem einen Gedanken vergaß Walter alles an- dere. Er dachte nicht mehr an feine Aufgabe, er ver- nachläſſigte ſeine Hausgenoſſen und wurde ſich der Un- art in ſeinem Verhalten nicht einmal bewußt. Am Morgen ſtand er auf in der Zuverſicht: heute! Am Abend legte er ſich nieder in der Hoffnung: morgen!

„Ich weiß nicht, was in unſeren Herrn gefahren iſt. Man ſieht ihn kaum noch,“ ſagte Frau Kemnitz.

„Laß ihn doch!“ war Annas ſchnippiſche Antwort. „Was geht uns unſer Mieter an?“

Daraufhin mußte Frau Kemnitz glauben, zwiſchen den jungen Leuten habe es eine jener Unſtimmigkeiten ge- geben, die in erregten Zeiten vorkommen. So etwas läuft ſich von ſelbſt wieder zurecht. Sie kümmerte ſich nicht mehr darum.

Die Woche ging herum ſieben volle Tage.

Walter Schmidt ſaß wieder auf „ſeinem“ Platz. Der Sicherheit halber hatte er den Arm auf die Lehne „ihres“ Stuhls gelegt. So war dieſer nicht dem Zu- griff fremder Leute preisgegeben.

Und wieder grübelte Walter, ob die ſchwarzen Augen niemals mehr neben ihm aufleuchten würden.

Die Tageszeitungen fielen ihm ein. Sollte er ein Inſerat erlaſſen? Nur ihr allein verſtändlich um ein Wiederſehen bitten?

Mit zuſammengezogenen Brauen ſtarrte er vor ſich hin. Was ſollte er tun? Was konnte er tun? Den Sedanken an die Fremde abſchütteln? Das vermochte

56 Und nähme ich Flügel der Morgeurbte

er nicht. Tag und Nacht würden die ſchwarzen Augen in ſeiner Seele brennen. 8

Indem er brütend alſo daſaß, verlor er das Be- wußtſein der Gegenwart und ſeiner Umgebung. Nicht einmal die ſchmetternden Klänge der Trompeten ver- mochten die wogenden Gedanken und Empfindungen zu durchdringen, in die ſeine Seele ſich einſpann.

So ward er nicht gewahr, daß eine verſpätete Dame den Hauptgang des Gartens heraufkam. Die dunklen Augen flogen den Füßen ſuchend voran. Als ſie Walter Schmidt erblickte, zuckte ein Blitz der Freude über ihr Geſicht.

Sie trat an den Tiſch. Der grübelnde Mann ward ihrer nicht gewahr. Sie ſtand neben ihm. Er ſtarrte noch immer vor ſich hin und regte ſich nicht.

„Guten Abend!“ ſagte ſie mit ihrer tiefen Stimme.

Walter fuhr auf aus ſeinen Gedanken, ſtarrte ihr ins Geſicht, als könne er nicht an die Wirklichkeit glau- ben, die er ſich eine ganze Woche lang ausgemalt hatte. Dann flog über ſein Geſicht der Ausdruck ſo unverkennbarer Freude, daß fie, die kein Zucken ſeiner Züge verlor, wohl damit zufrieden ſein konnte.

„Endlich!“ Es klang wie ein befreites Aufjauchzen aus ſeiner Bruſt. „Oh, wie haben Sie mich gequält!“

„Darf ich mich wieder auf meinen alten Platz ſetzen?“. | Dia ſprang er auf und ſchob ihr den Stuhl zurecht. „Seit acht Tagen habe ich ihn für Sie belegt.“

„Für mich? Aber wir hatten ja gar nichts verab- redet! Alles ſollte doch dem Zufall überlaſſen bleiben!“

„Und um den Zufall nicht zu hindern, habe ich hier auf Sie gewartet Abend für Abend!“

„Ich kann leider nicht immer über meine Zeit ver- fügen. Als ich heute abend frei hatte, dachte ich an

Kriminalroman von Theodor Kabelitz 57

en

unſer Plauderſtündchen neulich. Und da meinte ich aber das darf ich Ihnen eigentlich gar nicht ſagen!“

„Weshalb nicht? Bitte, bitte, Fräulein, ſagen Sie es mir!“

„Nun, es fuhr mir durch den Sinn, ob's vielleicht der Zufall fügen möchte, daß ich einen gewiſſen Je— mand da wiederfände, wo wir vor acht Tagen ſo nett beiſammen ſaßen. Darum ging ich her. Und ſiehe da iſt er! Aber Ihren Namen weiß ich deshalb noch immer nicht.“

Er ſprang auf. „Walter Schmidt heiße ich. Dieſe ganze Woche habe ich mit mir geſcholten, daß ich da- mals unterließ, mich vorzuſtellen. Nun hätte ich's beinahe wieder vergeſſen. Aber glauben Sie mir, es lag keine Abſicht darin.“

„And ich heiße Urſula Allington. Drüben in Ame- rika iſt es nicht Sitte, daß man feierlich ſeinen Namen nennt, wenn man mit jemand zwei Minuten am Vier- tiſch ſitzt. Freilich, wenn man öfter zuſammenkommt alſo deswegen wurden Sie nicht beſtraft. Aber in meiner Stellung und in meiner Lage ich bin Ge- ſellſchafterin einer älteren Dame iſt es niemals klug, wenn man ſich erſten günſtigen Eindrücken gar zu willig überläßt. Großſtadt iſt Großſtadt! Übrigens würde ich mich auch zu verteidigen wiſſen. Wo ich fremd bin, gehe ich niemals ohne meinen Revolver aus. Vielleicht iſt es töricht, aber ich bin daran gewöhnt.“

Walter konnte eine Gebärde des Erſtaunens nicht unterdrücken.

„Ländlich ſittlich!“ meinte Urſula Allington. „Ich wollte vorhin nur ausdrücken, daß Sie ſich wegen der vergeſſenen Vorſtellung keine Vorwürfe zu machen brauchen. Das gute Glück hat uns ja auch ohnedies wieder zuſammengeführt.“

58 Und nähme ich Flügel der Morgenröte

„Nicht das blinde Ungefähr! Meine Ausdauer iſt belohnt worden. Ich bin ſo froh, ſo ſehr froh, Miß Allington!“

Sie ftredte ihm lächelnd die Hand hin. „Es tut mir ja leid, daß Sie ſich meinethalben Unbequemlich- keiten gemacht haben, aber es war doch nicht ſo ſchwer, zu erraten, daß ich nicht frei über meine Zeit verfügen kann, wie Sie vielleicht. Ich ſagte ſchon, daß ich Ge- ſellſchafterin bin. Frau Konſul Götze iſt mir herzlich zugetan, aber fie nimmt meine Zeit ſtark in Anſpruch. Ich bin froh, wenn ich gelegentlich einen Abend für mich gewinne. Und da heute gerade acht Tage um waren, dachte ich na und fo weiter. Doch nun ge- nug davon! Ich habe Ihnen ſchon viel zu viel ge- ſtanden. Plaudern wir von etwas anderem.“

„Zum Beiſpiel von Ihren Augen! Miß Alling- ton, ich weiß beſtimmt, daß ich Sie vor acht Tagen zum erſten Male geſehen habe, und doch werde ich die Empfindung nicht los, als hätte ich ſchon einmal in Ihre Augen geblickt.“ ö

„O weh! Und ich habe mir immer eingebildet, in meinen Augen etwas Beſonderes zu beſitzen. Das iſt nun wieder nichts.“

„Vor einiger Zeit ſah mich eine Dame mit Ihren Augen an.“

„Mit meinen nicht! Schwarze wird ſie gehabt haben.“

„Und noch ein zweites Mal eine andere an an- derem Ort.“

„Ich bin alſo ſchon die dritte?“ ſcherzte Urſula.

„Eine Wahrſagerin war die erſte.“

„Glauben Sie auch an dergleichen?“ fragte Ur- ſula. |

„Nein. Daß ich hinging, hatte beſondere Gründe.“

Kriminalroman von Theodor Kabelitz 59

„Und was haben Sie Gutes erfahren?“

„Daß meine Zukunft in Roſenrot liegt. Zugend und Schönheit, Glück und Liebe erwarten mich.“

„Sie Glücklicher! Wenn mir doch auch dergleichen beſtimmt wäre! Aber Sie glauben ja nicht daran.“

„An Jugend und Schönheit glaube ich jetzt.“

„Spötter!“

„Ich ſpotte nicht!“ verſetzte er ernſthaft und ſah ihr tief in die ſchwarzen Augen.

An dieſem Abend trennten ſich die beiden nicht, ohne ein neues Zuſammentreffen verabredet zu ha- ben. Aber Arfula Allington fuhr darauf nicht ſofort nach dem Hauſe der Frau Konſul Götze. In ihrer Privatwohnung vertauſchte ſie das Abendkleid mit der dunklen Gewandung, in der die Frau Konſul ſie kannte.

Nach dem Umkleiden trat ſie noch einmal vor den Spiegel und ſchaute ſich aufmerkſam in die Augen. Dann lächelte ſie ſich an. „Mich hat er vor acht Tagen zum erſten Male geſehen, aber euch hat er wieder- erkannt, ihr ſchwarzen Sterne! An Jugend und Schön- heit glaubt er bereits, an Glüd und Liebe ſoll er bald glauben lernen!“

In feiner gewählt eingerichteten Junggeſellenwoh⸗ nung ſaß George Fröhden, der Mann mit den vielen Namen, zu denen er ebenſoviele verſchiedene Ge- ſichter vorrätig hielt. Auch betreffs der Heimſtätten war er wohl verſorgt. Stets verfügte er mindeſtens über zwei Wohnungen, von denen er gewöhnlich nur die auf den Namen Fröhden gemieteten Räume be⸗ nützte. Im übrigen wechſelte er mit der Rolle zu- gleich auch die Wohnung.

Die Förmlichkeiten der polizeilichen An- und Ab-

60 And nähme ich Flügel der Morgenröte ! u nn 2

meldung pflegte er beim Wohnungswechſel ſtets pünktlich und dabei in einfachſter Weiſe zu erfüllen. Im Beſitz der nötigen Ausweispapiere aus aller Herren Ländern begab er ſich nach der amtlichen Meldeſtelle. Seine höfliche Anfrage in mangelhaften Deutſch, ob er zu vorübergehendem Aufenthalt als Weltreiſender einer beſonderen Anweſenheitsbeſcheinigung bedürfe, fand ebenſo höfliche Antwort. Gauner, Hochſtapler und ſonſt anrüchige Perſonen pflegen ihre Beziehungen zur Polizei weniger ſorgfältig zu regeln. Man warf einen Blick in die mitgebrachten Papiere ſie waren in beſter Ordnung. Man fragte höflich nach dem Ver- lauf der Reiſe und alles war erledigt. Wollte er an einer Stelle ſeine Zelte abbrechen, ſo bedurfte es nur einer einfachen Mitteilung. Als nächſten Aufent- haltsort bezeichnete er Wien oder Budapeſt oder Kon- ſtantinopel ganz genau wußte er gewöhnlich ſelbſt noch nicht, wohin er ſich zu längerem Aufenthalt be- geben würde. Manchmal führte ſeine angebliche Reiſe auch über den Ozean.

Daß er in ſolchem Fall Berlin wirklich verließ, war keineswegs nötig. Er zog einfach in einen anderen Stadtteil, um dasſelbe Spiel unbeſorgt unter anderem Namen zu wiederholen. Da er ſich mit Vorliebe nach außerhalb abmeldete, waren Nachforſchungen über jei- nen Verbleib ausgeſchloſſen. Und wollte wirklich je- mand wiſſen, wo er vorher geweſen, ſo nannte er irgend eine ausländiſche Stadt. Wer mochte den Kreuz- und Querzügen eines Weltbummlers nach- ſpüren? |

Im Haufe Kemnitz galt Fröhden als ein in Berlin anſäſſiger, wenn auch häufig auf Reifen befindlicher Ingenieur.

Augenblicklich ſaß er an ſeinem Schreibtiſch. Vor

Kriminalroman von Theodor Kabelitz 61

—— un —— nun ——— . ———ñ— nee u

ihm ſtand eine größere Kaſſette aus Aluminium. Der Dackel war aufgeſchlagen. Fröhden lehnte ſich in den Stuhl zurück und blies den Rauch feiner Zigarre in dicken Wolken von ſich nach der unbewußten Art man- cher Leute, die angeſtrengt nachdenken.

Der jüngſte ſeiner Anſchläge reifte dem Gelingen entgegen. Frau Konſul Götze war bereit, in Urſulas Geſellſchaft die Reiſe über das große Waſſer anzu- treten. Befand ſich die alte Dame erſt völlig in ſeiner Gewalt, fo bot ſich auf dem Schiff oder nach der Lan- dung leicht Gelegenheit, ſich ihrer zu entledigen. Tote werden keine Ankläger, das war George Fröhdens Grundſatz. Gefahr lag vorläufig ja nicht vor, wenn ſich die Abreiſe auch noch etwas hinausſchob. Urſula prüfte die Poſt der alten Dame in bezug auf Ein- gänge aus Amerika für den Fall, daß der Abſturz nicht den Tod ihres Sohnes herbeigeführt haben ſollte. Aber längere Zögerung ſchien ihm zum mindeſten überflüſſig. Er wollte die Hände frei haben für weitere Unternehmungen.

Daneben ſprach noch ein zweiter Grund für Be— ſchleunigung in Sachen Götze. Fröhden liebte ſeine Schweſter auf feine Weiſe. Er zweifelte keinen Augen- blick, daß Urſula in jeder ernſten Frage unentwegt an ſeiner Seite ſtehen werde. Aber zugleich hielt er ihre Neigung zu Schmidt für tiefgehend genug, um ſie unter Umſtänden in gefährliche Lagen zu verſtricken. Urſula war ein Weib und als Weib ihrer Natur unter- worfen. Wenn aber die Empfindungen, die Schmidt in ihr wachgerufen hatte, mehr bedeuteten als eine Laune, die der Augenblick bringt und der Augenblick verweht, ſo würde ſie Mittel und Wege ſuchen, den Mann an ſich zu ziehen. Vielleicht N ſie dieſelben ſchon gefunden.

62 Und nähme ich Flügel der Morgenröte ——— EEE EEREEEEEEREEEEN

Darin lag die Möglichkeit einer Gefahr, der Fröh- den jedenfalls rechtzeitig begegnen mußte.

Fröhden legte den Reſt ſeiner Zigarre aus der Hand. Einem Fach der Kaſſette entnahm er das Ma- terial zu einer Barttracht, an deren Fertigſtellung er ſchon längere Zeit gearbeitet hatte. Die Geſchicklich- keit, mit der er ans Werk ging, bewies zur Genüge, daß ihm die Kunſt des Perückenmachens nicht fremd war. Was er zur Maskierung von Kopf und Geſicht gebrauchte, fertigte er ſich ſtets ſelbſt an. So gab es niemand, der ſeine Heimlichkeiten kannte oder auch nur ahnte. Nicht ohne Grund hielt er fein natürliches Ge- ſicht bartlos und das Kopfhaar ganz kurz geſchnitten. Dadurch wurde die Verwendung künſtlicher Haartrach- ten weſentlich erleichtert. Jetzt lag ihm daran, ſich eine Maske zu ſchaffen, die auch Urſula nicht kannte.

Nach einer Stunde eifriger Arbeit war das Werk ſo weit gefördert, daß er vor dem Spiegel Anprobe halten konnte. Friſur und Varttracht waren der von Walter Schmidt nachgebildet. Als geübter Mimiker hatte Fröhden ſeine Züge derart in der Gewalt, daß er nach vorangegangener Übung jeden ausdrucksvollen Kopf nachahmen konnte. Hier und da half er jetzt mit einigen Schminkſtrichen nach. Dann aber war die Ahnlichkeit mit Walter Schmidt ſo vollkommen, daß er ſelbſt ein Lächeln nicht unterdrücken konnte. „So, kleine Urſel, nun wollen wir gelegentlich die Probe machen.“

Nachdem der vielgeſtaltige Herr die falſche Haar- tracht wieder abgelegt hatte, wuſch er ſein Geſicht und verwandelte ſich darauf in die Phantaſiegeſtalt des Mr. Allington. Sein Kleiderſchrank enthielt Anzüge in verſchiedenſtem Schnitt, ſo daß er ſeine Tracht dem zurechtgemachten Kopf anpaſſen konnte.

Kriminalroman von Theodor Rabelig 63

Bevor er aber zu Frau Götze hinausfuhr, um Urſel abzuholen, ließ er das Auto vor einer lithographiſchen Kunſtanſtalt in der Leipziger Straße halten.

„Sind die Verlobungskarten für Fröhden fertig?“

„Werde gleich nachſehen,“ ſagte die Dame hinter dem Verkaufstiſch.

g Nach kurzer Zeit kam ſie mit einem zierlichen Karton zurück.

Fröhden prüfte Ausführung und Text der buchartig gefalteten Karten. Auf einem Blatt ſtand eine An- zeige, die als von den Brauteltern ausgehend gedacht war, auf dem angebogenen zweiten Blatt war zu leſen: Als Verlobte empfehlen ſich Jeannette Grandidier George Fröhden. Paris Berlin.

Fröhden ſteckte das Schächtelchen ein und erlegte den geforderten Betrag. Dann ſtieg er in das Auto, um nunmehr als Mr. Allington zu Frau Konſul Götze zu fahren. ö

Da es ſich um eine Verabredung handelte, wartete Urſel bereits auf ihn.

Eine halbe Stunde darauf ſaßen die Geſchwiſter vereint in der rebenumrankten Box einer feinen Wein- ſtube der Friedrichſtadt, wo ſie unbeſorgt plaudern konnten.

„Wie ſieht's in der Tiergartenſtraße aus?“ fragte Vrſel.

„Die verſchließbare Wandöffnung über dem Pult, durch die ich das Lichtbild vom Nebenraum her auf die Leinwand werfen konnte, iſt wieder beſeitigt. Alles ſieht aus wie vorher. Die Villa ſteht zur Verfügung des Ausſchuſſes. Und wie weit bift du ſelbſt, Urſel? Ich meine, wie ſchaut's mit der Abreiſe aus?“

„Die Sache iſt erledigt das weißt du. Die alte Dame wird uns begleiten, ſobald wir reifen wollen.

64 And nähme ich Flügel der Morgenröte

Die Geldſachen mußt du ſelbſt mit ihr beſprechen. Aber ich meine auch jetzt noch, wir ſollten die Sache nicht überſtürzen. Da find die Dienſtboten nebſt der Nachbarſchaft und wer ſich ſonſt dafür intereſſiert. Der Haushalt muß langſam aufgelöſt werden. Die Abreiſe darf auch nicht entfernt wie eine heimliche Entführung ausſehen.“

„Vollkommen richtig! Aber nutzloſes Aufſchieben kann auch gefährlich werden.“ | „Haben die Zeitungen nichts mehr über den Fall

Götze berichtet?“

„Nein. Aber wenn ich auch nicht glaube, daß von drüben jetzt noch Nachricht kommt, eine Garantie iſt nicht geboten.“

„Ich nehme die Poſt regelmäßig ſelbſt in Empfang.“

„Du biſt nicht immer da.“

„Ich weiß die Zeiten, wann der Briefträger kommt, und richte mich danach.“

Urſel hatte das Kinn leicht auf die Hand geſtützt. Ihre Augen folgten dem ausgeſtreckten Zeigefinger der Rechten, wie er unſichtbare Hieroglyphen auf die Tiſch⸗ platte ſchrieb. Dann hob fie plötzlich den Kopf. „Iſt es nicht bald genug, George?“

„Was iſt genug?“

„Ich meine, ob es nicht bald reicht, jedem von uns ein ſorgenfreies Daſein zu ermöglichen?“

„Was verſtehſt du unter einem ſorgenfreien Da- fein, Urſel? dich ſatt dich gut ſatt! Trink auch dazu! Im Winter Theater, im Sommer eine Reife dazu wird's wohl reichen. Aber Urſel, war das unſer Ziel?“

„Jedes Ding muß doch ſchließlich ein Ende haben.“

„Ich weiß nicht, wie du mir heute vorkommſt, Urſel. Brave Bürgersleute ziehen ſich vom Geſchäft

Kriminalroman von Theodor Kabelitz 65

zurück, um von ihren Renten zu leben. Das können wir doch nicht! Für uns gibt es kein Ausbiegen, kein Innehalten auf der betretenen Bahn.“

„Inzwiſchen verfliegen die ſchönſten Jahre des Le- bens ohne Zweck, ohne Inhalt!“

„Du wirft ſentimental, Urfel! Oder haſt du be— ſondere Gründe zu ſolchen Gedanken? Halt, da fällt mir etwas ein.“ Er zog den Karton mit den Der- lobungskarten heraus. „Sieh dir das einmal an, Urfel!“

Erſtaunt ſah fie auf die zuſammengebogene Karte. „Das haſt du getan? Du willſt alſo glücklich ſein, und ich ſollte es nicht dürfen! Mir predigſt du Verzicht, und du ſelbſt —“

Mit überlegenem Lächeln hörte Fröhden den Aus— bruch an. „Biſt du fertig, Urſel? Dann gib acht! Dieſe Jeannette Grandidier exiſtiert gar nicht. Die Verlobung iſt nur ein Trick, der mir Bewegungsfrei— heit ſchafft. Wenn Nr. Allington mit der Frau Konſul über See geht, verſchwindet auch Fröhden. Das könnte auffallen. Wenn aber Fröhden vorher erklärt, er habe ſich verlobt, und geht nach Paris zu feiner Braut, wun- dert ſich kein Menſch. Übrigens habe ich geſtern mein Flugzeug nach Hamburg aufgegeben.“

„Mag ſein, daß du alles richtig berechneſt aber ich bin ſo müde, George, ſo ſehr müde!“

„Weſſen müde?“

„Unſeres Weges müde, unſeres Lebens. Ich will auch unter die Leute gehen, wie ich wirklich ausſehe, nicht immer verkleidet und maskiert, heute ſo und morgen anders.“

„Als ſchöne, junge, wohlhabende Dame meinſt du?“

„Es kommt mir vor, als wäre ich gar nicht mehr ich ſelbſt. Wie ausgetauſcht komme ich mir vor.“

1915. XIII. 5

66 Und nähme ich Flügel der Morgenröte

„Ja, das Leben im Hauſe Götze hat meine liebe Urſel verdorben. Deine Stimmung beweiſt, daß du ein wohlumfriedigtes Daſein im Bürgerhauſe nicht ertragen kannſt. Es wird Zeit, daß wir weiter kommen!“

„Im Gegenteil! Der Aufenthalt bei Frau Konſul beweiſt mir täglich mehr, worauf ich verzichte, welches Leben ich aufgegeben habe!“

„Verzichtet, Urſel? Ich denke, von dem Kartoffel- korb, der deine Wiege war, von der Exiſtenz der fah- renden Leute fand ſich wenig Gelegenheit, aufzugeben und zu verzichten.“

„Mag ſein. Aber die alte Frau tut mir leid. Sie meint es wirklich gut mit mir. Und wenn ich dann denke, wie ich ihr lohne und lohnen ſoll George, manchmal packt mich ein Grauen vor mir ſelbſt.“

„Es kommt etwas ſpät, dieſes Grauen!“

„Ich wünſchte, du möchteſt ſie ſchonen.“

„Haſt du gehört, daß der Löwe davonſchlich, wenn er zum Sprung angeſetzt hatte? Schlag dir doch ſolche Schwäche aus dem Sinn, Urſel!“

Als Mr. Allington ſeine Schweſter vor dem Hauſe der Frau. Konſul Götze aus dem Auto ſteigen ließ, ging er nicht mit hinein. „Viele Grüße!“ rief er ihr nach, dann fuhr er zur Stadt zurück.

Während ſeine Augen über den Rand des Ge— fährts hinweg die Paſſanten auf dem Vürgerſteig ftreif- ten, wälzten ſich die Gedanken durch ſein Hirn. „Es wird Zeit, die allerhöchſte Zeit!“ murmelte er zwiſchen den Zähnen.

Anna Kemnitz befand ſich noch immer in durchaus kriegeriſcher Stimmung. Wenn Walter Schmidt kein Bedürfnis fühlte, gelegentlich ein paar Worte mit ihr

Kriminalroman von Theodor Kabelitz 67

zu wechſeln, ſie ſelbſt brauchte ſeine Geſellſchaft ganz gewiß nicht.

185 traf Fröhdens Verlobungsanzeige ein.

„Na, ſo was!“ rief Frau Kemnitz, als ſie den Um- ſchlag entfernt hatte. „Fröhden hat ſich verlobt!“

„Mit wem denn?“ fragte Anna gleichgültig.

„Hier iſt die Karte! Eine Pariſerin!“

„Darum iſt er alſo öfter hinübergefahren!“

Damit war die Sache für ſie erledigt.

Gegen Abend kam Lieschen Kleberg, die Nachbars- tochter, auf einen Augenblick zum Plaudern herüber. Sie hatte eine große Neuigkeit auf dem Herzen, aber erſt nachdem ſie von Fröhdens Verlobung Kenntnis erhalten, kam ſie damit heraus.

„Geſtern abend waren wir im Konzert.“

„War's ſchön?“

„Weißt du, wer auch da war? Herr Schimnidt euer Mieter! Er war nicht allein. Mit einer jungen Dame ſaß er am Tiſch. Schade, daß du ihn nicht auch geſehen haſt!“

Anna Kemnitz fühlte, daß ſie beobachtet wurde. Auf keinen Fall durfte ſie ſich etwas merken laſſen. „War ſie hübſch?“ fragte ſie ruhig. Sie wunderte ſich ſelbſt über den gleichgülligen Ton, in dem die Frage über ihre Lippen kam.

„Na, das ließ ſich aushalten,“ meinte Lieschen Kle— berg einigermaßen enttäuſcht. Dann zog ſie kräftigere Saiten auf. „Du hätteſt nur ſehen ſollen, wie ver— tieft er in die Unterhaltung war. Kein Auge hat er von ihr gelaſſen. Ich bin etliche Male dicht vorbei- gegangen, aber er hat mich gar nicht geſehen.“

„Laß ihn doch! Was geht's uns an?“ ſagte Anna Kemnitz mit einiger Anſtrengung. „Oder hatteſt du dir Rechnung auf ihn gemacht?“

68 Und nähme ich Flügel der Morgenröte

„Ich? Nicht in die Hand! Aber ich dachte, du biſt doch viel mit ihm zuſammengeweſen und —“

„Da irrſt du dich aber gründlich!“

„Deſto beſſer! Ich glaube, die beiden find ſich ſchon einig. Es ſah ganz danach aus. Na, gute Nacht, Anna!“

Dann ſtand Anna Kemnitz am Fenſter und blickte auf die Straße hinab. Sie ſah nichts von Ben! Treiben dort unten.

Hatte nicht einmal ein Wort ſie berührt von einer Zukunft in Roſenrot? War fie es ſelbſt, die das Leben vor ſich geſehen hatte wie den jungen Tag, bevor die Sonne aufgeht?

Jugend und Schönheit Glück und Liebe!

Verklungen, verweht ſo lange, ſo lange ſchon! Und vor ihr lag die A ſo fern, ſo weit und ſo freudenleer!

And dann kam die Nacht, die endloſe Nacht. Anna Kemnitz lag auf ihrem Bett und ſtarrte in der Dunkel- heit zur Decke empor.

Was eben hatte aufblühen wollen, war ſchon zer treten. Für fie gab es keine Zukunft mehr. Trüb und grau lag der kommende Tag vor ihr alle kom— menden Tage. Jugend und Schönheit verblühten. Für fie blieb weder Liebe noch Glück. Nur die Sehnfucht tebie, die namenloſe Sehnſucht.

(Cortſetzung folgt.)

3

Feldgrau Don Max Tentwich

mit 12 Buldern nach Aufnahmen des Derfaffers Machdruck verboten)

Bach ungefährer Schätzung hätte man mit dem

| NI für unſeren gegenwärtigen Heeresbedarf er:

b forderlichen „Feldgrau“ in üblicher Breite don

1,40 Meter zunächſt den Aquator im feiner ganzen

Länge einmal umſpannen können, und es Wäre dann wahrſcheinlich noch ein „Flicken“ übriggeblieben, der werſchiedene Male von Berlin bis Paris gereicht hätte.

Die jetzt faſt völlig erledigte Bewältigung des rieſigen Heeresbedarfes iſt das glänzendſte Zeugnis für die Leiſtungsfähigkeit der deutſchen Textilinduſtrie,

und auch der Laie wird dieſe Glanzleiſtung auf ſeinen

vollen Wert einſchätzen, wenn er einen Einblick in das Getriebe einer Tuchfabrik tun kann.

An Rohmaterial hat trotz der verminderten Zufuhr die „große Wollwoche“ den Bedarf auf lange Zeit hinaus gedeckt und damit außerdem noch brachliegen- den Vorräten neuen Wert gegeben. Auch wurde die geſamte deutſche Schafſchur des laufenden Jahres von

der Militärverwaltung mit Beſchlag belegt.

Rohe Schafwolle, mit der altes Material 175 ge⸗ miſcht wird, unterliegt zunächſt einer gründlichen Reini-

gung von Sand, Staub, Wollſchweiß, wird dann far- . bonifiert, das heißt die anhaftenden pflanzlichen Stoffe, Kletten uſw., werden durch Schwefelſäure und Heiß- luft verbrannt und mittels einer Schleudermaſchine

entfernt, abermals gewaſchen und dann den en übergeben.

In Friedenszeiten werden ja die Anzugſtoffe Rach Kammgarn, Cheviot, Homeſpun und anderen Geweben ſtreng getrennt und in der Auswahl der Zutaten bis zum Schafe hin unterſchieden. Es gibt für beſtimmte

70 Feldgrau

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Stoffe eigens gezüchtete Schafe, und vom abgeſchorenen Vlies wird die Rücken- und Schulterwolle anders be—

Karboniſieren der rohen Schafwolle; Waſchen und Schweifen fertiger Gewebe.

wertet als die des Bauches und der Beine. Derartig peinliche Unterſcheidungen des Rohmaterials find für

un

Don Max Nentwich 71

die Herſtellung feiner und teurer Wollſtoffe üblich und auch nötig; ein Vorzug unſeres Feldgraus aber beſteht gerade darin, daß alle Grundſtoffe, langhaarige Ramm- garn- und kürzere Streichgarnwolle, friſches wie bereits verwebtes Material, allerdings in geeigneter Zufammen-

Wolf, der mit eiſenſtiftbeſetzter Trommel im Inneren des Apparats die Rohwolle lockert und left.

ſtellung, verwendet werden können, da die weitere Ve— handlung durch Walken und umſtändliche Appretur eine feſte, tuchartige Verfilzung ſchafft, die eine der- artig peinliche Auswahl der Rohſtoffe nicht erforder- lich macht.

Alte Wollgewebe, wie fie die Reichswollwoche zu— ſammenbrachte, werden nach Oesinfektion, Reinigung,

72 Feldgrau

ungefährer Zerkleinerung und Sortierung den Reiß— wölfen übergeben, die das ehemalige Geſpinſt ee und auflockern. |

Die in vielfachen Syſtemen vorhandenen Wölfe beſtehen im weſentlichen aus einer größeren, mit Stahl- zähnen beſetzten Trommel, die in ſchnell kreiſender Bewegung das ihnen auf Förderbrettern zugeführte Material weniger zerreißen als vielmehr aufhaaren, lockern, und die Rohſtoffe müſſen ſo viele Wölfe durch- laufen, als eben erforderlich find; die richtige Beurtei- lung dafür liegt, wie vieles andere, der Geſchicklichkeit des Webmeiſters ob. Die Apparatur des Wolfes iſt völlig umkleidet, weil die ſchnelle Drehung das Material ſonſt umherſchleudern würde. Das Wollmaterial durch- läuft nach dem groben Reißwolf immer feiner gezahnte Apparaturen.

Im letzten Wolf erhält es einen „Schmelz“ durch irgend ein verſeiftes Fett oder Ol, damit das Haar geſchmeidig wird. Die Schafwolle verläßt den letzten Wolf als weißer, watteartiger, elaſtiſcher Bauſch, die Altwolle, je nach früherer Beſchaffenheit farbig und in reichlich aufgelockertem Zuſtande.

Nun erfolgt die Miſchung, und die weitere Ver— arbeitung erledigen drei ſogenannte „Krempel“, im Prinzip den Wölfen ähnlich, nur daß um den großen Tambour eine ganze Anzahl von Walzenpaaren an- geordnet ſind, deren feine Stahlhäkchen das Wollhaar noch weiter aufdrüſeln, auseinanderziehen und nach derſelben Richtung legen. Die eine Walze eines jeden Walzenpaares bearbeitet die durchziehende Wollmaſſe auf der einen, die andere auf der entgegengeſetzten Seite; ſie heißen daher „Arbeiter“ und „Wender“, geben das durch Kämme losgelöſte Material immer wieder zum Tambour zurück, der es an ein weiteres

Von Mar Nentwich 73

Walzenpaar weitergibt, bis es ſchließlich von einer zweiten, großen Häkchenwalze, dem „Peigneur“, als ganz weicher, dünner, zarter Flor losgelöſt und auf endloſem Brettchenbande der zweiten Krempel ſelbſt— tätig zugeführt wird. Während die Zahntrommeln in den Wölfen aber ihre Arbeit in raſendem Lauf ver-

richten, drehen ſich die Häkchenwalzen der einzelnen Krempelmaſchinen ihrer Arbeit entſprechend ganz langſam.

Die erſte Krempel, die „Reißkrempel“, macht mit breitſtehenden Häkchen die gröbere Arbeit, drüſelt, ſtreckt das einzelne Haar, legt es in Richtung, zieht und ſucht die Kräuſelung des Haares zu dehnen. Auf dem dritten Bild ſind links die um den Tambour arbeitenden Walzen mit dem noch ſehr flockigen Wollmaterial deut-

74 Feldgrau

lich zu erkennen; man erſieht ohne weiteres, daß es ſich noch um die erſte Arbeit der SULIOSECHNG des Gehärs handelt.

Die zweite Krempel, die „Pelzkrempel“, mit ihren

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Mittlerer Gang der Vorſpinnkrempel.

enger ſtehenden Häkchen auf Tambour, Walzen und Peigneur verrichtet dieſelbe Arbeit, nur mit peinlicherer Sorgfalt; das Gehär bekommt immer mehr den Cha— rakter ſauber ausgekämmten Wollhaares. Und was nun noch zu tun bleiben ſollte, das erledigt die dritte Krempel, die „Vorſpinnkrempel“, in der das Gehär der Wolle wie von zarten Fingerchen Haar neben Haar gelegt erſcheint, ein ganz weicher, duftiger Flor. Die maſchinellen Einrichtungen der drei Krempel ſind der— art, daß der eine jede Krempel verlaſſende Wollflor, auch Pelz oder Vlies genannt, von niemand angefaßt

Von Mar Nentwich 75

zu werden braucht, da jede Berührung den dunſtweichen Flaum verletzen würde; er wandelt vielmehr ſelbſttätig von einer Krempel zur anderen. Zn der dritten, eben der „Vorſpinnkrempel“, vollzieht ſich die wichtige Ver- wandlung des flaumigen Wollflors zur Fadenbildung.

Durch ſehr finnreihe Kreuzführung einer großen Anzahl je 1 Zentimeter breiter Riemchen wird hier dieſer zarte Wollflor in je 1 Zentimeter breite endloſe Bändchen getrennt, die durch ſehr geſchickt konſtruierte Lederfinger „gewürgelt“ oder „genitſchelt“ werden, das

Der Selfaktor (Selbſtſpinner).

heißt es wird ihnen wie durch Würgeln zwiſchen Daumen und Zeigefinger wohl eine rundliche Form gegeben, ohne daß ſie eigentlich gedreht werden. Die ganze Reihe, etwa 40 Stück, dieſer bauſchigen, aber ganz

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76 Feldgrau

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loſen, weichen, ungedrehten und daher auch ſehr emp- findlichen „Vorgarnfäden“ rollt ſich ſelbſttätig auf die Vorgarnwalzen über der dritten Krempel auf.

Noch hat dieſer Faden nicht die geringſte Feſtigkeit; er iſt, wenn man ſo ſagen darf, nur aus einer Anzahl zuſammengelegter Wollhärchen gebildet. Drehung und damit Feſtigkeit erhält der Faden erſt durch das Spinnen, eine Arbeit, die früher mit dem Spinnrad mühſelig und zeitraubend dahinſchlich, heute durch klug erſonnene Spinnmaſchinen erledigt wird.

Die Konſtruktion des „Selfaktors“ oder Gelbit- ſpinners hat die Wollſpinnerei zu einer kaum glaub- lichen Leiſtungsfähigkeit emporgehoben. Bis 500 Spin- deln find in kerzengerader Reihe auf ein langes, fahr- bares Geſtell aufmontiert; es bewegt ſich frontal auf ein anderes Geſtell zu, in das die Vorgarnwalzen der Breite nach eingehangen find. Die Spinnerin hat nun als Anfangsarbeit einen Vorgarnfaden nach dem anderen durch verſchiedene Führungen hindurch je einer Spindel zuzuführen. Bit das beendet, jo bewerkſtelligt der Apparat die ganze weitere Spinnarbeit vollſtändig allein für alle 500 Fäden, die zu gleicher Zeit bearbeitet, gedreht und aufgehaſpelt werden. Es iſt im Verlauf der weiteren Arbeit dann immer nur für jede abge- ſponnene Vorgarnwalze eine neue einzuſetzen, und deren Fäden ſind an die abgeſponnenen anzuknüpfen.

Der Selbſtſpinner arbeitet, indem der Wagen mit der ganzen Front Spindeln ſich ſelbſttätig von dem Geſtell mit den Vorgarnwalzen entfernt und dadurch zu gleicher Zeit 500 Fäden Vorgarn abrollt, jedoch vorerſt nur in einer Länge von etwa Meter; hier hören die Vorgarnwalzen plötzlich auf, ſich weiterzu— drehen, der Wagen aber fährt noch etwa ! Meter weiter, ſtreckt alſo das Garn faſt um ſeine ganze Länge, und.

Von Max Nentwich 77

| . nun beginnen die 500 Spindeln ſich in ganz beſtimmter, vom Webmeiſter eingeſtellter Tourenzahl und Schnellig- keit zu drehen, wodurch der geſtreckte Faden ſeine Drehung, wie der Spinner ſagt, ſeinen „Draht“, er- hält. Während der langgeſtreckte Spindelwagen dann zurück zu den Vorgarnwalzen fährt, um neues Vorgarn abzurollen, ſpult ſich das fertiggeſponnene Garn jelbit-

3

Leimmaſchine für die „Kette“.

tätig auf die drehenden Spindeln auf. Sie bleiben ſogleich ſtehen, wenn der Wagen ſein Ziel erreicht hat, denn ſonſt würden die Fäden reißen müſſen. Dann rollt der Wagen durch ſein Ausfahren wieder 500 Fäden Vorgarn ab, wieder bleiben die Vorgarnwalzen nach einer beſtimmten Länge ſtehen, der Wagen fährt weiter, ſtreckt die Fäden, und die Spindeln beginnen von neuem zu ſurren.

Dieſes erſte Spinnprodukt iſt aber noch ſehr dünn

78 Feldgrau

und empfindlich; drei bis vier und mehr Fäden ver- einigt, gezwirnt, ergeben erſt einen webfähigen Faden.

Auch die Arbeit des Zwirnens vollzieht ſich in den Zwirnmaſchinen vollſtändig ſelbſttätig. Es tritt aber hier eine Teilung des Materials ein. Man unterſcheidet „Kettenfäden“, die dann im Webſtuhl die „Kette“ (Längsfäden) bilden, und den „Schuß“, jene Fäden, die im Schiffchen oder Schützen zwiſchen den Ketten- fäden hindurchgeſchoben werden. Nach jedem Schuß wechſeln die oberen und unteren Kettenfäden, und es entſteht die in grobem Leinen ganz deutlich ſichtbare kreuzweiſe Fadenführung, die ſogenannte Bindung des Gewebes.

Die zur „Kette“, alſo in der Längsrichtung zu ver⸗ wendenden Fäden werden, weil ſie bedeutend größeren Anſprüchen genügen müſſen, auch beſonders behandelt, ſtärker und feſter gezwirnt, geleimt, getrocknet und dann erſt auf den Kettenbaum gerollt, während die Schuß fäden je nach Bedarf gefärbt, gedämpft und dann auf die kegelförmigen Pfeifen geſponnen werden, die als Einlage für die Schiffchen oder Schützen dienen.

Die auf dieſe Weiſe vorgearbeiteten Fäden ſind nun webfertig.

Die Weberei iſt gleichfalls vom gandbetrieb längſt zum maſchinellen übergegangen, und das Schiffchen, das wir in ſchleſiſchen Dörfern noch vom Handweber geworfen gemächlich zwiſchen den Garnreihen der Kette hinflitzen ſahen, wird heute von der Maſchine wie mit der Schleuder durch die 2,40 Meter breit geſpannten Kettenfäden hindurchgejagt, und der Gegenſchuß folgt ihm fo ſchnell, daß man kaum an den inzwiſchen er- folgten Wechſel der oberen und unteren Kettenfäden glauben will.

Der Weber von heute, der ſeine Akkordarbeit nach

Von Mar Nentwich 79 ——— sn —4öũ—äP— Schuß bezahlt bekommt, überwacht nur ſorgſamen Auges den Gang ſeines Webſtuhls und ſucht jedes Hindernis zu umgehen, Zerreißen des Fadens möglichſt geſchickt und ſchnell wieder in Ordnung zu bringen. Da der zartere Schußfaden dem Zerreißen weit mehr ausgeſetzt iſt als die Kette, ſtehen dem Weber eine ganze

Blick in eine Großweberei.

Anzahl fertiger Schützenſpulen zur Hand, die ſchnellſte Auswechſlung ermöglichen. Und fo ertönt in den mechaniſchen Webereien faſt ohne Unterbrechung das harte Geräuſch der Eiſenfedern, die in raſender Haſt die Schiffchen von einer Seite des Webſtuhls zur anderen jagen.

Für gemuſterte Anzugſtoffe ſind rechts und links des Webſtuhls „Wechſelladen“ vorgeſehen, in denen pis

2

80 Feldgrau

acht Schützen ausgewechſelt werden können, ſo daß auch die Kunſtweberei heute nur noch ein mechaniſcher Be— trieb iſt. Jetzt aber, wo alles in Feldgrau läuft, fallen dieſe Sonderheiten natürlich weg, und die Schiffchen

A Entfernung der Knoten.

ſauſen immer nur aus einer Kammer wild durch die Ketten hindurch, die wie in einem taktmäßigen Sturm- ſchritt ihr Oben und Unten wechſeln.

Die Färbungen werden erzielt durch Miſchung ſchwarzer und weißer Rohmaterialien ſowie durch Färben vereinzelter Ketten- und Schußfäden.

Das Gewebe iſt, wenn es den Webſtuhl verläßt, porläufig ein rohes, ziemlich feſtes Produkt, das die

Von Max Nentwich 81

Fäden und deren Bindung ganz deutlich zeigt. Erſt die weitere Behandlung macht daraus unſer feldgraues Tuch, bei dem man auch durch Aufdrüſeln kaum mehr die einzelnen Fäden unterſcheiden kann.

Zunächſt wird das Gewebe auf Webfehler ine: ſucht, Knoten werden mit dem Noppeiſen entfernt, andere Fehler ausgebeſſert.

Die einzelnen Phaſen der weiteren Bearbeitung, das Waſchen des Gewebes von Öl, Kettenleim und

Tuchwäſcherei.

anderen Unreinigkeiten, nebſt dem darauffolgenden

Schweifen, ferner das Walken und die nachfolgende

Wäſche werden in ziemlich gleichartigen Apparaten er-

ledigt. In einem hohen Kaſten, deſſen untere Hälfte 1915. XII. 6

82 u Feldgrau

ein Bottich zur Aufnahme der jeweiligen Flüſſigkeit bildet, befindet ſich oben eine größere, ſich drehende Holztrommel. Das ganze Gewebeſtück wird über die Trommel geworfen, und die beiden Enden werden zu— ſammengenäht, ſo daß das Ganze ein endloſes Band darſtellt, das bei Bewegung der Trommel in ſtetem

Schermaſchine.

Wechſel das Gewebe aus der Flüſſigkeit emporhebt und es auf der anderen Seite der Trommel wieder in dasſelbe hinabſenkt. Gewöhnlich laufen in einem Apparat drei Webſtücke, die im unteren Teil, alſo im Bottich, durch ein Holzgatter getrennt ſind, damit ſie ſich nicht ineinanderſchlingen.

Das Gewebe wird nun zuerſt in einer Reinigungs- lauge gewaſchen und darauf mehrfach in klarem Waſſer

Von Mar Nentwich 5 83

geſchweift. Eine kräftige Zentrifuge ſchleudert das Waſſer aus dem Stoff, und die weitere Trocknung

Letzte Prüfung des fertigen Stoffes.

geſchieht durch heiße Luft. Wieder wird nach etwa entdeckbaren Fehlern gefahndet und jeder Makel aus— gebeſſert. Dann folgt das Walken, wobei der Stoff

84 Feldgrau

in vorbeſchriebener Weiſe durch heiße Walklauge läuft, die durch zwei eingeſchobene Preßwalzen immer wieder ausgedrückt wird. Die gleichzeitige Einwirkung von Hitze, Feuchtigkeit, Atzlauge und der rollende Druck der Preßwalzen vollziehen eine derartige Verfilzung der Wollfaſern des Gewebes, daß man in dieſem Tuch die Webfäden nicht mehr zu unterſcheiden vermag.

Wickelmaſchine.

Wieder folgen Waſchen, Schleudern, Trocknen und abermalige Prüfung; dann kommt das Tuch mit er- neut zuſammengenähten Enden in die Schermaſchine; die es ſo oft wie erforderlich durchläuft. Auf langſamer Wanderung in völlig glattgeſpanntem Zuſtande kommt hier das Tuch dicht unter einem flach aufliegenden Meſſer an, auf deſſen Schneide genau eine korkzieher- artig geformte Walze ſich dreht, deren Spiralwindungen

Von Max Nentwich 8⁵

ſcharf geſchliffen ſind. Alles überſtehende Haar wird abgeſchoren, und eingeſchaltete Walzenbürſten heben umliegendes Haar immer wieder zu den Meſſern empor. Das Tuch läuft ſo lange durch die Schermaſchine, bis das Ergebnis zufriedenſtellend iſt.

In weiteren Maſchinen wird dann das Tuch je nach Bedarf wieder etwas aufgerauht, gebürſtet, geglättet, zwiſchen Pappen auf Glanz gepreßt und in Dekatier- zylindern unter Dampf geſtellt, wieder gebürſtet, über den Dampftiſch gerollt ſchließlich bleibt von dem 2,40 Meter breiten Gewebe ein Tuch von nur 1,40 Meter Breite übrig, das natürlich auch in ſeiner Länge in demſelben Verhältnis zuſammengeſchrumpft iſt, dem nun aber jede Möglichkeit weiteren „Eingehens“ ge- nommen iſt.

Endlich erfolgt die Generalprüfung vor ſachkundigen Augen. Noch einmal wird unterſucht und nach der ge— ringſten Unebenheit gefahndet; was ſich irgendwie noch findet, wird an Ort und Stelle in vollendeter Weiſe berichtigt, und nun erſt, nach der ganzen Wanderung von den Wölfen bis zur letzten Prüfung, iſt das Fabrikat endgültig nadelfertig.

Die Wickelmaſchine verrichtet die letzte Arbeit: Aus- meſſen, Maßpapiereinlegen, Aufwickeln des einmal längsgefalteten Stoffes zu den bekannten Stoffballen. Nach Angabe der Deſſinnummer, Stücklänge uſw. iſt unſer Feldgrau endlich verfandfertig, und nur bei der gegenwärtig ſo geſchickten Arbeitseinteilung in der Schneiderei kann unter Umſtänden das, was vor weni- gen Tagen noch Lumpen und Schafwolle war, ſchon zum Ehrenkleid für unſere Vaterlandsverteidiger um- gewandelt ſein. .

® *

Der Braſilianer Erzühlung aus neueſter Zeit von Carl Schüler

Machdruck verboten) an die weißgekalkte Wand des niedrigen Fachwerk— baues hatte Peter Barth mit ſchwarzer Ölfarbe 3 felbft ſeine Firma gemalt. Die Buchſtaben ſahen aus, als habe der Wind fie ein bißchen durcheinander- geworfen. Aber das ſchadete nichts. Die Braſilianer auf dem Kamp, die zu ſeiner Kundſchaft zählten, konnten ſowieſo nicht leſen, und die deutſchen KRolo- niſten auf der anderen Seite des Rio dos Papageios waren auch gerade keine Schriftgelehrten.

„Seccos e molhados de Pedro Barth“, lautete die Inſchrift. Peter Barth hatte ſie ziemlich gleichmäßig über die drei tagsüber offenen Türen feines Gefchäfts- hauſes verteilt.

Er war Subdeligado des fünften Oiſtriktes des Mu- nizips Santa Roſa, und als ſolcher hielt er ſich geradezu für verpflichtet, ſeinen guten deutſchen Namen Peter in Pedro umzuwandeln. Es war ihm das ganz ſelbſt— verständlich erſchienen, und weder feine deutſche noch ſeine braſilianiſche Kundſchaft verlor darüber ein Wort.

Nur der verſoffene Kerl, der Wangen, den Gerbers Anton im vorigen Jahr von Porto Alegre mit herauf— gebracht hatte, damit er den dicken Schädeln der Koloniſtenjugend die ſchwierige Kunſt des Leſens, Schreibens und Nechnens eintrichtern ſollte, hatte ihm einzureden verſucht, es ſei lächerlich, wenn ein Mann deutſcher Abkunft ſich Pedro nenne.

Dieſer Wangen war überhaupt ein frecher Kerl, aber er verſtand fein Handwerk. Die Jungen und Mädel ritten von weither zu ſeiner Lehmbaracke, die man ihm als Schulgebäude eingeräumt hatte. And ſie machten gute Fortſchritte bei ihm. Das war

Erzählung von Carl Schüler 87 ſein Glück. Sonſt hätte man ihn ſchnell wieder auf den Trab gebracht. Man läßt ſich doch von ſo einem hergelaufenen Kerl, der froh ſein muß, daß man ihn vor dem Verhungern bewahrt, nicht grob kommen.

Und dieſer Menſch konnte, wenn ihm etwas gegen den Strich ging, ſackſiedegrob werden. Dann nahm ſeine Stimme einen ganz eigentümlichen, harten, metalliſchen Ton an, und ſeine blauen Augen blitzten fo ſonderbar ſcharf, daß auch der großmäuligſte Brafi- lianer und der verbohrteſte deutſche Koloniſt ihm nicht ſtandhielten.

Ein Muſterreiter aus Porto Alegre, der Geſchäfts- reiſende einer großen Firma, ein Deutſchländer, der in Berlin Soldat geweſen war, hatte einmal ſo einem Auftritt beigewohnt. Seitdem behauptete der Mujter- reiter, der Wangen ſei ganz ſicher früher in Deutſch- land Offizier geweſen, das merke man gleich an ſeiner Stimme und ſeiner ganzen Haltung.

Bei Gelegenheit hatte der Jakob Kloos bei dem Wangen dieſerhalb auf den Buſch geklopft. Da war der etwas verlegen geworden.

„Quatſch!“ hatte er unwirſch geantwortet. „Unſere Offiziere drüben ſind ganz andere Kerle als ich. Einen Lumpen wie mich können die nicht gebrauchen.“

An dem Abend hatte er in der Venda des Peter Barth ſo viel von dem verteufelten Zuckerrohrſchnaps getrunken, daß ihn Gerbers Anton und der Jakob Kloos auf ſeinen alten Gaul heben mußten, damit er heimreiten konnte. Allein wäre er nicht in den hohen Bockſattel gekommen, obwohl er ſonſt ein guter Reiter war.

Es konnten Wochen, ja Monate vergehen, in denen Wangen kein Schnapsglas in die Hand nahm. Dann kamen wieder Zeiten, in denen er nicht nüchtern wurde,

88 Der Braſilianer

Dann verſchlief er die Schulſtunden, ließ die Kinder treiben, was ſie wollten, und bekümmerte ſich den Teufel was um ſein Amt. In den Zeiten war ſchlecht mit ihm anbinden. Dann war er mürriſch und zank- ſüchtig und noch viel gröber als ſonſt.

Es war im Auguſt. Es regnete Tag und Nacht. Einen ſo naſſen Winter hatte man lange nicht gehabt. Der Rio dos Papageios war voll bis zum Überlaufen.

Das hielt aber den Wangen nicht ab, eines Morgens, ſtatt Unterricht zu geben, hinüber nach der Venda des Peter Barth zu reiten, ſich auf einen Sack ſchwarzer Bohnen, den er für ſich als Sitzgelegenheit neben die Tonbank geſtellt hatte, zu ſetzen und ein Glas Zucker- rohrſchnaps nach dem anderen zu trinken.

„Er kriegt wieder ſeinen Koller,“ raunten ſich die Koloniſten zu, die bei Peter Barth ihre Einkäufe machten. „Die Kinder haben wieder Ferien.“

Am Nachmittag hatte ſich zufällig bei Peter Barth ein ganzes Dutzend Koloniſten eingefunden. Auch einige Drafilianer waren gekommen. Man ſprach viel hin und her. Einer der Braſilianer behauptete, in Europa fei ein großer Krieg ausgebrochen. Dort ginge alles drunter und drüber. Deutſchland ſei ver— nichtet, der Kaiſer ermordet, die Kaiſerin mit ihren Kindern auf der Flucht nach Nordamerika.

Die deutſchen Koloniſten lachten den Braſilianer aus. Wangen, der ſich an der Unterhaltung nicht beteiligt hatte, lachte nicht. Er ſchob ſein Glas beiſeite und brütete ſtill vor ſich hin. Nur leiſe bewegten ſich hin und wieder ſeine Lippen, und manchmal ballte er unwillkürlich die Fauſt.

Ein Muſterreiter kam an. Sein naſſer Poncho dampfte, als er in den überfüllten, heißen Verkaufs- raum trat. Ein Schwarzer ſchleppte die ſchweren

Erzählung von Carl Schüler 89 . Ledertaſchen, die die Muſter enthielten, herein und warf ſie in eine Ecke. Dann brachte er das Sattelzeug der Maultiere ins Trockene, die den Reifenden und ſeine Muſter hergetragen hatten.

„Sauwetter!“ ſchimpfte der Muſterreiter. „So ſchlechte Zeiten haben wir noch nie gehabt!“ Er drückte den Anweſenden die Hände und klopfte jeden in der landesüblichen Weiſe zur Begrüßung auf den Rücken. Als letztem gab er dem Wangen die Hand.

Der richtete den Kopf hoch, ſah ihn an und ſagte: „Hier faſelte einer von einem Krieg drüben in Europa. Deutſchland wäre auch mit dabei. Iſt das wahr?“

„Wißt Ihr denn das noch nicht?“ fragte erſtaunt der Muſterreiter zurück. „Ja, die ganze Schweinebande hat ſich zuſammengetan, um Oeutſchland abzumurkſen. Wir ſollen verſchwinden. Fort wollen ſie uns von der Landkarte wiſchen, wie Ihr mit dem Schwamm die Kreidebuchſtaben von der Tafel wiſcht. Ein Deutſch— land ſoll's künftig nicht mehr geben!“

Wangen ſtand auf und blickte den Muſterreiter zornig an. „Reden Sie keinen Unſinn. Ich bin heute nicht zu Späßen aufgelegt. Wer will Deutjchland vernichten? Wer will Deutichland von der Landkarte wegwiſchen?“

„Ich mache keine Späße,“ verſetzte der Muſterreiter ernſt. „Frankreich, Rußland, England, Belgien, Ser- bien, Montenegro und ſogar die Japaner haben uns den Krieg erklärt. Auf unſerer Seite iſt nur Ofterreich- Ungarn, Sie wollen Deutſchland unterkriegen, und leider es ſteht ſchlecht um unſer Vaterland.“

Der Muſterreiter hatte ſo laut geſprochen, daß nicht nur Wangen, ſondern auch die Koloniſten jedes ſeiner Worte verſtanden hatten.

90 Der Brafilianer

Eine lautloſe Stille trat ein.

Peter Barth, der für den Muſterreiter eine Vier— flaſche öffnen wollte, ließ den Korkzieher im Pfropfen der Flaſche ſtecken und richtete ſich aus ſeiner gebückten Haltung auf. Mit halbgeöffnetem Mund ſtarrte er den Muſterreiter an, der dieſe unmögliche Nachricht ver- kündet hatte.

War das denn auszudenken?

Alle hatten ſich vereinigt, um Deutſchland, das Land, in dem ſein Vater, ſeine Mutter geboren waren, deſſen Schönheit ihm die Eltern ſo oft gerühmt hatten, das das Ziel der Sehnſucht aller war, denen deutſches Blut in den Adern floß, zu vernichten! Er konnte es nicht faſſen. Warum denn? Was hatte Deutſchland denn den anderen getan?

Auch die Koloniſten blickten verſtört, erſchreckt, keines Wortes mächtig auf den Mann, der dieſe un- faßbare, grauenhafte Botſchaft wie eine Bombe mitten unter ſie geſchleudert hatte.

Im Geſicht Wangens zuckte und arbeitete es ganz merkwürdig. Er faßte nach ſeinem Hals wie einer, dem die Luft auszugehen droht. Es ſchien, als wolle er ſprechen, aber die Stimme verſagte ihm.

Einer von den Braſilianern bat den Jakob Kloos, ihm das zu überſetzen, was der Muſterreiter erzählt hatte. Das mußte ja etwas ſehr Intereſſantes ge- weſen ſein.

Und Jakob Kloos überſetzte es ihm, ſo gut er konnte.

Die Braſilianer ſteckten die Köpfe zuſammen. Alſo war das doch richtig geweſen, was der Juvencio vorhin behauptet hatte. Vorhin hatten die Deutſchen ihn ausgelacht. Jetzt lachten fie nicht mehr. |

Juvencio triumphierte. „Da hört ihr's!“ rief er den Deutſchen zu. „Euer Kaiſer iſt tot! Aus Deutich-

Erzählung von Carl Schüler 91

land ſeid ihr herausgeworfen! Hier werden wir euch auch bald an die Luft ſetzen!“

Er verzog ſein gelbes, von ſchwarzen Bartſträhnen umfranſtes Geſicht zu einem frechen Grinſen und zeigte ſeine zerbröckelten, ſtockigen Zähne.

Da fuhr ihm die Fauſt Wangens in die Parade.

Aus Mund und Naſe ſpritzte das Blut. Er taumelte rückwärts, erſt gegen den Türpfoſten, dann gegen die nur angelehnte Tür, und im nächſten Augenblick lag er draußen auf dem naſſen, aufgeweichten Lehmboden zwiſchen den Reittieren. „An die Luft ſetzen können wir auch!“ ſagte Wangen und wiſchte ſich den Handrücken, der mit dem Geſicht des Gegners in Berührung gekommen war, am Nock- zipfel ab. Dann verſenkte er die Hand gelaſſen in ſeine Hoſentaſche.

Es entſtand eine allgemeine Bewegung.

Die Braſilianer drangen ſchimpfend auf Wangen ein, Juvencio, der Mann mit der blutenden Naſe, raffte ſich auf und verlangte mit wildem Geſchrei von Pedro Barth, daß er den frechen Deutſchen ge— fangennehmen ſolle.

Der Peter war anfangs ganz verwirrt. So einen Streit wollte er in ſeiner Venda nicht dulden. Der brachte dem Geſchäft Schaden. Und dann er war Beamter der öffentlichen Sicherheit und wurde hier zu einem ſchnellen Entſchluß gedrängt. Das paßte ihm auch nicht. Schnelle Entſchlüſſe gingen ihm gegen den Strich. In ſeinem Schädel funktionierten die Fühler feiner Gedankenarbeit nur langſam, ge- wiſſermaßen ſich vorſichtig zum Ziele taſtend. Er war ſtolz auf ſein Amt, das er dem Umſtand verdankte, daß er ſtets treu zu der jeweiligen Partei, die an der Regierung war, hielt. Weil er ſich nicht den Vorwurf

92 Der Braſilianer

machen laſſen wollte, daß er als Oeutſcher feine deutſchen Landsleute bevorzuge, gab er den Braſilianern, wo es nur anging, recht. Das ſicherte ihm das Wohlwollen der einen Partei und fchadete ihm nichts bei der an- deren, denn die war an Zurückſetzungen gewöhnt. Die Liebe zu ſeinem Amt gebot ihm alſo, das Verlangen Juvencios zu erfüllen; aber dagegen erhob ſich im Innern des Peter Barth eine andere Stimme, Ic'ıt und vernehmlich, die ſich von dem wüſten Geſchrei der Braſilianer nicht unterkriegen ließ. Er hatte ſonſt dieſer Stimme, die ihn mahnte, daß er von deutſcher Abſtammung ſei, keinen großen Wert beigelegt, im Gegenteil, ſie war ihm oft unangenehm genug geweſen, und er hatte fie gewaltſam unterdrückt; aber heute, in dieſer Stunde, in der man ihm geſagt hatte, daß alle Welt ſich gegen Deutſchland verſchworen habe, daß Deutſch— land vernichtet werden ſolle, da übertönte dieſe Stimme in ihm alle Grundſätze, die er ſich mit kluger, wohl- bedachter Überlegung verſchrieben hatte. Das dicke, träge deutſche Blut begann in ſeinen Adern plötzlich zu ſieden. Es ſchoß ihm in den Kopf, daß ihm das Geſicht ganz dick und krebsrot anlief. Wie angeflogen kam plötzlich eine wütende, ſchnelle Zungenfertigkeit über ihn. Er brauchte gar keine Überlegung mehr, um Portugieſiſch zu ſprechen. Er wußte, was er zu tun und zu ſagen hatte. Ein wündervoller, befreiender teutoniſcher Zorn war über ihn gekommen. 6 Seine Rechte umklammerte den Hals der vollen Vierflaſche, und drohend ſchwang ſie dieſe e über den Köpfen der Braſilianer. WwWas willſt du?“ ſchrie Peter Barth den Juvencio an. „Ich ſoll den Wangen verhaften? Sechs Flaſchen Bier geb' ich ihm zum beſten, weil er dir eins auf dein ungewaſchenes Maul gegeben hat! Ihr wollt uns

Erzählung von Carl Schüler 93

Deutſche hier an die Luft ſetzen? Das könnte euch faulem Lumpenpack paſſen, uns das wegzuſtehlen, was wir uns erarbeitet haben. Doch dazu gehören immer zwei. Daß drüben die Ruſſen, Franzoſen, Engländer Oeutſchland ſo ohne weiteres von der Landkarte wegwiſchen, das glaube ich noch lange nicht. Was ein Deutſcher iſt, der ſetzt ſich zur Wehr, wenn ihm ein anderer zu dumm kommt. Die Deutſchen können unmenſchlich zuſchlagen, das weiß ich von meinem. Vater her. Darum ſag' ich, wie's drüben kommt, kann keiner im voraus wiſſen. Aber wenn einer in Peter Barths Haus ſagt, wir ſollten hier auch bald heraus- geſchmiſſen werden, dann ſage ich zu ihm: Erſt fliegſt du ſelber aus meinem Haus 'raus! Was dann kommt, wird ſich finden.“

„Bravo, Peter!“ riefen die Koloniſten, deren Ge— müter ſich an Peters Feuer erwärmt hatten und deren derbe Fäuſte nach Arbeit gierten.

Die Braſilianer ſchimpften, drohten und fuchtelten wild mit den Händen.

„Raus mit der Bande!“ Scharf, mit metalliſchem Klang, übertönte die Stimme Wangens den Tumult. Es war ein Kommando von zwingender Gewalt.

Obwohl die Koloniſten in Braſilien geboren waren, ſteckte in ihnen doch noch ein gut Teil von den Vätern ererbter deutſcher Soldatengeiſt. Im Handumdrehen war das Kommando ausgeführt.

Die Braſilianer hatten zwar ſchnell Meſſer und Revolver gezogen, ſie kamen aber gar nicht dazu, von den Waffen Gebrauch zu machen. Die feſt zu- packenden Koloniſtenfäuſte beförderten ſie an die Luft mit der Geſchwindigkeit, die man einem Hund gegenüber anwendet, der nicht ſtubenrein iſt.

„Das hätten wir geſchafft!“ lachten ſich die Kolo

94 Der Braſilianer

niſten an und ftellten ſich an der Tonbank auf, denn Peter Barth öffnete ein halbes Dutzend Vierflaſchen.

„Kommt, Wangen!“ rief er. „Jetzt trinken wir auf Deutſchland! Deutſchland ſoll leben, und all die anderen ſollen die Kränk' kriegen!“

Wangen hatte draußen vor der Venda dem ge— ſchlagenen Feind nachgeſehen und einige Koſenamen hinter ihm her gerufen. Die Braſilianer ritten eilig ihren Ranchos zu. Sie brachten geſchwollene Geſichter mit heim und einen Reſpekt auf Lebenszeit vor den deutſchen Fäuſten.

Wangen ergriff das Glas, das ihm Peter Barth zureichte, ſtieß mit jedem der anderen an und ſagte: „Auf unſer Deutſchland! Auf feinen Kaiſer und fein Heer!“

Er leerte ſein Glas mit einem Zug.

„Nun müßt ihr euch einen anderen ſuchen,“ fuhr er fort und wiſchte ſich den Bierſchaum aus dem Schnurrbart. „Den Krieg hat mir der Himmel ge— ſchickt.“ ö Ohne die Koloniſten durch ein weiteres Wort aufzuklären, verließ er eilig das Haus. Draußen ſchwang er ſich auf ſeinen Klepper und ritt durch den Fluß nach dem Schulhaus hinüber.

„Was ſoll denn das?“ fragte Zckob Kloos die an- deren, die ebenſo erſtaunt waren wie er.

„Er will in den Krieg,“ klärte der Muſterreiter die Koloniſten auf. „Er iſt Neichsdeutiher. Da muß er ſich auf dem Konſulat in Porto Alegre melden.“

„Du biſt doch auch ein Deutfchländer. Haft du dich denn gemeldet?“ fragte etwas mißtrauiſch Peter Barth, der mit allen Muſterreitern auf Du und Du ſtand.

„Natürlich! Das Konſulat erließ ja einen Aufruf!“

„Und warum biſt du nicht ſchon drüben?“

Erzählung von Carl Schüler 95

„Es iſt keine Gelegenheit vorhanden, deutſche Ne- ſerviſten nach Deutichland zu befördern. Die deutſche Schiffahrt iſt ganz eingeſtellt. Alle ausfahrenden ita- lieniſchen und holländiſchen Dampfer werden aber von engliſchen Kriegſchiffen angehalten und durchſucht. Da- bei werden alle Deutſchen gefangengenommen.“

„Dieſe gemeinen Engländer!“

„Dieſe Himmelherrgottſakramenter!“

„Wehrloſe Ziviliſten abfaſſen, das iſt keine Helden tat!“

„Dann kann der Wangen wohl gar nicht fort?“

„Nein. In Porto Alegre warten ſchon über zwei— tauſend Deutfche und in Buenos Aires über zwanzig⸗ tauſend vergeblich auf Gelegenheit, nach drüben zu kommen,“ berichtete der Muſterreiter.

„Wenn das ſo iſt, Muſterreiter, dann werde ich dem Wangen ſagen, daß er beſſer hier bleibt,“ meinte Gerbers Anton. „Ich reite nachher am Schulhaus vorbei.“

„Ich komme mit,“ erklärte Jakob Kloos. „Er iſt der beſte Lehrer, den wir jemals hier oben gehabt haben.“

Er ſagte das in einem herausfordernden Ton und wandte ſich dabei direkt an Peter Barth, von dem er wußte, daß er zu denen gehörte, die immer gegen den Wangen geweſen waren.

Aber Peter Barth ſchien ſeine Anſicht geändert zu haben. Er antwortete: „Ja, reitet hin. Es wär' ſchon ganz gut, wenn wir ihn hier behielten. Man weiß nicht, was für Zeiten wir entgegengehen.“

Wangen war eifrig damit beſchäftigt, ſich reiſefertig zu machen. Er hatte nicht viel einzupacken. Auf der Stelle,

96 Der Brafilianet

auf der der Fußboden feines Schulzimmers am pfüßen- freieſten war, hatte er ſeinen alten Poncho ausgebreitet. In dies große, viereckige Tuch wollte er die Sachen einwickeln, die ihm des Mitnehmens wert erſchienen. Wenn das Ding dann richtig verſchnürt wurde, konnte er es hinten an den Sattel binden.

Er kniete vor ſeinem verbeulten Blechköfferchen und warf in wildem Durcheinander alte Kleider, Photographien und zerriſſene Wäſcheſtücke auf den Poncho. Da fielen ihm ein paar Briefe in die Hand, die waren noch geſchloſſen und mit allerlei poſtaliſchen Bemerkungen in Bleiſtift und Tinte verſehen. Vorn ſtand die Adreſſe: „Herrn Generalmajor v. Wangen dorf“, hinten ſtand: „Annahme verweigert“. Die Briefe ſtammten noch aus dem erſten Jahr ſeines Aufenthalts in Braſilien. Aus der Zeit, in der er noch nicht gelernt hatte, für ſich ſelbſt zu ſorgen, in der er es noch nicht zu faſſen vermochte, daß er für immer ausgeſtoßen ſein ſollte aus der Gemeinſchaft derer, die bisher für ihn die Welt bedeutet hatten.

Sein Vater hatte die Briefe ſämtlich uneröffnet

an ihn zurückgehen laſſen. Das TCiſchtuch zwiſchen ihm und dem Elternhaus ſollte zerſchnitten ſein für immer.

Wangen hatte die Briefe lange nicht in den Händen gehabt. Er drehte ſie nachdenklich hin und her. Er kannte ihren Inhalt. Sie waren angefüllt mit Ver- ſprechungen und mit Flehen, mit Betteln um Geld.

Er hatte immer mit Bitterkeit, faſt mit Haß an ſeinen Vater gedacht, der ihn hier verkommen ließ, während er drüben in Ehren und Anſehen lebte.

Dieſe Gefühle waren jetzt wie weggewiſcht.

Dieſer Vater, der ſtreng gegen ſeine Söhne war, war auch ſtreng gegen ſich ſelbſt. Er beſaß ein eiſernes

Erzählung von Carl Schüler 97

Pflichtbewußtſein. Er kannte keine Rückſicht gegen ſich ſelbſt. Er ſtand an der Spitze feiner, Kavallerie brigade gewiß ſchon längſt im Feld. Er und die Brüder. Joachim, der älteſte nach ihm, mußte jetzt Rittmeiſter ſein. Der hübſche Alex, der Vortänzer bei Hof geweſen war, hatte vielleicht auch ſchon eine Kompanie, und der jüngſte, der kleine luſtige Franzl, der immer ſo bitterlich geweint hatte, wenn er aus den Ferien zurück in die Kadettenanſtalt mußte, trug nun auch ſchon die ſilberne Degenquaſte.

Sie alle ſtanden vor dem Feind, ſie alle kämpften für Deutſchlands Ehre und Ruhm und hatten vielleicht ſchon ihr Blut für das Vaterland vergoſſen die Glücklichen!

Nein, in dieſer Stunde, die ihm geheiligt erſchien, weil ſie ihm die Erlöſung aus einem ſchmachvollen Leben und die Möglichkeit eines ehrenvollen Todes angekündigt hatte, waren Bitterkeit, Haß und Neid gegen die Seinen von ihm gewichen. Stolz war er auf ſie, die für Kaiſer und Reich, jeder an ſeinem Platz, ihren Mann ſtanden. |

Jetzt empfand er es als ein Glück, als eine Wohltat, daß der Vater ihm dieſe erbärmlichen Bettelbriefe ungeleſen zurückgeſandt hatte. Er ſchämte ſich der Briefe. Mit ſchnellem Entſchluß zerriß er ſie und warf die Fetzen zur Fenſterluke hinaus, in den pfeifenden, mit Regen vermiſchten Südwind, der ſie hinüber in den Fluß trug.

An dem wilden Feigenbaum, der vor dem Schul- haus ſtand, banden gerade der Gerber-Anton und der Jakob Kloos ihre Pferde an, als er den Kopf aus dem Fenſter ſteckte.

„Soll der Beſuch mir gelten . rief er den beiden zu.

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98 Der Braſilianer

„Ja, wir haben Euch was zu ſagen!“ rief Jakob Kloos.

„Ich hab' keine Zeit!“ gab er zurück. Die Feniter- luke flog knallend zu.

Der unhöfliche Empfang ſchreckte die Koloniſten nicht ab. Die Köpfe tief gebeugt, ſchoben ſie ſich durch die niedrige Tür in den Schulraum. ö

Der Bewohner des Haufes nahm von ihrer An- weſenheit zunächſt keine Notiz. Die Störung kam ihm ungelegen. Wenn die Leute jetzt mit ihm einen gemüt- lichen Schwatz halten wollten, dann hatten ſie die Stunde ſchlecht gewählt. Seine Gedanken waren drüben in dem von allen Seiten bedrängten Vater- land. Dort ſtand er in Reih und Glied mit den Streitern für Oeutſchlands Ehre. Eine ſo große, reine Stimmung war über ihn gekommen, wie er ſie bisher in ſeinem Leben nur einmal empfunden hatte, damals, als er nach glänzend beſtandenem Examen ſich dem Vater glückſtrahlend in der neuen Uniform vorgeſtellt hatte. Damals hatte ihm der Vater einen Kuß gegeben und ihn einen „braven Jungen“ genannt. Vielleicht, wenn er den Namen ſeines Alteſten, den Namen Albrecht v. Wangendorf, in der Verluſtliſte las, ſagte er noch einmal: „War doch ein braver Kerl trotz allem!“

„Was macht Ihr denn da?“ begann Jakob Kloos die Unterhaltung.

Oer Angeredete ſetzte, ohne aufzublicken, ſeine Arbeit fort, nur ein unwilliges Grunzen antwortete.

„Ihr packt wohl Eure Sachen?“ fragte überflüfjiger- weiſe Gerbers Anton. N Albrecht v. Wangendorf richtete ſich auf. „Tut mir den einzigen Gefallen und ſchert euch zum Oeibel!“ fuhr er die beiden Störer zornig an. „Kommt morgen

Erzählung von Carl Schüler 99

wieder, wenn ihr mir etwas erzählen wollt. Heut hab' ich keine Zeit.“

Die Koloniſten ließen ſich nicht einſchüchtern. „Morgen ſeid Ihr ſchon fort das ſeh' ich doch,“ ſagte Jakob Kloos und ſchmunzelte klug. „Darum müſſen wir Euch heut ſagen, was wir zu ſagen haben. Ihr ſollt hier bleiben. Der Peter Barth iſt auch dafür. Wir wollen Euch für den Monat fünf Milreis mehr bezahlen. Der Muſterreiter ſagt, daß es ganz aus- geſchloſſen wär', daß Ihr nach Deutſchland fahren könntet, weil doch die Engländer alle Deutſchen ge- fangennehmen, die nach Deutſchland zurück wollen.“

„Und dann koſtet ſo eine Reiſe auch Geld,“ ſetzte Anton Gerber der Anſprache ſeines Freundes hinzu.

„Die Reiſe bezahlt das deutſche Konſulat,“ verſetzte der ehemalige Offizier.

„Der Muſterreiter ſagt, das gibt's nicht.“

„Der deutſche Konſul in Porto Alegre hat erklärt, daß gar keine Möglichkeit iſt, nach Deutſchland durch- zukommen. Alſo bleibt hier!“

Albrecht v. Wangendorf zwirbelte nervös an den Spitzen ſeines Schnurrbarts herum. Das war ja eine fatale Geſchichte! So glatt, wie er es ſich vorgeſtellt hatte, ging es alſo nicht. Wann hätte bei ihm auch jemals etwas auf den erſten Anhieb geklappt! Zu dumm! Er hatte ſich die Sache fo einfach vorgeſtellt. Er hatte geglaubt, es genüge, wenn er ſich auf dem deutſchen Konſulat meldete. Das würde dann für ſeine Beförderung zur Truppe ſorgen. Er wollte ja weiter nichts, als bloß an den Feind herankommen, ſich treu und tapfer ſchlagen und einen ehrlichen Soldatentod ſterben. Aber nun türmten ſich Hinderniſſe vor ihm auf, die faſt unüberwindlich ſchienen. Natürlich, Geld gehörte zu einer ſolchen Reife, da hatte Gerbers

109 Der Braſilianer

Anton ſchon recht. Und daß die Engländer mit ihren vielen Schiffen den Deutſchen im Ausland den Weg in die bedrängte Heimat verſperren würden, das leuchtete ihm auch ein. Sollte er auf ſeinen heißen Wunſch, ſein Blut fürs Vaterland zu opfern, wirklich verzichten? Sollte er hier bleiben? Sollte er die gewaltige Begeiſterung, die von jedem Nerv in ihm Beſitz ergriffen hatte, mit Gewalt unterdrücken, in elendem Zuckerrohrſchnaps erſäufen? Sollte ihm wirklich kein anderes Ende beſchieden ſein, als eines Tages ruhmlos hinter einer Marmellenhecke zu ver- enden?

Nein! Nein! Nein!

Nur nicht das! Nur nicht jetzt die Gelegenheit verpaſſen, dem verfehlten Leben wenigſtens einen ehrenvollen Schluß zu geben! Nur jetzt nicht der ver- wünſchte Wankelmut, der immer dann über ihn kam, wenn er ihn am wenigſten gebrauchen konnte! Nein ſein Wille ſtand feſt. Er mußte hinüber. Wie? Das würde ſich ſchon finden.

Er drückte den beiden Koloniſten die Hände. „Ich danke euch,“ ſagte er mit merkwürdig weicher Stimme, „aber es bleibt dabei. Ihr müßt euch einen anderen Lehrer ſuchen. Gebt dem armen Teufel die Zulage, die ihr mir zugedacht habt. Ich reite morgen früh. Lebt wohl!“

„Wir laſſen Euch die Stelle für zwei Monate offen,“ ſagte Gerbers Anton. „Es iſt für den Fall, daß Ihr zurückkommt.“

„Ich komme nicht zurück.“

„Der Muſterreiter ſagt, es hat in den Seungen geftanden, daß viele Deutſche gefallen find.“

Es war ein letzter Verſuch des Jakob Kloos.

„Dann braucht der Kaiſer erſt recht Soldaten!“

Erzählung von Carl Schüler 101

Die Koloniſten gingen hinaus, ſetzten ſich auf ihre Pferde und ritten ſchweigend heim.

Alſo ſo waren die Deutſchländer! Die waren ganz wild darauf, für ihr Vaterland zu kämpfen und zu ſterben. Donnerwetter, das waren doch andere Kerle als dieſe Braſilianer, unter denen man geboren und aufgewachſen war. Von denen wollte keiner Soldat werden, und wenn, wie gerade jetzt, an der Grenze des Staates Parana zügelloſe Fanatikerhorden das Vaterland verwüſteten, ſo hielt es der Regierung ſchwer, ein paar hundert Soldaten zufammenzutrom- meln, um die Ordnung wiederherzuſtellen. Daß auch nur einer der Patrioten, die den Mund immer ſo voll nahmen, ſich freiwillig zu einem ſolchen Kampf fürs Vaterland gemeldet hätte, das war ganz aus- geſchloſſen. An ſo etwas dachte überhaupt niemand. Keiner mutete das dem anderen zu.

Sie, die Koloniſten deutſcher Abſtammung, waren von den Braſilianern niemals als volle, gleichberechtigte Mitbürger angeſehen worden, und auch die Deutich- länder, die von drüben kamen, und denen gegenüber ſie ſich ſo gern als Braſilianer aufſpielten, erkannten ſie nicht als Deutſche an, weil ſie es nicht ſein wollten. So wußten ſie ſelbſt nicht recht, wohin ſie eigentlich gehörten. Mancher hatte ſich ſogar laut, viele im ſtillen Herzenskämmerlein ihrer deutſchen Abſtammung ge- ſchämt.

Das war nun vorbei.

Gott ſei Dank, die Zeit dieſer unſeligen Zwitter- ſchaft war überwunden. Zu ſcharf trennte ſich hell und dunkel. Das deutſche Blut erwachte. Die Kolo- niſten ſtellten ſich auf die Seite Deutſchlands. Sie fühlten ſich als Deutſche, fühlten es, die Alten und die Jungen, wie tief eingewurzelt auch in ihrer Bruſt

102 Der Braſilianer

an fie der Ruf ergangen, und wäre nur eine Möglich- keit vorhanden geweſen, hinüber nach Oeutſchland zu kommen, den Brüdern zu helfen, keiner wäre zurück- geblieben.

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Schon vor Sonnenaufgang war Albrecht v. Wangen dorf am anderen Morgen auf den Beinen. Über dem Fluß lag noch dicker, milchiger Nebel.

In eine alte Konſervenbüchſe ſchüttete Albrecht eine Handvoll Maiskörner. Dieſe Klapper diente dazu, den alten Tubiano, ſein Reitpferd, herbeizulocken. Er ſtampfte hinaus durch den feuchten Rafen und ließ die Maiskörner in der Blechdoſe luſtig tanzen und klappern.

Aber kein Tubiano ließ ſich blicken. Das Pferd hatte wohl wieder dem Maisfeld irgend eines Koloniſten einen verbotenen Beſuch abgeſtattet. Da das Tier keinen Stall hatte und darauf angewieſen war, ſich fein Futter felbft zu ſuchen, drang es gern in fremde Gehege ein.

Im Weiterſchreiten hob der ehemalige Leutnant eine Gerte auf, die ein zur Schule reitender Junge verloren haben mochte. Er ſchwang die Gerte ein paarmal durch die Luft, daß ein heller, pfeifender Ton entſtand. Dieſer Ton erweckte in ihm Erinnerungen. Der klang faſt ſo, als wenn man mit einem Säbel Hiebe durch die Luft führt. Und plötzlich ſtellte ſich der frühere Leutnant ſtramm. Seine Geſtalt reckte ſich, jede Muskel ſeines Körpers war geſtrafft. Dann flog das linke Bein hoch aus der Hüfte, der Kopf ruckte rechts herum, die Rechte hielt die Gerte gleich einem Säbel, und im Parademarſch ſchritt er geradeaus. Und er hörte die Regimentsmuſik vom rechten Flügel

der die Fahne grüßte, und hinter ihm erdröhnte der Boden unter den taktmäßigen Schritten des Regi- ments. a

Seine Gedanken waren wieder hinübergeflogen in die alte Heimat. Fünf Jahre zurück.

Ein Graben verſperrte ihm den Weg.

Er ſchreckte auf wie aus einem Traum. Scheu ſah er ſich um. Wenn hier jemand ſeinen Parademarſch geſehen hatte, mußte man ihn für verrückt halten. Er erblickte aber niemand. Zum Glück war er allein geweſen mit ſich und ſeiner Erinnerung.

Doch einen Zuſchauer hatte er gehabt.

Drüben aus dem Maisfeld des Jakob Kloos tauchte der Kopf eines alten Pferdes auf, das erſtaunt im Freſſen innehielt und ſich zu fragen ſchien, was wohl in ſeinen Herrn gefahren ſei, daß er ſo närriſche Dinge trieb.

Dann trabte Tubiano herbei.

Eine Stunde ſpäter ritt Albrecht v. Wangendorf an der Venda des Peter Barth vorbei. Er wollte, ohne anzuhalten, weiterreiten, aber Peter Barth rief ihn an.

„Nicht ſo eilig! Hier iſt einer, der Euch viel Glück wünſcht. Und dieſe Wurſt laßt Euch auf der Reiſe ſchmecken. Und wenn Ihr einem Deutſchländer be- gegnet, der nach drüben will, um dem Kaiſer zu helfen, und wenn dem Mann das Reiſegeld etwas knapp ſein ſollte, dann gebt ihm von mir dieſen Lappen.“

Der wackere Peter reichte dem Reiter eine Wurſt und einen Zehnmilreisſchein auf das Pferd.

Ein kräftiger Händedruck lohnte ihm. Dann ſetzte ſich, durch einen Zuruf feines Reiters aufgemuntert, der Tubiano wieder in feinen ſchlenkrigen Zotteltrab,

104 Der Braſilianer

Drei Tage ſpäter langte Albrecht v. Wangendorf in dem kleinen Städtchen an, das durch eine Bahnlinie mit Porto Alegre verbunden war. Dort verkaufte er Pferd und Sattelzeug und fuhr mit der Eiſenbahn nach Porto Alegre.

Der deutſche Konſul in Porto Alegre beſtätigte ihm, was er ſchon aus dem Munde der Koloniſten vernommen hatte. Das Konſulat konnte den Oeutſchen, die gegen den Feind ins Feld ziehen wollten, weder Reiſegeld geben noch ihnen, wenn ſie auf eigene Koſten die Reife nach der Heimat anzutreten beab- ſichtigten, eine Gelegenheit nennen, mit der hinüber- zukommen war.

Die Engländer verſperrten den Weg nach Deutſch- land vollkommen.

So troſtlos dieſe Auskunft auch klang, ſo machte doch eine andere Nachricht das Herz des ehemaligen Offiziers höher ſchlagen. Die deutſchen Truppen ſchlugen ſich Schulter an Schulter mit ihren öfter- reichiſch-ungariſchen Verbündeten in Oft und Weſt mit einer beiſpielloſen Tapferkeit, und überall hatten ſie bisher gegen ihre übermächtigen Feinde geſiegt. Alle aus franzöſiſcher und engliſcher Quelle ſtammenden Telegramme, nach denen Oeutſchland vor dem völligen Zuſammenbruch ſtand, waren erlogen.

Doch es blieb freilich noch viel zu tun. Die Millionen- heere Rußlands, kaum zurückgetrieben, wälzten ſich immer wieder von neuem gegen die Grenzen Deutſch- lands und Sſterreich- Ungarns vor. England zog aus ſeinen Kolonien unausgeſetzt Nachſchübe heran und war unerſchöpflich in Ränken und Liſten, um Deutſch- land Abbruch zu tun.

Als Albrecht v. Wangendorf das deutſche Konſulat verließ, ſtand bei ihm der Entſchluß feſter als je, gerade

Erzählung! von Carl (Schuler 105⁵

jetzt, wo man drüben friſche Hilfskräfte gebrauchen konnte, die Fahrt nach Deutſchland zu wagen. Als Paſſagier, ſelbſt als beſcheidener Zwiſchendecker, ging's nicht. Dazu fehlte es ihm an Geld. Gut, er mußte alſo ſehen, daß er ſich hinüberarbeitete, einerlei als was. Früher hatte ihm ſtets davor gegraut, einmal vom Schickſal gezwungen zu ſein, eine Stellung als Kellner anzunehmen. Ekelhaft, andere Leute mit Bücklingen bedienen und dafür Trinkgelder annehmen zu müſſen! Aber jetzt gab es für ihn keine Bedenken, durfte keine geben. Einer, der es als eine unverdiente Gnade anſehen muß, für das Vaterland ſterben zu dürfen, der darf ſich nicht an alberne Vorurteile klammern. Kellner oder Kohlenzieher auf einem Überſeedampfer eine andere Wahl blieb ihm nicht. Und das Kohlen- ziehen, das Arbeiten in den ſtickigen Bunkern, iſt nicht verlockend. Dann noch lieber Kellner!

Er dachte an ſeine Brüder.

Die hatten es leicht, an den Feind heranzukommen. Die brauchten nicht vorher durch dies Fegfeuer von Demütigungen und Entbehrungen zu wandeln, das ihm bevorſtand. Die hatten den Segen der Mutter mit auf den Marſch bekommen und den Händedruck des Vaters. Und der Alte hatte zu den Söhnen geſagt: „Haltet euch brav, Jungens!“ Das klang aus feinem Mund auch wie ein Segen.

Dann waren die drei ſtrammen Offiziere nach Frankreich oder Rußland gezogen. Und der Vater auch.

Ob man zu Haufe auch an ihn gedacht hatte? Ob die Mutter mit zaghaftem, ängſtlichem Blick den Vater beim Abſchied gefragt hatte: „Wird Albrecht jetzt wohl herüberkommen?“

Mit zäher Energie darbte und bettelte ſich Albrecht

.

[2

106 Der Braſilianer

v. Wangendorf bis nach Buenos Aires durch. Der Hunger war ſein ſtändiger Reiſebegleiter.

Er hatte Glück.

Was zwanzigtauſend anderen in langen Monaten des Wartens nicht gelungen war, gelang ihm ſchon nach vierzehn Tagen.

Er wurde auf einem holländiſchen Paſſagierdampfer als Kohlenzieher angeheuert. Er hatte ſich von einem holländiſchen Matroſen, der abgemuſtert hatte, deſſen Pa- piere verſchafft. Zwei vergoldete Manſchettenknöpfe gab er dafür in Zahlung. Sie waren ein Andenken an ſeine Mutter, das ihm auch in den ſchlechteſten Zeiten geblieben war, weil es für Pfandleiher keinen Wert beſaß. Jetzt öff- nete ihm das Geſchenk der Mutter den Weg in die Heimat.

Mit Hilfe der fremden Papiere war es ihm ge- lungen, anzukommen. Deutſche nahm man ſonſt nicht. Die Engländer holten von den Schiffen nicht nur die deutſchen Paſſagiere herunter, auch die Bemannung wurde ſcharf geprüft, und jeder, der im Verdacht ſtand, ein Oeutſcher zu fein, wurde abgeführt.

Albrecht v. Wangendorf kam durch. Die Papiere des holländiſchen Matroſen hätten ihm allein wenig genützt, denn ſchon am erſten Tage wußte man in den Bunkern, daß er auf falſche Papiere fuhr. Aber die Holländer verrieten ihn nicht, denn der ehemalige Offizier arbeitete für zwei. Hätte man ihn den Eng- ländern ausgeliefert, fo hätte man an ihm den an- genehmen Arbeitsgefährten verloren, der für die an- deren mitſchuftet, und hätte ſeine Arbeit auch noch übernehmen müſſen.

Sein erſter Weg auf deutſchem Boden führte Wangendorf zum nächſten Bezirkskommando. Er mel- dete ſich als Kriegsfreiwilliger und wurde einem Referveinfanterieregiment zugeteilt,

Das Regiment wurde nach Rußland komman- diert.

Auf grundloſen Wegen, beſpritzt von Kot und Schlamm, arbeiteten ſich die wackeren Soldaten durch die bereits eroberten Gebietsteile Polens bis an den Feind heran. Rings verwüſtete, von den Ruſſen auf ihrem Rückzug niedergebrannte Dörfer, aus denen die Einwohner geflohen waren. Regen ging hernieder Tag für Tag. Nicht immer gelang es der Proviant- kolonne, von der nächſten Etappenſtation rechtzeitig bis zu den Schützengräben vorzudringen. Die Wege waren zeitweiſe unbefahrbar. Dann hieß es in den Schützengräben den Leibgurt enger ſchnallen, um das Knurren des Magens zum Schweigen zu bringen.

Aber weder der Hunger noch die Unbilden der Witterung konnten die frohe, ſtille Siegeszuverſicht, den eiſernen Willen zum Durchhalten bei den deutſchen Truppen beeinträchtigen.

Es war ein ſonderbarer Kampf, dieſer Kampf in den Schützengräben. Er erforderte beſtändige Wach- ſamkeit, Ausdauer und Geduld. Das war nicht der frohe, draufgängeriſche Siegeslauf, von dem ſie alle daheim geträumt hatten. Nur ſelten kam es zum Sturmangriff. Dann hatte vorher die Artillerie hüben und drüben einen Kampf ausgefochten, der die Luft mit einem donnernden Getöſe erfüllte. Die Granaten pfiffen und ziſchten, ſie ſangen in Tönen, die ſich dem Zuhörer für immer einprägten, und ſie machten den Erdboden erbeben, wenn ſie einſchlugen, alles ver- wüſtend, alles zertrümmernd.

Dann ſtrich der Tod durch die Schützengräben.

Zerfetzte Leiber, abgeriſſene Glieder, von nach- ſtürzender Erde halbverſchüttete, ſtumm mit zu- ſammengepreßten Lippen auf das Zeichen zum Sturm-

ji

103 Der Braſilianer

angriff wartende Soldaten. Das war dann das Bild in den Schützengräben.

Und wenn es kam, das erlöſende Kommando, dann ging es vor, unaufhaltſam. Dann konnten keine Ver- haue aus Stacheldraht, keine Wolfsgruben den Anſturm aufhalten. Mit aufgepflanztem Seitengewehr wurden die feindlichen Schützengräben geſtürmt. Nieder- gerannt wurde, wer ſich zur Wehr ſetzte, und hinter die Front getrieben, wer ſich ergab.

Mitten in dieſe Kämpfe hinein verſetzt ſah ſich der ehemalige Lehrer der Pikade am Rio dos Papageios. Manchmal, wenn er nachts auf Wache ſtand, flogen ſeine Gedanken zurück nach der niedrigen Lehmbaracke, in der er, ein Vorkämpfer deutſcher Kultur, den blond- köpfigen Koloniſtenkindern deutſche Sprache, deutſches Leſen, deutſches Schreiben beigebracht hatte. Und nun ſtand er auf ruſſiſcher Erde und kämpfte mit dem Gewehr in der Hand als einfacher Soldat den Rieſen- kampf ſeines Volkes gegen vielfache Übermacht zur Erhaltung ebendieſer deutſchen Kultur, die nicht von der Erde verſchwinden durfte, ſolange es noch waffen- fähige deutſche Männer gab.

Es war an einem Sonnabend.

Freude herrſchte in den Schützengräben. Heute ſollte Ablöſung kommen. Für einige Tage ſollte man ruhen dürfen, nachdem man vier Wochen lang nicht aus den naſſen Kleidern, nicht aus den durch- weichten Stiefeln gekommen war. Sich waſchen können! Ein reines Hemd anziehen können welche Genüſſe! |

Gegen zehn Uhr morgens lagen immer noch Nebelſchwaden über dem flachen, ſich endlos aus- dehnenden Gelände. Unter dem Schutze dieſes Nebels

Erzählung von Carl Schüler 109

rückten die Erſatztruppen heran. Man hörte ihre Schritte, man hörte die Kommando.

Da durcheilte ein Befehl die Gräben. Von Mann zu Mann wurde er weitergegeben. Es geht nicht zurück. Um zwölf Uhr wird geſtürmt.

Wie ein Jubelruf klang es von Mund zu Mund: „um zwölf Uhr wird geſtürmt!“

Da ſagte ſich mancher, daß er in dieſem Leben wohl nicht mehr zu dem Genuß, ſich waſchen, ein reines Hemd anziehen zu können, kommen werde. Noch einmal ein kurzes Gedenken an die Lieben zu Haus und dann dem Nebenmann noch einen Auftrag gegeben

für den Fall, daß man die daheim nicht wiederſehen ſollte.

Und dann ein luſtiges Geſicht herausgeſteckt. Wer jetzt einen guten Witz macht, darf auf Beifall rechnen.

Der Braſilianer war's, der das rechte Wort fand. Es war der Tag des heiligen Nikolaus, und es ging das Gerede, der Kaiſer Nikolaus ſei ſelbſt nach Polen gekommen, um zu en wie es um ſeine Armee ſtehe.

„Als wir noch Kinder waren, hat uns am Nikolaus- tag der Nikolaus beſucht und die Rute mitgebracht,“ hatte er geſagt. „Heute verkloppen wir den Nikolaus mit unſeren Gewehrkolben!“

Das Wort hatte gezündet. Der eine erzählte es dem anderen: „Heute verkloppen wir den Nikolaus mit dem Gewehrkolben!“

Die neu angekommenen Truppen ſollten mit gegen den Feind. Sie wurden dem rechten Flügel zugeteilt, der eine umfaſſende Bewegung gegen den linken Flügel der Ruſſen vornehmen ſollte. Dort ſtand in gedeckter Stellung feindliche Artillerie. Die hatte in den letzten Tagen den Leuten in den deutſchen Schützengräben bös

zugeſetzt. Die mußte ausgehoben werden, und wenn es auch ſchwere Opfer koſtete.

Die deutſche Artillerie leitete den Kampf ein. Um elf Uhr öffneten ſich ihre Feuerſchlünde und über- ſchütteten den Feind mit einem Schrapnellhagel.

Die ruſſiſche Artillerie ließ mit der Antwort nicht auf ſich warten. Sie ſchleuderte Granaten herüber. Sie traf gut. Manchem, deſſen Hand ſchon den Schaft des Gewehres zum Sturmangriff feſt umklammert hatte, riß der Tod die Waffe aus der Fauſt.

Die neu herangezogenen Truppen hatten nur zum Teil in den Schützengräben Platz gefunden. Die anderen lagen platt in Schlamm und Dreck. Wo eine Granate ein Loch in den Erdboden riß, krochen die Nächſt⸗ liegenden hinein, denn es bot beſſeren Schutz als das Liegen auf der flachen Erde.

Ein junger Leutnant, ein blutjunges Kerlchen, dem noch kein Flaum auf Lippe und Kinn ſproßte, hatte mit zweien ſeiner Leute in einem ſolchen, von einer ruſſiſchen Granate geſchaffenen Unterſchlupf Deckung gefunden.

Er ſuchte den Kaltblütigen zu ſpielen, aber hin und wieder verlor er doch die Herrſchaft über ſeine Geſichtsmuskeln, dann zuckte es um ſeinen Mund, oder er ſchloß für einen kurzen Augenblick die Lider. Es war eine Wohltat, eine Erholung, nichts zu ſehen, ſich ein Dunkel vorzutäuſchen, in dem alle Greuel, die das ſehende Auge erſchrecken, verſanken.

Um ſein linkes Handgelenk war eine Uhr geſchnallt. Keine fünf Minuten vergingen, ohne daß er einen Blick auf die Uhr warf.

Noch dreißig Minuten bis zwölf Ahr! Noch fünf⸗

undzwanzig Minuten bis zwölf Uhr! Mein Gott, wie langſam bewegte ſich der Zeiger!

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Erzählung von i Carl Schüler 111

Noch zwanzig Minuten welche unendliche Spanne Zeit für den, der in feindlichem Granatfeuer liegt! Er dachte heim an die Mutter, die hatte ihn, ihren Jüngſten, ſo ſchwer hergegeben.

Der Vater, der war ein Mann wie aus Stahl und Eiſen. Für den gab es nur eines ſeine Pflicht tun gegen Kaiſer und Reich. Er ſtand mit ſeiner Brigade bei Löten. Er hatte unter Hindenburg die Ruſſen in die Maſuriſchen Seen gejagt, und jetzt ſtand er, wie der Erzengel Michael mit gezücktem Schwert an dem Eingang des Paradieſes, als treuer Wächter vor Deutichlands Oſtmark und wehrte fie dem Feind. Drei feiner Söhne ſtanden im Feld. Der Joachim und der Alex in Frankreich und er, der Franzl, in Rußland. Der älteſte Bruder, der Albrecht, war ver- ſchollen. Auf den war der Vater nicht gut zu ſprechen, und er war doch ſo ein prachtvoller Offizier geweſen. Franzl erinnerte ſich ſeiner noch ſehr gut. Wenn er

aus der Kadettenanſtalt nach Hauſe zu Beſuch ge-

kommen war, dann hatte ihm der Albrecht immer einen Taler geſchenkt.

„Damit du ein bißchen in den Konditoreien 'rum- ſchlemmen kannſt,“ hatte er jedesmal dabei geſagt.

Und er, der Franzl, hatte dann glückſtrahlend die Beine, die in den weiten, ſchwarzen Kadettenhoſen ſteckten, aneinandergeklappt und geſagt: „Zu Befehl, Herr Leutnant!“

Dann auf einmal war der Albrecht nicht mehr da- geweſen, als er auf Urlaub nach Hauſe kam. Die Mutter hatte viel geweint. Von ihr hatte er erfahren, daß der Albrecht nach Amerika abgeſchoben worden war. Und die beiden Brüder hatten ihm erzählt, daß der Albrecht ſein Ehrenwort gebrochen habe. Er hatte geſpielt, Schulden gemacht, und der Vater hatte, als

112 Der Brafilianer

er die Schulden bezahlte, dem Albrecht das Ehrenwort abgenommen, nie wieder zu ſpielen. Aber der Albrecht hatte doch wieder geſpielt, und da war's zum Krach gekommen.

Der Joachim hatte zu dem Alex und ihm geſagt, als er den Sündenfall des Bruders mit ihnen beſprochen hatte: „Durch ſeine Tat hat Albrecht unſeren Namen mit einem ewigen Makel befleckt. Der Vater vergißt ihm das nie und ich auch nicht. Ehrenwort brechen iſt gemein!“

Er tat ſehr gekränkt, der Joachim. Der Alex und er, der Franzl, nickten zuſtimmend. Der Alex, weil er als Leutnant glaubte, dazu verpflichtet zu ſein, und er, der Franzl, weil er fürchtete, er würde ſonſt von Joachim angeſchnauzt werden. Aber im Grunde ſeines Herzens konnte er dem Albrecht nicht böſe ſein, einesteils, weil ihm der Albrecht doch immer einen Taler geſchenkt hatte, wenn er in den Ferien nach Haufe kam, und dann, weil er überhaupt nicht be- greifen konnte, wieſo der Albrecht der ganzen Familie einen Makel angehängt haben ſollte, weil er geſpielt hatte, obwohl er dem Vater verſprochen hatte, es nicht zu tun.

Nein, er, der Franzl, fühlte ſich durch Albrechts Betragen nicht gekränkt. Aber wenn der Joachim doch recht hatte und in dem Wortbruch Albrechts auch für ihn eine Kränkung lag, dann verzieh er ſie ihm in dieſer Stunde, in der rechts und links ruſſiſche Granaten platzten, und in der er, der kleine Franzl, der ſo gerne in den Konditoreien geſchlemmt hatte, an der Spitze ſeines Zuges ſeinen erſten Sturmangriff auf ruſſiſche Schützengräben ausführen ſollte.

Er blickte wieder nach der Uhr. Es fehlten immer noch zehn Minuten an zwölf Uhr. Jetzt ſetzte die deutſche

Etzählung von Carl Schüler 113

Artillerie mit doppelter, mit dreifacher Wut ein. Schnellfeuer. Es ſauſte, rauſchte und pfiff, knatterte und toſte, knallte, krachte, daß die Ohren dies betäubende Höllenkonzert nicht mehr aufzunehmen vermochten, ihren Dienſt verſagten und alles nur noch wie ein dumpfes, weites, ineinanderverſchmolzenes Brauſen klang, wie ferne Meeresbrandung.

Franzl warf einen Blick auf ſeine beiden Neben- männer. Der eine, ein kleiner, ſtämmiger Sachſe, war aſchfahl im Geſicht. Seine Lippen murmelten ununterbrochen immer dasſelbe Wort, erſtaunt, er- ſchreckt, benommen von dem, was um ihn vorging: „Eieiei! Eieiei!“ Immer wiederholte er dieſen einen Ausruf, in dem er alles zuſammenfaßte, allem Aus- druck verlieh, was in ihm vorging.

Der andere verſuchte ſeine Faſſung beſſer zu be— wahren. Von Zeit zu Zeit wiſchte er ſich mit dem rauhen Armel ſeines Mantels den Schweiß von der Stirn, und jedesmal, wenn der Leutnant nach ſeiner Uhr ſah, fragte er: „Geht's bald los?“

Und einmal ſagte er ganz unvermittelt: „Mein Philippchen iſt erſt zwei Jahre alt. Aber er hat mich doch gleich erkannt in der feldgrauen Uniform. Das bleibt ihm. Auch wenn er mich nicht wiederſehen | ſollte. 5 | Ein anderes Mal fagte der Mann: „Wir ſtehen vier Brüder im Feld. Die herzugeben iſt für meinen Alten eine ſchwere Sache.“

Bei dieſen Worten ſeines Nebenmannes fiel Franzl ein Ausſpruch ſeines Vaters ein. Es war auf der Straße geweſen. Der Vater und er beſorgten noch einige Einkäufe, für den Abend war der Abmarſch der Truppen angeſetzt. Da begegneten ſie dem Profeſſor Hinſelmann, einem ſchwachen Männchen, das nicht

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114 Der Brafilianer j

mit ins Feld rücken konnte, das ſich aber bei der Poſt gemeldet hatte, um dort Aushilfsdienſte zu tun. Er hatte ſchon eine Poſtbinde um den linken Arm. Er begrüßte den Vater als alten Bekannten und ſagte: „Das muß für Sie aber ein Glück fein, Herr v. Wangen- dorf, drei Söhne für das Vaterland gegen die Feinde zu ſchicken.“

Der Vater hatte nur kurz geantwortet: „Ich wollte, es wären vier.“

Da hatte der Vater an Albrecht gedacht.

Noch fünf Minuten bis zwölf Uhr.

Nun war es Zeit, daß er mit ſeinen Leuten wieder engere Fühlung nahm. Er kroch aus dem Loch, und ſeine Nebenmänner folgten ihm.

Kaum zwei Meter von ihrem Unterſchlupf entfernt hatte eine Granate drei Kameraden zerfetzt, zerriſſen. An den Unglüdlichen vorbei ſchob ſich Franzl weiter vor und fand Anſchluß an ſeine Leute. Man ordnete ſich zum Sturm. Es bedurfte keiner anfeuernden Worte der Führer. Jeder brannte darauf, aus dieſer Hölle heraus und an den Feind zu kommen.

Zwölf Uhr. |

Der Kanonendonner auf der deutſchen Seite verſtummte ganz plötzlich. Dieſe Stille wirkte wie ein Signal. Die Artillerie übergab das Kampffeld der Infanterie. Sie hatte ihre Schuldigkeit getan. Jetzt war es Sache der Bajonette, den Sieg zu vollenden, den ihre Geſchoſſe vorbereitet hatten.

Die deutſche Infanterie brach hervor wie eine Woge, die unaufhaltſam vorwärts drängt und alles vernichtet, was in ihren Bereich kommt. Ein Blitzen ging von ihr aus. Die langen, blanken Meſſer, die an die Gewehre geſteckt waren, um ihre ſcharfen Spitzen in die Leiber der Feinde zu bohren, leuchteten in der durch die

E

Erzählung von Carl Schüler 115

Wolkenmaſſen dringenden Sonne auf, als freuten ſie ſich auf ihre blutige, grauſame Arbeit. Und aus fünftauſend Kehlen drang es wie ein einziger Schrei zu den Ruſſen hinüber, das deutſche Hurra, das fieges- ſichere Feldgeſchrei, das den Angriff, Mann gegen Mann, begleitet. Die Sturmwoge reißt mit, auch der Zaghafte wird zum Helden. Er entäußert ſich ſeines Ichs. Er wird ein anderer, als er war. Der Pulver- dampf, der Blutgeruch, das Brüllen der vorwärts- ſtürmenden Kameraden, der Todesſchrei der Fallenden peitſcht ſeine Nerven auf, und er ſtürmt vor, immer vor, immer vor. Er begeht Taten, die ihm unmöglich ſcheinen nachher, wenn ſie getan ſind. Er iſt ein Held geworden und weiß ſelbſt nicht, wie es kam. Nur immer vor! Nur immer vor!

Und dann trifft auch ihn die Kugel. Er fühlt keinen Schmerz. Er fühlt nur er kann nicht mehr. Er ſtolpert, er fällt hin. Aber er fühlt keinen Schmerz. Wenn man ihm in dieſem Augenblick der höchſten Ekſtaſe Arme und Beine abhacken würde, er würde es nicht fühlen. Nur ein Drang N ihn: Immer vor! Immer vor!

Er will ſich aufraffen. Schon hebt er ſich auf die

Knie. Er kann es nicht begreifen, daß die Kameraden

vorwärts ſtürmen können, und er kann nicht mit. Wieſo kann er nicht? Das viele Blut, das den grauen Mantel ſchwarz färbt. Er ſinkt um, und nur noch wie im Traum hört er aus weiter Ferne das rauhe Hurra der Kameraden, das Feldgeſchrei der ſiegreichen deutſchen Truppen.

Leutnant Franz v. Wangendorf war an der Spitze ſeines Zuges, von zwei Kugeln getroffen, zu Boden geſtürzt. Schwerverwundet wurde er in das Feldlazarett eingeliefert, wo ſich ſofort die Arzte ſeiner annahmen.

116 Der Braſilianer

Zwei Infanteriſten, beide ſelbſt leicht verwundet, hatten den kleinen Leutnant zum Verbandplatz ge- tragen. Der eine dieſer Infanteriſten war der Sachſe, der vorhin neben dem Leutnant gelegen und immer „Eieiei“ gerufen hatte. Der andere gehörte zu dem Regiment, das ſchon ſeit Wochen in den Schützen- gräben gelegen hatte. Er war ein langer, hagerer Menſch mit blondem Schnurrbart, und ſeine Kameraden nannten ihn den „Braſilianer“, weil er während des Kriegs von Braſilien herübergekommen war, um gegen Deutſchlands Feinde mitzukämpfen. Er hatte zuerſt den Leutnant v. Wangendorf ganz allein vom Schlachtfeld forttragen wollen, trotzdem ihm eine Kugel das Schlüſſelbein zerſchmettert hatte; erſt als er ſah, daß es allein doch nicht ging, hatte er die Hilfe des Sachſen angenommen, dem ein ruſſiſches Bajonett eine Fleiſchwunde am e Oberſchenkel beigebracht hatte. Der Oberſtabsarzt fügte Fur den Leutnant v. Wangendorf war es die höchſte Zeit, daß er uns gebracht wurde, ſonſt war es aus mit ihm. Wär' ſchade um ihn geweſen ein lieber Menſch!“

„Werden Sie ihn durchbringen, Herr Oberſtabsarzt?“ fragte der eine der beiden Infanteriſten, die den Verwundeten hergetragen hatten. Es war der mit der zerſchoſſenen Schulter. Seine Stimme klang zaghaft, das Sprechen fiel ihm erſichtlich ſchwer wie einem, der ſich Mühe gibt, gegen Tränen anzu- kämpfen.

Der Oberſtabs arzt ſah den Frager etwas verwun- dert an. Er blickte in zwei Augen, die voll ängſtlicher Spannung auf ſeine Antwort warteten. Ein von Strapazen und Entbehrungen a Soldat ſtand vor ihm.

Erzählung von Carl Schüler 117

„Wenn er durchkommt, hat er es Ihnen zu ver— danken,“ gab der Oberſtabsarzt zurück. „Hätte er noch eine Viertelſtunde länger draußen gelegen, ſo war's vorbei. Wie heißen Sie denn?“

Oer Soldat in der ſchmutzigen grauen Felduniform, deſſen Geſicht ſo verwildert ausſah, weil es in vier Wochen weder Seife noch Raſiermeſſer geſehen hatte, errötete. Einen Augenblick zögerte er, dann ſagte er, dienſtliche Haltung einnehmend: „Albrecht v. Wangen dorf, zu Befehl.“ ö

Der Oberſtabsarzt horchte auf. „Sind Sie ein Verwandter des Herrn Leutnants?“

„Ein Bruder, Herr Oberſtabsarzt.“

Jetzt hatte der Soldat das volle Intereſſe des Arztes gewonnen. „Sie ſind auch verwundet! Warum e Sie ſich noch nicht verbinden laſſen?“

„Ich wollte erſt Wiſßen, wie's mit dem Kleinen

ſtand.“ „Für den forge ich. Jetzt müſſen Sie auch an ſich denken.“ Er rief einen Aſſiſtenzarzt herbei. „Kollege, nehmen Sie ſich mal dieſes Verwundeten an. Wenn ich hier fertig bin, komme ich und ſehe nach ihm.“

Albrecht v. Wangendorf liegt gewaſchen, gebadet, in reines Leinen gehüllt in einem leiſe ſchwingenden Bett, wie ein Kind in der Wiege. Zarte, geſchickte Schweſtern⸗ hände rücken ihm das Kopfkiſſen zurecht und reichen den brennenden Lippen einen kühlen Trank. Sein Ohr iſt entrückt dem furchtbaren Schlachtgetöſe, kein Kanonendonner, kein Krachen und Verſten erplo- dierender Geſchoſſe ſchreckt es. Die eiſernen Räder der Wagen rollen über die Schienen, immerzu, und fingen nach einer immer gleichen Melodie: „Jetzt geht's heim! Jetzt geht's heim! Jetzt geht's heim!“

*

118 Oer Braſilianer

Sein Auge ruht auf weißgeſtrichenen Wänden und ſtarrt ſinnend zu einer weißgeſtrichenen Decke empor. Reinlichkeit ringsum. Er liegt nicht mehr im Schützengraben. Er kriecht nicht mehr wie ein Tier in die feuchte, ſchlammige Erdhöhle, um auszuruhen. Er ſitzt nicht mehr in naſſen Kleidern zuſammen- gekauert hinter einer Bruſtwehr. Das Auge ſieht nicht mehr die eigenen Entbehrungen in tauſendfacher Wiederholung bei den Kameraden.

Er fährt zurück nach der Heimat, nach Oeutſchland, dem Land ſeiner Sehnſucht drüben in Braſilien und jetzt in Polen.

Er hat ſeine Pflicht gegen das Vaterland getan. An der Wand neben dem Bett hängt an einem kleinen Meſſinghäkchen das Eiſerne Kreuz. Und Franzl, der Kleine, liegt im anderen Wagen, wohlgeborgen, und träumt von dem Wiederſehen mit der Mutter, die ihn ſo ſchweren Herzens hergegeben hat. Er fiebert, aber die Arzte hoffen, ihn zu retten.

AUnweit von Poſen liegt Schloß Pinne. Dort hat der Johanniterorden ein Lazarett errichtet. Dorthin bringt der Zug die beiden Brüder, den zum Unter- offizier beförderten Albrecht v. Wangendorf, leicht verwundet, und den Leutnant Franz v. Wangendorf, ſchwer verwundet, beide mit dem Eiſernen Kreuz ausgezeichnet.

„Wie geht es dem Kleinen?“ fragt jeden Morgen der Unteroffizier v. Wangendorf die Schweſter Eliſabeth.

„Sie müſſen Geduld haben,“ mahnt die Schweſter, „mit Gottes Hilfe wird er durchkommen.“

. Und er kommt durch. Eines Tages iſt er jo weit, daß Albrecht ihn beſuchen kann. Franz iſt auf den Beſuch des Bruders vorbereitet. Man hatte ihm erzählt, daß der Bruder ihn vom Schlachtfeld aufgeleſen

!

Erzählung von Earl Schüler 119

und zum Verbandplatz getragen hat. Der Bruder Albrecht, der Verſchollene, an den er noch ſo lebhaft gedacht hatte in dem furchtbaren Kanonendonner, der dem Sturmangriff vorausging.

Und nun ſollte er ihn wiederſehen!

In dem kleinen Zimmer, das ihm eingeräumt worden, war das Bett des Leutnants ſo aufgeſtellt, daß der Verwundete den Beſucher gleich bei ſeinem Eintritt erblicken konnte.

Es klopfte leiſe. Die Tür öffnete ſich, und ein hagerer Mann ſtand auf der Schwelle in einer zu weiten grauen Felduniform, mit den Abzeichen eines Unteroffiziers.

Der Unteroffizier lächelte den Leutnant faſt ver- legen an.

Er ſchien auf eine Anrede zu warten.

„Iſt das wirklich Albrecht?“ dachte der Leutnant.

Einen Augenblick war Franzl enttäuſcht. Er hatte den Bruder ſo ganz anders in Erinnerung. Die fünf Jahre in Braſilien, das Arbeiten in den Kohlenbunkern, der Aufenthalt in den Schützengräben hatten aus dem einſt ſo forſchen Offizier einen Mann gemacht, dem man anſah, daß er vom Leben hart angepackt worden war. |

Aber ſchnell hatte Franzl ſich wieder in Gewalt. Der Bruder ſollte nicht merken, daß er in feiner Er- innerung als ein anderer fortgelebt hatte, als ein glänzender Offizier, dem ähnlich zu werden ſtets ſein größter Wunſch geweſen war. Sein militäriſch ge- ſchulter Blick ſah, daß Albrecht ſich für den Beſuch ſorgfältig vorbereitet hatte. Die Stiefel waren ge- wichſt, die ſchlottrige Uniform ausgebeſſert und aus- gebürſtet, das Kinn raſiert und der Schnurrbart in

die Höhe gedreht. Aber trotz allem, an den flotten,

120 Der Braſilianer

ſchneidigen Leutnant Albrecht v. Wangendorf erinnerte dieſer Unteroffizier in nichts. | Doch! Die Augen waren dieſelben geblieben. In denen blitzte es auf, ſo hell und freudig wie früher, als der Verwundete ihm die linke Hand entgegen- ſtreckte und den Namen des Bruders Ad: „Albrecht! Albrecht!“

„Mein Junge! Mein Kleiner!“ mit einem Satz war Albrecht am Bett des Bruders. Er war zunächſt keines Wortes mächtig, er ſtrich dem Bruder immer wieder mit ſeiner rauhen, ausgearbeiteten Hand über das weiche blonde Haar, und Tränen rannen ihm über die Wangen, als er das blaſſe, mädchenhafte Geſicht des Bruders zwiſchen ſeinen Händen hielt.

„Du Milchbart und ſchon das Eiſerne Kreuz!“

Er ſetzte ſich neben den Franzl an das Bett, und dieſer lächelte glücklich.

„Ich weiß ſelbſt nicht, wie ich dazugekommen bin,“ geſtand er. „Ich habe nicht mehr getan wie die anderen.“

„Doch,“ widerſprach Albrecht. „Du warſt allen voran, ganz vorn an der Spitze. Du zogſt deine Leute mit. Ihren kleinen Leutnant wollten ſie nicht im Stich laſſen. Darum ging es fo flott vorwärts. Unſer Re- giment ſtürmte mit euch zu gleicher Zeit. Ich ſah dich. Ich dachte bei mir, das Leutnantchen hat ja den Teufel im Leib. Aber die Sache wird nicht gut gehen. Die ruſſiſchen Maſchinengewehre ſpuckten wie toll. Und ich dachte, es wär' ſchade um den Jungen. So könnte jetzt der Franzl ausſehen, mein Kleiner. Und ich drängte hinüber zum rechten Flügel, wo es heiß herging. Bums, hatte ich eine Kugel in der Schulter. Aber die eine Hand genügte mir, um das Bajonett zu führen. Und ich konnte einen deiner Leute von der Zudring-

Erzählung von Carl Schüler 121

lichkeit eines Ruſſen befreien. Der Ruſſe hatte den Mann mit dem Bajonett in den Schenkel geſtochen, dafür ſtach ich den Ruſſen in die Bruſt. Der Mann aus deinem Zug hat mir dann geholfen, dich nach dem Verbandplatz zu tragen. Für mich allein war die Arbeit doch zu ſchwer.“

„Kennſt du den Namen des anderen?“

„Das nicht, aber er war aus Sachſen. Er rief, als wir dich fanden: „Eieiei! Mei armes Leitnantchen! Er is Sie äben zu forſch uff die Lausbande wegegangen! Nu muß er davor büßen.“

Albrecht ſprach in ſächſiſcher Mundart, und beide lachten. |

„Das iſt mein Freund neger ſagte der Leutnant. „Liegt er auch hier?“

„Nicht im Schloß, aber im Schützenhaus.“ |

„Vielleicht beſucht er mich einmal, Ich möchte ihm danken. Vor allem aber dir meinen an Ohne dich wär' ich jetzt erledigt.“

Albrecht wehrte ab. „Das hat dir der Oberſtabecrzt eingeredet. Iſt ja Unſinn. Hätte ich dich nicht zum Verbandplatz getragen, hätten es die anderen getan: Deine Leute hätten dich nicht verlaſſen. Aber kannſt dir denken, wie ſtolz ich war, als ich in dem tapferen Leutnant meinen kleinen Franzl erkannte. Und dann hatte ich nur den einen Gedanken: Der Junge darf uns nicht ſterben, mir nicht und der Mutter nicht.“

„Sie kommt morgen. Der Vater auch.“

Einen Augenblick ſchwieg der Unteroffizier. Dann nahm er die ſchmale Hand ſeines Bruders zwiſchen ſeine beiden und ſprach: „Du wirſt mir einen Gefallen tun, Franzl. Du ſagſt den Eltern nichts davon, daß ich hier bin. Es iſt beſſer, wenn ſie's nicht wiſſen.“

Franzl blickte erſtaunt auf. „Weiß denn die Mutter

122 Oer Braſilianer

nicht, daß du nach ODeutſchland zurückgekehrt biſt? Haft du nicht an fie geſchrieben?“

„Nein.“

„Aber fie wird ſich doch ſehr freuen, dich wieder- zuſehen. Sie hat ſo oft von dir geſprochen.“

Das log Franzl dazu, denn es war im Hauſe ſeiner Eltern von Albrecht wenig die Rede geweſen. Aber er wußte, daß die Mutter oft an Albrecht gedacht hatte heimlich, mit einem ſtillen, unterdrückten Seufzer, und er glaubte, es würde den Bruder freuen, wenn er hörte, daß er von der Mutter nicht vergeſſen worden war.

Er hatte ſich nicht getäuſcht. In den Augen des Unteroffiziers leuchtete es freudig auf.

„Hat die Mutter wirklich manchmal von mir ge- ſprochen?“ fragte er zurück, als wollte er ſich noch einmal des Gehörten verſichern.

„Du darfſt ihr nicht aus dem Wege gehen! Warum auch?“ 8

„Ich möchte nicht, daß ſie mich jetzt ſieht. Glaubſt du denn, Kleiner, ich hätte nicht bemerkt, wie du erſchrakſt, als ich vorhin dort in der Tür ſtand?“ da haſt du dich aber gründlich geirrt,“ widerſprach der Leutnant. „Ein bißchen verändert haſt du dich ja, das macht aber wohl das Leben drüben. Was treibſt du denn? Haft du Sklaven, die für dich Kaffee, Zucker- rohr und Baumwolle anpflanzen?“

Albrecht lächelte. Was ſich der Junge wohl dachte? Für einen ehemaligen Leutnant, der nichts gelernt hatte als das Orillen feiner Rekruten, war Braſilien kein Schlaraffenland. Er dachte an ſeine Kämpfe um das tägliche Brot, und wie er froh geweſen war, den Unterſchlupf in der Schulbaracke am Rio dos Papageios gefunden zu haben. Aber er hätte es jetzt

Erzählung von Earl Schüler 123

nicht über ſich gebracht, dem Jungen von feinem Elend zu erzählen. Nein, wenn der ihn jetzt auch in der abgetragenen Uniform ſah, ſo ſollte er doch nicht wiſſen, wie traurig es ihm drüben ergangen war.

„Nein, mit Plantagenbau befaſſe ich mich drüben nicht,“ ſagte er in einem Tone, als wenn es nur an ihm gelegen hätte, daß er kein reicher Fazendeiro geworden war. „Ich verdiene in leichterer, angenehmer Weiſe mein Geld. Ich verzapfe der dortigen Jugend meine Weisheit. Ja, ſtaune, mein Junge, ich bin drüben Schuldirektor geworden. Habe eine wunder- volle Dienſtwohnung im Schulgebäude, mein eigenes Reitpferd, herrliche Jagd und alles, was das Herz ſich wünſcht, was der Sinn begehrt.“

Alſo, es geht dir gut?“ Die Frage klang wie eine Erlöſung von ſchwerer Sorge. „Du haſt drüben dein Glück gemacht?“ -

„Ja, das habe ich.“

„Und als der Krieg ausbrach, biſt du als Freiwilliger zu uns herübergekommen?“

„Ja, ich habe Urlaub genommen und bin auf einem holländiſchen ae über das große Waſſer ge- fahren.“

„Du Beneidenswerter! Was haft du ſchon alles von der Welt geſehen! Und ſo eine Seereiſe, die muß herrlich fein! Ich habe ſchon oft davon geleſen. Wie biſt du denn an den Engländern vorbeigekommen? Das iſt 'ne Bande!“

„Ich hatte mir einen holländiſchen Paß gekauft. Da ging es ganz glatt.“

„Da u ſieht man, wenn einer Geld hat und ein bißchen Glück, klappt es allemal. Du mußt jetzt jeden Tag zu mir kommen und mir erzählen. Willſt du?“

„Gern, ich bin ja noch drei Tage hier.“

124 Der Braſilianer

„Nur noch drei Tage?“

„Ich habe eine Rieſenſehnſucht, wieder an die Front zu kommen. Es iſt doch recht langweilig in ſo einem Lazarett.“

„Ich werde ja auch bald wieder fo weit fein,“ meinte Franzl und verſuchte, feiner Stimme einen feiten Klang zu geben, obwohl ihm das nicht ſo ganz gelang.

„Du haſt noch Zeit. Nur beim Einzug durch das Brandenburger Tor mußt du wieder beim Regiment ſein. Da darf der kleine Wangendorf nicht fehlen. Schon wegen der Mädels, die ſich ſonſt die Auglein nach ihm ausweinen.“

Franzl lächelte geſchmeichelt, und nun erzählte er | Geſchichtchen aus feiner Kadettenzeit.

Auch Albrecht grub ee aus, und jede begann: „Weißt du noch?“

Morgens gegen elf Uhr kam der Sanitäter auf Stube ſechs, in der drei Unteroffiziere lagen, und meldete dem Unteroffizier v. Wangendorf, daß der Leutnant v. Wangendorf ihn um ſeinen Beſuch bitte.

„Iſt jemand da?“ fragte Albrecht.

„Jawohl, Herr Unteroffizier, eine Dame.“

Das war feine Mutter. Fetzt wußte fie ſchon, daß er aus Braſilien zurückgekehrt war, daß er für Deutich- land mit Ehren gekämpft hatte, daß er verſucht hatte, die alte Scharte auszuwetzen. Den ganzen Vormittag hatte er dazu benützt, ſich auf das Wiederſehen mit feiner Mutter vorzubereiten, hatte an ſich herum- gewichſt und gebürſtet, als gelte es, zu einem Appell vor dem Kaiſer anzutreten.

Er klopfte an die Tür, wie er geſtern angeklopft hatte, als er den Franzl beſuchte. Aber diesmal wurde die Tür von innen aufgeriſſen, er brauchte auf kein

Erzählung von Carl Schüler 125

„Herein“ zu warten, und eine Dame ſchlang ihm mit einem lauten Freudenſchrei beide Arme um den Hals.

„Albrecht! Mein Junge!“

„Mutter! Mutter!“

Er ließ ſich von ihr in das Zimmer führen, an das Bett des jüngeren Bruders, und dort drückte ſie ihn auf einen Stuhl nieder und küßte ihn noch einmal, lang und innig.

Dann ſagte ſie wie zur Entſchuldigung: „Du bitt ſo groß. Ich muß mich ſo recken. Wenn du ſitzeſt, habe ich es bequemer. Ich hab' dir ja ſo lange keinen Kuß geben können.“ N Dann erzählte fie von ihren Sorgen. Alex lag verwundet in Lille. Es ſollte, gottlob, nicht gefährlich ſein. Streifſchuß am Kopf und Säbelwunde am linken Arm. Sie wäre am liebſten auch ſchon zu ihm gefahren, aber es ging nicht, noch durften die Angehörigen der Verwundeten nicht in Feindesland. Und dann machte ihr der Vater viel Sorgen. Der litt bei der ungünſtigen Witterung an Rheumatismus. Im Feld fehlte ihm die Pflege. Nun, er würde ja heute kommen, dann wollte ſie ihn mit warmen Sachen ausrüſten, die ſie mitgebracht hatte. |

„And wie geht es Achim?“ fragte Albrecht.

„Der iſt wohl auf,“ antwortete die Mutter. „Der ſchreibt, daß er ſich wünſcht, der Krieg dauere noch recht lange. Er iſt ſehr zufrieden. Seine Einkäufe zu meinem Geburtstag will er in Paris machen. So ein Junge!“

„Der Achim hat immer Glück,“ meinte der Franzl. „Paß auf, Mutter, der heiratet mal eine Millionärin. Dann kauft er ſich ein Schloß und eine Villa im Tier- garten und geht zur Diplomatie über. Dann am er es noch bis zum Reichskanzler bringen.“

Die Mutter lächelte. „Warum nicht?“ meinte ſie.

126 Her Brafilianer

„Meine Zungen, alle vier, ſollen große Männer werden. Vielleicht wird Albrecht noch Kultusminiſter in Bra- ſilien. Nicht wahr, mein Junge?“ Sie reichte ihrem Alteſten die Hand.

Albrecht riß ſich zuſammen. „Gewiß, Mutter, das kann alles noch werden.“

Es gab noch viel zu fragen und zu erzählen. Der Krieg hatte in manche Familie, mit der man befreundet war, ſchmerzliche Lücken geriſſen. Die Mutter erwähnte einen ſehr traurigen Fall. Eine ihrer Freundinnen hatte den Mann und die beiden einzigen Söhne verloren.

„Wie können wir . . daß bei uns bisher alles noch ſo glimpflich

In dieſem Augenblick wurde die Tür aufgeſtoßen, und herein trat im langen, grauen Reitermantel der General v. Wangendorf.

„Tag, Mutter! Tag, Franzl!“ Er ging in ſeiner raſchen Art auf Frau und Sohn zu und reichte ihnen die Hand die linke, der rechte Arm hing in einer Binde. = a

„Nee,“ beruhigte er feine Frau, die ihn verwundet glaubte, „es iſt keine Bleſſur, es iſt nur das ſcheußliche Rheuma, liebe Chriſtine.“

Er wandte ſich um und gewahrte erſt jetzt den Albrecht, der bei ſeinem Eintritt ſich zurückgezogen hatte. Einen Augenblick ruhte ſein ſcharfes, graues Auge muſternd auf dem Unteroffizier, dann hatte er in ihm ſeinen älteſten Sohn erkannt. Er ſchien gar nicht ſehr überraſcht, wenigſtens ließ er es ſich nicht anmerken. Er ging auf den Sohn zu und reichte ihm die Hand.

„Guten Tag, Albrecht! Ich freue mich, daß du glücklich herübergekommen biſt. War wohl nicht

Erzählung von Earl Schüler 127

leicht? Die engliſchen Schiffe ſchwirren wie e fliegen im Kanal herum.“

Albrecht erwiderte den kräftigen Druck der väter- lichen Linken und ſagte: „Es war nicht leicht, aber es iſt mir geglückt.“

Nun miſchte ſich, redſelig und begeiſtert, die Mutter in das Geſpräch. „Denke dir, es geht dem Albrecht in Braſilien ausgezeichnet.“

„Er hat ſich einen holländiſchen Paß gekauft,“ ſagte Franz. „Und hier hat er als einfacher Soldat gekämpft. Er iſt ſchon zum Unteroffizier befördert worden, und das Eiſerne Kreuz hat er bekommen. Mich hat er, obwohl er ſelbſt verwundet war, aus der Schlacht getragen zum Verbandplatz. Hätte er das nicht getan, wäre ich verblutet.“

Der General reichte noch einmal ſeinem älteſten Sohn die Hand. „Albrecht,“ ſagte er, und ein ihm eigenes Zwinkern mit den Augen verſtändigte den Sohn, daß er mehr wußte wie die anderen, „der deutſche Konſul in Porto Alegre hatte die Liebens- würdigkeit, mir von Zeit zu Zeit über dich zu berichten. Auf die Art habe ich dich nie ſo ganz aus den Augen verloren. Und beſonders dein feſter Wille, der dich alle Hinderniſſe überwinden ließ, der dich zurück in die Armee unſeres Kaiſers geführt hat, der hat mir gezeigt, daß man in der Tat wieder ſtolz auf dich ſein kann. Biſt außerdem gerade zur rechten Zeit gekommen. Wenn der liebe Gott dir gnädig iſt, dann wirſt du nach dem Krieg auch in Deutichland bleiben können. Dann brauchen wir hier tüchtige Männer. Ich denke, du überläßt dann die Schulmeiſterei in Braſilien berufe- neren Kräften. Mutter und ich danken dir, daß du uns den Franzl gerettet haſt gleich zwei verlieren, wäre doch etwas hart geweſen.“

128 Der ä

Er wiſchte ſich mit dem Kücken der linken Hand über die Augen.

Frau Chriſtine war aifgefprungen und blicte den General entſetzt an.

„Was iſt geſchehen?“

„Mutter, du biſt eine Soldatenfrau und hatteſt vier Söhne, die im Felde ſtanden. Da muß man auf alles vorbereitet ſein. Achim iſt gefallen. Geſtern bekam ich die Depeſche. Aber der Herr hat es gnädig mit uns gemeint, einen Sohn hat er uns genommen, einen anderen hat er uns wiedergegeben. Wir wollen nicht klagen.“

0

Das armeniſche Hochland und jeine Bewohner. Von Ernſt Wächter

mit 9 Bildern Machdruck verboten) er Schauplatz der Kämpfe zwiſchen Rußland und | der Türkei pflegt fälſchlicherweiſe ſchlechthin als Kaukaſus bezeichnet zu werden. Es iſt das eine leicht zu Irrtümern verleitende Ungenauigkeit, die darauf zurückzuführen iſt, daß ſämtliches ruſſiſches Ge— biet ſüdlich des Kaukaſusgebirges aus politiſchen und verwaltungstechniſchen Gründen der Statthalterſchaft Kaukaſien angegliedert iſt. In Wirklichkeit iſt bisher der ruſſiſch-türkiſche Kriegſchauplatz auf den Teil des vorderaſiatiſchen Landraumes beſchränkt geblieben und er wird es in der Hauptſache auch ferner bleiben für den die geographiſche Wiſſenſchaft als zufammen- faſſende Bezeichnung den alten Namen Armenien ge- braucht. Mit gutem Grunde. Denn wenn auch weder die heutige Verbreitung des armeniſchen Volkes noch auch das Gebiet des aus der alten und frühmittelalter- lichen Geſchichte bekannten Königreiches Armenien ſich mit dieſem Landraum decken, ſo ſtellt er doch den Kern des einen wie des anderen dar und iſt zudem ein von feiner Umgebung durch ausgeprägte charakteriſtiſche Merkmale fi) abhebendes Landindividuum, das durch- aus Anſpruch auf einen eigenen Namen hat, mag es auch politiſch zurzeit drei Staaten angehören, der na Rußland und Perſien.

Armenien iſt durchweg Hochland, aber nichts weniger als ein einfaches Hochplateau. Es wird vielmehr der Kreuz und der Quere von hohen Gebirgsketten durch- zogen und dadurch in eine ganze Reihe größerer und kleinerer Hochebenen von verſchiedenſter Höhenlage es gibt deren von unter 1000 bis über 1900 Meter zerlegt, aus denen dann noch häufig einzeln oder in

1915. XII. 9

130 Das armeniſche Hochland und feine Bewohner

Gruppen ſtehende rieſige Vulkanberge, überwiegend erloſchene, aufragen.

Nach Norden und Süden iſt die Abgrenzung des armeniſchen Hochlandes ziemlich einfach; nach dieſen beiden Himmelsrichtungen fällt es mit teilweiſe alpen hohen Randgebirgsketten ſchroff ab, einerſeits zu der tiefen, breiten Senke, die es vom Kaukaſus trennt, ander- ſeits gegen Meſopotamien, das Tiefland der beiden in Armeniens Bergen entſpringenden Zwillingsſtröme Euphrat und Tigris. Nur in ſeiner Nordweſtecke, wo es durch das ſogenannte Meſkhiſche Bergland in Be- rührung mit dem Kaukaſus tritt, iſt die Abgrenzung mehr oder weniger willkürlich. Man kann dieſes Berg- land ebenſogut zu Armenien wie zum eigentlichen Kau— kaſusgebiet rechnen. Der Gebirgsbau weiſt es erſterem zu, die ſonſtigen Verhältniſſe, beſonders die ethno- graphiſchen, ſprechen für ſein Zugehör zu Kaukaſien.

Gegen Weſten, alſo gegen Kleinaſien, iſt die Ab- grenzung weniger ſcharf, denn auch dieſes Land iſt ein, freilich niedrigeres, Hochland, und ſeine Randgebirge, die Ketten des Taurus im Süden und die des pontiſchen Küſtengebirges im Norden, finden ihre natürliche Fort— ſetzung in Armenien, wo ſie mit den iraniſchen Ketten- zügen zuſammenſtoßen, ſich mannigfach mit dieſen kreuzend. Eben dadurch wird der eigentümlich ver- wickelte Aufbau Armeniens bedingt, der für den Forſcher um fo ſchwerer zu entziffern iſt, als jenes Zujammen- ſtoßen ganz verſchiedener Gebirge hier vor Aonen von Jahren die vulkaniſche Tätigkeit erregt und eine un- geheure Überſchüttung aller älteren Gebirgsbildungen mit jugendlichen Lavamaſſen verurſacht hat. Dieſe mächtige jungvulkaniſche Geſteinsdecke, die nur ftellen- weiſe, beſonders im weſtlichen Teile des Landes, durch tertiäre Schichtgeſteine, Kalke, Sandſteine und Konglo—

Don Ernſt Wächter 131

merate, eine Unterbrechung erleidet und durch die jahr- hunderttauſendlange Wirkſamkeit der gebirgszerſtören- den und »umbildenden Kräfte zernagt, verwittert, umgelagert, mit einem Worte ununterbrochen, wenn auch dem kurzlebigen Menſchengeſchlechte nicht gerade

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Phot. C. Seelig. Armeniſche Familie von der Hochebene am Aras.

Aus „Rikli: Natur⸗ und Kulturbilder aus den Kaukaſusländern und Hocharmenien“, Art. Inſtitut Orell Füßli, Zürich 1914.

leicht erkennbar umgeformt wird, iſt neben den großen Gebirgſeen eines der charakteriſtiſchen Merkmale für den Landraum, den wir Armenien nennen. Aus dieſem Grunde iſt auch der Nordweſten der jetzt vielgenannten perſiſchen Provinz Aſerbeidſchan mit den beiden Vulkan— riefen Sawelan und Sehend und dem mächtigen Urmia-

132 Das armeniſche Hochland und feine Bewohner

jee Armenien zuzurechnen. Eine ſcharf erkennbare armeniſche Oſtgrenze gibt es hier nicht; es findet nur ein allmählicher Übergang zum Hochland von Fran ſtatt.

Die armeniſche Landſchaft iſt im großen und ganzen ziemlich öde. Unabſehbare Gebiete ſind jeglichen Baum- wuchſes bar; der vorherrſchende Landſchaftscharakter iſt der der Steppe, die nicht ſelten in wirkliche Wüſte über- geht, eine Folge der eigenartigen klimatiſchen Verhält- niſſe. Nur in den Talweitungen der Flüſſe und Bäche, die durch die während des langen, eiskalten Winters in großen Mengen gefallenen und auf den Höhen der Ge- birge und Vulkanberge bis in den Spätſommer ſich er- haltenden Schneemaſſen geſpeiſt werden, iſt die Vege- tation üppiger und findet ſeit Fahrtauſenden ergiebiger Anbau der verſchiedenartigſten Nutzgewächſe ſtatt. JZit doch der verwitterte Vulkanboden, wenn er bei ſeiner Waſſerdurchläſſigkeit nur genügende Befeuchtung er- fährt, ungemein fruchtbar. 800 bis 1000 Meter über dem Meere werden hier noch Baumwolle, Mais und Reis in großem Maßſtabe gebaut, in höheren Lagen Gerſte, Weizen, Buchweizen und Hülſenfrüchte. Ganz beſonders prächtig gedeihen aber edle Obſtſorten und der Wein. Die Kultur des letzteren wird ja bekanntlich von der Überlieferung dem Erzvater Noah nach der Landung der Arche auf dem „Berge Ararat“ das iſt in der Sprache der Bibel das ganze Land Hoch- armenien zugeſchrieben. Zu all dem iſt jedoch künit- liche Bewäſſerung in ausgedehntem Maße notwendig, denn der glühendheiße Sommer Hocharmeniens iſt, von vereinzelten Gewittergüſſen abgeſehen, völlig regen- los. Späteſtens Anfang Mai, meiſt jedoch ſchon im Laufe des Aprils, verſchwinden das friſche Grün und der Blütenflor des Frühlings aus der Steppe. Alles iſt grau und verdorrt; das pflanzliche Leben verkriecht

Von Ernſt Wächter 133

ſich in den Boden, bis neue Feuchtigkeit es wieder ans Tageslicht bringt. Es iſt ähnlich wie in Agypten und Meſopotamien: das Kulturland iſt gegen ſeine Um- gebung wie abgeſchnitten und grenzt ohne Übergang

* > Phot. Dr. W. A. Keller. Das vergletſcherte Gipfelplateau des Großen Ararat mit Blick auf den Kleinen Ararat.

Aus „Rikli: Natur⸗ und Kulturbilder aus den Kaukaſusländern und Hocharmenien“, Art. Inſtitut Orell Füßli, Zürich 1914.

an die waſſerloſe Steppe mit ihren weißlichen Salz— ausblühungen oder an völlig kahle, rötliche Vulkan- berge.

Geſelliger natürlicher Baumwuchs findet ſich als Reihen von Pappeln und Silberweiden längs der Fluß- läufe, dieſe ſchon von weitem dem Steppenwanderer

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als ſolche kennzeichnend; ferner in kleinen Mulden und Einſenkungen des Bodens, in denen der Grundwaſſer— ſpiegel ſehr hoch liegt und, ähnlich wie in der Wüſte, eine Art Oaſenbildung ermöglicht; vor allem aber an den feuchteren Gehängen der Gebirge, wo es ſogar aus- gedehnte Wälder gibt. Das trifft in erſter Linie auf die vielgeſtaltigen, zu alpinen Höhen aufſteigenden Rand- gebirge zu, die dem erſten Anprall der vom Schwarzen Meer, dem Kaſpiſchen See und dem Perſiſchen Meer- buſen heranwehenden, relativ feuchten Winde aus- geſetzt ſind. Die Ketten des Pontiſchen Gebirges, die, die Küſtenlandſchaft Laſiſtan vom eigentlichen Ar— menien ſcheidend, parallel dem Südoſtgeſtade des Schwarzen Meeres bis in die Nähe von Batum ſtreichen und das Tal des ſchon in den erſten Kämpfen zwiſchen Ruſſen und Türken vielgenannten CTſchorok einſchließen, ſind an allen ihren ſeewärts liegenden Hängen vom Meeresſpiegel bis hoch hinauf zur Region der Alpen- pflanzen mit einem dichten Waldkleid bedeckt, das ſtellen⸗ weile von faſt tropiſcher Üppigteit iſt.

Doch das iſt eben ſchon nicht mehr eigentliches armeniſches Land. Überall in Innerarmenien ſchließen ſich vielmehr an die Hochſteppe zunächſt lichte Waldungen von Eichen, Eſchen, Feldahornen, Platanen, Linden und Nußbäumen an, umrankt von wilden Weinreben. Dazu kommen in höheren Lagen Birken, Weiden, Pappeln und vor allem Nadelhölzer, beſonders Föhren, die als Krummholz bis zur Baumgrenze emporſteigen. Dieſe verläuft in einer Höhe von 2500 bis 2600 Metern und geht allmählich in die alpine Strauch- und Stauden- region über. Die allerhöchſten Höhen ſind den größten Teil des Jahres unter Schnee und Eis begraben, doch ragt bis in die Region des ewigen Schnees, die in Armenien wegen der Trockenheit des Klimas ſehr hoch,

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136 Das armeniſche Hochland und feine Bewohner

faſt in Montblanchöhe liegt, nur der 5160 Meter hohe Große Ararat hinein, das Wahrzeichen Armeniens, der heilige Berg für alle Völker Vorderaſiens, in deren Sagen und Überlieferungen er eine große Rolle ſpielt.

Es dürfte wenige Berge auf Erden geben, die auf den Beſchauer einen ſolchen erhabenen Eindruck machen wie der Ararat. Obgleich er wiederholt erſtiegen wurde, gilt er bei den Eingeborenen für unbezwungen und un- bezwingbar. Am gewaltigſten wirkt ſein Anblick von Norden, etwa von der Stadt Eriwan oder dem welt— berühmten Kloſter Etſchmiadzin aus, wo das kirchliche Oberhaupt aller Armenier, der Katholikos, ſeine Neji- denz hat. Einſam ragt der König der armeniſchen Berge über der hier etwa 1000 Meter hohen Arasebene, die ſich in unabſehbare Fernen erſtreckt, 4200 Meter in ſtetem Anſtieg ohne Vorberge empor, gerade an der Stelle, wo ruſſiſches, türkiſches und perſiſches Gebiet zuſammenſtoßen. Auf breitem Sockel erheben ſich zwei Vulkankegel von vollendeter Formenſchönheit, beide bis zu 2600 Meter Höhe durch einen breiten Kamm mit- einander verbunden, der weſtliche größere, der Große Ararat, und der öſtliche kleinere, der Kleine Ararat, letzterer nur bis zu 3914 Metern emporſteigend.

Um ſich einen Begriff von der gewaltigen Maſſe dieſes Zwillingspaares zu machen, ſtelle man ſich vor, daß der größere Bruder eine kreisförmige Grundfläche von faſt 40 Kilometer Durchmeſſer, der kleinere eine ſolche von 28 Kilometer Durchmeſſer hat. „Schwer- lich“, ſagt mit Recht ein ſchweizeriſcher Gelehrter, der den Ararat vor einigen Fahren erſtiegen hat, „gibt's auf Erden noch einen ſo gigantiſchen Aufbau. Selbſt die Rieſen der Anden mit bis zu beinahe 7000 Meter Höhe können ſich da nicht meſſen, fie find zu wenig ifp- liert und ſteigen aus beinahe 4000 Meter hohen Hoch-

Don Ernſt Wächter

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Daß der Ararat ewigen Schnee auf ſeinem breiten Scheitel trägt, wurde ſchon oben er—

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flächen empor.“

138 Das armeniſche Hochland und feine Bewohner

wähnt. Hier ſei noch hinzugefügt, daß er auch Gletſcher aufweiſt, deren gewaltigſter nach Norden in dem tief eingeſchnittenen Riß des ſogenannten Jakobstales bis auf 2500 Meter hinabreicht. Im übrigen iſt der Rieſen- berg eine ungeheure Steinwüſte ohne Hochwieſen und Wald, darum ſeit alters ſcheu gemieden von den in ſeiner Nachbarſchaft ihre Herden weidenden Nomaden, Kurden und Tataren, und nicht minder von den fleißigen armeniſchen Ackerbauern der zu feinen Füßen ſich aus- breitenden Ebenen. |

Wir haben hier zum erſten Male der alteingeſeſſenen Bevölkerung des armeniſchen Hochlandes Erwähnung getan, der Kurden und Armenier, beide gleich intereſſant, beide im Urteil anderer Völker gleich verſchieden be- wertet. Die Armenier, dieſes unglückliche, ſeit vielen Jahrhunderten in drückender Knechtſchaft und Ab— hängigkeit lebende, von ſeinen Herren mißhandelte, von kräftigeren Nachbarvölkern gebrandſchatzte Volk un- zweifelhaft iraniſcher, alſo indogermaniſcher Abſtam- mung, wenn auch mit fremdem Blut durchſetzt ein ſemitiſcher Einſchlag iſt kaum zu verkennen ſind von Haus aus eines der begabteſten Völker der Erde, zu— gleich von hoher körperlicher Schönheit. Wann die Armenier in ihre jetzige Heimat einwanderten, entzieht ſich unſerer Kenntnis. Sicher iſt, daß ſie dort, worauf viele prähiſtoriſche Dokumente, Felszeichnungen, Keil- inſchriften, Höhlenſtädte, Steinkiſtengräber, Bewäſſe- rungsanlagen und anderes mehr, hinweiſen, auf eine uralte, vielleicht chaldäiſche Kultur ſtießen, deren Ele- mente ſie in ſich aufnahmen und kraft ihrer hohen In- telligenz zur Ausbildung eines neuen, eigenartigen Volkstums verwendeten. Nur ſchade, daß ſich dieſes Volkstum nicht auch politiſch durchzuſetzen vermochte.

Armenien iſt nämlich, trotz ſeiner durch die Natur

Von Ernſt Wächter

.

des Landes ſehr erſchwerten Zugänglichkeit, ſeit alters ein vielbenütztes Durchzugsland geweſen und hat den verſchiedenſten Völkern und Staaten als Kampfplatz bei ihrem Ringen um die Vorherrſchaft in Vorderaſien gedient, wie es ja auch heute noch zwiſchen Ruſſen und

n Vyupot. stud. C. Paravicini, Armeniſches Dorf.

Aus „Rikli: Natur⸗ und Kulturbilder aus den Kaukaſusländern und Hocharmenien“, Art. Juſtitut Orell Füßli, Zürich 1914.

Türken der Fall iſt. Aſſyrer und Meder, Griechen und Perſer, Römer und Parther, Kreuzfahrer und Sara— zenen haben hier miteinander gerungen und ſich in der Herrſchaft abgelöſt. Das armeniſche Volk aber, wenig kriegeriſch veranlagt und infolge der Eigenart ſeines Wohnraumes, die die Zerſplitterung in zahlreiche Gaue mit Sonderintereſſen begünſtigte, ohne politiſche Ein- heit, ließ tatlos alles über ſich ergehen. Einige Jahr-

140 Das armeniſche Hochland und feine Bewohner

hunderte hindurch ſtand es auch unter einheimiſchen Königen; das war feine große Zeit. Das tüchtige Herr- ſchergeſchlecht der Bagratiden hat Armenien ſogar eine Periode glänzenden Aufſchwunges gegeben, wovon noch die großartigen Ruinen der alten Königſtadt Ani, der „Stadt der tauſend Kirchen“, am Arpa-Tſchai, einem Nebenfluß des Aras, unweit der heutigen ruſſiſchen Feſtungen Kars und Alexandropol gelegen, zeugen. Freilich auch damals ſchmachtete die große Maſſe des Volkes unter der Tyrannei der adeligen Grundherren, die ihre Hinterſaſſen in der ſchamloſeſten Weiſe ausſogen.

Neue gewaltige Stürme, beſonders der auch über Armeniens Fluren verheerend dahinbrauſende Mon- golenſturm, haben das unglückliche Land an den Rand des Verderbens gebracht. Und als dann die moham- medaniſchen Türken, zeitweiſe auch die ebenfalls moham- medaniſchen Neuperſer die Herrſchaft erlangten, wurde den Armeniern ihr unentwegtes, treues Feſthalten an ihrer nationalen Kirche zum Verhängnis.

Es iſt nach all dem nicht zu verwundern, daß der Charakter des vielgeplagten Volkes viele Schattenfeiten aufweiſt, als da find kriechende Unterwürfigkeit Höher- ſtehenden gegenüber, Unwahrhaftigkeit, Geldgier, Geiz und damit im Zuſammenhang völlige Skrupelloſigkeit, wenn es gilt, einen Vorteil zu ergattern. Ihr aus- geprägter Erwerbſinn treibt die Armenier aus ihrem Heimatlande, wo fie kein genügendes Feld zur Be— tätigung finden, in die Ferne. Als Kaufleute, Händler, Geldwechſler, Bankiers, Dragomane, aber auch als Beamte ſind ſie überall in den benachbarten Ländern anzutreffen, beſonders in der Türkei, wo man ſie wegen ihrer Geſchäftstüchtigkeit nicht entbehren kann, allein ihrer erpreſſeriſchen, betrügeriſchen Tätigkeit wegen auch ſtets gründlich gehaßt hat.

Bon Ernſt Wächter 141

Aber fo weit die Armenier auch in der Welt herum— kommen man findet ſie auch in Weſteuropa und in der Neuen Welt immer bewahren ſie ſtreng ihre Nationalität, halten ſie feſt an ihrer nationalen Kirche, die ein unzerreißbares Band um alle ihre Angehörigen geſchlungen hat. In Armenien ſelbſt, wo ſie übrigens

Ein Kurdenhäuptling.

Aus „E. v. ee Durch Armenien und der Zug Xenophons“, N u B. G. Teubner, Leipzig 1911. 3 5

noch nicht die Hälfte der Bevölkerung ausmachen am zahlreichſten ſind ſie in Ruſſiſch Armenien ſind die Armenier, ſoweit ſie nicht in Städten wohnen, fleißige, genügſame Ackerbauer, deren Kulturſtand allerdings noch ziemlich tief iſt. Ihre Behauſungen find ſchmuck— loſe, kaum 3 Meter hohe, halb im Erdboden begrabene Steinkäſten oder Lehmbauten ohne jeden Verputz, mit flachen Dächern, auf denen Strohhaufen, ſowohl zur

142 Das armeniſche Hochland und feine Bewohner Feuerung wie zum Verfüttern dienend, aufgeſtapelt find. Die wenigen kleinen Fenſteröffnungen find ver- gittert. Der Anblick, den die regellos und weitläufig angelegten Dörfer bieten, iſt höchſt trübſelig; von weitem gleichen ſie einem Haufwerk von Steinen.

Wie die Armenier, ſo erfahren auch ihre erbittertſten Feinde, die mohammedaniſchen Kurden, das zweite ſeit uralten Zeiten in Armenien einheimiſche Volk, die ver- ſchiedenſte Beurteilung. Über den weitaus größten Teil des Landes verbreitet und auch außerhalb der armeniſchen Grenzen noch hier und da in geſchloſſenen Gruppen anzutreffen, haben ſie ihren hauptſächlichen Wohnraum in den nach ihnen als Kurdiſtan bezeichneten ſüdlichen Teilen von Türkiſch- Armenien, wo fie vor allem in den ſchwer zugänglichen Gebirgstälern ihr Weſen treiben und nur ein Teil von ihnen zeitweilig mit feinen Schaf- und Ziegenherden die offenen Hoch- ebenen aufſucht. In ihrer Lebensweiſe ſind ſie noch ganz dieſelben geblieben, wie ſie uns in Kenophons meiſterhaften Schilderungen der alten Karduchen das ſind eben die Kurden entgegentreten.

Ihrer Abſtammung nach ſind die Kurden ebenfalls Indogermanen, wahrſcheinlich, wie namhafte Gelehrte annehmen, Nachkommen, wenn auch nicht unvermiſcht gebliebene, der alten Meder. Bei ihrem hohen, kräftigen Wuchs, ihrer hellen Haut- und Haarfarbe, ihren häufig blauen Augen könnte man fie faſt für Nordgermanen halten. Die Sprache iſt ein eigenartig entwickeltes iraniſches Idiom. Von Charakter gelten fie für maßlos ſtolz, freiheitliebend, tapfer, gaſtfrei, keuſch, aber es unterliegt auch keinem Zweifel, daß ſie arge Räuber ſind, denen man am beſten aus dem Wege geht. Ein Menſchenleben gilt ihnen wenig; ohne Waffen ſieht man ſie ſelten. So unkriegeriſch und fügſam die Ar-

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menier, ſo kriegeriſch und unbotmäßig ſind die Kurden, denen allerdings die Natur ihres ſchwer zugänglichen, leicht zu verteidigenden engeren Wohnraumes ein ziem- lich ſtarkes perſönliches Sicherheitsgefühl im Laufe der Jahrtauſende großgezogen hat. Stets haben ſie trotz

Phot. Prof. F. Egger.

Kurdenzelte beim ruſſiſchen Grenzfort Sſardar-Bulagh.

Aus „Rikli: Natur- und Kulturbilder aus den Kaukaſusländern und Hocharmenien“, Art. Inſtitut Orell Füßli, Zürich 1914.

ihrer politiſchen Zerſplitterung ein gewiſſes Maß von Unabhängigkeit ſich zu bewahren gewußt; nie haben die Türken ſie vollſtändig unterworfen, und der türkiſche Sultan konnte bislang nur da auf ihre Fügſamkeit rechnen, wo ihre kriegeriſchen und räuberiſchen Nei- gungen ungeſtraft zur Geltung kommen können.

So ſind die unter dem alten türkiſchen Regime ſo häufigen blutigen Armenierverfolgungen weniger dem

144 Das armeniſche Hochland und feine Bewohner

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harmloſen, gutmütigen Türken aufs Konto zu ſetzen als vielmehr den Kurden. Selbſt im ruſſiſchen Landes- teile, wo doch ſonſt die Staatsautorität mit allen Mitteln zur Geltung gebracht wird, bringen es die hier aller- dings nur als unſtete Nomaden ihr Weſen treibenden Wildlinge fertig, einfach nach ihrem alten Herkommen zu leben, ohne Rückſicht darauf zu nehmen, ob es ſich mit der ſtaatlichen Ordnung in Einklang bringen läßt. Nur freiwillig dienen ſie im Heere des Sultans, wo es eine irreguläre kurdiſche Reiterei gibt, oder in Perſien dem Schah, als deſſen zuverläſſigſte Truppe ſie übrigens gelten. Freiwillig ſind ſie auch jetzt mit in den Krieg gegen die Ruſſen gezogen, weniger aus religiöſer Be- geiſterung, denn ſie ſind religiös ziemlich gleichgültig, als weil es ihren Neigungen entſpricht.

Politiſch ſind die Kurden arg zerſplittert, in gewiſſem Sinne iſt jede Dorfichaft eine politiſche Sonderheit. Die Sippe, die Blutsverwandtſchaft, bildet die Grundlage ihrer ungeſchriebenen Verfaſſung, und Herkommen iſt Geſetz. Der Familienſinn iſt ſo ſtark ausgeprägt, daß er alle Verhältniſſe beherrſcht. Die Stellung der Frau iſt würdig, freier als ſonſt im Morgenland. Von den mehr als hundert Stämmen des Volkes ſteht jeder unter einem eigenen Fürſten oder Häuptling, Bei, der zwar ſeine Würde in der Familie erblich erhält, aber über feine „Untertanen“ nur geringe Macht beſitzt. Die Per- ſönlichkeit tut da alles.

In ſozialer Hinſicht zerfällt das intereſſante Volk in nomadiſierende Hirten und Anſäſſige, die ſeit alters die Bodenbebauung mit bewundernswertem Geſchick aus- üben und auch eine Art Hausinduſtrie in der Herſtellung von Kleidungsſtücken und Hausgerät betreiben. Der Reichtum der Nomaden beſteht in der Hauptſache in großen Herden von Fettſteißſchafen und langhaarigen

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Ziegen. Ihre Behauſungen ſind luftige, aus ſchwarzem Ziegenhaar ſelbſtgewebte Zelte, wie man fie beiſpiels- weiſe rings um den Ararat antrifft. Die Anſäſſigen wohnen dagegen in geſchloſſenen Ortſchaften, weniger in ſtädtiſchen Siedlungen als in Dörfern, deren von mächtigen Nußbäumen und Platanen beſchattete ein- bis zweiſtöckige, ſteinerne oder aus Luftziegeln erbaute Häuſer gern an ſchützende Berghänge ſich anlehnen. Die Kurdendörfer gewähren ſo im Gegen— ſatz zu den armeniſchen Ortſchaften einen freundlichen Anblick.

Außer von Armeniern und Kurden ſowie den be— züglichen Herren des dreigeteilten Landes, den Türken, Ruſſen und Perſern, die überwiegend Beamte und Soldaten ſind, wird Armenien noch von Angehörigen anderer Völker bewohnt, über die wir uns kurz faſſen können. Es ſind vor allem Griechen, Zigeuner und in Oſtarmenien namentlich Tataren. Die letzteren, der mongoliſchen Raſſe angehörig und den Türken nahe verwandt, ſtehen, je höher ihr Wohnraum liegt, auf um ſo tieferer Stufe der Geſittung. An der ruſſiſch— perſiſchen Grenze treibt der tatariſche Stamm der Schahſewenzen, das heißt die den Schah Liebenden, fein Weſen. Dieſe rohen, als unzuverläſſig, wort- brüchig und diebiſch verrufenen Nomaden, die eifrige Züchter von Rindern, Schafen und Kamelen ſind, haben als fanatiſche Moſleme dem Rufe des Kalifen zum Heiligen Kriege ſofort Folge geleiſtet. Wenn ſie auch keine vollwertigen Streitkräfte zu ſtellen vermögen, ſo ſind ſie doch wohl imſtande, die Ruſſen in ihren kriege riſchen Operationen ſchwer zu ſtören, zumal ihre Stammesgenoſſen in der transkaukaſiſchen Steppe die rückwärtigen Verbindungen der Nuſſen unſchwer ernſt— lich gefährden können.

1915. XII. 10

146 Das armeniſche Hochland und feine Bewohner

Von den armeniſchen Städten, die meiſt klein und wirtſchaftlich unbedeutend ſind Armeniens Bedeu- tung liegt übrigens heute wie faſt im ganzen Verlauf ſeiner unruhvollen Geſchichte weniger auf wirtichaft- lichem als auf politiſchem und militäriſchem Gebiete können wir hier nur die allerwichtigſten kurz skizzieren: das perſiſche Täbris, das türkiſche Erzerum und das ruſſiſche Kars. |

Täbris liegt öſtlich vom Urmiaſee 1500 Meter hoch im Anblick der beiden Vulkanrieſen Sehend und Sa— welan. Es iſt nicht nur eine der erſten Handelsſtädte Perſiens, ſondern auch die größte und wichtigſte Stadt ganz Armeniens und dabei heute doch nur ein Schatten ehemaliger Größe, die fie aber bei geordneten Verhält— niſſen und vor allem bei Verbeſſerung der Verkehrs- wege leicht wieder erreichen könnte. Deshalb hatten ſchon längſt die Ruſſen ein Auge auf dieſe Stadt ge- worfen, von der aus ſie mit Leichtigkeit ganz Nord- perſien wirtſchaftlich und ſtrategiſch beherrſchen konnten, und ſich anläßlich der unaufhörlichen perſiſchen Wirren vollſtändig einzuniſten verſtanden. So unterhielten ſie in Täbris ganz völkerrechtswidrig eine ſtarke Veſatzung, angeblich zur Aufrechterhaltung der Ordnung, und ſchalteten und walteten, als ob ſie in ihrem Eigentum wären. Die türkiſchen Heere haben dann bekannt— lich nach Beſiegung der Nuffen in Aſerbeidſchan der ruſſiſchen Herrſchaft gewaltſam ein Ende gemacht und mit tatkräftiger Unterſtützung der eingeborenen Be— völkerung die frechen Eindringlinge über die Grenze gejagt. Heute zählt die in ein Meer von Gärten ge- tauchte, infolge von Erdbeben und ſchlechter Verwaltung aber im Inneren viel Schutt und Trümmer bergende Stadt, von der aus die uralte Handels- und Karawanen- ſtraße durch Türkiſch- Armenien nach Trapezunt am

Von Ernſt Wächter

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größtenteils Armenier und Perſer.

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Erzerum liegt maleriſch ſchön etwa 2000 Meter hoch auf kahler, baumloſer, aber fruchtbarer Hochebene vor den meiſt ſchneegekrönten Spitzen des vielgeſtaltigen Eyerli-Dagh. „Ihre günſtige Lage an dem Schnitt- punkt der Straßen vom Schwarzen Meere nach Perſien ſowie von Transkaukaſien nach den zentralen Gebieten Kleinaſiens“, ſchreibt der deutſche Generalleutnant E. v. Hoffmeiſter, der erſt vor wenigen Fahren die Stadt beſuchte, „verſchaffte ihr von alters her einen lebhaften Handelsverkehr; noch im Mittelalter war Erzerum groß und reich. Die teilweiſe Verſchiebung des Handels aber infolge der Entdeckung des Seeweges nach Indien und neuerdings durch den Bau der trans- kaukaſiſchen Bahnen, die harten Bedrückungen und Schickſalsſchläge unter türkiſcher Herrſchaft und ſchließ— lich, aus der gefahrvollen Nähe der vulkaniſchen Er— hebungen des Palandöken und Eyerli-Dagh, eine ganze Reihe von Erdbeben, von denen das letzte und ſchwerſte im Fahre 1859 faſt die ganze Stadt zuſammenwarf, brachten es mehr und mehr zurück, jo daß es gegen- wärtig, abgeſehen von der ſtarken Garniſon, nicht mehr als 50 O00 meiſt türkiſche Einwohner zählt und kaum den dritten Teil der zwiſchen den beiden letzten Kriegen 1855 und 1877 erbauten Umwallung ausfüllt. Gleich- wohl iſt auch heute noch Erzerum der weitaus wich- tigſte Platz in Türkiſch- Armenien, und zwar ebenſowohl in Anbetracht feines Handels paſſieren doch all- jährlich allein an 50 000 Kamele die Stadt wie feiner politiſchen Bedeutung nach.“ Es iſt der Schlüſſel zur aſiatiſchen Türkei und als ſolcher unter der jungtürti- ſchen Herrſchaft ganz neuzeitlich ſtark befeſtigt. Daher dos glücklicherweiſe vergeblich gebliebene Bemühen der Nuſſen, ſich dieſes Platzes zu bemächtigen.

Kars iſt in ſtrategiſcher Hinſicht von demſelben hohen

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Die Bedeutung des

etwa 20000 Einwohner zählenden Platzes liegt aber

Wert für Ruſſiſch- Armenien.

150 Das armeniſche Hochland und feine Bewohner

ausſchließlich auf ſtrategiſchem Gebiete, wie denn über- haupt alle wichtigeren Orte Ruſſiſch-Armeniens, viel- leicht die zerfallende, aber maleriſch gelegene alte arme⸗ niſche Reichshauptſtadt Eriwan und die beiden nörd- lichen Randſtädte Schuſcha und ZFeliſſawetpol aus- genommen, lediglich vom militäriſchen Geſichtspunkte aus zu bewerten ſind, ja im weiteſten Sinne ganz Ar- menien ſelbſt. Kann man dieſes doch gewiſſermaßen mit einer ſtarken Feſtung vergleichen, die das Ruſſiſche Reich an einer ſeiner empfindlichſten Stellen, dem wertvollen Kaukaſusgebiet mit dem unerſetzlichen Petro⸗ leumbezirk von Baku am Kaſpiſchen See, ſchützen ſoll. Kars iſt nun infolge ſeiner Lage der ſtärkſte Stütz— punkt dieſer Feſtung. Es liegt 1500 Meter hoch in der fruchtbaren Schiraghebene rings von ſchwer über- ſchreitbaren Gebirgen umgeben im Tal des Kars-Tſchai, der, vom ruſſiſch-türkiſchen Grenzgebirge Soghanly— Dagh herabkommend, in mächtigem Bogen dem Arga— Tſchai, dem oben erwähnten rechten Nebenfluß des Aras, zuſtrömt, und war ſchon in alter Zeit als Sperr- punkt der von Tiflis nach Erzerum führenden Straße hochbedeutſam. Eine alte, noch aus ſeldſchukiſcher Zeit ſtammende, auf hochragendem Felſenriff über dem hier ſchluchtartigen Flußtale liegende Zitadelle bildet den Kern der ſtarken Feſtung, die aber erſt durch die weit vorgeſchobenen neuzeitlichen Forts ſchier unein- nehmbar gemacht wird, vorausgeſetzt, daß ihre Beſatzung zahlreich genug iſt. | 5 *

Der im vorſtehenden in ſeinen charakteriſtiſchen Zügen geſchilderte Landraum iſt alſo der Schauplatz, auf dem ſich ein Teil der kriegeriſchen Auseinander- ſetzung zwiſchen der Türkei und Nußland abſpielt. Er

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bietet, wie aus dem Geſagten erſichtlich, für die Krieg- führung ſehr erhebliche Schwierigkeiten, unter denen hier noch die mangelhaften Verkehrsverhältniſſe hervor- gehoben ſein mögen. Eiſenbahnen gibt es nur in Ruſſiſch-Armenien, und auch da nur eine einzige Linie, die, von Tiflis ausgehend, ſich allerdings bei der Feſtung Alexandropol teilt und mit einem Strange über Kars nach Sarykamiſch bis an den Fuß des Soghanly- Dagh führt, während der andere über Exiwan bis nach Oſchulfa an der perſiſch-ruſſiſchen Grenze reicht. Die hier über den Aras führende eiſerne Brücke haben die Ruſſen er- baut, in der Abſicht, die Bahn bis nach Täbris fort- zuſetzen, was ihnen nun durch das ſiegreiche Vordringen der Türken vereitelt iſt.

Auch die Landſtraßen find ihres miſerablen Zu- ſtandes wegen dem Verkehr nicht günſtig. Im ruſſiſchen Gebietsteile gibt es noch einige, die dieſe Bezeichnung mit einiger Einſchränkung verdienen, im übrigen Ar- menien ober kann man von Landſtraßen überhaupt nicht ſprechen. Die von Erzerum nach Trapezunt führende, in den fünfziger Jahren des vorigen Jahr- hunderts mit großen Koſten angelegte Gebirgsſtraße iſt längſt in einem Zuſtand der Verwahrloſung, den auch die rührige jungtürkiſche Verwaltung noch nicht ganz wieder behoben haben dürfte.

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Die ſpaniſche Tänzerin novellette von Reinhold Ortmann Machdruck verboten) er Gongſchlag der großen Standuhr im benach- D barten Speiſezimmer verkündete die ſechſte Nachmittagsſtunde, und noch ehe er ganz ver- - klungen war, ſtand Lotte Werkentin am Fenſter. Sie mußte das kecke Näschen an der Glasſcheibe beinahe platt drücken, um ganz ſicher zu ſein, daß ſie Rudolf Hegewald ſofort erſpähte, wenn er unten aus dem Hauſe trat, zumal ſeitdem er unbegreiflicherweiſe die Gewohnheit angenommen hatte, hart an der Mauer entlang zu ſchleichen.

Fräulein Lottes Herz klopfte ungeſtüm, denn dieſe Stunde mußte ihr eine ſchwerwiegende Entſcheidung bringen. Wenn Herr Hegewald auch heute nicht zu ihr heraufgrüßte, war es das letzte Mal geweſen, daß ſie hier auf ihn gewartet hatte. Das hatte ſie ſich feierlich gelobt, und fie war die Perſönlichkeit, Gelöb- niſſe zu halten. Das ſollte der Teilhaber ihres Onkels ſich denn doch nicht einbilden, daß fie ſich in ſchmach— tender Sehnſucht nach ihm ganz und gar aufzehrte, während er fie je nach Luft und Laune bald mit ritter licher Zuvorkommenheit behandelte, bald vollſtändig überfahb. Auch wenn man den achtzehnten Geburtstag noch vor ſich hat, weiß man doch, was man ſeiner Frauenwürde ſchuldig iſt. Er würde lange warten können, ehe er wieder ein ermutigendes Lächeln von ihr zu ſehen bekam.

Endlich! Sieben oder acht Angeſtellte hatten ge— wiſſermaßen den Vortrab gebildet. Dann kam er. Aber wenn ſie nicht ſeinen ſpiegelblanken Zylinder und ſeinen mausgrauen Überzieher ſo gut gekannt hätte, würde ſie nicht einmal ſicher geweſen ſein, daß er es

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war. Hatte man je einen ftattlihen jungen Mann von ſechsundzwanzig Jahren fo ſchlaff und kopfhängeriſch dahinſchleichen ſehen wie dieſen ſonſt fo flotten Herrn Hegewald? Von ſeinem Geſicht konnte ſie überhaupt nichts ſehen, und zum fünften Male oh, ſie hatte gut gezählt! ſchlich er an der Hausmauer dahin, ohne die Augen zu dem Fenſter im erſten Stock zu erheben. |

Nun war es alſo entſchieden. Sie gehörte nicht zu denen, die um Huld und Gnade werben, nachdem ſie verſchmäht worden find. Zweimal ftampfte ihr kleiner Fuß recht energiſch den Boden, dann löſte ſich das niedliche Stumpfnäschen von der Fenſterſcheibe los, und die trotzigſten Entſchlüſſe ſtanden auf dem friſchen jungen Geſicht geſchrieben. ö Onkel Werkentin, der gleich darauf eintrat, ſchien davon allerdings nichts zu bemerken. Er ſah verdrießlich aus wie beinahe immer in dieſen letzten Tagen und ſetzte ſich an den Tiſch, ohne mit ſeiner Nichte, die dem früh verwitweten Vierziger das Haustöchterchen er- ſetzen mußte, mehr als ein paar gleichgültige Worte zu wechſeln.

Geraume Zeit cer Lotte mit einem Entſchluß zu kämpfen, und ein paarmal ſchon hatte ſie den Mund auf- und wieder zugemacht, ohne mit der Bemerkung oder Frage herauszukommen, die ihr ganz unverkennbar auf der Seele brannte. Zuletzt aber konnte ſie es doch nicht mehr aushalten. |

„Was iſt denn mit Herrn Hegewald, Onkel?“ platzte fie mit einer Unbefangenbeit heraus, die um ſo über- zeugender wirken mußte, als ſie dabei bis über die Ohren rot wurde. „Fit er krank?“

Stirnrunzelnd blickte Onkel Werkentin auf. „Krank? Wieſo?“

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„Na, ich meine nur, weil er jo fo hinfällig aus- ſieht. Aber darin kann ich mich ja auch täuſchen.“

Der Onkel ſchüttelte den Kopf. „Nein, krank iſt er wohl nicht. Er iſt bloß verrückt.“

„Um Gottes willen!“

„Jawohl. Seit vier oder fünf Tagen hat er den Verſtand verloren. Eine ſpaniſche Tänzerin iſt ihm in den Kopf geſtiegen. Ich mache mich nachgerade ſchon auf das Schlimmſte gefaßt, wenn dieſer Lolita- Wahnſinn noch eine Weile anhält.“

Fräulein Lotte ſagte zunächſt gar nichts, und es war gut, daß der Onkel durch feine Kurzſichtigkeit ver- hindert wurde, wahrzunehmen, wie blaß ſie geworden war. Sie hatte Meſſer und Gabel auf den Teller gelegt und die Hände in den Schoß ſinken laſſen. Onkel Werkentin dachte vielleicht ſchon wieder an etwas ganz anderes, als ſie endlich das Schweigen wieder brach.

„Alſo Lolita heißt ſie?“

„Wer? Ach ſo, dieſe Spanierin! Jawohl: Lolita Olivarez. Sie tanzt im ‚Roloffeum‘. Und wenn man Hegewald von ihr ſprechen hört, ſollte man meinen, ein ſolcher Ausbund von Schönheit ſei überhaupt noch nicht dageweſen.“

„Spricht er wirklich viel von ihr, Onkel?“

„Vis ich mir's endlich verbat, hat er überhaupt von nichts anderem geredet. Und wenn er nicht von ihr ſpricht, ſo denkt er doch ununterbrochen an ſie. Auf ſeiner Schreibunterlage ſteht mindeſtens fünfzigmal in den zierlichſten Schriftzügen der Name Lolita. Und heute kam eine höchſt wichtige Depeſche, die für unſeren Geſchäftsfreund Frieſicke in Landsberg beſtimmt war, als unbeſtellbar zurück, weil er ſie an Herrn Olivarez adreſſiert hatte. Iſt das nicht, um aus der Haut zu fahren?“ |

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„Ja, es iſt ſchrecklich!“ hauchte Lotte. „Aber glaubſt du nicht, daß daß es vorübergeht?“

„Das weiß der Himmel. Heute hat er mir feierlich erklärt, dies ſei die große Leidenſchaft ſeines Lebens, und er werde durch ſie entweder glücklich werden oder zugrunde gehen. Natürlich habe ich ihn erſucht, mich mit ſolchen Dummheiten zu verſchonen, und ſeitdem behandelt er mich mit eiſiger Kälte.“ |

Nun hatte Lotte ja die Erklärung dafür, weshalb Rudolf Hegewald ſich neuerdings geſenkten Hauptes an der Hauswand entlang drückte, wenn er ſie oben am Fenſter wußte, und weshalb er nicht mehr zu ihr hinauf- grüßte. Er hatte es ja eigentlich gar nicht nötig, ſeine große Leidenſchaft vor ihr zu verſtecken, denn von Liebe war zwiſchen ihnen noch mit keiner Silbe die Rede geweſen, und über verſtohlene Händedrücke oder beredte Blicke waren ihre Vertraulichkeiten niemals hinausge- diehen. Ein Händedruck und ein Blick aber können für ein junges Mädchen doch recht viel bedeuten, und es war der armen Lotte darum nicht ſo ſehr zu verübeln, wenn fie ſich in dieſem Augenblick ſchmählich verraten fühlte.

Ein ſtolzes und ein tapferes Mädel war ſie indeſſen auch. Nachdem ſie den erſten, niederſchmetternden Eindruck verwunden hatte, ließ ſich ihrem Ausſehen und ihrem Benehmen nur noch ſehr wenig von dem großen Kummer anmerken, der ihre Seele erfüllte. Gegen den Onkel zeigte ſie ſich ſogar gerade heute von beſonderer Zuvorkommenheit. Sie holte ihm nach dem Käſe das Kiſtchen mit ſeiner Lieblingszigarre, noch ehe er einen Wunſch geäußert hatte, und während ſie ihm dann das Zündhölzchen hielt, ſagte ſie leichthin: „Du fürchteſt doch nicht, Onkel, daß Hegewald im Ernſt beabſichtigt, dieſe Pepita oder wie ſie ſonſt heißt, zu heiraten?“

156 Die ſpaniſche Tänzerin

„Daß er mit ſolchen Gedanken umgeht, iſt ſicher. And die Spanierin iſt allem Anſchein nach eine ſehr gefährliche Perſon eine von denen, die ſich koſtbar zu machen wiſſen. Bis jetzt iſt es ihm, wie er ſagt, trotz aller Bemühungen noch nicht einmal gelungen, ein Wort mit ihr zu wechſeln.“

Lotte atmete auf. „Er kennt fie alſo nur vom An- ſehen? Oh, dann kann es doch ſo ſchlimm noch nicht ſein. Ich denke, dieſe Mädchen müſſen einen Mann immer enttäuſchen, ſobald er ihre nähere Bekanntſchaft macht.“

„Na, darauf möchte ich mich denn doch nicht ſo ganz feſt verlaſſen,“ meinte der Onkel. „Man hat auch Beweiſe vom Gegenteil. Ich vermute, dieſe Lolita verfolgt einen wohlüberlegten Plan, wenn ſie vor— läufig noch die Briefe des verblendeten jungen Mannes unbeantwortet läßt, die Annahme feiner Blumen- ſträuße verweigert und ihm die Tür ihrer Wohnung verſchließt. Je größer die Hinderniſſe, deſto koſtbarer der Preis. Und Hegewald hat von ſeinem Vater ein ſo hübſches Vermögen geerbt, daß es für eine herum— ziehende Gauklerin ſchon der Mühe wert iſt, ihn als Ehemann einzufangen. Natürlich würde ſie den armen, ſchwachen Jungen dann innerhalb weniger Jahre voll- ſtändig zugrunde gerichtet haben.“

Lotte machte ein ſehr energiſches Geſicht. „Das darfſt du nicht geſchehen laſſen, Onkel! Du haſt mir ſo oft erzählt, wieviel Dank du deinem verſtorbenen Teil- haber Hegewald ſchuldig biſt, da mußt du die Schuld jetzt an ſeinem Sohne abtragen, indem du ihn vor einem ſo ſchrecklichen Unglück bewahrſt.“

„Wie ſoll ich denn das anfangen? Er läßt ja nicht mit ſich reden!“ N

„Zunächſt mußt du dir dieſe gefährliche Tänzerin

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einmal anſehen und verſuchen, Näheres über fie zu erfahren. Wenn ich an deiner Stelle wäre, ich ginge noch heute abend ins Koloſſeum.“

Davon wollte der etwas ſpießbürgerliche Onkel Werkentin zunächſt durchaus nichts hören. Er ſagte, daß er ſeit zwanzig Jahren nicht mehr in einem Varieté geweſen ſei, und daß er einen wahren Abſcheu vor dieſen Stätten leichtfertiger Unterhaltung habe. Aber wenn ſie es ernſtlich wollte, verfügte Fräulein Lotte über eine geradezu unwiderſtehliche Gabe der Überredung, und ſie hatte den Onkel, ohne daß er es ahnte, ein wenig unter dem Pantoffel. ö

Eine Stunde ſpäter hatte er ſich brummend und knurrend zum Theaterbeſuch angekleidet, und Lotte verſäumte nicht, ihm eigenhändig das Opernglas über die Schulter zu hängen, damit er ſich Fräulein Lolita ja recht genau anſehe.

„Ich habe mir erzählen laſſen, daß ſolche Bühnen- ſterne bei ſcharfer Betrachtung immer ſehr viel von ihrer angeſchminkten und angemalten Schönheit ver— lieren,“ ſagte ſie. „Und es wird jedenfalls nichts ſchaden, wenn du Hegewald aus eigener Anſchauung verſichern kannſt, daß auch ſeine angebetete Lolita davon keine Ausnahme macht.“

Gegen ihre Gewohnheit war Lotte noch nicht zur Ruhe gegangen, als der Onkel heimkehrte. Sie be— mühte ſich, ſehr gleichgültig auszuſehen. Aber als Werkentin wohl zehn Minuten lang im Zimmer auf und nieder ging, ohne ein Wort zu ſprechen, ging ihre Verſtellungskunſt zuletzt doch in die Brüche.

„Nun, Onkelchen?“ fragte ſie. „Haſt du dich gut unterhalten?“

„Großartig!“ fuhr es ihm heraus. Aber er ſetzte

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158 Die ſpaniſche Tänzerin

ſchnell hinzu: „Großartig dieſe ikariſchen Spiele der Brüder Ranudo. Ich hätte ſo was nie für möglich gehalten. Und die dreſſierten Kakadu einfach zum Staunen!“

„Eigentlich biſt du doch nicht wegen der dreſſierten Kakadu und der Brüder Ranudo ins Koloſſeum ge— gangen, Onkel. Oder iſt Fräulein Lolita Olivarez vielleicht gar nicht aufgetreten?“

Werkentin ſtrich ſich über die Stirn, wie wenn er ſich erſt darauf beſinnen müßte. Dann ſagte er obenhin: „Ja ſo die Olivarez! Nun, fie iſt nicht übel gar nicht übel, das muß man ihr ſchon zugeſtehen. Aber willſt du denn heute gar nicht ins Bett gehen, Lotte?“

„Ich bin noch nicht müde. Nicht übel, ſagſt du aber doch wohl keine überwältigende Schönheit?“

„Ich weiß nicht man könnte ſie wohl auch eine überwältigende Schönheit nennen. Jedenfalls hat fie eine Grazie wundervoll, einfach wundervoll!“

Fräulein Lottes Augen wurden tellerrund. „Aber, Onkel, du ſchwärmſt ja förmlich! Haſt du ſie dir denn auch durch das Opernglas angeſehen?“

„Selbſtverſtändlich bei meiner Kurzſichtigkeit! Außerdem hatte ich einen Platz in einer der erſten Reihen.“

„Was ſich unter der Schminke verbarg, wirſt du

wahrſcheinlich trotzdem nicht geſehen haben.“ „Ach was Schminke! Dummes Zeug! Sie war überhaupt nicht geſchminkt. Wenn man von der Natur ſo reich bedacht iſt, hat man dergleichen Künſte nicht nötig. Aber ich verſtehe gar nicht, weshalb dich dieſe ſpaniſche Tänzerin ſo ſehr intereſſiert. Das ſind Sachen, die für ein wohlerzogenes junges Mädchen überhaupt gar nicht exiſtieren ſollten.“

Der armen Lotte, die an ſolche Zurechtweiſungen

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nicht gewöhnt war, ſtanden ſchon die Tränen in den Augen. „Aber du haſt mir doch ſelbſt von ihr erzählt, Onkel und du warſt ſo ungehalten, weil Hegewald —“

„Unſinn! Wenn ich beiläufig etwas Derartiges er- wähnt habe, ſo iſt das für dich noch lange kein Grund, dich mit der Perſon des Fräulein Lolita und mit meinem mit Hegewalds Zntereſſe für fie zu beſchäftigen. Außerdem iſt es halb zwölf vorbei, und ich erſuche dich nunmehr ernſtlich, dich zur Ruhe zu begeben.“

Fräulein Lotte gehorchte ſtumm, und im Umkreis von mehreren Quadratmeilen gab es in dieſer Nacht kein betrübteres Geſchöpf als ſie.

Natürlich ſchmollte ſie am nächſten Tage mit dem Onkel; aber es fiel ihm gar nicht ein, ſie nach der Urſache ihrer trotzigen Wortkargheit zu fragen. Seine Gedanken weilten offenbar bei ganz anderen Dingen. Während des Eſſens ſah er wiederholt ungeduldig auf die Uhr, und er hatte kaum den letzten Viſſen verſchluckt, als er auch ſchon aufſtand und das Mädchen beauftragte, ihm ſeinen ſchwarzen Anzug zurechtzulegen.

„Gehſt du heute abend aus, Onkel?“ konnte Lotte ſich nun doch nicht enthalten zu fragen.

„Ja man hat mich zu einer Kegelpartie ein- geladen. Es kann ziemlich ſpät werden, und du ſollſt in keinem Fall auf mich warten.“

Sie ſtand hinter der Fenſtergardine, als der Onkel gegen die achte Stunde das Haus verließ. Er trug wieder das Opernglas über der Schulter, und Lotte ſuchte ſich vergebens vorzuſtellen, wie man es wohl anfangen möge, unter Benützung eines Opernglaſes Kegel zu ſchieben. Aber freilich, wenn man jo kurz- ſichtig war wie Onkel Werkentin —!

Am folgenden Vormittag erlebte ſie das noch nicht Dageweſene, daß der Onkel, als er zum Frühſtück aus

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dem Kontor herübergekommen war, ſich an den Flügel ſetzte und etwas phantaſierte, daraus ſie trotz aller Anſtrengung ihres Gehörs nicht klug werden konnte.

„Eine ſehr ſchöne Kompoſition, Onkel!“ ſagte ſie, nachdem ſie, ohne daß er es merkte, hereingeſchlüpft war. „Aber was iſt es denn eigentlich?“

Werkentin ſprang auf und machte ein wütendes Geſicht. „Ein ſpaniſcher Tanz iſt es. Aber du weißt, daß ich es nicht liebe, wenn man fo hinter mir herum- ſchleicht.“

„Ich ſchleiche nicht herum. Und man konnte es doch bis in die Küche hören. Gehſt du heute abend wieder zum Kegeln, Onkel?“

„Nein. Ich habe eine Vereinsſitzung,“ knurrte er. „Aber weshalb fragſt du danach?“

„Weil ich dich um die Erlaubnis bitten wollte, dein Opernglas zu benützen. Frau Kuſtermann hat mich eingeladen, mit ihr und De Tochter ins YOU PIE haus zu gehen.“

„Tut mir leid, mein Kind aber ich brauche es ſelbſt. Leih dir doch eines vom Logenſchließer, wenn dir deine guten Augen durchaus nicht genügen.“ |

Fräulein Lotte wußte jetzt, was fie hatte willen wollen, und große Entſchlüſſe reiften in ihrer Seele. Sie war an dieſem Morgen Hegewald zufällig auf der Treppe begegnet, und er hatte ſich mit ſcheuem Gruße an ihr vorbeigeſchoben wie ein armer Sünder. Dabei hatte er jo erbarmungswürdig blaß und verſtört aus- geſehen, daß ſich ihr förmlich das Herz zuſammengezogen hatte. Allem Anſchein nach war er alſo wirklich auf dem beſten Wege, an der großen Leidenſchaft ſeines Lebens zugrunde zu gehen. Und wenn ſie ſchon nicht die Macht hatte, ihn vor dieſem Schickſal zu bewahren, ſo wollte ſie nun wenigſtens diejenige mit leiblichen Augen ſehen,

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deren verderbliche Schönheit das grenzenloſe Unglück in ihr und Rudolf Hegewalds Dafein gebracht hatte.

Die Geſchichte mit der Einladung der Frau Kuſter— mann war natürlich Schwindel geweſen, und nicht das Schauſpielhaus, ſondern das Koloſſeum war das Ziel, dem Fräulein Lotte in einer Autodroſchke entgegen- rollte, ſobald Onkel Werkentin das Haus verlaſſen hatte. Allerdings war ihr nicht ganz wohl bei ihrem Unter— nehmen, denn wenn es herauskam, daß ſie heimlich und ganz allein in einem Varieté geweſen war, ſo konnte ſie ſich auf eine ſchöne Strafpredigt gefaßt machen. An der Kaſſe bat ſie denn auch zum ſtillen Vergnügen des Verkäufers um einen Platz, von dem aus man alles recht gut ſehen könne, ohne ſelbſt auf- zufallen; weil er aber der niedlichen jungen Dame gern gefällig ſein wollte, händigte er ihr die Anweiſung auf einen Rückſitz in der Proſzeniumsloge ein, der in der Tat vollſtändig den von Fräulein Lotte geſtellten An- forderungen entſprach.

Sie war gerade zur rechten Zeit gekommen, denn ein Blick auf das Programm belehrte ſie, daß ſchon die nächſte Nummer die des Fräuleins Lolita Olivarez war. Immerhin hatte ſie während der vorhergehenden Pauſe noch Muße genug, ſich ein wenig im Zufchauer- raum umzuſehen, und da konnte ſie denn die inter- eſſante Entdeckung machen, daß vorn an der Brüſtung der gegenüberliegenden Loge Herr Rudolf Hegewald in Frack und weißer Halsbinde ſaß, während ihr kahl— köpfiger Onkel Werkentin einen Mittelplatz in der erſten Parkettreihe innehatte und ſchon jetzt das Opernglas krampfhaft vor die Augen hielt, als fürchte er, daß ihm der große Augenblick von Fräulein Lolitas Auftreten verloren gehen könnte. |

Da fie ſelbſt ſich ganz im Dunkeln hielt, konnte

1915. XII. 11

162 Die ſpaniſche Tänzerin

glücklicherweiſe keiner der beiden ihre Anweſenheit wahrnehmen, und nun ertönte auch ſchon das Glocken- zeichen, das den Beginn der vom Publikum allem Anſchein nach mit beſonderer Spannung erwarteten Programmnummer ankündigte. Das Orcheſter in- tonierte den ſpaniſchen Tanz, deſſen charakteriſtiſches Motiv Lotte nun ſchon aus der Klavierphantaſie ihres Onkels kannte, und die Gardine rauſchte auseinander.

Ein ſchlank und hoch gewachſenes, dunkeläugiges und dunkellockiges Weſen in glitzerndem ſpaniſchen Koſtüm ſchwebte aus der Kuliſſe und bedankte ſich lächelnd nach allen Seiten hin für den rauſchenden Beifall, mit dem es empfangen wurde. Fräulein Lotte aber ſpürte einen heftigen Stich in der Gegend des Herzens; denn dieſe Nebenbuhlerin war in der Tat viel zu ſchön, als daß ſie auf einen ſiegreichen Wettkampf mit ihr hätte hoffen dürfen. Der Onkel hatte nicht zu- viel gejagt, wenn er in Tönen ſchwärmeriſcher Bewunde- rung von ihrer wundervollen Grazie geſprochen hatte. Obwohl es die erſte ſpaniſche Tänzerin war, die Lotte Werkentin in ihrem Leben zu ſehen bekam, war ſie doch feſt überzeugt, daß es keine ihresgleichen auf der Welt gab, und wenn nicht die Begleitumſtände von einer für ſie ſo traurigen Art geweſen wären, würde ſie der anmutigen und temperamentvollen Darbietung ſicherlich mit dem größten Entzücken gefolgt ſein.

Da drangen ein paar einzelne Worte eines Ge- ſprächs an ihr Ohr, das hinter ihrem Rücken halblaut in franzöſiſcher Sprache geführt wurde. Sie wandte ein wenig den Kopf und gewahrte, daß zwei Herren in die Loge getreten waren, die lebhaft und ſichtlich beluſtigt miteinander plauderten. Der Gegenſtand ihrer Unterhaltung aber das hatte Lotte dank der in ihrem Genfer Penſionat erworbenen Sprachkennt-

Novellette von Reinhold Ortmann 163

niſſe raſch heraus war Senora Lolita Olivarez, und ſie brauchte ihre kleinen Ohren nur noch ein bißchen ſchärfer zu ſpitzen, um alles zu verſtehen, was die beiden über die ſchöne Tänzerin ſprachen.

Erſt war es ein hochgradiges Erſtaunen und dann ein noch lebhafteres Vergnügen, was ſich während dieſes aufmerkſamen Lauſchens auf ihrem Geſicht ſpiegelte. Dann griff ſie aufs neue nach dem Glaſe, das ſie ſich wirklich vom Logenſchließer geliehen hatte, und ließ von nun an bis zu dem wirbelnden Schluß der Tanzproduktion ihre Augen nicht mehr von der reizenden Spanierin. Als ſie abtrat, klatſchte außer der Firma Hegewald & Werkentin wohl niemand im ganzen Hauſe ſo ungeſtüm als Fräulein Lotte, deren ſtrahlende Augen und deren lächelnde Lippen nichts mehr von den Stürmen erraten ließen, die noch kurz vorher in ihrer Seele getobt hatten. Dann aber, als Senora Lolita ſich zum letzten Male verneigt hatte, ſchlüpfte ſie raſch aus der Loge und wandte ſich an den Diener, von dem ſie das Glas entliehen hatte, mit der Bitte, ihr um jeden Preis ein Stück Papier und einen Briefumſchlag zu beſchaffen. Das Zehnmark— ſtück, das fie ihm dabei in die Hand drückte, wirkte Wunder, und als fie ihm nach zehn Minuten das in einer Fenſterniſche haſtig hingeworfene Briefchen mit der dringenden Aufforderung einhändigte, es ohne jeden Zeitverluſt der Senora Olivarez in ihrer Garderobe zu übergeben, durfte ſie ſich einer ge— wiſſenhaften Ausführung diefes Auftrages wohl ver- ſichert halten. |

Auf eine Antwort aber wartete fie nicht, ſondern fuhr unter Verzicht auf alle weiteren künſtleriſchen Genüſſe geradeswegs nach Hauſe.

164 Die fpanifhe Tänzerin

Es war gegen zehn Uhr vormittags, als ſich Herr Mielich, Werkentins langjähriger Hühneraugenopera- teur, einſtellte, um feines wichtigen und verantwortungs- vollen Amtes zu walten, und Fräulein Lotte übernahm es, den Onkel aus dem Kontor herüberzuholen. Als ſie den Flur betrat, der zu den Geſchäftsräumen führte, blieb fie lauſchend ſtehen, denn fie hatte den Klang erregter Stimmen vernommen, deren Tonfall auf eine nichts weniger als freundſchaftliche Auseinanderſetzung ſchließen ließ. Sie hörte ihren Onkel etwas von ju- gendlicher Torheit und unverantwortlichem Leichtſinn ſagen, worauf Hegewald beinahe ſchreiend ſeine Ant- wort gab.

„Laſſen Sie mich endlich mit Ihren Moralpredigten in Ruhe! Seit drei Tagen weiß ich ja, daß es nur der blaſſe- Neid und die erbärmlichſte Eiferſucht find, die aus Ihnen ſprechen. Glauben Sie vielleicht, ich hätte Sie nicht Abend für Abend im Koloſſeum ſitzen ſehen? Die Angeſtellten des Theaters fangen ja ſchon an, ſich über Sie luſtig zu machen. Aber nehmen Sie ſich in acht. In dieſer Sache verſtehe ich keinen Spaß. Ich habe Ihnen ſchon gejagt, daß es ſich hier um die große Leidenſchaft meines Lebens handelt. Und wenn Sie es wagen ſollten, Ihre Wünſche bis zu Lolita Olivarez zu erheben —“

Er konnte die entſetzliche Drohung nicht mehr aus— ſprechen, die er auf der Zunge gehabt haben mochte, denn Fräulein Lotte ſtand auf der Schwelle und mel- dete: „Du möchteſt herüberkommen, Onkel! Der Hühneraugenſchneider erwartet dich.“

Mit puterrotem Geſicht und mit einem letzten giftigen Blick auf ſeinen Teilhaber ſtürzte Werkentin zur Tür hinaus.

Lotte aber blieb, und mit einem Ausdruck ſchmerz-

Novellette von Reinhold Ortmann 165

lichen Borwurfs wandte fie ſich an den verlegen da- ſtehenden jungen Mann: „Wie konnten Sie ſich nur hinreißen laſſen, Herr Hegewald, meinem würdigen Onkel ſolche Dinge zu ſagen! Selbſt Ihre große Leiden- ſchaft, die ich vollkommen verſtehe, kann das nicht ent- ſchuldigen.“

Zerknirſcht ließ er den Kopf noch tiefer ſinken. „Ach, Fräulein Lotte, wenn Sie wüßten —“

„Ich weiß alles und ich kann alles begreifen. Geſtern habe ich ſie ja geſehen.“

„Wen?“ fragte er überraſcht. „Lolita?“

„Ja, Lolita! Und wenn ich ein Mann wäre, würde ich fortan keinen anderen Wunſch mehr haben als den, dies herrliche, unvergleichliche Geſchöpf zu beſitzen. Ich verſtehe nicht, daß Sie noch immer zögern, ſie ſich im Sturm zu erringen.“

Rudolf Hegewald ſah aus wie einer, der nicht weiß, ob er ſeinen Ohren trauen darf. „Das das ſagen Sie mir, Fräulein Lotte gerade Sie?“

„Warum ſollte nicht gerade ich es Ihnen ſagen?“ erwiderte fle ſehr ruhig. „Sie hören doch, daß ich ſelbſt von Lolita Olivarez vollkommen hingeriſſen bin. Der Gedanke, ſie dann vielleicht immer in meiner Nähe zu haben, verſetzt mich geradezu in Entzücken.“

„Oh, wie gut Sie ſind! Lotte, liebe, verehrte Lotte, können Sie mir denn auch verzeihen?“

„Ich wüßte wahrhaftig nicht, was ich Ihnen zu verzeihen hätte. Unverzeihlich finde ich nur Ihr ſchwach- mütiges Zaudern. Noch heute noch in dieſer Stunde ſollten Sie hingehen, der Göttlichen Ihre Liebe zu geſtehen.“

„Ach, das habe ich brieflich ja ſchon dreimal getan. Aber ſie gibt mir überhaupt keine Antwort, und in ihrer Wohnung wurde ich von einer widerwärtigen

166 Die ſpaniſche Tänzerin

alten Perſon jedesmal kurz abgewieſen. Fräulein Lolita empfinge keine Beſuche, ſagte ſie, und warf mir die Tür vor der Naſe zu. Einen raufluſtigen Bruder ſcheint ſie auch zu haben, denn einmal, während ich mit der alten Dame unterhandelte, ſah ich im Hinter- grund einen jungen Menſchen auftauchen, der mich ſo durchbohrend anſah, als ob er mich auf der Stelle umbringen wollte.“

„Um Gottes willen, fie iſt doch nicht vielleicht ſchon verheiratet?“ |

„Nein. Ich habe mich bei ihrem Impreſario er- kundigt, und er hat mir ſein Ehrenwort gegeben, daß Lolita weder verlobt noch verheiratet iſt. Aber ſie iſt offenbar ſchlimmer als eine Veſtalin.“

„Auch eine Veſtalin bleibt nicht unerbittlich, wenn nur der Rechte kommt. Und davon, daß Sie der Rechte ſind, müſſen Sie fie eben durch die Glut Ihrer Leiden ſchaft überzeugen. Liegt Ihnen etwas daran, ſich meine Achtung und meine Freundſchaft zu erhalten,

Herr Hegewald?“ 5 Sehr viel liegt mir daran, Fräulein Lotte un- endlich viel. Außer Lolita gibt es kein Weſen auf der Welt, das ich aufrichtiger und inniger verehre als Sie.“

„Dann tun Sie, was ich Ihnen ſage. Werfen Sie ſich ungeſäumt in Ihren Bratenrock, bewaffnen Sie ſich mit dem ſchönſten Roſenſtrauß, den Sie auftreiben können, und fahren Sie zu Lolita. Wenn man Ihnen den Eintritt verweigern will, ſo greifen Sie mit einer verdächtigen Handbewegung nach Ihrem Zigaretten- etui in der Bruſttaſche und erklären, Sie würden ſich auf dem Fleck totſchießen, ſofern man Ihnen nicht Gelegenheit gäbe, mit Fräulein Lolita zu ſprechen.“

Hegewald ſah nicht ſehr überzeugt aus. „Und Sie

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glauben wirklich, daß man mich daraufhin vorlaſſen wird?“ "

„Anfehlbar, Ich kenne doch mein Geſchlecht. Mit dem zaghaften Schmachten und Winſeln bringen Sie es zu gar nichts! Aber wenn Sie Leidenſchaft und Entſchloſſenheit zeigen, garantiere ich Ihnen für den Erfolg.“

Da raffte ſich Rudolf Hegewald auf. „Wohlan, ich will Ihren Rat befolgen. Und bis an mein Lebensende werde ich Ihnen dieſen Beweis edler Selbſtverleugnung und hochherziger Teilnahme nicht vergeſſen. Ich bin überzeugt, daß man auf dem ganzen Erdenrund ſoviel Großmut nicht zum zweiten Male findet.“

„Es freut mich, daß Sie mich endlich richtig erkannt haben,“ ſagte Fräulein Lotte trocken. „Und nun ſchieben Sie die Ausführung Ihres Vorhabens nicht länger hinaus. Dem Mutigen gehört die Welt. Meine beſten Wünſche werden Sie begleiten.“

Zwei Stunden ſpäter trat Rudolf Hegewald wieder über die Schwelle des Privatkontors. Er ſah ſehr gedrückt aus und hielt einen prachtvollen Roſenſtrauß in der Hand, den er behutſam auf einem Stuhl unter- brachte, ehe er zögernd und beklommen auf ſeinen finſter blickenden Teilhaber zutrat, um ihm die Hand entgegen- zuſtrecken.

„Verzeihen Sie mir, lieber Werkentin! Ich bekenne, daß ich alle Ihre Vorhaltungen verdient und daß ich mich wie ein rechter Einfaltspinſel benommen habe.“

Verwundert und noch immer etwas mißtrauiſch ſchob Werkentin die Brille in die Höhe. „Ja, was iſt denn los? Haben Sie ſich vielleicht von Ihrer angebe- teten Lolita einen Korb geholt?“

Hegewald lachte höhniſch. „Es hat ſich was mit

168 Die ſpaniſche Tänzerin

Lolita. Wiſſen Sie, wer dieſe Tänzerin in Wirklich- keit iſt?“

„Nein. Wie ſoll ich das wiſſen?“

„Ein Mann iſt ſie ein richtig gehender junger Mann von achtzehn Jahren! Machen Sie nicht ein jo ungläubiges Geſicht —. ich habe mich mit eigenen Augen davon überzeugt. Na, Hand aufs Herz, ſind wir nicht beide ein paar rechte —“

„Eſel geweſen wollen Sie wohl ſagen? Nun, ich will nicht widerſprechen, obwohl obwohl auf meiner Seite natürlich nur ein rein künſtleriſches Inter- eſſe vorlag. Aber wie ſind Sie denn eigentlich hinter dieſen unerhörten Betrug gekommen?“

„Ich war des zaghaften Schmachtens und Winſelns überdrüſſig geworden und wollte ein Ende machen. Als ich mit Totſchießen drohte, ließ man mich vor. Und die alte Dame flehte mich himmelhoch an, keinen Skandal zu machen, weil dadurch die ganze Laufbahn ihres Sohnes zerſtört werden könnte. Jawohl, ihres Sohnes, der ebenſowenig ein Mädchen als ein Spanier iſt, ſondern der ſein weibiſches Ausſehen und ſeine weibiſche Geſchmeidigkeit dazu benützt, die Welt in der Maske einer reizenden Tänzerin an der Naſe herumzuführen. Sie ließ ihn hereinkommen, und ſobald er die ſchwarze Lockenperücke der Lolita auf ſeinen kurzgeſchorenen Schädel geſtülpt hatte, ſtand die Vergötterte leibhaftig vor mir.“

„Wodurch Sie, wie ich hoffe, mit einem Schlage von der ‚großen Leidenſchaft Ihres Lebens‘ geheilt wurden.“

„Das will ich meinen. Ich machte, daß ich mit meinem Zwanzigmarkſtrauß wieder fortkam und ver- ſprach den Leuten gerne, meine Entdeckung nicht an die große Glocke zu hängen. Denn am Ende wäre es

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doch recht zweifelhaft, ob wir dabei die Lacher auf unſerer Seite hätten.“

„Erlauben Sie was mich betrifft, ſo ſagte ich bereits, daß bei mir nur ein rein —“

„Ein rein künſtleriſches Intereſſe jawohl, ich weiß, ich weiß. Wir wollen das nicht weiter unter- ſuchen, zumal die Sache doch noch eine andere, recht bedenkliche Seite hat.“

„Eine bedenkliche Seite wieſo?“

„Ehe ich es Ihnen ſage, müſſen Sie mir feierlich verſprechen, Fräulein Lotte deshalb keine Vorwürfe zu machen. Sie hat mir nämlich anvertraut, daß ſie geſtern heimlich im Koloſſeum geweſen iſt. Und da hat ſie ſich augenſcheinlich in die ſchöne Lolita ebenſo ſterblich ver! liebt wie Sie und ich. Solange die Tänzerin ein Weib war, hatte das ja nicht viel zu bedeuten; ſeitdem ſie aber ein Mann geworden iſt Sie werden mich ver- ſtehen, lieber Werkentin!“

„Das Teufelsmädel! Sie war in dem Varieté? Und da hat ſie mich möglicherweiſe geſehen! Hat ſie keine Andeutung in dieſem Sinne gemacht?“

„Nein. Aber Sie begreifen nun wohl, daß ſie nichts von der Wahrheit über die ſchöne Spanierin erfahren darf. Ich könnte es einfach nicht ertragen, wenn ſie ſich am Ende allen Ernſtes in dieſen maskierten Jüngling verliebte.“

Werkentin lächelte ſpöttiſch. „Aber, lieber Hege- wald, das kann Ihnen doch an und für ſich gleichgültig ſein. Meines Wiſſens beſtehen zwiſchen meiner Nichte und Ihnen ja keinerlei Beziehungen, die —“ N

„Laſſen Sie mir Zeit, verehrter Freund! Weil ich in dieſen letzten acht Tagen ein Narr geweſen bin, darum brauche ich es doch nicht immer zu bleiben. Jeden⸗ falls habe ich Fräulein Lotte bisher nicht gekannt, wie

170 Die ſpaniſche Tänzerin

ich ſie heute kennen gelernt habe. Und ich werde ſehr glücklich ſein, wenn es mir gelingt, ihre Verzeihung zu gewinnen.“

Werkentin hatte gewiß die beſten Vorſätze, ſeiner Nichte nichts zu verraten. Aber er ſaß ihr an dieſem Nachmittag noch nicht eine Viertelſtunde lang am Eßtiſch gegenüber, als fie ſchon alles aus ihm heraus- gebracht hatte, was fie zu erfahren wünſchte. Die große Wirkung jedoch, die er von ſeiner Enthüllung erwartet haben mochte, blieb vollſtändig aus.

Da warf ſich Fräulein Lotte in ihren Stuhl zurück und ſagte mit übermütigem Lachen: „Aber biſt du denn noch gar nicht auf den Gedanken gekommen, Onkelchen, daß das alles mein Werk ſein könnte? Geſtern abend wurde ich in meiner Loge zufällig Ohrenzeugin eines Geſpräches zwiſchen zwei Herren, von denen der eine offenbar der Impreſario der ſchönen Lolita war, und die allem Anſchein nach der Meinung waren, daß außer ihnen kein Menſch hier Franzöſiſch verſteht. Da wurde mir das große Geheimnis von Fräulein Lolitas wirk- lichem Geſchlecht offenbar, und als ich ſie dann recht lange und aufmerkſam durch mein Opernglas be- trachtete, vermochte ich kaum noch zu begreifen, daß ich mich vorher hatte täuſchen laſſen. Aber wenn Herr Hegewald von feiner ‚großen Leidenſchaft' gründ- lich kuriert werden ſollte, mußte die Kur eine kräftige ſein. Deshalb ſchickte ich der angeblichen Tänzerin eine Karte in die Garderobe mit der Aufforderung, den jungen Mann, der morgen zum Zwecke einer Liebeserklärung bei ihr erſcheinen würde, in unzwei- deutigſter Weiſe über die Gründe für die Unmöglichkeit einer ehelichen Verbindung aufzuklären, widrigenfalls ich dafür ſorgen würde, daß alle Bewunderer der

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ſchönen Lolita von der Täuſchung Kenntnis erhielten. Heute vormittag habe ich den armen Hegewald dann ſelbſt zu feiner Brautwerbung aufgeſtachelt. Und wenn er's verlangt, bin ich mit Vergnügen bereit, ihm das für den Roſenſtrauß verauslagte Geld zu erſetzen.“

„Teufelsmädel!“ ſagte der Onkel noch einmal. Und mit einem pfiffigen Augenzwinkern fügte er hinzu: „Daß er einen ſolchen Erſatz von dir verlangen wird, glaube ich nun zwar kaum. Auf die eine oder die andere Art aber wirſt du ihm doch wohl Revanche geben müſſen für feine zerſtörte ‚große Leidenſchaft'. Leute von ſeiner Art müſſen eine Liebeserklärung, die ſie einmal auf der Zunge haben, unbedingt irgendwie los- werden und ich fürchte ich fürchte —“

Fräulein Lotte machte eine abwehrende Bewegung, aber ſie lachte noch immer.

„So leicht, wie er ſich's vorſtellen mag, geht das nicht. Aber meinetwegen magſt du ihm immerhin ein bißchen Hoffnung machen, daß ich vielleicht nach Jahr und Tag Gnade für Recht ergehen laſſen werde. Vorausſetzung dafür iſt allerdings, daß er feierlich gelobt, das Koloſſeum nie mehr zu beſuchen und daß er dich auf keinen „Kegelabend und in keine ‚Der- einsſitzung begleitet, zu denen man notwendig ein Opernglas mitnehmen muß.“

„Punktum Streuſand drauf!“ ſagte der Onkel.

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Pflanzen als Wüſtenbrunnen Don Loth. Brenkendorff

mit 9 Bildern Machdruck verboten) 2er Naturfreund, der ſich aus Liebhaberei mit der Kakteenzucht befaßt, weiß, daß dieſe ſeltſam e geſtalteten Naturgebilde zu den anſpruchsloſeſten Pflanzen gehören und eigentlich ſo gut wie gar keiner Pflege bedürfen. Dabei handelt es ſich in unſerem Klima immer nur um künſtlich herangezogene, kleine und zarte Exemplare, die von der Beſchaffenheit der unter ihren natürlichen Daſeinsbedingungen frei wach- ſenden : Pflanze nur eine ſehr unzulängliche Vorſtellung gewähren können. Es fällt bei ihrem Anblick in der Tat ſchwer, daran zu glauben, daß die Kakteen in ihrer Heimat vielfach zu den impoſanteſten Rieſen der Pflanzenwelt gehören, und daß ſie als das einzige aus- dauernde Gewächs großen Gebieten ihr charakteriſtiſches landſchaftliches Gepräge verleihen.

Auch von der Mannigfaltigkeit ihrer äußeren Geſtalt machen wir uns trotz der Reichhaltigkeit mancher euro- päiſchen Sammlungen kaum einen zutreffenden Be— griff. Bilden doch die Kakteen eine der artenreichſten Pflanzenfamilien. Man kennt ihrer bereits mehr als achthundert, und die Zahl der Nebenformen iſt Legion.

Bis auf eine Unterart von Rhipſalis gehören ſie ausſchließlich Amerika an. Dort aber iſt ihr Verbrei— tungsgebiet von ungeheurer Ausdehnung, denn es erſtreckt ſich bis zum 56. Breitengrade nördlich vom Aquator (Kanada) und bis zum 50. Breitengrade ſüdlich (Patagonien). Die Häufigkeit des Vorkommens innerhalb dieſer äußerſten Grenzen iſt allerdings eine ſehr verſchiedene, denn die Kaktuspflanze bevorzugt baumloſe, ſteinige, ſonſt unfruchtbare Standorte, und auf andauernd feuchtem Boden kann fie nicht gedeihen.

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Darum findet ſie ſich nirgends zahlreicher als in den öden, faſt vegetationsloſen Hochebenen von Mexiko und in den ſandigen, wüſtenartigen Landſtrichen an der Weſtküſte von Südamerika. Dort erſcheint ſie in all

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Erſchließung der Waſſervorräte eines Echinokaktus.

den wunderlichen, manchmal geradezu phantaſtiſchen Geſtalten, die wir in winziger Wiederholung zuweilen in den Treibkäſten unſerer Kakteenliebhaber anſtaunen: als ungeheure Kugeln oder Walzen, als vieleckige Säulen, als Büſche mit blattartig verbreiterten ein— fachen oder gegliederten Aſten, als ein dichter Stachel-

174 Pflanzen als Wüftenbrunnen

raſen, als langgeſtreckte, kriechende oder kletternde Schlangen, als binſenartige oder belaubte Sträucher und Bäume. Ihre Blüten find oft von erſtaunlicher Größe

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Echinokaktus als Wüſtenbrunnen.

und berückender Farbenpracht; viele von ihnen zeichnen ſich außerdem durch einen ſtarken Wohlgeruch aus. Die Stengel der Kakteen find durchweg ſehr fleiſchig und ſaftreich, und einzig dieſem Umſtande hat die Pflanze ihre außerordentliche Widerſtandsfähigkeit gegen andauernde Trockenheit zu verdanken. Wenn während der lange anhaltenden, völlig regen-

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loſen heißen Jahreszeit alle anderen Gewächſe dem Untergange geweiht find, bewahrt der Kaktus feine volle Friſche. Er kann der Feuchtigkeitszufuhr von

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Cereus giganteus. außen entraten, weil er in den Hohlzellen ſeiner flei— ſchigen Stengel Waſſervorräte aufgeſpeichert hat, die vollkommen hinreichen, ihm über die lange Dürre hinwegzuhelfen. Den mexikaniſchen Indianern wie den Eingeborenen Südamerikas war dieſer reiche

176 ; Pflanzen als Wüſtenbrunnen

Waſſergehalt der Kakteen von alters her bekannt, und lie haben ſich darum von jeher des Saftes vieler Kaktus- arten zur Stillung ihres Durſtes bedient. Die bei—

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Cephalocereus macrocephalus.

gefügten Abbildungen zeigen einige jener Kakteen, die man mit gutem Recht als pflanzliche Wüſtenbrunnen bezeichnen kann, wenn auch nicht alle der hier dar— geſtellten Pflanzen eine für den Menſchen genießbare oder zuträgliche Flüſſigkeit enthalten.

Von Loth. Brenkendorff 177

Beſonders beliebt bei den Papagoindianern Mexikos iſt der von ihnen „Bisnaga“ genannte Schinokaktus, der bis zu Meter hoch wird und eine kugelige

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Pilocereus fulviceps.

oder eiförmige Geſtalt hat. Um zu ſeinem nach ihrer

Behauptung ſehr wohlſchmeckenden Waſſervorrat zu

gelangen, ſchneiden ſie, wie es der Indianer auf unſerem

Bilde getan hat, die obere Kuppe der mit unzähligen

Stacheln bewehrten Pflanze ab und durchſtoßen die 1915. XII. 12

178 Pflanzen als Wüſtenbrunnen

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darunterliegende Rindenſchicht. Die darunter aufgejpei- cherte Flüſſigkeitsmenge iſt oft ſehr groß und jedenfalls in allen Fällen ausreichend, ſelbſt den unerſättlichſten Durſt einer ganzen abt von Männern zu ſtillen.

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Blühender Weſentattus

Die ſchönſten oder doch wenigſtens impoſanteſten Kakteen ſind ohne Zweifel die Cereusarten, von denen einige, wie der Cereus giganteus, eine Höhe von 10 Metern und darüber erreichen können. Sie bilden runde oder vieleckige Stämme und ſtehen gewöhnlich in größeren Gruppen beiſammen, indem einer Wurzel zehn, zwölf oder noch mehr Stämme entſpringen. Man hat bisher ungefähr zweihundert Cereusarten

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Von Loth. Brenkendorff 179

gezählt, von denen die meiſten dem tropiſchen Süd— amerika und Kalifornien angehören. Ihre ſchönen Blüten erreichen oft eine Länge von 18 bis 20 Zenti— metern und find mitunter fo zahlreich, daß fie die ſchlan—

Echinocactus flavescens.

ken, kerzengerade aufſtrebenden Säulen von oben bis unten bedecken. Ihre Früchte ähneln, namentlich im getrockneten Zuſtande, den Feigen und haben auch einen ganz ähnlichen, ſüßlich aromatiſchen Geſchmack. Das im Innern der Stämme aufgeſpeicherte Waſſer iſt jedoch für den Menſchen wegen ſeiner Bitterkeit

180 Pflanzen als Wüſtenbrunnen

ungenießbar, während es von den Nagetieren häufig zur Stillung ihres Durſtes benützt wird.

Bei einigen Kakteen von großem Waſſergehalt, wie bei dem von ihnen „Guarequi“ genannten Cereus, gilt den Indianern der Saft übrigens als geradezu giftig, und es würde darum einem mit den Beſonderheiten

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Querſchnitt durch einen ſaftreichen Kattus.

der einzelnen Kaktusarten nicht vertrauten Reiſenden ſehr zu widerraten ſein, aufs Geratewohl eine beliebige Pflanze zum Zwecke einer Koſtprobe anzuſchneiden. Für ganz beſonders ergiebig und durchaus unſchäd— lich gelten außer den bereits genannten noch der Cephalocereus macrocephalus und der daneben noch durch große Schönheit ausgezeichnete Pilocereus fulvi-

Von Loth. Brenkendorff 181 en En a Be I Le ceps, von dem wir ein in der Nähe von Tehuacan ge- wachſenes Prachtexemplar im Bilde feſtgehalten haben. Bei dieſen Arten bildet übrigens der Stamm nicht eine gleichmäßige fleiſchige Maſſe, ſondern die lockeren, waſſerhaltigen Zellen ſtellen nur eine dicke Rinden— ſchicht dar, während der Kern von holziger Beſchaffen-

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Querſchnitt durch einen entleerten Kaktus.

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heit iſt. Dieſes Holz iſt zwar ſehr leicht, aber außer— ordentlich zäh und widerſtandsfähig, fo daß es zu den verſchiedenſten Zwecken benützt werden kann.

Sehr häufig iſt in der Umgebung von Tehuacan auch der kugelige Echinocactus fla vescens, der wegen ſeiner beſonders langen und ſcharfen Stacheln von den meiſten Tieren gemieden wird, dem Menſchen aber

182 Pflanzen als Wüftenbrunnen-

oft gute Dienſte leiftet, weil er viel ſaftreicher iſt als die Mehrzahl der in Säulenform wachſenden Kakteen. Ob eine Pflanze noch ihren vollen Waſſervorrat beſitzt oder ſchon mehr oder weniger ausgetrocknet iſt, läßt ih übrigens ſchon von außen ohne Mühe erkennen. Das Aufquellen des fleiſchigen Innern bedingt nämlich eine Zunahme des Umfanges, die ſich in einer gewiſſen Abflachung der Oberfläche infolge der weiter aus- einandergezogenen Kanten und Erhöhungen bemerkbar macht. Die beiden Querſchnitte durch einen waſſer- reichen und einen waſſerarmen Kaktus, die unſere letzten Abbildungen zeigen, geben dieſe Verſchieden⸗ heit in ſehr anſchaulicher Weiſe wieder. Ein Einge- borener kommt darum kaum jemals in die unangenehme Lage, ſich nutzlos an einer Stachelpflanze abgemüht zu haben, von der er Sättigung ſeines Durſtes erhoffte.

Zu den Nutzpflanzen im eigentlichen Sinne gehören ja die Kakteen nicht, da ihre Ausbeutung als „Brunnen der Wüſte“ ſelbſtverſtändlich nur von untergeordneter Bedeutung iſt. Abgeſehen von dem Ertrag an eßbaren Früchten, von der oben erwähnten Verwendung des hölzernen Kernes mancher Arten und von der gelegent- lichen Anpflanzung zum Zwecke der Herſtellung eines vollkommen undurchdringlichen Stachelzaunes, ſpielen ſie keine Rolle im Haushalt des Menſchen. Die einzige Ausnahme bilden einige Opuntiaarten als Nährpflanzen der Scharlachlaus, die uns die wertvolle Koſchenille liefert.

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Der Weltkrieg

Zehntes Kapitel mit 9 Bildern (Mahdruck verboten)

eit langem trug ſich die deutſche Heeresleitung

S mit der Abſicht, die taktiſch ungünſtige Lage

des Gegners in dem Abſchnitt öſtlich von Vpern

zu einem Vorſtoß auszunützen. Die Armee des Herzogs

Albrecht von Württemberg, der dieſe Aufgabe zuge-

wieſen war, konnte aber an ihre Verwirklichung erſt nach dem Eintreffen von Verſtärkungen gehen.

Der Hauptangriff mußte gegen den Bſerkanal an- geſetzt werden, um den Ausgang des Sackes, in dem ſich der Feind öſtlich von Bpern befand, allmählich zuzu- ſchnüren und damit die rückwärtigen Verbindungen zu bedrohen. Südlich von Ypern waren die deutſchen Stellungen bis auf 4 Kilometer gegen die Stadt vor- geſchoben, während ſie im Norden doppelt ſo weit von ihr entfernt waren. Da es ſich darum handelte, den Gegner möglichſt lange im öſtlichen Teil des Sackes feſtzuhalten, durfte der Hauptangriff nicht zu weit nach Oſten ausgedehnt werden, und gleichzeitig mußten die übrigen Teile der Einſchließungslinie die ihnen gegenüberſtehenden feindlichen Truppen zu beſchäftigen ſuchen. Ä

Nach umfaſſenden Vorbereitungen brachen die deutſchen Streitkräfte zunächſt aus der Linie Steen— ſtraate —Langemarck vor. Der völlig überraſchte Feind überließ ihnen ſeine erſte und zweite Stellung und floh in weſtlicher Richtung über den Kanal und von dort

nach Süden. Nur bei Steenſtraate leiſtete der Feind kräftigen Widerftand, aber dennoch gelang es, den Ort zu nehmen und hier, ebenſo wie bei Het Sas, mit einem Teil der Truppen das linke Kanalufer zu gewinnen. Der Ausgang des Sackes wurde damit weſentlich verengert.

184 Der Weltkrieg

Es war zu erwarten, daß die Verbündeten verſuchen würden, das verlorene Gelände wiederzugewinnen. Zunächſt ſetzten die feindlichen Gegenangriffe mit ſchwächeren Kräften ein. Zwei Vorſtöße, von zwei franzöſiſchen Regimentern und einem engliſchen Ba- taillon getrennt unternommen, brachen vor den ſchnell ausgebauten deutſchen Stellungen zuſammen. An den folgenden Tagen dehnten ſich die Kämpfe weiter nach Oſten aus, indeſſen war der Hauptſtoß ſtets von neuem gegen den Weſtabſchnitt gerichtet. Der Feind zog über Dpern Verſtärkungen heran, die auf zwei engliſche und eine bis zwei franzöſiſche Diviſionen zu ſchätzen waren. Der Angriff einer engliſchen Diviſion wurde unter ſchwerſten Verluſten für dieſe abgeſchlagen. Zwei Tage darauf wurden fünf engliſche Bataillone weſtlich von Saint-Julien durch Seitenfeuer der Maſchinengewehre faſt bis auf den letzten Mann vernichtet.

Ein ſtärkerer Angriff wurde weiterhin von einem engliſchen Armeekorps zwiſchen den Straßen von Pillen nach Ypern und Saint-Julien unternommen. Er wurde blutig abgewieſen, und 3000 Engländer blieben tot auf dem Platz. Nach mehreren anderen Vorſtößen ſtellte ein franzöſiſcher Angriff auf den Weſt— abſchnitt den letzten Verſuch des Gegners dar, den Verluſt wettzumachen. Aber auch hier ſcheiterte ſein Vorgehen. Das Geſamtergebnis aller dieſer Kämpfe war die Gefangennahme von 5000 Engländern und Franzoſen und die Erbeutung von 65 Geſchützen, dar- unter 4 ſchweren engliſchen Kanonen, wogegen von den Feinden kein Fuß des verlorenen Geländes zurück— erobert wurde.

Anderſeits war es den deutſchen Truppen gelungen, die eigenen Linien langſam in die Gegend von Saint- Julien vorzuſchieben. Von großer Wirkung zeigte ſich

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Der Weltkrieg

dabei das Feuer der deutſchen Artillerie, das ſich außer

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auf die feindliche Front gegen die rückwärtigen Ver-

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bindungen ſowie auf Ppern richtete und ſogar den

12 Kilometer weſtlich dieſer Stadt gelegenen Etappen-

186 Der Weltkrieg

hauptort Poperinghe erreichte. Der ganze Raum, der die Stellungen des Gegners umſchloß, wurde durch das deutſche Artilleriefeuer von drei Seiten beherrſcht, was verheerende Brände in Ypern und Umgebung zur Folge hatte. Eine namenloſe Beſtürzung rief endlich die Beſchießung Dünkirchens durch die deutſchen Rieſen- geſchütze hervor.

Inzwiſchen hatten ſich am Kanal zwiſchen Steen- ſtraate und Het Sas, unabhängig von den bisher ge- ſchilderten, ſelbſtändige Kämpfe entwickelt. Nach dem Feſtſetzen der deutſchen Truppen auf dem linken Kanal- ufer war es ihre nächſte Aufgabe, die gewonnenen Stellungen zu einer zuſammenhängenden Linie aus- zubauen. Dieſem Beſtreben ſetzte der Feind heftigen Widerſtand entgegen. Es entbrannten, beſonders weit- lich von Steenſtraate, ſchwere nächtliche Kämpfe, in denen die deutſchen Truppen das Dorf Lizerne vor dem rechten Flügel der Front ſtürmten.

Der Vorſtoß über den Kanal veranlaßte aber den Gegner in den folgenden Tagen, gegen die verhältnis mäßig ſchmale deutſche Front bedeutende Verſtärkungen heranzuziehen, die für die entſcheidenden Kämpfe in dem Sack öſtlich Vpern verloren gingen. Gegen die kräftigen Angriffe des Gegners hatten unſere Truppen einen ſchweren Stand. Den Brennpunkt bildete das Dorf Lizerne, deſſen vorgeſchobene Lage es den feind- lichen Batterien ermöglichte, den Ort durch konzen- triſches Feuer ſo völlig zuzudecken, daß der Entſchluß gefaßt wurde, ihn freiwillig zu räumen und die Be— ſatzung in den rückwärts gelegenen, ſtark ausgebauten Brückenkopf auf dasſelbe Kanalufer zurückzunehmen. Hierauf gelang es dem Gegner, in einen kleinen Teil der deutſchen Front bei Het Sas vorübergehend mit ſchwachen Kräften einzudringen, die indeſſen bald

Der Weltkrieg 187

durch voreilende Reſerve zurückgeworfen wurden. Bei einer Wiederholung dieſes Angriffes ſuchte der Gegner vergeblich durch einen gleichzeitigen Vorſtoß durch Turko und Zuaven auf dem öſtlichen Ufer längs des

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Mit Stroh gedeckte Unterſtände für Pferde an der Weſtfront.

Der neue deutſche Angriff erſtreckte ſich nunmehr auf die Nord- und Nordoſtfront. Im Weſten kam er in der Mitte ſüdlich Saint-Zulien, in dem Abſchnitt zwiſchen dem weſtlich des Dorfes gelegenen Wäldchen und der Straße Langemarck—Zonnebeke vorwärts. Es wurde hier Gelände in einer Tiefe von ½ bis 1 Kilo— meter gewonnen und die Straße Moſſelmarkt —Fortuin erreicht. Der Häuſerkampf in dem letztgenannten Orte endete mit dem deutſchen Sieg. Zu beiden Seiten

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188 Her Weltkrieg

dieſes Angriffsſtreifens entwickelten ſich ebenfalls hart- näckige Kämpfe, in denen die deutſchen Truppen nur ſehr langſam Boden gewannen. Trotz heftiger feind- licher Gegenangriffe ſchob ſich aber unſere Linie weiter vor. In kühnem Sturm entriſſen württembergiſche und ſächſiſche Bataillone den Engländern das als Stützpunkt ſtark ausgebaute Wäldchen nördlich von 's Gravenstafel, den Eckpfeiler im Schnittpunkt der feindlichen Nord- und Oſtfront.

Der ſtarke Druck des von der geſamten Artillerie geſtützten deutſchen Angriffs verfehlte nicht feine Wir- kung auf die Entſchlüſſe des Gegners. Wieder war der Sack, in dem er ſich befand, enger geworden, und mit dem weiteren Fortſchreiten des deutſchen Angriffs wuchs die Gefahr, daß die am weiteſten nach Oſten vorgeſchobenen Teile nicht mehr rechtzeitig zurück- genommen werden konnten. Schon hatten Flieger den Rückmarſch kleinerer Abteilungen in weſtlicher Richtung und die Fertigſtellung des feindlichen Brücken kopfes dicht öſtlich Vpern gemeldet.

In der folgenden Nacht baute der Gegner ab. Seine ganze Nord-, Oſt- und Südfront zwiſchen Fortuin, Broodſeinde, Klein-Zillebeke gab er in einer Breite von 15 Kilometern auf und überließ den überall ſofort nach- drängenden deutſchen Truppen Gelände in einer Tiefe von ½ ͤbis 5 Kilometern. Es waren ſeit langem nicht mehr geſehene Bilder des Bewegungskrieges, als die deutſchen Schützenlinien, von geſchloſſenen Abteilungen gefolgt, die flandriſche Landſchaft belebten, lange Ar- tillerie- und Munitionskolonnen im Trabe nachgezogen wurden und Referven in grünen Wieſen und verlaffenen engliſchen Stellungen lagen. Überall in dem vernich- teten Landſtrich waren die gewaltigen Wirkungen unſerer Kampfmittel zu ſehen.

Soldatenlager in Erdhütten bei Neuville.

190 Der Weltkrieg

Im weftlichen und mittleren Abſchnitt ihrer Nord- front, wie in den weſtlichſten Teilen ihrer Südfront behaupteten die Verbündeten ihre Stellungen mit zähem Widerſtand, um den Rückzug der übrigen Teile zu decken. Dieſe ſetzten ſich erneut ſüdweſtlich Fortuin Franzenberg —Ekſterneſt —Zillebeke feſt.

Öftlih von Ypern ſchritt nunmehr der deutſche Angriff derartig fort, daß die Orte Zevecote, Zonnebeke ſowie die Gehöfte und Waldhügel von Weſthoek, Polygoneveld und Nonne Bosſchen in deutſchen Beſitz gelangten. Die weiteren Stürme auf die feindliche Stellung erfolgten im Südoſten. Von den genom- menen Punkten haben die größte Wichtigkeit Ekſterneſt und das Gehöft Het Pappotje. Es liegt ſüdöſtlich von Zillebeke in einem Wäldchen auf der vielgenannten Höhe 60. Infolge der errungenen Fortſchritte wurden die Engländer gezwungen, ſich auf den Brückenkopf bei pern zurückzuziehen.

Die abermals angekündigte große franzöſiſche Offen- ſive wendete ſich mit vier Armeekorps gegen Carency nördlich von Arras, die Lorettohöhe ſowie Souchez und Neuville. Zwar gelang es dem Gegner, das bereits von drei Seiten umklammerte Carency zu nehmen, aber feine Verluſte waren hierbei ungeheuer. Die Angriffe auf die Lorettohöhe, Souchez und Neuville ſcheiterten ſämtlich.

* * K *

Nachdem die deutſchen Pioniere eine Schiffsbrücke über die Memel bei Tilſit geſchlagen hatten, begann der Vormarſch in die Gouvernements Kowno und Kurland. Der Widerſtand der überraſchten Nuſſen war gering. Erſt bei der Kreisſtadt Szawle, wo ſich die große Reichsſtraße Tauroggen —Mitau und die Bahnlinien

Der Weltkrieg 191

Libau—Wilna und Libau—Dwinjt ſchneiden, kam es zu einem achtſtündigen Durchgangsgefecht, in dem die

Beim Frühſtück in einem kurländiſchen Bauerngehöft.

deutſchen Truppen, obgleich ſie faſt ohne Ruhepauſe einen Marſch von 80 Kilometern zurückgelegt hatten, den Sieg davontrugen. Bei ihrem Abzug ſetzten die

192 Der Weltkrieg

Ruſſen große Holzvorräte in Brand, die bei dem herr— ſchenden Nordweſtſturm einen Teil der Stadt in Aſche legten. | Einen für die, Stärkung der Operationsbaſis wich- tigen Erfolg bedeutete die Einnahme des Hafenplatzes Libau, von dem ſchon eine Woche vorher zahlreiche Einwohner, die einen Angriff der deutſchen Flotte befürchteten, nach Riga geflüchtet waren.

Die Ruſſen ſuchten durch einen Vorſtoß von der Njemenlinie her den deutſchen Vormarſch zu ſtören. Doch wurden ihre Streitkräfte, die von Kowno aus bis Roſſijeny vordrangen, geſchlagen.

Ohne daß die Ruſſen davon Kenntnis erhielten, waren inzwiſchen große deutſche Truppenmaſſen nach Weſtgalizien befördert worden, die dem Befehl des Generals v. Mackenſen unterſtellt wurden und dazu auserſehen waren, die ruſſiſche Front zwiſchen dem Karpathenkamm und dem mittleren Dunajec im Verein mit den benachbarten öſterreichiſch-ungariſchen Heeres- teilen zu durchbrechen. Unter den größten Mühfelig- keiten mußte an verſchiedenen Punkten die Munition auf Tragtieren herangeſchafft werden, und vielfach wurde es nötig, die Batterien und Wagenzüge auf Knüppeldämmen vorwärts zu bringen.

Die ruſſiſchen Stellungen waren feit fünf Monaten höchſt kunſtvoll ausgebaut. Stockwerkartig lagen ſie auf ſteilen Bergkuppen übereinander, und die Hänge waren mit Hinderniſſen aller Art förmlich beſpickt. An einzelnen für die Ruſſen beſonders wichtigen Geländepunkten waren bis zu ſieben Schützengräbenreihen hinter- einander angelegt. In den Nächten, die dem Sturm vorangingen, ſchob ſich die Infanterie näher an den Feind heran und baute die Sturmſtellungen aus. In der Nacht vor dem Sturm feuerte die Artillerie ſchwach

Ylvung se u>paaplaagg une dae nes J

XII.

1915.

1 194 Der Weltkrieg

auf die feindlichen Anlagen, während die Pioniere in den Feuerpauſen die Drahthinderniſſe zerſchnitten.

Am frühen Morgen des Sturmtages ſetzte auf der ausgedehnten Durchbruchsfront ein überwältigendes Artilleriefeuer von rund 1500 Geſchützen ein, das vier Stunden ununterbrochen andauerte. Plötzlich ſchwie- gen die Feuerſchlünde, und im gleichen Augenblick ſtürzten ſich die Schwarmlinien und Sturmkolonnen auf die ruſſiſchen Stellungen. Zumeiſt verließ der Feind, ſobald die Infanterie der Verbündeten an den Gräben anlangte, in kopfloſer Flucht die Gewehre fortwerfend, die Befeſtigungen. An einer Stelle durchſchnitt er ſelbſt die Drahthinderniſſe, um ſich den Angreifern zu ergeben.

Auch in den zweiten und dritten Stellungen leiſtete er vielfach nur matten Widerſtand, dagegen wehrte er ſich an anderen Punkten verzweifelt. Unter anderem griffen bayeriſche Regimenter mit öſterreichiſch-unga- riſchen Truppen den 250 Meter hohen Zameczykoberg, der eine wahre Feſtung bildete, an, wobei ſich ein bayeriſches Infanterieregiment unvergleichlich auszeich- nete. Links von den Bayern ſtürmten ſchleſiſche Regi- menter die Höhen von Sekowa und Sokol. Junge Regimenter entriſſen dem Feind die hartnäckig ver- teidigte Friedhofshöhe von Gorlice und den zäh gehaltenen Eiſenbahndamm von Komienitza. Von den öſterreichiſch-ungariſchen Truppen eroberten galiziſche Bataillone die ſteilen Höhenſtellungen des Puſtkiberges, während ungariſche Truppen in heißem Kampf die Wiatrowkahöhen nahmen. Preußiſche Garderegimenter warfen die Ruſſen aus den Höhenſtellungen öſtlich Biala und ſtürmten bei Staſzkowka ſieben hintereinander ge- legene, erbittert verteidigte Linien.

Der Durchbruch der ruſſiſchen Front führte ſodann

Der Weltkrieg 195

dazu, daß das öſtliche Ufer des Dunajec gewonnen wurde. Oſterreichiſch-ungariſche Truppen waren es, die den Dunajecübergang erzwangen.

Hiermit nahm die Durchbruchsſchlacht ihren weiteren Fortgang. War doch erſt die vorderſte Hauptſtellung

Abbeförderung erbeuteter ruſſiſcher Gewehre.

der Ruſſen gefallen, und hatten dieſe doch bis zur Wiſloka, das iſt auf einer Strecke von etwa 30 Kilo- metern, noch drei weitere mehr oder weniger ſtark ausgebaute befeſtigte Stellungen vorbereitet. In der ruſſiſchen zweiten Hauptſtellung fanden die Verbün- deten wenig Widerſtand. Es kam hier vielfach nur zu Nachhutgefechten. Größere Kämpfe fanden an ver—

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196 Oer Weltkrieg

einzelten Stellen, vor allem an Punkten ſtatt, wohin der Feind von rückwärts her Verſtärkungen herangeholt hatte. Dieſe Kämpfe endeten allgemein damit, daß auch die Verſtärkungen mit in den Strudel des Rückzuges gezogen wurden. Bald ſtanden die verbündeten Truppen vor der dritten Hauptſtellung des Feindes. Die Truppen des Generals v. Francois kämpften an dieſem Tage noch um den jener dritten Stellung vor- gelagerten Wilczakberg, den Schlüſſelpunkt für den Beſitz der Stadt Biecz. Dieſen Berg hatten die Ruſſen beſonders ſtark ausgebaut. Wiederum lagen ihre Schützengräben ſtockwerkartig übereinander. Die Ruſſen verſuchten das Herankommen der deutſchen Truppen an den Berg zu verzögern, indem ſie von Süden her zu einem Gegenangriff anſetzten. Ein paar Schrapnelle genügten aber, um den ſchon ſchwer erſchütterten Feind zur Umkehr zu veranlaſſen. Noch am Abend war der Wilczak in deutſcher Hand. Die preußiſche Garde nahm nach heißem Waldkampfe die Höhen von Lipie.

Dem rechten Flügel der öſterreichiſchen Truppen der

Armee des Erzherzogs Joſeph Ferdinand gelang es an

dieſem Tage, die Ruſſen von den ſteilen Waldbergen öſtlich des Bialatales hinunterzuwerfen und in Richtung Tuchow weiter Gelände zu gewinnen. Standen die Ruſſen noch ganz im Bann ihrer tags zuvor erlittenen ſchweren Niederlage, ſo glaubten ſie doch am nächſten

Tag, die Offenſive der Verbündeten zum Stehen zu

bringen. Mit den vorher eingeſetzten Teilen verfügten fie über vier bis fünf Infanterie und vier Kavallerie- diviſionen, die ſie an dieſem Tage den Angreifern entgegenführten. In einem großen, nach Südweſten

gerichteten Bogen, der als eine Art von großem

Brückenkopf der Stadt Jaslo auf etwa 12 bis 15 Kilo- meter Entfernung vorgelagert war, befand ſich die

Der Weltkrieg 197

dritte Hauptſtellung der Ruſſen. In ihr waren die Höhen um Scerzyny, nördlich Biecz, und die Oſtra

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Fahrbarer Desinfektor für Kleidung und Wäſche im öſterreichiſch-ungariſchen Heer.

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Gora wichtige Stützpunkte. Der Feind leiſtete an vielen Stellen erbitterten Widerſtand, aber ihm fehlte,

198 Der Weltkrieg

wie die gefangenen Offiziere ausſagen, jede planmäßige und einheitliche Leitung. War ſchon die Vermiſchung der Verbände infolge der früheren Kämpfe ſehr erheb- lich geweſen, ſo erfolgte jetzt der Einſatz der Reſerven völlig planlos. Regimenter- und bataillonsweiſe wur- den die Verſtärkungen in die Front geworfen, dorthin, wo die Not des Augenblicks es gerade gebot. Die Auflöſung hatte bereits einen derartigen Grad erreicht, daß, wenn der Feind an einer Stelle der Kampffront zähen Widerſtand leiſtete, dieſer dadurch vergeblich wurde, daß die Truppen rechts und links jede Luſt am Kampf verloren hatten und vorzeitig das Weite ſuchten. So erwies ſich auch die Behauptung der dritten Haupt- ſtellung der Ruſſen als unmöglich. Die preußiſche Garde erreichte am Abend des Tages die Gegend von Scerzyny. Das ungariſche Honvedregiment 10 ſetzte ſich nach ſiebenmaligem Sturm in den Beſitz einer Höhe nördlich Biecz, worauf ſich die Beſatzung der benachbarten Höhe ergab. Weiter ſüdlich ſchickten ſich deutſche Angriffstruppen gerade zum Vorgehen auf die Oſtra Gora an, als der durch das ſchwere Artillerie- feuer erſchütterte Feind weiße Fahnen ſchwenkte und ſich in Scharen ergab, bevor noch ein deutſcher In— fanteriſt zum Angriff angetreten war.

Inzwiſchen war der rechte Flügel der Armee Mackenſen bis auf wenige Kilometer an die Wiſloka herangekommen. Man rechnete mit neuen feindlichen Stellungen auf dem Oſtufer dieſes Fluſſes. Hatten doch auch Gefangene ausgeſagt, daß die Ruſſen die Landeseinwohner zum ſchleunigen Bau betonierter Anterſtände gepreßt hätten. Dazu war aber für die ruſſiſche Armee des einſtigen bulgariſchen Geſandten am Hofe des Zaren, des jetzigen ruſſiſchen Generals und Armeeführers Radko Dimitriew keine Zeit mehr;

Der Weltkrieg 199

die Reſerven waren verbraucht, neue Truppenverbände noch nicht zur Stelle, und die Offenſive der Verbündeten kannte kein Stocken.

Nachdem die Armee Mackenſen die Wiſloka über- ſchritten und die Armee des Erzherzogs Joſeph Ferdi- nand die Stadt Tarnow erobert hatte, ſo daß die ganze Dunajeclinie bis zur Weichſelmündung von den Ruſſen geräumt werden mußte, konnte die Durchbruchsſchlacht von Gorlice —Tarnow als beendet angeſehen werden. Auf einer Frontbreite von 160 Kilometern war der Feind auf dem Rückzug, und die Verfolgung wurde auf der ganzen Linie aufgenommen. Die Truppen des Generals v. Emmich erſtiegen die Höhen von Hyrowa Gora, die öſterreichiſch-ungariſche Armee Boroevic warf die Ruſſen aus Krosno heraus und überſchritt den Wiſlok. In enger Zuſammenarbeit mit deutſchen Truppen wurden dann dem Feind auch die das Oſtufer des Wiflok beherrſchenden Höhen entriſſen.

Um ihren Abzug aus der langen Karpathenfront fortſetzen zu können, rafften die Ruſſen in der Gegend von Sanok eiligſt mehrere Diviſionen zuſammen, mit denen ſie zum Angriff auf Beſko und die dortigen Höhen vorſchritten, während ſie weiter nördlich eine andere Diviſion zu einem Gegenſtoß gegen öſterreichiſch- ungariſche Truppen anfetzten.

Beide Vorſtöße endeten mit einer ſchweren Nieder- lage der Ruſſen. Nachdem der Anſturm abgeſchlagen war, ging General v. Emmich zum Angriff über. Völlig zerrieben wichen die Ruſſen auf Sanok zurück. Die ganze achte ruſſiſche Armee räumte nunmehr die Karpathen, aber auch nördlich der Weichſel gingen die Ruſſen von der Nida in öſtlicher Richtung zurück.

Der geſchlagene ruſſiſche Heerführer Radko Dimi- triew befahl die Sammlung am unteren San, der von

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Deutſche Infanterie auf dem

rſch durch eine galiziſche Stadt. ee

202 | Der Weltkrieg

Przemysl an bis zur Mündung gehalten werden ſollte, um dann als Baſis zu neuen Vorſtößen zu dienen. Indeſſen waren die Ruſſen durch die erlittene Nieder- lage und den Rückzug jo ſchwer erſchüttert und durch- einandergeraten, daß nur eine paſſive Verteidigung der Sanlinie möglich wurde, fanden doch die verbün— deten gegen den San vorrückenden Truppen unter den Gefangenen immer wieder Verſprengte aus allen mög- lichen Verbänden der ruſſiſchen Front, und berichteten dieſe Gefangenen doch übereinſtimmend, daß die ruſſiſchen Führer beſtrebt ſeien, durcheinandergekom- mene Verbände neu zu formieren ohne jede Kückſicht auf eine Rangierung nach früherer Regimentszugehörig- keit. Von den verſchiedenſten Kriegſchauplätzen her wurden außerdem die entbehrlich ſcheinenden Teile herangezogen und mit der Bahn an den unteren San gebracht, ſo daß ſich an dieſer Flußlinie den Verfolgern nicht weniger als 23 verſchiedene Infanteriediviſionen entgegenſtellen ſollten. Radko Dimitriew mußte aber wohl inzwiſchen das Vertrauen in die Widerſtandskraft eines großen Teils ſeiner bei Gorlice Tarnow be— teiligt geweſenen Truppen verloren und die am ſchwerſten erſchütterten Verbände weit hinter den San zurückgenommen haben. Denn Flieger meldeten den Kückmarſch langer ruſſiſcher Kolonnen vom unteren San nach Oſten und Nordoſten.

Es blieb demnach im weſentlichen Aufgabe der neuangekommenen Verſtärkungen, den San zu halten, beſonders den Brückenkopf von Jaroslau, auf deſſen Be- hauptung der ruſſiſche Armeeführer viel Wert zu legen ſchien. Daher begannen die Verbündeten, die Przemysl von Süden her abgeſchloſſen und längs der ganzen Sanlinie bis nahe an den Fluß und deſſen Brückenköpfe herangerückt waren, mit dem Angriff auf Jaroslau.

Der Weltkrieg 203

Der Feind hatte die Höhen weſtlich dieſer Stadt zu einer Art Feſtung ausgebaut. Von langer Hand vor- bereitet, zogen ſich hier die Schützengräben in weitem

e Georg Ritter v. ae und feine Gemahlin.

nach Weſten gerichteten Bogen vom Fluſſe durch die weſtlichen Vorſtädte nach dem Meierhof und Schloß des Grafen von Schimienski und durch den Park zur Jupajowkahöhe, die mit Schloß und Meierhof den Schlüſſelpunkt der Stellung bildete. Regimentern der

204 Der Weltkrieg

preußiſchen Garde und des 6. öſterreichiſch-ungariſchen Armeekorps war es vorbehalten, ſich in den Beſitz von Stadt und Brückenkopf Jaroslau zu ſetzen. Die ruſſiſchen Verteidiger beſtanden aus der 62. Diviſion, zu deren Unterſtützung Teile der 41. und 45. Diviſion beſchleunigt herangeführt wurden, welche die dortigen Befeſtigungs- anlagen beſetzten und durch Neuanlage von Draht- hinderniſſen in aller Eile noch weiter zu verſtärken ſuchten. In zweitägigem Kampfe entriß die preußiſche Garde dem Feinde die Stadt Jaroslau und warf ihn hinter den Fluß zurück. In allen dieſen Kämpfen ver- loren die Ruſſen 174 000 Gefangene, 128 Geſchütze und 368 Maſchinengewehre.

Einen glänzenden Beweis von der Tüchtigkeit der öſterreichiſch-ungariſchen Flotte hat der Linienſchiffs- leutnant Georg Nitter v. Trapp als Kommandant des Anterſeebootes U 5 erbracht. Dem kühnen Seemann gelang es, in der Straße von Otranto den großen fran- zöſiſchen Panzerkreuzer „Leon Gambetta“ durch Tor- pedierung zu verſenken.

Georg Ritter v. Trapp wurde am 4. April 1880 in Trieſt geboren und trat 1894 in die Marineakademie ein. Im chineſiſchen Feldzug zeichnete er ſich als Kom- mandant der öſterreichiſch-ungariſchen Beſatzungsabtei— lung durch entſchloſſenes Eingreifen in das Gefecht bei den Peitangforts aus. Seit 1911 iſt er vermählt mit Agathe Whitehead, einer Enkelin von Nobert White- head, dem Erfinder des Torpedos.

*

Mannigfaltiges ee er

Der Verräter. Auf der höchſten Linie des Vogeſenkammes, hart an der Grenze, nur wenige Meter von ihr entfernt, liegt der Gutshof Hohried. In graues Granitgeröll geduckt iſt das graue Haus, Granitblöcke liegen auf dem flachen Dach, und es ſieht aus, als erdrücke dieſe Laſt das Haus, als nähme ſie ihm den Atem. Winzige, trübe Fenſter ſchauen ins Tal hinab, und die kleine Haustür gähnt wie ein ſchwarzes Loch.

Hier oben tanzt der Wind ſeinen tollſten Reigen, hier oben brennt die Sonne am grauſamſten. Kein Baum ſteigt bis hier hinauf, ſelbſt das Knieholz lebt hier oben nicht mehr, nur ftrup- pige Preißelbeerſtauden, eine kümmerliche Grasnarbe und nacktes Geſtein in wilder Unordnung bedecken die Bergſchädel und die Flanken der Höhen. |

Der Beſitzer Grandidier lebte ſeit Jahrzehnten einen Tag wie den anderen in ſteter Wiederkehr der gleichen Arbeit, in ſteter Wiederkehr der gleichen Gedanken. Er dachte nicht über das Wetter und über den kümmerlichen Tageslauf hinaus, er lebte vom Sommer zum Winter wie ein Baum, nur daß er im Winter noch ſtumpfſinniger war.

Seit dem Tode ſeiner Frau hatte ihn nichts mehr erſchüttert. Als fein einziger Sohn Jean zum Militär gemußt hatte, hin- unter in die Rheinebene, die wie ein ſagenhaftes Land in der Ferne leuchtete, da hatte er beim Abſchied die Zähne aufeinander gebiſſen und ſich einen Knecht genommen; als Jean wiederkam, hatte er den Knecht entlaſſen. Das waren die Ereigniſſe der letzten Jahre.

Sonſt ſpülte nie eine Woge des Lebens bis nach Hohried hinauf. Sonntags ging Grandidier nach Weißbach hinab in die Wirtſchaft, die zu den paar Häuſern des Dorfes gehörte. Aber die anderen Bauern waren auch nicht redſeliger, und er hatte nie viel erfahren, wenn er unſicheren Schrittes heimwärts ſtieg. Ä In der Woche ſah er keinen Menſchen, nur der Grenzwärter kam zuweilen heran und trank einen Enzianſchnaps bei ihm; zuweilen kam auch wohl ein franzöſiſcher Grenzſoldat herein, um ſich bei ihm vor einem Gewitter zu bergen. Grandidier

206 Mannigfaltiges

ſchob ihm das Gläschen mit dem Enzian genau ſo gleichmütig zu wie dem Deutſchen. Er machte ſich gar keine Gedanken über die beiden Nationalitäten, die ſich hier bei ihm kreuzten. Es war ihm ganz gleichgültig. Ihn intereſſierte nur, ob die Kälber kräftig waren, ob das Jungvieh gedieh, und ob der Münſterkäſe im Preiſe ſtieg.

Aber einmal geriet er doch aus der Faſſung, und das war an einem Hochſommerabend. Die Sonne wollte gerade drüben in Frankreich ſchlafen gehen und ſchickte einen letzten roſigen Lichtſtrom in die Rheinebene hinab. Der Schwarzwald drüben war in ſanfte Schleier gehüllt. Man ſah einige Dächer funkeln und an manchen Stellen den Spiegel des Rheins blitzen, und fern im Süden das weiße Maſſiv des Iſteiner Blocks leuchten.

Grandidier ſaß auf der wackeligen Bank vor ſeinem Haus und hatte den Rücken an die grobe Mauer gelehnt. Er rauchte langſam und horchte ſchläfrig auf das verlorene Geläut der Kuhglocken. Dabei beobachtete er, wie die uralten Häupter der Berge blutrot glühten, fo daß man jede Runzel und Schrunde deutlich ſah. Allmählich verblaßte der Schein und dämmerte zu einem tiefen, warmen Lila hinüber. Durch die Stille klang warnend der Schrei der Bergſchwalbe.

Der Bauer richtete ſich auf und ſah auf dem groben, felſigen Pfad aus dem Tal herauf einen Mann kommen. Er beobachtete ihn ohne Intereſſe und wunderte ſich nur, daß er den Steil- hang ſo raſch bergaufrannte und zuweilen die Arme winkend ſchwenkte.

Aus dem Stall kam Jean mit dem Melkeimer. Der Alte wies mit der Pfeife auf den Mann, der raſch näher kam. Sie ſahen ihm ſchweigend entgegen.

Endlich ſagte Jean: „Es ift der Philipp.“ Und dann ging er ins Haus, ſtellte den Milcheimer in der Küche ab und kam mit ſeiner Pfeife wieder heraus.

Da bog Philipp Grandjean um die Hausecke, atemlos und blaß vor Anſtrengung. Er ſtolperte heran und ließ ſich ächzend auf die Bank fallen. Doch es riß ihn gleich wieder empor, und er rannte bis zum Bergvorſprung, der jenſeits der Grenze war, und ſtarrte angeſtrengt auf die Schluchtſtraße hinab, die

Mannigfaltiges . 207

aus der Dämmerung leuchtete, und die von Gerardmer her- aufkroch:

„Man ſieht noch nichts!“ ſchrie er den beiden zu.

Sie ſchüttelten die Köpfe.

Da ſagte er laut im Näherkommen: „Es gibt Krieg. Es iſt ganz ſicher. Die Franzoſen kommen!“

Die auf der Bank lachten und hörten nicht auf zu rauchen.

Da wurde Philipp aufgeregt. „Ich habe dem Gendarm verſprochen, den Jean zu holen. Er mußte auf die anderen Höfe drüben, mich hat er hierhergeſchickt. Du mußt gleich mitkommen, heute abend noch.“

Vater und Sohn 3 ihn ſchweigend an und rauchten l

Da ſagte er mit überfchlagender Stimme: „Verſteht ihr denn nicht? Krieg iſt!“ Er wies nach den franzöſiſchen Tälern. „Und fie ſagen: mit den Ruſſen auch noch —“

Da nahmen ſie ihre Pfeifen aus dem Mund und ſpuckten aus. Mit den Ruſſen, das konnten ſie wohl glauben, aber drunten in Frankreich ſah es doch nicht nach Krieg aus!

Aber Zean ſtand doch auf und klopfte die Pfeife aus. „Wenn es wirklich wahr iſt, muß ich natürlich gleich fort.“

Er ging hinein, kramte in Schränken und Käſten und ſchnürte ein Bündel.

Als er wieder herauskam, ſtand ſein Vater jenſeits der Grenze und ſagte ruhig: „Die machen nichts! Es iſt alles Unſinn. In ein paar Stunden kommſt du wieder.“

Aber in ſeinen Augen war doch ein banges Funkeln, als er in das Geſicht des Sohnes ſah.

Dann gingen die beiden jungen Leute talab. Er ſah ihnen nach, bis er die Geſtalt des Sohnes nicht mehr unterſcheiden konnte. Dann ging er in die Küche, um nach der Milch zu ſehen, denn die mußte übers Feuer.

Als er nach einer Stunde in ſeine Kammer gehen wollte, pochte es laut an die Tür. Er hörte ein Gewirr von raunenden Stimmen. Er ſchob den Riegel zurück und öffnete ohne Neugier. Er ſah einen Haufen Soldaten Käppis, rote Hoſen. Si.ie redeten alle durcheinander, verſuchten ihm über die

208 maaannigfaltiges

Schulter zu ſehen und deuteten ins Tal hinab. Endlich verſtand er, daß ſie wiſſen wollten, ob deutſche Soldaten in der Nähe ſeien.

Er hob die eckigen Schultern und machte ſein dümmſtes Geſicht.

„Schafskopf!“ ſagte der lange Sergeant und [hob ihn beifeite.

Und nun ergoß ſich der Trupp in fein Haus und füllte die niederen Stuben mit feinem Lärm, Zn der Küche tranken fie ihm die Milch aus und nahmen die noch unfertigen Käſe von den Regalen, durchſchnitten fie und begannen zu eſſen.

Grandidier beobachtete ſie und begriff, daß er hier nichts mehr zu ſagen hatte, daß wirklich der Krieg ausgebrochen em mußte.

Alſo kam der Jean nicht wieder? Dann mußte er in den Krieg, in tauſend Gefahren? Dann ſah er ihn vielleicht nie mehr wieder, ſeinen einzigen Sohn Mit ganz benommenem Kopf ging er in den Kuhſtall, ſetzte ſich auf ein Heubündel und verſuchte nachzudenken; aber er ſchlief ein und wurde erſt gegen Morgen wach.

Bald merkte Grandidier, daß die Franzoſen nicht mehr gingen. Sie tranken die Milch, aßen die Eier, ſchlachteten die Kälber, und er konnte froh ſein, daß er miteſſen durfte. Sie gruben und ſchanzten auf den Höhen, und es wurden ihrer immer mehr. Er erfuhr, daß alle Höfe rundum voll von Franzoſen waren.

Und auf einmal begriff er den Krieg Zäh und unver- mittelt zerriß ein wildes, wütendes Brüllen die Luft, die Felſen warfen es wider und ſchleuderten einander den Widerhall zu wie einen Fangball, und dann erfüllte das dumpfe Donnern die Täler.

Und nun brüllten die Geſchütze alle Tage, und wenn ſie einmal ausruhend ſchwiegen, hörte man fern aus dem Kaiſersberger Tal das dumpfe Murren, und wenn der Wind von Norden kam, grollte es matt vom Weilertal herüber.

Grandidier hatte ſich bald an den Donner der Kanonen gewöhnt. Aber ſein Vieh wurde immer weniger, und als die

Mannigfaltiges 209

letzte Ruh geſchlachtet wurde, kroch er in eine Ecke des Stalles, in der die dicken Spinngewebe hingen, und weinte vor Wut. Es fiel ihm dabei ein, daß er nicht einmal beim Tode ſeiner Frau geweint hatte. Die Soldaten kümmerten ſich gar nicht um ihn, nur manchmal erzählten ſie ihm Neuigkeiten. Er erfuhr, daß die Nuffen längſt in Berlin waren und die Franzoſen in Köln, und daß der Deutſche Kaiſer gefangen ſei.

Einmal fragte er: „Und mein Jean?“

Da antwortete der Sergeant: „Futſch! Alle find futſch, totgeſchoſſen, nur noch ein paar ſind übrig geblieben!“ Und er wies zum Hohrodberg hinüber, und als er ſah, daß der faltige Mund des Alten zitterte, ſchlug er ihm auf die Schulter und ſagte: „An allem ſind die Pruſſiens ſchuld du kannſt es mir glauben, die haben den Krieg angefangen. Bei denen kannſt du deinen Sohn reklamieren.“

Totgeſchoſſen alſo war ſein Sohn, vielleicht von den Ruſſen, vielleicht von den Franzoſen aber die Schuld ſollten die Deutſchen haben! Die hatten ihn ja auch holen laſſen!

In ſeinen trüben Augen begann es zu blinken. Er ſetzte ſich unter die Soldaten und hörte zu, was ſie von ihren Erfolgen prahlten, und immer größer wurde ihm die Gewißheit, daß ſein Sohn nicht mehr lebte. In ihm ſchwelten Wut und Haß. Er haßte die, die ihm ſein Vieh genommen, er haßte die, die ihm den Sohn geraubt hatten.

Eines Tages nahm ihn der Sergeant mit zu einem Hof, der jenſeits des Höhenrückens lag. Er führte ihn vor einen Offizier; der fragte ihn kurz, ohne das hübſche Geſicht von der Karte zu heben: „Kennen Sie die Wege drüben?“

Grandidier zuckte die Schultern und ſah ſtumpfſinnig in das Geſicht des Offiziers.

Der griff in die Taſche und legte einen Haufen Geld auf den Tiſch.

Die Augen des Alten blieben trübe.

Da ſagte der Sergeant dicht an ſeinem Ohr: „Sei doch nicht ſo dumm! Mit dem Geld kannſt du hinunterfahren und deinen Sohn ſuchen.“

Der Alte hob den Kopf und ſtrich ſich mit zitternden Händen

1915. XII. 14

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über die grauen Bartſtoppeln. Da gab ihm der Offizier den Auftrag, er ſollte ins Tal hinunter und zu erfahren ſuchen, an welchen Stellen im Gebirge deutſche Soldaten ſteckten. Das wüßten ſeine Freunde ihm ſicher zu ſagen.

Grandidier ſtierte auf das Geld. Mit dieſem würde er den gean ſuchen können.

Als es dunkel wurde, ging er den Felſenpfad hinab. Der Geſchützdonner war verſtummt, er hörte nur das Stürzen und Poltern des Waſſerfalls in der ſchmalen Schlucht zur Talſohle. Im grünen Talgrunde ſah er ein Gehöft brennen, dick lag der Qualm über der Brandſtätte. Es würde wohl bald regnen.

Alſo, er ſollte hören, wo die deutſchen Soldaten waren

dann bekam er das Geld. Er ging an Weißbach vorbei bis zu dem großen Dorfe, das tiefer im Tale lag. Da hörte er auf der Landſtraße den ſchweren Schritt von Soldatenſtiefeln, und eine unerklärliche Angſt packte ihn plötzlich. Er bog in die Wieſen ein und erreichte das Dorf auf Umwegen.

Auf der Dorfſtraße war ein buntes Bild. Deutſche Soldaten ſtanden umher und rauchten, andere hockten auf den Treppen- ſtufen, putzten ihre Gewehre und flickten Uniformen; alle redeten und lachten, viele fangen. Grandidier hatte ein un- erklärliches Unbehagen. Er wollte wieder fort, er wußte ja genug. Und er lief wieder über die Wieſen auf die Bergſtraße. Da ſah er vor ſich einen Trupp Soldaten, die leiſe plaudernd zur Höhe ſtiegen. Er folgte ihnen unwillkürlich.

Sie ſtiegen eine wieſige Halde hinauf und bogen in den ſchwarzen Hochwald ein, dann kamen ſie auf einer Lichtung an, auf der ein Blockhaus ſtand. Dies war die Schutzhütte, die ein Touriſtenklub im Vorjahre gebaut hatte.

Die Soldaten verſchwanden in dem Haufe, und obwohl Grandidier eine Weile wartete, kamen ſie nicht wieder heraus. Er konnte das vielleicht auch dem Offizier erzählen.

Es war eine wolkige Nacht. Über den mächtigen Berg- häuptern ſtanden dicke Wolken geballt und rührten ſich nicht. Man ſah nur vereinzelte Sterne. Über der Ebene laſtete die Schwüle, man ſah nicht wie früher die ſanften Lichter aus

Mannigfaltiges 211

Dörfern und Städten blinken. Der Sundgau lag dunkel wie ein nächtliches Meer.

Es war ganz ſtill, nur aus der Schlucht das klingende Lied des Waſſerfalls.

Grandidier ſtolperte oft über ſpitze Granitſtücke auf dem Pfade, es ſchien ihm alles ſo fremd und feindlich in dieſer ſchwarzen Nacht. Selbſt die Maſſen der Felſen, die ſich ſchwach abhoben, ſchienen ihm gewaltiger und erdrückender

Als er auf der Höhe ankam, wartete der Sergeant auf ihn und führte ihn zu dem Offizier. Der fragte haſtig, und der Alte erzählte ſtockend von dem Trupp Soldaten im Blockhaus da drüben.

Das Geſicht des Offiziers wurde heller, die Augen des Sergeanten begannen zu funkeln.

Der Bauer mußte ſich ſofort bereithalten, ſie hinzuführen. Führe er ſie nicht gut oder gar in eine Falle, ſo ſei die erſte Kugel für ihn. 3

Grandidier war ſo müde, daß ihn ſeine Beine kaum mehr trugen, aber er mußte doch das Geld haben. Dann wollte er gar nicht erſt wieder hier herauf, ſondern gleich weiterlaufen bis Kolmar oder Straßburg, und dort würde man ihm ſchon jagen können, wo der Zean begraben lag.

Er ging ſchwerfällig neben dem Offizier her durch die Nacht. Hinter ihnen hörte er nur das Kniſtern der Soldatenſtiefel und ab und zu ein geflüſtertes Wort. Zuweilen polterte ein Stein in die Tiefe. Nun kamen ſie in den Tannenwald, lautlos glitten ſie zwiſchen den Stämmen hindurch. Die Büſche griffen nach ihren Kleidern und ſchlugen ihnen ins Geſicht. Irgendwo rieſelte flüfternd ein Quellchen. Ein ſtarker Duft von Harz ſtand unter den Tannen. ö

Der Alte ging mit ſchlürfenden Schritten. Zuweilen gab ihm der Offizier einen Stoß und befahl ihm, leiſer zu ſein.

Als ſie am Rande der Lichtung ankamen, fing es an zu regnen. Die dicken Tropfen liſpelten in den Zweigen und ſprühten auf den Blättern, der trockene Boden trank durſtig. Grandidier fühlte den heißen Atem des Offiziers an ſeinem

212 Mannigfaltiges ͤ—— TTS —— ͤ ͤ KKK Geſicht und bemerkte die wilde Erregung der Männer, die ihn umdrängten.

Was wollten die eigentlich? Was ſollte jetzt geſchehen?

Da faßte der Offizier ſein Handgelenk und preßte es zu— ſammen. Der Alte hob den Arm und wies geradeaus. Raum merklich hob ſich der Giebel des Blodhaufes aus dem Schwarz. Die Soldaten verſchwanden im Dunkel. Grandidier ſetzte ſich auf eine Baumwurzel, er konnte nicht mehr ſtehen.

Plötzlich hörte er vom Blockhaus her einen dumpfen Laut und einen Fall.

Er begann zu zittern. Das war wohl ein deutſcher Wach- poſten geweſen. N ö

Die Tür des Hauſes flog weit auf. Schreie gellten, Achzen, lautes Gepolter, wüſter Lärm Flüche, erſtickte Laute und der dumpfe Aufſchlag ſtürzender Körper.

Grandidier griff ſich mit den bebenden Händen ins Haar. Er wollte, wollte doch nicht, daß dort ſo Furchtbares geſchah!

Er taumelte bis vor das Haus, da ſtolperte er über einen Körper, der quer vor der Tür lag. Beim Fallen griff er in ein Geſicht. Er taſtete über die Uniform und fühlte Blut. Da hob er den zurückgeſunkenen Kopf und legte ihn auf ſeine Knie.

Aus dem Hauſe drang noch vereinzeltes Nöcheln, dann wurde es ſtill, man hörte nur die Stimme des Offiziers, der ſeine Leute ſammelte. Aus der Tür fiel ein heller Schein.

Der Offizier trat heraus und wiſchte ſich einen Blutſtreifen aus dem Geſicht, feine Uniform war zerriſſen, aber er lachte, daß ſeine Zähne blinkten. Er griff in die Taſche und warf dem Alten einen Beutel zu.

Der Beutel fiel ſchwer ins Geſicht des deutſchen Soldaten, der reglos lag.

Der Alte griff nach dem Gelde mit krampfigen Fingern.

Da blieb ſeine Hand wie erſtarrt in der Luft, er krümmte ſich zuſammen.

Der Lichtſchein fiel auf den Toten auf ſeinen Sohn Zean.

Der Offizier trieb ſeine Leute zur Eile. Sie kamen aus dem Haufe mit den Gewehren und Torniſtern der Deutſchen.

Der Alte ſaß ihnen im Wege, ſie ſtießen ihn beiſeite.

Mannigfaltiges 213

Er drehte ſich noch einmal um. Da ſah er den Geldbeutel auf der Bruſt des Sohnes liegen. Die weitgeöffneten toten Augen ſtarrten an ihm vorüber.

Da nickte er vor ſich hin. „Ja, ja!“ Und immer wieder im Weitergehen: „Ja, ja —“ 2

„Vorwärts!“ fagte der Offizier rauh. „Wir müſſen zurück!“

Es hatte aufgehört zu regnen, die Wolken hoben ſich, und die Berge ſtarrten grämlich in den erſten Morgenſchein, der vom Schwarzwald herüberglomm. Vom Raifersberger Tal hörte man Kanonendonner.

Als die Soldaten in Hohried angelangt waren, aßen und tranken ſie vergnügt und prahlten von ihren Heldentaten. Und Grandidier ſtand zwiſchen ihnen mit hängendem Kopf, hörte zu, nickte, lachte und dachte nur: „Wartet wartet!“

Und dann krochen ſie alle ins Heu und in die Betten und ſchliefen.

Der Alte nickte. Er verrammelte die Tür von außen, legte die Fenſterläden vor und ſtemmte Balken dagegen. Er prüfte bedächtig und fand keine Möglichkeit, ſie von innen zu öffnen.

Dann legte er an vier Stellen Feuer an, ging in den Stall und warf brennende Streichhölzer in die Heubündel. Die kniſterten unter der leckenden Flamme.

Ohne ſich umzuſehen ging er davon dahin, wo die Felfen- wände ſteil in die ſchwindelnde Tiefe ſteigen. |

Er ging bis dicht an den Abgrund, drehte ſich um, lachte, als er den Widerſchein ſeines brennenden Hofes ſah, und ließ ſich in das Dunkel hinunterfallen. E. Höffer.

Weibliche Straßenbahner. Daß, wie die Frauenrecht- lerinnen oftmalig verſichert haben, das weibliche Geſchlecht ſich feine Straße bahnt, beweiſen jetzt faſt buchſtäblich die weib- lichen Straßenbahner. Sie ſind für die männlichen Beamten, die zum Krieg eingezogen wurden, in Berlin und anderwärts eingeſtellt worden. ö

Die Führung der Wagen bleibt auch jetzt noch Männern üb erlaſſen. Die weiblichen Hilfskräfte tun nur Schaffnerdienſte. Für die Schaffnerinnen iſt von der Straßenbahnverwaltung ein Lehrgang eingerichtet worden. Dieſer umfaßt einen all-

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Mannigfaltiges 215

gemeinen Unterricht, wobei von Beamten der Straßenbahn- geſellſchaft Vorträge über die Dienſtobliegenheiten gehalten werden, und den techniſchen Teil. Im techniſchen Teil werden der elektriſche Stromlauf, die maſchinelle Einrichtung des Straßenbahnwagens, der Gebrauch der Stromhalter und Bremſen, das Weſen der elektriſchen Sicherungen und Aus- wechſlungen ſowie die Anwendung der Signale erklärt. Man führt die Frauen in dieſe Gebiete zu dem Zweck ein, damit ſie im Notfall Abhilfe ſchaffen können.

An den Lehrgang ſchließt ſich unter Anleitung eines er- fahrenen Schaffners die praktiſche Ausbildung, wobei die Schaffnerinnen im Preis und Abreißen der Fahrſcheine, der Erlernung der Halteſtellenamen und der Einprägung der Umfteigpuntte unterwieſen werden. Im allgemeinen hat man mit der Einſtellung der Schaffnerinnen gute Erfolge erzielt. Th. S.

Licht und Laune. Das junge Doktorspaar war bald in der ganzen Stadt als ein ſelten gaftfreies und liebenswürdiges Ehepaar bekannt. Sie lebten in guten Verhältniſſen, die Praxis des ſtrebſamen und klugen Arztes nahm von Tag zu Tag zu, und doch dachte die Frau Doktor ſtets mit leiſem Grauen an ihre Geſellſchaften. Sie wußte es eben nur zu gut, daß ihr die Abendfeſtlichkeiten in ihrem geſchmackvollen Heim eigentlich nichts als Widerwärtigkeiten eintrugen. Vergeblich hatte ſie ſich ſchon häufig ihr hübſches Köpfchen darüber zermartert, wes- halb bei ihr die Gäſte beim beſten Willen nicht in die rechte, fröhliche Stimmung zu bringen waren und ſtets etwas wie eine Gewitterſtimmung über den Anweſenden lagerte, die ſich ganz beſonders unbehaglich zu fühlen ſchienen, ſolange man bei der Tafel ſaß.

Eines Nachmittags erſchien die Frau Amtsrichter bei der Frau Doktor zu einem Plauderſtündchen, und der vertraute letztere ihr Leid an.

„Sehen Sie, meine Liebe ich begreife nicht, woran es nur liegen mag, daß es bei uns nie wirklich gemütlich wird. Meine Köchin leiſtet doch anerkanntermaßen recht Gutes, die beiten Weine kommen auf den Tiſch, und es fehlt weder an aus-

216 Mannigfaltiges Te m Tu

geſuchtem Blumenſchmuck noch an ſonſtigen Dingen, die ein Gaſtmahl zu einem wirklichen Genuß machen. Und trotzdem die Lifte der jeweilig Geladenen mit größter Sorgfalt zufammen- geſtellt wird, ſcheint doch, ſobald die Beſucher ſich gegenüber- treten, daß etwas wie eine nervöſe Gereiztheit von ihnen Beſitz ergreift. Und zwar ſcheint die reizbare Stimmung zuerſt die Damen zu erfaſſen und von dieſen allmählich auch auf die Herren überzugehen. Bei Ihnen habe ich ähnliches nie bemerkt.“

Die Frau Amtsrichter lächelte. „In vierzehn Tagen geben wir unſere nächſte Geſellſchaft, liebe Frau Doktor, zu der Sie und Ihr Herr Gemahl natürlich gleichfalls geladen werden. Vielleicht finden Sie dann bei einiger Aufmerkſamkeit den kleinen Fehler heraus, an dem Ihre Feſte leiden.“

Zu einer weiteren Aufklärung ließ die Dame ſich jedoch nicht bewegen.

Der Geſellſchaftsabend war da. Amtsrichters ſtrengten ſich bei derartigen Gelegenheiten durchaus nicht ſehr an und wen- deten vielleicht nur halb ſoviel Geld auf für Leckerbiſſen, Weine und Blumen wie Doktors. Trotzdem herrſchte unter den Gäſten die heiterſte Laune, niemand dachte an frühes Aufbrechen.

Die junge Frau Doktor war vielleicht die ſtillſte des über⸗ mütigen Kreiſes. Unabläſſig beſchäftigte fie ſich mit der Er- gründung des Rätſels, ohne jedoch die Löſung erraten zu können.

Da wandte ſie ſich denn ſchließlich an die Frau Landgerichts- direktor, eine liebenswürdige Dame in den Vierzigern, bei der es ebenfalls ſtets außerordentlich gemütlich herging, und teilte ihr das unlängſt mit der 8 des heutigen Abends ge- führte Geſpräch mit.

Die Frau Landgerichtsdirektor hörte aufmerkſam zu und wies dann auf die Gaskronen und Wandleuchter, deren Lichter fänntlid mit roſa Gaze verhüllt waren.

„Darin liegt das ganze Geheimnis,“ ſagte ſie freundlich. „Fällt Ihnen denn nicht auf, liebe Frau Doktor, wie hübſch wir hier alle ausſchauen, während wir bei Ihnen uns fo alt und häß— lich vorkommen? Warum in aller Welt müſſen Sie nur Ihre reizenden Geſellſchaftsräume, die ja viel ſchöner ſind als dieſe, ſo ſtrahlend hell bis in die äußerſten Winkel durchleuchten? Da

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kann men vorher ſtundenlang am Toilettentiſch ſitzen und ſich die größte Mühe geben, um die unvermeidlichen Spuren der Jahre, die wir leider hinter uns haben, möglichſt zu verbergen ſobald wir in die blendende Lichtflut treten, mit der Zhre koſtbaren elektriſchen Beleuchtungskörper alles überſchwemmen, . wiſſen wir nicht mehr ganz jugendlichen Evastöchter, die wir ſo gern doch noch ein bißchen ſchön ſein möchten, daß unſer Bemühen vergebens war.“

Die nächſte Geſellſchaft bei Doktors geſtaltete ſich zu einem großen Erfolg. Mattes roſenfarbenes Licht erfüllte jeden Raum, und roſenfarbene Laune leuchtete aus den Augen der Damen und ſomit auch aus denen der Herren. Und als die Frau Amtsrichter ſich dann von der Frau Doktor verabſchie— dete, mainte fie fröhlich: „Ich ſehe, Liebſte, Sie haben das große Geheimnis ergründet. Aus dem Licht, das ſich um uns ergießt, fprudelt der guten Laune heiterer Quell!“ W. K.

Die letzte Schlacht. Faſt durch die ganze Welt geht eine uralte Sage, die gerade heute, da die Länder hallen vom Waffenlärm, da die Völker ihr Blut verſpritzen, von einer ganz beſonders tiefen, ans Herz greifenden Wirkung iſt. Wir meinen die ſchauerlich-troſtreiche Sage von der letzten Schlacht, die einſt ftattfinden ſoll einer beiſpiellos blutigen, furchtbaren Schlacht, mit der aber ein endgültiger, ein ewiger Friede ge- wonnen wird.

Auf altersgraue Überlieferung geht dieſe Sage zurück, die in wechſelnder Form und Faſſung an gar manche Ortlichkeit geknüpft worden iſt. Da mit dieſer Sage auch jene von den ſchlafenden, bergentrückten Herrſchern und Helden in Zuſammen- hang ſteht, ſo treffen wir ſie begreiflicherweiſe oft in der Nähe jener geheimnisvollen Zauberberge an. Berühmt wie unſer Kyffhäuſer iſt in dieſer Hinſicht der Untersberg bei Salzburg. Dem Volksglauben nach gehen in ihn alle gefallenen Soldaten ein. Sie geſellen ſich ſo als künftige Helfer im Streit den alten, ſiegreichen Raifern und Königen zu, die in der Bergestiefe mit ihren Getreuen der letzten großen Schlacht entgegenſchlummern.

Dieſe ſoll einſt toben auf dem „Walſer Felde“, das ſeinen Namen nach dem kleinen Orte Wals trägt. Bis zum Jahre 1872

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ſtand auf jenem Felde der weithin berühmt gewordene Birn- baum, an deſſen Aſt einſt der Held der letzten Schlacht ſeinen Schild hängen ſollte, um dann das von den Menſchen fo heiß herbeigeſehnte, dauernde Friedensreich zu gründen. Durch zweimaliges Blühen und überreiches Fruchttragen ſollte der Baum auf das Bevorſtehen des gewaltigen Kampfes hinweiſen. König Ludwig I. von Bayern beſichtigte im Jahre 1847 dieſen mächtigen Holzbirnbaum, deſſen Stamm einen Durchmeſſer von mehr als drei Fuß aufwies. Einem in der Nähe wohnenden Bauern bot der König auch eine jährliche Vergütung, wenn er ſich verpflichten wollte, auf den ſagenumwobenen Baum liebevoll zu achten. Im Mai des obengenannten Jahres fiel der letztere aber einem Sturme zum Opfer, nachdem Buben- hände ſich bereits an ihm vergriffen hatten. 0

Einen ſogenannten „Schlachtenbaum“, der ebenfalls als der Prophet des letzten Kampfes betrachtet wurde, kennt auch die bayeriſche Oberpfalz. Es handelt ſich hier um eine auf rauher, von kalten Stürmen umbrauſter Höhe herangewachſene Steinlinde, der ihr Standort auch den Namen „der kalte Baum“ eintrug. „Wenn dieſe Linde,“ ſo erzählte man ſich einſt, „ſtark genug ſein wird, daß einer ihrer Aſte einen geharniſchten Reiter ſamt ſeinem reiſigen Roß zu tragen vermag, dann werden ungezählte Heerſcharen kommen aus Oſt und Weſt, um hier eine Schlacht zu ſchlagen, bei der ſich das Blut in fo furcht- barem Strome nach Norden hin ergießen wird, daß es die Mühle im Tale bei Lind treibt. Entſetzliches Elend wird nach dieſem Kampf über die Gegend hereinbrechen, die Peſt wird den letzten Menſchen, das letzte Stück Vieh dahinraffen. Aber aus weiter Ferne wird dann ein Hirt heranziehen, am kalten Baume“ ſich niederlaſſen und durch feine Kindeskinder von neuem das Land bevölkern, dem nun ewiger Friede und un— zerſtörbarer Wohlſtand blüht.“

In feinen gehaltreichen Werk „Tod und ewiges Leben“ verweiſt der ſagenkundige Oskar Schwebel noch auf manchen anderen Schauplatz der allerletzten Schlacht. So wurde ſie in der Oberpfalz auch in der Gegend von Waldmünchen erwartet, ferner bei dem badiſchen Städtchen Rems am Schlingenerberg,

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in dem ein ganzes Heer verſunken ruhen foll, des großen Ramp- fes gewärtig. Andere Überlieferungen ſuchen die letzte Wal- ſtatt in der Nähe von Straßburg.

Mit dem letzten blutigen Streit hat ſich auch beſonders gern die Phantaſie des weſtfäliſchen Stammes beſchäftigt. Sie träumte von einem großen Feldherrn, „Karl Quint“ genannt, der einſt auf weißem Roſſe dem letzten Sieg entgegen- reiten wird. Der Bockskamp bei Paderborn wird dieſen Sieg ſchauen oder ein Feld zwiſchen Unna und Werl, auf dem ein Birnbaum ſteht.

Übrigens fei bei dieſer Gelegenheit darauf hingewieſen, daß in alte Sagen oft ganz neuzeitliche Züge vom Volke ruhig hineinverwoben werden. So erzählte ein Landmann dem lauſchenden Sagenforſcher, daß jener fürſtliche Feldherr auf einer Anhöhe, die Haar genannt, halten, ein Ruhekiſſen fordern und ſeine Feinde durch ein Fernrohr betrachten werde, bevor er ſeine ſchneeweiß gekleideten Krieger zum Angriff ordne.

Die dunkle und doch verheißungsvolle Melodie von der furchtbaren Endſchlacht, die ewigen Frieden bringt, erklingt auch am Fuße des Odenberges, in dem Karl der Große gleichwie Barbaroſſa im Kyffhäuſer auf den Entſcheidungskampf harrt.

In Thüringen nennt man uns als letzte Walſtatt auch ein Feld bei Nohra und Vieſelbach in der Erfurter Gegend. Der Birnbaum fehlt bei dieſer Sage gleichfalls nicht.

Holſteiniſche und ſchleswigſche Überlieferungen bezeichnen als Schlachtenbäume gewiſſe Eſchen. Von der Eſche an der Nortorfer Kirche in Schleswig erzählte man ſich, daß man an ihres Stammes Stärke das Nahen des Völkerkampfes erkennen werde. Sobald man an den Baum ein Roß anbinden könnte, ſollte jener Zeitpunkt gekommen ſein. Doch auch die Semilower Heide bei Ratzeburg und die Gegend von Süderhadſtede gelten gleich den vorgenannten Örtlichleiten als Schauplatz des ge- waltigen Ringens. In Schleſien ward zum „Schlachtenbaum“ eine uralte Eiche beim Schloſſe Kamenz erkoren. Mit ſeinen Getreuen ſollte dereinſt der Sieger des letzten Kampfes unter ihrem Schatten raſten, um ein neues glückſeliges Reich zu errichten.

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Aber auch in der Mark Brandenburg halten wir nicht ver- gebens Umſchau nach dem letzten Schlachtfeld. Die „Schluchten und Höhen der Havelſeen nahe dem Schildhorne bei Spandau“ ſollen es hier liefern. Auf dem knorrigen Wurzelballen einer alten, ſturmgeprüften Föhre wird hier der letzte Held und der Bringer des ewigen Friedens ſein Gewaffen niederlegen.

Nach der Überlieferung eines ſonderbaren alten Poſtillons aus Bernau werden die Menſchen nach dem letzten Kampfe ſo ſelten ſein, wie es die Störche im Jahre 1857 waren. Wenn man dann unter einem Birnbaum zu Chorinchen Friede ſchließt, dann wird dieſer Baum imſtande fein, die ſämtlichen am Leben gebliebenen Streiter zu beſchatten. So e denkt man ſich die letzte Schlacht.

Auch die böhmiſche Sage vom Endkampf erzählt von einer faſt völligen Aufreibung der Kämpfer. Sollen doch bein Friedenſchluſſe „alle Böhmen auf einem Leiterwagen Platz finden“ können! Auch in Dänemark werden nach der letzten Schlacht nicht mehr Männer im Lande ſein, „als ihrer Raum auf einer Tonne haben“. So ſagt Herr Holger von Dänemark dem Sonntagskinde, das den unſterblichen Helden erblicken darf, wie er mit ſeinen reiſigen Mannen in der Kronenburg ſitzt, wo ſein Bart durch eine Tonne gewachſen iſt.

Es ließe ſich noch des weiteren berichten von Tiroler, von ſchweizeriſchen, von elſäſſiſchen Sagen dieſer Art. Doch über ihren Grundzug haben uns ja ſchon die angeführten Beiſpiele genügend unterrichtet. Hervorgegangen ſind dieſe zahlreichen Überlieferungen aus uralten Glaubenslehren von einem furcht- baren Untergange der ganzen jetzt beſtehenden Welt, auf die eine andere, ſchönere folgen ſoll, eine Wenge Welt der Freude und des Friedens. v. g.

Von König Chriſtian. Dem verſtorbenen König Chriſtlanx. von Dänemark wurde vor allem feine große Einfachheit nach- gerühmt. Als junger Offizier wandte er ſich eimnal während der Manöver an eine Stallmagd, die er gerade beim Melken der Kühe traf, und bat ſie um etwas Milch. Der Bauer kam dazwiſchen und fragte ihn: „Es ſcheint mir, daß Sie etwas anderes ſind als wir. Was iſt denn Ihr Vater?“ |

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„Er hat in Kopenhagen eine gute Stellung.“

„Dann können Sie wohl auf alles pfeifen?“

„Ja, das könnte ich ſchon, aber ich tue es nicht.“

Der Bauer ſchien ſehr verwundert darüber. Er war es aber noch mehr, als er bald darauf bei einer behördlichen Feier den Kronprinzen als den Mann wiedererkannte, mit dem er das Geſpräch geführt hatte.

Noch drolliger iſt die Geſchichte von einem Kutſcher, deſſen Wagen er einmal als Prinz am Halteplatz mietete.

„Müſſen Sie denn durchaus den Wagen haben?“ fragte der Droſchkenkutſcher etwas ärgerlich. „Der Kronprinz muß jetzt in die Stadt kommen, und da werden viele Fremde da ſein, die mir mehr als Sie zahlen, wenn ich ihm folge, damit die Fahrgäſte ihn ſehen können.“

„Aber Sie ſind doch verpflichtet, den N Fahrgaſt, der kommt, anzunehmen.“

„Das iſt richtig alſo los!“ brummte der Kutſcher.

Als der Prinz ſeine Fahrt beendet hatte, gab er dem Kutſcher ein Zehnkronenſtück. Dieſer hatte wie das ja gewöhnlich der Fall zu ſein pflegt kein Geld zum Wechſeln.

„Behalten Sie meinetwegen alles,“ ſagte der Prinz.

„Wirklich? Alles? Na, dann kann mir der Kronprinz ge- ſtohlen bleiben!“

König Chriſtian kann ſich auch rühmen, der einzige Herrſcher zu ſein, der bei einer Filmaufnahme tätig als Schauſpieler mitgewirkt hat. Er machte auf ſeiner Jacht „Rita“ in den Gewäſſern von Jütland eine Kreuzfahrt, als plötzlich in nächſter Nähe Kanonenſchüſſe ertönten, als wenn eine Seeſchlacht im Gange wäre. Der König befahl, ſofort mit voller Geſchwin- digkeit an den Ort zu fahren, von dem dieſer verdächtige Lärm erſcholl. Als er ankam, bemerkte er eine Frau, die im Waſſer zappelte, während ſich zwiſchen zwei Schiffen ein regelrechter Kampf abſpielte. Schon ließ der König ein Boot ins Vaſſer, um der Frau zu helfen, als er ein anderes Boot in einiger Entfernung bemerkte und darin die Geſtalt eines Mannes, der angeſichts der aufregenden Szene gemächlich ſeine Kurbel drehte. Da lachte er, ließ ſein Boot wieder heraufziehen, aber

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fein Eingreifen war ein wunderbarer Reiz auf dem Film mehr. O. v. B.

Um einen Hirſch. Daß die Jagd in den Hochalpen keine ſo behagliche und einfache Sache iſt wie in der Ebene, und daß ſich ihr in der Wildheit der Natur oft faſt unüberwindliche Hinderniſſe entgegenſtellen, weiß nachgerade auch der flachſte Flachländer. Ein Kraftſtückchen aber, das vor einiger Zeit ausgeführt wurde, dürfte wohl trotzdem noch Beachtung abgewinnen können. Es hat ſich in dem bekannten Sommer- friſchenorte Oberſtdorf in Oberbayern zugetragen.

Dort befindet ſich dicht an der öſterreichiſchen Grenze, unmittelbar vor dem Eingange in das Walſer Tal, eine unbe- ſchreiblich wilde und unzugängliche Klamm, die im Volksmunde recht bezeichnend „die Zwing“ genannt wird und damals noch unzugänglich war. Turmhohe Wände ſchließen dieſe oben ganz enge, nach unten ſich etwas erweiternde Klamm ein, auf deren Grund ein Gebirgsbach über Felsblöcke dahintobt. Der Blick in dieſe Tiefe iſt ſchauerlich, ein Abſteigen ganz unmöglich, beſonders im Winter, wenn die im Sommer von Näſſe triefenden Wände von ungeheuren, viele Zentner ſchweren Eiszapfen ſtarren.

Eines Tages erlegte nun in der Nähe der „Zwing“ ein Oberſtdorfer Jäger einen rieſigen Berghirſch, der noch einige verzweifelte Sätze machte und plötzlich wie in den Boden hinein verſchwunden war. Kein Zweifel, das Tier war in die „Zwing“ geſtürzt. Nun galt es, die Jagdbeute ans Tageslicht zu bringen. Aber das war ein halsbrecheriſches Unternehmen. Einer der Jäger hatte ſich zwar in die Schlucht an einem Seile hinab— gelaſſen und zunächſt den Ort feſtgeſtellt, wo der Hirſch lag; leider war aber gerade dort die von obenher unzugänglichſte Stelle der Klamm, und alle erfahrenen Leute des Ortes erklärten

ein Aufbringen des Hirſches deshalb für unmöglich.

Da meldete ſich eines Tages ein Mann aus dem Dorfe Tiefenbach, der durch ſeine Bärenſtärke und ſeine Waghalſigkeit bekannt war, und verlangte für das Heraufholen des Hirſches vierzig Mark. Man ging von ſeiten der Oberförſterei darauf ein, und Schöll ſo hieß der Kühne begann mit noch neun

Mannigfaltiges 223

Männern fein Wageſtück, und zwar bei ſchärfſter Winterkälte. Von geeigneten Vorrichtungen beſaßen die Männer nichts als einige hundert Meter feſten Hanfſeiles. Die Stelle, von der aus allein das Abſeilen in die Schlucht erfolgen konnte, war eine abſchüſſige Felsplatte von höchſtens zwei Meter Breite neben zwei über dem Abgrunde zuſammengewachſenen Fichten bäumen. Auf dieſem ſchmalen Platze, wo jedes Ausrutſchen den ſicheren Tod bedeuten mußte, wurden die Männer auf- geſtellt, die den in die Tiefe abfahrenden Gefährten am Seile zu halten hatten. Einer der Leute wurde zunächſt hinabgelaſſen, um den Hirſch feſtzubinden. Der Mann ſaß in einem jener breiten Lederſtücke, aus denen das Geſchirr der Pferde beſteht, und war mit Stricken um Leib und Schenkel am Seile befeſtigt. Auf halbem Wege zur Tiefe löſte ſich plötzlich eine große Schnee- wächte von einem vorſpringenden Felſen und hätte den Mann unfehlbar hinabgeſtürzt, wenn er nicht ſo gut angeſeilt geweſen wäre. Das Herablaſſen dauerte mehr als eine halbe Stunde, und an eine weitere Gefahr hatte man noch nicht einmal ge- dacht: an die ungeheuren Eiszapfen, die von den Wänden niederhingen und oft nur eines ſtärkeren Luftzuges zum Ab— ſtürzen bedurften. Aber es ging glücklicherweiſe ohne ſolche Zwiſchenfälle ab. Der Mann gelangte unten an. Nahezu drei Stunden arbeitete er in der eiſigen Tiefe, ehe es ihm gelungen war, die Hinterläufe des Hirſches anzuſeilen und ſo die Beförderung nach oben vorzubereiten. Dann ließ er ſich wieder hinaufziehen, berichtete über den Befund und ſtärkte ſich dann durch einen Schluck Enzian, des allgemeinen „Lebens- weckers“ der Alpen. |

Und dann begann das ſchwerſte Stück der Arbeit. Es war notwendig, daß jemand die Laſt lenkte, damit ſie nicht irgendwo hängen blieb, und Schöll ließ ſich zu dieſem Zwecke ſelbſt hinab. Während des ganz langſam ausgeführten Hinab- laſſens ſtieß er mit einer Stange und mit den Füßen ſoviel Eiszapfen ab, als er irgend erreichen konnte. Und das war gut, denn er und der Hirſch wären beim Heraufſeilen unter der furchtbaren Laſt der Eismaſſen beim geringſten Anſtoß zu Brei zerſchmettert worden. Aber ſchon das Hinabgleiten auf dieſe

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Art war lebensgefährlich, weil das Seil dabei in beftändiger ſchaukelnder Bewegung blieb.

Unten angelangt, gab Schöll ſofort das Zeichen zum Auf- ziehen, und langſam bewegten ſich nun der lebloſe und der lebende Körper dem oberen Rande der Schlucht zu. Da in halber Höhe ſtockt plötzlich der Transport. Alles Ziehen war vergeblich, der Hirſch hatte ſich dermaßen „verhangen“, daß man bei allzu ſcharfer Anſpannung ſchließlich ein Reißen des Seiles befürchten mußte. Da kam Schöll auf den Gedanken, die Laſt zu erleichtern und ſo den Hirſch wieder flott zu machen. Geſchickt ſchwang er ſich mit ſeinem Seil an den Hirſch heran, zog ſein Weidmeſſer und begann in etwa vierzig Meter Höhe über dem Grunde der Schlucht frei in der Luft ſchwebend das Tier kunſtgerecht auszuweiden.

Das Wageſtück gelang. Sogar den „Aufbruch“ wußte der unerſchrockene Mann noch zu retten, indem er ihn in einen auf ſeinem Rücken hängenden Ruckſack ſchob! Wirklich konnte der Hirſch nun, um nahezu einen Viertelzentner erleichtert, über die hindernde Stelle hinweggebracht werden, und bald langten Menſch und Tier oben an. Der Zubel der zehn war natürlich groß, und was nun noch zu bewältigen blieb, war ein Kinderſpiel gegen das Wageſtück in der Schlucht.

In Oberſtdorf und Umgegend waren die zehn mit ihrem Führer die ausſchließlichen Helden des Tages. Am Weihnachts- abend verfpeiften fie gemeinſam den Aufbruch des Hirfches, den ihnen der Oberförſter ann die Belohnung hinaus über- laſſen hatte. O. Th. St.

Plakatkunſt im Feld. Unſer Heer iſt ein Volksheer im beſten Sinn des Wortes, denn in ihm ſind alle Stände und Berufe, Bauern, Handwerker, Kaufleute, Wiſſenſchaftler und Künſtler vertreten. |

Einer dieſer Künſtler hat ſich den Scherz gemacht, die mo- derne Geſchäftsanpreiſung, das Plakat, in launiger Weiſe für das Kruppſche Rieſengeſchütz, die fleißige Bertha, in Anwendung zu bringen. Der gewaltigen Granate iſt ein grimmig blickender Hausdrache eingefügt worden, der ſich wie die eherne Namens- ſchweſter fleißig rührt und für die Feldgrauen Strümpfe ſtrickt.

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Haun

Die fleißige Bertha am Quartier des Batterieführers.

1915. XII. j 15

226 Mannigfaltiges

Das Plakat hängt am Quartier eines Bataillonskommandeurs in Frankreich. Fraglos geht die ſtrickende Bertha, auch wenn ſie ein fürſorgliches Herz für unſere tapferen Krieger beſitzt, mit ihrer Umgebung ebenſowenig zart um wie die ſchießende Bertha mit unſeren Gegnern. Th. S. Briefkugeln. Einen belagerten Platz vollſtändig von der Außenwelt abzuſchließen, iſt nicht möglich. Schon die Pariſer haben 1870 mit Erfolg Brieftauben und Luftballone verwendet, dazu kommen jetzt noch die neuen Errungenſchaften, unter- irdiſche Kabel, drahtloſe Telegraphie und nicht zu vergeſſen die Flugzeuge, wie ſolche ja bekanntlich monatelang nach und aus dem belagerten Przemysl den Dienſt verſahen.

Früher hatte man dieſe Hilfsmittel allerdings nicht, aber Schlauheit und Erfindungsgeiſt wußten ſich zu jeder Zeit zu helfen. |

Es war im Fahre 1475, als die damals ſtark befeftigte Stadt Neuß vom Herzog Karl dem Kühnen von Burgund belagert wurde. Die Kölner, die ebenfalls auf ſeiten der Neußer Bürger- ſchaft ſtanden, ließen nichts unverſucht, um ihrer Schweſterſtadt zu Hilfe zu kommen; aber ſtets vergebens, da der feſtgeſchloſſene Ring der Belagerer jeden Verkehr mit den Eingeſchloſſenen unmöglich machte. Um aber dieſe doch wiſſen zu laſſen, daß man ihnen zu Hilfe kommen wolle, verfielen die findigen Kölner auf eine Liſt. Sie ſchoſſen nämlich kurzerhand ihre Mitteilungen über die Köpfe der Belagerer hinweg in die Stadt hinein, derart, daß die „Briefkugeln“ auf einem Wieſengelände zwiſchen der Stadtmauer und den Außenwerken niederfielen. Die Eingeſchloſſenen ſchickten dann natürlich ihre Antwort auf die gleiche Art und Weiſe wieder an die Kölner zurück. Ein ſolcher Brief, und zwar der erſte, am 21. April 1475 hinübergeſchoſſene, nebſt der Antwort der Neußer ſind noch heute im Stadtarchiv von Köln aufbewahrt. Eine Reimchronik, die dieſen bur- gundiſchen Krieg behandelt, beſingt den Vorfall folgender- maßen: |

„Cöln, dich mag Gott bewahren! In dir ſind Viele wohlerfahren Und tapfere Mannen eingeſeſſen,

Mannigfaltiges 227

Und weißheit Groß und ongemeſſen!

Allwo die Kunſt man hat erfunden,

Des Briefeſchieſſens zu dieſen Stunden!

Ich will glauben, daſſ dergleych

Nicht mehr geſehen auf Erdenreych!“ A. M.

Von einer Affenſchule, die er unweit einer malaiifchen Niederlaſſung in einem einſam gelegenen Gehöft auf Sumatra antraf, berichtet ein Reiſender folgendes: „Ich war nicht wenig erſtaunt, als ich vor dem geräumigen Bambushauſe auf großen Geſtellen angebunden einige Dutzend Vertreter jener Affenart vorfand, die ſämtlich zu der Familie der Makaken gehörten. Dieſe werden von den Malaien Baru genannt, ſind aber in europäifchen Tiergärten als, Schweineſchwanzaffen“ bekannter, da ihr kurzer Ringelſchwanz ſehr große Ahnlichkeit mit dem unſerer einheimiſchen vierbeinigen Specklieferanten hat. Die Baru find äußerſt kräftige Tiere, werden bis zu 65 Zentimeter lang und beſitzen bei ſonſt dunkelolivenbraunem Körper ein fleiſchfarbiges Geſicht, ebenſo gefärbte Hände, Ohren und ſehr große Geſäßſchwielen, eine Farbenzuſammenſtellung, die im Verein mit der vorſpringenden Schnauze und den mächtigen Backentaſchen die Baru nicht gerade als Schönheiten erſcheinen läßt.

Mein malaiiſcher Begleiter mochte wohl an meinem ver— wunderten Geſicht ſehen, wie ſehr mich dieſe Affenherde in Staunen fette, und ſagte daher kurz: ‚Eine Affenſchule, Herr!‘ Der Beſitzer des Hauſes, ein alter Malaie, gab mir dann die nötige Aufklärung. Er zeigte mir, wie er mit bewunderungs- würdiger Geduld und unter ſtetiger Austeilung von Leckerbiſſen ſeine vierhändigen Zöglinge dazu abrichtete, die reifen Nüſſe von den Kokospalmen zu pflücken. Eine ganze Anzahl von den Baru hatten es in der edlen Kunſt ſchon recht weit gebracht, zwei oder drei andere aber würden wohl nie ſich und ihre Angehörigen ernähren können, da ſie zu wenig gelehrig ſeien. Unter dieſen „Angehörigen“ verſtand der braune Dreffeur die Familie des Malaien, der ihm dieſe weniger geſcheiten Affen zur Ausbildung übergeben hatte.

Sehr ergötzlich iſt es anzuſehen, wie der Affe, angebunden

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an eine fefte, bei ihrer Länge nicht gerade leichte Leine, die Palmen erklettert und nun, oben angelangt, an den Nüſſen, die ihm reif erſcheinen, zu drehen beginnt. Die halbreifen und deshalb noch feſter ſitzenden erkennt er ſehr bald und läßt dann von ihnen ab, an den gereiften dreht er aber fo lange. bis fie herabfallen. Iſt die Palme abgeerntet, dann begibt ſich der Affe, immer ſehr behutſam, an ihre Säuberung, indem er die loſen Blattwedel entfernt. Wenn die Arbeit geſchehen iſt, empfängt er ſofort zur Belohnung einige wohlſchmeckende Bananen oder eine Handvoll gekochten Reis.

‚Herr,‘ ſagte mir ſpäter einmal ein alter Malaie, dem ich für einen großen und im Nüſſepflücken äußerſt geſchickten Baru zwanzig blanke Reichstaler, eine in den Augen des Mannes ſehr große Summe, bot, ‚wie ſollte ich das wohl tun!“ Und auf den Affen zeigend, fügte er hinzu: „Jedes Körnchen Reis, das ich, meine Frau und meine Kinder eſſen, verdanken wir dem Verkauf der vom Baru gepflückten Nüſſe, und ich kann mit ihm reden wie mit einem Menſchen!“ W. K.

Die Kriegslieferung. Auf dem Kontor eines Lodzer Fabrikanten erſchien zu Beginn des Krieges ein ruſſiſcher Feldwebel, um im Auftrag der Intendantur nach dem Preiſe von Hemdentuch zu fragen, da von ſolchem ein großer Poſten benötigt werde. Der Fabrikant, der den Mann ſelbſt empfing, forderte für den bemuſterten Stoff, der ſonſt mit 90 Kopeken berechnet wurde, in Anbetracht der e 1 Rubel 10 Ko- peken.

Nach kurzer Überlegung meinte der Feldwebel: „Nun, der Stoff iſt ja gut, aber ich meine, 90 Kopeken ſind auch genug dafür. Wenn du damit zufrieden biſt, Freundchen, ſo will ich dafür ſorgen, daß du die Lieferung bekommſt. Aber du wirſt dich dafür hoffentlich auch nicht lumpen laſſen.“

Natürlich willigte der Fabrikant in den Vorſchlag, und nach dem Genuſſe einiger Wodkas ſowie mehrerer „handdrücklicher“ Freundſchaftsbeweiſe entfernte ſich der Soldat mit dem An- gebot nebſt Muſter.

Nachmittags erſcheint er wieder und berichtet dem Fabri— kanten: „Es wird ſofort ein Offizier zum Lieferungsabſchluß

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erſcheinen; du mußt bei dem aber 1 Rubel 10 Kopeken verlangen, Väterchen, denn ich habe ſoviel angegeben. 20 Kopeken find doch nicht zuviel für mich? Du verſtehſt doch wir teilen dann.“

Man „verſtand“ und verſprach das Gewünſchte.

Richtig, nicht lange nachdem der Unteroffizier durch eine Hintertür das Haus verlaſſen hatte, erſcheint ein Leutnant, der nochmals über die zu liefernde Tuchmenge verhandelt und auf die neuerliche Forderung von 1 Rubel 10 Kopeken meint: „Nun, ich will den Ankauf des Lagervorrates befür- worten, aber Sie müſſen 1 Rubel 50 Kopeken als Preis auf die Rechnung ſetzen. Sie n ja die 40 Kopeken ſollen für mich fein, und

Nun, man verſteht ja in Rußland vieles, weshalb alſo nicht auch das, und fo wurde denn das „DVerftäridnis“ des gemachten Vorſchlages mit einer Flaſche Rotſpon und einem entſprechenden Vorſchuß auf das Geſchäft beſiegelt.

Abends nach dem Dunkelwerden erhält der Fabrikant dann noch den Beſuch des Oberſten, der die erfreuliche Nachricht bringt, daß die Übernahme des ganzen Lagervorrates an- geordnet worden ſei. Er, der Oberſt, habe allerdings der Einfachheit halber den Preis auf 2 Rubel angenommen, und ſo könnten ſie beide mit dem Geſchäft zufrieden ſein. Natürlich müſſe aber auch die Lieferungsrechnung dieſen Betrag auf- führen, und der Fabrikant werde wohl die Güte haben, ihm ſelbſt die Differenz auszuzahlen, da man ja nicht wiſſe, ob man ſich ſo bald wieder treffe.

. Unter Zuhilfenahme von zwei Bullen Sekt wurde auch im weiteren Verlaufe der Unterredung dieſes „Geſchäft“ zur Zu- friedenheit des Oberſten erledigt, worauf man ſich unter freund- ſchaftlichem Händeſchütteln trennte.

Die nächſten Tage vergingen, ohne daß der Fabrikant wieder etwas über die Angelegenheit hörte. Da wird dieſer eines Tages zum Fürſten F., dem Präſidenten des ruſſiſchen Roten Kreuzes, in das Hotel befohlen. Lange mußte er warten, und als er endlich vorgelaffen wird, eröffnete der Fürſt ihm barſch, daß der von ihm geforderte Preis von 2 Rubeln ein unver- ſchämter und betrügeriſcher wäre; es ſei deshalb die Befchlag-

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nn

nahme feines Lagers zugunſten des Roten Kreuzes angeordnet, und er könne noch froh ſein, nicht als Vaterlandsverräter, was ja alle Polen ſeien, vor das Kriegsgericht geſtellt zu werden.

Der arme Fabrikant wurde ſofort von zwei Soldaten unter Bewachung genommen, und als er anderen Tages freigelaſſen worden war, fand er ſich als vollkommen ruinierten Mann, denn er hat bis heute noch keine Kopeke für die weggenom- mene Ware geſehen, die wohl noch ihre beſondere „Berechnung“ erfahren haben dürfte. A. M.

„Ganz unter uns!“ Herzog Friedrich Auguſt von Braun- ſchweig, geſtorben im Jahre 1805, war ein bei feinen Unter- tanen ebenſo beliebter wie gefürchteter Herr. Er liebte nämlich einen guten Witz über alles und war ſelber in hohem Maße witzig und fchlagfertig, nicht ſelten aber auch voll beißenden Spottes. Körperlich war er unanſehnlich, mit einem Buckel aus- geſtattet, über den er ſich häufig ſelbſt luſtig machte.

Eines Tages ließ er Einladungen in ſeinem ganzen Lande ergehen zu einem Feſt im herzoglichen Reſidenzſchloß zu Braun- ſchweig, die großes Aufſehen erregten, da ſie meiſt Bürgern und Beamten zugingen, die mit dem Hofe in gar keiner Ver- bindung ſtanden. |

Erſt als die Gäfte ſich am Feſtabend einſtellten, machten fie die Entdeckung, daß ausſchließlich Buckelige zuſammengebeten worden waren. Nicht ein Normalgewachſener befand ſich im Saale. Als dann zuletzt der Herzog im gleichen Buckelſchmuck ſich zu den vielen Leidensgenoſſen hinzugeſellte, da wurde er von einem wahren Lachſturm begrüßt, der ſich gar nicht legen wollte.

Auch Friedrich Auguſt lachte aus vollem Halſe; der Anblick, der ſich ihm bot, war tatſächlich ſehr ſpaßig.

Nachdem der erſte Aufruhr geſtillt war, erhob ſich der Herzog von ſeinem Sitze und redete ſeine Gäſte folgendermaßen an: „Meine Herren, heute ſind wir einmal ganz unter uns und können uns über die Schlanken und Glatten ſo aufhalten, wie ſie ſich ſonſt über uns aufhalten. Ich erſuche Sie, unſer Mahl damit zu würzen, daß jeder etwas zum Ruhme des Buckels anführt und der mannigfachen Vorteile, die er uns gewährt.“

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Dieſer Aufforderung kamen die Geladenen mit guter Laune nach, und das Feſt ſoll eines der luſtigſten im Schloſſe Braun- ſchweig geweſen ſein. C. D.

Eine Anſprache. ohne Worte. Der Statiener verfügt über eine außerordentlich reiche Gebärdenſprache. Kreuzt er beifpielsweife die Hände übereinander und greift mit den Zin- gern in die Luft, ſo bedeutet dies „ſtehlen“. Fährt er ſich mit der geballten Hand von unten nach oben über das Kinn, ſo hat dies den Sinn einer kräftigen Verneinung.

Dieſe Ausdrucksfähigkeit durch bloße Gebärden benützte einſt König Ferdinand I. zu einer eigenartigen Anſprache. Als Murat geflohen war, nahm Ferdinand als König beider Sizilien wieder Neapel in Beſitz. Er hatte die ſtark entwickelte Bour- bonennaſe und wurde darum vom Volk Re Nasone, König Naſe, genannt. N

Bald nachdem Ferdinand die Regierung wieder angetreten hatte, zogen Scharen der neapolitaniſchen Volkshefe nach dem bei Neapel gelegenen Städtchen Reſina, um das dortige, von Murat mit großer Pracht ausgeſtattete Schloß auszurauben. Zufällig befand ſich Ferdinand in dem Schloß, als die Volksmenge lärmend einzudringen ſuchte. Da riß er ein Fenſter des zweiten Stockwerkes auf und führte folgende Gebärden aus. Zuerſt legte er den Zeigefinger auf den Mund. Darauf kreuzte er die Hände und bewegte ſchnell die Finger. Zuletzt fuhr er ſich mit der Fauſt von unten nach oben über das Kinn. In Worten bedeutete dieſe ſtumme Anſprache: „Ruhe! Stehlen iſt nicht!“

Die Menge ſtarrte anfänglich verblüfft auf den König, dann brach fie in Lachen aus, rief: „Eviva Nasone!“ und zog fried- lich nach Neapel zurück. Th. S.

Auch ein Indier. Während England ſich nicht entblödet hat, Zehntauſende von blutdürſtigen, hinterliſtigen Indiern gegen unſere hochgemuten Soldaten in den Kampf zu hetzen, hat es Deutſchland für hinlänglich gehalten, einen einzigen Indier, und noch dazu einen keineswegs blutgierigen, ſondern recht ſanftmütigen, ins Feld zu ſtellen, einen indiſchen Elefanten. Unfer Soldatenwitz hat ihn den „Feldgrauen“ getauft. Ge-

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liefert hat ihn der Heeresverwaltung die bekannte Großtier— handlung von Karl Hagenbeck in Hamburg. „Er leiſtet feine Dienſtzeit bei einem Etappenkommando in Nordfrankreich ab

Phot. A. Grohs, Berlin.

Der „Feldgraue“ beim Tragen von Baumſtämmen.

und wird für das Tragen von Baumſtämmen, die für die Unter- ſtände gebraucht werden, verwendet. Anfänglich wollte ſich der vierfüßige Indier nicht an die neuen Verhältniſſe gewöhnen.

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Als man dann aber feinen Wärter und feine Spiellameraden kommen ließ, Papageien und Affen, wurde er en gefügig und arbeitſam. Th. S.

Zwei Nußbaum⸗Geſchichten. Der im gahre 1890 in München verſtorbene Profeſſor Dr. v. Nußbaum war nicht nur ein hervorragender Arzt, der ſich namentlich um die Kriegs- chirurgie unvergängliche Verdienſte erworben hatte, er war auch ein wahrhaft edler Menſch, gut und hilfreich gegen jeden. Er war der Abgott ſeiner Studenten. Von armen Studenten nahm er nicht nur keine Kollegiengelder, ſondern er unterſtützte ſie auch in jeder Weiſe, daß ſie ihr Studium beenden konnten. Er war eben ein großer Menſchenkenner und wußte jeden zu nehmen, wie die beiden folgenden, buchſtäblich wahren Ge- ſchichtchen beweiſen mögen.

Einſt ſollte er ein zwölfjähriges Bübchen operieren, ſo ein rechtes Münchener Kindl. Der Junge wollte von der Operation durchaus nichts wiſſen, ſchrie und ſchlug wütend um ſich. Weder ſeiner Mutter noch den Krankenſchweſtern gelang es, ihn zu beruhigen. Da betrat Nußbaum den Operationsſaal. Ohne Zögern trat er auf das Bett zu, ſah den Jungen mit ſeinen großen blauen Augen durchdringend an und e dann ruhig: „Na, Bübl, magſt a Bier?“

Da glätteten ſich die Züge des Ungebärdigen. „Ei freili mag i's!“

Da ſagte der Profeſſor: „Na, dann paß auf, Bühl! Wann d’ jetzt ganz brav biſt und dich operieren läßt, dann kriegſt nach; her a ganze Maß. Die Schweſter Marie wird ſ' dir aus dem Löwenbräu holen.“

Da lachte der Bub über das ganze Geſicht und rief: „Freili werd' i ganz brav fein!“ und ohne Zucken überſtand er die nicht ungefährliche Operation.

Nußbaum hatte auch einmal eine bayeriſche Prinzeſſin operiert und ihr dafür eine ziemlich geſalzene Rechnung geſandt. Der Betrag war der Prinzeſſin zu hoch, ſie ſuchte ſelbſt den Profeſſor auf und bat ihn, ſeine Forderung zu ermäßigen.

Nußbaum erwiderte: „Da gibt's nichts zu handeln, König— liche Hoheit. Ich habe feſte Preiſe, die den Verhältniſſen meiner

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Kranken angemeſſen ſind. Arme Leute behandle ich um- ſonſt, minderbemittelte müſſen etwas, reiche aber viel zahlen. Für ſo eine reiche Prinzeſſin wie Sie iſt's durchaus nicht zu viel.“

„Aber für eine ſo kleine Operation N

„So klein war die Operation an nicht, denn fie hat Ihnen doch das Leben gerettet. Schaun S', Prinzeßchen, das Geld wird gut angelegt, denn ich will's ja nicht für mich. Wenn ich eine Prinzeſſin behandle, ſo müſſen wieder zehn arme Studenten ein Jahr lang davon ſtudieren können.“

Da blieb der Prinzeſſin nichts übrig, als die Rechnung zu be zahlen. zen.

Ein großfürſtliches Trinkgeld. Der Großfürſt Konſtantin, Bruder des in den Befreiungskriegen mit Deutſchland und Oſterreich verbündeten Kaiſers Alexander I. von Rußland, war von ſo rauhen, man möchte ſagen rohen Manieren, daß man ihn nur den „ungeleckten Bären“ nannte. Selbſt in Gefell- ſchaften benahm er ſich derartig derb, daß ihm die Damen fluchtartig aus dem Wege gingen. Gegen ſeine Offiziere und Soldaten erlaubte er ſich Übergriffe jeder Art. Wie fein wür- diger Nachfolger von heute, der berüchtigte Nikolai Nitolaje- witſch, nahm er Höhere wie Gemeine unter Umſtänden beim Kragen und teilte Püffe und Ohrfeigen aus. Selbſt dem öfter- reichiſchen Küraſſierregiment gegenüber, das ihm verliehen war, kannte er keine Mäßigung.

Als er es ſchließlich einmal gar zu bunt trieb, trat ihm der Kommandant des Regiments, Fürſt Windiſchgrätz, mit dem Bemierken entgegen, daß er als Oberſt und Führer des Regi- ments ſolche Anſinnen nicht dulden dürfe. Der Großfürſt geriet in Zorn und packte unter Fluchen und Schimpfen den Oberſt am Ohr. Gelaſſen ſteckte dieſer ſeinen Degen ein, meldete den Vorfall dem Generalkommandanten und ſchickte dem Groß fürſten eine Forderung auf Piſtolen. Der Kaiſer Alexander bezeigte dem Bruder ſein Allerhöchſtes Mißfallen und nötigte ihn, in aller Form Abbitte zu tun und eine Ehrenerklärung zu geben. Danach verſchickte er ihn, um weiteren Entgleiſungen vorzubeugen, „in wichtigen Aufträgen“ nach Warfchau.

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Auf diefer Reife erging es ihm mit einem böhmischen Poſt— lutſcher noch ſchlimmer.

Als die Fahrt bergauf einmal etwas langſam ging, geriet der Zähzornige in Wut darüber, daß die Pferde bergauf nicht ebenſo raſch liefen wie bergab. Er ſchlug dem Poſtillion, der ſeine vier Roſſe vom Bock aus lenkte, den Hut vom Kopf, faßte ihn beim Schopf und hämmerte ihm unter dem Zuruf: „Das iſt dein Trinkgeld, dein Trinkgeld!“ mit den Fäuſten derartig auf dem Kopf herum, daß der Schädel des Roſſelenkers, wäre er nicht ein böhmiſcher geweſen, unfraglich in Stücke ge- borſten wäre. N

„Gleich wird's nach Wunſch gehen,“ meinte ſchließlich der Poſtillion, ſtieg von ſeinem Sitz und machte ſich an den Pferden zu ſchaffen. Er ſträngte ſie ab, gab dreien den Laufpaß nach Hauſe und ſchwang ſich auf das vierte. „So, nun ſollſt du dein Trinkgeld doppelt und dreifach zurückhaben,“ rief er dem erſtaunten Herrn im Wagen zu. Dabei ſchwang er feinen Peit- ſchenſtiel, und jeder Hieb ſaß. Die Schläge fielen ſo dicht, daß der Großfürſt glauben mußte, in ein Hagelwetter ge— kommen zu ſein. N

Dann wandte der Poſtillion ſein Pferd den anderen nach. Da er ſich ſagen mochte, daß die böhmiſche Muſik dem ruſſiſchen Prinzen wohl kaum gefallen habe, ſo blies er ihm im Davonreiten noch „Schöne Minka, ich muß ſcheiden“ vor.

Dem Großfürſten aber blieb nichts übrig, als feinen Adju- tanten zur Poſtſtation zurückzuſchicken, um ihm Genugtuung und friſche Pferde zu verſchaffen. Der Poſtillion hatte den Vorfall bereits gemeldet und wurde vom Poſtmeiſter, den der Groß— fürſt vorher ebenfalls beleidigt hatte, in Schutz genommen. Man freute ſich, daß Seine Kaiſerliche Hoheit ſo gründlich Land und Leute kennen lernte, und die halbe Nacht Muße auf der Landſtraße wurde ihm nicht minder gern gegönnt. Konnte er dabei doch über den Wert falſchen Hartgeldes nachdenken und in aller Ruhe den Reingewinn berechnen, mit dem er ein Trink- geld, das er in dieſer Münzſorte zu zahlen gedachte, in öfter- reichiſcher Währung verzinſt zurückerhielt. A. O.

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Millionärslaunen. Es dürfte wohl kaum einen felt- ſameren Kröſus gegeben haben, als Mr. Eli Hawkins, der ein ſehr großes Vermögen beſaß, ſchlie ßlich aber in Armut geſtorben iſt. Von feinen Launen erzählt man ſich heute noch in Kali- fornien allerlei Geſchichten.

Als Hawkins, damals ſchon ein vielfacher Millionär, vor etwa vierzig Jahren mit ſeiner Frau von San Franzis ko nach Los Angeles zog und die Summe von 800 000 Dollar in barem Gelde in einem großen Lederbeutel mit ſich führte, hatte das Ehepaar, wie es offen zugab, die Abſicht, dieſen kleinen Teil feines Vermögens in möglichſt kurzer Zeit anzu- bringen. Wie ſie das getan haben, darüber wird man ſich noch lange in Südkalifornien unterhalten.

Im Los Nietostale kaufte Hawkins 300 Acres unfrucht- bares Land und ging ſofort an die Arbeit, dieſe Wüſte in ein Paradies zu verwandeln. Ein ganzes Heer von Arbeitern nahm er in ſeine Dienſte, nach allen Richtungen ſchickte er Agenten aus, die ausgewachſene Bäume kaufen ſollten, teils ſollten dieſe Schatten ſpenden, teils aber auch zur Zierde dienen. Auf eigens erbauten Wagen wurden dieſe Bäume nach ſeinem Gute geſchafft und hier eingepflanzt. Ganze Karawanen von Wagen konnte man ſehen, die Erde von einem Teile des Gutes nach dem anderen ſchafften, um hier Berge erſtehen zu laſſen und dort Täler; wie Pilze nach dem Regen wuchſen in einem einzigen Tage Felsgrotten aus dem Nichts hervor, wie durch Zauberkraft entſtanden Teiche und Bäche, bis unter der ge- ſchikten Leitung erfahrener Landſchaftsgärtner innerhalb weniger Wochen aus dem unfruchtbaren Land ein herrlicher Garten geworden war.

Das aber genügte dem künſtler iſchen Auge von Mr. Hawkins nicht. 7000 Dollar gab er für Bildſäulen aus, die auf Rafen- plätzen und in Hainen aufgeſtellt wurden, und um deren Wir- kung zu erhöhen, mußten ſie zwei ſeiner Diener mit Farbe und Pinſel bearbeiten. Merkur entzückte das Auge durch ſeine grünen Trikots und ſchwarzen Haare; Venus erglänzte in blauen Pantoffeln und roten Strümpfen; ſämtliche Liebesgötter wurden ſchwarz mit blauen Streifen bemalt, und Bacchus er-

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ſchien in einem nüchternen Grau mit einer rotglühenden Naſe.

Inmitten dieſer raſch entſtandenen Pracht hatte ſich in- zwiſchen auch ein palaſtähnlicher Herrenſitz erhoben, und damit dieſem nichts zu ſeiner Vollkommenheit fehle, ließ Eli mit einem Koſtenaufwande von 12 500 Dollar ſich eine Bar einrichten. Mit der reichhaltigſten Auswahl von Getränken, die es über- haupt in ganz Kalifornien gab, war ſie ausgeſtattet und ſtand unter der Leitung eines erfahrenen Fachmannes. In der Ge- ſellſchaft luſtiger Zechgenoſſen verbrachte hier der Millionär täg- lich mehrere Stunden, weidete ſich an den Erfolgen feines Unter- nehmens und verteilte mit offener Hand Champagner und Zigarren. |

Seinen Marſtall beſetzte er mit dreißig der teuerſten Pferde, die man für Geld überhaupt kaufen konnte; ſein Wagengeſchirr war mit Gold ausgelegt, und fo ſchöne und koſtbare Kutſchwagen, wie er ſie beſaß, waren in ganz Amerika nicht zum zweiten Male zu finden. Um aber allem die Krone aufzuſetzen, fuhr er in einem Wagen, deſſen Geſpann die Kleinigkeit von 6000 Dollar gekoſtet hatte, und trug einen ſolchen in Lumpen zerfetzten Anzug, wie ihn ein Bettler kaum anzuziehen wagen würde.

Die Geſchichte ſeiner ſpäteren Abſonderlichkeiten würde einen ganzen Band füllen, und wir können hier nur ein paar davon erzählen. Einmal kam er auf den Einfall, zu Nacht- zeiten auf den Wegen des Los Nietostales ein großes Wettrennen zu veranftalten. 7000 mächtige Wachskerzen wurden an Stöcken befeſtigt und die Straßen entlang aufge- ſtellt. Eine große Tribüne war errichtet worden, von der aus Mr. und Mrs. Hawkins in einſamer Größe dem Wett- kampfe zuſahen. Eine von Los Angeles herbeigerufene Mufit- kapelle verkürzte die Langeweile der einzelnen Pauſen durch luſtige Weiſen.

Ein andermal, als Hawkins von einer Reife nach San Fran- zisko zurückkehrte, ließ ihn ſeine Frau in Los Angeles durch eine Muſikkapelle begrüßen. Die Landſtraße entlang, die zu dem Gute führte, kam die Kapelle anmarſchiert, fie blies ihre Trom-

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peten, ſchlug die Trommeln und raſſelte mit ihren Zimbeln. Sodann folgte ein offener, mit den Landesfarben geſchmückter Landauer, der von vier kohlrabenſchwarzen Rappen gezogen wurde, die auf das prächtigſte ausſtaffiert waren. Wie zwei gekrönte Häupter ſaß Hawkins mit ſeiner Frau darin. Vor ihnen ſtand ein Korb mit Champagner, und wenn Hawkins auf der heißen, ſtaubigen Landſtraße jemand erblickte, dem er beſonders wohlwollte, ſo warf er ihm eine Flaſche Cham- pagner zu. |

Eines ſchönen Tages kamen Mr. und Mrs. Hawkins ganz plötzlich auf den Gedanken, daß es doch recht hübſch ausſehen müßte, wenn alles Vieh auf ihrem Gute, ihre Schafe, Hunde und Katzen, gleichmäßig gefärbt wären. Nach reiflicher Über- legung entſchied man ſich für Violett. Sämtliche Kühe des Gutes, die Ochſen, Schafe, Hunde und Katzen mußten ein Bad in violetter Farbe nehmen. Wer den Anblick genoſſen hat, wie eine Meute violettfarbener Hunde über die Felder jagte, wie violettfarbene Schafe auf den Feldern ſich tummelten und eine Herde violettfarbener Kühe auf einer Wieſe ſich dem ſüßen Geſchäft des Wiederkäuens hingab, wird ihn ſo bald nicht vergeſſen. Leider aber leckten die violetten Kühe zu eifrig an ihren Flanken und mehrere der teuerſten gingen an Ver- giftung ein.

Ein Lieblingszeitvertreib von Eli und ſeiner Frau, die beide vorzügliche Schützen waren, beſtand darin, daß ſie ihre ſchönbemalten Bildſäulen als Scheiben gebrauchten, und in unglaublich kurzer Zeit gab es auf ihrem Gute keine einzige ihrer Statuen, die nicht mehrere ihrer Gliedmaßen verloren hätte. Auf dieſe Weiſe war der Zweck, mit den mehr als drei Millionen Mark in kürzeſter Friſt fertig zu werden, denn auch binnen Zahresfrift erreicht. | 3.€.

Küſſe vor Gericht. Ein junger Sportsmann in St. Louis erlag der Verſuchung, junge Mädchen, denen er in abgelegenen Straßen begegnete, mit Küſſen zu überſchütten. Danach ſprang er jedesmal auf den Kutſchbock feines Wagens und fuhr davon. Aber ſo ſchnell er auch war, der Polizei entging er doch nicht. Er wurde eines Tages ertappt, verhaftet

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und ſchließlich auf drei Jahre ins Zuchthaus geſteckt. Die Strafe fiel deshalb ſo hoch aus, weil ſeine Küſſe von den Geſchworenen als ſchamloſe öffentliche Gewalttaten betrachtet worden waren. .

In New Vork verlegte ſich ein Chauffeur auf das Küſſen von Kindern. Sein Unternehmen follte ihm aber ſehr ſchlecht be- kommen, denn nicht nur, daß er von Angehörigen der Kinder wiederholt abgefaßt und weidlich durchgeprügelt wurde er kam auch ſchließlich, als eines der überfallenen Mädchen in Krämpfe verfiel, vor Gericht, das ihn wegen „Rörperver- letzung durch Küſſe“ zu einer vierjährigen Zuchthausſtrafe verurteilte. |

Glimpflicher kam ein Herr Thomſon aus Chicago davon. Freilich war er aber auch nur beſchuldigt, der Frau ſeines Freundes einen Kuß unter einer liſtigen Vorſpiegelung ent- lockt, alſo einen Betrug begangen zu haben. Der Fall war folgender: Thomſon hatte die in Rede ſtehende Dame einmal um einen Kuß gebeten. „Sie ſind verrückt!“ antwortete ſie. „Um keinen Preis?“ fragte Thomſon und ſah ſie erwartungsvoll an. Als echte Amerikanerin wurde ſie bei dem Worte „Preis“ ſehr aufmerkſam, bedachte ſich und ſagte dann: „Nun wohl, ich will gern einer Wohltätigkeitsanſtalt etwas ſchenken. Ein Kuß von mir koſtet fünfhundert Dollar.“ „Gut,“ verſetzte Thomſon und ging, um das Geld zu holen. Nach einer Weile kam er wieder, gab ihr das Geld und erhielt den vereinbarten Kuß. Eine Stunde ſpäter ſagte er zu dem Manne der Schönen: „Für die fünfhundert Dollar, die ich vorhin von dir lieh, fand ich keine Verwendung. Beim Vorüberfahren überlieferte ich ſie deiner Frau. Vielen Dank.“ Und weg war er.

Abends kam der Ehemann nach Hauſe. Seine Frau empfing ihn mit freudeſtrahlendem Geſicht. Sie wollte ihm die Geſchichte mit Thomſon erzählen und ſeinen Rat betreffs Verwendung der fünfhundert Dollar einholen. Allein während ſie ihm den Rock ausziehen half, ſagte er: „Thomſon hat dir ja fünfhundert Dollar gebracht. Er lieh fie heute von mir, aber eine Stunde ſpäter kam er zu-

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rück und ſagte, daß er ſie nicht brauche und ſie deshalb dir gegeben habe.“

Voll Erbitterung ſchenkte die Frau dem Manne jetzt reinen Wein ein, worauf ſofort beſchloſſen wurde, gegen Thomſon gerichtlich vorzugehen. Er wurde denn auch richtig verklagt und mußte nicht nur die für den Kuß vereinbarten fünfhundert Dollar, ſondern auch weitere tau- ſend als Buße für ſeine beſondere Schlauheit in Kußſachen erlegen. O. v. B.

Ein fideles Gefängnis. Das hohe Gericht des anfehn- lichen ſächſiſchen Dorfes Wilthen bei Bautzen hatte im Jahre 1750 den Bauern Peter Zotuff zum Widerruf der gegen die Richter geäußerten Beleidigungen und zur Abbitte oder bei Weigerung zu Gefängnis bis zur geſchehenen Erledigung ver- urteilt. Der hartnäckige Bauer ließ es aber aufs Außerſte ankommen. Da es nun in Wilthen damals kein Gefängnis gab ſo ſetzte ihn die findige Ortsbehörde in die Dorfſchenke dergeſtalt in Haft, daß ſie ihn mit einem Bein an einen Schenktiſch feſſelte.

Von dieſer Stunde an hatte die Schenke einen Zu- ſpruch wie nie zuvor. Die Gäſte kamen von weit und breit, um ſich den merkwürdigen Gefangenen zu beſehen und ihn mit Speiſe und Trank zu bewirten, wobei es äußerſt luſtig

zuging.

So ſaß Zotuff fünf Monate. Da baute das Gericht um ihn

und den Schenktiſch, an den er gefeſſelt war, einen Bretter- verſchlag, der abgeſchloſſen wurde, und ſetzte den Gefangenen auf „Waſſer und Brot“. Als der rechthaberiſche, hartnäckige Sünder auch dieſer Verſchärfung ſeiner Strafe volle ſechs Monate getrotzt hatte, erbaten und erhielten die gefängnis- loſen Wilthener Gerichtsherren die Erlaubnis, ihren Ge- fangenen ins Zuchthaus nach Waldheim einliefern zu dürfen, wo dieſer ſich dann gar bald zu Widerruf und Abbitte be⸗ quemte. W. F. Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von

Theodor Freund in Stuttgart, in Oſterreich⸗Ungarn verantwortlich Dr. Ernſt Perles in Wien.

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